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University of Chicago Library
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Im Aufträge der Deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
herausgegeben von
Dr. A. Blaschko, Dr. E. Lesser,
Arst ln Berlin. Professor a. d. Universität Berlin.
Dr. A. Neifser,
Geheimer Medizinalrat und Professor an der Universität Breslau.
Redaktion: Berlin W., Potsdamer Straße 20.
II. Band.
DGBG
Leipzig 1904
Verlag von Johann Ambrosius Barth
Roßplats 17
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"RC 2.0 1 ■~Z-‘r
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275482
Inhalts - Verzeichnis.
Originalbeiträge.
Seite
W. Erb, Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz . . 1
Josef Köhler, Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechts¬
krankheiten .19
Hermann Schlesinger, Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend 58
Heinrich Loeb, Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mann¬
heim .93
Gustav Baermann, Die Gonorrhoe der Prostituierten . . S. 100 u. 138
Kade, Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten.154
Albert Neisser, Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten beitragen?.S. 161, 181 u. 221
Wolzendorff, Die Sexualhygiene des Alten Testamentes . S. 195 u. 248
Max Flesch, Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie in ihrer
forensen Bedeutung.261
E. Holländer, Zur Verbreitung und Bekämpfung der venerischen Krank¬
heiten .285
F. Schiller, Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung S. 297 u. 341
Anhang hierzu.377
Diskussion hierzu ..380
Carl Stern, Rekonvaleszentenheime für Syphilitische.814
Max Flesch, Zwei gerichtliche Urteile.322
W. Schallmayer, Infektion als Morgengabe.389
Chotzen und Simonson, Meldepflicht und Verschwiegenheits-Ver¬
pflichtung des Arztes bei Geschlechtskrankheiten.433
Heferate und TageBgeschiohte.
Referate .... S. 31, 70, 122, 170, 203, 256, 290, 326, 420 u. 475
Tagesgeschichte S. 51, 83, 126, 178, 215, 257, 294, 337, 388, 423, 489 u. 490
Namenregister.500
Sachregister. 501
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903. Nr. 1.
Bemerkungen Uber die Folgen der sexuellen Abstinenz.
Von
Prof. Dr. W. Erb (Heidelberg).
Der Anfang März d. J. in Frankfurt tagende I. Kongreß der
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
hat eine Fülle des Interessanten und Anregenden gebracht, aber
auch aufs eindringlichste gezeigt, wie schwierig und verwickelt die
hier sich häufenden Probleme und wie weit wir noch von einer
Lösung derselben entfernt sind. Und ich hatte den deutlichen
Eindruck, daß so mancher von den Rednern sich im Eifer für die
gute Sache allzuweit von dem Boden der realen, leider ja oft recht
grausamen Tatsachen entfernte und die schweren Schädigungen der
menschlichen Gesellschaft durch die Geschlechtskrankheiten mit
völlig ungenügenden und in absehbarer Zeit nicht durchzufiihrenden
Mitteln zu bekämpfen suchte.
Doch davon ist hier nicht zu handeln; wir stehen im aller¬
ersten Anfang unserer Bestrebungen, wir tasten noch unsicher
herum nach den besten Mitteln und Methoden zur Bekämpfung
dieser Geißel der Menschheit und wir müssen noch sehr viel Be¬
obachtungsmaterial sammeln, sehr viele Erfahrungen sicherstellen,
ehe wir eine einigermaßen vertrauenswerte Basis für unser gesamtes
Handeln gewinnen werden. Die Vermischung der verschieden¬
artigsten ethischen, moralischen, sozialen, juristischen, ärztlichen,
volkshygienischen und gesundheitspolizeilichen Fragen ist auf diesem
Gebiete eine so innige, daß eine Einigung über die wichtigsten Ma߬
regeln noch nicht so bald zu erzielen sein wird. Es fällt mir auch
gar nicht ein — da ich mich durchaus nicht berechtigt fühle, über
die meisten von diesen Dingen mitzureden —, hier weitergehende
Betrachtungen über dieselben anzustellen.
Zeitachr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 1
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2
Erb.
Ich will lediglich als älterer erfahrener Arzt zunächst nur
eine rein ärztliche Frage erörtern: Die Frage, ob die absolute
sexuelle Abstinenz vollkommen unschädlich sei oder nicht
Während man früher eher zu der Annahme hinneigte und sie
wohl auch als bequeme Entschuldigung für die Befriedigung des
Geschlechtstriebes vor und außer der Ehe benützte, „daß die ge¬
schlechtliche Enthaltsamkeit etwas Gesundheitsschädliches sei", hört
man neuerdings immer häufiger und mit größerer Bestimmtheit
das Gegenteil behaupten: „Die Enthaltsamkeit sei vollkommen
unschädlich!" Vorsichtige setzen allerdings dazu: „im allge¬
meinen".
Da diese Behauptung auch in der zweiten Sitzung des ge¬
nannten Kongresses geäußert wurde, sah ich mich — ganz gegen
meine Absicht und ohne jede Vorbereitung — veranlaßt, derselben
vom Standpunkte des Nervenarztes entgegenzutreten und sie wenigstens
einzuschränken, in Erinnerung an manche, nicht so seltene, Fälle
aus meinem Beobachtungskreis, bei welchen ich den entschiedenen
Eindruck gewonnen hatte, daß die freiwillige oder erzwungene
Abstinenz doch von zweifellos störender Einwirkung auf das Be¬
finden und die Leistungsfähigkeit der Individuen war; manche
schienen dadurch geradezu erkrankt oder bei bereits vorhandenen
Krankheiten ungünstig beeinflußt zu sein.
Der jetzt erschienene Kongreßbericht zeigt, wie ich glaube,
daß ich mich dabei ganz vorsichtig ausgedrückt, und von den in
der Diskussion mir nachträglich zugeschriebenen Äußerungen und
Absichten nichts gesagt habe. Zu meiner Genugtuung habe ich
denn auch schon während des Kongresses wie nachher noch brief¬
lich eine ganze Anzahl von zustimmenden Äußerungen von Kollegen
erhalten, ja es war mehrfach geradezu von einem „erlösenden Wort"
die Rede, das ich gesprochen hätte.
Dies gab mir Veranlassung, noch weiter über den Gegenstand
nachzudenken und mir in der Erinnerung die Fälle zu vergegen¬
wärtigen, die mir diesen Eindruck hinterlassen hatten. Leider
habe ich mich mit dem Gegenstand nie systematisch beschäftigt,
keine Fälle speziell notiert und keine genaueren Aufzeichnungen
gemacht, so daß ich von einer wissenschaftlichen Bearbeitung der
Frage zu meinem Leidwesen weit entfernt bin. Immerhin habe
ich in meinen Journalen eine Anzahl von Fällen wieder auf¬
gefunden und gestatte mir deshalb die folgenden Bemerkungen,
die ich jedoch mit allem Vorbehalt mache und nur als eine An-
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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
3
regung zu weiteren Studien — für mich selbst und für andere —
angesehen wissen möchte.
Die genannte Frage wird zurzeit hauptsächlich und in erster
Linie für die Männer aufgeworfen; dieselben haben ja ohne Frage
den weitaus größeren Geschlechtstrieb, sind das werbende, an¬
greifende, überwältigende Geschlecht. Es unterliegt jedoch keinem
Zweifel, daß — wie auch eine der Rednerinnen auf dem Kongreß
sehr deutlich aussprach — auch die Frauen ihre sexuellen Be¬
dürfnisse haben und deshalb auch für sie die Frage von den
Folgen der geschlechtlichen Enthaltsamkeit zur Diskussion steht.
Es ist besser, die beiden Geschlechter getrennt zu behandeln.
Die Natur hat die Erhaltung der menschlichen Gattung da¬
durch gesichert, daß sie die Menschen mit einem mächtigen Triebe,
dem Fortpflanzungstrieb ausgestattet hat, dessen Erwachen, Be¬
stehen, Betätigung und Befriedigung einerseits mit den stärksten
körperlichen Lustgefühlen betont ist, andererseits die schönsten Blüten
geistiger, seelischer und kultureller Entwicklung im Menschen zeitigt,
Wenn nun ein Redner bei dem Kongreß geäußert hat, daß er
„in der Ausübung des Geschlechtsaktes kein angeborenes Menschen¬
recht erkennen könne", so wird dieser merkwürdige Satz vielleicht
vom rechtsphilosophischen Standpunkte aus unanfechtbar sein, aber
in dieser Welt der Realitäten doch nur von den wenigsten im Ernst
aufrecht erhalten werden.
Wenn die Natur den Menschen einen so mächtigen, alles über¬
ragenden Trieb einpflanzt und wenn dieser Trieb für die Erhaltung
des Menschengeschlechtes von fundamentalster Bedeutung ist, so
hat doch gewiß der Mensch — der männliche sowohl wie der
weibliche — ein unzweifelhaft angeborenes Recht, ja man kann
sagen einen von der Natur ihm auferlegten Zwang, die
Pflicht, ihn zu befriedigen, nicht sowohl im Interesse seiner
eigenen Erhaltung, sondern für die Erhaltung der Art. Dem kann
sich der Mensch, als Gattungsindividuum, nicht entziehen, wenn
auch die Befriedigung des Triebes — wieder im Interesse der
Erhaltung und Kräftigung der menschlichen Gattung, aber auch
aus ethischen, moralischen und sozialen Gründen — mit allerlei
Einschränkungen umgeben sein mag. Eine gewisse Zügelung und
Regelung des mächtigen Triebes ist ja aus vielen Gründen wünschens¬
wert und notwendig.
Die Erfahrung lehrt, daß die einzelnen Menschen mit einer
sehr verschiedenen Stärke des sexuellen Triebes ausgestattet sind
l*
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4
Erb.
es gibt da ganz enorme individuelle Unterschiede: hochgradig ent¬
wickelten, mäßigen, schwachen oder gänzlich fehlenden Trieb; stark
erregbare, leidenschaftliche, unersättliche Naturen und ganz stumpfe,
kalte, gleichgültige — sog. Naturae frigidae.
Für diese letzteren ist natürlich die Enthaltsamkeit außer¬
ordentlich leicht und ohne alle üble Folgen. Aber wie wirkt die¬
selbe auf gesunde Menschen mit mittlerem bis sehr starkem Ge¬
schlechtstrieb? Oder wie wirkt sie auf krankhaft disponierte,
nervöse, erregbare oder bereits kränkliche und kranke Menschen?
Darüber nur einige Andeutungen!
Es ist eine bekannte Tatsache, daß gesunde junge Männer
mit starkem Geschlechtstrieb unter der Abstinenz nicht wenig zu
leiden haben; daß sie zeitweise von dem Triebe „wie besessen' 1
sind, daß sich ihnen erotische Gedanken überall eindrängen, sie
in der Arbeit und in der Nachtruhe stören und gebieterisch nach
Entlastung verlangen; ich muß mich dabei immer des Zitats eines
meiner Jugendfreunde, eines jungen Künstlers, erinnern, der bei
der Besprechung dieser Dinge bedeutungsvoll zu sagen pflegte:
„Wer nie die kummervollen Nächte in seinem Bette weinend saß ...“
u. s. w., und derselbe Mann wußte die erlösende, entlastende und
geradezu erfrischende Wirkung einer zeitweiligen Befriedigung nicht
genug zu rühmen; und das gleiche ist mir unzählige Male von
ernsten, durchaus mäßigen Männern bestätigt worden.
Ein typisches Beispiel dafür ist mir ein Mann, den ich seit
Dezennien öfter an kleinen Störungen verschiedener Art behandelte
und mit dem ich diese Fragen gelegentlich besprach; ein Mann
von ganz hervorragender körperlicher und geistiger Leistungsfähig*
keit, von lebhaftestem Temperament, ungewöhnlicher Energie und
streng moralischen Grundsätzen. — Als Jüngling früh verlobt, lebte
er stets völlig abstinent und hat während der 5—6 jährigen Ver¬
lobungszeit schwer unter den sexuellen Erregungen gelitten, Störungen
bei der Arbeit, nächtliche Unruhe, mehr oder weniger häufige Pollu¬
tionen u. dergl. gehabt. Mit der Heirat hörte das alles auf. —
Ganz ähnliche Angaben machte mir ein anderer Herr, hervor¬
ragender Arzt, der in der Jugend, während einer etwas protra¬
hierten Verlobungszeit, mit häufigen sexuellen Erregungen zu
kämpfen hatte und damals die ersten Anfänge eines späteren, ziem¬
lich ernsten neurasthenischen Leidens bekam.
Von einem anderen mir bekannten Herrn mit normal ent¬
wickeltem, ziemlich lebhaftem Sexualtrieb, der nach mehrjähriger
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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
5
Ehe seine junge Frau verlor, erfuhr ich, daß er in den drei Jahren
bis zu seiner Wiederverheiratung, trotz des schweren Kummers
und sehr angestrengter geistiger und körperlicher Tätigkeit, bei
völliger Abstinenz sehr schwer unter den Anfechtungen des Sexual¬
triebes gelitten habe. Dasselbe haben mir noch andere, in jungen
Jahren verwitwete Männer erzählt. Und das gleiche gilt von
manchen sexuell erregbaren Männern, welche in der Ehe, um
weiteren Kindersegen zu verhüten und weil sie aus moralischen
Bedenken die üblichen Mittel zur Verhütung der Konzeption nicht
anwenden wollen, völlig enthaltsam leben. Auch hier sind ge¬
legentlich üble sexualneurasthenische Folgen von mir beobachtet
worden. — Ich kenne einen, jetzt schon in die Sechziger einge¬
tretenen, aber ungewöhnlich rüstigen und sexuell noch ganz leistungs¬
fähigen Mann, dem seit 6—8 Jahren aus äußeren Gründen der
eheliche Verkehr versagt ist und der völlig abstinent lebt, sich
aber davon entschieden geschädigt fühlt; es treten häufig geradezu
krankhafte Störungen, schmerzhafte Kongestionen ad testes, Stö¬
rungen der Arbeitsfähigkeit u. s. w. auf, so daß doch an der
„krankmachenden“ Wirkung der Enthaltsamkeit keinZweifel sein kann.
Viele von den jungen Männern, welche sich aus moralischen
Gründen oder unter dem Zwang der Verhältnisse, oder aus Furcht
und Ekel vor der Prostitution der Enthaltsamkeit befleißigen, werden
durch den übermächtigen Trieb der Onanie zugeführt; wohl denen,
bei welchen es dann nur bei der seltenen, dem übermächtigen
Zwange gehorchenden, häufig nur halb im Schlafe geübten „Not¬
onanie“ bleibt!
Manche andere werden dadurch wirklich krank; sie verfallen
der Onanie in stärkerem Maße und werden dadurch neurasthenisch,
körperlich und geistig leistungsunfähig — das brauche ich nicht
zu schildern. Mancher von diesen überwindet auch die Onanie,
kommt aber dann aus dem Regen in die Traufe, wenn er versucht,
vollkommen abstinent zu bleiben; so sah ich erst vor kurzem einen
35jährigen unverheirateten Mann, der, mit starker Libido ausge¬
stattet, jahrelang onaniert hatte; seit drei Jahren hat er der Onanie
gänzlich entsagt, ohne natürlichen Geschlechtsverkehr zu suchen:
seitdem ist er krank, hat lästige örtliche Beschwerden in der
Urethra, am Perineum, im Kreuz u. s. w.; er ist Neurastheniker
geworden und in seiner Arbeitsfähigkeit erheblich gestört
Ferner einen 36 jährigen protestantischen Geistlichen, seit zwei
Jahren verlobt, den ich schon als Studenten behandelte, der nie
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Erb.
onanierte und an mäßigen Pollutionen litt Er ist seit Jahren
neurasthenisch, hat starke Libido und viel nächtliche Erektionen;
er leidet sehr unter der stets geübten Enthaltsamkeit und ist
neuerdings wieder viel kränker geworden (Rückenschmerzen, Müdig¬
keit, Herzklopfen, Schlaflosigkeit, Verstimmung u. s. w.).
Ebenso erging es einem 59 jährigen katholischen Geistlichen,
der von jeher nervös war und immer sehr unter sexuellen An¬
fechtungen litt; er hatte sehr viel erotische Phantasien, onanierte
in der Jugend, wurde früh neurasthenisch und blieb es sein ganzes
Leben in hohem Grade; er ist dabei ein kräftiger, wohlgenährter
Mann. In meinem Journal findet sich bei ihm die Randbemerkung:
„Opfer des Zölibats“.
Ein ähnliches, viel schwereres Beispiel kenne ich seit mehr
als zehn Jahren an einem katholischen Geistlichen, einem jetzt
schon älteren Mann, der — mit sehr starker Libido sex. begabt —
in der Jugend stark onanierte, unsäglich unter den geschlechtlichen
Erregungen, heftigen Erektionen u. dergl. litt und in stets erneuertem
Kampfe immer wieder der Onanie erlag. — Mit 50 Jahren wurde
er schwer neurasthenisch und hypochondrisch bis zur Psychose;
durch geeignete Behandlung temporär geheilt, wurde er immer
wieder rückfällig durch den übermächtigen Trieb; erst in den
letzten Jahren — der Kranke ist jetzt über 60 Jahre alt — treten
die krankhaften Erscheinungen allmählich zurück.
Diese Fälle ließen sich wohl leicht vermehren, jeder erfahrene
Nervenarzt wird ähnliche gesehen haben; doch ist ihre Beurteilung
oft recht schwierig; die Verhältnisse liegen sehr kompliziert, und
häufig wird die Reihenfolge der Erscheinungen, ob primäre oder
sekundäre Onanie u. dergl. nicht sicher festzustellen sein. Jeden¬
falls bedarf es hier noch eingehender und auf exaktere Frage¬
stellung gegründeter Untersuchungen.
Es scheint mir aber schon jetzt kaum zweifelhaft, daß auch
gesunde Männer mit regem Geschlechtstrieb durch die Enthalt¬
samkeit geschädigt, daß sie jedenfalls sehr belästigt und in ihrer
psychischen Leistungsfähigkeit, in ihrer Arbeitslust, Stimmung u. s. w.
entschieden beschränkt werden; wie häufig daraus wirklich Krank¬
heit entstehen mag, entzieht sich meiner Beurteilung. — Zweifellos
aber gilt dies in höherem Grade für neuropathisch belastete Indi¬
viduen — deren Zahl ja außerordentlich groß ist; dieselben sind
häufig von Hause aus mit einem besonders regen Geschlechtstrieb
ausgestattet und leiden durch dessen unbefriedigte Anforderungen,
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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
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durch Pollutionen, Zwangsonanie, Störung der Nachtruhe und der
Arbeitsfähigkeit, auch durch die Entwicklung der verschiedenen
Formen „sexueller Neurasthenie“ in hohem Maße. — Aber das
sind wirklich Kranke, die einer gesonderten Beurteilung und Be¬
handlung bedürfen und für welche wohl auch gerade die Aufnahme
eines geregelten sexuellen Verkehrs nicht immer leicht und von
heilsamer Wirkung ist
Sehr viel schwieriger sind in dieser Frage die Verhältnisse
bei den Frauen zu beurteilen. Sie sind durch ihr natürliches
und anerzogenes Schamgefühl zu sehr viel größerer Zurückhaltung
geneigt; zartfühlende Rücksicht auf den Mann und die Familie
zwingen sie oft zum Schweigen über diese ganz intimen Dinge, so
daß es meist schwierig und nur durch sehr behutsames Fragen
möglich ist, die Wahrheit zu erfahren, wenn auch nur andeutungs¬
weise. Wenn aber der Arzt einmal älter ist, eine hervorragende
Vertrauensstellung genießt und mit dem nötigen Takt und auch
hinreichender Offenheit zu forschen versteht, erschließen sich ihm
auch auf diesem Gebiete vielerlei Dinge. Und so vermag ich aus
meiner in den letzten Dezennien wachsenden Erfahrung doch einige
Andeutungen zu machen, die Licht auf diese Seite der Frage bei
dem weiblichen Geschlecht (aus den höheren Ständen) werfen. —
Es finden sich auch in der Literatur nicht wenige Andeutungen
darüber; jeder erfahrene Nervenarzt wird eine Anzahl von Be¬
obachtungen darüber besitzen.
Im allgemeinen schreibt man den Frauen gewöhnlich einen
geringeren Sexualtrieb zu als den Männern. Dies trifft wohl auch
zu für jugendliche und jungfräuliche Individuen, welche noch nicht
in Berührung mit Männern gekommen sind und deren Geschlechts¬
lust und Sinnlichkeit noch nicht direkt erregt wurden; später,
wenn der Geschlechtsverkehr einmal begonnen hat, pflegt das in
der Regel sich zu ändern und die sexuellen Bedürfnisse treten
auch bei Frauen lebhafter hervor und verlangen Befriedigung.
Auch bei Frauen kommen sehr erhebliche Verschiedenheiten in
der Intensität des Triebes vor; es ist bekannt, daß es nicht wenige
Frauen gibt, die sehr starke und ungezügelte sinnliche Neigungen
haben, gerade wie die Männer.
Auf der andern Seite ist aber auch zu betonen, daß es unter
den Frauen ganz auffallend viele sog. Naturae frigidae gibt, welche
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Erb.
gar keinen Sinn für den geschlechtlichen Verkehr haben, die ihn
geradezu perhorreszieren, als etwas Gleichgültiges oder direkt Wider¬
wärtiges empfinden; besonders häufig findet sich das bei Frauen,
bei denen man nach allgemeiner Annahme eher das Gegenteil er¬
wartet — bei Hysterischen. Darüber besitze ich eine ganze Reihe
von Erfahrungen, die nicht bloß auf den — ja nicht immer zu¬
verlässigen — Angaben der Hysterischen selbst, sondern auch auf
den Mitteilungen ihrer Ehemänner beruhen. Man wird nicht fehl¬
gehen, wenn man solche Zustände als nicht mehr ganz normal
betrachtet. Jedenfalls aber ist Pathogenese sehr schwer fest¬
zustellen; sie liegt wohl vielfach auf psychologischem Gebiet, auf
dem Mangel an wirklicher Liebe und an intimeren geistigen Be¬
ziehungen zu dem Manne u. dergl.
Ob aber bei ganz gesunden Frauen mit normalem, mehr oder
weniger starkem Geschlechtstrieb die ihnen nur allzu oft aufge¬
zwungene oder von ihnen freiwillig erwählte völlige Enthaltsamkeit
von schädlichen Folgen ist, das steht in Frage. Es ist sehr schwierig,
darüber ein bestimmtes Urteil zu geben; denn es ist recht schwer,
in die ganze Entwicklung dieser Dinge von der Kindheit oder
Pubertätszeit einzudringen und wirklich zuverlässige Angaben zu
erhalten.
Am leichtesten gelingt dies noch bei längere Zeit verheirateten
Frauen, die nach und nach Kenntnis von den sexuellen Dingen
und ihrer weittragenden Bedeutung erlangt haben und sich mit
einer gewissen Offenheit aussprechen. Da gibt es Frauen, die mit
von vornherein impotenten oder homosexualen Männern verheiratet
sind und dadurch überhaupt einen richtigen sexuellen Verkehr
gar nicht kennen lernten und dabei doch nicht selten sexuell stark
erregt wurden, ohne Befriedigung zu erlangen; andere, deren
Männer nach kürzerem oder längerem ehelichen Zusammenleben
(mit genügender sexueller Befriedigung) dann treulos wurden und
sie vernachlässigten; andere, die von ihren Männern geschieden
oder frühzeitig Witwen wurden. Nicht wenige von solchen be¬
klagenswerten Frauen haben mir gestanden, daß sie unter der ihnen
dadurch auferlegten Enthaltsamkeit schwer gelitten; die meisten
sind neurasthenisch oder hysterisch geworden. Dabei ist ja freilich
nicht immer zu sagen, wieviel bei diesen Dingen die rein körper¬
liche Schädigung, wieviel die fast immer damit verbundenen schwe¬
ren Gemütsbewegungen, die psychischen Traumata, bewirkten. Die
Verknüpfung der rein physischen und der psychischen Momente beim
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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
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Geschlechtsverkehr ist ja bei Frauen eine viel engere als beim Manne,
was die Abwägung derselben sehr erschwert.
Ein derartiger Fall, den ich schon im Jahre 1889 kennen
lernte, hat mir besonders tiefen Eindruck gemacht: eine damals
37jährige blühende und lebhafte Frau erzählte, daß sie seit
19 Jahren mit einem anscheinend von vornherein impotenten
(wahrscheinlich homosexualen) Mann verheiratet wurde, den sie
liebte und verehrte. Trotz eines ganz seltenen, und offenbar von
dem Mann nur hier und da künstlich ermöglichten Geschlechts¬
verkehres bekam sie im Lauf der Jahre 5 Kinder; aber sie gestand,
daß sie — als eine leidenschaftliche Natur — durch diese Ver¬
hältnisse sehr unglücklich geworden sei und schwer darunter ge¬
litten habe. Seit 5—6 Jahren ist sie hochgradig neurasthenisch.
Von erfahrenen Nervenärzten, die sich speziell mit diesem
Gegenstand befaßten, wurde mir mitgeteilt, daß sie zahlreiche
ähnliche Erfahrungen an Frauen gemacht hätten, die während der
Ehe oder nach der Trennung derselben zur Abstinenz gezwungen
waren und dadurch in Zustände von hochgradiger nervöser Er¬
schöpfung oder Aufregung, selbst von drohenden oder wirklichen
Psychosen verfielen.
Bei jungfräulichen Individuen wird alles darauf ankommen,
wie hoch der Grad ihrer sexuellen Erregbarkeit von Hause aus
ist, ob sie temperamentvolle, sinnlich angelegte, oder mehr kühle
Naturen sind, ob und wie frühzeitig ihr Geschlechtstrieb durch
Lektüre, lascive Unterhaltungen mit bereits „aufgeklärten“ Freun¬
dinnen, durch engeren Verkehr mit jungen Männern, durch sexuelle
Erregung ohne Befriedigung geweckt wurde oder nicht — Zweifel¬
los spielen dabei wohl auch unbewußte, von den Genitalien aus¬
gehende Erregungen, über die sich die Betreffenden gar nicht klar
sind, eine gewisse Rolle und können zum Ausgangspunkt für
nervöse Schädigungen werden. — Außerdem kann die bei solchen
Frauen nicht selten ausgelöste Onanie, besonders von dem Moment
an, wo dieselbe als etwas Ungehöriges erkannt wird, auf einem
Umwege zu ernsteren nervösen Störungen führen.
Es ist ja sehr schwer, selbst für den älteren und im Ver¬
trauen der Kranken stehenden Arzt, von jungfräulichen Personen
darüber Auskunft zu verlangen; es muß dabei mit viel schonendem
Takt verfahren werden und ich habe sehr oft die Fragestellung
unterlassen, aus Furcht, verletzend auf die Frauen zu wirken, oder
ihre Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die ihnen vielleicht
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Erb.
besser verborgen blieben. Immerhin habe ich auch auf diesem
Gebiete eine Reihe von Erfahrungen gesammelt, welche mir den
bestimmten Eindruck hinterließen, daß auch bei reinen, moralisch
unberührten jungen und älteren Mädchen von diesen Verhältnissen
nicht selten Schädigungen ausgehen, deren Größe sich natürlich
wieder nach der Disposition und dem Naturell der Betreffenden,
nach etwa schon vorhandenen nervösen Erkrankungen und Anlagen
u. dgl. richtet.
Zweifellos gibt es eine nicht geringe Zahl von alt gewordenen
Jungfrauen, mit hervorragender Geistes- und Herzensbildung,
strengster Moral und vollkommener Keuschheit, welche durch diese
Entbehrung ganz oder halb krank geworden, um ihr Lebensglück
betrogen und in ihrem ganzen Wesen geknickt sind. Ich kenne
deren mehrere, blühende und normal angelegte Mädchen, die ein¬
gestandenermaßen etwa um die Mitte der zwanziger Jahre — dies
scheint das kritische Alter zu sein — durch halb unbewußte
sexuelle Erregungen, durch die Nichtbefriedigung ihrer Sehnsucht
nach Liebe und Mutterschaft körperlich und seelisch erkrankten:
leichte psychische Störungen mit erotischer Betonung, sexuelle
Vorstellungen, Phantasien und Halluzinationen traten auf; oder
auch schwere seelische Depression, verbunden mit Unterleibsleiden
(Dysmenorrhöen, Fluor u. s. w.) — und erst allmählich reifte die
Einsicht über die Quelle dieser Störungen. Erst mit reiferen
Jahren, jenseits der Vierzig, können diese Stürme überwunden
werden, wenn solche Frauen die geistige und sittliche Kraft be¬
sitzen, sich durch irgend eine Berufstätigkeit, Beteiligung an so¬
zialen, wohltätigen und anderen Bestrebungen abzulenken und Er¬
satz für den ihnen versagten natürlichen Beruf zu schaffen.
Im Jahre 1896 konsultierte mich eine damals 33jährige junge
Dame, die seit mehr als drei Jahren schwer hystero-neurasthenisch
war. — Sie hatte jahrelang stark an Menorrhagien gelitten und
war gynäkologisch vielfach behandelt worden; sie gestand, daß sie
sehr viel von sexuellen Erregungen zu leiden gehabt habe, angeb¬
lich ohne dadurch der Onanie verfallen zu sein. — Im Jahre 1898
ging sie eine Neigungsheirat ein; ihr sexuelles Leben war im ersten
Jahre der Ehe noch ganz gestört dadurch, daß sie weder Genuß
noch Befriedigung von dem ganz normaliter geübten ehelichen
Verkehr hatte; erst allmählich kehrten diese Verhältnisse zur Norm
zurück und damit besserten sich auch die nervösen Störungen.
Kurz will ich auch noch einen anderen Fall erwähnen von
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Bemerkungen Uber die Folgen der sexuellen Abstinenz.
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einer älteren Jungfrau, die im Jahre 1894 bereits 48 Jahre zählte
und seit ihrem 40. Jahre an starker sexueller Erregtheit, an
häufigen und quälenden erotischen Träumen litt; es war nicht
sicher zu ermitteln, ob sie in der Jugend jemals sexuellen Verkehr
gehabt hatte, wohl aber war sie vielfach sexuellen Erregungen
ohne Befriedigung ausgesetzt und war, wie sie selbst angab, immer
„eine sehr verliebte Natur“. Sie litt an schweren hystero-neurasthe-
nischen Erscheinungen, Angst- und Depressionszuständen und hat
bis heute, wo sie im 56. Jahre steht, noch immer unter diesen
Störungen, wenn auch mit erheblicher Abnahme der sexuellen Er¬
regungen und Träume, zu leiden.
Es ist nicht nötig, weitere Fälle anzuführen; ich habe den
Eindruck, daß erhebliche Schädigungen durch die sexuelle Ent¬
haltsamkeit nicht übermäßig häufig sind, bei Männern schon
deshalb nicht, weil dieselbe doch wohl nur selten von ihnen in
strenger Weise geübt wird, und weil denen, welche sich dadurch
geschädigt glauben, der Weg zur Heilung durch den ihnen überall
zugänglichen sexuellen Verkehr, oder auch durch spontane Pollu¬
tionen oder durch die „Not-Onanie“ offen steht. — Bei Weibern
wage ich kein bestimmtes Urteil über die wirkliche Häufigkeit
dieser üblen Folgen, weil der Erforschung hier viel größere Schwierig¬
keiten entgegenstehen; immerhin mögen Schädigungen bei reinen
und keuschen Jungfrauen relativ selten zu Tage treten, weil sie
einen an und für sich geringeren, noch schlummernden Geschlechts¬
trieb haben; sicherer wohl bei Verheirateten, deren Libido durch
den Geschlechtsgenuß geweckt ist, welche die Lustgefühle desselben
kennen gelernt haben und deren Natur dann auch gebieterisch die
Vorgänge des sexuellen Verkehrs und der Mutterschaft verlangt.
Es ist zu erwarten, daß erfahrene weibliche Frauenärzte,
welche diesem Gegenstände ihre Aufmerksamkeit schenken, uns
bald darüber genauere und sicherer fundierte Erfahrungen mitteilen
werden. Ich hatte Gelegenheit, mit einer solchen Kollegin, die
schon seit einer Reihe von Jahren praktiziert, den Gegenstand zu
besprechen und habe von ihr wertvolle Aufschlüsse und meine vor¬
stehenden Ausführungen in der Hauptsache bestätigende Mit¬
teilungen erhalten.
Ich muß aber ausdrücklich betonen, daß ich weit davon ent¬
fernt bin, mit den im vorstehenden erwähnten wenigen Tatsachen
eine irgendwie abschließende Ansicht zu begründen; die Frage ist
damit für mich erst einmal berührt und ich möchte nur anregend
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12
Erb.
wirken auf die genauere und mehr wissenschaftliche Erforschung
derselben. Vielleicht sehen sich andere, welche diesem Gebiete
noch eingehendere Aufmerksamkeit gewidmet haben, veranlaßt, ihre
Erfahrungen mitzuteilen, damit wir erst einmal über ein größeres
kasuistisches Material verfügen; dann erst können wir darüber
klarer werden, bis zu welchem Grade die völlige Enthaltsamkeit
bei Männern und Weibern zu wirklich krankhaften Folgezuständen
führt.
Daß dieselbe „absolut unschädlich“ sei, wie die Moralisten
und auch manche Ärzte so gern glauben machen möchten, scheint
mir schon jetzt unannehmbar. Es würden sonst wohl auch die
ungeheuren, auf Herbeiführung der geschlechtlichen Enthaltsamkeit
gerichteten Bestrebungen, welche die Geschichte kennt, größeren
Erfolg gezeitigt haben.
Ich betone außerdem ausdrücklich, daß ich es ablehnen muß,
aus diesen bis jetzt noch dürftigen Tatsachen irgendwelche weit¬
gehenden Schlüsse auf unser Verhalten gegenüber der Frage zu
ziehen, ob und bis zu welchem Grade und von wem Enthaltsam¬
keit geübt werden muß und mit wieviel Energie dieselbe zu er¬
streben sei.
Diese Frage kann von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus
behandelt werden; dies ausführlich zu tun, ist hier nicht der Ort
und auch nicht meine Absicht; einige kurze Bemerkungen vom
Standpunkt des Arztes, der ja auch Physiologe und Anthropologe
sein muß, seien aber noch gestattet!
Soweit es sich dabei um das Einzelindividuum, Mann
oder Frau, handelt, welches sich etwa durch die Enthaltsamkeit
geschädigt glaubt, oder bereits wirklich erkrankt ist, fällt die Sache
ganz in das Bereich des Arztes; hier muß jeder einzelne Fall für
sich betrachtet, nach allen Richtungen erforscht und objektiv be¬
urteilt werden. Es ist Sache des Takts und der Einsicht des
Arztes, hier das Richtige zu treffen in bezug auf das richtige Maß
der Enthaltsamkeit, und dabei zwischen den Forderungen der Ge¬
sundheit und der Moral, den individuellen Anschauungen und Nei¬
gungen des Kranken und den die Befriedigung umgebenden Ge¬
fahren zu vermitteln. Es ist lediglich Sache des Arztes, die Sache
mit seinem Klienten und lediglich im Interesse dieses selbst zu
erwägen und zu entscheiden. Der Moralist hat bei diesen rein
ärztlichen Entscheidungen keine Stimme; es ist ausschließlich der
moralische Standpunkt des Klienten selbst in Betracht zu ziehen.
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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
13
Weit wichtiger aber ist die Sache im Hinblick auf die volks¬
hygienische Frage, welcher diese Blätter dienen, auf die Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten. Hier gewinnt diese
Frage eine enorme Bedeutung. Da diese Krankheiten fast nur
durch den geschlechtlichen Verkehr übertragen werden und zwar
zumeist durch den außerehelichen Verkehr, ist es selbstverständlich,
daß denselben durch eine Beschränkung dieses Verkehrs ihre wich¬
tigste Quelle verstopft würde. Die extragenitalen Infektionen sind
an sich relativ so selten, und würden auch mit der Verminderung
der genitalen Infektionen noch sehr viel weiter zurückgehen, daß
sie kaum in Betracht kommen.
Nun ist es ja ohne weiteres klar, daß mit einer allseitig ge¬
übten Enthaltsamkeit bis zur Eheschließung die Geschlechtskrank¬
heiten sehr bald auf ein Minimum reduziert, ja fast gänzlich ver¬
schwinden würden; und diesem unendlichen Gewinn gegenüber
dürften meines Erachtens die unzweifelhaften, wenn auch im ganzen
relativ seltenen und geringen Gesundheitsschädigungen durch die
Enthaltsamkeit nicht ins Gewicht fallen; eher noch die dadurch
herbeigeführte Minderung an Lebensglück, Frische, körperlicher
und geistiger Befriedigung! — Aber diese Enthaltsamkeit bei den
heutigen sozialen Zuständen, bei der erschwerten, verspäteten, oft
ganz unmöglichen Eheschließung auch nur fordern zu wollen, ist
angesichts der realen Verhältnisse eine totale Unmöglichkeit Nur
wer die menschliche Natur nicht kennt, wer die Genußsucht des
Menschengeschlechts viel zu gering einschätzt, wer von der Mäch¬
tigkeit des Geschlechtstriebes auf beiden Seiten, von seiner über¬
ragenden Bedeutung für alle Lebensverhältnisse keine Ahnung hat,
kann diese Forderung aufstellen und hoffen, daß sie erfüllt wird.
Darüber braucht man, glaube ich, kein Wort weiter zu verlieren.
Damit ist ja eigentlich auch die Frage, ob ohne Eücksicht auf
die Geschlechtskrankheiten ganz im allgemeinen von Mann und
Weib Enthaltsamkeit bis zur Eheschließung zu fordern
sei, bereits erledigt; sie umschließt eines der schwierigsten sozialen
und ethischen Probleme, und ist zumeist Gegenstand der Moral
und der religiösen Ethik, liegt also abseits von unserm Gebiet.
Aber doch hat in der Frage, wieweit der Geschlechts¬
verkehr, d. h. der vor- und außereheliche, zu gestatten
oder zu empfehlen sei, von welcher Altersgrenze an derselbe
als unschädlich zu erachten und bis zu welchem Maße er etwa
erlaubt sei, zweifellos der Arzt mitzureden. Speziell kann die
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14
Erb.
neuerdings mit steigender Energie aufgestellte Forderung, daß in
dieser Beziehung Mann und Weib vollkommen gleichgestellt werden
sollten, daß — was man dem einen, dem männlichen Geschlecht
ohne weiteres erlaube —, auch dem anderen, dem weiblichen
Geschlecht zugestanden werden müsse, auch vom physiologisch¬
ärztlichen Standpunkt beleuchtet werden.
Ich gestehe, daß mehrere, vor einiger Zeit erschienene, sehr
energisch für diese Forderung eintretende Broschüren mir einen
tiefen Eindruck machten und daß mein Billigkeitsgefühl sehr für
die Berechtigung dieser Forderung eintrat. Aber es sprechen doch
auch sehr erhebliche Bedenken dagegen.
Es ist ja ohne weiteres klar, daß die Bewahrung der Keusch¬
heit, die Erhaltung der „Jungfräulichkeit“ für das Weib von ganz
anderer Bedeutung ist als für den Mann. Die Geschichte lehrt,
welch großen Wert man zu allen Zeiten bei den Kulturvölkern
auf dieselbe bei dem Weibe gelegt hat, gewiß nicht bloß wegen des
brutalen männlichen Egoismus, sondern wohl wesentlich im Interesse
der Familien- und Rassenreinheit; und solange bei den modernen
Kulturvölkern die auf monogamer Ehe begründete Familie die
Grundlage unseres ganzen Gesellschaftslebens und des Staates
bildet, wird diese Wertschätzung bestehen. Besitzt ja doch auch
die Sprache gar kein Wort, welches diesen Zustand der „Jungfräu¬
lichkeit“, den Vorgang der „Entjungferung“ für den Mann be-
zeichnete!
Dieser Vorgang der „Deflorierung“, — der für den Mann ohne
jede tiefere Bedeutung, ohne alle anatomischen und physiologischen
Folgen, ja oft schon durch die natürlichen Vorgänge der im Schlafe
erfolgenden Samenergießungen vorweg genommen ist, — ist da¬
gegen für das Weib von einschneidender Bedeutung: es ist nach
demselben anatomisch verändert, und es scheint auch — das lehren
allerlei seltsame Erfahrungen sowohl beim menschlichen Weibe wie
in der Tierzucht —, daß mit der ersten Aufnahme der männlichen
Keimstoffe in den weiblichen Körper, oder gar mit der ersten Be¬
fruchtung eine erhebliche und bleibende Veränderung in dem ganzen
Weibe oder doch in seinen Genitalorganen und Keimdrüsen vor
sich geht, welche nicht mehr rückgängig wird. Und deshalb darf
man den Verlust der Jungfräulichkeit hier nicht mit dem gleichen
Maße messen, wie beim Manne. Eher dürfte man wohl von einer
dem Weibe auferlegten natürlichen Pflicht, die Jungfrauschaft bis
zur Ehe oder wenigstens für einen möglichst weit hinauszuschieben-
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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
15
den Zeitpunkt zu bewahren, reden, ganz abgesehen von den heut¬
zutage doch noch ungeheuer schweren sozialen Folgen, weiche der
außereheliche Geschlechtsverkehr und die Geburt eines Kindes für
die Betroffenen nach sich zieht
Das Weib ist ja bei den Vorgängen der Fortpflanzung im
wesentlichen der leidende Teil; es ist von der Natur in geradezu
grausamer Weise zu einer unendlich viel schwereren Rolle im
Verkehr der Geschlechter und im Dienste der Erhaltung der Gattung
verurteilt als der Mann; es wird vom Manne überwältigt und ge¬
zwungen, es muß die schwersten Opfer für die in seinem Schoße
keimende und dann seiner Pflege an vertraute junge Generation
bringen und nur allzuhäufig wird es nicht dafür mit der ent¬
sprechenden Achtung und Schonung behandelt! Und diesen großen
Opfern gegenüber erscheint die von ihm verlangte temporäre Ent¬
haltsamkeit jedenfalls als das kleinere! Ein Glück, daß im allge¬
meinen das jugendliche, noch unberührte Weib von der Natur mit
einem relativ geringeren Sexualtrieb ausgestattet erscheint!
Wir können diese von der Natur beliebte ungleiche und un¬
gerechte Rollenverteilung beklagen, aber leider nicht ändern.
Vielleicht ist es aber doch nicht ganz aussichtslos, die schweren
Folgen derselben für das Weib, für sein Geschlechtsleben, für
seine Berufserfüllung, für die Erhaltung der nationalen Kraft und
für das Volkswohl zu vermindern, wenn auch nicht ganz zu ver¬
hüten.
Vieles deutet in der neuesten Literatur darauf hin, daß diese
Frage, die eines der schwierigsten und kompliziertesten sozialen
Probleme in sich schließt, die Geister zu bewegen beginnt und
sich in den Vordergrund der Erörterung zu stellen strebt. Die
Frauen selbst sind zum Teil mit großer Lebhaftigkeit aufgetreten,
um auch auf diesem Gebiete die Rechte des Weibes zu schützen,
die ja freilich von der allgemeinen Sitte, von einer ungerechten
„doppelten“ Moral vielfach mit Füßen getreten sind. Ich brauche
nur an die Schriften von Laura Marholm, an die Broschüre:
„Auch eine konventionelle Lüge“ (von einem evangelischen Geist¬
lichen), an „Das sexuelle Elend der oberen Stände“ von Heinz
Starkenburg, an die von idealer Begeisterung und von tiefster
Überzeugung getragene Schrift von Ruth Brö: „Das Recht auf
die Mutterschaft“ u. a. m. zu erinnern, um diesen Satz zu be¬
gründen.
Aber so viel Wahres diese Schriften auch enthalten, so er-
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Erb.
schlitternd vielfach die von ihnen gebotenen, dem Leben ent¬
nommenen Schilderungen sind, so sind sie andererseits auch zum
Teil nicht frei von maßlosen Übertreibungen und zeugen vielfach
von einem allzuweit gehenden Optimismus, der die schweren
Hindernisse, die sich den Reformbestrebungen auf diesem Gebiete
zurzeit und wohl noch für lange entgegenstellen, gänzlich über¬
sieht, oder doch viel zu gering einschätzt Für einen Teil dieser
Autoren scheinen durchaus gar keine anderen Triebkräfte bei der
reifgewordenen Jugend zu existieren, als die sexuellen; von den
doch auch mitsprechenden moralischen, sittlichen, religiösen Mächten,
von höheren Bestrebungen, Berufsinteressen, ja selbst von dem sehr
verschiedenen Grad des individuellen geschlechtlichen Bedürfnisses
ist gar keine Rede; diese Dinge sprechen doch ebenfalls mit!
Dem gegenüber machen die auf solider wissenschaftlicher
Grundlage ruhenden Darlegungen eines hervorragenden Frauen¬
arztes, Max Runge, einen sehr wohltuenden Eindruck. Er be¬
handelt in einem feinsinnigen und gedankenreichen Vortrag „über
das Weib in seiner Geschlechtsindividualität", von einem den
Forderungen des Weibes durchaus wohlwollenden Standpunkte aus
die vorliegenden Probleme und betont die großen Gefahren einer
falschen Lösung derselben. Und dabei ist eine richtige Lösung
derselben doch in hohem Grade wünschenswert
Die von mehreren der genannten Autoren vorgeschlagenen
Lösungsversuche sind nicht frei von großen Bedenken; während
der eine den freien Verkehr der Geschlechter aus Liebe gestatten
will, aber zur Beseitigung der Folgen derselben für das Mädchen
vor dem unnatürlichen Präventivverkehr und selbst vor der Kinds¬
abtreibung (!) nicht zurückscheut, im übrigen aber für Findelhäuser,
bessere Sorge für die unehelichen Kinder u. dgl. eintritt, weiß der
Verf. des „Sexuellen Elends der oberen Stände", der seinen „Not¬
schrei" am lautesten und eindringlichsten ertönen läßt, sich selbst
gar keinen Rat und ruft die politischen Machthaber zur Hilfe auf
in dieser sozialen Not
Und die von einem hohen idealen Streben und sittlichem
Ernst getragenen Vorschläge von Ruth Brö, die auf die Heran¬
bildung eines Standes der „freien Frau" mit dem notwendigen Kinde
hinauslaufen, sind gewiß von einem allzu großen Optimismus dik¬
tiert und lassen eine bedauerliche Verkennung der wahren Menschen¬
natur und eine starke Unterschätzung der unendlichen Schwierig¬
keiten durchblicken, welche sich bei dem jetzigen Stande der
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Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
17
öffentlichen Moral, der religiösen und sittlichen Anschauungen und
der Gesetzgebung der Anerkennung der „freien Frau“ und ihrer Kinder
entgegenstellen. Besonders scheint mir der Verfasserin entgangen
zu sein, daß der von ihr als ziemlich allgemein angenommenen,
und gewiß bei vielen edlen und gebildeten weiblichen Wesen auch
vorhandenen „Sehnsucht nach der Mutterschaft“ eine wohl noch
weiter verbreitete und selbst bei verheirateten jungen Frauen be¬
klagenswert häufige „Angst vor der Mutterschaft“ gegentibersteht;
diese bedauerliche, der eigentlichen Frauennatur durchaus wider¬
sprechende, für die Erhaltung der Völker geradezu bedenkliche
Tatsache wird jeder erfahrene Frauenarzt bestätigen; sie ist ja in
neuester Zeit auch von Politikern bereits gewürdigt worden.
Bei allem Bedauern darüber, daß dabei „so viel mütterliche
Kraft verloren geht“ braucht man sich nur einmal im Detail aus¬
zumalen, welche Folgen das Erscheinen der „freien Frau“ mit
ihrem Kinde für beide haben wird, welche Schwierigkeiten sie zu
überwinden haben werden und wie dann auch mit dem ersten
„notwendigen Kinde“ doch häufig die „Sehnsucht nach der Mutter¬
schaft“ oder richtiger gesagt, nach sexuellem Verkehr und sexueller
Befriedigung keineswegs gestillt sein wird — um zu sehen, daß
hier wohl die ersten gesunden Keime einer künftigen Entwicklung
vorliegen, daß dieselben aber mit der größten Vorsicht gehütet
werden müssen, wenn nicht unsägliches Elend über die Vorkämpfe¬
rinnen auf diesem Felde hereinbrechen soll.
Es muß anerkannt werden, daß hier vielversprechende Ge¬
danken zum Ausdruck gekommen sind und die von Ruth Brö
in Aussicht genommenen Reformen, die sich auf die Erziehung
der Jugend für die Ehe, die Herbeiführung und Gestattung einer
freien monogamen Ehe, die Besserstellung der unehelichen Kinder,
die Änderungen des Erbschafts- und Ehescheidungsrechts usw.
beziehen, verdienen gewiß eingehende Erwägung. Hoffentlich ge¬
lingt es, allmählich eine weitgehende Besserung der heutigen,
vielfach veralteten und unhaltbaren Zustände herbeizuführen.
Es scheint mir fast, daß ich mich mit diesen, dies hochwichtige
Gebiet und seine schwierigen Probleme nur streifenden Bemerkungen
allzuweit von meinem eigentlichen Thema entferne; allein alle diese
Dinge stehen doch in Wechselbeziehungen untereinander; es erhellt,
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Qeschlechtskrankh, II. 2
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18 Erb. Bemerkungen über die Folgen der sexuellen Abstinenz.
daß auch in der Laien- und besonders in der Frauenwelt die üblen
Folgen der sexuellen Abstinenz mehr und mehr, vielleicht sogar
etwas zu viel — gewürdigt werden; Reformen auf diesem Gebiete
werden also wohl auch die den Arzt besonders interessierenden,
krank machenden Wirkungen der Enthaltsamkeit vermindern, zu¬
gleich aber auch etwas zur Eindämmung der Prostitution und
damit auch der Geschlechtskrankheiten beitragen. Und diesem
Ziele streben wir ja doch alle zu.
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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechts¬
krankheiten.
Von Josef Köhler.
§ 1 .
Die Regelung der aus der Ansteckungsgefahr von Geschlechts¬
krankheiten hervorgehenden rechtlichen Beziehungen ist ein dringen¬
des Gebot der Neuzeit. Die zimperliche Scheu vergangener Jahre
hat hier viel gefehlt und das Volk schwer geschädigt. Nament¬
lich in gebildeten Kreisen nagt der Schaden an dem Marke des
Volkes. Und sollte es dahin kommen, daß die Menschheit in ihrer
Mehrheit durchseucht wäre, so wäre es um die Kultur unseres Ge¬
schlechtes geschehen.
Die frühere Zeit verkannte viel zu sehr die Gefahren, die
aus der Ansteckungsmöglichkeit namentlich den unschuldigen Per¬
sonen drohen, also denen, welche sich nicht selbst geschlechtlichen
Unregelmäßigkeiten preisgeben und trotzdem infiziert werden können,
vor allem Ehefrauen, Kinder und Ammen. Ich erinnere mich noch
eines Falles, daß ehedem ein Richter sehr juristisch sein wollte,
indem er den ansteckenden Charakter der Geschlechtskrankheiten
verneinte, weil nur derjenige infiziert werden könne, der selbst
durch Unregelmäßigkeit in Verschulden käme. Das zeugt von
einem geringen Einblick in die Lebensverhältnisse, wie er sich
heutzutage selten mehr finden wird.
§ 2 .
Das erste und Hauptmittel der Gegenwirkung wäre ein vor¬
beugendes. Ich war von jeher ein Gegner des Systems, welches das
Strafgesetzbuch ein geführt hat, wonach alle, die mit Prostitution
zu tun haben, ohne weiteres dem Kuppeleiparagraphen verfallen.
Man hat sich durch Scheingründe, Schlagworte und Ausdrucksformen
vor 30 Jahren überzeugen lassen, man sprach von der Würde
des Staates, von der Unmöglichkeit, mit dem Laster einen Bund
zu schließen u. s. w. Dies ist alles gut und schön und treffend,
wenn es sich um die Frage der Gültigkeit und Klagbarkeit der
bürgerlich rechtlichen Beziehungen handelt, die sich um die Pro¬
stitution bewegen. Hier versteht sich von selber, daß alle Ver¬
pflichtungen, welche in dieser Beziehung eingegangen werden, null
2 *
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20
Köhler.
und nichtig sind, das Engagement mit einer Dirne ebenso, wie
der Verkauf eines Bordells. Sobald man aber auf das Gebiet der
Polizei übergebt, so muß man wissen, daß der Staat sich nicht
in einer reinen Höhe erhalten kann, sondern sich als Kämpfender
in die Arena begeben muß und die Schädlichkeiten nicht deshalb
unberührt lassen darf, weil Schmutz daran klebt Und ebenso ist es
sicher, daß umgekehrt das Strafrecht nicht alles treffen kann, was
unser sittliches Gefühl empört und daß bei Beurteilung dessen, was zu
bestrafen ist, die Interessen der Bevölkerung vor allem eine große
Bolle spielen müssen, daß darum aus Gründen des sozialen Wohles
manches straflos bleiben muß, was gegen die Sittlichkeit verstößt.
Aus der Unsittlichkeit folgt also nicht, daß der Staat sich
nicht um das daran geknüpfte gesellschaftliche Interesse kümmern
darf. Aus ihr folgt auch nicht, daß der Staat ohne weiteres alles
bestrafen soll, was mit der Prostitution verknüpft ist.
Ich habe stets den Standpunkt verteidigt, daß der Staat be¬
rechtigt, ja gehalten ist, eine gewisse Toleranz zu üben und daß,
wer immer sich im Kreis dieser Toleranz bewegt, strafrechtlich
nicht angegriffen werden dürfe. Das war ehedem das übliche und
ein sehr heilsames System. In diesem Kreise aber sollte die
strengste Aufsicht geübt, außerhalb dieses Kreises die Prostitution
strengstens verpönt werden. Damit spricht der Staat keine Billigung
aus, er paktiert nicht mit dem Laster, er betrachtet es als eine
ethnologische Erscheinung und sucht den Umständen die besten
Seiten abzugewinnen. Man darf doch niemals voraussetzen, daß
die Menschen lauter Engel oder lauter Anhänger oder Soldaten
der Heilsarmee werden. Sind es aber einmal sündige Menschen,
so muß man sich mit dieser Tatsache abfinden und muß nur da¬
für sorgen, daß die Menschheit nicht zugrunde geht. Ich erachte
darum zunächst die Änderung des Kuppeleiparagraphen für eine
dringende Notwendigkeit. Er wäre für alle Fälle außer Kraft zu
setzen, wo sich jemand für den Betrieb der Prostitution die Toleranz
des Staates erwirkt hätte. Damit könnte man ohne weiteres ver¬
binden, 1. daß ein solcher Beförderer der Prostitution von selbst
der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig wäre, 2. daß ihm auch
sonst eine erniedrigende und demütigende Stellung bereitet werde,
soweit es nötig ist, um den Abscheu des Staates gegen solche
Existenzen kund zu geben; 3. daß man ihm die Toleranz täglich
und stündlich kündigen könnte, und 4. daß die strengsten Ma߬
regeln getroffen würden, um derartige Toleranzanstalten vor dem
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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 21
Publikum abzuschließen und sie dem Auge des Volkes, namentlich
der Jugend, zu entziehen.
Wo überall man seit dem Strafgesetzbuch in der Aufhebung
der Toleranzen recht streng gewesen ist, ist das eingetreten, was
vorauszusehen war. Das Übel hat sich, anstatt lokalisiert zu
bleiben, hinein bis in das Herz des Volkes verbreitet und ist der
Menschheit in Fleisch und Blut übergegangen. Straßen auf Straßen,
Viertel auf Viertel wurden durchseucht, und der erste Grundsatz
der Hygiene, die Lokalisierung des Leidens, wurde völlig über¬
sehen. So ist in den 30 Jahren seit unserem Strafgesetzbuch vieles
unwiederbringlich verloren worden; aber was heutzutage noch
geschehen kann, um dem Übel einigermaßen zu steuern, das sollte
geschehen, und man sollte auch nicht mit dem Schlagwort „Ka¬
sernierung der Unzucht" auftreten, sondern vielmehr von einer
Lokalisierung dieses Leidens der Menschheit sprechen.
Schon seit einigen Jahren ist man mit diesem Problem be¬
schäftigt, aber man getraut sich nicht, ihm eine entsprechende Sank¬
tion zu geben. Die Widerstände, die, von gewissen moralischen Im¬
pulsen geleitet, derartigen Bestrebungen entgegentreten, sind zu
mächtig gewesen. Hoffentlich wird aber die Revision des Strafgesetz¬
buches Gelegenheit bieten, diesen schweren Fehler unseres bis¬
herigen Gesetzes zu heben; denn die Verhältnisse sind doch nach¬
gerade so grauenvoll geworden, daß es mit einer laisser faire-Politik
und mit dem Grundsatz, man solle sich einfach vor dem Laster
verschließen, absolut nicht mehr weiter gehen kann. Ist die Be¬
völkerung erst einmal durchseucht, wie gewisse Inseln der Südsee,
so kann die Menschheit von diesem Planeten abtreten.
Eine solche Lokalisierung ermöglicht nun aber auch, daß dem
medizinischen Bedürfnisse einer ärztlichen Untersuchung gründlich
und nicht bloß scheinhaft entsprochen wird. Eine scheinhafte
Untersuchung schadet, sie nützt nichts; sie verbreitet den Schein
der Sicherheit, hält von Vorsicht ab und ist daher die Ursache
vieler schwerer Erkrankungen geworden. Die Untersuchung sollte
strengstens, sie sollte täglich, sie sollte mit allen Hilfsmitteln der
Wissenschaft erfolgen.
Eine absolute Notwendigkeit aber wäre es, die Untersuchung
auch auf die Männer zu erstrecken, wie es in früheren Jahr¬
hunderten bereits vorgekommen sein mag, und keinen Mann zuzu¬
lassen, der nicht eine solche Untersuchung durchgemacht hat. Ich bin
sicher, daß man dann in kurzer Zeit eine starke Abnahme der furcht-
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22
Köhler.
baren Krankheit konstatieren kann; wobei für die nötige Verschwiegen¬
heit und Diskretion die größten Garantien gegeben werden könnten.
Ich würde eine Gesetzesbestimmung in dem Sinne befürworten:
„Jeder Bundesstaat hat das Recht, Toleranzen zu er¬
teilen. Die Toleranzanstalten und der Verkehr in den¬
selben unterliegen der polizeilichen Regelung der Bundes¬
staaten. Wer Toleranz hat, verfällt, sofern er sich inner¬
halb ihrer Grenzen hält, der Kuppeleistrafe nicht. Der
Erwerb einer Toleranz hat den Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte für die Dauer derünzuchtbeförderung, jeden¬
falls aber auf 5 Jahre, zur Folge. Die Bundesstaaten
können für alle Frauenspersonen, die außerhalb einer
Toleranzanstalt gewerblich dieUnzuchtbetreiben, Strafen
bis zu .... festsetzen.“
§ 3 .
Eine sehr wichtige Frage ist die, welche strafrechtliche Stel¬
lung wir zu denjenigen einzunehmen haben, welche durch ihr
schuldhaftes Handeln die Infektionsgefahr zu einer aktuellen ge¬
macht und dadurch mehr oder minder schwere Verletzungen her¬
beigeführt haben.
Diese Frage läßt verschiedene Seiten zu. Man hat schon
bisher angenommen, daß, wer, selbst infiziert, die Infektion weiter
verbreitet, sich einer Körperverletzung schuldig macht. Dies ist
nicht zu beanstanden. Schwieriger aber ist die Frage, ob hier
Fahrlässigkeit oder Vorsatz anzunehmen ist, und das ist ganz be¬
sonders deshalb von Bedeutung, weil die Körperverletzung hier
nicht selten eine schwere ist, da sie zu einem Siechtum führt,
und weil die schwere vorsätzliche Körperverletzung mit recht
empfindlicher Strafe belegt wird.
Manche haben sich darum für Annahme bloßer Fahrlässigkeit
ausgesprochen. Indes davon kann keine Rede sein, wenn der Fall
so vorliegt, daß der Infizierende das Bewußtsein hatte, nicht der
bloßen Möglichkeit oder einfachen Wahrscheinlichkeit, sondern der
Sicherheit oder dringenden Wahrscheinlichkeit der durch ihn her¬
vorzurufenden Ansteckung. Nun ist aber die Ansteckung, wenn
auch nicht sicher, so doch in so hohem Maße wahrscheinlich, daß
man ohne weiteres darauf rechnen und sie ohne weiteres voraus¬
setzen muß; und ist das der Fall und hat, wie gewöhnlich, der
Täter, z. B. die Dirne, das Bewußtsein dessen, so liegt strafrecht¬
licher Vorsatz vor. Fraglicher kann es sein, wenn die Dirne den
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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 23
A infiziert und dadurch mittelbar seine Frau: in dieser Be¬
ziehung wird meist nur Fahrlässigkeit vorliegen. Es ist in solchem
Falle ja die Möglichkeit gegeben, daß der Mann nicht unter der
Infektion zu leiden hat, wohl aber die Frau, der die Infektion
zugebracht wird.
Allerdings liegt unter den gegebenen Voraussetzungen nicht die
Absicht vor, zu infizieren, allein dies ist beim Vorsatz der Körper¬
verletzung auch nicht nötig. Wer z. B. in der Absicht, eine Krank¬
heitserscheinung zu erforschen, mit jemandem in einerWeise experi¬
mentiert, daß eine Verletzung mit annähernder Sicherheit zu erwarten
ist, dann ist er gleichfalls der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig,
und es ist nicht abzusehen, warum Dirnen und gewissenlose Rouös,
bei denen es sich nicht um redliche Absichten, sondern um Ver¬
kommenheit und Schlechtigkeit handelt, besser gestellt sein sollten.
Allerdings wird es Sache der Revision des Strafgesetzbuches sein,
den Unterschied von Absicht und Vorsatz auch bei der Körper¬
verletzung mehr auszuarbeiten und stets im Falle der Absicht eine
viel schwerere Bestrafung eintreten zu lassen, als im Falle des
bloßen Vorsatzes. Eine solche Absicht kann vorliegen; sie kann
entspringen aus Rachsucht, aus allgemeiner Bosheit, dämonischem
Haß gegen das andere Geschlecht, sie kann auch hervorgehen aus
dem verbreiteten schrecklichen Aberglauben, daß man frei wird,
wenn man die Krankheit auf ein Kind oder eine reine Jungfrau
übertragen hat. 1 ) So die Absicht. Aber der bloße Vorsatz darf
deshalb nicht mit der Fahrlässigkeit in einen Topf geworfen werden.
Solange unser Strafgesetzbuch besteht, werden wir den Satz ver¬
teidigen: Wer im Bewußtsein seiner Infektion und im
Bewußtsein dessen, daß die geschlechtliche Verbindung
in diesem Zustande regelmäßig eine Ansteckung zur
Folge hat, mit einem andern geschlechtlich verkehrt,
der haftet für vorsätzliche Körperverletzung, sobald die
Infektion eine Erkrankung des andern herbeiführt.
Eine verwandte Frage ist die, ob in solchem Falle auch ein
bürgerlicher Schadensersatzanspruch des Geschädigten gegeben ist.
Diese Frage wird in Frankreich allgemein verneint, und mit Recht;
mindestens ist sie zu verneinen, wo immer in der infizierenden
*) Dieser Aberglaube ist über die ganze Welt verbreitet; er beruht auf
der volkstümlichen Vorstellung, man könne eine Krankheit abschütteln wie
einen Handschuh, wozu noch der Glaube an die Zauberkraft jungfräulichen
Wesens kommt. Beispiele bei Rudeck, Syphilis vor Gericht. S. 7 f.
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24
Köhler.
Beiwohnung eine gesellschaftliche Schuld, eine Unsittlichkeit vor¬
liegt, nicht etwa dann, wenn der eine Teil durch Gewalt oder in
bewußtlosem Zustande mißbraucht worden ist, nicht, wenn eine
Ehefrau infiziert worden ist. Nach Analogie von § 817 B.G.B.
muß gesagt werden: der Kläger wird nicht gehört, wenn er sich
auf seine eigene Unsittlichkeit beruft. Eine entgegengesetzte Praxis
ist völlig abzulehnen. Auch von einer Anwendung des § 254
B.G.B. kann hier keine Rede sein.
§ 4 .
Damit ist aber dem Bedürfnis noch nicht entsprochen; denn
es ist 1. der Fall nicht getroffen, wo die Infektion ausnahms¬
weise nicht eintritt, 2. wo zwar eine Infektion eintritt, aber
die Ursächlichkeit nicht nachgewiesen werden kann, weil der andere
Teil auch sonst noch verkehrt hat und es nicht sicher ist, von
wem das verhängnisvolle Geschenk — das Geschenk der Damen
von Cadix, wie es in Byrons Don Juan heißt — herrührt, 3. der
Fall, dass bei dem anderen Teil Erscheinungen eintreten, die zwar
krankhafter Natur sind, aber nicht sicher auf Infektion schließen
lassen, 4. Der Fall, wo es zweifelhaft ist, ob der Infizierte nicht
bereits vorher infiziert war. Infolge dieser Zweifelhaftigkeit wird
die oben erwähnte Verfolgung wegen Körperverletzung meist er¬
gebnislos sein, und die Abschreckung, welche in einer solchen
Verfolgungsgefahr liegt, ist darum auch beinahe null. Von Be¬
deutung wird die Frage eigentlich nur bei der Infektion in der Ehe,
von welcher später zu sprechen ist. Soll aber ein wirksamer straf¬
rechtlicher Schutz gegeben und eine heilsame Abschreckung ge¬
schaffen werden, dann muß ein Gesetz ergehen, welches von der
Wirkung und Ursächlichkeit absieht und folgendes besagt: Wer,
wissend, daß er an einer Infektionskrankheit leidet, mit
jemandem in der Art geschlechtlich verkehrt, daß eine
Gefahr der Ansteckung entsteht, wird ....bestraft. Unter
Ehegatten findet eine Bestrafung nur auf Antrag statt
Eine solche Bestimmung wäre ja weniger für den seltenen
Fall gegeben, wo keine Infektion eintritt, als für die unzähligen
Fälle, wo die Ursächlichkeit nicht nachweisbar ist. Die Technik
des Strafrechts verlangt vielfach derartige Maßregeln; denn jedes
Gesetz muß nach seiner Brauchbarkeit abgestimmt und in einer
solchen Art verfaßt werden, daß es sich im Leben wirksam be¬
tätigen kann. Dabei könnte die Strafe je nach der Gefahr ver-
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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 25
schieden bemessen werden. Sollte also insbesondere hierbei jemand
an Syphilis leiden, so wäre es sehr angemessen, den Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte damit zu verbinden.
Beispiele solcher Verordnung sind bereits in verschiedenen
Gesetzen gegeben. Es gibt Gesetze, welche lediglich bestimmen,
daß Dirnen, welche sich nach Infektion vergehen, strenger gestraft
werden, als sonst: die bewußte Infektion ist hier nur eine Ver¬
schärfung; so Österreich (1852) § 509, so Kanton Tessin § 425
(vgl auch Schaffhausen § 184).
Eine allgemeinere Bestimmung finden wir zuerst in Schaff¬
hausen (1859) § 185: „Wer mit der Lustseuche behaftet im Be¬
wußtsein dieses Zustandes den Beischlaf ausübt, soll mit Gefängnis
ersten Grades bis auf drei Monate bestraft werden." Sodann in
Dänemark (v. 10. Februar 1866) § 181 und neuerdings in Norwegen
(v. 22. Mai 1902) § 155, während das vielfach herangezogene fin-
ländische Str.-Gesetzb. (v. 19. Dezbr. 1889) 20 § 13 nicht hierher
gehört, da hier nur bestraft wird, wer die venerische Krankheit auf
einen andern überträgt Bei Gelegenheit der lex Heintze wurde
als § 327 a ebenfalls eine solche Bestimmung vorgeschlagen, das
Zutreffendste, was die lex Heintze hatte; aber die Bestimmung
fand nicht die Zustimmung der Beichsregierung. *)
Die einzige Gefahr, welche mit einer solchen Bestimmung ver¬
bunden wäre, ist die Gefahr der Erpressung. Es ist ja das furcht¬
bare Schicksal solcher, die sich inkorrekt betragen, daß sie der Er¬
pressung ausgesetzt sind und von gewissenlosen Individuen verfolgt
werden können, von denen sie sich mit ständigen Geldopfern los¬
kaufen müssen; und das Schlimmste ist, daß dies eine Schraube ohne
Ende darstellt, weil Opfer auf Opfer niemals von weiteren Nach¬
stellungen befreien. Hier ist nun die Gefahr vorhanden, daß jemand,
der in inkorrekter Weise geschlechtlich verkehrt, mit einer Anzeige
bedroht wird, wonach er an einer Infektionskrankheit gelitten habe;
und schon die Befürchtung vor einer solchen Anzeige und die
Befürchtung vor einer Untersuchung können ihn veranlassen, die
größten Opfer zu bringen, weil die strafgerichtliche Untersuchung
ihn zu gleicher Zeit vor dem Publikum und dem Gemeinwesen
bloßstellt Eine solche Gefahr darf der Staat nicht unberücksichtigt
lassen; denn auch wer inkorrekt handelt, ist es wert, daß man ihn
*) Vgl. darüber Morgenstierne in der Conference internat. von Brüssel
1902 I, p. 7 f.; vgl. ferner Rudeck, Syphilis vor Gericht S. 53f.
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26
Köhler.
gegen scheußliche Ruchlosigkeit sicherstellt und ihn nicht der Ver¬
zweiflung überläßt. Bevor wir aber hierüber weiter fahren, schreiten
wir zur Beantwortung folgender Frage: Soll eine Strafbarkeit auch
dann gegeben sein, wenn der andere Teil wußte oder wissen mußte,
daß er es mit einem Infizierten zu tun hat?
Ich bin für die Bejahung. Zwar kann der Wille, am Körper
verletzt zu werden und die freiwillige Preisgabe der Gesundheit
unter Umständen den Begriff der Körperverletzung aufheben, so
beispielsweise, wenn sich jemand einem Experiment überantwortet,
das eine leichte Störung oder Gesundheitsverletzung unvermeidlich
macht Allein das ist für derartige unschuldige Fälle und redliche
Zwecke angemessen; es ist aber nicht angemessen in Fällen, wo
nichts als eine frevelhafte Absicht den Körper der Gefahr preis¬
gibt; wozu noch kommt, daß nicht nur die Interessen des Einzelnen,
sondern auch allgemeine Interessen dafür sprechen, daß gerade
eine derartige Körperverletzung unter allen Umständen vermieden
werden soll. Darum bin ich auch in diesem Falle für die Be¬
strafung, aber unter einer Bedingung, unter der Bedingung, daß
etwas weiteres beigefügt wird. Denn ohne dies wäre die Er¬
pressungsgefahr zu groß. Gerade hier wäre folgendes zu erwarten:
Hätte etwa eine Dirne sich von der Infektion eines Mannes Kennt¬
nis verschafft und sich mit ihm gerade im Bewußtsein dessen ver¬
gangen, so würde sie die Gelegenheit benutzen, von ihm Vorteile
zu erpressen, da sie die Krankheit des Mannes und damit die
objektive Voraussetzung seiner Strafbarkeit festgesetzt hätte. Auch
schon die Behauptung, bei ihm derartige Erscheinungen wahrge¬
nommen zu haben, wäre ein beliebtes Hilfsmittel, um ihm durch
Drohung mit dem Strafgericht beizukommen. Ich halte darum einen
Zusatz für absolut notwendig, einen Zusatz dahin, daß in solchem
Falle beide gestraft werden, sowohl der Infizierende als derjenige,
der von der Infektion des andern Kunde hatte; und zwar müßte
bei einer gewerbsmäßigen Dirne das Wissenmüssen dem Wissen
gleichstehen, d. h. die bloße Fahrlässigkeit genügen. Diese Be¬
stimmung ist völlig gerecht und angemessen; denn daß die frei¬
willige Unterwerfung unter eine solche, das ganze Gemeinwesen
bedrohende Gefahr eine Frevelhaftigkeit ist, eine Frevelhaftigkeit,
die sich an der ganzen Menschheit, an unschuldigen Frauen, Kin¬
dern, Ammen und Ärzten rächt, das ist Grund genug, daß man
ein derartiges Tun mit Strafe bedroht; dazu käme noch der prak¬
tische Zweck, daß diese Bestimmung ein wirksames Mittel ist
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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 27
um die Erpressung zu verhüten, denn die Dirne, welche hier
Gelegenheit hat, den andern zur Anzeige zu bringen, muß sich
gewöhnlich selbst beschuldigen oder ist mindestens in Gefahr, daß
auch sie in Strafe genommen wird und ihr eine Freiheitsstrafe
zu Teil wird; eine solche Freiheitsstrafe ist aber etwas, was Dirnen
am allerschwersten zu befürchten pflegen.
Mein weiterer Vorschlag wäre also: Wer, wissend, daß ein
anderer geschlechtskrank ist, mit ihm in einer Weise ge¬
schlechtlich verkehrt, welche die Gefahr der Ansteckung
herbeiführt, wird gestraft.
Bei einer gewerbsmäßigen Dirne steht Fahrlässigkeit
dem Wissen gleich.
Unter Ehegatten findet hierwegen eine Verfolgung
nicht statt.
§ 5.
Schwierige Fragen ergeben sich ferner im Bereich der Ver¬
lobung und Ehe. Ich betrachte es als selbstverständlich, daß.
wenn ein Teil infiziert ist, in der Art, daß durch den gebräuch¬
lichen Umgang mit dem Verlobten die Infektionsgefahr entsteht,
dies ein Grund ist, die Verlobung aufzuheben nach Maßgabe der
§ 1298, 1299 B.G.B. Und auch, falls die Gefahr der Infektion in
solchem Falle nicht gegeben ist, so läge doch gewiß auch dann
ein Grund der Auflösung vor, wenn eine schwere und langwierige
Erkrankung des Infizierten in Aussicht steht, welche die Ehe¬
schließung in unabsehbare Ferne rückt. Insbesondere gehört auch
eine Gonorrhoe hierher, welche noch auf lange hinaus die An¬
steckungsgefahr fortdauern läßt.
In ganz besonders furchtbarer Weise grassiert aber die In¬
fektionskrankheit unter den Ehegatten, und sie führt hier zu den
schrecklichen Folgen, von denen die Unfruchtbarkeit noch die ge¬
ringste ist. Die Folge ist häufig ein lebenslängliches furchtbares
Leiden der Frau oder die Geburt infizierter, schwächlicher, zum
Siechtum verurteilter Kinder.
Es bedarf keiner Erörterung, daß, wenn jemand infiziert in
die Ehe tritt, in der Art, daß die Gefahr der Ansteckung vorliegt,
dies eine persönliche Eigenschaft ist, welche bei Kenntnis der Sach¬
lage und unter verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von
der Eingehung der Ehe abgehalten hätte. Es ist daher die An-
echtung wegen Irrtums im Sinne der §§ 1333 u. 1334 ohne weiteres
gegeben, und sofern eine arglistige Täuschung anzunehmen ist,
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28
Köhler.
kommt die Strafbestimmung des § 170 R-Str.G.B. in Betracht. 1 )
Und zwar versteht es sich von selbst, daß Gonorrhoe ebensogut
hierher gehört wie Syphilis. 2 ) Dagegen kann eine durch frühere
Geschlechtskrankheiten herbeigeführte Zeugungsunfähigkeit ebenso¬
wenig als Element wesentlichen Irrtums in Betracht kommen, wie
eine sonstige Zeugungs- oder Konzeptionsunfähigkeit. Diese hat
man bei der Eheschließung stets zu riskieren. Die Eheschließung
enthält keinerlei Garantie für das Kinderzeugen. Nur die Unmög¬
lichkeit der Beiwohnung kommt als für den Bestand der Ehe
wesentlich in Betracht.
Daß ferner, wenn die Ehefrau infiziert wird, gerade hier eine
vorsätzliche Körperverletzung vorliegen kann, versteht sich von
selbst, und es gilt hier das, was oben ausgeführt wurde. Nament¬
lich ist hervorzuheben, daß in einem solchen Falle der Verletzende
zu völligem Schadensersatz verpflichtet wird und zwar in der Art,
daß nach § 847 des B.G.B. nicht nur der volle Vermögensschaden
zu vergüten, sondern auch ftr die persönliche Unbill und gesund¬
heitliche Verletzung eine Genugtuung in Geld zu leisten ist. Prak¬
tische Gründe sprechen dafür, die Strafe hier nur auf Antrag ein-
treten zu lassen.
Sollte ein Ehegatte erst während der Ehe von außen her in¬
fiziert werden, so wäre gewöhnlich schon der Ehescheidungsgrund
des Ehebruchs gegeben. Jedoch gibt es Fälle, wo eine Infektion
ohne Ehebruch stattgefunden hat; ist diese schuldlos erfolgt, so
ist es eine Krankheit wie jede andere; 8 ) ist sie aber durch schuld¬
haften Umgang, der keinen Ehebruch darstellt, herbeigeführt, dann
muß der § 1568 B.G.B. in Betracht kommen, und es wird sich
fragen, ob nicht ein derartiges schuldhaftes Verhalten mit einer
solchen Folge als eine Unsittlichkeit anzusehen ist, die eine so
schwere Zerrüttung herbeiführt, daß eine Fortsetzung der Ehe dem
andern Teil nicht zugemutet werden kann. Das wird zweifellos
fast immer zu bejahen sein. 4 )
*) Ein gewisser Schutz gegen die furchtbaren Gefahren wäre, wenn vor
der Eheschließung ein ärztliches Zeugnis verlangt würde. Eine gewisse
Garantie liegt einstweilen (dem Manne gegenüber) darin, daß man seine Auf¬
nahme in eine Lebensversicherung verlangt, vorausgesetzt, daß diese grund¬
sätzlich die Untersuchung hierauf erstreckt.
*) Vgl. R.G. 28. April 1890 bei Rudeck, Syphilis vor Gericht. S. 115.
®) Entscheidungen s. bei Rudeck, Syphilis vor Gericht S. 134f. u. 148f.
4 ) Die französische Praxis ist für Scheidung, vgl. Fiaux in der Confe¬
rence intern, de Bruxelles (1902) I, p. 8f.
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Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten. 29
Daß, wenn der eine Teil mit oder ohne Verschulden infiziert
ist, der andere jede Annäherung verweigern darf, welche die Ge¬
fahr der Krankheitsmitteilung in sich schließt, ist so selbstverständ¬
lich, daß es keiner weiteren Erörterung bedarf. 1 )
Auch die Gefahr der Infektion durch eine Amme oder der
Infektion der Amme durch ein syphilitisches Kind kommt in Be¬
tracht; davon spricht unter anderen das Norwegische Strafgesetz¬
buch § 358. Hier wird bestraft, wer ein angestecktes Kind in
Pflege gibt oder wer angesteckt die Pflege eines Kindes übernimmt
oder wer eine angesteckte Person zur Pflegerin nimmt oder dazu
mitwirkt. Von ganz besonderer Bedeutung aber wäre das vor¬
beugende Mittel, daß jede Amme unter polizeilicher Kontrolle
ärztlich untersucht würde.
§ 6 .
Eine letzte schwere Frage ist die über die Anzeigepflicht
des Arztes. Man hat diese befürwortet, hat sie auch in manchen
Ländern eingeführt, ja es besteht darüber auch eine preußische
Verordnung; der Grund ist, daß auf solche Weise die nötigen
Kontrollmaßregeln getroffen und sofort die dabei beteiligten Per¬
sonen abgesondert und an weiteren gefährdenden Handlungen ge¬
hindert werden sollen. 2 ) Dafür sprechen recht plausible Gründe,
allein auf der andern Seite stehen die schwersten Bedenken ent¬
gegen. Es ist das größte Verhängnis der Menschheit, wenn der
Kranke sich nicht frei und sicher dem Arzte anvertrauen kann.
Ebenso wie dem Seelsorger, so muß man dem Arzte alle seine
Krankheiten enthüllen können, ohne die Befürchtung, daß der Arzt
entweder etwas freiwillig aussagt oder auch gezwungen wird, Aus¬
sagen zu machen. Hat man diese Sicherheit nicht, dann werden
sehr viele den Arzt nicht aufsuchen, weil sie ein natürliches Scham¬
gefühl oder die Rücksicht auf ihre Stellung, ihr Ansehen und ihren
Beruf davon zurückhält; dann wird die Folge sein, daß entweder
solche Personen elendiglich zugrunde gehen, weil sie den Arzt
nicht gebrauchen, oder in die Hände unfähiger Personen geraten.
Hierbei liegt namentlich auch die Gefahr vor, daß irgend welche
anderen Krankheiten, oft schwerster Art, den Kranken bedrängen
und er nur darum den Arzt nicht berät, weil er fürchtet, daß ein
1 ) R.G. 22. Dezbr. 1890 bei Rudeck, S. 142.
2 ) Preuß. Erlaß v. 13. Mai 1898, welcher sich auf das Regulativ vom
8. August 1835 bezieht.
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30 Köhler. Stellung der Rechtsordnung zur Gefahr der Geschlechtskrankheiten.
Leiden in diesem Sinne vorliegt. Darum bin ich streng dafür, daß
nicht nur das Geheimnis der Ärzte bei hoher Strafe und bei
höchster Rüge und Ausschluß aus dem ärztlichen Stande gewahrt
bleibt, sondern auch, daß weder die Polizei noch die Gerichte die
Befugnis haben sollen, von dem Arzte ohne Einwilligung des
Patienten Aussage zu verlangen und ich befürworte die gesetzliche
Aufhebung aller entgegenstehenden Verodnungen. Unrichtig ist
die Behauptung jener, welche glauben, daß weil § 52 Z. 3 Str.P.0.
und § 383 Z. 5 Z.P.O. nur von einem Weigerungsrecht, nicht von
einer Weigerungspflicht sprechen, die Ärzte zwar das Zeugnis ab¬
lehnen könnten, aber nicht müßten. Dies ist unrichtig; der § 300
Str.G.B. verbietet jede unbefugte Offenbarung, d. h. jede Offenbarung
ohne Einwilligung des Patienten. Dementsprechend war es ledig¬
lich Aufgabe der Prozeßordnungen, dem Arzte die Möglichkeit
zu gewähren, der Schweigepflicht des § 300 Str.G.B, zu genügen.
Unrichtig auch R.G. 8. Juli 1889 Entsch. Strafs. XIX. S. 364 (wo
aber die Entscheidung auch durch andere Gründe getragen ist).
Namentlich bin ich dafür, daß, wenn etwa, wie oben vorge¬
schlagen, eine Untersuchung der Männer in Toleranzanstalten statt¬
findet, die strengste Geheimnispflicht gewahrt wird, weil sonst der
Zweck des Gesetzes, es herbeizuführen, daß, wo immer derartige
Unregelmäßigkeiten und Ausschweifungen stattfinden, sie in einer
der Gesundheit möglichst ungefährlichen Weise stattfinden sollen,
nicht erreicht würde. Eine Ausnahme muß natürlich bestehen
bezüglich der Kontrolldirnen; denn hier treten alle jene Rück¬
sichten zurück, weil die Frau, die sich unter Kontrolle be¬
gibt, damit von selbst die Zustimmung dazu gibt, daß nicht nur
alle ärztlichen Maßregeln gegen sie vorgekehrt werden, sondern
nötigenfalls die Polizei hygienisch gegen sie einschreitet.
Ich würde daher weiter einen Gesetzessatz in der Art Vor¬
schlägen: Das Geheimnis der Ärzte ist unverbrüchlich.
Kein öffentliches Geheiß kann sie davon befreien. Nur
bezüglich der Kontrolldirnen besteht ein Anzeigerecht
und eine Anzeigepflicht.
Auch hier zeigt sich die ungeheure Bedeutung des Rechtes
für die Lebensverhältnisse, für die Kultur, ja für den Bestand der
Menschheit; ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß auf
diesem Gebiete die Rechtsordnung eine rettende Aufgabe
zu erfüllen hat
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Referate.
Verbreitung und Verbreitungswege der Geschlechtskrankheiten.
Karl Ries. Ober unverschuldete geschlechtliche Erkrankungen. Stuttgart 1903.
Perd. Enke.
Soll der Kampf gegen die venerische Seuche zu einem Siege über
diesen bösartigen Feind des Menschengeschlechts führen, so gilt es vor
allem, jenem weitverbreiteten Vorurteil, da« in dem Geschlechtskranken
einen ausschweifenden Menschen erblickt, den sein Leiden als eine ge¬
rechte Strafe für seine Sünden getroffen, den Garaus zu machen. Ein
treffliches Mittel, diese so schwierige Aufgabe ihrer Lösung nahe zu
bringen, könnte das Büchelchen von Ries bedeuten, wenn es nur den
großen Leserkreis finden würde, der ihm zu wünschen ist und den es
verdient. An einer beträchtlichen Anzahl von Beispielen zeigt der Verf.
in eindringlicher und beredter Form, wie namentlich die Syphilis er¬
schreckend oft außerhalb jedes Geschlechtsverkehrs erworben wird, wie
häufig Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder — von den vielen
Unglücklichen, denen verbrecherische, leichtsinnige oder unwissende Eltern
das Leiden als Erbteil mit auf den Lebensweg gegeben, ganz abgesehen —
in völliger Schuldlosigkeit der fürchterlichen Seuchfl zum Opfer fallen.
Die kleine Schrift ist auch in besonderem Maße geeignet, über die Ver¬
hütung von Geschlechtskrankheiten aufklärend und belehrend zu wirken.
Sie sei noch einmal jedermann zur aufmerksamen Lektüre und Beherzigung
warm empfohlen.
M. Am Tschistjakow. Ober die Infektion mit Syphilis durch das ZufUttern
fremder Neugebomer in den Gebäraslyen. Prakt. Wratsch. 1902. Nr. 19 (nach
einem Referat aus Dermatol. Zeitschr. X. 1903. 8).
ln speziell russischen Findelhäusern und Gebärasylen herrscht die
Unsitte, daß Frauen, die zuviel Milch haben, außer ihrem Kinde noch
fremde von Zeit zu Zeit an die Brust legen. Dadurch entsteht die Ge¬
fahr der Weiterverbreitung einer etwa vorhandenen Syphilis. In den
Ammenasylen müssen die Frauen oft lange warten, bis sie eine Stellung
finden. Bis dahin säugen sie, um die Milch nicht zu verlieren, die
Kinder, welche zur Ernährung in den Asylen abgegeben werden; auf
diese Weise bringen die Ammen häufig Syphilis in die Familien, in die
sie kommen.
Der Verf. will auf diese zu wenig beachteten Übelstände die Auf¬
merksamkeit der maßgebenden Kreise lenken, damit amtlicherseits Für¬
sorge getroffen werde, daß in solchen Asylen niemals eine Frau ein
fremdes Kind .anlegen dürfe.
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32
Referate.
Festschrift zum I. Kongreß der D. G. z. B. d. G. in Frankfurt a. M. vom 9.—IO. März 1903.
Redaktion: Prof. Max Flesch, Dr. Karl Grünwald, Dr. Karl Herx-
h eirner.
Zahlreiche Frankfurter Ärzte, sowohl Dermatologen wie Vertreter
anderer Spezialdisziplinen, insbesondere auch dortige Polizeiärzte, sowie
der Chefarzt der Frankfurter Garnison haben sich zu gemeinsamer Arbeit
zusammengefunden, um eine möglichst erschöpfende Übersicht über die
Bedeutung zu geben, welche die Geschlechtskrankheiten für das Stadt¬
gebiet Frankfurt a. M. haben.
Aus dem von Prof. Flesch verfaßten Vorwort ist neben andern
lehrreichen Daten zu ersehen, daß die Kosten, welche der Stadt aus der
Behandlung unbemittelter Geschlechtskranker erwachsen, jährlich etwa
300 000 Mk. betragen.
Die den eigentlichen Text des Buches eröffnende Arbeit von
Dr. Hanauer, „Geschichte der Prostitution in Frankfurt a. M.“,
zeichnet sich durch besondere Gründlichkeit aus und stellt einen sehr
wertvollen Beitrag zu der historischen Seite der Prostitutionsfrage dar.
Die Frankfurter Prostitutionsgeschichte erstreckt sich über einen Zeit¬
raum von mehr als einem halben Jahrtausend und läßt vier Perioden
unterscheiden. Die erste reicht bis zur Reformation und ist die Zeit
der Frauenhäuser. Die Prostitution war da streng lokalisiert und ab¬
gegrenzt, und von einer moralischen Infektion des Bürgertums konnte
unter diesen Umständen nach Ansicht des Verfs. keine Rede sein. Der
gesundheitliche Wert des Systems entzieht sich aber der Beurteilung,
weil erstens die Syphilis erst am Ende dieser Periode auftrat und
zweitens eine zweckmäßige Therapie und Hygiene damals noch unbekannt
waren. Der zweite Abschnitt reicht bis zum Beginne des 18. Jahr¬
hunderts und ist durch das Verbot und die Bestrafung der Prosti¬
tution charakterisiert. Diese Maßnahmen stellen die Reaktion des
Bürgertums gegen die unerhörte Sittenverderbnis des Klerus und Adels
dar und andererseits die Abwehr- und Verteidigungsversuche gegen die
allenthalben Tod und Siechtum bringende Lustseuche. Eine offizielle
Prostitution gab es nicht, statt ihrer entstand eine Winkelprostitution
mit Absteigequartieren und geheimen Bordells, die auch die Schlupf¬
winkel von Verbrechern wurden. Das Bürgertum wurde allmählich
infiziert, und Frankfurter Bürgerstöchter, sowie Witwen und auch Ehe¬
frauen gaben sich dem schimpflichen Gewerbe hin. Während der dritten
Periode, d. h. im 18. Jahrhundert, war die Sittenpolizei, die vordem dem
sogen. Sentenamt, einer weltlichen Behörde, unterstellt war, einem geist¬
lichen Gericht — Konsistorium — überwiesen, welches neue Strafarten
gegen Unzüchtige einführte und Mandate gegen den Verkehr von Pro¬
stituierten mit Soldaten, gegen Verleitung zu unsittlichem Leben, gegen
Entführung und Verkuppelung von Weibspersonen erließ. Die Versuche,
die Prostitution durch gewaltsame Mittel auszurotten, führten zu einer
allgemeinen Unsittlichkeit der gesamten Bevölkerung, derge¬
stalt, daß überhaupt eine deutliche Grenze zwischen gewerbsmäßiger
Prostitution und anständigem Bürgertum nicht mehr existierte. In sani¬
tärer Hinsicht erwiesen sich die wenigen, System- und zwecklosen Unter-
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Referate.
33
suchungen der Dirnen durch Wundärzte als völlig wirkungslos. Gegen¬
über den erschreckenden Zuständen wurden von verschiedenen Seiten
Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse gemacht, die weitestschauenden
und verständigsten von dem Senator Schlosser, welcher empfahl, dem
Luxus zu steuern, Moralunterricht in der Schule zu erteilen, in sexuellen
Dingen sich einer gleichen Beurteilung beider Geschlechter zu befleißigen,
die Ehescheidungen zu erleichtern und vieles andre. Erst in der vierten
Periode — im 19. Jahrhundert — wurde in hygienischer Beziehung
der Anfang zu systematischen Maßregeln gemacht. In einer Schrift von
Dr. Joh. Val. Müller aus dem Jahre 1802 wurden die Ärzte ermahnt,
sich eingehend mit den Geschlechtskrankheiten zu beschäftigen und deren
Behandlung nicht mehr den Kurpfuschern und Badern zu überlassen.
Das Sanitätsamt publizierte ein Edikt, daß von niemandem Ammen ohne
Gesundheitszeugnis angenommen werden dürfen. Das Konsistorium wurde
aufgehoben, die Prostitution reglementiert und geduldete Bordelle
eingeführt. Die Dirnen mußten an die Polizei wöchentlich eine bestimmte
Steuer entrichten; das hierdurch eingekommene Geld wurde zur Heilung
der angesteckten Mädchen im Spital verbraucht. Die öffentlichen Häuser
wurden allwöchentlich durch einen Physikus revidiert und die Insassen
untersucht — auf Kosten der Bordellbesitzer, denen — meist Witwen —
die Konzession stets nur auf Widerruf erteilt wurde. Mit Strenge schritt
die Polizei gegen die heimlichen Bordelle ein, und die nicht-inskribierten
Prostituierten wurden ausgewiesen. 1869 wurden die Bordelle aufge¬
hoben und die Prostitution und Sittenpolizei in dem noch heute be¬
stehenden Sinne organisiert.
Aus der Geschichte der Prostitution in Frankfurt a. M. ergibt sich
für Hanauer als Quintessenz, daß eine gewaltsame Unterdrückung der
Prostitution zur größten Sittenverderbnis fuhrt, während die Reglemen¬
tierung einen günstigen Einfluß auf die öffentliche Moral ausübt.
Aus den übrigen Arbeiten, die in der Festschrift veröffentlicht und
im wesentlichen statistischer Natur sind, geht zweierlei hervor: 1. daß
die venerischen Leiden, wie überall, so auch in Frankfurt eine außer¬
ordentlich verhängnisvolle Rolle spielen, und 2. daß die Verff., soweit
sie Gelegenheit nehmen, sich zu dieser Frage zu äußern, sämtlich über¬
zeugte Regiementaristen sind. Einige besonders interessante Punkte aus
dem reichen Inhalt der Schrift seien ausdrücklich hervorgehoben.
Aus dem Berichte der Polizeiärzte Grandhomme und Grünwald
folgt, daß 30°/ o der Prostituierten vor ihrer Stellung unter Kontrolle
Dienstmädchen, 22°/ 0 Kellnerinnen und 13°/ 0 Arbeiterinnen gewesen
sind; die Testierenden 35°/ 0 verteilen sich auf alle andern Berufe. —
9 °j 0 der Prostituierten sind uneheliche Kinder.
Die Mitteilungen des Generaloberarztes v. Mielecki lehren, daß,
wie in der ganzen Armee, so auch in der Frankfurter Garnison die
Einführung der zweijährigen Dienstzeit eine eklatante Abnahme der Ge¬
schlechtskrankheiten bewirkt hat.
Sachs berichtet über 70 Fälle von Syphilis, die nicht durch den
Geschlechtsverkehr erworben wurde.
Thal er stellt fest, daß durchschnittlich 20 °/ 0 der Geschlechtskranken,
ZeiUchr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 3
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34
Referate.
die in das Städtische Krankenhaus sich aufnehmen lassen, dieses noch
in ansteckungsfähigem Zustande wieder verlassen.
Wertvolle Beiträge zur Kenntnis von der Verbreitung und Bedeutung
der venerischen Leiden liefern ferner namentlich die Mitteilungen von
Baer, von Salomon und von Sioli.
Die Festschrift legt ein glänzendes Zeugnis von dem Fleiß der
zahlreichen Mitarbeiter ab, die, trotz vieler und großer Schwierigkeiten
hinsichtlich der Materialbeschaffung und trotz der außerordentlich knappen
Zeit, welche ihnen für ihre Arbeiten zugemessen war, ihrer wichtigen
Aufgabe sich mit dankenswerter Sorgfalt entledigt haben.
Diagnostik und Symptomatologie.
Fritz Meyer. Ober chronische Gonorrhoe und Gonokokkennachweis. Deutsche
medizin. Wochenschr. 1903, 36.
Meyers Untersuchungen erstreckten sich auf 90 Patienten, die
vor länger als drei Monaten eine Gonorrhoe acquiriert hatten, und von
denen der größte Teil kein anderes Symptom als eine Anzahl Fäden im
Morgenurin aufwies.
29 mal fand Meyer mittels kultureller Untersuchung Gonokokken,
während mit Hilfe des Mikroskops in diesen Fällen stets ein negativer
Befund erhoben worden war. Danach darf es nicht wundernehmen,
daß Meyer bei 45 von den 90 Kranken durch Anwendung der kultu¬
rellen Methode noch Gonokokken feststellen konnte, im Gegensatz zu
anderen Autoren, die sich mit der mikroskopischen Untersuchung be¬
gnügten und nur in 8—14 Prozent der Fälle von chronischem Tripper
Gonokokken nachzuweisen vermochten.
Diese Tatsachen sind für die Diagnostik und Therapie der Gonorrhoe,
namentlich auch für die Frage des Ehekonsenses von größter Wichtigkeit;
sie sind ein Beweis für die Unzuverlässigkeit der mikroskopischen und
für die beträchtliche Überlegenheit der kulturellen Methode; sie bestä¬
tigen ferner, daß die heutige Art der Prostituiertenkontrolle, deren Un¬
zulänglichkeit schon ohnehin auch von den überzeugtesten Reglemen-
taristen rückhaltlos anerkannt wird, in gesundheitlicher Beziehung wenigstens
soweit die Gonorrhoe in Frage kommt, so gut wie unwirksam bleiben muß.
Nach den Meyer sehen Beobachtungen — ihre Richtigkeit resp. allgemeine
Gültigkeit vorausgesetzt — können wir als sicher annehmen, daß den
Polizeiärzten selbßt dort, wo ein mikroskopischer Befund erhoben zu werden
pflegt (was bekanntlich überdies nur an einigen Orten geschieht), zahlreiche
Mädchen mit noch infektiösem Tripper entgehen, während andererseits viele
Prostituierte auf Grund von negativen mikroskopischen Untersuchungsresul¬
taten aus dem Krankenhause als geheilt entlassen werden, obwohl bei
ihnen durch das Kulturverfahren noch das Vorhandensein der Gonokokken
und damit der AnsteckungsfUbigkeit hätte nachgewiesen werden können.
Kulturelle Untersuchungen bei Tripperkranken sind bisher nur in
ganz vereinzelten Fällen, und auch hier fast immer bloß zu wissen¬
schaftlichen Zwecken, angestellt worden. Denn erstens hinderten die
großen technischen Schwierigkeiten daran, zweitens hielt man eben bis
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Referate.
35
jetzt eine sorgfältige mikroskopische Untersuchung für ausreichend. Die
Beobachtungen Meyers sind von solcher Wichtigkeit, daß eine genaue
und systematische Nachprüfung der von ihm gefundenen Resultate un¬
bedingt erforderlich ist. Und wenn sie sich dann, was kaum zweifel¬
haft erscheint, als richtig und allgemein gültig erweisen sollten, so wird
es die Pflicht der maßgebenden Kreise sein, dem Vorschläge Meyers
entsprechend öffentliche, leicht zugängliche Laboratorien zu schaffen, in
denen jedem Arzte die Möglichkeit gegeben ist, kulturelle Untersuchungen
von Sekreten und Fäden auf Gonokokken von sachgeübter Hand aus¬
führen zu lassen. Bis die erforderlichen Nachprüfungen abgeschlossen
sind, müssen die Ärzte und die Patienten bei der Beurteilung irgend
welcher auf einen „überstandenen“ Tripper hindeutenden Symptome
noch in weit rigoroserer Weise als bisher doppelte und dreifache Vorsicht
walten lassen.
Öffentliche Prophylaxe.
R. Ledermann. Die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten für den Beruf der
Hebeammen. Allg. Dtsch. Hebeamm.- Zeitung. 1901. 8.
Verf. verlangt, daß den Hebeammen während ihrer Ausbildungszeit
Unterricht über die Erscheinungen und Gefahren der Geschlechtskrank¬
heiten erteilt werde und daß sie zu peinlichster Vorsicht und Sauberkeit
in ihrem Berufe angehalten werden. Wenn die Kreißende (oder der
Ehemann) weiß oder vermutet, daß sie an einer Geschlechtskrankheit
leidet, so sollen sie verpflichtet sein, die Hebeamme davon in Kenntnis
zu setzen.
Behandlung der Geschlechtskrankheiten.
O. Rosenthal. Die unentgeltliche Behandlung der Geschlechtskranken. Hygien.
Volksblatt. 1903. 3/4.
Rosenthal fordert eine energische Bekämpfung des großen Not¬
standes, der namentlich in Berlin in Hinsicht auf die Behandlung Ge¬
schlechtskranker insofern herrscht, als die vorhandenen Krankenhäuser
nicht annähernd ausreichen, um die in Frage kommenden Patienten auf¬
zunehmen. Geschlechtskranke mit den schwersten und ansteckendsten
Symptomen werden täglich von den Berliner Krankenhäusern, denen sie
zu ihrer Heilung und zum Schutze ihrer Familie vom Arzte zugeschickt
werden, wegen Platzmangels zurückgewiesen. Die meisten Berliner
Krankenhäuser nehmen Geschlechtskranke überhaupt nicht auf oder nur
dann, wenn die Abteilungen mit andern Patienten nicht vollauf besetzt
sind; denn außer dem Städtischen Obdach in der Fröbelstraße gibt es in
Berlin nicht ein Städtisches Krankenhaus mit einer eigenen Station oder einem
spezialistisch ausgebildeten Arzt für Geschlechtskranke. Daher kommt
es, daß den Patienten, welche nach langem Bemühen doch noch glück¬
lich in einem der Städtischen Krankenhäuser Aufnahme gefunden haben,
vielfach nicht einmal vollkommen sachgemäße Beurteilung und Behand¬
lung zuteil wird. Unter diesen Umständen ist die Errichtung von Spezial¬
abteilungen mit ausreichender Bettenzahl und unter Leitung von erfahrenen
3*
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36
Referate.
Spezialärzten in den Berliner Krankenhäusern das dringendste Erfordernis
für einen erfolgreichen Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Spezial¬
stationen verdienen vor Spezialkrankenhäusern deshalb den Vorzug, weil
der Patient nicht fürchten darf, schon durch den Eintritt ins Kranken¬
haus ein Odium auf sich zu laden. Besonderer Wert ist darauf zu
legen, daß diese Stationen nicht etwa als halbe Strafanstalten und die
Geschlechtskranken nicht etwa als minderwertige Patienten betrachtet
werden. Denn es muß vor allen Dingen erstrebt werden, daß die Ge¬
schlechtskranken rechtzeitig ohne jede Scheu und mit Vertrauen das
Krankenhaus aufsuchen. Um diesen Maßnahmen den vollen Wert zu
geben, ist es notwendig, daß die Behandlung der Geschlechtskranken un¬
entgeltlich erfolgt. Gerade die wirtschaftlich Schwachen sind durch die
Ungunst der Verhältnisse diejenigen, welche die Krankheit am leichtesten
übertragen können. Da infolge der Kassengesetzgebung eine ganze Kate¬
gorie von Kranken zahlungsfähig ist, würden die Kosten, die aus der
unentgeltlichen Krankenhausbehandlung Geschlechtskranker entstehen,
voraussichtlich nicht sehr beträchtlich sein. Sie könnten und müßten
von der Gemeinde des letzten Wohnsitzes des Patienten getragen werden,
weil die Heilung vor allem den Einwohnern des von dem Kranken zu¬
letzt bewohnten Ortes zur Wohlfahrt gereicht; da sie weiterhin überhaupt
der Gesamtheit zugute kommt, dürfe die unentgeltliche Behandlung keines¬
falls als ein Benefizium betrachtet werden, welches einem Armen gewährt
wird. Jeder einzelne, der mit einer Geschlechtskrankheit im ansteckenden
Stadium behaftet ist, müsse das Recht erhalten, ohne Bürgschaft und
ohne sonstige Zeugnisse ins Krankenhaus aufgenommen und — wie
wohlhabend er auch sein mag — auf dem allgemeinen Saale der Spezial¬
station kostenfrei verpflegt zu werden. Besonderes Interesse müsse
schwangeren syphilitischen Frauen zugewendet werden; sie sollen in der
letzten Zeit der Schwangerschaft bis zu ihrer Niederkunft im Kranken¬
hause behandelt werden, und sobald das Kind geboren ist, müsse dieses
auf 2—4 Jahre in ein zu gründendes Asyl zur ärztlichen Beaufsichtigung
und event. Behandlung übergeführt werden. Zurzeit gibt es in Berlin
kaum eine Stätte, in welcher die unglücklichen Kinder mit ererbter Sy¬
philis aufgenommen und durch frühzeitige sachverständige Behandlung
davor bewahrt werden, einem elenden Siechtum zu verfallen.
Die Durchführbarkeit der Forderungen des Verfs. sind dadurch er¬
wiesen, daß z. B. in Schweden bereits derartige Einrichtungen seit einer
Reihe von Jahren bestehen und sich vorzüglich bewährt haben.
R. Ledermann. Ober Errichtung ambulanter Behandlungsstätten fllr Syphilitisch¬
kranke. Volkstümliche Zeitschrift f. prakt. Arbeiterversicherung. 1903. 15.
Le der mann liefert mit der Abhandlung einen schätzenswerten Bei¬
trag zur Bekämpfung der Syphilis; der Verf. wiederholt seine Vor¬
schläge betr. die anfangs von ihm so genannten Schmierstuben, für die
er bereits an anderer Stelle plädiert hatte, die er aber jetzt zweck¬
mäßiger und treffender als ambulante Sanatorien für Geschlechtskranke
bezeichnen will. Angeregt zu seiner Idee und veranlaßt, für sie weitere
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Kreise zu interessieren, wurde Ledermann durch einen großen Mißstand,
an welchem so oft die gründliche Durchführung einer antisyphilitischen
Kur zum Schaden des Patienten und seiner Umgebung scheitert. Für
den wohlhabenden, von äußeren Verhältnissen wenig oder gar nicht ab¬
hängigen Teil der Bevölkerung, der an der Syphilis erkrankt ist, besteht
in der Regel kein wesentliches Hindernis für die sorgfältige Befolgung
der ärztlichen Verordnungen — es sei denn Unverstand oder Leichtsinn.
Aber von der minder begüterten Klientel ist ein großer Teil außer stände,
eine etwa verordnete Schmierkur, wie sie bei der Syphilis sehr häufig
notwendig ist, regelmäßig und ordentlich durchzuführen, und nicht selten
muß sie gänzlich unterbleiben, weil es den Patienten an Ort und Ge¬
legenheit dazu fehlt, und weil sie, selbst wenn sie es zeitlich und räum¬
lich ausführen könnten, ihrer Umgebung nicht den wahren Charakter
ihrer Krankheit offenbaren, vielmehr alles vermeiden wollen, was Verdacht
erregen könnte. Bei den zahlreichen Patienten, die über einen eigenen
Wohnraum nicht verfügen, stößt die Ausführung der Schmierkuren ge¬
radezu auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Ein anderer Übelstand, der
dringend der Abhilfe bedarf, ist dadurch bedingt, daß diese Syphilitiker
zur Durchführung der etwa notwendigen Badeprozeduren gezwungen sind,
die öffentlichen Badeanstalten aufzusuchen. Hygienische und ästhetische
Gründe zwingen zur schleunigen Beseitigung dieses unhaltbaren Zustandes.
Was liegt also näher, so fragt Ledermann, als daß man Spezial¬
badeanstalten für Syphilitiker (und andere Geschlechtskranke) schafft und
diese mit geeigneten Räumlichkeiten und Einrichtungen verbindet, welche
die ungestörte Ausführung von Schmierkuren gestatten. Diese Sanatorien
müssen über ein gut durchgebildetes Wärterpersonal verfügen und ärzt¬
lich überwacht werden; sie sollen aber keine Verordnungs-, sondern nur
Behandlungsstätten sein, so daß die Kranken ihrem bisherigen Arzte zur
weiteren Behandlung erhalten bleiben und von dem Anstaltsarzt nur bei
der Ausführung der Kuren kontrolliert werden. Ledermann schildert
eingehend die Art und Weise, wie diese Institute eingerichtet und ver¬
waltet werden müßten, und weist durch spezielle Berechnung die Existenz¬
fähigkeit, ja sogar eine gewisse Rentabilität solcher Anstalten nach.
Die Gedanken, die der Verf. in seinem Aufsatz entwickelt hat, ver¬
dienen die ernsteste Würdigung. Und wenn seine Vorschläge auch nicht
ganz so, wie er sie gemacht hat, sich als durchführbar erweisen sollten,
so sind die Anregungen, die er gibt, doch wichtig und durchdacht genug,
daß man erwarten darf, sie werden befruchtend wirken in dem Kampfe
gegen die Geschlechtskrankheiten und deren Einschränkung fördern können.
Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis.
Dr. Hubenick-Texas: Ober die Behandlung der Geschlechtskrankheiten im eng¬
lischen und amerikanischen Eherecht (Mitteilungen der Intern. Vereinigung
für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre Nr. 101903).
Deutsche Übersetzung des Rechtsanwalts Dr. Wald Schmidt-Berlin.
Es werden die Fragen erörtert, ob Geschlechtskrankheit zur Auf¬
lösung des Ehe versprechens berechtigt; ob sie Anspruch darauf gibt,
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38
Referate.
daß eine Ehe für nichtig, d. h. als überhaupt nicht geschlossen erklärt
werde, ob sie einen Grund zur Ehescheidung abgibt.
Als Ergebnis der Rechtsprechung läßt sich folgendes bezeichnen:
1. Ein Verlobter kann die Erfüllung des Ehe Versprechens verweigern,
wenn er an Syphilis leidet.
Der Fall, ob ein Verlobter die Erfüllung verweigern kann, weil
der andere Verlobte geschlechtskrank ist, ist noch nicht entschieden,
man darf aber annehmen, daß die Gerichte die Frage bejahen
werden, weil Weigerungen eines Verlobten wegen anderer Krank¬
heiten (Brustgeschwür, Blutsturz) des anderen Verlobten für be¬
rechtigt anerkannt wurden und die Begründung des Urteils so all¬
gemein gehalten war, daß sie auch auf Geschlechtskrankheiten
zutreffen würde.
2. Dauernde und unheilbare Unfähigkeit zum geschlechtlichen Verkehr
zur Zeit der Eheschließung gibt dem anderen Ehegatten das Recht,
die Ehe für nichtig erklären zu lassen.
3. Geschlechtskrankheit des einen Ehegatten berechtigt, den anderen
Ehegatten, auf Ehescheidung zu klagen, wenn a) die Krankheit auf
den gesunden Gatten übertragen ist, und b) der kranke Ehegatte
zur Zeit der Ansteckung seine Krankheit kannte, c) der gesunde
Ehegatte aber sie nicht kannte. Diese drei Voraussetzungen müssen
Zusammentreffen. (Autoreferat.)
Georges Thibierge. Syphilis et Odontologie, Paris 1903.
Wohl kein Beruf ist so reich wie der ärztliche an ernsten Konflikten,
deren glückliche Lösung Lebenserfahrung, Menschenkenntnis und natür¬
lichen Takt in hohem Maße erfordern. Und für keinen Arzt sind diese
Eigenschaften unentbehrlicher als für den, der die Beratung und Behand¬
lung von Geschlechtskranken zu seinem Spezialberuf erwählt hat. Für
ihn gibt es eine schier endlose Reihe der Probleme mannigfachster Art.
Das Thibiergesche Buch will ihn lehren, aus diesem Wirrsal den rechten
Weg zu finden, der zum Heile des Patienten, zur Wohlfahrt der Familie
und zum Segen der Gesamtheit führt. Als Ziel ist neben der Heilung
des Kranken selbst vor allem die Verhütung einer Weiter Verbreitung
seines Leidens zu erstreben, und diese oft so schwere Aufgabe wird dem
Arzte durch Thibierges Buch in der Tat erleichtert. Das 1. Kapitel
handelt von dem Berufsgeheimnis; die Überschriften der folgenden Ab¬
schnitte sind: Responsabilite civile — Enoncd du diagnostic — Jeunes
gens syphilitiques — La Syphilis avant et pendant le mariage — Divorce
— Nourrices syphilitiques — Domestiques et ouvriers syphilitiques —
Syphilitiques dans les höpitaux — Transmission de la Syphilis par les
instruments — M6decins syphilitiques — Sages femmes et Syphilis. Man
erkennt hieraus die Reichhaltigkeit des Buches, in welchem kaum eine
Situation unerörtert bleibt, in die der Arzt bei der Behandlung und
Beratung syphilitischer Patienten und ihrer Angehörigen kommen kann.
Das interessante Buch ist aber nicht nur für den Arzt mit Nutzen zu
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Referate.
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lesen, es gibt auch allen andern; denen die Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten am Herzen liegt, vielfache Belehrung und Anregung.
Stuelp-Mülheim. Ober Infektionsstoffe, deren bakterielle Natur nicht nachgewiesen
ist, und Ober Maßregeln zur Vermeidung solcher Infektionen vom sanitätspolizei¬
lichen Standpunkte aus. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Mediz. u. öffentl.
Sanitätswesen. 1903. 26, 1.
Der Verf. verlangt, daß auch diejenigen Krankheiten, welche wir
nur ans ihrem klinischen Verlaufe als infektiöse kennen, ohne daß es
uns bisher gelungen ist, die sie verursachenden Mikroorganismen selbst
festzustellen, öffentlich und viel zielbewußter als bisher nach denselben
Grundsätzen bekämpft werden, wie die notorischen Infektionsleiden.
Für uns sind speziell die Vorschläge betr. die Syphilis von Interesse.
Stuelp fordert z. B.
I. vor erfolgter Infektion:
Belehrung über individuelle Schutzmaßregeln durch Hebung und
Festigung des Sittlichkeitsgefühls, sowie durch Warnung vor dem Coitus
impurus; Verbesserung der pekuniären Stellung junger Mädchen in Ge¬
schäften, Fabriken, Restaurants u. s. w. und Verminderung des Zuzugs
nach Großstädten; regelmäßige Untersuchungen der Arbeiter in Betrieben,
die die Übertragung der Syphilis besonders begünstigen (Glasbläser u. a.);
Überwachung des Prostituierten- und Zuhältertums durch Kasernierung;
größere Strenge gegen das Kuppeleiunwesen und schärfere Kontrolle der
geheimen Prostitution.
II. nach Ausbruch der Lues:
Obligatorische Anzeige der Erkrankung bei Prostituierten; im übrigen
Anzeige derjenigen Fälle, in denen die Patienten durch ihr Verhalten
erwarten lassen, daß sie selbst nicht die notwendige Vorsicht betr. Weiter¬
verbreitung ihrer Krankheit gebrauchen würden oder in denen sie sich
der ärztlichen Behandlung entziehen; Nichtärzte, die Geschlechts¬
kranke in Behandlung nehmen, sollen verpflichtet werden,
jeden Fall der Behörde zu melden; Verbot des Stillens syphilitischer
Kinder durch gesunde Ammen.
Prostitution und Mädchenhandel.
Laurent-Montanus. Die Prostitution in Indien. Freiburg i. B., Leipzig
1903. Fr. Paul Lorenz.
Der Verf. führt uns an die Ufer des Ganges, in die Tempel, die
Baderäume und Wohnhäuser Indiens. Er berichtet uns von der „heiligen“
Prostitution, macht uns mit Wesen und Art der Bajaderen bekannt und
schildert das Geschlechtsleben der Inder, sowie ihre Auffassung von Sitte
und Moral. Die kleine Studie ist außerordentlich anregend geschrieben
und darf wegen ihres lehrreichen und interessanten Inhalts als ein will¬
kommener Beitrag zur Kulturgeschichte bezeichnet werdeu.
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Referate.
Laurent-Montanus. Prostitution und Entartung. Freiburg i. B., Leipzig.
Fr. Paul Lorenz.
Der Verf. will einen neuen Beitrag zur Lehre von der geborenen
Prostituierten liefern. Die Nutzlosigkeit der meisten Rettungsversuche,
das häufige Vorkommen von Geisteskrankheiten oder Alkoholismus in
der Aszendenz, die psychischen Abnormitäten und physischen Degenerations¬
symptome, die bei zahlreichen Dirnen zu konstatieren sind, der Umstand,
daß viele von den Mädchen sich ohne äußern Zwang und in so früher
Kindheit prostituiert haben, daß man weder soziale Not, noch schlechten
Umgang, sondern ausschließlich einen angebornen Trieb verantwortlich
machen könne — dieses alles ist Laurent ein Beweis dafür, daß zwar
nicht jede Prostituierte, aber doch verhältnismäßig viele von Natur aus
infolge von Vererbung zu ihrem Gewerbe prädestiniert sind, daß es zahl¬
reiche „geborne Prostituierte“ gibt. Es darf nicht verschwiegen werden,
daß die Darstellung wenig ansprechend, die Argumentation wenig über¬
zeugend ist.
Am Pappritz- Gibt es „geborene“ Prostituierte? Der Abolition ist, II. S.
Die bekannte Vorkämpferin des Abolitionismus ficht in dem Artikel
tapfer und geschickt gegen die Anhänger der Lehre von der „geborenen“
Prostituierten und beantwortet die Frage, ob es von Natur zur Unzucht
prädestinierte Frauen gebe, mit einem bedingungslosen Nein. Nicht ihre
eingeborenen lasterhaften Triebe, sondern das soziale Milieu, in dem
sie aufwachsen, der Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse drängt sie zur
Prostitution.
Man kann der Theorie von Lombroso und Tarnowski durch¬
aus ablehnend gegenüberstehen, ohne doch deshalb die entgegengesetzte
Auffassung von Papp ritz anerkennen zu müssen. Beide Ansichten
stellen Extreme dar, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht
werden. Die Wahrheit liegt wohl auch hier ungefähr in der Mitte:
Neben der großen Zahl von Prostituierten, die es nur unter dem Ein¬
fluß ungünstiger äußerer Lebens Verhältnisse geworden sind, gibt es unter
den öffentlichen Dirnen einen kleineren Teil, der seiner ganzen Anlage
nach, gleichsam infolge von moral insanity, von vornherein für seinen
Beruf bestimmt ist, dem er mit unfehlbarer Sicherheit, selbst aus
glänzenden Verhältnissen heraus, entgegengeht.
Hilty. La Tratte blanche. Polit. Jahrbücher der schweizerischen Eidgenossen¬
schaft 1901. (Revue de Morale Sociale.)
Die Schritte, die bisher zur Bekämpfung des Mädchenhandels ergriffen
worden sind, haben noch keine großen Erfolge gehabt. Es sollen jährlich
noch ca. 1000 Verkäufe der Art zustande kommen. Hauptrekrutierungs¬
und Stapelplatz ist die Schweiz; von hier aus findet der Weitertransport
über Ungarn nach Konstantinopel oder über Italien nach Südamerika
statt. Die in der Schweiz erzielten Preise sollen 1000 Franken pro Kopf
betragen; in Buenos-Ayres 500—2000 Franken. Selten verkaufen Eltern
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Referate.
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ihre Kinder. Häufig werden die Opfer durch Heiratsversprechungen
oder Scheintrauungen mittels falscher Papiere eingefangen. Ein beliebtes
Anlockungsmittel sind Stellenangebote in Zeitungen. Eine chiffrierte Sprache
erleichtort den Verkehr unter den Agenten und schützt durch harmlose
Ausdrücke vor der Aufmerksamkeit der Polizeiorgane; z. B. „Die Ware
ist in der oder der Menge gekauft und wird am x-ten an den Be¬
stimmungsort gebracht werden.“ Oder „5 Tonnen Ungar wein werden
am 10. X. in Varna eintreffen“, d. h. fünf sehr hübsche junge Mäd¬
chen u. 8. w.; oder „3 Säcke Kartoffeln“ oder „gewöhnliche Ware“ für
weniger hübsche Mädchen; oder „Werde Freitag mit dem Cobra an¬
kommen, habe zwei Ballen feine Seide an Bord.“ Von den Hafenorten
wandern sie in Bordelle nach Brasilien u. s. w„ wo Hitze, Klima, Elend
sie bald aufreiben und zu Grunde richten. — Auch gewaltsame Ent¬
führungen Mindeijähriger kommen vor; der Zufall fuhrt manchmal zur
Entdeckung und Befreiung der Entführten und zur Bestrafung der Händler;
jedoch sind die Abwehrmittel bei weitem nicht ausreichend.
Daher machte Verf folgende Vorschläge:
1. Internationale Übereinkunft, die den Mädchenhandel verbietet und
die Verfolgung der Täter ohne Kompetenzschwierigkeiten der einzelnen
Staaten untereinander am Ort der Festnahme gestattet. — Ver¬
schärfung der Strafen: stets Zuchthaus. Ferner Maßregeln zur
Verhinderung der Aussaugung der Opfer.
2. Privatvereinigungen sind zwecklos. Die Regierungen müssen die
Organisierung übernehmen. Notwendig sind internationale Verträge
und ad hoc erlassene Gesetze.
3. Man müßte dieselben Maßregeln ergreifen, die zur Ausrottung der
Sklaverei der Schwarzen geführt haben. Vielleicht könnten diese
Bestrebungen zur Aufhebung der weißen Sklaverei wiederum von
England ausgehen.
4. Die Anschauungen über Bordelle und Prostitution müßten sich
ändern. Verf. steht auf streng abolitionistischem Standpunkt. Denn
die Bordelle sind die dauerndeu Abnehmer und auf stets frische
„Ware“ angewiesen.
5. Bessere Überwachung der Stellenvermittler, die offiziell konzessioniert
werden müßten, wie die Auswandererbureaux.
6. Einladung zu offizieller Konferenz der Kulturstaaten zur Bekämpfung
des Mädchenhandels.
Das Programm würde etwa die erwähnten Hauptpunkte zum Gegen¬
stand der Verhandlungen machen.
Sittlichkeitsfrage.
Max Flasch. Vom notwendigen Obel. Magazin für Literatur, April 1903.
Die Prostitution ist die Folge der Unvollkommenheit der Ehe: weil
die gesetzlich normierte Form der sexuellen Beziehungen nicht ausreicht,
um dem bestehenden geschlechtlichen Bedürfnis zu genügen, findet die
sexuelle Betätigung auch außerhalb dieser statt. Solange man die Institu-
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Referate.
tion der Ehe, so wie sie ist, als etwas Unabänderliches betrachtet, solange
ist die alles zersetzende Prostitution unentbehrlich. Wenn man das
Übel an der Wurzel fassen will — und nur so kommt man zum Ziele,
nicht aber auf dem Wege der Beseitigung einzelner Auswüchse — so
gilt es in erster Reihe die Ehe in ihrer heutigen Gestalt zu bekämpfen.
Der Rahmen der Ehe ist zu eng geworden, um die Summe der geschlecht¬
lichen Forderungen in sich einzuschließen, sie vermag ihre Aufgabe nicht
mehr zu erfüllen, und eine Institution, die nicht mehr leistet, was sie
soll, ist schlecht und muß verbessert oder durch etwas anderes ersetzt
werden. Der Änderung der Gesetze muß aber eine Änderung der Sitten¬
auffassung vorangehen; erst auf sie kann etwas Neues aufgebaut werden.
Wenn die Einsicht von der Untauglichkeit der in kodifizierten Gesetzen
regulierten Ordnung der sexuellen Beziehungen Gemeingut aller oder
wenigstens der maßgebenden Kreise geworden sein wird, wenn man die
Mangelhaftigkeit unserer heutigen Ehe als die Ursache der Prostitution
nicht nur erkannt, sondern auch frei zu bekennen den Mut gefunden
hat, dann wird die Zeit für eine neue bessere Moral gekommen sein.
1. Anna Pappritz. Herrenmora!. Frauen-Rundschau Jabrg. IV. S. 309.
2. Prof. Dr. Max Flesch. „Herrenmoral“, eine Erwiderung an Fräulein Anna
Pappritz. Frauen-Rundschau Jahrg. IV. S. 480.
3. Dr. Felix Block. Offener Brief an Fräulein Anna Pappritz. Frauen-Rundschau
Jahrg. IV. S. 592.
4. A. Pappritz. Antwort auf die Briefe der Herren Prof. Flesch und Dr. Block.
Frauen-Rundschau Jahrg. IV. 8. 593.
5. Anna Neumann. In Sachen Flesch contra Pappritz. Frauen-Rundschau
Jahrg. IV. S. 730.
ad 1. Fräulein Papp ritz erhebt Protest gegen das Ergebnis des
Frankfurter Kongresses, das in der fast ausnahmslosen Übereinstimmung
der Ärzte in folgenden Punkten bestehe: 1.) Anerkennung, daß jede se¬
xuelle Abstinenz gesundheitsschädlich sei und 2.) Forderung der Kaser¬
nierung der Prostitution. — Alle Forderungen und Erwägungen beruhten
auf der doppelten geschlechtlichen Moral, auf der Herrenmoral. Wenn
die sexuelle Abstinenz für beide Geschlechter schädlich sei, warum er¬
strebe man nur Befriedigung für den Mann? Die Kasernierung der Prosti¬
tuierten entspreche dem aus der Herrenmoral hervorgegangenen Wunsche,
dem jungen Mann der besitzenden Klasse „gesunde Ware“ zu liefern,
Befriedigung der geschlechtlichen Bedürfnisse des Mannes ohne Ver¬
pflichtungen. Das Bordell wesen sei nicht durchzuführen, und erfülle
seinen Zweck nicht. Die Behauptung, daß die physiologischen Bedin¬
gungen bei beiden Geschlechtern ganz verschieden seien, — der Geschlechts¬
trieb des Mannes verlange nach der Vereinigung mit dem Weib, die
Frau aber kenne diesen Trieb nicht, bei ihr sei der Geschlechtstrieb
nur Sehnsucht nach dem Kind — sei falsch. Die Frau habe dieselben
Geschlechtstriebe, ohne deswegen pervers zu sein. Der abolitionistische
Standpunkt sei der allein richtige.
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ad 2. Flesch verwahrt sich gegen die Motive, die ,,Herrenmoral“, die
Pappritz den Vertretern der entgegengesetzten Anschauung unterschiebt.
Im übrigen sei durchaus keine fast ausnahmslose Übereinstimmung der
Ärzte bezüglich der Gesundheitsschädlichkeit der Abstinenz und der
Forderung der Kasernierung der Prostituierten. Im Gegensatz zu Fräulein
Pappritz hält er eine Frau, deren Liebesstreben in der Umarmung
und deren steter Wiederholung gipfelt, für pervers, weil aus dem
physiologischen Gang des weiblichen Liebeslebens herausgetreten. Die
sexuelle Moral müsse diesen Verhältnissen gerecht werden. Der aboli-
tionistische Gesichtspunkt sei ein idealer; solange aber die Prostitution
bestehe, die man auch nicht so bald aus der Welt schaffe, müssen die
schlimmsten Begleiterscheinungen derselben, die venerische Infektion, aus
der Welt geschafft werden, nur dürfe dies nicht geschehen durch Ent¬
rechtung der beteiligten Frau.
ad 3. Block betont gleichfalls, daß nur einzelne die geschlechtliche
Enthaltsamkeit für schädlich halten, ebensowenig sei die Forderung der
Kasernierung der Prostitution einstimmig gewesen. Die* Konzentrierung
der reglementierten Prostituierten in bestimmten Straßen sei etwas vom
Bordell völlig verschiedenes.
ad 4. Pappritz betont nochmals gegenüber Block, daß Erb nicht
behauptet habe, daß sexuelle Abstinenz nur für Männer schädlich sein
könne, sondern für beide Geschlechter; sie widerspricht Flesch, daß das
Primäre im geschlechtlichen Gefühlsleben der Frau die Sehnsucht nach
dem Kinde sei. Die Anschauungen der Abolitionisten seien keine Utopie.
ad 5. Anna Neumann tritt den Anschauungen von Fräulein Papp¬
ritz bei; sie betont die Wichtigkeit der Prostitutionsfrage für die ganze
Frauen frage.
1. Willy Hellpach. Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Sozialist.
Monatsh. 1903. Nr. 3.
2. Oda Olberg. Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Sozialist.
Monatsh. 1903. Nr. 4.
3. Willy Hellpach. Prinzipielles zum Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten.
Sozialist. Monatsh. 1903. Nr. 5.
1. In dem 1. Teile seiner Abhandlung plaidiert Hellpach für
eine systematische, vom Staat zu organisierende und zu leitende
Aufklärung weitester Volkskreise über die venerische Gefahr, die in
ihrer Bedeutung doch noch so ziemlich allen Laien unbekannt ist.
H. schlägt vor, daß die Kreisärzte — und wo solche nicht ansässig
sind, andere für diese Tätigkeit zu besoldende Ärzte verpflichtet werden,
an dem Orte ihrer Wirksamkeit regelmäßig Vorträge über Ge¬
schlechtskrankheiten zu halten, und daß der Staat zu demselben
Zwecke ärztliche Wanderredner anstellt, die namentlich in denjenigen
Städten, in denen nur ein Arzt niedergelassen ist, Vortragszyklen ab¬
zuhalten hätten. Um nicht durch eine Anhäufung von unnützem Ballast
den Erfolg solcher Vorträge in Frage zu stellen, müßte man für diese
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Referate.
eine Trennung von Männern und Frauen fordern, weil es ja den
beiden Geschlechtern gegenüber auf ganz verschiedene Dinge ankomme.
Zu den Frauenkursen müßten Mädchen von 16 Jahren aufwärts, zu den
Männerkursen Knaben von 15 Jahren ab Zutritt haben. Die höheren
Lehranstalten u. s. w. sollten den Besuch der Vorträge für die älteren
Schüler obligatorisch machen. Bei diesen Aufklärungs- und Be¬
lehrungsversuchen sei ein nachdrücklicher Hinweis vor allen Dingen
darauf notwendig, daß die größte Gefahr der Ansteckung nicht von der
offiziellen, sondern von seiten der geheimen Prostitution drohe.
Diesem Faktor gegenüber dürfe man vom Staat auch direkt eine größere
Entschiedenheit fordern, und die Behörden hätten die Verpflichtung,
speziell den Animierkneipen als einem geradezu provokanten Teile
der geheimen Prostitution energisch zu Leibe zu rücken. Hier erhebt
sich für Hellpach die Hauptfrage des ganzen Feldzuges: „Wie ist es
möglich, das Reservoir der geheimen Prostitution überhaupt
zu stopfen?“ Es handelt sich dabei um das Thema der vorehelichen
Enthaltsamkeit, welches den Verf. zu dem 2. Teile seiner Ausführungen
überleitet, in denen er einige Gesichtspunkte kritisch beleuchtet, die
ihm für die Stellungnahme zu dem Keuschheitsproblem wichtig
erscheinen.
Die Frage, ob Keuschheit der Männer möglich sei, wird von
H. — weil er sie zurzeit für nebensächlich hält — nicht weiter
erörtert. Von grundsätzlicher Bedeutung ist für ihn dagegen, ob
Keuschheit des Mannes unter unseren heutigen Kulturbedingungen
wünschenswert, ob sie ersprießlich sei. Hierauf vermag aber H.
vorderhand eine Antwort noch nicht zu geben. Er beschränkt sich
vielmehr auf die Beibringung von Argumenten zur Beurteilung der
heute üblichen Nichtkeuschheit. Voraussetzung für eine richtige
Kritik dieser Tatsache ist die Feststellung, daß die Begriffe der Unbe¬
rührtheit, der Enthaltsamkeit und der Keuschheit, die so häufig promiscue
gebraucht werden, drei voneinander ganz verschiedene Dinge bedeuten.
Mit Karl Jentsch erblickt H. in der Enthaltsamkeit bei den meisten
jungen Leuten ein Hindernis wirklicher Keuschheit. Abstrakt genommen
ist keusch derjenige, der „jeden Geschlechtsverkehr aus rein sinnlichem
Kitzel abweist und die geschlechtliche Hingabe der im vollsten Umfange
des Wortes »geliebten« Person reservieren will.“ Die so definierte
Keuschheit ist aber ein Ideal; das Leben zwingt zur Einschränkung.
Die größtmögliche Keuschheit ist nicht durch Enthaltsamkeit, sondern
durch einen geregelten Geschlechtsverkehr zu erlangen, d. h.
durch eine regelmäßige Exkretion überschüssiger Körpersäfbe, die uns be¬
lästigen. „Die Nichtentfernung dieser Substanzen müßte einen unausgesetzten
Kitzel erzeugen, der die Phantasie und das Gefühlsleben trübt, am anderen
Geschlechte überhaupt nur noch das sinnlich Begehrenswerte sieht und
die sittliche oder auch nur gemütliche Wahlverwandtschaft verdunkelt.
Der unvermeidliche Ekel, den die Benutzung einer nur sinnlich gewählten
Person zum Geschlechtsakt erzeugt, soll gerade der stärkste Hebel sein
für die Entfaltung der Sehnsucht nach einem Wesen, das uns die sinn¬
liche Liebe im Rahmen einer Lebensgemeinschaft beschert.“ So ver-
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Referate.
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steht H. „die Keuschheit, die nicht mit Enthaltsamkeit, sondern mit
geregeltem Geschlechtsverkehr verbunden ist.“ Und so hat sie auch
Karl Jentsch verstanden. Wenn nun aber Jentsch weiterhin in der
Ausnutzung der Dirnen — natürlich nur der „geborenen 11 , deren Existenz
H. (nicht in dem Umfange wie Lombroso, aber in einem größeren als
Blaschko) anerkennt — das Mittel sieht, das die relative Keuschheit
gewährleisten soll; wenn er für eine Erziehung propagieren möchte, die
zu dieser relativen Keuschheit führt; wenn er also das Leben des jungen
Mannes „an die beiden Extreme liebeloser Ausleerung der Säfte und
keuschen Empfindens für die Frau 11 verteilen will; so kann H. ihm
hierhin nicht mehr folgen. Denn die moderne Großstadt hat ein
mächtigem Zwischenreich geschaffen, das den Raum zwischen jenen Polen
erfüllt, und dieses Reich des Verhältnisses gerade ist heute der
Tummelplatz einer ungeheueren Zahl junger Männer geworden. Während
also Jentsch die „ästhetische Rohheit 41 in Kauf nehmen wollte, um
die höchste „sittliche Verfeinerung 11 zu ermöglichen, hat in Wirk¬
lichkeit das sexuelle Leben ein Stadium erreicht, das im Gegenteil durch
eine „ästhetische Verfeinerung 11 und „sittliche Vergröberung 41
gekennzeichnet ist. H. ist nun der Überzeugung, daß ein erfolgreicher
Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten vor allem eine Lösung des
Verhältnisproblems bedingt, das sich folgendermaßen formulieren läßt:
„Bedeutet die Zunahme der Verhältnisse durch die damit heute ohne
Zweifel verbundene sittliche Verflachung eine absolute Verschlechterung
des außerehelichen Liebeslebens oder bloß eine vorübergehende? Soll
man das Verhältnis an sich zugunsten der Alleinherrschaft der Pro¬
stitution befehden — oder kann man eher versuchen, es zu sittlich
vornehmeren Formen fortzuentwickeln? 41 Um diese Fragen beantworten
zu können, ist es notwendig, sich über die Bedeutung des „Verhältnisses 41
klar zu sein. Als Tatsache darf gelten, daß durch das Verhältnis
Tausende von Mädchen mehr oder minder rasch der Prostitution zugetrieben
werden. Die Gefahr, auf eine abschüssige Bahn geführt zu werden, liegt
für die Mädchen nach H. Ansicht aber nicht schon in dem Verhältnis
an sich — in dem Eingehen oder dem Bestände eines solchen. ÜDd
darum treffen — meint H. — alle Vorschläge, die nur darauf hinzielen,
das Anknüpfen eines Verhältnisses zu erschweren (hohe Deflorations¬
entschädigungen; Reform der Rechte unehelicher Kinder; Erweckung des
sozialen Gewissens), nicht den Kern der Sache. Verhängnisvoll wirkt
meistens die Lösung des Verhältnisses. Und deren Ursachen sind in
der Mehrzahl der Fälle die erfolgte Ansteckung oder Empfängnis.
Und was dann die Verbitterung auf der weiblichen, die Rücksichtslosigkeit
auf der männlichen Seite steigert, das ist der Standesunterschied.
Man darf H. wohl ohne weiteres zustimmen, wenn er Infektion, Befruch¬
tung und Standesunterschied als die Gefahren des Verhältnisses betrachtet.
Die beiden ersten Gefahren können ja relativ leicht, wenn auch nicht
völlig beseitigt, so doch recht beträchtlich herabgesetzt werden, und H.
fordert die Ärzte auf, aus ihrer Zurückhaltung, die er als falsch und
unheilvoll bezeichnet, herauszugehen und bei der privaten Beratung
ihrer Klienten, sowie in Vorträgen oder Broschüren die empfehlenswerten
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Referate.
Mittel zur Verhütung von Infektion und Empfängnis anzugeben.
Der dritte Punkt, die Frage des Standesunterschiedes ist dagegen eine
eminent soziale. Von den Mädchen abgesehen, die aus Not gezwungen
sind, sich von einem Liebhaber ernähren zu lassen und die der Weg
meist gradeaus zur Prostitution führt — kommen für das Verhältnis
im wesentlichen die Mädchen in Betracht, in deren Haus und Familie
nicht die Not, aber die Einschränkung herrscht. ,,Sie wollen auch einmal
die vielerlei kleinen Genüsse und Behaglichkeiten durchkosten, die dem
Auge in der Großstadt stündlich geboten werden; ein paar Stunden der
Ärmlichkeit und der Langeweile entrückt werden — vor allem am
Sonntag.“ Und ist einmal der erste Schritt getan — das Zurück in
bescheidenen Umgang ist äußerst schwer. Schließlich ist Amüsement
um jeden Preis das Ziel. H. sieht hier nur einen gangbaren Ausweg:
,,Erstarken des sozialen Selbstbewußtseins in den Frauen der
unteren Klassen, verbunden mit der Hebung der materiellen und
geistigen Lebenshaltung.“ „Je mehr dieses Erstarken fortschreitet, je
weitere Kreise es ergreift, desto geringer wird die Zahl der Mädchen
werden, die sich danach sehnen, für ein paar Leckereien des Lebens
einem jungen Manne höheren Standes als billiges Spielzeug zu dienen,
um schließlich krank oder verdorben von ihm beiseite geworfen zu
werden.“ Diese Überlegungen führen H. zu der Überzeugung, daß von
den Aufgaben, deren Erfüllung die Voraussetzung ist für einen erfolg¬
reichen Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten, „ein Teil gelöst
werden kann nur von der Arbeiterbewegung;“ daß mit dem
Erstarken der letzteren, mit ihrer Ausdehnung auf die Kreise der Dienst¬
boten, der Kellnerinnen, der Verkäuferinnen ein Loch nach dem anderen
gestopft wird, durch welches das Reservoir der Prostitution sich seine
Füllung sicherte. Gerade in der Arbeiterschaft sei die Unkenntnis der
venerischen Gefahr eine ganz krasse, und gerade hier werde der
Geschlechtsverkehr viel zu früh und viel zu leichtfertig geübt; aber
andererseits habe die Arbeiterschaft die leichteste Entwicklungsmöglichkeit
zum Bessern infolge der ihr gebotenen Gelegenheit zu früher Heirat,
die dem ,,Junggesellenjahrzehnt“ der bürgerlichen Schichten gegenüber
einen unendlichen Segen bedeutet. „Auch auf dem Gebiete der Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten stoßen wir heute auf Striche, wo — und
diese Überzeugung H.’s ist die Quintessenz seiner Abhandlung — alle
Neutralität in die Brüche geht, wo wir — wohl oder übel, mitschaffend
oder widerstrebend, uns getragen fühlen von einem Strome, der jedes
Widerstandes spottet — von der Sozialisierung.“
2. Der Aufsatz von Hellpach wird die Anerkennung, daß es eine
geistvolle und interessante Arbeit ist, die von dem ehrlichen Wollen,
dem schneidigen Mut, der scharfen Kritik ihres Verf. Zeugnis gibt, auch
denjenigen abnötigen, die mit Willy Hellpach über viele und wesent¬
liche Punkte verschiedener, vielleicht gegensätzlicher Meinung sind. Und
deren Zahl ist sicher nicht gering. Zu ihnen gehört Oda Olberg, die
mit großer Entschiedenheit der Auffassung widerspricht, die Hellpach
ihres Erachtens in Hinsicht auf die Beziehungen zwischen Verhältnis
und Prostitution vertritt. Freilich den Grund zu ihrem Protest gab
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Referate.
47
Oda 0. weniger der Artikel Hellpacbs in den Sozialist. Monatsheften —
er war mehr der äußere Anlaß, — sondern sein schon früher erschienenes
Buch über „Nervosität und Kultur“, 1 ) in dem die Ansichten des
Verf. angeblich noch eindeutiger zum Ausdruck kommen. Sie hat
Hellpach so verstanden, daß er die Frage, ob das Verhältnis der Pro¬
stitution vorzuziehen sei, „mit Eifer und Nachdruck, ja mit Begeisterung“
bejaht, und sie betont dem gegenüber vor allem die Tatsache, daß bei
dem Verhältnis die Vorteile und Nachteile stets ungleich auf die beiden
Kontrahenten verteilt sind. Das Verhältnis könne immer nur für besitzende
Männer in Betracht kommen und stelle das „Idealbild der Ausbeutung“
dar. Die Gefahren der Prostitution vermindere es nicht und wenn es
dies wirklich täte, d. b. die Ansteckungsgefahr für die Männer der be¬
sitzenden Klassen herabsetzen würde, so hieße das nur, eine Gesellschafts¬
schicht sanieren durch Durchseuchung einer anderen. Wolle man die
Schädigungen des vorehelichen Geschlechtsverkehrs mindern, so solle
man nicht die Bedürfnisse, die die Prostitution geschaffen und erhalten
haben, andershin verweisen, weil die Prostitution viele abstoßende und
widerwärtige Züge zeigt, sondern „man sollte lieber die Dirne aus der
tiefen Erniedrigung erheben, in die die soziale Ächtung sie gestoßen
hat, und sie würde sehr viel weniger widerwärtig und abstoßend sein.“
3. Gegen die Angriffe Olbergs setzt sich Hellpach mit großem
Geschick zur Wehr — freilich mit etwas mehr persönlicher Schärfe, als
notwendig gewesen wäre. Aber in der Sache selbst dürfte er wohl das
Recht auf seiner Seite haben. Denn in der Tat hat H. z. B. das Ver¬
hältnis nicht nur nicht als „sittliche Verfeinerung“ „gepriesen“ — wie
Oda Olberg behauptet, — sondern er hat im Gegenteil als die Cha¬
rakteristika des Verhältnisses „ästhetische Verfeinerung,“ aber „sittliche
Vergröberung“ bezeichnet. Auch die übrigen Vorwürfe Olbergs wider¬
legt H. — im wesentlichen dadurch, daß er ihr nach weist, daß sie ihn
vielfach vollkommen mißverstanden habe.
Über eine Polemik auf Grund eines Referates — und wenn sich
dessen Autor auch der größten Objektivität befleißigt — zu einem
klaren Urteil zu gelangen, ist immer sehr schwierig, wenn nicht un¬
möglich. Es sei deshalb die Lektüre der Originalartikel umsomehr
warm empfohlen, als sie jedem sicherlich reiche Anregungen bieten wird.
Pädagogisches.
Georg Sticker. Gesundheit und Erziehung. J. Rick er. Gießen. 1903. 2. Aufl.
„Eine Vorschule der Ehe“ nennt Sticker sein Buch, dem er die
Worte Föneions als Motto vorangesetzt hat: Ich weiß wohl, daß man
euch beklagen, euch trösten, euch aufrichten muß; aber vor allem muß
man die Wahrheit sagen. Und das tut der Verfasser, der sich an die
Eltern und Erzieher, mehr noch aber an die Jugend selbst wendet, die
aus Elternhaus und Schule in das Leben hinaustreten, mit entschlossenem
*) Berlin, Raede, 1902.
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48
Referate.
Mute, warmem Herzen und scharfem Verstände. Freilich — nicht jedem
wird die Wahrheit, die Sticker kündet, auch seine Wahrheit sein, und
manchem heftigen Widerspruch gerade von seiten der Besten wird das
Buch ohne Zweifel begegnen. Das soll keinen Tadel bedeuten — im
Gegenteil, es soll ein Beweis dafür seiD, daß es nichts Alltägliches, nichts
Triviales ist, was uns der Verfasser zu sagen hat, daß es vielmehr ge¬
eignet ist, befruchtend und anregend auf den Kampf der Meinungen zu
wirken.
