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Full text of "Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 2.1904"

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University of Chicago Library 

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Im Aufträge der Deutschen Gesellschaft 
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 

herausgegeben von 

Dr. A. Blaschko, Dr. E. Lesser, 

Arst ln Berlin. Professor a. d. Universität Berlin. 

Dr. A. Neifser, 

Geheimer Medizinalrat und Professor an der Universität Breslau. 

Redaktion: Berlin W., Potsdamer Straße 20. 

II. Band. 


DGBG 


Leipzig 1904 

Verlag von Johann Ambrosius Barth 

Roßplats 17 


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"RC 2.0 1 ■~Z-‘r 



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275482 


Inhalts - Verzeichnis. 


Originalbeiträge. 

Seite 

W. Erb, Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz . . 1 

Josef Köhler, Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechts¬ 
krankheiten .19 

Hermann Schlesinger, Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend 58 
Heinrich Loeb, Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mann¬ 
heim .93 

Gustav Baermann, Die Gonorrhoe der Prostituierten . . S. 100 u. 138 

Kade, Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten.154 

Albert Neisser, Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung 

der Geschlechtskrankheiten beitragen?.S. 161, 181 u. 221 

Wolzendorff, Die Sexualhygiene des Alten Testamentes . S. 195 u. 248 
Max Flesch, Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie in ihrer 
forensen Bedeutung.261 

E. Holländer, Zur Verbreitung und Bekämpfung der venerischen Krank¬ 

heiten .285 

F. Schiller, Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung S. 297 u. 341 

Anhang hierzu.377 

Diskussion hierzu ..380 

Carl Stern, Rekonvaleszentenheime für Syphilitische.814 

Max Flesch, Zwei gerichtliche Urteile.322 

W. Schallmayer, Infektion als Morgengabe.389 

Chotzen und Simonson, Meldepflicht und Verschwiegenheits-Ver¬ 
pflichtung des Arztes bei Geschlechtskrankheiten.433 

Heferate und TageBgeschiohte. 

Referate .... S. 31, 70, 122, 170, 203, 256, 290, 326, 420 u. 475 
Tagesgeschichte S. 51, 83, 126, 178, 215, 257, 294, 337, 388, 423, 489 u. 490 

Namenregister.500 

Sachregister. 501 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903. Nr. 1. 


Bemerkungen Uber die Folgen der sexuellen Abstinenz. 

Von 

Prof. Dr. W. Erb (Heidelberg). 

Der Anfang März d. J. in Frankfurt tagende I. Kongreß der 
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 
hat eine Fülle des Interessanten und Anregenden gebracht, aber 
auch aufs eindringlichste gezeigt, wie schwierig und verwickelt die 
hier sich häufenden Probleme und wie weit wir noch von einer 
Lösung derselben entfernt sind. Und ich hatte den deutlichen 
Eindruck, daß so mancher von den Rednern sich im Eifer für die 
gute Sache allzuweit von dem Boden der realen, leider ja oft recht 
grausamen Tatsachen entfernte und die schweren Schädigungen der 
menschlichen Gesellschaft durch die Geschlechtskrankheiten mit 
völlig ungenügenden und in absehbarer Zeit nicht durchzufiihrenden 
Mitteln zu bekämpfen suchte. 

Doch davon ist hier nicht zu handeln; wir stehen im aller¬ 
ersten Anfang unserer Bestrebungen, wir tasten noch unsicher 
herum nach den besten Mitteln und Methoden zur Bekämpfung 
dieser Geißel der Menschheit und wir müssen noch sehr viel Be¬ 
obachtungsmaterial sammeln, sehr viele Erfahrungen sicherstellen, 
ehe wir eine einigermaßen vertrauenswerte Basis für unser gesamtes 
Handeln gewinnen werden. Die Vermischung der verschieden¬ 
artigsten ethischen, moralischen, sozialen, juristischen, ärztlichen, 
volkshygienischen und gesundheitspolizeilichen Fragen ist auf diesem 
Gebiete eine so innige, daß eine Einigung über die wichtigsten Ma߬ 
regeln noch nicht so bald zu erzielen sein wird. Es fällt mir auch 
gar nicht ein — da ich mich durchaus nicht berechtigt fühle, über 
die meisten von diesen Dingen mitzureden —, hier weitergehende 
Betrachtungen über dieselben anzustellen. 

Zeitachr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 1 


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2 


Erb. 


Ich will lediglich als älterer erfahrener Arzt zunächst nur 
eine rein ärztliche Frage erörtern: Die Frage, ob die absolute 
sexuelle Abstinenz vollkommen unschädlich sei oder nicht 

Während man früher eher zu der Annahme hinneigte und sie 
wohl auch als bequeme Entschuldigung für die Befriedigung des 
Geschlechtstriebes vor und außer der Ehe benützte, „daß die ge¬ 
schlechtliche Enthaltsamkeit etwas Gesundheitsschädliches sei", hört 
man neuerdings immer häufiger und mit größerer Bestimmtheit 
das Gegenteil behaupten: „Die Enthaltsamkeit sei vollkommen 
unschädlich!" Vorsichtige setzen allerdings dazu: „im allge¬ 
meinen". 

Da diese Behauptung auch in der zweiten Sitzung des ge¬ 
nannten Kongresses geäußert wurde, sah ich mich — ganz gegen 
meine Absicht und ohne jede Vorbereitung — veranlaßt, derselben 
vom Standpunkte des Nervenarztes entgegenzutreten und sie wenigstens 
einzuschränken, in Erinnerung an manche, nicht so seltene, Fälle 
aus meinem Beobachtungskreis, bei welchen ich den entschiedenen 
Eindruck gewonnen hatte, daß die freiwillige oder erzwungene 
Abstinenz doch von zweifellos störender Einwirkung auf das Be¬ 
finden und die Leistungsfähigkeit der Individuen war; manche 
schienen dadurch geradezu erkrankt oder bei bereits vorhandenen 
Krankheiten ungünstig beeinflußt zu sein. 

Der jetzt erschienene Kongreßbericht zeigt, wie ich glaube, 
daß ich mich dabei ganz vorsichtig ausgedrückt, und von den in 
der Diskussion mir nachträglich zugeschriebenen Äußerungen und 
Absichten nichts gesagt habe. Zu meiner Genugtuung habe ich 
denn auch schon während des Kongresses wie nachher noch brief¬ 
lich eine ganze Anzahl von zustimmenden Äußerungen von Kollegen 
erhalten, ja es war mehrfach geradezu von einem „erlösenden Wort" 
die Rede, das ich gesprochen hätte. 

Dies gab mir Veranlassung, noch weiter über den Gegenstand 
nachzudenken und mir in der Erinnerung die Fälle zu vergegen¬ 
wärtigen, die mir diesen Eindruck hinterlassen hatten. Leider 
habe ich mich mit dem Gegenstand nie systematisch beschäftigt, 
keine Fälle speziell notiert und keine genaueren Aufzeichnungen 
gemacht, so daß ich von einer wissenschaftlichen Bearbeitung der 
Frage zu meinem Leidwesen weit entfernt bin. Immerhin habe 
ich in meinen Journalen eine Anzahl von Fällen wieder auf¬ 
gefunden und gestatte mir deshalb die folgenden Bemerkungen, 
die ich jedoch mit allem Vorbehalt mache und nur als eine An- 


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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


3 


regung zu weiteren Studien — für mich selbst und für andere — 
angesehen wissen möchte. 

Die genannte Frage wird zurzeit hauptsächlich und in erster 
Linie für die Männer aufgeworfen; dieselben haben ja ohne Frage 
den weitaus größeren Geschlechtstrieb, sind das werbende, an¬ 
greifende, überwältigende Geschlecht. Es unterliegt jedoch keinem 
Zweifel, daß — wie auch eine der Rednerinnen auf dem Kongreß 
sehr deutlich aussprach — auch die Frauen ihre sexuellen Be¬ 
dürfnisse haben und deshalb auch für sie die Frage von den 
Folgen der geschlechtlichen Enthaltsamkeit zur Diskussion steht. 

Es ist besser, die beiden Geschlechter getrennt zu behandeln. 

Die Natur hat die Erhaltung der menschlichen Gattung da¬ 
durch gesichert, daß sie die Menschen mit einem mächtigen Triebe, 
dem Fortpflanzungstrieb ausgestattet hat, dessen Erwachen, Be¬ 
stehen, Betätigung und Befriedigung einerseits mit den stärksten 
körperlichen Lustgefühlen betont ist, andererseits die schönsten Blüten 
geistiger, seelischer und kultureller Entwicklung im Menschen zeitigt, 

Wenn nun ein Redner bei dem Kongreß geäußert hat, daß er 
„in der Ausübung des Geschlechtsaktes kein angeborenes Menschen¬ 
recht erkennen könne", so wird dieser merkwürdige Satz vielleicht 
vom rechtsphilosophischen Standpunkte aus unanfechtbar sein, aber 
in dieser Welt der Realitäten doch nur von den wenigsten im Ernst 
aufrecht erhalten werden. 

Wenn die Natur den Menschen einen so mächtigen, alles über¬ 
ragenden Trieb einpflanzt und wenn dieser Trieb für die Erhaltung 
des Menschengeschlechtes von fundamentalster Bedeutung ist, so 
hat doch gewiß der Mensch — der männliche sowohl wie der 
weibliche — ein unzweifelhaft angeborenes Recht, ja man kann 
sagen einen von der Natur ihm auferlegten Zwang, die 
Pflicht, ihn zu befriedigen, nicht sowohl im Interesse seiner 
eigenen Erhaltung, sondern für die Erhaltung der Art. Dem kann 
sich der Mensch, als Gattungsindividuum, nicht entziehen, wenn 
auch die Befriedigung des Triebes — wieder im Interesse der 
Erhaltung und Kräftigung der menschlichen Gattung, aber auch 
aus ethischen, moralischen und sozialen Gründen — mit allerlei 
Einschränkungen umgeben sein mag. Eine gewisse Zügelung und 
Regelung des mächtigen Triebes ist ja aus vielen Gründen wünschens¬ 
wert und notwendig. 

Die Erfahrung lehrt, daß die einzelnen Menschen mit einer 
sehr verschiedenen Stärke des sexuellen Triebes ausgestattet sind 

l* 


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4 


Erb. 


es gibt da ganz enorme individuelle Unterschiede: hochgradig ent¬ 
wickelten, mäßigen, schwachen oder gänzlich fehlenden Trieb; stark 
erregbare, leidenschaftliche, unersättliche Naturen und ganz stumpfe, 
kalte, gleichgültige — sog. Naturae frigidae. 

Für diese letzteren ist natürlich die Enthaltsamkeit außer¬ 
ordentlich leicht und ohne alle üble Folgen. Aber wie wirkt die¬ 
selbe auf gesunde Menschen mit mittlerem bis sehr starkem Ge¬ 
schlechtstrieb? Oder wie wirkt sie auf krankhaft disponierte, 
nervöse, erregbare oder bereits kränkliche und kranke Menschen? 

Darüber nur einige Andeutungen! 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß gesunde junge Männer 
mit starkem Geschlechtstrieb unter der Abstinenz nicht wenig zu 
leiden haben; daß sie zeitweise von dem Triebe „wie besessen' 1 
sind, daß sich ihnen erotische Gedanken überall eindrängen, sie 
in der Arbeit und in der Nachtruhe stören und gebieterisch nach 
Entlastung verlangen; ich muß mich dabei immer des Zitats eines 
meiner Jugendfreunde, eines jungen Künstlers, erinnern, der bei 
der Besprechung dieser Dinge bedeutungsvoll zu sagen pflegte: 
„Wer nie die kummervollen Nächte in seinem Bette weinend saß ...“ 
u. s. w., und derselbe Mann wußte die erlösende, entlastende und 
geradezu erfrischende Wirkung einer zeitweiligen Befriedigung nicht 
genug zu rühmen; und das gleiche ist mir unzählige Male von 
ernsten, durchaus mäßigen Männern bestätigt worden. 

Ein typisches Beispiel dafür ist mir ein Mann, den ich seit 
Dezennien öfter an kleinen Störungen verschiedener Art behandelte 
und mit dem ich diese Fragen gelegentlich besprach; ein Mann 
von ganz hervorragender körperlicher und geistiger Leistungsfähig* 
keit, von lebhaftestem Temperament, ungewöhnlicher Energie und 
streng moralischen Grundsätzen. — Als Jüngling früh verlobt, lebte 
er stets völlig abstinent und hat während der 5—6 jährigen Ver¬ 
lobungszeit schwer unter den sexuellen Erregungen gelitten, Störungen 
bei der Arbeit, nächtliche Unruhe, mehr oder weniger häufige Pollu¬ 
tionen u. dergl. gehabt. Mit der Heirat hörte das alles auf. — 

Ganz ähnliche Angaben machte mir ein anderer Herr, hervor¬ 
ragender Arzt, der in der Jugend, während einer etwas protra¬ 
hierten Verlobungszeit, mit häufigen sexuellen Erregungen zu 
kämpfen hatte und damals die ersten Anfänge eines späteren, ziem¬ 
lich ernsten neurasthenischen Leidens bekam. 

Von einem anderen mir bekannten Herrn mit normal ent¬ 
wickeltem, ziemlich lebhaftem Sexualtrieb, der nach mehrjähriger 


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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


5 


Ehe seine junge Frau verlor, erfuhr ich, daß er in den drei Jahren 
bis zu seiner Wiederverheiratung, trotz des schweren Kummers 
und sehr angestrengter geistiger und körperlicher Tätigkeit, bei 
völliger Abstinenz sehr schwer unter den Anfechtungen des Sexual¬ 
triebes gelitten habe. Dasselbe haben mir noch andere, in jungen 
Jahren verwitwete Männer erzählt. Und das gleiche gilt von 
manchen sexuell erregbaren Männern, welche in der Ehe, um 
weiteren Kindersegen zu verhüten und weil sie aus moralischen 
Bedenken die üblichen Mittel zur Verhütung der Konzeption nicht 
anwenden wollen, völlig enthaltsam leben. Auch hier sind ge¬ 
legentlich üble sexualneurasthenische Folgen von mir beobachtet 
worden. — Ich kenne einen, jetzt schon in die Sechziger einge¬ 
tretenen, aber ungewöhnlich rüstigen und sexuell noch ganz leistungs¬ 
fähigen Mann, dem seit 6—8 Jahren aus äußeren Gründen der 
eheliche Verkehr versagt ist und der völlig abstinent lebt, sich 
aber davon entschieden geschädigt fühlt; es treten häufig geradezu 
krankhafte Störungen, schmerzhafte Kongestionen ad testes, Stö¬ 
rungen der Arbeitsfähigkeit u. s. w. auf, so daß doch an der 
„krankmachenden“ Wirkung der Enthaltsamkeit keinZweifel sein kann. 

Viele von den jungen Männern, welche sich aus moralischen 
Gründen oder unter dem Zwang der Verhältnisse, oder aus Furcht 
und Ekel vor der Prostitution der Enthaltsamkeit befleißigen, werden 
durch den übermächtigen Trieb der Onanie zugeführt; wohl denen, 
bei welchen es dann nur bei der seltenen, dem übermächtigen 
Zwange gehorchenden, häufig nur halb im Schlafe geübten „Not¬ 
onanie“ bleibt! 

Manche andere werden dadurch wirklich krank; sie verfallen 
der Onanie in stärkerem Maße und werden dadurch neurasthenisch, 
körperlich und geistig leistungsunfähig — das brauche ich nicht 
zu schildern. Mancher von diesen überwindet auch die Onanie, 
kommt aber dann aus dem Regen in die Traufe, wenn er versucht, 
vollkommen abstinent zu bleiben; so sah ich erst vor kurzem einen 
35jährigen unverheirateten Mann, der, mit starker Libido ausge¬ 
stattet, jahrelang onaniert hatte; seit drei Jahren hat er der Onanie 
gänzlich entsagt, ohne natürlichen Geschlechtsverkehr zu suchen: 
seitdem ist er krank, hat lästige örtliche Beschwerden in der 
Urethra, am Perineum, im Kreuz u. s. w.; er ist Neurastheniker 
geworden und in seiner Arbeitsfähigkeit erheblich gestört 

Ferner einen 36 jährigen protestantischen Geistlichen, seit zwei 
Jahren verlobt, den ich schon als Studenten behandelte, der nie 


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Erb. 


onanierte und an mäßigen Pollutionen litt Er ist seit Jahren 
neurasthenisch, hat starke Libido und viel nächtliche Erektionen; 
er leidet sehr unter der stets geübten Enthaltsamkeit und ist 
neuerdings wieder viel kränker geworden (Rückenschmerzen, Müdig¬ 
keit, Herzklopfen, Schlaflosigkeit, Verstimmung u. s. w.). 

Ebenso erging es einem 59 jährigen katholischen Geistlichen, 
der von jeher nervös war und immer sehr unter sexuellen An¬ 
fechtungen litt; er hatte sehr viel erotische Phantasien, onanierte 
in der Jugend, wurde früh neurasthenisch und blieb es sein ganzes 
Leben in hohem Grade; er ist dabei ein kräftiger, wohlgenährter 
Mann. In meinem Journal findet sich bei ihm die Randbemerkung: 
„Opfer des Zölibats“. 

Ein ähnliches, viel schwereres Beispiel kenne ich seit mehr 
als zehn Jahren an einem katholischen Geistlichen, einem jetzt 
schon älteren Mann, der — mit sehr starker Libido sex. begabt — 
in der Jugend stark onanierte, unsäglich unter den geschlechtlichen 
Erregungen, heftigen Erektionen u. dergl. litt und in stets erneuertem 
Kampfe immer wieder der Onanie erlag. — Mit 50 Jahren wurde 
er schwer neurasthenisch und hypochondrisch bis zur Psychose; 
durch geeignete Behandlung temporär geheilt, wurde er immer 
wieder rückfällig durch den übermächtigen Trieb; erst in den 
letzten Jahren — der Kranke ist jetzt über 60 Jahre alt — treten 
die krankhaften Erscheinungen allmählich zurück. 

Diese Fälle ließen sich wohl leicht vermehren, jeder erfahrene 
Nervenarzt wird ähnliche gesehen haben; doch ist ihre Beurteilung 
oft recht schwierig; die Verhältnisse liegen sehr kompliziert, und 
häufig wird die Reihenfolge der Erscheinungen, ob primäre oder 
sekundäre Onanie u. dergl. nicht sicher festzustellen sein. Jeden¬ 
falls bedarf es hier noch eingehender und auf exaktere Frage¬ 
stellung gegründeter Untersuchungen. 

Es scheint mir aber schon jetzt kaum zweifelhaft, daß auch 
gesunde Männer mit regem Geschlechtstrieb durch die Enthalt¬ 
samkeit geschädigt, daß sie jedenfalls sehr belästigt und in ihrer 
psychischen Leistungsfähigkeit, in ihrer Arbeitslust, Stimmung u. s. w. 
entschieden beschränkt werden; wie häufig daraus wirklich Krank¬ 
heit entstehen mag, entzieht sich meiner Beurteilung. — Zweifellos 
aber gilt dies in höherem Grade für neuropathisch belastete Indi¬ 
viduen — deren Zahl ja außerordentlich groß ist; dieselben sind 
häufig von Hause aus mit einem besonders regen Geschlechtstrieb 
ausgestattet und leiden durch dessen unbefriedigte Anforderungen, 


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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


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durch Pollutionen, Zwangsonanie, Störung der Nachtruhe und der 
Arbeitsfähigkeit, auch durch die Entwicklung der verschiedenen 
Formen „sexueller Neurasthenie“ in hohem Maße. — Aber das 
sind wirklich Kranke, die einer gesonderten Beurteilung und Be¬ 
handlung bedürfen und für welche wohl auch gerade die Aufnahme 
eines geregelten sexuellen Verkehrs nicht immer leicht und von 
heilsamer Wirkung ist 


Sehr viel schwieriger sind in dieser Frage die Verhältnisse 
bei den Frauen zu beurteilen. Sie sind durch ihr natürliches 
und anerzogenes Schamgefühl zu sehr viel größerer Zurückhaltung 
geneigt; zartfühlende Rücksicht auf den Mann und die Familie 
zwingen sie oft zum Schweigen über diese ganz intimen Dinge, so 
daß es meist schwierig und nur durch sehr behutsames Fragen 
möglich ist, die Wahrheit zu erfahren, wenn auch nur andeutungs¬ 
weise. Wenn aber der Arzt einmal älter ist, eine hervorragende 
Vertrauensstellung genießt und mit dem nötigen Takt und auch 
hinreichender Offenheit zu forschen versteht, erschließen sich ihm 
auch auf diesem Gebiete vielerlei Dinge. Und so vermag ich aus 
meiner in den letzten Dezennien wachsenden Erfahrung doch einige 
Andeutungen zu machen, die Licht auf diese Seite der Frage bei 
dem weiblichen Geschlecht (aus den höheren Ständen) werfen. — 
Es finden sich auch in der Literatur nicht wenige Andeutungen 
darüber; jeder erfahrene Nervenarzt wird eine Anzahl von Be¬ 
obachtungen darüber besitzen. 

Im allgemeinen schreibt man den Frauen gewöhnlich einen 
geringeren Sexualtrieb zu als den Männern. Dies trifft wohl auch 
zu für jugendliche und jungfräuliche Individuen, welche noch nicht 
in Berührung mit Männern gekommen sind und deren Geschlechts¬ 
lust und Sinnlichkeit noch nicht direkt erregt wurden; später, 
wenn der Geschlechtsverkehr einmal begonnen hat, pflegt das in 
der Regel sich zu ändern und die sexuellen Bedürfnisse treten 
auch bei Frauen lebhafter hervor und verlangen Befriedigung. 
Auch bei Frauen kommen sehr erhebliche Verschiedenheiten in 
der Intensität des Triebes vor; es ist bekannt, daß es nicht wenige 
Frauen gibt, die sehr starke und ungezügelte sinnliche Neigungen 
haben, gerade wie die Männer. 

Auf der andern Seite ist aber auch zu betonen, daß es unter 
den Frauen ganz auffallend viele sog. Naturae frigidae gibt, welche 


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8 


Erb. 


gar keinen Sinn für den geschlechtlichen Verkehr haben, die ihn 
geradezu perhorreszieren, als etwas Gleichgültiges oder direkt Wider¬ 
wärtiges empfinden; besonders häufig findet sich das bei Frauen, 
bei denen man nach allgemeiner Annahme eher das Gegenteil er¬ 
wartet — bei Hysterischen. Darüber besitze ich eine ganze Reihe 
von Erfahrungen, die nicht bloß auf den — ja nicht immer zu¬ 
verlässigen — Angaben der Hysterischen selbst, sondern auch auf 
den Mitteilungen ihrer Ehemänner beruhen. Man wird nicht fehl¬ 
gehen, wenn man solche Zustände als nicht mehr ganz normal 
betrachtet. Jedenfalls aber ist Pathogenese sehr schwer fest¬ 
zustellen; sie liegt wohl vielfach auf psychologischem Gebiet, auf 
dem Mangel an wirklicher Liebe und an intimeren geistigen Be¬ 
ziehungen zu dem Manne u. dergl. 

Ob aber bei ganz gesunden Frauen mit normalem, mehr oder 
weniger starkem Geschlechtstrieb die ihnen nur allzu oft aufge¬ 
zwungene oder von ihnen freiwillig erwählte völlige Enthaltsamkeit 
von schädlichen Folgen ist, das steht in Frage. Es ist sehr schwierig, 
darüber ein bestimmtes Urteil zu geben; denn es ist recht schwer, 
in die ganze Entwicklung dieser Dinge von der Kindheit oder 
Pubertätszeit einzudringen und wirklich zuverlässige Angaben zu 
erhalten. 

Am leichtesten gelingt dies noch bei längere Zeit verheirateten 
Frauen, die nach und nach Kenntnis von den sexuellen Dingen 
und ihrer weittragenden Bedeutung erlangt haben und sich mit 
einer gewissen Offenheit aussprechen. Da gibt es Frauen, die mit 
von vornherein impotenten oder homosexualen Männern verheiratet 
sind und dadurch überhaupt einen richtigen sexuellen Verkehr 
gar nicht kennen lernten und dabei doch nicht selten sexuell stark 
erregt wurden, ohne Befriedigung zu erlangen; andere, deren 
Männer nach kürzerem oder längerem ehelichen Zusammenleben 
(mit genügender sexueller Befriedigung) dann treulos wurden und 
sie vernachlässigten; andere, die von ihren Männern geschieden 
oder frühzeitig Witwen wurden. Nicht wenige von solchen be¬ 
klagenswerten Frauen haben mir gestanden, daß sie unter der ihnen 
dadurch auferlegten Enthaltsamkeit schwer gelitten; die meisten 
sind neurasthenisch oder hysterisch geworden. Dabei ist ja freilich 
nicht immer zu sagen, wieviel bei diesen Dingen die rein körper¬ 
liche Schädigung, wieviel die fast immer damit verbundenen schwe¬ 
ren Gemütsbewegungen, die psychischen Traumata, bewirkten. Die 
Verknüpfung der rein physischen und der psychischen Momente beim 


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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


9 


Geschlechtsverkehr ist ja bei Frauen eine viel engere als beim Manne, 
was die Abwägung derselben sehr erschwert. 

Ein derartiger Fall, den ich schon im Jahre 1889 kennen 
lernte, hat mir besonders tiefen Eindruck gemacht: eine damals 
37jährige blühende und lebhafte Frau erzählte, daß sie seit 
19 Jahren mit einem anscheinend von vornherein impotenten 
(wahrscheinlich homosexualen) Mann verheiratet wurde, den sie 
liebte und verehrte. Trotz eines ganz seltenen, und offenbar von 
dem Mann nur hier und da künstlich ermöglichten Geschlechts¬ 
verkehres bekam sie im Lauf der Jahre 5 Kinder; aber sie gestand, 
daß sie — als eine leidenschaftliche Natur — durch diese Ver¬ 
hältnisse sehr unglücklich geworden sei und schwer darunter ge¬ 
litten habe. Seit 5—6 Jahren ist sie hochgradig neurasthenisch. 

Von erfahrenen Nervenärzten, die sich speziell mit diesem 
Gegenstand befaßten, wurde mir mitgeteilt, daß sie zahlreiche 
ähnliche Erfahrungen an Frauen gemacht hätten, die während der 
Ehe oder nach der Trennung derselben zur Abstinenz gezwungen 
waren und dadurch in Zustände von hochgradiger nervöser Er¬ 
schöpfung oder Aufregung, selbst von drohenden oder wirklichen 
Psychosen verfielen. 

Bei jungfräulichen Individuen wird alles darauf ankommen, 
wie hoch der Grad ihrer sexuellen Erregbarkeit von Hause aus 
ist, ob sie temperamentvolle, sinnlich angelegte, oder mehr kühle 
Naturen sind, ob und wie frühzeitig ihr Geschlechtstrieb durch 
Lektüre, lascive Unterhaltungen mit bereits „aufgeklärten“ Freun¬ 
dinnen, durch engeren Verkehr mit jungen Männern, durch sexuelle 
Erregung ohne Befriedigung geweckt wurde oder nicht — Zweifel¬ 
los spielen dabei wohl auch unbewußte, von den Genitalien aus¬ 
gehende Erregungen, über die sich die Betreffenden gar nicht klar 
sind, eine gewisse Rolle und können zum Ausgangspunkt für 
nervöse Schädigungen werden. — Außerdem kann die bei solchen 
Frauen nicht selten ausgelöste Onanie, besonders von dem Moment 
an, wo dieselbe als etwas Ungehöriges erkannt wird, auf einem 
Umwege zu ernsteren nervösen Störungen führen. 

Es ist ja sehr schwer, selbst für den älteren und im Ver¬ 
trauen der Kranken stehenden Arzt, von jungfräulichen Personen 
darüber Auskunft zu verlangen; es muß dabei mit viel schonendem 
Takt verfahren werden und ich habe sehr oft die Fragestellung 
unterlassen, aus Furcht, verletzend auf die Frauen zu wirken, oder 
ihre Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die ihnen vielleicht 


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Erb. 


besser verborgen blieben. Immerhin habe ich auch auf diesem 
Gebiete eine Reihe von Erfahrungen gesammelt, welche mir den 
bestimmten Eindruck hinterließen, daß auch bei reinen, moralisch 
unberührten jungen und älteren Mädchen von diesen Verhältnissen 
nicht selten Schädigungen ausgehen, deren Größe sich natürlich 
wieder nach der Disposition und dem Naturell der Betreffenden, 
nach etwa schon vorhandenen nervösen Erkrankungen und Anlagen 
u. dgl. richtet. 

Zweifellos gibt es eine nicht geringe Zahl von alt gewordenen 
Jungfrauen, mit hervorragender Geistes- und Herzensbildung, 
strengster Moral und vollkommener Keuschheit, welche durch diese 
Entbehrung ganz oder halb krank geworden, um ihr Lebensglück 
betrogen und in ihrem ganzen Wesen geknickt sind. Ich kenne 
deren mehrere, blühende und normal angelegte Mädchen, die ein¬ 
gestandenermaßen etwa um die Mitte der zwanziger Jahre — dies 
scheint das kritische Alter zu sein — durch halb unbewußte 
sexuelle Erregungen, durch die Nichtbefriedigung ihrer Sehnsucht 
nach Liebe und Mutterschaft körperlich und seelisch erkrankten: 
leichte psychische Störungen mit erotischer Betonung, sexuelle 
Vorstellungen, Phantasien und Halluzinationen traten auf; oder 
auch schwere seelische Depression, verbunden mit Unterleibsleiden 
(Dysmenorrhöen, Fluor u. s. w.) — und erst allmählich reifte die 
Einsicht über die Quelle dieser Störungen. Erst mit reiferen 
Jahren, jenseits der Vierzig, können diese Stürme überwunden 
werden, wenn solche Frauen die geistige und sittliche Kraft be¬ 
sitzen, sich durch irgend eine Berufstätigkeit, Beteiligung an so¬ 
zialen, wohltätigen und anderen Bestrebungen abzulenken und Er¬ 
satz für den ihnen versagten natürlichen Beruf zu schaffen. 

Im Jahre 1896 konsultierte mich eine damals 33jährige junge 
Dame, die seit mehr als drei Jahren schwer hystero-neurasthenisch 
war. — Sie hatte jahrelang stark an Menorrhagien gelitten und 
war gynäkologisch vielfach behandelt worden; sie gestand, daß sie 
sehr viel von sexuellen Erregungen zu leiden gehabt habe, angeb¬ 
lich ohne dadurch der Onanie verfallen zu sein. — Im Jahre 1898 
ging sie eine Neigungsheirat ein; ihr sexuelles Leben war im ersten 
Jahre der Ehe noch ganz gestört dadurch, daß sie weder Genuß 
noch Befriedigung von dem ganz normaliter geübten ehelichen 
Verkehr hatte; erst allmählich kehrten diese Verhältnisse zur Norm 
zurück und damit besserten sich auch die nervösen Störungen. 

Kurz will ich auch noch einen anderen Fall erwähnen von 


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Bemerkungen Uber die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


11 


einer älteren Jungfrau, die im Jahre 1894 bereits 48 Jahre zählte 
und seit ihrem 40. Jahre an starker sexueller Erregtheit, an 
häufigen und quälenden erotischen Träumen litt; es war nicht 
sicher zu ermitteln, ob sie in der Jugend jemals sexuellen Verkehr 
gehabt hatte, wohl aber war sie vielfach sexuellen Erregungen 
ohne Befriedigung ausgesetzt und war, wie sie selbst angab, immer 
„eine sehr verliebte Natur“. Sie litt an schweren hystero-neurasthe- 
nischen Erscheinungen, Angst- und Depressionszuständen und hat 
bis heute, wo sie im 56. Jahre steht, noch immer unter diesen 
Störungen, wenn auch mit erheblicher Abnahme der sexuellen Er¬ 
regungen und Träume, zu leiden. 

Es ist nicht nötig, weitere Fälle anzuführen; ich habe den 
Eindruck, daß erhebliche Schädigungen durch die sexuelle Ent¬ 
haltsamkeit nicht übermäßig häufig sind, bei Männern schon 
deshalb nicht, weil dieselbe doch wohl nur selten von ihnen in 
strenger Weise geübt wird, und weil denen, welche sich dadurch 
geschädigt glauben, der Weg zur Heilung durch den ihnen überall 
zugänglichen sexuellen Verkehr, oder auch durch spontane Pollu¬ 
tionen oder durch die „Not-Onanie“ offen steht. — Bei Weibern 
wage ich kein bestimmtes Urteil über die wirkliche Häufigkeit 
dieser üblen Folgen, weil der Erforschung hier viel größere Schwierig¬ 
keiten entgegenstehen; immerhin mögen Schädigungen bei reinen 
und keuschen Jungfrauen relativ selten zu Tage treten, weil sie 
einen an und für sich geringeren, noch schlummernden Geschlechts¬ 
trieb haben; sicherer wohl bei Verheirateten, deren Libido durch 
den Geschlechtsgenuß geweckt ist, welche die Lustgefühle desselben 
kennen gelernt haben und deren Natur dann auch gebieterisch die 
Vorgänge des sexuellen Verkehrs und der Mutterschaft verlangt. 

Es ist zu erwarten, daß erfahrene weibliche Frauenärzte, 
welche diesem Gegenstände ihre Aufmerksamkeit schenken, uns 
bald darüber genauere und sicherer fundierte Erfahrungen mitteilen 
werden. Ich hatte Gelegenheit, mit einer solchen Kollegin, die 
schon seit einer Reihe von Jahren praktiziert, den Gegenstand zu 
besprechen und habe von ihr wertvolle Aufschlüsse und meine vor¬ 
stehenden Ausführungen in der Hauptsache bestätigende Mit¬ 
teilungen erhalten. 

Ich muß aber ausdrücklich betonen, daß ich weit davon ent¬ 
fernt bin, mit den im vorstehenden erwähnten wenigen Tatsachen 
eine irgendwie abschließende Ansicht zu begründen; die Frage ist 
damit für mich erst einmal berührt und ich möchte nur anregend 


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12 


Erb. 


wirken auf die genauere und mehr wissenschaftliche Erforschung 
derselben. Vielleicht sehen sich andere, welche diesem Gebiete 
noch eingehendere Aufmerksamkeit gewidmet haben, veranlaßt, ihre 
Erfahrungen mitzuteilen, damit wir erst einmal über ein größeres 
kasuistisches Material verfügen; dann erst können wir darüber 
klarer werden, bis zu welchem Grade die völlige Enthaltsamkeit 
bei Männern und Weibern zu wirklich krankhaften Folgezuständen 
führt. 

Daß dieselbe „absolut unschädlich“ sei, wie die Moralisten 
und auch manche Ärzte so gern glauben machen möchten, scheint 
mir schon jetzt unannehmbar. Es würden sonst wohl auch die 
ungeheuren, auf Herbeiführung der geschlechtlichen Enthaltsamkeit 
gerichteten Bestrebungen, welche die Geschichte kennt, größeren 
Erfolg gezeitigt haben. 

Ich betone außerdem ausdrücklich, daß ich es ablehnen muß, 
aus diesen bis jetzt noch dürftigen Tatsachen irgendwelche weit¬ 
gehenden Schlüsse auf unser Verhalten gegenüber der Frage zu 
ziehen, ob und bis zu welchem Grade und von wem Enthaltsam¬ 
keit geübt werden muß und mit wieviel Energie dieselbe zu er¬ 
streben sei. 

Diese Frage kann von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus 
behandelt werden; dies ausführlich zu tun, ist hier nicht der Ort 
und auch nicht meine Absicht; einige kurze Bemerkungen vom 
Standpunkt des Arztes, der ja auch Physiologe und Anthropologe 
sein muß, seien aber noch gestattet! 

Soweit es sich dabei um das Einzelindividuum, Mann 
oder Frau, handelt, welches sich etwa durch die Enthaltsamkeit 
geschädigt glaubt, oder bereits wirklich erkrankt ist, fällt die Sache 
ganz in das Bereich des Arztes; hier muß jeder einzelne Fall für 
sich betrachtet, nach allen Richtungen erforscht und objektiv be¬ 
urteilt werden. Es ist Sache des Takts und der Einsicht des 
Arztes, hier das Richtige zu treffen in bezug auf das richtige Maß 
der Enthaltsamkeit, und dabei zwischen den Forderungen der Ge¬ 
sundheit und der Moral, den individuellen Anschauungen und Nei¬ 
gungen des Kranken und den die Befriedigung umgebenden Ge¬ 
fahren zu vermitteln. Es ist lediglich Sache des Arztes, die Sache 
mit seinem Klienten und lediglich im Interesse dieses selbst zu 
erwägen und zu entscheiden. Der Moralist hat bei diesen rein 
ärztlichen Entscheidungen keine Stimme; es ist ausschließlich der 
moralische Standpunkt des Klienten selbst in Betracht zu ziehen. 


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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


13 


Weit wichtiger aber ist die Sache im Hinblick auf die volks¬ 
hygienische Frage, welcher diese Blätter dienen, auf die Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten. Hier gewinnt diese 
Frage eine enorme Bedeutung. Da diese Krankheiten fast nur 
durch den geschlechtlichen Verkehr übertragen werden und zwar 
zumeist durch den außerehelichen Verkehr, ist es selbstverständlich, 
daß denselben durch eine Beschränkung dieses Verkehrs ihre wich¬ 
tigste Quelle verstopft würde. Die extragenitalen Infektionen sind 
an sich relativ so selten, und würden auch mit der Verminderung 
der genitalen Infektionen noch sehr viel weiter zurückgehen, daß 
sie kaum in Betracht kommen. 

Nun ist es ja ohne weiteres klar, daß mit einer allseitig ge¬ 
übten Enthaltsamkeit bis zur Eheschließung die Geschlechtskrank¬ 
heiten sehr bald auf ein Minimum reduziert, ja fast gänzlich ver¬ 
schwinden würden; und diesem unendlichen Gewinn gegenüber 
dürften meines Erachtens die unzweifelhaften, wenn auch im ganzen 
relativ seltenen und geringen Gesundheitsschädigungen durch die 
Enthaltsamkeit nicht ins Gewicht fallen; eher noch die dadurch 
herbeigeführte Minderung an Lebensglück, Frische, körperlicher 
und geistiger Befriedigung! — Aber diese Enthaltsamkeit bei den 
heutigen sozialen Zuständen, bei der erschwerten, verspäteten, oft 
ganz unmöglichen Eheschließung auch nur fordern zu wollen, ist 
angesichts der realen Verhältnisse eine totale Unmöglichkeit Nur 
wer die menschliche Natur nicht kennt, wer die Genußsucht des 
Menschengeschlechts viel zu gering einschätzt, wer von der Mäch¬ 
tigkeit des Geschlechtstriebes auf beiden Seiten, von seiner über¬ 
ragenden Bedeutung für alle Lebensverhältnisse keine Ahnung hat, 
kann diese Forderung aufstellen und hoffen, daß sie erfüllt wird. 
Darüber braucht man, glaube ich, kein Wort weiter zu verlieren. 

Damit ist ja eigentlich auch die Frage, ob ohne Eücksicht auf 
die Geschlechtskrankheiten ganz im allgemeinen von Mann und 
Weib Enthaltsamkeit bis zur Eheschließung zu fordern 
sei, bereits erledigt; sie umschließt eines der schwierigsten sozialen 
und ethischen Probleme, und ist zumeist Gegenstand der Moral 
und der religiösen Ethik, liegt also abseits von unserm Gebiet. 

Aber doch hat in der Frage, wieweit der Geschlechts¬ 
verkehr, d. h. der vor- und außereheliche, zu gestatten 
oder zu empfehlen sei, von welcher Altersgrenze an derselbe 
als unschädlich zu erachten und bis zu welchem Maße er etwa 
erlaubt sei, zweifellos der Arzt mitzureden. Speziell kann die 


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14 


Erb. 


neuerdings mit steigender Energie aufgestellte Forderung, daß in 
dieser Beziehung Mann und Weib vollkommen gleichgestellt werden 
sollten, daß — was man dem einen, dem männlichen Geschlecht 
ohne weiteres erlaube —, auch dem anderen, dem weiblichen 
Geschlecht zugestanden werden müsse, auch vom physiologisch¬ 
ärztlichen Standpunkt beleuchtet werden. 

Ich gestehe, daß mehrere, vor einiger Zeit erschienene, sehr 
energisch für diese Forderung eintretende Broschüren mir einen 
tiefen Eindruck machten und daß mein Billigkeitsgefühl sehr für 
die Berechtigung dieser Forderung eintrat. Aber es sprechen doch 
auch sehr erhebliche Bedenken dagegen. 

Es ist ja ohne weiteres klar, daß die Bewahrung der Keusch¬ 
heit, die Erhaltung der „Jungfräulichkeit“ für das Weib von ganz 
anderer Bedeutung ist als für den Mann. Die Geschichte lehrt, 
welch großen Wert man zu allen Zeiten bei den Kulturvölkern 
auf dieselbe bei dem Weibe gelegt hat, gewiß nicht bloß wegen des 
brutalen männlichen Egoismus, sondern wohl wesentlich im Interesse 
der Familien- und Rassenreinheit; und solange bei den modernen 
Kulturvölkern die auf monogamer Ehe begründete Familie die 
Grundlage unseres ganzen Gesellschaftslebens und des Staates 
bildet, wird diese Wertschätzung bestehen. Besitzt ja doch auch 
die Sprache gar kein Wort, welches diesen Zustand der „Jungfräu¬ 
lichkeit“, den Vorgang der „Entjungferung“ für den Mann be- 
zeichnete! 

Dieser Vorgang der „Deflorierung“, — der für den Mann ohne 
jede tiefere Bedeutung, ohne alle anatomischen und physiologischen 
Folgen, ja oft schon durch die natürlichen Vorgänge der im Schlafe 
erfolgenden Samenergießungen vorweg genommen ist, — ist da¬ 
gegen für das Weib von einschneidender Bedeutung: es ist nach 
demselben anatomisch verändert, und es scheint auch — das lehren 
allerlei seltsame Erfahrungen sowohl beim menschlichen Weibe wie 
in der Tierzucht —, daß mit der ersten Aufnahme der männlichen 
Keimstoffe in den weiblichen Körper, oder gar mit der ersten Be¬ 
fruchtung eine erhebliche und bleibende Veränderung in dem ganzen 
Weibe oder doch in seinen Genitalorganen und Keimdrüsen vor 
sich geht, welche nicht mehr rückgängig wird. Und deshalb darf 
man den Verlust der Jungfräulichkeit hier nicht mit dem gleichen 
Maße messen, wie beim Manne. Eher dürfte man wohl von einer 
dem Weibe auferlegten natürlichen Pflicht, die Jungfrauschaft bis 
zur Ehe oder wenigstens für einen möglichst weit hinauszuschieben- 


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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


15 


den Zeitpunkt zu bewahren, reden, ganz abgesehen von den heut¬ 
zutage doch noch ungeheuer schweren sozialen Folgen, weiche der 
außereheliche Geschlechtsverkehr und die Geburt eines Kindes für 
die Betroffenen nach sich zieht 

Das Weib ist ja bei den Vorgängen der Fortpflanzung im 
wesentlichen der leidende Teil; es ist von der Natur in geradezu 
grausamer Weise zu einer unendlich viel schwereren Rolle im 
Verkehr der Geschlechter und im Dienste der Erhaltung der Gattung 
verurteilt als der Mann; es wird vom Manne überwältigt und ge¬ 
zwungen, es muß die schwersten Opfer für die in seinem Schoße 
keimende und dann seiner Pflege an vertraute junge Generation 
bringen und nur allzuhäufig wird es nicht dafür mit der ent¬ 
sprechenden Achtung und Schonung behandelt! Und diesen großen 
Opfern gegenüber erscheint die von ihm verlangte temporäre Ent¬ 
haltsamkeit jedenfalls als das kleinere! Ein Glück, daß im allge¬ 
meinen das jugendliche, noch unberührte Weib von der Natur mit 
einem relativ geringeren Sexualtrieb ausgestattet erscheint! 

Wir können diese von der Natur beliebte ungleiche und un¬ 
gerechte Rollenverteilung beklagen, aber leider nicht ändern. 

Vielleicht ist es aber doch nicht ganz aussichtslos, die schweren 
Folgen derselben für das Weib, für sein Geschlechtsleben, für 
seine Berufserfüllung, für die Erhaltung der nationalen Kraft und 
für das Volkswohl zu vermindern, wenn auch nicht ganz zu ver¬ 
hüten. 

Vieles deutet in der neuesten Literatur darauf hin, daß diese 
Frage, die eines der schwierigsten und kompliziertesten sozialen 
Probleme in sich schließt, die Geister zu bewegen beginnt und 
sich in den Vordergrund der Erörterung zu stellen strebt. Die 
Frauen selbst sind zum Teil mit großer Lebhaftigkeit aufgetreten, 
um auch auf diesem Gebiete die Rechte des Weibes zu schützen, 
die ja freilich von der allgemeinen Sitte, von einer ungerechten 
„doppelten“ Moral vielfach mit Füßen getreten sind. Ich brauche 
nur an die Schriften von Laura Marholm, an die Broschüre: 
„Auch eine konventionelle Lüge“ (von einem evangelischen Geist¬ 
lichen), an „Das sexuelle Elend der oberen Stände“ von Heinz 
Starkenburg, an die von idealer Begeisterung und von tiefster 
Überzeugung getragene Schrift von Ruth Brö: „Das Recht auf 
die Mutterschaft“ u. a. m. zu erinnern, um diesen Satz zu be¬ 
gründen. 

Aber so viel Wahres diese Schriften auch enthalten, so er- 


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16 


Erb. 


schlitternd vielfach die von ihnen gebotenen, dem Leben ent¬ 
nommenen Schilderungen sind, so sind sie andererseits auch zum 
Teil nicht frei von maßlosen Übertreibungen und zeugen vielfach 
von einem allzuweit gehenden Optimismus, der die schweren 
Hindernisse, die sich den Reformbestrebungen auf diesem Gebiete 
zurzeit und wohl noch für lange entgegenstellen, gänzlich über¬ 
sieht, oder doch viel zu gering einschätzt Für einen Teil dieser 
Autoren scheinen durchaus gar keine anderen Triebkräfte bei der 
reifgewordenen Jugend zu existieren, als die sexuellen; von den 
doch auch mitsprechenden moralischen, sittlichen, religiösen Mächten, 
von höheren Bestrebungen, Berufsinteressen, ja selbst von dem sehr 
verschiedenen Grad des individuellen geschlechtlichen Bedürfnisses 
ist gar keine Rede; diese Dinge sprechen doch ebenfalls mit! 

Dem gegenüber machen die auf solider wissenschaftlicher 
Grundlage ruhenden Darlegungen eines hervorragenden Frauen¬ 
arztes, Max Runge, einen sehr wohltuenden Eindruck. Er be¬ 
handelt in einem feinsinnigen und gedankenreichen Vortrag „über 
das Weib in seiner Geschlechtsindividualität", von einem den 
Forderungen des Weibes durchaus wohlwollenden Standpunkte aus 
die vorliegenden Probleme und betont die großen Gefahren einer 
falschen Lösung derselben. Und dabei ist eine richtige Lösung 
derselben doch in hohem Grade wünschenswert 

Die von mehreren der genannten Autoren vorgeschlagenen 
Lösungsversuche sind nicht frei von großen Bedenken; während 
der eine den freien Verkehr der Geschlechter aus Liebe gestatten 
will, aber zur Beseitigung der Folgen derselben für das Mädchen 
vor dem unnatürlichen Präventivverkehr und selbst vor der Kinds¬ 
abtreibung (!) nicht zurückscheut, im übrigen aber für Findelhäuser, 
bessere Sorge für die unehelichen Kinder u. dgl. eintritt, weiß der 
Verf. des „Sexuellen Elends der oberen Stände", der seinen „Not¬ 
schrei" am lautesten und eindringlichsten ertönen läßt, sich selbst 
gar keinen Rat und ruft die politischen Machthaber zur Hilfe auf 
in dieser sozialen Not 

Und die von einem hohen idealen Streben und sittlichem 
Ernst getragenen Vorschläge von Ruth Brö, die auf die Heran¬ 
bildung eines Standes der „freien Frau" mit dem notwendigen Kinde 
hinauslaufen, sind gewiß von einem allzu großen Optimismus dik¬ 
tiert und lassen eine bedauerliche Verkennung der wahren Menschen¬ 
natur und eine starke Unterschätzung der unendlichen Schwierig¬ 
keiten durchblicken, welche sich bei dem jetzigen Stande der 


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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


17 


öffentlichen Moral, der religiösen und sittlichen Anschauungen und 
der Gesetzgebung der Anerkennung der „freien Frau“ und ihrer Kinder 
entgegenstellen. Besonders scheint mir der Verfasserin entgangen 
zu sein, daß der von ihr als ziemlich allgemein angenommenen, 
und gewiß bei vielen edlen und gebildeten weiblichen Wesen auch 
vorhandenen „Sehnsucht nach der Mutterschaft“ eine wohl noch 
weiter verbreitete und selbst bei verheirateten jungen Frauen be¬ 
klagenswert häufige „Angst vor der Mutterschaft“ gegentibersteht; 
diese bedauerliche, der eigentlichen Frauennatur durchaus wider¬ 
sprechende, für die Erhaltung der Völker geradezu bedenkliche 
Tatsache wird jeder erfahrene Frauenarzt bestätigen; sie ist ja in 
neuester Zeit auch von Politikern bereits gewürdigt worden. 

Bei allem Bedauern darüber, daß dabei „so viel mütterliche 
Kraft verloren geht“ braucht man sich nur einmal im Detail aus¬ 
zumalen, welche Folgen das Erscheinen der „freien Frau“ mit 
ihrem Kinde für beide haben wird, welche Schwierigkeiten sie zu 
überwinden haben werden und wie dann auch mit dem ersten 
„notwendigen Kinde“ doch häufig die „Sehnsucht nach der Mutter¬ 
schaft“ oder richtiger gesagt, nach sexuellem Verkehr und sexueller 
Befriedigung keineswegs gestillt sein wird — um zu sehen, daß 
hier wohl die ersten gesunden Keime einer künftigen Entwicklung 
vorliegen, daß dieselben aber mit der größten Vorsicht gehütet 
werden müssen, wenn nicht unsägliches Elend über die Vorkämpfe¬ 
rinnen auf diesem Felde hereinbrechen soll. 

Es muß anerkannt werden, daß hier vielversprechende Ge¬ 
danken zum Ausdruck gekommen sind und die von Ruth Brö 
in Aussicht genommenen Reformen, die sich auf die Erziehung 
der Jugend für die Ehe, die Herbeiführung und Gestattung einer 
freien monogamen Ehe, die Besserstellung der unehelichen Kinder, 
die Änderungen des Erbschafts- und Ehescheidungsrechts usw. 
beziehen, verdienen gewiß eingehende Erwägung. Hoffentlich ge¬ 
lingt es, allmählich eine weitgehende Besserung der heutigen, 
vielfach veralteten und unhaltbaren Zustände herbeizuführen. 


Es scheint mir fast, daß ich mich mit diesen, dies hochwichtige 
Gebiet und seine schwierigen Probleme nur streifenden Bemerkungen 
allzuweit von meinem eigentlichen Thema entferne; allein alle diese 
Dinge stehen doch in Wechselbeziehungen untereinander; es erhellt, 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Qeschlechtskrankh, II. 2 


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18 Erb. Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz. 


daß auch in der Laien- und besonders in der Frauenwelt die üblen 
Folgen der sexuellen Abstinenz mehr und mehr, vielleicht sogar 
etwas zu viel — gewürdigt werden; Reformen auf diesem Gebiete 
werden also wohl auch die den Arzt besonders interessierenden, 
krank machenden Wirkungen der Enthaltsamkeit vermindern, zu¬ 
gleich aber auch etwas zur Eindämmung der Prostitution und 
damit auch der Geschlechtskrankheiten beitragen. Und diesem 
Ziele streben wir ja doch alle zu. 


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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechts¬ 
krankheiten. 

Von Josef Köhler. 

§ 1 . 

Die Regelung der aus der Ansteckungsgefahr von Geschlechts¬ 
krankheiten hervorgehenden rechtlichen Beziehungen ist ein dringen¬ 
des Gebot der Neuzeit. Die zimperliche Scheu vergangener Jahre 
hat hier viel gefehlt und das Volk schwer geschädigt. Nament¬ 
lich in gebildeten Kreisen nagt der Schaden an dem Marke des 
Volkes. Und sollte es dahin kommen, daß die Menschheit in ihrer 
Mehrheit durchseucht wäre, so wäre es um die Kultur unseres Ge¬ 
schlechtes geschehen. 

Die frühere Zeit verkannte viel zu sehr die Gefahren, die 
aus der Ansteckungsmöglichkeit namentlich den unschuldigen Per¬ 
sonen drohen, also denen, welche sich nicht selbst geschlechtlichen 
Unregelmäßigkeiten preisgeben und trotzdem infiziert werden können, 
vor allem Ehefrauen, Kinder und Ammen. Ich erinnere mich noch 
eines Falles, daß ehedem ein Richter sehr juristisch sein wollte, 
indem er den ansteckenden Charakter der Geschlechtskrankheiten 
verneinte, weil nur derjenige infiziert werden könne, der selbst 
durch Unregelmäßigkeit in Verschulden käme. Das zeugt von 
einem geringen Einblick in die Lebensverhältnisse, wie er sich 
heutzutage selten mehr finden wird. 

§ 2 . 

Das erste und Hauptmittel der Gegenwirkung wäre ein vor¬ 
beugendes. Ich war von jeher ein Gegner des Systems, welches das 
Strafgesetzbuch ein geführt hat, wonach alle, die mit Prostitution 
zu tun haben, ohne weiteres dem Kuppeleiparagraphen verfallen. 
Man hat sich durch Scheingründe, Schlagworte und Ausdrucksformen 
vor 30 Jahren überzeugen lassen, man sprach von der Würde 
des Staates, von der Unmöglichkeit, mit dem Laster einen Bund 
zu schließen u. s. w. Dies ist alles gut und schön und treffend, 
wenn es sich um die Frage der Gültigkeit und Klagbarkeit der 
bürgerlich rechtlichen Beziehungen handelt, die sich um die Pro¬ 
stitution bewegen. Hier versteht sich von selber, daß alle Ver¬ 
pflichtungen, welche in dieser Beziehung eingegangen werden, null 

2 * 


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20 


Köhler. 


und nichtig sind, das Engagement mit einer Dirne ebenso, wie 
der Verkauf eines Bordells. Sobald man aber auf das Gebiet der 
Polizei übergebt, so muß man wissen, daß der Staat sich nicht 
in einer reinen Höhe erhalten kann, sondern sich als Kämpfender 
in die Arena begeben muß und die Schädlichkeiten nicht deshalb 
unberührt lassen darf, weil Schmutz daran klebt Und ebenso ist es 
sicher, daß umgekehrt das Strafrecht nicht alles treffen kann, was 
unser sittliches Gefühl empört und daß bei Beurteilung dessen, was zu 
bestrafen ist, die Interessen der Bevölkerung vor allem eine große 
Bolle spielen müssen, daß darum aus Gründen des sozialen Wohles 
manches straflos bleiben muß, was gegen die Sittlichkeit verstößt. 

Aus der Unsittlichkeit folgt also nicht, daß der Staat sich 
nicht um das daran geknüpfte gesellschaftliche Interesse kümmern 
darf. Aus ihr folgt auch nicht, daß der Staat ohne weiteres alles 
bestrafen soll, was mit der Prostitution verknüpft ist. 

Ich habe stets den Standpunkt verteidigt, daß der Staat be¬ 
rechtigt, ja gehalten ist, eine gewisse Toleranz zu üben und daß, 
wer immer sich im Kreis dieser Toleranz bewegt, strafrechtlich 
nicht angegriffen werden dürfe. Das war ehedem das übliche und 
ein sehr heilsames System. In diesem Kreise aber sollte die 
strengste Aufsicht geübt, außerhalb dieses Kreises die Prostitution 
strengstens verpönt werden. Damit spricht der Staat keine Billigung 
aus, er paktiert nicht mit dem Laster, er betrachtet es als eine 
ethnologische Erscheinung und sucht den Umständen die besten 
Seiten abzugewinnen. Man darf doch niemals voraussetzen, daß 
die Menschen lauter Engel oder lauter Anhänger oder Soldaten 
der Heilsarmee werden. Sind es aber einmal sündige Menschen, 
so muß man sich mit dieser Tatsache abfinden und muß nur da¬ 
für sorgen, daß die Menschheit nicht zugrunde geht. Ich erachte 
darum zunächst die Änderung des Kuppeleiparagraphen für eine 
dringende Notwendigkeit. Er wäre für alle Fälle außer Kraft zu 
setzen, wo sich jemand für den Betrieb der Prostitution die Toleranz 
des Staates erwirkt hätte. Damit könnte man ohne weiteres ver¬ 
binden, 1. daß ein solcher Beförderer der Prostitution von selbst 
der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig wäre, 2. daß ihm auch 
sonst eine erniedrigende und demütigende Stellung bereitet werde, 
soweit es nötig ist, um den Abscheu des Staates gegen solche 
Existenzen kund zu geben; 3. daß man ihm die Toleranz täglich 
und stündlich kündigen könnte, und 4. daß die strengsten Ma߬ 
regeln getroffen würden, um derartige Toleranzanstalten vor dem 


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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 21 


Publikum abzuschließen und sie dem Auge des Volkes, namentlich 
der Jugend, zu entziehen. 

Wo überall man seit dem Strafgesetzbuch in der Aufhebung 
der Toleranzen recht streng gewesen ist, ist das eingetreten, was 
vorauszusehen war. Das Übel hat sich, anstatt lokalisiert zu 
bleiben, hinein bis in das Herz des Volkes verbreitet und ist der 
Menschheit in Fleisch und Blut übergegangen. Straßen auf Straßen, 
Viertel auf Viertel wurden durchseucht, und der erste Grundsatz 
der Hygiene, die Lokalisierung des Leidens, wurde völlig über¬ 
sehen. So ist in den 30 Jahren seit unserem Strafgesetzbuch vieles 
unwiederbringlich verloren worden; aber was heutzutage noch 
geschehen kann, um dem Übel einigermaßen zu steuern, das sollte 
geschehen, und man sollte auch nicht mit dem Schlagwort „Ka¬ 
sernierung der Unzucht" auftreten, sondern vielmehr von einer 
Lokalisierung dieses Leidens der Menschheit sprechen. 

Schon seit einigen Jahren ist man mit diesem Problem be¬ 
schäftigt, aber man getraut sich nicht, ihm eine entsprechende Sank¬ 
tion zu geben. Die Widerstände, die, von gewissen moralischen Im¬ 
pulsen geleitet, derartigen Bestrebungen entgegentreten, sind zu 
mächtig gewesen. Hoffentlich wird aber die Revision des Strafgesetz¬ 
buches Gelegenheit bieten, diesen schweren Fehler unseres bis¬ 
herigen Gesetzes zu heben; denn die Verhältnisse sind doch nach¬ 
gerade so grauenvoll geworden, daß es mit einer laisser faire-Politik 
und mit dem Grundsatz, man solle sich einfach vor dem Laster 
verschließen, absolut nicht mehr weiter gehen kann. Ist die Be¬ 
völkerung erst einmal durchseucht, wie gewisse Inseln der Südsee, 
so kann die Menschheit von diesem Planeten abtreten. 

Eine solche Lokalisierung ermöglicht nun aber auch, daß dem 
medizinischen Bedürfnisse einer ärztlichen Untersuchung gründlich 
und nicht bloß scheinhaft entsprochen wird. Eine scheinhafte 
Untersuchung schadet, sie nützt nichts; sie verbreitet den Schein 
der Sicherheit, hält von Vorsicht ab und ist daher die Ursache 
vieler schwerer Erkrankungen geworden. Die Untersuchung sollte 
strengstens, sie sollte täglich, sie sollte mit allen Hilfsmitteln der 
Wissenschaft erfolgen. 

Eine absolute Notwendigkeit aber wäre es, die Untersuchung 
auch auf die Männer zu erstrecken, wie es in früheren Jahr¬ 
hunderten bereits vorgekommen sein mag, und keinen Mann zuzu¬ 
lassen, der nicht eine solche Untersuchung durchgemacht hat. Ich bin 
sicher, daß man dann in kurzer Zeit eine starke Abnahme der furcht- 


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22 


Köhler. 


baren Krankheit konstatieren kann; wobei für die nötige Verschwiegen¬ 
heit und Diskretion die größten Garantien gegeben werden könnten. 

Ich würde eine Gesetzesbestimmung in dem Sinne befürworten: 
„Jeder Bundesstaat hat das Recht, Toleranzen zu er¬ 
teilen. Die Toleranzanstalten und der Verkehr in den¬ 
selben unterliegen der polizeilichen Regelung der Bundes¬ 
staaten. Wer Toleranz hat, verfällt, sofern er sich inner¬ 
halb ihrer Grenzen hält, der Kuppeleistrafe nicht. Der 
Erwerb einer Toleranz hat den Verlust der bürgerlichen 
Ehrenrechte für die Dauer derünzuchtbeförderung, jeden¬ 
falls aber auf 5 Jahre, zur Folge. Die Bundesstaaten 
können für alle Frauenspersonen, die außerhalb einer 
Toleranzanstalt gewerblich dieUnzuchtbetreiben, Strafen 
bis zu .... festsetzen.“ 

§ 3 . 

Eine sehr wichtige Frage ist die, welche strafrechtliche Stel¬ 
lung wir zu denjenigen einzunehmen haben, welche durch ihr 
schuldhaftes Handeln die Infektionsgefahr zu einer aktuellen ge¬ 
macht und dadurch mehr oder minder schwere Verletzungen her¬ 
beigeführt haben. 

Diese Frage läßt verschiedene Seiten zu. Man hat schon 
bisher angenommen, daß, wer, selbst infiziert, die Infektion weiter 
verbreitet, sich einer Körperverletzung schuldig macht. Dies ist 
nicht zu beanstanden. Schwieriger aber ist die Frage, ob hier 
Fahrlässigkeit oder Vorsatz anzunehmen ist, und das ist ganz be¬ 
sonders deshalb von Bedeutung, weil die Körperverletzung hier 
nicht selten eine schwere ist, da sie zu einem Siechtum führt, 
und weil die schwere vorsätzliche Körperverletzung mit recht 
empfindlicher Strafe belegt wird. 

Manche haben sich darum für Annahme bloßer Fahrlässigkeit 
ausgesprochen. Indes davon kann keine Rede sein, wenn der Fall 
so vorliegt, daß der Infizierende das Bewußtsein hatte, nicht der 
bloßen Möglichkeit oder einfachen Wahrscheinlichkeit, sondern der 
Sicherheit oder dringenden Wahrscheinlichkeit der durch ihn her¬ 
vorzurufenden Ansteckung. Nun ist aber die Ansteckung, wenn 
auch nicht sicher, so doch in so hohem Maße wahrscheinlich, daß 
man ohne weiteres darauf rechnen und sie ohne weiteres voraus¬ 
setzen muß; und ist das der Fall und hat, wie gewöhnlich, der 
Täter, z. B. die Dirne, das Bewußtsein dessen, so liegt strafrecht¬ 
licher Vorsatz vor. Fraglicher kann es sein, wenn die Dirne den 


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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 23 

A infiziert und dadurch mittelbar seine Frau: in dieser Be¬ 
ziehung wird meist nur Fahrlässigkeit vorliegen. Es ist in solchem 
Falle ja die Möglichkeit gegeben, daß der Mann nicht unter der 
Infektion zu leiden hat, wohl aber die Frau, der die Infektion 
zugebracht wird. 

Allerdings liegt unter den gegebenen Voraussetzungen nicht die 
Absicht vor, zu infizieren, allein dies ist beim Vorsatz der Körper¬ 
verletzung auch nicht nötig. Wer z. B. in der Absicht, eine Krank¬ 
heitserscheinung zu erforschen, mit jemandem in einerWeise experi¬ 
mentiert, daß eine Verletzung mit annähernder Sicherheit zu erwarten 
ist, dann ist er gleichfalls der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig, 
und es ist nicht abzusehen, warum Dirnen und gewissenlose Rouös, 
bei denen es sich nicht um redliche Absichten, sondern um Ver¬ 
kommenheit und Schlechtigkeit handelt, besser gestellt sein sollten. 
Allerdings wird es Sache der Revision des Strafgesetzbuches sein, 
den Unterschied von Absicht und Vorsatz auch bei der Körper¬ 
verletzung mehr auszuarbeiten und stets im Falle der Absicht eine 
viel schwerere Bestrafung eintreten zu lassen, als im Falle des 
bloßen Vorsatzes. Eine solche Absicht kann vorliegen; sie kann 
entspringen aus Rachsucht, aus allgemeiner Bosheit, dämonischem 
Haß gegen das andere Geschlecht, sie kann auch hervorgehen aus 
dem verbreiteten schrecklichen Aberglauben, daß man frei wird, 
wenn man die Krankheit auf ein Kind oder eine reine Jungfrau 
übertragen hat. 1 ) So die Absicht. Aber der bloße Vorsatz darf 
deshalb nicht mit der Fahrlässigkeit in einen Topf geworfen werden. 
Solange unser Strafgesetzbuch besteht, werden wir den Satz ver¬ 
teidigen: Wer im Bewußtsein seiner Infektion und im 
Bewußtsein dessen, daß die geschlechtliche Verbindung 
in diesem Zustande regelmäßig eine Ansteckung zur 
Folge hat, mit einem andern geschlechtlich verkehrt, 
der haftet für vorsätzliche Körperverletzung, sobald die 
Infektion eine Erkrankung des andern herbeiführt. 

Eine verwandte Frage ist die, ob in solchem Falle auch ein 
bürgerlicher Schadensersatzanspruch des Geschädigten gegeben ist. 
Diese Frage wird in Frankreich allgemein verneint, und mit Recht; 
mindestens ist sie zu verneinen, wo immer in der infizierenden 

*) Dieser Aberglaube ist über die ganze Welt verbreitet; er beruht auf 
der volkstümlichen Vorstellung, man könne eine Krankheit abschütteln wie 
einen Handschuh, wozu noch der Glaube an die Zauberkraft jungfräulichen 
Wesens kommt. Beispiele bei Rudeck, Syphilis vor Gericht. S. 7 f. 


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24 


Köhler. 


Beiwohnung eine gesellschaftliche Schuld, eine Unsittlichkeit vor¬ 
liegt, nicht etwa dann, wenn der eine Teil durch Gewalt oder in 
bewußtlosem Zustande mißbraucht worden ist, nicht, wenn eine 
Ehefrau infiziert worden ist. Nach Analogie von § 817 B.G.B. 
muß gesagt werden: der Kläger wird nicht gehört, wenn er sich 
auf seine eigene Unsittlichkeit beruft. Eine entgegengesetzte Praxis 
ist völlig abzulehnen. Auch von einer Anwendung des § 254 
B.G.B. kann hier keine Rede sein. 

§ 4 . 

Damit ist aber dem Bedürfnis noch nicht entsprochen; denn 
es ist 1. der Fall nicht getroffen, wo die Infektion ausnahms¬ 
weise nicht eintritt, 2. wo zwar eine Infektion eintritt, aber 
die Ursächlichkeit nicht nachgewiesen werden kann, weil der andere 
Teil auch sonst noch verkehrt hat und es nicht sicher ist, von 
wem das verhängnisvolle Geschenk — das Geschenk der Damen 
von Cadix, wie es in Byrons Don Juan heißt — herrührt, 3. der 
Fall, dass bei dem anderen Teil Erscheinungen eintreten, die zwar 
krankhafter Natur sind, aber nicht sicher auf Infektion schließen 
lassen, 4. Der Fall, wo es zweifelhaft ist, ob der Infizierte nicht 
bereits vorher infiziert war. Infolge dieser Zweifelhaftigkeit wird 
die oben erwähnte Verfolgung wegen Körperverletzung meist er¬ 
gebnislos sein, und die Abschreckung, welche in einer solchen 
Verfolgungsgefahr liegt, ist darum auch beinahe null. Von Be¬ 
deutung wird die Frage eigentlich nur bei der Infektion in der Ehe, 
von welcher später zu sprechen ist. Soll aber ein wirksamer straf¬ 
rechtlicher Schutz gegeben und eine heilsame Abschreckung ge¬ 
schaffen werden, dann muß ein Gesetz ergehen, welches von der 
Wirkung und Ursächlichkeit absieht und folgendes besagt: Wer, 
wissend, daß er an einer Infektionskrankheit leidet, mit 
jemandem in der Art geschlechtlich verkehrt, daß eine 
Gefahr der Ansteckung entsteht, wird ....bestraft. Unter 
Ehegatten findet eine Bestrafung nur auf Antrag statt 

Eine solche Bestimmung wäre ja weniger für den seltenen 
Fall gegeben, wo keine Infektion eintritt, als für die unzähligen 
Fälle, wo die Ursächlichkeit nicht nachweisbar ist. Die Technik 
des Strafrechts verlangt vielfach derartige Maßregeln; denn jedes 
Gesetz muß nach seiner Brauchbarkeit abgestimmt und in einer 
solchen Art verfaßt werden, daß es sich im Leben wirksam be¬ 
tätigen kann. Dabei könnte die Strafe je nach der Gefahr ver- 


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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 25 

schieden bemessen werden. Sollte also insbesondere hierbei jemand 
an Syphilis leiden, so wäre es sehr angemessen, den Verlust der 
bürgerlichen Ehrenrechte damit zu verbinden. 

Beispiele solcher Verordnung sind bereits in verschiedenen 
Gesetzen gegeben. Es gibt Gesetze, welche lediglich bestimmen, 
daß Dirnen, welche sich nach Infektion vergehen, strenger gestraft 
werden, als sonst: die bewußte Infektion ist hier nur eine Ver¬ 
schärfung; so Österreich (1852) § 509, so Kanton Tessin § 425 
(vgl auch Schaffhausen § 184). 

Eine allgemeinere Bestimmung finden wir zuerst in Schaff¬ 
hausen (1859) § 185: „Wer mit der Lustseuche behaftet im Be¬ 
wußtsein dieses Zustandes den Beischlaf ausübt, soll mit Gefängnis 
ersten Grades bis auf drei Monate bestraft werden." Sodann in 
Dänemark (v. 10. Februar 1866) § 181 und neuerdings in Norwegen 
(v. 22. Mai 1902) § 155, während das vielfach herangezogene fin- 
ländische Str.-Gesetzb. (v. 19. Dezbr. 1889) 20 § 13 nicht hierher 
gehört, da hier nur bestraft wird, wer die venerische Krankheit auf 
einen andern überträgt Bei Gelegenheit der lex Heintze wurde 
als § 327 a ebenfalls eine solche Bestimmung vorgeschlagen, das 
Zutreffendste, was die lex Heintze hatte; aber die Bestimmung 
fand nicht die Zustimmung der Beichsregierung. *) 

Die einzige Gefahr, welche mit einer solchen Bestimmung ver¬ 
bunden wäre, ist die Gefahr der Erpressung. Es ist ja das furcht¬ 
bare Schicksal solcher, die sich inkorrekt betragen, daß sie der Er¬ 
pressung ausgesetzt sind und von gewissenlosen Individuen verfolgt 
werden können, von denen sie sich mit ständigen Geldopfern los¬ 
kaufen müssen; und das Schlimmste ist, daß dies eine Schraube ohne 
Ende darstellt, weil Opfer auf Opfer niemals von weiteren Nach¬ 
stellungen befreien. Hier ist nun die Gefahr vorhanden, daß jemand, 
der in inkorrekter Weise geschlechtlich verkehrt, mit einer Anzeige 
bedroht wird, wonach er an einer Infektionskrankheit gelitten habe; 
und schon die Befürchtung vor einer solchen Anzeige und die 
Befürchtung vor einer Untersuchung können ihn veranlassen, die 
größten Opfer zu bringen, weil die strafgerichtliche Untersuchung 
ihn zu gleicher Zeit vor dem Publikum und dem Gemeinwesen 
bloßstellt Eine solche Gefahr darf der Staat nicht unberücksichtigt 
lassen; denn auch wer inkorrekt handelt, ist es wert, daß man ihn 


*) Vgl. darüber Morgenstierne in der Conference internat. von Brüssel 
1902 I, p. 7 f.; vgl. ferner Rudeck, Syphilis vor Gericht S. 53f. 


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26 


Köhler. 


gegen scheußliche Ruchlosigkeit sicherstellt und ihn nicht der Ver¬ 
zweiflung überläßt. Bevor wir aber hierüber weiter fahren, schreiten 
wir zur Beantwortung folgender Frage: Soll eine Strafbarkeit auch 
dann gegeben sein, wenn der andere Teil wußte oder wissen mußte, 
daß er es mit einem Infizierten zu tun hat? 

Ich bin für die Bejahung. Zwar kann der Wille, am Körper 
verletzt zu werden und die freiwillige Preisgabe der Gesundheit 
unter Umständen den Begriff der Körperverletzung aufheben, so 
beispielsweise, wenn sich jemand einem Experiment überantwortet, 
das eine leichte Störung oder Gesundheitsverletzung unvermeidlich 
macht Allein das ist für derartige unschuldige Fälle und redliche 
Zwecke angemessen; es ist aber nicht angemessen in Fällen, wo 
nichts als eine frevelhafte Absicht den Körper der Gefahr preis¬ 
gibt; wozu noch kommt, daß nicht nur die Interessen des Einzelnen, 
sondern auch allgemeine Interessen dafür sprechen, daß gerade 
eine derartige Körperverletzung unter allen Umständen vermieden 
werden soll. Darum bin ich auch in diesem Falle für die Be¬ 
strafung, aber unter einer Bedingung, unter der Bedingung, daß 
etwas weiteres beigefügt wird. Denn ohne dies wäre die Er¬ 
pressungsgefahr zu groß. Gerade hier wäre folgendes zu erwarten: 
Hätte etwa eine Dirne sich von der Infektion eines Mannes Kennt¬ 
nis verschafft und sich mit ihm gerade im Bewußtsein dessen ver¬ 
gangen, so würde sie die Gelegenheit benutzen, von ihm Vorteile 
zu erpressen, da sie die Krankheit des Mannes und damit die 
objektive Voraussetzung seiner Strafbarkeit festgesetzt hätte. Auch 
schon die Behauptung, bei ihm derartige Erscheinungen wahrge¬ 
nommen zu haben, wäre ein beliebtes Hilfsmittel, um ihm durch 
Drohung mit dem Strafgericht beizukommen. Ich halte darum einen 
Zusatz für absolut notwendig, einen Zusatz dahin, daß in solchem 
Falle beide gestraft werden, sowohl der Infizierende als derjenige, 
der von der Infektion des andern Kunde hatte; und zwar müßte 
bei einer gewerbsmäßigen Dirne das Wissenmüssen dem Wissen 
gleichstehen, d. h. die bloße Fahrlässigkeit genügen. Diese Be¬ 
stimmung ist völlig gerecht und angemessen; denn daß die frei¬ 
willige Unterwerfung unter eine solche, das ganze Gemeinwesen 
bedrohende Gefahr eine Frevelhaftigkeit ist, eine Frevelhaftigkeit, 
die sich an der ganzen Menschheit, an unschuldigen Frauen, Kin¬ 
dern, Ammen und Ärzten rächt, das ist Grund genug, daß man 
ein derartiges Tun mit Strafe bedroht; dazu käme noch der prak¬ 
tische Zweck, daß diese Bestimmung ein wirksames Mittel ist 


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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 27 

um die Erpressung zu verhüten, denn die Dirne, welche hier 
Gelegenheit hat, den andern zur Anzeige zu bringen, muß sich 
gewöhnlich selbst beschuldigen oder ist mindestens in Gefahr, daß 
auch sie in Strafe genommen wird und ihr eine Freiheitsstrafe 
zu Teil wird; eine solche Freiheitsstrafe ist aber etwas, was Dirnen 
am allerschwersten zu befürchten pflegen. 

Mein weiterer Vorschlag wäre also: Wer, wissend, daß ein 
anderer geschlechtskrank ist, mit ihm in einer Weise ge¬ 
schlechtlich verkehrt, welche die Gefahr der Ansteckung 
herbeiführt, wird gestraft. 

Bei einer gewerbsmäßigen Dirne steht Fahrlässigkeit 
dem Wissen gleich. 

Unter Ehegatten findet hierwegen eine Verfolgung 
nicht statt. 

§ 5. 

Schwierige Fragen ergeben sich ferner im Bereich der Ver¬ 
lobung und Ehe. Ich betrachte es als selbstverständlich, daß. 
wenn ein Teil infiziert ist, in der Art, daß durch den gebräuch¬ 
lichen Umgang mit dem Verlobten die Infektionsgefahr entsteht, 
dies ein Grund ist, die Verlobung aufzuheben nach Maßgabe der 
§ 1298, 1299 B.G.B. Und auch, falls die Gefahr der Infektion in 
solchem Falle nicht gegeben ist, so läge doch gewiß auch dann 
ein Grund der Auflösung vor, wenn eine schwere und langwierige 
Erkrankung des Infizierten in Aussicht steht, welche die Ehe¬ 
schließung in unabsehbare Ferne rückt. Insbesondere gehört auch 
eine Gonorrhoe hierher, welche noch auf lange hinaus die An¬ 
steckungsgefahr fortdauern läßt. 

In ganz besonders furchtbarer Weise grassiert aber die In¬ 
fektionskrankheit unter den Ehegatten, und sie führt hier zu den 
schrecklichen Folgen, von denen die Unfruchtbarkeit noch die ge¬ 
ringste ist. Die Folge ist häufig ein lebenslängliches furchtbares 
Leiden der Frau oder die Geburt infizierter, schwächlicher, zum 
Siechtum verurteilter Kinder. 

Es bedarf keiner Erörterung, daß, wenn jemand infiziert in 
die Ehe tritt, in der Art, daß die Gefahr der Ansteckung vorliegt, 
dies eine persönliche Eigenschaft ist, welche bei Kenntnis der Sach¬ 
lage und unter verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von 
der Eingehung der Ehe abgehalten hätte. Es ist daher die An- 
echtung wegen Irrtums im Sinne der §§ 1333 u. 1334 ohne weiteres 
gegeben, und sofern eine arglistige Täuschung anzunehmen ist, 


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28 


Köhler. 


kommt die Strafbestimmung des § 170 R-Str.G.B. in Betracht. 1 ) 
Und zwar versteht es sich von selbst, daß Gonorrhoe ebensogut 
hierher gehört wie Syphilis. 2 ) Dagegen kann eine durch frühere 
Geschlechtskrankheiten herbeigeführte Zeugungsunfähigkeit ebenso¬ 
wenig als Element wesentlichen Irrtums in Betracht kommen, wie 
eine sonstige Zeugungs- oder Konzeptionsunfähigkeit. Diese hat 
man bei der Eheschließung stets zu riskieren. Die Eheschließung 
enthält keinerlei Garantie für das Kinderzeugen. Nur die Unmög¬ 
lichkeit der Beiwohnung kommt als für den Bestand der Ehe 
wesentlich in Betracht. 

Daß ferner, wenn die Ehefrau infiziert wird, gerade hier eine 
vorsätzliche Körperverletzung vorliegen kann, versteht sich von 
selbst, und es gilt hier das, was oben ausgeführt wurde. Nament¬ 
lich ist hervorzuheben, daß in einem solchen Falle der Verletzende 
zu völligem Schadensersatz verpflichtet wird und zwar in der Art, 
daß nach § 847 des B.G.B. nicht nur der volle Vermögensschaden 
zu vergüten, sondern auch ftr die persönliche Unbill und gesund¬ 
heitliche Verletzung eine Genugtuung in Geld zu leisten ist. Prak¬ 
tische Gründe sprechen dafür, die Strafe hier nur auf Antrag ein- 
treten zu lassen. 

Sollte ein Ehegatte erst während der Ehe von außen her in¬ 
fiziert werden, so wäre gewöhnlich schon der Ehescheidungsgrund 
des Ehebruchs gegeben. Jedoch gibt es Fälle, wo eine Infektion 
ohne Ehebruch stattgefunden hat; ist diese schuldlos erfolgt, so 
ist es eine Krankheit wie jede andere; 8 ) ist sie aber durch schuld¬ 
haften Umgang, der keinen Ehebruch darstellt, herbeigeführt, dann 
muß der § 1568 B.G.B. in Betracht kommen, und es wird sich 
fragen, ob nicht ein derartiges schuldhaftes Verhalten mit einer 
solchen Folge als eine Unsittlichkeit anzusehen ist, die eine so 
schwere Zerrüttung herbeiführt, daß eine Fortsetzung der Ehe dem 
andern Teil nicht zugemutet werden kann. Das wird zweifellos 
fast immer zu bejahen sein. 4 ) 

*) Ein gewisser Schutz gegen die furchtbaren Gefahren wäre, wenn vor 
der Eheschließung ein ärztliches Zeugnis verlangt würde. Eine gewisse 
Garantie liegt einstweilen (dem Manne gegenüber) darin, daß man seine Auf¬ 
nahme in eine Lebensversicherung verlangt, vorausgesetzt, daß diese grund¬ 
sätzlich die Untersuchung hierauf erstreckt. 

*) Vgl. R.G. 28. April 1890 bei Rudeck, Syphilis vor Gericht. S. 115. 

®) Entscheidungen s. bei Rudeck, Syphilis vor Gericht S. 134f. u. 148f. 

4 ) Die französische Praxis ist für Scheidung, vgl. Fiaux in der Confe¬ 
rence intern, de Bruxelles (1902) I, p. 8f. 


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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 29 

Daß, wenn der eine Teil mit oder ohne Verschulden infiziert 
ist, der andere jede Annäherung verweigern darf, welche die Ge¬ 
fahr der Krankheitsmitteilung in sich schließt, ist so selbstverständ¬ 
lich, daß es keiner weiteren Erörterung bedarf. 1 ) 

Auch die Gefahr der Infektion durch eine Amme oder der 
Infektion der Amme durch ein syphilitisches Kind kommt in Be¬ 
tracht; davon spricht unter anderen das Norwegische Strafgesetz¬ 
buch § 358. Hier wird bestraft, wer ein angestecktes Kind in 
Pflege gibt oder wer angesteckt die Pflege eines Kindes übernimmt 
oder wer eine angesteckte Person zur Pflegerin nimmt oder dazu 
mitwirkt. Von ganz besonderer Bedeutung aber wäre das vor¬ 
beugende Mittel, daß jede Amme unter polizeilicher Kontrolle 
ärztlich untersucht würde. 

§ 6 . 

Eine letzte schwere Frage ist die über die Anzeigepflicht 
des Arztes. Man hat diese befürwortet, hat sie auch in manchen 
Ländern eingeführt, ja es besteht darüber auch eine preußische 
Verordnung; der Grund ist, daß auf solche Weise die nötigen 
Kontrollmaßregeln getroffen und sofort die dabei beteiligten Per¬ 
sonen abgesondert und an weiteren gefährdenden Handlungen ge¬ 
hindert werden sollen. 2 ) Dafür sprechen recht plausible Gründe, 
allein auf der andern Seite stehen die schwersten Bedenken ent¬ 
gegen. Es ist das größte Verhängnis der Menschheit, wenn der 
Kranke sich nicht frei und sicher dem Arzte anvertrauen kann. 
Ebenso wie dem Seelsorger, so muß man dem Arzte alle seine 
Krankheiten enthüllen können, ohne die Befürchtung, daß der Arzt 
entweder etwas freiwillig aussagt oder auch gezwungen wird, Aus¬ 
sagen zu machen. Hat man diese Sicherheit nicht, dann werden 
sehr viele den Arzt nicht aufsuchen, weil sie ein natürliches Scham¬ 
gefühl oder die Rücksicht auf ihre Stellung, ihr Ansehen und ihren 
Beruf davon zurückhält; dann wird die Folge sein, daß entweder 
solche Personen elendiglich zugrunde gehen, weil sie den Arzt 
nicht gebrauchen, oder in die Hände unfähiger Personen geraten. 
Hierbei liegt namentlich auch die Gefahr vor, daß irgend welche 
anderen Krankheiten, oft schwerster Art, den Kranken bedrängen 
und er nur darum den Arzt nicht berät, weil er fürchtet, daß ein 

1 ) R.G. 22. Dezbr. 1890 bei Rudeck, S. 142. 

2 ) Preuß. Erlaß v. 13. Mai 1898, welcher sich auf das Regulativ vom 
8. August 1835 bezieht. 


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30 Köhler. Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 

Leiden in diesem Sinne vorliegt. Darum bin ich streng dafür, daß 
nicht nur das Geheimnis der Ärzte bei hoher Strafe und bei 
höchster Rüge und Ausschluß aus dem ärztlichen Stande gewahrt 
bleibt, sondern auch, daß weder die Polizei noch die Gerichte die 
Befugnis haben sollen, von dem Arzte ohne Einwilligung des 
Patienten Aussage zu verlangen und ich befürworte die gesetzliche 
Aufhebung aller entgegenstehenden Verodnungen. Unrichtig ist 
die Behauptung jener, welche glauben, daß weil § 52 Z. 3 Str.P.0. 
und § 383 Z. 5 Z.P.O. nur von einem Weigerungsrecht, nicht von 
einer Weigerungspflicht sprechen, die Ärzte zwar das Zeugnis ab¬ 
lehnen könnten, aber nicht müßten. Dies ist unrichtig; der § 300 
Str.G.B. verbietet jede unbefugte Offenbarung, d. h. jede Offenbarung 
ohne Einwilligung des Patienten. Dementsprechend war es ledig¬ 
lich Aufgabe der Prozeßordnungen, dem Arzte die Möglichkeit 
zu gewähren, der Schweigepflicht des § 300 Str.G.B, zu genügen. 
Unrichtig auch R.G. 8. Juli 1889 Entsch. Strafs. XIX. S. 364 (wo 
aber die Entscheidung auch durch andere Gründe getragen ist). 

Namentlich bin ich dafür, daß, wenn etwa, wie oben vorge¬ 
schlagen, eine Untersuchung der Männer in Toleranzanstalten statt¬ 
findet, die strengste Geheimnispflicht gewahrt wird, weil sonst der 
Zweck des Gesetzes, es herbeizuführen, daß, wo immer derartige 
Unregelmäßigkeiten und Ausschweifungen stattfinden, sie in einer 
der Gesundheit möglichst ungefährlichen Weise stattfinden sollen, 
nicht erreicht würde. Eine Ausnahme muß natürlich bestehen 
bezüglich der Kontrolldirnen; denn hier treten alle jene Rück¬ 
sichten zurück, weil die Frau, die sich unter Kontrolle be¬ 
gibt, damit von selbst die Zustimmung dazu gibt, daß nicht nur 
alle ärztlichen Maßregeln gegen sie vorgekehrt werden, sondern 
nötigenfalls die Polizei hygienisch gegen sie einschreitet. 

Ich würde daher weiter einen Gesetzessatz in der Art Vor¬ 
schlägen: Das Geheimnis der Ärzte ist unverbrüchlich. 
Kein öffentliches Geheiß kann sie davon befreien. Nur 
bezüglich der Kontrolldirnen besteht ein Anzeigerecht 
und eine Anzeigepflicht. 

Auch hier zeigt sich die ungeheure Bedeutung des Rechtes 
für die Lebensverhältnisse, für die Kultur, ja für den Bestand der 
Menschheit; ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß auf 
diesem Gebiete die Rechtsordnung eine rettende Aufgabe 
zu erfüllen hat 


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Referate. 


Verbreitung und Verbreitungswege der Geschlechtskrankheiten. 

Karl Ries. Ober unverschuldete geschlechtliche Erkrankungen. Stuttgart 1903. 
Perd. Enke. 

Soll der Kampf gegen die venerische Seuche zu einem Siege über 
diesen bösartigen Feind des Menschengeschlechts führen, so gilt es vor 
allem, jenem weitverbreiteten Vorurteil, da« in dem Geschlechtskranken 
einen ausschweifenden Menschen erblickt, den sein Leiden als eine ge¬ 
rechte Strafe für seine Sünden getroffen, den Garaus zu machen. Ein 
treffliches Mittel, diese so schwierige Aufgabe ihrer Lösung nahe zu 
bringen, könnte das Büchelchen von Ries bedeuten, wenn es nur den 
großen Leserkreis finden würde, der ihm zu wünschen ist und den es 
verdient. An einer beträchtlichen Anzahl von Beispielen zeigt der Verf. 
in eindringlicher und beredter Form, wie namentlich die Syphilis er¬ 
schreckend oft außerhalb jedes Geschlechtsverkehrs erworben wird, wie 
häufig Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder — von den vielen 
Unglücklichen, denen verbrecherische, leichtsinnige oder unwissende Eltern 
das Leiden als Erbteil mit auf den Lebensweg gegeben, ganz abgesehen — 
in völliger Schuldlosigkeit der fürchterlichen Seuchfl zum Opfer fallen. 
Die kleine Schrift ist auch in besonderem Maße geeignet, über die Ver¬ 
hütung von Geschlechtskrankheiten aufklärend und belehrend zu wirken. 
Sie sei noch einmal jedermann zur aufmerksamen Lektüre und Beherzigung 
warm empfohlen. 

M. Am Tschistjakow. Ober die Infektion mit Syphilis durch das ZufUttern 
fremder Neugebomer in den Gebäraslyen. Prakt. Wratsch. 1902. Nr. 19 (nach 
einem Referat aus Dermatol. Zeitschr. X. 1903. 8). 

ln speziell russischen Findelhäusern und Gebärasylen herrscht die 
Unsitte, daß Frauen, die zuviel Milch haben, außer ihrem Kinde noch 
fremde von Zeit zu Zeit an die Brust legen. Dadurch entsteht die Ge¬ 
fahr der Weiterverbreitung einer etwa vorhandenen Syphilis. In den 
Ammenasylen müssen die Frauen oft lange warten, bis sie eine Stellung 
finden. Bis dahin säugen sie, um die Milch nicht zu verlieren, die 
Kinder, welche zur Ernährung in den Asylen abgegeben werden; auf 
diese Weise bringen die Ammen häufig Syphilis in die Familien, in die 
sie kommen. 

Der Verf. will auf diese zu wenig beachteten Übelstände die Auf¬ 
merksamkeit der maßgebenden Kreise lenken, damit amtlicherseits Für¬ 
sorge getroffen werde, daß in solchen Asylen niemals eine Frau ein 
fremdes Kind .anlegen dürfe. 


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32 


Referate. 


Festschrift zum I. Kongreß der D. G. z. B. d. G. in Frankfurt a. M. vom 9.—IO. März 1903. 
Redaktion: Prof. Max Flesch, Dr. Karl Grünwald, Dr. Karl Herx- 
h eirner. 

Zahlreiche Frankfurter Ärzte, sowohl Dermatologen wie Vertreter 
anderer Spezialdisziplinen, insbesondere auch dortige Polizeiärzte, sowie 
der Chefarzt der Frankfurter Garnison haben sich zu gemeinsamer Arbeit 
zusammengefunden, um eine möglichst erschöpfende Übersicht über die 
Bedeutung zu geben, welche die Geschlechtskrankheiten für das Stadt¬ 
gebiet Frankfurt a. M. haben. 

Aus dem von Prof. Flesch verfaßten Vorwort ist neben andern 
lehrreichen Daten zu ersehen, daß die Kosten, welche der Stadt aus der 
Behandlung unbemittelter Geschlechtskranker erwachsen, jährlich etwa 
300 000 Mk. betragen. 

Die den eigentlichen Text des Buches eröffnende Arbeit von 
Dr. Hanauer, „Geschichte der Prostitution in Frankfurt a. M.“, 
zeichnet sich durch besondere Gründlichkeit aus und stellt einen sehr 
wertvollen Beitrag zu der historischen Seite der Prostitutionsfrage dar. 
Die Frankfurter Prostitutionsgeschichte erstreckt sich über einen Zeit¬ 
raum von mehr als einem halben Jahrtausend und läßt vier Perioden 
unterscheiden. Die erste reicht bis zur Reformation und ist die Zeit 
der Frauenhäuser. Die Prostitution war da streng lokalisiert und ab¬ 
gegrenzt, und von einer moralischen Infektion des Bürgertums konnte 
unter diesen Umständen nach Ansicht des Verfs. keine Rede sein. Der 
gesundheitliche Wert des Systems entzieht sich aber der Beurteilung, 
weil erstens die Syphilis erst am Ende dieser Periode auftrat und 
zweitens eine zweckmäßige Therapie und Hygiene damals noch unbekannt 
waren. Der zweite Abschnitt reicht bis zum Beginne des 18. Jahr¬ 
hunderts und ist durch das Verbot und die Bestrafung der Prosti¬ 
tution charakterisiert. Diese Maßnahmen stellen die Reaktion des 
Bürgertums gegen die unerhörte Sittenverderbnis des Klerus und Adels 
dar und andererseits die Abwehr- und Verteidigungsversuche gegen die 
allenthalben Tod und Siechtum bringende Lustseuche. Eine offizielle 
Prostitution gab es nicht, statt ihrer entstand eine Winkelprostitution 
mit Absteigequartieren und geheimen Bordells, die auch die Schlupf¬ 
winkel von Verbrechern wurden. Das Bürgertum wurde allmählich 
infiziert, und Frankfurter Bürgerstöchter, sowie Witwen und auch Ehe¬ 
frauen gaben sich dem schimpflichen Gewerbe hin. Während der dritten 
Periode, d. h. im 18. Jahrhundert, war die Sittenpolizei, die vordem dem 
sogen. Sentenamt, einer weltlichen Behörde, unterstellt war, einem geist¬ 
lichen Gericht — Konsistorium — überwiesen, welches neue Strafarten 
gegen Unzüchtige einführte und Mandate gegen den Verkehr von Pro¬ 
stituierten mit Soldaten, gegen Verleitung zu unsittlichem Leben, gegen 
Entführung und Verkuppelung von Weibspersonen erließ. Die Versuche, 
die Prostitution durch gewaltsame Mittel auszurotten, führten zu einer 
allgemeinen Unsittlichkeit der gesamten Bevölkerung, derge¬ 
stalt, daß überhaupt eine deutliche Grenze zwischen gewerbsmäßiger 
Prostitution und anständigem Bürgertum nicht mehr existierte. In sani¬ 
tärer Hinsicht erwiesen sich die wenigen, System- und zwecklosen Unter- 


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Referate. 


33 


suchungen der Dirnen durch Wundärzte als völlig wirkungslos. Gegen¬ 
über den erschreckenden Zuständen wurden von verschiedenen Seiten 
Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse gemacht, die weitestschauenden 
und verständigsten von dem Senator Schlosser, welcher empfahl, dem 
Luxus zu steuern, Moralunterricht in der Schule zu erteilen, in sexuellen 
Dingen sich einer gleichen Beurteilung beider Geschlechter zu befleißigen, 
die Ehescheidungen zu erleichtern und vieles andre. Erst in der vierten 
Periode — im 19. Jahrhundert — wurde in hygienischer Beziehung 
der Anfang zu systematischen Maßregeln gemacht. In einer Schrift von 
Dr. Joh. Val. Müller aus dem Jahre 1802 wurden die Ärzte ermahnt, 
sich eingehend mit den Geschlechtskrankheiten zu beschäftigen und deren 
Behandlung nicht mehr den Kurpfuschern und Badern zu überlassen. 
Das Sanitätsamt publizierte ein Edikt, daß von niemandem Ammen ohne 
Gesundheitszeugnis angenommen werden dürfen. Das Konsistorium wurde 
aufgehoben, die Prostitution reglementiert und geduldete Bordelle 
eingeführt. Die Dirnen mußten an die Polizei wöchentlich eine bestimmte 
Steuer entrichten; das hierdurch eingekommene Geld wurde zur Heilung 
der angesteckten Mädchen im Spital verbraucht. Die öffentlichen Häuser 
wurden allwöchentlich durch einen Physikus revidiert und die Insassen 
untersucht — auf Kosten der Bordellbesitzer, denen — meist Witwen — 
die Konzession stets nur auf Widerruf erteilt wurde. Mit Strenge schritt 
die Polizei gegen die heimlichen Bordelle ein, und die nicht-inskribierten 
Prostituierten wurden ausgewiesen. 1869 wurden die Bordelle aufge¬ 
hoben und die Prostitution und Sittenpolizei in dem noch heute be¬ 
stehenden Sinne organisiert. 

Aus der Geschichte der Prostitution in Frankfurt a. M. ergibt sich 
für Hanauer als Quintessenz, daß eine gewaltsame Unterdrückung der 
Prostitution zur größten Sittenverderbnis fuhrt, während die Reglemen¬ 
tierung einen günstigen Einfluß auf die öffentliche Moral ausübt. 

Aus den übrigen Arbeiten, die in der Festschrift veröffentlicht und 
im wesentlichen statistischer Natur sind, geht zweierlei hervor: 1. daß 
die venerischen Leiden, wie überall, so auch in Frankfurt eine außer¬ 
ordentlich verhängnisvolle Rolle spielen, und 2. daß die Verff., soweit 
sie Gelegenheit nehmen, sich zu dieser Frage zu äußern, sämtlich über¬ 
zeugte Regiementaristen sind. Einige besonders interessante Punkte aus 
dem reichen Inhalt der Schrift seien ausdrücklich hervorgehoben. 

Aus dem Berichte der Polizeiärzte Grandhomme und Grünwald 
folgt, daß 30°/ o der Prostituierten vor ihrer Stellung unter Kontrolle 
Dienstmädchen, 22°/ 0 Kellnerinnen und 13°/ 0 Arbeiterinnen gewesen 
sind; die Testierenden 35°/ 0 verteilen sich auf alle andern Berufe. — 
9 °j 0 der Prostituierten sind uneheliche Kinder. 

Die Mitteilungen des Generaloberarztes v. Mielecki lehren, daß, 
wie in der ganzen Armee, so auch in der Frankfurter Garnison die 
Einführung der zweijährigen Dienstzeit eine eklatante Abnahme der Ge¬ 
schlechtskrankheiten bewirkt hat. 

Sachs berichtet über 70 Fälle von Syphilis, die nicht durch den 
Geschlechtsverkehr erworben wurde. 

Thal er stellt fest, daß durchschnittlich 20 °/ 0 der Geschlechtskranken, 

ZeiUchr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 3 


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34 


Referate. 


die in das Städtische Krankenhaus sich aufnehmen lassen, dieses noch 
in ansteckungsfähigem Zustande wieder verlassen. 

Wertvolle Beiträge zur Kenntnis von der Verbreitung und Bedeutung 
der venerischen Leiden liefern ferner namentlich die Mitteilungen von 
Baer, von Salomon und von Sioli. 

Die Festschrift legt ein glänzendes Zeugnis von dem Fleiß der 
zahlreichen Mitarbeiter ab, die, trotz vieler und großer Schwierigkeiten 
hinsichtlich der Materialbeschaffung und trotz der außerordentlich knappen 
Zeit, welche ihnen für ihre Arbeiten zugemessen war, ihrer wichtigen 
Aufgabe sich mit dankenswerter Sorgfalt entledigt haben. 

Diagnostik und Symptomatologie. 

Fritz Meyer. Ober chronische Gonorrhoe und Gonokokkennachweis. Deutsche 
medizin. Wochenschr. 1903, 36. 

Meyers Untersuchungen erstreckten sich auf 90 Patienten, die 
vor länger als drei Monaten eine Gonorrhoe acquiriert hatten, und von 
denen der größte Teil kein anderes Symptom als eine Anzahl Fäden im 
Morgenurin aufwies. 

29 mal fand Meyer mittels kultureller Untersuchung Gonokokken, 
während mit Hilfe des Mikroskops in diesen Fällen stets ein negativer 
Befund erhoben worden war. Danach darf es nicht wundernehmen, 
daß Meyer bei 45 von den 90 Kranken durch Anwendung der kultu¬ 
rellen Methode noch Gonokokken feststellen konnte, im Gegensatz zu 
anderen Autoren, die sich mit der mikroskopischen Untersuchung be¬ 
gnügten und nur in 8—14 Prozent der Fälle von chronischem Tripper 
Gonokokken nachzuweisen vermochten. 

Diese Tatsachen sind für die Diagnostik und Therapie der Gonorrhoe, 
namentlich auch für die Frage des Ehekonsenses von größter Wichtigkeit; 
sie sind ein Beweis für die Unzuverlässigkeit der mikroskopischen und 
für die beträchtliche Überlegenheit der kulturellen Methode; sie bestä¬ 
tigen ferner, daß die heutige Art der Prostituiertenkontrolle, deren Un¬ 
zulänglichkeit schon ohnehin auch von den überzeugtesten Reglemen- 
taristen rückhaltlos anerkannt wird, in gesundheitlicher Beziehung wenigstens 
soweit die Gonorrhoe in Frage kommt, so gut wie unwirksam bleiben muß. 
Nach den Meyer sehen Beobachtungen — ihre Richtigkeit resp. allgemeine 
Gültigkeit vorausgesetzt — können wir als sicher annehmen, daß den 
Polizeiärzten selbßt dort, wo ein mikroskopischer Befund erhoben zu werden 
pflegt (was bekanntlich überdies nur an einigen Orten geschieht), zahlreiche 
Mädchen mit noch infektiösem Tripper entgehen, während andererseits viele 
Prostituierte auf Grund von negativen mikroskopischen Untersuchungsresul¬ 
taten aus dem Krankenhause als geheilt entlassen werden, obwohl bei 
ihnen durch das Kulturverfahren noch das Vorhandensein der Gonokokken 
und damit der AnsteckungsfUbigkeit hätte nachgewiesen werden können. 

Kulturelle Untersuchungen bei Tripperkranken sind bisher nur in 
ganz vereinzelten Fällen, und auch hier fast immer bloß zu wissen¬ 
schaftlichen Zwecken, angestellt worden. Denn erstens hinderten die 
großen technischen Schwierigkeiten daran, zweitens hielt man eben bis 


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Referate. 


35 


jetzt eine sorgfältige mikroskopische Untersuchung für ausreichend. Die 
Beobachtungen Meyers sind von solcher Wichtigkeit, daß eine genaue 
und systematische Nachprüfung der von ihm gefundenen Resultate un¬ 
bedingt erforderlich ist. Und wenn sie sich dann, was kaum zweifel¬ 
haft erscheint, als richtig und allgemein gültig erweisen sollten, so wird 
es die Pflicht der maßgebenden Kreise sein, dem Vorschläge Meyers 
entsprechend öffentliche, leicht zugängliche Laboratorien zu schaffen, in 
denen jedem Arzte die Möglichkeit gegeben ist, kulturelle Untersuchungen 
von Sekreten und Fäden auf Gonokokken von sachgeübter Hand aus¬ 
führen zu lassen. Bis die erforderlichen Nachprüfungen abgeschlossen 
sind, müssen die Ärzte und die Patienten bei der Beurteilung irgend 
welcher auf einen „überstandenen“ Tripper hindeutenden Symptome 
noch in weit rigoroserer Weise als bisher doppelte und dreifache Vorsicht 
walten lassen. 

Öffentliche Prophylaxe. 

R. Ledermann. Die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten für den Beruf der 
Hebeammen. Allg. Dtsch. Hebeamm.- Zeitung. 1901. 8. 

Verf. verlangt, daß den Hebeammen während ihrer Ausbildungszeit 
Unterricht über die Erscheinungen und Gefahren der Geschlechtskrank¬ 
heiten erteilt werde und daß sie zu peinlichster Vorsicht und Sauberkeit 
in ihrem Berufe angehalten werden. Wenn die Kreißende (oder der 
Ehemann) weiß oder vermutet, daß sie an einer Geschlechtskrankheit 
leidet, so sollen sie verpflichtet sein, die Hebeamme davon in Kenntnis 
zu setzen. 


Behandlung der Geschlechtskrankheiten. 

O. Rosenthal. Die unentgeltliche Behandlung der Geschlechtskranken. Hygien. 

Volksblatt. 1903. 3/4. 

Rosenthal fordert eine energische Bekämpfung des großen Not¬ 
standes, der namentlich in Berlin in Hinsicht auf die Behandlung Ge¬ 
schlechtskranker insofern herrscht, als die vorhandenen Krankenhäuser 
nicht annähernd ausreichen, um die in Frage kommenden Patienten auf¬ 
zunehmen. Geschlechtskranke mit den schwersten und ansteckendsten 
Symptomen werden täglich von den Berliner Krankenhäusern, denen sie 
zu ihrer Heilung und zum Schutze ihrer Familie vom Arzte zugeschickt 
werden, wegen Platzmangels zurückgewiesen. Die meisten Berliner 
Krankenhäuser nehmen Geschlechtskranke überhaupt nicht auf oder nur 
dann, wenn die Abteilungen mit andern Patienten nicht vollauf besetzt 
sind; denn außer dem Städtischen Obdach in der Fröbelstraße gibt es in 
Berlin nicht ein Städtisches Krankenhaus mit einer eigenen Station oder einem 
spezialistisch ausgebildeten Arzt für Geschlechtskranke. Daher kommt 
es, daß den Patienten, welche nach langem Bemühen doch noch glück¬ 
lich in einem der Städtischen Krankenhäuser Aufnahme gefunden haben, 
vielfach nicht einmal vollkommen sachgemäße Beurteilung und Behand¬ 
lung zuteil wird. Unter diesen Umständen ist die Errichtung von Spezial¬ 
abteilungen mit ausreichender Bettenzahl und unter Leitung von erfahrenen 

3* 


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36 


Referate. 


Spezialärzten in den Berliner Krankenhäusern das dringendste Erfordernis 
für einen erfolgreichen Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Spezial¬ 
stationen verdienen vor Spezialkrankenhäusern deshalb den Vorzug, weil 
der Patient nicht fürchten darf, schon durch den Eintritt ins Kranken¬ 
haus ein Odium auf sich zu laden. Besonderer Wert ist darauf zu 
legen, daß diese Stationen nicht etwa als halbe Strafanstalten und die 
Geschlechtskranken nicht etwa als minderwertige Patienten betrachtet 
werden. Denn es muß vor allen Dingen erstrebt werden, daß die Ge¬ 
schlechtskranken rechtzeitig ohne jede Scheu und mit Vertrauen das 
Krankenhaus aufsuchen. Um diesen Maßnahmen den vollen Wert zu 
geben, ist es notwendig, daß die Behandlung der Geschlechtskranken un¬ 
entgeltlich erfolgt. Gerade die wirtschaftlich Schwachen sind durch die 
Ungunst der Verhältnisse diejenigen, welche die Krankheit am leichtesten 
übertragen können. Da infolge der Kassengesetzgebung eine ganze Kate¬ 
gorie von Kranken zahlungsfähig ist, würden die Kosten, die aus der 
unentgeltlichen Krankenhausbehandlung Geschlechtskranker entstehen, 
voraussichtlich nicht sehr beträchtlich sein. Sie könnten und müßten 
von der Gemeinde des letzten Wohnsitzes des Patienten getragen werden, 
weil die Heilung vor allem den Einwohnern des von dem Kranken zu¬ 
letzt bewohnten Ortes zur Wohlfahrt gereicht; da sie weiterhin überhaupt 
der Gesamtheit zugute kommt, dürfe die unentgeltliche Behandlung keines¬ 
falls als ein Benefizium betrachtet werden, welches einem Armen gewährt 
wird. Jeder einzelne, der mit einer Geschlechtskrankheit im ansteckenden 
Stadium behaftet ist, müsse das Recht erhalten, ohne Bürgschaft und 
ohne sonstige Zeugnisse ins Krankenhaus aufgenommen und — wie 
wohlhabend er auch sein mag — auf dem allgemeinen Saale der Spezial¬ 
station kostenfrei verpflegt zu werden. Besonderes Interesse müsse 
schwangeren syphilitischen Frauen zugewendet werden; sie sollen in der 
letzten Zeit der Schwangerschaft bis zu ihrer Niederkunft im Kranken¬ 
hause behandelt werden, und sobald das Kind geboren ist, müsse dieses 
auf 2—4 Jahre in ein zu gründendes Asyl zur ärztlichen Beaufsichtigung 
und event. Behandlung übergeführt werden. Zurzeit gibt es in Berlin 
kaum eine Stätte, in welcher die unglücklichen Kinder mit ererbter Sy¬ 
philis aufgenommen und durch frühzeitige sachverständige Behandlung 
davor bewahrt werden, einem elenden Siechtum zu verfallen. 

Die Durchführbarkeit der Forderungen des Verfs. sind dadurch er¬ 
wiesen, daß z. B. in Schweden bereits derartige Einrichtungen seit einer 
Reihe von Jahren bestehen und sich vorzüglich bewährt haben. 

R. Ledermann. Ober Errichtung ambulanter Behandlungsstätten fllr Syphilitisch¬ 
kranke. Volkstümliche Zeitschrift f. prakt. Arbeiterversicherung. 1903. 15. 

Le der mann liefert mit der Abhandlung einen schätzenswerten Bei¬ 
trag zur Bekämpfung der Syphilis; der Verf. wiederholt seine Vor¬ 
schläge betr. die anfangs von ihm so genannten Schmierstuben, für die 
er bereits an anderer Stelle plädiert hatte, die er aber jetzt zweck¬ 
mäßiger und treffender als ambulante Sanatorien für Geschlechtskranke 
bezeichnen will. Angeregt zu seiner Idee und veranlaßt, für sie weitere 


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Referate. 


37 


Kreise zu interessieren, wurde Ledermann durch einen großen Mißstand, 
an welchem so oft die gründliche Durchführung einer antisyphilitischen 
Kur zum Schaden des Patienten und seiner Umgebung scheitert. Für 
den wohlhabenden, von äußeren Verhältnissen wenig oder gar nicht ab¬ 
hängigen Teil der Bevölkerung, der an der Syphilis erkrankt ist, besteht 
in der Regel kein wesentliches Hindernis für die sorgfältige Befolgung 
der ärztlichen Verordnungen — es sei denn Unverstand oder Leichtsinn. 
Aber von der minder begüterten Klientel ist ein großer Teil außer stände, 
eine etwa verordnete Schmierkur, wie sie bei der Syphilis sehr häufig 
notwendig ist, regelmäßig und ordentlich durchzuführen, und nicht selten 
muß sie gänzlich unterbleiben, weil es den Patienten an Ort und Ge¬ 
legenheit dazu fehlt, und weil sie, selbst wenn sie es zeitlich und räum¬ 
lich ausführen könnten, ihrer Umgebung nicht den wahren Charakter 
ihrer Krankheit offenbaren, vielmehr alles vermeiden wollen, was Verdacht 
erregen könnte. Bei den zahlreichen Patienten, die über einen eigenen 
Wohnraum nicht verfügen, stößt die Ausführung der Schmierkuren ge¬ 
radezu auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Ein anderer Übelstand, der 
dringend der Abhilfe bedarf, ist dadurch bedingt, daß diese Syphilitiker 
zur Durchführung der etwa notwendigen Badeprozeduren gezwungen sind, 
die öffentlichen Badeanstalten aufzusuchen. Hygienische und ästhetische 
Gründe zwingen zur schleunigen Beseitigung dieses unhaltbaren Zustandes. 

Was liegt also näher, so fragt Ledermann, als daß man Spezial¬ 
badeanstalten für Syphilitiker (und andere Geschlechtskranke) schafft und 
diese mit geeigneten Räumlichkeiten und Einrichtungen verbindet, welche 
die ungestörte Ausführung von Schmierkuren gestatten. Diese Sanatorien 
müssen über ein gut durchgebildetes Wärterpersonal verfügen und ärzt¬ 
lich überwacht werden; sie sollen aber keine Verordnungs-, sondern nur 
Behandlungsstätten sein, so daß die Kranken ihrem bisherigen Arzte zur 
weiteren Behandlung erhalten bleiben und von dem Anstaltsarzt nur bei 
der Ausführung der Kuren kontrolliert werden. Ledermann schildert 
eingehend die Art und Weise, wie diese Institute eingerichtet und ver¬ 
waltet werden müßten, und weist durch spezielle Berechnung die Existenz¬ 
fähigkeit, ja sogar eine gewisse Rentabilität solcher Anstalten nach. 

Die Gedanken, die der Verf. in seinem Aufsatz entwickelt hat, ver¬ 
dienen die ernsteste Würdigung. Und wenn seine Vorschläge auch nicht 
ganz so, wie er sie gemacht hat, sich als durchführbar erweisen sollten, 
so sind die Anregungen, die er gibt, doch wichtig und durchdacht genug, 
daß man erwarten darf, sie werden befruchtend wirken in dem Kampfe 
gegen die Geschlechtskrankheiten und deren Einschränkung fördern können. 

Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis. 

Dr. Hubenick-Texas: Ober die Behandlung der Geschlechtskrankheiten im eng¬ 
lischen und amerikanischen Eherecht (Mitteilungen der Intern. Vereinigung 
für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre Nr. 101903). 
Deutsche Übersetzung des Rechtsanwalts Dr. Wald Schmidt-Berlin. 

Es werden die Fragen erörtert, ob Geschlechtskrankheit zur Auf¬ 
lösung des Ehe versprechens berechtigt; ob sie Anspruch darauf gibt, 


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38 


Referate. 


daß eine Ehe für nichtig, d. h. als überhaupt nicht geschlossen erklärt 
werde, ob sie einen Grund zur Ehescheidung abgibt. 

Als Ergebnis der Rechtsprechung läßt sich folgendes bezeichnen: 

1. Ein Verlobter kann die Erfüllung des Ehe Versprechens verweigern, 
wenn er an Syphilis leidet. 

Der Fall, ob ein Verlobter die Erfüllung verweigern kann, weil 
der andere Verlobte geschlechtskrank ist, ist noch nicht entschieden, 
man darf aber annehmen, daß die Gerichte die Frage bejahen 
werden, weil Weigerungen eines Verlobten wegen anderer Krank¬ 
heiten (Brustgeschwür, Blutsturz) des anderen Verlobten für be¬ 
rechtigt anerkannt wurden und die Begründung des Urteils so all¬ 
gemein gehalten war, daß sie auch auf Geschlechtskrankheiten 
zutreffen würde. 

2. Dauernde und unheilbare Unfähigkeit zum geschlechtlichen Verkehr 
zur Zeit der Eheschließung gibt dem anderen Ehegatten das Recht, 
die Ehe für nichtig erklären zu lassen. 

3. Geschlechtskrankheit des einen Ehegatten berechtigt, den anderen 

Ehegatten, auf Ehescheidung zu klagen, wenn a) die Krankheit auf 
den gesunden Gatten übertragen ist, und b) der kranke Ehegatte 
zur Zeit der Ansteckung seine Krankheit kannte, c) der gesunde 
Ehegatte aber sie nicht kannte. Diese drei Voraussetzungen müssen 
Zusammentreffen. (Autoreferat.) 


Georges Thibierge. Syphilis et Odontologie, Paris 1903. 

Wohl kein Beruf ist so reich wie der ärztliche an ernsten Konflikten, 
deren glückliche Lösung Lebenserfahrung, Menschenkenntnis und natür¬ 
lichen Takt in hohem Maße erfordern. Und für keinen Arzt sind diese 
Eigenschaften unentbehrlicher als für den, der die Beratung und Behand¬ 
lung von Geschlechtskranken zu seinem Spezialberuf erwählt hat. Für 
ihn gibt es eine schier endlose Reihe der Probleme mannigfachster Art. 
Das Thibiergesche Buch will ihn lehren, aus diesem Wirrsal den rechten 
Weg zu finden, der zum Heile des Patienten, zur Wohlfahrt der Familie 
und zum Segen der Gesamtheit führt. Als Ziel ist neben der Heilung 
des Kranken selbst vor allem die Verhütung einer Weiter Verbreitung 
seines Leidens zu erstreben, und diese oft so schwere Aufgabe wird dem 
Arzte durch Thibierges Buch in der Tat erleichtert. Das 1. Kapitel 
handelt von dem Berufsgeheimnis; die Überschriften der folgenden Ab¬ 
schnitte sind: Responsabilite civile — Enoncd du diagnostic — Jeunes 
gens syphilitiques — La Syphilis avant et pendant le mariage — Divorce 
— Nourrices syphilitiques — Domestiques et ouvriers syphilitiques — 
Syphilitiques dans les höpitaux — Transmission de la Syphilis par les 
instruments — M6decins syphilitiques — Sages femmes et Syphilis. Man 
erkennt hieraus die Reichhaltigkeit des Buches, in welchem kaum eine 
Situation unerörtert bleibt, in die der Arzt bei der Behandlung und 
Beratung syphilitischer Patienten und ihrer Angehörigen kommen kann. 
Das interessante Buch ist aber nicht nur für den Arzt mit Nutzen zu 


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Referate. 


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lesen, es gibt auch allen andern; denen die Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten am Herzen liegt, vielfache Belehrung und Anregung. 

Stuelp-Mülheim. Ober Infektionsstoffe, deren bakterielle Natur nicht nachgewiesen 
ist, und Ober Maßregeln zur Vermeidung solcher Infektionen vom sanitätspolizei¬ 
lichen Standpunkte aus. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Mediz. u. öffentl. 
Sanitätswesen. 1903. 26, 1. 

Der Verf. verlangt, daß auch diejenigen Krankheiten, welche wir 
nur ans ihrem klinischen Verlaufe als infektiöse kennen, ohne daß es 
uns bisher gelungen ist, die sie verursachenden Mikroorganismen selbst 
festzustellen, öffentlich und viel zielbewußter als bisher nach denselben 
Grundsätzen bekämpft werden, wie die notorischen Infektionsleiden. 
Für uns sind speziell die Vorschläge betr. die Syphilis von Interesse. 
Stuelp fordert z. B. 

I. vor erfolgter Infektion: 

Belehrung über individuelle Schutzmaßregeln durch Hebung und 
Festigung des Sittlichkeitsgefühls, sowie durch Warnung vor dem Coitus 
impurus; Verbesserung der pekuniären Stellung junger Mädchen in Ge¬ 
schäften, Fabriken, Restaurants u. s. w. und Verminderung des Zuzugs 
nach Großstädten; regelmäßige Untersuchungen der Arbeiter in Betrieben, 
die die Übertragung der Syphilis besonders begünstigen (Glasbläser u. a.); 
Überwachung des Prostituierten- und Zuhältertums durch Kasernierung; 
größere Strenge gegen das Kuppeleiunwesen und schärfere Kontrolle der 
geheimen Prostitution. 

II. nach Ausbruch der Lues: 

Obligatorische Anzeige der Erkrankung bei Prostituierten; im übrigen 
Anzeige derjenigen Fälle, in denen die Patienten durch ihr Verhalten 
erwarten lassen, daß sie selbst nicht die notwendige Vorsicht betr. Weiter¬ 
verbreitung ihrer Krankheit gebrauchen würden oder in denen sie sich 
der ärztlichen Behandlung entziehen; Nichtärzte, die Geschlechts¬ 
kranke in Behandlung nehmen, sollen verpflichtet werden, 
jeden Fall der Behörde zu melden; Verbot des Stillens syphilitischer 
Kinder durch gesunde Ammen. 

Prostitution und Mädchenhandel. 

Laurent-Montanus. Die Prostitution in Indien. Freiburg i. B., Leipzig 
1903. Fr. Paul Lorenz. 

Der Verf. führt uns an die Ufer des Ganges, in die Tempel, die 
Baderäume und Wohnhäuser Indiens. Er berichtet uns von der „heiligen“ 
Prostitution, macht uns mit Wesen und Art der Bajaderen bekannt und 
schildert das Geschlechtsleben der Inder, sowie ihre Auffassung von Sitte 
und Moral. Die kleine Studie ist außerordentlich anregend geschrieben 
und darf wegen ihres lehrreichen und interessanten Inhalts als ein will¬ 
kommener Beitrag zur Kulturgeschichte bezeichnet werdeu. 


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40 


Referate. 


Laurent-Montanus. Prostitution und Entartung. Freiburg i. B., Leipzig. 

Fr. Paul Lorenz. 

Der Verf. will einen neuen Beitrag zur Lehre von der geborenen 
Prostituierten liefern. Die Nutzlosigkeit der meisten Rettungsversuche, 
das häufige Vorkommen von Geisteskrankheiten oder Alkoholismus in 
der Aszendenz, die psychischen Abnormitäten und physischen Degenerations¬ 
symptome, die bei zahlreichen Dirnen zu konstatieren sind, der Umstand, 
daß viele von den Mädchen sich ohne äußern Zwang und in so früher 
Kindheit prostituiert haben, daß man weder soziale Not, noch schlechten 
Umgang, sondern ausschließlich einen angebornen Trieb verantwortlich 
machen könne — dieses alles ist Laurent ein Beweis dafür, daß zwar 
nicht jede Prostituierte, aber doch verhältnismäßig viele von Natur aus 
infolge von Vererbung zu ihrem Gewerbe prädestiniert sind, daß es zahl¬ 
reiche „geborne Prostituierte“ gibt. Es darf nicht verschwiegen werden, 
daß die Darstellung wenig ansprechend, die Argumentation wenig über¬ 
zeugend ist. 

Am Pappritz- Gibt es „geborene“ Prostituierte? Der Abolition ist, II. S. 

Die bekannte Vorkämpferin des Abolitionismus ficht in dem Artikel 
tapfer und geschickt gegen die Anhänger der Lehre von der „geborenen“ 
Prostituierten und beantwortet die Frage, ob es von Natur zur Unzucht 
prädestinierte Frauen gebe, mit einem bedingungslosen Nein. Nicht ihre 
eingeborenen lasterhaften Triebe, sondern das soziale Milieu, in dem 
sie aufwachsen, der Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse drängt sie zur 
Prostitution. 

Man kann der Theorie von Lombroso und Tarnowski durch¬ 
aus ablehnend gegenüberstehen, ohne doch deshalb die entgegengesetzte 
Auffassung von Papp ritz anerkennen zu müssen. Beide Ansichten 
stellen Extreme dar, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht 
werden. Die Wahrheit liegt wohl auch hier ungefähr in der Mitte: 
Neben der großen Zahl von Prostituierten, die es nur unter dem Ein¬ 
fluß ungünstiger äußerer Lebens Verhältnisse geworden sind, gibt es unter 
den öffentlichen Dirnen einen kleineren Teil, der seiner ganzen Anlage 
nach, gleichsam infolge von moral insanity, von vornherein für seinen 
Beruf bestimmt ist, dem er mit unfehlbarer Sicherheit, selbst aus 
glänzenden Verhältnissen heraus, entgegengeht. 


Hilty. La Tratte blanche. Polit. Jahrbücher der schweizerischen Eidgenossen¬ 
schaft 1901. (Revue de Morale Sociale.) 

Die Schritte, die bisher zur Bekämpfung des Mädchenhandels ergriffen 
worden sind, haben noch keine großen Erfolge gehabt. Es sollen jährlich 
noch ca. 1000 Verkäufe der Art zustande kommen. Hauptrekrutierungs¬ 
und Stapelplatz ist die Schweiz; von hier aus findet der Weitertransport 
über Ungarn nach Konstantinopel oder über Italien nach Südamerika 
statt. Die in der Schweiz erzielten Preise sollen 1000 Franken pro Kopf 
betragen; in Buenos-Ayres 500—2000 Franken. Selten verkaufen Eltern 


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Referate. 


41 


ihre Kinder. Häufig werden die Opfer durch Heiratsversprechungen 
oder Scheintrauungen mittels falscher Papiere eingefangen. Ein beliebtes 
Anlockungsmittel sind Stellenangebote in Zeitungen. Eine chiffrierte Sprache 
erleichtort den Verkehr unter den Agenten und schützt durch harmlose 
Ausdrücke vor der Aufmerksamkeit der Polizeiorgane; z. B. „Die Ware 
ist in der oder der Menge gekauft und wird am x-ten an den Be¬ 
stimmungsort gebracht werden.“ Oder „5 Tonnen Ungar wein werden 
am 10. X. in Varna eintreffen“, d. h. fünf sehr hübsche junge Mäd¬ 
chen u. 8. w.; oder „3 Säcke Kartoffeln“ oder „gewöhnliche Ware“ für 
weniger hübsche Mädchen; oder „Werde Freitag mit dem Cobra an¬ 
kommen, habe zwei Ballen feine Seide an Bord.“ Von den Hafenorten 
wandern sie in Bordelle nach Brasilien u. s. w„ wo Hitze, Klima, Elend 
sie bald aufreiben und zu Grunde richten. — Auch gewaltsame Ent¬ 
führungen Mindeijähriger kommen vor; der Zufall fuhrt manchmal zur 
Entdeckung und Befreiung der Entführten und zur Bestrafung der Händler; 
jedoch sind die Abwehrmittel bei weitem nicht ausreichend. 

Daher machte Verf folgende Vorschläge: 

1. Internationale Übereinkunft, die den Mädchenhandel verbietet und 
die Verfolgung der Täter ohne Kompetenzschwierigkeiten der einzelnen 
Staaten untereinander am Ort der Festnahme gestattet. — Ver¬ 
schärfung der Strafen: stets Zuchthaus. Ferner Maßregeln zur 
Verhinderung der Aussaugung der Opfer. 

2. Privatvereinigungen sind zwecklos. Die Regierungen müssen die 
Organisierung übernehmen. Notwendig sind internationale Verträge 
und ad hoc erlassene Gesetze. 

3. Man müßte dieselben Maßregeln ergreifen, die zur Ausrottung der 
Sklaverei der Schwarzen geführt haben. Vielleicht könnten diese 
Bestrebungen zur Aufhebung der weißen Sklaverei wiederum von 
England ausgehen. 

4. Die Anschauungen über Bordelle und Prostitution müßten sich 
ändern. Verf. steht auf streng abolitionistischem Standpunkt. Denn 
die Bordelle sind die dauerndeu Abnehmer und auf stets frische 
„Ware“ angewiesen. 

5. Bessere Überwachung der Stellenvermittler, die offiziell konzessioniert 
werden müßten, wie die Auswandererbureaux. 

6. Einladung zu offizieller Konferenz der Kulturstaaten zur Bekämpfung 
des Mädchenhandels. 

Das Programm würde etwa die erwähnten Hauptpunkte zum Gegen¬ 
stand der Verhandlungen machen. 


Sittlichkeitsfrage. 

Max Flasch. Vom notwendigen Obel. Magazin für Literatur, April 1903. 

Die Prostitution ist die Folge der Unvollkommenheit der Ehe: weil 
die gesetzlich normierte Form der sexuellen Beziehungen nicht ausreicht, 
um dem bestehenden geschlechtlichen Bedürfnis zu genügen, findet die 
sexuelle Betätigung auch außerhalb dieser statt. Solange man die Institu- 


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42 


Referate. 


tion der Ehe, so wie sie ist, als etwas Unabänderliches betrachtet, solange 
ist die alles zersetzende Prostitution unentbehrlich. Wenn man das 
Übel an der Wurzel fassen will — und nur so kommt man zum Ziele, 
nicht aber auf dem Wege der Beseitigung einzelner Auswüchse — so 
gilt es in erster Reihe die Ehe in ihrer heutigen Gestalt zu bekämpfen. 
Der Rahmen der Ehe ist zu eng geworden, um die Summe der geschlecht¬ 
lichen Forderungen in sich einzuschließen, sie vermag ihre Aufgabe nicht 
mehr zu erfüllen, und eine Institution, die nicht mehr leistet, was sie 
soll, ist schlecht und muß verbessert oder durch etwas anderes ersetzt 
werden. Der Änderung der Gesetze muß aber eine Änderung der Sitten¬ 
auffassung vorangehen; erst auf sie kann etwas Neues aufgebaut werden. 
Wenn die Einsicht von der Untauglichkeit der in kodifizierten Gesetzen 
regulierten Ordnung der sexuellen Beziehungen Gemeingut aller oder 
wenigstens der maßgebenden Kreise geworden sein wird, wenn man die 
Mangelhaftigkeit unserer heutigen Ehe als die Ursache der Prostitution 
nicht nur erkannt, sondern auch frei zu bekennen den Mut gefunden 
hat, dann wird die Zeit für eine neue bessere Moral gekommen sein. 


1. Anna Pappritz. Herrenmora!. Frauen-Rundschau Jabrg. IV. S. 309. 

2. Prof. Dr. Max Flesch. „Herrenmoral“, eine Erwiderung an Fräulein Anna 

Pappritz. Frauen-Rundschau Jahrg. IV. S. 480. 

3. Dr. Felix Block. Offener Brief an Fräulein Anna Pappritz. Frauen-Rundschau 

Jahrg. IV. S. 592. 

4. A. Pappritz. Antwort auf die Briefe der Herren Prof. Flesch und Dr. Block. 

Frauen-Rundschau Jahrg. IV. 8. 593. 

5. Anna Neumann. In Sachen Flesch contra Pappritz. Frauen-Rundschau 

Jahrg. IV. S. 730. 

ad 1. Fräulein Papp ritz erhebt Protest gegen das Ergebnis des 
Frankfurter Kongresses, das in der fast ausnahmslosen Übereinstimmung 
der Ärzte in folgenden Punkten bestehe: 1.) Anerkennung, daß jede se¬ 
xuelle Abstinenz gesundheitsschädlich sei und 2.) Forderung der Kaser¬ 
nierung der Prostitution. — Alle Forderungen und Erwägungen beruhten 
auf der doppelten geschlechtlichen Moral, auf der Herrenmoral. Wenn 
die sexuelle Abstinenz für beide Geschlechter schädlich sei, warum er¬ 
strebe man nur Befriedigung für den Mann? Die Kasernierung der Prosti¬ 
tuierten entspreche dem aus der Herrenmoral hervorgegangenen Wunsche, 
dem jungen Mann der besitzenden Klasse „gesunde Ware“ zu liefern, 
Befriedigung der geschlechtlichen Bedürfnisse des Mannes ohne Ver¬ 
pflichtungen. Das Bordell wesen sei nicht durchzuführen, und erfülle 
seinen Zweck nicht. Die Behauptung, daß die physiologischen Bedin¬ 
gungen bei beiden Geschlechtern ganz verschieden seien, — der Geschlechts¬ 
trieb des Mannes verlange nach der Vereinigung mit dem Weib, die 
Frau aber kenne diesen Trieb nicht, bei ihr sei der Geschlechtstrieb 
nur Sehnsucht nach dem Kind — sei falsch. Die Frau habe dieselben 
Geschlechtstriebe, ohne deswegen pervers zu sein. Der abolitionistische 
Standpunkt sei der allein richtige. 


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Referate. 


43 


ad 2. Flesch verwahrt sich gegen die Motive, die ,,Herrenmoral“, die 
Pappritz den Vertretern der entgegengesetzten Anschauung unterschiebt. 
Im übrigen sei durchaus keine fast ausnahmslose Übereinstimmung der 
Ärzte bezüglich der Gesundheitsschädlichkeit der Abstinenz und der 
Forderung der Kasernierung der Prostituierten. Im Gegensatz zu Fräulein 
Pappritz hält er eine Frau, deren Liebesstreben in der Umarmung 
und deren steter Wiederholung gipfelt, für pervers, weil aus dem 
physiologischen Gang des weiblichen Liebeslebens herausgetreten. Die 
sexuelle Moral müsse diesen Verhältnissen gerecht werden. Der aboli- 
tionistische Gesichtspunkt sei ein idealer; solange aber die Prostitution 
bestehe, die man auch nicht so bald aus der Welt schaffe, müssen die 
schlimmsten Begleiterscheinungen derselben, die venerische Infektion, aus 
der Welt geschafft werden, nur dürfe dies nicht geschehen durch Ent¬ 
rechtung der beteiligten Frau. 

ad 3. Block betont gleichfalls, daß nur einzelne die geschlechtliche 
Enthaltsamkeit für schädlich halten, ebensowenig sei die Forderung der 
Kasernierung der Prostitution einstimmig gewesen. Die* Konzentrierung 
der reglementierten Prostituierten in bestimmten Straßen sei etwas vom 
Bordell völlig verschiedenes. 

ad 4. Pappritz betont nochmals gegenüber Block, daß Erb nicht 
behauptet habe, daß sexuelle Abstinenz nur für Männer schädlich sein 
könne, sondern für beide Geschlechter; sie widerspricht Flesch, daß das 
Primäre im geschlechtlichen Gefühlsleben der Frau die Sehnsucht nach 
dem Kinde sei. Die Anschauungen der Abolitionisten seien keine Utopie. 

ad 5. Anna Neumann tritt den Anschauungen von Fräulein Papp¬ 
ritz bei; sie betont die Wichtigkeit der Prostitutionsfrage für die ganze 
Frauen frage. 


1. Willy Hellpach. Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Sozialist. 

Monatsh. 1903. Nr. 3. 

2. Oda Olberg. Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Sozialist. 

Monatsh. 1903. Nr. 4. 

3. Willy Hellpach. Prinzipielles zum Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. 

Sozialist. Monatsh. 1903. Nr. 5. 

1. In dem 1. Teile seiner Abhandlung plaidiert Hellpach für 
eine systematische, vom Staat zu organisierende und zu leitende 
Aufklärung weitester Volkskreise über die venerische Gefahr, die in 
ihrer Bedeutung doch noch so ziemlich allen Laien unbekannt ist. 
H. schlägt vor, daß die Kreisärzte — und wo solche nicht ansässig 
sind, andere für diese Tätigkeit zu besoldende Ärzte verpflichtet werden, 
an dem Orte ihrer Wirksamkeit regelmäßig Vorträge über Ge¬ 
schlechtskrankheiten zu halten, und daß der Staat zu demselben 
Zwecke ärztliche Wanderredner anstellt, die namentlich in denjenigen 
Städten, in denen nur ein Arzt niedergelassen ist, Vortragszyklen ab¬ 
zuhalten hätten. Um nicht durch eine Anhäufung von unnützem Ballast 
den Erfolg solcher Vorträge in Frage zu stellen, müßte man für diese 


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44 


Referate. 


eine Trennung von Männern und Frauen fordern, weil es ja den 
beiden Geschlechtern gegenüber auf ganz verschiedene Dinge ankomme. 
Zu den Frauenkursen müßten Mädchen von 16 Jahren aufwärts, zu den 
Männerkursen Knaben von 15 Jahren ab Zutritt haben. Die höheren 
Lehranstalten u. s. w. sollten den Besuch der Vorträge für die älteren 
Schüler obligatorisch machen. Bei diesen Aufklärungs- und Be¬ 
lehrungsversuchen sei ein nachdrücklicher Hinweis vor allen Dingen 
darauf notwendig, daß die größte Gefahr der Ansteckung nicht von der 
offiziellen, sondern von seiten der geheimen Prostitution drohe. 
Diesem Faktor gegenüber dürfe man vom Staat auch direkt eine größere 
Entschiedenheit fordern, und die Behörden hätten die Verpflichtung, 
speziell den Animierkneipen als einem geradezu provokanten Teile 
der geheimen Prostitution energisch zu Leibe zu rücken. Hier erhebt 
sich für Hellpach die Hauptfrage des ganzen Feldzuges: „Wie ist es 
möglich, das Reservoir der geheimen Prostitution überhaupt 
zu stopfen?“ Es handelt sich dabei um das Thema der vorehelichen 
Enthaltsamkeit, welches den Verf. zu dem 2. Teile seiner Ausführungen 
überleitet, in denen er einige Gesichtspunkte kritisch beleuchtet, die 
ihm für die Stellungnahme zu dem Keuschheitsproblem wichtig 
erscheinen. 

Die Frage, ob Keuschheit der Männer möglich sei, wird von 
H. — weil er sie zurzeit für nebensächlich hält — nicht weiter 
erörtert. Von grundsätzlicher Bedeutung ist für ihn dagegen, ob 
Keuschheit des Mannes unter unseren heutigen Kulturbedingungen 
wünschenswert, ob sie ersprießlich sei. Hierauf vermag aber H. 
vorderhand eine Antwort noch nicht zu geben. Er beschränkt sich 
vielmehr auf die Beibringung von Argumenten zur Beurteilung der 
heute üblichen Nichtkeuschheit. Voraussetzung für eine richtige 
Kritik dieser Tatsache ist die Feststellung, daß die Begriffe der Unbe¬ 
rührtheit, der Enthaltsamkeit und der Keuschheit, die so häufig promiscue 
gebraucht werden, drei voneinander ganz verschiedene Dinge bedeuten. 
Mit Karl Jentsch erblickt H. in der Enthaltsamkeit bei den meisten 
jungen Leuten ein Hindernis wirklicher Keuschheit. Abstrakt genommen 
ist keusch derjenige, der „jeden Geschlechtsverkehr aus rein sinnlichem 
Kitzel abweist und die geschlechtliche Hingabe der im vollsten Umfange 
des Wortes »geliebten« Person reservieren will.“ Die so definierte 
Keuschheit ist aber ein Ideal; das Leben zwingt zur Einschränkung. 
Die größtmögliche Keuschheit ist nicht durch Enthaltsamkeit, sondern 
durch einen geregelten Geschlechtsverkehr zu erlangen, d. h. 
durch eine regelmäßige Exkretion überschüssiger Körpersäfbe, die uns be¬ 
lästigen. „Die Nichtentfernung dieser Substanzen müßte einen unausgesetzten 
Kitzel erzeugen, der die Phantasie und das Gefühlsleben trübt, am anderen 
Geschlechte überhaupt nur noch das sinnlich Begehrenswerte sieht und 
die sittliche oder auch nur gemütliche Wahlverwandtschaft verdunkelt. 
Der unvermeidliche Ekel, den die Benutzung einer nur sinnlich gewählten 
Person zum Geschlechtsakt erzeugt, soll gerade der stärkste Hebel sein 
für die Entfaltung der Sehnsucht nach einem Wesen, das uns die sinn¬ 
liche Liebe im Rahmen einer Lebensgemeinschaft beschert.“ So ver- 


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Referate. 


45 


steht H. „die Keuschheit, die nicht mit Enthaltsamkeit, sondern mit 
geregeltem Geschlechtsverkehr verbunden ist.“ Und so hat sie auch 
Karl Jentsch verstanden. Wenn nun aber Jentsch weiterhin in der 
Ausnutzung der Dirnen — natürlich nur der „geborenen 11 , deren Existenz 
H. (nicht in dem Umfange wie Lombroso, aber in einem größeren als 
Blaschko) anerkennt — das Mittel sieht, das die relative Keuschheit 
gewährleisten soll; wenn er für eine Erziehung propagieren möchte, die 
zu dieser relativen Keuschheit führt; wenn er also das Leben des jungen 
Mannes „an die beiden Extreme liebeloser Ausleerung der Säfte und 
keuschen Empfindens für die Frau 11 verteilen will; so kann H. ihm 
hierhin nicht mehr folgen. Denn die moderne Großstadt hat ein 
mächtigem Zwischenreich geschaffen, das den Raum zwischen jenen Polen 
erfüllt, und dieses Reich des Verhältnisses gerade ist heute der 
Tummelplatz einer ungeheueren Zahl junger Männer geworden. Während 
also Jentsch die „ästhetische Rohheit 41 in Kauf nehmen wollte, um 
die höchste „sittliche Verfeinerung 11 zu ermöglichen, hat in Wirk¬ 
lichkeit das sexuelle Leben ein Stadium erreicht, das im Gegenteil durch 
eine „ästhetische Verfeinerung 11 und „sittliche Vergröberung 41 
gekennzeichnet ist. H. ist nun der Überzeugung, daß ein erfolgreicher 
Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten vor allem eine Lösung des 
Verhältnisproblems bedingt, das sich folgendermaßen formulieren läßt: 
„Bedeutet die Zunahme der Verhältnisse durch die damit heute ohne 
Zweifel verbundene sittliche Verflachung eine absolute Verschlechterung 
des außerehelichen Liebeslebens oder bloß eine vorübergehende? Soll 
man das Verhältnis an sich zugunsten der Alleinherrschaft der Pro¬ 
stitution befehden — oder kann man eher versuchen, es zu sittlich 
vornehmeren Formen fortzuentwickeln? 41 Um diese Fragen beantworten 
zu können, ist es notwendig, sich über die Bedeutung des „Verhältnisses 41 
klar zu sein. Als Tatsache darf gelten, daß durch das Verhältnis 
Tausende von Mädchen mehr oder minder rasch der Prostitution zugetrieben 
werden. Die Gefahr, auf eine abschüssige Bahn geführt zu werden, liegt 
für die Mädchen nach H. Ansicht aber nicht schon in dem Verhältnis 
an sich — in dem Eingehen oder dem Bestände eines solchen. ÜDd 
darum treffen — meint H. — alle Vorschläge, die nur darauf hinzielen, 
das Anknüpfen eines Verhältnisses zu erschweren (hohe Deflorations¬ 
entschädigungen; Reform der Rechte unehelicher Kinder; Erweckung des 
sozialen Gewissens), nicht den Kern der Sache. Verhängnisvoll wirkt 
meistens die Lösung des Verhältnisses. Und deren Ursachen sind in 
der Mehrzahl der Fälle die erfolgte Ansteckung oder Empfängnis. 
Und was dann die Verbitterung auf der weiblichen, die Rücksichtslosigkeit 
auf der männlichen Seite steigert, das ist der Standesunterschied. 
Man darf H. wohl ohne weiteres zustimmen, wenn er Infektion, Befruch¬ 
tung und Standesunterschied als die Gefahren des Verhältnisses betrachtet. 
Die beiden ersten Gefahren können ja relativ leicht, wenn auch nicht 
völlig beseitigt, so doch recht beträchtlich herabgesetzt werden, und H. 
fordert die Ärzte auf, aus ihrer Zurückhaltung, die er als falsch und 
unheilvoll bezeichnet, herauszugehen und bei der privaten Beratung 
ihrer Klienten, sowie in Vorträgen oder Broschüren die empfehlenswerten 


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46 


Referate. 


Mittel zur Verhütung von Infektion und Empfängnis anzugeben. 
Der dritte Punkt, die Frage des Standesunterschiedes ist dagegen eine 
eminent soziale. Von den Mädchen abgesehen, die aus Not gezwungen 
sind, sich von einem Liebhaber ernähren zu lassen und die der Weg 
meist gradeaus zur Prostitution führt — kommen für das Verhältnis 
im wesentlichen die Mädchen in Betracht, in deren Haus und Familie 
nicht die Not, aber die Einschränkung herrscht. ,,Sie wollen auch einmal 
die vielerlei kleinen Genüsse und Behaglichkeiten durchkosten, die dem 
Auge in der Großstadt stündlich geboten werden; ein paar Stunden der 
Ärmlichkeit und der Langeweile entrückt werden — vor allem am 
Sonntag.“ Und ist einmal der erste Schritt getan — das Zurück in 
bescheidenen Umgang ist äußerst schwer. Schließlich ist Amüsement 
um jeden Preis das Ziel. H. sieht hier nur einen gangbaren Ausweg: 
,,Erstarken des sozialen Selbstbewußtseins in den Frauen der 
unteren Klassen, verbunden mit der Hebung der materiellen und 
geistigen Lebenshaltung.“ „Je mehr dieses Erstarken fortschreitet, je 
weitere Kreise es ergreift, desto geringer wird die Zahl der Mädchen 
werden, die sich danach sehnen, für ein paar Leckereien des Lebens 
einem jungen Manne höheren Standes als billiges Spielzeug zu dienen, 
um schließlich krank oder verdorben von ihm beiseite geworfen zu 
werden.“ Diese Überlegungen führen H. zu der Überzeugung, daß von 
den Aufgaben, deren Erfüllung die Voraussetzung ist für einen erfolg¬ 
reichen Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten, „ein Teil gelöst 
werden kann nur von der Arbeiterbewegung;“ daß mit dem 
Erstarken der letzteren, mit ihrer Ausdehnung auf die Kreise der Dienst¬ 
boten, der Kellnerinnen, der Verkäuferinnen ein Loch nach dem anderen 
gestopft wird, durch welches das Reservoir der Prostitution sich seine 
Füllung sicherte. Gerade in der Arbeiterschaft sei die Unkenntnis der 
venerischen Gefahr eine ganz krasse, und gerade hier werde der 
Geschlechtsverkehr viel zu früh und viel zu leichtfertig geübt; aber 
andererseits habe die Arbeiterschaft die leichteste Entwicklungsmöglichkeit 
zum Bessern infolge der ihr gebotenen Gelegenheit zu früher Heirat, 
die dem ,,Junggesellenjahrzehnt“ der bürgerlichen Schichten gegenüber 
einen unendlichen Segen bedeutet. „Auch auf dem Gebiete der Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten stoßen wir heute auf Striche, wo — und 
diese Überzeugung H.’s ist die Quintessenz seiner Abhandlung — alle 
Neutralität in die Brüche geht, wo wir — wohl oder übel, mitschaffend 
oder widerstrebend, uns getragen fühlen von einem Strome, der jedes 
Widerstandes spottet — von der Sozialisierung.“ 

2. Der Aufsatz von Hellpach wird die Anerkennung, daß es eine 
geistvolle und interessante Arbeit ist, die von dem ehrlichen Wollen, 
dem schneidigen Mut, der scharfen Kritik ihres Verf. Zeugnis gibt, auch 
denjenigen abnötigen, die mit Willy Hellpach über viele und wesent¬ 
liche Punkte verschiedener, vielleicht gegensätzlicher Meinung sind. Und 
deren Zahl ist sicher nicht gering. Zu ihnen gehört Oda Olberg, die 
mit großer Entschiedenheit der Auffassung widerspricht, die Hellpach 
ihres Erachtens in Hinsicht auf die Beziehungen zwischen Verhältnis 
und Prostitution vertritt. Freilich den Grund zu ihrem Protest gab 


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Referate. 


47 


Oda 0. weniger der Artikel Hellpacbs in den Sozialist. Monatsheften — 
er war mehr der äußere Anlaß, — sondern sein schon früher erschienenes 
Buch über „Nervosität und Kultur“, 1 ) in dem die Ansichten des 
Verf. angeblich noch eindeutiger zum Ausdruck kommen. Sie hat 
Hellpach so verstanden, daß er die Frage, ob das Verhältnis der Pro¬ 
stitution vorzuziehen sei, „mit Eifer und Nachdruck, ja mit Begeisterung“ 
bejaht, und sie betont dem gegenüber vor allem die Tatsache, daß bei 
dem Verhältnis die Vorteile und Nachteile stets ungleich auf die beiden 
Kontrahenten verteilt sind. Das Verhältnis könne immer nur für besitzende 
Männer in Betracht kommen und stelle das „Idealbild der Ausbeutung“ 
dar. Die Gefahren der Prostitution vermindere es nicht und wenn es 
dies wirklich täte, d. b. die Ansteckungsgefahr für die Männer der be¬ 
sitzenden Klassen herabsetzen würde, so hieße das nur, eine Gesellschafts¬ 
schicht sanieren durch Durchseuchung einer anderen. Wolle man die 
Schädigungen des vorehelichen Geschlechtsverkehrs mindern, so solle 
man nicht die Bedürfnisse, die die Prostitution geschaffen und erhalten 
haben, andershin verweisen, weil die Prostitution viele abstoßende und 
widerwärtige Züge zeigt, sondern „man sollte lieber die Dirne aus der 
tiefen Erniedrigung erheben, in die die soziale Ächtung sie gestoßen 
hat, und sie würde sehr viel weniger widerwärtig und abstoßend sein.“ 

3. Gegen die Angriffe Olbergs setzt sich Hellpach mit großem 
Geschick zur Wehr — freilich mit etwas mehr persönlicher Schärfe, als 
notwendig gewesen wäre. Aber in der Sache selbst dürfte er wohl das 
Recht auf seiner Seite haben. Denn in der Tat hat H. z. B. das Ver¬ 
hältnis nicht nur nicht als „sittliche Verfeinerung“ „gepriesen“ — wie 
Oda Olberg behauptet, — sondern er hat im Gegenteil als die Cha¬ 
rakteristika des Verhältnisses „ästhetische Verfeinerung,“ aber „sittliche 
Vergröberung“ bezeichnet. Auch die übrigen Vorwürfe Olbergs wider¬ 
legt H. — im wesentlichen dadurch, daß er ihr nach weist, daß sie ihn 
vielfach vollkommen mißverstanden habe. 

Über eine Polemik auf Grund eines Referates — und wenn sich 
dessen Autor auch der größten Objektivität befleißigt — zu einem 
klaren Urteil zu gelangen, ist immer sehr schwierig, wenn nicht un¬ 
möglich. Es sei deshalb die Lektüre der Originalartikel umsomehr 
warm empfohlen, als sie jedem sicherlich reiche Anregungen bieten wird. 


Pädagogisches. 

Georg Sticker. Gesundheit und Erziehung. J. Rick er. Gießen. 1903. 2. Aufl. 

„Eine Vorschule der Ehe“ nennt Sticker sein Buch, dem er die 
Worte Föneions als Motto vorangesetzt hat: Ich weiß wohl, daß man 
euch beklagen, euch trösten, euch aufrichten muß; aber vor allem muß 
man die Wahrheit sagen. Und das tut der Verfasser, der sich an die 
Eltern und Erzieher, mehr noch aber an die Jugend selbst wendet, die 
aus Elternhaus und Schule in das Leben hinaustreten, mit entschlossenem 

*) Berlin, Raede, 1902. 


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Referate. 


Mute, warmem Herzen und scharfem Verstände. Freilich — nicht jedem 
wird die Wahrheit, die Sticker kündet, auch seine Wahrheit sein, und 
manchem heftigen Widerspruch gerade von seiten der Besten wird das 
Buch ohne Zweifel begegnen. Das soll keinen Tadel bedeuten — im 
Gegenteil, es soll ein Beweis dafür seiD, daß es nichts Alltägliches, nichts 
Triviales ist, was uns der Verfasser zu sagen hat, daß es vielmehr ge¬ 
eignet ist, befruchtend und anregend auf den Kampf der Meinungen zu 
wirken. 

Das Wort des Seneca: „Wir kranken an vermeidbaren Übeln“ — 
es gilt heut wie ehedem. Es gibt einen Weg, der zur körperlichen, 
geistigen und sittlichen Gesundung der Menschen führt: eine vernünftige 
Erziehung unsrer selbst und unsrer Schutzbefohlenen. Mens sana m 
corpore sano — dieser Satz, der in der Theorie ja schon längst von 
allen Verständigen anerkannt ist, muß endlich auch betätigt werden 
und zugleich mit Diderots Lehre, daß alles, was die Hygiene angeht, 
auch die Ethik betrifft, die Grundlage für jede Pädagogik bilden. 

Eine auch nur einigermaßen ausführliche Inhaltsangabe und Kritik 
des Buches würde über den Rahmen dieser Zeitschrift weit hinaus¬ 
gehen. Wir müssen uns vielmehr mit einer kurzen Wiedergabe und 
Besprechung der Ausführungen begnügen, die uns an dieser Stelle am 
meisten interessieren, das sind diejenigen, welche die sexuelle Frage 
und die ihr verwandten Probleme behandeln. 

Sticker ist davon überzeugt — und man darf ihm hierin wohl 
im wesentlichen zustimmen — daß den noch reinen Jüngling nicht die 
Unbezwinglichkeit des Geschlechtstriebes, sondern die durch eine heuch¬ 
lerische Erziehung gereizte und gequälte Phantasie zur Dirne treibt. 
Die Neugierde und das Verlangen, um jeden Preis das Rätsel des Ge¬ 
schlechtsunterschiedes zu erfassen, gerät in Widerstreit mit der natür¬ 
lichen Scham, dem Ekel vor der feilgebotenen Wollust. Verführerische 
Prahlereien und Spottreden leichtsinniger Altersgenossen und der be¬ 
täubende Alkohol tilgen dann den letzten Rest von Scheu und Furcht. So 
fallen Tausende der Besten — noch fast an der Schwelle von Kindheit 
und Jugend — der Unzucht und der Venerie zum Opfer. 

Wessen ist die Schuld? Wie kann man’s ändern? „An dem, was 
die Leute nicht wissen, sind nicht sie schuld, sondern die, welche es 
ihnen hätten sagen sollen und es nicht getan.“ „Wie auf eine heimliche 
Verabredung hin werden in Familie und Schule dem heran wachsenden 
Menschen die wichtigsten und nächsten Kenntnisse von den Bedingungen 
des Daseins und der Wohlfahrt des einzelnen und der Gesellschaft vor¬ 
enthalten, ja zum Teil im Namen der Sittlichkeit verboten, damit er um 
so gründlicher die 12 Stämme Israels und die 12 Arbeiten des Herkules 
und die unmögliche Quadratur des Kreises und die angeblichen Gewichte 
der Fixsterne lernen könne. Vom eigenen Körper, von den natürlichen 
Verrichtungen desselben, von der Ehe, von der Kinderpflege, von allen 
den Voraussetzungen, unter denen wir entstehen und vergehen, erfährt 
der junge Mensch nichts. Das alles soll nicht der Rede würdig und 
später sehr selbstverständlich sein. Besser werden ihm Märchen erzählt, 
Hirngespinste eitler Träume entwirrt und die Spielzeuge bequemer 


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Referate. 


49 


Müßiggänger zum Erstaunen vorgelegt, damit er nur nicht nach dem 
Leben, wie es ist und was es fordert, frage und die Erwachsenen in 
Verlegenheit setze. Lieber überlassen wir der stets regen Neugier des 
Kindes, aus Ahnungen und aus leichtsinnigen oder frechen Andeutungen 
seiner Umgebung sich verbotene Vorstellungen zu schaffen. Anstatt 
ihm zu sagen, daß die Mutter unter Schmerzen das Kind zur Welt 
bringt, wie das Huhn sein Ei, daß das Ungeborene sich im Mutterleib 
entwickelt wie das Würmchen in der Haselnuß; anstatt ihm zu sagen, 
daß die Körperstellen, an welchen unsere Nahrung abgeschieden wird, 
ebenso wichtige und notwendige Orte sind, wie der Mund, der die 
Nahrung aufnimmt, machen wir alberne Redensarten oder schamlose 
Lügen oder eine grinsende Miene, wenn das Kind nach den natürlichsten 
Dingen fragt.“ „Die Bedingungen unseres Daseins dürfen nicht länger 
der Gegenstand lüsterner Neugierde bleiben, sondern die wichtigsten, 
die heiligsten Lehrgegenstände werden für Jünglinge und Jungfrauen, 
die sich zu ihrem Lebenslauf vorbereiten.“ Aber Belehrung und Auf¬ 
klärung nicht allein über die normalen Vorgänge und Geschehnisse des 
Geschlechtslebens sind notwendig; wir schulden dem jungen Menschen, 
den wir ins Leben hinaustreten lassen, auch Einsicht in die Gefahren, 
die seiner warten. Er muß wissen, daß Trunksucht, Tuberkulose und 
Syphilis die Geißel der Völker sind; daß sie die entwickelte Lebenskraft 
zerstören und das keimende Leben töten; daß ihre Folgen nicht auf den 
einzelnen beschränkt bleiben, sondern sich unaufhörlich vervielfältigen 
und die Nächstenliebe wie die Geschlechtsliebe vergiften; daß unter 
diesen Erbfeinden der Menschheit die Lustseuche das bösartigste und 
heimtückischste ist, gegen die nicht künstliche Mittel helfen, „mit welchen 
der Mensch das Grundgesetz der Natur, daß jedes Unternehmen seine 
bestimmten Folgen hat, listig betrügen möchte, sondern einzig und allein 
freiwillige Keuschheit bis zur Ehe.“ Dann auch wenn die Schutzmittel 
gegen venerische Ansteckung nicht so häufig im Stiche ließen, wie sie 
es in Wirklichkeit tun, wären sie trügerisch, weil sie dem Leichtsinn 
im außerehelichen Geschlechtsverkehr Vorschub leisten und die An¬ 
steckungsgefahr nur verändern, nicht aufheben. Neben der Keuschheit 
ist die Nüchternheit die notwendigste Grundlage für die Gesundheit und 
Kraft der Menschen und ihrer Nachkommenschaft. Und der dritte 
mächtige und unentbehrliche Bundesgenosse im Kampfe gegen die an¬ 
steckenden Krankheiten überhaupt und die Geschlechtsleiden insbesondere 
ist die Reinlichkeit. „Reinlichkeit, Nüchternheit, Keuschheit sind 
die Tugenden, in welchen jeder leben muß, dessen Wunsch es ist, sich 
in körperlich und geistig gesunden Kindern fortleben zu sehen. Reinlich¬ 
keit, Nüchternheit, Keuschheit sind die Gewohnheiten, in welchen jedes 
Kind notwendig erzogen werden muß, wenn es gesund bleiben soll.“ 
Wir haben zum größten Teile den Verf. direkt zu uns sprechen 
lassen und müssen wohl bekennen, daß es goldene Worte sind, die uns 
ins Herz und ins Gewissen dringen. Wir brauchen nicht sie alle zu 
unterschreiben, aber doch beachten und erwägen und würdigen. Mögen 
sie für recht viele Veranlassung sein, sich nicht mit diesen wenigen 
Zitaten zu begnügen, sondern zu dem Buche selbst zu greifen, das 

Zeitschrfb f. Bekfmpfang d. Gesohlechtskrankb. II. 4 


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Referate. 


mit seinen interessanten und lehrreichen „Belegen und Bemerkungen“ 
die Gedanken eines guten und klugen Arztes und Erziehers in anregender 
Form verkündigt. 


Populäres. 

Wolters. Geschichte und Bedeutung der Geschlechtskrankheiten. Zeitschr. f. 

Krankenpflege. 1903. 1 u. 2. 

Die Ausführungen, die der Yerf. im Rostocker Ärzteverein vor¬ 
getragen hat, sind auch für den Laien außerordentlich lesenswert. Nach 
dem sehr interessant dargestellten historischen Teil der Arbeit werden 
die enormen Gefahren der venerischen Leiden für die Arbeitskraft und 
Wohlfahrt der Gesamtheit anschaulich geschildert und die sozialen wie 
ethischen Pflichten, die wir alle den Geschlechtskranken und -krankheiten 
gegenüber haben, eindringlich vor Augen geführt. 

E. Margulies. Ober die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Die mediz. 

Woche. 1903. 8. 

Verf. verficht mit großer Entschiedenheit die Reglementierung der 
Prostitution. Sämtliche Prostituierte, die bei der Untersuchung krank 
befunden werden, müssen sofort zur Zwangsheilung überwiesen und bis 
zu ihrer vollkommenen Genesung von der Ausübung ihres Gewerbes 
gänzlich ferngehalten werden. Verf. wünscht die Schaffung einer gesetz¬ 
lichen Grundlage für die radikale Durchführung einer scharfen Kontrolle 
nicht nur der notorischen puellae publicae, sondern vor allem auch der 
der Prostitution verdächtigen Personen. 

Max von Niessen. Womit sind die Geschlechtskrankheiten als Volksseuche im 

Deutschen Reiche wirksam zu bekämpfen? 

v. Niessen hat sich mit dieser Arbeit an dem Wettbewerb be¬ 
teiligt, der 1901 von der Leipziger Ortskrankenkasse veranlaßt worden 
war. Daß in der Broschüre die Syphilis als eine Krankheit behandelt 
wird, deren Ursache genau bekannt ist, darf dem Verfasser als dem 
„Entdecker“ eines der vielen „Syphilisbazillen“ am Ende nicht sonderlich 
verargt werden. Dagegen muß der Forderung, daß die Syphilidologie 
von der Dermatologie sowohl im Universitätsunterricht und der wissen¬ 
schaftlichen Forschung, wie namentlich auch in der ärztlichen Praxis 
getrennt werde, auf das entschiedenste widersprochen werden. Die Lues 
lokalisiert sich in den ersten beiden Stadien fast ausschließlich, in der 
Tertiärperiode sehr häufig auf der Haut; die Entscheidung der Frage, 
ob in dem einzelnen Falle eine venerische oder eine nicht venerische Der¬ 
matose vorliegt, ist oft erst nach längerer Beobachtung möglich; kurz — 
die Syphilidologie ist mit der Dermatologie auf das innigste verbunden, 
und jeder Versuch, diese beiden Disziplinen grundsätzlich voneinander zu 
scheiden, würde sich sehr bald als undurchführbar erweisen. Mit Fug 
und Recht betrachten also die Hautärzte auch die Behandlung der Sy¬ 
philis als ihre Aufgabe, und die Behauptung des Verfs., daß die Haut- 


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Referate. 


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ärzte, weil sie sich vorwiegend mit der Körperoberfläche beschäftigen, 
bisweilen zu oberflächlich seien, als daß sie eine so schwere und häufig 
tiefer liegende Organe befallende Krankheit wie die Syphilis sorgfältig 
zu behandeln im stände wären, verdient die schärfste Zurückweisung. 
Eine solche Verdächtigung ist auch in der nicht verallgemeinernden Form, 
die ihr der Verf. gegeben, in jeder Beziehung unberechtigt und geeignet, 
das Vertrauen der Patienten zu ihrem Arzte zu erschüttern. Nicht ein¬ 
dringlich genug kann ferner davor gewarnt werden, dem Verf. zu glauben, 
daß die Syphilis unheilbar sei. Auch wenn er sich weniger apodiktisch 
ausgedrückt hätte, müßte ihm unbedingt widersprochen werden. Die 
große Mehrzahl derjenigen Syphilitiker, die rechtzeitig in ärztliche Be¬ 
handlung kommen und in nicht sehr ungünstigen äußeren Verhältnissen 
leben, wird — der eine früher, der andere später — vollkommen gesund, 
v. Niessen betrachtet die Furcht als bestes Erziehungs- und Vorbauungs- 
mittel bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten: die Furcht vor 
jammervollem Siechtum, vor elendem Tode soll die Menschen Keuschheit 
lehren! Welch eine Verkennung der menschlichen Natur! Keuschheit ist 
eine Eigenschaft der Seele und kann niemals durch so brutale Mittel, wie 
es die Erregung von Angst und Schrecken ist, erzwungen werden. Aber 
selbst zu bloßer Enthaltsamkeit wird die Furcht die Menschen nimmer 
führen; und wo sie es doch erreichte, da geschähe es am Ende nur, um 
an des Teufels Statt Beelzebub auf den Thron zu erheben. Gewiß — 
Sorglosigkeit und Leichtsinn dem furchtbaren Feinde Syphilis gegenüber 
wären Torheit, wenn nicht Verbrechen! Aber Hoffnungslosigkeit und 
Verzweiflung nicht minder! Auch von den andern Waffen, mit denen 
v. Niessen die venerische Seuche bekämpfen will, sind viele stumpf und 
schartig: Verbot der gewerblichen Prostitution, Bestrafung der Verheim¬ 
lichung von Geschlechtskrankheiten, Gesundheitsnachweis vor der Ver¬ 
ehelichung sind utopistische Forderungen. 

Die Opferfreudigkeit, mit der v. Niessen gegen den gefährlichen 
Feind des Menschengeschlechts mit anzukämpfen entschlossen ist, die 
dankenswerten Ratschläge, die er hier und da gibt, die mancherlei Vor¬ 
züge, die sein Buch an Inhalt und Darstellung vor andern Broschüren 
gleicher Tendenz voraus hat, — dies alles läßt die gewichtigen Fehler 
und groben Irrtümer, deren sich der Verf. schuldig macht, nicht vergessen. 


Tagesgeschichte. 

Preußen. 

Eine amtliche Warnung der Studierenden vor denGefahren 
der Geschlechtskrankheiten wird vom preußischen Medizinalminister 
in einem Erlaß an die Universitätskuratoren empfohlen: 

„Die Gefahren der Geschlechtskrankheiten für die Gesellschaft und 
die Verbreitung, welche die Erkrankungen glaubwürdigen Nachrichten 
zufolge unter der studierenden Jugend erlangt haben, lassen es in hohem 
Grade erwünscht erscheinen, daß die Studierenden in größerer Ausdehnung 

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52 


Referate. 


als bisher vor diesen Gefahren gewarnt und mit den Maßregeln zu ihrer 
Bekämpfung in eindringlich gemeinverständlicher Weise bekannt gemacht, 
wie auch auf die ethische Seite der Frage nachdrücklich hingewiesen 
werden. Dies hätte am zweckmäßigsten in kurzen öffentlichen Vor¬ 
lesungen für die Studierenden aller Fakultäten zu geschehen, wobei 
neben Dozenten der medizinischen Fakultät auch geeignete Vertreter der 
Philosophie oder Theologie beteiligt werden könnten. Die Universitäts¬ 
kuratoren werden um baldige Vorschläge zu einer möglichst zweckent¬ 
sprechenden Gestaltung dieser Vorlesungen ersucht.“ 

Frankreich. 

Die französische Regierung hat durch Dekret vom 18. Juli d.. J. 
eine aus 70 Mitgliedern bestehende außerparlamentarische Kommisson 
zum Studium der mit der Sittenpolizei und der Überwachung der Pro¬ 
stitution etwa verbundenen Mißstände eingesetzt. Dieser Kommission 
gehören eine Reihe von Senatoren und Abgeordneten an, darunter der 
bekannte De Pressensä, als Vorsitzender der Präsident der innern 
Abteilung des Ministeriums Disl&re, eine Reihe von hohen Justiz- 
und Verwaltungsbeamten, Gide und Poitevin, Professoren an der ju¬ 
ristischen Fakultät in Paris, die Direktoren des Militär-, Marine- und 
Kolonialsanitätswesens, der Direktor des öffentlichen Armee- und Zivil¬ 
sanitätswesens, der Direktor des Öffentlichen Sicherheitswesens, der Polizei¬ 
präfekt von Paris und die Präfekten einiger anderer größerer Departe¬ 
ments, der Maire von Lyon (Prof. Augagneur), ferner die Maires von 
Bordeaux, Havre, Nancy und Brest, von Ärzten: Brissaud, 
Brouardel, Fournier, Gaucher, Landouzy, Langlet, Balzer, 
Besnier, Butte, Fiaux, Lukas, ferner Mme. Avril de Sainte- 
Croix, E. Brieux (der Dichter der Avariäs), Flachon und Yves 
Guyot. Wir werden im nächsten Heft den Wortlaut des vom Minister¬ 
präsidenten E. Combes Unterzeichneten Dekretes zum Abdruck bringen. 

Amerika. 

Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten wird jetzt auch in 
Amerika energisch in Angriff genommen. Die dermatologisch-chirurgische 
und die hygienische Sektion der American Medical Association haben 
eine Nationalversammlung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten — 
nach dem Muster der Brüsseler Konferenz — angeregt. Das House of 
Delegates hat diesen Plan gebilligt und beschlossen, daß ein Komitee 
von 6 Mitgliedern aus diesen beiden Sektionen vom Präsidenten mit 
dem Studium der Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten beauftragt 
werde und Vorschläge zu einer Nationalversammlung zu machen habe. 
Das „Committee on Prophylaxis of Venereal Diseases“ besteht aus 
folgenden Herren: Dr. Henry D. Holton, Brattleboro, Vt, Vorsitzender; 
Dr. Ludwig Weiss, New York, Sekretär; Dr. George M. Kober, Was¬ 
hington, D. C.; Dr W. H. Sanders, Montgomery, Ala.; Dr. L. Duncan 
Bulkley, New York; Dr. Frank H. Montgomery, Chicago, IH. 


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Zeitschi rift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903. Nr. 2. 


Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 

Von 

Dr. med. Hermann Sehlesinger (Frankfurt a. M.). 

Motto: Ihrer Naturtriebe brauchen sieh 

die Menschen gar nicht zu schämen. 

Euripido s. 

Nachdem einmal der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten 
von weiten Kreisen aufgenommen worden ist, haben alsbald Arzte 
und Pädagogen den Ruf nach Aufklärung der Jugend über das 
Geschlechtsleben erhoben. Das ist eigentlich eine so selbstver¬ 
ständliche Forderung, daß es kaum begreiflich erscheint, wie 
ihre Verwirklichung einem Widerstande begegnen könnte. Denn 
wenn man schon der Ansicht ist, daß irgendwo in sittlicher 
oder hygienischer Beziehung, oder in beiden zugleich, eine schwere 
Gefahr besteht, so sollte man doch vor allen Dingen dafür 
Sorge tragen, daß diejenigen, welche ihr durch ihre Unerfahren¬ 
heit vorzugsweise ausgesetzt sind, also das heranwachsende Ge¬ 
schlecht, bevor es ins Leben eintritt, von ihrem Vorhandensein 
und • von ihrem Wesen genaue Kenntnis erhält. Dieser einfachen 
Überlegung gemäß verfährt man doch in der Regel bei der Er¬ 
ziehung der Kinder. Es wird ihnen beispielsweise eingeprägt, 
daß sie Hab und Gut sowie Leben und Gesundheit ihrer Mit¬ 
menschen heilig zu halten haben, und man hat kein Bedenken, 
ihnen die Vergehen und Verbrechen, die dagegen verstoßen, nam¬ 
haft zu machen und sie aufs eindringlichste davor zu warnen. 
Ebenso gibt die Schule eine Übersicht über den Bau des mensch¬ 
lichen Körpers und die Verrichtungen seiner Organe, und bei 
dieser Gelegenheit wird auch krankmachender Schädlichkeiten ge¬ 
dacht, welche seine Existenz bedrohen, und zugleich gelehrt, wie 
man sich ihrer erwehrt Nur in einem Punkte haftet man mit 
zäher Hartnäckigkeit an altüberlieferten Anschauungen, obwohl 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Gesehlechtskrankh. II. 5 


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Schlesinger. 


sich diese längst als törichte Vorurteile erwiesen haben: Von einem 
der mächtigsten Naturtriebe der Jugend gegenüber zu sprechen, 
gilt im allgemeinen als etwas durchaus Verabscheuenswürdiges, Er¬ 
örterungen über geschlechtliche Dinge könnten ihr ja die Unschuld 
rauben, sie des poetischen Hauches der Unberührtheit von allem 
Häßlichen undUnschönen entkleiden. Diese seltsame, vom logischen 
Standpunkt aus unbegreifliche Scheu, von den geschlechtlichen Ver¬ 
richtungen gerade so gut wie von den übrigen zu reden, findet 
ihre Erklärung darin, daß man jene noch immer als etwas Tierisches, 
sittlich niedrig zu Bewertendes ansieht So kommt es, daß der 
Gedanke der geschlechtlichen Aufklärung der Jugend noch weit 
entfernt davon ist, überall Anklang zu finden, es will vielmehr den 
meisten Eltern durchaus nicht einleuchten, und sie schaudern davor 
zurück, daß ihre Lieblinge bereits in jungen Jahren in so „un¬ 
saubere“ Dinge eingeweiht werden. Wenn nun in krassem Gegen¬ 
satz dazu ernste Männer und Frauen die völlige Unhaltbarkeit des 
bisher in dieser Hinsicht gültigen Erziehungsgrundsatzes betonen 
und rückhaltslose Aufklärung in Anlehnung an die Ergebnisse der 
wissenschaftlichen Forschung verlangen, so wissen sie dafür ge¬ 
wichtige Gründe ins Feld zu führen. Sie einer eingehenden 
Würdigung zu unterziehen, soll Zweck dieser Zeilen sein, die es 
sich zugleich zur Aufgabe gemacht haben, zu erörtern, von wem 
und wie die sexuelle Unterweisung erfolgen soll. 

I. Notwendigkeit der geschlechtlichen Aufklärung 
der Jugend. 

Rein theoretisch betrachtet, läßt sich mit dem besten Willen 
nicht begreifen, weshalb im naturwissenschaftlichen Unterricht zwar 
Anatomie und Physiologie von Atmung, Blutkreislauf, Verdauung 
Nervensystem usw. durchgenommen, die Fortpflanzung des Men¬ 
schen hingegen mit Stillschweigen übergangen wird. 1 ) Es müßte 
doch erst der Beweis geführt werden, daß diese Funktion von 
geringerer Wichtigkeit für die Erhaltung des Menschengeschlechtes 
sei. Da eine solche Behauptung wohl von niemand aufgestellt 

l ) In dem Buche: „Die Naturgeschichte des Menschen (Anthropologie) 
nebst Hinweisen auf die Pflege der Gesundheit. Für Gymnasien, Real¬ 
gymnasien, Realschulen und Seminarien bearbeitet von Prof. Dr. F. C. Noll“ 
fehlt z. B. jeder Hinweis darauf, daß es überhaupt eine Fortpflanzung gibt. 
Offenbar gestatten also die Schulbehörden nicht, daß den Schülern davon 
etwas vorgetragen wird. 


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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 


55 


werden wird, so wäre zu zeigen, daß die übrigen Körperverrichtungen 
weniger „tierisch" seien als die Fortpflanzung. Auch damit wird 
man kein Glück haben. Die Verdauung wenigstens verdient bei¬ 
spielsweise ganz gewiß keine höhere Note, sie ist an sich so „tierisch" 
wie nur etwas. Gleichwohl wird ihrem Wesen und ihrer Be¬ 
deutung seitens der Schule eine eingehende Würdigung zu teil, 
wobei man sogar des letzten Aktes, der Darmentleerung, gedenkt. 
Im Einklang damit legt man im Publikum durchweg diesem Vor¬ 
gänge einen hervorragenden Wert für die Beurteilung des Ge¬ 
sundheitszustandes bei — mit Recht — und pflegt ihm demgemäß 
sorgsame Beachtung zu schenken. Nun hat man bisher aber noch 
nie gehört, daß darunter die Sittlichkeit von jung oder alt ge¬ 
litten habe, und ebensowenig wird die Poesie der Mutterschaft da¬ 
durch beeinträchtigt, wenn die junge Mutter, oder die es werden 
soll, lernt, daß nicht zum mindesten die Untersuchung der Windeln 
ihr Auskunft über das Wohlbefinden oder über mehr oder minder 
schwere Krankheiten des Säuglings gibt. 

Genz und gar unbeachtet bleibt freilich das Sexuelle auch in 
der Schule nicht, insofern als der Lehrer in dem der Zoologie ge¬ 
widmeten Unterrichtsstunden gezwungen ist, einige Angaben über 
die Fortpflanzung der Tiere zu machen. Bei dieser Gelegenheit 
kann er nun, insbesondere wenn er von dem Geschlechtsleben der 
Säugetiere spricht, in unauffälliger und harmloser Weise mehr 
oder minder deutlich darauf hinweisen, wie sich dasselbe beim 
Menschen gestaltet. Ein derartiges Vorgehen ist nur zu billigen, 
denn es ist als ein nicht zu unterschätzender Gewinn anzuschlagen, 
wenn die Jugend weiß, daß die Fortpflanzung der höheren Tiere 
mit Einschluß des Menschen sich nach denselben grundlegenden 
Gesetzen vollzieht. Allein als ein vollgültiger Ersatz für eine un¬ 
mittelbare Belehrung darf ein solches Aushilfsmittel sicher nicht 
angesehen werden, weil unter allen Umständen eine klaffende 
Lücke auszufüllen bleibt. Das Geschlechtsleben jeder Gattung hat 
eben seine besonderen Eigentümlichkeiten, und man verlangt wohl 
nicht zu viel, wenn man erwartet, daß der Homo sapiens 1 ) sich 
vor allen Dingen mit denen seiner eigenen vertraut macht Man 
könnte sonst gerade so gut der Schuljugend einen Vortrag über 
den VerdauungsVorgang des Hundes, des Pferdes, des Schweines 


l ) „Homo sapiens", wörtlich übersetzt: „der weise Mensch", ist in der 
Zoologie die wissenschaftliche Bezeichnung für die Gattung „Mensch". 

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56 


Schlesinger. 


oder anderer Tiere halten und sich im übrigen damit begütigen, 
daß man ihr sagt, es handele sich beim Menschen um ähnliche 
Verhältnisse. 

Von dieser theoretischen Erwägung abgesehen, gibt es eine 
ganze Reihe von praktischen Gesichtspunkten, die mit zwingender 
Gewalt für die geschlechtliche Aufklärung der Jugend in die Wag¬ 
schale fallen. 

Das Rätsel der Entstehung des Menschen regt das Kind schon 
frühzeitig zum Nachdenken an, seine Fragen pflegt man durch 
allerlei Erzählungen — am bekanntesten ist die vom Storche — 
zu beantworten. Darüber braucht wohl kein Wort verloren zu 
werden, daß dieses und andere Märchen, sobald die Kleinen an¬ 
fangen, geistig reifer zu werden, keinen Glauben mehr finden. Wenn 
man sich also nicht des pädagogischen Fehlers schuldig machen 
will, ihre Wißbegier brüsk zurückzuweisen, so bleibt nur übrig, 
sie auf andere Weise zu befriedigen. 

Nun kann man sich ja vorstellen, es brauche dies keineswegs auf 
die Art zu geschehen, daß man ihnen die reine Wahrheit sagt, 
diese ließe sich vielleicht in geschickter Weise verschleiern, oder 
man würde sich dadurch helfen, daß man seine Zuflucht zu einer 
plausiblen Ausrede nähme. Im einen wie im anderen Falle müßte 
indessen unbedingt vorausgesetzt werden, daß es gelänge, aus der 
persönlichen Beobachtung, wie aus dem geistigen Gesichtskreise 
der Jugend alles das auszuschalten, was auch nur im entferntesten 
auf das Geschlechtliche zu beziehen wäre. Das trifft aber in 
Wirklichkeit nicht zu. 

Um sich davon zu überzeugen, fasse man zunächst einmal die 
geistige Nahrung der Jugend ins Auge. Daß für Kinder und 
halbwüchsige junge Mädchen und Knaben nicht jedes Buch und 
jede Schrift zur Lektüre sich eignet, ist eine Binsenwahrheit, 
die näherer Begründung nicht bedarf. Mit Recht bezeichnet 
man daher in der Belletristrik als Jugendschriften solche Werke 
erzählenden und belehrenden Inhaltes, welche der Fassungskraft 
der genannten Altersklassen angepaßt sind und in denen alles ver¬ 
mieden ist, was namentlich in geschlechtlicher Beziehung ihrer 
ohnehin so leicht erregbaren Phantasie freien Spielraum geben 
könnte. Jedoch selbst bei strengster und sorgfältigster Überwachung 
durch Schule und Haus ist es einfach unmöglich, sie in dieser 
Hinsicht sozusagen mit einer chinesischen Mauer zu umschließen, 
welche für geistige Konterbande undurchlässig ist. Man denke 


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Die geschlechtliche Aufkl&rung der Jagend. 


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nur an die Zeitungen! Auch die zahmsten und tugendsamsten, 
welche vom heiligen Schauder gegen die „neue Richtung" ergriffen 
sind, können nicht umhin, unter der Rubrik „Gerichtszeitung" 
ständige Berichte über Strafprozesse zu bringen, deren Helden 
Dirnen, Zuhälter oder sonstige dunkele Ehrenleute sind, welche 
wegen eines Sittlichkeitsdeliktes abgeurteilt werden. Welches Blatt 
hätte beispielsweise den Fall Sternberg, der seinerzeit soviel Staub 
aufwirbelte, dem Leserkreis vorenthalten können? Sogar die nicht 
periodische Literatur, bei der man es doch viel eher in der Hand 
hat, zu sichten und Ungeeignetes auszuschließen, erweist sich im 
Sinne der herrschenden Anschauungen oftmals als recht bedenklich, 
und zwar läßt sich dies mehrfach gerade von den „erlaubten" 
Büchern behaupten. Es sei hier zunächst an die Bibel erinnert, 
insbesondere an das Alte Testament, welches sich nie scheut, die 
Dinge beim rechten Namen zu nennen, und davon in bezug auf 
das Geschlechtliche wahrlich keine Ausnahme macht Darf man 
sich etwa einbilden, daß der Schuljugend die „anstößigen" Stellen 
verborgen bleiben? Wenn nun, wie die Erfahrung lehrt, diese 
Annahme eine irrige ist, dann müßte allerdings folgerichtig die 
Bibel als „unsittliches Buch" auf den Index kommen. Nicht anders 
steht es mit den Klassikern der alten und neuen Zeit, welche zum 
Teil in ihren herrlichsten Werken so manches enthalten, was sich 
mit dem Grundsatz nicht vereinbaren läßt, daß die Jugend von 
sexuellen Dingen bei Leibe nichts hören dürfe. Will man vielleicht 
deshalb ihre Lektüre aus dem Unterrichtsplan der höheren Schulen 
streichen? Oder glaubt man, daß alles in bester Ordnung sei, 
wenn man das „Unpassende" kurzweg überschlägt? Wahrscheinlich 
wird man mit dieser Methode nicht viel Glück haben, höchstens 
könnte sie bewirken, daß das Überschlagene zu Hause mit regerem 
Eifer gelesen wird, als er sich bei dem zeigt, was in der Schule 
gelesen wird. 

Gelangt man auf diese Weise schon zu den anfechtbarsten 
Schlüssen, so sorgt die rauhe Wirklichkeit vollends dafür, das Ver¬ 
kehrte des üblichen Vertuschungssystems ins hellste Licht zu setzen. 
Man werfe einmal einen Blick auf das Familienleben! Es ist 
wohl nichts Unerhörtes, daß ein Familienzuwachs erfolgt, während 
bereits größere Kinder, 13 bis 15 Jahre alt und darüber, vor¬ 
handen sind. Wollte man sich einbilden, daß diese die in die 
Augen fallenden körperlichen Veränderungen der Mutter, die Ge¬ 
burt und die durch sie hervorgerufene Aufregung im Hause, so- 


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Schlesinger. 


dann das Wochenbett mit dem Erscheinen des neuen Weltbürgers 
nicht in ursächlichen Zusammenhang brächten, so hieße das denn 
doch ihrer Beobachtungsgabe und ihrem Scharfsinn, namentlich der 
Mädchen, das denkbar schlechteste Zeugnis ausstellen. Da nun in 
Wirklichkeit die Eltern am wenigsten geneigt sein werden, ein so 
niederziehendes Urteil über die geistige Beschaffenheit ihrer Spröß- 
linge zu fällen, so gäbe es eigentlich nur ein radikales Mittel, sie 
von dem gefürchteten Nachdenken über geschlechtliche Dinge zu 
bewahren, nämlich sie auf lange Monate hinaus gänzlich vom 
Hause zu entfernen. Geht das nicht an, dann bliebe es allerdings 
der Mutter nicht erspart, täglich und stündlich vor ihrem eigenen 
Fleisch und Blut zu erröten. 

So wenig wie die Vorgänge im Hause können sich diejenigen 
außer dem Bereiche der Wohnstätten der Wahrnehmung der heran- 
wachsenden Jugend entziehen. Die Tiere, insbesondere die Haus¬ 
tiere, sind bekanntlich unmoralisch genug, ihrem Geschlechtstriebe 
in aller Öffentlichkeit zu frönen. Auf dem Lande gar ist es ganz 
schlimm bestellt Wo Viehzucht betrieben wird, spielt der Fasel¬ 
eber, Faselstier, Faselhengst usw. eine bedeutende Rolle, kein 
echtes Bauemkind ist so unwissend, daß ihm deren Dasein ein 
Geheimnis wäre, ja es ist keineswegs selten zugegen, wenn sie 
ihre Bestimmung erfüllen. Und noch mehr: wenn das wichtige 
Ereignis eintritt, daß etwa die Kuh kalbt, so versammelt sich 
häufig die ganze Familie im Stall, um dabei zu sein. Also an 
Gelegenheiten fehlt es nicht, um den Kindern zu Gemüte zu führen, 
daß es ein Geschlechtsleben gibt, und die Anwendung liegt nahe 
genug, daß sie sich schon einen Vers darauf machen werden, es 
möge beim Menschen wohl ähnlich zugehen, besonders falls der 
Lehrer, wie vorhin erwähnt, Andeutungen in dieser Hinsicht ge¬ 
macht haben sollte. 

Dazu kommt noch, daß das menschliche Geschlechtsleben 
gerade in seiner widerlichsten Gestalt durchaus nicht im Ver¬ 
borgenen blüht In Großstädten sind die Straßen und Gassen, in 
denen die Priesterinnen der Venus ihr Hauptquartier aufgeschlagen 
haben, weiter nicht hermetisch von den übrigen Stadtteilen ab¬ 
gesperrt und hier sowohl wie an anderen Orten treiben die un¬ 
glückseligen Geschöpfe recht ungescheut ihr Unwesen. Daß das 
Großstadtkind eben diesen Eindruck nicht in sich aufnehmen und 
verarbeiten sollte, läßt sich doch kaum annehmen. Auf dem platten 
Lande freilich fehlt die Prostitution, aber nicht der illegitime 


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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 


59 


Geschlechtsverkehr, der in Ermangelung eines besseren sehr häufig 
den Gesprächsstoff für alt und jung bildet. Wenn die Spinn¬ 
stuben vielfach als die Brutstätten der Unsittlichkeit bezeichnet 
werden, so dürften ohne Zweifel alle Kenner der Verhältnisse 
darin einig sein, daß im engbegrenzten Horizont des Dorfes auch 
die Kinder sich untereinander zuÜüstem werden, was sich dort 
abspielt 

Wer durch die bisherigen Darlegungen von der Notwendigkeit 
einer radikalen Änderung der Erziehung auf dem Gebiete des 
Geschlechtlichen noch nicht überzeugt sein sollte, wird sich wohl 
bekehren, wenn man ihm vorhält, daß sich wieder einmal die 
Wahrheit des Horazischen Wortes bewährt: 

„Treibst du das Naturell auch mit Macht aus, immer kommt’s 
wieder.“ 

Sobald das Kindesalter abgeschlossen ist, stellt sich die Periode 
der Pubertät oder der Geschlechtsreife ein, sie bedeutet für beide 
Geschlechter geradezu eine Umwälzung in körperlicher wie in 
geistiger Hinsicht. Normale Entwickelung vorausgesetzt, erwacht 
jetzt heim Knaben der Geschlechtstrieb, beim Mädchen treten die 
geschlechtlichen Funktionen in die Erscheinung. Da man es mit 
denkenden Wesen zu tun hat, die mit völliger Klarheit sich bewußt 
sind, daß in ihrem Organismus etwas ganz Besonderes, bisher Un¬ 
geahntes vor sich geht, so wäre es mehr als sonderbar, wenn sie 
nicht nach Aufklärung suchten. Müßte man nicht ein 14 bis 
16jähriges Mädchen geradezu als stumpfsinnig bezeichnen, das 
weiter nicht achtgibt, wie bestimmte äußere Körperstellen eine 
auffällige Umwandlung erfahren, dessen Gleichmut sogar dann nicht 
gestört wird, wenn es eines Morgens beim Erwachen eine Blutung 
aus den Geschlechtsteilen wahrnimmt? 

Für den kühl und ruhig Überlegenden kann es also keinem 
Zweifel unterliegen, daß man den jungen Leuten in dieser Lebens¬ 
periode eine Aufklärung unbedingt schuldet. Und wenn diese 
nicht von berufener Seite erfolgt, so könnte ihr die Mühe nur 
zu leicht von einer unberufenen abgenommen werden. Hand 
aufs Herz! Halte einmal ein jeder, der gereifte Mann wie das 
gereifte Weib, Einkehr in sich selbst und frage sich, wer ihm 
zuerst vom Geschlechtlichen gesprochen hat. Fast ausnahmslos 
wird man gestehen, daß sich dazu ein gleichaltriger oder etwas 
älterer Schulfreund oder Schulfreundin bereit gefunden hat, man 
wird sich erinnern, daß deren Belehrung jede Sachlichkeit ver- 


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Schlesinger. 


missen ließ, statt dessen aber durch die mystischen Andeutungen 
von Sinneslust und Sinnestaumel wie ein Gift wirkte, welches in 
die harmlose Seele des Neophyten geträufelt wurde. Und daß auf 
diese Weise Tausende und Abertausende widerstandslos der Ver¬ 
führung erliegen, daß gewisse geschlechtliche Verirrungen bei beiden 
Geschlechtern wie eine Pest sich verbreiten, daß insbesondere die 
Jünglinge sich frühzeitig dem gefährlichen Geschlechtsgenuß, der 
ihnen durch die Prostitution geboten wird, sich ergeben, das sind 
Tatsachen, an denen nicht gerüttelt werden kann. 

Sollte es selbst einmal gelingen, die Jugend in völliger Un¬ 
wissenheit zu erhalten — eine solche Ausnahme wäre nur für Mädchen 
zuzugeben — so ist damit noch lange nicht gesagt, ob darin 
wirklich ein Vorteil zu erblicken ist Wenn es der letzte und 
höchste Zweck der Ehe ist, Nachkommenschaft zu erzeugen und 
sie zu tüchtigen und wackeren Menschen heranzuziehen, so muß 
man verlangen, daß diejenigen, welche sich fürs Leben vereinigen, 
sich mit ihren Pflichten nach der ethischen Seite so gut wie nach 
der natürlichen hin völlig vertraut gemacht haben. Auch das Weib 
darf in dieser Beziehung nicht im Dunkeln tappen, sie muß wissen, 
was ihre Bestimmung ist und was ihrer harrt, es tut ihrer Un¬ 
schuld nicht Eintracht, wenn sie davon durchdrungen ist, daß das 
Geschlechtsleben an sich nichts Tierisches, nichts sittlich Erniedrigen¬ 
des ist, sondern nichts anderes als die Erfüllung eines allgewaltigen 
Naturgesetzes bedeutet 

II. Von wem soll die geschlechtliche Aufklärung 
der Jugend erfolgen? 

Die bisherigen Auseinandersetzungen lassen sich kurz dahin 
zusammenfassen, daß der einstweilen noch herrschende Grundsatz, 
das Kapitel des Geschlechtlichen der reiferen Jugend gegenüber 
als ein Kräutlein „Rühr’ mich nicht an“ zu betrachten, rein ver¬ 
nunftgemäß nicht bestehen kann, und daß sich seine Verwirklichung 
als ein Phantasiegemälde darstellt, das durch die brutale Macht 
der Tatsachen, so leicht wie ein Windhauch ein Kartenhaus um¬ 
wirft, in seine Atome aufgelöst wird. Deshalb fort mit der ebenso 
unwürdigen als gefährlichen, konventionellen Heuchelei auf diesem 
Gebiete, das wahre Wohl der Jugend erheischt völlige, rückhalt¬ 
lose Aufklärung in Anlehnung an die Ergebnisse der wissenschaft¬ 
lichen Forschung! Wird das zugestanden, so erhebt sich von selbst 
die Frage, wer die Belehrung erteilen soll? 


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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 


61 


In erster Linie wird man dieselbe als heilige Pflicht dem 
Elternhause zuweisen, das ja vor allem berufen ist, das heran- 
wachsende Geschlecht in sittlicher Beziehung so zu festigen, daß 
es hernach dem Kampfe mit den Versuchungen des Lebens ge¬ 
wachsen ist. Soll nun das „gute Haus“ gerade da versagen, wo 
am ehesten ein Straucheln zu befürchten und wo dieses Straucheln 
unendlich oft von Folgen begleitet ist, an denen diejenigen, die es 
trifft, ihr ganzes Leben zu tragen haben? In der Tat hat der 
Gedanke etwas Verlockendes, daß Vater und Mutter es sind, die 
zuerst mit dem Sohn oder der Tochter über das Geschlechtsleben 
sprechen, in klarer, verständlicher und sachlicher Weise seine Be¬ 
deutung erklären und zugleich auf die schweren Gefahren auf¬ 
merksam machen, die damit verknüpft sind. Allein man täusche 
sich nicht! Dieser Weg ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen 
nur für eine sehr kleine Minderzahl von Eltern gangbar, weil bei 
der überwiegenden Mehrheit nicht nur unter der großen Masse 
des Volkes, sondern sogar unter den Gebildeten eine krasse Un¬ 
wissenheit in dieser Beziehung herrscht Woher sollte denn auch 
das Wissen stammen? Aber selbst wenn dieser Hinderungsgrund 
einmal beseitigt sein sollte, so würde es doch nicht ratsam er¬ 
scheinen, den Eltern die Aufklärung zu übertragen. Denn es 
würde damit gehen wie mit so vielen anderen Kenntnissen und 
Fertigkeiten; jene wären in der Regel gar nicht imstande, die¬ 
selbe ihren Kindern zu vermitteln, sei es, daß es ihnen an Zeit 
mangelt, sei es, was meist der Fall sein wird, daß sie gar nicht 
die Befähigung besäßen, den schwierigen Gegenstand der Jugend 
gegenüber richtig zu behandeln. 

So ist man schon gezwungen, sich den Nothelfer anderswo zu 
suchen, und da es sich um eine Sache handelt, die das Wohl und 
Wehe aller Schichten der Bevölkerung angeht, so kann das Heil 
nur von einer Einrichtung kommen, die in unmittelbarster Be¬ 
rührung mit der Gesamtheit des heranwachsenden Geschlechtes 
steht, das ist die Schule. Ob freilich augenblicklich und in ab¬ 
sehbarer Zeit Aussicht auf Erfüllung dieser Forderung vorhanden 
ist, mag zweifelhaft sein, aus Gründen, deren Erörterung hier nicht 
am Platze ist Das darf jedoch nicht abhalten, sie immer und 
immer wieder zu erheben, denn der Staat muß auf die Dauer einem 
wissenschaftlich wie sozial gerechtfertigten Verlangen Rechnung 
tragen. In der Tat ist gerade die Schule berufen, in bezug auf 
das Geschlechtliche aufklärend und dadurch zugleich versittlichend 


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Schlesinger. 


zu wirken, sie ist ein wesentlicher und unentbehrlicher Faktor im 
Kampfe gegen die verheerenden Geschlechtskrankheiten genau so 
wie gegen eine andere Pest, die am Marke des Volkes zehrt, gegen 
den Alkoholismus. Die intellektuell wie moralisch so hochstehende 
deutsche Lehrerschaft leistet die Gewähr, daß die sexual-hygienische 
Unterweisung, die sich zwanglos der Naturlehre angliedern läßt, 
in einwandsfreier Weise erteilt werden, daß sie vor allem den 
Lernenden vor Augen führen wird, wie dem Reinen alles rein ist. 
Selbstverständlich muß in Lehrer- und Lehrerinnenseminarien Ge¬ 
legenheit zur Erwerbung der nötigen Kenntnisse gegeben werden; 
am meisten dürfte sich zu dem Zweck ein Vortragszyklus oder 
ein Unterrichtskurs empfehlen, der von einem Arzt oder einer 
Ärztin gehalten wird. Die akademisch gebildeten Oberlehrer ge¬ 
winnen durch das Studium der Zoologie eine vorzügliche Grund¬ 
lage, und es wird ihnen nicht schwer fallen, sich in das spezifisch 
Medizinische der Sache hineinzufinden. Übrigens könnten ja leicht 
durch die medizinischen Fakultäten Vorlesungen für die Studieren¬ 
den der Naturwissenschaften eingerichtet werden. 1 ) 

Man wird es aufs lebhafteste begrüßen, daß neuerdings auch 
pädagogische Kreise der Frage der geschlechtlichen Aufklärung 
der Jugend näher treten. So hat sich der Deutsche Verein für 
das Fortbildungsschulwesen in Leipzig damit befaßt und 
folgende Leitsätze angenommen: 

1. Es ist anzunehmen, daß die große Mehrzahl der Fort¬ 
bildungsschüler eine mehr oder minder richtige Kenntnis des Ge¬ 
schlechtslebens hat. 2. Die Schüler bedürfen einer, des mystischen 
Beiwerkes entkleideten sexual-hygienischen Unterweisung, 
die sie einesteils vor den Gefahren der Selbstbefleckung schützt^ 
anderenteils sie davon überzeugt, daß der Geschlechtsverkehr weder 
notwendig, noch ungefährlich ist 3. Diese Unterweisungen hätten 
zunächst die Eltern zu geben, die sich aber aus Unkenntnis oder 
berechtigtem Schamgefühl dieser Pflicht fast stets entziehen. 4. Den 
Lehrern diese Unterweisung zu überlassen, wird am Widerstande 
der Eltern scheitern und leicht peinlichen Verdächtigungen Tür 
und Tor öffnen. 5. Es empfiehlt sich, daß, solange die in Satz 3 
und 4 angegebenen Bindernisse nicht überwunden sind, der Arzt 
wenn vorhanden der Schularzt) diese sexual-hygienischen Unter- 

l ) An der Berliner Universität hat Prof. Lassar ein Publikum über 
Geschlechtskrankheiten für Studierende aller Fakultäten gelesen, das sich 
* eines außerordentlich regen Zuspruchs erfreut hat. 


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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 


63 


Weisungen durchfährt, am besten im Anschlüsse an einen allgemein 
hygienischen Unterricht. 

Den beiden ersten Sätzen wird man ohne jede Einschränkung 
zustimmen. weniger schon dem dritten, der zu verschiedenen Aus¬ 
stellungen Anlaß gibt. Wenn es in demselben heißt, daß sich die 
Eltern „aus berechtigtem Schamgefühl“ der Pflicht entziehen, ihre 
Kinder zu unterweisen, so ist dieser Ausdruck höchst unglücklich 
gewählt Entweder ist die Unterweisung etwas sittlich Verwerf¬ 
liches, dann darf sie eben von niemand erteilt werden, oder aber 
sie ist eine ethische und zugleich soziale Notwendigkeit, dann ist 
ein Schamgefühl sicher nicht angebracht und berechtigt ist es 
schon längst nicht. Richtiger sollte man vielmehr von einem 
„falschen Schamgefühl“ sprechen, dieses ist es, unter dessen Herr¬ 
schaft das jetzt noch übliche Vertuschungssystem zuwege gebracht 
ist. Daß aber dabei die Sittlichkeit arg zu Schaden gekommen, 
daß die Jugend wehr- und waffenlos all den Verführungen und 
Einflüsterungen ausgeliefert ist, welche auf sie einstürmen, sobald 
sie ins Leben tritt, wer möchte das leugnen? Und wenn man in 
der Aufklärung eine der wirksamsten Maßregeln im Kampfe gegen 
Geschlechtskrankheiten und Geschlechtsverirrungen erblickt, so 
kann dieses Ziel einzig erreicht werden durch die Besiegung jenes 
falschen Schamgefühls. Wer wie der deutsche Verein für das 
Fortbildungsschulwesen eine sexual-hygienische Unterweisung der 
Fortbildungsschüler will, sollte daher gänzlich verkehrten Anschau¬ 
ungen auch nicht die geringste Konzession machen, sonst könnte 
es den Anschein gewinnen, als ob er mit dem einen Fuß noch immer 
im Lager des althergebrachten „laisser faire, laisser aller“ stehe. 

Nach der Richtung hin muß man freilich dem Leitsatz 3 
durchaus beipflichten, wenn er die „Unkenntnis“ der Eltern als 
Ursache bezeichnet, weshalb sie nicht imstande sind, ihren Kindern 
eine Belehrung angedeihen zu lassen. Es ist darüber bereits vorher 
das Nötige gesagt und zugleich betont worden, daß selbst eine 
etwaige „Kenntnis“ kaum eine Änderung herbeiführen würde. 