Das Wort des Seneca: „Wir kranken an vermeidbaren Übeln“ —
es gilt heut wie ehedem. Es gibt einen Weg, der zur körperlichen,
geistigen und sittlichen Gesundung der Menschen führt: eine vernünftige
Erziehung unsrer selbst und unsrer Schutzbefohlenen. Mens sana m
corpore sano — dieser Satz, der in der Theorie ja schon längst von
allen Verständigen anerkannt ist, muß endlich auch betätigt werden
und zugleich mit Diderots Lehre, daß alles, was die Hygiene angeht,
auch die Ethik betrifft, die Grundlage für jede Pädagogik bilden.
Eine auch nur einigermaßen ausführliche Inhaltsangabe und Kritik
des Buches würde über den Rahmen dieser Zeitschrift weit hinaus¬
gehen. Wir müssen uns vielmehr mit einer kurzen Wiedergabe und
Besprechung der Ausführungen begnügen, die uns an dieser Stelle am
meisten interessieren, das sind diejenigen, welche die sexuelle Frage
und die ihr verwandten Probleme behandeln.
Sticker ist davon überzeugt — und man darf ihm hierin wohl
im wesentlichen zustimmen — daß den noch reinen Jüngling nicht die
Unbezwinglichkeit des Geschlechtstriebes, sondern die durch eine heuch¬
lerische Erziehung gereizte und gequälte Phantasie zur Dirne treibt.
Die Neugierde und das Verlangen, um jeden Preis das Rätsel des Ge¬
schlechtsunterschiedes zu erfassen, gerät in Widerstreit mit der natür¬
lichen Scham, dem Ekel vor der feilgebotenen Wollust. Verführerische
Prahlereien und Spottreden leichtsinniger Altersgenossen und der be¬
täubende Alkohol tilgen dann den letzten Rest von Scheu und Furcht. So
fallen Tausende der Besten — noch fast an der Schwelle von Kindheit
und Jugend — der Unzucht und der Venerie zum Opfer.
Wessen ist die Schuld? Wie kann man’s ändern? „An dem, was
die Leute nicht wissen, sind nicht sie schuld, sondern die, welche es
ihnen hätten sagen sollen und es nicht getan.“ „Wie auf eine heimliche
Verabredung hin werden in Familie und Schule dem heran wachsenden
Menschen die wichtigsten und nächsten Kenntnisse von den Bedingungen
des Daseins und der Wohlfahrt des einzelnen und der Gesellschaft vor¬
enthalten, ja zum Teil im Namen der Sittlichkeit verboten, damit er um
so gründlicher die 12 Stämme Israels und die 12 Arbeiten des Herkules
und die unmögliche Quadratur des Kreises und die angeblichen Gewichte
der Fixsterne lernen könne. Vom eigenen Körper, von den natürlichen
Verrichtungen desselben, von der Ehe, von der Kinderpflege, von allen
den Voraussetzungen, unter denen wir entstehen und vergehen, erfährt
der junge Mensch nichts. Das alles soll nicht der Rede würdig und
später sehr selbstverständlich sein. Besser werden ihm Märchen erzählt,
Hirngespinste eitler Träume entwirrt und die Spielzeuge bequemer
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Referate.
49
Müßiggänger zum Erstaunen vorgelegt, damit er nur nicht nach dem
Leben, wie es ist und was es fordert, frage und die Erwachsenen in
Verlegenheit setze. Lieber überlassen wir der stets regen Neugier des
Kindes, aus Ahnungen und aus leichtsinnigen oder frechen Andeutungen
seiner Umgebung sich verbotene Vorstellungen zu schaffen. Anstatt
ihm zu sagen, daß die Mutter unter Schmerzen das Kind zur Welt
bringt, wie das Huhn sein Ei, daß das Ungeborene sich im Mutterleib
entwickelt wie das Würmchen in der Haselnuß; anstatt ihm zu sagen,
daß die Körperstellen, an welchen unsere Nahrung abgeschieden wird,
ebenso wichtige und notwendige Orte sind, wie der Mund, der die
Nahrung aufnimmt, machen wir alberne Redensarten oder schamlose
Lügen oder eine grinsende Miene, wenn das Kind nach den natürlichsten
Dingen fragt.“ „Die Bedingungen unseres Daseins dürfen nicht länger
der Gegenstand lüsterner Neugierde bleiben, sondern die wichtigsten,
die heiligsten Lehrgegenstände werden für Jünglinge und Jungfrauen,
die sich zu ihrem Lebenslauf vorbereiten.“ Aber Belehrung und Auf¬
klärung nicht allein über die normalen Vorgänge und Geschehnisse des
Geschlechtslebens sind notwendig; wir schulden dem jungen Menschen,
den wir ins Leben hinaustreten lassen, auch Einsicht in die Gefahren,
die seiner warten. Er muß wissen, daß Trunksucht, Tuberkulose und
Syphilis die Geißel der Völker sind; daß sie die entwickelte Lebenskraft
zerstören und das keimende Leben töten; daß ihre Folgen nicht auf den
einzelnen beschränkt bleiben, sondern sich unaufhörlich vervielfältigen
und die Nächstenliebe wie die Geschlechtsliebe vergiften; daß unter
diesen Erbfeinden der Menschheit die Lustseuche das bösartigste und
heimtückischste ist, gegen die nicht künstliche Mittel helfen, „mit welchen
der Mensch das Grundgesetz der Natur, daß jedes Unternehmen seine
bestimmten Folgen hat, listig betrügen möchte, sondern einzig und allein
freiwillige Keuschheit bis zur Ehe.“ Dann auch wenn die Schutzmittel
gegen venerische Ansteckung nicht so häufig im Stiche ließen, wie sie
es in Wirklichkeit tun, wären sie trügerisch, weil sie dem Leichtsinn
im außerehelichen Geschlechtsverkehr Vorschub leisten und die An¬
steckungsgefahr nur verändern, nicht aufheben. Neben der Keuschheit
ist die Nüchternheit die notwendigste Grundlage für die Gesundheit und
Kraft der Menschen und ihrer Nachkommenschaft. Und der dritte
mächtige und unentbehrliche Bundesgenosse im Kampfe gegen die an¬
steckenden Krankheiten überhaupt und die Geschlechtsleiden insbesondere
ist die Reinlichkeit. „Reinlichkeit, Nüchternheit, Keuschheit sind
die Tugenden, in welchen jeder leben muß, dessen Wunsch es ist, sich
in körperlich und geistig gesunden Kindern fortleben zu sehen. Reinlich¬
keit, Nüchternheit, Keuschheit sind die Gewohnheiten, in welchen jedes
Kind notwendig erzogen werden muß, wenn es gesund bleiben soll.“
Wir haben zum größten Teile den Verf. direkt zu uns sprechen
lassen und müssen wohl bekennen, daß es goldene Worte sind, die uns
ins Herz und ins Gewissen dringen. Wir brauchen nicht sie alle zu
unterschreiben, aber doch beachten und erwägen und würdigen. Mögen
sie für recht viele Veranlassung sein, sich nicht mit diesen wenigen
Zitaten zu begnügen, sondern zu dem Buche selbst zu greifen, das
Zeitschrfb f. Bekfmpfang d. Gesohlechtskrankb. II. 4
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50
Referate.
mit seinen interessanten und lehrreichen „Belegen und Bemerkungen“
die Gedanken eines guten und klugen Arztes und Erziehers in anregender
Form verkündigt.
Populäres.
Wolters. Geschichte und Bedeutung der Geschlechtskrankheiten. Zeitschr. f.
Krankenpflege. 1903. 1 u. 2.
Die Ausführungen, die der Yerf. im Rostocker Ärzteverein vor¬
getragen hat, sind auch für den Laien außerordentlich lesenswert. Nach
dem sehr interessant dargestellten historischen Teil der Arbeit werden
die enormen Gefahren der venerischen Leiden für die Arbeitskraft und
Wohlfahrt der Gesamtheit anschaulich geschildert und die sozialen wie
ethischen Pflichten, die wir alle den Geschlechtskranken und -krankheiten
gegenüber haben, eindringlich vor Augen geführt.
E. Margulies. Ober die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Die mediz.
Woche. 1903. 8.
Verf. verficht mit großer Entschiedenheit die Reglementierung der
Prostitution. Sämtliche Prostituierte, die bei der Untersuchung krank
befunden werden, müssen sofort zur Zwangsheilung überwiesen und bis
zu ihrer vollkommenen Genesung von der Ausübung ihres Gewerbes
gänzlich ferngehalten werden. Verf. wünscht die Schaffung einer gesetz¬
lichen Grundlage für die radikale Durchführung einer scharfen Kontrolle
nicht nur der notorischen puellae publicae, sondern vor allem auch der
der Prostitution verdächtigen Personen.
Max von Niessen. Womit sind die Geschlechtskrankheiten als Volksseuche im
Deutschen Reiche wirksam zu bekämpfen?
v. Niessen hat sich mit dieser Arbeit an dem Wettbewerb be¬
teiligt, der 1901 von der Leipziger Ortskrankenkasse veranlaßt worden
war. Daß in der Broschüre die Syphilis als eine Krankheit behandelt
wird, deren Ursache genau bekannt ist, darf dem Verfasser als dem
„Entdecker“ eines der vielen „Syphilisbazillen“ am Ende nicht sonderlich
verargt werden. Dagegen muß der Forderung, daß die Syphilidologie
von der Dermatologie sowohl im Universitätsunterricht und der wissen¬
schaftlichen Forschung, wie namentlich auch in der ärztlichen Praxis
getrennt werde, auf das entschiedenste widersprochen werden. Die Lues
lokalisiert sich in den ersten beiden Stadien fast ausschließlich, in der
Tertiärperiode sehr häufig auf der Haut; die Entscheidung der Frage,
ob in dem einzelnen Falle eine venerische oder eine nicht venerische Der¬
matose vorliegt, ist oft erst nach längerer Beobachtung möglich; kurz —
die Syphilidologie ist mit der Dermatologie auf das innigste verbunden,
und jeder Versuch, diese beiden Disziplinen grundsätzlich voneinander zu
scheiden, würde sich sehr bald als undurchführbar erweisen. Mit Fug
und Recht betrachten also die Hautärzte auch die Behandlung der Sy¬
philis als ihre Aufgabe, und die Behauptung des Verfs., daß die Haut-
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Referate.
51
ärzte, weil sie sich vorwiegend mit der Körperoberfläche beschäftigen,
bisweilen zu oberflächlich seien, als daß sie eine so schwere und häufig
tiefer liegende Organe befallende Krankheit wie die Syphilis sorgfältig
zu behandeln im stände wären, verdient die schärfste Zurückweisung.
Eine solche Verdächtigung ist auch in der nicht verallgemeinernden Form,
die ihr der Verf. gegeben, in jeder Beziehung unberechtigt und geeignet,
das Vertrauen der Patienten zu ihrem Arzte zu erschüttern. Nicht ein¬
dringlich genug kann ferner davor gewarnt werden, dem Verf. zu glauben,
daß die Syphilis unheilbar sei. Auch wenn er sich weniger apodiktisch
ausgedrückt hätte, müßte ihm unbedingt widersprochen werden. Die
große Mehrzahl derjenigen Syphilitiker, die rechtzeitig in ärztliche Be¬
handlung kommen und in nicht sehr ungünstigen äußeren Verhältnissen
leben, wird — der eine früher, der andere später — vollkommen gesund,
v. Niessen betrachtet die Furcht als bestes Erziehungs- und Vorbauungs-
mittel bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten: die Furcht vor
jammervollem Siechtum, vor elendem Tode soll die Menschen Keuschheit
lehren! Welch eine Verkennung der menschlichen Natur! Keuschheit ist
eine Eigenschaft der Seele und kann niemals durch so brutale Mittel, wie
es die Erregung von Angst und Schrecken ist, erzwungen werden. Aber
selbst zu bloßer Enthaltsamkeit wird die Furcht die Menschen nimmer
führen; und wo sie es doch erreichte, da geschähe es am Ende nur, um
an des Teufels Statt Beelzebub auf den Thron zu erheben. Gewiß —
Sorglosigkeit und Leichtsinn dem furchtbaren Feinde Syphilis gegenüber
wären Torheit, wenn nicht Verbrechen! Aber Hoffnungslosigkeit und
Verzweiflung nicht minder! Auch von den andern Waffen, mit denen
v. Niessen die venerische Seuche bekämpfen will, sind viele stumpf und
schartig: Verbot der gewerblichen Prostitution, Bestrafung der Verheim¬
lichung von Geschlechtskrankheiten, Gesundheitsnachweis vor der Ver¬
ehelichung sind utopistische Forderungen.
Die Opferfreudigkeit, mit der v. Niessen gegen den gefährlichen
Feind des Menschengeschlechts mit anzukämpfen entschlossen ist, die
dankenswerten Ratschläge, die er hier und da gibt, die mancherlei Vor¬
züge, die sein Buch an Inhalt und Darstellung vor andern Broschüren
gleicher Tendenz voraus hat, — dies alles läßt die gewichtigen Fehler
und groben Irrtümer, deren sich der Verf. schuldig macht, nicht vergessen.
Tagesgeschichte.
Preußen.
Eine amtliche Warnung der Studierenden vor denGefahren
der Geschlechtskrankheiten wird vom preußischen Medizinalminister
in einem Erlaß an die Universitätskuratoren empfohlen:
„Die Gefahren der Geschlechtskrankheiten für die Gesellschaft und
die Verbreitung, welche die Erkrankungen glaubwürdigen Nachrichten
zufolge unter der studierenden Jugend erlangt haben, lassen es in hohem
Grade erwünscht erscheinen, daß die Studierenden in größerer Ausdehnung
4*
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52
Referate.
als bisher vor diesen Gefahren gewarnt und mit den Maßregeln zu ihrer
Bekämpfung in eindringlich gemeinverständlicher Weise bekannt gemacht,
wie auch auf die ethische Seite der Frage nachdrücklich hingewiesen
werden. Dies hätte am zweckmäßigsten in kurzen öffentlichen Vor¬
lesungen für die Studierenden aller Fakultäten zu geschehen, wobei
neben Dozenten der medizinischen Fakultät auch geeignete Vertreter der
Philosophie oder Theologie beteiligt werden könnten. Die Universitäts¬
kuratoren werden um baldige Vorschläge zu einer möglichst zweckent¬
sprechenden Gestaltung dieser Vorlesungen ersucht.“
Frankreich.
Die französische Regierung hat durch Dekret vom 18. Juli d.. J.
eine aus 70 Mitgliedern bestehende außerparlamentarische Kommisson
zum Studium der mit der Sittenpolizei und der Überwachung der Pro¬
stitution etwa verbundenen Mißstände eingesetzt. Dieser Kommission
gehören eine Reihe von Senatoren und Abgeordneten an, darunter der
bekannte De Pressensä, als Vorsitzender der Präsident der innern
Abteilung des Ministeriums Disl&re, eine Reihe von hohen Justiz-
und Verwaltungsbeamten, Gide und Poitevin, Professoren an der ju¬
ristischen Fakultät in Paris, die Direktoren des Militär-, Marine- und
Kolonialsanitätswesens, der Direktor des öffentlichen Armee- und Zivil¬
sanitätswesens, der Direktor des Öffentlichen Sicherheitswesens, der Polizei¬
präfekt von Paris und die Präfekten einiger anderer größerer Departe¬
ments, der Maire von Lyon (Prof. Augagneur), ferner die Maires von
Bordeaux, Havre, Nancy und Brest, von Ärzten: Brissaud,
Brouardel, Fournier, Gaucher, Landouzy, Langlet, Balzer,
Besnier, Butte, Fiaux, Lukas, ferner Mme. Avril de Sainte-
Croix, E. Brieux (der Dichter der Avariäs), Flachon und Yves
Guyot. Wir werden im nächsten Heft den Wortlaut des vom Minister¬
präsidenten E. Combes Unterzeichneten Dekretes zum Abdruck bringen.
Amerika.
Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten wird jetzt auch in
Amerika energisch in Angriff genommen. Die dermatologisch-chirurgische
und die hygienische Sektion der American Medical Association haben
eine Nationalversammlung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten —
nach dem Muster der Brüsseler Konferenz — angeregt. Das House of
Delegates hat diesen Plan gebilligt und beschlossen, daß ein Komitee
von 6 Mitgliedern aus diesen beiden Sektionen vom Präsidenten mit
dem Studium der Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten beauftragt
werde und Vorschläge zu einer Nationalversammlung zu machen habe.
Das „Committee on Prophylaxis of Venereal Diseases“ besteht aus
folgenden Herren: Dr. Henry D. Holton, Brattleboro, Vt, Vorsitzender;
Dr. Ludwig Weiss, New York, Sekretär; Dr. George M. Kober, Was¬
hington, D. C.; Dr W. H. Sanders, Montgomery, Ala.; Dr. L. Duncan
Bulkley, New York; Dr. Frank H. Montgomery, Chicago, IH.
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Zeitschi rift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903. Nr. 2.
Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
Von
Dr. med. Hermann Sehlesinger (Frankfurt a. M.).
Motto: Ihrer Naturtriebe brauchen sieh
die Menschen gar nicht zu schämen.
Euripido s.
Nachdem einmal der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten
von weiten Kreisen aufgenommen worden ist, haben alsbald Arzte
und Pädagogen den Ruf nach Aufklärung der Jugend über das
Geschlechtsleben erhoben. Das ist eigentlich eine so selbstver¬
ständliche Forderung, daß es kaum begreiflich erscheint, wie
ihre Verwirklichung einem Widerstande begegnen könnte. Denn
wenn man schon der Ansicht ist, daß irgendwo in sittlicher
oder hygienischer Beziehung, oder in beiden zugleich, eine schwere
Gefahr besteht, so sollte man doch vor allen Dingen dafür
Sorge tragen, daß diejenigen, welche ihr durch ihre Unerfahren¬
heit vorzugsweise ausgesetzt sind, also das heranwachsende Ge¬
schlecht, bevor es ins Leben eintritt, von ihrem Vorhandensein
und • von ihrem Wesen genaue Kenntnis erhält. Dieser einfachen
Überlegung gemäß verfährt man doch in der Regel bei der Er¬
ziehung der Kinder. Es wird ihnen beispielsweise eingeprägt,
daß sie Hab und Gut sowie Leben und Gesundheit ihrer Mit¬
menschen heilig zu halten haben, und man hat kein Bedenken,
ihnen die Vergehen und Verbrechen, die dagegen verstoßen, nam¬
haft zu machen und sie aufs eindringlichste davor zu warnen.
Ebenso gibt die Schule eine Übersicht über den Bau des mensch¬
lichen Körpers und die Verrichtungen seiner Organe, und bei
dieser Gelegenheit wird auch krankmachender Schädlichkeiten ge¬
dacht, welche seine Existenz bedrohen, und zugleich gelehrt, wie
man sich ihrer erwehrt Nur in einem Punkte haftet man mit
zäher Hartnäckigkeit an altüberlieferten Anschauungen, obwohl
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Gesehlechtskrankh. II. 5
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54
Schlesinger.
sich diese längst als törichte Vorurteile erwiesen haben: Von einem
der mächtigsten Naturtriebe der Jugend gegenüber zu sprechen,
gilt im allgemeinen als etwas durchaus Verabscheuenswürdiges, Er¬
örterungen über geschlechtliche Dinge könnten ihr ja die Unschuld
rauben, sie des poetischen Hauches der Unberührtheit von allem
Häßlichen undUnschönen entkleiden. Diese seltsame, vom logischen
Standpunkt aus unbegreifliche Scheu, von den geschlechtlichen Ver¬
richtungen gerade so gut wie von den übrigen zu reden, findet
ihre Erklärung darin, daß man jene noch immer als etwas Tierisches,
sittlich niedrig zu Bewertendes ansieht So kommt es, daß der
Gedanke der geschlechtlichen Aufklärung der Jugend noch weit
entfernt davon ist, überall Anklang zu finden, es will vielmehr den
meisten Eltern durchaus nicht einleuchten, und sie schaudern davor
zurück, daß ihre Lieblinge bereits in jungen Jahren in so „un¬
saubere“ Dinge eingeweiht werden. Wenn nun in krassem Gegen¬
satz dazu ernste Männer und Frauen die völlige Unhaltbarkeit des
bisher in dieser Hinsicht gültigen Erziehungsgrundsatzes betonen
und rückhaltslose Aufklärung in Anlehnung an die Ergebnisse der
wissenschaftlichen Forschung verlangen, so wissen sie dafür ge¬
wichtige Gründe ins Feld zu führen. Sie einer eingehenden
Würdigung zu unterziehen, soll Zweck dieser Zeilen sein, die es
sich zugleich zur Aufgabe gemacht haben, zu erörtern, von wem
und wie die sexuelle Unterweisung erfolgen soll.
I. Notwendigkeit der geschlechtlichen Aufklärung
der Jugend.
Rein theoretisch betrachtet, läßt sich mit dem besten Willen
nicht begreifen, weshalb im naturwissenschaftlichen Unterricht zwar
Anatomie und Physiologie von Atmung, Blutkreislauf, Verdauung
Nervensystem usw. durchgenommen, die Fortpflanzung des Men¬
schen hingegen mit Stillschweigen übergangen wird. 1 ) Es müßte
doch erst der Beweis geführt werden, daß diese Funktion von
geringerer Wichtigkeit für die Erhaltung des Menschengeschlechtes
sei. Da eine solche Behauptung wohl von niemand aufgestellt
l ) In dem Buche: „Die Naturgeschichte des Menschen (Anthropologie)
nebst Hinweisen auf die Pflege der Gesundheit. Für Gymnasien, Real¬
gymnasien, Realschulen und Seminarien bearbeitet von Prof. Dr. F. C. Noll“
fehlt z. B. jeder Hinweis darauf, daß es überhaupt eine Fortpflanzung gibt.
Offenbar gestatten also die Schulbehörden nicht, daß den Schülern davon
etwas vorgetragen wird.
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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
55
werden wird, so wäre zu zeigen, daß die übrigen Körperverrichtungen
weniger „tierisch" seien als die Fortpflanzung. Auch damit wird
man kein Glück haben. Die Verdauung wenigstens verdient bei¬
spielsweise ganz gewiß keine höhere Note, sie ist an sich so „tierisch"
wie nur etwas. Gleichwohl wird ihrem Wesen und ihrer Be¬
deutung seitens der Schule eine eingehende Würdigung zu teil,
wobei man sogar des letzten Aktes, der Darmentleerung, gedenkt.
Im Einklang damit legt man im Publikum durchweg diesem Vor¬
gänge einen hervorragenden Wert für die Beurteilung des Ge¬
sundheitszustandes bei — mit Recht — und pflegt ihm demgemäß
sorgsame Beachtung zu schenken. Nun hat man bisher aber noch
nie gehört, daß darunter die Sittlichkeit von jung oder alt ge¬
litten habe, und ebensowenig wird die Poesie der Mutterschaft da¬
durch beeinträchtigt, wenn die junge Mutter, oder die es werden
soll, lernt, daß nicht zum mindesten die Untersuchung der Windeln
ihr Auskunft über das Wohlbefinden oder über mehr oder minder
schwere Krankheiten des Säuglings gibt.
Genz und gar unbeachtet bleibt freilich das Sexuelle auch in
der Schule nicht, insofern als der Lehrer in dem der Zoologie ge¬
widmeten Unterrichtsstunden gezwungen ist, einige Angaben über
die Fortpflanzung der Tiere zu machen. Bei dieser Gelegenheit
kann er nun, insbesondere wenn er von dem Geschlechtsleben der
Säugetiere spricht, in unauffälliger und harmloser Weise mehr
oder minder deutlich darauf hinweisen, wie sich dasselbe beim
Menschen gestaltet. Ein derartiges Vorgehen ist nur zu billigen,
denn es ist als ein nicht zu unterschätzender Gewinn anzuschlagen,
wenn die Jugend weiß, daß die Fortpflanzung der höheren Tiere
mit Einschluß des Menschen sich nach denselben grundlegenden
Gesetzen vollzieht. Allein als ein vollgültiger Ersatz für eine un¬
mittelbare Belehrung darf ein solches Aushilfsmittel sicher nicht
angesehen werden, weil unter allen Umständen eine klaffende
Lücke auszufüllen bleibt. Das Geschlechtsleben jeder Gattung hat
eben seine besonderen Eigentümlichkeiten, und man verlangt wohl
nicht zu viel, wenn man erwartet, daß der Homo sapiens 1 ) sich
vor allen Dingen mit denen seiner eigenen vertraut macht Man
könnte sonst gerade so gut der Schuljugend einen Vortrag über
den VerdauungsVorgang des Hundes, des Pferdes, des Schweines
l ) „Homo sapiens", wörtlich übersetzt: „der weise Mensch", ist in der
Zoologie die wissenschaftliche Bezeichnung für die Gattung „Mensch".
5*
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56
Schlesinger.
oder anderer Tiere halten und sich im übrigen damit begütigen,
daß man ihr sagt, es handele sich beim Menschen um ähnliche
Verhältnisse.
Von dieser theoretischen Erwägung abgesehen, gibt es eine
ganze Reihe von praktischen Gesichtspunkten, die mit zwingender
Gewalt für die geschlechtliche Aufklärung der Jugend in die Wag¬
schale fallen.
Das Rätsel der Entstehung des Menschen regt das Kind schon
frühzeitig zum Nachdenken an, seine Fragen pflegt man durch
allerlei Erzählungen — am bekanntesten ist die vom Storche —
zu beantworten. Darüber braucht wohl kein Wort verloren zu
werden, daß dieses und andere Märchen, sobald die Kleinen an¬
fangen, geistig reifer zu werden, keinen Glauben mehr finden. Wenn
man sich also nicht des pädagogischen Fehlers schuldig machen
will, ihre Wißbegier brüsk zurückzuweisen, so bleibt nur übrig,
sie auf andere Weise zu befriedigen.
Nun kann man sich ja vorstellen, es brauche dies keineswegs auf
die Art zu geschehen, daß man ihnen die reine Wahrheit sagt,
diese ließe sich vielleicht in geschickter Weise verschleiern, oder
man würde sich dadurch helfen, daß man seine Zuflucht zu einer
plausiblen Ausrede nähme. Im einen wie im anderen Falle müßte
indessen unbedingt vorausgesetzt werden, daß es gelänge, aus der
persönlichen Beobachtung, wie aus dem geistigen Gesichtskreise
der Jugend alles das auszuschalten, was auch nur im entferntesten
auf das Geschlechtliche zu beziehen wäre. Das trifft aber in
Wirklichkeit nicht zu.
Um sich davon zu überzeugen, fasse man zunächst einmal die
geistige Nahrung der Jugend ins Auge. Daß für Kinder und
halbwüchsige junge Mädchen und Knaben nicht jedes Buch und
jede Schrift zur Lektüre sich eignet, ist eine Binsenwahrheit,
die näherer Begründung nicht bedarf. Mit Recht bezeichnet
man daher in der Belletristrik als Jugendschriften solche Werke
erzählenden und belehrenden Inhaltes, welche der Fassungskraft
der genannten Altersklassen angepaßt sind und in denen alles ver¬
mieden ist, was namentlich in geschlechtlicher Beziehung ihrer
ohnehin so leicht erregbaren Phantasie freien Spielraum geben
könnte. Jedoch selbst bei strengster und sorgfältigster Überwachung
durch Schule und Haus ist es einfach unmöglich, sie in dieser
Hinsicht sozusagen mit einer chinesischen Mauer zu umschließen,
welche für geistige Konterbande undurchlässig ist. Man denke
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Die geschlechtliche Aufkl&rung der Jagend.
57
nur an die Zeitungen! Auch die zahmsten und tugendsamsten,
welche vom heiligen Schauder gegen die „neue Richtung" ergriffen
sind, können nicht umhin, unter der Rubrik „Gerichtszeitung"
ständige Berichte über Strafprozesse zu bringen, deren Helden
Dirnen, Zuhälter oder sonstige dunkele Ehrenleute sind, welche
wegen eines Sittlichkeitsdeliktes abgeurteilt werden. Welches Blatt
hätte beispielsweise den Fall Sternberg, der seinerzeit soviel Staub
aufwirbelte, dem Leserkreis vorenthalten können? Sogar die nicht
periodische Literatur, bei der man es doch viel eher in der Hand
hat, zu sichten und Ungeeignetes auszuschließen, erweist sich im
Sinne der herrschenden Anschauungen oftmals als recht bedenklich,
und zwar läßt sich dies mehrfach gerade von den „erlaubten"
Büchern behaupten. Es sei hier zunächst an die Bibel erinnert,
insbesondere an das Alte Testament, welches sich nie scheut, die
Dinge beim rechten Namen zu nennen, und davon in bezug auf
das Geschlechtliche wahrlich keine Ausnahme macht Darf man
sich etwa einbilden, daß der Schuljugend die „anstößigen" Stellen
verborgen bleiben? Wenn nun, wie die Erfahrung lehrt, diese
Annahme eine irrige ist, dann müßte allerdings folgerichtig die
Bibel als „unsittliches Buch" auf den Index kommen. Nicht anders
steht es mit den Klassikern der alten und neuen Zeit, welche zum
Teil in ihren herrlichsten Werken so manches enthalten, was sich
mit dem Grundsatz nicht vereinbaren läßt, daß die Jugend von
sexuellen Dingen bei Leibe nichts hören dürfe. Will man vielleicht
deshalb ihre Lektüre aus dem Unterrichtsplan der höheren Schulen
streichen? Oder glaubt man, daß alles in bester Ordnung sei,
wenn man das „Unpassende" kurzweg überschlägt? Wahrscheinlich
wird man mit dieser Methode nicht viel Glück haben, höchstens
könnte sie bewirken, daß das Überschlagene zu Hause mit regerem
Eifer gelesen wird, als er sich bei dem zeigt, was in der Schule
gelesen wird.
Gelangt man auf diese Weise schon zu den anfechtbarsten
Schlüssen, so sorgt die rauhe Wirklichkeit vollends dafür, das Ver¬
kehrte des üblichen Vertuschungssystems ins hellste Licht zu setzen.
Man werfe einmal einen Blick auf das Familienleben! Es ist
wohl nichts Unerhörtes, daß ein Familienzuwachs erfolgt, während
bereits größere Kinder, 13 bis 15 Jahre alt und darüber, vor¬
handen sind. Wollte man sich einbilden, daß diese die in die
Augen fallenden körperlichen Veränderungen der Mutter, die Ge¬
burt und die durch sie hervorgerufene Aufregung im Hause, so-
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58
Schlesinger.
dann das Wochenbett mit dem Erscheinen des neuen Weltbürgers
nicht in ursächlichen Zusammenhang brächten, so hieße das denn
doch ihrer Beobachtungsgabe und ihrem Scharfsinn, namentlich der
Mädchen, das denkbar schlechteste Zeugnis ausstellen. Da nun in
Wirklichkeit die Eltern am wenigsten geneigt sein werden, ein so
niederziehendes Urteil über die geistige Beschaffenheit ihrer Spröß-
linge zu fällen, so gäbe es eigentlich nur ein radikales Mittel, sie
von dem gefürchteten Nachdenken über geschlechtliche Dinge zu
bewahren, nämlich sie auf lange Monate hinaus gänzlich vom
Hause zu entfernen. Geht das nicht an, dann bliebe es allerdings
der Mutter nicht erspart, täglich und stündlich vor ihrem eigenen
Fleisch und Blut zu erröten.
So wenig wie die Vorgänge im Hause können sich diejenigen
außer dem Bereiche der Wohnstätten der Wahrnehmung der heran-
wachsenden Jugend entziehen. Die Tiere, insbesondere die Haus¬
tiere, sind bekanntlich unmoralisch genug, ihrem Geschlechtstriebe
in aller Öffentlichkeit zu frönen. Auf dem Lande gar ist es ganz
schlimm bestellt Wo Viehzucht betrieben wird, spielt der Fasel¬
eber, Faselstier, Faselhengst usw. eine bedeutende Rolle, kein
echtes Bauemkind ist so unwissend, daß ihm deren Dasein ein
Geheimnis wäre, ja es ist keineswegs selten zugegen, wenn sie
ihre Bestimmung erfüllen. Und noch mehr: wenn das wichtige
Ereignis eintritt, daß etwa die Kuh kalbt, so versammelt sich
häufig die ganze Familie im Stall, um dabei zu sein. Also an
Gelegenheiten fehlt es nicht, um den Kindern zu Gemüte zu führen,
daß es ein Geschlechtsleben gibt, und die Anwendung liegt nahe
genug, daß sie sich schon einen Vers darauf machen werden, es
möge beim Menschen wohl ähnlich zugehen, besonders falls der
Lehrer, wie vorhin erwähnt, Andeutungen in dieser Hinsicht ge¬
macht haben sollte.
Dazu kommt noch, daß das menschliche Geschlechtsleben
gerade in seiner widerlichsten Gestalt durchaus nicht im Ver¬
borgenen blüht In Großstädten sind die Straßen und Gassen, in
denen die Priesterinnen der Venus ihr Hauptquartier aufgeschlagen
haben, weiter nicht hermetisch von den übrigen Stadtteilen ab¬
gesperrt und hier sowohl wie an anderen Orten treiben die un¬
glückseligen Geschöpfe recht ungescheut ihr Unwesen. Daß das
Großstadtkind eben diesen Eindruck nicht in sich aufnehmen und
verarbeiten sollte, läßt sich doch kaum annehmen. Auf dem platten
Lande freilich fehlt die Prostitution, aber nicht der illegitime
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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
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Geschlechtsverkehr, der in Ermangelung eines besseren sehr häufig
den Gesprächsstoff für alt und jung bildet. Wenn die Spinn¬
stuben vielfach als die Brutstätten der Unsittlichkeit bezeichnet
werden, so dürften ohne Zweifel alle Kenner der Verhältnisse
darin einig sein, daß im engbegrenzten Horizont des Dorfes auch
die Kinder sich untereinander zuÜüstem werden, was sich dort
abspielt
Wer durch die bisherigen Darlegungen von der Notwendigkeit
einer radikalen Änderung der Erziehung auf dem Gebiete des
Geschlechtlichen noch nicht überzeugt sein sollte, wird sich wohl
bekehren, wenn man ihm vorhält, daß sich wieder einmal die
Wahrheit des Horazischen Wortes bewährt:
„Treibst du das Naturell auch mit Macht aus, immer kommt’s
wieder.“
Sobald das Kindesalter abgeschlossen ist, stellt sich die Periode
der Pubertät oder der Geschlechtsreife ein, sie bedeutet für beide
Geschlechter geradezu eine Umwälzung in körperlicher wie in
geistiger Hinsicht. Normale Entwickelung vorausgesetzt, erwacht
jetzt heim Knaben der Geschlechtstrieb, beim Mädchen treten die
geschlechtlichen Funktionen in die Erscheinung. Da man es mit
denkenden Wesen zu tun hat, die mit völliger Klarheit sich bewußt
sind, daß in ihrem Organismus etwas ganz Besonderes, bisher Un¬
geahntes vor sich geht, so wäre es mehr als sonderbar, wenn sie
nicht nach Aufklärung suchten. Müßte man nicht ein 14 bis
16jähriges Mädchen geradezu als stumpfsinnig bezeichnen, das
weiter nicht achtgibt, wie bestimmte äußere Körperstellen eine
auffällige Umwandlung erfahren, dessen Gleichmut sogar dann nicht
gestört wird, wenn es eines Morgens beim Erwachen eine Blutung
aus den Geschlechtsteilen wahrnimmt?
Für den kühl und ruhig Überlegenden kann es also keinem
Zweifel unterliegen, daß man den jungen Leuten in dieser Lebens¬
periode eine Aufklärung unbedingt schuldet. Und wenn diese
nicht von berufener Seite erfolgt, so könnte ihr die Mühe nur
zu leicht von einer unberufenen abgenommen werden. Hand
aufs Herz! Halte einmal ein jeder, der gereifte Mann wie das
gereifte Weib, Einkehr in sich selbst und frage sich, wer ihm
zuerst vom Geschlechtlichen gesprochen hat. Fast ausnahmslos
wird man gestehen, daß sich dazu ein gleichaltriger oder etwas
älterer Schulfreund oder Schulfreundin bereit gefunden hat, man
wird sich erinnern, daß deren Belehrung jede Sachlichkeit ver-
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60
Schlesinger.
missen ließ, statt dessen aber durch die mystischen Andeutungen
von Sinneslust und Sinnestaumel wie ein Gift wirkte, welches in
die harmlose Seele des Neophyten geträufelt wurde. Und daß auf
diese Weise Tausende und Abertausende widerstandslos der Ver¬
führung erliegen, daß gewisse geschlechtliche Verirrungen bei beiden
Geschlechtern wie eine Pest sich verbreiten, daß insbesondere die
Jünglinge sich frühzeitig dem gefährlichen Geschlechtsgenuß, der
ihnen durch die Prostitution geboten wird, sich ergeben, das sind
Tatsachen, an denen nicht gerüttelt werden kann.
Sollte es selbst einmal gelingen, die Jugend in völliger Un¬
wissenheit zu erhalten — eine solche Ausnahme wäre nur für Mädchen
zuzugeben — so ist damit noch lange nicht gesagt, ob darin
wirklich ein Vorteil zu erblicken ist Wenn es der letzte und
höchste Zweck der Ehe ist, Nachkommenschaft zu erzeugen und
sie zu tüchtigen und wackeren Menschen heranzuziehen, so muß
man verlangen, daß diejenigen, welche sich fürs Leben vereinigen,
sich mit ihren Pflichten nach der ethischen Seite so gut wie nach
der natürlichen hin völlig vertraut gemacht haben. Auch das Weib
darf in dieser Beziehung nicht im Dunkeln tappen, sie muß wissen,
was ihre Bestimmung ist und was ihrer harrt, es tut ihrer Un¬
schuld nicht Eintracht, wenn sie davon durchdrungen ist, daß das
Geschlechtsleben an sich nichts Tierisches, nichts sittlich Erniedrigen¬
des ist, sondern nichts anderes als die Erfüllung eines allgewaltigen
Naturgesetzes bedeutet
II. Von wem soll die geschlechtliche Aufklärung
der Jugend erfolgen?
Die bisherigen Auseinandersetzungen lassen sich kurz dahin
zusammenfassen, daß der einstweilen noch herrschende Grundsatz,
das Kapitel des Geschlechtlichen der reiferen Jugend gegenüber
als ein Kräutlein „Rühr’ mich nicht an“ zu betrachten, rein ver¬
nunftgemäß nicht bestehen kann, und daß sich seine Verwirklichung
als ein Phantasiegemälde darstellt, das durch die brutale Macht
der Tatsachen, so leicht wie ein Windhauch ein Kartenhaus um¬
wirft, in seine Atome aufgelöst wird. Deshalb fort mit der ebenso
unwürdigen als gefährlichen, konventionellen Heuchelei auf diesem
Gebiete, das wahre Wohl der Jugend erheischt völlige, rückhalt¬
lose Aufklärung in Anlehnung an die Ergebnisse der wissenschaft¬
lichen Forschung! Wird das zugestanden, so erhebt sich von selbst
die Frage, wer die Belehrung erteilen soll?
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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
61
In erster Linie wird man dieselbe als heilige Pflicht dem
Elternhause zuweisen, das ja vor allem berufen ist, das heran-
wachsende Geschlecht in sittlicher Beziehung so zu festigen, daß
es hernach dem Kampfe mit den Versuchungen des Lebens ge¬
wachsen ist. Soll nun das „gute Haus“ gerade da versagen, wo
am ehesten ein Straucheln zu befürchten und wo dieses Straucheln
unendlich oft von Folgen begleitet ist, an denen diejenigen, die es
trifft, ihr ganzes Leben zu tragen haben? In der Tat hat der
Gedanke etwas Verlockendes, daß Vater und Mutter es sind, die
zuerst mit dem Sohn oder der Tochter über das Geschlechtsleben
sprechen, in klarer, verständlicher und sachlicher Weise seine Be¬
deutung erklären und zugleich auf die schweren Gefahren auf¬
merksam machen, die damit verknüpft sind. Allein man täusche
sich nicht! Dieser Weg ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen
nur für eine sehr kleine Minderzahl von Eltern gangbar, weil bei
der überwiegenden Mehrheit nicht nur unter der großen Masse
des Volkes, sondern sogar unter den Gebildeten eine krasse Un¬
wissenheit in dieser Beziehung herrscht Woher sollte denn auch
das Wissen stammen? Aber selbst wenn dieser Hinderungsgrund
einmal beseitigt sein sollte, so würde es doch nicht ratsam er¬
scheinen, den Eltern die Aufklärung zu übertragen. Denn es
würde damit gehen wie mit so vielen anderen Kenntnissen und
Fertigkeiten; jene wären in der Regel gar nicht imstande, die¬
selbe ihren Kindern zu vermitteln, sei es, daß es ihnen an Zeit
mangelt, sei es, was meist der Fall sein wird, daß sie gar nicht
die Befähigung besäßen, den schwierigen Gegenstand der Jugend
gegenüber richtig zu behandeln.
So ist man schon gezwungen, sich den Nothelfer anderswo zu
suchen, und da es sich um eine Sache handelt, die das Wohl und
Wehe aller Schichten der Bevölkerung angeht, so kann das Heil
nur von einer Einrichtung kommen, die in unmittelbarster Be¬
rührung mit der Gesamtheit des heranwachsenden Geschlechtes
steht, das ist die Schule. Ob freilich augenblicklich und in ab¬
sehbarer Zeit Aussicht auf Erfüllung dieser Forderung vorhanden
ist, mag zweifelhaft sein, aus Gründen, deren Erörterung hier nicht
am Platze ist Das darf jedoch nicht abhalten, sie immer und
immer wieder zu erheben, denn der Staat muß auf die Dauer einem
wissenschaftlich wie sozial gerechtfertigten Verlangen Rechnung
tragen. In der Tat ist gerade die Schule berufen, in bezug auf
das Geschlechtliche aufklärend und dadurch zugleich versittlichend
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62
Schlesinger.
zu wirken, sie ist ein wesentlicher und unentbehrlicher Faktor im
Kampfe gegen die verheerenden Geschlechtskrankheiten genau so
wie gegen eine andere Pest, die am Marke des Volkes zehrt, gegen
den Alkoholismus. Die intellektuell wie moralisch so hochstehende
deutsche Lehrerschaft leistet die Gewähr, daß die sexual-hygienische
Unterweisung, die sich zwanglos der Naturlehre angliedern läßt,
in einwandsfreier Weise erteilt werden, daß sie vor allem den
Lernenden vor Augen führen wird, wie dem Reinen alles rein ist.
Selbstverständlich muß in Lehrer- und Lehrerinnenseminarien Ge¬
legenheit zur Erwerbung der nötigen Kenntnisse gegeben werden;
am meisten dürfte sich zu dem Zweck ein Vortragszyklus oder
ein Unterrichtskurs empfehlen, der von einem Arzt oder einer
Ärztin gehalten wird. Die akademisch gebildeten Oberlehrer ge¬
winnen durch das Studium der Zoologie eine vorzügliche Grund¬
lage, und es wird ihnen nicht schwer fallen, sich in das spezifisch
Medizinische der Sache hineinzufinden. Übrigens könnten ja leicht
durch die medizinischen Fakultäten Vorlesungen für die Studieren¬
den der Naturwissenschaften eingerichtet werden. 1 )
Man wird es aufs lebhafteste begrüßen, daß neuerdings auch
pädagogische Kreise der Frage der geschlechtlichen Aufklärung
der Jugend näher treten. So hat sich der Deutsche Verein für
das Fortbildungsschulwesen in Leipzig damit befaßt und
folgende Leitsätze angenommen:
1. Es ist anzunehmen, daß die große Mehrzahl der Fort¬
bildungsschüler eine mehr oder minder richtige Kenntnis des Ge¬
schlechtslebens hat. 2. Die Schüler bedürfen einer, des mystischen
Beiwerkes entkleideten sexual-hygienischen Unterweisung,
die sie einesteils vor den Gefahren der Selbstbefleckung schützt^
anderenteils sie davon überzeugt, daß der Geschlechtsverkehr weder
notwendig, noch ungefährlich ist 3. Diese Unterweisungen hätten
zunächst die Eltern zu geben, die sich aber aus Unkenntnis oder
berechtigtem Schamgefühl dieser Pflicht fast stets entziehen. 4. Den
Lehrern diese Unterweisung zu überlassen, wird am Widerstande
der Eltern scheitern und leicht peinlichen Verdächtigungen Tür
und Tor öffnen. 5. Es empfiehlt sich, daß, solange die in Satz 3
und 4 angegebenen Bindernisse nicht überwunden sind, der Arzt
wenn vorhanden der Schularzt) diese sexual-hygienischen Unter-
l ) An der Berliner Universität hat Prof. Lassar ein Publikum über
Geschlechtskrankheiten für Studierende aller Fakultäten gelesen, das sich
* eines außerordentlich regen Zuspruchs erfreut hat.
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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
63
Weisungen durchfährt, am besten im Anschlüsse an einen allgemein
hygienischen Unterricht.
Den beiden ersten Sätzen wird man ohne jede Einschränkung
zustimmen. weniger schon dem dritten, der zu verschiedenen Aus¬
stellungen Anlaß gibt. Wenn es in demselben heißt, daß sich die
Eltern „aus berechtigtem Schamgefühl“ der Pflicht entziehen, ihre
Kinder zu unterweisen, so ist dieser Ausdruck höchst unglücklich
gewählt Entweder ist die Unterweisung etwas sittlich Verwerf¬
liches, dann darf sie eben von niemand erteilt werden, oder aber
sie ist eine ethische und zugleich soziale Notwendigkeit, dann ist
ein Schamgefühl sicher nicht angebracht und berechtigt ist es
schon längst nicht. Richtiger sollte man vielmehr von einem
„falschen Schamgefühl“ sprechen, dieses ist es, unter dessen Herr¬
schaft das jetzt noch übliche Vertuschungssystem zuwege gebracht
ist. Daß aber dabei die Sittlichkeit arg zu Schaden gekommen,
daß die Jugend wehr- und waffenlos all den Verführungen und
Einflüsterungen ausgeliefert ist, welche auf sie einstürmen, sobald
sie ins Leben tritt, wer möchte das leugnen? Und wenn man in
der Aufklärung eine der wirksamsten Maßregeln im Kampfe gegen
Geschlechtskrankheiten und Geschlechtsverirrungen erblickt, so
kann dieses Ziel einzig erreicht werden durch die Besiegung jenes
falschen Schamgefühls. Wer wie der deutsche Verein für das
Fortbildungsschulwesen eine sexual-hygienische Unterweisung der
Fortbildungsschüler will, sollte daher gänzlich verkehrten Anschau¬
ungen auch nicht die geringste Konzession machen, sonst könnte
es den Anschein gewinnen, als ob er mit dem einen Fuß noch immer
im Lager des althergebrachten „laisser faire, laisser aller“ stehe.
Nach der Richtung hin muß man freilich dem Leitsatz 3
durchaus beipflichten, wenn er die „Unkenntnis“ der Eltern als
Ursache bezeichnet, weshalb sie nicht imstande sind, ihren Kindern
eine Belehrung angedeihen zu lassen. Es ist darüber bereits vorher
das Nötige gesagt und zugleich betont worden, daß selbst eine
etwaige „Kenntnis“ kaum eine Änderung herbeiführen würde.
Man wird es daher nur billigen, daß Leitsatz 5 die Unter¬
weisung in die Schule verlegen will, im übrigen fordern jedoch
Leitsätze 4 und 5 zu energischem Widerspruch heraus. Wenn
die Ansicht vertreten wird, „den Lehrern diese Unterweisung zu
überlassen, werde am Widerstande der Eltern scheitern und leicht
peinlichen Verdächtigungen Tür und Tor öffnen“, so kann das un¬
möglich als zutreffend anerkannt werden. Gewiß wird noch mancher
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64
Schlesinger.
Tropfen Wasser ins Meer fließen, ehe sich die Allgemeinheit mit
dem Gedanken einer sexual-hygienischen Unterweisung versöhnt
oder gar befreundet hat, und es wird noch schwere Anstrengung
und harten Kampf kosten, bis die maßgebende Behörde sich ent¬
schließt, dieselbe dem Lehrplan einzuverleiben. Ebenso gewiß ist
es, daß, sobald dies geschehen ist, Tausende und Abertausende
der lieben Eltern die Hände über den Kopf zusammenschlagen
und Zeter und Mordio schreien werden, daß man ihnen die Kinder
in Grund und Boden verdirbt Allein das braucht und darf die
Lehrerschaft nie und nimmer abhalten, unbeirrt und ohne auf
törichte Vorurteile und unverdiente Vorwürfe zu achten, das zu
lehren, was sie für gut und richtig erkannt hat und wovon sie
überzeugt ist, daß es der sittlichen Hebung der ihr anvertrauten
Jugend im höchsten Maße frommt. Die bestehenden Hindernisse
zu überwinden, ist wahrlich des Schweißes der Edlen wert, aber
sie werden nie auf dem Wege überwunden werden, den der Leit¬
satz 5 einschlagen will. Wenn die sexual-hygienische Unterweisung
dem Arzte („wenn vorhanden dem Schulärzte“) überwiesen werden
soll, so könnte das fast den Eindruck hervorrufen, als wollte man
das Odium, das selbst zu tragen man sich scheut, auf die Schultern
eines anderen abladen. Eine solche Unterstellung wäre ohne
Zweifel ebenso gehässig als ungerecht, tatsächlich würde jedoch
jenes Odium den Arzt genau so gut treffen wie den Lehrer. Der
Widerstand der Eltern richtet sich ursprünglich gegen den Unter¬
richt, nicht gegen den Unterrichtenden, er würde sich allerdings
durch Ausfälle gegen den letzteren Luft machen, weil die große
Menge zu kritiklos ist, um die Sache streng von der Person zu
scheiden. Daß aber das Publikum seinen Unwillen über einen
mißliebigen Unterrichtsgegenstand zwar an dem Lehrer auslassen,
den Arzt hingegen, falls er für diesen einspringt, fein glimpflich
behandeln werde, das ist eine Annahme, für die jeder Anhalts¬
punkt fehlt, vielmehr würde der eine so wenig wie der andere vor
„peinlichen Verdächtigungen“ gefeit sein. Tritt man schon für
einen Fortschritt ein, so heißt es unter allen Umständen mutig
vorwärts streben. Diese Neuerung im Unterrichtsbetriebe wird bei
ihrer Einführung wie jede andere vor und nach ihr heftigen An¬
feindungen und schärfsten Angriffen begegnen, indessen vom deutschen
Lehrerstand darf man erwarten, er werde es durch seine bewährte
pädagogische Geschicklichkeit und seinen pädagogischen Takt bereits
nach wenigen Jahren dahin bringen, daß die Schreier mundtot werden.
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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
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In dem Sinne sind jedoch die bisherigen Auseinandersetzungen
nicht aufzufassen, als weigerten sich die Ärzte, an der sexual¬
hygienischen Unterweisung der Jugend mitzuwirken, sie betrachten
vielmehr die Aufklärung derselben wie die des Volkes überhaupt
als ein nobile officium ihres Standes. Ihre Sache ist es, durch
Vorträge und volkstümliche Schriften den weitesten Kreisen das
Verständnis für die entsetzlichen Verheerungen der Geschlechts¬
krankheiten und geschlechtlichen Verirrungen zu erschließen und
auf die Gefahren hinzuweisen, welche insbesondere der Jugend
drohen, ihnen liegt es ob, in den Seminarien die zukünftigen Lehrer
und Lehrerinnen für das Fach der Hygiene mit Einschluß der
sexualen Hygiene vorzubereiten. Im einen wie im anderen Falle
bilden das Subjekt der Belehrung nicht etwa halbwüchsige Kinder,
sondern reifere Menschen, oder gebildete junge Männer und Mädchen,
die sich einem ernsten, schweren Berufe widmen. Das ist aber
etwas ganz anderes, als den Schülern der Fortbildungsschule einen
systematischen Unterricht erteilen. Wer an dem Dogma festhält,
daß die Schule den Schulmännern gehöre, wird es nicht recht ver¬
stehen, daß der Deutsche Verein für das Fortbildungssehulwesen
ein fremdes Element als Lehrperson empfiehlt, mit dem gleichen
Rechte könnte man ja auch verlangen, daß z. B. Gesetzeskunde
vom Juristen, Turnen vielleicht vom Unteroffizier gelehrt werde.
Selbst auf die Gefahr hin, päpstlicher als der Papst zu er¬
scheinen, dürfte es erlaubt sein, dem Zweifel Ausdruck zu geben,
ob der Arzt sich geeignet erweist, für 14- bis 17 jährige junge Leute
die sexual-hygienische Unterweisung zu übernehmen. Man kann
sich am Krankenbett vorzüglich bewähren, man kann zugleich ein
guter Redner sein und eine gewandte Feder führen, alle diese
Eigenschaften verbürgen jedoch keineswegs, daß man nun auch ein
Pädagoge ist. Und gerade darauf kommt es in allererster Linie
an bei einem Unterrichtsgegenstand, der insofern die Bezeichnung
„heikel“ verdient, als er vom großen Publikum noch immer als
eine geistige Speise angesehen wird, die man der Jugend nicht
vorsetzen dürfe. Diese irrige Meinung zu bekämpfen, den Eltern
zu zeigen, daß die Sittlichkeit ihrer Kinder nicht notleidet, daß
sie vielmehr gefördert wird durch eine naturwissenschaftliche Be¬
trachtung des Geschlechtslebens, erfordert unter allen Umständen
einen pädagogisch geschulten Lehrer von reicher Erfahrung.
Von dem Angehörigen eines anderen Standes läßt sich nicht er¬
warten, daß ihm diese Befähigung zu eigen sei; ihn mit einem
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Schlesinger.
solchen Amte zu betrauen, würde in der Regel ein verhängnisvoller
Fehler sein, der sich bitter rächen und voraussichtlich der guten
Sache nur schaden würde.
Von diesen Erwägungen abgesehen, steht der Verwirklichung
des in Leitsatz 5 enthaltenen Vorschlages noch ein erhebliches
Hindernis praktischer Natur entgegen. In Mittel- und Großstädten
sind ja Ärzte genug vorhanden, die Zeit und vielleicht auch
Neigung hätten, die sexual-hygienische Unterweisung zu erteilen,
allein eine Verallgemeinerung dieses Unterrichts wäre auf diesem
Wege undenkbar. Denn wie soll es der vielgeplagte Landarzt, der
in einem stundenweiten Umkreise seine Praxis versieht, möglich
machen, in einem halben Dutzend und mehr Fortbildungsschulen
verschiedener Dörfer eine regelrechte Lehrtätigkeit auszuüben?
So drängt alles zu dem Schluß, daß die Leitsätze 3—5 sich
in dieser Fassung nicht aufrecht erhalten lassen. Es muß
vielmehr sein Bewenden dabei haben, daß die nun einmal als not¬
wendig anerkannte geschlechtliche Aufklärung der Jugend nicht
nur in der Schule, sondern auch von der Schule gegeben werden soll.
III. Welche Kenntnisse soll die Jugend vom Geschlechts¬
leben haben, und wie sollen sie vermittelt werden?
Es wirft sich nunmehr ganz von selbst die Frage auf, was
von geschlechtlichen Dingen zu wissen der Jugend nottut. Grund¬
sätzlich kann man in dieser Hinsicht kaum fehlgehen, wenn man
genau so verfährt, wie es der Lehrplan bei anderen Körperver¬
richtungen, Atmung, Verdauung u. s. f., vorschreibt, man hat also
einen Überblick zu geben über die Anatomie der Geschlechtsorgane
und die Physiologie der Zeugung, d. h. es sind die wichtigsten
regelmäßigen Vorgänge, die sich bei der Fortpflanzung abspielen,
zu besprechen. Als Besonderheit kommt in diesem Falle hinzu die
eingehende Berücksichtigung der zu einer furchtbaren Volksplage
ausgearteten Geschlechtskrankheiten und Verirrungen des Ge¬
schlechtslebens, daran würde sich die Verhütung derselben sowie
die Hygiene des Geschlechtslebens überhaupt anschließen.
Sobald einmal die sexual-hygienische Unterweisung in den Lehr¬
plan aufgenommen sein wird, muß selbstverständlich den Lehrern
ein Leitfaden in die Hand gegeben werden, der als Wegweiser für
den Unterricht zu dienen hätte. Für den Augenblick dürfte die Ab¬
fassung eines solchen noch verfrüht sein, es genügt deshalb, sich an
dieser Stelle auf einige allgemeine Betrachtungen zu beschränken.
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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
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Es kann zwischen den beiden Geschlechtern ein Unterschied
nicht gemacht werden, mit andern Worten, dem heranreifenden
Jünglinge wie der heranreifenden Jungfrau soll im wesentlichen
die gleiche Belehrung zu teil werden. Das rechtfertigt sich ohne
weiteres für die Anatomie der Geschlechtsorgane und die Physiologie
der Zeugung, denn das Verständnis der letzteren setzt die Be¬
kanntschaft mit dem Bau der männlichen und weiblichen Ge¬
schlechtsorgane voraus und würde ohne sie unmöglich sein.
Übrigens werden vernünftigerweise diejenigen nichts Anstößiges
darin finden, welche den veredelnden Einfluß der darstellenden
Kunst auf die Jugend anerkennen, ihr demgemäß den Besuch der
Museen und Bildergalerien nicht verwehren wollen und nichts da¬
gegen einzuwenden haben, daß ihr Auge sich insbesondere der
herrlichen Kunstwerke des griechischen Altertums erfreut, dessen
Schönheitsideal die Darstellung des nackten menschlichen Körpers
ist. Wenn sich nun aus dem Anblick der äußerlich sichtbaren
Körperteile eine Gefahr in sittlicher Beziehung für den Anschauenden
nicht herleitet, so wird sie gewiß auch dann nicht bestehen, wenn
ihm Form und Bedeutung der im Innern des Leibes befindlichen
an der Hand der Wissenschaft erklärt wird.
Ernste Bedenken könnten sich, scheinbar mit Recht, dagegen
erheben, daß auf dem Programm der sexual-hygienischen Unter¬
weisung auch Geschlechtskrankheiten und Geschlechtsvörirrungen
und deren Verhütung stehen, denn dabei läßt es sich allerdings
nicht vermeiden, daß so häßliche und unschöne Dinge, wie Prosti¬
tution, Selbstbefleckung u. a., zur Sprache kommen. Drängt sich
da nicht die Befürchtung auf, daß durch die Aufklärung gerade
das, was man verhindern will, hervorgerufen werden könnte? Dieser
Einwand erledigt sich von selbst, wenn man erwägt, daß dieselbe
tatsächlich so gut wie nie ausbleibt, und daß es denn doch nicht
gleichgültig ist, ob sie sich einem unreifen und in sich noch nicht
gefestigten Charakter in Gestalt der verführerischen Lockung naht,
aber ob sie in ruhiger, sachlicher Form gegeben wird. Daß das
eindrucksfähige Gemüt der Jugend treugemeinte Warnungen vor
den entsetzlichen körperlichen und sittlichen Schädigungen durch
geschlechtliche Ausschweifungen ganz und gar in den Wind schlagen
sollte, ist eine Annahme, gegen die man sich aufs entschiedenste
sträuben wird, oder man müßte überhaupt daran verzweifeln, daß
die Schule imstande sei, eine ethische Einwirkung auszuüben.
Immerhin könnten überängstliche Leute der Meinung sein, es
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Schlesinger.
sei zu weit gegangen, auch Mädchen derartige Belehrungen zu er¬
teilen. Ihnen ist zu erwidern, daß nicht etwa einige wenige Aus¬
erwählte der höheren Klasse, sondern die große Masse der ge¬
samten weiblichen Jugend in Betracht kommt. Wer nun die sozialen
Verhältnisse der niederen Schichten der Gesellschaft kennt, müßte
blind einherwandeln, wenn er leugnen wollte, wie bitter not es tut,
daß dem heran wachsenden weiblichen Geschlecht klarer Wein über
das Geschlechtsleben und seine Gefahren eingeschänkt wird.
Übrigens dürften auch die „höheren Töchter“, soweit sie späterhin
als Mütter vor die Aufgabe gestellt werden, Söhne zu erziehen,
schon aus praktischen Gründen es nicht zu beklagen haben, wenn
sie in dieser Hinsicht „Wissende“ sind. Und ebenso nützlich und
unentbehrlich wird sich dies Wissen denjenigen gebildeten Frauen
erweisen, welche Zeit und Neigung zu sozialer Betätigung haben;
wollen sie nach der Richtung erfolgreich wirken, so dürfen sie den
Leiden und Verfehlungen des Volkes, auch in geschlechtlicher Be¬
ziehung, nicht verständnislos gegenübertreten.
Endlich noch ein Wort der Erläuterung über die Hygiene des
Geschlechtslebens! Dieselbe im weitesten Sinne zu besprechen,
empfiehlt sich nicht, sondern man wird sich lediglich auf die
Periode des jugendlichen Alters beschränken. Das Verhalten in
der Ehe, insbesondere die Hygiene der Schwangerschaft, der Ge¬
burt, des Wochenbettes und der Lactation (Stillungsperiode) können
nicht Gegenstand des Unterrichts in der Schule bilden. Das ist
auch weiter nicht erforderlich, denn darüber geben eine Anzahl
guter Schriften Auskunft, die heute schon ihren Leserkreis finden
und ihn in noch höherem Maße finden werden, wenn die sexual¬
hygienische Unterweisung das Interesse aller Schichten der Be¬
völkerung geweckt und ihre Aufnahmsfähigkeit für diesen hoch¬
wichtigen Zweig der Gesundheitslehre gesteigert haben wird.
Wenn die geschlechtliche Aufklärung der Jugend durch die
Schule und in der Schule einmal das Stadium des frommen
Wunsches überwunden haben wird, so wird ihre Verwirklichung
kaum erheblichen Schwierigkeiten begegnen. Über die Art und
Weise des Unterrichts braucht man sich wahrlich keine Gedanken
zu machen, man darf vielmehr der deutschen Lehrerschaft das
Vertrauen entgegenbringen, daß sie diesen Stoff gerade so wie jeden
anderen pädagogisch mit bewährter Meisterschaft verarbeiten werde,
so daß die Unterrichteten in sittlicher Beziehung, weit entfernt davon
Schaden zu nehmen, nur gefordert werden. Ebenso muß es den
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Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend.
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Lehrern überlassen werden, wie der Gegenstand in den verschiedenen
Kategorien von Schulen, Volksschulen, Mittelschulen, höheren
Knaben- und Mädchenschulen, zu behandeln sein wird. Daß man,
namentlich zum richtigen Verständnis der anatomischen und phy¬
siologischen Verhältnisse der Geschlechtssphäre, zum Hilfsmittel
der bildlichen Darstellung greifen muß, mag vielleicht ängstliche
Gemüter in Schrecken setzen. In Wirklichkeit liegt dazu kein
Grund war, ein Blick in das Kapitel „Geschlechtsorgane" eines ana¬
tomischen Lehrbuches wird jeden überzeugen, daß weder Text nach
Abbildungen dazu angetan sind, lüsterne Gedanken zu erwecken.
Nicht ganz so leicht ist die Beantwortung der Frage, wann
die sexual-hygienische Unterweisung stattfinden soll. Darin zwar
kann bei richtiger Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse eine
Meinungsverschiedenheit nicht aufkommen, daß der Beginn in die
Zeit der Geschlechtsreife zu verlegen ist Ob es aber zweckmäßig
ist, bereits in diesem jugendlichen Alter die Aufklärung in ihrem
gesamten Umfange zu geben, steht auf einem anderen Blatte. In
der Tat empfiehlt sich ein so radikales Verfahren keineswegs, weil
die völlige Aneignung des hier in Betracht kommenden Wissens¬
gebietes denn doch einen reiferen Geist als den von etwa 14jährigen
Kindern voraussetzt Man wird es daher vorziehen, Schritt für
Schritt vorwärts zu gehen und mehrere Jahre hintereinander immer
wieder auf das Geschlechtsleben zurückzukommen, damit die not¬
wendigen Kenntnisse zugleich befestigt und allmählich erweitert
und vertieft werden. In den höheren Schulen ist diese Forderung
unschwer zu erfüllen, in den Volksschulen überhaupt nicht, daher für
sie zum wesentlichen Teil die Fortbildungsschule eintreten müßte.
Auf alle Fälle ist es Pflicht derjenigen, denen die Volkswohl¬
fahrt am Herzen liegt, in Wort und Schrift dafür einzustehen, daß
der heranwachsenden Jugend in Zukunft die Bedeutung des Ge¬
schlechtlichen kein Buch mit sieben Siegeln mehr bleibe. „Wissen
ist Macht!" Nur wer die furchtbaren Gefahren der Geschlechts¬
krankheiten und Geschlechtsverirrungen kennt, vermag den von
allen Seiten auf ihn einstürmenden Versuchungen erfolgreich zu
widerstehen. Erreichbar ist dies hohe Ziel vor allem durch die
Schule, der damit Gelegenheit gegeben wird, ihrem Ruhmeskranze
ein neues Blatt einzupflechten.
„Juventutis salus suprema lex est."
Zeiteohr. t Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. Ii. G
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Referate.
Geschichte der Syphilis.
Tokujero Suzuki. Ober Syphilis im Altertume speziell in China und Japan.
Inauguraldissertation. Rostock. 1903.
Der Autor kommt zu folgenden Ergebnissen: Es läßt sich aus
den Schriften des Altertums bis zum Jahre 1493 kein Anhaltspunkt
dafür gewinnen, daß die Syphilis vor dieser Zeit in der Alten Welt
vorhanden gewesen ist. Ebensowenig lassen sich die Funde prähisto¬
rischer krankhaft veränderter Knochen für diese Frage irgendwie ver¬
werten. Es stützt daher dieser negative Befund die durchaus gut und
glaublich durch Augenzeugen berichtete Tatsache, daß die Syphilis 1493
von den Leuten des Kolumbus eingeschleppt und von Spanien und
Portugal aus, besonders durch den italienischen Feldzug verbreitet
wurde. Durch die Seefahrten der Spanier und Portugiesen wurde
die Seuche dann in weitere Länder verschleppt, so von den letz¬
teren nach China, von wo sie offenbar durch den Handelsverkehr
nach Japan übertragen wurde. Auch in China und Japan gibt es keine
Syphilis im Altertum. Überall gab es lokale Leiden der Geschlechts¬
teile, die auch nach Ansicht der alten Autoren durch den Koitus über¬
tragbar waren, es fehlte aber die konstitutionelle Erkrankung mit ihren
mannigfachen wechselnden Erscheinungen, dessen klar umgrenztes Krank¬
heitsbild wir heute als Syphilis bezeichnen. Nur durch die Vermengung
aller an den Genitalien auftretenden Krankheiten, kontagiöser und nicht
kontagiöser, unter dem Begriffe der Geschlechtskrankheiten oder der
venerischen Erkrankungen, hat zu der Verwirrung geführt, die wir in
der Geschichte der Syphilis seit Jahrhunderten finden: Bei genauer Be¬
trachtung des heutzutage als Syphilis angesehenen charakteristischen
Krankheitsbildes und einer Vergleichung mit den in der Literatur des
Altertums geschilderten Affektionen, erweist sich die Auffassung von
der Syphilis im Altertum als unhaltbar. B.
Öffentliche Prophylaxe.
Glück. Die Bekämpfung der Volkssyphilis in Bosnien und Herzegowina. 8 . Kongr
d. Deutsch. Dermat. Ges. in Sarajevo (Wiener mediz. Wochenschr. 1903. 41).
Ausgehend von dem Gesichtspunkte, daß die Syphilis in Bosnien
eine Volkskrankheit ist und nicht durch den Geschlechtsverkehr propagiert
wird, müssen nach Ansicht Glücks die Maßregeln zur Verhinderung der
weiteren Verbreitung der Erkrankung andere sein, als in jenen Ländern,
wo die Prostitution die Quelle der Infektion bildet. Die Hauptaufgabe ist
die sachgemäße, energische Behandlung der breiten Schichten, sowie die
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Referate.
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Erziehung des Volkes für die Prophylaxe. Die Syphilis scheint in
Bosnien nicht alten Datums zu sein, der Franziskanermönch J. F. Jukic
glaubt, daß sie um das Jahr 1780 von den Osmanen eingeschleppt
wurde, andere Autoren glauben, daß dies erst in den Jahren 1824 oder
1832, aber auf jeden Fall durch die Truppen des Sultans geschehen
sei. Für den türkischen Ursprung spricht auch die in Bosnien gebräuch¬
liche Bezeichnung Frenjak, abgeleitet von dem türkischen Wort Frengi.
Vor der Okkupation lagen die Verhältnisse sehr im Argen und als man
im Jahre 1880 und 1881 die Behandlung der Syphilitiker durchzu¬
führen beabsichtigte, stieß man auf großen Widerstand. Langsam ver¬
schwand das Mißtrauen der Bevölkerung vor den von der Regierung
bestellten Ärzten, und im Jahre 1889 bestanden bereits im Lande elf
Spitäler mit ziemlich regem Kranken verkehr. Im Jahre 1890 berief
die Landesregierung Prof. Neu mann behufs näheren Studiums der
Syphilis nach Bosnien. Neumann wollte in den Hauptorten jener
Bezirke, die am meisten heimgesucht waren, Syphilisbaracken einrichten,
doch eine von der Landesregierung einberufene Enquöte beschloß, statt
der Syphilisbaracken den Bau sogenannter Bezirksspitäler zu empfehlen,
in denen die Bevölkerung bei allen Leiden sachgemäße, unentgeltliche
Behandlung finden könnte. Dieser Vorschlag wurde angenommen, und
heute verfügt das Land über neun solcher Bezirksspitäler, der Bau
weiterer steht in Aussicht. Ein weiterer gewaltiger Fortschritt geschah
im Jahre 1894 mit der Eröffnung des bosnisch-herzegovinischen Landes-
spitales in Sarajevo. An demselben befaßt sich eine selbständige große
Abteilung mit der Behandlung der Luetiker. An allen Spitälern be¬
stehen Ambulatorien, wo die Kranken unentgeltlich Rat finden und
ihnen kostenlos die nötigen Medikamente verabreicht werden. Um nun
in jenen Bezirken, wo keine Spitäler vorhanden sind, eine geregelte Be¬
kämpfung der Syphilis durchzuführen, verordnete die Landesregierung
im Jahre 1897 die Errichtung der sogenannten Gemeindeambulatorien.
Bis Ende 1902 wurden 42 derartige Anstalten eingerichtet. Die Kosten
der Einrichtung, sowie die Erhaltung sind Sache der betreffenden
Gemeinden, die Landesregierung stellt kostenlos die Medikamente.
Die Anzahl der Ärzte wurde von Jahr zu Jahr vermehrt, dabei auf
deren fachliche Qualifikation Rücksicht genommen und schließlich vier
weibliche Ärzte zur Behandlung der islamitischen Frauen angestellt.
Die Ärzte sind verpflichtet, genaue Aufzeichnungen über die Anzahl
der Erkrankungen in ihren Bezirken an das Sanitätsdepartement ein¬
zureichen, dem Gesundheitszustände der Schulkinder ihre volle Aufmerk¬
samkeit zuzuwenden und bei isoliertem Auftreten der Erkrankung sofort
deren Weiterverbreitnng zu verhindern.
Nach zwei Richtungen muß das Streben bei der Bekämpfung
der Syphilis in Bosnien gerichtet sein, einerseits das Tempo in
der Tilgung der Syphilis zu beschleunigen, andererseits der Aus¬
breitung derselben vorzubeugen. Man beabsichtigt nun, ein rascheres
Tempo einzuschlagen, Ärzte wie Ärztinnen werden in regelmäßig wieder¬
kehrenden Zwischenräumen in die verseuchten Gegenden entsendet werden,
die Kranken in ihren Behausungen aufsuchen oder bei gehäuftem Auf-
6 *
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72
Referate.
treten der Krankheit veranlassen, daß sich die Kranken in Sammel¬
orten behufs regelrechter Behandlung zusammenfinden. Mit der konse¬
quenten energischen Durchführung dieses Vorgehens wird es hoffentlich
gelingen, die Syphilis als Volkskrankheit im Laufe der Jahre zu be¬
kämpfen. Um der weiteren Ausbreitung vorzubeugen, beabsichtigt man,
die Kirche jeder einzelnen Konfession, die Schule, die Intelligenz der
Bevölkerung zu veranlassen, das Volk über die Verbreitungsweise, die
Erscheinungen und die Folgen der Erkrankung zu belehren. Zu diesem
Zwecke werden an die genannten Kreise populäre, leicht faßliche Bro¬
schüren abgegeben werden. B
Medizinische und individuelle Prophylaxe.
F. Uhl. Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. Ärztliche Praxis. 1902.17/18.
Verf. betrachtet eine zielbewußte Aufklärung der weitesten Volks¬
kreise als das beste Mittel zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
und verspricht sich namentlich einen guten Erfolg von der Tätigkeit
der D. G. z. B. d. G. — Neben der allgemeinen Prophylaxe legt Uhl
besondem Wert auf die persönliche Hygiene und empfiehlt zum Schutz
gegen Ansteckung die sogenannten Viro-Präparate. —e
Blokusewski. Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten. Dermat. Zentralbl.
1903. 6.
Bl. weist darauf hin, daß in der deutschen Marine die Einträufelungen
einer 2prozentigen Höllensteinlösung als Vorbeugungsmittel gegen den
Tripper eingeführt ist. Verf. hält diese Methode für zuverlässiger als
die verschiedenen bekannten, in letzter Zeit namentlich auch von der
Viro-Gesellschaft in den Handel gebrachten Mittel. —e
H. Breitenstein. Die Circumcision in der Prophylaxe der Syphilis. Dermat
Zentralbl. 1902. 2.
Der Verf. betont den Wert der Beschneidung als Prophylaktikum
gegen die Syphilis. Er sieht eine Bestätigung seiner Auffassung in dem
Umstande, daß diejenigen eingebornen Truppen Niederländisch-Indiens,
welche Mohammedaner und daher beschnitten sind, 2—5 mal seltener an
Syphilis erkranken, als der nicht beschnittene Teil der dortigen Armee.
—e
S. Behrmann. Die Prophylaxe der venerischen Krankheiten bei Männern. Klinisch¬
therapeutische Wochenschrift 1903. 34, 35.
Die Arbeit Behrmanns, in welcher die graue Salbe als Prophy¬
laktikum gegen die Geschlechtskrankheiten überhaupt und gegen die
Syphilis insbesondere empfohlen wird, ist nur für einen ärztlichen Leser¬
kreis bestimmt, enthält aber doch einiges auch für Laien Bemerkens¬
werte. Dazu gehört namentlich die Forderung, daß diejenigen, die sich
einer Infektionsgefahr ausgesetzt haben, auf jeden Fall alsbald zum
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Referate.
73
Arzte geben und von diesem die Anwendung des Prophylaktikums er¬
folgen soll; die Selbstapplikation irgend welcher Vorbauungsmittel durch
Laien müsse grundsätzlich perhorresziert werden. Dies Verlangen ist
natürlich eine Utopie. —e
Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis.
1. Arnold Back. Zur Kasuistik der Schadenersatzklagen auf Grund einer durch
Geschlechtsverkehr erfolgten syphilitischen Ansteckung.
2 . Ludwig Worthoimor. Ein gerichtliches Erkenntnis Ober Anfechtung einer
Ehe wegen vorehelicher Gonorrhoe. (Dermatolog. Zeitschrift, Bd. X, H. 4.)
ad 1. Die äußerst interessante Mitteilung von Dr. Sack lehrt,
wie vorsichtig man sein muß, wenn man auf Grund des § 828 des
B.G.B. Klage erheben will. Nur wenn die angeblich geschädigte Partei
absolut sichere Beweise in Händen hat, die jeder ärztliche Sachverständige
als völlig ein wandsfrei anerkennen muß, darf sie darauf rechnen, den
Prozeß zu gewinnen, der andernfalls für sie ebenso skandalös wie kost¬
spielig und erfolglos ist. Das hat zu ihrem Leidwesen auch die Klägerin
in dem Prozesse erfahren müssen, über den Sack ausführlich berichtet
und in welchem er als Gutachter fungierte. Der Fall ist außerordent¬
lich lehrreich und eine nachdrückliche Warnung vor unüberlegten
Schritten.
ad 2. Dem von Rechtsanwalt Wertheimer veröffentlichten Falle
liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Parteien haben im Sep¬
tember 1901 miteinander die Ehe geschlossen; im Februar 1902 kon¬
statierte ein Arzt, welcher die Klägerin anläßlich einer Fehlgeburt be¬
handelte, daß sie tripperkrank war; der Klägerin wurde von dieser
Tatsache aber erst im August 1902 Kenntnis gegeben. Der Beklagte
hat zugestanden, daß er im Februar 1902 ebenfalls tripperkrank war.
Die Klägerin hat im September 1902 Klage erhoben und den
Antrag gestellt, die Ehe für nichtig zu erklären, event. zu scheiden.
Aus dem Urteil seien folgende Punkte als die wesentlichsten her¬
vorgehoben: '
Die in erster Linie erhobene Anfechtungsklage hat nach § 1333
des B.G.B. zur Voraussetzung, daß sich Klägerin bei der Eheschließung
in einem Irrtum über eine solche persönliche Eigenschaft des Beklagten
befunden hat, welche dieselbe bei Kenntnis der Sachlage und bei ver¬
ständiger Würdigung des Wesens der Ehe von Eingehung derselben
abgehalten haben würde. — Es unterliegt keinem Zweifel, daß als er¬
hebliche persönliche Eigenschaft nach Lage des Einzelfalles auch das
Bestehen einer ansteckenden Geschlechtskrankheit in Betracht kommen
kann. Im vorliegenden Falle hat das Gericht die Überzeugung gewonnen,
daß der Beklagte zurzeit der Eheschließung mit einem Krank¬
heitszustand behaftet war, der eine Tripperinfektion für die
Klägerin zur Folge hatte. Diesen Schluß zog das Gericht
1. aus der Tatsache, daß nach eidlicher Aussage des langjährigen
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74
Referate.
Hausarztes der Klägerin diese zurzeit, der Eheschließung geschlechtlich
gesund war;
2. aus der eidlichen Aussage des Arztes (der als Zeuge und Sach¬
verständiger vernommen wurde), welcher bei der Klägerin den Tripper
festgestellt hatte, und der bekundete, daß zu derselben Zeit damals der
Beklagte an einem älteren Tripper litt, der wahrscheinlich schon zurzeit
der Eheschließung bestanden hatte;
3. aus dem Umstande, daß ein Ehebruch des anderen von keinem
der beiden Ehegatten auch nur behauptet worden ist und nach der Be¬
kundung der Sachverständigen die Annahme, daß der Tripper bei dem
Beklagten oder der Klägerin während der Ehe auf anderem Wege als
durch geschlechtliche Ansteckung hätte entstehen können, bei der großen
Seltenheit der dahin führenden Möglichkeiten zumal bei Erwachsenen
geradezu als ausgeschlossen anzusehen ist.
Das Gericht ist zu der Überzeugung gekommen, daß auch im
übrigen die Voraussetzungen des § 1333 des B.G.B. im vorliegenden
Falle zutreffen und hat infolgedessen die Ehe der Parteien für nichtig
erklärt. M. M.
Prof. Dr. FImcIi und Dr. jur. Wertheimer. Geschlechtskrankheiten und
Rechtsschutz. Jena, Gustuv Fischer 1903. 8°. 82 S., Mk. 2.
Die beiden Verfasser stellen die Frage zur Diskussion, ob und
unter welchen Voraussetzungen das Bestehen geschlechtlicher Erkran¬
kungen die Ungültigkeit oder Auflösung der Ehe bewirken, und welche
sonstigen Rechtsfolgen diese Krankheiten haben können. An der
Forderung des Nachweises eines bewußten Verschuldens bei der vene¬
rischen Infektion sind die bisherigen Versuche der strafrechtlichen Be¬
handlung gescheitert. Gegenüber der Behandlung der Frage nach der
strafrechtlichen Verfolgung der Venerischen befinden wir uns für die
Behandlung der zivilrechtlichen Seite insofern in einer günstigeren
Stellung, als das Bewußtsein der Erkrankung in wenigen Fällen in den
Hintergrund treten kann. Gelingt es, zu erreichen, daß die venerische
Infektion in der Ehe ebenso wie in dem freien sexuellen Verkehr der
juristischen Haftung ebenso unterstellt wird, wie die Erzeugung des
Kindes; gelingt es, das Bewußtsein der Verantwortung, die jede Aus¬
übung des Koitus mit sich führen sollte, durch die Erweiterung der
mit dessen Folgen verbundenen gesetzlichen Pflichten zu verstärken; so
wird dies ein Korrelat der bisher unerfüllbaren Strafbarkeit der vene¬
rischen Infektion darstellen, das mächtig genug sein müßte, um ab¬
schreckender zu wirken, als mancher Strafgesetzparagraph.
Es werden die für eine Ehescheidung in Frage kommenden Ge¬
setzesparagraphen einer kritischen Betrachtung unterzogen, und der
juristische Verfasser stellt das Postulat, daß Gonorrhoe und Syphilis,
wenn sie während der Ehe bei einem Gatten direkt oder indirekt auf-
treten, eo ipso als Ehescheidungsgrund gelten, ohne daß es des Nach¬
weises des Ehebruches bedarf, ferner verlangt er die Zulassung der
Eideszuschiebung als Beweismittel in all den Ehesachen, die auf das
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Befer&te.
75
Auftreten von Syphilis und Gonorrhoe gestützt sind für die Tatsachen,
welche sich anf die Entstehung und Art der Krankheit beziehen, end¬
lich ist zu verlangen, daß der den Ehegatten behandelnde Arzt in
Ehesachen als Sachverständiger vor Gericht von der Wahrung des Be¬
rufsgeheimnisses ohne weiteres entbunden ist. R.
Prostitution und Mädchenhandel.
Josef Schrank. Vorschläge zur Eindämmung der schädlichen Folgen der Pro¬
stitution. Allg. Wiener mediz. Ztg. 1903. 32. 33. 34.
Der Verf. — Polizeiarzt in Wien — ist ein Anhänger der Regle¬
mentierung, aber ein Gegner der Kasernierung. Seine Vorschläge bringen
nichts wesentlich Neues. — e
Mdme. Lograin. Alkohol und Prostituton. (Der Abolitionist I, 6/7.)
Die Vorsitzende der französischen Frauenliga gegen den Alkohol
veröffentlicht in diesem Artikel die Erfahrungen, die sie gelegentlich
ihrer Besuche bei früheren Bewohnerinnen öffentlicher Häuser gesammelt
hat. Es sind grauenvolle Zustände, die Mde. Legrain schildert, und
wenn deren Zeugen, die zu Alkoholikerinnen gewordenen ehemaligen
Bordellinsassen, auch nicht als durchaus glaubwürdig betrachtet werden
dürfen, so geht aus den Mitteilungen doch so viel mit Sicherheit hervor,
daß der Alkohol es ist, mit dessen Hilfe täglich in den öffentlichen
Häusern Verbrechen begangen werden, die zum Himmel schreien. Durch
den Alkohol macht der Bordellwirt, zu dem manches Mädchen durch List
oder Gewalt verschleppt wird, das unglückliche Geschöpf seinen Zwecken
gefügig; für den Bordell wirt ist der Alkohol die reichste Einnahmequelle
und das Weib vielfach nur ein Vorwand, um Spirituosen zu enormen
Preisen verkaufen zu können; die Mädchen müssen, wenn sie den schwer¬
sten Bestrafungen entgehen wollen, ihre Besucher zum Alkoholgenuß
beständig animieren, d. h. selber fast ununterbrochen trinken. Vielfach
werden die Mädchen für die größten Leistungen im Trinken und die
größten Einnahmen, die dadurch erzielt werden, prämiiert.
Mit dem Bericht über diese schändlichen Zustände will die
Verf. die ungeheure Gefahr klar machen, welche nach ihrer Ansicht
Deutschland durch eine Rückkehr zum Bordellsystem droht. Es er¬
scheint zweifelhaft, daß Mdme. Legrain durch ihre Mitteilungen die An¬
hänger des Bordellsystems wird umzustimmen vermögen: von dieser
Seite wurde ja wiederholt verlangt, daß in den öffentlichen Häusern der
Verkauf von Spirituosen verboten werde, und zweitens die Verstaatlichung
der Häuser gefordert, weil eine solche Vergewaltigung und Ausbeutung der
Mädchen nur in den in Privatbesitz befindlichen Bordellen möglich sei. Die
Verteidiger der Kasernierung werden also nach wie vor bestreiten, daß
die geschilderten Zustände eine notwendige Folge des Bordellsystems an
sich seien. Außerdem ist es sicher, daß der Alkohol eine kaum weniger
verhängnisvolle Rolle auch in der Straßenprostitution spielt — sowohl
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76
Referate.
insofern, als die Dirnen auch ohne den äußeren Zwang von einem Bor¬
dellwirt aus sich zum sehr großen Teile dem Alkoholismus ergeben, als
auch deshalb, weil die meisten Männer den Verkehr mit den Prosti¬
tuierten im Alkoholrausch vollziehen. — Daß die Bekämpfung der Ge¬
schlechtskrankheiten nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie zugleich
mit einem Kampfe gegen den Alkoholmißbrauch einhergeht, dieser Er¬
kenntnis hat sich wohl kein Verständiger mehr verschlossen. M. M.
Sexuelle Hygiene.
Joseph Mayer. Gibt es Schädigungen der Gesundheit als Folge von sexuell
sittlicher Enthaltsamkeit? Verlag von Aug. Stritt, Frankfurt a. M.
Mayer bestreitet die Existenz von Gesundheitsschädigungen als
Folge sexueller Abstinenz. Nicht diese sei schuld an gewissen Erkran¬
kungen des Nervensystems, sondern eine ausschweifende Phantasie sei
die Ursache der Neurasthenia sexualis. Alle Gründe, mit denen ver¬
sucht wird, den außerehelichen Geschlechtsverkehr zu entschuldigen, seien
hinfällig; der illegitime Beischlaf unterscheide sich in nichts von der
Onanie, denn wie diese habe er lediglich die Verschaffung hoher woll-
lüstiger Empfindungen zum Zweck und sei deshalb — wie die Mastur¬
bation — ebenso unsittlich wie unnatürlich. Unbedingte Enthaltsam¬
keit — freilich nicht allein von jedem außerehelichen Umgang, sondern
vor allem auch von jeglicher „Gedankenunzucht“ — könne immer nur
gesundheitsförderlich sein und müsse auch aus moralischen wie ju¬
ristischen Gründen von jedermann gefordert werden.
Die Frage, ob sexuelle Abstinenz schädlich sei oder nicht, ist seit
dem Frankfurter Kongreß in den Vordergrund des Interesses getreten;
und es ist zu hoffen, daß Professor Erbs Anregung, sie zum Gegen¬
stände systematischer exakter Untersuchungen zu machen, auf frucht¬
baren Boden fallen wird. Vorläufig ist sie von einer wissenschaftlichen
Beantwortung so weit entfernt wie nur je, und auf die May ersehen
Ausführungen näher einzugehen, besteht deshalb um so weniger Ver¬
anlassung, als der Verf. ja nicht einmal den Versuch macht, seine apo¬
diktische Behauptung von der absoluten Unschädlichkeit der geschlecht¬
lichen Abstinenz durch irgend welches positive Material zu stützen.
Im übrigen ist die ganze Darstellung wenig ansprechend, insofern
der Verf. — ein Arzt — nie mit Gründen, sondern ausschließlich mit
Postulaten und Schlag Worten „argumentiert“, es aber trotzdem für zu¬
lässig erachtet hat, seine Schrift als eine „medizinisch-ethische Betrach¬
tung“ in das äußere Gewand einer wissenschaftlichen Abhandlung zu
kleiden. m. M.
Pädagogisches.
Pieczynska-Bem. Ein Erziehungsproblem. Revue de Morale sociale. 1902.
Nr. 13.
Verfi behandelt die Frage, ob und wann man Kinder über sexuelle
Fragen aufklären solle. Sie steht auf dem Standpunkt, daß die Jugend
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Referate.
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aufgeklärt werden muß. Schwierig ist jedoch die Wahl des rechten
Momentes und die Methode. Beim ersten Auftauchen von Zweifeln und
von Gedanken über sexuelle Beziehungen, Mutterschaft, Geburt u. s. w.
sollte man aufhören, diese Dinge geflissentlich zu verbergen und Märchen
darüber zu erzählen; allerdings ist es dann meist noch zu früh, posi¬
tive Angaben zu machen. Man sollte diese in passender Form in die
Jugendlektüre einflechten, in naturwissenschaftliche Bücher u. s. w.
Es handelt sich hierbei nicht um die Überwindung alteingewurzelter
Gebräuche, sondern die Hindernisse liegen tiefer begründet. Ein Gefühl
der Scham ist mit dem ganzen sexuellen Gebiet verknüpft, so daß für
viele die Grenze zwischen „erlaubt“ und „nichterlaubt“ in allzuängst¬
licher Verheimlichung aller bezüglichen Dinge verschwindet.
Oft wissen die Kinder von sexuellen Beziehungen gar nichts weiter,
als daß man sie verheimlichen muß und halten sie daher von vornherein
für schimpflich. Die Schwierigkeit der Aufklärung beruht hier gerade
darauf, daß man dem Kind sein eigenes Ich enthüllt, und zwar be*
sonders auf einem Gebiet, auf dem die Einbildung eine große Rolle
spielt; man läuft hierbei Gefahr, vorzeitig Instinkte zu erwecken, die
die Natur weise bis zu einem gewissen Alter schlummern läßt. Bei der
Pubertät erwachen dieselben langsam in wechselndem Verlauf. Die
daraus erwachsenden Störungen und Umwälzungen entgehen oft den
Eltern vollständig. Richtige Aufklärung beschleunigt nicht den Ver¬
lauf dieser Krise, sondern die Erfahrung hat bewiesen, daß ernste Unter¬
weisungen, die die Gesetze der gesamten belebten Natur mehr allgemein
berühren, die Phantasie beruhigen, welche durch heimliche, rein persön¬
liche Enthüllungen vielleicht stark erregt würde. In dieser Weise muß
man den Gefahren zuvorkommen. Falsch ist es, in Broschüren und
Vorträgen junge Leute, die vom sexuellen Leben noch keine positiven
Kenntnisse haben, auf die Gefahren und die Schattenseiten des un¬
moralischen sexuellen Lebens hinzuweisen und ihnen nur den Schlamm
zu zeigen. Man muß sie vielmehr auf das reine vollkommene Bild der
ehelichen Vereinigung und der auf Liebe begründeten Familie hinweisen,
ein Gedanke, der in einer Broschüre von Prof. Heim, „Das Geschlechts¬
leben des Menschen vom Standpunkt der natürlichen Entwickelung,
1901“, bereits zum Ausdruck gelangt ist. Eine solche Aufklärung er¬
weckt in der Seele des heranwachsenden Kindes einen Zug der Be¬
geisterung und den Willen zum Guten, und diese beiden sind viel wirk¬
samer als die negative Abschreckungsmethode. — Ideale muß man der
Jugend geben; aber welche und in welcher Form? Was ist überhaupt
das Ideal? Die Ansichten darüber sind heut, wie immer, geteilt. Die
einen betrachten das Geschlechtsleben als etwas von der Natur gebotenes,
das wir nicht durch moralische, menschliche Satzungen beschränken
dürfen. Das heißt, sie stellen den Menschen auf den Standpunkt des
bestialischen Instinkts, der jede Beziehung und Disziplin ausschließt. —
Anderseits hat die Wissenschaft gezeigt, daß der Geschlechtstrieb, der
auf Erhaltung der Gattung zielt, nicht gleichzusetzen ist dem Hunger
und Durst, die für die Erhaltung des Individuums sorgen; denn man
kann den Geschlechtstrieb ohne Gefahr für die Gesundheit unterdrücken.
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Referate.
Andere betrachten jede sexuelle Vereinigung, selbst in der reinsten
Ehe und selbstlosesten Liebe als etwas Schmutziges, Tierisches und glauben
sie nach Möglichkeit nicht nur beschränken, sondern sogar ganz unter¬
drücken zu müssen (Tolstoi).
Das wahre Ideal einer normalen Menschheit kann kein Verhalten
vorschreiben, das ihre Fruchtbarkeit versiegen lassen müßte.
Nächstenliebe muß der Leiter und Lenker der Sinnenliebe sein:
„Niemand hat das Recht, einen andern als Mittel zur Befriedigung selbst¬
süchtiger Zwecke zu betrachten,“ und „Was du nicht willst, das man
dir tu, das füg auch keinem andern zu‘‘ sind die beiden Sätze, mit
Hilfe derer man nach Ansicht der Verfasserin alle sexuellen Konflikte
lösen könne. N.
1. Jordan. Geschlechtskrankheiten und Prostitution. Münchn. med. W. 1903. 23.
. 2. Riebeling. Eltempflicht und Kindesrecht. Verlag der Frauen-Rundschau 1903.
3. Freudenberg. Ein Wort an die weibliche Jugend. Verlag der Frauen¬
rundschau. 1903.
4. Boor. Das Verschleierungssystem und die Prostitution. Verlag Frauenrund¬
schau. 1903.
5. Fürth. Die geschlechtliche Aufklärung in Haus und Schule. Verlag Frauen¬
rundschau. 1903.
6. Ruth Br6. Das Recht auf die Mutterschaft. Verlag Frauenrundschau. 1903.
Im Hause des Gehenkten darf man nicht vom Stricke reden! Nach
diesem Rezept hat man lange Zeit die Frage der geschlechtlichen Un¬
sittlichkeit und ihrer Folgeerscheinungen behandelt. Insbesondere hielt
man darauf, daß in Gegenwart tugendsamer Frauen von dem nicht ge¬
sprochen werden dürfe, was ebenso tugendsame Männer doch als ihr
gutes Recht in Anspruch nahmen.
ad 1. In jüngster Zeit ist das anders geworden. Nicht wenig
haben dazu die verschiedenen Tagungen beigetragen, auf denen man
sich mit dem Geschlechtsproblem in irgend einer Form befaßt hat.
Dieser Umstand hat selbst zu der Bemerkung Anlaß gegeben, daß „es
zu beklagen wäre, wenn der früher so ängstlich in der Unterhaltung
gemiedene Gegenstand nun plötzlich gesellschaftliches Gesprächsthema
werden sollte“. Ich kann diese Ansicht nicht teilen, denn wenn es auch
nicht an Leuten fehlen wird, denen es dabei um Sensationen zu tun
ist, so ist das nicht so schlimm, wie das bisherige Vertuschungssystem
mit seinem Gefolge von Laster und Heuchelei auf der einen, von Ent¬
täuschung, Prüderie und Hysterie auf der anderen Seite. Ja und selbst
die, die in der Beschäftigung mit solchen Dingen nur eine Befriedigung
lüsterner Neugier suchen, erfahren mindestens die Nebenwirkung eines
heilsamen Schreckens mit seinen guten Folgen der Selbsteinkehr und
Bewahrung. Schädliche Einwirkungen auf die Jugend sind aber nach
Ansicht der Ref. nicht zu befürchten. An Jugend, die durch derlei
schädlich beeinflußt wird, ist nicht mehr viel zu verderben. Umgekehrt
kann sittlich reine Aufklärung von Eltern, Erziehern und Ärzten, nach
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Referate.
79
Zeit und Maß richtig dosiert, nur Gutes wirken, und das Häßliche, das
daneben der Zufall der Jugend in den Weg wirft, wird vom unberührten
Kinde abgleiten, ohne Schaden zu tun. So müssen wir es als eine Er¬
lösung empfinden, wenn heute Männer und Frauen den sittlichen Mut
besitzen, offen und rückhaltlos die hier vorhandenen Übel aufzudecken.
Unter diesem Gesichtspunkte ist es als ganz besonders dankens¬
wert zu begrüßen, daß im Verlag der Frauenrundschau eine Stätte ge¬
funden ist, von der aus man sich vitalster Fraueninteressen warm an¬
nimmt und die den Pionieren einer neuen sittlichen Weltanschauung
die weiteste Redefreiheit verstattet. Begreiflicherweise ist nicht alles,
was von dort ausgeht, gleich gut. Wie noch immer, lockt auch hier
das Neue Schwarmgeister an und solche, die im Trüben fischen wollen.
Neben Gutem findet sich Minderwertiges, neben Ernstem Oberflächliches
und Sensationelles, und die Zeit wird auch hier die Spreu vom Weizen
sondern müssen. Unsere Aufgabe ist es heute, uns mit einigen das
Geschlechtsproblein berührenden pädagogischen bezw. soziologischen
Schriften zu befassen.
ad 2. „Pflicht und Liebe und in beiden frei!“ Das ist der Schluß,
zu dem Pastor Riebeling kommt. Ein tapferer und vorurteilsloser
Streiter Gottes meldet sich in ihm zum Wort. Er geht davon aus,
daß die innere und äußere Freiheit Grundlage und Vorbedingung alles
Großen ist. „Was in der Geschichte der Menschheit Großes und Blei¬
bendes geschaffen wurde, — unter den Söhnen unterdrückter Völker
sind die Schöpfer nicht zu suchen“, und „die durchaus freie Berufs¬
wahl bildet die erste Bedingung zur sittlichen Erhaltung eines Charakters.“
Erst recht aber muß Freiheit bei der Heiratswahl obwalten, und an
Stelle unserer gesellschaftlichen Sitten, die die Mädchen in strenger
Klausur halten und sie nur im Ballsaal oder wo sonst die Männerjagd
mit Glück betrieben werden kann, auf die Männer loslassen, soll ein
freier und darum unbefangener Verkehr der beiden Geschlechter treten,
der ihnen die Möglichkeit des Kennen- und Liebenlernens gibt. Mit
Recht verlangt der Verf. auch in diesem Zusammenhang die Koedukation.
Der Junge und das Mädchen, die miteinander gespielt und — gearbeitet
haben, werden, herangereift, einander erst schätzen und dann lieben
lernen, und dieser Weg ist, meine ich, richtiger als der umgekehrte.
Heute indes! „Welche Schande für Mütter,“ so bricht Riebeling los,
„solche Töchter großzuziehen, die bewacht werden müssen, und noch
obendrein diese jämmerliche Erziehung mit ihren satirisch berüchtigten
Nachtwächterdiensten zu besiegeln, wo aus schlafverschleierten Augen
und gähnendem Munde das herzbrechende Geständnis spricht, daß sie
ihren Töchtern nicht trauen können!“
Ein wenig seltsam, aber schließlich nicht minder richtig ist ein
anderer Gedankengang des Verfs. Liebende sollen, bevor sie sich zum
Ehebunde entschließen, sich über ihre gegenseitigen geschlechtlichen Ver¬
hältnisse Auskunft geben, damit der Ehe Schluß zwischen in ihren ge¬
schlechtlichen Anschauungen und Bedürfnissen betrogenen Personen ver¬
mieden werde. Und dies, wenn auch „empfindsame Mütter blutarmer
Töchter bei diesen Worten vor Entsetzen die Hände überm Kopf zu-
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Referate.
sammenschlagen, was uns aber einerlei sein kann, da Vernunft und
Recht und Ehrlichkeit sich schließlich dennoch durchsetzen werden, trotz
aller Torheit und unsittlichen Schamgefühls“. Und noch einmal:
Riebeling hat recht. Mutet es uns scheinfreie Leute, die wir in Wahr¬
heit noch tief in den Banden der Konvention und Tradition stecken,
auch seltsam an, so müssen wir uns eben zu dieser gesunden und not¬
wendigen Natürlichkeit hindurchdenken. — Die Pastoren sollen an erster
Stelle dazu helfen, die Freiheit der Heiratswahl und ihre Voraussetzungen
zu erringen. Das ist soweit gut, als dieser Anspruch ein menschlich¬
pädagogischer ist, begründet in der Vorzugs- und Vertrauensstellung,
die dem Seelsorger überall eingeräumt wird, mit dem Begriffe christlich
und Christentum dagegen hat das nichts zu tun. Riebeling geht es
hier wie vielen anderen, die das, was menschlich gut an ihnen ist, ihrem
Glauben zugute rechnen.
ad 3. Als eine Erziehungsschrift von minder polemischem Charakter er¬
weist sich Ika Freudenbergs: „Ein Wort an die weibliche Jugend“.
„Es ist die Mission der Jugend, in hochgeschwungener Hand der Mensch¬
heit eine Fackel voraufzutragen, in welcher der tiefste Wille, die stärkste
Sehnsucht einer Zeit brennt.“ Daher sollen auch die Frauen nicht fehlen.
Sie sollen nicht länger abseits stehen. Seine frische Kraft, seine Be-
geisterungsfähigkeit und seinen Heroismus soll das werdende Weib in
den Dienst der großen Zeitideen und Aufgaben stellen, die der Lösung
harren. Und um das zu können, soll sie ein Selbst werden, eine Per¬
sönlichkeit, die ihre Prägung nicht von außen nimmt. Nicht Entselbstung,
nicht das nichts-Rechtes-sein-dürfen, an dem Millionen Frauen innerlich
verarmt sind“, sondern ein Dasein, das, ausgehend von den geistigen
Quellen des Lebens, in den breiten, tiefen Strom des in sich selbst und
auf sich selbst ruhenden Menschentums mündet. Die Zeit des passiven
Frauenideals ist vorüber, und an die Jugend, die Trägerin der Zukunft,
ergeht der Ruf, dem Neuen nachzustreben, das auch die Frau mitten
hinein ins flutende Leben stellt.
ad 4. Gab in den beiden vorstehenden Schriften das Recht auf
Freiheit und Persönlichkeit, für beide Geschlechter gleich wertvoll, den
Grundton, der den Charakter der Ausführungen bestimmte, so sind es
in den beiden folgenden vorwiegend Prinzipien sexueller Pädagogik, die
zur Erörterung gelangen. Frau S. C. Beer hat sich der dankenswerten
Mühe unterzogen, uns mit einer gedrängten Übersicht der Gedanken¬
gänge eines englischen Pädagogen, der zugleich Geistlicher ist, bekannt
zu machen, die sich mit der Unterweisung der Jugend in den Gesetzen
des Geschlechtslebens befassen. Wir begegnen in ihnen der auch bei
uns immer häufiger vertretenen Auffassung, daß sittliche Reinheit und
das Wissen um geschlechtliche Dinge einander nicht nur nicht aus¬
schließen, sondern daß sogar die auf dem Wege reiner Belehrung er¬
worbene Kenntnis solcher Dinge eine sicherere Bürgschaft sittlicher
Reinheit ist als das landesübliche auf unsauberen Schleichwegen erlangte
Wissen um die Geschlechtlichkeit und die hierhin gehörigen Beziehungen
der Menschen. Eindringlich weist Lyttleton daraufhin, welche seelischen
Qualen und Gefahren für den Knaben herauf beschworen werden, der
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Referate.
81
„einen Teil seiner Gedanken, seiner Worte, seiner Taten vor allen ver¬
bergen muß, die er respektiert“. Als Hanptursache der Gleichgültigkeit
gegen die Prostitution und ihre unglücklichen Opfer erscheint L. der
Umstand, daß diese „Angelegenheit“ mit völliger Beiseitesetzung der
weiblichen Rechte, der allgemeinen Gerechtigkeit überhaupt, des primi¬
tivsten Begriffes der Menschlichkeit geregelt wurde. Mich dünkt diese
Beurteilung ein bischen einseitig und weltfremd. Dasselbe ist von der
Unwissenheit des Verfs. in betreff der weiblichen Jugend zu sagen und
von seinen etwas schwerfälligen Belehrungsvorschlägen.
ad 5. Das gleiche Thema behandelt Frau Fürth in: „Die ge¬
schlechtliche Aufklärung in Haus und Schule“. Die Gedankengänge
haben manches Übereinstimmende. Nur ist das deutsche Buch in vielen
Stücken persönlicher und wirkt dadurch wärmer. Auch wird hier die
Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit und Belehrung in Dingen des Ge¬
schlechtslebens nicht nur aus den bestehenden Zuständen abgeleitet,
sondern sie wird naturgeschichtlich begründet, und neben den Eltern
wird der Schule die Pflicht aufklärender Erziehungsarbeit auferlegt.
Gerechtfertigt wird dies Verlangen durch den Hinweis auf die in der
Erziehung, dem Mangel an unerläßlichen Eigenschaften des Geistes und
Herzens oder in den ökonomischen Verhältnissen begründete Untauglich¬
keit so vieler Eltern zwischen ihren Kindern und sich das Vertrauens¬
verhältnis zu schaffen, das die unumgängliche Voraussetzung recht ge¬
arteter Belehrung sein sollte.
ad 6. Die Schriften, die wir bis jetzt kennen gelernt haben, ent¬
halten keine absolut neuen und epochemachenden Gedanken. Nicht das
Was, sondern das Wie, die Art des Sehens und der Behandlung alter
Probleme fesselt an ihnen. Ganz anders bei dem nun folgenden Büch¬
lein, in dem Ruth Br 4 einen ganz neuen Gedanken in höchst eigen¬
artiger Form entwickelt. Da ist nicht mehr die Rede von der doppelten
Moral, die in der Prostitution ihren prägnantesten Ausdruck findet,
sondern ganz schlicht und selbstverständlich wird der Geschlechtsmoral
des Mannes eine neue fordernde Geschlechtsmoral des Weibes gegenüber¬
gestellt. Das Recht auf die Mutterschaft fordert Ruth Br4 als das
Menschenrecht des Weibes. Gleichviel, ob diese Mutterschaft in oder
außerhalb der Ehe erlangt wurde: sie muß eine freigewollte, sich ihrer
ganzen Größe und Verantwortung bewußte sein, und — sie ist gerecht¬
fertigt. Ja, sie ist mehr als das, der Jungbrunnen, aus dem die Re¬
generation, die Wiedergesundung der Menschheit emportauchen wird. —
Ruth Br4 glaubt, daß diese Forderung eine Auferstehung sei, eine
Wiederbelebung des alten Mutterrechts. Sie irrt darin. Das Mutter-
recht war eine wirtschaftspolitische Einrichtung, hervorgegangen aus
der Unmöglichkeit, angesichts der damals bestehenden Eheformen die
Vaterschaft zu bestimmen. Einen ethischen Charakter, wie ihn Ruth
Br4 ihrer neuen Forderung aufprägt, trug es nie. Also nicht von
einer Erneuerung des Mutterrechtes auf höherer Stufe kann in diesem
Zusammenhang die Rede sein, sondern von einem höchst modernen und
individuellen Empfinden, recht eigentlich einer neuen Ewigkeitssehnsucht
der vollentwickelten Persönlichkeit.
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82
Referate.
Auch nach einer andern Seite geht Ruth Br6 zu weit. Ihr ist
die Sehnsucht nach der Mutterschaft wenn nicht das alleinige so doch
das ausschlaggebende Motiv für das Geschlechtsempfinden und das sexu¬
elle Bedürfnis des Weibes. Ich bestreite das. Vielleicht ist diese Sehn¬
sucht in vielen Frauen latent, sie mag sogar in einzelnen erlesenen
Exemplaren der Gattung Weib bewußt vorhanden sein: im allgemeinen
ist das Geschlechtsgefühl an sich das Primäre, das mütterliche Empfinden
das Sekundäre. Dafür spricht die allgemeine Erfahrung, und nach
meiner Beurteilung beweisen selbst die Beispiele, die man als gegen¬
teilige in der Schrift angeführt findet, nicht für, sondern gegen Ruth
Br6. Daß dann im Laufe des Lebens das sekundäre Moment den Sieg
davon trägt, ist in dem allen Menschen eigentümlichen Zug begründet,
daß wir für das, wofür wir am meisten leiden mußten, das unsere Kraft,
Sorge und Zeit am stärksten in Anspruch nahm, die größte Zuneigung
empfinden. Wir legten vielleicht den besten Teil von uns selbst in dies
unser Werk, und die Folge ist, daß wir es mehr lieben als uns selbst
Aber diese meine abweichende Auffassung hindert mich nicht, das
wahre, warme und tapfere Büchlein als eine Erlösung zu empfinden für
viele Tausende, die es rechtfertigt und deren uneingestandene Sehnsucht
es aus Schmach und Niedrigkeit emporhebt in das liebewarme Licht
der Wahrheit, Klarheit und Gerechtigkeit. Möchten es alle lesen: es
hat allen viel zu geben. H. F—th.
E. Stiehl. Eine Mutterpflicht. Beitrag zur sexuellen Pädagogik. Leipzig
1902. H. Seemann. (50 Pf.)
Immer weitere Kreise lernen einsehen, daß die althergebrachte Ge¬
heimnistuerei und Heuchelei, die bei der Erziehung der Kinder in sexuellen
Dingen geradezu zum Prinzip erhoben worden sind, die ungeheure Ver¬
breitung der Geschlechtskrankheiten zu einem sehr wesentlichen Teile
mitverschulden — von den sittlichen Schäden, welche solche Unwahr¬
haftigkeit zur Folge haben muß, ganz zu schweigen. Viele Eltern sind
nun zwar endlich zu der Überzeugung gekommen, daß rechtzeitige Auf¬
klärung und Belehrung das beste Mittel seien, um ihre Kinder gegen
die ihrer wartenden Gefahren zu schützen; aber es fehlt ihnen das ge¬
nügende Verständnis für die kindliche Psyche und die eigne Unbefangen¬
heit des Herzens, die sie zu solcher Unterweisung befähigen würden.
Namentlich viele Mütter sind sich heutzutage der Verpflichtung, ihre
Kinder beizeiten über die Bedeutung und Gefahren des Geschlechts¬
lebens zu unterrichten, wohl bewußt; aber sie stehen ihr mit einer un¬
überwindlichen Scheu gegenüber und wissen den Weg zu ihrer Erfüllung
nicht zu finden. In solcher Ratlosigkeit kommt ihnen das Büchelchen
von Stiehl in trefflicher Weise zu Hilfe. Es kann in der Hand einer
verständigen Mutter großen Segen stiften und darf als ein nützlicher
Beitrag zur sexuellen Pädagogik überhaupt auch von weiteren Kreisen
willkommen geheißen werden. Ma—
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Tageageechiehte.
Populäres.
88
A. Ist die Syphilis heilbar? Hygien. Volksblatt 1903. 1.
Geheim rat Neisser in Breslau versichert in dem vorliegenden
Artikel von neuem, daß die Syphilis eine heilbare Krankheit ist. Dafür
sind die gelegentlich zu beobachtenden Wiederansteckungen ein un¬
umstößlicher Beweis. Nicht mit gleicher Bestimmtheit kann man die
Frage des einzelnen Patienten, ob auch bei ihm die Syphilis sicher
geheilt werde, beantworten; hier muß die Erwiderung folgendermaßen
lauten: „Wenn Sie alle die Ihnen ärztlicherseits vorgeschrie¬
benen Kuren prompt und sorgsam durchführen, sich einer
vernünftigen Lebensweise befleißigen, sich von allen Ex¬
zessen des Trinkens und von sonstigem ausschweifenden
Lebenswandel fernhalten, so werden Sie, wenn nicht ganz besonders
unglückliche Zufälle eintreten, ebenso gesund werden, wie nach
unseren bisherigen Erfahrungen die bei weitem überwiegende Mehrheit
aller gut behandelten Syphiliskranken gesund geworden ist.“
—e
Tagesgeschichte.
Deutschland.
Der Zentralverband der Deutschen Ortskrankenkassen
hat vom 13.—15. September seine 10. Jahresversammlung abgehalten.
Auf der Tagesordnung stand u. a. ein Vortrag des Herrn Geheimrat
Neisser über das Thema: Inwieweit können die Krankenkassen
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten beitragen?“ Der
Redner hat seine Ausführungen in eine Anzahl von Leitsätzen zusammen¬
gefaßt, aus denen folgendes hervorgehoben sein möge:
I. Es ist zu verlangen, — event. (nach Blaschko) gesetzlich zu
bestimmen — daß die Kassen ihre Organisation zur Herstellung
einer brauchbaren Statistik über die Verbreitung der Geschlechts¬
krankheiten verwenden. Eine solche Statistik läge nicht nur im eigenen
Interesse der Kasse, die nur durch sie ein richtiges Bild von dem Um¬
fange der den Geschlechtskrankheiten zugewendeten und zuzuwendenden
Kassenleistungen gewinnen können, sondern auch im allgemeinen Interesse.
II. Die Kassen sollen durch Wort und Schrift Aufklärung
und Belehrung über die Gefahren des außerehelichen Geschlechts¬
verkehrs und über die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten unter
ihren Mitgliedern verbreiten.
III. Alle Bestrebungen, die auf Schutz der heran wachsenden Jugend
vor sittlichem Verfall und vor übermäßigem und vorzeitigem Geschlechts¬
verkehr abzielen, wie z. B. die Beseitigung des Schlafgän&er-
wesens durch Erbauung von Ledigenheimen, die Einführung ob-
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84
Tageegeschichte.
ligatorischer Fortbildungsschulen usw., sind auf jegliche Weise, teils
durch finanzielle Förderung, teils durch Agitation zu unterstützen.
IV. Krankenhausbehandlung ist unter allen Umständen das
ideale Mittel zu schneller Herbeiführung der Heilung im Interesse des
einzelnen und zur Beseitigung der Ansteckungsfähigkeit im Interesse
der Allgemeinheit. Sie soll wenigstens in allen Fällen eintreten, in
denen der Arzt und die Kasse sie für erforderlich hält und der Kranke
die Aufnahme in ein Krankenhaus wünscht.
V. Um die sachgemäße Behandlung der außerhalb von Kranken¬
häusern zu behandelnden Mitgliedern zu sichern, haben die Kassen für
ärztliche Behandlung durch gute, zuverlässig ausgebildete Spezial-
ärzte zu sorgen, weiblichen Mitgliedern weibliche, spezialärztlich ge¬
schulte Ärzte zur Verfügung zu stellen, männliche und weibliche
Kranken-Kontrolleure bezüglich der Befolgung der ärztlichen Vor¬
schriften anzustellen und Strafen für Nichtbefolgung der ärztlichen Vor¬
schriften festzusetzen.
VI. Überall sollen die Kassen auch die Familienmitglieder
ihrer Versicherten mit versorgen.
VII. Es ist entweder staatliche Subvention oder noch besser
die Bildung großer örtlicher Verbände anzustreben, damit eine
größere finanzielle Leistungsfähigkeit auch im Interesse einer möglichst
energischen Behandlung der Geschlechtskrankheiten erzielt wird.
VIII. Die Einführung einer regelmäßigen jährlich ein- bis zwei¬
mal stattfindenden ärztlichen Untersuchung aller Kassenmit¬
glieder ist anzustreben.
Das große Interesse, welches der Prostitutionsfrage augenblicklich
in Deutschland von allen Seiten entgegengebracht wird, gibt sich u. a.
darin kund, daß in der letzten Septemberwoche dieser Gegenstand auf
vier großen Kongressen einen wichtigen Punkt der Tagesordnung bildete.
Der Bund der Deutschen Frauenvereine, der Verband fort¬
schrittlicher Frauenvereine, der deutsch-evangelische Frauen¬
bund und die allgemeine Konferenz der Deutschen Sittlichkeits¬
vereine haben sich in eingehender Weise mit der Prostitutionsfrage,
vor allem aber mit der Frage der Reglementierung beschäftigt. Der
Deutsch-evangelische Frauenbund, welcher am 24.—25. September
in Bonn tagte, beriet über einen Antrag seiner Ortsgruppe Halle. Der
Vorstand hat an zuständiger Stelle eine Petition um Abschaffung der
Reglementierung eingereicht; der Antrag, der vom Bundesvorstand unter¬
stützt wurde, gelangte nach lebhafter Diskussion einstimmig zur An¬
nahme. Der Verband fortschrittlicher Frauenvereine widmete
den ganzen zweiten Tag der Prostitutionsfrage; schon am ersten Tage
waren jedoch einige wichtige hiermit in Verbindung stehende Fragen:
Der Schutz der unehelichen Mütter und Kinder sowie die
Mutterschaftskassen behandelt worden.
Da die Not der unehelichen Mütter eine der häufigsten Veran¬
lassungen für das Herabsinken in die Prostitution bildet und gerade die
mit^Schwangerschaft und Wochenbett einhergehende Arbeits- und Hilf¬
losigkeit der unehelichen Mütter besonders schädlich in dieser Richtung
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Tagesgeeehichte.
86
wirken, so geben wir den Wortlaut der von den beiden Referentinnen
— Dr. jur. Frieda Dünsing- München und Else Lüders — auf¬
gestellten Thesen, welche unseres Erachtens sehr zweckmäßige Forde¬
rungen aufstellen, nachfolgend wieder.
A. 1. Die gesetzlichen Bestimmungen des B.G.B. über die rechtliche
Stellung der unehelichen Kinder sind den folgenden Vorschlägen
gemäß abzuändern hezw. zu erweitern:
a) auch im Falle der Fehlgeburt stehen der unehelich Ge¬
schwängerten die Ansprüche aus § 1715 zu;
h) in den Fällen nachgewiesener hervorragender Befähigung des
unehelichen Kindes zu höheren Berufen kann die Alimen¬
tation auf eine längere als im § 1708, Abs. 1 festgesetzte
Dauer nach Maßgabe der Erfordernisse der nötigen Vor¬
bereitung beansprucht werden;
c) die Eltern und Großeltern des unehelichen Vaters haften für
die väterliche Alimentation dem unehelichen Kinde gegen¬
über;
d) die Einrede der mehreren Zuhälter ist einem nach § 1717
in Anspruch Genommenen zu versagen.
2. Die gesetzlichen Bestimmungen des B.G.p. über die Annahme an
Kindesstatt sind dem folgenden Vorschläge gemäß zu ändern:
Die Adoption des unehelichen Kindes durch seine Mutter ist
dadurch zu erleichtern, daß die gesetzliche Voraussetzung eines
bestimmten Lebensalters der unehelichen Mutter gegenüber
prinzipiell wegfällt
3. Das Leipziger System des kommunalen Schutzes der unehelichen
Kinder ist überall einzufuhren.
4. Die landesgesetzlichen Bestimmungen gegen das Konkubinat
müssen wegfallen; auf dem Wege charitativer Tätigkeit ist die
Legitimation anzustreben und zu fördern.
Die Thesen von Frl. Lüders lauten:
B. 1. Um die Gesundheit der Frauen vor schwerem Schaden zu be¬
wahren, wie er häufig durch mangelnde Ruhe und Pflege vor und nach
der Entbindung verursacht wird, sowie um der großen Säuglingssterb¬
lichkeit entgegen zu arbeiten, sind neben den übrigen sozialen Reformen
besondere Schutzmaßregeln für die Schwangeren und Wöchnerinnen er¬
forderlich.
2. In der Reichsgewerbeordnung ist der § 137, betreffend des
Wöchnerinnenschutzes, dahin zu erweitern, daß den Wöchnerinnen die
Arbeit mindestens 8 Woeben nach der Entbindung, und in solchen In¬
dustrien, die den Fötus gefährden, auch schon eine gewisse Zeit vor
der Entbindung untersagt wird. Dies Arbeitsverbot hat jedoch nicht
nur die Fabrikarbeiterin zu treffen, sondern auch die Heimarbeiterin,
die Dienstangestellte, die im Tage lohn stehende Landarbeiterin usw.
3. Damit diese Zeit der Arbeitslosigkeit auch wirklich der Ruhe
und der Pflege des Säuglings gewidmet werden kann, ist es nötig, eine
staatliche Mutterschaftsversicherung zu schaffen, die jeder Wöchnerin,
deren Einkommen bezw. Familieneinkommen unter einer gewissen Grenze
Zeiteehr. £ Bekimpftmg d. OMOhleohtsknmkh. n. 7
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8«
Tagesgeschichte.
ist (ca. 8000 Mk.), bei der Entbindung eine Summe zahlt, die der Höhe
des Lohnausfalls entspricht. Außerdem sind die Kommunen zu erhöhter
Wöchnerinnen- und Kinderfürsorge zu verpflichten, durch Errichtung
von Entbindungsanstalten, Krippen, Stellung von Hauspflegerinnen usw.
4. Als Träger dieses neuen staatlichen Versicherungszweiges sind
besondere Mutterschaftskassen zu schaffen; als Erleichterung der Organi¬
sation empfiehlt es sich, dieselben an die deutschen Landesversicherungs¬
anstalten anzugliedem. Die Kosten sind durch einen Staatszuschuß zu
jeder Entbindung zu decken, sowie durch Prämienzahlungen, zu denen
sämtliche Staatsbürger, sowie die männlichen, wie die weiblichen, in
einer gewissen Altersspanne (ca. 20—50 Jahre) heranzuziehen sind. Auf
so viele Schultern verteilt, sind die Prämien nach dem Einkommen ab¬
zustufen.
5. Den genossenschaftlichen und noch mehr den gewerkschaftlichen
Arbeiterorganisationen ist anzuempfehlen, als Pioniere in der Frage der
Mutterschaftsversicherung vorzugehen, indem sie besondere Mutterscbafts-
kassen gründen und dadurch ihr Unterstützungswesen mit Berücksich¬
tigung der speziell weiblichen Interessen ausbauen, wie es der 4. Ge¬
werkschaftskongreß in Stuttgart 1902 befürwortete.
Der folgende Tag, welcher der eigentlichen Prostitutionsfrage ge¬
widmet war und an welchem die Verhandlungen wegen eines Verbotes
des Hamburger Senats auf Altonaer Boden stattfinden mußten, brachte
drei Vorträge: von Frl. Lida Gustava Heymann-Hamburg, Dr.
Blaschko-Berlin, Frau Scheven-Dresden. Frl. Heymanns Rede war
ein flammender Appell gegen die durch den § 361, 6 geschaffene Un¬
gerechtigkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Insbesondere ver¬
breitete sich Rednerin über den sittlichen Schaden, welchen das Bordell¬
wesen mit sich bringe und mit Notwendigkeit den Mädchenhandel nach
sich ziehe. Dr. Blaschko erklärte, daß er in der Reglementierung,
zum mindesten in der sanitätspolizeilichen Überwachung der Prostitu¬
ierten keine gegen das übrige weibliche Geschlecht gerichtete Ausnahme¬
maßregel erblicken könne und daß gegenüber den durch die Prostitution
geschaffenen eigenartigen Verhältnissen auch eigenartige Abwehrma߬
nahmen erforderlich seien. Freilich sei die Polizei das ungeeignetste
Organ zur Assanierung der Prostitution. Die heutige Reglementierung
habe sich als unzureichend erwiesen; bessere Resultate erwartet Redner
außer von den Fortschritten der medizinischen Wissenschaft von einer
vorurteilslosen Aufklärung der Jugend, von dem weitesten Ausbau der
Einrichtungen freiwilliger Hilfeleistung und der Ausdehnung der obli¬
gatorischen Krankenversicherung auf die ganze unbemittelte Bevölkerung
einschließlich der Prostituierten, Ausbildung der Krankenkontrolle in den
Krankenkassen; schließlich soziale Maßnahmen, welche geeignet sind, das
moralische Niveau der gesamten Bevölkerung zu heben und dadurch
Angebot und Nachfrage von Prostituierten in gleicher Weise berab-
zumindem. Frau Scheven setzte sich mit den deutschen Sittlichkeits¬
vereinen auseinander, hob die gemeinsamen und die trennenden Gesichts¬
punkte zwischen der aboütionistischen Föderation und den Sittlichkeits¬
vereinen hervor, welch letzteren sie vorwarf, daß sie nicht genügend
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Tageageschichte.
87
Wert auf die sozialen und ökonomischen Ursachen der Prostitution
legten und deshalb der Frauenbewegung verständnislos gegenüberstehen,
daß sie ferner mit ihrer Forderung der Bestrafung der Prostitution eine
im Prinzip ungerechte und in der Praxis undurchführbare Forderung
vertreten. Am Abend sprach in öffentlicher Versammlung Herr Prof.
F1 es ch-Frankfurt a. M. über den Zusammenhang zwischen Wohnungs¬
elend und Prostitution etwa in dem gleichen Sinne, in dem sich die
Verhandlungen des Frankfurter Kongresses bewegt hatten. Im Anschluß
an seinen Vortrag wurde folgende Resolution gefaßt:
Im Hinblick auf die unzweifelhafte Tatsache, daß die mangelhaften
Wohnungsverhältnisse eine der wichtigsten und unmittelbarsten Ursachen
für die Entstehung und Ausbreitung der Prostitution sind, erklärt die
in Altona tagende Versammlung des Verbandes fortschrittlicher Frauen¬
vereine ihre Zustimmung zu der Forderung der Beteiligung der Frauen
an den auf gründliche Besserung der Wohnungsverhältnisse gerichteten
Bestrebungen. In diesem Sinne verlangen sie:
1. Unterstützung aller, auf die Herstellung gesunder und billiger
Wohnungen gerichteten Bestrebungen durch Staat und Gemeinden.
2. Ausgestaltung der Wohnungen durch Angliederung von Ein¬
richtungen hygienischen und geselligen Charakters.
3. Sorge für möglichst geringe Bevölkerung der Mietshäuser und
Mietswohnungen.
4. Verbot der Aftermietung an verschiedene Geschlechter.
5. Einschränkung des Kahlpfändungsrechts.
6. Einrichtung und Durchführung einer, mit genügender Exekutive
versehenen Wohnungsinspektion unter möglichst ausgedehnter
Beteiligung von Frauen.
7. Beschränkung der Bodenspekulation durch möglichste Be¬
teiligung der Gemeinden am Grundbesitz und Gewährung des¬
selben zum Bau von Arbeiterwohnungen zu mäßigem Preise
oder Erbpacht.
Ein wichtiges Urteil. Die Frankfurter Zeitung bringt in ihrem
3. Morgenblatt vom 30. Oktober eine kurze Mitteilung über ein Urteil
des dortigen Oberlandesgerichts, das wegen seiner Tragweite für die
juristische Auffassung der venerischen Infektion Beachtung verdient.
Wir behalten uns vor, nach Bekannt werden des Wortlautes darauf
zurückzukommen und beschränken uns heute auf die Wiedergabe der
Notiz des genannten Blattes. Sie lautet:
Nicht unverschuldet. Der § 63 des Handelsgesetzbuchs bestimmt,
daß wenn ein Handelsgehilfe durch unverschuldetes Unglück an der
Leistung der Dienste verhindert ist, er Anspruch auf Gehalt und Unter¬
halt für die Dauer von sechs Wochen hat. Ein derartiges unverschul¬
detes Unglück erblickte das hiesige Oberlandesgericht nach einer gestern
ausgesprochenen Entscheidung jedoch nicht in einer Geschlechtskrankheit,
die sich ein Handlungsgehilfe zugezogen hatte. Der Kläger wurde mit
seinem Anspruch auf Gehaltszahlung während der Dauer seiner Krank-
7*
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88
Tageegeschichte.
heit abgewiesen. Das Gericht stellt sich auf folgenden rechtlichen
Standpunkt: Es möge dahingestellt bleiben, ob die geschlechtliche Be¬
friedigung außerhalb der Ehe nach allgemein herrschenden sittlichen
Grundsätzen ein unmoralisches Verhalten darstelle. Ein Unglück könne
nur dann als unverschuldet gelten, wenn es durch Umstände herbei¬
geführt worden sei, deren Abwendung nicht im freien Willen und in
der Macht des Betroffenen gelegen habe. Dies könne man aber von
einer Geschlechtskrankheit nicht behaupten. Es erschiene auch unbillig
und mit der Absicht des Gesetzgebers nicht vereinbar, für deren Folgen
den Prinzipal haftbar zu machen.
Frankreich.
Nachfolgend geben wir den Wortlaut des Schreibens wieder, welches
der Ministerpräsident Oombes gleichzeitig mit dem Dekret, das die
Einsetzung einer außerparlamentarischen Kommission anordnet (s. Zeitsch.
Bd. 11, Heft 1) an den Präsidenten der Bepulik gerichtet hat:
Herr Präsident!
Durch gewisse Vorkommnisse, die um so bedauerlicher sind, als sie
sich nicht etwa nur vereinzelt, vielmehr gleichzeitig an verschiedenen
Orten ereignet haben, ist die öffentliche Meinung in hohem Maße erregt
und die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine wichtige Angelegenheit
gelenkt worden: nämlich auf das hier zu Lande geübte System der
polizeilichen Prostituiertenüberwachung. Bis heute hat man eine be¬
friedigende Lösung dieser komplizierten und schon so häufig diskutierten
Frage noch nicht gefunden; muß sie doch von den verschiedenen Stand¬
punkten des Hygienikers wie des Ethikers, des Soziologen, des Juristen
und des Verwaltungsbeamten aus betrachtet werden.
Niemals hat diese Angelegenheit die Geister aber so lebhaft be¬
schäftigt, niemals wurden die Debatten über sie mit dem gleichen Ernst
und derselben Leidenschaftlichkeit geführt wie jetzt — weder bei den
zahlreichen französischen und ausländischen Kongressen, noch in den
verschiedenen Vereinen und Gesellschaften für Verbesserung der morali¬
schen und sanitären Prophylaxe.
Ohne auf alle Kritiken eingehen zu wollen, welche das in Frank¬
reich bestehende System gefunden hat, möchte ich nur daran erinnern,
daß man nicht allein die gesetzliche Zulässigkeit, sondern auch den
Nutzen der polizeilichen Reglementierung bestritten hat. Viele gehen
noch weiter und behaupten, die Reglementierung bewirke das Gegenteil
von dem, was sie erreichen will, weil sie die Männer zur Sorglosigkeit
verleitet, die Dirnen aber von der freiwilligen Meldung abschreckt.
Auch Motive ganz anderer Art führten noch zur Verurteilung des
herrschenden Systems; da sind namentlich die Vertreter einer Richtung,
welche seit einigen Jahren immer mehr an Einfluß gewinnt; sie er¬
klären die Abhängigkeit der Frau für die Ursache der Prostitution, die
die Persönlichkeit im Menschen beleidigt, eine soziale Ungerechtigkeit
bedeutet und im Widerspruch steht mit dem Gesetz, der Moral und
sogar auch mit den Forderungen der öffentlichen Hygiene.
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Tagesgeschichte.
89
Diejenigen, welche auf diesem Standpunkte stehen — gleichviel,
welches die Gründe für ihr Urteil sind — fordern eine vollständige Re¬
form: jede Reglementierung sowie jede Überwachung der Dirnen soll
aufhören; sie verlangen eine unbedingte Emanzipation des Weibes,
welches z. Zt noch unter einem Ausnahmegesetz stehe; einem jeden
müsse volle Freiheit gewährt werden. Diese Auffassung ähnelt der An¬
sicht derjenigen, welche folgenden Standpunkt vertreten: es gibt keine
zwingenden Gründe, um die Prostitution in so außergewöhnlicher Weise
zu behandeln, weil sie die Ursache der venerischen Gefahr sei; denn
letztere hat noch an allen Ecken und Enden unendlich viele andere
Quellen; das Beste ist, endlich mit den alten Vorurteilen zu brechen,
welche so viele berechtigte Empfindungen verletzen, und das allgemeine
Recht auch in dieser Sache gelten zu lassen. Denn dieses wird auch
zur Abwehr gegen die ansteckenden Krankheiten völlig ausreichen, zu¬
mal seine Wirksamkeit noch durch die bestehende Haftpflicht für den
einem andern zugefügten Schaden erhöht wird.
Die kühnen Neuerer, welche über das herrschende System den
Stab brechen, werden von zahlreichen Gegnern bekämpft; diese leugnen
zwar nicht, daß die gegenwärtige Organisation mancherlei Mängel auf¬
weise, behaupten aber, daß die Reglementierung und das Institut der
Sittenpolizei unentbehrlich seien; ihre von jener Seite befürwortete Ab¬
schaffung würde einen nicht wieder gut zu machenden Fehler bedeuten
und geradezu einen allgemeinen Notstand herbeiführen. Die Ansicht,
daß die Reglementierung nicht nur nutzlos, sondern für die öffentliche
Gesundheit direkt schädlich sei, sei offenbar unsinnig. Der Einwand,
der gegen das in Frankreich herrschende System erhoben wird und darin
besteht, daß der polizeilichen Kontrolle doch immer nur ein Teil der
Prostituierten unterworfen werden kann, sei gar zu hinfällig. Muß
man, so fragen sie, eine Einrichtung, die nicht restlos alle von ihr er¬
warteten Aufgaben erfüllt, denn darum schon verurteilen? Dann wären
nur sehr wenige existenzberechtigt. Im übrigen sie die Zahl derer,
die unter sanitätspolizeilicher Kontrolle stehen, immerhin hoch genug,
um eine Herabsetzung der Ansteckungsgefahr zu bewirken. Eine Ver¬
gleichung der Zahl der Dirnen, welche unter Kontrolle sind, mit der
sehr viel größeren Menge derer, die sich ihr zu entziehen wissen, könne
nur zu dem einen Schluß führen, daß die Sittenpolizei eben strenger
organisiert und mit weitergehenden Kompetenzen ausgestattet werden
muß, damit sie die Öffentliche Gesundheit in der denkbar vollkommensten
Weise zu schützen vermag. Wer es dem herrschenden System zum
Vorwurf macht, daß es eine ganze Gruppe von Personen dadurch, daß
es nur gegen diese Zwangsmaßregeln in Anwendung bringt, außerhalb
des allgemeinen Rechts stellt, der vergißt, daß die Frau, die sich ge¬
werbsmäßig prostituiert, die aller wesentlichste Infektionsquelle darstellt.
Sicherlich ist sie nicht die einzige, aber doch die bei weitem gefähr¬
lichste. Infolgedessen müssen aus Gründen der Vernunft wie der Klug¬
heit die Prostituierten unter ein besonderes Gesetz gestellt werden, das
sowohl sie selbst schützt, wie auch die Gefahr, die anderen von ihrer
Seite droht, vermindert.
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90
Tageegeschichte.
Diese verschiedenartigen Betrachtungsweisen der Angelegenheit
lassen die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten auf diesem Gebiete
zur Genüge erkennen und beweisen andererseits, wie außerordentlich
kompliziert das in Bede stehende Problem ist.
Wir verstehen die Hochherzigkeit derer vollauf zu würdigen, welche die
Frau, auch wenn sie ein Leben in Schande verbringt, trotzdem von jedem
Zwange befreien wollen; aber wir behaupten, daß es hierzu noch lange
nicht an der Zeit ist. Es wäre ein gewagtes Experiment, von der
100jährigen Reglementierung plötzlich zu einem System vollkommener
Freiheit überzugeben; die Bevölkerung ist nicht darauf vorbereitet, und
die größte Verwirrung wäre die unausbleibliche Folge.
Unsere Ansicht findet auch eine Bestätigung in der Tatsache, daß
die große Mehrzahl der Nationen des europäischen Kontinents sich der
Lehre der Abolitionisten, die für ihre Sache doch mit so unerhörtem
Eifer agitieren, noch nicht angeschlossen haben.
Wir erkennen zwar an, daß die Prostitution nicht eine verbreche¬
rische Handlung darstellt und daß ihre Beurteilung dem individuellen
Rechtsbewußtsein unterworfen ist; aber wenn wir auch zugeben, daß
ein jeder Mensch über seine Person verfügen darf, so meinen wir doch
andererseits, daß für die Ausübung dieses Rechtes im öffentlichen In¬
teresse die Beobachtung verschiedener Vorschriften gesetzlich angeordnet
werden kann.
Eine solche Beschränkung ist weder überflüssig noch einzig in ihrer
Art; würde doch die absolute Freiheit auf Schritt und Tritt mit Recht
und Gesetz kollidieren.
Ohne Zweifel, die Reglementierung ist ein System von ganz be¬
sonderem Charakter; sie beobachtet die Personen, wo sie gehen und
stehen und greift in ihr Selbstbestimmungsrecht ein; sie unterwirft sie
einer sanitären Kontrolle, die durch die ganze Art ihrer Handhabung
und durch ihre Häufigkeit etwas Außergewöhnliches an sich hat. Dazu
kommen noch besondere Verpflichtungen, welche wenig Freiheit übrig
lassen. Aber nach unserer Auffassung ist es die Macht der Verhält¬
nisse, welche leider alle diese Maßregeln notwendig machen. Infolge
der Besonderheit der Lebensweise wie der abnormen Geistesverfassung
der Dirnen muß man sie unter den Schutz der öffentlichen Ordnung
wie der sozialen Hygiene stellen.
Wenn wir auch überzeugt sind, daß wir nicht auf die freilich
unvollkommenen Garantien, wie sie die Reglementierung verschafft, ver¬
zichten können, so geben wir doch ohne weiteres zu, daß dieses System
so, wie es verstanden und von der Mehrzahl der Beamten angewendet
wird, ernste Mißstände aufweist, und darum ist es in hohem Maße
reformbedürftig.
Die Prüfung der lokalen Verordnungen wird diese Mängel auf¬
decken und auch das Zuviel mancher Maßregeln erkennen lassen; sie
wird dazu führen, ein gerechteres Verhältnis herzu stellen zwischen der
Macht der Behörden und denjenigen Rechten, die man selbst den Per¬
sonen zugestehen muß, welche zur Hefe der menschlichen Gesellschaft
gehören.
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Tagesgeschichte.
91
Ist die Autorität der Polizei unentbehrlich zur Bekämpfung der
heimlichen Prostitution, welche sich jeder Kontrolle entzieht und so die
Vorschriften der Reglementierung verletzt, so ist es sehr wichtig, eine
ad hoc zu wählende Kommission zu beauftragen, die Funktionen der
Polizeiorgane festzulegen und die Bedingungen zu bestimmen, welche
die Beamten zu erfüllen haben, ehe sie zu einer so delikaten Tätigkeit,
wie die Ausübung der Sittenpolizei, zugelassen werden können.
Man kann diese Fragen nicht sorgfältig genug erwägen, denn sie
sind mehr als ernst; die Folgen, welche sich aus der Tätigkeit der
Sittenpolizei ergeben, sind ja außerordentlich tiefgreifende. Es läuft
schließlich — wenn die Angabe der Polizisten unter Beobachtung aller
Formalitäten wiederholt abgegeben und ihre Berichte unanfechtbar
sind — darauf hinaus, das beschuldigte Mädchen in das Register der
öffentlichen Dirnen einzuschreiben. Übrigens wird diese Einschreibung,
welches die Tatsache der gewerbsmäßigen Prostitution voraussetzt, ebenso
wie die Maßnahmen, zu welchen sie führt, noch eines aufmerksamen
Studiums und damit einer tiefgehenden Reform bedürfen. Es ist nicht
länger mehr möglich, daß eine solche Maßregel verhängt werden wird —
wie es heute noch an verschiedenen Orten geschieht — durch einet»
Verwaltungsbeamten, welcher über fast unbeschränkte Gewalt verfügt.
Man braucht gar nicht so weit zu gehen, daß man die Verur¬
teilung zur Inskription ausschließlich als die Sache eines richterlichen
Funktionärs erachtet, trotzdem erscheint es uns doch unerläßlich, nur
einem Munizipalbeamten selbst — entweder ihm allein oder unter Bei¬
sitz anderer Personen mit amtlichem Charakter — das Recht zuzuge¬
stehen, eine Entscheidung zu treffen, ihn aber zu zwingen, diese zu
motivieren. Er soll hören, was die betr. Person zu ihrer Verteidigung
anzuführen hat, und sie über die Hilfsmittel aufklären, welche ihr zur
Verfügung stehen.
Es wird nicht weniger unerläßlich sein, die Revision der Reglemen¬
tierung mit Strenge vorzunehmen, um die veralteten oder unnützer¬
weise belästigenden Verbote auszuraerzen. Ganz besonders handelt es
sich hierbei um behördliche Anordnungen, welche den Zweck haben,
die Disziplin bei den Registrierten aufrecht zu erhalten und ihre strenge
Überwachung zu gewährleisten.
Unter den Vorwürfen, welche gegen das französische System ge¬
richtet werden, gibt es wenig so gewichtige und wirklich begründete,
wie der, daß der Willkür der Polizeiorgane Tür und Tor geöffnet sind
und das Verfahren der Beamten in der Tat oftmals von bewußten oder
fahrlässigen Ungerechtigkeiten zeugt. Das Recht zu strafen, insbe¬
sondere eine Freiheitsstrafe aufzuerlegen, kommt in unserer modernen
Gesetzgebung nur dem ordentlichen Richter zu, und selbst registrierte
Frauen sollten in dieser Hinsicht nicht außerhalb des allgemeinen Rechtes
stehen und nicht des Schutzes entbehren müssen, welches allen Bürgern
ohne Unterschied des Geschlechts oder der Moralität gewährleistet
wird. Auf die Ungesetzmäßigkeit der auf administrativem Wege ver¬
hängten Strafen ist nicht nur von bedeutenden Juristen hingewiesen
worden, sondern schon 1833 von einem meiner Vorgänger; dem Grafen
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92 Tagesgeschichte.
d'Argout, der noch heute Recht und Anspruch auf besondere Wert¬
schätzung hat.
„Die Zivilbehörden,“ so fuhrt er aus, „können öffentliche Mädchen
weder auf administrativem Wege bestrafen noch sie in Haft setzen.
Ihre Tätigkeit beschränkt sich darauf, deren Verhalten zu überwachen, um
sie dem Gericht zu überantworten, falle sie sich irgend eines Ver¬
gehens oder einer Übertretung schuldig machen.“
Wir dürfen nicht länger säumen, an diesem Punkte mit einer
radikalen Reform einzusetzen: zwingende Gründe des Gesetzes, der Ge¬
rechtigkeit und der Humanität verlangen sie.
Die Regierung ist zu der Ansicht gekommen, daß mit dem Studium
so komplizierter und verschiedenartiger Fragen, wie sie das umfangreiche
Problem der Prostituiertenkontrolle enthält, nur eine außerparlamen¬
tarische Versammlung betraut werden könnte, in welcher die ersten Sach¬
verständigen sitzen.
Die Regierung sieht sich gezwungen, weitestes Entgegenkommen und
ihre absolute Objektivität zu beweisen, indem sie zu einer und derselben
Versammlung die Vertreter der entgegengesetztesten Anschauungen be¬
ruft, unter ihnen auch die entschiedensten Gegner der Reglementierung,
welche ihren Standpunkt rückhaltlos auseinandersetzen und auch be¬
gründen sollen. Es wäre sinnlos, wollte man ein bis ins Einzelne genau be¬
stimmtes Programm für die Arbeiten dieser Kommission aufstellen. Deshalb
wollen wir uns darauf beschränken, nur einige spezielle Winke unserer
allgemeinen Ausführung hinzuzufügen und auf das besondere Interesse
hinweisen, welches hierbei folgende Punkte haben: die Frage der Minder¬
jährigen, die Frage der Streichung aus den Listen, die Frage der
Öffentlichen Provokation und die Frage der strafrechtlichen Verfolgung
der Ansteckung, der Verbesserung der öffentlichen Krankenfürsorge und
der übrigen Prophylaxe.
Die Regierung ist überzeugt, daß die Arbeiten der Kommission
fruchtbare Resultate erzielen und den Weg zur Lösung des Problems
zeigen werden. Es gilt der Frau ein besseres Schicksal zu sichern, zu¬
gleich aber den Forderungen der Ordnung, der Sittlichkeit und der
öffentlichen Gesundheit gerecht zu werden.
Ich habe die Ehre, Ihrer Billigung den beigefügten Entwurf eines
Dekretes zu unterbreiten, in welchem die Mitglieder der außerparlamen¬
tarischen Kommission ernannt werden und Sie zugleich im Falle Ihres
Einverständnisses um Ihre Unterschrift zu bitten.
Genehmigen Sie usw.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903. Nr. 3.
Statistisches Uber Geschlechtskrankheiten in Mannheim. 1 )
Von
Dr. Heinrich Loeb.
„Die erste Aufgabe eines guten Strategen ist die Stärke seines
Feindes kennen zu lernen.“ Dieser Forderung Blaschkos stehen
in bezug auf die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten leider
noch unüberwindliche Hindernisse entgegen. Wenn es schon ein
schwieriges Unternehmen ist, zuverlässige Statistiken über andere
Krankheiten zu erlangen, so dürfte auf absehbare Zeit dieser
Wunsch gerade bei den sog. „geheimen“ Krankheiten ein pium
desiderium bleiben, so lange jedenfalls, bis die Würdigung der Be¬
deutung dieser Krankheiten alle Patienten zum Arzte führt und
sie dort die sachgemäße Beurteilung finden, welche die Grundlage
für eine eventuell von behördlicher Seite aufzustellende Statistik ab¬
geben kann. — In Preußen wurde versucht, die Zahl der Geschlechts¬
kranken durch Erhebungen über die an einem bestimmten Tage
in ärztlicher Behandlung stehenden Patienten festzustellen.
Aber anderwärts ist man immer noch auf die Ausweise größerer
Verbände wie Militär, Krankenkassen, Spitäler angewiesen. Auch
dieses Material ist nur sehr relativ zuverlässig, da viele Kassen¬
patienten den Kassenarzt umgehen, oder die Krankheit in einer
Form, die deren sexuellen Charakter nicht erkennen läßt, zur An¬
meldung gelangt. Wie wenig Aufschluß die Statistik der Kranken¬
häuser zu bieten vermag, geht z. B. aus der Tatsache hervor, daß
im städtischen Krankenhause in Mannheim 1902 bei einer Be¬
völkerung von 140000 Einwohnern unter 5434 Patienten nur 156
geschlechtskranke Männer verpflegt wurden. Unter diesen Um¬
ständen ist die private Statistik als schätzenswerte Ergänzung auf-
l ) Als Vortrag angemeldet zum 1. Kongreß der D. G. z. B. d. G. in
Frankfurt a. M.
Zeitechr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 8
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94
Loeb.
zufassen, um so mehr, wenn ihre Resultate mit den anderweitig ge¬
wonnenen Erfahrungen übereinstimmen oder die Abweichungen sich
ungezwungen aufklären lassen.
Von diesen Erwägungen ausgehend, habe ich mein Material
vom Jahre 1892—1901 zusammen gestellt Ich bin mir dabei wohl
bewußt, daß die von jeder Statistik untrennbaren Fehlerquellen bei
einer kleineren Zahl um so stärker sich bemerkbar machen.
Andererseits bieten die aus einheitlicher, eigener Beobachtung ge¬
wonnenen Zahlen größere Sicherheit für Korrektheit und Zuver¬
lässigkeit, da sie infolge des intimeren Verhältnisses, der längeren
Beobachtung die Korrektur zweifelhafter Diagnosen, die Unter¬
scheidung ob harter oder weicher Schanker, spezifische oder in¬
differente Ulceration, Rückfall oder neue Infektion u. s. w. vorliegt, in
höherem Grade ermöglichen.
Tabelle I.
Jahr
Gesamter-
kraukungen
<o
o
H
o
fl
o
Ö
°/o
Ulcus molle
Vo
Sklerose
01
Io
sek. Syph.
0/
Io
sek. Syph.
u. Sklerose
%
alte Syphilis
01
Io
1892
195
118
60,5
13
6,7
23
11,9
32
16,8
55
28,7
8
4,0
1893
286
189
66,0
8
2,8
39
13.6
35
12,2
74
25,8
15
5,2
1894
305
192
63,0
28
9.1
42
13,7
38
12,4
80
26,1
5
1,6
1895
240
163
67,9
24
10,0
29
12.0
16
6,7
45
18,7
8
3,3
1896
277
206
74,3
17
6,1
23
8,3
25
9,0
48
17,3
6
2,1
1897
227
148
* 65,2
19
8,4
29
I 12,7
21
9,2
50
21,9
10
4,4
1898
201
136
67,6
18
9,0
22
10,9
14
1 7,0
36
17,9
11
5,5
1899
244
161
66,0
22
9,0
23
9,4
29
11,8
52
20,8
9
3,7
1900
266
169
63,5
23
8,6
41
15,4
16
6,0
57
20,4
17
6,4
1901
| 227
130
57,2
18 !
! 7,9
39
17,2
24
10,5
63
I 27,7
16
7,0
2468
1612
65,72
I 190
7,65
310
12,56
250
10,13
560
22,69
105
4,2
1902)
| 214
132
61,6
18
8,3
3!
14.5
24
11,2
55
1 25,7
9
4,2
Tabelle I enthält die allgemeine Übersicht der geschlechts-
kranken Männer. (Dabei sind unter Gonorrhoe nur akute Fälle
mit positivem Gonokokkenbefund, nicht die postgonorrhoischen
Katarrhe, Strikturen u. 8. w. eingerechnet). Das Verhältnis der Go¬
norrhoe mit durchschnittlich 65,72 Prozent zum Ulcus molle mit
7,65 Prozent und Sklerose + sekundärer Syphilis mit 22,69 Prozent
entspricht den anderwärts beobachteten Proportionen. Zu beachten
ist aber, daß die Infektionen an Gonorrhoe, welche vorher nie
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Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mannheim.
95
weuiger als 63 Prozent ausmachten, 1901 auf 57,2 (1902 wieder
61,6 Prozent) sanken, während Syphilis II + Sklerose von durch¬
schnittlich 22,69 auf 27,7 Prozent stiegen. Diese relative Zunahme
der Syphilis bedeutet zweifellos eine Verschlechterung der hygieni¬
schen Verhältnisse. Die absolute Zahl der Gonorrhoe hat mit
großer Wahrscheinlichkeit nicht ab-, sondern zugenommen; in noch
stärkerem Maße muß sich also die Syphilis ausgebreitet haben.
Um festzustellen, ob es sich dabei um eine zufällige Ver¬
schiebung handelt, oder ob diese auch bei anderen Zusammen¬
stellungen zu beobachten ist, habe ich die Zahlen aus dem städtischen
Krankenhause zusammengetragen.
Es wurden daselbst Geschlechtskranke aufgenommen:
Jahr¬
gang
a) männlich
Gesamt¬
zahl
Davon 0 /
I Gonorrhoe • o
b) weiblich
Gesamt¬
zahl
Davon
Gonorrhoe
1892
174
1893
159 1
1894»)
— I
1895
101
1896
70 !
1897
101 !
1898
100
1899
201
1900
136
1901
156
1902
_ 151 ,
‘1
1349 !
96 55
78 ! 50
_ |
I
44 44
44 1 63
55 i 55
60 60
105 51
78 I 57
86 55
73 | 48
719 | 53,3
261
150
60
207
116
57
223 j
117
! 52
194 |
132
1 68
229 1
128
56
213
122
i 60
181 ,
116
55
269
212
78
208
160
79
201
126
i 63
227 |
129
1 56
2418 | 1508 | 62,7
Auch hier finden wir dieselbe Schwankung, indem auf der
männlichen Abteilunjg der Prozentsatz der Gonorrhoe von 60 Prozent
im Jahre 1898 auf 48 Prozent 1902 sank, auf der weiblichen von
78 Prozent auf 56 Prozent Dabei ist seit 1899 die Untersuchung
auf Gonokokken sowohl bei den eingeschriebenen wie anfgegriffenen
Dirnen obligatorisch eingeführt, was auch die Steigerung der an
Gonorrhoe eingewiesenen Patienten seit 1899 verursachte.
Forschen wir nach den Ursachen dieser Verschiebung, so
dürften diese in der völligen Umwälzung der Prostitutionsverhältnisse
l ) Da mir der Jahrgang 1894 nicht zugänglich war, habe ich, ebenso
wie im Jahrgang 1898, den weiblichen Zahlen die Aufzeichnungen der Ab¬
teilungsschwester zugrunde gelegt.
8 *
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96
Loeb.
zu finden sein, welche sich in den letzten Jahren in Mannheim
vollzog.
Früher gab es daselbst Bordelle und einzeln wohnende
Prostituierte. Seit etwa 1898 wurden aber die Bordelle infolge
Rechtsprechung des Reichsgerichtes zur allmählichen Einstellung
ihres Betriebes genötigt, so daß das letzte Ende 1902 von der Bild¬
fläche verschwand. Auch für die Einzelwohnenden (Prostituierten)
boten sich ähnliche Schwierigkeiten, indem es ihnen, infolge Ein¬
spruches der Anwohner, nahezu unmöglich gemacht wurde, Wohnung
zu finden. Dadurch kam es, daß die Zahl der Prostituierten von
etwa 60 im Jahre 1890 auf 13 im Jahre 1902 zurückging, in einer
Periode, in welcher sich die Bevölkerungszahl nahezu verdoppelte.
In demselben Grade hat natürlich die Geheim- und Straßen¬
prostitution zugenommen. Während früher die Prostitution in die
Bordelle und einige mehr oder minder abgelegene Quartiere ge¬
drängt war, macht sich jetzt, besonders in den Stunden des leb¬
hafteren Verkehres, auf den frequentesten Straßen ungeschminktes
Dirnentum breit, während in peripheren Straßen die unkontrollier¬
bare Winkelprostitution floriert. —
Tabelle II.
Jahr
, ermittelt)
L b : 1
0/
10 !
P.v.
1
%
G. |
%
1892
35 f
j: 7
20
10
30
18
50
1893
162 i
56
34
48
30
58
36
1894
131
61
46
37
28
33
25
1895
136
71
52
29
21
36
26
1896
161
87
54
28
17
46
29
1897
128
| 72
56
16
12
40
31
1898
125
60
48
31
25
34
27
1899
131
47
36
20
15
64
49
1900
129
37
29
17
13
75
58
1901
78
13
16
27
34
38
50
T 2i m
511
r * 2 1
263 |
21 i
442
87
Eine weitere Folge dieser Verschiebung zeigt Tabelle II, die
Zusammenstellung der Infectionsquellen. Es wurden nur
solche Angaben berücksichtigt, welche nach dem klinischen Be¬
funde und der ganzen Art der Mitteilung einen glaubwürdigen
Eindruck machten. W"ie zuverlässig diese aufgefaßt werden dürfen,
geht z.B.aus einer Beobachtung hervor, bei der vier den verschiedensten
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Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mannheim.
97
Gesellschaftsklassen angehörende Patienten mit Schanker, welche
in kurzer Aufeinanderfolge in Behandlung traten, dieselbe Quelle
ihrer Erkrankung angaben, welche auch richtig als eine sich der
Kontrolle entziehende Prostituierte ermittelt wurde, die mit
Schanker behaftet war.
Unter Rubrik B sind die Dirnen zusammengefaßt, welche in
Bordellen und solchen Wohnungen untergebracht waren, in denen
stationär eingeschriebene Prostituierte ansässig waren; unter Rubrik
„P. v“ die vagabondierenden Dirnen, d. h. diejenigen, von denen
nicht festgestellt werden konnte, ob sie kontrolliert waren, die aber
nach Art ihres Auftretens u. s. w. als Prostituierte imponierten (clan-
destine Prostitution); unter G sind die Gelegenheitsdirnen zusammen¬
gefaßt, Personen, die nachweislich einen Beruf ausübten und nur
gelegentlich oder in Form eines festen Verhältnisses den außer¬
ehelichen Verkehr ausübten.
Es geht aus der Tabelle hervor, daß bis zum Jahre 1898 incl.
ungefähr die Hälfte der Infektionen auf Bordelle zurückzuführen
sind. Daraus ergibt sich, daß einerseits diese Institute zur Aus¬
übung des außerehelichen Verkehres am meisten in Anspruch ge¬
nommen wurden, daß andererseits die derzeitige Kontrollierung
keinen genügend wirksamen Schutz gegen Infektion bietet Als
Ersatz für die allmählich eingehenden Bordelle tritt hauptsächlich
Gruppe G ein, d. h. die vorher von berufsmäßigen Dirnen ausgeübte
Prostitution wird in viel weitere Kreise der weiblichen Bevölkerung
getragen, unter gleichzeitiger Verschlechterung der sanitären Zu¬
stände, die wir aus Tabelle I ersehen haben. Es ist dies ein
statistischer Beleg dafür, wie die Unterbindung der regulären
Prostitution, welche gewissermaßen als Sicherheitsventil gegen die
Verführung und Verseuchung weiter weiblicher Klassen dient,
schädigend auf unsere moralischen und gesundheitlichen Zustände
einwirkt
Nach dem Berufe getrennt, wurden als Infektionsquellen
(Gruppe G) angegeben:
Kellnerin, Büffetdame . . .
Dienstmädchen, Köchin . . .
Ladnerin.
Bürgersmädchen, Haustochter
Näherin, Stickerin ....
Zimmermädchen.
155 mal
67 „
65 „
29 „
27 „
20 „
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Google
98
Loeb.
Fabrikarbeiterin.
Künstlerin, Sängerin, Balleteuse
eigene Ehefrau resp. Braut . .
Schneiderin, Modistin ....
Büglerin.
Buchhalterin.
Wittwe.
Landmädchen.
Maitresse.
Die oft gemachte Beobachtung, daß in hervorragendem Maße
die Kellnerinnen, besonders wenn sie stellenlos sind, die Prostitution
ausüben und wesentlich zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten
beitragen, wird also auch für Mannheimer Verhältnisse damit
bestätigt.
Unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse der Ärzte,
der Krankenkassen, des Publikums kann man aus Tabelle I die
Gesamtzahl der Infektionen in Mannheim abschätzen. Ich komme
dabei, unter vorsichtiger Würdigung obiger Umstände, auf 40000 In¬
fektionen für die 10jährige Periode 1892—1901 J ), also durch¬
schnittlich 4000 Infektionen pro Jahr, bei einer Durchschnitts¬
bevölkerung von 100000 Einwohner in diesem Zeitabschnitte.
Da die Infektionen in überwiegender Mehrzahl Männer im
Alter von 18—38 Jahren befallen, da diese Altersgruppe etwa
20 Prozent der Bevölkerung = 20000 ausmacht, so trifft, bei
4000 Infektionen, auf jeden 5. Mann dieses Alters pro Jahr
1 Infektion und von 15 Männern dieses Alters erkranken jährlich
2 an Gonorrhoe, 1 an Syphilis.
Unter Berücksichtigung der natürlichen Fluktuation der
Bevölkerung, die innerhalb 10 Jahren die Hälfte = 10000 beträgt,
und der wirtschaftlichen Fluktuation, deren Effekt etwa gerade
so hoch angenommen werden kann, umfaßt die Altersklasse von
18—38 Jahren 40000 Individuen. Da auf diese 40000 Infektionen
treffen, so erkrankt durchschnittlich jeder Mann in Mannheim bis
zu seinem 38. Lebensjahre ein mal an Geschlechtskrankheit
l ) Diese von mir in einer lokalen Versammlung mitgeteilte Aufstellung
war so aufgefaßt worden, als ob die jährliche Erkrankungszahl 40000 be¬
tragen sollte. Ich möchte dieses leicht zu entdeckende Mißverständnis hier¬
mit ausdrücklich richtig stellen.
17 mal
16 „
12 „
11 „
9 „
4 „
4 „
3 „
3 „
'442
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Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mannheim.
99
Nach meiner Ansicht dürfte diese Zahl den tatsächlichen Ver¬
hältnissen entsprechen. Aber selbst für den, der an der absoluten
Zuverlässigkeit dieser Aufstellung, die sich neben der statistischen
Basis auf subjektive Betrachtungen stützen muß, zweifeln wollte,
wird sie die überzeugende Gewißheit bringen, daß auch bei uns
die Geschlechtskrankheiten eine solche Verbreitung angenommen
haben, daß deren energischste Bekämpfung mit allen Mitteln durch
Staat, Kommune und Gesellschaft eine dringende Notwendigkeit
geworden ist
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
Von
Dr. Gustav Baerm&nn (Breslau).
Neisser hat im Jahre 1890 auf Grund einer damals zum
erstenmal systematisch durchgeführten Untersuchung die mikrosko¬
pische Gonokokkenuntersuchung der Sekrete der Prostituierten
gefordert und damit bahnbrechend in der ganzen Beurteilung der
sittenpolizeilichen Kontrolle mit Bezug auf die Gonorrhoe gewirkt.
Neisser hat diese Forderung bis heute festgehalten und auch all¬
seitig Zustimmung für die von ihm aufgestellten Forderungen ge¬
funden. Zuletzt noch hat Jadassohn auf dem ersten internationalen
Kongreß zu Brüssel 1899 im Einklang mit den Neisserschen
Vorschlägen die mikroskopische Untersuchung der Prostituierten
auf Gonokokken bei der Kontrolle als einen der wichtigsten
Faktoren für die Gonorrhoe-Prophylaxe charakterisiert
Er trat damit vor allem dem von Kromayer eingenommenen,
absolut negativen Standpunkt entgegen, der für seine gänzliche
Ablehnung der Untersuchung der Prostituierten auf Gonorrhoe
überhaupt folgende Gründe anführt:
1. sei es unmöglich alle Gonorrhoeen vollständig zu eliminieren.
2. wird durch die mikroskopische Untersuchung das Ver¬
hältnis zwischen dem Arzt und der Prostituierten vergiftet.
3. können die für die Untersuchung auf Gonokokken not¬
wendigen Mittel zur Syphilisprophylaxe aufgewendet werden.
4. werde das Publikum selbst durch den Untersuchungs¬
ausweis getäuscht.
Es erübrigt sich mir, hierauf näher einzugehen. Jadassohn
und Nei88er haben diese angeführten Gründe noch auf dem
Kongreß selbst als unstichhaltig dargetan.
Auf dem gleichen Kongresse waren noch Vorschläge einge¬
bracht worden, dahingehend, daß entweder nur auf klinische Krank¬
heitserscheinungen (Lochte, Behrend) hin die Sistierung go¬
norrhoeverdächtiger Prostituierter erfolgen solle, oder daß nur die
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
101
klinisch Verdächtigen einer mikroskopischen Untersuchung unter¬
zogen werden sollen (Diskussion der Berliner medizinischen Ge¬
sellschaft, Blaschko, Freudenberg etc.), oder schließlich, daß nur
die frisch aufgegriffeDen jungen Prostituierten und von den älteren
nur die mit profusem Ausfluß auf Gonokokken untersucht und
gegebenenfalls in Hospitalbehandlung gebracht werden. Diese Vor¬
schläge halte ich in ihrem praktischen Effekte als den Kromayer¬
sehen vollständig gleichwertig. Meiner Meinung nach ist es mit
Ausnahme einer geringen Anzahl von Fällen^ die durch ihre
foudroyanten Erscheinungen sich genügend charakterisieren, absolut
unmöglich, die Gonorrhoe der Prostituierten aus klinischen Er¬
scheinungen sicher zu diagnostizieren; denn alle für die Gonorrhoe
angegebenen Merkmale finden sich in vielen Fällen sowohl bei In¬
dividuen mit bereits vollständig abgeheilter Gonorrhoe als auch
bei gesunden weiblichen Personen, deren Genitaltraktus dauernden
Schädlichkeiten ausgesetzt ist, zu denen ich sowohl den häufigen
geschlechtlichen Verkehr als auch die wiederholten Irrigationen mit
hochprozentigen Desinfektionsflüssigkeiten und die mehr oder minder
häufige Sekretentnahme mit dem scharfen oder stumpfen Löffel
rechne. Ferner wird das Bild der klinischen Untersuchung von
den Prostituierten in hohem Maße dadurch entstellt, daß sie vor
der Untersuchung Urethra, Vagina und Cervix mit starken Des¬
infektionsmitteln ausspülen oder sich auswischen lassen, um für den
Moment die Erkrankungserscheinungen zu verwischen. Ich habe
selbst in einigen Fällen den Cervikalkanal mit kleinen Watte-
bäuschchen ausgestopft gefunden, nach deren Entfernung das
eitrige Sekret in großen Massen hervorquoll. Ferner leidet ein
großer Teil der Prostituierten an nichtinfektiöser, chronischer
Urethritis mit rein epithelialer Absonderung, desgleichen gibt
stets das Cervikalsekret fast aller Prostituierten das Bild einer
chronischen Endometritis corporis oder cervicalis.
Es wurde zwar von gynäkologischer Seite die absolute Sicher¬
heit und Zuverlässigkeit der mikroskopischen Untersuchung ange-
zweifelt und die Möglichkeit einer rein klinischen Diagnose verfochten
(Bröse). Sänger, der die gonorrhoischen Stigmata genau studiert
und zum Teil auch auf dem Standpunkt der rein klinischen Diagnose
steht, ist jedoch auch nicht von der Sicherheit der klinischen
Diagnose für die Infektiosität des Prozesses — und dieser Punkt
ist doch für uns der wichtigste — überzeugt.
Wir verfügen über eine Reihe von Untersuchungen, die die
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102
Baermaim.
Unsicherheit der klinischen Diagnose und damit die absolute
Notwendigkeit der mikroskopischen Untersuchung beweisen. Es
mag ja sein, daß in manchen Fällen namentlich bei chronischen
Cervikal- und Corpusaffektionen, die Gonokokken in so großen
Zwischenräumen und so spärlich auftreten, daß sie bei der mi¬
kroskopischen Untersuchung übersehen werden. Die Zahl dieser
Fälle ist aber verschwindend klein gegen all die Fälle, wo hei
Fehlen irgend welcher besonderen klinischen Erscheinungen Gono¬
kokken in dem Urethral- oder Cervikalsekret nachgewiesen werden.
Ferner ist die Zahl der nicht durch Gonokokken bedingten
Urethritiden so klein, daß sie für die Beurteilung des Wertes der
mikroskopischen Untersuchung wohl nicht in Betracht kommen.
Wassermann beschreibt einen durch Xerose-Bacill. bedingten in¬
fektiösen Urethralkatarrh. Menge berichtet über zwei Fälle nicht
durch Gonokokken verursachter Urethritiden, die jedoch auffallend
schnell zur Heilung gelangten. —
Bröse beschreibt vier Fälle von Gonorrhoe des Mannes, bei
denen die Infektion durch die Ehefrau sichergestellt war, obwohl
sich bei den mit chronischem Cervikalkatarrh und zum Teil Adnex¬
erkrankung behafteten Frauen Gonokokken trotz häufiger mikrosko- •
pischer Untersuchung nicht nachweisen ließen.
Der plötzliche, große Anstieg der bei der Prosti¬
tuiertenkontrolle konstatierten Gonorrhoefälle überall
da, wo an Stelle der klinischen Untersuchung die mi¬
kroskopische getreten ist, dürfte wohl der am wenigsten ab¬
zuweisende Beleg für die Notwendigkeit der mikroskopischen
Diagnose sein.
Wir besitzen von Neisser und Hammer zwei Statistiken, die den
Einfluß und die Notwendigkeit der mikroskopischen Untersuchung auf
die Sistierung bezw. Krankenhausaufnahme Gonorrhoekranker Prostitu¬
ierter demonstrieren.
Neisser (Allerheilig.• Hospital Breslau).
1. Vor der Einführung der mikroskopischen Untersuchung kamen
zur Aufnahme wegen Gonorrhoe:
Zahl der P. P. Aufn. wegen 2 Aufn. wegen Gonorrhoe
1886 1782 127 = 49,4°/ 0 24 = 9,3 °/ 0
1887 1806 105 = 36,9 0 / ? 29=10,1 °/ 0
2. Nach der Einführung der mikroskopischen Untersuchung kamen
zur Aufnahme:
Zahl der P. P. Aufn. wegen 2 Aufn. wegen Gonorrhoe
1888 1809 117 = 42 °/ 0 194 = 64 °/ 0
1889 1875 149 = 29,7 % 306 = 47,3°/ 0
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
103
3. Verpflegungstage vor der Einführung 1887/88 = 11 000
1888/89 = 13 077
1889/90 = 14 892
Es ist bei letzterer Angabe noch zu betonen, daß die Syphilis in
den entsprechenden Jahren nach obiger Tabelle noch gefallen war.
Hammer (Stuttgart, inskribierte P. P.).
1. Vor der Einführung der mikroskopischen Untersuchung kamen
zur Aufnahme wegen Gonorrhoe:
1894 L Halbjahr = 8 P. P. = 4,9 °/ 0 .
2. Nach der Einführung:
1894 n. Halbjahr = 61 P. P. = 36%. 1895 = 235 P. P. = 61 %
Hammer, Polizeiliche Sistierung wegen Gonorrhoe bei der Kontrolle.
1. Vor der Einführung der mikroskopischen Untersuchung:
1892 = 1 (2)*) 1893 = 2 (9)
2. Nach der Einführung:
1894 II. Halbjahr = 9 (203) 1895 = 27 (402)
Hammer gibt ferner an, daß er nach Einführung der mikrosko¬
pischen Untersuchung bei der Kontrolle in einem halben Jahre mehr
Behandlungstage im Hospital brauchte als sein Vorgänger (klinische
Untersuchung) in 4 1 / 2 Jahren; er fügt noch hinzu, daß nach der Ein¬
führung des mikroskopischen Gonokokkennachweises die Erkrankungs¬
ziffer der inhaftierten Prostituierten von 13 °/ 0 auf 24°/ 0 stieg.
Die Unzulänglichkeit der klinischen Untersuchung demonstrieren
außerdem noch folgende Angaben:
Lochte fand bei 16,2 °/ 0 der klinisch Unverdächtigen G.C. (Unter
60 klinisch Unverdächtigen fanden sich 21 P.P. mit G.C.)
Laser fand bei 17,2 °/ 0 der klinisch Unverdächtigen G. C.
Pryor „ „17 von 62 klinisch Unverdächtigen im Cervikal-
sekrete G. C.
Kuttner fand bei 6 von 22 klinisch Unverdächtigen G.C.
Gauer „ „ 6 ,, 16 „ „ „
Kopytowski,, „ 5 „ 71
Ferner gibt Kopytowski an, daß bei 8°/ 0 aller bei der polizei¬
lichen Kontrolle gesund erklärten P. P. G. C. vorhanden seien, ebenso
bei 10 °/ 0 aller aus dem Hospital geheilt Entlassenen (klin. Unters.).
Gold Schmidt fand von 55 P. P., die vor der Einführung der
mikroskopischen Untersuchung gesund erklärt worden waren, bei 22,6 °/ 0
G.C. (17). Die Gonokokken wurden bei der Hälfte konstant, bei der
andern Hälfte intermittierend nachgewiesen.
Carry fand in 327 Präparaten, die von 278 Mädchen mit eitrigem
Ausfluß stammten, 94 mal G. C.
Andererseits werden natürlich so und so oft Prostituierte
ins Hospital geschickt, die zwar klinisch chronische Urethritis
und Endometritis aufweisen, aber trotzdem gonokokkenfrei
*) Behandlungstage im Hospital.
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104
Baermann.
sind; es geschieht dies vornehmlich bei den so häufigen chronischen
nicht mehr infektiösen Cervikalkatarrhen.
Neisser fand unter 527 P. P. 29 mit stark eitriger Urethritis
und 56 mit eitrigem Cervikalkatarrh, ohne irgendwie Gonokokken nach-
weisen zu können.
Ich selbst habe nur bei einem Drittel der klinisch Suspekten G. C.
gefunden.
Carry kam zu demselben Resultat.
Schulz findet bei 54 von 59 klinisch Suspekten G. C.
T 31 °L der Urethral-1^ , ,, • n n
Lanz „ „ 20,7 0 f o der Cer^.jGoDorrhoeverdächtigenG.C.
ßergh „ „ oj® Jjj Cer^kll-} GoQOrrhoe ’ 7er<iächti g enG - C -
Wedensky,, „ ^ ^ ^i^JöonorrhoeverdachtigenG.C.
Lochte findet bei 10 P. P., die dem Hospital als gonorrhoever¬
dächtig übermittelt wurden, 6 mal G. C.
Welander fand von 78 Frauen (vorwiegend P. P.) mit eitrigem
Ausfluß bei 46 G. C. 41 Fälle hiervon treffen auf die Urethra.
Br Öse fand unter 11 chronischen Urethritiden 5 mal G. C.
„ „ „ 60 „ Urethritiden mit Endometritiden
5 mal in der Urethra, 4 mal in der Cervix allein, 25 mal in Urethra
und Cervix gleichzeitig G. C. —
Unter 99 Fällen mit chronischer Urethritis, Endometritis cervic.
und Adnexerkrankungen 8 mal in der Urethra, 7 mal in der Cervix,
10 mal in Urethra und Cervix gleichzeitig G. C. —
Unter 20 Fällen mit chronischer Cervikal- und Adnexerkrankung
1 mal G. C. —
Unter 9 Fällen mit chronischer Urethritis und Adnexerkrankung
in keinem Falle G. C.
Unter 25 Fällen mit chronischer Cervikalerkrankung 3 mal G. C.
Dabei ist zu bemerken, daß in allen Fällen deutliche klinische Er¬
scheinungen vorhanden waren.
Baer. Von 310 wegen Gonorrhoe ins Krankenhaus eingewiesenen
Frauen erwiesen sich 201 als klinisch suspekt. Die mikroskopische
Untersuchung ergab bei 166 Gonokokken in der Urethra, 35 waren
negativ. Von 190, deren Cervikalkanal auf G. C. untersucht wurde,
fanden sich bei 140 G. C.
Von sonstigen Kranken, die wegen anderer Affektionen im Hospital
lagen, wurden bei 100 G. C. gefunden und zwar 63 mal in der Urethra,
60 mal im Cervix.
Klein findet bei 90 klinisch Verdächtigen 22 mal G. C.
Gauer findet bei 140 P. P. mit Fluor 48 mal G. C.', bei 39 mit
Urethritis 19 mal G. C.
Es läßt sich, wie bereits angeführt, ohne die Anwendung
der mikroskopischen Untersuchung weder für die In-
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
105
fektiosität noch auch für die Harmlosigkeit eines Urethral¬
oder Cervikalausflusses, welcher Natur derselbe auch sei, ein
sicheres Urteil abgeben. Das beweisen die vorstehenden Angaben
aufs deutlichste.
Wenn wir dieses Ergebnis auf die Handhabung der polizei¬
lichen Untersuchung Prostituierter auf Gonorrhoe anwenden,
so muß die einfache Überlegung uns zu dem Urteil führen, daß
eine rein klinische Untersuchung nutzlos ist und deshalb besser
unterlassen wird, daß aber dagegen die strikte Durchführung einer
mikroskopischen Untersuchung im stände sein wird, einen großen
Prozentsatz klinisch nicht erkannter Gonorrhoeen fortdauernd zu
eliminieren und damit die allgemeine Gonorrhoeerkrankungsziffer
allmählich herabzudrücken.
Um wirklich positive Resultate zu erzielen, können wir uns
nur einem absoluten Ja oder Nein gegenüberstellen. Alles
andere wird einen dem Kosten- und Zeitaufwand nicht
entsprechenden Erfolg haben.
Wenn es gelingt — wie bei meiner im folgenden näher be¬
schriebenen Untersuchung — bei einem reglementierten, in einem
Zeitraum von je vier Wochen der mikroskopischen Untersuchung
unterworfenen Prostituiertenmaterial eine Gonorrhoeerkrankungs¬
ziffer von 30 Prozent zu konstatieren, so kann man sich doch der
einfachen logischen Folgerung nicht verschließen, daß einerseits die
jetzt geübte Untersuchung eine ungenügende ist und andererseits
ein hoher Erkrankungsprozentsatz durch eine sorgfältige Unter¬
suchung leicht eliminiert werden kann. Die Schuld an der jetzigen
fortlaufend bestehenden hohen Erkrankungsziffer liegt nicht an den
untersuchenden Ärzten, sondern an der zu geringen staatlichen
Subvention der Untersuchungslaboratorien und an der Überlastung
der Untersuchungsärzte.
Wenn wir aber diese konstante Erkrankungsziffer eliminieren,
so muß und wird die allgemeine Gonorrhoeerkrankungs¬
ziffer allmählich nach einer Reihe von Jahren sinken;
denn nach allgemeiner Meinung ist die Prostitution als der primäre
Infektionsherd anzusehen und es ist demzufolge zu erwarten, daß
mit der Herabminderung der Gefahr desselben ein allgemeiner
Ausgleich stattfinden wird, der für sich selbst wieder reziprok in
günstigem Sinne auf die Erkrankungsziffer der Prostituierten wirkt.
Bei dem ständig fluktuierenden Prostituiertenmaterial ist es
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106
Baermann.
natürlich unumgänglich nötig, daß diese sorgfältige Kontrolle in
allen Teilen des Reiches einheitlich durchgeführt wird.
Daß wir nicht alle Gonorrhoeen eliminieren können und
damit eine gewisse Zahl von Infektionen bestehen bleiben wird,
ist klar. Aber diese Erkenntnis kann uns nicht davon abhalten,
wenigstens eine erhebliche Verbesserung zu versuchen. Welch
großen sozial-hygienischen Einfluß eine derartige Assanierung mit
sich bringen würde, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Zur Erreichung dieser Assanierung muß die Prostituierte
jedesmal wenn sie zur Kontrolle kommt, an allen den Orten ihres
Genitaltraktus mikroskopisch untersucht werden, die nachgewiesener¬
maßen von den Gonokokken dauernd invadiert werden können.
Das Ideal wäre natürlich eine tägliche Untersuchung, dieselbe ist
aber vorläufig praktisch undurchführbar. Wir werden uns damit
begnügen müssen, eine zweimal wöchentlich stattfindende Unter¬
suchung zu fordern.
Auf Grund meiner Untersuchung werde ich mir erlauben, die not¬
wendige Zeit für eine zweimal wöchentlich stattfindende exakte Unter¬
suchung einer bestimmten Anzahl von Prostituierten aufzustellen.
Ich habe in einem Zeitraum von vierzehn Tagen 393 Pro¬
stituierte auf Gonokokken untersucht,
Die Untersuchungsanordnung war folgende: Aus Urethra
und Cervix wurde mit einem stumpfen Metalllöffel Sekret entnommen
und hiervon je zwei Ausstrichpräparate angefertigt. Von den
Präparaten wurden je zwei mit Methylenblau, je zwei nach Gram
gefärbt. Ich möchte hierbei erwähnen, daß die Färbung nach
Gram eine besondere Sicherheit nicht bietet, da bei den meisten
chronischen Entzündungszuständen sich eine große Menge Gram-
negativer Bakterien findet. Ich ziehe die Methylenblaufärbung des¬
halb vor, weil bei ihr die Gonokokken durch ihre intensive Farben¬
aufnahme sehr gut charakterisiert werden.
Es gelangten täglich ungefähr 35 Prostituierte zur
Untersuchung, was eine Zeit von ungefähr 1 1 / % Stunden in An¬
spruch nahm; die 140 Präparate wurden noch an demselben
Tage durchgesehen. Zur mikroskopischen Untersuchung hatte ich
stets eine Zeit von fünf Stunden nötig. 1 )
0 Anmerkung. Zur größeren Sicherheit ließ ich meine Untersuchungs¬
resultate durch Herren Dr. Veiel, Halberstädter, Cederkreuz, denen
ich an dieser Stelle für ihre freundliche Beihilfe meinen besten Dank aus¬
sprechen möchte, nachprüfen.
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
107
Um mir von dem Wert der Kulturmethode bei der Kontrolle
ein Bild zu verschaffen, habe ich gleichzeitig Röhrchen mit Cervikal-
und Urethralsekret geimpft. Man hatte bisher überall von einer
regelmäßig durchgeführten bakteriologischen Untersuchung abge¬
sehen, da einerseits die Beschaffung eines keimtüchtigen Nährbodens
' mit ziemlichen Schwierigkeiten verbunden und andererseits die
praktischen Resultate derselben die einfache mikroskopische Unter¬
suchung in ihrem Gesamteffekte nicht übertrafen. Ich möchte
hier betonen, daß ich im Gegensatz zu Jadassohn und Scholtz
den mikroskopischen Nachweis in derartigen Fällen für feiner halte.
Ich wurde zu meiner bakteriologischen Untersuchung noch durch
folgenden Umstand veranlaßt:
Ströhmberg in Dorpat hatte im Gegensatz zu den bisher
gemachten Erfahrungen auf Grund einer umfassenden, bakterio¬
logischen Untersuchung behauptet, daß 98 Prozent* also fast alle
Prostituierten Gonokokken in ihrem Genitaltraktus beherbergen.
Er war zu diesem Ergebnis durch das Züchtungsverfahren auf
einem von Thalmann neu angegebenen einfachen Nährboden ge¬
langt. Es erübrigt sich hier, über diese Befunde mich weiter
zu verbreiten; ich habe die Unzuverlässigkeit dieses Nähr¬
bodens in einer genauen Untersuchung nachgewiesen (Baer-
mann). Es lassen sich deshalb die Ergebnisse von Ströhmberg
nur dadurch erklären, daß in dem Genitaltraktus der in Dorpat zur
Untersuchung kommenden Prostituierten ein nach Form und Wachs¬
tum dem Gonokokkus ähnlicher Diplokokkus vegetiert. Ich habe
bei 100 Prostituierten den von Ströhmberg benützten Nährboden
angewendet* doch lieferte er mir fast durchweg negative Resultate.
Wenn die Ströhmbergschen Angaben wirklich den Tatsachen
entsprochen hätten, so wäre natürlich die Untersuchung der
Prostituierten auf Gonokokken vollständig irrelevant geworden und
damit der Kromayersche Standpunkt gerechtfertigt, da man jede
Prostituierte eo ipso als gonorrhoisch infiziert hätte ansehen müssen.
Es wäre damit auch die Behandlung aller dieser gonorrhoisch in¬
fizierten Puellae in Wegfall gekommen, da nach Ströhmberg fast
alle stationär ausgeheilten Individuen binnen kurzem wieder
positive Züchtungsresultate ergaben. Glücklicherweise be¬
ruhen seine Angaben nicht auf tatsächlichen Verhält¬
nissen; dieselben wären natürlich für die Stellungnahme zur
Kontrolle und zur Behandlung der gonorrhoischen Puellae über¬
haupt von eminenter Bedeutung gewesen.
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108
Baermann.
Meine Kulturen, zu ^denen ich Ascitesagar verwandte,
wurden nach 24 Stunden besichtigt, auf Gonokokken verdächtige
Röhrchen markiert. Nach 48 Stunden nahm ich eine mikroskopische
Prüfung der Kulturen vor. Es gelang mir nur in fünf Fällen eine
mikroskopisch nicht eruierte Gonorrhoe kulturell nachzuweisen.
Es handelte sich stets hierbei um Cervikalgonorrhoeen, in drei
Fällen war gleichzeitig eine Urethralgonorrhoe vorhanden. Dagegen
gelang es mir in einer Reihe von Fällen mikroskopisch Gono¬
kokken nachzuweisen, in denen mich die Kultur im Stiche ließ.
Jedenfalls spielt hierbei die gleichzeitige Mitübertragung von noch
wirksamer Desinfektionsflüssigkeit eine Rolle, gleichzeitig fällt
natürlich auch die große Anzahl der mitüberimpften Mikro¬
organismen bei der exakten Ausscheidung der Gonokokkenjsehr
ins Gewicht Es wird also nur in den seltenen Fällen auf w die
Kultur zu rekurrieren sein, in denen trotz zahlreicher negativer
Sekretbefunde Infektionen von seiten einer P. P. nachgewiesen sind.
Auf einen eigentümlichen Befund möchte ich hier aufmerksam
machen. Ich habe in ungefähr 12 Fällen einen dem Gonokokkus
in Form und Färbevermögen frappant ähnlichen Diplokokkus ge¬
funden, der sich nur durch die Kultur von ihm unterscheiden
ließ. Ich hatte denselben schon einmal aus einer Rektalaffektion
bei einem Manne gezüchtet, die irrtümlicherweise auf das mikro¬
skopische Präparat hin als Gonorrhoe diagnostiziert worden war.
Der genannte Diplokokkus dominiert schon nach 24 Stunden
über alle anderen gleichzeitig mit ihm übertragenen und auf dem
Nährboden gleichzeitig aufgegangenen Bakterien. Nach 48 Stunden
bildet er einen fast die ganze Nährbodenoberfläche einnehmenden
gelbrötlichen gleichmäßigen, über das Niveau wenig eie vierten
Rasen. Genannter Diplokokkus fand sich nur im Cervikalsekrete. —
Es handelt sich nun darum, festzustellen, welche Lokalisations¬
punkte der Gonokokken bei der Kontrolle für die Untersuchung
zu berücksichtigen sind. Als Ansiedlungspunkte der Gonokokken
sind bisher beschrieben worden: Urethra, die Schleimdrüsen an
der äußeren Urethralöffnung, Vulva-Vagina, Bartholinische Drüse,
Cervix, Endometrium corporis, Tuben, Rektum.
Alle diese angegebenen Orte können nachgewiesenermaßen
erkranken, doch besteht zwischen den Erkrankungsziffern derselben
eine derartig hohe prozentuarische Differenz, daß verschiedene
wegen der außerordentlichen Seltenheit ihrer Erkrankung bei der
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
109
Kontrolluntersuchung ohne besonderes Risiko vernachlässigt
werden können.
Obwohl es mir selbst aus sachlichen Gründen unmöglich war,
alle diese Lokalisationspunkte in den Kreis meiner Untersuchungen
zu ziehen, so möchte ich doch nicht versäumen, über die von mir
selbst nicht berücksichtigten Erkrankungsherde einen kurzen Bericht
zu geben und die von mir in der Literatur gefundenen statistischen
Angaben zu verwerten, da ich dies für die Beurteilung der ge¬
machten Schlußfolgerung von Belang hielt
Über die Infektion der Schleimdrüsen an der äußeren Ure-
thralöffirang habe ich nur Angaben von Bergh, Bumm und
Orlow gefunden. Bergh fand unter 699 an Urethritis leidenden
P. P. 112 mal die Steen sehen Drüsen gonorrhoisch infiziert.
Klinisch geben sie das Bild der gonorrhoischen Follikulitis. Orlow
hat unter zehn mit Urethralgonorrhoe behafteten Prostituierten
zweimal die genannten Drüsen gonorrhoisch infiziert gefunden.
Die Auffassung der gonorrhoischen Vaginitis hat im Laufe
der Zeit verschiedene erhebliche Wandlungen durchgemacht.
Während man vor der Entdeckung des Gonokokkus und auch noch
einige Zeit nach derselben die Vagina als einen sehr häufig er¬
griffenen Erkrankungsherd ansah, stellten mit Anderen vor allem
Neisser und Bumm fest, daß eine Infektion oder besser eine
Invasion von Gonokokken in die Vaginalschleimhaut geschlechts¬
reifer Frauen nicht stattfindet. Es wurde jedoch kurze Zeit
darauf in ganz einwandsfreier Weise der Gonokokkus in Schnitten
von exzidierten Vaginalschleimhautstückchen mikroskopisch nach¬
gewiesen (Mandl, Doederlein, Welander). Die Untersuchungen
von Mandl und Welander haben ergeben, daß der Gonokokkus
imstande ist. das Plattenepithel der Vagina bis auf die binde¬
gewebige Unterlage zu durchdringen und selbst noch in die obersten
Schichten derselben einzudringen.
Bei der großen Seltenheit dieser Affektion war es selbstver¬
ständlich, daß man nach irgend welchen besonders prädisponierenden
Momenten suchte, welche diese Invasion ermöglichten. Touton
suchte wohl in Analogie mit der gonorrhoischen Vulvo-Vaginitis,
der Conjunctivitis und Stomatitis der kleinen Kinder, (Dohm,
Rosinski) diese prädisponierenden Momente in einer besonders
hochgradigen Weichheit und Saftigkeit des Vagiualepithels und
einer dadurch bedingten besonderen Größe der interstitiellen Spalt¬
räume. Dieser Ansicht schließt sich im großen und ganzen auch
Ztftiohr. 1 Bekimpftmg d. GtMhleehtsknnkh. 1L 9
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110
Baermann.
Fritsch an. Andere glaubten vorangegaügene traumatische Insulte,
die eventuell durch die macerierende Eigenschaft eines reichlichen
Fluors sekundär unterstützt, verantwortlich machen zu müssen.
Jedenfalls beziehen sich die Angaben stets auf ziemlich junge
(Welander) oder bereits in sehr fortgeschrittenem Alter befindliche
Frauen, bei welch letzteren ebenso wie bei Mädchen die schützende
Hornschicht fehlt Es wäre ja auch denkbar, daß bei den erst¬
genannten jungen Personen eine Verhornung überhaupt nicht ein¬
getreten ist.
Diese prädisponierenden Momente kommen bei den Prostituierten
nicht oder nur in sehr geringem Maße in Betracht und es ist
deshalb die gonorrhoische Vaginitis bei Prostituierten,
deren Vaginalschleimhaut durch die häufigen Kohabitationen und
Irrigationen äußerst widerstandsfähig gemacht wird, eine Er¬
krankung, die bei der Kontrolle unberücksichtigt blei¬
ben kann.
Neisser hat im Verlauf von mehreren Jahren nur drei Fälle
von gonorrhoischer Vaginitis beobachtet, desgleichen Wiener.
Bumm sah innerhalb 10 Jahren drei Fälle, die übrigen statistischen
Angaben, die sich zum größten Teil auf Prostituierte beziehen,
habe ich in folgender Tabelle I zusammengestellt:
Tabelle I.
Name des Autors
| Zahl der gonor¬
rhoischen P. P.
Zahl der
Vagin.-Fälle
Bergh . . .
63S
26
Carry . . .
94
2
Fabry . . .
42
4
Harttung . .
143
1
Lochte . .
42
3
Orlow . . .
20
3
Schultz . .
104
i 9
Steinschneider
57
I 1
Welander
1,_™
10
Summe . .
1214
59
Prozent ber. auf
gonorrhoischeP.P.
4>9°/o
-
Prozent ber. auf
P. P. überhaupt .
1,8*/.
it
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
111
Die gonorrhoische Bartholinitis beansprucht ein weit höheres
Interesse bei der Kontrolluntersuchung. Ein großer Teil aller
Prostituierten leidet in den ersten Jahren ihres Berufes längere
oder kürzere Zeit an dieser Affektion. Es läßt sich dies schon
dadurch nachweisen, daß zahlreiche ältere Prostituierte gewöhn¬
lich zwischen den großen und kleinen Schamlippen oder auch
zwischen großer Schamlippe und Schenkelansatz, etwas nach hinten
gegen das .Rektum, manchmal auch im Scheideneingang die narbigen
Reste eines spontan durchgebrochenen oder operierten Bartholini-
schen Abszesses zeigen, während man sehr häufig bei jüngeren
Prostituierten die Bartholinische Drüse bezw. deren Ausführungs¬
gang als einen harten, haselnußgroßen auf Druck schmerzhaften
Tumor tasten kann. Im akuten Stadium bietet die Bartholinitis
ein so charakteristisches Bild dar, daß ich eine nähere Beschreibung
wohl unterlassen kann.
Bei der chronischen Form der Bartholinitis ist die Drüse,
wie bereits angeführt, in vielen Fällen in einen kleinen Tumor
verwandelt Der Ausführungsgang ist häufig als ein derber kurzer
Strang im Scheideneingang zu fühlen. An der Ausführungsöffnung
ist die Schleimhaut lippenförmig elektropioniert von braunrötlicher,
manchmal auch livider glänzender Farbe. Oft bietet jedoch die
chronisch erkrankte Drüse keine besonderen Symptome dar, auch
die Beschaffenheit und Menge des auspreßbaren Sekretes ist für
die Diagnose nicht entscheidend.
Arning beschreibt acht Fälle, von denen nur in einem
einzigen die klinische Diagnose möglich war.
Die Gonokokken lassen sich gewöhnlich in dem Sekrete leicht
nachweisen. Dieselben werden nach Hügel in 33 Prozent aller
Fälle gefunden.
Welander beschreibt 21 Fälle purulenter Bartholinitiden, bei
denen jedesmal Gonokokken nachgewiesen wurden. Hügel hat
auch an einem Material von 350 Bartholinitiden nachgewiesen, daß
jede Bartholinitis gonorrhoischen Ursprungs ist. Ich habe in der
Literatur nur eine ganz geringe Anzahl von Fällen finden können,
bei denen der Ursprung sicher nicht gonorrhoischer Natur war
(Bergh, Pollacek).
• Das Verhältnis der gonorrhoischen Bartholinitiden zu den
übrigen gonorrhoischen Affektionen wird mit ziemlich divergieren¬
den Zahlen angegeben. — Die Abszeßbildung kann sowohl im
akuten als auch im chronischen Stadium nach einer zufälligen,
9 *
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112
Baermann.
plastischen Verklebung des Ausführungsganges eintreten. Sie wurde
von Bergh unter 1251 Fällen 329 mal beobachtet, also in
26,3 Prozent.
Das Bestehen einer chronischen Bartholinitis ist, falls
sie nicht nachgewiesen wird, für das erkrankte Individuum insofern
von großer praktischer Bedeutung, als sie einen ständigen Aus¬
gangspunkt immer neuer Reinfektionen für Urethra und Cervix
bildet, der bei Nichtbeachtung jahrelang bestehen kann und alle
übrigen, selbst momentan erfolgreichen therapeutischen Eingriffe
illusorisch macht.
Da es bei der Behandlung der gonorrhoischen Prostituierten
vor allem darauf ankommt, ihre Infektionsfähigkeit herabzusetzen,
so halte ich es sowohl im Interesse der Prostituierten selbst als
auch im Interesse ihrer Klienten für das richtigste, bei jeder
gonorrhoischen Bartholinitis die totale Exstirpation vor¬
zunehmen. Ich halte sie bei der Einfachheit und bei der kurzen
Heilungsdauer dieses Eingriffes für die sicherste und rascheste
Therapie (Wolff).
Aus den angeführten Gründen verlangt natürlich die Bartho-
linische Drüse eine genaue Berücksichtigung bei der Kon¬
trolle und muß deshalb meiner Ansicht nach das Drüsensekret
eben so oft wie das Urethral- und Cervikalsekret mikroskopisch
untersucht werden. Durch die konsequent durchgeführte Exzision
wird bald ein Teil der Prostituierten in dieser Beziehung überhaupt
für die Untersuchung in Wegfall kommen.
Ebenso soll jede klinisch diagnostizierte Bartholinitis
einer mehrtägigen Hospitalbeobachtung überwiesen werden, da sie
selbst bei momentan negativem Gonokokkenbefund als wahrschein¬
lich gonorrhoisch angesehen werden muß. Die folgende Tabelle II
hat zu ihrem größten Teile Prostituiertenmaterial zur Grundlage.
Tabelle II.
Name des Autors
Zahl der gonor¬
rhoischen P. P.
Zahl d. Bar-
tholinitisfälle
Baermann . . .
58
5
Bergh.
1 4437
429
Bergh.
: 693
111
Bergh.
, 495
62
Bröse.
86
5
Carry.1
i 94
i 4
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
113
1
Name des Autors j
Zahl der gonor¬
rhoischen P. P.
Zahl d. Bar¬
th olinitisfalle
Harttung ....
143
20
Huber.
78
3
Lappe.
694
10
Lochte ....
9
2
Luczny ....
47
17
Marschalko . . .
161
37
Schultz ....
104
12
Steinschneider . .
! * 7
1
Strömberg . . . |
j 159
33
Welander . . . j
79
21
Summe .... |
| 7374
j 772
Prozent ber. auf j
10,5 %
gonorrhoischeP.P. 1
1
I
Prozent berechnet
auf P. P. überhaupt
8,8%
i
I
Ich möchte gleich hier die Besprechung der Eektalgonorrhoe
folgen lassen.
Neisser (Staub, Lang) nach ihm Profeta und Bumm
waren die ersten, welche auf diese Affektion hingewiesen haben.
Ihnen folgten Baer, Huber, Neuberger und viele andere. Baer,
der an einem großen Materiale gearbeitet hat, ist bei Verwertung
desselben zu Prozentsätzen gekommen, die durch ihre Höhe mit
allen übrigen kontrastieren. Er fand, daß 38,2 Prozent aller
gonorrhoekranken Frauen an Eektalgonorrhoe leiden. Ihm am
nächsten steht Huber mit 24,5 Prozent —
Eine isolierte Rektalgonorrhoe fand Baer in 10,4 Prozent,
Huber in 17,9 Prozent, Harttung in 33,3 Prozent der beobachteten
Rektalgonorrhoeen.
Baer stand mit seinen Angaben namentlich mit französischen
Forschern im Widerspruch, die die Analgonorrhoe der Prostituierten
als eine äußerst seltene Erkrankung auffaßten (Diday, Simonet,
Martineau). Ihnen schließt sich Juliusburger an. —
Jedenfalls ist die gonorrhoische Erkrankung der Rektalschleim¬
haut keine so ganz seltene Erscheinung, sie bietet nur im chro¬
nischen Stadium ein für den Nichteingeweibten so wenig charakte¬
risiertes Krankheitsbild, daß sie wohl häufig unrichtig gedeutet
oder übersehen wird, zumal ihre Krankheitserscheinungen durch
die gleichzeitig bestehende gonorrhoische Erkrankung des Genital-
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114
Baermann.
traktus in ihrer Klarheit getrübt werden. Wenn man mit dem
Spekulum die mäßig empfindliche Rektalschleimhaut entfaltet, so
sieht man gewöhnlich streifenförmige Geschwüre, die dem Grunde
der Falten entsprechend verlaufen; sie bieten den Gonokokken
eine hartnäckige Lokalisation. Die gewöhnlich bei älteren Prosti¬
tuierten gefundenen im Analring sitzenden kahnformigen Geschwüre
stehen nach neueren Untersuchungen fast stets mit einer durch¬
gemachten Syphilis in Beziehung. Sie werden mit durch die Ver¬
änderung der regionären Drüsen und auch der Blutgefäße bedingten
Zirkulationsstörungen in Zusammenhang gebracht. Gonokokken
wurden auf ihnen nicht nachgewiesen. Diese Geschwüre finden
ein Analogon in den bei älteren Prostituierten gewöhnlich im Zu¬
sammenhänge mit elefantiastischen Prozessen stehenden Geschwüren
der Vulva(Bandler, Waelsch, Nickel, Schuchardt,Tschlenow).
Die genannten Geschwüre sind nicht zu verwechseln mit den be¬
züglich ihrer Ätiologie noch in Diskussion stehenden, hochsitzenden
Rek tals triktur en.
Als Entstehungsursache ist wohl für die meisten Fälle von
Rektalgonorrhoe das Überfließen von gonorrhoischem Sekret aus
der Scheide anzunehmen. Hierbei entstehen durch die Mazerationen
kleine Schleimhautdeffekte, welche das Eindringen der Gonokokken
erleichtern. In selteneren Fällen wird der Durchbruch eines
Abszesses der Bartholinisehen Drüse den Anlaß geben; die
Kohabitation kommt bei uns in Deutschland wohl weniger in
Betracht.
Wenn auch durch die Rektalgonorrhoe zu Infektionen wenig
Anlaß gegeben wird, so ist doch im Interesse der Selbstreinfektion
— zumal die isolierten Rektalgonorrhoen relativ keine so sehr
seltene Erscheinung sind — eine 1—2 mal monatlich stattfindende
Untersuchung der Rektalschleimhaut mit dem Spekulum und gleich¬
zeitiger Anfertigung von mikroskopischen Präparaten unbedingt zu
fordern.
Tabelle III.
Name des Autors
Baer.
Baermann . . .
Bergh.
Zahl der gonor- Zahl d.Rektal-
rhoischen P. P. gonorrhoen
191 1 67
58 2
633 9
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
115
Name des Autors
Zahl der gonor¬
rhoischen P. p.
Zahl d. Rektal
gonorrhoen
H&rttung ....
143
10
Harttung ....
85
! 19
Lappe .
694
1 1
Schultz ....
194
I 27 '
Schultz ....
200
48
Summe . . . .
2198
| 183
Proz. berechnet auf !
gonorrhoischeP.P. j
8,3 •/.
Proz. berechnet auf
P. P. überhaupt .
2,9 •/.
Am häufigsten wird, so weit es sich wenigstens aus stati¬
stischen Angaben ersehen läßt, die Urethra der Prostituierten
infiziert. Ich selbst habe zwar bei meinen Untersuchungen nur
eine ziemlich geringe Differenz zwischen den cervikalen und
urethralen Gonorrhoen gefunden, und glaube, daß die geringere
Anzahl der statistisch festgestellten Cervikalgonorrhoen dadurch zu
erklären ist, daß die Cervikalgonorrhoen bisher nicht so häufig
und genau bei der Untersuchung berücksichtigt wurden und die
Untersuchung mehr oder minder wenig einwandsfrei war, daß
ferner, wie zuerst von Bumm und dann von Wertheim angegeben,
die Gonokokken vornehmlich bei Mitbeteiligung des Corpus-Uteri
in dem Sekrete intermittierend auftreten. Schon dieser Umstand
allein fordert eine häufige Untersuchung des Cervikal-
sekretes.
Ich halte die primäre Infektion des Cervikalkanales bei
Prostituierten für häufiger und mehr naturgemäß, da bei der
Cohabitation mit denselben gewöhnlich besondere Widerstände am
Introitus nicht gefunden werden und deshalb dort für eine De¬
ponierung des männlichen gonorrhoischen Sekretes kein besonderer
Anlaß gegeben ist Eine sekundäre Infektion der Urethra durch
den Cervikalleiter ist ebenso leichter verständlich, als eine sekundäre
Infektion des Cervikalkanales durch die zuerst erkrankte Urethra.
Es wäre ja auch denkbar, daß die Zahlendifferenz daraus resultiert,
daß die Gonokokken im Cervikalsekret rascher zum Zerfall kommen,
indem demselben irgend welche, für den Gonokokkus bakterizide
bezw. auflösende Eigenschaften zukommen. Die akute Urethral¬
gonorrhoe bietet manchmal bei jüngeren frisch infizierten Individuen
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116
Baermann.
ein ziemlich typisches Bild — aber auch nur bei diesen. Sie kann
aber auch ebenso wie die chronische Urethralgonorrhoe bei Fehlen
aller klinischen Symptome bestehen. Selbst die von Jadassohn
für unverdächtig angegebene rein epitheliale Sekretion bietet keine
Garantie für das Fehlen von Gonokokken. Ich selbst habe bei
einer Reihe von Fällen dieser Art die Gonokokken auf den großen
gut erhaltenen Epithelzellen in dichten Haufen gelagert gefunden.
Manchmal macht ein mehr oder minder starkes Ektropium der
Urethralschleimhaut aufmerksam, manchmal weist die Umwandlung
der Urethra in ein starres Rohr, das von neugebildeten Binde-
gewebsschwarten gebildet wird, von vornherein auf eine chronische
Erkrankung hin, aber wie bereits angeführt, sind auch diese und
alle anderen beschriebenen Erscheinungen für eine sichere Diagnose
in bezug auf die noch bestehende Infektiosität ohne Wert. Bei
solchen Zuständen sind gewöhnlich die am Ausgang der Urethra
sitzenden Skeneschen Drüsen mit ergriffen, durch die dann
natürlich einem konstanten Rezidivieren der Infektion Vorschub
geleistet wird. Es mag die Unterlassung einer Untersuchung der¬
selben bei der Hospitalbehandlung zum Teil die rasch eintretenden
Rezidive erklären.
Was die Infektionsgefahr für den Mann betrifft, so glaube
ich, daß dieselbe von seiten der Urethra eine größere ist, als von
seiten der Cervix, natürlich abgesehen von ganz akuten, cervikalen
Erkrankungen. Ich glaube dies aus folgenden Gründen annehmen
zu müssen: Das Cervikalsekret stellt gewöhnlich selbst bei reich¬
licher eitriger Beimischung eine ziemlich cohärente, kompakte
Masse dar, die zu einem Eindringen in die Fossa navicularis wenig
geeignet erscheint
Das Urethralsekret, das ja zu seinem größten Teile aus
zelligen Elementen besteht, bietet diesen Hinderungsgrund nicht,
ferner wird es stets neu auf den Introitus deponiert und während
der kurzen Eröffnung der männlichen Urethrallippen, die bei dem
Eindringen der Glans durch den seitlichen Druck entsteht, in die
Fossa gepreßt Ein derartiges mechanisches Moment wird während
der Cohabitation selbst weniger in Frage kommen, da das Cervikal¬
sekret in der Regel sich im hinteren Scheidengewölbe ansammelt
und deshalb bei der gewöhnlich vorhandenen oberen Erweiterung
der Vagina zu Berührungen mit demselben weniger Anlaß gibt
Die folgende Tabelle IV hat ebenfalls zum größten Teile
Prostituiertenmaterial als Unterlage.
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
117
Tabelle IV.
Namfl Haa Aufnra
Zahl der gonor-
Zahl d. Urethral-
rhoischen P. P.
Gonorrhoen
Baer . . .
#
ir
j 100
68
Baermann
118
76
Baer mann
74
69
Bergh . . .
683
586
Bröse . . .
86
74
84
Bumm .
69
Carry . . .
• ■ 1 94
69
Fabry . . .
. •
42
36
Harttung . .
143
119
Harttung . .
85
78
Huber . . .
78
17
Lappe .
694
622
Lochte . .
9
2
Luczny . .
47
40
Marschalko .
16t f
99
Neisser . .
126
83
Schultz . .
104
77
Schultz . .
1 270
203
Steinschneider
67
54
Strömberg .
159
141
Welander
46
41
Summe . .
• • 1
8700
2578
Proz. berechnet auf i
1 69,5%
i 1
gonorrhoischeP.P.
Proz. berechnet auf
I 24,8 % 1
1
P. P. überhaupt .
Die Unter8uchuDg bei bestehender Endometritis cervicis et
corporis bietet einige Schwierigkeiten, die nicht nur durch das
intermittierende Auftreten der Gonokokken bedingt sind,
sondern auch in der rein praktischen Ausführung der Unter¬
suchung ihren Grund haben.
Gewöhnlich bieten namentlich bei nicht sehr reinlichen
Prostituierten die aus dem Cervikalsekret stammenden mikrosko¬
pischen Präparate ein derartig verworrenes Bild dar, daß dessen
klare Deutung bei der Unmasse und der Verschiedenheit der in
ihm enthaltenen Bakterien häufig unmöglich ist
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf ein sehr schätzbares
technisches Hilfsmittel hinweisen, das uns die Untersuchung
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118
Baermann.
des Cervikalsekretes erheblich erleichtert. Winter hatte die
Keimfreiheit des Uterus nachgewiesen. Im Anschluß daran wurde
von Menge und Stroganoff der Cervikalkanal oberhalb des
äußeren Muttermundes auf seinen Bakteriengehalt untersucht und
hierbei festgestellt, daß auch er für gewöhnlich keine Mikroorganismen
beherbergt, selbst wenn das im Vaginalgewölbe enthaltene Cervikal-
sekret von Bakterien überschwemmt ist
Wenn man nun vor der Sekretentnahme den äußeren Mutter¬
mund energisch mit einem in Alkohol getauchten gestielten Tupfer
reinigt und dann mit dem Untersuchungslöffel hoch im Cervikal¬
kanal hinaufgeht, so ist man fast stets sicher, ein eindeutiges und
leicht übersehbares Präparat zu erhalten, vorausgesetzt, daß nicht
tiefgehende Cervikalrisse vorhanden sind, die man ja bei Prosti¬
tuierten, von denen eine große Zahl ein oder mehreremale geboren
hat, nicht allzu selten findet. Von den von mir untersuchten P. P.
hatten von 292 geboren 118. Gravid waren, soweit sich dies durch
die Untersuchung nachweisen ließ, 5.
Alle Präparate, die reichlich Bakterien aufweisen, stammen
nur aus der Gegend des äußeren Muttermundes und sind zu
diagnostischen Zwecken wenig verwertbar. Es kommt hier noch
der Umstand hinzu, daß die Gonokokken inmitten dieser großen
Bakterienfiora in dem aus dem Cervix hervorquellenden mehr oder
minder mächtigen Sekretbande meiner Ansicht nach ziemlich rasch
zerfallen.
Stammt dagegen das Präparat aus dem Cervikalkanale selbst,
so bietet sich der Betrachtung folgendes charakteristisches Bild dar:
In dem mehr oder minder reichlichen Schleim sind sehr dicht ge¬
lagerte, gut erhaltene Eiterkörperchen vorhanden, die nun Gono¬
kokken in sich beherbergen oder nicht; andere Bakterien sind
nicht enthalten, denn unter gewöhnlichen Verhältnissen — mit
Ausnahme von Schwangerschaft und Puerperium — vermag im
allgemeinen nur der Gonokokkus aszendierend weiter zu schreiten.
Reichliche Eiterkörperchen werden fast stets gefunden, da die
meisten Prostituierten, wie bereits angeführt, an chronischer Endo¬
metritis leiden.
Bei einer gewissenhaften Kontrolle muß in oben beschriebener
Weise untersucht werden, zumal die technischen Manipulationen
bei einiger Übung wenig Zeit in Anspruch nehmen, die noch dazu
durch die raschere und leichtere Durchmusterung des Präparates
kompensiert wird.
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
119
Ein zweiter wichtiger Punkt für die Beurteilung der cervikalen
Gonorrhoe der Prostituierten ist das eventuelle Übergreifen
der Gonorrhoe auf die Korpusschleimhaut
Bei der Beantwortung dieser Frage überhaupt stehen sich die
Ansichten der Gynäkologen ziemlich schroff gegenüber. Während
Zweifel, Fritsch und Bumm der Ansicht sind, daß dem Fort¬
schreiten der Gonorrhoe am inneren Muttermunde ein wirksames
Hindernis entgegengesetzt wird, nimmt Wertheim an, daß der
Uterus in den meisten Fällen von vornherein mit infiziert wird, ja
daß sogar eine isolierte Infektion des Uterus möglich sei.
Bumm fand bei 53 Prostituierten mit Cervikalgonorrhoe 16mal
die Uterusschleimhaut infiziert, Schultz unter 26 Cervikalgonorrhoen
7 intrauterine Infektionen. Bumm und Schultz fanden unter 294
Cervikalgonorrhöen, die öfters untersucht wurden, 131 mal die Adnexe
beteiligt, Harttungunter 85 Fällen 26mal, Schultz unter 104
37 mal, unter 200 48 mal, Hammer unter 292 25mal, Bumm unter
94 43 mal. Es ist hierbei zu berücksichtigen, daß ein Teil dieser An¬
gaben von gynäkologischer Seite stammt, die doch zum großen Teil
nur sehr chronisch verlaufende Fälle zur Untersuchung bekommt.
Ich selbst möchte mich der ersten Ansicht anschließen, zumal
man ja häutig beobachten kann, daß bei lange vorher bestehender
und subjektiv symptomloser Cervikalgonorrhoe eventuell im An¬
schluß an die Menstruation plötzlich unter starken Allgemein-
erscheinungen eine Infektion des Uterus sich manifestiert Ferner
gibt häufig das Puerperium Anlaß zu einem raschen Weiterschreiten
auf Corpus und Tuben bei vorher sicher lokalisierter Cervikal-
erkrankung. Dieser Entscheid ist insofern von Bedeutung, als man
bei jeder Cervikalgonorrhoe sonst eventuell sofort eine Mitbehand¬
lung der Uterus-Cavum einleiten müßte, was in den letzten Jahren
von Schultz und Marschalko, Par&di auch ziemlich konsequent
und mit eigentlich gutem Erfolge durchgeführt wurde.
Belangreich ist auch die Entscheidung, ob man Prostituierte,
die sicher gonorrhoische Adnexerkrankungen aufweisen,
dem Verkehr für lange Zeit bezw. bis zu mehr oder minder
vollständigem Abklingen der Adnexerscheinungen dem Verkehr
entziehen soll. Ich halte dies nur für so lange nötig, als in dem
Cervikalsekret bezw. Uterinsekrete Gonokokken gefunden werden.
Durch die von Schauta beschriebene bei Beginn der Adnex¬
erkrankungen sehr häufig zuerst auftretende Salpingitis isthmica
nodosa wird gewöhnlich schon zu Anfang ein mehr oder minder
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120
Baermanii.
vollkommener Verschluß der Tuben L herbeigeführt und somit die
Gefahr einer stetigen Neuinfektion von den tubaren Eitersäcken
her vermindert .Ferner haben die Untersuchungen Wassermanns
ergeben, daß die Gonokokken in den abgeschlossenen tubaren
Eitersäcken relativ rasch absterben.
Wertheim hat 18 wegen gonorrhoischer Adnexerkrankung
extdrpierte Uteri auf Gonokokken untersucht Er fand nur in
sechs Fällen Gonokokken. Es ist wahrscheinlich, daß die Zahl
dieser positiven Fälle noch eine erheblich geringere gewesen wäre,
wenn eine antigonorrhoische Behandlung des Uterus-Cavum, der
zwar ein großer Teil der Gynäkologen sehr skeptisch gegenübersteht,
vorausgegangen wäre. Bröse und Schiller fanden in 10 Fällen
von vaginaler Totalexstirpation (wegen gonorrhoischer Adnex¬
erkrankung) in 2 Fällen Gonokokken. Harttung fand bei 26 an
gonorrhoischen Adnextumoren erkrankten Prostituierten 10 mal
Fehlen von Gonokokken, Schultz bei 37 ebenfalls 10 mal, Hammer
bei 25 2 mal. —
Ich bin deshalb der Meinung, daß bei der Behandlung der
Prostituierten die Uterusgonorrhoe lediglich als solohe ohne Be¬
rücksichtigung reaktionsloser Adnexerkrankungen in Angriff zu
nehmen ist, denn es muß vor allem die Infektionstuchtigkeit
aufgehoben werden. Fraglich ist nur, ob man von der intra¬
uterinen Behandlung Erfolge zu erwarten hat.
Nachdem durch Bumm nachgewiesen wurde, daß sowohl bei
der cervikalen als auch bei der intrauterinen Gonorrhoe die Gono¬
kokken nur ziemlich oberflächlich in den Lakunen der Drüsen¬
ausführungsgänge oder auf den durch Metaplasie der Corpusschleim-
haut entstandenen Plattenepithelinseln liegen, ist eine Beeinflussung
derselben durch die intrauterine, antiseptische Behandlung wohl
zu erwarten.
Bumms Angaben wurden zwar von der Wertheimschen
Schule, die ein tiefes Eindringen der Gonokokken in Tuben- und
Uterus wand (Submucosa, Muskulatur) annimmt und auch nach¬
gewiesen hat (Kraus u. a.), nicht akzeptiert
Schultz hat aus der Bonaschen Klinik über gute Resultate
nach intrauteriner Injektionsbehandlung berichtet, in letzter Zeit
haben auch Marschalko und Paradi ihre ganz ausgezeichneten
Erfolge mit dieser Behandlung publiziert Marschalko u. Parädi
haben von vornherein bei jeder Cervikalgonorrhoe das Uterus-
cavum mitbehandelt und sind hierbei zu einer durchschnittlich so
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
121
niedrigen Behandlungsdauer der Cervikal- bezw. Uteringonorrhoen
gekommen, daß man sie für die Behandlung Prostituierter, bei
denen es doch vor allem darauf ankommt, möglichst schnell eine
Keimfreiheit herbeizuführen, empfehlen kann. Jedenfalls wäre eine
allgemeine Nachprüfung von großem Interesse. Die Zahl der Fälle,
bei denen durch die intrauterine Behandlung eine Infektion der
Tuben eventuell herbeigeführt wurde ist nach Marschalko sehr
gering. Außerdem ist die Behandlung äußerst bequem und fordert
sehr wenig Zeitaufwand, was für die oft sehr beschränkten Personal¬
verhältnisse einzelner Provinzialkrankenhäuser nicht zu unter¬
schätzen ist
Wir selbst haben in letzter Zeit diese Behandlungsart mit
vorläufig gutem Erfolg versucht, jedoch wäre bei der sehr kleinen
Anzahl der beobachteten Fälle ein Urteil unsererseits verfrüht.
(Schluß folgt)
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Referate.
Verbreitung der Geschlechtskrankheiten.
Vito Serio. Der Ursprung der Syphilis. (Nach einem Referat i. d. Ztsch. „La
Syphilis“ I, 2).
Der Verfasser verwirft die Annahme, daß die Syphilis bereits im
Altertum existiert habe; für ihn steht es vielmehr fest, daß die Lues
vor Ende des 15. Jahrhunderts nicht bekannt war. 1495 trat in Neapel
die fürchterliche Syphilisepidemie auf, über deren Ursprung die Autoren
noch verschiedener Meinung sind. So glauben z. B. manche, daß die
unter Ferdinand dem Katholischen aus Spanien vertriebenen Juden die
Seuche nach Neapel eingeschleppt hätten; Serio hält das aber für aus¬
geschlossen, weil zwischen der Einwanderung der Juden und dem erst¬
maligen Auftreten der Krankheit ein Zeitraum von 3 Jahren lag; aus
ähnlichen Gründen glaubt der Verf. auch nicht an den amerikanischen
Ursprung der Lues; er bringt vielmehr den Feldzug Karls VIII. in ur¬
sächliche Beziehung zu der neapolitanischen Epidemie. Der Verf. erinne* t
daran, daß — wie die Bakteriologie lehre — ein Keim nicht an und für
sich entweder saprophyt oder pathogen ist, sondern daß Mikroorganismen,
die gewöhnlich als saprophyt sich erweisen, gelegentlich, wenn sie einen
günstigen Boden finden, auch pathogen werden können. So hat ein bis
dahin harmloses Gift bei der französischen Armee, die infolge ihrer
Zügellosigkeit aller Widerstandsfähigkeit des Organismus beraubt war
und auch jedem anderen Gifte ohne weiteres zur Beute gefallen wäre,
die Syphilis erzeugt. Daß diese so rasch eine enorme Verbreitung unter
den Soldaten Karls VIII. gewann, war bei deren miserabler körperlicher
und disziplinärer Verfassung fast selbstverständlich. Auf dem Rück¬
marsch haben die Truppen dann ganz Italien verseucht, zumal sich in
ihrer Begleitung ein ganzes Heer von Prostituierten befand. Nach Frank¬
reich retour gekommen, wurden die Soldaten — meist fremde Söldner —
in ihre Heimat entlassen und brachten die Lues somit in die fernsten
Gegenden Europas. Von hier aus entstand dann die entsetzliche Welt¬
epidemie vom Jahre 1496. M. M.
öffentliche Prophylaxe.
C. Ströhmberg. Die Bekämpfung der ansteckenden Geschlechtskrankheiten im
Deutschen Reich. Ferd. Enke. Stuttgart.
Der erste Abschnitt des Buches enthält eine Besprechung der
bekannten Guttsta dt sehen Statistik und gibt eine klare und präzise
Schilderung der Symptome und Verbreitungswege der sexuellen Krank¬
heiten.
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Referate.
123
Im zweiten Teile erörtert der Verf. zunächst die Ursachen für
die enorme Verbreitung der Geschlechtsleiden und redet bei dieser
Gelegenheit den evangelischen Jünglings- und katholischen Gesellen¬
vereinen das Wort, auf deren Wirken er z. B. die Tatsache zurück-
führt, daß das Wuppertal, die Wiege aller derartiger Bestrebungen, in
ganz auffallender Weise von den Geschlechtskrankheiten verschont blieb,
obwohl es das betriebsamste und bevölkertste Tal Deutschlands ist.
Ströhmberg sieht den Grund für das Umsichgreifen der vene¬
rischen Leiden in der Entwicklung Deutschlands aus einem Agrar- in
einen Industriestaat; denn diese Umwandlung ist die Quelle des
„Bevölkerungsstromes“, der eine große Menge antisozialer Elemente
schafft, insofern die Lebensverhältnisse aller derer, die vom flachen
Lande in die Städte ein wandern, so plötzlich und so wesentlich ver¬
ändert werden, daß für viele dieser Zuzügler von einer verständigen
Würdigung der neuen Bedingungen keine Rede sein kann. Aus der
bäuerlichen Naivität werde „proletarische Roheit und Frechheit“, und
die für den gesellschaftlichen Organismus hochwichtigen Familientriebe
werden vernichtet — nicht zum wenigsten unter dem Einfluß der Sozial¬
demokratie, deren Lehre von der „freien Liebe“ darauf ausgehe, anstatt
den Mann zu dem Bestreben anzuspornen, nach besten Kräften sich
allmählich dem höheren Sittlichkeitsniveau der Frau zu nähern, eine
Gleichberechtigung der Geschlechter durch Herabsinkeu der Frau von,
ihrem höheren sittlichen Standpunkt zu erreichen. (!) Der „Bevölkerungs¬
strom“ wirke somit in außerordentlich ungünstiger Weise auf die Sittlich¬
keit und Gesundheit sowohl der Männer wie der Frauen und trage
ein gut Teil Schuld an der Zunahme des Verhältniswesens, von
dem aus eine gerade Linie zur Prostitution führe. Zum anderen Teile
seien die Trinkgewohnheiten der^Deutschen dafür verantwortlich zij
machen. Sei man sich dieser im deutschen Volksleben gegenwärtig zu
Tage tretenden Erscheinungen, welche insgesamt”der Entwicklung der
Keuschheit hinderlich sind, bewußt, so ergebe sich daraus die Größe
der Aufgabe, welche „dem deutschen Schulmeister“ obliegt. Denn ihn
in erster Reihe fordert Ströhmberg zum Kampfe gegen die venerische
Gefahr auf. Die sicherste Waffe gibt ihm die Biologie. Wenn über
diese die Jugend belehrt und aufgeklärt wird, dann wird sie die Not¬
wendigkeit und den Nutzen der Enthaltsamkeit verstehen und gegen
die physischen und moralischen Schädigungen/ die ihr drohen, sich zu
schützen wissen.
Aus dem Kapitel über die Prostitution^ ist hervorzuheben, daß
der Verf. die größten Hoffnungen an das Fürsorgeerziehungsgesetz knüpft.
Er glaubt, daß mit Hilfe dieses Gesetzes nach einigen Jahren 15 °/ 0
sämtlicher Prostituierten unter Fürsorgeerziehung gebracht werden können
und 35 °/ 0 aller frisch Syphilitischen für die Dauer der Ansteckungs¬
fähigkeit dem Verkehr entzogen würden.
Das Buch wird, wie aus der kurzen Inhaltsangabe ersichtlich, reich¬
lich Anlaß zu entschiedenem Widerspruch geben; aber man wird es
nicht aus der Hand legen, ohne mannigfache Anregungen empfangen
zu haben. Die Darstellung ist gewandt und lebhaft. M. M.
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124
Referate.
Die Redaktion hatte auf das in Bd. II, Heft 1 dieser Zeitschrift
enthaltene Referat betreffend eine Broschüre des Dr. v. Niessen-Wies-
baden von letzterem zwei seitenlange Zuschriften erhalten, die ihr Ver¬
fasser als „Berichtigungen“ bezeichnete. Wir konnten diese Elaborate
nicht zum Abdruck bringen — nicht nur ihres Umfanges halber, sondern
vor allem wegen ihres zur Wiedergabe in einer wissenschaftlichen Zeit¬
schrift ungeeigneten Tones: sie strotzten von Beleidigungen gegen unseren
Herrn Referenten. Daraufhin ist uns eine dritte sogenannte „Berichtigung“
zugegangen. Wir hätten das Recht, auch diese zurückzuweisen, da sie
sich überwiegend nicht gegen Tatsachen, sondern gegen Schlußfolgerungen
des Herrn Referenten richtet und wiederum Beleidigungen des letzteren
enthält Da wir jedoch die Korrespondenz mit Herrn Dr. v. Niessen
gern schließen möchten, drucken wir diese „Berichtigung“ ab, indem
wir es unsern Lesern überlassen, sich selbst ein Urteil über ihren Wert
zu bilden.
Berichtigung.
Die Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten enthält
in Bd. II, Heft 1, S. 50 eine Besprechung meiner Broschüre: „Womit
sind die ansteckenden Geschlechtskrankheiten als Volksseuche im Deutschen
Reiche wirksam zu bekämpfen?“ (Verlag von Gebrüder Lüdeking-
Hamburg.) Die in dem Referat aufgestellten falschen Tatsachen sind
dahin zu berichtigen:
1. In dem Referat wird mir folgendes zugeschrieben: „v. Niessen
behandelt die Syphilis als eine Krankheit, deren Ursache genau bekannt
ist.“ — Gerade das Gegenteil habe ich ausdrücklich bedauert.
2. wird mir in der Broschüre die „Forderung“ zugeschrieben, „daß
die Syphilis von der Dermatologie sowohl in dem Universitätsunterricht
und der wissenschaftlichen Forschung, wie namentlich auch in der ärzt¬
lichen Praxis getrennt werde.“ An einer anderen Stelle des Referates
wird diese meine angebliche Forderung einer „grundsätzlichen Trennung
der Syphilidologie von der Dermatologie“ wiederholt. — Diese mir
imputierten Behauptungen sind von mir in der Broschüre nirgends
zu lesen.
3. Der Referent schreibt mir folgende Aussage zu: „Die Hautärzte
sind nicht imstande, die Syphilis sorgfältig zu behandeln.“ — Eine solche
Äußerung ist mir nicht in den Sinn gekommen und von mir nicht
getan. — Die aus diesen mir unterstellten Behauptungen vom Referenten
hergeleitete „Verdächtigung“ und „Erschütterung des Vertrauens der
Patienten zu ihrem Arzt“ fällt also in sich zusammen.
4. wird mir vom Referenten folgendes nachgesagt: „Die Furcht
ist das beste Erziehungs- und Vorbauungsmittel bei der Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten.“ — Die betreffende von mir aufgestellte
und vom Referenten entstellte Behauptung lautet dagegen: „Die Furcht
ist eins der besten Erziehungs- und Vorbeugungsmittel bei der Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, selbst wenn sie weniger begründet
wäre.“ Ich habe ad hoc nirgends die im Referat mir zu geschriebene
Forderung aufgestellt: „Die Furcht soll den Menschen Keuschheit lehren.“
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Referate.
125
Die mir infolgedessen vorgeworfene „Verkennung der menschlichen Natur“
ist also völlig unberechtigt.
Ich weise sonach die vom Referenten auf mich bezüglich ge¬
brauchten Ausdrücke: „gewichtige Fehler“, „grobe Irrtümer“, „Torheit,
wenn nicht Verbrechen“ und „Verdächtigungen“ als auf falschen An¬
gaben beruhend, und zum Teil leichtfertige Beleidigungen enthaltend
hiermit zurück. Dr. v. Niessen.
Erwiderung.
Ad 1. Auf S. 9 der Niessensehen Broschüre steht wörtlich
folgendes:
„Nachdem Prof. Neisser als Ursache des Trippers eine Pilzform,
den Gonokokkus im Eiter nachgewiesen hatte, ist es dem Schreiber
dieser Abhandlung erst in den letzten Jahren des abgelaufenen
Jahrhunderts nach überaus mühevollen jahrelangen Unter¬
suchungen geglückt, auch die Ursache der Syphilis zu ent¬
decken.“ . . .
„Jener Forscher (i. e. v. Niessen selber!) hat unbeirrt durch
Mißerfolge, Fehler und Gegenströmungen mancher Art den
Krankheitserreger jener Seuche aus dem Blute syphili¬
tischer Menschen rein gezüchtet und mit seinen Kulturen
die Syphilis auf Affen, Schweine und ein Pferd übertragen
können.“ — —!! —
Ad 2. AufS. 12—18 verbreitet sich v. Niessen ausführlich über
die Gründe, warum „oft zu wenig Aufhebens“ von der Syphilis ge¬
macht werde; woher es komme, daß die Syphilidologie von der wissen¬
schaftlichen Medizin vernachlässigt sei; weshalb namentlich die ursäch¬
liche Forschung nicht gefördert wurde; wieso die Studierenden eine
„bislang völlig ungenügende Vorbildung“ hätten; u. ä. m. Alle diese
Mißstände führt v. Niessen teils direkt, teils mittelbar darauf zurück,
daß dieser Zweig der Medizin von den Dermatologen „mit Beschlag
belegt wurde.“ Daß aus dieser Anschauung des Verfassers für ihn die
Schlußfolgerung sich ergab, daß die Syphilidologie von der Dermatologie
fortan also getrennt werden müsse, erschien mir allerdings unzweifelhaft.
Wenn v. Niessen gegen diese Annahme sich verwahrt, so tut er
m. E. nichts anderes als dagegen Einspruch erheben, daß ich
von ihm Logik und Konsequenz erwartet habe.
Ad 3. Um etwas „berichtigen“ zu können, hat v. Niessen mich
falsch zitiert. Es ist unwahr, daß ich ihm die Aussage zu¬
geschrieben habe, „die Hautärzte sind nicht imstande, die Syphilis sorg¬
fältig zu behandeln.“ In meinem Referat steht vielmehr, daß v. Niessen
behauptet habe, die Hautärzte seien, weil sie sich vorwiegend mit der
Körperoberfläche beschäftigen, „bisweilen zu oberflächlich“, um die
Lues sorgfältig behandeln zu können. Und so steht es wörtlich
in der Niessenschen Broschüre auf S. 12, wo der Verfasser den
Dermatologen sogar noch schlimmere Dinge als Oberflächlichkeit zum
Vorwurf macht
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke. II. 10
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126
Tagesgeschichte.
Ad 4. bekenne ich mich reumütig des Verbrechens schuldig,
gesagt zu haben, Herr v. Niessen habe die Furcht als „bestes“ statt
als „eines der besten“ Erziehungsmittel bezeichnet! An der Sache
selbst wird aber dadurch nichts geändert. Denn mir kam es nur
darauf an, festzustellen, daß der Verfasser der Furcht in Hinsicht auf
die Pädagogik und die Moral eine Rolle beimißt, die ihr m. E. nicht
zukommt. Ich habe gegen die Auffassung, daß von der Furcht eine
Förderung der „Keuschheit“ zu erwarten sei, wie dieses v. Niessen
auf S. 19 annimmt, Widerspruch erheben wollen.
Herr v. Niessen hat mich „mißverstanden“, wenn er meint,
ich hätte ihm „Torheit, wenn nicht Verbrechen“ vorgeworfen! Das
war mir gar nicht eingefallen. Es geht aus dem Zusammen¬
hänge klar hervor, daß diese Worte sich überhaupt nicht auf den
Verfasser der Broschüre beziehen.
Den von Herrn v. Niessen gerügten Ausdruck „Verdächtigung“
halte ich, weil durchaus berechtigt, aufrecht und verweise zum Beleg
auf die sub 3 erwähnten Stellen in der Broschüre.
Daß die Schrift des Herrn v. Niessen „grobe Irrtümer“ und
„gewichtige Fehler“ enthält, ist nun einmal meine ganz unmaßgebliche
Überzeugung. So betrachte ich es z. B. für einen „groben Irrtum“,
die Syphilis für eine „absolut unheilbare“ Krankheit zu erklären,
und ein „gewichtiger Fehler“ ist es nach meinem Dafürhalten
— auch hier nur ein Beispiel für viele! — wenn ein Arzt in
einer für Laien bestimmten Broschüre wiederholt und nachdrücklich
vor dem „übertriebenen Quecksilbergebrauch“ warnt und diesem
sogar „ein gut Teil der Schuld beim Ausbruch trauriger Katastrophen“
beimißt. Dr. Max Marcuse.
Tagesgeschichte.
Deutschland.
Berlin. In den letzten Tagen des Oktober fand in Berlin die
deutsche Nationalkonferenz zur internationalen Bekämpfung
des Mädchenhandels statt. Über den ersten Punkt der Tagesordnung:
Stand der Frage der Bekämpfung des Mädchenhandels, berichtete Major a. D.
Wagen er-Berlin. Für das bayerische Landeskomitee erstattete den
Bericht Unterstaatssekretär Prof. Dr. v. Mayr; für Sachsen Pastor Mätzold,
für Elsaß-Lothringen Kanonikus Dr. Müller-Simonis, über den jüdischen
Zweigverein Sanitätsrat Dr. Maretzki. Letzterer Bericht beschäftigt sich
besonders mit den galizischen Verhältnissen und zeigte, daß der jüdische
Zweigverein bemüht ist, nicht nur gegen den Mädchenhandel als Sym¬
ptom, sondern auch gegen seine Ursachen, die wirtschaftliche Not und das
tiefe Bildungsniveau der galizischen Juden, anzukämpfen. Probst Guss-
mann berichtete über das Komitee in Buenos Aires, das international
und interkonfessionell ist, weil dort der internationale Ring der Mädchen-
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Tagesgeschicbte.
127
händler sieb befinde. Diese gingen mit großer Verschmitztheit vor und
verkleideten die Mädchen sogar als Nonnen. Leider wäre in Argentinien
zurzeit nichts zu erreichen, da zwei Richter in Buenos Ayres mit den
Mädchenhändlem gemeinsame Sache machen. Die Übelstände seien dort
so weit gediehen, daß von der argentinischen Regierung jetzt ein Gesetz¬
entwurf ein gebracht sei, wonach jeder Mädchenhändler mit sechs Jahren
Zuchthaus und Entziehung seiner sämtlichen Habe bestraft werden solle.
Prof. v. Ullmann sprach über die strafrechtliche Bekämpfung des
Mädchenhandels; auf seinen Antrag wurde folgender Beschluß gefaßt:
„Die Nationalkonferenz spricht ihre Überzeugung aus, daß eine wirk¬
same Bekämpfung des Mädchenhandels die Ausdehnung des
Tatbestandes dieses Verbrechens auch auf die Fälle der Ein¬
willigung einer großjährigen Frauensperson notwendig fordert.
Die Nationalkonferenz beschließt gleichzeitig die Mitteilung ihres Be¬
schlusses und ihrer Verhandlungen an das Reichsjustizamt mit der Bitte
um Kenntnisnahme und geneigte Würdigung bei der bevorstehenden
Reform des Deutschen Strafgesetzbuches.“
Köln. Außerordentlich interessant verlief eine Sitzung des All¬
gemeinen Deutschen Frauenvereins zu Köln, in welcher die Regle¬
mentierungsfrage erörtert wurde. Das Referat hatte Frau Flemming,
Hamburg, übernommen, die zu folgenden Vorschlägen kam:
1. Geheime Anzeigepflicht der Arzte über jeden Fall von Venerie,
d. h. Mitteilung der Fälle ohne Namensnennung zum Zwecke einer zu¬
verlässigen Statistik.
2. Ausdehnung des § 300 (welcher von dem Berufsgeheimnis
handelt) auf die Angestellten der Krankenkassen.
3. Abänderung des § 180: „Das Vermieten einer Wohnung an
eine Prostituierte soll nicht strafbar sein, sondern nur der polizeilichen
Meldepflicht unterliegen/ 4
4. Aufklärungsagitation im weitesten Sinne.
5. Abänderung der Wohnungsgesetze dahin, daß auch bei Nacht
eine Revision unternommen werden kann.
6. Erhöhung des Schutzalters auf 16 Jahre.
7. Einsetzung einer Sanitätskommission zur Überwachung der Pro¬
stitution.
8. Unentgeltliche Behandlung aller Prostituierten.
9. Zusammenarbeit der Kommission mit den Rettungsanstalten.
10. Das Studium der venerischen Krankheiten soll als Examenfach
im medizinischen Studium stärker betont werden.
11. Die Unterstellung der Prostituierten unter Kontrolle soll nur
durch Richterspruch erfolgen können.
12. Die Krankenkassen sollen durch ihre Kontrolleure auf Heran¬
ziehung der Männer zu ärztlicher Behandlung wirken.
13. Die Frauen vereine sollen den Vorschlag von Prof. v. Liszt
behufs Strafbarkeit der Gefährdung durch Ansteckung unterstützen.
Die Diskussion bewies, daß die Mehrzahl der Frauen sich nicht
leicht von dem Abolitionismus abbringen läßt. Die Erörterung war eine
10*
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128
Tagesgeschichte.
außerordentlich lebhafte UDd führte zur Annahme der Punkte 1, 2, 4,
6, 8, 10, 12, 18. Punkt 8 wurde abgeändert in „unentgeltliche Be¬
handlung aller mittellosen Geschlechtskranken“; bei Punkt 13 wurde
die Einschränkung gemacht, daß die venerische Ansteckung Antrags¬
delikt sein müsse. Die in regiementaristischem Sinne gehaltenen Punkte
wurden mit großer Majorität verworfen.
Nürnberg. Auch in Nürnberg auf der dort stattgefundenen
allgemeinen Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine
wurde die Prostitutionsfrage in die Erörterung eingezogen. Unter anderem
wurde unter Ziffer 12 folgende Resolution gefaßt:
„Die Delegiertenversammlung bedauert, daß die Frankfurter Ver¬
sammlung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten so wenig Resultate gezeitigt und unter dem Beifall einer
großen Anzahl der Teilnehmer teilweise Äußerungen gebracht hat, die
als Verirrung des sittlichen Urteils und als Vergiftung des Volks¬
gewissens bezeichnet werden müssen. Nichtsdestoweniger hegt sie das
Vertrauen, daß auch dieser Verein, dessen Gründung sie begrüßt hat,
sich allmählich zur Klarheit und Entschiedenheit des christlich-sittlichen
Urteils durchringen werde.“ Es wurde betont, daß der Standpunkt
der Konferenz von dem des Vereins insofern verschieden sei, als letzterer
die Prostitution als notwendiges Übel betrachtet.
Stuttgart. Nach längerer Probezeit ist aus der Mitte des Hilfspflege¬
rinnenverbandes eine Assistentin am Stuttgarter Stadtpolizeiamt ange¬
stellt worden. Die Aufgabe der Polizeiassistentin ist es, dafür zu
sorgen, daß im Umgang mit den eingelieferten weiblichen Personen Sitte
und Anstand nicht verletzt werden. Sie hat den polizeiärztlichen Unter¬
suchungen beizuwohnen und das Recht, an zuständiger Stelle ihre
Meinung zu äußern, wenn sie Bedenken gegen eine Untersuchung hegt
oder dieselbe im umgekehrten Falle für notwendig erachtet. Es handelt
sich bei ihrer Stellung um eine Überwachung sämtlicher beim Stadt¬
polizeiamt eingelieferten weiblichen Personen. Hierunter sind nicht nur
diejenigen zu verstehen, welche eine Strafhaft im Stadtpolizeigefängnis
zu verbüßen haben, sondern namentlich auch solche, welche als geschäffcs-
und unterkunftslos vorgeführt und wieder auf freien Fuß gestellt werden
und diejenigen, die an andere Behörden abzuführen sind. Die Haupt¬
aufgabe der Assistentin besteht darin, diesen Frauen, die wegen der
verschiedensten Vergehen eingeliefert wurden und in vielen Fällen bereits
tief gesunken sind, die Hand zu bieten, um wieder ein geordnetes Leben
beginnen zu können. Was speziell die gefallenen Frauen anbetrifft, so
handelt es sich in vielen Fällen um junge Mädchen im Alter von
17—18 Jahren, die aus Not, Unvernunft, Verführung oder Überredung
deD Weg zur Unzucht betreten haben, Auch die Tanzstunde, schlechte
Lokale und WohnungsVermieterinnen spielen hier eine große Rolle.
Hauptsächlich von diesen jugendlichen Personen sind viele einem
Besserungs versuch zugänglich. Mit grosser Freude ist es zu begrüßen,
daß einzelne Hausfrauen sich bereit erklärt haben, solche Mädchen als
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Tagesgeschichte.
129
Dienstboten in ihr Haus zu nehmen, und es wäre dringend zu wünschen,
daß diese guten Beispiele auch in weiteren Kreisen Nachahmung fänden.
Mit der Anstellung einer Polizeiassistentin in Stuttgart ist ein
erster Schritt zur Bekämpfung des Übels getan, doch ist es ein dringendes
Bedürfnis, daß die gute Sache auch mit Geldmitteln Unterstützung findet,
da nicht nur mit Rat, sondern auch mit der Tat gedient sein muß.
Es werden nämlich oft Frauen eingeliefert, die entweder nur ganz
notdürftig oder so schmutzig bekleidet sind, daß eine sofortige Ab¬
hilfe nötig wird, denn eine geordnete Kleidung ist die erste Voraus¬
setzung, will man die Person in geordnete Bahnen lenken. Eine an¬
ständige Kleidung erfordert aber Geldmittel. Der Assistentin müßten
hierfür Beiträge zur Verfügung stehen. Denn würde die Gefallene sich
selbst überlassen oder zu irgend einer Vermieterin gebracht werden, so
ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie wieder der Versuchung anheim¬
falle und verloren bleibt. Eine große Hilfe ist es, daß das städtische
Armenamt die Bereitwilligkeit gehabt hat, Personen, deren Unterbringung
sich nicht sofort bewerkstelligen läßt, in die Beschäftigungsanstalt auf¬
zunehmen, wo sie bei geeigneter Tätigkeit uDter guter Obhut so lange
bleiben können, bis ihre nächste Zukunft entschieden ist Ein großes
Entgegenkommen findet die Assistentin auch bei der Stuttgarter Geistlich¬
keit In Ausnahmefällen hat sich die Polizeiassistentin auch der männ¬
lichen Eingelieferten anzunehmen, Dämlich dann, wenn diese den Eindruck
machen, daß ein Versuch, auch sie der menschlichen Gesellschaft zurück¬
zugewinnen von Erfolg sein könnte. So hat sie von männlichen Ein¬
gelieferten in Stellung gebracht fünf, von denen einer sich sehr bewährt
hat, in die Heimat gesandt einer, welcher daselbst geblieben ist, in eine
Trinkerheilanstalt einer, welcher voraussichtlich nach einigen Monaten
als geheilt entlassen wird.
Die Dienstzeit der Assistentin ist in der Regel morgens von 7 bis
10 7s Uhr, nachmittags zwischen 4 und 6 Uhr und abends von 9—11 Uhr
im Stadtpolizeigebäude. Sie kann jedoch immer in dringenden Fällen
— auch nachts — telephonisch gerufen werden. Die freien Stunden
verwendet sie auf Erledigung der Korrespondenz, Nachforschungen, Auf¬
suchen der Mädchen, mit denen sie in Fühlung bleibt, Besuche im
Spital usw. Auch ist sie vielfach außerhalb Stuttgarts in Anspruch
genommen, sei es behufs Besprechungen, oder um ein Mädchen in
Stellung, zu ihren Angehörigen oder in eine Rettungsanstalt zu be¬
gleiten. Auch hierfür bedarf es der Mittel! Eine Erweiterung ihres
Wirkungskreises ist in letzter Zeit noch dadurch entstanden, daß die
Assistentin von der KgL Stadtdirektion und dem Kgl. Amtsgericht die
Ermächtigung erhalten hat, in geeigneten Fällen auch diejenigen Mädchen
und Frauen, mit denen sie bereits in Verbindung stand, in den Ge¬
fängnissen aufzusuchen. Über ihre gesamte Tätigkeit hat sie Buch zu
führen und dieses allmonatlich dem Vorstand des Stadtpolizeiamtes zur
Einsichtnahme vorznlegen.
Seit dem Antritt ihres Postens, 20. Februar, bis 1. Oktober d. J.,
ist sie in 407 Fällen tätig gewesen, davon hat sie in Stellung gebracht
13 weibliche Personen, von denen vier sich bewährt haben; in die
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130
Tagesgeschich te.
Heimat sieben, von denen sechs daselbst geblieben sind; und in Heil¬
anstalten drei; also dürfen die Erfolge gleich 5°/ 0 gerechnet werden.
Die Statistik gibt ein anschauliches Bild von den Mühsalen und Ent¬
täuschungen, aber auch von den mancherlei dankbaren Resultaten, die
erzielt worden sind.
Hamburg. Der „Berliner Volkszeitung“ wird unterm 27. Nov. 1903
aus Hamburg folgendes berichtet: Der Hamburger Grundeigentümer A.
hatte die Polizei auf Schadenersatz in Höhe von 100000 Mk. verklagt,
weil sie in der Nachbarschaft seines Grundstückes in der Ulrikusstraße
den Bordellbetrieb zulößt und weil dadurch das A.sche Grundstück
erheblich entwertet wird. Es wurde in den Verhandlungen von
dem Kläger nachgewiesen, daß die Polizei die Bordellwirte gewisser¬
maßen konzessioniert und dass sie die Prostituierten insofern zwingt,
die Bordelle zu bevölkern, als sie von den unter Sittenkontrolle stehenden
Mädchen verlangt, in polizeilich genehmigten und den sitteDpolizeilichen
Vorschriften entsprechenden Logis und Häusern, das sind eben die
Bordelle, Wohnung zu nehmen, wofern sie nicht wegen Übertretung
sittenpolizeilicher Vorschriften bestraft werden wollen. Das Landgericht
kam zur Abweisung der Klage. Es gestand — im Gegensatz zu den Er¬
klärungen des Hamburger Bürgermeisters Dr. Burchard im Reichstage —
zu, das zwischen den Hamburger Beherbergereien und einem Bordell
keinerlei begrifflicher Unterschied existiere. Aber es kam zu der An¬
sicht, daß die Polizeibehörde für einen durch die Bordellwirtschaft in
der Ulrikusstraße dem Kläger entstandenen Schaden nicht verantwortlich
sei. Denn: erstens habe die Polizei sich durch die Kasernierung der
Prostitution keiner wider die gute Sitte verstoßenden Handlung
schuldig gemacht, sondern die Kasernierung sei gerade aus gesund-
heits-, sitten- und ordnungspolizeilichen Gründen erfolgt; zweitens mache
die Polizei sich auch durch die weitere Duldung des Bordellbetriebes
keiner unerlaubten Handlung schuldig. Zu einer Anklageerhebung
gegen die Bordellinhaber aus dem Kuppeleiparagraphen sei lediglich
die Staatsanwaltschaft imstande, der Vorwurf der Unterlassung einer
solchen Anklage könne sich deshalb nur gegen die Staatsanwalt¬
schaft richten, zumal die Polizei nicht einmal beschuldigt werden könnte,
über eine strafbare Handlung — die Kuppelei der Bordellwirte —
geschwiegen zu haben, denn jedermann kenne in Hamburg die fraglichen
Zustände. Den ihn schädigenden Bordellbetrieb in seiner Nachbarschaft
könue der Kläger bekämpfen, indem er gegen die benachbarten Bordell¬
wirte auf Unterlassung klage. — Die Polizeibehörde, die Widerklage
auf Feststellung, daß dem Kläger keinerlei Schadenersätzenspräche Zu¬
ständen, erhoben hatte, wurde unter Abweisung dieser Widerklage zu */ 3 ,
der Kläger unter Abweisung der Klage zu 1 / 3 der Kosten verurteilt.
Der Prozeß wird zunächst an die höhere Instanz gelangen. Die
Angelegenheit wird ferner sowohl die Hamburger Bürgerschaft wie den
Reichstag beschäftigen.
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Tagesgeschichte.
131
München. Eine neue Verurteilung wegen Übertragung von
Geschlechtskrankheiten. Das Landgericht München I verurteilte
den Dienstknecht Johann Gleixner, der in Unterbiberg mit zwei Dienst¬
mädchen geschlechtlich verkehrte, obwohl er an Gonorrhoe erkrankt
war, so daß eins der Mädchen angesteckt wurde und das Krankenhaus
aufsuchen mußte, wegen eines Vergehens der fahrlässigen Körperver¬
letzung zu zehn Monaten Gefängnis. Der Strafantrag war von dem
Vater des erkrankten Mädchens gestellt.
Frankreich.
Am 5. November hat die außerparlamentarische Kommission, welcher
in dieser Zeitschrift wiederholt Erwähnung getan wurde, ihre Sitzung
abgehalten. Es fand, wie zu erwarten war, eine außerordentlich leb¬
hafte Diskussion zwischen den Reglemeutaristen und Abolitionisten statt,
welche dazu führte, daß die Herren Fournier und Augagneur be¬
auftragt wurden, möglichst schnell einen vorläufigen Bericht über den
Einfluß resp. die Wirkungslosigkeit der Reglementierung in Hinsicht
auf die Geschlechtskrankheiten abzufassen. Der Abgeordnete für den
Kreis Aube, Paul Meunier, befürwortete, daß eine Enquöte über diese
Frage veranstaltet werde, in welcher nicht nur die medizinischen, sondern
auch die verwaltungs- und sittenpolizeilichen Gesichtspunkte berücksichtigt
werden sollen. „Die öffentliche Meinung und das Parlament, 44 so sagte
der Abgeordnete Meunier, „wollen, daß man die ehrbaren Frauen auf
der Straße respektiert. Diese Angelegenheit können wir nicht länger
unerledigt lassen; man muß sie unverzüglich einer sorgfältigen Prüfung
unterziehen, und es ist nötig, beute noch einen Berichterstatter für diese
Frage der persönlichen Freiheit zu designieren. 44 Die Kommission nahm
diesen Antrag an und beauftragte Meunier selber damit, in einem
dritten Bericht über die Tätigkeit der Sittenpolizei in Paris und den
Missbrauch der Amtsgewalt, dessen sich ihre Organe schuldig machen,
zu referieren.
Holland.
Amsterdam. Zu den Pflichten, deren Erfüllung das seit einigen Jahren
in Holland am Ruder befindliche „christliche Kabinett“ als Gewissenssache
betrachtet, gehört dio Bekämpfung der Prostitution. Es sollen
der Volksvertretung bald dementsprechende Vorlagen zugehen. Zur Be¬
urteilung der Wirkung der in Aussicht genommenen Maßregeln bietet die
Stadt Amsterdam beherzigenswertes Material. Vor etwa 1 l j 2 Jahren
faßten die städtischen Behörden den Beschluß, die öffentlichen Häuser
zu unterdrücken; der Anstoß zu diesem Beschlüsse ging von einem
Arzte aus, der als „Wethouder für öffentliche Arbeiten 44 auch sitten¬
polizeiliche Obliegenheiten hat. Die größeren öffentlichen Häuser Amster¬
dams hatten die gegen sie gerichteten Maßregeln dadurch zu umgehen
gesucht, daß sie sich plötzlich in „Hotels 44 umwandelten, in denen die
weiblichen Insassen die Rolle von „Zimmermädchen 44 oder „Weißzeugver¬
walterinnen 44 spielten. Es half ihnen aber nichts, denn sie erhielten
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132
Tagesgeachichte.
einen aus zwei Polizisten bestehenden Wachposten vor die Tür, der
nicht von der Stelle wich, jedermann hinausließ, aber niemanden ein¬
ließ und auf diese Weise die berüchtigten Häuser förmlich aushungerte.
Eines um das andere mußte die Tore schließen, und äußerlich schien
somit das beabsichtigte Ziel erreicht zu sein. Aber freilich nur äußer¬
lich, denn was man unter Anwendung von Gewalt durchgesetzt hatte,
blieb Stückwerk. In einzelnen Straßen Amsterdams befinden sich zahl¬
reiche kleine Bierwirtschaften, in deren unterem Raum kaum ein Tisch
und ein paar Stühle Platz finden; am Fenster aber sitzen einige Sirenen
und laden den Vorbeigehenden zum Besuch ein. Wer eintritt, wird
rücksichtslos ausgeplündert, und wenn dies in belebten Straßen geschehen
kann, kann man sich ungefähr denken, wie es in den kleineren engen
Gassen zugehen mag, wo außerdem noch das Zuhältertum floriert. Die
weiblichen Insassen dieser „Restaurants“ oder „Bierhäuser“ sind zu einem
großen Teil Deutsche und werden durch Ankündigungen in deutschen
Blättern als „Kellnerinnen“ mit Gehalt und freier Station und unter
Zusicherung des „Familienverkehrs“ nach Amsterdam gelockt, wo sie
bald nach ihrer Ankunft gewahr werden, in welche Hände sie geraten
sind. Es muß leider gesagt werden, daß die größte Anzahl der Besitzer
oder Führer solcher Bierhäuser Deutsche sind. Vor einigen Jahren ge¬
lang es, ein solches Individuum, das sich aus der Gilde der Hausknechte
zum mehrfachen Hausbesitzer in Amsterdam emporgeschwungen hatte,
auf dem Bahnhof in Köln zu verhaften, aber die meisten ziehen es
wohlweislich vor, frisches Material durch Agenten oder Agentinnen, die
in Deutschland ansässig sind, zu besorgen. Auf dem Bahnhof in Amster¬
dam befinden sich zwar bei Ankunft eines jeden aus dem Auslande
kommenden Zuges einige durch äußere Abzeichen kenntliche Damen,
die sich der fremden Mädchen annehmen, aber so lobenswert derartige
Bestrebungen sind, die Dinge bleiben im großen ganzen doch so, wie
sie sind. Hier müßte von Obrigkeits wegen mit aller Schärfe einge-
griffen werden; das Fremdengesetz bietet der Polizei jeden Augenblick
die Möglichkeit, die ausländischen Besitzer solcher Häuser über die
Grenze zu schieben. Ab und zu rafft sich zwar die Polizei auf, hält
eine Razzia und bringt einige Dutzend „Kellnerinnen“ über die Grenze;
sie kommen jedoch alsbald wieder nach Holland, da die Rückkehr straf¬
los ist. Den Hauptschuldigen wird kein Haar gekrümmt. Wenn
Dr. Kuyper hier mit eisernem Besen einmal ausfegen würde, würde er
sich ein mit Worten nicht zu beschreibendes hohes Verdienst erwerben.
Wie die Dinge im Augenblick liegen, ist es noch viel schlimmer als
vor der Schließung der immerhin noch unter polizeilicher Aufsicht ge¬
standenen Häuser. Voss. Ztg. Nr. 520.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903/4. Nr. 4.
Oie Gonorrhoe der Prostituierten.
Von
Dr. Gustav Baermann (Breslau).
(Schluß.)
Es ist wahrscheinlich, daß auch ein Teil der Fälle bei gleich¬
zeitig bestehender Adnexerkrankung spontan ausheilt, dafür sprechen
die von Lochte an alten Prostituierten, die mehrere Jahre ihr
Gewerbe nicht mehr ausgeübt, vorgenommenen Untersuchungen.
Daß aber andererseits die Gonokokken sehr lange Zeit sowohl in
der Urethra als auch im Cervix und wahrscheinlich auch im Uterus
fortbestehen können, dafür sprechen einerseits die in manchen
Fällen absolut erfolglosen therapeutischen Eingriffe, ferner die
gleichfalls von Lochte veröffentlichten Untersuchungen an gefangenen
Prostituierten. Derselbe fand bei einer seit 20 Monaten internierten
Puella Gonokokken in der Urethra, bei einer seit 9 Monaten inter¬
nierten in der Cervix, bei einer seit 6 Monaten internierten Gonor
kokken in der Urethra.
Bumm beobachtete
53 gonorrhoische Frauen 5 Monate lang
und sah nach dieser Zeit
in 75 Prozent eine Infektion des Cervikal-
kanals, in 15 Prozent eine Infektion des Uterus eintreten.
Tabelle V.
Zahl d. Cervical-
Gonorrhoen
Baer ....
100 1
60
Baermann . .
118 |
69
Baermann . .
74
43
Bergh ....
633
117
Bröse ....
86 1
31
Bumm ....
74
69
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Qeschlechtskrankh. II. 11
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134
Baermann.
Zahl d. Cervical-
Gonorrhoen
Carry.
94
82
Fabry.
42
18
Harttung ....
143
61
Harttung ....
85
52
Huber.
78
7
Lappe .
694
335
Lochte ....
9
6
Luczny ....
47
19
Marschalko . . .
161
108
Neisser ....
126
77
Schultz .... -b
104
82
Steinschneider . .
57
18
Strömberg . . .
159
52
Welander . . .:4#
46
20
Summe ....
2940
| 1336
Proz. berechnet auf
gonorrhoi8cheP. P.
45,4%
Proz. berechnet auf
P. P. überhaupt .
16,2 %
Nach dieser detaillierten Darstellung der einzelnen Erkrankungs¬
herde möchte ich mir erlauben, die aus den einzelnen Tabellen
gewonnenen Prozentzahlen, die sich ja nur auf gonorrhoische In¬
dividuen beziehen, dadurch praktisch verwertbar zu machen, daß
ich dieselben in ein Verhältnis zu dem Prozentsätze bringe, der
gewöhnlich bei polizeilichen Untersuchungen als Verhältniszahl für
Gesunde und Gonorrhoekranke gefunden wurde. —
Diese Durchschnittsziffer beträgt nach unten stehender Ta¬
belle VI 35,9 Prozent.
Tabelle VI.
Name des Autors
Zahl der bei der polizei-
ärztlichen Kontrolle
untersuchten P. P.
Zahl der
gonorrhoischen P. P.
Baermann.
393
i 118 = 30 %
Büttner.
35
! 19 = 54,28%
Goldschmitt.
75
17 = 23 %
Lochte.
70
27 = 38,57%
Neisser.
527
216 = 37,76%
(Außerdem waren 57 verdächtig.)
Neisser.
(Nur Urethra untersucht.)
57«
110 = 19 %
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
135
Name des Autors
Zahl der bei der polizei
ärztlichen Kontrolle
untersuchten P. P.
Zahl der
gonorrhoischen P. P.
Neisser.,
188
85 = 34,6 %
(57 hiervon waren nur verdächtig.)
Neisser.
155
16 = 10,3 %
(Diese beiden Zahlen stammen
von einer einmaligen Unter¬
suchung im Arbeitshaus).
i
(13 hiervon waren nur verdächtigt
f
Orlow.
795
855 - 45 %
Schultz.
| 527
264 = 50 %
Summe.
3344
1207
Durchschnittszahl, ausge¬
drückt in Prozent . .
' : 't
35,9% (36%) i
Divisor zur Erlangung
3 der allgemeinen Prozent-
* zahlen.
| 2,8
Ich möchte hier noch einige Befunde anreihen, die sich zu einer
Einfügung in die voranstehenden Statistiken nicht eignen, da sie mehr¬
maligen Untersuchungen entstammen und die positiven Resultate zum
Teil nach der Anzahl der positiven Präparate angeben.
Blaschko nimmt 65 — 70°/ 0 Gonorrhöen bei denP.P. an, 14,7—25%
werden bei der Kontrolle gefunden, es werden also nur %—% ins
Hospital aufgenommeo.
Laser untersuchte 197 P. P. in Königsberg.
Von 335 Präparaten aus der Urethra enthielten 112 = 31,7 °/ 0 G. C.
„ 67 „ „ „ Cervix ,, 21G.C. = 31,3°/ 0 G.C.
„ 180 „ „ „ Vagina „ 7 „ „ = 3,9% G. C.
(In 61 der Urethralfälle waren nicht die geringsten klinischen
Symptome vorhanden.)
Gau er untersuchte 176 (z. T. P. P. Berlin Charitä) Frauen und
erhielt in 53 Fällen positive Resultate.
, 69 Fälle wurden 1 mal untersucht: 13 Fälle positiv = 18,8%
r 107 „ „ mehrmals „ : 40 „ „ = 37,6
* Unter 32, deren Urethral- und Cervikalsekret untersucht wurde, fanden
sich 4 reine Cervikal-, 7 reine Urethral- und 4 kombinierte Gonorrhöen.
Hammer untersuchte von 112 Inscribierten 1838 Präparate aus
der Urethra. Er fand hierbei bei 41 P. P. 48 mal (2,61 %) G. C. Von
931 Präparaten aus der Cervix waren positiv 20 (2%).
Pryor findet bei 197 Frauen 31,3% Cervikal- und 50% Urethral-
Gonorrhöen.
Lochte findet bei 70 Prostituierten, von denen er im ganzen
389 mikroskopische Präparate an fertigte, in 27 Fällen G. C. Bei der
einmaligen Untersuchung fand er die Urethra zehnmal erkrankt, den
Cervikalkanal achtmal. Bei mehrmaliger Untersuchung ergeben sich
zwölf Urethralgenorrhöen, 18 Cervikalgenorrhöen (die größere Zahl der
bei der späteren Untersuchung gefundenen Cervikalgenorrhöen erklärt
11 *
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136
Baermann.
sich daraus, daß bei der ersten Untersuchung bei elf wegen Menses nicht
untersucht wurde.)
Brünseke fand bei 200 Individuen in 90°/ 0 Urethritis, in 87,5°/ 0
Cervikalgonorrhoe in 12,5°/ 0 Bartholinitis.
Berliner Polizeipräsidium gibt an, daß 22°/ 0 der P. P. an
Gonorrhoe leiden. Es ergibt sich aus diesen Zahlen ein Durchschnitts-
Prozentsatz von ungefähr 35 °/ 0 .
Es sei hier auch die bedeutende Differenz der Ergebnisse
bei ein- oder mehrmaliger Untersuchung erwähnt. Lochte hat
darauf hingewiesen, daß mehrmalige Untersuchung die Prozent¬
ziffer der aufgefundenen Gonorrhöen verdoppele (16,2°/ 0 :35°/ 0 ).
Damit stimmen auch die oben von Gauer angeführten Resultate
überein (18,8°/ 0 :37,6°/ 0 )- Die aus den Hospitalberichten erhaltenen
Befunde hat Jadassohn (Brüsseler Bericht 1901) vollständig zu¬
sammengestellt. Obwohl dieselben zur Beurteilung der allgemeinen
Erkrankungsziffer weniger von Belang sind, da sie natürlich zu
hohe Ziffern ergeben, so möchte ich sie doch der Vollständigkeit
halber hier anfügen. (Tabelle VII.)
Tabelle VII.
Name des Autors
Baer.
Bergh.
Büttner.
Fabry.
Gauer.
Hasse.
Kuttuer.
Lappe .
Lappe .
Lochte.
Lochte.
Lochte.
Pryor .
Schultz.
Schultz.
Steinschneider. . . .
Wcdensky.
Welander.
Welander.
Summe.
Prozent .
Zahl der im Hospital
zur Untersuchung ge¬
langten P. P.
567
17S3
12
55
248
142
54
638
1449
172
114
70
197
147
527
57
306
78
163
6769
47 , 2 %
Zahl der
gonorrhoischen P. P.
348 = 61 %
633 = 35,5 °/ 0
11 = 91 , 6 %
33 = 60 %
85 = 34 %
84 - 59 %
38 = 70,4%
404 = 62,3%
694 - 47,7%
33 = 19,1%
46 - 40,3%
27 = 38,6%
112 = 56,8%
104 = 59 %
270 = 51,5%
36 = 65 %
113 « 51,2%
46 = 59 %
79 = 45,6%
3196
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
137
Es wird sich durch die Division mit 2,8 der speziellen
Prozentzahlen die allgemeine Prozentzahl für jeden Erkrankungs¬
herd ergeben (Tabelle VII).
Tabelle VIII.
1
Erkrankungsherd
i! v •
V agina j
yj i x Barthol.-
Rektum Drüge
Urethra
Cervix
Prozentzahl bezogen auf
gonorrhoische P. P.. .
ir '
4,9 %
I
8,3% | 10,5%
«9,5%
45,4 »/ 0
Prozentzahl bezogen auf
P. P. überhaupt . . . j
| 1,8% !
2,9% 3,8%
| 24,8%
16,2 %
Die gefundene Durchschnittszahl von 36 Prozent wird wohl
etwas zu niedrig sein, da bei einzelnen der von mir aus der Lite¬
ratur angeführten Untersuchungsresultaten bei der polizeilichen
Kontrolle nur das Urethralsekret auf Gonokokken geprüft wurde,
und weil die Ergebnisse der Cervikalgonorrhoe aus bereits ange¬
führten Gründen an sich etwas zu niedrig sein werden. Ferner
entgehen bei der polizeilichen Untersuchung wohl stets mehrere
gonorrhoisch erkrankte Prostituierte der Sistierung, da durch die
vorangegangene energische Reinigung das Sekret vollständig ent¬
fernt wird, oder, weil eben das Sekret an sich eine so geringe
Anzahl von Gonokokken beherbergt, daß dieselben in dem ange¬
fertigten Präparate zufällig fehlen können. Meiner Ansicht nach
würde bei der Berücksichtigung dieser Momente eine Durchschnitts¬
ziffer von 40—45 Prozent den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen.
Ein äußerst wichtiger Punkt für die Untersuchung der Prosti¬
tuierten ist noch die Frage, ob die Gonorrhoe bei älteren Prosti¬
tuierten in gleich häufiger Weise gefunden wird, wie bei jüngeren.
Während früher allgemein angenommen wurde, daß die älteren
Prostituierten fast als immun gegen die gonorrhoische Infektion an¬
zusehen seien, und diese Annahme auch eigentlich bis heute durch
die Handhabung der Kontrolle den älteren Prostituierten gegen¬
über ihren Ausdruck fand, hat neben Neisser, Lochte zu wieder¬
holten Malen darauf hingewiesen, daß ältere Puellae in gleicher
Weise wie die jüngeren gonorrhoisch infiziert werden. Er unter¬
suchte 44 seit mindestens 15—20 Jahre unter Sittenkontrolle
stehende P. P. das Urethral-, Cervical- und Bartholinische
Drüsensekret und fand bei 20,4 Prozent = 9 Prostituierten Gono¬
kokken, und zwar in der Cervix bei 6, in der Urethra bei 2, in
den Bartholinischen Drüsen bei 2 Prostituierten.
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138
Baermann.
Schultz hat ebenso eine kleine Statistik über die Häufigkeit
der Gonorrhoe bei älteren Prostituierten gegeben. — Man hatte
angenommen, da der gonorrhoischen Infektion gegenüber eine
Immunität nicht eintritt (Jadassohn), daß durch die oben ange¬
führten traumatischen Einflüsse, denen der Genitaltraktus der
Prostituierten fortwährend ausgesetzt ist, eine allmähliche Atrophie
a) Schultz. b) Baermann.
Zahl der gonorrhoisch befundenen P. P. von Schultz.
y Baermann Gesamtzahl der untersuchten P. P.
Zahl der gonorrhoisch befundenen P. P. von Baermann.
Abszisse = Kontrollater der P. P.
Ordinate = Anzahl der P. P. überhaupt, bezw. Anzahl der gonor¬
rhoischen P. P.
derjenigen Elemente, die den Gonokokken gewöhnlich als Schlupf¬
winkel dienen, eintrete. Nach meinen Untersuchungen habe ich
gefunden, daß ungefähr nach dem vierten Kontrolljahre eine
leichte relative Abminderung der Zahl gonorrhoischen Puellae ein¬
tritt. Ich glaube dies auf die geringere Frequentierung und auf
die bessere Orientierung in der persönlichen Prophylaxe der
älteren Prostituierten zurückführen zu müssen.
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t
Die Gonorrhoe der Prostituierten. 139
Nach Schultz läßt sich diese relative Abnahme nicht konsta¬
tieren. Ich habe die Befunde von Schultz und mir in zwei kleinen
Kurven vergleichshalber graphisch darzustellen versucht (Kurve I).
Einer von Neisser zusammengestellten diesbezüglichen Stati¬
stik verdanke ich folgende Angaben:
Bei 272 gonorrhoekranken Patienten wurde die Verteilung
auf das Lebensalter folgendermaßen festgestellt.
Lebensalter 15—20 j 21—26
26—30
31-35
36—40
41—45!
1
46—50
61—66
Zahl der gonorrhoischen Pro¬
stituierten .
i
41
'
105
r ~~ i
67
1 32
1
1
1 14
6
1
7
| _
Auf je 100 der in jeder
Altersstufe befindlichen
(925) P. P. kommen . .
t
i
45,0 j
|
38,0
25
15
1
1
15,7
14,3
38,8
!
Je 100 P. P. mit Gonorrhoe 1
verteilen sich . . . . ,
15,1
38,6
24,6
i
i
1 11,8
1
i
j 5,1
2,2
2,6
| —
Bei 272 gonorrhoekranken Patienten wurde die Verteilung
auf das Kon troll alter folgendermaßen festgestellt
Kontrollalter
1 .
2 - !
3 .
! 4 . 1
5 .
6 .
7.
8 .
Zahl der gonorrhoischenP.P. Ii
36
33 1
1 19
26 |
30
25
.
| 22
23
Auf je 1 00 P. P. (925) der
betreffenden Altersklasse j
kommen.
44,4
35,1
1
26,7
1
37,1
45,4
1
i
37,1
23,4
23,2
Je 100 Gonorrhöen ver¬
teilen sich.
13,2
12,1
7,0
:
9,6
i 1
11,0
9,2!
8,1
8,5
Kontrollalter
9.
10.
n. |
12 . !
13.
14.
15.
i über
1 l 6
Zahl der gonorrhoischenP.P.
9 !
15
5
7
6
3
3
10
Auf je 100 P. P. (925) der
betreffenden Altersklasse
kommen.j
!
1
18,5 I 81,9
13,1
1
!
21,2
25,0
23,0
1 21,4
i
I
17,5
Je 100 Gonorrhöen ver¬
teilen sich.
I
1 I
3,3
5,5
1,8
2,6
2,2
M
m
1
j 3,7
Auch aus diesen Zahlen ist zu ersehen, daß mit höherem
Lebensalter bezw. Kontrollalter eine gewisse Abnahme der Häufig¬
keit gonorrhoischer Infektionen eintritt. Jedenfalls ist aber
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140
ßaermann.
dieselbe nicht so bedeutend, daß man aus ihr eine sel¬
tenere Kontrolluntersuchung älterer Prostituierter ab¬
leiten könnte, zumal ja die Zahl der Prostituierten, die jenseits
des 35 Lebensalters ihr Gewerbe noch ausüben, eine sehr geringe
ist und deshalb eine besondere Arbeitsvennehrung durch ihre
ständige Untersuchung nicht eintritt
Eine weitere belangreiche Frage, die ich bereits weiter oben
gestreift, und die wir uns als Konsequenz der polizeilichen Sistierung
und Internierung gonorrhoekranker Prostituierter stellen müssen ist
die: Haben wir von der Behandlung der Prostutierten-Gonorrhoe
überhaupt praktische Erfolge zu erwarten, d. h. ist die weibliche
Gonorrhoe an sich heilbar und tritt bei Prostituierten nicht so
rasch eine Beininfektion ein, daß man an die Behandlung überhaupt
nicht herangehen soll? Diese Frage wurde vor einigen Jahren aufs
heftigste diskutiert und es standen sich ein ziemlich schroffes
„Für“ und „Wider“ gegenüber, —
Während Kromayer, Freudenberg u. andere die Behand¬
lung der Prostituierten für vollständig nutzlos hielten, Behrend
und Blaschko eine mehr oder minder exspektative Therapie, die
zu ihrem Endzweck vor allem die Beseitigung der klinischen
Symptome (Fluor etc.) hatte, empfahlen, hatNeisser und mit ihm
Hammer, Jadassohn, Schultz, Marschalko, Parädi u. viele
andere eine energische, antiseptische Behandlung der Prostituierten-
Gonorrhoe empfehlen und bei der Frage der endgültigen Heilung
den Hauptwert auf den Gonokokkenbefund gelegt. Und meines
Ermessens nach ist für die Prostituierte einzig und allein der
Gonokokkenbefund das ausschlaggebende. Alle übrigen Erschei¬
nungen wie chronische nicht infektiöse Urethritis, chronischer
Cervikalkatarrh, sind für die Prostituierte an sich bedeutungslos.
Denn wenn man ein totales Verschwinden aller klinischen Sym¬
ptome erreichen wollte, so wäre jede Prostituierte den größten Teil
des Jahres im Hospital. Die nicht gonorrhoischen aber trotzdem
infektiösen Urethral- und Cervikalkatarrhe sind so überaus selten,
daß sie ruhig übersehen werden können. Wenn wirklich auch bei
sehr chronischen Cervikalkatarrhen Gonokokken nicht festgestellt
werden, trotzdem sie de facto noch vorhanden sind, so resultiert
daraus eine geringe Gefahr, da diese sehr chronischen Fälle relativ
selten Infektionen verursachen.
Leider fehlen uns Statistiken, die einen exakten Vergleich
zwischen der exspektativen und antiseptischen aktiven Behandlung
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
141
ermöglichen. Von einer vollständigen Verwerfung aller therapeu¬
tischen Eingriffe überhaupt ist ja ganz abzusehen, denn mit ihr
würde die Kontrolle ja an sich irelevant werden. Es wird stets
die Nutzlosigkeit der Gonorrhoeuntersuchung proklamiert, aber eine
konsequente allgemeine Durchführung derselben ist bis jetzt noch
nicht versucht worden.
Was die Heilungserfolge bei der aktiven, antiseptischen
Behandlung betrifft, so steht leider nur eine kleine Anzahl stati¬
stischer Angaben zur Verfügung, die überdies z. T. nicht absolut
genau sind. Trotzdem beweisen sie aber zweifellos, daß ungefähr
die Hälfte der Gonorrhöen geheilt werden. Ich halte diese Zahl
für viel zu niedrig, da gewöhnlich aus praktischen Gründen die
Behandlung zu früh unterbrochen wird.
Hammer gibt von 80 Urethralgonorrhoen 50 geheilte an.
Lappe: Von 893 P. P., die im Hospital wegen Gonorrhoe gelegen
hatten, wurden bei Wiederaufnahme (aus anderen Gründen) 178 = 45,4 °j 0
geheilt befanden. (Die nicht wieder aufgenommenen P. P. fallen natür¬
lich weg, würden aber bei einer Untersuchung den Heilungsprozentsatz
noch erhöhen.)
Ich selbst habe unter 92 Fällen teils ambulatorisch, teils
stationär behandelter Gonorrhöen, deren Krankengeschichten ich genau
durchgesehen, 86 Heilungen konstatieren können.
Harttung: Von 72 P. P., die im Hospital wegen Gonorrhoe be¬
handelt worden waren, wurden 27 = 37,5 bei der Wiederaufnahme ge¬
sund befunden.
Schultz: Von 47 Urethralgonorrhoen werden 38 geheilt entlassen.
„ 81 Cervikal „ „76 „ „
„ 76 Uterus „ „ 53 „ „
(Diese Fälle sind durch mehrmalige Untersuchungen als Heilungen gesichert.)
Von 33 P. P., die im Hospital wegen Gonorrhoe behandelt worden,
wurden 19 = 57,5 °/ Q ohne G. C. wieder aufgenommen.
Marschalko gibt an, daß er alle Urethralgonorrhöen (99 von 161
gonorrhoischen P. P.) zur Heilung brachte, von 108 Cervikal- bezw. Uterin¬
gonorrhöen wurden 101 geheilt. Von den 7 ungeheilten litten 8 an
Adnex-Tumor.
Parädi gibt auf 244 Uterusgenorrhöen 232 Heilungen (intrauterine
Behandlung) an.
Diesen mehr oder minder günstigen Angaben stehen andere
gegenüber, die doch beweisen, daß, wie anfangs bemerkt, ein nicht
zu kleiner Prozentsatz ungeheilt und damit infektionstüchtig ent¬
lassen wird. Es wird aber fast stets, wie schon Neisser und
Jadassohn hervorgehoben haben, durch die Hospitalbehandlung ein
großer Teil der akuten Gonorrhöen in eine chronische Form über-
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142
Baermann.
geführt und damit ihre Gefährlichkeit um ein Bedeutendes herab¬
gesetzt. Was mit den absolut unheilbaren Gonorrhöen ge¬
schehen soll, ist natürlich schwer zu entscheiden. Das zweckent¬
sprechendste wird wohl sein, sie in steter ambulanter Behandlung
zu behalten, um ihren Gonokokkenbefund stets in gewissen, mäßigen
Grenzen zu halten.
Jadassohn: Von 404 behandelten Gonorrhöen bleiben 55 länger
als drei Monate ungeheilt. Von diesen 55 bleiben 14 länger als sechs
Monate ungeheilt. (Es muß jedoch beigefügt werden, daß nur 14 von
diesen 55 an Gonorrhoe allein litten, alle übrigen hatten außerdem
noch andere langwährende venerische Erkrankungen.
Neisser nimmt die Zahl der nicht heilbaren Gonorrhöen als eine
sehr niedrige an.
Schultz gibt an, daß 30°/ 0 der Fälle ungeheilt bleiben.
Hammer gibt an, daß die Zahl der definitiv nicht heilbaren
Gonorrhöen keine sehr kleine sei.
Ich selbst fand unter 58 stationär behandelten Gonorrhöen in
der Breslauer Klinik sechs ungeheilte. Es ist jedoah diese Zahl durch
die zum Teil aus praktischen Gründen erfolgten zu frühen Entlassungen
etwas beeinflußt.
Aus den obenstehenden Zahlen kann man zum Teil auch
auf die Häufigkeit der Beinfektionen schließen. Während Kro-
mayer und auch Strömberg und andere der Meinung sind, daß
eine Reinfektion sehr rasch und regelmäßig eintrete, beweisen
doch die oben genannten Zahlen bezw. Befunde, die bei der Wieder¬
aufnahme, also gewöhnlich nach Wochen und Monaten und auch
Jahren erhoben wurden, daß ein großer Teil der Prostituierten
von einer rasch eintretenden Reinfektion verschont bleibt
Die Zahl der nicht Reinfizierten ist natürlich wahrscheinlich auch
eine höhere, da wohl ein Teil der nicht Wiederaufgenommenen
von einer Reinfektion verschont geblieben ist.
Lappe: Von 178 P. P. sind wahrscheinlich 16 = 3,3 reinfiziert
worden. (Nach Monaten bis Jahren.)
Marschalko: Von 101 als geheilt entlassenen Cervikal- bezw.
Uteringonorrhöen waren unter den Wiederaufgenommenen (eine Woche
bis fünf Monate) 29 G. C. frei gefunden.
Nach obiger Statistik sind also 41,3 °/ 0 ; 37,5 °/ 0 ; 57,5 °/° nicht
reinfiziert worden (zu niedrige Zahlen). —
Was nun die Heilungsdauer der hospitalär behandelten Gonor¬
rhöen betrifft, so läßt sich mit den in der Literatur auffindbaren
Zahlen, denen ich eine kleine statistische Angabe beigefügt, als
Durchschnittszahl der Behandlungstage 37 berechnen. Diese
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
143
Zahlen sind dadurch beeinflußt, daß z. T. aus praktischen Gründen
Prostituierte vor der absolut sicher gestellten Heilung entlassen
werden mußten. Meine Zahlen entstammen nur sicher beobachteten
Fällen. Ich habe mir auch erlaubt, die Behandlungsdauer bei
30 ambulatorisch behandelten Fällen beizufügen.
Neisser gibt aus dem Allerheilig. Hospital 1888/89 folgende Daten
für die Behandlungszeit an.
Für Urethralgonorrhöen bei einer Totalverpflegungsdauer von 2048
Tagen und 65 Prostituierten 81,5 Tage.
Für Cervikalgonorrhöen bei 1186 Tagen und 88 P. P. 81,2 Tage.
Für Cervikal- und gleichzeitiger Urethralgonorrhoe bei 8128 Tagen
und 90 P. P. 34,7 Tage.
Also eine durchschnittliche Behandlungsdauer von 82,9 Tagen bei
6362 Behandlungstagen überhaupt und 198 P. P.
Für das Jahr 1889/90 gibt er eine durchschnittliche Behandlungs¬
dauer von 38 Tagen: 7336 Tagen überhaupt und 198 P.P. an.
Jadassohn gibt eine mittlere Behandlungszeit von 5,3 Wochen an.
(Diese Zahlen sind durch gleichzeitig best. Lues, Bubonen usw. beeinflußt)
Hammer gibt 21,6 Tage an (manchmal zu frühe Entlassung wegen
Baummangels.)
Bergh gibt 82,2 bezw. 46,7 Behandlungstage f. Urethralgonorrhoean.
,, ,, 35,7 ,,70 ,, ,, Cervikal „ ,,
(Zwei getrennte Abteilungen.)
Strömberg gibt eine mittlere Behandlungsdauer von 35,3 Tagen
an. (Aus s. Statistik berechnet.)
Schultz gibt als höchste Behandlungsdauer bei seinen intrauterinen
Injektionen 40—50 Tage an.
Baermann: (Breslauer Universitäts-Hautklinik.)
1. Hospitalbehandlung. Bei 12 Fällen bestand Ur. allein, bei
13 C. allein, bei 15 ü. u. C.
Urethra (42 Fälle) Behandlungsdauer = 14,9
Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 4,3
Dauer der Probeuntersuchungen = 14,6
Cervix (25 Fälle) Behandlungsdauer = 17,5
Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 4,6
Dauer der Probeuntersuchungen = 15,2
Es ergibt sich daraus als Durchschnitt überhaupt 29,5 Ta$
ganzen 44 Fälle.
2. Ambulatorische Behandlung. Bei 17 Fällen bestand Ur. allein,
bei einem Fall C allein, bei 26 U. u. C.
Urethra (27 Fälle) Behandlungsdauer = 58,2
Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 5,4
Dauer der Probeuntersuchungen =46
Cervix (18 Fälle) Behandlungsdauer = 78,1
Zahl der Probeuntersuchungen nach Fehlen d. G. C. = 5,9
Dauer der Probeuntersuchungen =41,4
= 104,6T.
im ganzen.
= 114,5T.
im ganzen.
= 29,5 T.
im ganzen.
= 32,7 T.
im ganzen.
'e, für im
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144
Baermann.
Es ergibt sich daraus als Durchschnitt überhaupt 96,9 Tage für
im ganzen 80 Fälle.
Jesionek gibt für München als mittlere Heilungsdauer an.
1894 = 48,7
1895 = 35,2
1896 = 26,1
1897 = 21,9
Für Nichtheilungen gibt er als Durchschnittsbebandlungstag 18,5
Tage an (doch ist in dieser Zahlenangabe auch JS und Ulcus molle
einbegriffen).
Marschalko gibt als durchschnittliche Heilungsdauer 28 Tage
an — für Urethra, für Uterus durchschn. 56 Tage (intrauterine Behand¬
lung) für Bartholinitis 27 Tage; die Resultate wurden durch 2—3 in
fünftägigen Intervallen vorgenommenen, Untersuchungen geprüft.
Para di gibt für die Uterusgonorrhoe (intrauterine Behandlung)
als Durchschnittszahl 40 Tage an.
Im Verlaufe meiner Untersuchungen habe ich neben der
Gonorrhoe auch die Zahl der luetischen Prostituierten, so¬
weit dies anamnestisch und durch bestehende luetische Erschei¬
nungen festzustellen war, zu fixieren gesucht. Gleichzeitig wurde
auch das Alter und das Kontrollalter von 292 Prostituierten
notiert Ich habe das Verhältnis dieser einzelnen Faktoren mit
Einschluß der Gonorrhoe in ihren Beziehungen zu der Gesamtzahl
der Prostituierten in Kurve II niedergelegt. Aus dieser Kurve, die
das einfache Verhältnis zwischen Gonorrhoe, Syphilis und Gesamt¬
zahl der Prostituierten darstellt, ist zu ersehen, daß bei den
jüngsten Prostituierten im 18. und 19. Jahre die Gonorrhoe
um ein geringes häufiger ist als die Syphilis. Mit dem
20. Jahre jedoch übersteigt die Syphilis die Gonorrhoe bereits um
das Doppelte, um dann bei den älteren Prostituierten in ziemlich
gleichem Verhältnis weiterzuschreiten. Die Kurve stellt eine Art
von Momentaufnahme des gesundheitlichen Zustandes der
Breslauer Prostitution dar. Welche Gefahren demjenigen, der
dieseProstitutionfrequentiert, drohen, bedarf wohl keiner
näheren Erklärung (Kurve II).
Die folgende Kurve III gibt das Verhältnis des Kontroll-
alters zur Gesamtzahl bezw. zur Syphilis und Gonorrhoe an. Auch
aus ihr ist zu konstatieren, daß in den beiden ersten Kontroll-
jahren die Syphilis unter der Gonorrhoe steht. Daraus ergibt
sich die Tatsache, daß die meisten Prostituierten bereits
gonorrhoisch infiziert unter Kontrolle kommen, daß sie
aber erst im ersten bis zweiten Kotrolljahre luetisch
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
145
infiziert werden. Es ist deshalb das zweite bis vierte Kontroll-
jahr, das im allgemeinen mit dem 20. bis 22. Lebensjahre gleich¬
zusetzen ist, das gefährlichste, da in dieser Zeit — der kon-
dylomatösen Periode — die Infektionsmöglichkeit durch die primären
und sekundären Erscheinungen am größten ist. Ein weiteres
wichtiges Moment, das sich aus der Kurve ergibt, ist die Tatsache,
daß in den ersten beiden Kontrolljahren die gonorrhoische In¬
fektion weitaus häufiger als in den späteren Kontrolljahren ist
-Gesamtzahl der P. P. = 292.
-Syphilis = 190.
—- Gonorrhoe = 92.
Abszisse = Alter der untersuchten P. P.
Ordinate = Anzahl der erkrankten P. P.
Während das Verhältnis in den ersten beiden Kontrolljahren gleich
1 zu 2 ist, fällt es im dritten Jahre auf 1 zu 3, im vierten Jahre
auf 1 zu 4, im fünften bis achten Jahre auf 1 zu 5 bezw. 6. Die
Syphilis verhält sich in den ersten beiden Jahren wie 1 zu 5, im
dritten Jahre wie 1,2 zu 2, um dann in diesem Verhältuis auch
in den kommenden Jahren ziemlich stabil zu verbleiben (Kurve III).
Aus den beiden Kurven läßt sich ferner ersehen, daß das
Hauptkontingent der Prostituierten sich in einem Alter von 21 bis
33 Jahren befindet, dort plötzlich in einem ziemlich steilen Abfall
zu niederen Zahlen übergeht. Der Höhepunkt fällt mit dem 24.
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146
Baermann.
bezw. 26. Lebensjahre zusammen, was dem dritten Kontrolljahre
entspricht. Daraus ergibt sich, daß in Breslau die meisten Mäd¬
chen erst mit dem 21. bis 23. Lebensjahre der Prostitution anheim¬
fallen. Damit stimmt eine von Neisser stammende, ebenfalls aus
der Breslauer Kontrolle (1888) berechnete Statistik bezüglich der im
-Gesamtzahl der untersuchten P. P. = 292.
-Zahl der luetischen P. P. = 190.
- Zahl der gonorrhoischen P. P. = 92.
Abszisse = Kontrollalter der untersuchten P. P.
Ordinate = Anzahl der untersuchten P. P.
kondylomatösen Stadium der Syphilis stehenden Prostituierten voll¬
ständig überein. Auch hier fällt der Höhepunkt auf das 3. Kontroll-
jahr bezw. auf das 21. bis 25. Lebensjahr.
Wenn ich nun zum Schluß die praktischen Konsequenzen
aus meinen Untersuchungen ziehe, so muß ich die Tatsache, daß
ich in dieser kurzen Zeit eine derartig große Anzahl von sicheren
Gonorrhöen feststellen konnte, als den gravierendsten Beweis für
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
147
die Notwendigkeit einer häufigen und genauen mikro¬
skopischen Untersuchung der Prostituierten auf Gono¬
kokken ansehen. Da bei den meisten klinische Symptome, die
mit Sicherheit auf eine gonorrhoische Infektion hingewiesen hätten,
fehlten, so wären mindestens 90°/ 0 der hospitalären Be¬
handlung entgangen. Es muß bei der bestehenden ungeheuren
Ausbreitung von Gonorrhoe, die in ihren Folgen für das befallene
Individuum nicht hinter der Syphilis steht, verlangt werden, daß
eine Untersuchung des Urethral- und Cervikalsekretes, der bartho-
linischen Drüse wöchentlich zweimal, die Untersuchung des Rek¬
tums monatlich einmal stattfindet.
Ich habe aus meinen eigenen Untersuchungen ersehen, daß
es möglich ist, mit einem Zeitaufwande von vier Stunden 40 Pro¬
stituierte auf das Genaueste zu untersuchen, d. h. aus Urethra
und Cervix und aus dem Sekret der bartholinischen Drüse je ein
mikroskopisches Präparat zu prüfen und eine vollständige Revi-
dierung des Körpers auf luetische Symptome vorzunehmen. Die
genannte Zahl würde einer Wochenzahl von 120 Prostituierten
entsprechen. Wenn ein und derselbe Untersuchungsarzt sich mit
einer derartig leicht übersehbaren Anzahl von Prostituierten zu
beschäftigen hat, so wird ihm durch die Kenntnis der Anamnese
die Untersuchung erheblich erleichtert und er wird wenigstens für
die Zeit zwischen Untersuchung und nächster Kohabitation eine
mehr oder minder große Sicherheit für die Gesundheit der Pro¬
stituierten geben können. Dieses Vertrautsein mit der Anamnese
jeder einzelnen Prostituierten wird ihm bei der Beurteilung auch
aller übrigen Krankheitserscheinungen von großem Nutzen sein.