Man wird es daher nur billigen, daß Leitsatz 5 die Unter¬ 
weisung in die Schule verlegen will, im übrigen fordern jedoch 
Leitsätze 4 und 5 zu energischem Widerspruch heraus. Wenn 
die Ansicht vertreten wird, „den Lehrern diese Unterweisung zu 
überlassen, werde am Widerstande der Eltern scheitern und leicht 
peinlichen Verdächtigungen Tür und Tor öffnen“, so kann das un¬ 
möglich als zutreffend anerkannt werden. Gewiß wird noch mancher 


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Schlesinger. 


Tropfen Wasser ins Meer fließen, ehe sich die Allgemeinheit mit 
dem Gedanken einer sexual-hygienischen Unterweisung versöhnt 
oder gar befreundet hat, und es wird noch schwere Anstrengung 
und harten Kampf kosten, bis die maßgebende Behörde sich ent¬ 
schließt, dieselbe dem Lehrplan einzuverleiben. Ebenso gewiß ist 
es, daß, sobald dies geschehen ist, Tausende und Abertausende 
der lieben Eltern die Hände über den Kopf zusammenschlagen 
und Zeter und Mordio schreien werden, daß man ihnen die Kinder 
in Grund und Boden verdirbt Allein das braucht und darf die 
Lehrerschaft nie und nimmer abhalten, unbeirrt und ohne auf 
törichte Vorurteile und unverdiente Vorwürfe zu achten, das zu 
lehren, was sie für gut und richtig erkannt hat und wovon sie 
überzeugt ist, daß es der sittlichen Hebung der ihr anvertrauten 
Jugend im höchsten Maße frommt. Die bestehenden Hindernisse 
zu überwinden, ist wahrlich des Schweißes der Edlen wert, aber 
sie werden nie auf dem Wege überwunden werden, den der Leit¬ 
satz 5 einschlagen will. Wenn die sexual-hygienische Unterweisung 
dem Arzte („wenn vorhanden dem Schulärzte“) überwiesen werden 
soll, so könnte das fast den Eindruck hervorrufen, als wollte man 
das Odium, das selbst zu tragen man sich scheut, auf die Schultern 
eines anderen abladen. Eine solche Unterstellung wäre ohne 
Zweifel ebenso gehässig als ungerecht, tatsächlich würde jedoch 
jenes Odium den Arzt genau so gut treffen wie den Lehrer. Der 
Widerstand der Eltern richtet sich ursprünglich gegen den Unter¬ 
richt, nicht gegen den Unterrichtenden, er würde sich allerdings 
durch Ausfälle gegen den letzteren Luft machen, weil die große 
Menge zu kritiklos ist, um die Sache streng von der Person zu 
scheiden. Daß aber das Publikum seinen Unwillen über einen 
mißliebigen Unterrichtsgegenstand zwar an dem Lehrer auslassen, 
den Arzt hingegen, falls er für diesen einspringt, fein glimpflich 
behandeln werde, das ist eine Annahme, für die jeder Anhalts¬ 
punkt fehlt, vielmehr würde der eine so wenig wie der andere vor 
„peinlichen Verdächtigungen“ gefeit sein. Tritt man schon für 
einen Fortschritt ein, so heißt es unter allen Umständen mutig 
vorwärts streben. Diese Neuerung im Unterrichtsbetriebe wird bei 
ihrer Einführung wie jede andere vor und nach ihr heftigen An¬ 
feindungen und schärfsten Angriffen begegnen, indessen vom deutschen 
Lehrerstand darf man erwarten, er werde es durch seine bewährte 
pädagogische Geschicklichkeit und seinen pädagogischen Takt bereits 
nach wenigen Jahren dahin bringen, daß die Schreier mundtot werden. 


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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 


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In dem Sinne sind jedoch die bisherigen Auseinandersetzungen 
nicht aufzufassen, als weigerten sich die Ärzte, an der sexual¬ 
hygienischen Unterweisung der Jugend mitzuwirken, sie betrachten 
vielmehr die Aufklärung derselben wie die des Volkes überhaupt 
als ein nobile officium ihres Standes. Ihre Sache ist es, durch 
Vorträge und volkstümliche Schriften den weitesten Kreisen das 
Verständnis für die entsetzlichen Verheerungen der Geschlechts¬ 
krankheiten und geschlechtlichen Verirrungen zu erschließen und 
auf die Gefahren hinzuweisen, welche insbesondere der Jugend 
drohen, ihnen liegt es ob, in den Seminarien die zukünftigen Lehrer 
und Lehrerinnen für das Fach der Hygiene mit Einschluß der 
sexualen Hygiene vorzubereiten. Im einen wie im anderen Falle 
bilden das Subjekt der Belehrung nicht etwa halbwüchsige Kinder, 
sondern reifere Menschen, oder gebildete junge Männer und Mädchen, 
die sich einem ernsten, schweren Berufe widmen. Das ist aber 
etwas ganz anderes, als den Schülern der Fortbildungsschule einen 
systematischen Unterricht erteilen. Wer an dem Dogma festhält, 
daß die Schule den Schulmännern gehöre, wird es nicht recht ver¬ 
stehen, daß der Deutsche Verein für das Fortbildungssehulwesen 
ein fremdes Element als Lehrperson empfiehlt, mit dem gleichen 
Rechte könnte man ja auch verlangen, daß z. B. Gesetzeskunde 
vom Juristen, Turnen vielleicht vom Unteroffizier gelehrt werde. 

Selbst auf die Gefahr hin, päpstlicher als der Papst zu er¬ 
scheinen, dürfte es erlaubt sein, dem Zweifel Ausdruck zu geben, 
ob der Arzt sich geeignet erweist, für 14- bis 17 jährige junge Leute 
die sexual-hygienische Unterweisung zu übernehmen. Man kann 
sich am Krankenbett vorzüglich bewähren, man kann zugleich ein 
guter Redner sein und eine gewandte Feder führen, alle diese 
Eigenschaften verbürgen jedoch keineswegs, daß man nun auch ein 
Pädagoge ist. Und gerade darauf kommt es in allererster Linie 
an bei einem Unterrichtsgegenstand, der insofern die Bezeichnung 
„heikel“ verdient, als er vom großen Publikum noch immer als 
eine geistige Speise angesehen wird, die man der Jugend nicht 
vorsetzen dürfe. Diese irrige Meinung zu bekämpfen, den Eltern 
zu zeigen, daß die Sittlichkeit ihrer Kinder nicht notleidet, daß 
sie vielmehr gefördert wird durch eine naturwissenschaftliche Be¬ 
trachtung des Geschlechtslebens, erfordert unter allen Umständen 
einen pädagogisch geschulten Lehrer von reicher Erfahrung. 
Von dem Angehörigen eines anderen Standes läßt sich nicht er¬ 
warten, daß ihm diese Befähigung zu eigen sei; ihn mit einem 


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Schlesinger. 


solchen Amte zu betrauen, würde in der Regel ein verhängnisvoller 
Fehler sein, der sich bitter rächen und voraussichtlich der guten 
Sache nur schaden würde. 

Von diesen Erwägungen abgesehen, steht der Verwirklichung 
des in Leitsatz 5 enthaltenen Vorschlages noch ein erhebliches 
Hindernis praktischer Natur entgegen. In Mittel- und Großstädten 
sind ja Ärzte genug vorhanden, die Zeit und vielleicht auch 
Neigung hätten, die sexual-hygienische Unterweisung zu erteilen, 
allein eine Verallgemeinerung dieses Unterrichts wäre auf diesem 
Wege undenkbar. Denn wie soll es der vielgeplagte Landarzt, der 
in einem stundenweiten Umkreise seine Praxis versieht, möglich 
machen, in einem halben Dutzend und mehr Fortbildungsschulen 
verschiedener Dörfer eine regelrechte Lehrtätigkeit auszuüben? 

So drängt alles zu dem Schluß, daß die Leitsätze 3—5 sich 
in dieser Fassung nicht aufrecht erhalten lassen. Es muß 
vielmehr sein Bewenden dabei haben, daß die nun einmal als not¬ 
wendig anerkannte geschlechtliche Aufklärung der Jugend nicht 
nur in der Schule, sondern auch von der Schule gegeben werden soll. 

III. Welche Kenntnisse soll die Jugend vom Geschlechts¬ 
leben haben, und wie sollen sie vermittelt werden? 

Es wirft sich nunmehr ganz von selbst die Frage auf, was 
von geschlechtlichen Dingen zu wissen der Jugend nottut. Grund¬ 
sätzlich kann man in dieser Hinsicht kaum fehlgehen, wenn man 
genau so verfährt, wie es der Lehrplan bei anderen Körperver¬ 
richtungen, Atmung, Verdauung u. s. f., vorschreibt, man hat also 
einen Überblick zu geben über die Anatomie der Geschlechtsorgane 
und die Physiologie der Zeugung, d. h. es sind die wichtigsten 
regelmäßigen Vorgänge, die sich bei der Fortpflanzung abspielen, 
zu besprechen. Als Besonderheit kommt in diesem Falle hinzu die 
eingehende Berücksichtigung der zu einer furchtbaren Volksplage 
ausgearteten Geschlechtskrankheiten und Verirrungen des Ge¬ 
schlechtslebens, daran würde sich die Verhütung derselben sowie 
die Hygiene des Geschlechtslebens überhaupt anschließen. 

Sobald einmal die sexual-hygienische Unterweisung in den Lehr¬ 
plan aufgenommen sein wird, muß selbstverständlich den Lehrern 
ein Leitfaden in die Hand gegeben werden, der als Wegweiser für 
den Unterricht zu dienen hätte. Für den Augenblick dürfte die Ab¬ 
fassung eines solchen noch verfrüht sein, es genügt deshalb, sich an 
dieser Stelle auf einige allgemeine Betrachtungen zu beschränken. 


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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 


67 


Es kann zwischen den beiden Geschlechtern ein Unterschied 
nicht gemacht werden, mit andern Worten, dem heranreifenden 
Jünglinge wie der heranreifenden Jungfrau soll im wesentlichen 
die gleiche Belehrung zu teil werden. Das rechtfertigt sich ohne 
weiteres für die Anatomie der Geschlechtsorgane und die Physiologie 
der Zeugung, denn das Verständnis der letzteren setzt die Be¬ 
kanntschaft mit dem Bau der männlichen und weiblichen Ge¬ 
schlechtsorgane voraus und würde ohne sie unmöglich sein. 
Übrigens werden vernünftigerweise diejenigen nichts Anstößiges 
darin finden, welche den veredelnden Einfluß der darstellenden 
Kunst auf die Jugend anerkennen, ihr demgemäß den Besuch der 
Museen und Bildergalerien nicht verwehren wollen und nichts da¬ 
gegen einzuwenden haben, daß ihr Auge sich insbesondere der 
herrlichen Kunstwerke des griechischen Altertums erfreut, dessen 
Schönheitsideal die Darstellung des nackten menschlichen Körpers 
ist. Wenn sich nun aus dem Anblick der äußerlich sichtbaren 
Körperteile eine Gefahr in sittlicher Beziehung für den Anschauenden 
nicht herleitet, so wird sie gewiß auch dann nicht bestehen, wenn 
ihm Form und Bedeutung der im Innern des Leibes befindlichen 
an der Hand der Wissenschaft erklärt wird. 

Ernste Bedenken könnten sich, scheinbar mit Recht, dagegen 
erheben, daß auf dem Programm der sexual-hygienischen Unter¬ 
weisung auch Geschlechtskrankheiten und Geschlechtsvörirrungen 
und deren Verhütung stehen, denn dabei läßt es sich allerdings 
nicht vermeiden, daß so häßliche und unschöne Dinge, wie Prosti¬ 
tution, Selbstbefleckung u. a., zur Sprache kommen. Drängt sich 
da nicht die Befürchtung auf, daß durch die Aufklärung gerade 
das, was man verhindern will, hervorgerufen werden könnte? Dieser 
Einwand erledigt sich von selbst, wenn man erwägt, daß dieselbe 
tatsächlich so gut wie nie ausbleibt, und daß es denn doch nicht 
gleichgültig ist, ob sie sich einem unreifen und in sich noch nicht 
gefestigten Charakter in Gestalt der verführerischen Lockung naht, 
aber ob sie in ruhiger, sachlicher Form gegeben wird. Daß das 
eindrucksfähige Gemüt der Jugend treugemeinte Warnungen vor 
den entsetzlichen körperlichen und sittlichen Schädigungen durch 
geschlechtliche Ausschweifungen ganz und gar in den Wind schlagen 
sollte, ist eine Annahme, gegen die man sich aufs entschiedenste 
sträuben wird, oder man müßte überhaupt daran verzweifeln, daß 
die Schule imstande sei, eine ethische Einwirkung auszuüben. 

Immerhin könnten überängstliche Leute der Meinung sein, es 


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68 


Schlesinger. 


sei zu weit gegangen, auch Mädchen derartige Belehrungen zu er¬ 
teilen. Ihnen ist zu erwidern, daß nicht etwa einige wenige Aus¬ 
erwählte der höheren Klasse, sondern die große Masse der ge¬ 
samten weiblichen Jugend in Betracht kommt. Wer nun die sozialen 
Verhältnisse der niederen Schichten der Gesellschaft kennt, müßte 
blind einherwandeln, wenn er leugnen wollte, wie bitter not es tut, 
daß dem heran wachsenden weiblichen Geschlecht klarer Wein über 
das Geschlechtsleben und seine Gefahren eingeschänkt wird. 
Übrigens dürften auch die „höheren Töchter“, soweit sie späterhin 
als Mütter vor die Aufgabe gestellt werden, Söhne zu erziehen, 
schon aus praktischen Gründen es nicht zu beklagen haben, wenn 
sie in dieser Hinsicht „Wissende“ sind. Und ebenso nützlich und 
unentbehrlich wird sich dies Wissen denjenigen gebildeten Frauen 
erweisen, welche Zeit und Neigung zu sozialer Betätigung haben; 
wollen sie nach der Richtung erfolgreich wirken, so dürfen sie den 
Leiden und Verfehlungen des Volkes, auch in geschlechtlicher Be¬ 
ziehung, nicht verständnislos gegenübertreten. 

Endlich noch ein Wort der Erläuterung über die Hygiene des 
Geschlechtslebens! Dieselbe im weitesten Sinne zu besprechen, 
empfiehlt sich nicht, sondern man wird sich lediglich auf die 
Periode des jugendlichen Alters beschränken. Das Verhalten in 
der Ehe, insbesondere die Hygiene der Schwangerschaft, der Ge¬ 
burt, des Wochenbettes und der Lactation (Stillungsperiode) können 
nicht Gegenstand des Unterrichts in der Schule bilden. Das ist 
auch weiter nicht erforderlich, denn darüber geben eine Anzahl 
guter Schriften Auskunft, die heute schon ihren Leserkreis finden 
und ihn in noch höherem Maße finden werden, wenn die sexual¬ 
hygienische Unterweisung das Interesse aller Schichten der Be¬ 
völkerung geweckt und ihre Aufnahmsfähigkeit für diesen hoch¬ 
wichtigen Zweig der Gesundheitslehre gesteigert haben wird. 

Wenn die geschlechtliche Aufklärung der Jugend durch die 
Schule und in der Schule einmal das Stadium des frommen 
Wunsches überwunden haben wird, so wird ihre Verwirklichung 
kaum erheblichen Schwierigkeiten begegnen. Über die Art und 
Weise des Unterrichts braucht man sich wahrlich keine Gedanken 
zu machen, man darf vielmehr der deutschen Lehrerschaft das 
Vertrauen entgegenbringen, daß sie diesen Stoff gerade so wie jeden 
anderen pädagogisch mit bewährter Meisterschaft verarbeiten werde, 
so daß die Unterrichteten in sittlicher Beziehung, weit entfernt davon 
Schaden zu nehmen, nur gefordert werden. Ebenso muß es den 


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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. 


69 


Lehrern überlassen werden, wie der Gegenstand in den verschiedenen 
Kategorien von Schulen, Volksschulen, Mittelschulen, höheren 
Knaben- und Mädchenschulen, zu behandeln sein wird. Daß man, 
namentlich zum richtigen Verständnis der anatomischen und phy¬ 
siologischen Verhältnisse der Geschlechtssphäre, zum Hilfsmittel 
der bildlichen Darstellung greifen muß, mag vielleicht ängstliche 
Gemüter in Schrecken setzen. In Wirklichkeit liegt dazu kein 
Grund war, ein Blick in das Kapitel „Geschlechtsorgane" eines ana¬ 
tomischen Lehrbuches wird jeden überzeugen, daß weder Text nach 
Abbildungen dazu angetan sind, lüsterne Gedanken zu erwecken. 

Nicht ganz so leicht ist die Beantwortung der Frage, wann 
die sexual-hygienische Unterweisung stattfinden soll. Darin zwar 
kann bei richtiger Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse eine 
Meinungsverschiedenheit nicht aufkommen, daß der Beginn in die 
Zeit der Geschlechtsreife zu verlegen ist Ob es aber zweckmäßig 
ist, bereits in diesem jugendlichen Alter die Aufklärung in ihrem 
gesamten Umfange zu geben, steht auf einem anderen Blatte. In 
der Tat empfiehlt sich ein so radikales Verfahren keineswegs, weil 
die völlige Aneignung des hier in Betracht kommenden Wissens¬ 
gebietes denn doch einen reiferen Geist als den von etwa 14jährigen 
Kindern voraussetzt Man wird es daher vorziehen, Schritt für 
Schritt vorwärts zu gehen und mehrere Jahre hintereinander immer 
wieder auf das Geschlechtsleben zurückzukommen, damit die not¬ 
wendigen Kenntnisse zugleich befestigt und allmählich erweitert 
und vertieft werden. In den höheren Schulen ist diese Forderung 
unschwer zu erfüllen, in den Volksschulen überhaupt nicht, daher für 
sie zum wesentlichen Teil die Fortbildungsschule eintreten müßte. 


Auf alle Fälle ist es Pflicht derjenigen, denen die Volkswohl¬ 
fahrt am Herzen liegt, in Wort und Schrift dafür einzustehen, daß 
der heranwachsenden Jugend in Zukunft die Bedeutung des Ge¬ 
schlechtlichen kein Buch mit sieben Siegeln mehr bleibe. „Wissen 
ist Macht!" Nur wer die furchtbaren Gefahren der Geschlechts¬ 
krankheiten und Geschlechtsverirrungen kennt, vermag den von 
allen Seiten auf ihn einstürmenden Versuchungen erfolgreich zu 
widerstehen. Erreichbar ist dies hohe Ziel vor allem durch die 
Schule, der damit Gelegenheit gegeben wird, ihrem Ruhmeskranze 
ein neues Blatt einzupflechten. 

„Juventutis salus suprema lex est." 

Zeiteohr. t Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. Ii. G 


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Referate. 


Geschichte der Syphilis. 

Tokujero Suzuki. Ober Syphilis im Altertume speziell in China und Japan. 

Inauguraldissertation. Rostock. 1903. 

Der Autor kommt zu folgenden Ergebnissen: Es läßt sich aus 

den Schriften des Altertums bis zum Jahre 1493 kein Anhaltspunkt 

dafür gewinnen, daß die Syphilis vor dieser Zeit in der Alten Welt 
vorhanden gewesen ist. Ebensowenig lassen sich die Funde prähisto¬ 
rischer krankhaft veränderter Knochen für diese Frage irgendwie ver¬ 
werten. Es stützt daher dieser negative Befund die durchaus gut und 
glaublich durch Augenzeugen berichtete Tatsache, daß die Syphilis 1493 
von den Leuten des Kolumbus eingeschleppt und von Spanien und 

Portugal aus, besonders durch den italienischen Feldzug verbreitet 
wurde. Durch die Seefahrten der Spanier und Portugiesen wurde 
die Seuche dann in weitere Länder verschleppt, so von den letz¬ 

teren nach China, von wo sie offenbar durch den Handelsverkehr 
nach Japan übertragen wurde. Auch in China und Japan gibt es keine 
Syphilis im Altertum. Überall gab es lokale Leiden der Geschlechts¬ 
teile, die auch nach Ansicht der alten Autoren durch den Koitus über¬ 
tragbar waren, es fehlte aber die konstitutionelle Erkrankung mit ihren 
mannigfachen wechselnden Erscheinungen, dessen klar umgrenztes Krank¬ 
heitsbild wir heute als Syphilis bezeichnen. Nur durch die Vermengung 
aller an den Genitalien auftretenden Krankheiten, kontagiöser und nicht 
kontagiöser, unter dem Begriffe der Geschlechtskrankheiten oder der 
venerischen Erkrankungen, hat zu der Verwirrung geführt, die wir in 
der Geschichte der Syphilis seit Jahrhunderten finden: Bei genauer Be¬ 
trachtung des heutzutage als Syphilis angesehenen charakteristischen 
Krankheitsbildes und einer Vergleichung mit den in der Literatur des 
Altertums geschilderten Affektionen, erweist sich die Auffassung von 
der Syphilis im Altertum als unhaltbar. B. 

Öffentliche Prophylaxe. 

Glück. Die Bekämpfung der Volkssyphilis in Bosnien und Herzegowina. 8 . Kongr 

d. Deutsch. Dermat. Ges. in Sarajevo (Wiener mediz. Wochenschr. 1903. 41). 

Ausgehend von dem Gesichtspunkte, daß die Syphilis in Bosnien 
eine Volkskrankheit ist und nicht durch den Geschlechtsverkehr propagiert 
wird, müssen nach Ansicht Glücks die Maßregeln zur Verhinderung der 
weiteren Verbreitung der Erkrankung andere sein, als in jenen Ländern, 
wo die Prostitution die Quelle der Infektion bildet. Die Hauptaufgabe ist 
die sachgemäße, energische Behandlung der breiten Schichten, sowie die 


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Referate. 


71 


Erziehung des Volkes für die Prophylaxe. Die Syphilis scheint in 
Bosnien nicht alten Datums zu sein, der Franziskanermönch J. F. Jukic 
glaubt, daß sie um das Jahr 1780 von den Osmanen eingeschleppt 
wurde, andere Autoren glauben, daß dies erst in den Jahren 1824 oder 
1832, aber auf jeden Fall durch die Truppen des Sultans geschehen 
sei. Für den türkischen Ursprung spricht auch die in Bosnien gebräuch¬ 
liche Bezeichnung Frenjak, abgeleitet von dem türkischen Wort Frengi. 
Vor der Okkupation lagen die Verhältnisse sehr im Argen und als man 
im Jahre 1880 und 1881 die Behandlung der Syphilitiker durchzu¬ 
führen beabsichtigte, stieß man auf großen Widerstand. Langsam ver¬ 
schwand das Mißtrauen der Bevölkerung vor den von der Regierung 
bestellten Ärzten, und im Jahre 1889 bestanden bereits im Lande elf 
Spitäler mit ziemlich regem Kranken verkehr. Im Jahre 1890 berief 
die Landesregierung Prof. Neu mann behufs näheren Studiums der 
Syphilis nach Bosnien. Neumann wollte in den Hauptorten jener 
Bezirke, die am meisten heimgesucht waren, Syphilisbaracken einrichten, 
doch eine von der Landesregierung einberufene Enquöte beschloß, statt 
der Syphilisbaracken den Bau sogenannter Bezirksspitäler zu empfehlen, 
in denen die Bevölkerung bei allen Leiden sachgemäße, unentgeltliche 
Behandlung finden könnte. Dieser Vorschlag wurde angenommen, und 
heute verfügt das Land über neun solcher Bezirksspitäler, der Bau 
weiterer steht in Aussicht. Ein weiterer gewaltiger Fortschritt geschah 
im Jahre 1894 mit der Eröffnung des bosnisch-herzegovinischen Landes- 
spitales in Sarajevo. An demselben befaßt sich eine selbständige große 
Abteilung mit der Behandlung der Luetiker. An allen Spitälern be¬ 
stehen Ambulatorien, wo die Kranken unentgeltlich Rat finden und 
ihnen kostenlos die nötigen Medikamente verabreicht werden. Um nun 
in jenen Bezirken, wo keine Spitäler vorhanden sind, eine geregelte Be¬ 
kämpfung der Syphilis durchzuführen, verordnete die Landesregierung 
im Jahre 1897 die Errichtung der sogenannten Gemeindeambulatorien. 
Bis Ende 1902 wurden 42 derartige Anstalten eingerichtet. Die Kosten 
der Einrichtung, sowie die Erhaltung sind Sache der betreffenden 
Gemeinden, die Landesregierung stellt kostenlos die Medikamente. 
Die Anzahl der Ärzte wurde von Jahr zu Jahr vermehrt, dabei auf 
deren fachliche Qualifikation Rücksicht genommen und schließlich vier 
weibliche Ärzte zur Behandlung der islamitischen Frauen angestellt. 
Die Ärzte sind verpflichtet, genaue Aufzeichnungen über die Anzahl 
der Erkrankungen in ihren Bezirken an das Sanitätsdepartement ein¬ 
zureichen, dem Gesundheitszustände der Schulkinder ihre volle Aufmerk¬ 
samkeit zuzuwenden und bei isoliertem Auftreten der Erkrankung sofort 
deren Weiterverbreitnng zu verhindern. 

Nach zwei Richtungen muß das Streben bei der Bekämpfung 
der Syphilis in Bosnien gerichtet sein, einerseits das Tempo in 
der Tilgung der Syphilis zu beschleunigen, andererseits der Aus¬ 
breitung derselben vorzubeugen. Man beabsichtigt nun, ein rascheres 
Tempo einzuschlagen, Ärzte wie Ärztinnen werden in regelmäßig wieder¬ 
kehrenden Zwischenräumen in die verseuchten Gegenden entsendet werden, 
die Kranken in ihren Behausungen aufsuchen oder bei gehäuftem Auf- 

6 * 


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72 


Referate. 


treten der Krankheit veranlassen, daß sich die Kranken in Sammel¬ 
orten behufs regelrechter Behandlung zusammenfinden. Mit der konse¬ 
quenten energischen Durchführung dieses Vorgehens wird es hoffentlich 
gelingen, die Syphilis als Volkskrankheit im Laufe der Jahre zu be¬ 
kämpfen. Um der weiteren Ausbreitung vorzubeugen, beabsichtigt man, 
die Kirche jeder einzelnen Konfession, die Schule, die Intelligenz der 
Bevölkerung zu veranlassen, das Volk über die Verbreitungsweise, die 
Erscheinungen und die Folgen der Erkrankung zu belehren. Zu diesem 
Zwecke werden an die genannten Kreise populäre, leicht faßliche Bro¬ 
schüren abgegeben werden. B 


Medizinische und individuelle Prophylaxe. 

F. Uhl. Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. Ärztliche Praxis. 1902.17/18. 

Verf. betrachtet eine zielbewußte Aufklärung der weitesten Volks¬ 
kreise als das beste Mittel zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 
und verspricht sich namentlich einen guten Erfolg von der Tätigkeit 
der D. G. z. B. d. G. — Neben der allgemeinen Prophylaxe legt Uhl 
besondem Wert auf die persönliche Hygiene und empfiehlt zum Schutz 
gegen Ansteckung die sogenannten Viro-Präparate. —e 

Blokusewski. Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. Dermat. Zentralbl. 
1903. 6. 

Bl. weist darauf hin, daß in der deutschen Marine die Einträufelungen 
einer 2prozentigen Höllensteinlösung als Vorbeugungsmittel gegen den 
Tripper eingeführt ist. Verf. hält diese Methode für zuverlässiger als 
die verschiedenen bekannten, in letzter Zeit namentlich auch von der 
Viro-Gesellschaft in den Handel gebrachten Mittel. —e 

H. Breitenstein. Die Circumcision in der Prophylaxe der Syphilis. Dermat 
Zentralbl. 1902. 2. 

Der Verf. betont den Wert der Beschneidung als Prophylaktikum 
gegen die Syphilis. Er sieht eine Bestätigung seiner Auffassung in dem 
Umstande, daß diejenigen eingebornen Truppen Niederländisch-Indiens, 
welche Mohammedaner und daher beschnitten sind, 2—5 mal seltener an 
Syphilis erkranken, als der nicht beschnittene Teil der dortigen Armee. 

—e 


S. Behrmann. Die Prophylaxe der venerischen Krankheiten bei Männern. Klinisch¬ 
therapeutische Wochenschrift 1903. 34, 35. 

Die Arbeit Behrmanns, in welcher die graue Salbe als Prophy¬ 
laktikum gegen die Geschlechtskrankheiten überhaupt und gegen die 
Syphilis insbesondere empfohlen wird, ist nur für einen ärztlichen Leser¬ 
kreis bestimmt, enthält aber doch einiges auch für Laien Bemerkens¬ 
werte. Dazu gehört namentlich die Forderung, daß diejenigen, die sich 
einer Infektionsgefahr ausgesetzt haben, auf jeden Fall alsbald zum 


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Referate. 


73 


Arzte geben und von diesem die Anwendung des Prophylaktikums er¬ 
folgen soll; die Selbstapplikation irgend welcher Vorbauungsmittel durch 
Laien müsse grundsätzlich perhorresziert werden. Dies Verlangen ist 
natürlich eine Utopie. —e 


Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis. 

1. Arnold Back. Zur Kasuistik der Schadenersatzklagen auf Grund einer durch 

Geschlechtsverkehr erfolgten syphilitischen Ansteckung. 

2 . Ludwig Worthoimor. Ein gerichtliches Erkenntnis Ober Anfechtung einer 

Ehe wegen vorehelicher Gonorrhoe. (Dermatolog. Zeitschrift, Bd. X, H. 4.) 

ad 1. Die äußerst interessante Mitteilung von Dr. Sack lehrt, 
wie vorsichtig man sein muß, wenn man auf Grund des § 828 des 
B.G.B. Klage erheben will. Nur wenn die angeblich geschädigte Partei 
absolut sichere Beweise in Händen hat, die jeder ärztliche Sachverständige 
als völlig ein wandsfrei anerkennen muß, darf sie darauf rechnen, den 
Prozeß zu gewinnen, der andernfalls für sie ebenso skandalös wie kost¬ 
spielig und erfolglos ist. Das hat zu ihrem Leidwesen auch die Klägerin 
in dem Prozesse erfahren müssen, über den Sack ausführlich berichtet 
und in welchem er als Gutachter fungierte. Der Fall ist außerordent¬ 
lich lehrreich und eine nachdrückliche Warnung vor unüberlegten 
Schritten. 

ad 2. Dem von Rechtsanwalt Wertheimer veröffentlichten Falle 
liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Parteien haben im Sep¬ 
tember 1901 miteinander die Ehe geschlossen; im Februar 1902 kon¬ 
statierte ein Arzt, welcher die Klägerin anläßlich einer Fehlgeburt be¬ 
handelte, daß sie tripperkrank war; der Klägerin wurde von dieser 
Tatsache aber erst im August 1902 Kenntnis gegeben. Der Beklagte 
hat zugestanden, daß er im Februar 1902 ebenfalls tripperkrank war. 

Die Klägerin hat im September 1902 Klage erhoben und den 
Antrag gestellt, die Ehe für nichtig zu erklären, event. zu scheiden. 

Aus dem Urteil seien folgende Punkte als die wesentlichsten her¬ 
vorgehoben: ' 

Die in erster Linie erhobene Anfechtungsklage hat nach § 1333 
des B.G.B. zur Voraussetzung, daß sich Klägerin bei der Eheschließung 
in einem Irrtum über eine solche persönliche Eigenschaft des Beklagten 
befunden hat, welche dieselbe bei Kenntnis der Sachlage und bei ver¬ 
ständiger Würdigung des Wesens der Ehe von Eingehung derselben 
abgehalten haben würde. — Es unterliegt keinem Zweifel, daß als er¬ 
hebliche persönliche Eigenschaft nach Lage des Einzelfalles auch das 
Bestehen einer ansteckenden Geschlechtskrankheit in Betracht kommen 
kann. Im vorliegenden Falle hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, 
daß der Beklagte zurzeit der Eheschließung mit einem Krank¬ 
heitszustand behaftet war, der eine Tripperinfektion für die 
Klägerin zur Folge hatte. Diesen Schluß zog das Gericht 

1. aus der Tatsache, daß nach eidlicher Aussage des langjährigen 


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Referate. 


Hausarztes der Klägerin diese zurzeit, der Eheschließung geschlechtlich 
gesund war; 

2. aus der eidlichen Aussage des Arztes (der als Zeuge und Sach¬ 
verständiger vernommen wurde), welcher bei der Klägerin den Tripper 
festgestellt hatte, und der bekundete, daß zu derselben Zeit damals der 
Beklagte an einem älteren Tripper litt, der wahrscheinlich schon zurzeit 
der Eheschließung bestanden hatte; 

3. aus dem Umstande, daß ein Ehebruch des anderen von keinem 
der beiden Ehegatten auch nur behauptet worden ist und nach der Be¬ 
kundung der Sachverständigen die Annahme, daß der Tripper bei dem 
Beklagten oder der Klägerin während der Ehe auf anderem Wege als 
durch geschlechtliche Ansteckung hätte entstehen können, bei der großen 
Seltenheit der dahin führenden Möglichkeiten zumal bei Erwachsenen 
geradezu als ausgeschlossen anzusehen ist. 

Das Gericht ist zu der Überzeugung gekommen, daß auch im 
übrigen die Voraussetzungen des § 1333 des B.G.B. im vorliegenden 
Falle zutreffen und hat infolgedessen die Ehe der Parteien für nichtig 
erklärt. M. M. 

Prof. Dr. FImcIi und Dr. jur. Wertheimer. Geschlechtskrankheiten und 
Rechtsschutz. Jena, Gustuv Fischer 1903. 8°. 82 S., Mk. 2. 

Die beiden Verfasser stellen die Frage zur Diskussion, ob und 
unter welchen Voraussetzungen das Bestehen geschlechtlicher Erkran¬ 
kungen die Ungültigkeit oder Auflösung der Ehe bewirken, und welche 
sonstigen Rechtsfolgen diese Krankheiten haben können. An der 
Forderung des Nachweises eines bewußten Verschuldens bei der vene¬ 
rischen Infektion sind die bisherigen Versuche der strafrechtlichen Be¬ 
handlung gescheitert. Gegenüber der Behandlung der Frage nach der 
strafrechtlichen Verfolgung der Venerischen befinden wir uns für die 
Behandlung der zivilrechtlichen Seite insofern in einer günstigeren 
Stellung, als das Bewußtsein der Erkrankung in wenigen Fällen in den 
Hintergrund treten kann. Gelingt es, zu erreichen, daß die venerische 
Infektion in der Ehe ebenso wie in dem freien sexuellen Verkehr der 
juristischen Haftung ebenso unterstellt wird, wie die Erzeugung des 
Kindes; gelingt es, das Bewußtsein der Verantwortung, die jede Aus¬ 
übung des Koitus mit sich führen sollte, durch die Erweiterung der 
mit dessen Folgen verbundenen gesetzlichen Pflichten zu verstärken; so 
wird dies ein Korrelat der bisher unerfüllbaren Strafbarkeit der vene¬ 
rischen Infektion darstellen, das mächtig genug sein müßte, um ab¬ 
schreckender zu wirken, als mancher Strafgesetzparagraph. 

Es werden die für eine Ehescheidung in Frage kommenden Ge¬ 
setzesparagraphen einer kritischen Betrachtung unterzogen, und der 
juristische Verfasser stellt das Postulat, daß Gonorrhoe und Syphilis, 
wenn sie während der Ehe bei einem Gatten direkt oder indirekt auf- 
treten, eo ipso als Ehescheidungsgrund gelten, ohne daß es des Nach¬ 
weises des Ehebruches bedarf, ferner verlangt er die Zulassung der 
Eideszuschiebung als Beweismittel in all den Ehesachen, die auf das 


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Befer&te. 


75 


Auftreten von Syphilis und Gonorrhoe gestützt sind für die Tatsachen, 
welche sich anf die Entstehung und Art der Krankheit beziehen, end¬ 
lich ist zu verlangen, daß der den Ehegatten behandelnde Arzt in 
Ehesachen als Sachverständiger vor Gericht von der Wahrung des Be¬ 
rufsgeheimnisses ohne weiteres entbunden ist. R. 


Prostitution und Mädchenhandel. 

Josef Schrank. Vorschläge zur Eindämmung der schädlichen Folgen der Pro¬ 
stitution. Allg. Wiener mediz. Ztg. 1903. 32. 33. 34. 

Der Verf. — Polizeiarzt in Wien — ist ein Anhänger der Regle¬ 
mentierung, aber ein Gegner der Kasernierung. Seine Vorschläge bringen 
nichts wesentlich Neues. — e 

Mdme. Lograin. Alkohol und Prostituton. (Der Abolitionist I, 6/7.) 

Die Vorsitzende der französischen Frauenliga gegen den Alkohol 
veröffentlicht in diesem Artikel die Erfahrungen, die sie gelegentlich 
ihrer Besuche bei früheren Bewohnerinnen öffentlicher Häuser gesammelt 
hat. Es sind grauenvolle Zustände, die Mde. Legrain schildert, und 
wenn deren Zeugen, die zu Alkoholikerinnen gewordenen ehemaligen 
Bordellinsassen, auch nicht als durchaus glaubwürdig betrachtet werden 
dürfen, so geht aus den Mitteilungen doch so viel mit Sicherheit hervor, 
daß der Alkohol es ist, mit dessen Hilfe täglich in den öffentlichen 
Häusern Verbrechen begangen werden, die zum Himmel schreien. Durch 
den Alkohol macht der Bordellwirt, zu dem manches Mädchen durch List 
oder Gewalt verschleppt wird, das unglückliche Geschöpf seinen Zwecken 
gefügig; für den Bordell wirt ist der Alkohol die reichste Einnahmequelle 
und das Weib vielfach nur ein Vorwand, um Spirituosen zu enormen 
Preisen verkaufen zu können; die Mädchen müssen, wenn sie den schwer¬ 
sten Bestrafungen entgehen wollen, ihre Besucher zum Alkoholgenuß 
beständig animieren, d. h. selber fast ununterbrochen trinken. Vielfach 
werden die Mädchen für die größten Leistungen im Trinken und die 
größten Einnahmen, die dadurch erzielt werden, prämiiert. 

Mit dem Bericht über diese schändlichen Zustände will die 
Verf. die ungeheure Gefahr klar machen, welche nach ihrer Ansicht 
Deutschland durch eine Rückkehr zum Bordellsystem droht. Es er¬ 
scheint zweifelhaft, daß Mdme. Legrain durch ihre Mitteilungen die An¬ 
hänger des Bordellsystems wird umzustimmen vermögen: von dieser 
Seite wurde ja wiederholt verlangt, daß in den öffentlichen Häusern der 
Verkauf von Spirituosen verboten werde, und zweitens die Verstaatlichung 
der Häuser gefordert, weil eine solche Vergewaltigung und Ausbeutung der 
Mädchen nur in den in Privatbesitz befindlichen Bordellen möglich sei. Die 
Verteidiger der Kasernierung werden also nach wie vor bestreiten, daß 
die geschilderten Zustände eine notwendige Folge des Bordellsystems an 
sich seien. Außerdem ist es sicher, daß der Alkohol eine kaum weniger 
verhängnisvolle Rolle auch in der Straßenprostitution spielt — sowohl 


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76 


Referate. 


insofern, als die Dirnen auch ohne den äußeren Zwang von einem Bor¬ 
dellwirt aus sich zum sehr großen Teile dem Alkoholismus ergeben, als 
auch deshalb, weil die meisten Männer den Verkehr mit den Prosti¬ 
tuierten im Alkoholrausch vollziehen. — Daß die Bekämpfung der Ge¬ 
schlechtskrankheiten nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie zugleich 
mit einem Kampfe gegen den Alkoholmißbrauch einhergeht, dieser Er¬ 
kenntnis hat sich wohl kein Verständiger mehr verschlossen. M. M. 

Sexuelle Hygiene. 

Joseph Mayer. Gibt es Schädigungen der Gesundheit als Folge von sexuell 
sittlicher Enthaltsamkeit? Verlag von Aug. Stritt, Frankfurt a. M. 

Mayer bestreitet die Existenz von Gesundheitsschädigungen als 
Folge sexueller Abstinenz. Nicht diese sei schuld an gewissen Erkran¬ 
kungen des Nervensystems, sondern eine ausschweifende Phantasie sei 
die Ursache der Neurasthenia sexualis. Alle Gründe, mit denen ver¬ 
sucht wird, den außerehelichen Geschlechtsverkehr zu entschuldigen, seien 
hinfällig; der illegitime Beischlaf unterscheide sich in nichts von der 
Onanie, denn wie diese habe er lediglich die Verschaffung hoher woll- 
lüstiger Empfindungen zum Zweck und sei deshalb — wie die Mastur¬ 
bation — ebenso unsittlich wie unnatürlich. Unbedingte Enthaltsam¬ 
keit — freilich nicht allein von jedem außerehelichen Umgang, sondern 
vor allem auch von jeglicher „Gedankenunzucht“ — könne immer nur 
gesundheitsförderlich sein und müsse auch aus moralischen wie ju¬ 
ristischen Gründen von jedermann gefordert werden. 

Die Frage, ob sexuelle Abstinenz schädlich sei oder nicht, ist seit 
dem Frankfurter Kongreß in den Vordergrund des Interesses getreten; 
und es ist zu hoffen, daß Professor Erbs Anregung, sie zum Gegen¬ 
stände systematischer exakter Untersuchungen zu machen, auf frucht¬ 
baren Boden fallen wird. Vorläufig ist sie von einer wissenschaftlichen 
Beantwortung so weit entfernt wie nur je, und auf die May ersehen 
Ausführungen näher einzugehen, besteht deshalb um so weniger Ver¬ 
anlassung, als der Verf. ja nicht einmal den Versuch macht, seine apo¬ 
diktische Behauptung von der absoluten Unschädlichkeit der geschlecht¬ 
lichen Abstinenz durch irgend welches positive Material zu stützen. 

Im übrigen ist die ganze Darstellung wenig ansprechend, insofern 
der Verf. — ein Arzt — nie mit Gründen, sondern ausschließlich mit 
Postulaten und Schlag Worten „argumentiert“, es aber trotzdem für zu¬ 
lässig erachtet hat, seine Schrift als eine „medizinisch-ethische Betrach¬ 
tung“ in das äußere Gewand einer wissenschaftlichen Abhandlung zu 
kleiden. m. M. 

Pädagogisches. 

Pieczynska-Bem. Ein Erziehungsproblem. Revue de Morale sociale. 1902. 
Nr. 13. 

Verfi behandelt die Frage, ob und wann man Kinder über sexuelle 
Fragen aufklären solle. Sie steht auf dem Standpunkt, daß die Jugend 


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Referate. 


77 


aufgeklärt werden muß. Schwierig ist jedoch die Wahl des rechten 
Momentes und die Methode. Beim ersten Auftauchen von Zweifeln und 
von Gedanken über sexuelle Beziehungen, Mutterschaft, Geburt u. s. w. 
sollte man aufhören, diese Dinge geflissentlich zu verbergen und Märchen 
darüber zu erzählen; allerdings ist es dann meist noch zu früh, posi¬ 
tive Angaben zu machen. Man sollte diese in passender Form in die 
Jugendlektüre einflechten, in naturwissenschaftliche Bücher u. s. w. 

Es handelt sich hierbei nicht um die Überwindung alteingewurzelter 
Gebräuche, sondern die Hindernisse liegen tiefer begründet. Ein Gefühl 
der Scham ist mit dem ganzen sexuellen Gebiet verknüpft, so daß für 
viele die Grenze zwischen „erlaubt“ und „nichterlaubt“ in allzuängst¬ 
licher Verheimlichung aller bezüglichen Dinge verschwindet. 

Oft wissen die Kinder von sexuellen Beziehungen gar nichts weiter, 
als daß man sie verheimlichen muß und halten sie daher von vornherein 
für schimpflich. Die Schwierigkeit der Aufklärung beruht hier gerade 
darauf, daß man dem Kind sein eigenes Ich enthüllt, und zwar be* 
sonders auf einem Gebiet, auf dem die Einbildung eine große Rolle 
spielt; man läuft hierbei Gefahr, vorzeitig Instinkte zu erwecken, die 
die Natur weise bis zu einem gewissen Alter schlummern läßt. Bei der 
Pubertät erwachen dieselben langsam in wechselndem Verlauf. Die 
daraus erwachsenden Störungen und Umwälzungen entgehen oft den 
Eltern vollständig. Richtige Aufklärung beschleunigt nicht den Ver¬ 
lauf dieser Krise, sondern die Erfahrung hat bewiesen, daß ernste Unter¬ 
weisungen, die die Gesetze der gesamten belebten Natur mehr allgemein 
berühren, die Phantasie beruhigen, welche durch heimliche, rein persön¬ 
liche Enthüllungen vielleicht stark erregt würde. In dieser Weise muß 
man den Gefahren zuvorkommen. Falsch ist es, in Broschüren und 
Vorträgen junge Leute, die vom sexuellen Leben noch keine positiven 
Kenntnisse haben, auf die Gefahren und die Schattenseiten des un¬ 
moralischen sexuellen Lebens hinzuweisen und ihnen nur den Schlamm 
zu zeigen. Man muß sie vielmehr auf das reine vollkommene Bild der 
ehelichen Vereinigung und der auf Liebe begründeten Familie hinweisen, 
ein Gedanke, der in einer Broschüre von Prof. Heim, „Das Geschlechts¬ 
leben des Menschen vom Standpunkt der natürlichen Entwickelung, 
1901“, bereits zum Ausdruck gelangt ist. Eine solche Aufklärung er¬ 
weckt in der Seele des heranwachsenden Kindes einen Zug der Be¬ 
geisterung und den Willen zum Guten, und diese beiden sind viel wirk¬ 
samer als die negative Abschreckungsmethode. — Ideale muß man der 
Jugend geben; aber welche und in welcher Form? Was ist überhaupt 
das Ideal? Die Ansichten darüber sind heut, wie immer, geteilt. Die 
einen betrachten das Geschlechtsleben als etwas von der Natur gebotenes, 
das wir nicht durch moralische, menschliche Satzungen beschränken 
dürfen. Das heißt, sie stellen den Menschen auf den Standpunkt des 
bestialischen Instinkts, der jede Beziehung und Disziplin ausschließt. — 
Anderseits hat die Wissenschaft gezeigt, daß der Geschlechtstrieb, der 
auf Erhaltung der Gattung zielt, nicht gleichzusetzen ist dem Hunger 
und Durst, die für die Erhaltung des Individuums sorgen; denn man 
kann den Geschlechtstrieb ohne Gefahr für die Gesundheit unterdrücken. 


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78 


Referate. 


Andere betrachten jede sexuelle Vereinigung, selbst in der reinsten 
Ehe und selbstlosesten Liebe als etwas Schmutziges, Tierisches und glauben 
sie nach Möglichkeit nicht nur beschränken, sondern sogar ganz unter¬ 
drücken zu müssen (Tolstoi). 

Das wahre Ideal einer normalen Menschheit kann kein Verhalten 
vorschreiben, das ihre Fruchtbarkeit versiegen lassen müßte. 

Nächstenliebe muß der Leiter und Lenker der Sinnenliebe sein: 
„Niemand hat das Recht, einen andern als Mittel zur Befriedigung selbst¬ 
süchtiger Zwecke zu betrachten,“ und „Was du nicht willst, das man 
dir tu, das füg auch keinem andern zu‘‘ sind die beiden Sätze, mit 
Hilfe derer man nach Ansicht der Verfasserin alle sexuellen Konflikte 
lösen könne. N. 

1. Jordan. Geschlechtskrankheiten und Prostitution. Münchn. med. W. 1903. 23. 

. 2. Riebeling. Eltempflicht und Kindesrecht. Verlag der Frauen-Rundschau 1903. 

3. Freudenberg. Ein Wort an die weibliche Jugend. Verlag der Frauen¬ 

rundschau. 1903. 

4. Boor. Das Verschleierungssystem und die Prostitution. Verlag Frauenrund¬ 

schau. 1903. 

5. Fürth. Die geschlechtliche Aufklärung in Haus und Schule. Verlag Frauen¬ 

rundschau. 1903. 

6. Ruth Br6. Das Recht auf die Mutterschaft. Verlag Frauenrundschau. 1903. 

Im Hause des Gehenkten darf man nicht vom Stricke reden! Nach 
diesem Rezept hat man lange Zeit die Frage der geschlechtlichen Un¬ 
sittlichkeit und ihrer Folgeerscheinungen behandelt. Insbesondere hielt 
man darauf, daß in Gegenwart tugendsamer Frauen von dem nicht ge¬ 
sprochen werden dürfe, was ebenso tugendsame Männer doch als ihr 
gutes Recht in Anspruch nahmen. 

ad 1. In jüngster Zeit ist das anders geworden. Nicht wenig 
haben dazu die verschiedenen Tagungen beigetragen, auf denen man 
sich mit dem Geschlechtsproblem in irgend einer Form befaßt hat. 
Dieser Umstand hat selbst zu der Bemerkung Anlaß gegeben, daß „es 
zu beklagen wäre, wenn der früher so ängstlich in der Unterhaltung 
gemiedene Gegenstand nun plötzlich gesellschaftliches Gesprächsthema 
werden sollte“. Ich kann diese Ansicht nicht teilen, denn wenn es auch 
nicht an Leuten fehlen wird, denen es dabei um Sensationen zu tun 
ist, so ist das nicht so schlimm, wie das bisherige Vertuschungssystem 
mit seinem Gefolge von Laster und Heuchelei auf der einen, von Ent¬ 
täuschung, Prüderie und Hysterie auf der anderen Seite. Ja und selbst 
die, die in der Beschäftigung mit solchen Dingen nur eine Befriedigung 
lüsterner Neugier suchen, erfahren mindestens die Nebenwirkung eines 
heilsamen Schreckens mit seinen guten Folgen der Selbsteinkehr und 
Bewahrung. Schädliche Einwirkungen auf die Jugend sind aber nach 
Ansicht der Ref. nicht zu befürchten. An Jugend, die durch derlei 
schädlich beeinflußt wird, ist nicht mehr viel zu verderben. Umgekehrt 
kann sittlich reine Aufklärung von Eltern, Erziehern und Ärzten, nach 


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Referate. 


79 


Zeit und Maß richtig dosiert, nur Gutes wirken, und das Häßliche, das 
daneben der Zufall der Jugend in den Weg wirft, wird vom unberührten 
Kinde abgleiten, ohne Schaden zu tun. So müssen wir es als eine Er¬ 
lösung empfinden, wenn heute Männer und Frauen den sittlichen Mut 
besitzen, offen und rückhaltlos die hier vorhandenen Übel aufzudecken. 

Unter diesem Gesichtspunkte ist es als ganz besonders dankens¬ 
wert zu begrüßen, daß im Verlag der Frauenrundschau eine Stätte ge¬ 
funden ist, von der aus man sich vitalster Fraueninteressen warm an¬ 
nimmt und die den Pionieren einer neuen sittlichen Weltanschauung 
die weiteste Redefreiheit verstattet. Begreiflicherweise ist nicht alles, 
was von dort ausgeht, gleich gut. Wie noch immer, lockt auch hier 
das Neue Schwarmgeister an und solche, die im Trüben fischen wollen. 
Neben Gutem findet sich Minderwertiges, neben Ernstem Oberflächliches 
und Sensationelles, und die Zeit wird auch hier die Spreu vom Weizen 
sondern müssen. Unsere Aufgabe ist es heute, uns mit einigen das 
Geschlechtsproblein berührenden pädagogischen bezw. soziologischen 
Schriften zu befassen. 

ad 2. „Pflicht und Liebe und in beiden frei!“ Das ist der Schluß, 
zu dem Pastor Riebeling kommt. Ein tapferer und vorurteilsloser 
Streiter Gottes meldet sich in ihm zum Wort. Er geht davon aus, 
daß die innere und äußere Freiheit Grundlage und Vorbedingung alles 
Großen ist. „Was in der Geschichte der Menschheit Großes und Blei¬ 
bendes geschaffen wurde, — unter den Söhnen unterdrückter Völker 
sind die Schöpfer nicht zu suchen“, und „die durchaus freie Berufs¬ 
wahl bildet die erste Bedingung zur sittlichen Erhaltung eines Charakters.“ 
Erst recht aber muß Freiheit bei der Heiratswahl obwalten, und an 
Stelle unserer gesellschaftlichen Sitten, die die Mädchen in strenger 
Klausur halten und sie nur im Ballsaal oder wo sonst die Männerjagd 
mit Glück betrieben werden kann, auf die Männer loslassen, soll ein 
freier und darum unbefangener Verkehr der beiden Geschlechter treten, 
der ihnen die Möglichkeit des Kennen- und Liebenlernens gibt. Mit 
Recht verlangt der Verf. auch in diesem Zusammenhang die Koedukation. 
Der Junge und das Mädchen, die miteinander gespielt und — gearbeitet 
haben, werden, herangereift, einander erst schätzen und dann lieben 
lernen, und dieser Weg ist, meine ich, richtiger als der umgekehrte. 
Heute indes! „Welche Schande für Mütter,“ so bricht Riebeling los, 
„solche Töchter großzuziehen, die bewacht werden müssen, und noch 
obendrein diese jämmerliche Erziehung mit ihren satirisch berüchtigten 
Nachtwächterdiensten zu besiegeln, wo aus schlafverschleierten Augen 
und gähnendem Munde das herzbrechende Geständnis spricht, daß sie 
ihren Töchtern nicht trauen können!“ 

Ein wenig seltsam, aber schließlich nicht minder richtig ist ein 
anderer Gedankengang des Verfs. Liebende sollen, bevor sie sich zum 
Ehebunde entschließen, sich über ihre gegenseitigen geschlechtlichen Ver¬ 
hältnisse Auskunft geben, damit der Ehe Schluß zwischen in ihren ge¬ 
schlechtlichen Anschauungen und Bedürfnissen betrogenen Personen ver¬ 
mieden werde. Und dies, wenn auch „empfindsame Mütter blutarmer 
Töchter bei diesen Worten vor Entsetzen die Hände überm Kopf zu- 


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80 


Referate. 


sammenschlagen, was uns aber einerlei sein kann, da Vernunft und 
Recht und Ehrlichkeit sich schließlich dennoch durchsetzen werden, trotz 
aller Torheit und unsittlichen Schamgefühls“. Und noch einmal: 
Riebeling hat recht. Mutet es uns scheinfreie Leute, die wir in Wahr¬ 
heit noch tief in den Banden der Konvention und Tradition stecken, 
auch seltsam an, so müssen wir uns eben zu dieser gesunden und not¬ 
wendigen Natürlichkeit hindurchdenken. — Die Pastoren sollen an erster 
Stelle dazu helfen, die Freiheit der Heiratswahl und ihre Voraussetzungen 
zu erringen. Das ist soweit gut, als dieser Anspruch ein menschlich¬ 
pädagogischer ist, begründet in der Vorzugs- und Vertrauensstellung, 
die dem Seelsorger überall eingeräumt wird, mit dem Begriffe christlich 
und Christentum dagegen hat das nichts zu tun. Riebeling geht es 
hier wie vielen anderen, die das, was menschlich gut an ihnen ist, ihrem 
Glauben zugute rechnen. 

ad 3. Als eine Erziehungsschrift von minder polemischem Charakter er¬ 
weist sich Ika Freudenbergs: „Ein Wort an die weibliche Jugend“. 
„Es ist die Mission der Jugend, in hochgeschwungener Hand der Mensch¬ 
heit eine Fackel voraufzutragen, in welcher der tiefste Wille, die stärkste 
Sehnsucht einer Zeit brennt.“ Daher sollen auch die Frauen nicht fehlen. 
Sie sollen nicht länger abseits stehen. Seine frische Kraft, seine Be- 
geisterungsfähigkeit und seinen Heroismus soll das werdende Weib in 
den Dienst der großen Zeitideen und Aufgaben stellen, die der Lösung 
harren. Und um das zu können, soll sie ein Selbst werden, eine Per¬ 
sönlichkeit, die ihre Prägung nicht von außen nimmt. Nicht Entselbstung, 
nicht das nichts-Rechtes-sein-dürfen, an dem Millionen Frauen innerlich 
verarmt sind“, sondern ein Dasein, das, ausgehend von den geistigen 
Quellen des Lebens, in den breiten, tiefen Strom des in sich selbst und 
auf sich selbst ruhenden Menschentums mündet. Die Zeit des passiven 
Frauenideals ist vorüber, und an die Jugend, die Trägerin der Zukunft, 
ergeht der Ruf, dem Neuen nachzustreben, das auch die Frau mitten 
hinein ins flutende Leben stellt. 

ad 4. Gab in den beiden vorstehenden Schriften das Recht auf 
Freiheit und Persönlichkeit, für beide Geschlechter gleich wertvoll, den 
Grundton, der den Charakter der Ausführungen bestimmte, so sind es 
in den beiden folgenden vorwiegend Prinzipien sexueller Pädagogik, die 
zur Erörterung gelangen. Frau S. C. Beer hat sich der dankenswerten 
Mühe unterzogen, uns mit einer gedrängten Übersicht der Gedanken¬ 
gänge eines englischen Pädagogen, der zugleich Geistlicher ist, bekannt 
zu machen, die sich mit der Unterweisung der Jugend in den Gesetzen 
des Geschlechtslebens befassen. Wir begegnen in ihnen der auch bei 
uns immer häufiger vertretenen Auffassung, daß sittliche Reinheit und 
das Wissen um geschlechtliche Dinge einander nicht nur nicht aus¬ 
schließen, sondern daß sogar die auf dem Wege reiner Belehrung er¬ 
worbene Kenntnis solcher Dinge eine sicherere Bürgschaft sittlicher 
Reinheit ist als das landesübliche auf unsauberen Schleichwegen erlangte 
Wissen um die Geschlechtlichkeit und die hierhin gehörigen Beziehungen 
der Menschen. Eindringlich weist Lyttleton daraufhin, welche seelischen 
Qualen und Gefahren für den Knaben herauf beschworen werden, der 


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Referate. 


81 


„einen Teil seiner Gedanken, seiner Worte, seiner Taten vor allen ver¬ 
bergen muß, die er respektiert“. Als Hanptursache der Gleichgültigkeit 
gegen die Prostitution und ihre unglücklichen Opfer erscheint L. der 
Umstand, daß diese „Angelegenheit“ mit völliger Beiseitesetzung der 
weiblichen Rechte, der allgemeinen Gerechtigkeit überhaupt, des primi¬ 
tivsten Begriffes der Menschlichkeit geregelt wurde. Mich dünkt diese 
Beurteilung ein bischen einseitig und weltfremd. Dasselbe ist von der 
Unwissenheit des Verfs. in betreff der weiblichen Jugend zu sagen und 
von seinen etwas schwerfälligen Belehrungsvorschlägen. 

ad 5. Das gleiche Thema behandelt Frau Fürth in: „Die ge¬ 
schlechtliche Aufklärung in Haus und Schule“. Die Gedankengänge 
haben manches Übereinstimmende. Nur ist das deutsche Buch in vielen 
Stücken persönlicher und wirkt dadurch wärmer. Auch wird hier die 
Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit und Belehrung in Dingen des Ge¬ 
schlechtslebens nicht nur aus den bestehenden Zuständen abgeleitet, 
sondern sie wird naturgeschichtlich begründet, und neben den Eltern 
wird der Schule die Pflicht aufklärender Erziehungsarbeit auferlegt. 
Gerechtfertigt wird dies Verlangen durch den Hinweis auf die in der 
Erziehung, dem Mangel an unerläßlichen Eigenschaften des Geistes und 
Herzens oder in den ökonomischen Verhältnissen begründete Untauglich¬ 
keit so vieler Eltern zwischen ihren Kindern und sich das Vertrauens¬ 
verhältnis zu schaffen, das die unumgängliche Voraussetzung recht ge¬ 
arteter Belehrung sein sollte. 

ad 6. Die Schriften, die wir bis jetzt kennen gelernt haben, ent¬ 
halten keine absolut neuen und epochemachenden Gedanken. Nicht das 
Was, sondern das Wie, die Art des Sehens und der Behandlung alter 
Probleme fesselt an ihnen. Ganz anders bei dem nun folgenden Büch¬ 
lein, in dem Ruth Br 4 einen ganz neuen Gedanken in höchst eigen¬ 
artiger Form entwickelt. Da ist nicht mehr die Rede von der doppelten 
Moral, die in der Prostitution ihren prägnantesten Ausdruck findet, 
sondern ganz schlicht und selbstverständlich wird der Geschlechtsmoral 
des Mannes eine neue fordernde Geschlechtsmoral des Weibes gegenüber¬ 
gestellt. Das Recht auf die Mutterschaft fordert Ruth Br4 als das 
Menschenrecht des Weibes. Gleichviel, ob diese Mutterschaft in oder 
außerhalb der Ehe erlangt wurde: sie muß eine freigewollte, sich ihrer 
ganzen Größe und Verantwortung bewußte sein, und — sie ist gerecht¬ 
fertigt. Ja, sie ist mehr als das, der Jungbrunnen, aus dem die Re¬ 
generation, die Wiedergesundung der Menschheit emportauchen wird. — 
Ruth Br4 glaubt, daß diese Forderung eine Auferstehung sei, eine 
Wiederbelebung des alten Mutterrechts. Sie irrt darin. Das Mutter- 
recht war eine wirtschaftspolitische Einrichtung, hervorgegangen aus 
der Unmöglichkeit, angesichts der damals bestehenden Eheformen die 
Vaterschaft zu bestimmen. Einen ethischen Charakter, wie ihn Ruth 
Br4 ihrer neuen Forderung aufprägt, trug es nie. Also nicht von 
einer Erneuerung des Mutterrechtes auf höherer Stufe kann in diesem 
Zusammenhang die Rede sein, sondern von einem höchst modernen und 
individuellen Empfinden, recht eigentlich einer neuen Ewigkeitssehnsucht 
der vollentwickelten Persönlichkeit. 


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82 


Referate. 


Auch nach einer andern Seite geht Ruth Br6 zu weit. Ihr ist 
die Sehnsucht nach der Mutterschaft wenn nicht das alleinige so doch 
das ausschlaggebende Motiv für das Geschlechtsempfinden und das sexu¬ 
elle Bedürfnis des Weibes. Ich bestreite das. Vielleicht ist diese Sehn¬ 
sucht in vielen Frauen latent, sie mag sogar in einzelnen erlesenen 
Exemplaren der Gattung Weib bewußt vorhanden sein: im allgemeinen 
ist das Geschlechtsgefühl an sich das Primäre, das mütterliche Empfinden 
das Sekundäre. Dafür spricht die allgemeine Erfahrung, und nach 
meiner Beurteilung beweisen selbst die Beispiele, die man als gegen¬ 
teilige in der Schrift angeführt findet, nicht für, sondern gegen Ruth 
Br6. Daß dann im Laufe des Lebens das sekundäre Moment den Sieg 
davon trägt, ist in dem allen Menschen eigentümlichen Zug begründet, 
daß wir für das, wofür wir am meisten leiden mußten, das unsere Kraft, 
Sorge und Zeit am stärksten in Anspruch nahm, die größte Zuneigung 
empfinden. Wir legten vielleicht den besten Teil von uns selbst in dies 
unser Werk, und die Folge ist, daß wir es mehr lieben als uns selbst 
Aber diese meine abweichende Auffassung hindert mich nicht, das 
wahre, warme und tapfere Büchlein als eine Erlösung zu empfinden für 
viele Tausende, die es rechtfertigt und deren uneingestandene Sehnsucht 
es aus Schmach und Niedrigkeit emporhebt in das liebewarme Licht 
der Wahrheit, Klarheit und Gerechtigkeit. Möchten es alle lesen: es 
hat allen viel zu geben. H. F—th. 


E. Stiehl. Eine Mutterpflicht. Beitrag zur sexuellen Pädagogik. Leipzig 
1902. H. Seemann. (50 Pf.) 

Immer weitere Kreise lernen einsehen, daß die althergebrachte Ge¬ 
heimnistuerei und Heuchelei, die bei der Erziehung der Kinder in sexuellen 
Dingen geradezu zum Prinzip erhoben worden sind, die ungeheure Ver¬ 
breitung der Geschlechtskrankheiten zu einem sehr wesentlichen Teile 
mitverschulden — von den sittlichen Schäden, welche solche Unwahr¬ 
haftigkeit zur Folge haben muß, ganz zu schweigen. Viele Eltern sind 
nun zwar endlich zu der Überzeugung gekommen, daß rechtzeitige Auf¬ 
klärung und Belehrung das beste Mittel seien, um ihre Kinder gegen 
die ihrer wartenden Gefahren zu schützen; aber es fehlt ihnen das ge¬ 
nügende Verständnis für die kindliche Psyche und die eigne Unbefangen¬ 
heit des Herzens, die sie zu solcher Unterweisung befähigen würden. 
Namentlich viele Mütter sind sich heutzutage der Verpflichtung, ihre 
Kinder beizeiten über die Bedeutung und Gefahren des Geschlechts¬ 
lebens zu unterrichten, wohl bewußt; aber sie stehen ihr mit einer un¬ 
überwindlichen Scheu gegenüber und wissen den Weg zu ihrer Erfüllung 
nicht zu finden. In solcher Ratlosigkeit kommt ihnen das Büchelchen 
von Stiehl in trefflicher Weise zu Hilfe. Es kann in der Hand einer 
verständigen Mutter großen Segen stiften und darf als ein nützlicher 
Beitrag zur sexuellen Pädagogik überhaupt auch von weiteren Kreisen 
willkommen geheißen werden. Ma— 


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Tageageechiehte. 

Populäres. 


88 


A. Ist die Syphilis heilbar? Hygien. Volksblatt 1903. 1. 

Geheim rat Neisser in Breslau versichert in dem vorliegenden 
Artikel von neuem, daß die Syphilis eine heilbare Krankheit ist. Dafür 
sind die gelegentlich zu beobachtenden Wiederansteckungen ein un¬ 
umstößlicher Beweis. Nicht mit gleicher Bestimmtheit kann man die 
Frage des einzelnen Patienten, ob auch bei ihm die Syphilis sicher 
geheilt werde, beantworten; hier muß die Erwiderung folgendermaßen 
lauten: „Wenn Sie alle die Ihnen ärztlicherseits vorgeschrie¬ 
benen Kuren prompt und sorgsam durchführen, sich einer 
vernünftigen Lebensweise befleißigen, sich von allen Ex¬ 
zessen des Trinkens und von sonstigem ausschweifenden 
Lebenswandel fernhalten, so werden Sie, wenn nicht ganz besonders 
unglückliche Zufälle eintreten, ebenso gesund werden, wie nach 
unseren bisherigen Erfahrungen die bei weitem überwiegende Mehrheit 
aller gut behandelten Syphiliskranken gesund geworden ist.“ 

—e 


Tagesgeschichte. 

Deutschland. 

Der Zentralverband der Deutschen Ortskrankenkassen 
hat vom 13.—15. September seine 10. Jahresversammlung abgehalten. 
Auf der Tagesordnung stand u. a. ein Vortrag des Herrn Geheimrat 
Neisser über das Thema: Inwieweit können die Krankenkassen 
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten beitragen?“ Der 
Redner hat seine Ausführungen in eine Anzahl von Leitsätzen zusammen¬ 
gefaßt, aus denen folgendes hervorgehoben sein möge: 

I. Es ist zu verlangen, — event. (nach Blaschko) gesetzlich zu 
bestimmen — daß die Kassen ihre Organisation zur Herstellung 
einer brauchbaren Statistik über die Verbreitung der Geschlechts¬ 
krankheiten verwenden. Eine solche Statistik läge nicht nur im eigenen 
Interesse der Kasse, die nur durch sie ein richtiges Bild von dem Um¬ 
fange der den Geschlechtskrankheiten zugewendeten und zuzuwendenden 
Kassenleistungen gewinnen können, sondern auch im allgemeinen Interesse. 

II. Die Kassen sollen durch Wort und Schrift Aufklärung 
und Belehrung über die Gefahren des außerehelichen Geschlechts¬ 
verkehrs und über die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten unter 
ihren Mitgliedern verbreiten. 

III. Alle Bestrebungen, die auf Schutz der heran wachsenden Jugend 
vor sittlichem Verfall und vor übermäßigem und vorzeitigem Geschlechts¬ 
verkehr abzielen, wie z. B. die Beseitigung des Schlafgän&er- 
wesens durch Erbauung von Ledigenheimen, die Einführung ob- 


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84 


Tageegeschichte. 


ligatorischer Fortbildungsschulen usw., sind auf jegliche Weise, teils 
durch finanzielle Förderung, teils durch Agitation zu unterstützen. 

IV. Krankenhausbehandlung ist unter allen Umständen das 
ideale Mittel zu schneller Herbeiführung der Heilung im Interesse des 
einzelnen und zur Beseitigung der Ansteckungsfähigkeit im Interesse 
der Allgemeinheit. Sie soll wenigstens in allen Fällen eintreten, in 
denen der Arzt und die Kasse sie für erforderlich hält und der Kranke 
die Aufnahme in ein Krankenhaus wünscht. 

V. Um die sachgemäße Behandlung der außerhalb von Kranken¬ 
häusern zu behandelnden Mitgliedern zu sichern, haben die Kassen für 
ärztliche Behandlung durch gute, zuverlässig ausgebildete Spezial- 
ärzte zu sorgen, weiblichen Mitgliedern weibliche, spezialärztlich ge¬ 
schulte Ärzte zur Verfügung zu stellen, männliche und weibliche 
Kranken-Kontrolleure bezüglich der Befolgung der ärztlichen Vor¬ 
schriften anzustellen und Strafen für Nichtbefolgung der ärztlichen Vor¬ 
schriften festzusetzen. 

VI. Überall sollen die Kassen auch die Familienmitglieder 
ihrer Versicherten mit versorgen. 

VII. Es ist entweder staatliche Subvention oder noch besser 
die Bildung großer örtlicher Verbände anzustreben, damit eine 
größere finanzielle Leistungsfähigkeit auch im Interesse einer möglichst 
energischen Behandlung der Geschlechtskrankheiten erzielt wird. 

VIII. Die Einführung einer regelmäßigen jährlich ein- bis zwei¬ 
mal stattfindenden ärztlichen Untersuchung aller Kassenmit¬ 
glieder ist anzustreben. 

Das große Interesse, welches der Prostitutionsfrage augenblicklich 
in Deutschland von allen Seiten entgegengebracht wird, gibt sich u. a. 
darin kund, daß in der letzten Septemberwoche dieser Gegenstand auf 
vier großen Kongressen einen wichtigen Punkt der Tagesordnung bildete. 
Der Bund der Deutschen Frauenvereine, der Verband fort¬ 
schrittlicher Frauenvereine, der deutsch-evangelische Frauen¬ 
bund und die allgemeine Konferenz der Deutschen Sittlichkeits¬ 
vereine haben sich in eingehender Weise mit der Prostitutionsfrage, 
vor allem aber mit der Frage der Reglementierung beschäftigt. Der 
Deutsch-evangelische Frauenbund, welcher am 24.—25. September 
in Bonn tagte, beriet über einen Antrag seiner Ortsgruppe Halle. Der 
Vorstand hat an zuständiger Stelle eine Petition um Abschaffung der 
Reglementierung eingereicht; der Antrag, der vom Bundesvorstand unter¬ 
stützt wurde, gelangte nach lebhafter Diskussion einstimmig zur An¬ 
nahme. Der Verband fortschrittlicher Frauenvereine widmete 
den ganzen zweiten Tag der Prostitutionsfrage; schon am ersten Tage 
waren jedoch einige wichtige hiermit in Verbindung stehende Fragen: 
Der Schutz der unehelichen Mütter und Kinder sowie die 
Mutterschaftskassen behandelt worden. 

Da die Not der unehelichen Mütter eine der häufigsten Veran¬ 
lassungen für das Herabsinken in die Prostitution bildet und gerade die 
mit^Schwangerschaft und Wochenbett einhergehende Arbeits- und Hilf¬ 
losigkeit der unehelichen Mütter besonders schädlich in dieser Richtung 


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Tagesgeeehichte. 


86 


wirken, so geben wir den Wortlaut der von den beiden Referentinnen 
— Dr. jur. Frieda Dünsing- München und Else Lüders — auf¬ 
gestellten Thesen, welche unseres Erachtens sehr zweckmäßige Forde¬ 
rungen aufstellen, nachfolgend wieder. 

A. 1. Die gesetzlichen Bestimmungen des B.G.B. über die rechtliche 
Stellung der unehelichen Kinder sind den folgenden Vorschlägen 
gemäß abzuändern hezw. zu erweitern: 

a) auch im Falle der Fehlgeburt stehen der unehelich Ge¬ 
schwängerten die Ansprüche aus § 1715 zu; 
h) in den Fällen nachgewiesener hervorragender Befähigung des 
unehelichen Kindes zu höheren Berufen kann die Alimen¬ 
tation auf eine längere als im § 1708, Abs. 1 festgesetzte 
Dauer nach Maßgabe der Erfordernisse der nötigen Vor¬ 
bereitung beansprucht werden; 

c) die Eltern und Großeltern des unehelichen Vaters haften für 
die väterliche Alimentation dem unehelichen Kinde gegen¬ 
über; 

d) die Einrede der mehreren Zuhälter ist einem nach § 1717 
in Anspruch Genommenen zu versagen. 

2. Die gesetzlichen Bestimmungen des B.G.p. über die Annahme an 
Kindesstatt sind dem folgenden Vorschläge gemäß zu ändern: 

Die Adoption des unehelichen Kindes durch seine Mutter ist 
dadurch zu erleichtern, daß die gesetzliche Voraussetzung eines 
bestimmten Lebensalters der unehelichen Mutter gegenüber 
prinzipiell wegfällt 

3. Das Leipziger System des kommunalen Schutzes der unehelichen 
Kinder ist überall einzufuhren. 

4. Die landesgesetzlichen Bestimmungen gegen das Konkubinat 
müssen wegfallen; auf dem Wege charitativer Tätigkeit ist die 
Legitimation anzustreben und zu fördern. 

Die Thesen von Frl. Lüders lauten: 

B. 1. Um die Gesundheit der Frauen vor schwerem Schaden zu be¬ 
wahren, wie er häufig durch mangelnde Ruhe und Pflege vor und nach 
der Entbindung verursacht wird, sowie um der großen Säuglingssterb¬ 
lichkeit entgegen zu arbeiten, sind neben den übrigen sozialen Reformen 
besondere Schutzmaßregeln für die Schwangeren und Wöchnerinnen er¬ 
forderlich. 

2. In der Reichsgewerbeordnung ist der § 137, betreffend des 
Wöchnerinnenschutzes, dahin zu erweitern, daß den Wöchnerinnen die 
Arbeit mindestens 8 Woeben nach der Entbindung, und in solchen In¬ 
dustrien, die den Fötus gefährden, auch schon eine gewisse Zeit vor 
der Entbindung untersagt wird. Dies Arbeitsverbot hat jedoch nicht 
nur die Fabrikarbeiterin zu treffen, sondern auch die Heimarbeiterin, 
die Dienstangestellte, die im Tage lohn stehende Landarbeiterin usw. 

3. Damit diese Zeit der Arbeitslosigkeit auch wirklich der Ruhe 
und der Pflege des Säuglings gewidmet werden kann, ist es nötig, eine 
staatliche Mutterschaftsversicherung zu schaffen, die jeder Wöchnerin, 
deren Einkommen bezw. Familieneinkommen unter einer gewissen Grenze 

Zeiteehr. £ Bekimpftmg d. OMOhleohtsknmkh. n. 7 


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8« 


Tagesgeschichte. 


ist (ca. 8000 Mk.), bei der Entbindung eine Summe zahlt, die der Höhe 
des Lohnausfalls entspricht. Außerdem sind die Kommunen zu erhöhter 
Wöchnerinnen- und Kinderfürsorge zu verpflichten, durch Errichtung 
von Entbindungsanstalten, Krippen, Stellung von Hauspflegerinnen usw. 

4. Als Träger dieses neuen staatlichen Versicherungszweiges sind 
besondere Mutterschaftskassen zu schaffen; als Erleichterung der Organi¬ 
sation empfiehlt es sich, dieselben an die deutschen Landesversicherungs¬ 
anstalten anzugliedem. Die Kosten sind durch einen Staatszuschuß zu 
jeder Entbindung zu decken, sowie durch Prämienzahlungen, zu denen 
sämtliche Staatsbürger, sowie die männlichen, wie die weiblichen, in 
einer gewissen Altersspanne (ca. 20—50 Jahre) heranzuziehen sind. Auf 
so viele Schultern verteilt, sind die Prämien nach dem Einkommen ab¬ 
zustufen. 

5. Den genossenschaftlichen und noch mehr den gewerkschaftlichen 
Arbeiterorganisationen ist anzuempfehlen, als Pioniere in der Frage der 
Mutterschaftsversicherung vorzugehen, indem sie besondere Mutterscbafts- 
kassen gründen und dadurch ihr Unterstützungswesen mit Berücksich¬ 
tigung der speziell weiblichen Interessen ausbauen, wie es der 4. Ge¬ 
werkschaftskongreß in Stuttgart 1902 befürwortete. 

Der folgende Tag, welcher der eigentlichen Prostitutionsfrage ge¬ 
widmet war und an welchem die Verhandlungen wegen eines Verbotes 
des Hamburger Senats auf Altonaer Boden stattfinden mußten, brachte 
drei Vorträge: von Frl. Lida Gustava Heymann-Hamburg, Dr. 
Blaschko-Berlin, Frau Scheven-Dresden. Frl. Heymanns Rede war 
ein flammender Appell gegen die durch den § 361, 6 geschaffene Un¬ 
gerechtigkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Insbesondere ver¬ 
breitete sich Rednerin über den sittlichen Schaden, welchen das Bordell¬ 
wesen mit sich bringe und mit Notwendigkeit den Mädchenhandel nach 
sich ziehe. Dr. Blaschko erklärte, daß er in der Reglementierung, 
zum mindesten in der sanitätspolizeilichen Überwachung der Prostitu¬ 
ierten keine gegen das übrige weibliche Geschlecht gerichtete Ausnahme¬ 
maßregel erblicken könne und daß gegenüber den durch die Prostitution 
geschaffenen eigenartigen Verhältnissen auch eigenartige Abwehrma߬ 
nahmen erforderlich seien. Freilich sei die Polizei das ungeeignetste 
Organ zur Assanierung der Prostitution. Die heutige Reglementierung 
habe sich als unzureichend erwiesen; bessere Resultate erwartet Redner 
außer von den Fortschritten der medizinischen Wissenschaft von einer 
vorurteilslosen Aufklärung der Jugend, von dem weitesten Ausbau der 
Einrichtungen freiwilliger Hilfeleistung und der Ausdehnung der obli¬ 
gatorischen Krankenversicherung auf die ganze unbemittelte Bevölkerung 
einschließlich der Prostituierten, Ausbildung der Krankenkontrolle in den 
Krankenkassen; schließlich soziale Maßnahmen, welche geeignet sind, das 
moralische Niveau der gesamten Bevölkerung zu heben und dadurch 
Angebot und Nachfrage von Prostituierten in gleicher Weise berab- 
zumindem. Frau Scheven setzte sich mit den deutschen Sittlichkeits¬ 
vereinen auseinander, hob die gemeinsamen und die trennenden Gesichts¬ 
punkte zwischen der aboütionistischen Föderation und den Sittlichkeits¬ 
vereinen hervor, welch letzteren sie vorwarf, daß sie nicht genügend 


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Tageageschichte. 


87 


Wert auf die sozialen und ökonomischen Ursachen der Prostitution 
legten und deshalb der Frauenbewegung verständnislos gegenüberstehen, 
daß sie ferner mit ihrer Forderung der Bestrafung der Prostitution eine 
im Prinzip ungerechte und in der Praxis undurchführbare Forderung 
vertreten. Am Abend sprach in öffentlicher Versammlung Herr Prof. 
F1 es ch-Frankfurt a. M. über den Zusammenhang zwischen Wohnungs¬ 
elend und Prostitution etwa in dem gleichen Sinne, in dem sich die 
Verhandlungen des Frankfurter Kongresses bewegt hatten. Im Anschluß 
an seinen Vortrag wurde folgende Resolution gefaßt: 

Im Hinblick auf die unzweifelhafte Tatsache, daß die mangelhaften 
Wohnungsverhältnisse eine der wichtigsten und unmittelbarsten Ursachen 
für die Entstehung und Ausbreitung der Prostitution sind, erklärt die 
in Altona tagende Versammlung des Verbandes fortschrittlicher Frauen¬ 
vereine ihre Zustimmung zu der Forderung der Beteiligung der Frauen 
an den auf gründliche Besserung der Wohnungsverhältnisse gerichteten 
Bestrebungen. In diesem Sinne verlangen sie: 

1. Unterstützung aller, auf die Herstellung gesunder und billiger 
Wohnungen gerichteten Bestrebungen durch Staat und Gemeinden. 

2. Ausgestaltung der Wohnungen durch Angliederung von Ein¬ 
richtungen hygienischen und geselligen Charakters. 

3. Sorge für möglichst geringe Bevölkerung der Mietshäuser und 
Mietswohnungen. 

4. Verbot der Aftermietung an verschiedene Geschlechter. 

5. Einschränkung des Kahlpfändungsrechts. 

6. Einrichtung und Durchführung einer, mit genügender Exekutive 
versehenen Wohnungsinspektion unter möglichst ausgedehnter 
Beteiligung von Frauen. 

7. Beschränkung der Bodenspekulation durch möglichste Be¬ 
teiligung der Gemeinden am Grundbesitz und Gewährung des¬ 
selben zum Bau von Arbeiterwohnungen zu mäßigem Preise 
oder Erbpacht. 

Ein wichtiges Urteil. Die Frankfurter Zeitung bringt in ihrem 
3. Morgenblatt vom 30. Oktober eine kurze Mitteilung über ein Urteil 
des dortigen Oberlandesgerichts, das wegen seiner Tragweite für die 
juristische Auffassung der venerischen Infektion Beachtung verdient. 
Wir behalten uns vor, nach Bekannt werden des Wortlautes darauf 
zurückzukommen und beschränken uns heute auf die Wiedergabe der 
Notiz des genannten Blattes. Sie lautet: 

Nicht unverschuldet. Der § 63 des Handelsgesetzbuchs bestimmt, 
daß wenn ein Handelsgehilfe durch unverschuldetes Unglück an der 
Leistung der Dienste verhindert ist, er Anspruch auf Gehalt und Unter¬ 
halt für die Dauer von sechs Wochen hat. Ein derartiges unverschul¬ 
detes Unglück erblickte das hiesige Oberlandesgericht nach einer gestern 
ausgesprochenen Entscheidung jedoch nicht in einer Geschlechtskrankheit, 
die sich ein Handlungsgehilfe zugezogen hatte. Der Kläger wurde mit 
seinem Anspruch auf Gehaltszahlung während der Dauer seiner Krank- 

7* 


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88 


Tageegeschichte. 


heit abgewiesen. Das Gericht stellt sich auf folgenden rechtlichen 
Standpunkt: Es möge dahingestellt bleiben, ob die geschlechtliche Be¬ 
friedigung außerhalb der Ehe nach allgemein herrschenden sittlichen 
Grundsätzen ein unmoralisches Verhalten darstelle. Ein Unglück könne 
nur dann als unverschuldet gelten, wenn es durch Umstände herbei¬ 
geführt worden sei, deren Abwendung nicht im freien Willen und in 
der Macht des Betroffenen gelegen habe. Dies könne man aber von 
einer Geschlechtskrankheit nicht behaupten. Es erschiene auch unbillig 
und mit der Absicht des Gesetzgebers nicht vereinbar, für deren Folgen 
den Prinzipal haftbar zu machen. 

Frankreich. 

Nachfolgend geben wir den Wortlaut des Schreibens wieder, welches 
der Ministerpräsident Oombes gleichzeitig mit dem Dekret, das die 
Einsetzung einer außerparlamentarischen Kommission anordnet (s. Zeitsch. 
Bd. 11, Heft 1) an den Präsidenten der Bepulik gerichtet hat: 

Herr Präsident! 

Durch gewisse Vorkommnisse, die um so bedauerlicher sind, als sie 
sich nicht etwa nur vereinzelt, vielmehr gleichzeitig an verschiedenen 
Orten ereignet haben, ist die öffentliche Meinung in hohem Maße erregt 
und die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine wichtige Angelegenheit 
gelenkt worden: nämlich auf das hier zu Lande geübte System der 
polizeilichen Prostituiertenüberwachung. Bis heute hat man eine be¬ 
friedigende Lösung dieser komplizierten und schon so häufig diskutierten 
Frage noch nicht gefunden; muß sie doch von den verschiedenen Stand¬ 
punkten des Hygienikers wie des Ethikers, des Soziologen, des Juristen 
und des Verwaltungsbeamten aus betrachtet werden. 

Niemals hat diese Angelegenheit die Geister aber so lebhaft be¬ 
schäftigt, niemals wurden die Debatten über sie mit dem gleichen Ernst 
und derselben Leidenschaftlichkeit geführt wie jetzt — weder bei den 
zahlreichen französischen und ausländischen Kongressen, noch in den 
verschiedenen Vereinen und Gesellschaften für Verbesserung der morali¬ 
schen und sanitären Prophylaxe. 

Ohne auf alle Kritiken eingehen zu wollen, welche das in Frank¬ 
reich bestehende System gefunden hat, möchte ich nur daran erinnern, 
daß man nicht allein die gesetzliche Zulässigkeit, sondern auch den 
Nutzen der polizeilichen Reglementierung bestritten hat. Viele gehen 
noch weiter und behaupten, die Reglementierung bewirke das Gegenteil 
von dem, was sie erreichen will, weil sie die Männer zur Sorglosigkeit 
verleitet, die Dirnen aber von der freiwilligen Meldung abschreckt. 

Auch Motive ganz anderer Art führten noch zur Verurteilung des 
herrschenden Systems; da sind namentlich die Vertreter einer Richtung, 
welche seit einigen Jahren immer mehr an Einfluß gewinnt; sie er¬ 
klären die Abhängigkeit der Frau für die Ursache der Prostitution, die 
die Persönlichkeit im Menschen beleidigt, eine soziale Ungerechtigkeit 
bedeutet und im Widerspruch steht mit dem Gesetz, der Moral und 
sogar auch mit den Forderungen der öffentlichen Hygiene. 


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Tagesgeschichte. 


89 


Diejenigen, welche auf diesem Standpunkte stehen — gleichviel, 
welches die Gründe für ihr Urteil sind — fordern eine vollständige Re¬ 
form: jede Reglementierung sowie jede Überwachung der Dirnen soll 
aufhören; sie verlangen eine unbedingte Emanzipation des Weibes, 
welches z. Zt noch unter einem Ausnahmegesetz stehe; einem jeden 
müsse volle Freiheit gewährt werden. Diese Auffassung ähnelt der An¬ 
sicht derjenigen, welche folgenden Standpunkt vertreten: es gibt keine 
zwingenden Gründe, um die Prostitution in so außergewöhnlicher Weise 
zu behandeln, weil sie die Ursache der venerischen Gefahr sei; denn 
letztere hat noch an allen Ecken und Enden unendlich viele andere 
Quellen; das Beste ist, endlich mit den alten Vorurteilen zu brechen, 
welche so viele berechtigte Empfindungen verletzen, und das allgemeine 
Recht auch in dieser Sache gelten zu lassen. Denn dieses wird auch 
zur Abwehr gegen die ansteckenden Krankheiten völlig ausreichen, zu¬ 
mal seine Wirksamkeit noch durch die bestehende Haftpflicht für den 
einem andern zugefügten Schaden erhöht wird. 

Die kühnen Neuerer, welche über das herrschende System den 
Stab brechen, werden von zahlreichen Gegnern bekämpft; diese leugnen 
zwar nicht, daß die gegenwärtige Organisation mancherlei Mängel auf¬ 
weise, behaupten aber, daß die Reglementierung und das Institut der 
Sittenpolizei unentbehrlich seien; ihre von jener Seite befürwortete Ab¬ 
schaffung würde einen nicht wieder gut zu machenden Fehler bedeuten 
und geradezu einen allgemeinen Notstand herbeiführen. Die Ansicht, 
daß die Reglementierung nicht nur nutzlos, sondern für die öffentliche 
Gesundheit direkt schädlich sei, sei offenbar unsinnig. Der Einwand, 
der gegen das in Frankreich herrschende System erhoben wird und darin 
besteht, daß der polizeilichen Kontrolle doch immer nur ein Teil der 
Prostituierten unterworfen werden kann, sei gar zu hinfällig. Muß 
man, so fragen sie, eine Einrichtung, die nicht restlos alle von ihr er¬ 
warteten Aufgaben erfüllt, denn darum schon verurteilen? Dann wären 
nur sehr wenige existenzberechtigt. Im übrigen sie die Zahl derer, 
die unter sanitätspolizeilicher Kontrolle stehen, immerhin hoch genug, 
um eine Herabsetzung der Ansteckungsgefahr zu bewirken. Eine Ver¬ 
gleichung der Zahl der Dirnen, welche unter Kontrolle sind, mit der 
sehr viel größeren Menge derer, die sich ihr zu entziehen wissen, könne 
nur zu dem einen Schluß führen, daß die Sittenpolizei eben strenger 
organisiert und mit weitergehenden Kompetenzen ausgestattet werden 
muß, damit sie die Öffentliche Gesundheit in der denkbar vollkommensten 
Weise zu schützen vermag. Wer es dem herrschenden System zum 
Vorwurf macht, daß es eine ganze Gruppe von Personen dadurch, daß 
es nur gegen diese Zwangsmaßregeln in Anwendung bringt, außerhalb 
des allgemeinen Rechts stellt, der vergißt, daß die Frau, die sich ge¬ 
werbsmäßig prostituiert, die aller wesentlichste Infektionsquelle darstellt. 
Sicherlich ist sie nicht die einzige, aber doch die bei weitem gefähr¬ 
lichste. Infolgedessen müssen aus Gründen der Vernunft wie der Klug¬ 
heit die Prostituierten unter ein besonderes Gesetz gestellt werden, das 
sowohl sie selbst schützt, wie auch die Gefahr, die anderen von ihrer 
Seite droht, vermindert. 


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90 


Tageegeschichte. 


Diese verschiedenartigen Betrachtungsweisen der Angelegenheit 
lassen die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten auf diesem Gebiete 
zur Genüge erkennen und beweisen andererseits, wie außerordentlich 
kompliziert das in Bede stehende Problem ist. 

Wir verstehen die Hochherzigkeit derer vollauf zu würdigen, welche die 
Frau, auch wenn sie ein Leben in Schande verbringt, trotzdem von jedem 
Zwange befreien wollen; aber wir behaupten, daß es hierzu noch lange 
nicht an der Zeit ist. Es wäre ein gewagtes Experiment, von der 
100jährigen Reglementierung plötzlich zu einem System vollkommener 
Freiheit überzugeben; die Bevölkerung ist nicht darauf vorbereitet, und 
die größte Verwirrung wäre die unausbleibliche Folge. 

Unsere Ansicht findet auch eine Bestätigung in der Tatsache, daß 
die große Mehrzahl der Nationen des europäischen Kontinents sich der 
Lehre der Abolitionisten, die für ihre Sache doch mit so unerhörtem 
Eifer agitieren, noch nicht angeschlossen haben. 

Wir erkennen zwar an, daß die Prostitution nicht eine verbreche¬ 
rische Handlung darstellt und daß ihre Beurteilung dem individuellen 
Rechtsbewußtsein unterworfen ist; aber wenn wir auch zugeben, daß 
ein jeder Mensch über seine Person verfügen darf, so meinen wir doch 
andererseits, daß für die Ausübung dieses Rechtes im öffentlichen In¬ 
teresse die Beobachtung verschiedener Vorschriften gesetzlich angeordnet 
werden kann. 

Eine solche Beschränkung ist weder überflüssig noch einzig in ihrer 
Art; würde doch die absolute Freiheit auf Schritt und Tritt mit Recht 
und Gesetz kollidieren. 

Ohne Zweifel, die Reglementierung ist ein System von ganz be¬ 
sonderem Charakter; sie beobachtet die Personen, wo sie gehen und 
stehen und greift in ihr Selbstbestimmungsrecht ein; sie unterwirft sie 
einer sanitären Kontrolle, die durch die ganze Art ihrer Handhabung 
und durch ihre Häufigkeit etwas Außergewöhnliches an sich hat. Dazu 
kommen noch besondere Verpflichtungen, welche wenig Freiheit übrig 
lassen. Aber nach unserer Auffassung ist es die Macht der Verhält¬ 
nisse, welche leider alle diese Maßregeln notwendig machen. Infolge 
der Besonderheit der Lebensweise wie der abnormen Geistesverfassung 
der Dirnen muß man sie unter den Schutz der öffentlichen Ordnung 
wie der sozialen Hygiene stellen. 

Wenn wir auch überzeugt sind, daß wir nicht auf die freilich 
unvollkommenen Garantien, wie sie die Reglementierung verschafft, ver¬ 
zichten können, so geben wir doch ohne weiteres zu, daß dieses System 
so, wie es verstanden und von der Mehrzahl der Beamten angewendet 
wird, ernste Mißstände aufweist, und darum ist es in hohem Maße 
reformbedürftig. 

Die Prüfung der lokalen Verordnungen wird diese Mängel auf¬ 
decken und auch das Zuviel mancher Maßregeln erkennen lassen; sie 
wird dazu führen, ein gerechteres Verhältnis herzu stellen zwischen der 
Macht der Behörden und denjenigen Rechten, die man selbst den Per¬ 
sonen zugestehen muß, welche zur Hefe der menschlichen Gesellschaft 
gehören. 


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Tagesgeschichte. 


91 


Ist die Autorität der Polizei unentbehrlich zur Bekämpfung der 
heimlichen Prostitution, welche sich jeder Kontrolle entzieht und so die 
Vorschriften der Reglementierung verletzt, so ist es sehr wichtig, eine 
ad hoc zu wählende Kommission zu beauftragen, die Funktionen der 
Polizeiorgane festzulegen und die Bedingungen zu bestimmen, welche 
die Beamten zu erfüllen haben, ehe sie zu einer so delikaten Tätigkeit, 
wie die Ausübung der Sittenpolizei, zugelassen werden können. 

Man kann diese Fragen nicht sorgfältig genug erwägen, denn sie 
sind mehr als ernst; die Folgen, welche sich aus der Tätigkeit der 
Sittenpolizei ergeben, sind ja außerordentlich tiefgreifende. Es läuft 
schließlich — wenn die Angabe der Polizisten unter Beobachtung aller 
Formalitäten wiederholt abgegeben und ihre Berichte unanfechtbar 
sind — darauf hinaus, das beschuldigte Mädchen in das Register der 
öffentlichen Dirnen einzuschreiben. Übrigens wird diese Einschreibung, 
welches die Tatsache der gewerbsmäßigen Prostitution voraussetzt, ebenso 
wie die Maßnahmen, zu welchen sie führt, noch eines aufmerksamen 
Studiums und damit einer tiefgehenden Reform bedürfen. Es ist nicht 
länger mehr möglich, daß eine solche Maßregel verhängt werden wird — 
wie es heute noch an verschiedenen Orten geschieht — durch einet» 
Verwaltungsbeamten, welcher über fast unbeschränkte Gewalt verfügt. 

Man braucht gar nicht so weit zu gehen, daß man die Verur¬ 
teilung zur Inskription ausschließlich als die Sache eines richterlichen 
Funktionärs erachtet, trotzdem erscheint es uns doch unerläßlich, nur 
einem Munizipalbeamten selbst — entweder ihm allein oder unter Bei¬ 
sitz anderer Personen mit amtlichem Charakter — das Recht zuzuge¬ 
stehen, eine Entscheidung zu treffen, ihn aber zu zwingen, diese zu 
motivieren. Er soll hören, was die betr. Person zu ihrer Verteidigung 
anzuführen hat, und sie über die Hilfsmittel aufklären, welche ihr zur 
Verfügung stehen. 

Es wird nicht weniger unerläßlich sein, die Revision der Reglemen¬ 
tierung mit Strenge vorzunehmen, um die veralteten oder unnützer¬ 
weise belästigenden Verbote auszuraerzen. Ganz besonders handelt es 
sich hierbei um behördliche Anordnungen, welche den Zweck haben, 
die Disziplin bei den Registrierten aufrecht zu erhalten und ihre strenge 
Überwachung zu gewährleisten. 

Unter den Vorwürfen, welche gegen das französische System ge¬ 
richtet werden, gibt es wenig so gewichtige und wirklich begründete, 
wie der, daß der Willkür der Polizeiorgane Tür und Tor geöffnet sind 
und das Verfahren der Beamten in der Tat oftmals von bewußten oder 
fahrlässigen Ungerechtigkeiten zeugt. Das Recht zu strafen, insbe¬ 
sondere eine Freiheitsstrafe aufzuerlegen, kommt in unserer modernen 
Gesetzgebung nur dem ordentlichen Richter zu, und selbst registrierte 
Frauen sollten in dieser Hinsicht nicht außerhalb des allgemeinen Rechtes 
stehen und nicht des Schutzes entbehren müssen, welches allen Bürgern 
ohne Unterschied des Geschlechts oder der Moralität gewährleistet 
wird. Auf die Ungesetzmäßigkeit der auf administrativem Wege ver¬ 
hängten Strafen ist nicht nur von bedeutenden Juristen hingewiesen 
worden, sondern schon 1833 von einem meiner Vorgänger; dem Grafen 


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92 Tagesgeschichte. 

d'Argout, der noch heute Recht und Anspruch auf besondere Wert¬ 
schätzung hat. 

„Die Zivilbehörden,“ so fuhrt er aus, „können öffentliche Mädchen 
weder auf administrativem Wege bestrafen noch sie in Haft setzen. 
Ihre Tätigkeit beschränkt sich darauf, deren Verhalten zu überwachen, um 
sie dem Gericht zu überantworten, falle sie sich irgend eines Ver¬ 
gehens oder einer Übertretung schuldig machen.“ 

Wir dürfen nicht länger säumen, an diesem Punkte mit einer 
radikalen Reform einzusetzen: zwingende Gründe des Gesetzes, der Ge¬ 
rechtigkeit und der Humanität verlangen sie. 

Die Regierung ist zu der Ansicht gekommen, daß mit dem Studium 
so komplizierter und verschiedenartiger Fragen, wie sie das umfangreiche 
Problem der Prostituiertenkontrolle enthält, nur eine außerparlamen¬ 
tarische Versammlung betraut werden könnte, in welcher die ersten Sach¬ 
verständigen sitzen. 

Die Regierung sieht sich gezwungen, weitestes Entgegenkommen und 
ihre absolute Objektivität zu beweisen, indem sie zu einer und derselben 
Versammlung die Vertreter der entgegengesetztesten Anschauungen be¬ 
ruft, unter ihnen auch die entschiedensten Gegner der Reglementierung, 
welche ihren Standpunkt rückhaltlos auseinandersetzen und auch be¬ 
gründen sollen. Es wäre sinnlos, wollte man ein bis ins Einzelne genau be¬ 
stimmtes Programm für die Arbeiten dieser Kommission aufstellen. Deshalb 
wollen wir uns darauf beschränken, nur einige spezielle Winke unserer 
allgemeinen Ausführung hinzuzufügen und auf das besondere Interesse 
hinweisen, welches hierbei folgende Punkte haben: die Frage der Minder¬ 
jährigen, die Frage der Streichung aus den Listen, die Frage der 
Öffentlichen Provokation und die Frage der strafrechtlichen Verfolgung 
der Ansteckung, der Verbesserung der öffentlichen Krankenfürsorge und 
der übrigen Prophylaxe. 

Die Regierung ist überzeugt, daß die Arbeiten der Kommission 
fruchtbare Resultate erzielen und den Weg zur Lösung des Problems 
zeigen werden. Es gilt der Frau ein besseres Schicksal zu sichern, zu¬ 
gleich aber den Forderungen der Ordnung, der Sittlichkeit und der 
öffentlichen Gesundheit gerecht zu werden. 

Ich habe die Ehre, Ihrer Billigung den beigefügten Entwurf eines 
Dekretes zu unterbreiten, in welchem die Mitglieder der außerparlamen¬ 
tarischen Kommission ernannt werden und Sie zugleich im Falle Ihres 
Einverständnisses um Ihre Unterschrift zu bitten. 

Genehmigen Sie usw. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903. Nr. 3. 


Statistisches Uber Geschlechtskrankheiten in Mannheim. 1 ) 

Von 

Dr. Heinrich Loeb. 

„Die erste Aufgabe eines guten Strategen ist die Stärke seines 
Feindes kennen zu lernen.“ Dieser Forderung Blaschkos stehen 
in bezug auf die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten leider 
noch unüberwindliche Hindernisse entgegen. Wenn es schon ein 
schwieriges Unternehmen ist, zuverlässige Statistiken über andere 
Krankheiten zu erlangen, so dürfte auf absehbare Zeit dieser 
Wunsch gerade bei den sog. „geheimen“ Krankheiten ein pium 
desiderium bleiben, so lange jedenfalls, bis die Würdigung der Be¬ 
deutung dieser Krankheiten alle Patienten zum Arzte führt und 
sie dort die sachgemäße Beurteilung finden, welche die Grundlage 
für eine eventuell von behördlicher Seite aufzustellende Statistik ab¬ 
geben kann. — In Preußen wurde versucht, die Zahl der Geschlechts¬ 
kranken durch Erhebungen über die an einem bestimmten Tage 
in ärztlicher Behandlung stehenden Patienten festzustellen. 

Aber anderwärts ist man immer noch auf die Ausweise größerer 
Verbände wie Militär, Krankenkassen, Spitäler angewiesen. Auch 
dieses Material ist nur sehr relativ zuverlässig, da viele Kassen¬ 
patienten den Kassenarzt umgehen, oder die Krankheit in einer 
Form, die deren sexuellen Charakter nicht erkennen läßt, zur An¬ 
meldung gelangt. Wie wenig Aufschluß die Statistik der Kranken¬ 
häuser zu bieten vermag, geht z. B. aus der Tatsache hervor, daß 
im städtischen Krankenhause in Mannheim 1902 bei einer Be¬ 
völkerung von 140000 Einwohnern unter 5434 Patienten nur 156 
geschlechtskranke Männer verpflegt wurden. Unter diesen Um¬ 
ständen ist die private Statistik als schätzenswerte Ergänzung auf- 

l ) Als Vortrag angemeldet zum 1. Kongreß der D. G. z. B. d. G. in 
Frankfurt a. M. 

Zeitechr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 8 


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94 


Loeb. 


zufassen, um so mehr, wenn ihre Resultate mit den anderweitig ge¬ 
wonnenen Erfahrungen übereinstimmen oder die Abweichungen sich 
ungezwungen aufklären lassen. 

Von diesen Erwägungen ausgehend, habe ich mein Material 
vom Jahre 1892—1901 zusammen gestellt Ich bin mir dabei wohl 
bewußt, daß die von jeder Statistik untrennbaren Fehlerquellen bei 
einer kleineren Zahl um so stärker sich bemerkbar machen. 
Andererseits bieten die aus einheitlicher, eigener Beobachtung ge¬ 
wonnenen Zahlen größere Sicherheit für Korrektheit und Zuver¬ 
lässigkeit, da sie infolge des intimeren Verhältnisses, der längeren 
Beobachtung die Korrektur zweifelhafter Diagnosen, die Unter¬ 
scheidung ob harter oder weicher Schanker, spezifische oder in¬ 
differente Ulceration, Rückfall oder neue Infektion u. s. w. vorliegt, in 
höherem Grade ermöglichen. 

Tabelle I. 


Jahr 

Gesamter- 

kraukungen 

<o 

o 

H 

o 

fl 

o 

Ö 

°/o 

Ulcus molle 

Vo 

Sklerose 

01 

Io 

sek. Syph. 

0/ 

Io 

sek. Syph. 
u. Sklerose 

% 

alte Syphilis 

01 

Io 

1892 

195 

118 

60,5 

13 

6,7 

23 

11,9 

32 

16,8 

55 

28,7 

8 

4,0 

1893 

286 

189 

66,0 

8 

2,8 

39 

13.6 

35 

12,2 

74 

25,8 

15 

5,2 

1894 

305 

192 

63,0 

28 

9.1 

42 

13,7 

38 

12,4 

80 

26,1 

5 

1,6 

1895 

240 

163 

67,9 

24 

10,0 

29 

12.0 

16 

6,7 

45 

18,7 

8 

3,3 

1896 

277 

206 

74,3 

17 

6,1 

23 

8,3 

25 

9,0 

48 

17,3 

6 

2,1 

1897 

227 

148 

* 65,2 

19 

8,4 

29 

I 12,7 

21 

9,2 

50 

21,9 

10 

4,4 

1898 

201 

136 

67,6 

18 

9,0 

22 

10,9 

14 

1 7,0 

36 

17,9 

11 

5,5 

1899 

244 

161 

66,0 

22 

9,0 

23 

9,4 

29 

11,8 

52 

20,8 

9 

3,7 

1900 

266 

169 

63,5 

23 

8,6 

41 

15,4 

16 

6,0 

57 

20,4 

17 

6,4 

1901 

| 227 

130 

57,2 

18 ! 

! 7,9 

39 

17,2 

24 

10,5 

63 

I 27,7 

16 

7,0 


2468 

1612 

65,72 

I 190 

7,65 

310 

12,56 

250 

10,13 

560 

22,69 

105 

4,2 

1902) 

| 214 

132 

61,6 

18 

8,3 

3! 

14.5 

24 

11,2 

55 

1 25,7 

9 

4,2 


Tabelle I enthält die allgemeine Übersicht der geschlechts- 
kranken Männer. (Dabei sind unter Gonorrhoe nur akute Fälle 
mit positivem Gonokokkenbefund, nicht die postgonorrhoischen 
Katarrhe, Strikturen u. 8. w. eingerechnet). Das Verhältnis der Go¬ 
norrhoe mit durchschnittlich 65,72 Prozent zum Ulcus molle mit 
7,65 Prozent und Sklerose + sekundärer Syphilis mit 22,69 Prozent 
entspricht den anderwärts beobachteten Proportionen. Zu beachten 
ist aber, daß die Infektionen an Gonorrhoe, welche vorher nie 


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Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mannheim. 


95 


weuiger als 63 Prozent ausmachten, 1901 auf 57,2 (1902 wieder 
61,6 Prozent) sanken, während Syphilis II + Sklerose von durch¬ 
schnittlich 22,69 auf 27,7 Prozent stiegen. Diese relative Zunahme 
der Syphilis bedeutet zweifellos eine Verschlechterung der hygieni¬ 
schen Verhältnisse. Die absolute Zahl der Gonorrhoe hat mit 
großer Wahrscheinlichkeit nicht ab-, sondern zugenommen; in noch 
stärkerem Maße muß sich also die Syphilis ausgebreitet haben. 

Um festzustellen, ob es sich dabei um eine zufällige Ver¬ 
schiebung handelt, oder ob diese auch bei anderen Zusammen¬ 
stellungen zu beobachten ist, habe ich die Zahlen aus dem städtischen 
Krankenhause zusammengetragen. 

Es wurden daselbst Geschlechtskranke aufgenommen: 


Jahr¬ 

gang 


a) männlich 


Gesamt¬ 

zahl 


Davon 0 / 

I Gonorrhoe • o 


b) weiblich 


Gesamt¬ 

zahl 


Davon 

Gonorrhoe 


1892 

174 

1893 

159 1 

1894») 

— I 

1895 

101 

1896 

70 ! 

1897 

101 ! 

1898 

100 

1899 

201 

1900 

136 

1901 

156 

1902 

_ 151 , 

‘1 

1349 ! 


96 55 

78 ! 50 

_ | 

I 

44 44 

44 1 63 

55 i 55 
60 60 

105 51 

78 I 57 
86 55 

73 | 48 

719 | 53,3 


261 

150 

60 

207 

116 

57 

223 j 

117 

! 52 

194 | 

132 

1 68 

229 1 

128 

56 

213 

122 

i 60 

181 , 

116 

55 

269 

212 

78 

208 

160 

79 

201 

126 

i 63 

227 | 

129 

1 56 


2418 | 1508 | 62,7 


Auch hier finden wir dieselbe Schwankung, indem auf der 
männlichen Abteilunjg der Prozentsatz der Gonorrhoe von 60 Prozent 
im Jahre 1898 auf 48 Prozent 1902 sank, auf der weiblichen von 
78 Prozent auf 56 Prozent Dabei ist seit 1899 die Untersuchung 
auf Gonokokken sowohl bei den eingeschriebenen wie anfgegriffenen 
Dirnen obligatorisch eingeführt, was auch die Steigerung der an 
Gonorrhoe eingewiesenen Patienten seit 1899 verursachte. 

Forschen wir nach den Ursachen dieser Verschiebung, so 
dürften diese in der völligen Umwälzung der Prostitutionsverhältnisse 

l ) Da mir der Jahrgang 1894 nicht zugänglich war, habe ich, ebenso 
wie im Jahrgang 1898, den weiblichen Zahlen die Aufzeichnungen der Ab¬ 
teilungsschwester zugrunde gelegt. 

8 * 


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96 


Loeb. 


zu finden sein, welche sich in den letzten Jahren in Mannheim 
vollzog. 

Früher gab es daselbst Bordelle und einzeln wohnende 
Prostituierte. Seit etwa 1898 wurden aber die Bordelle infolge 
Rechtsprechung des Reichsgerichtes zur allmählichen Einstellung 
ihres Betriebes genötigt, so daß das letzte Ende 1902 von der Bild¬ 
fläche verschwand. Auch für die Einzelwohnenden (Prostituierten) 
boten sich ähnliche Schwierigkeiten, indem es ihnen, infolge Ein¬ 
spruches der Anwohner, nahezu unmöglich gemacht wurde, Wohnung 
zu finden. Dadurch kam es, daß die Zahl der Prostituierten von 
etwa 60 im Jahre 1890 auf 13 im Jahre 1902 zurückging, in einer 
Periode, in welcher sich die Bevölkerungszahl nahezu verdoppelte. 

In demselben Grade hat natürlich die Geheim- und Straßen¬ 
prostitution zugenommen. Während früher die Prostitution in die 
Bordelle und einige mehr oder minder abgelegene Quartiere ge¬ 
drängt war, macht sich jetzt, besonders in den Stunden des leb¬ 
hafteren Verkehres, auf den frequentesten Straßen ungeschminktes 
Dirnentum breit, während in peripheren Straßen die unkontrollier¬ 
bare Winkelprostitution floriert. — 


Tabelle II. 


Jahr 

, ermittelt) 

L b : 1 

0/ 

10 ! 

P.v. 

1 

% 

G. | 

% 

1892 

35 f 

j: 7 

20 

10 

30 

18 

50 

1893 

162 i 

56 

34 

48 

30 

58 

36 

1894 

131 

61 

46 

37 

28 

33 

25 

1895 

136 

71 

52 

29 

21 

36 

26 

1896 

161 

87 

54 

28 

17 

46 

29 

1897 

128 

| 72 

56 

16 

12 

40 

31 

1898 

125 

60 

48 

31 

25 

34 

27 

1899 

131 

47 

36 

20 

15 

64 

49 

1900 

129 

37 

29 

17 

13 

75 

58 

1901 

78 

13 

16 

27 

34 

38 

50 


T 2i m 

511 

r * 2 1 

263 | 

21 i 

442 

87 


Eine weitere Folge dieser Verschiebung zeigt Tabelle II, die 
Zusammenstellung der Infectionsquellen. Es wurden nur 
solche Angaben berücksichtigt, welche nach dem klinischen Be¬ 
funde und der ganzen Art der Mitteilung einen glaubwürdigen 
Eindruck machten. W"ie zuverlässig diese aufgefaßt werden dürfen, 
geht z.B.aus einer Beobachtung hervor, bei der vier den verschiedensten 


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Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mannheim. 


97 


Gesellschaftsklassen angehörende Patienten mit Schanker, welche 
in kurzer Aufeinanderfolge in Behandlung traten, dieselbe Quelle 
ihrer Erkrankung angaben, welche auch richtig als eine sich der 
Kontrolle entziehende Prostituierte ermittelt wurde, die mit 
Schanker behaftet war. 

Unter Rubrik B sind die Dirnen zusammengefaßt, welche in 
Bordellen und solchen Wohnungen untergebracht waren, in denen 
stationär eingeschriebene Prostituierte ansässig waren; unter Rubrik 
„P. v“ die vagabondierenden Dirnen, d. h. diejenigen, von denen 
nicht festgestellt werden konnte, ob sie kontrolliert waren, die aber 
nach Art ihres Auftretens u. s. w. als Prostituierte imponierten (clan- 
destine Prostitution); unter G sind die Gelegenheitsdirnen zusammen¬ 
gefaßt, Personen, die nachweislich einen Beruf ausübten und nur 
gelegentlich oder in Form eines festen Verhältnisses den außer¬ 
ehelichen Verkehr ausübten. 

Es geht aus der Tabelle hervor, daß bis zum Jahre 1898 incl. 
ungefähr die Hälfte der Infektionen auf Bordelle zurückzuführen 
sind. Daraus ergibt sich, daß einerseits diese Institute zur Aus¬ 
übung des außerehelichen Verkehres am meisten in Anspruch ge¬ 
nommen wurden, daß andererseits die derzeitige Kontrollierung 
keinen genügend wirksamen Schutz gegen Infektion bietet Als 
Ersatz für die allmählich eingehenden Bordelle tritt hauptsächlich 
Gruppe G ein, d. h. die vorher von berufsmäßigen Dirnen ausgeübte 
Prostitution wird in viel weitere Kreise der weiblichen Bevölkerung 
getragen, unter gleichzeitiger Verschlechterung der sanitären Zu¬ 
stände, die wir aus Tabelle I ersehen haben. Es ist dies ein 
statistischer Beleg dafür, wie die Unterbindung der regulären 
Prostitution, welche gewissermaßen als Sicherheitsventil gegen die 
Verführung und Verseuchung weiter weiblicher Klassen dient, 
schädigend auf unsere moralischen und gesundheitlichen Zustände 
einwirkt 

Nach dem Berufe getrennt, wurden als Infektionsquellen 
(Gruppe G) angegeben: 

Kellnerin, Büffetdame . . . 

Dienstmädchen, Köchin . . . 

Ladnerin. 

Bürgersmädchen, Haustochter 
Näherin, Stickerin .... 

Zimmermädchen. 


155 mal 
67 „ 

65 „ 
29 „ 
27 „ 
20 „ 


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98 


Loeb. 


Fabrikarbeiterin. 

Künstlerin, Sängerin, Balleteuse 
eigene Ehefrau resp. Braut . . 

Schneiderin, Modistin .... 

Büglerin. 

Buchhalterin. 

Wittwe. 

Landmädchen. 

Maitresse. 

Die oft gemachte Beobachtung, daß in hervorragendem Maße 
die Kellnerinnen, besonders wenn sie stellenlos sind, die Prostitution 
ausüben und wesentlich zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten 
beitragen, wird also auch für Mannheimer Verhältnisse damit 
bestätigt. 

Unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse der Ärzte, 
der Krankenkassen, des Publikums kann man aus Tabelle I die 
Gesamtzahl der Infektionen in Mannheim abschätzen. Ich komme 
dabei, unter vorsichtiger Würdigung obiger Umstände, auf 40000 In¬ 
fektionen für die 10jährige Periode 1892—1901 J ), also durch¬ 
schnittlich 4000 Infektionen pro Jahr, bei einer Durchschnitts¬ 
bevölkerung von 100000 Einwohner in diesem Zeitabschnitte. 

Da die Infektionen in überwiegender Mehrzahl Männer im 
Alter von 18—38 Jahren befallen, da diese Altersgruppe etwa 
20 Prozent der Bevölkerung = 20000 ausmacht, so trifft, bei 
4000 Infektionen, auf jeden 5. Mann dieses Alters pro Jahr 

1 Infektion und von 15 Männern dieses Alters erkranken jährlich 

2 an Gonorrhoe, 1 an Syphilis. 

Unter Berücksichtigung der natürlichen Fluktuation der 
Bevölkerung, die innerhalb 10 Jahren die Hälfte = 10000 beträgt, 
und der wirtschaftlichen Fluktuation, deren Effekt etwa gerade 
so hoch angenommen werden kann, umfaßt die Altersklasse von 
18—38 Jahren 40000 Individuen. Da auf diese 40000 Infektionen 
treffen, so erkrankt durchschnittlich jeder Mann in Mannheim bis 
zu seinem 38. Lebensjahre ein mal an Geschlechtskrankheit 

l ) Diese von mir in einer lokalen Versammlung mitgeteilte Aufstellung 
war so aufgefaßt worden, als ob die jährliche Erkrankungszahl 40000 be¬ 
tragen sollte. Ich möchte dieses leicht zu entdeckende Mißverständnis hier¬ 
mit ausdrücklich richtig stellen. 


17 mal 
16 „ 
12 „ 
11 „ 
9 „ 
4 „ 

4 „ 
3 „ 
3 „ 
'442 


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Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mannheim. 


99 


Nach meiner Ansicht dürfte diese Zahl den tatsächlichen Ver¬ 
hältnissen entsprechen. Aber selbst für den, der an der absoluten 
Zuverlässigkeit dieser Aufstellung, die sich neben der statistischen 
Basis auf subjektive Betrachtungen stützen muß, zweifeln wollte, 
wird sie die überzeugende Gewißheit bringen, daß auch bei uns 
die Geschlechtskrankheiten eine solche Verbreitung angenommen 
haben, daß deren energischste Bekämpfung mit allen Mitteln durch 
Staat, Kommune und Gesellschaft eine dringende Notwendigkeit 
geworden ist 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 

Von 

Dr. Gustav Baerm&nn (Breslau). 

Neisser hat im Jahre 1890 auf Grund einer damals zum 
erstenmal systematisch durchgeführten Untersuchung die mikrosko¬ 
pische Gonokokkenuntersuchung der Sekrete der Prostituierten 
gefordert und damit bahnbrechend in der ganzen Beurteilung der 
sittenpolizeilichen Kontrolle mit Bezug auf die Gonorrhoe gewirkt. 
Neisser hat diese Forderung bis heute festgehalten und auch all¬ 
seitig Zustimmung für die von ihm aufgestellten Forderungen ge¬ 
funden. Zuletzt noch hat Jadassohn auf dem ersten internationalen 
Kongreß zu Brüssel 1899 im Einklang mit den Neisserschen 
Vorschlägen die mikroskopische Untersuchung der Prostituierten 
auf Gonokokken bei der Kontrolle als einen der wichtigsten 
Faktoren für die Gonorrhoe-Prophylaxe charakterisiert 

Er trat damit vor allem dem von Kromayer eingenommenen, 
absolut negativen Standpunkt entgegen, der für seine gänzliche 
Ablehnung der Untersuchung der Prostituierten auf Gonorrhoe 
überhaupt folgende Gründe anführt: 

1. sei es unmöglich alle Gonorrhoeen vollständig zu eliminieren. 

2. wird durch die mikroskopische Untersuchung das Ver¬ 
hältnis zwischen dem Arzt und der Prostituierten vergiftet. 

3. können die für die Untersuchung auf Gonokokken not¬ 
wendigen Mittel zur Syphilisprophylaxe aufgewendet werden. 

4. werde das Publikum selbst durch den Untersuchungs¬ 
ausweis getäuscht. 

Es erübrigt sich mir, hierauf näher einzugehen. Jadassohn 
und Nei88er haben diese angeführten Gründe noch auf dem 
Kongreß selbst als unstichhaltig dargetan. 

Auf dem gleichen Kongresse waren noch Vorschläge einge¬ 
bracht worden, dahingehend, daß entweder nur auf klinische Krank¬ 
heitserscheinungen (Lochte, Behrend) hin die Sistierung go¬ 
norrhoeverdächtiger Prostituierter erfolgen solle, oder daß nur die 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


101 


klinisch Verdächtigen einer mikroskopischen Untersuchung unter¬ 
zogen werden sollen (Diskussion der Berliner medizinischen Ge¬ 
sellschaft, Blaschko, Freudenberg etc.), oder schließlich, daß nur 
die frisch aufgegriffeDen jungen Prostituierten und von den älteren 
nur die mit profusem Ausfluß auf Gonokokken untersucht und 
gegebenenfalls in Hospitalbehandlung gebracht werden. Diese Vor¬ 
schläge halte ich in ihrem praktischen Effekte als den Kromayer¬ 
sehen vollständig gleichwertig. Meiner Meinung nach ist es mit 
Ausnahme einer geringen Anzahl von Fällen^ die durch ihre 
foudroyanten Erscheinungen sich genügend charakterisieren, absolut 
unmöglich, die Gonorrhoe der Prostituierten aus klinischen Er¬ 
scheinungen sicher zu diagnostizieren; denn alle für die Gonorrhoe 
angegebenen Merkmale finden sich in vielen Fällen sowohl bei In¬ 
dividuen mit bereits vollständig abgeheilter Gonorrhoe als auch 
bei gesunden weiblichen Personen, deren Genitaltraktus dauernden 
Schädlichkeiten ausgesetzt ist, zu denen ich sowohl den häufigen 
geschlechtlichen Verkehr als auch die wiederholten Irrigationen mit 
hochprozentigen Desinfektionsflüssigkeiten und die mehr oder minder 
häufige Sekretentnahme mit dem scharfen oder stumpfen Löffel 
rechne. Ferner wird das Bild der klinischen Untersuchung von 
den Prostituierten in hohem Maße dadurch entstellt, daß sie vor 
der Untersuchung Urethra, Vagina und Cervix mit starken Des¬ 
infektionsmitteln ausspülen oder sich auswischen lassen, um für den 
Moment die Erkrankungserscheinungen zu verwischen. Ich habe 
selbst in einigen Fällen den Cervikalkanal mit kleinen Watte- 
bäuschchen ausgestopft gefunden, nach deren Entfernung das 
eitrige Sekret in großen Massen hervorquoll. Ferner leidet ein 
großer Teil der Prostituierten an nichtinfektiöser, chronischer 
Urethritis mit rein epithelialer Absonderung, desgleichen gibt 
stets das Cervikalsekret fast aller Prostituierten das Bild einer 
chronischen Endometritis corporis oder cervicalis. 

Es wurde zwar von gynäkologischer Seite die absolute Sicher¬ 
heit und Zuverlässigkeit der mikroskopischen Untersuchung ange- 
zweifelt und die Möglichkeit einer rein klinischen Diagnose verfochten 
(Bröse). Sänger, der die gonorrhoischen Stigmata genau studiert 
und zum Teil auch auf dem Standpunkt der rein klinischen Diagnose 
steht, ist jedoch auch nicht von der Sicherheit der klinischen 
Diagnose für die Infektiosität des Prozesses — und dieser Punkt 
ist doch für uns der wichtigste — überzeugt. 

Wir verfügen über eine Reihe von Untersuchungen, die die 


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102 


Baermaim. 


Unsicherheit der klinischen Diagnose und damit die absolute 
Notwendigkeit der mikroskopischen Untersuchung beweisen. Es 
mag ja sein, daß in manchen Fällen namentlich bei chronischen 
Cervikal- und Corpusaffektionen, die Gonokokken in so großen 
Zwischenräumen und so spärlich auftreten, daß sie bei der mi¬ 
kroskopischen Untersuchung übersehen werden. Die Zahl dieser 
Fälle ist aber verschwindend klein gegen all die Fälle, wo hei 
Fehlen irgend welcher besonderen klinischen Erscheinungen Gono¬ 
kokken in dem Urethral- oder Cervikalsekret nachgewiesen werden. 

Ferner ist die Zahl der nicht durch Gonokokken bedingten 
Urethritiden so klein, daß sie für die Beurteilung des Wertes der 
mikroskopischen Untersuchung wohl nicht in Betracht kommen. 
Wassermann beschreibt einen durch Xerose-Bacill. bedingten in¬ 
fektiösen Urethralkatarrh. Menge berichtet über zwei Fälle nicht 
durch Gonokokken verursachter Urethritiden, die jedoch auffallend 
schnell zur Heilung gelangten. — 

Bröse beschreibt vier Fälle von Gonorrhoe des Mannes, bei 
denen die Infektion durch die Ehefrau sichergestellt war, obwohl 
sich bei den mit chronischem Cervikalkatarrh und zum Teil Adnex¬ 
erkrankung behafteten Frauen Gonokokken trotz häufiger mikrosko- • 
pischer Untersuchung nicht nachweisen ließen. 

Der plötzliche, große Anstieg der bei der Prosti¬ 
tuiertenkontrolle konstatierten Gonorrhoefälle überall 
da, wo an Stelle der klinischen Untersuchung die mi¬ 
kroskopische getreten ist, dürfte wohl der am wenigsten ab¬ 
zuweisende Beleg für die Notwendigkeit der mikroskopischen 
Diagnose sein. 

Wir besitzen von Neisser und Hammer zwei Statistiken, die den 
Einfluß und die Notwendigkeit der mikroskopischen Untersuchung auf 
die Sistierung bezw. Krankenhausaufnahme Gonorrhoekranker Prostitu¬ 
ierter demonstrieren. 

Neisser (Allerheilig.• Hospital Breslau). 

1. Vor der Einführung der mikroskopischen Untersuchung kamen 
zur Aufnahme wegen Gonorrhoe: 

Zahl der P. P. Aufn. wegen 2 Aufn. wegen Gonorrhoe 

1886 1782 127 = 49,4°/ 0 24 = 9,3 °/ 0 

1887 1806 105 = 36,9 0 / ? 29=10,1 °/ 0 

2. Nach der Einführung der mikroskopischen Untersuchung kamen 
zur Aufnahme: 

Zahl der P. P. Aufn. wegen 2 Aufn. wegen Gonorrhoe 

1888 1809 117 = 42 °/ 0 194 = 64 °/ 0 

1889 1875 149 = 29,7 % 306 = 47,3°/ 0 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


103 


3. Verpflegungstage vor der Einführung 1887/88 = 11 000 

1888/89 = 13 077 
1889/90 = 14 892 

Es ist bei letzterer Angabe noch zu betonen, daß die Syphilis in 
den entsprechenden Jahren nach obiger Tabelle noch gefallen war. 

Hammer (Stuttgart, inskribierte P. P.). 

1. Vor der Einführung der mikroskopischen Untersuchung kamen 
zur Aufnahme wegen Gonorrhoe: 

1894 L Halbjahr = 8 P. P. = 4,9 °/ 0 . 

2. Nach der Einführung: 

1894 n. Halbjahr = 61 P. P. = 36%. 1895 = 235 P. P. = 61 % 

Hammer, Polizeiliche Sistierung wegen Gonorrhoe bei der Kontrolle. 

1. Vor der Einführung der mikroskopischen Untersuchung: 

1892 = 1 (2)*) 1893 = 2 (9) 

2. Nach der Einführung: 

1894 II. Halbjahr = 9 (203) 1895 = 27 (402) 

Hammer gibt ferner an, daß er nach Einführung der mikrosko¬ 
pischen Untersuchung bei der Kontrolle in einem halben Jahre mehr 
Behandlungstage im Hospital brauchte als sein Vorgänger (klinische 
Untersuchung) in 4 1 / 2 Jahren; er fügt noch hinzu, daß nach der Ein¬ 
führung des mikroskopischen Gonokokkennachweises die Erkrankungs¬ 
ziffer der inhaftierten Prostituierten von 13 °/ 0 auf 24°/ 0 stieg. 

Die Unzulänglichkeit der klinischen Untersuchung demonstrieren 
außerdem noch folgende Angaben: 

Lochte fand bei 16,2 °/ 0 der klinisch Unverdächtigen G.C. (Unter 
60 klinisch Unverdächtigen fanden sich 21 P.P. mit G.C.) 

Laser fand bei 17,2 °/ 0 der klinisch Unverdächtigen G. C. 

Pryor „ „17 von 62 klinisch Unverdächtigen im Cervikal- 

sekrete G. C. 

Kuttner fand bei 6 von 22 klinisch Unverdächtigen G.C. 

Gauer „ „ 6 ,, 16 „ „ „ 

Kopytowski,, „ 5 „ 71 

Ferner gibt Kopytowski an, daß bei 8°/ 0 aller bei der polizei¬ 
lichen Kontrolle gesund erklärten P. P. G. C. vorhanden seien, ebenso 
bei 10 °/ 0 aller aus dem Hospital geheilt Entlassenen (klin. Unters.). 

Gold Schmidt fand von 55 P. P., die vor der Einführung der 
mikroskopischen Untersuchung gesund erklärt worden waren, bei 22,6 °/ 0 
G.C. (17). Die Gonokokken wurden bei der Hälfte konstant, bei der 
andern Hälfte intermittierend nachgewiesen. 

Carry fand in 327 Präparaten, die von 278 Mädchen mit eitrigem 
Ausfluß stammten, 94 mal G. C. 

Andererseits werden natürlich so und so oft Prostituierte 
ins Hospital geschickt, die zwar klinisch chronische Urethritis 
und Endometritis aufweisen, aber trotzdem gonokokkenfrei 


*) Behandlungstage im Hospital. 


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104 


Baermann. 


sind; es geschieht dies vornehmlich bei den so häufigen chronischen 
nicht mehr infektiösen Cervikalkatarrhen. 

Neisser fand unter 527 P. P. 29 mit stark eitriger Urethritis 
und 56 mit eitrigem Cervikalkatarrh, ohne irgendwie Gonokokken nach- 
weisen zu können. 

Ich selbst habe nur bei einem Drittel der klinisch Suspekten G. C. 
gefunden. 

Carry kam zu demselben Resultat. 

Schulz findet bei 54 von 59 klinisch Suspekten G. C. 

T 31 °L der Urethral-1^ , ,, • n n 

Lanz „ „ 20,7 0 f o der Cer^.jGoDorrhoeverdächtigenG.C. 

ßergh „ „ oj® Jjj Cer^kll-} GoQOrrhoe ’ 7er<iächti g enG - C - 

Wedensky,, „ ^ ^ ^i^JöonorrhoeverdachtigenG.C. 

Lochte findet bei 10 P. P., die dem Hospital als gonorrhoever¬ 
dächtig übermittelt wurden, 6 mal G. C. 

Welander fand von 78 Frauen (vorwiegend P. P.) mit eitrigem 
Ausfluß bei 46 G. C. 41 Fälle hiervon treffen auf die Urethra. 

Br Öse fand unter 11 chronischen Urethritiden 5 mal G. C. 

„ „ „ 60 „ Urethritiden mit Endometritiden 

5 mal in der Urethra, 4 mal in der Cervix allein, 25 mal in Urethra 
und Cervix gleichzeitig G. C. — 

Unter 99 Fällen mit chronischer Urethritis, Endometritis cervic. 
und Adnexerkrankungen 8 mal in der Urethra, 7 mal in der Cervix, 
10 mal in Urethra und Cervix gleichzeitig G. C. — 

Unter 20 Fällen mit chronischer Cervikal- und Adnexerkrankung 
1 mal G. C. — 

Unter 9 Fällen mit chronischer Urethritis und Adnexerkrankung 
in keinem Falle G. C. 

Unter 25 Fällen mit chronischer Cervikalerkrankung 3 mal G. C. 

Dabei ist zu bemerken, daß in allen Fällen deutliche klinische Er¬ 
scheinungen vorhanden waren. 

Baer. Von 310 wegen Gonorrhoe ins Krankenhaus eingewiesenen 
Frauen erwiesen sich 201 als klinisch suspekt. Die mikroskopische 
Untersuchung ergab bei 166 Gonokokken in der Urethra, 35 waren 
negativ. Von 190, deren Cervikalkanal auf G. C. untersucht wurde, 
fanden sich bei 140 G. C. 

Von sonstigen Kranken, die wegen anderer Affektionen im Hospital 
lagen, wurden bei 100 G. C. gefunden und zwar 63 mal in der Urethra, 
60 mal im Cervix. 

Klein findet bei 90 klinisch Verdächtigen 22 mal G. C. 

Gauer findet bei 140 P. P. mit Fluor 48 mal G. C.', bei 39 mit 
Urethritis 19 mal G. C. 

Es läßt sich, wie bereits angeführt, ohne die Anwendung 
der mikroskopischen Untersuchung weder für die In- 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


105 


fektiosität noch auch für die Harmlosigkeit eines Urethral¬ 
oder Cervikalausflusses, welcher Natur derselbe auch sei, ein 
sicheres Urteil abgeben. Das beweisen die vorstehenden Angaben 
aufs deutlichste. 

Wenn wir dieses Ergebnis auf die Handhabung der polizei¬ 
lichen Untersuchung Prostituierter auf Gonorrhoe anwenden, 
so muß die einfache Überlegung uns zu dem Urteil führen, daß 
eine rein klinische Untersuchung nutzlos ist und deshalb besser 
unterlassen wird, daß aber dagegen die strikte Durchführung einer 
mikroskopischen Untersuchung im stände sein wird, einen großen 
Prozentsatz klinisch nicht erkannter Gonorrhoeen fortdauernd zu 
eliminieren und damit die allgemeine Gonorrhoeerkrankungsziffer 
allmählich herabzudrücken. 

Um wirklich positive Resultate zu erzielen, können wir uns 
nur einem absoluten Ja oder Nein gegenüberstellen. Alles 
andere wird einen dem Kosten- und Zeitaufwand nicht 
entsprechenden Erfolg haben. 

Wenn es gelingt — wie bei meiner im folgenden näher be¬ 
schriebenen Untersuchung — bei einem reglementierten, in einem 
Zeitraum von je vier Wochen der mikroskopischen Untersuchung 
unterworfenen Prostituiertenmaterial eine Gonorrhoeerkrankungs¬ 
ziffer von 30 Prozent zu konstatieren, so kann man sich doch der 
einfachen logischen Folgerung nicht verschließen, daß einerseits die 
jetzt geübte Untersuchung eine ungenügende ist und andererseits 
ein hoher Erkrankungsprozentsatz durch eine sorgfältige Unter¬ 
suchung leicht eliminiert werden kann. Die Schuld an der jetzigen 
fortlaufend bestehenden hohen Erkrankungsziffer liegt nicht an den 
untersuchenden Ärzten, sondern an der zu geringen staatlichen 
Subvention der Untersuchungslaboratorien und an der Überlastung 
der Untersuchungsärzte. 

Wenn wir aber diese konstante Erkrankungsziffer eliminieren, 
so muß und wird die allgemeine Gonorrhoeerkrankungs¬ 
ziffer allmählich nach einer Reihe von Jahren sinken; 
denn nach allgemeiner Meinung ist die Prostitution als der primäre 
Infektionsherd anzusehen und es ist demzufolge zu erwarten, daß 
mit der Herabminderung der Gefahr desselben ein allgemeiner 
Ausgleich stattfinden wird, der für sich selbst wieder reziprok in 
günstigem Sinne auf die Erkrankungsziffer der Prostituierten wirkt. 
Bei dem ständig fluktuierenden Prostituiertenmaterial ist es 


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106 


Baermann. 


natürlich unumgänglich nötig, daß diese sorgfältige Kontrolle in 
allen Teilen des Reiches einheitlich durchgeführt wird. 

Daß wir nicht alle Gonorrhoeen eliminieren können und 
damit eine gewisse Zahl von Infektionen bestehen bleiben wird, 
ist klar. Aber diese Erkenntnis kann uns nicht davon abhalten, 
wenigstens eine erhebliche Verbesserung zu versuchen. Welch 
großen sozial-hygienischen Einfluß eine derartige Assanierung mit 
sich bringen würde, bedarf keiner weiteren Ausführung. 

Zur Erreichung dieser Assanierung muß die Prostituierte 
jedesmal wenn sie zur Kontrolle kommt, an allen den Orten ihres 
Genitaltraktus mikroskopisch untersucht werden, die nachgewiesener¬ 
maßen von den Gonokokken dauernd invadiert werden können. 
Das Ideal wäre natürlich eine tägliche Untersuchung, dieselbe ist 
aber vorläufig praktisch undurchführbar. Wir werden uns damit 
begnügen müssen, eine zweimal wöchentlich stattfindende Unter¬ 
suchung zu fordern. 

Auf Grund meiner Untersuchung werde ich mir erlauben, die not¬ 
wendige Zeit für eine zweimal wöchentlich stattfindende exakte Unter¬ 
suchung einer bestimmten Anzahl von Prostituierten aufzustellen. 

Ich habe in einem Zeitraum von vierzehn Tagen 393 Pro¬ 
stituierte auf Gonokokken untersucht, 

Die Untersuchungsanordnung war folgende: Aus Urethra 
und Cervix wurde mit einem stumpfen Metalllöffel Sekret entnommen 
und hiervon je zwei Ausstrichpräparate angefertigt. Von den 
Präparaten wurden je zwei mit Methylenblau, je zwei nach Gram 
gefärbt. Ich möchte hierbei erwähnen, daß die Färbung nach 
Gram eine besondere Sicherheit nicht bietet, da bei den meisten 
chronischen Entzündungszuständen sich eine große Menge Gram- 
negativer Bakterien findet. Ich ziehe die Methylenblaufärbung des¬ 
halb vor, weil bei ihr die Gonokokken durch ihre intensive Farben¬ 
aufnahme sehr gut charakterisiert werden. 

Es gelangten täglich ungefähr 35 Prostituierte zur 
Untersuchung, was eine Zeit von ungefähr 1 1 / % Stunden in An¬ 
spruch nahm; die 140 Präparate wurden noch an demselben 
Tage durchgesehen. Zur mikroskopischen Untersuchung hatte ich 
stets eine Zeit von fünf Stunden nötig. 1 ) 

0 Anmerkung. Zur größeren Sicherheit ließ ich meine Untersuchungs¬ 
resultate durch Herren Dr. Veiel, Halberstädter, Cederkreuz, denen 
ich an dieser Stelle für ihre freundliche Beihilfe meinen besten Dank aus¬ 
sprechen möchte, nachprüfen. 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


107 


Um mir von dem Wert der Kulturmethode bei der Kontrolle 
ein Bild zu verschaffen, habe ich gleichzeitig Röhrchen mit Cervikal- 
und Urethralsekret geimpft. Man hatte bisher überall von einer 
regelmäßig durchgeführten bakteriologischen Untersuchung abge¬ 
sehen, da einerseits die Beschaffung eines keimtüchtigen Nährbodens 
' mit ziemlichen Schwierigkeiten verbunden und andererseits die 
praktischen Resultate derselben die einfache mikroskopische Unter¬ 
suchung in ihrem Gesamteffekte nicht übertrafen. Ich möchte 
hier betonen, daß ich im Gegensatz zu Jadassohn und Scholtz 
den mikroskopischen Nachweis in derartigen Fällen für feiner halte. 
Ich wurde zu meiner bakteriologischen Untersuchung noch durch 
folgenden Umstand veranlaßt: 

Ströhmberg in Dorpat hatte im Gegensatz zu den bisher 
gemachten Erfahrungen auf Grund einer umfassenden, bakterio¬ 
logischen Untersuchung behauptet, daß 98 Prozent* also fast alle 
Prostituierten Gonokokken in ihrem Genitaltraktus beherbergen. 
Er war zu diesem Ergebnis durch das Züchtungsverfahren auf 
einem von Thalmann neu angegebenen einfachen Nährboden ge¬ 
langt. Es erübrigt sich hier, über diese Befunde mich weiter 
zu verbreiten; ich habe die Unzuverlässigkeit dieses Nähr¬ 
bodens in einer genauen Untersuchung nachgewiesen (Baer- 
mann). Es lassen sich deshalb die Ergebnisse von Ströhmberg 
nur dadurch erklären, daß in dem Genitaltraktus der in Dorpat zur 
Untersuchung kommenden Prostituierten ein nach Form und Wachs¬ 
tum dem Gonokokkus ähnlicher Diplokokkus vegetiert. Ich habe 
bei 100 Prostituierten den von Ströhmberg benützten Nährboden 
angewendet* doch lieferte er mir fast durchweg negative Resultate. 

Wenn die Ströhmbergschen Angaben wirklich den Tatsachen 
entsprochen hätten, so wäre natürlich die Untersuchung der 
Prostituierten auf Gonokokken vollständig irrelevant geworden und 
damit der Kromayersche Standpunkt gerechtfertigt, da man jede 
Prostituierte eo ipso als gonorrhoisch infiziert hätte ansehen müssen. 
Es wäre damit auch die Behandlung aller dieser gonorrhoisch in¬ 
fizierten Puellae in Wegfall gekommen, da nach Ströhmberg fast 
alle stationär ausgeheilten Individuen binnen kurzem wieder 
positive Züchtungsresultate ergaben. Glücklicherweise be¬ 
ruhen seine Angaben nicht auf tatsächlichen Verhält¬ 
nissen; dieselben wären natürlich für die Stellungnahme zur 
Kontrolle und zur Behandlung der gonorrhoischen Puellae über¬ 
haupt von eminenter Bedeutung gewesen. 


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108 


Baermann. 


Meine Kulturen, zu ^denen ich Ascitesagar verwandte, 
wurden nach 24 Stunden besichtigt, auf Gonokokken verdächtige 
Röhrchen markiert. Nach 48 Stunden nahm ich eine mikroskopische 
Prüfung der Kulturen vor. Es gelang mir nur in fünf Fällen eine 
mikroskopisch nicht eruierte Gonorrhoe kulturell nachzuweisen. 
Es handelte sich stets hierbei um Cervikalgonorrhoeen, in drei 
Fällen war gleichzeitig eine Urethralgonorrhoe vorhanden. Dagegen 
gelang es mir in einer Reihe von Fällen mikroskopisch Gono¬ 
kokken nachzuweisen, in denen mich die Kultur im Stiche ließ. 
Jedenfalls spielt hierbei die gleichzeitige Mitübertragung von noch 
wirksamer Desinfektionsflüssigkeit eine Rolle, gleichzeitig fällt 
natürlich auch die große Anzahl der mitüberimpften Mikro¬ 
organismen bei der exakten Ausscheidung der Gonokokkenjsehr 
ins Gewicht Es wird also nur in den seltenen Fällen auf w die 
Kultur zu rekurrieren sein, in denen trotz zahlreicher negativer 
Sekretbefunde Infektionen von seiten einer P. P. nachgewiesen sind. 

Auf einen eigentümlichen Befund möchte ich hier aufmerksam 
machen. Ich habe in ungefähr 12 Fällen einen dem Gonokokkus 
in Form und Färbevermögen frappant ähnlichen Diplokokkus ge¬ 
funden, der sich nur durch die Kultur von ihm unterscheiden 
ließ. Ich hatte denselben schon einmal aus einer Rektalaffektion 
bei einem Manne gezüchtet, die irrtümlicherweise auf das mikro¬ 
skopische Präparat hin als Gonorrhoe diagnostiziert worden war. 

Der genannte Diplokokkus dominiert schon nach 24 Stunden 
über alle anderen gleichzeitig mit ihm übertragenen und auf dem 
Nährboden gleichzeitig aufgegangenen Bakterien. Nach 48 Stunden 
bildet er einen fast die ganze Nährbodenoberfläche einnehmenden 
gelbrötlichen gleichmäßigen, über das Niveau wenig eie vierten 
Rasen. Genannter Diplokokkus fand sich nur im Cervikalsekrete. — 

Es handelt sich nun darum, festzustellen, welche Lokalisations¬ 
punkte der Gonokokken bei der Kontrolle für die Untersuchung 
zu berücksichtigen sind. Als Ansiedlungspunkte der Gonokokken 
sind bisher beschrieben worden: Urethra, die Schleimdrüsen an 
der äußeren Urethralöffnung, Vulva-Vagina, Bartholinische Drüse, 
Cervix, Endometrium corporis, Tuben, Rektum. 

Alle diese angegebenen Orte können nachgewiesenermaßen 
erkranken, doch besteht zwischen den Erkrankungsziffern derselben 
eine derartig hohe prozentuarische Differenz, daß verschiedene 
wegen der außerordentlichen Seltenheit ihrer Erkrankung bei der 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


109 


Kontrolluntersuchung ohne besonderes Risiko vernachlässigt 
werden können. 

Obwohl es mir selbst aus sachlichen Gründen unmöglich war, 
alle diese Lokalisationspunkte in den Kreis meiner Untersuchungen 
zu ziehen, so möchte ich doch nicht versäumen, über die von mir 
selbst nicht berücksichtigten Erkrankungsherde einen kurzen Bericht 
zu geben und die von mir in der Literatur gefundenen statistischen 
Angaben zu verwerten, da ich dies für die Beurteilung der ge¬ 
machten Schlußfolgerung von Belang hielt 

Über die Infektion der Schleimdrüsen an der äußeren Ure- 
thralöffirang habe ich nur Angaben von Bergh, Bumm und 
Orlow gefunden. Bergh fand unter 699 an Urethritis leidenden 
P. P. 112 mal die Steen sehen Drüsen gonorrhoisch infiziert. 
Klinisch geben sie das Bild der gonorrhoischen Follikulitis. Orlow 
hat unter zehn mit Urethralgonorrhoe behafteten Prostituierten 
zweimal die genannten Drüsen gonorrhoisch infiziert gefunden. 

Die Auffassung der gonorrhoischen Vaginitis hat im Laufe 
der Zeit verschiedene erhebliche Wandlungen durchgemacht. 
Während man vor der Entdeckung des Gonokokkus und auch noch 
einige Zeit nach derselben die Vagina als einen sehr häufig er¬ 
griffenen Erkrankungsherd ansah, stellten mit Anderen vor allem 
Neisser und Bumm fest, daß eine Infektion oder besser eine 
Invasion von Gonokokken in die Vaginalschleimhaut geschlechts¬ 
reifer Frauen nicht stattfindet. Es wurde jedoch kurze Zeit 
darauf in ganz einwandsfreier Weise der Gonokokkus in Schnitten 
von exzidierten Vaginalschleimhautstückchen mikroskopisch nach¬ 
gewiesen (Mandl, Doederlein, Welander). Die Untersuchungen 
von Mandl und Welander haben ergeben, daß der Gonokokkus 
imstande ist. das Plattenepithel der Vagina bis auf die binde¬ 
gewebige Unterlage zu durchdringen und selbst noch in die obersten 
Schichten derselben einzudringen. 

Bei der großen Seltenheit dieser Affektion war es selbstver¬ 
ständlich, daß man nach irgend welchen besonders prädisponierenden 
Momenten suchte, welche diese Invasion ermöglichten. Touton 
suchte wohl in Analogie mit der gonorrhoischen Vulvo-Vaginitis, 
der Conjunctivitis und Stomatitis der kleinen Kinder, (Dohm, 
Rosinski) diese prädisponierenden Momente in einer besonders 
hochgradigen Weichheit und Saftigkeit des Vagiualepithels und 
einer dadurch bedingten besonderen Größe der interstitiellen Spalt¬ 
räume. Dieser Ansicht schließt sich im großen und ganzen auch 

Ztftiohr. 1 Bekimpftmg d. GtMhleehtsknnkh. 1L 9 


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110 


Baermann. 


Fritsch an. Andere glaubten vorangegaügene traumatische Insulte, 
die eventuell durch die macerierende Eigenschaft eines reichlichen 
Fluors sekundär unterstützt, verantwortlich machen zu müssen. 
Jedenfalls beziehen sich die Angaben stets auf ziemlich junge 
(Welander) oder bereits in sehr fortgeschrittenem Alter befindliche 
Frauen, bei welch letzteren ebenso wie bei Mädchen die schützende 
Hornschicht fehlt Es wäre ja auch denkbar, daß bei den erst¬ 
genannten jungen Personen eine Verhornung überhaupt nicht ein¬ 
getreten ist. 

Diese prädisponierenden Momente kommen bei den Prostituierten 
nicht oder nur in sehr geringem Maße in Betracht und es ist 
deshalb die gonorrhoische Vaginitis bei Prostituierten, 
deren Vaginalschleimhaut durch die häufigen Kohabitationen und 
Irrigationen äußerst widerstandsfähig gemacht wird, eine Er¬ 
krankung, die bei der Kontrolle unberücksichtigt blei¬ 
ben kann. 

Neisser hat im Verlauf von mehreren Jahren nur drei Fälle 
von gonorrhoischer Vaginitis beobachtet, desgleichen Wiener. 
Bumm sah innerhalb 10 Jahren drei Fälle, die übrigen statistischen 
Angaben, die sich zum größten Teil auf Prostituierte beziehen, 
habe ich in folgender Tabelle I zusammengestellt: 


Tabelle I. 


Name des Autors 

| Zahl der gonor¬ 
rhoischen P. P. 

Zahl der 
Vagin.-Fälle 

Bergh . . . 


63S 

26 

Carry . . . 


94 

2 

Fabry . . . 


42 

4 

Harttung . . 


143 

1 

Lochte . . 


42 

3 

Orlow . . . 


20 

3 

Schultz . . 


104 

i 9 

Steinschneider 


57 

I 1 

Welander 


1,_™ 

10 

Summe . . 


1214 

59 

Prozent ber. auf 
gonorrhoischeP.P. 

4>9°/o 

- 

Prozent ber. auf 
P. P. überhaupt . 

1,8*/. 

it 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


111 


Die gonorrhoische Bartholinitis beansprucht ein weit höheres 
Interesse bei der Kontrolluntersuchung. Ein großer Teil aller 
Prostituierten leidet in den ersten Jahren ihres Berufes längere 
oder kürzere Zeit an dieser Affektion. Es läßt sich dies schon 
dadurch nachweisen, daß zahlreiche ältere Prostituierte gewöhn¬ 
lich zwischen den großen und kleinen Schamlippen oder auch 
zwischen großer Schamlippe und Schenkelansatz, etwas nach hinten 
gegen das .Rektum, manchmal auch im Scheideneingang die narbigen 
Reste eines spontan durchgebrochenen oder operierten Bartholini- 
schen Abszesses zeigen, während man sehr häufig bei jüngeren 
Prostituierten die Bartholinische Drüse bezw. deren Ausführungs¬ 
gang als einen harten, haselnußgroßen auf Druck schmerzhaften 
Tumor tasten kann. Im akuten Stadium bietet die Bartholinitis 
ein so charakteristisches Bild dar, daß ich eine nähere Beschreibung 
wohl unterlassen kann. 

Bei der chronischen Form der Bartholinitis ist die Drüse, 
wie bereits angeführt, in vielen Fällen in einen kleinen Tumor 
verwandelt Der Ausführungsgang ist häufig als ein derber kurzer 
Strang im Scheideneingang zu fühlen. An der Ausführungsöffnung 
ist die Schleimhaut lippenförmig elektropioniert von braunrötlicher, 
manchmal auch livider glänzender Farbe. Oft bietet jedoch die 
chronisch erkrankte Drüse keine besonderen Symptome dar, auch 
die Beschaffenheit und Menge des auspreßbaren Sekretes ist für 
die Diagnose nicht entscheidend. 

Arning beschreibt acht Fälle, von denen nur in einem 
einzigen die klinische Diagnose möglich war. 

Die Gonokokken lassen sich gewöhnlich in dem Sekrete leicht 
nachweisen. Dieselben werden nach Hügel in 33 Prozent aller 
Fälle gefunden. 

Welander beschreibt 21 Fälle purulenter Bartholinitiden, bei 
denen jedesmal Gonokokken nachgewiesen wurden. Hügel hat 
auch an einem Material von 350 Bartholinitiden nachgewiesen, daß 
jede Bartholinitis gonorrhoischen Ursprungs ist. Ich habe in der 
Literatur nur eine ganz geringe Anzahl von Fällen finden können, 
bei denen der Ursprung sicher nicht gonorrhoischer Natur war 
(Bergh, Pollacek). 

• Das Verhältnis der gonorrhoischen Bartholinitiden zu den 
übrigen gonorrhoischen Affektionen wird mit ziemlich divergieren¬ 
den Zahlen angegeben. — Die Abszeßbildung kann sowohl im 
akuten als auch im chronischen Stadium nach einer zufälligen, 

9 * 


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112 


Baermann. 


plastischen Verklebung des Ausführungsganges eintreten. Sie wurde 
von Bergh unter 1251 Fällen 329 mal beobachtet, also in 
26,3 Prozent. 

Das Bestehen einer chronischen Bartholinitis ist, falls 
sie nicht nachgewiesen wird, für das erkrankte Individuum insofern 
von großer praktischer Bedeutung, als sie einen ständigen Aus¬ 
gangspunkt immer neuer Reinfektionen für Urethra und Cervix 
bildet, der bei Nichtbeachtung jahrelang bestehen kann und alle 
übrigen, selbst momentan erfolgreichen therapeutischen Eingriffe 
illusorisch macht. 

Da es bei der Behandlung der gonorrhoischen Prostituierten 
vor allem darauf ankommt, ihre Infektionsfähigkeit herabzusetzen, 
so halte ich es sowohl im Interesse der Prostituierten selbst als 
auch im Interesse ihrer Klienten für das richtigste, bei jeder 
gonorrhoischen Bartholinitis die totale Exstirpation vor¬ 
zunehmen. Ich halte sie bei der Einfachheit und bei der kurzen 
Heilungsdauer dieses Eingriffes für die sicherste und rascheste 
Therapie (Wolff). 

Aus den angeführten Gründen verlangt natürlich die Bartho- 
linische Drüse eine genaue Berücksichtigung bei der Kon¬ 
trolle und muß deshalb meiner Ansicht nach das Drüsensekret 
eben so oft wie das Urethral- und Cervikalsekret mikroskopisch 
untersucht werden. Durch die konsequent durchgeführte Exzision 
wird bald ein Teil der Prostituierten in dieser Beziehung überhaupt 
für die Untersuchung in Wegfall kommen. 

Ebenso soll jede klinisch diagnostizierte Bartholinitis 
einer mehrtägigen Hospitalbeobachtung überwiesen werden, da sie 
selbst bei momentan negativem Gonokokkenbefund als wahrschein¬ 
lich gonorrhoisch angesehen werden muß. Die folgende Tabelle II 
hat zu ihrem größten Teile Prostituiertenmaterial zur Grundlage. 


Tabelle II. 


Name des Autors 

Zahl der gonor¬ 
rhoischen P. P. 

Zahl d. Bar- 
tholinitisfälle 

Baermann . . . 

58 

5 

Bergh. 

1 4437 

429 

Bergh. 

: 693 

111 

Bergh. 

, 495 

62 

Bröse. 

86 

5 

Carry.1 

i 94 

i 4 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


113 


1 

Name des Autors j 

Zahl der gonor¬ 
rhoischen P. P. 

Zahl d. Bar¬ 
th olinitisfalle 

Harttung .... 

143 

20 

Huber. 

78 

3 

Lappe. 

694 

10 

Lochte .... 

9 

2 

Luczny .... 

47 

17 

Marschalko . . . 

161 

37 

Schultz .... 

104 

12 

Steinschneider . . 

! * 7 

1 

Strömberg . . . | 

j 159 

33 

Welander . . . j 

79 

21 

Summe .... | 

| 7374 

j 772 

Prozent ber. auf j 

10,5 % 


gonorrhoischeP.P. 1 

1 

I 

Prozent berechnet 
auf P. P. überhaupt 

8,8% 

i 

I 


Ich möchte gleich hier die Besprechung der Eektalgonorrhoe 
folgen lassen. 

Neisser (Staub, Lang) nach ihm Profeta und Bumm 
waren die ersten, welche auf diese Affektion hingewiesen haben. 
Ihnen folgten Baer, Huber, Neuberger und viele andere. Baer, 
der an einem großen Materiale gearbeitet hat, ist bei Verwertung 
desselben zu Prozentsätzen gekommen, die durch ihre Höhe mit 
allen übrigen kontrastieren. Er fand, daß 38,2 Prozent aller 
gonorrhoekranken Frauen an Eektalgonorrhoe leiden. Ihm am 
nächsten steht Huber mit 24,5 Prozent — 

Eine isolierte Rektalgonorrhoe fand Baer in 10,4 Prozent, 
Huber in 17,9 Prozent, Harttung in 33,3 Prozent der beobachteten 
Rektalgonorrhoeen. 

Baer stand mit seinen Angaben namentlich mit französischen 
Forschern im Widerspruch, die die Analgonorrhoe der Prostituierten 
als eine äußerst seltene Erkrankung auffaßten (Diday, Simonet, 
Martineau). Ihnen schließt sich Juliusburger an. — 

Jedenfalls ist die gonorrhoische Erkrankung der Rektalschleim¬ 
haut keine so ganz seltene Erscheinung, sie bietet nur im chro¬ 
nischen Stadium ein für den Nichteingeweibten so wenig charakte¬ 
risiertes Krankheitsbild, daß sie wohl häufig unrichtig gedeutet 
oder übersehen wird, zumal ihre Krankheitserscheinungen durch 
die gleichzeitig bestehende gonorrhoische Erkrankung des Genital- 


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114 


Baermann. 


traktus in ihrer Klarheit getrübt werden. Wenn man mit dem 
Spekulum die mäßig empfindliche Rektalschleimhaut entfaltet, so 
sieht man gewöhnlich streifenförmige Geschwüre, die dem Grunde 
der Falten entsprechend verlaufen; sie bieten den Gonokokken 
eine hartnäckige Lokalisation. Die gewöhnlich bei älteren Prosti¬ 
tuierten gefundenen im Analring sitzenden kahnformigen Geschwüre 
stehen nach neueren Untersuchungen fast stets mit einer durch¬ 
gemachten Syphilis in Beziehung. Sie werden mit durch die Ver¬ 
änderung der regionären Drüsen und auch der Blutgefäße bedingten 
Zirkulationsstörungen in Zusammenhang gebracht. Gonokokken 
wurden auf ihnen nicht nachgewiesen. Diese Geschwüre finden 
ein Analogon in den bei älteren Prostituierten gewöhnlich im Zu¬ 
sammenhänge mit elefantiastischen Prozessen stehenden Geschwüren 
der Vulva(Bandler, Waelsch, Nickel, Schuchardt,Tschlenow). 
Die genannten Geschwüre sind nicht zu verwechseln mit den be¬ 
züglich ihrer Ätiologie noch in Diskussion stehenden, hochsitzenden 
Rek tals triktur en. 

Als Entstehungsursache ist wohl für die meisten Fälle von 
Rektalgonorrhoe das Überfließen von gonorrhoischem Sekret aus 
der Scheide anzunehmen. Hierbei entstehen durch die Mazerationen 
kleine Schleimhautdeffekte, welche das Eindringen der Gonokokken 
erleichtern. In selteneren Fällen wird der Durchbruch eines 
Abszesses der Bartholinisehen Drüse den Anlaß geben; die 
Kohabitation kommt bei uns in Deutschland wohl weniger in 
Betracht. 

Wenn auch durch die Rektalgonorrhoe zu Infektionen wenig 
Anlaß gegeben wird, so ist doch im Interesse der Selbstreinfektion 
— zumal die isolierten Rektalgonorrhoen relativ keine so sehr 
seltene Erscheinung sind — eine 1—2 mal monatlich stattfindende 
Untersuchung der Rektalschleimhaut mit dem Spekulum und gleich¬ 
zeitiger Anfertigung von mikroskopischen Präparaten unbedingt zu 
fordern. 


Tabelle III. 


Name des Autors 

Baer. 

Baermann . . . 

Bergh. 


Zahl der gonor- Zahl d.Rektal- 
rhoischen P. P. gonorrhoen 


191 1 67 

58 2 

633 9 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


115 


Name des Autors 

Zahl der gonor¬ 
rhoischen P. p. 

Zahl d. Rektal 
gonorrhoen 

H&rttung .... 

143 

10 

Harttung .... 

85 

! 19 

Lappe . 

694 

1 1 

Schultz .... 

194 

I 27 ' 

Schultz .... 

200 

48 

Summe . . . . 

2198 

| 183 

Proz. berechnet auf ! 
gonorrhoischeP.P. j 

8,3 •/. 


Proz. berechnet auf 
P. P. überhaupt . 

2,9 •/. 



Am häufigsten wird, so weit es sich wenigstens aus stati¬ 
stischen Angaben ersehen läßt, die Urethra der Prostituierten 
infiziert. Ich selbst habe zwar bei meinen Untersuchungen nur 
eine ziemlich geringe Differenz zwischen den cervikalen und 
urethralen Gonorrhoen gefunden, und glaube, daß die geringere 
Anzahl der statistisch festgestellten Cervikalgonorrhoen dadurch zu 
erklären ist, daß die Cervikalgonorrhoen bisher nicht so häufig 
und genau bei der Untersuchung berücksichtigt wurden und die 
Untersuchung mehr oder minder wenig einwandsfrei war, daß 
ferner, wie zuerst von Bumm und dann von Wertheim angegeben, 
die Gonokokken vornehmlich bei Mitbeteiligung des Corpus-Uteri 
in dem Sekrete intermittierend auftreten. Schon dieser Umstand 
allein fordert eine häufige Untersuchung des Cervikal- 
sekretes. 

Ich halte die primäre Infektion des Cervikalkanales bei 
Prostituierten für häufiger und mehr naturgemäß, da bei der 
Cohabitation mit denselben gewöhnlich besondere Widerstände am 
Introitus nicht gefunden werden und deshalb dort für eine De¬ 
ponierung des männlichen gonorrhoischen Sekretes kein besonderer 
Anlaß gegeben ist Eine sekundäre Infektion der Urethra durch 
den Cervikalleiter ist ebenso leichter verständlich, als eine sekundäre 
Infektion des Cervikalkanales durch die zuerst erkrankte Urethra. 
Es wäre ja auch denkbar, daß die Zahlendifferenz daraus resultiert, 
daß die Gonokokken im Cervikalsekret rascher zum Zerfall kommen, 
indem demselben irgend welche, für den Gonokokkus bakterizide 
bezw. auflösende Eigenschaften zukommen. Die akute Urethral¬ 
gonorrhoe bietet manchmal bei jüngeren frisch infizierten Individuen 


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116 


Baermann. 


ein ziemlich typisches Bild — aber auch nur bei diesen. Sie kann 
aber auch ebenso wie die chronische Urethralgonorrhoe bei Fehlen 
aller klinischen Symptome bestehen. Selbst die von Jadassohn 
für unverdächtig angegebene rein epitheliale Sekretion bietet keine 
Garantie für das Fehlen von Gonokokken. Ich selbst habe bei 
einer Reihe von Fällen dieser Art die Gonokokken auf den großen 
gut erhaltenen Epithelzellen in dichten Haufen gelagert gefunden. 
Manchmal macht ein mehr oder minder starkes Ektropium der 
Urethralschleimhaut aufmerksam, manchmal weist die Umwandlung 
der Urethra in ein starres Rohr, das von neugebildeten Binde- 
gewebsschwarten gebildet wird, von vornherein auf eine chronische 
Erkrankung hin, aber wie bereits angeführt, sind auch diese und 
alle anderen beschriebenen Erscheinungen für eine sichere Diagnose 
in bezug auf die noch bestehende Infektiosität ohne Wert. Bei 
solchen Zuständen sind gewöhnlich die am Ausgang der Urethra 
sitzenden Skeneschen Drüsen mit ergriffen, durch die dann 
natürlich einem konstanten Rezidivieren der Infektion Vorschub 
geleistet wird. Es mag die Unterlassung einer Untersuchung der¬ 
selben bei der Hospitalbehandlung zum Teil die rasch eintretenden 
Rezidive erklären. 

Was die Infektionsgefahr für den Mann betrifft, so glaube 
ich, daß dieselbe von seiten der Urethra eine größere ist, als von 
seiten der Cervix, natürlich abgesehen von ganz akuten, cervikalen 
Erkrankungen. Ich glaube dies aus folgenden Gründen annehmen 
zu müssen: Das Cervikalsekret stellt gewöhnlich selbst bei reich¬ 
licher eitriger Beimischung eine ziemlich cohärente, kompakte 
Masse dar, die zu einem Eindringen in die Fossa navicularis wenig 
geeignet erscheint 

Das Urethralsekret, das ja zu seinem größten Teile aus 
zelligen Elementen besteht, bietet diesen Hinderungsgrund nicht, 
ferner wird es stets neu auf den Introitus deponiert und während 
der kurzen Eröffnung der männlichen Urethrallippen, die bei dem 
Eindringen der Glans durch den seitlichen Druck entsteht, in die 
Fossa gepreßt Ein derartiges mechanisches Moment wird während 
der Cohabitation selbst weniger in Frage kommen, da das Cervikal¬ 
sekret in der Regel sich im hinteren Scheidengewölbe ansammelt 
und deshalb bei der gewöhnlich vorhandenen oberen Erweiterung 
der Vagina zu Berührungen mit demselben weniger Anlaß gibt 

Die folgende Tabelle IV hat ebenfalls zum größten Teile 
Prostituiertenmaterial als Unterlage. 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


117 


Tabelle IV. 


Namfl Haa Aufnra 

Zahl der gonor- 

Zahl d. Urethral- 



rhoischen P. P. 

Gonorrhoen 

Baer . . . 

# 

ir 

j 100 

68 

Baermann 


118 

76 

Baer mann 


74 

69 

Bergh . . . 


683 

586 

Bröse . . . 


86 

74 

84 

Bumm . 


69 

Carry . . . 

• ■ 1 94 

69 

Fabry . . . 

. • 

42 

36 

Harttung . . 


143 

119 

Harttung . . 


85 

78 

Huber . . . 


78 

17 

Lappe . 


694 

622 

Lochte . . 


9 

2 

Luczny . . 


47 

40 

Marschalko . 


16t f 

99 

Neisser . . 


126 

83 

Schultz . . 


104 

77 

Schultz . . 


1 270 

203 

Steinschneider 


67 

54 

Strömberg . 


159 

141 

Welander 


46 

41 

Summe . . 

• • 1 

8700 

2578 

Proz. berechnet auf i 

1 69,5% 

i 1 


gonorrhoischeP.P. 


Proz. berechnet auf 

I 24,8 % 1 

1 


P. P. überhaupt . 



Die Unter8uchuDg bei bestehender Endometritis cervicis et 
corporis bietet einige Schwierigkeiten, die nicht nur durch das 
intermittierende Auftreten der Gonokokken bedingt sind, 
sondern auch in der rein praktischen Ausführung der Unter¬ 
suchung ihren Grund haben. 

Gewöhnlich bieten namentlich bei nicht sehr reinlichen 
Prostituierten die aus dem Cervikalsekret stammenden mikrosko¬ 
pischen Präparate ein derartig verworrenes Bild dar, daß dessen 
klare Deutung bei der Unmasse und der Verschiedenheit der in 
ihm enthaltenen Bakterien häufig unmöglich ist 

Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf ein sehr schätzbares 
technisches Hilfsmittel hinweisen, das uns die Untersuchung 


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118 


Baermann. 


des Cervikalsekretes erheblich erleichtert. Winter hatte die 
Keimfreiheit des Uterus nachgewiesen. Im Anschluß daran wurde 
von Menge und Stroganoff der Cervikalkanal oberhalb des 
äußeren Muttermundes auf seinen Bakteriengehalt untersucht und 
hierbei festgestellt, daß auch er für gewöhnlich keine Mikroorganismen 
beherbergt, selbst wenn das im Vaginalgewölbe enthaltene Cervikal- 
sekret von Bakterien überschwemmt ist 

Wenn man nun vor der Sekretentnahme den äußeren Mutter¬ 
mund energisch mit einem in Alkohol getauchten gestielten Tupfer 
reinigt und dann mit dem Untersuchungslöffel hoch im Cervikal¬ 
kanal hinaufgeht, so ist man fast stets sicher, ein eindeutiges und 
leicht übersehbares Präparat zu erhalten, vorausgesetzt, daß nicht 
tiefgehende Cervikalrisse vorhanden sind, die man ja bei Prosti¬ 
tuierten, von denen eine große Zahl ein oder mehreremale geboren 
hat, nicht allzu selten findet. Von den von mir untersuchten P. P. 
hatten von 292 geboren 118. Gravid waren, soweit sich dies durch 
die Untersuchung nachweisen ließ, 5. 

Alle Präparate, die reichlich Bakterien aufweisen, stammen 
nur aus der Gegend des äußeren Muttermundes und sind zu 
diagnostischen Zwecken wenig verwertbar. Es kommt hier noch 
der Umstand hinzu, daß die Gonokokken inmitten dieser großen 
Bakterienfiora in dem aus dem Cervix hervorquellenden mehr oder 
minder mächtigen Sekretbande meiner Ansicht nach ziemlich rasch 
zerfallen. 

Stammt dagegen das Präparat aus dem Cervikalkanale selbst, 
so bietet sich der Betrachtung folgendes charakteristisches Bild dar: 
In dem mehr oder minder reichlichen Schleim sind sehr dicht ge¬ 
lagerte, gut erhaltene Eiterkörperchen vorhanden, die nun Gono¬ 
kokken in sich beherbergen oder nicht; andere Bakterien sind 
nicht enthalten, denn unter gewöhnlichen Verhältnissen — mit 
Ausnahme von Schwangerschaft und Puerperium — vermag im 
allgemeinen nur der Gonokokkus aszendierend weiter zu schreiten. 
Reichliche Eiterkörperchen werden fast stets gefunden, da die 
meisten Prostituierten, wie bereits angeführt, an chronischer Endo¬ 
metritis leiden. 

Bei einer gewissenhaften Kontrolle muß in oben beschriebener 
Weise untersucht werden, zumal die technischen Manipulationen 
bei einiger Übung wenig Zeit in Anspruch nehmen, die noch dazu 
durch die raschere und leichtere Durchmusterung des Präparates 
kompensiert wird. 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


119 


Ein zweiter wichtiger Punkt für die Beurteilung der cervikalen 
Gonorrhoe der Prostituierten ist das eventuelle Übergreifen 
der Gonorrhoe auf die Korpusschleimhaut 

Bei der Beantwortung dieser Frage überhaupt stehen sich die 
Ansichten der Gynäkologen ziemlich schroff gegenüber. Während 
Zweifel, Fritsch und Bumm der Ansicht sind, daß dem Fort¬ 
schreiten der Gonorrhoe am inneren Muttermunde ein wirksames 
Hindernis entgegengesetzt wird, nimmt Wertheim an, daß der 
Uterus in den meisten Fällen von vornherein mit infiziert wird, ja 
daß sogar eine isolierte Infektion des Uterus möglich sei. 

Bumm fand bei 53 Prostituierten mit Cervikalgonorrhoe 16mal 
die Uterusschleimhaut infiziert, Schultz unter 26 Cervikalgonorrhoen 
7 intrauterine Infektionen. Bumm und Schultz fanden unter 294 
Cervikalgonorrhöen, die öfters untersucht wurden, 131 mal die Adnexe 
beteiligt, Harttungunter 85 Fällen 26mal, Schultz unter 104 
37 mal, unter 200 48 mal, Hammer unter 292 25mal, Bumm unter 
94 43 mal. Es ist hierbei zu berücksichtigen, daß ein Teil dieser An¬ 
gaben von gynäkologischer Seite stammt, die doch zum großen Teil 
nur sehr chronisch verlaufende Fälle zur Untersuchung bekommt. 

Ich selbst möchte mich der ersten Ansicht anschließen, zumal 
man ja häutig beobachten kann, daß bei lange vorher bestehender 
und subjektiv symptomloser Cervikalgonorrhoe eventuell im An¬ 
schluß an die Menstruation plötzlich unter starken Allgemein- 
erscheinungen eine Infektion des Uterus sich manifestiert Ferner 
gibt häufig das Puerperium Anlaß zu einem raschen Weiterschreiten 
auf Corpus und Tuben bei vorher sicher lokalisierter Cervikal- 
erkrankung. Dieser Entscheid ist insofern von Bedeutung, als man 
bei jeder Cervikalgonorrhoe sonst eventuell sofort eine Mitbehand¬ 
lung der Uterus-Cavum einleiten müßte, was in den letzten Jahren 
von Schultz und Marschalko, Par&di auch ziemlich konsequent 
und mit eigentlich gutem Erfolge durchgeführt wurde. 

Belangreich ist auch die Entscheidung, ob man Prostituierte, 
die sicher gonorrhoische Adnexerkrankungen aufweisen, 
dem Verkehr für lange Zeit bezw. bis zu mehr oder minder 
vollständigem Abklingen der Adnexerscheinungen dem Verkehr 
entziehen soll. Ich halte dies nur für so lange nötig, als in dem 
Cervikalsekret bezw. Uterinsekrete Gonokokken gefunden werden. 
Durch die von Schauta beschriebene bei Beginn der Adnex¬ 
erkrankungen sehr häufig zuerst auftretende Salpingitis isthmica 
nodosa wird gewöhnlich schon zu Anfang ein mehr oder minder 


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120 


Baermanii. 


vollkommener Verschluß der Tuben L herbeigeführt und somit die 
Gefahr einer stetigen Neuinfektion von den tubaren Eitersäcken 
her vermindert .Ferner haben die Untersuchungen Wassermanns 
ergeben, daß die Gonokokken in den abgeschlossenen tubaren 
Eitersäcken relativ rasch absterben. 

Wertheim hat 18 wegen gonorrhoischer Adnexerkrankung 
extdrpierte Uteri auf Gonokokken untersucht Er fand nur in 
sechs Fällen Gonokokken. Es ist wahrscheinlich, daß die Zahl 
dieser positiven Fälle noch eine erheblich geringere gewesen wäre, 
wenn eine antigonorrhoische Behandlung des Uterus-Cavum, der 
zwar ein großer Teil der Gynäkologen sehr skeptisch gegenübersteht, 
vorausgegangen wäre. Bröse und Schiller fanden in 10 Fällen 
von vaginaler Totalexstirpation (wegen gonorrhoischer Adnex¬ 
erkrankung) in 2 Fällen Gonokokken. Harttung fand bei 26 an 
gonorrhoischen Adnextumoren erkrankten Prostituierten 10 mal 
Fehlen von Gonokokken, Schultz bei 37 ebenfalls 10 mal, Hammer 
bei 25 2 mal. — 

Ich bin deshalb der Meinung, daß bei der Behandlung der 
Prostituierten die Uterusgonorrhoe lediglich als solohe ohne Be¬ 
rücksichtigung reaktionsloser Adnexerkrankungen in Angriff zu 
nehmen ist, denn es muß vor allem die Infektionstuchtigkeit 
aufgehoben werden. Fraglich ist nur, ob man von der intra¬ 
uterinen Behandlung Erfolge zu erwarten hat. 

Nachdem durch Bumm nachgewiesen wurde, daß sowohl bei 
der cervikalen als auch bei der intrauterinen Gonorrhoe die Gono¬ 
kokken nur ziemlich oberflächlich in den Lakunen der Drüsen¬ 
ausführungsgänge oder auf den durch Metaplasie der Corpusschleim- 
haut entstandenen Plattenepithelinseln liegen, ist eine Beeinflussung 
derselben durch die intrauterine, antiseptische Behandlung wohl 
zu erwarten. 

Bumms Angaben wurden zwar von der Wertheimschen 
Schule, die ein tiefes Eindringen der Gonokokken in Tuben- und 
Uterus wand (Submucosa, Muskulatur) annimmt und auch nach¬ 
gewiesen hat (Kraus u. a.), nicht akzeptiert 

Schultz hat aus der Bonaschen Klinik über gute Resultate 
nach intrauteriner Injektionsbehandlung berichtet, in letzter Zeit 
haben auch Marschalko und Paradi ihre ganz ausgezeichneten 
Erfolge mit dieser Behandlung publiziert Marschalko u. Parädi 
haben von vornherein bei jeder Cervikalgonorrhoe das Uterus- 
cavum mitbehandelt und sind hierbei zu einer durchschnittlich so 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


121 


niedrigen Behandlungsdauer der Cervikal- bezw. Uteringonorrhoen 
gekommen, daß man sie für die Behandlung Prostituierter, bei 
denen es doch vor allem darauf ankommt, möglichst schnell eine 
Keimfreiheit herbeizuführen, empfehlen kann. Jedenfalls wäre eine 
allgemeine Nachprüfung von großem Interesse. Die Zahl der Fälle, 
bei denen durch die intrauterine Behandlung eine Infektion der 
Tuben eventuell herbeigeführt wurde ist nach Marschalko sehr 
gering. Außerdem ist die Behandlung äußerst bequem und fordert 
sehr wenig Zeitaufwand, was für die oft sehr beschränkten Personal¬ 
verhältnisse einzelner Provinzialkrankenhäuser nicht zu unter¬ 
schätzen ist 

Wir selbst haben in letzter Zeit diese Behandlungsart mit 
vorläufig gutem Erfolg versucht, jedoch wäre bei der sehr kleinen 
Anzahl der beobachteten Fälle ein Urteil unsererseits verfrüht. 

(Schluß folgt) 


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Referate. 

Verbreitung der Geschlechtskrankheiten. 

Vito Serio. Der Ursprung der Syphilis. (Nach einem Referat i. d. Ztsch. „La 
Syphilis“ I, 2). 

Der Verfasser verwirft die Annahme, daß die Syphilis bereits im 
Altertum existiert habe; für ihn steht es vielmehr fest, daß die Lues 
vor Ende des 15. Jahrhunderts nicht bekannt war. 1495 trat in Neapel 
die fürchterliche Syphilisepidemie auf, über deren Ursprung die Autoren 
noch verschiedener Meinung sind. So glauben z. B. manche, daß die 
unter Ferdinand dem Katholischen aus Spanien vertriebenen Juden die 
Seuche nach Neapel eingeschleppt hätten; Serio hält das aber für aus¬ 
geschlossen, weil zwischen der Einwanderung der Juden und dem erst¬ 
maligen Auftreten der Krankheit ein Zeitraum von 3 Jahren lag; aus 
ähnlichen Gründen glaubt der Verf. auch nicht an den amerikanischen 
Ursprung der Lues; er bringt vielmehr den Feldzug Karls VIII. in ur¬ 
sächliche Beziehung zu der neapolitanischen Epidemie. Der Verf. erinne* t 
daran, daß — wie die Bakteriologie lehre — ein Keim nicht an und für 
sich entweder saprophyt oder pathogen ist, sondern daß Mikroorganismen, 
die gewöhnlich als saprophyt sich erweisen, gelegentlich, wenn sie einen 
günstigen Boden finden, auch pathogen werden können. So hat ein bis 
dahin harmloses Gift bei der französischen Armee, die infolge ihrer 
Zügellosigkeit aller Widerstandsfähigkeit des Organismus beraubt war 
und auch jedem anderen Gifte ohne weiteres zur Beute gefallen wäre, 
die Syphilis erzeugt. Daß diese so rasch eine enorme Verbreitung unter 
den Soldaten Karls VIII. gewann, war bei deren miserabler körperlicher 
und disziplinärer Verfassung fast selbstverständlich. Auf dem Rück¬ 
marsch haben die Truppen dann ganz Italien verseucht, zumal sich in 
ihrer Begleitung ein ganzes Heer von Prostituierten befand. Nach Frank¬ 
reich retour gekommen, wurden die Soldaten — meist fremde Söldner — 
in ihre Heimat entlassen und brachten die Lues somit in die fernsten 
Gegenden Europas. Von hier aus entstand dann die entsetzliche Welt¬ 
epidemie vom Jahre 1496. M. M. 

öffentliche Prophylaxe. 

C. Ströhmberg. Die Bekämpfung der ansteckenden Geschlechtskrankheiten im 
Deutschen Reich. Ferd. Enke. Stuttgart. 

Der erste Abschnitt des Buches enthält eine Besprechung der 
bekannten Guttsta dt sehen Statistik und gibt eine klare und präzise 
Schilderung der Symptome und Verbreitungswege der sexuellen Krank¬ 
heiten. 


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Referate. 


123 


Im zweiten Teile erörtert der Verf. zunächst die Ursachen für 
die enorme Verbreitung der Geschlechtsleiden und redet bei dieser 
Gelegenheit den evangelischen Jünglings- und katholischen Gesellen¬ 
vereinen das Wort, auf deren Wirken er z. B. die Tatsache zurück- 
führt, daß das Wuppertal, die Wiege aller derartiger Bestrebungen, in 
ganz auffallender Weise von den Geschlechtskrankheiten verschont blieb, 
obwohl es das betriebsamste und bevölkertste Tal Deutschlands ist. 

Ströhmberg sieht den Grund für das Umsichgreifen der vene¬ 
rischen Leiden in der Entwicklung Deutschlands aus einem Agrar- in 
einen Industriestaat; denn diese Umwandlung ist die Quelle des 
„Bevölkerungsstromes“, der eine große Menge antisozialer Elemente 
schafft, insofern die Lebensverhältnisse aller derer, die vom flachen 
Lande in die Städte ein wandern, so plötzlich und so wesentlich ver¬ 
ändert werden, daß für viele dieser Zuzügler von einer verständigen 
Würdigung der neuen Bedingungen keine Rede sein kann. Aus der 
bäuerlichen Naivität werde „proletarische Roheit und Frechheit“, und 
die für den gesellschaftlichen Organismus hochwichtigen Familientriebe 
werden vernichtet — nicht zum wenigsten unter dem Einfluß der Sozial¬ 
demokratie, deren Lehre von der „freien Liebe“ darauf ausgehe, anstatt 
den Mann zu dem Bestreben anzuspornen, nach besten Kräften sich 
allmählich dem höheren Sittlichkeitsniveau der Frau zu nähern, eine 
Gleichberechtigung der Geschlechter durch Herabsinkeu der Frau von, 
ihrem höheren sittlichen Standpunkt zu erreichen. (!) Der „Bevölkerungs¬ 
strom“ wirke somit in außerordentlich ungünstiger Weise auf die Sittlich¬ 
keit und Gesundheit sowohl der Männer wie der Frauen und trage 
ein gut Teil Schuld an der Zunahme des Verhältniswesens, von 
dem aus eine gerade Linie zur Prostitution führe. Zum anderen Teile 
seien die Trinkgewohnheiten der^Deutschen dafür verantwortlich zij 
machen. Sei man sich dieser im deutschen Volksleben gegenwärtig zu 
Tage tretenden Erscheinungen, welche insgesamt”der Entwicklung der 
Keuschheit hinderlich sind, bewußt, so ergebe sich daraus die Größe 
der Aufgabe, welche „dem deutschen Schulmeister“ obliegt. Denn ihn 
in erster Reihe fordert Ströhmberg zum Kampfe gegen die venerische 
Gefahr auf. Die sicherste Waffe gibt ihm die Biologie. Wenn über 
diese die Jugend belehrt und aufgeklärt wird, dann wird sie die Not¬ 
wendigkeit und den Nutzen der Enthaltsamkeit verstehen und gegen 
die physischen und moralischen Schädigungen/ die ihr drohen, sich zu 
schützen wissen. 

Aus dem Kapitel über die Prostitution^ ist hervorzuheben, daß 
der Verf. die größten Hoffnungen an das Fürsorgeerziehungsgesetz knüpft. 
Er glaubt, daß mit Hilfe dieses Gesetzes nach einigen Jahren 15 °/ 0 
sämtlicher Prostituierten unter Fürsorgeerziehung gebracht werden können 
und 35 °/ 0 aller frisch Syphilitischen für die Dauer der Ansteckungs¬ 
fähigkeit dem Verkehr entzogen würden. 

Das Buch wird, wie aus der kurzen Inhaltsangabe ersichtlich, reich¬ 
lich Anlaß zu entschiedenem Widerspruch geben; aber man wird es 
nicht aus der Hand legen, ohne mannigfache Anregungen empfangen 
zu haben. Die Darstellung ist gewandt und lebhaft. M. M. 


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124 


Referate. 


Die Redaktion hatte auf das in Bd. II, Heft 1 dieser Zeitschrift 
enthaltene Referat betreffend eine Broschüre des Dr. v. Niessen-Wies- 
baden von letzterem zwei seitenlange Zuschriften erhalten, die ihr Ver¬ 
fasser als „Berichtigungen“ bezeichnete. Wir konnten diese Elaborate 
nicht zum Abdruck bringen — nicht nur ihres Umfanges halber, sondern 
vor allem wegen ihres zur Wiedergabe in einer wissenschaftlichen Zeit¬ 
schrift ungeeigneten Tones: sie strotzten von Beleidigungen gegen unseren 
Herrn Referenten. Daraufhin ist uns eine dritte sogenannte „Berichtigung“ 
zugegangen. Wir hätten das Recht, auch diese zurückzuweisen, da sie 
sich überwiegend nicht gegen Tatsachen, sondern gegen Schlußfolgerungen 
des Herrn Referenten richtet und wiederum Beleidigungen des letzteren 
enthält Da wir jedoch die Korrespondenz mit Herrn Dr. v. Niessen 
gern schließen möchten, drucken wir diese „Berichtigung“ ab, indem 
wir es unsern Lesern überlassen, sich selbst ein Urteil über ihren Wert 
zu bilden. 

Berichtigung. 

Die Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten enthält 
in Bd. II, Heft 1, S. 50 eine Besprechung meiner Broschüre: „Womit 
sind die ansteckenden Geschlechtskrankheiten als Volksseuche im Deutschen 
Reiche wirksam zu bekämpfen?“ (Verlag von Gebrüder Lüdeking- 
Hamburg.) Die in dem Referat aufgestellten falschen Tatsachen sind 
dahin zu berichtigen: 

1. In dem Referat wird mir folgendes zugeschrieben: „v. Niessen 
behandelt die Syphilis als eine Krankheit, deren Ursache genau bekannt 
ist.“ — Gerade das Gegenteil habe ich ausdrücklich bedauert. 

2. wird mir in der Broschüre die „Forderung“ zugeschrieben, „daß 
die Syphilis von der Dermatologie sowohl in dem Universitätsunterricht 
und der wissenschaftlichen Forschung, wie namentlich auch in der ärzt¬ 
lichen Praxis getrennt werde.“ An einer anderen Stelle des Referates 
wird diese meine angebliche Forderung einer „grundsätzlichen Trennung 
der Syphilidologie von der Dermatologie“ wiederholt. — Diese mir 
imputierten Behauptungen sind von mir in der Broschüre nirgends 
zu lesen. 

3. Der Referent schreibt mir folgende Aussage zu: „Die Hautärzte 
sind nicht imstande, die Syphilis sorgfältig zu behandeln.“ — Eine solche 
Äußerung ist mir nicht in den Sinn gekommen und von mir nicht 
getan. — Die aus diesen mir unterstellten Behauptungen vom Referenten 
hergeleitete „Verdächtigung“ und „Erschütterung des Vertrauens der 
Patienten zu ihrem Arzt“ fällt also in sich zusammen. 

4. wird mir vom Referenten folgendes nachgesagt: „Die Furcht 
ist das beste Erziehungs- und Vorbauungsmittel bei der Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten.“ — Die betreffende von mir aufgestellte 
und vom Referenten entstellte Behauptung lautet dagegen: „Die Furcht 
ist eins der besten Erziehungs- und Vorbeugungsmittel bei der Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, selbst wenn sie weniger begründet 
wäre.“ Ich habe ad hoc nirgends die im Referat mir zu geschriebene 
Forderung aufgestellt: „Die Furcht soll den Menschen Keuschheit lehren.“ 


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Referate. 


125 


Die mir infolgedessen vorgeworfene „Verkennung der menschlichen Natur“ 
ist also völlig unberechtigt. 

Ich weise sonach die vom Referenten auf mich bezüglich ge¬ 
brauchten Ausdrücke: „gewichtige Fehler“, „grobe Irrtümer“, „Torheit, 
wenn nicht Verbrechen“ und „Verdächtigungen“ als auf falschen An¬ 
gaben beruhend, und zum Teil leichtfertige Beleidigungen enthaltend 
hiermit zurück. Dr. v. Niessen. 


Erwiderung. 

Ad 1. Auf S. 9 der Niessensehen Broschüre steht wörtlich 
folgendes: 

„Nachdem Prof. Neisser als Ursache des Trippers eine Pilzform, 
den Gonokokkus im Eiter nachgewiesen hatte, ist es dem Schreiber 
dieser Abhandlung erst in den letzten Jahren des abgelaufenen 
Jahrhunderts nach überaus mühevollen jahrelangen Unter¬ 
suchungen geglückt, auch die Ursache der Syphilis zu ent¬ 
decken.“ . . . 

„Jener Forscher (i. e. v. Niessen selber!) hat unbeirrt durch 
Mißerfolge, Fehler und Gegenströmungen mancher Art den 
Krankheitserreger jener Seuche aus dem Blute syphili¬ 
tischer Menschen rein gezüchtet und mit seinen Kulturen 
die Syphilis auf Affen, Schweine und ein Pferd übertragen 
können.“ — —!! — 

Ad 2. AufS. 12—18 verbreitet sich v. Niessen ausführlich über 
die Gründe, warum „oft zu wenig Aufhebens“ von der Syphilis ge¬ 
macht werde; woher es komme, daß die Syphilidologie von der wissen¬ 
schaftlichen Medizin vernachlässigt sei; weshalb namentlich die ursäch¬ 
liche Forschung nicht gefördert wurde; wieso die Studierenden eine 
„bislang völlig ungenügende Vorbildung“ hätten; u. ä. m. Alle diese 
Mißstände führt v. Niessen teils direkt, teils mittelbar darauf zurück, 
daß dieser Zweig der Medizin von den Dermatologen „mit Beschlag 
belegt wurde.“ Daß aus dieser Anschauung des Verfassers für ihn die 
Schlußfolgerung sich ergab, daß die Syphilidologie von der Dermatologie 
fortan also getrennt werden müsse, erschien mir allerdings unzweifelhaft. 
Wenn v. Niessen gegen diese Annahme sich verwahrt, so tut er 
m. E. nichts anderes als dagegen Einspruch erheben, daß ich 
von ihm Logik und Konsequenz erwartet habe. 

Ad 3. Um etwas „berichtigen“ zu können, hat v. Niessen mich 
falsch zitiert. Es ist unwahr, daß ich ihm die Aussage zu¬ 
geschrieben habe, „die Hautärzte sind nicht imstande, die Syphilis sorg¬ 
fältig zu behandeln.“ In meinem Referat steht vielmehr, daß v. Niessen 
behauptet habe, die Hautärzte seien, weil sie sich vorwiegend mit der 
Körperoberfläche beschäftigen, „bisweilen zu oberflächlich“, um die 
Lues sorgfältig behandeln zu können. Und so steht es wörtlich 
in der Niessenschen Broschüre auf S. 12, wo der Verfasser den 
Dermatologen sogar noch schlimmere Dinge als Oberflächlichkeit zum 
Vorwurf macht 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke. II. 10 


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126 


Tagesgeschichte. 


Ad 4. bekenne ich mich reumütig des Verbrechens schuldig, 
gesagt zu haben, Herr v. Niessen habe die Furcht als „bestes“ statt 
als „eines der besten“ Erziehungsmittel bezeichnet! An der Sache 
selbst wird aber dadurch nichts geändert. Denn mir kam es nur 
darauf an, festzustellen, daß der Verfasser der Furcht in Hinsicht auf 
die Pädagogik und die Moral eine Rolle beimißt, die ihr m. E. nicht 
zukommt. Ich habe gegen die Auffassung, daß von der Furcht eine 
Förderung der „Keuschheit“ zu erwarten sei, wie dieses v. Niessen 
auf S. 19 annimmt, Widerspruch erheben wollen. 

Herr v. Niessen hat mich „mißverstanden“, wenn er meint, 
ich hätte ihm „Torheit, wenn nicht Verbrechen“ vorgeworfen! Das 
war mir gar nicht eingefallen. Es geht aus dem Zusammen¬ 
hänge klar hervor, daß diese Worte sich überhaupt nicht auf den 
Verfasser der Broschüre beziehen. 

Den von Herrn v. Niessen gerügten Ausdruck „Verdächtigung“ 
halte ich, weil durchaus berechtigt, aufrecht und verweise zum Beleg 
auf die sub 3 erwähnten Stellen in der Broschüre. 

Daß die Schrift des Herrn v. Niessen „grobe Irrtümer“ und 
„gewichtige Fehler“ enthält, ist nun einmal meine ganz unmaßgebliche 
Überzeugung. So betrachte ich es z. B. für einen „groben Irrtum“, 
die Syphilis für eine „absolut unheilbare“ Krankheit zu erklären, 
und ein „gewichtiger Fehler“ ist es nach meinem Dafürhalten 
— auch hier nur ein Beispiel für viele! — wenn ein Arzt in 
einer für Laien bestimmten Broschüre wiederholt und nachdrücklich 
vor dem „übertriebenen Quecksilbergebrauch“ warnt und diesem 
sogar „ein gut Teil der Schuld beim Ausbruch trauriger Katastrophen“ 
beimißt. Dr. Max Marcuse. 


Tagesgeschichte. 

Deutschland. 

Berlin. In den letzten Tagen des Oktober fand in Berlin die 
deutsche Nationalkonferenz zur internationalen Bekämpfung 
des Mädchenhandels statt. Über den ersten Punkt der Tagesordnung: 
Stand der Frage der Bekämpfung des Mädchenhandels, berichtete Major a. D. 
Wagen er-Berlin. Für das bayerische Landeskomitee erstattete den 
Bericht Unterstaatssekretär Prof. Dr. v. Mayr; für Sachsen Pastor Mätzold, 
für Elsaß-Lothringen Kanonikus Dr. Müller-Simonis, über den jüdischen 
Zweigverein Sanitätsrat Dr. Maretzki. Letzterer Bericht beschäftigt sich 
besonders mit den galizischen Verhältnissen und zeigte, daß der jüdische 
Zweigverein bemüht ist, nicht nur gegen den Mädchenhandel als Sym¬ 
ptom, sondern auch gegen seine Ursachen, die wirtschaftliche Not und das 
tiefe Bildungsniveau der galizischen Juden, anzukämpfen. Probst Guss- 
mann berichtete über das Komitee in Buenos Aires, das international 
und interkonfessionell ist, weil dort der internationale Ring der Mädchen- 


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Tagesgeschicbte. 


127 


händler sieb befinde. Diese gingen mit großer Verschmitztheit vor und 
verkleideten die Mädchen sogar als Nonnen. Leider wäre in Argentinien 
zurzeit nichts zu erreichen, da zwei Richter in Buenos Ayres mit den 
Mädchenhändlem gemeinsame Sache machen. Die Übelstände seien dort 
so weit gediehen, daß von der argentinischen Regierung jetzt ein Gesetz¬ 
entwurf ein gebracht sei, wonach jeder Mädchenhändler mit sechs Jahren 
Zuchthaus und Entziehung seiner sämtlichen Habe bestraft werden solle. 
Prof. v. Ullmann sprach über die strafrechtliche Bekämpfung des 
Mädchenhandels; auf seinen Antrag wurde folgender Beschluß gefaßt: 
„Die Nationalkonferenz spricht ihre Überzeugung aus, daß eine wirk¬ 
same Bekämpfung des Mädchenhandels die Ausdehnung des 
Tatbestandes dieses Verbrechens auch auf die Fälle der Ein¬ 
willigung einer großjährigen Frauensperson notwendig fordert. 
Die Nationalkonferenz beschließt gleichzeitig die Mitteilung ihres Be¬ 
schlusses und ihrer Verhandlungen an das Reichsjustizamt mit der Bitte 
um Kenntnisnahme und geneigte Würdigung bei der bevorstehenden 
Reform des Deutschen Strafgesetzbuches.“ 

Köln. Außerordentlich interessant verlief eine Sitzung des All¬ 
gemeinen Deutschen Frauenvereins zu Köln, in welcher die Regle¬ 
mentierungsfrage erörtert wurde. Das Referat hatte Frau Flemming, 
Hamburg, übernommen, die zu folgenden Vorschlägen kam: 

1. Geheime Anzeigepflicht der Arzte über jeden Fall von Venerie, 
d. h. Mitteilung der Fälle ohne Namensnennung zum Zwecke einer zu¬ 
verlässigen Statistik. 

2. Ausdehnung des § 300 (welcher von dem Berufsgeheimnis 
handelt) auf die Angestellten der Krankenkassen. 

3. Abänderung des § 180: „Das Vermieten einer Wohnung an 
eine Prostituierte soll nicht strafbar sein, sondern nur der polizeilichen 
Meldepflicht unterliegen/ 4 

4. Aufklärungsagitation im weitesten Sinne. 

5. Abänderung der Wohnungsgesetze dahin, daß auch bei Nacht 
eine Revision unternommen werden kann. 

6. Erhöhung des Schutzalters auf 16 Jahre. 

7. Einsetzung einer Sanitätskommission zur Überwachung der Pro¬ 
stitution. 

8. Unentgeltliche Behandlung aller Prostituierten. 

9. Zusammenarbeit der Kommission mit den Rettungsanstalten. 

10. Das Studium der venerischen Krankheiten soll als Examenfach 
im medizinischen Studium stärker betont werden. 

11. Die Unterstellung der Prostituierten unter Kontrolle soll nur 
durch Richterspruch erfolgen können. 

12. Die Krankenkassen sollen durch ihre Kontrolleure auf Heran¬ 
ziehung der Männer zu ärztlicher Behandlung wirken. 

13. Die Frauen vereine sollen den Vorschlag von Prof. v. Liszt 
behufs Strafbarkeit der Gefährdung durch Ansteckung unterstützen. 

Die Diskussion bewies, daß die Mehrzahl der Frauen sich nicht 
leicht von dem Abolitionismus abbringen läßt. Die Erörterung war eine 

10* 


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128 


Tagesgeschichte. 


außerordentlich lebhafte UDd führte zur Annahme der Punkte 1, 2, 4, 
6, 8, 10, 12, 18. Punkt 8 wurde abgeändert in „unentgeltliche Be¬ 
handlung aller mittellosen Geschlechtskranken“; bei Punkt 13 wurde 
die Einschränkung gemacht, daß die venerische Ansteckung Antrags¬ 
delikt sein müsse. Die in regiementaristischem Sinne gehaltenen Punkte 
wurden mit großer Majorität verworfen. 


Nürnberg. Auch in Nürnberg auf der dort stattgefundenen 
allgemeinen Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine 
wurde die Prostitutionsfrage in die Erörterung eingezogen. Unter anderem 
wurde unter Ziffer 12 folgende Resolution gefaßt: 

„Die Delegiertenversammlung bedauert, daß die Frankfurter Ver¬ 
sammlung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten so wenig Resultate gezeitigt und unter dem Beifall einer 
großen Anzahl der Teilnehmer teilweise Äußerungen gebracht hat, die 
als Verirrung des sittlichen Urteils und als Vergiftung des Volks¬ 
gewissens bezeichnet werden müssen. Nichtsdestoweniger hegt sie das 
Vertrauen, daß auch dieser Verein, dessen Gründung sie begrüßt hat, 
sich allmählich zur Klarheit und Entschiedenheit des christlich-sittlichen 
Urteils durchringen werde.“ Es wurde betont, daß der Standpunkt 
der Konferenz von dem des Vereins insofern verschieden sei, als letzterer 
die Prostitution als notwendiges Übel betrachtet. 