Neisser berechnet die Zeit, welche notwendig ist, um 100 Prosti¬
tuierte, wie oben angegeben, zu untersuchen, für zwei Arzte auf
sechs Stunden. Jadassohn gibt an, daß ein Arzt mit einer ge¬
schulten Wärterin in zwei Stunden 15—20 Prostituierte in oben
angegebener Weise untersuchen kann. Dies würde mit meiner
Berechnung übereinstimmen. Blaschko hält einen Untersuchungs¬
arzt mit einem Volontär für die tägliche Untersuchung von 30 bis
40 Prostituierte für ausreichend.
Ein Punkt, der noch zu erledigen ist, ist die Frage, ob alle
gonorrhoisch erkrankt befundenen Prostituierten einer Hospital¬
behandlung überwiesen werden sollen, oder ob bei chronischen
Prozessen mit sehr spärlichem Gonokokkenbefund eine ambula¬
torische Behandlung genügt Es ist ja eine Erfahrungstatsache,
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148
Baermann.
daß bei diesen chronischen Cervikalgonorrhöen häufig erst nach
einer Reihe von Kohabitationen eine Infektion eintritt. Die am¬
bulatorische Behandlung dieser Fälle ist auch insofern
angebracht, als dadurch eine zu häufige Internierung der Pro¬
stituierten vermieden werden kann. Eine zu strenge Handhabung
der Hospitalbehandlung würde erfahrungsgemäß nur eine Zunahme
der geheimen Prostitution auf Kosten der kontrollierten herbei¬
führen. Gewöhnlich zwingen schon rein lokale Räumlichkeitsfragen
dazu, nur die mehr oder minder hochgradig infektiösen Prostituierten
zu internieren.
Wenn ich das Resume aus meinen Untersuchungen ziehe, so
muß ich als das vornehmste Resultat derselben die Richtigkeit der
N eis s er sehen Forderung aufstellen. Ist dieselbe nur einmal wirk¬
lich einige Jahre überall konsequent durchgeführt, so werden sich
ihre Vorteile von selbst auch weiteren Kreisen offenbaren.
Zum Schlüsse liegt mir noch die angenehme Pflicht ob, meinen
hochverehrten Chef, Herrn Geheimrat A. Neisser, für das rege
Interesse, das er meiner Arbeit entgegegenbracht, Herrn Geheimrat
Professor Jacobi für die gütige Überlassung des Prostituierten-
Materials meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
151
54. Lappe. Statistische Beiträge zur Blenorrhoe der Prostituierten.
Allgemeine Medizinische-Zentralzeitung. 1897. Nr. 7.
55. Laser. Gonokokkenbefund bei 600 Prostituierten. Deutsche medi¬
zinische Wochenschrift. 1893. Nr. 19.
56. Lochte. Über den praktischen Wert des mikroskopischen Gono¬
kokkennachweises. Monatshefte für praktische Dermatologie. 1898. Band 27.
57. Derselbe. Mikroskopische Gonokokkenbefunde bei alten und ge¬
fangenen Prostituierten. Monatshefte für praktische Dermatologie. 1901.
Band 33.
58. Luczny. Zur Pathologie und Therapie der frischen weiblichen
Gonorrhoe. Inaugural Dissertation. Berlin.
59. Mandl. Zur Kenntnis der Vaginitis gonorrhoica. Monatshefte für
Geburtshilfe und Gynäkologie. Band V. Heft 1.
60. Marschalko. Ist die Gonorrhoe der Prostituierten heilbar? Ber¬
liner klinische Wochenschrift 1902. Nr. 15.
61. Marti ne au. Le$ons sur les deform, vulv. et anales. Paris 1884.
62. Derselbe. Le$ons clinicqu. sur les blenorrhagies chez la femme.
Paris 1885. Ref. in Virchow-Hirsch Jahresberichten 1884. L
63. M e n g e - K r ö n i g. Bakteriologie des weiblichen Genitalkanales. Teil L
64. Neis8er. Über die Mängel der z. Z. üblichen Prostituiertenunter¬
suchung. Deutsche medizinische Wochenschrift 1890.
65. Derselbe. Über die Bedeutung der Gonokokken für Diagnose und
Therapie. Kongreßbericht der D. Dermatologischen Gesellschaft Prag 1889.
66. Derselbe. Die Prinzipien der Gonorrhoebehandlung. II. internatio¬
naler Dermatologenkongreß. Wien 1892.
67. Derselbe. Welchen Wert hat die mikroskopische Gonokokkenunter¬
suchung? Deutsche medizinische Wochenschrift 1893. Nr. 29« u. 30.
68. Derselbe. Über die Bedeutung der Gonokokken für Diagnose und
Therapie der weiblichen Gonorrhoe. (Frankfurter Gonorrhoe-Debatte). Zen¬
tralblatt für Gynäkologie. 1896. Nr. 42.
69. Derselbe. Über Gonorrhoebehandlung Prostituierter. Berliner kli¬
nische Wochenschrift 1898. Nr# 10.
70. Derselbe. Nach welcher Richtung läßt sich die Reglementierung
der Prostituierten reformieren. Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten. Band I. Heft 3.
71. Neuberger. Über Analgonorrhoe. Archiv für Dermatologie und
Syphilis. 1893. Band 29.
72. Nickel. Über die sogenannten syphilitischen Mastdarmgeschwüre.
Virchows Archiv CLV.
73. Nunn. Rectal gonorrhoea in the femals* The med. Standard.
Chicago 1894.
74. Orlow. Bakteriologische Untersuchungen bei Prostituierten. Ver¬
handlungen der Moskauer venerolog. und dermatologischen. Gesellschaft
1899—1900. Band 9.
75. Parädi. Über die Behandlung der Uterusgonorrhoe bei Prosti¬
tuierten. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1903.. Band 65.
76. Pollaczek. Zur Ätiologie der Bartholinitis. Monatshefte für
praktische Dermatologie. 1890. Band X.
12*
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152
Baermann.
77. Profeta. Trattato pratico delle malattie veneree. Palermo 1888.
78. Pryor. Latent Gonorrhoea in women. Journal of ent and. genito
urinary dk 1895.
79. Rosinsky. Ober gonorrhoische Erkrankung der Mundhöhle Neu¬
geborener. Zeitschrift] für Geburtshilfe und Gynäkologie. Rand XXII.
Heft 1. u. 2.
80. Sänger. Die Tripperansteckung beim weiblichen Geschlecht
Leipzig 1889.
81. Derselbe. Über residuale Gonorrhoe. Frankfurter Gonorrhoe-Debatte.
ZentralWatt für Gynäkologie, 1896. Nr. 42.
82. Schauta. Lehrbuch der gesamten Gynäkologie.
88. Seholtz. Beiträge zur Dermatologie und Syphilis. Festschrift für
Neumann.
84. Scholz. Über Tripper und die zur Verhütung seiner Ausbreitung
geeigneten sanitätspolizeilichen Maßregeln. Vierteljahrschrift für gerichtliche
Medizin und öffentliche Gesundheitspflege. 1892. N. F. Band III.
85. Schuchardt Eein Beitrag zur Kenntnis der syphilitischen Mast-
darmgeschwüre. Virchows Archiv. Band CLV.
86. Schultz. Beiträge zur Pathologie und Therapie der weiblichen
Gonorrhoe. Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1896. Band 36.
87. Derselbe. Beitrag zur Patologie und Therapie der Uterusgonorrhoe.
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, Band XXXX.
88. Staub. Diskussion überNeisser: „Prinzipien der Gonorrhoebehand¬
lung. II. internationaler Dermatologen-Kongreß. Wien 1892. p. 317.
89. Steinschneider. Über den Sitz der gonorrhoischen Infektion
beim Weibe. Berliner klinische Wochenchrift 1887. Nr. 17.
90. Stroganoff. Zur Bakteriologie des weiblichen Genitalkanals. Zen¬
tralblatt für Gynäkologie. 1895. Nr. 88.
91. Stroemberg. Die Prostitution. Stuttgart 1899. Ferdinand Enke.
92. Derselbe. Die Resultate der bakteriologischen Forschungen bei
der Beobachtung des Gesundheitszustandes der Prostituierten in Dorpat
Russisches Journal für Haut und Geschlechtskrankheiten. 1901. Band IL
Nr. 9.
93. Thal mann. Züchtung der Gonokokken anf einfachen Nährböden.
Zentralblatt für Bakteriologie: I. Abteilung, Band 27. Heft 34.
94. Derselbe. Zur Biologie der Gonokokken. Zentralblatt für Bak¬
teriologie, I. Abteilung, Band 81, Heft 14.
95. Touton. Die Gonokokken im Gewebe der bartholinischen Drüse.
Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1893. Band 25.
93. Derselbe. Der Gonokokkus und seine Beziehungen zu den blenor-
rhoischen Prozessen. Berliner klinische Wochenschrift. 1894.
96. Tscblenow. Über die Beziehungen zwischen Elephantiasis vulvae
und Syphilis. Archiv für Dermatologie und Syphilis. Band 65. Heft 2.
97. Tuttle. Gonorrhoea of the rectum. Med. and sorg, report. New-
York 1892. I.
98. Waelseh. Über die Beziehungen zwischen Bectum striktur und
Elephantiasis vulvae und Syphilis. Archiv für Dermatologie und Syphilis.
1902. Band 59.
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Die Gonorrhoe der Prostituierten.
153
99. Welander. Untersuchung über die pathogenen Mikroparasiten
der Gonorrhoe. Verhandlungen des Vereins der Ärzte zu Stockholm (Oktober
1883). Ref. in Monatsheften für praktische Dermatologie 1884. Band Ul.
Heft 4.
100. Derselbe. Untersuchungen über die pathogenen Mikroben der Ble-
norrhagie. Gazette medic. de Paris. 1884. Nr. 23.
101. Derselbe. Le Bulletin medical. Paris 1889. Nr. I.
102. Derselbe. Gibt es eine Vaginitis gonorrhoica bei erwachsenen Frauen?
Archiv für Dermatologie und Syphilis. 1892. Band 24.
103. Derselbe. Ober die Untersuchung der Frauen in Hinsicht auf die
Diagnose der Gonorrhoe. Hygiea 1896. Band LVIII.
104. Wertheim. Beitrag zur Kenntnis der Gonorrhoe beim Weibe.
Wiener klinische Wochenschrift. 1890. Nr. 25.
105. Derselbe. Die aszendierende Gonorrhoe beim Weibe. Archiv für
Gynäkologie. Band 42. Heft 1.
106. Derselbe. Uterusgonorrhoe. Verhandlungen der deutschen Gesell-
schaft für Gynäkologie. 1895. Band VI.
107. Derselbe. Zur Frankfurter Gonorrhoe-Debatte. Zentralblatt für
Gynäkologie. 1896. Nr. 48.
108. Winter. Die Mikroorganismen im Genitalkanal der gesunden
Frau. Zeitschrift für Geburtshilfe. Band XIV.
109. Wolff. Lehrbuch der Haut und Geschlechtskrankheiten. 1893.
110. Derselbe. Über das Verhältnis der Lues und der venerischen
Krankheiten in Strafiburg. Monatshefte für praktische Dermatologie. 1885.
Band IV.
111. Zweifel. Gonorrhoische Salpingitis. Vorlesungen über klinische
Gynäkologie. Berlin 1892.
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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten.
Vortrag, gehalten von Landgerichtsrat Kade.
Meine Herren!
Die Darlegungen des Herrn Vorredners haben erwiesen, in
welchem gefahrdrohenden Umfange gerade auf dem Gebiete der
Geschlechtskrankheiten die Kurpfuscherei betrieben wird. Diese
nach Möglichkeit einzuschränken — denn auf ihre völlige Besei¬
tigung ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen — wird eine der
Hauptaufgaben der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten sein und bleiben.
Die zuverlässige Feststellung und die sachgemäße, verständnis¬
volle Behandlung der Geschlechtskrankheiten wird nur einem Arzte,
dem wissenschaftlich und universell gebildeten Heilkundigen, mög¬
lich sein. Jede sonstige Behandlung derartiger Kranker wird in
der Kegel ohne weiteres den Verdacht der Kurpfuscherei gegen
sich haben, weil sie in erster Reihe auf Gewinn oder mindestens
auf Verheimlichung hinausläuft und außerdem die drohenden Ge¬
fahren der weiteren Ansteckung mißachtet, insbesondere aber die
Einwirkung der Krankheit auf den individuellen Gesamtorganismus
zu überwachen unfähig ist Hierzu kommt, daß gerade die Ge¬
schlechtskranken besonders gern den Kurpfuscher aufsuchen werden,
weil sie sich ihrer Krankheit schämen und sie möglichst zu ver¬
bergen bestrebt sind, aus diesem Grunde auch eine briefliche Be¬
handlung unter einem Pseudonym oder postlagernd vorziehen, be¬
sonders wenn diese durch aufdringliche Reklame anempfohlen wird.
So wuchert denn besonders ausgebreitet gerade auf dem Ge¬
biete der Geschlechtskrankheiten unheilbringend die Kurpfuscherei
Diese zu bekämpfen, sind verschiedene Wege vorgeschlagen
worden, die wir auf ihre Gangbarkeit und zielbringeude Zuver¬
lässigkeit prüfen wollen.
Die Heilung der durch die Kurpfuscherei verursachten Mi߬
stände der natürlichen Entwickelung der Dinge zu überlassen und
nur durch Hebung der allgemeinen Bildung, durch Bekämpfung
des Aberglaubens und durch Aufklärung nachhelfend einzugreifen,
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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten.
155
würde bei dem Umfange, den die Mißstände bereits angenommen
haben, und der großen Gefahr, die aus ihnen droht, eine kur¬
pfuschende Therapie sein. Wenn auch vorwiegend Unkluge in die
Hände der Kurpfuscher fallen und erst durch Schaden klüger
werden, so ist doch ihre Zahl und die durch sie bedingte all¬
gemeine Gefahr zu groß, als daß diese sich durch Selbstregu¬
lierung wieder beheben könnte.
Nur mit Hilfe von Gesetzesvorschriften, therapeutischen Ma߬
nahmen der Staatsregierung hinsichtlich des Staatskörpers, kann
aus diesem der gefährliche Krankheitsstoff der Kurpfuscherei wieder
ausgeschieden werden.
Reichen die vorhandenen Gesetze hierzu aus?
Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir zunächst den
Begriff der Kurpfuscherei feststellen. Der Senatspräsident im
Reichsversicherungsamt Geh. Regierungsrat Dr. Flügge bezeichnet
in einem Aufsatze in der Deutschen Juristenzeitung vom 15. April
1903 als Kurpfuscherei „diejenige Behandlung eines Kranken
durch nicht-ärztlich gebildete Personen, die im Wider¬
spruche zu ärztlichen Zulassungen oder Anordnungen
steht oder stehen würde, wenn der Arzt um sie gewußt
hätte“.
Nach der Reichs-Gewerbeordnung ist das Kurieren von Kranken
an sich jedermann gestattet Erst wenn es in fehlerhafter Weise
geschieht, wird es zu einem Kurpfuschen. Fehlerhaft ist aber
ein Kurieren, wenn es gegen die feststehenden, klaren Grund¬
sätze der medizinischen Wissenschaft und der ärztlichen Heil¬
tätigkeit verstößt Wie auf allen anderen Gebieten, so kann auch
auf dem der Heilkunde nur die Wissenschaft die Wege für das
richtige Handeln weisen. Daß der Arzt sich im Besitze der zur
Ausübung der Heilkunde erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten
befindet, dafür leistet seine Approbation, die nur auf Grund
schwerer und eingehender Prüfungen erteilt wird, hinreichende
Gewähr. Dafür, daß der krankenbehandelnde Nichtarzt mit den
Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft vertraut sei, gibt
nichts eine Sicherheit Dennoch hat dieser gleiche Rechte wie der
Arzt, und dazu noch viele Freiheiten, die diesem, sei es aus
Standesrücksichten, sei es aus anderen Gründen, beschränkt sind.
Hier liegt die schwerwiegende Ungerechtigkeit der Gewerbe¬
ordnung mit ihrer Gewerbefreiheit gegenüber den approbierten
Ärzten. Diese müssen eine Reihe von Jahren einem kostspieligen
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156
Kade.
Studium obliegen und viele Prüfungen bestehen, ehe sie mit der
Ausübung der Heilkunde als Arzt beginnen können. Die Rück¬
sicht auf die Standesehre verbietet ihnen, ihre Tätigkeit den Kranken
anzupreisen, ihre Gewissenhaftigkeit, abwesende Kranke zu be¬
handeln.
Der krankenbehandelnde Nichtarzt dagegen beginnt seine
Praxis aus dem Stegreif ohne jedes Vorstudium. Marktschreierische
Reklame und sonstige Hilfsmittel, Unkluge oder Verzweifelte an¬
zulocken, verschaffen ihm Patienten. Sein Gewissen und seine
Pflicht verbietet ihm nicht, diese brieflich zu behandeln. Keine
Gebührenordnung beengt sein Honorar.
Begeht er ein Versehen in seinem Berufe, so drohen ihm
lediglich dieselben Strafbestimmungen, wie dem Arzt, der sich
einer Fahrlässigkeit schuldig gemacht hat. Ja vielleicht wird dieser
mit höherer Strafe belegt, weil er durch seine Kenntnisse zu einer
größeren Aufmerksamkeit verpflichtet war, als der ungebildete
Kurpfuscher.
Eine behördliche Aufsicht über die krankenbehandelnden
Nichtärzte findet in keiner Weise statt. Während den Personen,
welche Tanz- oder Turnunterricht gewerbsmäßig erteilen, Trödlern,
Volksanwälten usw. bei hervortretender Unzuverlässigkeit in ihrem
Gewerbebetriebe dieser untersagt werden kann, sind die Kur¬
pfuscher einer solchen Einschränkung nicht ausgesetzt Sie werden
dazu von dem Gesetze als Heilkundige, nur ohne Approbation,
bezeichnet, als ob sie selbstverständlich des Heilens kundig seien.
Diese vielfachen, in der jetzigen Gesetzgebung begründeten
Bevorzugungen der krankenbehandelnden Nichtärzte gegenüber
den approbierten Ärzten erfordert unter allen Umständen eine
Änderung in der Gesetzgebung gegen die ersteren, und zwar
von Reichs wegen, wie sie ja auch bereits vorbereitet wird.
Wenn auch der preußische Justizminister durch seinen Erlaß
vom 21. Dezember 1901 an die Oberstaatsanwälte diese zu einer
nachdrücklichen Verfolgung der gegen Kurpfuscher eingehenden
Strafanträge aus § 4 des Reichsgesetzes zur Bekämpfung des un¬
lauteren Wettbewerbes hingewiesen hat, wenn auch der preußische
Minister der Medizinalangelegenheiten in seinem Erlasse vom
28. Juni 1902 betreffend die Bekämpfung der Kurpfuscherei die
Regierungspräsidenten zum Erlaß von Polizeiverordnungen gegen
die Kurpfuscher ersucht hat und solche Verordnungen auch in
der verschiedenfachsten Gestaltung bereits ergangen sind, so sind
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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten.
157
doch alle diese Maßregeln ihr unzureichend zu erachten, weil sie
das Übel nicht an der Wurzel fassen, sondern ihm sogar die
gesetzliche Existenzberechtigung unter gewissen Voraussetzungen
zusprechen.
Die völlig unbegründete, gleichwohl aber im Erlaß vom
28. Juni 1902 beibehaltene Bezeichnung der krankenbehandelnden
Nichtärzte als „Personen, welche die Heilkunde ausüben“, wird
in einer Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten zu Arnsberg
vom 19. März 1908 sogar in ,,Krankenheiler“ veredelt, obschon
der Erlaß des Ministers die Überschrift trägt „betreffend die Be¬
kämpfung der Kurpfuscherei“ So werden schließlich die Kur¬
pfuscher zu Krankenheilern erhoben. Die ihnen auferlegte Melde¬
pflicht ist ihnen nur eine willkommene Gelegenheit geworden,
sich neue Rechte daraus herzuleiten. Aus der Nichtuntersagung
ihres Gewerbebetriebes entnehmen sie für sich und ihre leicht¬
gläubigen Patienten den Anschein der Konzessionierung. Der
bekannt gewordene Fall, daß ein Kurpfuscher auf Grund der
neuen Regierungspolizei-Verordnung sich als „kreisärztlich gemel¬
deter Heilkundiger“ angekündigt hat, wird gewiß nicht vereinzelt
dastehen. Er ist jedenfalls bezeichnend dafür, wie der Kurpfuscher
sofort die gegen ihn gerichteten Maßnahmen zu seinem Vorteile
auszubeuten bestrebt ist
Auch durch das Vorgehen der Ärzte und der Ärztekammern
gegen die Kurpfuscher auf Grund des Gesetzes zur Bekämpfung
des unlauteren Wettbewerbes werden nur die letzteren in ge¬
wissem Maße zu gleichstehenden Gegnern der Ärzte erhoben,
während Unwahrhaftigkeit und Gewissenlosigkeit zu ihren Eigen¬
schaften zu rechnen sind, und deshalb jeder Arzt mit Recht Be¬
denken trägt, sich überhaupt mit ihnen zu messen.
Die jetzigen Gesetze und die bisherigen ministeriellen Ma߬
nahmen können hiernach nicht als zureichend erachtet werden, die
gefahrdrohende Kurpfuscherei einzudämmen. Es bedarf tiefer¬
greifender Maßregeln der Gesetzgebung, insbesondere dahin, daß
die bisherigen Bevorzugungen der Kurpfuscher in ihrem Gewerbe¬
betriebe gegenüber den Ärzten beseitigt werden, ohne jedoch diesen
zugleich besondere Vorrechte einzuräumen.
An Stelle der Approbation des Arztes muß die polizeiliche
Genehmigung für den Beginn des Gewerbebetriebes eines kranken¬
behandelnden Nichtarztes treten. Wenn man bedenkt, daß Schau-
spielUnternehmer, Pfandleiher, Schankwirte und andere Gewerbe-
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158
Kade.
treibende zum Betriebe ihres den einzelnen und der Allgemeinheit
wahrlich nicht so gefährlichen Gewerbebetriebes, wie das des
Krankenbehandlers, einer polizeilichen Erlaubnis bedürfen, dieser
aber nicht, so läßt sich das Gefühl, daß diese Gewerbetreibenden
in ungerechter Weise bevorzugt seien, nicht abweisen. Der Mann,
meist bisher Schäfer, Schmied oder sonstiger Gewerbetreibender, der
ohne weiteres als „Krankenheiler 44 auf die leidende und unkluge
Menschheit losgelassen wird, kann doch viel mehr Unheil anrichten,
als z. B. ein Pfandleiher. Deshalb genügt nicht schon das behörd¬
liche Untersagungsrecht, weil es leicht zu spät kommt. Die auf dem
Boden des „gleichen Rechtes für Alle 44 aufzubauende Gesetzesvor¬
schrift über die polizeiliche Genehmigung muß aber so gefaßt sein,
daß sie dem Kurpfuscher die Möglichkeit nimmt, aus ihr ein neues
Aushängeschild zur Anlockung einfältiger Patienten zu zimmern.
Das Gesetz muß ferner schon in seiner Begriffsbestimmung
der Nichtärzte, welche gewerbsmäßig Kranke behandeln wollen,
den Anschein vermeiden, als ob diese Personen irgendwelche Vor¬
kenntnisse oder Erfahrungen besitzen. Die jetzige Bezeichnung
„Personen", welche die Heilkunde betreiben, kann das nicht-
nachdenkende Publikum leicht irreführen, noch mehr aber solche
Bezeichnungen, wie „Krankenheiler 44 . Welche Ungleichheit hin¬
sichtlich der volkstümlich bedeutsamen Auffassung von Bezeichnungen
die jetzige Gesetzgebung in sich trägt, ersieht man deutlich daraus,
daß eine Person zu dem Titel eines „Heilgehülfen" erst durch
das Bestehen eines nicht ganz einfachen Examens gelangt, dagegen
jeder Kurpfuscher sich ohne weiteres „Heilkundiger" nennen
darf. „Gehülfe“ wird also jemand nur durch ein Examen, „Kundiger 44
aber sofort. Dies erscheint vielleicht nur als eine Kleinigkeit, es
ist aber von erheblicher Einwirkung auf das breite Publikum.
Viel wirksamer als durch das Erfordernis der polizeilichen
Genehmigung würde aber der Kurpfuscherei der Nährboden ent¬
zogen werden, wenn ihr die hauptsächlichen Zuflüsse für ihre
Wucherung, die Reklame und die briefliche Behandlung ab¬
geschnitten würden.
Die Reklame ist in der Neuzeit das bedeutsamste Mittel für
Anpreisungen an die urteilslose Menge geworden. Während in
früherer Zeit Kurpfuscher und Quacksalber durch allerlei Schau¬
stellungen vor dem Publikum dessen Aufmerksamkeit und Vertrauen
zu erwerben bemüht waren, genügt dazu in unserer zeitungs¬
überschwemmten Zeit schon das Inserat oder die Zeitungsanlage.
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Kurpfuscherei und Geschlechtskrankheiten.
159
Das Schwarz auf Weiß macht auf die urteilslose Menge immer
einen gewissen Eindruck, wenn es auch noch so inhaltslos oder
unwahr ist.
So gelingt es dem Kurpfuscher mit Hilfe der Zeitungsreklame
und der ähnlichen öffentlichen Anpreisung leicht, für sich Vertrauen
und Patienten zu werben, während der Arzt vergeblich auf das
ungezogene Ding, seine Klingel, lauscht und still abwarten muß,
bis sein bestes Können gesucht wird.
Dem Arzte ist durch feste und überzeugende Entscheidungen
des ärztlichen Ehrengerichtshofes in Preußen die Reklame als
standesunwürdig untersagt Wenn wir gleichwohl noch fortwährend
in den Tageszeitungen Selbstanpreisungen auch von approbierten
Ärzten finden, so sind diese fast nur solche, auf welche die ehren¬
gerichtliche Bestrafung keinen Eindruck mehr macht oder wegen
Unpfändbarkeit keinen Eindruck mehr machen kann.
Quod licet bovi, non licet Jovi. Der Kurpfuscher darf an¬
noncieren, der Arzt nicht Wer bei so ungleichen Waffen in
unserem papiemen Zeitalter siegen muß, liegt auf der Hand.
Es muß deshalb gerechterweise auch dem Kurpfuscher das
öffentliche Anpreisen seiner Tätigkeit untersagt werden, und zwar
dadurch, daß die öffentliche Anempfehlung der Heiltätigkeit über¬
haupt verboten wird.
Dieser Weg ist in den partikularrechtlichen Verboten der Ge¬
heimmittelanpreisung bereits eingeschlagen worden. Meines Er¬
achtens liegt kein Bedenken vor, ihn folgerichtig weiterzugehen. Die
Tätigkeit des Arztes und noch mehr die des krankenbehandelnden
Nichtarztes ist an sich und in der Regel eine unkontrollierbare
und geheime. Ihre laute Anpreisung gleicht der öffentlichen An¬
kündigung eines Geheimmittels und kann leicht deren gefahr¬
drohende Wirkung auf die urteilslose Menge ausüben, die erfahrungs¬
gemäß vielfach der Reklame blind glaubt. So tritt an die Stelle des
persönlichen Vertrauens der durch Irrtumserregung in Täuschungs¬
absicht erzeugte Glaube an eine empfehlenswerte Heiltätigkeit.
Wenn durch das mit Strafandrohung zu unterstützende Verbot
der öffentlichen Anpreisung der Heiltätigkeit auch eine Reihe von
annoncierenden Ärzten getroffen werden würde, so könnte dies nur
mit Genugtuung begrüßt werden. Sie nähern sich mit der Art
ihres Gewerbebetriebes den Kurpfuschern und können sich deshalb
nicht beklagen, mit gleichem Maße gemessen zu werden.
Für manche Zeitungen würde allerdings das Verbot der öffent-
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160
Kade.
liehen Anpreisung von Heiltätigkeit einen Ausfall an Elinnahmen
für Inserate bedeuten. Jedoch schon jetzt verschmähen es die¬
jenigen Zeitungen, die es sich ernstlich angelegen sein lassen, das
Publikum vor Täuschung zu bewahren, die Reklamen der Kur¬
pfuscher in ihren Inseratenteil aufzunehmen.
Wird durch Unterbindung der Reklame den Kurpfuschern die
Möglichkeit genommen, sich und ihr angebliches Können ungezählten
Personen anzupreisen so wird der Kreis ihrer Kunden bald ein
engerer werden. Er wird aber noch mehr zusammen schmelzen,
wenn den Kurpfuschern — wie bereits den Ärzten durch ehren¬
gerichtliche Entscheidungen — die briefliche oder Abwesenheits¬
behandlung — abgesehen von Ausnahmefällen — als unzulässig
verboten wird. Eis erscheint ohne weiteres klar, daß eine gewissen¬
hafte Beurteilung eines Kranken nur nach dessen persönlicher
Untersuchung möglich ist
Dieses Verbot der Abwesenheitsbehandlung ist bereits von
verschiedenen Seiten als ein wesentliches Mittel zur Einschränkung
der Kurpfuscherei vorgeschlagen worden. Es wird durch dieses
der Krankenbehandler genötigt, den Körper seines Kunden, wenn
vielleicht auch nur flüchtig, so doch wenigstens äußerlich in Augen¬
schein zu nehmen. Damit wird dem Kurpfuscher die Möglichkeit
genommen, eine schriftliche Massenbehandlung k la Nardenkötter
durchzuführen.
Wenn nun außerdem, wie Flügge treffend vorschlägt, der
krankenbehandelnde Nichtarzt über seine Patienten, deren Angaben
über ihre Krankheit, seine Diagnose und Therapie sowie die Dauer
der Behandlung ein von der Aufsichtsbehörde kontrollierbares Buch
führen muß, dann wird es manchem bisherigen Kurpfuscher etwas
schwierig werden, seine Einnahme, fast immer sein einziges End¬
ziel, auf der bisherigen Höhe zu erhalten. Lohnt aber die Kur¬
pfuscherei nicht mehr, dann werden ihr bald viele Jünger untreu
werden, um auf einem anderen Gebiete diejenigen, „die nicht alle
werden“, klüger zu machen.
Weil die Kurpfuscherei gerade auf dem Gebiete der Geschlechts¬
krankheiten besonders wuchert und doppelt gefährlich ist, muß es
eine der Hauptaufgaben der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten bleiben, den Erlaß deijenigen gesetz
liehen Bestimmungen herbeizuführen, durch die die Kurpfuscherei
nach Möglichkeit zurückgedrängt wird. —
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Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten beitragen?
Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung von Ortskranken¬
kassen im Deutschen Reiche, Sept 1903, von
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Albert Neisser.
Im Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten, ihre indivi¬
duellen und sozialen Gefahren und ihre Verbreitung zählt die
Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
die Krankenkassen zu ihren vornehmsten Bundesgenossen; denn
sicherlich besteht, vielleicht abgesehen von Armee und Marine, keine
Organisation, welche einerseits durch die Menge der in Betracht
kommenden Individuen, andererseits durch die ihr zur Verfügung
stehenden Machtmittel in gleicher Weise in der Lage ist, die Be¬
strebungen, welche sich in der Deutschen Gesellschaft z. B. d. G.
vereint haben, zu unterstützen und praktisch durchzuführen, wie die
Krankenkassen, und unter diesen gerade die Ortskrankenkassen
im Deutschen Eeiche. Es kommt dazu, daß namentlich in der
Leitung der Ortskrankenkassen seit jeher ein so weitgehendes Ver¬
ständnis für die Notwendigkeit, die Geschlechtskrankheiten zu be¬
kämpfen, zutage getreten ist, daß wir auch für die Zukunft die
allerweitgehendsten Hoffnungen an die Mitarbeit dieser
viele Millionen Einwohner des Deutschen Reiches um¬
fassenden Organisation knüpfen. Auf den internationalen Kon¬
gressen in Brüssel fanden wir Delegierte großer Krankenkassen und
durften uns ihrer Mitarbeit erfreuen ; seit Jahren sehen wir sie be¬
müht, in Schrift und Wort zur Aufklärung der Mitglieder beizutragen,
und auch die Deutsche Gesellschaft z. B. d. G. hat bisher noch
keinen Schritt getan, ohne daß sie sich der Hilfe hervorragender
Mitglieder der Krankenkassen zu erfreuen gehabt hätte.
Andererseits aber haben auch die Krankenkassen
ein lebhaftes soziales und finanzielles Interesse an der
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
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162
Neisser.
Das wird niemand leugnen, wenngleich sich auf die Frage
nach der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten unter den Mit¬
gliedern der Krankenkassen eine ziffermäßige Antwort nicht geben
läßt, denn — und hiermit berühre ich den ersten Punkt, an dem
eine Reform einsetzen müßte — eine wirklich zuverlässige
Statistik der Geschlechtskrankheiten besitzen wir be¬
treffs der Krankenkassenmitglieder ebensowenig, wie be¬
treffs der übrigen Bevölkerung, Armee und Marine vielleicht aus¬
genommen. Der Herstellung einer solchen Statistik standen bisher
schwere Hindernisse im Wege. Bei den Krankenkassenmitgliedern
macht sich die Scheu, von ihrer geschlechtlichen Ansteckung
Kenntnis zu geben, ebenso geltend, wie in der übrigen Bevölkerung;
vielleicht sogar in verstärktem Maße, da ja das bisherige
Krankenkassengesetz, welches die Geschlechtskranken zusammen
mit Raufbolden und Trunksüchtigen m dem glücklicherweise nun
beseitigten § 6 geradezu an den Pranger stellte, die Kranken
geradezu darauf hinwies, ihre Krankheit lieber zu verbergen.
Und diese Wirkung der gesetzlich sanktionierten Ächtung der
Geschlechtskranken konnte natürlich nicht dadurch beseitigt werden,
daß schon unter dem alten Gesetz eine sehr große Anzahl von
Krankenkassen auf die Erlaubnis, Geschlechtskranke schlechter zu
stellen, als andere Kranke, verzichtet hat und freiwillig die Mehr¬
kosten, welche die Gleichstellung der Geschlechtskranken verursacht,
auf sich nahm.
Es ist zu hoffen, daß nun, wo wenigstens gesetzlich eine
Gleichstellung der Geschlechtskranken mit den übrigen gewähr¬
leistet ist, auch die Scheu der Kranken, sich bei der Kasse zur
Behandlung zu melden, ganz verschwinden wird. Damit wird ein
die Brauchbarkeit der Statistik schädigender Faktor beseitigt werden.
Zur richtigen Statistik gehört aber auch, daß die Krank¬
heitsmeldungen von den Ärzten richtig erstattet werden.
Auch nach dieser Richtung hin hat das alte Gesetz erschwerend
gewirkt. Namentlich in den Fällen, in denen Kassenmitglieder
unschuldigerweise, nicht durch „geschlechtliche Ausschweifungen“
wie das Gesetz sagte, zu ihrer Erkrankung gekommen sind, wo
also der Kranke nach dem Inhalt des Gesetzes einen Anspruch
auf Krankengeld hatte, sind sicherlich häufig von Ärzten Diagnosen,
wie „Hautkrankheit“, „Mundkrankheit“ u. s. w. gemeldet worden,
die den wahren Charakter der Krankheit nicht erkennen ließen.
Ich glaube, man wird in solchen Fällen den Ärzten keinen Vor-
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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 163
wurf aas der nicht ganz genauen Bezeichnung der Krankheit
machen können, da eine Schädigung der Kasse durch die ungenaue
Bezeichnung nicht eingetreten war.
In Zukunft wird die finanzielle Gleichstellung aller Kranken
dieses eine richtige Statistik erschwerende Moment in Wegfall
bringen. Immerhin aber wird auch künftig mit der Befürchtung
der Kranken, daß sie durch Bekanntwerden ihres Leidens
persönliche oder wirtschaftliche Nachteile erleiden könnten, ge¬
rechnet werden müssen. Es ist zwar seitens vieler Kassenvorstände
den Beamten der Kassen sogar durch Dienstvertrag strenge
Geheimhaltung der ihnen in ihrer amtlichen Eigenschaft zur
Kenntnis kommenden Verhältnisse zur Pflicht gemacht worden;
es wird aber doch nicht mit Unrecht von vielen Seiten die
Forderung erhoben, in dem bekannten § 300 des Strafgesetzes
unter diejenigen Personen, welche zur Geheimhaltung verpflichtet
sind, auch Kassenversicherungsbeamte und dergleichen auf-
zunehraen. Solange dieser Paragraph mit seinen das Geheimnis
schützenden Bestimmungen nicht besteht, wird es aber jedenfalls
nützlich sein, wenn alle Kassen in geeigneter Weise Vorsorge
treffen, daß die von den Ärzten aufgestellten Diagnosen nur den¬
jenigen, welche amtlich mit der Weiterverarbeitung betraut sind,
zu Gesicht kommen und daß für eine ausreichende Geheimhaltung
nach allen Richtungen hin Sorge getragen werde.
Andererseits könnte gerade dieser § 300 des Strafgesetzbuchs
ein ernsthaftes Hemnis für die Statistik darstellen. Eine einheit¬
liche Rechtsprechung, die den Arzt sicher vor Bestrafung wegen
Übertretung des § 300 schützt, wenn er ohne weiteres dem Kassen-
vorstande die Diagnose mitteilt, existiert nicht Solange hier
nicht klares Recht geschaffen ist, wird es sich empfehlen, daß die
Krankenkassen von ihren Mitgliedern gleich bei deren
Aufnahme Erklärungen extrahieren, durch welche der
Kassenarzt von der Verpflichtung der Verschwiegenheit
bei Mitteilung der Diagnose an den Kassenvorstand ein
für allemal entbunden wird.
Die Ärzte können aber nur diejenigen melden, die sich ihnen
anvertrauen.
Leider aber finden wir überall, auch unter den Kassen¬
mitgliedern solche, die nicht Ärzte, sondern sonstige mit dem
Kurieren von Kranken sich beschäftigende „Naturheilkundige“ und
Kurpfuscher aufsuchen.
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164
Neisscr.
Leider gibt es auch Kassen, die diese antiärztliche Bewegung
durch Anstellung von Nichtärzten unterstützen. — Der Kurpfuscher
aber, der keine richtige Diagnose zu stellen vermag, kann natürlich
auch keine sachgemäße statistische Meldung erstatten» Und deshalb
ist auch vom Standpunkte der Medizinalstatistik aus der K&mpt
gegen das Kurpfuschertum unerläßlich. Es würde im eigensten
Interesse der Krankenkassen liegen, sich an diesem
Kampfe mehr als bisher zu beteiligen! Sie sollten nur
daran denken, wie oft sie in die Lage kommen, Krankengelder
und Kurkosten für solche Kranke aufzuwenden, bei denen durch
die Unkenntnis des Kurpfuschers eine Verschleppung oder Ver¬
schlimmerung der Krankheit, die in ihren Anfangsstadien leicht
hätte beseitigt werden können, eingetreten ist — Sollte es bei
diesem aus eigenem Interesse unternommenen Kampfe den Kassen
gelingen, dem Kurpfuscherwesen, welches wie eine neue Seuche
von Jahr zu Jahr das hygienische und soziale Wohlergehen
Hunderttausender Angehöriger des Deutschen Reiches schädigt,
entgegenzuarbeiten, so wäre das noch ein besonders großes Ver¬
dienst, das sich die Kassen um das ganze Volk erwürben.
Zu all den genannten, eine Unvollkommenheit der Statistik
herbeiführenden Momenten gesellt sich bei den weiblichen
Kassenmitgliedern noch ein besonderes hinzu.
Ganz abgesehen davon, daß weibliche Kranke begreiflicher¬
weise noch weniger gern als männliche ihre Erkrankung offenbaren,
kommt in Betracht, daß weibliche Personen erkrankt sein können,
ohne daß sie von der Existenz oder Art ihrer Krankheit etwas
wissen. Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise sehr viel
Erkrankungen unbekannt und in der Statistik unerwähnt bleiben.
Doch ließe sich nach dieser Richtung für viele Fälle sicher¬
lich etwas erreichen, und es würden vielleicht viele weibliche
Kassenmitglieder dazu zu bringen sein, sich auch in frag¬
lichen Fällen untersuchen und behandeln zu lassen, wenn man
durch Anstellung weiblicher Ärzte dem Schamgefühl all
derjenigen, welche aus Scheu vor der Untersuchung
seitens eines Arztes letztere ganz vermeiden, Rechnung
trüge.
Was nun die Gestaltung der Statistik anlangt — auf
Einzelheiten kann ich hier natürlich nicht eingehen — so ist es
nicht angängig, die in den Krankenkassen vereinigten Menschen¬
gruppen einheitlich zu betrachten. Nicht. nur die Geschlechter,
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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 165
sondern auch die Bevölkerungsklassen und Berufsstände
wird man sondern müssen.
Was die Männer betrifft, so lehren alle Erfahrungen, daß
im allgemeinen die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten um so
stärker ist, je weniger sie bei auf der gleichen sozialen Stufe be¬
findlichen weiblichen Personen Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr
finden, je mehr sie also zur Befriedigung ihrer geschlechtlichen
Bedürfnisse auf die Prostitution angewiesen sind. Denn die
Prostitution, mag sie nun sanitätspolizeilich überwacht oder geheim
betrieben werden, ist die vornehmiicbste Ursache für die Ver¬
breitung der Geschlechtskrankheiten. Die Prostituierte, die mit
zahlreichen Männern wahllos verkehrt, entgeht selbst nur in der
Minderzahl der Gefahr der Ansteckung und überträgt wiederum
die Venerie nicht nur auf einen Mann, sondern auf viele von
denen, die mit ihr Umgang pflegen.
Da nun die Männer der besitzenden Klassen und die aus ge¬
bildeten Häusern kommenden jungen Leute, und dazu gehören
viele in Kassen befindliche Kaufleute, Apotheker u. s. w., nach den
daselbst herrschenden moralischen Anschauungen keine sich ihnen
geschlechtlich hingelenden Mädchen ihrer eigenen Sphäre
finden, und da auch festere und dauerndere Verhältnisse mit weib¬
lichen Personen anderer Klassen für sie aus finanziellen oder
anderen Gründen nicht immer möglich und erwünscht sind, so
pflegen gerade sie am häufigsten den Verkehr mit Prostituierten.
Auch bleiben sie sehr lange Jahre unverheiratet, während das
frühzeitige Heiraten die Männer des Arbeiterstandes in erheblicher
Weise vor außerehelichem Verkehr und damit vor Geschlechts¬
krankheiten schützt. Tatsächlich lehrt auch die Erfahrung, daß
im großen und ganzen der Arbeiterstand sehr viel geringere
Erkrankungsziffern — was Geschlechtskrankheiten anbelangt
— aufweist, als etwa die Kaufmannschaft oder die
Studentenschaft
Allein erst eine nachGeschlecht, Lebensalter, Familien¬
stand und Berufsstand geordnete Statistik der Kranken¬
kassen wird uns über all diese Dinge, deren Erkenntnis für uns
auch im Interesse der Prophylaxe sehr wichtig ist, die erforder¬
liche, genaue Aufklärung bringen.
Gehen wir nun auf die Frage ein, was die Krankenkassen tun
könnten, um den Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten unter
ihren Mitgliedern zu führen, so haben wir in erster Reihe zu be-
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geechlechtskrankh. II. 13
f
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166
Neisser.
sprechen alle die Maßregeln, welche geeignet sein könnten,
der Übertragung der Krankheiten auf die Gesunden zu
steuern.
Die Hauptquelle der Geschlechtskrankheiten ist der außer¬
eheliche Geschlechtsverkehr. Meist handelt es sich natur¬
gemäß um Unverheiratete, doch müssen leider alle Ärzte und
alle Polikliniken, welche über ein reichliches Material von Ge¬
schlechtskranken verfügen, konstatieren, daß auch die Erkrankungs¬
ziffer von verheirateten Männern, welche durch außerehelichen
Geschlechtsverkehr sich anstecken, eine verhältnismäßig hohe ist
Mag man auch im einzelnen Falle einem solchen Mann, der unter
dem Einflüsse des Alkohols der Verführung erlegen ist, oder der
außerehelichen Geschlechtsverkehr deshalb suchte, weil seine Frau
ihm in den letzten Monaten der Schwangerschaft und den ersten
nach der Entbindung nicht zugänglich war, mildernde Umstände
zubilligen, die Tatsache, daß sehr häufig ganz frivolerweise solch
außerehelicher Geschlechtsverkehr getrieben wird und die Tatsache
daß von solchen Männern aus unzählige Male die Er¬
krankung in die Familie getragen und Frau und Kinder
ohne jedes Verschulden mit schwerster Krankheit be¬
haftet werden, bleibt bestehen.
Auch unter den Frauen übersteigt die Zahl der unverehe¬
lichten Erkrankten ganz wesentlich die der — zumeist von ihren
Männern infizierten — Verheirateten.
Im ganzen ist der Procentsatz geschlechtlich erkrankter weib¬
licher Personen — wenn man von den Prostuierten absieht —
viel geringer, wie derjenige der erkrankten Männer, wenn auch die
in dieser Beziehung angegebenen Ziffern — wegen der gerade
bei den Weibern vorhandenen statistischen Fehlerquellen — den
wirklichen Verhältnissen nicht entsprechen dürfte. Jedenfalls
spielen, soweit es sich um die Interessen und die Mitwirkung der
Krankenkassen handelt, die ja mit den Prostituierten nichts zu tun
haben, die Männer die Hauptrolle.
Wie soll man diese also vor der Ansteckung be¬
wahren?
Die erste Frage, die sich erhebt, ist die: sollte es nicht
gelingen, den Gedanken der Keuschheit oder zum wenig¬
sten der Enthaltsamkeit in den in Betracht kommenden
Kreisen der männlichen Bevölkerung zu verbreiten?
Ich glaube nicht, daß irgend jemand, und sei er auch ein
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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 167
fanatischer und überzeugter Vertreter des Keuschheits-Prinzips, der
sich überlegt, mit wieviel Millionen von Männern die Kassen es zu
tun haben, glauben wird, auf diesem Wege etwas Durchgreifendes zu
erreichen. Trotzdem würde ich es für falsch halten, solchen
sicherlich von wohlmeinendsten Männern und Frauen ausgehenden
Bestrebungen nicht die vollste Unterstützung zuteil werden zu
lassen. Wir Ärzte haben wenigstens die Verpflichtung, überall
dem Vorurteil, als wenn Keuschheit und Enthaltsamkeit
für den jungen Mann schädlich sei, entgegenzutreten.
Auch das „Merkblatt“ unserer Gesellschaft sagt gleich in seinem
ersten Absatz: „Enthaltsamkeit im geschlechtlichen Verkehr ist
nach dem übereinstimmenden Urteil der Ärzte im Gegensatz zu
einem viel verbreiteten Vorurteil in der Regel nicht gesundheits¬
schädlich.“
Aber für ebenso verfehlt würde ich es halten, wenn wir uns
auf diese auf Hebung der moralischen Anschauungen auf geschlecht¬
lichem Gebiete hinzielenden Bestrebungen beschränken wollten.
Denn wenn es auch richtig ist, daß namentlich unter den dem
Arbeiterstande angehörigen Kassenmitgliedern die Ehen in viel
zeitigerem Lebensalter geschlossen werden, als seitens der Männer
der besitzenden Klassen, so sind doch andererseits die Momente,
welche diese Männer viel zeitiger zum Geschlechtsverkehr hin¬
führen und ihnen Geschlechtsverkehr als etwas selbstverständlich
Erlaubtes erscheinen lassen, so zahlreich, daß man immer mit
der Tatsache eines reichlichen und schon verhältnis¬
mäßig zeitig beginnenden Geschlechtsverkehrs wird
rechnen müssen.
So gilt es denn in erster Reihe, alle diese Kreise aufzuklären
über die Gefahren, welche die Geschlechtskrankheiten
überhaupt mit sich bringen und über die Gefahren, welche ein
außerehelicher Geschlechtsverkehr, wenn er sich außerhalb
des Rahmens eines ständigen Verhältnisses bewegt, mit sich bringt.
Diesen Weg haben auch viele Krankenkassen schon beschritten
und haben durch ganz billige Druckschriften versucht, die ein¬
schlägigen Kenntnisse unter ihren Mitgliedern zu verbreiten.
Ich erwähne hier in erster Reihe das von der Berliner
Zentralkommission herausgegebene Werkchen von Blaschko, die
von Ihrem Vorsitzenden, Herrn Kommerzienrat Dr. Schwabe
ermöglichte Silbersche Belehrungsschrift. Ferner ist sehr em¬
pfehlenswert das kleine vortreffliche Heft von Dr. Bernstein.
13 *
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Neisser.
Ich glaube aber, daß dieses Mittel der Belehrung noch
lange nicht genügend ausgenutzt wird. In noch viel reichlicherer
Weise müßten die Mitglieder mit solchen ihrem Verständnis ange¬
paßten Belehrungskarten und Blättern bedacht werden. Auch die
„Deutsche Gesellschaft“ hat, von diesem Gedanken ausgehend,
das Ihnen verteilte „Merkblatt“ ausgearbeitet und bereitet ein
etwas ausführlicheres „Merkbüchlein“ vor. Wir hoffen auf eine
ausgiebige Unterstützung seitens der Krankenkassen bei der Ver¬
breitung desselben. Jedenfalls müßte dafür gesorgt werden, daß
jedes Mitglied hin und wieder eine solche Karte oder ein
solches Merkblatt eingehändigt erhält, und zwar scheinen
mir die geeignetsten Zeitpunkte die Anmeldung der Kasse wie
die Abmeldung zu sein. Ferner wären die Kassenärzte anzu¬
weisen, in jedem ihnen geeignet erscheinenden Falle auch nicht
geschlechtlich erkrankten Mitgliedern dies Merkblatt einzuhändigen.
Wirksamer noch als solche Druckschriften würden meines Er¬
achtens Vorträge sein. Auch das ist kein neuer Gedanke; aber
auch hier glaube ich, daß von dieser Möglichkeit, die Belehrung
in die weitesten Arbeiterkreise zu tragen, noch viel zu wenig
Gebrauch gemacht wird.
Bei den weiblichen Personen kommt aber nicht nur in
Betracht, sie vor Geschlechtskrankheiten zu schützen, sondern
noch der weitere soziale wie hygienische Gesichtspunkt, sie vor
dem Hinabsinken in die Prostitution zu bewahren. Was
die Belehrung über die geschlechtlichen Verhältnisse betrifft, so
wird man über die Notwendigkeit, junge, heranwachsende Mädchen
über diese Verhältnisse zu belehren, bei Töchtern aus denjenigen
Familien, die selbst ihre Kinder zu schützen in der Lage sind,
zweifelhaft sein können; man wird mit Recht sagen können, es
bestehe keine zwingende Veranlassung, solchen Mädchen diese
Verhältnisse klar zu legen, ehe dazu eine Notwendigkeit vorliegt.
Bei den uns interessierenden Personen aber liegen solche zwingende
Verhältnisse meines Erachtens nach in den allermeisten Fällen
vor; denn hier haben wir es mit Mädchen zu tun, die ohne jede
Erfahrung in verhältnismäßig jungen Jahren sich selbst überlassen
und noch dazu in Verhältnisse gebracht werden, in denen sie
nicht nur keinen Schutz finden, sondern sogar Verfüh¬
rungen aller Art ausgesetzt sind. So sollten sie wenigstens
wissen, welche Gefahren ihnen drohen, sei es durch den Geschlechts¬
verkehr, sei es durch die Geschlechtskrankheiten.
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Beitrag der Krankenkassen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 169
An Vortragenden wird es den Kassen, wenn sie Einzelvor¬
träge oder Vortragszyklen halten lassen wollen, sicherlich nicht
fehlen. Ebenso wie hier in Breslau die Deutsche Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten für einen sich allen
Vereinen und Verbänden zur Verfügung stellenden Kreis von Vor¬
tragenden gesorgt hat, wird auch an allen anderen Orten unsere
Gesellschaft, welche in der allgemeinen Aufklärung und Belehrung
eins der wesentlichsten Mittel zur Bekämpfung der venerischen
Volksseuchen sieht, bereit sein, Vortragende zu stellen.
Die Vorträge sollen getrennt für Männer und Frauen
gehalten werden. Wenn es auch jedem einigermaßen taktvollen
Vortragenden gelingen wird, einen belehrenden Vortrag über
Geschlechtskrankheiten zu halten derart, daß auch jüngere weibliche
Personen an dem Inhalte keinen Anstoß zu nehmen brauchen, so ist
doch begreiflich, daß Mädchen und Frauen vielfach Anstand nehmen
werden, Vorträge zu besuchen, in denen sexuelle Fragen in
Gegenwart von Männern, die sie vielleicht sogar persönlich kennen,
behandelt werden. Wollen wir auf weibliche Kreise belehrend
einwirken, so müssen wir dieser Scheu — deren Berechtigung wir
nicht leugnen können — Rechnung tragen. Andernfalls gefährden
wir den Erfolg unserer Bestrebungen.
(Schluß folgt.)
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Referate.
Verbreitung und Verbreitungswege der Geschlechtskrankheiten.
WolffhAgel. Tropenhygienische Erfahrungen in China. Münchn. mediz. Wochen-
Schrift 48 , 49 . 1903 .
Aus dem ungewöhnlich lehrreichen und interessanten Aufsatz, dessen
Verfasser vormals Bataillonsarzt im 4. ostasiatischen Inf.-Reg. gewesen
ist, verdienen die folgenden Ausführungen im Wortlaut wiedergegeben
zu werden :
„In China ist die Prostitution ebenso bekannt wie bei uns; sie ist
sicher nicht etwa aus dem Abendland dort ein geführt, denn auch weit¬
ab vom Weltverkehr, jenseits der großen Mauer in der Provinz Shansi
gibt es in Städten öffentliche Häuser.
Die Gefahren, denen sich gerade Europäer durch den Geschlechts¬
verkehr mit Chinesinnen aussetzen, sind bekannt, und es scheint auf
Wahrheit zu beruhen, wenn man sich erzählt, daß Chinesinnen sich nur
dann mit Europäern zum Geschlechtsverkehr herbeilassen, wenn sie wissent¬
lich geschlechtskrank sind.
Es war daher eine prinzipielle Frage, ob unseren Mannschaften der
Verkehr in chinesischen Bordells zu gestatten sei oder nicht. Die Ent¬
scheidung war in erster Linie von der Anschauung abhängig, ob es
nicht gesundheitliche Bedenken habe, Maßregeln zu treffen, die den Ge¬
schlechtsverkehr ganz verhindern. Die Meinungen darüber waren ge¬
teilt; ich vertrat die Ansicht, daß von einer krankmachenden Wirkung,
wie sie der geschlechtlichen Abstinenz vielfach — allerdings nur von
Laien — zugeschrieben wird, nicht die Rede sein kann. Auch der an
den Geschlechtsgenuß Gewöhnte wird abstinent sein können, vielleicht
anfangs mit Beeinträchtigung seines Wohlbehagens, aber niemals mit
Schädigung seiner Gesundheit; und die Macht der Gewohnheit des Ge¬
schlechtsverkehrs kann bei jungen Leuten im Alter von 20 Jahren und
nicht viel darüber nicht so unbezwingbar angewachsen sein, daß sie
nicht bei gutem Willen noch niedergedrückt werden könnte.
Übrigens hatten die Chinesen ihre Frauen und Töchter sehr sicher in
Verwahr gebracht und nur die allerältesten Vertreterinnen des schönen
Geschlechts, um die sie unbesorgt sein konnten, in den Quartieren zu¬
rückgelassen.
Wenn auf diese Weise die Chinesen selbst dafür gesorgt hatten,
daß die Versuchung nicht an den deutschen Krieger herantrat, so zeigte
sich doch bald, daß strenge Maßnahmen zur Verhütung geschlechtlicher
Ansteckungen notwendig wurden.
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Referate.
171
Als sich im Monat Dezember 1900 bei den zu Paotingfu in Winter¬
quartieren liegenden Truppen die geschlechtlichen Erkrankungen in be¬
denklicher Anzahl mehrten, wurde seitens der Kommandantur des öfteren
durch Tagesbefehle auf die Notwendigkeit wiederholter Belehrungen der
Mannschaften über die Gefahr des geschlechtlichen Verkehrs mit Chi¬
nesinnen hingewiesen. Aber alle Verwarnungen erwiesen sich als un¬
zureichend; die Quelle der Infektionen war in einem Bordell zu suchen,
das sich im geheimen in unmittelbarer Nähe des Regimentsrayons ein¬
gerichtet hatte. Die Militärpolizei ließ dieses Haus auf unseren Antrag
hin schließen, konnte aber die heimliche Eröffnung neuer Häuser nicht
rechtzeitig verhindern, und so wurde die Zahl der geschlechtlichen Er¬
krankungen unter den Mannschaften immer bedenklicher. Daraufhin
wurde im Bataillon der Versuch gemacht, Abortivbehandlungen einzu¬
leiten, und den Mannschaften an befohlen, sich nach dem geschlechtlichen
Verkehr zur ärztlichen Untersuchung zu melden. Außerdem wurden
wöchentlich zweimal Gesundheitsbesichtigungen abgehalten. Aber all
diese Maßnahmen führten nicht zum Ziel. Weiterhin wurden einige
Frauenzimmer, an denen sich nachgewiesenermaßen Leute infiziert hatten,
der Stadt verwiesen. Auch dies war nur eine halbe Maßregel; die zum
Nordtor hinausgetriebenen Weiber hielt nichts ab, durch das Südtor
wieder einzuziehen.
So zeigte es sich denn bald, daß die Prostitution nicht länger mehr
unterdrückt werden konnte. Als ultima ratio blieb nichts anderes mehr
übrig, als die Prostitution zuzulassen, die öffentlichen Häuser unter
regelmäßige ärztliche Kontrolle zu stellen und die Bordellbesitzer zu
zwingen, vor Eröffnung eines neuen Bordells im deutschen Viertel die
Genehmigung der Militärpolizei zu erholen. Außerdem sollte der heim¬
lichen Prostitution durch Anstellung chinesischer Detektivs gesteuert
werden.
Als ich diesbezügliche Anträge der Kommandantur in Paotingfu
unterbreitet hatte, wurde ich als ärztlicher Beirat der Verwaltungs¬
kommission der Stadt Paotingfu zugeteilt und als Mitglied der Gesund¬
heitskommission aufgenommen, die sich aus Deutschen und Franzosen
zusammensetzte. Von der französischen Besatzung war Medizinmajor
Dr. Licht dieser Kommission beigegeben. Wir beide trafen das Über¬
einkommen, zum Schutz der Mannschaften der deutsch-französischen Be¬
satzung von Paotingfu gemeinsam in der Weise vorzugehen, daß jeder
in seinem Besatzungsbezirke durch wöchentlich zweimalige Untersuchungen
eine regelmäßige ärztliche Kontrolle der öffentlichen Häuser vornimmt;
krank befundene oder der AnsteckungsfUhigkeit nur verdächtige Chine¬
sinnen sollten sofort separiert werden. Zu diesem Zweck hatte der ge¬
nannte französische Stabsarzt nach allen Regeln der rmprovisationskunst
eine kleine chinesische Frauenklinik eingerichtet; hier konnten bis zu
12 Frauen aufgenommen, behandelt und bis zu ihrer vollständigen
Heilung isoliert werden. Aus den im deutschen Viertel gelegenen Bor¬
dells mußten in der kurzen Zeit von 14 Tagen unter acht Prostituierten
fünf als geschlechtskrank (4 hatten akute Gonorrhöe der Harnröhren¬
mündung, 1 war syphilitisch) dem Krankenhaus überwiesen werden.
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172
Referate.
Zur Überwachung der Kranken wurde ein alter Chinese eingesetzt, dessen
Frau für die Verköstigung zu sorgen hatte. Wir teilten uns den Kranken¬
hausdienst so ein, daß jeder die von ihm eingewiesenen Kranken selbst
behandelte. Die zur gynäkologischen Untersuchung notwendigsten In¬
strumente hatten wir aus Europa mitgebracht, Untersuchungsstühle
lieferte nach unseren Angaben ein geschickter chinesischer Schreiner,
Arznei- und Verbandmittel stellte die französische Ambulanz, die Kosten
trug die Commission mixte, wie sich die Verwaltungskommission der
Stadt Paotingfu nannte.
Wenn auch die Kontrolle von Prostituierten eine unangenehme Be¬
schäftigung für den Arzt ist, so war durch sie doch die einzige Mög¬
lichkeit geboten, einem weiteren Umsichgreifen geschlechtlicher Er¬
krankungen vorzubengen. Freilich ist auch diese Maßregel machtlos
beim Fortbestehen der heimlichen Prostitution. Ob es unserer Militär¬
polizei gelungen ist, sie ganz zu unterdrücken und ob unser gemein¬
schaftliches Vorgehen gegen die geschlechtlichen Infektionen von dem
gewünschten Erfolg begleitet war, konnte ich nicht mehr verfolgen, da
ich schon drei Wochen nach Beginn der regelmäßigen Untersuchungen
Paotingfu verlassen habe, um mit meinem Bataillon an der Expedition
zur großen Mauer teilzunehmen.
Als dann das Bataillon kompagnieweise in kleinen Gebirgsstädten
untergebracht war, wo die Chinesen alle Weiber vor unserm Eintreffen
in Sicherheit gebracht hatten, wo auch keine Bordells vorhanden waren,
da konnte die geschlechtliche Abstinenz als sicherstes Schutzmittel gegen
Erkrankungen ihre schönsten Erfolge erzielen. Aber überall sonst, wo
Gelegenheit gegeben war zum geschlechtlichen Verkehr, da wurde mit
dem Rat, abstinent zu bleiben, selbstverständlich bei unseren Soldaten
in China ebensowenig erreicht, wie hier bei unseren Studenten.
Nach unseren Erfahrungen gibt es nur zwei Wege, eine Feldtruppe
vor geschlechtlichen Infektionen möglichst zu schützen: entweder man
säubert die Ortsunterkunft von allen Frauenzimmern jeglichen Alters
oder man läßt die öffentliche Prostitution zu, wenn sie einmal nicht
mehr zu unterdrücken ist; dann aber unterstellt man die Bordelle strenger
polizeilicher und ärztlicher Kontrolle, separiert und bewacht die kranken
Weiber und verhindert mit strengen Mitteln die heimliche Prostitution.
Um dies alles durchzuführen, ist eine tüchtige Militärpolizei und
ein in derartigen Untersuchungen geübter Arzt erforderlich, der, wenn es,
wie in China, Zivilärzte nicht gibt, dem Stande der Lazarett- oder Truppen¬
ärzte entnommen werden muß.“
Diagnostik und Symptomatologie.
W. M. Tarnowsky. Binäre Syphilis und Erblichkeit der Syphilis. Vortrag aut
dem VIII. Pirogoffschen Kongreß. Russ. medicin. Rundschau, IX.
Zwecks Erforschung des Einflusses der Syphilis auf die Deszendenz
hat Tarnowsky 30 syphilitische Familien untersucht, die den wohl¬
habenden und intelligenten Kreisen angehören und sich stets sorgfältig
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Heferate.
173
haben behandeln lassen. Das auffallendste Ergebnis dieser Untersuchungen
ist die Feststellung des Mißverhältnisses zwischen den relativ leichten
Folgen der Lues für den Erkrankten selbst und dem geradezu tödlichen
Einfluß der Syphilis auf dessen Nachkommenschaft: In der zweiten und
dritten Generation führten von 345 Schwangerschaften nur 104 zur
Geburt normaler Kinder; in allen übrigen Fällen gab es Aborte, Tot¬
geburten, Kinder mit kongenitaler Lues, angeborener Lebensschwäche
oder anatomischen bezw. funktionellen Defekten.
Die weiteren Untersuchungen Tarnowskys brachten ihn zu der
Überzeugung, daß der schädliche Einfluß der Syphilis auf die abfolgenden
Generationen allmählich schwindet, dergestalt, daß schon an den Mit¬
gliedern der vierten Generation spezifische Schädigungen nicht mehr
nachweibar sind.
Der Autor hat sich ferner eingehend mit dem Wesen der „binären“
Syphilis beschäftigt, d. h. die Frage studiert, wie erworbene Lues bei
hereditär belasteten Individuen verläuft. Und da ergibt sich für ihn
als zweifellos, daß die weitverbreitete Meinung, die Kraft und Bösartig¬
keit des Virus nehme in der absteigenden Folge der Geschlechter mit
jeder neuen Infektion ab, durchaus falsch ist. Die binäre Syphilis unter¬
scheidet sich keineswegs im Sinne eines milderen Verlaufes von der
gewöhnlichen Lues, besitzt im Gegenteil die verhängnisvolle Eigenschaft,
auf die Deszendenz eine ausnehmend verderbliche Wirkung auszuüben
— eine verderblichere als alle bisher bekannten Formen und Kom¬
plikationen der Lues. Und zwar können die leichtesten Formen die
schwersten Schädigungen zur Folge haben; ja die Krankheit kann völlig
verschwinden, aber die Fähigkeit, gesunde Kinder zu zeugen, bleibt für
das ganze Leben verloren.
Das sogenannte Profetasche Gesetz, welches lehrt, daß die Kinder
von Syphilitikern gegen eine frische Infektion immun sind, will
Tarnowsky so nicht anerkennen, es vielmehr dahin abgeändert wissen,
daß die Unempfänglichkeit nur die ersten Jahre anhalte, zur Pubertäts¬
zeit dagegen spurlos verschwinde.
Für alle seine Behauptungen bringt der Autor eine Fülle von
Tatsachen, die unbedingte Beweiskraft zu besitzen scheinen — eine
Beweiskraft natürlich nur mit Bezug auf das von Tarnowsky ver¬
wertete Material. Ob die hier gefundenen Resultate allgemeine Gültig¬
keit haben, entzieht sich vorderhand unserer Kenntnis. Jedenfalls zwingen
sie bei der großen Wichtigkeit der hier in Frage kommenden Probleme
zur Fortsetzung der von Tarnowsky mit solchem Fleiß und solcher
Gründlichkeit begonnenen Studien. Max Marcuse (Berlin).
Schlosberg. Klinische Studien Uber Gonorrhoe. (Nordisk med. Archiv 1903,
36 und 37.)
Die Arbeit ist in deutscher Sprache geschrieben. Das Material des
Verfs. ist die männliche Klientel der Klinik und Poliklinik des Kranken¬
hauses St. Görau in Stockholm. Er bespricht die Komplikationen der
gonorrhoischen Urethritis und deren Bedeutung: paraurethrale Gänge,
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174
Referate.
Folliculiten, Prostatitis catarrhalis, Epididymitis und Adenitis inguinalis.
Unter 200 in der stationären Klinik Behandelten fand Schlosberg 12 mal
präputiale und paraurethrale Gänge, in der poliklinischen Klientel „recht
viele“. — Auf Grundlage seiner Untersuchungen hebt Verf. hervor, daß
der gewöhnliche Gonokokken nach weis in dem am Meatis vorhandenen
Sekrete und in den Hamfäden nicht ausreicht, sondern daß man, wenn
diese Prüfung negativ ausfällt, auch den Follikelinhalt durch eine Sonde
ä boule oder ein löffelförmiges Instrument herausbolen und untersuchen
muß. — Weiter bespricht Schlosberg das von vielen Beobachtern be¬
hauptete Abnehmen der gonorrhoischen Urethralsekretion beim Auftreten
einer Epididymitis oder einer von Temperatursteigerung begleiteten
Adenitis inguinalis. Auf Grundlage einer Serie von 106 Epididymitiden
ist Schlosberg der Meinung, daß ein solches Abnehmen nicht selten vor¬
kommt. H. Hansteen (Christiania).
Öffentliche Prophylaxe.
Ci Fränkel-Halle. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. (Vortrag, ge¬
halten im Verein der Ärzte zu Halle.)
Neben Belehrung und Aufklärung, Erziehung zur Sittlichkeit,
Hebung und Verbesserung der sozialen Verhältnisse verlangt die Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten eine noch kräftigere und raschere
Abwehr, sie verlangt neben den mittelbaren auch unmittelbare Maßregeln.
Fränkel stellt es sich zur Aufgabe, die Wege, die für diesen Zweck
beschritten werden können, in großen Zügen zu erörtern. Fränkel hat
sich schon wiederholt öffentlich für die Kasernierung der Prostituierten
ausgesprochen. Für Bordelle, die einerseits eine genaue und regelmäßige
gesundheitliche Beaufsichtigung der Weiber, andererseits — und das ist
nach vieler Ansicht mindestens gleich wichtig — die Ausdehnung der
Untersuchung auf die dort verkehrenden Männer gestatten und so ein
besonders wichtiges Abwehrmittel gegen die Geschlechtskrankheiten ab¬
geben. Auch jetzt tritt Fränkel nachdrücklich für strenge und straffe
Reglementierung ein mit Einrichtung von Kontrollstraßen. Das
Bestehen der Bordelle bietet für die Unterdrückung der freien, ge¬
heimen Prostitution am meisten Gewähr, hat außerdem den Vorteil, daß
der Bürger, der mit der Prostitution nicht in Berührung kommen will,
durch das Vorhandensein der Bordelle gegen Belästigung durch Prosti¬
tution geschützt wird, und schließlich läßt das Bordell das Zuhälter wesen
nicht aufkommen und verhütet die moralische Infektion der Familien,
bei denen die Dirnen sich einmieten. Freilich erhebt sich gegen die
Einführung der Kasernierung ein sehr gewichtiges Bedenken: Das Bordell
begünstigt die Ausbeutung der Mädchen durch die Hurenwirte und es
hat deshalb leicht den Mädchenhandel zur Folge. Diese Befürchtung
hat eben Fränkel veranlaßt, die Einführung der sogen. Kontrollstraßen
vorzuschlagen. Die Dirnen dürfen zwar nur in bestimmten Straßen oder
Häusern wohnen, aber sie verkaufen sich hier nicht, wie bei den Bor¬
dellen, mit Leib und Seele, um ihre Unabhängigkeit zu verlieren und um
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Referate.
175
wirklich zur Ware herunterzusinken, sie stehen hier vielmehr zu den
Inhabern der Hauser nur in einem lockeren, jederzeit lösbaren Miets-
Verhältnis. Der Zwang in den Bordells, stets einen Teil ihres Verdienstes
abzuliefern, fällt hier weg, die Polizei bestimmt den Wohnpreis. In
Halle, wo diese Kontrollstraßen eingeführt sind, geben die Prostituierten
ohne weiteres zu, daß von der berüchtigten Schuldenwirtschaft, von Aus¬
beutung, von Verschacherung in andere Häuser oder Städte, keine Rede
ist, daß vielmehr jede jeden Tag nach Belieben ausziehen kann, um in
ein anderes Quartier innerhalb der Kontrollstraßen zu übersiedeln.
Ein weiteres Mittel, die Geschlechtskrankheiten erfolgreich zu be¬
kämpfen, sieht Pränkel in der Vermehrung der Zahl von Betten
für Geschlechtskranke, ferner in der anonymen Anzeige von Geschlechts¬
kran kheitep bei Männern und Weibern, Prostituierten und Nicbtprosti-
tuierten. Schließlich verspricht großen Gewinn die Isolierung Geschlechts¬
kranker, am besten im Krankenhaus. Die Isolierung in der eigenen
Wohnung stößt bei der großen Wohnungsnot auf erhebliche Schwierig¬
keiten, es ist daher die WohnuDgshygiene die vornehmste und wich¬
tigste Aufgabe bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, ebenso
wie schließlich der Alkoholismus, die Kindersterblichkeit, die Schwind¬
sucht in der mangelhaften Wohnungshygiene die starken Wurzeln ihrer
Kraft haben. Ries (Stuttgart).
H. Berger. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Vierteljahrsscbr. f.
gerichtl. Mediz. 1903. Bd. 26. Suppl. 2.
Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten hat sich in vier Richtungen
zu bewegen: 1. Unterlassen des Coitus impurus, 2. schnelle Erkennung
und Behandlung der Geschlechtskrankheiten, 3. Regelung der Prostitution,
4. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten bei den Prostituierten.
Zu 1 gehören allgemein soziale und hygienische Maßnahmen. Dazu
gehören Belehrungen der Jugend über die Unschädlichkeit der geschlecht¬
lichen Abstinenz, die Gefahren des Coitus impurus, Besserung der
Wohnungsverhältnisse und Veredelung des Lebensgenusses durch Ein¬
richtung von Unterhaltungsabenden, Volksbibliotheken etc.
Zu 2 fordert Verf. in erster Linie unentgeltliche Behandlung
aller Geschlechtskranken. Der allgemeinen Anzeigepflicht — auch
der diskreten — meint Verf. nicht das Wort reden zu können, um
niemanden von dem Aufsuchen ärztlicher Behandlung zurückzuhalten.
Dagegen hält er es für nötig, daß infizierte Männer die Infektionsquelle
genau angeben, damit sorgfältige Ermittelungen angestellt werden können.
Die Verdächtigte hat sich durch ein polizeiliches Attest zu reinigen,
ebenso auch eventuell der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten be¬
schuldigte Männer. Verf. fügt hinzu, daß diese Bestimmungen schlimmer
aussehen, als sie tatsächlich sind, und hauptsächlich nur abschreckend
wirken sollen.
Die Reglementierung der Prostitution hält Verf. für notwendig.
Wünschenswert sind tägliche Untersuchungen der Prostituierten, die
nicht auf der Polizei, sondern in der Wohnung des Arztes stattzufinden
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176
Referate.
haben. Verf. meint, daß die Wanderung der Prostituierten in die
Wohnung des Arztes für Nachbarn oder sonst in der betreffenden
Straße Wohnende keinen Anstoß geben würde. (Vielleicht aber für die
Hausmitbewohner und die sonstige Klientel des Arztes! Ref.) Die
Kontrolle über die ärztlichen Untersuchungen wird in der Weise von
der Polizei ausgeübt, daß jede Woche das von dem Arzte zu führende
Kontrollbuch nachgesehen wird und die Säumigen in Strafe genommen
werden. Krankenhaus, Arzt und Medizin sind immer unentgeltlich zu
gewähren. Dr. Dohrn-Cassel.
Medizinische Prophylaxe.
Oswald Berneker. Die medizinischen Gesichtspunkte bei der Bekämpfung der
venerischen Krankheiten. Inaug.-Diss. Berlin. 1903.
Der Verf. hat nicht die Absicht, neue Vorschläge zur Prophylaxe
der Geschlechtsleiden zu bringen, sondern seine Arbeit soll nichts anderes
sein, als ein kritisches Sammelreferat über die in den letzten Jahren
von den verschiedenen Seiten erhobenen Forderungen zur Bekämpfung
der venerischen Krankheiten. Die Schrift ist für alle diejenigen, die
sich rasch über die medizinischen Gesichtspunkte, welche für die Pro¬
phylaxe der Sexualerkrankungen maßgebend sein müssen, orientieren
wollen, recht brauchbar, und durch das außerordentlich umfängliche
Literaturverzeichnis hat sich der Verf. auch den Dank aller derer ver¬
dient. die sich wissenschaftlich mit dem Gegenstände zu beschäftigen
haben. M.
Populäres.
F. Sieberl. Sexuelle Moral und sexuelle Hygiene. Frankfurt a. M., Johannes Alt
Das deutschen Hochschülern und Hochschülerinnen ge¬
widmete Buch von F. Siebert überragt um ein Beträchtliches die große
Mehrzahl all der Schriften, die — gleicher oder ähnlicher Tendenz —
in jüngster Zeit in überreicher Menge auf den Markt gelangt sind.
Freilich nicht alle Abschnitte des gehaltvollen Buches sind mit derselben
Gründlichkeit durchgearbeitet; namentlich stilistische Unebenheiten wirken
hier und da recht störend, zumal die Diktion im allgemeinen eine sehr
angenehme, stellenweise geradezu elegante und schwungvolle ist. Von
besonderem Interesse sind die Kapitel über ,,die Fehler in unserer
heutigen Anschauung von Sittlichkeit“, über „die Frage der
völligen Enthaltsamkeit“, über „einige soziale Gesichtspunkte“
und über die „Hygiene des Geschlechtslebens.“ Ein knappes
Referat über die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten würde bei
der Schwierigkeit der Probleme und bei der Eigenart, mit welcher
der Verf. sie erörtert, leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben und
dem Buche und seinem Autor nicht gerecht werden; eine genauere
Inhaltsangabe aber müßte den hier zur Verfügung stehenden Raum wesent¬
lich überschreiten. Deshalb mögen an diesem Orte nur die wichtigsten
Stellen aus dem aktuellsten Abschnitte des Buches wiedergegeben werden,
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Referate.
177
nämlich einige Ausführungen Sie her ts über die Frage nach der etwaigen
Schädlichkeit sexueller Abstinenz. Um es nur gleich zu sagen:
die Frage wird glattweg verneint — wenigstens in Hinsicht auf den
gesunden Menschen, für den allein das Buch geschrieben ist.
Trotzdem werden diejenigen, die unbedingte Enthaltsamkeit fordern,
nicht so ohne weiteres den Verf. als Kronzeugen nennen dürfen. Denn
folgende sehr verständige und treffende Bemerkungen bedeuten doch
wohl eine beachtenswerte Einschränkung jenes so kategorisch klingenden
„Nein!“ Auf S. 56 schreibt Siebert also: „Wenn oin geistig hoch¬
stehender Mann durch irgendwelche ungünstige Verhätnisse in einen Be¬
ruf gedrängt wird, in dem er seine geistigen Fähigkeiten nicht verwerten
kann, so bedauern wir ihn und sagen, er bat etwas verloren, aber wir
glauben nicht, daß sich eine gesundheitliche Schädigung daraus ergeben
wird. Oder wenn jemand eine Anlage zu irgend einer schönen Betätigung
hat, sagen wir Musik oder Malerei, uud er läßt diese verkümmern, so
bedauern wir das, nicht weil der Mann vielleicht ein großes Kunstwerk
geliefert hätte, sondern weil ihm manche Freude verloren gegangen ist.
Und nun soll die Freude, die Erbauung, der Genuß, der aus der ge¬
schlechtlichen Betätigung entspringt, verkümmern? Es ist nun einmal
so, daß mancher gar nicht verderbter oder sittenloser, sondern gebildeter,
arbeitskräftiger, idealdenkender Mensch etwas sehr Wesentliches mit der
Möglichkeit der Geschlechtsbetätigung zu verlieren glaubt. Das ist eine
Erfahrungstatsache, um die wir nicht herumkommen, und es müssen
schwerwiegende Gründe gebracht werden, einem Menschen diesen Lebens¬
wert zu nehmen. Ob Gesundheitsschädigung nun da oder nicht da ist,
der Mann hat etwas verloren, wenn er sich nicht geschlechtlich betätigen
darf.“ Auf S. 58 fährt Siebert folgendermaßen fort: „Wenn es auch
sicher wäre, daß die Enthaltsamkeit keinem schadet, so ist damit noch
gar nichts für die Notwendigkeit gewonnen. Es fragt sich, ob nicht
dann, wenn in ganzen Gesellschaftskreisen das Geschlechtsleben zur Ver¬
kümmerung gebracht wird, im Ersatz Erscheinungen zu Tage treten, die
wohl Schädigungen darstellen.“ Und weiter auf S. 61. „Die Enthaltsam¬
keit ist sicher nicht die einzige Ursache, die die Verbreitung der Onanie
und der sexuellen Perversionen bedingen, aber daß sie eine gewaltig
unterstützende Wirkung ausübt, einen Boden darstellt, auf dem, wenn
noch ein anderer Anstoß dazu kommt, leicht derartige Verirrungen
wachsen, das ist wohl nicht zu leugnen.“
Die wenigen Zitate geben keineswegs ein erschöpfendes Bild von
der Anschauung des Verf.; kaum daß sie Sieberts Standpunkt flüchtig
andeuten. Wer diesen genauer kennen lernen will, muß das Buch selbst
lesen, und ihm sei die Versicherung gegeben, daß die darauf verwandte
Zeit ihn nicht gereuen wird. Namentlich denen, für die das Buch in
erster Linie bestimmt ist, unserer männlichen und weiblichen akademischen
Jugend, darf die Lektüre des Buches empfohlen werden.
Max Marcuse (Berlin).
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178
Tagcsgeacbichte.
Tagesgeschichte.
Norwegen.
Auf Initiative der Sittlichkeitsvereine und der Arbeiterakademie
wurden wiederholt in den letzten Jahren in den Arbeitervereinen Christianias
unentgeltliche populäre Vorlesungen über Geschlechtskrankheiten ge¬
halten ; für weibliche Zuhörer durch Ärztinnen. Das Interesse für
diese Vorträge ist ein sehr großes gewesen. Besonders war auch immer
das weibliche Geschlecht zahlreich vertreten. Auf Initiative des allge¬
meinen Studentenvereines ist eine Vorlesung über dasselbe Thema von
dem Universitätslehrer für Syphilidologie im Lokal des Studenten Ver¬
eines und mit Zutritt für Studierende aller Fakultäten gehalten worden.
Die Ärzte Christianias müssen dem Gesundheitsamte monatlichen Be¬
richt abgeben über die Zahl der von ihnen behandelten Geschlechtskranken.
Seit der 1888 erfolgten Aufhebung der öffentlichen Bordelle und der
regelmäßigen präventiven Prostituiertenkontrolle hat die Zahl der ge¬
meldeten Geschlechtskranken zunächst eine bedeutende Steigerung erfahren,
die in den Jahren 1895—99 ihr Maximum erreichte, um dann wieder
erheblich abzunehmen. Die Steigerung fiel mit einer sehr glänzenden
Periode im Geschäftsleben Christianias zusammen, mit einer sehr leb¬
haften Bautätigkeit, mit Zunahme der Bevölkerung und mit Gelegenheit
zu sehr reichlichem Verdienste für die Arbeiterschaft. Das Abnehmen
der Zahl der Geschlechtskranken fiel mit dem Eintreten der ungün¬
stigeren Geschäftskonjunkturen, mit Lahmlegung der Bautätigkeit und
Industrie und Sinken des Arbeitslohnes zusammen.
Man ist geneigt gewesen, hier einen ursächlichen Zusammenhang
zu sehen. Natürlicherweise ist die nach der Aufhebung der Kontrolle
einsetzende Zunahme der Geschlechtskrankheiten von den Reglementaristen
als Beweis für die Effektivität der Kontrolle angesprochen worden,
während die nachher eintretende Abnahme von den Abolitionisten als
Argument gegen diese Wirksamkeit ins Feld geführt wird.
Zahl der neuen Fälle von Geschlechtskranken in Christiania 1888—1902.
j Gonorrhoe
^Männer Weiber
U1CU8
molle
M. w.
Acquirierte
Syphilis
M. | W.
Hereditäre
Syphilis
M. W.
Summa
Bevöl¬
kerung
Summe in
Prozent der
Bevölkerung
Fälle v. Sy ph.
in Pros, der
Bevölkerung
1888
509
66
71
16
103
109
18
14
902
138319
0,66
0,18
1891
795
42
180
15
303
170
10
10
1489
156535
0,95
0,31
1895
1482
126
387
34
518
206
26
14
2793
182 856
1,52
0,42
1897
2031
173
447
46
450
233
25
25
3430
203 337
1,69
0,36
1898
2125
207
433
51
565
259
25
27
3692
221255
1,67
0,40
1900
1871
170
i 507
43
457
195
28
j 26 ■
3297
j 228929
1,44
0,31
1902
! 1576
159
418
37
368 |
196
20
28
2802
225677
I 1,24
0,27
(Tabelle nach dem Jahresberichte des Gesundheitsamtes für 1902.)
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Tageggeschichte.
179
An den norwegischen Reichstag wurde am 2. Dezember 1901 von
der königlichen Regierung ein Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
geschlechtlicher Krankheiten und öffentlicher Unsittlichkeit ein¬
gebracht, von welchem nachstehend ein Auszug folgt:
§ 1. Das Gesundheitsamt soll einen oder mehrere Ärzte anstellen, die
die Aufgabe haben: 1. Personen zu untersuchen, die sich geschlechtlich
angesteckt glauben und sich zur Untersuchung selber vorstellen. 2. Ge¬
schlechtskranke zu behandeln, wenn dieses ambulatorisch geschehen kann.
Diese Untersuchung und Behandlung soll unentgeltlich erfolgen (cfr. § 23).
§ 2. Personen, die der Aufforderung zur Unzucht beschuldigt werden
oder denen der Vorwurf gemacht wird, wissend, daß sie syphilitisch sind,
eine Stelle als Diener angenommen zu haben oder in einer solchen Stelle
geblieben zu sein, ohne die Herrschaft von der Krankheit zu unterrichten,
oder aber, obschon syphilitisch, Kinder in Verpflegung genommen zu
haben, können polizeilich zu ärztlicher Untersuchung aufgefordert werden.
§ 8. Personen, die wegen eines zu engen Zusammenlebens mit Ge¬
schlechtskranken der Anst-ckung sehr ausgesetzt gewesen sind, können
von dem Gesundheitsamte zur Untersuchung gezwungen werden, oder
sie müssen ein Attest von einem hierzu autorisierten Arzte beibringen.
Derselben Bestimmung unterliegen Personen, die als geschlechtskrank,
speziell als Infektionsquellen angezeigt sind. Der zur Untersuchung
Aufgeforderte kann binnen zwei Tagen eine gerichtliche Entscheidung
über die Notwendigkeit der Untersuchung verlangen.
§ 5. Der Staat soll Sorge tragen, daß die an Syphilis Leidenden
in Krankenhäusern aufgenommen werden müssen, wenn das Gesundheits¬
amt es für geboten hält.
§ 6. Jeder Geschlechtskranke, der sich nicht zuverlässige Pflege
verschafft oder die ihm gegebenen Vorschriften nicht befolgt, kann
durch das Gesundheitsamt dem Kranken hause zugeführt werden, bis die
Krankheit geheilt und die Gefahr der Übertragung wesentlich vermindert
ist. Personen, die, an Syphilis in ansteckender Form leidend, es selbst
wünschen, sollen, wenn möglich, immer durch das Gesundheitsafnt ins
Krankenhaus überwiesen werden (unentgeltlich, cfr. § 23).
§ 7. Wenn Syphilitische das Krankenhaus in ansteckungsfähigem Zu¬
stande verlassen, soll das Gesundheitsamt davon unterrichtet werden.
.Das Gesundheitamt kann, solange eine Ansteckung zu befürchten ist,
dem Kranken gebieten, sich zu bestimmten Zeiten zu ärztlicher Unter¬
suchung einzustellen oder ein von einem anderen Arzte über erfolgende
zuverlässige Behandlung ausgestelltes Attest einzureichen.
§ 11. Die Ärzte sollen an den Vorstand des Gesundheitsamtes Be¬
richt erstatten über die von ihnen behandelten Geschlechtskranken und
über die Infektionsquellen. In dem in §§ 2—8 abgehandelten Fällen
sollen die Namen der Kranken angegeben werden, sonst nicht.
§ 13. Wenn ein Syphilitischer, der noch in d^r Periode der Krank¬
heit sich befindet, in welcher ansteckende Rezidive zu befürchten sind,
aus der Behandlung eines Arztes scheidet, soll der Arzt den Fall beim
Gesundheitsamt anzeigen.
§ 14. Kinder, die an Syphilis leiden oder syphilisverdächtig sind,
dürfen weder gestillt werden von Personen, die dadurch der Ansteckung
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180
Tagesgeschichte.
ausgesetzt werden, noch bei Fremden in Verpflegung gebracht werden,
ohne daß diese von der Ansteckungsgefahr unterrichtet sind. Als ver«
däcbtig wird ein Kind angesehen, wenn seine Mutter syphilitisch ist oder
war, und das Kind noch nicht vier Monate alt ist. Eine Hebamme, die ein
Kind syphilisverdächtig findet, soll dem Gesundheitsamt Anzeige machen.
§ 15. Kinder, die noch nicht ein Jahr alt bei Fremden in Pflege
gegeben werden, müssen dem Gesundheitsamt gemeldet werden. Das
Gesundheitsamt soll das Kind untersuchen lassen.
§ 18. Das Gesetz vom 6. Juni 1896 von der Behandlung vernach¬
lässigter Kinder (Absonderung von den Eltern, Anbringen in Erziehungs¬
anstalten u. s. w.) kommt zur Anwendung auch Mädchen gegenüber, die
über 16, aber weniger als 18 Jahre alt sind, wenn sie ein Betragen
zeigen oder unter Verhältnissen leben, die begründete Furcht erwecken,
daß sie sittlich verdorben sind oder es werden können.
§ 19 In Wirtschaften, wo berauschende Getränke verkauft werden,
kann weibliche Bedienung polizeilich verboten werden. Ebenso kann polizeilich
untersagt werden, daß Mädchen unter 21 Jahren als Gesinde in den¬
jenigen Gasthäusern angenommen werden, in denen zugleich Reisenden
Logis und Herberge gewährt wird.
§ 21. Die Untersuchung von Frauen und Mädchen, soll, wenn
möglich, durch Ärztinnen vorgenommen werden oder wenigstens in Gegen¬
wart eines weiblichen Beamten.
§ 23. Die Kosten bei den in diesem Gesetz vorgesehenen ärztlichen
Untersuchungen liegen der Gemeinde ob. Die Kosten bei Behandlung
Geschlechtskranker außerhalb des Krankenhauses trägt die Gemeinde,
wenn die Kranken gesetzlich von der Zahlung befreit sind (cfr. § 1)
oder nicht selbst bezahlen können. Wenn jemand nach Beschluß des
Gesundheitsamtes wegen einer Geschlechtskrankheit ins Krankenhaus
überführt ist, liegen die Kosten dem Staate ob, wenn es sich um
Syphilis handelt, und sonst der Gemeinde, falls der Kranke nicht selbst
zu bezahlen vorzieht.
§ 26. Übertretung der §§ 9—15, 19 und 22 dieses Gesetzes werden
mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.
Die Behandlung des oben skizzierten Gesetzentwurfes, der schon
früher in etwas anderer Redaktion vorlag, aber unter dem Einflüsse von
Sittlichkeits- und Frauenvereinigungen zu der jetzt vorliegenden Form um¬
redigiert worden ist, wurde von dem letzten Reichstage aufgeschoben.
Nach der in diesem Herbste erfolgten Änderung der Regierung wird
es sich vielleicht ereignen, daß der Entwurf erst nach nochmaligem
Umredigieren den Abgeordneten wieder vorgelegt werden wird.
Heiberg Hansteen (Christiania).
Schweiz.
Veranlaßt durch ein Initiativbegehren, welches die Wieder¬
einführung von Bordellen zum Gegenstand hat, wird am 31. Januar
im Kanton Zürich eine Volksabstimmung über die Zulassung von
Bordellen stattfinden. Wir werden über das Ergebnis dieser Abstimmung
im nächsten Heft Bericht erstatten.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903/4. Nr. 5.
Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten beitragen?
Vortrag, gehalten in Breslau auf der Jahresversammlung von
Ortskrankenkassen im Deutschen Reiche, Sept 1903, von
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Albert Neisser.
(Fortsetzung.)
Ich habe soeben von der Hebung der Moral gesprochen und
dem Gedanken, daß alle Kreise, demgemäß auch die Kranken¬
kassen, diesen Bestrebungen so weit als möglich ihre Unterstützung
zuteil werden lassen sollen, Ausdruck gegeben. Je weniger ich
aber von einer direkt erziehlichen Einwirkung in diesem Sinne
auf geschlechtlichem Gebiete erwarte, um so wichtiger erscheint es
mir, daß die praktischen Maßnahmen, welche zu einer Hebung
des gesamten sittlichen Niveaus der in Betracht kommenden
Bevölkerungsschichten führen können, auf das lebhafteste unter¬
stützt werden. Ich denke hier besonders an zwei Institutionen,
an deren Einführung besonders auch vom Standpunkte der Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten aus, mir die Krankenkassen
wesentlich interessiert erscheinen; ich meine die Einführung der
obligatorischen Fortbildungsschulen und ferner die Be¬
seitigung des Schlafgängerwesens durch den Bau von
Ledigenheimen.
Bei beiden Maßnahmen handelt es sich um Bestrebungen, die
heranwachsende Jugend sittlich und intellektuell zu
heben und sie den schädlichen Einflüssen speziell des
Großstadtlebens und des Wohnungselends zu entziehen;
ganz abgesehen von der Rückwirkung, welche insbesondere die
Beseitigung des Schlafgängerwesens für das moralische Niveau
ungezählter Familien und der in ihnen aufwachsenden
Kinder, die später Kassenmitglieder werden, haben würde. Ich
Zeitochr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke IL 14
%
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182
Neisser.
weiß sehr wohl, daß die Krankenkassen nicht aus eigener Kraft
diese Maßnahmen durchführen können; aber in allen großen
Städten ist die Zahl der Kassenmitglieder und der mit ihrer
Organisation befaßten Personen so groß, daß sie wohl auf die
maßgebenden Behörden einen drängenden Einfluß durch bewußte
Propaganda ausüben können.
Und was die Aufgabe betrifft, die Jugend vor dem Hinab¬
sinken in die Prostitution zu schützen, so wird zwar nie und
nimmer die Prostitution aus der Welt geschafft werden können?
weil es jederzeit Mädchen geben wird, die bei der nun einmal be¬
stehenden Nachfrage der Männer das Leben einer Prostituierten
jedem anderen vorziehen werden; aber ebenso richtig ist es, daß
unzählige nur deshalb Prostituierte werden, weil im entscheiden¬
den Augenblick die haltende und helfende Hand, welche vorüber¬
gehende Not beseitigt, Arbeit verschaffte, Unterkunft und Obdach
bot, nicht zur Stelle war. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle ist der Übergang vom normalen Erwerbsleben zur
Prostitution ein ganz allmählicher. Es ist also wohl daran
zu denken, daß die Krankenkassen ihren jüngeren weiblichen Mit¬
gliedern nicht nur bei Krankheiten ärztliche Hilfe gewährten, son¬
dern Institutionen schüfen, die ihnen in Zeiten der Not und eigenen
Hilflosigkeit mit Rat und Tat zur Seite stünden.
Vielleicht lassen sich Mittel und Wege finden, um seitens der
Kassen beschäftigungslosen Arbeiterinnen vorübergehend
Unterkunft und Erwerb zu schaffen oder ihnen wenigstens mit
Auskunft und juristischem Rate zur Seite zu stehen. Namentlich
wäre dann, wenn Personen wegen Beendigung des die Mitglied¬
schaft begründenden Arbeitsverhältnisses aus einer Kasse aus¬
treten wollen, zu solcher Ratserteilung und sozialer Hilfeleistung
der richtige Augenblick; auch sollte dann niemals die Belehrung
darüber ausbleiben, daß es jedem Mitglied frei stehe, frei¬
willig Mitglied der Kasse zu bleiben. Besonders häufig
kommt es vor, daß die Versicherten bezüglich ihrer Rechte nach
Austritt aus der Kasse nicht informiert sind. Viele Mitglieder
legen die Arbeit nieder, weil sie krank sind und treten aus der
Kasse aus, lassen aber aus Unkenntnis dann die dreiwöchentliche
Frist, während welcher sie noch auf die seitens der Kasse zu ge¬
währenden Leistungen Anspruch haben, verstreichen und so kommen
sie dann zum Arzt und wünschen Aufnahme ins Krankenhaus,
ohne daß dann noch die Kasse verpflichtet wäre, die dafür er-
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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 183
wachsenden Kosten zu tragen. So verfallen sie in vielen Fällen
der Armenpflege oder werden zu gröbster Vernachlässigung ihrer
Krankheit veranlaßt.
Waren die eben besprochenen Maßnahmen mehr allgemeinerer
Art, mehr oder weniger hinzielend auf Einschränkung des Ge¬
schlechtsverkehrs und Beseitigung der zu einem solchen führenden
Verhältnisse, so komme ich jetzt zu der Besprechung der Frage,
ob es nicht möglich wäre, den nun einmal bestehenden Geschlechts¬
verkehr seiner Gefahren zu entkleiden.
In erster Reihe kommen hier in Betracht alle die Versuche,
durch Schutzmaßregeln vor oder nach dem Beischlaf die An¬
steckung zu verhüten.
Es ist hier nicht der Platz, ausführlich auf diese Frage ein¬
zugehen. An der Möglichkeit, sich gegen das Eindringen von
venerischen Giften zu schützen, oder eben eingedrungenes Gift
sofort wieder abzutöten, so daß es eine Krankheit nicht zur Ent¬
wickelung bringen kann, besteht kein Zweifel. Über die Methoden
und wissenschaftlichen Grundlagen solcher prophylaktischer Ma߬
regeln ist gerade in den letzten Jahren sehr viel gearbeitet
worden und die Industrie hat sich der Erzeugung entsprechender
Schutzbestecke u. dergl. bereits in ausgiebigster Weise bemächtigt
Die Frage ist nur die: soll man überhaupt solche Schutz¬
maßregeln propagieren und wie soll man es tun?
Die erste Frage wird von vielen Seiten verneint und die Be¬
fürchtung ausgesprochen, daß die allgemeine geschlechtliche Un¬
sittlichkeit noch größer werden würde, wenn durch Beseitigung der
mit dem Geschlechtsverkehr verbundenen Gefahren die Angst vor
der Ansteckung, die doch in vielen Fällen ein Motiv zur Unter¬
lassung des Geschlechtsverkehrs darstellte, wegfiele. Es liegt sicher¬
lich etwas Richtiges in diesem Gedankengange. Aber man wird,
und leider wohl mit Recht, dem entgegenhalten müssen, daß bis¬
her wenigstens die Angst vor der Ansteckung nicht ausgereicht
hat, um in irgendwie erheblicher Weise außerehelichen Geschlechts¬
verkehr zu verhüten, und daß leider auch kein Anzeichen vorliegt,
auf eine Steigerung der Enthaltsamkeit in der Bevölkerung rechnen
zu dürfen.
Man wird also, wenn man mit den realen Tatsachen rechnen
will, wohl oder übel sich die Frage vorlegen müssen: sollte es
nicht gelingen, weite Kreise der Bevölkerung, die vom Geschlechts¬
verkehr nicht zurückzuhalten sind, vor den Gefahren desselben
14*
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184
Neisser.
dadurch zu bewahren, daß man ihnen die zur Verhütung der An¬
steckung geeigneten Mittel in die Hand gibt?
Der Beweis, daß solche prophylaktische Maßnahmen von Er¬
folg gekrönt sind, ist bereits durch Versuche, welche sowohl in
der Handels- wie in der Kriegsmarine gemacht worden sind, er¬
bracht. Aber was sich in solchen, ich möchte sagen geschlossenen
und einer besonderen Disziplin unterworfenen Bevölkerungsklassen
durchführen läßt, läßt sich nicht ohne weiteres in der freien fluk¬
tuierenden, Belehrung und Disziplin viel unzugänglicheren Kassen¬
bevölkerung durchführen. Aber für ausgeschlossen halte ich
durchaus nicht, die Kassenmitglieder auf die Möglichkeit
einer solchen Prophylaxe hinzuweisen und denjenigen, welche
informiert werden wollen, eine Belehrung zugänglich zu
machen. Natürlich kann das nur mit Zuhilfenahme der Arzte
geschehen und auch hier wird es großer Diskretion und großen
Taktes bedürfen, um die Belehrung in der richtigen Weise zu
erteilen. Abgesehen davon, daß bei solcher Belehrung immer
darauf hingewiesen werden müßte, daß Enthaltsamkeit nach jeder
Richtung hin empfehlenswert und nützlich sei, wäre zu betonen,
daß auch die prophylaktischen Maßregeln nicht absolut
sicher schützen, sondern nur in einem gewissen Grade die Ge¬
fahr aus der Welt schaffen.
Die Belehrung hätte nicht nur bei männlichen, sondern
auch hier bei weiblichen Mitgliedern durch geeignete weibliche
Personen: Pflegerinnen, Ärztinnen zu erfolgen; vielleicht weniger
mit dem direkten Hinweise, daß es sich um Vermeidung geschlecht¬
licher Ansteckung handle, als mit der Betonung der Notwendigkeit
peinlichster Sauberkeit und körperlicher Pflege. Anhänger des
Neo-Malthusianismus werden solche Belehrungen vielleicht auch
darauf ausgedehnt wissen wollen, der Empfängnis vorzubeugen. Läßt
sich doch nicht leugnen, daß in unzähligen Fällen die außereheliche
Schwängerung und die Geburt eines unehelichen Kindes der Anfang
der schließlich zur Prostitution und ins äußerste Elend führenden
Demoralisation der Mädchen darstellt; zumal bei uns in Deutsch¬
land, wo weder die Alimentations-Gesetzgebung, noch genügende
Fürsorge für uneheliche Kinder solche Mütter unehelicher Kinder
schützt.
Alle die eben besprochenen Maßnahmen der Belehrung durch
Vorträge und Druckschriften, der Verabreichung von zur Pro¬
phylaxe dienenden Medikamenten und dergl. mehr würden den
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 185
Kassen unter Umständen nicht unbeträchtliche Ausgaben auferlegen.
Es ist aber gesetzlich nicht klar, ob die Kassen das Recht
haben, für eben diese Zwecke, die also nicht Krankheits¬
heilung, sondern Krankheitsverhütung in sich schließen,
Geld aufzuwenden. Deshalb hat auch Blaschko mit Recht
schon in seinen auf der Brüsseler Konferenz aufgestellten Thesen
den Satz vertreten: „es muß den Krankenkassen gestattet
sein, Ausgaben für die hygienische Wohlfahrt ihrer ge¬
sunden und kranken Mitglieder und sonstigen Zwecke der
Krankheitsprophylaxe zu machen.“
Während die eben besprochenen Fragen zu den allerweit¬
gehendsten Diskussionen Anlaß geben, ebenso lebhafte Verteidiger
wie schärfste Gegner finden werden, dürfte darüber, daß der Ver¬
breitung der Geschlechtskrankheiten kein wirksameres
Mittel entgegengesetzt werden könnte, als durch möglichst
schnelle Heilung aller bereits Erkrankten, wohl kein Zweifel
bestehen.
Ist für die Behandlung der Kranken in genügender Weise
gesorgt?
Betrachtet man die Bestimmungen des neuen mühsam er¬
rungenen Gesetzes, wie es am 1. Januar 1904 in Kraft treten
wird, so wird man durchaus geneigt sein, diese Frage zu bejahen.
Jeder Kranke, der sich meldet, erhält nicht nur, wie bisher,
vom Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei
und alle zur Behandlung notwendigen Heilmittel, sondern auch
im Falle der Erwerbslosigkeit ein Krankengeld. Diese Unter¬
stützung wird ferner auf 2b Wochen, also in einer für die meisten
Fälle ausreichenden Dauer (statt wie bisher auf 13 Wochen) ge¬
währt; ebenso kann Kur und Verpflegung in einem Krankenhause
gewährt werden.
Und dennoch wird es lediglich von dem Geiste, in
dem die Krankenkassen diese Gesetzesbestimmungen hand¬
haben, abhängen, ob das Ziel der Eindämmung der Ge¬
schlechtskrankheiten erreicht wird oder nicht. Vor allem
anderen wird es darauf ankoramen, welchen Standpunkt die Kassen
fortan der Frage der Krankenhausbehandlung Geschlechts¬
kranker gegenüber einnehmen werden.
Der bisherige Zustand war ein sehr unerfreulicher; es
hatte sich auf der einen Seite eine außerordentlich starke Zunahme
der Geschlechtskranken im Reiche herausgestellt, zu gleicher Zeit
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186
Neisser.
aber eine auffallende Abnahme der Zahl der in den Kranken¬
häusern behandelten Geschlechtskranken. Während nämlich in den
Krankenhäusern Preußens seit dem Jahre 1877 die Zahl der
Kranken überhaupt auf das Dreifache gestiegen ist, sank die Zahl
der daselbst untergebrachten Geschlechtskranken von 79 pro Mille
der Gesamtbelegschaft im Jahre 1877 auf 43°/ 0 o Jahre 1699.
Bei der Syphilis ist der Abfall noch auffallender, er sinkt von 61
auf 25°/ 00 i n J en gleichen Jahren.
Von meinem wissenschaftlichen und ärztlichen Standpunkte
aus muß ich nun den Satz aufstellen, daß bei allen frischen
Fällen venerischer Erkrankung die Krankenhausbehand¬
lung der ambulatorischen Behandlung im Interesse
schneller und sicherer Heilung bei weitem vorzuziehen
ist Der bemittelte Patient freilich, der in der Lage ist, sich zu
schonen und zu pflegen und einen ausgebildeten Wärter zu be¬
zahlen, kann die Behandlung in seinem Hause durchführen lassen.
Wo aber ein derartig technisch geübter Wärter nicht zur Ver¬
fügung steht, wird einzig und allein das Krankenhaus imstande
sein, einerseits eine gute und sorgsame Behandlung bei ge¬
eigneter Kost und Pflege zu garantieren, andererseits alle
die Heilung beeinträchtigenden Gewohnheiten und Schädlichkeiten
des täglichen Lebens und Berufes fern zu halten. Die Erfahrung
lehrt tagtäglich, daß selbst intelligente und für ihre Heilung be¬
sorgte Menschen außerhalb des Hospitals die Behandlung trotz
sorgfältigster ärztlicher Anweisung nur in ganz ungenügender Weise
durchführen. Erst im Hospital erlernen auch die Patienten sich
selbst zu behandeln. Namentlich die Anfangsbehandlung
sollte stets im Hospital geschehen, denn je energischer und
sorgsamer gerade im Frühstadium der Erkrankung die Behandlung
derselben erfolgt, desto leichter ist es, die Krankheitsdauer abzu¬
kürzen und die Heilung zu beschleunigen. Aber auch wenn solche
definitive Heilung sich nicht in kurzer Zeit bewerkstelligen läßt,
so wird es möglich sein, durch rationelle Maßnahmen wenigstens
bald den Krankheitsprozeß in ein Stadium überzuführen, in welchem
der Erkrankte ohne Gefahr für sich und seine Mitmenschen ent¬
lassen werden kann und in welchem er seine Arbeitsfähigkeit
wieder besitzt. Die ärztlichen Methoden sind jetzt derart ausge¬
bildet, daß, insofern nur zu Beginn der Krankheit Krankenhaus¬
behandlung eingewirkt hat, für die Folge dann ambulatorische
Behandlung ohne Schaden eintreten kann.
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 187
Beim Tripper der Männer würden sicherlich die allermeisten
Fälle von Entzündung und Vereiterung der Nebenhoden und der
Vorsteherdrüse, bei Frauen das Hinauf kriechen in die Gebärmutter
und Eileiter, beim Schanker das Hinzutreten der Leistendrüsen-
Vereiterung vermieden werden, wenn in allen Fällen Krankenhaus¬
behandlung bezw. eine entsprechende, mit erzwungener Ruhe ein¬
hergehende Pflege stattfände. Eine rationelle Behandlung des
weiblichen Trippers scheint mir sogar außerhalb eines Kranken¬
hauses ganz unausführbar. Aber auch hinsichtlich der Syphilis
muß ich von meinem ärztlichen Standpunkt dafür plädieren, daß
wenigstens die erste Kur, die ein Syphiliskranker durchzumachen
hat — und womöglich auch noch in den ersten drei Krankheits¬
jahren noch je eine weitere Kur — im Krankenhaus absolviert
werde. Das, was ich wenigstens eine gute und energische
Syphiliskur nenne, läßt sich außerhalb eines Krankenhauses
nicht durchführen; denn es handelt sich dabei nicht bloß um
die einfache Quecksilberzufuhr, sondern auch um die Anwendung
von Bädern, von Schwitzkuren, um sorgfältige Ernährung mit
steter Kontrolle des Körpergewichtes, um Vermeidung der mit
energischer Quecksilberanwendung hin und wieder verbundenen
Mund- und Darmstörungen, Dinge, eben nur unter fortwährender
ärztlicher Kontrolle einerseits und mit Zuhilfenahme aller im
Hospital zur Verfügung stehenden Hilfsmittel andererseits, durch¬
zuführen. Meines Erachtens kann ein Arbeiter, der von früh bis
abends angestrengt tätig sein soll, ein Unbemittelter, der sich nicht
genügend ernähren kann, eine solche energische Kur, wie ich sie
im Sinne habe und für notwendig erachte, und die ich bei jedem
Bemittelten kategorisch verlange, nicht außerhalb eines
Krankenhauses durchführen.
Aber die Kassenverwaltungen — wird man mir erwidern —
sind nicht in der Lage, alle ärztlichen Ideale zu verwirklichen;
sie müssen sich nach den vorhandenen Mitteln richten. Das gebe
ich ohne weiteres zu. Aber ich kann es nicht für erwiesen er¬
achten, daß die Finanzen der Kassen so wesentlich geschädigt
werden würden, wenn Krankenhausbehandlung häufiger als bisher
gewährt würde. Unter der Herrschaft des alten § 6a allerdings
war die Spannung zwischen den Kosten der Krankenhausbehand¬
lung einerseits und der ambulatorischen Behandlung andererseits,
bei welcher ja kein Krankengeld gewährt zu werden brauchte, über¬
aus hoch. Nunmehr aber, wo den Hospitalkosten auf der einen
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188
Neisser.
Seite Arzthonorar, Medikamente und Krankengeld auf der
anderen Seite gegenüberstehen, wird die Kostendifferenz in der
Regel nicht mehr sehr erheblich sein. Zuzugeben ist allerdings,
daß die Zahl der Geschlechtskranken, die die Kassenleistungen
überhaupt in Anspruch nehmen werden, unter der Herrschaft des
neuen Gesetzes wesentlich zunehmen wird, weil die früher nicht
vorhandene Lockung des Krankengeldes mehr Kranke als früher
zur Anzeige ihrer Erkrankung veranlassen wird. Zuzugeben ist
daher auch, daß die absoluten Kosten für die Kassen wesentlich
steigen werden. Aber für eine sehr verfehlte Finanzpolitik würde
ich es erachten, wenn die Kassen dieses Mehr an Ausgaben durch
übermäßige Beschränkung der Hospitalbehandlung von Geschlechts,
kranken einzubringen versuchen sollten. Denn es besteht für mich
kein Zweifel, daß ohne Krankenhausbehandlung so unendlich hohe
Summen für die Behandlung von Nacherkrankungen und
schweren Komplikationen aufgewendet werden müssen, deren
Aufwendung vermieden werden könnte, wenn rechtzeitige Hospital¬
behandlung der frischen Erkrankungen stattgefunden hätte, daß
im ganzen betrachtet die Ausgaben einer Kasse, welche das
von mir vertretene Prinzip verfolgt, eher geringer als höher sein
würden, als die Ausgaben einer Kasse, die mit der Hospitalbe¬
handlung allzusehr knausert Allerdings dürfen — und das ver¬
langen die Kassen mit Recht — die ihnen fürs Krankenhaus an¬
gerechneten Verpflegungssätze nicht zu hoch bemessen sein.
Soweit ich aber orientiert bin, ist seitens aller großen Kommunen
auf diese Forderung Rücksicht genommen und der Verpflegungs¬
satz der Kassenmitglieder weit geringer als die Selbstkosten
betragen. Mir scheint ein solches Entgegenkommen eine selbst¬
verständliche Pflicht, welche Staat und Gemeinde erfüllen müssen;
denn die steuerzahlende und demgemäß zur Behandlung der
kranken Kassenmitglieder beitragende Gesamtheit ist mitinteressiert
am Kampfe gegen die durch die Geschlechtskrankheiten herbeige¬
führten sozialen und hygienischen Schädigungen ihrer Mitglieder.
Ja, man könnte sogar den Gedanken erwägen, den Geschlechts¬
kranken einen noch billigeren Verpflegungssatz als den
übrigen Kranken zu gewähren; nicht als wenn man die Geschlechts¬
kranken besser behandeln wolle, aber vom Standpunkte der
Seuchenbekämpfung aus, um die Kassen zu bewegen, möglichst
viele Kranke der Hospitalbehandlung zu überweisen.
Häufig sind es nun die Kranken selbst, welche sich einer
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
189
Hospitalbehandlung widersetzen. Begreiflich ist ein solcher Wider¬
stand gerade bei den ordentlichen und auf Verdienst ausgehenden
Mitgliedern, welche glauben, ohne Schädigung ihrer Gesundheit die
Arbeit weiter fortsetzen zu können. Auch bei Erwerbsunfähigen
wird dieser Widerstand unter der Herrschaft des neuen Gesetzes,
welches Krankengeld zusichert, noch stärker sein, weil sie bei
Behandlung im Hause das ganze Krankengeld erhalten und,
wenn sie verheiratet sind, dies ihren Angehörigen zuwenden können.
Den Ortskrankenkassen ist ja allerdings gestattet (§ 21), ihre den
Kranken gewährten Leistungen zu erhöhen, aber es ist nicht zu
erwarten, daß sie von dieser gesetzlichen Ermächtigung, nament¬
lich bei unverheirateten Erkrankten, einen umfassenden Gebrauch
machen werden.
Man wird auch hier durch Belehrung und Aufklärung mancher¬
lei erreichen können. Unverheirateten namentlich müßte es wohl
in allen Fällen klar zu machen sein, daß sie im Falle von Er¬
werbslosigkeit im Hospital besser wegkommen, als wenn sie außer¬
halb desselben sich verpflegen müssen; denn nur in seltenen
Fällen wird das ihnen gewährte Krankengeld ausreichen, um alle
zu einer guten Pflege erforderlichen Ernährungs- und Stärkungs¬
mittel zu verschaffen.
Es sind aber nicht immer finanzielle Erwägungen, auf denen
die Abneigung, sich ins Krankenhaus zu begeben, beruht. Oft ist
es die Befürchtung, daß andere von der Krankheit etwas erfahren,
die Scheu vor den mit dem Hospitalaufenthalt verbundenen Be¬
schränkungen der Bewegungsfreiheit und endlich auch das bekannte
weit verbreitete Vorurteil, die den Widerstand gegen Hospitalauf¬
nahme erzeugen. Man kann hier nur helfen, wenn man darauf
hinwirkt, daß alle berechtigten und erschwinglichen Wünsche
der Patienten seitens der Krankenhaus-Verwaltungen
erfüllt werden und daß namentlich die immer noch nicht überall
durchgeführte Gleichstellung der Geschlechtskranken mit den
anderen Patienten verwirklicht werde.
Bei weiblichen Patienten ist einer der wichtigsten Punkte,
daß auf das strengste für eine Trennung der freiwillig ins
Hospital eintretenden Kranken von den seitens der Polizei zwangs¬
weise eingelieferten Prostituierten durchgeführt werde. Es wäre
sogar sicherlich richtig, die für die Gewerbs-Prostituierten be¬
stimmte Abteilung ganz von dem Hospital, in welchem freiwillig
eintretende Patienten untergebracht werden sollen, zu trennen.
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190
Neisser.
Freilich müßten die Krankenkassen andererseits dafür die
Verpflichtung übernehmen, einem jeden Geschlechtskranken freie
Kur und Verpflegung im Krankenhause zu gewähren, während jetzt
die Kassen nicht verpflichtet sind, selbst einer ärztlichen Ver¬
ordnung oder dem Wunsche des Patienten, in ein Hospital ein¬
zutreten, nachzugeben. Von der Verpflichtung zur Verpflegung
dürften die Kassen nur dann entbunden werden, wenn der Kassen¬
arzt bescheinigt, daß weder die Art der Erkrankung Anforderungen
an die Behandlung stellt, denen seitens des Erkrankten außerhalb
des Krankenhauses nicht genügt werden könnte, noch der Krank¬
heitszustand für die Familienangehörigen des Kranken oder dritte
Personen irgend welche Ansteckungsgefahren mit sich bringt.
Dennoch bin ich natürlich weit entfernt davon, zu hoffen, daß
der Gedanke einer Krankenhausbehandlung für alle frisch er¬
krankten Kassenmitglieder in absehbarer Zeit verwirklicht werden
würde. Schon die Raumverhältnisse in unseren Hospitälern
stehen dem entgegen. So gut auch das Deutsche Reich, wenig¬
stens im Verhältnis zu anderen Kulturstaaten mit Krankenhäusern
versehen ist, verfugt es auch nicht über eine annähernd genügende
Zahl von Betten, um alle frischen Fälle von geschlechtlichen Er¬
krankungen unterzubringen.
Können also nicht alle untergebracht werden, n&oh welchen
Kriterien soll die Entscheidung getroffen werden, ob Krankenhaus¬
behandlung eintreten soll oder nicht?
In erster Reihe wird natürlich die Art der Erkrankung zu
berücksichtigen sein. Begutachtet der Arzt, daß sie Krankenhaus¬
behandlung zwingend erfordert, so wird diese eventl. auch gegen
den Willen des Kranken selbst in allen Fällen eintreten müssen.
Den Kassen stehen ja durch Versagung der Kassenleistungen in¬
direkte Zwangsmittel genügend zu Gebote.
Hiervon abgesehen wird es einer Prüfung bedürfen, ob durch
die persönlichen Eigenschaften des Kranken und die Ver¬
hältnisse, unter denen er lebt, eine ausreichende Gewähr
dafür gegeben wird, daß die vom Arzte angeordneten Ma߬
nahmen auch außerhalb des Krankenhauses sorgfältig
und konsequent durchgeführt werden. Und weiter wird sich
die Prüfung darauf erstrecken müssen, ob die Umgebung des
Erkrankten vor Ansteckungsgefahr genügend gesichert ist,
wenn der Kranke in seiner Behausung verbleibt
Was die Ansteckungsgefahr betrifft, so wird man beiVer-
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 191
heirateten einen strengeren Maßstab anlegen müssen, als bei Un¬
verheirateten. Zwar liegt bei letzteren die Gefahr vor, daß sie,
wenn sie in frivoler Weise weiter geschlechtlich verkehren, eine
größere Anzahl von Personen gefährden und infizieren. Aber es
entspricht doch wohl unseren sittlichen Anschauungen, vor allen
Dingen die Familie des Erkrankten, die sich ja, wenn sie im
Hanse ist, der Berührung mit ihm viel weniger entziehen kann,
vor Infektion zu schützen. Während also sonst die Versicherungs¬
gesetze gerade die Verheirateten hinsichtlich der Einweisung ins
Krankenhaus besonders schonend behandeln, wird man bei Ge¬
schlechtskrankheiten den umgekehrten Standpunkt ein¬
nehmen müssen. 1 )
Auf einen weiteren Gesichtspunkt hat Blaschko hingewiesen,
indem er obligatorische Krankenhausbehandlung verlangte
für die in den Nahrungs- und Genußmittelgewerben Be¬
schäftigten: Bäcker, Schlächter, Kellner, Kellnerinnen, Tabak¬
arbeiter und -Arbeiterinnen, Glasbläser, Barbiere, Friseure u. dergl.,
also für alle diejenigen, welche bei Ausübung ihres Berufes zu
direkten oder indirekten Ansteckungen Veranlassung geben können.
Wenn auch nicht jeder so weit gehen wird, wie Blaschko es ver¬
langt, so ist doch auch dieser Gesichtspunkt sicherlich im höchsten
Grade beachtenswert
Allein wie wollen es die Kassenverwaltungen anfangen, um
über die Charaktereigenschaften, die persönlichen und häuslichen
Verhältnisse des Erkrankten ein einigermaßen zuverlässiges Urteil
und damit die Unterlage für die Entscheidung über die Notwendig¬
keit von Krankenhausbebandlung zu gewinnen?
Das wirksamste Hilfsmittel würde die von einigen Kassen be¬
reits ins Leben gerufene Institution der Krankenkontrolleure er¬
scheinen. Kampffmeyer hat in seinem Referat auf dem 1. Kon¬
greß der Deutschen Gesellschaft in Frankfurt, wie ich glaube mit
Recht, die große Bedeutung einer solchen Kontrolle betont Eine
*) Daß meine Forderung nicht unberechtigt ist, geht wohl am besten
aus folgender Tatsache hervor:
In der Königlichen Poliklinik für Hautkrankheiten zu Breslau wurden
im Jahre 1903 899 über 21 Jahre alte Männer an ansteckenden Formen des
Trippers, Schankers und der Syphilis behandelt. Unter diesen 899 waren
nicht weniger wie 249, 27,7°/ 0 , verheiratet. Von den 249 Verheirateten
litten 102 Personen an ansteckenden Syphilisformen, d. h. 11,35 °/ 0 der 899 Per¬
sonen oder 40,9% der 249 Verheirateten.
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192
Neisser.
von freiwilligen und Berufskontrolleuren seitens der Kassen ans¬
geübte Überwachung wird nicht nur unendlichen Segen für die Be¬
seitigung des Wohnungselendes mit sich bringen, sondern
wird auch für die Entscheidung der uns hier wesentlich interessier¬
ten Frage die Grundlage liefern: Gibt der Kranke durch sein
persönliches Verhalten die Gewähr, daß die Anordnungen des Arztes
wirklich befolgt werden? Lassen die Art, wie der Kranke
wohnt, die Verhältuisse, unter denen er lebt, einen Erfolg der
vom Arzte angeordneten Kur erhoffen? Besteht die Gefahr irgend
einer Krankheitsübertragung? Wie wirksam auch eine derartige
regelmäßige Kontrolle der Erkrankten auch für die Bekämpfung
der mit dem Schlafgänger- und Schlafgängerinnenwesen
verknüpften Unzuträglichkeiten, für die Aufdeckung heimlicher
Prostitution, für die Bewahrung von Kindern und jugendlichen
Personen vor Berührung mit der Prostitution und vor dem Ver¬
fall in dieselbe sein würde, sei hier nur nebenbei erwähnt.
Einen ungefähren Begriff von der Bedeutung dieser Kassen¬
kontrolleure kann man sich machen, wenn man hört, daß in Frank¬
furt a. M. im Jahre 1901 zehn Berufskontrolleure 27691 Besuche
in den Wohnungen der Kranken unternahmen. 1902 wurde die
Krankenkontrolle durch 11 Kontrolleure, deren Zahl in den Win¬
termonaten um 2—3 erhöht wurde, und einige freiwillige Mit¬
glieder ausgeübt. Diese machten 102414 Besuche, davon 76040 in
Frankfurt selbst.
Die Kosten einer solchen Institution können nicht unerschwing¬
lich sein, und wo vielleicht die einzelnen Kassen nicht imstande
sind, eigene Kontrolleure anzustellen, könnten wohl mehrere
Kassen zu einem Verbände zusammentreten. Auch hier muß
für die finanzielle Berechnung der Gesichtspunkt geltend gemacht
werden, daß der aus der Kontrolle erwachsenden Belastung auf
der anderen Seite Ersparnisse gegenüberstehen würden, insofern
viele Kranke vor Vernachlässigung ihrer Kränkheit, vor Hinzu¬
treten schwerer und langwieriger Komplikationen bewahrt blieben.
Und sollten die Kassen nicht in der Lage sein, aus eigenen Mitteln
diese meiner Überzeugung nach ungemein segensreiche Einrichtung
zu treffen, so hätten die Landesversicherungsanstalten und
auch die Kommunen allen Anlaß, durch pekuniäre Mithilfe ihr
Zustandekommen zu ermöglichen. Sind doch gerade Tripper und
Syphilis Krankheiten, welche in unzähligen Fällen nur deshalb
dauernde Invalidität herbeiführen, weil in den Anfangsstadien
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
193
nicht die genügende Sorgfalt bei der Behandlung ge¬
waltet hat!
Für die Durchführung der Krankenhausbehandlung erheben
sich aber noch einige weitere Fragen: was soll mit solchen
Kranken geschehen, die sich innerhalb des Kranken¬
hauses der unerläßlichen Hausdisziplin nicht fügen, die
die ärztlichen Vorschriften nicht befolgen, vorzeitig gegen
den Rat des Arztes ungeheilt das Hospital verlassen? Nament¬
lich der letzte Punkt ist von großer Bedeutung. Ginge der Patient
aus dem Hospital, um sich sofort außerhalb desselben in ent¬
sprechend gute ärztliche Behandlung zu begeben, so ließe sich ja
in den meisten Fällen dagegen niehts einwenden. Sehr häufig ist
dies aber nicht der Fall, und es fehlt eigentlich an jeder Kontrolle,
ob und wo und wie sich Kranke weiter behandeln lassen. Und
noch viel weniger wissen wir etwas darüber, ob Kranke nicht
trotz ihres ungeheilten noch ansteckungsfähigen Zu¬
standes Geschlechtsverkehr treiben.
In zahlreichen Einzelfällen — namentlich bei prostitutionsver¬
dächtigen weiblichen Personen — kann man wohl durch den Hinweis
auf die Möglichkeit polizeilicher Zwangs- oder Strafma߬
regeln erreichen, daß die Betreffenden sich auch nach der Ent¬
lassung einer regelmäßigen ärztlichen Behandlung und Überwachung
unterwerfen. Aber es liegt auf der Hand, daß ein solches Ver¬
fahren nicht immer anwendbar, wohl aber immer für die Arzte
höchst peinlich und mit großen Unzuträglichkeiten verknüpft ist.
Noch schwerer aber fällt ins Gewicht, daß der Arzt, der sich ein-
fallen ließe, seine Patienten regelmäßig oder auch nur häufig mit
der Polizei zu bedrohen, ohne Zweifel sehr bald sich selbst und
das Krankenhaus, an dem er angestellt ist, ja unter Umständen
den ganzen ärztlichen Stand bei den in Betracht kommenden Be¬
völkerungskreisen derart in Mißkredit bringen würde, daß Arzte
und Krankenhäuser gemieden, dafür aber die Kurpfuscher in
Strömen aufgesucht würden. Man würde also dadurch, daß man
einzelne zu einer sorgsameren Behandlung zwänge, doch den Haupt¬
zweck, möglichst viele Kranke gut zu behandeln, nicht nur nicht
erreichen, sondern geradezu schädigen. Auch hier könnten, wie
ich glaube, die KassenkontrolJeure wirksam und segensreich
eingreifen und als Helfer für die seitens der Ärzte für notwendig
erachtete Durchführung der Behandlung eintreten. Natürlich ge¬
hört dazu eine gut organisierte Zusammenarbeit zwischen
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Neisser.
Ärzten, Kontrolleuren und dem Krankenhaus, um den ein¬
zelnen Kranken in dauernder fortlaufender Beobachtung zu halten.
Die Aufsicht durch die Kassenkontrolleure würden sich die
Kranken viel eher gefallen lassen. Die gesamte Entwickelung,
welche die breiten Schichten unserer Bevölkerung in den letzten
Jahrzehnten in politischer und sozialer Beziehung durchgemacht
hat, hat Hunderttausende dazu erzogen, sich willig einem selbst¬
geschaffenen für die Allgemeinheit ersprießlichen Zwange zu unter¬
werfen, während sie allerdings einer polizeilichen Überwachung
mehr wie je ablehnend gegenüberstehen.
Eventuell aber müssen die Kassen von der ihnen gesetzlich
zustehenden Befugnis, Ordnungsstrafen aufzuerlegen, Gebrauch
machen. So wurden in Frankfurt a. M. im Jahre 1902 von den
Kontrolleuren wegen Übertretung der statutarischen Vorschriften
4259 Anzeigen erstattet und in 2302 Fällen Geldstrafe verhängt
In neuester Zeit ist der Gedanke aufgetaucht und besonders
von Dr. W. Becher vertreten worden, die Einrichtung der be¬
kanntlich schon seit einigen Jahren für andere Kranke, speziell
Tuberkulöse praktisch erprobten Erholungsstätten auch für die
Behandlung und Verpflegung von Geschlechtskranken zu verwerten.
In der Tat ist die Einrichtung solcher „Tagessanatorien“ billiger
als die von Krankenhäusern und es läßt sich auch nicht leugnen,
daß sie manche Vorzüge mit den Krankenhäusern gemein haben.
So würde man auch in ihnen Erwerbsunfähigen die notwendige
Pflege und Wartung zuteil werden lassen können; auch in Tages¬
sanatorien könnte die gesamte Behandlung in sachgemäßer Weise
unter Aufsicht von Ärzten und Wartepersonal durchgeführt werden.
Dennoch glaube ich, daß für Geschlechtskranke — und es würde
sich ja nur um erwerbsunfähige handeln — immer die Behand¬
lung in einem Hospital vorzuziehen ist Die bei Tagessanatorien
erzielte Ersparnis steht nicht im Verhältnis zu den Nachteilen
gegenüber der Behandlung in einer geschlossenen Anstalt Ja, ich
möchte fast glauben, daß der am Abend aus seinem Tagessana¬
torium heimkehrende Patient besonders leicht der Versuchung er¬
liegen wird, um zuwider den ärztlichen Vorschriften ins Wirtshaus
zu gehen und sich sonstigen Exzessen hinzugeben. Endlich müßten
in unserem Klima die Sanatorien auch für den Winter gebrauchs¬
fähig sein; dann aber wird ihre Erbauung kaum weniger Kosten
erfordern, als die Einrichtung eines wirklichen Hospitales.
(Schluß folgt.)
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Die Sexualhygiene des Alten Testamentes. 1 )
Von Dr. Wolzendorff (Wiesbaden).
Israel betrachtete sich, — und das mit Recht — als das auser¬
wählte Volk. Freilich, neben Jahve hatte es immer allerlei Götter und
Göttchen gegeben: schon Jakob vergrub dergleichen unter der Terebinthe
bei Sichern (Gen. 85. 4); die Rahel nahm heimlich mit sich ihres Vaters
Terafim (Gen. 81. 19); die Mutter Michas ließ ihrem Sohne vom Gold¬
schmied ein Bild machen, dadurch sein Haus ein Gotteshaus ward
(Richter 17. 5), und Josephus berichtet, daß noch zu seiner Zeit in
Mesopotamien Sitte gewesen (Alerth. 18. 9), Haasgötter zu besitzen und
mit auf Reisen zu nehmen. Aber diese Dinge wiegen nicht schwerer,
als manch heidnische Bräuche, wie sie in christlichen Landen heute noch
gang und gäbe sind. Schlimm dagegen war es, daß das Volk immer
wieder von Jahve abfiel, um heidnischen Götzen zn dienen, aber auch
das konnte nicht verhindern, daß die Führer des Volkes stets die ihm
gewordene weltgeschichtliche Aufgabe im Auge behielten. Zur Erfüllung
dieser einzigartigen Aufgabe war das Volk von Jahve ausersehen; des¬
halb durfte es nicht untergehen; deshalb mußte alles aufgeboten werden,
seinen Fortbestand zu sichern, es zu befähigen, alle Gefahren zu be¬
stehen. Seuchen, wie Kriege, zehrten fort und fort an seinem Leibe.
Diese Verluste mußten nicht bloß ersetzt, es mußte auch für künftige
Gefahren stets ein gewisser Vorrat an Menschen bereit gehalten werden.
Da galt es, die Zeugungsfähigkeit des Volkes in der von der Natur
allein gewollten Weise zu verwerten und auszunützen, sowie jede Ver¬
geudung und Schädigung zu verhindern. Klar und bestimmt erkannten
des Volkes Führer, daß die erste und wichtigste Grundlage der
Kraft des Volkes ein gesundes Geschlechtsleben sei; und zu
seinem Schutze schufen sie jene Gruppe von Gesetzen, die die Sexual¬
hygiene ausmachen. Die Gesetzgeber waren sich dessen bewußt, daß
alles, was sie auf diesem Gebiete taten, volkswirtschaftlich von außer¬
ordentlichem Werte sei. Und wenn Israel alle Gefahren des Altertums
überdauert hat, wenn später in der Diaspora alle Verfolgungen und
Bedrückungen es nicht zugrunde richten konnten, so verdankt es das
zu nicht geringem Teil seiner Sexualhygiene. Um diesen Satzungen
aber das erforderliche Ansehen zu verleihen, wurden sie von Jahve
selbst oder in seinem Namen gegeben.
In alttestamentlicher Zeit sind die Menschen von denselben Leiden¬
schaften getrieben und beherrscht wie heute, und genau so trachten sie
danach, diesen Leidenschaften Befriedigung zu verschaffen. Damals wie
*) Nach einem in der D. G. für B. d. G. in Wiesbaden gehaltenen Vortrage.
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196
Wolzendorff.
jetzt überschreiten diese Bestrebungen die \on Natur, Gesetz und Sitte
gezogenen Grenzen; sie werden abwegig, verlieren sich ins Widernatür¬
liche, schädigen die Gesundheit des einzelnen und schließlich die der
Gesamtheit. Je nach dem Kulturstande eines Volkes oder einer Zeit
mag die Form sich ändern, unter der diese Verirrungen in Erscheinung
treten, — dem Wesen nach bleiben sie sich gleich. Damals wie heute
suchte man mit Hilfe der Religion und der Gesetzgebung die Leiden¬
schaften zu zügeln und alle Ausschreitungen zu verhindern. Gesetz
und Religion aber sind bei Israel eins, und so kommt es, daß auch
die Gesundheitsgesetze in religiösem Gewände erscheinen, und daß zwei
von ihnen sogar in den Dekalog aufgenommen sind.
Mit großartiger Wahrhaftigkeit deckt das Alte Testament Schäden
auf, an denen auch unser Volk leidet, die jeder kennt und sieht, deren
Namen wir aber öffentlich kaum aussprechen dürfen. Denn wir müssen
noch immer Rücksicht nehmen auf diejenigen unter uns, die ihr lüsternes
und entartetes Empfinden für ein besonders zartes Scham- und Sittlich¬
keitsgefühl ausgeben, und für die daher so recht das Wort Sirachs paßt:
Behüte mich, Herr Gott, vor unzüchtigem Gesichte
Und wende von mir alle bösen Lüste. (28. 5).
Der Kampf gegen die ansteckenden Geschlechtskrankheiten, die in
jener Zeit mit der einfachen Lebensführung noch von geringer Bedeutung
sein mochten, bildet nur einen Teil der Sexualgygiene, denn dem ge¬
sunden Geschlechtsleben drohen Scharen anderer Gefahren, sonderlich die,
so vorerst unsre Gedanken- und Vorsteilungsweit vergiften und denen
oft schwerer beizukommen ist, als der Lues und der Gonorrhöe.
I.
Im ersten Kapitel der Genesis (V. 28) heißt es: „Gott (Elohim) schuf
den Menschen ihm zum Bilde, zum Bild der Gottheit schuf er ihn.
Und er schuf sie beide, ein Männlein und ein Fräulein. Und Gott
sprach: ,Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet
sie euch untertan.“ 4 Daß dieser Befehl, nach der vorliegenden Fassung
des Alten Testamentes, der erste ist, den Gott an den Menschen richtet,
ist gewiß kein bloßer Zufall, sondern bewußte Absicht. Und doch stellen
sich der Verwirklichung dieses Befehles in alttestamentlicher Zeit ebenso
wie in unseren Tagen Hindernisse über Hindernisse entgegen. Die heute
herrschenden Hindernisse sind zumeist wirtschaftlicher und gesundheit¬
licher Natur; doch machen sich daneben auch andere Einflüsse stark
geltend. Die moderne Frau, zumal die der „besseren“ Stände, liebt
häufige Schwangerschaften und Wochenbetten nicht, weil sie dadurch
gar zu sehr in ihren gesellschaftlichen „Pflichten“ gestört wird, ebenso
scheut sie die durch Wartung und Pflege der Kinder bedingten Unbe¬
quemlichkeiten. Letzteres freilich fällt heute kaum noch ins Gewicht,
da es auch in unserem Volke mehr und mehr Brauch wird, die Lasten
der Pflege und die sittliche Verantwortung der Erziehung der Kinder
gemieteten Personen zu überlassen. Welcher Art diese Gründe auch sein
mögen, sie alle — mit Ausnahme von Krankheit — führen zu absicht¬
licher Beschränkung der Nachkommenschaft und damit zu unsittlichen
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Die Sexualbygiene des Alten Testaments«
197
und schädlichen Surrogaten des natürlichen Geschlechtsverkehrs. Der¬
artiges kannte jene Zeit ebensowenig wie den Sadismus, den Masochis¬
mus, Flagellantismus und ähnliches; dafür aber machten sich andere,
nicht minder schlimme Schädlinge geltend, deren Quellgebiet fast aus¬
schließlich im Heidentum zu suchen ist. Hier, sonderlich bei den
Kanaanitern, Ammonitern, Moabitern und Babyloniern herrschte eine
schier unglaubliche Unzüchtigkeit, die, durch den Kultus gestützt und
genährt, Israel fortwährend mit einem Einfall bedrohte und so eine stete
Gefahr für das bis dahin gesunde Geschlechtsleben des Volkes bildete.
In früher Zeit tat sich besonders die Pentapolis im Tale Siddim, und
in ihr wieder Sodom durch Sittenlosigkeit und als Heimstätte der wider¬
natürlichen Laster der Pädasterie und der Unzucht mit Tieren hervor.
Als die beiden Männer im Hause Lots weilten, forderten die Sodomiten
ihre Auslieferung, damit sie sie „erkennten* 1 . Lot weigerte sich dessen
und sprach: „Ich will euch meine beiden Töchter geben, tut mit ihnen,
was euch gefällt: allein diesen Männern tut nicht, denn sie sind unter
dem Schatten meines Hauses** (Gen. 19.1—8). Solches geschah zu Sodom,
ähnliches erreignete sich in Israel. Zur Zeit der Richter kam ein
levitischer Mann mit seinem Kebsweibe nach Gibea, im Stamme Benjamin,
und übernachtete dort. Da sammelte sich vor dem Hause eine Schar
böser Buben und verlangten die Herausgabe des Mannes, „daß wir ihn
erkennen**. Der, so ihn beherbergte, trat heraus und bot ihnen seine
Tochter, eine Jungfrau, an „die mögt ihr zu schänden machen; aber an
diesem Manne tut nicht solche Gottlosigkeit**. Die Männer gehorchten
aber nicht, und so gab er ihnen das Kebsweib hinaus. „Die erkannten
sie und zerarbeiteten sich die ganze Nacht** (Vers 25). Am anderen
Morgen lag die Frau tot vor des Hauses Tür, die Hände auf der
Schwelle; so fand sie ihr Mann. Er lud sie auf seinen Esel und fuhr
heim; dort zerschnitt er die Frau in zwölf Stücke und sandte sie in
alle Grenzen Israels. Da sammelten sich alle kampffähigen Männer des
Volkes, schlugen nach dreitägiger Schlacht die Bekannten, hielten ein
furchtbares Strafgericht üher den ganzen Stamm, und schwuren: „Niemand
soll seine Tochter den Benjamitern zum Weibe geben (Richter 19—21).
Auch wenn Jesaias nicht ausdrücklich versicherte „sie rühmen ihre
Sünde, wie die zu Sodom“ (3. 9), so wüßten wir aus dem Verbrechen
von Gibea, daß Israel sich nicht frei hielt von den sodomitischen Lastern.
Andererseits aber beweist das Vorgehen des Volkes gegen den Stamm
Benjamin, daß es von einer gewaltigen sittlichen Kraft getragen wurde.
Das Gesetz verbietet beide Laster unter Androhung der Todes¬
strafe: „Wenn jemand beim Knaben schläft, wie bei einem Weibe, die
haben ein Greuel getan und sollen beide des Todes sterben** (Lev. 20. 13,
und ebenso 18. 22).
Und ferner: „Wenn jemand beim Vieh liegt, der soll des Todes
sterben, und das Vieh soll man erwürgen. Und wenn ein Weib sich
irgend zu einem Vieh tut, daA sie mit ihm zu schaffen hat, die sollst
du töten und das Vieh auch“ (Lev. 20. 15, 16).
„Verflucht sei, wer irgend bei einem Vieh liegt!“ (Deut. 27. 21).
Dreimal wiederholt die Thora das Verbot; damit beweisend, daß sie der
ZelUchr. f. Bekämpfung cL Geschlechtskrmkh. IL 15
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Wolzendorff.
Sache große Bedeutung beilegt, und das erklärt sich dadurch, daß dieses
Laster mit dem heidnischen Kultus zusammenhängt. Herodot (II. 46)
erzählt: Die Mendesier verehrten Ziegen, doch die männlichen mehr, und
vor allen einen Bock, und wenn der stirbt, so trägt die ganze mend.
Mark groß Leid. Beide, Bock und Pan, heißen Mendes. Es begab sich
folgendes Wunder: es vermischte sich ein Bock mit einem Weibe vor
aller Augen.“
Welchen Schaden diese Laster nun auch mögen angerichtet haben,
er ist gering im Vergleich mit dem, den der Baal-Astarte-Kultus
verursacht hat. Baal, höchster Gott einer ganzen Reihe heidnischer
Völker semitischer Zunge, wie: Kanaaniter, Ammoniter, Moabiter, Assyrer,
Babylonier, (Bel Marduck) u. a. ist das Sinnbild der Natur und erscheint
unter mancherlei Gestalt und Namen: Baal Peor, Baal Sebub, Baal
Berith u. a. Astarte, auch Aschera, (babyl. Istar) ist wie Baal eine
Naturgottheit und vertritt mehr die gebärende, während jener die
zeugende Kraft vertritt. Beide Gottheiten hängen eng zusammen,
beide werden durch Menschenopfer verehrt, beiden gemeinsam sind die
wollüstigen Mysterien mit dem Treiben der Geweihten, der Hierodulen,
der Kedeschoth und Kedeschim. Da die Astarte auch als mann-weibliche
Gottheit angesehen wurde, so erschienen die weiblichen Hierodulen in
männlicher, die männlichen in weiblicher Tracht.
In einem überaus merkwürdigen, von Baruch (6) mitgeteilten Briefe,
schildert der Prophet Jeremias den Istar-Kultus in Babylon und sagt in
bezug auf die Geweihten (Vers 43): „Die Weiber aber sitzen vor den
Tempeln mit Stricken umgürtet und bringen Obst zum Opfer. Und
wenn einer vorübergeht und eine von ihnen hinwegnimmt und bei ihr
schläft, rühmet sie sich wider die andere, daß sie sei nicht wert ge¬
wesen wie sie, das ihr der Gurt aufgelöst wurde.“ Noch ausführlicher
läßt sich Herodot aus: „Jedes Weib des Landes muß einmal in ihrem
Leben bei dem Tempel der Aphrodite (Astarte) sich niedersetzen und von
einem Fremden sich beschlafen lassen.“ Viele kommen in bedeckten
Wagen mit zahlreicher Dienerschaft. Die meisten aber tun also: eine
Menge Weiber sitzen in dem Heiligen Hain, einen Kranz von Stricken
um den Kopf. Und mitten zwischen den Weibern gehen schnurgerade
Wege nach allen Richtungen. Da gehen denn die Fremden und lesen
sich eine aus. Und mit dem ersten besten, der ihr Geld hin wirft,
muß sie gehen und darf keinen ab weisen. Wenn er das Geld hin wirft,
muß er sprechen: „Im Namen der Göttin Mylitta.“ Das Geld, einerlei
wieviel, darf sie nicht verschmähen, denn es ist geweihtes Geld. Wenn
sie sich nun hat beschlafen lassen und sich dadurch der Gottheit ge¬
weiht, geht sie nach Hause und tut’s nicht wieder (I. 199). Ange¬
sichts solcher Sitten begreift es sich, daß ein Aufenthalt von wenig mehr
als einem Monat genügte, das Heer Alexanders zu schädigen.
Gerade die Verlockungen sind die gefährlichsten, die im Sinne
unserer Schwächen oder Leidenschaften auf uns wirken, und so konnte
es gar nicht ausbleiben, daß diese unzüchtigen Mysterien mit dem öffent¬
lichen Treiben der Geweihten die orientalische Sinnlichkeit reizten und
steigerten, und für das Geschlechtsleben des Volkes verderblich sein
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Die Sexaalhygiene des Alten Testaments.
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maßten. Und so geschah es: die Israeliten taten „das dem Herrn übel
gefiel and reizten ihn zam Eifer mehr denn alles, das ihre Väter getan
hatten mit ihren Sünden. Denn sie baaten ihnen Höhen, Säalen and
Ascheras aaf allen hohen Hügeln and anter allen grünen Bäumen.“ Es
waren aach Harer im Lande and sie taten alle die Grenel der Heiden
(I. Kön. 14. 22, 23).
Das, was die Geweihten als Lohn erhielten, maßte im Heiligtum
abgeliefert oder, wenn es etwas Opfer fähiges war, der Gottheit ge¬
opfert werden. „Ich will euch nicht wehren, wenn enre Töchter and
Bräute geschändet und zu Dirnen werden; weil ihr einen anderen Gottes¬
dienst errichtet mit den Horen und opfert mit den Bubinnen (Hosea 4.14).
Als solche Gabe mag wohl ein Ziegenböcklein beliebt gewesen sein, and
die Geschichte der Thamar liefert ein Beispiel hierzu. Sie, die Schnur
Judas, d. h. die Witwe seines Sohnes Ger, hatte sich verhüllt an den
Band des Weges gesetzt, den Juda auf seinem Gange zur Schafschur
nehmen mußte. „Da Juda sie sah, meinte er, es wäre eine Dirne, denn
sie hatte ihr Angesicht verdeckt. Und machte sich zu ihr am Wege
und sprach: ,Laß mich bei dir liegen* denn er wußte nicht, daß sie seine
Schnur wäre. Sie antwortete: ,Was willst du mir geben, daß du bei
mir liegest?* Er sprach: ,Ich will dir einen Ziegenbock von der Herde
senden*.** Vorsichtig ließ die Thamar sich ein Pfand geben, und Juda
sandte am anderen Morgen den Ziegenbock durch den Hirten, der das
Weib aber nicht finden konnte. Als nach drei Monaten Juda erfuhr,
daß die Thamar schwanger sei, wollte er sie verbrennen lassen; sie
aber schickte ihm das Pfand mit den Worten: ,Von dem Manne bin ich
schwanger, des dies ist“ (Gen. 88). Zur Rechtfertigung der Thamar sei
bemerkt, daß sie so verfuhr, um die ihr verweigerte Pflichtehe (Levirats¬
ehe) unter der Maske einer Geweihten zu erzwingen.
Alle diese Laster der Heiden verbietet das Gesetz mit den Worten:
„Thr sollt euch in dieser keinem verunreinigen, denn in diesem allen
haben sich verunreinigt die Heiden, die ich vor euch her will ausstoßen
(Lev. 18. 24).
Haltet meine Satzungen und tut dieser Greuel keine (26), auf
daß euch nicht auch das Land ausspeie (wenn ihr es verunreinigt) gleich
wie es die Heiden hat ausgespieen (28).
Denn welche diese Greuel tun, deren Seelen sollen ausgerottet
werden von ihrem Volk“ (29).
Mit Bezug auf den Baal-Astarte-Dienst aber heißt es: „Du sollst
dir nicht als Aschera aufpflanzen irgend welchen Baum neben dem Altar
des Herrn, deines Gottes.
Du sollst dir keine Säule (Baal) aufrichten, welche der Herr, dein
Gott, hasset (Deut. 16. 21, 22).
Es soll keine Dirne sein unter den Töchtern Israels und kein
Unzüchtiger unter den Söhnen Israels.
Du sollst keinen Dirnenlohn noch Hundegeld in das Haus Gottes
bringen, aus irgend einem Gelübde, denn das ist dem Herrn ein Greuel
(Deut. 28. 17, 18).
Ein Weib soll nicht Mannsgeräte tragen, und ein Mann soll nicht
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Wolzendorff.
Weiberkleider antun, denn wer solches tut, ist dem Herrn ein Greuel
(Deut. 22. 5).
Der König Assa in Juda „tat die männlichen Geweihten (Kadeschim)
aus dem Lande, und tat ah alle Götzen, die seine Väter gemacht hatten
(I. Kön. 15. 12). Er setzte seine Mutter, Mächa, vom Amt und ver¬
brannte das von ihr errichtete Miphlezeth (das Ungeheuerliche) (H.Chr. 15.16).
Der König Josaphat vertrieb den Rest der Hurer, die zu der Zeit seines
Vaters Assa waren übrig geblieben (II. Kön. 22. 47), Josia, der auch
das Tophet im Tale der Kinder Hinnom verunreinigte, brach ab die
Häuser der Kedeschim, die an dem Hause des Herrn waren“ (II. Kön.
22. 7. 10). Wie ein Wetterstrahl fuhr in diese schwüle Atmosphäre
eines entarteten Geschlechtslebens der gewaltige Thisbite, indem er
450 Baalspriester und die 400 des Hains am Bache Kison abschlachten
ließ (I. Kön. 18. 40).
Aber die Verbote vermochten ebensowenig wie die Bemühungen
der Propheten und frommen Könige dem Baal - Astarte-Dienst völlig oder
dauernd zu wehren. Immerhin, das Verdienst, mit allen Mitteln dem
Verderben entgegengearbeitet zu haben, bleibt und steht in schroffem
sittlichen Gegensatz zu den in Babylon herrschenden Anschauungen.
Dort galt der Beruf der Tempeldimen für so wenig anstößig, daß, nach
den Gesetzen Hammurabis, Königs von Babylon, um 2250 (§§ 178—182
und § HO) Väter ihre eigenen Töchter dem Marduck zum Weibe gaben
oder, mit anderen Worten, ,dem Gotte als Tempe\jungfrauen oder als
Tempeldirnen „stifteten“.
Moloch, der höchste Gott, der „Greuel“, der Ammoriter und
Moabiter ist eine Abart Baals, von dem er sich wesentlich nur durch
die ihm dargebrachten Kinderopfer unterscheidet. Der Ausdruck dafür
lautet zumeist: „Die Kinder durchs Feuer gehen lassen dem Moloch“.
Nicht lebendig wurden die Kinder verbrannt, sondern erst geschlachtet
und dann geröstet, d. h. sie wurden dem schrecklichen Gotte zur Sühne
als eine durch Feuer gereinigte Speise dargebracht. „Ja, es kam dahin,
spricht der Herr, daß du nahmst deine Söhne und Töchter, die du mir
gezeugt hattest, und opfertest sie den Göttern zu fressen. Meinst du
denn, daß es ein Geringes sei um deine Buhlerei, daß du mir deine
Kinder schlachtetest und lassest sie denselben verbrennen?“ (Ezecb. 16.
19—21; ähnlich Jer. 32. 35; Jes. 57. 5).
Auch den Molochdienst verbietet das Gesetz; Deut. 18. 10 heißt
es: „...daß nicht unter dir befunden werde, der seinen Sobn oder seine
Tochter durchs Feuer gehen lasse“, — und im Lev. 20. 2: „Welcher
unter den Kindern Israels seines Samens dem Moloch opfert, der soll
des Todes sterben, und das Volk im Lande soll ihn steinigen“. Propheten
und Könige sind nach Kräften bemüht, ihn auszurotten, aber dennoch
gewann auch dieser Kultus eine wahrhaft erschreckende Ausdehnung
und untergrub des Volkes Kraft im gefährlichsten Grade. Und immer
wieder fragt man sich: wie war es nur möglich, daß diese kinder¬
mörderischen Opfer solche Gewalt über ein Volk gewinnen konnte, das
seine Kinder zärtlich liebte? Hatte doch Jahve dem Abraham die Bereit¬
willigkeit, seinen Sohn Isaak zu opfern, so hoch angerechnet, daß er
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Die Sexualhygiene des Alten Testamente.
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daraufhin gelobte: „Durch dich sollen gesegnet werden alle Geschlechter
auf Erden“ (Gen. 22 18). Warum diente das Volk dem Moloch lieber
als Jahve, der doch gezeigt hatte, daß er Menschenopfer nicht wollte?
Die Christen vom Jahre des Heils 1903 opfern ihre Kinder nicht
dem Moloch; aber die Zahl der Kindesmorde ist so groß, daß wir den
Einzelfall kaum noch beachten; und noch größer ist die Zahl der von
den eigenen Eltern zu Tode gequälten* Kinder. In England erreichte
diese Zahl während eines Jahres (1902/03) nahezu die Höhe von 3000;
und die „Gesellschaft zum Schutze der Kinder“ hat wegen 95 560 mi߬
handelter Kinder gegen 40 000 Prozesse angestrengt! —
Als letzte Schutzmaßregel erscheint der Abschluß des Volkes nach
außen. Schon die Beschneidung ist in gewissem Sinne eine Sperr¬
maßregel, und als solche tritt sie bereits zur Zeit Jakobs in Wirkung.
Denn als er nach Kanaan kam, gab er seine Tochter Dina dem Fürsten
Sichern erst zur Frau, nachdem sich dieser, „mit allem, was männlich war
in seinem Volke“ hatte beschneiden lassen (Gen. 34). Aber die Be¬
schneidung genügte in dieser Beziehung nicht, und deshalb befiehlt das
Gesetz immer wieder und auf das nachdrücklichste, jeden Verkehr mit
den Heiden zu meiden. Gewiß richten sich diese Befehle in erster Linie
gegen den Götzendienst und den mit ihm verbundenen Abfall von Jahve,
aber wir haben gesehen, daß diese Kulte das Geschlechtsleben auf das
schwerste schädigten, und deshalb gehören die Absperrungsmaßregeln
zur Sexualhygiene. So zahlreich sind diese Gebote, daß nur einige davon
hier Platz finden können;
„Du sollst mit ihnen oder mit ihren Göttern keinen Bund machen;
sondern laß sie nicht wohnen in deinem Lande, daß sie dich nicht ver¬
führen wider mich. Ich will in deine Hände geben die Einwohner des
Landes, daß du sie sollst ausstoßen vor dir her (Ex. 23. 32. 31, ebenso 84
und Deut. 7. 5). Eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen; und
ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen euren Söhnen (Deut. 7. 5). Du wirst
alle Völker fressen, die der Herr dir geben wird. Du sollst ihrer nicht
schonen und ihren Göttern nicht dienen, denn das würde dir ein Strick
sein. Er, der große, schreckliche Gott, wird diese Leute ausrotten vor
dir, einzeln nacheinander (Deut. 7. 16, 22). In den Städten dieser
Völker sollst du nichts leben lassen, was Odem hat (Deut. 20. 16). Wenn
Götzendiener sind in einer Stadt, die der Herr dir gegeben hat, so sollst
du die Bürger derselben Stadt schlagen mit des Schwertes Schärfe und
sie verbannen mit allem, was darinnen ist (Deut. 13. 15 etc.). Aber
„sie vertilgten die Völker nicht, wie doch der Herr geheißen hatte;
sondern sie mengten sich unter die Heiden und lernten derselben Werke“
(Jes. 106. 34). Zuwiderhandeln straft Moses mit furchtbarer Härte:
Als Israel in Sittim wohnte, hub das Volk an zu buhlen mit den
Moabiter Töchtern, die luden auf den Rat Bileams das Volk zum Opfer
ihrer Götter, und Israel hängte sich an den Baal Peor. Da ließ Moses
die Obersten des Volkes „dem Herrn an die Sonne hängen“ und sprach
zu den Richtern: „erwürge ein jeder seine Leute, die sich an den Baal
Peor gehängt haben“. Dazu schickte Jahve eine Plage, der 24000 er¬
lagen. Ein Israelit, Simri mit Namen, brachte mit sich in das Lager
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Wolzendorff.
eine vornehme Midianitin, Casbi, eine Tochter des Fürsten Zur, als das
der Priester Pinehas sah, nahm er einen Spieß, ging ihnen nach in das
Schlafgemach und durchbohrte sie beide (Num. 25). Da erlosch die
Seuche. Auf Jahves Befehl wurde ein Heer ausgerüstet; das besiegte die
Midianiter und erwürgte alles, was männlich war. Alle Wohnungen wurden
verbrannt, alles Vieh und alle Habe geraubt; alle Weiber und Kinder
vor Moses gebracht. Der aber ergrimmte und ließ erwürgen alle männ¬
lichen Kinder und alle Weiber, die Männer erkannt hatten; die übrigen
ließ er für das Volk leben. Alle Israeliten, die jemand erwürget oder
die Erschlagenen angerührt hatten, mußten sieben Tage sich außerhalb
des Lagers auf halten und sich entsündigen; alle Kleider, Geräte und
hölzernen Gefäße wurden entsündigt. Gold, Silber, Erz, Eisen, Zinn und
Blei, und alles, was das Feuer leidet, mußten sie durchs Feuer gehen,
alles, was nicht Feuer leidet, durchs Wasser gehen lassen (Num. 81.1—28).
Die hier erwähnte Seuche haben einige als Lues ausgeben wollen, doch
fehlt dieser Annahme jeglicher Anhalt.
(Schluß folgt.)
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Referate.
Prostitution und Mädchenhandel.
Dr. P. A. Grazianow. Ein Jahrzehnt der Aufsicht Ober die Prostitution der
Stadt Minsk. Separatabzug aus dem Journal: Der russische medizinische
Bote. St Petersburg 1903.
In der kleinen, 41 Oktavseiten umfassenden Schrift gibt der durch
seine Arbeiten auf diesem Gebiete wohlbekannte Dr. Grazianow einen
kurzen Bericht über die Tätigkeit des Minskschen städtischen Sanitäts¬
komitees, d. i. im Grunde über seine eigene, fast zehnjährige Tätigkeit
in dieser Stadt von zirka 100000 Einwohnern. Im Anschluß an frühere,
von ihm veröffentlichte Arbeiten gibt er zu Beginn seines Berichtes
Daten über die Jahre 1900 und 1901. Aus diesen Angaben mag
hervorgehoben werden, daß im Jahre 1900 von 425 Prostituierten 364
oder 81 °/ 0 stationär behandelt worden sind, und zwar 28°/ 0 an kondy-
lomatöser Syphilis, 32,8°/ 0 an Gonorrhöe, — und daß im Jahre 1901
von 377 Prostituierten 350 oder 90°/ 0 stationär behandelt wurden,
und zwar an Syphilis 22°/ 0 , an Gonorrhöe 40°/ o .
Wie jeder, der auf diesem Gebiete ernst gearbeitet hat, ist auch
Grazianow zu der Überzeugung gekommen, daß, wie er sich ausdrückt,
ein Spezialkrankenhaus die unumgängliche Ergänzung des Besichtigungs¬
punktes sein muß, da die Besichtigung von Prostituierten ohne Be¬
handlung überhaupt keinen Sinn habe. Grazianow unterzieht jede
kondylomatös Syphilitische im Laufe dreier Jahre in 2—3monatlichen
Zwischenräumen einer anti-syphilitischen Kur, gleichgültig ob ausgesprochene
Rezidiverscheinungen der Krankheit bisher aufgetreten waren oder nicht.
Das Resultat dieser Behandlungsmethode bezeichnet er als ein glänzendes;
denn schwerere Rezidiverscheinungen wurden seit Anwendung dieser
Methode an einheimischen Prostituierten nicht mehr beobachtet, sondern
nur an zugereisten, und selbst die leichtesten Rezidiverscheinungen
wurden nicht übersehen, da man stets die pathologische Vergangenheit
jedes besichtigten Individuums im Auge hatte. Bedauerlicherweise war
das Krankenhaus, welches Grazianow zur Verfügung stand, zu klein,
und die Anzahl der Betten zu gering, um in jedem einzelnen Falle die
Behandlung genügend lange fortzusetzen.
Nach diesen Vorbemerkungen geht Grazianow zu der recht lehr¬
reichen Geschichte des Minskschen städtischen Sanitätskomitees über.
Mit dem Jahre 1890, als Graf K. E. Czapski zum Stadthaupt von
Minsk erwählt wurde, begann für die Stadt Minsk eine neue Ära.
Bis dahin hatte man sich in der Minskschen Stadtverwaltung um das
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Referate.
Sanitätswesen der Stadt gar nicht gekümmert. Auf die Initiative dieses
Stadthauptes wurde das städtische Sanitätskomitee gegründet und ein
Sanitätsarzt mit einer Gage von 2000 Rubeln (etwa 4500 Mk.) jährlich
angestellt. Darauf wurde nach dem Muster der Brüsseler Munizipalität
die ganze Aufsicht der Prostitution, sowohl in hygienischer, als auch
in administrativer Beziehung, welche sich bisher in den Händen der
Polizei befunden hatte, der städtischen Verwaltung übergeben und nach
einem Ortsstatut geregelt, welches am 6. November 1891 vom Medizinal¬
rat (der höchsten medizinischen Instanz in Rußland) bestätigt wurde.
Der Sanitätsarzt bekam Sitz und Stimme im Komitee; das Ambulatorium,
welches zur Besichtigung der Prostituierten diente, wurde mit allen
erforderlichen klinischen Einrichtungen und Instrumenten versehen; dem
Arzte wurde eine, in der Luwozowschen Schule ausgebildete Heil¬
gehilfin beigegeben. Im Dienste des Komitees wurden zwei Agenten
angestellt, welche die geheimen Prostituierten in Minsk ausfindig zu
machen hatten. Der fortgesetzten Bemühungen Dr. Grazianows gelang
es jedoch erst im Jahre 1898 an Stelle der ganz ungenügenden Plätze
zur stationären Behandlung im Minskschen jüdischen Krankenhause und
im Krankenhause- des Kollegiums der allgemeinen Fürsorge, die Ein¬
richtung eines besonderen Hospitals für Prostituierte mit 25 Betten
durchzusetzen.
Die erste Sitzung des Sanitätskomitees in Sachen der Prostitution
fand am 13. Dezember 1891 statt, und am 17. Dezember die erste
Besichtigung der Prostituierten im neuen Ambulatorium. Nach den
Registern, welche damals von der Polizei dem Komitee übergeben
wurden, befanden sich in Minsk 87 Prostituierte, von welchen 15 in
drei Bordellen lebten. In stationärer Behandlung befanden sich nur
fünf, und zur ersten Besichtigung erschienen nur 68. Sehr bald wurde
durch die Agenten des Komitees festgestellt, daß außer den drei bei
der Polizei gemeldeten Bordellen in Minsk noch sieben weitere Bordelle
mit einer sehr großen Zahl geheimer Prostituierter bestanden, die nirgendwo
verzeichnet waren und keinerlei Kontrolle ihrer Gesundheit unterlagen.
Gleich im ersten Jahre wurden anstatt der bisher bekannten 87 Pro¬
stituierten — 297 durch die Agenten des Komitees zur ärztlichen
Besichtigung und Behandlung herbeigezogen, 151 von diesen mußten
288 mal im Laufe des Jahres der stationären Behandlung unterzogen
werden, während im vorhergegangenen Jahre nur 55 Internierungen behufs
stationärer Behandlung stattgefunden hatten. Überhaupt litt vor der
Organisation die Kontrolle in Minsk an sehr grossen Mängeln. Der
Stadtarzt besichtigte die einzeln wohnenden Prostituierten bei sich zu Hause,
die übrigen im Bordell, unter den allerungünstigstem Umständen, welche
eine sachliche Diagnose ausschlossen. Über die krank befundenen be¬
richtete er der Polizei und verlor dann jede weitere Fühlung mit dem
Schicksal derselben, da die Abfertigung der Kranken ins Krankenhaus
Sache der Polizei war, der Stadtarzt aber mit der Behandlung derselben
nichts zu tun hatte. Gar nicht selten erfuhr er, daß die Kranken gleich
nach der Besichtigung in andere Städte abgereist waren. Sehr oft
wurde ihm der gleiche Bescheid in den Bordellen in bezug auf Dirnen,
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Referate.
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die im Bewußtsein, dass sie krank waren, sich schon vor der Be¬
sichtigung ans dem Staube gemacht hatten. Das jüdische Kranken¬
haus besaß nur acht Betteij, die ursprünglich für Chirurgische und andere
SchwerkraDke bestimmt waren und erwehrte sich daher nach Kräften
der dahin beförderten Prostituierten. Das Krankenhaus der allgemeinen
Fürsorge war überfüllt mit Venerischen aus der Bevölkerung des flachen
Landes und empfand die Prostituierten als sehr ungern gesehene Patien¬
tinnen. Alle diese Übelstände gipfelten darin, daß in den Jahren
1889—1891 nur 147 Prostituierte der stationären Behandlung unter¬
zogen worden waren, während nach der Reorganisation vom Jahre
1892—1894 780 solcher Patientinnen einer stationären Behandlung
unterworfen werden konnten. Im Laufe des Jahrzehntes der Tätigkeit
des Komitees wurden in demselben 1650 Prostituierte neu registriert.
Es wäre von großer Wichtigkeit, genaue individuelle Daten über den
Gesundheitszustand dieser 1650 Dirnen zu haben, um danach die
hygienische Tätigkeit des Komitees beurteilen zu können. Da aber die
Grazianowschen Zahlenangaben auch wiederum an dem Fehler
leiden, welcher leider den meisten Statistiken über die Pro¬
stitution eigentümlich ist, daß nämlich bei der Beantwortung
der verschiedenen Fragen verschiedene Methoden der Zählung
angewandt werden, so gewinnt man nicht das gewünschte klare Bild.
Man ersieht aus seinem Bericht nur, daß im Laufe der zehn Jahre —
8234 Dirnen im Laufe von 80 293 Tagen wegen verschiedener Geschlechts¬
krankheiten behandelt worden sind. Im weiteren Verlauf seiner Schrift
stellt Grazianow fest, daß 90°/ 0 sämtlicher Dirnen geschlechtskrank
gewesen, und zwar daß 22°/ 0 wegen frischer Syphilis und 40°/ o an
Gonorrhoe behandelt worden sind.
Man erblickt in den angeführten Zahlen den großen Nutzen, welchen
in sanitärer Beziehung die Tätigkeit des Minsker Komitees ohne Zweifel
gebracht haben muß, obgleich sie noch bei weitem nicht den Grad der
Vollkommenheit erreicht hat, den man heutzutage zu fordern berechtigt
ist; denn wie Grazianow in seiner Broschüre mitteilt, wurde in diesen
zehn Jahren weder in der Ambulanz, noch in der Station das Mikroskop
zur Diagnose der Gonorrhöe angewandt. Das im Jahre 1898 gegründete
Spezialkrankenhaus, welches sich allmählich bis auf 25 Betten vergrößert
hat und somit noch einstweilen um 15 Betten hinter dem erforderlichen
Minimum von 40 zurückbleibt, ist mit einem recht genügenden Dienst¬
personal ausgestattet: einer Heilgehilfin, einer Köchin, einem Hausdiener
und drei Wärterinnen; die Wäsche wird außerdem auswärts gewaschen.
Drei Jahre hindurch hat Dr. Grazianow eine Wohnung inne gehabt,
deren Hof zugleich der Hof des Krankenhauses war. Im Krankenhause
sind Lesestunden eingerichtet worden, wobei teils eine ad hoc engagierte
Vorleserin, teils Damen, die zur Gesellschaft des Frauenschutzes in Minsk
gehören, das Vorlesen besorgten. Ausserdem hat noch Dr. Grazianow
persönlich zuweilen die Vorlesungen durch Nebelbilder illustriert. Ver¬
suche, den Kranken das Lesen und Schreiben beizubringen, blieben übrigens
erfolglos. Erfolgreicher beschäftigten sie sich mit Nähen und Sticken.
Erfreulicherweise sind hin und wieder geschlechtskranke Prostituierte aus
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Referate.
anderen Städten freiwillig nach Minsk behnfs Behandlung im dortigen
Krankenhause gekommen. Diese Ausnahme widerspricht indes nicht der
auch von Dr. Grazianow anerkannten Regpl, daß die überwiegende
Mehrzahl der Prostituierten freiwillig nicht ms Krankenhaus ein tritt,
wodurch auch die absolute Notwendigkeit der Beaufsichtigung der Pro¬
stitution unzweifelhaft bewiesen ist.
Das Minsksche Komitee hatte sich außer dieser hygienischen Auf¬
gabe der ärztlichen Beaufsichtigung und Behandlung der Prostituierten
auch noch andere Ziele gesteckt: 1. Die Bekämpfung der Prostitution
Minderjähriger; das Komitee hatte in Erfahrung gebracht, daß sechs
Minderjährige im Alter von 11—18 Jahren sich in Gasthäusern pro¬
stituierten. Auf Grund seines Statuts mußten diese Minderjährigen ihren
Eltern und Verwandten zur Fürsorge übergeben werden. Bei Erfüllung
dieses Statutenpunktes erwies es sich, daß die Mutter der einen Minder¬
jährigen nicht allein mit dem Körper ihrer Tochter, sondern auch mit
den Körpern der Gespielinnen derselben Handel trieb. Zwei der letzteren
waren gonorrhoisch infiziert; die Mutter wurde gerichtlich zur Ver¬
antwortung gezogen und zu einem Monat Arrest verurteilt.
Ferner hatte das Komitee den Kampf gegen die Kuppler und
Kupplerinnen aufgenommen. In Minsk gibt es viele kleine Gasthäuser,
die der Unzucht dienen und deren Kellner sich mit Kuppelei und
Exploitation der Dirnen beschäftigen. Die Inhaber solcher Wirt¬
schaften wurden zur gesetzlichen Verantwortung gezogen, die Kellner
desgleichen — und außerdem aus den Gasthäusern entfernt. Die Gast¬
häuser dienen aber nach wie vor der Unzucht. Ebenso wenig Erfolg
hatten die Bestrebungen des Komitees bei einer dritten Aufgabe, —
dem Schutz der Dirnen gegen die materielle Exploitation seitens der
Bordell Wirtinnen. Zunächst richtete das Komitee für jede Dirne ein
Buch ein, welches ein Inventarverzeichnis der ihr gehörigen Sachen,
als auch der im Bordell für sie angeschafften, mit Angabe des Preises
enthielt. Unter Androhung der Schließung des Bordells wurde dafür
Sorge getragen, daß beim Austritt aus dem Bordell diese Sachen nicht
beschlagnahmt werden konnten.
Ferner wurde der Versuch gemacht, ein Viertel der Gesamteinnahme
jeder Prostituierten ihr persönlich in einem eigens dazu eingerichteten
Kassabuch zugute zu schreiben, indes ohne jeglichen Erfolg; die ge¬
sammelten Summen existierten nur anf dem Papiere und die Wirtinnen
verrechneten sich mit den Dirnen stets so, daß keine Ersparnisse übrig
blieben. Man versuchte nun in der Weise für die Dirnen zu sparen,
daß für jede derselben 10—25 Kopeken täglich im Komitee eingezahlt
wurden. Das Geld wurde im Komitee gebucht, verwahrt und den
Dirnen erst beim Austritt aus dem Bordell ausgezahlt. Da die letzteren
nun, um ihre Ersparnisse in Empfang zu nehmen, an einem Tage ihren
Austritt meldeten und nach Empfang des Geldes sofort wieder eintraten,
wurde die Bestimmung getroffen, daß sie ihre Ersparnisse erst einen
Monat nach dem Austritt aus dem Bordell in Empfang nehmen konnten.
Das führte dazu, daß sie sich einen Monat lang als „Geheime“ herum¬
trieben und gleich nach Empfang des Geldes ohne einen Kopeken wieder
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ins Bordell eintraten. Nun traf man die Bestimmung, daß die Erspar¬
nisse ihnen nur im Falle des Eintrittes in eine anständige Beschäftigung,
der Verheiratung oder aber schwerer Erkankung ausgezahlt werden
sollten.
Auch das half nichts: die Prostituierten verstanden alle diese Be¬
stimmungen zu umgehen. Sehr viele Jüdinnen wiesen Trauscheine vor
und ließen sich sofort nach Empfang ihrer Ersparnisse wieder scheiden,
um ins Bordell zurückzukehren. In allen diesen Fällen handelten die
Dirnen, Kupplerinnen und Zuhälter in gemeinsamem Einverständnisse
zur Paralysierung der guten Absichten des Komitees. Wie es bei solchen
Bestrebungen nicht anders zu erwarten war, beweisen diese Erfahrungen
die Zwecklosigkeit der Einmischung der Vertreter der sozialen Gesell¬
schaftsordnung in die natürliche Organisation dieser antisozialen Elemente,
sobald man mehr anstrebt als den einfachen konsequenten Kampf gegen
die Geschlechtskrankheiten.
Das Komitee bestrebte sich aber nicht allein durch eine sanitäre
Kontrolle der Prostitution gegen die Geschlechtskrankheiten anzukämpfen,
es richtete auch eine Empfangstätte zur unentgeltlichen Besichtigung
von Dienstboten und Ammen ein, welche einen Dienst suchten. Es
beteiligte sich ferner an den Vorarbeiten zum russischen Kongreß zur
Beratung von Maßregeln gegen die Geschlechtskrankheiten sowie am
Kongresse selbst. Zum Schlüsse seiner Mitteilung kommt Grazianow
zu dem Ausspruche, die Kontrolle der Prostitution müsse überall den
Händen der Polizei entzogen und den städtischen Kommunalverwaltungen
überwiesen werden, indem er die sachliche Art und Weise der Arbeit
in Minsk dem Umstande zuschreibt, daß sich die Kommunal Verwaltung
der Kontrolle annahm.
Referent hält diese Auslassung nicht für zutreffend. Der Schwer¬
punkt der ganzen Reform lag in der Tätigkeit des Dr. Grazianow
selbt. Sobald der Arzt mit Liebe zur Sache und Sachkenntnis ans
Werk geht, so ist es für den Erfolg ganz gleichgültig, ob er in seiner
Arbeit von der Kommunalverwaltung oder von der Polizei unterstützt
wird. Es ist sehr fraglich, ob die Minsksche Kommunalverwaltung ohne
die Mitwirkung von Dr. Grazianow weiterhin eben solche Erfolge
erzielen wird wie bisher. C. Ströhmberg (Dorpat).
1. Rab. Dr. Rosanack. „Zur Bekämpfung des Mädchenhandels“, Referat er¬
stattet in der Rabbinerversammlung zu Frankfurt a. M. 1902.
2. G. Tuch. Die Ursachen des galizischen Mädchenhandels und ihre Bekämpfung.
Referat erstattet auf der Lemberger Tagung des jüdischen Zweigkomitees
Sept. 1903.
3. Berta Pappenheim und Dr. Sera Rabinowitech. Zur Lage der
Bevölkerung in Galizien. Neuer Frankfurter Verlag 1904.
Viele Sittlichkeitsapostel begnügen sich leider immer noch damit,
die ideale Forderung, den kategorischen Imperativ der Sittlichkeit hin¬
zustellen, verstärkt vielleicht durch einige Mahnungen strafrechtlicher
Natur, ohne sich weiter um die Voraussetzungen und tatsächlichen Unter-
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Referate.
lagen degenerativer Erscheinungen zu kümmern, oder sich die Möglich¬
keit und die Bedingungen der Verwirklichung ihrer Sittlichkeitsforderungen
klar zu machen.
In wohltuendem Gegensatz zu dieser Gepflogenheit stehen zwei
Schriften, von denen die eine die Herkunft und Bedingtheit der im
österreichischen Galizien grassierenden sittlichen Mißstände kennzeichnet,
die zweite sich die Aufgabe stellt, daneben positive Vorschläge zu ihrer
Abstellung zu formulieren und zu begründen.
Zeitlich vorauf geht ihnen eine dritte Schrift, die einen Überblick
über die charakteristischen Merkmale des Mädchenhandels, seine Art und
Ausdehnung gibt. Die Quellgebiete des Mädchenhandels werden namhaft
gemacht, die bekannten Schliche und Kniffe der weißen Seelenverkäufer
rekapituliert. Polen (Galizien) ist mit 40 Prozent, Rußland mit 15,
Italien mit 11, Österreich-Ungarn mit 10, Deutschland mit 8 Prozent an
der Ausfuhr weißer Sklavinnen beteiligt. Dann folgen die romanischen
Länder mit 5 bezw. 4 Prozent, das Konsumland Argentinien mit
8 Prozent. Dann wird über die vorbeugende und beschützende Wirk¬
samkeit zweier jüdischer Vereinigungen berichtet. Die „Jewish Asso¬
ciation for the Protection of Girls and Women“ hat in den Jahren von
1900—1902 ihren Rat und ihre Hilfe 1634 schutzlosen Mädchen zuteil
werden lassen. Ihre Londoner Abteilung ist im Jahre 1901 in 128 Fällen,
und zum großen Teil mit gutem Erfolg, gegen heimische und inter¬
nationale verwickelte Schwindlerfälle vorgegangen.
Die zweite der genannten Vereinigungen, das ,jüdische Zweig¬
komitee des deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchen¬
handels“ hat gleichfalls nach Kräften gearbeitet. Sein Vorsitzender,
Herr Gustav Tuch in Hamburg, hat durch eine Übersetzung der Haupt¬
teile des Lupanar einen weitgehenden Einblick in das Wesen des Kaftis-
mus („Kaften“ ist in Brasilien die Bezeichnung für Mädchenhändler,
Sklavenhalter usw.) und das Schicksal der weißen Sklavinnen gewährt
und alle Seiten der Gemeinheit, Niedertracht und Verworfenheit des
Kaftismus aufgedeckt. Noch enthält die Rosenecksche Schrift einige
Angaben über die bürgerliche Existenz der mehr als 800000 galizischen
Juden, von denen 6 / e als sogenannte ,,Luftmenschen“, d. h. ohne be¬
stimmte und sichere Erwerbsquellen leben, und den Hinweis darauf, daß
die Besserung der sozialen Verhältnisse ,,auch, ja vielleicht der einzige
Weg“ ist, der langsam, aber sicher zum Ziele einer wirksamen Be¬
kämpfung des Übels führt.
Das auf der Lemberger Tagung (Sept. 1903) auf Veranlassung des
jüdischen Zweigkomitees erstattete Referat bringt eine erneute Zusammen¬
fassung alles dessen, was von den Regierungen, den nationalen und
internationalen Vereinigungen in Sachen Mädchenhandel verordnet, getan
und geplant ist. Das sieht nach viel aus, ist aber herzlich wenig.
Denn, wie Tuch selbst in seiner Einleitung sagen muß, man hat’s „im
Widerstande (gegen das Übel) im allgemeinen nicht weiter gebracht,
als daß man dort, wo die Verbrechen von den Behörden sich feststellen
lassen, nach einheitlichen Grundsätzen strafend Vorgehen will. Allen¬
falls kann davon gesprochen werden, daß die Aufklärung, die in
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wohlwollender Weise verbreitet wird, hier und da einigen Nutzen
schafft.“
Internationale Vereinbarungen zur strafrechtlichen Verfolgung der
Mädchenhändler, Überwachung der Häfen und Bahnhöfe, Schaffung von In¬
formationsbehörden in den kontrahierenden Ländern, Landesversammlungen
und internationale Zusammenkünfte, Austausch von Drucksachen und
Mitteilungen, von sittlichen Gefühlen und Empfindungen des Wohl¬
wollens .... Und zu welchem Ende? Auf Seite 7 der Tuchschen
Schrift heißt es: „Die Bewegung arbeitet einstweilen noch an der Ober¬
fläche. Gelingt es zuweilen aus der großen Anzahl von Mädchenhändlern
diesen oder jenen vor die Schranken des Gerichts zu bringen, so ist
damit noch nicht die Sicherheit einer Verurteilung erreicht. Auch
kommt es verhältnismäßig selten vor, daß dem Kaftismus die Opfer
entrissen werden können. Was einmal in die Fänge der Kuppler,
Agenten, Kaften gerät, ist, wenn überhaupt, kaum unbeschädigt daraus
zu erretten.“ — Und dafür einen weitläufigsten Apparat, einen Aufwand
von Zeit, Geld und Kraft jedes besten Gelingens würdig.
Man sollte meinen, daß ein so völliges Versagen die Entrepreneure
dieser großen Aktion stutzig machen, daß man sich auf Grund so be¬
trübender Erfahrungen fragen müsse, ob es nicht einen andern Weg als
den der Konferenzen, Verordnungen, Reden und Strafverfolgungen geben
könne, um zu dem Ziel einer wirksamen Bekämpfung des Mädchen¬
handels zu gelangen. Auch nimmt ja die Tuchsche Schrift einen ganz
netten Anlauf in dieser Richtung, indem sie auf den Zusammenhang
zwischen diesen Erscheinungen und den wirtschaftlichen und gesellschaft¬
lichen Zuständen hinweist: „Auf der Gesellschaft, auf Regierungen und
Bevölkerungen lastet eine fürchterliche Schuld; sie haben sich um das
ökonomische und gesellschaftliche Elend von Millionen von Menschen
nicht bekümmert .... In dem Maße, wie es gelingen wird, die wirt¬
schaftlichen Verhältnisse zu bessern, wird auch dem schmählichen
Mädchenhandel und der unfreiwilligen Prostitution der Boden entzogen.“
„Wahre Hilfe kann nur durch grundlegende soziale, ethische und
wirtschaftliche Aufrichtung herbeigeführt werden;“ das hat dann auch
wieder eine Hamburger Versammlung jüdischer Vereine erklärt und im
Verfolg dieser Auffassung vorbereitende Schritte zur Einleitung einer plan¬
mäßigen Agitation und Organisation der Hilfstätigkeit durch Entsendung
von Forschungsexpeditionen getan. Als Ziel wurde Galizien gewählt.
Von Rußland und Rumänien war abzusehen. Die dort über die Juden
verhängten Ausnahmebestimmungen, Ungerechtigkeiten, ja Gesetzwidrig¬
keiten mit ihrem Gefolge von Hunger, Jammer und Not, von Aufruhr,
Mord und Raub, von physischer und psychischer Degeneration, lassen
einstweilen jede Hilfsaktion ebenso unmöglich wie aussichtslos erscheinen.
Anders in Galizien. Auch dort freilich ein elendes, gedrücktes Volk,
das alljährlich zu Tausenden vom Hungertyphus hinweggerafft wird und
zu einem großen Teil sittlich verkommen ist. Dem gegenüber aber die,
wenigstens auf dem Papier stehende Gleichheit vor dem Gesetz, die
Möglichkeit Land zu erwerben, die Freiheit der Berufswahl. Und unter
der Asche, die jahrhundertlange Bedrückung und Versumpfung auf-
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210
Referate.
gehäuft haben, daß stillglühende Feuer der Familientreue, sowie da und
dort, hoffnungsrünen Oasen vergleichbar, kleine Siedelungen intelligenter,
fleißiger und pflichttreuer jüdischer Arbeiter und Landbebauer.
Das ganze Umundauf ihrer Existenz schildert die dritte Schrift in
so durchsichtig klarer, zugleich verständnisvoller und kritischer Art, daß
man mit einigem Erstaunen darüber belehrt wird, daß es sich dabei
um die Ergebnisse einer nur sechswöchigen Studienreise handelt. Vor
uns entrollt sich das Bild einer armseligen Bevölkerung, zu einem Teil
in Wohnhöhlen hausend, „an deren Öffnung die Menschen wie Insekten
an dunklen Fluglöchern aus- und einschlüpfen.“ Eine kleine Anzahl
wohlhabender Kaufleute ist vorhanden und im übrigen „mit das ärmste
Proletariat, das die Welt auf weist.“ .... „Hungerkünstler sind es,
deren Bedürfnislosigkeit die einfachsten Existenzbedingungen so sehr
herabgedrückt hat, daß bei don meisten ein Zustand chronischer Unter¬
ernährung herrscht. „Der Magen hat kein Fenster“, sagen sie, und wo
noch nicht alle Energie erloschen ist, da werden Erinnerungen an ver¬
gangene gute Taige mit der Hoffnung auf kommende bessere Zeiten, wie
zwei Fäden, an denen das Leben hängt, fest verknüpft, und das kost¬
bare Zwischenglied, um das man sie schlingt, sind die Kinder.“
Dazwischen einzelne kleine Bevölkerungsgruppen, deren ganze Lebens¬
führung, armselig wie sie ist, eine aufsteigende Entwicklung verbürgt.
Einige Hundert organisierter TallisWeber, die dem österreichischen Weber¬
verband angehören und, obwohl Analphabeten, intelligent, politisch reif
und durchgebildet sind. Dann eine Anzahl fleißiger jüdischer Bauern
und im Gegensatz zu so manch anderem Beispiel des Niedergangs und
der Verwahrlosung auch einmal ein ganzes Städtchen, in dem die ganze
Bevölkerung, Juden und Christen, wacker an der Arbeit sind. „Die
Baron-Hirsch-Schule, das Verbot der Kinderarbeit, Arbeit für alle Arbeits¬
willigen und an Stelle eines Regimentes Soldaten, einige
Tausend sozialpolitisch geschulter Arbeiter, sind ebensoviele
Gründe, daß das Niveau der Sittlichkeit gegen frühere Zeiten und andere
Orte gehoben erscheint.“ Der soziale und ethische Überbau des Lebens
richtet sich nach dem wirtschaftlichen Unterbau. Der alte Erfahrungs¬
satz findet auch hier wieder seine Bestätigung. Mit zwingender Logik
treten die Tatsachen für ihn ein, wie sie eine unbefangene, aber außer¬
ordentlich urteilsfähige Beobachterin gesehen und empfunden hat.
Ebenso treffsicher ist die Beurteilung, die andere treibende Faktoren
religiöser und propagandistischer Art erfahren. Da wird von Chassidismus
gesprochen als dem „versteinerten Judentum, wie es auf seinem Wege
durch die Welt in Galizien liegen geblieben ist, ein fossiles Gebilde,
das starr und leblos seiner Aufgabe in der Fortentwickelung des jüdischen
Volkes nicht mehr genügen kann. Das Ritual, die harte Schale einer
tauben Nuß, und in und neben dieser Lebensweise im Banne des Rituals
Zustände tiefster sittlicher Verkommenheit“ Und vom Zionismus wird
nach einer Würdigung seiner gerade für dies an Geist und Leib darbende,
getretene und geschmähte Volk so unendlich befreienden und belebenden
Elemente, seiner Verdienste um Aufklärung und Agitation, aber auch
seiner Fehler und Irrtümer gesagt: „Vielleicht wird die Geschichte seine
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Referate.
211
Mission einmal darin erkennen, daß er die Fanfare war, die schlafenden
Geister za wecken, damit die Juden sich wieder aufraffen, mit anderen
Völkern gleichen Schritt zu halten in Ausübung ihrer Pflichten und
Inanspruchnahme ihrer Rechte.Es steht zu fürchten, daß diese tapfre
Meinungsäußerung weder von den Orthodoxen noch von den Zionisten
verziehen werden wird, aber es steht auch zu hoffen, daß die wackre
Kämpferin für Fortschritt und wahre Sittlichkeit aus jedem von jener
Seite erfolgenden Angriff die stolze Zuversicht davontragen wird, das
Rechte und Notwendige in der richtigen Weise gesagt zu haben.
Dasselbe gilt von einer ganzen Anzahl der positiven Vorschläge, durch
deren Verwirklichung Licht und Luft in dies arme verdüsterte Land
getragen und der entsittlichenden Versumpfung begegnet werden soll,
denn, „wie in dem Nervenzentrum eines Organismus sammeln sich die
wichtigsten Interessenfragen eines Volkes zu Sittlichkeitsbegriflfen, und
strahlen auch wieder aus diesen in Lebensäußerungen zurück.“ Darum
werden hier keine Traktätchen vorgeschlagen, keine destillierte Sittlich¬
keit ausgeboten. Eine umfassende Reform des gesamten Erziehungs¬
wesens wird verlangt, bei der Krippe und dem Kindergarten anfangend,
bei der Handwerker- und Haushaltsschule endend. Ferner Neugestaltung
der Krankenpflege, die heute geradezu alles zu wünschen läßt, Ausbau
des Leihkassenwesens, Erschließung neuer Erwerbszweige, unter denen
die Geflügelzucht als besonders rationell empfohlen wird, Gründung von
Landankaufsgenossenschaften und Bauembanken. Der letzerwähnte von
Frl. Dr. Rabinowitsch ausgehende Vorschlag beruht auf der entgegen
veralteten Anschauungen auch für Galizien nachgewiesenen Tatsache (es
gibt dort eine kleine, etwa 100 Haushaltungen umfassende jüdische
Bauernschaft), daß die Juden keineswegs ungeeignet zum Ackerbau sind.
Nicht ebenso leicht zu entscheiden ist indes die Frage, ob eine künst¬
liche Kolonisation dauernden Erfolg verspräche. Die Erfahrungen, die
man nach dieser Seite in Ostelbien gemacht hat, lassen die Frage
mindestens noch nicht spruchreif erscheinen.
Großen Wert legen beide Berichterstatterinnen auf einen anderen
Vorschlag, den einzigen, der in einem unmittelbaren und offensicht¬
lichen Zusammenhang mit der Frage der Bekämpfung des Mädchen¬
handels steht. Es sollen Auswandererschulen gegründet werden. Durch
einen über 3—6 Monate erstreckenden Unterricht in haus wirtschaftlichen
Dingen, in den ElementarfUchern und in sprachlichen Anfangsgründen
sollen die Mädchen, die die Heimat verlassen wollen, erwerbs- und in
jedem Sinne lebenstüchtiger gemacht werden. Daneben sind die Schulen
als Vermittlungs-, Auskunfts- und Schutzstellen in der Art gedacht, daß
sie im Interesse der Auswanderungslustigen Erkundigungen einziehen,
und sich mit auswärtigen Verwandten der Mädchen oder mit ausländischen
Behörden in Verbindung setzen. Endlich soll von hier aus eine Anzahl
von Frauenvereinen dafür gewonnen werden, die Auswandernden von
Etappe zu Etappe bis an den Ort ihrer Bestimmung zu geleiten. Ohne
Zweifel könnte auf diese Weise dem Mädchenhandel ein kleiner Teil
seiner Opfer entzogen werden. Trotzdem scheint mir der hier gegebenen¬
falls zu erzielende Erfolg in keinem Verhältnis zu der Höhe der er-
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212
Referate.
forderlichen Aufwendungen, zu dem ganzen in Bewegung zu setzenden
Apparat zu stehen. Und dies nicht nur weil die Vorbereitungszeit von
3—6 Monaten als völlig unzureichend bezeichnet werden muß, sondern
vor allen Dingen auch darum, weil durch einseitigen Ausbau dieser
Einrichtung der wertvolleren inneren Kolonisation Mittel entzogen werden.
Und wer nur die das Land verlassenden Elemente kampf- und lebens¬
tüchtig macht, der kuriert, wenn auch von sympathischer Seite her,
genau so am Symptom herum, wie die Kämpen der Strafverschärfung
und der kondensierten Sittlichkeit.
Wir haben uns hier freilich selbst eine Einwendung zu machen.
Welche Art von Betätigung, wenn nicht diese, bleibt den Philanthropen
übrig, so lange die österreichische Regierung Gewehr bei Fuß steht, so
lange es ihr besser zusagt „Tausende von Analphabeten heranwachsen
zu sehen, als ebenso viele latente Intelligenzen durch Schulbildung zum
Denken zu bringen/ 1 Damit ist der Kreis geschlossen. Eine trotz aller
äußeren Gesunkenheit, trotz Unwissenheit, Unsauberkeit und Armut im
Kern gut veranlagte Bevölkerung, von deren in der Industrie beschäftigtem
Teil gesagt wird, daß „die jüdischen Fabrikarbeiter Galiziens ein äußerst
intelligenter und lebensfähiger Menschenschlag sind.“ Auf der einen
Seite im Banne gehalten durch ein verknöchertes, lebensfremdes Ritual,
auf der anderen von einer Regierung mißhandelt oder mindestens nicht
geschützt, die nichts mehr zu fürchten scheint, als den sozialen und
wirtschaftlichen Fortschritt, soweit er sich als wirtschaftliche und geistige
Selbständigkeit der Arbeitermassen darstellt, kann hier Hilfe nicht von
außen kommen. Einen Anstoß kann die Philanthropie freilich geben,
indem sie den Auf- und Ausbau des Erziehungswesens betreibt, den
industriellen und landwirtschaftlichen Kredit regelt und den Genossen¬
schaftsgedanken popularisiert. In Wirklichkeit wird indes der Kampf
gegen Mädchenhandel und Prostitution so lange ein Don-Quixoterie
bleiben, als Kirche und Staat die Gewissen bannen und mit eiserner
Faust den Geist der Solidarität und Freiheit niederzuhalten wissen. Das
ist die Lehre, die sich, vielleicht von den Verfasserinnen ungewollt, als
Endergebnis auch dieser Schrift aufdrängt. Henr. Fürth.
Rosika Schwimmer. Der Kampf gegen den Mädchenhandel. Frauen-Rund-
schau IV. 14.
Schwimmer hält den Kampf gegen den Mädchenhandel, wie er
zurzeit geführt wird, für vollkommen aussichtslos, weil er sich nur
gegen Agent und Vermittler, nicht aber gegen den Hauptsünder, den
„Konsumierenden“ richtet. So lange eine Nachfrage vorhanden ist,
kann das Angebot nicht ausgerottet werden. Und wenn die bisherige
Taktik nicht aufgegeben wird, so könnte im günstigsten Falle der
Mädchenexport, aber niemals der Mädchenhandel beseitigt oder ein¬
geschränkt werden. Ob die Mädchen aber im fremden Lande oder in
der Heimat dem Laster und dem Verderben anheimfallen, das ist am
Ende gleichgültig. Der Kampf müsse der Prostitution überhaupt, viel¬
mehr ihren Ursachen gelten und die beiden Faktoren: Nachfrage und
Angebot in gleicher Weise berücksichtigen. Max Marcuse (Berlin).
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Referate.
213
Nenne am Rhyn. Prostitution und Mädchenhandel. Leipzig, Hedewigs Nachf.
Ronniger.
Das Buch enthält eine Fülle interessanter und lehrreicher Beiträge
zu dem traurigsten Kapitel moderner Kulturgeschichte. Auch derjenige,
dem die Mitteilungen Hennes nicht gerade „neue Enthüllungen“ bedeuten,
erschrickt vor den scheußlichen Zuständen und Geschehnissen, über die
der Yerf. in ungewöhnlich gewandter und beredter Form berichtet. Aus
jedem Wort spricht das aufrichtige Mitgefühl, das der Autor mit den
„weißen Sklavinnen“ empfindet, und seine ehrliche Entrüstung ob „dieses
Schandflecks unsrer Zeit“. Gleichwohl bleibt er stets der ruhige, vor¬
sichtige Referent verbürgter und erwiesener Tatsachen. Nur in der
Einleitung gibt sich d6r Verf. auch als Kritiker, indem er die ver¬
schiedenen Arten der Prostitutionsbehandlung einer kurzen Erörterung
unterzieht. Hierbei freilich verrät sich eine gewisse Nervosität des Autors,
die ihn zu unsachlichen Angriffen auf die Reglementaristen, namentlich
die Fürsprecher der Bordelle verleitet. Er selbst betrachtet die Regle¬
mentierung als „das Krebsübel in den geschlechtlich-unsittlichen Zuständen
unsrer Zeit“, und nur wenn dieses radikal beseitigt wird, darf s. E.
auf einen Erfolg im Kampfe gegen den Mädchenhandel gerechnet werden.
Max Marcuse (Berlin).
Sexuelle Hygiene.
Dp. Camilie Lederer. Musterung der Frauen zur Ehe. Der Frauenarzt,
XVII. 3. S. 101.
Anonymus. Ober Vererbung und Entartung. Von einem praktischen Arzt
Leipzig. 1900.
Hsgar. Die Untauglichkeit zum Geschlechtsverkehr und zur Fortpflanzung. PolitUch-
anthropologische Revue. Bd. I. S. 80.
Der Anschauung, daß die Ehe eine Angelegenheit rein privater
Natur Bei, treten immer mehr Stimmen entgegen, die es für die Pflicht
des Staates erklären, durch gesetzliche Bestimmungen dafür Sorge zu
tragen, daß nur wirklich Gesunde in die Ehe treten, und die einen ob¬
ligatorischen ärztlichen Ehekonsens verlangen.
Lederer schreibt: Wie der Pfarrer die Heiratskandidaten auf dem
Gebiet der Religion prüfen solle, ebenso sollte die Gemeindevertretung
ein Zeugnis des gesunden Körperbaues verlangen, ehe sie die Heirats¬
bewilligung geben dürfte.
Ein Anonymus tritt gleichfalls für die Notwendigkeit gesetzlicher
Maßregeln ein. Er hält es nur für eine Frage der Zeit, daß der Staat
eine amtsärztliche Beglaubigung der körperlichen und geistigen Tauglich-
lichkeit für die Ehe zu ihrer rechtsgültigen Anerkennung fordern wird.
Der bekannte Gynäkologe Professor Hegar geht von der Wichtig¬
keit der Aufklärung über die das Geschlechtsleben und die Fortpflan¬
zung beherrschenden Gesetze aus. Während man Heilstätten für alle
möglichen Krankheiten plant, fänden jene Gesetze noch keine Berück-
Zeitachr. L Bekämpfung d. Geachlechtakrankh. IL 16
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214
Referate.
sichtigung; diese würden einen großen Teil dieser Sorge entbehrlich
machen und viel Geld ersparen lassen. Personen, die an ansteckenden
und vererblichen Krankheiten leiden, sollen sich freiwillig vom Ge¬
schlechtsverkehr fernhalten. Die geschlechtliche Enthaltsamkeit sei der
einzige Weg zur Linderung der Prostitution. Eltern müssen sich ver¬
gewissern, ob der Freier an einer ansteckenden Krankheit leide, und
bei Lues die Heirat verbieten, bei Gonorrhoe die absolute Heilung zur
Bedingung machen. Aber die Belehrung und Aufklärung allein genüge
nicht, man muß sich an die Gesetzgebung wenden. Der Staat solle die
Schließung der Ehe den dazu Untauglichen verbieten, insbesondere bei
Lues und Gonorrhoe. Gegenüber Personen, die erkrankt sind und sich
dennoch auf Geschlechtsverkehr einlassen, solle man strenger Vorgehen,
gleichzeitig auch dem Benachteiligten die Möglichkeit geben, eine Ent¬
schädigung zu erlangen.
In Übereinstimmung mit dieser Auffassung stellte Dr. Haskovec
in der tschechischen Ärztekammer den Antrag, es sei eine Enquöte be¬
hufs Ausarbeitung einer Petition an die staatlichen Sanitätsbehörden
und an die gesetzgebenden Körperschaften einzuberufen, um den Entwurf
eines Gesetzes für das Königreich Böhmen, event. für die im Reichsrat
vertretenen Königreiche und Länder des Inhalts auszuarbeiten, daß ein
jeder, der die kirchliche oder Zivilehe einzugehen beabsichtigt, sich einer
ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, und vor dem Eheschlusse den
betreffenden kirchlichen und Zivilbehörden ein ärztliches Zeugnis über
seinen körperlichen und geistigen Gesundheitszustand vorzulegen habe.
Prof. Pinard verteidigte im Juni 1900 in der Academie de Möde-
cine die These, daß die Heirat allen denen untersagt werden müsse, die
an einer ansteckenden Krankheit leiden oder in gefährlicher Weise erb¬
lich belastet seien. In Übereinstimmung mit Dr. Cagalis fordert er
die obligatorische Leibesuntersuchung für alle, die sich verheiraten wollen
und ein Gesetz mit folgendem Wortlaut: Die Ehe ist allen Kranken, die
an einem schweren, auf die Frau oder das künftige Kind übertragbaren
Übel leiden, absolut verboten.
Die Anschauung von der Notwendigkeit solcher Gesetze hat auch
bereits in gesetzgebende Körperschaften Eingang gefunden.
In der französischen Deputiertenkammer wurde im Jahre 1900 ein
diesbezüglicher Antrag eingebracht. Im Unionsstaat Norddakota wurde im
Jahre 1899 in der Gesetzessession ein Gesetz vorgeschlagen, nach welchem
jeder Ehekandidat zur Erhaltung der Staatserlaubnis ein Zeugnis des
Kreispbysikus über seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten beizu¬
bringen habe.
Der einzige Staat aber, in welchem wirklich schon ein solches Gesetz
besteht, ist der Unionstaat Michigan. Dort verbietet ein Gesetz die Ver¬
heiratung Geisteskranker und Idioten und bestraft Luetische und Gonor-
rhoiker, welche eine Ehe eingehen, sehr streng mit Geldstrafe oder Ge¬
fängnis oder mit beiden, je nach dem Ermessen der Justizbehörde. Die
Ehegatten können gezwungen werden, Zeugnis auch gegeneinander ab¬
zulegen. Ebenso untersteht der behandelnde Arzt dem Zeugniszwang,
Baum (Berlin).
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Tagesgeschichte. 215
Individuelle Prophylaxe.
Ernst J. Feibes. Zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Die Kranken¬
pflege. 1902/03. II. 6.
Nachdem Feibes die bisher bekannten und am meisten verbreiteten
Vorbauungsmittel einer kurzen Kritik unterzogen hat, teilt er die bak¬
teriologischen und klinischen Versuche mit, die er mit einem neuen,
von ihm angegebenen, vom Apotheker Weeber in Aachen hergestellten,
und von Dr. Auf recht-Berlin geprüften Mittel angestellt hat. Das
Mittel vereint nach Feibes > Ansicht alle Eigenschaften, die man an ein
Prophylaktikum billiger Weise stellen darf und soll sich von den bis¬
her im Gebrauch befindlichen namentlich durch seine Zuverlässigkeit
und leichte Handhabung vorteilhaft unterscheiden. Im Handel ist es
in Tubenform unter dem Namen „Protektor“ erhältlich.
Max Marcuse (Berlin).
Tagesgeschichte.
Deutschland.
Preußen. Dem preußischen Abgeordnetenhause ist der „Entwurf
eines Ausführungsgesetzes zu dem Reichsgesetz, betreffend die
Bekämpfung gern ein gefährlich er Krankheiten“ zugegangen. Unsere
Gesellschaft hatte alsbald nach Bekannt werden seines Inhalts an das Ab¬
geordnetenhaus eine Eingabe gerichtet, deren Wortlaut im Band I, Heft 4/5
der „Mitteilungen“ veröffentlicht worden ist: wir petitionierten darum,
daß die in dem Entwurf vorgesehene Anzeigepflicht von Syphilis, Tripper
und Schanker bei Prostituierten ausschließlich den Polizeiärzten auf¬
erlegt werde. Die erste Lesung der Vorlage endete mit deren
Überweisung an eine Kommission von 21 Mitgliedern.
Wir lassen im Nachstehenden diejenigen Stellen aus dem Gesetz¬
entwurf folgen, welche auf die venerischen Krankheiten Bezug nehmen.
Anzeigepflicht.
§ 8 .
Zur Verhütung der Verbreitung der nachstehend genannten Krank¬
heiten können für die Dauer der Krankheitsgefahr die Absperrungs- und
Aufsichtsmaßregeln des Reichsgesetzes nach Maßgabe der nachstehenden
Bestimmungen polizeilich angeordnet werden, und zwar bei:
9. Syphilis, Tripper und Schanker bei Personen, welche
gewerbsmäßig Unzucht treiben: Beobachtung kranker, krankheits-
oder ansteckungsverdächtiger Personen (§ 12) 1 ), Absonderung kranker
Personen (§ 14, Abs. 2). 2 )
*) § 12 des Reichsseuchengesetzes lautet:
„Kranke und krankheits- oder ansteckungsverdächtige Personen können
einer Beobachtung unterworfen werden. Eine Beschränkung in der Wahl der
U*
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216
Tagesgeschichte.
Begründung.
§ 5 .
„Die Syphilis ist nach dem Regulativ nicht allgemein, sondern
nur in den Fällen anzeigepflichtig, „wenn nach Ermessen des Arztes Von
der Verschweigung der Krankheit nachteilige Folgen für den Kranken
selbst oder für das Gemeinwesen zu befurchten sind“ (§65 Abs. 1 <L R.).
Der vorliegende Entwurf sieht von der Anzeigepflicht bei der Syphilis
überhaupt ab, weil dieselbe erfahrungsgemäß eher schädlich als nützlich
ist. Denn sie verführt die Kranken zur Verheimlichung ihres Leidens
oder treibt sie Kurpfuschern in die Arme und trägt auf diese Weise
eher zur Verbreitung als zur Verminderung der Krankheit bei. Der
Entwurf begnügt sich deshalb mit den in dem § 9 Abs. 2 des Entwurfs
bezeichnten Maßregeln, welche eine größere Wirksamkeit versprechen,
und dehnt diese auch auf die beiden anderen Krankheiten, welche durch
den unreinen Geschlechtsverkehr übertragen werden, nämlich auf den
Tripper und den Schanker, aus.
Die Verheerungen, welche die übertragbaren Geschlechtskrankheiten
in der Bevölkerung anrichten, sind überaus traurig und stehen den¬
jenigen, welche die Lungen- und Kehlkopftuberkulose verursacht, kaum
nach. Wenn sie auch bei weitem nicht so viele Todesfälle herbeiführen,
wie diese, so ziehen sie doch um so beträchtlichere Schädigungen der
Gesundheit, des Vermögens, des Berufes, ja des ganzen Lebens- und
Familienglücks nach sich. Während der Schanker gut heilbar und ver¬
hältnismäßig harmlos ist, werden Trippor und Syphilis von manchen
Ärzten für unheilbar gehalten; in allen Fällen bedürfen sie monate- und
jahrelanger Behandlung, erzeugen immer wieder Rückfälle und haben
nicht selten Nachkrankheiten im Gefolge, welche die Gesundheit des
Menschen dauernd untergraben. Todesfälle an Syphilis sind verhältnis¬
mäßig selten, ihre Zahl beläuft sich im ganzen preußischen Staate auf
Aufenthalts oder der Arbeitsstätte ist zu diesem Zwecke nur bei Personen'zu-
lässig, welche obdachlos oder ohne festen Wohnsitz'sind oder berufs- oder
gewohnheitsmäßig umherziehen.“
*) § 14, Abs. 2 lautet:
„Die Absonderung kranker Personen hat derart zu erfolgen, daß der
Kranke mit anderen als den zu seiner Pflege bestimmten Personen, dem
Arzte oder dem Seelsorger nicht in Berührung kommt und eine Verbreitung
der Krankheit tunlichst ausgeschlossen ist. Angehörigen und Urkundspersonen
ist, insoweit es zur Erledigung wichtiger und dringender Angelegenheiten ge¬
boten ist, der Zutritt zu dem Kranken unter Beobachtung der erforderlichen
Maßregeln gegen eine Weiterverbreitung der Krankheit gestattet. Werden
auf Erfordern der Polizeibehörde in der Behausung des Kranken die nach
dem Gutachten des beamteten Arztes zum Zwecke der Absonderung not¬
wendigen Einrichtungen nicht getroffen, so kann, falls der beamtete Arzt es
für unerläßlich und der behandelnde Arzt es ohne Schädigung des Kranken
für zulässig erklärt, die Überführung des Kranken in ein geeignetes Kranken¬
haus oder in einen anderen geeigneten Unterkunftsraum angeordnet werden.“
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Tagesgeschichte.
217
durchschnittlich 330 im Jahre; um so zahlreicher sind aber die schweren
chronischen, zu langem Siechtum führenden Hirn-, Rückenmarks- und
Knochenleiden, welche auf eine Ansteckung mit Syphilis zurückzuführen
sind und mancher Manneskrafb und manchem Familienglück ein vor¬
zeitiges Ende bereiten. Tripper erzeugt zwar nicht unmittelbare Todes¬
fälle, aber überaus schwere akute und chronische Nachkrankheiten, nament¬
lich bei den Frauen, von denen manche zu langem Siechtum und zum
Tode führen. Erschwerend fällt bei diesen beiden Krankheiten außer¬
dem ins Gewicht, daß sie nicht nur diejenigen treffen, welche sich die
Ansteckung in unreinem Geschlechtsverkehr selbst zuziehen, sondern daß
sie oft auf Unschuldige übertragen werden. Zahlreiche Männer stecken
ihre Ehefrauen mit Syphilis oder Tripper an, die sie sich vor oder nach
der Verheiratung im außerehelichen Geschlechtsverkehr zugezogen haben.
Kinder syphilitischer Väter werden vielfach schon im Mutterleibe mit
Syphilis behaftet und gehen, wenn sie nicht schon im Mutterleibe
sterben, bald nach der Geburt zugrunde. Und auch die Fälle sind
leider nicht vereinzelt, in weichen bei der Entbindung tripperkranker
Frauen das Trippergift in die Augen der neugeborenen Kinder eindringt
und bei diesen eine Augenentzündung, die sogenannte Blennorrhoea
neonatorum, erzeugt, welche bei nicht sachgemäßer Behandlung unfehl¬
bar zu unheilbarer Erblindung führt. Ein staatliches Eingreifen gegen¬
über den übertragbaren Geschlechtskrankheiten wird daher von zahlreichen
Sachverständigen mit größtem Nachdruck gefordert.
Andere Staaten sind in dieser Beziehung bereits mit Erfolg vor¬
gegangen. Am durchgreifendsten ist das dänische Gesetz über die gegen
die Ausbreitung der venerischen Krankheiten zu ergreifenden Maßregeln
vom 10. April 1874 mit dem Zusatzgesetz vom 1. März 1895, welches
sich auf alle drei Krankheiten erstreckt, während die Gesetzgebung in
Italien sich nur auf Syphilis beschränkt.
Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt den Standpunkt ein, daß er
zwar alle Geschlechtskrankheiten, nicht aber alle an solchen erkrankte
Personen in den Bereich seiner Regelung gezogen und es für ausreichend
erachtet hat, wenn die Polizeibehörden gegenüber denjenigen Personen,
welche gewerbsmäßig die Unzucht betreiben, eine wirksame Handhabe
zum Einschreiten erhalten.
Da der überwiegend größte Teil der Übertragungen von Geschlechts¬
krankheiten durch die Prostitution geschieht, so hat man in verschiedenen
Staaten und zu den verschiedensten Zeiten den Versuch gemacht, die
Prostitution gewaltsam zu unterdrücken. Diese Versuche sind jedoch
ausnahmslos gescheitert, weil sie zur Folge hatten, daß die offenkundige
und kontrollierbare sich in die viel gefährlichere heimliche Prostitution
verwandelte. Die Gefahren der Prostitution lassen sich auf das ver¬
hältnismäßig geringste Maß eindämmen, wenn die Prostituierten sorg¬
fältig überwacht, eventuell behandelt und geheilt und so an der Ver¬
breitung der übertragbaren Geschlechtskrankheiten erfolgreich gehindert
werden. Um dies zu erreichen, darf man sich nicht, wie es im Regulativ
geschehen ist, auf die Syphilis beschränken, sondern man muß auch
den in seinen Anfangsstadien von der Syphilis schwer unterscheidbaren
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218 Tageegeschicbte.
Schanker, vor allem aber auch den Tripper mit in die Bekämpfung
einbeziehen.
Wollte man den Mahnungen der Abolitionisten folgen, welche jede
Reglementierung der Prostitution verwerfen, so würde eine ungemessene
Zunahme der Geschlechtskrankheiten die unausbleibliche Folge sein.“
Hamburg. Die Ausführungen des Hamburgischen Bevollmächtigten
zum Bundesrate, Syndikus Dr. Schäfer, über das Bordell- und Pro¬
stitutionswesen, haben überall Verwunderung hervorgerufen. Wie
bekannt, hatte Herr Dr. Schäfer im Reichstage erklärt, in Hamburg sei
das Zuhältertum so gut wie unterdrückt. Daß diese Behauptung eine
objektive Unrichtigkeit involviert, beweist das Zeugnis der Hamburgischen
Polizeibehörde, die infolge der Ausbreitung des Zuhältertums vor noch
gar nicht langer Zeit eine Vermehrung des Beamtenpersonals zur Be¬
kämpfung dieses Unwesens forderte. Und in dem im Februar v. J.
erschienenen Bericht des Budgetausschusses der Bürgerschaft, der sich
mit dem Anträge der Vermehrung der Polizeibeamten beschäftigte, heißt
es wörtlich: „Die ständige Zunahme der heimlichen Prostitution
und mit ihr des Zuhälterwesens machen es im öffentlichen Interesse
erforderlich, dieser verderblichen Erscheinung des Großstadtlebens mehr
Aufmerksamkeit zuzuwenden, als es bei dem bisherigen Bestände der
dafür verfügbaren Arbeitskräfte möglich war.“ Zum Schlüsse gibt der
Budgetausschuß seiner Überzeugung dahin Ausdruck, daß die Neuanstellung
der geforderten Beamten unter der vorstehenden Begründung erforderlich
sei, und die Bürgerschaft hat dem zugestimmt. Mit der Konstatierung
der Zunahme der heimlichen Prostitution sind auch die weiteren Aus¬
führungen des Herrn Dr. Schäfer im Reichstage ad absurdum geführt.
Die Hamburgischen Bordelle — die 1876 „offiziell“ aufgehoben wurden
— beherbergen nur den kleineren Teil der Prostituierten, so daß die
behauptete reinliche Scheidung der Prostituierten von dem anständigen
Teile der Bevölkerung tatsächlich nicht besteht, so wenig es richtig ist,
daß auf den Straßen und Kaffees in Hamburg weder Prostituierte noch
Zuhälter anzutreffen seien. Es gibt in Hamburg Gegenden, die zu be¬
stimmten Nachtstunden von Freudenmädchen und ihren Beschützern förm¬
lich überschwemmt werden. Allerdings wirkt die Nachbarschaft Altonas,
wo die Bordelle behördlich nicht sanktioniert, sondern nur „geduldet“
werden, auf diesen Zustand ungünstig mit ein.
(Nach einem Bericht der Frankfurter Zeitung vom 4. 2. 02.)
Schweiz,
Die in Heft 4 dieser Zeitschrift avisierte Abstimmung über das
Initiativbegehren betreffend die Wiedereinführung von Bordellen
im Kanton Zürich ist inzwischen erfolgt. Der Antrag war von
5000 Stimmberechtigten durch Unterschrift befürwortet worden; andrer¬
seits erließen die angesehensten Männer aller politischen und religiösen
Richtungen Erklärungen gegen die Initiative; Professor Dr. Oskar Wyß,
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Tagesgeschichte.
219
an der Spitze von 194 Ärzten aus Stadt und Kanton Zürich, bemühte
sich, in öffentlichen Blättern die vom volksgesundheitlichen Standpunkt
aus so ernste Frage klarzulegen, und auch von solchen, welche grund¬
sätzlich den Abolitionismus bekämpfen, wurde die Bordellinitiative ihrer
krassen Form wegen preisgegeben. Auch die sozialdemokratische Partei
als solche stellte sich auf die gegnerische Seite. Mit 40 564 gegen
14 697 Stimmen wurde 1897 die Abschaffung der Bordelle beschlossen,
mit 49 598 gegen 18 010 wurde sie jetzt bestätigt. Wieder war es
hauptsächlich das Land, das wuchtige Zahlen gegen das Toleranzsystem
lieferte, wuchtigere noch als vor sieben Jahren. In der Stadt dagegen
zeigt sich eine bemerkenswerte Veränderung in den Stimmenverhält¬
nissen. Die Zahl der Toleranzgegner ist von 10513 auf 10382 zurück¬
gegangen, diejenige der Anhänger von 6096 auf 8672 gestiegen. Und
gerade diejenigen zwei Stadtkreise haben der Wiederzulassung der
Toleranzhäuser zugestimmt, in denen sich diese vor ihrer Abschaffung
hauptsächlich befanden: die Altstadt (Kreis I) und der Kreis III. Man
wird daraus zu schließen haben, daß diese beiden Kreise, die am un¬
mittelbarsten die Folgen der Abschaffung zu erfahren hatten, von diesen
Folgen nicht erbaut sind. Speziell die Häuserbesitzer sind offenbar zu
entschiedenen Gegnern der Abolition geworden. Seit die „Duldung der
gewerbsmäßigen Unzucht“ Offizialdelikt geworden ist, schwebt über jedem
Hausbesitzer, der einer weiblichen Person Wohnräume vermietet, beständig
drohend Geldbuße, ja Gefängnis bis zu drei Monaten. Die Aufhebung
der Toleranzhäuser hat aber die Prostitution in alle Winkel getrieben;
sie verkroch sich in Zigarrenläden, kleine Wirtschaften und neuerdings
mit Vorliebe in — Ansichtspostkartenläden. Den Dirnen, die da Karten
und sich selbst verkaufen, ist, wenn sie nicht Ausländerinnen sind, schwer
beizukommen: dafür hält man sich an den Hausbesitzer als — Kuppler.
Unleugbar ist es ein gewisser Widersinn, daß die Prostitution selber
nicht bestraft wird, wohl aber deijenige, der den Prostituierten Unter¬
kunft gewährt.
Trotzdem war die ganze Bewegung der Bordellinitiative nur
möglich geworden, weil seit der Einführung des sogen. „Sittlichkeits¬
gesetzes“ von 1897 in einem Teil der Presse immer wieder betont wurde,
infolge der Abschaffung der öffentlichen Häuser seien die sittlichen
Zustände in Zürich viel schlimmer geworden, es sei nunmehr keine
ehrbare Frau, kein Kind auf der Straße mehr sicher, und Sittlichkeits¬
attentate wurden mit Vorliebe unter der Stichmarke „Wirkungen des
Sittlichkeitsgesetzes“ gebracht und daran pessimistische Betrachtungen
über den pharisäischen „Sittlichkeitsfanatismus“, der diese Zustände her-
vorrufe, geknüpft. Auch die Vermehrung der Sittlichkeitsverbrechen
kam auf dieses Konto. Nach der mit so großer Majorität erfolgten
Verwerfung der Bordellinitiative, die der 31. Januar gebracht hat, wird
voraussichtlich auch der Feldzug in der Presse gegen das Gesetz von
1897 eingestellt und zugegeben werden, daß das Zürchervolk, wie immer
man von der besten Art der Bekämpfung der Prostitution denke, die
Zustände nicht mehr zurückwünscht, die zur Zeit der Bordelle in Zürich
und Winterthur bestanden.
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220
Tagesgeschichte.
Ein Gates hat der Initiativantrag jedenfalls gebracht, die Erkenntnis
nämlich, daß der beste Schutz gegen die Geschlechtskrankheiten eine
gute Krankenfürsorge für die Geschlechtskranken ist. Am Tage nach
der Abstimmung stellte Prof. Erismann, der bekannte Hygieniker, in
der Züricher Stadtverordnetenversammlung einen Antrag auf Errichtung
einer Spitalabteilung für Geschlechtskranke unter Leitung eines
Spezialarztes, der zugleich als Professor an der Universität
dieses Fach vertreten solle; dieser Antrag wurde unter allseitiger Zu¬
stimmung angenommen.
Dänemark.
In Dänemark wurde im Dezember 1902 eine „Dänische Gesell¬
schaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ gebildet. In der
konstituierenden Sitzung wurde von Dr. E. Pontoppidan ein Vortrag
gehalten (ref. in Tidsskrift f. Sundhedspleie, 9, I), in welchem die schäd¬
lichen Folgen der Verheimlichung und der Vorurteile hervorgehoben
wurden, mit welchen die Geschlechtskrankheiten umgeben sind. Als
den nächsten Weg zu ihrer Bekämpfung nennt Pontoppidan Aufklärung
der Jugend über das Geschlechtsleben und über das Wesen dieser Krank¬
heiten und betont die Notwendigkeit, offen davon sprechen zu dürfen.
Schon in der Schule sollten in den spätern Kinderjahren diese Fragen
aufgenommen und für die reifere Jugend, Studenten, Soldaten, durch
Schrift und Vorträge für eine mehr eingehende Auseinandersetzung Sorge
getragen werden. — Die Minderjährigen sollten gegen die Gefahr der
Prostitution geschützt werden.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903/4. Nr. 6.
Inwieweit können die Krankenkassen zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten beitragen?
Vortrag, gehalten in Breslau auf der Jahresversammlung von
Ortskrankenkassen im Deutschen Reiche, Sept 1903, von
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Albert Keiner.
(Schluß.)
Eine Modifikation der Becher sehen Sanatorien für die Unter¬
bringung geschlechtskranker Arbeiter schlügt Saalfeld vor. Er
schreibt: „Für die einem Krankenhaus überwiesenen syphiliskranken
Arbeiter ergeben sich bisweilen, allerdings nicht immer, Nachteile
aus dem Aufenthalt im Krankenhaus. Eine Reihe der hier in Be¬
handlung Befindlichen rekrutiert sich aus den arbeitslosen und
arbeitsscheuen Personen, denen der Aufenthalt im Hospital recht
willkommen ist; dies gilt sowohl für männliche wie weibliche Pa¬
tienten. Diese selbst brauchen für das Verweilen im Krankenhaus
nichts zu bezahlen, sie haben freie Verpflegung und sind für diese
Zeit der Sorge um das tägliche Brot enthoben. Eine solche Ge¬
sellschaft übt auf einen Arbeiter mit anständiger Gesinnung eine
seelische Depression aus. Er fühlt sich unter solchen Individuen
unglücklich und wird seine Entlassung aus dem Krankenhause
früher betreiben, als es seiner Gesundheit zuträglich ist Falls
der Arbeiter oder die Arbeiterin nicht so charakterfest ist, so
werden sie leicht Gefallen an dem Nichtstun finden; sie sind der
Gefahr ausgesetzt, nach der Entlassung aus dem Krankenhause,
zumal wenn sie arbeitslos werden, moralisch zu sinken/*
„Um diesen Eventualitäten und Übelständen zu begegnen,
könnte vielleicht eine Vereinigung dienen, die, analog dem Verein
zur Fürsorge von Unfallverletzten, sich der aus dem Krankenhause
entlassenen Geschlechtskranken annimmt und sie wieder in geord¬
nete Verhältnisse zu bringen sucht. Des weiteren aber geht mein
Zettaehr. I Bekämpfung d. Geeehleehtekrmnkh. 1L 17
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222
Neisser.
Vorschlag dahin, Syphilitische, die arbeitsfähig sind, in
Arbeits-Sanatorien unterzubringen. Da die Behandlung eines
Syphilitischen, wenn nicht ganz besondere komplizierende Momente
vorliegen, täglich nur wenig Zeit in Anspruch nimmt, so könnten
derartige Kranke in dem Sanatorium der Arbeit nachgehen. Diese
Sanatorien müßten, wie die Lungenheilstätten, eine bezüglich der
hygienischen Verhältnisse günstige Lage haben und von den
Städten leicht zu erreichen sein, damit die in diesen Anstalten
hergestellte Arbeit ohne Schwierigkeiten an ihren Bestimmungsort
transportiert werden kann.“
So richtig der Gedanke Saalfelds ist, daß ein langer
Hospitalaufenthalt mit seiner erzwungenen und doch nicht immer
durch die Erkrankung selbst absolut erforderten Untätigkeit
moralisch schädigend wirken kann, so scheint mir doch die Über¬
tragung des Gedankens in die praktische Wirklichkeit sehr
schwer, was auch Saalfeld selbst nicht verkennt Jedenfalls wird
Sie die Lektüre des Aufsatzes, den ich ihrer Beachtung empfehle,
sehr interessieren. Ich möchte nur die Bemerkung vom ärztlichen
Standpunkt hinzufügen, daß Saal fei d auch immer nur von Syphi¬
litikern spricht, der Tripperkranken aber, die die Mehrzahl der
Geschlechtskranken darstellen, nicht gedenkt Für diese aber ist
eine von körperlichen Anstrengungen freie Ruhe, womöglich im
Bett, gerade von besonderer Wichtigkeit.
Einen anderen Modus, speziell für die Syphiliskranken, hat
Ledermann vorgeschlagen. Zwar wünscht auch Ledermann,
daß Kranke, so lange sie mit ansteckenden Symptomen behaftet
sind, im Krankenhause behandelt werden. Um aber die Kranken
so bald als möglich entlassen zu können, ihnen trotzdem aber die
Durchführung einer sorgsamen Behandlung zu ermöglichen, sollten
ambulatorische Behandlungsstätten geschaffen werden, in denen die
Kuren, namentlich die Schmierkuren, Verbände usw. gemacht, in
denen alle Bade- und Schwitzprozeduren durchgeführt werden können.
Sicherlich würde diese Einrichtung viel Segensreiches schaffen
und dem bisherigen Zustande gegenüber eine wesentliche Ver¬
besserung darstellen; aber eben nur für die Kranken, bei denen
Krankenhausbehandlung nicht erforderlich ist Aber ge¬
rade darüber gehen die ärztlichen Anschauungen auseinander.
Schmierkuren z. B., welche Ledermann in seinen neu zu schaffenden
„Schmierstuben“ abmachen lassen will, lasse ich fast nie von ambu¬
lanten Kranken machen, weil ich zu wissen glaube, daß eine
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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 223
Schmierkur nur dann wirklich wirksam ist, wenn der Patient mög¬
lichst dauernd in demselben Raum sich aufhält, also eben nicht
ambulant ist, d. h. frei sich bewegend, seinem Berufe nach¬
gehend ist. —
Allein wenn nach meiner Meinung auch keiner der eben
besprochenen Vorschläge einen wirklichen Ersatz für Krankenhaus¬
behandlung bieten kann, so möchte ich mich doch keineswegs
schlechthin ablehnend dagegen verhalten. Das Bedürfnis nach
Behandlungsstätten Geschlechtskranker ist so groß und die Lebens¬
weise, Beschäftigung, persönliche Zuverlässigkeit dieser leider so
sehr zahlreichen Behandlungsbediirftigen so mannigfaltig, daß für
jede Einrichtung sich ein gerade für sie passendes Krankenmaterial
finden wird.
Soviel über die Frage der Krankenhausbehandlung.
Allein wenn es auch — wie nicht oft und eindringlich genug
betont werden kann — im Interesse des einzelnen Erkrankten und
zum Schutze der Gesamtheit dringend wünschenswert ist, daß sie
möglichst reichlich zur Anwendung gelangt, natürlich wird für
die ambulante Behandlung der Geschlechtskranken immer
noch ein weites Feld bleibenl Auch hier wird mancherlei zu
reformieren sein! Es wird mir niemand Zutrauen, daß ich das
Ansehen unseres ärztlichen Standes — zumal in dieser wesentlich
aus Laien zusammengesetzten Versammlung — herabzusetzen ge¬
neigt sein würde; aber es läßt sich leider nicht leugnen, daß die
Behandlung der Geschlechtskrankheiten nicht von allen
Ärzten in der Weise ausgeübt wird, wie es notwendig
wäre. Zum Teil sind die Ärzte gar nicht schuld an dieser
traurigen Tatsache; denn erst in den allerletzten Jahren ist auf
den Universitäten für einen genügenden Unterricht in Haut- und
Geschlechtskrankheiten gesorgt worden. Ja auch jetzt sind noch
nicht alle Universitäten mit Unterrichtsanstalten für diesen so
wichtigen Zweig der Medizin versorgt, auch jetzt noch wird bei
keinem staatlichen Examen auf dem Gebiet der Geschlechtskrank¬
heiten obligatorisch geprüft.
Es kommt hinzu, daß die Behandlung der Geschlechtskrank¬
heiten, und namentlich die des Trippers, so viel Zeit und Mühe
in jedem einzelnen Falle erfordert, daß die allermeisten Kassen¬
ärzte gar nicht in der Lage sind — wobei ich die ihnen zuteil
werdende Honorierung gar nicht in Betracht ziehen will — so
viel Zeit und Mühe jedem einzelnen Falle zuzuwenden, wie zur
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224
Neisser.
sorgsamen Untersuchung und Behandlung nun einmal notwendig
ist Ich will auch hier betonen, daß tatsächlich die Behandlung
der Syphilis eine viel einfachere und viel weniger zeitraubende ist
als die des Trippers.
Es muß demgemäß die Forderung erhoben werden, daß
seitens aller Kassen gute spezialistische Behandlung
jedem Kassenmitglied zugänglich gemacht und rechtlich
zugesichert werde. Eine solche kann entweder durch einzelne
Spezialärzte oder durch Ambulatorien erfolgen.
Was letztere betrifft, so scheinen mir namentlich städtische
oder staatliche Polikliniken, die man mit kassenärztlichen Funkti¬
onen betrauen könnte, empfehlenswert Solche öffentliche Poli¬
kliniken haben den Vorteil, daß sie gewöhnlich über eine große
Anzahl von angestellten Assistenten verfügen, also sehr ausgedehnte
auch über den Abend sich erstreckende Sprechstunden halten
können, so daß die Kranken, ohne ihren Erwerb zu beeinträchtigen
ärztliche Hilfe finden können.
In Polikliniken wird durch den Wechsel des ärztlichen
Personals eine größere Garantie dafür geboten, daß der jeweilige
Arzt für die Behandlung der Kranken Interesse behält und die
notwendige Zeit für Untersuchung und Behandlung hergibt Während
die ärztlichen Hilfskräfte auf der einen Seite selbst ein Interesse
daran haben, möglichst viele Kranke zu sehen, gehört es anderer¬
seits zu ihren dienstlichen und durch kein Nebeninteresse beein¬
trächtigten Funktionen, die Sprechstunden, mögen sie auch noch
so lange währen, abzuhalten. Ferner hat ein solches Institut als
Ganzes und der Chef desselben an der Beobachtung und Behand¬
lung ein wissenschaftliches Interesse, und die Erfahrung lehrt, daß
stets die Kranken da am besten versorgt, am eifrigsten untersucht,
beobachtet und behandelt werden, wo die Erledigung einer wissen¬
schaftlichen Frage zu einer eingehenden Beschäftigung des Arztes
mit dem Kranken zwingt. Es wird sich dabei trotzdem nie und
nimmer um Experimente handeln, sondern nur um den allen
Kranken zugute kommenden Ausbau der Krankheitserkennung und
Krankheitsheilung.
Für sich praktizierende Ärzte dagegen sind vielmehr der
Gefahr ausgesetzt, bei einem verhältnismäßig einförmigen Material,
wie es die frischen Tripper-, Schanker- und Syphilis-Fälle dar¬
stellen, in eine schematisierende Gleichgültigkeit zu verfallen.
Andererseits weiß ich aber sehr wohl, erstens, daß es sehr
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 225
gute und sehr gewissenhafte Kassenärzte, die nach jeder
Richtung hin ihre Kranken aufs beste versorgen, gibt; und ferner,
daß man sowohl nach dem Wunsche vieler Patienten wie im
wirtschaftlichen Interesse der Ärzte auf private Einzelbehand¬
lung nicht wird verzichten können. Es müssen also Spezial¬
ärzte seitens der Kassen angestellt oder besser noch in freier
Arztwahl die in einer Stadt vorhandenen Spezialärzte und
Polikliniken den Kranken zur Verfügung gestellt werden. Aller¬
dings wäre Vorsorge zu treffen, daß nicht jeder beliebige Arzt,
der sich Spezialarzt nennt, zu solcher Vertrauensstellung berufen
werde, sondern nur solche, deren spezialistische Qualifikation
durch die Art ihrer Ausbildung, vielleicht auch durch
eine neue staatliche Approbation nachgewiesen wäre.
Ferner scheint es wichtig, eine Höchstzahl von Kranken,
die der einzelne Arzt übernehmen könnte, festzusetzen. Unwillkür¬
lich verführt ein gar zu großer Zudrang zu rascher Abfertigung
und ungenügender Untersuchung und Behandlung des Kranken.
Ganz besonders muß die Forderung aufgestellt werden, daß
die Kassen, in denen viele oder auschließlich weibliche Personen
sich befinden, auch weibliche Ärzte anstellen, um jedes Moment,
welches die Kassenmitglieder vor der ärztlichen Behandlung zu¬
rückschrecken könnte, aus der Welt zu schaffen.
Ich komme nun zu einem ganz besonders schwierigen Punkte.
Häufig sind es nicht die Kassenverwaltungen, welche sich der
Überweisung der Kassenmitglieder — ich spreche jetzt natürlich
nur von Geschlechtskranken — in ein Krankenhaus oder in
spezialistische Behandlung entgegenstellen, sondern die Arzte selbst
Fixiert angestellte Kassenärzte haben allerdings kein wirt¬
schaftliches Interesse daran, die Kassenmitglieder selbst zu be¬
handeln. Bei Honorierung der Einzelleistung aber besteht aller¬
dings für den Kassenarzt ein Motiv, die Überweisung ins Krankenhaus
oder an einen Spezialisten nur in dringenden Fällen eintreten zu
lassen. Die Erfahrung hat mehrfach gelehrt, daß von dem
Augenblicke an, in dem freie Arztwahl mit Honorierung
der Einzelleistung eingeführt wurde, die Zahl der durch
die Kasse dem Hospital überwiesenen Kranken erheblich
und andauernd abnahm.
Vielleicht wäre Honorierung des Einzelfalles an Stelle der
Einzelleistung ein Weg, um das ohne Zweifel der Berücksichti¬
gung würdige und durchaus berechtigte wirtschaftliche Interesse
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226
Neisser.
der Ärzte mit den Anforderungen einer idealen Behandlung der
Geschlechtskrankheiten in Einklang zu bringen.
Damit sind aber die Wünsche, die ich den Krankenkassen
jm Interesse der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten unter¬
breiten möchte, noch nicht erschöpft.
Von großem Segen wäre es, wenn die Kassen von ihrer
Befugnis, auch den Familienmitgliedern ihrer Versicherten
die Benefizien des Krankenkassengesetzes angedeihen zu
lassen, durchweg Gebrauch machen wollten. Ich denke heute
naturgemäß wesentlich an die Fälle — und leider sind sie recht
zahlreich — in denen Frauen und Kinder von Männern angesteckt
werden, die entweder schon geschlechtskrank heiraten oder sich
erst während der Ehe infizierten. Die Behandlung der Frauen
liegt nicht nur im Interesse der Frauen selbst, sondern mindestens
ebenso im Interesse der Männer und der Familien. Ist die
Frau erkrankt, kann sie die Wirtschaft nicht besorgen, sich um
Mann und Kinder nicht kümmern, so führt dies oft zu vollständiger
Zerrüttung des Familienlebens und zur Demoralisation des Mannes,
der dann in der Kneipe und weiterem außerehelichen Verkehr
Zerstreuung sucht. Handelt es sich um eine syphilitische An¬
steckung der Frau, so kommt noch dazu die Gefahr für die
Nachkommenschaft, indem entweder die Schwangerschaften durch
Frühgeburten gestört werden, oder die Kinder tot oder mit
Syphilis behaftet zur Welt kommen. Beim Tripper handelt es sich
mehr um ein schweres Siechtum der Frau; es kann allerdings auch
eine Unfähigkeit, schwanger zu werden, hinzutreten.
Eine möglichst schnelle Heilung der infizierten Frau ist auch
im Interesse vorhandener Kinder dringend anzustreben, da
die Gefahr der Übertragung von der Mutter auf die Kinder zufolge
der im täglichen Leben vorkommenden Berührungen, Küsse u. dergl.
überall vorhanden, bei Angehörigen unbemittelter Klassen aber
wegen ihrer elenden Wohnungsverhältnisse besonders bedrohlich ist.
Wenn nun nicht die Kassen für die Behandlung der Frauen
und Kinder sorgen, so bleiben sie meist ganz ohne Behandlung,
weil, was ganz besonders betont werden muß, Frauen stets sehr
viel schwerer ambulatorisch behandelt werden können, wie die
Männer. Wenn aber nicht die Kasse für die Krankenhausbehand¬
lung sorgt, wer soll es tun? Der Verdienst des Mannes reicht
nicht aus; öffentliche Armenpflege in Anspruch zu nehmen, wird
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 227
auch von vielen verschmäht, und so entwickelt sich tatsächlich
ein großer Notstand für die gesamte Familie.
Ich habe bisher davon gesprochen, was die Kassen für die¬
jenigen Kranken tun können, welche sie als solche kennen.
Es ist nun aber sicher, daß sehr viele von ihrei*
Krankheit gar nichts wissen und demgemäß die Krankheit
unbehandelt lassen und verschleppen, wodurch schwerere und
später vielleicht sogar unheilbare Krankheitsformen entstehen. Dies
trifft namentlich für weibliche Personen zu, bei denen sowohl
der Tripper, wie die Syphilis wochen- und monatelang besteheü
und sich entwickeln kann, ohne daß die Erkrankte auch nur die
geringste Kenntnis davon hat.
Bei Männern ist solche Ahnungslosigkeit seltener; dafür
spielen bei ihnen Indifferenz und Unterschätzung der Bedeutung
eines vielleicht nicht schmerzhaften und wenig störenden Leidens
dieselbe Rolle, und bringen es mit sich, daß die Erkrankung un¬
behandelt bleibt. Und zu diesem Kreise von Personen, welche
ihre Krankheit unabsichtlich vernachlässigen, treten bei beiden
Geschlechtern hinzu die Leichtsinnigen, Frivolen, die von ihrer
Krankheit und deren Wichtigkeit zwar wissen, aber sich um
dieselbe nicht kümmern.
Daß solche Personen, abgesehen von dem Schaden, den sie
selbst erleiden, auch noch gemeingefährlich sind, indem sie, mit
ihrer ansteckenden Krankheit behaftet, geschlechtlich verkehren
und die Krankheit weiter verbreiten, sei weiterhin betont.
Besteht nun keine Möglichkeit, diese absichtlich oder
unabsichtlich ihre Krankheit vernachlässigenden Per¬
sonen zu entdecken, um für eine Behandlung der Krank¬
heit und Beseitigung der Ansteckungsfähigkeit zu sorgen?
Wie die Armee in dieser Beziehung vorgeht und daß sie
unendlich Segensreiches schafft, ist Ihnen allen bekannt Sie alle
wissen, daß da regelmäßige Untersuchungen aller Mannschaften
stattfinden und daß auf diese Weise für eine schnelle und sorg¬
fältige Behandlung gesorgt wird.
Ebenso sind, wie Sie wissen, die eingeschriebenen Prosti¬
tuierten solcher Untersuchung unterworfen. Mag das gegen¬
wärtige Uberwachungssy stein und die Form und Art der ärztlichen
Untersuchung auch noch so sehr anfechtbar sein, jedenfalls führt
sie in einer sehr großen Anzahl von Fällen dazu, daß nicht nur
die von den Erkrankten ausgehende Infektionsgefahr beseitigt
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228
Neisser.
oder vermindert wird, sondern daß auch sie selbst zu ihrem
eigensten Vorteil einer frühzeitigen und sorgfältigen Behandlung
zugeführt werden.
Eine derartige Zwangsuntersuchung auf alle Kassenmitglieder
auszudehnen, würde zwar zweifellos die allergrößten Vorteile bieten;
aber im Emst wird niemand daran denken, sie vorzuschlagen, da
sie gar zu sehr nach einer Beschränkung der persönlichen Freiheit
und noch dazu einer bestimmten Bevölkerungsklasse aussehen
würde. Es kommt dazu der Gesichtspunkt, daß durch die Absicht,
nur die Geschlechtskrankheiten aufdecken zu wollen, der Maßregel
gewollt oder ungewollt der Stempel einer odiösen sanitätspolizei¬
lichen Sittenkontrolle aufgedrückt würde.
Aber folgender Gesichtspunkt erscheint erwägenswert; ebenso
wie die allermeisten der den besseren und reicheren Ständen an-
gehörigen Personen, auch wenn sie nicht krank sind, einer regel¬
mäßigen ärztlichen Kontrolle sich unterwerfen, sei es, daß sie
in ständiger hausärztlicher Beobachtung sich befinden, sei es, daß
sie ganz regelmäßig sich und ihre Familie einer ärztlichen Unter¬
suchung unterwerfen, so ist es wohl erwägenswert, ob nicht
die Kassen — und allerdings sind die Versicherungsanstalten
dabei mindestens ebenso interessiert — alle ihre Kassenangehörigen
alle Jahre ein- oder zweimal einer allgemeinen ärztlichen Unter¬
suchung unterwerfen sollten. Daß unendlich viel Geschlechts¬
krankheiten bei sorgfältiger Untersuchung dabei aufgedeckt und
sorgsamer Behandlung zugeführt werden könnten, wäre noch der
geringste Vorteil.
Aber wie viele beginnende Herz-, Lungen- und Nieren¬
erkrankungen, wie viele unerkannte Fälle von Zuckerkrankheit,
von Nerven- und Rückenmarkleiden würden in ihren ersten Stadien
bekannt und durch frühzeitige Behandlung beseitigt werden können!
An der Durchführbarkeit einer solchen Maßregel habeich
keinen Zweifel Denn auch hier ist, wie schon so oft erwähnt,
der Gesichtspunkt geltend zu machen, daß zwar anfangs für viel
mehr Kranke mit viel mehr Mitteln wird gesorgt werden müssen,
daß aber bald ein Gleichgewicht sich dadurch herstellen wird, daß
schwere und unheilbare Fälle den Kassen in weit geringerer Zahl
zur Last fallen werden, als jetzt Für die Kranken würde nur
eine sehr geringe Belästigung durch die jährlich ein- oder zweimal
wiederkehrende Untersuchung entstehen und durch die Verteilung
der Untersuchung über das ganze Jahr würden die Ärzte sehr wohl
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 229
in der Lage sein, die Untersuchung ohne besondere Überlastung
durchzuführen.
Für den Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten
aber verspreche ich mir von einer solchen periodischen
Untersuchung unendlich vieles. Bei den Männern wird
zweifellos die allergrößte Anzahl solcher Fälle aufgedeckt werden.
Schwierigkeiten liegen nur beim weiblichen Geschlecht vor, weil
man wohl nicht daran denken kann, prinzipiell jedes weibliche
Kassenmitglied auf das Vorhandensein von Geschlechtskrankheiten
zu untersuchen, selbst wenn weibliche Ärzte, was ich für selbst¬
verständlich halte, in genügender Anzahl zur Verfügung stehen.
Daß aber trotzdem sehr viele Fälle, die jetzt unerkannt bleiben,
entdeckt werden, daß durch solche Untersuchungen sehr viel Ge¬
legenheit zur Belehrung und Aussprache gegeben wird, ist sicher.
Natürlich wird auch hier unendlich viel von der Kunst des Arztes
oder der Ärztin, sich das Vertrauen der Klientinnen zu erwerben, ab-
hängen. Schließlich werden wir hier, wie bei allen derartigen Ma߬
regeln, damit rechnen müssen, daß wir nicht alles, was wir wünschen,
erreichen können; das darf uns aber nicht abschrecken, jeden Ver¬
such zu wagen, auch wenn er nur teil weisen Erfolg verspricht!
Ich verkenne nicht, daß die Gesamtheit der von mir vor¬
geschlagenen Maßregeln, vermehrte Krankenhausbehandlung,
Einrichtung von Ambulatorien, Anstellung von Spezial¬
ärzten, Krankenkontrolleuren, Erstreckung der Kassen¬
leistungen auf die Angehörigen der Mitglieder, finanzielle
Aufwendungen in nicht unerheblichem Umfange nötig machen
werden, und man wird vielleicht die Frage aufwerfen, ob derart
gesteigerten Ansprüchen gegenüber die Kassen leistungs¬
fähig bleiben werden. Ich vermag diese Frage nicht zu be¬
antworten. Aber eins ist wohl sicher, daß, je größer eine Kasse
ist, sie um so leistungsfähiger sein wird und daß demgemäß
auch aus hygienischen Gesichtspunkten und besonders im Interesse
der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten es aufs innigste zu
wünschen wäre, daß möglichst viele zentralisierte Orts¬
krankenkassen an Stelle der vielen kleinen, einzelne Ge¬
werbe umfassenden Kassen treten möchten. Das Beispiel
Leipzigs, Frankfurts lehrt, das große zentralisierte Kranken¬
kassen auch den weitgehendsten Anforderungen entsprechen können.
Ich habe früher bei anderer Gelegenheit den Gedanken zur Dis¬
kussion gestellt, ob nicht, weil es sich bei dem Kampfe gegen dio
Digitized by
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230
Neißser.
Geschlechtskrankheiten um die Abwehr einer, das ganze Volk
gleichmäßig treffenden Gefahr handelt, ein Teil der Kosten, die
den Krankenkassen hierdurch erwachsen, auf die Schultern des
die Allgemeinheit repräsentierenden Staates abzuwälzen wäre.
Ebenso wie bei einer beginnenden Choleraepidemie nicht der einzelne
Kreis oder die einzelne Provinz die Kosten für die Abwehrmaßregeln
zu übernehmen hat, so, erwog ich, sind bei der Behandlung der
Geschlechtskrankheiten nicht nur die einzelnen Verbände, sondern
auch die Allgemeinheit zur Hilfeleistung verpflichtet
Allein ich verkenne nicht, daß jede Subvention der Kassen
durch die Allgemeinheit nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch
Gefahren für die freie Selbstverwaltung der Kassen im Gefolge
haben könnte. Mir scheint, daß der Weg der Bildung allgemeiner
Ortskrankenkassen in allen Kreisen und großen Städten mehr Vor¬
teile und weniger Nachteile bieten würde. Leider sind die Wünsche
nach Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht — namentlich
auf die der Ansteckung und Prostitution so überaus häufig an¬
heimfallenden Dienstboten — und nach Zentralisation des Kranken¬
kassenwesens bisher durch die Gesetzgebung nicht erfüllt worden.
Die jüngste Novelle zum Krankenversicherungsgesetz hat in dieser
Hinsicht keinen Schritt vorwärts getan.
Ich bin am Schluß meiner Ausführungen angelangt. Hoffent¬
lich habe ich Ihre Geduld nicht gar zu lange in Anspruch ge¬
nommen. Es waren aber so viele Punkte in Betracht zu ziehen,
daß ich ungeachtet aller guten Vorsätze mich doch nicht kürzer
fassen konnte. Jedenfalls aber bitte ich aus meinen Worten zu
entnehmen, eine wie große Bedeutung ich der Kassen¬
organisation für den mir am Herzen liegenden Kampf gegen
die Geschlechtskrankheiten beimesse, und ich bitte fernerhin in
meinem Referate einen Ausdruck meiner Hochachtung vor
den sozialen Leistungen der Krankenkassen und meiner
Bewunderung für die selbstlose Hingabe der Männer, die
für diese Organisation arbeiten und wirken, zu erblicken. Und
wenn ich bedenke, daß die ganze Institution trotz ihrer Jugend
so eminente Leistungen schon heute aufweist, so glaube ich mit
Zuversicht die Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß die Wirk¬
samkeit der Krankenkassen in den nächsten Jahren und
Jahrzehnten noch ganz andere staunenswerte Erfolge
für die Wohlfahrt des arbeitenden Volkes und damit
unseres ganzen Vaterlandes zeitigen werde!
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 231
Leitsätze.
L
1. Es ist zu verlangen — eventuell (nach Blaschko) gesetzlich
zu bestimmen —, daß die Kassen ihre Organisation zur Herstellung
einer brauchbaren Statistik über die Verbreitung der Geschlechts¬
krankheiten verwenden.
Eine solche Statistik läge nicht nur im eigenen Interesse der
Kassen, die nur durch sie ein richtiges Bild von dem Umfang der
den Geschlechtskranken zugewendeten und zuzuwendenden Kassen¬
leistungen gewinnen können, sondern auch im allgemeinen Interesse;
denn die Resultate einer guten Statistik, welche sich auf viele
hunderttausend Personen beziehen würde, könnten allein die gesetz¬
gebenden Körperschaften, Verwaltungsbehörden, wie auch die
hygienisch-medizinische Forschung zu einem Urteil über Wert oder
Unwert irgend welcher zur Bekämpfung der venerischen Krank¬
heiten durchgeführten Maßregeln in den Stand setzen.
2. Die Statistik müßte nach einem einheitlichen, für alle
Kassen gleichen von Ärzten und Verwaltungsbeamten entworfenen
Schema hergestellt werden. In diesem Schema wären einzeln zu
berücksichtigen:
a) Geschlecht,
b) Familienstand,
c) Berufsart und
d) Art der Erkrankung unter Sonderung der drei venerischen
Krankheiten und Berücksichtigung der Frische, Ansteckungs¬
fähigkeit und etwaigen Komplikationen.
Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten wird sicherlich bereit sein, ein möglichst einfach zu
haltendes Schema für die in die Statistik aufzunehmenden ärzt¬
lichen Fragen zu entwerfen.
3. Es sind gesetzliche Vorschriften anzustreben, durch welche
die strengste Geheimhaltung der ärztlichen, die Krankheit betreffen¬
den Angaben seitens der Kassenverwaltungen gesichert wird.
Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, sollten die Kassen
ihrerseits auf die Geheimhaltung der ärztlicherseits ihnen zu¬
gegangenen Mitteilungen strengstens Bedacht nehmen.
4. Im Hinblick auf die Zweifel, die bei der Auslegung des
§ 300 StG.B. entstanden sind, sollten die Verwaltungen die ein¬
tretenden Mitglieder nach Möglichkeit veranlassen, die Kassenärzte
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232
Neiaser.
ein für allemal zur ärztlichen Auskunftserteilung an die Kassen¬
verwaltung zu ermächtigen.
n.
Die Kassen sollen durch Wort und Schrift Aufklärung und
Belehrung über die Gefahren des außerehelichen Geschlechts¬
verkehres und über die Bedeutung der Geschlechtskrank¬
heiten unter ihren Mitgliedern verbreiten. Besonders sollten die
Mitglieder beim Eintritt in die Kasse, beim Ausscheiden, sowie
durch die Kassenärzte bei etwaigen Beratungen durch überreichen
eines „Merkblattes“ auf die Gefahren der Geschlechtskrankheiten
hingewiesen werden.
Vorträge sind getrennt für Männer und Frauen zu halten.
m.
Alle Bestrebungen, die auf Schutz der heranwachsenden
Jugend vor sittlichem Verfall und vor übermäßigem und vor¬
zeitigem Geschlechtsverkehr abzielen — wie z. B. die Beseitigung
des Schlafgängerwesens durch Erbauung von Ledigenheimen, die
Einführung obligatorischer Fortbildungsschulen u. dergl. — sind
auf jegliche Weise, teils durch finanzielle Förderung, teils durch
Agitation zu unterstützen.
IV.
Die Frage, ob und in welcher Weise Belehrung über die
Maßnahmen zur Verhütung geschlechtlicher Ansteckung unter
den Mitgliedern der Kassen verbreitet werden soll, wird weiterer
Erwägung bedürfen.
V.
Krankenhausbehandlung ist unter allen Umständen das
ideale Mittel zu schneller Herbeiführung der Heilung im Interesse
des einzelnen und zur Beseitigung der Ansteckungsfähigkeit im
Interesse der Allgemeinheit. Da die vollständige Durchführung
dieser Methode aber kaum möglich und tatsächlich auch nicht
für alle Fälle notwendig ist, so soll Krankenhausbehandlung
eintreten in allen Fällen, in denen
1. der Arzt,
2. die Kasse, bezw. der Kassenkontrolleur sie für erforder¬
lich hält,
3. der Kranke die Aufnahme in ein Krankenhaus wünscht.
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 233
Bei der Entscheidung der Frage, ob Krankenhausbehandlung
nötig, wird man prüfen müssen:
a) ob die Art der Erkrankung Krankenhausbehandlung un¬
erläßlich macht. Es könnten für die Ärzte bestimmte
Direktiven nach dieser Richtung hin je nach dem Stand¬
punkt der ärztlichen Wissenschaft durch eine ärztliche
Vertrauenskommission gegeben werden;
b) ob bei nicht unbedingter Notwendigkeit der Krankenhaus¬
behandlung Gewähr dafür gegeben ist, daß die Behandlung
außerhalb des Krankenhauses pünktlich und sorgsam durch¬
geführt wird;
c) ob je nach den Wohnungs- und Lebensverhältnissen des
Kranken und nach dem Grade seiner individuellen Zu¬
verlässigkeit und Geneigtheit, sich den Anordnungen des
Arztes betreffs Behandlung und Geschlechtsverkehr zu
unterwerfen, anzunehmen ist, daß für die Umgebung des
Kranken oder für die Allgemeinheit Ansteckungsgefahr
besteht.
Die Kassen haben durch Strafvorschriften dafür zu sorgen,
daß innerhalb des Hospitals die Kranken sich den bestehenden
Hausordnungen und den ärztlichen Vorschriften — auch betreffs
der Dauer der Hospitalbehandlung — unterwerfen, während auf
der anderen Seite als selbstverständlich angenommen wird, daß
den Geschlechtskranken in allen Eirankenhäusern volle Gleich¬
stellung mit anderen Kranken zu teil wird.
Um den Kassen die Durchführung der Krankenhausbehandlung
zu ermöglichen, sind ihnen seitens der Krankenhausverwaltungen
möglichst billige Verpflegungssätze zuzugestehen.
VI.
Um eine sachgemäße Behandlung der außerhalb von
Krankenhäusern zu behandelnden Mitgliedern zu sichern, haben
die Kassen
1. für ärztliche Behandlung durch gute, zuverlässig ausgebildete
Spezialärzte zu sorgen. Es ist eine Höchstzahl der von
einem Arzt zu versorgenden Kranken festzusetzen;
2. weiblichen Mitgliedern weibliche — spezialärztlich geschulte
— Arzte zur Verfügung zu stellen;
3. männliche und weibliche Krankenkontrolleure anzustellen,
um durch Besuche in den Wohnungen festzustellen, ob —
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234
Neisser.
namentlich bei Verheirateten und Erwerbsunfähigen — die
ärztlicherseits für die Behandlung und betreffs der Lebens¬
weise erteilten Vorschriften befolgt werden und ob unter
den häuslichen Verhältnissen des Kranken die Behandlung
zum Vorteil des Erkrankten und ohne Nachteil für dessen
Umgebung durchgeführt werden kann;
4. Strafen für Nichtbefolgung der ärztlichen Vorschriften fest¬
zusetzen und die diesbezüglichen Vorschriften bei Beginn
der Behandlung dem Kranken jedesmal besonders bekannt
zu geben.
VIL
Die Kassen sollen die aus der Kasse ausscheidenden Mit¬
glieder ausdrücklich auf ihr Recht, noch innerhalb der nächsten
drei Wochen die Hilfe der Kassen in Anspruch nehmen zu dürfen,
hinweisen.
VIII.
Überall sollten die Kassen auch die Familienmitglieder
ihrer Versicherten mit versorgen. Die leider nicht seltenen, meist
von den Männern ausgehenden, geschlechtlichen Ansteckungen in der
Ehe lassen auch vom Standpunkte der Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten ein solches Vorgehen als sehr wünschenswert erscheinen.
IX.
Da zu befürchten steht, daß mit Rücksicht auf die vom
1. Januar 1904 an eintretende Erhöhung der seitens der Kassen
den Mitgliedern zu gewährenden Leistungen viele Kassen aus
finanziellen Gründen ihre Leistungen auf das gesetzliche Minimum
beschränken und namentlich auch die gerade bei Geschlechts¬
krankheiten so erwünschte Krankenhausbehandlung nach Möglich¬
keit vermeiden werden, so ist entweder staatliche Subvention
oder noch besser die Bildung großer örtlicher Verbände
anzustreben, damit eine größere finanzielle Leistungsfähigkeit auch
im Interesse einer möglichst energischen Behandlung der Geschlechts¬
krankheiten erzielt wird.
X.
Die Einführung einer regelmäßigen jährlich ein- bis
zweimal stattfindenden ärztlichen Untersuchung aller
Kassenmitglieder ist anzustreben, weil eine solche nicht nur
zur Aufdeckung beginnender Herz-, Lungen-, Nierenleiden, Zucker-
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 235
krankheit u. s. w., sondern auch zur Erkennung sehr vieler, den
Kranken ganz unbekannter oder von ihnen falsch gedeuteter ge*
schlechtlicher Erkrankungen führen wird.
Die Kassenärzte könnten ferner verpflichtet werden, jeden
sich ihnen vorstellenden Kranken in geeigneter Form nach vor*
handenen oder überstandenen Geschlechtskrankheiten zu fragen
und für etwa notwendige Behandlung zu sorgen.
XL
Behufs Durchführung der vorstehend empfohlenen sowie anderen
notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten müssen die Kassen ermächtigt werden, alle für die
hygienische Wohlfahrt ihrer gesunden und kranken Mitglieder
und sonstigen Zwecke der Krankheitsprophylaxe notwendigen Auf¬
wendungen zu machen (Blaschko).
Nachtrag.
Im Anschluß an den gehaltenen Vortrag entwickelte sich eine
sehr lebhafte Debatte. Mit größter Befriedigung kann ich kon¬
statieren, daß alle Redner sich ohne Ausnahme den von mir ge¬
machten Ausführungen im Prinzip anschlossen und einen weit¬
gehenden Vertrieb des Vortrags für wünschenswerterklärten.
Folgende Punkte möchte ich noch besonders hervorheben:
These I. Statistik. Prinz-Kottbus glaubt nicht, daß der in
Absatz 4 ausgesprochene Wunsch technisch sich durchführen lasse
und stellt folgenden Antrag: „Der Ortskrankenkassentag in Breslau
sieht im Anschluß an die Ausführungen des Vortragenden den
Mitteilungszwang der Kassenärzte an die Ortskrankenkassen als
unbedingt notwendig an, wenn in eine wirksame Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten seitens der Ortskrankenkassen eingetreten
werden soll. Er beauftragt den Zentralverband, an maßgebender
Stelle dahin vorstellig zu werden, daß die Ärzte gegenüber
den Ortskrankenkassen von der Wahrung des Berufs¬
geheimnisses (§ 300 des Strafgesetzbuches) entbunden,
dagegen die Strafbestimmung des § 300 des Strafgesetz¬
buches auf die Kassenorgane im Interesse der Ver¬
sicherten ausgedehnt werde.“
Der Antrag wird einstimmig 1 ) von der Versammlung an-
*) Es waren in der Versammlung 116 Kassen mit 1955550 Mitgliedern
vertreten.
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236
Neisser.
genommen. Kohn-Berlin wünscht zur Herbeiführung einer sicheren
Statistik die Einführung eines sogenannten „Schlußscheines“ in
der Weise, daß die Arzte erst nach Beendigung der Krank¬
heit der Kasse die Mitteilung über die Krankheit, Diagnose usw.
geben müßten.
Alle die auf erhöhte Leistungen seitens der Krankenkasse^
ausgehenden, in den Thesen niedergelegten Maßregeln werden
als berechtigt und durchaus wünschenswert von allen
Rednern anerkannt, aber dabei betont, daß solche erhöhte
Leistungen nicht möglich seien, wenn überall die Ortskrankenkassen
durch Errichtung von Betriebskrankenkassen, durch Erschwerung
der Zentralisation usw. gehemmt werden. Speziell die in
These YIU aufgestellte Forderung, auch die Familienmitglieder
mit zu versorgen, ließe sich in der Praxis, solange noch Betriebs¬
krankenkassen beständen, nicht ohne ungerechte Belastung der
Ortskrankenkassen anwenden, da immer nur die ledigen Mitglieder
in die Betriebskrankenkasse aufgenommen würden, und die Orts¬
krankenkassen zur Aufnahme der verheirateten Mitglieder übrig
blieben.
Allseitig wird die obligatorische Versicherung der Dienstboten
als ganz besonders dringend betont. Ich kann mich dieser
Forderung nach jeder Richtung hin anschließen; denn es
vergeht kein Tag, indem wir nicht im klinischen Betrieb sehen,
wie venerisch erkrankte Dienstboten sofort von der Dienstherrschaft
entlassen und ohne jeden Rückhalt geradezu auf die Straße gesetzt
werden. Stellen doch auch die Dienstboten das Hauptkontingent
für die Prostitution!
These V. Die Bedeutung der Krankenkontrolleure wird an¬
erkannt, aber betont, daß man in der Auswahl der Persönlichkeit
zu diesem Amt sehr vorsichtig sein müsse. Besonders Kohn-
Berlin weist auf die großen Erfolge, die die Berliner Ortskranken¬
kasse der Kaufleute mit ihrer Wohnungserhebung gehabt hatte, hin.
These VT. Die aufgestellte Forderung nach spezial-ärztlicher
Behandlung wird, zumal für die städtischen Verhältnisse, anerkannt,
aber ihre Durchführung auf dem Lande für unausführbar erklärt.
Tatsächlich aber spielen die Geschlechtskrankheiten auf dem Lande
eine so geringe Rolle, daß dort sehr wohl auf die Anstellung von
Spezialärzten verzichtet werden kann.
Zu These VH wird bemerkt, daß die Durchführung dieser
Forderung praktisch kaum möglich sei, wichtig aber würde sein.
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 237
schon die Fortbildungsschüler über die hauptsächlichsten Be¬
stimmungen des Krankenkassengesetzes aufzuklären.
These X. Obgleich die Durchführung einer regelmäßigen,
jährlich ein- bis zweimal stattfindenden Untersuchung
aller Kassenmitglieder wohl Millionen kosten würde, wird
dieselbe doch als so wichtig und wünschenswert erklärt, daß die
Versammlung auf Antrag von Graef-Frankfurt a* M. einstimmig
beschließt, diese Frage auf die Tagesordnung des nächsten Verbands¬
tages zu setzen.
Zu These XI wird verlangt, daß den Krankenkassen gleiche
Rechte wie den Berufegenossenschaften eingeräumt werden müßten,
damit die Kassen befugt wären, Krankheitsverhütungs¬
vorschriften zu erlassen.
Statistisches.
Im XX. Ergänzungsheft der Zeitschrift des Königl. preußischen
statistischen Bureaus gibt Gutstadt folgende hier interessierende
Zahlen:
Venerische Erkrankungen
unter den Mitgliedern des Ge werkskranken Vereins in Berlin.
- - — - - - - -
- —
— - —
- - —
--
--
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
' - -- -- - •- •• - ••
- ^
- -
- —
■=
™ %
Zahl der Mitglieder
'i
ii
überhaupt . . .
205 644
189 894
85 919
92 053
93 323
98 285
106 085
135 930
Zahl der Erkrankten
9 284
9 354
4 230
4 375
5 324
5 317
6 221
Proz. aller Mitglieder
! 4,51
4,93
4,91
4,75
5,70
5,40
5,86
5,76
Zahl der männlichen
Mitglieder . . .
!
] 162 675
!
145 330
1
74 312 i 78 086
78 091
81 148
86 666
94 026
Zahl der erkrankten
männlichen Mit¬
glieder . . . . i
! 7 986
7 994
4 123
4 287
5 116
5 023
5 959
Prozent aller männ- .
liehen Mitglieder
4,90
5,50
5,54
5,49
6,55
6,18
6,97
6,89
Zahl der weiblichen
1
Mitglieder . . . i
i 42 969
44 564
11 607
13 967
15 232
17 137
19 419
41904
Zahl der erkrankten
weiblichen Mit¬
|
glieder ....
1 298
1 360
107
88
208
294
262
Prozent aller weib¬
lichen Mitglieder
j 3,02
3,05
0,92
0,63
1,36
1,13
1,34
1,00
Zeilsohr. C Beklmpfang <L Geschlechtskrankh. IL IS
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238
Neisser.
Venerische Erkrankungen unter den Mitgliedern der
Krankenkassen der Stadt Berlin.
j
1895
1896
1897
Anzahl der Kassen.
72
68
62
„ „ Mitglieder überhaupt ....
241528
245203
251255
„ „ Erkrankten.
469
881
438
Von 10 000 Mitgliedern erkrankten ....
19,41
35,93
17,43
Anzahl der männlichen Mitglieder ....
172268
176132
180233
„ „ erkrankten männlichen Mitglieder
425
793
377
Von 10000 männlichen Mitgliedern erkrankten
24,67
45,02
20,92
Anzahl der weiblichen Mitglieder ....
69260
69071
71022
„ „ erkrankten weiblichen Mitglieder
44
88
61
Von 10000 weiblichen Mitgliedern erkrankten
6,35
12,74
8,59
Krankenkassen in Frankfurt a. Main.
1896
Anzahl der Mitglieder überhaupt.61950
„ „ Erkrankten. 2011
Von 10000 Mitgliedern erkrankten • . . i 824,62
Anzahl der männlichen Mitglieder . . . . I 45760
„ „ erkrankten männlichen Mitglieder ' 1498
Von 10000 männlichen Mitgliedern erkrankten 326,27
Anzahl der weiblichen Mitglieder. i 16190
„ „ erkrankten weiblichen Mitglieder i 518
Von 10000 weiblichen Mitgliedern erkrankten 319,95
Erwerbsfähig blieben von 100 Erkrankten . . 75,98
von 100 männlichen Mitgliedern. . 79,71
von 100 weiblichen Mitgliedern . . 65,06
Venerische Erkrankungen unter den Mitgliedern der
Krankenkassen in Halle a. S.
1897 | 1898 | 1899
Anzahl der Kassen.I
38 1
88
38
„ „ Mitglieder überhaupt ....
22060
22778
23897
„ „ Erkrankten.
266 1
244
257
Von 10000 sämtlicher Mitglieder erkrankten
120,58
107,12
107,54
Anzahl der erkrankten männlichen Mitglieder
249
226
238
„ „ „ weiblichen „
i n ;
18
i 19
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 239
Oberschlesischer Knapp Schafts verein.
1896
1897
i 1898
a) Hüttenbetrieb:
1
Anzahl der Mitglieder Überhaupt . .
. . 7214
7 798
8854
„ „ Erkrankten.
• • 42
26
84
Von 10000 Mitgliedern erkrankten . .
. . 58,22
83,37
40,70
b) Bergbaubetrieb:
Anzahl der Mitglieder überhaupt . .
. . 65525
67724
70724
„ „ Erkrankten.
. . 140
171
128
Von 10000 Mitgliedern erkrankten . .
. . 21,36
25,25
18,10
c) Zusammen:
Anzahl der Mitglieder überhaupt . .
u i | 72739
75517
79078
„ „ Erkrankten.
. . j; 182
197
162
Von 10000 Mitgliedern erkrankten . .
. . 25,02
26,09
20,49
Dem Bericht des Dr. Richard Otto, Leipzig, entnehme ich:
„Die Verwaltung unserer Leipziger Ortskrankenkasse hat es
sich nun angelegen sein lassen, um wenigstens annähernd ein ört¬
liches Bild und einen Überblick über die venerischen Erkrankungen
ihrer Mitglieder zu gewinnen, eine Statistik betreffend das Jahr 1898
aufzustellen.
Ich gebe dieselbe in Nachstehendem wieder und bemerke zu¬
gleich, daß es sich nur um Minimalziffern handeln kann, da bis
jetzt bestimmte Maßnahmen hierfür noch nicht eingeflihrt sind.
Die Mitgliederzahl unserer Kasse betrug am 31. Dezember 1898
123345, und zwar männlich 93684, weiblich 29661 und die Dauer
der Krankenunterstützung 34 Wochen.
Mitglieder
männlich
weiblich
Als geschlechts¬
krank sur Kennt¬
nis der Ver¬
waltung
gelangten
Davon
waren
erwerbs¬
unfähig
Dem Kran¬
kenhaus«
wurden
überwiesen
Im Bes
Tripper
on deren
Schanker
litten an
Syphilis
7858 (6,4®/,)
311
133
2305
560
915
7218 (4,9®/,)
254
87
2292
554
790
640 (1,5®/,)
57
46
13
6
125
Die Kurkosten für geschlechtskranke Mitglieder betrugen:
40531 Mk. 74 Pf., männl. 37441 Mk. 98 Pf., weibl. 3089 Mk. 76Pf.
In dem vorstehend schätzungsweise berechneten Kostenbeträge
ist das Arzthonorar mit inbegriffen und sei hier erwähnt, daß unsere
Ortskrankenkasse ihre Kassenärzte in der Haupts^he aus einer
jährlichen Pauschalsumme pro Kopf der Mitgliederzahl und ent¬
sprechend der Einzelleistung bezahlt“
18 *
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240
Neisser.
Dem Bericht von Dr. Julius Rohn, Frankfurt a. M., entnehme ich:
„Es sind an der Ortskrankenkasse im Jahre 1902 201 allge¬
meine Ärzte und 11 Spezialärzte für Haut- und Geschlechtskrank¬
heiten tätig gewesen; die Mühe war zu groß und die Zeit zu kurz,
um die Diagnose der ungenau gemeldeten Fälle bei den Kollegen
festzustellen.
Ich habe deshalb auch alle unbestimmten Angaben für die
Statistik nicht verwertet, als da sind: Hautkrankheit, Hautausschlag,
Zungenerkrankung, Zungengeschwür, Harnbeschwerden, Hoden¬
schwellung, Blasenerkrankung, Blasenleiden.
Dagegen habe ich die Angabe „Harnröhrenkatarrh“ oder
„Harnröhrenentzündung“, zu den Trippererkrankungen gerechnet,
weil ich annehme, daß in den meisten Fällen eine mikroskopische
Untersuchung nicht stattgefunden hat und weil schließlich die
„Hararöhrenkatarrhe“, die keine Gonokokken zurzeit aufweisen, als
nicht harmlose Nachkrankheiten des Trippers aufzufassen sind.
Aus dem gebotenen Material konnte man 5 Rubriken absondern:
1. Tripper und Harnröhrenentzündung;
2. Tripper mit Hodenentzündung;
3. Weicher Schanker;
4. Harter Schanker und Syphilis überhaupt;
5. Tripper und Schanker zur gleichen Zeit.
Von einer Anzahl männlicher Mitglieder, von 47 159 als
Durchschnittszahl, sind an Geschlechtskrankheiten erkrankt im
ganzen 2052 Männer = 3,27 °/ 0 der Gesamterkrankten.
Aus folgender Tabelle sind die näheren Details zu ersehen:
Krankheit
Tripper und Harnröhren¬
entzündung .
Tripper und Hodenent¬
zündung .
Weicher Schanker . . .
Harter Schanker und über¬
haupt Syphilis ....
Tripper und Schanker zu
gleicher Zeit ....
Fälle
1
Krankheitstage
Zu-
sam-
Erwerbs¬
fähig
Erwerbs- j
unfähig |
haus¬
krank
hospital¬
krank
men
led.
verh.
led.
verh. |
Tage
Tage
1504
|
1159
|
f
j 156
163
26
|
923
4175
113
1
32
11
44
| 26
918
1029
10
1 5
1 1
2
! 2
19
145
361
215
' 60
j
63
23
j
597
202S
64
35
5
24
113
616
2052
1446
' 283
296
77 1
1 2570
7993
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 241
Die Krankheitstage der Erwerbsunfähigen im ganzen für alle
5 Rubriken betrugen 10563, von denen 2570 auf das Haus, 7993
auf das Hospital entfallen.
Die Anzahl der im Hospital Behandelten beträgt im ganzen
198; von diesen entfallen auf Erkrankte an:
1. Tripper.=84
2. Tripper und Hodenentzündung = 28
3. Weicher Schanker . . . . = 4
4. Syphilis.=64
5. Tripper und Syphilis . . . . = 18
1987
An Krankengeldunterstützung wurden für die hier in Betracht
kommenden 2570 Krankheitstage (Hauskranke) Mk. 5011,50 auf¬
gewendet, für die 7993 Krankheitstage (Hospitalkranke) wurden
zunächst an Verptiegungskosten Mk. 11989,50, an Krankengeld¬
unterstützung für Verheiratete Mk. 1402, für Ledige Mk. 1894,20
aufgewendet, also im ganzen an Krankengeld und Verpflegungs¬
kosten Mk. 20297,20.
Von den weiblichen Mitgliedern waren, soweit sich aus Krank¬
meldungen und Rückfragen bei den Ärzten feststellen ließ, 301
an Geschlechtskrankheiten — Tripper, Nachkrankheiten desselben
und Syphilis — erkrankt. Die Gesamtzahl der im Jahre 1902 —
von den 16497 weiblichen Mitgliedern als Durchschnittszahl — ge¬
meldeten Erkrankungsfälle beträgt 28120. Danach ergeben sich
für die in Rede stehenden Erkrankungen 1,07 °/ 0 der Erkrankungen
überhaupt
Die einzelnen Erkrankungen und die näheren Daten ergeben
sich — soweit sie zur Kenntnis gelangten — aus folgender
Tabelle:
Fälle
Krankheitstage
Krankheit
Zn-
Erwerbs-
Erwerbs-
haus-
hospital-
sam-
fähig
unfähig
krank
krank
! men
led. | verh.
led.
verh.
Tage
Tage
;i) Gonorrhoische Er¬
!
krankungen.
Eierstockentzündung . .
42
22 1
14
5
388
82
Gebärmutterhalskatarrh
26
20 1
4
1 j 1 14
76
Gebärmutterkatarrh und
Entzündung.
30
14 3 j
11
2 :
196
105
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242
Neisser.
Fälle
| Krankheitstage
Krankheit
Zu-
sam-
Erwerbs-
Erwerbs-
haus-
hospital-
fähig
unfähig
krank
krank
men
led.
verh.
led. 1
verh. |
Tage
Tage
Harnröhrenentzündung. .
80
48 1
5 1
24 |
3.
507
588
Scheidenkatarrh ....
57
44
3
8
2
210
—
b) Syphilitische Er¬
krankungen.
Primäre, sekundäre und
tertiäre Syphilis . . .
69
29
15
20
i 5
152
i
j 527
1 304
| 177
i 28 ;
81
l 18 ,
j 1467
J 1378
Was die der Krankenkasse verursachten Kosten betrifft, so
waren für 1467 Krankheitstage der Hauskranken erforderlich
Mk. 2860 an Krankengeld; für 1378 Verpflegungskosten im Hospital
Mk. 2067 und Krankengeld Mk. 544 = Mk. 2611.
Zum erstenmal wird hier eine Statistik über Geschlechts¬
krankheiten bei einer größeren Krankenkasse veröffentlicht; es hat
sich bei der Bearbeitung des Materials ergeben, daß infolge der
bereits anfangs erwähnten ungenauen Krankheitsbezeichnung von
seiten der Ärzte, und infolge beabsichtigter Verheimlichung von
seiten der Mitglieder ein ganz genaues Bild festzustellen unmög¬
lich war/ 4
Au b dem Krankenversicherungsgesetz
in der Fassung der Gesetze vom 10. April 1892, 30. Juni 1900
und 25. Mai 1903 mit Nebengesetzen und Ausführungsbestimmungen.
Nebst Bemerkungen und Erläuterungen von Regierungsrat A. Düttmann.
Altenburg, S.-A. 1908. Stephan GeibeL)
Gemeindekrankenversicherung. Freie Behandlung und
Krankengeld.
§ 6. (I.) Als Krankenunterstützung ist zu gewähren:
1. vom Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei,
sowie Brillen, Bruchbänder und ähnliche Heilmittel;
3. im Falle der Erwerbsunfähigkeit vom dritten Tage nach dem
Tage der Erkrankung ab für jeden Arbeitstag ein Krankengeld in Höhe
der Hälfte des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter.
(II.) Die Krankenunterstützung endet spätestens mit dem Ablauf
der sechsundzwanzigsten Woche nach Beginn der Krankheit, im
Falle der Erwerbsunfähigkeit spätestens mit dem Ablauf der sechsund¬
zwanzigsten Woche nach Beginn des Krankengeldbezuges. Endet der
Bezug des Krankengeldes erst nach Ablauf der sechsundzwanzigsten
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Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 243
Woche nach dem Beginn der Krankheit, so endet mit dem Bezüge
des Krankengeldes zugleich auch der Anspruch auf die im Abs. I unter
Ziffer 1 bezeichnten Leistungen.
4. Die ärztliche Behandlung ist in natura zu gewähren, und
zwar regelmäßig durch einen approbierten Arzt (nötigenfalls auch
durch einen Spezialarzt), und abgesehen von den Fällen des § 57 a
am Beschäftigung8- oder Wohnorte des Erkrankten (vergl. A. 2).
Wenn nicht Kassenärzte an gestellt sind, kann in der Regel nur
Behandlung d^rch Arzte, welche sich mit den üblichen Honorar¬
sätzen — nach den Gebührenordnungen haben die Krankenkassen,
vorbehaltlich abweichender Vereinbarungen und besonderer Um¬
stände, nur die Minimaltaxe zu vergüten — beansprucht werden.
Für einzelne Leistungen (z. B. Ausziehen und Plombieren schad¬
hafter Zähne, Massieren, Erneuerung von Verbänden) können
übrigens auch die Dienste von Zahntechnikern, Hebammen und
sonstigen Heilgehilfen in Anspruch genommen werden. Es darf
(nicht muß) auf Wunsch des Kranken im Einzelfalle auch ein
Nichtapprobierter (Naturheilkundiger usw.) herangezogen und dann
auf dessen Bescheinigung das Krankengeld ausgezahlt werden. Als
Kassenärzte können jedenfalls nur approbierte Ärzte angenommen
werden.
§ 6a. (I.) Die Gemeinden sind ermächtigt, zu beschließen:
5. daß Versicherten auf ihren Antrag die im § 6 Abs. 1
Ziffer 1 bezeichneten Leistungen auch für ihre dem Krankenver¬
sicherungszwange nicht unterliegenden Familienangehörigen zu ge¬
währen sind.
(H.) Die Gemeinden sind ferner ermächtigt, Vorschriften über die
Krankenmeldung, über das Verhalten der Kranken und über die Kranken¬
aufsicht zu erlassen und zu bestimmen, daß Versicherte, welche diesen
Vorschriften oder den Anordnungen des behandelnden Arztes zuwider¬
handeln, Ordnungsstrafen bis zum dreifachen Betrage des täglichen
Krankengeldes für jeden einzelnen Übertretungsfall zu erlegen
haben. Vorschriften dieser Art bedürfen der Genehmigung der Auf¬
sichtsbehörde.
8. Der Arzt, der die Krankheitsursache der Krankenkasse mit¬
teilt, handelt nicht gegen § 300 StG.B.
9. Geschlechtskranken darf nach der Novelle von 1903
das Krankengeld vom 1. Januar 1904 ab nicht mehr vorenthalten
werden. Der Grund für diese Änderung war die gründlichere (Be¬
handlung) Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Interesse
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244
Neisser.
des Gemeinwohls. Es wird übrigens in der Regel auf Grund
des § 7 Krankenhausbehandlung angeordnet werden müs¬
sen, um den Erfolg zu sichern.
Zu 11—17. Die Strafen konnten bislang bis 20 M. betragen.
Andere Nachteile — Entziehung des Krankengeldes usw. — dürfen
nicht ausgesprochen werden; dagegen ist Anordnung von Kranken¬
hausbehandlung zulässig (§ 7). Es handelt sich um Ordnungs¬
strafen, die von dem zuständigen Gemeinde- (oder Krankenkassen-)
Organ nach pflichtmäßigem Ermessen erkannt werden können.
Wegen der Beschwerde gegen die Strafverfügungen vergl. § 76e.
Die Strafen können nicht im Verwaltungswege beigetrieben
(§ 55), auch nicht in Haft verwandelt, aber durch Aufrechnung mit
dem Krankengelde eingezogen werden. (§ 56 Abs. 2).
18. Das Verhalten des Kranken darf nur, soweit es auf die
Krankheit von Einfluß ist — Wirtshausbesuch, Alkoholgenuß, Be¬
folgung der ärztlichen Anordnungen — Gegenstand der Vor¬
schriften sein. — Die Krankenaufsicht fordert Zulassung des
Krankenkontrolleurs, der Untersuchung — aber nicht der Behand¬
lung — durch den Kassenarzt, richtige Auskunftserteilung usw.
19. Wegen der Genehmigung bestimmt die preuß. Ausf.-
Anw. unter Z. 11:
Gemeindebeschlüsse, welche Vorschriften über die Krankmel¬
dung, über das Verhalten der Kranken und über die Krankenauf¬
sicht enthalten (§ 6 a Abs. 2) oder die daselbst zugelassenen Ord¬
nungsstrafen androhen, sind mit den erforderlichen Nachweisen über
das ordnungsmäßige Zustandekommen dieser Beschlüsse der Auf¬
sichtsbehörde zur Genehmigung einzureichen.
§ 7. (I.) An Stelle der im § 6 vorgeschriebenen Leistungen kann
freie Kur- und Verpflegung in einem Krankenhause gewährt werden,
und zwar:
1. für diejenigen, welche verheiratet sind, oder eine eigene Haus¬
haltung haben, oder Mitglieder der Haushaltung ihrer Familien sind,
mit ihrer Zustimmung, oder unabhängig von derselben, wenn die
Art der Krankheit Anforderungen an die Behandlung oder
Verpflegung stellt, welchen in der Familie des Erkrankten nicht ge¬
nügt werden kann, oder wenn die Krankheit eine ansteckende ist, oder
wenn der Erkrankte wiederholt den auf Grund des § 6a Abs. 2 er¬
lassenen Vorschriften zuwider gehandelt hat, oder wenn dessen Zustand
oder Verhalten eine fortgesetzte Beobachtung erfordert;
2. für sonstige Erkrankte unbedingt.
(II.) Hat der in einem Krankenhause Untergebrachte Angehörige,
deren Unterhalt er bisher aus seinem Arbeitsverdienst bestritten hat, so
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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 245
ist neben der freien Kur und Verpflegung die Hälfte des in § 6 als
Krankengeld festgesetzten Betrages für diese Angehörigen zu zahlen. Die
Zahlung kann unmittelbar an die Angehörigen erfolgen.
Auch für Orts-, Betriebs-, Bau- und Innungskrankenkassen und
für Knappschafts- und Hilfskrankenkassen (§ 75) gültig.
1. Die Anordnung der Krankenhauspflege liegt — vorbehalt¬
lich abweichender Bestimmungen im Kassenstatut — im freien
Ermessen der Verwaltung, welche nicht an das Gutachten
des Arztes gebunden ist, auch nicht im Beschwerdewege
gezwungen werden kann. Es liegt aber im dringenden Interesse
der Allgemeinheit, der Kranken und ihrer Angehörigen, daß in
allen geeigneten Fällen von der Befugnis Gebrauch gemacht werde,
da die vielfach ungünstigen WohnungsVerhältnisse und der Mangel
genügender Pflege die Genesung in der eigenen Wohnung er¬
schweren und die Weiterverbreitung der Krankheiten fördern.
Durch die Bereitstellung einer hinreichenden Anzahl von Betten
zu mäßigen Preisen sollte den Gemeindekassenbezirken und
Krankenkassen die Krankenhauspflege möglichst erleichtert werden.
Häufig wird ein intensives Heilverfahren auch das billigste sein,
weil es die Krankheitsdauer abkürzt und mehr gegen Rückfälle
schützt, Umstände, die nach Erstreckung der Unterstützungsdauer
auf 26 Wochen im erhöhten Grade ins Gewicht fallen.
Zu 1—2. Zur „freien Kur“ gehört alles, was unter § 6 Z. 1
fällt. Auch die notwendigen Transportkosten sind von der
Krankenkasse zu tragen. E.O.V.G. v. 17. Dez. 1891.
3. Die Einweisung kann von der Verwaltung selbst, oder
auch von einer dazu ermächtigten Person (Geschäftsführer, Kassen¬
arzt) in einer für den Kranken verbindlichen Weise ausgesprochen
werden. Solange der Kranke der Einweisung ohne rechtlichen
Grund nicht folgt, hat er keinen Anspruch auf anderweite Unter¬
stützung, auch nicht auf das Krankengeld gemäß Abs. 2.
§ 20. (I.) Die Ortskrankenkassen sollen mindestens gewähren:
1. im Falle einer Krankheit oder durch Krankheit herbeigeführten
Erwerbsunfähigkeit eine Kranken Unterstützung, welche nach §§ 6, 7, 8
mit der Maßgabe zu bemessen ist, daß der durchschnittliche Tagelohn
deijenigen Klassen der Versicherten, für welche die Kasse errichtet wird,
soweit er 4 Mk. für den Arbeitstag nicht überschreitet, an die Stelle
des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter tritt.
§ 21. (I.) Eine Erhöhung und Erweiterung der Leistungen der
Ortskrankenkassen ist im folgenden UmfaDge zulässig:
2. Das Krankengeld kann auf einen höheren Betrag, und zwar bis
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246
Neisser.
zu drei Viertel des durchschnittlichen Tagelohnes (§ 20) festgesetzt
werden; neben freier ärztlicher Behandlung und Arznei können auch
andere als die in § 6 bezeichneten Heilmittel gewährt werden.
2a. Neben freier Kur und Verpflegung in einem Kranken¬
hause kann, falls der Untergebrachte Angehörige hat, deren
Unterhalt bisher aus seinem Arbeitsverdienst bestritten wurde,
ein Krankengeld bis zur Hälfte des durchschnittlichen Tage¬
lohnes (§ 20) bewilligt werden.
3. Neben freier Kur und Verpflegung in einem Krankenhause kann
Krankengeld bis zu einem Viertel des durchschnittlichen Tagelohnes
(§ 20) auch solchen bewilligt werden, welche nicht den Unterhalt von
Angehörigen aus ihrem Lohne bestritten haben.
3 a. Für die Dauer eines Jahres von Beendigung der Krankenunter-
stützung ab kann Fürsorge für Rekonvaleszenten, namentlich auch Unter¬
bringung in einer Rekonvaleszentenanstalt, gewährt werden.
§ 26a. (ü.) Durch das Kassenstatut kann ferner bestimmt werden:
2a. daß Mitglieder, welche der gemäß Ziffer 1 getroffenen Be¬
stimmung oder den durch Beschluß der Generalversammlung über die
Krankenmeldung, das Verhalten der Kranken und die Kranken aufsich t
erlassenen Vorschriften oder den Anordnungen des behandelnden Arztes
zuwiderhandeln, Ordnungsstrafen bis zum dreifachen Betrage des
täglichen Krankengeldes für jeden einzelnen Übertretungs¬
fall zu erlegen haben.
§ 28. Personen, welche infolge eintretender Erwerbslosigkeit aus
der Kasse ausscheiden, verbleibt der Anspruch auf die gesetzlichen
Mindestleistungen der Kasse in Unterstützun gsfUllen, welche während der
Erwerbslosigkeit und innerhalb eines Zeitraumes von 3 Wochen nach
dem Ausscheiden aus der Kasse eintreten, wenn der Ausscheidende vor
seinem Ausscheiden mindestens 3 Wochen ununterbrochen einer auf
Grund dieses Gesetzes errichteten Krankenkasse angehört hat.
Literatur.
1. Das erste Arbeiterinnenheim in Berlin S.O. „Die Jugendfürsorge“
1908, 4. J.; H. 1, p. 85.
2. Azua, Dr., Madrid. Resultats th6rapeutiques et hygi6niques de l’hos-
pitalisation interne et externe des malades atteints d’affections cutan6es v£ne-
riennes et syphilitiques. XI. Internationaler Medizin. Kongreß. Rom 1894, Bd. V,
p. 230.
3. Blaschko,A. Referat, erstattet auf der II. internationalen Konferenz
z. Verhüt, der Syphilis etc. Brüssel 1902.
4. Blaschko, Dr. R., Berlin. Die Geschlechtskrankheiten, ihre Ge¬
fahren, Verhütung und Bekämpfung. Schriften der Zentral-Kommission der
Krankenkassen. Berlin 1900.
5. Blaschko, Dr. A., Berlin. Die Behandlung der Geschlechtskrank¬
heiten in Krankenkassen und Heilanstalten. Berlin 1890. Fischers Medizin.
Buchhandlung.
6. Eingabe der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten an den Bundesrat und Reichstag, betreffend Abänderung des
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Krankenkassen and Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. 247
Krankenversicherungsgesetzes. Mitteilungen der Deutsch. Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1902/03, Bd. 1, Nr. 4 und 5, p. 81.
7. Kampffmeyer, P., Tegel-Berlin. Das Wohnungselend der Gro߬
städte und seine Beziehungen zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten
und zur Prostitution. Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
1903, Bd. 1. Nr. 2, p. 145.
8. Kohn, Dr. med. Julius. Statistische Mitteilungen über die Ge¬
schlechtskrankheiten der Mitglieder der Allgemeinen Ortskrankenkasse zu
Frankfurt a. M. aus dem Jahre 1902. Festschrift zum I. Kongreß der
Deutschen Gesellsch. z. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Frank¬
furt a. M. vom 8.—10. März 1903. Frankfurt a. M. 1903. Johannes Alt
9. Krieke, Dr. med., Hannover. Krankenkassen und Volkshygiene.
Arbeiter-Versorgung Nr. 8, 1908.
10. Ledermann, Dr. R., Berlin. Über Arbeitsunfähigkeit geschlechts-
kranker Kassenmitglieder. Berlin 1895.
11. Ledermann, Dr. Reinhold, Berlin. Über Errichtung ambulanter
Behandlungsstätten für Syphilitisch-Kranke. Volkstümliche Zeitschrift für
praktische Arbeiterversicherung 1903, 9. Jahrg. Nr. 15, p. 255.