Stuttgart. Nach längerer Probezeit ist aus der Mitte des Hilfspflege¬ 
rinnenverbandes eine Assistentin am Stuttgarter Stadtpolizeiamt ange¬ 
stellt worden. Die Aufgabe der Polizeiassistentin ist es, dafür zu 
sorgen, daß im Umgang mit den eingelieferten weiblichen Personen Sitte 
und Anstand nicht verletzt werden. Sie hat den polizeiärztlichen Unter¬ 
suchungen beizuwohnen und das Recht, an zuständiger Stelle ihre 
Meinung zu äußern, wenn sie Bedenken gegen eine Untersuchung hegt 
oder dieselbe im umgekehrten Falle für notwendig erachtet. Es handelt 
sich bei ihrer Stellung um eine Überwachung sämtlicher beim Stadt¬ 
polizeiamt eingelieferten weiblichen Personen. Hierunter sind nicht nur 
diejenigen zu verstehen, welche eine Strafhaft im Stadtpolizeigefängnis 
zu verbüßen haben, sondern namentlich auch solche, welche als geschäffcs- 
und unterkunftslos vorgeführt und wieder auf freien Fuß gestellt werden 
und diejenigen, die an andere Behörden abzuführen sind. Die Haupt¬ 
aufgabe der Assistentin besteht darin, diesen Frauen, die wegen der 
verschiedensten Vergehen eingeliefert wurden und in vielen Fällen bereits 
tief gesunken sind, die Hand zu bieten, um wieder ein geordnetes Leben 
beginnen zu können. Was speziell die gefallenen Frauen anbetrifft, so 
handelt es sich in vielen Fällen um junge Mädchen im Alter von 
17—18 Jahren, die aus Not, Unvernunft, Verführung oder Überredung 
deD Weg zur Unzucht betreten haben, Auch die Tanzstunde, schlechte 
Lokale und WohnungsVermieterinnen spielen hier eine große Rolle. 
Hauptsächlich von diesen jugendlichen Personen sind viele einem 
Besserungs versuch zugänglich. Mit grosser Freude ist es zu begrüßen, 
daß einzelne Hausfrauen sich bereit erklärt haben, solche Mädchen als 


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Tagesgeschichte. 


129 


Dienstboten in ihr Haus zu nehmen, und es wäre dringend zu wünschen, 
daß diese guten Beispiele auch in weiteren Kreisen Nachahmung fänden. 

Mit der Anstellung einer Polizeiassistentin in Stuttgart ist ein 
erster Schritt zur Bekämpfung des Übels getan, doch ist es ein dringendes 
Bedürfnis, daß die gute Sache auch mit Geldmitteln Unterstützung findet, 
da nicht nur mit Rat, sondern auch mit der Tat gedient sein muß. 
Es werden nämlich oft Frauen eingeliefert, die entweder nur ganz 
notdürftig oder so schmutzig bekleidet sind, daß eine sofortige Ab¬ 
hilfe nötig wird, denn eine geordnete Kleidung ist die erste Voraus¬ 
setzung, will man die Person in geordnete Bahnen lenken. Eine an¬ 
ständige Kleidung erfordert aber Geldmittel. Der Assistentin müßten 
hierfür Beiträge zur Verfügung stehen. Denn würde die Gefallene sich 
selbst überlassen oder zu irgend einer Vermieterin gebracht werden, so 
ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie wieder der Versuchung anheim¬ 
falle und verloren bleibt. Eine große Hilfe ist es, daß das städtische 
Armenamt die Bereitwilligkeit gehabt hat, Personen, deren Unterbringung 
sich nicht sofort bewerkstelligen läßt, in die Beschäftigungsanstalt auf¬ 
zunehmen, wo sie bei geeigneter Tätigkeit uDter guter Obhut so lange 
bleiben können, bis ihre nächste Zukunft entschieden ist Ein großes 
Entgegenkommen findet die Assistentin auch bei der Stuttgarter Geistlich¬ 
keit In Ausnahmefällen hat sich die Polizeiassistentin auch der männ¬ 
lichen Eingelieferten anzunehmen, Dämlich dann, wenn diese den Eindruck 
machen, daß ein Versuch, auch sie der menschlichen Gesellschaft zurück¬ 
zugewinnen von Erfolg sein könnte. So hat sie von männlichen Ein¬ 
gelieferten in Stellung gebracht fünf, von denen einer sich sehr bewährt 
hat, in die Heimat gesandt einer, welcher daselbst geblieben ist, in eine 
Trinkerheilanstalt einer, welcher voraussichtlich nach einigen Monaten 
als geheilt entlassen wird. 

Die Dienstzeit der Assistentin ist in der Regel morgens von 7 bis 
10 7s Uhr, nachmittags zwischen 4 und 6 Uhr und abends von 9—11 Uhr 
im Stadtpolizeigebäude. Sie kann jedoch immer in dringenden Fällen 
— auch nachts — telephonisch gerufen werden. Die freien Stunden 
verwendet sie auf Erledigung der Korrespondenz, Nachforschungen, Auf¬ 
suchen der Mädchen, mit denen sie in Fühlung bleibt, Besuche im 
Spital usw. Auch ist sie vielfach außerhalb Stuttgarts in Anspruch 
genommen, sei es behufs Besprechungen, oder um ein Mädchen in 
Stellung, zu ihren Angehörigen oder in eine Rettungsanstalt zu be¬ 
gleiten. Auch hierfür bedarf es der Mittel! Eine Erweiterung ihres 
Wirkungskreises ist in letzter Zeit noch dadurch entstanden, daß die 
Assistentin von der KgL Stadtdirektion und dem Kgl. Amtsgericht die 
Ermächtigung erhalten hat, in geeigneten Fällen auch diejenigen Mädchen 
und Frauen, mit denen sie bereits in Verbindung stand, in den Ge¬ 
fängnissen aufzusuchen. Über ihre gesamte Tätigkeit hat sie Buch zu 
führen und dieses allmonatlich dem Vorstand des Stadtpolizeiamtes zur 
Einsichtnahme vorznlegen. 

Seit dem Antritt ihres Postens, 20. Februar, bis 1. Oktober d. J., 
ist sie in 407 Fällen tätig gewesen, davon hat sie in Stellung gebracht 
13 weibliche Personen, von denen vier sich bewährt haben; in die 


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130 


Tagesgeschich te. 


Heimat sieben, von denen sechs daselbst geblieben sind; und in Heil¬ 
anstalten drei; also dürfen die Erfolge gleich 5°/ 0 gerechnet werden. 
Die Statistik gibt ein anschauliches Bild von den Mühsalen und Ent¬ 
täuschungen, aber auch von den mancherlei dankbaren Resultaten, die 
erzielt worden sind. 


Hamburg. Der „Berliner Volkszeitung“ wird unterm 27. Nov. 1903 
aus Hamburg folgendes berichtet: Der Hamburger Grundeigentümer A. 
hatte die Polizei auf Schadenersatz in Höhe von 100000 Mk. verklagt, 
weil sie in der Nachbarschaft seines Grundstückes in der Ulrikusstraße 
den Bordellbetrieb zulößt und weil dadurch das A.sche Grundstück 
erheblich entwertet wird. Es wurde in den Verhandlungen von 
dem Kläger nachgewiesen, daß die Polizei die Bordellwirte gewisser¬ 
maßen konzessioniert und dass sie die Prostituierten insofern zwingt, 
die Bordelle zu bevölkern, als sie von den unter Sittenkontrolle stehenden 
Mädchen verlangt, in polizeilich genehmigten und den sitteDpolizeilichen 
Vorschriften entsprechenden Logis und Häusern, das sind eben die 
Bordelle, Wohnung zu nehmen, wofern sie nicht wegen Übertretung 
sittenpolizeilicher Vorschriften bestraft werden wollen. Das Landgericht 
kam zur Abweisung der Klage. Es gestand — im Gegensatz zu den Er¬ 
klärungen des Hamburger Bürgermeisters Dr. Burchard im Reichstage — 
zu, das zwischen den Hamburger Beherbergereien und einem Bordell 
keinerlei begrifflicher Unterschied existiere. Aber es kam zu der An¬ 
sicht, daß die Polizeibehörde für einen durch die Bordellwirtschaft in 
der Ulrikusstraße dem Kläger entstandenen Schaden nicht verantwortlich 
sei. Denn: erstens habe die Polizei sich durch die Kasernierung der 
Prostitution keiner wider die gute Sitte verstoßenden Handlung 
schuldig gemacht, sondern die Kasernierung sei gerade aus gesund- 
heits-, sitten- und ordnungspolizeilichen Gründen erfolgt; zweitens mache 
die Polizei sich auch durch die weitere Duldung des Bordellbetriebes 
keiner unerlaubten Handlung schuldig. Zu einer Anklageerhebung 
gegen die Bordellinhaber aus dem Kuppeleiparagraphen sei lediglich 
die Staatsanwaltschaft imstande, der Vorwurf der Unterlassung einer 
solchen Anklage könne sich deshalb nur gegen die Staatsanwalt¬ 
schaft richten, zumal die Polizei nicht einmal beschuldigt werden könnte, 
über eine strafbare Handlung — die Kuppelei der Bordellwirte — 
geschwiegen zu haben, denn jedermann kenne in Hamburg die fraglichen 
Zustände. Den ihn schädigenden Bordellbetrieb in seiner Nachbarschaft 
könue der Kläger bekämpfen, indem er gegen die benachbarten Bordell¬ 
wirte auf Unterlassung klage. — Die Polizeibehörde, die Widerklage 
auf Feststellung, daß dem Kläger keinerlei Schadenersätzenspräche Zu¬ 
ständen, erhoben hatte, wurde unter Abweisung dieser Widerklage zu */ 3 , 
der Kläger unter Abweisung der Klage zu 1 / 3 der Kosten verurteilt. 

Der Prozeß wird zunächst an die höhere Instanz gelangen. Die 
Angelegenheit wird ferner sowohl die Hamburger Bürgerschaft wie den 
Reichstag beschäftigen. 


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Tagesgeschichte. 


131 


München. Eine neue Verurteilung wegen Übertragung von 
Geschlechtskrankheiten. Das Landgericht München I verurteilte 
den Dienstknecht Johann Gleixner, der in Unterbiberg mit zwei Dienst¬ 
mädchen geschlechtlich verkehrte, obwohl er an Gonorrhoe erkrankt 
war, so daß eins der Mädchen angesteckt wurde und das Krankenhaus 
aufsuchen mußte, wegen eines Vergehens der fahrlässigen Körperver¬ 
letzung zu zehn Monaten Gefängnis. Der Strafantrag war von dem 
Vater des erkrankten Mädchens gestellt. 

Frankreich. 

Am 5. November hat die außerparlamentarische Kommission, welcher 
in dieser Zeitschrift wiederholt Erwähnung getan wurde, ihre Sitzung 
abgehalten. Es fand, wie zu erwarten war, eine außerordentlich leb¬ 
hafte Diskussion zwischen den Reglemeutaristen und Abolitionisten statt, 
welche dazu führte, daß die Herren Fournier und Augagneur be¬ 
auftragt wurden, möglichst schnell einen vorläufigen Bericht über den 
Einfluß resp. die Wirkungslosigkeit der Reglementierung in Hinsicht 
auf die Geschlechtskrankheiten abzufassen. Der Abgeordnete für den 
Kreis Aube, Paul Meunier, befürwortete, daß eine Enquöte über diese 
Frage veranstaltet werde, in welcher nicht nur die medizinischen, sondern 
auch die verwaltungs- und sittenpolizeilichen Gesichtspunkte berücksichtigt 
werden sollen. „Die öffentliche Meinung und das Parlament, 44 so sagte 
der Abgeordnete Meunier, „wollen, daß man die ehrbaren Frauen auf 
der Straße respektiert. Diese Angelegenheit können wir nicht länger 
unerledigt lassen; man muß sie unverzüglich einer sorgfältigen Prüfung 
unterziehen, und es ist nötig, beute noch einen Berichterstatter für diese 
Frage der persönlichen Freiheit zu designieren. 44 Die Kommission nahm 
diesen Antrag an und beauftragte Meunier selber damit, in einem 
dritten Bericht über die Tätigkeit der Sittenpolizei in Paris und den 
Missbrauch der Amtsgewalt, dessen sich ihre Organe schuldig machen, 
zu referieren. 

Holland. 

Amsterdam. Zu den Pflichten, deren Erfüllung das seit einigen Jahren 
in Holland am Ruder befindliche „christliche Kabinett“ als Gewissenssache 
betrachtet, gehört dio Bekämpfung der Prostitution. Es sollen 
der Volksvertretung bald dementsprechende Vorlagen zugehen. Zur Be¬ 
urteilung der Wirkung der in Aussicht genommenen Maßregeln bietet die 
Stadt Amsterdam beherzigenswertes Material. Vor etwa 1 l j 2 Jahren 
faßten die städtischen Behörden den Beschluß, die öffentlichen Häuser 
zu unterdrücken; der Anstoß zu diesem Beschlüsse ging von einem 
Arzte aus, der als „Wethouder für öffentliche Arbeiten 44 auch sitten¬ 
polizeiliche Obliegenheiten hat. Die größeren öffentlichen Häuser Amster¬ 
dams hatten die gegen sie gerichteten Maßregeln dadurch zu umgehen 
gesucht, daß sie sich plötzlich in „Hotels 44 umwandelten, in denen die 
weiblichen Insassen die Rolle von „Zimmermädchen 44 oder „Weißzeugver¬ 
walterinnen 44 spielten. Es half ihnen aber nichts, denn sie erhielten 


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132 


Tagesgeachichte. 


einen aus zwei Polizisten bestehenden Wachposten vor die Tür, der 
nicht von der Stelle wich, jedermann hinausließ, aber niemanden ein¬ 
ließ und auf diese Weise die berüchtigten Häuser förmlich aushungerte. 
Eines um das andere mußte die Tore schließen, und äußerlich schien 
somit das beabsichtigte Ziel erreicht zu sein. Aber freilich nur äußer¬ 
lich, denn was man unter Anwendung von Gewalt durchgesetzt hatte, 
blieb Stückwerk. In einzelnen Straßen Amsterdams befinden sich zahl¬ 
reiche kleine Bierwirtschaften, in deren unterem Raum kaum ein Tisch 
und ein paar Stühle Platz finden; am Fenster aber sitzen einige Sirenen 
und laden den Vorbeigehenden zum Besuch ein. Wer eintritt, wird 
rücksichtslos ausgeplündert, und wenn dies in belebten Straßen geschehen 
kann, kann man sich ungefähr denken, wie es in den kleineren engen 
Gassen zugehen mag, wo außerdem noch das Zuhältertum floriert. Die 
weiblichen Insassen dieser „Restaurants“ oder „Bierhäuser“ sind zu einem 
großen Teil Deutsche und werden durch Ankündigungen in deutschen 
Blättern als „Kellnerinnen“ mit Gehalt und freier Station und unter 
Zusicherung des „Familienverkehrs“ nach Amsterdam gelockt, wo sie 
bald nach ihrer Ankunft gewahr werden, in welche Hände sie geraten 
sind. Es muß leider gesagt werden, daß die größte Anzahl der Besitzer 
oder Führer solcher Bierhäuser Deutsche sind. Vor einigen Jahren ge¬ 
lang es, ein solches Individuum, das sich aus der Gilde der Hausknechte 
zum mehrfachen Hausbesitzer in Amsterdam emporgeschwungen hatte, 
auf dem Bahnhof in Köln zu verhaften, aber die meisten ziehen es 
wohlweislich vor, frisches Material durch Agenten oder Agentinnen, die 
in Deutschland ansässig sind, zu besorgen. Auf dem Bahnhof in Amster¬ 
dam befinden sich zwar bei Ankunft eines jeden aus dem Auslande 
kommenden Zuges einige durch äußere Abzeichen kenntliche Damen, 
die sich der fremden Mädchen annehmen, aber so lobenswert derartige 
Bestrebungen sind, die Dinge bleiben im großen ganzen doch so, wie 
sie sind. Hier müßte von Obrigkeits wegen mit aller Schärfe einge- 
griffen werden; das Fremdengesetz bietet der Polizei jeden Augenblick 
die Möglichkeit, die ausländischen Besitzer solcher Häuser über die 
Grenze zu schieben. Ab und zu rafft sich zwar die Polizei auf, hält 
eine Razzia und bringt einige Dutzend „Kellnerinnen“ über die Grenze; 
sie kommen jedoch alsbald wieder nach Holland, da die Rückkehr straf¬ 
los ist. Den Hauptschuldigen wird kein Haar gekrümmt. Wenn 
Dr. Kuyper hier mit eisernem Besen einmal ausfegen würde, würde er 
sich ein mit Worten nicht zu beschreibendes hohes Verdienst erwerben. 
Wie die Dinge im Augenblick liegen, ist es noch viel schlimmer als 
vor der Schließung der immerhin noch unter polizeilicher Aufsicht ge¬ 
standenen Häuser. Voss. Ztg. Nr. 520. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903/4. Nr. 4. 


Oie Gonorrhoe der Prostituierten. 

Von 

Dr. Gustav Baermann (Breslau). 

(Schluß.) 

Es ist wahrscheinlich, daß auch ein Teil der Fälle bei gleich¬ 
zeitig bestehender Adnexerkrankung spontan ausheilt, dafür sprechen 
die von Lochte an alten Prostituierten, die mehrere Jahre ihr 
Gewerbe nicht mehr ausgeübt, vorgenommenen Untersuchungen. 
Daß aber andererseits die Gonokokken sehr lange Zeit sowohl in 
der Urethra als auch im Cervix und wahrscheinlich auch im Uterus 
fortbestehen können, dafür sprechen einerseits die in manchen 
Fällen absolut erfolglosen therapeutischen Eingriffe, ferner die 
gleichfalls von Lochte veröffentlichten Untersuchungen an gefangenen 
Prostituierten. Derselbe fand bei einer seit 20 Monaten internierten 
Puella Gonokokken in der Urethra, bei einer seit 9 Monaten inter¬ 
nierten in der Cervix, bei einer seit 6 Monaten internierten Gonor 
kokken in der Urethra. 


Bumm beobachtete 

53 gonorrhoische Frauen 5 Monate lang 

und sah nach dieser Zeit 

in 75 Prozent eine Infektion des Cervikal- 

kanals, in 15 Prozent eine Infektion des Uterus eintreten. 


Tabelle V. 



Zahl d. Cervical- 
Gonorrhoen 

Baer .... 

100 1 

60 

Baermann . . 

118 | 

69 

Baermann . . 

74 

43 

Bergh .... 

633 

117 

Bröse .... 

86 1 

31 

Bumm .... 

74 

69 


Zeitschr. f. Bekämpfung d. Qeschlechtskrankh. II. 11 


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134 


Baermann. 



Zahl d. Cervical- 
Gonorrhoen 

Carry. 

94 

82 

Fabry. 

42 

18 

Harttung .... 

143 

61 

Harttung .... 

85 

52 

Huber. 

78 

7 

Lappe . 

694 

335 

Lochte .... 

9 

6 

Luczny .... 

47 

19 

Marschalko . . . 

161 

108 

Neisser .... 

126 

77 

Schultz .... -b 

104 

82 

Steinschneider . . 

57 

18 

Strömberg . . . 

159 

52 

Welander . . .:4# 

46 

20 

Summe .... 

2940 

| 1336 

Proz. berechnet auf 
gonorrhoi8cheP. P. 

45,4% 


Proz. berechnet auf 

P. P. überhaupt . 

16,2 % 



Nach dieser detaillierten Darstellung der einzelnen Erkrankungs¬ 
herde möchte ich mir erlauben, die aus den einzelnen Tabellen 
gewonnenen Prozentzahlen, die sich ja nur auf gonorrhoische In¬ 
dividuen beziehen, dadurch praktisch verwertbar zu machen, daß 
ich dieselben in ein Verhältnis zu dem Prozentsätze bringe, der 
gewöhnlich bei polizeilichen Untersuchungen als Verhältniszahl für 
Gesunde und Gonorrhoekranke gefunden wurde. — 

Diese Durchschnittsziffer beträgt nach unten stehender Ta¬ 
belle VI 35,9 Prozent. 


Tabelle VI. 


Name des Autors 

Zahl der bei der polizei- 
ärztlichen Kontrolle 
untersuchten P. P. 

Zahl der 

gonorrhoischen P. P. 

Baermann. 

393 

i 118 = 30 % 

Büttner. 

35 

! 19 = 54,28% 

Goldschmitt. 

75 

17 = 23 % 

Lochte. 

70 

27 = 38,57% 

Neisser. 

527 

216 = 37,76% 
(Außerdem waren 57 verdächtig.) 

Neisser. 

(Nur Urethra untersucht.) 

57« 

110 = 19 % 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


135 


Name des Autors 


Zahl der bei der polizei 
ärztlichen Kontrolle 
untersuchten P. P. 


Zahl der 

gonorrhoischen P. P. 


Neisser., 

188 

85 = 34,6 % 

(57 hiervon waren nur verdächtig.) 

Neisser. 

155 

16 = 10,3 % 

(Diese beiden Zahlen stammen 
von einer einmaligen Unter¬ 
suchung im Arbeitshaus). 

i 

(13 hiervon waren nur verdächtigt 

f 

Orlow. 

795 

855 - 45 % 

Schultz. 

| 527 

264 = 50 % 

Summe. 

3344 

1207 


Durchschnittszahl, ausge¬ 
drückt in Prozent . . 

' : 't 

35,9% (36%) i 

Divisor zur Erlangung 
3 der allgemeinen Prozent- 
* zahlen. 

| 2,8 


Ich möchte hier noch einige Befunde anreihen, die sich zu einer 
Einfügung in die voranstehenden Statistiken nicht eignen, da sie mehr¬ 
maligen Untersuchungen entstammen und die positiven Resultate zum 
Teil nach der Anzahl der positiven Präparate angeben. 

Blaschko nimmt 65 — 70°/ 0 Gonorrhöen bei denP.P. an, 14,7—25% 
werden bei der Kontrolle gefunden, es werden also nur %—% ins 
Hospital aufgenommeo. 

Laser untersuchte 197 P. P. in Königsberg. 

Von 335 Präparaten aus der Urethra enthielten 112 = 31,7 °/ 0 G. C. 

„ 67 „ „ „ Cervix ,, 21G.C. = 31,3°/ 0 G.C. 

„ 180 „ „ „ Vagina „ 7 „ „ = 3,9% G. C. 

(In 61 der Urethralfälle waren nicht die geringsten klinischen 
Symptome vorhanden.) 

Gau er untersuchte 176 (z. T. P. P. Berlin Charitä) Frauen und 
erhielt in 53 Fällen positive Resultate. 

, 69 Fälle wurden 1 mal untersucht: 13 Fälle positiv = 18,8% 

r 107 „ „ mehrmals „ : 40 „ „ = 37,6 

* Unter 32, deren Urethral- und Cervikalsekret untersucht wurde, fanden 
sich 4 reine Cervikal-, 7 reine Urethral- und 4 kombinierte Gonorrhöen. 

Hammer untersuchte von 112 Inscribierten 1838 Präparate aus 
der Urethra. Er fand hierbei bei 41 P. P. 48 mal (2,61 %) G. C. Von 
931 Präparaten aus der Cervix waren positiv 20 (2%). 

Pryor findet bei 197 Frauen 31,3% Cervikal- und 50% Urethral- 
Gonorrhöen. 

Lochte findet bei 70 Prostituierten, von denen er im ganzen 
389 mikroskopische Präparate an fertigte, in 27 Fällen G. C. Bei der 
einmaligen Untersuchung fand er die Urethra zehnmal erkrankt, den 
Cervikalkanal achtmal. Bei mehrmaliger Untersuchung ergeben sich 
zwölf Urethralgenorrhöen, 18 Cervikalgenorrhöen (die größere Zahl der 
bei der späteren Untersuchung gefundenen Cervikalgenorrhöen erklärt 

11 * 


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136 


Baermann. 


sich daraus, daß bei der ersten Untersuchung bei elf wegen Menses nicht 
untersucht wurde.) 

Brünseke fand bei 200 Individuen in 90°/ 0 Urethritis, in 87,5°/ 0 
Cervikalgonorrhoe in 12,5°/ 0 Bartholinitis. 

Berliner Polizeipräsidium gibt an, daß 22°/ 0 der P. P. an 
Gonorrhoe leiden. Es ergibt sich aus diesen Zahlen ein Durchschnitts- 
Prozentsatz von ungefähr 35 °/ 0 . 

Es sei hier auch die bedeutende Differenz der Ergebnisse 
bei ein- oder mehrmaliger Untersuchung erwähnt. Lochte hat 
darauf hingewiesen, daß mehrmalige Untersuchung die Prozent¬ 
ziffer der aufgefundenen Gonorrhöen verdoppele (16,2°/ 0 :35°/ 0 ). 
Damit stimmen auch die oben von Gauer angeführten Resultate 
überein (18,8°/ 0 :37,6°/ 0 )- Die aus den Hospitalberichten erhaltenen 
Befunde hat Jadassohn (Brüsseler Bericht 1901) vollständig zu¬ 
sammengestellt. Obwohl dieselben zur Beurteilung der allgemeinen 
Erkrankungsziffer weniger von Belang sind, da sie natürlich zu 
hohe Ziffern ergeben, so möchte ich sie doch der Vollständigkeit 
halber hier anfügen. (Tabelle VII.) 

Tabelle VII. 


Name des Autors 

Baer. 

Bergh. 

Büttner. 

Fabry. 

Gauer. 

Hasse. 

Kuttuer. 

Lappe . 

Lappe . 

Lochte. 

Lochte. 

Lochte. 

Pryor . 

Schultz. 

Schultz. 

Steinschneider. . . . 

Wcdensky. 

Welander. 

Welander. 

Summe. 

Prozent . 


Zahl der im Hospital 
zur Untersuchung ge¬ 
langten P. P. 

567 

17S3 

12 

55 

248 

142 

54 

638 

1449 

172 

114 

70 

197 

147 

527 

57 

306 

78 

163 

6769 

47 , 2 % 


Zahl der 

gonorrhoischen P. P. 


348 = 61 % 
633 = 35,5 °/ 0 

11 = 91 , 6 % 

33 = 60 % 
85 = 34 % 
84 - 59 % 
38 = 70,4% 
404 = 62,3% 
694 - 47,7% 
33 = 19,1% 
46 - 40,3% 
27 = 38,6% 

112 = 56,8% 
104 = 59 % 
270 = 51,5% 

36 = 65 % 

113 « 51,2% 
46 = 59 % 
79 = 45,6% 

3196 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


137 


Es wird sich durch die Division mit 2,8 der speziellen 
Prozentzahlen die allgemeine Prozentzahl für jeden Erkrankungs¬ 
herd ergeben (Tabelle VII). 


Tabelle VIII. 


1 

Erkrankungsherd 

i! v • 

V agina j 

yj i x Barthol.- 

Rektum Drüge 

Urethra 

Cervix 

Prozentzahl bezogen auf 
gonorrhoische P. P.. . 

ir ' 

4,9 % 

I 

8,3% | 10,5% 

«9,5% 

45,4 »/ 0 

Prozentzahl bezogen auf 
P. P. überhaupt . . . j 

| 1,8% ! 

2,9% 3,8% 

| 24,8% 

16,2 % 


Die gefundene Durchschnittszahl von 36 Prozent wird wohl 
etwas zu niedrig sein, da bei einzelnen der von mir aus der Lite¬ 
ratur angeführten Untersuchungsresultaten bei der polizeilichen 
Kontrolle nur das Urethralsekret auf Gonokokken geprüft wurde, 
und weil die Ergebnisse der Cervikalgonorrhoe aus bereits ange¬ 
führten Gründen an sich etwas zu niedrig sein werden. Ferner 
entgehen bei der polizeilichen Untersuchung wohl stets mehrere 
gonorrhoisch erkrankte Prostituierte der Sistierung, da durch die 
vorangegangene energische Reinigung das Sekret vollständig ent¬ 
fernt wird, oder, weil eben das Sekret an sich eine so geringe 
Anzahl von Gonokokken beherbergt, daß dieselben in dem ange¬ 
fertigten Präparate zufällig fehlen können. Meiner Ansicht nach 
würde bei der Berücksichtigung dieser Momente eine Durchschnitts¬ 
ziffer von 40—45 Prozent den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen. 

Ein äußerst wichtiger Punkt für die Untersuchung der Prosti¬ 
tuierten ist noch die Frage, ob die Gonorrhoe bei älteren Prosti¬ 
tuierten in gleich häufiger Weise gefunden wird, wie bei jüngeren. 

Während früher allgemein angenommen wurde, daß die älteren 
Prostituierten fast als immun gegen die gonorrhoische Infektion an¬ 
zusehen seien, und diese Annahme auch eigentlich bis heute durch 
die Handhabung der Kontrolle den älteren Prostituierten gegen¬ 
über ihren Ausdruck fand, hat neben Neisser, Lochte zu wieder¬ 
holten Malen darauf hingewiesen, daß ältere Puellae in gleicher 
Weise wie die jüngeren gonorrhoisch infiziert werden. Er unter¬ 
suchte 44 seit mindestens 15—20 Jahre unter Sittenkontrolle 
stehende P. P. das Urethral-, Cervical- und Bartholinische 
Drüsensekret und fand bei 20,4 Prozent = 9 Prostituierten Gono¬ 
kokken, und zwar in der Cervix bei 6, in der Urethra bei 2, in 
den Bartholinischen Drüsen bei 2 Prostituierten. 


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138 


Baermann. 


Schultz hat ebenso eine kleine Statistik über die Häufigkeit 
der Gonorrhoe bei älteren Prostituierten gegeben. — Man hatte 
angenommen, da der gonorrhoischen Infektion gegenüber eine 
Immunität nicht eintritt (Jadassohn), daß durch die oben ange¬ 
führten traumatischen Einflüsse, denen der Genitaltraktus der 
Prostituierten fortwährend ausgesetzt ist, eine allmähliche Atrophie 
a) Schultz. b) Baermann. 



Zahl der gonorrhoisch befundenen P. P. von Schultz. 

y Baermann Gesamtzahl der untersuchten P. P. 

Zahl der gonorrhoisch befundenen P. P. von Baermann. 

Abszisse = Kontrollater der P. P. 

Ordinate = Anzahl der P. P. überhaupt, bezw. Anzahl der gonor¬ 
rhoischen P. P. 

derjenigen Elemente, die den Gonokokken gewöhnlich als Schlupf¬ 
winkel dienen, eintrete. Nach meinen Untersuchungen habe ich 
gefunden, daß ungefähr nach dem vierten Kontrolljahre eine 
leichte relative Abminderung der Zahl gonorrhoischen Puellae ein¬ 
tritt. Ich glaube dies auf die geringere Frequentierung und auf 
die bessere Orientierung in der persönlichen Prophylaxe der 
älteren Prostituierten zurückführen zu müssen. 



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t 


Die Gonorrhoe der Prostituierten. 139 

Nach Schultz läßt sich diese relative Abnahme nicht konsta¬ 
tieren. Ich habe die Befunde von Schultz und mir in zwei kleinen 
Kurven vergleichshalber graphisch darzustellen versucht (Kurve I). 

Einer von Neisser zusammengestellten diesbezüglichen Stati¬ 
stik verdanke ich folgende Angaben: 

Bei 272 gonorrhoekranken Patienten wurde die Verteilung 
auf das Lebensalter folgendermaßen festgestellt. 


Lebensalter 15—20 j 21—26 

26—30 

31-35 

36—40 

41—45! 

1 

46—50 

61—66 

Zahl der gonorrhoischen Pro¬ 
stituierten . 

i 

41 

' 

105 

r ~~ i 

67 

1 32 

1 

1 

1 14 

6 

1 

7 

| _ 

Auf je 100 der in jeder 
Altersstufe befindlichen 
(925) P. P. kommen . . 

t 

i 

45,0 j 

| 

38,0 

25 

15 

1 

1 

15,7 

14,3 

38,8 

! 

Je 100 P. P. mit Gonorrhoe 1 
verteilen sich . . . . , 

15,1 

38,6 

24,6 

i 

i 

1 11,8 

1 

i 

j 5,1 

2,2 

2,6 

| — 


Bei 272 gonorrhoekranken Patienten wurde die Verteilung 
auf das Kon troll alter folgendermaßen festgestellt 


Kontrollalter 

1 . 

2 - ! 

3 . 

! 4 . 1 

5 . 

6 . 

7. 

8 . 

Zahl der gonorrhoischenP.P. Ii 

36 

33 1 

1 19 

26 | 

30 

25 

. 

| 22 

23 

Auf je 1 00 P. P. (925) der 
betreffenden Altersklasse j 
kommen. 

44,4 

35,1 

1 

26,7 

1 

37,1 

45,4 

1 

i 

37,1 

23,4 

23,2 

Je 100 Gonorrhöen ver¬ 
teilen sich. 

13,2 

12,1 

7,0 

: 

9,6 

i 1 

11,0 

9,2! 

8,1 

8,5 


Kontrollalter 

9. 

10. 

n. | 

12 . ! 

13. 

14. 

15. 

i über 

1 l 6 

Zahl der gonorrhoischenP.P. 

9 ! 

15 

5 

7 

6 

3 

3 

10 

Auf je 100 P. P. (925) der 
betreffenden Altersklasse 
kommen.j 

! 

1 

18,5 I 81,9 

13,1 

1 

! 

21,2 

25,0 

23,0 

1 21,4 

i 

I 

17,5 

Je 100 Gonorrhöen ver¬ 
teilen sich. 

I 

1 I 

3,3 

5,5 

1,8 

2,6 

2,2 

M 

m 

1 

j 3,7 


Auch aus diesen Zahlen ist zu ersehen, daß mit höherem 
Lebensalter bezw. Kontrollalter eine gewisse Abnahme der Häufig¬ 
keit gonorrhoischer Infektionen eintritt. Jedenfalls ist aber 


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140 


ßaermann. 


dieselbe nicht so bedeutend, daß man aus ihr eine sel¬ 
tenere Kontrolluntersuchung älterer Prostituierter ab¬ 
leiten könnte, zumal ja die Zahl der Prostituierten, die jenseits 
des 35 Lebensalters ihr Gewerbe noch ausüben, eine sehr geringe 
ist und deshalb eine besondere Arbeitsvennehrung durch ihre 
ständige Untersuchung nicht eintritt 

Eine weitere belangreiche Frage, die ich bereits weiter oben 
gestreift, und die wir uns als Konsequenz der polizeilichen Sistierung 
und Internierung gonorrhoekranker Prostituierter stellen müssen ist 
die: Haben wir von der Behandlung der Prostutierten-Gonorrhoe 
überhaupt praktische Erfolge zu erwarten, d. h. ist die weibliche 
Gonorrhoe an sich heilbar und tritt bei Prostituierten nicht so 
rasch eine Beininfektion ein, daß man an die Behandlung überhaupt 
nicht herangehen soll? Diese Frage wurde vor einigen Jahren aufs 
heftigste diskutiert und es standen sich ein ziemlich schroffes 
„Für“ und „Wider“ gegenüber, — 

Während Kromayer, Freudenberg u. andere die Behand¬ 
lung der Prostituierten für vollständig nutzlos hielten, Behrend 
und Blaschko eine mehr oder minder exspektative Therapie, die 
zu ihrem Endzweck vor allem die Beseitigung der klinischen 
Symptome (Fluor etc.) hatte, empfahlen, hatNeisser und mit ihm 
Hammer, Jadassohn, Schultz, Marschalko, Parädi u. viele 
andere eine energische, antiseptische Behandlung der Prostituierten- 
Gonorrhoe empfehlen und bei der Frage der endgültigen Heilung 
den Hauptwert auf den Gonokokkenbefund gelegt. Und meines 
Ermessens nach ist für die Prostituierte einzig und allein der 
Gonokokkenbefund das ausschlaggebende. Alle übrigen Erschei¬ 
nungen wie chronische nicht infektiöse Urethritis, chronischer 
Cervikalkatarrh, sind für die Prostituierte an sich bedeutungslos. 
Denn wenn man ein totales Verschwinden aller klinischen Sym¬ 
ptome erreichen wollte, so wäre jede Prostituierte den größten Teil 
des Jahres im Hospital. Die nicht gonorrhoischen aber trotzdem 
infektiösen Urethral- und Cervikalkatarrhe sind so überaus selten, 
daß sie ruhig übersehen werden können. Wenn wirklich auch bei 
sehr chronischen Cervikalkatarrhen Gonokokken nicht festgestellt 
werden, trotzdem sie de facto noch vorhanden sind, so resultiert 
daraus eine geringe Gefahr, da diese sehr chronischen Fälle relativ 
selten Infektionen verursachen. 

Leider fehlen uns Statistiken, die einen exakten Vergleich 
zwischen der exspektativen und antiseptischen aktiven Behandlung 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


141 


ermöglichen. Von einer vollständigen Verwerfung aller therapeu¬ 
tischen Eingriffe überhaupt ist ja ganz abzusehen, denn mit ihr 
würde die Kontrolle ja an sich irelevant werden. Es wird stets 
die Nutzlosigkeit der Gonorrhoeuntersuchung proklamiert, aber eine 
konsequente allgemeine Durchführung derselben ist bis jetzt noch 
nicht versucht worden. 

Was die Heilungserfolge bei der aktiven, antiseptischen 
Behandlung betrifft, so steht leider nur eine kleine Anzahl stati¬ 
stischer Angaben zur Verfügung, die überdies z. T. nicht absolut 
genau sind. Trotzdem beweisen sie aber zweifellos, daß ungefähr 
die Hälfte der Gonorrhöen geheilt werden. Ich halte diese Zahl 
für viel zu niedrig, da gewöhnlich aus praktischen Gründen die 
Behandlung zu früh unterbrochen wird. 

Hammer gibt von 80 Urethralgonorrhoen 50 geheilte an. 

Lappe: Von 893 P. P., die im Hospital wegen Gonorrhoe gelegen 
hatten, wurden bei Wiederaufnahme (aus anderen Gründen) 178 = 45,4 °j 0 
geheilt befanden. (Die nicht wieder aufgenommenen P. P. fallen natür¬ 
lich weg, würden aber bei einer Untersuchung den Heilungsprozentsatz 
noch erhöhen.) 

Ich selbst habe unter 92 Fällen teils ambulatorisch, teils 
stationär behandelter Gonorrhöen, deren Krankengeschichten ich genau 
durchgesehen, 86 Heilungen konstatieren können. 

Harttung: Von 72 P. P., die im Hospital wegen Gonorrhoe be¬ 
handelt worden waren, wurden 27 = 37,5 bei der Wiederaufnahme ge¬ 
sund befunden. 

Schultz: Von 47 Urethralgonorrhoen werden 38 geheilt entlassen. 
„ 81 Cervikal „ „76 „ „ 

„ 76 Uterus „ „ 53 „ „ 

(Diese Fälle sind durch mehrmalige Untersuchungen als Heilungen gesichert.) 

Von 33 P. P., die im Hospital wegen Gonorrhoe behandelt worden, 
wurden 19 = 57,5 °/ Q ohne G. C. wieder aufgenommen. 

Marschalko gibt an, daß er alle Urethralgonorrhöen (99 von 161 
gonorrhoischen P. P.) zur Heilung brachte, von 108 Cervikal- bezw. Uterin¬ 
gonorrhöen wurden 101 geheilt. Von den 7 ungeheilten litten 8 an 
Adnex-Tumor. 

Parädi gibt auf 244 Uterusgenorrhöen 232 Heilungen (intrauterine 
Behandlung) an. 

Diesen mehr oder minder günstigen Angaben stehen andere 
gegenüber, die doch beweisen, daß, wie anfangs bemerkt, ein nicht 
zu kleiner Prozentsatz ungeheilt und damit infektionstüchtig ent¬ 
lassen wird. Es wird aber fast stets, wie schon Neisser und 
Jadassohn hervorgehoben haben, durch die Hospitalbehandlung ein 
großer Teil der akuten Gonorrhöen in eine chronische Form über- 


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142 


Baermann. 


geführt und damit ihre Gefährlichkeit um ein Bedeutendes herab¬ 
gesetzt. Was mit den absolut unheilbaren Gonorrhöen ge¬ 
schehen soll, ist natürlich schwer zu entscheiden. Das zweckent¬ 
sprechendste wird wohl sein, sie in steter ambulanter Behandlung 
zu behalten, um ihren Gonokokkenbefund stets in gewissen, mäßigen 
Grenzen zu halten. 

Jadassohn: Von 404 behandelten Gonorrhöen bleiben 55 länger 
als drei Monate ungeheilt. Von diesen 55 bleiben 14 länger als sechs 
Monate ungeheilt. (Es muß jedoch beigefügt werden, daß nur 14 von 
diesen 55 an Gonorrhoe allein litten, alle übrigen hatten außerdem 
noch andere langwährende venerische Erkrankungen. 

Neisser nimmt die Zahl der nicht heilbaren Gonorrhöen als eine 
sehr niedrige an. 

Schultz gibt an, daß 30°/ 0 der Fälle ungeheilt bleiben. 

Hammer gibt an, daß die Zahl der definitiv nicht heilbaren 
Gonorrhöen keine sehr kleine sei. 

Ich selbst fand unter 58 stationär behandelten Gonorrhöen in 
der Breslauer Klinik sechs ungeheilte. Es ist jedoah diese Zahl durch 
die zum Teil aus praktischen Gründen erfolgten zu frühen Entlassungen 
etwas beeinflußt. 

Aus den obenstehenden Zahlen kann man zum Teil auch 
auf die Häufigkeit der Beinfektionen schließen. Während Kro- 
mayer und auch Strömberg und andere der Meinung sind, daß 
eine Reinfektion sehr rasch und regelmäßig eintrete, beweisen 
doch die oben genannten Zahlen bezw. Befunde, die bei der Wieder¬ 
aufnahme, also gewöhnlich nach Wochen und Monaten und auch 
Jahren erhoben wurden, daß ein großer Teil der Prostituierten 
von einer rasch eintretenden Reinfektion verschont bleibt 
Die Zahl der nicht Reinfizierten ist natürlich wahrscheinlich auch 
eine höhere, da wohl ein Teil der nicht Wiederaufgenommenen 
von einer Reinfektion verschont geblieben ist. 

Lappe: Von 178 P. P. sind wahrscheinlich 16 = 3,3 reinfiziert 
worden. (Nach Monaten bis Jahren.) 

Marschalko: Von 101 als geheilt entlassenen Cervikal- bezw. 
Uteringonorrhöen waren unter den Wiederaufgenommenen (eine Woche 
bis fünf Monate) 29 G. C. frei gefunden. 

Nach obiger Statistik sind also 41,3 °/ 0 ; 37,5 °/ 0 ; 57,5 °/° nicht 
reinfiziert worden (zu niedrige Zahlen). — 

Was nun die Heilungsdauer der hospitalär behandelten Gonor¬ 
rhöen betrifft, so läßt sich mit den in der Literatur auffindbaren 
Zahlen, denen ich eine kleine statistische Angabe beigefügt, als 
Durchschnittszahl der Behandlungstage 37 berechnen. Diese 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


143 


Zahlen sind dadurch beeinflußt, daß z. T. aus praktischen Gründen 
Prostituierte vor der absolut sicher gestellten Heilung entlassen 
werden mußten. Meine Zahlen entstammen nur sicher beobachteten 
Fällen. Ich habe mir auch erlaubt, die Behandlungsdauer bei 
30 ambulatorisch behandelten Fällen beizufügen. 

Neisser gibt aus dem Allerheilig. Hospital 1888/89 folgende Daten 
für die Behandlungszeit an. 

Für Urethralgonorrhöen bei einer Totalverpflegungsdauer von 2048 
Tagen und 65 Prostituierten 81,5 Tage. 

Für Cervikalgonorrhöen bei 1186 Tagen und 88 P. P. 81,2 Tage. 

Für Cervikal- und gleichzeitiger Urethralgonorrhoe bei 8128 Tagen 
und 90 P. P. 34,7 Tage. 

Also eine durchschnittliche Behandlungsdauer von 82,9 Tagen bei 
6362 Behandlungstagen überhaupt und 198 P. P. 

Für das Jahr 1889/90 gibt er eine durchschnittliche Behandlungs¬ 
dauer von 38 Tagen: 7336 Tagen überhaupt und 198 P.P. an. 

Jadassohn gibt eine mittlere Behandlungszeit von 5,3 Wochen an. 
(Diese Zahlen sind durch gleichzeitig best. Lues, Bubonen usw. beeinflußt) 

Hammer gibt 21,6 Tage an (manchmal zu frühe Entlassung wegen 
Baummangels.) 

Bergh gibt 82,2 bezw. 46,7 Behandlungstage f. Urethralgonorrhoean. 
,, ,, 35,7 ,,70 ,, ,, Cervikal „ ,, 

(Zwei getrennte Abteilungen.) 

Strömberg gibt eine mittlere Behandlungsdauer von 35,3 Tagen 
an. (Aus s. Statistik berechnet.) 

Schultz gibt als höchste Behandlungsdauer bei seinen intrauterinen 
Injektionen 40—50 Tage an. 

Baermann: (Breslauer Universitäts-Hautklinik.) 

1. Hospitalbehandlung. Bei 12 Fällen bestand Ur. allein, bei 
13 C. allein, bei 15 ü. u. C. 

Urethra (42 Fälle) Behandlungsdauer = 14,9 

Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 4,3 
Dauer der Probeuntersuchungen = 14,6 

Cervix (25 Fälle) Behandlungsdauer = 17,5 

Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 4,6 
Dauer der Probeuntersuchungen = 15,2 

Es ergibt sich daraus als Durchschnitt überhaupt 29,5 Ta$ 
ganzen 44 Fälle. 

2. Ambulatorische Behandlung. Bei 17 Fällen bestand Ur. allein, 
bei einem Fall C allein, bei 26 U. u. C. 

Urethra (27 Fälle) Behandlungsdauer = 58,2 

Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 5,4 
Dauer der Probeuntersuchungen =46 

Cervix (18 Fälle) Behandlungsdauer = 78,1 

Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 5,9 
Dauer der Probeuntersuchungen =41,4 


= 104,6T. 
im ganzen. 

= 114,5T. 
im ganzen. 


= 29,5 T. 
im ganzen. 

= 32,7 T. 
im ganzen. 

'e, für im 


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144 


Baermann. 


Es ergibt sich daraus als Durchschnitt überhaupt 96,9 Tage für 
im ganzen 80 Fälle. 

Jesionek gibt für München als mittlere Heilungsdauer an. 

1894 = 48,7 

1895 = 35,2 

1896 = 26,1 

1897 = 21,9 

Für Nichtheilungen gibt er als Durchschnittsbebandlungstag 18,5 
Tage an (doch ist in dieser Zahlenangabe auch JS und Ulcus molle 
einbegriffen). 

Marschalko gibt als durchschnittliche Heilungsdauer 28 Tage 
an — für Urethra, für Uterus durchschn. 56 Tage (intrauterine Behand¬ 
lung) für Bartholinitis 27 Tage; die Resultate wurden durch 2—3 in 
fünftägigen Intervallen vorgenommenen, Untersuchungen geprüft. 

Para di gibt für die Uterusgonorrhoe (intrauterine Behandlung) 
als Durchschnittszahl 40 Tage an. 

Im Verlaufe meiner Untersuchungen habe ich neben der 
Gonorrhoe auch die Zahl der luetischen Prostituierten, so¬ 
weit dies anamnestisch und durch bestehende luetische Erschei¬ 
nungen festzustellen war, zu fixieren gesucht. Gleichzeitig wurde 
auch das Alter und das Kontrollalter von 292 Prostituierten 
notiert Ich habe das Verhältnis dieser einzelnen Faktoren mit 
Einschluß der Gonorrhoe in ihren Beziehungen zu der Gesamtzahl 
der Prostituierten in Kurve II niedergelegt. Aus dieser Kurve, die 
das einfache Verhältnis zwischen Gonorrhoe, Syphilis und Gesamt¬ 
zahl der Prostituierten darstellt, ist zu ersehen, daß bei den 
jüngsten Prostituierten im 18. und 19. Jahre die Gonorrhoe 
um ein geringes häufiger ist als die Syphilis. Mit dem 
20. Jahre jedoch übersteigt die Syphilis die Gonorrhoe bereits um 
das Doppelte, um dann bei den älteren Prostituierten in ziemlich 
gleichem Verhältnis weiterzuschreiten. Die Kurve stellt eine Art 
von Momentaufnahme des gesundheitlichen Zustandes der 
Breslauer Prostitution dar. Welche Gefahren demjenigen, der 
dieseProstitutionfrequentiert, drohen, bedarf wohl keiner 
näheren Erklärung (Kurve II). 

Die folgende Kurve III gibt das Verhältnis des Kontroll- 
alters zur Gesamtzahl bezw. zur Syphilis und Gonorrhoe an. Auch 
aus ihr ist zu konstatieren, daß in den beiden ersten Kontroll- 
jahren die Syphilis unter der Gonorrhoe steht. Daraus ergibt 
sich die Tatsache, daß die meisten Prostituierten bereits 
gonorrhoisch infiziert unter Kontrolle kommen, daß sie 
aber erst im ersten bis zweiten Kotrolljahre luetisch 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


145 


infiziert werden. Es ist deshalb das zweite bis vierte Kontroll- 
jahr, das im allgemeinen mit dem 20. bis 22. Lebensjahre gleich¬ 
zusetzen ist, das gefährlichste, da in dieser Zeit — der kon- 
dylomatösen Periode — die Infektionsmöglichkeit durch die primären 
und sekundären Erscheinungen am größten ist. Ein weiteres 
wichtiges Moment, das sich aus der Kurve ergibt, ist die Tatsache, 
daß in den ersten beiden Kontrolljahren die gonorrhoische In¬ 
fektion weitaus häufiger als in den späteren Kontrolljahren ist 



-Gesamtzahl der P. P. = 292. 

-Syphilis = 190. 

—- Gonorrhoe = 92. 

Abszisse = Alter der untersuchten P. P. 

Ordinate = Anzahl der erkrankten P. P. 

Während das Verhältnis in den ersten beiden Kontrolljahren gleich 
1 zu 2 ist, fällt es im dritten Jahre auf 1 zu 3, im vierten Jahre 
auf 1 zu 4, im fünften bis achten Jahre auf 1 zu 5 bezw. 6. Die 
Syphilis verhält sich in den ersten beiden Jahren wie 1 zu 5, im 
dritten Jahre wie 1,2 zu 2, um dann in diesem Verhältuis auch 
in den kommenden Jahren ziemlich stabil zu verbleiben (Kurve III). 

Aus den beiden Kurven läßt sich ferner ersehen, daß das 
Hauptkontingent der Prostituierten sich in einem Alter von 21 bis 
33 Jahren befindet, dort plötzlich in einem ziemlich steilen Abfall 
zu niederen Zahlen übergeht. Der Höhepunkt fällt mit dem 24. 


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146 


Baermann. 


bezw. 26. Lebensjahre zusammen, was dem dritten Kontrolljahre 
entspricht. Daraus ergibt sich, daß in Breslau die meisten Mäd¬ 
chen erst mit dem 21. bis 23. Lebensjahre der Prostitution anheim¬ 
fallen. Damit stimmt eine von Neisser stammende, ebenfalls aus 
der Breslauer Kontrolle (1888) berechnete Statistik bezüglich der im 



-Gesamtzahl der untersuchten P. P. = 292. 

-Zahl der luetischen P. P. = 190. 

- Zahl der gonorrhoischen P. P. = 92. 

Abszisse = Kontrollalter der untersuchten P. P. 

Ordinate = Anzahl der untersuchten P. P. 

kondylomatösen Stadium der Syphilis stehenden Prostituierten voll¬ 
ständig überein. Auch hier fällt der Höhepunkt auf das 3. Kontroll- 
jahr bezw. auf das 21. bis 25. Lebensjahr. 


Wenn ich nun zum Schluß die praktischen Konsequenzen 
aus meinen Untersuchungen ziehe, so muß ich die Tatsache, daß 
ich in dieser kurzen Zeit eine derartig große Anzahl von sicheren 
Gonorrhöen feststellen konnte, als den gravierendsten Beweis für 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


147 


die Notwendigkeit einer häufigen und genauen mikro¬ 
skopischen Untersuchung der Prostituierten auf Gono¬ 
kokken ansehen. Da bei den meisten klinische Symptome, die 
mit Sicherheit auf eine gonorrhoische Infektion hingewiesen hätten, 
fehlten, so wären mindestens 90°/ 0 der hospitalären Be¬ 
handlung entgangen. Es muß bei der bestehenden ungeheuren 
Ausbreitung von Gonorrhoe, die in ihren Folgen für das befallene 
Individuum nicht hinter der Syphilis steht, verlangt werden, daß 
eine Untersuchung des Urethral- und Cervikalsekretes, der bartho- 
linischen Drüse wöchentlich zweimal, die Untersuchung des Rek¬ 
tums monatlich einmal stattfindet. 

Ich habe aus meinen eigenen Untersuchungen ersehen, daß 
es möglich ist, mit einem Zeitaufwande von vier Stunden 40 Pro¬ 
stituierte auf das Genaueste zu untersuchen, d. h. aus Urethra 
und Cervix und aus dem Sekret der bartholinischen Drüse je ein 
mikroskopisches Präparat zu prüfen und eine vollständige Revi- 
dierung des Körpers auf luetische Symptome vorzunehmen. Die 
genannte Zahl würde einer Wochenzahl von 120 Prostituierten 
entsprechen. Wenn ein und derselbe Untersuchungsarzt sich mit 
einer derartig leicht übersehbaren Anzahl von Prostituierten zu 
beschäftigen hat, so wird ihm durch die Kenntnis der Anamnese 
die Untersuchung erheblich erleichtert und er wird wenigstens für 
die Zeit zwischen Untersuchung und nächster Kohabitation eine 
mehr oder minder große Sicherheit für die Gesundheit der Pro¬ 
stituierten geben können. Dieses Vertrautsein mit der Anamnese 
jeder einzelnen Prostituierten wird ihm bei der Beurteilung auch 
aller übrigen Krankheitserscheinungen von großem Nutzen sein. 
Neisser berechnet die Zeit, welche notwendig ist, um 100 Prosti¬ 
tuierte, wie oben angegeben, zu untersuchen, für zwei Arzte auf 
sechs Stunden. Jadassohn gibt an, daß ein Arzt mit einer ge¬ 
schulten Wärterin in zwei Stunden 15—20 Prostituierte in oben 
angegebener Weise untersuchen kann. Dies würde mit meiner 
Berechnung übereinstimmen. Blaschko hält einen Untersuchungs¬ 
arzt mit einem Volontär für die tägliche Untersuchung von 30 bis 
40 Prostituierte für ausreichend. 

Ein Punkt, der noch zu erledigen ist, ist die Frage, ob alle 
gonorrhoisch erkrankt befundenen Prostituierten einer Hospital¬ 
behandlung überwiesen werden sollen, oder ob bei chronischen 
Prozessen mit sehr spärlichem Gonokokkenbefund eine ambula¬ 
torische Behandlung genügt Es ist ja eine Erfahrungstatsache, 


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148 


Baermann. 


daß bei diesen chronischen Cervikalgonorrhöen häufig erst nach 
einer Reihe von Kohabitationen eine Infektion eintritt. Die am¬ 
bulatorische Behandlung dieser Fälle ist auch insofern 
angebracht, als dadurch eine zu häufige Internierung der Pro¬ 
stituierten vermieden werden kann. Eine zu strenge Handhabung 
der Hospitalbehandlung würde erfahrungsgemäß nur eine Zunahme 
der geheimen Prostitution auf Kosten der kontrollierten herbei¬ 
führen. Gewöhnlich zwingen schon rein lokale Räumlichkeitsfragen 
dazu, nur die mehr oder minder hochgradig infektiösen Prostituierten 
zu internieren. 

Wenn ich das Resume aus meinen Untersuchungen ziehe, so 
muß ich als das vornehmste Resultat derselben die Richtigkeit der 
N eis s er sehen Forderung aufstellen. Ist dieselbe nur einmal wirk¬ 
lich einige Jahre überall konsequent durchgeführt, so werden sich 
ihre Vorteile von selbst auch weiteren Kreisen offenbaren. 

Zum Schlüsse liegt mir noch die angenehme Pflicht ob, meinen 
hochverehrten Chef, Herrn Geheimrat A. Neisser, für das rege 
Interesse, das er meiner Arbeit entgegegenbracht, Herrn Geheimrat 
Professor Jacobi für die gütige Überlassung des Prostituierten- 
Materials meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. 

Literatur. 

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Archiv für Dermatologie und Syphilis 1883. Nr. 15. 

2. Baer. Über die Rektalgonorrhoe der Frauen. Deutsche medizinische 
Wochenschrift 1896. Nr. 8. 

3. Derselbe. Frankfurter Gonorrhoe-Debatte. Zentralblatt für Gynä¬ 
kologie 1896. Nr. 42. 

4. Baermann. Über die Züchtung von Gonokokken auf Thalmann- 

schen bezw. gewöhnlichen Fleischwasser- und Glyzerin-Agar-Nährböden. Zeit¬ 
schrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. Band 43. 1903. 

5. Ban dl er. Über die venerischen Affektionen der Analgegend bei 
Prostituierten. Archiv für Dermatologie und Syphilis 1898, Band 43. 

6. Derselbe. Zur Kenntnis der elephantiastischen und ulzerösen Ver¬ 
änderungen der äußeren Genitalien und des Rektums. Archiv für Dermato¬ 
logie und Syphilis 1899. Nr. 48. 

7. Behrend. Über die Gonorrhoebehandlung Prostituierter. Deutsche 
Medizinalzeitung 1898. Nr. 8. 

8. Bergh. Beiträge zur Kenntnis der Entzündung der Glandula vesti- 
bularis major (Bartholini). Monatshefte für praktische Dermatologie, Band 21, 
1895. 

9. Derselbe. Bemerkungen über venerische Kartarrhe bei Frauen¬ 
zimmern. Monatshefte für praktische Dermatologie, Band 27. 1898. 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


149 


10. Bla sch ko. Die Verbreitung und Bekämpfung der venerischen 
Krankheiten mit besonderer Berücksichtigung Berlins. Vortrag gehalten in 
der deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege) 14. II. 1898. 

11. Derselbe. Hygiene der Prostitution. Jena, G. Fischer. 1900. 

12. Derselbe. Syphilis und Prostitution. Berlin. 1898. 

18. Derselbe. Sollen die Prostituierten auf Gonorrhoe untersucht und 
behandelt werden? Deutsche Medizinalzeitung 1898. Nr. 44. 

14. Derselbe. Sollen die Prostituierten auf Gonorrhoe untersucht werden. 
Deutsche Medizinalzeitung 1898. Nr. 56. 

15. Derselbe. Sollen die Prostituierten auf Gonorrhoe untersucht und 
behandelt werden. Deutsche Medizinalzeitung 1898) Nr. 55. 

16. Bröse. Zur Ätiologie) Diagnose und Therapie der weiblichen 
Gonorrhoe. Deutsche medizinische Wochenschrift 1898, Nr. 16. 

17. Bröse und Schiller. Zur Diagnose der weiblichen Gonorrhoe. 
Berliner klinische Wochenschrift. Nr. 26 ff. 

18. Brünsecke. Über die Häufigkeit der gonorrhoischen Erkrankungen 
der einzelnen Schleimhautpartien des weiblichen Urogenitaltraktus. Würz- 
bürg, Inaugural-Dissertation 1890. 

19. Büttner. Polizeiärztliche Untersuchung über das Vorkommen der 
Gonokokken im weiblichen Genitalsekret St Petersburger medizinische 
Wochenschrift November 1892. (Ref. Allgemeine medizinische Zentralzeitung 
1893. Nr. 9.) 

20. Bumm. Zur Kenntnis der Gonorrhoe der weiblichen Genitalien. 
Archiv für Gynäkologie, Band 23. 

21. Derselbe. Der Mikroorganismus der gonorrhoischen Schleimhaut¬ 
erkrankung: Gonokokken. Neisser, 1887. 2. Auflage. 

22. Derselbe. Frapkfurter Gonorrhoedebatte. Zentralblatt für Gynä¬ 
kologie, 1896. Nr. 42. 

23. Derselbe. Zur Frankfurter Gonorrhoedebatte. Zentralblatt für Gynä¬ 
kologie, 1896. Nr. 50. 

24. Derselbe. Die gonorrhoischen Erkrankungen der weiblichen Ge¬ 
schlechtsorgane. Veits Handbuch, Band I. 

25. Carry. Le gonococcus Neisser au Service sanitäire de Lyon, Ütude 
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26. Diday. La pratique des maladies v4n4riennes. Paris 1896. 

27. Döderlein. Ein Fall von Vaginitis gonorrhoica bei Totalexstir¬ 
pation des Uterus. Monatshefte für Geburtshilfe und Gynäkologie, Band V, 
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28. Dohm. Über gonorrhoische Erkrankung der Mundhöhle Neuge¬ 
borener. Verhandlungen der deutschen gynäkolog. Gesellschaft, 1891. I. IV. 

29. Fabry. Über die gonorrhoische Schleimhautaffektion beim Weibe« 
Deutsche medizinische Wochenschrift 1888. Nr. 43. 

30. Freudenberg. Sollen die Prostituierten auf Gonorrhoe untersucht 
und behandelt werden? Deutsche Medizinalzeitung 1898. Nr. 48. 

81. Frisch. Über Gonorrhoeca rectalis. Separat-Abdruck aus den Ver¬ 
handlungen der Würzburger phys. med. Gesellschaft Neue Folge. Band XXV. 

32. Fritsch. Zur Lehre der Tripperinfection beim Weibe. Archiv 
für Gynäkologie 1896, Band X. 

Zflitschr. t Bekämpfung d. Geschlechtskranke II. 12 


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150 


Baermann. 


33. Gauer. Über Gonokokkenbefunde beim Weibe. Beiträge zur 
Dermatologie und Syphilis. Festschrift für Lewin. 1895. 

34. Geschlechtskrankheiten und Prostitution in Frankfurt a. M. Fest¬ 
schrift, Frankfurt 1903. 

35. Goldschmitt. Die Prophylaxe der Gonorrhoe. Hygienische Rund¬ 
schau, Band I., p. 995 (Ref.). 

36. Gumpertz. Welche Punkte hat die Gonorrhoeuntersuchung der 
Prostituierten zu berücksichtigen und wie ist sie auszuführen. Wiener kli¬ 
nische Rundschau 1900. Nr. 41. u. 44. 

37. Hammer. Über Prostitution und venerische Erkrankungen in 
Stuttgart und die praktische Bedeutung des Gonokokkus. Archiv für Der¬ 
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38. Hartmann. Blenorrhagie ano-rectale. Annales de Gyn6c. et 
d’obstr. 1895. I. XL1II. 

39. Harttung. Zitiert nach Jadassohn (Privatmitteilung). 

40. Huber. Über Periproctitis gonorrhoica. Archiv für Dermatologie 
und Syphilis 1897. Band 40. 

41. Hügel. Einiges über Bartholinitis. Archiv für Dermatologie und 
Syphilis. 1900. Band 51. 

42. Jadassohn. Über Immunität und Superinfektion bei chronischer 
Gonorrhoe. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1898. Band 43. 

43. Derselbe. L’organisation de la Surveillance mddicale de la Prosti¬ 
tution est eile susceptible d’amölioratiön. Conference international pour la 
prophylaxie de la Syphilis et de maladies v6n6riennes. Rapports preliminaires. 
II. Question. 

44. Derselbe. Zur pathologischen Anatomie und allgemeinen Pathologie 
der gonorrhoischen Prozesse. Verhandlungen des IV. deutschen Dermatologen- 
Kongresess. 

45. Juliusburger. Beiträge zur Kenntnis von den Geschwüren und 
Strikturen des Mastdarms. Inaugural-Dissertation 1884. Breslau. 

46. Kästle. Über die gonorrhoische Erkrankung der bartholinischen 
Drüse. Inaugural-Dissertation 1901. Würzburg. 

47. Klein. Frankfurter Gonorrhoe-Debatte. Zentralblatt für Gynä¬ 
kologie. 1896. Nr. 42. 

48. Kopytowsky. Über die Häufigkeit des Vorkommens von Gono¬ 
kokken und anderen Bakterien im Sekrete der Cervix Uteri scheinbar ge¬ 
sunder Prostituierten. Archiv für Dermatologie und Syphilis, 1895. Band 32. 

49. Derselbe. Über Gonokokkenbefunde im Genitalsekrete Prostituierter. 
Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1898. Band 45. 

50. Kromayer. Zur Austilgung der Syphilis. Berlin 1898. Gebr. 
Bonnträger. 

51. Kraus. Nachweis von Gonokokken in den tiefen Schichten der Tuben¬ 
wand. Monatshefte für Geburtshilfe und Gynäkologie. 1902. Band XVI. Heft 2. 

52. Lang. Diskussion über Neisser: „Prinzipien der Gonorrhoebehand¬ 
lung.“ II. Internationaler Kongreß, Wien. 1892, p. 308. 

53. Lanz. Über den diagnostischen Wert der mikroskopischen Unter¬ 
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tung. 1896. Nr. 68. 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


151 


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55. Laser. Gonokokkenbefund bei 600 Prostituierten. Deutsche medi¬ 
zinische Wochenschrift. 1893. Nr. 19. 

56. Lochte. Über den praktischen Wert des mikroskopischen Gono¬ 
kokkennachweises. Monatshefte für praktische Dermatologie. 1898. Band 27. 

57. Derselbe. Mikroskopische Gonokokkenbefunde bei alten und ge¬ 
fangenen Prostituierten. Monatshefte für praktische Dermatologie. 1901. 
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58. Luczny. Zur Pathologie und Therapie der frischen weiblichen 
Gonorrhoe. Inaugural Dissertation. Berlin. 

59. Mandl. Zur Kenntnis der Vaginitis gonorrhoica. Monatshefte für 
Geburtshilfe und Gynäkologie. Band V. Heft 1. 

60. Marschalko. Ist die Gonorrhoe der Prostituierten heilbar? Ber¬ 
liner klinische Wochenschrift 1902. Nr. 15. 

61. Marti ne au. Le$ons sur les deform, vulv. et anales. Paris 1884. 

62. Derselbe. Le$ons clinicqu. sur les blenorrhagies chez la femme. 
Paris 1885. Ref. in Virchow-Hirsch Jahresberichten 1884. L 

63. M e n g e - K r ö n i g. Bakteriologie des weiblichen Genitalkanales. Teil L 

64. Neis8er. Über die Mängel der z. Z. üblichen Prostituiertenunter¬ 
suchung. Deutsche medizinische Wochenschrift 1890. 

65. Derselbe. Über die Bedeutung der Gonokokken für Diagnose und 
Therapie. Kongreßbericht der D. Dermatologischen Gesellschaft Prag 1889. 

66. Derselbe. Die Prinzipien der Gonorrhoebehandlung. II. internatio¬ 
naler Dermatologenkongreß. Wien 1892. 

67. Derselbe. Welchen Wert hat die mikroskopische Gonokokkenunter¬ 
suchung? Deutsche medizinische Wochenschrift 1893. Nr. 29« u. 30. 

68. Derselbe. Über die Bedeutung der Gonokokken für Diagnose und 
Therapie der weiblichen Gonorrhoe. (Frankfurter Gonorrhoe-Debatte). Zen¬ 
tralblatt für Gynäkologie. 1896. Nr. 42. 

69. Derselbe. Über Gonorrhoebehandlung Prostituierter. Berliner kli¬ 
nische Wochenschrift 1898. Nr# 10. 

70. Derselbe. Nach welcher Richtung läßt sich die Reglementierung 
der Prostituierten reformieren. Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten. Band I. Heft 3. 

71. Neuberger. Über Analgonorrhoe. Archiv für Dermatologie und 
Syphilis. 1893. Band 29. 

72. Nickel. Über die sogenannten syphilitischen Mastdarmgeschwüre. 
Virchows Archiv CLV. 

73. Nunn. Rectal gonorrhoea in the femals* The med. Standard. 
Chicago 1894. 

74. Orlow. Bakteriologische Untersuchungen bei Prostituierten. Ver¬ 
handlungen der Moskauer venerolog. und dermatologischen. Gesellschaft 
1899—1900. Band 9. 

75. Parädi. Über die Behandlung der Uterusgonorrhoe bei Prosti¬ 
tuierten. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1903.. Band 65. 

76. Pollaczek. Zur Ätiologie der Bartholinitis. Monatshefte für 
praktische Dermatologie. 1890. Band X. 

12* 


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152 


Baermann. 


77. Profeta. Trattato pratico delle malattie veneree. Palermo 1888. 

78. Pryor. Latent Gonorrhoea in women. Journal of ent and. genito 
urinary dk 1895. 

79. Rosinsky. Ober gonorrhoische Erkrankung der Mundhöhle Neu¬ 
geborener. Zeitschrift] für Geburtshilfe und Gynäkologie. Rand XXII. 
Heft 1. u. 2. 

80. Sänger. Die Tripperansteckung beim weiblichen Geschlecht 
Leipzig 1889. 

81. Derselbe. Über residuale Gonorrhoe. Frankfurter Gonorrhoe-Debatte. 
ZentralWatt für Gynäkologie, 1896. Nr. 42. 

82. Schauta. Lehrbuch der gesamten Gynäkologie. 

88. Seholtz. Beiträge zur Dermatologie und Syphilis. Festschrift für 
Neumann. 

84. Scholz. Über Tripper und die zur Verhütung seiner Ausbreitung 
geeigneten sanitätspolizeilichen Maßregeln. Vierteljahrschrift für gerichtliche 
Medizin und öffentliche Gesundheitspflege. 1892. N. F. Band III. 

85. Schuchardt Eein Beitrag zur Kenntnis der syphilitischen Mast- 
darmgeschwüre. Virchows Archiv. Band CLV. 

86. Schultz. Beiträge zur Pathologie und Therapie der weiblichen 
Gonorrhoe. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1896. Band 36. 

87. Derselbe. Beitrag zur Patologie und Therapie der Uterusgonorrhoe. 
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, Band XXXX. 

88. Staub. Diskussion überNeisser: „Prinzipien der Gonorrhoebehand¬ 
lung. II. internationaler Dermatologen-Kongreß. Wien 1892. p. 317. 

89. Steinschneider. Über den Sitz der gonorrhoischen Infektion 
beim Weibe. Berliner klinische Wochenchrift 1887. Nr. 17. 

90. Stroganoff. Zur Bakteriologie des weiblichen Genitalkanals. Zen¬ 
tralblatt für Gynäkologie. 1895. Nr. 88. 

91. Stroemberg. Die Prostitution. Stuttgart 1899. Ferdinand Enke. 

92. Derselbe. Die Resultate der bakteriologischen Forschungen bei 
der Beobachtung des Gesundheitszustandes der Prostituierten in Dorpat 
Russisches Journal für Haut und Geschlechtskrankheiten. 1901. Band IL 
Nr. 9. 

93. Thal mann. Züchtung der Gonokokken anf einfachen Nährböden. 
Zentralblatt für Bakteriologie: I. Abteilung, Band 27. Heft 34. 

94. Derselbe. Zur Biologie der Gonokokken. Zentralblatt für Bak¬ 
teriologie, I. Abteilung, Band 81, Heft 14. 

95. Touton. Die Gonokokken im Gewebe der bartholinischen Drüse. 
Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1893. Band 25. 

93. Derselbe. Der Gonokokkus und seine Beziehungen zu den blenor- 
rhoischen Prozessen. Berliner klinische Wochenschrift. 1894. 

96. Tscblenow. Über die Beziehungen zwischen Elephantiasis vulvae 
und Syphilis. Archiv für Dermatologie und Syphilis. Band 65. Heft 2. 

97. Tuttle. Gonorrhoea of the rectum. Med. and sorg, report. New- 
York 1892. I. 

98. Waelseh. Über die Beziehungen zwischen Bectum striktur und 
Elephantiasis vulvae und Syphilis. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 
1902. Band 59. 


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Die Gonorrhoe der Prostituierten. 


153 


99. Welander. Untersuchung über die pathogenen Mikroparasiten 
der Gonorrhoe. Verhandlungen des Vereins der Ärzte zu Stockholm (Oktober 
1883). Ref. in Monatsheften für praktische Dermatologie 1884. Band Ul. 
Heft 4. 

100. Derselbe. Untersuchungen über die pathogenen Mikroben der Ble- 
norrhagie. Gazette medic. de Paris. 1884. Nr. 23. 

101. Derselbe. Le Bulletin medical. Paris 1889. Nr. I. 

102. Derselbe. Gibt es eine Vaginitis gonorrhoica bei erwachsenen Frauen? 
Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1892. Band 24. 

103. Derselbe. Ober die Untersuchung der Frauen in Hinsicht auf die 
Diagnose der Gonorrhoe. Hygiea 1896. Band LVIII. 

104. Wertheim. Beitrag zur Kenntnis der Gonorrhoe beim Weibe. 
Wiener klinische Wochenschrift. 1890. Nr. 25. 

105. Derselbe. Die aszendierende Gonorrhoe beim Weibe. Archiv für 
Gynäkologie. Band 42. Heft 1. 

106. Derselbe. Uterusgonorrhoe. Verhandlungen der deutschen Gesell- 
schaft für Gynäkologie. 1895. Band VI. 

107. Derselbe. Zur Frankfurter Gonorrhoe-Debatte. Zentralblatt für 
Gynäkologie. 1896. Nr. 48. 

108. Winter. Die Mikroorganismen im Genitalkanal der gesunden 
Frau. Zeitschrift für Geburtshilfe. Band XIV. 

109. Wolff. Lehrbuch der Haut und Geschlechtskrankheiten. 1893. 

110. Derselbe. Über das Verhältnis der Lues und der venerischen 
Krankheiten in Strafiburg. Monatshefte für praktische Dermatologie. 1885. 
Band IV. 

111. Zweifel. Gonorrhoische Salpingitis. Vorlesungen über klinische 
Gynäkologie. Berlin 1892. 


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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten. 

Vortrag, gehalten von Landgerichtsrat Kade. 

Meine Herren! 

Die Darlegungen des Herrn Vorredners haben erwiesen, in 
welchem gefahrdrohenden Umfange gerade auf dem Gebiete der 
Geschlechtskrankheiten die Kurpfuscherei betrieben wird. Diese 
nach Möglichkeit einzuschränken — denn auf ihre völlige Besei¬ 
tigung ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen — wird eine der 
Hauptaufgaben der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der 
Geschlechtskrankheiten sein und bleiben. 

Die zuverlässige Feststellung und die sachgemäße, verständnis¬ 
volle Behandlung der Geschlechtskrankheiten wird nur einem Arzte, 
dem wissenschaftlich und universell gebildeten Heilkundigen, mög¬ 
lich sein. Jede sonstige Behandlung derartiger Kranker wird in 
der Kegel ohne weiteres den Verdacht der Kurpfuscherei gegen 
sich haben, weil sie in erster Reihe auf Gewinn oder mindestens 
auf Verheimlichung hinausläuft und außerdem die drohenden Ge¬ 
fahren der weiteren Ansteckung mißachtet, insbesondere aber die 
Einwirkung der Krankheit auf den individuellen Gesamtorganismus 
zu überwachen unfähig ist Hierzu kommt, daß gerade die Ge¬ 
schlechtskranken besonders gern den Kurpfuscher aufsuchen werden, 
weil sie sich ihrer Krankheit schämen und sie möglichst zu ver¬ 
bergen bestrebt sind, aus diesem Grunde auch eine briefliche Be¬ 
handlung unter einem Pseudonym oder postlagernd vorziehen, be¬ 
sonders wenn diese durch aufdringliche Reklame anempfohlen wird. 

So wuchert denn besonders ausgebreitet gerade auf dem Ge¬ 
biete der Geschlechtskrankheiten unheilbringend die Kurpfuscherei 

Diese zu bekämpfen, sind verschiedene Wege vorgeschlagen 
worden, die wir auf ihre Gangbarkeit und zielbringeude Zuver¬ 
lässigkeit prüfen wollen. 

Die Heilung der durch die Kurpfuscherei verursachten Mi߬ 
stände der natürlichen Entwickelung der Dinge zu überlassen und 
nur durch Hebung der allgemeinen Bildung, durch Bekämpfung 
des Aberglaubens und durch Aufklärung nachhelfend einzugreifen, 


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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten. 


155 


würde bei dem Umfange, den die Mißstände bereits angenommen 
haben, und der großen Gefahr, die aus ihnen droht, eine kur¬ 
pfuschende Therapie sein. Wenn auch vorwiegend Unkluge in die 
Hände der Kurpfuscher fallen und erst durch Schaden klüger 
werden, so ist doch ihre Zahl und die durch sie bedingte all¬ 
gemeine Gefahr zu groß, als daß diese sich durch Selbstregu¬ 
lierung wieder beheben könnte. 

Nur mit Hilfe von Gesetzesvorschriften, therapeutischen Ma߬ 
nahmen der Staatsregierung hinsichtlich des Staatskörpers, kann 
aus diesem der gefährliche Krankheitsstoff der Kurpfuscherei wieder 
ausgeschieden werden. 

Reichen die vorhandenen Gesetze hierzu aus? 

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir zunächst den 
Begriff der Kurpfuscherei feststellen. Der Senatspräsident im 
Reichsversicherungsamt Geh. Regierungsrat Dr. Flügge bezeichnet 
in einem Aufsatze in der Deutschen Juristenzeitung vom 15. April 
1903 als Kurpfuscherei „diejenige Behandlung eines Kranken 
durch nicht-ärztlich gebildete Personen, die im Wider¬ 
spruche zu ärztlichen Zulassungen oder Anordnungen 
steht oder stehen würde, wenn der Arzt um sie gewußt 
hätte“. 

Nach der Reichs-Gewerbeordnung ist das Kurieren von Kranken 
an sich jedermann gestattet Erst wenn es in fehlerhafter Weise 
geschieht, wird es zu einem Kurpfuschen. Fehlerhaft ist aber 
ein Kurieren, wenn es gegen die feststehenden, klaren Grund¬ 
sätze der medizinischen Wissenschaft und der ärztlichen Heil¬ 
tätigkeit verstößt Wie auf allen anderen Gebieten, so kann auch 
auf dem der Heilkunde nur die Wissenschaft die Wege für das 
richtige Handeln weisen. Daß der Arzt sich im Besitze der zur 
Ausübung der Heilkunde erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten 
befindet, dafür leistet seine Approbation, die nur auf Grund 
schwerer und eingehender Prüfungen erteilt wird, hinreichende 
Gewähr. Dafür, daß der krankenbehandelnde Nichtarzt mit den 
Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft vertraut sei, gibt 
nichts eine Sicherheit Dennoch hat dieser gleiche Rechte wie der 
Arzt, und dazu noch viele Freiheiten, die diesem, sei es aus 
Standesrücksichten, sei es aus anderen Gründen, beschränkt sind. 

Hier liegt die schwerwiegende Ungerechtigkeit der Gewerbe¬ 
ordnung mit ihrer Gewerbefreiheit gegenüber den approbierten 
Ärzten. Diese müssen eine Reihe von Jahren einem kostspieligen 


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156 


Kade. 


Studium obliegen und viele Prüfungen bestehen, ehe sie mit der 
Ausübung der Heilkunde als Arzt beginnen können. Die Rück¬ 
sicht auf die Standesehre verbietet ihnen, ihre Tätigkeit den Kranken 
anzupreisen, ihre Gewissenhaftigkeit, abwesende Kranke zu be¬ 
handeln. 

Der krankenbehandelnde Nichtarzt dagegen beginnt seine 
Praxis aus dem Stegreif ohne jedes Vorstudium. Marktschreierische 
Reklame und sonstige Hilfsmittel, Unkluge oder Verzweifelte an¬ 
zulocken, verschaffen ihm Patienten. Sein Gewissen und seine 
Pflicht verbietet ihm nicht, diese brieflich zu behandeln. Keine 
Gebührenordnung beengt sein Honorar. 

Begeht er ein Versehen in seinem Berufe, so drohen ihm 
lediglich dieselben Strafbestimmungen, wie dem Arzt, der sich 
einer Fahrlässigkeit schuldig gemacht hat. Ja vielleicht wird dieser 
mit höherer Strafe belegt, weil er durch seine Kenntnisse zu einer 
größeren Aufmerksamkeit verpflichtet war, als der ungebildete 
Kurpfuscher. 

Eine behördliche Aufsicht über die krankenbehandelnden 
Nichtärzte findet in keiner Weise statt. Während den Personen, 
welche Tanz- oder Turnunterricht gewerbsmäßig erteilen, Trödlern, 
Volksanwälten usw. bei hervortretender Unzuverlässigkeit in ihrem 
Gewerbebetriebe dieser untersagt werden kann, sind die Kur¬ 
pfuscher einer solchen Einschränkung nicht ausgesetzt Sie werden 
dazu von dem Gesetze als Heilkundige, nur ohne Approbation, 
bezeichnet, als ob sie selbstverständlich des Heilens kundig seien. 

Diese vielfachen, in der jetzigen Gesetzgebung begründeten 
Bevorzugungen der krankenbehandelnden Nichtärzte gegenüber 
den approbierten Ärzten erfordert unter allen Umständen eine 
Änderung in der Gesetzgebung gegen die ersteren, und zwar 
von Reichs wegen, wie sie ja auch bereits vorbereitet wird. 

Wenn auch der preußische Justizminister durch seinen Erlaß 
vom 21. Dezember 1901 an die Oberstaatsanwälte diese zu einer 
nachdrücklichen Verfolgung der gegen Kurpfuscher eingehenden 
Strafanträge aus § 4 des Reichsgesetzes zur Bekämpfung des un¬ 
lauteren Wettbewerbes hingewiesen hat, wenn auch der preußische 
Minister der Medizinalangelegenheiten in seinem Erlasse vom 
28. Juni 1902 betreffend die Bekämpfung der Kurpfuscherei die 
Regierungspräsidenten zum Erlaß von Polizeiverordnungen gegen 
die Kurpfuscher ersucht hat und solche Verordnungen auch in 
der verschiedenfachsten Gestaltung bereits ergangen sind, so sind 


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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten. 


157 


doch alle diese Maßregeln ihr unzureichend zu erachten, weil sie 
das Übel nicht an der Wurzel fassen, sondern ihm sogar die 
gesetzliche Existenzberechtigung unter gewissen Voraussetzungen 
zusprechen. 

Die völlig unbegründete, gleichwohl aber im Erlaß vom 
28. Juni 1902 beibehaltene Bezeichnung der krankenbehandelnden 
Nichtärzte als „Personen, welche die Heilkunde ausüben“, wird 
in einer Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten zu Arnsberg 
vom 19. März 1908 sogar in ,,Krankenheiler“ veredelt, obschon 
der Erlaß des Ministers die Überschrift trägt „betreffend die Be¬ 
kämpfung der Kurpfuscherei“ So werden schließlich die Kur¬ 
pfuscher zu Krankenheilern erhoben. Die ihnen auferlegte Melde¬ 
pflicht ist ihnen nur eine willkommene Gelegenheit geworden, 
sich neue Rechte daraus herzuleiten. Aus der Nichtuntersagung 
ihres Gewerbebetriebes entnehmen sie für sich und ihre leicht¬ 
gläubigen Patienten den Anschein der Konzessionierung. Der 
bekannt gewordene Fall, daß ein Kurpfuscher auf Grund der 
neuen Regierungspolizei-Verordnung sich als „kreisärztlich gemel¬ 
deter Heilkundiger“ angekündigt hat, wird gewiß nicht vereinzelt 
dastehen. Er ist jedenfalls bezeichnend dafür, wie der Kurpfuscher 
sofort die gegen ihn gerichteten Maßnahmen zu seinem Vorteile 
auszubeuten bestrebt ist 

Auch durch das Vorgehen der Ärzte und der Ärztekammern 
gegen die Kurpfuscher auf Grund des Gesetzes zur Bekämpfung 
des unlauteren Wettbewerbes werden nur die letzteren in ge¬ 
wissem Maße zu gleichstehenden Gegnern der Ärzte erhoben, 
während Unwahrhaftigkeit und Gewissenlosigkeit zu ihren Eigen¬ 
schaften zu rechnen sind, und deshalb jeder Arzt mit Recht Be¬ 
denken trägt, sich überhaupt mit ihnen zu messen. 

Die jetzigen Gesetze und die bisherigen ministeriellen Ma߬ 
nahmen können hiernach nicht als zureichend erachtet werden, die 
gefahrdrohende Kurpfuscherei einzudämmen. Es bedarf tiefer¬ 
greifender Maßregeln der Gesetzgebung, insbesondere dahin, daß 
die bisherigen Bevorzugungen der Kurpfuscher in ihrem Gewerbe¬ 
betriebe gegenüber den Ärzten beseitigt werden, ohne jedoch diesen 
zugleich besondere Vorrechte einzuräumen. 

An Stelle der Approbation des Arztes muß die polizeiliche 
Genehmigung für den Beginn des Gewerbebetriebes eines kranken¬ 
behandelnden Nichtarztes treten. Wenn man bedenkt, daß Schau- 
spielUnternehmer, Pfandleiher, Schankwirte und andere Gewerbe- 


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158 


Kade. 


treibende zum Betriebe ihres den einzelnen und der Allgemeinheit 
wahrlich nicht so gefährlichen Gewerbebetriebes, wie das des 
Krankenbehandlers, einer polizeilichen Erlaubnis bedürfen, dieser 
aber nicht, so läßt sich das Gefühl, daß diese Gewerbetreibenden 
in ungerechter Weise bevorzugt seien, nicht abweisen. Der Mann, 
meist bisher Schäfer, Schmied oder sonstiger Gewerbetreibender, der 
ohne weiteres als „Krankenheiler 44 auf die leidende und unkluge 
Menschheit losgelassen wird, kann doch viel mehr Unheil anrichten, 
als z. B. ein Pfandleiher. Deshalb genügt nicht schon das behörd¬ 
liche Untersagungsrecht, weil es leicht zu spät kommt. Die auf dem 
Boden des „gleichen Rechtes für Alle 44 aufzubauende Gesetzesvor¬ 
schrift über die polizeiliche Genehmigung muß aber so gefaßt sein, 
daß sie dem Kurpfuscher die Möglichkeit nimmt, aus ihr ein neues 
Aushängeschild zur Anlockung einfältiger Patienten zu zimmern. 

Das Gesetz muß ferner schon in seiner Begriffsbestimmung 
der Nichtärzte, welche gewerbsmäßig Kranke behandeln wollen, 
den Anschein vermeiden, als ob diese Personen irgendwelche Vor¬ 
kenntnisse oder Erfahrungen besitzen. Die jetzige Bezeichnung 
„Personen", welche die Heilkunde betreiben, kann das nicht- 
nachdenkende Publikum leicht irreführen, noch mehr aber solche 
Bezeichnungen, wie „Krankenheiler 44 . Welche Ungleichheit hin¬ 
sichtlich der volkstümlich bedeutsamen Auffassung von Bezeichnungen 
die jetzige Gesetzgebung in sich trägt, ersieht man deutlich daraus, 
daß eine Person zu dem Titel eines „Heilgehülfen" erst durch 
das Bestehen eines nicht ganz einfachen Examens gelangt, dagegen 
jeder Kurpfuscher sich ohne weiteres „Heilkundiger" nennen 
darf. „Gehülfe“ wird also jemand nur durch ein Examen, „Kundiger 44 
aber sofort. Dies erscheint vielleicht nur als eine Kleinigkeit, es 
ist aber von erheblicher Einwirkung auf das breite Publikum. 

Viel wirksamer als durch das Erfordernis der polizeilichen 
Genehmigung würde aber der Kurpfuscherei der Nährboden ent¬ 
zogen werden, wenn ihr die hauptsächlichen Zuflüsse für ihre 
Wucherung, die Reklame und die briefliche Behandlung ab¬ 
geschnitten würden. 

Die Reklame ist in der Neuzeit das bedeutsamste Mittel für 
Anpreisungen an die urteilslose Menge geworden. Während in 
früherer Zeit Kurpfuscher und Quacksalber durch allerlei Schau¬ 
stellungen vor dem Publikum dessen Aufmerksamkeit und Vertrauen 
zu erwerben bemüht waren, genügt dazu in unserer zeitungs¬ 
überschwemmten Zeit schon das Inserat oder die Zeitungsanlage. 


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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten. 


159 


Das Schwarz auf Weiß macht auf die urteilslose Menge immer 
einen gewissen Eindruck, wenn es auch noch so inhaltslos oder 
unwahr ist. 

So gelingt es dem Kurpfuscher mit Hilfe der Zeitungsreklame 
und der ähnlichen öffentlichen Anpreisung leicht, für sich Vertrauen 
und Patienten zu werben, während der Arzt vergeblich auf das 
ungezogene Ding, seine Klingel, lauscht und still abwarten muß, 
bis sein bestes Können gesucht wird. 

Dem Arzte ist durch feste und überzeugende Entscheidungen 
des ärztlichen Ehrengerichtshofes in Preußen die Reklame als 
standesunwürdig untersagt Wenn wir gleichwohl noch fortwährend 
in den Tageszeitungen Selbstanpreisungen auch von approbierten 
Ärzten finden, so sind diese fast nur solche, auf welche die ehren¬ 
gerichtliche Bestrafung keinen Eindruck mehr macht oder wegen 
Unpfändbarkeit keinen Eindruck mehr machen kann. 

Quod licet bovi, non licet Jovi. Der Kurpfuscher darf an¬ 
noncieren, der Arzt nicht Wer bei so ungleichen Waffen in 
unserem papiemen Zeitalter siegen muß, liegt auf der Hand. 

Es muß deshalb gerechterweise auch dem Kurpfuscher das 
öffentliche Anpreisen seiner Tätigkeit untersagt werden, und zwar 
dadurch, daß die öffentliche Anempfehlung der Heiltätigkeit über¬ 
haupt verboten wird. 

Dieser Weg ist in den partikularrechtlichen Verboten der Ge¬ 
heimmittelanpreisung bereits eingeschlagen worden. Meines Er¬ 
achtens liegt kein Bedenken vor, ihn folgerichtig weiterzugehen. Die 
Tätigkeit des Arztes und noch mehr die des krankenbehandelnden 
Nichtarztes ist an sich und in der Regel eine unkontrollierbare 
und geheime. Ihre laute Anpreisung gleicht der öffentlichen An¬ 
kündigung eines Geheimmittels und kann leicht deren gefahr¬ 
drohende Wirkung auf die urteilslose Menge ausüben, die erfahrungs¬ 
gemäß vielfach der Reklame blind glaubt. So tritt an die Stelle des 
persönlichen Vertrauens der durch Irrtumserregung in Täuschungs¬ 
absicht erzeugte Glaube an eine empfehlenswerte Heiltätigkeit. 

Wenn durch das mit Strafandrohung zu unterstützende Verbot 
der öffentlichen Anpreisung der Heiltätigkeit auch eine Reihe von 
annoncierenden Ärzten getroffen werden würde, so könnte dies nur 
mit Genugtuung begrüßt werden. Sie nähern sich mit der Art 
ihres Gewerbebetriebes den Kurpfuschern und können sich deshalb 
nicht beklagen, mit gleichem Maße gemessen zu werden. 

Für manche Zeitungen würde allerdings das Verbot der öffent- 


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160 


Kade. 


liehen Anpreisung von Heiltätigkeit einen Ausfall an Elinnahmen 
für Inserate bedeuten. Jedoch schon jetzt verschmähen es die¬ 
jenigen Zeitungen, die es sich ernstlich angelegen sein lassen, das 
Publikum vor Täuschung zu bewahren, die Reklamen der Kur¬ 
pfuscher in ihren Inseratenteil aufzunehmen. 

Wird durch Unterbindung der Reklame den Kurpfuschern die 
Möglichkeit genommen, sich und ihr angebliches Können ungezählten 
Personen anzupreisen so wird der Kreis ihrer Kunden bald ein 
engerer werden. Er wird aber noch mehr zusammen schmelzen, 
wenn den Kurpfuschern — wie bereits den Ärzten durch ehren¬ 
gerichtliche Entscheidungen — die briefliche oder Abwesenheits¬ 
behandlung — abgesehen von Ausnahmefällen — als unzulässig 
verboten wird. Eis erscheint ohne weiteres klar, daß eine gewissen¬ 
hafte Beurteilung eines Kranken nur nach dessen persönlicher 
Untersuchung möglich ist 

Dieses Verbot der Abwesenheitsbehandlung ist bereits von 
verschiedenen Seiten als ein wesentliches Mittel zur Einschränkung 
der Kurpfuscherei vorgeschlagen worden. Es wird durch dieses 
der Krankenbehandler genötigt, den Körper seines Kunden, wenn 
vielleicht auch nur flüchtig, so doch wenigstens äußerlich in Augen¬ 
schein zu nehmen. Damit wird dem Kurpfuscher die Möglichkeit 
genommen, eine schriftliche Massenbehandlung k la Nardenkötter 
durchzuführen. 

Wenn nun außerdem, wie Flügge treffend vorschlägt, der 
krankenbehandelnde Nichtarzt über seine Patienten, deren Angaben 
über ihre Krankheit, seine Diagnose und Therapie sowie die Dauer 
der Behandlung ein von der Aufsichtsbehörde kontrollierbares Buch 
führen muß, dann wird es manchem bisherigen Kurpfuscher etwas 
schwierig werden, seine Einnahme, fast immer sein einziges End¬ 
ziel, auf der bisherigen Höhe zu erhalten. Lohnt aber die Kur¬ 
pfuscherei nicht mehr, dann werden ihr bald viele Jünger untreu 
werden, um auf einem anderen Gebiete diejenigen, „die nicht alle 
werden“, klüger zu machen. 

Weil die Kurpfuscherei gerade auf dem Gebiete der Geschlechts¬ 
krankheiten besonders wuchert und doppelt gefährlich ist, muß es 
eine der Hauptaufgaben der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten bleiben, den Erlaß deijenigen gesetz 
liehen Bestimmungen herbeizuführen, durch die die Kurpfuscherei 
nach Möglichkeit zurückgedrängt wird. — 


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Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten beitragen? 

Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung von Ortskranken¬ 
kassen im Deutschen Reiche, Sept 1903, von 

Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Albert Neisser. 

Im Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten, ihre indivi¬ 
duellen und sozialen Gefahren und ihre Verbreitung zählt die 
Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 
die Krankenkassen zu ihren vornehmsten Bundesgenossen; denn 
sicherlich besteht, vielleicht abgesehen von Armee und Marine, keine 
Organisation, welche einerseits durch die Menge der in Betracht 
kommenden Individuen, andererseits durch die ihr zur Verfügung 
stehenden Machtmittel in gleicher Weise in der Lage ist, die Be¬ 
strebungen, welche sich in der Deutschen Gesellschaft z. B. d. G. 
vereint haben, zu unterstützen und praktisch durchzuführen, wie die 
Krankenkassen, und unter diesen gerade die Ortskrankenkassen 
im Deutschen Eeiche. Es kommt dazu, daß namentlich in der 
Leitung der Ortskrankenkassen seit jeher ein so weitgehendes Ver¬ 
ständnis für die Notwendigkeit, die Geschlechtskrankheiten zu be¬ 
kämpfen, zutage getreten ist, daß wir auch für die Zukunft die 
allerweitgehendsten Hoffnungen an die Mitarbeit dieser 
viele Millionen Einwohner des Deutschen Reiches um¬ 
fassenden Organisation knüpfen. Auf den internationalen Kon¬ 
gressen in Brüssel fanden wir Delegierte großer Krankenkassen und 
durften uns ihrer Mitarbeit erfreuen ; seit Jahren sehen wir sie be¬ 
müht, in Schrift und Wort zur Aufklärung der Mitglieder beizutragen, 
und auch die Deutsche Gesellschaft z. B. d. G. hat bisher noch 
keinen Schritt getan, ohne daß sie sich der Hilfe hervorragender 
Mitglieder der Krankenkassen zu erfreuen gehabt hätte. 

Andererseits aber haben auch die Krankenkassen 
ein lebhaftes soziales und finanzielles Interesse an der 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 


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Neisser. 


Das wird niemand leugnen, wenngleich sich auf die Frage 
nach der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten unter den Mit¬ 
gliedern der Krankenkassen eine ziffermäßige Antwort nicht geben 
läßt, denn — und hiermit berühre ich den ersten Punkt, an dem 
eine Reform einsetzen müßte — eine wirklich zuverlässige 
Statistik der Geschlechtskrankheiten besitzen wir be¬ 
treffs der Krankenkassenmitglieder ebensowenig, wie be¬ 
treffs der übrigen Bevölkerung, Armee und Marine vielleicht aus¬ 
genommen. Der Herstellung einer solchen Statistik standen bisher 
schwere Hindernisse im Wege. Bei den Krankenkassenmitgliedern 
macht sich die Scheu, von ihrer geschlechtlichen Ansteckung 
Kenntnis zu geben, ebenso geltend, wie in der übrigen Bevölkerung; 
vielleicht sogar in verstärktem Maße, da ja das bisherige 
Krankenkassengesetz, welches die Geschlechtskranken zusammen 
mit Raufbolden und Trunksüchtigen m dem glücklicherweise nun 
beseitigten § 6 geradezu an den Pranger stellte, die Kranken 
geradezu darauf hinwies, ihre Krankheit lieber zu verbergen. 

Und diese Wirkung der gesetzlich sanktionierten Ächtung der 
Geschlechtskranken konnte natürlich nicht dadurch beseitigt werden, 
daß schon unter dem alten Gesetz eine sehr große Anzahl von 
Krankenkassen auf die Erlaubnis, Geschlechtskranke schlechter zu 
stellen, als andere Kranke, verzichtet hat und freiwillig die Mehr¬ 
kosten, welche die Gleichstellung der Geschlechtskranken verursacht, 
auf sich nahm. 

Es ist zu hoffen, daß nun, wo wenigstens gesetzlich eine 
Gleichstellung der Geschlechtskranken mit den übrigen gewähr¬ 
leistet ist, auch die Scheu der Kranken, sich bei der Kasse zur 
Behandlung zu melden, ganz verschwinden wird. Damit wird ein 
die Brauchbarkeit der Statistik schädigender Faktor beseitigt werden. 

Zur richtigen Statistik gehört aber auch, daß die Krank¬ 
heitsmeldungen von den Ärzten richtig erstattet werden. 
Auch nach dieser Richtung hin hat das alte Gesetz erschwerend 
gewirkt. Namentlich in den Fällen, in denen Kassenmitglieder 
unschuldigerweise, nicht durch „geschlechtliche Ausschweifungen“ 
wie das Gesetz sagte, zu ihrer Erkrankung gekommen sind, wo 
also der Kranke nach dem Inhalt des Gesetzes einen Anspruch 
auf Krankengeld hatte, sind sicherlich häufig von Ärzten Diagnosen, 
wie „Hautkrankheit“, „Mundkrankheit“ u. s. w. gemeldet worden, 
die den wahren Charakter der Krankheit nicht erkennen ließen. 
Ich glaube, man wird in solchen Fällen den Ärzten keinen Vor- 


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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 163 


wurf aas der nicht ganz genauen Bezeichnung der Krankheit 
machen können, da eine Schädigung der Kasse durch die ungenaue 
Bezeichnung nicht eingetreten war. 

In Zukunft wird die finanzielle Gleichstellung aller Kranken 
dieses eine richtige Statistik erschwerende Moment in Wegfall 
bringen. Immerhin aber wird auch künftig mit der Befürchtung 
der Kranken, daß sie durch Bekanntwerden ihres Leidens 
persönliche oder wirtschaftliche Nachteile erleiden könnten, ge¬ 
rechnet werden müssen. Es ist zwar seitens vieler Kassenvorstände 
den Beamten der Kassen sogar durch Dienstvertrag strenge 
Geheimhaltung der ihnen in ihrer amtlichen Eigenschaft zur 
Kenntnis kommenden Verhältnisse zur Pflicht gemacht worden; 
es wird aber doch nicht mit Unrecht von vielen Seiten die 
Forderung erhoben, in dem bekannten § 300 des Strafgesetzes 
unter diejenigen Personen, welche zur Geheimhaltung verpflichtet 
sind, auch Kassenversicherungsbeamte und dergleichen auf- 
zunehraen. Solange dieser Paragraph mit seinen das Geheimnis 
schützenden Bestimmungen nicht besteht, wird es aber jedenfalls 
nützlich sein, wenn alle Kassen in geeigneter Weise Vorsorge 
treffen, daß die von den Ärzten aufgestellten Diagnosen nur den¬ 
jenigen, welche amtlich mit der Weiterverarbeitung betraut sind, 
zu Gesicht kommen und daß für eine ausreichende Geheimhaltung 
nach allen Richtungen hin Sorge getragen werde. 

Andererseits könnte gerade dieser § 300 des Strafgesetzbuchs 
ein ernsthaftes Hemnis für die Statistik darstellen. Eine einheit¬ 
liche Rechtsprechung, die den Arzt sicher vor Bestrafung wegen 
Übertretung des § 300 schützt, wenn er ohne weiteres dem Kassen- 
vorstande die Diagnose mitteilt, existiert nicht Solange hier 
nicht klares Recht geschaffen ist, wird es sich empfehlen, daß die 
Krankenkassen von ihren Mitgliedern gleich bei deren 
Aufnahme Erklärungen extrahieren, durch welche der 
Kassenarzt von der Verpflichtung der Verschwiegenheit 
bei Mitteilung der Diagnose an den Kassenvorstand ein 
für allemal entbunden wird. 

Die Ärzte können aber nur diejenigen melden, die sich ihnen 
anvertrauen. 

Leider aber finden wir überall, auch unter den Kassen¬ 
mitgliedern solche, die nicht Ärzte, sondern sonstige mit dem 
Kurieren von Kranken sich beschäftigende „Naturheilkundige“ und 
Kurpfuscher aufsuchen. 


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164 


Neisscr. 


Leider gibt es auch Kassen, die diese antiärztliche Bewegung 
durch Anstellung von Nichtärzten unterstützen. — Der Kurpfuscher 
aber, der keine richtige Diagnose zu stellen vermag, kann natürlich 
auch keine sachgemäße statistische Meldung erstatten» Und deshalb 
ist auch vom Standpunkte der Medizinalstatistik aus der K&mpt 
gegen das Kurpfuschertum unerläßlich. Es würde im eigensten 
Interesse der Krankenkassen liegen, sich an diesem 
Kampfe mehr als bisher zu beteiligen! Sie sollten nur 
daran denken, wie oft sie in die Lage kommen, Krankengelder 
und Kurkosten für solche Kranke aufzuwenden, bei denen durch 
die Unkenntnis des Kurpfuschers eine Verschleppung oder Ver¬ 
schlimmerung der Krankheit, die in ihren Anfangsstadien leicht 
hätte beseitigt werden können, eingetreten ist — Sollte es bei 
diesem aus eigenem Interesse unternommenen Kampfe den Kassen 
gelingen, dem Kurpfuscherwesen, welches wie eine neue Seuche 
von Jahr zu Jahr das hygienische und soziale Wohlergehen 
Hunderttausender Angehöriger des Deutschen Reiches schädigt, 
entgegenzuarbeiten, so wäre das noch ein besonders großes Ver¬ 
dienst, das sich die Kassen um das ganze Volk erwürben. 

Zu all den genannten, eine Unvollkommenheit der Statistik 
herbeiführenden Momenten gesellt sich bei den weiblichen 
Kassenmitgliedern noch ein besonderes hinzu. 

Ganz abgesehen davon, daß weibliche Kranke begreiflicher¬ 
weise noch weniger gern als männliche ihre Erkrankung offenbaren, 
kommt in Betracht, daß weibliche Personen erkrankt sein können, 
ohne daß sie von der Existenz oder Art ihrer Krankheit etwas 
wissen. Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise sehr viel 
Erkrankungen unbekannt und in der Statistik unerwähnt bleiben. 
Doch ließe sich nach dieser Richtung für viele Fälle sicher¬ 
lich etwas erreichen, und es würden vielleicht viele weibliche 
Kassenmitglieder dazu zu bringen sein, sich auch in frag¬ 
lichen Fällen untersuchen und behandeln zu lassen, wenn man 
durch Anstellung weiblicher Ärzte dem Schamgefühl all 
derjenigen, welche aus Scheu vor der Untersuchung 
seitens eines Arztes letztere ganz vermeiden, Rechnung 
trüge. 

Was nun die Gestaltung der Statistik anlangt — auf 
Einzelheiten kann ich hier natürlich nicht eingehen — so ist es 
nicht angängig, die in den Krankenkassen vereinigten Menschen¬ 
gruppen einheitlich zu betrachten. Nicht. nur die Geschlechter, 


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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 165 


sondern auch die Bevölkerungsklassen und Berufsstände 
wird man sondern müssen. 

Was die Männer betrifft, so lehren alle Erfahrungen, daß 
im allgemeinen die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten um so 
stärker ist, je weniger sie bei auf der gleichen sozialen Stufe be¬ 
findlichen weiblichen Personen Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr 
finden, je mehr sie also zur Befriedigung ihrer geschlechtlichen 
Bedürfnisse auf die Prostitution angewiesen sind. Denn die 
Prostitution, mag sie nun sanitätspolizeilich überwacht oder geheim 
betrieben werden, ist die vornehmiicbste Ursache für die Ver¬ 
breitung der Geschlechtskrankheiten. Die Prostituierte, die mit 
zahlreichen Männern wahllos verkehrt, entgeht selbst nur in der 
Minderzahl der Gefahr der Ansteckung und überträgt wiederum 
die Venerie nicht nur auf einen Mann, sondern auf viele von 
denen, die mit ihr Umgang pflegen. 

Da nun die Männer der besitzenden Klassen und die aus ge¬ 
bildeten Häusern kommenden jungen Leute, und dazu gehören 
viele in Kassen befindliche Kaufleute, Apotheker u. s. w., nach den 
daselbst herrschenden moralischen Anschauungen keine sich ihnen 
geschlechtlich hingelenden Mädchen ihrer eigenen Sphäre 
finden, und da auch festere und dauerndere Verhältnisse mit weib¬ 
lichen Personen anderer Klassen für sie aus finanziellen oder 
anderen Gründen nicht immer möglich und erwünscht sind, so 
pflegen gerade sie am häufigsten den Verkehr mit Prostituierten. 
Auch bleiben sie sehr lange Jahre unverheiratet, während das 
frühzeitige Heiraten die Männer des Arbeiterstandes in erheblicher 
Weise vor außerehelichem Verkehr und damit vor Geschlechts¬ 
krankheiten schützt. Tatsächlich lehrt auch die Erfahrung, daß 
im großen und ganzen der Arbeiterstand sehr viel geringere 
Erkrankungsziffern — was Geschlechtskrankheiten anbelangt 
— aufweist, als etwa die Kaufmannschaft oder die 
Studentenschaft 

Allein erst eine nachGeschlecht, Lebensalter, Familien¬ 
stand und Berufsstand geordnete Statistik der Kranken¬ 
kassen wird uns über all diese Dinge, deren Erkenntnis für uns 
auch im Interesse der Prophylaxe sehr wichtig ist, die erforder¬ 
liche, genaue Aufklärung bringen. 

Gehen wir nun auf die Frage ein, was die Krankenkassen tun 
könnten, um den Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten unter 
ihren Mitgliedern zu führen, so haben wir in erster Reihe zu be- 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geechlechtskrankh. II. 13 

f 


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166 


Neisser. 


sprechen alle die Maßregeln, welche geeignet sein könnten, 
der Übertragung der Krankheiten auf die Gesunden zu 
steuern. 

Die Hauptquelle der Geschlechtskrankheiten ist der außer¬ 
eheliche Geschlechtsverkehr. Meist handelt es sich natur¬ 
gemäß um Unverheiratete, doch müssen leider alle Ärzte und 
alle Polikliniken, welche über ein reichliches Material von Ge¬ 
schlechtskranken verfügen, konstatieren, daß auch die Erkrankungs¬ 
ziffer von verheirateten Männern, welche durch außerehelichen 
Geschlechtsverkehr sich anstecken, eine verhältnismäßig hohe ist 
Mag man auch im einzelnen Falle einem solchen Mann, der unter 
dem Einflüsse des Alkohols der Verführung erlegen ist, oder der 
außerehelichen Geschlechtsverkehr deshalb suchte, weil seine Frau 
ihm in den letzten Monaten der Schwangerschaft und den ersten 
nach der Entbindung nicht zugänglich war, mildernde Umstände 
zubilligen, die Tatsache, daß sehr häufig ganz frivolerweise solch 
außerehelicher Geschlechtsverkehr getrieben wird und die Tatsache 
daß von solchen Männern aus unzählige Male die Er¬ 
krankung in die Familie getragen und Frau und Kinder 
ohne jedes Verschulden mit schwerster Krankheit be¬ 
haftet werden, bleibt bestehen. 

Auch unter den Frauen übersteigt die Zahl der unverehe¬ 
lichten Erkrankten ganz wesentlich die der — zumeist von ihren 
Männern infizierten — Verheirateten. 

Im ganzen ist der Procentsatz geschlechtlich erkrankter weib¬ 
licher Personen — wenn man von den Prostuierten absieht — 
viel geringer, wie derjenige der erkrankten Männer, wenn auch die 
in dieser Beziehung angegebenen Ziffern — wegen der gerade 
bei den Weibern vorhandenen statistischen Fehlerquellen — den 
wirklichen Verhältnissen nicht entsprechen dürfte. Jedenfalls 
spielen, soweit es sich um die Interessen und die Mitwirkung der 
Krankenkassen handelt, die ja mit den Prostituierten nichts zu tun 
haben, die Männer die Hauptrolle. 

Wie soll man diese also vor der Ansteckung be¬ 
wahren? 

Die erste Frage, die sich erhebt, ist die: sollte es nicht 
gelingen, den Gedanken der Keuschheit oder zum wenig¬ 
sten der Enthaltsamkeit in den in Betracht kommenden 
Kreisen der männlichen Bevölkerung zu verbreiten? 

Ich glaube nicht, daß irgend jemand, und sei er auch ein 


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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 167 

fanatischer und überzeugter Vertreter des Keuschheits-Prinzips, der 
sich überlegt, mit wieviel Millionen von Männern die Kassen es zu 
tun haben, glauben wird, auf diesem Wege etwas Durchgreifendes zu 
erreichen. Trotzdem würde ich es für falsch halten, solchen 
sicherlich von wohlmeinendsten Männern und Frauen ausgehenden 
Bestrebungen nicht die vollste Unterstützung zuteil werden zu 
lassen. Wir Ärzte haben wenigstens die Verpflichtung, überall 
dem Vorurteil, als wenn Keuschheit und Enthaltsamkeit 
für den jungen Mann schädlich sei, entgegenzutreten. 
Auch das „Merkblatt“ unserer Gesellschaft sagt gleich in seinem 
ersten Absatz: „Enthaltsamkeit im geschlechtlichen Verkehr ist 
nach dem übereinstimmenden Urteil der Ärzte im Gegensatz zu 
einem viel verbreiteten Vorurteil in der Regel nicht gesundheits¬ 
schädlich.“ 

Aber für ebenso verfehlt würde ich es halten, wenn wir uns 
auf diese auf Hebung der moralischen Anschauungen auf geschlecht¬ 
lichem Gebiete hinzielenden Bestrebungen beschränken wollten. 
Denn wenn es auch richtig ist, daß namentlich unter den dem 
Arbeiterstande angehörigen Kassenmitgliedern die Ehen in viel 
zeitigerem Lebensalter geschlossen werden, als seitens der Männer 
der besitzenden Klassen, so sind doch andererseits die Momente, 
welche diese Männer viel zeitiger zum Geschlechtsverkehr hin¬ 
führen und ihnen Geschlechtsverkehr als etwas selbstverständlich 
Erlaubtes erscheinen lassen, so zahlreich, daß man immer mit 
der Tatsache eines reichlichen und schon verhältnis¬ 
mäßig zeitig beginnenden Geschlechtsverkehrs wird 
rechnen müssen. 

So gilt es denn in erster Reihe, alle diese Kreise aufzuklären 
über die Gefahren, welche die Geschlechtskrankheiten 
überhaupt mit sich bringen und über die Gefahren, welche ein 
außerehelicher Geschlechtsverkehr, wenn er sich außerhalb 
des Rahmens eines ständigen Verhältnisses bewegt, mit sich bringt. 
Diesen Weg haben auch viele Krankenkassen schon beschritten 
und haben durch ganz billige Druckschriften versucht, die ein¬ 
schlägigen Kenntnisse unter ihren Mitgliedern zu verbreiten. 

Ich erwähne hier in erster Reihe das von der Berliner 
Zentralkommission herausgegebene Werkchen von Blaschko, die 
von Ihrem Vorsitzenden, Herrn Kommerzienrat Dr. Schwabe 
ermöglichte Silbersche Belehrungsschrift. Ferner ist sehr em¬ 
pfehlenswert das kleine vortreffliche Heft von Dr. Bernstein. 

13 * 


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168 


Neisser. 


Ich glaube aber, daß dieses Mittel der Belehrung noch 
lange nicht genügend ausgenutzt wird. In noch viel reichlicherer 
Weise müßten die Mitglieder mit solchen ihrem Verständnis ange¬ 
paßten Belehrungskarten und Blättern bedacht werden. Auch die 
„Deutsche Gesellschaft“ hat, von diesem Gedanken ausgehend, 
das Ihnen verteilte „Merkblatt“ ausgearbeitet und bereitet ein 
etwas ausführlicheres „Merkbüchlein“ vor. Wir hoffen auf eine 
ausgiebige Unterstützung seitens der Krankenkassen bei der Ver¬ 
breitung desselben. Jedenfalls müßte dafür gesorgt werden, daß 
jedes Mitglied hin und wieder eine solche Karte oder ein 
solches Merkblatt eingehändigt erhält, und zwar scheinen 
mir die geeignetsten Zeitpunkte die Anmeldung der Kasse wie 
die Abmeldung zu sein. Ferner wären die Kassenärzte anzu¬ 
weisen, in jedem ihnen geeignet erscheinenden Falle auch nicht 
geschlechtlich erkrankten Mitgliedern dies Merkblatt einzuhändigen. 

Wirksamer noch als solche Druckschriften würden meines Er¬ 
achtens Vorträge sein. Auch das ist kein neuer Gedanke; aber 
auch hier glaube ich, daß von dieser Möglichkeit, die Belehrung 
in die weitesten Arbeiterkreise zu tragen, noch viel zu wenig 
Gebrauch gemacht wird. 

Bei den weiblichen Personen kommt aber nicht nur in 
Betracht, sie vor Geschlechtskrankheiten zu schützen, sondern 
noch der weitere soziale wie hygienische Gesichtspunkt, sie vor 
dem Hinabsinken in die Prostitution zu bewahren. Was 
die Belehrung über die geschlechtlichen Verhältnisse betrifft, so 
wird man über die Notwendigkeit, junge, heranwachsende Mädchen 
über diese Verhältnisse zu belehren, bei Töchtern aus denjenigen 
Familien, die selbst ihre Kinder zu schützen in der Lage sind, 
zweifelhaft sein können; man wird mit Recht sagen können, es 
bestehe keine zwingende Veranlassung, solchen Mädchen diese 
Verhältnisse klar zu legen, ehe dazu eine Notwendigkeit vorliegt. 
Bei den uns interessierenden Personen aber liegen solche zwingende 
Verhältnisse meines Erachtens nach in den allermeisten Fällen 
vor; denn hier haben wir es mit Mädchen zu tun, die ohne jede 
Erfahrung in verhältnismäßig jungen Jahren sich selbst überlassen 
und noch dazu in Verhältnisse gebracht werden, in denen sie 
nicht nur keinen Schutz finden, sondern sogar Verfüh¬ 
rungen aller Art ausgesetzt sind. So sollten sie wenigstens 
wissen, welche Gefahren ihnen drohen, sei es durch den Geschlechts¬ 
verkehr, sei es durch die Geschlechtskrankheiten. 


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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 169 


An Vortragenden wird es den Kassen, wenn sie Einzelvor¬ 
träge oder Vortragszyklen halten lassen wollen, sicherlich nicht 
fehlen. Ebenso wie hier in Breslau die Deutsche Gesellschaft zur 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten für einen sich allen 
Vereinen und Verbänden zur Verfügung stellenden Kreis von Vor¬ 
tragenden gesorgt hat, wird auch an allen anderen Orten unsere 
Gesellschaft, welche in der allgemeinen Aufklärung und Belehrung 
eins der wesentlichsten Mittel zur Bekämpfung der venerischen 
Volksseuchen sieht, bereit sein, Vortragende zu stellen. 

Die Vorträge sollen getrennt für Männer und Frauen 
gehalten werden. Wenn es auch jedem einigermaßen taktvollen 
Vortragenden gelingen wird, einen belehrenden Vortrag über 
Geschlechtskrankheiten zu halten derart, daß auch jüngere weibliche 
Personen an dem Inhalte keinen Anstoß zu nehmen brauchen, so ist 
doch begreiflich, daß Mädchen und Frauen vielfach Anstand nehmen 
werden, Vorträge zu besuchen, in denen sexuelle Fragen in 
Gegenwart von Männern, die sie vielleicht sogar persönlich kennen, 
behandelt werden. Wollen wir auf weibliche Kreise belehrend 
einwirken, so müssen wir dieser Scheu — deren Berechtigung wir 
nicht leugnen können — Rechnung tragen. Andernfalls gefährden 
wir den Erfolg unserer Bestrebungen. 

(Schluß folgt.) 


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Referate. 

Verbreitung und Verbreitungswege der Geschlechtskrankheiten. 

WolffhAgel. Tropenhygienische Erfahrungen in China. Münchn. mediz. Wochen- 
Schrift 48 , 49 . 1903 . 

Aus dem ungewöhnlich lehrreichen und interessanten Aufsatz, dessen 
Verfasser vormals Bataillonsarzt im 4. ostasiatischen Inf.-Reg. gewesen 
ist, verdienen die folgenden Ausführungen im Wortlaut wiedergegeben 
zu werden : 

„In China ist die Prostitution ebenso bekannt wie bei uns; sie ist 
sicher nicht etwa aus dem Abendland dort ein geführt, denn auch weit¬ 
ab vom Weltverkehr, jenseits der großen Mauer in der Provinz Shansi 
gibt es in Städten öffentliche Häuser. 

Die Gefahren, denen sich gerade Europäer durch den Geschlechts¬ 
verkehr mit Chinesinnen aussetzen, sind bekannt, und es scheint auf 
Wahrheit zu beruhen, wenn man sich erzählt, daß Chinesinnen sich nur 
dann mit Europäern zum Geschlechtsverkehr herbeilassen, wenn sie wissent¬ 
lich geschlechtskrank sind. 

Es war daher eine prinzipielle Frage, ob unseren Mannschaften der 
Verkehr in chinesischen Bordells zu gestatten sei oder nicht. Die Ent¬ 
scheidung war in erster Linie von der Anschauung abhängig, ob es 
nicht gesundheitliche Bedenken habe, Maßregeln zu treffen, die den Ge¬ 
schlechtsverkehr ganz verhindern. Die Meinungen darüber waren ge¬ 
teilt; ich vertrat die Ansicht, daß von einer krankmachenden Wirkung, 
wie sie der geschlechtlichen Abstinenz vielfach — allerdings nur von 
Laien — zugeschrieben wird, nicht die Rede sein kann. Auch der an 
den Geschlechtsgenuß Gewöhnte wird abstinent sein können, vielleicht 
anfangs mit Beeinträchtigung seines Wohlbehagens, aber niemals mit 
Schädigung seiner Gesundheit; und die Macht der Gewohnheit des Ge¬ 
schlechtsverkehrs kann bei jungen Leuten im Alter von 20 Jahren und 
nicht viel darüber nicht so unbezwingbar angewachsen sein, daß sie 
nicht bei gutem Willen noch niedergedrückt werden könnte. 

Übrigens hatten die Chinesen ihre Frauen und Töchter sehr sicher in 
Verwahr gebracht und nur die allerältesten Vertreterinnen des schönen 
Geschlechts, um die sie unbesorgt sein konnten, in den Quartieren zu¬ 
rückgelassen. 

Wenn auf diese Weise die Chinesen selbst dafür gesorgt hatten, 
daß die Versuchung nicht an den deutschen Krieger herantrat, so zeigte 
sich doch bald, daß strenge Maßnahmen zur Verhütung geschlechtlicher 
Ansteckungen notwendig wurden. 


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Referate. 


171 


Als sich im Monat Dezember 1900 bei den zu Paotingfu in Winter¬ 
quartieren liegenden Truppen die geschlechtlichen Erkrankungen in be¬ 
denklicher Anzahl mehrten, wurde seitens der Kommandantur des öfteren 
durch Tagesbefehle auf die Notwendigkeit wiederholter Belehrungen der 
Mannschaften über die Gefahr des geschlechtlichen Verkehrs mit Chi¬ 
nesinnen hingewiesen. Aber alle Verwarnungen erwiesen sich als un¬ 
zureichend; die Quelle der Infektionen war in einem Bordell zu suchen, 
das sich im geheimen in unmittelbarer Nähe des Regimentsrayons ein¬ 
gerichtet hatte. Die Militärpolizei ließ dieses Haus auf unseren Antrag 
hin schließen, konnte aber die heimliche Eröffnung neuer Häuser nicht 
rechtzeitig verhindern, und so wurde die Zahl der geschlechtlichen Er¬ 
krankungen unter den Mannschaften immer bedenklicher. Daraufhin 
wurde im Bataillon der Versuch gemacht, Abortivbehandlungen einzu¬ 
leiten, und den Mannschaften an befohlen, sich nach dem geschlechtlichen 
Verkehr zur ärztlichen Untersuchung zu melden. Außerdem wurden 
wöchentlich zweimal Gesundheitsbesichtigungen abgehalten. Aber all 
diese Maßnahmen führten nicht zum Ziel. Weiterhin wurden einige 
Frauenzimmer, an denen sich nachgewiesenermaßen Leute infiziert hatten, 
der Stadt verwiesen. Auch dies war nur eine halbe Maßregel; die zum 
Nordtor hinausgetriebenen Weiber hielt nichts ab, durch das Südtor 
wieder einzuziehen. 

So zeigte es sich denn bald, daß die Prostitution nicht länger mehr 
unterdrückt werden konnte. Als ultima ratio blieb nichts anderes mehr 
übrig, als die Prostitution zuzulassen, die öffentlichen Häuser unter 
regelmäßige ärztliche Kontrolle zu stellen und die Bordellbesitzer zu 
zwingen, vor Eröffnung eines neuen Bordells im deutschen Viertel die 
Genehmigung der Militärpolizei zu erholen. Außerdem sollte der heim¬ 
lichen Prostitution durch Anstellung chinesischer Detektivs gesteuert 
werden. 

Als ich diesbezügliche Anträge der Kommandantur in Paotingfu 
unterbreitet hatte, wurde ich als ärztlicher Beirat der Verwaltungs¬ 
kommission der Stadt Paotingfu zugeteilt und als Mitglied der Gesund¬ 
heitskommission aufgenommen, die sich aus Deutschen und Franzosen 
zusammensetzte. Von der französischen Besatzung war Medizinmajor 
Dr. Licht dieser Kommission beigegeben. Wir beide trafen das Über¬ 
einkommen, zum Schutz der Mannschaften der deutsch-französischen Be¬ 
satzung von Paotingfu gemeinsam in der Weise vorzugehen, daß jeder 
in seinem Besatzungsbezirke durch wöchentlich zweimalige Untersuchungen 
eine regelmäßige ärztliche Kontrolle der öffentlichen Häuser vornimmt; 
krank befundene oder der AnsteckungsfUhigkeit nur verdächtige Chine¬ 
sinnen sollten sofort separiert werden. Zu diesem Zweck hatte der ge¬ 
nannte französische Stabsarzt nach allen Regeln der rmprovisationskunst 
eine kleine chinesische Frauenklinik eingerichtet; hier konnten bis zu 
12 Frauen aufgenommen, behandelt und bis zu ihrer vollständigen 
Heilung isoliert werden. Aus den im deutschen Viertel gelegenen Bor¬ 
dells mußten in der kurzen Zeit von 14 Tagen unter acht Prostituierten 
fünf als geschlechtskrank (4 hatten akute Gonorrhöe der Harnröhren¬ 
mündung, 1 war syphilitisch) dem Krankenhaus überwiesen werden. 


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172 


Referate. 


Zur Überwachung der Kranken wurde ein alter Chinese eingesetzt, dessen 
Frau für die Verköstigung zu sorgen hatte. Wir teilten uns den Kranken¬ 
hausdienst so ein, daß jeder die von ihm eingewiesenen Kranken selbst 
behandelte. Die zur gynäkologischen Untersuchung notwendigsten In¬ 
strumente hatten wir aus Europa mitgebracht, Untersuchungsstühle 
lieferte nach unseren Angaben ein geschickter chinesischer Schreiner, 
Arznei- und Verbandmittel stellte die französische Ambulanz, die Kosten 
trug die Commission mixte, wie sich die Verwaltungskommission der 
Stadt Paotingfu nannte. 

Wenn auch die Kontrolle von Prostituierten eine unangenehme Be¬ 
schäftigung für den Arzt ist, so war durch sie doch die einzige Mög¬ 
lichkeit geboten, einem weiteren Umsichgreifen geschlechtlicher Er¬ 
krankungen vorzubengen. Freilich ist auch diese Maßregel machtlos 
beim Fortbestehen der heimlichen Prostitution. Ob es unserer Militär¬ 
polizei gelungen ist, sie ganz zu unterdrücken und ob unser gemein¬ 
schaftliches Vorgehen gegen die geschlechtlichen Infektionen von dem 
gewünschten Erfolg begleitet war, konnte ich nicht mehr verfolgen, da 
ich schon drei Wochen nach Beginn der regelmäßigen Untersuchungen 
Paotingfu verlassen habe, um mit meinem Bataillon an der Expedition 
zur großen Mauer teilzunehmen. 

Als dann das Bataillon kompagnieweise in kleinen Gebirgsstädten 
untergebracht war, wo die Chinesen alle Weiber vor unserm Eintreffen 
in Sicherheit gebracht hatten, wo auch keine Bordells vorhanden waren, 
da konnte die geschlechtliche Abstinenz als sicherstes Schutzmittel gegen 
Erkrankungen ihre schönsten Erfolge erzielen. Aber überall sonst, wo 
Gelegenheit gegeben war zum geschlechtlichen Verkehr, da wurde mit 
dem Rat, abstinent zu bleiben, selbstverständlich bei unseren Soldaten 
in China ebensowenig erreicht, wie hier bei unseren Studenten. 

Nach unseren Erfahrungen gibt es nur zwei Wege, eine Feldtruppe 
vor geschlechtlichen Infektionen möglichst zu schützen: entweder man 
säubert die Ortsunterkunft von allen Frauenzimmern jeglichen Alters 
oder man läßt die öffentliche Prostitution zu, wenn sie einmal nicht 
mehr zu unterdrücken ist; dann aber unterstellt man die Bordelle strenger 
polizeilicher und ärztlicher Kontrolle, separiert und bewacht die kranken 
Weiber und verhindert mit strengen Mitteln die heimliche Prostitution. 

Um dies alles durchzuführen, ist eine tüchtige Militärpolizei und 
ein in derartigen Untersuchungen geübter Arzt erforderlich, der, wenn es, 
wie in China, Zivilärzte nicht gibt, dem Stande der Lazarett- oder Truppen¬ 
ärzte entnommen werden muß.“ 


Diagnostik und Symptomatologie. 

W. M. Tarnowsky. Binäre Syphilis und Erblichkeit der Syphilis. Vortrag aut 
dem VIII. Pirogoffschen Kongreß. Russ. medicin. Rundschau, IX. 

Zwecks Erforschung des Einflusses der Syphilis auf die Deszendenz 
hat Tarnowsky 30 syphilitische Familien untersucht, die den wohl¬ 
habenden und intelligenten Kreisen angehören und sich stets sorgfältig 


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Heferate. 


173 


haben behandeln lassen. Das auffallendste Ergebnis dieser Untersuchungen 
ist die Feststellung des Mißverhältnisses zwischen den relativ leichten 
Folgen der Lues für den Erkrankten selbst und dem geradezu tödlichen 
Einfluß der Syphilis auf dessen Nachkommenschaft: In der zweiten und 
dritten Generation führten von 345 Schwangerschaften nur 104 zur 
Geburt normaler Kinder; in allen übrigen Fällen gab es Aborte, Tot¬ 
geburten, Kinder mit kongenitaler Lues, angeborener Lebensschwäche 
oder anatomischen bezw. funktionellen Defekten. 

Die weiteren Untersuchungen Tarnowskys brachten ihn zu der 
Überzeugung, daß der schädliche Einfluß der Syphilis auf die abfolgenden 
Generationen allmählich schwindet, dergestalt, daß schon an den Mit¬ 
gliedern der vierten Generation spezifische Schädigungen nicht mehr 
nachweibar sind. 

Der Autor hat sich ferner eingehend mit dem Wesen der „binären“ 
Syphilis beschäftigt, d. h. die Frage studiert, wie erworbene Lues bei 
hereditär belasteten Individuen verläuft. Und da ergibt sich für ihn 
als zweifellos, daß die weitverbreitete Meinung, die Kraft und Bösartig¬ 
keit des Virus nehme in der absteigenden Folge der Geschlechter mit 
jeder neuen Infektion ab, durchaus falsch ist. Die binäre Syphilis unter¬ 
scheidet sich keineswegs im Sinne eines milderen Verlaufes von der 
gewöhnlichen Lues, besitzt im Gegenteil die verhängnisvolle Eigenschaft, 
auf die Deszendenz eine ausnehmend verderbliche Wirkung auszuüben 
— eine verderblichere als alle bisher bekannten Formen und Kom¬ 
plikationen der Lues. Und zwar können die leichtesten Formen die 
schwersten Schädigungen zur Folge haben; ja die Krankheit kann völlig 
verschwinden, aber die Fähigkeit, gesunde Kinder zu zeugen, bleibt für 
das ganze Leben verloren. 

Das sogenannte Profetasche Gesetz, welches lehrt, daß die Kinder 
von Syphilitikern gegen eine frische Infektion immun sind, will 
Tarnowsky so nicht anerkennen, es vielmehr dahin abgeändert wissen, 
daß die Unempfänglichkeit nur die ersten Jahre anhalte, zur Pubertäts¬ 
zeit dagegen spurlos verschwinde. 

Für alle seine Behauptungen bringt der Autor eine Fülle von 
Tatsachen, die unbedingte Beweiskraft zu besitzen scheinen — eine 
Beweiskraft natürlich nur mit Bezug auf das von Tarnowsky ver¬ 
wertete Material. Ob die hier gefundenen Resultate allgemeine Gültig¬ 
keit haben, entzieht sich vorderhand unserer Kenntnis. Jedenfalls zwingen 
sie bei der großen Wichtigkeit der hier in Frage kommenden Probleme 
zur Fortsetzung der von Tarnowsky mit solchem Fleiß und solcher 
Gründlichkeit begonnenen Studien. Max Marcuse (Berlin). 


Schlosberg. Klinische Studien Uber Gonorrhoe. (Nordisk med. Archiv 1903, 
36 und 37.) 

Die Arbeit ist in deutscher Sprache geschrieben. Das Material des 
Verfs. ist die männliche Klientel der Klinik und Poliklinik des Kranken¬ 
hauses St. Görau in Stockholm. Er bespricht die Komplikationen der 
gonorrhoischen Urethritis und deren Bedeutung: paraurethrale Gänge, 


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174 


Referate. 


Folliculiten, Prostatitis catarrhalis, Epididymitis und Adenitis inguinalis. 
Unter 200 in der stationären Klinik Behandelten fand Schlosberg 12 mal 
präputiale und paraurethrale Gänge, in der poliklinischen Klientel „recht 
viele“. — Auf Grundlage seiner Untersuchungen hebt Verf. hervor, daß 
der gewöhnliche Gonokokken nach weis in dem am Meatis vorhandenen 
Sekrete und in den Hamfäden nicht ausreicht, sondern daß man, wenn 
diese Prüfung negativ ausfällt, auch den Follikelinhalt durch eine Sonde 
ä boule oder ein löffelförmiges Instrument herausbolen und untersuchen 
muß. — Weiter bespricht Schlosberg das von vielen Beobachtern be¬ 
hauptete Abnehmen der gonorrhoischen Urethralsekretion beim Auftreten 
einer Epididymitis oder einer von Temperatursteigerung begleiteten 
Adenitis inguinalis. Auf Grundlage einer Serie von 106 Epididymitiden 
ist Schlosberg der Meinung, daß ein solches Abnehmen nicht selten vor¬ 
kommt. H. Hansteen (Christiania). 


Öffentliche Prophylaxe. 

Ci Fränkel-Halle. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. (Vortrag, ge¬ 
halten im Verein der Ärzte zu Halle.) 

Neben Belehrung und Aufklärung, Erziehung zur Sittlichkeit, 
Hebung und Verbesserung der sozialen Verhältnisse verlangt die Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten eine noch kräftigere und raschere 
Abwehr, sie verlangt neben den mittelbaren auch unmittelbare Maßregeln. 
Fränkel stellt es sich zur Aufgabe, die Wege, die für diesen Zweck 
beschritten werden können, in großen Zügen zu erörtern. Fränkel hat 
sich schon wiederholt öffentlich für die Kasernierung der Prostituierten 
ausgesprochen. Für Bordelle, die einerseits eine genaue und regelmäßige 
gesundheitliche Beaufsichtigung der Weiber, andererseits — und das ist 
nach vieler Ansicht mindestens gleich wichtig — die Ausdehnung der 
Untersuchung auf die dort verkehrenden Männer gestatten und so ein 
besonders wichtiges Abwehrmittel gegen die Geschlechtskrankheiten ab¬ 
geben. Auch jetzt tritt Fränkel nachdrücklich für strenge und straffe 
Reglementierung ein mit Einrichtung von Kontrollstraßen. Das 
Bestehen der Bordelle bietet für die Unterdrückung der freien, ge¬ 
heimen Prostitution am meisten Gewähr, hat außerdem den Vorteil, daß 
der Bürger, der mit der Prostitution nicht in Berührung kommen will, 
durch das Vorhandensein der Bordelle gegen Belästigung durch Prosti¬ 
tution geschützt wird, und schließlich läßt das Bordell das Zuhälter wesen 
nicht aufkommen und verhütet die moralische Infektion der Familien, 
bei denen die Dirnen sich einmieten. Freilich erhebt sich gegen die 
Einführung der Kasernierung ein sehr gewichtiges Bedenken: Das Bordell 
begünstigt die Ausbeutung der Mädchen durch die Hurenwirte und es 
hat deshalb leicht den Mädchenhandel zur Folge. Diese Befürchtung 
hat eben Fränkel veranlaßt, die Einführung der sogen. Kontrollstraßen 
vorzuschlagen. Die Dirnen dürfen zwar nur in bestimmten Straßen oder 
Häusern wohnen, aber sie verkaufen sich hier nicht, wie bei den Bor¬ 
dellen, mit Leib und Seele, um ihre Unabhängigkeit zu verlieren und um 


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Referate. 


175 


wirklich zur Ware herunterzusinken, sie stehen hier vielmehr zu den 
Inhabern der Hauser nur in einem lockeren, jederzeit lösbaren Miets- 
Verhältnis. Der Zwang in den Bordells, stets einen Teil ihres Verdienstes 
abzuliefern, fällt hier weg, die Polizei bestimmt den Wohnpreis. In 
Halle, wo diese Kontrollstraßen eingeführt sind, geben die Prostituierten 
ohne weiteres zu, daß von der berüchtigten Schuldenwirtschaft, von Aus¬ 
beutung, von Verschacherung in andere Häuser oder Städte, keine Rede 
ist, daß vielmehr jede jeden Tag nach Belieben ausziehen kann, um in 
ein anderes Quartier innerhalb der Kontrollstraßen zu übersiedeln. 

Ein weiteres Mittel, die Geschlechtskrankheiten erfolgreich zu be¬ 
kämpfen, sieht Pränkel in der Vermehrung der Zahl von Betten 
für Geschlechtskranke, ferner in der anonymen Anzeige von Geschlechts¬ 
kran kheitep bei Männern und Weibern, Prostituierten und Nicbtprosti- 
tuierten. Schließlich verspricht großen Gewinn die Isolierung Geschlechts¬ 
kranker, am besten im Krankenhaus. Die Isolierung in der eigenen 
Wohnung stößt bei der großen Wohnungsnot auf erhebliche Schwierig¬ 
keiten, es ist daher die WohnuDgshygiene die vornehmste und wich¬ 
tigste Aufgabe bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, ebenso 
wie schließlich der Alkoholismus, die Kindersterblichkeit, die Schwind¬ 
sucht in der mangelhaften Wohnungshygiene die starken Wurzeln ihrer 
Kraft haben. Ries (Stuttgart). 

H. Berger. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Vierteljahrsscbr. f. 
gerichtl. Mediz. 1903. Bd. 26. Suppl. 2. 

Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten hat sich in vier Richtungen 
zu bewegen: 1. Unterlassen des Coitus impurus, 2. schnelle Erkennung 
und Behandlung der Geschlechtskrankheiten, 3. Regelung der Prostitution, 
4. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten bei den Prostituierten. 

Zu 1 gehören allgemein soziale und hygienische Maßnahmen. Dazu 
gehören Belehrungen der Jugend über die Unschädlichkeit der geschlecht¬ 
lichen Abstinenz, die Gefahren des Coitus impurus, Besserung der 
Wohnungsverhältnisse und Veredelung des Lebensgenusses durch Ein¬ 
richtung von Unterhaltungsabenden, Volksbibliotheken etc. 

Zu 2 fordert Verf. in erster Linie unentgeltliche Behandlung 
aller Geschlechtskranken. Der allgemeinen Anzeigepflicht — auch 
der diskreten — meint Verf. nicht das Wort reden zu können, um 
niemanden von dem Aufsuchen ärztlicher Behandlung zurückzuhalten. 
Dagegen hält er es für nötig, daß infizierte Männer die Infektionsquelle 
genau angeben, damit sorgfältige Ermittelungen angestellt werden können. 
Die Verdächtigte hat sich durch ein polizeiliches Attest zu reinigen, 
ebenso auch eventuell der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten be¬ 
schuldigte Männer. Verf. fügt hinzu, daß diese Bestimmungen schlimmer 
aussehen, als sie tatsächlich sind, und hauptsächlich nur abschreckend 
wirken sollen. 

Die Reglementierung der Prostitution hält Verf. für notwendig. 
Wünschenswert sind tägliche Untersuchungen der Prostituierten, die 
nicht auf der Polizei, sondern in der Wohnung des Arztes stattzufinden 


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176 


Referate. 


haben. Verf. meint, daß die Wanderung der Prostituierten in die 
Wohnung des Arztes für Nachbarn oder sonst in der betreffenden 
Straße Wohnende keinen Anstoß geben würde. (Vielleicht aber für die 
Hausmitbewohner und die sonstige Klientel des Arztes! Ref.) Die 
Kontrolle über die ärztlichen Untersuchungen wird in der Weise von 
der Polizei ausgeübt, daß jede Woche das von dem Arzte zu führende 
Kontrollbuch nachgesehen wird und die Säumigen in Strafe genommen 
werden. Krankenhaus, Arzt und Medizin sind immer unentgeltlich zu 
gewähren. Dr. Dohrn-Cassel. 


Medizinische Prophylaxe. 

Oswald Berneker. Die medizinischen Gesichtspunkte bei der Bekämpfung der 
venerischen Krankheiten. Inaug.-Diss. Berlin. 1903. 

Der Verf. hat nicht die Absicht, neue Vorschläge zur Prophylaxe 
der Geschlechtsleiden zu bringen, sondern seine Arbeit soll nichts anderes 
sein, als ein kritisches Sammelreferat über die in den letzten Jahren 
von den verschiedenen Seiten erhobenen Forderungen zur Bekämpfung 
der venerischen Krankheiten. Die Schrift ist für alle diejenigen, die 
sich rasch über die medizinischen Gesichtspunkte, welche für die Pro¬ 
phylaxe der Sexualerkrankungen maßgebend sein müssen, orientieren 
wollen, recht brauchbar, und durch das außerordentlich umfängliche 
Literaturverzeichnis hat sich der Verf. auch den Dank aller derer ver¬ 
dient. die sich wissenschaftlich mit dem Gegenstände zu beschäftigen 
haben. M. 


Populäres. 

F. Sieberl. Sexuelle Moral und sexuelle Hygiene. Frankfurt a. M., Johannes Alt 

Das deutschen Hochschülern und Hochschülerinnen ge¬ 
widmete Buch von F. Siebert überragt um ein Beträchtliches die große 
Mehrzahl all der Schriften, die — gleicher oder ähnlicher Tendenz — 
in jüngster Zeit in überreicher Menge auf den Markt gelangt sind. 
Freilich nicht alle Abschnitte des gehaltvollen Buches sind mit derselben 
Gründlichkeit durchgearbeitet; namentlich stilistische Unebenheiten wirken 
hier und da recht störend, zumal die Diktion im allgemeinen eine sehr 
angenehme, stellenweise geradezu elegante und schwungvolle ist. Von 
besonderem Interesse sind die Kapitel über ,,die Fehler in unserer 
heutigen Anschauung von Sittlichkeit“, über „die Frage der 
völligen Enthaltsamkeit“, über „einige soziale Gesichtspunkte“ 
und über die „Hygiene des Geschlechtslebens.“ Ein knappes 
Referat über die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten würde bei 
der Schwierigkeit der Probleme und bei der Eigenart, mit welcher 
der Verf. sie erörtert, leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben und 
dem Buche und seinem Autor nicht gerecht werden; eine genauere 
Inhaltsangabe aber müßte den hier zur Verfügung stehenden Raum wesent¬ 
lich überschreiten. Deshalb mögen an diesem Orte nur die wichtigsten 
Stellen aus dem aktuellsten Abschnitte des Buches wiedergegeben werden, 


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Referate. 


177 


nämlich einige Ausführungen Sie her ts über die Frage nach der etwaigen 
Schädlichkeit sexueller Abstinenz. Um es nur gleich zu sagen: 
die Frage wird glattweg verneint — wenigstens in Hinsicht auf den 
gesunden Menschen, für den allein das Buch geschrieben ist. 

Trotzdem werden diejenigen, die unbedingte Enthaltsamkeit fordern, 
nicht so ohne weiteres den Verf. als Kronzeugen nennen dürfen. Denn 
folgende sehr verständige und treffende Bemerkungen bedeuten doch 
wohl eine beachtenswerte Einschränkung jenes so kategorisch klingenden 
„Nein!“ Auf S. 56 schreibt Siebert also: „Wenn oin geistig hoch¬ 
stehender Mann durch irgendwelche ungünstige Verhätnisse in einen Be¬ 
ruf gedrängt wird, in dem er seine geistigen Fähigkeiten nicht verwerten 
kann, so bedauern wir ihn und sagen, er bat etwas verloren, aber wir 
glauben nicht, daß sich eine gesundheitliche Schädigung daraus ergeben 
wird. Oder wenn jemand eine Anlage zu irgend einer schönen Betätigung 
hat, sagen wir Musik oder Malerei, uud er läßt diese verkümmern, so 
bedauern wir das, nicht weil der Mann vielleicht ein großes Kunstwerk 
geliefert hätte, sondern weil ihm manche Freude verloren gegangen ist. 
Und nun soll die Freude, die Erbauung, der Genuß, der aus der ge¬ 
schlechtlichen Betätigung entspringt, verkümmern? Es ist nun einmal 
so, daß mancher gar nicht verderbter oder sittenloser, sondern gebildeter, 
arbeitskräftiger, idealdenkender Mensch etwas sehr Wesentliches mit der 
Möglichkeit der Geschlechtsbetätigung zu verlieren glaubt. Das ist eine 
Erfahrungstatsache, um die wir nicht herumkommen, und es müssen 
schwerwiegende Gründe gebracht werden, einem Menschen diesen Lebens¬ 
wert zu nehmen. Ob Gesundheitsschädigung nun da oder nicht da ist, 
der Mann hat etwas verloren, wenn er sich nicht geschlechtlich betätigen 
darf.“ Auf S. 58 fährt Siebert folgendermaßen fort: „Wenn es auch 
sicher wäre, daß die Enthaltsamkeit keinem schadet, so ist damit noch 
gar nichts für die Notwendigkeit gewonnen. Es fragt sich, ob nicht 
dann, wenn in ganzen Gesellschaftskreisen das Geschlechtsleben zur Ver¬ 
kümmerung gebracht wird, im Ersatz Erscheinungen zu Tage treten, die 
wohl Schädigungen darstellen.“ Und weiter auf S. 61. „Die Enthaltsam¬ 
keit ist sicher nicht die einzige Ursache, die die Verbreitung der Onanie 
und der sexuellen Perversionen bedingen, aber daß sie eine gewaltig 
unterstützende Wirkung ausübt, einen Boden darstellt, auf dem, wenn 
noch ein anderer Anstoß dazu kommt, leicht derartige Verirrungen 
wachsen, das ist wohl nicht zu leugnen.“ 

Die wenigen Zitate geben keineswegs ein erschöpfendes Bild von 
der Anschauung des Verf.; kaum daß sie Sieberts Standpunkt flüchtig 
andeuten. Wer diesen genauer kennen lernen will, muß das Buch selbst 
lesen, und ihm sei die Versicherung gegeben, daß die darauf verwandte 
Zeit ihn nicht gereuen wird. Namentlich denen, für die das Buch in 
erster Linie bestimmt ist, unserer männlichen und weiblichen akademischen 
Jugend, darf die Lektüre des Buches empfohlen werden. 

Max Marcuse (Berlin). 


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178 


Tagcsgeacbichte. 


Tagesgeschichte. 

Norwegen. 

Auf Initiative der Sittlichkeitsvereine und der Arbeiterakademie 
wurden wiederholt in den letzten Jahren in den Arbeitervereinen Christianias 
unentgeltliche populäre Vorlesungen über Geschlechtskrankheiten ge¬ 
halten ; für weibliche Zuhörer durch Ärztinnen. Das Interesse für 
diese Vorträge ist ein sehr großes gewesen. Besonders war auch immer 
das weibliche Geschlecht zahlreich vertreten. Auf Initiative des allge¬ 
meinen Studentenvereines ist eine Vorlesung über dasselbe Thema von 
dem Universitätslehrer für Syphilidologie im Lokal des Studenten Ver¬ 
eines und mit Zutritt für Studierende aller Fakultäten gehalten worden. 


Die Ärzte Christianias müssen dem Gesundheitsamte monatlichen Be¬ 
richt abgeben über die Zahl der von ihnen behandelten Geschlechtskranken. 
Seit der 1888 erfolgten Aufhebung der öffentlichen Bordelle und der 
regelmäßigen präventiven Prostituiertenkontrolle hat die Zahl der ge¬ 
meldeten Geschlechtskranken zunächst eine bedeutende Steigerung erfahren, 
die in den Jahren 1895—99 ihr Maximum erreichte, um dann wieder 
erheblich abzunehmen. Die Steigerung fiel mit einer sehr glänzenden 
Periode im Geschäftsleben Christianias zusammen, mit einer sehr leb¬ 
haften Bautätigkeit, mit Zunahme der Bevölkerung und mit Gelegenheit 
zu sehr reichlichem Verdienste für die Arbeiterschaft. Das Abnehmen 
der Zahl der Geschlechtskranken fiel mit dem Eintreten der ungün¬ 
stigeren Geschäftskonjunkturen, mit Lahmlegung der Bautätigkeit und 
Industrie und Sinken des Arbeitslohnes zusammen. 

Man ist geneigt gewesen, hier einen ursächlichen Zusammenhang 
zu sehen. Natürlicherweise ist die nach der Aufhebung der Kontrolle 
einsetzende Zunahme der Geschlechtskrankheiten von den Reglementaristen 
als Beweis für die Effektivität der Kontrolle angesprochen worden, 
während die nachher eintretende Abnahme von den Abolitionisten als 
Argument gegen diese Wirksamkeit ins Feld geführt wird. 


Zahl der neuen Fälle von Geschlechtskranken in Christiania 1888—1902. 



j Gonorrhoe 
^Männer Weiber 

U1CU8 

molle 

M. w. 

Acquirierte 

Syphilis 

M. | W. 

Hereditäre 

Syphilis 

M. W. 

Summa 

Bevöl¬ 

kerung 

Summe in 
Prozent der 
Bevölkerung 

Fälle v. Sy ph. 
in Pros, der 
Bevölkerung 

1888 

509 

66 

71 

16 

103 

109 

18 

14 

902 

138319 

0,66 

0,18 

1891 

795 

42 

180 

15 

303 

170 

10 

10 

1489 

156535 

0,95 

0,31 

1895 

1482 

126 

387 

34 

518 

206 

26 

14 

2793 

182 856 

1,52 

0,42 

1897 

2031 

173 

447 

46 

450 

233 

25 

25 

3430 

203 337 

1,69 

0,36 

1898 

2125 

207 

433 

51 

565 

259 

25 

27 

3692 

221255 

1,67 

0,40 

1900 

1871 

170 

i 507 

43 

457 

195 

28 

j 26 ■ 

3297 

j 228929 

1,44 

0,31 

1902 

! 1576 

159 

418 

37 

368 | 

196 

20 

28 

2802 

225677 

I 1,24 

0,27 


(Tabelle nach dem Jahresberichte des Gesundheitsamtes für 1902.) 



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Tageggeschichte. 


179 


An den norwegischen Reichstag wurde am 2. Dezember 1901 von 
der königlichen Regierung ein Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung 
geschlechtlicher Krankheiten und öffentlicher Unsittlichkeit ein¬ 
gebracht, von welchem nachstehend ein Auszug folgt: 

§ 1. Das Gesundheitsamt soll einen oder mehrere Ärzte anstellen, die 
die Aufgabe haben: 1. Personen zu untersuchen, die sich geschlechtlich 
angesteckt glauben und sich zur Untersuchung selber vorstellen. 2. Ge¬ 
schlechtskranke zu behandeln, wenn dieses ambulatorisch geschehen kann. 
Diese Untersuchung und Behandlung soll unentgeltlich erfolgen (cfr. § 23). 

§ 2. Personen, die der Aufforderung zur Unzucht beschuldigt werden 
oder denen der Vorwurf gemacht wird, wissend, daß sie syphilitisch sind, 
eine Stelle als Diener angenommen zu haben oder in einer solchen Stelle 
geblieben zu sein, ohne die Herrschaft von der Krankheit zu unterrichten, 
oder aber, obschon syphilitisch, Kinder in Verpflegung genommen zu 
haben, können polizeilich zu ärztlicher Untersuchung aufgefordert werden. 

§ 8. Personen, die wegen eines zu engen Zusammenlebens mit Ge¬ 
schlechtskranken der Anst-ckung sehr ausgesetzt gewesen sind, können 
von dem Gesundheitsamte zur Untersuchung gezwungen werden, oder 
sie müssen ein Attest von einem hierzu autorisierten Arzte beibringen. 
Derselben Bestimmung unterliegen Personen, die als geschlechtskrank, 
speziell als Infektionsquellen angezeigt sind. Der zur Untersuchung 
Aufgeforderte kann binnen zwei Tagen eine gerichtliche Entscheidung 
über die Notwendigkeit der Untersuchung verlangen. 

§ 5. Der Staat soll Sorge tragen, daß die an Syphilis Leidenden 
in Krankenhäusern aufgenommen werden müssen, wenn das Gesundheits¬ 
amt es für geboten hält. 

§ 6. Jeder Geschlechtskranke, der sich nicht zuverlässige Pflege 
verschafft oder die ihm gegebenen Vorschriften nicht befolgt, kann 
durch das Gesundheitsamt dem Kranken hause zugeführt werden, bis die 
Krankheit geheilt und die Gefahr der Übertragung wesentlich vermindert 
ist. Personen, die, an Syphilis in ansteckender Form leidend, es selbst 
wünschen, sollen, wenn möglich, immer durch das Gesundheitsafnt ins 
Krankenhaus überwiesen werden (unentgeltlich, cfr. § 23). 

§ 7. Wenn Syphilitische das Krankenhaus in ansteckungsfähigem Zu¬ 
stande verlassen, soll das Gesundheitsamt davon unterrichtet werden. 
.Das Gesundheitamt kann, solange eine Ansteckung zu befürchten ist, 
dem Kranken gebieten, sich zu bestimmten Zeiten zu ärztlicher Unter¬ 
suchung einzustellen oder ein von einem anderen Arzte über erfolgende 
zuverlässige Behandlung ausgestelltes Attest einzureichen. 

§ 11. Die Ärzte sollen an den Vorstand des Gesundheitsamtes Be¬ 
richt erstatten über die von ihnen behandelten Geschlechtskranken und 
über die Infektionsquellen. In dem in §§ 2—8 abgehandelten Fällen 
sollen die Namen der Kranken angegeben werden, sonst nicht. 

§ 13. Wenn ein Syphilitischer, der noch in d^r Periode der Krank¬ 
heit sich befindet, in welcher ansteckende Rezidive zu befürchten sind, 
aus der Behandlung eines Arztes scheidet, soll der Arzt den Fall beim 
Gesundheitsamt anzeigen. 

§ 14. Kinder, die an Syphilis leiden oder syphilisverdächtig sind, 
dürfen weder gestillt werden von Personen, die dadurch der Ansteckung 


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180 


Tagesgeschichte. 


ausgesetzt werden, noch bei Fremden in Verpflegung gebracht werden, 
ohne daß diese von der Ansteckungsgefahr unterrichtet sind. Als ver« 
däcbtig wird ein Kind angesehen, wenn seine Mutter syphilitisch ist oder 
war, und das Kind noch nicht vier Monate alt ist. Eine Hebamme, die ein 
Kind syphilisverdächtig findet, soll dem Gesundheitsamt Anzeige machen. 

§ 15. Kinder, die noch nicht ein Jahr alt bei Fremden in Pflege 
gegeben werden, müssen dem Gesundheitsamt gemeldet werden. Das 
Gesundheitsamt soll das Kind untersuchen lassen. 

§ 18. Das Gesetz vom 6. Juni 1896 von der Behandlung vernach¬ 
lässigter Kinder (Absonderung von den Eltern, Anbringen in Erziehungs¬ 
anstalten u. s. w.) kommt zur Anwendung auch Mädchen gegenüber, die 
über 16, aber weniger als 18 Jahre alt sind, wenn sie ein Betragen 
zeigen oder unter Verhältnissen leben, die begründete Furcht erwecken, 
daß sie sittlich verdorben sind oder es werden können. 

§ 19 In Wirtschaften, wo berauschende Getränke verkauft werden, 
kann weibliche Bedienung polizeilich verboten werden. Ebenso kann polizeilich 
untersagt werden, daß Mädchen unter 21 Jahren als Gesinde in den¬ 
jenigen Gasthäusern angenommen werden, in denen zugleich Reisenden 
Logis und Herberge gewährt wird. 

§ 21. Die Untersuchung von Frauen und Mädchen, soll, wenn 
möglich, durch Ärztinnen vorgenommen werden oder wenigstens in Gegen¬ 
wart eines weiblichen Beamten. 

§ 23. Die Kosten bei den in diesem Gesetz vorgesehenen ärztlichen 
Untersuchungen liegen der Gemeinde ob. Die Kosten bei Behandlung 
Geschlechtskranker außerhalb des Krankenhauses trägt die Gemeinde, 
wenn die Kranken gesetzlich von der Zahlung befreit sind (cfr. § 1) 
oder nicht selbst bezahlen können. Wenn jemand nach Beschluß des 
Gesundheitsamtes wegen einer Geschlechtskrankheit ins Krankenhaus 
überführt ist, liegen die Kosten dem Staate ob, wenn es sich um 
Syphilis handelt, und sonst der Gemeinde, falls der Kranke nicht selbst 
zu bezahlen vorzieht. 

§ 26. Übertretung der §§ 9—15, 19 und 22 dieses Gesetzes werden 
mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. 

Die Behandlung des oben skizzierten Gesetzentwurfes, der schon 
früher in etwas anderer Redaktion vorlag, aber unter dem Einflüsse von 
Sittlichkeits- und Frauenvereinigungen zu der jetzt vorliegenden Form um¬ 
redigiert worden ist, wurde von dem letzten Reichstage aufgeschoben. 
Nach der in diesem Herbste erfolgten Änderung der Regierung wird 
es sich vielleicht ereignen, daß der Entwurf erst nach nochmaligem 
Umredigieren den Abgeordneten wieder vorgelegt werden wird. 

Heiberg Hansteen (Christiania). 

Schweiz. 

Veranlaßt durch ein Initiativbegehren, welches die Wieder¬ 
einführung von Bordellen zum Gegenstand hat, wird am 31. Januar 
im Kanton Zürich eine Volksabstimmung über die Zulassung von 
Bordellen stattfinden. Wir werden über das Ergebnis dieser Abstimmung 
im nächsten Heft Bericht erstatten. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903/4. Nr. 5. 


Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten beitragen? 

Vortrag, gehalten in Breslau auf der Jahresversammlung von 

Ortskrankenkassen im Deutschen Reiche, Sept 1903, von 

Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Albert Neisser. 

(Fortsetzung.) 

Ich habe soeben von der Hebung der Moral gesprochen und 
dem Gedanken, daß alle Kreise, demgemäß auch die Kranken¬ 
kassen, diesen Bestrebungen so weit als möglich ihre Unterstützung 
zuteil werden lassen sollen, Ausdruck gegeben. Je weniger ich 
aber von einer direkt erziehlichen Einwirkung in diesem Sinne 
auf geschlechtlichem Gebiete erwarte, um so wichtiger erscheint es 
mir, daß die praktischen Maßnahmen, welche zu einer Hebung 
des gesamten sittlichen Niveaus der in Betracht kommenden 
Bevölkerungsschichten führen können, auf das lebhafteste unter¬ 
stützt werden. Ich denke hier besonders an zwei Institutionen, 
an deren Einführung besonders auch vom Standpunkte der Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten aus, mir die Krankenkassen 
wesentlich interessiert erscheinen; ich meine die Einführung der 
obligatorischen Fortbildungsschulen und ferner die Be¬ 
seitigung des Schlafgängerwesens durch den Bau von 
Ledigenheimen. 

Bei beiden Maßnahmen handelt es sich um Bestrebungen, die 
heranwachsende Jugend sittlich und intellektuell zu 
heben und sie den schädlichen Einflüssen speziell des 
Großstadtlebens und des Wohnungselends zu entziehen; 
ganz abgesehen von der Rückwirkung, welche insbesondere die 
Beseitigung des Schlafgängerwesens für das moralische Niveau 
ungezählter Familien und der in ihnen aufwachsenden 
Kinder, die später Kassenmitglieder werden, haben würde. Ich 

Zeitochr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke IL 14 


% 


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182 


Neisser. 


weiß sehr wohl, daß die Krankenkassen nicht aus eigener Kraft 
diese Maßnahmen durchführen können; aber in allen großen 
Städten ist die Zahl der Kassenmitglieder und der mit ihrer 
Organisation befaßten Personen so groß, daß sie wohl auf die 
maßgebenden Behörden einen drängenden Einfluß durch bewußte 
Propaganda ausüben können. 

Und was die Aufgabe betrifft, die Jugend vor dem Hinab¬ 
sinken in die Prostitution zu schützen, so wird zwar nie und 
nimmer die Prostitution aus der Welt geschafft werden können? 
weil es jederzeit Mädchen geben wird, die bei der nun einmal be¬ 
stehenden Nachfrage der Männer das Leben einer Prostituierten 
jedem anderen vorziehen werden; aber ebenso richtig ist es, daß 
unzählige nur deshalb Prostituierte werden, weil im entscheiden¬ 
den Augenblick die haltende und helfende Hand, welche vorüber¬ 
gehende Not beseitigt, Arbeit verschaffte, Unterkunft und Obdach 
bot, nicht zur Stelle war. In der überwiegenden Mehrzahl der 
Fälle ist der Übergang vom normalen Erwerbsleben zur 
Prostitution ein ganz allmählicher. Es ist also wohl daran 
zu denken, daß die Krankenkassen ihren jüngeren weiblichen Mit¬ 
gliedern nicht nur bei Krankheiten ärztliche Hilfe gewährten, son¬ 
dern Institutionen schüfen, die ihnen in Zeiten der Not und eigenen 
Hilflosigkeit mit Rat und Tat zur Seite stünden. 

Vielleicht lassen sich Mittel und Wege finden, um seitens der 
Kassen beschäftigungslosen Arbeiterinnen vorübergehend 
Unterkunft und Erwerb zu schaffen oder ihnen wenigstens mit 
Auskunft und juristischem Rate zur Seite zu stehen. Namentlich 
wäre dann, wenn Personen wegen Beendigung des die Mitglied¬ 
schaft begründenden Arbeitsverhältnisses aus einer Kasse aus¬ 
treten wollen, zu solcher Ratserteilung und sozialer Hilfeleistung 
der richtige Augenblick; auch sollte dann niemals die Belehrung 
darüber ausbleiben, daß es jedem Mitglied frei stehe, frei¬ 
willig Mitglied der Kasse zu bleiben. Besonders häufig 
kommt es vor, daß die Versicherten bezüglich ihrer Rechte nach 
Austritt aus der Kasse nicht informiert sind. Viele Mitglieder 
legen die Arbeit nieder, weil sie krank sind und treten aus der 
Kasse aus, lassen aber aus Unkenntnis dann die dreiwöchentliche 
Frist, während welcher sie noch auf die seitens der Kasse zu ge¬ 
währenden Leistungen Anspruch haben, verstreichen und so kommen 
sie dann zum Arzt und wünschen Aufnahme ins Krankenhaus, 
ohne daß dann noch die Kasse verpflichtet wäre, die dafür er- 


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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 183 


wachsenden Kosten zu tragen. So verfallen sie in vielen Fällen 
der Armenpflege oder werden zu gröbster Vernachlässigung ihrer 
Krankheit veranlaßt. 

Waren die eben besprochenen Maßnahmen mehr allgemeinerer 
Art, mehr oder weniger hinzielend auf Einschränkung des Ge¬ 
schlechtsverkehrs und Beseitigung der zu einem solchen führenden 
Verhältnisse, so komme ich jetzt zu der Besprechung der Frage, 
ob es nicht möglich wäre, den nun einmal bestehenden Geschlechts¬ 
verkehr seiner Gefahren zu entkleiden. 

In erster Reihe kommen hier in Betracht alle die Versuche, 
durch Schutzmaßregeln vor oder nach dem Beischlaf die An¬ 
steckung zu verhüten. 

Es ist hier nicht der Platz, ausführlich auf diese Frage ein¬ 
zugehen. An der Möglichkeit, sich gegen das Eindringen von 
venerischen Giften zu schützen, oder eben eingedrungenes Gift 
sofort wieder abzutöten, so daß es eine Krankheit nicht zur Ent¬ 
wickelung bringen kann, besteht kein Zweifel. Über die Methoden 
und wissenschaftlichen Grundlagen solcher prophylaktischer Ma߬ 
regeln ist gerade in den letzten Jahren sehr viel gearbeitet 
worden und die Industrie hat sich der Erzeugung entsprechender 
Schutzbestecke u. dergl. bereits in ausgiebigster Weise bemächtigt 

Die Frage ist nur die: soll man überhaupt solche Schutz¬ 
maßregeln propagieren und wie soll man es tun? 

Die erste Frage wird von vielen Seiten verneint und die Be¬ 
fürchtung ausgesprochen, daß die allgemeine geschlechtliche Un¬ 
sittlichkeit noch größer werden würde, wenn durch Beseitigung der 
mit dem Geschlechtsverkehr verbundenen Gefahren die Angst vor 
der Ansteckung, die doch in vielen Fällen ein Motiv zur Unter¬ 
lassung des Geschlechtsverkehrs darstellte, wegfiele. Es liegt sicher¬ 
lich etwas Richtiges in diesem Gedankengange. Aber man wird, 
und leider wohl mit Recht, dem entgegenhalten müssen, daß bis¬ 
her wenigstens die Angst vor der Ansteckung nicht ausgereicht 
hat, um in irgendwie erheblicher Weise außerehelichen Geschlechts¬ 
verkehr zu verhüten, und daß leider auch kein Anzeichen vorliegt, 
auf eine Steigerung der Enthaltsamkeit in der Bevölkerung rechnen 
zu dürfen. 

Man wird also, wenn man mit den realen Tatsachen rechnen 
will, wohl oder übel sich die Frage vorlegen müssen: sollte es 
nicht gelingen, weite Kreise der Bevölkerung, die vom Geschlechts¬ 
verkehr nicht zurückzuhalten sind, vor den Gefahren desselben 

14* 


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184 


Neisser. 


dadurch zu bewahren, daß man ihnen die zur Verhütung der An¬ 
steckung geeigneten Mittel in die Hand gibt? 

Der Beweis, daß solche prophylaktische Maßnahmen von Er¬ 
folg gekrönt sind, ist bereits durch Versuche, welche sowohl in 
der Handels- wie in der Kriegsmarine gemacht worden sind, er¬ 
bracht. Aber was sich in solchen, ich möchte sagen geschlossenen 
und einer besonderen Disziplin unterworfenen Bevölkerungsklassen 
durchführen läßt, läßt sich nicht ohne weiteres in der freien fluk¬ 
tuierenden, Belehrung und Disziplin viel unzugänglicheren Kassen¬ 
bevölkerung durchführen. Aber für ausgeschlossen halte ich 
durchaus nicht, die Kassenmitglieder auf die Möglichkeit 
einer solchen Prophylaxe hinzuweisen und denjenigen, welche 
informiert werden wollen, eine Belehrung zugänglich zu 
machen. Natürlich kann das nur mit Zuhilfenahme der Arzte 
geschehen und auch hier wird es großer Diskretion und großen 
Taktes bedürfen, um die Belehrung in der richtigen Weise zu 
erteilen. Abgesehen davon, daß bei solcher Belehrung immer 
darauf hingewiesen werden müßte, daß Enthaltsamkeit nach jeder 
Richtung hin empfehlenswert und nützlich sei, wäre zu betonen, 
daß auch die prophylaktischen Maßregeln nicht absolut 
sicher schützen, sondern nur in einem gewissen Grade die Ge¬ 
fahr aus der Welt schaffen. 

Die Belehrung hätte nicht nur bei männlichen, sondern 
auch hier bei weiblichen Mitgliedern durch geeignete weibliche 
Personen: Pflegerinnen, Ärztinnen zu erfolgen; vielleicht weniger 
mit dem direkten Hinweise, daß es sich um Vermeidung geschlecht¬ 
licher Ansteckung handle, als mit der Betonung der Notwendigkeit 
peinlichster Sauberkeit und körperlicher Pflege. Anhänger des 
Neo-Malthusianismus werden solche Belehrungen vielleicht auch 
darauf ausgedehnt wissen wollen, der Empfängnis vorzubeugen. Läßt 
sich doch nicht leugnen, daß in unzähligen Fällen die außereheliche 
Schwängerung und die Geburt eines unehelichen Kindes der Anfang 
der schließlich zur Prostitution und ins äußerste Elend führenden 
Demoralisation der Mädchen darstellt; zumal bei uns in Deutsch¬ 
land, wo weder die Alimentations-Gesetzgebung, noch genügende 
Fürsorge für uneheliche Kinder solche Mütter unehelicher Kinder 
schützt. 

Alle die eben besprochenen Maßnahmen der Belehrung durch 
Vorträge und Druckschriften, der Verabreichung von zur Pro¬ 
phylaxe dienenden Medikamenten und dergl. mehr würden den 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 185 


Kassen unter Umständen nicht unbeträchtliche Ausgaben auferlegen. 
Es ist aber gesetzlich nicht klar, ob die Kassen das Recht 
haben, für eben diese Zwecke, die also nicht Krankheits¬ 
heilung, sondern Krankheitsverhütung in sich schließen, 
Geld aufzuwenden. Deshalb hat auch Blaschko mit Recht 
schon in seinen auf der Brüsseler Konferenz aufgestellten Thesen 
den Satz vertreten: „es muß den Krankenkassen gestattet 
sein, Ausgaben für die hygienische Wohlfahrt ihrer ge¬ 
sunden und kranken Mitglieder und sonstigen Zwecke der 
Krankheitsprophylaxe zu machen.“ 

Während die eben besprochenen Fragen zu den allerweit¬ 
gehendsten Diskussionen Anlaß geben, ebenso lebhafte Verteidiger 
wie schärfste Gegner finden werden, dürfte darüber, daß der Ver¬ 
breitung der Geschlechtskrankheiten kein wirksameres 
Mittel entgegengesetzt werden könnte, als durch möglichst 
schnelle Heilung aller bereits Erkrankten, wohl kein Zweifel 
bestehen. 

Ist für die Behandlung der Kranken in genügender Weise 
gesorgt? 

Betrachtet man die Bestimmungen des neuen mühsam er¬ 
rungenen Gesetzes, wie es am 1. Januar 1904 in Kraft treten 
wird, so wird man durchaus geneigt sein, diese Frage zu bejahen. 

Jeder Kranke, der sich meldet, erhält nicht nur, wie bisher, 
vom Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei 
und alle zur Behandlung notwendigen Heilmittel, sondern auch 
im Falle der Erwerbslosigkeit ein Krankengeld. Diese Unter¬ 
stützung wird ferner auf 2b Wochen, also in einer für die meisten 
Fälle ausreichenden Dauer (statt wie bisher auf 13 Wochen) ge¬ 
währt; ebenso kann Kur und Verpflegung in einem Krankenhause 
gewährt werden. 

Und dennoch wird es lediglich von dem Geiste, in 
dem die Krankenkassen diese Gesetzesbestimmungen hand¬ 
haben, abhängen, ob das Ziel der Eindämmung der Ge¬ 
schlechtskrankheiten erreicht wird oder nicht. Vor allem 
anderen wird es darauf ankoramen, welchen Standpunkt die Kassen 
fortan der Frage der Krankenhausbehandlung Geschlechts¬ 
kranker gegenüber einnehmen werden. 

Der bisherige Zustand war ein sehr unerfreulicher; es 
hatte sich auf der einen Seite eine außerordentlich starke Zunahme 
der Geschlechtskranken im Reiche herausgestellt, zu gleicher Zeit 


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186 


Neisser. 


aber eine auffallende Abnahme der Zahl der in den Kranken¬ 
häusern behandelten Geschlechtskranken. Während nämlich in den 
Krankenhäusern Preußens seit dem Jahre 1877 die Zahl der 
Kranken überhaupt auf das Dreifache gestiegen ist, sank die Zahl 
der daselbst untergebrachten Geschlechtskranken von 79 pro Mille 
der Gesamtbelegschaft im Jahre 1877 auf 43°/ 0 o Jahre 1699. 
Bei der Syphilis ist der Abfall noch auffallender, er sinkt von 61 
auf 25°/ 00 i n J en gleichen Jahren. 

Von meinem wissenschaftlichen und ärztlichen Standpunkte 
aus muß ich nun den Satz aufstellen, daß bei allen frischen 
Fällen venerischer Erkrankung die Krankenhausbehand¬ 
lung der ambulatorischen Behandlung im Interesse 
schneller und sicherer Heilung bei weitem vorzuziehen 
ist Der bemittelte Patient freilich, der in der Lage ist, sich zu 
schonen und zu pflegen und einen ausgebildeten Wärter zu be¬ 
zahlen, kann die Behandlung in seinem Hause durchführen lassen. 
Wo aber ein derartig technisch geübter Wärter nicht zur Ver¬ 
fügung steht, wird einzig und allein das Krankenhaus imstande 
sein, einerseits eine gute und sorgsame Behandlung bei ge¬ 
eigneter Kost und Pflege zu garantieren, andererseits alle 
die Heilung beeinträchtigenden Gewohnheiten und Schädlichkeiten 
des täglichen Lebens und Berufes fern zu halten. Die Erfahrung 
lehrt tagtäglich, daß selbst intelligente und für ihre Heilung be¬ 
sorgte Menschen außerhalb des Hospitals die Behandlung trotz 
sorgfältigster ärztlicher Anweisung nur in ganz ungenügender Weise 
durchführen. Erst im Hospital erlernen auch die Patienten sich 
selbst zu behandeln. Namentlich die Anfangsbehandlung 
sollte stets im Hospital geschehen, denn je energischer und 
sorgsamer gerade im Frühstadium der Erkrankung die Behandlung 
derselben erfolgt, desto leichter ist es, die Krankheitsdauer abzu¬ 
kürzen und die Heilung zu beschleunigen. Aber auch wenn solche 
definitive Heilung sich nicht in kurzer Zeit bewerkstelligen läßt, 
so wird es möglich sein, durch rationelle Maßnahmen wenigstens 
bald den Krankheitsprozeß in ein Stadium überzuführen, in welchem 
der Erkrankte ohne Gefahr für sich und seine Mitmenschen ent¬ 
lassen werden kann und in welchem er seine Arbeitsfähigkeit 
wieder besitzt. Die ärztlichen Methoden sind jetzt derart ausge¬ 
bildet, daß, insofern nur zu Beginn der Krankheit Krankenhaus¬ 
behandlung eingewirkt hat, für die Folge dann ambulatorische 
Behandlung ohne Schaden eintreten kann. 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 187 

Beim Tripper der Männer würden sicherlich die allermeisten 
Fälle von Entzündung und Vereiterung der Nebenhoden und der 
Vorsteherdrüse, bei Frauen das Hinauf kriechen in die Gebärmutter 
und Eileiter, beim Schanker das Hinzutreten der Leistendrüsen- 
Vereiterung vermieden werden, wenn in allen Fällen Krankenhaus¬ 
behandlung bezw. eine entsprechende, mit erzwungener Ruhe ein¬ 
hergehende Pflege stattfände. Eine rationelle Behandlung des 
weiblichen Trippers scheint mir sogar außerhalb eines Kranken¬ 
hauses ganz unausführbar. Aber auch hinsichtlich der Syphilis 
muß ich von meinem ärztlichen Standpunkt dafür plädieren, daß 
wenigstens die erste Kur, die ein Syphiliskranker durchzumachen 
hat — und womöglich auch noch in den ersten drei Krankheits¬ 
jahren noch je eine weitere Kur — im Krankenhaus absolviert 
werde. Das, was ich wenigstens eine gute und energische 
Syphiliskur nenne, läßt sich außerhalb eines Krankenhauses 
nicht durchführen; denn es handelt sich dabei nicht bloß um 
die einfache Quecksilberzufuhr, sondern auch um die Anwendung 
von Bädern, von Schwitzkuren, um sorgfältige Ernährung mit 
steter Kontrolle des Körpergewichtes, um Vermeidung der mit 
energischer Quecksilberanwendung hin und wieder verbundenen 
Mund- und Darmstörungen, Dinge, eben nur unter fortwährender 
ärztlicher Kontrolle einerseits und mit Zuhilfenahme aller im 
Hospital zur Verfügung stehenden Hilfsmittel andererseits, durch¬ 
zuführen. Meines Erachtens kann ein Arbeiter, der von früh bis 
abends angestrengt tätig sein soll, ein Unbemittelter, der sich nicht 
genügend ernähren kann, eine solche energische Kur, wie ich sie 
im Sinne habe und für notwendig erachte, und die ich bei jedem 
Bemittelten kategorisch verlange, nicht außerhalb eines 
Krankenhauses durchführen. 

Aber die Kassenverwaltungen — wird man mir erwidern — 
sind nicht in der Lage, alle ärztlichen Ideale zu verwirklichen; 
sie müssen sich nach den vorhandenen Mitteln richten. Das gebe 
ich ohne weiteres zu. Aber ich kann es nicht für erwiesen er¬ 
achten, daß die Finanzen der Kassen so wesentlich geschädigt 
werden würden, wenn Krankenhausbehandlung häufiger als bisher 
gewährt würde. Unter der Herrschaft des alten § 6a allerdings 
war die Spannung zwischen den Kosten der Krankenhausbehand¬ 
lung einerseits und der ambulatorischen Behandlung andererseits, 
bei welcher ja kein Krankengeld gewährt zu werden brauchte, über¬ 
aus hoch. Nunmehr aber, wo den Hospitalkosten auf der einen 


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188 


Neisser. 


Seite Arzthonorar, Medikamente und Krankengeld auf der 
anderen Seite gegenüberstehen, wird die Kostendifferenz in der 
Regel nicht mehr sehr erheblich sein. Zuzugeben ist allerdings, 
daß die Zahl der Geschlechtskranken, die die Kassenleistungen 
überhaupt in Anspruch nehmen werden, unter der Herrschaft des 
neuen Gesetzes wesentlich zunehmen wird, weil die früher nicht 
vorhandene Lockung des Krankengeldes mehr Kranke als früher 
zur Anzeige ihrer Erkrankung veranlassen wird. Zuzugeben ist 
daher auch, daß die absoluten Kosten für die Kassen wesentlich 
steigen werden. Aber für eine sehr verfehlte Finanzpolitik würde 
ich es erachten, wenn die Kassen dieses Mehr an Ausgaben durch 
übermäßige Beschränkung der Hospitalbehandlung von Geschlechts, 
kranken einzubringen versuchen sollten. Denn es besteht für mich 
kein Zweifel, daß ohne Krankenhausbehandlung so unendlich hohe 
Summen für die Behandlung von Nacherkrankungen und 
schweren Komplikationen aufgewendet werden müssen, deren 
Aufwendung vermieden werden könnte, wenn rechtzeitige Hospital¬ 
behandlung der frischen Erkrankungen stattgefunden hätte, daß 
im ganzen betrachtet die Ausgaben einer Kasse, welche das 
von mir vertretene Prinzip verfolgt, eher geringer als höher sein 
würden, als die Ausgaben einer Kasse, die mit der Hospitalbe¬ 
handlung allzusehr knausert Allerdings dürfen — und das ver¬ 
langen die Kassen mit Recht — die ihnen fürs Krankenhaus an¬ 
gerechneten Verpflegungssätze nicht zu hoch bemessen sein. 
Soweit ich aber orientiert bin, ist seitens aller großen Kommunen 
auf diese Forderung Rücksicht genommen und der Verpflegungs¬ 
satz der Kassenmitglieder weit geringer als die Selbstkosten 
betragen. Mir scheint ein solches Entgegenkommen eine selbst¬ 
verständliche Pflicht, welche Staat und Gemeinde erfüllen müssen; 
denn die steuerzahlende und demgemäß zur Behandlung der 
kranken Kassenmitglieder beitragende Gesamtheit ist mitinteressiert 
am Kampfe gegen die durch die Geschlechtskrankheiten herbeige¬ 
führten sozialen und hygienischen Schädigungen ihrer Mitglieder. 

Ja, man könnte sogar den Gedanken erwägen, den Geschlechts¬ 
kranken einen noch billigeren Verpflegungssatz als den 
übrigen Kranken zu gewähren; nicht als wenn man die Geschlechts¬ 
kranken besser behandeln wolle, aber vom Standpunkte der 
Seuchenbekämpfung aus, um die Kassen zu bewegen, möglichst 
viele Kranke der Hospitalbehandlung zu überweisen. 

Häufig sind es nun die Kranken selbst, welche sich einer 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 


189 


Hospitalbehandlung widersetzen. Begreiflich ist ein solcher Wider¬ 
stand gerade bei den ordentlichen und auf Verdienst ausgehenden 
Mitgliedern, welche glauben, ohne Schädigung ihrer Gesundheit die 
Arbeit weiter fortsetzen zu können. Auch bei Erwerbsunfähigen 
wird dieser Widerstand unter der Herrschaft des neuen Gesetzes, 
welches Krankengeld zusichert, noch stärker sein, weil sie bei 
Behandlung im Hause das ganze Krankengeld erhalten und, 
wenn sie verheiratet sind, dies ihren Angehörigen zuwenden können. 
Den Ortskrankenkassen ist ja allerdings gestattet (§ 21), ihre den 
Kranken gewährten Leistungen zu erhöhen, aber es ist nicht zu 
erwarten, daß sie von dieser gesetzlichen Ermächtigung, nament¬ 
lich bei unverheirateten Erkrankten, einen umfassenden Gebrauch 
machen werden. 

Man wird auch hier durch Belehrung und Aufklärung mancher¬ 
lei erreichen können. Unverheirateten namentlich müßte es wohl 
in allen Fällen klar zu machen sein, daß sie im Falle von Er¬ 
werbslosigkeit im Hospital besser wegkommen, als wenn sie außer¬ 
halb desselben sich verpflegen müssen; denn nur in seltenen 
Fällen wird das ihnen gewährte Krankengeld ausreichen, um alle 
zu einer guten Pflege erforderlichen Ernährungs- und Stärkungs¬ 
mittel zu verschaffen. 

Es sind aber nicht immer finanzielle Erwägungen, auf denen 
die Abneigung, sich ins Krankenhaus zu begeben, beruht. Oft ist 
es die Befürchtung, daß andere von der Krankheit etwas erfahren, 
die Scheu vor den mit dem Hospitalaufenthalt verbundenen Be¬ 
schränkungen der Bewegungsfreiheit und endlich auch das bekannte 
weit verbreitete Vorurteil, die den Widerstand gegen Hospitalauf¬ 
nahme erzeugen. Man kann hier nur helfen, wenn man darauf 
hinwirkt, daß alle berechtigten und erschwinglichen Wünsche 
der Patienten seitens der Krankenhaus-Verwaltungen 
erfüllt werden und daß namentlich die immer noch nicht überall 
durchgeführte Gleichstellung der Geschlechtskranken mit den 
anderen Patienten verwirklicht werde. 

Bei weiblichen Patienten ist einer der wichtigsten Punkte, 
daß auf das strengste für eine Trennung der freiwillig ins 
Hospital eintretenden Kranken von den seitens der Polizei zwangs¬ 
weise eingelieferten Prostituierten durchgeführt werde. Es wäre 
sogar sicherlich richtig, die für die Gewerbs-Prostituierten be¬ 
stimmte Abteilung ganz von dem Hospital, in welchem freiwillig 
eintretende Patienten untergebracht werden sollen, zu trennen. 


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190 


Neisser. 


Freilich müßten die Krankenkassen andererseits dafür die 
Verpflichtung übernehmen, einem jeden Geschlechtskranken freie 
Kur und Verpflegung im Krankenhause zu gewähren, während jetzt 
die Kassen nicht verpflichtet sind, selbst einer ärztlichen Ver¬ 
ordnung oder dem Wunsche des Patienten, in ein Hospital ein¬ 
zutreten, nachzugeben. Von der Verpflichtung zur Verpflegung 
dürften die Kassen nur dann entbunden werden, wenn der Kassen¬ 
arzt bescheinigt, daß weder die Art der Erkrankung Anforderungen 
an die Behandlung stellt, denen seitens des Erkrankten außerhalb 
des Krankenhauses nicht genügt werden könnte, noch der Krank¬ 
heitszustand für die Familienangehörigen des Kranken oder dritte 
Personen irgend welche Ansteckungsgefahren mit sich bringt. 

Dennoch bin ich natürlich weit entfernt davon, zu hoffen, daß 
der Gedanke einer Krankenhausbehandlung für alle frisch er¬ 
krankten Kassenmitglieder in absehbarer Zeit verwirklicht werden 
würde. Schon die Raumverhältnisse in unseren Hospitälern 
stehen dem entgegen. So gut auch das Deutsche Reich, wenig¬ 
stens im Verhältnis zu anderen Kulturstaaten mit Krankenhäusern 
versehen ist, verfugt es auch nicht über eine annähernd genügende 
Zahl von Betten, um alle frischen Fälle von geschlechtlichen Er¬ 
krankungen unterzubringen. 

Können also nicht alle untergebracht werden, n&oh welchen 
Kriterien soll die Entscheidung getroffen werden, ob Krankenhaus¬ 
behandlung eintreten soll oder nicht? 

In erster Reihe wird natürlich die Art der Erkrankung zu 
berücksichtigen sein. Begutachtet der Arzt, daß sie Krankenhaus¬ 
behandlung zwingend erfordert, so wird diese eventl. auch gegen 
den Willen des Kranken selbst in allen Fällen eintreten müssen. 
Den Kassen stehen ja durch Versagung der Kassenleistungen in¬ 
direkte Zwangsmittel genügend zu Gebote. 

Hiervon abgesehen wird es einer Prüfung bedürfen, ob durch 
die persönlichen Eigenschaften des Kranken und die Ver¬ 
hältnisse, unter denen er lebt, eine ausreichende Gewähr 
dafür gegeben wird, daß die vom Arzte angeordneten Ma߬ 
nahmen auch außerhalb des Krankenhauses sorgfältig 
und konsequent durchgeführt werden. Und weiter wird sich 
die Prüfung darauf erstrecken müssen, ob die Umgebung des 
Erkrankten vor Ansteckungsgefahr genügend gesichert ist, 
wenn der Kranke in seiner Behausung verbleibt 

Was die Ansteckungsgefahr betrifft, so wird man beiVer- 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 191 


heirateten einen strengeren Maßstab anlegen müssen, als bei Un¬ 
verheirateten. Zwar liegt bei letzteren die Gefahr vor, daß sie, 
wenn sie in frivoler Weise weiter geschlechtlich verkehren, eine 
größere Anzahl von Personen gefährden und infizieren. Aber es 
entspricht doch wohl unseren sittlichen Anschauungen, vor allen 
Dingen die Familie des Erkrankten, die sich ja, wenn sie im 
Hanse ist, der Berührung mit ihm viel weniger entziehen kann, 
vor Infektion zu schützen. Während also sonst die Versicherungs¬ 
gesetze gerade die Verheirateten hinsichtlich der Einweisung ins 
Krankenhaus besonders schonend behandeln, wird man bei Ge¬ 
schlechtskrankheiten den umgekehrten Standpunkt ein¬ 
nehmen müssen. 1 ) 

Auf einen weiteren Gesichtspunkt hat Blaschko hingewiesen, 
indem er obligatorische Krankenhausbehandlung verlangte 
für die in den Nahrungs- und Genußmittelgewerben Be¬ 
schäftigten: Bäcker, Schlächter, Kellner, Kellnerinnen, Tabak¬ 
arbeiter und -Arbeiterinnen, Glasbläser, Barbiere, Friseure u. dergl., 
also für alle diejenigen, welche bei Ausübung ihres Berufes zu 
direkten oder indirekten Ansteckungen Veranlassung geben können. 
Wenn auch nicht jeder so weit gehen wird, wie Blaschko es ver¬ 
langt, so ist doch auch dieser Gesichtspunkt sicherlich im höchsten 
Grade beachtenswert 

Allein wie wollen es die Kassenverwaltungen anfangen, um 
über die Charaktereigenschaften, die persönlichen und häuslichen 
Verhältnisse des Erkrankten ein einigermaßen zuverlässiges Urteil 
und damit die Unterlage für die Entscheidung über die Notwendig¬ 
keit von Krankenhausbebandlung zu gewinnen? 

Das wirksamste Hilfsmittel würde die von einigen Kassen be¬ 
reits ins Leben gerufene Institution der Krankenkontrolleure er¬ 
scheinen. Kampffmeyer hat in seinem Referat auf dem 1. Kon¬ 
greß der Deutschen Gesellschaft in Frankfurt, wie ich glaube mit 
Recht, die große Bedeutung einer solchen Kontrolle betont Eine 


*) Daß meine Forderung nicht unberechtigt ist, geht wohl am besten 
aus folgender Tatsache hervor: 

In der Königlichen Poliklinik für Hautkrankheiten zu Breslau wurden 
im Jahre 1903 899 über 21 Jahre alte Männer an ansteckenden Formen des 
Trippers, Schankers und der Syphilis behandelt. Unter diesen 899 waren 
nicht weniger wie 249, 27,7°/ 0 , verheiratet. Von den 249 Verheirateten 
litten 102 Personen an ansteckenden Syphilisformen, d. h. 11,35 °/ 0 der 899 Per¬ 
sonen oder 40,9% der 249 Verheirateten. 


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192 


Neisser. 


von freiwilligen und Berufskontrolleuren seitens der Kassen ans¬ 
geübte Überwachung wird nicht nur unendlichen Segen für die Be¬ 
seitigung des Wohnungselendes mit sich bringen, sondern 
wird auch für die Entscheidung der uns hier wesentlich interessier¬ 
ten Frage die Grundlage liefern: Gibt der Kranke durch sein 
persönliches Verhalten die Gewähr, daß die Anordnungen des Arztes 
wirklich befolgt werden? Lassen die Art, wie der Kranke 
wohnt, die Verhältuisse, unter denen er lebt, einen Erfolg der 
vom Arzte angeordneten Kur erhoffen? Besteht die Gefahr irgend 
einer Krankheitsübertragung? Wie wirksam auch eine derartige 
regelmäßige Kontrolle der Erkrankten auch für die Bekämpfung 
der mit dem Schlafgänger- und Schlafgängerinnenwesen 
verknüpften Unzuträglichkeiten, für die Aufdeckung heimlicher 
Prostitution, für die Bewahrung von Kindern und jugendlichen 
Personen vor Berührung mit der Prostitution und vor dem Ver¬ 
fall in dieselbe sein würde, sei hier nur nebenbei erwähnt. 

Einen ungefähren Begriff von der Bedeutung dieser Kassen¬ 
kontrolleure kann man sich machen, wenn man hört, daß in Frank¬ 
furt a. M. im Jahre 1901 zehn Berufskontrolleure 27691 Besuche 
in den Wohnungen der Kranken unternahmen. 1902 wurde die 
Krankenkontrolle durch 11 Kontrolleure, deren Zahl in den Win¬ 
termonaten um 2—3 erhöht wurde, und einige freiwillige Mit¬ 
glieder ausgeübt. Diese machten 102414 Besuche, davon 76040 in 
Frankfurt selbst. 

Die Kosten einer solchen Institution können nicht unerschwing¬ 
lich sein, und wo vielleicht die einzelnen Kassen nicht imstande 
sind, eigene Kontrolleure anzustellen, könnten wohl mehrere 
Kassen zu einem Verbände zusammentreten. Auch hier muß 
für die finanzielle Berechnung der Gesichtspunkt geltend gemacht 
werden, daß der aus der Kontrolle erwachsenden Belastung auf 
der anderen Seite Ersparnisse gegenüberstehen würden, insofern 
viele Kranke vor Vernachlässigung ihrer Kränkheit, vor Hinzu¬ 
treten schwerer und langwieriger Komplikationen bewahrt blieben. 
Und sollten die Kassen nicht in der Lage sein, aus eigenen Mitteln 
diese meiner Überzeugung nach ungemein segensreiche Einrichtung 
zu treffen, so hätten die Landesversicherungsanstalten und 
auch die Kommunen allen Anlaß, durch pekuniäre Mithilfe ihr 
Zustandekommen zu ermöglichen. Sind doch gerade Tripper und 
Syphilis Krankheiten, welche in unzähligen Fällen nur deshalb 
dauernde Invalidität herbeiführen, weil in den Anfangsstadien 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 


193 


nicht die genügende Sorgfalt bei der Behandlung ge¬ 
waltet hat! 

Für die Durchführung der Krankenhausbehandlung erheben 
sich aber noch einige weitere Fragen: was soll mit solchen 
Kranken geschehen, die sich innerhalb des Kranken¬ 
hauses der unerläßlichen Hausdisziplin nicht fügen, die 
die ärztlichen Vorschriften nicht befolgen, vorzeitig gegen 
den Rat des Arztes ungeheilt das Hospital verlassen? Nament¬ 
lich der letzte Punkt ist von großer Bedeutung. Ginge der Patient 
aus dem Hospital, um sich sofort außerhalb desselben in ent¬ 
sprechend gute ärztliche Behandlung zu begeben, so ließe sich ja 
in den meisten Fällen dagegen niehts einwenden. Sehr häufig ist 
dies aber nicht der Fall, und es fehlt eigentlich an jeder Kontrolle, 
ob und wo und wie sich Kranke weiter behandeln lassen. Und 
noch viel weniger wissen wir etwas darüber, ob Kranke nicht 
trotz ihres ungeheilten noch ansteckungsfähigen Zu¬ 
standes Geschlechtsverkehr treiben. 

In zahlreichen Einzelfällen — namentlich bei prostitutionsver¬ 
dächtigen weiblichen Personen — kann man wohl durch den Hinweis 
auf die Möglichkeit polizeilicher Zwangs- oder Strafma߬ 
regeln erreichen, daß die Betreffenden sich auch nach der Ent¬ 
lassung einer regelmäßigen ärztlichen Behandlung und Überwachung 
unterwerfen. Aber es liegt auf der Hand, daß ein solches Ver¬ 
fahren nicht immer anwendbar, wohl aber immer für die Arzte 
höchst peinlich und mit großen Unzuträglichkeiten verknüpft ist. 
Noch schwerer aber fällt ins Gewicht, daß der Arzt, der sich ein- 
fallen ließe, seine Patienten regelmäßig oder auch nur häufig mit 
der Polizei zu bedrohen, ohne Zweifel sehr bald sich selbst und 
das Krankenhaus, an dem er angestellt ist, ja unter Umständen 
den ganzen ärztlichen Stand bei den in Betracht kommenden Be¬ 
völkerungskreisen derart in Mißkredit bringen würde, daß Arzte 
und Krankenhäuser gemieden, dafür aber die Kurpfuscher in 
Strömen aufgesucht würden. Man würde also dadurch, daß man 
einzelne zu einer sorgsameren Behandlung zwänge, doch den Haupt¬ 
zweck, möglichst viele Kranke gut zu behandeln, nicht nur nicht 
erreichen, sondern geradezu schädigen. Auch hier könnten, wie 
ich glaube, die KassenkontrolJeure wirksam und segensreich 
eingreifen und als Helfer für die seitens der Ärzte für notwendig 
erachtete Durchführung der Behandlung eintreten. Natürlich ge¬ 
hört dazu eine gut organisierte Zusammenarbeit zwischen 


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Neisser. 


Ärzten, Kontrolleuren und dem Krankenhaus, um den ein¬ 
zelnen Kranken in dauernder fortlaufender Beobachtung zu halten. 

Die Aufsicht durch die Kassenkontrolleure würden sich die 
Kranken viel eher gefallen lassen. Die gesamte Entwickelung, 
welche die breiten Schichten unserer Bevölkerung in den letzten 
Jahrzehnten in politischer und sozialer Beziehung durchgemacht 
hat, hat Hunderttausende dazu erzogen, sich willig einem selbst¬ 
geschaffenen für die Allgemeinheit ersprießlichen Zwange zu unter¬ 
werfen, während sie allerdings einer polizeilichen Überwachung 
mehr wie je ablehnend gegenüberstehen. 

Eventuell aber müssen die Kassen von der ihnen gesetzlich 
zustehenden Befugnis, Ordnungsstrafen aufzuerlegen, Gebrauch 
machen. So wurden in Frankfurt a. M. im Jahre 1902 von den 
Kontrolleuren wegen Übertretung der statutarischen Vorschriften 
4259 Anzeigen erstattet und in 2302 Fällen Geldstrafe verhängt 

In neuester Zeit ist der Gedanke aufgetaucht und besonders 
von Dr. W. Becher vertreten worden, die Einrichtung der be¬ 
kanntlich schon seit einigen Jahren für andere Kranke, speziell 
Tuberkulöse praktisch erprobten Erholungsstätten auch für die 
Behandlung und Verpflegung von Geschlechtskranken zu verwerten. 
In der Tat ist die Einrichtung solcher „Tagessanatorien“ billiger 
als die von Krankenhäusern und es läßt sich auch nicht leugnen, 
daß sie manche Vorzüge mit den Krankenhäusern gemein haben. 
So würde man auch in ihnen Erwerbsunfähigen die notwendige 
Pflege und Wartung zuteil werden lassen können; auch in Tages¬ 
sanatorien könnte die gesamte Behandlung in sachgemäßer Weise 
unter Aufsicht von Ärzten und Wartepersonal durchgeführt werden. 
Dennoch glaube ich, daß für Geschlechtskranke — und es würde 
sich ja nur um erwerbsunfähige handeln — immer die Behand¬ 
lung in einem Hospital vorzuziehen ist Die bei Tagessanatorien 
erzielte Ersparnis steht nicht im Verhältnis zu den Nachteilen 
gegenüber der Behandlung in einer geschlossenen Anstalt Ja, ich 
möchte fast glauben, daß der am Abend aus seinem Tagessana¬ 
torium heimkehrende Patient besonders leicht der Versuchung er¬ 
liegen wird, um zuwider den ärztlichen Vorschriften ins Wirtshaus 
zu gehen und sich sonstigen Exzessen hinzugeben. Endlich müßten 
in unserem Klima die Sanatorien auch für den Winter gebrauchs¬ 
fähig sein; dann aber wird ihre Erbauung kaum weniger Kosten 
erfordern, als die Einrichtung eines wirklichen Hospitales. 

(Schluß folgt.) 


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Die Sexualhygiene des Alten Testamentes. 1 ) 

Von Dr. Wolzendorff (Wiesbaden). 


Israel betrachtete sich, — und das mit Recht — als das auser¬ 
wählte Volk. Freilich, neben Jahve hatte es immer allerlei Götter und 
Göttchen gegeben: schon Jakob vergrub dergleichen unter der Terebinthe 
bei Sichern (Gen. 85. 4); die Rahel nahm heimlich mit sich ihres Vaters 
Terafim (Gen. 81. 19); die Mutter Michas ließ ihrem Sohne vom Gold¬ 
schmied ein Bild machen, dadurch sein Haus ein Gotteshaus ward 
(Richter 17. 5), und Josephus berichtet, daß noch zu seiner Zeit in 
Mesopotamien Sitte gewesen (Alerth. 18. 9), Haasgötter zu besitzen und 
mit auf Reisen zu nehmen. Aber diese Dinge wiegen nicht schwerer, 
als manch heidnische Bräuche, wie sie in christlichen Landen heute noch 
gang und gäbe sind. Schlimm dagegen war es, daß das Volk immer 
wieder von Jahve abfiel, um heidnischen Götzen zn dienen, aber auch 
das konnte nicht verhindern, daß die Führer des Volkes stets die ihm 
gewordene weltgeschichtliche Aufgabe im Auge behielten. Zur Erfüllung 
dieser einzigartigen Aufgabe war das Volk von Jahve ausersehen; des¬ 
halb durfte es nicht untergehen; deshalb mußte alles aufgeboten werden, 
seinen Fortbestand zu sichern, es zu befähigen, alle Gefahren zu be¬ 
stehen. Seuchen, wie Kriege, zehrten fort und fort an seinem Leibe. 
Diese Verluste mußten nicht bloß ersetzt, es mußte auch für künftige 
Gefahren stets ein gewisser Vorrat an Menschen bereit gehalten werden. 
Da galt es, die Zeugungsfähigkeit des Volkes in der von der Natur 
allein gewollten Weise zu verwerten und auszunützen, sowie jede Ver¬ 
geudung und Schädigung zu verhindern. Klar und bestimmt erkannten 
des Volkes Führer, daß die erste und wichtigste Grundlage der 
Kraft des Volkes ein gesundes Geschlechtsleben sei; und zu 
seinem Schutze schufen sie jene Gruppe von Gesetzen, die die Sexual¬ 
hygiene ausmachen. Die Gesetzgeber waren sich dessen bewußt, daß 
alles, was sie auf diesem Gebiete taten, volkswirtschaftlich von außer¬ 
ordentlichem Werte sei. Und wenn Israel alle Gefahren des Altertums 
überdauert hat, wenn später in der Diaspora alle Verfolgungen und 
Bedrückungen es nicht zugrunde richten konnten, so verdankt es das 
zu nicht geringem Teil seiner Sexualhygiene. Um diesen Satzungen 
aber das erforderliche Ansehen zu verleihen, wurden sie von Jahve 
selbst oder in seinem Namen gegeben. 