12. Neisser, A. Welche Maßregeln gesetzlicher Art können zur Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten ergriffen werden. Referat, erstattet auf
der II. internat. Konferenz z. Verhüt der Syphilis etc. Brüssel 1902 p. 23.
13. Neisser, A. Syphilisbehandlung im Krankenhause. „Die Kranken¬
pflege“ 1901, Bd. I. H. 2, p. 1.
14. Neisser, A. Geschlechtskrankheiten und Krankenkassen. Arbeiter-
Versorgung 1901 Nr. 4.
15. Neuberger, Dr. med., Nürnberg. Wie können die Ärzte durch Be¬
lehrung der Gesunden und Kranken der Verbreitung der Geschlechtskrank¬
heiten steuern? Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1903,
Bd. I. Nr. 2, p. 107.
16. Pfeiffer, Dr., Hamburg. Das Wohnungselend der großen Städte
und seine Beziehungen zur Prostitution und den Geschlechtskrankheiten. Zeit¬
schrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1903, Bd. I. Nr. 2, p. 135.
17. Otte, Dr. med. Richard. Welche Maßnahmen haben die Krankenkassen
des Deutschen Reiches auf Grund der Gesetzgebung zu treffen im Interesse
ihrer Mitglieder gegenüber ansteckenden Geschlechtskrankheiten. Leipzig 1899.
18. Saalfeld, E. Ein Beitrag zur sozialen Fürsorge für Geschlechts¬
kranke. Berl. klin. Wochenschr. 1908, pag. 896.
19. Errichtung Berliner Junggesellenheime zur Beseitigung des Schlaf¬
stellenwesens. „Soziale Praxis“ 1903, 12. J. Nr. 19, p. 513.
20. Uhl mann, Leipzig. Geschlechtskrankheiten und Krankenkassen.
Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten 1902, Bd. 1 , Nr. 3, p. 49.
21. Die Verbreitung der venerischen Krankheiten in Preußen sowie die
Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Krankheiten. Nach den Ergebnissen der
statistischen Erhebung am 30. April 1900 und nach anderen Nachrichten im
Aufträge des Herrn Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-An-
gelegenheiten bearbeitet von Prof. Dr. A. Guttstadt. Zeitschr. des Königl.
Preuss. Statist. Bureaus. Ergänzungsheft XX. Berlin 1901.
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Die Sexualhygiene des Alten Testamentes.
Von Dr. Wolzendorff (Wiesbaden).
(Schluß.)
II.
Im Innern des Volkes harrten nicht minder schwere Aufgaben, denn
infolge der eben geschilderten äußeren Einflüsse hatten Zuchtlosigkeit
und Ausschweifungen die Sitten verdorben, und es galt nun, dem ent¬
gegenzutreten und das Geschlechtsleben wieder in gesunde Bahnen zu
leiten.
Der erste, sehr glückliche Griff zu diesem Zwecke war die Be-
schneidung. Gott (El chadai) selbst hatte Abraham befohlen: „Alles,
was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Jedes Knäblein,
wenn es acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden. Das soll ein Zeichen
sein des Bundes zwischen mir und euch. Und wo ein Knäblein nicht
wird beschnitten, des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volke.“
(Gen. 17. 10—14). Ganz kurz, fast wie nebensächlich, wiederholt das
Gesetz den Befehl: „Am achten Tage soll man das Fleisch der Vorhaut
beschneiden (Leo. 12. 3). Und das erstreckt sich nicht bloß auf Volks¬
angehörige, sondern auch auf Fremdlinge, die am Passa-Mahl teilnehmen
oder in die Gemeinde aufgenommen werden wollen (Gen. 34. 10; Ex. 12. 48).
Es kann kaum zweifelhaft sein, daß Abraham die Operation schon
vorher kannte, denn sonst hätte ihm der göttliche Befehl ebenso unver¬
ständlich sein müssen, wie wenn man ihm etwa die Einführung der
obligatorischen Schutzimpfung aufgegeben hätte. Nun war die Beschneidung
längst vorher in Ägypten Brauch gewesen, und das konnte einem Mann
wie Abraham während seines dortigen Aufenthaltes ebensowenig entgangen
sein, wie der große Nutzen der Operation. Als er, dem göttlichen Be¬
fehle gehorchend, die Beschneidung zum ersten Male in Israel voraahm,
und zwar an sich, an seinem Sohne Ismael und an allem, was männlich
war in seinem Hause, war er neunundneunzig und Ismael dreizehn
Jahre alt. In Ägypten geschieht die Operation im späteren Lebensalter,
zwischen dem sechsten und vierzehnten Jahre; Ismael war dreizehn Jahre
als, und seine Mutter, die Hagar, war eine Ägypterin, deren Einfluß
wohl nicht von der Hand zu weisen ist.
Die Beschneidung ermöglicht in den meisten Fällen erst die sonst
nicht ausführbare, gerade für den Orient aber so sehr notwendige
Sauberkeit 1 ) und verhindert die durch Sekretverhaltung, Entzündung,
*) Anmerkung: „Die Geschlechtsteile beschneiden sie (die Ägypter) sich
der Reinlichkeit wegen und wollen lieber reinlich sein, denn wohlanständig.“
(Herodot 37. V. 36).
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Die Sexualhygiene des Alten Testaments.
249
Geschwürbildung und ähnliches bedingten Unannehmlichkeiten und Ge¬
fahren. Ihre Einführung war daher eine dem Volke erwiesene Wohltat.
Wenn jüdische Gelehrte behaupten, daß die Beschneidung „ähnlich wie
die Kastration bei Tieren das männliche Individuum von seinen stärksten
Trieben befreit“, daß durch sie der Geschlechtstrieb gedämpft und ge¬
hemmt und die Begehrlichkeit bei Mann und Frau herabgesetzt werde,
so daß Mäßigkeit und Keuschheit des geschlechtlichen Verkehrs die
Folge sei, so bin ich nicht in der Lage, das zu beurteilen. Soviel aber
ist sicher, daß die Beschneidung das Volk ebensowenig von den Mysterien
des Baal-Astarte-Dienstes, wie von sonstigen Ausschweifungen fern zu
halten vermocht hat. Jedenfalls hat der Gesetzgeber den gesundheitlichen
Wert der Beschneidung so hoch geschätzt, daß er die allgemeine Ein¬
führung zum Heile seines Volkes für ganz unerläßlich hielt. Deshalb
machte er sie zum Bundeszeichen und zum wichtigsten Ritual des Jahve-
Kultus.
Nach Herodot (II. 104) waren Kolcher, Ägypter und Äthioper
ursprünglich die einzigen Völker, die sich beschnitten. Die PhÖniker, die
Syrer und die Makroner sagen, sie hätten’s neuerlich von den Kolchern
gelernt. „Denn bei diesen Völkern allein ist die Beschneidung, und
diese tun’s den Ägyptern nach. Von den Ägyptern aber und den
Anthiopem kann ich nicht mit Gewißheit sagen, wer es von dem andern
gelernt hat, denn es ist offenbar eine uralte Sitte.“ Es ist nun selbst¬
verständlich, daß die Beschneidung als Bundeszeichen — für den
weiblichen Teil des Volkes gibt es ohnehin keines — für alle diese Völker
nicht gelten kann, sondern daß nur solche Völker in Betracht kommen,
die sich nicht beschneiden; das sind die Assyrer, Babylonier, Moabiter,
Ammoniter, vorzugsweise die den Israeliten so verhaßten Philister. Sie
auch werden besonders gern verächtlich als „Unbeschnittene“ bezeichnet,
und die Israeliten zählen die erschlagenen Philister nach Vorhäuten; so
brachte David dem König Saul als Siegestrophäe und „Morgengabe“
zweihundert Philister-Vorhäute, und „da gab ihm Saul seine Tochter
Michal zum Weib“ (I. Sam. 18. 27). Rätselhaft bleibt, warum Moses
den mit der Sipora gezeugten Sohn (nach Ap. Gesch. 7. 29 sind es deren
zwei) nicht schon in Mideam beschneiden ließ, und warum während
der vierzig Jahre der Wüsten Wanderung die Beschneidung überhaupt
unterblieb. Sonst beobachtet Israel im allgemeinen ^gewissenhaft den
heiligen Brauch, bis zur Zeit des Antiochus Epiphanes (175—164 vor
Chr.), der ihn verbot, und „die Weiber, die ihre Kinder beschnitten,
wurden getötet, wie Antiochus geboten hatte!“ (I. Makk. 1. 68). Viele
waren beständig und wollten nicht vom Gesetze abfallen, darum wurden
sie umgebracht (67). Viele aber „hielten die Beschneidung nicht mehr
und fielen ab vom heiligen Bunde (16). Ja, zur Zeit des Urchristentums
gab es deren, die sich des Beschnittenseins schämten oder aus Furcht
vor Spott durch allerlei Handgriffe den Schein des Nichtbeschnittenseins
zu erwecken suchten. Auf sie bezieht sich das Wort des Paulus: „Wer
beschnitten berufen ist, der ziehe keine Vorhaut (I. Kor. 7. 18). Damals
war zwischen Paulus und seinen Anhängern einerseits und den juda-
istischen Aposteln andererseits ein heftiger Streit entbrannt über die Frage,
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250
Wolzendorff.
ob die Heidenchristen beschnitten werden sollten oder nicht. Das zu
diesem Zwecke abgehaltene Apostelkonzil entschied diese wichtige Frage
im paulinischem Sinne (Apost.-Gesch. 15); andernfalles wäre die Be¬
schneidung damals ebenso vom Christentum übernommen, wie später der
Islam sie von den Arabern übernommen hat.
Sobald das Volk längere Zeit seßhaft geworden war und größere,
volkreichere Städte sich bildeten, entwickelte sich eine regelregte Pro¬
stitution, die in ihrem Gebahren und Auftreten der heutigen sehr
ähnelt. Aufgeputzt, im Dirnenschmuck — ich bediene mich biblischer
Ausdrücke — mit frecher, schamloser Stirn, mit unzüchtigem Gesicht
und Blick, so zieht die Buhlerin durch die Gassen der Stadt; bisweilen,
wenn es besonders lustig zuging, auch wohl mit Sang und Klang, die
Harfe in der Hand (Jes. 23. 16). So lockt sie den Mann, überredet ihn
mit vielen Worten und gewinnt ihn mit glattem Munde; er aber folgt
ihr alsbald nach, wie ein Ochs, der zur Fleischbank geführt wird (Spr. 7).
So geht's zu ihrem Hause; dort buhlen sie um eine Kanne Wein oder
um anderen Lohn. „Und ich — heißt es bei Hosea (3. 23) ward mit
ihr eins um fünfzehn Silberlinge und anderthalb Chomer Gerste“ — ein
hoher Preis, der aber auch seinen besonderen Grund hat; denn er sprach
zu ihr: „Halte dich mein eine Zeitlang und buhle nicht und laß keinen
andern zu dir.“ Damals wie heute verstand es die Prostituierte, den
Gimpeln Geld aus der Tasche zu ziehen. Darum „hänge dich nicht an
die Dirnen, daß du nicht um das Deine kommst“ (Sirach 9.6). „Laß
dich ihre Schöne nicht gelüsten in deinem Herzen und verfange dich nicht
an ihren Augenlidern, denn eine Dirne bringet einen um das Brot“
(Spr. 6. 25). Der Dirnen Mund ist eine tiefe Grube, und wem der Herr
ungnädig ist, der fällt darein (22. 14). Ihre Lippen sind süß wie Honigseim
und ihre Kehle ist glatter denn Öl. Aber hernach bitter wie Wermut
und scharf wie ein zweischneidig Schwert. Laß deine Wege fern von
ihr sein und nahe nicht der Tür ihres Hauses“ (Spr. 5).
Das Gesetz, das die kultische und profane Prostitution meist nicht
auseinander hält, so daß die Verbote für beide gelten, sagt in bezug auf
letztere: „Du sollst deine Tochter nicht entweihen und zur Buhlerei halten,
auf daß nicht das Land Buhlerei treibe und werde voll Lasters“ (Lev. 19. 29).
Eine besondere Strafe steht nicht auf der Prostitution, nur „wenn eines
Priesters Tochter anfängt zu buhlen, die soll man mit Feuer verbrennen,
denn sie hat ihren Vater geschändet“ (Lev. 21. 9). Die Kinder der Lohn¬
dirnen waren von der Gemeinde ausgeschlossen, auch nach dem zehnten
Gliede (Deut. 28. 3), also für immer; und das ist eine um so härtere
Strafe, als sie Unschuldige trifft. Befremdlich ist das ausdrückliche Ge¬
bot, daß der Priester „keine Witwe, noch Verstoßene, noch Geschwächte,
noch Dirne, sondern eine Jungfrau seines Volkes zum Weibe nehmen
soll“ (Lev. 21. 14), denn daraus scheint hervorzugehen, daß eine Heirat
zwischen Nichtpriestern und Dirnen gestattet war.
Jedenfalls nahm die Prostitution, so wie sie es auch heute tut,
einen breiten Raum im Leben des Volkes ein, aber auch außerdem fehlt
es an geschlechtlichen Ausschweifungen nicht; denn „Wein und Weiber
betören den Weisen“ (Sir. 49. 2), „Sohn und Vater schlafen bei einer
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Die Sexüalhygiene des Alten Testaments.
251
Dirne“ (Arnos 2. 7) und „sie nötigen die Weiber in ihrer Krankheit; sie
treiben Greuel untereinander, der Freund mit des Freundes Weib; sie
schänden ihre eigene Schnur und notzüchtigen ihre eigene Schwester“
(Ezech. 22. 10).
Angesichts dessen war es in der Tat nötig, gesetzlich einzugreifen
und durch bestimmte Vorschriften den Verkehr der beiden Geschlechter
derartig zu regeln, daß nach keiner Seite hin ein Zweifel obwalten
konnte. Zunächst wird das Heiraten, sowie der geschlechtliche Verkehr
überhaupt in der nahen Blutsfreundschaft oder Verschwägerung
verboten. Ich führe nur einige als Beispiele an:
„Wenn jemand bei seines Vaters Weibe schläft, so sollen sie beide
des Todes sterben“ (Lev. 20. 11).
„Wenn jemand ein Weib nimmt und ihre Mutter dazu, so soll man
ihn mit Feuer verbrennen und sie beide auch“ (14).
„Wenn jemand seine Schwester nimmt, seines Vaters oder seiner
Mutter Tochter, das ist Blutschande; die sollen ausgerottet werden vor
den Leuten ihres Volkes“ (17).
„Wenn jemand bei seines Vaters-Bruders Weib schläft; sie sollen
ihre Sünde tragen, ohne Kinder sollen sie sterben“ (20).
Auch hier zeigt sich die Eigenartigkeit der Rechtspflege, insofern
die Bestrafung entweder erfolgt durch die Menschen (Steinigung, Ver¬
brennen) oder daß Jahve sich selbst die Bestrafung vorbehält: Ausrottung,
Kinderlosigkeit. In der Blutsfreundschaft ist nur verboten die Ehe unter
Geschwistern, die mit der Tante, mit der Enkelin und, als selbstver¬
ständlich, mit der Tochter. Erlaubt ist die Ehe unter Geschwisterkindern;
so die Ehe Jakobs mit Lea und Rahel. Übrigens war Abrahams Frau
Sarah, seine Stiefschwester, und Moses das Band von Neffe und Tante.
Weiter gehören folgende Satzungen hierher: Wenn eine Dirne
jemand vertrauet ist (eine Verlobte) und ein Mann schläft bei ihr, so
sollt ihr sie alle beide zu dem Stadttor ausführen und sollt sie beide
steinigen, daß sie sterben; sie, daß sie nicht geschrieen hat, weil sie in
der Stadt war; er, daß er seines Nächsten Weib geschändet hat. (Ver¬
lobung ist in dieser Beziehung der Ehe gleich). Geschah die Tat auf
dem Felde, so soll der Mann allein sterben; denn die Dirne schrie, und
war niemand, der ihr half (Deut. 12. 23—27).
Wenn jemand bei einer Jungfrau (nicht verlobte) schläft, so soll er
ihrem Vater fünfzig Säckel Silber geben und soll sie zum Weibe haben
(Deut. 22. 28). Mag das Belohnung oder Bestrafung sein, die Thora
befiehlt in solchem Falle die Ehe als Korrektif der begangenen Ver¬
fehlung.
Wenn jemand bei einem Weibe liegt, die eine leibeigene Magd ist,
der soll bestraft werden, aber sie sollen nicht sterben, denn sie ist nicht
frei gewesen. Er aber soll ein Schuldopfer bringen; so wird Gott ihm
gnädig sein über seine Sünde (Lev. 19. 20). Eine Leibeigene ist keine
Tochter Israels, es konnte also keine Entweihung des Volkes stattgefunden
haben; daher die Milde.
So bleibt denn nur ein gesetzlich erlaubter Weg zur Erfüllung
des göttlichen Befehles (Gen. 1. 28) übrig, das ist die Ehe; alle übrigen
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Wolzendorflf.
sind Abwege, sind verboten, gesperrt. Die alttestamentliche Ehe ist weit
gefaßt und kennt nicht die Unlösbarkeit; sie ist im Gegenteil locker ge¬
knüpft und leicht zu lösen. Denn „wenn jemand ein Weib nimmt und
ehelicht sie, und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen, um etwa
einer Unlust willen; so soll er einen Scheidebrief schreiben und ihr in
die Hand geben und sie aus dem Hause lassen“ (Deut. 24. 1). Dieser
Begriff der Unlust oder des Schändlichen, des Mißfälligen ist so unbe¬
stimmt und so dehnbar, daß der Willkür Tür und Tor geöffnet erscheint.
Und in der Tat haben die Ausleger so ziemlich alles und jedes, je nach
ihrem Standpunkte, als Entlassungsgrund angeführt. Ehebruch kann nicht
gemeint sein, denn auf ihm ruht die Todesstrafe. Immerhin liegt der
ebenbürtigen Gattin gegenüber eine gewisse Beschränkung vor, auch konnte
sie selbst ihrerseits, wenn sie es darauf ablegte, leicht einen Entlassungs-
grund bieten. Das Kebsweib dagegen war völlig in die Hand des
Mannes gegeben: „Wenn du nicht Lust zu ihr hast, so sollst du sie
auslassen“ (Deut. 21. 14). Und so tat Ahraham, als er die Hagar aus
dem Hause stieß; „da zog sie hin — mit ihrem Knaben — und ging
in der Wüste irre bei Bersaba“ (Gen. 21. 14).
Ursprünglich war die Ehe mouogamisch, — Adam hatte ja nur die
Eva —, und das blieb eine Zeitlang so, aber schon der Kainite Lamech
nahm zwei Frauen; und als Abrahams Weib, Sarah, nichts gebar, gab
sie ihm die ägyptische Magd Hagar mit den Worten: „Lege dich zu ihr
ob ich doch vielleicht aus ihr mich hauen möge.“ Abraham gehorchte,
und Hagar gebar den Ismael (G. 10). Als Abraham seinem Ende nahte,
„gab er alles Gut dem Isaak, aber den Kindern, die er von den Kebs-
weibern hatte, gab er Geschenke (Gen. 25. 6). Jakob hatte die beiden
Schwestern Lea und Rahel zu Frauen. Lea gebar ihm vier Söhne, und
da Rahel sähe, daß sie nichts gebar, neidete sie ihrer Schwester und
sprach zu Jakob: „Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich.“ Und sie
gab ihm ihre Magd Bilha mit den Worten der Sarah; Jakob zeugte mit
der Bilha zwei Söhne, und „da Lea aufgehört hatte zu gebären, gab sie
ihm die Magd Silpa zum Weibe und er zeugte mit ihr zwei Söhne.“
Hier zeigt sich so recht der Gegensatz der alttestamentlichen Frauen zur
modernen: all ihr Sinnen und Trachten geht auf Vermehrung des
Stammes, jede andere Rücksicht schwindet, und das Gefühl der Eifer¬
sucht tritt so sehr zurück, daß die Frau jeden Zuwachs der Familie mit
Freuden begrüßt, auch wenn er von einer anderen kommt. Und so ge¬
winnt das Wort der Rahel: „Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich“
erst seine rechte Bedeutung. Die Zahl der Nebenfrauen richtet sich
naturgemäß nach dem Reichtum des Mannes, und so erfahren wir fast
nur von der Polygamie der Richter und Könige. „Gideon hatte siebenzig
Söhne denn er hatte viele Frauen“ (Rieht 8. 80). David hatte schon in
Hebron sechs Söhne von sechs Frauen (II. Sam. 5. 1), in Jerusalem nahm
er noch mehr Weiber und Kebsweiber. Die Chronica, drittes Kapitel, nennt
noch 18 Söhne und fügt dann hinzu: „Das sind alles Kinder Davids,
ohne was der Kebsweiber Kinder waren.“ Abijahu hatte von vierzehn
Weibern zweiundzwanzig Söhne und sechzehn Töchter (II. Cr. 18. 21).
Von Salomo heißt es: „Er hatte 700 Weiber zu Frauen und 300 Kebs-
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Die Sexualhygiene des Alten Testaments.
253
weiber; und seine Weiber neigten sein Herz“ (I. K. 3). „Nicht viele
Weiber soll der König nehmen“, sagt die Thora (Deut. 17. 17), und die
Mischna setzt hinzu: nicht mehr als achtzehn. Gewöhnliche Sterbliche
mußten sich mit einer geringeren Zahl, meist wohl mit zweien, oft mit
einer begnügen. „Wenn jemand zwei Weiber hat, eine, die er liebt und
eine, die er hasset, und sie ihm Kinder gebären beide, die liebe und die
feindselige, so, daß der Sohn dieser der Erstgeborene ist, so kann er nicht
den Sohn der liebsten zum Erstgeborenen machen“ (Deut. 21. 15. 16).
Wenn der Gesetzgeber weder die Monogamie befiehlt, noch die
Polygamie verbietet, so ist das ein kluges Zugeständnis an die Sitten
des Orientes, wo die Vielweiberei die herrschende Form der Ehe war.
Er zeigte sich weiser, als moderne Gesetzgeber, die manches verbieten,
das nachher gestattet wird, und manches befehlen, das doch nicht durch¬
gesetzt wird. Wie die Freigabe der Polygamie, so verrät auch die
leichte Lösbarkeit der Ehe den Kenner seines Volkes. Gerade letzteres
mochte vielen ein Sporn sein, des Gatten Neigung zu erhalten. Die
Polygamie verschwand von selbst, und die Zahl glücklicher Ehen und
eines schönen Familienlebens ist gerade bei Israeliten groß.
Was will nun der Dekalog mit dem Gebote: „Du sollst nicht ehe¬
brechen?“ Die Antwort lautet: „Wer die Ehe bricht mit jemandes
Weibe, der soll des Todes sterben, beide, Ehebrecher und Ehebrecherin“
(Lev. 20. 10) — und „Wenn jemand erfunden wird, der bei einem
Weibe schläft, die einen Ehemann hat, so sollen sie beide sterben“ —
und zwar den Tod durch Steinigung (Deut. 22. 22, 24). Der Ehebrach
besteht also in dem geschlechtlichen Verkehr eines Mannes mit der Frau
— (und ebenso mit der Nebenfrau oder Verlobten) — eines anderen.
Das Gesetz vertritt mithin nur das Interesse des Mannes, schützt nur
sein Recht, das er an der Frau hat oder sich zuerteilt (moderne Männer -
Moral). Die Frau hat keinen Schutz; kein Recht auf die Treue des
Mannes. Sie gehört bis zu gewissem Grade zum Besitze, zum Eigentum
des Mannes, und in diesem Sinne befiehlt der Dekalog: „Laß dich nicht
gelüsten deines nächsten Weib, noch seines Knechts, noch seiner Magd,
noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles, das dein Nächster hat“
(Exod. 20. 17, Deut. 5. 21). Der Anspruch des Mannes auf die Rein¬
heit der Frau erstreckt sich auch auf ihr Vorleben; denn „wenn jemand
ein Weib nimmt und wird nicht Jungfrau gefunden, so soll man sie
vor die Tür ihres Vaters Hause fuhren, und die Leute der Stadt sollen
sie zu Tode steinigen, darum, daß sie in ihres Vaters Hause gebuhlet
hat (Deut. 22. 13, 21). Mit dem Begriffe des Besitzes hängt zusammen
die Sitte des „Mohairs“, der „Morgengabe“, eine Art von Kaufpreis, und
doch handelt es sich nicht um einen Kauf, — nur die Nebenfrau wird
gekauft — und die Stellung der ebenbürtigen Frau ist keineswegs
niedrig. Im Gegenteil, sie ist die Gesellin, die Gehülfin des Mannes,
für beide gleich gilt das vierte Gebot und ebenso das Wort: „Wer Vater
und Mutter flucht, der soll des Todes sterben“ (Exod. 21.17, Lev. 19. 9).
Vielfach ertönt das Lob der fleißigen, tugendsamen, weisen Hausfraü:
„Sie ist die Krone des Mannes, sie ist edler, denn die köstlichste Perle,
durch sie wird das Haus gebaut“ (Spr. 12, 4; 31, 10; 14, 1 u. a.)
Ztttaehr. £ BeUmpfung d. Geschlechtakrankh. IL 19
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254
WolzendorflP.
Während der Menses ist die Frau unrein „und soll sieben Tage
bei Seite getan werden“, wer sie an rührt, wird unrein sein bis auf den
Abend. Alles, worauf sie sitzet oder lieget, wird unrein, und wer ihr
Lager oder ihren Sitz an rühret, der soll seine Kleider waschen und sich
mit Wasser baden und unrein sein bis auf den Abend. Und wenn ein
Mann bei ihr lieget und es kommt sie ihre Zeit an, der wird sieben
Tage unrein sein. Dauert das Unwohlsein über die gewöhnliche Zeit
hinaus, so bleibt sie so lange unrein, als es anhält. Erlöscht der Fluß,
so soll sie sieben Tage zählen, darnach soll sie rein sein“ (Lev. 15.19—28).
„Wenn ein Mann beim Weibe schläft zur Zeit ihrer Krankheit, die sollen
beide aus ihrem Volke gerottet werden“ (Lev. 20. 18).
Ordnung der Kindbetterinnen. Und der Herr redete mit Mose
und sprach: Rede mit den Kindern Israel und sprich: „Wenn ein Weib
ein Knäblein gebieret, so soll sie sieben Tage unrein sein, so lange sie
ihre Krankheit leidet. Und sie soll daheim bleiben dreiunddreißig Tage
im Blut ihrer Reinigung. Gebieret sie ein Mägdlein, so soll sie zwei
Wochen unrein sein und Sechsundsechzig Tage daheim bleiben. Wenn
die Tage aus sind, bringt der Priester das vorgeschriebene Opfer, so
wird sie rein“ (Lev. 12).
Für den Fall eines Krieges bestimmt das Gesetz: „Wenn jemand
kürzlich ein Weib genommen hat, der soll nicht in die Heerfahrt ziehen
und man soll ihm nichts auflegen. Er soll frei in seinem Hause sein
ein Jahr lang, daß er fröhlich sei mit seinem Weibe“ (Deut. 24. 3).
Ähnliches gilt für die Verlobten: „Welcher ein Weib ihm vertraut und
sie noch nicht heimgeholet, der gehe hin und bleibe daheim, daß er
nicht im Kriege sterbe und ein anderer hole sie heim“ (Deut. 20. 7).
Der während eines Krieges durch Ausfall der Geburten bedingte Menschen-
verlust ist bei einem Volksheere, wie das der Israeliten, um so größer,
als es sich meist um Männer in der Vollkraft der Jahre handelt,
und diesen Verlust wollen die beiden Verordnungen beschränken. Es
handelt sich um eine kluge volkswirtschaftliche Maßregel, die sich
auch auf den erstreckt-, der sein neuerbautes Haus noch nicht ein¬
geweiht oder den frisch gepflanzten Weinberg noch nicht nutzbar ge¬
macht hat (V. 5 u. 6).
Um die Übertragung ansteckender Erkrankung zu verhüten, hatte
Jahve Mose gesagt: „Gebeut den Kindern Israel, daß sie aus dem Lager
tun alle, die an Eiterfluß leiden, ebenso wie Aussätzige und solche,
die durch Tod unrein geworden sind“ (Num. 5. 2). „Wenn ein Mann
an seinem Fleische einen Fluß hat, der ist unrein. Dann aber ist er
unrein, wenn sein Fleisch vom Flusse eitert, oder verstopft ist. Alles,
darauf er sitzt oder liegt, sowie der Sattel, auf dem er reitet, ist un¬
rein; und wer anrühret irgend etwas, das er unter sieb gehabt hat;
oder wer sein Fleisch anrühret, oder auf wen er seinen Speichel wirft,
ebenso wie der, den er berührt, ehe er seine Hände wäschet — ist
unrein, der soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser baden und
unrein sein bis auf den Abend. Von dem Kranken berührte irdene
Gefäße soll man zerbrechen, hölzerne mit Wasser spülen. Wird er rein,
d. h. heil von seinem Fluß, so soll er nach dem sieben Tage zählen und
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Die Sexualhygiene des Alten Testaments.
255
seine Kleider waschen und sein Fleisch in lebendigem Wasser baden, so
ist er rein“ (Lev. 15. 2—18).
„Auch nach einer Pollution während des Schlafes soll der Mann sein
Fleisch mit Wasser baden und unrein sein bis auf den Abend. Und
alles Kleid und alles Fell (Lager), das mit Sperma befleckt ist, soll er
mit Wasser waschen, und unrein sein bis auf den Abend“ (Lev. 15.16 u. 17).
Dahin gehört weiter die Vorschrift: „Wenn du zum Heerlager ausziehst,
so hüte dich vor allem Bösen. Ist jemand unter dir, der nicht rein,
daß ihm des Nachts was widerfahren ist, der soll hinaus vor das Lager
gehen und nicht wieder hinein kommen, bis er vor Abend sich mit
Wasser bade“ (Deut. 23. 10 u. 11).
Ob der eheliche Verkehr, der Coitus legalis, selbst bis zu gewissem
Grade unrein ist, und nachfolgende Waschungen für notwendig galten,
läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Allerdings, Bethsaba, das
schöne Weib Urias, „reinigte sich von ihrer Unreinigkeit“ bevor sie
von David in das Haus ihres Mannes zurückkehrte (II. Sam. 11. 4), da
es sich hier aber um Ehebruch handelt, so läßt die Stelle auch eine
andere Deutung zu. Jedenfalls aber war vor der Berührung mit Heiligem
eine dreitägige Enthaltsamkeit erforderlich. Vor der Gesetzgebung am
Berge Sinai sprach Moses zum Volke: „Seid bereit auf den dritten Tag,
und keiner nahe sich dem Weibe“ (Gen. 19. 15); und als David auf
seiner Flucht den Priester Ahimelech um Brot bat, antwortete er ihm:
„Ich habe kein gemeines Brot unter der Hand, sondern nur heiliges;
wenn sich nur die Knaben von Weibern enthalten hätten.“ Und erst
auf die Versicherung Davids „es sind uns die Weiber drei Tage ge¬
sperrt gewesen“, gab ihm der Priester die Schaubrote (I. Sam. 21. 4 Ö.).
19*
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Referate.
Sittlichkeitsfrage.
Helene Stöcker. Von Mann und Weib. Frauen-Rundschau, IV. 18.
Die Diskussion über das Thema „Herrenmoral,“ die zu einer so
lebhaften Polemik zwischen dem Frl. Pappritz einerseits und den
Herren Flesch und Block andererseits geführt hatte, gab den Anlaß
auch für den Artikel von Helene Stöcker, die mit Entschiedenheit
der unter den Männern verbreiteten Ansicht entgegentritt, als ob das
Weib die Liebe weniger brauche als der Mann, als ob die Frau nur
die Mutterschaft wolle. Die Auffassung, daß das Weib weniger sinn¬
lich veranlagt sei, erklärt die Verfasserin aus dem Umstande, daß die
Frau ihre Empfindungen stets mehr habe beherrschen müssen und
beherrscht hat als der Mann und dadurch zu dem Glauben Veranlassung
gab, daß sie „garnichts zu beherrschen habe.“ Die sexuellen Bedürf¬
nisse des Weibes kennt der Mann überhaupt nicht oder doch nur aus
zweiter Hand, und lediglich die Frau sei hierin kompetent. Unter den
Frauen aber sei nur eine Meinung: daß die Geschlechtsliebe von Weib
zu Mann sich in nichts unterscheide von der des Mannes zum Weibe.
Die Bekenntnisse und Schicksale der Mdme. de Staöl oder Elisabeth
Browning, von Bettina Brentano oder George Elliot stimmen
damit überein, und die großen Frauengestalten der Dichtung und der
Geschichte zeugen von der Kraft und Tiefe weiblichen Geschlechts¬
empfindens. Auch die unehelichen Kinder beweisen sie, wenn man
bedenkt, welcher Verfehlung, welcher Not ihre Mütter ausgesetzt sind,
die aber trotz alledem der Liebessehnsucht folgten. Darum müsse
gegen den Versuch der Männer, die Geschlechtsliebe für sich allein zu
reservieren, energisch protestiert werden, und die Frauen hätten die
Pflicht, sich die Anerkennung ihres Rechtes auf Liebe mit Freimut
und Entschlossenheit zu erkämpfen.
Johanna Elberskirchen. Die Sexualempfindung bei Weib und Mann. Magazin-
Verlag Leipzig 1903.
In jüngster Zeit ist von verschiedenen autoritativen Stellen aus in
Wort und Schrift darauf hingewiesen worden, daß in der Sexualempfindung
der beiden Geschlechter ein grundsätzlicher Unterschied vorhanden sei,
durch den die sogenannte doppelte Moral ihre physiologische Berechtigung
erhalte. Besonders energisch ist von Prof. Flesch betont worden, daß
in dem Geschlechtsleben des Mannes der Begattungstrieb, in dem des
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Tagesgeschichte.
257
Weibes hingegen der Fortpflanzungstrieb die entscheidende Rolle spiele.
Diese Auffassung ist namentlich in Frauenkreisen lebhaftestem Wider¬
spruche begegnet.
Wie für viele ihrer Geschlechtsgenossen war auch für Johanna
Elberskirchen Fleschs Aufsatz „Herrenmoral“ das Zeichen zum Kampf.
Das Rüstzeug sollen ihr Anatomie und Entwicklungsgeschichte, Physio¬
logie und Pathologie liefern; indes — auf diese Waflen versteht sie
sich nicht ganz; hier und da übersieht sie eine Schwäche des Gegners,
oft gibt sie sich selbst eine Blöße. Aber sie ficht mit ausgezeichneter
Bravour, und gleich ihrer Tapferkeit verdient die Ehrlichkeit ihrer
Kampfesweise uneingeschränkte Anerkennung. Und ein heiliger Eifer
beseelt sie! Das Ideal, für welches sie kämpft, ist die Emanzipation
des Weibes auch auf sexuellem Gebiete. Sie fordert Gleicbbeit der
Geschlechter auch in dieser Hinsicht, und zwar durch „Reduktion des
pathologischen Plus des männlichen Geschlechts tri ebes und seiner Be¬
friedigung auf das physiologische Muß und Erhöhung des pathologischen
Minus der weiblichen Geschlechtsbefriedigung auf das physiologische
Muß.“ Johanna Elberskirchen schließt ihre Broschüre mit den Worten:
„Sagen wir Ja zu unsrem Sexualtrieb, ein fröhliches, heiteres, ein
heiliges Ja.“
Die Beantwortung der Frage, ob der Geschlechtstrieb des Mannes
stärker oder andrer Art ist als der des Weibes, ist ebenso wichtig wie
schwierig. Wichtig, weil sie die Vorbedingung für eine gerechte Moral
darstellt; schwierig, weil sie jeweilig von individuellen und sozialen
Bedingungen abhängt. Eine endgültige Lösung des Problems ist unmög¬
lich, wäre sie doch nur denkbar, wenn das eine Geschlecht zum Ver¬
gleich sich in das andere verwandeln könnte. Um so eifriger müssen
wir dabei wenigstens das Erreichbare anstreben. Deshalb haben wir
die Pflicht, da sich bis vor Kurzem fast ausschließlich Männer zu der
Frage geäußert haben, nun auch die Stimmen kluger und verständiger
Frauen zu beachten und vorurteilslos zu würdigen. Auch wenn man
der Überzeugung ist, daß Johanna Elberskirchen der Schwierigkeit
der Situation, in die sie sich begab, weder völlig bewußt noch ganz
gewachsen war, wenn sie „freie Bahn“ für den Geschlechtstrieb des
Weibes fordert, gerade wie für den Mann — ohne im entferntesten
daran zu denken, Zügellosigkeit zu empfehlen oder auch nur zu ent¬
schuldigen, so muß man ihr doch auf jeden Fall für ihr freies Wort
Dank wissen. Max Marcuse (Berlin).
Tagesgeschichte.
Rußland.
In der Sitzung der Russischen syphilidologischen und dermatologi¬
schen Gesellschaft zu St. Petersburg vom 27. September 1903 (a. St.)
sprach Herr L. Jakobsohn über die Maßnahmen zur Bekämpfung
der Verbreitung der venerischen Krankheiten unter der
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Tagesgeschichte.
studierenden Jugend. Eingangs seines Vortrages führt der Redner
die von verschiedenen ausländischen wie russischen Autoren (Blaschko,
Neisser, Jesionek, D. Petersen, v. Wahl, Strömberg u. a.) er¬
hobenen statistischen Angaben über die Verbeitung der venerischen Er¬
krankungen unter der studierenden Jugend an. Als besonders wertvoll
bezeichnet er die auf dem Wege der Enquete gewonnenen Zahlen
(preußische Sammelforschung, die von Buram in Leipzig und von
W. Favre in Charkoff inaugurierten Umfragen). Sodann geht der Vor¬
tragende auf die in den einzelnen Kulturländern gegen das Über¬
handnehmen der Geschlechtskrankheiten ergriffenen und in Angriff
genommenen Maßnahmen ein (Deutschland, Österreich, England, Däne¬
mark usw.). Nach kritischer Würdigung der in Betracht kommenden
Maßregeln empfiehlt der Vortragende folgende, die seiner Ansicht ge¬
eignet seien, die Verbreitung der Syphilis und des Trippers unter der
studierenden Jugend auf das Mindestmaß einzuschränken: völlige ge¬
schlechtliche Enthaltsamkeit bis zum Eintritt in die Ehe, Aufklärung
des Publikums im allgemeinen und der studierenden Jugend im be¬
sonderen über die seitens des außerehelichen Geschlechtsverkehrs drohen¬
den Gefahren, Veröffentlichung von Flugblättern und populären Broschüren
über Wesen und Bedeutung der venerischen Affektionen und zuletzt
Gründung einer Russischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten, deren Organisation und Oberleitung die Russische syphilido¬
logische und dermatologische Gesellschaft in die Hand nehmen könnte.
In der sich an den Vortrag anschließenden lebhaften Diskussion
wurden vor allem Zweifel laut, ob die Propaganda völliger Enthaltsam¬
keit bis zum Eintritt in die Ehe von irgendwelchen greifbaren Resultaten
gefolgt sein könne, da die studierende Jugend sich in einem Alter befinde,
in welchem der Geschlechts trieb wohl am stärksten ausgeprägt sei. Die
Notwendigkeit der Begründung einer neuen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten wurde ebenfalls angezweifelt. Wohl aber
wurde zugegeben, dass die Aufklärung und Belehrung des Publikums
über die Gefahren und Gesundheitsschädigungen des außerehelichen Ge¬
schlechtsverkehrs sehr nützlich und wünschenswert sei. Welche Aus¬
wüchse aber ein derartiges Bestreben zeitigen kann, wenn es von Laien
zum Schutz ihrer Anbefohlenen ins Werk gesetzt wird, beweist folgendes,
in der Sitzung mitgeteiltes authentisches Schriftstück, geliefert von Prof.
Polotebnow, das als Charakteristikum für die in gewissen Gesellschafts¬
kreisen herrschenden Anschauungen dienen kann.
„Befehl, erlassen für die Zöglinge der N.schen Junkerschule am
18. Februar 1890, Nr. . . .
Um die Junker beim geschlechtlichen Verkehr vor der Ansteckung
mit Syphilis zu schützen, wird folgendes verordnet: 1. Für den Besuch
seitens der Junker ist von mir das Bordell Nr. ... ausersehen. 2. Als
Besuchstage werden festgesetzt: Montag, Dienstag und Donnerstag. 3. Der
Besuch des Bordells hat kolonnenweise zu geschehen, d. h. am Dienstag
z. B. ist die Reihe an der ersten Kolonne der ersten Eskadron, am
Donnerstag an der ersten Kolonne der zweiten Eskadron, am Montag
kommt die zweite Kolonne der ersten Eskadron an die Reihe, am
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Tagesgeschichte.
259
Dienstag die zweite Kolonne der zweiten Eskadron u. s. w. Falls jedoch
in der betreffenden Kolonne sich zu viele Zöglinge zum Besuche des
Bordells melden, so ist der zuständige Unteroffizier verpflichtet, unter
ihnen eine bestimmte Reihenfolge festzusetzen. Mc 1 len sich hingegen
von der betreffenden Kolonne weniger Junker, als zum Besuche zu*
gelassen werden können, so werden die in der nächsten Kolonne der¬
selben Eskadron an der Reihe stehenden und, falls ihrer auch nicht
genügt, die der folgenden Kolonne aufgefordert u. s. w.; so fordert z. B.
der Unteroffizier, wenn die Reihe an der dritten Kolonne ist, bei einer
unzureichenden Anzahl von Aspiranten die in der vierten Kolonne an
der Reihe stehenden auf, sodann die in der ersten Kolonne u. s. w. Die
Reihenfolge zwischen den einzelnen Kolonnen setzt der Wachtmeister
fest. 4. An den bezeichnten Besuchstagen hat der Schularzt zwischen
3—5 Uhr nachmittags die Frauenzimmer dieses Bordells einer Unter¬
suchung zu unterziehen und hernach dort seinen Heilgehilfen zu be¬
lassen, welcher darüber zu wachen hat, a) dass nach der ärztlichen Be¬
sichtigung bis 7 Uhr abends keine fremde Person diese Frauenzimmer
benutzt; b) dass die Junker keine unbesichtigten oder als krank erkannten
Frauenzimmer benutzen; c) vor dem Verkehr mit den Frauenzimmern
hat der Heilgehilfe die Glieder der Junker in Augenschein zu nehmen
und kranke Zöglinge unter keinen Umständen zum Verkehr zuzulassen;
d) schließlich hat er die Junker zu veranlassen, unmittelbar nach dem
Beischlaf das Glied mit einer von dem Schularzt eigens hierfür an¬
gegebenen Flüssigkeit abzuwaschen. Der Quartiermeister der Schule
hat dafür zu sorgen, dass dem Arzte für seine diesbezüglichen Aus¬
fahrten ein Kronsfuhrwerk zur Verfügung gestellt wird. 5. Zusammen
mit dem Arzte begibt sich in das Bordell der Kolonnenunteroffizier der
betreffenden Kolonne. Nach Beendigung der ärztlichen Untersuchung
kehrt er in die Schule zurück und rapportiert dem diensttuenden Offizier,
wieviel Junker an dem Tage das Bordell besuchen können, wobei in
Betracht zu ziehen ist, dass auf jedes vom Arzte zum Beischlaf zu¬
gelassene Frauenzimmer je drei Junker kommen. 6. Nach Empfang
dieser Auskunft befiehlt ihm der diensttuende Offizier, aus denjenigen
Junkern, welche den Beischlaf auszuüben wünschen, einen Trupp von
der bezeichneten Stärke gleich nach Mittag zu bilden und vorzubereiten.
Als Chef dieses Trupps hat der Unteroffizier der betreffenden Kolonne
zu fungieren, welcner für das Einhalten der geltenden Regeln und
überhaupt für die Ordnung im Trupp verantwortlich ist. Er ist ver¬
pflichtet, dem Heilgehilfen bei der Besichtigung und beim Waschen
der Geschlechtsteile der Junker seine Mitwirkung zu erweisen, und
diese haben sich in allen den Forderungen des Chefs zu fügen. 7. Der
Trupp der Beischlafsbedürftigen wird vom diensthabenden Offizier persön¬
lich beurlaubt. In das Bordell können die Junker einzeln eingehn, zurück¬
kehren müssen jedoch alle zusammen und nicht später als 7 */ 4 Uhr abends.
Der diensthabende Offizier empfängt den Trupp und ist ebenfalls ver¬
pflichtet, alle persönlich zu besichtigen und vom Heilgehilfen den Rapport
über den günstigen Verlauf des Beischlafs bei einem jeden entgegen¬
zunehmen. 8. Die Junker haben nicht das Recht, andere Bordelle außer
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260
Tagesgeschichte.
Nr. ... zu besuchen, noch überhaupt den Trupp zu verlassen, wofür der
Chef desselben verantwortlich ist. y. Ebenso sind die Junker verpflichtet,
während der ganzen Zeit ihrer Beurlaubung zum Beischlaf sich ordent¬
lich und anständig zu betragen. 10. Jegliche Mißverständnisse mit den
Frauenzimmern des Bordells werden vom Unteroffizier der Kolonne ge¬
schlichtet, worüber er nach seiner Rückkehr dem diensttuenden Offizier
rapportiert. 11. Gemäß meiner Vereinbarung mit der Wirtin des Bordells
wird während der ärztlichen Besichtigung bis 7 Uhr abends und bis zu
dem Fortgang der Junker fremden Personen der Eintritt in das Haus
nicht gestattet; sollten sich jedoch derartige Personen einfinden, so darf
man sich nicht mit ihnen in irgendwelche Unterhandlungen einlassen,
sondern hat davon dem diensttuenden Offizier und mir zu melden. 12. Als
Zahlung für den Besuch wird 1,25 Rbl. festgesetzt, wobei für dieses
Geld nicht mehr als ein einziges Mal und nicht mehr als eine halbe Stunde
lang koitiert werden darf. 13. Die Rechnung haben die Junker selbst
zu begleichen. Dabei müssen sie stets eingedenk sein, dass es keine
schimpflichere Schuld gibt, als die Schulden im Bordelle. 14. Die von
mir im Vorstehenden getroffenen Maßnahmen müssen nicht nur die
Sympathie, sondern auch . . . allseitiges Entgegenkommen seitens der
Junker zur Folge haben, denn sie können nicht umhin, zu begreifen,
daß dies alles nur zu ihren eigenen Gunsten vorgeschrieben wird, und
zwar um die Zahl der unglücklichen, lebenslänglichen Opfer der Infektion
ihrer Geschlechtsteile zu vermindern. Außerdem müssen die Junker
auch dessen eingedenk sein, dass ihre fortgesetzte Ansteckung mit diesen
Krankheiten mich dazu nötigen wird, gegen solche Junker strenge Ma߬
regeln zu ergreifen und sie aus der Schule zu entfernen.
Anmerkung: Die vorliegenden Regeln treten Dienstag, den 20. Februar
in Kraft.
Gezeichnet: NN“.
Dr. Lewinsohn (Moskau).
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Zeitschrift
‘ für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903/4. Nr. 7.
Die Diagnoee der Gonorrhoe in der Gynäkologie in ihrer
forensen Bedeutung.
Von
Professor Dr. Max Flesch (Frankfurt a. M.).
L Einleitung.
Seit die Forderung, daß eine venerische Erkrankung eines
der Ehegatten als Grund für die Scheidung oder die Nichtigkeits¬
erklärung einer Ehe in Betracht zu ziehen sei, durch gerichtliche
Urteile als berechtigt festgestellt ist, hat der greifbare Nachweis
der Krankheit, die Sicherung der Diagnose durch ein unanfecht¬
bares, von der Anamnese unabhängiges Beweismittel eine neue, be¬
deutungsvolle Tragweite erlangt Während aber für die Diagnose
der Syphilis es an solchen Merkmalen kaum je fehlen wird, sei
es auf Grund der manifesten Symptome bei einem der Beteiligten,
sei es durch das Auftreten hereditärer Erscheinungen, so ist das
bezüglich der Gonorrhoe noch bei weitem nicht in genügendem
Maße der Fall.
Es mag das auffallend erscheinen. Der Nachweis des Neisser-
schen Diplokokkus bildet ja, wo er gelingt, ein untrügliches Kenn¬
zeichen. Untersucht man aber die Frage, ob dieser Nachweis mit
genügender Leichtigkeit und Sicherheit geführt werden kann, um
ihn zur forensischen Grundlage der Gonorrhoe-Diagnose zu machen,
so ergeben sich Schwierigkeiten, die seine Verwertbarkeit als eine
sehr beschränkte erscheinen lassen.
Und doch wäre gerade für die Diagnose der Gonorrhoe eine
Klärung in dieser Richtung dringend nötig. Auch wenn man sich
nicht auf den extremen, von Nöggeratim Jahre 1872 aufgestellten
Standpunkt stellt, wonach da, wo eine Trippererkrankung des
Mannes vorangegangen ist, jede bei der Frau auftretende, mit
Fluor verbundene Erkrankung der Unterleibsorgane darauf zurück-
Zeitaehr. t Bekämpfung d. Geschlechtskrankb. XL 20
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262
Flesch.
Zufuhren ist, so kann doch die Tatsache nicht aus der Welt ge¬
schafft werden, daß ein großer Teil der sogenannten Frauenkrank¬
heiten nichts ist, als die Folge einer Tripperinfektion, daß aber
weiter diese letztere nur allzuoft sich bei der Frau zu einem allen
Heilungsversuchen trotzenden, die Arbeitsfähigkeit vernichtenden
Siechtum gestaltet. Das ist aber um so wichtiger als erfahrungs¬
gemäß in diesen Fällen die Trennung der Ehe sich geradezu zum
Heilmittel gestaltet. Es hören die immer wieder, eintretenden
Neuinfektionen auf, welche, bei der Fortsetzung des sexuellen Ver¬
kehres unvermeidlich, den Erfolg der Behandlungsversuche aufheben.
Es wird durch die Lösung der geschlechtlichen Gemeinschaft erst
die Vorbedingung geschaffen, deren die Heilungsbestrebungen des
Arztes bedürfen.
Nach den heute geltenden Auffassungen kann der Nachweis
einer spezifischen Erkrankung erst dann als geführt erachtet werden,
wenn der Krankheitserreger, in unserem Fall also der Gonokokkus,
gefunden ist. Es wird hier nichts anderes verlangt, als wenn man
die Diagnose der Tuberkulose von dem Nachweis des Tuberkel¬
bazillus, die der Cholera von dem des Kommapilz abhängig machen
will. Allerdings haben schon gute Untersucher, so der durch
seine exakten Feststellungen an den Stuttgarter Prostituierten be¬
kannte Polizeiarzt Dr. Hammer, darauf hingewiesen, daß in vielen
Fällen andere Merkmale fast ebenso charakteristisch sind wie der
Diplokokkus. Ob man aber berechtigt sein soll, auf jene allein,
also auf den Befund reichlicher Eiterkörperchen im Urethral- und
Cervixsekret und auf die sonstigen klinischen Symptome sowie die
Anamnese eine Diagnose aufzustellen, auf Grund deren eine so
folgenschwere Entscheidung wie die Trennung oder Umstoßung
einer Ehe zu treffen ist, bedarf einer sorgfältigen Untersuchung.
Es ist zu erörtern, ob es möglich ist, den Nachweis des Gono¬
kokkus mit der Sicherheit zu erbringen, daß wir aus seinem Fehlen
auf einen diagnostischen Irrtum schließen müssen bzw. eine Lücke
der Beweisführung im einzelnen Fall zu statuieren haben, ob ferner
es möglich ist, auch ohne diesen Nachweis aus dem klinischen Bild
allein die Unterlagen für die gesicherte Beurteilung der Natur
eines gonorrhoeverdächtigen Leidens zu entnehmen. In einer
ganzen Reihe von forensischen Feststellungen kommen diese Fragen
in Betracht; am häufigsten ja bei der Untersuchung der regle¬
mentierten Dirnen. Gerade bei diesen, bei welchen aus später zu
besprechenden Gründen der Nachweis des Gonokokkus am häufigsten
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
268
und leichtesten gelingt, liegt schließlich am wenigsten daran, weil
die Erfahrung ebenso wie die begleitenden Umstände, die sich
aus der gewerbsmäßigen Ausübung der Prostitution ergeben, das
Bestehen des Trippers als unverkennbar erscheinen lassen. Schwie¬
riger schon gestalten sich die Dinge in der gynäkologischen Privat¬
praxis, wenn wir vor die Frage gestellt werden, ob wir das ehe¬
liche Leben tangierende Vorschriften, durch welche die Patientin
Verdacht gegen ihren Mann schöpfen könnte, zu geben haben. Mit
einigem Takt wird man aber auch da selbst bei nicht ganz sicherer
Diagnose, sich helfen können. Anders aber steht es in drei Fällen,
in welchen der zu treffende Entscheid so folgenschwer ist, daß
kein gewissenhafter Gutachter es wird verantworten wollen, auf
irgend ein Hilfsmittel der Diagnose zu verzichten: bei der Er¬
stattung eines Gutachtens über die eventuelle Scheidung oder
Nichtigerklärung einer Ehe, über die Ursache der Unfruchtbarkeit
der Frau, über die Wiederverheiratung einer Witwe oder ge¬
schiedenen Frau, deren Mann erster Ehe oder die selbst Gonorrhoe
gehabt hat
Daß Gonorrhoe eines Ehegatten als Scheidungsgrund mit Er¬
folg aufgestellt werden kann, sollte für jeden, der die schweren
Folgen dieser Krankheit für die Gesundheit und die Erwerbs¬
fähigkeit der Frauen kennt, selbstverständlich erscheinen. Gleich¬
wohl ist die Frage da, wo sie am brennendsten ist bei den häufigen
Fällen chronischen Siechtums der Ehefrau durch Infektion von
Resten einer vorehelich erworbenen Gonorrhoe des Mannes, erst
in allerjüngster Zeit zum Gegenstand einer gerichtlichen Verhand¬
lung geworden. Ein rechtskräftiges Urteil des Landgerichtes
Frankfurt a. M. hat auf Grund der Annahme, daß das Bestehen
einer ansteckenden Geschlechtskrankheit des einen Teiles eine
persönliche Eigenschaft sei, welche, bei Kenntnis der Sachlage, den
anderen von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würde, der
Nichtigkeitsklage der Ehefrau stattgegeben 1 ). Es war das aller¬
dings nur durch das Zusammentreffen einer Reihe von besonderen
Umständen, welches sich kaum leicht wiederholen dürfte, möglich.
Insbesondere war seitens des einen Ehegatten die Existenz des
Trippers noch während der Ehe freiwillig — man kann wohl sagen
unvorsichtigerweise — zugestanden worden. So war es hier nicht
*) Dr. L. Wertheimer. Ein gerichtliches Erkenntnis über Anfechtung
einer Ehe wegen vorehelicher Gonorrhoe. Dermatologische Zeitschrift Bd. 10.
ß. 385.
20 *
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264
Fleeoh.
nötig, den eingehenden Nachweis der erfolgten Infektion der Frau
zu erbringen. Wie das aber zu geschehen hätte, welche Postulate
zur Erfüllung dieses Nachweises zu erledigen wären, ist keines¬
wegs in einwandfreier Weise klargestellt. Hier wäre bei Weige¬
rung eines der Beteiligten nur durch Entbindung des Arztes von
seinem Berufsgeheimnis das Material zur Entscheidung zu beschaffen.
Und außerdem bliebe der Nachweis der erfolgten Infektion, d. h.
also bei Aufrechthaltung der bakteriologischen Postulate das Vor¬
handensein der Gonokokken unerläßlich. Wir werden zu zeigen
haben, daß, wenn dies geschähe, wenn also alles von dem Befund
der Gonokokken abhängig sein sollte, nach dem heutigen Stand
der Technik wenigstens, es kaum möglich wäre, den geforderten
Nachweis zu liefern.
Daß die Unfruchtbarkeit der Ehe in einem großen, anscheinend
dem größeren Teil der Fälle der Gonorrhoe eines der Gatten zur
Last fällt, ist heute allgemein, auch von denen, welche Nöggerats
Behauptungen in anderen Punkten als zu weitgehend abweisen,
anerkannt. Die weitaus größere Schuld der absoluten Sterilität
der Ehe betrifft den Ehemann; sie liegt in erster Linie an der
Tripperansteckung, welche einen großen Teil der Männer überhaupt
zeugungsunfähig macht. Die geschlechtstüchtig Bleibenden haben
in so großer Zahl ihre Frauen infiziert und dadurch fortpflanzungs¬
unfähig gemacht, daß der bei der Frau noch schwerer als beim
Manne heilbare chronische Tripper bzw. seine Folgen, als Erbfeind
der Fruchtbarkeit bezeichnet werden muß. Das sind die Schlüsse,
zu welchen eine der besten Untersuchungen über die Ursachen der
Sterilität gelangt 1 ). Sie enthalten die ganze Tragweite der Frage,
deren Wichtigkeit durch die ungünstige Prognose der auf Tripper¬
infektion beruhenden Sterilität gegenüber dem Eingreifen des Arztes
erhöht wird 2 ). Für die beteiligten Frauen erhält aber die Fest¬
stellung der Gonorrhoe als ätiologisches Moment eine besondere
Wichtigkeit in den Fällen, in welchen sie zum Sündenbock gemacht
*) Li er und Ascher, Beiträge zur Sterilität»frage. Zeitschrift für
Geburtshilfe und Gynäkologie. 18. Bd. S. 292 ff. 1896.
2 ) Lier und Ascher, 1. c. wollen nur 2°/ 0 Heilungen berechnen; ganz
so ungünstig vermag ich (s. u.) die Prognose nicht anzusehen. Gerade hier
erhält allerdings die genaue Diagnose eine ganz besondere Bedeutung. Die
Heilung erfolgt sicher in einer weit größeren Zahl von Fällen, wenn es gelingt,
die Neuinfektion der Frau ebenso wie etwaige Reininfektionen des Mannes
durch konsequentes Verbot jeglichen Geschlechtsverkehrs bis nach sicher-
gestellter Heilung beider Teile zu verhüten.
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
265
werden, sei es, daß an sie die Forderung gestellt wird, sich großen
und eingreifenden Operationen zur Heilung „ihrer“ Unfruchtbarkeit
zu unterziehen, sei es, daß ihnen die Schuld an dem Unglück der
Ehe zugeschrieben und die Unterwerfung unter irgend welche
Scheidungsgründe zugemutet wird. Welcher Unfug nach beiden
Richtungen getrieben wird, soll hier nicht eingehend erörtert werden *).
Ein Schutz für die Betroffenen kann sich in solchen Fällen nur
aus der Evidenz der Diagnose ergeben; wo, wie das ja meistens
geschieht, der Mann leugnet, ist diese wieder von dem Nachweis
des Kokkus abhängig, d. h. wieder, nach dem heutigen Stand der
Dinge, kaum möglich.
Was den dritten von uns angeführten Punkt, die Zulassung
von Witwen gonorrhoekrankgewesener Männer bzw. geschiedener
Frauen zu einer neuen Ehe betrifft, so habe ich gleichfalls die
Schwierigkeit der ungenügenden Erkenntnismöglichkeit mehrmals
peinlich empfunden. Hier handelt es sich entweder darum, vor¬
zubeugen, daß die Frau, selbst noch ansteckungsfähig, davon ab¬
gehalten werden sollte, eine Ehe einzugehen, die wegen des Bestehens
einer ansteckenden Geschlechtskrankheit nach den oben berührten
Gesichtspunkten jederzeit nichtig erklärt werden kann — es kommt
ja nicht in Betracht, ob die Frau sich ihrer Krankheit bewußt
gewesen sein konnte; das wird meistens nicht der Fall sein — oder
aber festzustellen, daß die Unfruchtbarkeit der zweiten Ehe auf der
*) In Betracht kommen namentlich wiederholte operative Eingriffe, wie
ich sie beispielsweise von einem Falle kenne, in welchem ein nnd dieselbe
Unglückliche, ehe sie zu mir kam, dreimal, zuerst von einem Frankfurter
Spezialisten, dann nacheinander von zwei Professoren, noch dazu Kollegen an
derselben Nachbaruniversität verschiedenen Eingriffen unterzogen war. Ich
setzte durch, daß sich der Mann von mir untersuchen ließ. Er hatte beider¬
seitige Epididymitis durchgemacht. Ich schickte die Frau mit einer palliativen
Verordnung fort Nur wenige Tage später traf ich sie in der Klinik eines
Kollegen, aufs neue „zur Heilung ihrer Sterilität“. Scheidungsansinnen wegen
der Unfruchtbarkeit der Ehe kenne ich in besonders unverblümter Form aus
Erlebnissen mit galizischen Juden. Eine ganze Zahl solcher Frauen ist zu
mir gekommen, weil „nach ihrem Gesetz“ der Mann das Recht habe, sie zum
Verzicht auf ihre Rechte zu zwingen. Und die von mir zitierten Männer
bestanden darauf, daß dies ihr Recht sei, mochte ihnen noch so klar gezeigt
sein, daß sie selbst Schuld seien, daß sie z. B. in mehreren Fällen noch deut¬
liche Tripperreste hatten. Beiläufig bemerkt, ist durchaus nicht ausgeschlossen
— ich kenne Beispiele — daß die neue Ehe des Mannes fruchtbar wird, wenn
z. B. günstige Umstände die Infektion der zweiten Frau bis nach der ersten
Schwangerschaft hinausschieben.
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Flescb.
aus der seinerzeit erfolgten Ansteckung von seiten des ersten
Mannes herrührt 1 ). Der Ehekonsens in solchen Fällen ist yon
mindestens ebenso großer Tragweite als da, wo es sich um das
Eingehen der Ehe seitens eines an chronischer Gonorrhoe leidenden
Mannes handelt. Die Möglichkeit, eine sichere Begründung für
eine positive Entscheidung zu schaffen, ist aber eine viel geringere,
weil auch hier wieder das ungelöste Problem der sicheren Diagnose
durch den Evidenznachweis fehlen wird.
Wenn wir nach alledem sehen, daß es eines der wichtigsten
Probleme der Gynäkologie ist, eine sichere Feststellung der gonor¬
rhoischen Ätiologie zu gewinnen, so ist die Frage gerechtfertigt,
ob wir in der Lage sind, nach dem heutigen Stand unseres Wissens
eine solche Feststellung in derselben Art auf den Nachweis des
Neisserschen Kokkus zu gründen wie in der Diagnostik des
Trippers beim Manne.
Der Nachweis des Gonokokkus, so einfach er ist, wo es genügt,
sein Vorhandensein im Abstrichpräparat aus Eiter oder Tripper¬
fäden der männlichen Harnröhre fostzustellen, unterliegt oft schon
bei dem Manne erheblichen Schwierigkeiten, sobald es sich darum
handelt, die letzten Reste, d. h. die Existenz des Keimes in ver¬
einzelten Kolonieen festzustellen. Es ist wohl allgemein üblich
anzunehmen, daß eine Gonorrhoe geheilt sei, wenn in 10 aufeinander¬
folgenden Untersuchungen des durch Massage der Prostata und
der Samenbläschen ausgedrückten Sekretes keine Gonokokken mehr
gefunden worden sind. Die Anerkennung vorhandener Keime als
Gonokokken hängt von deren mikroskopischen und bakteriologischen
Charakteren ab. Bezüglich der ersteren ist im Zweifel maßgebend,
die Entfärbung der Präparate bei der Gramschen Methode. In
Verbindung mit dem intrazellulären Auftreten ermöglicht sie die
Differenzierung von ähnlichen Keimen mit ausreichender Sicherheit.
Die Kulturmethode mittels künstlicher Nährböden kann hier nicht
] ) Hier nur ein Beispiel: Ein Mann beiratet die Witwe seines eigenen
Bruders, die, von diesem infiziert, ohne zu wissen weshalb, unheilbar steril
ist Der Mann, der aus erster Ehe Kinder hat, brennend aber auch von der
zweiten Frau Nachwuchs wünscht, wie er mir erklärte schon deshalb, um
deren Zukunft besser sichern zu können, wandert von Arzt zu Arzt, weil er
sich mit dem ihm mitgeteilten Grund, Impotenz des Verstorbenen wegen seiner
Phthise, naturgemäß nicht beruhigt Ebenso die Frau, bei welcher eine ob¬
jektive Feststellung des Tatbestandes resultatlos bleibt Vor einer Aufklärung
sichert sie außer der Schonung des Andenkens des Verstorbenen die Schweige¬
pflicht des Arztes, der diesen behandelt hat
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie. 267
die Bedeutung beanspruchen, wie bei anderen Mikroorganismen;
sie wird kaum je zu Resultaten führen, die über das auf mikro¬
skopischem Weg Erreichbare hinausgehen. Darin stimmen die
Autoren überein. 1 ) Erweisen sich die aus den Tripperfäden ge¬
wonnenen Abstrichpräparate und die aus ausgedrückten Sekreten
der Harnwege erzielten Abstrichpräparate gonokokkenfrei, bleiben
auch Provokationsversuche, bei wiederholter Entnahme, im mikro¬
skopischen Präparat ergebnislos, so muß man sich zufrieden geben.
Leider aber ist es oft recht schwer, die Keimfreiheit, die ja doch
immer nur ein negatives Kriterium darstellt, mit apodiktischer
Sicherheit zu konstatieren. In einem Fall, in welchem sehr viel
von dem Ergebnis abhing, fand sich bei der neunten Unter¬
suchung, nachdem acht vorhergegangene negativ ausgefallen waren,
in einem, dem zuletzt von 4 Ausstrichpräparaten des durch
Massage gewonnenen Prostatasekretes untersuchten, eine kleine
Gruppe von unverkennbaren Gonokokken; ein glücklicher Zufall,
der die spätere Infektion der Ehefrau, nachdem die weiteren Unter¬
suchungen Sicherheit gegeben zu haben schienen, anscheinend nur
verschoben nicht verhütet hat; wenigstens ist sie unter den Er¬
scheinungen des Cervixkatarrh es usf. steril geblieben. Das ist ja
zum Glück eine Ausnahme; sie zeigt aber, wie sehr wir, mag auch
die mikroskopische Untersuchung eine recht weitgehende Garantie
geben, immer noch mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß trotz
aller Sorgfalt in irgend welchen Buchten des Genitalapparates ver¬
steckt gebliebene, minimale Spuren wieder auflebend die Voraus¬
sage des gewissenhaftesten Arztes Lügen strafen können.
Und doch steht all das noch günstig gegenüber den Schwierig¬
keiten, die sich der Feststellung der Gonorrhoe beim Weibe ent¬
gegenstellen. Das könnte in Widerspruch zu kommen scheinen
mit den Ergebnissen der Untersuchung an reglementierten Pro¬
stituierten bei ihrer regelmäßigen Kontrolle. Es werden deren
eine so große Zahl mit Gonorrhoe behaftet gefunden, daß man
x ) Als berufene Autorität darf ich hier auf Herrn Professor Neisser,
den Leiter der Untersuchungsstation am königlichen Institut für experimen¬
telle Therapie in Frankfurt a. M., verweisen. Nach den wiederholten ge¬
sprächsweisen Äußerungen desselben, die er auch u. a. im hiesigen ärztlichen
Verein in einer diese Fragen berührenden Diskussion über die Bedeutung des
Gonokokkus in der Diagnose der gynäkologischen Praxis mitgeteilt hat, wird
fast nie, wo das mikroskopische Präparat negativ ausgefallen ist, ein positives
Ergebnis aus dem Kulturversuch herauskommen.
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Flesch.
nicht wohl annehmen kann, es seien nur Ausnahmefälle, die auf
diesem Weg zur Konstatierung gelangen. Auch während des
Spitalaufenthaltes derselben wird die fortgesetzte und wiederholte
Untersuchung von den Leitern keineswegs als ergebnislos geschildert.
Und doch scheint sie nicht alles zu leisten, was verlangt werden
muß. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ein so sorgsamer Unter¬
sucher, wie der Stuttgarter Polizeiarzt Dr. Hammer, einer der
ersten, der es versucht hat, die mikroskopische Untersuchung auf
Gonokokken an seinem gerade wegen seiner Kleinheit zur Probe
besonders geeigneten Material systematisch durchzuführen, zu dem
Ergebnis gelangt, daß für die Diagnose der Gonorrhoe anderen
Merkmalen, speziell dem Vorkommen von Eiterzellen in den Sekreten
genügender diagnostischer Wert zukomme, um auf das Bestehen
des Tripper zu schließen? 1 )
Es würde zu weit führen, hier die gesamte Literatur durch¬
zuarbeiten, um zu beweisen, daß der bakteriologische Nachweis des
Gonokokkus bei der chronischen Gonorrhoe des Weibes noch nicht
gesichert genug ist, um für die endgültige Beurteilung des einzelnen
Falles zur Conditio sine qua non gemacht zu werden. Vorläufig
stehen sogar die Angaben der Autoren, welche positive Resultate
bei ihren Kulturversuchen aufzuweisen haben, in diametralem Wider¬
spruch, sobald es sich um die Kriterien des Pilzes handelt. Diese Ver¬
schiedenheiten werden ja verständlich, wenn man in Betracht zieht,
daß das Ergebnis des Versuches bei dem außerordentlich empfind¬
lichen Objekt, welches der Gonokokkus darstellt, von einer großen
Zahl von Bedingungen abhängt, die wohl kaum je von zwei Autoren
ganz gleichartig gehandhabt worden sind: Abstammung des Materials
von akuten oder chronischen Fällen, aus abgeschlossenen Herden
l ) Hammer. Über Prostitution und venerische Erkrankungen in Stuttgart
und die praktische Bedeutung des Gonokokkus. Archiv für Dermatologie und
Syphilis 38. Band. Heft 2. „Ich muß mich wundern, daß die übrigen Eigen¬
schaften des mikroskopischen Präparates noch nie ausdrückliche Berücksich¬
tigung oder Verwertung für die Diagnose bei der Massenuntersuchung gefunden
haben. Und doch ist ein solches außerordentlich wichtiges Moment
in dem Verhältnis der Epithelzellen und Eiterzellen zueinander
gegeben, wie es uns das Mikroskop erkennen läßt. . . . Das einzige
zuverlässige Kriterium für die Heilung der Urethralgonorrhoe ist meiner
Überzeugung nach das, daß mehrmals vollständiges Verschwinden der Eiter¬
zellen aus dem mikroskopischen Präparat konstatiert worden ist. . . . Der
Fehler wäre nicht groß, wenn man einfach alle Individuen, deren Urethral¬
sekret sich mikroskopisch als eiterig erweist für gonorrhoisch erklären wollte* 1 .
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
269
oder Oberflächensekreten, Verschiedenheit der zur Züchtung be¬
nutzten Nährböden, u. a. m. Ich verweise bezüglich der Literatur
auf die vorzügliche Arbeit von Wild bolz, 1 ) in welcher auch das
von anderen Forschern beigebrachte Material einer sorgfältigen Kritik
unterzogen ist. Überblickt man die Zahl der zuverlässigen Autoren,
die nach der von Wildbolz gegebenen Zusammenstellung auf dem
Wege der Züchtung Gonokokken bei chronischen Frauenerkrankungen
gefunden haben, wo solche im mikroskopischen Präparat vermißt
worden waren 2 ), so könnte man zu der Hoffnung kommen, daß
schließlich die Züchtung doch für die Zukunft das maßgebende
Verfahren sein werde. Aber Wildbolz selbst gelangt nach seiner
genauen Prüfung des gesamten Materiales zu der Ansicht, daß, bis
wir für die Gonokokken sichrere Züchtungsverfahren kennen, als
bisher, der sorgfältigen mikroskopischen Untersuchung des Sekretes
bei der Diagnose der Gonorrhoe stets noch die hauptsächlichste
Bedeutung zugemessen werden muß. Die Kultur wird häufig die
Diagnose bestätigen können, aber nur selten wird sie uns die An¬
wesenheit von Gonokokken beweisen, welche das Mikroskop nicht
erkennen ließ. Handelt es sich also um ein Material, das von
vornherein des mikroskopischen Gonokokkennachweises entbehrt, so
‘) Bakteriologische Studien über Gonokokkus Nei88er. Aus der derma¬
tologischen Universitätsklinik Bern (Prof. Jadassohn) von Dr. Hans Wild -
bolz, Spezialarzt für Urologie in Bern. Archiv für Dermatologie und Syphilis.
64. Band. 2. Heft
a ) Wertheim, Die aszendierende Gonorrhoe beim Weibe, Archiv für
Gynäkologie Bd. 42. Kiefer, Bakteriologische Studien zur Frage der weib¬
lichen Gonorrhoe. Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie, Festschrift
gewidmet August Martin. Berlin 1895. Wel an der, Über die Untersuchung
von Frauen iu Hinsicht auf die Diagnose der Gonorrhoe. Archiv für Der¬
matologie und Syphilis Bd. 41. (Autoreferat). Reymond, (Gonokokken bei
Salpingitis) Baumgartens Jahresbericht 1898 S. 109. HallRecherches
sur la bacteriologie du canal. genital de la femme. Th&se de Paris. 1898.
Wildbolz zitiert ferner eine Erfahrung Strömbergs über Gonokokken¬
kulturen aus den Sekreten auf Grund der mikroskopischen Untersuchung
geheilt erklärter Prostituierter.
Ganz neuerdings hat in einer mir erst nach Abschluß dieser Arbeit zu¬
gegangenen Abhandlung — ich kenne sie zunächst nur im Referat dieser
Zeitschrift Fritz Meyer (Über chronische Gonorrhoe und Gonokokkennnach-
weis. Deutsche medizinische Wochenschrift 1903 Nr. 36, ref. in dieser Zeit¬
schrift. Bd. II. S. 34.) in 29 Fällen aus Tripperfäden deren mikroskopische
Untersuchung negativ ausgefallen war, auf kulturellem Weg die Kokken ge¬
funden, ein Beweis, daß das hier über die Zuverlässigkeit des Gnonkokken-
nachweis gesagte mehr als ich anfangs dachte auch für den Mann gilt.
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Flesch.
wird auch das Kultur verfahren nicht viel erwarten lassen. Daß
dem tatsächlich so ist, haben wir bei der Verfolgung einer ganzen
Anzahl unzweifelhafter Tripperkrankungen erprobt, bei welchen das
klinische Bild durch die Anamnese sowohl, als durch den Nach¬
weis der Gonorrhoe des Ehemannes zur Evidenz vervollständigt
werden konnte.
II. Bakteriologische Untersuchungen an 20 Gonorrhoe¬
fällen weiblicher Erkrankter.
Die folgenden Untersuchungen sind auf mein Ansuchen von
meiner Assistentin, Fräulein Dr. med. Maria Tobler, ausgeführt
worden. Sie betreffen 10 Frauen, bei welchen die Gonorrhoe des
Ehemannes während der Behandlungszeit festgestellt war, 2 unter
festem Verhältnis lebende Mädchen und 8 Frauen, hei welchen kein
Zweifel über das Wesen der Sache bestehen konnte, wenn auch
der Gonokokkennachweis für den Mann ausstand. Die Unter¬
suchungsmethoden waren die gewöhnlichen, die Nährböden wurden
anfangs von Grübler in Leipzig bezogen; später — durchweg für
die hier berichteten Fälle — hatte Herr Professor Neißer die
Güte, uns im königlichen Seruminstitut hergestellte Nährböden,
Ascitesagar und Taubenblutagar, zur Verfügung zu stellen. Der¬
selbe hatte auch die große Freundlichkeit, wiederholt die Präparate
zu kontrollieren. Seiner großen Geduld und seinem eingehenden
Interesse kann ich hier nicht genug Dank aussprechen.
1. Frau X, 3 Jahre verheiratet. Der Ehemann hat vor der Ehe
mehrmals Tripper gehabt. Die Patientin ist unmittelbar nach der Ver¬
heiratung an Fluor, Wundsein u. s. f. erkrankt. Später stellen sich
paraproktitische Abszesse, die eine Inzision von der Scheide aus und
später Bildung einer Mastdarmfistel bewirken, ein. Nach der Heilung
gesteigerte Beschwerden wegen des Fluors etc. Längere erfolglose Be¬
handlung in einer benachbarten Universitätsklinik, später Wiedereintritt
in die Behandlung. Nunmehr Feststellung des Fortbestandes des Trippers
bei dem Mann und Nachweis der Gonokokken in den Fäden. Damals
(18. III. 1903) Untersuchung mit nachfolgender Behandlung, die allerdings
wegen der ganz abnormen Empfindlichkeit der Patientin auf die größten
Schwierigkeiten stößt. Bedeutende Besserung. Verschwinden des Fluor
bei absoluter sexueller Abstinenz. Behandlung des Mannes durch einen
Spezialisten. Verschwinden der Kokken aus den Fäden sowohl für das
Mikroskop als für die Kultur. Längerer Kurgebrauch in Schwalbach.
Allgemeinbefinden wesentlich gebessert. Die Nervosität durch die Unter¬
lassung aller örtlichen Eingriffe fast völlig beseitigt. Der wegen heftiger
Schmerzen seit Jahren unterbliebene Beischlaf wird — anfangs mit
Gebrauch von Kondom bis nochmalige mikroskopische und kulturelle
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
271
Untersachong den Mann gonokokkenfrei erklärt hat — wieder ansgeübt.
Alsbald tritt der Ausfluß wieder ein nachdem die letztere Vorsichts¬
maßregel weggefallen ist. Weitere Behandlung und Untersuchung ver¬
weigert, da die Patientin sich dauernd wohl fühlt und sich mit ihrer
Sterilität abgefunden hat.
Untersuchungen 18. III. Urethralsekret fehlt. Cervixsekret reichlich.
Abstrichpräparat: massenhaft Stäbchen und Kokken, letztere Gram-positiv.
Kultur: Gram-negative Stäbchen.
18. VIII. Urethalsekret fehlt. Cervixsekret mäßig. Abstrichpräparat:
zahllose Leukocyten, Gram-positive Diplokokken; kleine Gruppen von
Kokken. Kultur: Staphylokokken; Gram-positive Diplokokken.
2. Frau X, 8 Jahre verheiratet; hat vor einem Jahr ein Kind gehabt
das kurz nach der Geburt asphyktisch gestorben ist. Ist nicht mehr in
Hoffnung gekommen und will wegen der Sterilität behandelt sein.
Starker Fluor; metritisch vergrößerter Uterus mit anscheinend freien
Adnexen. Der Ehemann verweigert jede Untersuchung; er sei nie krank
gewesen, habe aber „zu aller Vorsicht vor seiner Verlobung sich nicht
nur untersuchen, sondern auch 12 mal ausspülen lassen.“ Der als sein
Arzt genannte Spezialist erklärt demgegenüber, daß der Herr X. mit
chronischem Tripper und reichlichen Gonokokken bei ihm in Behandlung
gestanden und ungeheilt diese verlassen habe.
Untersuchung 18. III. Urethalsekret spärlich; Abstrichpräparat:
wenig Leukocyten; Gram-negative Kurzstäbchen. Cervixsekret mäßig;
Abstrichpräparat: wenig Leukocyten; zahlreiche lange schlanke Stäbchen,
dazwischen einzelne Kurzstäbchen und Diplokokken. Kultur: schlanke
Gram-positive Stäbchen; Gemisch von Stäbchen und Kokken. Gram-
positiv.
3. Frau X, seit etwa 8 Jahren verheiratet; hat mehrere Kinder.
Seit längerer Zeit, weil das Einkommen des Mannes nicht ausreicht, in
einem Geschäft tätig, während der Mann als Reisender in einem Kol¬
portagegeschäft arbeitet, als solcher meist während der Woche abwesend
ist. Sie kommt in die Klinik weil sie seit 14 Tagen an Fluor leidet.
Vor 5 Tagen hat sich bei dem Ehemann ein typischer Tripper einge¬
stellt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Patientin zuerst erkrankt
war und den Ehemann, einen beschränkten, aber sicher von jedem Ver¬
dacht freien Menschen infiziert hat. Bei dem Ehemann werden massen¬
haft Gonokokken gefunden.
26. III. Urethalsekret ziemlich reichlich. Abstrichpräparat: viele
Leukocyten; intrazelluläre Diplokokken, die etwas größer erscheinen, als
Gonokokken und Gram-positiv färben, in reichlicher Menge. Kultur:
zweierlei Kolonien; größere weiße aus dicken Gram-positiven Stäbchen;
kleine Gram-positive Diplokokken. Cervixsekret: ziemlich reichlich.
Abstrichpräparat: Leukocyten mit Schleim vermischt; mikroskopisch
wie Urethra. Kultur: wie Urethra (ca. 10 Versuche).
18. IV. Derselbe Befund.
4. Frau X. Seit längerer Zeit in Behandlung. Der Ehemann
steht wegen Tripper in Behandlung. Bei der Frau waren 2 Monate
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Flesch.
vor den Kulturversuchen im Deckglaspräparat typische intrazelluläre
Gonokokken gefunden.
Urethralsekret: spärlich; mikroskopisch kleine Häufchen von Leuko-
cyten; nur einzelne Stäbchen. Kultur steril. Cervixsekret: zähes wei߬
liches Sekret; reichliche Leukocyten; zahlreiche Stäbchen. Kultur: Gram¬
positive Kokken.
5. Frau X. Ehemann hat Gonorrhoe; in spezialistischer Behandlung
X. 1902. Im Deckglaspräparat typische Gonokokken in Urethra und
Cervix.
26.1.03. Urethra: spärliche Leukocyten; zahlreiche Kurzstäbchen;
Kokken in kleinen Gruppen. Kultur: Staphylokokken. Cervixsekret:
ziemlich zäher Fluor; Abstrichpräparat: ziemlich zahlreiche Leukocyten,
einzelne Stäbchen und Kokken. Kultur: steril.
6. Frau X. Seit ca. 10 Jahren verheiratet; hat ein Kind; sie lebt
seit dessen Geburt in fakultativer Sterilität durch Gebrauch von Mensinga-
Pessaren. Der Ehemann ist Handlungsreisender und gibt zu, seit der
Verheiratung mehrmals infiziert gewesen zu sein. Durch sein Berufs«
leben als Reisender ist er außerstande seine chronische Gonorrhoe heilen
zu lassen.
Urethra, Abstrichpräparat: Leukocyten in mäßiger Zahl, dazwischen
Gram-negative Kurzstäbchen und Gram - positive Diplokokken. Kultur:
Staphylokokken. Cervixsekret: ziemlich reichlicher zäher Fluor. Ab¬
strichpräparat: Schleirafäden mit einzelnen Leukocyten. Reichliche Gram¬
positive Diplokokken. Kultur: Streptokokken.
7. Frau X. Seit langem steril verheiratet; der Ehemann gibt zu,
während der Ehe Gonorrhoe gehabt zu haben.
IV. 1903. Urethralsekret: spärlich. Viel Plattenepithelien, wenig
Leukocyten. Abstrichpräparat: sehr zahlreiche Gram-negative Stäbchen
und Häufchen von Gram-positiven Kokken. Kultur: Gram-positive Kurz¬
stäbchen; große dicke Gram-positive Diplokokken. Cervix sekret: dick,
gelb, reichlich. Abstrichpräparat: Schleimfäden und Leukocyten; Gram¬
positive Stäbchen und reichliche Kokken. Kultur: Staphylokokken.
VII. 1908. Urethra, Abstrichpräparat: keine Kokken mehr; massen¬
haft lange dicke Gram-positive Stäbchen. Cervixsekret: noch zahlreiche
Leukocyten, Gemisch von Diplokokken und Kurzstäbchen, alles Gram¬
positiv. Kultur: größere Kolonien, Gram-positive Diplokokken; kleine
Kolonien, Gram-negative Stäbchen.
8. Frau X, nach mehrjähriger Ehe geschieden. Der Ehemann aus¬
schweifender Wüstling, der alle möglichen Exzesse noch während der
Ehe getrieben hat. Er ist geständig, Tripper zu haben. Trat in die
Ehe nach mehrmonatlicher spezialistischer Behandlung angeblich geheilt
und gonokokkenfrei (laut Attest), doch brauchte er noch zu Beginn der
Ehe die von dem betreffenden Urologen, einer Autorität auf diesem
Gebiete, ihm verschriebenen Injektionen, wie bei dem Scheidungsprozeß
festgestellt wurde, war also mit Gonorrhoe in die Ehe getreten, obwohl
Gonokokken momentan nicht nachzuweisen waren. Die Ehefrau blieb
während der ganzen Dauer der Ehe krank bis nach der Übernahme der
Behandlung der eheliche Verkehr sistiert wurde. Die Patientin kann
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
278
seither, soweit das bei aszendierender, auf die beiden Tuben übergetretener
Gonorrhoe möglich ist, als geheilt gelten.
Urethra: sehr reichliches Sekret. Abstrichpräparat: massenhafte
Leukocyten, wenig Mikroorganismen, einzelne extra- und intrazellulare
Diplokokken und Stäbchen. Kultur: Gram-negative Kurzstäbchen; Gram¬
positive Diplokokken. Cervixsekret: reichlich gelber dicker Schleim;
mikroskopisch zahlreiche Leukocyten. Kultur wie Urethra.
9. Frau X. lebt in steriler Ehe. Der Ehemann hat vor der Ver¬
heiratung Gonorrhoe gehabt und sich vor 2 Jahren extramonial wieder
infiziert. Urethra: spärliches Sekret; keine Leukocyten. Kultur: Sta¬
phylokokken. Cervix: wenig glasiges Sekret. Abstrichpräparat: Seltene
Leukocyten. Kultur: Staphylokokken; einzelne Kolonien von Gram¬
positiven dicken Kurzstäbchen.
10. Frau X. Der Ehemann gibt Gonorrhoe zu und hat deutliche
Tripperfäden.
Urethra: kein Sekret. Cervix: reichliches glasiges Sekret. Abstrich¬
präparat: wenig Leukocyten; einzelne Gram-negative Stäbchen; Gram¬
negative Kokken. Kultur: in sämtlichen Röhrchen ein schlankes, große
verzweigte Haufen bildendes Stäbchen.
Das Ergebnis der vorstehenden 10 Untersuchungen von Fällen
unzweifelhafter gonorrhoischer Infektion ist mithin in einem einzigen
Fall (Nr. 10) bei der Frau ein genügend charakteristischer Gono¬
kokkennachweis; in diesem nur im Abstrichpräparat. Die Kultur
ist ausnahmslos ergebnislos.
Es seien weiter 2 Fälle unzweifelhafter Gonorrhoe bei Unver¬
heirateten angereiht.
11. Fräulein X. lebt seit Jahren in wilder Ehe bzw. Verhältnis
mit einem Herrn, der den gebildeten Ständen angehörig, seine Krankheit
kennt und jetzt sich heilen lassen will, um dann das Mädchen zu heiraten.
Sie hat einmal vor 3 Jahren abortiert und ist seitdem steril geblieben.
Hat wiederholt parametritische Beschwerden gehabt. Diese wiederholen
sich auch während der Behandlung, jedenfalls, weil trotz aller Mahnungen
keine Abstinenz seitens des Bräutigams gehalten wird.
Urethalsekret: wenig Leukocyten, Plattenepithelien. Massenhaft
Bazillen und Stäbchen; keine Gonokokken. Cervix: Abstrichpräparat
reichliche Leukocyten und Schleim. Sehr zahlreiche Stäbchen und
Kokken; letztere Gram-positiv. 1 Monat später: noch sehr viel Bazillen,
darunter auch Gram-negative Kokken (Gonokokken). — Kultur fehlt.
12. Fräulein X. Nicht registrierte Prostituierte, z. Z. noch nicht
vulgivaga. Später unter dem Drucke eines Zuhälters tiefer gesunken
und syphilitisch infiziert.*) 3 Monate früher typische Urethral- und
•Cervixgonorrhoe mit intrazellulären Gonokokken. Damals keine Kultur.
Urethra: mäßig viel Sekret. Abstrichpräparat: ziemlich viel Leuko-
*) S. Fleseh, Herrenmoral. Eine Erwiderung an Frl. Anna Pappritz,
Frauenrundschau 1903, S. 481.
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274
Fleech.
cyten, keine Gonokokken; massenhaft andere Kokken und Stäbchen.
Kultur: Kokken in Häufchen Gram*positiv; kleinere Gram-positive Diplo¬
kokken. Cervix: ziemlich reichliches Sekret. Abstrichpräparat wenig
Leukocyten; Gram-positive Diplokokken. Kultur: Mischkultur von
Gram-positiven Kokken und Gram-negativen Stäbchen.
Auch in diesen beiden Fällen ist das ausschlaggebende Resultat
ein negatives. In dem ersten bei sichergestellter Gonorrhoe des
Bräutigams und sowohl durch den Verlauf der in Abort endenden
ersten Schwangerschaft als durch die Parametritis manifestierten
Infektion des Mädchens keine nachweisbaren Gonokokken; das
spätere Auftreten offenbar die Folge einer neuen Aussaat In dem
anderen Fall (12) 3 Monate nach dem Nachweis der Kokken Un¬
möglichkeit sie wieder zu finden, trotz zweifellosem klinischen
Krankheitsbild.
Es sind hier noch einige weitere Fälle mitzuteilen, in welchen
wir die mikroskopische und Züchtungsmethode zur Anwendung
bringen konnten, ohne jedoch die Gonorrhoe des Mannes konstatiert
zu haben. Sie vermehren nur das Material solcher Beobachtungen,
in welchen die klinische Diagnose der Gonorrhoe von der bakte¬
riologischen Nachprüfung im Stich gelassen ist, sei es, daß der
mikroskopische, sei es, daß der kulturelle Nachweis mißlang.
13. Frau X. Urethalsekret spärlich; Cervixsekret ziemlich reichlich.
Abstrichprftparat: massenhafte Leukocyten; intrazelluläre Gram¬
negative Diplokokken (Gonokokken). Kultur: kleine tautropfen¬
förmige Kolonien; mikroskopisch Staphylokokken.
14. Frau X, Witfrau. Steril verheiratet gewesen, zur Behandlung
gekommen wegen einer in Vereiterung übergegangenen Bartholinischen
Drüsencyste.
Urethra: reichliche Leukocyten, Kurzstäbchen; Häufchen von Gono¬
kokken. Kultur: Gram-negative Kurzstäbchen, wenige Gram-positive
Diplokokken. Cervix: mäßig viel Sekret. Abstrichpräparat: Häufchen
von Leukocyten in Schleim; Kurzstäbchen einzelne Gram-positive Diplo¬
kokken. Kultur: plumpe Stäbchen, Schleifstein förmig mit kolbigen Auf¬
treibungen, Gram-positiv.
15. Frau X. Der Ehemann hat vor der Verheiratung eine Gonorrhoe
ohne ärztliche Behandlung durchgemacht; eine jetzt vorgenommene spe-
zialistische Untersuchung ergibt indessen: Urethritis chronica mit Kokken
und Bazillen, aber nichts spezifisches. Urethra: einzelne Leukocyten,
wenig Stäbchen. Kultur: Staphylokokken. Cervix: sehr zahlreiche Leuko¬
cyten. Kultur: (8 Röhrchen), teilweise steril, teilweise Staphylokokken.
16. Frau X, starker Ausfluß seit 14 Tagen.
Urethra: spärliches Sekret Abstrichpräparat: wenig Leukocyten.
Kultur: dicke Gram-positive Kurzstäbchen, dazwischen Gram-positive
Diplokokken. Cervix: dickes gelbes Sekret. Abstrichpräparat: Leuko-
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
275
cyten in Schleim eingebettet; ziemlich reichliche Gram-positive Diplo¬
kokken, nicht in typischer Lagerung. Kultur: (6 Röhrchen); einzelne
steril, andere wie Urethra. Bei einer weiteren Untersuchung Gram¬
negative feine Stäbchen.
17. Frau X. Kommt zur Behandlung mit ausgesprochener chro¬
nischer Parametritis.
Urethra: kein Sekret. Cervix: wenig weißliches Sekret. Abstrich¬
präparat: spärliche Gram-positive Stäbchen. Kultur: Gram-positive
Stäbchen, teilweise körnig zerfallen.
18. Frau X. Ehemann leugnet, war aber bereits anderwärts in
spezialistischer Untersuchung, angeblich mit negativem Resultat. Urethra:
spärliches Sekret. Abstrichpräparat: keine Leukocyten; massenhaft kurze
Gram-positive Stäbchen, dazwischen Gram-positive Diplokokken. Cervix:
viel Sekret. Abstrichpräparat: Schleim mit einzelnen Leukocytenhäufchen,
sehr reichlich Gram-positive und Gram-negative Stäbchen, einzelne Kokken¬
häufchen. Kultur: in einem Röhrchen Staphylococcus aureus; in den
anderen Gram-positive Kurzstäbchen.
19. Frau X. Wegen Parametritis in Behandlung.
Urethra: dünnflüssiges, ziemlich reichliches Sekret. Abstrichpräparat:
einzelne Leukocytenhäufchen; Staphylokokken, Gram-positive Diplo¬
kokken. Kultur. Cervix: Sekret reichlich dünnflüssig. Abstrichpräparat:
sehr reichliche Leukocyten, massenhaft Gram-positive extrazelluläre
Kokken und Stäbchen. Kultur: dicke Gram-positive Kurzstäbchen.
20. Frau X. Wegen Parametritis in Behandlung.
Urethra: gerötet; reichlich dünnflüssiges Sekret. Abstrichpräparat:
reichliche Leukocyten; sehr zahlreiche dicke Gram-positive Diplokokken,
teilweise intrazellulär. Kultur: Gram-positive Diplokokken, vorherrschend;
dazwischen plumpe Gram-positive Stäbchen. Cervix: reichlicher dünner
Eiter aus einer stark erodierten Portio. Abstrichpräparat: reichliche
Leukocythen; kleine Gram-positive Diplokokken. Kultur: (ca. 10 Röhrchen)
wie aus der Urethra.
Die fast ausschließlich negativen Ergebnisse der vorstehenden
Untersuchungen mit dem Ergebnis anderer Forscher zu vergleichen,
erscheint schwer; von seiten derer, welche bessere Erfolge erzielt
haben, könnte ungenügende technische Ausführung der Versuche
ins Feld geführt werden. Die, welche gleich uns negative Ergeb¬
nisse verzeichnen, würden dann der gleichen Unvollkommenheiten
schuldig erscheinen, falls nicht, wie ich glaube, das negative Resultat
weniger auf die mangelhafte Technik gegenüber dem schwierigen
Objekt, als auf die eigentümlichen Versuchsschwierigkeiten, mit
welchen die wissenschaftliche Arbeit in der Privatpraxis zu kämpfen
hat, zurückzuführen ist. Mit zwei Ausnahmen beziehen sich unsere
Untersuchungen auf verheiratete Frauen, darunter teilweise den
bessersituierten Schichten zugehörige. Von diesen letzteren nur
die Erlaubnis zu regelmäßiger Sekretentnahme zu erlangen, ist
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Flesch.
schwer; doppelt schwer unter den eigenartigen Umständen, die sich
daraus ergeben, daß ausgeschlossen bleiben muß, daß die Patientin
irgendwie Verdacht schöpft. Daß gerade die Zeit, in welcher wir
arbeiteten, durch die in Frankfurt allgemeine Beachtung der auf
eine venerische Infektion hindeutenden Momente während der das
Tagesgespräch bildenden Abhaltung des ersten Kongresses der
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten besondere Schwierigkeiten nach der angedeuteten Richtung
bewirkte, darf wohl auch erwähnt werden. Und doch mußte gerade
auf die Gewinnung des Materiales wenigstens einiger Fälle von den
gebildeten Kreisen angehörigen Frauen Gewicht gelegt werden,
weil hier seitens der Patientinnen bessere anamnestische Daten zu
erwarten waren. Unter keinen Umständen ist an eine so regel¬
mäßige Wiederholung der Untersuchung zu denken, wie etwa in
der Prostituierten-Abteilung eines Krankenhauses. Es will mir
aber außerdem erscheinen, als wenn hier noch ein Moment in Be¬
tracht gezogen werden müßte, das, so viel mir bekannt, in der
Literatur noch nicht berücksichtigt ist Ich möchte hier zunächst
auf die eigentümliche Feststellung des Falles II, eines der wenigen,
in welchen wir sichere Gonokokken gefunden haben, hinweisen.
Als das Mädchen zuerst, in einer Zeit in der sie außer Verkehr
mit ihrem auf Reisen befindlichen Liebhaber war, untersucht wurde,
fehlten die Kokken; später finden sie sich, nachdem derselbe vor¬
übergehend sie besucht hatte. Der häufige positive Befund bei Dirnen
— ich selbst kann das nach den Untersuchungen, welche Herr
Dr. med. Jourdan mit mir angestellt hat, als uns auf kürzere
Zeit die Behandlung einer Anzahl eingeschriebener Dirnen in dem
Bethanienvereinskrankenhaus auf dem Mittelweg in Frankfurt über¬
tragen war, bestätigen — erklärt sich vielleicht sehr einfach da¬
durch, daß bei diesen stets frische Aussaaten der Untersuchung
voran gehen. Bei den Frauen, welche wir untersuchen konnten,
war durch die seltenere Ausübung des Beischlafes in der Ehe,
sicher auch in manchem Fall durch dessen gänzliche Einstellung,
die bereits seit kürzerer oder längerer Zeit vor der Untersuchung
wegen der Beschwerden 1 ), die die Patientin zum Arzte führte, er¬
folgt war, die Möglichkeit gegeben, daß andere Bakterien an den
*) Diese Beschwerden pflegen bei der Prostituierten — als Colica scor-
torum — nicht nur ignoriert, sondern sogar als Zeichen der Sicherheit vor
Konzeption betrachtet und deshalb von den Inhabern von Bordellen als etwas
für die Mädchen wünschenswertes angesehen zu werden!!
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
277
der Entnahme des Sekretes zugänglichen Stellen den Gono¬
kokkus überwuchert hatten. Nicht als ob derselbe dadurch ver¬
schwunden wäre; in der Tiefe vegetiert er ebenso weiter, wie
in den Krypten der hinteren Urethra; die große Gefahr der
aszendierenden Gonorrhoe verbietet bei dem Weibe Provokations¬
versuche, oft genug aber liefert das Wiederauftreten der Gono¬
kokken anläßlich der natürlichen provokatorischen Reizung bei der
menstrualen Kongestion den Beweis ihrer Fortexistenz. Aus der
vorangegangenen intensiven Aussaat und deren Anpassung an den
spezifischen individuellen Nährboden im einzelnen Fall erklärt sich
auch ungezwungen, daß wir bei Prostituierten in den klinischen
Abteilungen durch lange Zeit hindurch das Leben der Kokken
verfolgen können, während bei der Privatpatientin die spärliche
Aussaat, soweit sie auf der freien Fläche der Schleimhaut in Kon¬
kurrenz mit dessen saprophytischen Besiedlern unterliegt, bald bis
auf die an günstige Brutstellen gelangenden Keime außer Sicht
kommt. Daß auch bei der scheinbar gonokokkenfrei aus dem
Hospital entlassenen Dirne es so liegt, ist die für den Abolitionis¬
mus der auf dessen Seite stehenden Ärzte grundlegende Tatsache.*)
Nicht die Mangelhaftigkeit der Technik, sondern die Eigenart des
Untersuchungsobjektes muß also für die Erfolglosigkeit der Be¬
obachter, welche mit negativem Erfolg gearbeitet haben, verantwort¬
lich gemacht werden.
In dieser Feststellung liegt aber der Kernpunkt, um welchen
sich die für die Beantwortung der im Eingang gestellten Fragen
beizubringenden Argumente zu ordnen haben. Die bisherigen
Methoden des bakteriologischen Nachweises der Gonorrhoe bei der
Frau sind noch weit davon entfernt, den praktischen Anforderungen
zu genügen. Soweit hierfür die technische Fertigkeit des Unter¬
suchers in Betracht kommt, ist die Arbeit eine weit unsichere als
etwa bei dem Nachweis der Tuberkelbazillen Der nachzuweisende
Bazillus findet sich von vornherein in einer derartigen Mischung mit
allen möglichen anderen Keimen, die ihm an Wachstumsenergie
und Widerstandskraft überlegen sind, daß es nicht zu verwundern
ist, wenn selbst in der geübtesten Hand das Resultat nur selten
ein positives wird. Darf aber eine von äußeren Zufälligkeiten so
*) Ströhmberg gelang es, bei zahlreichen Prostituierten, welche auf
Grund des klinischen Befundes und der mikroskopischen Untersuchung als
geheilt betrachtet wurden, auf dem Thal mann sehen Nährboden Gonokokken*
kulturen zu erzielen“, zitiert nach Wildbolz L c. 8. 295.
Zeitachr. t Bekämpfung d. Oeeehleehtekrankh. IL 21
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278
Flesch.
abhängige Methode für Entscheidungen, wie sie hier in Frage
kommen, ausschlaggebend werden?
Ein Einwand, der hier erhoben werden könnte, kann nicht
übergangen werden. Seitens der Urologen wird der Nachweis des
Gonokokkus bei dem Manne als ein leichter und relativ sicherer
betrachtet Ist es berechtigt, wenn wir jetzt für den Nachweis bei
der Frau ein non liquet proklamieren? Vorweg möchte ich davon
absehen, daß allerdings es noch zu prüfen wäre, ob die negativen
Befunde des Andrologen, auf welche sich der Ehekonsens seitens
derselben gründet, nicht in gar manchen Fällen später durch den
Verlauf ein trauriges Dementi erhalten wird. 1 ) Mir ist ein Erlebnis
nach dieser Seite sehr belehrend geworden. Als sich bei einer jungen
Frau nach der ersten (und seit 8 Jahren einzigen) Entbindung
die klinischen Symptome der aszendierenden Gonorrhoe einstellten,
examinierte ich den Ehemann, der sofort zugab, vor der Ehe eine
sehr langwierige Gonorrhoe gehabt zu haben. Er war von einem
ausgezeichneten, sorgfältigen und gewissenhaften Urologen behandelt
und nach seiner Angabe von diesem als vollständig geheilt auf
Grund mehrfach in längeren Zwischenräumen wiederholter Unter¬
suchungen als gesund erklärt worden. Bei der Frau wurden damals
verdächtige Diplokokken gefunden und von kompetentester Seite als
Gonokokken anerkannt Allerdings fehlt die Prüfung durch die Ent¬
färbung nach Gram. Der ganze Verlaut die nachfolgende Steri¬
lität lassen über die Art des Leidens keinen Zweifel. Der Ehemann
verbot mir ausdrücklich, den behandelnden Urologen über den Fall
zu befragen, weil beide in geselligen etc. Beziehungen standen.
Um so wertvoller war ein Zufall: Bei einer gesprächsweisen Dis¬
kussion, in deren Verlauf der Kollege meinte, daß bisher in keinem
vonihm zur Ehe zugelassenen Falle eine Infektion der Frau erfolgt
sein könne, sagte ich ihm, daß ich allerdings Grund hätte, aus
meiner Erfahrung Zweifel zu hegen. „Unmöglich! ich bin meiner
Sache sicher; wen behandeln Sie von meinen früheren Patienten?
der Herr X, von dem ich weiß — eben der in Frage stehende Herr
— kann es nicht sein, der ist geheilt*. Ich mußte schweigen.
Später, als mir die Sterilität der Frau Anlaß gab, eine neue Unter¬
suchung des Mannes zu veranlassen, fand sich Urethritis posterior.
Kokken wurden meines Wissens nicht gefunden. Aber auch der
l ) Vgl. hierzu: Fr. Meyer, Über chronische Gonorrhoe und Gonokokken¬
untersuchung. Vgl. diese Zeitschrift Bd. II, 8. 34 ref. aus „Deutsche medizinische
Wochenschrift 1303. Nr. 86.
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
279
Urologe — nicht der frühere Arzt — hielt den Befand für be¬
weisend genug, um auf Grund desselben eine neue Behandlung für
nötig zu erklären. Der erstbehandelnde Urologe hatte trotz aller
Sorgfalt seinen Konsens zu früh erteilt Es gibt eben ein feineres
Reagenz auf den Kokkus als alle Färbungen, als die besten
Nährböden, das ist der weibliche Genitaltraktus, auf dessen
Schleimhaut das Unkraut des Gonokokkus aus dem letzten, vielleicht
schon in Entartung begriffenen Keim neues Leben erlangt
Wir kommen bei dem heutigen Stand der Technik nicht
darüber hinaus: der bakteriologische Nachweis kann in der Diagnose
der Gonorrhoe beim Weibe nicht das leisten, wie bei dem Manne;
bei diesem in einigermaßen gewissenhaften Händen ein fast un¬
trügliches Reagenz, ist er bei der Frau ein nur allzuoft versagendes
Unterstützungsmittel. Das muß namentlich auch festgehalten
werden, wenn es sich darum handelt, bei Infektionsverdacht die
Gesundheit der suspekten Frau zu attestieren. Nur wo alle klini¬
schen Symptome fehlen, möchte ich das wagen. Andererseits würde
auch bei fehlendem Gonokokkennachweis, sobald einmal ein Bei¬
schlaf zwischen einem tripperkranken Mann und einer vorher
gesunden Frau stattgefunden hat. der klinische Befund ausschlag¬
gebend werden. Von dieser Basis ausgehend, wird man allein im¬
stande sein, als Gynäkologe vor irreführendem Optimismus bewahrt
zu bleiben. Fast ausnahmslos gestaltet sich denn auch der
chronologische Gang der Diagnose so, daß auf Grund der
verdächtigen Erscheinungen bei der Frau zur Unter¬
suchung des Ehemannes geschritten wird; letztere liefert
dann allerdings nur allzuoft die bakteriologische Bestäti-
für die ätiologische Provenienz des „Frauenleidens“.
Es würde den Rahmen dieser kritischen Arbeit über¬
schreiten, wenn ich auf die praktischen Konsequenzen für das
therapeutische Handeln des Gynäkologen eingehen wollte. Auch
wer, wie ich, auf Grund seiner Erfahrungen aus der Beobachtung
des Eheverlaufes bei zahlreichen Gonorrhoikern die schließliche
Heilung als den häufigeren Ausgang der Gonorrhoe des Mannes
— im Gegensatz zu der überskeptischen Auffassung Nöggerats —
ansieht, wird die Gefahr des Trippers für den Verlauf der Ehe
nicht hoch genug einschätzen können. Eines aber darf ich wohl
aus einer nicht mehr ganz kleinen Erfahrung hervorheben. Es
kann keinem Zweifel unterliegen, daß sich die Behandlung der
Frauenkrankheiten, besonders aber der Sterilität um so er-
21 *
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280
Flesch.
freulicher gestaltet, je weiter man in der strengsten Prüfung der
sexuellen Gesundheit des beteiligten Mannes geht. Es ist geradezu
erstaunlich, wie rasch, wenn einmal die Tripperdiagnose bei dem
beteiligten Ehemann festgestellt und dementsprechend der Beischlaf
eingestellt ist, schwere Krankheitserscheinungen zurtickgehen, wie
oft scheinbar hoffnungslose Kinderlosigkeit selbst nach langem Be¬
stand der unfruchtbaren Ehe aufhört Gegenüber der großen
Statistik Prochowniks mit ihrem deprimierenden Ergebnis von
nur 2 % Heilung der auf Tripper beruhenden Sterilität kann ich —
leider bin ich nicht in der Lage eine prozentuale Berechnung auf¬
zustellen — aus einem kleineren Material eine recht stattliche
Zahl von solchen Heilungen anführen. Freilich hat es dazu eines
großen Aufwandes an Selbstbeherrschung seitens der beteiligten
Ehegatten bedurft. Durch viele Monate fortgesetzte Abstinenz, bis
seitens des Andrologen Sicherheit für den Mann, seitens des Gynä¬
kologen Heilung der Frau konstatiert werden konnte. Ein erheb¬
licher Teil der Unheilbarkeit der weiblichen aszendierenden Gonor¬
rhoen kann durch radikale Abstinenz sistiert werden. Auch für
das klinische Verhalten spielen offenbar die immer erneuerten
frischen Aussaaten eine wichtige Rolle, der Art, daß in Wirklich¬
keit in manchen, vielleicht in den meisten Fällen die scheinbare
Unheilbarkeit nur den sich immer wiederholenden Reinfektionen
zur Last gelegt werden muß. Ich stehe nicht an zu bekennen,
daß ich von den von mir in der Behandlung der Sterilität erzielten
Erfolgen das meiste der Verhinderung dieser neuen Aussaaten, das
wenigste den therapeutischen Maßnahmen zuzuschreiben geneigt
bin. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß der Absterbe¬
prozeß des Gonokokkus scheinbaren mit dessen Verschwinden aus
den der mikroskopischen Untersuchung unterworfenen Sekreten
nicht zu Ende ist. Unterbleibt aber die provokatorische Reizung,
welche der sexuelle Verkehr mit sich bringt 1 ), so kommt es selbst
in hartnäckigen Fällen zum Aufhören des Ausflusses und zur Re-
tablierung der Schleimhaut
HI. Schlußbetrachtungen.
Zwischen zwei Extremen bewegen sich die Anschauungen über
die Bedeutung des Gonokokkus für die gynäkologischen Erkran-
l ) Es genügt nicht, wenn man Erfolg haben will, wenn man die Neu¬
infektion dadurch zu verhüten sucht, daß man den Beischlaf mit Benutzung
des Kondom gestattet; es muß dem weiblichen Organ volle Ruhe gegeben werden.
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
281
kungen. Auf der einen Seite steht die Auffassung Nöggerats, 1 )
wonach die Annahme der gonorrhoischen Natur einer Frauen¬
krankheit fast a priori gestellt werden darf, denn an 4/5 aller
Frauen müßten danach von ihren Männern infiziert werden, da ja
— in den Städten wenigstens — 80 und mehr Prozent der Männer
früher oder später einmal Tripper gehabt haben. Auf der anderen
Seite findet, ausgehend von einer rein bakteriologischen Basis, die
Ansicht Vertretung, daß nur, wo der Nachweis der Kokken ge¬
führt worden ist, der Regel nach von einer Tripperkrankheit
gesprochen werden dürfe. Beide Auffassungen können sich aut
Tatsachen aus der Pathologie stützen. Die einen, wenn sie daraut
verweisen, daß tatsächlich in der Vorgeschichte fast jeden Falles
von hartnäckigem Fluor, von „Unterleibsentzündung“, man irgendwo
den Tripper eine Rolle spielen sieht, die anderen, wenn sie entgegen¬
halten, daß das gar nichts beweise, angesichts der weiten Ver¬
breitung der Gonorrhoe über fast die Gesamtheit der Männer, der
zufolge ihre Übertragung auch auf die nicht manifest erkrankten
Frauen vorausgesetzt werden müsse. Nicht minder können beide
Parteien aus den Untersuchungsergebnissen der verschiedenen
Autoren ihre Stütze entnehmen. Auf der einen Seite positive
Befunde dieser, auf der anderen negative jener Kliniker. In den
hier von uns beigebrachten Untersuchungen haben wir zu zeigen
versucht, daß es auch bei sicher stehender Tripperätiologie und
bei wiederholter, nach allen Richtungen kontrollierter Prüfung
nicht zu gelingen braucht, den Kokkus zu finden. Soll etwa in
diesen Fällen, weil dem bakteriologischen Dogma nicht genügt
werden kann, darauf verzichtet werden, die Konsequenzen zu ziehen,
welche sich aus jener Ätiologie ergeben, Verbot des Koitus, Ver¬
weigerung des Ehekonsenses, Verzicht auf die öffentlich- und privat¬
rechtlichen Forderungen, wie sie für die Erzielung der Scheidung,
für die strafrechtliche Verfolgung der venerischen Infektion in Be¬
tracht kommen? Aus der Mangelhaftigkeit der bakterio¬
logischen Untersuchungstechnik geht keineswegs die Be¬
rechtigung hervor, die klinische Evidenz außer Acht zu
lassen.
Solange es nicht gelungen ist, eine Technik des Gonokokken¬
nachweises zu ermitteln, durch welche letzterer eine für den Gynä¬
kologen ausreichende Sicherheit bietet, wird es darauf ankommen,
l ) Nöggerat, E. Die latente Gonorrhoe beim weiblichen Geschlecht
Bonn 1872.
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282
Flesch.
daß wir das klinische Bild der weiblichen Gonorrhoe derart präzi¬
sieren lernen, daß die Diagnose auch ohne bakteriologische Funde
ausgesprochen werden kann. Nicht als ob wir die Erzielung einer
besseren Technik für ausgeschlossen halten müßten. Selbst wenn
aber auf ein Verfahren zu leichterer Erlangung der Reinkultur
auf künstlichen Nährböden verzichtet werden müßte — das könnte
man ja schließlich fürchten, wenn man aus der Anpassung des
Kokkus an den menschlichen Organismus folgert, es sei ein dem
menschlichen Körper entstammendes Nährsubstrat zur Erzielung
eines einigermaßen sicheren Verfahrens unentbehrlich 1 ) — wäre es
durchaus denkbar, daß wir vielleicht auf chemischem Wege aus
den Veränderungen der Sekrete zur Feststellung der Spezifizität
einer Infektion gelangen könnten. Aber das ist nicht einmal un¬
bedingt nötig. Auch für andere Infektionskrankheiten mit wohl-
bekanntem Krankheitserreger hat man sich der Erkenntnis nicht
verschließen können, daß die Diagnose sich nicht unter allen Um¬
ständen und in allen Fällen auf dessen Nachweis verlassen darf.
Ich erinnere an die Enttäuschung, welche den anfangs auf die
Vidalsche Typhus-Reaktion gesetzten Hoffnungen gefolgt ist Wäh¬
rend man eine zeitlang geglaubt hatte, darin ein den Irrtum aus¬
schließendes spezifisches Charakteristikum sehen zu können, so daß
es hieß, „kein Vidal kein Typhus“, so wird heute allseitig angenommen,
daß jene Reaktion zwar sicher eines der wertvollsten, aber keines¬
wegs ein unbedingt zu forderndes diagnostisches Merkmal sei, ja
daß recht wohl die Typhusdiagnose im einzelnen Fall auch ohne
sie, ausschließlich auf Grund der sonstigen Erscheinungen mit
genügender Sicherheit gestellt werden könne. Auch die Dia¬
gnose der Gonorrhoe bei der Frau wird einstweilen mehr
als bisher eine klinische anstatt bakteriologische sein
müssen und das wahrscheinlich vorläufig bleiben.
Das mag dem wissenschaftlich denkenden Arzte eine schmerz¬
liche Zumutung sein. Die exakte, auf ein unter Glas und Rahmen
konservierbares Dokument gestützte Diagnose soll hinter dem oft
nur zu sehr von subjektiven Erwägungen abhängenden klinischen
Symptomenbild zurückstehen. Aber eben daraus ergibt sich die
wissenschaftliche Aufgabe der gynäkologischen Bearbeitung des
*) Vgl. dazu Bumm: Die gonorrhoischen Erkrankungen der weiblichen
Ham- und Geschlechtsorgane in Veits Handbuch der Gynäkologie. Wies¬
baden 1897. Bd. 1. S. 431.
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Die Diagnose der Gonorrhoe in der Gynäkologie.
283
Krankheitsbildes der weiblichen Gonorrhoe. Es muß dieses so¬
weit ausgearbeitet werden, daß es aus seiner jetzigen un¬
zureichend präzisierten Form genügend vervollständigt
wird, um durch eine exakte Symptomatologie der weib¬
lichen Gonorrhoe die für alle forensen Zwecke aus¬
reichende Sicherheit der Diagnose zu gewährleisten.
Damit wird der positive Wert des Gonokokkennachweises, wo er
gelingt, keineswegs unterschätzt. Im Gegenteil wird dessen Vor¬
handensein als zwingender, jeden Zweifel ausschließender Beweis
erscheinen. Aber davon können wir nach den in den mitgeteilten
Untersuchungen gewonnenen Erfahrungen nicht abgehen: der heu¬
tige Stand der Technik des Gonokokkennachweises läßt
leider für die Gonorrhoe der Frau die Beibringung des¬
selben nicht immer erwarten; andererseits läßt die kli¬
nische Beobachtung bei genügender Erfahrung unzweifel¬
haft auch ohne den bakteriologischen Nachweis genügende
Sicherheit gewinnen. Es ist das um so wichtiger, als außer
dem Bazillennachweis auch die Anamnese für die Begründung
der Diagnose hier nur allzuoft ausscheidet. Nicht nur sind wir
in der Lage, schon bei der Fragestellung an die Patientin
aufs äußerste rückhaltend zu sein. Wir müssen uns ängstlich
hüten, Verdacht zu wecken, wo das ganze eheliche Glück auf dem
Spiele steht. Es ist nicht Sache des Arztes, gewaltsam den Konflikt,
der hier, besonders im Anfang der Ehe nur zu nahe liegt, herbei-
zuführen. Die Examinierung des Mannes durch den Arzt der Frau
ist obendrein meistens wertlos; wenn Bismarck sein bekanntes Wort
über die Gelegenheiten, bei welchen am meisten gelogen wird,
zu wiederholen hätte, so müßte er den von ihm genannten dreien
(vor einer Wahl, während eines Krieges, nach einer Jagd) jeden¬
falls die Unterleibsentzündung der Frau voranschicken. Das Hilfs¬
mittel, das dem Arzte bei der Feststellung von Tripperresten beim
Manne zugebote steht, die provokatorische Beizung der Harn¬
röhre verbietet sich für den Frauenarzt in den meisten Fällen.
Die Gefahr der Weiterverbreitung auf die inneren Organe ist eine
viel größere, ihre Grenzen sind nicht zu beherrschen, ihre Folgen
unabsehbare. Ist man doch gar nicht selten in der Lage, selbst
von Behandlungsversuchen lieber abzusehen, als etwa die Möglich¬
keit herbeizuführen, daß eine gonorrhoische Endometritis nach
einer lokalen Behandlung auf die Eileiter tibergreift.
Es ist hier nicht der Ort, die geforderte Ausarbeitung eines
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284
Fleseh.
exklusiven Krankheitsbildes, wie wir es erstreben zu müssen glauben,
anzuschließen. Das Ziel dieser Ausführungen war ein kritisches,
dessen Grenzen zu überschreiten wir heute noch nicht beabsichtigen.
Der im Anfänge unserer Darlegungen geschilderte Widerspruch
der Meinungen der Autoren über die uns beschäftigende Materie
wird gewiß dazu führen, daß auch andere sich der gebieterisch
eine Lösung verlangenden Aufgabe zuwenden: mag sich daraus
eine bessere bakteriologische Ausgestaltung der Diagnostik ergeben
— leider lassen die bisherigen Versuche kaum hoffen, daß eine
den Hilfsmitteln des praktischen Arztes zugängliche Methode dabei
zustande kommt — mag, was näher erreichbar zu sein scheint,
eine schärfere Ausgestaltung des klinischen Bildes das Resultat
werden.
Für die Bekämpfung der gemeinschädlichsten unter
den venerischen Erkrankungen, der aszendierenden weib¬
lichen Gonorrhoe wird auf diesem oder jenem Wege ein
großer Fortschritt erstehen. Es wird möglich werden,
den unter der fortgesetzten Reinfektion seitens des Ehe¬
mannes chronisch siechen Frauen durch Lösung der Ehe
eine Heilungsmöglichkeit zu schaffen; man wird aufhören,
wo Tripper des Mannes die Unfruchtbarkeit der Ehe be¬
wirkt hat, die Behandlung der Sterilität der Frau zur
Quelle eines durch lange Jahre sich fortsetzenden Mar¬
tyrium zu machen, man wird den zu einer neuen Ehe
schreitenden unschuldigen Opfern ungenügender Vor¬
sicht beim Eingehen der ersten Ehe neues Mißgeschick,
neue Schuld ersparen.
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Zur Verbreitung und Bekämpfung der venerischen
Krankheiten.
Ein kleiner praktischer Vorschlag von Dr. E. Holländer-Berlin.
Eine der vornehmsten Aufgaben des Arztes ist es, sich den
freien Blick über die Brillenbetrachtung des Einzelfalles hinaus zu
bewahren, aus der Summe von Einzelbeobachtungen eine öffent¬
liche Bilanz zu ziehen und nicht allein im Wirbeltanz um den kassen¬
ärztlichen Bon oder die Konsultationsdoppelkrone seine Befriedigung
zu finden. So scheint mir auch ein Teil der ärztlichen Misere und
auch ein gutes Stück der Abwehrbewegungen zu sehr im Banne des
Kleinbürgertums zu liegen und ohne Zug ins Große zu sein. Erst in
letzter Zeit blickt man von freierer Warte, und manches geschah,
um das gesunkene ärztliche Fundament zu stützen und zu heben.
Zu den erfreulichen Momenten dieser Art rechnet die Wirk¬
samkeit, welche das von der Regierung lebhaft geförderte Zen¬
tralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen ausübt In dem
sich an die Bekämpfung der übrigen Volksseuchen anschließenden
Kampfe gegen die venerischen Krankheiten — ein Kampf, in dem
die praktischen Arzte als „Freiwillige vor“ in der vordersten und
exponiertesten Reihe kämpfen — nahm neuerdings der Herr Kultus¬
minister das Wort, indem er an den Vorsitzenden genannten
Komitees ein Sendschreiben richtete, in welchem er einer gründ¬
lichen Fortbildung der Ärzte auf diesem Gebiet das Wort redet
und ständige Kurse über das Wesen, die Verhütung, Bekämpfung
und Heilung der Geschlechtskrankheiten empfiehlt. Da er sich in
demselben an die Ärzte als Berater und Warner des Volkes wendet,
so möchte ich eigene Erfahrungen und Anschauungen über diese Dinge
zur Diskussion stellen. Man ist in den Jahren, in denen man sich
mit der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten en masse beschäftigt
hat, immer resignierter geworden und hat in der öffentlichen Belehrung
und Aufklärung zuletzt das Heil gesehen. Was diese öffentliche Be¬
lehrung leisten kann in der Prophylaxe der Verbreitung, das lehrte
mir ein kleines unscheinbares Geschehnis vor Jahren und hat mich
für die Folgezeit auf ähnliche Fälle aufmerksam gemacht.
Als vor einem Dezennium die Frage der Prostitutionsregulierung
mit dem Nachdruck, den sie verdient, betrieben wurde, ging ich
gerade mit einem unserer Spezialhygieniker auf diesem Gebiet in
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286
Holländer.
der Dämmerstunde spazieren, und wir behandelten gewissermaßen
diese Frage peripathetisch. Mein Begleiter erwärmte sich soeben
für das Ideal der rücksichtslosen Massenaufklärung und sah in ihr
bei dem offenbaren Fiasko der Zwangsmaßregeln die höchste Heil¬
note. Wir näherten uns der Klinik meines Begleiters, als dieser
plötzlich unmotiviert den Straßendamm überschritt und geradezu
konsterniert mir mitteilte, daß der Herr, der vor uns soeben sich
einer Venns vulgivaga genähert habe, ein in seiner Klinik liegender
an florider Lues leidender Patient der ersten Gesellschaftsklasse
sei. Exempel genug dafür, daß das Tier in uns, um ein schlechtes
Wort für eine schlechte Sache zu gebrauchen, stärker ist, als
kenntnisreiche Überlegung und erhöhte soziale Stellung. Nachdem
ich Derartiges in einem so dramatischen Augenblick erlebt hatte,
wunderte ich mich später nicht mehr darüber, das Kind des Satans
und der Borgia auf allen Gassen zu finden. Ich hatte das Wundem
verlernt, als ich vor wenigen Jahren mich methodisch mit dem
Schicksal einer großen Zahl von Syphilitischen im Primärstadium
beschäftigte und wurde vor dem Fehler bewahrt, die bewußten
Ansteckungen jugendlicher Arbeiter mit einem niedrigen Bildungs¬
grade in Beziehung zu bringen. Da waren welche, die sich noch
während der Behandlung der Sklerose mit Ulcus molle infizierten,
da waren mehrere, die mit knapp verheiltem Affekt in die Ehe
gingen, da waren welche, die während der Schmierkur trotz sicher
nicht fehlender Warnung und Beratung andere infizierten. Denn
offenbar ist der Trieb stärker wie der Hunger bei vielen Individuen.
Wohl jeder, der in seinem ärztlichen Beruf Kranke dieser Art
zu* behandeln Gelegenheit hatte, wird in der Maske des Georges aus
Brieuxs Les Avariös das Bild früherer Klienten sehen. Eine un¬
leugbare Tatsache ist es: Die Aufklärung der Gefahren mag als
adjuvans dienen, sicher aber nicht als entscheidende Handhabe.
Die sicherste Stütze in diesem Kampfe ist die Heilkunst selbst
Doch sehen wir uns zunächst noch einmal die Aufklärungsmittel
an. Öffentliche Vorträge nud Versammlungen. Wohin solche
führen, das sahen wir, als neulich die deutsche Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten sich gegen die Kur¬
pfuscher wandte, die ja bekannterweise dies Behandlungsgebiet
ursurpiert haben; da hatten die interessierten Charlatane das
Oberwasser, und nach verschiedenen Zeitungsnotizen muß es
recht schlimm dort hergegangen sein.
Eine solche Versammlung, in der die ärztliche Prärogative
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Zur Verbreitung und Bekämpfung der vernerischen Krankheiten. 287
Schiffbruch leidet, schadet vielmehr als viele mit der nötigen
Machtentfaltung inszenierte ärztliche Brandreden. Überhaupt sollte
man es sich versagen, mit Volksbeglückem, Ahstinenzpredigem
und andern Schwärmern in Diskussion zu treten. Der Arzt soll
handeln und nicht reden.
Eins ist außerdem sicher: In solche Versammlungen gehen
nur Interessenten; die breite Masse des Volkes geht ebensowenig
in eine solche Versammlung, als in Brieuxs Theaterstück. Gewiß
hat da der gewandte Verfasser der roten Robe uns in dramatischer
Form und Umhüllung das mißfarbige Nacktgemälde der Lustseuche
mit ihren körperlichen und sozialen Folgezuständen geschildert, aber
was gänzlich den lobenswerten Zweck des Stückes vereitelt, ist der
vollkommen fehlende demagogische Zug, der die Massen hinreißt,
und sein Werk sowohl als Stück wie auch als Buch fesselt nur
das neugierige Interesse einer emanzipierten höheren Tochter.
Auch die Zettelverteilung mit hygienischen Vorschriften und
Ratschlägen in Fabriken und Massenlokalen hat nur den zweifel¬
haften Wert eines Taschentuches, wenn man keinen Schnupfen hat
Will man die Aufmerksamkeit, wenn ich so sagen darf, haufen¬
weise diesen Dingen zuwenden, so sollte man sich historische Er¬
fahrungen zu Nutzen machen und solche Mahnungen in ein auf¬
fallendes Gewand kleiden. Ich erinnere an die Sturmbewegung,
die seinerzeit der englische Moralist und Satiriker Hoghart in die
Trunksuchtbewegung brachte durch sein Flugblatt „Das Schnaps-
gäßchen“, wie er in ähnlichen Blättern vor der englischen Grausam¬
keit warnte. Diesen Weg scheint neuerdings die Antialkohol¬
bewegung gehen zu wollen: Allerorten Reklametafeln aufzuhängen
oder zu verteilen, auf denen die Folgen der Trunksucht und der
Nüchternheit in epigrammatischer Schärfe und interessanter Gemein¬
verständlichkeit skizziert sind. Sicher ist diese Form der Publi¬
zistik besser als Reden und Verordnungen, denn fesselnde Bilder
erregen die Neugier, Druckerschwärze allein genügt schon lange
nicht mehr der Reklame. Aber so sehr ich auch von der schnell
wirkenden Macht satirischer und aufreizender Flugblätter und
Plakate überzeugt bin, auf dem Gebiete der Venus und Bachus
kommt ihnen nur Nietenwert zu; ja es kann sogar durch sie
Schaden angerichtet werden durch eine Unterstützung der Selbst¬
ironie und völligen Enteignung der Ideale.
Jedenfalls scheint mir, daß die Warner- und Beratertätigkeit
des Arztes nur dann prophylaktische Triumphe feiern kann, wenn
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288
Holländer.
wir ärztlich die Situation beherrschen und auch therapeutische
Fortschritte machen.
Wenn wir einmal dem Leidensweg eines syphilitisch Gewordenen
nachgehen, so kommen wir zu der unangenehmen Überzeugung, daß
es nicht so wunderbar ist, wenn eine große Anzahl solcher Kranken
in das Lager der Kurpfuscher überlaufen. Die Behandlung in den
ersten Wochen ist meist eine dilatorische, da man keine objektiven
Symptome kennt oder kannte, die Spezifität des Ulcus beim ersten
Auftreten festzustellen. In dieser Zeit wandert der Kranke er¬
fahrungsgemäß von einem Arzt zum andern, und der zuletzt Kon¬
sultierte wundert sich dann, daß der erste nicht sofort die Diagnose
gestellt hat. Ist nun aber die Diagnose sicher, dann erfährt der
unglückliche Patient, daß man jetzt abwarten müsse, bis das
Sekundärstadium auftrete, in der man erst gegen die Krankheit
wirksam Vorgehen könne, ein in der ganzen Pathologie unerhörter
Vorgang, der ungefähr damit in Parallele zu setzen wäre, daß ein
Chirurg bei einem zweifelhaften Mammatumor erst die Entwickelung
einer Achseldrüsenkette abwartet, um zum Messer zu greifen. So
geht der Infizierte, gering gerechnet, 6 Wochen mit einem hoch¬
virulenten Infektionsherd herum und hat dabei das bestimmte
Gefühl, daß nichts gegen seine Krankheit geschieht. Die dann
später eingeleitete Schmierkur muß der Arzt natürlich dem niederen
Heilpersonal überlassen, so daß man sich wirklich nicht wundern
soll, wenn hier der Kurpfuscherweizen blüht. Meiner Ansicht nach
ist das ganze Heil in der Bekämpfung dieser Volksseuche allein
von einem therapeutischen Fortschritt zu erwarten, der ein aktiveres
und früheres Eingreifen des Arztes motiviert. Ich will an dieser
Stelle keineswegs für die Präventivbehandlung mit der kontaktlosen
Kauterisation oder mit einer andern Methode Propaganda machen,
und muß deren Wertschätzung den nachprüfenden Untersuchungen
anderer überlassen. Ich will hier nur noch einmal den nicht zu
unterschätzenden Vorteil der Methode auf diagnostischem Gebiet
in der günstigen Beeinflussung des Lokalherdes und in
psychischer Beziehung betonen. Der mit einem zunächst nicht
bestimmbaren Ulcus Behaftete erfährt sofort eine chirurgische
Hilfe und damit gleichzeitig die diagnostische Sicherheit seines
Zustandes. Mit dieser verbindet sich der nicht zu unterschätzende
Nutzen, daß das unreine Geschwür in ein reines verwandelt wird,
wodurch natürlich die Ansteckungsgefahr vermindert wird.
Durch die Möglichkeit einer Präventivkur kommt der Patient
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Zur Verbreitung und Bekämpfung der venerischen Krankheiten. 289
in ein seelischeres Gleichgewicht, daß ihn alle späteren Konse¬
quenzen besonnener ertragen läßt.
Auf alle Fälle hat der hygienische Staat das allergrößte Inte¬
resse gerade die mit Primäraffekten Betroffenen möglichst früh¬
zeitig in ärztliche Behandlung zu bekommen. Erstens weil nach
Zustimmung aller die präventive Möglichkeit in den ersten Früh¬
stadien an Wahrscheinlichkeit zunimmt und dann auch, weil dadurch
eine Minderung der Infektionsgefahr eintritt und ferner weil, wie jeder
Kenner weiß, das Schicksal der Luischen meist von der Zweckmäßig¬
keit der ersten Kur abhängt: es kommt eben sehr viel darauf an, ob
das Merkurpulver im rechten Moment abgeschossen wird. Alles drängt
dazu, die Patienten frühzeitig in Behandlung zu bekommen, bevor von
ungeübter Hand die Wunden verschmiert und gereizt sind. Um dies
zu erreichen, breche man zunächst endgültig mit dem Prinzip, von
geheimen und verschuldeten Krankheiten zu sprechen.
Ärzte von Kassen, die für Geschlechtskrankheiten Sonder¬
bestimmungen haben, kommen natürlich in den Verdacht, diesen
Mißgriff zu verteidigen, und die Erkrankten schleichen lieber die
Hintertreppen zu den Pfuschern hinauf. Zu manchen andern Rat¬
schlägen, die nach dieser Richtung gehen, möchte ich noch einen
einfachen Vorschlag machen, der meiner Ansicht nach von enormer
Tragweite und praktischer Bedeutung ist Ich schlage vor, auf
allen öffentlichen Retiraden und Aborten Plakate innen-
wärts anzubringen, im Falle einer Geschlechtserkrankung
sich an eine näher zu bestimmende Stelle zu wenden.
Zuerst sah ich die Benutzung dieser Prädilektionswand zu ähn¬
lichen Zwecken in Buenos Aires als zweckmäßige amerikanische
Reklame eines Urologen, später massenhaft in Paris als Annoncen¬
träger für Medikamente etc. Mir scheint es eine durchaus würdige
Aufgabe einer Rettungsgesellschaft zu sein, den ahnungslosen Opfern
einer so verbreiteten Volksseuche den richtigen Weg zu weisen. Auf
den Wachen für erste Hilfe erfährt der Patient den Nachweis der
geeigneten ärztlichen Behandlung seines Distriktes in einer von den
beteiligten Ärzten zu arrangierenden Form. Unterschätze man dies
Mittel nicht Es ist ein aktiveres Mittel im Kampf gegen diese
Seuche und gleichzeitig gegen das Unwesen der Kurpfuscher auf diese
im Gebiet als Einzelbelehrungen und akademische Reden auf dem
Rathause. Gleichzeitig erscheint mir es durchaus als würdige Auf¬
gabe einer Rettungsgesellschaft, denn es kann einem auf der Straße
noch etwas schlimmeres passieren, als den Arm zu brechen.
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Referate.
Symptomatologie und Pathologie der Syphilis.
Dp« zur Verth 9 Marine-Oberassistenzarzt Die Syphilis der Europäer in den
tropischen Gegenden der ostamerikanischen Küste. Archiv für Schiffs- und
Tropenhygiene. H. 8 . 1904.
Verf. hatte an Bord eines Kriegsschiffes Gelegenheit 30 Fälle von
im Ausland erworbener Syphilis von Anfang an zu beobachten. Er
konnte an dem der Beobachtung stets zugänglichen Material feststellen,
daß tatsächlich in dem Verlauf und der Schwere der Erscheinungen Unter¬
schiede gegenüber den in Deutschland beobachteten Fällen bestehen.
Bei 47 °/ 0 der Fälle ging der Induration ein weiches Schankerge¬
schwür voraus. Die Häufigkeit des weichen Schankers ist auf die gün¬
stigen Existenzbedingungen für eitererregende Pilze in den Tropen, die
mangelhafte Reinlichkeit und die Indolenz der Bevölkerung zurückzu¬
führen, welche derartigen Geschwüren nur geringe Bedeutung beilegt
und nichts zu ihrer Heilung unternimmt.
Die vielfach angeführte Beschleunigung des Verlaufes der Syphilis
iu den Tropen war nicht festzustellen; vielmehr bot der zeitliche Ab¬
lauf der einzelnen Erscheinungen keine Abweichung gegenüber dem in
Deutschlaud üblichen.
Die Sekundärerscheinungen waren im allgemeinen schwer. Beson¬
ders traten Schmerzen in den Knochen, Muskeln und Gelenken in den
Vordergrund. Schleimhauterscheinungen waren äußerst selten. Recidive
waren häufig und schwer. Tertiärsymptome konnten bei der kurzen
Beobachtungsdauer (2 Jahre) nicht beobachtet werden. Die Behandlung
begann mit Schmierkuren und wurde bald mit Jodkali fortgesetzt; z. T.
wurde beides gleichzeitig angewandt. Gegen das Fieber und die Knochen¬
schmerzen zeigte Jodkali in Dosen von 3 —b gr. eine vorzügliche Wirk¬
samkeit. Die Hautpflege erforderte dabei besondere Sorgfalt.
Die günstige Wirkung eines Klimawechsels hält Verf. für nicht er¬
wiesen. Besonders ließen auch Rücksichten auf Familienverhältnisse die
Heimkehr als nicht ratsam erscheinen.
Für den im allgemeinen schwereren und durch das Hervortreten
bestimmter klinischer Symptome ausgezeichneten Verlauf vermag der
Verf. keine ein wandsfreie Erklärung zu geben. Dr. Dohrn, Cassel.
Populäres.
Paul Meissner. Die Gonorrhöe, ihre Gefahren und ihre Heilung. Berlin 1904.
Paul Nitschmann.
Erscheinungen, Übertragungsweise, Bedeutung, Verhütung und Be¬
handlungsarten des Trippers werden knapp und doch erschöpfend, be¬
lehrend und doch fesselnd, streng wissenschaftlich und doch gemein-
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Referate.
291
verständlich^dargesteilt. Die aufmerksame Lektüre der kleinen Schrift,
deren Preis von 1 Mark die Anschaffung ja weiten Kreisen ermög¬
licht, dürfte manch einem zu Nutz und Frommen gereichen.
Dr. Max Marcuse.
I. Hastreiter. Die Geschlechtskrankheiten des Mannes. Seitz und Schauer.
München.
Das recht geschmackvoll ausgestattete Buch bringt in der Einleitung
eine kuappe und klare Schilderung der anatomischen Verhältnisse, und
gibt dann eine gemeinverständliche Darstellung nicht nur der venerischen
.Leiden, sondern der Krankheiten der Geschlechtsorgane überhaupt, sowie
der sexualen Anomalien, Neurosen und Perverzitäten. Besonders berück¬
sichtigt der Verfasser die Prophylaxe, namentlich die individuelle und
medizinische, aber auch die Pathologie und Therapie wird eingehend
erörtert — eingehender, als es nach Ansicht des Ref. für den Laien
notwendig und nützlich ist. Auch die Art der Besprechung erscheint
nicht immer als die zweckmäßigste, insofern der Verfasser in denjenigen
Prägen, die noch in der Diskussion stehen, zu sehr Partei ergreift; da¬
durch könnte er dem Arzte, der anderer Meinung ist als er und einen
Patienten in Behandlung bekommt, der Hastreiters Buch kennt, Un¬
gelegenheiten bereiten, die allen Beteiligten zum Schaden gereichen.
Trotz dieser Mängel, denen in einer neuen Auflage leicht abgeholfen
werden könnte, ist das Buch, das von großem Fleiß, gründlichen Kennt¬
nissen und reichen Erfahrungen beredtes Zeugnis gibt, ein sehr verdienst¬
volles Werk, das im Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten, gegen
das Kurpfuschertum, gegen die «Sünden wider die Gebote der Hygiene
überhaupt Vortreffliches zu leisten vermag. Max Marcuse (Berlin).
Öffentliche Prophylaxe.
Welander. Zur Frage: Wie kann der sozialen Gefahr entgegengetreten werden,
die eine luetische Gravidität mit sich führt? (Hygiea, März 1903.)
Autor resümiert die Geschichte dieser Frage in Schweden. Im
Jahre 1718 findet man in der schwedischen Literatur den ersten Bericht
von kongenitaler Syphilis und von Übertragen der Krankheit von Neuge¬
borenen auf Säugammen. Dieser Infektionsmodus hat im achtzehnten
Jahrhundert eine große Rolle gespielt bei der Verbreitung der Seuche
auf dem Lande m der Nachbarschaft Stockholms, ln den ersten
Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts tritt eine erschreckende Zunahme
der Zahl der infizierten Ammen ein. Von 1887 bis 1846 wurden in
Stockholms „Kurhaus* 4 148 Säugeammen behandelt, die von Säuglingen
im Findelhause und in der Stadt angesteckt waren. Welander gibt
die Schuld hieran der unter Ärzten und Publikum verbreiteten Ricord-
schen Lehre von der Nichtinfektiosität der tertiären Manifestationen und
der kongenitalen Syphilis. Nachdem 184Ö ein von der Schwedischen
Ärztegesellschaft konstituiertes Komitee sich gegen diese Ricordsche
Lehre ausgesprochen und die Unzulässigkeit des Stillens syphilitischer
Kinder durch gesunde Säugammen festgestellt hatte, ging die Zahl der
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292
Referate.
im Kurhause behandelten, durch Stillen infizierten Ammen im folgenden
Quinquennium auf 9 hinab.
Nachdem ist die Seuche, dank der kostenfreien Krankenhausbehandlung
der Geschlechtskranken in Schweden, auf dem Lande zurückgegangen und
kommt jetzt nur selten vor. Auch in Stockholm kann ein Abnehmen
konstatiert werden, und W. glaubt hier der Prostituiertenuntersuchung
großen Nutzen beimessen zu dürfen.
Nach diesem geschichtlichen Überblick geht W. zum Thema über. Ein
zuverlässiges Mittel zur Bekämpfung der von einer luetischen Schwanger¬
schaft aus entstehenden Gefahr hat man in einer konsequent durchgeführten
spezifischen Behandlung der kranken Frau. W. huldigt der präventiven
intermittierenden Quecksilberbehandlung (mit MercuriolSack) als für Gra¬
vide besonders zweckmäßig. Dank der unentgeltlichen Krankenhausbe¬
handlung Geschlechtskranker hat W. im Krankenhaus „St. Göran“ eine
präventive Behandlung bei einer großen Reihe von Schwangeren durch¬
führen können, „die alle reife symptomfreie, kräftige Kinder gebaren.“
Auch die von Seiten der hereditär-luetischen Kinder drohende
soziale Gefahr kann durch konsequente spezifische Behandlung aller,
auch scheinbar gesunder Kinder von luetisch infizierten Eltern mit Er¬
folg bekämpft werden. — W. faßt es als eine Aufgabe der Gesellschaft
auf, sich dieser Kinder anzunehmen. In einem kleinen Asyle, das er
selbst hat einrichten lassen, hat er 14 hereditär-syphilitische Kinder
durch 1 bis 3 Jahre intermittent-präventiv (mit Hg-Sack) behandelt,
von denen nur eines noch nach der Behandlung ein Symptom der Krank¬
heit gezeigt hat, und die sich alle gut und kräftig entwickeln. — Weiter
empfiehlt Verf. gesetzlich geregelte Kontrolle aller Säugammen und aller
in Verpflegung gebrachten Kinder. H. Hansteen (Christiania).
Individuelle Prophylaxe.
Blokusewski. Dermatol. Zentralblatt 1904, 1.
Während Blokunowski in Nr. 6 (Dermatolog. Zentralbl. 1903)
das Einträufelungs-Verfahren im allgemeinen, d. h. Applikation
tropfbar flüssiger Lösung gegenüber salbenartigen oder gar noch
festeren Substanzen, bevorzugt, empfiehlt er jetzt auf Grund seiner durch
Piorkowski bestätigten Versuche das Albargin, weil dieses bereits in
5°/ 0 Lösung die Gonococcen sofort tötet (Feibes Protektor erst in 30
Sekunden.) Trotzdem läßt er zur größeren Sicherheit seine Apparate
Samariter und Amicus mit 10 °/ 0 Lösung füllen, dagegen die für Einzel¬
gebrauch bestimmten sog. „Sanitaskelcbe“ nur mit 8°/ 0 , weil dieselbe
gegen jede Art von Zersetzung geschützt sind.
(Bei dieser Gelegenheit rollt er auch die Prioritätsfrage auf, zumal
erst durch sein 1895 angegebenes Verfahren die individuelle Prophy¬
laxe in Fluß gekommen ist) Autoreferat
Erich Schultze. Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten, speziell des Trippers.
Deutsche mediz. Wochenschr. 1902, S. 815.
In diesem lesenswerten Artikel bespricht Schultze die indivi¬
duelle Prophylaxe, welche durch Maßnahmen, die der Einzelne an sich
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Referate.
293
selbst vornimmt, gegen venerische Infektionen Schutz gewähren soll.