In alttestamentlicher Zeit sind die Menschen von denselben Leiden¬ 
schaften getrieben und beherrscht wie heute, und genau so trachten sie 
danach, diesen Leidenschaften Befriedigung zu verschaffen. Damals wie 

*) Nach einem in der D. G. für B. d. G. in Wiesbaden gehaltenen Vortrage. 


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196 


Wolzendorff. 


jetzt überschreiten diese Bestrebungen die \on Natur, Gesetz und Sitte 
gezogenen Grenzen; sie werden abwegig, verlieren sich ins Widernatür¬ 
liche, schädigen die Gesundheit des einzelnen und schließlich die der 
Gesamtheit. Je nach dem Kulturstande eines Volkes oder einer Zeit 
mag die Form sich ändern, unter der diese Verirrungen in Erscheinung 
treten, — dem Wesen nach bleiben sie sich gleich. Damals wie heute 
suchte man mit Hilfe der Religion und der Gesetzgebung die Leiden¬ 
schaften zu zügeln und alle Ausschreitungen zu verhindern. Gesetz 
und Religion aber sind bei Israel eins, und so kommt es, daß auch 
die Gesundheitsgesetze in religiösem Gewände erscheinen, und daß zwei 
von ihnen sogar in den Dekalog aufgenommen sind. 

Mit großartiger Wahrhaftigkeit deckt das Alte Testament Schäden 
auf, an denen auch unser Volk leidet, die jeder kennt und sieht, deren 
Namen wir aber öffentlich kaum aussprechen dürfen. Denn wir müssen 
noch immer Rücksicht nehmen auf diejenigen unter uns, die ihr lüsternes 
und entartetes Empfinden für ein besonders zartes Scham- und Sittlich¬ 
keitsgefühl ausgeben, und für die daher so recht das Wort Sirachs paßt: 

Behüte mich, Herr Gott, vor unzüchtigem Gesichte 

Und wende von mir alle bösen Lüste. (28. 5). 

Der Kampf gegen die ansteckenden Geschlechtskrankheiten, die in 
jener Zeit mit der einfachen Lebensführung noch von geringer Bedeutung 
sein mochten, bildet nur einen Teil der Sexualgygiene, denn dem ge¬ 
sunden Geschlechtsleben drohen Scharen anderer Gefahren, sonderlich die, 
so vorerst unsre Gedanken- und Vorsteilungsweit vergiften und denen 
oft schwerer beizukommen ist, als der Lues und der Gonorrhöe. 

I. 

Im ersten Kapitel der Genesis (V. 28) heißt es: „Gott (Elohim) schuf 
den Menschen ihm zum Bilde, zum Bild der Gottheit schuf er ihn. 
Und er schuf sie beide, ein Männlein und ein Fräulein. Und Gott 
sprach: ,Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet 
sie euch untertan.“ 4 Daß dieser Befehl, nach der vorliegenden Fassung 
des Alten Testamentes, der erste ist, den Gott an den Menschen richtet, 
ist gewiß kein bloßer Zufall, sondern bewußte Absicht. Und doch stellen 
sich der Verwirklichung dieses Befehles in alttestamentlicher Zeit ebenso 
wie in unseren Tagen Hindernisse über Hindernisse entgegen. Die heute 
herrschenden Hindernisse sind zumeist wirtschaftlicher und gesundheit¬ 
licher Natur; doch machen sich daneben auch andere Einflüsse stark 
geltend. Die moderne Frau, zumal die der „besseren“ Stände, liebt 
häufige Schwangerschaften und Wochenbetten nicht, weil sie dadurch 
gar zu sehr in ihren gesellschaftlichen „Pflichten“ gestört wird, ebenso 
scheut sie die durch Wartung und Pflege der Kinder bedingten Unbe¬ 
quemlichkeiten. Letzteres freilich fällt heute kaum noch ins Gewicht, 
da es auch in unserem Volke mehr und mehr Brauch wird, die Lasten 
der Pflege und die sittliche Verantwortung der Erziehung der Kinder 
gemieteten Personen zu überlassen. Welcher Art diese Gründe auch sein 
mögen, sie alle — mit Ausnahme von Krankheit — führen zu absicht¬ 
licher Beschränkung der Nachkommenschaft und damit zu unsittlichen 


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Die Sexualbygiene des Alten Testaments« 


197 


und schädlichen Surrogaten des natürlichen Geschlechtsverkehrs. Der¬ 
artiges kannte jene Zeit ebensowenig wie den Sadismus, den Masochis¬ 
mus, Flagellantismus und ähnliches; dafür aber machten sich andere, 
nicht minder schlimme Schädlinge geltend, deren Quellgebiet fast aus¬ 
schließlich im Heidentum zu suchen ist. Hier, sonderlich bei den 
Kanaanitern, Ammonitern, Moabitern und Babyloniern herrschte eine 
schier unglaubliche Unzüchtigkeit, die, durch den Kultus gestützt und 
genährt, Israel fortwährend mit einem Einfall bedrohte und so eine stete 
Gefahr für das bis dahin gesunde Geschlechtsleben des Volkes bildete. 
In früher Zeit tat sich besonders die Pentapolis im Tale Siddim, und 
in ihr wieder Sodom durch Sittenlosigkeit und als Heimstätte der wider¬ 
natürlichen Laster der Pädasterie und der Unzucht mit Tieren hervor. 
Als die beiden Männer im Hause Lots weilten, forderten die Sodomiten 
ihre Auslieferung, damit sie sie „erkennten* 1 . Lot weigerte sich dessen 
und sprach: „Ich will euch meine beiden Töchter geben, tut mit ihnen, 
was euch gefällt: allein diesen Männern tut nicht, denn sie sind unter 
dem Schatten meines Hauses** (Gen. 19.1—8). Solches geschah zu Sodom, 
ähnliches erreignete sich in Israel. Zur Zeit der Richter kam ein 
levitischer Mann mit seinem Kebsweibe nach Gibea, im Stamme Benjamin, 
und übernachtete dort. Da sammelte sich vor dem Hause eine Schar 
böser Buben und verlangten die Herausgabe des Mannes, „daß wir ihn 
erkennen**. Der, so ihn beherbergte, trat heraus und bot ihnen seine 
Tochter, eine Jungfrau, an „die mögt ihr zu schänden machen; aber an 
diesem Manne tut nicht solche Gottlosigkeit**. Die Männer gehorchten 
aber nicht, und so gab er ihnen das Kebsweib hinaus. „Die erkannten 
sie und zerarbeiteten sich die ganze Nacht** (Vers 25). Am anderen 
Morgen lag die Frau tot vor des Hauses Tür, die Hände auf der 
Schwelle; so fand sie ihr Mann. Er lud sie auf seinen Esel und fuhr 
heim; dort zerschnitt er die Frau in zwölf Stücke und sandte sie in 
alle Grenzen Israels. Da sammelten sich alle kampffähigen Männer des 
Volkes, schlugen nach dreitägiger Schlacht die Bekannten, hielten ein 
furchtbares Strafgericht üher den ganzen Stamm, und schwuren: „Niemand 
soll seine Tochter den Benjamitern zum Weibe geben (Richter 19—21). 
Auch wenn Jesaias nicht ausdrücklich versicherte „sie rühmen ihre 
Sünde, wie die zu Sodom“ (3. 9), so wüßten wir aus dem Verbrechen 
von Gibea, daß Israel sich nicht frei hielt von den sodomitischen Lastern. 
Andererseits aber beweist das Vorgehen des Volkes gegen den Stamm 
Benjamin, daß es von einer gewaltigen sittlichen Kraft getragen wurde. 

Das Gesetz verbietet beide Laster unter Androhung der Todes¬ 
strafe: „Wenn jemand beim Knaben schläft, wie bei einem Weibe, die 
haben ein Greuel getan und sollen beide des Todes sterben** (Lev. 20. 13, 
und ebenso 18. 22). 

Und ferner: „Wenn jemand beim Vieh liegt, der soll des Todes 
sterben, und das Vieh soll man erwürgen. Und wenn ein Weib sich 
irgend zu einem Vieh tut, daA sie mit ihm zu schaffen hat, die sollst 
du töten und das Vieh auch“ (Lev. 20. 15, 16). 

„Verflucht sei, wer irgend bei einem Vieh liegt!“ (Deut. 27. 21). 
Dreimal wiederholt die Thora das Verbot; damit beweisend, daß sie der 

ZelUchr. f. Bekämpfung cL Geschlechtskrmkh. IL 15 


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198 


Wolzendorff. 


Sache große Bedeutung beilegt, und das erklärt sich dadurch, daß dieses 
Laster mit dem heidnischen Kultus zusammenhängt. Herodot (II. 46) 
erzählt: Die Mendesier verehrten Ziegen, doch die männlichen mehr, und 
vor allen einen Bock, und wenn der stirbt, so trägt die ganze mend. 
Mark groß Leid. Beide, Bock und Pan, heißen Mendes. Es begab sich 
folgendes Wunder: es vermischte sich ein Bock mit einem Weibe vor 
aller Augen.“ 

Welchen Schaden diese Laster nun auch mögen angerichtet haben, 
er ist gering im Vergleich mit dem, den der Baal-Astarte-Kultus 
verursacht hat. Baal, höchster Gott einer ganzen Reihe heidnischer 
Völker semitischer Zunge, wie: Kanaaniter, Ammoniter, Moabiter, Assyrer, 
Babylonier, (Bel Marduck) u. a. ist das Sinnbild der Natur und erscheint 
unter mancherlei Gestalt und Namen: Baal Peor, Baal Sebub, Baal 
Berith u. a. Astarte, auch Aschera, (babyl. Istar) ist wie Baal eine 
Naturgottheit und vertritt mehr die gebärende, während jener die 
zeugende Kraft vertritt. Beide Gottheiten hängen eng zusammen, 
beide werden durch Menschenopfer verehrt, beiden gemeinsam sind die 
wollüstigen Mysterien mit dem Treiben der Geweihten, der Hierodulen, 
der Kedeschoth und Kedeschim. Da die Astarte auch als mann-weibliche 
Gottheit angesehen wurde, so erschienen die weiblichen Hierodulen in 
männlicher, die männlichen in weiblicher Tracht. 

In einem überaus merkwürdigen, von Baruch (6) mitgeteilten Briefe, 
schildert der Prophet Jeremias den Istar-Kultus in Babylon und sagt in 
bezug auf die Geweihten (Vers 43): „Die Weiber aber sitzen vor den 
Tempeln mit Stricken umgürtet und bringen Obst zum Opfer. Und 
wenn einer vorübergeht und eine von ihnen hinwegnimmt und bei ihr 
schläft, rühmet sie sich wider die andere, daß sie sei nicht wert ge¬ 
wesen wie sie, das ihr der Gurt aufgelöst wurde.“ Noch ausführlicher 
läßt sich Herodot aus: „Jedes Weib des Landes muß einmal in ihrem 
Leben bei dem Tempel der Aphrodite (Astarte) sich niedersetzen und von 
einem Fremden sich beschlafen lassen.“ Viele kommen in bedeckten 
Wagen mit zahlreicher Dienerschaft. Die meisten aber tun also: eine 
Menge Weiber sitzen in dem Heiligen Hain, einen Kranz von Stricken 
um den Kopf. Und mitten zwischen den Weibern gehen schnurgerade 
Wege nach allen Richtungen. Da gehen denn die Fremden und lesen 
sich eine aus. Und mit dem ersten besten, der ihr Geld hin wirft, 
muß sie gehen und darf keinen ab weisen. Wenn er das Geld hin wirft, 
muß er sprechen: „Im Namen der Göttin Mylitta.“ Das Geld, einerlei 
wieviel, darf sie nicht verschmähen, denn es ist geweihtes Geld. Wenn 
sie sich nun hat beschlafen lassen und sich dadurch der Gottheit ge¬ 
weiht, geht sie nach Hause und tut’s nicht wieder (I. 199). Ange¬ 
sichts solcher Sitten begreift es sich, daß ein Aufenthalt von wenig mehr 
als einem Monat genügte, das Heer Alexanders zu schädigen. 

Gerade die Verlockungen sind die gefährlichsten, die im Sinne 
unserer Schwächen oder Leidenschaften auf uns wirken, und so konnte 
es gar nicht ausbleiben, daß diese unzüchtigen Mysterien mit dem öffent¬ 
lichen Treiben der Geweihten die orientalische Sinnlichkeit reizten und 
steigerten, und für das Geschlechtsleben des Volkes verderblich sein 


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Die Sexaalhygiene des Alten Testaments. 


199 


maßten. Und so geschah es: die Israeliten taten „das dem Herrn übel 
gefiel and reizten ihn zam Eifer mehr denn alles, das ihre Väter getan 
hatten mit ihren Sünden. Denn sie baaten ihnen Höhen, Säalen and 
Ascheras aaf allen hohen Hügeln and anter allen grünen Bäumen.“ Es 
waren aach Harer im Lande and sie taten alle die Grenel der Heiden 
(I. Kön. 14. 22, 23). 

Das, was die Geweihten als Lohn erhielten, maßte im Heiligtum 
abgeliefert oder, wenn es etwas Opfer fähiges war, der Gottheit ge¬ 
opfert werden. „Ich will euch nicht wehren, wenn enre Töchter and 
Bräute geschändet und zu Dirnen werden; weil ihr einen anderen Gottes¬ 
dienst errichtet mit den Horen und opfert mit den Bubinnen (Hosea 4.14). 
Als solche Gabe mag wohl ein Ziegenböcklein beliebt gewesen sein, and 
die Geschichte der Thamar liefert ein Beispiel hierzu. Sie, die Schnur 
Judas, d. h. die Witwe seines Sohnes Ger, hatte sich verhüllt an den 
Band des Weges gesetzt, den Juda auf seinem Gange zur Schafschur 
nehmen mußte. „Da Juda sie sah, meinte er, es wäre eine Dirne, denn 
sie hatte ihr Angesicht verdeckt. Und machte sich zu ihr am Wege 
und sprach: ,Laß mich bei dir liegen* denn er wußte nicht, daß sie seine 
Schnur wäre. Sie antwortete: ,Was willst du mir geben, daß du bei 
mir liegest?* Er sprach: ,Ich will dir einen Ziegenbock von der Herde 
senden*.** Vorsichtig ließ die Thamar sich ein Pfand geben, und Juda 
sandte am anderen Morgen den Ziegenbock durch den Hirten, der das 
Weib aber nicht finden konnte. Als nach drei Monaten Juda erfuhr, 
daß die Thamar schwanger sei, wollte er sie verbrennen lassen; sie 
aber schickte ihm das Pfand mit den Worten: ,Von dem Manne bin ich 
schwanger, des dies ist“ (Gen. 88). Zur Rechtfertigung der Thamar sei 
bemerkt, daß sie so verfuhr, um die ihr verweigerte Pflichtehe (Levirats¬ 
ehe) unter der Maske einer Geweihten zu erzwingen. 

Alle diese Laster der Heiden verbietet das Gesetz mit den Worten: 

„Thr sollt euch in dieser keinem verunreinigen, denn in diesem allen 
haben sich verunreinigt die Heiden, die ich vor euch her will ausstoßen 
(Lev. 18. 24). 

Haltet meine Satzungen und tut dieser Greuel keine (26), auf 
daß euch nicht auch das Land ausspeie (wenn ihr es verunreinigt) gleich 
wie es die Heiden hat ausgespieen (28). 

Denn welche diese Greuel tun, deren Seelen sollen ausgerottet 
werden von ihrem Volk“ (29). 

Mit Bezug auf den Baal-Astarte-Dienst aber heißt es: „Du sollst 
dir nicht als Aschera aufpflanzen irgend welchen Baum neben dem Altar 
des Herrn, deines Gottes. 

Du sollst dir keine Säule (Baal) aufrichten, welche der Herr, dein 
Gott, hasset (Deut. 16. 21, 22). 

Es soll keine Dirne sein unter den Töchtern Israels und kein 
Unzüchtiger unter den Söhnen Israels. 

Du sollst keinen Dirnenlohn noch Hundegeld in das Haus Gottes 
bringen, aus irgend einem Gelübde, denn das ist dem Herrn ein Greuel 
(Deut. 28. 17, 18). 

Ein Weib soll nicht Mannsgeräte tragen, und ein Mann soll nicht 

15* 


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Wolzendorff. 


Weiberkleider antun, denn wer solches tut, ist dem Herrn ein Greuel 
(Deut. 22. 5). 

Der König Assa in Juda „tat die männlichen Geweihten (Kadeschim) 
aus dem Lande, und tat ah alle Götzen, die seine Väter gemacht hatten 
(I. Kön. 15. 12). Er setzte seine Mutter, Mächa, vom Amt und ver¬ 
brannte das von ihr errichtete Miphlezeth (das Ungeheuerliche) (H.Chr. 15.16). 
Der König Josaphat vertrieb den Rest der Hurer, die zu der Zeit seines 
Vaters Assa waren übrig geblieben (II. Kön. 22. 47), Josia, der auch 
das Tophet im Tale der Kinder Hinnom verunreinigte, brach ab die 
Häuser der Kedeschim, die an dem Hause des Herrn waren“ (II. Kön. 
22. 7. 10). Wie ein Wetterstrahl fuhr in diese schwüle Atmosphäre 
eines entarteten Geschlechtslebens der gewaltige Thisbite, indem er 
450 Baalspriester und die 400 des Hains am Bache Kison abschlachten 
ließ (I. Kön. 18. 40). 

Aber die Verbote vermochten ebensowenig wie die Bemühungen 
der Propheten und frommen Könige dem Baal - Astarte-Dienst völlig oder 
dauernd zu wehren. Immerhin, das Verdienst, mit allen Mitteln dem 
Verderben entgegengearbeitet zu haben, bleibt und steht in schroffem 
sittlichen Gegensatz zu den in Babylon herrschenden Anschauungen. 
Dort galt der Beruf der Tempeldimen für so wenig anstößig, daß, nach 
den Gesetzen Hammurabis, Königs von Babylon, um 2250 (§§ 178—182 
und § HO) Väter ihre eigenen Töchter dem Marduck zum Weibe gaben 
oder, mit anderen Worten, ,dem Gotte als Tempe\jungfrauen oder als 
Tempeldirnen „stifteten“. 

Moloch, der höchste Gott, der „Greuel“, der Ammoriter und 
Moabiter ist eine Abart Baals, von dem er sich wesentlich nur durch 
die ihm dargebrachten Kinderopfer unterscheidet. Der Ausdruck dafür 
lautet zumeist: „Die Kinder durchs Feuer gehen lassen dem Moloch“. 
Nicht lebendig wurden die Kinder verbrannt, sondern erst geschlachtet 
und dann geröstet, d. h. sie wurden dem schrecklichen Gotte zur Sühne 
als eine durch Feuer gereinigte Speise dargebracht. „Ja, es kam dahin, 
spricht der Herr, daß du nahmst deine Söhne und Töchter, die du mir 
gezeugt hattest, und opfertest sie den Göttern zu fressen. Meinst du 
denn, daß es ein Geringes sei um deine Buhlerei, daß du mir deine 
Kinder schlachtetest und lassest sie denselben verbrennen?“ (Ezecb. 16. 
19—21; ähnlich Jer. 32. 35; Jes. 57. 5). 

Auch den Molochdienst verbietet das Gesetz; Deut. 18. 10 heißt 
es: „...daß nicht unter dir befunden werde, der seinen Sobn oder seine 
Tochter durchs Feuer gehen lasse“, — und im Lev. 20. 2: „Welcher 
unter den Kindern Israels seines Samens dem Moloch opfert, der soll 
des Todes sterben, und das Volk im Lande soll ihn steinigen“. Propheten 
und Könige sind nach Kräften bemüht, ihn auszurotten, aber dennoch 
gewann auch dieser Kultus eine wahrhaft erschreckende Ausdehnung 
und untergrub des Volkes Kraft im gefährlichsten Grade. Und immer 
wieder fragt man sich: wie war es nur möglich, daß diese kinder¬ 
mörderischen Opfer solche Gewalt über ein Volk gewinnen konnte, das 
seine Kinder zärtlich liebte? Hatte doch Jahve dem Abraham die Bereit¬ 
willigkeit, seinen Sohn Isaak zu opfern, so hoch angerechnet, daß er 


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Die Sexualhygiene des Alten Testamente. 


201 


daraufhin gelobte: „Durch dich sollen gesegnet werden alle Geschlechter 
auf Erden“ (Gen. 22 18). Warum diente das Volk dem Moloch lieber 
als Jahve, der doch gezeigt hatte, daß er Menschenopfer nicht wollte? 

Die Christen vom Jahre des Heils 1903 opfern ihre Kinder nicht 
dem Moloch; aber die Zahl der Kindesmorde ist so groß, daß wir den 
Einzelfall kaum noch beachten; und noch größer ist die Zahl der von 
den eigenen Eltern zu Tode gequälten* Kinder. In England erreichte 
diese Zahl während eines Jahres (1902/03) nahezu die Höhe von 3000; 
und die „Gesellschaft zum Schutze der Kinder“ hat wegen 95 560 mi߬ 
handelter Kinder gegen 40 000 Prozesse angestrengt! — 

Als letzte Schutzmaßregel erscheint der Abschluß des Volkes nach 
außen. Schon die Beschneidung ist in gewissem Sinne eine Sperr¬ 
maßregel, und als solche tritt sie bereits zur Zeit Jakobs in Wirkung. 
Denn als er nach Kanaan kam, gab er seine Tochter Dina dem Fürsten 
Sichern erst zur Frau, nachdem sich dieser, „mit allem, was männlich war 
in seinem Volke“ hatte beschneiden lassen (Gen. 34). Aber die Be¬ 
schneidung genügte in dieser Beziehung nicht, und deshalb befiehlt das 
Gesetz immer wieder und auf das nachdrücklichste, jeden Verkehr mit 
den Heiden zu meiden. Gewiß richten sich diese Befehle in erster Linie 
gegen den Götzendienst und den mit ihm verbundenen Abfall von Jahve, 
aber wir haben gesehen, daß diese Kulte das Geschlechtsleben auf das 
schwerste schädigten, und deshalb gehören die Absperrungsmaßregeln 
zur Sexualhygiene. So zahlreich sind diese Gebote, daß nur einige davon 
hier Platz finden können; 

„Du sollst mit ihnen oder mit ihren Göttern keinen Bund machen; 
sondern laß sie nicht wohnen in deinem Lande, daß sie dich nicht ver¬ 
führen wider mich. Ich will in deine Hände geben die Einwohner des 
Landes, daß du sie sollst ausstoßen vor dir her (Ex. 23. 32. 31, ebenso 84 
und Deut. 7. 5). Eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen; und 
ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen euren Söhnen (Deut. 7. 5). Du wirst 
alle Völker fressen, die der Herr dir geben wird. Du sollst ihrer nicht 
schonen und ihren Göttern nicht dienen, denn das würde dir ein Strick 
sein. Er, der große, schreckliche Gott, wird diese Leute ausrotten vor 
dir, einzeln nacheinander (Deut. 7. 16, 22). In den Städten dieser 
Völker sollst du nichts leben lassen, was Odem hat (Deut. 20. 16). Wenn 
Götzendiener sind in einer Stadt, die der Herr dir gegeben hat, so sollst 
du die Bürger derselben Stadt schlagen mit des Schwertes Schärfe und 

sie verbannen mit allem, was darinnen ist (Deut. 13. 15 etc.). Aber 

„sie vertilgten die Völker nicht, wie doch der Herr geheißen hatte; 
sondern sie mengten sich unter die Heiden und lernten derselben Werke“ 
(Jes. 106. 34). Zuwiderhandeln straft Moses mit furchtbarer Härte: 
Als Israel in Sittim wohnte, hub das Volk an zu buhlen mit den 
Moabiter Töchtern, die luden auf den Rat Bileams das Volk zum Opfer 
ihrer Götter, und Israel hängte sich an den Baal Peor. Da ließ Moses 

die Obersten des Volkes „dem Herrn an die Sonne hängen“ und sprach 

zu den Richtern: „erwürge ein jeder seine Leute, die sich an den Baal 
Peor gehängt haben“. Dazu schickte Jahve eine Plage, der 24000 er¬ 
lagen. Ein Israelit, Simri mit Namen, brachte mit sich in das Lager 


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Wolzendorff. 


eine vornehme Midianitin, Casbi, eine Tochter des Fürsten Zur, als das 
der Priester Pinehas sah, nahm er einen Spieß, ging ihnen nach in das 
Schlafgemach und durchbohrte sie beide (Num. 25). Da erlosch die 
Seuche. Auf Jahves Befehl wurde ein Heer ausgerüstet; das besiegte die 
Midianiter und erwürgte alles, was männlich war. Alle Wohnungen wurden 
verbrannt, alles Vieh und alle Habe geraubt; alle Weiber und Kinder 
vor Moses gebracht. Der aber ergrimmte und ließ erwürgen alle männ¬ 
lichen Kinder und alle Weiber, die Männer erkannt hatten; die übrigen 
ließ er für das Volk leben. Alle Israeliten, die jemand erwürget oder 
die Erschlagenen angerührt hatten, mußten sieben Tage sich außerhalb 
des Lagers auf halten und sich entsündigen; alle Kleider, Geräte und 
hölzernen Gefäße wurden entsündigt. Gold, Silber, Erz, Eisen, Zinn und 
Blei, und alles, was das Feuer leidet, mußten sie durchs Feuer gehen, 
alles, was nicht Feuer leidet, durchs Wasser gehen lassen (Num. 81.1—28). 
Die hier erwähnte Seuche haben einige als Lues ausgeben wollen, doch 
fehlt dieser Annahme jeglicher Anhalt. 

(Schluß folgt.) 


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Referate. 

Prostitution und Mädchenhandel. 

Dr. P. A. Grazianow. Ein Jahrzehnt der Aufsicht Ober die Prostitution der 
Stadt Minsk. Separatabzug aus dem Journal: Der russische medizinische 
Bote. St Petersburg 1903. 

In der kleinen, 41 Oktavseiten umfassenden Schrift gibt der durch 
seine Arbeiten auf diesem Gebiete wohlbekannte Dr. Grazianow einen 
kurzen Bericht über die Tätigkeit des Minskschen städtischen Sanitäts¬ 
komitees, d. i. im Grunde über seine eigene, fast zehnjährige Tätigkeit 
in dieser Stadt von zirka 100000 Einwohnern. Im Anschluß an frühere, 
von ihm veröffentlichte Arbeiten gibt er zu Beginn seines Berichtes 
Daten über die Jahre 1900 und 1901. Aus diesen Angaben mag 
hervorgehoben werden, daß im Jahre 1900 von 425 Prostituierten 364 
oder 81 °/ 0 stationär behandelt worden sind, und zwar 28°/ 0 an kondy- 
lomatöser Syphilis, 32,8°/ 0 an Gonorrhöe, — und daß im Jahre 1901 
von 377 Prostituierten 350 oder 90°/ 0 stationär behandelt wurden, 
und zwar an Syphilis 22°/ 0 , an Gonorrhöe 40°/ o . 

Wie jeder, der auf diesem Gebiete ernst gearbeitet hat, ist auch 
Grazianow zu der Überzeugung gekommen, daß, wie er sich ausdrückt, 
ein Spezialkrankenhaus die unumgängliche Ergänzung des Besichtigungs¬ 
punktes sein muß, da die Besichtigung von Prostituierten ohne Be¬ 
handlung überhaupt keinen Sinn habe. Grazianow unterzieht jede 
kondylomatös Syphilitische im Laufe dreier Jahre in 2—3monatlichen 
Zwischenräumen einer anti-syphilitischen Kur, gleichgültig ob ausgesprochene 
Rezidiverscheinungen der Krankheit bisher aufgetreten waren oder nicht. 
Das Resultat dieser Behandlungsmethode bezeichnet er als ein glänzendes; 
denn schwerere Rezidiverscheinungen wurden seit Anwendung dieser 
Methode an einheimischen Prostituierten nicht mehr beobachtet, sondern 
nur an zugereisten, und selbst die leichtesten Rezidiverscheinungen 
wurden nicht übersehen, da man stets die pathologische Vergangenheit 
jedes besichtigten Individuums im Auge hatte. Bedauerlicherweise war 
das Krankenhaus, welches Grazianow zur Verfügung stand, zu klein, 
und die Anzahl der Betten zu gering, um in jedem einzelnen Falle die 
Behandlung genügend lange fortzusetzen. 

Nach diesen Vorbemerkungen geht Grazianow zu der recht lehr¬ 
reichen Geschichte des Minskschen städtischen Sanitätskomitees über. 
Mit dem Jahre 1890, als Graf K. E. Czapski zum Stadthaupt von 
Minsk erwählt wurde, begann für die Stadt Minsk eine neue Ära. 
Bis dahin hatte man sich in der Minskschen Stadtverwaltung um das 


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Referate. 


Sanitätswesen der Stadt gar nicht gekümmert. Auf die Initiative dieses 
Stadthauptes wurde das städtische Sanitätskomitee gegründet und ein 
Sanitätsarzt mit einer Gage von 2000 Rubeln (etwa 4500 Mk.) jährlich 
angestellt. Darauf wurde nach dem Muster der Brüsseler Munizipalität 
die ganze Aufsicht der Prostitution, sowohl in hygienischer, als auch 
in administrativer Beziehung, welche sich bisher in den Händen der 
Polizei befunden hatte, der städtischen Verwaltung übergeben und nach 
einem Ortsstatut geregelt, welches am 6. November 1891 vom Medizinal¬ 
rat (der höchsten medizinischen Instanz in Rußland) bestätigt wurde. 
Der Sanitätsarzt bekam Sitz und Stimme im Komitee; das Ambulatorium, 
welches zur Besichtigung der Prostituierten diente, wurde mit allen 
erforderlichen klinischen Einrichtungen und Instrumenten versehen; dem 
Arzte wurde eine, in der Luwozowschen Schule ausgebildete Heil¬ 
gehilfin beigegeben. Im Dienste des Komitees wurden zwei Agenten 
angestellt, welche die geheimen Prostituierten in Minsk ausfindig zu 
machen hatten. Der fortgesetzten Bemühungen Dr. Grazianows gelang 
es jedoch erst im Jahre 1898 an Stelle der ganz ungenügenden Plätze 
zur stationären Behandlung im Minskschen jüdischen Krankenhause und 
im Krankenhause- des Kollegiums der allgemeinen Fürsorge, die Ein¬ 
richtung eines besonderen Hospitals für Prostituierte mit 25 Betten 
durchzusetzen. 

Die erste Sitzung des Sanitätskomitees in Sachen der Prostitution 
fand am 13. Dezember 1891 statt, und am 17. Dezember die erste 
Besichtigung der Prostituierten im neuen Ambulatorium. Nach den 
Registern, welche damals von der Polizei dem Komitee übergeben 
wurden, befanden sich in Minsk 87 Prostituierte, von welchen 15 in 
drei Bordellen lebten. In stationärer Behandlung befanden sich nur 
fünf, und zur ersten Besichtigung erschienen nur 68. Sehr bald wurde 
durch die Agenten des Komitees festgestellt, daß außer den drei bei 
der Polizei gemeldeten Bordellen in Minsk noch sieben weitere Bordelle 
mit einer sehr großen Zahl geheimer Prostituierter bestanden, die nirgendwo 
verzeichnet waren und keinerlei Kontrolle ihrer Gesundheit unterlagen. 
Gleich im ersten Jahre wurden anstatt der bisher bekannten 87 Pro¬ 
stituierten — 297 durch die Agenten des Komitees zur ärztlichen 
Besichtigung und Behandlung herbeigezogen, 151 von diesen mußten 
288 mal im Laufe des Jahres der stationären Behandlung unterzogen 
werden, während im vorhergegangenen Jahre nur 55 Internierungen behufs 
stationärer Behandlung stattgefunden hatten. Überhaupt litt vor der 
Organisation die Kontrolle in Minsk an sehr grossen Mängeln. Der 
Stadtarzt besichtigte die einzeln wohnenden Prostituierten bei sich zu Hause, 
die übrigen im Bordell, unter den allerungünstigstem Umständen, welche 
eine sachliche Diagnose ausschlossen. Über die krank befundenen be¬ 
richtete er der Polizei und verlor dann jede weitere Fühlung mit dem 
Schicksal derselben, da die Abfertigung der Kranken ins Krankenhaus 
Sache der Polizei war, der Stadtarzt aber mit der Behandlung derselben 
nichts zu tun hatte. Gar nicht selten erfuhr er, daß die Kranken gleich 
nach der Besichtigung in andere Städte abgereist waren. Sehr oft 
wurde ihm der gleiche Bescheid in den Bordellen in bezug auf Dirnen, 


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Referate. 


205 


die im Bewußtsein, dass sie krank waren, sich schon vor der Be¬ 
sichtigung ans dem Staube gemacht hatten. Das jüdische Kranken¬ 
haus besaß nur acht Betteij, die ursprünglich für Chirurgische und andere 
SchwerkraDke bestimmt waren und erwehrte sich daher nach Kräften 
der dahin beförderten Prostituierten. Das Krankenhaus der allgemeinen 
Fürsorge war überfüllt mit Venerischen aus der Bevölkerung des flachen 
Landes und empfand die Prostituierten als sehr ungern gesehene Patien¬ 
tinnen. Alle diese Übelstände gipfelten darin, daß in den Jahren 
1889—1891 nur 147 Prostituierte der stationären Behandlung unter¬ 
zogen worden waren, während nach der Reorganisation vom Jahre 
1892—1894 780 solcher Patientinnen einer stationären Behandlung 
unterworfen werden konnten. Im Laufe des Jahrzehntes der Tätigkeit 
des Komitees wurden in demselben 1650 Prostituierte neu registriert. 
Es wäre von großer Wichtigkeit, genaue individuelle Daten über den 
Gesundheitszustand dieser 1650 Dirnen zu haben, um danach die 
hygienische Tätigkeit des Komitees beurteilen zu können. Da aber die 
Grazianowschen Zahlenangaben auch wiederum an dem Fehler 
leiden, welcher leider den meisten Statistiken über die Pro¬ 
stitution eigentümlich ist, daß nämlich bei der Beantwortung 
der verschiedenen Fragen verschiedene Methoden der Zählung 
angewandt werden, so gewinnt man nicht das gewünschte klare Bild. 
Man ersieht aus seinem Bericht nur, daß im Laufe der zehn Jahre — 
8234 Dirnen im Laufe von 80 293 Tagen wegen verschiedener Geschlechts¬ 
krankheiten behandelt worden sind. Im weiteren Verlauf seiner Schrift 
stellt Grazianow fest, daß 90°/ 0 sämtlicher Dirnen geschlechtskrank 
gewesen, und zwar daß 22°/ 0 wegen frischer Syphilis und 40°/ o an 
Gonorrhoe behandelt worden sind. 

Man erblickt in den angeführten Zahlen den großen Nutzen, welchen 
in sanitärer Beziehung die Tätigkeit des Minsker Komitees ohne Zweifel 
gebracht haben muß, obgleich sie noch bei weitem nicht den Grad der 
Vollkommenheit erreicht hat, den man heutzutage zu fordern berechtigt 
ist; denn wie Grazianow in seiner Broschüre mitteilt, wurde in diesen 
zehn Jahren weder in der Ambulanz, noch in der Station das Mikroskop 
zur Diagnose der Gonorrhöe angewandt. Das im Jahre 1898 gegründete 
Spezialkrankenhaus, welches sich allmählich bis auf 25 Betten vergrößert 
hat und somit noch einstweilen um 15 Betten hinter dem erforderlichen 
Minimum von 40 zurückbleibt, ist mit einem recht genügenden Dienst¬ 
personal ausgestattet: einer Heilgehilfin, einer Köchin, einem Hausdiener 
und drei Wärterinnen; die Wäsche wird außerdem auswärts gewaschen. 
Drei Jahre hindurch hat Dr. Grazianow eine Wohnung inne gehabt, 
deren Hof zugleich der Hof des Krankenhauses war. Im Krankenhause 
sind Lesestunden eingerichtet worden, wobei teils eine ad hoc engagierte 
Vorleserin, teils Damen, die zur Gesellschaft des Frauenschutzes in Minsk 
gehören, das Vorlesen besorgten. Ausserdem hat noch Dr. Grazianow 
persönlich zuweilen die Vorlesungen durch Nebelbilder illustriert. Ver¬ 
suche, den Kranken das Lesen und Schreiben beizubringen, blieben übrigens 
erfolglos. Erfolgreicher beschäftigten sie sich mit Nähen und Sticken. 
Erfreulicherweise sind hin und wieder geschlechtskranke Prostituierte aus 


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Referate. 


anderen Städten freiwillig nach Minsk behnfs Behandlung im dortigen 
Krankenhause gekommen. Diese Ausnahme widerspricht indes nicht der 
auch von Dr. Grazianow anerkannten Regpl, daß die überwiegende 
Mehrzahl der Prostituierten freiwillig nicht ms Krankenhaus ein tritt, 
wodurch auch die absolute Notwendigkeit der Beaufsichtigung der Pro¬ 
stitution unzweifelhaft bewiesen ist. 

Das Minsksche Komitee hatte sich außer dieser hygienischen Auf¬ 
gabe der ärztlichen Beaufsichtigung und Behandlung der Prostituierten 
auch noch andere Ziele gesteckt: 1. Die Bekämpfung der Prostitution 
Minderjähriger; das Komitee hatte in Erfahrung gebracht, daß sechs 
Minderjährige im Alter von 11—18 Jahren sich in Gasthäusern pro¬ 
stituierten. Auf Grund seines Statuts mußten diese Minderjährigen ihren 

Eltern und Verwandten zur Fürsorge übergeben werden. Bei Erfüllung 
dieses Statutenpunktes erwies es sich, daß die Mutter der einen Minder¬ 
jährigen nicht allein mit dem Körper ihrer Tochter, sondern auch mit 
den Körpern der Gespielinnen derselben Handel trieb. Zwei der letzteren 
waren gonorrhoisch infiziert; die Mutter wurde gerichtlich zur Ver¬ 
antwortung gezogen und zu einem Monat Arrest verurteilt. 

Ferner hatte das Komitee den Kampf gegen die Kuppler und 

Kupplerinnen aufgenommen. In Minsk gibt es viele kleine Gasthäuser, 
die der Unzucht dienen und deren Kellner sich mit Kuppelei und 

Exploitation der Dirnen beschäftigen. Die Inhaber solcher Wirt¬ 
schaften wurden zur gesetzlichen Verantwortung gezogen, die Kellner 
desgleichen — und außerdem aus den Gasthäusern entfernt. Die Gast¬ 
häuser dienen aber nach wie vor der Unzucht. Ebenso wenig Erfolg 
hatten die Bestrebungen des Komitees bei einer dritten Aufgabe, — 
dem Schutz der Dirnen gegen die materielle Exploitation seitens der 
Bordell Wirtinnen. Zunächst richtete das Komitee für jede Dirne ein 
Buch ein, welches ein Inventarverzeichnis der ihr gehörigen Sachen, 
als auch der im Bordell für sie angeschafften, mit Angabe des Preises 
enthielt. Unter Androhung der Schließung des Bordells wurde dafür 
Sorge getragen, daß beim Austritt aus dem Bordell diese Sachen nicht 
beschlagnahmt werden konnten. 

Ferner wurde der Versuch gemacht, ein Viertel der Gesamteinnahme 
jeder Prostituierten ihr persönlich in einem eigens dazu eingerichteten 
Kassabuch zugute zu schreiben, indes ohne jeglichen Erfolg; die ge¬ 
sammelten Summen existierten nur anf dem Papiere und die Wirtinnen 
verrechneten sich mit den Dirnen stets so, daß keine Ersparnisse übrig 
blieben. Man versuchte nun in der Weise für die Dirnen zu sparen, 
daß für jede derselben 10—25 Kopeken täglich im Komitee eingezahlt 
wurden. Das Geld wurde im Komitee gebucht, verwahrt und den 
Dirnen erst beim Austritt aus dem Bordell ausgezahlt. Da die letzteren 
nun, um ihre Ersparnisse in Empfang zu nehmen, an einem Tage ihren 
Austritt meldeten und nach Empfang des Geldes sofort wieder eintraten, 
wurde die Bestimmung getroffen, daß sie ihre Ersparnisse erst einen 
Monat nach dem Austritt aus dem Bordell in Empfang nehmen konnten. 
Das führte dazu, daß sie sich einen Monat lang als „Geheime“ herum¬ 
trieben und gleich nach Empfang des Geldes ohne einen Kopeken wieder 


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Referate. 


207 


ins Bordell eintraten. Nun traf man die Bestimmung, daß die Erspar¬ 
nisse ihnen nur im Falle des Eintrittes in eine anständige Beschäftigung, 
der Verheiratung oder aber schwerer Erkankung ausgezahlt werden 
sollten. 

Auch das half nichts: die Prostituierten verstanden alle diese Be¬ 
stimmungen zu umgehen. Sehr viele Jüdinnen wiesen Trauscheine vor 
und ließen sich sofort nach Empfang ihrer Ersparnisse wieder scheiden, 
um ins Bordell zurückzukehren. In allen diesen Fällen handelten die 
Dirnen, Kupplerinnen und Zuhälter in gemeinsamem Einverständnisse 
zur Paralysierung der guten Absichten des Komitees. Wie es bei solchen 
Bestrebungen nicht anders zu erwarten war, beweisen diese Erfahrungen 
die Zwecklosigkeit der Einmischung der Vertreter der sozialen Gesell¬ 
schaftsordnung in die natürliche Organisation dieser antisozialen Elemente, 
sobald man mehr anstrebt als den einfachen konsequenten Kampf gegen 
die Geschlechtskrankheiten. 

Das Komitee bestrebte sich aber nicht allein durch eine sanitäre 
Kontrolle der Prostitution gegen die Geschlechtskrankheiten anzukämpfen, 
es richtete auch eine Empfangstätte zur unentgeltlichen Besichtigung 
von Dienstboten und Ammen ein, welche einen Dienst suchten. Es 
beteiligte sich ferner an den Vorarbeiten zum russischen Kongreß zur 
Beratung von Maßregeln gegen die Geschlechtskrankheiten sowie am 
Kongresse selbst. Zum Schlüsse seiner Mitteilung kommt Grazianow 
zu dem Ausspruche, die Kontrolle der Prostitution müsse überall den 
Händen der Polizei entzogen und den städtischen Kommunalverwaltungen 
überwiesen werden, indem er die sachliche Art und Weise der Arbeit 
in Minsk dem Umstande zuschreibt, daß sich die Kommunal Verwaltung 
der Kontrolle annahm. 

Referent hält diese Auslassung nicht für zutreffend. Der Schwer¬ 
punkt der ganzen Reform lag in der Tätigkeit des Dr. Grazianow 
selbt. Sobald der Arzt mit Liebe zur Sache und Sachkenntnis ans 
Werk geht, so ist es für den Erfolg ganz gleichgültig, ob er in seiner 
Arbeit von der Kommunalverwaltung oder von der Polizei unterstützt 
wird. Es ist sehr fraglich, ob die Minsksche Kommunalverwaltung ohne 
die Mitwirkung von Dr. Grazianow weiterhin eben solche Erfolge 
erzielen wird wie bisher. C. Ströhmberg (Dorpat). 

1. Rab. Dr. Rosanack. „Zur Bekämpfung des Mädchenhandels“, Referat er¬ 
stattet in der Rabbinerversammlung zu Frankfurt a. M. 1902. 

2. G. Tuch. Die Ursachen des galizischen Mädchenhandels und ihre Bekämpfung. 
Referat erstattet auf der Lemberger Tagung des jüdischen Zweigkomitees 
Sept. 1903. 

3. Berta Pappenheim und Dr. Sera Rabinowitech. Zur Lage der 

Bevölkerung in Galizien. Neuer Frankfurter Verlag 1904. 

Viele Sittlichkeitsapostel begnügen sich leider immer noch damit, 
die ideale Forderung, den kategorischen Imperativ der Sittlichkeit hin¬ 
zustellen, verstärkt vielleicht durch einige Mahnungen strafrechtlicher 
Natur, ohne sich weiter um die Voraussetzungen und tatsächlichen Unter- 


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208 


Referate. 


lagen degenerativer Erscheinungen zu kümmern, oder sich die Möglich¬ 
keit und die Bedingungen der Verwirklichung ihrer Sittlichkeitsforderungen 
klar zu machen. 

In wohltuendem Gegensatz zu dieser Gepflogenheit stehen zwei 
Schriften, von denen die eine die Herkunft und Bedingtheit der im 
österreichischen Galizien grassierenden sittlichen Mißstände kennzeichnet, 
die zweite sich die Aufgabe stellt, daneben positive Vorschläge zu ihrer 
Abstellung zu formulieren und zu begründen. 

Zeitlich vorauf geht ihnen eine dritte Schrift, die einen Überblick 
über die charakteristischen Merkmale des Mädchenhandels, seine Art und 
Ausdehnung gibt. Die Quellgebiete des Mädchenhandels werden namhaft 
gemacht, die bekannten Schliche und Kniffe der weißen Seelenverkäufer 
rekapituliert. Polen (Galizien) ist mit 40 Prozent, Rußland mit 15, 
Italien mit 11, Österreich-Ungarn mit 10, Deutschland mit 8 Prozent an 
der Ausfuhr weißer Sklavinnen beteiligt. Dann folgen die romanischen 
Länder mit 5 bezw. 4 Prozent, das Konsumland Argentinien mit 
8 Prozent. Dann wird über die vorbeugende und beschützende Wirk¬ 
samkeit zweier jüdischer Vereinigungen berichtet. Die „Jewish Asso¬ 
ciation for the Protection of Girls and Women“ hat in den Jahren von 
1900—1902 ihren Rat und ihre Hilfe 1634 schutzlosen Mädchen zuteil 
werden lassen. Ihre Londoner Abteilung ist im Jahre 1901 in 128 Fällen, 
und zum großen Teil mit gutem Erfolg, gegen heimische und inter¬ 
nationale verwickelte Schwindlerfälle vorgegangen. 

Die zweite der genannten Vereinigungen, das ,jüdische Zweig¬ 
komitee des deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchen¬ 
handels“ hat gleichfalls nach Kräften gearbeitet. Sein Vorsitzender, 
Herr Gustav Tuch in Hamburg, hat durch eine Übersetzung der Haupt¬ 
teile des Lupanar einen weitgehenden Einblick in das Wesen des Kaftis- 
mus („Kaften“ ist in Brasilien die Bezeichnung für Mädchenhändler, 
Sklavenhalter usw.) und das Schicksal der weißen Sklavinnen gewährt 
und alle Seiten der Gemeinheit, Niedertracht und Verworfenheit des 
Kaftismus aufgedeckt. Noch enthält die Rosenecksche Schrift einige 
Angaben über die bürgerliche Existenz der mehr als 800000 galizischen 
Juden, von denen 6 / e als sogenannte ,,Luftmenschen“, d. h. ohne be¬ 
stimmte und sichere Erwerbsquellen leben, und den Hinweis darauf, daß 
die Besserung der sozialen Verhältnisse ,,auch, ja vielleicht der einzige 
Weg“ ist, der langsam, aber sicher zum Ziele einer wirksamen Be¬ 
kämpfung des Übels führt. 

Das auf der Lemberger Tagung (Sept. 1903) auf Veranlassung des 
jüdischen Zweigkomitees erstattete Referat bringt eine erneute Zusammen¬ 
fassung alles dessen, was von den Regierungen, den nationalen und 
internationalen Vereinigungen in Sachen Mädchenhandel verordnet, getan 
und geplant ist. Das sieht nach viel aus, ist aber herzlich wenig. 
Denn, wie Tuch selbst in seiner Einleitung sagen muß, man hat’s „im 
Widerstande (gegen das Übel) im allgemeinen nicht weiter gebracht, 
als daß man dort, wo die Verbrechen von den Behörden sich feststellen 
lassen, nach einheitlichen Grundsätzen strafend Vorgehen will. Allen¬ 
falls kann davon gesprochen werden, daß die Aufklärung, die in 


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Referate. 


209 


wohlwollender Weise verbreitet wird, hier und da einigen Nutzen 
schafft.“ 

Internationale Vereinbarungen zur strafrechtlichen Verfolgung der 
Mädchenhändler, Überwachung der Häfen und Bahnhöfe, Schaffung von In¬ 
formationsbehörden in den kontrahierenden Ländern, Landesversammlungen 
und internationale Zusammenkünfte, Austausch von Drucksachen und 
Mitteilungen, von sittlichen Gefühlen und Empfindungen des Wohl¬ 
wollens .... Und zu welchem Ende? Auf Seite 7 der Tuchschen 
Schrift heißt es: „Die Bewegung arbeitet einstweilen noch an der Ober¬ 
fläche. Gelingt es zuweilen aus der großen Anzahl von Mädchenhändlern 
diesen oder jenen vor die Schranken des Gerichts zu bringen, so ist 
damit noch nicht die Sicherheit einer Verurteilung erreicht. Auch 
kommt es verhältnismäßig selten vor, daß dem Kaftismus die Opfer 
entrissen werden können. Was einmal in die Fänge der Kuppler, 
Agenten, Kaften gerät, ist, wenn überhaupt, kaum unbeschädigt daraus 
zu erretten.“ — Und dafür einen weitläufigsten Apparat, einen Aufwand 
von Zeit, Geld und Kraft jedes besten Gelingens würdig. 

Man sollte meinen, daß ein so völliges Versagen die Entrepreneure 
dieser großen Aktion stutzig machen, daß man sich auf Grund so be¬ 
trübender Erfahrungen fragen müsse, ob es nicht einen andern Weg als 
den der Konferenzen, Verordnungen, Reden und Strafverfolgungen geben 
könne, um zu dem Ziel einer wirksamen Bekämpfung des Mädchen¬ 
handels zu gelangen. Auch nimmt ja die Tuchsche Schrift einen ganz 
netten Anlauf in dieser Richtung, indem sie auf den Zusammenhang 
zwischen diesen Erscheinungen und den wirtschaftlichen und gesellschaft¬ 
lichen Zuständen hinweist: „Auf der Gesellschaft, auf Regierungen und 
Bevölkerungen lastet eine fürchterliche Schuld; sie haben sich um das 
ökonomische und gesellschaftliche Elend von Millionen von Menschen 
nicht bekümmert .... In dem Maße, wie es gelingen wird, die wirt¬ 
schaftlichen Verhältnisse zu bessern, wird auch dem schmählichen 
Mädchenhandel und der unfreiwilligen Prostitution der Boden entzogen.“ 

„Wahre Hilfe kann nur durch grundlegende soziale, ethische und 
wirtschaftliche Aufrichtung herbeigeführt werden;“ das hat dann auch 
wieder eine Hamburger Versammlung jüdischer Vereine erklärt und im 
Verfolg dieser Auffassung vorbereitende Schritte zur Einleitung einer plan¬ 
mäßigen Agitation und Organisation der Hilfstätigkeit durch Entsendung 
von Forschungsexpeditionen getan. Als Ziel wurde Galizien gewählt. 
Von Rußland und Rumänien war abzusehen. Die dort über die Juden 
verhängten Ausnahmebestimmungen, Ungerechtigkeiten, ja Gesetzwidrig¬ 
keiten mit ihrem Gefolge von Hunger, Jammer und Not, von Aufruhr, 
Mord und Raub, von physischer und psychischer Degeneration, lassen 
einstweilen jede Hilfsaktion ebenso unmöglich wie aussichtslos erscheinen. 
Anders in Galizien. Auch dort freilich ein elendes, gedrücktes Volk, 
das alljährlich zu Tausenden vom Hungertyphus hinweggerafft wird und 
zu einem großen Teil sittlich verkommen ist. Dem gegenüber aber die, 
wenigstens auf dem Papier stehende Gleichheit vor dem Gesetz, die 
Möglichkeit Land zu erwerben, die Freiheit der Berufswahl. Und unter 
der Asche, die jahrhundertlange Bedrückung und Versumpfung auf- 


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210 


Referate. 


gehäuft haben, daß stillglühende Feuer der Familientreue, sowie da und 
dort, hoffnungsrünen Oasen vergleichbar, kleine Siedelungen intelligenter, 
fleißiger und pflichttreuer jüdischer Arbeiter und Landbebauer. 

Das ganze Umundauf ihrer Existenz schildert die dritte Schrift in 
so durchsichtig klarer, zugleich verständnisvoller und kritischer Art, daß 
man mit einigem Erstaunen darüber belehrt wird, daß es sich dabei 
um die Ergebnisse einer nur sechswöchigen Studienreise handelt. Vor 
uns entrollt sich das Bild einer armseligen Bevölkerung, zu einem Teil 
in Wohnhöhlen hausend, „an deren Öffnung die Menschen wie Insekten 
an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen.“ Eine kleine Anzahl 
wohlhabender Kaufleute ist vorhanden und im übrigen „mit das ärmste 
Proletariat, das die Welt auf weist.“ .... „Hungerkünstler sind es, 
deren Bedürfnislosigkeit die einfachsten Existenzbedingungen so sehr 
herabgedrückt hat, daß bei don meisten ein Zustand chronischer Unter¬ 
ernährung herrscht. „Der Magen hat kein Fenster“, sagen sie, und wo 
noch nicht alle Energie erloschen ist, da werden Erinnerungen an ver¬ 
gangene gute Taige mit der Hoffnung auf kommende bessere Zeiten, wie 
zwei Fäden, an denen das Leben hängt, fest verknüpft, und das kost¬ 
bare Zwischenglied, um das man sie schlingt, sind die Kinder.“ 

Dazwischen einzelne kleine Bevölkerungsgruppen, deren ganze Lebens¬ 
führung, armselig wie sie ist, eine aufsteigende Entwicklung verbürgt. 
Einige Hundert organisierter TallisWeber, die dem österreichischen Weber¬ 
verband angehören und, obwohl Analphabeten, intelligent, politisch reif 
und durchgebildet sind. Dann eine Anzahl fleißiger jüdischer Bauern 
und im Gegensatz zu so manch anderem Beispiel des Niedergangs und 
der Verwahrlosung auch einmal ein ganzes Städtchen, in dem die ganze 
Bevölkerung, Juden und Christen, wacker an der Arbeit sind. „Die 
Baron-Hirsch-Schule, das Verbot der Kinderarbeit, Arbeit für alle Arbeits¬ 
willigen und an Stelle eines Regimentes Soldaten, einige 
Tausend sozialpolitisch geschulter Arbeiter, sind ebensoviele 
Gründe, daß das Niveau der Sittlichkeit gegen frühere Zeiten und andere 
Orte gehoben erscheint.“ Der soziale und ethische Überbau des Lebens 
richtet sich nach dem wirtschaftlichen Unterbau. Der alte Erfahrungs¬ 
satz findet auch hier wieder seine Bestätigung. Mit zwingender Logik 
treten die Tatsachen für ihn ein, wie sie eine unbefangene, aber außer¬ 
ordentlich urteilsfähige Beobachterin gesehen und empfunden hat. 

Ebenso treffsicher ist die Beurteilung, die andere treibende Faktoren 
religiöser und propagandistischer Art erfahren. Da wird von Chassidismus 
gesprochen als dem „versteinerten Judentum, wie es auf seinem Wege 
durch die Welt in Galizien liegen geblieben ist, ein fossiles Gebilde, 
das starr und leblos seiner Aufgabe in der Fortentwickelung des jüdischen 
Volkes nicht mehr genügen kann. Das Ritual, die harte Schale einer 
tauben Nuß, und in und neben dieser Lebensweise im Banne des Rituals 
Zustände tiefster sittlicher Verkommenheit“ Und vom Zionismus wird 
nach einer Würdigung seiner gerade für dies an Geist und Leib darbende, 
getretene und geschmähte Volk so unendlich befreienden und belebenden 
Elemente, seiner Verdienste um Aufklärung und Agitation, aber auch 
seiner Fehler und Irrtümer gesagt: „Vielleicht wird die Geschichte seine 


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Referate. 


211 


Mission einmal darin erkennen, daß er die Fanfare war, die schlafenden 
Geister za wecken, damit die Juden sich wieder aufraffen, mit anderen 
Völkern gleichen Schritt zu halten in Ausübung ihrer Pflichten und 
Inanspruchnahme ihrer Rechte.Es steht zu fürchten, daß diese tapfre 
Meinungsäußerung weder von den Orthodoxen noch von den Zionisten 
verziehen werden wird, aber es steht auch zu hoffen, daß die wackre 
Kämpferin für Fortschritt und wahre Sittlichkeit aus jedem von jener 
Seite erfolgenden Angriff die stolze Zuversicht davontragen wird, das 
Rechte und Notwendige in der richtigen Weise gesagt zu haben. 

Dasselbe gilt von einer ganzen Anzahl der positiven Vorschläge, durch 
deren Verwirklichung Licht und Luft in dies arme verdüsterte Land 
getragen und der entsittlichenden Versumpfung begegnet werden soll, 
denn, „wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die 
wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriflfen, und 
strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück.“ Darum 
werden hier keine Traktätchen vorgeschlagen, keine destillierte Sittlich¬ 
keit ausgeboten. Eine umfassende Reform des gesamten Erziehungs¬ 
wesens wird verlangt, bei der Krippe und dem Kindergarten anfangend, 
bei der Handwerker- und Haushaltsschule endend. Ferner Neugestaltung 
der Krankenpflege, die heute geradezu alles zu wünschen läßt, Ausbau 
des Leihkassenwesens, Erschließung neuer Erwerbszweige, unter denen 
die Geflügelzucht als besonders rationell empfohlen wird, Gründung von 
Landankaufsgenossenschaften und Bauembanken. Der letzerwähnte von 
Frl. Dr. Rabinowitsch ausgehende Vorschlag beruht auf der entgegen 
veralteten Anschauungen auch für Galizien nachgewiesenen Tatsache (es 
gibt dort eine kleine, etwa 100 Haushaltungen umfassende jüdische 
Bauernschaft), daß die Juden keineswegs ungeeignet zum Ackerbau sind. 
Nicht ebenso leicht zu entscheiden ist indes die Frage, ob eine künst¬ 
liche Kolonisation dauernden Erfolg verspräche. Die Erfahrungen, die 
man nach dieser Seite in Ostelbien gemacht hat, lassen die Frage 
mindestens noch nicht spruchreif erscheinen. 

Großen Wert legen beide Berichterstatterinnen auf einen anderen 
Vorschlag, den einzigen, der in einem unmittelbaren und offensicht¬ 
lichen Zusammenhang mit der Frage der Bekämpfung des Mädchen¬ 
handels steht. Es sollen Auswandererschulen gegründet werden. Durch 
einen über 3—6 Monate erstreckenden Unterricht in haus wirtschaftlichen 
Dingen, in den ElementarfUchern und in sprachlichen Anfangsgründen 
sollen die Mädchen, die die Heimat verlassen wollen, erwerbs- und in 
jedem Sinne lebenstüchtiger gemacht werden. Daneben sind die Schulen 
als Vermittlungs-, Auskunfts- und Schutzstellen in der Art gedacht, daß 
sie im Interesse der Auswanderungslustigen Erkundigungen einziehen, 
und sich mit auswärtigen Verwandten der Mädchen oder mit ausländischen 
Behörden in Verbindung setzen. Endlich soll von hier aus eine Anzahl 
von Frauenvereinen dafür gewonnen werden, die Auswandernden von 
Etappe zu Etappe bis an den Ort ihrer Bestimmung zu geleiten. Ohne 
Zweifel könnte auf diese Weise dem Mädchenhandel ein kleiner Teil 
seiner Opfer entzogen werden. Trotzdem scheint mir der hier gegebenen¬ 
falls zu erzielende Erfolg in keinem Verhältnis zu der Höhe der er- 


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212 


Referate. 


forderlichen Aufwendungen, zu dem ganzen in Bewegung zu setzenden 
Apparat zu stehen. Und dies nicht nur weil die Vorbereitungszeit von 
3—6 Monaten als völlig unzureichend bezeichnet werden muß, sondern 
vor allen Dingen auch darum, weil durch einseitigen Ausbau dieser 
Einrichtung der wertvolleren inneren Kolonisation Mittel entzogen werden. 
Und wer nur die das Land verlassenden Elemente kampf- und lebens¬ 
tüchtig macht, der kuriert, wenn auch von sympathischer Seite her, 
genau so am Symptom herum, wie die Kämpen der Strafverschärfung 
und der kondensierten Sittlichkeit. 

Wir haben uns hier freilich selbst eine Einwendung zu machen. 
Welche Art von Betätigung, wenn nicht diese, bleibt den Philanthropen 
übrig, so lange die österreichische Regierung Gewehr bei Fuß steht, so 
lange es ihr besser zusagt „Tausende von Analphabeten heranwachsen 
zu sehen, als ebenso viele latente Intelligenzen durch Schulbildung zum 
Denken zu bringen/ 1 Damit ist der Kreis geschlossen. Eine trotz aller 
äußeren Gesunkenheit, trotz Unwissenheit, Unsauberkeit und Armut im 
Kern gut veranlagte Bevölkerung, von deren in der Industrie beschäftigtem 
Teil gesagt wird, daß „die jüdischen Fabrikarbeiter Galiziens ein äußerst 
intelligenter und lebensfähiger Menschenschlag sind.“ Auf der einen 
Seite im Banne gehalten durch ein verknöchertes, lebensfremdes Ritual, 
auf der anderen von einer Regierung mißhandelt oder mindestens nicht 
geschützt, die nichts mehr zu fürchten scheint, als den sozialen und 
wirtschaftlichen Fortschritt, soweit er sich als wirtschaftliche und geistige 
Selbständigkeit der Arbeitermassen darstellt, kann hier Hilfe nicht von 
außen kommen. Einen Anstoß kann die Philanthropie freilich geben, 
indem sie den Auf- und Ausbau des Erziehungswesens betreibt, den 
industriellen und landwirtschaftlichen Kredit regelt und den Genossen¬ 
schaftsgedanken popularisiert. In Wirklichkeit wird indes der Kampf 
gegen Mädchenhandel und Prostitution so lange ein Don-Quixoterie 
bleiben, als Kirche und Staat die Gewissen bannen und mit eiserner 
Faust den Geist der Solidarität und Freiheit niederzuhalten wissen. Das 
ist die Lehre, die sich, vielleicht von den Verfasserinnen ungewollt, als 
Endergebnis auch dieser Schrift aufdrängt. Henr. Fürth. 

Rosika Schwimmer. Der Kampf gegen den Mädchenhandel. Frauen-Rund- 
schau IV. 14. 

Schwimmer hält den Kampf gegen den Mädchenhandel, wie er 
zurzeit geführt wird, für vollkommen aussichtslos, weil er sich nur 
gegen Agent und Vermittler, nicht aber gegen den Hauptsünder, den 
„Konsumierenden“ richtet. So lange eine Nachfrage vorhanden ist, 
kann das Angebot nicht ausgerottet werden. Und wenn die bisherige 
Taktik nicht aufgegeben wird, so könnte im günstigsten Falle der 
Mädchenexport, aber niemals der Mädchenhandel beseitigt oder ein¬ 
geschränkt werden. Ob die Mädchen aber im fremden Lande oder in 
der Heimat dem Laster und dem Verderben anheimfallen, das ist am 
Ende gleichgültig. Der Kampf müsse der Prostitution überhaupt, viel¬ 
mehr ihren Ursachen gelten und die beiden Faktoren: Nachfrage und 
Angebot in gleicher Weise berücksichtigen. Max Marcuse (Berlin). 


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Referate. 


213 


Nenne am Rhyn. Prostitution und Mädchenhandel. Leipzig, Hedewigs Nachf. 

Ronniger. 

Das Buch enthält eine Fülle interessanter und lehrreicher Beiträge 
zu dem traurigsten Kapitel moderner Kulturgeschichte. Auch derjenige, 
dem die Mitteilungen Hennes nicht gerade „neue Enthüllungen“ bedeuten, 
erschrickt vor den scheußlichen Zuständen und Geschehnissen, über die 
der Yerf. in ungewöhnlich gewandter und beredter Form berichtet. Aus 
jedem Wort spricht das aufrichtige Mitgefühl, das der Autor mit den 
„weißen Sklavinnen“ empfindet, und seine ehrliche Entrüstung ob „dieses 
Schandflecks unsrer Zeit“. Gleichwohl bleibt er stets der ruhige, vor¬ 
sichtige Referent verbürgter und erwiesener Tatsachen. Nur in der 
Einleitung gibt sich d6r Verf. auch als Kritiker, indem er die ver¬ 
schiedenen Arten der Prostitutionsbehandlung einer kurzen Erörterung 
unterzieht. Hierbei freilich verrät sich eine gewisse Nervosität des Autors, 
die ihn zu unsachlichen Angriffen auf die Reglementaristen, namentlich 
die Fürsprecher der Bordelle verleitet. Er selbst betrachtet die Regle¬ 
mentierung als „das Krebsübel in den geschlechtlich-unsittlichen Zuständen 
unsrer Zeit“, und nur wenn dieses radikal beseitigt wird, darf s. E. 
auf einen Erfolg im Kampfe gegen den Mädchenhandel gerechnet werden. 

Max Marcuse (Berlin). 


Sexuelle Hygiene. 

Dp. Camilie Lederer. Musterung der Frauen zur Ehe. Der Frauenarzt, 
XVII. 3. S. 101. 

Anonymus. Ober Vererbung und Entartung. Von einem praktischen Arzt 
Leipzig. 1900. 

Hsgar. Die Untauglichkeit zum Geschlechtsverkehr und zur Fortpflanzung. PolitUch- 
anthropologische Revue. Bd. I. S. 80. 

Der Anschauung, daß die Ehe eine Angelegenheit rein privater 
Natur Bei, treten immer mehr Stimmen entgegen, die es für die Pflicht 
des Staates erklären, durch gesetzliche Bestimmungen dafür Sorge zu 
tragen, daß nur wirklich Gesunde in die Ehe treten, und die einen ob¬ 
ligatorischen ärztlichen Ehekonsens verlangen. 

Lederer schreibt: Wie der Pfarrer die Heiratskandidaten auf dem 
Gebiet der Religion prüfen solle, ebenso sollte die Gemeindevertretung 
ein Zeugnis des gesunden Körperbaues verlangen, ehe sie die Heirats¬ 
bewilligung geben dürfte. 

Ein Anonymus tritt gleichfalls für die Notwendigkeit gesetzlicher 
Maßregeln ein. Er hält es nur für eine Frage der Zeit, daß der Staat 
eine amtsärztliche Beglaubigung der körperlichen und geistigen Tauglich- 
lichkeit für die Ehe zu ihrer rechtsgültigen Anerkennung fordern wird. 

Der bekannte Gynäkologe Professor Hegar geht von der Wichtig¬ 
keit der Aufklärung über die das Geschlechtsleben und die Fortpflan¬ 
zung beherrschenden Gesetze aus. Während man Heilstätten für alle 
möglichen Krankheiten plant, fänden jene Gesetze noch keine Berück- 

Zeitachr. L Bekämpfung d. Geachlechtakrankh. IL 16 


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214 


Referate. 


sichtigung; diese würden einen großen Teil dieser Sorge entbehrlich 
machen und viel Geld ersparen lassen. Personen, die an ansteckenden 
und vererblichen Krankheiten leiden, sollen sich freiwillig vom Ge¬ 
schlechtsverkehr fernhalten. Die geschlechtliche Enthaltsamkeit sei der 
einzige Weg zur Linderung der Prostitution. Eltern müssen sich ver¬ 
gewissern, ob der Freier an einer ansteckenden Krankheit leide, und 
bei Lues die Heirat verbieten, bei Gonorrhoe die absolute Heilung zur 
Bedingung machen. Aber die Belehrung und Aufklärung allein genüge 
nicht, man muß sich an die Gesetzgebung wenden. Der Staat solle die 
Schließung der Ehe den dazu Untauglichen verbieten, insbesondere bei 
Lues und Gonorrhoe. Gegenüber Personen, die erkrankt sind und sich 
dennoch auf Geschlechtsverkehr einlassen, solle man strenger Vorgehen, 
gleichzeitig auch dem Benachteiligten die Möglichkeit geben, eine Ent¬ 
schädigung zu erlangen. 

In Übereinstimmung mit dieser Auffassung stellte Dr. Haskovec 
in der tschechischen Ärztekammer den Antrag, es sei eine Enquöte be¬ 
hufs Ausarbeitung einer Petition an die staatlichen Sanitätsbehörden 
und an die gesetzgebenden Körperschaften einzuberufen, um den Entwurf 
eines Gesetzes für das Königreich Böhmen, event. für die im Reichsrat 
vertretenen Königreiche und Länder des Inhalts auszuarbeiten, daß ein 
jeder, der die kirchliche oder Zivilehe einzugehen beabsichtigt, sich einer 
ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, und vor dem Eheschlusse den 
betreffenden kirchlichen und Zivilbehörden ein ärztliches Zeugnis über 
seinen körperlichen und geistigen Gesundheitszustand vorzulegen habe. 

Prof. Pinard verteidigte im Juni 1900 in der Academie de Möde- 
cine die These, daß die Heirat allen denen untersagt werden müsse, die 
an einer ansteckenden Krankheit leiden oder in gefährlicher Weise erb¬ 
lich belastet seien. In Übereinstimmung mit Dr. Cagalis fordert er 
die obligatorische Leibesuntersuchung für alle, die sich verheiraten wollen 
und ein Gesetz mit folgendem Wortlaut: Die Ehe ist allen Kranken, die 
an einem schweren, auf die Frau oder das künftige Kind übertragbaren 
Übel leiden, absolut verboten. 

Die Anschauung von der Notwendigkeit solcher Gesetze hat auch 
bereits in gesetzgebende Körperschaften Eingang gefunden. 

In der französischen Deputiertenkammer wurde im Jahre 1900 ein 
diesbezüglicher Antrag eingebracht. Im Unionsstaat Norddakota wurde im 
Jahre 1899 in der Gesetzessession ein Gesetz vorgeschlagen, nach welchem 
jeder Ehekandidat zur Erhaltung der Staatserlaubnis ein Zeugnis des 
Kreispbysikus über seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten beizu¬ 
bringen habe. 

Der einzige Staat aber, in welchem wirklich schon ein solches Gesetz 
besteht, ist der Unionstaat Michigan. Dort verbietet ein Gesetz die Ver¬ 
heiratung Geisteskranker und Idioten und bestraft Luetische und Gonor- 
rhoiker, welche eine Ehe eingehen, sehr streng mit Geldstrafe oder Ge¬ 
fängnis oder mit beiden, je nach dem Ermessen der Justizbehörde. Die 
Ehegatten können gezwungen werden, Zeugnis auch gegeneinander ab¬ 
zulegen. Ebenso untersteht der behandelnde Arzt dem Zeugniszwang, 

Baum (Berlin). 


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Tagesgeschichte. 215 

Individuelle Prophylaxe. 

Ernst J. Feibes. Zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Die Kranken¬ 
pflege. 1902/03. II. 6. 

Nachdem Feibes die bisher bekannten und am meisten verbreiteten 
Vorbauungsmittel einer kurzen Kritik unterzogen hat, teilt er die bak¬ 
teriologischen und klinischen Versuche mit, die er mit einem neuen, 
von ihm angegebenen, vom Apotheker Weeber in Aachen hergestellten, 
und von Dr. Auf recht-Berlin geprüften Mittel angestellt hat. Das 
Mittel vereint nach Feibes > Ansicht alle Eigenschaften, die man an ein 
Prophylaktikum billiger Weise stellen darf und soll sich von den bis¬ 
her im Gebrauch befindlichen namentlich durch seine Zuverlässigkeit 
und leichte Handhabung vorteilhaft unterscheiden. Im Handel ist es 
in Tubenform unter dem Namen „Protektor“ erhältlich. 

Max Marcuse (Berlin). 


Tagesgeschichte. 

Deutschland. 

Preußen. Dem preußischen Abgeordnetenhause ist der „Entwurf 
eines Ausführungsgesetzes zu dem Reichsgesetz, betreffend die 
Bekämpfung gern ein gefährlich er Krankheiten“ zugegangen. Unsere 
Gesellschaft hatte alsbald nach Bekannt werden seines Inhalts an das Ab¬ 
geordnetenhaus eine Eingabe gerichtet, deren Wortlaut im Band I, Heft 4/5 
der „Mitteilungen“ veröffentlicht worden ist: wir petitionierten darum, 
daß die in dem Entwurf vorgesehene Anzeigepflicht von Syphilis, Tripper 
und Schanker bei Prostituierten ausschließlich den Polizeiärzten auf¬ 
erlegt werde. Die erste Lesung der Vorlage endete mit deren 
Überweisung an eine Kommission von 21 Mitgliedern. 

Wir lassen im Nachstehenden diejenigen Stellen aus dem Gesetz¬ 
entwurf folgen, welche auf die venerischen Krankheiten Bezug nehmen. 

Anzeigepflicht. 

§ 8 . 

Zur Verhütung der Verbreitung der nachstehend genannten Krank¬ 
heiten können für die Dauer der Krankheitsgefahr die Absperrungs- und 
Aufsichtsmaßregeln des Reichsgesetzes nach Maßgabe der nachstehenden 
Bestimmungen polizeilich angeordnet werden, und zwar bei: 

9. Syphilis, Tripper und Schanker bei Personen, welche 
gewerbsmäßig Unzucht treiben: Beobachtung kranker, krankheits- 
oder ansteckungsverdächtiger Personen (§ 12) 1 ), Absonderung kranker 
Personen (§ 14, Abs. 2). 2 ) 

*) § 12 des Reichsseuchengesetzes lautet: 

„Kranke und krankheits- oder ansteckungsverdächtige Personen können 
einer Beobachtung unterworfen werden. Eine Beschränkung in der Wahl der 

U* 


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216 


Tagesgeschichte. 


Begründung. 

§ 5 . 

„Die Syphilis ist nach dem Regulativ nicht allgemein, sondern 
nur in den Fällen anzeigepflichtig, „wenn nach Ermessen des Arztes Von 
der Verschweigung der Krankheit nachteilige Folgen für den Kranken 
selbst oder für das Gemeinwesen zu befurchten sind“ (§65 Abs. 1 <L R.). 
Der vorliegende Entwurf sieht von der Anzeigepflicht bei der Syphilis 
überhaupt ab, weil dieselbe erfahrungsgemäß eher schädlich als nützlich 
ist. Denn sie verführt die Kranken zur Verheimlichung ihres Leidens 
oder treibt sie Kurpfuschern in die Arme und trägt auf diese Weise 
eher zur Verbreitung als zur Verminderung der Krankheit bei. Der 
Entwurf begnügt sich deshalb mit den in dem § 9 Abs. 2 des Entwurfs 
bezeichnten Maßregeln, welche eine größere Wirksamkeit versprechen, 
und dehnt diese auch auf die beiden anderen Krankheiten, welche durch 
den unreinen Geschlechtsverkehr übertragen werden, nämlich auf den 
Tripper und den Schanker, aus. 

Die Verheerungen, welche die übertragbaren Geschlechtskrankheiten 
in der Bevölkerung anrichten, sind überaus traurig und stehen den¬ 
jenigen, welche die Lungen- und Kehlkopftuberkulose verursacht, kaum 
nach. Wenn sie auch bei weitem nicht so viele Todesfälle herbeiführen, 
wie diese, so ziehen sie doch um so beträchtlichere Schädigungen der 
Gesundheit, des Vermögens, des Berufes, ja des ganzen Lebens- und 
Familienglücks nach sich. Während der Schanker gut heilbar und ver¬ 
hältnismäßig harmlos ist, werden Trippor und Syphilis von manchen 
Ärzten für unheilbar gehalten; in allen Fällen bedürfen sie monate- und 
jahrelanger Behandlung, erzeugen immer wieder Rückfälle und haben 
nicht selten Nachkrankheiten im Gefolge, welche die Gesundheit des 
Menschen dauernd untergraben. Todesfälle an Syphilis sind verhältnis¬ 
mäßig selten, ihre Zahl beläuft sich im ganzen preußischen Staate auf 


Aufenthalts oder der Arbeitsstätte ist zu diesem Zwecke nur bei Personen'zu- 
lässig, welche obdachlos oder ohne festen Wohnsitz'sind oder berufs- oder 
gewohnheitsmäßig umherziehen.“ 

*) § 14, Abs. 2 lautet: 

„Die Absonderung kranker Personen hat derart zu erfolgen, daß der 
Kranke mit anderen als den zu seiner Pflege bestimmten Personen, dem 
Arzte oder dem Seelsorger nicht in Berührung kommt und eine Verbreitung 
der Krankheit tunlichst ausgeschlossen ist. Angehörigen und Urkundspersonen 
ist, insoweit es zur Erledigung wichtiger und dringender Angelegenheiten ge¬ 
boten ist, der Zutritt zu dem Kranken unter Beobachtung der erforderlichen 
Maßregeln gegen eine Weiterverbreitung der Krankheit gestattet. Werden 
auf Erfordern der Polizeibehörde in der Behausung des Kranken die nach 
dem Gutachten des beamteten Arztes zum Zwecke der Absonderung not¬ 
wendigen Einrichtungen nicht getroffen, so kann, falls der beamtete Arzt es 
für unerläßlich und der behandelnde Arzt es ohne Schädigung des Kranken 
für zulässig erklärt, die Überführung des Kranken in ein geeignetes Kranken¬ 
haus oder in einen anderen geeigneten Unterkunftsraum angeordnet werden.“ 


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Tagesgeschichte. 


217 


durchschnittlich 330 im Jahre; um so zahlreicher sind aber die schweren 
chronischen, zu langem Siechtum führenden Hirn-, Rückenmarks- und 
Knochenleiden, welche auf eine Ansteckung mit Syphilis zurückzuführen 
sind und mancher Manneskrafb und manchem Familienglück ein vor¬ 
zeitiges Ende bereiten. Tripper erzeugt zwar nicht unmittelbare Todes¬ 
fälle, aber überaus schwere akute und chronische Nachkrankheiten, nament¬ 
lich bei den Frauen, von denen manche zu langem Siechtum und zum 
Tode führen. Erschwerend fällt bei diesen beiden Krankheiten außer¬ 
dem ins Gewicht, daß sie nicht nur diejenigen treffen, welche sich die 
Ansteckung in unreinem Geschlechtsverkehr selbst zuziehen, sondern daß 
sie oft auf Unschuldige übertragen werden. Zahlreiche Männer stecken 
ihre Ehefrauen mit Syphilis oder Tripper an, die sie sich vor oder nach 
der Verheiratung im außerehelichen Geschlechtsverkehr zugezogen haben. 
Kinder syphilitischer Väter werden vielfach schon im Mutterleibe mit 
Syphilis behaftet und gehen, wenn sie nicht schon im Mutterleibe 
sterben, bald nach der Geburt zugrunde. Und auch die Fälle sind 
leider nicht vereinzelt, in weichen bei der Entbindung tripperkranker 
Frauen das Trippergift in die Augen der neugeborenen Kinder eindringt 
und bei diesen eine Augenentzündung, die sogenannte Blennorrhoea 
neonatorum, erzeugt, welche bei nicht sachgemäßer Behandlung unfehl¬ 
bar zu unheilbarer Erblindung führt. Ein staatliches Eingreifen gegen¬ 
über den übertragbaren Geschlechtskrankheiten wird daher von zahlreichen 
Sachverständigen mit größtem Nachdruck gefordert. 

Andere Staaten sind in dieser Beziehung bereits mit Erfolg vor¬ 
gegangen. Am durchgreifendsten ist das dänische Gesetz über die gegen 
die Ausbreitung der venerischen Krankheiten zu ergreifenden Maßregeln 
vom 10. April 1874 mit dem Zusatzgesetz vom 1. März 1895, welches 
sich auf alle drei Krankheiten erstreckt, während die Gesetzgebung in 
Italien sich nur auf Syphilis beschränkt. 

Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt den Standpunkt ein, daß er 
zwar alle Geschlechtskrankheiten, nicht aber alle an solchen erkrankte 
Personen in den Bereich seiner Regelung gezogen und es für ausreichend 
erachtet hat, wenn die Polizeibehörden gegenüber denjenigen Personen, 
welche gewerbsmäßig die Unzucht betreiben, eine wirksame Handhabe 
zum Einschreiten erhalten. 

Da der überwiegend größte Teil der Übertragungen von Geschlechts¬ 
krankheiten durch die Prostitution geschieht, so hat man in verschiedenen 
Staaten und zu den verschiedensten Zeiten den Versuch gemacht, die 
Prostitution gewaltsam zu unterdrücken. Diese Versuche sind jedoch 
ausnahmslos gescheitert, weil sie zur Folge hatten, daß die offenkundige 
und kontrollierbare sich in die viel gefährlichere heimliche Prostitution 
verwandelte. Die Gefahren der Prostitution lassen sich auf das ver¬ 
hältnismäßig geringste Maß eindämmen, wenn die Prostituierten sorg¬ 
fältig überwacht, eventuell behandelt und geheilt und so an der Ver¬ 
breitung der übertragbaren Geschlechtskrankheiten erfolgreich gehindert 
werden. Um dies zu erreichen, darf man sich nicht, wie es im Regulativ 
geschehen ist, auf die Syphilis beschränken, sondern man muß auch 
den in seinen Anfangsstadien von der Syphilis schwer unterscheidbaren 


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218 Tageegeschicbte. 

Schanker, vor allem aber auch den Tripper mit in die Bekämpfung 
einbeziehen. 

Wollte man den Mahnungen der Abolitionisten folgen, welche jede 
Reglementierung der Prostitution verwerfen, so würde eine ungemessene 
Zunahme der Geschlechtskrankheiten die unausbleibliche Folge sein.“ 

Hamburg. Die Ausführungen des Hamburgischen Bevollmächtigten 
zum Bundesrate, Syndikus Dr. Schäfer, über das Bordell- und Pro¬ 
stitutionswesen, haben überall Verwunderung hervorgerufen. Wie 
bekannt, hatte Herr Dr. Schäfer im Reichstage erklärt, in Hamburg sei 
das Zuhältertum so gut wie unterdrückt. Daß diese Behauptung eine 
objektive Unrichtigkeit involviert, beweist das Zeugnis der Hamburgischen 
Polizeibehörde, die infolge der Ausbreitung des Zuhältertums vor noch 
gar nicht langer Zeit eine Vermehrung des Beamtenpersonals zur Be¬ 
kämpfung dieses Unwesens forderte. Und in dem im Februar v. J. 
erschienenen Bericht des Budgetausschusses der Bürgerschaft, der sich 
mit dem Anträge der Vermehrung der Polizeibeamten beschäftigte, heißt 
es wörtlich: „Die ständige Zunahme der heimlichen Prostitution 
und mit ihr des Zuhälterwesens machen es im öffentlichen Interesse 
erforderlich, dieser verderblichen Erscheinung des Großstadtlebens mehr 
Aufmerksamkeit zuzuwenden, als es bei dem bisherigen Bestände der 
dafür verfügbaren Arbeitskräfte möglich war.“ Zum Schlüsse gibt der 
Budgetausschuß seiner Überzeugung dahin Ausdruck, daß die Neuanstellung 
der geforderten Beamten unter der vorstehenden Begründung erforderlich 
sei, und die Bürgerschaft hat dem zugestimmt. Mit der Konstatierung 
der Zunahme der heimlichen Prostitution sind auch die weiteren Aus¬ 
führungen des Herrn Dr. Schäfer im Reichstage ad absurdum geführt. 
Die Hamburgischen Bordelle — die 1876 „offiziell“ aufgehoben wurden 
— beherbergen nur den kleineren Teil der Prostituierten, so daß die 
behauptete reinliche Scheidung der Prostituierten von dem anständigen 
Teile der Bevölkerung tatsächlich nicht besteht, so wenig es richtig ist, 
daß auf den Straßen und Kaffees in Hamburg weder Prostituierte noch 
Zuhälter anzutreffen seien. Es gibt in Hamburg Gegenden, die zu be¬ 
stimmten Nachtstunden von Freudenmädchen und ihren Beschützern förm¬ 
lich überschwemmt werden. Allerdings wirkt die Nachbarschaft Altonas, 
wo die Bordelle behördlich nicht sanktioniert, sondern nur „geduldet“ 
werden, auf diesen Zustand ungünstig mit ein. 

(Nach einem Bericht der Frankfurter Zeitung vom 4. 2. 02.) 


Schweiz, 

Die in Heft 4 dieser Zeitschrift avisierte Abstimmung über das 
Initiativbegehren betreffend die Wiedereinführung von Bordellen 
im Kanton Zürich ist inzwischen erfolgt. Der Antrag war von 
5000 Stimmberechtigten durch Unterschrift befürwortet worden; andrer¬ 
seits erließen die angesehensten Männer aller politischen und religiösen 
Richtungen Erklärungen gegen die Initiative; Professor Dr. Oskar Wyß, 


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Tagesgeschichte. 


219 


an der Spitze von 194 Ärzten aus Stadt und Kanton Zürich, bemühte 
sich, in öffentlichen Blättern die vom volksgesundheitlichen Standpunkt 
aus so ernste Frage klarzulegen, und auch von solchen, welche grund¬ 
sätzlich den Abolitionismus bekämpfen, wurde die Bordellinitiative ihrer 
krassen Form wegen preisgegeben. Auch die sozialdemokratische Partei 
als solche stellte sich auf die gegnerische Seite. Mit 40 564 gegen 
14 697 Stimmen wurde 1897 die Abschaffung der Bordelle beschlossen, 
mit 49 598 gegen 18 010 wurde sie jetzt bestätigt. Wieder war es 
hauptsächlich das Land, das wuchtige Zahlen gegen das Toleranzsystem 
lieferte, wuchtigere noch als vor sieben Jahren. In der Stadt dagegen 
zeigt sich eine bemerkenswerte Veränderung in den Stimmenverhält¬ 
nissen. Die Zahl der Toleranzgegner ist von 10513 auf 10382 zurück¬ 
gegangen, diejenige der Anhänger von 6096 auf 8672 gestiegen. Und 
gerade diejenigen zwei Stadtkreise haben der Wiederzulassung der 
Toleranzhäuser zugestimmt, in denen sich diese vor ihrer Abschaffung 
hauptsächlich befanden: die Altstadt (Kreis I) und der Kreis III. Man 
wird daraus zu schließen haben, daß diese beiden Kreise, die am un¬ 
mittelbarsten die Folgen der Abschaffung zu erfahren hatten, von diesen 
Folgen nicht erbaut sind. Speziell die Häuserbesitzer sind offenbar zu 
entschiedenen Gegnern der Abolition geworden. Seit die „Duldung der 
gewerbsmäßigen Unzucht“ Offizialdelikt geworden ist, schwebt über jedem 
Hausbesitzer, der einer weiblichen Person Wohnräume vermietet, beständig 
drohend Geldbuße, ja Gefängnis bis zu drei Monaten. Die Aufhebung 
der Toleranzhäuser hat aber die Prostitution in alle Winkel getrieben; 
sie verkroch sich in Zigarrenläden, kleine Wirtschaften und neuerdings 
mit Vorliebe in — Ansichtspostkartenläden. Den Dirnen, die da Karten 
und sich selbst verkaufen, ist, wenn sie nicht Ausländerinnen sind, schwer 
beizukommen: dafür hält man sich an den Hausbesitzer als — Kuppler. 
Unleugbar ist es ein gewisser Widersinn, daß die Prostitution selber 
nicht bestraft wird, wohl aber deijenige, der den Prostituierten Unter¬ 
kunft gewährt. 

Trotzdem war die ganze Bewegung der Bordellinitiative nur 
möglich geworden, weil seit der Einführung des sogen. „Sittlichkeits¬ 
gesetzes“ von 1897 in einem Teil der Presse immer wieder betont wurde, 
infolge der Abschaffung der öffentlichen Häuser seien die sittlichen 
Zustände in Zürich viel schlimmer geworden, es sei nunmehr keine 
ehrbare Frau, kein Kind auf der Straße mehr sicher, und Sittlichkeits¬ 
attentate wurden mit Vorliebe unter der Stichmarke „Wirkungen des 
Sittlichkeitsgesetzes“ gebracht und daran pessimistische Betrachtungen 
über den pharisäischen „Sittlichkeitsfanatismus“, der diese Zustände her- 
vorrufe, geknüpft. Auch die Vermehrung der Sittlichkeitsverbrechen 
kam auf dieses Konto. Nach der mit so großer Majorität erfolgten 
Verwerfung der Bordellinitiative, die der 31. Januar gebracht hat, wird 
voraussichtlich auch der Feldzug in der Presse gegen das Gesetz von 
1897 eingestellt und zugegeben werden, daß das Zürchervolk, wie immer 
man von der besten Art der Bekämpfung der Prostitution denke, die 
Zustände nicht mehr zurückwünscht, die zur Zeit der Bordelle in Zürich 
und Winterthur bestanden. 


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220 


Tagesgeschichte. 


Ein Gates hat der Initiativantrag jedenfalls gebracht, die Erkenntnis 
nämlich, daß der beste Schutz gegen die Geschlechtskrankheiten eine 
gute Krankenfürsorge für die Geschlechtskranken ist. Am Tage nach 
der Abstimmung stellte Prof. Erismann, der bekannte Hygieniker, in 
der Züricher Stadtverordnetenversammlung einen Antrag auf Errichtung 
einer Spitalabteilung für Geschlechtskranke unter Leitung eines 
Spezialarztes, der zugleich als Professor an der Universität 
dieses Fach vertreten solle; dieser Antrag wurde unter allseitiger Zu¬ 
stimmung angenommen. 


Dänemark. 

In Dänemark wurde im Dezember 1902 eine „Dänische Gesell¬ 
schaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ gebildet. In der 
konstituierenden Sitzung wurde von Dr. E. Pontoppidan ein Vortrag 
gehalten (ref. in Tidsskrift f. Sundhedspleie, 9, I), in welchem die schäd¬ 
lichen Folgen der Verheimlichung und der Vorurteile hervorgehoben 
wurden, mit welchen die Geschlechtskrankheiten umgeben sind. Als 
den nächsten Weg zu ihrer Bekämpfung nennt Pontoppidan Aufklärung 
der Jugend über das Geschlechtsleben und über das Wesen dieser Krank¬ 
heiten und betont die Notwendigkeit, offen davon sprechen zu dürfen. 
Schon in der Schule sollten in den spätern Kinderjahren diese Fragen 
aufgenommen und für die reifere Jugend, Studenten, Soldaten, durch 
Schrift und Vorträge für eine mehr eingehende Auseinandersetzung Sorge 
getragen werden. — Die Minderjährigen sollten gegen die Gefahr der 
Prostitution geschützt werden. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903/4. Nr. 6. 


Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten beitragen? 

Vortrag, gehalten in Breslau auf der Jahresversammlung von 
Ortskrankenkassen im Deutschen Reiche, Sept 1903, von 

Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Albert Keiner. 

(Schluß.) 

Eine Modifikation der Becher sehen Sanatorien für die Unter¬ 
bringung geschlechtskranker Arbeiter schlügt Saalfeld vor. Er 
schreibt: „Für die einem Krankenhaus überwiesenen syphiliskranken 
Arbeiter ergeben sich bisweilen, allerdings nicht immer, Nachteile 
aus dem Aufenthalt im Krankenhaus. Eine Reihe der hier in Be¬ 
handlung Befindlichen rekrutiert sich aus den arbeitslosen und 
arbeitsscheuen Personen, denen der Aufenthalt im Hospital recht 
willkommen ist; dies gilt sowohl für männliche wie weibliche Pa¬ 
tienten. Diese selbst brauchen für das Verweilen im Krankenhaus 
nichts zu bezahlen, sie haben freie Verpflegung und sind für diese 
Zeit der Sorge um das tägliche Brot enthoben. Eine solche Ge¬ 
sellschaft übt auf einen Arbeiter mit anständiger Gesinnung eine 
seelische Depression aus. Er fühlt sich unter solchen Individuen 
unglücklich und wird seine Entlassung aus dem Krankenhause 
früher betreiben, als es seiner Gesundheit zuträglich ist Falls 
der Arbeiter oder die Arbeiterin nicht so charakterfest ist, so 
werden sie leicht Gefallen an dem Nichtstun finden; sie sind der 
Gefahr ausgesetzt, nach der Entlassung aus dem Krankenhause, 
zumal wenn sie arbeitslos werden, moralisch zu sinken/* 

„Um diesen Eventualitäten und Übelständen zu begegnen, 
könnte vielleicht eine Vereinigung dienen, die, analog dem Verein 
zur Fürsorge von Unfallverletzten, sich der aus dem Krankenhause 
entlassenen Geschlechtskranken annimmt und sie wieder in geord¬ 
nete Verhältnisse zu bringen sucht. Des weiteren aber geht mein 

Zettaehr. I Bekämpfung d. Geeehleehtekrmnkh. 1L 17 


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222 


Neisser. 


Vorschlag dahin, Syphilitische, die arbeitsfähig sind, in 
Arbeits-Sanatorien unterzubringen. Da die Behandlung eines 
Syphilitischen, wenn nicht ganz besondere komplizierende Momente 
vorliegen, täglich nur wenig Zeit in Anspruch nimmt, so könnten 
derartige Kranke in dem Sanatorium der Arbeit nachgehen. Diese 
Sanatorien müßten, wie die Lungenheilstätten, eine bezüglich der 
hygienischen Verhältnisse günstige Lage haben und von den 
Städten leicht zu erreichen sein, damit die in diesen Anstalten 
hergestellte Arbeit ohne Schwierigkeiten an ihren Bestimmungsort 
transportiert werden kann.“ 

So richtig der Gedanke Saalfelds ist, daß ein langer 
Hospitalaufenthalt mit seiner erzwungenen und doch nicht immer 
durch die Erkrankung selbst absolut erforderten Untätigkeit 
moralisch schädigend wirken kann, so scheint mir doch die Über¬ 
tragung des Gedankens in die praktische Wirklichkeit sehr 
schwer, was auch Saalfeld selbst nicht verkennt Jedenfalls wird 
Sie die Lektüre des Aufsatzes, den ich ihrer Beachtung empfehle, 
sehr interessieren. Ich möchte nur die Bemerkung vom ärztlichen 
Standpunkt hinzufügen, daß Saal fei d auch immer nur von Syphi¬ 
litikern spricht, der Tripperkranken aber, die die Mehrzahl der 
Geschlechtskranken darstellen, nicht gedenkt Für diese aber ist 
eine von körperlichen Anstrengungen freie Ruhe, womöglich im 
Bett, gerade von besonderer Wichtigkeit. 

Einen anderen Modus, speziell für die Syphiliskranken, hat 
Ledermann vorgeschlagen. Zwar wünscht auch Ledermann, 
daß Kranke, so lange sie mit ansteckenden Symptomen behaftet 
sind, im Krankenhause behandelt werden. Um aber die Kranken 
so bald als möglich entlassen zu können, ihnen trotzdem aber die 
Durchführung einer sorgsamen Behandlung zu ermöglichen, sollten 
ambulatorische Behandlungsstätten geschaffen werden, in denen die 
Kuren, namentlich die Schmierkuren, Verbände usw. gemacht, in 
denen alle Bade- und Schwitzprozeduren durchgeführt werden können. 

Sicherlich würde diese Einrichtung viel Segensreiches schaffen 
und dem bisherigen Zustande gegenüber eine wesentliche Ver¬ 
besserung darstellen; aber eben nur für die Kranken, bei denen 
Krankenhausbehandlung nicht erforderlich ist Aber ge¬ 
rade darüber gehen die ärztlichen Anschauungen auseinander. 
Schmierkuren z. B., welche Ledermann in seinen neu zu schaffenden 
„Schmierstuben“ abmachen lassen will, lasse ich fast nie von ambu¬ 
lanten Kranken machen, weil ich zu wissen glaube, daß eine 


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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 223 


Schmierkur nur dann wirklich wirksam ist, wenn der Patient mög¬ 
lichst dauernd in demselben Raum sich aufhält, also eben nicht 
ambulant ist, d. h. frei sich bewegend, seinem Berufe nach¬ 
gehend ist. — 

Allein wenn nach meiner Meinung auch keiner der eben 
besprochenen Vorschläge einen wirklichen Ersatz für Krankenhaus¬ 
behandlung bieten kann, so möchte ich mich doch keineswegs 
schlechthin ablehnend dagegen verhalten. Das Bedürfnis nach 
Behandlungsstätten Geschlechtskranker ist so groß und die Lebens¬ 
weise, Beschäftigung, persönliche Zuverlässigkeit dieser leider so 
sehr zahlreichen Behandlungsbediirftigen so mannigfaltig, daß für 
jede Einrichtung sich ein gerade für sie passendes Krankenmaterial 
finden wird. 

Soviel über die Frage der Krankenhausbehandlung. 

Allein wenn es auch — wie nicht oft und eindringlich genug 
betont werden kann — im Interesse des einzelnen Erkrankten und 
zum Schutze der Gesamtheit dringend wünschenswert ist, daß sie 
möglichst reichlich zur Anwendung gelangt, natürlich wird für 
die ambulante Behandlung der Geschlechtskranken immer 
noch ein weites Feld bleibenl Auch hier wird mancherlei zu 
reformieren sein! Es wird mir niemand Zutrauen, daß ich das 
Ansehen unseres ärztlichen Standes — zumal in dieser wesentlich 
aus Laien zusammengesetzten Versammlung — herabzusetzen ge¬ 
neigt sein würde; aber es läßt sich leider nicht leugnen, daß die 
Behandlung der Geschlechtskrankheiten nicht von allen 
Ärzten in der Weise ausgeübt wird, wie es notwendig 
wäre. Zum Teil sind die Ärzte gar nicht schuld an dieser 
traurigen Tatsache; denn erst in den allerletzten Jahren ist auf 
den Universitäten für einen genügenden Unterricht in Haut- und 
Geschlechtskrankheiten gesorgt worden. Ja auch jetzt sind noch 
nicht alle Universitäten mit Unterrichtsanstalten für diesen so 
wichtigen Zweig der Medizin versorgt, auch jetzt noch wird bei 
keinem staatlichen Examen auf dem Gebiet der Geschlechtskrank¬ 
heiten obligatorisch geprüft. 

Es kommt hinzu, daß die Behandlung der Geschlechtskrank¬ 
heiten, und namentlich die des Trippers, so viel Zeit und Mühe 
in jedem einzelnen Falle erfordert, daß die allermeisten Kassen¬ 
ärzte gar nicht in der Lage sind — wobei ich die ihnen zuteil 
werdende Honorierung gar nicht in Betracht ziehen will — so 
viel Zeit und Mühe jedem einzelnen Falle zuzuwenden, wie zur 

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224 


Neisser. 


sorgsamen Untersuchung und Behandlung nun einmal notwendig 
ist Ich will auch hier betonen, daß tatsächlich die Behandlung 
der Syphilis eine viel einfachere und viel weniger zeitraubende ist 
als die des Trippers. 

Es muß demgemäß die Forderung erhoben werden, daß 
seitens aller Kassen gute spezialistische Behandlung 
jedem Kassenmitglied zugänglich gemacht und rechtlich 
zugesichert werde. Eine solche kann entweder durch einzelne 
Spezialärzte oder durch Ambulatorien erfolgen. 

Was letztere betrifft, so scheinen mir namentlich städtische 
oder staatliche Polikliniken, die man mit kassenärztlichen Funkti¬ 
onen betrauen könnte, empfehlenswert Solche öffentliche Poli¬ 
kliniken haben den Vorteil, daß sie gewöhnlich über eine große 
Anzahl von angestellten Assistenten verfügen, also sehr ausgedehnte 
auch über den Abend sich erstreckende Sprechstunden halten 
können, so daß die Kranken, ohne ihren Erwerb zu beeinträchtigen 
ärztliche Hilfe finden können. 

In Polikliniken wird durch den Wechsel des ärztlichen 
Personals eine größere Garantie dafür geboten, daß der jeweilige 
Arzt für die Behandlung der Kranken Interesse behält und die 
notwendige Zeit für Untersuchung und Behandlung hergibt Während 
die ärztlichen Hilfskräfte auf der einen Seite selbst ein Interesse 
daran haben, möglichst viele Kranke zu sehen, gehört es anderer¬ 
seits zu ihren dienstlichen und durch kein Nebeninteresse beein¬ 
trächtigten Funktionen, die Sprechstunden, mögen sie auch noch 
so lange währen, abzuhalten. Ferner hat ein solches Institut als 
Ganzes und der Chef desselben an der Beobachtung und Behand¬ 
lung ein wissenschaftliches Interesse, und die Erfahrung lehrt, daß 
stets die Kranken da am besten versorgt, am eifrigsten untersucht, 
beobachtet und behandelt werden, wo die Erledigung einer wissen¬ 
schaftlichen Frage zu einer eingehenden Beschäftigung des Arztes 
mit dem Kranken zwingt. Es wird sich dabei trotzdem nie und 
nimmer um Experimente handeln, sondern nur um den allen 
Kranken zugute kommenden Ausbau der Krankheitserkennung und 
Krankheitsheilung. 

Für sich praktizierende Ärzte dagegen sind vielmehr der 
Gefahr ausgesetzt, bei einem verhältnismäßig einförmigen Material, 
wie es die frischen Tripper-, Schanker- und Syphilis-Fälle dar¬ 
stellen, in eine schematisierende Gleichgültigkeit zu verfallen. 

Andererseits weiß ich aber sehr wohl, erstens, daß es sehr 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 225 


gute und sehr gewissenhafte Kassenärzte, die nach jeder 
Richtung hin ihre Kranken aufs beste versorgen, gibt; und ferner, 
daß man sowohl nach dem Wunsche vieler Patienten wie im 
wirtschaftlichen Interesse der Ärzte auf private Einzelbehand¬ 
lung nicht wird verzichten können. Es müssen also Spezial¬ 
ärzte seitens der Kassen angestellt oder besser noch in freier 
Arztwahl die in einer Stadt vorhandenen Spezialärzte und 
Polikliniken den Kranken zur Verfügung gestellt werden. Aller¬ 
dings wäre Vorsorge zu treffen, daß nicht jeder beliebige Arzt, 
der sich Spezialarzt nennt, zu solcher Vertrauensstellung berufen 
werde, sondern nur solche, deren spezialistische Qualifikation 
durch die Art ihrer Ausbildung, vielleicht auch durch 
eine neue staatliche Approbation nachgewiesen wäre. 

Ferner scheint es wichtig, eine Höchstzahl von Kranken, 
die der einzelne Arzt übernehmen könnte, festzusetzen. Unwillkür¬ 
lich verführt ein gar zu großer Zudrang zu rascher Abfertigung 
und ungenügender Untersuchung und Behandlung des Kranken. 

Ganz besonders muß die Forderung aufgestellt werden, daß 
die Kassen, in denen viele oder auschließlich weibliche Personen 
sich befinden, auch weibliche Ärzte anstellen, um jedes Moment, 
welches die Kassenmitglieder vor der ärztlichen Behandlung zu¬ 
rückschrecken könnte, aus der Welt zu schaffen. 

Ich komme nun zu einem ganz besonders schwierigen Punkte. 
Häufig sind es nicht die Kassenverwaltungen, welche sich der 
Überweisung der Kassenmitglieder — ich spreche jetzt natürlich 
nur von Geschlechtskranken — in ein Krankenhaus oder in 
spezialistische Behandlung entgegenstellen, sondern die Arzte selbst 

Fixiert angestellte Kassenärzte haben allerdings kein wirt¬ 
schaftliches Interesse daran, die Kassenmitglieder selbst zu be¬ 
handeln. Bei Honorierung der Einzelleistung aber besteht aller¬ 
dings für den Kassenarzt ein Motiv, die Überweisung ins Krankenhaus 
oder an einen Spezialisten nur in dringenden Fällen eintreten zu 
lassen. Die Erfahrung hat mehrfach gelehrt, daß von dem 
Augenblicke an, in dem freie Arztwahl mit Honorierung 
der Einzelleistung eingeführt wurde, die Zahl der durch 
die Kasse dem Hospital überwiesenen Kranken erheblich 
und andauernd abnahm. 

Vielleicht wäre Honorierung des Einzelfalles an Stelle der 
Einzelleistung ein Weg, um das ohne Zweifel der Berücksichti¬ 
gung würdige und durchaus berechtigte wirtschaftliche Interesse 


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226 


Neisser. 


der Ärzte mit den Anforderungen einer idealen Behandlung der 
Geschlechtskrankheiten in Einklang zu bringen. 

Damit sind aber die Wünsche, die ich den Krankenkassen 
jm Interesse der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten unter¬ 
breiten möchte, noch nicht erschöpft. 

Von großem Segen wäre es, wenn die Kassen von ihrer 
Befugnis, auch den Familienmitgliedern ihrer Versicherten 
die Benefizien des Krankenkassengesetzes angedeihen zu 
lassen, durchweg Gebrauch machen wollten. Ich denke heute 
naturgemäß wesentlich an die Fälle — und leider sind sie recht 
zahlreich — in denen Frauen und Kinder von Männern angesteckt 
werden, die entweder schon geschlechtskrank heiraten oder sich 
erst während der Ehe infizierten. Die Behandlung der Frauen 
liegt nicht nur im Interesse der Frauen selbst, sondern mindestens 
ebenso im Interesse der Männer und der Familien. Ist die 
Frau erkrankt, kann sie die Wirtschaft nicht besorgen, sich um 
Mann und Kinder nicht kümmern, so führt dies oft zu vollständiger 
Zerrüttung des Familienlebens und zur Demoralisation des Mannes, 
der dann in der Kneipe und weiterem außerehelichen Verkehr 
Zerstreuung sucht. Handelt es sich um eine syphilitische An¬ 
steckung der Frau, so kommt noch dazu die Gefahr für die 
Nachkommenschaft, indem entweder die Schwangerschaften durch 
Frühgeburten gestört werden, oder die Kinder tot oder mit 
Syphilis behaftet zur Welt kommen. Beim Tripper handelt es sich 
mehr um ein schweres Siechtum der Frau; es kann allerdings auch 
eine Unfähigkeit, schwanger zu werden, hinzutreten. 

Eine möglichst schnelle Heilung der infizierten Frau ist auch 
im Interesse vorhandener Kinder dringend anzustreben, da 
die Gefahr der Übertragung von der Mutter auf die Kinder zufolge 
der im täglichen Leben vorkommenden Berührungen, Küsse u. dergl. 
überall vorhanden, bei Angehörigen unbemittelter Klassen aber 
wegen ihrer elenden Wohnungsverhältnisse besonders bedrohlich ist. 

Wenn nun nicht die Kassen für die Behandlung der Frauen 
und Kinder sorgen, so bleiben sie meist ganz ohne Behandlung, 
weil, was ganz besonders betont werden muß, Frauen stets sehr 
viel schwerer ambulatorisch behandelt werden können, wie die 
Männer. Wenn aber nicht die Kasse für die Krankenhausbehand¬ 
lung sorgt, wer soll es tun? Der Verdienst des Mannes reicht 
nicht aus; öffentliche Armenpflege in Anspruch zu nehmen, wird 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 227 

auch von vielen verschmäht, und so entwickelt sich tatsächlich 
ein großer Notstand für die gesamte Familie. 

Ich habe bisher davon gesprochen, was die Kassen für die¬ 
jenigen Kranken tun können, welche sie als solche kennen. 

Es ist nun aber sicher, daß sehr viele von ihrei* 
Krankheit gar nichts wissen und demgemäß die Krankheit 
unbehandelt lassen und verschleppen, wodurch schwerere und 
später vielleicht sogar unheilbare Krankheitsformen entstehen. Dies 
trifft namentlich für weibliche Personen zu, bei denen sowohl 
der Tripper, wie die Syphilis wochen- und monatelang besteheü 
und sich entwickeln kann, ohne daß die Erkrankte auch nur die 
geringste Kenntnis davon hat. 

Bei Männern ist solche Ahnungslosigkeit seltener; dafür 
spielen bei ihnen Indifferenz und Unterschätzung der Bedeutung 
eines vielleicht nicht schmerzhaften und wenig störenden Leidens 
dieselbe Rolle, und bringen es mit sich, daß die Erkrankung un¬ 
behandelt bleibt. Und zu diesem Kreise von Personen, welche 
ihre Krankheit unabsichtlich vernachlässigen, treten bei beiden 
Geschlechtern hinzu die Leichtsinnigen, Frivolen, die von ihrer 
Krankheit und deren Wichtigkeit zwar wissen, aber sich um 
dieselbe nicht kümmern. 

Daß solche Personen, abgesehen von dem Schaden, den sie 
selbst erleiden, auch noch gemeingefährlich sind, indem sie, mit 
ihrer ansteckenden Krankheit behaftet, geschlechtlich verkehren 
und die Krankheit weiter verbreiten, sei weiterhin betont. 

Besteht nun keine Möglichkeit, diese absichtlich oder 
unabsichtlich ihre Krankheit vernachlässigenden Per¬ 
sonen zu entdecken, um für eine Behandlung der Krank¬ 
heit und Beseitigung der Ansteckungsfähigkeit zu sorgen? 

Wie die Armee in dieser Beziehung vorgeht und daß sie 
unendlich Segensreiches schafft, ist Ihnen allen bekannt Sie alle 
wissen, daß da regelmäßige Untersuchungen aller Mannschaften 
stattfinden und daß auf diese Weise für eine schnelle und sorg¬ 
fältige Behandlung gesorgt wird. 

Ebenso sind, wie Sie wissen, die eingeschriebenen Prosti¬ 
tuierten solcher Untersuchung unterworfen. Mag das gegen¬ 
wärtige Uberwachungssy stein und die Form und Art der ärztlichen 
Untersuchung auch noch so sehr anfechtbar sein, jedenfalls führt 
sie in einer sehr großen Anzahl von Fällen dazu, daß nicht nur 
die von den Erkrankten ausgehende Infektionsgefahr beseitigt 


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228 


Neisser. 


oder vermindert wird, sondern daß auch sie selbst zu ihrem 
eigensten Vorteil einer frühzeitigen und sorgfältigen Behandlung 
zugeführt werden. 

Eine derartige Zwangsuntersuchung auf alle Kassenmitglieder 
auszudehnen, würde zwar zweifellos die allergrößten Vorteile bieten; 
aber im Emst wird niemand daran denken, sie vorzuschlagen, da 
sie gar zu sehr nach einer Beschränkung der persönlichen Freiheit 
und noch dazu einer bestimmten Bevölkerungsklasse aussehen 
würde. Es kommt dazu der Gesichtspunkt, daß durch die Absicht, 
nur die Geschlechtskrankheiten aufdecken zu wollen, der Maßregel 
gewollt oder ungewollt der Stempel einer odiösen sanitätspolizei¬ 
lichen Sittenkontrolle aufgedrückt würde. 

Aber folgender Gesichtspunkt erscheint erwägenswert; ebenso 
wie die allermeisten der den besseren und reicheren Ständen an- 
gehörigen Personen, auch wenn sie nicht krank sind, einer regel¬ 
mäßigen ärztlichen Kontrolle sich unterwerfen, sei es, daß sie 
in ständiger hausärztlicher Beobachtung sich befinden, sei es, daß 
sie ganz regelmäßig sich und ihre Familie einer ärztlichen Unter¬ 
suchung unterwerfen, so ist es wohl erwägenswert, ob nicht 
die Kassen — und allerdings sind die Versicherungsanstalten 
dabei mindestens ebenso interessiert — alle ihre Kassenangehörigen 
alle Jahre ein- oder zweimal einer allgemeinen ärztlichen Unter¬ 
suchung unterwerfen sollten. Daß unendlich viel Geschlechts¬ 
krankheiten bei sorgfältiger Untersuchung dabei aufgedeckt und 
sorgsamer Behandlung zugeführt werden könnten, wäre noch der 
geringste Vorteil. 

Aber wie viele beginnende Herz-, Lungen- und Nieren¬ 
erkrankungen, wie viele unerkannte Fälle von Zuckerkrankheit, 
von Nerven- und Rückenmarkleiden würden in ihren ersten Stadien 
bekannt und durch frühzeitige Behandlung beseitigt werden können! 

An der Durchführbarkeit einer solchen Maßregel habeich 
keinen Zweifel Denn auch hier ist, wie schon so oft erwähnt, 
der Gesichtspunkt geltend zu machen, daß zwar anfangs für viel 
mehr Kranke mit viel mehr Mitteln wird gesorgt werden müssen, 
daß aber bald ein Gleichgewicht sich dadurch herstellen wird, daß 
schwere und unheilbare Fälle den Kassen in weit geringerer Zahl 
zur Last fallen werden, als jetzt Für die Kranken würde nur 
eine sehr geringe Belästigung durch die jährlich ein- oder zweimal 
wiederkehrende Untersuchung entstehen und durch die Verteilung 
der Untersuchung über das ganze Jahr würden die Ärzte sehr wohl 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 229 


in der Lage sein, die Untersuchung ohne besondere Überlastung 
durchzuführen. 

Für den Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten 
aber verspreche ich mir von einer solchen periodischen 
Untersuchung unendlich vieles. Bei den Männern wird 
zweifellos die allergrößte Anzahl solcher Fälle aufgedeckt werden. 
Schwierigkeiten liegen nur beim weiblichen Geschlecht vor, weil 
man wohl nicht daran denken kann, prinzipiell jedes weibliche 
Kassenmitglied auf das Vorhandensein von Geschlechtskrankheiten 
zu untersuchen, selbst wenn weibliche Ärzte, was ich für selbst¬ 
verständlich halte, in genügender Anzahl zur Verfügung stehen. 

Daß aber trotzdem sehr viele Fälle, die jetzt unerkannt bleiben, 
entdeckt werden, daß durch solche Untersuchungen sehr viel Ge¬ 
legenheit zur Belehrung und Aussprache gegeben wird, ist sicher. 
Natürlich wird auch hier unendlich viel von der Kunst des Arztes 
oder der Ärztin, sich das Vertrauen der Klientinnen zu erwerben, ab- 
hängen. Schließlich werden wir hier, wie bei allen derartigen Ma߬ 
regeln, damit rechnen müssen, daß wir nicht alles, was wir wünschen, 
erreichen können; das darf uns aber nicht abschrecken, jeden Ver¬ 
such zu wagen, auch wenn er nur teil weisen Erfolg verspricht! 

Ich verkenne nicht, daß die Gesamtheit der von mir vor¬ 
geschlagenen Maßregeln, vermehrte Krankenhausbehandlung, 
Einrichtung von Ambulatorien, Anstellung von Spezial¬ 
ärzten, Krankenkontrolleuren, Erstreckung der Kassen¬ 
leistungen auf die Angehörigen der Mitglieder, finanzielle 
Aufwendungen in nicht unerheblichem Umfange nötig machen 
werden, und man wird vielleicht die Frage aufwerfen, ob derart 
gesteigerten Ansprüchen gegenüber die Kassen leistungs¬ 
fähig bleiben werden. Ich vermag diese Frage nicht zu be¬ 
antworten. Aber eins ist wohl sicher, daß, je größer eine Kasse 
ist, sie um so leistungsfähiger sein wird und daß demgemäß 
auch aus hygienischen Gesichtspunkten und besonders im Interesse 
der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten es aufs innigste zu 
wünschen wäre, daß möglichst viele zentralisierte Orts¬ 
krankenkassen an Stelle der vielen kleinen, einzelne Ge¬ 
werbe umfassenden Kassen treten möchten. Das Beispiel 
Leipzigs, Frankfurts lehrt, das große zentralisierte Kranken¬ 
kassen auch den weitgehendsten Anforderungen entsprechen können. 
Ich habe früher bei anderer Gelegenheit den Gedanken zur Dis¬ 
kussion gestellt, ob nicht, weil es sich bei dem Kampfe gegen dio 


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230 


Neißser. 


Geschlechtskrankheiten um die Abwehr einer, das ganze Volk 
gleichmäßig treffenden Gefahr handelt, ein Teil der Kosten, die 
den Krankenkassen hierdurch erwachsen, auf die Schultern des 
die Allgemeinheit repräsentierenden Staates abzuwälzen wäre. 
Ebenso wie bei einer beginnenden Choleraepidemie nicht der einzelne 
Kreis oder die einzelne Provinz die Kosten für die Abwehrmaßregeln 
zu übernehmen hat, so, erwog ich, sind bei der Behandlung der 
Geschlechtskrankheiten nicht nur die einzelnen Verbände, sondern 
auch die Allgemeinheit zur Hilfeleistung verpflichtet 

Allein ich verkenne nicht, daß jede Subvention der Kassen 
durch die Allgemeinheit nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch 
Gefahren für die freie Selbstverwaltung der Kassen im Gefolge 
haben könnte. Mir scheint, daß der Weg der Bildung allgemeiner 
Ortskrankenkassen in allen Kreisen und großen Städten mehr Vor¬ 
teile und weniger Nachteile bieten würde. Leider sind die Wünsche 
nach Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht — namentlich 
auf die der Ansteckung und Prostitution so überaus häufig an¬ 
heimfallenden Dienstboten — und nach Zentralisation des Kranken¬ 
kassenwesens bisher durch die Gesetzgebung nicht erfüllt worden. 
Die jüngste Novelle zum Krankenversicherungsgesetz hat in dieser 
Hinsicht keinen Schritt vorwärts getan. 

Ich bin am Schluß meiner Ausführungen angelangt. Hoffent¬ 
lich habe ich Ihre Geduld nicht gar zu lange in Anspruch ge¬ 
nommen. Es waren aber so viele Punkte in Betracht zu ziehen, 
daß ich ungeachtet aller guten Vorsätze mich doch nicht kürzer 
fassen konnte. Jedenfalls aber bitte ich aus meinen Worten zu 
entnehmen, eine wie große Bedeutung ich der Kassen¬ 
organisation für den mir am Herzen liegenden Kampf gegen 
die Geschlechtskrankheiten beimesse, und ich bitte fernerhin in 
meinem Referate einen Ausdruck meiner Hochachtung vor 
den sozialen Leistungen der Krankenkassen und meiner 
Bewunderung für die selbstlose Hingabe der Männer, die 
für diese Organisation arbeiten und wirken, zu erblicken. Und 
wenn ich bedenke, daß die ganze Institution trotz ihrer Jugend 
so eminente Leistungen schon heute aufweist, so glaube ich mit 
Zuversicht die Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß die Wirk¬ 
samkeit der Krankenkassen in den nächsten Jahren und 
Jahrzehnten noch ganz andere staunenswerte Erfolge 
für die Wohlfahrt des arbeitenden Volkes und damit 
unseres ganzen Vaterlandes zeitigen werde! 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 231 


Leitsätze. 

L 

1. Es ist zu verlangen — eventuell (nach Blaschko) gesetzlich 
zu bestimmen —, daß die Kassen ihre Organisation zur Herstellung 
einer brauchbaren Statistik über die Verbreitung der Geschlechts¬ 
krankheiten verwenden. 

Eine solche Statistik läge nicht nur im eigenen Interesse der 
Kassen, die nur durch sie ein richtiges Bild von dem Umfang der 
den Geschlechtskranken zugewendeten und zuzuwendenden Kassen¬ 
leistungen gewinnen können, sondern auch im allgemeinen Interesse; 
denn die Resultate einer guten Statistik, welche sich auf viele 
hunderttausend Personen beziehen würde, könnten allein die gesetz¬ 
gebenden Körperschaften, Verwaltungsbehörden, wie auch die 
hygienisch-medizinische Forschung zu einem Urteil über Wert oder 
Unwert irgend welcher zur Bekämpfung der venerischen Krank¬ 
heiten durchgeführten Maßregeln in den Stand setzen. 

2. Die Statistik müßte nach einem einheitlichen, für alle 
Kassen gleichen von Ärzten und Verwaltungsbeamten entworfenen 
Schema hergestellt werden. In diesem Schema wären einzeln zu 
berücksichtigen: 

a) Geschlecht, 

b) Familienstand, 

c) Berufsart und 

d) Art der Erkrankung unter Sonderung der drei venerischen 
Krankheiten und Berücksichtigung der Frische, Ansteckungs¬ 
fähigkeit und etwaigen Komplikationen. 

Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten wird sicherlich bereit sein, ein möglichst einfach zu 
haltendes Schema für die in die Statistik aufzunehmenden ärzt¬ 
lichen Fragen zu entwerfen. 

3. Es sind gesetzliche Vorschriften anzustreben, durch welche 
die strengste Geheimhaltung der ärztlichen, die Krankheit betreffen¬ 
den Angaben seitens der Kassenverwaltungen gesichert wird. 

Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, sollten die Kassen 
ihrerseits auf die Geheimhaltung der ärztlicherseits ihnen zu¬ 
gegangenen Mitteilungen strengstens Bedacht nehmen. 

4. Im Hinblick auf die Zweifel, die bei der Auslegung des 
§ 300 StG.B. entstanden sind, sollten die Verwaltungen die ein¬ 
tretenden Mitglieder nach Möglichkeit veranlassen, die Kassenärzte 


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232 


Neiaser. 


ein für allemal zur ärztlichen Auskunftserteilung an die Kassen¬ 
verwaltung zu ermächtigen. 


n. 

Die Kassen sollen durch Wort und Schrift Aufklärung und 
Belehrung über die Gefahren des außerehelichen Geschlechts¬ 
verkehres und über die Bedeutung der Geschlechtskrank¬ 
heiten unter ihren Mitgliedern verbreiten. Besonders sollten die 
Mitglieder beim Eintritt in die Kasse, beim Ausscheiden, sowie 
durch die Kassenärzte bei etwaigen Beratungen durch überreichen 
eines „Merkblattes“ auf die Gefahren der Geschlechtskrankheiten 
hingewiesen werden. 

Vorträge sind getrennt für Männer und Frauen zu halten. 

m. 

Alle Bestrebungen, die auf Schutz der heranwachsenden 
Jugend vor sittlichem Verfall und vor übermäßigem und vor¬ 
zeitigem Geschlechtsverkehr abzielen — wie z. B. die Beseitigung 
des Schlafgängerwesens durch Erbauung von Ledigenheimen, die 
Einführung obligatorischer Fortbildungsschulen u. dergl. — sind 
auf jegliche Weise, teils durch finanzielle Förderung, teils durch 
Agitation zu unterstützen. 

IV. 

Die Frage, ob und in welcher Weise Belehrung über die 
Maßnahmen zur Verhütung geschlechtlicher Ansteckung unter 
den Mitgliedern der Kassen verbreitet werden soll, wird weiterer 
Erwägung bedürfen. 

V. 

Krankenhausbehandlung ist unter allen Umständen das 
ideale Mittel zu schneller Herbeiführung der Heilung im Interesse 
des einzelnen und zur Beseitigung der Ansteckungsfähigkeit im 
Interesse der Allgemeinheit. Da die vollständige Durchführung 
dieser Methode aber kaum möglich und tatsächlich auch nicht 
für alle Fälle notwendig ist, so soll Krankenhausbehandlung 
eintreten in allen Fällen, in denen 

1. der Arzt, 

2. die Kasse, bezw. der Kassenkontrolleur sie für erforder¬ 
lich hält, 

3. der Kranke die Aufnahme in ein Krankenhaus wünscht. 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 233 

Bei der Entscheidung der Frage, ob Krankenhausbehandlung 
nötig, wird man prüfen müssen: 

a) ob die Art der Erkrankung Krankenhausbehandlung un¬ 
erläßlich macht. Es könnten für die Ärzte bestimmte 
Direktiven nach dieser Richtung hin je nach dem Stand¬ 
punkt der ärztlichen Wissenschaft durch eine ärztliche 
Vertrauenskommission gegeben werden; 

b) ob bei nicht unbedingter Notwendigkeit der Krankenhaus¬ 
behandlung Gewähr dafür gegeben ist, daß die Behandlung 
außerhalb des Krankenhauses pünktlich und sorgsam durch¬ 
geführt wird; 

c) ob je nach den Wohnungs- und Lebensverhältnissen des 
Kranken und nach dem Grade seiner individuellen Zu¬ 
verlässigkeit und Geneigtheit, sich den Anordnungen des 
Arztes betreffs Behandlung und Geschlechtsverkehr zu 
unterwerfen, anzunehmen ist, daß für die Umgebung des 
Kranken oder für die Allgemeinheit Ansteckungsgefahr 
besteht. 

Die Kassen haben durch Strafvorschriften dafür zu sorgen, 
daß innerhalb des Hospitals die Kranken sich den bestehenden 
Hausordnungen und den ärztlichen Vorschriften — auch betreffs 
der Dauer der Hospitalbehandlung — unterwerfen, während auf 
der anderen Seite als selbstverständlich angenommen wird, daß 
den Geschlechtskranken in allen Eirankenhäusern volle Gleich¬ 
stellung mit anderen Kranken zu teil wird. 

Um den Kassen die Durchführung der Krankenhausbehandlung 
zu ermöglichen, sind ihnen seitens der Krankenhausverwaltungen 
möglichst billige Verpflegungssätze zuzugestehen. 


VI. 

Um eine sachgemäße Behandlung der außerhalb von 
Krankenhäusern zu behandelnden Mitgliedern zu sichern, haben 
die Kassen 

1. für ärztliche Behandlung durch gute, zuverlässig ausgebildete 
Spezialärzte zu sorgen. Es ist eine Höchstzahl der von 
einem Arzt zu versorgenden Kranken festzusetzen; 

2. weiblichen Mitgliedern weibliche — spezialärztlich geschulte 
— Arzte zur Verfügung zu stellen; 

3. männliche und weibliche Krankenkontrolleure anzustellen, 
um durch Besuche in den Wohnungen festzustellen, ob — 


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234 


Neisser. 


namentlich bei Verheirateten und Erwerbsunfähigen — die 
ärztlicherseits für die Behandlung und betreffs der Lebens¬ 
weise erteilten Vorschriften befolgt werden und ob unter 
den häuslichen Verhältnissen des Kranken die Behandlung 
zum Vorteil des Erkrankten und ohne Nachteil für dessen 
Umgebung durchgeführt werden kann; 

4. Strafen für Nichtbefolgung der ärztlichen Vorschriften fest¬ 
zusetzen und die diesbezüglichen Vorschriften bei Beginn 
der Behandlung dem Kranken jedesmal besonders bekannt 
zu geben. 

VIL 

Die Kassen sollen die aus der Kasse ausscheidenden Mit¬ 
glieder ausdrücklich auf ihr Recht, noch innerhalb der nächsten 
drei Wochen die Hilfe der Kassen in Anspruch nehmen zu dürfen, 
hinweisen. 

VIII. 

Überall sollten die Kassen auch die Familienmitglieder 
ihrer Versicherten mit versorgen. Die leider nicht seltenen, meist 
von den Männern ausgehenden, geschlechtlichen Ansteckungen in der 
Ehe lassen auch vom Standpunkte der Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten ein solches Vorgehen als sehr wünschenswert erscheinen. 

IX. 

Da zu befürchten steht, daß mit Rücksicht auf die vom 
1. Januar 1904 an eintretende Erhöhung der seitens der Kassen 
den Mitgliedern zu gewährenden Leistungen viele Kassen aus 
finanziellen Gründen ihre Leistungen auf das gesetzliche Minimum 
beschränken und namentlich auch die gerade bei Geschlechts¬ 
krankheiten so erwünschte Krankenhausbehandlung nach Möglich¬ 
keit vermeiden werden, so ist entweder staatliche Subvention 
oder noch besser die Bildung großer örtlicher Verbände 
anzustreben, damit eine größere finanzielle Leistungsfähigkeit auch 
im Interesse einer möglichst energischen Behandlung der Geschlechts¬ 
krankheiten erzielt wird. 

X. 

Die Einführung einer regelmäßigen jährlich ein- bis 
zweimal stattfindenden ärztlichen Untersuchung aller 
Kassenmitglieder ist anzustreben, weil eine solche nicht nur 
zur Aufdeckung beginnender Herz-, Lungen-, Nierenleiden, Zucker- 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 235 


krankheit u. s. w., sondern auch zur Erkennung sehr vieler, den 
Kranken ganz unbekannter oder von ihnen falsch gedeuteter ge* 
schlechtlicher Erkrankungen führen wird. 

Die Kassenärzte könnten ferner verpflichtet werden, jeden 
sich ihnen vorstellenden Kranken in geeigneter Form nach vor* 
handenen oder überstandenen Geschlechtskrankheiten zu fragen 
und für etwa notwendige Behandlung zu sorgen. 

XL 

Behufs Durchführung der vorstehend empfohlenen sowie anderen 
notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬ 
heiten müssen die Kassen ermächtigt werden, alle für die 
hygienische Wohlfahrt ihrer gesunden und kranken Mitglieder 
und sonstigen Zwecke der Krankheitsprophylaxe notwendigen Auf¬ 
wendungen zu machen (Blaschko). 

Nachtrag. 

Im Anschluß an den gehaltenen Vortrag entwickelte sich eine 
sehr lebhafte Debatte. Mit größter Befriedigung kann ich kon¬ 
statieren, daß alle Redner sich ohne Ausnahme den von mir ge¬ 
machten Ausführungen im Prinzip anschlossen und einen weit¬ 
gehenden Vertrieb des Vortrags für wünschenswerterklärten. 

Folgende Punkte möchte ich noch besonders hervorheben: 

These I. Statistik. Prinz-Kottbus glaubt nicht, daß der in 
Absatz 4 ausgesprochene Wunsch technisch sich durchführen lasse 
und stellt folgenden Antrag: „Der Ortskrankenkassentag in Breslau 
sieht im Anschluß an die Ausführungen des Vortragenden den 
Mitteilungszwang der Kassenärzte an die Ortskrankenkassen als 
unbedingt notwendig an, wenn in eine wirksame Bekämpfung der 
Geschlechtskrankheiten seitens der Ortskrankenkassen eingetreten 
werden soll. Er beauftragt den Zentralverband, an maßgebender 
Stelle dahin vorstellig zu werden, daß die Ärzte gegenüber 
den Ortskrankenkassen von der Wahrung des Berufs¬ 
geheimnisses (§ 300 des Strafgesetzbuches) entbunden, 
dagegen die Strafbestimmung des § 300 des Strafgesetz¬ 
buches auf die Kassenorgane im Interesse der Ver¬ 
sicherten ausgedehnt werde.“ 

Der Antrag wird einstimmig 1 ) von der Versammlung an- 

*) Es waren in der Versammlung 116 Kassen mit 1955550 Mitgliedern 
vertreten. 


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236 


Neisser. 


genommen. Kohn-Berlin wünscht zur Herbeiführung einer sicheren 
Statistik die Einführung eines sogenannten „Schlußscheines“ in 
der Weise, daß die Arzte erst nach Beendigung der Krank¬ 
heit der Kasse die Mitteilung über die Krankheit, Diagnose usw. 
geben müßten. 

Alle die auf erhöhte Leistungen seitens der Krankenkasse^ 
ausgehenden, in den Thesen niedergelegten Maßregeln werden 
als berechtigt und durchaus wünschenswert von allen 
Rednern anerkannt, aber dabei betont, daß solche erhöhte 
Leistungen nicht möglich seien, wenn überall die Ortskrankenkassen 
durch Errichtung von Betriebskrankenkassen, durch Erschwerung 
der Zentralisation usw. gehemmt werden. Speziell die in 
These YIU aufgestellte Forderung, auch die Familienmitglieder 
mit zu versorgen, ließe sich in der Praxis, solange noch Betriebs¬ 
krankenkassen beständen, nicht ohne ungerechte Belastung der 
Ortskrankenkassen anwenden, da immer nur die ledigen Mitglieder 
in die Betriebskrankenkasse aufgenommen würden, und die Orts¬ 
krankenkassen zur Aufnahme der verheirateten Mitglieder übrig 
blieben. 

Allseitig wird die obligatorische Versicherung der Dienstboten 
als ganz besonders dringend betont. Ich kann mich dieser 
Forderung nach jeder Richtung hin anschließen; denn es 
vergeht kein Tag, indem wir nicht im klinischen Betrieb sehen, 
wie venerisch erkrankte Dienstboten sofort von der Dienstherrschaft 
entlassen und ohne jeden Rückhalt geradezu auf die Straße gesetzt 
werden. Stellen doch auch die Dienstboten das Hauptkontingent 
für die Prostitution! 

These V. Die Bedeutung der Krankenkontrolleure wird an¬ 
erkannt, aber betont, daß man in der Auswahl der Persönlichkeit 
zu diesem Amt sehr vorsichtig sein müsse. Besonders Kohn- 
Berlin weist auf die großen Erfolge, die die Berliner Ortskranken¬ 
kasse der Kaufleute mit ihrer Wohnungserhebung gehabt hatte, hin. 

These VT. Die aufgestellte Forderung nach spezial-ärztlicher 
Behandlung wird, zumal für die städtischen Verhältnisse, anerkannt, 
aber ihre Durchführung auf dem Lande für unausführbar erklärt. 
Tatsächlich aber spielen die Geschlechtskrankheiten auf dem Lande 
eine so geringe Rolle, daß dort sehr wohl auf die Anstellung von 
Spezialärzten verzichtet werden kann. 

Zu These VH wird bemerkt, daß die Durchführung dieser 
Forderung praktisch kaum möglich sei, wichtig aber würde sein. 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 237 


schon die Fortbildungsschüler über die hauptsächlichsten Be¬ 
stimmungen des Krankenkassengesetzes aufzuklären. 

These X. Obgleich die Durchführung einer regelmäßigen, 
jährlich ein- bis zweimal stattfindenden Untersuchung 
aller Kassenmitglieder wohl Millionen kosten würde, wird 
dieselbe doch als so wichtig und wünschenswert erklärt, daß die 
Versammlung auf Antrag von Graef-Frankfurt a* M. einstimmig 
beschließt, diese Frage auf die Tagesordnung des nächsten Verbands¬ 
tages zu setzen. 

Zu These XI wird verlangt, daß den Krankenkassen gleiche 
Rechte wie den Berufegenossenschaften eingeräumt werden müßten, 
damit die Kassen befugt wären, Krankheitsverhütungs¬ 
vorschriften zu erlassen. 


Statistisches. 

Im XX. Ergänzungsheft der Zeitschrift des Königl. preußischen 
statistischen Bureaus gibt Gutstadt folgende hier interessierende 
Zahlen: 


Venerische Erkrankungen 

unter den Mitgliedern des Ge werkskranken Vereins in Berlin. 


- - — - - - - - 

- — 


— - — 

- - — 


-- 

-- 



1892 

1893 

1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

1899 

' - -- -- - •- •• - •• 


- ^ 

- - 


- — 


■= 

™ % 

Zahl der Mitglieder 

'i 

ii 








überhaupt . . . 

205 644 

189 894 

85 919 

92 053 

93 323 

98 285 

106 085 

135 930 

Zahl der Erkrankten 

9 284 

9 354 

4 230 

4 375 

5 324 

5 317 

6 221 


Proz. aller Mitglieder 

! 4,51 

4,93 

4,91 

4,75 

5,70 

5,40 

5,86 

5,76 

Zahl der männlichen 
Mitglieder . . . 

! 

] 162 675 

! 

145 330 

1 

74 312 i 78 086 

78 091 

81 148 

86 666 

94 026 

Zahl der erkrankten 








männlichen Mit¬ 
glieder . . . . i 

! 7 986 

7 994 

4 123 

4 287 

5 116 

5 023 

5 959 


Prozent aller männ- . 
liehen Mitglieder 

4,90 

5,50 

5,54 

5,49 

6,55 

6,18 

6,97 

6,89 

Zahl der weiblichen 

1 








Mitglieder . . . i 

i 42 969 

44 564 

11 607 

13 967 

15 232 

17 137 

19 419 

41904 

Zahl der erkrankten 
weiblichen Mit¬ 

| 








glieder .... 

1 298 

1 360 

107 

88 

208 

294 

262 


Prozent aller weib¬ 









lichen Mitglieder 

j 3,02 

3,05 

0,92 

0,63 

1,36 

1,13 

1,34 

1,00 


Zeilsohr. C Beklmpfang <L Geschlechtskrankh. IL IS 


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238 


Neisser. 


Venerische Erkrankungen unter den Mitgliedern der 
Krankenkassen der Stadt Berlin. 


j 

1895 

1896 

1897 

Anzahl der Kassen. 

72 

68 

62 

„ „ Mitglieder überhaupt .... 

241528 

245203 

251255 

„ „ Erkrankten. 

469 

881 

438 

Von 10 000 Mitgliedern erkrankten .... 

19,41 

35,93 

17,43 

Anzahl der männlichen Mitglieder .... 

172268 

176132 

180233 

„ „ erkrankten männlichen Mitglieder 

425 

793 

377 

Von 10000 männlichen Mitgliedern erkrankten 

24,67 

45,02 

20,92 

Anzahl der weiblichen Mitglieder .... 

69260 

69071 

71022 

„ „ erkrankten weiblichen Mitglieder 

44 

88 

61 

Von 10000 weiblichen Mitgliedern erkrankten 

6,35 

12,74 

8,59 


Krankenkassen in Frankfurt a. Main. 


1896 


Anzahl der Mitglieder überhaupt.61950 

„ „ Erkrankten. 2011 

Von 10000 Mitgliedern erkrankten • . . i 824,62 
Anzahl der männlichen Mitglieder . . . . I 45760 


„ „ erkrankten männlichen Mitglieder ' 1498 

Von 10000 männlichen Mitgliedern erkrankten 326,27 
Anzahl der weiblichen Mitglieder. i 16190 


„ „ erkrankten weiblichen Mitglieder i 518 

Von 10000 weiblichen Mitgliedern erkrankten 319,95 

Erwerbsfähig blieben von 100 Erkrankten . . 75,98 

von 100 männlichen Mitgliedern. . 79,71 

von 100 weiblichen Mitgliedern . . 65,06 


Venerische Erkrankungen unter den Mitgliedern der 
Krankenkassen in Halle a. S. 


1897 | 1898 | 1899 


Anzahl der Kassen.I 

38 1 

88 

38 

„ „ Mitglieder überhaupt .... 

22060 

22778 

23897 

„ „ Erkrankten. 

266 1 

244 

257 

Von 10000 sämtlicher Mitglieder erkrankten 

120,58 

107,12 

107,54 

Anzahl der erkrankten männlichen Mitglieder 

249 

226 

238 

„ „ „ weiblichen „ 

i n ; 

18 

i 19 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 239 


Oberschlesischer Knapp Schafts verein. 



1896 

1897 

i 1898 

a) Hüttenbetrieb: 



1 

Anzahl der Mitglieder Überhaupt . . 

. . 7214 

7 798 

8854 

„ „ Erkrankten. 

• • 42 

26 

84 

Von 10000 Mitgliedern erkrankten . . 

. . 58,22 

83,37 

40,70 

b) Bergbaubetrieb: 




Anzahl der Mitglieder überhaupt . . 

. . 65525 

67724 

70724 

„ „ Erkrankten. 

. . 140 

171 

128 

Von 10000 Mitgliedern erkrankten . . 

. . 21,36 

25,25 

18,10 

c) Zusammen: 




Anzahl der Mitglieder überhaupt . . 

u i | 72739 

75517 

79078 

„ „ Erkrankten. 

. . j; 182 

197 

162 

Von 10000 Mitgliedern erkrankten . . 

. . 25,02 

26,09 

20,49 


Dem Bericht des Dr. Richard Otto, Leipzig, entnehme ich: 

„Die Verwaltung unserer Leipziger Ortskrankenkasse hat es 
sich nun angelegen sein lassen, um wenigstens annähernd ein ört¬ 
liches Bild und einen Überblick über die venerischen Erkrankungen 
ihrer Mitglieder zu gewinnen, eine Statistik betreffend das Jahr 1898 
aufzustellen. 

Ich gebe dieselbe in Nachstehendem wieder und bemerke zu¬ 
gleich, daß es sich nur um Minimalziffern handeln kann, da bis 
jetzt bestimmte Maßnahmen hierfür noch nicht eingeflihrt sind. 

Die Mitgliederzahl unserer Kasse betrug am 31. Dezember 1898 
123345, und zwar männlich 93684, weiblich 29661 und die Dauer 
der Krankenunterstützung 34 Wochen. 


Mitglieder 

männlich 

weiblich 


Als geschlechts¬ 
krank sur Kennt¬ 
nis der Ver¬ 
waltung 
gelangten 

Davon 

waren 

erwerbs¬ 

unfähig 

Dem Kran¬ 
kenhaus« 
wurden 
überwiesen 

Im Bes 

Tripper 

on deren 

Schanker 

litten an 

Syphilis 

7858 (6,4®/,) 

311 

133 

2305 

560 

915 

7218 (4,9®/,) 

254 

87 

2292 

554 

790 

640 (1,5®/,) 

57 

46 

13 

6 

125 


Die Kurkosten für geschlechtskranke Mitglieder betrugen: 
40531 Mk. 74 Pf., männl. 37441 Mk. 98 Pf., weibl. 3089 Mk. 76Pf. 

In dem vorstehend schätzungsweise berechneten Kostenbeträge 
ist das Arzthonorar mit inbegriffen und sei hier erwähnt, daß unsere 
Ortskrankenkasse ihre Kassenärzte in der Haupts^he aus einer 
jährlichen Pauschalsumme pro Kopf der Mitgliederzahl und ent¬ 
sprechend der Einzelleistung bezahlt“ 

18 * 


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240 


Neisser. 


Dem Bericht von Dr. Julius Rohn, Frankfurt a. M., entnehme ich: 

„Es sind an der Ortskrankenkasse im Jahre 1902 201 allge¬ 
meine Ärzte und 11 Spezialärzte für Haut- und Geschlechtskrank¬ 
heiten tätig gewesen; die Mühe war zu groß und die Zeit zu kurz, 
um die Diagnose der ungenau gemeldeten Fälle bei den Kollegen 
festzustellen. 

Ich habe deshalb auch alle unbestimmten Angaben für die 
Statistik nicht verwertet, als da sind: Hautkrankheit, Hautausschlag, 
Zungenerkrankung, Zungengeschwür, Harnbeschwerden, Hoden¬ 
schwellung, Blasenerkrankung, Blasenleiden. 

Dagegen habe ich die Angabe „Harnröhrenkatarrh“ oder 
„Harnröhrenentzündung“, zu den Trippererkrankungen gerechnet, 
weil ich annehme, daß in den meisten Fällen eine mikroskopische 
Untersuchung nicht stattgefunden hat und weil schließlich die 
„Hararöhrenkatarrhe“, die keine Gonokokken zurzeit aufweisen, als 
nicht harmlose Nachkrankheiten des Trippers aufzufassen sind. 

Aus dem gebotenen Material konnte man 5 Rubriken absondern: 

1. Tripper und Harnröhrenentzündung; 

2. Tripper mit Hodenentzündung; 

3. Weicher Schanker; 

4. Harter Schanker und Syphilis überhaupt; 

5. Tripper und Schanker zur gleichen Zeit. 

Von einer Anzahl männlicher Mitglieder, von 47 159 als 
Durchschnittszahl, sind an Geschlechtskrankheiten erkrankt im 
ganzen 2052 Männer = 3,27 °/ 0 der Gesamterkrankten. 

Aus folgender Tabelle sind die näheren Details zu ersehen: 


Krankheit 


Tripper und Harnröhren¬ 
entzündung . 

Tripper und Hodenent¬ 
zündung . 

Weicher Schanker . . . 
Harter Schanker und über¬ 
haupt Syphilis .... 
Tripper und Schanker zu 
gleicher Zeit .... 




Fälle 


1 

Krankheitstage 

Zu- 

sam- 

Erwerbs¬ 

fähig 

Erwerbs- j 
unfähig | 

haus¬ 

krank 

hospital¬ 

krank 

men 

led. 

verh. 

led. 

verh. | 

Tage 

Tage 

1504 

| 

1159 

| 

f 

j 156 

163 

26 

| 

923 

4175 

113 

1 

32 

11 

44 

| 26 

918 

1029 

10 

1 5 

1 1 

2 

! 2 

19 

145 

361 

215 

' 60 

j 

63 

23 

j 

597 

202S 

64 

35 

5 

24 


113 

616 

2052 

1446 

' 283 

296 

77 1 

1 2570 

7993 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 241 


Die Krankheitstage der Erwerbsunfähigen im ganzen für alle 
5 Rubriken betrugen 10563, von denen 2570 auf das Haus, 7993 


auf das Hospital entfallen. 

Die Anzahl der im Hospital Behandelten beträgt im ganzen 
198; von diesen entfallen auf Erkrankte an: 

1. Tripper.=84 

2. Tripper und Hodenentzündung = 28 

3. Weicher Schanker . . . . = 4 

4. Syphilis.=64 

5. Tripper und Syphilis . . . . = 18 

1987 


An Krankengeldunterstützung wurden für die hier in Betracht 
kommenden 2570 Krankheitstage (Hauskranke) Mk. 5011,50 auf¬ 
gewendet, für die 7993 Krankheitstage (Hospitalkranke) wurden 
zunächst an Verptiegungskosten Mk. 11989,50, an Krankengeld¬ 
unterstützung für Verheiratete Mk. 1402, für Ledige Mk. 1894,20 
aufgewendet, also im ganzen an Krankengeld und Verpflegungs¬ 
kosten Mk. 20297,20. 

Von den weiblichen Mitgliedern waren, soweit sich aus Krank¬ 
meldungen und Rückfragen bei den Ärzten feststellen ließ, 301 
an Geschlechtskrankheiten — Tripper, Nachkrankheiten desselben 
und Syphilis — erkrankt. Die Gesamtzahl der im Jahre 1902 — 
von den 16497 weiblichen Mitgliedern als Durchschnittszahl — ge¬ 
meldeten Erkrankungsfälle beträgt 28120. Danach ergeben sich 
für die in Rede stehenden Erkrankungen 1,07 °/ 0 der Erkrankungen 
überhaupt 

Die einzelnen Erkrankungen und die näheren Daten ergeben 
sich — soweit sie zur Kenntnis gelangten — aus folgender 
Tabelle: 




Fälle 



Krankheitstage 

Krankheit 

Zn- 

Erwerbs- 

Erwerbs- 

haus- 

hospital- 

sam- 

fähig 

unfähig 

krank 

krank 


! men 

led. | verh. 

led. 

verh. 

Tage 

Tage 

;i) Gonorrhoische Er¬ 


! 





krankungen. 







Eierstockentzündung . . 

42 

22 1 

14 

5 

388 

82 

Gebärmutterhalskatarrh 

26 

20 1 

4 

1 j 1 14 

76 

Gebärmutterkatarrh und 







Entzündung. 

30 

14 3 j 

11 

2 : 

196 

105 


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242 


Neisser. 




Fälle 



| Krankheitstage 

Krankheit 

Zu- 

sam- 

Erwerbs- 

Erwerbs- 

haus- 

hospital- 

fähig 

unfähig 

krank 

krank 


men 

led. 

verh. 

led. 1 

verh. | 

Tage 

Tage 

Harnröhrenentzündung. . 

80 

48 1 

5 1 

24 | 

3. 

507 

588 

Scheidenkatarrh .... 

57 

44 

3 

8 

2 

210 

— 

b) Syphilitische Er¬ 
krankungen. 

Primäre, sekundäre und 
tertiäre Syphilis . . . 

69 

29 

15 

20 

i 5 

152 

i 

j 527 


1 304 

| 177 

i 28 ; 

81 

l 18 , 

j 1467 

J 1378 


Was die der Krankenkasse verursachten Kosten betrifft, so 
waren für 1467 Krankheitstage der Hauskranken erforderlich 
Mk. 2860 an Krankengeld; für 1378 Verpflegungskosten im Hospital 
Mk. 2067 und Krankengeld Mk. 544 = Mk. 2611. 

Zum erstenmal wird hier eine Statistik über Geschlechts¬ 
krankheiten bei einer größeren Krankenkasse veröffentlicht; es hat 
sich bei der Bearbeitung des Materials ergeben, daß infolge der 
bereits anfangs erwähnten ungenauen Krankheitsbezeichnung von 
seiten der Ärzte, und infolge beabsichtigter Verheimlichung von 
seiten der Mitglieder ein ganz genaues Bild festzustellen unmög¬ 
lich war/ 4 


Au b dem Krankenversicherungsgesetz 

in der Fassung der Gesetze vom 10. April 1892, 30. Juni 1900 
und 25. Mai 1903 mit Nebengesetzen und Ausführungsbestimmungen. 

Nebst Bemerkungen und Erläuterungen von Regierungsrat A. Düttmann. 
Altenburg, S.-A. 1908. Stephan GeibeL) 

Gemeindekrankenversicherung. Freie Behandlung und 
Krankengeld. 

§ 6. (I.) Als Krankenunterstützung ist zu gewähren: 

1. vom Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei, 
sowie Brillen, Bruchbänder und ähnliche Heilmittel; 

3. im Falle der Erwerbsunfähigkeit vom dritten Tage nach dem 
Tage der Erkrankung ab für jeden Arbeitstag ein Krankengeld in Höhe 
der Hälfte des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter. 

(II.) Die Krankenunterstützung endet spätestens mit dem Ablauf 
der sechsundzwanzigsten Woche nach Beginn der Krankheit, im 
Falle der Erwerbsunfähigkeit spätestens mit dem Ablauf der sechsund¬ 
zwanzigsten Woche nach Beginn des Krankengeldbezuges. Endet der 
Bezug des Krankengeldes erst nach Ablauf der sechsundzwanzigsten 


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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 243 


Woche nach dem Beginn der Krankheit, so endet mit dem Bezüge 
des Krankengeldes zugleich auch der Anspruch auf die im Abs. I unter 
Ziffer 1 bezeichnten Leistungen. 

4. Die ärztliche Behandlung ist in natura zu gewähren, und 
zwar regelmäßig durch einen approbierten Arzt (nötigenfalls auch 
durch einen Spezialarzt), und abgesehen von den Fällen des § 57 a 
am Beschäftigung8- oder Wohnorte des Erkrankten (vergl. A. 2). 
Wenn nicht Kassenärzte an gestellt sind, kann in der Regel nur 
Behandlung d^rch Arzte, welche sich mit den üblichen Honorar¬ 
sätzen — nach den Gebührenordnungen haben die Krankenkassen, 
vorbehaltlich abweichender Vereinbarungen und besonderer Um¬ 
stände, nur die Minimaltaxe zu vergüten — beansprucht werden. 
Für einzelne Leistungen (z. B. Ausziehen und Plombieren schad¬ 
hafter Zähne, Massieren, Erneuerung von Verbänden) können 
übrigens auch die Dienste von Zahntechnikern, Hebammen und 
sonstigen Heilgehilfen in Anspruch genommen werden. Es darf 
(nicht muß) auf Wunsch des Kranken im Einzelfalle auch ein 
Nichtapprobierter (Naturheilkundiger usw.) herangezogen und dann 
auf dessen Bescheinigung das Krankengeld ausgezahlt werden. Als 
Kassenärzte können jedenfalls nur approbierte Ärzte angenommen 
werden. 

§ 6a. (I.) Die Gemeinden sind ermächtigt, zu beschließen: 

5. daß Versicherten auf ihren Antrag die im § 6 Abs. 1 
Ziffer 1 bezeichneten Leistungen auch für ihre dem Krankenver¬ 
sicherungszwange nicht unterliegenden Familienangehörigen zu ge¬ 
währen sind. 

(H.) Die Gemeinden sind ferner ermächtigt, Vorschriften über die 
Krankenmeldung, über das Verhalten der Kranken und über die Kranken¬ 
aufsicht zu erlassen und zu bestimmen, daß Versicherte, welche diesen 
Vorschriften oder den Anordnungen des behandelnden Arztes zuwider¬ 
handeln, Ordnungsstrafen bis zum dreifachen Betrage des täglichen 
Krankengeldes für jeden einzelnen Übertretungsfall zu erlegen 
haben. Vorschriften dieser Art bedürfen der Genehmigung der Auf¬ 
sichtsbehörde. 

8. Der Arzt, der die Krankheitsursache der Krankenkasse mit¬ 
teilt, handelt nicht gegen § 300 StG.B. 

9. Geschlechtskranken darf nach der Novelle von 1903 
das Krankengeld vom 1. Januar 1904 ab nicht mehr vorenthalten 
werden. Der Grund für diese Änderung war die gründlichere (Be¬ 
handlung) Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Interesse 


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244 


Neisser. 


des Gemeinwohls. Es wird übrigens in der Regel auf Grund 
des § 7 Krankenhausbehandlung angeordnet werden müs¬ 
sen, um den Erfolg zu sichern. 

Zu 11—17. Die Strafen konnten bislang bis 20 M. betragen. 
Andere Nachteile — Entziehung des Krankengeldes usw. — dürfen 
nicht ausgesprochen werden; dagegen ist Anordnung von Kranken¬ 
hausbehandlung zulässig (§ 7). Es handelt sich um Ordnungs¬ 
strafen, die von dem zuständigen Gemeinde- (oder Krankenkassen-) 
Organ nach pflichtmäßigem Ermessen erkannt werden können. 
Wegen der Beschwerde gegen die Strafverfügungen vergl. § 76e. 

Die Strafen können nicht im Verwaltungswege beigetrieben 
(§ 55), auch nicht in Haft verwandelt, aber durch Aufrechnung mit 
dem Krankengelde eingezogen werden. (§ 56 Abs. 2). 

18. Das Verhalten des Kranken darf nur, soweit es auf die 
Krankheit von Einfluß ist — Wirtshausbesuch, Alkoholgenuß, Be¬ 
folgung der ärztlichen Anordnungen — Gegenstand der Vor¬ 
schriften sein. — Die Krankenaufsicht fordert Zulassung des 
Krankenkontrolleurs, der Untersuchung — aber nicht der Behand¬ 
lung — durch den Kassenarzt, richtige Auskunftserteilung usw. 

19. Wegen der Genehmigung bestimmt die preuß. Ausf.- 
Anw. unter Z. 11: 

Gemeindebeschlüsse, welche Vorschriften über die Krankmel¬ 
dung, über das Verhalten der Kranken und über die Krankenauf¬ 
sicht enthalten (§ 6 a Abs. 2) oder die daselbst zugelassenen Ord¬ 
nungsstrafen androhen, sind mit den erforderlichen Nachweisen über 
das ordnungsmäßige Zustandekommen dieser Beschlüsse der Auf¬ 
sichtsbehörde zur Genehmigung einzureichen. 

§ 7. (I.) An Stelle der im § 6 vorgeschriebenen Leistungen kann 
freie Kur- und Verpflegung in einem Krankenhause gewährt werden, 
und zwar: 

1. für diejenigen, welche verheiratet sind, oder eine eigene Haus¬ 
haltung haben, oder Mitglieder der Haushaltung ihrer Familien sind, 
mit ihrer Zustimmung, oder unabhängig von derselben, wenn die 
Art der Krankheit Anforderungen an die Behandlung oder 
Verpflegung stellt, welchen in der Familie des Erkrankten nicht ge¬ 
nügt werden kann, oder wenn die Krankheit eine ansteckende ist, oder 
wenn der Erkrankte wiederholt den auf Grund des § 6a Abs. 2 er¬ 
lassenen Vorschriften zuwider gehandelt hat, oder wenn dessen Zustand 
oder Verhalten eine fortgesetzte Beobachtung erfordert; 

2. für sonstige Erkrankte unbedingt. 

(II.) Hat der in einem Krankenhause Untergebrachte Angehörige, 
deren Unterhalt er bisher aus seinem Arbeitsverdienst bestritten hat, so 


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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 245 


ist neben der freien Kur und Verpflegung die Hälfte des in § 6 als 
Krankengeld festgesetzten Betrages für diese Angehörigen zu zahlen. Die 
Zahlung kann unmittelbar an die Angehörigen erfolgen. 

Auch für Orts-, Betriebs-, Bau- und Innungskrankenkassen und 
für Knappschafts- und Hilfskrankenkassen (§ 75) gültig. 

1. Die Anordnung der Krankenhauspflege liegt — vorbehalt¬ 
lich abweichender Bestimmungen im Kassenstatut — im freien 
Ermessen der Verwaltung, welche nicht an das Gutachten 
des Arztes gebunden ist, auch nicht im Beschwerdewege 
gezwungen werden kann. Es liegt aber im dringenden Interesse 
der Allgemeinheit, der Kranken und ihrer Angehörigen, daß in 
allen geeigneten Fällen von der Befugnis Gebrauch gemacht werde, 
da die vielfach ungünstigen WohnungsVerhältnisse und der Mangel 
genügender Pflege die Genesung in der eigenen Wohnung er¬ 
schweren und die Weiterverbreitung der Krankheiten fördern. 
Durch die Bereitstellung einer hinreichenden Anzahl von Betten 
zu mäßigen Preisen sollte den Gemeindekassenbezirken und 
Krankenkassen die Krankenhauspflege möglichst erleichtert werden. 
Häufig wird ein intensives Heilverfahren auch das billigste sein, 
weil es die Krankheitsdauer abkürzt und mehr gegen Rückfälle 
schützt, Umstände, die nach Erstreckung der Unterstützungsdauer 
auf 26 Wochen im erhöhten Grade ins Gewicht fallen. 

Zu 1—2. Zur „freien Kur“ gehört alles, was unter § 6 Z. 1 
fällt. Auch die notwendigen Transportkosten sind von der 
Krankenkasse zu tragen. E.O.V.G. v. 17. Dez. 1891. 

3. Die Einweisung kann von der Verwaltung selbst, oder 
auch von einer dazu ermächtigten Person (Geschäftsführer, Kassen¬ 
arzt) in einer für den Kranken verbindlichen Weise ausgesprochen 
werden. Solange der Kranke der Einweisung ohne rechtlichen 
Grund nicht folgt, hat er keinen Anspruch auf anderweite Unter¬ 
stützung, auch nicht auf das Krankengeld gemäß Abs. 2. 

§ 20. (I.) Die Ortskrankenkassen sollen mindestens gewähren: 

1. im Falle einer Krankheit oder durch Krankheit herbeigeführten 
Erwerbsunfähigkeit eine Kranken Unterstützung, welche nach §§ 6, 7, 8 
mit der Maßgabe zu bemessen ist, daß der durchschnittliche Tagelohn 
deijenigen Klassen der Versicherten, für welche die Kasse errichtet wird, 
soweit er 4 Mk. für den Arbeitstag nicht überschreitet, an die Stelle 
des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter tritt. 

§ 21. (I.) Eine Erhöhung und Erweiterung der Leistungen der 
Ortskrankenkassen ist im folgenden UmfaDge zulässig: 

2. Das Krankengeld kann auf einen höheren Betrag, und zwar bis 


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246 


Neisser. 


zu drei Viertel des durchschnittlichen Tagelohnes (§ 20) festgesetzt 
werden; neben freier ärztlicher Behandlung und Arznei können auch 
andere als die in § 6 bezeichneten Heilmittel gewährt werden. 

2a. Neben freier Kur und Verpflegung in einem Kranken¬ 
hause kann, falls der Untergebrachte Angehörige hat, deren 
Unterhalt bisher aus seinem Arbeitsverdienst bestritten wurde, 
ein Krankengeld bis zur Hälfte des durchschnittlichen Tage¬ 
lohnes (§ 20) bewilligt werden. 

3. Neben freier Kur und Verpflegung in einem Krankenhause kann 
Krankengeld bis zu einem Viertel des durchschnittlichen Tagelohnes 
(§ 20) auch solchen bewilligt werden, welche nicht den Unterhalt von 
Angehörigen aus ihrem Lohne bestritten haben. 

3 a. Für die Dauer eines Jahres von Beendigung der Krankenunter- 
stützung ab kann Fürsorge für Rekonvaleszenten, namentlich auch Unter¬ 
bringung in einer Rekonvaleszentenanstalt, gewährt werden. 

§ 26a. (ü.) Durch das Kassenstatut kann ferner bestimmt werden: 

2a. daß Mitglieder, welche der gemäß Ziffer 1 getroffenen Be¬ 
stimmung oder den durch Beschluß der Generalversammlung über die 
Krankenmeldung, das Verhalten der Kranken und die Kranken aufsich t 
erlassenen Vorschriften oder den Anordnungen des behandelnden Arztes 
zuwiderhandeln, Ordnungsstrafen bis zum dreifachen Betrage des 
täglichen Krankengeldes für jeden einzelnen Übertretungs¬ 
fall zu erlegen haben. 

§ 28. Personen, welche infolge eintretender Erwerbslosigkeit aus 
der Kasse ausscheiden, verbleibt der Anspruch auf die gesetzlichen 
Mindestleistungen der Kasse in Unterstützun gsfUllen, welche während der 
Erwerbslosigkeit und innerhalb eines Zeitraumes von 3 Wochen nach 
dem Ausscheiden aus der Kasse eintreten, wenn der Ausscheidende vor 
seinem Ausscheiden mindestens 3 Wochen ununterbrochen einer auf 
Grund dieses Gesetzes errichteten Krankenkasse angehört hat. 

Literatur. 

1. Das erste Arbeiterinnenheim in Berlin S.O. „Die Jugendfürsorge“ 
1908, 4. J.; H. 1, p. 85. 

2. Azua, Dr., Madrid. Resultats th6rapeutiques et hygi6niques de l’hos- 
pitalisation interne et externe des malades atteints d’affections cutan6es v£ne- 
riennes et syphilitiques. XI. Internationaler Medizin. Kongreß. Rom 1894, Bd. V, 
p. 230. 

3. Blaschko,A. Referat, erstattet auf der II. internationalen Konferenz 
z. Verhüt, der Syphilis etc. Brüssel 1902. 

4. Blaschko, Dr. R., Berlin. Die Geschlechtskrankheiten, ihre Ge¬ 
fahren, Verhütung und Bekämpfung. Schriften der Zentral-Kommission der 
Krankenkassen. Berlin 1900. 

5. Blaschko, Dr. A., Berlin. Die Behandlung der Geschlechtskrank¬ 
heiten in Krankenkassen und Heilanstalten. Berlin 1890. Fischers Medizin. 
Buchhandlung. 

6. Eingabe der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten an den Bundesrat und Reichstag, betreffend Abänderung des 


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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 247 

Krankenversicherungsgesetzes. Mitteilungen der Deutsch. Gesellschaft zur 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1902/03, Bd. 1, Nr. 4 und 5, p. 81. 

7. Kampffmeyer, P., Tegel-Berlin. Das Wohnungselend der Gro߬ 
städte und seine Beziehungen zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten 
und zur Prostitution. Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 
1903, Bd. 1. Nr. 2, p. 145. 

8. Kohn, Dr. med. Julius. Statistische Mitteilungen über die Ge¬ 
schlechtskrankheiten der Mitglieder der Allgemeinen Ortskrankenkasse zu 
Frankfurt a. M. aus dem Jahre 1902. Festschrift zum I. Kongreß der 
Deutschen Gesellsch. z. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Frank¬ 
furt a. M. vom 8.—10. März 1903. Frankfurt a. M. 1903. Johannes Alt 

9. Krieke, Dr. med., Hannover. Krankenkassen und Volkshygiene. 
Arbeiter-Versorgung Nr. 8, 1908. 

10. Ledermann, Dr. R., Berlin. Über Arbeitsunfähigkeit geschlechts- 
kranker Kassenmitglieder. Berlin 1895. 

11. Ledermann, Dr. Reinhold, Berlin. Über Errichtung ambulanter 
Behandlungsstätten für Syphilitisch-Kranke. Volkstümliche Zeitschrift für 
praktische Arbeiterversicherung 1903, 9. Jahrg. Nr. 15, p. 255. 

12. Neisser, A. Welche Maßregeln gesetzlicher Art können zur Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten ergriffen werden. Referat, erstattet auf 
der II. internat. Konferenz z. Verhüt der Syphilis etc. Brüssel 1902 p. 23. 

13. Neisser, A. Syphilisbehandlung im Krankenhause. „Die Kranken¬ 
pflege“ 1901, Bd. I. H. 2, p. 1. 

14. Neisser, A. Geschlechtskrankheiten und Krankenkassen. Arbeiter- 
Versorgung 1901 Nr. 4. 

15. Neuberger, Dr. med., Nürnberg. Wie können die Ärzte durch Be¬ 
lehrung der Gesunden und Kranken der Verbreitung der Geschlechtskrank¬ 
heiten steuern? Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1903, 
Bd. I. Nr. 2, p. 107. 

16. Pfeiffer, Dr., Hamburg. Das Wohnungselend der großen Städte 
und seine Beziehungen zur Prostitution und den Geschlechtskrankheiten. Zeit¬ 
schrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1903, Bd. I. Nr. 2, p. 135. 

17. Otte, Dr. med. Richard. Welche Maßnahmen haben die Krankenkassen 
des Deutschen Reiches auf Grund der Gesetzgebung zu treffen im Interesse 
ihrer Mitglieder gegenüber ansteckenden Geschlechtskrankheiten. Leipzig 1899. 

18. Saalfeld, E. Ein Beitrag zur sozialen Fürsorge für Geschlechts¬ 
kranke. Berl. klin. Wochenschr. 1908, pag. 896. 

19. Errichtung Berliner Junggesellenheime zur Beseitigung des Schlaf¬ 
stellenwesens. „Soziale Praxis“ 1903, 12. J. Nr. 19, p. 513. 

20. Uhl mann, Leipzig. Geschlechtskrankheiten und Krankenkassen. 
Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten 1902, Bd. 1 , Nr. 3, p. 49. 

21. Die Verbreitung der venerischen Krankheiten in Preußen sowie die 
Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Krankheiten. Nach den Ergebnissen der 
statistischen Erhebung am 30. April 1900 und nach anderen Nachrichten im 
Aufträge des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-An- 
gelegenheiten bearbeitet von Prof. Dr. A. Guttstadt. Zeitschr. des Königl. 
Preuss. Statist. Bureaus. Ergänzungsheft XX. Berlin 1901. 


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Die Sexualhygiene des Alten Testamentes. 

Von Dr. Wolzendorff (Wiesbaden). 

(Schluß.) 

II. 

Im Innern des Volkes harrten nicht minder schwere Aufgaben, denn 
infolge der eben geschilderten äußeren Einflüsse hatten Zuchtlosigkeit 
und Ausschweifungen die Sitten verdorben, und es galt nun, dem ent¬ 
gegenzutreten und das Geschlechtsleben wieder in gesunde Bahnen zu 
leiten. 

Der erste, sehr glückliche Griff zu diesem Zwecke war die Be- 
schneidung. Gott (El chadai) selbst hatte Abraham befohlen: „Alles, 
was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Jedes Knäblein, 
wenn es acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden. Das soll ein Zeichen 
sein des Bundes zwischen mir und euch. Und wo ein Knäblein nicht 
wird beschnitten, des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volke.“ 
(Gen. 17. 10—14). Ganz kurz, fast wie nebensächlich, wiederholt das 
Gesetz den Befehl: „Am achten Tage soll man das Fleisch der Vorhaut 
beschneiden (Leo. 12. 3). Und das erstreckt sich nicht bloß auf Volks¬ 
angehörige, sondern auch auf Fremdlinge, die am Passa-Mahl teilnehmen 
oder in die Gemeinde aufgenommen werden wollen (Gen. 34. 10; Ex. 12. 48). 

Es kann kaum zweifelhaft sein, daß Abraham die Operation schon 
vorher kannte, denn sonst hätte ihm der göttliche Befehl ebenso unver¬ 
ständlich sein müssen, wie wenn man ihm etwa die Einführung der 
obligatorischen Schutzimpfung aufgegeben hätte. Nun war die Beschneidung 
längst vorher in Ägypten Brauch gewesen, und das konnte einem Mann 
wie Abraham während seines dortigen Aufenthaltes ebensowenig entgangen 
sein, wie der große Nutzen der Operation. Als er, dem göttlichen Be¬ 
fehle gehorchend, die Beschneidung zum ersten Male in Israel voraahm, 
und zwar an sich, an seinem Sohne Ismael und an allem, was männlich 
war in seinem Hause, war er neunundneunzig und Ismael dreizehn 
Jahre alt. In Ägypten geschieht die Operation im späteren Lebensalter, 
zwischen dem sechsten und vierzehnten Jahre; Ismael war dreizehn Jahre 
als, und seine Mutter, die Hagar, war eine Ägypterin, deren Einfluß 
wohl nicht von der Hand zu weisen ist. 

Die Beschneidung ermöglicht in den meisten Fällen erst die sonst 
nicht ausführbare, gerade für den Orient aber so sehr notwendige 
Sauberkeit 1 ) und verhindert die durch Sekretverhaltung, Entzündung, 

*) Anmerkung: „Die Geschlechtsteile beschneiden sie (die Ägypter) sich 
der Reinlichkeit wegen und wollen lieber reinlich sein, denn wohlanständig.“ 
(Herodot 37. V. 36). 


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Die Sexualhygiene des Alten Testaments. 


249 


Geschwürbildung und ähnliches bedingten Unannehmlichkeiten und Ge¬ 
fahren. Ihre Einführung war daher eine dem Volke erwiesene Wohltat. 
Wenn jüdische Gelehrte behaupten, daß die Beschneidung „ähnlich wie 
die Kastration bei Tieren das männliche Individuum von seinen stärksten 
Trieben befreit“, daß durch sie der Geschlechtstrieb gedämpft und ge¬ 
hemmt und die Begehrlichkeit bei Mann und Frau herabgesetzt werde, 
so daß Mäßigkeit und Keuschheit des geschlechtlichen Verkehrs die 
Folge sei, so bin ich nicht in der Lage, das zu beurteilen. Soviel aber 
ist sicher, daß die Beschneidung das Volk ebensowenig von den Mysterien 
des Baal-Astarte-Dienstes, wie von sonstigen Ausschweifungen fern zu 
halten vermocht hat. Jedenfalls hat der Gesetzgeber den gesundheitlichen 
Wert der Beschneidung so hoch geschätzt, daß er die allgemeine Ein¬ 
führung zum Heile seines Volkes für ganz unerläßlich hielt. Deshalb 
machte er sie zum Bundeszeichen und zum wichtigsten Ritual des Jahve- 
Kultus. 

Nach Herodot (II. 104) waren Kolcher, Ägypter und Äthioper 
ursprünglich die einzigen Völker, die sich beschnitten. Die PhÖniker, die 
Syrer und die Makroner sagen, sie hätten’s neuerlich von den Kolchern 
gelernt. „Denn bei diesen Völkern allein ist die Beschneidung, und 
diese tun’s den Ägyptern nach. Von den Ägyptern aber und den 
Anthiopem kann ich nicht mit Gewißheit sagen, wer es von dem andern 
gelernt hat, denn es ist offenbar eine uralte Sitte.“ Es ist nun selbst¬ 
verständlich, daß die Beschneidung als Bundeszeichen — für den 
weiblichen Teil des Volkes gibt es ohnehin keines — für alle diese Völker 
nicht gelten kann, sondern daß nur solche Völker in Betracht kommen, 
die sich nicht beschneiden; das sind die Assyrer, Babylonier, Moabiter, 
Ammoniter, vorzugsweise die den Israeliten so verhaßten Philister. Sie 
auch werden besonders gern verächtlich als „Unbeschnittene“ bezeichnet, 
und die Israeliten zählen die erschlagenen Philister nach Vorhäuten; so 
brachte David dem König Saul als Siegestrophäe und „Morgengabe“ 
zweihundert Philister-Vorhäute, und „da gab ihm Saul seine Tochter 
Michal zum Weib“ (I. Sam. 18. 27). Rätselhaft bleibt, warum Moses 
den mit der Sipora gezeugten Sohn (nach Ap. Gesch. 7. 29 sind es deren 
zwei) nicht schon in Mideam beschneiden ließ, und warum während 
der vierzig Jahre der Wüsten Wanderung die Beschneidung überhaupt 
unterblieb. Sonst beobachtet Israel im allgemeinen ^gewissenhaft den 
heiligen Brauch, bis zur Zeit des Antiochus Epiphanes (175—164 vor 
Chr.), der ihn verbot, und „die Weiber, die ihre Kinder beschnitten, 
wurden getötet, wie Antiochus geboten hatte!“ (I. Makk. 1. 68). Viele 
waren beständig und wollten nicht vom Gesetze abfallen, darum wurden 
sie umgebracht (67). Viele aber „hielten die Beschneidung nicht mehr 
und fielen ab vom heiligen Bunde (16). Ja, zur Zeit des Urchristentums 
gab es deren, die sich des Beschnittenseins schämten oder aus Furcht 
vor Spott durch allerlei Handgriffe den Schein des Nichtbeschnittenseins 
zu erwecken suchten. Auf sie bezieht sich das Wort des Paulus: „Wer 
beschnitten berufen ist, der ziehe keine Vorhaut (I. Kor. 7. 18). Damals 
war zwischen Paulus und seinen Anhängern einerseits und den juda- 
istischen Aposteln andererseits ein heftiger Streit entbrannt über die Frage, 


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250 


Wolzendorff. 


ob die Heidenchristen beschnitten werden sollten oder nicht. Das zu 
diesem Zwecke abgehaltene Apostelkonzil entschied diese wichtige Frage 
im paulinischem Sinne (Apost.-Gesch. 15); andernfalles wäre die Be¬ 
schneidung damals ebenso vom Christentum übernommen, wie später der 
Islam sie von den Arabern übernommen hat. 

Sobald das Volk längere Zeit seßhaft geworden war und größere, 
volkreichere Städte sich bildeten, entwickelte sich eine regelregte Pro¬ 
stitution, die in ihrem Gebahren und Auftreten der heutigen sehr 
ähnelt. Aufgeputzt, im Dirnenschmuck — ich bediene mich biblischer 
Ausdrücke — mit frecher, schamloser Stirn, mit unzüchtigem Gesicht 
und Blick, so zieht die Buhlerin durch die Gassen der Stadt; bisweilen, 
wenn es besonders lustig zuging, auch wohl mit Sang und Klang, die 
Harfe in der Hand (Jes. 23. 16). So lockt sie den Mann, überredet ihn 
mit vielen Worten und gewinnt ihn mit glattem Munde; er aber folgt 
ihr alsbald nach, wie ein Ochs, der zur Fleischbank geführt wird (Spr. 7). 
So geht's zu ihrem Hause; dort buhlen sie um eine Kanne Wein oder 
um anderen Lohn. „Und ich — heißt es bei Hosea (3. 23) ward mit 
ihr eins um fünfzehn Silberlinge und anderthalb Chomer Gerste“ — ein 
hoher Preis, der aber auch seinen besonderen Grund hat; denn er sprach 
zu ihr: „Halte dich mein eine Zeitlang und buhle nicht und laß keinen 
andern zu dir.“ Damals wie heute verstand es die Prostituierte, den 
Gimpeln Geld aus der Tasche zu ziehen. Darum „hänge dich nicht an 
die Dirnen, daß du nicht um das Deine kommst“ (Sirach 9.6). „Laß 
dich ihre Schöne nicht gelüsten in deinem Herzen und verfange dich nicht 
an ihren Augenlidern, denn eine Dirne bringet einen um das Brot“ 
(Spr. 6. 25). Der Dirnen Mund ist eine tiefe Grube, und wem der Herr 
ungnädig ist, der fällt darein (22. 14). Ihre Lippen sind süß wie Honigseim 
und ihre Kehle ist glatter denn Öl. Aber hernach bitter wie Wermut 
und scharf wie ein zweischneidig Schwert. Laß deine Wege fern von 
ihr sein und nahe nicht der Tür ihres Hauses“ (Spr. 5). 

Das Gesetz, das die kultische und profane Prostitution meist nicht 
auseinander hält, so daß die Verbote für beide gelten, sagt in bezug auf 
letztere: „Du sollst deine Tochter nicht entweihen und zur Buhlerei halten, 
auf daß nicht das Land Buhlerei treibe und werde voll Lasters“ (Lev. 19. 29). 
Eine besondere Strafe steht nicht auf der Prostitution, nur „wenn eines 
Priesters Tochter anfängt zu buhlen, die soll man mit Feuer verbrennen, 
denn sie hat ihren Vater geschändet“ (Lev. 21. 9). Die Kinder der Lohn¬ 
dirnen waren von der Gemeinde ausgeschlossen, auch nach dem zehnten 
Gliede (Deut. 28. 3), also für immer; und das ist eine um so härtere 
Strafe, als sie Unschuldige trifft. Befremdlich ist das ausdrückliche Ge¬ 
bot, daß der Priester „keine Witwe, noch Verstoßene, noch Geschwächte, 
noch Dirne, sondern eine Jungfrau seines Volkes zum Weibe nehmen 
soll“ (Lev. 21. 14), denn daraus scheint hervorzugehen, daß eine Heirat 
zwischen Nichtpriestern und Dirnen gestattet war. 

Jedenfalls nahm die Prostitution, so wie sie es auch heute tut, 
einen breiten Raum im Leben des Volkes ein, aber auch außerdem fehlt 
es an geschlechtlichen Ausschweifungen nicht; denn „Wein und Weiber 
betören den Weisen“ (Sir. 49. 2), „Sohn und Vater schlafen bei einer 


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Die Sexüalhygiene des Alten Testaments. 


251 


Dirne“ (Arnos 2. 7) und „sie nötigen die Weiber in ihrer Krankheit; sie 
treiben Greuel untereinander, der Freund mit des Freundes Weib; sie 
schänden ihre eigene Schnur und notzüchtigen ihre eigene Schwester“ 
(Ezech. 22. 10). 

Angesichts dessen war es in der Tat nötig, gesetzlich einzugreifen 
und durch bestimmte Vorschriften den Verkehr der beiden Geschlechter 
derartig zu regeln, daß nach keiner Seite hin ein Zweifel obwalten 
konnte. Zunächst wird das Heiraten, sowie der geschlechtliche Verkehr 
überhaupt in der nahen Blutsfreundschaft oder Verschwägerung 
verboten. Ich führe nur einige als Beispiele an: 

„Wenn jemand bei seines Vaters Weibe schläft, so sollen sie beide 
des Todes sterben“ (Lev. 20. 11). 

„Wenn jemand ein Weib nimmt und ihre Mutter dazu, so soll man 
ihn mit Feuer verbrennen und sie beide auch“ (14). 

„Wenn jemand seine Schwester nimmt, seines Vaters oder seiner 
Mutter Tochter, das ist Blutschande; die sollen ausgerottet werden vor 
den Leuten ihres Volkes“ (17). 

„Wenn jemand bei seines Vaters-Bruders Weib schläft; sie sollen 
ihre Sünde tragen, ohne Kinder sollen sie sterben“ (20). 

Auch hier zeigt sich die Eigenartigkeit der Rechtspflege, insofern 
die Bestrafung entweder erfolgt durch die Menschen (Steinigung, Ver¬ 
brennen) oder daß Jahve sich selbst die Bestrafung vorbehält: Ausrottung, 
Kinderlosigkeit. In der Blutsfreundschaft ist nur verboten die Ehe unter 
Geschwistern, die mit der Tante, mit der Enkelin und, als selbstver¬ 
ständlich, mit der Tochter. Erlaubt ist die Ehe unter Geschwisterkindern; 
so die Ehe Jakobs mit Lea und Rahel. Übrigens war Abrahams Frau 
Sarah, seine Stiefschwester, und Moses das Band von Neffe und Tante. 

Weiter gehören folgende Satzungen hierher: Wenn eine Dirne 
jemand vertrauet ist (eine Verlobte) und ein Mann schläft bei ihr, so 
sollt ihr sie alle beide zu dem Stadttor ausführen und sollt sie beide 
steinigen, daß sie sterben; sie, daß sie nicht geschrieen hat, weil sie in 
der Stadt war; er, daß er seines Nächsten Weib geschändet hat. (Ver¬ 
lobung ist in dieser Beziehung der Ehe gleich). Geschah die Tat auf 
dem Felde, so soll der Mann allein sterben; denn die Dirne schrie, und 
war niemand, der ihr half (Deut. 12. 23—27). 

Wenn jemand bei einer Jungfrau (nicht verlobte) schläft, so soll er 
ihrem Vater fünfzig Säckel Silber geben und soll sie zum Weibe haben 
(Deut. 22. 28). Mag das Belohnung oder Bestrafung sein, die Thora 
befiehlt in solchem Falle die Ehe als Korrektif der begangenen Ver¬ 
fehlung. 

Wenn jemand bei einem Weibe liegt, die eine leibeigene Magd ist, 
der soll bestraft werden, aber sie sollen nicht sterben, denn sie ist nicht 
frei gewesen. Er aber soll ein Schuldopfer bringen; so wird Gott ihm 
gnädig sein über seine Sünde (Lev. 19. 20). Eine Leibeigene ist keine 
Tochter Israels, es konnte also keine Entweihung des Volkes stattgefunden 
haben; daher die Milde. 

So bleibt denn nur ein gesetzlich erlaubter Weg zur Erfüllung 
des göttlichen Befehles (Gen. 1. 28) übrig, das ist die Ehe; alle übrigen 


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252 


Wolzendorflf. 


sind Abwege, sind verboten, gesperrt. Die alttestamentliche Ehe ist weit 
gefaßt und kennt nicht die Unlösbarkeit; sie ist im Gegenteil locker ge¬ 
knüpft und leicht zu lösen. Denn „wenn jemand ein Weib nimmt und 
ehelicht sie, und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen, um etwa 
einer Unlust willen; so soll er einen Scheidebrief schreiben und ihr in 
die Hand geben und sie aus dem Hause lassen“ (Deut. 24. 1). Dieser 
Begriff der Unlust oder des Schändlichen, des Mißfälligen ist so unbe¬ 
stimmt und so dehnbar, daß der Willkür Tür und Tor geöffnet erscheint. 
Und in der Tat haben die Ausleger so ziemlich alles und jedes, je nach 
ihrem Standpunkte, als Entlassungsgrund angeführt. Ehebruch kann nicht 
gemeint sein, denn auf ihm ruht die Todesstrafe. Immerhin liegt der 
ebenbürtigen Gattin gegenüber eine gewisse Beschränkung vor, auch konnte 
sie selbst ihrerseits, wenn sie es darauf ablegte, leicht einen Entlassungs- 
grund bieten. Das Kebsweib dagegen war völlig in die Hand des 
Mannes gegeben: „Wenn du nicht Lust zu ihr hast, so sollst du sie 
auslassen“ (Deut. 21. 14). Und so tat Ahraham, als er die Hagar aus 
dem Hause stieß; „da zog sie hin — mit ihrem Knaben — und ging 
in der Wüste irre bei Bersaba“ (Gen. 21. 14). 

Ursprünglich war die Ehe mouogamisch, — Adam hatte ja nur die 
Eva —, und das blieb eine Zeitlang so, aber schon der Kainite Lamech 
nahm zwei Frauen; und als Abrahams Weib, Sarah, nichts gebar, gab 
sie ihm die ägyptische Magd Hagar mit den Worten: „Lege dich zu ihr 
ob ich doch vielleicht aus ihr mich hauen möge.“ Abraham gehorchte, 
und Hagar gebar den Ismael (G. 10). Als Abraham seinem Ende nahte, 
„gab er alles Gut dem Isaak, aber den Kindern, die er von den Kebs- 
weibern hatte, gab er Geschenke (Gen. 25. 6). Jakob hatte die beiden 
Schwestern Lea und Rahel zu Frauen. Lea gebar ihm vier Söhne, und 
da Rahel sähe, daß sie nichts gebar, neidete sie ihrer Schwester und 
sprach zu Jakob: „Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich.“ Und sie 
gab ihm ihre Magd Bilha mit den Worten der Sarah; Jakob zeugte mit 
der Bilha zwei Söhne, und „da Lea aufgehört hatte zu gebären, gab sie 
ihm die Magd Silpa zum Weibe und er zeugte mit ihr zwei Söhne.“ 
Hier zeigt sich so recht der Gegensatz der alttestamentlichen Frauen zur 
modernen: all ihr Sinnen und Trachten geht auf Vermehrung des 
Stammes, jede andere Rücksicht schwindet, und das Gefühl der Eifer¬ 
sucht tritt so sehr zurück, daß die Frau jeden Zuwachs der Familie mit 
Freuden begrüßt, auch wenn er von einer anderen kommt. Und so ge¬ 
winnt das Wort der Rahel: „Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich“ 
erst seine rechte Bedeutung. Die Zahl der Nebenfrauen richtet sich 
naturgemäß nach dem Reichtum des Mannes, und so erfahren wir fast 
nur von der Polygamie der Richter und Könige. „Gideon hatte siebenzig 
Söhne denn er hatte viele Frauen“ (Rieht 8. 80). David hatte schon in 
Hebron sechs Söhne von sechs Frauen (II. Sam. 5. 1), in Jerusalem nahm 
er noch mehr Weiber und Kebsweiber. Die Chronica, drittes Kapitel, nennt 
noch 18 Söhne und fügt dann hinzu: „Das sind alles Kinder Davids, 
ohne was der Kebsweiber Kinder waren.“ Abijahu hatte von vierzehn 
Weibern zweiundzwanzig Söhne und sechzehn Töchter (II. Cr. 18. 21). 
Von Salomo heißt es: „Er hatte 700 Weiber zu Frauen und 300 Kebs- 


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Die Sexualhygiene des Alten Testaments. 


253 


weiber; und seine Weiber neigten sein Herz“ (I. K. 3). „Nicht viele 
Weiber soll der König nehmen“, sagt die Thora (Deut. 17. 17), und die 
Mischna setzt hinzu: nicht mehr als achtzehn. Gewöhnliche Sterbliche 
mußten sich mit einer geringeren Zahl, meist wohl mit zweien, oft mit 
einer begnügen. „Wenn jemand zwei Weiber hat, eine, die er liebt und 
eine, die er hasset, und sie ihm Kinder gebären beide, die liebe und die 
feindselige, so, daß der Sohn dieser der Erstgeborene ist, so kann er nicht 
den Sohn der liebsten zum Erstgeborenen machen“ (Deut. 21. 15. 16). 

Wenn der Gesetzgeber weder die Monogamie befiehlt, noch die 
Polygamie verbietet, so ist das ein kluges Zugeständnis an die Sitten 
des Orientes, wo die Vielweiberei die herrschende Form der Ehe war. 
Er zeigte sich weiser, als moderne Gesetzgeber, die manches verbieten, 
das nachher gestattet wird, und manches befehlen, das doch nicht durch¬ 
gesetzt wird. Wie die Freigabe der Polygamie, so verrät auch die 
leichte Lösbarkeit der Ehe den Kenner seines Volkes. Gerade letzteres 
mochte vielen ein Sporn sein, des Gatten Neigung zu erhalten. Die 
Polygamie verschwand von selbst, und die Zahl glücklicher Ehen und 
eines schönen Familienlebens ist gerade bei Israeliten groß. 

Was will nun der Dekalog mit dem Gebote: „Du sollst nicht ehe¬ 
brechen?“ Die Antwort lautet: „Wer die Ehe bricht mit jemandes 
Weibe, der soll des Todes sterben, beide, Ehebrecher und Ehebrecherin“ 
(Lev. 20. 10) — und „Wenn jemand erfunden wird, der bei einem 
Weibe schläft, die einen Ehemann hat, so sollen sie beide sterben“ — 
und zwar den Tod durch Steinigung (Deut. 22. 22, 24). Der Ehebrach 
besteht also in dem geschlechtlichen Verkehr eines Mannes mit der Frau 
— (und ebenso mit der Nebenfrau oder Verlobten) — eines anderen. 
Das Gesetz vertritt mithin nur das Interesse des Mannes, schützt nur 
sein Recht, das er an der Frau hat oder sich zuerteilt (moderne Männer - 
Moral). Die Frau hat keinen Schutz; kein Recht auf die Treue des 
Mannes. Sie gehört bis zu gewissem Grade zum Besitze, zum Eigentum 
des Mannes, und in diesem Sinne befiehlt der Dekalog: „Laß dich nicht 
gelüsten deines nächsten Weib, noch seines Knechts, noch seiner Magd, 
noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles, das dein Nächster hat“ 
(Exod. 20. 17, Deut. 5. 21). Der Anspruch des Mannes auf die Rein¬ 
heit der Frau erstreckt sich auch auf ihr Vorleben; denn „wenn jemand 
ein Weib nimmt und wird nicht Jungfrau gefunden, so soll man sie 
vor die Tür ihres Vaters Hause fuhren, und die Leute der Stadt sollen 
sie zu Tode steinigen, darum, daß sie in ihres Vaters Hause gebuhlet 
hat (Deut. 22. 13, 21). Mit dem Begriffe des Besitzes hängt zusammen 
die Sitte des „Mohairs“, der „Morgengabe“, eine Art von Kaufpreis, und 
doch handelt es sich nicht um einen Kauf, — nur die Nebenfrau wird 
gekauft — und die Stellung der ebenbürtigen Frau ist keineswegs 
niedrig. Im Gegenteil, sie ist die Gesellin, die Gehülfin des Mannes, 
für beide gleich gilt das vierte Gebot und ebenso das Wort: „Wer Vater 
und Mutter flucht, der soll des Todes sterben“ (Exod. 21.17, Lev. 19. 9). 
Vielfach ertönt das Lob der fleißigen, tugendsamen, weisen Hausfraü: 
„Sie ist die Krone des Mannes, sie ist edler, denn die köstlichste Perle, 
durch sie wird das Haus gebaut“ (Spr. 12, 4; 31, 10; 14, 1 u. a.) 

Ztttaehr. £ BeUmpfung d. Geschlechtakrankh. IL 19 


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WolzendorflP. 


Während der Menses ist die Frau unrein „und soll sieben Tage 
bei Seite getan werden“, wer sie an rührt, wird unrein sein bis auf den 
Abend. Alles, worauf sie sitzet oder lieget, wird unrein, und wer ihr 
Lager oder ihren Sitz an rühret, der soll seine Kleider waschen und sich 
mit Wasser baden und unrein sein bis auf den Abend. Und wenn ein 
Mann bei ihr lieget und es kommt sie ihre Zeit an, der wird sieben 
Tage unrein sein. Dauert das Unwohlsein über die gewöhnliche Zeit 
hinaus, so bleibt sie so lange unrein, als es anhält. Erlöscht der Fluß, 
so soll sie sieben Tage zählen, darnach soll sie rein sein“ (Lev. 15.19—28). 
„Wenn ein Mann beim Weibe schläft zur Zeit ihrer Krankheit, die sollen 
beide aus ihrem Volke gerottet werden“ (Lev. 20. 18). 

Ordnung der Kindbetterinnen. Und der Herr redete mit Mose 
und sprach: Rede mit den Kindern Israel und sprich: „Wenn ein Weib 
ein Knäblein gebieret, so soll sie sieben Tage unrein sein, so lange sie 
ihre Krankheit leidet. Und sie soll daheim bleiben dreiunddreißig Tage 
im Blut ihrer Reinigung. Gebieret sie ein Mägdlein, so soll sie zwei 
Wochen unrein sein und Sechsundsechzig Tage daheim bleiben. Wenn 
die Tage aus sind, bringt der Priester das vorgeschriebene Opfer, so 
wird sie rein“ (Lev. 12). 

Für den Fall eines Krieges bestimmt das Gesetz: „Wenn jemand 
kürzlich ein Weib genommen hat, der soll nicht in die Heerfahrt ziehen 
und man soll ihm nichts auflegen. Er soll frei in seinem Hause sein 
ein Jahr lang, daß er fröhlich sei mit seinem Weibe“ (Deut. 24. 3). 
Ähnliches gilt für die Verlobten: „Welcher ein Weib ihm vertraut und 
sie noch nicht heimgeholet, der gehe hin und bleibe daheim, daß er 
nicht im Kriege sterbe und ein anderer hole sie heim“ (Deut. 20. 7). 
Der während eines Krieges durch Ausfall der Geburten bedingte Menschen- 
verlust ist bei einem Volksheere, wie das der Israeliten, um so größer, 
als es sich meist um Männer in der Vollkraft der Jahre handelt, 
und diesen Verlust wollen die beiden Verordnungen beschränken. Es 
handelt sich um eine kluge volkswirtschaftliche Maßregel, die sich 
auch auf den erstreckt-, der sein neuerbautes Haus noch nicht ein¬ 
geweiht oder den frisch gepflanzten Weinberg noch nicht nutzbar ge¬ 
macht hat (V. 5 u. 6). 

Um die Übertragung ansteckender Erkrankung zu verhüten, hatte 
Jahve Mose gesagt: „Gebeut den Kindern Israel, daß sie aus dem Lager 
tun alle, die an Eiterfluß leiden, ebenso wie Aussätzige und solche, 
die durch Tod unrein geworden sind“ (Num. 5. 2). „Wenn ein Mann 
an seinem Fleische einen Fluß hat, der ist unrein. Dann aber ist er 
unrein, wenn sein Fleisch vom Flusse eitert, oder verstopft ist. Alles, 
darauf er sitzt oder liegt, sowie der Sattel, auf dem er reitet, ist un¬ 
rein; und wer anrühret irgend etwas, das er unter sieb gehabt hat; 
oder wer sein Fleisch anrühret, oder auf wen er seinen Speichel wirft, 
ebenso wie der, den er berührt, ehe er seine Hände wäschet — ist 
unrein, der soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser baden und 
unrein sein bis auf den Abend. Von dem Kranken berührte irdene 
Gefäße soll man zerbrechen, hölzerne mit Wasser spülen. Wird er rein, 
d. h. heil von seinem Fluß, so soll er nach dem sieben Tage zählen und 


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Die Sexualhygiene des Alten Testaments. 


255 


seine Kleider waschen und sein Fleisch in lebendigem Wasser baden, so 
ist er rein“ (Lev. 15. 2—18). 

„Auch nach einer Pollution während des Schlafes soll der Mann sein 
Fleisch mit Wasser baden und unrein sein bis auf den Abend. Und 
alles Kleid und alles Fell (Lager), das mit Sperma befleckt ist, soll er 
mit Wasser waschen, und unrein sein bis auf den Abend“ (Lev. 15.16 u. 17). 
Dahin gehört weiter die Vorschrift: „Wenn du zum Heerlager ausziehst, 
so hüte dich vor allem Bösen. Ist jemand unter dir, der nicht rein, 
daß ihm des Nachts was widerfahren ist, der soll hinaus vor das Lager 
gehen und nicht wieder hinein kommen, bis er vor Abend sich mit 
Wasser bade“ (Deut. 23. 10 u. 11). 

Ob der eheliche Verkehr, der Coitus legalis, selbst bis zu gewissem 
Grade unrein ist, und nachfolgende Waschungen für notwendig galten, 
läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Allerdings, Bethsaba, das 
schöne Weib Urias, „reinigte sich von ihrer Unreinigkeit“ bevor sie 
von David in das Haus ihres Mannes zurückkehrte (II. Sam. 11. 4), da 
es sich hier aber um Ehebruch handelt, so läßt die Stelle auch eine 
andere Deutung zu. Jedenfalls aber war vor der Berührung mit Heiligem 
eine dreitägige Enthaltsamkeit erforderlich. Vor der Gesetzgebung am 
Berge Sinai sprach Moses zum Volke: „Seid bereit auf den dritten Tag, 
und keiner nahe sich dem Weibe“ (Gen. 19. 15); und als David auf 
seiner Flucht den Priester Ahimelech um Brot bat, antwortete er ihm: 
„Ich habe kein gemeines Brot unter der Hand, sondern nur heiliges; 
wenn sich nur die Knaben von Weibern enthalten hätten.“ Und erst 
auf die Versicherung Davids „es sind uns die Weiber drei Tage ge¬ 
sperrt gewesen“, gab ihm der Priester die Schaubrote (I. Sam. 21. 4 Ö.). 


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Referate. 

Sittlichkeitsfrage. 

Helene Stöcker. Von Mann und Weib. Frauen-Rundschau, IV. 18. 

Die Diskussion über das Thema „Herrenmoral,“ die zu einer so 
lebhaften Polemik zwischen dem Frl. Pappritz einerseits und den 
Herren Flesch und Block andererseits geführt hatte, gab den Anlaß 
auch für den Artikel von Helene Stöcker, die mit Entschiedenheit 
der unter den Männern verbreiteten Ansicht entgegentritt, als ob das 
Weib die Liebe weniger brauche als der Mann, als ob die Frau nur 
die Mutterschaft wolle. Die Auffassung, daß das Weib weniger sinn¬ 
lich veranlagt sei, erklärt die Verfasserin aus dem Umstande, daß die 
Frau ihre Empfindungen stets mehr habe beherrschen müssen und 
beherrscht hat als der Mann und dadurch zu dem Glauben Veranlassung 
gab, daß sie „garnichts zu beherrschen habe.“ Die sexuellen Bedürf¬ 
nisse des Weibes kennt der Mann überhaupt nicht oder doch nur aus 
zweiter Hand, und lediglich die Frau sei hierin kompetent. Unter den 
Frauen aber sei nur eine Meinung: daß die Geschlechtsliebe von Weib 
zu Mann sich in nichts unterscheide von der des Mannes zum Weibe. 
Die Bekenntnisse und Schicksale der Mdme. de Staöl oder Elisabeth 
Browning, von Bettina Brentano oder George Elliot stimmen 
damit überein, und die großen Frauengestalten der Dichtung und der 
Geschichte zeugen von der Kraft und Tiefe weiblichen Geschlechts¬ 
empfindens. Auch die unehelichen Kinder beweisen sie, wenn man 
bedenkt, welcher Verfehlung, welcher Not ihre Mütter ausgesetzt sind, 
die aber trotz alledem der Liebessehnsucht folgten. Darum müsse 
gegen den Versuch der Männer, die Geschlechtsliebe für sich allein zu 
reservieren, energisch protestiert werden, und die Frauen hätten die 
Pflicht, sich die Anerkennung ihres Rechtes auf Liebe mit Freimut 
und Entschlossenheit zu erkämpfen. 

Johanna Elberskirchen. Die Sexualempfindung bei Weib und Mann. Magazin- 

Verlag Leipzig 1903. 

In jüngster Zeit ist von verschiedenen autoritativen Stellen aus in 
Wort und Schrift darauf hingewiesen worden, daß in der Sexualempfindung 
der beiden Geschlechter ein grundsätzlicher Unterschied vorhanden sei, 
durch den die sogenannte doppelte Moral ihre physiologische Berechtigung 
erhalte. Besonders energisch ist von Prof. Flesch betont worden, daß 
in dem Geschlechtsleben des Mannes der Begattungstrieb, in dem des 


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Tagesgeschichte. 


257 


Weibes hingegen der Fortpflanzungstrieb die entscheidende Rolle spiele. 
Diese Auffassung ist namentlich in Frauenkreisen lebhaftestem Wider¬ 
spruche begegnet. 

Wie für viele ihrer Geschlechtsgenossen war auch für Johanna 
Elberskirchen Fleschs Aufsatz „Herrenmoral“ das Zeichen zum Kampf. 
Das Rüstzeug sollen ihr Anatomie und Entwicklungsgeschichte, Physio¬ 
logie und Pathologie liefern; indes — auf diese Waflen versteht sie 
sich nicht ganz; hier und da übersieht sie eine Schwäche des Gegners, 
oft gibt sie sich selbst eine Blöße. Aber sie ficht mit ausgezeichneter 
Bravour, und gleich ihrer Tapferkeit verdient die Ehrlichkeit ihrer 
Kampfesweise uneingeschränkte Anerkennung. Und ein heiliger Eifer 
beseelt sie! Das Ideal, für welches sie kämpft, ist die Emanzipation 
des Weibes auch auf sexuellem Gebiete. Sie fordert Gleicbbeit der 
Geschlechter auch in dieser Hinsicht, und zwar durch „Reduktion des 
pathologischen Plus des männlichen Geschlechts tri ebes und seiner Be¬ 
friedigung auf das physiologische Muß und Erhöhung des pathologischen 
Minus der weiblichen Geschlechtsbefriedigung auf das physiologische 
Muß.“ Johanna Elberskirchen schließt ihre Broschüre mit den Worten: 
„Sagen wir Ja zu unsrem Sexualtrieb, ein fröhliches, heiteres, ein 
heiliges Ja.“ 

Die Beantwortung der Frage, ob der Geschlechtstrieb des Mannes 
stärker oder andrer Art ist als der des Weibes, ist ebenso wichtig wie 
schwierig. Wichtig, weil sie die Vorbedingung für eine gerechte Moral 
darstellt; schwierig, weil sie jeweilig von individuellen und sozialen 
Bedingungen abhängt. Eine endgültige Lösung des Problems ist unmög¬ 
lich, wäre sie doch nur denkbar, wenn das eine Geschlecht zum Ver¬ 
gleich sich in das andere verwandeln könnte. Um so eifriger müssen 
wir dabei wenigstens das Erreichbare anstreben. Deshalb haben wir 
die Pflicht, da sich bis vor Kurzem fast ausschließlich Männer zu der 
Frage geäußert haben, nun auch die Stimmen kluger und verständiger 
Frauen zu beachten und vorurteilslos zu würdigen. Auch wenn man 
der Überzeugung ist, daß Johanna Elberskirchen der Schwierigkeit 
der Situation, in die sie sich begab, weder völlig bewußt noch ganz 
gewachsen war, wenn sie „freie Bahn“ für den Geschlechtstrieb des 
Weibes fordert, gerade wie für den Mann — ohne im entferntesten 
daran zu denken, Zügellosigkeit zu empfehlen oder auch nur zu ent¬ 
schuldigen, so muß man ihr doch auf jeden Fall für ihr freies Wort 
Dank wissen. Max Marcuse (Berlin). 


Tagesgeschichte. 

Rußland. 

In der Sitzung der Russischen syphilidologischen und dermatologi¬ 
schen Gesellschaft zu St. Petersburg vom 27. September 1903 (a. St.) 
sprach Herr L. Jakobsohn über die Maßnahmen zur Bekämpfung 
der Verbreitung der venerischen Krankheiten unter der 


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258 


Tagesgeschichte. 


studierenden Jugend. Eingangs seines Vortrages führt der Redner 
die von verschiedenen ausländischen wie russischen Autoren (Blaschko, 
Neisser, Jesionek, D. Petersen, v. Wahl, Strömberg u. a.) er¬ 
hobenen statistischen Angaben über die Verbeitung der venerischen Er¬ 
krankungen unter der studierenden Jugend an. Als besonders wertvoll 
bezeichnet er die auf dem Wege der Enquete gewonnenen Zahlen 
(preußische Sammelforschung, die von Buram in Leipzig und von 
W. Favre in Charkoff inaugurierten Umfragen). Sodann geht der Vor¬ 
tragende auf die in den einzelnen Kulturländern gegen das Über¬ 
handnehmen der Geschlechtskrankheiten ergriffenen und in Angriff 
genommenen Maßnahmen ein (Deutschland, Österreich, England, Däne¬ 
mark usw.). Nach kritischer Würdigung der in Betracht kommenden 
Maßregeln empfiehlt der Vortragende folgende, die seiner Ansicht ge¬ 
eignet seien, die Verbreitung der Syphilis und des Trippers unter der 
studierenden Jugend auf das Mindestmaß einzuschränken: völlige ge¬ 
schlechtliche Enthaltsamkeit bis zum Eintritt in die Ehe, Aufklärung 
des Publikums im allgemeinen und der studierenden Jugend im be¬ 
sonderen über die seitens des außerehelichen Geschlechtsverkehrs drohen¬ 
den Gefahren, Veröffentlichung von Flugblättern und populären Broschüren 
über Wesen und Bedeutung der venerischen Affektionen und zuletzt 
Gründung einer Russischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten, deren Organisation und Oberleitung die Russische syphilido¬ 
logische und dermatologische Gesellschaft in die Hand nehmen könnte. 

In der sich an den Vortrag anschließenden lebhaften Diskussion 
wurden vor allem Zweifel laut, ob die Propaganda völliger Enthaltsam¬ 
keit bis zum Eintritt in die Ehe von irgendwelchen greifbaren Resultaten 
gefolgt sein könne, da die studierende Jugend sich in einem Alter befinde, 
in welchem der Geschlechts trieb wohl am stärksten ausgeprägt sei. Die 
Notwendigkeit der Begründung einer neuen Gesellschaft zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten wurde ebenfalls angezweifelt. Wohl aber 
wurde zugegeben, dass die Aufklärung und Belehrung des Publikums 
über die Gefahren und Gesundheitsschädigungen des außerehelichen Ge¬ 
schlechtsverkehrs sehr nützlich und wünschenswert sei. Welche Aus¬ 
wüchse aber ein derartiges Bestreben zeitigen kann, wenn es von Laien 
zum Schutz ihrer Anbefohlenen ins Werk gesetzt wird, beweist folgendes, 
in der Sitzung mitgeteiltes authentisches Schriftstück, geliefert von Prof. 
Polotebnow, das als Charakteristikum für die in gewissen Gesellschafts¬ 
kreisen herrschenden Anschauungen dienen kann. 

„Befehl, erlassen für die Zöglinge der N.schen Junkerschule am 
18. Februar 1890, Nr. . . . 

Um die Junker beim geschlechtlichen Verkehr vor der Ansteckung 
mit Syphilis zu schützen, wird folgendes verordnet: 1. Für den Besuch 
seitens der Junker ist von mir das Bordell Nr. ... ausersehen. 2. Als 
Besuchstage werden festgesetzt: Montag, Dienstag und Donnerstag. 3. Der 
Besuch des Bordells hat kolonnenweise zu geschehen, d. h. am Dienstag 
z. B. ist die Reihe an der ersten Kolonne der ersten Eskadron, am 
Donnerstag an der ersten Kolonne der zweiten Eskadron, am Montag 
kommt die zweite Kolonne der ersten Eskadron an die Reihe, am 


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Tagesgeschichte. 


259 


Dienstag die zweite Kolonne der zweiten Eskadron u. s. w. Falls jedoch 
in der betreffenden Kolonne sich zu viele Zöglinge zum Besuche des 
Bordells melden, so ist der zuständige Unteroffizier verpflichtet, unter 
ihnen eine bestimmte Reihenfolge festzusetzen. Mc 1 len sich hingegen 
von der betreffenden Kolonne weniger Junker, als zum Besuche zu* 
gelassen werden können, so werden die in der nächsten Kolonne der¬ 
selben Eskadron an der Reihe stehenden und, falls ihrer auch nicht 
genügt, die der folgenden Kolonne aufgefordert u. s. w.; so fordert z. B. 
der Unteroffizier, wenn die Reihe an der dritten Kolonne ist, bei einer 
unzureichenden Anzahl von Aspiranten die in der vierten Kolonne an 
der Reihe stehenden auf, sodann die in der ersten Kolonne u. s. w. Die 
Reihenfolge zwischen den einzelnen Kolonnen setzt der Wachtmeister 
fest. 4. An den bezeichnten Besuchstagen hat der Schularzt zwischen 
3—5 Uhr nachmittags die Frauenzimmer dieses Bordells einer Unter¬ 
suchung zu unterziehen und hernach dort seinen Heilgehilfen zu be¬ 
lassen, welcher darüber zu wachen hat, a) dass nach der ärztlichen Be¬ 
sichtigung bis 7 Uhr abends keine fremde Person diese Frauenzimmer 
benutzt; b) dass die Junker keine unbesichtigten oder als krank erkannten 
Frauenzimmer benutzen; c) vor dem Verkehr mit den Frauenzimmern 
hat der Heilgehilfe die Glieder der Junker in Augenschein zu nehmen 
und kranke Zöglinge unter keinen Umständen zum Verkehr zuzulassen; 
d) schließlich hat er die Junker zu veranlassen, unmittelbar nach dem 
Beischlaf das Glied mit einer von dem Schularzt eigens hierfür an¬ 
gegebenen Flüssigkeit abzuwaschen. Der Quartiermeister der Schule 
hat dafür zu sorgen, dass dem Arzte für seine diesbezüglichen Aus¬ 
fahrten ein Kronsfuhrwerk zur Verfügung gestellt wird. 5. Zusammen 
mit dem Arzte begibt sich in das Bordell der Kolonnenunteroffizier der 
betreffenden Kolonne. Nach Beendigung der ärztlichen Untersuchung 
kehrt er in die Schule zurück und rapportiert dem diensttuenden Offizier, 
wieviel Junker an dem Tage das Bordell besuchen können, wobei in 
Betracht zu ziehen ist, dass auf jedes vom Arzte zum Beischlaf zu¬ 
gelassene Frauenzimmer je drei Junker kommen. 6. Nach Empfang 
dieser Auskunft befiehlt ihm der diensttuende Offizier, aus denjenigen 
Junkern, welche den Beischlaf auszuüben wünschen, einen Trupp von 
der bezeichneten Stärke gleich nach Mittag zu bilden und vorzubereiten. 
Als Chef dieses Trupps hat der Unteroffizier der betreffenden Kolonne 
zu fungieren, welcner für das Einhalten der geltenden Regeln und 
überhaupt für die Ordnung im Trupp verantwortlich ist. Er ist ver¬ 
pflichtet, dem Heilgehilfen bei der Besichtigung und beim Waschen 
der Geschlechtsteile der Junker seine Mitwirkung zu erweisen, und 
diese haben sich in allen den Forderungen des Chefs zu fügen. 7. Der 
Trupp der Beischlafsbedürftigen wird vom diensthabenden Offizier persön¬ 
lich beurlaubt. In das Bordell können die Junker einzeln eingehn, zurück¬ 
kehren müssen jedoch alle zusammen und nicht später als 7 */ 4 Uhr abends. 
Der diensthabende Offizier empfängt den Trupp und ist ebenfalls ver¬ 
pflichtet, alle persönlich zu besichtigen und vom Heilgehilfen den Rapport 
über den günstigen Verlauf des Beischlafs bei einem jeden entgegen¬ 
zunehmen. 8. Die Junker haben nicht das Recht, andere Bordelle außer 


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260 


Tagesgeschichte. 


Nr. ... zu besuchen, noch überhaupt den Trupp zu verlassen, wofür der 
Chef desselben verantwortlich ist. y. Ebenso sind die Junker verpflichtet, 
während der ganzen Zeit ihrer Beurlaubung zum Beischlaf sich ordent¬ 
lich und anständig zu betragen. 10. Jegliche Mißverständnisse mit den 
Frauenzimmern des Bordells werden vom Unteroffizier der Kolonne ge¬ 
schlichtet, worüber er nach seiner Rückkehr dem diensttuenden Offizier 
rapportiert. 11. Gemäß meiner Vereinbarung mit der Wirtin des Bordells 
wird während der ärztlichen Besichtigung bis 7 Uhr abends und bis zu 
dem Fortgang der Junker fremden Personen der Eintritt in das Haus 
nicht gestattet; sollten sich jedoch derartige Personen einfinden, so darf 
man sich nicht mit ihnen in irgendwelche Unterhandlungen einlassen, 
sondern hat davon dem diensttuenden Offizier und mir zu melden. 12. Als 
Zahlung für den Besuch wird 1,25 Rbl. festgesetzt, wobei für dieses 
Geld nicht mehr als ein einziges Mal und nicht mehr als eine halbe Stunde 
lang koitiert werden darf. 13. Die Rechnung haben die Junker selbst 
zu begleichen. Dabei müssen sie stets eingedenk sein, dass es keine 
schimpflichere Schuld gibt, als die Schulden im Bordelle. 14. Die von 
mir im Vorstehenden getroffenen Maßnahmen müssen nicht nur die 
Sympathie, sondern auch . . . allseitiges Entgegenkommen seitens der 
Junker zur Folge haben, denn sie können nicht umhin, zu begreifen, 
daß dies alles nur zu ihren eigenen Gunsten vorgeschrieben wird, und 
zwar um die Zahl der unglücklichen, lebenslänglichen Opfer der Infektion 
ihrer Geschlechtsteile zu vermindern. Außerdem müssen die Junker 
auch dessen eingedenk sein, dass ihre fortgesetzte Ansteckung mit diesen 
Krankheiten mich dazu nötigen wird, gegen solche Junker strenge Ma߬ 
regeln zu ergreifen und sie aus der Schule zu entfernen. 

Anmerkung: Die vorliegenden Regeln treten Dienstag, den 20. Februar 
in Kraft. 

Gezeichnet: NN“. 

Dr. Lewinsohn (Moskau). 


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Zeitschrift 

‘ für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903/4. Nr. 7. 

Die Diagnoee der Gonorrhoe in der Gynäkologie in ihrer 
forensen Bedeutung. 

Von 

Professor Dr. Max Flesch (Frankfurt a. M.). 

L Einleitung. 

Seit die Forderung, daß eine venerische Erkrankung eines 
der Ehegatten als Grund für die Scheidung oder die Nichtigkeits¬ 
erklärung einer Ehe in Betracht zu ziehen sei, durch gerichtliche 
Urteile als berechtigt festgestellt ist, hat der greifbare Nachweis 
der Krankheit, die Sicherung der Diagnose durch ein unanfecht¬ 
bares, von der Anamnese unabhängiges Beweismittel eine neue, be¬ 
deutungsvolle Tragweite erlangt Während aber für die Diagnose 
der Syphilis es an solchen Merkmalen kaum je fehlen wird, sei 
es auf Grund der manifesten Symptome bei einem der Beteiligten, 
sei es durch das Auftreten hereditärer Erscheinungen, so ist das 
bezüglich der Gonorrhoe noch bei weitem nicht in genügendem 
Maße der Fall. 

Es mag das auffallend erscheinen. Der Nachweis des Neisser- 
schen Diplokokkus bildet ja, wo er gelingt, ein untrügliches Kenn¬ 
zeichen. Untersucht man aber die Frage, ob dieser Nachweis mit 
genügender Leichtigkeit und Sicherheit geführt werden kann, um 
ihn zur forensischen Grundlage der Gonorrhoe-Diagnose zu machen, 
so ergeben sich Schwierigkeiten, die seine Verwertbarkeit als eine 
sehr beschränkte erscheinen lassen. 

Und doch wäre gerade für die Diagnose der Gonorrhoe eine 
Klärung in dieser Richtung dringend nötig. Auch wenn man sich 
nicht auf den extremen, von Nöggeratim Jahre 1872 aufgestellten 
Standpunkt stellt, wonach da, wo eine Trippererkrankung des 
Mannes vorangegangen ist, jede bei der Frau auftretende, mit 
Fluor verbundene Erkrankung der Unterleibsorgane darauf zurück- 

Zeitaehr. t Bekämpfung d. Geschlechtskrankb. XL 20 


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262 


Flesch. 


Zufuhren ist, so kann doch die Tatsache nicht aus der Welt ge¬ 
schafft werden, daß ein großer Teil der sogenannten Frauenkrank¬ 
heiten nichts ist, als die Folge einer Tripperinfektion, daß aber 
weiter diese letztere nur allzuoft sich bei der Frau zu einem allen 
Heilungsversuchen trotzenden, die Arbeitsfähigkeit vernichtenden 
Siechtum gestaltet. Das ist aber um so wichtiger als erfahrungs¬ 
gemäß in diesen Fällen die Trennung der Ehe sich geradezu zum 
Heilmittel gestaltet. Es hören die immer wieder, eintretenden 
Neuinfektionen auf, welche, bei der Fortsetzung des sexuellen Ver¬ 
kehres unvermeidlich, den Erfolg der Behandlungsversuche aufheben. 
Es wird durch die Lösung der geschlechtlichen Gemeinschaft erst 
die Vorbedingung geschaffen, deren die Heilungsbestrebungen des 
Arztes bedürfen. 

Nach den heute geltenden Auffassungen kann der Nachweis 
einer spezifischen Erkrankung erst dann als geführt erachtet werden, 
wenn der Krankheitserreger, in unserem Fall also der Gonokokkus, 
gefunden ist. Es wird hier nichts anderes verlangt, als wenn man 
die Diagnose der Tuberkulose von dem Nachweis des Tuberkel¬ 
bazillus, die der Cholera von dem des Kommapilz abhängig machen 
will. Allerdings haben schon gute Untersucher, so der durch 
seine exakten Feststellungen an den Stuttgarter Prostituierten be¬ 
kannte Polizeiarzt Dr. Hammer, darauf hingewiesen, daß in vielen 
Fällen andere Merkmale fast ebenso charakteristisch sind wie der 
Diplokokkus. Ob man aber berechtigt sein soll, auf jene allein, 
also auf den Befund reichlicher Eiterkörperchen im Urethral- und 
Cervixsekret und auf die sonstigen klinischen Symptome sowie die 
Anamnese eine Diagnose aufzustellen, auf Grund deren eine so 
folgenschwere Entscheidung wie die Trennung oder Umstoßung 
einer Ehe zu treffen ist, bedarf einer sorgfältigen Untersuchung. 

Es ist zu erörtern, ob es möglich ist, den Nachweis des Gono¬ 
kokkus mit der Sicherheit zu erbringen, daß wir aus seinem Fehlen 
auf einen diagnostischen Irrtum schließen müssen bzw. eine Lücke 
der Beweisführung im einzelnen Fall zu statuieren haben, ob ferner 
es möglich ist, auch ohne diesen Nachweis aus dem klinischen Bild 
allein die Unterlagen für die gesicherte Beurteilung der Natur 
eines gonorrhoeverdächtigen Leidens zu entnehmen. In einer 
ganzen Reihe von forensischen Feststellungen kommen diese Fragen 
in Betracht; am häufigsten ja bei der Untersuchung der regle¬ 
mentierten Dirnen. Gerade bei diesen, bei welchen aus später zu 
besprechenden Gründen der Nachweis des Gonokokkus am häufigsten 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


268 


und leichtesten gelingt, liegt schließlich am wenigsten daran, weil 
die Erfahrung ebenso wie die begleitenden Umstände, die sich 
aus der gewerbsmäßigen Ausübung der Prostitution ergeben, das 
Bestehen des Trippers als unverkennbar erscheinen lassen. Schwie¬ 
riger schon gestalten sich die Dinge in der gynäkologischen Privat¬ 
praxis, wenn wir vor die Frage gestellt werden, ob wir das ehe¬ 
liche Leben tangierende Vorschriften, durch welche die Patientin 
Verdacht gegen ihren Mann schöpfen könnte, zu geben haben. Mit 
einigem Takt wird man aber auch da selbst bei nicht ganz sicherer 
Diagnose, sich helfen können. Anders aber steht es in drei Fällen, 
in welchen der zu treffende Entscheid so folgenschwer ist, daß 
kein gewissenhafter Gutachter es wird verantworten wollen, auf 
irgend ein Hilfsmittel der Diagnose zu verzichten: bei der Er¬ 
stattung eines Gutachtens über die eventuelle Scheidung oder 
Nichtigerklärung einer Ehe, über die Ursache der Unfruchtbarkeit 
der Frau, über die Wiederverheiratung einer Witwe oder ge¬ 
schiedenen Frau, deren Mann erster Ehe oder die selbst Gonorrhoe 
gehabt hat 

Daß Gonorrhoe eines Ehegatten als Scheidungsgrund mit Er¬ 
folg aufgestellt werden kann, sollte für jeden, der die schweren 
Folgen dieser Krankheit für die Gesundheit und die Erwerbs¬ 
fähigkeit der Frauen kennt, selbstverständlich erscheinen. Gleich¬ 
wohl ist die Frage da, wo sie am brennendsten ist bei den häufigen 
Fällen chronischen Siechtums der Ehefrau durch Infektion von 
Resten einer vorehelich erworbenen Gonorrhoe des Mannes, erst 
in allerjüngster Zeit zum Gegenstand einer gerichtlichen Verhand¬ 
lung geworden. Ein rechtskräftiges Urteil des Landgerichtes 
Frankfurt a. M. hat auf Grund der Annahme, daß das Bestehen 
einer ansteckenden Geschlechtskrankheit des einen Teiles eine 
persönliche Eigenschaft sei, welche, bei Kenntnis der Sachlage, den 
anderen von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würde, der 
Nichtigkeitsklage der Ehefrau stattgegeben 1 ). Es war das aller¬ 
dings nur durch das Zusammentreffen einer Reihe von besonderen 
Umständen, welches sich kaum leicht wiederholen dürfte, möglich. 
Insbesondere war seitens des einen Ehegatten die Existenz des 
Trippers noch während der Ehe freiwillig — man kann wohl sagen 
unvorsichtigerweise — zugestanden worden. So war es hier nicht 

*) Dr. L. Wertheimer. Ein gerichtliches Erkenntnis über Anfechtung 
einer Ehe wegen vorehelicher Gonorrhoe. Dermatologische Zeitschrift Bd. 10. 
ß. 385. 

20 * 


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264 


Fleeoh. 


nötig, den eingehenden Nachweis der erfolgten Infektion der Frau 
zu erbringen. Wie das aber zu geschehen hätte, welche Postulate 
zur Erfüllung dieses Nachweises zu erledigen wären, ist keines¬ 
wegs in einwandfreier Weise klargestellt. Hier wäre bei Weige¬ 
rung eines der Beteiligten nur durch Entbindung des Arztes von 
seinem Berufsgeheimnis das Material zur Entscheidung zu beschaffen. 
Und außerdem bliebe der Nachweis der erfolgten Infektion, d. h. 
also bei Aufrechthaltung der bakteriologischen Postulate das Vor¬ 
handensein der Gonokokken unerläßlich. Wir werden zu zeigen 
haben, daß, wenn dies geschähe, wenn also alles von dem Befund 
der Gonokokken abhängig sein sollte, nach dem heutigen Stand 
der Technik wenigstens, es kaum möglich wäre, den geforderten 
Nachweis zu liefern. 

Daß die Unfruchtbarkeit der Ehe in einem großen, anscheinend 
dem größeren Teil der Fälle der Gonorrhoe eines der Gatten zur 
Last fällt, ist heute allgemein, auch von denen, welche Nöggerats 
Behauptungen in anderen Punkten als zu weitgehend abweisen, 
anerkannt. Die weitaus größere Schuld der absoluten Sterilität 
der Ehe betrifft den Ehemann; sie liegt in erster Linie an der 
Tripperansteckung, welche einen großen Teil der Männer überhaupt 
zeugungsunfähig macht. Die geschlechtstüchtig Bleibenden haben 
in so großer Zahl ihre Frauen infiziert und dadurch fortpflanzungs¬ 
unfähig gemacht, daß der bei der Frau noch schwerer als beim 
Manne heilbare chronische Tripper bzw. seine Folgen, als Erbfeind 
der Fruchtbarkeit bezeichnet werden muß. Das sind die Schlüsse, 
zu welchen eine der besten Untersuchungen über die Ursachen der 
Sterilität gelangt 1 ). Sie enthalten die ganze Tragweite der Frage, 
deren Wichtigkeit durch die ungünstige Prognose der auf Tripper¬ 
infektion beruhenden Sterilität gegenüber dem Eingreifen des Arztes 
erhöht wird 2 ). Für die beteiligten Frauen erhält aber die Fest¬ 
stellung der Gonorrhoe als ätiologisches Moment eine besondere 
Wichtigkeit in den Fällen, in welchen sie zum Sündenbock gemacht 

*) Li er und Ascher, Beiträge zur Sterilität»frage. Zeitschrift für 
Geburtshilfe und Gynäkologie. 18. Bd. S. 292 ff. 1896. 

2 ) Lier und Ascher, 1. c. wollen nur 2°/ 0 Heilungen berechnen; ganz 
so ungünstig vermag ich (s. u.) die Prognose nicht anzusehen. Gerade hier 
erhält allerdings die genaue Diagnose eine ganz besondere Bedeutung. Die 
Heilung erfolgt sicher in einer weit größeren Zahl von Fällen, wenn es gelingt, 
die Neuinfektion der Frau ebenso wie etwaige Reininfektionen des Mannes 
durch konsequentes Verbot jeglichen Geschlechtsverkehrs bis nach sicher- 
gestellter Heilung beider Teile zu verhüten. 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


265 


werden, sei es, daß an sie die Forderung gestellt wird, sich großen 
und eingreifenden Operationen zur Heilung „ihrer“ Unfruchtbarkeit 
zu unterziehen, sei es, daß ihnen die Schuld an dem Unglück der 
Ehe zugeschrieben und die Unterwerfung unter irgend welche 
Scheidungsgründe zugemutet wird. Welcher Unfug nach beiden 
Richtungen getrieben wird, soll hier nicht eingehend erörtert werden *). 
Ein Schutz für die Betroffenen kann sich in solchen Fällen nur 
aus der Evidenz der Diagnose ergeben; wo, wie das ja meistens 
geschieht, der Mann leugnet, ist diese wieder von dem Nachweis 
des Kokkus abhängig, d. h. wieder, nach dem heutigen Stand der 
Dinge, kaum möglich. 

Was den dritten von uns angeführten Punkt, die Zulassung 
von Witwen gonorrhoekrankgewesener Männer bzw. geschiedener 
Frauen zu einer neuen Ehe betrifft, so habe ich gleichfalls die 
Schwierigkeit der ungenügenden Erkenntnismöglichkeit mehrmals 
peinlich empfunden. Hier handelt es sich entweder darum, vor¬ 
zubeugen, daß die Frau, selbst noch ansteckungsfähig, davon ab¬ 
gehalten werden sollte, eine Ehe einzugehen, die wegen des Bestehens 
einer ansteckenden Geschlechtskrankheit nach den oben berührten 
Gesichtspunkten jederzeit nichtig erklärt werden kann — es kommt 
ja nicht in Betracht, ob die Frau sich ihrer Krankheit bewußt 
gewesen sein konnte; das wird meistens nicht der Fall sein — oder 
aber festzustellen, daß die Unfruchtbarkeit der zweiten Ehe auf der 


*) In Betracht kommen namentlich wiederholte operative Eingriffe, wie 
ich sie beispielsweise von einem Falle kenne, in welchem ein nnd dieselbe 
Unglückliche, ehe sie zu mir kam, dreimal, zuerst von einem Frankfurter 
Spezialisten, dann nacheinander von zwei Professoren, noch dazu Kollegen an 
derselben Nachbaruniversität verschiedenen Eingriffen unterzogen war. Ich 
setzte durch, daß sich der Mann von mir untersuchen ließ. Er hatte beider¬ 
seitige Epididymitis durchgemacht. Ich schickte die Frau mit einer palliativen 
Verordnung fort Nur wenige Tage später traf ich sie in der Klinik eines 
Kollegen, aufs neue „zur Heilung ihrer Sterilität“. Scheidungsansinnen wegen 
der Unfruchtbarkeit der Ehe kenne ich in besonders unverblümter Form aus 
Erlebnissen mit galizischen Juden. Eine ganze Zahl solcher Frauen ist zu 
mir gekommen, weil „nach ihrem Gesetz“ der Mann das Recht habe, sie zum 
Verzicht auf ihre Rechte zu zwingen. Und die von mir zitierten Männer 
bestanden darauf, daß dies ihr Recht sei, mochte ihnen noch so klar gezeigt 
sein, daß sie selbst Schuld seien, daß sie z. B. in mehreren Fällen noch deut¬ 
liche Tripperreste hatten. Beiläufig bemerkt, ist durchaus nicht ausgeschlossen 
— ich kenne Beispiele — daß die neue Ehe des Mannes fruchtbar wird, wenn 
z. B. günstige Umstände die Infektion der zweiten Frau bis nach der ersten 
Schwangerschaft hinausschieben. 


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266 


Flescb. 


aus der seinerzeit erfolgten Ansteckung von seiten des ersten 
Mannes herrührt 1 ). Der Ehekonsens in solchen Fällen ist yon 
mindestens ebenso großer Tragweite als da, wo es sich um das 
Eingehen der Ehe seitens eines an chronischer Gonorrhoe leidenden 
Mannes handelt. Die Möglichkeit, eine sichere Begründung für 
eine positive Entscheidung zu schaffen, ist aber eine viel geringere, 
weil auch hier wieder das ungelöste Problem der sicheren Diagnose 
durch den Evidenznachweis fehlen wird. 

Wenn wir nach alledem sehen, daß es eines der wichtigsten 
Probleme der Gynäkologie ist, eine sichere Feststellung der gonor¬ 
rhoischen Ätiologie zu gewinnen, so ist die Frage gerechtfertigt, 
ob wir in der Lage sind, nach dem heutigen Stand unseres Wissens 
eine solche Feststellung in derselben Art auf den Nachweis des 
Neisserschen Kokkus zu gründen wie in der Diagnostik des 
Trippers beim Manne. 

Der Nachweis des Gonokokkus, so einfach er ist, wo es genügt, 
sein Vorhandensein im Abstrichpräparat aus Eiter oder Tripper¬ 
fäden der männlichen Harnröhre fostzustellen, unterliegt oft schon 
bei dem Manne erheblichen Schwierigkeiten, sobald es sich darum 
handelt, die letzten Reste, d. h. die Existenz des Keimes in ver¬ 
einzelten Kolonieen festzustellen. Es ist wohl allgemein üblich 
anzunehmen, daß eine Gonorrhoe geheilt sei, wenn in 10 aufeinander¬ 
folgenden Untersuchungen des durch Massage der Prostata und 
der Samenbläschen ausgedrückten Sekretes keine Gonokokken mehr 
gefunden worden sind. Die Anerkennung vorhandener Keime als 
Gonokokken hängt von deren mikroskopischen und bakteriologischen 
Charakteren ab. Bezüglich der ersteren ist im Zweifel maßgebend, 
die Entfärbung der Präparate bei der Gramschen Methode. In 
Verbindung mit dem intrazellulären Auftreten ermöglicht sie die 
Differenzierung von ähnlichen Keimen mit ausreichender Sicherheit. 
Die Kulturmethode mittels künstlicher Nährböden kann hier nicht 

] ) Hier nur ein Beispiel: Ein Mann beiratet die Witwe seines eigenen 
Bruders, die, von diesem infiziert, ohne zu wissen weshalb, unheilbar steril 
ist Der Mann, der aus erster Ehe Kinder hat, brennend aber auch von der 
zweiten Frau Nachwuchs wünscht, wie er mir erklärte schon deshalb, um 
deren Zukunft besser sichern zu können, wandert von Arzt zu Arzt, weil er 
sich mit dem ihm mitgeteilten Grund, Impotenz des Verstorbenen wegen seiner 
Phthise, naturgemäß nicht beruhigt Ebenso die Frau, bei welcher eine ob¬ 
jektive Feststellung des Tatbestandes resultatlos bleibt Vor einer Aufklärung 
sichert sie außer der Schonung des Andenkens des Verstorbenen die Schweige¬ 
pflicht des Arztes, der diesen behandelt hat 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 267 

die Bedeutung beanspruchen, wie bei anderen Mikroorganismen; 
sie wird kaum je zu Resultaten führen, die über das auf mikro¬ 
skopischem Weg Erreichbare hinausgehen. Darin stimmen die 
Autoren überein. 1 ) Erweisen sich die aus den Tripperfäden ge¬ 
wonnenen Abstrichpräparate und die aus ausgedrückten Sekreten 
der Harnwege erzielten Abstrichpräparate gonokokkenfrei, bleiben 
auch Provokationsversuche, bei wiederholter Entnahme, im mikro¬ 
skopischen Präparat ergebnislos, so muß man sich zufrieden geben. 
Leider aber ist es oft recht schwer, die Keimfreiheit, die ja doch 
immer nur ein negatives Kriterium darstellt, mit apodiktischer 
Sicherheit zu konstatieren. In einem Fall, in welchem sehr viel 
von dem Ergebnis abhing, fand sich bei der neunten Unter¬ 
suchung, nachdem acht vorhergegangene negativ ausgefallen waren, 
in einem, dem zuletzt von 4 Ausstrichpräparaten des durch 
Massage gewonnenen Prostatasekretes untersuchten, eine kleine 
Gruppe von unverkennbaren Gonokokken; ein glücklicher Zufall, 
der die spätere Infektion der Ehefrau, nachdem die weiteren Unter¬ 
suchungen Sicherheit gegeben zu haben schienen, anscheinend nur 
verschoben nicht verhütet hat; wenigstens ist sie unter den Er¬ 
scheinungen des Cervixkatarrh es usf. steril geblieben. Das ist ja 
zum Glück eine Ausnahme; sie zeigt aber, wie sehr wir, mag auch 
die mikroskopische Untersuchung eine recht weitgehende Garantie 
geben, immer noch mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß trotz 
aller Sorgfalt in irgend welchen Buchten des Genitalapparates ver¬ 
steckt gebliebene, minimale Spuren wieder auflebend die Voraus¬ 
sage des gewissenhaftesten Arztes Lügen strafen können. 

Und doch steht all das noch günstig gegenüber den Schwierig¬ 
keiten, die sich der Feststellung der Gonorrhoe beim Weibe ent¬ 
gegenstellen. Das könnte in Widerspruch zu kommen scheinen 
mit den Ergebnissen der Untersuchung an reglementierten Pro¬ 
stituierten bei ihrer regelmäßigen Kontrolle. Es werden deren 
eine so große Zahl mit Gonorrhoe behaftet gefunden, daß man 


x ) Als berufene Autorität darf ich hier auf Herrn Professor Neisser, 
den Leiter der Untersuchungsstation am königlichen Institut für experimen¬ 
telle Therapie in Frankfurt a. M., verweisen. Nach den wiederholten ge¬ 
sprächsweisen Äußerungen desselben, die er auch u. a. im hiesigen ärztlichen 
Verein in einer diese Fragen berührenden Diskussion über die Bedeutung des 
Gonokokkus in der Diagnose der gynäkologischen Praxis mitgeteilt hat, wird 
fast nie, wo das mikroskopische Präparat negativ ausgefallen ist, ein positives 
Ergebnis aus dem Kulturversuch herauskommen. 


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268 


Flesch. 


nicht wohl annehmen kann, es seien nur Ausnahmefälle, die auf 
diesem Weg zur Konstatierung gelangen. Auch während des 
Spitalaufenthaltes derselben wird die fortgesetzte und wiederholte 
Untersuchung von den Leitern keineswegs als ergebnislos geschildert. 
Und doch scheint sie nicht alles zu leisten, was verlangt werden 
muß. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ein so sorgsamer Unter¬ 
sucher, wie der Stuttgarter Polizeiarzt Dr. Hammer, einer der 
ersten, der es versucht hat, die mikroskopische Untersuchung auf 
Gonokokken an seinem gerade wegen seiner Kleinheit zur Probe 
besonders geeigneten Material systematisch durchzuführen, zu dem 
Ergebnis gelangt, daß für die Diagnose der Gonorrhoe anderen 
Merkmalen, speziell dem Vorkommen von Eiterzellen in den Sekreten 
genügender diagnostischer Wert zukomme, um auf das Bestehen 
des Tripper zu schließen? 1 ) 

Es würde zu weit führen, hier die gesamte Literatur durch¬ 
zuarbeiten, um zu beweisen, daß der bakteriologische Nachweis des 
Gonokokkus bei der chronischen Gonorrhoe des Weibes noch nicht 
gesichert genug ist, um für die endgültige Beurteilung des einzelnen 
Falles zur Conditio sine qua non gemacht zu werden. Vorläufig 
stehen sogar die Angaben der Autoren, welche positive Resultate 
bei ihren Kulturversuchen aufzuweisen haben, in diametralem Wider¬ 
spruch, sobald es sich um die Kriterien des Pilzes handelt. Diese Ver¬ 
schiedenheiten werden ja verständlich, wenn man in Betracht zieht, 
daß das Ergebnis des Versuches bei dem außerordentlich empfind¬ 
lichen Objekt, welches der Gonokokkus darstellt, von einer großen 
Zahl von Bedingungen abhängt, die wohl kaum je von zwei Autoren 
ganz gleichartig gehandhabt worden sind: Abstammung des Materials 
von akuten oder chronischen Fällen, aus abgeschlossenen Herden 

l ) Hammer. Über Prostitution und venerische Erkrankungen in Stuttgart 
und die praktische Bedeutung des Gonokokkus. Archiv für Dermatologie und 
Syphilis 38. Band. Heft 2. „Ich muß mich wundern, daß die übrigen Eigen¬ 
schaften des mikroskopischen Präparates noch nie ausdrückliche Berücksich¬ 
tigung oder Verwertung für die Diagnose bei der Massenuntersuchung gefunden 
haben. Und doch ist ein solches außerordentlich wichtiges Moment 
in dem Verhältnis der Epithelzellen und Eiterzellen zueinander 
gegeben, wie es uns das Mikroskop erkennen läßt. . . . Das einzige 
zuverlässige Kriterium für die Heilung der Urethralgonorrhoe ist meiner 
Überzeugung nach das, daß mehrmals vollständiges Verschwinden der Eiter¬ 
zellen aus dem mikroskopischen Präparat konstatiert worden ist. . . . Der 
Fehler wäre nicht groß, wenn man einfach alle Individuen, deren Urethral¬ 
sekret sich mikroskopisch als eiterig erweist für gonorrhoisch erklären wollte* 1 . 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


269 


oder Oberflächensekreten, Verschiedenheit der zur Züchtung be¬ 
nutzten Nährböden, u. a. m. Ich verweise bezüglich der Literatur 
auf die vorzügliche Arbeit von Wild bolz, 1 ) in welcher auch das 
von anderen Forschern beigebrachte Material einer sorgfältigen Kritik 
unterzogen ist. Überblickt man die Zahl der zuverlässigen Autoren, 
die nach der von Wildbolz gegebenen Zusammenstellung auf dem 
Wege der Züchtung Gonokokken bei chronischen Frauenerkrankungen 
gefunden haben, wo solche im mikroskopischen Präparat vermißt 
worden waren 2 ), so könnte man zu der Hoffnung kommen, daß 
schließlich die Züchtung doch für die Zukunft das maßgebende 
Verfahren sein werde. Aber Wildbolz selbst gelangt nach seiner 
genauen Prüfung des gesamten Materiales zu der Ansicht, daß, bis 
wir für die Gonokokken sichrere Züchtungsverfahren kennen, als 
bisher, der sorgfältigen mikroskopischen Untersuchung des Sekretes 
bei der Diagnose der Gonorrhoe stets noch die hauptsächlichste 
Bedeutung zugemessen werden muß. Die Kultur wird häufig die 
Diagnose bestätigen können, aber nur selten wird sie uns die An¬ 
wesenheit von Gonokokken beweisen, welche das Mikroskop nicht 
erkennen ließ. Handelt es sich also um ein Material, das von 
vornherein des mikroskopischen Gonokokkennachweises entbehrt, so 

‘) Bakteriologische Studien über Gonokokkus Nei88er. Aus der derma¬ 
tologischen Universitätsklinik Bern (Prof. Jadassohn) von Dr. Hans Wild - 
bolz, Spezialarzt für Urologie in Bern. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 
64. Band. 2. Heft 

a ) Wertheim, Die aszendierende Gonorrhoe beim Weibe, Archiv für 
Gynäkologie Bd. 42. Kiefer, Bakteriologische Studien zur Frage der weib¬ 
lichen Gonorrhoe. Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie, Festschrift 
gewidmet August Martin. Berlin 1895. Wel an der, Über die Untersuchung 
von Frauen iu Hinsicht auf die Diagnose der Gonorrhoe. Archiv für Der¬ 
matologie und Syphilis Bd. 41. (Autoreferat). Reymond, (Gonokokken bei 
Salpingitis) Baumgartens Jahresbericht 1898 S. 109. HallRecherches 
sur la bacteriologie du canal. genital de la femme. Th&se de Paris. 1898. 
Wildbolz zitiert ferner eine Erfahrung Strömbergs über Gonokokken¬ 
kulturen aus den Sekreten auf Grund der mikroskopischen Untersuchung 
geheilt erklärter Prostituierter. 

Ganz neuerdings hat in einer mir erst nach Abschluß dieser Arbeit zu¬ 
gegangenen Abhandlung — ich kenne sie zunächst nur im Referat dieser 
Zeitschrift Fritz Meyer (Über chronische Gonorrhoe und Gonokokkennnach- 
weis. Deutsche medizinische Wochenschrift 1903 Nr. 36, ref. in dieser Zeit¬ 
schrift. Bd. II. S. 34.) in 29 Fällen aus Tripperfäden deren mikroskopische 
Untersuchung negativ ausgefallen war, auf kulturellem Weg die Kokken ge¬ 
funden, ein Beweis, daß das hier über die Zuverlässigkeit des Gnonkokken- 
nachweis gesagte mehr als ich anfangs dachte auch für den Mann gilt. 


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270 


Flesch. 


wird auch das Kultur verfahren nicht viel erwarten lassen. Daß 
dem tatsächlich so ist, haben wir bei der Verfolgung einer ganzen 
Anzahl unzweifelhafter Tripperkrankungen erprobt, bei welchen das 
klinische Bild durch die Anamnese sowohl, als durch den Nach¬ 
weis der Gonorrhoe des Ehemannes zur Evidenz vervollständigt 
werden konnte. 

II. Bakteriologische Untersuchungen an 20 Gonorrhoe¬ 
fällen weiblicher Erkrankter. 

Die folgenden Untersuchungen sind auf mein Ansuchen von 
meiner Assistentin, Fräulein Dr. med. Maria Tobler, ausgeführt 
worden. Sie betreffen 10 Frauen, bei welchen die Gonorrhoe des 
Ehemannes während der Behandlungszeit festgestellt war, 2 unter 
festem Verhältnis lebende Mädchen und 8 Frauen, hei welchen kein 
Zweifel über das Wesen der Sache bestehen konnte, wenn auch 
der Gonokokkennachweis für den Mann ausstand. Die Unter¬ 
suchungsmethoden waren die gewöhnlichen, die Nährböden wurden 
anfangs von Grübler in Leipzig bezogen; später — durchweg für 
die hier berichteten Fälle — hatte Herr Professor Neißer die 
Güte, uns im königlichen Seruminstitut hergestellte Nährböden, 
Ascitesagar und Taubenblutagar, zur Verfügung zu stellen. Der¬ 
selbe hatte auch die große Freundlichkeit, wiederholt die Präparate 
zu kontrollieren. Seiner großen Geduld und seinem eingehenden 
Interesse kann ich hier nicht genug Dank aussprechen. 

1. Frau X, 3 Jahre verheiratet. Der Ehemann hat vor der Ehe 
mehrmals Tripper gehabt. Die Patientin ist unmittelbar nach der Ver¬ 
heiratung an Fluor, Wundsein u. s. f. erkrankt. Später stellen sich 
paraproktitische Abszesse, die eine Inzision von der Scheide aus und 
später Bildung einer Mastdarmfistel bewirken, ein. Nach der Heilung 
gesteigerte Beschwerden wegen des Fluors etc. Längere erfolglose Be¬ 
handlung in einer benachbarten Universitätsklinik, später Wiedereintritt 
in die Behandlung. Nunmehr Feststellung des Fortbestandes des Trippers 
bei dem Mann und Nachweis der Gonokokken in den Fäden. Damals 
(18. III. 1903) Untersuchung mit nachfolgender Behandlung, die allerdings 
wegen der ganz abnormen Empfindlichkeit der Patientin auf die größten 
Schwierigkeiten stößt. Bedeutende Besserung. Verschwinden des Fluor 
bei absoluter sexueller Abstinenz. Behandlung des Mannes durch einen 
Spezialisten. Verschwinden der Kokken aus den Fäden sowohl für das 
Mikroskop als für die Kultur. Längerer Kurgebrauch in Schwalbach. 
Allgemeinbefinden wesentlich gebessert. Die Nervosität durch die Unter¬ 
lassung aller örtlichen Eingriffe fast völlig beseitigt. Der wegen heftiger 
Schmerzen seit Jahren unterbliebene Beischlaf wird — anfangs mit 
Gebrauch von Kondom bis nochmalige mikroskopische und kulturelle 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


271 


Untersachong den Mann gonokokkenfrei erklärt hat — wieder ansgeübt. 
Alsbald tritt der Ausfluß wieder ein nachdem die letztere Vorsichts¬ 
maßregel weggefallen ist. Weitere Behandlung und Untersuchung ver¬ 
weigert, da die Patientin sich dauernd wohl fühlt und sich mit ihrer 
Sterilität abgefunden hat. 

Untersuchungen 18. III. Urethralsekret fehlt. Cervixsekret reichlich. 
Abstrichpräparat: massenhaft Stäbchen und Kokken, letztere Gram-positiv. 
Kultur: Gram-negative Stäbchen. 

18. VIII. Urethalsekret fehlt. Cervixsekret mäßig. Abstrichpräparat: 
zahllose Leukocyten, Gram-positive Diplokokken; kleine Gruppen von 
Kokken. Kultur: Staphylokokken; Gram-positive Diplokokken. 

2. Frau X, 8 Jahre verheiratet; hat vor einem Jahr ein Kind gehabt 
das kurz nach der Geburt asphyktisch gestorben ist. Ist nicht mehr in 
Hoffnung gekommen und will wegen der Sterilität behandelt sein. 
Starker Fluor; metritisch vergrößerter Uterus mit anscheinend freien 
Adnexen. Der Ehemann verweigert jede Untersuchung; er sei nie krank 
gewesen, habe aber „zu aller Vorsicht vor seiner Verlobung sich nicht 
nur untersuchen, sondern auch 12 mal ausspülen lassen.“ Der als sein 
Arzt genannte Spezialist erklärt demgegenüber, daß der Herr X. mit 
chronischem Tripper und reichlichen Gonokokken bei ihm in Behandlung 
gestanden und ungeheilt diese verlassen habe. 

Untersuchung 18. III. Urethalsekret spärlich; Abstrichpräparat: 
wenig Leukocyten; Gram-negative Kurzstäbchen. Cervixsekret mäßig; 
Abstrichpräparat: wenig Leukocyten; zahlreiche lange schlanke Stäbchen, 
dazwischen einzelne Kurzstäbchen und Diplokokken. Kultur: schlanke 
Gram-positive Stäbchen; Gemisch von Stäbchen und Kokken. Gram- 
positiv. 

3. Frau X, seit etwa 8 Jahren verheiratet; hat mehrere Kinder. 
Seit längerer Zeit, weil das Einkommen des Mannes nicht ausreicht, in 
einem Geschäft tätig, während der Mann als Reisender in einem Kol¬ 
portagegeschäft arbeitet, als solcher meist während der Woche abwesend 
ist. Sie kommt in die Klinik weil sie seit 14 Tagen an Fluor leidet. 
Vor 5 Tagen hat sich bei dem Ehemann ein typischer Tripper einge¬ 
stellt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Patientin zuerst erkrankt 
war und den Ehemann, einen beschränkten, aber sicher von jedem Ver¬ 
dacht freien Menschen infiziert hat. Bei dem Ehemann werden massen¬ 
haft Gonokokken gefunden. 

26. III. Urethalsekret ziemlich reichlich. Abstrichpräparat: viele 
Leukocyten; intrazelluläre Diplokokken, die etwas größer erscheinen, als 
Gonokokken und Gram-positiv färben, in reichlicher Menge. Kultur: 
zweierlei Kolonien; größere weiße aus dicken Gram-positiven Stäbchen; 
kleine Gram-positive Diplokokken. Cervixsekret: ziemlich reichlich. 
Abstrichpräparat: Leukocyten mit Schleim vermischt; mikroskopisch 
wie Urethra. Kultur: wie Urethra (ca. 10 Versuche). 

18. IV. Derselbe Befund. 

4. Frau X. Seit längerer Zeit in Behandlung. Der Ehemann 
steht wegen Tripper in Behandlung. Bei der Frau waren 2 Monate 


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272 


Flesch. 


vor den Kulturversuchen im Deckglaspräparat typische intrazelluläre 
Gonokokken gefunden. 

Urethralsekret: spärlich; mikroskopisch kleine Häufchen von Leuko- 
cyten; nur einzelne Stäbchen. Kultur steril. Cervixsekret: zähes wei߬ 
liches Sekret; reichliche Leukocyten; zahlreiche Stäbchen. Kultur: Gram¬ 
positive Kokken. 

5. Frau X. Ehemann hat Gonorrhoe; in spezialistischer Behandlung 
X. 1902. Im Deckglaspräparat typische Gonokokken in Urethra und 
Cervix. 

26.1.03. Urethra: spärliche Leukocyten; zahlreiche Kurzstäbchen; 
Kokken in kleinen Gruppen. Kultur: Staphylokokken. Cervixsekret: 
ziemlich zäher Fluor; Abstrichpräparat: ziemlich zahlreiche Leukocyten, 
einzelne Stäbchen und Kokken. Kultur: steril. 

6. Frau X. Seit ca. 10 Jahren verheiratet; hat ein Kind; sie lebt 
seit dessen Geburt in fakultativer Sterilität durch Gebrauch von Mensinga- 
Pessaren. Der Ehemann ist Handlungsreisender und gibt zu, seit der 
Verheiratung mehrmals infiziert gewesen zu sein. Durch sein Berufs« 
leben als Reisender ist er außerstande seine chronische Gonorrhoe heilen 
zu lassen. 

Urethra, Abstrichpräparat: Leukocyten in mäßiger Zahl, dazwischen 
Gram-negative Kurzstäbchen und Gram - positive Diplokokken. Kultur: 
Staphylokokken. Cervixsekret: ziemlich reichlicher zäher Fluor. Ab¬ 
strichpräparat: Schleirafäden mit einzelnen Leukocyten. Reichliche Gram¬ 
positive Diplokokken. Kultur: Streptokokken. 

7. Frau X. Seit langem steril verheiratet; der Ehemann gibt zu, 
während der Ehe Gonorrhoe gehabt zu haben. 

IV. 1903. Urethralsekret: spärlich. Viel Plattenepithelien, wenig 
Leukocyten. Abstrichpräparat: sehr zahlreiche Gram-negative Stäbchen 
und Häufchen von Gram-positiven Kokken. Kultur: Gram-positive Kurz¬ 
stäbchen; große dicke Gram-positive Diplokokken. Cervix sekret: dick, 
gelb, reichlich. Abstrichpräparat: Schleimfäden und Leukocyten; Gram¬ 
positive Stäbchen und reichliche Kokken. Kultur: Staphylokokken. 

VII. 1908. Urethra, Abstrichpräparat: keine Kokken mehr; massen¬ 
haft lange dicke Gram-positive Stäbchen. Cervixsekret: noch zahlreiche 
Leukocyten, Gemisch von Diplokokken und Kurzstäbchen, alles Gram¬ 
positiv. Kultur: größere Kolonien, Gram-positive Diplokokken; kleine 
Kolonien, Gram-negative Stäbchen. 

8. Frau X, nach mehrjähriger Ehe geschieden. Der Ehemann aus¬ 
schweifender Wüstling, der alle möglichen Exzesse noch während der 
Ehe getrieben hat. Er ist geständig, Tripper zu haben. Trat in die 
Ehe nach mehrmonatlicher spezialistischer Behandlung angeblich geheilt 
und gonokokkenfrei (laut Attest), doch brauchte er noch zu Beginn der 
Ehe die von dem betreffenden Urologen, einer Autorität auf diesem 
Gebiete, ihm verschriebenen Injektionen, wie bei dem Scheidungsprozeß 
festgestellt wurde, war also mit Gonorrhoe in die Ehe getreten, obwohl 
Gonokokken momentan nicht nachzuweisen waren. Die Ehefrau blieb 
während der ganzen Dauer der Ehe krank bis nach der Übernahme der 
Behandlung der eheliche Verkehr sistiert wurde. Die Patientin kann 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


278 


seither, soweit das bei aszendierender, auf die beiden Tuben übergetretener 
Gonorrhoe möglich ist, als geheilt gelten. 

Urethra: sehr reichliches Sekret. Abstrichpräparat: massenhafte 
Leukocyten, wenig Mikroorganismen, einzelne extra- und intrazellulare 
Diplokokken und Stäbchen. Kultur: Gram-negative Kurzstäbchen; Gram¬ 
positive Diplokokken. Cervixsekret: reichlich gelber dicker Schleim; 
mikroskopisch zahlreiche Leukocyten. Kultur wie Urethra. 

9. Frau X. lebt in steriler Ehe. Der Ehemann hat vor der Ver¬ 
heiratung Gonorrhoe gehabt und sich vor 2 Jahren extramonial wieder 
infiziert. Urethra: spärliches Sekret; keine Leukocyten. Kultur: Sta¬ 
phylokokken. Cervix: wenig glasiges Sekret. Abstrichpräparat: Seltene 
Leukocyten. Kultur: Staphylokokken; einzelne Kolonien von Gram¬ 
positiven dicken Kurzstäbchen. 

10. Frau X. Der Ehemann gibt Gonorrhoe zu und hat deutliche 
Tripperfäden. 

Urethra: kein Sekret. Cervix: reichliches glasiges Sekret. Abstrich¬ 
präparat: wenig Leukocyten; einzelne Gram-negative Stäbchen; Gram¬ 
negative Kokken. Kultur: in sämtlichen Röhrchen ein schlankes, große 
verzweigte Haufen bildendes Stäbchen. 

Das Ergebnis der vorstehenden 10 Untersuchungen von Fällen 
unzweifelhafter gonorrhoischer Infektion ist mithin in einem einzigen 
Fall (Nr. 10) bei der Frau ein genügend charakteristischer Gono¬ 
kokkennachweis; in diesem nur im Abstrichpräparat. Die Kultur 
ist ausnahmslos ergebnislos. 

Es seien weiter 2 Fälle unzweifelhafter Gonorrhoe bei Unver¬ 
heirateten angereiht. 

11. Fräulein X. lebt seit Jahren in wilder Ehe bzw. Verhältnis 
mit einem Herrn, der den gebildeten Ständen angehörig, seine Krankheit 
kennt und jetzt sich heilen lassen will, um dann das Mädchen zu heiraten. 
Sie hat einmal vor 3 Jahren abortiert und ist seitdem steril geblieben. 
Hat wiederholt parametritische Beschwerden gehabt. Diese wiederholen 
sich auch während der Behandlung, jedenfalls, weil trotz aller Mahnungen 
keine Abstinenz seitens des Bräutigams gehalten wird. 

Urethalsekret: wenig Leukocyten, Plattenepithelien. Massenhaft 
Bazillen und Stäbchen; keine Gonokokken. Cervix: Abstrichpräparat 
reichliche Leukocyten und Schleim. Sehr zahlreiche Stäbchen und 
Kokken; letztere Gram-positiv. 1 Monat später: noch sehr viel Bazillen, 
darunter auch Gram-negative Kokken (Gonokokken). — Kultur fehlt. 

12. Fräulein X. Nicht registrierte Prostituierte, z. Z. noch nicht 

vulgivaga. Später unter dem Drucke eines Zuhälters tiefer gesunken 
und syphilitisch infiziert.*) 3 Monate früher typische Urethral- und 

•Cervixgonorrhoe mit intrazellulären Gonokokken. Damals keine Kultur. 
Urethra: mäßig viel Sekret. Abstrichpräparat: ziemlich viel Leuko- 


*) S. Fleseh, Herrenmoral. Eine Erwiderung an Frl. Anna Pappritz, 
Frauenrundschau 1903, S. 481. 


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274 


Fleech. 


cyten, keine Gonokokken; massenhaft andere Kokken und Stäbchen. 
Kultur: Kokken in Häufchen Gram*positiv; kleinere Gram-positive Diplo¬ 
kokken. Cervix: ziemlich reichliches Sekret. Abstrichpräparat wenig 
Leukocyten; Gram-positive Diplokokken. Kultur: Mischkultur von 
Gram-positiven Kokken und Gram-negativen Stäbchen. 

Auch in diesen beiden Fällen ist das ausschlaggebende Resultat 
ein negatives. In dem ersten bei sichergestellter Gonorrhoe des 
Bräutigams und sowohl durch den Verlauf der in Abort endenden 
ersten Schwangerschaft als durch die Parametritis manifestierten 
Infektion des Mädchens keine nachweisbaren Gonokokken; das 
spätere Auftreten offenbar die Folge einer neuen Aussaat In dem 
anderen Fall (12) 3 Monate nach dem Nachweis der Kokken Un¬ 
möglichkeit sie wieder zu finden, trotz zweifellosem klinischen 
Krankheitsbild. 

Es sind hier noch einige weitere Fälle mitzuteilen, in welchen 
wir die mikroskopische und Züchtungsmethode zur Anwendung 
bringen konnten, ohne jedoch die Gonorrhoe des Mannes konstatiert 
zu haben. Sie vermehren nur das Material solcher Beobachtungen, 
in welchen die klinische Diagnose der Gonorrhoe von der bakte¬ 
riologischen Nachprüfung im Stich gelassen ist, sei es, daß der 
mikroskopische, sei es, daß der kulturelle Nachweis mißlang. 

13. Frau X. Urethalsekret spärlich; Cervixsekret ziemlich reichlich. 
Abstrichprftparat: massenhafte Leukocyten; intrazelluläre Gram¬ 
negative Diplokokken (Gonokokken). Kultur: kleine tautropfen¬ 
förmige Kolonien; mikroskopisch Staphylokokken. 

14. Frau X, Witfrau. Steril verheiratet gewesen, zur Behandlung 
gekommen wegen einer in Vereiterung übergegangenen Bartholinischen 
Drüsencyste. 

Urethra: reichliche Leukocyten, Kurzstäbchen; Häufchen von Gono¬ 
kokken. Kultur: Gram-negative Kurzstäbchen, wenige Gram-positive 
Diplokokken. Cervix: mäßig viel Sekret. Abstrichpräparat: Häufchen 
von Leukocyten in Schleim; Kurzstäbchen einzelne Gram-positive Diplo¬ 
kokken. Kultur: plumpe Stäbchen, Schleifstein förmig mit kolbigen Auf¬ 
treibungen, Gram-positiv. 

15. Frau X. Der Ehemann hat vor der Verheiratung eine Gonorrhoe 
ohne ärztliche Behandlung durchgemacht; eine jetzt vorgenommene spe- 
zialistische Untersuchung ergibt indessen: Urethritis chronica mit Kokken 
und Bazillen, aber nichts spezifisches. Urethra: einzelne Leukocyten, 
wenig Stäbchen. Kultur: Staphylokokken. Cervix: sehr zahlreiche Leuko¬ 
cyten. Kultur: (8 Röhrchen), teilweise steril, teilweise Staphylokokken. 

16. Frau X, starker Ausfluß seit 14 Tagen. 

Urethra: spärliches Sekret Abstrichpräparat: wenig Leukocyten. 
Kultur: dicke Gram-positive Kurzstäbchen, dazwischen Gram-positive 
Diplokokken. Cervix: dickes gelbes Sekret. Abstrichpräparat: Leuko- 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


275 


cyten in Schleim eingebettet; ziemlich reichliche Gram-positive Diplo¬ 
kokken, nicht in typischer Lagerung. Kultur: (6 Röhrchen); einzelne 
steril, andere wie Urethra. Bei einer weiteren Untersuchung Gram¬ 
negative feine Stäbchen. 

17. Frau X. Kommt zur Behandlung mit ausgesprochener chro¬ 
nischer Parametritis. 

Urethra: kein Sekret. Cervix: wenig weißliches Sekret. Abstrich¬ 
präparat: spärliche Gram-positive Stäbchen. Kultur: Gram-positive 
Stäbchen, teilweise körnig zerfallen. 

18. Frau X. Ehemann leugnet, war aber bereits anderwärts in 
spezialistischer Untersuchung, angeblich mit negativem Resultat. Urethra: 
spärliches Sekret. Abstrichpräparat: keine Leukocyten; massenhaft kurze 
Gram-positive Stäbchen, dazwischen Gram-positive Diplokokken. Cervix: 
viel Sekret. Abstrichpräparat: Schleim mit einzelnen Leukocytenhäufchen, 
sehr reichlich Gram-positive und Gram-negative Stäbchen, einzelne Kokken¬ 
häufchen. Kultur: in einem Röhrchen Staphylococcus aureus; in den 
anderen Gram-positive Kurzstäbchen. 

19. Frau X. Wegen Parametritis in Behandlung. 

Urethra: dünnflüssiges, ziemlich reichliches Sekret. Abstrichpräparat: 
einzelne Leukocytenhäufchen; Staphylokokken, Gram-positive Diplo¬ 
kokken. Kultur. Cervix: Sekret reichlich dünnflüssig. Abstrichpräparat: 
sehr reichliche Leukocyten, massenhaft Gram-positive extrazelluläre 
Kokken und Stäbchen. Kultur: dicke Gram-positive Kurzstäbchen. 

20. Frau X. Wegen Parametritis in Behandlung. 

Urethra: gerötet; reichlich dünnflüssiges Sekret. Abstrichpräparat: 
reichliche Leukocyten; sehr zahlreiche dicke Gram-positive Diplokokken, 
teilweise intrazellulär. Kultur: Gram-positive Diplokokken, vorherrschend; 
dazwischen plumpe Gram-positive Stäbchen. Cervix: reichlicher dünner 
Eiter aus einer stark erodierten Portio. Abstrichpräparat: reichliche 
Leukocythen; kleine Gram-positive Diplokokken. Kultur: (ca. 10 Röhrchen) 
wie aus der Urethra. 

Die fast ausschließlich negativen Ergebnisse der vorstehenden 
Untersuchungen mit dem Ergebnis anderer Forscher zu vergleichen, 
erscheint schwer; von seiten derer, welche bessere Erfolge erzielt 
haben, könnte ungenügende technische Ausführung der Versuche 
ins Feld geführt werden. Die, welche gleich uns negative Ergeb¬ 
nisse verzeichnen, würden dann der gleichen Unvollkommenheiten 
schuldig erscheinen, falls nicht, wie ich glaube, das negative Resultat 
weniger auf die mangelhafte Technik gegenüber dem schwierigen 
Objekt, als auf die eigentümlichen Versuchsschwierigkeiten, mit 
welchen die wissenschaftliche Arbeit in der Privatpraxis zu kämpfen 
hat, zurückzuführen ist. Mit zwei Ausnahmen beziehen sich unsere 
Untersuchungen auf verheiratete Frauen, darunter teilweise den 
bessersituierten Schichten zugehörige. Von diesen letzteren nur 
die Erlaubnis zu regelmäßiger Sekretentnahme zu erlangen, ist 


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276 


Flesch. 


schwer; doppelt schwer unter den eigenartigen Umständen, die sich 
daraus ergeben, daß ausgeschlossen bleiben muß, daß die Patientin 
irgendwie Verdacht schöpft. Daß gerade die Zeit, in welcher wir 
arbeiteten, durch die in Frankfurt allgemeine Beachtung der auf 
eine venerische Infektion hindeutenden Momente während der das 
Tagesgespräch bildenden Abhaltung des ersten Kongresses der 
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬ 
heiten besondere Schwierigkeiten nach der angedeuteten Richtung 
bewirkte, darf wohl auch erwähnt werden. Und doch mußte gerade 
auf die Gewinnung des Materiales wenigstens einiger Fälle von den 
gebildeten Kreisen angehörigen Frauen Gewicht gelegt werden, 
weil hier seitens der Patientinnen bessere anamnestische Daten zu 
erwarten waren. Unter keinen Umständen ist an eine so regel¬ 
mäßige Wiederholung der Untersuchung zu denken, wie etwa in 
der Prostituierten-Abteilung eines Krankenhauses. Es will mir 
aber außerdem erscheinen, als wenn hier noch ein Moment in Be¬ 
tracht gezogen werden müßte, das, so viel mir bekannt, in der 
Literatur noch nicht berücksichtigt ist Ich möchte hier zunächst 
auf die eigentümliche Feststellung des Falles II, eines der wenigen, 
in welchen wir sichere Gonokokken gefunden haben, hinweisen. 
Als das Mädchen zuerst, in einer Zeit in der sie außer Verkehr 
mit ihrem auf Reisen befindlichen Liebhaber war, untersucht wurde, 
fehlten die Kokken; später finden sie sich, nachdem derselbe vor¬ 
übergehend sie besucht hatte. Der häufige positive Befund bei Dirnen 
— ich selbst kann das nach den Untersuchungen, welche Herr 
Dr. med. Jourdan mit mir angestellt hat, als uns auf kürzere 
Zeit die Behandlung einer Anzahl eingeschriebener Dirnen in dem 
Bethanienvereinskrankenhaus auf dem Mittelweg in Frankfurt über¬ 
tragen war, bestätigen — erklärt sich vielleicht sehr einfach da¬ 
durch, daß bei diesen stets frische Aussaaten der Untersuchung 
voran gehen. Bei den Frauen, welche wir untersuchen konnten, 
war durch die seltenere Ausübung des Beischlafes in der Ehe, 
sicher auch in manchem Fall durch dessen gänzliche Einstellung, 
die bereits seit kürzerer oder längerer Zeit vor der Untersuchung 
wegen der Beschwerden 1 ), die die Patientin zum Arzte führte, er¬ 
folgt war, die Möglichkeit gegeben, daß andere Bakterien an den 

*) Diese Beschwerden pflegen bei der Prostituierten — als Colica scor- 
torum — nicht nur ignoriert, sondern sogar als Zeichen der Sicherheit vor 
Konzeption betrachtet und deshalb von den Inhabern von Bordellen als etwas 
für die Mädchen wünschenswertes angesehen zu werden!! 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


277 


der Entnahme des Sekretes zugänglichen Stellen den Gono¬ 
kokkus überwuchert hatten. Nicht als ob derselbe dadurch ver¬ 
schwunden wäre; in der Tiefe vegetiert er ebenso weiter, wie 
in den Krypten der hinteren Urethra; die große Gefahr der 
aszendierenden Gonorrhoe verbietet bei dem Weibe Provokations¬ 
versuche, oft genug aber liefert das Wiederauftreten der Gono¬ 
kokken anläßlich der natürlichen provokatorischen Reizung bei der 
menstrualen Kongestion den Beweis ihrer Fortexistenz. Aus der 
vorangegangenen intensiven Aussaat und deren Anpassung an den 
spezifischen individuellen Nährboden im einzelnen Fall erklärt sich 
auch ungezwungen, daß wir bei Prostituierten in den klinischen 
Abteilungen durch lange Zeit hindurch das Leben der Kokken 
verfolgen können, während bei der Privatpatientin die spärliche 
Aussaat, soweit sie auf der freien Fläche der Schleimhaut in Kon¬ 
kurrenz mit dessen saprophytischen Besiedlern unterliegt, bald bis 
auf die an günstige Brutstellen gelangenden Keime außer Sicht 
kommt. Daß auch bei der scheinbar gonokokkenfrei aus dem 
Hospital entlassenen Dirne es so liegt, ist die für den Abolitionis¬ 
mus der auf dessen Seite stehenden Ärzte grundlegende Tatsache.*) 
Nicht die Mangelhaftigkeit der Technik, sondern die Eigenart des 
Untersuchungsobjektes muß also für die Erfolglosigkeit der Be¬ 
obachter, welche mit negativem Erfolg gearbeitet haben, verantwort¬ 
lich gemacht werden. 

In dieser Feststellung liegt aber der Kernpunkt, um welchen 
sich die für die Beantwortung der im Eingang gestellten Fragen 
beizubringenden Argumente zu ordnen haben. Die bisherigen 
Methoden des bakteriologischen Nachweises der Gonorrhoe bei der 
Frau sind noch weit davon entfernt, den praktischen Anforderungen 
zu genügen. Soweit hierfür die technische Fertigkeit des Unter¬ 
suchers in Betracht kommt, ist die Arbeit eine weit unsichere als 
etwa bei dem Nachweis der Tuberkelbazillen Der nachzuweisende 
Bazillus findet sich von vornherein in einer derartigen Mischung mit 
allen möglichen anderen Keimen, die ihm an Wachstumsenergie 
und Widerstandskraft überlegen sind, daß es nicht zu verwundern 
ist, wenn selbst in der geübtesten Hand das Resultat nur selten 
ein positives wird. Darf aber eine von äußeren Zufälligkeiten so 

*) Ströhmberg gelang es, bei zahlreichen Prostituierten, welche auf 
Grund des klinischen Befundes und der mikroskopischen Untersuchung als 
geheilt betrachtet wurden, auf dem Thal mann sehen Nährboden Gonokokken* 
kulturen zu erzielen“, zitiert nach Wildbolz L c. 8. 295. 

Zeitachr. t Bekämpfung d. Oeeehleehtekrankh. IL 21 


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278 


Flesch. 


abhängige Methode für Entscheidungen, wie sie hier in Frage 
kommen, ausschlaggebend werden? 

Ein Einwand, der hier erhoben werden könnte, kann nicht 
übergangen werden. Seitens der Urologen wird der Nachweis des 
Gonokokkus bei dem Manne als ein leichter und relativ sicherer 
betrachtet Ist es berechtigt, wenn wir jetzt für den Nachweis bei 
der Frau ein non liquet proklamieren? Vorweg möchte ich davon 
absehen, daß allerdings es noch zu prüfen wäre, ob die negativen 
Befunde des Andrologen, auf welche sich der Ehekonsens seitens 
derselben gründet, nicht in gar manchen Fällen später durch den 
Verlauf ein trauriges Dementi erhalten wird. 1 ) Mir ist ein Erlebnis 
nach dieser Seite sehr belehrend geworden. Als sich bei einer jungen 
Frau nach der ersten (und seit 8 Jahren einzigen) Entbindung 
die klinischen Symptome der aszendierenden Gonorrhoe einstellten, 
examinierte ich den Ehemann, der sofort zugab, vor der Ehe eine 
sehr langwierige Gonorrhoe gehabt zu haben. Er war von einem 
ausgezeichneten, sorgfältigen und gewissenhaften Urologen behandelt 
und nach seiner Angabe von diesem als vollständig geheilt auf 
Grund mehrfach in längeren Zwischenräumen wiederholter Unter¬ 
suchungen als gesund erklärt worden. Bei der Frau wurden damals 
verdächtige Diplokokken gefunden und von kompetentester Seite als 
Gonokokken anerkannt Allerdings fehlt die Prüfung durch die Ent¬ 
färbung nach Gram. Der ganze Verlaut die nachfolgende Steri¬ 
lität lassen über die Art des Leidens keinen Zweifel. Der Ehemann 
verbot mir ausdrücklich, den behandelnden Urologen über den Fall 
zu befragen, weil beide in geselligen etc. Beziehungen standen. 
Um so wertvoller war ein Zufall: Bei einer gesprächsweisen Dis¬ 
kussion, in deren Verlauf der Kollege meinte, daß bisher in keinem 
vonihm zur Ehe zugelassenen Falle eine Infektion der Frau erfolgt 
sein könne, sagte ich ihm, daß ich allerdings Grund hätte, aus 
meiner Erfahrung Zweifel zu hegen. „Unmöglich! ich bin meiner 
Sache sicher; wen behandeln Sie von meinen früheren Patienten? 
der Herr X, von dem ich weiß — eben der in Frage stehende Herr 
— kann es nicht sein, der ist geheilt*. Ich mußte schweigen. 
Später, als mir die Sterilität der Frau Anlaß gab, eine neue Unter¬ 
suchung des Mannes zu veranlassen, fand sich Urethritis posterior. 
Kokken wurden meines Wissens nicht gefunden. Aber auch der 

l ) Vgl. hierzu: Fr. Meyer, Über chronische Gonorrhoe und Gonokokken¬ 
untersuchung. Vgl. diese Zeitschrift Bd. II, 8. 34 ref. aus „Deutsche medizinische 
Wochenschrift 1303. Nr. 86. 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


279 


Urologe — nicht der frühere Arzt — hielt den Befand für be¬ 
weisend genug, um auf Grund desselben eine neue Behandlung für 
nötig zu erklären. Der erstbehandelnde Urologe hatte trotz aller 
Sorgfalt seinen Konsens zu früh erteilt Es gibt eben ein feineres 
Reagenz auf den Kokkus als alle Färbungen, als die besten 
Nährböden, das ist der weibliche Genitaltraktus, auf dessen 
Schleimhaut das Unkraut des Gonokokkus aus dem letzten, vielleicht 
schon in Entartung begriffenen Keim neues Leben erlangt 

Wir kommen bei dem heutigen Stand der Technik nicht 
darüber hinaus: der bakteriologische Nachweis kann in der Diagnose 
der Gonorrhoe beim Weibe nicht das leisten, wie bei dem Manne; 
bei diesem in einigermaßen gewissenhaften Händen ein fast un¬ 
trügliches Reagenz, ist er bei der Frau ein nur allzuoft versagendes 
Unterstützungsmittel. Das muß namentlich auch festgehalten 
werden, wenn es sich darum handelt, bei Infektionsverdacht die 
Gesundheit der suspekten Frau zu attestieren. Nur wo alle klini¬ 
schen Symptome fehlen, möchte ich das wagen. Andererseits würde 
auch bei fehlendem Gonokokkennachweis, sobald einmal ein Bei¬ 
schlaf zwischen einem tripperkranken Mann und einer vorher 
gesunden Frau stattgefunden hat. der klinische Befund ausschlag¬ 
gebend werden. Von dieser Basis ausgehend, wird man allein im¬ 
stande sein, als Gynäkologe vor irreführendem Optimismus bewahrt 
zu bleiben. Fast ausnahmslos gestaltet sich denn auch der 
chronologische Gang der Diagnose so, daß auf Grund der 
verdächtigen Erscheinungen bei der Frau zur Unter¬ 
suchung des Ehemannes geschritten wird; letztere liefert 
dann allerdings nur allzuoft die bakteriologische Bestäti- 
für die ätiologische Provenienz des „Frauenleidens“. 

Es würde den Rahmen dieser kritischen Arbeit über¬ 
schreiten, wenn ich auf die praktischen Konsequenzen für das 
therapeutische Handeln des Gynäkologen eingehen wollte. Auch 
wer, wie ich, auf Grund seiner Erfahrungen aus der Beobachtung 
des Eheverlaufes bei zahlreichen Gonorrhoikern die schließliche 
Heilung als den häufigeren Ausgang der Gonorrhoe des Mannes 
— im Gegensatz zu der überskeptischen Auffassung Nöggerats — 
ansieht, wird die Gefahr des Trippers für den Verlauf der Ehe 
nicht hoch genug einschätzen können. Eines aber darf ich wohl 
aus einer nicht mehr ganz kleinen Erfahrung hervorheben. Es 
kann keinem Zweifel unterliegen, daß sich die Behandlung der 
Frauenkrankheiten, besonders aber der Sterilität um so er- 

21 * 


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280 


Flesch. 


freulicher gestaltet, je weiter man in der strengsten Prüfung der 
sexuellen Gesundheit des beteiligten Mannes geht. Es ist geradezu 
erstaunlich, wie rasch, wenn einmal die Tripperdiagnose bei dem 
beteiligten Ehemann festgestellt und dementsprechend der Beischlaf 
eingestellt ist, schwere Krankheitserscheinungen zurtickgehen, wie 
oft scheinbar hoffnungslose Kinderlosigkeit selbst nach langem Be¬ 
stand der unfruchtbaren Ehe aufhört Gegenüber der großen 
Statistik Prochowniks mit ihrem deprimierenden Ergebnis von 
nur 2 % Heilung der auf Tripper beruhenden Sterilität kann ich — 
leider bin ich nicht in der Lage eine prozentuale Berechnung auf¬ 
zustellen — aus einem kleineren Material eine recht stattliche 
Zahl von solchen Heilungen anführen. Freilich hat es dazu eines 
großen Aufwandes an Selbstbeherrschung seitens der beteiligten 
Ehegatten bedurft. Durch viele Monate fortgesetzte Abstinenz, bis 
seitens des Andrologen Sicherheit für den Mann, seitens des Gynä¬ 
kologen Heilung der Frau konstatiert werden konnte. Ein erheb¬ 
licher Teil der Unheilbarkeit der weiblichen aszendierenden Gonor¬ 
rhoen kann durch radikale Abstinenz sistiert werden. Auch für 
das klinische Verhalten spielen offenbar die immer erneuerten 
frischen Aussaaten eine wichtige Rolle, der Art, daß in Wirklich¬ 
keit in manchen, vielleicht in den meisten Fällen die scheinbare 
Unheilbarkeit nur den sich immer wiederholenden Reinfektionen 
zur Last gelegt werden muß. Ich stehe nicht an zu bekennen, 
daß ich von den von mir in der Behandlung der Sterilität erzielten 
Erfolgen das meiste der Verhinderung dieser neuen Aussaaten, das 
wenigste den therapeutischen Maßnahmen zuzuschreiben geneigt 
bin. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß der Absterbe¬ 
prozeß des Gonokokkus scheinbaren mit dessen Verschwinden aus 
den der mikroskopischen Untersuchung unterworfenen Sekreten 
nicht zu Ende ist. Unterbleibt aber die provokatorische Reizung, 
welche der sexuelle Verkehr mit sich bringt 1 ), so kommt es selbst 
in hartnäckigen Fällen zum Aufhören des Ausflusses und zur Re- 
tablierung der Schleimhaut 

HI. Schlußbetrachtungen. 

Zwischen zwei Extremen bewegen sich die Anschauungen über 
die Bedeutung des Gonokokkus für die gynäkologischen Erkran- 

l ) Es genügt nicht, wenn man Erfolg haben will, wenn man die Neu¬ 
infektion dadurch zu verhüten sucht, daß man den Beischlaf mit Benutzung 
des Kondom gestattet; es muß dem weiblichen Organ volle Ruhe gegeben werden. 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


281 


kungen. Auf der einen Seite steht die Auffassung Nöggerats, 1 ) 
wonach die Annahme der gonorrhoischen Natur einer Frauen¬ 
krankheit fast a priori gestellt werden darf, denn an 4/5 aller 
Frauen müßten danach von ihren Männern infiziert werden, da ja 
— in den Städten wenigstens — 80 und mehr Prozent der Männer 
früher oder später einmal Tripper gehabt haben. Auf der anderen 
Seite findet, ausgehend von einer rein bakteriologischen Basis, die 
Ansicht Vertretung, daß nur, wo der Nachweis der Kokken ge¬ 
führt worden ist, der Regel nach von einer Tripperkrankheit 
gesprochen werden dürfe. Beide Auffassungen können sich aut 
Tatsachen aus der Pathologie stützen. Die einen, wenn sie daraut 
verweisen, daß tatsächlich in der Vorgeschichte fast jeden Falles 
von hartnäckigem Fluor, von „Unterleibsentzündung“, man irgendwo 
den Tripper eine Rolle spielen sieht, die anderen, wenn sie entgegen¬ 
halten, daß das gar nichts beweise, angesichts der weiten Ver¬ 
breitung der Gonorrhoe über fast die Gesamtheit der Männer, der 
zufolge ihre Übertragung auch auf die nicht manifest erkrankten 
Frauen vorausgesetzt werden müsse. Nicht minder können beide 
Parteien aus den Untersuchungsergebnissen der verschiedenen 
Autoren ihre Stütze entnehmen. Auf der einen Seite positive 
Befunde dieser, auf der anderen negative jener Kliniker. In den 
hier von uns beigebrachten Untersuchungen haben wir zu zeigen 
versucht, daß es auch bei sicher stehender Tripperätiologie und 
bei wiederholter, nach allen Richtungen kontrollierter Prüfung 
nicht zu gelingen braucht, den Kokkus zu finden. Soll etwa in 
diesen Fällen, weil dem bakteriologischen Dogma nicht genügt 
werden kann, darauf verzichtet werden, die Konsequenzen zu ziehen, 
welche sich aus jener Ätiologie ergeben, Verbot des Koitus, Ver¬ 
weigerung des Ehekonsenses, Verzicht auf die öffentlich- und privat¬ 
rechtlichen Forderungen, wie sie für die Erzielung der Scheidung, 
für die strafrechtliche Verfolgung der venerischen Infektion in Be¬ 
tracht kommen? Aus der Mangelhaftigkeit der bakterio¬ 
logischen Untersuchungstechnik geht keineswegs die Be¬ 
rechtigung hervor, die klinische Evidenz außer Acht zu 
lassen. 

Solange es nicht gelungen ist, eine Technik des Gonokokken¬ 
nachweises zu ermitteln, durch welche letzterer eine für den Gynä¬ 
kologen ausreichende Sicherheit bietet, wird es darauf ankommen, 

l ) Nöggerat, E. Die latente Gonorrhoe beim weiblichen Geschlecht 
Bonn 1872. 


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282 


Flesch. 


daß wir das klinische Bild der weiblichen Gonorrhoe derart präzi¬ 
sieren lernen, daß die Diagnose auch ohne bakteriologische Funde 
ausgesprochen werden kann. Nicht als ob wir die Erzielung einer 
besseren Technik für ausgeschlossen halten müßten. Selbst wenn 
aber auf ein Verfahren zu leichterer Erlangung der Reinkultur 
auf künstlichen Nährböden verzichtet werden müßte — das könnte 
man ja schließlich fürchten, wenn man aus der Anpassung des 
Kokkus an den menschlichen Organismus folgert, es sei ein dem 
menschlichen Körper entstammendes Nährsubstrat zur Erzielung 
eines einigermaßen sicheren Verfahrens unentbehrlich 1 ) — wäre es 
durchaus denkbar, daß wir vielleicht auf chemischem Wege aus 
den Veränderungen der Sekrete zur Feststellung der Spezifizität 
einer Infektion gelangen könnten. Aber das ist nicht einmal un¬ 
bedingt nötig. Auch für andere Infektionskrankheiten mit wohl- 
bekanntem Krankheitserreger hat man sich der Erkenntnis nicht 
verschließen können, daß die Diagnose sich nicht unter allen Um¬ 
ständen und in allen Fällen auf dessen Nachweis verlassen darf. 
Ich erinnere an die Enttäuschung, welche den anfangs auf die 
Vidalsche Typhus-Reaktion gesetzten Hoffnungen gefolgt ist Wäh¬ 
rend man eine zeitlang geglaubt hatte, darin ein den Irrtum aus¬ 
schließendes spezifisches Charakteristikum sehen zu können, so daß 
es hieß, „kein Vidal kein Typhus“, so wird heute allseitig angenommen, 
daß jene Reaktion zwar sicher eines der wertvollsten, aber keines¬ 
wegs ein unbedingt zu forderndes diagnostisches Merkmal sei, ja 
daß recht wohl die Typhusdiagnose im einzelnen Fall auch ohne 
sie, ausschließlich auf Grund der sonstigen Erscheinungen mit 
genügender Sicherheit gestellt werden könne. Auch die Dia¬ 
gnose der Gonorrhoe bei der Frau wird einstweilen mehr 
als bisher eine klinische anstatt bakteriologische sein 
müssen und das wahrscheinlich vorläufig bleiben. 

Das mag dem wissenschaftlich denkenden Arzte eine schmerz¬ 
liche Zumutung sein. Die exakte, auf ein unter Glas und Rahmen 
konservierbares Dokument gestützte Diagnose soll hinter dem oft 
nur zu sehr von subjektiven Erwägungen abhängenden klinischen 
Symptomenbild zurückstehen. Aber eben daraus ergibt sich die 
wissenschaftliche Aufgabe der gynäkologischen Bearbeitung des 


*) Vgl. dazu Bumm: Die gonorrhoischen Erkrankungen der weiblichen 
Ham- und Geschlechtsorgane in Veits Handbuch der Gynäkologie. Wies¬ 
baden 1897. Bd. 1. S. 431. 


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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 


283 


Krankheitsbildes der weiblichen Gonorrhoe. Es muß dieses so¬ 
weit ausgearbeitet werden, daß es aus seiner jetzigen un¬ 
zureichend präzisierten Form genügend vervollständigt 
wird, um durch eine exakte Symptomatologie der weib¬ 
lichen Gonorrhoe die für alle forensen Zwecke aus¬ 
reichende Sicherheit der Diagnose zu gewährleisten. 
Damit wird der positive Wert des Gonokokkennachweises, wo er 
gelingt, keineswegs unterschätzt. Im Gegenteil wird dessen Vor¬ 
handensein als zwingender, jeden Zweifel ausschließender Beweis 
erscheinen. Aber davon können wir nach den in den mitgeteilten 
Untersuchungen gewonnenen Erfahrungen nicht abgehen: der heu¬ 
tige Stand der Technik des Gonokokkennachweises läßt 
leider für die Gonorrhoe der Frau die Beibringung des¬ 
selben nicht immer erwarten; andererseits läßt die kli¬ 
nische Beobachtung bei genügender Erfahrung unzweifel¬ 
haft auch ohne den bakteriologischen Nachweis genügende 
Sicherheit gewinnen. Es ist das um so wichtiger, als außer 
dem Bazillennachweis auch die Anamnese für die Begründung 
der Diagnose hier nur allzuoft ausscheidet. Nicht nur sind wir 
in der Lage, schon bei der Fragestellung an die Patientin 
aufs äußerste rückhaltend zu sein. Wir müssen uns ängstlich 
hüten, Verdacht zu wecken, wo das ganze eheliche Glück auf dem 
Spiele steht. Es ist nicht Sache des Arztes, gewaltsam den Konflikt, 
der hier, besonders im Anfang der Ehe nur zu nahe liegt, herbei- 
zuführen. Die Examinierung des Mannes durch den Arzt der Frau 
ist obendrein meistens wertlos; wenn Bismarck sein bekanntes Wort 
über die Gelegenheiten, bei welchen am meisten gelogen wird, 
zu wiederholen hätte, so müßte er den von ihm genannten dreien 
(vor einer Wahl, während eines Krieges, nach einer Jagd) jeden¬ 
falls die Unterleibsentzündung der Frau voranschicken. Das Hilfs¬ 
mittel, das dem Arzte bei der Feststellung von Tripperresten beim 
Manne zugebote steht, die provokatorische Beizung der Harn¬ 
röhre verbietet sich für den Frauenarzt in den meisten Fällen. 
Die Gefahr der Weiterverbreitung auf die inneren Organe ist eine 
viel größere, ihre Grenzen sind nicht zu beherrschen, ihre Folgen 
unabsehbare. Ist man doch gar nicht selten in der Lage, selbst 
von Behandlungsversuchen lieber abzusehen, als etwa die Möglich¬ 
keit herbeizuführen, daß eine gonorrhoische Endometritis nach 
einer lokalen Behandlung auf die Eileiter tibergreift. 

Es ist hier nicht der Ort, die geforderte Ausarbeitung eines 


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284 


Fleseh. 


exklusiven Krankheitsbildes, wie wir es erstreben zu müssen glauben, 
anzuschließen. Das Ziel dieser Ausführungen war ein kritisches, 
dessen Grenzen zu überschreiten wir heute noch nicht beabsichtigen. 
Der im Anfänge unserer Darlegungen geschilderte Widerspruch 
der Meinungen der Autoren über die uns beschäftigende Materie 
wird gewiß dazu führen, daß auch andere sich der gebieterisch 
eine Lösung verlangenden Aufgabe zuwenden: mag sich daraus 
eine bessere bakteriologische Ausgestaltung der Diagnostik ergeben 
— leider lassen die bisherigen Versuche kaum hoffen, daß eine 
den Hilfsmitteln des praktischen Arztes zugängliche Methode dabei 
zustande kommt — mag, was näher erreichbar zu sein scheint, 
eine schärfere Ausgestaltung des klinischen Bildes das Resultat 
werden. 

Für die Bekämpfung der gemeinschädlichsten unter 
den venerischen Erkrankungen, der aszendierenden weib¬ 
lichen Gonorrhoe wird auf diesem oder jenem Wege ein 
großer Fortschritt erstehen. Es wird möglich werden, 
den unter der fortgesetzten Reinfektion seitens des Ehe¬ 
mannes chronisch siechen Frauen durch Lösung der Ehe 
eine Heilungsmöglichkeit zu schaffen; man wird aufhören, 
wo Tripper des Mannes die Unfruchtbarkeit der Ehe be¬ 
wirkt hat, die Behandlung der Sterilität der Frau zur 
Quelle eines durch lange Jahre sich fortsetzenden Mar¬ 
tyrium zu machen, man wird den zu einer neuen Ehe 
schreitenden unschuldigen Opfern ungenügender Vor¬ 
sicht beim Eingehen der ersten Ehe neues Mißgeschick, 
neue Schuld ersparen. 


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Zur Verbreitung und Bekämpfung der venerischen 
Krankheiten. 

Ein kleiner praktischer Vorschlag von Dr. E. Holländer-Berlin. 

Eine der vornehmsten Aufgaben des Arztes ist es, sich den 
freien Blick über die Brillenbetrachtung des Einzelfalles hinaus zu 
bewahren, aus der Summe von Einzelbeobachtungen eine öffent¬ 
liche Bilanz zu ziehen und nicht allein im Wirbeltanz um den kassen¬ 
ärztlichen Bon oder die Konsultationsdoppelkrone seine Befriedigung 
zu finden. So scheint mir auch ein Teil der ärztlichen Misere und 
auch ein gutes Stück der Abwehrbewegungen zu sehr im Banne des 
Kleinbürgertums zu liegen und ohne Zug ins Große zu sein. Erst in 
letzter Zeit blickt man von freierer Warte, und manches geschah, 
um das gesunkene ärztliche Fundament zu stützen und zu heben. 

Zu den erfreulichen Momenten dieser Art rechnet die Wirk¬ 
samkeit, welche das von der Regierung lebhaft geförderte Zen¬ 
tralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen ausübt In dem 
sich an die Bekämpfung der übrigen Volksseuchen anschließenden 
Kampfe gegen die venerischen Krankheiten — ein Kampf, in dem 
die praktischen Arzte als „Freiwillige vor“ in der vordersten und 
exponiertesten Reihe kämpfen — nahm neuerdings der Herr Kultus¬ 
minister das Wort, indem er an den Vorsitzenden genannten 
Komitees ein Sendschreiben richtete, in welchem er einer gründ¬ 
lichen Fortbildung der Ärzte auf diesem Gebiet das Wort redet 
und ständige Kurse über das Wesen, die Verhütung, Bekämpfung 
und Heilung der Geschlechtskrankheiten empfiehlt. Da er sich in 
demselben an die Ärzte als Berater und Warner des Volkes wendet, 
so möchte ich eigene Erfahrungen und Anschauungen über diese Dinge 
zur Diskussion stellen. Man ist in den Jahren, in denen man sich 
mit der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten en masse beschäftigt 
hat, immer resignierter geworden und hat in der öffentlichen Belehrung 
und Aufklärung zuletzt das Heil gesehen. Was diese öffentliche Be¬ 
lehrung leisten kann in der Prophylaxe der Verbreitung, das lehrte 
mir ein kleines unscheinbares Geschehnis vor Jahren und hat mich 
für die Folgezeit auf ähnliche Fälle aufmerksam gemacht. 

Als vor einem Dezennium die Frage der Prostitutionsregulierung 
mit dem Nachdruck, den sie verdient, betrieben wurde, ging ich 
gerade mit einem unserer Spezialhygieniker auf diesem Gebiet in 


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286 


Holländer. 


der Dämmerstunde spazieren, und wir behandelten gewissermaßen 
diese Frage peripathetisch. Mein Begleiter erwärmte sich soeben 
für das Ideal der rücksichtslosen Massenaufklärung und sah in ihr 
bei dem offenbaren Fiasko der Zwangsmaßregeln die höchste Heil¬ 
note. Wir näherten uns der Klinik meines Begleiters, als dieser 
plötzlich unmotiviert den Straßendamm überschritt und geradezu 
konsterniert mir mitteilte, daß der Herr, der vor uns soeben sich 
einer Venns vulgivaga genähert habe, ein in seiner Klinik liegender 
an florider Lues leidender Patient der ersten Gesellschaftsklasse 
sei. Exempel genug dafür, daß das Tier in uns, um ein schlechtes 
Wort für eine schlechte Sache zu gebrauchen, stärker ist, als 
kenntnisreiche Überlegung und erhöhte soziale Stellung. Nachdem 
ich Derartiges in einem so dramatischen Augenblick erlebt hatte, 
wunderte ich mich später nicht mehr darüber, das Kind des Satans 
und der Borgia auf allen Gassen zu finden. Ich hatte das Wundem 
verlernt, als ich vor wenigen Jahren mich methodisch mit dem 
Schicksal einer großen Zahl von Syphilitischen im Primärstadium 
beschäftigte und wurde vor dem Fehler bewahrt, die bewußten 
Ansteckungen jugendlicher Arbeiter mit einem niedrigen Bildungs¬ 
grade in Beziehung zu bringen. Da waren welche, die sich noch 
während der Behandlung der Sklerose mit Ulcus molle infizierten, 
da waren mehrere, die mit knapp verheiltem Affekt in die Ehe 
gingen, da waren welche, die während der Schmierkur trotz sicher 
nicht fehlender Warnung und Beratung andere infizierten. Denn 
offenbar ist der Trieb stärker wie der Hunger bei vielen Individuen. 

Wohl jeder, der in seinem ärztlichen Beruf Kranke dieser Art 
zu* behandeln Gelegenheit hatte, wird in der Maske des Georges aus 
Brieuxs Les Avariös das Bild früherer Klienten sehen. Eine un¬ 
leugbare Tatsache ist es: Die Aufklärung der Gefahren mag als 
adjuvans dienen, sicher aber nicht als entscheidende Handhabe. 
Die sicherste Stütze in diesem Kampfe ist die Heilkunst selbst 
Doch sehen wir uns zunächst noch einmal die Aufklärungsmittel 
an. Öffentliche Vorträge nud Versammlungen. Wohin solche 
führen, das sahen wir, als neulich die deutsche Gesellschaft zur 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten sich gegen die Kur¬ 
pfuscher wandte, die ja bekannterweise dies Behandlungsgebiet 
ursurpiert haben; da hatten die interessierten Charlatane das 
Oberwasser, und nach verschiedenen Zeitungsnotizen muß es 
recht schlimm dort hergegangen sein. 

Eine solche Versammlung, in der die ärztliche Prärogative 


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Zur Verbreitung und Bekämpfung der vernerischen Krankheiten. 287 

Schiffbruch leidet, schadet vielmehr als viele mit der nötigen 
Machtentfaltung inszenierte ärztliche Brandreden. Überhaupt sollte 
man es sich versagen, mit Volksbeglückem, Ahstinenzpredigem 
und andern Schwärmern in Diskussion zu treten. Der Arzt soll 
handeln und nicht reden. 

Eins ist außerdem sicher: In solche Versammlungen gehen 
nur Interessenten; die breite Masse des Volkes geht ebensowenig 
in eine solche Versammlung, als in Brieuxs Theaterstück. Gewiß 
hat da der gewandte Verfasser der roten Robe uns in dramatischer 
Form und Umhüllung das mißfarbige Nacktgemälde der Lustseuche 
mit ihren körperlichen und sozialen Folgezuständen geschildert, aber 
was gänzlich den lobenswerten Zweck des Stückes vereitelt, ist der 
vollkommen fehlende demagogische Zug, der die Massen hinreißt, 
und sein Werk sowohl als Stück wie auch als Buch fesselt nur 
das neugierige Interesse einer emanzipierten höheren Tochter. 

Auch die Zettelverteilung mit hygienischen Vorschriften und 
Ratschlägen in Fabriken und Massenlokalen hat nur den zweifel¬ 
haften Wert eines Taschentuches, wenn man keinen Schnupfen hat 

Will man die Aufmerksamkeit, wenn ich so sagen darf, haufen¬ 
weise diesen Dingen zuwenden, so sollte man sich historische Er¬ 
fahrungen zu Nutzen machen und solche Mahnungen in ein auf¬ 
fallendes Gewand kleiden. Ich erinnere an die Sturmbewegung, 
die seinerzeit der englische Moralist und Satiriker Hoghart in die 
Trunksuchtbewegung brachte durch sein Flugblatt „Das Schnaps- 
gäßchen“, wie er in ähnlichen Blättern vor der englischen Grausam¬ 
keit warnte. Diesen Weg scheint neuerdings die Antialkohol¬ 
bewegung gehen zu wollen: Allerorten Reklametafeln aufzuhängen 
oder zu verteilen, auf denen die Folgen der Trunksucht und der 
Nüchternheit in epigrammatischer Schärfe und interessanter Gemein¬ 
verständlichkeit skizziert sind. Sicher ist diese Form der Publi¬ 
zistik besser als Reden und Verordnungen, denn fesselnde Bilder 
erregen die Neugier, Druckerschwärze allein genügt schon lange 
nicht mehr der Reklame. Aber so sehr ich auch von der schnell 
wirkenden Macht satirischer und aufreizender Flugblätter und 
Plakate überzeugt bin, auf dem Gebiete der Venus und Bachus 
kommt ihnen nur Nietenwert zu; ja es kann sogar durch sie 
Schaden angerichtet werden durch eine Unterstützung der Selbst¬ 
ironie und völligen Enteignung der Ideale. 

Jedenfalls scheint mir, daß die Warner- und Beratertätigkeit 
des Arztes nur dann prophylaktische Triumphe feiern kann, wenn 


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288 


Holländer. 


wir ärztlich die Situation beherrschen und auch therapeutische 
Fortschritte machen. 

Wenn wir einmal dem Leidensweg eines syphilitisch Gewordenen 
nachgehen, so kommen wir zu der unangenehmen Überzeugung, daß 
es nicht so wunderbar ist, wenn eine große Anzahl solcher Kranken 
in das Lager der Kurpfuscher überlaufen. Die Behandlung in den 
ersten Wochen ist meist eine dilatorische, da man keine objektiven 
Symptome kennt oder kannte, die Spezifität des Ulcus beim ersten 
Auftreten festzustellen. In dieser Zeit wandert der Kranke er¬ 
fahrungsgemäß von einem Arzt zum andern, und der zuletzt Kon¬ 
sultierte wundert sich dann, daß der erste nicht sofort die Diagnose 
gestellt hat. Ist nun aber die Diagnose sicher, dann erfährt der 
unglückliche Patient, daß man jetzt abwarten müsse, bis das 
Sekundärstadium auftrete, in der man erst gegen die Krankheit 
wirksam Vorgehen könne, ein in der ganzen Pathologie unerhörter 
Vorgang, der ungefähr damit in Parallele zu setzen wäre, daß ein 
Chirurg bei einem zweifelhaften Mammatumor erst die Entwickelung 
einer Achseldrüsenkette abwartet, um zum Messer zu greifen. So 
geht der Infizierte, gering gerechnet, 6 Wochen mit einem hoch¬ 
virulenten Infektionsherd herum und hat dabei das bestimmte 
Gefühl, daß nichts gegen seine Krankheit geschieht. Die dann 
später eingeleitete Schmierkur muß der Arzt natürlich dem niederen 
Heilpersonal überlassen, so daß man sich wirklich nicht wundern 
soll, wenn hier der Kurpfuscherweizen blüht. Meiner Ansicht nach 
ist das ganze Heil in der Bekämpfung dieser Volksseuche allein 
von einem therapeutischen Fortschritt zu erwarten, der ein aktiveres 
und früheres Eingreifen des Arztes motiviert. Ich will an dieser 
Stelle keineswegs für die Präventivbehandlung mit der kontaktlosen 
Kauterisation oder mit einer andern Methode Propaganda machen, 
und muß deren Wertschätzung den nachprüfenden Untersuchungen 
anderer überlassen. Ich will hier nur noch einmal den nicht zu 
unterschätzenden Vorteil der Methode auf diagnostischem Gebiet 
in der günstigen Beeinflussung des Lokalherdes und in 
psychischer Beziehung betonen. Der mit einem zunächst nicht 
bestimmbaren Ulcus Behaftete erfährt sofort eine chirurgische 
Hilfe und damit gleichzeitig die diagnostische Sicherheit seines 
Zustandes. Mit dieser verbindet sich der nicht zu unterschätzende 
Nutzen, daß das unreine Geschwür in ein reines verwandelt wird, 
wodurch natürlich die Ansteckungsgefahr vermindert wird. 

Durch die Möglichkeit einer Präventivkur kommt der Patient 


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Zur Verbreitung und Bekämpfung der venerischen Krankheiten. 289 

in ein seelischeres Gleichgewicht, daß ihn alle späteren Konse¬ 
quenzen besonnener ertragen läßt. 

Auf alle Fälle hat der hygienische Staat das allergrößte Inte¬ 
resse gerade die mit Primäraffekten Betroffenen möglichst früh¬ 
zeitig in ärztliche Behandlung zu bekommen. Erstens weil nach 
Zustimmung aller die präventive Möglichkeit in den ersten Früh¬ 
stadien an Wahrscheinlichkeit zunimmt und dann auch, weil dadurch 
eine Minderung der Infektionsgefahr eintritt und ferner weil, wie jeder 
Kenner weiß, das Schicksal der Luischen meist von der Zweckmäßig¬ 
keit der ersten Kur abhängt: es kommt eben sehr viel darauf an, ob 
das Merkurpulver im rechten Moment abgeschossen wird. Alles drängt 
dazu, die Patienten frühzeitig in Behandlung zu bekommen, bevor von 
ungeübter Hand die Wunden verschmiert und gereizt sind. Um dies 
zu erreichen, breche man zunächst endgültig mit dem Prinzip, von 
geheimen und verschuldeten Krankheiten zu sprechen. 

Ärzte von Kassen, die für Geschlechtskrankheiten Sonder¬ 
bestimmungen haben, kommen natürlich in den Verdacht, diesen 
Mißgriff zu verteidigen, und die Erkrankten schleichen lieber die 
Hintertreppen zu den Pfuschern hinauf. Zu manchen andern Rat¬ 
schlägen, die nach dieser Richtung gehen, möchte ich noch einen 
einfachen Vorschlag machen, der meiner Ansicht nach von enormer 
Tragweite und praktischer Bedeutung ist Ich schlage vor, auf 
allen öffentlichen Retiraden und Aborten Plakate innen- 
wärts anzubringen, im Falle einer Geschlechtserkrankung 
sich an eine näher zu bestimmende Stelle zu wenden. 
Zuerst sah ich die Benutzung dieser Prädilektionswand zu ähn¬ 
lichen Zwecken in Buenos Aires als zweckmäßige amerikanische 
Reklame eines Urologen, später massenhaft in Paris als Annoncen¬ 
träger für Medikamente etc. Mir scheint es eine durchaus würdige 
Aufgabe einer Rettungsgesellschaft zu sein, den ahnungslosen Opfern 
einer so verbreiteten Volksseuche den richtigen Weg zu weisen. Auf 
den Wachen für erste Hilfe erfährt der Patient den Nachweis der 
geeigneten ärztlichen Behandlung seines Distriktes in einer von den 
beteiligten Ärzten zu arrangierenden Form. Unterschätze man dies 
Mittel nicht Es ist ein aktiveres Mittel im Kampf gegen diese 
Seuche und gleichzeitig gegen das Unwesen der Kurpfuscher auf diese 
im Gebiet als Einzelbelehrungen und akademische Reden auf dem 
Rathause. Gleichzeitig erscheint mir es durchaus als würdige Auf¬ 
gabe einer Rettungsgesellschaft, denn es kann einem auf der Straße 
noch etwas schlimmeres passieren, als den Arm zu brechen. 


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Referate. 

Symptomatologie und Pathologie der Syphilis. 

Dp« zur Verth 9 Marine-Oberassistenzarzt Die Syphilis der Europäer in den 
tropischen Gegenden der ostamerikanischen Küste. Archiv für Schiffs- und 
Tropenhygiene. H. 8 . 1904. 

Verf. hatte an Bord eines Kriegsschiffes Gelegenheit 30 Fälle von 
im Ausland erworbener Syphilis von Anfang an zu beobachten. Er 
konnte an dem der Beobachtung stets zugänglichen Material feststellen, 
daß tatsächlich in dem Verlauf und der Schwere der Erscheinungen Unter¬ 
schiede gegenüber den in Deutschland beobachteten Fällen bestehen. 

Bei 47 °/ 0 der Fälle ging der Induration ein weiches Schankerge¬ 
schwür voraus. Die Häufigkeit des weichen Schankers ist auf die gün¬ 
stigen Existenzbedingungen für eitererregende Pilze in den Tropen, die 
mangelhafte Reinlichkeit und die Indolenz der Bevölkerung zurückzu¬ 
führen, welche derartigen Geschwüren nur geringe Bedeutung beilegt 
und nichts zu ihrer Heilung unternimmt. 

Die vielfach angeführte Beschleunigung des Verlaufes der Syphilis 
iu den Tropen war nicht festzustellen; vielmehr bot der zeitliche Ab¬ 
lauf der einzelnen Erscheinungen keine Abweichung gegenüber dem in 
Deutschlaud üblichen. 

Die Sekundärerscheinungen waren im allgemeinen schwer. Beson¬ 
ders traten Schmerzen in den Knochen, Muskeln und Gelenken in den 
Vordergrund. Schleimhauterscheinungen waren äußerst selten. Recidive 
waren häufig und schwer. Tertiärsymptome konnten bei der kurzen 
Beobachtungsdauer (2 Jahre) nicht beobachtet werden. Die Behandlung 
begann mit Schmierkuren und wurde bald mit Jodkali fortgesetzt; z. T. 
wurde beides gleichzeitig angewandt. Gegen das Fieber und die Knochen¬ 
schmerzen zeigte Jodkali in Dosen von 3 —b gr. eine vorzügliche Wirk¬ 
samkeit. Die Hautpflege erforderte dabei besondere Sorgfalt. 

Die günstige Wirkung eines Klimawechsels hält Verf. für nicht er¬ 
wiesen. Besonders ließen auch Rücksichten auf Familienverhältnisse die 
Heimkehr als nicht ratsam erscheinen. 

Für den im allgemeinen schwereren und durch das Hervortreten 
bestimmter klinischer Symptome ausgezeichneten Verlauf vermag der 
Verf. keine ein wandsfreie Erklärung zu geben. Dr. Dohrn, Cassel. 

Populäres. 

Paul Meissner. Die Gonorrhöe, ihre Gefahren und ihre Heilung. Berlin 1904. 

Paul Nitschmann. 

Erscheinungen, Übertragungsweise, Bedeutung, Verhütung und Be¬ 
handlungsarten des Trippers werden knapp und doch erschöpfend, be¬ 
lehrend und doch fesselnd, streng wissenschaftlich und doch gemein- 


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Referate. 


291 


verständlich^dargesteilt. Die aufmerksame Lektüre der kleinen Schrift, 
deren Preis von 1 Mark die Anschaffung ja weiten Kreisen ermög¬ 
licht, dürfte manch einem zu Nutz und Frommen gereichen. 

Dr. Max Marcuse. 

I. Hastreiter. Die Geschlechtskrankheiten des Mannes. Seitz und Schauer. 
München. 

Das recht geschmackvoll ausgestattete Buch bringt in der Einleitung 
eine kuappe und klare Schilderung der anatomischen Verhältnisse, und 
gibt dann eine gemeinverständliche Darstellung nicht nur der venerischen 
.Leiden, sondern der Krankheiten der Geschlechtsorgane überhaupt, sowie 
der sexualen Anomalien, Neurosen und Perverzitäten. Besonders berück¬ 
sichtigt der Verfasser die Prophylaxe, namentlich die individuelle und 
medizinische, aber auch die Pathologie und Therapie wird eingehend 
erörtert — eingehender, als es nach Ansicht des Ref. für den Laien 
notwendig und nützlich ist. Auch die Art der Besprechung erscheint 
nicht immer als die zweckmäßigste, insofern der Verfasser in denjenigen 
Prägen, die noch in der Diskussion stehen, zu sehr Partei ergreift; da¬ 
durch könnte er dem Arzte, der anderer Meinung ist als er und einen 
Patienten in Behandlung bekommt, der Hastreiters Buch kennt, Un¬ 
gelegenheiten bereiten, die allen Beteiligten zum Schaden gereichen. 

Trotz dieser Mängel, denen in einer neuen Auflage leicht abgeholfen 
werden könnte, ist das Buch, das von großem Fleiß, gründlichen Kennt¬ 
nissen und reichen Erfahrungen beredtes Zeugnis gibt, ein sehr verdienst¬ 
volles Werk, das im Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten, gegen 
das Kurpfuschertum, gegen die «Sünden wider die Gebote der Hygiene 
überhaupt Vortreffliches zu leisten vermag. Max Marcuse (Berlin). 

Öffentliche Prophylaxe. 

Welander. Zur Frage: Wie kann der sozialen Gefahr entgegengetreten werden, 
die eine luetische Gravidität mit sich führt? (Hygiea, März 1903.) 

Autor resümiert die Geschichte dieser Frage in Schweden. Im 
Jahre 1718 findet man in der schwedischen Literatur den ersten Bericht 
von kongenitaler Syphilis und von Übertragen der Krankheit von Neuge¬ 
borenen auf Säugammen. Dieser Infektionsmodus hat im achtzehnten 
Jahrhundert eine große Rolle gespielt bei der Verbreitung der Seuche 
auf dem Lande m der Nachbarschaft Stockholms, ln den ersten 
Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts tritt eine erschreckende Zunahme 
der Zahl der infizierten Ammen ein. Von 1887 bis 1846 wurden in 
Stockholms „Kurhaus* 4 148 Säugeammen behandelt, die von Säuglingen 
im Findelhause und in der Stadt angesteckt waren. Welander gibt 
die Schuld hieran der unter Ärzten und Publikum verbreiteten Ricord- 
schen Lehre von der Nichtinfektiosität der tertiären Manifestationen und 
der kongenitalen Syphilis. Nachdem 184Ö ein von der Schwedischen 
Ärztegesellschaft konstituiertes Komitee sich gegen diese Ricordsche 
Lehre ausgesprochen und die Unzulässigkeit des Stillens syphilitischer 
Kinder durch gesunde Säugammen festgestellt hatte, ging die Zahl der 


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292 


Referate. 


im Kurhause behandelten, durch Stillen infizierten Ammen im folgenden 
Quinquennium auf 9 hinab. 

Nachdem ist die Seuche, dank der kostenfreien Krankenhausbehandlung 
der Geschlechtskranken in Schweden, auf dem Lande zurückgegangen und 
kommt jetzt nur selten vor. Auch in Stockholm kann ein Abnehmen 
konstatiert werden, und W. glaubt hier der Prostituiertenuntersuchung 
großen Nutzen beimessen zu dürfen. 

Nach diesem geschichtlichen Überblick geht W. zum Thema über. Ein 
zuverlässiges Mittel zur Bekämpfung der von einer luetischen Schwanger¬ 
schaft aus entstehenden Gefahr hat man in einer konsequent durchgeführten 
spezifischen Behandlung der kranken Frau. W. huldigt der präventiven 
intermittierenden Quecksilberbehandlung (mit MercuriolSack) als für Gra¬ 
vide besonders zweckmäßig. Dank der unentgeltlichen Krankenhausbe¬ 
handlung Geschlechtskranker hat W. im Krankenhaus „St. Göran“ eine 
präventive Behandlung bei einer großen Reihe von Schwangeren durch¬ 
führen können, „die alle reife symptomfreie, kräftige Kinder gebaren.“ 

Auch die von Seiten der hereditär-luetischen Kinder drohende 
soziale Gefahr kann durch konsequente spezifische Behandlung aller, 
auch scheinbar gesunder Kinder von luetisch infizierten Eltern mit Er¬ 
folg bekämpft werden. — W. faßt es als eine Aufgabe der Gesellschaft 
auf, sich dieser Kinder anzunehmen. In einem kleinen Asyle, das er 
selbst hat einrichten lassen, hat er 14 hereditär-syphilitische Kinder 
durch 1 bis 3 Jahre intermittent-präventiv (mit Hg-Sack) behandelt, 
von denen nur eines noch nach der Behandlung ein Symptom der Krank¬ 
heit gezeigt hat, und die sich alle gut und kräftig entwickeln. — Weiter 
empfiehlt Verf. gesetzlich geregelte Kontrolle aller Säugammen und aller 
in Verpflegung gebrachten Kinder. H. Hansteen (Christiania). 

Individuelle Prophylaxe. 

Blokusewski. Dermatol. Zentralblatt 1904, 1. 

Während Blokunowski in Nr. 6 (Dermatolog. Zentralbl. 1903) 
das Einträufelungs-Verfahren im allgemeinen, d. h. Applikation 
tropfbar flüssiger Lösung gegenüber salbenartigen oder gar noch 
festeren Substanzen, bevorzugt, empfiehlt er jetzt auf Grund seiner durch 
Piorkowski bestätigten Versuche das Albargin, weil dieses bereits in 
5°/ 0 Lösung die Gonococcen sofort tötet (Feibes Protektor erst in 30 
Sekunden.) Trotzdem läßt er zur größeren Sicherheit seine Apparate 
Samariter und Amicus mit 10 °/ 0 Lösung füllen, dagegen die für Einzel¬ 
gebrauch bestimmten sog. „Sanitaskelcbe“ nur mit 8°/ 0 , weil dieselbe 
gegen jede Art von Zersetzung geschützt sind. 

(Bei dieser Gelegenheit rollt er auch die Prioritätsfrage auf, zumal 
erst durch sein 1895 angegebenes Verfahren die individuelle Prophy¬ 
laxe in Fluß gekommen ist) Autoreferat 

Erich Schultze. Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten, speziell des Trippers. 

Deutsche mediz. Wochenschr. 1902, S. 815. 

In diesem lesenswerten Artikel bespricht Schultze die indivi¬ 
duelle Prophylaxe, welche durch Maßnahmen, die der Einzelne an sich 


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Referate. 


293 


selbst vornimmt, gegen venerische Infektionen Schutz gewähren soll. 
Von dem Gebrauch des Condoms und den von Beerwald empfohlenen 
Einreibungen mit Unguentum cinereum erwartet er keinen genügenden 
Schutz gegen Syphilis und weichen Schanker; besser erscheinen ihm 
schon Seifen Waschungen und darauf folgende antiseptische Waschungen 
des Gliedes beim Manne und Vaginalirrigationen bei der Frau, zumal 
wenn nach Neissers Vorschlag vor dem Coitus eine gründliche Ein¬ 
fettung der Genitalien gemacht worden ist. Noch günstiger wirkt die 
indiyiduelle Prophylaxe gegenüber der Tripperinfektion. Die von Blo- 
kusewski empfohlene 2proz. Höllensteinlösung erscheint ihm nicht 
reizlos genug und verursacht nicht nur Brennen, sondern mitunter auch 
Urethritis. Reizlos und vollkommen ausreichend zur Abtötung der Gono¬ 
kokken ist dagegen die von Frank u. a. empfohlene 20proz. Protargol- 
lösung. Für besonders handlich und empfehlenswert hält er das unter 
dem Namen „Viro“ in den Handel gebrachte Prophylakticum. Ein 
kleines mit 20proz. Protargolgelatinelösung gefülltes Zinntübchen dient 
für jede einzelne Schutzeinträufelung. Die Konsistenz der Protargolmasse 
ist vorzüglich, ein Versagen der Tuben bei der Zweckmäßigkeit und 
Einfachheit der Konstruktion ausgeschlossen. Außer mehreren Zinn¬ 
tübchen enthält das Virobesteck eine größere Tube mit antiseptischer 
Crfeme, welche Infektionen mit Schanker- oder Syphilisgift Vorbeugen soll 
und aus Seife, Wachs, Glycerin, Lanolin mit lproz. Formalinzusatz besteht; 
diese Crfeme macht die Haut geschmeidig, verhütet also Verletzungen und 
überzieht die Epidermis mit einer feinen elastischen Schutzdecke. 

Die Anwendung geschieht in der Weise, daß vor dem Coitus der 
Penis mit Virocrfcme eingerieben wird; nach dem Coitus wird Urin 
gelassen und das Glied gründlich mit Seife gewaschen und nun ein 
Protargolgelatinetübchen mit dem abgerundeten Kopfstück in die Harn¬ 
röhrenöffnung gebracht, und sein Inhalt durch Druck mit dem Daumen 
und Zeigefinger in dieselbe gepreßt. Hofftnann. 


Pädagogisches. 

Nellie-Grimm. Mutier und Kind. J. Ricker. Gießen. 

Das Büchelchen, das außerordentlich geschmackvoll, man darf fast 
sagen: vornehm ausgestattet ist — ein Verdienst, das dem Verlag um 
so höher angerechnet werden muß, als der Preis nur 7 5 Pfennig beträgt 
— erörtert die zur Zeit im Vordergründe aller pädagogischen Interessen 
stehende Frage: „Wie man heikle Gegenstände mit Kindern behandeln 
kann u in einer heute freilich nicht mehr neuen, aber noch immer an¬ 
regenden Art, die von einem liebevollen Beobachten der kindlichen Psyche 
erfreuliches Zeugnis gibt. Gleichwohl erscheint mir zweifelhaft, ob die 
Verf. in ihren Ausführungen immer das Richtige trifft;; so vermag ich 
z. B. nicht zuzugeben, daß eine so spezielle Vorlesung über die Physio¬ 
logie und Anatomie der Geschlechtsorgane, wie Nellie sie wünscht, dem 
Kinde notwendig oder auch nur nützlich ist Hinsichtlich der Dar¬ 
stellung fallen einige Breiten, im Stil einige Härten auf, an denen aber 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechts kr ankh. XL 22 


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294 Tagesgeschichte. 

vielleicht nicht die holländische Verf., sondern der deutsche Übersetzer 
die Schuld trägt. Max Marcuse (Berlin). 

Ci Rosenkranz. Ober sexuelle Belehrung der Jugend. Praxis der Volks¬ 
schule. 1908. 8. 

Der Verf. — ein praktischer Schulmann — fordert die systematische 
Aufklärung der Jugend und bespricht die nach seiner Ansicht am 
meisten empfehlenswerten Bücher und Broschüren, welche die Frage er¬ 
örtern, wie die Belehrung der Kinder am zweckmäßigsten erfolgen 
müsse. Von den Schriften, die Rosenkranz einer besonders eingehenden 
und wohlwollenden Kritik unterzieht, ist ein Teil auch schon in dieser 
Zeitschrift gewürdigt worden. Von den übrigen seien hier folgende er¬ 
wähnt: A. Herzen, Wissenschaft und Sittlichkeit. — J. A. Koch, 
Die Vermehrung des Lebens. — C. S. Kapf, Warnung eines Jugend¬ 
freundes. Ma— 


Tagesgeschichte. 

Deutschland. 

Berlin. Eine wissenschaftliche Expedition wird in hiesigen 
ärztlichen Kreisen im Interesse der Bekämpfung der Syphilis geplant. 
In neuerer Zeit ist es am Institut Pasteur in Paris dem Prof. Metschnikow 
und scheinbar auch in Berlin dem Professor Oskar Lassar ge¬ 
lungen, Syphilis durch Überimpfung auf Affen zu übertragen. Der 
von Prof. Lassar geimpfte Affe wurde dann von ihm dem Berliner 
Aquarium geschenkt und dort ist der vierhändige Märtyrer der Wissen¬ 
schaft von vielen Ärzten besucht und beobachtet worden. Diese Ver¬ 
suche an Affen haben nun zur Erörterung der Frage Anlaß gegeben, 
ob es auf diesem Wege möglich wäre, ein wirksames Schutz- und Heil¬ 
serum gegen die Syphilis herzustellen. Die Frage ist vom Standpunkt 
der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von größter praktischer Be¬ 
deutung und verdient es, in umfassenderem Maßstabe als bisher verfolgt 
zu werden. Hier diese Versuche in dem erwünschten Umfango anzu¬ 
stellen, verbietet sich aus dem Grunde, weil es mit zu vielen Schwierig¬ 
keiten verbunden ist, die für die Versuche geeigneten anthropomorphen 
Affen hierher zu bringen, und weil sie in unserem rauhen Klima rasch 
an Tuberkulose zugrunde gehen. Deshalb ist man dem Gedanken 
näher getreten, eine wissenschaftliche Expedition in die Urheimat dieser 
Affen zu entsenden, nach Borneo und Sumatra, um dort an Ort und 
Stelle die bakteriologischen Untersuchungen und Uebertragungsversuche 
zur Gewinnung eines Heilserums, wie etwa des Diphtherie-Heilserums 
anzustellen. Hoffentlich gelingt es, für diese Aufgabe die geeigneten 
Kräfte und die erforderlichen Mittel, die selbstverständlich nicht gering 
sein werden, aufzutreiben. 

Ch&rlottenburg. Die Bedeutung des Schlafstellenunwesens für 
die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten ist hinlänglich bekannt, n&ment- 


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Tagesgeschichte. 


295 


lieh seitdem auf dem Frankfurter Kongreß unserer Gesellschaft dem 
Wohnungselend der Großstädte die ganz besondere Aufmerksamkeit zu¬ 
gewendet wurde. Auf diesem Kongreß hatte Wolf Becher u. a. die 
Schaffung von Ledigenheimen befürwortet, eine von ihm übrigens 
schon früher gegebene Anregung, die jetzt gute Früchte tragen zu sollen 
scheint. 

Die Errichtung eines Ledigenheims in Charlottenburg 
ist nämlich nunmehr aller Voraussicht nach gesichert. Über den 
Stand der Sache verhandelte ein zu diesem Zwecke zusammengetretenes 
Komitee unter der Leitung des Professors Gierke im Charlottenburger 
Rathause. Wie der Vorsitzende des Komitees und Stadtrat Samter 
mitteilte, ist man von zwei früheren Plänen zurückgekommen. Der 
eine war darauf gerichtet, in einem Mietshause ein Ledigenheim ein¬ 
zurichten, der andere bezweckte die Erstehung eines Ledigenheimes 
mit Hilfe der Berliner Baugenossenschaft. Von dem geschäftsführenden 
Ausschüsse ist ein dritter Plan ausgearbeitet worden, dessen Ver¬ 
wirklichung bereits in die Wege geleitet ist Seine Grundlage ist, 
daß die Stadt Charlottenburg das Grundstück für das Le¬ 
digenheim erbaut, und zwar mit einem bei der Landes¬ 
versicherungsanstalt Brandenburg aufzunehmenden Darlehen. 
Der Leiter der Landesversicherungsanstalt Brandenburg Landrat Meyer 
hat sich bereits zur Hergabe des Darlehns bereit erklärt, sodaß die 
Stadt keine Aufwendungen zu machen hat. Die Kosten für die innere 
Einrichtung bringt ein Verein auf, der auch pachtweise das Ledigen¬ 
heim übernimmt und dessen Verwaltung führt. Im einzelnen schlägt 
der geschäftsführende Ausschuß vor, in der folgenden Weise vorzugehen: 
1) Die Stadtgemeinde Charlottenburg erbaut mit einem bei der Landes¬ 
versicherungsanstalt Brandenburg aufzunehmenden Darlehn auf ihrem 
Grundstück in der Nehringstraße nach den bereits vorliegenden Skizzen 
die bei 880 Betten mit einem Kostenüberschlage von 885000 Mk. ab¬ 
schließen, ein Ledigenheim und vermietet es auf 5 Jahre an den Ein¬ 
getragenen Verein zur Begründung von Ledigenheimen. 2) Der Verein 
bringt die zur inneren Einrichtung erforderlichen Kosten, sowie das 
nötige Betriebskapital, d. h. bei voller Einrichtung für 880 Betten etwa 
50—60000 Mk. auf und zahlt an die Stadt für die ersten 8 Jahre 
4 Proz., für die beiden letzten Jahre 5 Proz. der Bausumme als 
Miete. 3) Die Stadtgemeinde gestattet dem Verein einzelne Teile des 
Gebäudes, solange ein Bedürfnis, auch sie für das Ledigenheim zu be¬ 
nutzen, nicht besteht, anderweit zu gewerblichen Zwecken zu vermieten. 
Werden diese Teile für das Ledigenheim gebraucht, so übernimmt die 
Stadtgemeinde die Verpflichtung, sie dementsprechend herzustellen; der 
zu zahlende Mietspreis erhöht sich von ihrer Herstellung ab um 4 
(oder 5) v. H. der dazu erforderlichen Baukosten. Wichtig ist die Mit¬ 
teilung des Oberbürgermeisters Schustehrus, daß die städtischen Be¬ 
hörden Charlottenburgs dem zustimmen werden, daß die Stadtgemeinde 
sich in der Weise an der Durchführung beteilige, wie in dem Plane des 
geschäftsführenden Ausschusses vorausgesetzt wird. Das zur inneren 
Ausstattung des Ledigenheimes und zum Betriebe desselben erforderliche 

22 * 


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296 


Tagesgeschichte. 


Kapital soll im wesentlichen durch die Ausgabe von Anteilscheinen und 
Vereinsbeiträge zusammengebracht werden. Stadtverordneten-Vorsteher- 
Steil Vertreter Kaufmann betonte, daß sich der Bürgersinn sicher in der 
Weise bestätigen werde, daß das Ledigenheim zustande kommt. Die 
wohlhabenden Charlottenburger Bürger würden sich bewußt sein, daß es 
sich bei der Errichtung des Ledigenheims um die Verwirklichung einer 
ungemein wichtigen und sehr lohnenden Aufgabe handle. Ohne ihre 
werktätige Mithilfe würde aber das Ledigenheim nicht entstehen können. 
Nach den in der Sitzung vorgelegten Plänen werden den Hauptteil des 
Ledigenheims groß angelegte Säle bilden, ln diesen sollen nach dem 
Muster der Londoner Rowtonhäuser und des jüngst eröffneten Frank¬ 
furter Ledigenheimes verschließbare Kojen eingerichtet werden. Jeder 
Mieter kann sich in seiner Koje ganz nach seinem Belieben von den 
übrigen Insassen des Saales absondem. Die Einrichtung von Kojen an¬ 
statt von kleinen Zimmern bietet den wesentlichen Vorteil, daß ausgiebig 
für Luftemeuerung gesorgt werden kann. Vorgesehen ist die Einrich¬ 
tung von Bädern, Versammlungsräumen, Spiel- und Lesezimmern und 
die Anlage von zu vermietenden Werkstätten für einen Schuhmacher, 
Schneider usw. und eines Barbierladens. Der geschäftsführende Aus¬ 
schuß wurde damit betraut, den von ihm vorgeschlagenen Plan auszu¬ 
führen. Schließlich wurde der Verein zur Errichtung von Ledigen¬ 
heimen gebildet. Der Mindestbeitrag wurde auf 5 Mk. jährlich fest¬ 
gesetzt; immerwährende Mitglieder haben mindestens 100 Mk. zu zahlen. 
In den Vorstand des Vereins wurden gewählt: Stadtverordneter Paul 
Hirsch, Stadtverordnetenvorsteher-StellVertreter Kaufmann, Landrat 
Meyer, Stadtrat Samter und Stadtverordneter Stücklen. (Voss. Ztg., 
28. März er.) 

Eisenach. Eine bedeutungsvolle Entscheidung wurde anfangs Fe¬ 
bruar vom Schöffengericht in Eisenach gefällt. Ein Arbeiter, welcher 
mit einer ansteckenden Krankheit behaftet war, hatte mit einem bis da¬ 
hin unbescholtenen Mädchen intimen Umgang gepflogen. Da sich die 
Krankheit auf dasselbe übertragen hatte, wurde es ins Krankenhaus ge¬ 
bracht. Die Staatsanwaltschaft erhielt Kenntnis hiervon und erhob im 
Öffentlichen Interesse Anklage gegen den Mann, der dann vom Schöffen¬ 
gericht wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Monaten Gefängnis 
verurteilt wurde. 


Österreich. 

Wien. Die Gründung einer Gesellschaft zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten wurde im wissenschaftlichen Klub in 
Wien in der Sitzung vom 80. März d. J. erwogen und ein vorbereitendes 
Komitee gewählt, um einen Verein nach dem Muster der deutschen Ge¬ 
sellschaft ins Leben zu rufen. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 


Band 2. 1903/4. Nr. 8. 


Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 

Von 

Mag.-Assessor Dr. F. Schiller (Breslau). 

Das Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 
2. Juli 1900, das seit dem 1. April 1901 in Kraft ist, hat man überall 
in Preußen als eine soziale Tat ersten Ranges gepriesen. Und das mit 
Recht. Ist doch das Gesetz der Ausdruck hoher sozialpolitischer Ein¬ 
sicht! Man begnügt sich nicht mehr damit, das geschehene Verbrechen 
zu sühnen, den fertigen Verbrecher für seine Tat zu bestrafen. 
Man will tiefer greifen, dem Übel an die Wurzel gehen, indem 
man das Entstehen des Verbrechens und der Prostitution zu ver¬ 
hindern sucht. Die kriminalpolitische Behandlung des Ver¬ 
brechens ist einer sozialpolitischen gewichen. Wie die moderne 
medizinische Wissenschaft ihr Hauptaugenmerk auf die Vorbeugung 
und Verhütung der Krankheiten richtet, so will das Fürsorge¬ 
erziehungsgesetz dem Dirnen- und Verbrechertum, den Krankheiten 
am Volkskörper, durch vorbeugende Maßregeln entgegenwirken. 
Es will gesunde Lebensverhältnisse, die Möglichkeit einer geordneten 
Erziehung für alle Jugendlichen schaffen, die in ihrer sittlichen 
Entwickelung gefährdet sind. 

I. 

Die Prostitution ist wie das Verbrechertum ein soziales Übel, 
das sich wohl nie ganz aus der Welt wird schaffen lassen. Das 
lehrt die Geschichte der Prostitution zur Genüge. Alle Versuche, 
die Prostitution durch Strafmaßregeln zu beseitigen, sind kläglich 
gescheitert. Je mehr die öffentliche Prostitution strafrechtlich 
verfolgt wurde, desto üppiger blühte die bei weitem gefährlichere 
Winkelprostitution. Parent du Chatelet, der größte Kenner der 
Prostitution in Paris, nennt sie in einer Menschenansammlung so 
unvermeidlich wie die Kloaken, Abdeckereien und Abortgruben. 

Zftttachr. f. Bekämpfung d. Geschlcchtskrankh. II. 23 


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298 


Schiller. 


Wenn die Prostitution aber auch als ein nicht auszurottendes 
Übel betrachtet werden muß, so zwingt doch diese Tatsache nicht 
dazu, die Hände müßig in den Schoß zu legen und ruhig der 
Weiterverbreitung dieser Volksseuche zuzusehen. Aufgabe des 
Staates muß es vielmehr sein, zu versuchen mit allen zu Gebote 
stehenden Mitteln die Prostitution einzudämmen und auf den denk¬ 
bar geringsten Umfang zu beschränken. 

Denn die Schädigungen, welche die Prostitution der Gesell¬ 
schaft zufügt, sind ungeheuer groß. Die Prostitution ist die Haupt¬ 
quelle der Geschlechtskrankheiten, die alljährlich unter allen 
Schichten der Bevölkerung bei allen Nationen unzählige Opfer 
fordern. Die Prostitution wirkt weiterhin in hohem Grade de¬ 
moralisierend durch die Provokation zum unehelichen Geschlechts¬ 
verkehr und durch das schlechte Vorbild, welches die Prostituierten 
der gefährdeten weiblichen Jugend geben. Häufig stehen auch Pro¬ 
stitution und Verbrechertum in enger Beziehung zueinander; eine 
Reihe von Vergehen und Verbrechen werden direkt oder indirekt 
durch die Prostitution erzeugt (vgl. Neisser, Rapports Prölimi- 
naires, II. intern. Konfer. Brüssel 1902, S. 4 fl“.). 

Will man die Prostitution wirksam bekämpfen, so muß man 
ihren Ursachen nachgehen und untersuchen, welches die Gründe 
sind, die die große Zahl von Frauen veranlassen, sich der Prosti¬ 
tution anheim zu geben. 

Zwei Meinungen stehen sich hier bekanntlich schroff gegenüber. 

Die eine (Lombroso, Ferrero, Tarnowsky) sieht in den 
Prostituierten das Pendant zu dem männlichen Verbrecher. 
Danach ist die Prostituierte ein hereditär belasteter degenerierter 
Frauentypus und die Prostitution „die der Frau eigentüm¬ 
liche Form der Kriminalität". Tarnowsky bezeichnet die 
gewerbsmäßigen Prostituierten als krankhafte, in ihrer Entwickelung 
gehemmte, mit ungünstigen erblichen Eigenschaften ausgestattete 
Frauen, die unzweifelhafte Entartungszeichen aufweisen, und deren 
Abweichung vom normalen Weibe sich am deutlichsten durch den 
Mangel sittlicher Vorstellungen und durch die Ausübung der gewerbs¬ 
mäßigen Unzucht kennzeichnet 

Die entgegenstehende Ansicht (Bebel, Hirsch) sieht in den 
Prostituierten lediglich das Opfer unserer sozialen Verhält¬ 
nisse. Die niedrige wirtschaftliche Stellung und die schlechten 
Löhne der arbeitenden Klassen bilden danach die Hauptursachen 
der Prostitution. „Einzig und allein durch die Beseitigung der 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


299 


Armut werden Verbrechen und Prostitution wirksam bekämpft“ 
(Paul Hirsch: Verbrechen und Prostitution als soziale Krankheits¬ 
erscheinungen. S. 66). 

Beide Ansichten sind insofern unrichtig, als jede darauf An¬ 
spruch macht, die Ursachen der Prostitution ausschließlich auf¬ 
gedeckt zu haben, während das Richtige in der Mitte liegt. 

Es ist nicht zu leugnen, daß ein Teil der Prostituierten geistig 
oder körperlich minderwertige Geschöpfe sind, die meist aus Trinker-, 
Epileptiker- und Verbrecherfamilien stammend, mit moral insanity 
behaftet, zur Prostitution gewissermaßen prädestiniert sind, und 
daß die Prostitution eine große Anzahl der kriminell bedenklichen 
Frauen absorbiert. Aber diese „geborenen“ Prostituierten bilden 
nur einen kleinen Prozentsatz aller der gewerbsmäßigen Unzucht 
nachgehenden Frauen. 

Andererseits ist ohne weiteres zuzugeben, daß das soziale und 
wirtschaftliche Milieu der niederen Klassen der Bevölkerung der 
Boden ist, aus dem die Prostitution herauswächst, wenn auch die 
Not selbst nur höchst selten die direkte Ursache der Prostitution 
ist. Strömberg (Die Prostitution. Stuttgart 1899) fand bei seinen 
eingehenden Untersuchungen, die er an 462 Dirnen der Stadt 
Stuttgart vornahm, nur einmal die Not als Ursache der Gewerbs- 
unzucht angegeben, und in dem Falle konnte er feststellen, daß 
diese Angabe erlogen war. Allerdings: „die geringe Entlohnung 
mancher Berufsklassen, besonders der Kellnerinnen, untergeordneten 
Schauspielerinnen, Konfektionsarbeiterinnen zwingt manches Mäd¬ 
chen geradezu einen Nebenerwerb zu suchen. Nur darf man nicht 
vergessen, daß vielfach schon die Neigung zu Geschlechtsverkehr, 
zu Putz und anscheinendem Wohlleben viele diese gefährlichen 
Berufsarten ergreifen läßt. Gerade die Zahlen, die Bebel, 
Blaschko u. a. als Beweise für die Ansicht anführen, daß die 
soziale Not zur Dirne mache, scheinen eher das Gegenteil zu be¬ 
weisen. Wohl Überwiegen die Arbeiterinnen und Verkäuferinnen, 
Schneiderinnen und vor allem die ehemaligen Dienstboten, aber 
sie haben auch einen außerordentlich großen Anteil an der Be¬ 
völkerungszusammensetzung“. (Aschaffenburg: Das Verbrechen 
und seine Bekämpfung, S. 77). 

Bei den ehemaligen Dienstmädchen kann überdies in den 
meisten Fällen von schlechter Entlohnung und wirklicher Not nicht 
die Rede sein. Wenn Blaschko („Hyg. der Prostitution und 
venerischen Krankheiten“, im Handbuch der Hygiene Bd. X S. 41) 

23* 


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300 


Schiller. 


die niedrigen Löhne der Dienstmädchen in Berlin für die Tatsache 
mit verantwortlich macht, daß ein so großer Teil der Dienstmädchen 
der Prostitution anheimfällt, so vergißt er, daß die Mädchen in 
ihren Dienststellungen regelmäßig, außer dem Lohn, freie Kost 
und freie Wohnung bei den Dienstherrschaften haben. Sie sind 
dadurch viel besser gestellt, wie der größte Teil der Fabrik- und 
Heimarbeiterinnen, und trotzdem stellen sie das Hauptkontingent 
der Prostituierten. 

Jedenfalls kann die geringe Entlohnung nicht als das 
zwingende Moment angesehen werden, welches die weiblichen 
Jugendlichen der Prostitution in die Arme treibt Die Konsequenz 
wäre dann, daß alle schlecht bezahlten Frauen Prostituierte werden 
müßten. Die eigentlichen Ursachen der Prostitution liegen viel¬ 
mehr tiefer. 

Abgesehen von den geistig degenerierten Elementen, ist es in 
allererster Linie die Erziehung oder vielmehr der Mangel an 
Erziehung, der die jungen Mädchen zu Prostituierten werden 
läßt. Den meisten fehlt von Hause aus das sittliche Bewußt¬ 
sein, es ist ihnen gar nicht anerzogen, oder es ist nicht genügend 
stark entwickelt, um den Versuchungen in geschlechtlicher Hinsicht 
widerstehen zu können. Schamgefühl und sittliches Empfinden 
bilden aber den stärksten Panzer gegen die Prostitution; an ihm 
prallen alle Versuchungen ab. Wo das sittliche Bewußtsein fehlt, 
da steht den Verführungen Tür und Tor offen. In dem Mangel 
des sittlichen Empfindens zeigt sich der Mangel einer richtigen 
Erziehung. 

Der größte Teil der Prostituierten hat überhaupt eine ordent¬ 
liche Erziehung nicht genossen. Wer sollte auch ihre Erziehung 
leiten? In den allermeisten Fällen sind die häuslichen Verhält¬ 
nisse, aus denen die Prostituierten hervorgehen, überaus traurige. 
Ein bedeutender Prozentsatz ist unehelich geboren. Sehr viele 
haben in frühester Jugend beide Eltern oder einen Eltern teil ver¬ 
loren. Oftmals, wenn beide Eltern am Leben sind, haben sie sich 
getrennt; die Mutter lebt dann im Konkubinat mit einem Schlaf¬ 
gänger, der Vater mit einer Weibsperson, die ihm den Haushalt be¬ 
sorgt. Parent du Chatelet zählte unter 2696 Prostituierten 1255, 
die keine oder nur noch einen Elternteil hatten. In zahllosen 
Fällen sind die Eltern liederliche und arbeitsscheue Leute, welche die 
Verwahrlosung ihrer Kinder selbst verschuldet haben. Die Mutter 
geht der Unzucht nach oder spielt die Kupplerin, der Vater ist 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


301 


Trunkenbold, Verbrecher oder Landstreicher. Dazu kommt dann 
noch das grauenhafte Wohnungselend in den Städten sowohl, 
wie auf dem Lande. In engen Räumen, in derselben Stube, wo¬ 
möglich in demselben Bett, schlafen Eltern und Schlafgänger, Er¬ 
wachsene und Kinder, Personen verschiedenen Geschlechts zu¬ 
sammen. Die Erwachsenen genieren sich vor den Kindern nicht 
im geringsten, und die Kinder werden tagtäglich Zeugen der 
rohesten geschlechtlichen Exzesse. Entsittlichend in hohem Grade 
wirkt ferner das schlechte Beispiel, das den Kindern durch das 
Treiben in der Nähe wohnender Prostituierter gegeben wird. 

Es liegt auf der Hand, daß die Kinder, die in einer solchen 
Atmosphäre leben, wirkliche Erziehung überhaupt nicht genießen 
und sittliches Bewußtsein gar nicht kennen lernen. „Eine nicht 
geringe Anzahl von Mädchen im jugendlichsten Alter verfällt der 
Unzucht, weil sie von frühester Jugend an das unsittliche, oft ver¬ 
brecherische Treiben ihrer Eltern, die Unzucht ihrer Mutter vor 
Augen hatten, deren Verkuppelung sie nicht entgehen können.“ 
„Als Hauptursache der geschlechtlichen Unsittlichkeit, insbesondere 
der Prostitution, darf vor allem die schlechte Erziehung angesehen 
werden, das verderbliche Beispiel, welches die Gefallenen oft von 
ihrer Kindheit an vor Augen hatten, die Verführungen aller Art, 
welchen sie infolge dessen fast wehrlos preisgegeben sind, ohne von 
den natürlichen Neigungen zu sprechen. Bei solchen Verhältnissen 
erscheint es einleuchtend, daher der Boden, auf welchen der Same 
des Unkrauts fällt, sehr gut vorbereitet ist.“ („Die Prostitution in 
Deutschland, auf Grund des vom Ausschüsse der Rheinisch-West¬ 
fälischen Gefängnis-Gesellschaft gesammelten Materials“ erörtert von 
H. Stursberg.) 

Wie unheilvoll der schlechte Einfluß ist, den die zerrütteten 
Verhältnisse des Elternhauses auf die Kinder ausüben, zeigen die 
Berichte und Statistiken der Erziehungsanstalten deutlich. Die 
Untersuchungen in der Anstalt Elmira z. B. ergaben, daß bei 
51,8 Proz. der dort untergebrachten Zöglinge die Atmosphäre des 
Elternhauses „positiv schlecht“ und nur bei 8,3 Proz. „gut“ war. 
Die Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger 
für das Jahr 1901 besagt, daß die Familien, aus denen mehr als ein 
Zögling überwiesen ist, meist schon seit längerer Zeit wirtschaftlich 
und sittlich vollständig zerrüttet waren. Die Zerrüttung 
spricht sich zunächst aus in den gerichtlichen Bestrafungen 
der Eltern. Gerichtlich bestraft waren die Eltern in 2924 Familien. 


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302 


Schiller. 


= 47,1 Proz. aller Familien, aus denen Kinder in Fürsorgeerziehung 
untergebracht waren. In 1419 (— 22,9 Proz.) Familien war nur 
der Vater; in 589 (= 9,5 Proz.) war nur die Mutter, und in 916 
(= 16,7 Proz.) waren boide Eltern gerichtlich bestraft; das ergibt 
2335 bestrafte Väter und 1505 bestrafte Mütter. Unter den Be¬ 
strafungen sind alle Strafarten des Strafgesetzbuchs vertreten; 
284 Väter und 99 Mütter sind mit Zuchthaus bestraft. In vielen 
Familien sind Vater oder Mutter, oder beide wiederholt bestraft; 
Trunksucht, Unzucht, Arbeitsscheu sind die vornehmsten Ur¬ 
sachen und Zeichen des zerrütteten Familienlebens. In 2353 Familien 
(= 37,9 Proz.) waren die Eltern schlechten Neigungen ergeben, davon 
in 1150 Fällen (= 18,5 Proz.) nur der Vater, in 660 Fällen 
(= 10,6 Proz.) nur die Mutter, und in 543 Fällen (= 8,7 Proz.) 
beide Eltern, oder 1693 Väter und 1203 Mütter. Der Trunksucht allein 
oder in Verbindung mit Unzucht bezw. Arbeitsscheu waren 1483 Väter 
und 562 Mütter ergeben, = 87,6 Proz. aller schlechten Neigungen 
ergebenen Väter, bezw. 46,7 Proz. der Mütter. Der Unzucht allein 
oder in Verbindung mit Trunksucht und Arbeitsscheu waren 681 = 
56,8 Proz. aller mit schlechten Neigungen behafteten Mütter ergeben; 
in der Regel sind diese Mütter auch wegen Gewerbsunzucht be¬ 
straft. In 777 Familien (= 12,4 Proz. aller Familien) sind Ge¬ 
schwister der Fürsorgezöglinge bestraft, darunter eine große Zahl 
mehrfach, einzelne 5 bis 10 mal. In 549 Familien sind nur Brüder, 
in 155 nur Schwestern und in 73 Brüder und Schwestern bestraft. 
In 152 Familien waren eine oder auch mehrere Schwestern der 
gewerbsmäßigen Unzucht ergeben. 

In allen Fällen, in denen die Eltern aus moralischen Gründen 
nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu nützlichen Gliedern der 
menschlichen Gesellschaft zu erziehen, müssen ihnen die Kinder, 
so früh als möglich, noch ehe sie die Keime der Unsittlich¬ 
keit in sich aufgenommen haben, fortgenommen und aufStaats- 
kosten anderweitig erzogen werden. „Das Wichtigste bleibt, nicht erst 
die eintretende Verwahrlosung der jugendlichen Personen abzuwarten, 
sondern in viel ausgiebigerer Weise, als dies bisher geschehen ist, 
für die Erziehung und Pflege der Kinder und für den 
Schutz und rechtlichen Erwerb der weiblichen Jugend¬ 
lichen nach Absolvierung der Schule zu sorgen, will man 
ernsthaft dem in allen möglichen Formen sich entwickelnden anti¬ 
sozialen Verfall der Jugend, wie er sich als Verbrechertum, Land¬ 
streicherei und Bettelwesen und eben auch als Prostitution geltend 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 303 

macht, entgegenarbeiten.“ (Neisser, II. intern. Konferenz in Brüssel, 
1902, Bd. L) 

Manchesmal, aber das sind im allgemeinen seltene Fälle, trifft 
auch die Eltern an der Verwahrlosung ihrer Kinder keine Schuld. 
Der Vater und die Mutter müssen schwer arbeiten, um das täg¬ 
liche Brot für die zahlreiche Familie zu verdienen. Nicht allein 
der Vater, sondern auch die Mutter muß außerhalb des Hauses 
ihrer Arbeit nachgehen; beide sind müde und abgespannt, wenn 
sie von der Arbeit nach Hause kommen. Sie können sich nicht 
genügend um ihre Kinder kümmern, oder haben nicht die nötige 
Energie. Die Kinder wachsen auf der Straße auf, die Mädchen 
treiben sich herum und werden verführt. Es fehlt ihnen das 
Beste an der Erziehung: die Einwirkung des Elternhauses. In 
diesen Fällen, in denen die Kinder von den Eltern zum Zwecke 
der Erziehung nicht getrennt zu werden brauchen, ist es 
Sache der öffentlichen Armenpflege die Eltern in den 
Stand zu setzen, für die Erziehung ihrer Kinder ausreichend 
sorgen zu können. 

Ein großer Teil der Prostituierten, der aus leidlich ehrbaren 
Arbeiter- und Handwerkerfamilien stammt, hat zwar eine gewisse 
Erziehung zuhause genossen, aber auch keine ausreichende. Das 
gilt insbesondere für die vielen Mädchen, die vom Lande in die 
Großstädte kommen. Ihre Schulbildung ist höchst mangelhaft, 
ihre Erziehung im Elternhause nicht sorgfältig, in geschlechtlicher 
Beziehung sind sie mehr als naiv. Kommen sie dann, zumeist als 
Kindermädchen oder Dienstmädchen, in die Städte, so stehen sie den 
mannigfachen Verführungen widerstandslos gegenüber. Freundinnen, 
die schon längere Zeit die Großstadtluft atmen, erleichtern ihnen 
häufig den ersten Schritt auf dem Wege der Unsittlichkeit. Viele 
werden liederlich, vernachlässigen ihre Arbeit und verlieren deshalb 
ihre Stellungen, viele werden geschlechtskrank, viele gebären un¬ 
ehelich. Allmählich sinken sie tiefer und tiefer, bis sie in die 
polizeilichen Kontrollisten eingetragen werden. 

Mit dem Fehlen der Erziehung geht bei den meisten Pro¬ 
stituierten das Fehlen wirklicher Bildung Hand in Hand. Die 
Tatsache, daß der größte Teil der Prostituierten eine leidlich gute 
Schulbildung nicht genossen hat, läßt den hohen sittlichen Wert 
der Bildung in hellem Lichte erscheinen. Nach der Statistik über 
die Zwangszöglinge unter der Geltung des früheren Zwangser- 


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304 


Schiller. 


Ziehungsgesetzes von 1878 für die Jahre 1895 bezw. 1896 bis 1900 
waren 

Prozent 

männlich weiblich 


ohne Schulbildung.. 6,6 5,5 

nicht fertig lesen, schreiben, rechnen im Zahleukreise 

von 1—100 konnten. 41,8 33,9 

fertig lesen, schreiben, rechnen im Zahlenkreise von 

1—100 konnten. 47,6 42,3 

volle Volksschulbildung hatten nur . 3,8 17,7 

und höhere Bildung .. — 0,6 


Nach der Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger 
für das Jahr 1901 hatten von den über 12 Jahre alten Zöglingen 
nur 1610 ( = 36,0 Proz.) volle Volksschulbildung; 1798 (= 40,3Proz.) 
konnten fertig lesen und schreiben, sowie im Zahlenraume von 
1—100 fertig rechnen; 304 (=—6,8 Proz.) konnten entweder nur 
fertig lesen oder nur fertig schreiben oder nur fertig rechnen im 
Zahlenraume von 1—100; 9 (=0,2 Proz.) waren überhaupt ohne 
Schulbildung; 9 (=0,2 Proz.) hatten höhere Schulbildung. 

In Manchester befanden 9ich unter 10000 gefänglich einge- 
zogenen Prostituierten 5161, die nicht lesen und schreiben konnten: 
4760 schrieben und lasen schlecht, nur 78 gut und eine einzige 
hatte angeblich höhere Schulbildung. In Paris konnten nach 
Parent du Chatelet von 4222 Prostituierten 2332 weder 
schreiben noch lesen, 1780 konnten nur sehr schlecht, 110 richtig 
lesen und schreiben; Parent du Chatelet knüpft an diese Tat¬ 
sache die Worte: „In der Hauptstadt Frankreichs also, wo auf den 
Unterricht von jeher die denkbar größte Sorgfalt verwendet worden 
ist, wo er unentgeltlich allen Unbemittelten erteilt wird, wo das 
Volk seine Notwendigkeit erkennt, weil er zum Kampf ums Dasein 
unerläßlich, kommt eine einigermaßen gebildete Prostituierte auf 
223 Analphabeten. Diese Tatsache beweist entweder die völlige 
Unfähigkeit dieser Geschöpfe oder die gänzliche Vernachlässigung 
seitens der Eltern und hiermit die moralische Verkommenheit, die 
Gleichgültigkeit der Angehörigen in bezug auf das Los ihrer 
Kinder, welche ihnen mit Recht den liederlichen Lebenswandel, 
dem sie zum Opfer gefallen, vorwerfen können/ 4 Neuerdings wurde 
festgestellt, daß von 39 in Paris geborenen Prostituierten 25 ihren 
Namen gar nicht, 14 ihn nur schlecht schreiben konnten; während 
von 264 auf dem Lande geborenen und aufgewachsenen Pro¬ 
stituierten 146 nicht unterzeichnen konnten, 74 Unterzeichneten 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


305 


schlecht und 44 verweigerten Auskunft und Unterschrift. (Parent 
du Chatelet, Die Prostitution in Paris, bearbeitet und bis auf 
die neueste Zeit fortgeführt von G. Montanus. 1903. S. 21.) 

In Rußland vollends konnten nach der Prostituiertenzählung 
im Jahre 1889: 77,6 Proz. der in Bordellen lebenden Mädchen 
und 79,6 Proz. der Einzellebenden weder schreiben noch lesen. 
Mit Recht wurde auf dem Kongreß zur Ausarbeitung von Ma߬ 
regeln gegen die Ausbreitung der Syphilis in Rußland 1897 ge¬ 
sagt: „Eine der Hauptursachen, die den erfolgreichen Kampf mit 
der Syphilis auf dem Lande hindert, ist die mangelhafte Volks¬ 
bildung und der niedrige Stand der Kultur. Daher ist vor allem 
der Bildungsgrad des Volkes zu heben und durch Volkslesehallen 
und populäre Vorlesungen die Popularisation hygienischer und 
medizinischer Begriöe anzustreben.“ (Petersen, Intern. Konfer. 
Brüssel 1899. Enqu. Bd. I. S. 292.) 

Bezeichnend für den Wert der Bildung ist auch die Tat¬ 
sache, daß mit der Hebung des Bildungsniveaus der Industrie¬ 
arbeiter der Zuzug, den die Prostitution aus der Industrie erhält, 
erheblich abgenommen hat Nach einer von Blaschko angeführten 
Statistik über die Berufsarten, aus denen die Berliner Prostituierten 
hervorgegangen sind, waren im Jahre 1855 71 Proz. der Pro¬ 
stituierten vor Ausübung der Prostitution in der Industrie be¬ 
schäftigt; im Jahre 1873 betrug diese Zahl 64 und im Jahre 1898 
nur 43 Proz., während die Klasse der früheren Dienstmädchen 
von 7,1 über 35,7 auf 41,3 Proz. gestiegen ist „Es geht hieraus 
zunächst ohne Zweifel hervor, daß die arbeitende Bevölkerung 
Berlins heute einen ungleich ungünstigeren Nährboden für die 
Prostitution j bilden muß als früher. Und das läßt sich nicht 
anders erklären, als daß nicht nur ihre Erwerbsverhältnisse sich 
im Laufe dieser Epoche günstiger gestaltet haben, sondern daß 
auch das intellektuelle und ethische Niveau der Berliner Arbeiter¬ 
bevölkerung heute viel höher steht, als vor einem halben Jahr¬ 
hundert. Gewiß mögen auch die Industriearbeiterinnen, besonders 
die geborenen Berlinerinnen mehr unter der ,gelegentlichen' Pro¬ 
stitution figurieren; aber auch das würde auf ein höheres sittliches 
Niveau hindeuten.“ (Blaschko, Hygiene der Prostitution und 
venerischen Krankheiten. Handbuch der Hyg. Bd. X. 8. 40.) 

Bei den vielen geistig oder körperlich minderwertigen, schwach 
befähigten und degenerierten Charakteren, die von der Prostitution 


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306 


Schiller. 


verschlungen werden, ist selbstverständlich, ebensowenig wie von 
geeigneter Erziehung, von richtiger Bildung die Bede. 

Hält man sich diese Tatsache vor Augen, so muß man die 
Mittel zur Bekämpfung der Prostitution in erster Linie in 
einer ordentlichen Erziehung und vernünftigen Bildung der ge¬ 
fährdeten weiblichen Jugendlichen erblicken. 

Diese Erziehung zu leiten und zu überwachen muß Aufgabe 
des Staates sein, und zwar eine der größten und segensvollsten 
Aufgaben. Das Recht des Vaters bezw. der Mutter auf die körper¬ 
liche und geistige Erziehung der Kinder bestimmend einzuwirken, 
findet seine Grenze an dem Rechte des Staates, die Erziehung der 
Jugend zu überwachen und dafür zu sorgen, daß jeder einzelne 
dereinst auch diejenige moralische Qualifikation besitzt, die das 
Leben von ihm verlangt (Mot zum BGB. IV. S. 624.) Wo die 
sittliche Entwickelung Schaden leidet, da muß der Staat Vor¬ 
kehrungen treffen, um die Gefahr des Verderbens zu beseitigen. 
Das geschieht durch die Fürsorgeerziehung, deren zweckent¬ 
sprechende Ausführung vom Staate getragen oder wenigstens 
garantiert wird. Die Fürsorgeerziehung ist daher eine sozial¬ 
politische Notwendigkeit. 

Der Staat hat aber auch aus finanziellen Gründen ein sehr 
bedeutendes Interesse an der Abnahme der Zahl der Dirnen und 
Verbrecher. Man braucht nur an die ungeheuren Summen zu 
denken, die Zuchthäuser, Gefängnisse, Arbeitshäuser, Irrenanstalten, 
Kranken- und Siechenhäuser verschlingen. Darum ist es auch 
berechtigt zu verlangen, daß der Staat als solcher in der Haupt¬ 
sache die Kosten der zwangsweisen Erziehung zu tragen hat 

Die Erziehung kann bei geeigneten Familien oder in An¬ 
stalten erfolgen. Die Frage, ob der Zögling in Familien- oder 
Anstaltspflege zu geben ist, wird von dem Zustande des Zöglings, 
dem Grade seiner Verwahrlosung und von der Art und Weise 
seiner bisherigen Erziehung abhängen. 

Die Familienerziehung erscheint als die natürlichste und 
zweckmäßigste Art der Unterbringung, ganz besonders bei Mädchen. 
Sie bildet „den besten Ersatz für das, was dem Minderjährigen im 
Elternhause leider nicht geboten wird. Die besteingerichtete An¬ 
stalt kommt in ihrem Leistungsvermögen der Familie nicht gleich. 
Das Leben in der Familie weist nachhaltig auf die praktischen 
Lebensaufgaben hin und macht mit der Art und Schwierigkeit 
des täglichen Broterwerbes besser vertraut“. (Schmitz, Die Für- 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbckfimpfung. 


307 


sorgeerziehung Mindeijähriger, S. 75.) Daher soll auch nach den 
ministeriellen Ausftihrungsbestimmungen zum Fürsorgeerziehungs¬ 
gesetz, die Familienerziehung in erster Linie zur Anwendung 
kommen: „Solange die Zwecke der Fürsorgeerziehung durch 
Unterbringung in einer Familie nur irgend erreicht werden können, 
ist dieser der Vorzug zu geben. Sie wird von vornherein zur An¬ 
wendung zu bringen sein, wenn der Zögling das schulpflichtige 
Alter noch nicht überschritten hat und ein erhebliches sittliches 
Verderbnis nicht vorliegt, oder nach voraufgegangener Anstalts¬ 
erziehung, wenn der Zögling durch sie an Zucht und Ordnung 
gewöhnt, körperlich, geistig und sittlich gekräftigt ist. Bei der 
Auswahl der Familien ist in erster Linie darauf zu sehen, daß sie 
für eine ernst religiös-sittliche Erziehung Gewähr bieten. Es sind 
ferner nur solche Familien zu wählen, die in geordneten Verhält¬ 
nissen leben und eine ausreichende Wohnung haben.“ In erster 
Linie werden für die Familienerziehung Familien, die in den kleinen 
Städten und auf dem Lande wohnen, in Betracht kommen. Fami¬ 
lien in den Großstädten eignen sich wenig oder gar nicht zur 
Erziehung sittlich gefährdeter Mädchen wegen der vielen Ver¬ 
suchungen, die die Großstädte bieten. Die Großstädte verhindern 
eine ausreichende Beaufsichtigung und ermöglichen ein Zurück¬ 
kehren des Zöglings in seine frühere verderbliche Umgebung. In 
den kleinen Städten werden vor allem Familien des Handwerker¬ 
standes berücksichtigt werden müssen; auf dem Lande selbständige 
Bauernfamilien. 

Sind die Zöglinge 14 Jahre alt und haben sie sich gut ge¬ 
führt, so werden sie in der Regel in Dienststellen untergebracht 
werden können. Zu ihrer weiteren Überwachung sieht das Für¬ 
sorgeerziehungsgesetz für sie die Bestellung eines „Fürsorgers“ 
vor. Aufgabe dieses Fürsorgers wird es sein, sich seines Zöglings 
auf das wärmste anzunehmen und sein Hineinwachsen in die 
bürgerliche Gesellschaft zu vermitteln. 

Die Unterbringung in Anstalten erscheint nach den minister. 
Ausführungsbestimmungen vorzugsweise angebracht für Minder¬ 
jährige, die zu geschlechtlichen Ausschweifungen, zum Land¬ 
streichen und Verbrechen neigen oder in anderer Weise sittlich 
verwahrlost sind, sowie für solche, deren körperlicher Zustand eine 
besondere Pflege unter ärztlicher Aufsicht fordert. (Syphilitische 
in späteren Stadien.) Die Zöglinge sollen aber in der Anstalt nur 
so lange bleiben, als unbedingt notwendig ist, um sie an Zucht und 


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308 


Schiller. 


Ordnung zu gewöhnen, leiblich und geistig zu kräftigen. Sobald 
dieser körperliche und sittliche Reinigungsprozeß beendet ist, sind 
sie in Familien, wenn möglich unter Aufsicht des Anstaltsvor¬ 
stehers, der ihren Charakter kennt, unterzubringen, die Schul¬ 
pflichtigen in Pflege, die Schulentlassenen im Gesindedienst. 
Führen sie sich schlecht, oder erweist sich die Familie als unge¬ 
eignet, so sind sie in die Anstalt zurückzunehmen, um geeigneten- 
falls nach einiger Zeit einen erneuten Versuch mit der Familien¬ 
erziehung zu machen. 

Die Anstaltserziehung muß so beschaffen sein, daß alles, 
was an Gefängnis oder Arbeitshaus erinnert, vermieden wird. Den 
Zöglingen ist innerhalb der durch die Anstaltsordnung gezogenen 
Grenzen möglichste Freiheit zu lassen. Anstalten mit großen 
fabrikmäßigen Betrieben eignen sich zur Erziehung besonders von 
jungen Mädchen, nicht. Ebensowenig solche Anstalten, in denen 
aus finanziellen Rücksichten nur schablonenmäßige manuelle Ar¬ 
beiten verrichtet werden. „Kaffeebohnen- und Linsensortieren, die 
Fabrikation von Bürsten zum Verkauf, das Heften von Schreib¬ 
büchern das ganze Jahr hindurch, die einseitige Ausnutzung der 
Mädchen im Waschbetrieb für Rechnung anderer Leute, ohne ge¬ 
nügende Ausbildung in anderen weiblichen Arbeiten, das gesund¬ 
heitsschädliche Bemalen von Bleisoldaten — das alles ist, vom 
erziehlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, durchaus zu verwerfen, 
auch wenn die Anstalt auf diese Einnahmequellen angewiesen zu 
sein scheint Die Mädchen sollen nicht bloß waschen und plätten 
lernen, wie es der mit Elektromotor und Dampfkessel versehene 
Betrieb erfordert, sondern auch waschen und plätten lernen, wie 
sie es später im kleinen Haushalt gebrauchen. Sie bedürfen aber 
auch der Anleitung in anderen weiblichen Handarbeiten, wie im 
Zuschneiden, Nähmaschinenarbeit und im Kochen. In keiner An¬ 
stalt sollte eine Haushaltungsschule für die Mädchen fehlen, in der 
sie Hausmannskost kochen lernen, die verschiedenen Heizsysteme 
praktisch erproben, auch die notwendigen Kenntnisse über Lebens¬ 
mittel sich aneignen. Nur so werden die Mädchen praktisch fürs 
Leben erzogen.“ (Plaß, No. 51 der „Woche“, 1903). • 

In geistiger Hinsicht muß die Erziehung darauf gerichtet sein, 
das Ehrgefühl und das sittliche Empfinden der Mädchen 
zu heben. Die Zöglinge müssen zu der Erkenntnis gebracht werden, 
daß jede, auch noch so gewöhnliche, aber ehrliche Arbeit 
besser ist, als die Prostitution. Durch fortwährende Belehrung 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


309 


und Hinweis auf die Gefahren der Prostitution für Leib und Seele 
müssen die Mädchen die Prostitution verabscheuen lernen. 

Freilich worden den Anstalten aus der Erziehung der gegen 
ihren Willen zurückgehaltenen, geschlechtlich verdorbenen Jugend¬ 
lichen große Schwierigkeiten erwachsen. Ein Teil dieser weiblichen 
Elemente wird wahrscheinlich auch durch sorgfältige Erziehung 
nicht gebessert werden und nach der Entlassung aus den An¬ 
stalten der Prostitution wieder anheimfallen. Das darf aber die 
Anstaltsleitungen nicht entmutigen, nach wie vor ihre besten Kräfte 
an die Rettung der gefallenen Mädchen zu setzen. 

Andererseits müssen die gedachten Schwierigkeiten dazu führen, 
die gefährdeten Mädchen in möglichst jungen Jahren, in denen 
sie noch erziehungs- und besserungsfähig sind, in geeignete Erziehung 
zu bringen. In der Regel zeigt sich bei den Opfern der Prosti¬ 
tution die Verwahrlosung schon in früher Jugend, wenn sie auch 
nicht gleich als geschlechtliche Verwahrlosung zutage tritt. In¬ 
dessen ist auch diese in der Regel so zeitig wahrzunehmen, daß 
es zu einem Rettungsversuch nicht zu spät ist. Denn der größte 
Prozentsatz der Prostituierten ist noch vor Erreichung 
der Großjährigkeit der gewerbsmäßigen Unzucht nach¬ 
gegangen; sehr viele schon vor ihrem 18. Lebensjahre, 
zum mindesten haben sie vordem die Prostitution „ge¬ 
legentlich“ betrieben. In Berlin zählte man trotz der Ma߬ 
nahmen, die die Einschreibung der Minderjährigen in die polizei¬ 
lichen Kontrollisten außerordentlich erschweren, im Jahre 1898 
unter den 846 neu eingeschriebenen Prostituierten 229 Minder¬ 
jährige; davon waren alt: 

15 Jahre: 7 



Früher ist es sogar vereinzelt vorgekommen, daß vierzehnjährige 
Mädchen hatten unter Kontrolle gestellt werden müssen. (Blaschko, 
Intern. Konf. in Brüssel 1899. Enq. I. S. 667.) 

In Paris wurden im Jahre 1885 890 Großjährige und 409 
Minderjährige in die Kontrollisten eingeschrieben, im Jahre 1886: 
775 Großjährige und 370 Minderjährige; im Jahre 1887: 592 Groß- 


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310 


Schiller. 


jährige und 276 Minderjährige; im Jahre 1888: 442 Großjährige 
und 265 Minderjährige; im Jahre 1894 wurden 325 und im Jahre 
1900: 253 Minderjährige eingetragen. 

In Rußland waren nach der Zählung im Jahre 1889 14 Pro¬ 
stituierte in Bordellen und 30 Kartenmädchen unter 15 Jahre alt; 
3040 Bordellmädchen und 2508 Kartenmädchen waren unter 20 Jahre 
alt 26 Prostituierte in Bordellen hatten sich vor ihrem 12. Lebens¬ 
jahr prostituiert und 6739, das sind 86,2 Proz., vor erreichter Gro߬ 
jährigkeit, darunter 2041 vor ihrem 16. Lebensjahre. Von den 
Kartenmädchen hatten sich 50 vor ihrem 12. Jahre zu prostituieren 
begonnen, 1978 vor ihrem 16. Jahre und 7305, gleich 75,6 Proz., 
vor ihrem 21. Lebensjahre. (Vgl. Minod, Prostitution des Mineures. 
Brüssel. Conf. 1902. Bd. I.) 

Welchen positiven Erfolg die erziehliche Arbeit an der ver¬ 
wahrlosten Jugend, und zwar an einer so stark verwahrlosten 
Jugend, daß sie bereits mit den Strafgesetzen in Konflikt geraten 
ist, gezeitigt hat, ergibt sich aus einer Statistik, die Pastor M. Roth 
in Gr.-Rosen (Schlesien) im Aufträge des Vereins schlesischer 
evangelischer Rettungshäuser (Hamburg, Agentur des Rauhen 
Hauses 1901) veranstaltet hat. Die Statistik umfaßt die in 25 
schlesischen Rettungshäusern in den Jahren 1883—1892 unter¬ 
gebrachten Zöglinge. Von diesen sind 81,04 Proz. für die bürger¬ 
liche Gesellschaft als gerettet zu betrachten und nur 12,6 Proz. 
als gänzlich verloren anzusehen. Von den 340 weiblichen Zög¬ 
lingen fanden nach der Entlassung aus den Anstalten 50 in der 
Landwirtschaft und 34 in der Industrie als Lohnarbeiterinnen 
Unterkunft, 80 waren als Hausmädchen tätig, 13 als Schneiderinnen, 
127 verheirateten sich. „Wir sind keine Schwärmer,“ so schließt 
der Bericht, „sondern bewegen uns auf dem Boden der nüchternen 
Wirklichkeit. Wenn, wie nachgewiesen worden ist, unter den un¬ 
günstigeren Voraussetzungen des alten preußischen Zwangs¬ 
erziehungsgesetzes vom 13. März 1878 80 Proz. der Zwangszög¬ 
linge, d. h. solcher Kinder, deren Verwahrlosung schon so weit vor¬ 
geschritten war, daß sie strafbare Handlungen gezeitigt hatte, für 
die bürgerliche Gesellschaft gerettet und zu nützlichen Staats¬ 
angehörigen erzogen werden konnten (es wird hier allerdings vor¬ 
ausgesetzt, daß die provinziellen Besserungsanstalten ähnliche Er¬ 
folge aufzuweisen haben und dieser Annahme steht wohl nichts 
entgegen), so darf man wohl hoffen, daß unter dem Einfluß des 
neuen preußischen Gesetzes betreffend die Fürsorgeerziehung 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


311 


Minderjähriger und verwandter außerpreußischer Gesetze, welche 
wesentlich günstigere Bedingungen für die Erziehung Verwahrloster 
schaffen, mindestens ebenso gute, vielleicht noch bessere Erfolge 
erzielt werden. Die mit den Privatzöglingen gemachten Erfah¬ 
rungen, für welche diese günstigeren Bedingungen teilweise schon 
Vorlagen und von denen reichlich 90 Proz. gerettet worden sind, 
lassen diese Hoffnung als durchaus begründet erscheinen.“ 

Gegen die Bestrebungen, durch geeignete Erziehung die weib¬ 
lichen Jugendlichen vor dem Hinabgleiten in den Sumpf der 
Prostitution zu bewahren, wird von mancher Seite geltend gemacht, 
daß damit die Prostitution nicht eingeschränkt und die Zahl 
der Prostituierten nicht verringert werde. Denn die Prosti¬ 
tution sei in der Hauptsache eine Männerfrage; das Angebot werde stets 
durch die Nachfrage der Männer bedingt Sei die Nachfrage groß, 
so sei auch das Angebot ein entsprechend großes. „Stehen wir 
auf dem Standpunkt,“ sagt Blaschko (Handb. der Hyg. X. S. 39), 
„daß nicht das Angebot von Prostitution ein Bedürfnis erzeugt, 
sondern daß das nach Befriedigung lechzende gesellschaftliche Be¬ 
dürfnis erst das Angebot provoziert, so müssen die ausschließlich 
auf Verringerung des Angebots bezw. des Zustroms zur Prostitution 
gerichteten Bestrebungen erfolglos bleiben. Sie können höchstens 
den Erfolg haben, daß die anderen Formen des außerehelichen 
Geschlechtsverkehrs in den Vordergrund treten. In demselben 
Maße wie auf Seiten des Mannes das Bedürfnis nach Prostitution 
wächst, vermehrt sich auf der anderen Seite ihr Angebot: Die¬ 
selben wirtschaftlichen Verhältnisse, die dem Manne die Ehe¬ 
schließung erschweren, überliefern die Frau der Prostitution.“ 

Das ist sicher nicht richtig. Die Gesetze, die auf dem Wirt¬ 
schaftsmarkte Angebot und Nachfrage regeln und bestimmen, 
sind nicht ohne weiteres für die Prostitution maßgebend. Denn 
der „käufliche Geschlechtsgenuß“ ist keine Ware im üblichen 
Sinne, auch nicht in dem Sinne wie die „Arbeit“ eine Ware ist. 
Man muß sich nur stets vor Augen halten, daß der außereheliche 
Geschlechtsverkehr unter unseren heutigen Gesellschaftsverhältnissen 
von dem größten Teil der anständig erzogenen jungen Mädchen 
als etwas Unsittliches und Schandbares angesehen wird. Es gehört 
bereits eine starke unmoralische Disposition dazu, um die 
Ware „Geschlechtsgenuß“ auf den Markt zu tragen. Auch wenn 
die Nachfrage nach dieser Ware noch so groß ist, so werden immer 
nur diejenigen zum Angebot gereizt werden, die die unmora- 


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312 


Schiller. 


lische Disposition haben. Gelingt es also, das sittliche Niveau 
der aus den niederen Klassen des Volkes hervorgehenden Mädchen 
zu heben, so wird die Anschauung, daß der außereheliche Ge¬ 
schlechtsverkehr eine Schande sei, mehr und mehr an Boden 
gewinnen, und mangels unmoralischer Disposition wird sich das 
Angebot zum käuflichen Geschlechtsgenuß verringern. Mag die 
Nachfrage auch bedeutend steigen, das Angebot wird ihr nicht 
entgegenkommen. 

Blaschko selbst erklärt ja das Herabgehen der Beteiligung 
der Berlinerinnen an der Prostitution damit, daß das intellektuelle 
und ethische Niveau der Berliner Arbeiterinnen in den letzten 
Jahrzehnten sich gehoben hat Auch wenn nur das erreicht wird, 
daß die Prostitution auf Kosten der anderen Formen des außer¬ 
ehelichen Geschlechtsverkehrs abnimmt, so ist damit für die bürger¬ 
liche Gesellschaft und für die Bestrebungen zur Bekämpfung der 
Geschlechtskrankheiten außerordentlich viel gewonnen. 

Der oben gedachten Ansicht Blaschkos stehen auch die 
Tatsachen entgegen. Wäre lediglich die Nachfrage der Männer 
maßgebend für das Angebot der Prostituierten, so müßte die 
Prostitution mit dem Wachsen der männlichen Bevölkerung, 
oder da der Prozentsatz der männlichen Bevölkerung ziemlich der 
gleiche bleibt, mit dem Wachsen der gesamten Bevölkerung 
gleichen Schritt halten. Die Zahl der Prostituierten müßte 
ferner in jeder einzelnen Stadt in einem bestimmten Verhältnis 
zur Zahl der männlichen Bewohner stehen. In Wirklichkeit ist 
aber die Prostitution in den letzten Jahrzehnten in un¬ 
gleich stärkerem Verhältnis gewachsen, als die Bevöl¬ 
kerung und die einzelnen Städte bieten in ihren 
Verhältniszahlen von Prostituierten und männliche Be¬ 
völkerung das bunteste Bild. 

In Berlin z. B. zählte man im Jahre 1845: 600 und im 
Jahre 1875 bereits 2241 polizeilich eingeschriebene Mädchen; von 
da ab stieg ihre Zahl jährlich um etwa 6 bis 7 Proz., während die 
Bevölkerung nur um 3 bis 4 Proz. gewachsen ist. Die Prostitution 
hat sich also in Berlin seit 20 Jahren in einem fast doppelt 
so starken Verhältnis vermehrt, als die Bevölkerung. Im Jahre 
1886 standen 3006, im Jahre 1889 bereits 3713, und im Jahre 
1891 4362 Prostituierte unter sittenpolizeilicher Kontrolle. In 
dem letzten Jahrzehnt ist die Prostitution sogar in noch stärkerem 
Verhältnis gewachsen. Dazu kommt ferner die ungeheuere Zahl 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


313 


der nicht eingeschriebenen Prostituierten, die in den letzten 
Jahren geradezu ins Riesenhafte gestiegen ist; sie wird heute auf 
50000 angegeben. Und dieses fortdauernde Anwachsen derein- 
geschriebenen und nicht eingeschriebenen Prostituierten ist nicht 
allein auf die größere Tätigkeit der Polizeiorgane, die Abnahme der 
der Eheschließungen und den Fremdenzutiuß zurückzuführen, son¬ 
dern hat seinen Grund wesentlich in dem Sinken des sittlichen 
Niveaus, nicht so sehr der Berlinerinnen, als vielmehr ganzer Be¬ 
völkerungsschichten außerhalb, namentlich der Mädchen vom Lande, 
die in die Großstadt versetzt, den Versuchungen nach Genuß, Ver¬ 
gnügen und Wohlleben nicht widerstehen können. 

In den Städten, in denen eine große Zahl unverheirateter 
junger Männer zusammengedrängt sind (Universitätsstädte, Garni¬ 
sonen), ist selbstverständlich auch die Zahl der Prostituierten 
größer als anderwärts. Diese Tatsache beweist aber noch nicht, 
daß die Prostitution lediglich durch die Nachfrage erzeugt wird. 
Das Angebot der Prostituierten übersteigt vielmehr in 
allen größeren Städten die Nachfrage und durch das 
große Angebot wird das Bedürfnis zum Teil erst geweckt; 
die Männer werden durch die sich auf der Straße anbietende Pro¬ 
stitution oder durch die Existenz von Bordellen erst zum geschlecht¬ 
lichen Verkehr provoziert. 

Gewiß ist die Prostitution an sich durch das Bedürfnis der 
Männer bedingt Bestände keine Nachfrage, so gäbe es kein An¬ 
gebot, und insofern kann man die Prostitution eine Männerfrage 
nennen. Aber das Angebot wäre trotz der Nachfrage kein so 
großes, wie es zurzeit ist, wenn nicht eine Reihe anderer Um¬ 
stände, insbesondere die durch schlechte Erziehung und 
Bildungsmangel bedingte Widerstandslosigkeit gegen 
Verführungen, dem größten Teil der weiblichen Jugendlichen den 
^Schritt in die Arme der Prostitution wesentlich erleichterten. (Vergl. 
auch Neisser; „Nach welcher Richtung läßt sich die Reglemen¬ 
tierung der Prostitution reformieren?“ Zeitschr. f. B. d. G. Bd. I. 
S. 213 ff.) 

(Schluß folgt) 


ZültÄchr. f. Bekämpfung d. Geschlechts kr an kh. II. 


24 


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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische. 

(Krankenkassenmitglieder und Versicherte.) 

Von Dr. Carl Stern, 

Oberarzt des Städtischen Barackenkrankenhauses Düsseldorf. 

Nachdem mit dem Inkrafttreten der Novelle zum Kranken¬ 
versicherungsgesetz die beschränkenden Bestimmungen für die 
Geschlechtskranken glücklicherweise beseitigt sind, ist mit dem 
1. Januar d. J. den Krankenkassen die gleiche Fürsorge für diese 
Art von Kranken auferlegt, wie für alle anderen zum Segen für die 
Kranken und zum Wohle für die Allgemeinheit. Die Einwirkungen 
des Gesetzes machen sich in der Vermehrung der Krankenhaus¬ 
aufnahmen schon jetzt in erfreulicher Weise bemerkbar. Bisher 
haben jedoch die Geschlechtskranken mit verschwindend kleinen 
Ausnahmen sich nicht der weitergehenden Fürsorge erfreuen können, 
welche die Versicherungsanstalten Kranken anderer Art auf Grund 
der §§18 und 47 des Invalidenversicherungsgesetzes durch Über¬ 
nahme des Heilverfahrens angedeihen lassen können. Vergleiche 
ich die in den Berichten der Versicherungsanstalten angeführten 
Zahlen und meine eigenen Erfahrungen über die zum Heilverfahren 
vorgeschlagenen Kranken anderer Art mit der Zahl derjenigen, 
die wegen Geschlechtskrankheiten zum Heilverfahren übernommen 
sind, so ist die Zahl eine verschwindend kleine gegenüber beispiels¬ 
weise der für die Tuberkulosenbekämpfung aufgewandten Mittel 
Soweit ich die Berichte der Versicherungsanstalten aus den 
letzten Jahren habe einsehen können, sind nur wenige in eine 
Fürsorge für Geschlechtskranke durch Übernahme des Heilverfahrens 
eingetreten, was zum Teil gewiß der Ausnahmestellung zuzu¬ 
schreiben ist, die die Geschlechtskranken bisher bei den Kranken¬ 
kassen einnahmen. Vielleicht ist auch bei dem im Vordergrund 
stehenden Interesse für die Tuberkulose das Interesse für die 
Syphilis bisher nicht hinreichend geweckt worden. Mit Ausnahme 
der Versicherungsanstalt Berlin, welche seit etwa 2 Jahren in 
Lichtenberg ein 50 Betten haltendes Genesungsheim für Geschlechts- 


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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische. 315 

kranke in anerkennenswerter Weise errichtet hat, besitzt keine 
der 30 Versicherungsanstalten eigene Einrichtungen zu dem ge¬ 
dachten Zwecke, während für die Zwecke der Tuberkulosebekämpfung 
11 Versicherungsanstalten eigene Anstalten unterhalten und andere, z. B. 
die V.-A. Rheinprovinz, mit so erheblichen Kapitalien an Lungen¬ 
heilstätten beteiligt sind, daß man sie fast als die Besitzerinnen 
der Anstalten bezeichnen kann. Und doch kann wohl kaum ein 
Zweifel sein, daß die Bekämpfung der Syphilis an Wichtigkeit nicht 
nachsteht der Fürsorge für die Tuberkulose, ln vieler Beziehung 
möchte ich fast die Fürsorge für die Syphilitischen als aussichts¬ 
voller und darum als erfolgreicher bezeichnen, als die Fürsorge 
für die Tuberkulösen, denn bei aller Anerkennung der auf dem 
Gebiete der Tuberkulosenbekämpfung bisher erzielten Resultate, 
darf doch nicht übersehen werden, daß bei der Tuberkulose die 
Erfolge der Heilstättenbehandlung nur zu oft illusorisch gemacht 
werden durch die ungeeigneten WohnungsVerhältnisse und sonstigen 
sozialen Verhältnisse, in die der Kranke nach der Entlassung 
zurückkehrt. Der Tuberkulöse ist in seinem Heilerfolg abhängig 
von den Verhältnissen seiner Umgebung, der Syphilitische trägt 
die Bedingungen seiner endgültigen Heilung im wesentlichen in sich. 
Ohne mich in eine weitgehende Erörterung der Heilwirkung unserer 
„spezifischen“ Medikamente bei der Behandlung der Lues einzu¬ 
lassen, glaube ich doch ohne ernsten Widerspruch hervorheben zu 
dürfen, daß wir bei der Behandlung der Syphilis — mehr viel¬ 
leicht als hier und da geschehen mag — auf die natürlichen 
Widerstandskräfte des Organismus ein wirken und diese beein¬ 
flussen müssen. Wenn man auch nicht soweit zu gehen braucht, 
die „spezifische“ Wirkung des Quecksilbers auf syphilitische Ver¬ 
änderungen nur durch eine Steigerung der natürlichen Heil¬ 
bestrebungen des Organismus durch das Medikament zu erklären, 
so kann man doch mit Fug und Recht behaupten, daß neben der 
Einwirkung „spezifischer“ Mittel die Hebung der allgemeinen Wider¬ 
standskraft des durchseuchten Organismus mittelst guter Ernährung, 
bester hygienischer Verhältnisse und Körperpflege bei der Heilung 
der Syphilis eine hervorragende Rolle spielt. Die Heilerfolge in 
den Badeorten bei den syphilitischen Erkrankungen sind wohl nicht 
zum geringsten Teil dem Einfluß der genannten Faktoren zuzu¬ 
schreiben, die um so nachhaltiger zur Wirkung kommen müssen, 
weil der Kranke heraus kommt aus den häuslichen und geschäft¬ 
lichen Sorgen und sich intensiv nur dem Heilplan seiner Er- 

24 * 


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316 


Stern. 


krankung widmen kann. Was wir unseren Patienten aus den wohl- 
situierten Klassen angedeihen lassen können und zweckmässig an¬ 
gedeihen lassen, erscheint aber nicht minder wichtig bei Kranken 
aus Bevölkerungschichten, in denen die Kenntnis der Gefahren 
einer syphilitischen Infektion vielfach noch sehr gering ist und 
daher die Beachtung und Befolgung der zur Heilung notwendigen 
ärztlichen Maßnahmen vielfach leider noch sehr mangelhaft. 
Nehmen wir dazu, daß die Zahl der syphilitisch Infizierten in den 
Kreisen der versicherungspflichtigen Bevölkerung eine enorm hohe 
ist, so kann es meines Erachtens nicht zweifelhaft sein, daß Ein¬ 
richtungen notwendig sind, die ähnlich den Badeorten für die 
besser situierten Patienten, als Ergänzung unserer Heilbestrebungen 
im Kampfe gegen die Syphilis dienen sollen. Daß sie zweckmäßig 
sind, bedarf kaum des Beweises. Notwendig sind sie vor allem 
auch deswegen, weil gegenwärtig und wohl noch auf geraume Zeit 
hinaus die Unterbringung der Geschlechtskranken in vielen Kranken¬ 
anstalten noch recht viel zu wünschen übrig läßt Wir sind noch 
nicht dahin gelangt, daß die Erkenntnis sich überall durchgerungen 
hat, die Syphiliskranken bedürfen zu ihrer Genesung genau der¬ 
selben ja besserer hygienischer Einrichtungen als die Kranken 
anderer Art. Vielfach sind die Unterkunftsräume für Syphilitische 
in den Krankenanstalten noch nicht frei von Bedenken in dieser 
Richtung. Ein nicht unerheblicher Teil der Mißerfolge oder ge¬ 
ringen Erfolge bei der Luesbehandlung in den niederen Kreisen 
ist zweifelsohne dem Umstande zuzuschreiben, daß es an Gelegen¬ 
heiten fehlt, in denen die Kranken unter besten hygienischen Ver¬ 
hältnissen ihrer Heilung sich widmen können. Krankenkassen oder 
Gemeindebehörden können nicht die Träger einer über das Maß 
ihrer gesetzlichen Verpflichtungen hinausgehenden Fürsorge sein, 
es bleibt daher nur übrig die Versicherungsanstalten für diese 
Frage zu interessieren. In der Tat müßten diese der Angelegen¬ 
heit ein weitgehendes Interesse entgegenbringen, da doch eine 
ihrer Hauptabsichten bei der Anwendung des § 18 des Invaliden¬ 
gesetzes die Verhütung der Erwerbsunfähigkeit ist. Wenngleich 
weniger in die Augen fallend spielt doch die Syphilis in der Ätio¬ 
logie der zu dauernder, vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit fahrenden 
Erkrankungen eine ganz hervorragende Rolle. Herz- und Leber¬ 
leiden, Rückenmark- und Gehirnerkrankungen brauche ich ja nur 
zu nennen, um den Einfluß zu charakterisieren, den die gar nicht 
oder nur mangelhaft behandelte Syphilis beim Zustandekommen 


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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische. 


317 


vorzeitigen Siechtums haben kann und in viel mehr Fällen hat, als 
gemeinhin beachtet wird. Die Versicherungsanstalten sollten des¬ 
halb für die Bekämpfung der Syphilis nicht minder interessiert 
sein, wie für die Verhütung der Tuberkulose. Und wenn auch nur 
ein Teil der für letztere aufgewandten Mittel für den Zweck der 
Syphilisbekämpfung nutzbar gemacht werden könnte, würde der 
Allgemeinheit und vor allem den Versicherten ein erheblicher 
Nutzen erwachsen können. Nach den amtlichen Nachrichten des 
Reichsversicherungsamtes 1903 Beiheft (Statistik der Heilbehand¬ 
lung) sind in den Jahren 1898—1902, also in 5 Jahren, von Ver¬ 
sicherungsanstalten und diesen gleichzuachtenden zugelassenen 
Kasseneinrichtungen (Knappschaftskassen, Pensionskassen der Eisen¬ 
bahnen u. a.) insgesamt in Heilbehandlung genommen worden 
140447 Personen mit einem Kostenaufwand von rund 32 Millionen 
Mark. Unter diesen waren an Lungentuberkulose erkrankt und 
als solche in ständiger Heilbehandlung (Seite 13) in S. S. 54 847. 
Aus der Statistik auf Seite 14 und 15 (Versicherte, welche mit 
anderen Krankheiten als Lungentuberkulose behaftet waren) ist zu 
entnehmen, daß noch rund 4000 Personen in Heilanstalten für 
Lungenkranke, Luftkurorte u. a. rund 7000 in Genesungsheimen, 
Rekonvaleszentenanstalten u. a. m. untergebracht waren, sodaß man 
nicht fehl gehen wird, wenn man annimmt, daß die Hälfte der 
Aufwendungen zur Tuberkulosenbekämpfung gedient habe. Der 
Bericht führt denn auch (Seite 7) an, daß 46 °/ 0 aller Behandelten 
des Jahres 1902 wegen Lungentuberkulose behandelt worden sind. 
Eine Aufklärung, wieviel für Geschlechtskranke aufgewandt ist, ist 
aus dem Bericht nicht zu entnehmen, da die „anderen Krankheiten“ 
nicht genauer charakterisiert sind. Aus den weiterhin an¬ 
geführten Heilbehandlungsorten kann man aber entnehmen, daß 
es nicht viele sein können, denn es sind nur wenige Orte und An¬ 
stalten aufgeführt, die überhaupt für die Unterbringung von Ge¬ 
schlechtskranken in Frage gekommen sein dürften. Wenngleich 
ich nun in keiner Weise dem Kampfe gegen die Tuberkulose irgend 
dadurch Abbruch tun möchte, daß ich die zu diesem Zwecke auf¬ 
gewandten Mittel zu verkürzen vorschlüge, glaube ich doch sagen 
zu dürfen, daß Mittel auch für den Kampf gegen die Syphilis bei 
den Versicherungsanstalten vorhanden sind und vorhanden sein 
müssen. Jedenfalls würde es durchaus zu rechtfertigen sein, wenn 
die Zahl der „Erholungsbedürftigen“, die Zahl der „Rheumatiker“ 
und der Bleichsüchtigen sich verminderte zugunsten der für die 


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318 


Stern. 


Syphilisbekämpfung aufzuwendenden Mittel. Aber selbst eine Mehr¬ 
belastung der Ausgabeposten zugunsten der Geschlechtskranken 
würde im allgemeinen sanitären Interesse und nicht zum geringsten 
im Interesse der Versicherungsanstalten selbst durchaus zu 
empfehlen und zu billigen sein. Somit sind die Vorbedingungen 
bei den Versicherungsanstalten gegeben, um energischer als es bis¬ 
her der Fall zu sein scheint, einzutreten in eine weitergehende 
Fürsorge für die Syphiliskranken. Was nun die Art der Fürsorge 
anlangt, so halte ich, wie schon angedeutet, die Errichtung eigener 
Genesungsheime durch die Versicherungsanstalten für die beste 
Lösung. Die Unterbringung der Kranken gedachter Art würde zu 
erfolgen haben, nachdem durch eine vorgängige, sei es Kranken¬ 
haus-, sei es ambulante ärztliche Behandlung die floriden Er¬ 
scheinungen zum Schwinden gebracht sind. Die Kranken befinden 
sich also noch im infektiösen Stadium, jedoch Ohne direkt nach¬ 
weisbare Erscheinungen. Mit Rücksicht auf die Übertragungsgefahr 
würde die gleichzeitige Anwesenheit solcher Kranker mit Rekon¬ 
valeszenten anderer Art etwa in den bisher bestehenden Genesungs¬ 
heimen nicht zu rechtfertigen sein, da die wenigsten dieser Ge¬ 
nesungsheime baulich so eingerichtet sind, um eine scharfe Trennung 
der einzelnen Krankheiten zu gewährleisten. Für den Anfang 
würde für den Bereich jeder Versicherungsanstalt eine Anstalt 
genügen dürfen, wobei die besonderen Verhältnisse der einzelnen 
Bezirke (Nähe großer Städte, industriereiche Bezirke) berücksichtigt 
werden müssen. Nach dem Vorbilde der Anstalt Lichtenberg würde 
eine Bettenzahl von 50 als Anfangsbelegzahl zu empfehlen sein, 
obgleich ich nicht zweifelhaft bin, daß bei den großen Bezirken, 
über die einzelne Versicherungsanstalten verfügen und bei dem 
Mangel an musterhaft eingerichteten Krankenabteilungen für Ge¬ 
schlechtskranke, die Zahl von 50 Betten bald erreicht sein wird. 
Nötigenfalls würde man außer den Rekonvaleszenten nach Syphilis 
(latent syphilitische) auch Folgezustände der Gonorrhoe zur Auf¬ 
nahme in die Rekonvaleszentenheime vorschlagen können, wodurch 
eine dauernde Belegung auch für die Wintermonate garantiert wird, 
was für die wirtschaftliche Seite nicht zu unterschätzen ist. Be¬ 
kanntlich kranken ein Teil unserer Lungenheilstätten an dem 
Übelstande einer Überanspruchnahme im Sommer, während sie im 
Winter so wenig belegt sind, daß finanzielle Schwierigkeiten ent¬ 
stehen müssen. Gerade diese Erfahrungen müssen aber meiner 
Ansicht nach die Versicherungsanstalten darauf hinweisen, daß es 


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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische. 


319 


zweckmäßiger ist eigene Anstalten zu unterhalten, als bei anderen 
Korporationen und Genossenschaften zugaste zu gehen. Die 
Versicherungsanstalten haben schon jetzt durch die Übernahme 
des Heilverfahrens einen derartigen Einfluß auf die Unterbringung 
von Eiranken, daß sie den Betrieb eigener Anstalten ruhig riskieren 
können, der vielleicht anscheinend etwas teurer ist, tatsächlich 
aber durch die indirekten Vorteile und Vorzüge, besonders durch 
den Einfluß den die Unternehmerin auf den Betrieb hat, sich 
billiger und vorteilhafter gestaltet. Da doch wohl anzunehmen ist, 
daß die Krankenfürsorge der Versicherungsanstalten sich immer 
mehr ausdehnt und eine im allgemeinen Interesse sehr zu wünschende 
Zusammenlegung der Krankenfürsorge und der Invalidenfürsorge 
in die Hand der Versicherungsanstalten über kurz oder lang wohl 
zu erwarten ist, kann ein Bedenken gegen den Betrieb eigener An¬ 
stalten kaum erhoben werden. Das Bedürfnis nach gut einge- 
gerichteten und gut geleiteten Krankenanstalten jeglicher Art ist 
durchaus vorhanden und wir sind noch weit entfernt von dem Zeit¬ 
punkte, der uns überall Anstalten für Krankenfürsorge und Rekon¬ 
valeszentenpflege in mustergültiger Weise finden läßt. Für die¬ 
jenigen Versicherungsanstalten, bei denen finanzielle Bedenken gegen 
den Betrieb eigener Anstalten noch überwiegen, möchte ich bei 
dieser Gelegenheit auf eine Reserve hinweisen, die sich meiner An¬ 
sicht nach für den wirtschaftlichen Betrieb neuer Anstalten nutzbar 
machen ließe. Nach § 25 des I.V.G. sind die Versicherungsanstalten 
befugt, einen Rentenempfänger auf seinen Antrag Aufnahme in ein 
Invalidenhaus zu gewähren, eine Befugnis, von der einzelne Ver¬ 
sicherungsanstalten durch die Errichtung von Invalidenheimen Ge¬ 
brauch gemacht haben oder beabsichtigen. Da nun erfahrungs¬ 
gemäß große Anstalten sich wirtschaftlich besser gestalten lassen, 
als kleine, da weiterhin durch den mit den Invalidenheimen zu 
verbindenden landwirtschaftlichen Betrieb und die — wenn auch 
beschränkte Arbeitskraft der Rentenempfänger, die sich in einer 
großen Anstalt im Betrieb durch leichten Gartenbau, Aushilfs¬ 
beschäftigung im Wirtschaftsbetriebe nutzbar verwerten läßt — eine 
Verbilligung des Gesamtbetriebes sich herbeiführen läßt, so würde 
ich eventuell empfehlen, Invalidenheime örtlich zusammenzulegen 
mit Einrichtungen zur Heilbehandlung und Rekonvaleszentenpflege. 
Unsere moderne Krankenhausbautechnik mit ihrem System der zer¬ 
streuten Bauart in Form der Pavillonbauten ermöglicht es in 
durchaus hygienisch einwandfreier Weise beide Aufgaben zu ver- 


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320 


Stern. 


binden. Die wirtschaftlichen Einrichtungen können für beide Zwecke 
gemeinsam sein, im übrigen der Betrieb der einzelnen Ab¬ 
teilungen ein völlig getrennter bleiben. Es würde damit das — 
wenn auch vielleicht nur vorübergehend — wiederkehren, was bei 
unseren großen Provinzialirrenanstalten jahrzehntelang bestanden 
hat, die Vereinigung der Heil- und Pflegeanstalten in einem 
Betriebe zur besseren finanziellen Ausnutzung. Nimmt dann im 
Laufe der Jahre die Benutzung des einen Teiles einer solchen 
kombinierten Anlage zu, etwa des der Heilbehandlung dienenden, 
so steht gar nichts im Wege, die Trennung wieder herzustellen. Ich 
bin auf diese Verhältnisse etwas näher eingegangen, weil ich glaube, 
daß derartige Erwägungen geeignet sind, etwaige Bedenken finan¬ 
zieller Natur gegen die Einrichtung von Rekonvaleszentenheimen 
für Syphilitische zu beseitigen. Wenn ich immer wieder hervor¬ 
hebe, daß ich die Versicherungsanstalten als die Träger dieses 
Gedankens ansehe, so geschieht dies, wie ich schon erwähnte, ein¬ 
mal deswegen, weil nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen 
nur die genannten Institutionen in der Lage sind, diese weiter¬ 
gehende Fürsorge für die Syphilitischen zu übernehmen. Es 
geschieht aber auch deshalb, weil ich in den Versicherungsanstalten 
die Träger der Krankenfürsorge für Versicherte überhaupt erblicke. 
Einen weiteren Ausbau dieser Fürsorge, eine Übernahme immer 
weitergehender Aufgaben auf dem Gebiete durch die Versicherungs¬ 
anstalten halte ich im Interesse der Versicherten nur für vorteil¬ 
haft Daß nebenbei derartige Einrichtungen, wie Rekonvaleszenten¬ 
heime, auch solchen sozial gleichstehenden Personen nutzbar gemacht 
werden können, welche nicht die Wohltaten der Versicherungsgesetze 
genießen, kann nur als weitere Empfehlung für die Frage dienen. 
Übrigens dehnt sich der Kreis der Versicherten immer mehr aus, 
sodaß die Zahl der Bewerber sicher nicht zu klein sein wird. 
Somit glaube ich alle etwaigen Bedenken, die von seiten der Ver¬ 
sicherungsanstalten gegen die Einrichtung derartiger Anstalten etwa 
gehegt werden könnten, beleuchtet und — wie ich hoffe — wider¬ 
legt zu haben. Im Kampfe gegen die am Marke des Volkes 
nagenden Seuchen der Syphilis und der Gonorrhoe behürfen wir 
der Hilfe und der tätigen Mitwirkung dieser machtvollen Insti¬ 
tutionen, in deren Hände der Gesetzgeber eine so große Fülle von 
Rechten, aber auch eine große Summe von Aufgaben und Ver¬ 
antwortung gelegt hat. Die Rekonvaleszentenheime für Geschlechts¬ 
kranke können, wenn sie richtig ausgebaut und zweckmäßig be- 


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Kekonvaleszentenheime für Syphilitische. 