Von dem Gebrauch des Condoms und den von Beerwald empfohlenen
Einreibungen mit Unguentum cinereum erwartet er keinen genügenden
Schutz gegen Syphilis und weichen Schanker; besser erscheinen ihm
schon Seifen Waschungen und darauf folgende antiseptische Waschungen
des Gliedes beim Manne und Vaginalirrigationen bei der Frau, zumal
wenn nach Neissers Vorschlag vor dem Coitus eine gründliche Ein¬
fettung der Genitalien gemacht worden ist. Noch günstiger wirkt die
indiyiduelle Prophylaxe gegenüber der Tripperinfektion. Die von Blo-
kusewski empfohlene 2proz. Höllensteinlösung erscheint ihm nicht
reizlos genug und verursacht nicht nur Brennen, sondern mitunter auch
Urethritis. Reizlos und vollkommen ausreichend zur Abtötung der Gono¬
kokken ist dagegen die von Frank u. a. empfohlene 20proz. Protargol-
lösung. Für besonders handlich und empfehlenswert hält er das unter
dem Namen „Viro“ in den Handel gebrachte Prophylakticum. Ein
kleines mit 20proz. Protargolgelatinelösung gefülltes Zinntübchen dient
für jede einzelne Schutzeinträufelung. Die Konsistenz der Protargolmasse
ist vorzüglich, ein Versagen der Tuben bei der Zweckmäßigkeit und
Einfachheit der Konstruktion ausgeschlossen. Außer mehreren Zinn¬
tübchen enthält das Virobesteck eine größere Tube mit antiseptischer
Crfeme, welche Infektionen mit Schanker- oder Syphilisgift Vorbeugen soll
und aus Seife, Wachs, Glycerin, Lanolin mit lproz. Formalinzusatz besteht;
diese Crfeme macht die Haut geschmeidig, verhütet also Verletzungen und
überzieht die Epidermis mit einer feinen elastischen Schutzdecke.
Die Anwendung geschieht in der Weise, daß vor dem Coitus der
Penis mit Virocrfcme eingerieben wird; nach dem Coitus wird Urin
gelassen und das Glied gründlich mit Seife gewaschen und nun ein
Protargolgelatinetübchen mit dem abgerundeten Kopfstück in die Harn¬
röhrenöffnung gebracht, und sein Inhalt durch Druck mit dem Daumen
und Zeigefinger in dieselbe gepreßt. Hofftnann.
Pädagogisches.
Nellie-Grimm. Mutier und Kind. J. Ricker. Gießen.
Das Büchelchen, das außerordentlich geschmackvoll, man darf fast
sagen: vornehm ausgestattet ist — ein Verdienst, das dem Verlag um
so höher angerechnet werden muß, als der Preis nur 7 5 Pfennig beträgt
— erörtert die zur Zeit im Vordergründe aller pädagogischen Interessen
stehende Frage: „Wie man heikle Gegenstände mit Kindern behandeln
kann u in einer heute freilich nicht mehr neuen, aber noch immer an¬
regenden Art, die von einem liebevollen Beobachten der kindlichen Psyche
erfreuliches Zeugnis gibt. Gleichwohl erscheint mir zweifelhaft, ob die
Verf. in ihren Ausführungen immer das Richtige trifft;; so vermag ich
z. B. nicht zuzugeben, daß eine so spezielle Vorlesung über die Physio¬
logie und Anatomie der Geschlechtsorgane, wie Nellie sie wünscht, dem
Kinde notwendig oder auch nur nützlich ist Hinsichtlich der Dar¬
stellung fallen einige Breiten, im Stil einige Härten auf, an denen aber
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechts kr ankh. XL 22
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294 Tagesgeschichte.
vielleicht nicht die holländische Verf., sondern der deutsche Übersetzer
die Schuld trägt. Max Marcuse (Berlin).
Ci Rosenkranz. Ober sexuelle Belehrung der Jugend. Praxis der Volks¬
schule. 1908. 8.
Der Verf. — ein praktischer Schulmann — fordert die systematische
Aufklärung der Jugend und bespricht die nach seiner Ansicht am
meisten empfehlenswerten Bücher und Broschüren, welche die Frage er¬
örtern, wie die Belehrung der Kinder am zweckmäßigsten erfolgen
müsse. Von den Schriften, die Rosenkranz einer besonders eingehenden
und wohlwollenden Kritik unterzieht, ist ein Teil auch schon in dieser
Zeitschrift gewürdigt worden. Von den übrigen seien hier folgende er¬
wähnt: A. Herzen, Wissenschaft und Sittlichkeit. — J. A. Koch,
Die Vermehrung des Lebens. — C. S. Kapf, Warnung eines Jugend¬
freundes. Ma—
Tagesgeschichte.
Deutschland.
Berlin. Eine wissenschaftliche Expedition wird in hiesigen
ärztlichen Kreisen im Interesse der Bekämpfung der Syphilis geplant.
In neuerer Zeit ist es am Institut Pasteur in Paris dem Prof. Metschnikow
und scheinbar auch in Berlin dem Professor Oskar Lassar ge¬
lungen, Syphilis durch Überimpfung auf Affen zu übertragen. Der
von Prof. Lassar geimpfte Affe wurde dann von ihm dem Berliner
Aquarium geschenkt und dort ist der vierhändige Märtyrer der Wissen¬
schaft von vielen Ärzten besucht und beobachtet worden. Diese Ver¬
suche an Affen haben nun zur Erörterung der Frage Anlaß gegeben,
ob es auf diesem Wege möglich wäre, ein wirksames Schutz- und Heil¬
serum gegen die Syphilis herzustellen. Die Frage ist vom Standpunkt
der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von größter praktischer Be¬
deutung und verdient es, in umfassenderem Maßstabe als bisher verfolgt
zu werden. Hier diese Versuche in dem erwünschten Umfango anzu¬
stellen, verbietet sich aus dem Grunde, weil es mit zu vielen Schwierig¬
keiten verbunden ist, die für die Versuche geeigneten anthropomorphen
Affen hierher zu bringen, und weil sie in unserem rauhen Klima rasch
an Tuberkulose zugrunde gehen. Deshalb ist man dem Gedanken
näher getreten, eine wissenschaftliche Expedition in die Urheimat dieser
Affen zu entsenden, nach Borneo und Sumatra, um dort an Ort und
Stelle die bakteriologischen Untersuchungen und Uebertragungsversuche
zur Gewinnung eines Heilserums, wie etwa des Diphtherie-Heilserums
anzustellen. Hoffentlich gelingt es, für diese Aufgabe die geeigneten
Kräfte und die erforderlichen Mittel, die selbstverständlich nicht gering
sein werden, aufzutreiben.
Ch&rlottenburg. Die Bedeutung des Schlafstellenunwesens für
die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten ist hinlänglich bekannt, n&ment-
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Tagesgeschichte.
295
lieh seitdem auf dem Frankfurter Kongreß unserer Gesellschaft dem
Wohnungselend der Großstädte die ganz besondere Aufmerksamkeit zu¬
gewendet wurde. Auf diesem Kongreß hatte Wolf Becher u. a. die
Schaffung von Ledigenheimen befürwortet, eine von ihm übrigens
schon früher gegebene Anregung, die jetzt gute Früchte tragen zu sollen
scheint.
Die Errichtung eines Ledigenheims in Charlottenburg
ist nämlich nunmehr aller Voraussicht nach gesichert. Über den
Stand der Sache verhandelte ein zu diesem Zwecke zusammengetretenes
Komitee unter der Leitung des Professors Gierke im Charlottenburger
Rathause. Wie der Vorsitzende des Komitees und Stadtrat Samter
mitteilte, ist man von zwei früheren Plänen zurückgekommen. Der
eine war darauf gerichtet, in einem Mietshause ein Ledigenheim ein¬
zurichten, der andere bezweckte die Erstehung eines Ledigenheimes
mit Hilfe der Berliner Baugenossenschaft. Von dem geschäftsführenden
Ausschüsse ist ein dritter Plan ausgearbeitet worden, dessen Ver¬
wirklichung bereits in die Wege geleitet ist Seine Grundlage ist,
daß die Stadt Charlottenburg das Grundstück für das Le¬
digenheim erbaut, und zwar mit einem bei der Landes¬
versicherungsanstalt Brandenburg aufzunehmenden Darlehen.
Der Leiter der Landesversicherungsanstalt Brandenburg Landrat Meyer
hat sich bereits zur Hergabe des Darlehns bereit erklärt, sodaß die
Stadt keine Aufwendungen zu machen hat. Die Kosten für die innere
Einrichtung bringt ein Verein auf, der auch pachtweise das Ledigen¬
heim übernimmt und dessen Verwaltung führt. Im einzelnen schlägt
der geschäftsführende Ausschuß vor, in der folgenden Weise vorzugehen:
1) Die Stadtgemeinde Charlottenburg erbaut mit einem bei der Landes¬
versicherungsanstalt Brandenburg aufzunehmenden Darlehn auf ihrem
Grundstück in der Nehringstraße nach den bereits vorliegenden Skizzen
die bei 880 Betten mit einem Kostenüberschlage von 885000 Mk. ab¬
schließen, ein Ledigenheim und vermietet es auf 5 Jahre an den Ein¬
getragenen Verein zur Begründung von Ledigenheimen. 2) Der Verein
bringt die zur inneren Einrichtung erforderlichen Kosten, sowie das
nötige Betriebskapital, d. h. bei voller Einrichtung für 880 Betten etwa
50—60000 Mk. auf und zahlt an die Stadt für die ersten 8 Jahre
4 Proz., für die beiden letzten Jahre 5 Proz. der Bausumme als
Miete. 3) Die Stadtgemeinde gestattet dem Verein einzelne Teile des
Gebäudes, solange ein Bedürfnis, auch sie für das Ledigenheim zu be¬
nutzen, nicht besteht, anderweit zu gewerblichen Zwecken zu vermieten.
Werden diese Teile für das Ledigenheim gebraucht, so übernimmt die
Stadtgemeinde die Verpflichtung, sie dementsprechend herzustellen; der
zu zahlende Mietspreis erhöht sich von ihrer Herstellung ab um 4
(oder 5) v. H. der dazu erforderlichen Baukosten. Wichtig ist die Mit¬
teilung des Oberbürgermeisters Schustehrus, daß die städtischen Be¬
hörden Charlottenburgs dem zustimmen werden, daß die Stadtgemeinde
sich in der Weise an der Durchführung beteilige, wie in dem Plane des
geschäftsführenden Ausschusses vorausgesetzt wird. Das zur inneren
Ausstattung des Ledigenheimes und zum Betriebe desselben erforderliche
22 *
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296
Tagesgeschichte.
Kapital soll im wesentlichen durch die Ausgabe von Anteilscheinen und
Vereinsbeiträge zusammengebracht werden. Stadtverordneten-Vorsteher-
Steil Vertreter Kaufmann betonte, daß sich der Bürgersinn sicher in der
Weise bestätigen werde, daß das Ledigenheim zustande kommt. Die
wohlhabenden Charlottenburger Bürger würden sich bewußt sein, daß es
sich bei der Errichtung des Ledigenheims um die Verwirklichung einer
ungemein wichtigen und sehr lohnenden Aufgabe handle. Ohne ihre
werktätige Mithilfe würde aber das Ledigenheim nicht entstehen können.
Nach den in der Sitzung vorgelegten Plänen werden den Hauptteil des
Ledigenheims groß angelegte Säle bilden, ln diesen sollen nach dem
Muster der Londoner Rowtonhäuser und des jüngst eröffneten Frank¬
furter Ledigenheimes verschließbare Kojen eingerichtet werden. Jeder
Mieter kann sich in seiner Koje ganz nach seinem Belieben von den
übrigen Insassen des Saales absondem. Die Einrichtung von Kojen an¬
statt von kleinen Zimmern bietet den wesentlichen Vorteil, daß ausgiebig
für Luftemeuerung gesorgt werden kann. Vorgesehen ist die Einrich¬
tung von Bädern, Versammlungsräumen, Spiel- und Lesezimmern und
die Anlage von zu vermietenden Werkstätten für einen Schuhmacher,
Schneider usw. und eines Barbierladens. Der geschäftsführende Aus¬
schuß wurde damit betraut, den von ihm vorgeschlagenen Plan auszu¬
führen. Schließlich wurde der Verein zur Errichtung von Ledigen¬
heimen gebildet. Der Mindestbeitrag wurde auf 5 Mk. jährlich fest¬
gesetzt; immerwährende Mitglieder haben mindestens 100 Mk. zu zahlen.
In den Vorstand des Vereins wurden gewählt: Stadtverordneter Paul
Hirsch, Stadtverordnetenvorsteher-StellVertreter Kaufmann, Landrat
Meyer, Stadtrat Samter und Stadtverordneter Stücklen. (Voss. Ztg.,
28. März er.)
Eisenach. Eine bedeutungsvolle Entscheidung wurde anfangs Fe¬
bruar vom Schöffengericht in Eisenach gefällt. Ein Arbeiter, welcher
mit einer ansteckenden Krankheit behaftet war, hatte mit einem bis da¬
hin unbescholtenen Mädchen intimen Umgang gepflogen. Da sich die
Krankheit auf dasselbe übertragen hatte, wurde es ins Krankenhaus ge¬
bracht. Die Staatsanwaltschaft erhielt Kenntnis hiervon und erhob im
Öffentlichen Interesse Anklage gegen den Mann, der dann vom Schöffen¬
gericht wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Monaten Gefängnis
verurteilt wurde.
Österreich.
Wien. Die Gründung einer Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten wurde im wissenschaftlichen Klub in
Wien in der Sitzung vom 80. März d. J. erwogen und ein vorbereitendes
Komitee gewählt, um einen Verein nach dem Muster der deutschen Ge¬
sellschaft ins Leben zu rufen.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903/4. Nr. 8.
Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
Von
Mag.-Assessor Dr. F. Schiller (Breslau).
Das Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom
2. Juli 1900, das seit dem 1. April 1901 in Kraft ist, hat man überall
in Preußen als eine soziale Tat ersten Ranges gepriesen. Und das mit
Recht. Ist doch das Gesetz der Ausdruck hoher sozialpolitischer Ein¬
sicht! Man begnügt sich nicht mehr damit, das geschehene Verbrechen
zu sühnen, den fertigen Verbrecher für seine Tat zu bestrafen.
Man will tiefer greifen, dem Übel an die Wurzel gehen, indem
man das Entstehen des Verbrechens und der Prostitution zu ver¬
hindern sucht. Die kriminalpolitische Behandlung des Ver¬
brechens ist einer sozialpolitischen gewichen. Wie die moderne
medizinische Wissenschaft ihr Hauptaugenmerk auf die Vorbeugung
und Verhütung der Krankheiten richtet, so will das Fürsorge¬
erziehungsgesetz dem Dirnen- und Verbrechertum, den Krankheiten
am Volkskörper, durch vorbeugende Maßregeln entgegenwirken.
Es will gesunde Lebensverhältnisse, die Möglichkeit einer geordneten
Erziehung für alle Jugendlichen schaffen, die in ihrer sittlichen
Entwickelung gefährdet sind.
I.
Die Prostitution ist wie das Verbrechertum ein soziales Übel,
das sich wohl nie ganz aus der Welt wird schaffen lassen. Das
lehrt die Geschichte der Prostitution zur Genüge. Alle Versuche,
die Prostitution durch Strafmaßregeln zu beseitigen, sind kläglich
gescheitert. Je mehr die öffentliche Prostitution strafrechtlich
verfolgt wurde, desto üppiger blühte die bei weitem gefährlichere
Winkelprostitution. Parent du Chatelet, der größte Kenner der
Prostitution in Paris, nennt sie in einer Menschenansammlung so
unvermeidlich wie die Kloaken, Abdeckereien und Abortgruben.
Zftttachr. f. Bekämpfung d. Geschlcchtskrankh. II. 23
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298
Schiller.
Wenn die Prostitution aber auch als ein nicht auszurottendes
Übel betrachtet werden muß, so zwingt doch diese Tatsache nicht
dazu, die Hände müßig in den Schoß zu legen und ruhig der
Weiterverbreitung dieser Volksseuche zuzusehen. Aufgabe des
Staates muß es vielmehr sein, zu versuchen mit allen zu Gebote
stehenden Mitteln die Prostitution einzudämmen und auf den denk¬
bar geringsten Umfang zu beschränken.
Denn die Schädigungen, welche die Prostitution der Gesell¬
schaft zufügt, sind ungeheuer groß. Die Prostitution ist die Haupt¬
quelle der Geschlechtskrankheiten, die alljährlich unter allen
Schichten der Bevölkerung bei allen Nationen unzählige Opfer
fordern. Die Prostitution wirkt weiterhin in hohem Grade de¬
moralisierend durch die Provokation zum unehelichen Geschlechts¬
verkehr und durch das schlechte Vorbild, welches die Prostituierten
der gefährdeten weiblichen Jugend geben. Häufig stehen auch Pro¬
stitution und Verbrechertum in enger Beziehung zueinander; eine
Reihe von Vergehen und Verbrechen werden direkt oder indirekt
durch die Prostitution erzeugt (vgl. Neisser, Rapports Prölimi-
naires, II. intern. Konfer. Brüssel 1902, S. 4 fl“.).
Will man die Prostitution wirksam bekämpfen, so muß man
ihren Ursachen nachgehen und untersuchen, welches die Gründe
sind, die die große Zahl von Frauen veranlassen, sich der Prosti¬
tution anheim zu geben.
Zwei Meinungen stehen sich hier bekanntlich schroff gegenüber.
Die eine (Lombroso, Ferrero, Tarnowsky) sieht in den
Prostituierten das Pendant zu dem männlichen Verbrecher.
Danach ist die Prostituierte ein hereditär belasteter degenerierter
Frauentypus und die Prostitution „die der Frau eigentüm¬
liche Form der Kriminalität". Tarnowsky bezeichnet die
gewerbsmäßigen Prostituierten als krankhafte, in ihrer Entwickelung
gehemmte, mit ungünstigen erblichen Eigenschaften ausgestattete
Frauen, die unzweifelhafte Entartungszeichen aufweisen, und deren
Abweichung vom normalen Weibe sich am deutlichsten durch den
Mangel sittlicher Vorstellungen und durch die Ausübung der gewerbs¬
mäßigen Unzucht kennzeichnet
Die entgegenstehende Ansicht (Bebel, Hirsch) sieht in den
Prostituierten lediglich das Opfer unserer sozialen Verhält¬
nisse. Die niedrige wirtschaftliche Stellung und die schlechten
Löhne der arbeitenden Klassen bilden danach die Hauptursachen
der Prostitution. „Einzig und allein durch die Beseitigung der
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
299
Armut werden Verbrechen und Prostitution wirksam bekämpft“
(Paul Hirsch: Verbrechen und Prostitution als soziale Krankheits¬
erscheinungen. S. 66).
Beide Ansichten sind insofern unrichtig, als jede darauf An¬
spruch macht, die Ursachen der Prostitution ausschließlich auf¬
gedeckt zu haben, während das Richtige in der Mitte liegt.
Es ist nicht zu leugnen, daß ein Teil der Prostituierten geistig
oder körperlich minderwertige Geschöpfe sind, die meist aus Trinker-,
Epileptiker- und Verbrecherfamilien stammend, mit moral insanity
behaftet, zur Prostitution gewissermaßen prädestiniert sind, und
daß die Prostitution eine große Anzahl der kriminell bedenklichen
Frauen absorbiert. Aber diese „geborenen“ Prostituierten bilden
nur einen kleinen Prozentsatz aller der gewerbsmäßigen Unzucht
nachgehenden Frauen.
Andererseits ist ohne weiteres zuzugeben, daß das soziale und
wirtschaftliche Milieu der niederen Klassen der Bevölkerung der
Boden ist, aus dem die Prostitution herauswächst, wenn auch die
Not selbst nur höchst selten die direkte Ursache der Prostitution
ist. Strömberg (Die Prostitution. Stuttgart 1899) fand bei seinen
eingehenden Untersuchungen, die er an 462 Dirnen der Stadt
Stuttgart vornahm, nur einmal die Not als Ursache der Gewerbs-
unzucht angegeben, und in dem Falle konnte er feststellen, daß
diese Angabe erlogen war. Allerdings: „die geringe Entlohnung
mancher Berufsklassen, besonders der Kellnerinnen, untergeordneten
Schauspielerinnen, Konfektionsarbeiterinnen zwingt manches Mäd¬
chen geradezu einen Nebenerwerb zu suchen. Nur darf man nicht
vergessen, daß vielfach schon die Neigung zu Geschlechtsverkehr,
zu Putz und anscheinendem Wohlleben viele diese gefährlichen
Berufsarten ergreifen läßt. Gerade die Zahlen, die Bebel,
Blaschko u. a. als Beweise für die Ansicht anführen, daß die
soziale Not zur Dirne mache, scheinen eher das Gegenteil zu be¬
weisen. Wohl Überwiegen die Arbeiterinnen und Verkäuferinnen,
Schneiderinnen und vor allem die ehemaligen Dienstboten, aber
sie haben auch einen außerordentlich großen Anteil an der Be¬
völkerungszusammensetzung“. (Aschaffenburg: Das Verbrechen
und seine Bekämpfung, S. 77).
Bei den ehemaligen Dienstmädchen kann überdies in den
meisten Fällen von schlechter Entlohnung und wirklicher Not nicht
die Rede sein. Wenn Blaschko („Hyg. der Prostitution und
venerischen Krankheiten“, im Handbuch der Hygiene Bd. X S. 41)
23*
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300
Schiller.
die niedrigen Löhne der Dienstmädchen in Berlin für die Tatsache
mit verantwortlich macht, daß ein so großer Teil der Dienstmädchen
der Prostitution anheimfällt, so vergißt er, daß die Mädchen in
ihren Dienststellungen regelmäßig, außer dem Lohn, freie Kost
und freie Wohnung bei den Dienstherrschaften haben. Sie sind
dadurch viel besser gestellt, wie der größte Teil der Fabrik- und
Heimarbeiterinnen, und trotzdem stellen sie das Hauptkontingent
der Prostituierten.
Jedenfalls kann die geringe Entlohnung nicht als das
zwingende Moment angesehen werden, welches die weiblichen
Jugendlichen der Prostitution in die Arme treibt Die Konsequenz
wäre dann, daß alle schlecht bezahlten Frauen Prostituierte werden
müßten. Die eigentlichen Ursachen der Prostitution liegen viel¬
mehr tiefer.
Abgesehen von den geistig degenerierten Elementen, ist es in
allererster Linie die Erziehung oder vielmehr der Mangel an
Erziehung, der die jungen Mädchen zu Prostituierten werden
läßt. Den meisten fehlt von Hause aus das sittliche Bewußt¬
sein, es ist ihnen gar nicht anerzogen, oder es ist nicht genügend
stark entwickelt, um den Versuchungen in geschlechtlicher Hinsicht
widerstehen zu können. Schamgefühl und sittliches Empfinden
bilden aber den stärksten Panzer gegen die Prostitution; an ihm
prallen alle Versuchungen ab. Wo das sittliche Bewußtsein fehlt,
da steht den Verführungen Tür und Tor offen. In dem Mangel
des sittlichen Empfindens zeigt sich der Mangel einer richtigen
Erziehung.
Der größte Teil der Prostituierten hat überhaupt eine ordent¬
liche Erziehung nicht genossen. Wer sollte auch ihre Erziehung
leiten? In den allermeisten Fällen sind die häuslichen Verhält¬
nisse, aus denen die Prostituierten hervorgehen, überaus traurige.
Ein bedeutender Prozentsatz ist unehelich geboren. Sehr viele
haben in frühester Jugend beide Eltern oder einen Eltern teil ver¬
loren. Oftmals, wenn beide Eltern am Leben sind, haben sie sich
getrennt; die Mutter lebt dann im Konkubinat mit einem Schlaf¬
gänger, der Vater mit einer Weibsperson, die ihm den Haushalt be¬
sorgt. Parent du Chatelet zählte unter 2696 Prostituierten 1255,
die keine oder nur noch einen Elternteil hatten. In zahllosen
Fällen sind die Eltern liederliche und arbeitsscheue Leute, welche die
Verwahrlosung ihrer Kinder selbst verschuldet haben. Die Mutter
geht der Unzucht nach oder spielt die Kupplerin, der Vater ist
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
301
Trunkenbold, Verbrecher oder Landstreicher. Dazu kommt dann
noch das grauenhafte Wohnungselend in den Städten sowohl,
wie auf dem Lande. In engen Räumen, in derselben Stube, wo¬
möglich in demselben Bett, schlafen Eltern und Schlafgänger, Er¬
wachsene und Kinder, Personen verschiedenen Geschlechts zu¬
sammen. Die Erwachsenen genieren sich vor den Kindern nicht
im geringsten, und die Kinder werden tagtäglich Zeugen der
rohesten geschlechtlichen Exzesse. Entsittlichend in hohem Grade
wirkt ferner das schlechte Beispiel, das den Kindern durch das
Treiben in der Nähe wohnender Prostituierter gegeben wird.
Es liegt auf der Hand, daß die Kinder, die in einer solchen
Atmosphäre leben, wirkliche Erziehung überhaupt nicht genießen
und sittliches Bewußtsein gar nicht kennen lernen. „Eine nicht
geringe Anzahl von Mädchen im jugendlichsten Alter verfällt der
Unzucht, weil sie von frühester Jugend an das unsittliche, oft ver¬
brecherische Treiben ihrer Eltern, die Unzucht ihrer Mutter vor
Augen hatten, deren Verkuppelung sie nicht entgehen können.“
„Als Hauptursache der geschlechtlichen Unsittlichkeit, insbesondere
der Prostitution, darf vor allem die schlechte Erziehung angesehen
werden, das verderbliche Beispiel, welches die Gefallenen oft von
ihrer Kindheit an vor Augen hatten, die Verführungen aller Art,
welchen sie infolge dessen fast wehrlos preisgegeben sind, ohne von
den natürlichen Neigungen zu sprechen. Bei solchen Verhältnissen
erscheint es einleuchtend, daher der Boden, auf welchen der Same
des Unkrauts fällt, sehr gut vorbereitet ist.“ („Die Prostitution in
Deutschland, auf Grund des vom Ausschüsse der Rheinisch-West¬
fälischen Gefängnis-Gesellschaft gesammelten Materials“ erörtert von
H. Stursberg.)
Wie unheilvoll der schlechte Einfluß ist, den die zerrütteten
Verhältnisse des Elternhauses auf die Kinder ausüben, zeigen die
Berichte und Statistiken der Erziehungsanstalten deutlich. Die
Untersuchungen in der Anstalt Elmira z. B. ergaben, daß bei
51,8 Proz. der dort untergebrachten Zöglinge die Atmosphäre des
Elternhauses „positiv schlecht“ und nur bei 8,3 Proz. „gut“ war.
Die Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger
für das Jahr 1901 besagt, daß die Familien, aus denen mehr als ein
Zögling überwiesen ist, meist schon seit längerer Zeit wirtschaftlich
und sittlich vollständig zerrüttet waren. Die Zerrüttung
spricht sich zunächst aus in den gerichtlichen Bestrafungen
der Eltern. Gerichtlich bestraft waren die Eltern in 2924 Familien.
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302
Schiller.
= 47,1 Proz. aller Familien, aus denen Kinder in Fürsorgeerziehung
untergebracht waren. In 1419 (— 22,9 Proz.) Familien war nur
der Vater; in 589 (= 9,5 Proz.) war nur die Mutter, und in 916
(= 16,7 Proz.) waren boide Eltern gerichtlich bestraft; das ergibt
2335 bestrafte Väter und 1505 bestrafte Mütter. Unter den Be¬
strafungen sind alle Strafarten des Strafgesetzbuchs vertreten;
284 Väter und 99 Mütter sind mit Zuchthaus bestraft. In vielen
Familien sind Vater oder Mutter, oder beide wiederholt bestraft;
Trunksucht, Unzucht, Arbeitsscheu sind die vornehmsten Ur¬
sachen und Zeichen des zerrütteten Familienlebens. In 2353 Familien
(= 37,9 Proz.) waren die Eltern schlechten Neigungen ergeben, davon
in 1150 Fällen (= 18,5 Proz.) nur der Vater, in 660 Fällen
(= 10,6 Proz.) nur die Mutter, und in 543 Fällen (= 8,7 Proz.)
beide Eltern, oder 1693 Väter und 1203 Mütter. Der Trunksucht allein
oder in Verbindung mit Unzucht bezw. Arbeitsscheu waren 1483 Väter
und 562 Mütter ergeben, = 87,6 Proz. aller schlechten Neigungen
ergebenen Väter, bezw. 46,7 Proz. der Mütter. Der Unzucht allein
oder in Verbindung mit Trunksucht und Arbeitsscheu waren 681 =
56,8 Proz. aller mit schlechten Neigungen behafteten Mütter ergeben;
in der Regel sind diese Mütter auch wegen Gewerbsunzucht be¬
straft. In 777 Familien (= 12,4 Proz. aller Familien) sind Ge¬
schwister der Fürsorgezöglinge bestraft, darunter eine große Zahl
mehrfach, einzelne 5 bis 10 mal. In 549 Familien sind nur Brüder,
in 155 nur Schwestern und in 73 Brüder und Schwestern bestraft.
In 152 Familien waren eine oder auch mehrere Schwestern der
gewerbsmäßigen Unzucht ergeben.
In allen Fällen, in denen die Eltern aus moralischen Gründen
nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu nützlichen Gliedern der
menschlichen Gesellschaft zu erziehen, müssen ihnen die Kinder,
so früh als möglich, noch ehe sie die Keime der Unsittlich¬
keit in sich aufgenommen haben, fortgenommen und aufStaats-
kosten anderweitig erzogen werden. „Das Wichtigste bleibt, nicht erst
die eintretende Verwahrlosung der jugendlichen Personen abzuwarten,
sondern in viel ausgiebigerer Weise, als dies bisher geschehen ist,
für die Erziehung und Pflege der Kinder und für den
Schutz und rechtlichen Erwerb der weiblichen Jugend¬
lichen nach Absolvierung der Schule zu sorgen, will man
ernsthaft dem in allen möglichen Formen sich entwickelnden anti¬
sozialen Verfall der Jugend, wie er sich als Verbrechertum, Land¬
streicherei und Bettelwesen und eben auch als Prostitution geltend
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 303
macht, entgegenarbeiten.“ (Neisser, II. intern. Konferenz in Brüssel,
1902, Bd. L)
Manchesmal, aber das sind im allgemeinen seltene Fälle, trifft
auch die Eltern an der Verwahrlosung ihrer Kinder keine Schuld.
Der Vater und die Mutter müssen schwer arbeiten, um das täg¬
liche Brot für die zahlreiche Familie zu verdienen. Nicht allein
der Vater, sondern auch die Mutter muß außerhalb des Hauses
ihrer Arbeit nachgehen; beide sind müde und abgespannt, wenn
sie von der Arbeit nach Hause kommen. Sie können sich nicht
genügend um ihre Kinder kümmern, oder haben nicht die nötige
Energie. Die Kinder wachsen auf der Straße auf, die Mädchen
treiben sich herum und werden verführt. Es fehlt ihnen das
Beste an der Erziehung: die Einwirkung des Elternhauses. In
diesen Fällen, in denen die Kinder von den Eltern zum Zwecke
der Erziehung nicht getrennt zu werden brauchen, ist es
Sache der öffentlichen Armenpflege die Eltern in den
Stand zu setzen, für die Erziehung ihrer Kinder ausreichend
sorgen zu können.
Ein großer Teil der Prostituierten, der aus leidlich ehrbaren
Arbeiter- und Handwerkerfamilien stammt, hat zwar eine gewisse
Erziehung zuhause genossen, aber auch keine ausreichende. Das
gilt insbesondere für die vielen Mädchen, die vom Lande in die
Großstädte kommen. Ihre Schulbildung ist höchst mangelhaft,
ihre Erziehung im Elternhause nicht sorgfältig, in geschlechtlicher
Beziehung sind sie mehr als naiv. Kommen sie dann, zumeist als
Kindermädchen oder Dienstmädchen, in die Städte, so stehen sie den
mannigfachen Verführungen widerstandslos gegenüber. Freundinnen,
die schon längere Zeit die Großstadtluft atmen, erleichtern ihnen
häufig den ersten Schritt auf dem Wege der Unsittlichkeit. Viele
werden liederlich, vernachlässigen ihre Arbeit und verlieren deshalb
ihre Stellungen, viele werden geschlechtskrank, viele gebären un¬
ehelich. Allmählich sinken sie tiefer und tiefer, bis sie in die
polizeilichen Kontrollisten eingetragen werden.
Mit dem Fehlen der Erziehung geht bei den meisten Pro¬
stituierten das Fehlen wirklicher Bildung Hand in Hand. Die
Tatsache, daß der größte Teil der Prostituierten eine leidlich gute
Schulbildung nicht genossen hat, läßt den hohen sittlichen Wert
der Bildung in hellem Lichte erscheinen. Nach der Statistik über
die Zwangszöglinge unter der Geltung des früheren Zwangser-
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Schiller.
Ziehungsgesetzes von 1878 für die Jahre 1895 bezw. 1896 bis 1900
waren
Prozent
männlich weiblich
ohne Schulbildung.. 6,6 5,5
nicht fertig lesen, schreiben, rechnen im Zahleukreise
von 1—100 konnten. 41,8 33,9
fertig lesen, schreiben, rechnen im Zahlenkreise von
1—100 konnten. 47,6 42,3
volle Volksschulbildung hatten nur . 3,8 17,7
und höhere Bildung .. — 0,6
Nach der Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger
für das Jahr 1901 hatten von den über 12 Jahre alten Zöglingen
nur 1610 ( = 36,0 Proz.) volle Volksschulbildung; 1798 (= 40,3Proz.)
konnten fertig lesen und schreiben, sowie im Zahlenraume von
1—100 fertig rechnen; 304 (=—6,8 Proz.) konnten entweder nur
fertig lesen oder nur fertig schreiben oder nur fertig rechnen im
Zahlenraume von 1—100; 9 (=0,2 Proz.) waren überhaupt ohne
Schulbildung; 9 (=0,2 Proz.) hatten höhere Schulbildung.
In Manchester befanden 9ich unter 10000 gefänglich einge-
zogenen Prostituierten 5161, die nicht lesen und schreiben konnten:
4760 schrieben und lasen schlecht, nur 78 gut und eine einzige
hatte angeblich höhere Schulbildung. In Paris konnten nach
Parent du Chatelet von 4222 Prostituierten 2332 weder
schreiben noch lesen, 1780 konnten nur sehr schlecht, 110 richtig
lesen und schreiben; Parent du Chatelet knüpft an diese Tat¬
sache die Worte: „In der Hauptstadt Frankreichs also, wo auf den
Unterricht von jeher die denkbar größte Sorgfalt verwendet worden
ist, wo er unentgeltlich allen Unbemittelten erteilt wird, wo das
Volk seine Notwendigkeit erkennt, weil er zum Kampf ums Dasein
unerläßlich, kommt eine einigermaßen gebildete Prostituierte auf
223 Analphabeten. Diese Tatsache beweist entweder die völlige
Unfähigkeit dieser Geschöpfe oder die gänzliche Vernachlässigung
seitens der Eltern und hiermit die moralische Verkommenheit, die
Gleichgültigkeit der Angehörigen in bezug auf das Los ihrer
Kinder, welche ihnen mit Recht den liederlichen Lebenswandel,
dem sie zum Opfer gefallen, vorwerfen können/ 4 Neuerdings wurde
festgestellt, daß von 39 in Paris geborenen Prostituierten 25 ihren
Namen gar nicht, 14 ihn nur schlecht schreiben konnten; während
von 264 auf dem Lande geborenen und aufgewachsenen Pro¬
stituierten 146 nicht unterzeichnen konnten, 74 Unterzeichneten
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
305
schlecht und 44 verweigerten Auskunft und Unterschrift. (Parent
du Chatelet, Die Prostitution in Paris, bearbeitet und bis auf
die neueste Zeit fortgeführt von G. Montanus. 1903. S. 21.)
In Rußland vollends konnten nach der Prostituiertenzählung
im Jahre 1889: 77,6 Proz. der in Bordellen lebenden Mädchen
und 79,6 Proz. der Einzellebenden weder schreiben noch lesen.
Mit Recht wurde auf dem Kongreß zur Ausarbeitung von Ma߬
regeln gegen die Ausbreitung der Syphilis in Rußland 1897 ge¬
sagt: „Eine der Hauptursachen, die den erfolgreichen Kampf mit
der Syphilis auf dem Lande hindert, ist die mangelhafte Volks¬
bildung und der niedrige Stand der Kultur. Daher ist vor allem
der Bildungsgrad des Volkes zu heben und durch Volkslesehallen
und populäre Vorlesungen die Popularisation hygienischer und
medizinischer Begriöe anzustreben.“ (Petersen, Intern. Konfer.
Brüssel 1899. Enqu. Bd. I. S. 292.)
Bezeichnend für den Wert der Bildung ist auch die Tat¬
sache, daß mit der Hebung des Bildungsniveaus der Industrie¬
arbeiter der Zuzug, den die Prostitution aus der Industrie erhält,
erheblich abgenommen hat Nach einer von Blaschko angeführten
Statistik über die Berufsarten, aus denen die Berliner Prostituierten
hervorgegangen sind, waren im Jahre 1855 71 Proz. der Pro¬
stituierten vor Ausübung der Prostitution in der Industrie be¬
schäftigt; im Jahre 1873 betrug diese Zahl 64 und im Jahre 1898
nur 43 Proz., während die Klasse der früheren Dienstmädchen
von 7,1 über 35,7 auf 41,3 Proz. gestiegen ist „Es geht hieraus
zunächst ohne Zweifel hervor, daß die arbeitende Bevölkerung
Berlins heute einen ungleich ungünstigeren Nährboden für die
Prostitution j bilden muß als früher. Und das läßt sich nicht
anders erklären, als daß nicht nur ihre Erwerbsverhältnisse sich
im Laufe dieser Epoche günstiger gestaltet haben, sondern daß
auch das intellektuelle und ethische Niveau der Berliner Arbeiter¬
bevölkerung heute viel höher steht, als vor einem halben Jahr¬
hundert. Gewiß mögen auch die Industriearbeiterinnen, besonders
die geborenen Berlinerinnen mehr unter der ,gelegentlichen' Pro¬
stitution figurieren; aber auch das würde auf ein höheres sittliches
Niveau hindeuten.“ (Blaschko, Hygiene der Prostitution und
venerischen Krankheiten. Handbuch der Hyg. Bd. X. 8. 40.)
Bei den vielen geistig oder körperlich minderwertigen, schwach
befähigten und degenerierten Charakteren, die von der Prostitution
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306
Schiller.
verschlungen werden, ist selbstverständlich, ebensowenig wie von
geeigneter Erziehung, von richtiger Bildung die Bede.
Hält man sich diese Tatsache vor Augen, so muß man die
Mittel zur Bekämpfung der Prostitution in erster Linie in
einer ordentlichen Erziehung und vernünftigen Bildung der ge¬
fährdeten weiblichen Jugendlichen erblicken.
Diese Erziehung zu leiten und zu überwachen muß Aufgabe
des Staates sein, und zwar eine der größten und segensvollsten
Aufgaben. Das Recht des Vaters bezw. der Mutter auf die körper¬
liche und geistige Erziehung der Kinder bestimmend einzuwirken,
findet seine Grenze an dem Rechte des Staates, die Erziehung der
Jugend zu überwachen und dafür zu sorgen, daß jeder einzelne
dereinst auch diejenige moralische Qualifikation besitzt, die das
Leben von ihm verlangt (Mot zum BGB. IV. S. 624.) Wo die
sittliche Entwickelung Schaden leidet, da muß der Staat Vor¬
kehrungen treffen, um die Gefahr des Verderbens zu beseitigen.
Das geschieht durch die Fürsorgeerziehung, deren zweckent¬
sprechende Ausführung vom Staate getragen oder wenigstens
garantiert wird. Die Fürsorgeerziehung ist daher eine sozial¬
politische Notwendigkeit.
Der Staat hat aber auch aus finanziellen Gründen ein sehr
bedeutendes Interesse an der Abnahme der Zahl der Dirnen und
Verbrecher. Man braucht nur an die ungeheuren Summen zu
denken, die Zuchthäuser, Gefängnisse, Arbeitshäuser, Irrenanstalten,
Kranken- und Siechenhäuser verschlingen. Darum ist es auch
berechtigt zu verlangen, daß der Staat als solcher in der Haupt¬
sache die Kosten der zwangsweisen Erziehung zu tragen hat
Die Erziehung kann bei geeigneten Familien oder in An¬
stalten erfolgen. Die Frage, ob der Zögling in Familien- oder
Anstaltspflege zu geben ist, wird von dem Zustande des Zöglings,
dem Grade seiner Verwahrlosung und von der Art und Weise
seiner bisherigen Erziehung abhängen.
Die Familienerziehung erscheint als die natürlichste und
zweckmäßigste Art der Unterbringung, ganz besonders bei Mädchen.
Sie bildet „den besten Ersatz für das, was dem Minderjährigen im
Elternhause leider nicht geboten wird. Die besteingerichtete An¬
stalt kommt in ihrem Leistungsvermögen der Familie nicht gleich.
Das Leben in der Familie weist nachhaltig auf die praktischen
Lebensaufgaben hin und macht mit der Art und Schwierigkeit
des täglichen Broterwerbes besser vertraut“. (Schmitz, Die Für-
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbckfimpfung.
307
sorgeerziehung Mindeijähriger, S. 75.) Daher soll auch nach den
ministeriellen Ausftihrungsbestimmungen zum Fürsorgeerziehungs¬
gesetz, die Familienerziehung in erster Linie zur Anwendung
kommen: „Solange die Zwecke der Fürsorgeerziehung durch
Unterbringung in einer Familie nur irgend erreicht werden können,
ist dieser der Vorzug zu geben. Sie wird von vornherein zur An¬
wendung zu bringen sein, wenn der Zögling das schulpflichtige
Alter noch nicht überschritten hat und ein erhebliches sittliches
Verderbnis nicht vorliegt, oder nach voraufgegangener Anstalts¬
erziehung, wenn der Zögling durch sie an Zucht und Ordnung
gewöhnt, körperlich, geistig und sittlich gekräftigt ist. Bei der
Auswahl der Familien ist in erster Linie darauf zu sehen, daß sie
für eine ernst religiös-sittliche Erziehung Gewähr bieten. Es sind
ferner nur solche Familien zu wählen, die in geordneten Verhält¬
nissen leben und eine ausreichende Wohnung haben.“ In erster
Linie werden für die Familienerziehung Familien, die in den kleinen
Städten und auf dem Lande wohnen, in Betracht kommen. Fami¬
lien in den Großstädten eignen sich wenig oder gar nicht zur
Erziehung sittlich gefährdeter Mädchen wegen der vielen Ver¬
suchungen, die die Großstädte bieten. Die Großstädte verhindern
eine ausreichende Beaufsichtigung und ermöglichen ein Zurück¬
kehren des Zöglings in seine frühere verderbliche Umgebung. In
den kleinen Städten werden vor allem Familien des Handwerker¬
standes berücksichtigt werden müssen; auf dem Lande selbständige
Bauernfamilien.
Sind die Zöglinge 14 Jahre alt und haben sie sich gut ge¬
führt, so werden sie in der Regel in Dienststellen untergebracht
werden können. Zu ihrer weiteren Überwachung sieht das Für¬
sorgeerziehungsgesetz für sie die Bestellung eines „Fürsorgers“
vor. Aufgabe dieses Fürsorgers wird es sein, sich seines Zöglings
auf das wärmste anzunehmen und sein Hineinwachsen in die
bürgerliche Gesellschaft zu vermitteln.
Die Unterbringung in Anstalten erscheint nach den minister.
Ausführungsbestimmungen vorzugsweise angebracht für Minder¬
jährige, die zu geschlechtlichen Ausschweifungen, zum Land¬
streichen und Verbrechen neigen oder in anderer Weise sittlich
verwahrlost sind, sowie für solche, deren körperlicher Zustand eine
besondere Pflege unter ärztlicher Aufsicht fordert. (Syphilitische
in späteren Stadien.) Die Zöglinge sollen aber in der Anstalt nur
so lange bleiben, als unbedingt notwendig ist, um sie an Zucht und
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308
Schiller.
Ordnung zu gewöhnen, leiblich und geistig zu kräftigen. Sobald
dieser körperliche und sittliche Reinigungsprozeß beendet ist, sind
sie in Familien, wenn möglich unter Aufsicht des Anstaltsvor¬
stehers, der ihren Charakter kennt, unterzubringen, die Schul¬
pflichtigen in Pflege, die Schulentlassenen im Gesindedienst.
Führen sie sich schlecht, oder erweist sich die Familie als unge¬
eignet, so sind sie in die Anstalt zurückzunehmen, um geeigneten-
falls nach einiger Zeit einen erneuten Versuch mit der Familien¬
erziehung zu machen.
Die Anstaltserziehung muß so beschaffen sein, daß alles,
was an Gefängnis oder Arbeitshaus erinnert, vermieden wird. Den
Zöglingen ist innerhalb der durch die Anstaltsordnung gezogenen
Grenzen möglichste Freiheit zu lassen. Anstalten mit großen
fabrikmäßigen Betrieben eignen sich zur Erziehung besonders von
jungen Mädchen, nicht. Ebensowenig solche Anstalten, in denen
aus finanziellen Rücksichten nur schablonenmäßige manuelle Ar¬
beiten verrichtet werden. „Kaffeebohnen- und Linsensortieren, die
Fabrikation von Bürsten zum Verkauf, das Heften von Schreib¬
büchern das ganze Jahr hindurch, die einseitige Ausnutzung der
Mädchen im Waschbetrieb für Rechnung anderer Leute, ohne ge¬
nügende Ausbildung in anderen weiblichen Arbeiten, das gesund¬
heitsschädliche Bemalen von Bleisoldaten — das alles ist, vom
erziehlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, durchaus zu verwerfen,
auch wenn die Anstalt auf diese Einnahmequellen angewiesen zu
sein scheint Die Mädchen sollen nicht bloß waschen und plätten
lernen, wie es der mit Elektromotor und Dampfkessel versehene
Betrieb erfordert, sondern auch waschen und plätten lernen, wie
sie es später im kleinen Haushalt gebrauchen. Sie bedürfen aber
auch der Anleitung in anderen weiblichen Handarbeiten, wie im
Zuschneiden, Nähmaschinenarbeit und im Kochen. In keiner An¬
stalt sollte eine Haushaltungsschule für die Mädchen fehlen, in der
sie Hausmannskost kochen lernen, die verschiedenen Heizsysteme
praktisch erproben, auch die notwendigen Kenntnisse über Lebens¬
mittel sich aneignen. Nur so werden die Mädchen praktisch fürs
Leben erzogen.“ (Plaß, No. 51 der „Woche“, 1903). •
In geistiger Hinsicht muß die Erziehung darauf gerichtet sein,
das Ehrgefühl und das sittliche Empfinden der Mädchen
zu heben. Die Zöglinge müssen zu der Erkenntnis gebracht werden,
daß jede, auch noch so gewöhnliche, aber ehrliche Arbeit
besser ist, als die Prostitution. Durch fortwährende Belehrung
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
309
und Hinweis auf die Gefahren der Prostitution für Leib und Seele
müssen die Mädchen die Prostitution verabscheuen lernen.
Freilich worden den Anstalten aus der Erziehung der gegen
ihren Willen zurückgehaltenen, geschlechtlich verdorbenen Jugend¬
lichen große Schwierigkeiten erwachsen. Ein Teil dieser weiblichen
Elemente wird wahrscheinlich auch durch sorgfältige Erziehung
nicht gebessert werden und nach der Entlassung aus den An¬
stalten der Prostitution wieder anheimfallen. Das darf aber die
Anstaltsleitungen nicht entmutigen, nach wie vor ihre besten Kräfte
an die Rettung der gefallenen Mädchen zu setzen.
Andererseits müssen die gedachten Schwierigkeiten dazu führen,
die gefährdeten Mädchen in möglichst jungen Jahren, in denen
sie noch erziehungs- und besserungsfähig sind, in geeignete Erziehung
zu bringen. In der Regel zeigt sich bei den Opfern der Prosti¬
tution die Verwahrlosung schon in früher Jugend, wenn sie auch
nicht gleich als geschlechtliche Verwahrlosung zutage tritt. In¬
dessen ist auch diese in der Regel so zeitig wahrzunehmen, daß
es zu einem Rettungsversuch nicht zu spät ist. Denn der größte
Prozentsatz der Prostituierten ist noch vor Erreichung
der Großjährigkeit der gewerbsmäßigen Unzucht nach¬
gegangen; sehr viele schon vor ihrem 18. Lebensjahre,
zum mindesten haben sie vordem die Prostitution „ge¬
legentlich“ betrieben. In Berlin zählte man trotz der Ma߬
nahmen, die die Einschreibung der Minderjährigen in die polizei¬
lichen Kontrollisten außerordentlich erschweren, im Jahre 1898
unter den 846 neu eingeschriebenen Prostituierten 229 Minder¬
jährige; davon waren alt:
15 Jahre: 7
Früher ist es sogar vereinzelt vorgekommen, daß vierzehnjährige
Mädchen hatten unter Kontrolle gestellt werden müssen. (Blaschko,
Intern. Konf. in Brüssel 1899. Enq. I. S. 667.)
In Paris wurden im Jahre 1885 890 Großjährige und 409
Minderjährige in die Kontrollisten eingeschrieben, im Jahre 1886:
775 Großjährige und 370 Minderjährige; im Jahre 1887: 592 Groß-
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310
Schiller.
jährige und 276 Minderjährige; im Jahre 1888: 442 Großjährige
und 265 Minderjährige; im Jahre 1894 wurden 325 und im Jahre
1900: 253 Minderjährige eingetragen.
In Rußland waren nach der Zählung im Jahre 1889 14 Pro¬
stituierte in Bordellen und 30 Kartenmädchen unter 15 Jahre alt;
3040 Bordellmädchen und 2508 Kartenmädchen waren unter 20 Jahre
alt 26 Prostituierte in Bordellen hatten sich vor ihrem 12. Lebens¬
jahr prostituiert und 6739, das sind 86,2 Proz., vor erreichter Gro߬
jährigkeit, darunter 2041 vor ihrem 16. Lebensjahre. Von den
Kartenmädchen hatten sich 50 vor ihrem 12. Jahre zu prostituieren
begonnen, 1978 vor ihrem 16. Jahre und 7305, gleich 75,6 Proz.,
vor ihrem 21. Lebensjahre. (Vgl. Minod, Prostitution des Mineures.
Brüssel. Conf. 1902. Bd. I.)
Welchen positiven Erfolg die erziehliche Arbeit an der ver¬
wahrlosten Jugend, und zwar an einer so stark verwahrlosten
Jugend, daß sie bereits mit den Strafgesetzen in Konflikt geraten
ist, gezeitigt hat, ergibt sich aus einer Statistik, die Pastor M. Roth
in Gr.-Rosen (Schlesien) im Aufträge des Vereins schlesischer
evangelischer Rettungshäuser (Hamburg, Agentur des Rauhen
Hauses 1901) veranstaltet hat. Die Statistik umfaßt die in 25
schlesischen Rettungshäusern in den Jahren 1883—1892 unter¬
gebrachten Zöglinge. Von diesen sind 81,04 Proz. für die bürger¬
liche Gesellschaft als gerettet zu betrachten und nur 12,6 Proz.
als gänzlich verloren anzusehen. Von den 340 weiblichen Zög¬
lingen fanden nach der Entlassung aus den Anstalten 50 in der
Landwirtschaft und 34 in der Industrie als Lohnarbeiterinnen
Unterkunft, 80 waren als Hausmädchen tätig, 13 als Schneiderinnen,
127 verheirateten sich. „Wir sind keine Schwärmer,“ so schließt
der Bericht, „sondern bewegen uns auf dem Boden der nüchternen
Wirklichkeit. Wenn, wie nachgewiesen worden ist, unter den un¬
günstigeren Voraussetzungen des alten preußischen Zwangs¬
erziehungsgesetzes vom 13. März 1878 80 Proz. der Zwangszög¬
linge, d. h. solcher Kinder, deren Verwahrlosung schon so weit vor¬
geschritten war, daß sie strafbare Handlungen gezeitigt hatte, für
die bürgerliche Gesellschaft gerettet und zu nützlichen Staats¬
angehörigen erzogen werden konnten (es wird hier allerdings vor¬
ausgesetzt, daß die provinziellen Besserungsanstalten ähnliche Er¬
folge aufzuweisen haben und dieser Annahme steht wohl nichts
entgegen), so darf man wohl hoffen, daß unter dem Einfluß des
neuen preußischen Gesetzes betreffend die Fürsorgeerziehung
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
311
Minderjähriger und verwandter außerpreußischer Gesetze, welche
wesentlich günstigere Bedingungen für die Erziehung Verwahrloster
schaffen, mindestens ebenso gute, vielleicht noch bessere Erfolge
erzielt werden. Die mit den Privatzöglingen gemachten Erfah¬
rungen, für welche diese günstigeren Bedingungen teilweise schon
Vorlagen und von denen reichlich 90 Proz. gerettet worden sind,
lassen diese Hoffnung als durchaus begründet erscheinen.“
Gegen die Bestrebungen, durch geeignete Erziehung die weib¬
lichen Jugendlichen vor dem Hinabgleiten in den Sumpf der
Prostitution zu bewahren, wird von mancher Seite geltend gemacht,
daß damit die Prostitution nicht eingeschränkt und die Zahl
der Prostituierten nicht verringert werde. Denn die Prosti¬
tution sei in der Hauptsache eine Männerfrage; das Angebot werde stets
durch die Nachfrage der Männer bedingt Sei die Nachfrage groß,
so sei auch das Angebot ein entsprechend großes. „Stehen wir
auf dem Standpunkt,“ sagt Blaschko (Handb. der Hyg. X. S. 39),
„daß nicht das Angebot von Prostitution ein Bedürfnis erzeugt,
sondern daß das nach Befriedigung lechzende gesellschaftliche Be¬
dürfnis erst das Angebot provoziert, so müssen die ausschließlich
auf Verringerung des Angebots bezw. des Zustroms zur Prostitution
gerichteten Bestrebungen erfolglos bleiben. Sie können höchstens
den Erfolg haben, daß die anderen Formen des außerehelichen
Geschlechtsverkehrs in den Vordergrund treten. In demselben
Maße wie auf Seiten des Mannes das Bedürfnis nach Prostitution
wächst, vermehrt sich auf der anderen Seite ihr Angebot: Die¬
selben wirtschaftlichen Verhältnisse, die dem Manne die Ehe¬
schließung erschweren, überliefern die Frau der Prostitution.“
Das ist sicher nicht richtig. Die Gesetze, die auf dem Wirt¬
schaftsmarkte Angebot und Nachfrage regeln und bestimmen,
sind nicht ohne weiteres für die Prostitution maßgebend. Denn
der „käufliche Geschlechtsgenuß“ ist keine Ware im üblichen
Sinne, auch nicht in dem Sinne wie die „Arbeit“ eine Ware ist.
Man muß sich nur stets vor Augen halten, daß der außereheliche
Geschlechtsverkehr unter unseren heutigen Gesellschaftsverhältnissen
von dem größten Teil der anständig erzogenen jungen Mädchen
als etwas Unsittliches und Schandbares angesehen wird. Es gehört
bereits eine starke unmoralische Disposition dazu, um die
Ware „Geschlechtsgenuß“ auf den Markt zu tragen. Auch wenn
die Nachfrage nach dieser Ware noch so groß ist, so werden immer
nur diejenigen zum Angebot gereizt werden, die die unmora-
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Google
312
Schiller.
lische Disposition haben. Gelingt es also, das sittliche Niveau
der aus den niederen Klassen des Volkes hervorgehenden Mädchen
zu heben, so wird die Anschauung, daß der außereheliche Ge¬
schlechtsverkehr eine Schande sei, mehr und mehr an Boden
gewinnen, und mangels unmoralischer Disposition wird sich das
Angebot zum käuflichen Geschlechtsgenuß verringern. Mag die
Nachfrage auch bedeutend steigen, das Angebot wird ihr nicht
entgegenkommen.
Blaschko selbst erklärt ja das Herabgehen der Beteiligung
der Berlinerinnen an der Prostitution damit, daß das intellektuelle
und ethische Niveau der Berliner Arbeiterinnen in den letzten
Jahrzehnten sich gehoben hat Auch wenn nur das erreicht wird,
daß die Prostitution auf Kosten der anderen Formen des außer¬
ehelichen Geschlechtsverkehrs abnimmt, so ist damit für die bürger¬
liche Gesellschaft und für die Bestrebungen zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten außerordentlich viel gewonnen.
Der oben gedachten Ansicht Blaschkos stehen auch die
Tatsachen entgegen. Wäre lediglich die Nachfrage der Männer
maßgebend für das Angebot der Prostituierten, so müßte die
Prostitution mit dem Wachsen der männlichen Bevölkerung,
oder da der Prozentsatz der männlichen Bevölkerung ziemlich der
gleiche bleibt, mit dem Wachsen der gesamten Bevölkerung
gleichen Schritt halten. Die Zahl der Prostituierten müßte
ferner in jeder einzelnen Stadt in einem bestimmten Verhältnis
zur Zahl der männlichen Bewohner stehen. In Wirklichkeit ist
aber die Prostitution in den letzten Jahrzehnten in un¬
gleich stärkerem Verhältnis gewachsen, als die Bevöl¬
kerung und die einzelnen Städte bieten in ihren
Verhältniszahlen von Prostituierten und männliche Be¬
völkerung das bunteste Bild.
In Berlin z. B. zählte man im Jahre 1845: 600 und im
Jahre 1875 bereits 2241 polizeilich eingeschriebene Mädchen; von
da ab stieg ihre Zahl jährlich um etwa 6 bis 7 Proz., während die
Bevölkerung nur um 3 bis 4 Proz. gewachsen ist. Die Prostitution
hat sich also in Berlin seit 20 Jahren in einem fast doppelt
so starken Verhältnis vermehrt, als die Bevölkerung. Im Jahre
1886 standen 3006, im Jahre 1889 bereits 3713, und im Jahre
1891 4362 Prostituierte unter sittenpolizeilicher Kontrolle. In
dem letzten Jahrzehnt ist die Prostitution sogar in noch stärkerem
Verhältnis gewachsen. Dazu kommt ferner die ungeheuere Zahl
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
313
der nicht eingeschriebenen Prostituierten, die in den letzten
Jahren geradezu ins Riesenhafte gestiegen ist; sie wird heute auf
50000 angegeben. Und dieses fortdauernde Anwachsen derein-
geschriebenen und nicht eingeschriebenen Prostituierten ist nicht
allein auf die größere Tätigkeit der Polizeiorgane, die Abnahme der
der Eheschließungen und den Fremdenzutiuß zurückzuführen, son¬
dern hat seinen Grund wesentlich in dem Sinken des sittlichen
Niveaus, nicht so sehr der Berlinerinnen, als vielmehr ganzer Be¬
völkerungsschichten außerhalb, namentlich der Mädchen vom Lande,
die in die Großstadt versetzt, den Versuchungen nach Genuß, Ver¬
gnügen und Wohlleben nicht widerstehen können.
In den Städten, in denen eine große Zahl unverheirateter
junger Männer zusammengedrängt sind (Universitätsstädte, Garni¬
sonen), ist selbstverständlich auch die Zahl der Prostituierten
größer als anderwärts. Diese Tatsache beweist aber noch nicht,
daß die Prostitution lediglich durch die Nachfrage erzeugt wird.
Das Angebot der Prostituierten übersteigt vielmehr in
allen größeren Städten die Nachfrage und durch das
große Angebot wird das Bedürfnis zum Teil erst geweckt;
die Männer werden durch die sich auf der Straße anbietende Pro¬
stitution oder durch die Existenz von Bordellen erst zum geschlecht¬
lichen Verkehr provoziert.
Gewiß ist die Prostitution an sich durch das Bedürfnis der
Männer bedingt Bestände keine Nachfrage, so gäbe es kein An¬
gebot, und insofern kann man die Prostitution eine Männerfrage
nennen. Aber das Angebot wäre trotz der Nachfrage kein so
großes, wie es zurzeit ist, wenn nicht eine Reihe anderer Um¬
stände, insbesondere die durch schlechte Erziehung und
Bildungsmangel bedingte Widerstandslosigkeit gegen
Verführungen, dem größten Teil der weiblichen Jugendlichen den
^Schritt in die Arme der Prostitution wesentlich erleichterten. (Vergl.
auch Neisser; „Nach welcher Richtung läßt sich die Reglemen¬
tierung der Prostitution reformieren?“ Zeitschr. f. B. d. G. Bd. I.
S. 213 ff.)
(Schluß folgt)
ZültÄchr. f. Bekämpfung d. Geschlechts kr an kh. II.
24
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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische.
(Krankenkassenmitglieder und Versicherte.)
Von Dr. Carl Stern,
Oberarzt des Städtischen Barackenkrankenhauses Düsseldorf.
Nachdem mit dem Inkrafttreten der Novelle zum Kranken¬
versicherungsgesetz die beschränkenden Bestimmungen für die
Geschlechtskranken glücklicherweise beseitigt sind, ist mit dem
1. Januar d. J. den Krankenkassen die gleiche Fürsorge für diese
Art von Kranken auferlegt, wie für alle anderen zum Segen für die
Kranken und zum Wohle für die Allgemeinheit. Die Einwirkungen
des Gesetzes machen sich in der Vermehrung der Krankenhaus¬
aufnahmen schon jetzt in erfreulicher Weise bemerkbar. Bisher
haben jedoch die Geschlechtskranken mit verschwindend kleinen
Ausnahmen sich nicht der weitergehenden Fürsorge erfreuen können,
welche die Versicherungsanstalten Kranken anderer Art auf Grund
der §§18 und 47 des Invalidenversicherungsgesetzes durch Über¬
nahme des Heilverfahrens angedeihen lassen können. Vergleiche
ich die in den Berichten der Versicherungsanstalten angeführten
Zahlen und meine eigenen Erfahrungen über die zum Heilverfahren
vorgeschlagenen Kranken anderer Art mit der Zahl derjenigen,
die wegen Geschlechtskrankheiten zum Heilverfahren übernommen
sind, so ist die Zahl eine verschwindend kleine gegenüber beispiels¬
weise der für die Tuberkulosenbekämpfung aufgewandten Mittel
Soweit ich die Berichte der Versicherungsanstalten aus den
letzten Jahren habe einsehen können, sind nur wenige in eine
Fürsorge für Geschlechtskranke durch Übernahme des Heilverfahrens
eingetreten, was zum Teil gewiß der Ausnahmestellung zuzu¬
schreiben ist, die die Geschlechtskranken bisher bei den Kranken¬
kassen einnahmen. Vielleicht ist auch bei dem im Vordergrund
stehenden Interesse für die Tuberkulose das Interesse für die
Syphilis bisher nicht hinreichend geweckt worden. Mit Ausnahme
der Versicherungsanstalt Berlin, welche seit etwa 2 Jahren in
Lichtenberg ein 50 Betten haltendes Genesungsheim für Geschlechts-
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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische. 315
kranke in anerkennenswerter Weise errichtet hat, besitzt keine
der 30 Versicherungsanstalten eigene Einrichtungen zu dem ge¬
dachten Zwecke, während für die Zwecke der Tuberkulosebekämpfung
11 Versicherungsanstalten eigene Anstalten unterhalten und andere, z. B.
die V.-A. Rheinprovinz, mit so erheblichen Kapitalien an Lungen¬
heilstätten beteiligt sind, daß man sie fast als die Besitzerinnen
der Anstalten bezeichnen kann. Und doch kann wohl kaum ein
Zweifel sein, daß die Bekämpfung der Syphilis an Wichtigkeit nicht
nachsteht der Fürsorge für die Tuberkulose, ln vieler Beziehung
möchte ich fast die Fürsorge für die Syphilitischen als aussichts¬
voller und darum als erfolgreicher bezeichnen, als die Fürsorge
für die Tuberkulösen, denn bei aller Anerkennung der auf dem
Gebiete der Tuberkulosenbekämpfung bisher erzielten Resultate,
darf doch nicht übersehen werden, daß bei der Tuberkulose die
Erfolge der Heilstättenbehandlung nur zu oft illusorisch gemacht
werden durch die ungeeigneten WohnungsVerhältnisse und sonstigen
sozialen Verhältnisse, in die der Kranke nach der Entlassung
zurückkehrt. Der Tuberkulöse ist in seinem Heilerfolg abhängig
von den Verhältnissen seiner Umgebung, der Syphilitische trägt
die Bedingungen seiner endgültigen Heilung im wesentlichen in sich.
Ohne mich in eine weitgehende Erörterung der Heilwirkung unserer
„spezifischen“ Medikamente bei der Behandlung der Lues einzu¬
lassen, glaube ich doch ohne ernsten Widerspruch hervorheben zu
dürfen, daß wir bei der Behandlung der Syphilis — mehr viel¬
leicht als hier und da geschehen mag — auf die natürlichen
Widerstandskräfte des Organismus ein wirken und diese beein¬
flussen müssen. Wenn man auch nicht soweit zu gehen braucht,
die „spezifische“ Wirkung des Quecksilbers auf syphilitische Ver¬
änderungen nur durch eine Steigerung der natürlichen Heil¬
bestrebungen des Organismus durch das Medikament zu erklären,
so kann man doch mit Fug und Recht behaupten, daß neben der
Einwirkung „spezifischer“ Mittel die Hebung der allgemeinen Wider¬
standskraft des durchseuchten Organismus mittelst guter Ernährung,
bester hygienischer Verhältnisse und Körperpflege bei der Heilung
der Syphilis eine hervorragende Rolle spielt. Die Heilerfolge in
den Badeorten bei den syphilitischen Erkrankungen sind wohl nicht
zum geringsten Teil dem Einfluß der genannten Faktoren zuzu¬
schreiben, die um so nachhaltiger zur Wirkung kommen müssen,
weil der Kranke heraus kommt aus den häuslichen und geschäft¬
lichen Sorgen und sich intensiv nur dem Heilplan seiner Er-
24 *
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316
Stern.
krankung widmen kann. Was wir unseren Patienten aus den wohl-
situierten Klassen angedeihen lassen können und zweckmässig an¬
gedeihen lassen, erscheint aber nicht minder wichtig bei Kranken
aus Bevölkerungschichten, in denen die Kenntnis der Gefahren
einer syphilitischen Infektion vielfach noch sehr gering ist und
daher die Beachtung und Befolgung der zur Heilung notwendigen
ärztlichen Maßnahmen vielfach leider noch sehr mangelhaft.
Nehmen wir dazu, daß die Zahl der syphilitisch Infizierten in den
Kreisen der versicherungspflichtigen Bevölkerung eine enorm hohe
ist, so kann es meines Erachtens nicht zweifelhaft sein, daß Ein¬
richtungen notwendig sind, die ähnlich den Badeorten für die
besser situierten Patienten, als Ergänzung unserer Heilbestrebungen
im Kampfe gegen die Syphilis dienen sollen. Daß sie zweckmäßig
sind, bedarf kaum des Beweises. Notwendig sind sie vor allem
auch deswegen, weil gegenwärtig und wohl noch auf geraume Zeit
hinaus die Unterbringung der Geschlechtskranken in vielen Kranken¬
anstalten noch recht viel zu wünschen übrig läßt Wir sind noch
nicht dahin gelangt, daß die Erkenntnis sich überall durchgerungen
hat, die Syphiliskranken bedürfen zu ihrer Genesung genau der¬
selben ja besserer hygienischer Einrichtungen als die Kranken
anderer Art. Vielfach sind die Unterkunftsräume für Syphilitische
in den Krankenanstalten noch nicht frei von Bedenken in dieser
Richtung. Ein nicht unerheblicher Teil der Mißerfolge oder ge¬
ringen Erfolge bei der Luesbehandlung in den niederen Kreisen
ist zweifelsohne dem Umstande zuzuschreiben, daß es an Gelegen¬
heiten fehlt, in denen die Kranken unter besten hygienischen Ver¬
hältnissen ihrer Heilung sich widmen können. Krankenkassen oder
Gemeindebehörden können nicht die Träger einer über das Maß
ihrer gesetzlichen Verpflichtungen hinausgehenden Fürsorge sein,
es bleibt daher nur übrig die Versicherungsanstalten für diese
Frage zu interessieren. In der Tat müßten diese der Angelegen¬
heit ein weitgehendes Interesse entgegenbringen, da doch eine
ihrer Hauptabsichten bei der Anwendung des § 18 des Invaliden¬
gesetzes die Verhütung der Erwerbsunfähigkeit ist. Wenngleich
weniger in die Augen fallend spielt doch die Syphilis in der Ätio¬
logie der zu dauernder, vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit fahrenden
Erkrankungen eine ganz hervorragende Rolle. Herz- und Leber¬
leiden, Rückenmark- und Gehirnerkrankungen brauche ich ja nur
zu nennen, um den Einfluß zu charakterisieren, den die gar nicht
oder nur mangelhaft behandelte Syphilis beim Zustandekommen
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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische.
317
vorzeitigen Siechtums haben kann und in viel mehr Fällen hat, als
gemeinhin beachtet wird. Die Versicherungsanstalten sollten des¬
halb für die Bekämpfung der Syphilis nicht minder interessiert
sein, wie für die Verhütung der Tuberkulose. Und wenn auch nur
ein Teil der für letztere aufgewandten Mittel für den Zweck der
Syphilisbekämpfung nutzbar gemacht werden könnte, würde der
Allgemeinheit und vor allem den Versicherten ein erheblicher
Nutzen erwachsen können. Nach den amtlichen Nachrichten des
Reichsversicherungsamtes 1903 Beiheft (Statistik der Heilbehand¬
lung) sind in den Jahren 1898—1902, also in 5 Jahren, von Ver¬
sicherungsanstalten und diesen gleichzuachtenden zugelassenen
Kasseneinrichtungen (Knappschaftskassen, Pensionskassen der Eisen¬
bahnen u. a.) insgesamt in Heilbehandlung genommen worden
140447 Personen mit einem Kostenaufwand von rund 32 Millionen
Mark. Unter diesen waren an Lungentuberkulose erkrankt und
als solche in ständiger Heilbehandlung (Seite 13) in S. S. 54 847.
Aus der Statistik auf Seite 14 und 15 (Versicherte, welche mit
anderen Krankheiten als Lungentuberkulose behaftet waren) ist zu
entnehmen, daß noch rund 4000 Personen in Heilanstalten für
Lungenkranke, Luftkurorte u. a. rund 7000 in Genesungsheimen,
Rekonvaleszentenanstalten u. a. m. untergebracht waren, sodaß man
nicht fehl gehen wird, wenn man annimmt, daß die Hälfte der
Aufwendungen zur Tuberkulosenbekämpfung gedient habe. Der
Bericht führt denn auch (Seite 7) an, daß 46 °/ 0 aller Behandelten
des Jahres 1902 wegen Lungentuberkulose behandelt worden sind.
Eine Aufklärung, wieviel für Geschlechtskranke aufgewandt ist, ist
aus dem Bericht nicht zu entnehmen, da die „anderen Krankheiten“
nicht genauer charakterisiert sind. Aus den weiterhin an¬
geführten Heilbehandlungsorten kann man aber entnehmen, daß
es nicht viele sein können, denn es sind nur wenige Orte und An¬
stalten aufgeführt, die überhaupt für die Unterbringung von Ge¬
schlechtskranken in Frage gekommen sein dürften. Wenngleich
ich nun in keiner Weise dem Kampfe gegen die Tuberkulose irgend
dadurch Abbruch tun möchte, daß ich die zu diesem Zwecke auf¬
gewandten Mittel zu verkürzen vorschlüge, glaube ich doch sagen
zu dürfen, daß Mittel auch für den Kampf gegen die Syphilis bei
den Versicherungsanstalten vorhanden sind und vorhanden sein
müssen. Jedenfalls würde es durchaus zu rechtfertigen sein, wenn
die Zahl der „Erholungsbedürftigen“, die Zahl der „Rheumatiker“
und der Bleichsüchtigen sich verminderte zugunsten der für die
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318
Stern.
Syphilisbekämpfung aufzuwendenden Mittel. Aber selbst eine Mehr¬
belastung der Ausgabeposten zugunsten der Geschlechtskranken
würde im allgemeinen sanitären Interesse und nicht zum geringsten
im Interesse der Versicherungsanstalten selbst durchaus zu
empfehlen und zu billigen sein. Somit sind die Vorbedingungen
bei den Versicherungsanstalten gegeben, um energischer als es bis¬
her der Fall zu sein scheint, einzutreten in eine weitergehende
Fürsorge für die Syphiliskranken. Was nun die Art der Fürsorge
anlangt, so halte ich, wie schon angedeutet, die Errichtung eigener
Genesungsheime durch die Versicherungsanstalten für die beste
Lösung. Die Unterbringung der Kranken gedachter Art würde zu
erfolgen haben, nachdem durch eine vorgängige, sei es Kranken¬
haus-, sei es ambulante ärztliche Behandlung die floriden Er¬
scheinungen zum Schwinden gebracht sind. Die Kranken befinden
sich also noch im infektiösen Stadium, jedoch Ohne direkt nach¬
weisbare Erscheinungen. Mit Rücksicht auf die Übertragungsgefahr
würde die gleichzeitige Anwesenheit solcher Kranker mit Rekon¬
valeszenten anderer Art etwa in den bisher bestehenden Genesungs¬
heimen nicht zu rechtfertigen sein, da die wenigsten dieser Ge¬
nesungsheime baulich so eingerichtet sind, um eine scharfe Trennung
der einzelnen Krankheiten zu gewährleisten. Für den Anfang
würde für den Bereich jeder Versicherungsanstalt eine Anstalt
genügen dürfen, wobei die besonderen Verhältnisse der einzelnen
Bezirke (Nähe großer Städte, industriereiche Bezirke) berücksichtigt
werden müssen. Nach dem Vorbilde der Anstalt Lichtenberg würde
eine Bettenzahl von 50 als Anfangsbelegzahl zu empfehlen sein,
obgleich ich nicht zweifelhaft bin, daß bei den großen Bezirken,
über die einzelne Versicherungsanstalten verfügen und bei dem
Mangel an musterhaft eingerichteten Krankenabteilungen für Ge¬
schlechtskranke, die Zahl von 50 Betten bald erreicht sein wird.
Nötigenfalls würde man außer den Rekonvaleszenten nach Syphilis
(latent syphilitische) auch Folgezustände der Gonorrhoe zur Auf¬
nahme in die Rekonvaleszentenheime vorschlagen können, wodurch
eine dauernde Belegung auch für die Wintermonate garantiert wird,
was für die wirtschaftliche Seite nicht zu unterschätzen ist. Be¬
kanntlich kranken ein Teil unserer Lungenheilstätten an dem
Übelstande einer Überanspruchnahme im Sommer, während sie im
Winter so wenig belegt sind, daß finanzielle Schwierigkeiten ent¬
stehen müssen. Gerade diese Erfahrungen müssen aber meiner
Ansicht nach die Versicherungsanstalten darauf hinweisen, daß es
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Rekonvaleszentenheime für Syphilitische.
319
zweckmäßiger ist eigene Anstalten zu unterhalten, als bei anderen
Korporationen und Genossenschaften zugaste zu gehen. Die
Versicherungsanstalten haben schon jetzt durch die Übernahme
des Heilverfahrens einen derartigen Einfluß auf die Unterbringung
von Eiranken, daß sie den Betrieb eigener Anstalten ruhig riskieren
können, der vielleicht anscheinend etwas teurer ist, tatsächlich
aber durch die indirekten Vorteile und Vorzüge, besonders durch
den Einfluß den die Unternehmerin auf den Betrieb hat, sich
billiger und vorteilhafter gestaltet. Da doch wohl anzunehmen ist,
daß die Krankenfürsorge der Versicherungsanstalten sich immer
mehr ausdehnt und eine im allgemeinen Interesse sehr zu wünschende
Zusammenlegung der Krankenfürsorge und der Invalidenfürsorge
in die Hand der Versicherungsanstalten über kurz oder lang wohl
zu erwarten ist, kann ein Bedenken gegen den Betrieb eigener An¬
stalten kaum erhoben werden. Das Bedürfnis nach gut einge-
gerichteten und gut geleiteten Krankenanstalten jeglicher Art ist
durchaus vorhanden und wir sind noch weit entfernt von dem Zeit¬
punkte, der uns überall Anstalten für Krankenfürsorge und Rekon¬
valeszentenpflege in mustergültiger Weise finden läßt. Für die¬
jenigen Versicherungsanstalten, bei denen finanzielle Bedenken gegen
den Betrieb eigener Anstalten noch überwiegen, möchte ich bei
dieser Gelegenheit auf eine Reserve hinweisen, die sich meiner An¬
sicht nach für den wirtschaftlichen Betrieb neuer Anstalten nutzbar
machen ließe. Nach § 25 des I.V.G. sind die Versicherungsanstalten
befugt, einen Rentenempfänger auf seinen Antrag Aufnahme in ein
Invalidenhaus zu gewähren, eine Befugnis, von der einzelne Ver¬
sicherungsanstalten durch die Errichtung von Invalidenheimen Ge¬
brauch gemacht haben oder beabsichtigen. Da nun erfahrungs¬
gemäß große Anstalten sich wirtschaftlich besser gestalten lassen,
als kleine, da weiterhin durch den mit den Invalidenheimen zu
verbindenden landwirtschaftlichen Betrieb und die — wenn auch
beschränkte Arbeitskraft der Rentenempfänger, die sich in einer
großen Anstalt im Betrieb durch leichten Gartenbau, Aushilfs¬
beschäftigung im Wirtschaftsbetriebe nutzbar verwerten läßt — eine
Verbilligung des Gesamtbetriebes sich herbeiführen läßt, so würde
ich eventuell empfehlen, Invalidenheime örtlich zusammenzulegen
mit Einrichtungen zur Heilbehandlung und Rekonvaleszentenpflege.
Unsere moderne Krankenhausbautechnik mit ihrem System der zer¬
streuten Bauart in Form der Pavillonbauten ermöglicht es in
durchaus hygienisch einwandfreier Weise beide Aufgaben zu ver-
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Google
320
Stern.
binden. Die wirtschaftlichen Einrichtungen können für beide Zwecke
gemeinsam sein, im übrigen der Betrieb der einzelnen Ab¬
teilungen ein völlig getrennter bleiben. Es würde damit das —
wenn auch vielleicht nur vorübergehend — wiederkehren, was bei
unseren großen Provinzialirrenanstalten jahrzehntelang bestanden
hat, die Vereinigung der Heil- und Pflegeanstalten in einem
Betriebe zur besseren finanziellen Ausnutzung. Nimmt dann im
Laufe der Jahre die Benutzung des einen Teiles einer solchen
kombinierten Anlage zu, etwa des der Heilbehandlung dienenden,
so steht gar nichts im Wege, die Trennung wieder herzustellen. Ich
bin auf diese Verhältnisse etwas näher eingegangen, weil ich glaube,
daß derartige Erwägungen geeignet sind, etwaige Bedenken finan¬
zieller Natur gegen die Einrichtung von Rekonvaleszentenheimen
für Syphilitische zu beseitigen. Wenn ich immer wieder hervor¬
hebe, daß ich die Versicherungsanstalten als die Träger dieses
Gedankens ansehe, so geschieht dies, wie ich schon erwähnte, ein¬
mal deswegen, weil nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen
nur die genannten Institutionen in der Lage sind, diese weiter¬
gehende Fürsorge für die Syphilitischen zu übernehmen. Es
geschieht aber auch deshalb, weil ich in den Versicherungsanstalten
die Träger der Krankenfürsorge für Versicherte überhaupt erblicke.
Einen weiteren Ausbau dieser Fürsorge, eine Übernahme immer
weitergehender Aufgaben auf dem Gebiete durch die Versicherungs¬
anstalten halte ich im Interesse der Versicherten nur für vorteil¬
haft Daß nebenbei derartige Einrichtungen, wie Rekonvaleszenten¬
heime, auch solchen sozial gleichstehenden Personen nutzbar gemacht
werden können, welche nicht die Wohltaten der Versicherungsgesetze
genießen, kann nur als weitere Empfehlung für die Frage dienen.
Übrigens dehnt sich der Kreis der Versicherten immer mehr aus,
sodaß die Zahl der Bewerber sicher nicht zu klein sein wird.
Somit glaube ich alle etwaigen Bedenken, die von seiten der Ver¬
sicherungsanstalten gegen die Einrichtung derartiger Anstalten etwa
gehegt werden könnten, beleuchtet und — wie ich hoffe — wider¬
legt zu haben. Im Kampfe gegen die am Marke des Volkes
nagenden Seuchen der Syphilis und der Gonorrhoe behürfen wir
der Hilfe und der tätigen Mitwirkung dieser machtvollen Insti¬
tutionen, in deren Hände der Gesetzgeber eine so große Fülle von
Rechten, aber auch eine große Summe von Aufgaben und Ver¬
antwortung gelegt hat. Die Rekonvaleszentenheime für Geschlechts¬
kranke können, wenn sie richtig ausgebaut und zweckmäßig be-
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Kekonvaleszentenheime für Syphilitische.
321
trieben werden, zu einer wichtigen Waffe im Kampfe werden.
Möge das Beispiel der Versicherungsanstalt Berlin bald Nachfolge
finden, möge sich bald ein Kranz solcher Anstalten erheben, um
gut geleitet und richtig gehandhabt, einen wirksamen Faktor weiter
zu bilden in den Bestrebungen, die jedem Arzte am Herzen liegen
müssen, die jedem Menschen sympathisch sein sollten, weil sie das
Volkswohl betreffen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die eine
Ausnahmestellung fordern für die Geschlechtskranken, ich halte
die Forderung unentgeltlicher Behandlung für undurchführbar und
unzweckmäßig wegen der sich ergebenden Konsequenzen, aber um
so lebhafter habe ich den Wunsch, daß das Maß von Fürsorge,
was wir den Kranken anderer Art angedeihen lassen, in gleichem
Umfange den Geschlechtskranken zuteil werde. Und daß die
weitergehende Fürsorge, die von seiten der Versicherungs¬
anstalten den Kranken anderer Art zuteil wird, auch sich nutz¬
bar machen lasse in Form von Rekonvaleszentenheimen für diejenigen
Versicherten, die das Unglück gehabt haben, mit Syphilis infiziert
zu werden. Erfolg und dauernder Nutzen wird diesen Einrich¬
tungen zweifellos nicht fehlen.
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Zwei gerichtliche Urteile.
Besprochen von Prof. Dr. Max Flesch.
1. Über die gesetzliche Berechtigung der Zwangsheilung der
Prostituierten.
Ein Bericht der Frankfurter Zeitung bringt ein bemerkenswertes
Urteil der Strafkammer in Mannheim zur Veröffentlichung:
Mannheim, 29. März. Eine bemerkenswerte Entscheidung fällte
heute die hiesige Strafkammer. Die an einer ansteckenden Geschlechts¬
krankheit leidende Prostituierte Maria Kleebach aus Eckenheim bei
Frankfurt a. M. hatte sich heimlich aus dem Allgemeinen Kranken¬
haus entfernt und war weiter der Gewerbsun zucht nachgegangen. In
Anbetracht der Frivolität und Gemeingefährlichkeit glaubte das Schöffen¬
gericht ein Exempel statuieron zu sollen und verurteilte die Kleebach
wegen Vergehens gegen § 327 R.St.G.B. zu 6 Monaten Gefängnis.
Hiergegen legte die Kleebach Berufung ein. Vor der Strafkammer
erklärte sie, sie habe sich nicht für krank gehalten und sei deshalb
aus dem Krankenhaus fortgegangen. Die Strafkammer hob das Ur¬
teil des Schöffengerichts auf und sprach die Berufungsklägerin frei.
Das Gericht ist der Ansicht, daß der § 327 R.St.G.B. — der von der
Verletzung der gegen ansteckende Krankheiten angeordneten Maßregeln
handelt — im gegebenen Falle mit Unrecht Anwendung gefunden
habe; denn es bestehe keine Verordnung oder ortspolizeiliche Vorschrift,
welche die Angeklagte verletzt habe.
Regiementaristen und Abolitionisten werden aus diesem Urteil gleich¬
mäßig Anlaß zur Prüfung zu entnehmen haben, wie es verhindert werden
kann, daß eine notorische Geschlechtskranke zur öffentlichen Gefahr wird.
Die Angeklagte stützt sich darauf, daß sie sich für gesund gehalten habe,
entgegen der Feststellung der Ärzte, die sie im Krankenhause behandelten.
Das Urteil des Gerichts erkennt ihr ohne weiteres das Recht zu, auf
Grund ihrer subjektiven Ansicht das Krankenhaus zu verlassen, d. h.
eine Maßregel illusorisch zu machen, „die von der zuständigen Behörde
(der Sittenpolizei, welche die Angeklagte eingewiesen hatte) zur Ver¬
hütung . . . des Verbreitens einer ansteckenden Krankheit angeordnet“ war
(§ 327). Damit wird die Zwangsheilung der Prostituierten in allen den
Fällen — und das ist ein erheblicher Teil — hinfällig, in welchen das
subjektive Krankheitsgefühl fehlt, weil augenblickliche Beschwerden fehlen.
Jede der Zwangsheilung unterstellte Dirne kann danach beanspruchen,
beliebig das Hospital zu verlassen. Sie unterzieht sich allenfalls der Ge¬
fahr, im Falle sie nach ihrem Austritt aus dem Krankenhaus einen der
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Zwei gerichtliche Urteile.
323
mit ihr Verkehrenden infiziert, auf Grund des Absatz 2 des betr. Paragra¬
phen oder auf Grund der Bestimmungen über Körperverletzungen straf¬
fällig zu werden — falls sich ein Kläger findet. Nach diesem Urteil
entwickelt sich ein eigentümlicher Gang des Verfahrens in der Ausfüh¬
rung der aus § 361, 6 sich ergebenden Reglementierung. Eine Prosti¬
tuierte wird bei der Untersuchung krank befunden, ins Hospital geschickt
und zweckmäßig behandelt Nach 2 Tagen geht sie wieder fort, weil
sie sich gesund zu fühlen erklärt. Denn sie zurückzuhalten ist niemand
imstande, da sich das zur widerrechtlichen Freiheitsberaubung gestalten
würde. So wird sie von da ab vor jeder zwangsweisen Einweisung ge¬
sichert sein, bis sie sich bei etwaigen subjektiven Beschwerden freiwillig
zur Behandlung meldet. Was sie bis dahin für Unglück angerichtet
haben mag, bedarf keiner Diskussion.
Das Mannheimer Urteil legitimiert die abolitionistische Behandlung
der Prostitution für Deutschland — aber keineswegs im Sinne der ver¬
ständig denkenden Vertreter des Abolitionismus. Das will wahrlich
keiner derselben, daß der Krankerklärten auf Grund ihres freien Er¬
messens das Recht zustehen soll, weiter zu hausen. Von dem Moment
an, in welchem dieselbe „weiter der Gewerbsunzucht nachgegangen war“
(s. o.), war sie gemeingefährlich geworden, ganz wie — um ein krasses
Beispiel aus der Luft zu greifen — etwa eine Leprakranke, die sich dem
Asyl entzieht, weil sie, momentan schmerzfrei, sich angeblich geheilt zu
glauben vorgibt. Nicht als ob ihr der Weg versagt bleiben dürfte, wenn
sie glaubt, zu Unrecht der Behandlung unterzogen zu sein, eine sie vor
unnützer Verlängerung ihres Spitalaufenthaltes schützende Superrevision
zu erhalten. Solange aber die Reglementierung besteht, ist es unver¬
ständlich, daß deren Ausführung illusorisch gemacht werden kann; nur
als Maßregel im Sinne der Abwehr gemeingefährlicher Erkrankungen hat
die Reglementierung eine Berechtigung, findet sie Verteidiger. Wird ihr
nach dem Mannheimer Urteil diese Bedeutung abgesprochen, so verliert
sie ihre Existenzberechtigung. Dann muß aber für die geschlechtlichen
Erkrankungen die Anwendung der für andere Infektionskrankheiten
geltenden Normen in Kraft treten, und das gestaltet sich anders, als
vielfach angenommen zu werden scheint: In den hier eintretenden
Bestimmungen ist nirgends für deren Inkrafttreten das Krank¬
heitsbewußtsein der Betroffenen Voraussetzung. Die Ange¬
hörigen eines Blattern kranken, ja alle, die nur der Berührung mit dem¬
selben verdächtig waren, werden ohne Gnade zwangsweise zur bloßen
Beobachtung in das Krankenhaus interniert; soll der Geschlechtskranke,
Mann oder Frau, der überführt ist, durch Fortsetzung des geschlechtlichen
Verkehrs gemeingefährlich zu werden, anders behandelt werden? Hier
ist der springende Punkt für das praktische Handeln der abolitionistisch
Denkenden, wenn sie es mit der Bekämpfung der venerischen Erkrankungen
ernst meinen. In der Anregung dieser Frage liegt die eigentliche Bedeu¬
tung des Mannheimer Urteils.
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324
Flesch.
2. Straflosigkeit der Gefährdung durch geschlechtlichen Umgang
bei bestehender Geschlechtskrankheit.
Das vorstehend besprochene freisprechende Urteil der Mannheimer
Strafkammer findet eine wertvolle Ergänzung in einem seither veröffent¬
lichten Urteil der Strafkammer in Bamberg. Es ist in der Frankfurter
Zeitung in folgender Mitteilung wiedergegeben:
Bamberg, ff. April. Wegen eines Vergehens nach § 327
St.G.B. hatte sich die Dienstmagd Barbara Schrempf vor der
Strafkammer zu verantworten. Sie war wegen geschlechtlicher
Erkrankung im Juliusspital zu Würzburg interniert gewesen und
wurde bei ihrer Entlassung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sie
noch nicht geheilt sei. Trotzdem wurde sie kurz darauf in der
hiesigen Ulanenkaseme in flagranti ertappt. Der Staatsanwalt be¬
antragte zwei Monate Gefängnis. Das Gericht erkannte indes auf
Freisprechung.
Zeigt das Mannheimer Urteil, daß im einzelnen Falle die Regle¬
mentierung illusorisch gemacht wird, sobald die betroffene Person das
Krankheitsbewußtsein in Abrede stellt, so läßt das Bamberger Urteil
erkennen, daß, auch wo dies Bewußtsein unleugbar vorliegt, die be¬
stehende Gesetzgebung nicht ausreicht, auf dem Wege des gemeinen
Rechtes venerisch Kranke unschädlich zu machen. Aus dem ersten er¬
hellt die Undurchführbarkeit des Regiementarismus, aus dem anderen
die Machtlosigkeit des vom Standpunkt des Abolitionismus einzuscblagen-
den Vergehens nach dem heutigen Stand der Gesetzgebung. Damit ist
für beide Parteien die Linie vorgezeichnet, auf der sie sich zu praktischem
Vergehen zusammen finden können und müssen. Es muß vor allem
anderen erstrebt werden, die Geschlechtskrankheiten den Affektionen ein¬
zureihen, welche unter das Reichsseuchengesetz fallen und nach den in
diesem zugrunde gelegten Gesichtspunkten zu behandeln sind. Für Pest
und Lepra, Krankheiten, die bei uns kaum Vorkommen, gibt uns dies
Gesetz die nötigen allgemeinrechtlichen Handhaben; wir müssen zu er¬
reichen suchen, daß letztere uns für die bei uns heimischen Seuchen
nicht versagt bleiben. Werden die Geschlechtskrankheiten unter die im
Reichsseuchengesetz behandelten Krankheiten eingereiht, so wird der § 327
des St.G.B. auf ihre Verbreiter zur Anwendung kommen können. Auf
dem Wege der Ausnahmegesetzgebung ist das bereits erstrebt worden,
als die Kommission für die Vorberatung der Lex Heinze im deutschen
Reichstag 1 ) einen Paragraphen annabm, der die wissentliche Verbreitung
von Geschlechtskrankheiten unter Strafe stellen sollte.
Die Vermehrung der gerichtlichen Urteile, welche sich auf die Folgen
der Geschlechtskrankheiten beziehen, ist wohl der augenfälligste prak¬
tische Erfolg der endlich allgemein gewordenen Agitation zur Bekämpfung
dieser Seuchengruppe. Langsam klären sich die Verhältnisse: Der
') S. Flesch, Prostitution und Frauenkrankheiten. Frankfurt a. M. bei
J. Alt 2. Aufl. Anhang.
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Zwei gerichtliche Urteile.
325
Mangel einer reinen Rechtslage läßt verstehen, warum statt positiver
praktischer Forderungen unfruchtbare Diskussionen über Systeme, über
Abolitionismus und Reglementarismus Denken und Arbeitskraft er¬
schöpfen. Indem die Lücken der Rechtslage bloßgelegt werden, sehen
wir ein praktisches Ziel vor uns: vor allem muß die Ausfüllung dieser
Lücken angestrebt werden. Vielleicht wäre eine Petition nach dieser
Richtung die dringendste Aufgabe für die D.G.B.G. Zur Schaffung einer
gemeinsamen Grundlage zur Bekämpfung der venerischen Erkrankungen
auf dem Boden des gemeinen Rechtes würden sich unzweifelhaft die
verschiedenen in der Gesellschaft vertretenen Richtungen leicht einigen.
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Referate.
Untersuchung und Behandlung der Prostituierten.
C> Ströhmberg. 1. Das Dorpater Ambulatorium für Prostituierte. Russisches
Jouraal für Haut- und venerische Krankheiten. 1901. Nr. 10.
2. Die Resultate der bakteriologischen Untersuchungen bei der Beobachtung des Ge¬
sundheitszustandes der Prostituierten in Dorpat Ibidem. 1901. Nr. 10, 11, 12.
3. Die gemischte stationär-ambulatorische Syphilisbehandlung der Dorpater Prostituierten.
Ibidem. 1902. Nr. 11, 12; 1903. Nr. I, 2, 3.
Der Verfasser hatte die Absicht, in diesen drei Aufsätzen an einem
praktischen Beispiele zu demonstrieren, in welcher Weise der ärztliche
Teil der Kontrolle der Prostitution zu reformieren sei, und daß die von
ihm anderwärts 1 ) gemachten Vorschläge nicht als unerreichbare Ideale
aufzufassen seien.
Entsprechend unseren heutigen Kentnissen der Syphilis und der
Gonorrhoe hat seiner Ansicht nach die Kontrolle in einer genauen
Diagnose der Krankheiten, in beständiger Beobachtung des Gesundheits¬
zustandes jeder einzelnen Prostituierten und in einer ununterbrochenen,
teils ambulatorischen, teils stationären Behandlung derselben zu bestehen,
und nicht in einer gewissen Anzahl von Besichtigungen, welche unabhängig
voneinander sind.
Aus diesem Grunde müssen den mit der Kontrolle der Prostituierten
betrauten Ärzten stationäre Abteilungon, welche mit wohleingerichteten
Ambulatorien verbunden sind, zur Verfügung stehen. Der erste Auf¬
satz enthält eine Beschreibung des vom Verfasser eingerichteten Ambu¬
latoriums, welches er im Bulletin de la sociöte internationale de propby-
laxie sanitaire et morale T. II, 1902, Nr. 1, S. 37—49 in deutscher
Sprache geschildert hat.
Der zweite Aufsatz beschäftigt sich mit der Diagnose der Gonorrhoe
der Prostituierten. Als Material für diesen Aufsatz dienten 161 Prosti¬
tuierte, welche im Frühling 1901 in Dorpat (41100 Einwohner) der
Kontrolle unterworfen waren. Die mikroskopischen Präparate von allen
diesen Prostituierten werden im Ambulatorium verwahrt und beweisen,
daß bei 66 von ihnen im Jahre 1901 Gonokokken vorhanden waren,
daß bei weiteren 66 zwar früher, nicht aber im Jahre 1901, Gonokokken
gefunden worden waren und daß bei 29 überhaupt keine Gonokokken
gefunden worden waren. Mit anderen Worten: Je 41 Prozent beherbergten
Ströhmberg. Die Prostitution, Stuttgart 1899. Derselbe. Die Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, Stuttgart 1903.
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Referate.
327
während und vor der Untersuchungsperiode Gonokokken in ihren Geni¬
talien; bei 18 Prozent waren durch die einfache mikroskopische Unter¬
suchung Gonokokken überhaupt nicht nachgewiesen worden.
Die 95, bei welchen im Jahre 1901 keine Gonokokken gefunden
worden waren, sind in einer Tabelle, welche dem Aufsatze beigefägt
ist, mit den Resultaten der mikroskopischen Untersuchung und der
Untersuchung der Sekrete ihrer Urethra und ihrer Cervix nach dem
Thalmannschen Kulturverfahren unter genauer Protokollierung der ein¬
zelnen Untersuchungsresultate angeführt Das Kulturverfahren ergab
bei allen mit Ausnahme von zweien ein positives Resultat; bei 93
glaubte der Verfasser also mit Hilfe des Kulturverfahrens Gonokokken
gefunden zu haben. Leider hat ihn die ziemlich große Arbeit der An¬
fertigung von etwa 800 Kulturen irregeführt; er ist bei seinen Kulturen
offenbar der Verwechselung einer der vielen Staphylokokkenarten mit
dem Gonokokkus zum Opfer gefallen. Um bei der mikroskopischen
Untersuchung der aus den Kolonien an gefertigten Emulsionen schöne
Präparate mit deutlichen Konturen der einzelnen Kokken zu erhalten,
wandte er zur Färbung eine sehr schwache GentianaviolettlÖsung an,
wodurch wohl die Entfärbung nach Gram zu erklären ist, welche sehr
prompt eintrat und ihn irre führte. Man wird also einstweilen noch
auf eine Anwendung des Kulturverfahrens in den Prostitutionsambulanzen
in größerem Maßstabe verzichten müssen, sofern es nicht doch möglich
sein sollte, diese Ambulanzen mit einem entsprechenden Nährboden in
genügender Menge zu versorgen. Die mikroskopische Untersuchung der
Sekrete ist indes nach wie vor aufs nachdrücklichste zu fordern.
Als Material für den 3. Artikel dienten 212 Prostituierte, welche
vom 1. Januar bis zum 30. Juni 1901 unter der Kontrolle standen.
Von diesen waren 51, oder 24 Prozent, vor weniger als 3 Jahren
syphilitisch infiziert worden und wurden daher als im kondylomatösen
Stadium der Syphilis befindlich betrachtet. Ihre Krankengeschichten sind
tabellarisch geordnet dem Artikel beigefügt
Die wesentlichsten Eigentümlichkeiten der Prostituierten, welche
für die Wahl der Behandlungsmethode ihrer Syphilis in Betracht kommen,
sind folgende: ihre Lebensweise, die in unvergleichlich höherem Maße
die Verbreitung der Krankheit begünstigt als die Lebensweise irgend
welcher anderer Personen, ihre Unaufrichtigkeit, ihre Gleichgültigkeit
gegen die Behandlung überhaupt, ihr Widerwille gegen die stationäre
Behandlung im besonderen, ihre Neigung zum Vagabundieren und der
daraus sich ergebende Mangel an Seßhaftigkeit. Diese Eigentümlich¬
keiten bedingen nicht allein ihre ganz besondere Gefährlichkeit bezüglich
der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten, sondern erschweren auch
in hohem Maße eine regelrechte und konsequente Behandlung ihrer
Syphilis; sie dürfen daher bei der Wahl des Behandlungsplanes nicht
unberücksichtigt bleiben. Da es sich im wesentlichen um eine Queck¬
silberbehandlung handelt, so ist natürlich vor allen Dingen auf eine
Vermeidung der Quecksilbervergiftung zu achten. Im übrigen darf aber
nicht vergessen werden, daß es sich hier nicht allein um die Wieder¬
herstellung der Gesundheit der kranken Persönlichkeit, sondern auch um
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328
Referate.
die Verminderung der Infektionsgefahr durch dieselbe handelt. Die
Isolierung für die ganze Dauer des kondylomatösen Stadiums ist in der
Mehrzahl der Fälle undurchführbar.
Die symptomatische Behandlung, welche erst beim Auftreten von
Rezidiven eingreift;, ist hier gleichfalls nicht am Platze. Zur Bekämpfung
der Infektiosität hat man von den milden Behandlungsmethoden ab¬
zusehen und sich für die energischen zu entscheiden, um so mehr, als
man niemals wissen kann, wann und ob man eine solche Patientin wieder
zu Gesichte bekommen wird. Diese Erwägungen waren die Veranlassung
dazu, daß in Dorpat der Behandlungsplan Gauchers akzeptiert wurde,
und daß die Schmierkur mit Ung. hydr. ein. 4,0 sowie parenchymatöse
Injektionen von Hg. salicyl. 0,1 bevorzugt wurden.
Für 4 Jahre sind nach diesem Plane im ganzen 17 Behandlungs¬
kurse vorgesehen; während des ersten Kurses werden durchschnittlich
40 Einreibungen, oder 5—6 wöchentliche parenchymatöse Injektionen
appliziert, während des 2. bis 4. je 20 Einreibungen, oder 2—3 wöchent¬
liche Injektionen, während aller weiteren je 10 bis 20 Einreibungen
oder je 1—2—3 Injektionen.
Für das erste Jahr sind 6 Kurse vorgesehen. Der erste umfaßt
mit der darauffolgenden Erholungszeit 3 Monate, die übrigen fünf um¬
fassen mit der Erholungszeit je 2 Monate.
Für das zweite Jahr, welches in der 6. Erholungspause beginnt,
sind 5 Kurse vorgesehen; der erste dauert mit der darauffolgenden Er¬
holungszeit 2 Monate, die nächsten drei dauern je 2 1 / a Monate und der
fünfte 3 Monate. Für das 3. Jahr, welches in der 11. Pause beginnt,
sind 4 Kurse von je 3 monatlicher Dauer der Behandlung und Erholung
und für das 4. Jahr, welches in der 15. Pause beginnt, 2 Kurse mit
Zwischenräumen von je 6 Monaten vorgesehen.
Selbstverständlich bildet dieses Schema keine starre, unabänderliche
Form, sondern nur den Wegweiser, von welchem je nach der Indivi¬
dualität der Patientinnen, je nach ihrem Verhalten zum Quecksilber, und
je nach dem besonderen Verlauf ihrer Erkrankungen Abweichungen un¬
vermeidlich sind. Bei der Schnelligkeit, mit weicher im Ambulatorium
gearbeitet werden muß, und bei dem beständigen Wechsel der Patientinnen
ist ein solches Schema von großem Werte. Da Verf. die Einreibungen
für wirksamer hält als die Injektionen, so betrachtet er die letzteren
in den Fällen, in welchen die ersteren nicht anwendbar sind, für einen
Ersatz der ersteren. Verf. geht von der Voraussetzung aus, daß eine
Injektion annähernd 7—8 Einreibungen gleichwertig sei. Die Verzeich¬
nisse zum Notieren der Besichtigungen werden zweimal jährlich, am
1. Januar und am 1. Juli angefertigt, die im Laufe des halben Jahres
Hinzugekommenen werden nachträglich eingetragen. Neben jedem Namen
sind im Verzeichnis 52 Felder entsprechend den Daten der Besichtigungs¬
tage vorhanden, in welchen die stattgehabte Besichtigung durch ein
Zeichen vermerkt wird. Bei denjenigen, welche vor weniger als 4 Jahren
mit Syphilis infiziert worden sind, sind im voraus für ein halbes Jahr
durch bestimmte Zeichen diejenigen Daten bezeichnet, an welchen sie
nach dem Schema der Behandlung unterzogen werden sollen. Sind zu
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Referate.
329
diesen voransbestimmten Daten noch keine Rezidiverscheinnngen ein¬
getreten, so erhalten sie ambulatorisch je nach ihrem Belieben eine
Schmierkur oder aber parenchymatöse Injektionen; sind di%egen bis zu
dem Datum auch nur die geringsten manifesten Erscheinungen aufgetreten,
so werden sie der stationären Behandlung unterzogen. Die besprochenen,
im voraus gemachten Vermerke haben auch noch den Nutzen, daß man
unwillkürlich auf ein zu erwartendes Rezidiv aufmerksam gemacht wird,
und daß daher ein solches nicht so leicht übersehen werden kann.
Für eine solche Behandlung der Syphilis der Prostituierten ist es
natürlich von der größten Wichtigkeit, bei jeder das Jahr der Infektion
zu eruieren.
Am genauesten geschieht das in den Fällen, in welchen es gelingt,
den Primäraffekt zu beobachten, für welchen die Bezeichnung primäre
Erosion oder primäre Papel vor der Bezeichnung: „harter Schanker“
den Vorzug verdient. Die letztere veraltete Benennung führt dazu, daß
viele Primäraffekte nicht als solche erkannt werden; denn die Worte
Fourniers, welcher auf die Frage: „Was ist ein syphilitischer Schanker?“
antwortet: „etwas von der Art der oberflächlichsten und gutartigsten
der Verletzungen.“ (Quelque chose comme le plus superficiel et le plus
benin des traumatismes) x ) sind in bezug auf Frauen noch zutreffender
als in bezug auf Männer. Foumier fügt weiter noch hinzu: „so gerade
ist der Schanker, wenn auch nicht immer, so doch wenigstens in der
ungeheueren Mehrzahl der Fälle beschaffen („Et tel est cependant le
chancre, si non toujours, au moins dans 1 enorme majorite des cas“).
Ferner ist nicht zu vergessen, daß die Anschauung von der. großen
Seltenheit des Sitzes des Pimäraffektes an der Vaginalportion eine irr¬
tümliche ist Es muß auch im Auge behalten werden, daß, abgesehen
von sehr wenigen Ausnahmen, alle Prostituierten an der Syphilis er¬
kranken, und daß bei der Mehrzahl, falls sie nicht schon früher infiziert
worden waren, die Infektion im Laufe der ersten zwei Jahre nach der
Registration erfolgt. Wenn man, wie es in der Dorpater Ambulanz
geschieht, sich bestrebt, während der Beobachtung und Behandlung der
Prostituierten bei jeder stets das Jahr der Syphilisinfektion zu kennen
und zu behalten, indem man dasselbe sowohl in den Registrationskarten,
als auch in dem Besiehtiguugsverzeichnisse, als auch in den Büchlein
der Prostituierten notiert, so überzeugt man sich im Laufe weniger
Jahre davon, wie wenige unter ihnen noch nicht syphilitisch infiziert
sind. Diese wenigen erfordern eine ganz besonders aufmerksame Be¬
obachtung. Die unbedeutendsten Zusammenhangstrennungen der Ober¬
haut und der Epithelschicht im Bereiche der Geschlechtsorgane, die
Cervix nicht ausgeschlossen, müssen hier als verdächtig gelten. Zeit
und Ort des Befundes sind zu notieren; nach Schwund der Erosionen
aber sind die Leistendrüsen konsequent und sorgfältig zu beobachten,
damit weder der syphilitische Bubo, noch die syphilitischen Plejaden
unbemerkt bleiben könnten.
Bei der Affektion der Cervix fehlen die letzteren übrigens meist.
*) A. Foumier, Traite de la Syphilis I, 1., Paris 193 S. 44.
Zeitachr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke II. 25
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330
Referate.
Die Kleinheit der scheinbar gutartigen Erosionen, ihre verborgene Lage
zwischen den Falten und in den Grübchen der Schleimhaut des Scheide¬
einganges erfordern zur Erkennung Übung, bequeme Lagerung der
Patientin und tadellose Beleuchtung. Alle diese Bedingungen können
mit Sicherheit nur in einem gut eingerichteten Ambulatorium erwartet
werden. Und doch werden wir oft wochenlang im Zweifel bleiben und
manchen Irrtum begehen, bis uns die Drüsenschwellung aus unseren
Zweifeln reißt. Die Irrtümer werden aber um so seltener sein, je mehr
wir die gegebenen Winke befolgen. Wer seine Diagnose der Syphilis
nur auf einen ausgesprochenen harten Schanker stützen will, wird
manchen Primäraffekt verkennen. Verhältnismäßig selten sind wir in
der Lage das Jahr der Syphilisinfektion der Prostituierten auf Grund
der Beobachtung des Primäraffektes zu konstatieren.
Viel häufiger sehen wir diese unsere Patientinnen zum erstenmal
entweder mit deutlichen Symptomen der frischen sekundären Syphilis,
oder mit den Symptomen eines Recidives, oder aber mit denjenigen
Symptomen, welche während der sogenannten Latenzperioden nicht ver¬
schwinden.
Die Beobachtung der frischen sekundären oder kondylomatösen
Syphilis gewährt uns die Möglichkeit, mit der größten Sicherheit das
Jahr der Syphilisinfektion festzustellen; denn diese Erscheinungen treten
etwa 8 bis 10 Wochen nach stattgehabter Infektion auf.
Nicht selten gelingt es jetzt auch noch, den Sitz des Primäraffektes
festzustellen. Die Rezidive unterscheiden sich in der Mehrzahl der
Fälle so deutlich von den frischen kondylomatösen Erscheinungen, durch
die Spuren früher dagewesener Erscheinungen, durch die flachere Form
der Lymphdrüsen, durch das Befallensein begrenzter Körperpartien, die
kreisförmige Anordnung der Effloreszenzen u. s. w., daß sie unschwer als
solche zu erkennen sind; die Feststellung des Jahres der Infektion ist
auf Grund dieser Erscheinungen aber nicht so sicher, wie auf Grund
der frischen kondylomatösen Erscheinungen. Nichtsdestoweniger ist sie
annähernd möglich, namentlich wenn die Angaben der Patientinnen mit
dem Befunde übereinstimmen.
Allein nur zu oft sehen wir unsere Patientinnen zum ersten Male
während der sogenannten Latenzperioden der Syphilis. Aus diesem Grunde
ist für jeden Arzt, welchem die Beobachtung und Behandlung von Proti-
tuierten obliegen, die Bekanntschaft mit denjenigen Symptomon, welche
während der sogenannten Latenz nicht schwinden, zum mindesten ebenso
notwendig wie die Kenntnis der verschiedenen Formen des Primäraffektes.
Mitunter sind manche dieser Erscheinungen, die Chlorose, die Lymph¬
adenitis, das Ausfallen der Haare, leichte Pigmentierungen nach Exan¬
themen und Kondylomen, Auflockerung der Schleimhaut der Gaumen¬
bögen, das Leukoderma, eines der wichtigsten Latenzsymptome, Narben
an den Genitalien, keloide Narben an anderen Körperstellen, Reste eines
Ödems einer Schamlippe u. s. w. nicht deutlich ausgesprochen; in anderen
Fällen sind sie so schwach ausgeprägt, daß zu ihrer Erkennung Be¬
dingungen erforderlich sind, welche einzig und allein ein gut ausgestattetes
Ambulatorium bieten kann.
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Referate.
331
Auf Grund der angeführten Symptome, besonders des Leukoderma,
läßt sich mit Sicherheit das Vorhandensein der Syphilis im kondylomatösen
Stadium diagnostizieren.
Die Erfahrung lehrt, daß man von den Prostituierten, trotz ihrer
allbekannten Unaul rieh tigkeit und Zerstreutheit, recht präzise Antworten
bezüglich des Zeitpunktes ihrer Infektion und der durchgemachten Kuren
erlangen kann, sobald man ihnen eröffnet, daß man auf Grund der an¬
geführten Zeichen bei ihnen das Bestehen einer kondylomatösen Syphilis
festgestellt hat. Selbstverständlich ist die Bestimmung des Jahres der
Infektion auf Grund solcher Angaben bezüglich der Genauigkeit nicht
mit Feststellung desselben durch die eigene Beobachtung oder durch
diejenige anderer Ärzte zu vergleichen.
Es wäre daher sehr erwünscht, daß ein Austausch von Mitteilungen
über das Infektionsjahr und die stattgehabten Kuren der behandelten
Prostituierten unter den Ärzten, welche mit der Behandlung derselben
zu tun haben, gebräuchlich werde.
Im Laufe mehrerer Jahre sind von hier aus diese Daten an die
Ärzte derjenigen Städte, in welche die Prostituierten verreisten, versandt
worden, aber ohne daß ähnliche Nachrichten von auswärts hierher ge¬
langt wären.
Dieser Austausch der Angaben über das Infektionsjahr und die
statl gehabten Kuren wäre sowohl in den Fällen wichtig, in welchen trotz
unzweifelhafter Zeichen der kondylomatösen Syphilis die Kranken eine
stattgehabte Infektion und Behandlung in Abrede stellen, als auch in
den zum Glücke seltenen Fällen, in welchen trotz verhältnismäßig
frischer Infektion jegliche Zeichen fehlen. Sehr selten werden solche
Prostituierte ohne Symptome freiwillig Angaben über ihre Infektion und
frühere Behandlung machen.
Von den 51 Prostituierten, deren Krankengeschichten dem Aufsatze
zu Grunde lagen, sind 17 in Dorpat und 34 in anderen Städten infiziert
worden.
Von den 17, welche hier infiziert worden waren, war bei 8 der
Primäraffekt beobachtet worden: und zwar in Form eines charakteristischen
harten Schankers an den äußeren Genitalien bei einer, von Geschwüren
an den äußeren Genitalien ohne deutliche Induration bei zweien, eines
ebensolchen Geschwüres am After bei einer, einer Papel an den äußeren
Genitalien bei einer, von Erosionen an den äußeren Genitalien bei zweien,
einer Erosion am äußeren Muttermunde bei einer.
Bei vieren war trotz der Kontrolle der Primäraffekt nicht als
solcher erkannt, oder nicht beobachtet worden: bei einer, weil sie sich
längere Zeit hindurch der Beobachtung entzog; bei einer war eine Erosion
an den äußeren Genitalien, bei einer ein Geschwür an der vorderen
Muttermundslippe und bei einer eine Erosion am äußeren Muttermunde
nicht als Primäraffekt gedeutet worden, obgleich diese Erosionen und
das Geschwür aller Wahrscheinlichkeit nach den Primäraffekt darstellten.
Bei vieren wurde die Diagnose auf Grund frischer kondylomatöser
Erscheinungen gestellt
25*
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332
Referate.
Bei einer wurde die Syphilis auf Grund der Reste eines Rezidives
und eines sehr stark ausgesprochenen Leukodermas diagnostiziert.
Man wird wohl kaum in Abrede stellen können, daß bei diesen
17 das Jahr der Syphilisinfektion mit ziemlicher Sicherheit eruiert
worden ist, und daß die in vier verschiedene Städte versandten Nach¬
richten über das Infektionsjahr mehrerer von diesen Prostituierten, als
sie von hier verreisten, eine große Bedeutung für die Arzte haben
mußten, welche mit der Weiterbehandlung derselben zu tun hatten.
Von den 34 in 20 anderen Städten Infizierten kam eine hier mit
einem Schanker an, welcher hier in der Folge indurierte. Acht erschienen
hier mit den Zeichen einer frischen kondylomatösen Syphilis; bei drei
derselben war der Primäraffekt noch kenntlich, bei einer als indurierte
Papel, bei einer als großer harter Schanker, bei einer als indurierte
Infiltration in der Umgebung der Urethralöffnung.
Somit ist bei 26 von 51 das Jahr der Infektion mit genügender
Sicherheit festgestellt worden.
Von den übrigen 25 erschienen hier 13 mit deutlichen Rezidiv¬
erscheinungen. 11 derselben machten bestimmte Angaben über das Jahr
der Infektion und über die frühere Behandlung. Zwei stellten die
Syphiliserkrankung in Abrede. Die eine von ihnen war früher einmal
in Dorpat untersucht und damals noch gesund befunden worden, die
andere litt offenbar an einem Frührezidiv, so daß auch in diesen beiden
Fällen das Infektionsjahr festgestellt werden konnte.
11 waren beim ersten Erscheinen in der hiesigen Ambulanz mit
Symptomen der sogenannten Latenz behaftet; von diesen gaben 10 ihr
Infektionsjahr an. Eine von ihnen, mit einem sehr starken Leukoderma,
bei welcher bald nach ihrer Ankunft ein Rezidiv auftrat, leugnete ihre
Erkrankung. Eine hatte endlich bei ihrem ersten Erscheinen keine
unzweifelhaften Zeichen der sogenannten Latenz und leugnete, daß sie
syphilitisch infiziert sei. Erst später trat ein Rezidiv auf, welches die
Syphilisdiagnose ermöglichte und zur Schätzung des Infektionsjahres
diente.
Obgleich bei der Bestimmung des Infektionsjahres der letzten 25
grobe Fehlschlüsse unwahrscheinlich sind, so ist die Möglichkeit solcher
keineswegs ausgeschlossen. Mit Sicherheit hätten Irrtümer nur auf
Grund von Mitteilungen derjenigen Ärzte vermieden werden können,
welche bei diesen Kranken die Erscheinungen der frischen kondylomatösen
Syphilis beobachtet hatten.
Die der Arbeit beigefügte tabellarische Übersicht besteht aus 17
vertikalen Rubriken entsprechend den Behandlungskursen und aus 51
horizontalen Rubriken für die kurzen Auszüge aus den Krankengeschichten
der im kondylomatösen Stadium der Syphilis befindlich gewesenen
Prostituierten.
Obgleich man gewöhnlich annimmt, daß die Rezidive der Syphilis
in Zwischenräumen von 3 bis 6 Monaten aufzutreten pflegen, und ob¬
gleich für die Behandlungskurse hier viel kürzere Zwischenräume vorgesehen
sind, so zeigt die Tabelle doch, daß bei manchen Kranken die Rezidive
noch früher aufgetreten sind. Unter den Behandelten finden sich einige
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Referate.
333
schwere Fälle, bei welchen die Behandlung sich über den ganzen für
die Erholung vorgesehenen Zeitraum erstrecken mußte. Eine Kranke
z. B. bedurfte zur Beseitigung ihrer frischen kondylomatösen Erscheinungen
anstatt 40 Einreibungen deren 75. Bei einigen anderen waren auch
mehr als 40 Einreibungen erforderlich. Die Einreibungen werden hier
stets in Gegenwart des Arztes oder der Heilgehilfin ausgeführt, welche
Kautel bei der Behandlung der Prostituierten nicht überflüssig ist. Bei
anderen Kranken hatte die Syphilis einen so leichten Verlauf, daß beim
ersten Behandlungskurse weniger als 40 Einreibungen genügten, 30, ja
mitunter gar nur 20 ohne Schaden für den weiteren Verlauf der Krank¬
heit. Die Hauptaufgabe der Syphilisbehandlung besteht darin, in jedem
einzelnen Falle eine genügende Menge des spezifischen Mittels unter
Vermeidung eines Übermaßes zu applizieren. Unser Schema ist so zu
verstehen, daß die Menge der für das erste Jahr vorgesehenen Queck¬
silberapplikationen etwa das Mittel des Erforderlichen angibt, während
vom 2. bis zum 4. Jahre die Mengen als Maxima angesehen werden
dürfen, welche man ohne zwingenden Grund nicht überschreiten sollte.
Wenn von der zweiten Hälfte des zweiten Jahres an keine Rezidive
mehr Vorkommen, so kann die Behandlung im 3. und 4. Jahre ohne
Schaden unterbleiben. Man kommt daher in der Mehrzahl der Fälle
mit einer bedeutend geringeren Menge von Quecksilberpräparaten durch,
als sie in dem Schema vorgesehen ist. Für die schweren Fälle ist diese
Menge keineswegs zu hoch gegriffen.
Stomatitis wurde in 8 Fällen beobachtet. Bei zweien handelte es sich
um schwere Syphiliserscheinungen und eine ausgesprochene Idiosynkrasie.
Schon 5 Einreibungen riefen Stomatitis hervor; bei den anderen sechs
bildete die Stomatitis eine ganz vorübergehende Erscheinung.
In der Tabelle sind für 51 Kranke je 17 Behandlungskurse, also
im ganzen 867 Kurse vorgesehen. Von diesen Kursen sollten 219 erst
nach Abfassung der Arbeit vorgenommen werden, weil die Patientinnen
sich zur Zeit der Abfassung der Arbeit noch in einem verhältnismäßig
frühen Stadium ihrer Krankheit befanden. Durch ein Übersehen seitens
des Arztes waren drei Kurse ausgeblieben, wegen zweifelhafter Dia¬
gnose 3, wegen zu später Diagnose 10, wegen Stomatis 8. Ein und
derselbe Behandlungskurs dehnte sich wegen Hartnäckigkeit der Er¬
scheinungen über je zwei schematische Kurse aus in 3 Fällen; wegen
Arretierung der Kranken im Arrestlokal oder im Gefängnisse unterblieben
7 Kurse. Also aus den oben angegebenen Gründen fielen 248 Kurse
aus. Wegen Aufenthaltes der Prostituierten in anderen Städten, oder
weil sie noch nicht unter Kontrolle standen, blieben 273 Kurse aus.
Es wurden durchgeführt 180 Behandlungskurse stationär wegen
manifester Syphiliserscheinungen, 34 Kurse stationär bei solchen Pro¬
stituierten, welche zur vorherbestimmten Zeit sich wegen anderer Krank¬
heiten in Behandlung befanden, obgleich keine manifesten Erscheinungen
der Syphilis Vorlagen. 132 Kurse wurden ambulatorisch durchgeführt,
weil zur vorherbestimmten Zeit noch keine Rezidiverscheinungen auf¬
getreten waren; sonst wären sie einer stationären Behandlung unter¬
zogen worden.
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334
Referate.
Hieraus ist ersichtlich, daß 273 notwendig gewesene Behandlungs¬
kurse trotz der Aufmerksamkeit der hiesigen Kontrolle infolge des
Vagabundierens der Prostituierten unterblieben sind. Mit anderen Worten:
44 Prozent der im kondylomatösen Stadium der Syphilis be¬
findlichen Prostituierten können dank ihrem Umherstreifen
sich der Behandlung entziehen, sofern in anderen Städten
die vom Verf. aufgestellten Behandlungsprinzipien nicht an¬
erkannt werden, und solange der Austausch der Daten über
das Infektionsjahr und die Behandlung der einzelnen Prosti¬
tuierten zwischen den Ärzten der verschiedenen Städte, in
welche die Prostituierten verreisen, nicht obligatorisch ge¬
worden ist.
Wie groß mag aber erst der Prozentsatz der unbehandelten kon-
dylomatös syphilitischen Prostituierten in solchen Städten sein, in welchen
man die Aufgabe des Arztes nicht in der genauen Bekanntschaft mit
dem Gesundheitszustand jeder einzelnen Prostituierten und in der ent¬
sprechenden Behandlung erblickt, sondern in dem Bestreben, aus einer
großen Zahl dem Arzte unbekannten, irrtümlicherweise für gesund
geltenden Prostituierten die Kranken auszuscheiden?! In wie vielen
Städten faßt man auch jetzt noch die Kontrolle vom letzteren Stand¬
punkte aus auf!
In den folgenden Auseinandersetzungen wird eine parenchymatöse
Injektion von 0,1 Hg. salicyl. sieben Einreibungen von grauer Salbe zu
4,0 gleich gesetzt werden, da die ersteren hier einmal wöchentlich und
die letzteren täglich gemacht wurden.
Bei Gelegenheit der 180 Kurse wegen manifester Erscheinungen
wurden im ganzen 3373 Einreibungen und 94 parenchymatöse Injektionen
appliziert, durchschnittlich 22 Einreibungen auf einen Kurs. In 52 von
diesen 180 Kursen wurde die stationäre Behandlung teils durch ambu¬
latorisch applizierte Injektionen ergänzt; teils waren der stationären Be¬
handlung ambulatorische Injektionen vorausgegangen, ohne daß durch
dieselben das Auftreten manifester Erscheinungen hätte verhindert werden
können.
Die Ergänzung der stationären Behandlung durch eine ambulatorische
war häufiger als das Umgekehrte. Während der 132 ambulatorischen
Kurse wurden 275 Injektionen ausgeführt, durchschnittlich also 2 In¬
jektionen oder 14 Einreibungen auf jeden Kurs. Während der 34 statio¬
nären Kurse bei Gelegenheit der Aufnahme ins Krankenhaus wegen
nicht syphilitischer Erkrankungen wurden 381 Einreibungen, also durch¬
schnittlich 11 auf jeden Kurs, appliziert. Abgesehen von den 381 statio¬
nären Behandlungstagen wegen anderer Geschlechtskrankheiten, haben
diese Kranken 1925 Tage in der Freiheit verbracht, welche sie verloren
hätten, falls sie anstatt ambulatorisch stationär behandelt worden wären.
Das bedeutet unter Anschluß der 44 Prozent verreister Prostituierten
66 Tage der Freiheit für jede dieser Patientinnen. Man darf vielleicht
hoffen, daß 66 Tage der Freiheit, für welche der Arzt vor der Gesell¬
schaft durch seine Aufmerksamkeit und seine Mühe die Verantwortung
trägt, eher geeignet sein werden, den Widerwillen der Prostituierten
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Referate.
335
gegen die Behandlung zu mindern als die unzweckmäßige Ungebunden¬
heit der Prostituierten, welche so eifrig und leidenschaftlich von den
Abolitionisten gefordert wird. Es sind in der Tat, wenn auch selten,
bereits Fälle vorgekommen, daß Prostituierte aus anderen Städten einzig
allein zum Zwecke der Behandlung hierher gekommen sind, und daß
einheimische verschämte Prostituierte sich hier freiwillig der Beobachtung
und Behandlung unterzogen haben. Unter den 51 Prostituierten be¬
finden sich je drei der beiden Kategorien.
Verf. ist davon überzeugt, daß durch die 2306 präventiven Be-
bandlungstage nicht wenigen Rezidiven vorgebeugt worden ist. Beweisen
läßt sich solches allerdings nicht, da die Häufigkeit der Rezidive individuell
sehr verschieden ist, und da man daher das Ausbleiben von Rezidiven
nicht mit Sicherheit der Behandlungsmethode zuschreiben darf. Aber
daß bei dem geschilderten Verfahren die Rezidive milder sind und
schneller der Behandlung weichen, ist durch die tabellarisch geordneten
Auszüge aus den Krankengeschichten wohl bewiesen.
Beim Vergleiche der Rezidive derjenigen Kranken, welche hier vom
Beginn ihrer Krankheit an behandelt wurden, mit den Rezidiven der¬
jenigen, welche hier erst im späteren Verlauf der Krankheit in Be¬
handlung kamen, findet man, daß bei den ersteren die Rezidive häufiger
in Form von lokalen Erosionen, unbedeutenden, beginnenden Papeln,
Auflockerung der Schleimhaut der Gaumenbögen und sonstiger un¬
bedeutender Erscheinungen auftraten, während bei den letzteren aus¬
geprägte Kondylome, Rhagaden, starke Anginen und Geschwüre häufiger
waren.
Vergleicht man nach Ausschluß der außergewöhnlich schweren
Fälle die Dauer der Rezidive und die Mengen der zu ihrer Beseitigung
erforderlichen Quecksilberapplikationen, welche bei den von Anfang an
hier Behandelten und bei den erst später in Behandlung getretenen er¬
forderlich waren, so ergibt sich folgendes:
Zur Beseitigung der Rezidive waren erforderlich bei denen, welche
von Anfang hier behandelt worden waren, der Rezidive des ersten
Jahres durchschnittlich 9,6 Einreibungen, des zweiten Jahres durch¬
schnittlich 5,2 Einreibungen, — bei denen, welche hier zwar behandelt
worden waren, aber nicht vom Anfang der Krankheit an, der Rezidive
des ersten Jahres durchschnittlich 12,5 Einreibungen, des 2. Jahres
durchschnittlich 8,5 Einreibungen, — bei denen, welche hier überhaupt
nicht behandelt worden waren, der Rezidive des ersten Jahres durch¬
schnittlich 29,2 Einreibungen, des zweiten Jahres durchschnittlich 27 Ein¬
reibungen.
Die Prüfung der Resultate des seit mehreren Jahren hier geübten
Verfahrens beweist, daß es eine regelrechte und erfolgreiche Syphilis¬
behandlung der Prostituierten mit möglichst geringer Einschränkung
ihrer Freiheit gewährleistet. Verf. vermutet, daß, je gründlicher die Be¬
handlung ihrer Syphilis durchgeführt wird, in um so höherem Maße
auch ihre Infektiosität vermindert werde. Mit wissenschaftlicher Sicher¬
heit läßt sich übrigens die Richtigkeit dieser Vermutung nicht beweisen.
Nichtsdestoweniger ist in den letzteren Jahren die Tatsache beobachtet
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336
Referate.
worden, daß bei der Konfrontation infizierter Männer die Infektion meist
auf solche Prostituierte zurückgeführt werden konnte, welche sich in
der Periode zwischen dem Primäraffekt und dem Auftreten der ersten
kondylomatösen Erscheinungen befanden. Leider sind diese Konfron¬
tationen nicht protokolliert worden, und es muß deshalb nach dem Ge¬
dächtnis referiert werden. Bei den Konfrontationen sind, so viel ich
mich erinnere, keine Infektionen konstatiert worden, welche von Prosti¬
tuierten während ihrer gemischten stationär-ambulatorischen Behandlung
ausgegangen wären.
In kürzer Zusammenfassung läßt sich die Aufgabe des Arztes, für
welchen die Bekanntschaft mit der Psychologie der Prostituierten
mindestens ebenso wichtig ist wie die Kenntnis der venerischen Krank¬
heiten, bei der Syphilisbehandlung der Prostituierten also definieren:
1. Bezüglich jeder einzelnen Prostituierten ist das Jahr
der Syphilisinfektion festzustellen. Dabei ergibt sich, daß
20—30 Prozent derselben sich im kondylomatösen Stadium
der Syphilis befinden, daß 60 — 70 Prozent bereits dieses
Stadium überschritten haben und daß 5 — 8 Prozent noch
nicht syphilitisch infiziert sind.
2. Auf die letzteren hat der Arzt sein ganz besonderes
Augenmerk zu richten, eingedenk dessen, wie leicht die
syphilitischen Primäraffekte der Frauen übersehen werden
können; die geringsten Zusammenhangstrennungen der Haut
und Schleimhaut im Bereich der Genitalien sowie die Be¬
schaffenheit der Inguinaldrüsen sind stets zu beachten.
3. Der Arzt soll energisch, konsequent und genügend
lange alle diejenigen behandeln, welche sich im kondylo¬
matösen Stadium der Syphilis befinden, und sorgfältig auf
die Symptome der so genannten Latenz der Syphilis achten.
4. In bezug auf die übrigen darf er nicht vergessen, daß
mitunter noch recht spät kondylomatöse Erscheinungen auf-
treten können, und daß Fälle einer zweiten Syphilisinfektion
beobachtet worden sind. Im übrigen darf er diese Gruppe
seiner Kranken für beinahe ungefährlich in bezug auf die
Syphilisverbreitung ansehen.
Die unbestreitbare große Bedeutung der genauen Bekanntschaft
des behandelnden Arztes mit dem Infektionsjahr und dem Verlauf der
Krankheit seiner Patientinnen wie nicht minder mit der früher vor¬
genommenen Behandlung darf bei der Organisation der Kontrolle nicht
außer acht gelassen werden und erfordert folgende Bedingungen der
Kontrolle.
I. Es müßte jedem bei der Kontrolle tätigen Arzte zur
Pflicht gemacht werden, beim jedesmaligen Verreisen einer
Prostituierten in eine andere Stadt die erforderlichen Daten
demjenigen Arzte mitzuteilen, welchem die Weiterbehandlung
der Prostituierten obliegt.
II. Da eine regelrechte Behandlung sich nur auf eine
möglichst genaue Beobachtung der Kranken gründen kann,
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Tagesgoschichte.
337
und da die Behandlung unter möglichster Vermeidung von
Unbequemlichkeiten für die Kranke durchzuführen ist, so
darf die Behandlung nicht von der Beobachtung getrennt
werden und muß sie eine gemischte ambulatorisch-statio¬
näre sein.
So trägt ein und derselbe Arzt die Verantwortung für die Be¬
handlung seiner Patientinnen und kann keinem anderen die Schuld an
einem etwaigen Mißerfolge zuschreiben.
III. Da die Diagnose der Syphilis nicht so einfach ist,
wie es leider jetzt noch allzu vielen erscheint, und da zu
derselben Bedingungen und Einrichtungen erforderlich sind,
die in Bordellen, in Arrest- und Polizeilokalen, welche ja
gar keine medizinische Bestimmung haben, nicht geboten
werden können, so sollen die Untersuchungen der Prosti¬
tuierten ausschließlich in zweckmäßig eingerichteten Ambu¬
latorien, welche mit Krankenhäusern in Verbindung stehen,
ausgeführt werden.
Von der Arbeit der Ärzte hängt vor allen Dingen der Erfolg im
Kampfe mit den Geschlechtskrankheiten ab.
Die Ärzte haben auf diesem Gebiete nicht allein entsprechend den
gegenwärtigen Anforderungen der Wissenschaft zu arbeiten, sondern
auch durch ihre wissenschaftlichen Hinweise auf die Einführung zweck¬
mäßiger administrativer Maßregeln hinzuwirken. Nur dann, wenn wir
bei der Erfüllung unserer Pflicht nicht die entsprechende Unterstützung
fänden, hätten wir ein Recht dazu, andere für den Mißerfolg verant¬
wortlich zu machen.
Jeder hat die Möglichkeit, auch auf diesem Gebiete in gehöriger
Weise zu arbeiten, wie es die Würde unseres Standes erheischt.
Autoreferat
Tagesgeschichte.
Frankreich.
Die außerparlamentarische Kommission, über deren Einsetzung
und Tagung wir schon mehrfach berichtet, hat im Laufe des Monats
März 4 Sitzungen abgehalten. Als das überraschendste Ereignis ist das
Auftreten des Polizeipräfekten Lepine in der Sitzung vom 18. März zu
bezeichnen, welcher im Gegensatz zu seiner früheren Haltung die heutige
Reglementierung für ungesetzlich und unwirksam erklärte und meinte,
daß sie nur überflüssige Scherereien verursachte. Man müsse der Sitten¬
polizei eine gesetzliche Grundlage geben und die präventive Regle¬
mentierung in eine repressive umwandeln. Als Beispiel für die
Unwirksamkeit der Reglementierung führte er selbst an, daß die Mädchen,
die auf den öffentlichen Straßen Ärgernis erregten, gerade die 6000
eingeschriebenen Prostituierten seien. Im Jahre 1902 seien allein 1717
kranke Mädchen aus Furcht vor der Behandlung in St. Lazare ver¬
schwunden. Ein besonderes Interesse gewannen die Aussagen des Polizei-
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338
Tagesgeschichte.
präfekten dadurch, daß er an demselben Tage in der Sitzung des Pariser
Gemeinderats ein Projekt zur völligen Umgestaltung der Sittenpolizei
vorlegte und durchbrachte.
Der Pariser Gemeinderat hatte sich aus Anlaß verschiedener
in Paris und in der Provinz im Laufe des letzten Jahres bekannt ge¬
wordener und in den Zeitungen ausführlich besprochener Übergriffe der
Sittenpolizei mehrfach mit dieser Frage beschäftigt und eine besondere
Kommission zu deren Studium eingesetzt. Den Bericht dieser Kommission
erstatteten in der Sitzung des Gemeinderats vom 12. März die Herren Henri
Turot, Adrien Mithoard und Maurice Quentin — alle drei in streng
abolitionistischem Sinne; auch von den Diskussionsrednern wurde nur
der aboütionistische Standpunkt vertreten. In der Sitzung vom 16. März
erhob sich nun der Polizeipräfekt Lepine und legte zu allgemeiner
Überraschung seinen Standpunkt etwa in derselben Weise dar, wie etwa
2 Tage später in der außerparlamentarischen Kommission; er erklärte
den Moment für besonders geeignet zur Angriffnahme von Reformen und
meinte, daß die Stellungnahme des Pariser Gemeinderats zu diesen
Fragen voraussichtlich die Entscheidungen jener Kommission wesentlich be¬
einflussen werde. Er stellte zunächst für die heutige Sitzung folgenden
Antrag, der einstimmig angenommen wird:
„Der Gemeinderat hält den Erlaß eines Gesetzes oder
Reglements über die Sittenpolizei nach folgenden Grund¬
sätzen für wünschenswert: Ein minderjähriges Mädchen,
das wegen Ausübung der Prostitution arretiert ist, muß dem
Richter vorgeführt werden, der zu entscheiden hat, ob es
seinen Eltern wieder zugeführt oder durch die Behörde einem
Erziehungshause überwiesen werden soll, um dort bis zu
seiner Großjährigkeit oder bis es ein Gewerbe erlernt hat,
zurückbehalten zu werden.“
Lepine legt ferner ein Gegenprojekt gegen das Projekt der
Kommission vor, welches dieser zur Prüfung und Berichterstattung
überwiesen wird. Der Gemeinderat spricht sich weiter für die Revision
der Krankenkassenstatuten aus, welche den Venerischen ihre Wohl¬
taten vorenthalten. Ferner für Abschaffung der Bestrafung Vene¬
rischer in Armee und Marine; ein letzter Beschluß betrifft die Ab¬
schaffung der Ordonnanzen von 1778 und 1780.
Zwei Tage später — am 18. — wird die Diskussion fortgesetzt
und zunächst in Ergänzung des in voriger Sitzung angenommenen An¬
trags Lepine folgender auf die Unterbringung minorenner Prosti¬
tuierter bezüglicher Beschluß gefaßt:
„Mit Annahme des Beschlusses betr. die minderjährigen
Prostituierten durch das Parlament ist eine besondere An¬
stalt zu errichten, die den Charakter einer Gewerbeschule
tragen soll. Diese Anstalt darf nicht den Charakter einer
Strafanstalt tragen und soll im wesentlichen auf die mora¬
lische und physische Festigung der Mädchen hinarbeiten.
Mit der Anstalt soll eine Krankenabteilung zur Behandlung
der venerisch erkrankten Minderjährigen verbunden sein.“
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Tagesgeschichte.
339
Es wird ferner beschlossen:
„In Erwägung, daß weder die Prostitution ein Delikt ist,
noch die Syphilis an sich ihren Träger einem Strafverfahren
aussetzen darf, auf der anderen Seite die wissentliche Über¬
tragung der Syphilis ein zweifelloses Vergehen darstellt,
spricht der Gemeinderat sich für ein Gesetz aus, das die
Übertragung der Syphilis bestraft.“
Darauf werden folgende Resolutionen betr. die Bordelle (mit Zu¬
stimmung der Polizeipräfekten) angenommen:
1. Jede besondere Reglementierung betr. die Bordelle
und Absteigequartiere wird unterdrückt; in Anwendung
bleiben in Zukunft nur die allgemeinen Polizeivorschriften
betr. die Hygiene und Sauberkeit, insbesondere bzgl. alles
dessen, was zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten er¬
forderlich ist.
2. Die mit Bordellen verbundenen Kneipen sollen in Zu¬
kunft als öffentliche Lokale betrachtet werden.
8. Der Polizeipräfekt wird aufgefordert, das zurzeit
herrschende Überwachungssystem der Absteigequartiere zu
beseitigen.
4. Der Seinepräfekt und der Polizeipräfokt werden auf¬
gefordert, die gesundheitlichen Maßnahmen betr. die Unter¬
bringung der Prostituierten in den Bordellen mit der äußer¬
sten Strenge durchzuführen.
Zum Schluß unterbreitet der Berichterstatter der Kommission,
Henri Turot, das frühere radikalere Projekt der Kommission, welches
diese zugunsten des Lep in eschen jetzt hat fallen lassen, in seinem
eignen Namen, sowie das Gegenprojekt Lep in es, welches nunmehr von
der Majorität der Kommission angenommen worden ist.
Das Lepinesche Projekt hat folgenden Wortlaut:
Durch Gesetz oder Verwaltungsreglement sind folgende
Grundsätze festzulegen:
1. Alle die Prostitution vom Standpunkte der öffentlichen
Gesundheitspflege betreffenden Angelegenheiten sind einem
besonderen, dem Seinepräfekten unterstellten Spezialgesund¬
heitsamt zu unterbreiten.
2. Jede großjährige Frauensperson, welche diesem Pro¬
stitutionsgewerbe nachgehen will, muß eine dahingehende
Erklärung unterschreiben und hat darauf folgenden Vor¬
schriften zu genügen: Sie muß im Besitz eines Gesundheits¬
attestes sein, welches, wenn sie unter 25 Jahre alt, zweimal
wöchentlich, bis 30 Jahre einmal wöchentlich, über 80 Jahre
alle zwei Wochen zu erneuern ist. Das Attest muß be¬
scheinigen, daß sie frei von venerischen Krankheiten ist,
muß von einem Arzt eines öffentlichen Krankenhauses aus¬
gestellt sein und die Identität der Prostituierten kon¬
statieren.
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340
Tagesgeachichte.
3. Jede großjährige Prostituierte, die ein solches voll¬
gültiges Gesundheitsattest nicht beibringen kann, oder die ohne
eine vorangängige Erklärung der Prostitution nachgeht, so¬
wie solche, die sich auf öffentlicher Straße in Ärgernis er¬
regender Weise beträgt, wird dem Richter vorgeführt und
mit Haft bestraft
In den beiden ersten Fällen wird die Betreffende einmal
zwangsweise untersucht und, falls venerisch erkrankt be¬
funden, einem Sanatorium überwiesen, wo sie bis zur völligen
Heilung zurückbehalten wird. Erst nach ihrer Entlassung
wird sie dem Richter vorgeführt.
4. Jede administrative Strafe wird abgeschafft.*
5. Die Spezialhospitäler für Venerische werden abgeschafft und
durch Spezialabteilungen in den allgemeinen Krankenhäusern ersetzt.
Geschlechtskranke sind in den Krankenhäusern denselben
Hausregeln zu unterwerfen, wie alle andern Kranken und
erhalten auch wie sie bei der Entlassung die übliche Unter¬
stützung.
6. In einer möglichst großen Anzahl von allgemeinen
Krankenhäusern sollen Polikliniken für Venerische mit
Gratisverteilung von Medikamenten eingerichtet werden.
7. Die Armendirektion wird aufgefordert, dem Gemeinde¬
rat sobald wie möglich einen Organisationsplan für diese
Polikliniken vorzulegen. Dieselben sollen in den bevölkertsten
Stadtteilen errichtet werden, die Sprechstunden sollen abends
von 8—11, mindestens dreimal wöchentlich stattfinden.
Das Tu rot* sehe Projekt, das ursprüngliche der Kommission, wurde
nun vom Gemeinderat mit 37 gegen 16 Stimmen verworfen, hingegen
das Gegenprojekt des Polizeipräfekten mit 70 Stimmen ein¬
stimmig (bei 6 Stimmenthaltungen) angenommen.
Es unterliegt keiuem Zweifel, daß das Projekt des Polizeipräfekten,
welches einen nicht ungeschickten Kompromiß zwischen Regiementaris-
mus und Abolitionismus darstellt, auch in der außerparlamentarischen
Kommission und später auch im Parlament, wenigstens in seinen Grund¬
zügen, angenommen werden wird. Bei der großen Bedeutung, welche
eine derartige Reform der Reglementierung in ihrem Mutterlande auch
für die übrigen zivilisierten Staaten haben würde, werden wir späterhin
noch eingehender darauf zurückkommen müssen.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903/4. Nr. 9.
Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
Von
Mag.-Assessor Dr. F. Schiller (Breslau).
(Schluß.)
n.
Vor dem Erlaß des Bürgerlichen Gesetzbuchs gaben die
Gesetze in Preußen wenig oder gar keine Handhaben, um die
Prostitution wirksam zu bekämpfen. Insbesondere fehlte es an
einer Möglichkeit, um den Nachwuchs, welcher der Prostitution,
aus der Zahl der jungen Mädchen zugeführt wird, in genügendem
Maße einzuschränken.
Das Allgemeine Landrecht enthielt zwar in den §§90,91 II.