321 


trieben werden, zu einer wichtigen Waffe im Kampfe werden. 
Möge das Beispiel der Versicherungsanstalt Berlin bald Nachfolge 
finden, möge sich bald ein Kranz solcher Anstalten erheben, um 
gut geleitet und richtig gehandhabt, einen wirksamen Faktor weiter 
zu bilden in den Bestrebungen, die jedem Arzte am Herzen liegen 
müssen, die jedem Menschen sympathisch sein sollten, weil sie das 
Volkswohl betreffen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die eine 
Ausnahmestellung fordern für die Geschlechtskranken, ich halte 
die Forderung unentgeltlicher Behandlung für undurchführbar und 
unzweckmäßig wegen der sich ergebenden Konsequenzen, aber um 
so lebhafter habe ich den Wunsch, daß das Maß von Fürsorge, 
was wir den Kranken anderer Art angedeihen lassen, in gleichem 
Umfange den Geschlechtskranken zuteil werde. Und daß die 
weitergehende Fürsorge, die von seiten der Versicherungs¬ 
anstalten den Kranken anderer Art zuteil wird, auch sich nutz¬ 
bar machen lasse in Form von Rekonvaleszentenheimen für diejenigen 
Versicherten, die das Unglück gehabt haben, mit Syphilis infiziert 
zu werden. Erfolg und dauernder Nutzen wird diesen Einrich¬ 
tungen zweifellos nicht fehlen. 


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Zwei gerichtliche Urteile. 

Besprochen von Prof. Dr. Max Flesch. 

1. Über die gesetzliche Berechtigung der Zwangsheilung der 
Prostituierten. 

Ein Bericht der Frankfurter Zeitung bringt ein bemerkenswertes 
Urteil der Strafkammer in Mannheim zur Veröffentlichung: 

Mannheim, 29. März. Eine bemerkenswerte Entscheidung fällte 
heute die hiesige Strafkammer. Die an einer ansteckenden Geschlechts¬ 
krankheit leidende Prostituierte Maria Kleebach aus Eckenheim bei 
Frankfurt a. M. hatte sich heimlich aus dem Allgemeinen Kranken¬ 
haus entfernt und war weiter der Gewerbsun zucht nachgegangen. In 
Anbetracht der Frivolität und Gemeingefährlichkeit glaubte das Schöffen¬ 
gericht ein Exempel statuieron zu sollen und verurteilte die Kleebach 
wegen Vergehens gegen § 327 R.St.G.B. zu 6 Monaten Gefängnis. 
Hiergegen legte die Kleebach Berufung ein. Vor der Strafkammer 
erklärte sie, sie habe sich nicht für krank gehalten und sei deshalb 
aus dem Krankenhaus fortgegangen. Die Strafkammer hob das Ur¬ 
teil des Schöffengerichts auf und sprach die Berufungsklägerin frei. 
Das Gericht ist der Ansicht, daß der § 327 R.St.G.B. — der von der 
Verletzung der gegen ansteckende Krankheiten angeordneten Maßregeln 
handelt — im gegebenen Falle mit Unrecht Anwendung gefunden 
habe; denn es bestehe keine Verordnung oder ortspolizeiliche Vorschrift, 
welche die Angeklagte verletzt habe. 

Regiementaristen und Abolitionisten werden aus diesem Urteil gleich¬ 
mäßig Anlaß zur Prüfung zu entnehmen haben, wie es verhindert werden 
kann, daß eine notorische Geschlechtskranke zur öffentlichen Gefahr wird. 
Die Angeklagte stützt sich darauf, daß sie sich für gesund gehalten habe, 
entgegen der Feststellung der Ärzte, die sie im Krankenhause behandelten. 
Das Urteil des Gerichts erkennt ihr ohne weiteres das Recht zu, auf 
Grund ihrer subjektiven Ansicht das Krankenhaus zu verlassen, d. h. 
eine Maßregel illusorisch zu machen, „die von der zuständigen Behörde 
(der Sittenpolizei, welche die Angeklagte eingewiesen hatte) zur Ver¬ 
hütung . . . des Verbreitens einer ansteckenden Krankheit angeordnet“ war 
(§ 327). Damit wird die Zwangsheilung der Prostituierten in allen den 
Fällen — und das ist ein erheblicher Teil — hinfällig, in welchen das 
subjektive Krankheitsgefühl fehlt, weil augenblickliche Beschwerden fehlen. 
Jede der Zwangsheilung unterstellte Dirne kann danach beanspruchen, 
beliebig das Hospital zu verlassen. Sie unterzieht sich allenfalls der Ge¬ 
fahr, im Falle sie nach ihrem Austritt aus dem Krankenhaus einen der 


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Zwei gerichtliche Urteile. 


323 


mit ihr Verkehrenden infiziert, auf Grund des Absatz 2 des betr. Paragra¬ 
phen oder auf Grund der Bestimmungen über Körperverletzungen straf¬ 
fällig zu werden — falls sich ein Kläger findet. Nach diesem Urteil 
entwickelt sich ein eigentümlicher Gang des Verfahrens in der Ausfüh¬ 
rung der aus § 361, 6 sich ergebenden Reglementierung. Eine Prosti¬ 
tuierte wird bei der Untersuchung krank befunden, ins Hospital geschickt 
und zweckmäßig behandelt Nach 2 Tagen geht sie wieder fort, weil 
sie sich gesund zu fühlen erklärt. Denn sie zurückzuhalten ist niemand 
imstande, da sich das zur widerrechtlichen Freiheitsberaubung gestalten 
würde. So wird sie von da ab vor jeder zwangsweisen Einweisung ge¬ 
sichert sein, bis sie sich bei etwaigen subjektiven Beschwerden freiwillig 
zur Behandlung meldet. Was sie bis dahin für Unglück angerichtet 
haben mag, bedarf keiner Diskussion. 

Das Mannheimer Urteil legitimiert die abolitionistische Behandlung 
der Prostitution für Deutschland — aber keineswegs im Sinne der ver¬ 
ständig denkenden Vertreter des Abolitionismus. Das will wahrlich 
keiner derselben, daß der Krankerklärten auf Grund ihres freien Er¬ 
messens das Recht zustehen soll, weiter zu hausen. Von dem Moment 
an, in welchem dieselbe „weiter der Gewerbsunzucht nachgegangen war“ 
(s. o.), war sie gemeingefährlich geworden, ganz wie — um ein krasses 
Beispiel aus der Luft zu greifen — etwa eine Leprakranke, die sich dem 
Asyl entzieht, weil sie, momentan schmerzfrei, sich angeblich geheilt zu 
glauben vorgibt. Nicht als ob ihr der Weg versagt bleiben dürfte, wenn 
sie glaubt, zu Unrecht der Behandlung unterzogen zu sein, eine sie vor 
unnützer Verlängerung ihres Spitalaufenthaltes schützende Superrevision 
zu erhalten. Solange aber die Reglementierung besteht, ist es unver¬ 
ständlich, daß deren Ausführung illusorisch gemacht werden kann; nur 
als Maßregel im Sinne der Abwehr gemeingefährlicher Erkrankungen hat 
die Reglementierung eine Berechtigung, findet sie Verteidiger. Wird ihr 
nach dem Mannheimer Urteil diese Bedeutung abgesprochen, so verliert 
sie ihre Existenzberechtigung. Dann muß aber für die geschlechtlichen 
Erkrankungen die Anwendung der für andere Infektionskrankheiten 
geltenden Normen in Kraft treten, und das gestaltet sich anders, als 
vielfach angenommen zu werden scheint: In den hier eintretenden 
Bestimmungen ist nirgends für deren Inkrafttreten das Krank¬ 
heitsbewußtsein der Betroffenen Voraussetzung. Die Ange¬ 
hörigen eines Blattern kranken, ja alle, die nur der Berührung mit dem¬ 
selben verdächtig waren, werden ohne Gnade zwangsweise zur bloßen 
Beobachtung in das Krankenhaus interniert; soll der Geschlechtskranke, 
Mann oder Frau, der überführt ist, durch Fortsetzung des geschlechtlichen 
Verkehrs gemeingefährlich zu werden, anders behandelt werden? Hier 
ist der springende Punkt für das praktische Handeln der abolitionistisch 
Denkenden, wenn sie es mit der Bekämpfung der venerischen Erkrankungen 
ernst meinen. In der Anregung dieser Frage liegt die eigentliche Bedeu¬ 
tung des Mannheimer Urteils. 


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324 


Flesch. 


2. Straflosigkeit der Gefährdung durch geschlechtlichen Umgang 
bei bestehender Geschlechtskrankheit. 

Das vorstehend besprochene freisprechende Urteil der Mannheimer 
Strafkammer findet eine wertvolle Ergänzung in einem seither veröffent¬ 
lichten Urteil der Strafkammer in Bamberg. Es ist in der Frankfurter 
Zeitung in folgender Mitteilung wiedergegeben: 

Bamberg, ff. April. Wegen eines Vergehens nach § 327 
St.G.B. hatte sich die Dienstmagd Barbara Schrempf vor der 
Strafkammer zu verantworten. Sie war wegen geschlechtlicher 
Erkrankung im Juliusspital zu Würzburg interniert gewesen und 
wurde bei ihrer Entlassung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sie 
noch nicht geheilt sei. Trotzdem wurde sie kurz darauf in der 
hiesigen Ulanenkaseme in flagranti ertappt. Der Staatsanwalt be¬ 
antragte zwei Monate Gefängnis. Das Gericht erkannte indes auf 
Freisprechung. 

Zeigt das Mannheimer Urteil, daß im einzelnen Falle die Regle¬ 
mentierung illusorisch gemacht wird, sobald die betroffene Person das 
Krankheitsbewußtsein in Abrede stellt, so läßt das Bamberger Urteil 
erkennen, daß, auch wo dies Bewußtsein unleugbar vorliegt, die be¬ 
stehende Gesetzgebung nicht ausreicht, auf dem Wege des gemeinen 
Rechtes venerisch Kranke unschädlich zu machen. Aus dem ersten er¬ 
hellt die Undurchführbarkeit des Regiementarismus, aus dem anderen 
die Machtlosigkeit des vom Standpunkt des Abolitionismus einzuscblagen- 
den Vergehens nach dem heutigen Stand der Gesetzgebung. Damit ist 
für beide Parteien die Linie vorgezeichnet, auf der sie sich zu praktischem 
Vergehen zusammen finden können und müssen. Es muß vor allem 
anderen erstrebt werden, die Geschlechtskrankheiten den Affektionen ein¬ 
zureihen, welche unter das Reichsseuchengesetz fallen und nach den in 
diesem zugrunde gelegten Gesichtspunkten zu behandeln sind. Für Pest 
und Lepra, Krankheiten, die bei uns kaum Vorkommen, gibt uns dies 
Gesetz die nötigen allgemeinrechtlichen Handhaben; wir müssen zu er¬ 
reichen suchen, daß letztere uns für die bei uns heimischen Seuchen 
nicht versagt bleiben. Werden die Geschlechtskrankheiten unter die im 
Reichsseuchengesetz behandelten Krankheiten eingereiht, so wird der § 327 
des St.G.B. auf ihre Verbreiter zur Anwendung kommen können. Auf 
dem Wege der Ausnahmegesetzgebung ist das bereits erstrebt worden, 
als die Kommission für die Vorberatung der Lex Heinze im deutschen 
Reichstag 1 ) einen Paragraphen annabm, der die wissentliche Verbreitung 
von Geschlechtskrankheiten unter Strafe stellen sollte. 

Die Vermehrung der gerichtlichen Urteile, welche sich auf die Folgen 
der Geschlechtskrankheiten beziehen, ist wohl der augenfälligste prak¬ 
tische Erfolg der endlich allgemein gewordenen Agitation zur Bekämpfung 
dieser Seuchengruppe. Langsam klären sich die Verhältnisse: Der 


') S. Flesch, Prostitution und Frauenkrankheiten. Frankfurt a. M. bei 
J. Alt 2. Aufl. Anhang. 


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Zwei gerichtliche Urteile. 


325 


Mangel einer reinen Rechtslage läßt verstehen, warum statt positiver 
praktischer Forderungen unfruchtbare Diskussionen über Systeme, über 
Abolitionismus und Reglementarismus Denken und Arbeitskraft er¬ 
schöpfen. Indem die Lücken der Rechtslage bloßgelegt werden, sehen 
wir ein praktisches Ziel vor uns: vor allem muß die Ausfüllung dieser 
Lücken angestrebt werden. Vielleicht wäre eine Petition nach dieser 
Richtung die dringendste Aufgabe für die D.G.B.G. Zur Schaffung einer 
gemeinsamen Grundlage zur Bekämpfung der venerischen Erkrankungen 
auf dem Boden des gemeinen Rechtes würden sich unzweifelhaft die 
verschiedenen in der Gesellschaft vertretenen Richtungen leicht einigen. 


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Referate. 

Untersuchung und Behandlung der Prostituierten. 

C> Ströhmberg. 1. Das Dorpater Ambulatorium für Prostituierte. Russisches 

Jouraal für Haut- und venerische Krankheiten. 1901. Nr. 10. 

2. Die Resultate der bakteriologischen Untersuchungen bei der Beobachtung des Ge¬ 

sundheitszustandes der Prostituierten in Dorpat Ibidem. 1901. Nr. 10, 11, 12. 

3. Die gemischte stationär-ambulatorische Syphilisbehandlung der Dorpater Prostituierten. 

Ibidem. 1902. Nr. 11, 12; 1903. Nr. I, 2, 3. 

Der Verfasser hatte die Absicht, in diesen drei Aufsätzen an einem 
praktischen Beispiele zu demonstrieren, in welcher Weise der ärztliche 
Teil der Kontrolle der Prostitution zu reformieren sei, und daß die von 
ihm anderwärts 1 ) gemachten Vorschläge nicht als unerreichbare Ideale 
aufzufassen seien. 

Entsprechend unseren heutigen Kentnissen der Syphilis und der 
Gonorrhoe hat seiner Ansicht nach die Kontrolle in einer genauen 
Diagnose der Krankheiten, in beständiger Beobachtung des Gesundheits¬ 
zustandes jeder einzelnen Prostituierten und in einer ununterbrochenen, 
teils ambulatorischen, teils stationären Behandlung derselben zu bestehen, 
und nicht in einer gewissen Anzahl von Besichtigungen, welche unabhängig 
voneinander sind. 

Aus diesem Grunde müssen den mit der Kontrolle der Prostituierten 
betrauten Ärzten stationäre Abteilungon, welche mit wohleingerichteten 
Ambulatorien verbunden sind, zur Verfügung stehen. Der erste Auf¬ 
satz enthält eine Beschreibung des vom Verfasser eingerichteten Ambu¬ 
latoriums, welches er im Bulletin de la sociöte internationale de propby- 
laxie sanitaire et morale T. II, 1902, Nr. 1, S. 37—49 in deutscher 
Sprache geschildert hat. 

Der zweite Aufsatz beschäftigt sich mit der Diagnose der Gonorrhoe 
der Prostituierten. Als Material für diesen Aufsatz dienten 161 Prosti¬ 
tuierte, welche im Frühling 1901 in Dorpat (41100 Einwohner) der 
Kontrolle unterworfen waren. Die mikroskopischen Präparate von allen 
diesen Prostituierten werden im Ambulatorium verwahrt und beweisen, 
daß bei 66 von ihnen im Jahre 1901 Gonokokken vorhanden waren, 
daß bei weiteren 66 zwar früher, nicht aber im Jahre 1901, Gonokokken 
gefunden worden waren und daß bei 29 überhaupt keine Gonokokken 
gefunden worden waren. Mit anderen Worten: Je 41 Prozent beherbergten 


Ströhmberg. Die Prostitution, Stuttgart 1899. Derselbe. Die Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, Stuttgart 1903. 


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Referate. 


327 


während und vor der Untersuchungsperiode Gonokokken in ihren Geni¬ 
talien; bei 18 Prozent waren durch die einfache mikroskopische Unter¬ 
suchung Gonokokken überhaupt nicht nachgewiesen worden. 

Die 95, bei welchen im Jahre 1901 keine Gonokokken gefunden 
worden waren, sind in einer Tabelle, welche dem Aufsatze beigefägt 
ist, mit den Resultaten der mikroskopischen Untersuchung und der 
Untersuchung der Sekrete ihrer Urethra und ihrer Cervix nach dem 
Thalmannschen Kulturverfahren unter genauer Protokollierung der ein¬ 
zelnen Untersuchungsresultate angeführt Das Kulturverfahren ergab 
bei allen mit Ausnahme von zweien ein positives Resultat; bei 93 
glaubte der Verfasser also mit Hilfe des Kulturverfahrens Gonokokken 
gefunden zu haben. Leider hat ihn die ziemlich große Arbeit der An¬ 
fertigung von etwa 800 Kulturen irregeführt; er ist bei seinen Kulturen 
offenbar der Verwechselung einer der vielen Staphylokokkenarten mit 
dem Gonokokkus zum Opfer gefallen. Um bei der mikroskopischen 
Untersuchung der aus den Kolonien an gefertigten Emulsionen schöne 
Präparate mit deutlichen Konturen der einzelnen Kokken zu erhalten, 
wandte er zur Färbung eine sehr schwache GentianaviolettlÖsung an, 
wodurch wohl die Entfärbung nach Gram zu erklären ist, welche sehr 
prompt eintrat und ihn irre führte. Man wird also einstweilen noch 
auf eine Anwendung des Kulturverfahrens in den Prostitutionsambulanzen 
in größerem Maßstabe verzichten müssen, sofern es nicht doch möglich 
sein sollte, diese Ambulanzen mit einem entsprechenden Nährboden in 
genügender Menge zu versorgen. Die mikroskopische Untersuchung der 
Sekrete ist indes nach wie vor aufs nachdrücklichste zu fordern. 

Als Material für den 3. Artikel dienten 212 Prostituierte, welche 
vom 1. Januar bis zum 30. Juni 1901 unter der Kontrolle standen. 

Von diesen waren 51, oder 24 Prozent, vor weniger als 3 Jahren 
syphilitisch infiziert worden und wurden daher als im kondylomatösen 
Stadium der Syphilis befindlich betrachtet. Ihre Krankengeschichten sind 
tabellarisch geordnet dem Artikel beigefügt 

Die wesentlichsten Eigentümlichkeiten der Prostituierten, welche 
für die Wahl der Behandlungsmethode ihrer Syphilis in Betracht kommen, 
sind folgende: ihre Lebensweise, die in unvergleichlich höherem Maße 
die Verbreitung der Krankheit begünstigt als die Lebensweise irgend 
welcher anderer Personen, ihre Unaufrichtigkeit, ihre Gleichgültigkeit 
gegen die Behandlung überhaupt, ihr Widerwille gegen die stationäre 
Behandlung im besonderen, ihre Neigung zum Vagabundieren und der 
daraus sich ergebende Mangel an Seßhaftigkeit. Diese Eigentümlich¬ 
keiten bedingen nicht allein ihre ganz besondere Gefährlichkeit bezüglich 
der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten, sondern erschweren auch 
in hohem Maße eine regelrechte und konsequente Behandlung ihrer 
Syphilis; sie dürfen daher bei der Wahl des Behandlungsplanes nicht 
unberücksichtigt bleiben. Da es sich im wesentlichen um eine Queck¬ 
silberbehandlung handelt, so ist natürlich vor allen Dingen auf eine 
Vermeidung der Quecksilbervergiftung zu achten. Im übrigen darf aber 
nicht vergessen werden, daß es sich hier nicht allein um die Wieder¬ 
herstellung der Gesundheit der kranken Persönlichkeit, sondern auch um 


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Referate. 


die Verminderung der Infektionsgefahr durch dieselbe handelt. Die 
Isolierung für die ganze Dauer des kondylomatösen Stadiums ist in der 
Mehrzahl der Fälle undurchführbar. 

Die symptomatische Behandlung, welche erst beim Auftreten von 
Rezidiven eingreift;, ist hier gleichfalls nicht am Platze. Zur Bekämpfung 
der Infektiosität hat man von den milden Behandlungsmethoden ab¬ 
zusehen und sich für die energischen zu entscheiden, um so mehr, als 
man niemals wissen kann, wann und ob man eine solche Patientin wieder 
zu Gesichte bekommen wird. Diese Erwägungen waren die Veranlassung 
dazu, daß in Dorpat der Behandlungsplan Gauchers akzeptiert wurde, 
und daß die Schmierkur mit Ung. hydr. ein. 4,0 sowie parenchymatöse 
Injektionen von Hg. salicyl. 0,1 bevorzugt wurden. 

Für 4 Jahre sind nach diesem Plane im ganzen 17 Behandlungs¬ 
kurse vorgesehen; während des ersten Kurses werden durchschnittlich 
40 Einreibungen, oder 5—6 wöchentliche parenchymatöse Injektionen 
appliziert, während des 2. bis 4. je 20 Einreibungen, oder 2—3 wöchent¬ 
liche Injektionen, während aller weiteren je 10 bis 20 Einreibungen 
oder je 1—2—3 Injektionen. 

Für das erste Jahr sind 6 Kurse vorgesehen. Der erste umfaßt 
mit der darauffolgenden Erholungszeit 3 Monate, die übrigen fünf um¬ 
fassen mit der Erholungszeit je 2 Monate. 

Für das zweite Jahr, welches in der 6. Erholungspause beginnt, 
sind 5 Kurse vorgesehen; der erste dauert mit der darauffolgenden Er¬ 
holungszeit 2 Monate, die nächsten drei dauern je 2 1 / a Monate und der 
fünfte 3 Monate. Für das 3. Jahr, welches in der 11. Pause beginnt, 
sind 4 Kurse von je 3 monatlicher Dauer der Behandlung und Erholung 
und für das 4. Jahr, welches in der 15. Pause beginnt, 2 Kurse mit 
Zwischenräumen von je 6 Monaten vorgesehen. 

Selbstverständlich bildet dieses Schema keine starre, unabänderliche 
Form, sondern nur den Wegweiser, von welchem je nach der Indivi¬ 
dualität der Patientinnen, je nach ihrem Verhalten zum Quecksilber, und 
je nach dem besonderen Verlauf ihrer Erkrankungen Abweichungen un¬ 
vermeidlich sind. Bei der Schnelligkeit, mit weicher im Ambulatorium 
gearbeitet werden muß, und bei dem beständigen Wechsel der Patientinnen 
ist ein solches Schema von großem Werte. Da Verf. die Einreibungen 
für wirksamer hält als die Injektionen, so betrachtet er die letzteren 
in den Fällen, in welchen die ersteren nicht anwendbar sind, für einen 
Ersatz der ersteren. Verf. geht von der Voraussetzung aus, daß eine 
Injektion annähernd 7—8 Einreibungen gleichwertig sei. Die Verzeich¬ 
nisse zum Notieren der Besichtigungen werden zweimal jährlich, am 
1. Januar und am 1. Juli angefertigt, die im Laufe des halben Jahres 
Hinzugekommenen werden nachträglich eingetragen. Neben jedem Namen 
sind im Verzeichnis 52 Felder entsprechend den Daten der Besichtigungs¬ 
tage vorhanden, in welchen die stattgehabte Besichtigung durch ein 
Zeichen vermerkt wird. Bei denjenigen, welche vor weniger als 4 Jahren 
mit Syphilis infiziert worden sind, sind im voraus für ein halbes Jahr 
durch bestimmte Zeichen diejenigen Daten bezeichnet, an welchen sie 
nach dem Schema der Behandlung unterzogen werden sollen. Sind zu 


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Referate. 


329 


diesen voransbestimmten Daten noch keine Rezidiverscheinnngen ein¬ 
getreten, so erhalten sie ambulatorisch je nach ihrem Belieben eine 
Schmierkur oder aber parenchymatöse Injektionen; sind di%egen bis zu 
dem Datum auch nur die geringsten manifesten Erscheinungen aufgetreten, 
so werden sie der stationären Behandlung unterzogen. Die besprochenen, 
im voraus gemachten Vermerke haben auch noch den Nutzen, daß man 
unwillkürlich auf ein zu erwartendes Rezidiv aufmerksam gemacht wird, 
und daß daher ein solches nicht so leicht übersehen werden kann. 

Für eine solche Behandlung der Syphilis der Prostituierten ist es 
natürlich von der größten Wichtigkeit, bei jeder das Jahr der Infektion 
zu eruieren. 

Am genauesten geschieht das in den Fällen, in welchen es gelingt, 
den Primäraffekt zu beobachten, für welchen die Bezeichnung primäre 
Erosion oder primäre Papel vor der Bezeichnung: „harter Schanker“ 
den Vorzug verdient. Die letztere veraltete Benennung führt dazu, daß 
viele Primäraffekte nicht als solche erkannt werden; denn die Worte 
Fourniers, welcher auf die Frage: „Was ist ein syphilitischer Schanker?“ 
antwortet: „etwas von der Art der oberflächlichsten und gutartigsten 
der Verletzungen.“ (Quelque chose comme le plus superficiel et le plus 
benin des traumatismes) x ) sind in bezug auf Frauen noch zutreffender 
als in bezug auf Männer. Foumier fügt weiter noch hinzu: „so gerade 
ist der Schanker, wenn auch nicht immer, so doch wenigstens in der 
ungeheueren Mehrzahl der Fälle beschaffen („Et tel est cependant le 
chancre, si non toujours, au moins dans 1 enorme majorite des cas“). 
Ferner ist nicht zu vergessen, daß die Anschauung von der. großen 
Seltenheit des Sitzes des Pimäraffektes an der Vaginalportion eine irr¬ 
tümliche ist Es muß auch im Auge behalten werden, daß, abgesehen 
von sehr wenigen Ausnahmen, alle Prostituierten an der Syphilis er¬ 
kranken, und daß bei der Mehrzahl, falls sie nicht schon früher infiziert 
worden waren, die Infektion im Laufe der ersten zwei Jahre nach der 
Registration erfolgt. Wenn man, wie es in der Dorpater Ambulanz 
geschieht, sich bestrebt, während der Beobachtung und Behandlung der 
Prostituierten bei jeder stets das Jahr der Syphilisinfektion zu kennen 
und zu behalten, indem man dasselbe sowohl in den Registrationskarten, 
als auch in dem Besiehtiguugsverzeichnisse, als auch in den Büchlein 
der Prostituierten notiert, so überzeugt man sich im Laufe weniger 
Jahre davon, wie wenige unter ihnen noch nicht syphilitisch infiziert 
sind. Diese wenigen erfordern eine ganz besonders aufmerksame Be¬ 
obachtung. Die unbedeutendsten Zusammenhangstrennungen der Ober¬ 
haut und der Epithelschicht im Bereiche der Geschlechtsorgane, die 
Cervix nicht ausgeschlossen, müssen hier als verdächtig gelten. Zeit 
und Ort des Befundes sind zu notieren; nach Schwund der Erosionen 
aber sind die Leistendrüsen konsequent und sorgfältig zu beobachten, 
damit weder der syphilitische Bubo, noch die syphilitischen Plejaden 
unbemerkt bleiben könnten. 

Bei der Affektion der Cervix fehlen die letzteren übrigens meist. 

*) A. Foumier, Traite de la Syphilis I, 1., Paris 193 S. 44. 

Zeitachr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke II. 25 


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330 


Referate. 


Die Kleinheit der scheinbar gutartigen Erosionen, ihre verborgene Lage 
zwischen den Falten und in den Grübchen der Schleimhaut des Scheide¬ 
einganges erfordern zur Erkennung Übung, bequeme Lagerung der 
Patientin und tadellose Beleuchtung. Alle diese Bedingungen können 
mit Sicherheit nur in einem gut eingerichteten Ambulatorium erwartet 
werden. Und doch werden wir oft wochenlang im Zweifel bleiben und 
manchen Irrtum begehen, bis uns die Drüsenschwellung aus unseren 
Zweifeln reißt. Die Irrtümer werden aber um so seltener sein, je mehr 
wir die gegebenen Winke befolgen. Wer seine Diagnose der Syphilis 
nur auf einen ausgesprochenen harten Schanker stützen will, wird 
manchen Primäraffekt verkennen. Verhältnismäßig selten sind wir in 
der Lage das Jahr der Syphilisinfektion der Prostituierten auf Grund 
der Beobachtung des Primäraffektes zu konstatieren. 

Viel häufiger sehen wir diese unsere Patientinnen zum erstenmal 
entweder mit deutlichen Symptomen der frischen sekundären Syphilis, 
oder mit den Symptomen eines Recidives, oder aber mit denjenigen 
Symptomen, welche während der sogenannten Latenzperioden nicht ver¬ 
schwinden. 

Die Beobachtung der frischen sekundären oder kondylomatösen 
Syphilis gewährt uns die Möglichkeit, mit der größten Sicherheit das 
Jahr der Syphilisinfektion festzustellen; denn diese Erscheinungen treten 
etwa 8 bis 10 Wochen nach stattgehabter Infektion auf. 

Nicht selten gelingt es jetzt auch noch, den Sitz des Primäraffektes 
festzustellen. Die Rezidive unterscheiden sich in der Mehrzahl der 
Fälle so deutlich von den frischen kondylomatösen Erscheinungen, durch 
die Spuren früher dagewesener Erscheinungen, durch die flachere Form 
der Lymphdrüsen, durch das Befallensein begrenzter Körperpartien, die 
kreisförmige Anordnung der Effloreszenzen u. s. w., daß sie unschwer als 
solche zu erkennen sind; die Feststellung des Jahres der Infektion ist 
auf Grund dieser Erscheinungen aber nicht so sicher, wie auf Grund 
der frischen kondylomatösen Erscheinungen. Nichtsdestoweniger ist sie 
annähernd möglich, namentlich wenn die Angaben der Patientinnen mit 
dem Befunde übereinstimmen. 

Allein nur zu oft sehen wir unsere Patientinnen zum ersten Male 
während der sogenannten Latenzperioden der Syphilis. Aus diesem Grunde 
ist für jeden Arzt, welchem die Beobachtung und Behandlung von Proti- 
tuierten obliegen, die Bekanntschaft mit denjenigen Symptomon, welche 
während der sogenannten Latenz nicht schwinden, zum mindesten ebenso 
notwendig wie die Kenntnis der verschiedenen Formen des Primäraffektes. 
Mitunter sind manche dieser Erscheinungen, die Chlorose, die Lymph¬ 
adenitis, das Ausfallen der Haare, leichte Pigmentierungen nach Exan¬ 
themen und Kondylomen, Auflockerung der Schleimhaut der Gaumen¬ 
bögen, das Leukoderma, eines der wichtigsten Latenzsymptome, Narben 
an den Genitalien, keloide Narben an anderen Körperstellen, Reste eines 
Ödems einer Schamlippe u. s. w. nicht deutlich ausgesprochen; in anderen 
Fällen sind sie so schwach ausgeprägt, daß zu ihrer Erkennung Be¬ 
dingungen erforderlich sind, welche einzig und allein ein gut ausgestattetes 
Ambulatorium bieten kann. 


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Referate. 


331 


Auf Grund der angeführten Symptome, besonders des Leukoderma, 
läßt sich mit Sicherheit das Vorhandensein der Syphilis im kondylomatösen 
Stadium diagnostizieren. 

Die Erfahrung lehrt, daß man von den Prostituierten, trotz ihrer 
allbekannten Unaul rieh tigkeit und Zerstreutheit, recht präzise Antworten 
bezüglich des Zeitpunktes ihrer Infektion und der durchgemachten Kuren 
erlangen kann, sobald man ihnen eröffnet, daß man auf Grund der an¬ 
geführten Zeichen bei ihnen das Bestehen einer kondylomatösen Syphilis 
festgestellt hat. Selbstverständlich ist die Bestimmung des Jahres der 
Infektion auf Grund solcher Angaben bezüglich der Genauigkeit nicht 
mit Feststellung desselben durch die eigene Beobachtung oder durch 
diejenige anderer Ärzte zu vergleichen. 

Es wäre daher sehr erwünscht, daß ein Austausch von Mitteilungen 
über das Infektionsjahr und die stattgehabten Kuren der behandelten 
Prostituierten unter den Ärzten, welche mit der Behandlung derselben 
zu tun haben, gebräuchlich werde. 

Im Laufe mehrerer Jahre sind von hier aus diese Daten an die 
Ärzte derjenigen Städte, in welche die Prostituierten verreisten, versandt 
worden, aber ohne daß ähnliche Nachrichten von auswärts hierher ge¬ 
langt wären. 

Dieser Austausch der Angaben über das Infektionsjahr und die 
statl gehabten Kuren wäre sowohl in den Fällen wichtig, in welchen trotz 
unzweifelhafter Zeichen der kondylomatösen Syphilis die Kranken eine 
stattgehabte Infektion und Behandlung in Abrede stellen, als auch in 
den zum Glücke seltenen Fällen, in welchen trotz verhältnismäßig 
frischer Infektion jegliche Zeichen fehlen. Sehr selten werden solche 
Prostituierte ohne Symptome freiwillig Angaben über ihre Infektion und 
frühere Behandlung machen. 

Von den 51 Prostituierten, deren Krankengeschichten dem Aufsatze 
zu Grunde lagen, sind 17 in Dorpat und 34 in anderen Städten infiziert 
worden. 

Von den 17, welche hier infiziert worden waren, war bei 8 der 
Primäraffekt beobachtet worden: und zwar in Form eines charakteristischen 
harten Schankers an den äußeren Genitalien bei einer, von Geschwüren 
an den äußeren Genitalien ohne deutliche Induration bei zweien, eines 
ebensolchen Geschwüres am After bei einer, einer Papel an den äußeren 
Genitalien bei einer, von Erosionen an den äußeren Genitalien bei zweien, 
einer Erosion am äußeren Muttermunde bei einer. 

Bei vieren war trotz der Kontrolle der Primäraffekt nicht als 
solcher erkannt, oder nicht beobachtet worden: bei einer, weil sie sich 
längere Zeit hindurch der Beobachtung entzog; bei einer war eine Erosion 
an den äußeren Genitalien, bei einer ein Geschwür an der vorderen 
Muttermundslippe und bei einer eine Erosion am äußeren Muttermunde 
nicht als Primäraffekt gedeutet worden, obgleich diese Erosionen und 
das Geschwür aller Wahrscheinlichkeit nach den Primäraffekt darstellten. 

Bei vieren wurde die Diagnose auf Grund frischer kondylomatöser 
Erscheinungen gestellt 

25* 


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Referate. 


Bei einer wurde die Syphilis auf Grund der Reste eines Rezidives 
und eines sehr stark ausgesprochenen Leukodermas diagnostiziert. 

Man wird wohl kaum in Abrede stellen können, daß bei diesen 
17 das Jahr der Syphilisinfektion mit ziemlicher Sicherheit eruiert 
worden ist, und daß die in vier verschiedene Städte versandten Nach¬ 
richten über das Infektionsjahr mehrerer von diesen Prostituierten, als 
sie von hier verreisten, eine große Bedeutung für die Arzte haben 
mußten, welche mit der Weiterbehandlung derselben zu tun hatten. 

Von den 34 in 20 anderen Städten Infizierten kam eine hier mit 
einem Schanker an, welcher hier in der Folge indurierte. Acht erschienen 
hier mit den Zeichen einer frischen kondylomatösen Syphilis; bei drei 
derselben war der Primäraffekt noch kenntlich, bei einer als indurierte 
Papel, bei einer als großer harter Schanker, bei einer als indurierte 
Infiltration in der Umgebung der Urethralöffnung. 

Somit ist bei 26 von 51 das Jahr der Infektion mit genügender 
Sicherheit festgestellt worden. 

Von den übrigen 25 erschienen hier 13 mit deutlichen Rezidiv¬ 
erscheinungen. 11 derselben machten bestimmte Angaben über das Jahr 
der Infektion und über die frühere Behandlung. Zwei stellten die 
Syphiliserkrankung in Abrede. Die eine von ihnen war früher einmal 
in Dorpat untersucht und damals noch gesund befunden worden, die 
andere litt offenbar an einem Frührezidiv, so daß auch in diesen beiden 
Fällen das Infektionsjahr festgestellt werden konnte. 

11 waren beim ersten Erscheinen in der hiesigen Ambulanz mit 
Symptomen der sogenannten Latenz behaftet; von diesen gaben 10 ihr 
Infektionsjahr an. Eine von ihnen, mit einem sehr starken Leukoderma, 
bei welcher bald nach ihrer Ankunft ein Rezidiv auftrat, leugnete ihre 
Erkrankung. Eine hatte endlich bei ihrem ersten Erscheinen keine 
unzweifelhaften Zeichen der sogenannten Latenz und leugnete, daß sie 
syphilitisch infiziert sei. Erst später trat ein Rezidiv auf, welches die 
Syphilisdiagnose ermöglichte und zur Schätzung des Infektionsjahres 
diente. 

Obgleich bei der Bestimmung des Infektionsjahres der letzten 25 
grobe Fehlschlüsse unwahrscheinlich sind, so ist die Möglichkeit solcher 
keineswegs ausgeschlossen. Mit Sicherheit hätten Irrtümer nur auf 
Grund von Mitteilungen derjenigen Ärzte vermieden werden können, 
welche bei diesen Kranken die Erscheinungen der frischen kondylomatösen 
Syphilis beobachtet hatten. 

Die der Arbeit beigefügte tabellarische Übersicht besteht aus 17 
vertikalen Rubriken entsprechend den Behandlungskursen und aus 51 
horizontalen Rubriken für die kurzen Auszüge aus den Krankengeschichten 
der im kondylomatösen Stadium der Syphilis befindlich gewesenen 
Prostituierten. 

Obgleich man gewöhnlich annimmt, daß die Rezidive der Syphilis 
in Zwischenräumen von 3 bis 6 Monaten aufzutreten pflegen, und ob¬ 
gleich für die Behandlungskurse hier viel kürzere Zwischenräume vorgesehen 
sind, so zeigt die Tabelle doch, daß bei manchen Kranken die Rezidive 
noch früher aufgetreten sind. Unter den Behandelten finden sich einige 


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Referate. 


333 


schwere Fälle, bei welchen die Behandlung sich über den ganzen für 
die Erholung vorgesehenen Zeitraum erstrecken mußte. Eine Kranke 
z. B. bedurfte zur Beseitigung ihrer frischen kondylomatösen Erscheinungen 
anstatt 40 Einreibungen deren 75. Bei einigen anderen waren auch 
mehr als 40 Einreibungen erforderlich. Die Einreibungen werden hier 
stets in Gegenwart des Arztes oder der Heilgehilfin ausgeführt, welche 
Kautel bei der Behandlung der Prostituierten nicht überflüssig ist. Bei 
anderen Kranken hatte die Syphilis einen so leichten Verlauf, daß beim 
ersten Behandlungskurse weniger als 40 Einreibungen genügten, 30, ja 
mitunter gar nur 20 ohne Schaden für den weiteren Verlauf der Krank¬ 
heit. Die Hauptaufgabe der Syphilisbehandlung besteht darin, in jedem 
einzelnen Falle eine genügende Menge des spezifischen Mittels unter 
Vermeidung eines Übermaßes zu applizieren. Unser Schema ist so zu 
verstehen, daß die Menge der für das erste Jahr vorgesehenen Queck¬ 
silberapplikationen etwa das Mittel des Erforderlichen angibt, während 
vom 2. bis zum 4. Jahre die Mengen als Maxima angesehen werden 
dürfen, welche man ohne zwingenden Grund nicht überschreiten sollte. 
Wenn von der zweiten Hälfte des zweiten Jahres an keine Rezidive 
mehr Vorkommen, so kann die Behandlung im 3. und 4. Jahre ohne 
Schaden unterbleiben. Man kommt daher in der Mehrzahl der Fälle 
mit einer bedeutend geringeren Menge von Quecksilberpräparaten durch, 
als sie in dem Schema vorgesehen ist. Für die schweren Fälle ist diese 
Menge keineswegs zu hoch gegriffen. 

Stomatitis wurde in 8 Fällen beobachtet. Bei zweien handelte es sich 
um schwere Syphiliserscheinungen und eine ausgesprochene Idiosynkrasie. 
Schon 5 Einreibungen riefen Stomatitis hervor; bei den anderen sechs 
bildete die Stomatitis eine ganz vorübergehende Erscheinung. 

In der Tabelle sind für 51 Kranke je 17 Behandlungskurse, also 
im ganzen 867 Kurse vorgesehen. Von diesen Kursen sollten 219 erst 
nach Abfassung der Arbeit vorgenommen werden, weil die Patientinnen 
sich zur Zeit der Abfassung der Arbeit noch in einem verhältnismäßig 
frühen Stadium ihrer Krankheit befanden. Durch ein Übersehen seitens 
des Arztes waren drei Kurse ausgeblieben, wegen zweifelhafter Dia¬ 
gnose 3, wegen zu später Diagnose 10, wegen Stomatis 8. Ein und 
derselbe Behandlungskurs dehnte sich wegen Hartnäckigkeit der Er¬ 
scheinungen über je zwei schematische Kurse aus in 3 Fällen; wegen 
Arretierung der Kranken im Arrestlokal oder im Gefängnisse unterblieben 
7 Kurse. Also aus den oben angegebenen Gründen fielen 248 Kurse 
aus. Wegen Aufenthaltes der Prostituierten in anderen Städten, oder 
weil sie noch nicht unter Kontrolle standen, blieben 273 Kurse aus. 

Es wurden durchgeführt 180 Behandlungskurse stationär wegen 
manifester Syphiliserscheinungen, 34 Kurse stationär bei solchen Pro¬ 
stituierten, welche zur vorherbestimmten Zeit sich wegen anderer Krank¬ 
heiten in Behandlung befanden, obgleich keine manifesten Erscheinungen 
der Syphilis Vorlagen. 132 Kurse wurden ambulatorisch durchgeführt, 
weil zur vorherbestimmten Zeit noch keine Rezidiverscheinungen auf¬ 
getreten waren; sonst wären sie einer stationären Behandlung unter¬ 
zogen worden. 


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Referate. 


Hieraus ist ersichtlich, daß 273 notwendig gewesene Behandlungs¬ 
kurse trotz der Aufmerksamkeit der hiesigen Kontrolle infolge des 
Vagabundierens der Prostituierten unterblieben sind. Mit anderen Worten: 
44 Prozent der im kondylomatösen Stadium der Syphilis be¬ 
findlichen Prostituierten können dank ihrem Umherstreifen 
sich der Behandlung entziehen, sofern in anderen Städten 
die vom Verf. aufgestellten Behandlungsprinzipien nicht an¬ 
erkannt werden, und solange der Austausch der Daten über 
das Infektionsjahr und die Behandlung der einzelnen Prosti¬ 
tuierten zwischen den Ärzten der verschiedenen Städte, in 
welche die Prostituierten verreisen, nicht obligatorisch ge¬ 
worden ist. 

Wie groß mag aber erst der Prozentsatz der unbehandelten kon- 
dylomatös syphilitischen Prostituierten in solchen Städten sein, in welchen 
man die Aufgabe des Arztes nicht in der genauen Bekanntschaft mit 
dem Gesundheitszustand jeder einzelnen Prostituierten und in der ent¬ 
sprechenden Behandlung erblickt, sondern in dem Bestreben, aus einer 
großen Zahl dem Arzte unbekannten, irrtümlicherweise für gesund 
geltenden Prostituierten die Kranken auszuscheiden?! In wie vielen 
Städten faßt man auch jetzt noch die Kontrolle vom letzteren Stand¬ 
punkte aus auf! 

In den folgenden Auseinandersetzungen wird eine parenchymatöse 
Injektion von 0,1 Hg. salicyl. sieben Einreibungen von grauer Salbe zu 
4,0 gleich gesetzt werden, da die ersteren hier einmal wöchentlich und 
die letzteren täglich gemacht wurden. 

Bei Gelegenheit der 180 Kurse wegen manifester Erscheinungen 
wurden im ganzen 3373 Einreibungen und 94 parenchymatöse Injektionen 
appliziert, durchschnittlich 22 Einreibungen auf einen Kurs. In 52 von 
diesen 180 Kursen wurde die stationäre Behandlung teils durch ambu¬ 
latorisch applizierte Injektionen ergänzt; teils waren der stationären Be¬ 
handlung ambulatorische Injektionen vorausgegangen, ohne daß durch 
dieselben das Auftreten manifester Erscheinungen hätte verhindert werden 
können. 

Die Ergänzung der stationären Behandlung durch eine ambulatorische 
war häufiger als das Umgekehrte. Während der 132 ambulatorischen 
Kurse wurden 275 Injektionen ausgeführt, durchschnittlich also 2 In¬ 
jektionen oder 14 Einreibungen auf jeden Kurs. Während der 34 statio¬ 
nären Kurse bei Gelegenheit der Aufnahme ins Krankenhaus wegen 
nicht syphilitischer Erkrankungen wurden 381 Einreibungen, also durch¬ 
schnittlich 11 auf jeden Kurs, appliziert. Abgesehen von den 381 statio¬ 
nären Behandlungstagen wegen anderer Geschlechtskrankheiten, haben 
diese Kranken 1925 Tage in der Freiheit verbracht, welche sie verloren 
hätten, falls sie anstatt ambulatorisch stationär behandelt worden wären. 
Das bedeutet unter Anschluß der 44 Prozent verreister Prostituierten 
66 Tage der Freiheit für jede dieser Patientinnen. Man darf vielleicht 
hoffen, daß 66 Tage der Freiheit, für welche der Arzt vor der Gesell¬ 
schaft durch seine Aufmerksamkeit und seine Mühe die Verantwortung 
trägt, eher geeignet sein werden, den Widerwillen der Prostituierten 


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Referate. 


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gegen die Behandlung zu mindern als die unzweckmäßige Ungebunden¬ 
heit der Prostituierten, welche so eifrig und leidenschaftlich von den 
Abolitionisten gefordert wird. Es sind in der Tat, wenn auch selten, 
bereits Fälle vorgekommen, daß Prostituierte aus anderen Städten einzig 
allein zum Zwecke der Behandlung hierher gekommen sind, und daß 
einheimische verschämte Prostituierte sich hier freiwillig der Beobachtung 
und Behandlung unterzogen haben. Unter den 51 Prostituierten be¬ 
finden sich je drei der beiden Kategorien. 

Verf. ist davon überzeugt, daß durch die 2306 präventiven Be- 
bandlungstage nicht wenigen Rezidiven vorgebeugt worden ist. Beweisen 
läßt sich solches allerdings nicht, da die Häufigkeit der Rezidive individuell 
sehr verschieden ist, und da man daher das Ausbleiben von Rezidiven 
nicht mit Sicherheit der Behandlungsmethode zuschreiben darf. Aber 
daß bei dem geschilderten Verfahren die Rezidive milder sind und 
schneller der Behandlung weichen, ist durch die tabellarisch geordneten 
Auszüge aus den Krankengeschichten wohl bewiesen. 

Beim Vergleiche der Rezidive derjenigen Kranken, welche hier vom 
Beginn ihrer Krankheit an behandelt wurden, mit den Rezidiven der¬ 
jenigen, welche hier erst im späteren Verlauf der Krankheit in Be¬ 
handlung kamen, findet man, daß bei den ersteren die Rezidive häufiger 
in Form von lokalen Erosionen, unbedeutenden, beginnenden Papeln, 
Auflockerung der Schleimhaut der Gaumenbögen und sonstiger un¬ 
bedeutender Erscheinungen auftraten, während bei den letzteren aus¬ 
geprägte Kondylome, Rhagaden, starke Anginen und Geschwüre häufiger 
waren. 

Vergleicht man nach Ausschluß der außergewöhnlich schweren 
Fälle die Dauer der Rezidive und die Mengen der zu ihrer Beseitigung 
erforderlichen Quecksilberapplikationen, welche bei den von Anfang an 
hier Behandelten und bei den erst später in Behandlung getretenen er¬ 
forderlich waren, so ergibt sich folgendes: 

Zur Beseitigung der Rezidive waren erforderlich bei denen, welche 
von Anfang hier behandelt worden waren, der Rezidive des ersten 
Jahres durchschnittlich 9,6 Einreibungen, des zweiten Jahres durch¬ 
schnittlich 5,2 Einreibungen, — bei denen, welche hier zwar behandelt 
worden waren, aber nicht vom Anfang der Krankheit an, der Rezidive 
des ersten Jahres durchschnittlich 12,5 Einreibungen, des 2. Jahres 
durchschnittlich 8,5 Einreibungen, — bei denen, welche hier überhaupt 
nicht behandelt worden waren, der Rezidive des ersten Jahres durch¬ 
schnittlich 29,2 Einreibungen, des zweiten Jahres durchschnittlich 27 Ein¬ 
reibungen. 

Die Prüfung der Resultate des seit mehreren Jahren hier geübten 
Verfahrens beweist, daß es eine regelrechte und erfolgreiche Syphilis¬ 
behandlung der Prostituierten mit möglichst geringer Einschränkung 
ihrer Freiheit gewährleistet. Verf. vermutet, daß, je gründlicher die Be¬ 
handlung ihrer Syphilis durchgeführt wird, in um so höherem Maße 
auch ihre Infektiosität vermindert werde. Mit wissenschaftlicher Sicher¬ 
heit läßt sich übrigens die Richtigkeit dieser Vermutung nicht beweisen. 
Nichtsdestoweniger ist in den letzteren Jahren die Tatsache beobachtet 


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Referate. 


worden, daß bei der Konfrontation infizierter Männer die Infektion meist 
auf solche Prostituierte zurückgeführt werden konnte, welche sich in 
der Periode zwischen dem Primäraffekt und dem Auftreten der ersten 
kondylomatösen Erscheinungen befanden. Leider sind diese Konfron¬ 
tationen nicht protokolliert worden, und es muß deshalb nach dem Ge¬ 
dächtnis referiert werden. Bei den Konfrontationen sind, so viel ich 
mich erinnere, keine Infektionen konstatiert worden, welche von Prosti¬ 
tuierten während ihrer gemischten stationär-ambulatorischen Behandlung 
ausgegangen wären. 

In kürzer Zusammenfassung läßt sich die Aufgabe des Arztes, für 
welchen die Bekanntschaft mit der Psychologie der Prostituierten 
mindestens ebenso wichtig ist wie die Kenntnis der venerischen Krank¬ 
heiten, bei der Syphilisbehandlung der Prostituierten also definieren: 

1. Bezüglich jeder einzelnen Prostituierten ist das Jahr 
der Syphilisinfektion festzustellen. Dabei ergibt sich, daß 
20—30 Prozent derselben sich im kondylomatösen Stadium 
der Syphilis befinden, daß 60 — 70 Prozent bereits dieses 
Stadium überschritten haben und daß 5 — 8 Prozent noch 
nicht syphilitisch infiziert sind. 

2. Auf die letzteren hat der Arzt sein ganz besonderes 
Augenmerk zu richten, eingedenk dessen, wie leicht die 
syphilitischen Primäraffekte der Frauen übersehen werden 
können; die geringsten Zusammenhangstrennungen der Haut 
und Schleimhaut im Bereich der Genitalien sowie die Be¬ 
schaffenheit der Inguinaldrüsen sind stets zu beachten. 

3. Der Arzt soll energisch, konsequent und genügend 
lange alle diejenigen behandeln, welche sich im kondylo¬ 
matösen Stadium der Syphilis befinden, und sorgfältig auf 
die Symptome der so genannten Latenz der Syphilis achten. 

4. In bezug auf die übrigen darf er nicht vergessen, daß 
mitunter noch recht spät kondylomatöse Erscheinungen auf- 
treten können, und daß Fälle einer zweiten Syphilisinfektion 
beobachtet worden sind. Im übrigen darf er diese Gruppe 
seiner Kranken für beinahe ungefährlich in bezug auf die 
Syphilisverbreitung ansehen. 

Die unbestreitbare große Bedeutung der genauen Bekanntschaft 
des behandelnden Arztes mit dem Infektionsjahr und dem Verlauf der 
Krankheit seiner Patientinnen wie nicht minder mit der früher vor¬ 
genommenen Behandlung darf bei der Organisation der Kontrolle nicht 
außer acht gelassen werden und erfordert folgende Bedingungen der 
Kontrolle. 

I. Es müßte jedem bei der Kontrolle tätigen Arzte zur 
Pflicht gemacht werden, beim jedesmaligen Verreisen einer 
Prostituierten in eine andere Stadt die erforderlichen Daten 
demjenigen Arzte mitzuteilen, welchem die Weiterbehandlung 
der Prostituierten obliegt. 

II. Da eine regelrechte Behandlung sich nur auf eine 
möglichst genaue Beobachtung der Kranken gründen kann, 


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Tagesgoschichte. 


337 


und da die Behandlung unter möglichster Vermeidung von 
Unbequemlichkeiten für die Kranke durchzuführen ist, so 
darf die Behandlung nicht von der Beobachtung getrennt 
werden und muß sie eine gemischte ambulatorisch-statio¬ 
näre sein. 

So trägt ein und derselbe Arzt die Verantwortung für die Be¬ 
handlung seiner Patientinnen und kann keinem anderen die Schuld an 
einem etwaigen Mißerfolge zuschreiben. 

III. Da die Diagnose der Syphilis nicht so einfach ist, 
wie es leider jetzt noch allzu vielen erscheint, und da zu 
derselben Bedingungen und Einrichtungen erforderlich sind, 
die in Bordellen, in Arrest- und Polizeilokalen, welche ja 
gar keine medizinische Bestimmung haben, nicht geboten 
werden können, so sollen die Untersuchungen der Prosti¬ 
tuierten ausschließlich in zweckmäßig eingerichteten Ambu¬ 
latorien, welche mit Krankenhäusern in Verbindung stehen, 
ausgeführt werden. 

Von der Arbeit der Ärzte hängt vor allen Dingen der Erfolg im 
Kampfe mit den Geschlechtskrankheiten ab. 

Die Ärzte haben auf diesem Gebiete nicht allein entsprechend den 
gegenwärtigen Anforderungen der Wissenschaft zu arbeiten, sondern 
auch durch ihre wissenschaftlichen Hinweise auf die Einführung zweck¬ 
mäßiger administrativer Maßregeln hinzuwirken. Nur dann, wenn wir 
bei der Erfüllung unserer Pflicht nicht die entsprechende Unterstützung 
fänden, hätten wir ein Recht dazu, andere für den Mißerfolg verant¬ 
wortlich zu machen. 

Jeder hat die Möglichkeit, auch auf diesem Gebiete in gehöriger 
Weise zu arbeiten, wie es die Würde unseres Standes erheischt. 

Autoreferat 


Tagesgeschichte. 

Frankreich. 

Die außerparlamentarische Kommission, über deren Einsetzung 
und Tagung wir schon mehrfach berichtet, hat im Laufe des Monats 
März 4 Sitzungen abgehalten. Als das überraschendste Ereignis ist das 
Auftreten des Polizeipräfekten Lepine in der Sitzung vom 18. März zu 
bezeichnen, welcher im Gegensatz zu seiner früheren Haltung die heutige 
Reglementierung für ungesetzlich und unwirksam erklärte und meinte, 
daß sie nur überflüssige Scherereien verursachte. Man müsse der Sitten¬ 
polizei eine gesetzliche Grundlage geben und die präventive Regle¬ 
mentierung in eine repressive umwandeln. Als Beispiel für die 
Unwirksamkeit der Reglementierung führte er selbst an, daß die Mädchen, 
die auf den öffentlichen Straßen Ärgernis erregten, gerade die 6000 
eingeschriebenen Prostituierten seien. Im Jahre 1902 seien allein 1717 
kranke Mädchen aus Furcht vor der Behandlung in St. Lazare ver¬ 
schwunden. Ein besonderes Interesse gewannen die Aussagen des Polizei- 


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338 


Tagesgeschichte. 


präfekten dadurch, daß er an demselben Tage in der Sitzung des Pariser 
Gemeinderats ein Projekt zur völligen Umgestaltung der Sittenpolizei 
vorlegte und durchbrachte. 

Der Pariser Gemeinderat hatte sich aus Anlaß verschiedener 
in Paris und in der Provinz im Laufe des letzten Jahres bekannt ge¬ 
wordener und in den Zeitungen ausführlich besprochener Übergriffe der 
Sittenpolizei mehrfach mit dieser Frage beschäftigt und eine besondere 
Kommission zu deren Studium eingesetzt. Den Bericht dieser Kommission 
erstatteten in der Sitzung des Gemeinderats vom 12. März die Herren Henri 
Turot, Adrien Mithoard und Maurice Quentin — alle drei in streng 
abolitionistischem Sinne; auch von den Diskussionsrednern wurde nur 
der aboütionistische Standpunkt vertreten. In der Sitzung vom 16. März 
erhob sich nun der Polizeipräfekt Lepine und legte zu allgemeiner 
Überraschung seinen Standpunkt etwa in derselben Weise dar, wie etwa 
2 Tage später in der außerparlamentarischen Kommission; er erklärte 
den Moment für besonders geeignet zur Angriffnahme von Reformen und 
meinte, daß die Stellungnahme des Pariser Gemeinderats zu diesen 
Fragen voraussichtlich die Entscheidungen jener Kommission wesentlich be¬ 
einflussen werde. Er stellte zunächst für die heutige Sitzung folgenden 
Antrag, der einstimmig angenommen wird: 

„Der Gemeinderat hält den Erlaß eines Gesetzes oder 
Reglements über die Sittenpolizei nach folgenden Grund¬ 
sätzen für wünschenswert: Ein minderjähriges Mädchen, 
das wegen Ausübung der Prostitution arretiert ist, muß dem 
Richter vorgeführt werden, der zu entscheiden hat, ob es 
seinen Eltern wieder zugeführt oder durch die Behörde einem 
Erziehungshause überwiesen werden soll, um dort bis zu 
seiner Großjährigkeit oder bis es ein Gewerbe erlernt hat, 
zurückbehalten zu werden.“ 

Lepine legt ferner ein Gegenprojekt gegen das Projekt der 
Kommission vor, welches dieser zur Prüfung und Berichterstattung 
überwiesen wird. Der Gemeinderat spricht sich weiter für die Revision 
der Krankenkassenstatuten aus, welche den Venerischen ihre Wohl¬ 
taten vorenthalten. Ferner für Abschaffung der Bestrafung Vene¬ 
rischer in Armee und Marine; ein letzter Beschluß betrifft die Ab¬ 
schaffung der Ordonnanzen von 1778 und 1780. 

Zwei Tage später — am 18. — wird die Diskussion fortgesetzt 
und zunächst in Ergänzung des in voriger Sitzung angenommenen An¬ 
trags Lepine folgender auf die Unterbringung minorenner Prosti¬ 
tuierter bezüglicher Beschluß gefaßt: 

„Mit Annahme des Beschlusses betr. die minderjährigen 
Prostituierten durch das Parlament ist eine besondere An¬ 
stalt zu errichten, die den Charakter einer Gewerbeschule 
tragen soll. Diese Anstalt darf nicht den Charakter einer 
Strafanstalt tragen und soll im wesentlichen auf die mora¬ 
lische und physische Festigung der Mädchen hinarbeiten. 
Mit der Anstalt soll eine Krankenabteilung zur Behandlung 
der venerisch erkrankten Minderjährigen verbunden sein.“ 


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Tagesgeschichte. 


339 


Es wird ferner beschlossen: 

„In Erwägung, daß weder die Prostitution ein Delikt ist, 
noch die Syphilis an sich ihren Träger einem Strafverfahren 
aussetzen darf, auf der anderen Seite die wissentliche Über¬ 
tragung der Syphilis ein zweifelloses Vergehen darstellt, 
spricht der Gemeinderat sich für ein Gesetz aus, das die 
Übertragung der Syphilis bestraft.“ 

Darauf werden folgende Resolutionen betr. die Bordelle (mit Zu¬ 
stimmung der Polizeipräfekten) angenommen: 

1. Jede besondere Reglementierung betr. die Bordelle 
und Absteigequartiere wird unterdrückt; in Anwendung 
bleiben in Zukunft nur die allgemeinen Polizeivorschriften 
betr. die Hygiene und Sauberkeit, insbesondere bzgl. alles 
dessen, was zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten er¬ 
forderlich ist. 

2. Die mit Bordellen verbundenen Kneipen sollen in Zu¬ 
kunft als öffentliche Lokale betrachtet werden. 

8. Der Polizeipräfekt wird aufgefordert, das zurzeit 
herrschende Überwachungssystem der Absteigequartiere zu 
beseitigen. 

4. Der Seinepräfekt und der Polizeipräfokt werden auf¬ 
gefordert, die gesundheitlichen Maßnahmen betr. die Unter¬ 
bringung der Prostituierten in den Bordellen mit der äußer¬ 
sten Strenge durchzuführen. 

Zum Schluß unterbreitet der Berichterstatter der Kommission, 
Henri Turot, das frühere radikalere Projekt der Kommission, welches 
diese zugunsten des Lep in eschen jetzt hat fallen lassen, in seinem 
eignen Namen, sowie das Gegenprojekt Lep in es, welches nunmehr von 
der Majorität der Kommission angenommen worden ist. 

Das Lepinesche Projekt hat folgenden Wortlaut: 

Durch Gesetz oder Verwaltungsreglement sind folgende 
Grundsätze festzulegen: 

1. Alle die Prostitution vom Standpunkte der öffentlichen 
Gesundheitspflege betreffenden Angelegenheiten sind einem 
besonderen, dem Seinepräfekten unterstellten Spezialgesund¬ 
heitsamt zu unterbreiten. 

2. Jede großjährige Frauensperson, welche diesem Pro¬ 
stitutionsgewerbe nachgehen will, muß eine dahingehende 
Erklärung unterschreiben und hat darauf folgenden Vor¬ 
schriften zu genügen: Sie muß im Besitz eines Gesundheits¬ 
attestes sein, welches, wenn sie unter 25 Jahre alt, zweimal 
wöchentlich, bis 30 Jahre einmal wöchentlich, über 80 Jahre 
alle zwei Wochen zu erneuern ist. Das Attest muß be¬ 
scheinigen, daß sie frei von venerischen Krankheiten ist, 
muß von einem Arzt eines öffentlichen Krankenhauses aus¬ 
gestellt sein und die Identität der Prostituierten kon¬ 
statieren. 


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340 


Tagesgeachichte. 


3. Jede großjährige Prostituierte, die ein solches voll¬ 
gültiges Gesundheitsattest nicht beibringen kann, oder die ohne 
eine vorangängige Erklärung der Prostitution nachgeht, so¬ 
wie solche, die sich auf öffentlicher Straße in Ärgernis er¬ 
regender Weise beträgt, wird dem Richter vorgeführt und 
mit Haft bestraft 

In den beiden ersten Fällen wird die Betreffende einmal 
zwangsweise untersucht und, falls venerisch erkrankt be¬ 
funden, einem Sanatorium überwiesen, wo sie bis zur völligen 
Heilung zurückbehalten wird. Erst nach ihrer Entlassung 
wird sie dem Richter vorgeführt. 

4. Jede administrative Strafe wird abgeschafft.* 

5. Die Spezialhospitäler für Venerische werden abgeschafft und 
durch Spezialabteilungen in den allgemeinen Krankenhäusern ersetzt. 
Geschlechtskranke sind in den Krankenhäusern denselben 
Hausregeln zu unterwerfen, wie alle andern Kranken und 
erhalten auch wie sie bei der Entlassung die übliche Unter¬ 
stützung. 

6. In einer möglichst großen Anzahl von allgemeinen 
Krankenhäusern sollen Polikliniken für Venerische mit 
Gratisverteilung von Medikamenten eingerichtet werden. 

7. Die Armendirektion wird aufgefordert, dem Gemeinde¬ 
rat sobald wie möglich einen Organisationsplan für diese 
Polikliniken vorzulegen. Dieselben sollen in den bevölkertsten 
Stadtteilen errichtet werden, die Sprechstunden sollen abends 
von 8—11, mindestens dreimal wöchentlich stattfinden. 

Das Tu rot* sehe Projekt, das ursprüngliche der Kommission, wurde 
nun vom Gemeinderat mit 37 gegen 16 Stimmen verworfen, hingegen 
das Gegenprojekt des Polizeipräfekten mit 70 Stimmen ein¬ 
stimmig (bei 6 Stimmenthaltungen) angenommen. 

Es unterliegt keiuem Zweifel, daß das Projekt des Polizeipräfekten, 
welches einen nicht ungeschickten Kompromiß zwischen Regiementaris- 
mus und Abolitionismus darstellt, auch in der außerparlamentarischen 
Kommission und später auch im Parlament, wenigstens in seinen Grund¬ 
zügen, angenommen werden wird. Bei der großen Bedeutung, welche 
eine derartige Reform der Reglementierung in ihrem Mutterlande auch 
für die übrigen zivilisierten Staaten haben würde, werden wir späterhin 
noch eingehender darauf zurückkommen müssen. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903/4. Nr. 9. 

Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 

Von 

Mag.-Assessor Dr. F. Schiller (Breslau). 

(Schluß.) 

n. 

Vor dem Erlaß des Bürgerlichen Gesetzbuchs gaben die 
Gesetze in Preußen wenig oder gar keine Handhaben, um die 
Prostitution wirksam zu bekämpfen. Insbesondere fehlte es an 
einer Möglichkeit, um den Nachwuchs, welcher der Prostitution, 
aus der Zahl der jungen Mädchen zugeführt wird, in genügendem 
Maße einzuschränken. 

Das Allgemeine Landrecht enthielt zwar in den §§90,91 II. 
2 Bestimmungen, wonach der Vormundschaftsrichter berechtigt war 
in Fällen, in denen Eltern ihre Kinder grausam mißhandeln oder 
zum Bösen verleiten oder ihnen den notdürftigen Unterhalt versagen, 
den Eltern die Erziehung zu nehmen und auf ihre Kosten 
anderen zuverlässigen Personen anzuvertrauen. Von dieser Befugnis 
ist aber selten oder nie Gebrauch gemacht worden, besonders weil 
die landrechtlichen Bestimmungen versagten, wenn die Eltern zur 
Tragung der Kosten dieser abgesonderten Erziehung unlähig waren. 

Das Reichsstrafgesetzbuch sah und sieht noch heute die 
Bestrafung der gewerbsmäßigen Unzucht in dem § 361 Nr. 6 
vor für diejenigen Weibspersonen, die nicht der polizeilichen Aufsicht 
unterstellt sind. Diese Bestimmung nötigt aber gerade die jüngeren 
weiblichen Elemente, sich der polizeilichen Kontrolle zu unterstellen, 
um der Bestrafung wegen gewerbsmäßiger Unzucht zu entgehen. 
Sind sie einmal in die Kontrollisten der Polizei eingetragen, so 
haben sie Bestrafung auf Grund des § 361 Nr. 6 nur zu befürchten, 
wenn sie den erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandeln. 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke II. 26 


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342 


Schiller* 


Durch die Strafbestimmung des § 361 Nr. 6 sind daher vielleicht 
mehr Mädchen der öffentlichen Prostitution zugefiihrt als ihr ent¬ 
zogen worden. Ebensowenig wie durch die aus § 361 Nr. 6 ver¬ 
hängte Strafe ist anzunehmen, daß durch die korrektioneile Nach¬ 
haft auf Grund des § 362 StGJB. in seiner früheren Fassung 
irgendwelche moralische Besserung bei den jugendlichen Prosti¬ 
tuierten herbeigeführt worden ist Im Gegenteil Durch die Zu¬ 
sammensperrung der verhältnismäßig noch wenig verdorbenen 
Mädchen mit den alten ausgedienten Lohndirnen in einem gemein¬ 
schaftlichen Arbeitshause ist den jungen Mädchen wohl in der 
Kegel der letzte Rest von Anstandsgefühl verloren gegangen. Der 
§ 362 St.G.B. in seiner neuen Fassung (Ges. vom 25. Juni 1900) 
sieht daher die Möglichkeit vor, die jungen Elemente nicht in 
einem Arbeitshause, sondern in einer Erziehungs- und Besse¬ 
rungsanstalt unterzubringen* 

Auch durch die Bestimmung des § 56 StG.B., wonach ein 
Minderjähriger, der zwischen 12 und 16 Jahren eine strafbare 
Handlung begangen, aber die zur Erkenntnis der Strafbarkeit er¬ 
forderliche Einsicht nicht besessen hat, in einer Besserungsanstalt 
untergebracht werden kann, sind der Prostitution viele Opfer nicht 
entrissen worden, schon weil diese Bestimmung von den Gerichten 
sehr selten zur Anwendung gebracht wurde. 

Dagegen hat die Vorschrift des § 55 StGJB., wonach gegen 
ein Kind, das vor Vollendung des 12. Lebensjahres eine strafbare 
Handlung begeht, nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften 
die zur Beaufsichtigung und Besserung erforderlichen Maßregeln 
getroffen werden können, zu dem ersten Schritt auf dem Wege 
der gesetzlich geregelten Zwangserziehung geführt Das zur Aus¬ 
führung des § 55 für Preußen erlassene Zwangserziehungs¬ 
gesetz vom 13. März 1878 beschränkte sich aber darauf, die 
zwangsweise Erziehung eintreten zu lassen, wenn der Minder¬ 
jährige nach Vollendung des 6. und vor Vollendung des 

12. Lebensjahres eine strafbare Handlung begangen hatte 
und die Unterbringung mit Rücksicht auf die Beschaffen¬ 
heit der Handlung, auf die Persönlichkeit der Eltern oder 
sonstigen Erzieher des Kindes und auf dessen übrige 
Lebensverhältnisse notwendig war zur Verhütung weiterer 
Verwahrlosung. 

Infolge dieser engen Beschränkung hat sich das Gesetz vom 

13. März 1878 als nicht ausreichend erwiesen, um der stetig 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfting. 


343 


wachsenden Kriminalität, Verwahrlosung und Verrohung unter den 
Jugendlichen zu wehren. Der Fehler des Gesetzes lag eben darin, 
daß es die Zwangserziehung mehr aus dem Gesichtspunkt einer 
strafrechtlichen Maßregel als aus dem einer erzieherischen, 
dem Verbrechen und der Prostitution vorbeugenden be¬ 
trachtete. Indem es die verwahrlosten, nicht verbrecherischen 
Jugendlichen sich selbst überließ und nur einschritt, wenn die 
Verwahrlosung vor dem 12. Lebensjahr des Minderjährigen zu 
einem Konflikt mit den Strafgesetzen geführt hatte, ist die 
Kriminalität unter den Jugendlichen und die Prostitution in einer 
die Gesellschaft ernstlich bedrohenden Weise gestiegen. 

Nach der Reichskriminalstatistik für 1896 (Statistik des 
Deutschen Reichs, Neue Folge Bd. 95 I. S. 28 ff.) sind Verurteilungen 
Jugendlicher wegen Verbrechen und Vergehen gegen die Reichs¬ 
gesetze ergangen: 

1882:30697 

1896:43962, 

das bedeutet eine Steigerung um 43,2 Proz.; im Jahre 1897 betrug 
die Zahl 45327, die Steigerung gegen 1882 47,3 Proz. 

Aber nicht nur absolut ist die Steigerung, sondern auch relativ 
im Verhältnisse zur Bevölkerung. Auf 100 000 Jugendliche im 
Alter von 12 bis 18 Jahren entfielen im Jahre 1882 568 Ver¬ 
urteilungen, 1896 dagegen 697; die Steigerung betrug mithin 
22 Proz. Diese Tatsache ist um so bedenklicher, als das An¬ 
wachsen der Kriminalität bei den Erwachsenen in demselben Zeit¬ 
raum absolut 34,1 Proz., relativ nur 16 Proz. betrug. 

Der wachsenden Kriminalität der Jugendlichen ver¬ 
mögen die strafrechtlichen Maßnahmen keinen Einhalt zu gebieten 
Ziffermäßig drückt sich der Mißerfolg der verhängten Strafen darin 
aus, daß der Rückfall unter den Jugendlichen von Jahr zu Jahr 
steigt. Auf 100000 Jugendliche der Bevölkerung entfielen 1889 
614 Verurteilte, davon waren früher schon bestraft 93, und zwar 
einmal 58, zweimal 20, drei- bis fünfmal 14, sechsmal und öfter 1. 
1896 betrug die Zahl der Verurteilten 702, der Vorbestraften 132, 
davon einmal 77, zweimal 28, drei- bis fünfmal 24, sechsmal und 
öfter 3. Von den im Jahre 1898/99 in die preußischen Straf¬ 
anstalten eingelieferten Zuchthausgefangenen waren 26 Proz. vor 
dem 18. Lebensjahre bestraft. 

Im Jahre 1898/99 wurden 1192 weibliche Personen in die 

26 * 


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344 


Schiller. 


Korrektionshäuser eingeliefert, davon 910 wegen Gewerbsunzucht; 
aber auch die übrigen wegen Betteins, Landstreichens, Obdach¬ 
losigkeit Überwiesenen waren fast ausnahmslos an der Gewerbs- 
unzucht beteiligt. Unter den Eingelieferten waren 222 oder 19 Proz. 
Minderjährige, davon 54 im Alter unter 18 Jahren. Von den Ein¬ 
gelieferten hatten 296 oder 25 Proz. vor dem 18. Lebensjahre Frei¬ 
heitsstrafen erlitten. 

Die schweren sittlichen und sozialen Schäden unseres Volks¬ 
lebens zu heilen, sind, nach der Begründung zum Fürsorge¬ 
erziehungsgesetz, in erster Linie Kirche und Schule berufen. „Da¬ 
neben ist es aber oft unabweisbar, die Jugendlichen aus der ver¬ 
derblichen Umgebung, in der sie sich befinden, herauszureißen oder 
gegen die ihnen innewohnenden verbrecherischen Neigungen anzu¬ 
kämpfen, indem man die Jugendlichen einer geregelten und seelisch 
wie körperlich besser auf sie einwirkenden Erziehung unterwirft.“ 

Bereits vor dem Erlaß des Fürsorgeerziehungsgesetzes hatte 
das Bürgerliche Gesetzbuch in den §§ 1666 und 1838 Bestim¬ 
mungen getroffen, die den Vormundschaftsrichter ermächtigen, die 
zur Erziehung eines Kindes nötigen Maßnahmen anzuordnen für 
den Fall, daß das geistige oder leibliche Wohl des Kindes durch 
die Schuld der Eltern oder Erzieher gefährdet wird. „Unter den 
Maßregeln, die der Richter im Interesse der Minderjährigen an¬ 
ordnen kann, ist die einschneidendste die Zwangserziehung. Das 
Bürgerliche Gesetzbuch hat aber keine Anordnung darüber ge¬ 
troffen, wie diese Maßregel ausgeführt werden soll, wenn die dazu 
erforderlichen Mittel weder aus dem Vermögen des Kindes, 
noch von den zu seinem Unterhalt Verpflichteten be¬ 
stritten werden können. In der Regel werden diese Mittel 
fehlen; Recht und Pflicht des Vormundschaftsrichters wären wohl 
theoretisch festgelegt, könnten aber praktisch nicht ausgeführt 
werden, wenn nicht landesgesetzliche Bestimmungen dafür sorgen.“ 
(Begründung zum Entwurf des Fürsorgeerziehungsgesetzes.) 

Gestützt auf Art. 135 des Einführungsgesetzes zum B.G.B. hat 
Preußen zu diesem Zweck das Eürsorgeerziehungsgesetz erlassen. 

An Stelle des alten Wortes „Zwangserziehung“ hat man den 
Ausdruck „Fürsorgeerziehung“ gewählt, weil man damit im Gegen¬ 
satz zu dem mehr strafpolitischen Charakter des Gesetzes von 1878 
die vorbeugende, sozialethische Tendenz des Gesetzes be¬ 
zeichnen wollte. „Das abstoßende Wort „Zwangserziehung“ drückte 
den ihr überwiesenen Kindern einen Makel auf, der sich im späteren 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


345 


Leben selten ganz verwischte und oft zu einer peinlich berührenden 
Erinnerung führte. Ethische und pädagogische Gründe nötigten 
daher, ein solches auch sprachlich kaum zu rechtfertigendes Wort 
um so mehr zu vermeiden, als das vorliegende Gesetz weniger gegen 
die schon eingetretene Straffälligkeit einschreiten, als die Straffälligkeit 
selbst durch eine entsprechende Erziehung verhüten will. Es 
nimmt daher auch lediglich gefährdete und persönlich durchaus 
einwandfreie Kinder in seinen Schutz.“ (Schmitz, „Die Für¬ 
sorgeerziehung Minderjähriger.“ 3. Aufl., S. 33.) 

Nach § 1 des Gesetzes kann nunmehr jeder Minderjährige, 
der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, in folgenden 
Fällen der Fürsorgeerziehung überwiesen werden: 

1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 B.G.B. 
vorliegen und die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die 
Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten; 
d. h. also, 

wenn das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch 
gefährdet wird, daß der Vater (bezw. die Mutter) das Recht 
der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind 
vernachlässigt oder sich eines ehrlosen und unsittlichen Ver¬ 
haltens schuldig macht (§ 1666), oder 

wenn das Vormundschaftsgericht anordnet, daß der Mündel 
zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder 
in einer Erziehungs- oder einer Besserungsanstalt untergebracht 
wird (§ 1838). 

2. Die Fürsorgeerziehung kann ferner angeordnet werden, wenn 
der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat, 
wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters straf¬ 
rechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Fürsorgeerziehung 
mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Per¬ 
sönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen 
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher 
Verwahrlosung des Minderjährigen erforderlich ist 

3. Schließlich kann ein Minderjähriger der Fürsorgeerziehung 
überwiesen werden, wenn diese außer den beiden vorgenannten 
Fällen wegen Unzulänglichkeit der erzieherischen Einwirkung 
der Eltern oder sonstigen Erzieher oder der Schule zur Ver¬ 
hütung des völligen sittlichen Verderbens des Minder¬ 
jährigen notwendig ist 


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346 


Schiller. 


Vergleicht man diese Bestimmungen des Ftirsorgeerziehungs- 
gesetzes mit denen des alten Zwangserziehungsgesetzes, so springen 
sofort zwei sehr bedeutende Neuerungen in die Augen: einmal der 
gänzliche Fortfall einer unteren Altersgrenze für die in 
Fürsorgeerziehung unterzubringenden Minderjährigen, und sodann 
das Hinaufrücken der oberen Altersgrenze auf das 
18. Lebensahr sowie die Ausdehnung der Fürsorge¬ 
erziehung bis zur erreichten Großjährigkeit 

Der Fortfall der unteren Altersgrenze ermöglicht die Unter¬ 
bringung von Kindern unter 6 Jahren in Fürsorgeerziehung, wenn 
die Notwendigkeit hierzu vorliegt. Es wird sich bei so kleinen 
Kindern besonders um die Vernachlässigung der Kinder seitens 
der Eltern und um die Gefährdung ihres körperlichen Wohles 
handeln. Sind die Eltern moralisch verkommen, so fehlt ihnen 
auch meist die Liebe zu ihren Kindern. Die Kinder werden grausam 
gemißhandelt und mit ungenügender Nahrung und Kleidung ver¬ 
sehen. Ohne Pflege und Aufsicht, vor Schmutz und Ungeziefer 
starrend wachsen die Kinder auf, oder vielmehr sie wachsen nicht 
auf; denn die meisten dieser armen Geschöpfe sterben in den 
frühesten Kinderjahren. 

Das Hinaufrücken der oberen Altersgrenze bis zum 18. Lebens¬ 
jahr hat besonders Bedeutung für die der Unzucht ergebenen 
weiblichen Minderjährigen. Diese Mädchen können, wenn über¬ 
haupt, so nur durch Anstaltserziehung auf den Weg des Guten zurück- 
gefiihrt werden. Die Anstalten, die diesem Zwecke dienen, die katholi¬ 
schen Anstalten „vom gutenHirten“, die evangelischenMagdalenhäuser 
usw. versagten früher in sehr vielen Fällen, da die Mädchen zum Ein¬ 
tritt nicht gezwungen und, wenn sie freiwillig eingetreten waren, 
nicht gegen ihren Willen zurückgehalten werden konnten. Die 
Fürsorgeerziehung gibt jetzt die Möglichkeit, die gefallenen weib¬ 
lichen Minderjährigen in geeignete Anstalten unterzubringen und 
bis zum vollendeten 21. Lebensjahre darin zu belassen. 

Die Altersgrenze von 18 Jahren ist gewählt mit Rücksicht 
auf die Nähe der Großjährigkeit, weil man glaubt, daß von einer 
Erziehung, die weniger als drei Jahre dauert, eine wirkliche Besse¬ 
rung für einen verwahrlosten jungen Menschen nicht zu erwarten 
sei. Wenn eine Reihe deutscher Staaten (Bremen, Mecklenburg- 
Schwerin und Mecklenburg-Strehlitz, Elsaß-Lothringen, Schaumburg- 
Lippe und Württemberg) die Altersgrenze, innerhalb der ein Minder¬ 
jähriger in Fürsorgeerziehung gebracht werden kann, auf das 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


347 


16. Lebensjahr herabgesetzt haben, so verkennen sie hierbei, daß 
bei einem großen Teil der Jugendlichen, speziell bei den der Un¬ 
zucht ergebenen Mädchen, die Verwahrlosung in der Regel erst 
zwischen 16 und 18 Jahren zutage kommt. 

Der § 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes ermöglicht heute der 
geschlechtlichen Verwahrlosung in ganz anderem Umfange 
entgegenzutreten, als dies früher der Fall war. 

Für die Ziff. 1 des § 1 kommen in erster Linie diejenigen 
Kinder in Betracht, die, in jungen Jahren stehend, gar nicht oder 
nur gering in eigenerPerson sittlich verwahrlost sind, wohl 
aber in einer Umgebung leben, in der sie früher oder später 
mit Sicherheit der sittlichen Verwahrlosung anheimfallen. 
Charakteristisch ist, daß ein Verschulden der Eltern oder Er¬ 
zieher vorliegen muß. Die Ziff. 1 wird daher besonders für solche 
Mädchen zur Anwendung kommen, die von frühester Kindheit an von 
Schmutz und Unsittlichkeit umgeben sind, speziell für die Kinder der 
Prostituierten und der vielen anderen Weibspersonen, die heimlich 
der Unzucht nachgehen oder Kuppelei treiben. Es liegt auf der 
Hand, daß die Mädchen, die in Familien aufwachsen, in denen 
die Mutter oder die Schwestern der Unzucht ergeben sind, die von 
den Eltern sehr bald zu unsittlichen Zwecken mißbraucht werden, 
am ehesten der geschlechtlichen Verwahrlosung anheimfallen. In 
verhältnismäßig jungen Jahren bereits werden sie die Opfer der 
Prostitution. 

Deshalb muß in allen diesen Fällen so früh wie möglich ein¬ 
geschritten werden. Die Kinder müssen den Eltern fortgenommen 
und im Wege der Fürsorgeerziehung bei ordentlichen Familien 
untergebracht werden, noch ehe sie von der Unsittlichkeit des 
Elternhauses infiziert sind. Darin sind alle einig, die es mit der 
Fürsorge für die gefährdete Jugend Ernst nehmen, daß je früher 
die Entfernung aus der verpesteten Luft des elterlichen Heims 
geschieht, um so leichter die Erziehung und um so größer der 
Erfolg ist Wenn die Kinder erst mit Bewußtsein das unsittliche 
Treiben der Eltern und Geschwister verfolgen, dann wird es schwer 
sein, ihnen das Gefühl für gute Sitte und Wohlanständigkeit bei¬ 
zubringen. 

Die Ziff. 2 des § 1 hat das Begehen einer Straftat vor dem 
vollendeten 12. Lebensjahre zur Voraussetzung. Es würden hierbei 
besonders kleine Diebstähle und unsittliche Handlungen in Betracht 
kommen. In der Regel ist es der Hang zur Genäschigkeit, der 


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348 


Schiller. 


die Kinder verführt Diebstähle zu begehen, und manches Mädchen 
ist in späteren Jahren ein Opfer der Prostitution geworden, nur 
weil es nicht gelernt hatte, diesen Hang, der sich mit den Jahren 
zu einem Verlangen nach Wohlleben und Luxus auswächst, zu 
bekämpfen. Neben Diebereien begehen Kinder häufig Sittlichkeits¬ 
delikte, indem sie mit anderen Kindern unzüchtige Handlungen 
vornehmen. In den meisten Fällen fehlt ihnen wohl das Bewußt¬ 
sein, eine kriminell strafbare Handlung zu begehen. Aber es ist 
immerhin ein Zeichen früher geschlechtlicher Erregbarkeit und 
häufig auch beginnender geschlechtlicher Verwahrlosung. Wenn 
das Verhalten der Eltern oder Erzieher in solchen Fällen nicht 
genügende Garantien für eine sorgfältige Erziehung bietet, dann 
wird die Fürsorgeerziehung eintreten müssen, um weitere sitt¬ 
liche Verwahrlosung zu verhüten. 

Für die Anwendung der Ziff. 3 muß die Verwahrlosung bereits 
so weit vorgeschritten sein, daß das völlige sittliche Verderben 
des Minderjährigen zu befürchten ist, wenn er nicht in Fürsorge¬ 
erziehung untergebracht wird. Hier werden, wie der Minister in 
den Ausführungsbestimmungen bemerkt, besonders diejenigen Minder¬ 
jährigen in Frage kommen, „die sich der Aufsicht der Eltern und 
Erzieher entziehen oder widersetzen, gegen deren Willen in 
schlechter Gesellschaft sich bewegen, wo sie Anreizung zu lieder¬ 
lichem Leben und zur Begehung von Straftaten finden; weibliche 
Mindeijährige, die sich der Gewerbsunzucht ergeben oder ihr zu 
verfallen drohen“. Ziff. 3 umfaßt speziell die große Zahl der 
Mädchen, die die Keime geschlechtlicher Verderbnis bereits in 
sich tragen, die in keinem Dienst- oder ArbeitsVerhältnis aus- 
halten, die einen unbezwingbaren Hang zum Nichtstun und Herum¬ 
treiben besitzen, dem ersten besten sich hingeben und allmählich 
aus dem Betrieb der Unzucht ein Gewerbe machen, bis sie von 
der Polizei aufgegriffen und durch Eintragung in die Kontrollisten 
offiziell zu Prostituierten gestempelt werden. 

Die Fürsorgeerziehung erfolgt unter öffentlicher Aufsicht und 
auf öffentliche Kosten in einer geeigneten Familie oder in einer 
Erziehungs- oder Besserungsanstalt. Über die Notwendigkeit 
der Unterbringung entscheidet das Gericht auf Antrag oder von 
Amts wegen. Zur Antragstellung sind verpflichtet der Landrat, 
in Städten mit mehr als 10000 Einwohnern der Gemeindevor¬ 
stand und in Stadtkreisen der Gemeindevorstand und der 
Vorsteher der Königlichen Polizeibehörde. Berechtigt zur 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


349 


Antragstellung ist außerdem jeder, der ein Interesse an der Unter¬ 
bringung eines Minderjährigen in Fürsorgeerziehung hat 

Besonders wichtig ist die Bestimmung des § 5, wonach bei 
Gefahr im Verzüge das Vormundschaftsgericht eine vorläufige 
Unterbringung des Minderjährigen anordnen kann. Die Polizei¬ 
behörde des Aufenthaltsorts hat in diesem Falle für die Unter¬ 
bringung des Minderjährigen in einer Anstalt oder in einer ge¬ 
eigneten Familie zu sorgen. Durch diese Bestimmung ist die 
Möglichkeit gegeben, die weiblichen Jugendlichen, die von der Polizei 
auf der Straße wegen gewerbsmäßiger Unzucht aufgegriffen werden, 
festzuhalten, bis das Gericht seine Ermittelungen beendet und definitiv 
über die Unterbringung in Fürsorgeerziehung Beschluß gefaßt hat. 
Ebenso ermöglicht der § 5 ein junges Mädchen, das sich bei der 
Untersuchung durch die Polizei als geschlechtskrank herausgestellt 
hat, einem Hospital zur Heilung zuzuführen und nach der Ent¬ 
lassung aus dem Hospital sofort in einer Anstalt zu internieren, 
bis ein rechtskräftiger Beschluß auf Unterbringung in Fürsorge¬ 
erziehung vorliegt. Bekanntlich suchen sich die von der Polizei 
aufgegriffenen Mädchen auf jede mögliche Art der Stellung unter 
Kontrolle zu entziehen. Wenn sie in einer Stadt ertappt werden, 
verschwinden sie spurlos, um an einem anderen Ort ihr Gewerbe 
heimlich fortzusetzen. Dieses Treiben ist um so gefährlicher, als 
gerade die jungen Mädchen am meisten gesucht sind, und da sie 
häufig mit Geschlechtskrankheiten behaftet sind, die Übertragung 
der Krankheiten in hohem Maße begünstigen. Dem kann jetzt durch 
die Bestimmung des § 5 Fürs.-Erz.-Ges. vorgebeugt werden. 

Leider wird von der Bestimmung des § 5 in der Praxis viel 
zu wenig Gebrauch gemacht. Einmal hält die Vorschrift des § 5 
Abs. 2, daß, sofern die Fürsorgeerziehung demnächst nicht end¬ 
gültig angeordnet wird, die Kosten der vorläufigen Unterbringung 
dem Träger der örtlichen Polizeiverwaltung zur Last fallen, die 
Polizeibehörden häufig ab, in nicht ganz zweifelfreien Fällen, die 
vorläufige Unterbringung zu beantragen. Und andererseits bringen 
die Gerichte den § 5 nur zur Anwendung, wenn es sich um bereits 
sittlich verwahrloste Minderjährige handelt, nicht aber dann, wenn 
es gilt ein noch nicht sittlich verwahrlostes Kind aus der 
verdorbenen Atmosphäre des Elternhauses so schnell als 
möglich zu retten. Die Gerichte stützen sich hierbei auf die weiter 
unten besprochene Praxis des Kammergerichts, wonach die Für¬ 
sorgeerziehung für ein sittlich noch unverdorbenes Kind nur ganz aus- 


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350 


Schiller. 


nahmsweise eintreten soll. Gefahr im Verzüge liegt aber häufig in 
Fällen vor, in denen es sich darum handelt, sittlich noch intakte 
Kinder ihren Eltern, die Trunkenbolde, Verbrecher und Dirnen sind, 
fortzunehmen. Hier kann jeder Tag, den das Kind bei seinen Eltern 
zubringt, nie mehr gut zu machendes Unheil anrichten. Es ist deshalb 
dringend zu wünschen, einmal, daß die Kosten Verteilung anders 
geregelt wird und r die Kommunalverbände in jedem Falle 
auch die Kosten der vorläufgen Unterbringung zu tragen 
haben, und ferner daß das Kammergericht und die nach- 
geordneten Gerichte ihre bisherige Praxis aufzugeben 
gezwungen werden. (Vgl. unten IV.) 

Die Ausführung der Fürsorgeerziehung liegt den Provinzial¬ 
verbänden ob, die auch die Kosten des Unterhalts und der Er¬ 
ziehung der Zöglinge zu tragen haben; sie erhalten dazu aber aus 
der Staatskasse einen Zuschuß in Höhe von zwei Dritteln dieser 
Kosten. Die Fürsorgeerziehung endet mit der Mindeijährigkeit; 
sie kann jedoch schon vorher aufgehoben werden, wenn ihr Zweck 
erreicht oder die Erreichung des Zwecks anderweitig sicherge¬ 
stellt ist. 


m. 

Wenn noch irgendwelche Zweifel bestehen über die Not¬ 
wendigkeit des Gesetzes vom 2, Juli 1900, so müssen sie schwinden, 
sobald man die überaus sorgfältige und umfangreiche Statistik zur 
Hand nimmt, die das Ministerium des Innern über die Fürsorge¬ 
erziehung während des ersten Jahres ihres Bestehens veröffentlicht 
hat. Es seien hier nur einige Zahlen mitgeteilt. 

In der Zeit vom 1. April 1900 bis 1. April 1901 sind auf 
Grund des alten Zwangserziehungsgesetzes in Preußen 1504 Kinder 
in staatliche Erziehung genommen worden. Das Jahr 1901/1902 
ergab auf Grund des Gesetzes vom 2. Juli 1900 7787 Minder¬ 
jährige, die der Fürsorgeerziehung überwiesen wurden, mithin ein 
Mehr von 6283 Zöglingen. 

Von diesen 7787 Minderjährigen waren 2838 = 36,4 Proz. weib¬ 
lichen Geschlechts. Auf die verschiedenen Altersklassen verteilen 
sich die weiblichen Zöglinge, wie folgt: 

Es waren alt 

das sind Proz. aller und Proz. aller 

Überwiesenen überhaupt weibl. Zöglinge 

0— 3 Jahr: 64 [0,8 2,8 

3— 6 „ 175 2,2 6,2 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


351 


6—12 Jahr: 944 

12,1 

33,3 

12—14 

„ 486 

6,1 

17,2 

14—16 

„ 456 

5,9 

16,0 

16—18 

„ 710 

9,2 

25,0 


Man ersieht hieraus, daß die beiden letzten Jahre eine 
außerordentliche Zunahme aufzuweisen haben. Der Grund hierfür 
liegt in der geschlechtlichen Verderbnis, die gerade in den 
fraglichen Jahren am meisten zutage tritt. 

Nicht uninteressant ist auch der Vergleich der Zahlen der im 
Alter von 12 bis 17 Jahren stehenden Zöglinge mit denen der 
gleichaltrigen in der Reichskriminalstatistik; es ergibt sich, daß 
in Preußen im Jahre 1900 wegen Verbrechen und Vergehen gegen 
Reichsgesetze verurteilt wurden: 24439 männliche und 4464 weib¬ 
liche Jugendliche. Während hier auf 100 männliche Verurteilte 
18 weibliche entfallen, kommen auf 100 männliche Fürsorgezöglinge 
gleichen Alters 58,9 weibliche. Man muß danach annehmen, daß 
der größte Teil der verdorbenen weiblichen Jugendlichen der Pro¬ 
stitution in die Arme fällt 

Von den weiblichen Fürsorgezöglingen entfallen auf § 1 Ziff. 1: 
1188, auf Ziff. 2: 181, auf Ziff. 3: 1189, auf Ziff. 1 und 2: 34, auf 
Ziff. 1 und 3: 234, auf Ziff. 2 und 3: 53, auf Ziff. 1, 2 und 3: 9J 

Vorbestraft waren 515 und schlechten Neigungen ergeben 
1174 weibliche Zöglinge. Von den letzteren gingen der Unzucht nach 
814 Mädchen, und zwar 713 schulentlassene und 101 schulpflichtige. 
55 Zöglinge hatten bereits geboren oder waren hochschwanger. 
Erworbene Syphilis hatten 97 schulentlassene, und 4 schulpflichtige 
Mädchen. 

Was die Beschäftigung der weiblichen Zöglinge vor ihrer 
Unterbringung in Fürsorgeerziehung anlangt, so stellt das Haupt¬ 
kontingent die mit der Vorrichtung häuslicher Dienste beschäftigten, 
und zwar 48,7 Proz. aller schulentlassenen Mädchen, während im 
Gewerbebetriebe nur 22,7 Proz. und in der Landwirtschaft nur 
5,5 Proz. beschäftigt waren. 

Dem Berufe der Eltern nach entstammen 37,8 Proz. der 
Zöglinge aus Familien, deren Ernährer in der Industrie, Bergbau, 
Hütten- und Bauwesen tätig sind, 30 Proz. sind Kinder von Eltern, 
die ihren Unterhalt durch Lohnarbeiten wechselnder Art erwerben, 
und 7,5 Proz. entstammen aus Familien die im Handel und Ver¬ 
kehr tätig sind. 


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352 


Schiller 


Die häuslichen Verhältnisse der Zöglinge ergeben ein sehr 
trauriges Bild. 34,5 Proz. der Zöglinge hatten vor dem 12. Lebens¬ 
jahre Vater oder Mutter oder beide Eltern durch den Tod ver¬ 
loren. Bei 7 Proz. leben die Eltern getrennt, bei 2,2 Proz. sind 
die Eltern geschieden. Zählt man diese zu den durch den Tod 
zerstörten Familien hinzu, so ergibt das im ganzen 3641, gleich 
58,6 Proz., zerstörte Familien. Die Zahlen lassen erkennen, welch 
unheilvollen Einfluß der Tod oder die Trennung der Eltern auf 
die Kinder hat. 

Das Gesetz vom 2. Juli 1900 ist eine schneidige Waffe im 
Kampfe gegen die Prostitution. Mit seiner Hilfe ist es möglich, 
der Prostitution wenigstens teilweise den jungen Nachwuchs 
zu entziehen und damit die Ausbreitung der Geschlechts¬ 
krankheiten einzudämmen. Insbesondere wird durch das Gesetz 
die Stellung der weiblichen Minderjährigen unter sitten¬ 
polizeiliche Kontrolle in weitem Maße verhütet. Bei der Beratung 
des Gesetzes im Abgeordnetenhause führte der Minister auf die An¬ 
regung des Abgeordneten Schmitz aus, daß auch er es in den aller¬ 
meisten Fällen nicht für einen Segen, sondern direkt für ein Verderben 
halte, wenn jugendliche Prostituierte unter die sittenpolizeiliche Kon¬ 
trolle gestellt werden; es sei dann meist die Möglichkeit, sie auf den 
rechten Weg zurückzubringen, erloschen und mit der bloßen polizei¬ 
lichen Kontrolle werde natürlich eine innere Besserung nicht herbei¬ 
geführt. Unser Streben müsse dahin gehen, die jugendlichen 
Prostituierten, soweit irgend angängig, überhaupt der sittenpolizei¬ 
lichen Kontrolle nicht zu unterwerfen, sondern zunächst der Für¬ 
sorgeerziehung zu überweisen, um so den Versuch zu machen, daß 
sie an Leib und Seele nochmals gesund werden. (Stenogr. Ber. 
des Abg.-Haus. 1901. S. 3683.) 

Nach dem Inkrafttreten des Fürsorgeerziehungsgesetzes hat 
daher der Minister alsbald eine Verfügung erlassen, wonach minder¬ 
jährige weibliche Personen unter 18 Jahren, die sich der gewerbs¬ 
mäßigen Unzucht verdächtig machen, sofern die Ermahnungen der 
Eltern oder Vormünder erfolglos geblieben sind, in Fürsorge¬ 
erziehung untergebracht werden sollen. Die sittenpolizeiliche Kon¬ 
trolle darf erst angeordnet werden, wenn das Vormundschaftsgericht 
die Anordnung der Fürsorgeerziehung abgelehnt hat und die gegen 
den Beschluß eingelegte Beschwerde keinen Erfolg gehabt hat. 
Bei Minderjährigen über 18 Jahren ist die sittenpolizeiliche Kon¬ 
trolle zwar zulässig; es soll aber sofort dem Vormundschaftsgericht 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


353 


Kenntnis gegeben werden, damit das Gericht eventuell von den 
Maßnahmen aus den §§ 1666, 1838 B.G.B. Gebrauch machen kann. 
Die zahlreichen kirchlichen und sonstigen zur Hebung der Sittlich¬ 
keit bestehenden Vereine könnten dann für die Unterbringung der 
Minderjährigen in Anstalten oder Familien Sorge tragen. 

Der Standpunkt des Ministers entspricht dem allgemeinen 
Empfinden, das sich dagegen sträubt. Minderjährige unter 18 Jahren 
in die polizeilichen Kontrollisten eingetragen zu sehen. In der 
Tat ist die Stellung unter die Kontrolle, wie sie heute aus¬ 
geübt wird, geeignet, dem jungen Mädchen auch den letzten Rest 
von Anstand und Schamgefühl zu nehmen. Ein Zurück in die 
anständige Gesellschaft gibt es dann nur in den seltensten Ausnahme¬ 
fällen. Das wissen auch die jugendlichen Prostituierten, die ihr 
Gewerbe heimlich betreiben, sehr genau, darum ihre Angst, unter 
Kontrolle gestellt zu werden, und ihre Versuche, sich der Kontrolle 
möglichst zu entziehen. In den meisten von ihnen steckt noch ein 
guter Funken, sie besitzen noch genügend sittliches Bewußtsein; 
es kommt nur darauf an, sie durch Belehrung und humane Er¬ 
ziehung auf den Weg des Anstandes zurückzuführen. Das geschieht 
eben durch die Fürsorgeerziehung. 

Wird eine Besserung nicht erzielt und fällt die Minderjährige 
später doch der Prostitution anheim, so ist sie wenigstens für eine 
Reihe von Jahren dem schimpflichen Gewerbe entzogen worden und 
hat keine Möglichkeit gehabt zur Verbreitung der Geschlechtskrank¬ 
heiten in dieser Zeit beizutragen. 

Aus allen diesen Gründen hat auch die internationale 
Konferenz zur Vorbeugung der Syphilis und der Ge¬ 
schlechtskrankheiten in Brüssel im Jahre 1899 den Wunsch 
ausgedrückt, „die Regierungen mögen mit allen ihren Kräften die 
Prostitution der Mädchen, welche ihre zivile Großjährigkeit noch 
nicht erreicht haben, zu unterdrücken suchen“. 

IV. 

Das Fürsorgeerziehungsgesetz wendet sich an die gesamte 
Bevölkerung. Eis bedarf der Mitarbeit aller Kreise der Gesell¬ 
schaft, wenn das Gesetz nicht auf dem Papier stehen bleiben soll. 
Anfangs war auch der Eifer, mit dem alle, die der Gesetzgeber 
zur Beteiligung an der großen Aufgabe der Jugenderziehung auf¬ 
gerufen hat, ein außerordentlich reger. Jetzt aber ist an die Stelle 
dieses Eifers ein gewisser Mißmut getreten. Man wagt nicht mehr 


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354 


Schiller. 


recht Anzeigen zu erstatten, es sei denn, daß es sich um bereits 
völlig verwahrloste Minderjährige handelt, weil man fürchtet, daß 
die Gerichtsbehörden die Fürsorgeerziehung doch nicht aussprechen 
werden. Schuld an diesem Umschwung hat in erster Linie die 
Auslegung, die das Kammergericht, der höchste Gerichtshof in 
Preußen, dem Gesetz gegeben hat. 

Das Kammergericht hat die Anwendung des § 1 Ziff. 1 der¬ 
artig eingeengt, daß es nur in wenigen Fällen gelingt, die Unter¬ 
bringung eines Minderjährigen auf Grund der Ziffer 1 in Fürsorge¬ 
erziehung durchzusetzen. Den besten Beweis hierfür liefert die 
Zahl der Überweisungen zur Fürsorgeerziehung aus Ziffer 1, die von 
3253 im Jahre 1901 auf 1535 im Jahre 1902, also um nahezu 
53 Proz., heruntergegangen ist und in diesem Jahre noch erheblicher 
sinken wird, während die Überweisungen aus Ziffer 3 gestiegen 
sind. Der Schwerpunkt des Gesetzes, auch soweit die geschlecht¬ 
liche Verwahrlosung in Frage kommt, ruht aber auf der Ziffer 1. 
Gerade in der Ziffer 1 ist die vorbeugende Tendenz des Ge¬ 
setzes am stärksten zum Ausdruck gekommen. Der Gesetzgeber 
wollte vor allem doch auch die bedauernswerten Kinder, die noch 
nicht sittlich verwahrlost sind, wohl aber in einer Um¬ 
gebung aufwachsen, in der sie beständig das schamlose 
Treiben ihrer Eltern oder Geschwister vor Augen haben, 
retten, noch bevor sie selbst von der ünsittlichkeit an¬ 
gesteckt sind. 

Nach der Praxis des Kammergerichts ist aber die Fürsorge¬ 
erziehung in solchen Fällen nicht am Platze. Vielmehr hat die 
Fürsorgeerziehung nur dann einzutreten, wenn „besondere er¬ 
zieherische Maßnahmen, namentlich strenge und an¬ 
dauernde Anstaltspflege“, nötig sind, um die Verwahrlosung 
des Minderjährigen zu verhüten. Genügt die einfache Trennung 
des Kindes von seinen Eltern, um die Verwahrlosung aufzuhalten, 
— was bei sittlich noch unverdorbenen Kindern stets der Fall sein 
wird —, so hat nach der Auslegung des Kammergerichts sei 
die Hilfe der öffentlichen Armenpflege, nicht aber die Für¬ 
sorgeerziehung einzutreten. Der Vormundschaftsrichter habe in 
diesen Fällen einfach vom § 1666 B.G.B. Gebrauch zu machen 
und den Eltern die Erziehungsrechte abzusprechen; dadurch werde 
der Minderjährige in Ermangelung von bereiten Mitteln zu seiner 
Erziehung „offenbar“ hilfsbedürftig, und es sei nun Sache des 
Armenverbandes, für ihn zu sorgen. Handelt es sich also z. B. um 


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Fürsorgeerziehung und ProstitutionsbekÄmpfung. 


355 


die Kinder einer Weibsperson, die dem Tranke und der Unzucht 
ergeben ist, so können die Kinder in Fürsorgeerziehung erst unter¬ 
gebracht werden, wenn sie selbst sittlich verwahrlost sind. Sind 
sie dagegen noch gar nicht oder nur körperlich verwahrlost, so soll 
die Fürsorgeerziehung nicht für sie eintreten. 

Diesen Standpunkt hat das Kammergericht bis heutigen Tages 
in konstanter Praxis festgehalten und in einer großen Reihe von 
Beschlüssen mehr oder weniger ausführlich begründet Die Ent¬ 
scheidung des Kammergerichts vom 18. November 1901 — I Y 
989/01 — betraf vier Kinder im Alter von einem Jahre, vier, acht 
und neun Jahren, deren Vater verschwunden und deren Mutter 
von gewerbsmäßiger Unzucht lebte, ohne bisher Armenunterstützung 
empfangen oder verlangt zu haben. In der Begründung des Be¬ 
schlusses heißt es: 

„Der angefochtene Beschluß des Landgerichts hat den § 1 
Ziffer 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1900 für anwendbar erklärt und 
in einwandfreier Weise zunächst festgestellt, daß die Voraus¬ 
setzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 B.G.B. gegeben sind, nämlich 
Vernachlässigung der Kinder von seiten des Vaters, unsittliches 
Verhalten der Mutter und hierdurch herbeigeführte Gefährdung 
des geistigen und leiblichen Wohles der Kinder. Weiter hat der 
angefochtene Beschluß auch nicht verkannt, daß die Fürsorge¬ 
erziehung aus § 1 Ziffer 1 eine subsidiäre Maßregel ist, die nicht 
angeordnet werden darf, wenn andere Maßnahmen ausreichen, um 
der drohenden Verwahrlosung der Kinder vorzubeugen. Als solche 
andere Maßnahmen, die in Betracht gezogen werden müssen, hat 
der Vorderrichter die in § 1666 Abs. 1 Satz 2 angeführten Anord¬ 
nungen des Vormundschaftsgerichts in Verbindung mit der gesetz¬ 
lichen Beihilfe des Ortsarmenverbandes einer Prüfung unterworfen, 
hält dieselben aber nicht für geeignet, um die Gefahr der Ver¬ 
wahrlosung abzuwenden. Diese letztere Entscheidung beruht nicht 
auf der tatsächlichen Würdigung von konkreten Sachumständen, 
sondern auf der rechtlichen Erwägung, daß nur die wirtschaftliche 
Not des Erziehungspflichtigen, nicht aber dessen sittliches Ver¬ 
schulden die Inanspruchnahme des Armenverbandes zu rechtfertigen 
vermag. Diese Beurteilung läßt eine Verletzung des § 28 des 
Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 
(in der Fassung vom 12. März 1894) und des § 1 des Preußischen 
AusfÜhrangsgesetzes vom 8. März 1871 erkennen. 

Das Landgericht geht davon aus, daß hier die Voraussetzungen 


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Schiller. 


des § 1666 B.G.B. gegeben sind; demzufolge ist das Vormund¬ 
schaftsgericht in der Lage und sogar verpflichtet, geeignete Schutz¬ 
maßregeln zur Abwendung der den Kindern drohenden Gefährdung 
zu treffen. Diese Maßregeln können zweckmäßig bestehen in der 
Entziehung der Sorge für die Person der Kinder, verbunden mit 
der Anordnung, daß die Kinder nicht mehr im Haushalte der 
Mutter wohnen dürfen und anderweitig unterzubringen sind, sowie 
in der Bestellung eines Pflegers gemäß § 1909 B.G.B., der diese 
Anordnung durchzuführen und zu überwachen hat. Eine solche 
Anordnung des Vormundschaftsgerichts, durch welche die ander¬ 
weitige Unterbringung der Kinder wegen sittlicher oder leiblicher 
Gefährdung im Haushalte der Eltern beschlossen wird, muß auch 
von den Behörden der Armenverwaltung als maßgeblich angesehen 
werden, weil das Vormundschaftsgericht mit der Entscheidung über 
die Erziehung der Kinder und der Wahrnehmung der staatlichen 
Interessen an derselben betraut ist. Demgemäß hat auch das 
Bundesamt für das Heimatwesen in ständiger Rechtsprechung an¬ 
genommen, daß Hilfsbedürftigkeit im Sinne der Armengesetzgebung 
dadurch eintreten könne, wenn ein Kind wegen Mißhandlung oder 
Verwahrlosung der Erziehung seinen Eltern entzogen und ander¬ 
weitig untergebracht werden müsse, sowie daß das Vormundschafts¬ 
gericht berufen ist, durch seine Entscheidung in einer für die 
Armenbehörde maßgeblichen Weise festzustellen, ob die elterliche 
Pflege und Erziehung dauernd einzuschränken sei (Entsch. des 
Bundesamts für das Heimatwesen Bd. 3 S. 49, Bd. 16 S. 91, Bd. 19 
S. 27 und 75, Bd. 23 S. 121, Bd. 28 S. 65, Bd. 32 S. 148). 

Hiernach erscheint die Ausführung des Landgerichts unzu¬ 
treffend, daß die Inanspruchnahme des Armenverbandes das ge¬ 
gebene Mittel sei, wenn lediglich wirtschaftliche Not des Erziehungs¬ 
pflichtigen, nicht aber dessen sittliches Verschulden Abhilfe erfordere. 
Es scheint damit auf einen Satz der Ausführungsbestimmungen 
vom 18. Dezember 1900 zum Gesetze vom 2. Juli 1900 Bezug 
genommen zu sein; allein dort ist nicht gesagt, daß die Hilfe der 
Armenpflege nicht einzutreten habe, wenn das unsittliche Verhalten 
der Erziehungspflichtigen den Grund für die Anordnung der ander¬ 
weitigen Unterbringung der Kinder bietet 

Hat das Vormundschaftsgericht in Gemäßheit des § 1666 
B.G.B. den Eltern die Erziehung der Kinder genommen und ihre 
Unterbringung außerhalb des elterlichen Haushalts angeordnet, 
so kann hierdurch armenrechtliche Bedürftigkeit hervorgerufen 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


357 


werden, wenn die Kinder selber kein Vermögen haben und die 
Eltern nicht die Mittel hergeben, sie anderweitig unterzubringen. 
Dann muß der Armenverband zur Durchführung jener Maßregel 
die Mittel bereit halten, die er herzugeben durch das Gesetz ver¬ 
pflichtet ist" 

Das Kammergericht verkeimt hierbei in erster Linie die Ab¬ 
sicht des Gesetzgebers und die Tendenz des Fürsorgeer¬ 
ziehungsgesetzes. Wenn die Fürsorgeerziehung nur einzutreten hat 
in den Fällen, in denen besondere „erzieherische Maßnahmen" 
nötig sind, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten und 
nicht in den Fällen, in denen die bloße Trennung des Kindes von 
seinen Eltern genügt, so findet die Fürsorgeerziehung tatsächlich 
nur Anwendung auf solche Minderjährige, die in eigener Person 
bereits arg sittlich verwahrlost sind, nicht aber auf solche, 
die, ohne sittlich verwahrlost zu sein, bereits körperlich verwahrlost 
sind oder durch das schuldhafte Verhalten ihrer Eltern der Gefahr 
der Verwahrlosung ausgesetzt sind. Denn nur bereits sittlich in 
hohem Grade verwahrloste Minderjährige bedürfen besonderer er¬ 
zieherischer Maßnahmen, d. h. strenger Anstaltserziehung, um 
ordentliche Menschen zu werden. In allen anderen Fällen wird 
die Trennung des Minderjährigen von seinen Eltern und die Ver¬ 
pflanzung in eine gesunde Umgebung genügen, um eine Verwahr¬ 
losung zu verhüten. 

Der Gesetzgeber wollte aber ausgesprochenermaßen die Für¬ 
sorgeerziehung auf für nur körperlich verwahrloste und für noch 
völlig unverdorbene Kinder angeordnet wissen, wenn ihr geistiges 
oder leibliches Wohl durch das unsittliche und ehrlose Verhalten 
der Eltern gefährdet wird. Gerade das ist ja der große Vorzug 
des Gesetzes, daß es, ebenso wie die modernen Gesetze in anderen 
Kulturstaaten, das Verbrechertum und die Prostitution durch 
möglichst weitgehende prophylaktische Maßnahmen zu be¬ 
kämpfen versucht. Die Quellen, aus denen die sittliche 
Verwahrlosung entspringt, wollte der Gesetzgeber ver¬ 
stopfen. 

Daß das Gesetz diese vorbeugende Tendenz hat, ergibt sich, 
wenn man seine Entstehungsgeschichte verfolgt, ohne allen Zweifel. 
Ganz besonders folgt dies aus der Streichung des Wortes 
„sittlich" vor dem Worte „Verwahrlosung" im Zusatz des § 1 
Ziffer 1 der Regierungsvorlage uDd aus dem Fortfall der unteren 
Altersgrenze für den Eintritt der Fürsorgeerziehung. 

Zeitachr. L Bekämpfung d. Geechlechteknmkh. II. 27 


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358 


Schiller. 


Der Entwurf des Fürsorgeerziehungsgesetzes enthielt zunächst 
aus § 1 eine Definition folgenden Wortlauts: 

„Zwangserziehung im Sinne dieses Gesetzes ist die Erziehung 
verwahrloster oder der Verwahrlosung ausgesetzter Minderjähriger 
unter öffentlicher Aufsicht in einer geeigneten Familie oder in 
einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt.“ 

Nach dieser Definition soll also die Fürsorgeerziehung nicht 
allein für bereits verwahrloste, sondern auch für diejenigen Minder¬ 
jährigen zur Anwendung kommen, die nur der Gefahr der Ver¬ 
wahrlosung ausgesetzt sind. 

Im Abgeordnetenhause ist indessen die Definition gestrichen 
worden, aber nicht etwa, weil man den Kreis der Minderjährigen 
einengen wollte, sondern lediglich aus gesetztechnischen Gründen, 
weil es nicht Gepflogenheit ist, in moderne Gesetze Definitionen 
aufzunehmen. 

In der Kommission des Herrenhauses wurde allseitig gebilligt, 
daß der Entwurf mit dem Prinzip der bisherigen Gesetzgebung 
breche und die Zulässigkeit der Zwangserziehung nicht mehr allein 
abhängig mache von dem Nachweis einer strafbaren Handlung, 
derentwegen infolge von Strafunmündigkeit (§ 55 R.St.G.B.) 
oder mangelnder Einsicht (§ 56 R.StG.B.) eine Bestrafung nicht 
ein treten könne, sondern die Möglichkeit der Zwangserziehung 
außer aus strafpolitischen auch aus sozialpolitischen Gründen überall 
da gebe, wo dieses nach dem jetzt geltenden Reichsrecht zulässig 
sei, also in den Fällen der §§ 1666, 1683 B.G.B. und des 
Artikels 138 des dazu gehörigen Einführungsgesetzes. Allerdings 
wurde von einer Seite ein Zweifel darüber ausgesprochen, ob es 
zweckmäßig sei, die durch das geltende Recht gezogene untere 
Altersgrenze für die Zulässigkeit der Zwangserziehung (§§ 1 und 2 
des Entwurfs, § 1 des Gesetzes vom 13. März 1878) fallen zu 
lassen und ob die obere Altersgrenze, bis zu welcher ein Minder¬ 
jähriger zur Zwangserziehung überwiesen werden kann (§ 2, Abs. 1 
des Entwurfs), mit dem 18. Lebensjahre nicht etwas zu hoch ge¬ 
griffen sei. In ersterer Beziehung wurde geltend gemacht, daß 
nach dem Wortlaut des Gesetzentwurfs Kinder der ersten Lebens¬ 
jahre zur Zwangserziehung überwiesen werden könnten und darum 
zu befürchten sei, daß die Ortsarmen verbände versuchen würden, 
sich unbequemer Kommunalpfleglinge durch Überweisung zur 
Zwangserziehung zu entledigen, in letzterer Beziehung aber aus¬ 
geführt, daß die Erfahrungen, die man in bezug auf die Besserungs- 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 359 

fähigkeit über 18jährige Zwangszöglinge gemacht habe, so ungünstig 
seien, daß es geraten erscheine, dem Vorgang anderer Länder 
folgend, die obere Altersgrenze auf 16 Jahre herabzusetzen. Darauf 
wurde erwidert, die untere Altersgrenze von sechs Jahren habe 
ihre Berechtigung verloren, nachdem man aufgehört habe, die 
Zwangserziehung lediglich nach strafpolitischen Gesichtspunkten zu 
verhängen und lasse sich ebensowenig wie eine andere willkürlich 
zu ziehende untere Grenze mit Rücksicht darauf rechtfertigen, daß 
das Bürgerliche Gesetzbuch eine derartige untere Altersgrenze 
nicht gezogen habe; ein Mißbrauch dieser Bestimmung sei auch 
mit Rücksicht auf die Instanzen, in deren Hand die Antrags¬ 
berechtigung und das Beschlußverfahren gelegt sei, nicht zu be¬ 
fürchten. Für die Beibehaltung der oberen Altersgrenze des Ent¬ 
wurfs spreche aber, daß die drei Jahre vom vollendeten 18. bis 
zum vollendeten 21. Lebensjahre immerhin lang genug seien, um 
in vielen Fällen erziehlich wirken zu können, und man Wert darauf 
legen müsse, auch bei älteren Minderjährigen eine Zwangserziehung 
eintreten zu lassen, die bei männlichen Minderjährigen eventuell 
bis zum Eintritt in das Heer aufrecht erhalten werden könne 
(Drucksachen Nr. 31, S. 2). 

Im § 2, Ziff. 1 (jetzt § 1, Ziff. 1) hatte der Entwurf des Gesetzes 
zunächst nur die sittliche Verwahrlosung des Minderjährigen im 
Auge. Er lautete genau so wie heute § 1 Ziff. 1 des badischen 
Gesetzes. Danach ist die Fürsorgeerziehung anzuordnen, wenn 
die Voraussetzungen der §§ 1666 oder 1838 B.G.B. vorliegen und 
die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die sittliche Ver¬ 
wahrlosung des Minderjährigen zu verhüten. Das Vorliegen bloßer 
körperlicher Verwahrlosung kam zunächst nicht in Betracht. 

In der Kommission des Herrenhauses wurde indessen vor¬ 
geschlagen, den Zusatz: „und (wenn) die Fürsorgeerziehung 
erforderlich ist, um die sittliche Verwahrlosung der 
Minderjährigen zu verhüten," ganz zu streichen. Hiergegen 
wurde eingewendet, daß es über die Ziele des Gesetzentwurfs 
hinausgehen würde, wenn man die Zwangserziehung in allen durch 
§§ 1666 und 1838 B.G.B. vorgesehenen Fällen auf Staatskosten 
eintreten lasse; die Zwangserziehung auf Staatskosten solle nur 
eintreten unter der Voraussetzung, daß die Gefahr der Verwahr¬ 
losung vorliege. Der Antragsteller änderte hierauf seinen Antrag 
dahin, in der Nr. 1 nur das Wort „sittliche" zu streichen. 
Diesem Antrag wurde unter Zustimmung der Vertreter der König- 

27* 


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360 


Schiüer. 


liehen Staatsregierung stattgegeben, da man als richtig anerkannte, 
daß die §§ 1 und 2 in Übereinstimmung gebracht werden müßten 
und es zweckentsprechend sei, neben der sittlichen Verwahr¬ 
losung auch die körperliche Verwahrlosung der Minder¬ 
jährigen zur Voraussetzung der Zwangserziehung zu machen. 

Ferner lag ein Antrag vor, welcher die Zwangserziehung in 
den Fällen der Nr. 3 auch noch eintreten lassen wollte im Falle 
einer schädlichen Einwirkung der Eltern oder Erzieher auf 
den Minderjährigen. Demgegenüber wurde darauf hingewiesen, daß 
der Zweck dieses Antrages schon gewährleistet werde durch 
die Nr. 1 in Verbindung mit §§ 1666 und 1838 B.G.B., und daß es 
unzweckmäßig sei, die Nummern 1 und 3 miteinander zu verquicken. 
Nr. 1 regele die Fälle, in denen auf Grund des B.G.B. wegen 
schuldhaften Verhaltens der Eltern oder ungenügenden erziehlichen 
Einflusses des Vormundes, Nr. 3 diejenigen, in denen aus anderen 
Gründen gemäß Artikel 135 des Einführungsgesetzes die Fürsorge¬ 
erziehung eingeleitet werden könne. (Bericht der DL Kommission, 
Drucksachen Nr. 31 S. 6.) 

Nachdem das Herrenhaus das Gesetz in der von der Kom¬ 
mission vorgeschlagenen Fassung angenommen hatte, wurde bei der 
ersten Lesung im Plenum des Abgeordnetenhauses wiederum ver¬ 
sucht, den Kreis der Fürsorgepflichtigen einzuengen und im § 1 
Nr. l .nur die sittliche Verwahrlosung zur Voraussetzung der Für¬ 
sorgeerziehung zu machen. (Vgl. Stenogr. Berichte der Verhand¬ 
lungen des Abgeordnetenhauses, Session 1900, S. 3946 ff.) Glück¬ 
licherweise vergeblich. Gegen die von dem Abgeordneten von der 
Goltz verlangte Festsetzung einer unteren Altersgrenze führte der 
Minister des Innern aus, daß es unter Umständen geboten sei, 
Jugendliche von vier oder fünf Jahren zur Zwangserzie¬ 
hung zu bringen, um sie zu schützen und nicht erst der 
gänzlichen Verwahrlosung anheimfallen zu lassen. Ebenso 
meinte der Abgeordnete Schmitz, daß Fälle, in denen ein Kind 
von vier Jahren der Fürsorge überwiesen werden müsse, sehr wohl 
denkbar seien. Wenn der Vater ein Trinker sei und die pflicht¬ 
vergessene Mutter sich der gewerbsmäßigen Unzucht hingebe, so 
sei es doch die Pflicht der Gesellschaft, zu sagen: das Kind dürfe 
man in einer solchen Atmosphäre nicht aufwachsen lassen, 
es müsse herausgenommen werden, um dereinst andere Bahnen be¬ 
treten zu können, als die Eltern sie gingen. Der Abgeordnete 
Frhr. von Zedlitz und Neukirch bezeichnet« die Streichung 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


361 


des Wortes „sittlich" vor „Verwahrlosung" als notwendig, „damit 
man auch die Fälle decken kann, in denen durch Mißhandlung 
oder sonstiges pflichtwidriges Verhalten der Eltern eine 
Verwahrlosung der Kinder, wenn auch nicht unmittelbar eine sitt¬ 
liche, zu befürchten steht" (Sp. 3968). Der Abgeordnete Ernst, 
der zu der Frage sprach, ob und wann Kinder in Familien oder 
in Anstalten unterzubringen seien, führte gleichfalls aus, daß Kinder, 
die noch nicht sittlich verwahrlost seien, die aber sittlich verwahr¬ 
loste Eltern hätten und deshalb in Gefahr ständen, selbst später 
zu verwahrlosen, wenn sie den Eltern nicht entzogen würden, in 
Familien, die bereits sittlich verwahrlosten Kinder aber in Anstalten 
untergebracht werden müßten. 

Das Abgeordnetenhaus verwies das Gesetz an eine Kommission. 
Ein letzter Versuch, hier die ursprüngliche Regierungsvorlage durch 
Einschiebung des Wortes „sittlich" vor „Verwahrlosung" des § 1 
Nr. 1 wiederherzustellen, scheiterte gleichfalls. (Vgl. Bericht der 
XVIII. Kommission, II. Session 1900, Drucksachen Nr. 183 S. 7.) 
Der Minister des Innern sprach sich gegen den dahingehenden 
Antrag aus; er erinnerte an einen Fall in Berlin, wo ein Kind 
auf der Straße zusammengebrochen war, das von seinem Stiefvater 
gezwungen worden war, seine Füße in siedend heißes Wasser zu 
stellen. Wo nicht früh genug eingegriffen werde, führe die 
körperliche auch zur sittlichen Verwahrlosung. Mehrere Mit¬ 
glieder äußerten sich gleichfalls gegen den Antrag. In der Regel falle 
ja die sittliche mit der körperlichen Verwahrlosung zusammen; 
aber es kämen doch auch Fälle vor, wo die leibliche die Vorstufe 
der sittlichen Verwahrlosung sei. Der Antragsteller zog daraufhin 
seinen Antrag zurück. 

Das Abgeordnetenhaus hat sodann in zweiter und dritter 
Lesung den § 1 des Gestzes in der von dem Herrenhause vor¬ 
geschlagenen Fassung angenommen (vgl. Stenogr. Berichte S. 4562 ff. 
und S. 4787 ff.). Bei der zweiten Lesung konstatierte der Abge¬ 
ordnete von Jagow, ohne Widerspruch zu finden, nochmals aus¬ 
drücklich, „daß die Absicht dieses Gesetzes ja in seinem wesent¬ 
lichsten Teile dahin geht, nicht bloß verderbte Kinder von dem 
weiteren Verderben zu erretten und in gesunde Zustände 
zurückzuführen, sondern vor allen Dingen auch Kinder, 
welche durch ihr Elternhaus dem Verderben ausgesetzt, 
aber noch vollständig unverdorben sind, rechtzeitig in 
die fürsorgende Hand zu nehmen und zu guten Staats- 


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362 


Schiller. 


bürgern auszubilden“ (Sp. 4585). Dasselbe brachten bei der 
dritten Lesung des Gesetzes die Abgeordneten Lückhoff und 
Hoheisel wiederholt widerspruchslos zum Ausdruck (Sp. 4737 und 
4742 ff.). 

Wenn man diese Entstehungsgeschichte des Gesetzes verfolgt, 
dann kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß der Gesetzgeber 
der Fürsorgeerziehung ein viel weiteres Anwendungsgebiet 
gegeben hat, als ihr das Kammergericht in seinen Beschlüssen 
zuweist. 

Das Kammergericht nimmt zur Rechtfertigung seines Stand¬ 
punktes zwar auch auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes 
Bezug; es ignoriert aber die ganzen Verhandlungen bis auf einige 
Äußerungen der Abg. Frhr. v. d. Goltz und Noelle, die bei der 
ersten Lesung im Abgeordnetenhause gefallen sind. Frhr. v. d. 
Goltz bemängelte den Wegfall einer unteren Altersgrenze, indem 
er bemerkte: 

„Angenommen, ein Vormundschaftsrichter ginge von der An¬ 
sicht aus, daß die Verhältnisse einer Familie so zerrüttet, so ver¬ 
kommen seien, daß auch ein Kind in den jüngsten Lebensjahren 
der Gefahr in der Verwahrlosung ausgesetzt sein würde, so würde 
die Konsequenz sein können, daß Kinder im ersten und zweiten 
Lebensjahre bereits der Zwangserziehung überwiesen werden.“ 
(Sp. 3952.) 

Der Abg. No eile hat allerdings hierauf erwidert, daß nur 
vollständig falsche Anwendung dahin führen könne, ganz junge, 
selbst einjährige Kinder der Fürsorgeerziehung zu überantworten. 
Um das Bedenken auszuschließen, würde es genügen, die Regierungs¬ 
vorlage durch Einschiebung des Wortes „sittlich“ vor „Verwahr¬ 
losung“ wiederherzustellen, denn von einer sittlichen Verwahrlosung 
eines einjährigen Kindes könne wohl kaum die Rede sein (Sp. 3963). 

Diese Ausführungen der beiden Abgeordneten haben indessen 
die Zustimmung des Hauses nicht gefunden. Der Minister des 
Innern erwiderte dem Frhrn. v. d. Goltz noch in derselben Sitzung: 
„Daß man Kinder von ein oder zwei Jahren in Fürsorgeerziehung 
bringen wird, das mag in besonders krassen Fällen wohl Vorkommen, 
dann wird dies auch geboten sein“ (Sp. 3957). 

Auch in der Kommissionsberatung und bei der zweiten und 
dritten Lesung des Gesetzes haben die Bedenken der beiden Ab¬ 
geordneten zu einer Änderung des § 1 Nr. 1 durch Einschränkung 
des Kreises der fürsorgepflichtigen Zöglinge nicht geführt. 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


363 


Daß die Entscheidungen des Kammergerichts dem ausdrück¬ 
lichen unzweideutigen Willen des Gesetzgebers entgegen¬ 
stehen, ist der Kernpunkt der ganzen Frage. Ob sich die vom 
Kammergericht aufgestellte Konstruktion aus dem Wortlaut des 
Gesetzes allenfalls halten läßt, kommt demgegenüber nicht in Be¬ 
tracht Denn es ist der oberste Interpretationsgrundsatz, daß für 
die Auslegung eines Gesetzes nicht allein der Wortlaut maßgebend 
ist, sondern daß vor allem der Wille des Gesetzgebers erforscht 
und berücksichtigt werden muß. Nur dann kann man zu einer 
richtigen Anwendung des Gesetzes gelangen. 

Wenn trotz der klaren Tendenz des Gesetzes das Kammer¬ 
gericht die Fürsorgeerziehung in allen Fällen ausschaltet, in denen 
nicht besondere erzieherische Maßnahmen nötig sind, um die Ver¬ 
wahrlosung des Minderjährigen aufzuhalten und in diesen Fällen 
an Stelle der Fürsorgeerziehung die Erziehung außerhalb der elter¬ 
lichen Familie auf Kosten der öffentlichen Armenpflege setzen will, 
so kann man dieses Verfahren nicht anders als eine Umgehung 
des Fürsorgeerziehungsgesetzes bezeichnen. 

Für diese Umgehung des Gesetzes stützt sich das Kammer¬ 
gericht einmal auf den subsidiären Charakter der Fürsorge¬ 
erziehung und sodann auf die Rechtsprechung des Bundes¬ 
amts für das Heimatwesen. 

Die Subsidiarität der Fürsorgeerziehung folgert das 
Kammergericht aus dem Zusatz in Ziff. 1 § 1 des Gesetzes, wonach 
die Fürsorgeerziehung erst einzutreten hat, „wenn sie erforderlich 
ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten“. Dieser 
Zusatz, meint das Kammergericht, zwingt dazu, die Fürsorge¬ 
erziehung erst anzuordnen, wenn alle anderen Möglichkeiten eine 
geordnete Erziehung des Minderjährigen herbeizuführen er¬ 
schöpft sind. • 

Allerdings gibt der Zusatz der Fürsorgeerziehung den Charakter 
einer subsidiären Maßnahme, aber er nötigt doch nicht, um jeden 
Preis gewaltsam einen anderen Erziehungsmodus ausfindig zu 
machen. Die Subsidiarität der Fürsorgeerziehung ist doch nur 
so zu verstehen, daß der Richter, ehe er die Unterbringung des 
Minderjährigen in Fürsorgeerziehung anordnet, prüfen soll, ob 
nicht die Fürsorgeerziehung abgewendet werden kann dadurch, 
daß Kirchen- und Schulzucht oder ernste Ermahnungen und Ver¬ 
warnungen der Eltern den Minderjährigen zu bessern vermögen, 
oder dadurch, daß die von dritter Seite freiwillig angebotene 


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364 


Schiller. 


Liebestätigkeit sich des Minderjährigen annimmt, oder, falls die 
wirtschaftliche Notlage der Eltern die Ursache der Ver¬ 
wahrlosung ist, dadurch, daß die öffentliche Armenpflege die 
Notlage beseitigt Nur die Mittel, die der Richter bei der Hand 
hat und die ihm ohne viele Weiterungen zur Verfügung stehen, 
soll er nicht unversucht lassen, ehe er von der Fürsorgeerziehung 
Gebrauch macht Das ist der einfache und klare Sinn des sub¬ 
sidiären Charakters der Fürsorgeerziehung. Keineswegs soll der 
Richter um jeden Preis den Versuch machen, ob er nicht doch 
etwa die Armenbehörde zu Leistungen heranziehen kann, zu denen 
sie gesetzlich nicht verpflichtet ist. 

Indem das Kammergericht diese Maßnahmen von dem Richter 
verlangt, übersieht es, aus welchem Grunde der Gesetzgeber der 
Fürsorgeerziehung den Charakter einer subsidiären Maßnahme ge¬ 
wahrt wissen will. Denn ohne Grund ist die Subsidiarität der Für¬ 
sorgeerziehung doch nicht ausgesprochen. Die Fürsorgeerziehung 
ist eine in das natürliche Verhältnis des Kindes zu seinen Er¬ 
zeugern tief einschneidende Maßnahme, die, wie der Minister in 
den Ausführungsbestimmungen sagt, in vielen Fällen die völlige 
Loslösung des Minderjährigen von seiner Familie zur 
Folge hat Darum soll der Richter sehr sorgfältig zu Werke gehen, 
ehe er diesen Schritt tut, und vorher erwägen, ob er nicht ohne 
die Trennung des Kindes von seiner Familie die Verwahr¬ 
losung aufhalten kann. 

Durch den vom Kammergericht gewollten Eintritt der Armen¬ 
pflege auf Grund der gewaltsam herbeigeführten Hilfsbedürftigkeit 
wird indessen die Loslösung des Minderjährigen von seinen Eltern 
nicht verhütet Das Familienband ist hier ebenso zer¬ 
schnitten wie bei der Anordnung der Fürsorgeerziehung. 
Die Unterbringung des Minderjährigen im Wege der öffentlichen 
Armenpflege außerhalb der elterlichen Familie steht daher im 
Effekt auf derselben Stufe der Subsidiarität, wie die Fürsorge¬ 
erziehung, und es ist kein Grund abzusehen, weshalb ihr der 
Gesetzgeber den Vorzug vor der Fürsorgeerziehung hätte geben 
sollen. Nicht die Fürsorgeerziehung im technischen Sinn soll nach 
der Absicht des Gesetzgebers die subsidiär anzuwendende Maßregel 
sein, sondern, wie die Begründung zum Entwurf des Gesetzes vom 
2. Juli 1900 hervorhebt, die Zwangserziehung überhaupt, 
auch die auf Grund des § 1666 B.G.B. vom Vormundschaftsrichter 
angeordnete. Die letztere kann aber, wie oben ausgeführt, nur 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfhng. 


365 


dann Platz greifen, wenn der Minderjährige oder dessen Angehörige 
die zu ihrer Durchführung erforderlichen Geldmittel besitzen. 

Vom Standpunkt des Kammergerichts bleibt für die Familien¬ 
erziehung überhaupt kein Raum. Und doch soll die Familiener¬ 
ziehung nach der Absicht des Gesetzgebers bei weitem den Vorzug 
vor der Anstaltserziehung haben. Die Familienerziehung ist in 
erster Linie für diejenigen Minderjährigen vorgesehen, bei denen 
die bloße Trennung von ihren Eltern genügt, um sie vor 
dem Verderben zu bewahren, also zunächst für die bloß körperlich 
verwahrlosten Minderjährigen und diejenigen, die noch nicht ver¬ 
wahrlost, wohl aber der Gefahr der Verwahrlosung durch das 
schuldhafte Verhalten ihrer Eltern ausgesetzt sind. Außerdem 
wird die „bloße Entfernung des Minderjährigen aus der ihn gefähr¬ 
denden Umgebung" in sehr vielen Fällen auch bei bereits sittlich 
verwahrlosten Minderjährigen genügen, um sie, getrennt von ihren 
schlechten oder schwachen Eltern und bei vernünftigen charakter¬ 
vollen Leuten in Familienpflege untergebracht, zu ordentlichen 
Staatsbürgern werden zu lassen. Soll für diese Minderjährigen 
nun auch die mit Hilfe des § 1666 B.G.B. herangezogene Armen¬ 
pflege eintreten? Vom Standpunkt des Kammergerichts müßte sie 
es eigentlich. 

Für die Fürsorgeerziehung blieben hiernach bloß die aller¬ 
größten Taugenichtse übrig, deren Verwahrlosung nur durch 
strenge und lange dauernde Anstaltserziehung behoben werden 
kann. Auf diese würde sich die Anwendung des § 1 Ziff. 1 des 
Gesetzes beschränken. Für alle übrigen Minderjährigen, soweit 
sie in Familienpflege untergebracht werden könnten, müßte die 
Armenpflege eintreten, weil sie einer „besonders gearteten Erzie¬ 
hung", d. h. Anstaltserziehung, nicht bedürfen. Dann könnte man 
aber ebensogut gleich die Ziff. 1 des § 1 ganz streichen. 
Denn die bereits in solchem Maße verdorbenen Minderjährigen, 
daß ihnen nur strenge und dauernde Anstaltserziehung Besserung 
verschaffen kann, werden regelmäßig unter § 1 Ziff. 3 fallen. Ihr 
völliges sittliches Verderben wird auf dem Spiele stehen, 
wenn sie nicht in Fürsorgeerziehung untergebracht werden. 

Indessen diese Konsequenzen zieht das Kammergericht nicht. 
Es will die Fürsorgeerziehung nicht nur für die total sittlich ver¬ 
kommenen Minderjährigen, sondern für alle sittlich verwahrlosten 
angewendet wissen. Nur diejenigen, die der Gefahr der Verwahr¬ 
losung ausgesetzt sind, aber sittlich noch nicht verdorben 


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366 


Schiller. 


sind, und diejenigen, die bloß körperlich verwahrlost sind, 
schaltet das Kammergericht aus. Ja, es geht sogar so weit, zu 
sagen, es sei nicht erfindlich, warum von seinem Standpunkt aus 
fiir ein sittlich noch unverdorbenes Kind niemals die Für¬ 
sorgeerziehung im technischen Sinne angeordnet werden könne. 
Aus den vom Kammergericht aufgestellten Grundsätzen folge viel¬ 
mehr, daß ein sittlich unverdorbenes Kind, wenn die aus § 1666 
B.G.B. zulässigen Maßnahmen sich als undurchführbar erweisen 
(beispielsweise weil im Einzelfalle die gesetzliche Verpflichtung des 
Armenverbandes von der zuständigen Behörde verneint wird), der 
durch das Gesetz vom 2. Juli 1900 vorgesehenen Fürsorgeerziehung 
überwiesen werden könne. Das heißt mit anderen Worten, die 
Fürsorgeerziehung hat für ein sittlich noch unverdorbenes, aber 
der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetztes Kind immer erst dann 
einzutreten, wenn die den Armenverbänden übergeord¬ 
neten Behörden das Vorliegen eines Armenpflegefalls und 
die Notwendigkeit des Eintritts der öffentlichen Armen¬ 
pflege verneint haben. Dadurch wird jeder Armenverband 
gezwungen, falls der Vormundschaftsrichter unter Ablehnung des 
gestellten Fürsorgeerziehungsantrages die Maßnahmen aus § 1666 
B.G.B. anordnet, dem Ersuchen für die Unterbringung des Minder¬ 
jährigen außerhalb der elterlichen Familie zu sorgen, nicht Folge 
zu geben und abzuwarten, wie der übergeordnete Kreis- bezw. 
Bezirksausschuß, falls der bestellte Pfleger sich beschwert, ent¬ 
scheiden wird. Weist der Kreis bezw. Bezirksausschuß die Be¬ 
schwerde des Pflegers zurück, so wird nunmehr, vielleicht mit 
Erfolg, der Antrag auf Unterbringung des Minderjährigen in Für¬ 
sorgeerziehung gestellt werden können. Danach hängt die Anord¬ 
nung der Fürsorgeerziehung in derartigen Fällen lediglich von 
dem Standpunkt des Kreis- bezw. Bezirksausschusses ab, und nur 
wenn diese Behörden das Eintreten der öffentlichen Armenpflege 
verneint haben, kann die Fürsorgeerziehung über sittlichnoch nicht 
verwahrloste, wohl aber der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzte 
Kinder verhängt werden. 

Eine solche Einschränkung der Fürsorgeerziehung 
hat aber der Gesetzgeber keinesfalls gewollt, abgesehen 
davon, daß das ganze Verfahren dem Geiste des Gesetzes 
zuwiderläuft und auch dem Ansehen der Rechtsprechung 
nicht gerade zugute kommt. 

Vor allem aber geschieht dieses Verfahren sehr zum Nachteil 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


367 


des bedauernswerten Minderjährigen, der bis zur definitiven 
Entscheidung der Gerichte und Verwaltungsbehörden in seiner ver¬ 
derblichen Umgebung bleiben muß. Denn auch die vorläufige Unter¬ 
bringung in Fürsorgeerziehung ist nach den Entscheidungen des 
Kammergerichts bei sittlich intakten Minderjährigen ausgeschlossen. 
(Vgl. oben II.) 

Welche Resultate die Praxis des Kammergerichts in derartigen 
Fällen zeitigt, beweist der nachstehende Fall, der mit Recht von 
der Presse als „bureaukratisches Meisterstück“ hingestellt 
worden ist. 

Auf den Antrag des Landrats zu Hanau hatte das Amtsgerichts 
zu Langenselbold durch Beschluß vom 10. Mai 1901 die von dem 
Gemeindevorstande, Waisenrat, Geistlichen und Lehrer befürwortete 
Fürsorgeerziehung dreier Kinder angeordnet. Der Vater der Kinder 
hatte diese in hilfloser Lage zurückgelassen, die geistig beschränkte, 
unordentliche und unreinliche Mutter war zur Erziehung der. Kinder 
nicht imstande und ließ sie geradezu im Schmutze verkommen. 
Der Ortsarmenverband hatte die Mutter nebst den Kindern im 
Armenhause untergebracht und dort auch unterstützt. Der Landes¬ 
hauptmann der Provinz Hessen legte gegen den Beschluß des 
Amtsgerichts die sofortige Beschwerde ein, die aber vom Land¬ 
gerichte Hanau zurückgewiesen wurde. Auf die weitere Beschwerde 
des Landeshauptmanns hob dann das Kammergericht den Beschluß 
des Amtsgerichts auf und wies die Sache an das Amtsgericht zurück, 
damit dieses prüfe, ob nicht durch ein Eingreifen der Armen Ver¬ 
waltung die Fürsorgeerziehung erübrigt werden könne. Hierauf 
entzog das Amtsgericht der Mutter die Sorge für die Person der 
Kinder, bestellte ihnen einen besonderen Pfleger und beschloß, daß 
die Kinder zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie 
oder in einer Erziehungsanstalt unterzubringen seien. Bei der 
völligen Mittellosigkeit der Kinder wandte sich der Pfleger an den 
Ortsarmenverband zwecks Hergabe der erforderlichen Mittel. Der 
Ortsarmen verband lehnte den Antrag jedoch ab und der Kreis¬ 
ausschuß zu Hanau wies die hiergegen von dem Pfleger erhobene 
Beschwerde zurück, weil der Ortsarmen verband den Kindern im 
Armenhause Obdach und Lebensunterhalt und auch der Mutter 
Unterstützung gewähre, zu einem Mehr aber nicht verpflichtet sei. 
Der Kreisausschuß stützte seine Entscheidung auf § 63 des preußi¬ 
schen Gesetzes vom 8. März 1871 betreffend die Ausführung des 
Bundesgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, wonach es Pflicht 


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368 


Schiller. 


der Verwaltungsbehörden ist, keine Ansprüche zuzulassen, welche 
über das Notdürftige hinausgehen. Durch die Entscheidung des 
Kreisausschusses war die Verpflichtung des Ortsarmenverbandes 
endgültig verneint Nach dem eben erwähnten § 63 kann nämlich 
ein Armer Anspruch auf Unterstützung gegen einen Armenverband 
niemals im Rechtswege, sondern nur bei der Verwaltungsbehörde 
geltend machen. Nach § 41 des Gesetzes vom 1. August 1883 
betreffend die Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungs¬ 
gerichtsbehörden unterliegen aber Beschwerden von Armen, sofern 
eine Stadt von mehr als 10000 Einwohnern am Armenverbande 
beteiligt ist, der endgültigen Beschlußfassung des Bezirksaus¬ 
schusses, in anderen Fällen — und dieser Fall lag vor — der 
endgültigen Beschlußfassung des Kreisausschusses. 

Nachdem der Kreisausschuß zu Hanau die Gewährung der 
Kosten aus Mitteln des Ortsarmenverbandes abgelehnt hatte, über¬ 
wies das Amtsgericht durch Beschluß vom 10. Februar 1902 die 
Kinder von neuem der Fürsorgeerziehung. Gegen den Beschluß 
erhob der Landeshauptmann wiederum die Beschwerde, welche 
auch jetzt vom Landgericht Hanau zurückgewiesen wurde. Das 
Landgericht führte aus, daß mit Rücksicht auf den endgültigen, 
die erforderlichen Mittel versagenden Beschluß des Kreisausschusses 
nichts anderes übrig bleibe, als die Kinder zur Verhütung ihrer 
Verwahrlosung der Fürsorgeerziehung zu überweisen. Gegen den 
Beschluß des Landgerichts Hanau richtete darauf der Landes¬ 
hauptmann zum zweiten Male die Beschwerde an das Kammer¬ 
gericht. Das Kammergericht wies aber nunmehr durch Beschluß 
vom 28. April 1902 die Beschwerde des Landeshauptmanns zurück. 
Der Gerichtshof bezog sich auf die Begründung des früheren Be¬ 
schlusses vom 23. September 1901, in welchem schon ausgesprochen 
wurde, daß, wenn die zuständigen höheren Verwaltungsbehörden 
die gerichtliche Unterstützungspflicht des Armenverbandes ver¬ 
neinen, dann allerdings die Fürsorgeerziehung eintreten müsse. 
Diesen Fall erachtet das Kammergericht für vorliegend. Der Kreis- 
au89chuß zu Hanau habe endgültig festgestellt, daß die Ortsarmen¬ 
verwaltung die erforderlichen Mittel nicht zu geben brauche. Da 
auch von anderer Seite die Mittel nicht zu erlangen seien, so sei 
die Fürsorgeerziehung das letzte und einzige Mittel, um die Kinder 
vor Verwahrlosung zu schützen. Die Fürsorgeerziehung wurde 
deshalb jetzt auch vom Kammergericht für notwendig erklärt 

Um die drei Kinder in Fürsorgeerziehung unterzubringen, 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


369 


sind demnach acht Entscheidungen erforderlich gewesen. Je zwei¬ 
mal entschied das Amtsgericht, Landgericht und Kammergericht 
und je einmal der Ortsarmenverband und der Kreisausschuß, und 
alle Entscheidungen hat der Landeshauptmann der Provinz Hessen 
mittelbar oder unmittelbar veranlaßt — 

Und wie steht es, wenn es sich um ein nur körperlich ver¬ 
wahrlostes Kind handelt? 

Auf diesen Fall wollte der Gesetzgeber das Gesetz doch auch 
ausgedehnt wissen. Sind hier „besondere erzieherische Ma߬ 
nahmen“ nötig? Ist hier gerade die Fürsorgeerziehung im tech¬ 
nischen Sinne erforderlich, um die Verwahrlosung zu verhüten? 
Keineswegs; es genügt die einfache vernünftige Erziehung in einer 
ordentlichen, sauberen Familie. Folglich dürfte, wenn der Stand¬ 
punkt des Kammergerichts der richtige wäre, die Fürsorgeerziehung 
niemals angeordnet werden, wenn es sich um das Vorliegen von 
nur körperlicher Verwahrlosung handelt Mithin ist die Streichung 
des Wortes „sittlich“ vor „Verwahrlosung“ in dem Zusatz des 
§ 1 No. 1 völlig überflüssig gewesen. 

An dieser Stelle fühlt indessen auch das Kammergericht, daß 
es sich in vollkommenen Gegensatz zu der Absicht des 
Gesetzgebers und sogar zu dem Wortlaut des Gesetzes 
selbst setzt, und es macht einen mißglückten Versuch, um 
wenigstens eine teilweise Übereinstimmung herzustellen: 

„Der einzige (??) Umstand,“ sagt der Beschluß vom 24. No¬ 
vember 1902, „der mit einigem Grund gegen die Auffassung des 
Kammergerichts angeführt werden könnte, besteht darin, daß im 
§ 2 der Regierungsvorlage, dem jetzigen § 1 des Gesetzes, das 
Wort „sittliche“ vor dem Wort „Verwahrlosung“ im ersten Absätze 
gestrichen und der Antrag auf Wiederherstellung der Regierungs¬ 
vorlage in der Kommission des Abgeordnetenhauses unter Billigung 
des Regierungsvertreters abgelehnt wurde, so daß danach schon 
bloße körperliche Verwahrlosung die Anordnung der Für¬ 
sorgeerziehung rechtfertiffen kann. Allein es lassen sich Fälle 
körperlicher Verwahrlosung (beispielsweise eingewurzelter, ge¬ 
sundheitswidriger unreinlicher Angewöhnung) denken, die nur mit 
Hilfe von erziehlichen Maßregeln besonderer Art zu be¬ 
seitigen und bei denen deshalb Maßnahmen aus § 1666 B.G.B. 
allein ungeeignet sind, sondern zwangsweise dauernde und plan¬ 
mäßige Erziehung angeordnet werden muß. Diese Veränderung 


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Schiller. 


der Regierungsvorlage steht also nicht notwendig der Beurteilung 
des Kammergerichts entgegen/* 

Sie steht nicht allein der Praxis des Kammergerichts entgegen, 
sondern zeigt deutlich daß der Standpunkt ein durchaus falscher 
ist. Glaubt denn das Kammergericht wirklich, daß der Gesetz¬ 
geber, indem er auch die körperliche Verwahrlosung zur Voraus¬ 
setzung der Fürsorgeerziehung machte, an die ganz seltenen Fälle 
gedacht hat, in denen die körperliche Verwahrlosung nur mit Hilfe 
von „erziehlichen Maßregeln besonderer Art“, z. B. beim 
Vorhandensein „eingewurzelter, gesundheitswidriger, un¬ 
reinlicher Angewöhnung“, zu beseitigen ist? Glaubt das 
Kammergericht wirklich, daß nur um in diesen konstruierten Fällen, 
in denen auch die körperliche Verwahrlosung auf einen sittlichen 
Defekt zurückzuführen ist, die Fürsorgeerziehung eintreten zu 
lassen, der Gesetzgeber das Wort „sittliche“ vor „Verwahrlosung“ 
gestrichen hat? Wenn dies die Tendenz des Gesetzes wäre, dann 
hätte der Gesetzgeber mit ruhigem Gewissen sich auf die Fürsorge 
nur für die sittlich verwahrloste Jugend beschränken können. 
Denn die Fälle, in denen die vorliegende körperliche Verwahr¬ 
losung auf einem eingewurzelten gesundheitswidrigen Hang 
zur Unreinlichkeit zurückzuführen ist, werden sich wohl nur ganz 
vereinzelt finden, abgesehen davon, daß sich nicht absehen läßt, wie 
der Richter bei einen kleinen Kinde einen derartigen pathologischen 
Hang zur Unreinlichkeit konstatieren soll. Im allgemeinen haben 
kleine Kinder selten eine große Vorliebe für Reinlichkeit, aber 
diese Antipathie ist doch regelmäßig nicht in einem geistigen oder 
sittlichen Defekt der Kinder zu suchen. 

Gerade hier zeigt sich deutlich das Falsche der Auffassung 
des Kammergerichts. Das Kammergericht hat nur die Person des 
Minderjährigen im Auge. Der Grad bezw. die Art seiner 
Verwahrlosung soll das Entscheidende sein. Auf die Person 
des Minderjährigen kommt es aber in derartigen Fällen überhaupt 
erst in zweiter Linie an. Entscheidend ist das Verhalten der Eltern. 
Nicht das hat der Richter zu prüfen, ob die körperliche Verwahr¬ 
losung des Minderjährigen in seinem Charakter begründet ist. Der 
Richter hat vielmehr nur das Vorliegen körperlicher Verwahrlosung 
bei dem Minderjährigen zu konstatieren und dann seine Aufmerk¬ 
samkeit den Eltern zuzuwenden. Wie sie ihr Kind behandeln, 
das ist die Hauptsache. In der Regel wird die körperliche Ver¬ 
wahrlosung des Kindes in dem schuldhaften Verhalten der Eltern 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


371 


ihren Grund haben. Die Eltern werden das Kind roh mißhandeln, 
ihm ungenügende Nahrung geben, sich nicht um das Kind kümmern. 
Ungewaschen, vor Schmutz starrend, mit Ungeziefer bedeckt, not¬ 
dürftig mit Lumpen bekleidet, wird das Kind aufwachsen. Das 
sind die Fälle körperlicher Verwahrlosung, die der Gesetzgeber 
treffen wollte. In diesen Fällen wollte er das Kind vor dem Ver¬ 
kommen retten, und deshalb hat er für dasselbe die Fürsorge¬ 
erziehung vorgesehen. 

Wenn das Kammergericht sich weiterhin für seine Konstruktion 
der gewaltsam herbeigefiihrten Hilfsbedürftigkeit auf die Ent¬ 
scheidungen des Bundesamts für das Heimatwesen beruft, 
so muß zunächst festgestellt werden, daß die Armenverbände zum 
Zwecke der Erziehung Aufwendungen nicht zu machen haben. 
Nach § 1 des Ausführungsgesetzes zum Gesetz über den Unter¬ 
stützungswohnsitz vom 8. März 1871 hat der zur Unterstützung ver¬ 
pflichtete Armenverband jedem hilfsbedürftigen Deutschen Obdach, 
den unentbehrlichen Lebensunterhalt, die erforderliche 
Pflege in Krankheitsfällen und im Todesfall ein ange¬ 
messenes Begräbnis zu gewähren. Darüber hinaus darf der 
Armenverband nicht gehen. Insbesondere hat das Bundesamt 
wiederholt in früheren Entscheidungen ausgesprochen, daß als Akt 
der öffentlichen Armenpflege nicht zu betrachten ist die ander¬ 
weitige Unterbringung von Kindern, die lediglich aus 
Humanitätsrücksichten bewirkt wurde, weil die Kinder 
bei ihren an sich nicht hilfsbedürftigen, auch den Unter¬ 
halt nicht verweigernden Eltern der genügenden Zucht 
und Entziehung entbehrten. (Entsch. Bd. 7, S. 23; 12, S. 34; 
23, S. 121.) 

Im offenbaren Widerspruch hierzu hat das Bundesamt allerdings in 
den letzt ergangenen Entscheidungen (Bd. 32, S. 46; 34, S. 80) erkannt, 
daß ein Armenverband, der den Anordnungen des Vormundschafts¬ 
richters, sobald sie nur im Bereiche seiner sachlichen Zuständigkeit 
erlassen sind, ohne weitere Prüfung folgt, Erstattung der aufge¬ 
wendeten Kosten von dem Armen verband des Unterstützungs Wohn¬ 
sitzes verlangen kann. Das wäre richtig, wenn die Armenverbände 
an derartige Anordnungen der Vormundschaftsrichter gebunden 
wären. 

Tatsächlich sind aber die Anordnungen der Vormund¬ 
schaftsrichter für die Armenverbände in keiner Weise ma߬ 
geblich oder gar bindend. Einen Zwang auf die Armenverbände 


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372 


Schiller. 


zur Durchführung ihrer Beschlüsse können die ordentlichen Gerichte 
niemals ausüben. Der Richter kann nicht einmal darüber entscheiden, 
Hilfsbedürftigkeit im armenrechtlichen Sinne vorliegt oder nicht; 
für diese Frage ist der Rechtsweg ausdrücklich ausgeschlossen. 
Noch weniger aber kann der Vormundschaftsrichter durch seinen 
Spruch armenrechtliche Hilfsbedürftigkeit herbeiführen. Er kann 
wohl den Eltern die Erziehungsrechte absprechen; dadurch 
wird aber ein Kind noch nicht hilfsbedürftig. Wie das Wort „Er¬ 
ziehungsrechte“ schon sagt, ist den Eltern lediglich die Erziehung 
genommen. Zum Unterhalte ihrer Kinder bleiben sie nach wie 
vor verpflichtet. Die durch eine gesonderte Erziehung entstehenden 
Kosten sind deshalb lediglich Erziehungskosten, für welche die 
Armenverbände in Preußen nicht aufzukommen haben. 

Ein Kind, dessen Eltern die Erziehungsrechte auf Grund des 
§ 1666 B.G.B. genommen sind, steht daher auch keineswegs, wie 
gesagt worden ist, einem Kinde rechtlich gleich, dessen Eltern tot 
sind. Für ein verwaistes Kind freilich muß die Armenbehörde im 
Falle der Hilfsbedürftigkeit sorgen, nicht aber für ein Kind, das im 
Haushalte seiner Eltern den nötigen Unterhalt finden kann, mögen 
nun den Eltern die Erziehungsrechte abgesprochen sein oder nicht 

Nimmt im konkreten Falle der Pfleger auf Grund der vor¬ 
mundschaftsrichterlichen Anordnung ein Kind aus seiner, den Unter¬ 
halt nicht verweigernden Familie fort und begehrt die anderweitige 
Unterbringung des Kindes durch die Armenverwaltung, so hat diese 
zu prüfen, ob sie gesetzlich zum Einschreiten verpflichtet ist. 
Stellt sich heraus, daß das Kind bei seinen Eltern Unterhalt 
und Obdach in genügender Weise hat, so liegt kein Grund 
zum Einschreiten der öffentlichen Armenpflege vor. Ob die Eltern 
moralisch nicht in der Lage sind, das Kind zu erziehen, und ob 
ihnen deshalb der Richter die Erziehungsrechte genommen hat, 
geht die Armenverwaltung gar nichts an. Ja, der Armenverband 
kann sogar in Fällen, in denen die Eltern nicht so viel ins Ver¬ 
dienen bringen, um ihre Kinder unterhalten zu können, den Eltern 
eine angemessene Unterstützung zum Unterhalte der Kinder ge¬ 
währen, auch wenn die Eltern zur Erziehung der Kinder nicht 
qualifiziert sind. Zur Unterbringung der Kinder außerhalb der 
elterlichen Familie aus erzieherischen Rücksichten ist er 
nicht verpflichtet. 

Der Armenverband ist auch gar nicht berechtigt, ein Kind 
seinen unterhaltsfähigen und unterhaltswilligen Eltern vorzuenthalten 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


373 


und gegen ihren Willen, nur weil es der Vormundschaitsrichter an¬ 
geordnet hat, im Wege der öffentlichen Armenpflege zu erziehen. 
Denn zwangsweise, gegen den Willen der beteiligten Per¬ 
sonen, darf die Armenpflege niemals ausgeübt werden, schon wegen 
der mit dem Eintritt der Armenpflege verbundenen Folgen, dem Ver¬ 
luste der öffentlichen Rechte usw. Der Armenverband ist auch nicht 
für berechtigt zu erachten, die entstehenden Kosten für die Er¬ 
ziehung eines auf Grund des § 1666 B.G.B. außerhalb der elter¬ 
lichen Familie untergebrachten Kindes von seinen den Unterhalt im 
eigenen Hause nicht verweigernden Eltern einzuziehen. Ebenso¬ 
wenig wird die Armenverwaltung gegen derartige Eltern strafrecht¬ 
lich als Nährpflichtverletzer auf Grund des § 361 6 10 StG.B. Vor¬ 
gehen können, da ja die Hilfe der Armenbehörde nicht zum Unter¬ 
halte des Kindes erforderlich war. 

Wie die Armenverbände im konkreten Falle untersuchen 
müssen, ob die geforderte Hilfe den Umfang der gesetzlich vor¬ 
geschriebenen Leistungen nicht übersteigt, so mußte auch das 
Bundesamt in der Entscheidung vom 12. Oktober 1901 prüfen, ob 
die für die Unterbringung der Kinder außerhalb des elterlichen 
Haushaltes aufgewendeten Kosten als Erziehungskosten oder 
als Kosten für den unentbehrlichen Lebensunterhalt anzusehen 
sind, ohne Rücksicht auf die Anordnung des Vormundschaftsrichters. 
Würde das Bundesamt diese Untersuchung angestellt haben, so hätte 
es sich auf den in seinen früheren Entscheidungen ausgesprochenen 
Standpunkt stellen müssen, daß die Kosten, die für ein Kind auf¬ 
gewendet werden, nur um dem Kinde eine bessere Erziehung zu 
teil werden zu lassen, als Armenpflegekosten nicht anzusehen sind. 

Das Bundesamt irrt deshalb, wenn es glaubt, den Rechtsstreit 
zwischen den Armenverbänden damit abzutun, daß es demjenigen, 
der die Anordnung des Vormundschaftsrichters ohne nähere Prüfung 
befolgt hat, Recht gibt 

Eis wäre tatsächlich auch sonderbar und für die Armenver¬ 
bände sehr hart, wenn ihnen, wie das Bundesamt annimmt, kein 
Recht zur Nachprüfung der vormundschaftsgerichtlichen Beschlüsse 
auf ihre materielle Berechtigung hin zustande. Dann könnte der 
Vormundschaftsrichter auch z. B. für ein bereits sittlich verwahr¬ 
lostes oder für ein über 14 Jahre altes Kind, dessen Eltern die 
Verwahrlosung verschuldet haben, anstatt die Fürsorgeerziehung 
anzuordnen, einfach von den Maßregeln des § 1666 B.G.B. Gebrauch 
machen, den Eltern die Erziehungsrechte absprechen und die ander- 

Zciteohr. t Bekämpfung &, UfwchlechUkrankh. 11. 2b 


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374 


Schiller. 


weitige Unterbringung des Kindes anordnen. Der Armenverband 
dürfte eine Nachprüfung, ob er zur Unterbringung des Kindes ver¬ 
pflichtet sei, gar nicht ein treten lassen, sondern hätte einfach die 
Unterbringung des Kindes auf seine Kosten zu bewirken. 

Es muß deshalb den Armenverbänden zum mindesten das 
Recht gelassen werden, die Beschlüsse der Vormundschaftsrichter 
nachzuprüfen und zu sehen, ob sie zum Eintreten verpflichtet sind. 
Sind die Eltern imstande und willens, ihr Kind bei sich im 
eigenen Haushalt zu verpflegen, so sind die Armenverbände 
in keinem Fall verpflichtet, für die anderweitige Unterbringung des 
Kindes Sorge zu tragen. Ist infolge der moralischen Qualifi¬ 
kation der EHtern die Trennung des Kindes von den Eltern nötig, 
um es vor Verwahrlosung zu schützen, so handelt es sich lediglich 
um die Erziehung des Kindes und um Erziehungskosten, die von 
den Armenverbänden in Preußen nicht zu tragen sind. Können 
diese Kosten von den Eltern selbst nicht bestritten werden, so 
sind eben die Maßregeln aus § 1666 B.G.B. nicht durchführbar, 
und es hat die E'ürsorgeerziehung, wie es der Gesetzgeber 
hat, einzutreten. 

Aus diesen Gründen haben eine große Reihe von Bezirks- 
bezw. Kreisausschüssen (Breslau, Posen, Königsberg, Cöln, Osnabrück, 
Lüneburg usw.) die Weigerung der Armenverbände, für die auf 
Grund des § 1666 B.G.B. künstlich hilfsbedürftig gemachten Kinder 
gewollt zu sorgen, für berechtigt erachtet 

Allerdings haben die Armen verbände vor dem Erlaß des E'ür- 
sorgeerziehungsgesetzes in vielen Fällen Kinder, die bei ihren un¬ 
moralischen Eltern offenbar dem Verderben ausgesetzt waren, den 
Eltern fortgenommen und im Wege der öffentlichen Armenpflege in 
Anstalten oder bei geeigneten E'amilien untergebracht. Diese Unter¬ 
bringung geschah aber lediglich aus Humanitätsrücksichten, 
weil ein Gesetz, wie das Fürsorgeerziehungsgesetz damals nicht 
bestand. Man konnte doch unmöglich Zusehen, wie die Kinder in 
der verpesteten Luft des Elternhauses dem ofl’enbaren Verderben 
entgegengingen, und müßig beiseite stehen. Deshalb sind die 
Armen verbände eingetreten und haben auch die Erziehung der¬ 
artiger Kinder übernommen. Es klaffte eben früher an dieser 
Stelle eine Lücke in der Gesetzgebung; in solchen Fällen fehlte 
es an einem gesetzlich verpflichteten Träger der Erziehungskosten. 
Das Vorhandensein dieser Lücke ist von dem Gesetzgeber bei dem 
Erlaß des E'ürsorgeerziehungsgesetzes ausdrücklich anerkannt 


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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 


375 


worden, und das Gesetz vom 2. Juli 1900 sollte gerade dazu 
dienen, um diese Lücke zu schließen. 

Die Armenpflege — und das ist die Hauptsache bei der ganzen 
Frage — ist aber auch gar nicht imstande, die Fürsorgeerzie¬ 
hung zu ersetzen. Der Minderjährige kann im Wege der öffent¬ 
lichen Armenpflege nur im Armenhause oder bei einer Kost¬ 
kinderfrau untergebracht werden. Im Armenhause wird das Kind 
aber beim Zusammensein mit den alten verkommenen Armen¬ 
häuslern der Verwahrlosung wahrscheinlich in demselben Grade aus¬ 
gesetzt sein, als daheim bei den Eltern. Und auch die Familien¬ 
pflege, soweit sie von den Armenverbänden gewährt wird, kann 
das nicht leisten, was die Familienerziehung im Wege der staat¬ 
lichen Fürsorge zu leisten vermag. Denn meistens wird die Unter¬ 
bringung des Minderjährigen nur bei solchen Kostkinderfrauen be¬ 
wirkt werden können, die im Bezirk des Armenverbandes ihren 
Wohnsitz haben. Außerhalb seines Bezirks braucht der Armen¬ 
verband, wie das Kammergericht selbst erkannt hat, den Minder¬ 
jährigen nicht unterzubringen. Daraus folgen eine Menge Ubel- 
stände. In den großen Städten werden die Kinder nicht genügend 
beaufsichtigt werden können. Sie werden häufig Gelegenheit haben, 
sich herumzutreiben und in ihre verderbliche Umgebung zurück¬ 
zukehren. Vor allem aber liegt die Gefahr nahe, daß die ver¬ 
kommenen Elltern auf jede mögliche Art und Weise versuchen 
werden, Zutritt zu ihren Kindern zu erhalten und ihren schlechten 
Einfluß auf die Kinder ausüben. Außerdem — und das ist be¬ 
sonders für die der geschlechtlichen Verwahrlosung ausgesetzten 
Mädchen verhängnisvoll — endet die Verpflichtung des Armen¬ 
verbandes für ein Kind zu sorgen, regelmäßig, sobald das Kind 
das 14. Lebensjahr erreicht hat. Was wird aber dann aus einem 
Mädchen, das eine der Unzucht nachgehende Mutter hat, werden? 
Selbst wenn die Mutter sich vorher niemals um das Kind ge¬ 
kümmert hat, wird sie, sobald das Kind erwerbsfähig ist, sich sehr 
wohl seiner erinnern und sie wird versuchen, des Kindes habhaft 
zu werden, um es sich zunutze zu machen. Hat der Pfleger 
dann das Kind in einer Dienst- und Lehrstelle untergebracht, so 
wird die Mutter das Kind zum Entlaufen bewegen und allmählich 
in den Sumpf der Unsittlichkeit herabziehen. Der Pfleger, dem es 
unter solchen Verhältnissen gelingt, ein Mädchen vor dem 
mütterlichen Einflüsse zu bewahren, soll noch geboren 
werden. Es wird schließlich nichts übrig bleiben, als daß, nachdem 

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376 


Schiller. 


die sittliche Verwahrlosung genügend fortgeschritten und das Mädchen 
geschlechtlich gehörig verdorben ist, die Fürsorgeerziehung doch 
eintreten muß. Aber mit welchem Erfolge? Das ist dann sehr 
zweifelhaft Wäre die Fürsorgeerziehung eingetreten, solange das 
Mädchen noch unverdorben war, so wäre der Erfolg sicherer 
gewesen. 

Die Praxis des Kammergerichts ist fast überall in Preußen 
dem heftigsten Widerspruch begegnet Eine große Reihe von 
Städtetagen haben sich gegen sie ausgesprochen; der Deutsche 
Zentralverein für Jugendfürsorge und viele andere Erzie¬ 
hungsvereine haben sie befehdet Im Herrenhause sowohl wie 
im Abgeordnetenhause ist der Standpunkt des Kammergerichts 
Gegenstand der Erörterungen und lebhafter Angriffe gewesen; insbe¬ 
sondere haben in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 11. Februar 
1903 sämtliche zehn Redner aller Parteischattierungen, die zu der 
Frage sprachen, die Rechtsprechung des Kammergerichts, 
eines aus praktischen, sei es aus rechtlichen Gründen, 
verurteilt 

Auch der „Deutsche Verein für Armenpflege und Wohl¬ 
tätigkeit“, der sich in seiner Tagung am 25. und 26. September v. J. 
mit der Frage eingehend beschäftigte, ist zu der Überzeugung ge¬ 
langt, daß die Praxis des Kammergerichts nicht den Interessen 
der allgemeinen Wohlfahrt entspricht. Die Überzeugung hat in 
der einstimmigen Annahme folgender Resolution ihren Ausdruck 
gefunden: 

„Um allen geistig, sittlich oder körperlich gefährdeten Minder¬ 
jährigen unter 18 Jahren den erforderlichen Schutz zu gewähren, 
ist es wünschenswert, die Fürsorge-(Zwangs-)Erziehung für alle die¬ 
jenigen Fälle für zulässig zu erklären, in denen der Richter Anlaß 
zum Einschreiten auf Grund der §§ 1666, 1838 des Bürgerlichen 
Gesetzbuches findet“ 

Trotz aller dieser Proteste ist aber nicht anzunehmen, daß 
das Kammergericht seinen Standpunkt aufgeben wird, wenn nicht 
durch eine Novelle zu dem Fürsorgeerziehungsgesetz, die 
die Vorschrift des § 1 Ziff. 1 entsprechend ändert, die Absicht des 
Gesetzgebers klar zum Ausdruck gebracht wird. 

Durch eine Petition an das Herrenhaus und das Abgeordneten¬ 
haus, eine solche Gesetzänderung herbeizuführen, ist die Deutsche 
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 
bestrebt, die auf ihrer diesjährigen Mitgliederversammlung, der 


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Anhang. 


377 


obigen Resolution des Deutschen Vereins fllr Armenpflege und 
Wohltätigkeit sich anschließend, folgende Beschlüsse gefaßt hat: 

„Um allen geistig, sittlich oder körperlich gefähr¬ 
deten Minderjährigen unter 18 Jahren den erforder¬ 
lichen Schutz zu gewähren, ist es wünschenswert, die 
Fürsorgeerziehung für alle diejenigen Fälle für zulässig 
zu erklären, in denen der Richter Anlaß zum Einschreiten 
auf Grund der §§ 1666, 1838 des B.G.B. findet Die Gesell¬ 
schaft beschließt, bei den gesetzgebenden Instanzen 
Preußens dahin vorstellig zu werden, daß im Wege der 
Gesetzgebung eine Abänderung des § 1 Ziff. 1 des Gesetzes 
vom 2. Juli 1900 im Sinne einer Erweiterung des An¬ 
wendungsgebietes der Fürsorgeerziehung vorgenommen 
werde, damit die Fürsorgeerziehung entgegen der bis¬ 
herigen Rechtsprechung des Kammergerichts allen geistig 
oder leiblich gefährdeten Kindern zuteil werde, die von 
ihren Eltern aus erzieherischen Gründen getrennt werden 
müssen. 

Die aus der vorläufigen Unterbringung erwachsen¬ 
den Kosten sind den Provinzialverbänden zur Last zu 
legen." 


Anhang. 

I. Reichsgesetzliche Bestimmungen über die Zwangs - (Fürsorge)- 
Erziehung Minderjähriger. 

1. § 55 des Strafgesetzbuchs neue Fassung nach Art. 34 II 
des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch. 

II. An die Stelle des § 55 treten folgende Vorschriften: 

Wer bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr 
nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich 
verfolgt werden. Gegen denselben können jedoch nach Ma߬ 
gabe der landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und 
Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden. Die 
Unterbringung in eine Familie, Erziehungsanstalt oder Besse¬ 
rungsanstalt kann nur erfolgen, nachdem der Beschluß des Vor¬ 
mundschaftsgerichtes die Begehung der Handlung festgestellt 
und die Unterbringung für zulässig erklärt ist. 

2. § 56 des Strafgesetzbuchs. 

Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber 
nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung 
begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur 
Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß. 


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378 


Anhang. 


In dem Urteile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner 
Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt ge¬ 
bracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die 
der Anstalt Vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich er¬ 
achtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr. 

3. § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. 

Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch ge¬ 
fährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes 
mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder un¬ 
sittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht 
die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. 
Das Vormundschaftsgericht kann inbesondere anordnen, daß das Kind 
zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder iu einer 
Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird. 

Hat der Vater das Recht des Kindes auf Gewährung des Unter¬ 
halts verletzt und ist für die Zukunft eine erhebliche Gefährdung des 
Unterhalts zu besorgen, so kann dem Vater auch die Vermögensver¬ 
waltung, sowie die Nutznießung entzogen werden. 

4. § 1686 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. 

Auf die elterliche Gewalt der Mutter finden die für die elterliche 
Gewalt des Vaters geltenden Vorschriften Anwendung, soweit sich nicht 
aus den §§ 1687—1697 ein Anderes ergibt. 

5. § 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. 

Das Vormundschaftsgericht kann anordnen, daß der Mündel zum 
Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Er¬ 
ziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird. Steht 
dem Vater oder der Mutter die Sorge für die Person des Mündels zu, 
so ist eine solche Anordnung nur unter den Voraussetzungen des § 1666 
zulässig. 

6. Art. 3 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen 
Gesetzbuch. 

Soweit in dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder in diesem Gesetze 
die Regelung den Landesgesetzen Vorbehalten oder bestimmt ist, daß 
landesgesetzliche Vorschriften unberührt bleiben oder erlassen werden 
können, bleiben die bestehenden landesgesetzlichen Vorschriften in Kraft 
und können neue landesgesetzliche Vorschriften erlassen werden. 

7. Art. 185 des Einführungsgesetzes. 

Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die 
Zwangserziehung Mindeijähriger. Die Zwangserziehung ist jedoch, un¬ 
beschadet der Vorschriften der §§ 55, 56 des Strafgesetzbuchs, nur zu¬ 
lässig, wenn sie von dem Vormundschaftsgericht angeordnet wird. Die 
Anordnung kann außer den Fällen der §§ 1666, 1888 des Bürgerlichen 


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Anhang. 


379 


Gesetzbuchs nur erfolgen, wenn die Zwangserziehnng zur Verhütung 
des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist. 

Die Landesgesetze könnea die Entscheidung darüber, ob der Minder¬ 
jährige, dessen Zwangserziehung angeordnet ist, in einer Familie oder 
in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt unterzubringen sei, einer 
Verwaltungsbehörde übertragen, wenn die Unterbringung auf öffentliche 
Kosten zu erfolgen hat. 

II. Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger 
vom 2. Juli 1900. 

§ 1. Ein Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht 
vollendet hat, kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden: 

1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 des 
Bürgerlichen Gesetzbuchs vorliegen und die Fürsorgeerziehung 
erforderlich ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu 
verhüten; 

2. wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat, 
wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters straf¬ 
rechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Fürsorgeerziehung 
mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Persön¬ 
lichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen 
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahr¬ 
losung des Minderjährigen erforderlich ist; 

3. wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen wegen Unzu¬ 
länglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen 
Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen 
Verderbens des Mindeijährigen notwendig ist. 

§ 5. Bei Gefahr im Verzüge kann das Vormundschaftsgericht eine 
vorläufige Unterbringung des Mindeijährigen anordnen. Die Polizei¬ 
behörde des Aufenthaltorts hat in diesem Falle für die Unterbringung 
des Mindeijährigen in einer Anstalt oder in einer geeigneten Familie 
zu sorgen. 

Die durch die vorläufige Unterbringung erwachsenen Kosten fallen, 
sofern die Überweisung zur Fürsorgeerziehung demnächst endgültig 
angeordnet wird, dem verpflichteten Kommunalverbande (§ 14), andern¬ 
falls demjenigen zur Last, welcher die Kosten der örtlichen Polizei¬ 
verwaltung zu tragen hat. Die Polizeibehörde hat in allen Fällen die 
durch die vorläufige Unterbringung entstehenden Kosten vorzuschießen. 


Im Anschluß an vorstehenden, in der Mitgliederversammlung 
des Schlesischen Zweigvereins am 18. Januar d. J. gehaltenen 
Vortrag bringen wir nachfolgend die Diskussion, welche sich 
an die Ausführungen des Vortragenden anschloß. 


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Diskussion. 


Oberlandesgerichtsrat Simonson erklärte den Ansführungen des 
Vortragenden in allen wesentlichen Punkten beipflichten zu müssen, ver¬ 
suchte aber das angegriffene Kammergericht bis zu einem gewissen 
Grade mit dem Hinweise darauf in Schutz zu nehmen, daß die Aus¬ 
führungsbestimmungen des Ministers des Innern denselben Standpunkt 
vertreten. Diese lauten in ihrer Einleitung dahin: „Die Fürsorgeerzie¬ 
hung auf Grund dieses Gesetzes ist nur eine der mannigfachen gesetz¬ 
lichen und Verwaltungsmaßregeln zur Sicherung einer geordneten Er¬ 
ziehung Jugendlicher. Sie greift so tief in das Verhältnis des Jugend¬ 
lichen zu seinen Eltern und zu seiner Familie ein, dass sie in vielen 
Fällen eine vollständige Loslösung von der Familie zur Folge hat; sie 
soll daher nur zur Anwendung kommen, wenn alle anderen zur Ver¬ 
fügung stehenden Maßregeln, eine geordnete Erziehung herbeizuführen, 
versagen. Bevor die Maßregel in Aussicht genommen wird, ist daher 
sorgfältig zu prüfen, ob nicht durch Anwendung anderer Maßnahmen, 
der kirchlichen Einwirkung, der Schulzucht, der Armenpflege, freiwilliger 
Liebestätigkeit oder vormundschaftlicher Anordnungen, für welche der 
§ 1666 BGB. den weitesten Spielraum gewährt, der Verwahrlosung 
vorgebeugt oder ihr Fortgang aufgehalten werden kann. Hat die Ver¬ 
wahrlosung ihren Grund in wirtschaftlicher Not der Eltern oder Er¬ 
zieher oder in mangelhafter Fürsorge für ein verwaistes Kind, so sind 
die verpflichteten Armenbehörden von Aufsichtswegen anzuhalten, ihre 
Schuldigkeit zu tun.“ Bei dem starken Widerspruch gegen die Recht¬ 
sprechung des Kammergerichts falle der Gesichtspunkt doch wohl auch 
mit in das Gewicht, dass die Armenbehörden als Beteiligte auftreten, 
deren Lasten sich in dem Maße vereinigen als die höchste entscheidende 
Instanz das Anwendungsgebiet des Gesetzes ausdehnt. Dessenungeachtet 
befürwortete auch er die vorgeschlagene Beschlußfassung, die die Zu¬ 
lässigkeit der Fürsorgeerziehung auch dann wünscht, wenn lediglich die 
Voraussetzungen der §§ 1666, 1888 BGB. vorliegen, so daß in § 1 
Nr. 1 des Ges. v. 2./7.1900 die Worte fortfallen „und die Fürsorgeerzie¬ 
hung erforderlich ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu ver¬ 
hüten“. Hierfür spreche die Kostenfrage sehr stark, denn da es an 
einer Bestimmung dafür fehle, wer die Kosten zu tragen habe, wenn 
der Vormundschaftsrichter Anordnungen treffe auf Grund der §§ 1666, 
1838 BGB., so sei in der Tat zu besorgen, daß diese gesetzliche 
Regelung im wesentlichen ebenso auf dem Papiere stehen bleiben werde 
wie die erwähnten Bestimmungen des ALR. Wenn dagegen die Be¬ 
stimmungen dieser Paragraphen Bestandteil des Fürsorge-Erziehungsge¬ 
setzes würden, so würden auch in diesem Falle die Kosten von dem 
verpflichteten Kommunalverbande zu tragen sein. Er wies ferner darauf 
hin, daß dann auch die Strafbestimmungen des § 21 des Gesetzes, die 
den mit Strafe bedrohen, der in gewisser Weise die Zwecke der Für- 


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Diskussion. 


381 


sorgeerziehung zu durchkreuzen versucht, erweiterte Anwendung finden 
werden, was durchaus erwünscht erscheint. Er unternahm endlich eine 
Prüfung, ob gegenüber dem Art. 135 des Einführungs-Gesetzes zum 
BGB. eine derartige landesgesetzliche Regelung zulässig sei; er glaubte 
diese Zulässigkeit bejahen zu sollen, da die vorgeschlagene Erweiterung 
des Preuß. Ges. das Beichsrecht nur ergänze, nicht aber damit in 
Widerspruch trete. 

Geheimrat Neisser: Ich hin in der Lage, die Angaben, welche der 
Herr Vortragende über die sozialen Verhältnisse der Fürsorge-Zöglinge 
gemacht hat, durch einige Ziffern, welche ich einer von mir über die 
Breslauer Prostituierten gesammelten Statistik entnehme, zu ergänzen. 
Es wurden im Laufe der Jahre 679 Personen nach einem aufgestellten 
Fragebogen befragt, teils, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, in einer 
einmaligen ausführlichen Besprechung, teils in gelegentlichen Unterhal¬ 
tungen während des gewöhnlich ja mehrere Wochen währenden Aufent¬ 
haltes im Hospital, Arbeitshaus u. dergl. Die Art und Weise und die 
Sorgfalt, mit der die Befragungen vorgenoramen wurden, berechtigten 
mich zu der Annahme, daß ich ziemlich zuverlässige Mitteilungen seitens 
der Befragten erhalten habe. Aus der Statistik, die später ausführlich 
veröffentlicht werden soll, will ich nur folgendes Hierhergehörige mitteilen: 

Von den 679 Befragten waren: 


1. ehelich geboren 

596 

87,78 

Proz. 

unehelich „ 

88 

12,22 

»» 

2. Vollwaisen 

77 

11,84 

>» 

vaterlos 

130 

19,15 

>» 

mutterlos 

104 

15,32 

» 


Also bei nicht weniger als im ganzen 311 Personen = 45,81 Proz. 
liegen im kindlichen und jugendlichen Alter ungünstige Verhältnisse für 
die Erziehung und Überwachung vor. 

Es waren nur 536 der Befragten = 78,93 Proz. vor oder bis zum 
14. Jahre ganz bei den Eltern; die übrigen waren während der ganzen 
Zeit oder teilweise in Pflege oder in einem Erziehungshaus. 

Was den Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs betrifft, so 
wurde derselbe ausgeübt: 


Im 

Alter 

von 12 Jahren von 

1 

Person 



„ 14 

>» 

V 

7 

Personen 

»> 

» 

.. 15 


V 

62 

>> 


»> 

* 16 

»> 

»» 

126 

>» 

»» 

i» 

„ 17 

»* 


150 

»» 

d. h. von 346 

Personen = 50,96 

Proz. 

vor 

dem 18. Lebensjahre. 


Ich betone das deshalb, weil nach dem Erlaß des Herrn Ministers vor 
dem vollendeten 17. Lebensjahre eine Inskription nicht erfolgen soll. Es 
ist aber eine feststehende Tatsache, daß in den Kreisen dieser Mädchen, 
wenn erst überhaupt Geschlechtsverkehr stattfindet, derselbe sehr bald 
auch sehr reichlich und leider auch sehr schnell in prostitutionsartiger 
Weise betrieben wird. 253 Personen = 37,26 Proz. hatten ihre erste 


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382 


Diskussion. 


Kohabitation zwischen dem 18. und 20. Lebensjahre. Für das majorenne 
Alter von 21 Jahren ab bleiben also nur 80 Personen = 11,78 Proz. 
übrig. 

Was das Alter bei der Inskription betrifft, so wurden von den 
damals Befragten inskribiert vor dem 18. Lebensjahre 183 Personen 
= 26,95 Proz. Alle diese Personen würden also nach dem Erlaß 
des Herrn Ministers gegenwärtig nicht mehr inskribiert werden dürfen, 
und es bringt mich dies auf die Frage, ob durch diese vom Herrn 
Minister erlassene Bestimmung nicht häufig sich Mißstände derart 
herausstellen, daß solch jugendliche Personen, die wegen ihres 
prostitutionsartigen Geschlechtsverkehrs und, weil sie geschlechtskrank 
waren, dem Hospital zugeführt wurden, nicht in der Mehrzahl der 
Fälle sanitär unüberwacht bleiben, wenn sie aus dem Hospital ent¬ 
lassen werden. Man muß dabei bedenken, daß gerade diese Personen 
die gefährlichsten Prostituierten sind; einerseits weil sie die jüngsten 
und demgemäß begehrtesten Mädchen, sind und dann, weil sie, soweit 
sie syphiliskrank sind, sich alle im ansteckenden, also gefährlichsten 
Stadium der Syphilis befinden. Ich würde für eine Auskunft, ob nach 
dieser Richtung hin die zweifellos von bester Absicht diktierte Bestim¬ 
mung des Herrn Ministers nicht doch zu einer Schwächung der durch 
die sanitäre Aufsicht ermöglichten Gefahrenherabsetzung seitens der 
Prostitution führt, sehr dankbar sein. 

Ferner möchte ich auf folgendes aufmerksam machen: Die Gegner 
der Reglementierung behaupten bisweilen, daß durch die zwangsweise 
Internierung von Prostituierten und die dadurch herbei geführte Ver¬ 
minderung des Prostitutionsmarktes nicht nur keine Bekämpfung der 
Prostitution, sondern eine, wenn auch ungewollte Verstärkung 
der Prostitutionsarmee herbeigeführt würde. Sie argumentieren: 
„da die Nachfrage der Männer resp. der Bedarf an Prostituierten — 
wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf — doch der gleiche bleibt, 
was nützt es dann, einige hundert Prostituierte zu eliminieren? Es 
rücken ja nur jüngere, noch nicht der Prostitution verfallene Elemente 
nach und so wird schließlich eine absolut viel größere Anzahl von 
Personen in die Prostitution ein gereiht.“ Ich glaube, daß diese ganze 
Argumentation falsch ist, weil zwar eine Nachfrage der Männer besteht 
und dieselbe auch, wie man zugeben muß, die Entstehung und das Be¬ 
stehen der Prostitution begünstigt, daß aber das wesentlichste Moment, 
welches die Rekrutierung der Prostitutionsarmee unter der weiblichen 
Bevölkerung zustande bringt, nicht in der Nachfrage der Männer be¬ 
ruht, sondern in dem gleichsam von unten her wirkenden Druck, der 
die weiblichen Elemente in die Prostitution treibt, so daß sie sich als 
Prostituierte den Männern anbieten und sogar durch ihr Angebot eine 
gewisse Verführung der Männer — die ich übrigens durchaus nicht 
moralisch rein waschen will — herbeiführen. Die Nachfrage der Männer 
richtet sich nicht gerade auf Prostituierte, sondern auf weiblichen Ver¬ 
kehr überhaupt. Daß der Geschlechtsverkehr seitens der Frauen ein 
prostitutionsartiger wird, liegt viel mehr an den allgemeinen 
sozialen und Erwerbsverhältnissen, welche alle minderwertigen 


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Diskussion. 


383 


weiblichen Personen ebenso der Prostitution in die Arme führt, wie sie 
die Männer zu Landstreichern, Bettlern und Vagabunden machen. 

Wäre die Argumentation der Reglementierungsgegner richtig, so 
würde sie ja auch gegen die Anwendung das Fürsorgegesetzes sprechen. 
Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß ich in beiden Fällen für eine 
energische Durchführung aller Maßregeln, welche möglichst viele Per¬ 
sonen der Prostitution entziehen, plädiere. Am meisten natürlich für 
das Fürsorgegesetz, welches in der Tat wie keine andere Maßregel bei 
sinngemäßer Ausführung geeignet erscheint, um der Ausdehnung der 
Prostitution und damit auch der Geschlechtskrankheiten entgegen zu 
arbeiten. 

Der Herr Vortragende hat die Bemerkung gemacht, daß in den 
allermeisten Fällen eine Rettung der Prostituierten nnd eine Rück¬ 
kehr derselben ins bürgerliche Leben nicht möglich sei. Es ist leider 
zuzugeben, daß für die allermeisten Fälle dies zutrifft. Tn allen Städten 
finden wir unter den Prostituierten eine verhältnismäßig große Anzahl 
von in höherem Lebensalter stehenden Personen, die also jahrzehnte¬ 
lang ihr Gewerbe ausüben. Ein weiteres Kontingent finden wir unter 
den Zuchthäuslerinnen. Aber immer noch auffallend viele retten sich 
ins bürgerliche Leben zurück, sei es, daß sie einen Beruf ergreifen, sei 
es, daß sie heiraten und brave und ordentliche Mütter werden. Man 
darf eben nicht vergessen, daß sich die Prostituierten zum größten Teil 
aus solchen Bevölkerungsklassen rekrutieren, in denen der außereheliche 
Geschlechtsverkehr, und auch nicht einmal immer die Prostitution als 
etwas Verwerfliches und Schändliches angesehen werden, und so erklärt 
es sich, daß solche Kreise diese Elemente wieder in sich anfhehmen, 
wenn dieselben den guten Willen dazu zeigen. 

Schließlich würde ich gern noch einige Bemerkungen machen, in 
welcher Weise man wohl weitere Kreise der heran wachsenden 
Jugend den Segnungen des Fürsorgegesetzes zugänglich machen könnte. 
Es wäre zu besprechen, wie weit von vornherein eine besondere Beauf¬ 
sichtigung der unehelichen Kinder und all derjenigen Kinder, in deren 
Familien sich Prostituierte finden, stattfinden könnte, wieweit Lehrer 
und Schulärzte, Kontrolleure der Krankenkassen, Beamte der Wohnungs¬ 
inspektion usw. bei ihrer Tätigkeit auch der Frage, ob nicht der Für¬ 
sorge zuzuführende Kinder von ihnen festgestellt werden könnten, ihre 
Aufmerksamkeit schenken sollten. All das im einzelnen zu besprechen, 
würde zu weit führen, aber nur einen Wunsch möchte ich zum Aus¬ 
druck bringen, daß alle die zahlreichen Vereine und Gesell¬ 
schaften, welche auf den verschiedenartigsten Wegen philan¬ 
thropische Zwecke verfolgen, viel mehr als das jetzt der Fall 
ist, in einer einheitlichen Organisation mit kommunalen und 
Polizeibehörden Zusammenwirken sollten. Meiner Überzeugung 
nach könnte mit den heute schon bereit gestellten Mitteln viel mehr 
geleistet werden, wenn eine einheitliche, Zersplitterung und Kraft¬ 
vergeudung vermeidende Organisation all dieser humanitären Vereine 
bestünde. Natürlich müßte diese Zentrale, gerade was die Prostitutions¬ 
überwachung betrifft, in engster Fühlung mit der Polizei stehen; 


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384 


Diskussion. 


in Breslau hat sich die Polizei selbständig in erfreulichster Weise mit 
all den privaten Fürsorgevereinen in Verbindung gesetzt und stellt 
prostitutionsverdächtige Personen nicht ohne weiteres unter Kontrolle, 
sondern überweist sie diesen Pflege vereinen. 

Das Wichtigste aber sind und bleiben gesetzgeberische Ma߬ 
nahmen des Staates; nur er allein verfügt über die notwendigen Hilfs¬ 
mittel, und nur er allein kann den leider ja unvermeidlichen Zwang 
auf indolente und wider willige Elemente ausüben. 

Magistratsassessor Dr. Gradenwitz. Der Herr Vorsitzende hat die 
Frage aufgeworfen, ob sich die an die vorläufige Unterbringung ge¬ 
knüpften Erwartungen erfüllt haben. Ich muß diese Frage auf Grund 
meiner praktischen Erfahrungen leider verneinen. Gebrauch gemacht 
worden ist im allgemeinen von der Bestimmung des § 5 des Gesetzes 
nur in den Fällen, in welchen sich Jugendliche wegen begangener Straf¬ 
taten in Haft befanden und die Anregung von den Staatsanwaltschaften 
oder Gefängnis Verwaltungen ausging. Soweit die Anträge von dem Ge¬ 
mein de vor stände ausgingen, haben sich die Gerichte — wenigstens in 
Breslau — mit der Begründung ablehnend verhalten, daß die vorläufige 
Fürsorge bereits von dem Armenverbande geübt werde und deshalb keine 
Gefahr vorhanden sei. Die Polizeiverwaltung ist mit ihren Anträgen 
auf vorläufige Fürsorgeerziehung äußerst zurückgehalten gewesen, wenig¬ 
stens sind mir Fälle nicht bekannt geworden, in denen Prostituierte auf 
polizeiliche Anregung in vorläufige Fürsorgeerziehung genommen worden 
sind. Es kann die Besorgnis nicht unterdrückt werden, daß die Rege¬ 
lung der Kostenfrage Anlaß zu dieser Zurückhaltung gegeben hat. Die 
Kosten der vorläufigen Unterbringung trägt der Kommunalverband, wenn 
die Fürsorgeerziehung endgültig beschlossen wird, andernfalls bleiben sie 
der Polizeibehörde zur Last; diese wird also gleichsam dafür bestraft, wenn 
sie in der Stellung der Anträge nicht vorsichtig genug gewesen ist. 
Die leidige finanzielle Frage, welche die Handhabung des Gesetzes im 
ganzen so ungünstig beeinflußt hat, kehrt auch hier wieder. 

Die Rechtsprechung des Kammergerichts ist von dem Gesichtspunkt 
geleitet, daß die Armen verbände aus finanziellen Gründen sich einer 
ihnen obliegenden Verbindlichkeit entziehen wollen. Der Herr Referent 
hat dargetan, daß diese Anschauung unrichtig ist, andere Juristen sind 
der Ansicht, daß die Auslegung des Kammergerichts dem bestehenden 
Gesetze entspricht. Der von dem Herrn Referenten vorgeschlagene Weg 
ist jedenfalls geeignet, das Gesetz auf alle geeigneten Fälle auszudebnen 
und ihm die Wirksamkeit beizulegen, welche bei seinem Erlaß beab¬ 
sichtigt war. 

Um auch dem § 5 des Gesetzes einen weiteren Anwendungskreis 
zu sichern, ist in der Literatur der Vorschlag gemacht worden, die 
Kosten der vorläufigen Fürsorgeerziehung in allen Fällen den Kommunal¬ 
verbänden zur Last zu legen. Dieser Vorschlag ist meines Erachtens 
sehr zweckmäßig; diese Verbände sind durch den Staatszuschuß von */ 3 
der Kosten zur Tragung zweifellos fähig und der Antrag auf vorläufige 
Fürsorgeerziehung würde in keiner Weise durch Erwägungen über Kosten¬ 
tragung beeinflußt werden. 


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Diskussion. 


385 


Zur Durchführung dieses Vorschlages ist nur die Streichung einiger 
Worte in § 5 Absatz 2 des Gesetzes erforderlich; der Absatz 2 müßte 
lauten: 

Die durch die vorläufige Unterbringung erwachsenden 
Kosten fallen dem verpflichteten Kommunalverbande (§ 14) zur 
Last. Die Polizeibehörde hat die durch die vorläufige Unter¬ 
bringung entstehenden Kosten vorzuschießen. 

Oberlandesgerichtsrat Simonson trat dem Geh.-Rat Dr. Neisser 
darin bei, daß es unzutreffend sei, die wohltätige Wirkung des Gesetzes 
damit zu bekämpfen, daß es nur eine bestimmte Schicht der Verwahr¬ 
losten, insbesondere der Prostituierten entferne, immer aber neuer Nach¬ 
wuchs komme, und zwar in um so stärkerem Maße, als für seine unheil¬ 
volle Wirksamkeit durch Entfernung jener Schicht Raum geschaffen sei. 
Dies sei deshalb unrichtig, weil es bei sachgemäßer Anwendung des Ge¬ 
setzes möglich sei, aus denen, die an sich bestimmt erscheinen, die 
Rekrutinnen der Prostitution zu werden, ehe sie das rekrutenpflichtige 
Alter erreichen, nützliche und gegen die Versuchung widerstandsfähige 
Mitglieder der menschlichen Gesellschaft' zu machen. Es komme nur dar¬ 
auf an, daß frühzeitig genug eingegriffen werde. Er wies ferner darauf 
hin, daß sowohl das BGB. wie das Fürsorge-Erz.-G. an den Vormund- 
8cbaffc8richter so hohe Anforderungen stelle, daß von der Justizverwal¬ 
tung eine sorgfältige Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte bei der 
Auswahl dieser Richter gefordert werden müsse. Das sei wesentliche 
Voraussetzung für eine gedeihliche Wirkung des Gesetzes. 

Wenn Klage darüber geführt werde, daß der § 5 des Gesetzes 
nach den bisherigen Erfahrungen häufig versage, so sei zu berücksich¬ 
tigen, daß nach dem Gesetz auch bei Gefahr im Verzüge die Anordnung 
der vorläufigen Unterbringung nicht der Polizeibehörde, sondern dem 
Gericht obliege, das seiner Natur nach schwerfälliger verfahre als eine 
Verwaltungsbehörde. Es sei aber zu erwägen, ob die Polizeibehörde hier 
nicht helfend eingreifen könne. Nach § 6a und f des Gesetzes über die 
Polizeiverwaltung vom 11./8. 1850 würde eine Verfügung der örtlichen 
Polizeiverwaltung, die anordnet, daß geschlechtskranke Prostituierte, von 
denen zu besorgen ist, daß sie, ihrem Gewerbe nachgehend, die Krank¬ 
heit weiter übertragen, bis zur vorläufigen Anordnung des Gerichts einem 
Krankenhaus überwiesen oder sonst ihrem Gewerbe entzogen werden, für 
zulässig zu erachten sein. 

Im übrigen befürwortet er den Gradenwitz'schen Vorschlag der 
anderweitigen Regelung der Kostenlast für die Fälle der vorläufigen 
Unterbringung, wenn auch nicht außer acht gelassen werden dürfe, daß 
§ 5 Abs. 2 bezwecke, den verpflichteten Kommunalverbäuden die Kosten 
zu ersparen, die durch ungerechtfertigte Anordnung dieser Maßregel 
entstehen. Da aber solche Fälle nicht besonders häufig sein werden, so 
liege kein Grund vor, die Kostenlast nicht einheitlich zu regeln. 
Mindestens sei es erwünscht, diese Frage zu einer Erörterung der gesetz¬ 
gebenden Körperschaften zu bringen. Die vorgeschlagene Änderung 
könne am einfachsten in der Weise erfolgen, daß § 5 Absatz 2 Satz 1 
folgende Fassung erhalte: „Die durch die vorläufige Unterbringung er- 


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386 


Diskussion. 


wachsenden Kosten fallen dem verpflichteten Kommunal verbände (§ 14) 
zur Last“ 

Dr. Neumann: Nach meiner Kenntnis der einschlägigen Verhält¬ 
nisse wird es von den zuständigen Polizeiorganen als Mißstand emp¬ 
funden, daß zwischen der Einleitung der Fürsorgeerziehung und der 
Ausführung derselben infolge der vielen zu beobachtenden gesetzlichen 
Vorschriften ein wochen-, ja monatelanger Zwischenraum liegt, der von 
den jugendlichen Frauenspersonen bei ihrer Geriebenheit und Verschlagen¬ 
heit recht häutig dazu ausgenützt wird, um sich der drohenden unbe¬ 
quemen Zwangserziehung nach Möglichkeit zu entziehen. Auch der 
Umstand, daß die Polizeibehörde befugt ist, durch Erwirkung eines vor¬ 
läufigen Beschlusses seitens des Vormundschaftsgerichtes eine einst¬ 
weilige Festnahme jugendlicher, der Unzucht verdächtiger Frauensper¬ 
sonen für solauge zu verfügen, bis die Fürsorgeerziehung im förmlichen 
Verfahren für sie beschlossen worden ist, kann den angeführten Übel¬ 
stand nicht beseitigen, weil einerseits die hier auf tretende Kosten frage 
besondere Schwierigkeiten macht, andererseits die doch notwendigen Er¬ 
mittelungen, Berichte usw. immer noch zu zeitraubend sind. So laufen 
viele dieser minderjährigen Frauenzimmer umher, die im Bewußtsein 
dessen, daß sie von der Polizei vorläufig noch nicht zur Kontrolle ge¬ 
schrieben werden dürfen, einer dauernden Unschädlichmachung immer 
wieder zu entschlüpfen verstehen. Da gerade diese jugendlichen Indivi¬ 
duen es sind, welche erfahrungsgemäß zur Verschleppung von Geschlechts¬ 
krankheiten besonders beitragen, müßte dem beregten Übelstande mehr 
Beachtung geschenkt weiden. 

Nicht minder wichtig erscheint es, auf die weitere ärztliche Über¬ 
wachung der einer Anstalt oder einer Familie zur Fürsorgeerziehung 
überwiesenen jungen Personen Bedacht zu nehmen. In Betracht kommen 
dabei diejenigen derselben, welche eine Syphilis acquiriert batten und 
von den äußeren Erscheinungen derselben durch entsprechende Kur be¬ 
freit worden sind. Da aber doch diese Krankheit auch ohne Auftreten 
äußerer Merkmale über Jahre hinaus geeigneter Behandlung und Über¬ 
wachung bedarf, so muß einerseits den Fürsorgezöglingen ein ent¬ 
sprechender Vermerk auf dem sie begleitenden Gesundheitsatteste mit¬ 
gegeben, andererseits für ausreichende ärztliche Beaufsichtigung während 
der Erziehungszeit Sorge getroffen werden. Ersteres geschieht hier; in¬ 
wieweit letzteres gehandhabt wird, entzieht sich meiner Kenntnis. 

Assessor Dr. Schiller (Schlußwort): Herr Oberlandesgerichtsrat 
Simonson hat als Stütze — wenn auch als schwache, wie er selbst sagt — 
für die Rechtsprechung des Kammergerichts die ministeriellen Ausfüh¬ 
rungsbestimmungen zum Fürsorgeerziehungsgesetz herangezogen. Ich 
bin indessen der Ansicht, daß auch diese schwache Stütze bei näherer 
Untersuchung nicht standhält. Allerdings heißt es in den Ausführungs- 
bestimmungen, die Fürsorgeerziehung greife so tief in das Verhältnis 
der Minderjährigen zu seiner Familie ein, daß sie in vielen Fällen die 
völlige Loslösung der Minderjährigen von seiner Familie zur Folge habe; 
deshalb solle die Fürsorgeerziehung erst in letzter Linie zur Anwendung 
kommen. Der Grund also für die subsidiäre Natur der Fürsorge- 


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Diskussion. 


387 


erziehung liegt in dem natürlichen Bande, welches den Minderjährigen mit 
seiner Familie verknüpft. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, steht 
aber das Eintreten der öffentlichen Armenpflege, welches das Kammer¬ 
gericht an die Stelle der Fürsorgeerziehung setzt, auf derselben Stufe 
der Subsidiarität wie die Fürsorgeerziehung. Der Vormundschaftsrichter 
erkennt den Eltern die Erziehuugsrechte ab und verlangt die Erziehung 
des Kindes im Wege der Armenpflege außerhalb des elterlichen Hauses. 
Das Band zwischen Kind und Eltern ist doch bei diesem Verfahren ge¬ 
nau so zerschnitten, wie wenn die Unterbringung des Minderjährigen 
in Fürsorgeerziehung angeordnet worden wäre. Ich meine also, daß 
man aus diesem Grunde der Armenpflege nicht den Vortritt vor der 
Fürsorgeerziehung lassen darf*. 

Was den § 5 des Gesetzes anlangt, so wird er allerdings von den 
Gerichten nicht allzu häufig zur Anwendung gebracht. Ich habe indessen 
gefunden, daß, wenn die Polizei Anträge aus § 5 gestellt hat — und das 
ist bei den der Prostitution ergebenen weiblichen Minderjährigen in der 
Regel der Fall, da ja die Polizei bei dem Vorliegen arger geschlecht¬ 
licher Verwahrlosung die Ablehnung der definitiven Unterbringung in 
Fürsorgeerziehung nicht zu befürchten hat — daß dann den Anträgen 
von den Gerichten auch stattgegeben wird. Ich stimme aber dem Vor¬ 
schläge des Herrn Assessor Dr. Gradenwitz bei, daß sich die Ände¬ 
rung des § 5 empfiehlt, um in jedem Falle etwaige finanzielle Bedenken 
der Polizei zu beseitigen. 

Es liegt schließlich noch ein Antrag von Fräulein „Elisabeth 
Bouness“ vor, in gewissen Fällen nicht das Kind, welchem Verwahr¬ 
losung droht, sondern den Vater, der die schlechte Erziehung und die 
Zerrüttung der Familienverhältnisse herbeiführt, zwangsweise aus der 
Familie zu entfernen. 

Der Antrag ist damit begründet, daß in sehr vielen Fällen der 
Vater der allein schuldige Teil an der Verwahrlosung seiner Kinder sei. 
Das mag richtig sein; in vielen Fällen ist aber auch die Mutter die 
einzig Schuldige. Man müßte also in diesen Fällen auch die Mutter 
von der Familie trennen. Zudem bieten aber unsere Gesetze gar keine 
Handhaben für ein Trennungsverfahren, wie es die Antragstellerin im 
Sinne hat. Die einzige Möglichkeit einer Trennung gibt die Eheschei¬ 
dung, wenn Ehescheidungsgründe vorhanden sind. Durch die Scheidung 
wird im Effekt dasselbe erreicht, was die Antragstellerin will. Ich kann 
aus diesen Gründen den gestellten Antrag nicht befürworten. 

Der Vorsitzende schließt die Diskussion und bringt die beiden 
Anträge Schiller und Gradenwitz zur Abstimmung. Dieselben 
werden einstimmig angenommen. Der Vorsitzende wird beauftragt, 
dieselben dem Vorstand der Gesellschaft zur weiteren Behandlung und 
Beratung zu überweisen 1 ). 

*) Wie unseren Lesern erinnerlich, ist der Antrag des Schlesischen 
Zweigvereins vom Vorstand der Mitgliederversammlung der D. G. z. ß. d. U. 
im März im Berliner Rathaus vorgelegt und von dieser angenommen worden. 
Die Petition selbst ist weiterhin den zuständigen Reichs- und Staatsbehörden 
übermittelt worden. 


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Tagesgeschichte. 

Deutschland. 

Landesversicherungs-Anstalt Rheinprovinz. Nachdem die mit 
dem 1. Januar 1904 in Kraft getretene Novelle zum Krankenversicherungs¬ 
gesetz den Krankenkassen die Fürsorge auch für ihre von Geschlechts¬ 
krankheiten befallenen Mitglieder weiblichen und männlichen Geschlechts 
übertragen und die Dauer der Unterstützung auf 26 Wochen festgesetzt 
hat, glaubte der Vorstand der Versicherungsanstalt Rheinprovinz 
in Berücksichtigung der namenlosen Verheerungen, welche diese Krank¬ 
heiten im Gefolge zu haben pflegen, auch seinerseits diese Fürsorge zum 
Gegenstände eines Heilverfahrens in denjenigen Fällen machen zu müssen, 
in welchen es sich um Kranke handelt, die einer Krankenkasse nicht 
angehören oder um solche, die zwar Mitglied einer solchen Kasse sind, 
deren Behandlung aber eine Nachkur darstellt, welche nicht Gegenstand 
der Fürsorge seitens der Krankenkassen ist. 

Auf Grund und in Verfolg eines dementsprechenden Beschlusses 
des Gesamtvorstandes wird die Versicherungsanstalt die primäre Heil¬ 
behandlung der an Tripper und Syphilis erkrankten Ver¬ 
sicherten, welche einer Krankenkasse nicht angehören, in 
geeignet scheinenden Krankenhäusern übernehmen, sowie 
ferner die Durchführung von Nachkuren der an Syphilis er¬ 
krankt gewesenen Versicherten, gleichviel ob sie einer 
Krankenkasse angehören oder nicht. 

Zunächst soll es sich nur um einen Versuch handeln und nach 
Jahresfrist an der Hand der bis dahin gesammelten Erfahrungen weiter 
darüber beraten und beschlossen werden, in welcher Form weitere Maß- 
nahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten seitens des Vorstandes 
in Erwägung zu ziehen wären. 

Auf dem Internationalen Frauenkongreß zu Berlin wird 
am Mittwoch, den 15. Juni eine größere Diskussion über Bestrebungen 
zur Hebung der Sittlichkeit stattfinden. Den Vorsitz und das ein¬ 
leitende Referat hält Frau K. Scheven, Dresden. Es sind ferner folgende 
Referate angemeldet: 

Frau Prof. Michelet, Norwegen: Sittlichkeitsbewegung in Norwegen. 

Frau Wynaendts-Frankeji-Dyserinck, Holland: Reglementierung 
und sanitäre Aufsicht der Prostitution in Holland. 

Mme Avril de St. Croix, Frankreich: Abolitionismus in Frankreich. 

Mrs. Grannis, Amerika: Promotion of social Purity. 

Fräulein Anna Pappritz, Berlin: Die positiven Aufgaben der 
Föderation. 

Gräfin von Hogendorp, Holland: Die internationale Bekämpfung 
des Mädchenhandels. 

Mrs. Kate Waller Barret, Verein. Staaten: Rettungsarbeit. 

Fräulein Fermstecher, Frankreich: L'Oeuvre des liberäes de St. 
Lazare. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1908/4. Nr. 10. 


Infektion als Morgengabe. 

Von 

Dr. W. Soh&llm&yer, München. 

Die Forderung, daß geschlechtskranke Männer durch eine 
möglichst zuverlässige Einrichtung, die nur auf dem Wege der 
Gesetzgebung ins Leben gerufen werden könnte, verhindert werden 
sollen, in die Ehe zu treten, solange nicht die Ansteckungsfähig¬ 
keit ihrer Krankheit sicher oder doch mit sehr großer Wahrschein¬ 
lichkeit erloschen ist, steht so sehr in Übereinstimmung mit den 
Grundsätzen, auf denen unsere sonstigen staatlichen Schutzein¬ 
richtungen gegen Gefahren für Leib und Leben der einzelnen wie 
der Gesellschaft beruhen, daß die meisten sie wahrscheinlich für 
etwas selbstverständliches halten würden, wenn sie schon längere 
Zeit verwirklicht wäre. Trotzdem wird sie bei uns zur Zeit noch 
von den meisten entweder fast unbesehen unter Anwendung der 
nächstliegenden Schlagwörter von der Schwelle gewiesen oder doch 
mit Einwänden abgefertigt, welche zeigen, wie sehr von den ab¬ 
lehnenden das Gewicht der Gründe unterschätzt wird, die für jene 
Forderung in die Wagschale zu legen sind. 

Die meisten Ablehnungsgründe entspringen aus einer bedauer¬ 
lichen Höherbewertung des individualistischen Interesses gegenüber 
dem Interesse der Gemeinschaft und ihrer Fortsetzung in den künftigen 
Generationen. Nun zeigt aber die Geschichte der alten wie der 
neueren Zeiten, daß die Fürsorge für die Gesundheit der einzelnen 
wie der Gesellschaft um so mehr eine öffentliche Angelegenheit 
wurde, je höher die soziale und kulturelle Entwicklung stieg. 
Daß die Gesamtheit diese Fürsorge weit wirksamer zu gestalten 
vermag, als es die Bestrebungen der einzelnen vermochten, war ja 
unverkennbar. Eine größere Fruchtbarkeit konnte jedoch diese 
Erkenntnis erst dadurch erlangen, daß unsere neuere soziale Ent- 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtakrankh. II. 29 


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890 


Schallmayer. 


wicklung auch eine Ausbreitung und Erstarkung der auf das Ge¬ 
meinwohl zielenden Sinnesrichtung mit sich gebracht hat. Von 
einer hocherfreulichen Erstarkung des sozialen Sinnes weiter Volks¬ 
kreise zeugt beispielsweise die Volksheilstättenbewegung für Tuber¬ 
kulöse, die in breiten Schichten unseres Volkes so außerordentlich 
rege Anteilnahme und tatkräftige Unterstützung gefunden hat 
Auch die Gründung unserer Gesellschaft ist ein Erzeugnis des 
Uberhandnehmenden sozialhygienischen Sinnes. 

Die Bestrebungen unserer Gesellschaft sind für das Gemeinwohl 
zweifellos sehr viel wertvoller als die Volksheilstättenbewegung zu¬ 
gunsten der Tuberkulösen; nicht so sehr deswegen, weil die Ge¬ 
schlechtskrankheiten bei ihrer ungeheueren Verbreitung wahrschein¬ 
lich noch mehr Leiden schaffen und mehr Unheil bewirken als die 
Tuberkulose, sondern einmal weil ein soziales Vorgehen gegen die 
Geschlechtskrankheiten mehr Erfolg verspricht als die gewählte 
Bekämpfungsart der Tuberkulose, trotz des viel größeren Aufwandes 
an Mitteln, welchen das bei letzterer eingeschlagene Verfahren in 
Anspruch nimmt, vor allem aber weil die Bestrebungen unserer 
Gesellschaft der Rasseverschlechterung entgegenarbeiten, während 
die Volksheilstättenbewegung für Tuberkulöse hinsichtlich der 
Rasseentwicklung gerade die gegenteilige Wirkung haben dürfte, 
wie an anderer Stelle erörtert wurde 1 ). 

Sowohl die Syphilis wie die Gonorrhoe beeinträchtigen nicht 
nur die Volksvermehrung, sondern bewirken teils direkt, teils 
indirekt auch eine Verschlechterung der erblichen Durchschnitts¬ 
qualität der Bevölkerung. Wird eine Frau bei Beginn der Ehe gonor¬ 
rhoisch infiziert, so bleibt es wohl in der Regel bei der Konzeption 
des ersten Kindes. Eine syphilitisch infizierte Frau hingegen bleibt 
zwar in der Regel unvermindert konzeptionsfähig, aber sie vermag, 
zumal solang auch bei dem Manne die konstitutionelle Schädigung 
durch die Syphilis noch nicht überwunden ist, meistens jahrelang 
keine lebenden oder doch keine länger lebensfähigen Kinder hervor¬ 
zubringen. Jedoch die schlimmste Wirkung beider Seuchen vom 
Standpunkt des Gemeinwohles ist nicht die Schmälerung der Volks¬ 
vermehrung, so beträchtlich der dadurch bewirkte Ausfall auch 
sein mag. Denn einstweilen wenigstens können wir in Deutschland 
mit der Volksvermehrung noch immer ganz zufrieden sein, wenn 
schon die Geburtenziffern sowohl im Durchschnitt des ganzen 


*) W. Schallmayer, Vererbung und Auslese etc., Jena 1908. S. 146 ff 


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Infektion als Morgengabe. 


391 


Reiches als insbesondere in den großen Städten seit zirka drei 
Jahrzehnten unaufhörlich und recht erheblich gesunken sind, und 
eine stärkere Verlangsamung der Vermehrung oder gar ein Rück¬ 
gang der Bevölkerungszahl nur durch die gleichzeitige starke Ab¬ 
nahme der Sterblichkeit bisher verhindert wurde. Viel wichtiger 
ist jedenfalls die qualitative Schädigung der Bevölkerung, da sich 
eine solche nicht so leicht später wieder ausgleichen läßt wie eine 
nur quantitative Minderung. 

Von der Syphilis ist die rasseschädigende Wirkung bekannt, 
weniger von der Gonorrhoe. Da die Gonokokken und ihre Aus¬ 
scheidungen nicht auf die Keime übergehen, so scheint die Gonorrhoe 
auf den ersten Blick die Rassequalität nicht schädigen zu können. 
Dennoch übt sie diese Wirkung aus, und zwar auf zwei Wegen. 
Es sind nämlich, wenn wir von den besonderen Verhältnissen der 
Hafenstädte absehen, sonst überall die jungen Männer der besser 
situierten und der gebildeten Stände, also der durchschnittlich wohl 
als begabter anzusehenden Volksschichten, die von der Prostitution 
den meisten Gebrauch machen und sich dadurch relativ am 
häufigsten Geschlechtskrankheiten zuziehen. Letzteres ist bekannt¬ 
lich von B lasch ko statistisch nachgewiesen worden. Da nun durch 
die Syphilis und noch mehr durch die Gonorrhoe die eheliche 
Fruchtbarkeit stark verringert wird, so trägt jener Umstand (mit 
anderen) dazu bei, daß unsere begabteren Volksschichten im Ver¬ 
hältnis zu den geringer begabten mit einem zu kleinen Anteil an 
der Erzeugung der jeweils folgenden Generation beteiligt sind, 
daß also „die fekundative Auslese“, wie v. Ehrenfels diesen 
Auslesefaktor genannt hat*), eine unnatürliche Verschiebung zugunsten 
der geringer begabten erfährt, was unfehlbar ein Sinken der Durch¬ 
schnittsbegabung der Bevölkerung zur Folge hat 

Und nicht nur durch diese Verschiebung der fekundativen 
Auslese schädigt auch die Gonorrhoe die Qualität der Bevölkerung, 
sondern wahrscheinlich außerdem durch eine indirekte Beein¬ 
trächtigung der Ernährung der in den Ovarien wachsenden Eier 
und des Embryo. Diese Wahrscheinlichkeit beruht auf folgenden 
Voraussetzungen. Wenn die Gonorrhoe eine Frau unfruchtbar 
macht, so dürfte dies allerdings in einem großen Teil dieser Fälle 
nur durch stenosierende Veränderungen an den Eileitern bedingt sein. 


*) Beiträge zur Selektionstheorie In: Annalen der Naturphilosophie, 
HL Bd. S. 86. 

29* 


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392 


Schall mayer. 


Je einem anderen Teil der Fälle aber fuhrt die Gonorrhoe des Weibes 
zu entzündlichen Veränderungen der Eierstöcke von der Art, daß diese 
unfruchtbar werden. Auch chronischer Gebärmutterkatarrh ist eine 
nicht seltene Folgeerscheinung von Gonorrhoe, besonders in den 
Fällen, wo im Anschluß an eine Geburt heftige entzündliche 
Prozesse in der zu dieser Zeit besonders saftreichen Gebärmutter¬ 
höhle eintreten. Bei diesem chronischen Gebärmutterkatarrh können 
die Veränderungen der Schleimhaut der Art sein, daß sie einem 
befruchteten Ei die Existenzbedingungen nicht mehr zu gewähren ver¬ 
mag, also wiederum Unfruchtbarkeit die Folge ist. Aber durchaus nicht 
immer sind die durch gonorrhoische Entzündung bewirkten Ver¬ 
änderungen der Ovarien und der Uterusschleimhaut so hochgradig, 
daß sie Unfruchtbarkeit bedingen. Daß jedoch in allen diesen 
Fällen die Ernährung der Eier in den Ovarien, bezw. des Embryo 
in der Gebärmutterhöhle, ganz und gar nicht beeinträchtigt werde, 
ist nicht anzunehmen. Wir dürfen es vielmehr als zweifellos an- 
sehen, daß es zwischen diesen beiden Extremen mittlere Fälle aller 
Grade gibt Es werden also in den Ovarien auch leichtere, nicht 
tödliche Ernährungsstörungen der Eier Vorkommen, deren Vererb¬ 
barkeit keinem Zweifel unterliegen dürfte, und auch in der Uterus¬ 
schleimhaut werden die Veränderungen z.B. von der Art sein können, 
daß sie die Entwicklung des befruchteten Eies bis zu einem gewissen 
Grade noch ermöglichen, dann aber Abortus bedingen. Sind je¬ 
doch die Veränderungen hier noch geringer, so daß sie die völlige 
Ausreifung eines lebensfähigen Eindes zulassen, so können sie 
doch wohl eine weniger gute Ernährung des Embryo bewirken und 
so eine Schwächung der Konstitution des neuen Individuums zur 
Folge haben. Zwar ist es fraglich, inwieweit die Wirkung solcher 
Einflüsse auf die schon in der Entwicklung begriffene Frucht 
erblich ist, d. h. in welcher Weise sie auch das inaktive Keim¬ 
plasma des Embryo treffen, aus welchem später dessen Keimzellen 
hervorgehen. Mindestens aber kann die Qualität der einen 
kommenden Generation auch durch solche Ernährungsstörungen 
während der Embryonalentwicklung geschädigt werden. — Diese 
Ausführungen dürften folgenden Worten von Prof. A. He gar über 
den Abortus entsprechen: „Als sicher läßt sich annehmen, daß .... 
eine Erkrankung oder Schädigung der Frucht, welche jedoch die 
Geburt eines lebensfähigen Kindes noch zuläßt, ungleich häufiger 
als Abortus vorkommt. Ebenso läßt sich erwarten, daß dauernde 
nachteilige Folgen davon auch das geborene Wesen noch ins Leben 


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Infektion als Morgengabe. 


393 


begleiten“.*) Unmittelbar vorher sagt He gar: „Der Abort ist nun, 
auch abgesehen von verbrecherischer Entstehung, außerordentlich 
häufig, so daß eine Schätzung, nach welcher auf 3 bis 4 recht¬ 
zeitige Niederkünfte mindestens ein Abort fällt, gewiß nicht zu 
hoch gegriffen ist.“ 

Nun geht man aber kaum fehl, wenn man annimmt, daß die 
Mehrzahl der Aborte sowie der Fälle, wo zur richtigen Zeit oder 
etwas früher ein schon im Mutterleib abgestorbenes Kind geboren 
wird, teils durch Syphilis 2 ), teils durch Folgezustände einer über¬ 
standenen gonorrhoischen Erkrankung der weiblichen Genitalien 
bedingt sind. — Prof. Kirchner hat bei der konstituierenden Ver¬ 
sammlung unserer Gesellschaft auch auf die große Zahl solcher 
Kinder hingewiesen, die bei uns zwar lebend geboren werden, aber 
an angeborener Lebensschwäche bald zugrunde gehen, und die 
Überzeugung ausgesprochen, daß ein großer Teil dieser Fälle eben¬ 
falls der Syphilis zur Last zu legen seien. 

Aber auch an dem auffälligen Rückgang unserer Geburten¬ 
ziffer, der besonders in den großen Städten außerordentlich stark, 
zum Teil rapid ist, dürfte das starke Überhandnehmen der Ge¬ 
schlechtskrankheiten nicht ganz unschuldig sein. Beide Erscheinungen 
treffen ja zeitlich zusammen, und die Großstädte, in denen die 
Geschlechtskrankheiten viel mehr verbreitet sind als auf dem Land, 
zeigen auch einen viel stärkeren Rückgang der Geburtenziffer. 
Aus dem Berliner statistischen Jahrbuch lassen sich über diesen 
Rückgang folgende sehr bemerkenswerte Daten entnehmen. 

Auf je 1000 Ehefrauen kamen in Berlin ehelich geborene 
Kinder 


1853 

219,8 


1898 

132,4 

1854 

222,1 


1899 

128,5 

1855 

211,9 

dagegen 

1900 

127,0 

1856 

213,0 


1901 

125,0 

1857 

224,7 


1902 

119,8 


>) Der Geschlechtstrieb, Stuttg. 1894. S. 124, 125. 

*) Wie in dieser Zeitschrift berichtet wurde, hat Tamowsky vor kurzem 
das Ergebnis einer Untersuchung über die Nachkommenschaft von 30 syphili¬ 
tischen Familien veröffentlicht, die den wohlhabenden Kreisen angehören und 
sich stets behandeln ließen. Das auffallendste Ergebnis dieser Untersuchungen 
ist die Feststellung des Misverhältnisses zwischen den relativ leichten Folgen 
der Syphilis für den Erkrankten selbst und dem geradezu tötlichen Einfluß 
auf dessen Nachkommenschaft 


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394 


Schallmayer. 


Ihren Höhepunkt hatte die Berliner Geburtenziffer 1876 mit 
240 erreicht; seitdem ist sie also schon unter die Hälfte der 
damaligen gesunken! 1 ) 

Nun unterliegt es aber gar keinem Zweifel, daß die darge¬ 
legte üble Wirkung der Gonorrhoe und der Syphilis auf die erbliche 
oder Rassebeschaffenheit unseres Volkes in sehr beträchtlichem 
Maße eingeschränkt werden könnte, wenn das Mitbringen dieser 
Krankheiten in die Ehe mit allen zu Gebote stehenden Mitteln 
verhindert würde. Weitaus das wirksamste Mittel zu diesem Ziel 
wäre aber, wie darzutun sein wird, die Errichtung einer gesetz¬ 
lichen Schranke, welche solchen Ehekandidaten, die ein noch an¬ 
steckungsfähiges Geschlechtsleiden haben, den Eintritt in die Ehe 
sperren würde. 

Nicht leicht zu verhindern bliebe allerdings ein Hineintragen von 
Gonorrhoe und Syphilis in die Ehe durch außereheliche Infektion 
nach der Eheschließung. Aber warum soll man nicht einen Teil 
des Übels verhüten, wenn man nicht das ganze verhüten kann? 
Der schlimmere und nach meiner Schätzung auch häufigere Fall 
[an die akuten Fälle darf man dabei weniger denken als vielmehr 
an die chronischen Frauenleiden, welche die ergiebigste Quelle für 
die Praxis der Frauenärzte bilden, sehr oft aber auch unbehandelt 
bleiben] ist doch die Vergiftung der Ehe von Anfang an, auch 
wenn sie sich, wie so häufig, nur schleichend einstellt. Übrigens 
werden jene Ehemänner, die sich vor der Ehe von einer Infektion 
frei zu halten wußten, auch nachher nicht so häufig einer solchen 
anheimfallen. Überhaupt würde eine erhöhte Vorsicht gegenüber 

*) Fr. Prinzing kommt in seiner Abhandlung „Die eheliche Fruchtbar¬ 
keit in Deutschland“ (Zeitschr. f. Sozialwiss. 1901. S. 97 u. 99) zu dem Er¬ 
gebnis, daß die eheliche Fruchtbarkeit nur in den Städten nachgelassen habe, 
nicht auch auf dem Lande. Derselben Quelle entnehme ich folgendes: In 
Berlin ging die eheliche Fruchtbarkeit (die Zahl der ehelichen Geburten pro 
Jahr auf 100 verheiratete Frauen im Alter von 15—50 Jahren) von 28,8 in den 
Jahren 1872—75 zurück auf 16,9 in der Periode 1894—97. Unter den Ehen 
von mehr als 25 jähriger Dauer waren 1895 in Berlin ll,2°/o vollkommen 
steril, wobei die Ehen, in welchen nur totgeborene Kinder zur Welt kamen, 
nicht zu den sterilen gezählt sind. — Ben zier forschte bei 474 Männern 
nach, die als Soldaten an Gonorrhoe erkrankt gewesen und später geheiratet 
hatten. Absolut steril war die Ehe in 10,5 °/ 0 der Fälle, bei denen die 
Gonorrhoe unkompliziert gewesen war, ferner in 23,4 % jener Fälle, bei denen 
einseitige Nebenhodenentzündung bestanden hatte (111 Fälle) und in 41,7 °/ 0 
der (24) Fälle mit doppelseitiger Nebenhodenentzündung. 


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Infektion als Morgengabe. 


395 


der An8teclnmg8gefahr za den yermatlichen Nebenwirkungen der 
geforderten Einrichtung gehören. 

Doch die Hoffnung auf Verwirklichung einer solchen Einrichtung 
wäre schwach begründet, wenn nur das generative oder Rasseinteresse 
für sie sprechen würde. Denn dieses hat nun einmal in den Kreisen, 
welche Einfluß auf die Gesetzgebung haben, bisher noch allzu¬ 
wenig Beachtung gefunden, als daß es in absehbarer Zeit nur 
durch sein eigenes Gewicht sich zur Geltung bringen könnte. Aber 
in unserem Falle geht das einflußarme Rasseinteresse Hand in 
Hand mit einem Bundesgenossen, der sich bei der heutigen öffent¬ 
lichen Meinung eines größeren Ansehens erfreut, ich meine das 
individuelle Interesse. 

Wir wollen also dieses zu Worte kommen lassen. Es hat 
weder Beredsamkeit noch Gelehrsamkeit nötig, um seine Sache 
überzeugend zu führen, es hat nur nötig, die Aufmerksamkeit der 
Gesetzgeber auf bekannte, unleugbare Zustände zu lenken. 

Ein frohraütiges, gesundes Mädchen verlobt sich. Heiteren 
Sinnes sieht die Braut dem Hochzeitstag als dem Beginn 
jenes Lebensabschnittes entgegen, der, wie sie zuversichtlich 
hofft, ihren Anspruch auf Lebensglück erfüllen soll. Sie weiß 
nichts von Gonorrhoe und Syphilis, jedenfalls weiß und ahnt sie 
nicht, daß die Eheschließung heutzutage in recht hohem Grade 
das Risiko mit sich bringt, diese Krankheiten zu erwerben. So 
bleibt wenigstens ihr bräutliches Glück ungestört, das jämmerlich 
beeinträchtigt würde, wenn sie Kenntnis davon hätte, wie viel 
Grund sie zu der Sorge hat, ob nicht ihr Erwählter, vielleicht 
ohne Wissen oder doch ohne sich darüber klar zu sein, die Eigen¬ 
schaft besitzt, ihr in der Brautnacht den Keim zu dauerndem 
Siechtum einzuverleiben. Sie heiratet, wird gonorrhoisch infiziert. 
Mit dem ersten Wochenbett, wenn nicht früher, ist es um ihre 
Gesundheit, ihre Frische und ihren Frohmut geschehen. Sie wird 
unterleibsleidend, auf Jahre, wenn nicht bis zum Aufhören der 
Geschlechtsperiode. Bleibt zudem die Ehe kinderlos, wie so häufig 
in solchen Fällen, so ist sie um ihr ganzes Lebensglück betrogen. 
Nicht viel besser geht es ihr, wenn sie von ihrem Mann die Syphilis 
mit deren Folgen für die eigene Gesundheit und mit den noch viel 
verderblicheren Folgen für ihre Leibesfrucht erwirbt — Soll man 
sie nun auf die Gefahr aufmerksam machen? Wozu dies? Mir 
scheint in solchen Beginnen eine so gut wie ganz zwecklose Härte 


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396 


Sch&ümayer. 


zu liegen, solange man nicht gesonnen ist, der aufzuklärenden zu 
gleich einigermaßen zuverlässigen Schutz gegen die dargestellte 
Gefahr zu verschaffen. Unsere Gesellschaft hat sich wohl das eine 
Ziel gesteckt, das der allgemeinen Aufklärung über die tatsäch¬ 
lichen Zustände, verschmäht es aber bis jetzt, das am meisten 
zuverlässige Schutzmittel für die Bräute zu befürworten, ein Gesetz, 
wonach vor jeder Eheschließung durch besonders hierfür vor¬ 
gebildete, unbefangene und unabhängige Ärzte, also Amtsärzte, 
darüber zu befinden wäre, ob der Ehekandidat mit einem Ge¬ 
schlechtsleiden behaftet ist, das die Gesundheit einer Frau oder 
die der Nachkommenschaft gefährden würde. 

Auch bei den Vätern und Müttern der Bräute wird unsere 
Gesellschaft Sorge und Unruhe entfachen, indem sie allgemein be¬ 
kannt zu machen sucht, wie sehr die Geschlechtskrankheiten unter 
den jungen Männern, besonders der oberen Stände, verbreitet sind, 
und welche Gefahren für die Frauen und die Nachkommenschaft 
dieser Zustand bedingt 

Aus alledem erwächst meines Erachtens unserer Gesellschaft 
die Verpflichtung, das äußerste zu tun und zu erstreben, um den 
objektiven Grund der erweckten Besorgnisse zu beseitigen. Dieser 
Verpflichtung trägt das Programm unserer Gesellschaft bis jetzt 
nicht in vollem Maße Rechnung. 

Allerdings wird schon die geplante, bessere Aufklärung der 
Ehekandidaten zweifellos viel Unheil verhüten. Denn von den 
Personen, die jetzt mit einer ansteckenden Krankheit behaftet in 
die Ehe treten, würden sicher die meisten das nicht tun, wenn 
ihnen das Nochvorhandensein einer Ansteckungsgefahr bewußt wäre. 
Die allergewissenhaftesten Menschen befinden sich unter diesen 
Unglücklichen, und ein besonders großes Maß von Gewissenhaftig¬ 
keit gehört ja nicht einmal dazu, um vor dem Gedanken zurück¬ 
zuschrecken, die erwählte Lebensgefährtin schwer zu schädigen. 

Außer solchen gibt es aber allzuviele Personen, denen gegen¬ 
über die geplante öffentliche Belehrung unwirksam bleiben wird. 
Zu ihnen gehören vor allem jene Optimisten, die sich nicht mehr 
für Krank halten wollen, sobald sie von der erworbenen Krankheit 
keinerlei Beschwerden mehr verspüren, und die sich auch von 
ihrem Arzt, dem sie sich übrigens schon frühzeitig zu entziehen 
pflegen, nach Eintritt dieses Krankheitsstadiums nicht überzeugen 
lassen, daß der Sache noch eine ernstliche Bedeutung zukomme. 
Noch viel weniger hat aber eine nur allgemein gehaltene Beleh- 


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Infektion als Morgengabe. 


397 


rang über Geschlechtskrankheiten Aussicht, bei ihnen etwas aus¬ 
zurichten ; denn einer nur allgemein gehaltenen Belehrung gegenüber 
wird ihnen die optimistische Beurteilung des eigenen Falles natür¬ 
lich viel leichter sein, als gegenüber dem speziellen Urteil des 
Arztes, über das sie sich erfahrungsgemäß dennoch leichtherzig 
hinwegsetzen, wenn es sie noch krank erklärt. Solche Kranke werden, 
wenn man sie nicht daran hindert, künftig ebenso wie jetzt mit 
leidlich gutem Gewissen heiraten, sobald es ihnen paßt, ohne es 
für nötig zu halten, zuvor einen zuverlässigen Arzt zu fragen, 
ob er diesen Schritt für rätlich und zulässig hält 

Den zuweilen endlosen Folgen gegenüber hält freilich nachher 
der frühere Optimismus sehr häufig nicht mehr Stand. Schon 
beim Ledigen wird durch eine Geschlechtskrankheit in der Regel 
die Lebensfreude stärker beeinträchtigt als durch eine andere 
Krankheit, selbst wenn diese an und für sich beschwerlicher ist, 
insbesondere wegen der (nichts weniger als gerechten) Ehren¬ 
minderung, welcher der mit einer Geschlechtskrankheit behaftete 
bei der großen Mehrheit der Gesellschaft ausgesetzt ist, wenn es 
ihm nicht gelingt, sie geheim zu halten. Prof. Kirchner befand 
sich kaum im Irrtum, als er sagte, daß für einen großen Bruch¬ 
teil der bei uns so außerordentlich zahlreich gewordenen Selbst¬ 
morde der äußere Anlaß durch Geschlechtskrankheiten gegeben 
sei. Noch viel schwerer aber belastet eine Geschlechtskrankheit in 
der Ehe die Wagschale des Unglückes. Die hierbei gewöhnlich 
nötig werdenden Unterbrechungen des geschlechtlichen Ehelebens, 
die sich unter Umständen auf recht lange Zeiträume erstrecken 
können, sind dabei noch nicht das ärgste. Viel schlimmer noch 
pflegen die Störungen des psychischen Ehelebens zu sein. Bleibt 
der Frau die Ursache und der Charakter ihres durch Ansteckung 
verursachten Leidens verborgen, so wird dieser doch die Sorge 
nicht los, daß sie den wirklichen Sachverhalt endlich doch einmal 
erfahren oder Verdacht schöpfen könnte. Letzteres wird infolge 
der auf diesem Gebiet geplanten Volksaufklärung öfter als bisher Vor¬ 
kommen. Wenn z. B. in einer Ehe, in welcher der Mann die Frau 
syphilitisch infiziert hat, „eine Schwangerschaft nach der anderen 
mit der Geburt eines toten oder kranken und bald sterbenden Kindes 
endigt, so daß die arme Frau 6, 8 und 10 Schwangerschaften 
durchmacht und ihr doch das höchste Glück der Frau, das Mutter¬ 
glück, versagt bleibt" (E. Lesser), so werden solche unglückliche 
Frauen von nun an nicht mehr so oft wie jetzt ahnungslos bleiben 


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398 


Schallm&yer. 


über die Ursache ihres Geschickes. Wird aber der Frau die Tat¬ 
sache bekannt, daß sie von ihrem Mann infiziert ist, so erleidet 
die eheliche Harmonie wohl immer eine häßliche Störung, die nur 
in besonders günstigen Fällen rasch und ohne dauernde Folgen 
überwunden wird. Führt die Infektion, wie es nur allzuhäufig 
yorkommt, zu einer bleibenden körperlichen Schädigung der Frau 
oder zur Kinderlosigkeit der Ehe, oder erstreckt sich der Schaden 
gar auch noch auf die Gesundheit der Kinder, so wird die Ehe 
für einen Mann von normaler Empfindung zu einer nicht ver¬ 
siegenden Quelle seelischen Leidens, mag die Frau die Ursache 
der Kalamität kennen oder nicht 

Außer den leichtsinnigen Optimisten gibt es aber auch noch 
Ehekandidaten von ganz anderer Art. Nur ein Beispiel! Ich 
behandelte einen jungen Mann an Syphilis, gleichzeitig mit seiner 
Maitresse, die er syphilitisch infiziert hatte. Noch während er in 
meiner erstmaligen Behandlung stand, eröffnete er mir eines Tages, 
daß er sich verlobt habe und schon sehr bald heiraten werde. Ich 
hielt ihm entgegen, was er ohnehin wußte, daß er dann mit Sicherheit 
seine Frau ebenso infizieren werde wie zuvor seine Maitresse. Seine 
Erwiderung lautete, er könne mit Rücksicht auf seine finanziellen 
Verhältnisse auf diese Heirat nicht verzichten und sie auch nicht 
verschieben. Ich wies ihm schließlich die Türe. Das hielt ihm aber 
nicht ab, seinen Vorsatz auszuführen, und ein halbes Jahr später, 
als bei seiner Frau syphilitische Erscheinungen auftraten, meine 
ärztliche Hilfe wieder zu verlangen. — Bei solchen Personen wird 
jede Aufklärung offenbar unwirksam sein. 

Ähnlicher Art sind die Fälle, von denen Prof. Neisser in 
seinem Vortrag über die Frage „Dürfen Geschlechtskranke heiraten?“ 
(bei der ersten öffentlichen Veranstaltung der Frankfurter Orts¬ 
gruppe) sagte, sie seien nicht selten; nämlich „die Fälle, daß Ehe¬ 
kandidaten nur zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens die 
Zustimmung eines Arztes einzuholen wünschen, dann aber, wenn 
ihnen diese Annehmlichkeit nicht geboten wird, darauf verzichten 
und gewöhnlich auch sehr leichten Herzens die eigene Verant¬ 
wortung des folgeschweren Schrittes tragen.“ 

Die Möglichkeit, eine solche Ehe anzufechten u. dergl. hat für 
die Frauen im allgemeinen herzlich wenig Wert Sie werden nur 
selten davon Gebrauch machen wollen und können, und wenn sie 
es tun, so wird dadurch nicht verhindert, daß sie aus der nichtig 
erklärten oder getrennten Ehe nur schwer geschädigt hervorgehen: 


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Infektion als Morgengabe. 


399 


defloriert, infiziert, vielleicht auch geschwängert Die Gesell¬ 
schaft muß die Frauen auf andere Weise schützen. 

Die Notwendigkeit eines solchen Schutzes ist ganz unabweislich, 
und zwar nicht nur gegen Personen von der oben dargestellten 
Gesinnungsrohheit, die verhältnismäßig doch nur selten vorzkommen 
dürfte, sondern auch gegenüber Durchschnittsmenschen. Denn es 
ist ja ein alltägliches Vorkommnis, daß ein mit chronischer Gonor¬ 
rhoe behafteter junger Mann sich verlobt, in der sicheren Erwartung, 
daß die Zwischenzeit bis zur Vermählung genügen werde, um die 
Krankheit zur Heilung zu bringen. Solche Hoffnung erweist sich 
aber nicht selten als trügerisch, nicht bloß, wenn nur wenige 
Monate zur Verfügung standen, sondern manchmal auch bei ur¬ 
sprünglich sehr reichlich scheinender Frist Elin ebenfalls sehr 
häufiger Fall ist der, daß ein junger Mann sich nach seiner 
Verlobung noch infiziert, wobei die bis zur Hochzeit noch übrige 
Frist besonders häufig sich als ungenügend zu völliger Heilung 
erweist Die Heirat wird wieder und wieder unter allerlei Vor¬ 
wänden verschoben, so lange, bis es eben nicht weiter möglich ist. 
Die große Mehrzahl derer, welche sich in solcher Lage befinden, 
hat nicht den Mut, das Verlöbnis unter irgend einem Vorwand 
oder gar unter Mitteilung des wirklichen Grundes zu lösen und 
die in jedem Fall bedauernswerte Braut, deren beste Jahre viel¬ 
leicht schon unter Zuwarten dahingegangen sind, schließlich sitzen 
zu lassen. So treten sie un geheilt in die Ehe, wobei sich mancher 
wohl an die abenteuerliche Hoffnung klammert, auf die eine oder 
andere Art die Ansteckung seiner Frau vermeiden zu können, 
eine Hoffnung, die aber auf die Dauer sich fast niemals bewährt. 

Nur wenige besitzen ein solches Maß von sittlicher Kraft, um in' 
diesem schweren Konflikt das zu tun, was die Pflicht verlangt 
Alle anderen bedürfen in solchen Fällen einer äußeren Instanz, 
die sich dem unheildrohenden Gang der Dinge hemmend in den 
Weg stellt Darum erscheint es zeitgemäß, eine solche zu .schaffen. 
Haben doch solche Konflikte eine früher ungeahnte Häufigkeit 
erreicht! 

Was sollen die besorgten Väter oder Müttertun, denen unserer 
Gesellschaft die Augen öffnen wird? Man hat beklagt, daß sie 
sich in der Regel beim Bräutigam nicht darnach erkundigen, ob 
er nicht etwa mit einer Geschlechtskrankheit behaftet sei. Aber 
eine derartige Frage würde, abgesehen von ihrer Peinlichkeit, in 
der Regel ihren Zweck nicht erreichen. Gegenüber einem gewissen- 


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400 


Schallmayer. 


haften Mann wäre sie gegenstandslos und nebenbei verletzend; 
auch beim nicht gewissenhaften hätte sie letztere Nebenwirkung, 
aber kaum eine weitere. 

Der Vorschlag, der jetzt öfter geäußert wird, jeder Schwieger¬ 
vater solle, wie es ja in Nordamerika bereits mehr und mehr Sitte 
wird, die Einwilligung zur Eheschließung an die Bedingung knüpfen, 
daß der Bräutigam sich in eine Lebenversicherung aufnehmen 
lasse, ist ja zweifellos wirtschaftlich und einigermaßen auch selek- 
tori8ch nur empfehlenswert, aber für den hier in Rede stehenden 
speziellen Zweck hat er nur sehr wenig Wert Abgesehen davon, 
daß er nur für die wohlhabenderen Gesellschaftsschichten in Be¬ 
tracht kommen kann, ist er auch äußerst unzuverlässig. Denn das 
Interesse der Versicherungsgesellschaft verlangt nicht, daß der 
Versicherungsarzt mit besonderem Eifer z. B. auf Spuren einer 
überstandenen Gonorrhoe fahnde; denn für den Versicherungs¬ 
vertrag kommt ja nur die Lebenswartung des Versicherungsnehmers 
in Betracht, nicht aber die Ansteckungsfähigkeit einer etwa vor¬ 
handenen chronischen Urethritis. Aber auch wenn das Vorhanden¬ 
sein einer solchen festgestellt wird, fordern die Gesellschaften allen¬ 
falls erhöhte Prämien oder auch nicht, nur ganz selten aber wird 
aus einem solchen Grunde der Versicherungsantrag ganz abgelehnt 
Andererseits kann seine Ablehnung seitens der Versicherungsgesell¬ 
schaft aus ganz anderen Gründen erfolgen, die in den Augen 
der Braut oder der Sahwiegereltern, wenn sie davon Kenntnis 
hätten, keinen Ablehnungsgrund seines Heiratsantrages bilden 
würden. Dazu kommt, daß man einem Freier, der schon früher 
eine Lebensversicherung abschloß, nicht wohl zumuten kann, dies 
zum zweitenmal zu tun, und von keinem wird man ohne Peinlich¬ 
keit verlangen können, daß er die Versicherungsnahme gerade 
kurz vor der Hochzeit bewerkstellige. Scheut man aber die Pein¬ 
lichkeit nicht, so könnte man ebensogut und besser gleich ein 
spezielles ärztliches Attest verlangen, des Inhaltes, daß der Unter¬ 
suchte nicht mit einer ansteckenden Krankheit behaftet sei. 

Abefr auch ein solches ärztliches Zeugnis bliebe an Zuver¬ 
lässigkeit hinter dem, was erreicht werden kann und verlangt werden 
muß, weit zurück, wenn nur irgend ein Arzt es ausstellen sollte. Ein 
solches Attest würde auch dann nicht genügen, wenn es etwa stets 
nur von dem Arzt auszustellen wäre, der den Ehekandidaten zu¬ 
letzt behandelt hat, und es bliebe selbst unter der Voraussetzung 
noch unzuverlässig, daß der behandelnde Arzt in allen diesen Fällen 


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Infektion als Morgengabe. 


401 


Spezialist für Geschlechtskrankheiten wäre. Denn auch die Zugehörig¬ 
keit zu dieser Ärztekategorie bietet keineswegs regelmäßig die sichere 
Gewähr, daß der das Zeugnis ausstellende Arzt mit den besonderen 
Kenntnissen, Fertigkeiten und Einrichtungen so ausgerüstet ist, wie 
es zu einer verlässigen Entscheidung der Frage nötig ist, ob 
die Ansteckungsfähigkeit einer nicht spurlos geheilten Gonorrhoe 
erloschen ist Die Entscheidung dieser Frage ist bekanntlich in 
manchen Fällen recht schwierig. Wieder und wieder liefert 
manchem Arzt die Untersuchung auf Gonokokken, obgleich er sich 
vielleicht auch des Gram’sehen Verfahrens bedient, negative Er¬ 
gebnisse in Fällen, die sich nachher, wenn die Untersuchten mit 
ärztlicher Zustimmung geheiratet haben, als noch infektiös erweisen. 
— Außerdem wird das Urteil des Arztes in manchem zweifelhaften 
Fall durch die Neigung beeinflußt, dem Ehekandidaten das zu 
sagen, was dieser zu hören wünscht. Es wäre geradezu wunder¬ 
bar, wenn jeder Arzt, der vielleicht im Laufe längerer Behandlung 
seinem Patienten manches objektiv nicht streng begründete Trostes¬ 
wort gespendet hat, bei der entscheidenden Untersuchung sich von 
dem Zwang der Konsequenz ganz frei machen könnte. Für die 
Entscheidung in solchen Fällen ist jedoch volle Unbefangenheit 
und ein unerbittliches Verantwortlichkeitsbewußtsein nötig. Die 
Erfüllung dieser Forderung ist aber sehr schwer in Einklang zu 
bringen mit der Stellung, die der behandelnde Arzt im allgemeinen 
gegenüber seinen Patienten einnimmt, und die ungefähr dem Ver¬ 
hältnis des Rechtsanwaltes zu seinem Klienten entspricht. Darum 
fehlt dem Arzt gegenüber seinen Patienten in der Regel die 
strenge Unbefangenheit, die zu jener gewissermaßen richterlichen 
Funktion erforderlich ist, und häufig fehlt ihm außerdem die wirt¬ 
schaftliche Unabhängigkeit. So konnte Prof. Flesch auf dem 
Kongreß in Frankfurt nicht mit Unrecht sagen: „Der chronisch 
Gonorrhoische weiß meistens nicht, daß er krank ist, er glaubt auf 
Grund ärztlichen Gutachtens gesund zu sein. Erst auf dem Nähr¬ 
boden der weiblichen Unterleibsorgane gelingt leider die Reinzucht, 
die zur Infektion führt '“ 

Wenn also weder die erstrebte Volksaufklärung noch auch 
die Forderung einer der Eheschließung vorausgehenden privat¬ 
ärztlichen Untersuchung, selbst wenn sie allgemein Sitte würde, 
verhindern können, daß mit ansteckenden Krankheiten behaftete 
Personen zahlreich in die Ehe treten, so muß eben die Schaffung 
eines gesetzlichen Ehehindemisses für Geschlechtskranke ins Auge 


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402 


Schallmayer. 


gefaßt werden, in der Weise, daß jeder Ehekandidat neben den 
sonstigen Papieren, die er heutzutage behufs staatlicher Ehebe¬ 
willigung dem Standesbeamten vorzulegen hat, von denen manches 
eher entbehrlich wäre als das verlangte, auch ein amtsärztliches 
Zeugnis beizubringen hätte, des Inhaltes, daß er nicht mit einer 
ansteckenden Krankheit behaftet sei. 

Durch das Bestehen einer solchen Einrichtung würde die 
Familie der Braut von der Zumutung entlastet, ihrerseits irgend 
eine ärztliche Untersuchung des Heiratskandidaten anzuregen oder 
sich bei ihm selbst über diesen Punkt zu erkundigen, beides 
Schritte, die nicht nur für alle beteiligten äußerst peinlich, sondern 
obendrein, wie wir gesehen haben, ganz unzuverlässig wären. 

Bei der tatsächlichen Lage der Dinge ist keine genügende 
Veranlassung gegeben, ein solches Zeugnis auch von der 
Braut zu verlangen. Denn die Bräute bringen verhältnismäßig 
nur selten ansteckende Geschlechtskrankheiten in die Ehe, und 
wenn die Männer es ebenso selten täten, so würde niemand finden, 
daß ein Bedürfnis zu solchem gesetzgeberischen Eingreifen bestehe. 
Nur fakultativ könnte sich eine nicht mehr jungfräuliche Braut 
allenfalls ein solches amtsärztliches Zeugnis ausstellen lassen, das 
sie aber nicht dem Standesbeamten vorzulegen hätte. Es würde 
nur zu ihrer eigenen Kenntnis dienen, falls sie nicht etwa das Be¬ 
dürfnis fühlen würde, es dem Bräutigam zu zeigen. Wenn man 
es aber später für wünschenswert halten wird, auch von weiblichen 
Ehekandidaten ein solches Gesundheitsattest zu fordern, so könnten, 
wie schon v. Fircks 1 ) bemerkt hat, weibliche Ärzte mit der Aus¬ 
stellung dieses Zeugnisses und der hierzu erforderlichen Unter¬ 
suchung betraut werden. 

Zur Ausstellung eines solchen Attestes würden sich, wie 
bemerkt, nur ärztliche Staatsbeamte eignen, denen eine ähnliche 
Stellung gegenüber dem Publikum einzuräumen wäre wie unseren 
staatlichen Richtern. Privatpraxis und jeder Erwerb, der sie vom 
Publikum abhängig machen könnte, müßte ihnen untersagt sein. 
Ihr Urteil hätte sich zu gründen in erster Linie auf eine exakte 
technische Untersuchung, zweitens auf die Aussagen des zu unter¬ 
suchenden, drittens auf gutachtliche Meinungsäußerungen von Privat¬ 
ärzten, die jenen behandelt haben. Der Ehekandidat müßte bei 
Vermeidung strenger Strafe verpflichtet sein, dem untersuchenden 

') Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik, Leipzig 1898. S. 861. 


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Infektion als Morgengabe. 


403 


Amtsarzt — oder, wenn es mehrere sein sollen, der Jury aus Amts¬ 
ärzten, — die Fragen, welche diese bezüglich etwaiger früherer 
pathologischer Erlebnisse an ihn zu richten hätten, nach bestem 
Wissen wahrheitsgemäß zu beantworten, und es müßte der ärzt¬ 
lichen Behörde das Recht zustehen, ihm die Beibringung von 
Attesten oder Gutachten seitens der Ärzte, die ihn behandelt 
haben, zur Auflage zu machen. Zwischen der Untersuchung und 
der Eheschließung dürften nur einige Wochen liegen. — Wollte 
man die heutigen Kreisphysici oder Bezirksärzte mit einer solchen 
Aufgabe betrauen, so müßte zuvor erstens ihre jetzige gemischte, 
teils amtsärztliche, teils privatärztliche Stellung in eine ausschlie߬ 
lich amtsärztliche umgewandelt werden, wie es im Entwurf des 
preußischen Medizinalreformgesetzes anfänglich geplant gewesen 
war, den jedoch die Regierung schließlich (1899) wieder fallen ließ, 
und zweitens müßte von ihnen eine spezielle Vorbildung für die 
neue Funktion verlangt werden. Anderenfalls müßte man hierfür 
besondere Amtsärzte aufstellen. Wie groß die Bezirke für je 
einen sein könnten, würde sich vorläufig schätzungsweise und nach¬ 
her durch die Erfahrung festsetzen lassen. Es könnte auch für Be¬ 
rufungsinstanzen gesorgt werden, etwa zusammengesetzt aus je drei 
Ärzten, je ein solches Kollegium für eine größere Anzahl von Bezirken. 

Besonders hinsichtlich der Gonorrhoe, die nicht nur wegen 
ihrer viel größeren Verbreitung die Syphilis an Bedeutung über¬ 
trifft, sondern auch dem einzelnen gar nicht selten weit verderb¬ 
licher wird als eine normal verlaufende Syphilis, würde die ge¬ 
forderte Anordnung und Einrichtung einer sachkundigen Unter¬ 
suchung der männlichen Ehekandidaten ungemein viel Übel verhüten. 
Von der Schwierigkeit dieser Untersuchung war bereits die Rede, 
und auch davon, daß nur bei einem kleinen Teil der Privatärzte 
die Vorbedingungen für jenen Grad von Zuverlässigkeit der Unter¬ 
suchung gegeben sind, der heute eben erreichbar ist, und daß 
insbesondere von ihnen die unerbittliche Strenge des Urteils, die 
mit Rücksicht auf das Gemeininteresse, wie auch auf das individuelle 
der Beteiligten, hier geboten ist, in der Regel nicht erwartet 
werden darf. 

Was die technische Ausrüstung anlangt, so ergibt sich aus 
den Untersuchungen, die Fr. Meyer in seiner Abhandlung „Über 
die chronische Gonorrhoe und den Gonokokkennachweis“ 1 ) ver- 


') Deutsche Med. Wochenschr. 1903. 36. 


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404 


Schallmayer. 


öffentlicht hat, die Überlegenheit der kulturellen Methode. Während 
andere Autoren bei chronischer Urethritis nur in 8—14 °/ 0 der 
Fälle Gonokokken nachweisen konnten, vermochte Meyer vermittels 
des kulturellen Verfahrens in 45 von 90 Fällen noch Gonokokken 
festzustellen, und darunter sind 29 Fälle, bei denen die Unter¬ 
suchung mittels des Mikroskops stets negative Ergebnisse geliefert 
hatte. Wegen der technischen Schwierigkeiten der kulturellen 
Methode ist sie bisher nur ganz selten angewendet worden, da man 
unzutreffend die Färbemethode in der Regel für ausreichend hält 
Fr. Meyer schlägt vor, öffentliche, leicht zugängliche Laboratorien 
zu schaffen, in welchen kulturelle Untersuchungen gonokokkenver¬ 
dächtiger Sekrete von geübter Hand ausgeführt würden. Auch 
dieser Vorschlag, dessen Ausführung sicher einen großen Fortschritt 
bedeuten würde, macht die Forderung einer obligatorischen vorehe¬ 
lichen Untersuchung keineswegs überflüssig, da sonst wohl nur 
eine kleine Minderheit chronisch gonorrhoischer Ehekandidaten von 
jener Einrichtung Gebrauch machen würde. Auch die mit der 
Untersuchung der Ehekandidaten betrauten Amtsärzte würden 
natürlich mit solchen Laboratorien zu kulturellen Untersuchungen 
auf Gonokokken ausgestattet. Vielleicht würde (analog den Wirkungen, 
welche eine erhöhte Nachfrage in der industriellen Technik zu haben 
pflegt) das vermehrte Bedürfnis, von der kulturellen Methode Ge¬ 
brauch zu machen, bald zu ihrer Vervollkommnung führen. Jeden¬ 
falls aber würde sich daraus eine verhältnismäßige Minderung des 
Arbeits- und Materialaufwandes für den einzelnen Fall ergeben. 

In den Fällen, in welchen durch den Befund oder die Anamnese 
festgestellt würde oder sich die Wahrscheinlichkeit ergäbe, daß sich 
der Ehekandidat Syphilis zugezogen hat, hätte dieser der ärztlichen 
Behörde behufs Feststellung des Zeitpunktes, wann die Infektion 
stattgefunden, ein Attest von Seite des behandelnden Arztes zu 
erbringen. Die Erteilung des zur Eheschließung verlangten Gesund¬ 
heitsattestes würde hier in erster Linie von dem Nachweis ab¬ 
hängig zu machen sein, daß seit der Infektion eine gewisse Zahl 
von Jahren verflossen ist, mindestens 4, besser noch 1 bis 2 Jahre 
mehr. Es ist nicht nötig, soweit zu gehen, wie manche Autoren, 
z.B. Prof. A. He gar 1 ), welcher meint: „Menschen, welche Lues gehabt 
haben, werden am besten auf die Fortpflanzung verzichten.“ 
Außerdem müßte der Nachweis verlangt werden, daß mindestens 


x ) Der Geschlechtstrieb, Stuttg. 1894. S. 147. 


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Infektion als Morgengabe. 


405 


seit einem Jahr keine syphilitischen Erscheinungen mehr zu finden 
waren. Dieser Nachweis wäre vielleicht dadurch zu erbringen, 
daß der Ehekandidat schon 1 Jahr vor beabsichtigter Eheschließung 
etwa allmonatlich dem Amtsarzt des Bezirkes, in welchem er sich 
gerade befindet, zur Untersuchung sich stellt und sich den Befund 
bestätigen läßt. 

Auf diese Weise würde die von der Syphilis drohende Gefahr 
ziemlich auf das erreichbare Minimum herabgesetzt werden. Die 
ziemlich seltenen Ausnahmefälle, in welchen die Übertragbarkeit 
der Syphilis über längere Latenzperioden hin fortdauert, ließen sich 
allerdings durch das vorgeschlagene Verfahren nicht ausschließen. 
Durchschnittlich aber wäre die Gefahr jedenfalls für die Frau und 
wohl auch für die Nachkommenschaft bei solcher Normierung 
doch so gering, daß es ungerechtfertigt wäre, deswegen den syphi¬ 
litisch infizierten die Ehe noch länger oder ganz zu versagen. 
Darin stimmen fast alle Autoritäten überein. — Die Pflicht des 
behandelnden Arztes zur Verschwiegenheit bliebe ganz unberührt, 
da er ein Gutachten nur dem Ehekandidaten auf dessen Wunsch 
zu liefern hätte. Eine Anzeigeptlicht des Arztes käme also hier¬ 
bei gar nicht in Frage. 

Leider kann jedoch für die Forderung, daß Geschlechtskranken 
die staatliche Ehebewilligung vorzuenthalten sei, nicht sofort auf 
ungeteilten Beifall bei unseren gesetzgeberischen Faktoren gerechnet 
werden. Sie stehen noch im Bann von Anschauungen, bei welchen 
den Interessen der Einzelnen auch dann, wenn sie im Gegensatz zum 
Interesse des Ganzen stehen, übermäßiges Gewicht beigelegt wird. 
Wo solche Anschauungen vorwiegen, pflegt das Schlagwort „Ein¬ 
schränkung der persönlichen Freiheit“ als vernichtendes Argument 
zu wirken. Vielleicht den extremsten Ausdruck findet diese individua¬ 
listische Gesinnungsweise in der Auffassung der Ehe als einer 
„Angelegenheit rein privater Natur“. Unser sittliches Gefühl ist 
zugunsten des Individuums verbildet und stellt dessen Interesse in 
mancher Hinsicht sogar vor das soziale Interesse, d. h. vor das 
Gesamtinteresse der jeweils lebenden Generationen des Gemein¬ 
wesens. Dabei erfreut sich aber dieses soziale Interesse immerhin 
einer viel größeren Anerkennung als das generative oder Kasse¬ 
interesse, d. i. das Gemeininteresse mit Einschluß der kommenden 
Generationen des Gemeinwesens. Dem Individuum Opfer zugunsten 
der Rasse zuzumuten, wird von den meisten einstweilen noch als 

Zeitschrift f. Bekimpfung d. Geschlechtikrankh. II. 30 


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406 


Schallmayer. 


eine ganz unbillige Zumutung empfunden. Die moderne Aus¬ 
dehnung des Rechtes der Individualität schließt eben eine beinahe 
schrankenlose Gleichgiltigkeit gegen die Stammesinteressen, welche 
auch die künftigen Generationen umfassen, in sich ein. Auch die 
Humanität, deren wir uns rühmen, berücksichtigt ganz einseitig 
nur die Empfindungen von Personen der jeweils lebenden Gene¬ 
rationen und ist völlig gefühllos und blind für die Leiden, die sie 
mit ihrem selbstgefälligen Tun über die Individuen der nächsten und 
der späteren Generationen bringt Das, was wir Humanität nennen, 
ist darum oft Schwäche gegenüber gegenwärtigen, Grausamkeit 
gegenüber kommenden Individuen. Denn die Entbehrungen, die 
einigen Individuen der jeweils lebenden Generationen durch die 
geforderte Aufschiebung der Eheschließung bis zu ihrer Gesundung 
oder sogar durch völlige Versagung der Ehe auferlegt würde, wären 
geringfügig im Vergleich zu der Summe von Elend, die den 
künftigen Generationen dadurch erspart würde. „Was in der Welt 
stiftet mehr Leid als die Torheit der Mitleidigen?“, rief Nietzsche. 
— Die Kosten der weitherzigen Berücksichtigung der Interessen 
der gegenwärtig lebenden Individuen haben hauptsächlich die fol¬ 
genden Generationen zu tragen. Wir machen gewissermaßen 
Schulden zu deren Lasten. 

Dabei zeigt unsere Humanität auch insofern eine merkwürdige 
Enge des Gesichtsfeldes, als sie es zwar zu grausam findet, unglück¬ 
lich geborenen oder momentan geschlechtskranken Personen die 
Ehe ganz oder zeitweilig zu versagen, gleichzeitig aber nicht das 
mindeste dagegen einzuwenden hat, daß fortwährend sehr viele von 
Natur aus gut beanlagte und gesund gebliebene Personen beiderlei 
Geschlechtes durch den Zwang tatsächlicher — nicht absolut 
unwendbarer — Verhältnisse teils dauernd, teils während des besten 
Teiles ihrer mannbaren Zeit von der Ehe ausgeschlossen werden. 
Diesen durch tatsächliche, soziale, nicht gesetzliche Hindernisse 
von der Ehe ausgeschlossenen wendet sie kein merkliches Mitleid 
zu. Wenn man aber an diese von Natur aus zur Fortpflanzung 
geeigneten und gesund gebliebenen Personen, denen die Ehe meist 
gegen ihren Wunsch tatsächlich versagt bleibt, kein Mitleid ver¬ 
schwendet, so sollte man es auch nicht zu grausam Anden, ge¬ 
schlechtskranken Personen wenigstens einen Aufschub der Ver¬ 
ehelichung und in einem verhältnismäßig kleinen Teil der Fälle 
den völligen Verzicht darauf zuzumuten. 

Leider hat diese Forderung von den Juristen unserer Gesell- 


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Infektion als Morgengabe. 


407 


Schaft bisher nur abfällige, dabei allerdings niemals eingehende 
Behandlung erfahren. Und auch von ihren ärztlichen Mitgliedern 
ist meines Wissens bisher keines für sie eingetreten. Nur Prof. 
Gaucher-Paris betonte auf dem Kongreß zu Frankfurt, der Arzt 
solle nicht nur abraten, sondern auch verbieten können, daß jemand 
heirate, wenn er geschlechtskrank ist, und verlangte, daß diese 
Frage von Fachmännern, Ärzten und Gesetzgebern ernstlich 
erwogen werde. Wohl hatte Prof. Neisser in der Eröffnungsrede 
an die konstituierende Versammlung unserer Gesellschaft die 
kräftigen Worte gesprochen: „Wir werden noch schärfere Schwerter 
schwingen müssen als die sanfte Waffe der Lehre. Wir werden 
die Gesetzgebung anrufen müssen ...“, aber an eine gesetzgeberische 
Maßregel zur Zurückhaltung Geschlechtskranker von der Ehe¬ 
schließung war dabei nicht gedacht; ebensowenig von Prof. E. Hey¬ 
mann bei den beherzigenswerten Schlußworten seiner Abhandlung 
„Zum persönlichen Eherecht" 1 ): „Der furchtbaren Gefahr der Volks¬ 
verseuchung ist vor allem durch geeignete gesundheitspolizeiliche 
und kriminalpolitische Maßregeln entgegenzutreten, nicht durch 
möglichst weite Eröffnung des Tores der Ehe für den (geschlechtlich) 
erkrankt gewesenen. Seine Zurückweisung vom Familienleben 
dient — so schwer sie ihn trifft — den lebenswichtigsten Interessen 
der Nation." — Ausdrücklich ablehnend äußerte sich Prof. Hellwig 
am Schluß seines Gutachtens über „Die zivilrechtliche Bedeutung 
der Geschlechtskrankheiten", das er dem ersten Kongreß unserer 
Gesellschaft erstattete. Er ist der Ansicht, daß man sich mit der 
bestehenden deutschen Gesetzgebung begnügen könne. Zwar wirft 
er de lege ferenda die Frage auf, ob sich die Vorschrift empfehle, 
daß der Standesbeamte die Vorlegung eines ärztlichen Attestes 
über freisein von Geschlechtskrankheiten zu verlangen habe; doch 
erklärt er sich dagegen, einesteils wegen der damit verbundenen 
„sehr bedenklichen Verletzung des Schamgefühls", andererseits, 
weil es zweifelhaft bliebe, ob die Vorschrift durchgreifenden Erfolg 
haben würde. Das erste Bedenken fällt weg, weil kein Bedürfnis 
besteht, den Attestzwang auch auf die Bräute auszudehnen. Für 
Männer wird jenes Bedenken kaum von jemanden geltend gemacht 
werden. Seinen zweiten Einwand begründet Hellwig mit der Be¬ 
merkung, daß die Resultate der Zwangsuntersuchung bei den 
Prostituierten nicht gerade ermutigend seien. Ich glaube nicht, 


*) Deutsche Jurißteuzeitung, Berlin 1902. S. 113. 

30* 


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408 


Schallmayer. 


daß dieser Einwand auf durchschlagende Bedeutung Anspruch 
machen kann. Bei den Prostituierten liegt die Sache schon des¬ 
wegen anders, weil bei diesen eine wirklich genaue, zeitraubende 
Untersuchung in gar keinem Verhältnis zu dem dadurch erziel¬ 
baren Erfolg stände und deshalb tatsächlich nur selten zur Aus¬ 
führung kommt Selbst wenn eine solche bei jeder alle Tage aufs 
gründlichste stattfände, bliebe der Erfolg notwendig ungenügend, 
da die Erscheinungen einer stattgehabten Infektion nicht sofort in 
erkennbarerWeise auftreten, sondern erst mehrere Tage und Wochen 
später. Die infizierte würde also selbst bei täglicher Unter¬ 
suchung, die wohl nirgends stattfindet, reichlich Gelegenheit behalten, 
vor der Feststellung der Infektion diese weiter zu verbreiten. 
Wirkliche Strenge würde übrigens dazu führen, fast jede Prostituierte 
nach einer Infektion Monate, bezw. Jahre lang im Krankenhaus 
zurückzubehalten und sie nach relativ kurzer Zwischenpause — 
denn eine gonorrhoische Neuinfektion wird selten lange ausbleiben — 
wieder dorthin zu verbringen und so fort. Die tatsächlichen Verhält¬ 
nisse liegen so, daß wirkliche Strenge hier zwecklos und undurch¬ 
führbar wäre. — Die Gleichstellung der geforderten amtsärztlichen 
Untersuchung der Ehekandidaten mit der polizeiärztlichen Unter¬ 
suchung der Prostituierten ist aber auch aus dem Grunde unzu¬ 
treffend, weil die Untersuchung der weiblichen Genitalien hinsichtlich 
des Vorhandenseins eines gonorrhoischen Herdes ungleich schwieriger 
ist als die der männlichen. — Übrigens gibt es wohl nur wenige 
Gesetze und Wohlfahrtseinrichtungen, deren Erfolg nicht zu wün¬ 
schen übrig ließe, und ganz besonders läßt sich das auch von den 
Rechtsmitteln der Eheanfechtung und Ehescheidung sagen, die der¬ 
selbe Autor für ausreichend erklärt, „um sich gegen die schlimmen 
Folgen zu schützen, welche die Fortsetzung der Ehe mit einem 
Geschlechtskranken haben würde“. Vom juristischen Standpunkt 
mag die Sache in schönster Ordnung erscheinen. Dem praktischen 
Bedürfnis aber können jene Rechtsmittel nicht genügen. Denn die 
Fortsetzung der Ehe ist in solchen Fällen das kleinere Übel; das 
Hauptübel ist gewöhnlich bereits durch das Eingehen der Ehe 
vollzogen. Auch ist nur ein winziger Bruchteil der betroffenen 
Frauen tatsächlich in der Lage, sich dieser Rechtsmittel zu be¬ 
dienen. Und auch diesen ist besten Falles nur halb damit gedient. 
Schon die manigfachen Schwierigkeiten, die Langwierigkeit und 
die sonstigen Unannehmlichkeiten, mit denen gerichtliche Streit¬ 
führungen unzertrennlich verbunden zu sein scheinen, und die in 


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Infektion als Morgengabe. 


409 


einer solchen Angelegenheit für eine Frau besonders drückend 
sind, fallen schwer ins Gewicht Aber auch in den Fällen, wo 
die Scheu davor nicht ausreichen würde, um die Frau davon 
abzuhalten, gegen ihren Mann gerichtlich vorzugehen, wird sie mit 
nur seltenen Ausnahmen vorziehen, darauf zu verzichten, da auch 
ein zu ihren Gunsten ausfallendes gerichtliches Urteil unter keinen 
Umständen die bereits erfolgte Defloration, Infektion und vielleicht 
auch Schwängerung rückgängig machen kann, und außerdem sind 
ja die Verhältnisse nur in einem Teil der Fälle so gelagert, daß 
die Frau für die genannten Schäden sowie für die Minderung ihres 
Frauenwertes in der öffentlichen Meinung — eine solche Minderung 
pflegen Ehescheidung u. dergl. und besonders das Bekanntwerden 
einer Infektion für die Frau zur Folge zu haben — wenigstens 
eine finanzielle „Entschädigung“ erreichen kann. Mag die Frau 
an der Tatsache, daß sie syphilitisch oder gonorrhoisch infiziert 
worden ist, noch so unschuldig sein, sie ist nichtsdestoweniger in 
den Augen der Gesellschaft gewissermaßen geschändet, und ihr 
Geschlechtswert erleidet durch diese Tatsache unleugbar eine Ein¬ 
buße. Sie wird deswegen fast immer bestrebt sein, die von ihrem 
Mann erworbene Geschlechtskrankheit geheimzuhalten, was in der 
Regel nur unter Verzicht auf gerichtliches Vorgehen gegen ihren 
Mann möglich ist — Dazu kommt, daß sehr viele Frauen von 
ihren Männern infiziert sind, ohne es zu wissen. Sie sind aber 
doch geschädigt, und auch für das Gemeinwohl sind diese Fälle 
nicht viel geringer nachteilig als die anderen. 

Aus alledem erhellt, daß den in jüngster Zeit hier mit be¬ 
sonderer Aufmerksamkeit behandelten juristischen Fragen, inwiefern 
vorehelich und außerehelich erworbene Geschlechtskrankheiten 
Grund zur Anfechtung oder Scheidung der Ehe sein können, nur 
eine verhältnismäßig geringe praktische Bedeutung zukommt. Das 
praktische Bedürfnis verlangt gegen das Hineintragen von Ge¬ 
schlechtskrankheiten in die Ehe nicht so sehr die Möglichkeit der 
Ehescheidung oder Eheanfechtung, sondern vor allem Vorbeugung 
durch Verhinderung solcher Eheschließungen. Dadurch würde 
sowohl für das individuelle wie für das Basseinteresse unendlich 
mehr erreicht, als durch alle Möglichkeiten von Eheanfechtung, 
Ehescheidung, sowie verschärfter strafrechtlicher Verantwortlichkeit 
für Übertragung von Geschlechtskrankheiten, zumal wenn, wie 
Prot v. Liszt und J. Köhler vorschlugen, diese Handlung in den 
Fällen, in welchen sie von einem Ehegatten gegen den anderen 


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410 


Schallmayer. 


begangen ist, nur auf Antrag verfolgt werden soll, was ja praktisch 
fast immer auf Straflosigkeit herauskäme. Ganz anderen Geistes 
ist ein in Michigan geltendes Ehegesetz, das in besserer Würdigung 
der hervorragenden Bedeutung gerade dieses Falles die Bestimmung 
enthält, daß die Ehegatten gezwungen werden können, gegen ein¬ 
ander Zeugnis abzulegen, wenn der eine Teil mit Syphilis oder 
Gonorrhoe behaftet in die Ehe getreten ist 

Vielleicht hat Oberlandesgerichtsrat Schmölder nicht Unrecht, 
wenn er in seinem dem Frankfurter Kongreß erstatteten Referat 
über „Die strafrechtliche und zivilrechtliche Bedeutung der Ge¬ 
schlechtskrankheiten“ gegenüber den Forderungen neuer Straf¬ 
gesetze von einer Überspannung der staatlichen Strafgewalt spricht 
und meint, „der Pfad zu neuen Strafgesetzen darf nur mit größter 
Vorsicht beschritten werden“. Aber leider stimmt er auch in der 
Verneinung der Frage, ob ein Gesetzesvorschlag zu empfehlen sei, 
nach welchem für die staatliche Ehebewilligung der Nachweis des 
freiseins von Geschlechtskrankheiten zu erbringen wäre, mit 
Hellwig überein. Er rügt, daß man überhaupt die Kampfesmittel 
in sachwidriger Weise zu häufen anfange. Auch er ist der Meinung, 
durch das bürgerliche Gesetzbuch sei das Zivilrecht auf dem, die 
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten berühren¬ 
den Gebiet zu einem zufriedenstellenden Abschluß gekommen. 
Hoffentlich nehmen recht viele an dieser Zufriedenheit nicht teil 
und halten es in Anbetracht der dargelegten Verhältnisse für eine 
unabweisbare und auch höchst verdienstliche Aufgabe unserer Ge¬ 
sellschaft, die Errichtung einer wirksamen gesetzlichen Schranke 
zu befürworten, durch welche Geschlechtskrankender Zutritt zur Ehe 
verwehrt wird. — Die spezielle Begründung seiner Ablehnung lautet: 
„Ein Attestzwang hat einen Nutzen bei dem Verhältnis zwischen Säug¬ 
ling und Amme, wo der Vertrag oft zwischen wildfremden Personen 
in größter Eile geschlossen werden muß .... Brautleute aber und 
deren Angehörige haben zu eigenen Feststellungen stets ausreichend 
Zeit und Gelegenheit Diese eigenen Feststellungen bieten eine 
viel größere Garantie. Der Attestzwang könnte hier einschläfernd 
wirken und dem Irrtum und der Täuschung von neuem Tür und 
Tor öffnen. Dabei werden auch Ehen, wenngleich nur ausnahms¬ 
weise, zur wechselseitigen Unterstützung .... geschlossen. Bei 
diesen Ehen fallt eine Geschlechtskrankheit nicht mehr ins Gewicht 
als jede andere Krankheit Außerdem kann das Interesse vor¬ 
ehelicher Kinder den baldigen Abschluß einer Ehe selbst dann 


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Infektion als Morgengabe. 


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fordern, wenn der eine Teil sich geschlechtlich infiziert hat. Ich 
sage: Hier ist kein Baum für staatliche Bevormundung. Hier muß 
es, auch im Interesse des Allgemeinwohls, heißen: „Jeder sehe, 
wie ers treibe.““ 

Diese Gründe dienen offenbar ausnahmslos zunächst nur zur 
Verfechtung individualistischer Interessen, die ja allerdings mit dem 
Allgemeinwohl Hand in Hand gehen könnten. Im vorliegenden 
Fall jedoch trifft dies ganz gewiß nicht zu, und auch .den individua¬ 
listischen Interessen wird mit der Bekämpfung jener Forderung 
nur für den Augenblick und unter schwerer Verletzung der Interessen 
anderer Individuen gedient. Das dürfte aus den vorausgehenden 
Darlegungen hervorgehen. Diesen zufolge erscheint es auch als eine 
bloße Fiktion, daß die Brautleute oder deren Angehörige gewöhnlich 
oder stets in der Lage seien, gegenseitig die Abwesenheit anstecken¬ 
der Geschlechtskrankheiten festzustellen; jedenfalls steht ihnen die 
Möglichkeit zu solchen „Feststellungen“ wohl niemals in einer Weise 
zu Gebote, die irgend eine Garantie gewähren könnte. Ein Attest¬ 
zwang von der hier vorgeschlagenen Art würde nicht einschläfernd 
wirken, sondern eher gegenteilig, er würde höchst wahrscheinlich die 
Wirkung haben, daß bei den jungen Leuten, die nicht ledig zu 
bleiben im Sinne haben, gegenüber der Gefahr, sich geschlechtlich 
zu infizieren, künftig eine größere Vorsicht üblich würde als gegen¬ 
wärtig. „Dem Irrtum und der Täuschung“ in der Frage, ob eine 
früher erworbene Geschlechtskrankheit noch ansteckend ist oder nicht, 
sind die Ehekandidaten — von ihren bedrohten Bräuten gar nicht zu 
reden — gegenwärtig, selbst wenn sie hierbei Ärzte zu Rate ziehen, 
und noch mehr, wenn sie das nicht tun, in viel höherem Grade 
ausgesetzt als bei der angestrebten Entscheidung dieser Frage 
durch hierzu wissenschaftlich und technisch besonders ausgerüstete 
und völlig unbefangene Amtsärzte. Auf die von Schmölder an¬ 
geführten anormalen Fälle, in denen die Ehe nicht ihrer eigent¬ 
lichen Bestimmung dienen und jede geschlechtliche Betätigung 
zwischen den „Gatten“ ausgeschlossen sein soll, kann doch nicht 
prinzipiell Rücksicht genommen werden. Aber man könnte ja für 
derartige besondere Fälle unter Umständen Dispens zulassen. Hingegen 
erscheint es mir bereits als eine allzuweit gehende Berücksichtigung 
eines individualistischen Interesses, noch dazu verbunden mit einer 
schweren Schädigung des Wohles einer anderen Person, vielleicht 
sogar mehrerer Personen, wenn mit Rücksicht auf ein vorehelich 
gezeugtes, noch ungeborenes Kind zugelassen werden soll, daß der 


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Schallm&yer. 


Vater, obgleich noch mit einer ansteckenden Geschlechtskrankheit 
behaftet, die künftige Mutter seines Kindes heirate, daß er also 
diese Mutter, wenn sie noch nicht infiziert ist, mit fast unfehlbarer 
Sicherheit ebenfalls infiziere, und daß in jedem Fall, mag sie schon 
vorehelich infiziert sein oder erst der Infektion in der Ehe aus¬ 
gesetzt werden, die Gesundheit der späteren Kinder, eventuell auch 
die des schon gezeugten, gefährdet, oder die Gattin unfruchtbar 
gemacht werde; daß überhaupt eine Ehe zustande komme, die 
weder für die Gatten noch für die Kinder und erst recht nicht 
für das Gemeinwohl gedeihlich zu werden verspricht — Mir scheint, 
daß von den Gründen, die Schmölder gegen den Attestzwang vor¬ 
gebracht hat, nichts übrig bleibt. 

Auch Prof. v. Bar 1 ) begründet seine Ablehnung des Attest¬ 
zwanges ausschließlich mit Rücksichten auf das individualistische 
Interesse. Er meint, daß durch jene Forderung eines gewissenhaft 
auszustellenden Attestes das Lehensglück vieler Personen vernichtet 
oder gefährdet werde. Aber ist denn auch nur mit einiger Wahr¬ 
scheinlichkeit anzunehmen, daß durch Ehen, die von Anfang an 
venerisch vergiftet werden, das Lebensglück solcher Männer be¬ 
gründet werde — gar nicht zu reden vom Lebensgltick ihrer Frauen, 
die der Infektion preisgegeben werden sollen und von der Rück¬ 
sicht auf das Wohl der Nachkommenschaft! In Wirklichkeit 
würde durch die erstrebte Verhinderung bezw. Verschiebung solcher 
Eheschließungen eine Unsumme von Unglück und Elend ver¬ 
hütet werden. — Die durch die Forderung eines solchen Attestes be¬ 
dingte Erschwerung der Eheschließung fällt gegenüber der ungemein 
großen Bedeutung dieses Schrittes nicht schwer in die Wagschale. 
Andere als Geschlechtskranke werden sich dadurch nicht leicht 
zurtickhalten lassen, schon weil sie sich sonst dem Verdacht aus¬ 
setzen würden, geschlechtskrank zu sein. Viele sind stolz darauf, 
militärtauglich befunden zu werden, auch wenn sie sich nach dem 
Militärdienst selbst keineswegs sehnen. Man würde nicht weniger 
stolz darauf sein, ehe tauglich befunden zu werden, zumal da der 
Ehestand den meisten erwünschter erscheint als der Soldatenstand. 
— Ein weiteres Bedenken, das v. Bar gegen unseren Vorschlag aus¬ 
spricht, nämlich daß die Vererbung von Krankheiten und Schwächen 
noch keineswegs für alle oder auch nur für eine überwiegende An¬ 
zahl von Fällen nachgewiesen sei, ist für den in Frage stehenden 


l ) Zeitschr. f. Bek. d. Geschlechtekrankh. Bd. I. S. 64. 


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Infektion als Morgengabe. 


413 


Vorschlag ganz unzutreffend da es sich hier doch um Krankheiten 
handelt, die beide zweifellos infektiös sind und die eine davon 
außerdem auch erblich übertragbar. 

Manche halten es für empfehlenswert, daß syphilitische Männer 
sich mit ebenfalls schon syphilisch infizierten Weibern verheiraten, 
weil dabei für keinen Teil eine Infektionsgefahr besteht. Aber 
schon mit Rücksicht auf die Nachkommenschaft sollten auch solche 
Heiraten nicht als zulässig gelten, außerdem auch deshalb, weil 
die so häufig außerordentlich rasch aufeinanderfolgenden Aborte 
die Gesundheit der Frau schädigen. Beide sollen warten, bis ihre 
Syphilis abgelaufen ist, schlimmsten Falles aber dauernd ledig 
bleiben. Letztere Notwendigkeit gehört aber zu den Ausnahme¬ 
fällen. 

Privatim wurde mir eingewendet, daß bei der ungeheuren 
Verbreitung der Geschlechtskrankheiten die praktischen Schwierig¬ 
keiten einer Durchführung des Attestzwanges allzugroß sein würden. 
Allein je größer das zu verhütende Übel ist, desto mehr ist es 
auch geboten, sich durch keine Schwierigkeit von ihrer Verhütung 
abhalten zu lassen, und man wird nicht sagen können, daß auch 
beim besten Willen unüberwindliche Schwierigkeiten dem vor¬ 
geschlagenen Modus entgegenstehen. — Ferner wurde mir privatim 
entgegengehalten, daß auch der selektorische Wert jener geforderten 
Maßregel ein zweifelhafter wäre, da ja nach den statistischen Er¬ 
gebnissen Blaschkos die begabteren Bevölkerungsschichten ver¬ 
hältnismäßig stärker an den Geschlechtskrankheiten beteiligt sind 
und dementsprechend auch stärker von der vorgeschlagenen Ma߬ 
regel getroffen würden. Jedoch dem Rasseinteresse ist nicht damit 
gedient, daß begabte Personen (Eugeneten nennt sie S. R. Stein¬ 
metz 1 ) nach G. de Lapouge in geschlechtskrankem Zustand 
heiraten. Infizieren sie ihre Frauen, die gewöhnlich ebenfalls 
aus den wohl durchschnittlich begabteren Schichten stammen, 
mit Gonorrhoe, so bleiben in sehr vielen, vielleicht in der 
Mehrzahl dieser Fälle, die Ehen entweder kinderlos, oder es wird 
nur ein einziges Kind geboren. Infizieren sie ihre Frauen syphili¬ 
tisch, so bleiben auch diese Ehen sehr oft kinderlos, weil die 
Frucht wieder und wieder schon im Mutterleib abstirbt oder in 
nicht lebensfähigem Zustand geboren wird. Und wenn auch in 


*) Der Nachwuchs der Begabten, Zeitschrift für Sozialwiss. VII. Bd. 
1. Heft 1904. 


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414 


Schallmayer. 


vielen derartigen Ehen ein Teil der Kinder das Fortpflanzungs- 
alter erreicht, so sind es doch vom Keim aus geschwächte Indi- 
viduen, welche auf ihre Nachkommen bestenfalls nur eine mangel¬ 
hafte Konstitution vererben. Selbst wenn es notwendig wäre, die 
geschlechtskranken Eugeneten dauernd von der Ehe auszu¬ 
schließen, würde die Rassegüte meines Erachtens nichts mehr da¬ 
durch verlieren, sondern noch gewinnen. Sie wird aber noch mehr 
gewinnen, wenn die Maßregel solche Ehekandidaten nur nötigt, 
vor der Eheschließung sich zu vergewissern, bezw. dafür zu sorgen, 
daß sie keine Ansteckungsgefahr mehr in die Ehe mitbringen. In 
der großen Mehrzahl der Fälle würde es sich wie gesagt, nur 
um einen Aufschub der Verheiratung handeln, der in diesen 
Fällen im Rasseinteresse schon an und für sich wünschenswert 
wäre. Wahrscheinlich aber würde eine solche Maßregel außerdem 
die gute Nebenwirkung haben, einerseits die Vorsicht gegenüber 
der Gefahr, sich anzustecken, und andererseits das Gewissen gegen¬ 
über der eigenen, aktiven Ansteckungsfähigkeit bei sehr vielen, die 
sonst in beiden Richtungen dem jetzt noch so sehr üblichen Leicht¬ 
sinn huldigen würden, heilsam zu schärfen. Es ist also nicht nur 
vom Standpunkt der Selektion, sondern auch vom Standpunkt der 
direkten Keimhygiene wünschenswert, daß insbesondere auch die 
Eugeneten in wirksamer Weise verhindert werden, mit ansteckungs¬ 
fähigen Krankheiten in die Ehe zu treten, und zu diesem Zweck 
gibt es wohl, wie dargelegt wurde, kein irgendwie zuverlässiges, 
anderes Mittel, als die vorgeschlagene Maßregel. 

Manche begnügen sich, die Forderung einfach mit dem Schlag- 
wort Utopie abzufertigen, ohne sie einer weiteren Wiederlegung zu 
würdigen. Die logische Wucht eines solchen Schlagwortes steht 
aber nicht immer so groß wie der starke, ausschlaggebende 
Eindruck, den es bei so vielen hervorruft. Man braucht ja 
nicht einmal besonders alt zu sein, um die Verwirklichung 
einer Bestrebung schon erlebt zu haben, von der man früher 
nur als von einer Utopie gehört hat Utopie, das bedeutet 
doch eine Idee, die nirgends noch verwirklicht war und ist und 
auch gar keine Aussicht hat, in absehbarer Zeit verwirklicht zu 
werden. Weder das eine noch das andere trifft für die in Rede 
stehende Forderung zu. Denn in verschiedenen Staaten der nord¬ 
amerikanischen Union ist sie, wenn auch nicht so sehr in Hinsicht 
auf Geschlechtskrankheiten, sondern vorwiegend auf Geisteskrank¬ 
heiten, bereits verwirklicht Im Prinzip besteht aber kein Unter- 


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Infektion als Morgengabe. 


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schied zwischen der hier vertretenen Forderung und der dort 
bereits bestehenden Gesetzgebung. 

Wie Medizinalrat P. Näcke unter Berufung auf eine Notiz 
in den „Archives d’anthropologie criminelle“ etc. 1903, S. 757, 
die mir momentan leider nicht zugänglich sind, im 11. Bd. des 
„Archiv für kriminelle Anthropologie“ etc. v. 16. April 1903, S. 266 
mitteilt, „müssen im Staate Dakota die Personen, die sich zu 
ehelichen gedenken, gesetzlich durch eine Jury von Ärzten auf 
somatische und geistige Fehler sich untersuchen lassen“. Leider 
kann ich einstweilen einigen Zweifel an der Richtigkeit dieser 
Mitteilung nicht unterdrücken, einmal, weil es wohl einen Staat 
North-Dakota und einen Staat South-Dakota, nicht aber einen Staat 
Dakota gibt, und dann, weil ich schon einmal die Erfahrung ge¬ 
macht habe, wie unzuverlässig derartige Nachrichten zuweilen sind. 
So hatten die „Münch. Neueste Nachr.“ im Vorabendblatt zum 
3. März 1899 die Nachricht gebracht, der Staat North-Dakota habe 
soeben ein Gesetz angenommen, wonach jeder Ehekandidat zur 
Erhaltung der staatlichen Ehebewilligung ein Zeugnis des Amts¬ 
arztes beizubringen habe über seine geistigen und körperlichen 
Fähigkeiten. Das Zeugnis müsse namentlich bescheinigen, daß der 
Ehekandidat nicht mit Tuberkulose, Irrsinn und Säuferwahnsinn 
erblich belastet sei. Um mich von der Richtigkeit dieser Nachricht 
zu überzeugen, richtete ich eine briefliche Anfrage an den Vor¬ 
sitzenden des Committee on Expenditures on Public Buildings zu 
Washington, Mr. Rob. J. Gamble, der im House of Represeni 
U. S. zugleich Vertreter des Staates South-Dakota ist, und erhielt 
von ihm im Juni 1900 den Bescheid, daß ein Gesetz obigen In¬ 
haltes in der letzten Gesetzgebungssession von North-Dakota aller¬ 
dings vorgeschlagen gewesen, aber nicht durchgegangen sei. Diese 
Erfahrung mahnt auch gegenüber obiger Mitteilung der Archives 
d’anthrop. er. einstweilen zur Vorsicht, wenn es auch nicht gerade 
unwahrscheinlich ist, daß der früher abgelehnte Vorschlag in letzter 
Zeit zur Annahme gelangte, zumal da auch in anderen Union¬ 
staaten ähnliche Gesetze durchgesetzt worden zu sein scheinen. 
So ist nach einer Mitteilung des bekannten Gynäkologen Prof. 
A. He gar 1 ) „im Unionstaat Michigan ein Gesetz schon in Geltung, 
das Verheiratung Geisteskranker und Idioten verbietet, sowie 


l ) Die Untauglichkeit zum Geschlechtsverkehr. Polit. - Anthr. Revue, 
Mai 1902. S. 104. 


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Schallmayer. 


Luetische und Gonorrhoische, die eine Ehe eingehen, sehr streng 
bestraft .... Die Ehegatten können gezwungen werden, Zeugnis 
gegen einander abzulegen. Ebenso unterliegt der behandelnde 
Arzt dem Zeugniszwang“. Dieses Gesetz verhindert freilich direkt 
nur die Verheiratung Geisteskranker und Idioten, nicht auch Ge¬ 
schlechtskranker, und sucht die Eheschließungen Geschlechtskranker 
nur indirekt dadurch zu verhindern, daß es die Fälle, die nach¬ 
träglich ans Licht kommen, mit Strafe bedroht. 15s wird aber nur 
ausnahmsweise eine Frau, die weiß, daß sie von ihrem Mann 
infiziert ist, bereit sein, diese Tatsache bekannt werden zu lassen. 
Sinkt doch wie schon bemerkt, ihr Wert als Frau unvermeidlich durch 
die bloße Tatsache, daß sie infiziert ist. Kein noch so großes Mitleid kann 
das ändern. Wohl in der Mehrzahl der Fälle hat sie aber keine 
Kenntnis, oft keine Ahnung vod der Natur ihres Leidens, welches 
nichtsdestoweniger wie ein Krebsschaden am Volkskörper wirkt. 
Es wäre also ganz gewiß zweckmäßiger, den Geschlechtskranken 
die staatliche Ehebewilligung direkt vorzuenthalten, wie es im 
gleichen Staat hinsichtlich der Geisteskranken geschieht. — Auch 
in Connecticut ist, wie A. Ruppin 1 ) mitteilt, seit kurzem Epi¬ 
leptikern und Blödsinnigen die Ehe gesetzlich untersagt — Im 
alten Europa freilich sind die maßgebenden Kreise zu schwerfällig, 
um sich schon jetzt zu solchen Neuerungen aufschwingen zu können, 
die einen hochbedeutsamen Anfang zu einer rassebiologischen 
Politik darstellen. Wie notwendig eine solche ist, hat der Ver¬ 
fasser dieses Aufsatzes in einer bereits erwähnten Schrift „Ver¬ 
erbung und Auslese im Lebenslauf der Völker“ (Jena, 1903), in 
welcher die Entartungsfrage das Hauptthema bildet, darzutun ver¬ 
sucht. Einstweilen sind bei uns derartige Bestrebungen auf die in 
der Politik wenig wirksame Gelehrtenwelt beschränkt, und auch in 
deren Kreise fangen sie erst an, zur Geltung zu kommen. Als 
der Schreiber dieser Zeilen in einem 1891 veröffentlichten Schriftchen *) 
die Notwendigkeit einer solchen Gesetzgebung zu begründen suchte 
und zunächst wenigstens Vorbereitungen zu einer solchen durch 
Anlegung offizieller Vererbungstafeln für jede einzelne Person ver¬ 
langte, stand er mit dieser Forderung wohl noch völlig allein. 
Seitdem hat sich jedoch, besonders in den letzten Jahren, eine statt- 

*) Darwinismus und Sozialwissenschaft. 2. Teil von „Natur und Staat“ 
Jena, 1908. S. 89. 

*) Über die drohende körperliche Entartung der Kulturvölker. Neu¬ 
wied, 1891. 


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Infektion als Morgengabe. 


417 


liehe Zahl von Autoren für eine solche Gesetzgebung ausgesprochen, 
so unter vielen anderen H. Schüle 1 ), Al. Tille 2 ), A. Ploetz 8 ), 
H. Kurella 4 ), A. v. Fircks 6 ), A. Forel 6 ), A. Hegar 7 ). Sogar in 
der französischen Deputiertenkammer wurde 1900 ein derartiger 
Vorschlag eingebracht, wenn auch einstweilen ohne Erfolg. Und 
kurz darauf, im Juni 1900, verteidigte Prof. Pinard in der Acadömie 
de Mödecine zu Paris die These, daß die Heirat allen denen unter¬ 
sagt werden müsse, die an einer ansteckenden Krankheit leiden 
oder in gefährlicher Weise erblich belastet sind. In Überein¬ 
stimmung mit Dr. Cazalis forderte er die obligatorische Leibes¬ 
untersuchung für alle, die sich verheiraten wollen, und ein Gesetz, 
durch welches allen Kranken, die an einem schweren, auf die Frau 
oder die künftigen Kinder übertragbaren Übel leiden, die Ehe 
absolut verboten werden sollte. Dieser Vorschlag, dessen weiteres 
Schicksal mir unbekannt ist, wurde einem Ausschuß überwiesen. 

Solche Forderungen sind freilich unvereinbar mit der theoretisch 
wie praktisch ganz unhaltbaren, nichtsdestoweniger aber sehr ver¬ 
breiteten Auffassung, daß die Ehe eine Angelegenheit rein privater 
Natur sei. Und doch gab es in Deutschland, wie Prof. J. Conrad 8 ) 
ausführt, bis in die Mitte, zum teil bis zum Ende des 19. Jahr¬ 
hunderts, in ausgedehntem Maße gesetzliche Eheschranken, freilich 
hauptsächlich nur aus wirtschaftlichen Rücksichten, und noch heute 
ist in Norwegen die Ehe allen denen versagt, die Gemeindehilfe 
empfangen haben. Wir können uns aber der Einsicht nicht länger 
verschließen, daß in Rücksicht auf das Gemeinwohl das Rasse¬ 
interesse nicht (privaten oder öffentlichen) wirtschaftlichen Interessen 
nachgesetzt werden darf. Ich teile nicht ganz den bitteren 
Pessimismus in dieser Hinsicht, dem Möbius 9 ) in folgenden Worten 
Ausdruck gibt: „Wenn jemand noch daran zweifeln sollte, daß wir 
in dicker Barbarei leben, der bedenke, wie Staat und Kirche die 

*) Festrede zur Feier des 50jährigen Jubiläums der Anstalt Ilmenau. 1892. 

*) Von Darwin bis Nietzsche. Leipzig, 1895. 

8 ) Die Tüchtigkeit unserer Rasse etc. Berlin, 1895. 

4 ) Soziale Anthropologie. In der „Zukunft“ vom 17. Aug. 1895. 

5 ) Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Leipzig, 1898. S. 860. 

6 ) Über Ethik. In der „Zukunft“ vom 30. Sept 1899. 

7 ) Die Unfähigkeit zur Fortpflanzung. In der „Polik-Anthr. Revue“ v. 
Mai 1902. 

8 ) Grundriß z. Stud. d. politischen Ökonomie. 2. Teil. 3. Aufl. Jena, 1902. 
S. 481 ff. 

*) Geschlecht und Entartung. Halle a. d. S. 1903. S. 44. 


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418 


Sehallmayer. 


Hand segnend über jedes Ehebett ausstrecken, sei es auch noch 
so verrucht! Wenn eine arme Frau für ihre Kinder ein Brot weg¬ 
nimmt, dann kommt Frau Themis mit Schwert und Schild und 
macht ein Aufheben. Wenn aber syphilitische, tuberkulöse, blöd¬ 
sinnige Kinder erzeugt werden, so zuckt sie mit den Achseln und 
sagt: das ist Privatsache. Vorläufig ist daran nichts zu ändern. 
Ob es wahr ist, daß in Nordamerika vernünftige Ehegesetze ein¬ 
geführt werden sollen, das weiß ich nicht, auf jeden Fall ist bei 
uns keine Aussicht auf so etwas. Vielmehr muß der, der mit unseren 
Zuständen nicht zufrieden ist, froh sein, wenn man mit einem mit¬ 
leidigen Kopfschütteln über ihn zur Tagesordnung übergeht.“ Ich 
kann mir nicht versagen, auch noch folgende beherzigenswerte 
Stelle desselben Schriftchens (S. 43 f.) hier wiederzugeben: „Erst 
sorgt dafür, daß gesunde Menschen da seien, dann lehrt sie, bildet 
sie, schmückt sie, aber ohne Gesundheit keine Güte, keine Schön¬ 
heit! Ein Jammer ist es, zu sehen, wie den Menschen alles 
andere wichtiger gewesen ist und noch ist, als das eine, was ihnen 
not tut, ein gesundes Geschlecht. Die Alten meinten, wen die 
Götter verderben wollten, den verblendeten sie, und an dieses 
gottlose Sprichwort muß man denken, wenn man darauf achtet, 
was den Menschen alles wichtig vorkommt .... Das Reich ist 
die Herrlichkeit, aber was hilft euch das Reich, wenn das Volk 
verdirbt? . . . Über den Nordpol regen sie sich auf, aber das 
naheliegende läßt sie kalt.... Wenn es so weiter geht, wie jetzt, 
so geht das Volk zagrunde, trotz Freiheit, Bildung, Reichtum .. 

In ähnlichem Sinn sprach sich der Hygieniker Prof. M. Gruber 
bei der ersten öffentlichen Versammlung der Ortsgruppe München 
unserer Gesellschaft aus: „Die Erzeugung und .Erhaltung einer 
gesunden und edlen Rasse ist unvergleichlich wichtiger als die 
Fortvererbung selbst der höchsten Kulturgüter, die in der Hand 
des verkommenden doch nur taubes, wertloses Gestein sein würden. 

Indes, wir müssen mit der Tatsache rechnen, so bedauerlich 
sie ist, daß die Tüchtigkeit der nächsten Generation, soweit sie 
nicht schon lebt, und noch mehr die Tüchtigkeit der späteren 
Generationen, in der öffentlichen Wertschätzung bei uns einst¬ 
weilen noch nicht schwer wiegt. Jedoch durch die Eheschließung 
Geschlechtskranker wird nicht blos die Tüchtigkeit der Nach¬ 
kommenschaft, sondern auch die Gesundheit des anderen Ehe¬ 
gatten, vorwiegend der Frau, geschädigt. Daß ahnungslose Bräute 
vor der Verbindung mit geschlechtskranken Männern geschützt 


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Infektion als Morgengabe. 


419 


werden müssen, wird selbst dem einleuchten, dem das Rasseinteresse 
völlig gleichgiltig ist Für die Abhaltung Geschlechtskranker von 
der Eheschließung spricht also nicht nur das Rasseinteresse, sondern 
auch das individualistische. Darum dürfte die Forderung, daß 
Geschlechtskranken die staatliche Ehebewilligung vorzuenthalten 
sei, bei uns leichter und eher durchzusetzen sein als die in einigen 
Staaten der Union bereits eingeführte, gesetzliche Ausschließung 
psychopathisch belasteter Personen. Letztere Forderung ist bei uns 
für die nächsten Jahrzehnte wohl noch ganz aussichtlos; denn für 
sie spricht vorwiegend nur das Rasseinteresse. Hingegen für die 
hier vertretene Forderung könnte die öffentliche Meinung, d. h. die 
Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren, wohl unschwer in abseh¬ 
barer Zeit gewonnen werden, wenn unsere Gesellschaft sich ent¬ 
schließen würde, sie in ihr Programm aufzunehmen. Die geforderte 
Maßregel ist ja auch viel weniger rigoros als die in Vergleich ge¬ 
zogene, weil bei der hier befürworteten Einrichtung die Versagung 
der Ehe in der Regel nicht eine lebenslängliche, sondern nur eine 
zeitweilige zu sein bräuchte. Ein weiterer Umstand, der dieser 
Forderung zugute kommt, ist die noch herrschende Gewohnheit, 
Geschlechtskrankheiten als selbstverschuldete anzusehen. Wenn 
auch diese Anschauung großenteils weder gerecht noch verständig 
oder nützlich ist, so ist sie doch nicht sofort aus der Welt zu schaffen 
und kann bis dahin insofern Gutes wirken, als sie geeignet ist, 
den Widerstand der öffentlichen Meinung gegen die hier vertretene 
Forderung zu vermindern. Aber auch sonst hat diese Forderung, 
und zwar auch gemäß den heute herrschenden Begriffen, soviel 
Gerechtigkeit, Humanität und Nützlichkeit für sich, daß man zu¬ 
versichtlich hoffen darfj sie werde, wie schon jetzt bei so manchen, 
so künftig immer mehr Anerkennung finden und in absehbarer 
Zeit alle ihr noch entgegenstehenden Schwierigkeiten überwinden. 


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Referate. 


Sexualpädagogik. 

Maria Lischnewska. über die Notwendigkeit und methodische Möglichkeit der 
geschlechtlichen Belehrung der Jugend. Die Frauenbewegung. Nr. 23. 1903. 

Verfasserin stellt folgende Thesen auf: 

1. Die geschlechtlichen Funktionen sind wie andere Funktionen des 
Leibes durchaus rein und unschuldig. Erst die Heimlichkeit, mit 
welcher man sie umgibt, erweckt in dem Kinde die Vorstellung, daß es 
sich um etwas Schmachvolles und Sündhaftes handle. 

2. Die geschlechtlichen Vorgänge sind den Kindern aller Stände 
wohl bekannt. Ältere Kinder, Dienstmädchen, die Schmutzliteratur, 
Stellen der Bibel und der antiken Literatur klären sie frühzeitig auf. 

Für die Kinder des Arbeiterstandes kommt hinzu, daß der eheliche 
Verkehr der Eltern in demselben Zimmer, ja sogar in demselben Bette 
vor sich geht, in welchem sie schlafen, und daß die Erwachsenen ge¬ 
schlechtliche Ausschweifungen in roher und cynischer Weise vor den 
Kindern besprechen. 

3. Somit werden die Kinder aller Stände in gemeinster Weise 
orientiert. Ehrfurcht vor den sexuellen Vorgängen kennen sie nicht 
Die erwachenden Triebe verbinden sich nun mit dieser Atmosphäre der 
Gemeinheit und richten schweres Unheil an. 

4. Die Schule nimmt an dieser Versündigung der Erwachsenen 
gegen die Kinder in unverantwortlicher Weise teil, denn 

a) sie bespricht alle Organe und Vorgänge des Körpers an der 
Hand von Abbildungen aufs eingehendste, die Geschlechtsorgane 
berührt sie nie. 

b) In dem Religionsunterricht geht sie mit Andeutungen und 
scheuen Hinweisen um die Sache herum. 

c) Spricht ein Kind sein Wissen in unvorsichtiger Weise aus, so 
empfängt es die schwerste Strafe. 

5. Die Schule hat Mittel und Wege, das Kind in ehrfurchtge¬ 
bietender Weise in die Tatsachen des geschlechtlichen Lebens einzuführen. 

6. Die Belehrung gehört einzig und allein in den naturgeschicht¬ 
lichen Unterricht und hat stufengemäß zu erfolgen. 

7. Schon auf der untersten Stufe des naturwissenschaftlichen Unter¬ 
richtes wird das Kind über die Fortpflanzung der Pflanzen, der Fische, 
Vögel und Säugetiere, sowie über die Entwicklung des Eies belehrt und 
empfängt den Begriff von der Einheit der Natur. 


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Referate. 


421 


Hier wäre anzuknüpfen: 

a) die Entwicklung des Kindes im Mutterleibe. Das Kind 
weiß, daß jedes Geschöpf „seinen eigenen Samen bei sich hat u 
und hört nun, daß solch ein Menschenei auch im Leib der 
Mutter liegt. Es findet selbst, daß dieses allmählich wachsen 
muß und — nun wird ihm ein Bild gezeigt: der Leib der 
Mutter, die äußere Bauchdecke zurückgeschlagen, das Kind 
schlummernd. — Jedes noch unverdorbene Kind wird mit dem 
höchsten Entzücken dieses Bild betrachten. — Die weitere 
Belehrung muß dazu führen, im Kinde die Liebe und Ehr¬ 
furcht vor der eigenen Mutter zu erhöhen. Die Schmerzen der 
Geburt brauchen auf dieser Stufe nur leise angedeutet zu 
werden. 

b) Der Befruchtungsvorgang bei Fisch und Vogel. Der 
Aus- und Einfluß des Samens wird hier unter Berufung auf 
das Pflanzenleben geschildert, ein befruchtetes Hühnerei wird 
gezeigt. Das Innere des weiblichen Vogelleibes, und der Gang, 
den der Same nimmt, ist durch eine bildliche Darstellung zu 
veranschaulichen. 

8. Die nächste Stufe behandelt dieselben Vorgänge beim 
Säugetiere. Hier müssen schon die wundervolle Zweckmäßigkeit der 
Natur, der Schutz und die Ernährung des Embryos, sowie die großen 
Schmerzen der Geburt eingehend behandelt werden. — Der Begattungs¬ 
vorgang ist mit ruhigen, einfachen Worten zu schildern. Die Organe 
des männlichen und weiblichen Tieres werden genannt. Eine Zeichnung 
zeigt wieder den inneren Vorgang: den Eintritt des Samens in die Ge¬ 
bärmutter. 

9. Kindern, welche so vorbereitet sind, kann man auf der Ober¬ 
stufe — also etwa mit 14 Jahren — alles sagen, was nun noch zu 
sagen bleibt. Es weiß längst, daß beim Menschen die Dinge gar nicht 
anders sind noch sein können, als beim Säugetier. Es kennt die Bildung 
der tierischen Geschlechtsorgane, ihre Namen, ihre Funktionen. 

Alles das benutzt der Unterricht. Die äußeren und inneren Fort¬ 
pflanzungsorgane des Menschen werden in Abbildungen gezeigt, 
benannt und besprochen. Es wird dem Kinde gesagt, daß in der Ver¬ 
bindung von Mann und Frau dem Menschen das höchste Glück und das 
furchtbarste Unglück bereitet sei, daß der Mensch sich dieses Genusses 
mit Maß und Sittlichkeit bedienen und daß er nie vergessen dürfe, daß 
ihm in diesem Akt eine schöpferische Gewalt gegeben sei, die eine 
große Verantwortung gegenüber dem neuen Leben in sich schließe. 

Ueber Erkrankungen der Geschlechtsorgane, über die Men¬ 
struation, über die Schädigungen durch zu frühes Geschlechtsleben, über 
Vermeidung der Reizmittel Alkohol, sitzende Lebensweise, unsittliche 
Bilder und Bücher — wäre das Nötige anzuschließen. 


Im Anschluß hieran möchten wir noch Folgendes erwähnen: 

Der vom Deutschen Verein für das Fortbildungsschulwesen zu 
Frankfurt am Main abgehaltene Kursus für Lehrer hat sich in einem 

Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechts krtnkh. II. 31 


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422 


Keferate. 


Diskassionsabende mit dem Thema beschäftigt: „Belehrung der Fort¬ 
bildungsschüler über sexuelle (geschlechtliche) Fragen.“ Nach einem 
Vortrage des Schularztes Dr. med. Laquer und nach eingehender Be¬ 
ratung wurden folgende Thesen angenommen: 

1. Unterweisungen der Fortbildungsschüler über das Geschlechts¬ 
leben des Menschen sowie Belehrungen über Maßnahmen bei erfolgter 
Ansteckung sind notwendig. 

2. Sie müssen nach Bücksprache mit dem Lehrerkollegium im An¬ 
schlüsse an die naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse der Schüler durch 
Ärzte — wenn angängig durch Schulärzte — erteilt werden. 

3. Es empfiehlt sich, daß in jedem Halbjahre etwa dreimal eine 
einstündige ärztliche Vorlesung vor allen Fortbildungsschülern gehalten 
wird, welche unter Betonung der wesentlichsten allgemeinen Grundsätze 
der Gesundheitspflege das Kapitel der Sexualhygiene mit Hilfe von 
guten Zeichnungen, Gipsmodellen und gedruckten Merkblättern ausführ¬ 
lich behandelt, die dem Bildungsgrade der Schüler anzupassen sind. 

4. Welche Altersklassen, beziehungsweise Jahrgänge an den Vor¬ 
lesungen teilzunehmen haben, entscheidet das Lehrerkollegium. 


Soziales. 

Adele Schreibeis Kinderwelt u. Prostitution. Leipzig, Frauen-Bundschau, 1908. 

Adele Schreiber hat im Berliner Verein für Frauen und Mädchen 
der Arbeiterklasse einen Vortrag über Kinder weit und Prostitution ge¬ 
halten , den sie nachträglich in Broschürenform hat erscheinen lassen. 
„Ausgehend von der Notwendigkeit, den furchtbaren Krebsschaden des 
käuflichen Liebesgenusses aus der Gesellschaft zu entfernen, schilderte die 
Beferentin, wie in unserer Zeit endlich Männer und Frauen aller Stände 
eifrig die Prostitution bekämpfen, statt sie, wie bisher, zu verschleiern. 
Man sucht den Grund des Übels nicht einseitig in der zur Unsittlichkeit 
geborenen, gleichsam direkt vorherbestimmten Einzelpersönlichkeit, sondern 
in der wirtschaftlichen Notlage. Erschwerend tritt für manche Kinder 
eine angeborene oder anerzogene geringere Widerstandsfähigkeit gegen 
unsittliche Einwirkungen zutage, welche in günstiger Lage überwunden 
wird, in einem ungeeigneten Milieu jedoch die traurige Folge zeitigt, 
daß schon im frühen Kindesalter das arme Wesen der Prostitution 
rettungslos anheimfällt. Hauptursache der Verderbnis sind die Ab¬ 
stumpfung des Schamgefühles und die vorzeitige Erregung der Sinnlichkeit, 
wie sie in den überfüllten Wohnungen der Armut in allen Großstädten 
(in Berlin 27000 Zimmer, in denen 6 und mehr Personen jeden Alters 
und Geschlechtes gemeinsam schlafen) und in all der traurigen Ver¬ 
wahrlosung der Kinder sich darstellt, deren Eltern, von der Not zum 
Erwerb getrieben, die kleinen Wesen sich selbst überlassen müssen. 
Schlimmer noch ist die Lage für die Kleinen, die selbst arbeiten als 
Blumenmädchen, als Hausierer, als Ausläufer u. s. w. 

Eine genaue Umfrage bei den 12 000 geschändeten Kindern Londons 
ergab, daß in vielen Fällen die eigenen Verwandten, Väter und sogar 


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Tagesgoechichte. 


423 


Großväter, die Verführer gewesen. Im ganzen sind es ältere Männer, 
von 50 Jahren bis zam hohen Greisenalter, die sich so schmachvoll an 
der wehrlosen Kindheit vergehen. Mit vertrauenerweckendem Aussehen 
und dem Versprechen irgend eines Geschenkes verlocken sie die armen 
Kleinen, die sie oft für zeitlebens zugrunde richten. Die Erzählungen 
eines frühzeitig verderbten Kindes reißt manche andere mit sich in den 
Abgrund, denn die kindliche Neugier will das Erfahrene selbst erleben. 
Daß in vielen Fällen die Mutter selbst die Kupplerin spielt, ist einer 
der traurigsten Züge in dieser Leidensgeschichte der Kindheit. Als 
Heilmittel gegen die soziale Seuche empfiehlt die Referentin vor allem 
Mäßigkeit im Alkoholgenuß, da nicht nur die meisten Sittlichkeitsver¬ 
brechen im Rausch begangen werden, sondern auch die Trunksucht der 
Eltern geeignet erscheint, die Veranlagung ihrer Kinder aufs ungünstigste 
zu beeinflussen. Die Kinder von Trinkern sind in vielen Fällen epileptisch 
oder schwachsinnig, und damit zu vorzeitiger Sinnlichkeit veranlagt, die 
sich bei mangelhafter Erziehung nur zu bald entwickelt. Besserung der 
Wohnungsverhältnisse, nach der Art der mustergültigen Häuser der ge¬ 
meinnützigen Baugenossenschaften in Frankfurt a. M., Kindergärten und 
Kinderhorte, Behütung der Kleinen vor ungeeigneten Schaustellungen 
und vor dem schädlichen Aufenthalt im Wirtshaus sind weitere nützliche 
Maßregeln, wie auch die Fürsorgeerziehung, welche die Vortragende 
jedoch nach Art der englischen und amerikanischen Erziehungskolonien 
gestalten möchte. Diese bestehen in Einzelhäusern auf einem landwirt¬ 
schaftlichen Gut mit gemeinsamer Schule; ein Dorf mit Familien von 
10—12 Kindern unter Leitung einer Lehrerin. Je früher die Kinder 
in solch günstige Verhältnisse kommen, je besser für ihre Entwicklung. 
Die Frage der Knabenliebe wurde gestreift bei Erwähnung des Buches 
von Feriani über Kinderverkauf in Italien. Übergroße Armut veranlaßt 
viele Eltern, ihre Kinder, meist Knaben, an einen Unternehmer zu ver¬ 
kaufen, der sie ins Ausland führt und in jeder Weise ausbeutet. Dieser 
Menschenhandel müßte in gleicher Weise wie der Mädchenhandel inter¬ 
national bekämpft werden. Den Müttern legte die Vortragende ans Herz, 
nicht nur den Mädchen in geeigneter Art die notwendige Aufklärung 
zu geben, sondern auch die Söhne über ihre sittlichen und hygienischen 
Pflichten zu belehren.“ 


Tagesgeschichte. 

Sexuelle Hygiene und sexuelle Aufklärung in der Schule. 

Über obiges Thema wurde auf dem ersten internationalen Eon- 
greß für Schul-Gesundheitspflege (in Nürnberg am 6. April 1904), 
zu welchem der Vorstand unserer Gesellschaft den Generalsekretär dele¬ 
giert hatte, in eingehender Weise diskutiert. 

Prof. Dr. Schuschny-Budapest führte als erster Redner etwa fol¬ 
gendes aus: Wenn dieSchule die geistige und körperliche Gesundheit der Schul¬ 
jugend fördern soll, dann darf sie nicht der sexuellen Frage aus dem Wege 

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424 


Tageegeschichte. 


gehen. Die „Aufklärung“ erfolgt gewöhnlich durch „aufgeklärte“ Alters¬ 
genossen, die ihre Kenntnisse auf dem Gebiete des Geschlechtslebens 
auf demselben Wege erlangt haben. Eltern, die ihre Kinder mit der 
größten Sorgfalt erziehen, können dies nicht verhüten, auch kümmern 
sie sich nicht um die diesbezüglichen Kenntnisse ihrer Kinder. Der 
Weg zur Wahrheit soll nicht nur unsere Kinder, sondern auch uns be¬ 
seelen. Eben deshalb dürfen wir nicht an der Poesie vom Storche fest- 
halten, wenn unsere Kinder über diese längst hinweg sind. Man muß 
das Kind schon vor der Volksschule so erziehen, daß es an der sexuellen 
Frage gar nichts besonderes findet. Um das zumeist fehlende pädagogische 
Geschick der Eltern zu fördern, müßten Elternabende veranstaltet werden. 
Ist der Schüler vor der Pubertät aufgeklärt, dann wird ihn, wenn diese 
eintritt, der Reiz des Mystischen nicht so erfassen, wie jenen Schüler, der 
nach den Regeln der konventionellen höheren Sittlichkeit erzogen wird. 
Die Schule könne nicht länger das sexuelle Gebiet mit Stillschweigen 
übergehen. Die Nichterörterung der sexuellen Frage in der Schule 
führe zweifellos zu sittlichen Übelständen. Er sei der Meinung, es handle 
sich nur noch darum, wie solle die Erörterung der Sexualität in der 
Schule bewirkt werden. Es sei selbstverständlich, daß die Sexualität 
mit dem nötigen Ernst in der Schule erörtert werden müsse. Sehr not¬ 
wendig sei es, die Schüler schon frühzeitig auf die Gefahren der Selbst¬ 
befleckung und der geschlechtlichen Krankheiten aufmerksam zu machen. 

In den Mittelschulen bietet sich dem Lehrer der Naturwissenschaften 
öfters Gelegenheit, das Kapitel der Befruchtung zu streifen. Vortragender 
berichtet sodann über den in den ungarischen Mittelschulen eingeführten 
hygienischen Unterricht, der in der 7. (Unterprima) Klasse erteilt wird. 
Dieser Unterricht wird von mehreren Schulärzten und Professoren der 
Hygiene dazu benützt, um auch das Kapitel der venerischen Krankheiten zu 
streifen. Der sexual-hygienische Unterricht soll etwas Aufklärung, Winke 
und Ratschläge umfassen. Diese müssen in erster Linie gegen die 
Masturbation gerichtet sein, auch muß Abstinenz den Schülern ans Herz 
gelegt werden. Ein sehr wirksames Feld erwachse also auch in dieser 
Beziehung dem Schularzt. Überhaupt müssen in dieser Beziehung 
Schulmann und Hygieniker gemeinsam wirken. 

Dozent Dr. med. Oker-Blom (Helsingfors) sprach danach über 
Schule und sexual-hygienischen Unterricht. Dieser Redner warnte 
ebenfalls vor Geheimnistuerei in sexuellen Dingen. Es sollte nicht ver¬ 
gessen werden, daß im Pubertätsalter eine sittliche Aufklärung dringend 
notwendig sei, wenn nicht arge sittliche und gesundheitliche Nachteile 
entstehen sollen. Mit der Erörterung des Geschlechtslebens müsse in 
den Lehrbüchern in geeigneter Weise begonnen werden. Die Erörterung 
müsse selbstverständlich mit Aufklärungen und Warnungen verbunden 
werden. Es müsse mit einem Worte in den höheren Schulen Sozial¬ 
hygiene getrieben werden; dieser Unterricht sei von einem pädagogisch 
geschulten Arzt zu erteilen. Den älteren männlichen Schülern müsse 
gesagt werden, daß Enthaltsamkeit durchaus nicht gesundheitschädlich 
sei, daß sie aber eventuell, wenn Verwarnungen bereits zu spät sein 
sollten, sich einem Arzt an vertrauen müssen. 


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Tagesgeschichte. 


425 


Dr. Epstein -Nürnberg besprach die Aufklärung der heran wachsen* 
den Jugend über die Geschlechtskrankheiten: 

Daß es notwendig ist t die heranwachsende Jugend über die Gefahren 
der Geschlechtskrankheiten aufzuklären, daß hier bisher viel versäumt 
worden ist, darüber dürfte heute Einstimmigkeit herrschen. Aber gleich 
bei der ersten Frage, durch wen die Belehrung erfolgen soll, beginnen 
die Schwierigkeiten. Die eigentlich am nächsten liegende Antwort, daß 
dies Aufgabe der Eltern sei, kann nicht befriedigen. Das Haus hat hier 
bisher versagt und wird ans begreiflichen Gründen auf noch lange hinaus 
im allgemeinen versagen müssen. Die Aufklärungsarbeit den Lehrern zu¬ 
weisen, heißt diesen eine Aufgabe ansinnen, gegen die sie sich selbst 
wohl am meisten sträuben würden. Zu leicht kann dabei der Lehrer 
den Schülern wie deren Eltern gegenüber in eine schiefe Stellung kommen, 
und so der ganze Zweck der Arbeit wesentlich beeinträchtigt werden. 
Am zweckmäßigsten erscheint Vortragendem ein Vorschlag, der schon 
verschiedentlich gemacht worden ist, nämlich, daß die Schulärzte damit 
zu betrauen wären, die Schüler und Schülerinnen über Geschlechtskrank¬ 
heiten zu belehren. 

Wie die Belehrungen erteilt werden sollen? Jedenfalls nicht in 
eigenen Vorträgen über dieses Thema, sondern es hätte, wie das schon 
von Fournier und anderen empfohlen wurde, die Besprechung sich einzufügen 
in den Rahmen einer Vortragsreihe über hygienische Fragen im allgemeinen. 
Es würde da genügen, vielleicht in einer Stunde die Geschlechtskrank¬ 
heiten selbst, ihre Häufigkeit, ihre Gefahren zu behandeln. Es wäre 
dabei sehr am Platze, darauf hinzu weisen, daß die Enthaltung vom 
geschlechtlichen Verkehr im allgemeinen durchaus nicht schädlich, daß 
vielmehr gerade wegen der Gefahren der venerischen Affektionen es ratsam 
sei, die Enthaltsamkeit bis zur Ehe durchzuführen. Auch die Onanie 
müßte in taktvoller, nicht übertriebener Weise hier berücksichtigt 
werden. 

Andererseits müsse man sich auch vor Übertreibungen hüten, um 
nicht die Jugend in hypochondrische Zustände zu treiben, die schlimmer 
seien als wirkliche Geschlechtskrankheiten. Deshalb müsse vor der 
gewissenlosen Lektüre gewarnt werden, die im Geldinteresse die jungen 
Leute oftmals in schwere hypochondrische Zustände versetzen. Über 
die Frage, welches der geeignetste Zeitpunkt sei, wird man verschiedener 
Ansicht sein können. Daß man nicht zu früh mit der Aufklärung 
kommen darf, ist selbstverständlich. Vielleicht wird man, wie auch 
Fournier vorgeschlagen hat, zweckmäßig das 16. Lebensjahr wählen. 
Es wäre also der Unterricht nicht in der Volksschule, sondern in den 
Fortbildungsschulklassen kurz vor der Entlassung, in den Mittelschulen 
in der 7. und 8. Klasse (Obersekunda oder Unterprima) abzuhalten. 

Realschullehrer Dr. phil. St an ge r (Trautenau) sprach über: Sexuelles 
in- und außerhalb der Schule. Man dürfe nicht verkennen, 
daß die weitaus große Mehrheit der Jugend verdorben sei. Die Beicht¬ 
väter können erzählen, daß die Knaben fast ausnahmslos dem Laster der 
Selbstbefleckung frönen. Den Schülern sei Aufklärung und Belehrung 
in sexuellen Dingen dringend not. Es sei eigentlich Sache der Familie, 


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426 


. Tageßgeschieh te. 


in dieser Beziehung aufklärend za wirken. Allein die Eltern besitzen 
zunächst nicht das erforderliche Verständnis und das notwendige Geschick 
dafür. Ganz besonders sei es den ärmeren Klassen, die aus wirtschaft¬ 
lichen Gründen genötigt seien, die Kinder tagsüber sich selbst zu über¬ 
lassen, unmöglich, die Kinder vor sittlichen Gefahren zu schützen. Aber 
nicht nur die Kinder armer Eltern unterliegen sittlichen Gefahren, selbst 
die Leiter der Kadettenanstalten seien aufzufordern, für Aufklärung und 
Warnung ihrer Zöglinge zu sorgen. Es müsse den jungen Leuten gesagt 
werden, daß der Gebrauch der Geschlechtsorgane vor dem 22. Lebens¬ 
jahre im allgemeinen zu frühzeitiger körperlicher Verkümmerung, Rücken¬ 
marks-, Gehirn-, Nervenkrankheiten usw. führe. Ganz besonders empfehle 
sich, die Jugend vor dem Mißbrauch des Alkohols zu warnen, sie von 
allen obszönen Schaustellungen fern zu halten und das Baden, Turnen 
und Eisläufen obligatorisch zu machen. Auch den Schüler-Ausflügen 
müsse mehr als bisher Aufmerksamkeit geschenkt werden. In Geschlechts¬ 
krankheiten sei die Anzeigepflicht der Ärzte notwendiger als bei ver¬ 
schiedenen Kinderkrankheiten. Das Aushängen unsittlicher Bilder in 
Buchhandlungen müsse verboten und in den Mittelschulen und Internaten 
seien Sittlichkeits-Inspekteure anzustellen. 

Dr. Blaschko (Berlin) als Vertreter unserer Gesellschaft betonte, 
daß so notwendig und zweckmäßig auch die sexuelle Aufklärung der 
Jugend sei, sich der Durchführung einer solchen doch große Schwierig¬ 
keiten entgegenstellten, da die herrschenden Lehrpläne, um einen Konflikt 
mit der biblischen Weltanschauung zu vermeiden, absichtlich jede biolo¬ 
gische Unterweisung aus dem Schulunterricht verbannen und die ma߬ 
gebenden Kreise sich am allerletzten dazu verstehen würden, die Frage 
von der Entstehung und Zeugung des Menschlichen in den Unterrichts¬ 
plan aufzunehmen. Jedenfalls sei der heutige biologisch nicht vorgebildete 
Lehrerstand zur Erteilung eines solchen Unterrichts völlig ungeeignet, 
und es müsse mit einer systematischen Unterweisung der angehenden 
Lehrer auf Seminaren und Universitäten über diese Fragen begonnen 
werden, ehe man überhaupt an die Einführung eines derartigen Unter¬ 
richts an den Schulen — den höheren sowohl wie an den Volksschulen 
denken könne. Eher werde sich noch eine praktisch-hygienische Auf¬ 
klärung der erwachsenen Jugend auf Fortbildungs-, Fach- und Hochschulen, 
bzw. bei Entlassung aus dem Schulverband über die Gefahren des 
außerehelichen Geschlechtsverkehrs, die Geschlechtskrankheiten und deren 
Folgen durchsetzen lassen. Eine solche Aufklärung, die sich durch Vor¬ 
träge, Flugschriften und Flugblätter nach Art des von der Deutschen 
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 
herausgegebenen Merkblattes bewerkstelligen lasse, sei um so nötiger, 
als die Statistik einen erschreckend hohen Prozentsatz von venerischen 
Krankheiten unter den Jugendlichen aller Volksschichten aufweise. 
Dr. Blaschko teilt mit, daß die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten die sexuelle Aufklärung der Jugend voraus¬ 
sichtlich als Beratungsgegenstand auf die Tagesordnung eines ihrer nächsten 
Kongresse setzen werde. 

Bürgerschuldirektor Tluchor (Wien) betonte die Notwendigkeit, 


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Tagesgeschicbte. 


427 


die in vielen Familien herrschende Ansicht zu bekämpfen: „der junge 
Mann müsse sich austoben“. Es sei das eine Ansicht, die geradezu ver¬ 
hängnisvoll werden könne. Redner stellt den Leitsatz auf, daß die Sexual¬ 
anlagen in völliger Latenz zu erhalten seien, bis der Gesamtorganismus 
ausgebaut und ausgereift sei. Als Ursachen geschlechtlicher Frühreife 
bezeichnet er teils von Alkoholikern und sonst anormalen Eltern ererbte, 
teils erworbene pathologische und psychopathische Verhältnisse, teils 
Erregungs-Dispositionen infolge aufreizender Nahrung, Mangel an Reinlich¬ 
keit und Bewegung, Mißleitung der Phantasie durch schamlose Erwachsene 
und Halbwüchsige, sowie durch Unanständigkeiten in zur Schau gestellten 
Bildern; er hebt die Blutstauungen in den Unterleibsorganen, bedingt 
durch anhaltendes Sitzen, als besonders schädigend hervor. Redner 
bezeichnet die häufig vorkommenden sexuellen Verirrungen der Kinder 
als Hauptursachen seelischer und körperlicher Schwächezustände und 
geringer Widerstandslähigkeit gegen ansteckende Krankheiten. Er ver¬ 
urteilt die Indolenz gegen die eminent vitale sexuelle Frage: Wer die 
Augen zumacht, sieht wirklich nichts; es ist unsittlich, der reifenden 
Jugend die nötigen Belehrungen vorznenthalten und es jedem einzelnen 
zu überlassen, daß er zu spät erst und um den Preis seiner und anderer 
Gesundheit und Ehre zu Kenntnissen gelange, welche ihm die Schule 
schuldig geblieben ist. Man muß die Kinder durch den Hinweis auf 
die göttliche Lehre zur Keuschheit erziehen und im Naturgeschichts¬ 
unterricht darauf hinweisen, daß ein zu frühzeitiger Gebrauch der Fort¬ 
pflanzungsorgane der Pflanzen die Fortpflanzung in hohem Maße beein¬ 
trächtigt, ja verkümmert. Dies kann man den Kindern sehr frühzeitig 
sagen; die Kinder werden diese Belehrungen ganz von selbst auf das 
menschliche Leben übertragen. Eine solche Belehrung in der Natur¬ 
geschichte enthält keinerlei Anstössigkeiten. Die Kinder müssen zu kalten 
Abwaschungen und Leibesübungen aller Art angehalten und alles, was 
die Lüsternheit erwecken könne, von den Kindern ferngehalten werden. 
Ganz besonders müssen die Schüler und Schülerinnen, sobald sie ins 
Pubertätsalter treten, vor den sexuellen Gefahren gewarnt werden. 

Die Militär-Anstalten — auch die Kasernen — erklärt er für eine 
Kategorie von Schulen und betont, daß der Staat mit dem höchsten 
Ausmaß der erzieherischen Rechte auch das höchste Ausmaß erzieherischer 
Verantwortlichkeit für die Gesundheit und Sittlichkeit der ihm in gesundem 
Zustand anvertrauten Jugend übernimmt. Deshalb darf man auch beim 
Militär sich nicht auf Revisionen beschränken, sondern den Krankheiten 
durch Warnungen Vorbeugen. Dem Militarismus werden vom Volke 
die gesündesten jungen Leute an vertraut, es sei daher auch die Pflicht 
der Militärbehörden, dafür zu sorgen, daß die jungen Leute wieder ge¬ 
sund dem Volke zurückgegeben werden. Der Referent verlangt eine 
gründliche Entlastung der Mittelschüler, Streichung alles für die Allgemein- 
und Berufsbildung wertlosen Stoffes, dagegen aber die Darbietung der 
Gesundheitslehre auf allen Stufen in einer dem jeweiligen Alter ent¬ 
sprechenden Weise. 

Dr. med. Ungar (Außig) bemerkte, daß schon im 5. Lebensjahre 
sexuelle Ausschweifungen geschehen. Man könne also mit der Prophylaxe 


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428 


Tagesgeschichte. 


nicht früh genug beginnen. Man müsse eben mit der Belehrung beginnen, 
noch ehe sittliche Verfehlungen geschehen seien. Es sei ja bekannt, daß 
90 Proz. aller Männer in der Jugendzeit Selbstbefleckung begehen. 
Einer seiner Universitätslehrer behauptete sogar 100 Proz. Diese Tat¬ 
sache spreche gebieterisch, auf diesem Gebiete Besserung herbeizufahren. 

Dr. med. Juba (Budapest) bezeichnete es als notwendig, daß der 
Schularzt auf die Krankheiten aufmerksam mache und Aufklärungen und 
Warnungen erteile. 

Direktor Emanuel Bayer (Wien) bemerkte: ehemalige Schüler 
haben ihm über rechtzeitige Belehrungen Dank ausgesprochen. 

Mädchenschul-Direktor Schwarz (Mährisch*Ostrau) bezeichnete es 
als eine Hauptaufgabe, die erwachsenen Mädchen aufzuklären und zu 
warnen. 

Lehrerin Frl. Sumper (München) bezeichnete es als notwendig, die 
hygienische Unterweisung im Einverständnis und, wenn möglich, in An¬ 
wesenheit der Mütter an die Mädchen zu erteilen. 

Gymnasialdirektor Dr. Straoh (Prachatitz in Böhmen): Es ist bis 
jetzt noch nicht gesagt worden, in welcher Weise die Belehrung über 
Sexualhygiene geschehen solle. Ich habe meinen Schülern in der ersten 
Klasse vor einiger Zeit gesagt: Ihr befindet Euch in einer Periode der 
Entwicklung, wo es von Eurem Verhalten abhängt, ob Ihr Euch zur 
vollen Manneskraft entwickeln, oder ob Ihr in geistiges und körperliches 
Siechtum verfallen werdet Weun Ihr Eure geistige und körperliche 
Gesundheit und Kraft erhalten wollt, dann müßt Ihr Euch jeden Alkohol¬ 
genusses enthalten, alle frivole Lektüre und dergleichen Bilder meiden. 
Ihr müßt ferner im Bett auf der rechten Seite und nicht auf dem 
Rücken liegen. Wenn Ihr trotzdem üble Folgen habt, dann empfiehlt 
es sich, den Rat eines Arztes einzuholen. Ich habe ferner die Schüler 
auf die schlimmen Folgen aller Ausschweifungen aufmerksam gemacht. 
Ich habe den Schülern ein von Syphilis zerfressenes Gesicht gezeigt, und 
ihnen gesagt, daß die Irrenhäuser in der Hauptsache von Alkoholisten 
und in Venere Erkrankten bevölkert werden. Ich habe dabei die Ge¬ 
sichter der Knaben beobachtet. Nicht einer verzog das Gesicht zum 
frivolen Lächeln, sondern auf allen Gesichtern lagerte ein tiefer Ernst. 
Einige Tage später sagte mir der Stadtarzt, daß einige Schüler ihn um 
Rat befragt hätten. 

Über die Hygiene der Internate referierte Dr. med. Suba, 
Schularzt und Professor der Hygiene in Budapest. Er definierte die 
Internate als solche Anstalten, welche die Erziehung der Eltern ersetzen 
wollen. Dazu gehören auch die Pensionate, Sch ul Werkstätten, Kinder¬ 
heime, Tagesheime usw. Redner betont, daß die Gefahr für Kinder 
gerade in Internaten sehr groß sei, weil sie meist sehr schwächlich seien. 
Anders sei es mit den Internaten, in denen Kinder wohlhabender Eltern 
untergebracht seien, die höhere Lehranstalten besuchen. Hier kämen 
aber sehr in Betracht die sexuellen Gefahren und die Verbreitung der 
ansteckenden Krankheiten. Frey erkläre sich sehr für die Internate, 
weil man das gesellige Zusammenleben und -arbeiten nirgends so erhalten 
könne als in diesen. Gewiß sei, daß das Studium der Internisten be- 


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Tagesgeschichte. 


429 


deutend fruchtbarer sei als das der Externisten. Um die Verbreitung 
sexueller Exzesse zu verhindern, müsse der Arzt die größte Umsicht 
walten lassen und energisch einschreiten. 

Professor Dr. Mayer (Kremsmünster, Ober-Österreich): Es sei als 
Feigheit bezeichnet worden, wenn man es vermeide, die Kinder in der 
Sexualhygiene zu unterweisen. Er sei, obwohl katholischer Geistlicher, 
kein Religions-, sondern Gymnasiallehrer und erteile nur altsprachlichen 
Unterricht. Er sei aber der Meinung, jeder Lehrer sei ein Morallehrer, er 
solle wenigstens ein solcher sein. In erster Reihe falle allerdings diese 
Aufgabe den Religionslehrem aller Konfessionen zu. Diese seien in erster 
Reihe berufen, im Anschluß an den Religionsunterricht, speziell im An¬ 
schluß an die Lehre vom sechsten Gebot, die Schüler in der Sexuallehre 
zu unterweisen. Er habe hauptsächlich das Wort genommen, um dem 
Vorwurf zu begegnen, daß ein „Schwarzer“ in der Abteilungssitzung 
war und zu feig gewesen sei, sich an der Erörterung über Sexualhygiene 
zu beteiligen. 

Professor Dr. Hartmann (Leipzig): In Leipzig haben vor einiger 
Zeit die Direktoren aller höheren Lehranstalten die Primaner und Sekun¬ 
daner zu einer Konferenz eingeladen. Die Schüler waren auch sehr 
zahlreich erschienen. Man sei in Leipziger Ärzte- und Lehrerkreisen der 
Ansicht, daß man schon die Sekundaner in der Sexualhygiene unter¬ 
weisen solle. Ein Arzt habe in der Konferenz über Sexualhygiene vom 
medizinischen Standpunkte gesprochen. Alsdann erzählte ein ehemaliger 
Staatsanwalt aus seiner staatsanwaltlichen Praxis einen Vorgang, wonach 
ein junger Mann infolge sittlicher Verirrungen zum Ehebrecher und 
Mörder geworden sei und im Zuchtbause geendet habe. Beide Vorträge 
machten auf die jungen Leute einen tiefen Eindruck. In einer Großstadt 
sei es dringend geboten, die jungen Leute frühzeitig vor Ausschweifungen 
zu warnen. 

Im weiteren Verlauf der Erörterungen wurde betont, daß Lehrer, 
Arzt und Eltern gemeinsam wirken müssen, um die heran wachsende 
Jugend vor sittlichen Gefahren zu schützen. 

Aus Lehrerkreisen wird ein freilich für sie sehr praktisches Be¬ 
denken geltend gemacht. Wenn wir über das Sexualproblem in der 
Schule reden, sagen sie, so setzen wir uns der Gefahr aus, daß wir von 
der Schulaufsichtsbehörde gemaßregelt werden. Anerkannt wird allgemein, 
daß der Gegenstand wichtig ist. Es wird darum vom Lyceal-Direktor 
Schwarz (Mährisch-Ostrau) bei dem geschäftsfuhrenden Ausschüsse des 
Kongresses angeregt, daß eine dauernde Abordnung zur weiteren 
Prüfung der Aufklärungsfrage eingesetzt werde, die dem 
nächsten Kongresse Leitsätze unterbreiten soll. 

Das große Interesse, welches die vorstehend behandelte Frage auf 
dem ersteh internationalen Kongreß für Schulgesundheitspflege erregte, 
bekundete sich einmal dadurch, daß dieser Gegenstand in den Verhand¬ 
lungen fast aller Sektionen zur Sprache gebracht wurde, und daß in 
der dritten Sektion, als die Frage des Sexualunterrichts zur Beratung 
stand, der Saal derart überfüllt war, daß zahlreiche Kongreßteilnehmer 


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430 


Tagesgeschicbte. 


keinen Einlaß fanden. Aach wurde, wie wir oben schon berichtet haben, 
nachdem die Diskussion schon am 2. Kongreßtage beendigt war, dieselbe 
auf allgemeinen Wunsch noch einmal wieder aufgenommen. Es geht 
hieraus hervor, daß es sich bei der Frage der sexuellen Aufklärung. der 
Jugend um ein äußerst wichtiges, leider bisher zu sehr vernachlässigtes 
pädagogisches Problem handelt, ein Problem, zu dessen Diskussion die 
Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank* 
heiten in erster Linie berufen sein wird. 


Im Anschluß an dieses Referat wollen wir unseren Lesern noch 
über zwei Vorträge berichten, welche sich gleichfalls mit der sexuellen 
Frage in der Schule beschäftigten. 

Kassel, 25. Mai. Der „Landes verein preußischer Volksschul¬ 
lehrerinnen“ nahm nach einem Vortrage über „die Volksschule und 
der Kampf gegen die Unsittlichkeit“ mehrere Thesen an, deren bedeut¬ 
samste lautet: „Der Volksschule fallen folgende Aufgaben zu: 1. Erzie¬ 
hung zur Keuschheit: a) durch die Maßregeln der Schulzucht, durch 
Leibesübungen und Jugendspiele, die auf Stärkung des Willens, Erhöhung 
der Selbstachtung und Pflege des Schamgefühls zu richten sind; b) durch 
religiös-sittliche Beeinflussung im Gesinnungsunterricht; o) durch Aus¬ 
scheidung der Vollbibel und Einführung einer Schulbibel beim evange¬ 
lischen Religionsunterricht; d) durch unbefangene und sachliche, mit 
Beginn des naturkundlichen Unterrichts einsetzende Belehrung über die 
zur Erhaltung der Art erforderlichen Lebens Vorgänge bei Pflanzen und 
Tieren; e) durch Belehrung über die gesundheitlichen und sittlichen 
Gefahren der Unsittlichkeit für das Individuum und die Nation im 
menschenkundlichen Unterricht der Oberstufe, der in der Mädchenschule 
von der Lehrerin zu erteilen ist; f) durch Aufklärung über den Zusammen¬ 
hang von Alkoholgenuß und Unsittlichkeit. 2. Reinigung der Um¬ 
gebung des Kindes von unsittlichen Einflüssen: a) durch 
Hausbesuche der Lehrenden; b) durch strenge Handhabung des Fürsorge- 
erziehungs- und Kinderschutzgesetzes; c) durch Elternzusammenkünfte; 
d) durch planvolle Jugendfürsorge im Erziehungsbeirat und Schulaus¬ 
schuß; e) durch Veredelung der Muße der Schuljugend; f) durch Vor¬ 
gehen gegen unzüchtige Auslagen und Schaustellungen, sowie gegen den 
Vertrieb unsittlicher Bücher und Bilder unter Schulkindern; g) durch 
Vorgehen gegen öffentliche Häuser (Bordelle). 

Über das Geschlechtliche im Unterricht und in der Jugend¬ 
lektüre. Mit diesem Gegenstand beschäftigte sich am 17. Mai der 
„Bezirkslehrerverein München“ in einem Diskussionsabend, der von 
Vereinsmitgliedern wie auch von Gästen sehr zahlreich besucht war. Lehrer 
Benker behandelte zunächst das Thema in einem mehrstündigen Referat 
unter Zugrundelegung der überaus umfangreichen Literatur, die bereits 
zu der hochwichtigen Frage des Sexuellen in der Jugenderziehung 
Stellung genommen hat. Des Vortragenden Standpunkt geht dahin, daß 
im Interesse der Volkssittlichkeit und Volksgesundheit der Schule auch 
die Aufgabe zufällt, die Jugend während des Unterrichts über ge¬ 
schlechtliche Dinge aufzuklären, um so mehr, als die Erziehung in der 


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Tagesgeechichte. 


481 


Familie in diesem Punkte vielfach versagt. Die Aufklärung muß jedoch 
allmählich, stufenweise, fast unmerklich erfolgen. Am leichtesten und 
natürlichsten läßt sich dies während des Unterrichts in der Botanik und 
dann später in dem der Biologie erreichen. In der Fortbildungs¬ 
schule, in einem Lebensalter, bei dem man ohne weiteres annehmen 
kann, daß die Zöglinge über das Wesentliche des geschlechtlichen Lebens 
schon Bescheid wissen, sind dann die Schüler namentlich vor der Ent¬ 
lassung aus der Schule am zweckmäßigsten durch Ärzte in Vorträgen 
über die Gefahren des außerehelichen Geschlechtsverkehrs und der Ge¬ 
schlechtskrankheiten zu belehren. Auf das Geschlechtliche in der Jugend - 
lektüre übergehend, unterzog der Vortragende zunächst die törichte, 
unwahrhaftige Prüderie gewisser Kreise, die schon zur schauderhaftesten 
Verstümmelung unserer schönsten Volkslieder geführt hat, einer scharfen 
und eines gesunden Humors nicht entbehrenden Kritik. Das Erotische 
in der Jugendlektüre schadet der Kinderseele nicht nur nicht, sondern 
lehrt das Kind über das Liebesieben vernünftiger und reiner denken, 
solange das Gebotene, in der Form keusch, das Liebesieben in seinem 
edlen Verlaufe schildert; nur dessen Schattenseiten und Abwege sind 
aus der Jugendlektüre fernzuhalten, und hierüber mit Ernst zu wachen, 
bezeichnet der Redner als Pflicht der Lehrerschaft 

Die sich an den Vortrag anschließende kurze Ansprache lautete 
fast durchweg zustimmend, worauf die an wertvollen Anregungen reiche 
Veranstaltung ihren Abschluß fand. 

Braunschweig. Zu einem Ausführungsgesetz des Reichs¬ 
seuchengesetzes lag im Braunsohweiger Landtage folgender An¬ 
trag Selwig vor: 

„Wer an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit (Syphilis, Tripper 
oder Schanker) leidet, hat sich sofort nach Erkennung seines Krank¬ 
heitszustandes in die Behandlung eines zur Ausübung des ärztlichen 
Berufes befugten Arztes zu begeben; indessen sind die Behörden nicht 
berechtigt, irgend eine Person (ausgenommen solche, welche gewerbs¬ 
mäßig Unzucht treiben) zu dem Zwecke der Feststellung einer angeb¬ 
lich vorhandenen Geschlechtskrankheit in Bezug auf ihren Gesundheits¬ 
zustand untersuchen zu lassen.“ 

Die Kommission gibt Ablehnung des Antrages anheim, da sie glaubt, 
daß die Verfügung doch nicht ausgeführt werden wird. Wer nicht zum 
Arzte gehen wolle, werde es doch nicht tun. Die Kommission empfehle 
den Beschluß der ersten Lesung, der auch die Billigung der Regierung 
gefunden habe. Dieser Beschluß lautet: 

„Bei einer ansteckenden Geschlechtskrankheit, welche auf 
amtlichem Wege zur Kenntnis der Behörde kommt, kann eine 
zwangsweise Behandlung der erkrankten Personen angeordnet 
werden, wenn solches zur wirksamen Verhütung der Aus¬ 
breitung der Krankheit erforderlich erscheint, und zwar ge¬ 
gebenenfalls in einem Öffentlichen Krankenhause.“ 

Der Kommissionsreferent bemerkt dazu, es solle Wert darauf gelegt 
werden, daß nur solche Fälle darunter verstanden werden sollen, in 
denen die Krankheit auf amtlichem Wege zur Kenntnis der Behörde komme. 


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432 


Tagesgescbichte. 


Denunziationen sollen unter allen Umständen vermieden werden. Auch 
muß die tatsächliche Kenntnis von der Krankheit vorliegen, nicht etwa 
bloß der Verdacht einer solchen. Als Geschlechtskrankheiten sind an¬ 
zusehen : Syphilis, Tripper und Schanker. Das Gesetz über die gewerbs¬ 
mäßige Unzucht wird durch diese Bestimmungen gar nicht berührt. 
Abg. Selwig zieht seinen Antrag zurück, da er auf Annahme nicht 
rechnen könne. Er halte aber trotzdem eine solche Bestimmung für 
sehr segensreich. Abg. Reuter fragt an, ob denn der Kreisphysikus 
als beamteter Arzt verpflichtet wäre, Anzeige von einer solchen Krank¬ 
heit zu machen. Abg. Floto meint, es sei ganz ausgeschlossen, daß 
Ärzte solche Anzeigen machen könnten. Geh. Rat Hart wieg gibt zu, 
daß der Ausdruck „auf amtlichem Wege“ Zweifel offen lasse, aber man 
habe sich schon in der Kommission darüber geeinigt, daß nur hei auf 
amtlichem Wege festgestellter Krankheit die Behörde zum Einschreiten 
berechtigt sein soll. Der § 7 wird darauf in der Fassung der 
ersten Lesung angenommen. 

Dresden. Die internationale abolitionistiscbe Föderation 
wird vom 22. — 24. September d. J. einen Kongreß in Dresden ab¬ 
halten: Das provisorische Programm des Kongresses ist folgendes: 
Donnerstag, den 22. Sept.: Die Ausbreitung der abolitionistischen 
Grundsätze in Deutschland. Frau K. Scheven. Berichte der 
Delegierten. Abends: Große öffentliche Propagandaver¬ 
sammlung. 

Freitag, den 28. Sept.: Warum erachtet die Föderation die 
Prostitution nicht als strafbares Vergehen? Berichterstatter: 
Frau Marie Stritt-Dresden, Mr. Henri Minod-Genf. Der Neo- 
Reglementarismus. Berichterstatter: Mr. Auguste de Morsier- 
Genf, Frl. Anna Pappritz, Miß Leppington. 

Sonnabend, den 24. Sept.: Die Rolle der obligatorischen Kranken¬ 
versicherung bei der Prophylaxe der Geschlechtskrank¬ 
heiten. Berichterstatter: P. Kampffmeyer, Mme. Pieczynska. 


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Zeitschrift 

für 

Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Band 2. 1903/4. Nr. Ilu.l2 # 


Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des 
Arztes bei Geschlechtskrankheiten. 

Referate, erstattet im Zweigverein Schlesien der Gesellschaft zur 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 

Referenten: Dr. med. Chotzen und Oberlandes-Gerichtsrat Simonson. 

1. Herr Dr. Chotzen: 

Das Arbeitsprogramm, welches der Vorstand der Gesellschaft 
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten bei seiner Konstituie¬ 
rung und auch späterhin mehrfach veröffentlicht hat, weist eine 
Fülle von Maßnahmen auf, durch welche er nach den verschieden¬ 
sten Richtungen hin sein Ziel zu erreichen bestrebt sein will. So 
vielfach auch die Mittel sein mögen, welche er ins Auge gefaßt 
hat, das wirksamste von allen wird doch immerhin die Auf¬ 
klärung über das Wesen und die Gefahren der Geschlechts¬ 
krankheiten bilden. 

Im Gegensätze zu dieser Aufklärungstätigkeit einer freiwillig 
gebildeten Bekämpfungsgesellschaft kann die Aufgabe des Staates 
bei der Einschränkung der Geschlechtskrankheiten nur darin be¬ 
stehen, ebenso wie bei allen übrigen gemeingefährlichen, übertrag¬ 
baren Krankheiten, durch Gesetzbestimmungen, welche die An¬ 
zeigepflicht auferlegen, die Aufdeckung der Krankheitsquellen 
zu ermöglichen. Nur auf Grund der Anzeigepflicht kann, falls 
es die persönlichen Verhältnisse der erkrankten Person 
notwendig erscheinen lassen sollten, eine Isolierung oder 
zwangsweise sachgemäße Behandlung durchgeführt werden. 

Die gesetzgebenden Faktoren werden aber auf das Sorgfältigste 
prüfen müssen, ob die Anzeigepflicht gerade bei Geschlechtskrank¬ 
heiten, welche im Gegensätze zu allen übrigen übertragbaren Krank¬ 
heiten — abgesehen von seltenen Fällen — fast immer im Bewußt¬ 
sein der Erkrankungsmöglichkeit erworben und aus Schamgefühl 

Zeitochr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 32 


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434 


Chotzen-Simonson. 


möglichst verheimlicht werden, allgemein, d. h. allen Bürgern gegen¬ 
über, durchführbar ist, oder ob sie nicht vielmehr einen derartigen 
Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Staatsbürgers darstellt, 
daß dieser sich über ein solches Gesetz hinwegsetzen und es gar 
nicht erst zur Durchführung kommen lassen würde. 

Kommt man zu diesem Schlüsse, dann wäre ein solches Ge¬ 
setz nur eine unnütze Belästigung des Staatsbürgers und es ent¬ 
spräche dem Ansehen deB Gesetzes mehr, von seiner Aufstellung 
abzusehen. 


I. 

In Preußen besteht nach dem zur Zeit gültigen Gesetze, 
dem Regulative von 1835, eine derartige — allerdings nicht un¬ 
bedingte, sondern nur für gewisse Fälle gültige — Anzeigepflicht 
bei Geschlechtskrankheiten, und selbst in der letzten Zeit (1898) 
haben in Preußen die Minister für Medizinal-Angelegenheiten, 
Justiz und Kriegswesen es für notwendig erachtet, die Bestimmungen 
jenes Regulativs von 1835 der Ärzteschaft zur strengeren Be¬ 
achtung von neuem in Erinnerung zu bringen. Der Minister des 
Innern hat sogar von den ihm unterstellten Polizeipräsidenten 
verlangt, daß diese Erinnerung mit Hilfe der ärztlichen Presse in 
gewissen kürzeren Zwischenräumen stets wieder aufgefrischt wird. 

Die Bestimmungen des Regulativs von 1835, welches durch 
seine Aufnahme in die Gesetzsammlung unangreifbare, rechtsgültige 
Gesetzeskraft erlangt hat, bestimmt: 

1. Eine bedingungsweise Meldung derZivilpersonen(§ 65), 
wenn nach Ermessen des Arztes von der Verschweigung 
der Krankheit nachteilige Folgen zu befürchten sind: 

a) für den Kranken selbst, 

z. B. wenn eine Kellnerin, wiewohl sie ihrem Dienstherm 
mitteilt, daß sie krank wäre, zur weiteren Tätigkeit 
zwangsweise angehalten wird und nicht die Dienst¬ 
entlassung erlangen kann, um sich in ein Kranken¬ 
haus zu begeben; 

oder wenn ein Wanderbursche die Aufnahme in ein 
Krankenhaus nicht erreichen kann, weil sich niemand 
für die Tragung der Kosten seiner Krankenhaus¬ 
behandlung bereit erklärt 

b) für das Gemeinwesen, d. h. für jede zweite und 
weitere Person neben der ursprünglich infizierten, 


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Meldepflicht und Verschwiegenheit-Verpflichtung des Arztes usw. 435 

wenn z. B. in einem Dorfe, eingeschleppt durch ein 
Individuum, eine Geschlechtskrankheit unter den weib¬ 
lichen Insassen und von diesen aus auf die weiteren 
männlichen Bewohner sich fortpflanzt 

Für derartige, wenn auch immerhin nur seltene 
Fälle, erweist sich die bedingungsweise, dem Ermessen 
des Arztes anheim gegebene Meldepflicht als eine 
segensreiche Einrichtung. 

2. Die unbedingte Meldung der unteren Militärpersonen 
(§ 65, Abs. 3). 

Diese Meldung ist, da sie als eine — im Sinne des Ge¬ 
setzes — „befugte“ anzusehen ist, auch gesetzmäßig zulässig. 

(Vgl. meinen Vortrag: Die Meldepflicht bei Geschlechts¬ 
krankheiten. Deutsche mediz. Wochenschr. 1899. Nr. 23 u. 24.) 

3. Versuche zur Ermittelung der Krankheitsquellen (§69), 

allerdings nur bei „lüderlichen und unvermögenden Per¬ 
sonen“. 

4. Eine namenlose Statistik (§ 65, Abs. 2) seitens der Medi¬ 
zinalpersonen und Krankenanstalten-Vorstände, welche den 
Behörden in vierteljährlichen Berichten überreicht werden 
sollen. 

Diese Bestimmungen des Regulativs von 1835 werden nun¬ 
mehr aber wohl die längste Zeit in Preußen zu Recht bestanden 
haben, da das Haus der Abgeordneten bereits zum zweiten Male 
den Entwurf eines Gesetzes für ein Ausführungsgesetz zum Reichs- 
Seuchengesetz von 1900 erhalten hat, und auch dieser zweite Ent¬ 
wurf nach der ersten Beratung im Plenum bereits einer Kommission 
des Abgeordnetenhauses zur weiteren Durcharbeitung übergeben 
worden ist. Es ist zu erwarten, daß dieser Entwurf, zumal der 
Minister für Medizinal-Angelegenheiten auf dessen baldige Ver¬ 
abschiedung großen Wert legt, in allernächster Zeit zur endgültigen 
Beschlußfassung an das Abgeordnetenhaus zurückgelangen wird. 

Der erste Entwurf jenes Ausführungsgesetzes, welcher am 
16. Februar 1903 dem Abgeordnetenhause zuging, hat vorgesehen: 

1. Die Meldepflicht von Tripper, Syphilis und Schanker 
nur bei jenen Personen, welche gewerbsmäßig Un¬ 
zucht treiben. 

Bereits in der ersten Lesung machte der Abgeordnete 
Dr. Martens darauf aufmerksam, daß diese Bestimmung nicht 
durchführbar sei, weil der Arzt, in dessen Behandlung sich 

32* 


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436 


Chotzen-Simonson. 


eine geschlechtskranke weibliche Person begebe, nicht in der 
Lage sei, festzustellen, ob diese gewerbsmäßig Unzucht treibe. 

Die gleiche Erwägung veranläßte auch den Vorstand der 
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬ 
heiten am 23. Februar 1903 dem Abgeordnetenhause eine 
Eingabe zu überreichen, es möge diese Meldepflicht der ge¬ 
werbsmäßigen Prostituierten nur den Polizeiärzten auferlegt 
werden. Diese Eingabe war aber gegenstandslos, weil bereits 
die Dienstvorschrift der Polizeiärzte die Meldepflicht der 
geschlechtskranken gewerbsmäßigen Prostituierten vorschreibt, 
mithin in einen neu zu erlassenden Gesetze nicht erst zum 
Ausdrucke gebracht zu werden braucht 

2. Die Meldepflicht bei subalternen Soldaten (§ 2, Abs. 3 
des Entwurfes). 

Diese Bestimmung findet ihre Begründung auf S. 34 des 
Entwurfes mit den Worten „Die Aufrechterhaltung dieser 
Bestimmung (sc. des Regulativs) erscheint wünschenswert“. 

In der zweiten Kommissionslesung des ersten Entwurfes 
wurde diese Meldepflicht der subalternen Soldaten gestrichen. 

3. Schutzmaßregeln bei gewerbsmäßig Unzucht Trei¬ 
benden (3. Abschnitt des Entwurfes § 8, Nr. 9 und § 9): 

a) Beobachtung, d. h. Untersuchung (§ 12 des Reichs-Seuchen¬ 
gesetzes); 

b) Absonderung eventuell Krankenhausunterbringung (§14 
des Reichs-Seuchengesetzes); 

c) Zwangsweise Behandlung (§ 9 des Entwurfes). 

Hier ist jedoch hervorzuheben, daß die zwangsweise 
Behandlung dem Arzte noch nicht das Recht gibt, 
zwangsweise eine Operation auszuftthren (vgl. Reichs¬ 
gerichts-Entscheidung in Strafs. Bd. 25. S. 375). 

Dieser erste Entwurf vom 16. Februar 1903 ist nicht zur 
Verabschiedung gelangt. 

Am 29. Januar 1904 wurde dem Abgeordnetenhause ein neuer 
Entwurf vorgelegt, welcher die gegen den ersten Entwurf bereits 
erhobenen Einwendungen sich nutzbar gemacht hat. 

Der zweite, neuere, augenblicklich der Beratung durch das 
Abgeordnetenhaus unterliegende Entwurf vom 29. Januar 1904 
hat die Meldepflicht bei PersoneD, welche gewerbsmäßig Unzucht 
treiben, aufgehoben, hat aber die Meldepflicht der geschlechtskranken 
subalternen Soldaten, welche in der zweiten Kommissionslesung des 


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Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 487 


ersten Entwurfes gestrichen war, wieder hergestellt und zwar mit 
der Begründung (S. 85), sie erscheine im Interesse der Disziplin 
und der möglichst schnellen und sicheren Heilung der erkrankten 
Mannschaften wünschenswert. 

Diese Meldepflicht der subalternen Soldaten bedarf 
meinem Ermessen nach einiger, allerdings nur unwesentlicher Ab¬ 
änderungen. 

Als 1898 ein ministerieller Erlaß die erneute Beachtung der 
Bestimmungen in § 65 Abs. 1 und 3 des Regulativs von 1835 ver¬ 
langte, wurde von den Ministem erklärt, daß unter der Bezeichnung 
„syphilitische Krankheiten“ des Regulativs nicht nur die constitu¬ 
tioneile Syphilis, sondern auch Tripper und weicher Schanker 
nebst Folgezuständen zu verstehen seien. Auf ein damals von 
mir im Vereine der Breslauer Ärzte erstattetes Referat veranlaßte 
dieser Verein die Ärztekammer der Provinz Schlesien an den 
Minister für Medizinal-Angelegenheiten das Ersuchen zu richten, 
es solle der Zusatz „nebst Folgezuständen“ abgeändert werden in 
„nebst ansteckungsfähigen Folgezuständen“ (vgl. a. a. 0.), 
da der Zweck des Erlasses nur darin bestehe, ansteckungsfähige 
Kranke unschädlich zu machen. 

Tatsächlich ist auch am 30. August 1899 von seiten des 
Ministers eine Ergänzung des Erlasses dahin ergangen, daß nur 
ansteckungsfähige Folgezustände der syphilitischen Krankheiten der 
Anzeigepflicht unterworfen seien. 

Diese Ergänzung des Erlasses ist als eine Verbesserung an¬ 
zusehen. Es ist demnach zu erstreben, daß auch in dem neuen, 
jetzt zur Beratung stehenden Entwürfe die 1899 bereits zum Aus¬ 
druck gelangte Verbesserung der ministeriellen Auffassung Gesetz¬ 
bestimmung werde und die Bestimmung des Entwurfes, es seien 
in jedem Falle die genannten Krankheiten zu melden, dahin ab¬ 
geändert werde, daß nur ansteckungsfähige Erscheinungen 
jener Krankheiten meldepflichtig sein sollen. 

Ferner wäre meinem Ermessen nach jene Bestimmung des 
Entwurfes abzuändern, wonach die unter 1 und 3 des § 1 be¬ 
zeichnten Personen die Meldung auszuüben hätten, wenn sie zur 
Behandlung von Geschlechtskrankheiten zugezogen werden. 

Das Regulativ von 1835 spricht nur davon, daß syphilitisch 
kranke Soldaten von den sie etwa behandelnden Zivilärzten an¬ 
gezeigt werden müßten* 


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488 


Chotzen-Simonson. 


Es gibt Ärzte, welche jede Behandlung von geschlechtskranken 
subalternen Soldaten des aktiven Heeres ablehnen, um der Ver¬ 
pflichtung zu entgehen nach Feststellung der Geschlechtskrankheit 
und Einleitung der Behandlung den Soldaten melden zu müssen, 
während der Kranke nichts ahnend von jener Meldepflichtbestim¬ 
mung sich dem Arzte nur im Glauben an die Verschwiegenheits- 
Verpflichtung des Arztes anvertraut hat Nach dem Wortlaute 
des vorliegenden Entwurfes wäre auch ein solcher die Behandlung 
ablehnender Arzt ein „zur Behandlung zugezogener“ Arzt und 
schon in dem Augenblicke zur Meldung verpflichtet, wo er von 
der Geschlechtskrankheit des ihn um Rat bittenden Soldaten 
erfährt. 

Es liegt nicht im Sinne des vorliegenden Gesetzentwurfes 
einen Arzt, welcher aus ethischen Bedenken» aus dem Bestreben, 
einen Konflikt der Arztptiicht und Patientenauffassung zu ver¬ 
meiden, die Behandlung ablehnt, zur Meldung zu zwingen. 

Es empfiehlt sich daher statt der Worte „zur Behandlung zu¬ 
gezogene“ „behandelnde Ärzte“ zu setzen. 

Einige Monate nach Erstattung dieses Referates, im Juni a. er., 
richtete der Vorstand der D.G.B.G. an das preußische Abgeordneten¬ 
haus die Bitte, den § 2, Abs. 3 des Entwurfes zu streichen, 
also die Meldepflicht betreff der Geschlechtskrankheiten subalterner 
Soldaten wieder aufzuheben. 

Zur Begründung führte der Vorstand an: 

„So wünschenswert im Einzelfalle für die Militärbehörde 
die Kenntnisnahme von einem Falle venerischer Erkrankung 
auch sein mag, so wird doch dieser Vorteil reichlich aufge¬ 
wogen dadurch, daß das so überaus wichtige Prinzip der ärzt¬ 
lichen Diskretion hier durchbrochen wird. Diese Diskretion, 
welche sogar den gewerbsmäßigen Prostituierten gegenüber 
gewahrt werden soll, ausschließlich gegenüber den Soldaten 
niederer Chargen fallen zu lassen, liegt um so weniger Anlaß 
vor, als ja durch Inanspruchnahme des Zivilarztes die Kranken 
die Absicht bekunden, sich überhaupt behandeln zu lassen, 
andererseits gerade aus bestimmten Gründen den Zivilarzt 
aufsuchen, auf dessen Verschwiegenheit sie bauen.“ 

Meiner Auffassung nach hat diese Bitte keine Aussicht, erfüllt 
zu werden. Die Durchbrechung des Prinzipes der ärztlichen Dis¬ 
kretion wird dem Kriegsminister, wenn er zu dieser Bitte sich 
äußern soll, sicherlich gleichgültig sein; für ihn ist allein der Ge- 


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Meldepflicht und Vergehwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 439 

sichtspimkt maßgebend, ob die Meldung geschlechtskranker Soldaten 
im dienstlichen Interesse geboten ist Das ist zweifellos zu be¬ 
jahen. In meinem oben angeführten Vortrage über die Meldepflicht 
äußerte ich mich diesbezüglich wie folgt: 

„Die Berechtigung des Staates, für Soldaten strengere Be¬ 
stimmungen behufs Unterdrückung derOeschlechtskrankheiten 
zu treffen als für Zivilpersonen, ist von vornherein ohne weiteres 
zuzugeben. Die Militärbehörde sorgt für den Soldaten in aus¬ 
giebigster Weise: sie gewährt ihm Wohnung, Bekleidung, 
Beköstigung, tritt im Krankheitsfalle für die kostenfreie 
Wiederherstellung seiner Gesundheit ein, kurz, die Fürsorge 
des Staates gerade den Soldaten gegenüber weicht von der 
seinen sonstigen Beamten und Bürgern gegenüber so sehr 
ab, daß die Soldatenklasse außer jedem Vergleiche mit jeder 
anderen Bevölkerungsklasse steht. Außer diesem allgemeinen 
Gesichtspunkte spricht auch die spezielle Berücksichtigung 
des dichten Beieinanderlebens und der dadurch bedingten 
leichten Übertragbarkeit der Geschlechtskrankheiten dafür, 
daß die Militärverwaltung ein Interesse daran haben muß, 
den geschlechtskranken Soldaten nicht nur überhaupt in 
ärztlicher Behandlung, sondern speziell in ihrer Behandlung 
zu wissen, weil diese allein die Verhütung der Ausbreitung 
auf andere Soldaten verbürgt Der Gesetzgeber tut also im 
Interesse des Gemeinwohles Recht daran, die Meldung ge¬ 
schlechtskranker Soldaten bedingungslos zu verlangen.“ 
Wenn der Kriegsminister mit der Streichung der Meldepflicht 
durch die Kommission des Abgeordnetenhauses bei der zweiten 
Lesung des ersten Entwurfes sich nicht einverstanden erklärt, und 
die Wiederaufnahme dieser Bestimmung in den zweiten Entwurf 
durchgesetzt hat, wird er jetzt in eine abermalige Streichung 
gewiß nicht einwilligen. 

Ein Vergleich der Bestimmungen des Regulativs von 1835, 
welche auf die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Bezug 
haben, mit denen des neuen, zweiten Entwurfes zum Ausführungs¬ 
gesetze für das Reichs-Seuchengesetz zeigt demnach, daß 

1. vollständig fallen gelassen ist die im Regulativ noch 
vorgesehene Statistik. 

Die Wiederaufnahme einer ständigen Statistik, welche trotz 
der Bestimmungen des Regulativs wohl kaum jemals allseitig 


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Cbotzen-Simonson. 


gleichmäßig und zuverlässig durchgefiihrt, wohl auch von 
den Behörden, denen sie einzureichen war, nicht immer nach¬ 
drücklich abverlangt wurde, erscheint überflüssig. Es dürfte 
auch keinen besonderen Zweck haben eine solche Statistik¬ 
führung als Dauereinrichtung gesetzlich festzulegen und den 
Ärzten die damit verbundene Mühe dauernd aufzubürden. 
Was die preußische ministerielle Enquete vom 30. April 1901 
bezweckte — eine Feststellung sämtlicher am genannten 
Tage in ärztlicher Behandlung befindlicher Personen zustande 
zu bringen — ist erreicht worden; auch was Blaschko er¬ 
strebte, als er sich in gar nicht genug anzuerkennender Weise 
der außerordentlich großen Mühe unterzog, allein durch eigene 
Arbeit, aus dem großen Berliner Krankenkassenmaterial ein 
Bild von der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten zu geben, 
ist erreicht worden. Die Ärzteschaft zwar wußte es schon 
seit langen Jahren und hat an geeigneter Stelle immer wieder 
von neuem betont, daß die Zunahme der Geschlechtskrank¬ 
heiten eine ganz bedeutende Gefahr für den Gesundheits¬ 
zustand der Gesamtbevölkerung des Landes und die kommenden 
Generationen bedeute, nunmehr ist es aber durch diese Statistik 
auch dem Publikum sowie den Staatsbehörden durch un¬ 
angreifbare Zahlen zum Bewußtsein gebracht worden und 
beide Teile sind hierdurch nachdrücklichst gewarnt. Wenn 
als Produkt jener Warnung die gesetzgebenden Körperschaften 
jetzt die Gelegenheit erhalten in einem neuen Gesetze vor¬ 
beugende Maßnahmen zu treffen, so wird hiermit die Mög¬ 
lichkeit, auf diesem Gebiete gesetzgeberisch zu wirken, auf 
lange Zeit hinaus erschöpft sein. Abänderungen an den jetzt 
zu erwartenden Bestimmungen werden vor Ablauf einer 
größeren Anzahl von Jahren, während deren Verlauf die 
Zweckmäßigkeit oder Lückenhaftigkeit des Gesetzes zu er¬ 
proben ist, nicht zu erwarten sein. Um für einen ferneren 
Zeitpunkt Abänderungsmaterial zu beschaffen, ist es nicht 
notwendig, die ganze Zeit hindurch, jahraus, jahrein, die ge¬ 
samte Ärzteschaft statistische Aufzeichnungen machen zu 
lassen. Es wird genügen, wenn nach Art der Volkszählungen 
in fünljährigen Zwischenräumen an einem bestimmten Tage 
wieder einmal statistische Momentaufnahmen angefertigt 
werden. 

2. Vollständig fallen gelassen ist der im Regulativ noch 


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Meldepflicht and Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 441 

vorgesehene „Versuch, die Quellen der Geschlechts¬ 
krankheiten zu ermitteln“. 

Diese Ermittlungsversuche seitens der Ärzte und Behörden 
sind meistens wertlos oder erfolglos geblieben. 

Der 2. Entwurf des Ausführungsgesetzes sagt auf S. 86 
mit Recht, daß es bei der Frage der Ermittelung der Krank¬ 
heitsursachen geboten sei, alle diejenigen Krankheiten zu 
treffen, bei deren Charakter die Feststellung der ersten Fälle 
durch den beamteten Arzt unerläßlich ist. 

Bei Typhus, Diphtherie und ähnlichen Krankheiten hat 
allerdings die Ermittelung des ersten Falles, welcher in einem 
Gemeinwesen auftritt, eine große Bedeutung, weil es sich 
nur um zeitweise auftretende Infektionskrankheiten handelt 
Bei der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten aber, welche 
das ganze Jahr hindurch in jedem größeren Orte zu finden sind, 
hat die Nachforschung nach der Krankheitsquelle nur geringen 
Wert und naturgemäß auch nur geringe Aussicht auf Erfolg. 

Nach meinen persönlichen Erfahrungen bin ich davon ab¬ 
gekommen, bei der Ermittelung der Quelle einer Geschlechts¬ 
krankheit, welche selbst durch den Verkehr mit einer polizei¬ 
lich eingeschriebenen öffentlichen Prostituierten zustande ge¬ 
kommen zu sein schien, mitzuhelfen, wiewohl gerade diese 
Quellen aufzudecken und durch zwangsweise Krankenhaus¬ 
behandlung unschädlich zu machen, am ehesten möglich und 
erforderlich ist. Eine Zeitlang habe ich der Polizeibehörde 
von der Angabe eines Patienten, er habe bei einer durch 
Namen oder Wohnung bestimmt bezeichneten öffentlichen 
Prostituierten seine Geschlechtskrankheit erworben, nach Er¬ 
langung der Erlaubnis des Patienten und ohne Nennung 
seines Namens Mitteilung gemacht. Aber einmal der Um¬ 
stand, daß diese Angaben der Patienten oft unzuverlässige 
waren, weil sie verschiedene, zeitlich als möglich in Betracht 
kommende Quellen nicht scharf auseinander zu halten ver¬ 
mochten, andrerseits der Umstand, daß zwischen der Angabe 
des Patienten und der polizeiärztlichen Untersuchung der 
beschuldigten Person oft eine längere Zeit verging, so daß 
Krankheitserscheinungen — weil bereits anderweitig vor der 
polizeiärztlichen Untersuchung behandelt — nicht mehr mit 
Sicherheit festzustellen waren, ließen mich von der Fortsetzung 
. dieser Quellenermittlungsversuche Abstand nehmen. 


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Chotzen-Simonson. 


3. Erhalten geblieben ist die Bestimmung des Regu¬ 
lativs betreffs der Meldung geschlechtskranker sub¬ 
alterner Soldaten. 

Der Entwurf enthält sogar eine wertvolle Verbesserung 
des Regulativs, indem § 2 Nr. 3 auch nichtärztlichen Personen, 
also auch Kurpfuschern, die Meldepflicht auferlegt. 

Der Abgeordnete Langerhans hat zwar in der 1. Lesung 
des 1. Entwurfes vom 16. Februar 1903 geltend gemacht, 
Kurpfuscher könnten keine Anzeige machen, weil sie nach 
Ansicht der Ärzte nicht die Krankheit kennen, sondern nur 
nach Symptomen behandeln. Für die Meldung geschlechts¬ 
kranker Soldaten ist dieses Bedenken aber belanglos, da für 
die Militärbehörde die Stellung der Diagnose vollkommen 
gleichgültig bleibt und ihr nur daran gelegen ist zu erfahren, 
welcher Soldat einer, sei es auch nur eingebildeten, Geschlechts¬ 
krankheit halber einen Kurpfuscher aufgesucht hat, damit sie 
diesen Soldaten von ihren Truppenärzten untersuchen und 
nötigenfalls in Lazarettbehandlung nehmen kann. 

Von der Ausdehnung der Meldepflicht auf nichtärzliche 
Personen ist eine wesentliche Einschränkung der Kurpfuscherei 
zu erwarten. Geschlechtskranke Soldaten suchen einen Kur¬ 
pfuscher mit Vorliebe auf, weil ihnen sehr gut bekannt ist, 
daß sie von diesem Mitwisser ihrer sorgsam verschwiegenen 
Krankheit, welchem Bestrafung wegen Meldungsunterlassung 
nicht droht, eine Anzeige bei ihrem Truppenkörper nicht zu 
befürchten haben. Wenn die Staatsbehörde nunmehr endlich 
einmal gegen die Kurpfuscherei wirklich energisch Vorgehen 
will — die in letzter Zeit bekundeten Maßnahmen sprechen 
dafür — so wird sie. an dieser von ihr vorgeschlagenen Be¬ 
stimmung des § 2 Nr. 3 des Entwurfes mit allem Nachdruck 
festhalten müssen, zumal es an Versuchen, die Meldepflicht 
nichtärztlicher Personen anstatt auszudehnen wieder einzu¬ 
schränken, nicht fehlt. 

4. Fallen gelassen ist die im Regulativ vorgesehene 
bedingungsweise Meldung geschlechtskranker Zivil¬ 
personen — mit Ausnahme von Prostituierten. 

In dem 1. Entwürfe zum Ausführungsgesetze wird die Be¬ 
gründung des Fortfallens der bedingungsweisen Meldung (S. 33) 
mit folgenden Worten gegeben: 


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Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 443 

„Eine Einschränkung schlägt der Entwurf auch bei Sy¬ 
philis, Tripper und Schanker vor. Bei den Geschlechtskrank¬ 
heiten findet die Übertragung nicht, wie bei der Tuberkulose, 
durch die frei in die Außenwelt beförderten Krankheitserreger, 
sondern ausschließlich durch unmittelbare Berührung mit 
dem Erkrankten oder mit gewissen Gebrauchsgegenständen, 
am häufigsten durch den außerehelichen Geschlechtsverkehr 
statt. Es kann daher bei diesen Krankheiten die Anzeige- 
pflicht unbedenklich auf solche Personen beschränkt werden, 
welche den außerehelichen Geschlechtsverkehr zum Gewerbe 
machen.“ 

Im 2. Entwürfe wird auf S. 21 zur Begründung angeführt: 

„Der überwiegend größte Teil der Übertragung von Ge¬ 
schlechtskrankheiten geschieht durch die Prostitution“. 

Gegen beide Ausführungen ist Einspruch zu erheben. Aller¬ 
dings finden die häufigsten Übertragungen von Geschlechts¬ 
krankheiten durch den außerehelichen Geschlechts¬ 
verkehr statt; es entspricht aber durchaus nicht den 
tatsächlichen Verhältnissen, daß der überwiegend größte Teil 
der Übertragungen durch die Prostitution geschieht. 
Die polizeilich eingeschriebenen und polizeiärztlich unter¬ 
suchten Prostituierten bilden nach dem übereinstimmenden 
Urteile aller, welche die einschlägigen Verhältnisse kennen, 
schon da diese selbst in den größten Städten nur einen ganz 
verschwindend kleinen Teil jener den außerehelichen Verkehr 
gestattenden weiblichen Personen ausmachen, nur in verhält¬ 
nismäßig geringer Anzahl die Quelle von Infektionen. Nicht 
die öffentliche, sondern die geheime Prostitution ist die 
Ursache für die große Verbreitung der Geschlechtskrankheiten. 
Nur der Umstand, daß der geheimen Prostitution durch 
Polizeimaßregeln gar nicht beizukommen ist, von den öffent¬ 
lichen Prostituierten aber, wenn auch nicht alle, so doch 
wenigstens ein Teil der kranken Individuen für die Allgemein¬ 
heit unschädlich gemacht werden kann, rechtfertigt das Fest¬ 
halten an besonderen Bestimmungen gegenüber den öffent¬ 
lichen Prostituierten; man darf sich aber nicht vorstellen, 
daß die Meldepflicht „unbedenklich“, wie der Entwurf 
sagt, auf die öffentlichen Prostituierten zu beschränken sei. 
Der zweite Entwurf des Ausführungsgesetzes enthält auf S. 21 
des weiteren die Begründung: „Der vorliegende Gesetzentwurf 


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Chotzen-Simonson. 


nimmt den Standpunkt ein, daß er zwar alle Geschlechts¬ 
krankheiten aber nicht alle an solchen erkrankten Per¬ 
sonen in den Bereich seiner Regelung gezogen, und erachtet es 
für ausreichend, wenn die Polizeibehörden gegenüber denjenigen 
Personen, welche gewerbsmäßig die Unzucht betreiben, eine 
wirksame Handhabe zum Einschreiten erhalten.“ 

Das ist zwar eine sehr vollklingende Antithese, aber sehr 
überzeugend wirkt sie nicht; als „ausreichend“ für die Ein¬ 
schränkung der Geschlechtskrankheiten — und das meint wohl 
der Entwurf — ist die Handhabe gegen die gewerbsmäßige Pro¬ 
stitution nicht anzusehen, höchstens als die einzige, mit Leichtig¬ 
keit und mit Aussicht auf einen gewissen Erfolgen durchführbare 
Maßnahme. 

Die Begründung des 1. sowie des 2. Entwurfes zum Aus¬ 
führungsgesetz läßt die Gesichtspunkte vermissen, von welchen das 
Regulativ von 1835 ausging, und welche auch heute noch, nach 
annähernd 70 Jahren, ein rühmliches Zeugnis von dem weitaus¬ 
schauenden Blick des damaligen Referenten sind: nämlich ob eine 
Meldung im Interesse des Kranken selbst oder des Gemein¬ 
wesens geboten erscheint. 

Der Kranke selbst kann und wird, abgesehen von sehr seltenen 
Ausnahmefällen, für sich selbst sorgen. Er wird es um so mehr, 
je weiter, nachdrücklicher und häufiger die Aufklärung über die 
Gefahren, welche aus der Vernachlässigung dieser Krankheiten er¬ 
wachsen, in immer größeren Kreisen der Bevölkerung ver¬ 
breitet wird. 

Das Gemeinwesen bedarf ebenso wie schon vom Jahre 1835 
bis heute auch von jetzt ab noch eines gesetzlichen Schutzes gegen 
leichtfertige, ungehorsame Kranke, welche die ihnen vom Arzte 
strengstens angeratenen Vorsichts- und Schutzmaßregeln betreffs 
der Verhütung einer Verbreitung ihrer Krankheit nicht achten und 
somit gemeingefährlich werden: Syphilitiker mit ansteckenden 
Munderscheinungen, z. B. welche die Mitbenutzung von Eß- und 
Trinkgeräten durch die Personen ihrer Umgebung absichtlich 
nicht verhüten, nur um sich mit ihrer Krankheit nicht bloßzu¬ 
stellen; gewissenlose Ehemänner, welche, wiewohl ihnen bekannt 
ist, daß sie an einer übertragbaren Geschlechtskrankheit leiden, 
dennoch denVerkehr mit ihrer Ehegattin erzwingen, müssen mit Hilfe 
des Gesetzes von ihrem gemeingefährlichen Treiben rücksichtslos 
abgehalten und zwangsweise im Krankenhause untergebracht werden. 


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Meldepflicht und Verschwiegenheit»-Verpflichtung des Arztes usw. 445 


Daher sind die Schutzmaßregeln, welche im 3. Abschnitte des 
Entwurfes in § 8 Nr. 9 gegenüber den Prostituierten vorgesehen 
sind, nicht nur diesen gegenüber, sondern allgemein erforderlich, 
zum mindesten ist auf die durch § 14 Abs. 2 des Reichs- 
Seuchengesetzes gegebene Möglichkeit der Absonderung 
auch für die Allgemeinheit nicht zu verzichten. Werden 
sie von dem neuen Gesetze nicht geschaffen, so bleibt die Allgemein¬ 
heit solchen oben angeführten — wenn auch seltenen — Fällen 
gegenüber schutzlos, so bleibt eine Lücke im Gesetze bestehen, welche 
weder das ärztliche Denken entschuldigen, noch das Volksbewußt¬ 
sein wird verstehen können. Die gesetzgebenden Faktoren müssen 
darauf achten, daß das von ihnen zu erlassende Gesetz die All¬ 
gemeinheit ausgiebigste auch für die seltensten Komplikationen des 
Alltagslebens schützt 

Die Anwendung der Schutzmaßregel des § 12 des Reichs- 
Seuchengesetzes, welcher von der Beobachtung d. h. Untersuchung 
bei Infektionskrankheiten handelt und dem Entwürfe zum Aus- 
f&hrungsgesetze nach nur Prostituierten gegenüber Anwendung 
finden soll, gestattet eine Beschränkung in der Wahl des Aufent¬ 
haltes nur bei einer bestimmten Kategorie von Menschen, nur bei 
Obdachlosen und Umherziehenden, also nur bei Personen, welche 
durch ihre eigenartigen Lebensverhältnisse der Allgemeinheit ganz 
besonders gefährlich werden können. Gerade der Umstand, daß 
dieser § 12 des Reichs-Seuchengesetzes nur eine eng umgrenzte Klasse 
von Menschen treffen kann, und daß andererseits nach § 14 des Reichs- 
Seuchen-Gesetzes die Absonderung von Kranken in einem Kranken¬ 
hause nur unter Zustimmung eines beamteten Arztes für zulässig 
erachtet werden kann, sind eine hinreichende Gewähr dafür, daß 
diese Schutzmaßregel etwa jemals mißbräuchlich eine die Ge¬ 
schlechtskranken im allgemeinen allzuhart treffende und überflüssig 
belästigende Maßregel wird. Die Absonderung im Krankenhause 
wird immer nur eine im alleräußersten Notfälle anwendungsmög¬ 
liches Schutzmittel bleiben und schon durch ihr Vorhandensein und 
durch die Androhung seitens des Arztes, sie eventuell in Wirk¬ 
samkeit treten zu lassen, sich von Nutzen erweisen. 

Es ist zu erstreben, daß das Abgeordnetenhaus in § 8 
Nr. 9 die Worte „bei Personen, welche gewerbsmäßig Unzucht 
treiben“ fallen läßt, mindestens in bezug auf die Anwend¬ 
barkeit des hier erwähnten § 14 3 des Reichs-Seuchengesetzes. 

Gegen ein eventuelles epidemisches Auftreten einer Ge- 


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Chotzen-Simonson. 


schlechtskrankheit, wie z. B. eine oben erwähnte Dorfepidemie, 
ist bereits durch § 5 des Entwurfes eine Schutzmaßregel gegeben, 
da dieser „eine vorübergehende Ausdehnung der ,Anzeigepflicht für 
einzelne Teile der Monarchie“ vorsieht 

Der erste Entwurf zum Ausführungsgesetz hebt S. 19 hervor, 
daß dem Arzte, mit der seinem Ermessen anheimgestellten Anzeige¬ 
pflicht der Syphilis nach dem Regulativ von 1835, eine verant¬ 
wortungsvolle Entscheidung aufgebürdet sei. 

Die Verantwortung eines Arztes, welcher einen übertragungs¬ 
fähigen Geschlechtskranken behandelt, wird nicht durch eine etwa 
vorhandene Meldepflicht-Gesetzbestimmung und die Erfüllung dieser 
seinem Ermessen anheimgegebenen Pflicht zu einer besonders 
schweren, sondern dadurch, daß er mit einer dem Verständnis des 
jeweiligen Patienten angepaßten, überzeugenden Darstellung ihm 
klarzumachen versuchen muß, welche Gefahren aus einer Nicht¬ 
achtung der ärztlichen Vorschriften für die Umgebung entstehen 
können. Die Verantwortung wird um so größer, je schwerer dem 
Kranken das Verständnis für die ärztliche Darstellung aufgeht; 
sie erreicht ihren Höhepunkt, wenn zu dem geistigen Unvermögen, 
die angeratenen Vorsichtsmaßnahmen in ausreichender Weise durch¬ 
zuführen, bewußte Leichtfertigkeit und rücksichtslose Roheit hin¬ 
zukommt, und es dann Pflicht des Arztes wird, hiergegen eine 
nichtsahnende Umgebung des Kranken in genügender Weise zu 
schützen. Die bisherige bedingungsweise Meldung des Regulativs 
von 1835 war kein genügender Schutz und ist wahrscheinlich — 
eine ziffernmäßige Angabe, wie oft innerhalb der letzten 20 Jahre 
etwa in Preußen von dieser Gesetzbestimmung zum Zwecke des 
Schutzes der Allgemeinheit Gebrauch gemacht wurde, habe ich 
nirgends Anden können — nur sehr selten zur Anwendung ge¬ 
kommen. Nicht die Rücksichtnahme auf die schwere Verantwor¬ 
tung des Arztes, sondern die Erkenntnis von dem geringen Werte 
der bedingungsweisen Meldung drängt zum Verlassen dieser Re¬ 
gulativbestimmung. 

Es bricht sich endlich auch in weiteren Kreisen die Über¬ 
zeugung Bahn, daß nicht durch Zwangsmaßregeln, sondern nur 
durch den Selbstschutz eine Verminderung der Geschlechtskrank¬ 
heiten zu erzielen ist; daß die Bevölkerung zur Selbsthilfe erzogen 
werden muß und daß diese Selbsthilfe erst dann in wirksamer 
Weise sich geltend machen wird, wenn eine Aufklärung über das 


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Meldepflicht and Vergeh wiegenheits-Verpflichtung des Arztes asw. 447 


Wesen und die Gefahren der Geschlechtskrankheiten in ausreichen¬ 
dem Maße, in möglichst häufig sich erneuernder Wiederholung 
allen Bevölkerungsschichten zuteil wird. In dieser Überzeugung, 
welche in der Entwurfbegründung zwar nicht zum direkten Aus¬ 
druck kommt, liegt die ethische Bedeutung von dem Fallenlassen 
der bedingungsweisen Meldung. 

Die Ärzteschaft kann auch noch aus einem anderen Grunde, mit 
dem Aufgeben der Regulativbestimmung zufrieden sein: es liegt in ihr 
die Anerkennung, daß der Schutz des Berufsgeheimnisses des Arztes, 
die Pflicht des Arztes, ein ihm in seinem Berufe anvertrautes Ge¬ 
heimnis zu wahren — und gerade die Geschlechtskranken bedürfen 
mit Recht wegen der ihnen eventuell erwachsenden Folgen in ihrem 
Erwerbs- oder Eheleben der strengsten ärztlichen Verschwiegenheit 
— auch von den Behörden in ausgiebigstem Maße hochzuhalten 
ist. Ein Preisgeben desselben ist nur dann zu verlangen, wenn 
eine tatsächliche Gefährdung des öffentlichen Wohles zu befürchten 
ist. Diese seltenen Fälle sind in einem Gesetze so scharf zu be¬ 
zeichnen, daß von einem freien Ermessen nicht mehr die Rede 
sein darf. Der höhere Schutz des Berufsgeheimnisses ist eine 
höhere Stärkung des Ärztestandes. Der Arzt ist nicht nur ein 
Gewerbetreibender, welcher kaufmännisch einzig und allein in der 
Abwägung von Leistung und Gegenleistung seinen Beruf ausübt; 
sein Wert und auch seine Wertschätzung liegt außer in seinen 
Kenntnissen und Fähigkeiten in dem Vertrauensverhältnis, welches 
er zwischen sich und seinem Kranken herzustellen weiß und wel¬ 
ches er nur aufbauen kann auf der Grundlage einer stets zuver¬ 
lässigen, auch durch Gesetzesvorschriften möglichst undurchbroche¬ 
nen Verschwiegenheit. 


II. 

Der Herr Korreferent wird zwar ausführlicher und juristisch 
schärfer sich über das Berufsgeheimnis des Arztes äußern, als 
ich es vermag, aber zum Verständnis der späteren ärztlichen Aus¬ 
einandersetzungen über eine etwaige Abänderung des § üOO des 
Str.G.B. sei mir gestattet in Kürze folgende juristische Erklärungen, 
welche dem selbst für Nichtjuristen klaren und leicht verständlichen 
Buche Flügges „das Recht des Arztes“ entnommen sind, anzuführen. 

Der § 3u0 des Str.G.B. lautet: 

Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Verteidiger in Straf¬ 
sachen, Ärzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker, sowie die 


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Chotzen-Simonson. 


Gehilfen dieser Personen werden, wenn sie unbefugt 
Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft des Amtes, 
Standes oder Gewerbes an vertraut sind, mit Geldstrafe bis 
zu 1500 Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten be¬ 
straft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. 

Die VerschwiegenheitsVerpflichtung ist, nach Flügge, durch 
das Strafgesetzbuch unter den Abschnitt vom strafbaren Eigennutz 
eingeführt d. h. es schützt ein Recht des Einzelnen, ein Privat- 
recht, nicht ein öffentliches Recht. 

Geheimnisse sind diejenigen Tatsachen, welche über den 
Kreis derjenigen Personen hinaus noch nicht bekannt geworden 
sind, die diese Tatsachen selbst hervorgerufen haben, oder 
die von ihnen unmittelbar — sei es in der eigenen Person, sei 
es in der Person der ihnen nahestehenden Menschen — betroffen 
worden sind. Es können also nicht nur Tatsachen, die den Kranken 
selbst angehen, sondern auch solche die andere Menschen be¬ 
treffen, Gegenstand des anvertrauten Geheimnisses bilden. 

Offenkundige Tatsachen sind keine Geheimnisse, wohl 
aber sind Dinge, von denen andere nur eine unsichere, unge¬ 
wisse Kenntnis haben, noch nicht als offenkundig anzusehen 
(R. G. Entsch. in Straf. XXVI S. 5). 

Die Tatsachen müssen dem Arzte kraft seines Standes 
anvertraut sein. Der Stand des Arztes muß der Grund gewesen 
sein, der den anderen veranlaßte, sie dem Arzte mitzuteilen. 

Für den Begriff des Anvertrauens ist es unerheblich, ob 
der Kranke die Tatsachen durch Wort oder Schrift dem Arzte 
ausdrücklich mitgeteilt hat, oder ob er infolge seines Ver¬ 
trauens dem Arzte nur Gelegenheit gegeben hat, die Tatsachen 
selbst wahrzunehmen, indem er ihn behandelte (wenn z. B. der 
Arzt zufällig bei der Untersuchung der Brustorgane eines Kranken 
einen syphilitischen Ausschlag feststellt). 

Offenbaren ist jede Mitteilung dieser Tatsachen an andere. 

Befugt zum Offenbaren ist der Arzt stets da, wo das 
Recht von ihm ein Offenbaren verlangt. 

Unbefugt ist nach Olshausen die Mitteilung, wenn sie ohne 
Zustimmung der an vertrauenden Person geschieht, soweit nicht 
eine gesetzliche Vorschrift den Arzt zur Offenbarung zwingt 
oder dieselbe für zulässig erklärt 

Flügge hält den Arzt zur Offenbarung eines Privatgeheim¬ 
nisses befugt, wenn das Recht von ihm die Ablegung eines Zeug- 


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Meldepflicht und Verschwiegenheits*Verpflichtung des Arztes usw. 449 

ni88es verlangt; der Arzt ist aber berechtigt sein Zeugnis 
über Tatsachen, die Privatgeheimnis sind, zu verweigern; er hat 
das Recht sich für oder wider die Offenbarung zu entscheiden, 
ein rechtlicher Nachteil kann ihm weder aus der einen noch aus 
der anderen Entscheidung erwachsen. Es kann sich aber sehr 
wohl ereignen, daß ein ärztliches Standesgericht trotz der recht¬ 
lich zustehenden Zeugnislegungserlaubnis in dem Verhalten des 
Arztes einen Verstoß gegen die in Arztekreisen zur Sitte gewor¬ 
denen Verschwiegenheitsverpflichtung sieht und zur standesgericht¬ 
lichen Verurteilung des Arztes sich entschließt, indem sie die sitt¬ 
liche Pflicht zu schweigen für höherstehend erachtet als das 
Offenbarungsrecht. 

Befugt zur Offenbarung ist der Arzt, wenn der, dessen 
Geheimnis er anvertraut erhalten hat, mit der Offenbarung ein¬ 
verstanden ist, z. B. wenn der Kranke den Arzt zur Einreichung 
eines Attestes über die das Geheimnis bildende Tatsache an einen 
dritten (Dienstgeber, Behörde) auffordert oder sich als Kassen¬ 
patient den Krankenschein ausfertigen läßt 

Der Arzt muß erwägen, wie weit er mit der Offenbarung 
gehen darf, ob er das Geheimnis nur einer oder mehreren 
Personen nach dem Willen des Kranken mitteilen darf. Der Arzt 
hat die Pflicht, weniger gebildete und weniger selbständig denkende 
Patienten, besonders Krankenkassen-Mitglieder, über die Trag¬ 
weite der Offenbarung ihrer Krankheit aufzuklären, da mancher 
Patient lieber auf die Vorteile der kostenlosen Medikamenten- 
lieferung verzichtet, als daß er sich dem Bekanntwerden seiner 
Krankheit unter den Vorstandsmitgliedern und dem Bureaupersonal 
seiner Kasse aussetzt 

Der Arzt darf die ihm erteilte Offenbarungs- Erlaubnis 
nicht benutzen, wenn der Kranke (z. B. bei beginnender Paralyse, 
nicht mehr imstande ist, die Folgen der Erlaubnis zu überblicken. 

Auch wenn der Kranke sein Einverständnis nicht ausdrück¬ 
lich erklärt hat, darf der Arzt das Einverständnis doch für die¬ 
jenigen Tatsachen annehmen, deren Offenbarung nicht geeignet ist, 
irgend ein Interesse des Kranken zu schädigen (R.G. Entsch. Strafs. 
XIII S. 60, XXVI S. 5). In solchen Fällen ist aber Vorsicht ge¬ 
boten, da schwer zu übersehen ist, wie weit der Interessenkreis 
des Kranken reicht. 

Wissenschaftliches Interesse befugt den Arzt nur so 
weit zur Offenbarung, als sie geschehen kann, ohne die Person 

Zdtflchr. f. Bekämpfung d. Geechleehtskrankh. II. 33 


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450 


Chotzen-Simonson. 


des Kranken der Öffentlichkeit irgendwie bekannt zu geben. Es 
wäre z. B. unstatthaft zu schreiben: „Krankengeschichte des 
Robert P. aus Hartlieb bei Breslau“, weil jeder Einwohner des 
Dorfes Hartlieb oder aus dessen Umgebung die betreffende Persön¬ 
lichkeit sofort genau feststellen könnte. 

Der Arzt hat auch die Verschwiegenheitsverpflichtung gegen¬ 
über Privatgeheimni88en eines Kranken, die ihm selbst ohne Wissen 
des Kranken von irgend einer Seite (der Dienerschaft oder An¬ 
gehörigen) anvertraut werden (wenn z. B. eine Amme ein syphi¬ 
litisches Kind ihres Dienstherm ohne Wissen des letzteren dem 
Arzte zuführt, um zu erfahren, ob sie dieses Kind aus Rücksicht 
auf ihre eigene Gesundheit weiter säugen darf, hat der Arzt die 
Pflicht, die ihm gewordene Kenntnis von der elterlichen Syphilis 
als Berufsgeheimnis zu wahren). 

Andererseits muß sich der Arzt bewußt sein, daß er in dem 
Augenblicke, wo er die ihm gesetzlich obliegende Meldepflicht bei 
gemeingefährlichen Krankheiten fahrlässiger oder absichtlicher 
Weise unterläßt und dadurch nachweislich die Schädigung eines 
oder mehrerer Menschen herbeiführen sollte, hierfür haftbar wird. 

Es ist naturgemäß, daß die VerschwiegenheitsVerpflichtung den 
Arzt häufig in die schwierigst zu entscheidenden Konflikte zwischen 
Arztpflicht und Menschenpflicht geraten lassen wird. Es ist 
Hellwig (s. diese Zeitschr. Bd. I, Heft 1 S. 39) beizupflichten, daß 
nur im Einzelfalle, nicht allgemein zu entscheiden sei, wie sich 
der Arzt zu verhalten habe und daß die Pflicht zu schweigen noch 
nicht die Pflicht zu lügen sei. Hellwig geht aber meinem Er¬ 
messen nach zu weit, wenn er unter Anführung des Falles, daß 
eine Amme den Arzt, welcher die Eltern des von ihr gesäugten 
Kindes wegen Syphilis behandelt, betreff einer Wunde an ihrer 
Brust um Rat fragt, behauptet: der Arzt muß entweder vollständige 
Auskunft über seinen Befund geben oder jede Auskunft über seinen 
Befund ablehnen. Zur vollständigen Auskunft über seinen Befund 
ist der Arzt meiner Meinung nach durchaus nicht verpflichtet, er 
hat sachgemäße Behandlungsvorschriften und Vorschriften zur Ver¬ 
hütung der Krankheitsübertragung zu geben, aber über den Zu¬ 
sammenhang der festgestellten Krankheit mit der Krankheit eines 
anderen, der sich ihm vorher anvertraut, darf er ohne Erlaubnis 
dieses anderen sich nicht äußern; ebensowenig braucht er sich 
über die Krankheitsursache oder Krankheitsbezeichnung zu äußern. 

Der Arzt hat die Pflicht, die Gesundheitsinteressen der Amme 


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Meldepflicht und Verschwiegenheita-Verpflichtung des Arztes usw. 451 

zu wahren, aber er hat ebenso die Pflicht, das ihm an vertraute 
Geheimnis von der Art der Erkrankung der Dienstherrschaft zu 
wahren. Mit Vorsicht und Taktgefühl wird es ihm auch in einer 
derartigen schwierigen Lage gelingen, beiden Seiten gerecht zu werden. 

Die Vielgestaltigkeit des Lebens wird nicht selten den Arzt 
vor einen schwer zu lösenden Konflikt stellen zwischen der ge¬ 
setzlichen Verschwiegenheits -Verpflichtung und der sittlichen Pflicht 
eine drohende Krankheitsübertragung zu verhüten und aus diesem 
Grunde die Schweigepflicht zu verletzen. In einem solchen Konflikt 
wird sich ihm der Gedanke aufdrängen, daß er über die Schweige¬ 
pflicht sich hinwegsetzen und das Offenbarungsrecht, auch wenn ihm 
von dem Kranken die Offenbarungserlaubnis nicht erteilt oder so¬ 
gar ausdrücklich versagt wurde, aus eigenem Ermessen sich 
zusprechen dürfe, weil er aus höheren sittlichen Beweggründen, 
im Interesse eines wesentlichen Nutzens für einen anderen (z. B. 
Verhinderung der Eheschließung eines übertragungsfähigen syphi¬ 
litischen Mannes mit einer gesunden Dame) handele. Vom Ge¬ 
setzesstandpunkt aus hat der Arzt hierzu niemals das Recht; er 
ist unbedingt, auch wenn infolge seines Schweigens Unschuldige 
sollten zu leiden haben, der Verschwiegenheits-Verpflichtung unter¬ 
worfen. Das Wesen des Staates, der Bürgergemeinschaft, beruht 
darauf, daß sich alle dem bestehenden Gesetze zu fügen haben und 
nicht nach eigenen Gutdünken, nach dem persönlichen Ab wägen 
von höheren oder weniger hohen sittlichen Pflichten ihr Handeln 
einrichten. Wer über das bestehende Gesetz sich hinwegsetzen 
will, muß sich der Folgen bewußt sein und das Martyrium der 
Strafen hinnehmen: Wer auf die gerichtliche Entscheidung in einem 
Beleidigungsfalle verzichtet und zur Selbsthilfe des Zweikampfes 
sich entschließt, wer als Redakteur die Zeugnisablegung betreffs 
der Urheberschaft eines Mitarbeiters verweigert, muß der ihm 
drohenden Freiheitsstrafe gewärtig sein. Auch der Arzt muß sich 
bewußt sein, daß er sich ein Melderecht nicht konstruieren kann, 
ohne die strafrechtlichen und eventuell auch zivilrechtlichen Folgen 
der unerlaubten Offenbarung auf sich zu nehmen. Theoretisch ist 
für solche, an den einzelnen Arzt nur selten heran tretende Fälle 
eine Richtschnur nicht zu geben; es muß jeder Fall für sich reiflich 
erwogen und das Augenmerk darauf gerichtet werden, nicht mittelst 
gewaltsamen Durchhauens des Knotens, sondern mittelst Gewand- 
heit und Überredungskunst die folgenschweren Schritte eines 
rücksichtslosen Kranken zu verhüten. 

83* 


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452 


Chotzen-Simonson. 


Angesichts der Tatsache, daß trotz des fast siebzigjährigen 
Bestehens der bedingungsweisen Meldepflicht des Regulativs von 
1835 die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in erschreckender 
Weise zugenommen hat, ist von verschiedensten Seiten — auch 
innerhalb der Zweigvereine der Deutschen Gesellschaft zur Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten — der Gedanke erwogen, 
ob nicht speziell für Geschlechtskranke die Verschwiegenheits- 
Verpflichtung des Arztes aufzuheben und von einer derartigen 
Abänderung des § 300 und einer gesetzmäßig den Ärzten auf¬ 
zuerlegenden Meldepflicht aller Fälle von Geschlechts¬ 
krankheiten eine erfolgreiche Bekämpfung der Geschlechtskrank¬ 
heiten zu erwarten sei. 

Diesem Gedanken ist unbedingt und mit aller Schärfe ent¬ 
gegenzutreten. 

Die Meldung an die Behörde könnte nur dann die Ver¬ 
breitung der Krankheiten beeinflussen, wenn die Behörde auch 
die Macht erhielte, eine sachgemäße Behandlung des Erkrankten 
und zwar in einem öffentlichen Krankenhause zu erzwingen, aus 
welchem der Patient nur nach Verschwinden seines ansteckungs- 
ähigen Zustandes entlassen werden darf. Die Auferlegung eines 
solchen Zwanges ist einer bestimmten, eng umschriebenen Be¬ 
völkerungsklasse, wie den öffentlich Prostituierten, gegenüber, auch 
im Rahmen einer im ganzen Lande gleichmäßig organisierten 
Gemeinschaft, wie dem stehenden Heere, durchführbar, nicht aber 
für die Gesamtbevölkerung des Landes. Selbst für die staatlich 
oder privatlich organisierten Krankenkassenmitglieder wird eine 
unbedingte, stets durchzuführende Krankenhausbehandlung der 
Geschlechtskranken niemals zu erreichen sein; man wird sich be¬ 
gnügen müssen mit dem indirekten Zwange, welcher dadurch aus¬ 
geübt wird, daß bei der Weigerung des Kassenmitgliedes, sich 
der ärzlichen Vorschrift gemäß in ein Krankenhaus aufnehmen 
zu lassen, das Krankengeld entzogen werden kann. 

Die Fanatiker der unbedingten Meldepflicht aller Geschlechts¬ 
kranken und der Krankenhaus-Zwangsbehandlung sollten, bevor 
sie von der Staatsbehörde eine derartige weitgehende — und 
praktisch undurchführbare — Beeinträchtigung der persönlichen 
Freiheit verlangen, zunächst überlegen, ob denn der Staat zu 
einem so ausgiebigen Schutze vor der Erwerbung von Geschlechts¬ 
krankheiten verpflichtet sei. Die Geschlechtskrankheiten sind in 
dieser Richtung mit den übrigen Infektionskrankheiten nicht in 


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Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 458 


gleiche Reihe zu stellen. Cholera, Typhus, Diphtherie sind für 
die Einzelnen schwer oder unmöglich vermeidbare Erkrankungen; 
es hat diesen gegenüber der Staat die Pflicht durch strenge Vor¬ 
schrift betreff Meldung, Isolierung und Krankenhausaufnahme der 
Weiter Verbreitung einen Riegel vorzuschieben; Geschlechtskrank¬ 
heiten aber sind — mit Ausnahme der seltenen Infektionen auf 
schuldlosem Wege — die Folgen vermeidbarer, aus eigenem Antriebe 
ausgeführter, im Bewußtsein der damit verbundenen Gefahren aus¬ 
geübter Handlungen. Es ist Sache des Selbstschutzes des Indi¬ 
viduum die Gefahr-Wahrscheinlichkeit jenes selbst gewählten Ver¬ 
kehres sich nach Möglichkeit zu verringern. Der Staat hat nicht 
die Pflicht den außerehelichen Geschlechtsverkehr in jeder Form 
zu schützen; er hat nur die Pflicht, diejenigen Personen, welche 
auf Grund ihres Lebenswandels — der gewerbsmäßigen Unzucht 
— erfahrungsgemäß befürchten lassen, daß sie eine wesentliche 
dauernde Gefahr für das Gemeinwesen werden und ihre Geschlechts¬ 
krankheiten unabsehbar verbreiten, zwangsweise, durch polizeiärzt¬ 
liche Untersuchung und Krankenhausbehandlung, möglichst un¬ 
schädlich zu machen. 

Die Ärzteschaft muß jede Absicht, die Verschwiegenheits- 
Verpflichtung des § 300 zu untergraben und eine allgemeine 
unbedingte Meldung aller Geschlechtskranken einzuführen, mit 
Entschiedenheit zurtickweisen. Selbst wenn man sich vorstellen 
dürfte, daß gleichzeitig mit der Meldung eine zwangsweise Kranken¬ 
hausbehandlung durchgeführt und hierdurch eine erfolgreiche Be¬ 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten erreicht werden könnte, selbst 
dann steht der hieraus erwachsene Nutzen in keinem Verhältnis 
zur Erschütterung der Arztstellung, zu dem Verluste des Ver¬ 
trauensverhältnisses zwischen Arzt und Patienten. Die Ver¬ 
schwiegenheits-Verpflichtung des Arztes ist das Palladium, durch 
welches er sich alle Zeiten hindurch, allen Ständen gegenüber 
eine besondere Stellung zu wahren gewußt hat. Wird diese 
Schranke durchbrochen, weiß der Patient, daß er mit seiner Ge¬ 
schlechtskrankheit an den meldepflichtigen Arzt sich nicht mehr 
wenden darf, ohne einer Preisgebung des anvertrauten Geheimnisses 
gewärtig zu sein, dann wird er entweder solange als möglich seine 
Erkrankung verheimlichen und seinen Zustand verschlimmern oder 
den Arzt ganz ausschalten und der Kurpfuscherei sich zuwenden. 

Es ist ferner von verschiedenen Seiten erwogen worden, ob, 
wenn eine unbedingte Meldepflicht aller Geschlechtskranken den 


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454 


Chotzen-Simonaon. 


Ärzten aufzuerlegen nicht durchführbar sei, es sich empfehle, den 
§ 300 dahin abzuändern, daß der Arzt das Recht erhalte, ge- 
schlechtskranke Ehekontrahenten der Behörde anzuzeigen, 
um deren Eheschließung zu verhindern. Man macht dafür geltend, 
daß die Eheschließung eines Geschlechtskranken eine Gefährdung 
des Gemeinwesens, des öffentlichen Wohles darstelle, daß die Ehe 
nicht lediglich eine Privatangelegenheit, sondern von der größten 
Bedeutung für das Staatswohl sei. Der Staat ist zu seiner Er¬ 
haltung auf eine fruchtbare Ehe, auf die Erzeugung zahlreicher 
gesunder Nachkommen, zur Hebung des Nationalwohlstandes auf 
die Erziehung widerstandsfähiger Arbeitskräfte, zum Schutze 
des Landes auf den Erhalt eines leistungsfähigen Heeresersatzes 
angewiesen: Gründe genug, um dem Staate ein Einspruchsrecht 
zu gewähren, falls Personen, welche durch ihren Gesundheitszustand 
eine Zukunftssicherheit nicht gewähren, die Ehe eingehen wollen. 
Gerade die Vererbungsfähigkeit der Syphilis rechtfertige einen be¬ 
sonderen Schutz der Ehe. 

Ein solcher Schutz der Ehe müßte nach zwei Seiten hin er¬ 
folgen: es müßte die Eheschließung mit einem Geschlechtskranken 
verhütet und es müßte die Ehe mit einem Geschlechtskranken ge¬ 
trennt werden können. 

Zum Zwecke der Verhütung der Eheschließung mit 
einem Geschlechtskranken sind die vielfältigsten Vorschläge 
gemacht worden: 

a) Hempfing-Wiesbaden(WiesbadenerOrtsausschuß derD.G.B.G. 
31. I. 1903) verlangt die Meldung aller Geschlechtskranken 
durch den behandelnden Arzt an den Kreisarzt, die Meldung 
von der Behandlungsbeendigung ohne Heilung resp. durch 
Heilung und die Befugnis des Kreisarztes „berechtigten 
Interessenten“ von den ihm gewordenen dienstlichen Angaben 
Mitteilung zu machen; 

b) ein Gesundheitsnachweis vor der Eheschließung bei der Orts¬ 
behörde (diplome conjugal): 

a) Lederer (diese Zeitschr. Bd. II, Heft 5 S. 213) verlangt 
ein Zeugnis über gesundenKörperbau; 
ß) Anonymus (ebenda) eine amtsärztliche Beglaubigung 
der körperlichen und geistigen Tauglichkeit für die Ehe; 
y) Haskovec (ebenda) ein ärztliches Zeugnis über den 
körperlichen und geistigen Gesundheitszustand; 

c) ein gesetzmäßiges staatliches Eheverbot: 


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Meldepflicht und Verschwiegenheit-Verpflichtung des Arztes usw. 455 


a) Pinard und Gagalis (ebenda) verlangen: Die Ehe ist 
allen Kranken verboten, welche an einem schweren, 
auf die Frau oder das künftige Kind übertragbaren 
Übel leiden; 

ß) He gar (ebenda): staatliches Eheverbot bei Syphilis und 
Tripper; 

y) im Staate Michigan besteht ein Gesetz: Geisteskranken 
und Idioten ist die Eheschließung verboten, ebenso bei 
Syphilis und Tripper bei Gefängnis- und Geldstrafe. Der 
Arzt untersteht dem Zeugniszwange. Ehegatten können 
gezwungen werden, Zeugnis gegen einander abzulegen. 

Gegen diese Vorschläge ist einzuwenden: 

a) gegen den Vorschlag Hempfing-Wiesbaden: 

Die Arztmeldung an den Kreisarzt würde ein Fernbleiben 
der Kranken von dem Arzte zur Folge haben; die Befugnis 
des Kreisarztes „berechtigten Interessenten“ über den Ge¬ 
sundheitszustand eines ihm als geschlechtskrank gemeldeten 
Patienten Auskunft zu geben, ist undurchführbar, da der 
Kreisarzt nicht imstande ist „das berechtigte Interesse“ ein¬ 
wandsfrei festzustellen und auch jeder beliebige böswillige 
Neugierige ein derartiges „berechtigtes Interesse“ — ein 
meist subjektives, selten objektiv nachweisbares Moment — 
als vorhanden anführen kann. 

b) gegen den Gesundheits-Nachweis: 

Der Arzt ist nur imstande ein augenblickliches Freisein 
von Krankheitserscheinungen festzustellen; ein Urteil darüber, 
ob der früher einmal von einer Geschlechtskrankheit heim¬ 
gesucht Gewesene auf längere Zeit oder für immer von 
Rückfallserscheinungen seiner Krankheit frei bleiben wird — 
und diese Möglichkeit spielt gerade bei den Geschlechts¬ 
krankheiten eine große Rolle — kann der Arzt nicht ab¬ 
geben. Es kann eine Person, welche vor einer gewissen Zeit 
Syphilis erworben hat, zur Zeit der Untersuchung so frei 
von jeder Syphilis- auch Syphilis-Rest-Erscheinung sein, daß 
der Arzt gar nicht auf die Vermutung zu kommen braucht, 
es habe jemals eine Syphilisinfektion stattgefunden. Das 
Zeugnis über den gesunden Körperbau wäre in solchem Falle 
zu erteilen und wäre schließlich einer Person erteilt, welche 
nach dem Sinne Lederers zur Eheschließung nicht zu¬ 
gelassen werden sollte. 


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456 


Chotzen-Simonson. 


c) Gegen das staatliche Eheverbot: 

Die Vererbung der Syphilis oder die Übertragung des 
Trippers durch den ehelichen Verkehr ist nicht für alle 
Falle, in welchen Geschlechtskranke nach Abheilen des 
ersten, gefährlichsten Infektionsstadiums die Ehe ein¬ 
gingen, festgestellt. Ein jeder Arzt kennt Fälle, in 
welchen — auch ohne daß sie in ausreichender Weise 
antisyphilitisch oder antigonorrhoisch behandelt wurden — 
eine Übertragung auf die andere Ehehälfte oder die Nach¬ 
kommen nicht stattgefunden hat; er kennt auch Fälle, 
in denen selbst nach einer oder mehreren Fehlgeburten 
schließlich eine gesunde Nachkommenschaft erzeugt wurde. 
Wenn auch heute fast allgemein anerkannt wird, daß eine 
möglichst ausgiebige, auch in erscheinungsfreien Stadien 
fortgesetzte, chronisch-intermittierende Behandlung der 
Syphilis die größte Wahrscheinlichkeit für ein Freibleiben 
von späteren Syphiliserscheinungen oder Syphilisübertragungen 
gewährt, so darf man doch nicht so weit gehen zu behaupten, 
daß alle nicht chronisch behandelten Fälle jahrelang nach 
ihrer Infektion unfehlbar übertragungsfähig bleiben. Ein 
generelles Verbot, daß Individuen, welche irgendwann ein¬ 
mal vor ihrer Eheschließung mit Syphilis oder Tripper be¬ 
haftet waren, von der Ehe ausgeschlossen werden müßten, ist 
der ärztlichen Erfahrung nach also nicht gerechtfertigt. 
Man muß sich auch gegenwärtig halten, daß die Eheschließung 
nicht allein den Endzweck der Erzeugung von Nachkommen 
im Auge hat; sondern daß viele, seien es im Alter vorge¬ 
schrittenere, seien es in noch nicht völlig gesicherter Lebens¬ 
stellung befindliche Personen, allein in der endlichen Er¬ 
reichung der Lebensvereinigung bereits eine Lebensbefriedi¬ 
gung finden. Wenn auch der Staat an einer fruchtbaren, 
die Nachkommenschaft bis zu einem gewissen Selbständig¬ 
keitsalter erhaltenden Ehe das größte Interesse hat, so ist 
doch auch die Eheschließung an sich, weil sie die Seßhaftig¬ 
keit, einen höheren Ansporn zur Entwicklung der schlummern¬ 
den Arbeitskräfte, die Erwerbung von Besitz, also die 
Förderung des Volkswohlstandes herbeizuführen vermag, für 
das Staatsleben von Wert. Ein aus rein theoretischen Er¬ 
wägungen entstehendes, nach ärztlichen Anschauungen zu¬ 
weit gehendes staatliches Eheverbot würde durch die Ver- 


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Meldepflicht und Verschwiegenheitsverpflichtung des Arztes usw. 457 


nichtung und Störung des Lebensglückes das Einzelwesen 
mit unnützer Härte bedrücken und das Staatswesen schädigen. 

Das Beispiel des Bestehens eines staatlichen Eheverbotes in 
dem kleinen Staate Michigan hat keine Beweiskraft für die Richtig¬ 
keit und den etwaigen Erfolg dieser Maßnahme; die Umgehung 
des Verbotes ist mit dem Opfer einer nur kurzen Bahnfahrt nach 
einem der Nachbarstaaten und der dortigen Vornahme einer auch 
in Michigan als rechtsgültig anerkannten Eheschließung mit Leich¬ 
tigkeit zu bewerkstelligen. 

Eine Prüfung der Vorschläge zur Verhütung der Einschleppung 
der Geschlechtskrankheiten in die Ehe ergibt, daß auch auf diesem 
eng begrenzten Gebiete mit allgemein gültigen Zwangsmaßregeln 
eine Abhilfe nicht geschaffen, daß auch hier nur von einer Auf¬ 
klärung, von einem Selbstschutze der Bevölkerung eine 
Besserung der augenblicklichen Zustände erhofft werden kann. 
Diese Aufklärung muß dahin gehen, daß diejenigen Personen, 
welche die Ehe eingehen wollen, sich bewußt werden, daß 
sie einen Gegenseitigkeitsvertrag schließen, und daß bei diesem 
auf Lebenszeit zu schließenden Vertrage beide Teile verpflichtet 
sind, die denkbar größte Vorsicht zu üben. Es ist die Pflicht 
der Eltern oder des Vormundes sich nicht nur über die Ver¬ 
mögens-, sondern auch über die Gesundheitsverhältnisse des 
Partners zu vergewissern und zwar entweder durch direktes Be¬ 
fragen des Ehekandidaten, welcher zur Offenbarung aufgefordert, 
durch Verschweigen einer früheren oder bestehenden Erkrankung 
sich strafbar machen würde, oder durch die Forderung, der 
Ehekandidat solle seinen Arzt von der Verschwiegenheits- 
Verpflichtung befreien und die Aussage über seinen Gesund¬ 
heitszustand genehmigen. Eine Verweigerung dieses Ansuchens 
wird vorsichtigen Eltern für die Beurteilung des Ehekandidaten 
genügen. Zartfühlende Eltern, welche mit einem derartigen direkten 
Verlangen Anstoß zu erregen befürchten — die Schwere der Ver¬ 
antwortung sollte solche kleinliche Befürchtungen nicht aufkommen 
lassen —, könnten ihrer Pflicht auch damit genügen, daß sie von 
dem Ehekontrahenten den Nachweis vom Abschlüsse einer Lebens¬ 
versicherung verlangen, da im allgemeinen die Lebensversicherungs- 
Gesellschaften Antragsteller in den ersten zwei bis drei Jahren 
nach der Infektion mit einer Geschlechtskrankheit zurückweisen. 

Es ist auch nicht nur die Pflicht, sondern liegt im direkten 
Interesse des Ehekandidaten, seinem Vertragsgenossen von früher 


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458 


Chotzen-Simonson. 


überstandenen Geschlechtskrankheiten Mitteilung zu machen, um 
bei einem eventuellen Wiederausbruch der Krankheit während der 
Ehe — und mit der Möglichkeit, wenn auch nicht der Wahrschein¬ 
lichkeit eines Wiederausbruches muß gerechnet werden — vor der 
rechtlichen Eheanfechtung bewahrt zu sein. 

Es ist des weiteren angeregt worden, die Verschwiegenheits-Ver¬ 
pflichtung des Arztes für den Fall aufzuheben, daß es sich um die 
Trennung der Ehe mit einem Geschlechtskranken handle. 

Flesch-Wertheimer haben („Geschlechtskrankheiten und 
Rechtsschutz“ Jena, Gustav Fischer 1903 S. 44) zu diesem Zwecke 
eine Abänderung des § 300 in folgender Form vorgeschlagen: Der 
den Ehegatten behandelnde Arzt ist in Ehesachen als Sachver¬ 
ständiger vor Gericht von der Wahrung des Berufsgeheimnisses 
ohne weiteres zu entbinden. 

Namhafte Juristen wie Hellwig (Lc.) und Schmölder ebenda 
(S. 92) führen hiergegen an, eine Abänderung des § 300 sei überflüssig, 
die bestehende Gesetzgebung schütze gegen die Fortsetzung der 
Ehe mit einem Geschlechtskranken zur Genüge. Die Eheanfechtung 
sei in einem solchen Falle möglich, wegen des Irrtums, in welchem 
bei der Eheschließung der gesunde Teil über die persönlichen 
Eigenschaften des anderen Teiles sich befunden habe, selbst wenn 
letzterer zur Zeit der Eheschließung sich im Stadium der vorüber¬ 
gehenden Latenz befunden habe. Verabsäumt der krank gewesene 
Ehekontrahent, vor der Eheschließung den ihn behandelnden Arzt 
zu befragen, ob er die Ehe ohne Bedenken schließen dürfe, ja 
selbst wenn er den ärztlichen Ehekonsens erhalten, aber dem 
anderen Ehegenossen vor der Eheschließung das Vorhandensein 
der früheren Erkrankung verheimlicht hat, selbst dann ist er bei 
Wiederausbruch der Krankheit wegen arglistiger Täuschung ver¬ 
folgbar und die Ehe anfechtbar. Die Eheanfechtungsklage kann, 
nach Schmölder, durch die Scheidungsklage kumuliert werden. 
Schmölder sowohl wie Hellwig kommen zu dem Schlüsse, daß 
das bürgerliche Gesetzbuch zu einem befriedigenden Abschlüsse in 
dieser Materie gelangt ist 

Die Nichtjuristen, sowohl die Arzte als das große Publikum, 
scheinen von dem Schutze, welche ihnen das Gesetz in derartigen 
Ehetrennungsfällen gewährt, nicht genügend unterrichtet zu sein. 
Je mehr diese Kenntnis verbreitet wird, um so mehr wird das 
Gewissen jener, welche vorehelich eine Geschlechtskrankheit er- 


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Meldepflicht und Verochwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 469 

worben haben, geschärft werden, um so mehr werden sie, nicht 
nur aus sittlichen Gründen, sondern schon um sich vor einer 
eventuellen gerichtlichen Verantwortung zu schützen, vor einer Ver¬ 
heimlichung ihrer früheren Krankheit zurückschrecken und eine 
Ehe nur auf der Grundlage des rückhaltlosen gegenseitigen Sich- 
anvertrauens aufbauen. Auch für den Arzt ist die Kenntnis von 
dem Vorhandensein der einschlägigen Gesetzbestimmungen erforder¬ 
lich. Auf Grund dieser Kenntnis wird er den von ihm behandelten 
geschlechtskranken Ehekandidaten durch Hinweis auf die betreffen¬ 
den Gesetzesparagraphen gar oft noch eher von der Eheschließung 
zurückhalten, als er es sonst nur durch Geltendmachung der 
moralischen Verantwortung vermag. 

Bei der Trennung der Ehe mit einem Geschlechtskranken 
scheint in dem Gesetze ein Schutz dagegen zu fehlen, daß dem 
anfechtenden Ehegatten die Beweisführung für das Vorhandensein 
einer Geschlechtskrankheit unmöglich gemacht werden kann, indem 
der beschuldigte Ehegatte den ihn behandelnden Arzt von der 
Verschwiegenheits Verpflichtung nicht entbinden will, oder indem 
sich der Arzt auf das Recht der Zeugnisverweigerung beruft. 

Eine Entscheidung, ob in dieser Richtung eine Lücke im Gesetze 
tatsächlich besteht und ob diese Lücke durch irgendwelche Gesetz¬ 
bestimmungen geschlossen werden kann, ohne die Verschwiegenheits¬ 
verpflichtung des Arztes im allgemeinen zu erschüttern, wird der Herr 
Korreferent besser zu beantworten imstande sein, als ich es vermag. 

Auf Grund des vorstehend Dargelegten komme ich zu dem 
Schlüsse, daß eine erfolgreiche Bekämpfung der Geschlechtskrank¬ 
heiten nicht durch eine Erweiterung der Meldepflicht, nicht durch 
eine, auch nur beschränkte, Aufhebung der Verschwiegenheitsver- 
pflichtung des Arztes zu erreichen ist, sondern nur durch eine 
schärfere Anwendung der j etzt schon vorhandenen Gesetzbestimmungen 
betreffs der Eheanfechtung und vor allem durch eine unablässig 
tätige, allen, auch den sogenannten gebildeten Schichten der Be¬ 
völkerung zugängige, dem Verständnis der jeweiligen Zuhörer 
bestens angepaßte Aufklärung über das Wesen und die Bedeutung 
der Geschlechtskrankheiten. Nur wenn diese Kenntnisse Allgemein¬ 
gut der Bevölkerung geworden sein werden, erst dann wird das 
Verantwortlichkeitsgefühl des einzelnen auch auf diesem Gebiete 
der Lebensbetätigung besser ausgebildet werden als bisher und 
erst dann wird eine allmähliche Verminderung der Geschlechts¬ 
krankheiten zu erwarten sein. 


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460 


Chotzen-Simonson. 


Schlußsätze. 

1. Die Erweiterung der Meldepflicht bei Geschlechtskrankheiten 
über die Grenzen des zur Zeit dem Abgeordnetenhause vor- 
liegendenEntwurfes zum Ausführungsgesetz des Reichs-Seuchen¬ 
gesetzes hinaus entspricht wegen der dadurch bedingten Be¬ 
einträchtigung der Verschwiegenheitsverpflichtung des Arztes 
und der Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen 
Arzt und Kranken weder dem Interesse der Ärzte noch dem 
der Kranken oder der Allgemeinheit. 

2. In Hinsicht auf die Gemeingefährlichkeit derjenigen Geschlechts¬ 
kranken, welche den Anordnungen des Arztes absichtlich 
zuwiderhandeln und durch Fortsetzung des ihnen verbotenen 
Geschlechtsverkehres oder durch bewußte Fahrlässigkeit ihre 
Krankheit verbreiten, erscheint es geboten, die in § 14* 
des Reichs-Seuchengesetzes vorgesehene Schutzmaßregel nicht 
nur, wie § 8 Nr. 9 des Gesetzentwurfes zum Ausführungs¬ 
gesetze des Reichs-Seuchengesetzes vorsieht, auf diejenigen 
Personen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben, sondern für 
allgemein anwendbar zu erklären. 

Da die Schutzmaßregeln des § 14 (Überführung in 
ein Krankenhaus) nur auf Anordnung eines beamteten Arztes 
zur Ausführung kommen kann, ist gegen eine mißbräuchliche 
oder überflüssige Anwendung desselben genügender Schutz 
vorgesehen. 

3. Zur Verhütung der Übertragung der Geschlechtskrankheiten 
in die Ehe ist eine Aufhebung der Verschwiegenheits- 
Verpflichtung im allgemeinen nicht geboten, da genügende 
sonstige Schutzmaßregeln bestehen um das Eingehen der Ehe 
mit einem Geschlechtskranken zu vermeiden und um die Tren¬ 
nung der Ehe mit einem Geschlechtskranken zu ermöglichen. 
Nur für den Fall, daß die bei Eheanfechtung und Ehescheidung 
gerichtlich als notwendig erachtete Aussage eines Arztes von 
diesem unter Berufung auf die Verschwiegenheitsverpflichtung 
des § 300 Str.G.B. verweigert wird, ist einer Änderung des 
§ 300 dahin zuzustimmen/ daß der Arzt von dem Kranken, 
welcher ihm das Leiden anvertraut hat, der Verschweigungs¬ 
pflicht zu entheben und alsdann zur Aussage verpflichtet ist. 


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Meldepflicht iuid Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 461 

Anträge. 

Der schlesische Zweigverein der Deutschen Gesellschaft zur 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten richtet an das Haus der 
Abgeordneten das Ersuchen: 

in dem Entwürfe eines Ausführungsgesetzes zu dem 
Reichsgesetze, betreffend die Bekämpfung gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900 (Druck¬ 
sache Nr. 25—20. Legislaturperiode. I. Session—1904). 

I. den Wortlaut von § 2 Abs. 3 abzuändern in: 

„Die unter 1 und 3 bezeichneten Personen haben, falls 
sie Unteroffiziere und Mannschaften des aktiven Heeres 
wegen ansteckungsfähiger Erscheinungen von 
Syphilis oder Tripper sowie wegen weichen Schankers 
behandeln, dies dem Kommando des betreffenden 
Truppenteils oder dem bei demselben angestellten Ober- 
Militärarzte unverzüglich anzuzeigen.“ 

Et. den Wortlaut von § 8 Nr. 9 abzuändern in: 

„Syphylis, Tripper und Schanker: 

a) bei Personen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben: 
Beobachtung Kranker, krankheits- oder ansteckungs¬ 
verdächtiger Personen (§ 12), Absonderung kranker 
Personen (§14 Abs. 2); 

b) bei allen übrigen Personen: Absonderung 
kranker Personen (§ 14 Abs. 2). 


2. Herr Oberlandes-Gerichtsrat Simonson: 

Jeder Stand hat seinen nach besonderen Richtungen aus¬ 
geprägten Ehrbegriff. Der Stand der Ärzte hat, solange er be¬ 
steht, die Geheimhaltung des Berufsgeheimnisses als eine der ver¬ 
nehmlichsten Ehrenpflichten seines Standes angesehen, ursprünglich, 
solange als die Arzt- und Priesterkaste miteinander verbunden 
waren, um ihr mit dem Nimbus des Geheimnisvollen, des Über¬ 
sinnlichen umkleidetes und vielfach dadurch bedingtes Ansehen 
zu wahren, später aus dem noch jetzt geltenden Gesichtspunkte 
heraus, daß der Arzt, und zwar in noch höherem Maße als der 
Seeborger und Anwalt, das unbedingte Vertrauen der sich ihm 
Anvertrauenden genießen müsse. Und in der Tat, nur dann kann 
dieser Stand seine Aufgabe erfüllen, wenn jeder, der sich an einen 


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462 


Chotzen-Simonson. 


Arzt wendet, gewiß ist, daß das, was er ihm gesagt hat oder der 
Arzt sonst an ihm wahrgenommen hat, in dessen Brust verschlossen 
bleibt, wenn der seine Hilfe in Anspruch Nehmende es nicht 
anders will. 

Dieser Grundsatz wird auch ferner, da die Gründe unver¬ 
ändert fortbestehen, als oberster erhalten werden müssen, wie 
denn auch kaum Bestrebungen nach der Gegenseite sich geltend 
gemacht haben. 

Es kann sich daher nur fragen, ob für besondere Fälle, für 
gewisse Sondergebiete, ein Ab weichen von diesem Grundsätze ge¬ 
boten erscheint. 

Niemand weiß so genau, wie der Pfleger des Rechtes, daß die 
starre Aufrechterhaltung eines Grundsatzes im Einzelfalle nicht 
nur hart erscheinen, sondern auch hart sein kann. Aber niemand 
ist auch durch seinen Beruf ebenso wie der Jurist geschult worden, 
die hohe Bedeutung des Grundsatzes nicht außer acht zu lassen, 
trotz des Gemüt und Billigkeitsgefühl ergreifenden Eindrucks des 
Einzelfalles, der durch das Festhalten an dem Grundsätze schwer 
verletzt sein mag. Er hat gelernt, auf hoher Warte stehend, sich 
durch solchen Eindruck nicht hinreißen zu* lassen. Das ist der 
wahre, edle Sinn des so oft geschmähten Wortes „fiat justitia, 
pereat mundus“. 

Wenn ich als Jurist, der mich ehrenden Aufforderung folgend, 
zu Ihnen spreche, so werden Sie es nach dem Vorhergesagten 
verstehen, wenn ich mich bemühe, den hervorgehobenen Grundsatz 
nicht aus den Augen zu verlieren. 

Der moderne Staat, dessen Bestreben dahin geht, das all¬ 
gemeine Wohl zu erhalten und zu fördern, hat und fühlt die 
Pflicht, abzuwägen, ob nicht gerade aus dem Gesichtspunkte der 
allgemeinen Wohlfahrt ein bisher in Geltung gewesener Grundsatz, 
sei er auch noch so wichtig, aufzuheben oder abzuändem oder für 
einzelne Gebiete oder Fälle zu durchbrechen sei. Und er hat die 
Pflicht, den Fortschritten der Wissenschaft hier sorgfältigste Rech¬ 
nung zu tragen. Gerade die medizinische Wissenschaft hat, ins¬ 
besondere in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, 
die Vorstellungen, die man über viele Dinge hatte, so gänzlich 
verschoben, daß sie den Staat genötigt hat, vielfach neue Bahnen 
einzuschlagen. Hier steht, abgesehen von der Wissenschaft der 
Tuberkulose, die Lehre von den Geschlechtskrankheiten, die Kennt¬ 
nis ihrer Entstehung, Übertragung und ihrer das ganze Volkswohl 


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Meldepflicht und Verachwiegenheita-Verpflichtung des Arztes usw. 463 


ergreifenden Folgeerscheinungen in allererster Linie, wobei be¬ 
sonderer Hervorhebung wert erscheint, daß die Feststellung der 
riesengroßen Gemeingefährlichkeit der Gonorrhoe für die große 
Masse, die Gebildeten nicht ausgeschlossen, noch so neu ist, daß, 
um dem Unglauben daran zu begegnen, nicht oft genug von Sach¬ 
kundigen darauf hingewiesen werden kann. 

Je neuer und stärker die Errungenschaften auf dem Gebiete 
der Lehre der Geschlechtskrankheiten sind, desto erklärlicher ist 
es, daß Vertreter dieser Lehre, soweit sie in der Geheimhaltung 
des Arztgeheimnisses ein Übel sehen, mit besonderer Lebhaftigkeit 
für ihr Gebiet dessen Beseitigung erstreben. Aber man sollte 
hier nicht vergessen, daß hier so stark wie nirgends sonst der 
Leidende die Geheimhaltung verlangt, und daß der Gesetzgeber 
zu erwägen hat, ob die Sondergründe, die für dieses Gebiet geltend 
gemacht werden, nicht auch bei andern zutreffen, und oh nicht 
noch wichtigere Gründe einer so allgemeinen Durchlöcherung des 
Grundsatzes entgegenstehen. 

Das Deutsche Reich hat den Grundsatz der Wahrung des 
Berufsgeheimnisses im § 300 R. Str. G. B. zum Ausdruck gebracht, 
wobei ich bemerke, daß fast alle Kulturstaaten im wesentlichen 
die gleiche Regelung getroffen haben. Auffälligerweise fehlen in 
England und in einigen Kantonen der Schweiz den Arzt betreffende 
Bestimmungen. 

§ 300 R. Str. G. B. straft auf Antrag die unbefugte Offenbarung 
von Privatgeheimnissen, die einem Arzte (die andern dort erwähnten 
Personenklassen interessieren hier nicht) kraft seines Standes an¬ 
vertraut sind. 

Unter Privatgeheimnis ist jede mit der ausdrücklichen Auf¬ 
lage der Geheimhaltung gemachte Mitteilung zu verstehen, diese 
Auflage kann sich aber auch aus den Umständen ergeben und 
solche gelten als vorliegend, wenn die mitteilende Person ein er¬ 
kennbares Interesse an der Geheimhaltung hat 

Das Wort „anvertrauen“ ist nicht besonders zu betonen, sein 
Tatbestand liegt vielmehr schon vor, sobald nur der Arzt kraft 
seines Berufs in den Besitz der Kenntnis der als Geheimnis be¬ 
handelten Tatsache gelangte. Übrigens kann auch der ein Berufs¬ 
geheimnis verletzen, der zur Zeit der Offenbarung den Beruf bereits 
aufgegeben hat Als „Offenbarung“ wird jede Mitteilung an irgend 
einen andern, also auch an eine Vertrauensperson angesehen, auf 
deren Verschwiegenheit gerechnet werden durfte. 


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464 


Chotzen-Simonson. 


Unbefugt ist nach Olshausen, dem ich bei der Begriffs¬ 
bestimmung gefolgt bin (Olshausen, RStr.G.B. § 300, Nr. 2,3,4,8,9), 
gleichbedeutend mit widerrechtlich. Nach ihm ist eine Mitteilung 
stets unbefugt, wenn sie gegen den Willen des Anvertrauenden 
erfolgt, soweit nicht gesetzliche Bestimmungen eine Offenbarung 
auch ohne diese Zustimmung gebieten oder wenigstens für zulässig 
erklären. Als solches flir das ganze Deutsche Reich geltendes 
Gebot kommen nur § 139 RStr.G.B. und das Reichsgesetz betr. 
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900 
(R G. Bl. S. 306) in Frage. Letzteres erstreckt sich auf Geschlechts¬ 
krankheiten nicht § 139 R.Str. G. B. begründet eine Anzeigepflicht 
bei Kenntnis von dem Vorhaben gewisser einzeln aufgeflihrter 
sowie allgemein der gemeingefährlichen Verbrechen. Auch dieser 
Paragraph schränkt die Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheim¬ 
nisses als solchen nicht ein. Unzweifelhaft kann die Übertragung 
einer geschlechtlichen Erkrankung als Körperverletzung strafbar 
sein und zwar, wenn sie die im § 224 R. Str. G. B. erwähnten 
Folgen mit sich führt, als Verbrechen, das man an sich wohl 
als ein gemeingefährliches ansehen könnte. Da aber dieser Be¬ 
griff ein technischer des Gesetzes ist und es die gemeingefährlichen 
Verbrechen und Vergehen in einem besonderen, die Körperver¬ 
letzungen nicht enthaltenden Abschnitte (Nr. 27) behandelt, so kann 
dieser Paragraph den Arzt nicht veranlassen, anderes, als was auch 
andere Personen anzuzeigen hätten, zu offenbaren. Auch Ver¬ 
öffentlichungen oder Mitteilungen, die aus wissenschaftlichem In¬ 
teresse ergehen, sind nicht straffrei. Mit der herrschenden Meinung 
nimmt Olshausen an, daß Aussagen, die der Arzt vor Gericht 
als Zeuge macht (§ 52 Str. Pr. 0.; § 188 Mil. Str. Pr. 0.; § 383 Z.P.O. 
straffrei seien, denn da hier die betreffenden Personen zur Ver¬ 
weigerung des Zeugnisses nur flir berechtigt erklärt werden, so 
ergebe sich daraus, daß die Offenbarung des Geheimnisses bei der 
Zeugnisablegung nicht widerrechtlich sein könne. Ich muß nach 
reiflicher Prüfung den entgegengesetzten Standpunkt vertreten, 
wobei ich mich in Übereinstimmung mit Liebmann (Die Pflicht 
des Arztes zur Bewahrung anvertrauter Geheimnisse. 1890. S. 7) 
befinde. Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit dieser Frage für den 
Arzt, bitte ich um die Erlaubnis, meine Ansicht etwas eingehender 
zu begründen. Die Bestimmungen der Prozeßordnungen haben 
diese Frage gar nicht entscheiden wollen. Die Begründung zum 
Entwürfe der Z. P. 0. (S. 252), die die Gesetz gewordene Bestim- 


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Meldepflicht und Verschwiegenheit»-Verpflichtung des Arztes usw. 465 


mung bereits enthielt, hebt hervor, daß, wenn auch frühere Ent¬ 
würfe der Einzelstaaten diese Zeugen als unzulässig erklären, eine 
derartig allgemeine Vorschrift doch entbehrlich erscheine, weil das 
Strafgesetz gegen Indiskretionen der zum Zeugnis vorgeschlagenen 
Personen genügend schütze. Man ist also davon ausgegangen, 
daß es zur grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Schweigepflicht 
nicht geboten sei, diese Personen als testes inhabiles auszuschließen. 
Sie sollen selber die Entscheidung darüber haben, ob sie aussagen 
wollen, das Vorhandensein des § 300 RStr. G. B. wird sie schon 
ausreichend veranlassen, die Schweigepflicht nicht zu brechen. Ob 
sie sich strafbar machen, spielt für den Rechtsstreit, in dem sie 
sich als Zeugen vernehmen lassen, keine Rolle (s. E. R G. Str. S., 
Bd. 19 S. 365). Aber in ihrem Interesse gibt das Gesetz dem 
Richter einen Hinweis, sie nicht in Versuchung zu führen, indem 
es im Schlußsatz des § 383 Z. P. 0. bestimmt: „Die Vernehmung 
der Nr. 4 und 5 bezeichneten Personen ist, auch wenn das Zeug¬ 
nis nicht verweigert wird, auf Tatsachen nicht zu richten, in An¬ 
sehung welcher erhellt, daß ohne Verletzung der Verpflichtung 
zur Verschwiegenheit ein Zeugnis nicht abgelegt werden kann." 

Den umgekehrten Weg schlug der Entwurf der Str. Pr. 0. ein, 
indem er nur die Geistlichen und die Verteidiger, aber nicht die 
Ärzte als zeugnisverweigerungsberechtigt erwähnte. Aber in der 
Kommission I. Lesung (Prot. S. 42) wurden sie auf Grund der 
Anträge Zinn und Hauck eingeschoben aus folgenden Erwägungen. 
Grade wegen der Strafandrohung des § 300 R Str. G. B. sollte der 
Arzt von der allgemeinen Zeugnispflicht bewahrt bleiben, um ihm 
die Stellung als Vertrauensmann zu erhalten, da man sonst das 
öffentliche Interesse schädige, indem man die Hilfesuchenden zur 
Zurückhaltung nötige. Wenn man das Recht der Ärzte zur Zeug¬ 
nisverweigerung nicht zulasse, so erreiche man nichts als eine 
Schädigung des Lebens und der Gesundheit der Staatsbürger, denn 
ein pflichtgetreuer Arzt werde sich lieber wegen Zeugnisverweigerung 
strafen lassen, als Aussagen machen, welche eine Diskretionsver¬ 
letzung enthalten (s. a. Prot., II. Komm., S. 805). Auch hier nirgends 
ein Wort von der Straffreiheit des Zeugnis Ablegenden! Ich habe 
bei Ärzten verschiedentlich die Meinung vertreten gefunden, daß 
das Gericht dadurch, daß es sie zum Zeugnis aufrufe, ihnen die 
Strafgefahr abnehme. Diese Auffassung ist schon deshalb un¬ 
zweifelhaft haltlos, weil das Gericht jeden über eine erhebliche 
Behauptung angetretenen Zeugenbeweis zu erheben hat und erst, 

Zeitachr. f. Bekämpfung d. Geachlechtskronkh. IT. 34 


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466 


Chotzen-Simonaon. 


wenn der Zeuge ein Zeugnisverweigerungsrecht geltend macht, 
dazu kommt, über die Berechtigung zu befinden. Aber auch dann 
hat das Gericht nicht zu prüfen, ob der Arzt sich strafbar machen 
würde, denn es hat die Weigerung als begründet anzusehen, wenn 
die Tatsachen, auf die sie sich gründet, angegeben und glaubhaft 
gemacht sind. Wie Loewe (Str. Pr. 0. § 55, Anm. 1) m. E. zu¬ 
treffend bemerkt, hat der Arzt nur glaubhaft zu machen, daß ihm 
dasjenige, worüber er aussagen soll, nur bei Ausübung seines Be¬ 
rufes anvertraut worden und daß er davon nicht auch auf andere 
Weise Kenntnis erlangt hat So hat m. E. das Oberlandesgericht 
Hamburg (Rechtsprechg. d. Oberl.-G., Bd. 6, S. 126) mit Recht aus¬ 
gesprochen, daß das Gericht den Arzt nicht von seiner Ver¬ 
schwiegenheitspflicht entbinden könne, und daß eine solche Ent¬ 
bindung, wenn sie doch erfolgen sollte, keine Straffreiheit gewährleiste, 
da eine derartige Entscheidung den Strafrichter nicht binde. Anders 
würde allerdings m. E. der Fall liegen, wenn durch eine rechts¬ 
kräftig gewordene — selbst unrichtige — Entscheidung eines Ge¬ 
richts das Zeugnisverweigerungsrecht verneint worden ist (s. R. G. E. 
in Z. S., Bd. 53, S. 317). Denn ist jemand ohne sein Verschulden 
rechtskräftig verurteilt, Zeugnis abzulegen, dann handelt er nicht 
mehr unbefugt, wenn er diese unter Strafe gestellte Pflicht erfüllt 

Für Preußen kommt als gesetzliches Redegebot ferner die 
noch in Geltung befindliche Kab. Order vom 8. August 1835 (G. S. 
S. 240) in Betracht, die im § 9 die Anzeige von vorkommenden 
Fällen wichtiger und dem Gemeinwesen Gefahr drohender an¬ 
steckender Krankheiten auch den Ärzten zur Pflicht macht, aber 
für die Syphilis insofern besondere Bestimmung trifft, als sie hier 
ausdrücklich die Anzeige nur dann vorschreibt (§ 65), wenn nach 
dem Ermessen des Arztes von der Verschweigung der Krankheit 
nachteilige Folgen für den Kranken selbst oder für das Gemein¬ 
wesen zu befürchten sind. Nur für syphilitisch kranke Soldaten 
wird die allgemeine Pflicht zur Anzeige an den Kommandeur oder 
Oberarzt angeordnet. Endlich legt § 69 den Ärzten die Pflicht 
auf, sich um die Ermittelung der Ansteckungsquelle zu bekümmern. 
Selbstverständlich handelt der diesen Bestimmungen entsprechende 
Arzt nicht unbefugt, wenn er im Rahmen dieses Gebotes ihm 
als Arzt anvertraute Privatgeheimnisse der Ortspolizeibehörde 
offenbart 

Die Ersetzung dieser Kab.-Order durch ein den zeitigen Er¬ 
rungenschaften der Wissenschaft in gewisser Beziehung gerecht 


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Meldepflicht und Verechwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 467 


werdendes Ausflihrungsgesetz zum Reichsseuchengesetz vom 30. Juni 
1900 steht, wie zu erwarten ist, in Kürze bevor. Der dem Ab¬ 
geordnetenhaus am 15. Januar 1904 zugegangene Entwurf befindet 
sich zurzeit nach der Generaldebatte, die im wesentlichen ihre Zu¬ 
friedenheit aussprach, in der Kommission. Der Entwurf läßt im 
§ 1 die beschränkte Anzeigepflicht des § 65 der Kab.-Order fallen, 
weil sie, wie die Begründung sagt, erfahrungsgemäß eher schädlich 
als nützlich wirke, denn sie verführe die Kranken zur Verheim¬ 
lichung ihres Leidens oder treibe sie Kurpfuschern in die Arme 
und trage auf diese Weise eher zur Verbreitung als zur Ver¬ 
minderung der Krankheit bei. Der Entwurf ordnet daher die 
Anzeigepflicht nur für Unteroffiziere und Mannschaften des aktiven 
Heeres an, wobei er als anzeigebedürftig nicht mehr syphilitische 
Übel, sondern, dem Stande der Wissenschaft entsprechend, Sy¬ 
philis, Tripper und Schanker nennt. Für diese drei Krankheiten 
Prostituierter gestattet er (§ 8) die Anwendung der Absperrungs¬ 
und Aufsichtsmaßregeln des Reichsgesetzes, auch können diese 
Prostituierten in zwangsweise Behandlung genommen werden, wenn 
dies zur wirksamen Verhütung der Ausbreitung der Krankheit 
erforderlich erscheint 

Selbstverständlich ist eine Offenbarung dann nicht unbefugt, 
wenn sie mit Erlaubnis geschieht Hier aber entsteht die im 
Einzelfall oft sehr schwer zu beantwortende Frage, wessen Erlaub¬ 
nis erforderlich ist oder genügt, sobald mehr als eine Person ein 
Interesse an der Geheimhaltung hat oder haben kann. Auf diesen 
Punkt will ich hier nicht eingehen. 

Das Schwergewicht wird stets in der dem Worte „unbefugt" 
beizulegenden Bedeutung zu suchen sein und auch diejenigen, die 
eine Einschränkung der Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheim¬ 
nisses erstreben, wollen nichts anderes als Bestimmungen, die in 
gewissen Fällen den Bruch des Geheimnisses ausdrücklich für be¬ 
fugt erklären. 

Je höher man den Begriff der ärztlichen Berufs Verschwiegen¬ 
heit im Interesse des Gemeinwohles wertet, desto weniger wird 
man geneigt sein, derartige Durchbrechungen des Grundsatzes zu¬ 
zulassen. 

Aber auch, davon abgesehen, erscheint es mir nicht angängig, 
derartige Ausnahmen für ein bestimmtes Krankheitengebiet zu be¬ 
fürworten, es sei denn der Nachweis erbracht, daß für dieses allein 
und kein anderes besonders triftige Gründe sprechen. Dies wird 

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468 


Chotzen-Simonson. 


in vielen, dem Gebiete der Geschlechtskrankheiten entnommenen 
Fällen überhaupt nicht zutreffen, in manchen anderen wird man, 
wenn überhaupt, das gleiche Verlangen, schon von dem gleichen 
Gesichtspunkte der Gemeingefährlichkeit aus, für die Tuberkulose, 
vielleicht aber auch für die Erkrankungen des Nervensystems, 
stellen müssen. 

Jedenfalls sollte der Gesetzgeber, insoweit er eine Einschrän¬ 
kung der Schweigepflicht über die Fälle der Erlaubnis durch den 
Berechtigten und über die bestehenden gesetzlichen Anordnungen 
hinaus gebieten oder zulassen will, dies im Gesetze zum Ausdruck 
bringen, um dem Arzte das übergroße Maß der Verantwortung 
abzunehmen, das immer noch groß genug bleiben wird, da das 
Gesetz nur allgemeine Gesichtspunkte aufstellen kann. 

Ein ausdrückliches Gebot zum Bruch der Schweigepflicht 
würde ich nur da für zulässig halten, wo das Schweigen eine 
weitere Kreise berührende Gefahr heraufbeschwören würde. 

Aber auch die Zulässigkeit des Redens würde m. E. so 
eingeschränkt wie möglich anzunehmen sein, und ich möchte hier 
gleich hervorheben, daß die von dem Oberlandesgericht Hamburg 
in dem bereits erwähnten Beschlüsse vom 20. Dezember 1902 
(Rechtspr. d. Oberl. G., Bd. 6, S. 126) an gestellte Erwägung ernste 
Beachtung verdienen dürfte. Es ist dort ausgeführt, daß nicht 
nur das Einzelinteresse des An vertrauenden, sondern ein öffent¬ 
liches Interesse aller die Verschwiegenheit bedinge. Selbst in den 
Fällen, in denen der Arzt mit dem Sonderinteresse des Anver¬ 
trauenden oder anderer berechtigter Personen nicht zu rechnen 
hätte, wird er sorgsam zu erwägen haben, ob er nicht durch eine 
Mitteilung dieses allgemeine öffentliche Interesse verletzt. 

Fromme (Die rechtliche Stellung des Arztes und seine 
Pflicht zur Verschwiegenheit im Beruf. Berlin 1902. S. 15 u. 27) 
scheint mir zu weit zu gehen, wenn er die Offenbarung gestattet, 
sofern sie sich aus Rücksichten der öffentlichen Gesundheitspflege 
oder zur Wahrung des Wohles eines Menschen oder besonderer 
persönlicher Interessen rechtfertigt. Ich habe keinen Zweifel, 
daß der Arzt z. B. das Berufsgeheimnis nicht verletzen darf, um 
sein berufliches Verhalten zu rechtfertigen, wie dies auch fran¬ 
zösische Gerichte mehrfach ausgesprochen haben. Dagegen würde 
ich ihm bei Rechtsstreitigkeiten über Honorarforderungen das 
Recht zugestehen, soweit, wie es zum Beweise, namentlich der 
Angemessenheit seiner Forderung, unbedingt erforderlich ist, auf 


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Meldepflicht und Verschwiegenheit*-Verpflichtung des Arztes usw. 469 


die Lage des Falles einzugehen. Er würde sonst rechtlos gemacht* 
auch werden die Fälle, daß Ärzte unbillige Forderungen vor Ge¬ 
richt bringen, verhältnismäßig selten sein, so daß es also der 
Eiranke sich meist selbst zuzuschreiben haben wird, wenn das 
Geheimnis bei solcher Sachlage nicht gewahrt wird. Abgesehen 
hiervon würde ich der Wahrung persönlicher Interessen keine 
Straffreiheit gewähren. Der Begriff der Wahrung des Wohles 
eines Menschen ist sehr weit und unklar. Für die nicht seltenen 
Fälle, daß vor Eingehung eines Verlöbnisses oder einer Ehe der 
eine der beiden Beteiligten oder ein Verwandter vom Arzte Aus¬ 
kunft über die Gesundheit des andern Teils verlangt, bedarf es 
m. E. überhaupt keiner Durchbrechung des Grundsatzes der 
Schweigepflicht, denn der gewünschte Erfolg läßt sich dadurch 
herbeiführen, daß man den, über dessen Gesundheit man Auskunft 
wünscht, um die Erlaubnis angeht, seinen Arzt zu befragen oder 
daß man von ihm verlangt, daß er sein Leben bei einer Ver¬ 
sicherungsgesellschaft versichert und die Polize zeige; tut er dies 
nicht, so läßt sich daraus ein ausreichender Schluß ziehen. Daß 
der Arzt ungefragt reden sollte, kann ich nicht ohne weiteres zu¬ 
geben. F. Ottmer (die Gattin des kürzlich verstorbenen Carl 
Emil Franzos) behandelt diese hochinteressante Frage in einer 1902 
in Buchform (Berlin, Concordia) erschienenen Novelle „Schweigen“ 
Ein Arzt kann sich nicht darüber schlüssig werden, ob er den 
Eltern eines Mädchens, das er liebt und das sich mit einem ge¬ 
wissenlosen Manne verlobt hat, dem er nach eingehender Unter¬ 
suchung gesagt hat, daß er nicht heiraten dürfe, den Sachverhalt 
mitteilen solle. Er hat bisher geschwiegen, um seines Berufes 
würdig zu bleiben, und in seiner ihn unsäglich peinigenden Rat¬ 
losigkeit sucht er seine verständige Schwester auf und sagt ihr: 
„Noch ist es Zeit, darf ich reden — macht es mich nicht ehrlos?“ 
Und sie antwortet ihm: „Das ist eine falsche Ehre, die zögert, 
einen Mitmenschen vor dem Untergange zu retten," und auf seine 
Einwürfe erwidert sie: „Wer eine Krankeit geheim hält, um andere 
zu betrügen, verdient keine Schonung“ und „Hier handelt es sich 
um einen besondern Fall, wo das Wahren der Verschwiegenheit 
in keinem Verhältnisse steht zum angerichteten Unglück." Er 
aber schwieg, und ich möchte fast meinen, er hat recht gehandelt 
Ein „besonderer Fall“ wird fast stets vorliegen, es handelt sich 
auch gar nicht um die eigene Ehre des Arztes, um die Ehre 
seines Standes, sondern darum, daß, wenn der einzelne „besondere 


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470 


Chotzen-Simonson. 


Fall" die sittliche Pflicht zum Reden rechtfertigen würde, damit 
der seit Jahrtausenden festgehaltene Grundsatz der Schweigepflicht 
beseitigt würde. Wie so oft im Leben muß hier der Einzelne dem 
Wohle des Ganzen ein Opfer bringen, ja zum Opfer werden. 

Noch ungleich weniger rechtfertigt sich das von Flesch und 
Wertheimer „Geschlechtskrankheiten und Rechtsschutz“ (Jena 1903 
S. 44) ausgesprochene Verlangen, daß der den geschlechtskranken 
Ehemann behandelnde Arzt in Ehesachen, die auf das Auftreten 
von Syphilis und Gonorrhoe gestützt sind, als Sachverständiger 
oder sachverständiger Zeuge vor Gericht der Wahrung des Be¬ 
rufsgeheimnisses ohne weiteres als entbunden angesehen werden 
solle. Einmal greift hier der oben bereits erhobene Einwurf durch, 
daß keine Gründe vorliegen würden, diese Befreiung auf Geschlechts¬ 
krankheiten zu beschränken. Mag man den Fall unter den Ge¬ 
sichtspunkt der Wahrung persönlicher Interessen oder unter den 
der Wahrung des Wohles eines Menschen bringen, gleichviel, auch 
hier geht das Interesse der Gesamtheit vor. Die beiden Verfasser 
benutzen gewissermaßen als Unterlage für ihr Begehren eine sehr 
interessante Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg (Rechtspr. 
d. Oberl. G., Bd. 3, S. 245). Es wird dort ausgeführt, daß der ehe¬ 
liche Geschlechtsverkehr zur selbstverständlichen Voraussetzung 
habe, daß kein Teil den andern durch Geschlechtskrankheit ge¬ 
fährden dürfe. Daraus ergebe sich der Anspruch des einen Teils 
gegen den andern, über Entstehung und Art einer sich hei dem 
andern zeigenden Geschlechtskrankheit verläßlichen Aufschluß zu 
erhalten. Da aber der Arzt durch § 300 R. Str. G. B. zur Ver¬ 
schwiegenheit verpflichtet sei und der gesunde Teil ein Recht auf 
sachverständige Auskunft habe, so bestehe für diesen ein recht¬ 
licher, im Rechtswege zu verfolgender Anspruch gegen den andern 
Ehegatten, daß er seinen Arzt von der Schweigepflicht entbinde. 
Dementsprechend ist denn auch erkannt Unter Heranziehung der 
Bestimmung der Z. P. 0. (§ 894), daß eine Willenserklärung, zu 
deren Abgabe jemand verurteilt ist, mit der Rechtskraft des Urteils 
als abgegeben gilt, führen Flesch und Wertheimer aus, daß 
mit der Rechtskraft eines derartigen Urteils der Arzt als von der 
Schweigepflicht entbunden gilt und nunmehr aussagen muß. Wäre 
das Urteil und diese Schlußfolgerung unbedenklich richtig, dann 
wäre auch das Verlangen dieser beiden Schriftsteller nach der er¬ 
wähnten gesetzlichen Neuregelung begründet, die das Erfordernis 
eines derartigen Zwischenstreits unnötig macht. Aber einmal ist 


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Meldepflicht and Verschwiegenheit«-Verpflichtung des Arztes usw. 471 


die rechtlliche Auffassung des Hamburger Oberlandesgerichts über 
die Rechtspflicht der Ehegatten untereinander, sich stets über 
ihre geschlechtlichen Gesundheitsverhältnisse vollen Aufschluß zu 
geben — ich betone, daß ich nur von der Rechtspflicht spreche —, 
höchst bedenklich, wie dies auch das Reichsgericht nicht verkennt 
(s. E. R. G., Bd.58, S. 317), ferner aber ist, wie das Reichsgericht 
ebenfalls ausgesprochen hat, die Heranziehung des § 894 Z. P. 0. 
unrichtig, da die Verurteilung des einen Ehegatten zur Abgabe 
einer Willenserklärung, weil nur dem andern Ehegatten gegenüber 
ergangen, den Arzt noch nicht von seiner Schweigepflicht befreit 
(8. Rechtspr. d. Oberl. G., Bd. 6, S. 127). Der erwähnte Fall hatte 
nämlich folgenden, Flesch und Wertheimer noch nicht bekannt 
gewordenen Verlauf genommen. Trotz Rechtskraft jenes Urteils 
hatte der Arzt sich geweigert, über die Frage, ob er den Ehe¬ 
mann an während der Ehe frisch erworbener Syphilis behandelt 
habe, als Zeuge auszusagen. Das Oberlandesgericht hatte aber 
mit Rücksicht auf jene rechtskräftige Entscheidung in Verbindung 
mit § 894 Z. P. 0. angenommen, daß der Arzt von der Schweige¬ 
pflicht entbunden und daher zeugnispflichtig sei. Das Reichsgericht 
hat indessen mit der erwähnten Begründung, daß das gegenüber 
der Ehefrau ergangene Urteil dem Arzte gegenüber nicht wirke, 
das den Arzt zur Ablegung des Zeugnisses verurteilende Zwischen¬ 
urteil aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurück¬ 
verwiesen, worauf dieses dieselbe Entscheidung mit anderer Be¬ 
gründung wiederholt hat. Das Reichsgericht hat dann in dem 
Beschlüsse vom 19. Januar 1903 (E. R. G., Bd. 53, S. 815) die Zeug¬ 
nispflicht des Arztes verneint Nachdem es festgestellt hat, daß 
es sich um ein anvertrautes Privatgeheimnis handelt und daß es 
ganz besonderer Gründe bedarf, um dessen Offenbarung als eine 
befugte erscheinen zu lassen, führt es aus, daß allerdings dem 
Ehegatten gegenüber sich mancherlei solche Gründe denken ließen, 
ja daß es sogar unter Umständen als ganz berechtigt erscheinen 
könne, wenn der Arzt gegen den ausgesprochenen Willen des 
Kranken dessen Ehegatten Mitteilung von einer solchen Krankheit 
mache. Denn wie es Rechtspflichten gebe, die einer Verschwiegen¬ 
heitspflicht vorgehen (wie z. B. die Anzeigepflicht des § 139 Str.G.B.), 
so seien auch höhere sittliche Pflichten anzuerkennen, vor denen 
die Verpflichtung zur Verschwiegenheit zurücktreten müsse. So 
könne es z. B. unter Umständen für den Arzt geboten erscheinen, 
die Ansteckung der Ehefrau nach Möglichkeit dadurch zu ver- 


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Chotzen-SimoDson. 


hindern, daß er ihr von der geschlechtlichen Erkrankung des 
Mannes Kunde gibt, wie es auch vielleicht nicht schlechthin aus¬ 
geschlossen wäre, eine solche moralische Mitteilungspflicht unter 
besonderen Umständen einer dritten Person gegenüber, die nicht 
die Ehefrau wäre, als gegeben anzunehmen. Aber hier handle es 
sich nicht um eine zur Erhaltung der körperlichen Gesundheit 
der Klägerin zu machende Mitteilung, sondern die Klägerin wolle 
die Aussage nur benutzen, um einen Ehebruch ihres Mannes zu 
erweisen und dadurch die Scheidung zu erlangen. Nun könne 
man freilich auch darin einen sittlichen Zweck erblicken, einer 
Ehefrau zur Scheidung von ihrem Manne zu verhelfen, wenn dieser 
sich so schwer gegen sie vergangen habe. Aber das wäre im Ver¬ 
gleiche mit der Verschwiegenheitspflicht nicht die höhere sittliche 
Pflicht; vielmehr würde mit solchen Erwägungen dieser ganze Fall 
des Zeugnis Weigerungsrechts überhaupt zu beseitigen sein. 

Also das Reichsgericht erkennt zwar die Möglichkeit an, daß 
die Rechtspfiicht der Verschwiegenheit vor einer höheren sitt¬ 
lichen Pflicht zurückzutreten habe, aber es sieht in dem Zwecke, 
einem Ehegatten den Beweis für seinen Scheidungsgrund zu 
schaffen, zwar möglicherweise einen sittlichen Zweck, aber dieser 
vermöge nicht eine im Verhältnisse zum Schweigegebot höhere 
sittliche Pflicht auszulösen. Wenn das Reichsgericht auch weitere 
Gründe hierfür nicht angibt, als den, daß andernfalls die das 
Recht der Zeugnisweigerung regelnde Bestimmung der Proze߬ 
gesetze gegenstandslos würde, so wird ihm doch in diesem Ergeb¬ 
nisse beizustimmen und deshalb der Flesch-Wertheimersche 
Vorschlag nicht zu befürworten sein. Verlangt das Gemeinwohl 
die Schweigepflicht, so darf sie nicht aus Gründen eines Einzel¬ 
interesses beseitigt werden und gewiß nicht, wenn es sich nicht 
darum handelt, das Wohl eines Einzelnen gegen künftige Schädi¬ 
gungen der Gesundheit zu schützen. 

Ungleich bedenklicher ist die Beantwortung der Frage, wenn 
es sich um den zukünftigen Schutz des Einzelnen oder gar eines, 
wenn auch beschränkten, Personenkreises handelt. Der die Auf¬ 
rechterhaltung des Grundsatzes der Verschwiegenheit wünscht, muß 
die Gesichtspunkte des Mitleids, des Mitgefühls, der Pflicht der 
Hilfe gegenüber dem Nächsten zurückstellen. Für ihn darf nur 
entscheidend sein, ob dem auf der Wahrung des Gemeinwohles 
ruhenden Grundsatz andere ebenso wichtige Rücksichten auf das 
allgemeine Wohl entgegentreten, die die Offenbarung zu einer 


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Meldepflicht und Verschwiegenheit«-Verpflichtung des Arztes usw. 473 

höheren sittlichen Pflicht machen, denn wie Liebmann (S. 46)m.E. 
zutreffend hervorhebt, kann der Staat eine Geheimhaltung, die gerade¬ 
zu dem von ihm vorgesteckten Ziele widerspricht, nicht gewollt haben. 

Wenn der hinzugezogene Arzt feststellt, daß ein Hauskind 
oder sonst in der häuslichen Gemeinschaft Lebender, wie z. B. ein 
Dienstbote, an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit leidet, so 
würde ich hiernach allenfalls den Arzt, der nach Lage der Um¬ 
stände eine Ansteckung anderer Mitglieder der Hausgemeinschaft 
besorgt, wenn andere Mittel versagen, z. B. der Kranke nicht 
sofort dem ärztlichen Anraten gemäß sich in ein Krankenhaus 
begibt, zur Mitteilung an den Vorstand der häuslichen Gemein¬ 
schaft (Vater, Pensionsvorsteher oder dergl.) für befugt erachten, 
denn hier kann man wohl sagen, daß das öffentliche Wohl in 
Frage kommt, und es ist dann gleichgültig, ob der Kranke oder 
der Hausherr sich an den Arzt gewendet hat. Aber der Arzt 
muß sich klar sein, daß dieses Mittel nur im äußersten Falle zur 
Anwendung gelangen darf, nur nach vorgängiger Androhung und 
nur, wenn es entweder ausreichende Vorsichtsmaßregeln bei Ver¬ 
bleiben in der Gemeinschaft nicht gibt oder er erwarten muß, daß 
sie nicht beobachtet werden. Ist der Hausherr selbst der Kranke, 
so wird die Mitteilung an das zunächst in Frage kommende Haupt 
der Gemeinschaft, sonst an alle Mitglieder zu richten sein. Nicht 
die Sorge um das W T ohl des Kranken kann einen Bruch der 
Schweigepflicht gebieten, sondern nur das öffentliche Wohl, das 
den Schutz der Gesunden verlangt, und auch dieses rechtfertigt 
die Offenbarung nur dann, wenn auf andere Weise dieser Schutz 
nicht bewirkt werden kann. Daher möchte ich Fromme (S. 28) 
nicht beitreten, der bei Erörterung des Falles, daß eine Haus¬ 
tochter ohne Wissen der Eltern sich dem Arzte an vertraut hat 
und von diesem für schwanger befunden worden ist, annimmt, daß 
das Wohl der Tochter die Mitteilung an die Eltern erlaube, ja 
erfordere, während ich mit ihm die festgestellte ansteckende Ge¬ 
schlechtskrankheit der Amme wohl für anzeigefähig erachten 
möchte. Sollte dieser Grundsatz Billigung finden, so würde es 
sich empfehlen, ihn als Unterabsatz zu § 300 R. Str. G. B. etwa in 
folgender Form festzulegen: „Unbefugt ist die Offenbarung eines 
Arztes usw. nicht, wenn sie aus Gründen des öffentlichen Ge¬ 
meinwohls zum Schutze der Gesundheit anderer Personen als des 
Kranken notwendig erscheint" Vielleicht wird man dann auch 
den Ottmerschen Fall hierunter einbegreifen können. 


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474 


Chotzen-Simonson. 


In den Rahmen einer derartigen gesetzlichen Bestimmung 
würde auch die von Neisser (Zeitschr. f. Bek. d. Geschlechtskr. 
Bd. 1, S. 238 ff.) geforderte beschränkte Anzeigepflicht „der Ärzte 
an die von ihm erstrebte Sanitätskoramission fallen, während die 
von ihm gewünschte allgemeine Anzeigepflicht (S. 241) zu statistischen 
Zwecken, da sie ohne Namensnennung erfolgen soll, die Geheim¬ 
haltungspflicht überhaupt nicht verletzt. 

Das in bälde zu erwartende Ausführungsgesetz zum Reichs¬ 
seuchengesetz will die Anzeigepflicht der Kabinetts-Order vom 
8. August 1835, abgesehen von Soldaten, ganz fallen lassen. So¬ 
weit die Kab.-Order die Anzeige für den Fall gebot, daß der Arzt 
aus der Verschweigung der Krankheit nachteilige Folgen fiir den 
Kranken selbst befürchtete, steht die Aufhebung mit der von mir 
vertretenen Auffassung im Einklang, soweit die Aufhebung darüber 
hinausgeht, wird sie bei der zurzeit bestehenden Regelung des 
Prostitutionswesens und in Ermangelung einer sonstigen wirksamen 
Überwachung wohl auch von den verschiedenen Richtungen der regle¬ 
mentarischen Schule nicht bekämpft werden. Da aber die geordnete 
Zusammenfassung der Bestrebungen zum Schutze gegen Geschlechts¬ 
krankheiten noch sehr jung ist, so ist es m. E. zu bedauern, daß 
durch ein preußisches Gesetz überhaupt jetzt schon zu der Frage 
Stellung genommen wird. Ich sollte meinen, daß man besser die 
Geschlechtskrankheiten ausschiede, um, wenn die so wichtigen 
Fragen ausreichend geklärt sind, dieses ganze für das Volkswohl 
so ungeheuer bedeutungsvolle Gebiet reichsgesetzlich zu regeln. 
Die Frage der ärztlichen Berufsverschwiegenheit wird in dem 
preußischen Ausführungsgesetze nur äußerst nebensächlich be¬ 
handelt und auch dies in einer Weise, die mit meinem Vorschläge 
nicht in Widerspruch steht. Es steht also nichts im Wege, bei 
der bevorstehenden Revision des Strafgesetzbuchs dazu Stellung 
zu nehmen, und ich spreche, indem ich schließe, die Hoffnung aus, 
daß die ganz Deutschland umfassende, junge, mit frischer Kraft 
arbeitende Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 
diese Frage im Laufe der nächsten Jahre sorgsamer Erörterung 
für würdig erachte. 


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Referate. 


Max Thal« Sexuelle Moral Breslau, Wilh. Koebner. 1904. 

Die Anregung zu seiner Arbeit gaben dem Verf. zwei in jüngster 
Zeit erschienene Abhandlungen, die beide auch in dieser Zeitschrift be¬ 
sprochen worden sind; es sind dies die Broschüre von Johanna Elbers- 
kirchen über „die Sexualempfindung von Mann und Weib“ und der 
Vortrag von Carl Fraenkel: „Die Bekämpfung der Geschlechtskrank¬ 
heiten.“ Sie haben die Kritik Max Thals herausgefordert, dessen Auf¬ 
satz aber weit über eine eigentliche polemische Schrift hinausgewachsen 
ist und eine auf selbständigen Untersuchungen und eignem Nachdenken 
basierende Studie darstellt. Der Verf. versucht in ihr das Problem der 
sexuellen, insbesondere der sogen, „doppelten“ Moral seiner Lösung 
näher zu bringen und deutet schon in dem einleitenden Kapitel seinen 
Standpunkt an, indem er für seine Ausführungen das Interesse aller 
derer fordert, „welche die Unzulänglichkeit und innere Verlogen¬ 
heit der überkommenen herrschenden Moralanschauungen em¬ 
pfinden und der Erkenntnis sich nicht verschließen, daß unter ihrem 
Schutze und Deckmantel ein Teil der Menschheit schadlos sündigt, 
während ein anderer Teil unter ihren Rutenstreichen schuldlos 
leidet.“ Man kann mit dem Verf. in der Charakterisierung unserer heutigen 
Moral rückhaltlos übereinstimmen; den von ihm aufgestellten Gegensatz zwi¬ 
schen „schadlos Sündigenden“ und „schuldlos Leidenden“ vermag ich aber 
nicht anzuerkennen. Erst jüngst hat B lasch ko *) gegen die von Thal 
vertretene Auffassung in überzeugendster Weise Widerspruch erhoben 
und darauf hingewiesen, daß, wenn diese (sc. biologischen, ökonomischen 
und soziologischen) Zustände eine zwiespältige geschlechtliche Moral für 
beide Geschlechter geschaffen haben, es nicht angeht, nur das eine Ge¬ 
schlecht als das Opfer hinzustellen, sondern daß man einsehen muß, 
wie sehr beide Geschlechter in gleicher Weise, wenn auch in 
anderer Form, unter dem unerbittlichen Zwange dieser Ver¬ 
hältnisse leiden. — Im 2. Kapitel widerlegt der Verf. die Behaup¬ 
tung, „daß die Geschlechtsempfindung beim Weibe und beim Manne 
gleichartig und gleichwertig“ sei, — nicht bloß, indem er die Züricher 
Medizinerin erheblicher Fehler in der Beobachtung, grober Mängel an 
Logik und beträchtlicher Lücken in ihrem Wissen überführt, sondern 
auch selber den Beweis dafür erbringt, „daß das sexuelle Empfinden 
von Mann und Weib wesentliche Verschiedenheiten zeigt, die 

l ) Mitteilungen d. D. G. z. B. d. G. Bd. II. Heft 2. 


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476 


Referate. 


in den natürlichen Verhältnissen selbst ihre Ursachen haben.“ 
— Das 3. Kapitel hat die Überschrift ,,Mutterschaft und Vater¬ 
schaft“ und ist Prof. Fraenkel-Halle „gewidmet“. Fraenkel ver¬ 
teidigt bekanntlich die „doppelte“ Moral, indem er u. a. die Verschieden¬ 
heit der physischen Folgen des Geschlechtsverkehrs für die beiden 
Geschlechter betont „Der Mann geht von dannen, als sei nichts ge¬ 
schehen; das Weib kann die größte Veränderung erfahren, die ihm 
überhaupt im Leben beschieden ist: es kann zur Mutter werden . . . 
Die Jagd nach der einheitlichen Moral für beide Geschlechter ist eine 
wunderliche Verirrung.“ Demgegenüber lautet Thals Antwort folgender¬ 
maßen: „Ist wirklich nichts geschehen? Physiologisch gewiß nichts. 
Selbst im Falle der fruchtbaren Beiwohnung bleibt der Mann schlank 
und nett, wie er ist, und kann frohgemut von dannen ziehen. Es 
werden hier indes Folgerungen gezogen, welche unmittelbar für die 
Moral Geltung haben sollen; und da sollte nicht die schöpferische 
Mitwirkung des Mannes bei der Schaffung des neuen Menschen 
vorerst in Betracht kommen? Wie, wenn jemand eine Mine unter einem 
Wohnhause der Menschen entzündet, dann schlank und frohgemut von 
dannen zieht, sollte er nicht für die unmittelbaren Folgen, für die ver¬ 
nichteten Menschenleben moralisch verantwortlich sein? Wie hierüber 
ein Zweifel nicht obwalten kann, so auch darüber nicht, daß der Mann 
moralisch für die unmittelbaren Folgen des Verkehrs, für den von ihm 
gezeugten neuen Menschen verantwortlich ist, daß er schon durch die 
geschlechtliche Vereinigung die moralische Verantwortlichkeit hierfür 
eingeht und post coitum keineswegs so, wie er kam, als wäre 
nichts geschehen, sondern mit dieser moralischen Verantwort¬ 
lichkeit für die Folgen belastet, von dannen zieht. Es ist 
etwas geschehen, etwas Großes auch für den Mann . . . Wir sehen, 
daß in moralischer Hinsicht der Geschlechtsverkehr den Mann durchaus 
nicht so unberührt läßt, wie es den Anschein hat und gang und gäbe 
ist, anzunehmen. Es ist verfehlt, die physiologische Seite des Koitus, 
wie Prof. Fraenkel dies tut, einfach mit der moralischen Seite des¬ 
selben gleichzustellen ... Was moralisch ist oder nicht, läßt sich nur 
vom Standpunkte der Moral, gemäß deren allgemein gültigen Grund¬ 
lehren, nicht aber von physiologischen oder irgendwelchen anderen Stand¬ 
punkten aus finden . . .“ 

Scharfsinnig und gedankenreich argumentiert zweifellos der Autor, 
aber der letztgenannte Satz enthält doch einen Widerspruch, den der 
Verf. offenbar selbst empfindet, auch durch eine gewisse Einschränkung 
des eben Gesagten zu mildern sucht, aber nicht zu lösen vermag. Denn 
wenn Thal meint, für die Beurteilung des moralischen Wertes oder 
Unwertes einer Handlungsweise gebe allein die Moral den einzig gültigen 
Maßstab, so erinnert das ein wenig an die bekannte Erklärung, daß die 
Armut von der pauvret4 komme. Außerdem aber ist die Auffassung 
Thals m. E. falsch, weil sie — auch im Gegensatz zu seiner eignen, 
im ganzen Verlauf seines Buches immer wieder zum Ausdruck kom¬ 
menden Überzeugung — voraussetzt, daß die Lehren der Moral von 
aprioristischem und absolutem Werte seien, während ihnen doch nur 


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Referate. 


477 


eine sekundäre und sehr variable, weil völlig relative Bedeutung zu¬ 
kommt Die Beweiskraft der Thal sehen Ausführungen wird indes durch 
das in diesem Zusammenhänge nur unwesentliche Versehen gar nicht 
beeinträchtigt. — Im nächsten Kapitel werden die „Grundfragen der 
Morallehre“ zu beantworten gesucht, insbesondere wird die christliche 
Ethik einer eingehenden Erörterung unterzogen. Der Verf. erweist sich 
hier als ein geistvoller und kritischer Philosoph, und seine Definition: 
„Moralisch handeln heißt menschliche Entwicklungsmöglich¬ 
keiten fördern, unmoralisch handeln heißt solche Entwick¬ 
lungsmöglichkeiten hemmen“ — zeugt von scharfem und durch 
vorurteilslose Beobachtung, geschultem naturwissenschaftlichen Denken. — 
Mit beißender Satire zieht Thal im 5. Kapitel gegen „die herrschenden 
Anschauungen über sexuelle Moral“ zu Felde; er ficht mit der schneidigen 
Waffe einer unerbittlichen Logik, und unter deren wuchtigen Hieben 
sehen wir das ganze Heer der Thesen und Dogmen unseres modernen 
Sittenkodex vernichtet werden; rücksichtslos — nur der Wahrheit zu 
Diensten — zerreißt er das aus Gewohnheit, Prüderie und Heuchelei 
gewobene Netz, in dem wir, selbst kaum dessen uns bewußt, gefangen 
sind. — Im folgenden Abschnitt seines Buches erörtert der Verf. die 
Frage nach der „Moralität des geschlechtlichen Verkehrs überhaupt und 
der doppelten Moral.“ Den ersten Teil dieser Frage beantwortet Thal 
dahin, daß der Geschlechtsverkehr „moralisch und gut“ ist, wenn er 
erfolgt: 1. von voll geschlechtsreifen, gesunden Personen in 
maßvoller Weise; 2. auf Grund gegenseitiger Übereinstim¬ 
mung und Neigung; 3. im beiderseitigen Bewußtsein der Ver¬ 
antwortlichkeit für das zu zeugende Kind und der dadurch 
begründeten elterlichen Pflichten; 4. ohne Verletzung sitt¬ 
lich begründeter Pflichten, insbesondere der Treue eines der 
Liebenden, gegenüber dritten Personen; — daß er aber in 
dem Maße als er auch nur gegen eine dieser Voraussetzungen 
verstößt, sittlich verwerflich wird.“ 

Der Punkt 8. dieser Definition würde meinen entschiedenen Wider¬ 
spruch herausfordern, wenn er nicht von Thal selbst eine beachtens¬ 
werte und nach meinem Dafürhalten sehr berechtigte und durch die 
eignen geistvollen Ausführungen des Verfs. glänzend motivierte Ein¬ 
schränkung erfahren hätte; eine Einschränkung, die durch die Tatsache 
bedingt ist, daß der mit möglichster Vermeidung einer Konzeption 
ausgeübte Verkehr an und für sich keineswegs unsittlich zu sein braucht. 
Die Antwort auf die zweite der gestellten Fragen: „Inwieweit ist der 
Geschlechtsverkehr moralisch anders für den Mann als für das Weib 
zu beurteilen?“ soll die Lösung des Problems der doppelten Moral 
bringen. Sie ergibt sieh aus der oben erfolgten Feststellung der Ge¬ 
samtheit der Voraussetzungen, welche für die Moral des Verkehrs ma߬ 
gebend sind. „Dabei hat sich ein irgendwie erheblicher Unterschied in 
den Voraussetzungen für Mann und Weib nicht gezeigt; an beide stellt 
die Moral (mit der alleinigen Ausnahme der Rücksichtnahme des Weibes 
auf ihre eigne Gebärtüchtigkeit, welche indessen mit der beiderseits zu 
wahrenden Rücksicht auf «Gesundheit» zusammenfUllt) genau die gleichen 


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478 


Referate. 


Anforderungen . . . Hieraus folgt unzweifelhaft, daß die geschlecht¬ 
liche Moral für Mann und Weib die gleiche ist und eine «dop¬ 
pelte Moral» in Wahrheit nicht existiert.“ — 

Das Schlußkapitel handelt von der „Ehe“. Die Stellungnahme des 
Verfs. zu ihr wird am besten durch dessen eigne Worte charakterisiert: 
„Die Einehe ist die denkbar innigste und stärkste Verbindung zwischen 
einem Manne und einer Frau zum Zwecke sowohl der vollständigen 
Lebens- und Seelengemeinschaft, als auch der Erzeugung und 
gemeinsamen Erziehung der Kinder“ . . . „Aber sie ist nicht 
der Abschluß, sondern eine Stufe der Entwicklung, die nimmer 
still steht“ . . . „Das Prinzip der Unauflöslichkeit wird die Ehe 
in Zukunft fallen lassen, auf ihre und der ehelichen Nachkommen recht¬ 
liche und moralische Privilegierung wird sie Verzicht leisten müssen“ ... 
„Wie von einem schweren drückenden Alp befreit würde die Menschheit 
aufatmen und in der Ehe seelische Zufriedenheit und sittliches Gedeihen 
finden können, wenn die Fessel der Unauflöslichkeit fiele. Dann erst 
wird die rechte Ehe, die Menschen selbst zu sich heranziehend, ohne 
Zwang ihr schönstes und höchstes Lebensziel werden. Die sich 
entwickelnde Gemeinschaft der Interessen und Pflichten, die gemeinsame 
Liebe zu den Kindern, wird die Ehe zu einer frei willig unauflöslichen 
machen; und sie wird dann in Wirklichkeit und im Leben dem Ideale, 
das wir aufstellten, näher kommen: dem Glück der Ehegatten und 
der Vervollkommnung der Art.“ — 

Die ausführliche Besprechung, die wir dem Buche von Max Thal 
gewidmet haben, rechtfertigt sich schon dadurch, daß es durchweg von 
sittlicher Würde und wissenschaftlichem Ernste getragen ist und die 
vornehme Form wie der gediegene Inhalt nicht nur bei den Anhängern, 
sondern auch bei den Gegnern der darin vertretenen Anschauungen An¬ 
erkennung finden muß und wird. Die Leser unserer Zeitschrift — und 
weite Kreise darüber hinaus — mögen daraus das eigentümliche Schick¬ 
sal, das dem Buche von Thal widerfahren ist, in seiner ganzen Bedeu¬ 
tung würdigen: Das „Börsenblatt“ — das offizielle Organ des 
deutschen Buchhandels!! — hat die Aufnahme einer auf die 
Th al sehe Broschüre bezüglichen Anzeige verweigert, mit der 
Begründung, „daß eine solche infolge der überhand nehmen¬ 
den geschlechtlichen populären Literatur Anstoß erregen“ 
müßte!! Auf eine Beschwerde beim Ausschuß für das Börsenblatt 
bestätigte dieser, daß „derartige Werke“ nicht mehr zur Insertion 
gelangen. Und warum? Lediglich wegen des Titels! Von dem 
Inhalte hatte die Redaktion überhaupt nicht Kenntnis ge¬ 
nommen !! 

In dem letzten Hefte unserer „Mitteilungen“ ist diese merkwürdige 
Art der Titularzensuren bereits einer eingehenden Kritik unterzogen 
worden, auf die ich an dieser Stelle nur kurz zu verweisen brauche. 
Nachdem das seltsame Verhalten des „Börsenblattes“ an allen einsichtigen 
und vorurteilsfreien Siellen, auch bei einem Teile unserer Tagespresse, 
geradezu Entrüstung bervorgerufen, haben sich nach langem Zaudern 
Redaktion und Ausschuß des „Börsenblatts“ endlich doch davon über- 


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Referate. 


479 


zeugt, daß sie verkehrt gehandelt haben; diese freilich etwas späte Er¬ 
kenntnis ihres Irrtums überhebt uns der Notwendigkeit, auch von hier 
aus gegen jene „Buchhändler-Prüderie“ Protest zu erheben. Die 
Inserate, betr. die Thal sehe Broschüre haben inzwischen in dem Börsen¬ 
blatts Aufnahme gefunden, und es ist dringend zu wünschen, daß dem 
lehrreichen und geistvollen Buche ein recht großer und verständiger 
Leserkreis zu teil werde. Es hat Anspruch darauf. — 

Dr. Max Marcuse (Berlin). 


Jules Janet. Prophylaxe der Gonorrhoe. Annales de th£rapeutique dermato- 
logique et syphiligraphique. Tome IV. Nr. 1. (Referat aus Revue de 
th6rap. med. ch. 15. Dezember 1903). 

Der Autor vertritt die Anschauung, daß es unzweckmäßig sei, die 
Gonorrhoe der Prostituierten zu heilen. Bei der ersten Ansteckung ent¬ 
stünden bei derselben heftigere Entzündungserscheinungen, sie kommt 
ins Krankenhaus, verläßt dasselbe wieder ohne Entzündungserscheinungen, 
aber mit Gonokokken. Sie wird immer wieder frisch infiziert, wird 
nach eiuigen Jahren schließlich immun nicht gegen den Gonokokkus, 
aber gegen sein Toxin. Sie beherbergt denselben, wenn auch in geringer 
Zahl, dauernd, obgleich die Genitalien dabei anscheinend vollständig 
gesund sind. Angesichts dieser Tatsache zweifelt der Autor an der Mög¬ 
lichkeit, ein Gonokokken tötendes Serum herzustellen, da die Prosti¬ 
tuierten, obgleich mit Gonokokkentoxinen gesättigt, den Gonokokkus 
nicht zerstören, wenn auch in seiner Wirkung paralysieren können. 
Von dieser Anschauung ausgehend, glaubt der Autor, daß man den 
Prostituierten einen schlechten Dienst erweise, wenn man ihre Gonorrhoe 
antibakteriell behandle. Man erreiche bei einer eventuellen Heilung nur, 
daß die unausbleibliche neue Infektion eine akute Gonorrhoe hervorrufe. 

Trotzdem hält Janet die Infektionsgefahr nicht für übermäßig 
groß, da die Gonokokken bei den Prostituierten mit der Zeit immer 
spärlicher werden und schließlich nur noch gelegentlich aus Schlupf¬ 
winkeln hervorkommen. Ferner, weil die Prostituierten gewisse Vor¬ 
sichtsmaßregeln brauchen: vor dem Koitus urinieren, Ausspülung machen 
und Schwämmchen in die Vagina einführen. Unglücklicherweise werden 
diese Vorsichtsmaßregeln nur von der besseren Prostitution angewandt. 
Man müßte auch die übrigen in diesem Sinne besser instruieren. Hierzu 
kommen die Vorsichtsmaßregeln, die der Mann nach dem Koitus ge¬ 
brauchen soll, welche die Infektionsgefahr bedeutend herabsetzen. Urinieren 
mit zeitweiser Kompression der Harnröhrenöffnung und Waschungen 
nach dem Koitus hält der Autor durchaus nicht für so nutzlos als man 
glaubt. Am häufigsten treten Infektionen ein bei Koitus im Chambre 
separöe, in der Droschke usw., wo eine nachträgliche Reinigung nicht 
möglich ist. Er sah viele Männer monatelang mit einer gonorrhoisch 
Infizierten verkehren, die erst ihre Gonorrhoe bekamen, wenn sie 
sich nach dem Koitus nicht wuschen. Auf das Waschen mit Seife 
nach dem Koitus legt der Autor ganz besonderen Wert. Gerade dazu 


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480 


Referate. 


bestehe häufig keine Gelegenheit. Natürlich dürfe es nicht ein Stück 
Seife sein, das von Hand zu Hand geht, sondern für jeden ein frisches 
Stück. 

Für die wohlhabendere Bevölkerung kommen außerdem folgende 
Maßregeln in Frage: 1. der Kondom als das beste Mittel. Verf. sah 
jedoch auch bei Anwendung des Kondoms zweimal gonorrhoische In¬ 
fektion, wahrscheinlich beim Zurückstreifen desselben. Ferner Waschen 
der ganzen Genitalgegend mit Sublimat. Viele seiner Patienten haben 
nur, wenn sie diese Waschungen vernachlässigten, Gonorrhoe akquiriert. 
Besonders zweckmäßig ist hierbei die Benutzung von Sublimatpapier, 
das man zum Unterschied von den Pastillen stets in der Brieftasche mit 
sich tragen kann, wenn auch die Konzentration der Lösung bei An¬ 
wendung des Sublimatpapiers nicht so genau ist. Er rät, einige Tropfen 
der V«— l°loo l 8 en Lösung nach der Waschung eine Minute auf das 
Orificium urethrae einwirken zu lassen. 

Sicherer noch helfen die verschiedenen Instillationsmethoden. Für 
den geeignetsten Apparat würde er den Blokusewskisehen Tropf¬ 
apparat halten, wenn er etwas handlicher und unauffälliger wäre, d. h. 
länger und schmäler, bleistiftähnlicher. Er empfieht seinen Patienten 
die Instillationen nach Blokusewski, Frank usw., Einspritzungen 
widerrät er vollständig, weil sie in den Händen unvorsichtiger oder un¬ 
geschickter Menschen schaden können. 

Das beste Prophylaktikum gegen Gonorrhoe schließlich ist die Ehe, 
bevor man Gonorrhoe akquiriert hat, und die eheliche Treue. 

Dr. Julius Baum, Berlin. 


Tissier. Die Syphilis im Heere der Chinaexpedition. (Le Caduc6e, 18. Juli 1903). 

Schon vor der Ankunft der Truppen der Verbündeten in Tientsin 
gab es dort Bordelle, ebenso in Peking, und zwar sowohl in dem von 
Chinesen bewohnten als auch in den, den Europäern abgetretenen Stadt¬ 
teilen, in denen sie sogar relativ zahlreich waren. Die Prostituierten 
in China zeigen sich nicht auf der Straße, sondern man muß sie in 
ihrer Wohnung aufsuchen. Neben chinesischen Prostituierten gab es 
europäische oder amerikanische Bordelle, und neben der weiblichen existiert 
in China noch eine männliche Prostitution, ferner noch eine heimliche, 
welche von eingeborenen Sängerinnen und Tänzerinnen ausgeübt wird. 
Sobald man in den Hauptstädten Garnisonen einrichtete, wuchs die 
Prostitution erheblich. In Tientsin zählte man ungefähr 20, in Peking 
mehr als 50 Bordelle. Eine der Hauptsorgen des Kommandos war die 
Reglementierung der Prostitution. Jede Stadt wurde in Quartiere ein¬ 
geteilt, und jedes derselben wurde von den Truppen einer Nation besetzt, 
welche die Polizeiaufsicht auszuüben hatten. Die chinesische Prostituierte, 
welche keine Ahnung von Reinlichkeit hat, war die Hauptquelle für 
die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten. Die einzelnen Mächte trafen 
für ihre Soldaten die Auswahl unter den Häusern, und zu Anfang ging 
auch alles gut, aber bald wurde eine Überwachung zur Unmöglichkeit. 
Die Chinesen drangen in die Bordelle ein, infizierten die Insassinnen, 


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Referate. 


481 


nach einige Tagen weigerten die Weiber sich auch, sich untersuchen 
zu lassen, und bald sah man sich gezwungen, die Bordelle zu schließen. 
Da begann die Straßenprostitution aufzublühen und mit ihr die Syphilis. 
In Japan wurde eine relativ beschränkte Zahl der Soldaten infiziert, 
weil dort die Überwachung gut und regelmäßig ist. In Nagasaki gab 
es außer den japanischen Bordellen Bars, die sich fast sämtlich in 
den Händen von russischen Juden befanden, und in denen die Soldaten 
trinken und sich mit den zu allem bereiten Mädchen unterhalten konnten. 
Da wurden auch die meisten angesteckt. Wenn man zusammenfaßt, 
so waren die schwierige, fast unmögliche Überwachung in China und 
die heimliche Prostitution in Japan die Hauptquellen der Ansteckung. 

Bruno Sklarek (Berlin). 


H. Gilleta Reglementation. Annales de therapeutique dermat. et syphili- 
graphique. Tome IV. No. 5. 1904. 

Bei der Beurteilung der Frage der Reglementierung muß man sich 
nach der Ansicht Gillets auf den rein wissenschaftlichen ärztlichen 
Standpunkt stellen. Gegen jede ansteckende Krankheit lehrt uns die 
Hygiene Vorsichtsmaßregeln ergreifen, welche darin bestehen, erstens 
den Krankheitsherd zu vernichten, zweitens den Träger der Ansteckung 
zu isolieren, drittens womöglich serotherapeutisch vorzugehen. Ebenso 
müsse es bei Gonorrhoe und Syphilis geschehen, um so mehr, als die 
davon Befallenen nicht bettlägerig sind und man ihnen die Krankheit 
nicht ansehen kann zum Unterschied von andern Infektionskrankheiten. 
Die Reglementierung nun muß für die Isolierung sorgen, besonders da 
die Infektiosität viel länger dauert, als bei den meisten anderen Infektions¬ 
krankheiten und die venerischen Krankheiten größere Bedeutung haben. 
Das ideale Ziel der Tilgung der Geschlechtskrankheiten wäre die Ver¬ 
allgemeinerung der prophylaktischen Mittel. Wenn dieses Problem auch 
schwierig und zunächst nicht ganz durchführbar sei, so dürfe man des¬ 
wegen nicht ganz untätig sein. Julius Baum, Berlin. 


L« Butte. Die Sittenpolizei. Annales de therapeutique dermatologique et 
syphiligraphique. Tome IV. Nr. 5. 1904. 

Eine Entgegnung auf einen Artikel des Abolitionisten Berthod, 
welcher den Regiementaristen vorwirft, daß sie die Prostitution künst¬ 
lich großzüchten, und die Beseitigung der Sittenpolizei fordert. Dem¬ 
gegenüber legt der Autor den Zweck der Reglementierung klar. Die 
Reglementierung soll die doch unvermeidliche Prostitution möglichst 
gefahrlos machen, ihre Gesundheit überwachen und durch geeignete Ma߬ 
regeln verhüten, daß die Prostituierten, wenn sie krank sind, nicht 
andere infizieren. Da sie sich von selbst ohne die Sittenpolizei nicht 
zur Untersuchung melden, muß man sie dazu zwingen. Die Anschauung, 
daß die Sittenpolizei die Hauptquelle der Prostitution sei, ist falsch, 
wie man an England sieht, wo keine Sittenpolizei besteht. Der Vorschlag, 

Zeltschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke II. 35 


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482 


Referate. 


die Mädchen vor den Friedensrichter zu führen, schaffe nur einen anderen 
Namen, aber ändre die Verhältnisse nicht. Jeder, der die Prostitution 
genau kenne, müsse die Sittenpolizei billigen, wenn auch gelegentlich 
Mißgriffe Vorkommen. Dr. Julius Baum, Berlin. 

Max Marcuae. Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten? 

W. Malende, Leipzig 1904. 1.50. 

Da die Frage, ob der Arzt zum außerehelichen Umgang raten darf, 
an diesen keineswegs selten heran tritt, so gilt es, die hier herrschende 
Planlosigkeit, unter der Arzt wie Patient in gleicher Weise zu leiden 
haben, durch eine grundsätzliche Stellungnahme zu beseitigen. 
Zu diesem Zwecke bedarf es zunächst einer Untersuchung über den 
Einfluß der sexuellen Abstinenz auf den Gesundheitszustand. 
Für die Praxis kommt natürlich nur die relative, d. h. teilweise 
oder temporäre Abstinenz in Betracht, da eine absolute, d. h. völlige 
und lebenslängliche Enthaltsamkeit in Wirklichkeit wohl nicht vorkomrat. 

Die etwaigen schädlichen Folgen der Abstinenz richtig zu beurteilen, 
ist aus mehrfachen Gründen sehr schwierig. Erstens wird das betreffende 
Individuum, sobald es solche Folgen zu verspüren vermeint, wenn nicht 
schwerwiegende Gründe es daran hindern, in der Regel von selbst, wenig¬ 
stens der Mann, die Enthaltsamkeit aufgeben; zweitens sind die Fälle 
von sexueller Abstinenz — auch der relativen — überhaupt nur spär¬ 
lich an Zahl und betreffen meist das weibliche Geschlecht, dessen Sexual¬ 
trieb nachgewiesenermaßen im Durchschnitt nicht stark ist, und bei dem 
überdies der Erforschung der einschlägigen Verhältnisse sehr häufig un¬ 
überwindliche Hindernisse entgegenstehen; ferner ist zu bedenken, daß, 
wo geschlechtliche Enthaltsamkeit geübt wird, oftmals in der geistigen, 
sittlichen oder materiellen Lebenshaltung des betreffenden Individuums 
Faktoren eine Rolle spielen, die ihrerseits ebenfalls schon geeignet sind, 
Schädigungen hervorzurufen, ohne daß man sie als die eigentliche Ursache 
auszuschließen vermag; und viertens endlich ist zu berücksichtigen, daß es 
häufig unmöglich ist, festzustellen, ob die Abstinenz wirklich Ursache 
oder nicht vielmehr Folge der etwa gleichzeitig vorhandenen Gesundheits¬ 
störungen ist Trotz alledem ist nach M's Ansicht durch zahlreiche ein¬ 
wandfreie Beobachtungen der Beweis erbracht, daß die sexuelle Ent¬ 
haltsamkeit eine beachtenswerte Rolle in der Ätiologie, die 
physiologische Betätigung des Geschlechtstriebes eine solche 
in der Therapie der Krankheiten spielt. Freilich sind in früheren 
Zeiten die gesundheitlichen Folgen der Abstinenz vielfach überschätzt 
worden; daß sie aber doch nicht ganz selten in Form leichterer Störungen 
des Wohlbefindens bis zu schweren Erkrankungen des Nervensystems wirk¬ 
lich Vorkommen, darüber läßt die Literatur einen Zweifel nicht zu. 

Daß die Autoren stets mehr von dem schädlichen Einfluß der Ab¬ 
stinenz auf den Mann, als von dem auf das Weib zu berichten wissen, 
erscheint selbstverständlich, wenn man die fast übereinstimmende Er¬ 
fahrung der Physiologen, der Gynäkologen und der Nervenärzte bedenkt, 
nach der 1. die normal veranlagte Jungfrau, die von sexuellen 


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Referate. 


483 


Reizen noch unberührt ist, eine eigentliche Libido kaum kennt 
und nach der es 2. unter den Frauen sehr viel mehr Naturae 
frigidae gibt als unter den Männern. Diese beiden Tatsachen 
schließen nicht aus, daß das normal organisierte Weib, wenn es den Ge¬ 
schlechtsverkehr erst kennen gelernt hat, seine sexuellen Bedürfnisse em¬ 
pfindet, die ihre Befriedigung verlangen. Nicht minder selbstverständlich 
ist es, daß die Enthaltsamkeit um so schädlichere Wirkungen zur Folge hat, 
je weniger widerstandsfähig das Nervensystem des betreffenden Individuums 
konstituiert ist, und daß völlig gesunde und normal veranlagte Leute 
eine Abstinenz oft ohne Schädigung ertragen können, während psycho¬ 
pathisch belastete und stark sinnliche Individuen ernstlich darunter 
leiden. Aus der jüngeren und jüngsten medizinischen Literatur zitiert 
Marcuse eine größere Anzahl der zuverlässigsten und erfahrensten Be¬ 
obachter, welche diejenigen Lügen strafen, die die absolute Unschädlich¬ 
keit der sexuellen Abstinenz verkündigen. Es seien hier nur einige der 
besten Namen genannt: Erb, Jastrowitz, Krafft-Ebing, Tarnowsky. 
Diese und viele andere haben ihre Beobachtungen, zum Teil unter Mit¬ 
teilung der ganz eindeutigen Krankengeschichten, niedergelegt, wonach 
es als erwiesen gelten muß, daß Hysterie und die ihr verwandten Neu¬ 
rosen, daß schwere Nerven- und Geisteskrankheiten, daß geschlecht¬ 
liche Perversitäten und seelische wie körperliche Entwicklungs¬ 
störungen gelegentlich die ernsten Folgen einer sexuellen Enthaltsamkeit 
sein könnnen. Daß solchen Autoren auch andere gegenüberstehen, welche 
nennenswerte Schädigungen der Gesundheit durch Abstinenz nicht gesehen 
haben, bedeutet wenig, zumal die positiven Befunde, deren jeder — wenn 
von einem sorgfältigen, kritischen und erfahrenen Arzt erhoben — natür¬ 
lich beweiskräftiger -ist als zehn negative, keineswegs spärlich sind; auch 
bemühen sich nur die allerwenigsten Ärzte, die sexuellen Verhältnisse 
ihrer Patienten zu erforschen — und wer nicht sucht, der kann auch 
nicht finden; ferner wird der Begriff der Gesundheit oft vielzu eng 
gefaßt; es gibt Gesundheitsstörungen, die jenseits von Stethoskop, Plessi¬ 
meter und Reagenzglas liegen; und zum Wesen der Gesundheit 
gehört auch das eigene Gefühl des Wohlbefindens. — Das Funda¬ 
ment für die ganze Stellungnahme des Verfassers zu der vorliegenden Frage 
— die sich übrigens mit der von Erb in dieser Zeitschrift vertretenen 
völlig deckt — gibt die Voraussetzung, daß der Geschlechtsverkehr 
für eine ganze Anzahl von Leiden und Krankheiten ein außer¬ 
ordentlichwirksames Therapeutikum darstellt. Nachdem Marcuse 
die Berechtigung dieser Voraussetzung nachgewiesen und daraus den zu¬ 
nächst somit ganz selbstverständlichen Schluß gezogen hat, daß der Arzt 
auch befugt ist, sich dieses Therapeutikums in seiner Praxis zu bedienen, 
erörterter ausführlich die Ein wände, die trotzdem gegen die Anwendung 
dieses Heilmittels erhoben werden können und die ja auch nahe liegen. 

Zunächst könnte entgegengehalten werden, daß die Gefahren, die 
den außerehelichen Geschlechtsverkehr umgeben, diesen als 
Therapeutikum oder Prophylactikum a priori ausschließen 
sollten. Marcuse betont dem gegenüber, daß die Gefährlichkeit eines 
Mittel, uns von dessen Verordnung überhaupt nicht abhalten darf. Wir 

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Referate. 


greifen ja täglich zu mehr oder minder differenten Medikamenten, und 
sogar angesichts einer Lebensgefahr, in die der Patient durch unsere 
Behandlung gerät, wie bei schweren Operationen, fühlen wir uns 
durchaus nicht verpflichtet, von dem uns indiziert erscheinenden Mittel 
grundsätzlich abzusehen. Was die Nähe der Gefahren betrifft, d. h. die 
Wahrscheinlichkeit, bei Gelegenheit eines außerehelichen Coitus eine Ge¬ 
schlechtskrankheit zu akquirieren, für ein weibliches Individuum noch über¬ 
dies befruchtet zu werden, so muß ohne weiteres zugestanden werden, 
daß nach der heutigen Lage der Dinge diese Wahrscheinlichkeit 
eine sehr große ist, aber doch nur, wenn der Beischlaf ohne Vorsichts¬ 
maßregeln vollzogen wird. Marcuse meint, daß wirklich peinliche 
Handhabung der uns zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen die 
Möglichkeiten der Ansteckung und Empfängnis auf einen sehr kleinen 
Best von Fällen reduziert, in denen ein besonders unglücklicher Zufall 
den Mißerfolg verschuldet. Marcuse stützt sich hierbei auf die Er¬ 
fahrungen Benarios, Michels u. a. 

Er gelangt zu der Überzeugung, daß der Arzt, wenn er die 
Chancen sachkundig und gewissenhaft ab wägt, nicht umhin kann, 
z. B. in einigen Fällen von schwerer Hysterie, bei manchen hart¬ 
näckigen Onanisten, gegenüber einer bestimmten Art von Urningen, 
bei gewissen Fällen von Angstneurose — alles Zustände, die den Klienten 
unter Umständen zur Verzweiflung und bis zum Lebensüberdruß bringen 
und durch deren Heilung oder auch nur nennenswerte Besserung der 
Arzt an diesen Unglücklichen eine Wohltat ohnegleichen übt — den 
Geschlechtsverkehr — der, wenn die Gelegenheit zum legitimen fehlt, 
eben nur extra matrimonium vollzogen werden kann — als wünschens¬ 
wert zu bezeichnen. Hieran können auch die moralischen Bedenken, 
die gegen die ärztliche Empfehlung des außerehelichen Umgangs etwa 
geltend gemacht wurden, nichts ändern. Denn erstens darf die sog. 
konventionelle Moral auf unsere therapeutischen Maßnahmen an und 
für sich in keiner Weise einen Einfluß ausüben; lediglich ihre Folgen für 
den Patienten müssen von uns in Betracht gezogen werden. Etwas 
anderes ist die Frage, ob der Arzt denn auch über seine eigene mora¬ 
lische Überzeugung sich hinwegzusetzen das Recht oder gar die Pflicht 
hat. Angenommen, der Arzt verwirft aus moralischen Gründen den 
außerehelichen Geschlechtsverkehr, den er bei einem Patienten aus thera¬ 
peutischen Gründen für indiziert hält, so resultiert ein Konflikt 
zwischen sittlicher Überzeugung und beruflicher Pflicht. Die 
Lösung heißt hier entweder Aufgabe des Berufes oder Preisgabe der 
sittlichen Überzeugung. Nur unter einer einzigen Bedingung wäre ein 
Kompromiß denkbar: Wenn der Arzt, der bei allen Krankheiten, bei 
denen er im gesundheitlichen Interesse des Patienten den Geschlechts¬ 
verkehr für indiziert hält, den zu empfehlen er aber aus moralischen 
Bedenken perborresziert, jeden Rat und jede Hilfe prinzipiell ver¬ 
weigert und den Patienten einen anderen Arzt zu konsultieren veranlaßt, 
so löst er das Dilemma auf durchaus einwandfreie Weise; tut er doch nichts 
anderes, als z. B. der praktische Arzt, der einen Patienten einem Spezialisten 
zur Behandlung überweist, weil er selbst dieser nicht gewachsen zu sein 


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Referate. 


485 


glaubt oder aus irgendwelchen anderen Gründen die Verantwortung nicht 
übernehmen will. Aber wenn der Arzt sich einmal bereit erklärt, einen 
Klienten zu behandeln, so verpflichtet er sich dadurch, dessen gesundheit¬ 
liches Interesse nach jeder Richtung hin und nach seinem besten Wissen 
und Können zu schützen und zu fördern, keineswegs darf er, um nicht 
mit seiner sittlichen Überzeugung in Widerspruch zu geraten, seinem 
Klienten eine Verordnung vorenthalten, die für diesen nützlich und heil¬ 
sam wäre. Marcuse stellt sich hierin ganz auf den Standpunkt von 
Erb: „Es ist lediglich Sache des Arztes, die Sache mit seinem Klienten 
und lediglich im Interesse dieses selbst zu erwägen und zu ent¬ 
scheiden. Der Moralist hat bei diesen rein ärztlichen Entschei¬ 
dungen keine Stimme; es ist ausschließlich der moralische 
Standpunkt des Patienten selbst in Betracht zu ziehen.“ 

Der Verf. wendet sich dann zur Widerlegung eines dritten Einwandes, 
der gegen die von ihm behauptete Berechtigung des Arztes zum Anraten 
des außerehelichen Geschlechtsverkehres geltend gemacht wird und in der 
Forderung besteht, der Arzt solle in den Fällen, in denen ihm ein sexu¬ 
eller Verkehr geboten erscheint, grundsätzlich die Verheiratung 
empfehlen. Dem gegenüber betont Marcuse mit Bezug auf ganz be¬ 
stimmte Krankheiten, daß es nicht nur frivol, sondern therapeutisch 
auch wenig aussichtsvoll wäre, diesen Patienten die Ehe anzuraten. 
Im übrigen aber sei es überhaupt unverantwortlich, jemanden zur Hei¬ 
rat zu veranlassen, der z. Zt. krank ist — hoch dazu nervenkrank. 
Dazu kommt, daß ja eine sichere Prognose niemals zu stellen und es 
darum ärztlich unmöglich ist, eine Therapie anzuwenden, die — selbst 
wenn sie versagen oder gar als schädlich sich erweisen sollte — niemals 
wieder ausgesetzt oder geändert werden kann. 

Marcuse resümiert seine Auffassung folgendermaßen: „Die Frage, 
ob dem Arzte das prinzipielle Recht zusteht, den außerehelichen 
Geschlechtsverkehr anzuraten, ist zu bejahen — und zwar 
grundsätzlich sowohl dem männlichen wie dem weiblichen 
Patienten gegenüber; indes hat der Arzt die Verpflichtung, stets 
sämtliche Folgen zu bedenken, die sein Rat für den Klienten haben 
kann; und da die Folgen eines illegitimen Verkehrs in der Regel für 
ein Mädchen oder eine Frau außerordentlich viel nachteiligere sein können 
als für den Mann, so wird in praxi der Arzt dem weiblichen Geschlecht 
gegenüber mit dem Rate zum außerehelichen Umgang noch weit zurück¬ 
haltender sein müssen, als er schon dem Manne gegenüber natürlich auch 
die Pflicht hat. Die Empfehlung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs 
muß entschieden eine Ausnahme sein; aber das grundsätzliche Recht zu 
dieser Empfehlung muß dem Arzte unbedingt zugestanden werden, und 
er darf sich nicht scheuen, von diesem Rechte in geeigneten 
Fällen Gebrauch zu machen. Dann aber hat er zugleich die absolute 
Pflicht, dem Patienten sachverständige und wahrheitsgemäße 
Aufklärung zu geben über die Gefahren, die mit dem Coitus 
extra matrimonium verbunden sind, so wie er ihn ja auch vor 
einer etwaigen Operation über die Chancen dieser zu belehren verpflichtet 
wäre. Und es ist nicht minder die unbedingte Pflicht des Arztes, 


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Referate. 


dem Klienten auch rückhaltlos die Mittel zu nennen und ihm 
deren sorgfältige Anwendung dringend ans Herz zu legen, 
durch die jene Gefahren vermindert werden können.“ 

Ich habe in vorstehendem eine besonders eingehende Analyse der 
Marcus eschen Schrift gegeben, nicht etwa, um eine Lektüre derselben 
überflüssig zu machen — sondern vielmehr um die Leser der Zeitschrift 
zu einem eingehenden Studium der überaus gehaltvollen und anregenden 
Arbeit zu veranlassen. Die Frage, welche Marcuse aufwirft, ist meines 
Erachtens für uns Ärzte eine hochwichtige, aber auch überaus schwierige, 
weil sich bei derselben rein medizinische und ethische Fragen in fast 
unlöslicher Weise miteinander verquicken. Wenn Marcuse für eine ganz 
bestimmte, nicht sehr große Zahl von Fällen dem Arzte das Recht 
zugesteht, seinem Patienten zum außerehelichen Beischlaf zu raten, so 
werden ihm wohl die meisten Ärzte beipflichten. Aber die Hauptschwierig¬ 
keit ist, wie ich glaube, für den Arzt viel weniger in diesen paar Aus¬ 
nahmefällen gegeben, als vielmehr in der großen Zahl von Fällen, in denen 
keine schweren Krankheitszustände vorliegen, sondern nur jene leichten 
Gesundheitsschädigungen, die, wie Marcuse sich recht hübsch ausdrückt, 
jenseits von Hörrohr und Plessimeter liegen, jene Schädigungen der all¬ 
gemeinen Lebensfrische und Arbeitskraft, jene so häufigen, zeitweiligen oder 
andauernden seelischen Verstimmungen, die man noch nicht gerade als Ge¬ 
müts- oder Geisteskrankheiten bezeichnen darf, und denen wir doch so 
oft auch bei manchen sonst ganz glücklich veranlagten, nicht nervösen oder 
psychopathischen Individuen begegnen wenn sie aus irgend einem Grunde ge¬ 
zwungen sind, eine starke Regung ihre sinnlichen Triebe lange Zeit waltsam 
niederzukämpfen. Auch die Frage, wie der Arzt sich gegenüber den so zahl¬ 
reichen Fällen von Masturbation verhalten soll — nicht zur Zeit der schweren 
Erkrankung sondern im Rekonvaleszenzstadium, nachdem es gelungen ist, die 
krankhafte Neigung für längere Zeit zu unterdrücken und wo es gilt 
einen Rückfall in den alten Zustand zu verhüten, wäre noch näher 
zu erörtern. 

Und wie vor allem soll sich der Arzt verhalten in der weitaus 
größeren Zahl von Fällen, in denen sein Klient mit dem außerehelichen 
Geschlechtsverkehr als mit einer Selbstverständlichkeit rechnet und an seinen 
Arzt — wiederum wie etwas ganz Selbstverständliches — das gleiche An¬ 
sinnen richtet? Das Merkblatt der Deutschen Geselisch. z. B. d. G, warnt 
in solchen Fällen vor dem außerehelichen Geschlechtsverkehr wegen der 
Gefahr der venerischen Infektion; wie aber, wenn besondere Um¬ 
stände eine solche Infektion als unwahrscheinlich oder ausgeschlossen er¬ 
scheinen lassen? Soll der Arzt in solchem Falle „Moral predigen“ oder 
soll er ausschließlich vom medizinisch-naturwissenschaftlichen Standpunkte 
aus urteilen? Marcuse hat diese Frage, die ja, streng genommen, nicht 
zu seinem eigentlichen Thema gehört, nur kurz gestreift, aber die 
Häufigkeit, mit der gerade sie sich in der Praxis wiederholt, scheint 
uns einer eingehenden Erörterung wert. Wir werden voraussichtlich schon 
in einer der nächsten Nummern der Zeitschrift Gelegenheit hierzu finden. 

A. Blaschko. 


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Referate. 


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1. L. Butte. Ober den Gesundheitszustand, rOcksichtlich der Syphilis, bei den bordel¬ 

iierten Prostituierten in Paris in den Jahren 1872 bis 1903 einschließlich. (Journal 
de mädecine de Paris 1903. Seite 221.) 

2. Ober den Gesundheitszustand, rtlcksichtlich der Syphilis, bei den kontrollierten Einzel¬ 

prostituierten in Paris in den Jahren 1872 bis 1902 und den Einfluß der mehr 
oder weniger zahlreichen Verhaftungen auf diese Gesundheitsstatistik. (Annales 
de Therapeut dermat. et syphiligraph. (Bd. 111. Nr. 24; 20. Dezember 1903.) 

1. Die Zahl der öffentlichen Häuser in Paris hat in 80 Jahren fort¬ 
schreitend rasch abgenommen; sie ist von 138 im Jahre 1872 bis auf 
48 im Jahre 1902 gesunken, und ebenso hat sich der Bestand ihrer 
Insassinnen während dieser Zeit um 2 / s verringert. In gleicher Weise 
mit diesem Ruckgange ist auch eine Abnahme der Syphilisfälle in ihnen 
fast bis auf Null zu verzeichnen: 1 Fall im Jahre 1902. Interessanter 
als nur die Syphilisfälle zu zählen, die bei dem Rückgänge der Zahl 
der Prostituierten natürlich auch abnehmen mußten, ist nachzusehen, 
ob man bei prozentualer Berechnung eine Modifikation in bonam oder 
in malam partem zu konstatieren hat. Nun vom Jahre 1873 ist der 
Prozentsatz der Syphilitischen von 80°/ 0 ganz rapide bis auf 7,2 im 
Jahre 1883 gesunken. Von da ab ist er bis zum Jahre 1894 — ab¬ 
gesehen von einer kleinen Zunahme während der Ausstellung 1889 — 
ungefähr gleich niedrig geblieben und ist dann wieder, mit einer Ver¬ 
mehrung während des Ausstellungsjahres 1900, bis zu der niedrigen 
Ziffer von 0,23 °/ 0 Jahre 1902 gesunken. Am 1. Januar d. J. hat 
man nur einen einzigen Fall von Syphilis bei 429 Frauen gefunden. 

2. In der anderen Arbeit hat der Verf. festzustellen gesucht, ob 
die Syphilis bei den kontrollierten, allein wohnenden Prostituierten in 
Paris im Verlaufe der letzten Jahre in der gleichen Weise abgenommen 
hat, wie bei den bordellierten Mädchen, und hat bei diesen statistischen Er¬ 
hebungen zunächst entsprechend der Abnahme der letzteren eine Zunahme 
der frei wohnenden Prostituierten von 2500 (im Jahre 1872) auf 6000 
(im Jahre 1902), dabei aber eine Abnahme der Syphilis von 186 auf 
72 Fälle gefunden. 

Procentualiter berechnet ergibt sich daraus, daß bei den regelmäßig 
Untersuchten im Mittel 5°/ 0 Syphilisfällen vor 20 Jahren 1,2 °/ 0 in den 
letzten 10 Jahren gegenüberstehen. Nun entziehen sich aber viele Mäd¬ 
chen, gerade weil sie sich krank fühlen, der Kontrolle, und Butte hat 
daher, um genauere Resultate zu erhalten, zu diesen Zahlen noch die 
Luesfälle hinzugerechnet, welche bei arretierten Prostituierten gefunden 
wurden, dabei aber doch eine annähernd gleiche Differenz der Prozent¬ 
sätze innerhalb derselben Zeiträume festgestellt: Ein Fallen von 12,1 °/ 0 
im Mittel vor 20 Jahren auf 4,8 °/ 0 während der letzten 10 Jahre. 
Worauf ist diese erhebliche Besserung des Gesundheitszustandes der 
Prostituierten zurückzuführen? Verf. glaubt, daß in erster Linie die 
großen Entdeckungen, welche, wie überall, so auch bei den Prostituierten 
Aufnahme gefunden haben, es gewesen sind, welchen sie Sauberkeit und sorg¬ 
fältige hygienische Maßnahmen, welche sie früher vernachlässigt haben, 
verdanken. Dann muß man die etwas besser gewordene Erziehung der 


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Referate. 


Prostituierten berücksichtigen, denn das Gesetz über den ersten obli¬ 
gatorischen Unterricht hat seinen Einfluß bis auf die untersten Klassen 
ausgeübt, die Kenntnisse sind erweitert worden, und die Mädchen ver¬ 
stehen es eher als früher, daß es in ihrem Interesse ist, wenn sie sauber 
und gesund sind. Mit Rücksicht auf die bordeliierten Mädchen wird 
noch hervorgehoben, daß die Bordell Wirtinnen in bezug auf die Rekru¬ 
tierung ihres Personals anspruchsvoller als früher geworden sind; ein 
etwas weniger schlechter sittlicher Zustand hat auch einen besseren 
Gesundheitszustand zur Folge gehabt. Bruno Sklarek (Berlin) 

H a Gillet. Die gesunde Dirne. Annales de th4rapeut dermat et syphiligr. 
et de prophyl. anti-v6n6r. Bd. IV. Nr. 4. 20. Febr. 1904. S. 78. 

Verf. bedauert, daß von den Ärzten bisher ein, wenn auch 
nicht absolutes, so doch relatives Mittel zur Bekämpfung der venerischen 
Gefahr von seiten der Prostitution vernachlässigt worden ist: Er hofft, 
daß durch eine hygienische Erziehung der Prostituierten viel genützt 
werden könnte. Die polizeilichen Vorschriften für die Eingeschriebenen 
veranlaßten durch ihre Schärfe dieselben nur, sich einen Zuhälter zu 
nehmen. Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten würde durch 
hygienische Ratschläge, welche den Prostituierten gegeben werden sollten, 
bei weitem mehr beigetragen werden. — Dieselbe Sorglosigkeit geschlecht¬ 
licher Ansteckung gegenüber findet sich sowohl bei der schlecht als 
auch bei der gut bezahlten Dirne, in den eleganten Bordellen ebenso 
wie in den minderwertigen. Überall glaubt man der Hygiene durch 
eine Waschung der äußeren Genitalien auf deren Bidet Genüge geleistet 
zu haben. Irrigatoren wären bei den Prostituierten selten zu finden, 
und wenn sie vorhanden wären, würden sie von den Besitzerinnen auch 
nur aus Furcht vor Konzeption angewendet. Wenn von einer Prosti¬ 
tuierten nicht nach jedem geschlechtlichen Verkehr die Scheide gut aus¬ 
gespült wird, ist es aber möglich, daß ein Klient des Mädchens, sich an 
dem von dem Vorgänger deponierten infektiösen Sekret ansteckt, d. h. 
sogar ohne daß das betreffende Mädchen angesteckt worden zu sein 
braucht. — In manchen Ländern wird den Prostituierten nach der 
zwangsweisen Untersuchung eine antiseptische Ausspülung gemacht, 
Verf. hält dies für empfehlenswert, wünscht aber mit Recht weitere Fort¬ 
schritte in dieser Richtung. Zugleich mit dem rein polizeilichen Regle¬ 
ment sollten den Prostituierten hygienische Vorschriften eingehändigt 
werden; eine jede müßte ihren Irrigator haben und ihn bei jeder Unter¬ 
suchungsvisite in gutem Zustande vor weisen. Ebenso müßten solche 
Apparate in den öffentlichen Häusern sein und man müßte sich offiziell von 
ihrer Gebrauchsfähigkeit überzeugen. So würde viel zur venerischen 
Prophylaxe beigetragen werden. Bruno Sklarek. 

O. Rosenthal. Therapie der Syphilis und der venerischen Krankheiten. Alfred 
Holder. Wien. 1904. Ji 3.40. 

Das Buch ist als XI. Band der „Medicinischen Handbibliothek“ 
erschienen, die vor allem dem Bedürfnisse des praktischen Arztes, 
in kurzer, leicht faßlicher Form das Neueste auf dem Gebiete der Therapie 


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Referate. 


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zu erfahren, entgegenzukommen bestrebt i st Da diese Gesichtspunkte 
natürlich auch für Rosenthal maßgebend sein mußten bei der Abfassung 
des vorliegenden Bändchens, so würde dessen Besprechung aus dem Rahmen 
dieser Zeitschrift herausfallen, wenn es nicht einige allgemeine Aus¬ 
führungen und ErÖterungen enthielte, die auf das Interesse auch des 
Laien, wenn er der Bedeutung der Geschlechtskrankheiten nur einiges 
Verständnis entgegenzubringen vermag, Anspruch erheben dürfen. 

In dem einleitenden Kapitel über die „Prophylaxe“ gibt Rosen¬ 
thal einen Überblick über die zuverlässigsten und brauchbarsten Schutz¬ 
mittel gegen Ansteckung. Er streift darin ferner die Frage, welche 
Berufsarten ihre Tätigkeit einstellen müßten, sobald sie von einer Ge¬ 
schlechtskrankheit befallen werden; es kommen da namentlich Ärzte, 
Hebammen, Friseure, Glasbläser, Köche, Bäcker, Kellner in Betracht, 
die, wenn sie mit infektiösen Symptomen behaftet sind, ihren Beruf nur 
unter ernstlicher Gefährdung ihrer Mitmenschen auszuüben vermögen; 
gleichwohl ist die im Interesse der öffentlichen Hygiene so dringliche 
Forderung zurzeit nur ein „pium desiderium“, zu dessen Durchführung 
die vorhandenen Krankenhäuser nicht annähernd ausreichen. 

In dem Kapitel über „Gonorrhoe und Ehe“ erörtert Rosenthal 
die Frage, wann ein ehemals Tripperkranker heiraten darf. Den Stand¬ 
punkt, daß überall, wo Eiterkörperchen vorhanden sind, auch Gonokokken 
vorhanden sein müssen, hält er für völlig unzutreffend. Er trägt viel¬ 
mehr kein Bedenken, auch bei einer mäßigen Menge von Leukocyten 
den Ehekonsens zu erteilen. Der Verf. bekämpft die Ein wände, die gegen 
diese Auffassung von manchen Seiten erhoben werden und kommt zu 
dem Schlüsse, daß der Arzt, der bei mehrfach wiederholter und gewissen¬ 
haftester Untersuchung Gonokokken nicht mehr findet, unbekümmert um 
einen etwaigen Eitergehalt der Sekrete die Heirat mit gutem Gewissen 
erlauben darf, ohne Enttäuschungen befurchten zu müssen. 

Über die Frage der Heilbarkeit der Syphilis im allgemeinen 
äußert sich Rosenthal folgendermaßen: „Mit großer Bestimmtheit kann 
man den Satz aussprechen, daß die Syphilis nach einer gewissen Zeit 
und bei geeigneter Behandlung geheilt werden kann; nur ein ganz ver¬ 
schwindender Prozentsatz dürfte von dieser Regel ausgenommen werden. ... 
Man kann ferner mit Bestimmtheit sagen, daß der größte Teil derjenigen 
Fälle, bei denen eine vollständige Wiederherstellung nicht stattfindet, 
nicht in genügender und ausgiebiger Weise behandelt worden ist.“ 

Max Mareuse (Berlin). 


Tagesgeschichte. 

Deutschland. 

Das Reichsgericht (IV. Zivilsenat) spricht sich in seinem Urteile 
vom 19. Januar 1903, Entscheidungen in Zivilsachen Bd. 53, S. 315, 
folgendermaßen aus: 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß wenn ein Arzt bei Behand¬ 
lung eines Patienten bei diesem eine geschlechtliche Krankheit 


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490 


Tagesgeschichte. 


festgestellt, ihm damit ein Privatgeheimnis desselben anvertrant ist und 
daß es ganz besonderer Gründe bedarf, um die Offenbarung dieses Geheim¬ 
nisses an eine andere Person als eine befugte erscheinen zu lassen. An¬ 
dererseits ist nicht zu leugnen, daß, wenn diese andere Person gerade 
der Ehegatte des Patienten ist, sich mancherlei solche besonderen Gründe 
denken lassen, ja daß es sogar unter Umständen als ganz berechtigt er¬ 
scheinen kann, wenn der Arzt gegen den ausgesprochenen Willen des 
Patienten dem Ehegatten desselben Mitteilung von einer Krankheit macht. 
Denn, wie es Rechtspflichten gibt, die einer Verschwiegenheitspflicht 
Vorgehen können (wie z. B. die Anzeigepflicht des § 139 St.G.B.), so 
sind auch höhere, sittliche Pflichten anzuerkennen, vor denen die Ver¬ 
pflichtung zur Verschwiegenheit zurücktreten muß. So kann es z. B. 
unter Umständen für den Arzt geboten erscheinen, der Ehefrau von der 
geschlechtlichen Erkrankung des Mannes Kunde zu geben, um eine An¬ 
steckung derselben nach Möglichkeit zu verhindern; wie es auch vielleicht 
nicht schlechthin ausgeschlossen sein dürfte, eine solche moralische Mit 
teilungspflicht unter besonderen Umständen einer dritten Person, welche 
nicht die Ehefrau wäre, gegenüber als gegeben anzunehmen. 


Frankreich. 

Außerparlamentarische Kommission über die Reglementierung der 

Prostitution. 

Die Verhandlungen der außerparlamentarischen Kommission in Paris 
haben einen für die zukünftige Entwickelung der ganzen Prostitutions¬ 
frage und der Frage der Syphilis-Prophylaxe so bedeutsamen Verlauf 
genommen, und werden voraussichtlich — nachdem in einer Sitzung 
vom 10. Juni die Kommission sich mit 19 gegen 10 Stimmen für 
die Abschaffung der Reglementierung ausgesprochen hat, — 
die ganze Gestaltung der Dinge in Frankreich in so entscheidender Weise 
beeinflussen, daß wir die Verhandlungen von nun an ausführlich wieder¬ 
geben wollen. Da ein offizieller Bericht noch nicht vorliegt, so halten 
wir uns an den des „Progrfes Medical“, der auch in das „Bulletin 
Abolitionniste“ übergegangen ist. Dieser Bericht ist zwar deutlich abo- 
litionistisch gefärbt, doch gibt er die Hauptphasen der Verhandlungen 
in anschaulicher Weise wieder. 

Für diesmal bringen wir den Bericht über die Sitzungen vom 4.. 
5. u. 18. März.: 

Gegenstand derselben war die Diskussion über die Berichte der 
Herren Professoren Alfred Fournier und Augagneur, sowie die 
Prüfung der von Herrn Polizeipräfekten Lepine und insbesondere von 
M. Hennequin, dem Generalsekretär der Kommission eingereichten 
Dokumente. 

Prof. Augagneur eröffnet die Diskussion mit einer Kritik des 
Fournierschen Berichtes. Er führt im wesentlichen folgendes aus: 
Seitdem vor fünf Jahren auf der Internationalen Konferenz in Brüssel 
die Debatten begannen, erwartet er vergeblich von den Regiementaristen 


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TagcsgcBchichte. 


491 


den Beweis, daß die Sittenpolizei zur Prophylaxe der venerischen Krank¬ 
heiten gedient hätte. In Wahrheit aber bemerkt man in allen europäischen 
Staaten, gleichviel ob mit oder ohne Reglementierung, wie die Schweiz 
und England einerseits, oder Rußland andrerseits, eine allgemeine Ab¬ 
nahme der venerischen Krankheiten. Diese Erscheinung, welche er be¬ 
reits 1899 angekündigt habe, verdanken wir offenbar der allge¬ 
meinen Bewegung einer aufgeklärten Zivilisation, einem höheren geistigen 
und sittlichen Niveau, sowie auch einer wirksameren Behandlungsweise. 
Es wäre kindisch, leugnen zu wollen, daß es eine venerische Gefahr, 
eine venerische Morbidität und Mortalität gibt, gerade wie es eine Pocken¬ 
gefahr, eine Typhusgefahr und schlechthin eine Gefahr aus jeder mensch¬ 
lichen Krankheit gibt; es handelt sich aber darum, von klinischen und 
statistischen Standpunkten aus die Intensität dieser Gefahr zu fixieren. 
Nun wirft M. Augagneur Fournier und seiner Schule vor, diese 
Gefahr der ehelichen, prostitutionellen und erblichen Syphilis nach jenen 
beiden Richtungen hin übertrieben zu haben. 

Für die Länder, deren Regierungen einen durch seine Organisation 
Vertrauen erweckenden offiziellen statistischen Dienst eingerichtet haben, 
für Schweden und Dänemark z. B. hat Augagneur ermittelt, daß 2°/ 0 
der allgemeinen Sterblichkeit auf Syphilis entfallen, also bei weitem 
weniger als die allgemein angegebenen 14—16°/ 0 . In seinem Bericht 
führt Fournier eine persönliche Statistik an über mehr als 4400 
ihm selbst beobachtete Fälle von Tertiär-Stadium (4000 Männer, 
400 Frauen); wenn man jedoch bedenkt, daß diese Statistik sich über 
die 39 Jahre erstreckt, die Fournier zur Zusammenstellung verwendete, 
so schließt Augagneur, 1. daß das tertiäre Stadium, das einzige 
bedenkliche Stadium, nicht der unvermeidliche Ausgang aller Syphilis 
ist; 2. daß wenn Fournier in 89 Jahren 66 Todesfälle an Hirn¬ 
syphilis beobachtet habe, dies einen Prozentsatz von 2 Toten pro Jahr 
ergeben würde. 

Auf eine Bemerkung von Fournier erkennt Augagneur an, daß 
es tötliche Lokalisationen der Syphilis in den Nieren, den Gefäßen etc. gibt, 
aber er erklärt, daß das ganze Kapitel von der Parasyphilis für ihn 
ein wenig problematisch bleibt; bei der Parasyphilis verliert jedes er¬ 
krankende Individuum seinen Charakter als „gewöhnlicher“ Kranker, und 
wenn er erliegt, so ist er — in den Augen der Parasyphilis-Schule — 
an Syphilis gestorben. Sieht man die fast vollständige, um nicht zu 
sagen vollständige Abwesenheit der heute in Frankreich als parasyphi¬ 
litisch bezeichneten Krankheiten, wie Tabes, und allgemeiner Paralyse 
in den Ländern mit endemischer Bauem-Syphilis, den ostrussischen Dörfern, 
in Bulgarien, Abessynien, Algier usw., so ist das letzte Wort in dieser 
Frage noch nicht gesprochen. 

Auf die Sterblichkeit bei Säuglingen in sehr^ jungem Alter über¬ 
gehend, sagt Augagneur, man müsse diese Sterblichkeit im Verhältnis 
zu der Masse der Geburten betrachten, dann ist sie unbedeutend; die 
Nationen ohne Sittenpolizei, wie England (ohne Irland) sind bezüglich des 
Anwachsens der Bevölkerung viel besser gestellt. Was zeigt überdies 
ein Vergleich der Kindersterblichkeit in beiden Ländern? England hat 


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492 


Tagesgeschichte. 


eine Kindersterblichkeit von 164,4 auf 1000 Kinder von GUbis 1 Jahr 
und 52,2 auf 1000 Kinder von 1—5 Jahren, während diese beiden Zahlen 
in Frankreich 168,8 und 60 betragen. Bei dieser überall sehr hohen 
Kindersterblichkeit sind in Wahrheit eine Reihe anderer viel gefährlicherer 
Faktoren ausschlaggebend: Brechdurchfall, Mangel an Pflege und Er¬ 
nährung, Elend oder Fahrlässigkeit der Eltern, usw. 

Augagneur wendet sich ebenso gegen das ganze Kapitel des 
Foumierschen Berichts über den sanitären Zustand der europäischen 
Armeen und die pessimistischen Schlüsse in hygienischer Beziehung, die 
dieser gegen die Nationen ohne Sittenpolizei daraus gezogen habe. 
Augagneur wundert sich, daß man zwei so heterogene Organisationen 
wie die deutsche und die englische Armee miteinander vergleichen konnte, 
deren erstere aus jungen Volksgenossen, die für kurze Zeit dienen, besteht, 
während die andere sich aus gewerbsmäßigen Mietlingen und Söldnern 
zusammen setzt. Es ist durchaus unrichtig, zu sagen, daß das Maximum 
an Sittenpolizei mit dem Minimum an venerischen Krankheiten zusammen¬ 
fällt; denn man sieht dasselbe mit Sittenpolizei versehene Land in der 
Reihenfolge der Schwere von Syphilis an fünfter Stelle, von Blennorrhoe 
und einfachem Schanker gar an achter Stelle: z. B. in Italien, welches 
mehr Tripper- und Schankerkranke hat als England. Ferner — und 
das ist ein sehr gewichtiges und unwiderlegliches Faktum zum Beweise 
der Nutzlosigkeit der Sittenpolizei für die Prophylaxe — findet man bei 
den verschiedenen Truppenteilen einer und derselben Garnison erstaun¬ 
liche Unterschiede in ihrer sexuellen Morbidität, wie z. B. in Paris selbst, 
wo die Venerischen durchschnittlich 32°/ 00 vom Durchschnitt der ganzen 
französischen Armee betragen, während in der Republikanischen Garde 
der Durchschnitt auf 102,04 steigt! Die Sittenpolizei ist nur angeblich 
eine Verbesserung, und ihre ganze Bedeutung liegt in unbewiesenen An¬ 
nahmen und vorgefaßten Meinungen. 

Entgegen gewissen Behauptungen gilt es nicht, die Ziffer der 
Inskriptionen, sondern die der tatsächlichen Behandlung zu erhöhen; nun 
aber hat die Statistik, die Augagneur als Maire von Lyon zu sammeln 
in der Lage war, ganz besonders die angeblich guten Resultate einer 
strengen und unerbittlichen Sittenpolizei Lügen gestraft Das Bild, 
das er selbst in einem eigenen Bericht von den eingeschriebenen und 
den freien während 27 Jahren, von 1876—1903, in der Antiquaille be¬ 
handelten Mädchen entwirft, zeigt, daß je weniger terroristisch die Über¬ 
wachung ist, desto eher die freien Venerischen freiwillig wiederkommen, 
aus eigenem Antriebe den Arzt konsultieren und sich in Pflege geben. 

Wenn die Inspektoren 700—900 eingeschriebene Venerische bruta¬ 
lisieren und zur Antiquaille schleppen, so schmilzt zusehends die Anzahl 
der freien Venerischen, die sich behandeln lassen, zusammen; ist aber 
die Polizei weniger streng, dann ist die Zahl der Kranken, die sich frei¬ 
willig vorstellen, ebenso hoch oder höher wie die der zwangsweise Vor¬ 
geführten. Betrachtet man die Periode von 1876—1888, wo die Polizei 
von Lyon auf eine wilde Art wütete, und die Periode von 1890—1903, 
wo sich die Tätigkeit der Lyoneser Maires in günstigem liberalen und 
humanen Sinne fühlbar machte, so ist der numerische Kontrast un- 


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Tagesgeschichte. 


493 


leugbar. Augagneur wendet sich denn auch kräftig gegen das von 
Dr. Etienno aus Nancy aufgestellte „Gesetz des Parallelismus.“ Er 
sieht das Heil der Prostituiertenbesucher nur in der Einführung 
einer medizinisch administrativen Schreckensherrschaft gegen die Prosti¬ 
tuierten selbst. 

Zum Schluß sagt Augagneur, die Reglementierung ist ein Netz 
mit großen Maschen, das nur die Walfische einfängt; eine Menge von 
Kranken, eingeschriebenen und nichteingeschriebenen, schlüpfen hindurch; 
das gegenwärtige System ist eine Täuschung, die abgeschafft werden muß; 
es muß eine neue Richtung in den Polizei Vorschriften und in der Medizin 
eingeschlagen werden, die in völligem Widerspruch zur Sittenpolizei steht. 
Er protestiert gegen die ungerechte Anschuldigung, daß die Abolitionisten 
für das Allgemeinwohl kein Interesse hätten, weil sie sich nicht auf ein 
System versteifen, dessen ganzes Getriebe gerade dem Allgemeinwohl 
feindlich ist. 

Frau Avril de Ste Croix rügt die in dem Fourniersehen Be¬ 
richt enthaltenen Angriffe gegen die Föderation und erklärt, daß die 
französische abolitionistische Gruppe sich mit den von Fournier in- 
kriruinierten pietistischen Lehren nicht solidarisch fühlt. 

Dr. Butte, Arzt am Dispensaire, liest einen Aufsatz vor, worin 
er erwähnt, daß seine Kollegen und er in 81 Jahren, von 1872 —1908, 
53 000 Venerische ausfindig gemacht haben. Diese Kranken hätten sich 
nach seiner Meinung nicht behandeln lassen, wenn sie nicht durch das 
herrschende Zwangssystem dazu genötigt gewesen wären; wenn er auch 
zugibt, daß die Syphilitischen durchschnittlich nicht mehr als einen, 
selten zwei Monate in St. Lazare bleiben. 

Generalsekretär Hennequin gibt einen Bericht über die all¬ 
gemeine Lage der Sittenpolizei in der Provinz, aus welchem hervorgeht, 
daß die Toleranzhäuser in Frankreich nicht im Abnehmen begriffen sind, 
daß vielmehr eine kleine Zunahme stattfindet. 

Dr. Auffret, Generalinspekteur des Marine-Gesundheitsamtes, be¬ 
streitet, daß die Zustände bei der Marine gar so ungünstig seien, doch 
erkennt er an, daß bei dem häufigen Ortswechsel der Mannschaften die 
Ziffern nur relativen Wert besitzen. Der Seemann ist durch sein Hin- 
und Herreisen übers Meer zu gleicher Zeit Importeur und Exporteur 
der Syphilis. Die durch das Reglement vorgeschriebene Untersuchung der 
Leute ist daher gerechtfertigt, und Auffret fordert, daß im Kranken¬ 
hause die Männer gesondert untersucht werden. Nebenbei bekämpft er die 
Rendez-vous-Häuser, die „ Halb-Toleranzhäuser“, die die Pariser Polizei¬ 
präfektur einführen zu wollen scheint, und erklärt sie für „die schlimmste 
Form der reglementierten Prostitution“. 

Fournier hält seine Ansicht von der überaus großen Häufigkeit 
und der Bedeutung der venerischen Krankheiten und besonders der 
Syphilis und Blennorrhoe aufrecht. Unberührt von allen reglemen- 
taristischen und abolitionistischen Ziffern, von all den Diskussionen um 
Lehren und Argumente bleibt das bestehen, was Fournier in Brüssel 
das Argument des gesunden Menschenverstandes nannte: „Wenn ein Weib 
mit Plaques muqueuses oder mit Schanker in St. Lazare sich schlafen legt, 


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494 


Tagesgeschichte. 


dann ist sie allein in ihrem Bette und unschädlich. Was würde 

sie in dieser selben Nacht getan habeD, wenn sie frei wäre? Sie würde 

sicherlich die Seuche auf einen oder mehrere Männer übertragen haben. 

Daraus folgt: Man muß dieses Weib internieren/ 4 Fournier hat seine 
Beweisführung das Argument des gesunden Menschenverstandes getauft; 
das Wort hat Glück gehabt und hat überall — außer bei den Abo- 
litionisten — vortreffliche Aufnahme gefunden. Fournier hält sein 
Argument mehr als je aufrecht. Dann zitiert er eine andere Statistik von 
Kindern syphilitischer Eltern und bekennt, daß er unwiderruflich An¬ 
hänger der Reglementierung der Prostitution ist, die seiner Meinung 
nach allein imstande ist, die Weiter Verbreitung der venerischen Krank¬ 
heiten zu verhindern. Aber wenn er auch die Reglementierung aufrecht 
erhalten will, so mißbilligt er doch das Polizeiregime — sowohl in 
medizinischer als auch in administrativer Beziehung —, welches heute 
die Überwachung der Prostitution durchsetzt: er will eine wirksame, 
aber medizinische, humanitäre und sittlichkeitsfördernde Überwachung; 
besonders aber verlangt er, daß diese Überwachung nicht mehr willkürlich, 
sondern gesetzlich geregelt sei, um die Interessen der allgemeinen Ge¬ 
sundheit mit den Rechten der individuellen Freiheit zu versöhnen. 

In einem halb ernstgemeinten Scherz wirft Fournier Madame 
Avril de Sainte Croix ihre „Undankbarkeit“ vor: Von allen Gegnern 
des Abolitionismus sei er vielleicht derjenige, der dieser internationalen 
Vereinigung am meisten Gerechtigkeit habe widerfahren lassen. Er 
geht so weit, zu sagen, daß ohne sie die heute unwiderstehliche Reform¬ 
bewegung weder diese Intensität noch diese Ausdehnung erhalten hätte. 
Aber er werde dennoch in aller Loyalität fortfahren, sich aus den Reden 
und Schriften der hervorragendsten Abolitionisten — mögen sie nun 
Engländer oder Engländerinnen sein — die typischen Stellen heraus¬ 
zusuchen, welche ihm für die in der Föderation herrschende Denkungsart 
besonders charakteristisch erscheinen. 

Dr. Fiaux stellt Vergleiche zwischen den Berichten von L6pine 
und Turot im Munizipal rat an und zeigt, daß trotz erhaltener Lektionen, 
fortgesetzter Warnungen, zunehmender Mißgriffe die Sittenpolizei sich 
nicht dazu versteht, die Waffen zu strecken, noch sich zu ändern. Man 
brandmarkte ihre brutale Handlungsweise, die die Mädchen von der 
Einschreibung fernhalte, und alsobald verdoppelte sich ihre Härte: 

1901 wurden 52 510 Verhaftungen eingeschriebener Mädchen vorgenommen, 
1903 waren es 55 641; 1901 gab es 5925 Isolierte und 1903 6031. 
Man sagte zu dieser Polizei: Euer terroristisches Vorgehen verscheucht 
die Eingeschriebenen, und eure angeblichen Effektivzahlen von fast 
7000 Mädchen mit Karten sind nur fiktiv; seit 1888, wo die Ziffer 
der „Verschwundenen 44 1787 betrug, ist sie nicht wieder so hoch gewesen 
wie in diesen letzten Jahren; 1901 betrug sie 1717. Man sagte zur 
Polizei: Schreibt keine Minderjährigen ein, macht nicht diese Kinder zu 
gewerbsmäßigen Prostituierten; nun, seit 10 Jahren hat die Sittenbehörde 
nie wieder so eine Menge von Minderjährigen eingeschrieben. So sind 

1902 457; 1901 660; 1889—1903 in 5 Jahren 1913 junge Mädchen 

von 17—21 Jahren offizielle Prostituierte geworden; in 27 Jahren, 

• 


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Tagesgeschichte. 


495 


1872—1898 hatte die Behörde nur 6275 unter Aufsicht gestellt, also 
verhältnismäßig die Hälfte weniger pro Jahr. Was die Statistik der 
Präfektur über den sanitären Zustand der Bordellmädchen betrifft, so 
ist sie ganz einfach unerklärlich und vielleicht irgend einem autosuggestiven 
Irrtum entsprungen — wie wir schon in Sachen der Polizeistatistik 
sahen. Fiaux führt typische Beispiele dafür an, dann zeigt er, wie 
die Technik der Ansteckung und die sichersten Fortschritte der syphi- 
lidographischen Wissenschaft von der Sittenpolizei verkannt werden. Zum 
Schluß bittet er die Kommission, die bereits eingereichten Berichte als 
Ausgangspunkte zn nehmen und sich zur Fortführung der gesamten Frage 
und aller Einzelheiten in mehrere, mit dem Studium der verschiedenen 
Gebiete beauftragte Unterkommissionen zu teilen. 

Senator Berenger bittet, den Antrag Fiaux abzulehnen; erneute 
Untersuchungen würden nur neue Momente in diese unfruchtbaren Kontro¬ 
versen hinein bringen; er schlägt vor, über die folgenden beiden Punkte 
die Diskussion zu eröffnen: 

1. Soll die öffentliche Prostitution Gegenstand einer Überwachung sein? 

2. Soli diese Überwachung im Namen des Gesetzes ausgeübt werden? 

Wenn die Kommission auf die Frage der Überwachung negativ 

antwortet, dann ist die Debatte geschlossen. Wenn diese Überwachung 
zugelassen und durch ein Gesetz geregelt wird, dann soll die Kommission 
beschließen, daß die Internierung nur auf gerichtlichem Wege verfugt 
und der medizinische oder administrative Charakter ihrer Dauer festge¬ 
setzt werden kann; ebenso muß auch die Frage der Einschreibung ge¬ 
regelt werden. 

M. Monod, Direktor der Armenverwaltung, sagt, der Minister sei 
der Meinung, daß sich die Debatte nur auf die Frage der Prophylaxe 
beschränken sollte. 

Präsident Disl&re möchte, daß die Kommission jetzt die Frage an- 
schnitte, ob die Prostitution überwacht werden soll oder nicht. Man 
würde dann sehen, ob über diesen Hauptpunkt eine Majorität zu er¬ 
zielen ist. 

M. Yves Guyot stellt fest, daß die Regelementaristen nicht den 
Beweis erbringen konnten, daß die Sittenpolizei für die Prophylaxe 
förderlich sei; er möchte, daß sie nicht vage Wünsche einer öffentlichen 
Vereinigung Vorbringen wie 1888 die der Acad&nie de mädecine, sondern 
einen Gesetzentwurf, eine positive Formulierung, die eine klare Vorstellung 
von dem Grade und der Natur der von ihnen zugestandenen Reformen 
gibt. Das wäre ein fruchtbares Gebiet zur Diskussion. 

M. Augagneur reicht dem Bureau einen Antrag ein, worin er 
die Ernennung einer Unterkommission verlangt, die beauftragt wäre, 
einen Entwurf auszuarbeiten, um die jetzt herrschende Reglementierung 
zu ersetzen oder zu modifizieren. 

M. Fiaux hält seinen Antrag aufrecht und bittet den Präsidenten, 
die Kommission zu fragen, ob sie die Enquete für beendigt hält und 
ob die Debatte über die Tatsachen und Zahlen geschlossen ist. 

Prof. Fournier glaubt ebenfalls, daß in den drei Sitzungen nicht 
alles gesagt worden ist und unterstützt teilweise den Antrag Fiaux 


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496 


Tagesgeschichte. 


gegen den Schluß der Debatte. Bisher hat man nur von der medi¬ 
zinischen Seite gesprochen. Es gibt aber auch andere Gesichtspunkte. 
Das beweist schon die Zusammensetzung der Kommission; sie enthält 
Richter, Professoren der juristischen Fakultät, Publizisten, Ethiker. 
Keinen von ihnen hat man in diesen beiden Sitzungen voll medizinischer 
Diskussionen gehört. Fournier glaubt, daß diese das Wort ergreifen 
müssen, da die Kommission nunmehr die Frage der Überwachung der 
Prostitution und ihren neuen möglichen Charakter — die Gesetzlichkeit 
— diskutieren muß. 

M. Fourniers Antrag wird einstimmig angenommen. Die Kom¬ 
mission vertagt sich bis zum 18. März, um die Debatte fortzusetzen und 
die Juristen zu hören. 


Die vierte und fünfte Sitzung der Kommission am 18. und 19. März 
gaben Gelegenheit zu Erklärungen, die durch die offizielle 
Stellung der Redner als bemerkenswerte Ereignisse in der 
Geschichte der Reglementierung der Prostitution zu be¬ 
zeichnen sind. 

Prof. Gaucher nähert sich bezüglich des Ernstes der Syphilis viel mehr 
dem Pessimismus Fourniers als dem Optimismus Augagneurs. 
Dieser letztere ist Chirurg, und die späteren Folgen der Syphilis sind 
mehr innermedizinischer als chirurgischer Natur; so kommt es, daß 
M. Augagneur weniger schwere Syphilis sieht als ein innerer Mediziner. 
Aber die eigentliche Frage ist ja die Wirksamkeit der Reglementierung. 
Gau eher erklärt die Reglementierung für ungerecht, ungesetzlich, und 
nicht allein unwirksam, sondern sogar schädlich; er akzeptiert für 
sein Teil nicht das Argument des gesunden Menschenverstandes: die 
Reglementierung ist nur wie ein Wassertropfen im Meere. Es gibt in 
Paris 60000 aktive Prostituierte; auf der Präfektur sind 6000 ein¬ 
geschrieben, die auch noch zum Teil entwischen. Wen arretiert man 

denn? „Diejenigen, die keine fünf Franken in der Tasche haben. 

man weiß für wen.“ Die Inspektion der arretierten Mädchen in 
St. Lazare zeigt, daß man nur die allerniederste Kategorie dieser Un¬ 
glücklichen belästigt. Es ist eine Willkürherrschaft, die nichts mit 
Hygiene gemein hat. Gau eher macht dieselbe Beobachtung auch bei 
den Rendez-vous-Häusern — den neuen von dem Präfekten Lepine 
geschaffenen Bordellen — die gegenwärtig in Paris bestehen. Diese 
Häuser werden nur je nach ihrem Tarif überwacht und in den Listen 
geführt: es sind also nur die Kategorien unter 40 Franken reglementiert, 
bei denen über 40 Franken herrscht carte blanche. Hier geht es noch 
ganz willkürlich zu, selbst vom hygienischen Standpunkte aus. Das 
alles spricht gegen die Reglementierung. G a u c h e r fügt hinzu, daß 
nach seinen persönlichen Erfahrungen die Mädchen, sogar die einge¬ 
schriebenen Prostituierten, viel ehrenhafter sind als viele Männer; letzthin 
kam eine junge eingeschriebene Person nach dem Hospital St. Louis 
und sagte ihm wörtlich: „Es läßt mir keine Ruhe, ich muß wohl krank 
sein, ich muß einen Plaque im Munde haben; im Dispensaire hat man 
mir gesagt, es wäre nichts; aber ich möchte lieber ins Hospital St. Louis 


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Tagesgeaehichte. 


497 


kommen and mich pflegen lassen.“ Die Diagnose des Mädchens war 
richtig und ihre Furcht gerechtfertigt. 

Der Polizeipräfekt Lupine erklärt die Zeit für gekommen, wo 
jedermann seine Meinung öffentlich kundtun müsse. Er erklärt sich im 
Prinzip für die Reglementierung, aber er will eine legale Reglemen¬ 
tierung, die nicht die Willkür gutheißt und die nichts mit der heutigen 
Reglementierung zu tun hat, welche sein Amt und die jetzt nun einmal 
so beschaffene Lage der Dinge ihn häufig zu seinem Bedauern anzu¬ 
wenden zwingen. Eine gute Reglementierung muß repressiv, nicht 
präventiv sein; eine gute Sittenpolizei darf nicht administrativ 
sein, sie muß gerichtlich sein. Den Reglementaristen fällt eine 
schlimme Rolle zu, sie sollen die Nützlichkeit der Sittenpolizei vom 
medizinischen und vom Standpunkte der öffentlichen Ordnung beweisen. 
Lupine bedauert, daß sich unter den Berichterstattern kein Jurist be¬ 
findet. Indem er sich der Beweisführung von Yves Guyot und Fiaux 
anschließt, die von allen Schriftstellern und Ärzten sogar von der Polizei¬ 
präfektur scharf kritisiert wurde, erklärt er, daß unter den freien 
Prostituierten eine Menge ganz gesunder seien. Wenn sie die jungen 
Männer ansteckten, könnten sie leicht denunziert und festgenommen 
werden, aber sie geben sich nicht dem ersten besten hin, sie sind 
intelligenter als die Eingeschriebenen, kurz sie sind bei weitem nicht so 
im äußersten Elend. Übrigens leugnet Lupine nicht, daß viele nicht 
eingeschriebene junge Mädchen Syphilis und noch mehr Blennorrhoe 
haben, z. B. die Dienstmädchen usw. Aber gerade deshalb, weil so viele 
Unkontrollierte den hygienischen Maßregeln entschlüpfen, muß die gegen¬ 
wärtige, Scherereien verursachende, chikanöse Reglementierung durch eine 
repressive Reglementierung ersetzt werden. An dieser neuen gewisser¬ 
maßen freiwilligen Reglementierung arbeitet augenblicklich der Präfekt 
mit den Referenten vom Munizipalrat. Ein gutes Reglement wird jedes 
Weib ohne Unterschied dazu anreizen, sich heilen zu lassen. Wenn die 
Prostitution ein Gewerbe ist (und das ist sie nach Läpines Meinung), 
so darf sie nicht gesundheitsschädlich sein. 

Bezüglich der öffentlichen Ordnung erinnert der Präfekt daran, wie 
er heutzutage mit einem Riesenaufwand an Mühe mit seinem Personal 
gerade ein Minimum von Anstand zu wahren imstande ist. Für die 
Straße bedarf es eines soliden unangreifbaren Instruments, das sich auf 
das Gesetz stützen kann. Wenn der Prostitution eile Aktus an sich nicht 
strafbar ist, so ist doch die Provokation ein Delikt, und so muß denn 
die Ordnungsfrage von hier aus gelöst werden. 

M. Turot, Stadtverordneter von Paris, beglückwünscht den Prä¬ 
fekten zu seiner neuerdings erfolgten Bekehrung zur Religion der Gesetz¬ 
lichkeit und meint, die Unwirksamkeit der Reglementierung gehe deutlich 
aus der geringen Zahl der Eingeschriebenen hervor, gegenüber der großen Zähl 
der Unkontrollierten, der großen Zahl der das Jahr über Verschwindenden, 
der großen Zahl der Kranken unter den verschwunden Gewesenen und 
Wiederaufgefundenen. Diese ganze Einrichtung flößt ihren Opfern Gräuen 
ein. Turot sieht die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Prosti¬ 
tuierten , und folglich des öffentlichen Gesundheitszustandes überhaupt, 

Zeitsohr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankb. II. 36 


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498 


Tagesgeschichte. 


in der Abschaffung der Vorurteile, der Krankenhaus genannten Ge¬ 
fängnisse, und in einer weiten Ausdehnung der öffentlichen Behandlung. 
Zum Schluß protestiert er gegen die Erteilung der Karte an die Minder¬ 
jährigen. 

Frau Avril de Sainte-Croix sagt, daß in der Provinz die Ein¬ 
schreibung Minorenner ganz geläufig sei; sie hat ein kleines Mädchen 
von 12V a Jahren gesehen, daß eine polizeiliche, auf ihren Namen lautende 
Karte besaß. 

M. Bulot, Oberstaatsanwalt am Kammergericht wundert sich, daß 
die Debatten der Kommission sich immer ganz allein auf die sogenannte 
Sittenpolizei beschränken. Die Berichte von Proff. Augagneur und 
Fournier stimmen im Grunde überein: in dem Vorhandensein der als 
ansteckend angesehenen Krankheiten liegt eine öffentliche Gefahr. Wes¬ 
halb soll man dann den Herd der Gefahr nur bei den Prostituierten 
suchen? 

Seit dem 15. Februar 1902 besteht ein neues Sanitätsgesetz. 
Warum hat man nicht aus der Gefahr den Schluß gezogen, die Blennorrhoe 
und die Syphilis den in der Verfügung von 1903 aufgezählten Krank¬ 
heiten hinzuzufugen und sie in eine Reihe mit den Pocken, dem 
Scharlach usw. zu stellen? M. Bulot weiß wohl, daß eine solche Reform 
die Frage revolutionieren, „auf den Kopf stellen“ würde. Die kranken 
Männer würden wohl zu Tausenden dagegen protestieren. — Sagen Sie 
zu Millionen, ruft Prof. Landouzy dazwischen — M. Bulot hält eine 
auf die Frauen beschränkte Sanitäts- Gesetzvorlage für zwecklos: schlimm 
genug, wenn das ärztliche Geheimnis sich auf die Männer beschränke. 

Redner läßt das Argument der gesundheitsschädlichen Industrie nicht 
gelten, um bloß die Prostitution der Mädchen zu bekämpfen. In der 
Kommission muß man sich darüber einig werden, daß die Männer wie 
die Mädchen zu behandeln sind. Ist dieser Hauptpunkt einmal be¬ 
schlossen , dann kann die Kommission logischerweise zum speziellen 
Studium der einzelnen Unterfragen des Kapitels: Prostitution der Frauen, 
Straßenordnung usw. übergehen. Zum Beweise, wie notwendig es ist, 
sich auch mit den Männern zu beschäftigen, erinnert M. Bulot an einen 
entsetzlichen Aberglauben, der in einer großen Anzahl von Departements 
in Südfrankreich und besonders im D6p. Dröme im Schwange ist; wenn 
ein Bauer oder selbst ein Städter infiziert ist, so glaubt er, um gesund 
zu werden, brauche er nur zu einem kleinen Mädchen, einem ganz jungen 
Kinde zu gehen. Dieser Aberglaube ist so allgemein bei den Männern, 
daß es not tut, ihn zu beseitigen. Höchst gefährliche Männer, ebenso 
gefährlich wie die Venerischen selbst, nennt Bulot jene „docteurs 
d’urinoirs“, jene Quacksalber, welche die Krankheit „schminken“, und 
indem sie nach wenigen Tagen ihren Patienten für ganz gesund erklären, 
mitschuldig sind, kranke Männer zur Ansteckung gesunder Frauen zu 
ermutigen. Gegen diese schamlosen Charlatane müßte das Gesetz von 
1892 über die Ausübung der Heilkunde angewendet werden. Bulot 
protestiert gegen das verhängnisvolle Vorurteil, das die Geschlechts¬ 
krankheiten zu einer Schande gestempelt hat; es gibt überhaupt keine 
schimpf liehen Krankheiten; die geschlechtlichen Beziehungen sind ein 


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Tagesgeschichte. 


499 


Naturgesetz, aber das soziale Gesetz der Menschlichkeit verlangt, daß 
man niemanden ansteckt; wenn einen jungen Mann das Unglück trifft, 
so muß er es ohne Scheu seinem Vater, seinem Lehrer, gestehen. Jeden¬ 
falls muß die spezielle Aufklärung der Jünglinge in dem Alter statt¬ 
finden, wenn sie etwa in Unterprima sitzen. Wenn alle diese Punkte 
erledigt sind, das Sanitätsgesetz abgeändert ist, dann kann die Prüfung 
der Reglementierung beginnen: vorher hat man billigerweise nicht das 
Recht dazu. 

M. Bulot kommt nun zur Frage der öffentlichen Ordnung. Der 
Herr Präfekt, sagt er, will künftighin eine repressive Polizei. Aber was 
ist das anderes als gemeines Recht? Wer will bestreiten, daß das skandalöse 
Anreden wirklich zu einer öffentlichen Verletzung des Schamgefühls 
werden kann, also unter Artikel 330 des Strafgesetzbuches fällt, der 
die Sittlichkeitsvergehen bedroht? Bulot führt mehrere skandalöse 
Fälle von Anreden durch Mädchen in der Nähe stark besuchter Orte an; 
um diesen tatsächlichen Delikten ein Ende zu machen, brauchte man nur 
in den Artikel 830 das Anreden, die obszöne Aufforderung zur Unzucht 
aufzunehmen. So könnte das Gesetz zugleich den jungen und den alten 
Anreißer wie die Dime treffen, zum großen Nutzen der Moral und der 
öffentlichen Ordnung. Wenn sich heute, sagt M. Bulot, ein Mädchen 
beklagt, angeredet worden zu sein, dann kann sie womöglich selbst 
arretiert werden, und wenn dieses Mädchen eine Prostituierte ist, die 
sich beklagt, in zynischer Weise angesprochen worden zu sein, so wird 
sie ganz sicher arretiert. 

Zum Schlüsse spricht sich Redner dagegen aus, die Ansteckung 
als Strafdelikt zu behandeln, ebensowenig wie er die Prostitution als 
Delikt gelten lassen will. Seiner Meinung nach ist. die Schwierigkeit 
viel zu groß, den wahren Urheber der Ansteckung immer festzustellen. 
Er sieht in dem neuen Delikt eine reichliche Quelle zur Erpressung; 
er zieht der Anwendung des Strafgesetzes die Verfolgung auf zivilem 
Wege durch den Artikel 1882 vor, der die Verseuchung als ersatz¬ 
pflichtige Beschädigung behandelt. 

Prof. Fournier wiederholt seine formellen Bedenken gegen die 
Abschaffung des ärztlichen Geheimnisses und Prof. Lande, Maire von 
Bordeaux, sowie M. d’Iriart d'Etchepare, Deputierter von Pau, unter¬ 
stützen den Teil von M. Bulots Rede, der sich auf den Aberglauben 
der Männer bezieht, daß durch Kontakt mit einer Jungfrau, mit einem 
Kinde, der Tripper geheilt wird. (Wie gerichtsärztliche Erhebung er¬ 
gab, lag bei 70 von 100 Fällen dieses anormale Motiv zugrunde). 


36* 


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Namenregister. 


(Die fettgedruckten Seitenzahlen weisen auf Originalarbeiten hin) 


Anonymus 213. 

Baer, Theodor 34. 

Baermann 100. 133. 

Bayer 428. 

Beer 78. 

Behrmann 72. 

Berger 175. 

Bemeker 176* 

Blaschko 426. 

Block 42. 

Blokusewski 72. 229. 

Br6, Ruth 78. 

Breitenstein 72. 

Butte 481. 487. 

Chotzen 433. 

Combes 88. 

Elberskirchen 256. 

Epstein 425. 

Erb 1. 

Feibes 215. 

Flesch 32. 41. 42. 74. 261. 322. 
Frankel, C. 174. 

Freudenberg 78. 

Fürth 78. 

Gillet 481. 488. 

Glück 70. 

Gradenwitz 384. 

Grandhomme 32/33. 

Grazianow 203. 

Grimm, Nellie — 293. 
Grünwald 33. 

Hanauer 32. 

Hartmann 429. 

Hastreiter 291. 

Hegar 213. 

Hellpach 43. 

Herxheimer 82. 

Hilty 40. 

Holländer 285. 

Hubenick 37. 


Jacobsolm 257. 

Janet 479. 

Jordan 78. 

Juba 428. 

Kade 154. 

Köhler 19. 

Lass&r 294. 

Laurent-Montanus 89. 40. 

Lederer 218. 

Ledermann, R. 35. 36. 

Legrain 75. 

Lischnewska 420. 

Loeb 93. 

Marcuse 125. 482. 

Margulies 50. 

Mayer, Joseph 76. 

Mayer (Kremsmünster) 429. 
Meissner 290. 

Metschnikow 294. 

Meyer, Fritz 34. 

Mielecki, v. 38. 

Neisser, A. 83. 161. 181. 221. 381. 
Neumann, Anna 42. 

Neumann 386. 

Niessen, von. 50. 124. 

Oker-Blom 424. 

Olberg 43. 

Pappenheim 207. 

Pappritz 40. 42. 

Pieczynska 76. 

Rabinowitsch 207. 

Rhyn, Henne am 213. 

Riebeling 78. 

Ries 81 . 

Rosenack 207. 

Rosenkranz 294. 

Rosenthal 35. 488. 


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Namenregister. Sachregister. 


501 


Sachs, Theodor 33. 

Sack 73. 

Salomon, Hugo 34. 
Schäfer 218. 

Schallmayer 389. 
Schiller 297. 341. 386. 
Schlesinger 53. 
Schlosberg 173. 

Schrank 75. 

Schreiber 422. 

Schnitze, Erich 292. 
Schuschny 423. 

Schwarz 429. 
Schwimmer 212. 

Serio, Vito 122. 

Siebert 176. 

Simonson 380. 385. 461« 
Sioli 34. 

Stanger 425. 

Stern 314. 

Sticker 47. 

Stiehl 82. 

Stöcker 256. 

Strach 428. 


Ströhmberg 122. 326. 
Stuelp 39. 

Suba 428. 

Sumper 428. 

Suzuki, Tokujero 70. 

Tarnowsky 172. 

Thal 475. 

Thaler 33. 

Thibierge, Georges 38. 
Tissicr 480. 

Tluchor 426. 
Tschistpakow 31. 

Tuch 207. 

Uhl 72. 

Ungar 427. 

Verth, zur 290. 

Welander 291. 
Wertheimer 73. 74. 
Wolffhügel 170. 
Wolters 50. 
Wolzendorff 195. 248. 


Sachregister. 


Abolitionistische Föderation, Interna¬ 
tionale 432. 

Abstinenz, Bemerkungen über die 
Folgen der sexuellen — (Erb) 1. 

Alkohol und Prostitution (Legrain) 75. 

Allgemeiner deutscher Frauenverein 
(Köln) 127. 

Altertum, Über Syphilis im —, speziell 
in China und Japan. (Suzuki) 70. 

Ambulanter Behandlungsstätten für 
Syphilitischkranke, Über Errichtung 
— (Ledermann) 36. 

Ambulatorium für Prostituierte, Das 
Dorpater — (Ströhmberg) 326. 

Anfechtung, Ein gerichtliches Erkennt¬ 
nis über — einer Ehe wegen vor¬ 
ehelicher Gonorrhoe (Wertheimer) 73. 

Ansteckung, Zur Kasuistik der Schaden¬ 
ersatzklagen auf Grund einer durch 
Geschlechtsverkehr erfolgten syphi¬ 
litischen — (Sack) 78. 

Aufklärung, Die geschlechtliche — in 
Haus und Schule. (Fürth) 78. 

— Die geschlechtliche — der Jugend 
(Schlesinger) 53. 

Außerehelicher Geschlechtsverkehr, 
Darf der Arzt zum—raen ? (Marcuse). 
482. 


Außergesch lechtliche Syphilisansteckg. 
Über — und ihre soziale Bedeutung 
(Sachs) 33. 

Außerparlamentarische Kommission 
(Paris) 52, 88, 131, 337, 490—499. 

Ausführungsgesetz des Reichsseuchen- 
gesezes im Braunschweiger Land¬ 
tage 431. 

Bakteriologischen Untersuchungen, Die 
Resultate der — bei der Beobachtung 
des Gesundheitszustandes der Prosti¬ 
tuierten in Dorpat (Ströhmberg) 326. 

Behandlung, Die unentgeltliche — der 
Geschleditskrhtn. (Rosenthal) 85. 

Behandlungsstätten, Über Errichtung 
ambulanter — für Syphilitischkranke 
(Ledermann) 36. 

Belehrung der Jugend, Über die Not¬ 
wendigkeit und methodische Mög¬ 
lichkeit der geschlechtlichen— (Liscn- 
newska) 420. 

— Über sexuelle — der Jugend (Rosen¬ 
kranz) 294. 

Berichtigung (v. Nießen) 124. 

Berufsgeheimnis, Ärztliches (Chotzen) 
433« (Simonson) 461. 

Bezirkslehrerverein München 430. 


*' 


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502 


Sachregister. 


Binäre Syphilis und Erblichkeit der 
Syphilis (Tamowsky) 172. 

Bordelle (Schweiz) 180. 

Bordellen, Wiedereinführung von — 
im Kanton Zürich 218. 

Bordell- and Prostitutionswesen in Ham¬ 
burg (Schäfer) 218. 

—betrieb,Schadenersatz(Hamburg)l 30. 

Braunschweiger Landtage, Ausfüh¬ 
rungsgesetz des Reichsseuchenge¬ 
setzes im — 481. 

Brief, Offener — an Fräulein Anna 
Pappritz (Block) 42. 

Briefe, Antwort auf die — der Herren 
Prof.Fleschund Dr. Block (Pappritz) 42. 

Circumzision, Die — in der Prophy¬ 
laxe der Syphilis (Breitenstein) 72. 

China, Tropenhygienische Erfahrungen 
in — (Wolffhügel) 170. 

China und Japan, Über Syphilis im 
Altertifmc, speziell in — (?>uzuki) 70. 

Chinaexpedition, Die Syphilis im Heere 
der — (Tissier) 480. 

Dänische Gesellschaft zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten 220. 

Döontologie, Syphilis et — (Thibierge) 
38. 

Dime, Die gesunde — (Gillet) 488. 

Ehe, Musterung der Frauen zur — 
(Lederer) 213. 

Eherecht, Über die Behandlung der 
Geschlechtskrankheiten im englischen 
und amerikanischen — (Hubenick) 87. 

Einträufelungsverfahren (Blokusewski) 
292. 

Einzelprostituierte in Paris, siehe Ge¬ 
sundheitszustand (Butte) 487. 

Elternpflicht und Kindesrecht (Riebe- 
ling) 78. 

Entartung, Prostitution und — (Lau¬ 
rent-Montanus) 40. 

— Über Vererbung und — (Anony¬ 
mus) 213. 

Enthaltsamkeit, Gibt es Schädigungen 
der Gesundheit als Folge von sexuell 
sittlicher — V (Mayer, Joseph) 76. 

Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung 
geschlechtlicher Krankheiten und 
öffentlicher Unsittlichkeit(Norwegen) 
179. 

— eines Ausführungsgesetzes zu dem 
Reichsgesetz, betreffend die Be¬ 
kämpfung gemeingefährlicher Krank¬ 
heiten 215. 

Erblichkeit der Syphilis, Binäre Syphi¬ 
lis, und — (Tamowsky) 172. 


Erwiderung (Marcuse) 125. 

Erziehung, Gesundheit und — (Sticker) 
47. 

Erziehungsproblem, Ein (Pieczynska) 
76. 

Festschrift zum 1. Kongreß der D. G. 
z. B. d. G. in Frankfurt a. M. 82. 

Fortpflanzung, Die Untauglichkeit zum 
Geschlechtsverkehr und zur — (He- 
gar) 218. 

Frauen, Musterung der — zur Ehe 
(Lederer) 213. 

Frauenkongreß, Internationaler zu 
Berlin 388. 

Frauenverein, Allgemeiner deutscher 
(Köln) 127. 

Fürsorgeerziehung und Prostitutions¬ 
bekämpfung (Schiller) 297. 341. 

— Minderjähriger, Reichsgesetzliche 
Bestimmungen über die Zwangs- — 
377. 

— Minderjähriger vom 2. Juli 1900, 
Gesetz über die — 879. 


Galizien, Zur Lage der Bevölkerung 
in — (Pappenheim und Rabinowitsch) 
207. 

Gebärasylen, Über die Infektion mit 
Syphilis durch das Zufüttern fremder 
Neugebomer in den —(Tschistjakow) 
31. 

„Geborene“ Prostituierte, Giebt es — ? 
(Pappritz) 40. 

Gemeingefährliche Krankheiten, Ent¬ 
wurf eines Ausfiihrungsgesetzes zu 
dem Reichsgesetz, betreffend die Be¬ 
kämpfung — 215. 

Geschichte und Bedeutung der Ge¬ 
schlechtskrankheiten (Wolters) 50. 

— der Prostitution in Frankfurt a. M. 
(Hanauer) 32. 

Geschlechtliche, Das — im Unterricht 
und in der Jugendlektüre 430. 

— Die — Aufklärung der Jugend 
(Schlesinger) 63. 

— Aufklärung, Die — in Haus und 
Schule (Fürth) 78. 

— Erkrankungen, Über unverschuldete 
(Ries) 31. 

Geschlechtlicher Krankheiten und 
öffentlicher Unsittlichkeit, Entwurf 
eines Gesetzes zur Bekämpfung — 
(Norwegen) 178. 

Geschlechtskrankenbewegung, Über die 
im letzten Jahrzehnt erfolgte — 
(Thaler) 38. 

Geschlechtskrankheiten, Die — des 
Mannes (Hastreiter) 291. 


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Sachregister. 


503 


Geschlechtskrankheiten in Christiania, 
Populäre Vorlesungen über — 178. 

•*- die Bedeutung der — für den Beruf 
der Hebeammen (Ledermann) 35. 

— Geschichte und Bedeutung der — 
(Wolters) 50. 

— Die unentgeltliche Behandlung der 

— (Rosenthal) 35. 

— Über Behandlung der — im eng¬ 
lischen und amerikanischen Eherecht 
(Hubenick) 37. 

•— Der Kampf gegen die — (Olberg) 48. 

— Der Kampf gegen die — (Hell- 
pach) 43. 

— Prinzipielles zum Kampf gegen die 

— (Hellpach) 43. 

— Womit sind die — als Volksseuche 
im deutschen Reiche wirksam zu be¬ 
kämpfen? (Von Niessen) 50. 

— Über die Bekämpfung der — (Mar- 
gulies) 50. 

— Bekämpfung der — in Amerika 52. 

— Die Bekämpfung der ansteckenden 

— im deutschen Reich (Ströhm- 
berg) 122. 

— Inwieweit können die Kranken¬ 
kassen zur Bekämpfung der — bei¬ 
tragen? (Neisser) 161.181. 221. 

— Die Bekämpfung der — (C. Fränkel) 
174. 

— Die Bekämpfung der — (Berger) 175. 

— Dänische Gesellschaft zur Bekämp¬ 
fung der — 220. 

— Kurpfuscherei und — (Kade) 154. 

— Zur Prophylaxe der — (Uhl) 72. 

— Prophylaxe der — (Blokusewski) 72. 

— Zur Verhütung von — (Feibes) 215. 

— Zur Prophylaxe der —, speziell 
des Trippers (Schultze) 292. 

und Prostitution (Jordan) 78. 

— Die — in ihren Beziehungen zu 
den Psychosen in der Irrenanstalt 
(Sioli) 34. 

— und Rechtsschutz (Flesch u. Wert¬ 
heimer) 74. 

— Eine neue Verurteilung wegen Über¬ 
tragung von — (München) 131. 

— Übersicht über die bei d. Frank¬ 
furter Prostituierten festgestellten — 
(Grandhomme u. Grünwald) 33. 

— Statistik über die in den Jahren 
1897—1902 in der Dr. Baer sehen 
dermatolog. Poliklinik beobachteten 

— (Baer) 34. 

— Statistisches über — in Mannheim 
(Loeb) 93. 

— Statistik der — in Christiania 178. 

Geschlechtsverkehr, Die Untauglich¬ 
keit zum — und zur Fortpflanzung 
(Hegar) 213. 


Geschlechtsverkehr, Darf der Arzt zum 
außerehel ich en—raten? (Marcuse)482. 

Gesetz über die Fürsorgeerziehung 
Mindeijähriger vom 2. Juli 1900 379. 

Gesundheitszustand, Über den —, rück¬ 
sichtlich der Syphilis, bei den bor¬ 
deliierten Prostituierten in Paris 
(Butte) 487. — bei den kontrollierten 
Einzelprostituierten (Butte) 487. 

Gesundheit und Erziehung (Sticker) 47. 

Gesundheitszustandes, Die Resultate 
der bakteriologischen Untersuchun¬ 
gen bei der Beobachtung — der des 
Prostituierten in Dorpat(Ströhmberg) 
326. 

Gonokokkennachweis, Über chronische 
Gonorrhoe und — (Meyer) 34. 

Gonorrhoe, Über chronische — und 
Gonokokkennachweis (Meyer) 34. 

— Die Diagnose der — in der Gy¬ 
näkologie und ihrer forensen Be¬ 
deutung (Flesch) 261. 

— Die —, ihre Gefahren und ihre Hei¬ 
lung (Meissner) 290. 

— Ein gerichtliches Erkenntnis über 
Anfechtung einer Ehe wegen vorehe- 
lieher — (Wertheimer) 73. 

— Klinische Studien über (Schlosberg) 
173. 

— Prophylaxe der — (Janet) 480. 

— Die — der Prostituierten (Baer- 
mann) 100. 133. 

Gravidität, Wie kann der sozialen Ge¬ 
fahr entgegengetreten werden, die 
eine luetische — mit sich führt? 
(Welander) 291. 

Gynäkologie, Die Diagnose der Gonor¬ 
rhoe in der — in ihrer forensen Be¬ 
deutung (Flesch) 261. 

Hebeammen, Die Bedeutung der Ge¬ 
schlechtskrankheiten für den Beruf 
der — (Ledermann) 35. 

Herrenmoral (Flesch) 42. 

— (Pappritz) 42. 

Hy« ;iene. Sexuelle Moral und sexuelle — 
(Siebert) 176. 

Indien, Die Prostitution in — (Lau¬ 
rent-Montanus) 39. 

Infektion als Morgengabe (Schallmayer) 

389. 

— Über die — mit Syphilis durch 
das Zufüttern fremder Neugeborener 
in den Gebärasylen (Tschisljakow) 31. 

Infektionsstoffe, Über —, deren bak¬ 
terielle Natur nicht nachgewiesen 
ist, und über Maßregeln zur Ver¬ 
meidung solcher Infektionen vom sani- 
täts polizeilichen Standpunkte aus 
(Stuelp) 39. 


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504 


Sachregister. 


Internationale abolitionistische Föde¬ 
ration 432. 

Japan, Über Syphilis im Altertume 
speziell in China und — (Suzuki) 70. 

J ugend, Die geschlechtliche Aufklärung 
der — (Sdilesinger) 53. 

— Ein Wort an die weibliche — 
(Freudenberg) 78. 

— Über sexuelle Belehrung der — 
(Rosenkranz) 294. 

— Über die Notwendigkeit und me¬ 
thodische Möglichkeit der ge¬ 
schlechtlichen Belehrung der — (Li- 
schncwska) 420. 

Jugendlektüre, Das Geschlechtliche im 
Unterricht und in der — 430. 

Kind, Mutter und — (Grimm) 293. 

Kinderwelt und Prostitution (Schreiber) 
422. 

Kindesrecht, Elternpflicht und — (Rie- 
beling) 78. 

Körperverletzung — Übertragung einer 
Geschlechtskrankheit 296. 

Konferenz, Allgemeine — der deut¬ 
schen Sittlicmkeitsvereinc 128. 

Kongreß der D. G. B. G. in Frankfurt 
a./M., Festschrift zum 1. — 32. 

— Für Schul-Gesundheitspflege 423. 

Krankenkassen, Inwieweit können die 

— zur Bekämpfung der Geschlechts¬ 
krankheiten beitragen? (Neisser) 161. 
181 . 221 . 

Kurpfuscherei und Geschlechtskrank¬ 
heiten. (Kade) 154. 

Landesverein preußischer Volksschul¬ 
lehrerinnen. 430. 

Landesversicherungs- Anstalt Rhein¬ 
provinz 388. 

Ledigenheims, Die Errichtung eines — 
in Charlotten bürg 295. 

Mädchenhandel, Der Kampf gegen den 

— (Schwimmer) 212. 

— Prostitution und — (Henne am 
Rhyn) 213. 

— Deutsche Nationalkonferenz zur 
internationalen Bekämpfung des — 
126. 

— zur Bekämpfung des — (Rosenack) 
207. 

— Die Ursachen des galizischen — 
und ihre Bekämpfung (Tuch) 207. 

Mann, Von — und Weib (Stöcker) 256. 

— Die Sexualempfindung bei Weib 
und — (Elberskirchen) 256. 

Militärischen Bevölkerung, Verbreitung 
der Geschlechtskrankheiten in der — 
(Unteroffiziere und Mannschaften) der 


Garnison Frankfurt a./M. — Bocken- 
heim (v. Mielecki) 83. 

Moral, Sexuelle — und sexuelle Hygiene 
(Sichert) 176. (Thal) 475. 

Musterung der Frauen zur Ehe (Lederer) 
213. 

Mutter und Kind (Grimm) 298. 

Mutterpflicht, Eine (Stiehl) 82. 

Mutterschaft, Das Recht auf die — 
(Br4) 78. 

Nationalkonferenz, Deutsche — zur 
internationalen Bekämpfung des 
Mädchenhandels. 126. 

Neugeborener in den Gebärasylen, 
Über die Infektion mit Syphilis durch 
das Zufüttern fremder — (Tschist- 
jakow) 31. 

Notwendigen Übel, Vom (Flesch) 41. 

Ortskrankenkassen, Zentral verband der 
Deutschen — 83. 

Pappritz, In Sachen Flesch contra — 
(A. Neumann) 42. 

Polizeiassistentin (Stuttgart) 128. 

Populäre Vorlesungen über Geschlechts¬ 
krankheiten in Christiania 178. 

Prophylaxe der Gonorrhoe (Jauet) 479. 

Prostituierte, Bordellierte — in Paris 
siehe Gesundheitszustand (Butte) 487. 

— Giebt es „geborene“ — ? (Pappritz)40. 

— Das Dorpater Ambulatorium für — 
(Ströhmberg) 326. 

Prostituierten, Übersicht über die b. d. 
Frankfurt. — festgest. Geschlechts- 
krankh. (Grandhomme u. Grünwald) 
33. 

— Die Gonorrhoe der — (Baermann) 
100. 133. 

— in Dorpat, Die Resultate der bak¬ 
teriologischen Untersuchungen bei 
der Beobachtung des Gesundheits¬ 
zustandes der — (Ströhmberg) 826. 

— Die gemischte stationär-ambulato¬ 
rische Syphilisbehandlung der Dor¬ 
pater — (Ströhmberg) 826. 

Prostitution, Alkohol und — (Legrain) 
75. 

— und Entartung (Laurent-Montanus) 
40. 

— Geschichte der — in Frankfurt 
a./M. (Hanauer) 32. 

— Geschlechtskrankheiten und — 
(Jordan) 78. 

: — Die — in Indien (Laurent-Montanus) 
39. 

— Kinderwelt und — (Schreiber) 422. • 

I — und Mädchenhandel (Henne am 

I Rhyn) 218. 


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Sachregister. 


505 


Prostitution der Stadt Minsk, Ein 
Jahrzehnt der Aufsicht über die — 
(Grazianow) 203. 

— Bekämpfung der — (in Holland) 
131. 

— Vorschläge zur Eindämmung der 
schädlichen Folgen der — (Schrank) 
75. 

— Das Verschleierungssystem und die 
— (Beer) 78. 

— Alkohol und — (Legrain) 76. 

Prostitutionsbekämpfung, Fürsorgeer¬ 
ziehung und — (Schiller) 297. 341. 

Prostitutionswesen. Bordell- und — in 
Hamburg (Schäler) 218. 

Prophylaxe, Zur — der Geschlechts¬ 
krankheiten (Uhl) 72. 

— der Geschlechtskrankheiten (Blo- 
knsewski) 72. 

— Zur — der Geschlechtskrankheiten, 
speziell des Trippers (Schultze) 292. 

— individuelle (Blokusewski) 292. 

— Die — der venerischen Krankheiten 
bei Männern (Behrmann) 72. 

— der Syphilis, Die Zirkumzision in 
der — (Breitenstein) 72. 

Psychosen, Die Geschlechtskrankheiten 
in ihren Beziehungen zu den — in 
der Irrenanstalt (Sioli) 34. 


Rechtsordnung, Stellung der — zur 
Gefahr der Geschlechtskrankheiten 
(Köhler) 19. 

Rechtsschutz, Geschlechtskrankheiten 
und — (Flesch und Wertheimer) 74. 

Reglementation 481. 

Reglementierung cf. (Außerparlamen¬ 
tarische Kommission) 337. 

Reglementierungsfrage (Allgemeiner 
Deutscher Frauenverein zu Köln) 127. 

Reichsgerichtsentscheidung betr. Ver¬ 
schwiegenheitspflicht 489. 

Reichsgesetz, Entwurf eines Aus- 
f&hrungsgesetzes zu dem —, be¬ 
treffend die Bekämpfung gemeinge¬ 
fährlicher Krankheiten 215. 

Reichsgesetzliche Bestimmung über die 
Zwang8-(Für8orge)-Erziehung Min- 
deijähriger 377. 

Reichsseucheugesetzes im Braun¬ 
schweiger Landtage, Ausführungs¬ 
gesetz des — 431. 

Rekonvaleszentenheime für Syphili¬ 
tische (Stern) 314. 


Schadenersatz, Bordellbetrieb (Ham- j 
bürg) 130. j 

Schadenersatzklagen, Zur Kasuistik der I 
— auf Grund einer durch Geschlechts- 


verkehr erfolgten syphilitischen An¬ 
steckung (Sack) 73. 

Schule, Die geschlechtliche Aufklärung 
in Haus und — (Fürth) 78. 

Schulgesundheitspflege (Kongreß) 423. 

Sexualempfindung, Die — bei Weib 
und Mann (Elberskirchen) 256. 

Sexualhygiene, Die — des alten Testa¬ 
mentes (Wolzendorff) 195. 248. 

Sexuelle Belehrung, Über—der Jugend 
(Rosenkranz) 294. 

Sexuelle Moral und sexuelle Hygiene 
(Siebert) 176. (Thal) 475. 

Sittenpolizei (Butte) 481. 

Sittlicnkeitsvereine, Allgemeine Kon¬ 
ferenz der deutschen — 128. 

Soziale Bedeutung, Über außerge¬ 
schlechtliche Sypnilisansteckung und 
ihre — (Sachs) 38. 

Sozialen Gefahr, Wie kann der — ent¬ 
gegengetreten werden, die eine lue¬ 
tische Gravidität mit sich führt? 
(Welander) 291. 

Statistik über die in den Jahren 1897- 
1902 in der Dr. Baerschen derma- 
tolog. Poliklinik beobachteten Ge¬ 
schlechtskrankheiten (Baer) 34. 

— der Geschlechtskrankheiten in Chri- 
stiania 178. 

Statistisches über Geschlechtskrank¬ 
heiten in Mannheim (Loeb) 93. 

Studierenden, Eine amtliche Warnung 
der — vor den Gefahren der Ge¬ 
schlechtskrankheiten 51. 

Studierenden Jugend, Maßnahmen zur 
Bekämpfung der Verbreitung der 
venerischen Krankheiten unter der 

— (Jakobsohn) 257. 

Syphilis, Über — im Altertume, speziell 
in China und Japan (Suzuki) 70. 

— Die Zirkumzision in der Prophylaxe 
der — (Breitenstein) 72. 

— et D6ontologie (Thibierge) 88. 

— Binäre Syphilis und Erblichkeit der 

— (Tamowsky) 172. 

— Ist die — heilbar? (Neisser) 83. 

— Über die Infektion mit — durch 
das Zufüttern fremder Neugeborener 
in den Gebärasylen (Tschistjakow) 
31. 

— Die — der Europäer in den tropi¬ 
schen Gegenden der ostamerikani¬ 
schen Küste (zur Verth) 290. 

— Die — im Heere der Chinaexpedi¬ 
tion (Tissier) 480. 

— Therapie der — und der venerischen 
Krankheiten (Rosenthal) 488. 

— Über den Gesundheitszustand rück¬ 
sichtlich der — bei Prostituierten in 
Paris (Butte) 487. 


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506 


Sachregister. 


Syphilis, Überimpfung auf Affen 
Metschnikow; Lassar) 294. 

— Der Ursprung der — (Vito Serio) 

122 . 

— Ursprung der — (Vito Serio) 122. 

Syphilisansteckung, Über außerge- 

scblechtliche — and ihre soziale 
Bedeutung (Sachs) 88. 

Syphilisbehandlung, Die gemischte 
stationär- ambulatorische — der Dor- 
pater Prostituierten (Ströhmberg) 
826 . 

Syphilitischen Ansteckung, Zur Ka¬ 
suistik der Schadenersatzklagen auf 
Grund einer durch Geschlechtsver¬ 
kehr erfolgten — (Sack) 78. 

Syphilitische, Rekonvaleszentenheime 
für — (Stern) 814. 

Syphilitischkranke, Über Errichtung 
ambulanter Behandlungsstätten für 

— (Ledermann) 86. 

Testamentes, Die Sexualhygiene des 
alten — (Wolzendorff) 195. 248. 

Therapie der Syphilis und der vene¬ 
rischen Krankheiten (Rosenthal) 488. 

Traite blanche, La — (Hilty) 40. 

Trippers, Zur Prophylaxe der Ge¬ 
schlechtskrankheiten, speziell des — 
(Schnitze) 292. 

Tropenhygienische Erfahrungen in 
China (Wolffhügei) 170. 

Tropischen Gegenden, Die Syphilis der 
Europäer m den — der ostamerika- 
nischen Küste (zur Verth) 290. 

Übertragung von Geschlechtskrank¬ 
heiten, Eine neue Verurteilung wegen 

— (München) 181. 

— einer Geschlechtskrankheit — Kör¬ 
perverletzung 296. 

Unentgeltliche Behandlung der Ge¬ 
schlechtskrankheiten (Rosenthal) 85. 

Unsittlichkeit, Entwurf eines Gesetzes 
zur Bekämpfung geschlechtlicher 
Krankheiten und Öffentlicher — 
(Norwegen) 179. 

— Die Volksschule und der Kampf 
gegen die — 430. 

Untauglichkeit, Die—zum Geschlechts¬ 
verkehr und zur Fortpflanzung (He- 
gar) 213. 

Unterricht und in der Jugendlektüre, 
Das Geschlechtliche im — 430. 

Unverschuldet, Nicht 87. 


Unverschuldete, Über — geschlecht¬ 
liche Erkrankungen (Ries) 81. 

Urteil, Ein wichtiges 87. 

Urteile, Zwei gerichtliche (Flesch) 322. 

Venerischen Krankheiten bei Männern, 
Die Prophylaxe der — (Behrmann) 72. 

Venerischen Krankheiten, Zur Ver¬ 
breitung und Bekämpfung von — 
(Holländer) 285. 

Venerische Krankheiten, Therapie der 
Syphilis und der — (Rosenthal) 488. 

Verbreitungder Geschlechtskrankheiten 
in der militärischen Bevölkerung 
(Unteroffiziere und Mannschaften) 
der Garnison Frankfurt a/M. — 
Bockenheim (v. Mielecki) 33. 

— Zur — und Bekämpfung der vene¬ 
rischen Krankheiten (Holländer) 285. 

Vererbung, Über — und Entartung 
(Anonymus) 213. 

Verhütung, Zur — von Geschlechts¬ 
krankheiten (Feibes) 215. 

Vermeidung solcher Infektionen vooa 
sanitätspolizeiliche n fU—rijwmkto aus. 
Über Infoktiensstoffe, deren bakte¬ 
rielle Notar nicht nachgewiesen wer¬ 
den kann, und über Maßregeln zur 
— (Stuelp) 39. 

Verschleierungssystem, Das — und die 
Prostitution (Beer) 78. 

Volksschule, Die — und der Kampf 
gegen die Unsittlichkeit 430. 

Volksseuche, Womit sind die Ge¬ 
schlechtskrankheiten als — im Deut¬ 
schen Reiche wirksam zu bekämpfen? 
(von Niessen) 50. 

Volkssypbilis, Die Bekämpfung der — 
in Bosnien und Herzegowina (Glück) 
70. 

Vorehelicher Gonorrhoe, Ein gericht¬ 
liches Erkenntnis über Anfechtung 
einer Ehe wegen — (Wertheimer) 73. 

Vorlesungen, Populäre — über Ge¬ 
schlechtskrankheiten in Christiania 
178. 

Warnung, Eine amtliche — der Studie¬ 
renden vor den Gefahren der Ge¬ 
schlechtskrankheiten 51 

Weib, Von Mann und — (Stöcker) 256. 

— und Mann, Die Sexualempfindung 
bei — (Elberskirchen) 256. 

Zentralverband der Deutschen Orts¬ 
krankenkassen 88. 


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