2 Bestimmungen, wonach der Vormundschaftsrichter berechtigt war
in Fällen, in denen Eltern ihre Kinder grausam mißhandeln oder
zum Bösen verleiten oder ihnen den notdürftigen Unterhalt versagen,
den Eltern die Erziehung zu nehmen und auf ihre Kosten
anderen zuverlässigen Personen anzuvertrauen. Von dieser Befugnis
ist aber selten oder nie Gebrauch gemacht worden, besonders weil
die landrechtlichen Bestimmungen versagten, wenn die Eltern zur
Tragung der Kosten dieser abgesonderten Erziehung unlähig waren.
Das Reichsstrafgesetzbuch sah und sieht noch heute die
Bestrafung der gewerbsmäßigen Unzucht in dem § 361 Nr. 6
vor für diejenigen Weibspersonen, die nicht der polizeilichen Aufsicht
unterstellt sind. Diese Bestimmung nötigt aber gerade die jüngeren
weiblichen Elemente, sich der polizeilichen Kontrolle zu unterstellen,
um der Bestrafung wegen gewerbsmäßiger Unzucht zu entgehen.
Sind sie einmal in die Kontrollisten der Polizei eingetragen, so
haben sie Bestrafung auf Grund des § 361 Nr. 6 nur zu befürchten,
wenn sie den erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandeln.
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke II. 26
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342
Schiller*
Durch die Strafbestimmung des § 361 Nr. 6 sind daher vielleicht
mehr Mädchen der öffentlichen Prostitution zugefiihrt als ihr ent¬
zogen worden. Ebensowenig wie durch die aus § 361 Nr. 6 ver¬
hängte Strafe ist anzunehmen, daß durch die korrektioneile Nach¬
haft auf Grund des § 362 StGJB. in seiner früheren Fassung
irgendwelche moralische Besserung bei den jugendlichen Prosti¬
tuierten herbeigeführt worden ist Im Gegenteil Durch die Zu¬
sammensperrung der verhältnismäßig noch wenig verdorbenen
Mädchen mit den alten ausgedienten Lohndirnen in einem gemein¬
schaftlichen Arbeitshause ist den jungen Mädchen wohl in der
Kegel der letzte Rest von Anstandsgefühl verloren gegangen. Der
§ 362 St.G.B. in seiner neuen Fassung (Ges. vom 25. Juni 1900)
sieht daher die Möglichkeit vor, die jungen Elemente nicht in
einem Arbeitshause, sondern in einer Erziehungs- und Besse¬
rungsanstalt unterzubringen*
Auch durch die Bestimmung des § 56 StG.B., wonach ein
Minderjähriger, der zwischen 12 und 16 Jahren eine strafbare
Handlung begangen, aber die zur Erkenntnis der Strafbarkeit er¬
forderliche Einsicht nicht besessen hat, in einer Besserungsanstalt
untergebracht werden kann, sind der Prostitution viele Opfer nicht
entrissen worden, schon weil diese Bestimmung von den Gerichten
sehr selten zur Anwendung gebracht wurde.
Dagegen hat die Vorschrift des § 55 StGJB., wonach gegen
ein Kind, das vor Vollendung des 12. Lebensjahres eine strafbare
Handlung begeht, nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften
die zur Beaufsichtigung und Besserung erforderlichen Maßregeln
getroffen werden können, zu dem ersten Schritt auf dem Wege
der gesetzlich geregelten Zwangserziehung geführt Das zur Aus¬
führung des § 55 für Preußen erlassene Zwangserziehungs¬
gesetz vom 13. März 1878 beschränkte sich aber darauf, die
zwangsweise Erziehung eintreten zu lassen, wenn der Minder¬
jährige nach Vollendung des 6. und vor Vollendung des
12. Lebensjahres eine strafbare Handlung begangen hatte
und die Unterbringung mit Rücksicht auf die Beschaffen¬
heit der Handlung, auf die Persönlichkeit der Eltern oder
sonstigen Erzieher des Kindes und auf dessen übrige
Lebensverhältnisse notwendig war zur Verhütung weiterer
Verwahrlosung.
Infolge dieser engen Beschränkung hat sich das Gesetz vom
13. März 1878 als nicht ausreichend erwiesen, um der stetig
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfting.
343
wachsenden Kriminalität, Verwahrlosung und Verrohung unter den
Jugendlichen zu wehren. Der Fehler des Gesetzes lag eben darin,
daß es die Zwangserziehung mehr aus dem Gesichtspunkt einer
strafrechtlichen Maßregel als aus dem einer erzieherischen,
dem Verbrechen und der Prostitution vorbeugenden be¬
trachtete. Indem es die verwahrlosten, nicht verbrecherischen
Jugendlichen sich selbst überließ und nur einschritt, wenn die
Verwahrlosung vor dem 12. Lebensjahr des Minderjährigen zu
einem Konflikt mit den Strafgesetzen geführt hatte, ist die
Kriminalität unter den Jugendlichen und die Prostitution in einer
die Gesellschaft ernstlich bedrohenden Weise gestiegen.
Nach der Reichskriminalstatistik für 1896 (Statistik des
Deutschen Reichs, Neue Folge Bd. 95 I. S. 28 ff.) sind Verurteilungen
Jugendlicher wegen Verbrechen und Vergehen gegen die Reichs¬
gesetze ergangen:
1882:30697
1896:43962,
das bedeutet eine Steigerung um 43,2 Proz.; im Jahre 1897 betrug
die Zahl 45327, die Steigerung gegen 1882 47,3 Proz.
Aber nicht nur absolut ist die Steigerung, sondern auch relativ
im Verhältnisse zur Bevölkerung. Auf 100 000 Jugendliche im
Alter von 12 bis 18 Jahren entfielen im Jahre 1882 568 Ver¬
urteilungen, 1896 dagegen 697; die Steigerung betrug mithin
22 Proz. Diese Tatsache ist um so bedenklicher, als das An¬
wachsen der Kriminalität bei den Erwachsenen in demselben Zeit¬
raum absolut 34,1 Proz., relativ nur 16 Proz. betrug.
Der wachsenden Kriminalität der Jugendlichen ver¬
mögen die strafrechtlichen Maßnahmen keinen Einhalt zu gebieten
Ziffermäßig drückt sich der Mißerfolg der verhängten Strafen darin
aus, daß der Rückfall unter den Jugendlichen von Jahr zu Jahr
steigt. Auf 100000 Jugendliche der Bevölkerung entfielen 1889
614 Verurteilte, davon waren früher schon bestraft 93, und zwar
einmal 58, zweimal 20, drei- bis fünfmal 14, sechsmal und öfter 1.
1896 betrug die Zahl der Verurteilten 702, der Vorbestraften 132,
davon einmal 77, zweimal 28, drei- bis fünfmal 24, sechsmal und
öfter 3. Von den im Jahre 1898/99 in die preußischen Straf¬
anstalten eingelieferten Zuchthausgefangenen waren 26 Proz. vor
dem 18. Lebensjahre bestraft.
Im Jahre 1898/99 wurden 1192 weibliche Personen in die
26 *
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Schiller.
Korrektionshäuser eingeliefert, davon 910 wegen Gewerbsunzucht;
aber auch die übrigen wegen Betteins, Landstreichens, Obdach¬
losigkeit Überwiesenen waren fast ausnahmslos an der Gewerbs-
unzucht beteiligt. Unter den Eingelieferten waren 222 oder 19 Proz.
Minderjährige, davon 54 im Alter unter 18 Jahren. Von den Ein¬
gelieferten hatten 296 oder 25 Proz. vor dem 18. Lebensjahre Frei¬
heitsstrafen erlitten.
Die schweren sittlichen und sozialen Schäden unseres Volks¬
lebens zu heilen, sind, nach der Begründung zum Fürsorge¬
erziehungsgesetz, in erster Linie Kirche und Schule berufen. „Da¬
neben ist es aber oft unabweisbar, die Jugendlichen aus der ver¬
derblichen Umgebung, in der sie sich befinden, herauszureißen oder
gegen die ihnen innewohnenden verbrecherischen Neigungen anzu¬
kämpfen, indem man die Jugendlichen einer geregelten und seelisch
wie körperlich besser auf sie einwirkenden Erziehung unterwirft.“
Bereits vor dem Erlaß des Fürsorgeerziehungsgesetzes hatte
das Bürgerliche Gesetzbuch in den §§ 1666 und 1838 Bestim¬
mungen getroffen, die den Vormundschaftsrichter ermächtigen, die
zur Erziehung eines Kindes nötigen Maßnahmen anzuordnen für
den Fall, daß das geistige oder leibliche Wohl des Kindes durch
die Schuld der Eltern oder Erzieher gefährdet wird. „Unter den
Maßregeln, die der Richter im Interesse der Minderjährigen an¬
ordnen kann, ist die einschneidendste die Zwangserziehung. Das
Bürgerliche Gesetzbuch hat aber keine Anordnung darüber ge¬
troffen, wie diese Maßregel ausgeführt werden soll, wenn die dazu
erforderlichen Mittel weder aus dem Vermögen des Kindes,
noch von den zu seinem Unterhalt Verpflichteten be¬
stritten werden können. In der Regel werden diese Mittel
fehlen; Recht und Pflicht des Vormundschaftsrichters wären wohl
theoretisch festgelegt, könnten aber praktisch nicht ausgeführt
werden, wenn nicht landesgesetzliche Bestimmungen dafür sorgen.“
(Begründung zum Entwurf des Fürsorgeerziehungsgesetzes.)
Gestützt auf Art. 135 des Einführungsgesetzes zum B.G.B. hat
Preußen zu diesem Zweck das Eürsorgeerziehungsgesetz erlassen.
An Stelle des alten Wortes „Zwangserziehung“ hat man den
Ausdruck „Fürsorgeerziehung“ gewählt, weil man damit im Gegen¬
satz zu dem mehr strafpolitischen Charakter des Gesetzes von 1878
die vorbeugende, sozialethische Tendenz des Gesetzes be¬
zeichnen wollte. „Das abstoßende Wort „Zwangserziehung“ drückte
den ihr überwiesenen Kindern einen Makel auf, der sich im späteren
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
345
Leben selten ganz verwischte und oft zu einer peinlich berührenden
Erinnerung führte. Ethische und pädagogische Gründe nötigten
daher, ein solches auch sprachlich kaum zu rechtfertigendes Wort
um so mehr zu vermeiden, als das vorliegende Gesetz weniger gegen
die schon eingetretene Straffälligkeit einschreiten, als die Straffälligkeit
selbst durch eine entsprechende Erziehung verhüten will. Es
nimmt daher auch lediglich gefährdete und persönlich durchaus
einwandfreie Kinder in seinen Schutz.“ (Schmitz, „Die Für¬
sorgeerziehung Minderjähriger.“ 3. Aufl., S. 33.)
Nach § 1 des Gesetzes kann nunmehr jeder Minderjährige,
der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, in folgenden
Fällen der Fürsorgeerziehung überwiesen werden:
1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 B.G.B.
vorliegen und die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die
Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten;
d. h. also,
wenn das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch
gefährdet wird, daß der Vater (bezw. die Mutter) das Recht
der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind
vernachlässigt oder sich eines ehrlosen und unsittlichen Ver¬
haltens schuldig macht (§ 1666), oder
wenn das Vormundschaftsgericht anordnet, daß der Mündel
zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder
in einer Erziehungs- oder einer Besserungsanstalt untergebracht
wird (§ 1838).
2. Die Fürsorgeerziehung kann ferner angeordnet werden, wenn
der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat,
wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters straf¬
rechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Fürsorgeerziehung
mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Per¬
sönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher
Verwahrlosung des Minderjährigen erforderlich ist
3. Schließlich kann ein Minderjähriger der Fürsorgeerziehung
überwiesen werden, wenn diese außer den beiden vorgenannten
Fällen wegen Unzulänglichkeit der erzieherischen Einwirkung
der Eltern oder sonstigen Erzieher oder der Schule zur Ver¬
hütung des völligen sittlichen Verderbens des Minder¬
jährigen notwendig ist
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Schiller.
Vergleicht man diese Bestimmungen des Ftirsorgeerziehungs-
gesetzes mit denen des alten Zwangserziehungsgesetzes, so springen
sofort zwei sehr bedeutende Neuerungen in die Augen: einmal der
gänzliche Fortfall einer unteren Altersgrenze für die in
Fürsorgeerziehung unterzubringenden Minderjährigen, und sodann
das Hinaufrücken der oberen Altersgrenze auf das
18. Lebensahr sowie die Ausdehnung der Fürsorge¬
erziehung bis zur erreichten Großjährigkeit
Der Fortfall der unteren Altersgrenze ermöglicht die Unter¬
bringung von Kindern unter 6 Jahren in Fürsorgeerziehung, wenn
die Notwendigkeit hierzu vorliegt. Es wird sich bei so kleinen
Kindern besonders um die Vernachlässigung der Kinder seitens
der Eltern und um die Gefährdung ihres körperlichen Wohles
handeln. Sind die Eltern moralisch verkommen, so fehlt ihnen
auch meist die Liebe zu ihren Kindern. Die Kinder werden grausam
gemißhandelt und mit ungenügender Nahrung und Kleidung ver¬
sehen. Ohne Pflege und Aufsicht, vor Schmutz und Ungeziefer
starrend wachsen die Kinder auf, oder vielmehr sie wachsen nicht
auf; denn die meisten dieser armen Geschöpfe sterben in den
frühesten Kinderjahren.
Das Hinaufrücken der oberen Altersgrenze bis zum 18. Lebens¬
jahr hat besonders Bedeutung für die der Unzucht ergebenen
weiblichen Minderjährigen. Diese Mädchen können, wenn über¬
haupt, so nur durch Anstaltserziehung auf den Weg des Guten zurück-
gefiihrt werden. Die Anstalten, die diesem Zwecke dienen, die katholi¬
schen Anstalten „vom gutenHirten“, die evangelischenMagdalenhäuser
usw. versagten früher in sehr vielen Fällen, da die Mädchen zum Ein¬
tritt nicht gezwungen und, wenn sie freiwillig eingetreten waren,
nicht gegen ihren Willen zurückgehalten werden konnten. Die
Fürsorgeerziehung gibt jetzt die Möglichkeit, die gefallenen weib¬
lichen Minderjährigen in geeignete Anstalten unterzubringen und
bis zum vollendeten 21. Lebensjahre darin zu belassen.
Die Altersgrenze von 18 Jahren ist gewählt mit Rücksicht
auf die Nähe der Großjährigkeit, weil man glaubt, daß von einer
Erziehung, die weniger als drei Jahre dauert, eine wirkliche Besse¬
rung für einen verwahrlosten jungen Menschen nicht zu erwarten
sei. Wenn eine Reihe deutscher Staaten (Bremen, Mecklenburg-
Schwerin und Mecklenburg-Strehlitz, Elsaß-Lothringen, Schaumburg-
Lippe und Württemberg) die Altersgrenze, innerhalb der ein Minder¬
jähriger in Fürsorgeerziehung gebracht werden kann, auf das
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
347
16. Lebensjahr herabgesetzt haben, so verkennen sie hierbei, daß
bei einem großen Teil der Jugendlichen, speziell bei den der Un¬
zucht ergebenen Mädchen, die Verwahrlosung in der Regel erst
zwischen 16 und 18 Jahren zutage kommt.
Der § 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes ermöglicht heute der
geschlechtlichen Verwahrlosung in ganz anderem Umfange
entgegenzutreten, als dies früher der Fall war.
Für die Ziff. 1 des § 1 kommen in erster Linie diejenigen
Kinder in Betracht, die, in jungen Jahren stehend, gar nicht oder
nur gering in eigenerPerson sittlich verwahrlost sind, wohl
aber in einer Umgebung leben, in der sie früher oder später
mit Sicherheit der sittlichen Verwahrlosung anheimfallen.
Charakteristisch ist, daß ein Verschulden der Eltern oder Er¬
zieher vorliegen muß. Die Ziff. 1 wird daher besonders für solche
Mädchen zur Anwendung kommen, die von frühester Kindheit an von
Schmutz und Unsittlichkeit umgeben sind, speziell für die Kinder der
Prostituierten und der vielen anderen Weibspersonen, die heimlich
der Unzucht nachgehen oder Kuppelei treiben. Es liegt auf der
Hand, daß die Mädchen, die in Familien aufwachsen, in denen
die Mutter oder die Schwestern der Unzucht ergeben sind, die von
den Eltern sehr bald zu unsittlichen Zwecken mißbraucht werden,
am ehesten der geschlechtlichen Verwahrlosung anheimfallen. In
verhältnismäßig jungen Jahren bereits werden sie die Opfer der
Prostitution.
Deshalb muß in allen diesen Fällen so früh wie möglich ein¬
geschritten werden. Die Kinder müssen den Eltern fortgenommen
und im Wege der Fürsorgeerziehung bei ordentlichen Familien
untergebracht werden, noch ehe sie von der Unsittlichkeit des
Elternhauses infiziert sind. Darin sind alle einig, die es mit der
Fürsorge für die gefährdete Jugend Ernst nehmen, daß je früher
die Entfernung aus der verpesteten Luft des elterlichen Heims
geschieht, um so leichter die Erziehung und um so größer der
Erfolg ist Wenn die Kinder erst mit Bewußtsein das unsittliche
Treiben der Eltern und Geschwister verfolgen, dann wird es schwer
sein, ihnen das Gefühl für gute Sitte und Wohlanständigkeit bei¬
zubringen.
Die Ziff. 2 des § 1 hat das Begehen einer Straftat vor dem
vollendeten 12. Lebensjahre zur Voraussetzung. Es würden hierbei
besonders kleine Diebstähle und unsittliche Handlungen in Betracht
kommen. In der Regel ist es der Hang zur Genäschigkeit, der
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348
Schiller.
die Kinder verführt Diebstähle zu begehen, und manches Mädchen
ist in späteren Jahren ein Opfer der Prostitution geworden, nur
weil es nicht gelernt hatte, diesen Hang, der sich mit den Jahren
zu einem Verlangen nach Wohlleben und Luxus auswächst, zu
bekämpfen. Neben Diebereien begehen Kinder häufig Sittlichkeits¬
delikte, indem sie mit anderen Kindern unzüchtige Handlungen
vornehmen. In den meisten Fällen fehlt ihnen wohl das Bewußt¬
sein, eine kriminell strafbare Handlung zu begehen. Aber es ist
immerhin ein Zeichen früher geschlechtlicher Erregbarkeit und
häufig auch beginnender geschlechtlicher Verwahrlosung. Wenn
das Verhalten der Eltern oder Erzieher in solchen Fällen nicht
genügende Garantien für eine sorgfältige Erziehung bietet, dann
wird die Fürsorgeerziehung eintreten müssen, um weitere sitt¬
liche Verwahrlosung zu verhüten.
Für die Anwendung der Ziff. 3 muß die Verwahrlosung bereits
so weit vorgeschritten sein, daß das völlige sittliche Verderben
des Minderjährigen zu befürchten ist, wenn er nicht in Fürsorge¬
erziehung untergebracht wird. Hier werden, wie der Minister in
den Ausführungsbestimmungen bemerkt, besonders diejenigen Minder¬
jährigen in Frage kommen, „die sich der Aufsicht der Eltern und
Erzieher entziehen oder widersetzen, gegen deren Willen in
schlechter Gesellschaft sich bewegen, wo sie Anreizung zu lieder¬
lichem Leben und zur Begehung von Straftaten finden; weibliche
Mindeijährige, die sich der Gewerbsunzucht ergeben oder ihr zu
verfallen drohen“. Ziff. 3 umfaßt speziell die große Zahl der
Mädchen, die die Keime geschlechtlicher Verderbnis bereits in
sich tragen, die in keinem Dienst- oder ArbeitsVerhältnis aus-
halten, die einen unbezwingbaren Hang zum Nichtstun und Herum¬
treiben besitzen, dem ersten besten sich hingeben und allmählich
aus dem Betrieb der Unzucht ein Gewerbe machen, bis sie von
der Polizei aufgegriffen und durch Eintragung in die Kontrollisten
offiziell zu Prostituierten gestempelt werden.
Die Fürsorgeerziehung erfolgt unter öffentlicher Aufsicht und
auf öffentliche Kosten in einer geeigneten Familie oder in einer
Erziehungs- oder Besserungsanstalt. Über die Notwendigkeit
der Unterbringung entscheidet das Gericht auf Antrag oder von
Amts wegen. Zur Antragstellung sind verpflichtet der Landrat,
in Städten mit mehr als 10000 Einwohnern der Gemeindevor¬
stand und in Stadtkreisen der Gemeindevorstand und der
Vorsteher der Königlichen Polizeibehörde. Berechtigt zur
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
349
Antragstellung ist außerdem jeder, der ein Interesse an der Unter¬
bringung eines Minderjährigen in Fürsorgeerziehung hat
Besonders wichtig ist die Bestimmung des § 5, wonach bei
Gefahr im Verzüge das Vormundschaftsgericht eine vorläufige
Unterbringung des Minderjährigen anordnen kann. Die Polizei¬
behörde des Aufenthaltsorts hat in diesem Falle für die Unter¬
bringung des Minderjährigen in einer Anstalt oder in einer ge¬
eigneten Familie zu sorgen. Durch diese Bestimmung ist die
Möglichkeit gegeben, die weiblichen Jugendlichen, die von der Polizei
auf der Straße wegen gewerbsmäßiger Unzucht aufgegriffen werden,
festzuhalten, bis das Gericht seine Ermittelungen beendet und definitiv
über die Unterbringung in Fürsorgeerziehung Beschluß gefaßt hat.
Ebenso ermöglicht der § 5 ein junges Mädchen, das sich bei der
Untersuchung durch die Polizei als geschlechtskrank herausgestellt
hat, einem Hospital zur Heilung zuzuführen und nach der Ent¬
lassung aus dem Hospital sofort in einer Anstalt zu internieren,
bis ein rechtskräftiger Beschluß auf Unterbringung in Fürsorge¬
erziehung vorliegt. Bekanntlich suchen sich die von der Polizei
aufgegriffenen Mädchen auf jede mögliche Art der Stellung unter
Kontrolle zu entziehen. Wenn sie in einer Stadt ertappt werden,
verschwinden sie spurlos, um an einem anderen Ort ihr Gewerbe
heimlich fortzusetzen. Dieses Treiben ist um so gefährlicher, als
gerade die jungen Mädchen am meisten gesucht sind, und da sie
häufig mit Geschlechtskrankheiten behaftet sind, die Übertragung
der Krankheiten in hohem Maße begünstigen. Dem kann jetzt durch
die Bestimmung des § 5 Fürs.-Erz.-Ges. vorgebeugt werden.
Leider wird von der Bestimmung des § 5 in der Praxis viel
zu wenig Gebrauch gemacht. Einmal hält die Vorschrift des § 5
Abs. 2, daß, sofern die Fürsorgeerziehung demnächst nicht end¬
gültig angeordnet wird, die Kosten der vorläufigen Unterbringung
dem Träger der örtlichen Polizeiverwaltung zur Last fallen, die
Polizeibehörden häufig ab, in nicht ganz zweifelfreien Fällen, die
vorläufige Unterbringung zu beantragen. Und andererseits bringen
die Gerichte den § 5 nur zur Anwendung, wenn es sich um bereits
sittlich verwahrloste Minderjährige handelt, nicht aber dann, wenn
es gilt ein noch nicht sittlich verwahrlostes Kind aus der
verdorbenen Atmosphäre des Elternhauses so schnell als
möglich zu retten. Die Gerichte stützen sich hierbei auf die weiter
unten besprochene Praxis des Kammergerichts, wonach die Für¬
sorgeerziehung für ein sittlich noch unverdorbenes Kind nur ganz aus-
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350
Schiller.
nahmsweise eintreten soll. Gefahr im Verzüge liegt aber häufig in
Fällen vor, in denen es sich darum handelt, sittlich noch intakte
Kinder ihren Eltern, die Trunkenbolde, Verbrecher und Dirnen sind,
fortzunehmen. Hier kann jeder Tag, den das Kind bei seinen Eltern
zubringt, nie mehr gut zu machendes Unheil anrichten. Es ist deshalb
dringend zu wünschen, einmal, daß die Kosten Verteilung anders
geregelt wird und r die Kommunalverbände in jedem Falle
auch die Kosten der vorläufgen Unterbringung zu tragen
haben, und ferner daß das Kammergericht und die nach-
geordneten Gerichte ihre bisherige Praxis aufzugeben
gezwungen werden. (Vgl. unten IV.)
Die Ausführung der Fürsorgeerziehung liegt den Provinzial¬
verbänden ob, die auch die Kosten des Unterhalts und der Er¬
ziehung der Zöglinge zu tragen haben; sie erhalten dazu aber aus
der Staatskasse einen Zuschuß in Höhe von zwei Dritteln dieser
Kosten. Die Fürsorgeerziehung endet mit der Mindeijährigkeit;
sie kann jedoch schon vorher aufgehoben werden, wenn ihr Zweck
erreicht oder die Erreichung des Zwecks anderweitig sicherge¬
stellt ist.
m.
Wenn noch irgendwelche Zweifel bestehen über die Not¬
wendigkeit des Gesetzes vom 2, Juli 1900, so müssen sie schwinden,
sobald man die überaus sorgfältige und umfangreiche Statistik zur
Hand nimmt, die das Ministerium des Innern über die Fürsorge¬
erziehung während des ersten Jahres ihres Bestehens veröffentlicht
hat. Es seien hier nur einige Zahlen mitgeteilt.
In der Zeit vom 1. April 1900 bis 1. April 1901 sind auf
Grund des alten Zwangserziehungsgesetzes in Preußen 1504 Kinder
in staatliche Erziehung genommen worden. Das Jahr 1901/1902
ergab auf Grund des Gesetzes vom 2. Juli 1900 7787 Minder¬
jährige, die der Fürsorgeerziehung überwiesen wurden, mithin ein
Mehr von 6283 Zöglingen.
Von diesen 7787 Minderjährigen waren 2838 = 36,4 Proz. weib¬
lichen Geschlechts. Auf die verschiedenen Altersklassen verteilen
sich die weiblichen Zöglinge, wie folgt:
Es waren alt
das sind Proz. aller und Proz. aller
Überwiesenen überhaupt weibl. Zöglinge
0— 3 Jahr: 64 [0,8 2,8
3— 6 „ 175 2,2 6,2
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
351
6—12 Jahr: 944
12,1
33,3
12—14
„ 486
6,1
17,2
14—16
„ 456
5,9
16,0
16—18
„ 710
9,2
25,0
Man ersieht hieraus, daß die beiden letzten Jahre eine
außerordentliche Zunahme aufzuweisen haben. Der Grund hierfür
liegt in der geschlechtlichen Verderbnis, die gerade in den
fraglichen Jahren am meisten zutage tritt.
Nicht uninteressant ist auch der Vergleich der Zahlen der im
Alter von 12 bis 17 Jahren stehenden Zöglinge mit denen der
gleichaltrigen in der Reichskriminalstatistik; es ergibt sich, daß
in Preußen im Jahre 1900 wegen Verbrechen und Vergehen gegen
Reichsgesetze verurteilt wurden: 24439 männliche und 4464 weib¬
liche Jugendliche. Während hier auf 100 männliche Verurteilte
18 weibliche entfallen, kommen auf 100 männliche Fürsorgezöglinge
gleichen Alters 58,9 weibliche. Man muß danach annehmen, daß
der größte Teil der verdorbenen weiblichen Jugendlichen der Pro¬
stitution in die Arme fällt
Von den weiblichen Fürsorgezöglingen entfallen auf § 1 Ziff. 1:
1188, auf Ziff. 2: 181, auf Ziff. 3: 1189, auf Ziff. 1 und 2: 34, auf
Ziff. 1 und 3: 234, auf Ziff. 2 und 3: 53, auf Ziff. 1, 2 und 3: 9J
Vorbestraft waren 515 und schlechten Neigungen ergeben
1174 weibliche Zöglinge. Von den letzteren gingen der Unzucht nach
814 Mädchen, und zwar 713 schulentlassene und 101 schulpflichtige.
55 Zöglinge hatten bereits geboren oder waren hochschwanger.
Erworbene Syphilis hatten 97 schulentlassene, und 4 schulpflichtige
Mädchen.
Was die Beschäftigung der weiblichen Zöglinge vor ihrer
Unterbringung in Fürsorgeerziehung anlangt, so stellt das Haupt¬
kontingent die mit der Vorrichtung häuslicher Dienste beschäftigten,
und zwar 48,7 Proz. aller schulentlassenen Mädchen, während im
Gewerbebetriebe nur 22,7 Proz. und in der Landwirtschaft nur
5,5 Proz. beschäftigt waren.
Dem Berufe der Eltern nach entstammen 37,8 Proz. der
Zöglinge aus Familien, deren Ernährer in der Industrie, Bergbau,
Hütten- und Bauwesen tätig sind, 30 Proz. sind Kinder von Eltern,
die ihren Unterhalt durch Lohnarbeiten wechselnder Art erwerben,
und 7,5 Proz. entstammen aus Familien die im Handel und Ver¬
kehr tätig sind.
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Schiller
Die häuslichen Verhältnisse der Zöglinge ergeben ein sehr
trauriges Bild. 34,5 Proz. der Zöglinge hatten vor dem 12. Lebens¬
jahre Vater oder Mutter oder beide Eltern durch den Tod ver¬
loren. Bei 7 Proz. leben die Eltern getrennt, bei 2,2 Proz. sind
die Eltern geschieden. Zählt man diese zu den durch den Tod
zerstörten Familien hinzu, so ergibt das im ganzen 3641, gleich
58,6 Proz., zerstörte Familien. Die Zahlen lassen erkennen, welch
unheilvollen Einfluß der Tod oder die Trennung der Eltern auf
die Kinder hat.
Das Gesetz vom 2. Juli 1900 ist eine schneidige Waffe im
Kampfe gegen die Prostitution. Mit seiner Hilfe ist es möglich,
der Prostitution wenigstens teilweise den jungen Nachwuchs
zu entziehen und damit die Ausbreitung der Geschlechts¬
krankheiten einzudämmen. Insbesondere wird durch das Gesetz
die Stellung der weiblichen Minderjährigen unter sitten¬
polizeiliche Kontrolle in weitem Maße verhütet. Bei der Beratung
des Gesetzes im Abgeordnetenhause führte der Minister auf die An¬
regung des Abgeordneten Schmitz aus, daß auch er es in den aller¬
meisten Fällen nicht für einen Segen, sondern direkt für ein Verderben
halte, wenn jugendliche Prostituierte unter die sittenpolizeiliche Kon¬
trolle gestellt werden; es sei dann meist die Möglichkeit, sie auf den
rechten Weg zurückzubringen, erloschen und mit der bloßen polizei¬
lichen Kontrolle werde natürlich eine innere Besserung nicht herbei¬
geführt. Unser Streben müsse dahin gehen, die jugendlichen
Prostituierten, soweit irgend angängig, überhaupt der sittenpolizei¬
lichen Kontrolle nicht zu unterwerfen, sondern zunächst der Für¬
sorgeerziehung zu überweisen, um so den Versuch zu machen, daß
sie an Leib und Seele nochmals gesund werden. (Stenogr. Ber.
des Abg.-Haus. 1901. S. 3683.)
Nach dem Inkrafttreten des Fürsorgeerziehungsgesetzes hat
daher der Minister alsbald eine Verfügung erlassen, wonach minder¬
jährige weibliche Personen unter 18 Jahren, die sich der gewerbs¬
mäßigen Unzucht verdächtig machen, sofern die Ermahnungen der
Eltern oder Vormünder erfolglos geblieben sind, in Fürsorge¬
erziehung untergebracht werden sollen. Die sittenpolizeiliche Kon¬
trolle darf erst angeordnet werden, wenn das Vormundschaftsgericht
die Anordnung der Fürsorgeerziehung abgelehnt hat und die gegen
den Beschluß eingelegte Beschwerde keinen Erfolg gehabt hat.
Bei Minderjährigen über 18 Jahren ist die sittenpolizeiliche Kon¬
trolle zwar zulässig; es soll aber sofort dem Vormundschaftsgericht
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
353
Kenntnis gegeben werden, damit das Gericht eventuell von den
Maßnahmen aus den §§ 1666, 1838 B.G.B. Gebrauch machen kann.
Die zahlreichen kirchlichen und sonstigen zur Hebung der Sittlich¬
keit bestehenden Vereine könnten dann für die Unterbringung der
Minderjährigen in Anstalten oder Familien Sorge tragen.
Der Standpunkt des Ministers entspricht dem allgemeinen
Empfinden, das sich dagegen sträubt. Minderjährige unter 18 Jahren
in die polizeilichen Kontrollisten eingetragen zu sehen. In der
Tat ist die Stellung unter die Kontrolle, wie sie heute aus¬
geübt wird, geeignet, dem jungen Mädchen auch den letzten Rest
von Anstand und Schamgefühl zu nehmen. Ein Zurück in die
anständige Gesellschaft gibt es dann nur in den seltensten Ausnahme¬
fällen. Das wissen auch die jugendlichen Prostituierten, die ihr
Gewerbe heimlich betreiben, sehr genau, darum ihre Angst, unter
Kontrolle gestellt zu werden, und ihre Versuche, sich der Kontrolle
möglichst zu entziehen. In den meisten von ihnen steckt noch ein
guter Funken, sie besitzen noch genügend sittliches Bewußtsein;
es kommt nur darauf an, sie durch Belehrung und humane Er¬
ziehung auf den Weg des Anstandes zurückzuführen. Das geschieht
eben durch die Fürsorgeerziehung.
Wird eine Besserung nicht erzielt und fällt die Minderjährige
später doch der Prostitution anheim, so ist sie wenigstens für eine
Reihe von Jahren dem schimpflichen Gewerbe entzogen worden und
hat keine Möglichkeit gehabt zur Verbreitung der Geschlechtskrank¬
heiten in dieser Zeit beizutragen.
Aus allen diesen Gründen hat auch die internationale
Konferenz zur Vorbeugung der Syphilis und der Ge¬
schlechtskrankheiten in Brüssel im Jahre 1899 den Wunsch
ausgedrückt, „die Regierungen mögen mit allen ihren Kräften die
Prostitution der Mädchen, welche ihre zivile Großjährigkeit noch
nicht erreicht haben, zu unterdrücken suchen“.
IV.
Das Fürsorgeerziehungsgesetz wendet sich an die gesamte
Bevölkerung. Eis bedarf der Mitarbeit aller Kreise der Gesell¬
schaft, wenn das Gesetz nicht auf dem Papier stehen bleiben soll.
Anfangs war auch der Eifer, mit dem alle, die der Gesetzgeber
zur Beteiligung an der großen Aufgabe der Jugenderziehung auf¬
gerufen hat, ein außerordentlich reger. Jetzt aber ist an die Stelle
dieses Eifers ein gewisser Mißmut getreten. Man wagt nicht mehr
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354
Schiller.
recht Anzeigen zu erstatten, es sei denn, daß es sich um bereits
völlig verwahrloste Minderjährige handelt, weil man fürchtet, daß
die Gerichtsbehörden die Fürsorgeerziehung doch nicht aussprechen
werden. Schuld an diesem Umschwung hat in erster Linie die
Auslegung, die das Kammergericht, der höchste Gerichtshof in
Preußen, dem Gesetz gegeben hat.
Das Kammergericht hat die Anwendung des § 1 Ziff. 1 der¬
artig eingeengt, daß es nur in wenigen Fällen gelingt, die Unter¬
bringung eines Minderjährigen auf Grund der Ziffer 1 in Fürsorge¬
erziehung durchzusetzen. Den besten Beweis hierfür liefert die
Zahl der Überweisungen zur Fürsorgeerziehung aus Ziffer 1, die von
3253 im Jahre 1901 auf 1535 im Jahre 1902, also um nahezu
53 Proz., heruntergegangen ist und in diesem Jahre noch erheblicher
sinken wird, während die Überweisungen aus Ziffer 3 gestiegen
sind. Der Schwerpunkt des Gesetzes, auch soweit die geschlecht¬
liche Verwahrlosung in Frage kommt, ruht aber auf der Ziffer 1.
Gerade in der Ziffer 1 ist die vorbeugende Tendenz des Ge¬
setzes am stärksten zum Ausdruck gekommen. Der Gesetzgeber
wollte vor allem doch auch die bedauernswerten Kinder, die noch
nicht sittlich verwahrlost sind, wohl aber in einer Um¬
gebung aufwachsen, in der sie beständig das schamlose
Treiben ihrer Eltern oder Geschwister vor Augen haben,
retten, noch bevor sie selbst von der ünsittlichkeit an¬
gesteckt sind.
Nach der Praxis des Kammergerichts ist aber die Fürsorge¬
erziehung in solchen Fällen nicht am Platze. Vielmehr hat die
Fürsorgeerziehung nur dann einzutreten, wenn „besondere er¬
zieherische Maßnahmen, namentlich strenge und an¬
dauernde Anstaltspflege“, nötig sind, um die Verwahrlosung
des Minderjährigen zu verhüten. Genügt die einfache Trennung
des Kindes von seinen Eltern, um die Verwahrlosung aufzuhalten,
— was bei sittlich noch unverdorbenen Kindern stets der Fall sein
wird —, so hat nach der Auslegung des Kammergerichts sei
die Hilfe der öffentlichen Armenpflege, nicht aber die Für¬
sorgeerziehung einzutreten. Der Vormundschaftsrichter habe in
diesen Fällen einfach vom § 1666 B.G.B. Gebrauch zu machen
und den Eltern die Erziehungsrechte abzusprechen; dadurch werde
der Minderjährige in Ermangelung von bereiten Mitteln zu seiner
Erziehung „offenbar“ hilfsbedürftig, und es sei nun Sache des
Armenverbandes, für ihn zu sorgen. Handelt es sich also z. B. um
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Fürsorgeerziehung und ProstitutionsbekÄmpfung.
355
die Kinder einer Weibsperson, die dem Tranke und der Unzucht
ergeben ist, so können die Kinder in Fürsorgeerziehung erst unter¬
gebracht werden, wenn sie selbst sittlich verwahrlost sind. Sind
sie dagegen noch gar nicht oder nur körperlich verwahrlost, so soll
die Fürsorgeerziehung nicht für sie eintreten.
Diesen Standpunkt hat das Kammergericht bis heutigen Tages
in konstanter Praxis festgehalten und in einer großen Reihe von
Beschlüssen mehr oder weniger ausführlich begründet Die Ent¬
scheidung des Kammergerichts vom 18. November 1901 — I Y
989/01 — betraf vier Kinder im Alter von einem Jahre, vier, acht
und neun Jahren, deren Vater verschwunden und deren Mutter
von gewerbsmäßiger Unzucht lebte, ohne bisher Armenunterstützung
empfangen oder verlangt zu haben. In der Begründung des Be¬
schlusses heißt es:
„Der angefochtene Beschluß des Landgerichts hat den § 1
Ziffer 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1900 für anwendbar erklärt und
in einwandfreier Weise zunächst festgestellt, daß die Voraus¬
setzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 B.G.B. gegeben sind, nämlich
Vernachlässigung der Kinder von seiten des Vaters, unsittliches
Verhalten der Mutter und hierdurch herbeigeführte Gefährdung
des geistigen und leiblichen Wohles der Kinder. Weiter hat der
angefochtene Beschluß auch nicht verkannt, daß die Fürsorge¬
erziehung aus § 1 Ziffer 1 eine subsidiäre Maßregel ist, die nicht
angeordnet werden darf, wenn andere Maßnahmen ausreichen, um
der drohenden Verwahrlosung der Kinder vorzubeugen. Als solche
andere Maßnahmen, die in Betracht gezogen werden müssen, hat
der Vorderrichter die in § 1666 Abs. 1 Satz 2 angeführten Anord¬
nungen des Vormundschaftsgerichts in Verbindung mit der gesetz¬
lichen Beihilfe des Ortsarmenverbandes einer Prüfung unterworfen,
hält dieselben aber nicht für geeignet, um die Gefahr der Ver¬
wahrlosung abzuwenden. Diese letztere Entscheidung beruht nicht
auf der tatsächlichen Würdigung von konkreten Sachumständen,
sondern auf der rechtlichen Erwägung, daß nur die wirtschaftliche
Not des Erziehungspflichtigen, nicht aber dessen sittliches Ver¬
schulden die Inanspruchnahme des Armenverbandes zu rechtfertigen
vermag. Diese Beurteilung läßt eine Verletzung des § 28 des
Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870
(in der Fassung vom 12. März 1894) und des § 1 des Preußischen
AusfÜhrangsgesetzes vom 8. März 1871 erkennen.
Das Landgericht geht davon aus, daß hier die Voraussetzungen
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Schiller.
des § 1666 B.G.B. gegeben sind; demzufolge ist das Vormund¬
schaftsgericht in der Lage und sogar verpflichtet, geeignete Schutz¬
maßregeln zur Abwendung der den Kindern drohenden Gefährdung
zu treffen. Diese Maßregeln können zweckmäßig bestehen in der
Entziehung der Sorge für die Person der Kinder, verbunden mit
der Anordnung, daß die Kinder nicht mehr im Haushalte der
Mutter wohnen dürfen und anderweitig unterzubringen sind, sowie
in der Bestellung eines Pflegers gemäß § 1909 B.G.B., der diese
Anordnung durchzuführen und zu überwachen hat. Eine solche
Anordnung des Vormundschaftsgerichts, durch welche die ander¬
weitige Unterbringung der Kinder wegen sittlicher oder leiblicher
Gefährdung im Haushalte der Eltern beschlossen wird, muß auch
von den Behörden der Armenverwaltung als maßgeblich angesehen
werden, weil das Vormundschaftsgericht mit der Entscheidung über
die Erziehung der Kinder und der Wahrnehmung der staatlichen
Interessen an derselben betraut ist. Demgemäß hat auch das
Bundesamt für das Heimatwesen in ständiger Rechtsprechung an¬
genommen, daß Hilfsbedürftigkeit im Sinne der Armengesetzgebung
dadurch eintreten könne, wenn ein Kind wegen Mißhandlung oder
Verwahrlosung der Erziehung seinen Eltern entzogen und ander¬
weitig untergebracht werden müsse, sowie daß das Vormundschafts¬
gericht berufen ist, durch seine Entscheidung in einer für die
Armenbehörde maßgeblichen Weise festzustellen, ob die elterliche
Pflege und Erziehung dauernd einzuschränken sei (Entsch. des
Bundesamts für das Heimatwesen Bd. 3 S. 49, Bd. 16 S. 91, Bd. 19
S. 27 und 75, Bd. 23 S. 121, Bd. 28 S. 65, Bd. 32 S. 148).
Hiernach erscheint die Ausführung des Landgerichts unzu¬
treffend, daß die Inanspruchnahme des Armenverbandes das ge¬
gebene Mittel sei, wenn lediglich wirtschaftliche Not des Erziehungs¬
pflichtigen, nicht aber dessen sittliches Verschulden Abhilfe erfordere.
Es scheint damit auf einen Satz der Ausführungsbestimmungen
vom 18. Dezember 1900 zum Gesetze vom 2. Juli 1900 Bezug
genommen zu sein; allein dort ist nicht gesagt, daß die Hilfe der
Armenpflege nicht einzutreten habe, wenn das unsittliche Verhalten
der Erziehungspflichtigen den Grund für die Anordnung der ander¬
weitigen Unterbringung der Kinder bietet
Hat das Vormundschaftsgericht in Gemäßheit des § 1666
B.G.B. den Eltern die Erziehung der Kinder genommen und ihre
Unterbringung außerhalb des elterlichen Haushalts angeordnet,
so kann hierdurch armenrechtliche Bedürftigkeit hervorgerufen
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
357
werden, wenn die Kinder selber kein Vermögen haben und die
Eltern nicht die Mittel hergeben, sie anderweitig unterzubringen.
Dann muß der Armenverband zur Durchführung jener Maßregel
die Mittel bereit halten, die er herzugeben durch das Gesetz ver¬
pflichtet ist"
Das Kammergericht verkeimt hierbei in erster Linie die Ab¬
sicht des Gesetzgebers und die Tendenz des Fürsorgeer¬
ziehungsgesetzes. Wenn die Fürsorgeerziehung nur einzutreten hat
in den Fällen, in denen besondere „erzieherische Maßnahmen"
nötig sind, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten und
nicht in den Fällen, in denen die bloße Trennung des Kindes von
seinen Eltern genügt, so findet die Fürsorgeerziehung tatsächlich
nur Anwendung auf solche Minderjährige, die in eigener Person
bereits arg sittlich verwahrlost sind, nicht aber auf solche,
die, ohne sittlich verwahrlost zu sein, bereits körperlich verwahrlost
sind oder durch das schuldhafte Verhalten ihrer Eltern der Gefahr
der Verwahrlosung ausgesetzt sind. Denn nur bereits sittlich in
hohem Grade verwahrloste Minderjährige bedürfen besonderer er¬
zieherischer Maßnahmen, d. h. strenger Anstaltserziehung, um
ordentliche Menschen zu werden. In allen anderen Fällen wird
die Trennung des Minderjährigen von seinen Eltern und die Ver¬
pflanzung in eine gesunde Umgebung genügen, um eine Verwahr¬
losung zu verhüten.
Der Gesetzgeber wollte aber ausgesprochenermaßen die Für¬
sorgeerziehung auf für nur körperlich verwahrloste und für noch
völlig unverdorbene Kinder angeordnet wissen, wenn ihr geistiges
oder leibliches Wohl durch das unsittliche und ehrlose Verhalten
der Eltern gefährdet wird. Gerade das ist ja der große Vorzug
des Gesetzes, daß es, ebenso wie die modernen Gesetze in anderen
Kulturstaaten, das Verbrechertum und die Prostitution durch
möglichst weitgehende prophylaktische Maßnahmen zu be¬
kämpfen versucht. Die Quellen, aus denen die sittliche
Verwahrlosung entspringt, wollte der Gesetzgeber ver¬
stopfen.
Daß das Gesetz diese vorbeugende Tendenz hat, ergibt sich,
wenn man seine Entstehungsgeschichte verfolgt, ohne allen Zweifel.
Ganz besonders folgt dies aus der Streichung des Wortes
„sittlich" vor dem Worte „Verwahrlosung" im Zusatz des § 1
Ziffer 1 der Regierungsvorlage uDd aus dem Fortfall der unteren
Altersgrenze für den Eintritt der Fürsorgeerziehung.
Zeitachr. L Bekämpfung d. Geechlechteknmkh. II. 27
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358
Schiller.
Der Entwurf des Fürsorgeerziehungsgesetzes enthielt zunächst
aus § 1 eine Definition folgenden Wortlauts:
„Zwangserziehung im Sinne dieses Gesetzes ist die Erziehung
verwahrloster oder der Verwahrlosung ausgesetzter Minderjähriger
unter öffentlicher Aufsicht in einer geeigneten Familie oder in
einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt.“
Nach dieser Definition soll also die Fürsorgeerziehung nicht
allein für bereits verwahrloste, sondern auch für diejenigen Minder¬
jährigen zur Anwendung kommen, die nur der Gefahr der Ver¬
wahrlosung ausgesetzt sind.
Im Abgeordnetenhause ist indessen die Definition gestrichen
worden, aber nicht etwa, weil man den Kreis der Minderjährigen
einengen wollte, sondern lediglich aus gesetztechnischen Gründen,
weil es nicht Gepflogenheit ist, in moderne Gesetze Definitionen
aufzunehmen.
In der Kommission des Herrenhauses wurde allseitig gebilligt,
daß der Entwurf mit dem Prinzip der bisherigen Gesetzgebung
breche und die Zulässigkeit der Zwangserziehung nicht mehr allein
abhängig mache von dem Nachweis einer strafbaren Handlung,
derentwegen infolge von Strafunmündigkeit (§ 55 R.St.G.B.)
oder mangelnder Einsicht (§ 56 R.StG.B.) eine Bestrafung nicht
ein treten könne, sondern die Möglichkeit der Zwangserziehung
außer aus strafpolitischen auch aus sozialpolitischen Gründen überall
da gebe, wo dieses nach dem jetzt geltenden Reichsrecht zulässig
sei, also in den Fällen der §§ 1666, 1683 B.G.B. und des
Artikels 138 des dazu gehörigen Einführungsgesetzes. Allerdings
wurde von einer Seite ein Zweifel darüber ausgesprochen, ob es
zweckmäßig sei, die durch das geltende Recht gezogene untere
Altersgrenze für die Zulässigkeit der Zwangserziehung (§§ 1 und 2
des Entwurfs, § 1 des Gesetzes vom 13. März 1878) fallen zu
lassen und ob die obere Altersgrenze, bis zu welcher ein Minder¬
jähriger zur Zwangserziehung überwiesen werden kann (§ 2, Abs. 1
des Entwurfs), mit dem 18. Lebensjahre nicht etwas zu hoch ge¬
griffen sei. In ersterer Beziehung wurde geltend gemacht, daß
nach dem Wortlaut des Gesetzentwurfs Kinder der ersten Lebens¬
jahre zur Zwangserziehung überwiesen werden könnten und darum
zu befürchten sei, daß die Ortsarmen verbände versuchen würden,
sich unbequemer Kommunalpfleglinge durch Überweisung zur
Zwangserziehung zu entledigen, in letzterer Beziehung aber aus¬
geführt, daß die Erfahrungen, die man in bezug auf die Besserungs-
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung. 359
fähigkeit über 18jährige Zwangszöglinge gemacht habe, so ungünstig
seien, daß es geraten erscheine, dem Vorgang anderer Länder
folgend, die obere Altersgrenze auf 16 Jahre herabzusetzen. Darauf
wurde erwidert, die untere Altersgrenze von sechs Jahren habe
ihre Berechtigung verloren, nachdem man aufgehört habe, die
Zwangserziehung lediglich nach strafpolitischen Gesichtspunkten zu
verhängen und lasse sich ebensowenig wie eine andere willkürlich
zu ziehende untere Grenze mit Rücksicht darauf rechtfertigen, daß
das Bürgerliche Gesetzbuch eine derartige untere Altersgrenze
nicht gezogen habe; ein Mißbrauch dieser Bestimmung sei auch
mit Rücksicht auf die Instanzen, in deren Hand die Antrags¬
berechtigung und das Beschlußverfahren gelegt sei, nicht zu be¬
fürchten. Für die Beibehaltung der oberen Altersgrenze des Ent¬
wurfs spreche aber, daß die drei Jahre vom vollendeten 18. bis
zum vollendeten 21. Lebensjahre immerhin lang genug seien, um
in vielen Fällen erziehlich wirken zu können, und man Wert darauf
legen müsse, auch bei älteren Minderjährigen eine Zwangserziehung
eintreten zu lassen, die bei männlichen Minderjährigen eventuell
bis zum Eintritt in das Heer aufrecht erhalten werden könne
(Drucksachen Nr. 31, S. 2).
Im § 2, Ziff. 1 (jetzt § 1, Ziff. 1) hatte der Entwurf des Gesetzes
zunächst nur die sittliche Verwahrlosung des Minderjährigen im
Auge. Er lautete genau so wie heute § 1 Ziff. 1 des badischen
Gesetzes. Danach ist die Fürsorgeerziehung anzuordnen, wenn
die Voraussetzungen der §§ 1666 oder 1838 B.G.B. vorliegen und
die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die sittliche Ver¬
wahrlosung des Minderjährigen zu verhüten. Das Vorliegen bloßer
körperlicher Verwahrlosung kam zunächst nicht in Betracht.
In der Kommission des Herrenhauses wurde indessen vor¬
geschlagen, den Zusatz: „und (wenn) die Fürsorgeerziehung
erforderlich ist, um die sittliche Verwahrlosung der
Minderjährigen zu verhüten," ganz zu streichen. Hiergegen
wurde eingewendet, daß es über die Ziele des Gesetzentwurfs
hinausgehen würde, wenn man die Zwangserziehung in allen durch
§§ 1666 und 1838 B.G.B. vorgesehenen Fällen auf Staatskosten
eintreten lasse; die Zwangserziehung auf Staatskosten solle nur
eintreten unter der Voraussetzung, daß die Gefahr der Verwahr¬
losung vorliege. Der Antragsteller änderte hierauf seinen Antrag
dahin, in der Nr. 1 nur das Wort „sittliche" zu streichen.
Diesem Antrag wurde unter Zustimmung der Vertreter der König-
27*
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Schiüer.
liehen Staatsregierung stattgegeben, da man als richtig anerkannte,
daß die §§ 1 und 2 in Übereinstimmung gebracht werden müßten
und es zweckentsprechend sei, neben der sittlichen Verwahr¬
losung auch die körperliche Verwahrlosung der Minder¬
jährigen zur Voraussetzung der Zwangserziehung zu machen.
Ferner lag ein Antrag vor, welcher die Zwangserziehung in
den Fällen der Nr. 3 auch noch eintreten lassen wollte im Falle
einer schädlichen Einwirkung der Eltern oder Erzieher auf
den Minderjährigen. Demgegenüber wurde darauf hingewiesen, daß
der Zweck dieses Antrages schon gewährleistet werde durch
die Nr. 1 in Verbindung mit §§ 1666 und 1838 B.G.B., und daß es
unzweckmäßig sei, die Nummern 1 und 3 miteinander zu verquicken.
Nr. 1 regele die Fälle, in denen auf Grund des B.G.B. wegen
schuldhaften Verhaltens der Eltern oder ungenügenden erziehlichen
Einflusses des Vormundes, Nr. 3 diejenigen, in denen aus anderen
Gründen gemäß Artikel 135 des Einführungsgesetzes die Fürsorge¬
erziehung eingeleitet werden könne. (Bericht der DL Kommission,
Drucksachen Nr. 31 S. 6.)
Nachdem das Herrenhaus das Gesetz in der von der Kom¬
mission vorgeschlagenen Fassung angenommen hatte, wurde bei der
ersten Lesung im Plenum des Abgeordnetenhauses wiederum ver¬
sucht, den Kreis der Fürsorgepflichtigen einzuengen und im § 1
Nr. l .nur die sittliche Verwahrlosung zur Voraussetzung der Für¬
sorgeerziehung zu machen. (Vgl. Stenogr. Berichte der Verhand¬
lungen des Abgeordnetenhauses, Session 1900, S. 3946 ff.) Glück¬
licherweise vergeblich. Gegen die von dem Abgeordneten von der
Goltz verlangte Festsetzung einer unteren Altersgrenze führte der
Minister des Innern aus, daß es unter Umständen geboten sei,
Jugendliche von vier oder fünf Jahren zur Zwangserzie¬
hung zu bringen, um sie zu schützen und nicht erst der
gänzlichen Verwahrlosung anheimfallen zu lassen. Ebenso
meinte der Abgeordnete Schmitz, daß Fälle, in denen ein Kind
von vier Jahren der Fürsorge überwiesen werden müsse, sehr wohl
denkbar seien. Wenn der Vater ein Trinker sei und die pflicht¬
vergessene Mutter sich der gewerbsmäßigen Unzucht hingebe, so
sei es doch die Pflicht der Gesellschaft, zu sagen: das Kind dürfe
man in einer solchen Atmosphäre nicht aufwachsen lassen,
es müsse herausgenommen werden, um dereinst andere Bahnen be¬
treten zu können, als die Eltern sie gingen. Der Abgeordnete
Frhr. von Zedlitz und Neukirch bezeichnet« die Streichung
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
361
des Wortes „sittlich" vor „Verwahrlosung" als notwendig, „damit
man auch die Fälle decken kann, in denen durch Mißhandlung
oder sonstiges pflichtwidriges Verhalten der Eltern eine
Verwahrlosung der Kinder, wenn auch nicht unmittelbar eine sitt¬
liche, zu befürchten steht" (Sp. 3968). Der Abgeordnete Ernst,
der zu der Frage sprach, ob und wann Kinder in Familien oder
in Anstalten unterzubringen seien, führte gleichfalls aus, daß Kinder,
die noch nicht sittlich verwahrlost seien, die aber sittlich verwahr¬
loste Eltern hätten und deshalb in Gefahr ständen, selbst später
zu verwahrlosen, wenn sie den Eltern nicht entzogen würden, in
Familien, die bereits sittlich verwahrlosten Kinder aber in Anstalten
untergebracht werden müßten.
Das Abgeordnetenhaus verwies das Gesetz an eine Kommission.
Ein letzter Versuch, hier die ursprüngliche Regierungsvorlage durch
Einschiebung des Wortes „sittlich" vor „Verwahrlosung" des § 1
Nr. 1 wiederherzustellen, scheiterte gleichfalls. (Vgl. Bericht der
XVIII. Kommission, II. Session 1900, Drucksachen Nr. 183 S. 7.)
Der Minister des Innern sprach sich gegen den dahingehenden
Antrag aus; er erinnerte an einen Fall in Berlin, wo ein Kind
auf der Straße zusammengebrochen war, das von seinem Stiefvater
gezwungen worden war, seine Füße in siedend heißes Wasser zu
stellen. Wo nicht früh genug eingegriffen werde, führe die
körperliche auch zur sittlichen Verwahrlosung. Mehrere Mit¬
glieder äußerten sich gleichfalls gegen den Antrag. In der Regel falle
ja die sittliche mit der körperlichen Verwahrlosung zusammen;
aber es kämen doch auch Fälle vor, wo die leibliche die Vorstufe
der sittlichen Verwahrlosung sei. Der Antragsteller zog daraufhin
seinen Antrag zurück.
Das Abgeordnetenhaus hat sodann in zweiter und dritter
Lesung den § 1 des Gestzes in der von dem Herrenhause vor¬
geschlagenen Fassung angenommen (vgl. Stenogr. Berichte S. 4562 ff.
und S. 4787 ff.). Bei der zweiten Lesung konstatierte der Abge¬
ordnete von Jagow, ohne Widerspruch zu finden, nochmals aus¬
drücklich, „daß die Absicht dieses Gesetzes ja in seinem wesent¬
lichsten Teile dahin geht, nicht bloß verderbte Kinder von dem
weiteren Verderben zu erretten und in gesunde Zustände
zurückzuführen, sondern vor allen Dingen auch Kinder,
welche durch ihr Elternhaus dem Verderben ausgesetzt,
aber noch vollständig unverdorben sind, rechtzeitig in
die fürsorgende Hand zu nehmen und zu guten Staats-
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362
Schiller.
bürgern auszubilden“ (Sp. 4585). Dasselbe brachten bei der
dritten Lesung des Gesetzes die Abgeordneten Lückhoff und
Hoheisel wiederholt widerspruchslos zum Ausdruck (Sp. 4737 und
4742 ff.).
Wenn man diese Entstehungsgeschichte des Gesetzes verfolgt,
dann kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß der Gesetzgeber
der Fürsorgeerziehung ein viel weiteres Anwendungsgebiet
gegeben hat, als ihr das Kammergericht in seinen Beschlüssen
zuweist.
Das Kammergericht nimmt zur Rechtfertigung seines Stand¬
punktes zwar auch auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes
Bezug; es ignoriert aber die ganzen Verhandlungen bis auf einige
Äußerungen der Abg. Frhr. v. d. Goltz und Noelle, die bei der
ersten Lesung im Abgeordnetenhause gefallen sind. Frhr. v. d.
Goltz bemängelte den Wegfall einer unteren Altersgrenze, indem
er bemerkte:
„Angenommen, ein Vormundschaftsrichter ginge von der An¬
sicht aus, daß die Verhältnisse einer Familie so zerrüttet, so ver¬
kommen seien, daß auch ein Kind in den jüngsten Lebensjahren
der Gefahr in der Verwahrlosung ausgesetzt sein würde, so würde
die Konsequenz sein können, daß Kinder im ersten und zweiten
Lebensjahre bereits der Zwangserziehung überwiesen werden.“
(Sp. 3952.)
Der Abg. No eile hat allerdings hierauf erwidert, daß nur
vollständig falsche Anwendung dahin führen könne, ganz junge,
selbst einjährige Kinder der Fürsorgeerziehung zu überantworten.
Um das Bedenken auszuschließen, würde es genügen, die Regierungs¬
vorlage durch Einschiebung des Wortes „sittlich“ vor „Verwahr¬
losung“ wiederherzustellen, denn von einer sittlichen Verwahrlosung
eines einjährigen Kindes könne wohl kaum die Rede sein (Sp. 3963).
Diese Ausführungen der beiden Abgeordneten haben indessen
die Zustimmung des Hauses nicht gefunden. Der Minister des
Innern erwiderte dem Frhrn. v. d. Goltz noch in derselben Sitzung:
„Daß man Kinder von ein oder zwei Jahren in Fürsorgeerziehung
bringen wird, das mag in besonders krassen Fällen wohl Vorkommen,
dann wird dies auch geboten sein“ (Sp. 3957).
Auch in der Kommissionsberatung und bei der zweiten und
dritten Lesung des Gesetzes haben die Bedenken der beiden Ab¬
geordneten zu einer Änderung des § 1 Nr. 1 durch Einschränkung
des Kreises der fürsorgepflichtigen Zöglinge nicht geführt.
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
363
Daß die Entscheidungen des Kammergerichts dem ausdrück¬
lichen unzweideutigen Willen des Gesetzgebers entgegen¬
stehen, ist der Kernpunkt der ganzen Frage. Ob sich die vom
Kammergericht aufgestellte Konstruktion aus dem Wortlaut des
Gesetzes allenfalls halten läßt, kommt demgegenüber nicht in Be¬
tracht Denn es ist der oberste Interpretationsgrundsatz, daß für
die Auslegung eines Gesetzes nicht allein der Wortlaut maßgebend
ist, sondern daß vor allem der Wille des Gesetzgebers erforscht
und berücksichtigt werden muß. Nur dann kann man zu einer
richtigen Anwendung des Gesetzes gelangen.
Wenn trotz der klaren Tendenz des Gesetzes das Kammer¬
gericht die Fürsorgeerziehung in allen Fällen ausschaltet, in denen
nicht besondere erzieherische Maßnahmen nötig sind, um die Ver¬
wahrlosung des Minderjährigen aufzuhalten und in diesen Fällen
an Stelle der Fürsorgeerziehung die Erziehung außerhalb der elter¬
lichen Familie auf Kosten der öffentlichen Armenpflege setzen will,
so kann man dieses Verfahren nicht anders als eine Umgehung
des Fürsorgeerziehungsgesetzes bezeichnen.
Für diese Umgehung des Gesetzes stützt sich das Kammer¬
gericht einmal auf den subsidiären Charakter der Fürsorge¬
erziehung und sodann auf die Rechtsprechung des Bundes¬
amts für das Heimatwesen.
Die Subsidiarität der Fürsorgeerziehung folgert das
Kammergericht aus dem Zusatz in Ziff. 1 § 1 des Gesetzes, wonach
die Fürsorgeerziehung erst einzutreten hat, „wenn sie erforderlich
ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten“. Dieser
Zusatz, meint das Kammergericht, zwingt dazu, die Fürsorge¬
erziehung erst anzuordnen, wenn alle anderen Möglichkeiten eine
geordnete Erziehung des Minderjährigen herbeizuführen er¬
schöpft sind. •
Allerdings gibt der Zusatz der Fürsorgeerziehung den Charakter
einer subsidiären Maßnahme, aber er nötigt doch nicht, um jeden
Preis gewaltsam einen anderen Erziehungsmodus ausfindig zu
machen. Die Subsidiarität der Fürsorgeerziehung ist doch nur
so zu verstehen, daß der Richter, ehe er die Unterbringung des
Minderjährigen in Fürsorgeerziehung anordnet, prüfen soll, ob
nicht die Fürsorgeerziehung abgewendet werden kann dadurch,
daß Kirchen- und Schulzucht oder ernste Ermahnungen und Ver¬
warnungen der Eltern den Minderjährigen zu bessern vermögen,
oder dadurch, daß die von dritter Seite freiwillig angebotene
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364
Schiller.
Liebestätigkeit sich des Minderjährigen annimmt, oder, falls die
wirtschaftliche Notlage der Eltern die Ursache der Ver¬
wahrlosung ist, dadurch, daß die öffentliche Armenpflege die
Notlage beseitigt Nur die Mittel, die der Richter bei der Hand
hat und die ihm ohne viele Weiterungen zur Verfügung stehen,
soll er nicht unversucht lassen, ehe er von der Fürsorgeerziehung
Gebrauch macht Das ist der einfache und klare Sinn des sub¬
sidiären Charakters der Fürsorgeerziehung. Keineswegs soll der
Richter um jeden Preis den Versuch machen, ob er nicht doch
etwa die Armenbehörde zu Leistungen heranziehen kann, zu denen
sie gesetzlich nicht verpflichtet ist.
Indem das Kammergericht diese Maßnahmen von dem Richter
verlangt, übersieht es, aus welchem Grunde der Gesetzgeber der
Fürsorgeerziehung den Charakter einer subsidiären Maßnahme ge¬
wahrt wissen will. Denn ohne Grund ist die Subsidiarität der Für¬
sorgeerziehung doch nicht ausgesprochen. Die Fürsorgeerziehung
ist eine in das natürliche Verhältnis des Kindes zu seinen Er¬
zeugern tief einschneidende Maßnahme, die, wie der Minister in
den Ausführungsbestimmungen sagt, in vielen Fällen die völlige
Loslösung des Minderjährigen von seiner Familie zur
Folge hat Darum soll der Richter sehr sorgfältig zu Werke gehen,
ehe er diesen Schritt tut, und vorher erwägen, ob er nicht ohne
die Trennung des Kindes von seiner Familie die Verwahr¬
losung aufhalten kann.
Durch den vom Kammergericht gewollten Eintritt der Armen¬
pflege auf Grund der gewaltsam herbeigeführten Hilfsbedürftigkeit
wird indessen die Loslösung des Minderjährigen von seinen Eltern
nicht verhütet Das Familienband ist hier ebenso zer¬
schnitten wie bei der Anordnung der Fürsorgeerziehung.
Die Unterbringung des Minderjährigen im Wege der öffentlichen
Armenpflege außerhalb der elterlichen Familie steht daher im
Effekt auf derselben Stufe der Subsidiarität, wie die Fürsorge¬
erziehung, und es ist kein Grund abzusehen, weshalb ihr der
Gesetzgeber den Vorzug vor der Fürsorgeerziehung hätte geben
sollen. Nicht die Fürsorgeerziehung im technischen Sinn soll nach
der Absicht des Gesetzgebers die subsidiär anzuwendende Maßregel
sein, sondern, wie die Begründung zum Entwurf des Gesetzes vom
2. Juli 1900 hervorhebt, die Zwangserziehung überhaupt,
auch die auf Grund des § 1666 B.G.B. vom Vormundschaftsrichter
angeordnete. Die letztere kann aber, wie oben ausgeführt, nur
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfhng.
365
dann Platz greifen, wenn der Minderjährige oder dessen Angehörige
die zu ihrer Durchführung erforderlichen Geldmittel besitzen.
Vom Standpunkt des Kammergerichts bleibt für die Familien¬
erziehung überhaupt kein Raum. Und doch soll die Familiener¬
ziehung nach der Absicht des Gesetzgebers bei weitem den Vorzug
vor der Anstaltserziehung haben. Die Familienerziehung ist in
erster Linie für diejenigen Minderjährigen vorgesehen, bei denen
die bloße Trennung von ihren Eltern genügt, um sie vor
dem Verderben zu bewahren, also zunächst für die bloß körperlich
verwahrlosten Minderjährigen und diejenigen, die noch nicht ver¬
wahrlost, wohl aber der Gefahr der Verwahrlosung durch das
schuldhafte Verhalten ihrer Eltern ausgesetzt sind. Außerdem
wird die „bloße Entfernung des Minderjährigen aus der ihn gefähr¬
denden Umgebung" in sehr vielen Fällen auch bei bereits sittlich
verwahrlosten Minderjährigen genügen, um sie, getrennt von ihren
schlechten oder schwachen Eltern und bei vernünftigen charakter¬
vollen Leuten in Familienpflege untergebracht, zu ordentlichen
Staatsbürgern werden zu lassen. Soll für diese Minderjährigen
nun auch die mit Hilfe des § 1666 B.G.B. herangezogene Armen¬
pflege eintreten? Vom Standpunkt des Kammergerichts müßte sie
es eigentlich.
Für die Fürsorgeerziehung blieben hiernach bloß die aller¬
größten Taugenichtse übrig, deren Verwahrlosung nur durch
strenge und lange dauernde Anstaltserziehung behoben werden
kann. Auf diese würde sich die Anwendung des § 1 Ziff. 1 des
Gesetzes beschränken. Für alle übrigen Minderjährigen, soweit
sie in Familienpflege untergebracht werden könnten, müßte die
Armenpflege eintreten, weil sie einer „besonders gearteten Erzie¬
hung", d. h. Anstaltserziehung, nicht bedürfen. Dann könnte man
aber ebensogut gleich die Ziff. 1 des § 1 ganz streichen.
Denn die bereits in solchem Maße verdorbenen Minderjährigen,
daß ihnen nur strenge und dauernde Anstaltserziehung Besserung
verschaffen kann, werden regelmäßig unter § 1 Ziff. 3 fallen. Ihr
völliges sittliches Verderben wird auf dem Spiele stehen,
wenn sie nicht in Fürsorgeerziehung untergebracht werden.
Indessen diese Konsequenzen zieht das Kammergericht nicht.
Es will die Fürsorgeerziehung nicht nur für die total sittlich ver¬
kommenen Minderjährigen, sondern für alle sittlich verwahrlosten
angewendet wissen. Nur diejenigen, die der Gefahr der Verwahr¬
losung ausgesetzt sind, aber sittlich noch nicht verdorben
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Schiller.
sind, und diejenigen, die bloß körperlich verwahrlost sind,
schaltet das Kammergericht aus. Ja, es geht sogar so weit, zu
sagen, es sei nicht erfindlich, warum von seinem Standpunkt aus
fiir ein sittlich noch unverdorbenes Kind niemals die Für¬
sorgeerziehung im technischen Sinne angeordnet werden könne.
Aus den vom Kammergericht aufgestellten Grundsätzen folge viel¬
mehr, daß ein sittlich unverdorbenes Kind, wenn die aus § 1666
B.G.B. zulässigen Maßnahmen sich als undurchführbar erweisen
(beispielsweise weil im Einzelfalle die gesetzliche Verpflichtung des
Armenverbandes von der zuständigen Behörde verneint wird), der
durch das Gesetz vom 2. Juli 1900 vorgesehenen Fürsorgeerziehung
überwiesen werden könne. Das heißt mit anderen Worten, die
Fürsorgeerziehung hat für ein sittlich noch unverdorbenes, aber
der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetztes Kind immer erst dann
einzutreten, wenn die den Armenverbänden übergeord¬
neten Behörden das Vorliegen eines Armenpflegefalls und
die Notwendigkeit des Eintritts der öffentlichen Armen¬
pflege verneint haben. Dadurch wird jeder Armenverband
gezwungen, falls der Vormundschaftsrichter unter Ablehnung des
gestellten Fürsorgeerziehungsantrages die Maßnahmen aus § 1666
B.G.B. anordnet, dem Ersuchen für die Unterbringung des Minder¬
jährigen außerhalb der elterlichen Familie zu sorgen, nicht Folge
zu geben und abzuwarten, wie der übergeordnete Kreis- bezw.
Bezirksausschuß, falls der bestellte Pfleger sich beschwert, ent¬
scheiden wird. Weist der Kreis bezw. Bezirksausschuß die Be¬
schwerde des Pflegers zurück, so wird nunmehr, vielleicht mit
Erfolg, der Antrag auf Unterbringung des Minderjährigen in Für¬
sorgeerziehung gestellt werden können. Danach hängt die Anord¬
nung der Fürsorgeerziehung in derartigen Fällen lediglich von
dem Standpunkt des Kreis- bezw. Bezirksausschusses ab, und nur
wenn diese Behörden das Eintreten der öffentlichen Armenpflege
verneint haben, kann die Fürsorgeerziehung über sittlichnoch nicht
verwahrloste, wohl aber der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzte
Kinder verhängt werden.
Eine solche Einschränkung der Fürsorgeerziehung
hat aber der Gesetzgeber keinesfalls gewollt, abgesehen
davon, daß das ganze Verfahren dem Geiste des Gesetzes
zuwiderläuft und auch dem Ansehen der Rechtsprechung
nicht gerade zugute kommt.
Vor allem aber geschieht dieses Verfahren sehr zum Nachteil
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
367
des bedauernswerten Minderjährigen, der bis zur definitiven
Entscheidung der Gerichte und Verwaltungsbehörden in seiner ver¬
derblichen Umgebung bleiben muß. Denn auch die vorläufige Unter¬
bringung in Fürsorgeerziehung ist nach den Entscheidungen des
Kammergerichts bei sittlich intakten Minderjährigen ausgeschlossen.
(Vgl. oben II.)
Welche Resultate die Praxis des Kammergerichts in derartigen
Fällen zeitigt, beweist der nachstehende Fall, der mit Recht von
der Presse als „bureaukratisches Meisterstück“ hingestellt
worden ist.
Auf den Antrag des Landrats zu Hanau hatte das Amtsgerichts
zu Langenselbold durch Beschluß vom 10. Mai 1901 die von dem
Gemeindevorstande, Waisenrat, Geistlichen und Lehrer befürwortete
Fürsorgeerziehung dreier Kinder angeordnet. Der Vater der Kinder
hatte diese in hilfloser Lage zurückgelassen, die geistig beschränkte,
unordentliche und unreinliche Mutter war zur Erziehung der. Kinder
nicht imstande und ließ sie geradezu im Schmutze verkommen.
Der Ortsarmenverband hatte die Mutter nebst den Kindern im
Armenhause untergebracht und dort auch unterstützt. Der Landes¬
hauptmann der Provinz Hessen legte gegen den Beschluß des
Amtsgerichts die sofortige Beschwerde ein, die aber vom Land¬
gerichte Hanau zurückgewiesen wurde. Auf die weitere Beschwerde
des Landeshauptmanns hob dann das Kammergericht den Beschluß
des Amtsgerichts auf und wies die Sache an das Amtsgericht zurück,
damit dieses prüfe, ob nicht durch ein Eingreifen der Armen Ver¬
waltung die Fürsorgeerziehung erübrigt werden könne. Hierauf
entzog das Amtsgericht der Mutter die Sorge für die Person der
Kinder, bestellte ihnen einen besonderen Pfleger und beschloß, daß
die Kinder zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie
oder in einer Erziehungsanstalt unterzubringen seien. Bei der
völligen Mittellosigkeit der Kinder wandte sich der Pfleger an den
Ortsarmenverband zwecks Hergabe der erforderlichen Mittel. Der
Ortsarmen verband lehnte den Antrag jedoch ab und der Kreis¬
ausschuß zu Hanau wies die hiergegen von dem Pfleger erhobene
Beschwerde zurück, weil der Ortsarmen verband den Kindern im
Armenhause Obdach und Lebensunterhalt und auch der Mutter
Unterstützung gewähre, zu einem Mehr aber nicht verpflichtet sei.
Der Kreisausschuß stützte seine Entscheidung auf § 63 des preußi¬
schen Gesetzes vom 8. März 1871 betreffend die Ausführung des
Bundesgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, wonach es Pflicht
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368
Schiller.
der Verwaltungsbehörden ist, keine Ansprüche zuzulassen, welche
über das Notdürftige hinausgehen. Durch die Entscheidung des
Kreisausschusses war die Verpflichtung des Ortsarmenverbandes
endgültig verneint Nach dem eben erwähnten § 63 kann nämlich
ein Armer Anspruch auf Unterstützung gegen einen Armenverband
niemals im Rechtswege, sondern nur bei der Verwaltungsbehörde
geltend machen. Nach § 41 des Gesetzes vom 1. August 1883
betreffend die Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungs¬
gerichtsbehörden unterliegen aber Beschwerden von Armen, sofern
eine Stadt von mehr als 10000 Einwohnern am Armenverbande
beteiligt ist, der endgültigen Beschlußfassung des Bezirksaus¬
schusses, in anderen Fällen — und dieser Fall lag vor — der
endgültigen Beschlußfassung des Kreisausschusses.
Nachdem der Kreisausschuß zu Hanau die Gewährung der
Kosten aus Mitteln des Ortsarmenverbandes abgelehnt hatte, über¬
wies das Amtsgericht durch Beschluß vom 10. Februar 1902 die
Kinder von neuem der Fürsorgeerziehung. Gegen den Beschluß
erhob der Landeshauptmann wiederum die Beschwerde, welche
auch jetzt vom Landgericht Hanau zurückgewiesen wurde. Das
Landgericht führte aus, daß mit Rücksicht auf den endgültigen,
die erforderlichen Mittel versagenden Beschluß des Kreisausschusses
nichts anderes übrig bleibe, als die Kinder zur Verhütung ihrer
Verwahrlosung der Fürsorgeerziehung zu überweisen. Gegen den
Beschluß des Landgerichts Hanau richtete darauf der Landes¬
hauptmann zum zweiten Male die Beschwerde an das Kammer¬
gericht. Das Kammergericht wies aber nunmehr durch Beschluß
vom 28. April 1902 die Beschwerde des Landeshauptmanns zurück.
Der Gerichtshof bezog sich auf die Begründung des früheren Be¬
schlusses vom 23. September 1901, in welchem schon ausgesprochen
wurde, daß, wenn die zuständigen höheren Verwaltungsbehörden
die gerichtliche Unterstützungspflicht des Armenverbandes ver¬
neinen, dann allerdings die Fürsorgeerziehung eintreten müsse.
Diesen Fall erachtet das Kammergericht für vorliegend. Der Kreis-
au89chuß zu Hanau habe endgültig festgestellt, daß die Ortsarmen¬
verwaltung die erforderlichen Mittel nicht zu geben brauche. Da
auch von anderer Seite die Mittel nicht zu erlangen seien, so sei
die Fürsorgeerziehung das letzte und einzige Mittel, um die Kinder
vor Verwahrlosung zu schützen. Die Fürsorgeerziehung wurde
deshalb jetzt auch vom Kammergericht für notwendig erklärt
Um die drei Kinder in Fürsorgeerziehung unterzubringen,
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
369
sind demnach acht Entscheidungen erforderlich gewesen. Je zwei¬
mal entschied das Amtsgericht, Landgericht und Kammergericht
und je einmal der Ortsarmenverband und der Kreisausschuß, und
alle Entscheidungen hat der Landeshauptmann der Provinz Hessen
mittelbar oder unmittelbar veranlaßt —
Und wie steht es, wenn es sich um ein nur körperlich ver¬
wahrlostes Kind handelt?
Auf diesen Fall wollte der Gesetzgeber das Gesetz doch auch
ausgedehnt wissen. Sind hier „besondere erzieherische Ma߬
nahmen“ nötig? Ist hier gerade die Fürsorgeerziehung im tech¬
nischen Sinne erforderlich, um die Verwahrlosung zu verhüten?
Keineswegs; es genügt die einfache vernünftige Erziehung in einer
ordentlichen, sauberen Familie. Folglich dürfte, wenn der Stand¬
punkt des Kammergerichts der richtige wäre, die Fürsorgeerziehung
niemals angeordnet werden, wenn es sich um das Vorliegen von
nur körperlicher Verwahrlosung handelt Mithin ist die Streichung
des Wortes „sittlich“ vor „Verwahrlosung“ in dem Zusatz des
§ 1 No. 1 völlig überflüssig gewesen.
An dieser Stelle fühlt indessen auch das Kammergericht, daß
es sich in vollkommenen Gegensatz zu der Absicht des
Gesetzgebers und sogar zu dem Wortlaut des Gesetzes
selbst setzt, und es macht einen mißglückten Versuch, um
wenigstens eine teilweise Übereinstimmung herzustellen:
„Der einzige (??) Umstand,“ sagt der Beschluß vom 24. No¬
vember 1902, „der mit einigem Grund gegen die Auffassung des
Kammergerichts angeführt werden könnte, besteht darin, daß im
§ 2 der Regierungsvorlage, dem jetzigen § 1 des Gesetzes, das
Wort „sittliche“ vor dem Wort „Verwahrlosung“ im ersten Absätze
gestrichen und der Antrag auf Wiederherstellung der Regierungs¬
vorlage in der Kommission des Abgeordnetenhauses unter Billigung
des Regierungsvertreters abgelehnt wurde, so daß danach schon
bloße körperliche Verwahrlosung die Anordnung der Für¬
sorgeerziehung rechtfertiffen kann. Allein es lassen sich Fälle
körperlicher Verwahrlosung (beispielsweise eingewurzelter, ge¬
sundheitswidriger unreinlicher Angewöhnung) denken, die nur mit
Hilfe von erziehlichen Maßregeln besonderer Art zu be¬
seitigen und bei denen deshalb Maßnahmen aus § 1666 B.G.B.
allein ungeeignet sind, sondern zwangsweise dauernde und plan¬
mäßige Erziehung angeordnet werden muß. Diese Veränderung
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Schiller.
der Regierungsvorlage steht also nicht notwendig der Beurteilung
des Kammergerichts entgegen/*
Sie steht nicht allein der Praxis des Kammergerichts entgegen,
sondern zeigt deutlich daß der Standpunkt ein durchaus falscher
ist. Glaubt denn das Kammergericht wirklich, daß der Gesetz¬
geber, indem er auch die körperliche Verwahrlosung zur Voraus¬
setzung der Fürsorgeerziehung machte, an die ganz seltenen Fälle
gedacht hat, in denen die körperliche Verwahrlosung nur mit Hilfe
von „erziehlichen Maßregeln besonderer Art“, z. B. beim
Vorhandensein „eingewurzelter, gesundheitswidriger, un¬
reinlicher Angewöhnung“, zu beseitigen ist? Glaubt das
Kammergericht wirklich, daß nur um in diesen konstruierten Fällen,
in denen auch die körperliche Verwahrlosung auf einen sittlichen
Defekt zurückzuführen ist, die Fürsorgeerziehung eintreten zu
lassen, der Gesetzgeber das Wort „sittliche“ vor „Verwahrlosung“
gestrichen hat? Wenn dies die Tendenz des Gesetzes wäre, dann
hätte der Gesetzgeber mit ruhigem Gewissen sich auf die Fürsorge
nur für die sittlich verwahrloste Jugend beschränken können.
Denn die Fälle, in denen die vorliegende körperliche Verwahr¬
losung auf einem eingewurzelten gesundheitswidrigen Hang
zur Unreinlichkeit zurückzuführen ist, werden sich wohl nur ganz
vereinzelt finden, abgesehen davon, daß sich nicht absehen läßt, wie
der Richter bei einen kleinen Kinde einen derartigen pathologischen
Hang zur Unreinlichkeit konstatieren soll. Im allgemeinen haben
kleine Kinder selten eine große Vorliebe für Reinlichkeit, aber
diese Antipathie ist doch regelmäßig nicht in einem geistigen oder
sittlichen Defekt der Kinder zu suchen.
Gerade hier zeigt sich deutlich das Falsche der Auffassung
des Kammergerichts. Das Kammergericht hat nur die Person des
Minderjährigen im Auge. Der Grad bezw. die Art seiner
Verwahrlosung soll das Entscheidende sein. Auf die Person
des Minderjährigen kommt es aber in derartigen Fällen überhaupt
erst in zweiter Linie an. Entscheidend ist das Verhalten der Eltern.
Nicht das hat der Richter zu prüfen, ob die körperliche Verwahr¬
losung des Minderjährigen in seinem Charakter begründet ist. Der
Richter hat vielmehr nur das Vorliegen körperlicher Verwahrlosung
bei dem Minderjährigen zu konstatieren und dann seine Aufmerk¬
samkeit den Eltern zuzuwenden. Wie sie ihr Kind behandeln,
das ist die Hauptsache. In der Regel wird die körperliche Ver¬
wahrlosung des Kindes in dem schuldhaften Verhalten der Eltern
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
371
ihren Grund haben. Die Eltern werden das Kind roh mißhandeln,
ihm ungenügende Nahrung geben, sich nicht um das Kind kümmern.
Ungewaschen, vor Schmutz starrend, mit Ungeziefer bedeckt, not¬
dürftig mit Lumpen bekleidet, wird das Kind aufwachsen. Das
sind die Fälle körperlicher Verwahrlosung, die der Gesetzgeber
treffen wollte. In diesen Fällen wollte er das Kind vor dem Ver¬
kommen retten, und deshalb hat er für dasselbe die Fürsorge¬
erziehung vorgesehen.
Wenn das Kammergericht sich weiterhin für seine Konstruktion
der gewaltsam herbeigefiihrten Hilfsbedürftigkeit auf die Ent¬
scheidungen des Bundesamts für das Heimatwesen beruft,
so muß zunächst festgestellt werden, daß die Armenverbände zum
Zwecke der Erziehung Aufwendungen nicht zu machen haben.
Nach § 1 des Ausführungsgesetzes zum Gesetz über den Unter¬
stützungswohnsitz vom 8. März 1871 hat der zur Unterstützung ver¬
pflichtete Armenverband jedem hilfsbedürftigen Deutschen Obdach,
den unentbehrlichen Lebensunterhalt, die erforderliche
Pflege in Krankheitsfällen und im Todesfall ein ange¬
messenes Begräbnis zu gewähren. Darüber hinaus darf der
Armenverband nicht gehen. Insbesondere hat das Bundesamt
wiederholt in früheren Entscheidungen ausgesprochen, daß als Akt
der öffentlichen Armenpflege nicht zu betrachten ist die ander¬
weitige Unterbringung von Kindern, die lediglich aus
Humanitätsrücksichten bewirkt wurde, weil die Kinder
bei ihren an sich nicht hilfsbedürftigen, auch den Unter¬
halt nicht verweigernden Eltern der genügenden Zucht
und Entziehung entbehrten. (Entsch. Bd. 7, S. 23; 12, S. 34;
23, S. 121.)
Im offenbaren Widerspruch hierzu hat das Bundesamt allerdings in
den letzt ergangenen Entscheidungen (Bd. 32, S. 46; 34, S. 80) erkannt,
daß ein Armenverband, der den Anordnungen des Vormundschafts¬
richters, sobald sie nur im Bereiche seiner sachlichen Zuständigkeit
erlassen sind, ohne weitere Prüfung folgt, Erstattung der aufge¬
wendeten Kosten von dem Armen verband des Unterstützungs Wohn¬
sitzes verlangen kann. Das wäre richtig, wenn die Armenverbände
an derartige Anordnungen der Vormundschaftsrichter gebunden
wären.
Tatsächlich sind aber die Anordnungen der Vormund¬
schaftsrichter für die Armenverbände in keiner Weise ma߬
geblich oder gar bindend. Einen Zwang auf die Armenverbände
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Schiller.
zur Durchführung ihrer Beschlüsse können die ordentlichen Gerichte
niemals ausüben. Der Richter kann nicht einmal darüber entscheiden,
Hilfsbedürftigkeit im armenrechtlichen Sinne vorliegt oder nicht;
für diese Frage ist der Rechtsweg ausdrücklich ausgeschlossen.
Noch weniger aber kann der Vormundschaftsrichter durch seinen
Spruch armenrechtliche Hilfsbedürftigkeit herbeiführen. Er kann
wohl den Eltern die Erziehungsrechte absprechen; dadurch
wird aber ein Kind noch nicht hilfsbedürftig. Wie das Wort „Er¬
ziehungsrechte“ schon sagt, ist den Eltern lediglich die Erziehung
genommen. Zum Unterhalte ihrer Kinder bleiben sie nach wie
vor verpflichtet. Die durch eine gesonderte Erziehung entstehenden
Kosten sind deshalb lediglich Erziehungskosten, für welche die
Armenverbände in Preußen nicht aufzukommen haben.
Ein Kind, dessen Eltern die Erziehungsrechte auf Grund des
§ 1666 B.G.B. genommen sind, steht daher auch keineswegs, wie
gesagt worden ist, einem Kinde rechtlich gleich, dessen Eltern tot
sind. Für ein verwaistes Kind freilich muß die Armenbehörde im
Falle der Hilfsbedürftigkeit sorgen, nicht aber für ein Kind, das im
Haushalte seiner Eltern den nötigen Unterhalt finden kann, mögen
nun den Eltern die Erziehungsrechte abgesprochen sein oder nicht
Nimmt im konkreten Falle der Pfleger auf Grund der vor¬
mundschaftsrichterlichen Anordnung ein Kind aus seiner, den Unter¬
halt nicht verweigernden Familie fort und begehrt die anderweitige
Unterbringung des Kindes durch die Armenverwaltung, so hat diese
zu prüfen, ob sie gesetzlich zum Einschreiten verpflichtet ist.
Stellt sich heraus, daß das Kind bei seinen Eltern Unterhalt
und Obdach in genügender Weise hat, so liegt kein Grund
zum Einschreiten der öffentlichen Armenpflege vor. Ob die Eltern
moralisch nicht in der Lage sind, das Kind zu erziehen, und ob
ihnen deshalb der Richter die Erziehungsrechte genommen hat,
geht die Armenverwaltung gar nichts an. Ja, der Armenverband
kann sogar in Fällen, in denen die Eltern nicht so viel ins Ver¬
dienen bringen, um ihre Kinder unterhalten zu können, den Eltern
eine angemessene Unterstützung zum Unterhalte der Kinder ge¬
währen, auch wenn die Eltern zur Erziehung der Kinder nicht
qualifiziert sind. Zur Unterbringung der Kinder außerhalb der
elterlichen Familie aus erzieherischen Rücksichten ist er
nicht verpflichtet.
Der Armenverband ist auch gar nicht berechtigt, ein Kind
seinen unterhaltsfähigen und unterhaltswilligen Eltern vorzuenthalten
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
373
und gegen ihren Willen, nur weil es der Vormundschaitsrichter an¬
geordnet hat, im Wege der öffentlichen Armenpflege zu erziehen.
Denn zwangsweise, gegen den Willen der beteiligten Per¬
sonen, darf die Armenpflege niemals ausgeübt werden, schon wegen
der mit dem Eintritt der Armenpflege verbundenen Folgen, dem Ver¬
luste der öffentlichen Rechte usw. Der Armenverband ist auch nicht
für berechtigt zu erachten, die entstehenden Kosten für die Er¬
ziehung eines auf Grund des § 1666 B.G.B. außerhalb der elter¬
lichen Familie untergebrachten Kindes von seinen den Unterhalt im
eigenen Hause nicht verweigernden Eltern einzuziehen. Ebenso¬
wenig wird die Armenverwaltung gegen derartige Eltern strafrecht¬
lich als Nährpflichtverletzer auf Grund des § 361 6 10 StG.B. Vor¬
gehen können, da ja die Hilfe der Armenbehörde nicht zum Unter¬
halte des Kindes erforderlich war.
Wie die Armenverbände im konkreten Falle untersuchen
müssen, ob die geforderte Hilfe den Umfang der gesetzlich vor¬
geschriebenen Leistungen nicht übersteigt, so mußte auch das
Bundesamt in der Entscheidung vom 12. Oktober 1901 prüfen, ob
die für die Unterbringung der Kinder außerhalb des elterlichen
Haushaltes aufgewendeten Kosten als Erziehungskosten oder
als Kosten für den unentbehrlichen Lebensunterhalt anzusehen
sind, ohne Rücksicht auf die Anordnung des Vormundschaftsrichters.
Würde das Bundesamt diese Untersuchung angestellt haben, so hätte
es sich auf den in seinen früheren Entscheidungen ausgesprochenen
Standpunkt stellen müssen, daß die Kosten, die für ein Kind auf¬
gewendet werden, nur um dem Kinde eine bessere Erziehung zu
teil werden zu lassen, als Armenpflegekosten nicht anzusehen sind.
Das Bundesamt irrt deshalb, wenn es glaubt, den Rechtsstreit
zwischen den Armenverbänden damit abzutun, daß es demjenigen,
der die Anordnung des Vormundschaftsrichters ohne nähere Prüfung
befolgt hat, Recht gibt
Eis wäre tatsächlich auch sonderbar und für die Armenver¬
bände sehr hart, wenn ihnen, wie das Bundesamt annimmt, kein
Recht zur Nachprüfung der vormundschaftsgerichtlichen Beschlüsse
auf ihre materielle Berechtigung hin zustande. Dann könnte der
Vormundschaftsrichter auch z. B. für ein bereits sittlich verwahr¬
lostes oder für ein über 14 Jahre altes Kind, dessen Eltern die
Verwahrlosung verschuldet haben, anstatt die Fürsorgeerziehung
anzuordnen, einfach von den Maßregeln des § 1666 B.G.B. Gebrauch
machen, den Eltern die Erziehungsrechte absprechen und die ander-
Zciteohr. t Bekämpfung &, UfwchlechUkrankh. 11. 2b
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374
Schiller.
weitige Unterbringung des Kindes anordnen. Der Armenverband
dürfte eine Nachprüfung, ob er zur Unterbringung des Kindes ver¬
pflichtet sei, gar nicht ein treten lassen, sondern hätte einfach die
Unterbringung des Kindes auf seine Kosten zu bewirken.
Es muß deshalb den Armenverbänden zum mindesten das
Recht gelassen werden, die Beschlüsse der Vormundschaftsrichter
nachzuprüfen und zu sehen, ob sie zum Eintreten verpflichtet sind.
Sind die Eltern imstande und willens, ihr Kind bei sich im
eigenen Haushalt zu verpflegen, so sind die Armenverbände
in keinem Fall verpflichtet, für die anderweitige Unterbringung des
Kindes Sorge zu tragen. Ist infolge der moralischen Qualifi¬
kation der EHtern die Trennung des Kindes von den Eltern nötig,
um es vor Verwahrlosung zu schützen, so handelt es sich lediglich
um die Erziehung des Kindes und um Erziehungskosten, die von
den Armenverbänden in Preußen nicht zu tragen sind. Können
diese Kosten von den Eltern selbst nicht bestritten werden, so
sind eben die Maßregeln aus § 1666 B.G.B. nicht durchführbar,
und es hat die E'ürsorgeerziehung, wie es der Gesetzgeber
hat, einzutreten.
Aus diesen Gründen haben eine große Reihe von Bezirks-
bezw. Kreisausschüssen (Breslau, Posen, Königsberg, Cöln, Osnabrück,
Lüneburg usw.) die Weigerung der Armenverbände, für die auf
Grund des § 1666 B.G.B. künstlich hilfsbedürftig gemachten Kinder
gewollt zu sorgen, für berechtigt erachtet
Allerdings haben die Armen verbände vor dem Erlaß des E'ür-
sorgeerziehungsgesetzes in vielen Fällen Kinder, die bei ihren un¬
moralischen Eltern offenbar dem Verderben ausgesetzt waren, den
Eltern fortgenommen und im Wege der öffentlichen Armenpflege in
Anstalten oder bei geeigneten E'amilien untergebracht. Diese Unter¬
bringung geschah aber lediglich aus Humanitätsrücksichten,
weil ein Gesetz, wie das Fürsorgeerziehungsgesetz damals nicht
bestand. Man konnte doch unmöglich Zusehen, wie die Kinder in
der verpesteten Luft des Elternhauses dem ofl’enbaren Verderben
entgegengingen, und müßig beiseite stehen. Deshalb sind die
Armen verbände eingetreten und haben auch die Erziehung der¬
artiger Kinder übernommen. Es klaffte eben früher an dieser
Stelle eine Lücke in der Gesetzgebung; in solchen Fällen fehlte
es an einem gesetzlich verpflichteten Träger der Erziehungskosten.
Das Vorhandensein dieser Lücke ist von dem Gesetzgeber bei dem
Erlaß des E'ürsorgeerziehungsgesetzes ausdrücklich anerkannt
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Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung.
375
worden, und das Gesetz vom 2. Juli 1900 sollte gerade dazu
dienen, um diese Lücke zu schließen.
Die Armenpflege — und das ist die Hauptsache bei der ganzen
Frage — ist aber auch gar nicht imstande, die Fürsorgeerzie¬
hung zu ersetzen. Der Minderjährige kann im Wege der öffent¬
lichen Armenpflege nur im Armenhause oder bei einer Kost¬
kinderfrau untergebracht werden. Im Armenhause wird das Kind
aber beim Zusammensein mit den alten verkommenen Armen¬
häuslern der Verwahrlosung wahrscheinlich in demselben Grade aus¬
gesetzt sein, als daheim bei den Eltern. Und auch die Familien¬
pflege, soweit sie von den Armenverbänden gewährt wird, kann
das nicht leisten, was die Familienerziehung im Wege der staat¬
lichen Fürsorge zu leisten vermag. Denn meistens wird die Unter¬
bringung des Minderjährigen nur bei solchen Kostkinderfrauen be¬
wirkt werden können, die im Bezirk des Armenverbandes ihren
Wohnsitz haben. Außerhalb seines Bezirks braucht der Armen¬
verband, wie das Kammergericht selbst erkannt hat, den Minder¬
jährigen nicht unterzubringen. Daraus folgen eine Menge Ubel-
stände. In den großen Städten werden die Kinder nicht genügend
beaufsichtigt werden können. Sie werden häufig Gelegenheit haben,
sich herumzutreiben und in ihre verderbliche Umgebung zurück¬
zukehren. Vor allem aber liegt die Gefahr nahe, daß die ver¬
kommenen Elltern auf jede mögliche Art und Weise versuchen
werden, Zutritt zu ihren Kindern zu erhalten und ihren schlechten
Einfluß auf die Kinder ausüben. Außerdem — und das ist be¬
sonders für die der geschlechtlichen Verwahrlosung ausgesetzten
Mädchen verhängnisvoll — endet die Verpflichtung des Armen¬
verbandes für ein Kind zu sorgen, regelmäßig, sobald das Kind
das 14. Lebensjahr erreicht hat. Was wird aber dann aus einem
Mädchen, das eine der Unzucht nachgehende Mutter hat, werden?
Selbst wenn die Mutter sich vorher niemals um das Kind ge¬
kümmert hat, wird sie, sobald das Kind erwerbsfähig ist, sich sehr
wohl seiner erinnern und sie wird versuchen, des Kindes habhaft
zu werden, um es sich zunutze zu machen. Hat der Pfleger
dann das Kind in einer Dienst- und Lehrstelle untergebracht, so
wird die Mutter das Kind zum Entlaufen bewegen und allmählich
in den Sumpf der Unsittlichkeit herabziehen. Der Pfleger, dem es
unter solchen Verhältnissen gelingt, ein Mädchen vor dem
mütterlichen Einflüsse zu bewahren, soll noch geboren
werden. Es wird schließlich nichts übrig bleiben, als daß, nachdem
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376
Schiller.
die sittliche Verwahrlosung genügend fortgeschritten und das Mädchen
geschlechtlich gehörig verdorben ist, die Fürsorgeerziehung doch
eintreten muß. Aber mit welchem Erfolge? Das ist dann sehr
zweifelhaft Wäre die Fürsorgeerziehung eingetreten, solange das
Mädchen noch unverdorben war, so wäre der Erfolg sicherer
gewesen.
Die Praxis des Kammergerichts ist fast überall in Preußen
dem heftigsten Widerspruch begegnet Eine große Reihe von
Städtetagen haben sich gegen sie ausgesprochen; der Deutsche
Zentralverein für Jugendfürsorge und viele andere Erzie¬
hungsvereine haben sie befehdet Im Herrenhause sowohl wie
im Abgeordnetenhause ist der Standpunkt des Kammergerichts
Gegenstand der Erörterungen und lebhafter Angriffe gewesen; insbe¬
sondere haben in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 11. Februar
1903 sämtliche zehn Redner aller Parteischattierungen, die zu der
Frage sprachen, die Rechtsprechung des Kammergerichts,
eines aus praktischen, sei es aus rechtlichen Gründen,
verurteilt
Auch der „Deutsche Verein für Armenpflege und Wohl¬
tätigkeit“, der sich in seiner Tagung am 25. und 26. September v. J.
mit der Frage eingehend beschäftigte, ist zu der Überzeugung ge¬
langt, daß die Praxis des Kammergerichts nicht den Interessen
der allgemeinen Wohlfahrt entspricht. Die Überzeugung hat in
der einstimmigen Annahme folgender Resolution ihren Ausdruck
gefunden:
„Um allen geistig, sittlich oder körperlich gefährdeten Minder¬
jährigen unter 18 Jahren den erforderlichen Schutz zu gewähren,
ist es wünschenswert, die Fürsorge-(Zwangs-)Erziehung für alle die¬
jenigen Fälle für zulässig zu erklären, in denen der Richter Anlaß
zum Einschreiten auf Grund der §§ 1666, 1838 des Bürgerlichen
Gesetzbuches findet“
Trotz aller dieser Proteste ist aber nicht anzunehmen, daß
das Kammergericht seinen Standpunkt aufgeben wird, wenn nicht
durch eine Novelle zu dem Fürsorgeerziehungsgesetz, die
die Vorschrift des § 1 Ziff. 1 entsprechend ändert, die Absicht des
Gesetzgebers klar zum Ausdruck gebracht wird.
Durch eine Petition an das Herrenhaus und das Abgeordneten¬
haus, eine solche Gesetzänderung herbeizuführen, ist die Deutsche
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
bestrebt, die auf ihrer diesjährigen Mitgliederversammlung, der
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Anhang.
377
obigen Resolution des Deutschen Vereins fllr Armenpflege und
Wohltätigkeit sich anschließend, folgende Beschlüsse gefaßt hat:
„Um allen geistig, sittlich oder körperlich gefähr¬
deten Minderjährigen unter 18 Jahren den erforder¬
lichen Schutz zu gewähren, ist es wünschenswert, die
Fürsorgeerziehung für alle diejenigen Fälle für zulässig
zu erklären, in denen der Richter Anlaß zum Einschreiten
auf Grund der §§ 1666, 1838 des B.G.B. findet Die Gesell¬
schaft beschließt, bei den gesetzgebenden Instanzen
Preußens dahin vorstellig zu werden, daß im Wege der
Gesetzgebung eine Abänderung des § 1 Ziff. 1 des Gesetzes
vom 2. Juli 1900 im Sinne einer Erweiterung des An¬
wendungsgebietes der Fürsorgeerziehung vorgenommen
werde, damit die Fürsorgeerziehung entgegen der bis¬
herigen Rechtsprechung des Kammergerichts allen geistig
oder leiblich gefährdeten Kindern zuteil werde, die von
ihren Eltern aus erzieherischen Gründen getrennt werden
müssen.
Die aus der vorläufigen Unterbringung erwachsen¬
den Kosten sind den Provinzialverbänden zur Last zu
legen."
Anhang.
I. Reichsgesetzliche Bestimmungen über die Zwangs - (Fürsorge)-
Erziehung Minderjähriger.
1. § 55 des Strafgesetzbuchs neue Fassung nach Art. 34 II
des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch.
II. An die Stelle des § 55 treten folgende Vorschriften:
Wer bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr
nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich
verfolgt werden. Gegen denselben können jedoch nach Ma߬
gabe der landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und
Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden. Die
Unterbringung in eine Familie, Erziehungsanstalt oder Besse¬
rungsanstalt kann nur erfolgen, nachdem der Beschluß des Vor¬
mundschaftsgerichtes die Begehung der Handlung festgestellt
und die Unterbringung für zulässig erklärt ist.
2. § 56 des Strafgesetzbuchs.
Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber
nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung
begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur
Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß.
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378
Anhang.
In dem Urteile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner
Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt ge¬
bracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die
der Anstalt Vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich er¬
achtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr.
3. § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch ge¬
fährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes
mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder un¬
sittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht
die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen.
Das Vormundschaftsgericht kann inbesondere anordnen, daß das Kind
zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder iu einer
Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird.
Hat der Vater das Recht des Kindes auf Gewährung des Unter¬
halts verletzt und ist für die Zukunft eine erhebliche Gefährdung des
Unterhalts zu besorgen, so kann dem Vater auch die Vermögensver¬
waltung, sowie die Nutznießung entzogen werden.
4. § 1686 des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Auf die elterliche Gewalt der Mutter finden die für die elterliche
Gewalt des Vaters geltenden Vorschriften Anwendung, soweit sich nicht
aus den §§ 1687—1697 ein Anderes ergibt.
5. § 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
Das Vormundschaftsgericht kann anordnen, daß der Mündel zum
Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Er¬
ziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird. Steht
dem Vater oder der Mutter die Sorge für die Person des Mündels zu,
so ist eine solche Anordnung nur unter den Voraussetzungen des § 1666
zulässig.
6. Art. 3 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen
Gesetzbuch.
Soweit in dem Bürgerlichen Gesetzbuch oder in diesem Gesetze
die Regelung den Landesgesetzen Vorbehalten oder bestimmt ist, daß
landesgesetzliche Vorschriften unberührt bleiben oder erlassen werden
können, bleiben die bestehenden landesgesetzlichen Vorschriften in Kraft
und können neue landesgesetzliche Vorschriften erlassen werden.
7. Art. 185 des Einführungsgesetzes.
Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die
Zwangserziehung Mindeijähriger. Die Zwangserziehung ist jedoch, un¬
beschadet der Vorschriften der §§ 55, 56 des Strafgesetzbuchs, nur zu¬
lässig, wenn sie von dem Vormundschaftsgericht angeordnet wird. Die
Anordnung kann außer den Fällen der §§ 1666, 1888 des Bürgerlichen
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Anhang.
379
Gesetzbuchs nur erfolgen, wenn die Zwangserziehnng zur Verhütung
des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist.
Die Landesgesetze könnea die Entscheidung darüber, ob der Minder¬
jährige, dessen Zwangserziehung angeordnet ist, in einer Familie oder
in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt unterzubringen sei, einer
Verwaltungsbehörde übertragen, wenn die Unterbringung auf öffentliche
Kosten zu erfolgen hat.
II. Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger
vom 2. Juli 1900.
§ 1. Ein Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht
vollendet hat, kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden:
1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs vorliegen und die Fürsorgeerziehung
erforderlich ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu
verhüten;
2. wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat,
wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters straf¬
rechtlich nicht verfolgt werden kann, und die Fürsorgeerziehung
mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Persön¬
lichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahr¬
losung des Minderjährigen erforderlich ist;
3. wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen wegen Unzu¬
länglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen
Erzieher oder der Schule zur Verhütung des völligen sittlichen
Verderbens des Mindeijährigen notwendig ist.
§ 5. Bei Gefahr im Verzüge kann das Vormundschaftsgericht eine
vorläufige Unterbringung des Mindeijährigen anordnen. Die Polizei¬
behörde des Aufenthaltorts hat in diesem Falle für die Unterbringung
des Mindeijährigen in einer Anstalt oder in einer geeigneten Familie
zu sorgen.
Die durch die vorläufige Unterbringung erwachsenen Kosten fallen,
sofern die Überweisung zur Fürsorgeerziehung demnächst endgültig
angeordnet wird, dem verpflichteten Kommunalverbande (§ 14), andern¬
falls demjenigen zur Last, welcher die Kosten der örtlichen Polizei¬
verwaltung zu tragen hat. Die Polizeibehörde hat in allen Fällen die
durch die vorläufige Unterbringung entstehenden Kosten vorzuschießen.
Im Anschluß an vorstehenden, in der Mitgliederversammlung
des Schlesischen Zweigvereins am 18. Januar d. J. gehaltenen
Vortrag bringen wir nachfolgend die Diskussion, welche sich
an die Ausführungen des Vortragenden anschloß.
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Diskussion.
Oberlandesgerichtsrat Simonson erklärte den Ansführungen des
Vortragenden in allen wesentlichen Punkten beipflichten zu müssen, ver¬
suchte aber das angegriffene Kammergericht bis zu einem gewissen
Grade mit dem Hinweise darauf in Schutz zu nehmen, daß die Aus¬
führungsbestimmungen des Ministers des Innern denselben Standpunkt
vertreten. Diese lauten in ihrer Einleitung dahin: „Die Fürsorgeerzie¬
hung auf Grund dieses Gesetzes ist nur eine der mannigfachen gesetz¬
lichen und Verwaltungsmaßregeln zur Sicherung einer geordneten Er¬
ziehung Jugendlicher. Sie greift so tief in das Verhältnis des Jugend¬
lichen zu seinen Eltern und zu seiner Familie ein, dass sie in vielen
Fällen eine vollständige Loslösung von der Familie zur Folge hat; sie
soll daher nur zur Anwendung kommen, wenn alle anderen zur Ver¬
fügung stehenden Maßregeln, eine geordnete Erziehung herbeizuführen,
versagen. Bevor die Maßregel in Aussicht genommen wird, ist daher
sorgfältig zu prüfen, ob nicht durch Anwendung anderer Maßnahmen,
der kirchlichen Einwirkung, der Schulzucht, der Armenpflege, freiwilliger
Liebestätigkeit oder vormundschaftlicher Anordnungen, für welche der
§ 1666 BGB. den weitesten Spielraum gewährt, der Verwahrlosung
vorgebeugt oder ihr Fortgang aufgehalten werden kann. Hat die Ver¬
wahrlosung ihren Grund in wirtschaftlicher Not der Eltern oder Er¬
zieher oder in mangelhafter Fürsorge für ein verwaistes Kind, so sind
die verpflichteten Armenbehörden von Aufsichtswegen anzuhalten, ihre
Schuldigkeit zu tun.“ Bei dem starken Widerspruch gegen die Recht¬
sprechung des Kammergerichts falle der Gesichtspunkt doch wohl auch
mit in das Gewicht, dass die Armenbehörden als Beteiligte auftreten,
deren Lasten sich in dem Maße vereinigen als die höchste entscheidende
Instanz das Anwendungsgebiet des Gesetzes ausdehnt. Dessenungeachtet
befürwortete auch er die vorgeschlagene Beschlußfassung, die die Zu¬
lässigkeit der Fürsorgeerziehung auch dann wünscht, wenn lediglich die
Voraussetzungen der §§ 1666, 1888 BGB. vorliegen, so daß in § 1
Nr. 1 des Ges. v. 2./7.1900 die Worte fortfallen „und die Fürsorgeerzie¬
hung erforderlich ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu ver¬
hüten“. Hierfür spreche die Kostenfrage sehr stark, denn da es an
einer Bestimmung dafür fehle, wer die Kosten zu tragen habe, wenn
der Vormundschaftsrichter Anordnungen treffe auf Grund der §§ 1666,
1838 BGB., so sei in der Tat zu besorgen, daß diese gesetzliche
Regelung im wesentlichen ebenso auf dem Papiere stehen bleiben werde
wie die erwähnten Bestimmungen des ALR. Wenn dagegen die Be¬
stimmungen dieser Paragraphen Bestandteil des Fürsorge-Erziehungsge¬
setzes würden, so würden auch in diesem Falle die Kosten von dem
verpflichteten Kommunalverbande zu tragen sein. Er wies ferner darauf
hin, daß dann auch die Strafbestimmungen des § 21 des Gesetzes, die
den mit Strafe bedrohen, der in gewisser Weise die Zwecke der Für-
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Diskussion.
381
sorgeerziehung zu durchkreuzen versucht, erweiterte Anwendung finden
werden, was durchaus erwünscht erscheint. Er unternahm endlich eine
Prüfung, ob gegenüber dem Art. 135 des Einführungs-Gesetzes zum
BGB. eine derartige landesgesetzliche Regelung zulässig sei; er glaubte
diese Zulässigkeit bejahen zu sollen, da die vorgeschlagene Erweiterung
des Preuß. Ges. das Beichsrecht nur ergänze, nicht aber damit in
Widerspruch trete.
Geheimrat Neisser: Ich hin in der Lage, die Angaben, welche der
Herr Vortragende über die sozialen Verhältnisse der Fürsorge-Zöglinge
gemacht hat, durch einige Ziffern, welche ich einer von mir über die
Breslauer Prostituierten gesammelten Statistik entnehme, zu ergänzen.
Es wurden im Laufe der Jahre 679 Personen nach einem aufgestellten
Fragebogen befragt, teils, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, in einer
einmaligen ausführlichen Besprechung, teils in gelegentlichen Unterhal¬
tungen während des gewöhnlich ja mehrere Wochen währenden Aufent¬
haltes im Hospital, Arbeitshaus u. dergl. Die Art und Weise und die
Sorgfalt, mit der die Befragungen vorgenoramen wurden, berechtigten
mich zu der Annahme, daß ich ziemlich zuverlässige Mitteilungen seitens
der Befragten erhalten habe. Aus der Statistik, die später ausführlich
veröffentlicht werden soll, will ich nur folgendes Hierhergehörige mitteilen:
Von den 679 Befragten waren:
1. ehelich geboren
596
87,78
Proz.
unehelich „
88
12,22
»»
2. Vollwaisen
77
11,84
>»
vaterlos
130
19,15
>»
mutterlos
104
15,32
»
Also bei nicht weniger als im ganzen 311 Personen = 45,81 Proz.
liegen im kindlichen und jugendlichen Alter ungünstige Verhältnisse für
die Erziehung und Überwachung vor.
Es waren nur 536 der Befragten = 78,93 Proz. vor oder bis zum
14. Jahre ganz bei den Eltern; die übrigen waren während der ganzen
Zeit oder teilweise in Pflege oder in einem Erziehungshaus.
Was den Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs betrifft, so
wurde derselbe ausgeübt:
Im
Alter
von 12 Jahren von
1
Person
„ 14
>»
V
7
Personen
»>
»
.. 15
V
62
>>
»>
* 16
»>
»»
126
>»
»»
i»
„ 17
»*
150
»»
d. h. von 346
Personen = 50,96
Proz.
vor
dem 18. Lebensjahre.
Ich betone das deshalb, weil nach dem Erlaß des Herrn Ministers vor
dem vollendeten 17. Lebensjahre eine Inskription nicht erfolgen soll. Es
ist aber eine feststehende Tatsache, daß in den Kreisen dieser Mädchen,
wenn erst überhaupt Geschlechtsverkehr stattfindet, derselbe sehr bald
auch sehr reichlich und leider auch sehr schnell in prostitutionsartiger
Weise betrieben wird. 253 Personen = 37,26 Proz. hatten ihre erste
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382
Diskussion.
Kohabitation zwischen dem 18. und 20. Lebensjahre. Für das majorenne
Alter von 21 Jahren ab bleiben also nur 80 Personen = 11,78 Proz.
übrig.
Was das Alter bei der Inskription betrifft, so wurden von den
damals Befragten inskribiert vor dem 18. Lebensjahre 183 Personen
= 26,95 Proz. Alle diese Personen würden also nach dem Erlaß
des Herrn Ministers gegenwärtig nicht mehr inskribiert werden dürfen,
und es bringt mich dies auf die Frage, ob durch diese vom Herrn
Minister erlassene Bestimmung nicht häufig sich Mißstände derart
herausstellen, daß solch jugendliche Personen, die wegen ihres
prostitutionsartigen Geschlechtsverkehrs und, weil sie geschlechtskrank
waren, dem Hospital zugeführt wurden, nicht in der Mehrzahl der
Fälle sanitär unüberwacht bleiben, wenn sie aus dem Hospital ent¬
lassen werden. Man muß dabei bedenken, daß gerade diese Personen
die gefährlichsten Prostituierten sind; einerseits weil sie die jüngsten
und demgemäß begehrtesten Mädchen, sind und dann, weil sie, soweit
sie syphiliskrank sind, sich alle im ansteckenden, also gefährlichsten
Stadium der Syphilis befinden. Ich würde für eine Auskunft, ob nach
dieser Richtung hin die zweifellos von bester Absicht diktierte Bestim¬
mung des Herrn Ministers nicht doch zu einer Schwächung der durch
die sanitäre Aufsicht ermöglichten Gefahrenherabsetzung seitens der
Prostitution führt, sehr dankbar sein.
Ferner möchte ich auf folgendes aufmerksam machen: Die Gegner
der Reglementierung behaupten bisweilen, daß durch die zwangsweise
Internierung von Prostituierten und die dadurch herbei geführte Ver¬
minderung des Prostitutionsmarktes nicht nur keine Bekämpfung der
Prostitution, sondern eine, wenn auch ungewollte Verstärkung
der Prostitutionsarmee herbeigeführt würde. Sie argumentieren:
„da die Nachfrage der Männer resp. der Bedarf an Prostituierten —
wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf — doch der gleiche bleibt,
was nützt es dann, einige hundert Prostituierte zu eliminieren? Es
rücken ja nur jüngere, noch nicht der Prostitution verfallene Elemente
nach und so wird schließlich eine absolut viel größere Anzahl von
Personen in die Prostitution ein gereiht.“ Ich glaube, daß diese ganze
Argumentation falsch ist, weil zwar eine Nachfrage der Männer besteht
und dieselbe auch, wie man zugeben muß, die Entstehung und das Be¬
stehen der Prostitution begünstigt, daß aber das wesentlichste Moment,
welches die Rekrutierung der Prostitutionsarmee unter der weiblichen
Bevölkerung zustande bringt, nicht in der Nachfrage der Männer be¬
ruht, sondern in dem gleichsam von unten her wirkenden Druck, der
die weiblichen Elemente in die Prostitution treibt, so daß sie sich als
Prostituierte den Männern anbieten und sogar durch ihr Angebot eine
gewisse Verführung der Männer — die ich übrigens durchaus nicht
moralisch rein waschen will — herbeiführen. Die Nachfrage der Männer
richtet sich nicht gerade auf Prostituierte, sondern auf weiblichen Ver¬
kehr überhaupt. Daß der Geschlechtsverkehr seitens der Frauen ein
prostitutionsartiger wird, liegt viel mehr an den allgemeinen
sozialen und Erwerbsverhältnissen, welche alle minderwertigen
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Diskussion.
383
weiblichen Personen ebenso der Prostitution in die Arme führt, wie sie
die Männer zu Landstreichern, Bettlern und Vagabunden machen.
Wäre die Argumentation der Reglementierungsgegner richtig, so
würde sie ja auch gegen die Anwendung das Fürsorgegesetzes sprechen.
Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß ich in beiden Fällen für eine
energische Durchführung aller Maßregeln, welche möglichst viele Per¬
sonen der Prostitution entziehen, plädiere. Am meisten natürlich für
das Fürsorgegesetz, welches in der Tat wie keine andere Maßregel bei
sinngemäßer Ausführung geeignet erscheint, um der Ausdehnung der
Prostitution und damit auch der Geschlechtskrankheiten entgegen zu
arbeiten.
Der Herr Vortragende hat die Bemerkung gemacht, daß in den
allermeisten Fällen eine Rettung der Prostituierten nnd eine Rück¬
kehr derselben ins bürgerliche Leben nicht möglich sei. Es ist leider
zuzugeben, daß für die allermeisten Fälle dies zutrifft. Tn allen Städten
finden wir unter den Prostituierten eine verhältnismäßig große Anzahl
von in höherem Lebensalter stehenden Personen, die also jahrzehnte¬
lang ihr Gewerbe ausüben. Ein weiteres Kontingent finden wir unter
den Zuchthäuslerinnen. Aber immer noch auffallend viele retten sich
ins bürgerliche Leben zurück, sei es, daß sie einen Beruf ergreifen, sei
es, daß sie heiraten und brave und ordentliche Mütter werden. Man
darf eben nicht vergessen, daß sich die Prostituierten zum größten Teil
aus solchen Bevölkerungsklassen rekrutieren, in denen der außereheliche
Geschlechtsverkehr, und auch nicht einmal immer die Prostitution als
etwas Verwerfliches und Schändliches angesehen werden, und so erklärt
es sich, daß solche Kreise diese Elemente wieder in sich anfhehmen,
wenn dieselben den guten Willen dazu zeigen.
Schließlich würde ich gern noch einige Bemerkungen machen, in
welcher Weise man wohl weitere Kreise der heran wachsenden
Jugend den Segnungen des Fürsorgegesetzes zugänglich machen könnte.
Es wäre zu besprechen, wie weit von vornherein eine besondere Beauf¬
sichtigung der unehelichen Kinder und all derjenigen Kinder, in deren
Familien sich Prostituierte finden, stattfinden könnte, wieweit Lehrer
und Schulärzte, Kontrolleure der Krankenkassen, Beamte der Wohnungs¬
inspektion usw. bei ihrer Tätigkeit auch der Frage, ob nicht der Für¬
sorge zuzuführende Kinder von ihnen festgestellt werden könnten, ihre
Aufmerksamkeit schenken sollten. All das im einzelnen zu besprechen,
würde zu weit führen, aber nur einen Wunsch möchte ich zum Aus¬
druck bringen, daß alle die zahlreichen Vereine und Gesell¬
schaften, welche auf den verschiedenartigsten Wegen philan¬
thropische Zwecke verfolgen, viel mehr als das jetzt der Fall
ist, in einer einheitlichen Organisation mit kommunalen und
Polizeibehörden Zusammenwirken sollten. Meiner Überzeugung
nach könnte mit den heute schon bereit gestellten Mitteln viel mehr
geleistet werden, wenn eine einheitliche, Zersplitterung und Kraft¬
vergeudung vermeidende Organisation all dieser humanitären Vereine
bestünde. Natürlich müßte diese Zentrale, gerade was die Prostitutions¬
überwachung betrifft, in engster Fühlung mit der Polizei stehen;
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384
Diskussion.
in Breslau hat sich die Polizei selbständig in erfreulichster Weise mit
all den privaten Fürsorgevereinen in Verbindung gesetzt und stellt
prostitutionsverdächtige Personen nicht ohne weiteres unter Kontrolle,
sondern überweist sie diesen Pflege vereinen.
Das Wichtigste aber sind und bleiben gesetzgeberische Ma߬
nahmen des Staates; nur er allein verfügt über die notwendigen Hilfs¬
mittel, und nur er allein kann den leider ja unvermeidlichen Zwang
auf indolente und wider willige Elemente ausüben.
Magistratsassessor Dr. Gradenwitz. Der Herr Vorsitzende hat die
Frage aufgeworfen, ob sich die an die vorläufige Unterbringung ge¬
knüpften Erwartungen erfüllt haben. Ich muß diese Frage auf Grund
meiner praktischen Erfahrungen leider verneinen. Gebrauch gemacht
worden ist im allgemeinen von der Bestimmung des § 5 des Gesetzes
nur in den Fällen, in welchen sich Jugendliche wegen begangener Straf¬
taten in Haft befanden und die Anregung von den Staatsanwaltschaften
oder Gefängnis Verwaltungen ausging. Soweit die Anträge von dem Ge¬
mein de vor stände ausgingen, haben sich die Gerichte — wenigstens in
Breslau — mit der Begründung ablehnend verhalten, daß die vorläufige
Fürsorge bereits von dem Armenverbande geübt werde und deshalb keine
Gefahr vorhanden sei. Die Polizeiverwaltung ist mit ihren Anträgen
auf vorläufige Fürsorgeerziehung äußerst zurückgehalten gewesen, wenig¬
stens sind mir Fälle nicht bekannt geworden, in denen Prostituierte auf
polizeiliche Anregung in vorläufige Fürsorgeerziehung genommen worden
sind. Es kann die Besorgnis nicht unterdrückt werden, daß die Rege¬
lung der Kostenfrage Anlaß zu dieser Zurückhaltung gegeben hat. Die
Kosten der vorläufigen Unterbringung trägt der Kommunalverband, wenn
die Fürsorgeerziehung endgültig beschlossen wird, andernfalls bleiben sie
der Polizeibehörde zur Last; diese wird also gleichsam dafür bestraft, wenn
sie in der Stellung der Anträge nicht vorsichtig genug gewesen ist.
Die leidige finanzielle Frage, welche die Handhabung des Gesetzes im
ganzen so ungünstig beeinflußt hat, kehrt auch hier wieder.
Die Rechtsprechung des Kammergerichts ist von dem Gesichtspunkt
geleitet, daß die Armen verbände aus finanziellen Gründen sich einer
ihnen obliegenden Verbindlichkeit entziehen wollen. Der Herr Referent
hat dargetan, daß diese Anschauung unrichtig ist, andere Juristen sind
der Ansicht, daß die Auslegung des Kammergerichts dem bestehenden
Gesetze entspricht. Der von dem Herrn Referenten vorgeschlagene Weg
ist jedenfalls geeignet, das Gesetz auf alle geeigneten Fälle auszudebnen
und ihm die Wirksamkeit beizulegen, welche bei seinem Erlaß beab¬
sichtigt war.
Um auch dem § 5 des Gesetzes einen weiteren Anwendungskreis
zu sichern, ist in der Literatur der Vorschlag gemacht worden, die
Kosten der vorläufigen Fürsorgeerziehung in allen Fällen den Kommunal¬
verbänden zur Last zu legen. Dieser Vorschlag ist meines Erachtens
sehr zweckmäßig; diese Verbände sind durch den Staatszuschuß von */ 3
der Kosten zur Tragung zweifellos fähig und der Antrag auf vorläufige
Fürsorgeerziehung würde in keiner Weise durch Erwägungen über Kosten¬
tragung beeinflußt werden.
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Diskussion.
385
Zur Durchführung dieses Vorschlages ist nur die Streichung einiger
Worte in § 5 Absatz 2 des Gesetzes erforderlich; der Absatz 2 müßte
lauten:
Die durch die vorläufige Unterbringung erwachsenden
Kosten fallen dem verpflichteten Kommunalverbande (§ 14) zur
Last. Die Polizeibehörde hat die durch die vorläufige Unter¬
bringung entstehenden Kosten vorzuschießen.
Oberlandesgerichtsrat Simonson trat dem Geh.-Rat Dr. Neisser
darin bei, daß es unzutreffend sei, die wohltätige Wirkung des Gesetzes
damit zu bekämpfen, daß es nur eine bestimmte Schicht der Verwahr¬
losten, insbesondere der Prostituierten entferne, immer aber neuer Nach¬
wuchs komme, und zwar in um so stärkerem Maße, als für seine unheil¬
volle Wirksamkeit durch Entfernung jener Schicht Raum geschaffen sei.
Dies sei deshalb unrichtig, weil es bei sachgemäßer Anwendung des Ge¬
setzes möglich sei, aus denen, die an sich bestimmt erscheinen, die
Rekrutinnen der Prostitution zu werden, ehe sie das rekrutenpflichtige
Alter erreichen, nützliche und gegen die Versuchung widerstandsfähige
Mitglieder der menschlichen Gesellschaft' zu machen. Es komme nur dar¬
auf an, daß frühzeitig genug eingegriffen werde. Er wies ferner darauf
hin, daß sowohl das BGB. wie das Fürsorge-Erz.-G. an den Vormund-
8cbaffc8richter so hohe Anforderungen stelle, daß von der Justizverwal¬
tung eine sorgfältige Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte bei der
Auswahl dieser Richter gefordert werden müsse. Das sei wesentliche
Voraussetzung für eine gedeihliche Wirkung des Gesetzes.
Wenn Klage darüber geführt werde, daß der § 5 des Gesetzes
nach den bisherigen Erfahrungen häufig versage, so sei zu berücksich¬
tigen, daß nach dem Gesetz auch bei Gefahr im Verzüge die Anordnung
der vorläufigen Unterbringung nicht der Polizeibehörde, sondern dem
Gericht obliege, das seiner Natur nach schwerfälliger verfahre als eine
Verwaltungsbehörde. Es sei aber zu erwägen, ob die Polizeibehörde hier
nicht helfend eingreifen könne. Nach § 6a und f des Gesetzes über die
Polizeiverwaltung vom 11./8. 1850 würde eine Verfügung der örtlichen
Polizeiverwaltung, die anordnet, daß geschlechtskranke Prostituierte, von
denen zu besorgen ist, daß sie, ihrem Gewerbe nachgehend, die Krank¬
heit weiter übertragen, bis zur vorläufigen Anordnung des Gerichts einem
Krankenhaus überwiesen oder sonst ihrem Gewerbe entzogen werden, für
zulässig zu erachten sein.
Im übrigen befürwortet er den Gradenwitz'schen Vorschlag der
anderweitigen Regelung der Kostenlast für die Fälle der vorläufigen
Unterbringung, wenn auch nicht außer acht gelassen werden dürfe, daß
§ 5 Abs. 2 bezwecke, den verpflichteten Kommunalverbäuden die Kosten
zu ersparen, die durch ungerechtfertigte Anordnung dieser Maßregel
entstehen. Da aber solche Fälle nicht besonders häufig sein werden, so
liege kein Grund vor, die Kostenlast nicht einheitlich zu regeln.
Mindestens sei es erwünscht, diese Frage zu einer Erörterung der gesetz¬
gebenden Körperschaften zu bringen. Die vorgeschlagene Änderung
könne am einfachsten in der Weise erfolgen, daß § 5 Absatz 2 Satz 1
folgende Fassung erhalte: „Die durch die vorläufige Unterbringung er-
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386
Diskussion.
wachsenden Kosten fallen dem verpflichteten Kommunal verbände (§ 14)
zur Last“
Dr. Neumann: Nach meiner Kenntnis der einschlägigen Verhält¬
nisse wird es von den zuständigen Polizeiorganen als Mißstand emp¬
funden, daß zwischen der Einleitung der Fürsorgeerziehung und der
Ausführung derselben infolge der vielen zu beobachtenden gesetzlichen
Vorschriften ein wochen-, ja monatelanger Zwischenraum liegt, der von
den jugendlichen Frauenspersonen bei ihrer Geriebenheit und Verschlagen¬
heit recht häutig dazu ausgenützt wird, um sich der drohenden unbe¬
quemen Zwangserziehung nach Möglichkeit zu entziehen. Auch der
Umstand, daß die Polizeibehörde befugt ist, durch Erwirkung eines vor¬
läufigen Beschlusses seitens des Vormundschaftsgerichtes eine einst¬
weilige Festnahme jugendlicher, der Unzucht verdächtiger Frauensper¬
sonen für solauge zu verfügen, bis die Fürsorgeerziehung im förmlichen
Verfahren für sie beschlossen worden ist, kann den angeführten Übel¬
stand nicht beseitigen, weil einerseits die hier auf tretende Kosten frage
besondere Schwierigkeiten macht, andererseits die doch notwendigen Er¬
mittelungen, Berichte usw. immer noch zu zeitraubend sind. So laufen
viele dieser minderjährigen Frauenzimmer umher, die im Bewußtsein
dessen, daß sie von der Polizei vorläufig noch nicht zur Kontrolle ge¬
schrieben werden dürfen, einer dauernden Unschädlichmachung immer
wieder zu entschlüpfen verstehen. Da gerade diese jugendlichen Indivi¬
duen es sind, welche erfahrungsgemäß zur Verschleppung von Geschlechts¬
krankheiten besonders beitragen, müßte dem beregten Übelstande mehr
Beachtung geschenkt weiden.
Nicht minder wichtig erscheint es, auf die weitere ärztliche Über¬
wachung der einer Anstalt oder einer Familie zur Fürsorgeerziehung
überwiesenen jungen Personen Bedacht zu nehmen. In Betracht kommen
dabei diejenigen derselben, welche eine Syphilis acquiriert batten und
von den äußeren Erscheinungen derselben durch entsprechende Kur be¬
freit worden sind. Da aber doch diese Krankheit auch ohne Auftreten
äußerer Merkmale über Jahre hinaus geeigneter Behandlung und Über¬
wachung bedarf, so muß einerseits den Fürsorgezöglingen ein ent¬
sprechender Vermerk auf dem sie begleitenden Gesundheitsatteste mit¬
gegeben, andererseits für ausreichende ärztliche Beaufsichtigung während
der Erziehungszeit Sorge getroffen werden. Ersteres geschieht hier; in¬
wieweit letzteres gehandhabt wird, entzieht sich meiner Kenntnis.
Assessor Dr. Schiller (Schlußwort): Herr Oberlandesgerichtsrat
Simonson hat als Stütze — wenn auch als schwache, wie er selbst sagt —
für die Rechtsprechung des Kammergerichts die ministeriellen Ausfüh¬
rungsbestimmungen zum Fürsorgeerziehungsgesetz herangezogen. Ich
bin indessen der Ansicht, daß auch diese schwache Stütze bei näherer
Untersuchung nicht standhält. Allerdings heißt es in den Ausführungs-
bestimmungen, die Fürsorgeerziehung greife so tief in das Verhältnis
der Minderjährigen zu seiner Familie ein, daß sie in vielen Fällen die
völlige Loslösung der Minderjährigen von seiner Familie zur Folge habe;
deshalb solle die Fürsorgeerziehung erst in letzter Linie zur Anwendung
kommen. Der Grund also für die subsidiäre Natur der Fürsorge-
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Diskussion.
387
erziehung liegt in dem natürlichen Bande, welches den Minderjährigen mit
seiner Familie verknüpft. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, steht
aber das Eintreten der öffentlichen Armenpflege, welches das Kammer¬
gericht an die Stelle der Fürsorgeerziehung setzt, auf derselben Stufe
der Subsidiarität wie die Fürsorgeerziehung. Der Vormundschaftsrichter
erkennt den Eltern die Erziehuugsrechte ab und verlangt die Erziehung
des Kindes im Wege der Armenpflege außerhalb des elterlichen Hauses.
Das Band zwischen Kind und Eltern ist doch bei diesem Verfahren ge¬
nau so zerschnitten, wie wenn die Unterbringung des Minderjährigen
in Fürsorgeerziehung angeordnet worden wäre. Ich meine also, daß
man aus diesem Grunde der Armenpflege nicht den Vortritt vor der
Fürsorgeerziehung lassen darf*.
Was den § 5 des Gesetzes anlangt, so wird er allerdings von den
Gerichten nicht allzu häufig zur Anwendung gebracht. Ich habe indessen
gefunden, daß, wenn die Polizei Anträge aus § 5 gestellt hat — und das
ist bei den der Prostitution ergebenen weiblichen Minderjährigen in der
Regel der Fall, da ja die Polizei bei dem Vorliegen arger geschlecht¬
licher Verwahrlosung die Ablehnung der definitiven Unterbringung in
Fürsorgeerziehung nicht zu befürchten hat — daß dann den Anträgen
von den Gerichten auch stattgegeben wird. Ich stimme aber dem Vor¬
schläge des Herrn Assessor Dr. Gradenwitz bei, daß sich die Ände¬
rung des § 5 empfiehlt, um in jedem Falle etwaige finanzielle Bedenken
der Polizei zu beseitigen.
Es liegt schließlich noch ein Antrag von Fräulein „Elisabeth
Bouness“ vor, in gewissen Fällen nicht das Kind, welchem Verwahr¬
losung droht, sondern den Vater, der die schlechte Erziehung und die
Zerrüttung der Familienverhältnisse herbeiführt, zwangsweise aus der
Familie zu entfernen.
Der Antrag ist damit begründet, daß in sehr vielen Fällen der
Vater der allein schuldige Teil an der Verwahrlosung seiner Kinder sei.
Das mag richtig sein; in vielen Fällen ist aber auch die Mutter die
einzig Schuldige. Man müßte also in diesen Fällen auch die Mutter
von der Familie trennen. Zudem bieten aber unsere Gesetze gar keine
Handhaben für ein Trennungsverfahren, wie es die Antragstellerin im
Sinne hat. Die einzige Möglichkeit einer Trennung gibt die Eheschei¬
dung, wenn Ehescheidungsgründe vorhanden sind. Durch die Scheidung
wird im Effekt dasselbe erreicht, was die Antragstellerin will. Ich kann
aus diesen Gründen den gestellten Antrag nicht befürworten.
Der Vorsitzende schließt die Diskussion und bringt die beiden
Anträge Schiller und Gradenwitz zur Abstimmung. Dieselben
werden einstimmig angenommen. Der Vorsitzende wird beauftragt,
dieselben dem Vorstand der Gesellschaft zur weiteren Behandlung und
Beratung zu überweisen 1 ).
*) Wie unseren Lesern erinnerlich, ist der Antrag des Schlesischen
Zweigvereins vom Vorstand der Mitgliederversammlung der D. G. z. ß. d. U.
im März im Berliner Rathaus vorgelegt und von dieser angenommen worden.
Die Petition selbst ist weiterhin den zuständigen Reichs- und Staatsbehörden
übermittelt worden.
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Tagesgeschichte.
Deutschland.
Landesversicherungs-Anstalt Rheinprovinz. Nachdem die mit
dem 1. Januar 1904 in Kraft getretene Novelle zum Krankenversicherungs¬
gesetz den Krankenkassen die Fürsorge auch für ihre von Geschlechts¬
krankheiten befallenen Mitglieder weiblichen und männlichen Geschlechts
übertragen und die Dauer der Unterstützung auf 26 Wochen festgesetzt
hat, glaubte der Vorstand der Versicherungsanstalt Rheinprovinz
in Berücksichtigung der namenlosen Verheerungen, welche diese Krank¬
heiten im Gefolge zu haben pflegen, auch seinerseits diese Fürsorge zum
Gegenstände eines Heilverfahrens in denjenigen Fällen machen zu müssen,
in welchen es sich um Kranke handelt, die einer Krankenkasse nicht
angehören oder um solche, die zwar Mitglied einer solchen Kasse sind,
deren Behandlung aber eine Nachkur darstellt, welche nicht Gegenstand
der Fürsorge seitens der Krankenkassen ist.
Auf Grund und in Verfolg eines dementsprechenden Beschlusses
des Gesamtvorstandes wird die Versicherungsanstalt die primäre Heil¬
behandlung der an Tripper und Syphilis erkrankten Ver¬
sicherten, welche einer Krankenkasse nicht angehören, in
geeignet scheinenden Krankenhäusern übernehmen, sowie
ferner die Durchführung von Nachkuren der an Syphilis er¬
krankt gewesenen Versicherten, gleichviel ob sie einer
Krankenkasse angehören oder nicht.
Zunächst soll es sich nur um einen Versuch handeln und nach
Jahresfrist an der Hand der bis dahin gesammelten Erfahrungen weiter
darüber beraten und beschlossen werden, in welcher Form weitere Maß-
nahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten seitens des Vorstandes
in Erwägung zu ziehen wären.
Auf dem Internationalen Frauenkongreß zu Berlin wird
am Mittwoch, den 15. Juni eine größere Diskussion über Bestrebungen
zur Hebung der Sittlichkeit stattfinden. Den Vorsitz und das ein¬
leitende Referat hält Frau K. Scheven, Dresden. Es sind ferner folgende
Referate angemeldet:
Frau Prof. Michelet, Norwegen: Sittlichkeitsbewegung in Norwegen.
Frau Wynaendts-Frankeji-Dyserinck, Holland: Reglementierung
und sanitäre Aufsicht der Prostitution in Holland.
Mme Avril de St. Croix, Frankreich: Abolitionismus in Frankreich.
Mrs. Grannis, Amerika: Promotion of social Purity.
Fräulein Anna Pappritz, Berlin: Die positiven Aufgaben der
Föderation.
Gräfin von Hogendorp, Holland: Die internationale Bekämpfung
des Mädchenhandels.
Mrs. Kate Waller Barret, Verein. Staaten: Rettungsarbeit.
Fräulein Fermstecher, Frankreich: L'Oeuvre des liberäes de St.
Lazare.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1908/4. Nr. 10.
Infektion als Morgengabe.
Von
Dr. W. Soh&llm&yer, München.
Die Forderung, daß geschlechtskranke Männer durch eine
möglichst zuverlässige Einrichtung, die nur auf dem Wege der
Gesetzgebung ins Leben gerufen werden könnte, verhindert werden
sollen, in die Ehe zu treten, solange nicht die Ansteckungsfähig¬
keit ihrer Krankheit sicher oder doch mit sehr großer Wahrschein¬
lichkeit erloschen ist, steht so sehr in Übereinstimmung mit den
Grundsätzen, auf denen unsere sonstigen staatlichen Schutzein¬
richtungen gegen Gefahren für Leib und Leben der einzelnen wie
der Gesellschaft beruhen, daß die meisten sie wahrscheinlich für
etwas selbstverständliches halten würden, wenn sie schon längere
Zeit verwirklicht wäre. Trotzdem wird sie bei uns zur Zeit noch
von den meisten entweder fast unbesehen unter Anwendung der
nächstliegenden Schlagwörter von der Schwelle gewiesen oder doch
mit Einwänden abgefertigt, welche zeigen, wie sehr von den ab¬
lehnenden das Gewicht der Gründe unterschätzt wird, die für jene
Forderung in die Wagschale zu legen sind.
Die meisten Ablehnungsgründe entspringen aus einer bedauer¬
lichen Höherbewertung des individualistischen Interesses gegenüber
dem Interesse der Gemeinschaft und ihrer Fortsetzung in den künftigen
Generationen. Nun zeigt aber die Geschichte der alten wie der
neueren Zeiten, daß die Fürsorge für die Gesundheit der einzelnen
wie der Gesellschaft um so mehr eine öffentliche Angelegenheit
wurde, je höher die soziale und kulturelle Entwicklung stieg.
Daß die Gesamtheit diese Fürsorge weit wirksamer zu gestalten
vermag, als es die Bestrebungen der einzelnen vermochten, war ja
unverkennbar. Eine größere Fruchtbarkeit konnte jedoch diese
Erkenntnis erst dadurch erlangen, daß unsere neuere soziale Ent-
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtakrankh. II. 29
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890
Schallmayer.
wicklung auch eine Ausbreitung und Erstarkung der auf das Ge¬
meinwohl zielenden Sinnesrichtung mit sich gebracht hat. Von
einer hocherfreulichen Erstarkung des sozialen Sinnes weiter Volks¬
kreise zeugt beispielsweise die Volksheilstättenbewegung für Tuber¬
kulöse, die in breiten Schichten unseres Volkes so außerordentlich
rege Anteilnahme und tatkräftige Unterstützung gefunden hat
Auch die Gründung unserer Gesellschaft ist ein Erzeugnis des
Uberhandnehmenden sozialhygienischen Sinnes.
Die Bestrebungen unserer Gesellschaft sind für das Gemeinwohl
zweifellos sehr viel wertvoller als die Volksheilstättenbewegung zu¬
gunsten der Tuberkulösen; nicht so sehr deswegen, weil die Ge¬
schlechtskrankheiten bei ihrer ungeheueren Verbreitung wahrschein¬
lich noch mehr Leiden schaffen und mehr Unheil bewirken als die
Tuberkulose, sondern einmal weil ein soziales Vorgehen gegen die
Geschlechtskrankheiten mehr Erfolg verspricht als die gewählte
Bekämpfungsart der Tuberkulose, trotz des viel größeren Aufwandes
an Mitteln, welchen das bei letzterer eingeschlagene Verfahren in
Anspruch nimmt, vor allem aber weil die Bestrebungen unserer
Gesellschaft der Rasseverschlechterung entgegenarbeiten, während
die Volksheilstättenbewegung für Tuberkulöse hinsichtlich der
Rasseentwicklung gerade die gegenteilige Wirkung haben dürfte,
wie an anderer Stelle erörtert wurde 1 ).
Sowohl die Syphilis wie die Gonorrhoe beeinträchtigen nicht
nur die Volksvermehrung, sondern bewirken teils direkt, teils
indirekt auch eine Verschlechterung der erblichen Durchschnitts¬
qualität der Bevölkerung. Wird eine Frau bei Beginn der Ehe gonor¬
rhoisch infiziert, so bleibt es wohl in der Regel bei der Konzeption
des ersten Kindes. Eine syphilitisch infizierte Frau hingegen bleibt
zwar in der Regel unvermindert konzeptionsfähig, aber sie vermag,
zumal solang auch bei dem Manne die konstitutionelle Schädigung
durch die Syphilis noch nicht überwunden ist, meistens jahrelang
keine lebenden oder doch keine länger lebensfähigen Kinder hervor¬
zubringen. Jedoch die schlimmste Wirkung beider Seuchen vom
Standpunkt des Gemeinwohles ist nicht die Schmälerung der Volks¬
vermehrung, so beträchtlich der dadurch bewirkte Ausfall auch
sein mag. Denn einstweilen wenigstens können wir in Deutschland
mit der Volksvermehrung noch immer ganz zufrieden sein, wenn
schon die Geburtenziffern sowohl im Durchschnitt des ganzen
*) W. Schallmayer, Vererbung und Auslese etc., Jena 1908. S. 146 ff
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Infektion als Morgengabe.
391
Reiches als insbesondere in den großen Städten seit zirka drei
Jahrzehnten unaufhörlich und recht erheblich gesunken sind, und
eine stärkere Verlangsamung der Vermehrung oder gar ein Rück¬
gang der Bevölkerungszahl nur durch die gleichzeitige starke Ab¬
nahme der Sterblichkeit bisher verhindert wurde. Viel wichtiger
ist jedenfalls die qualitative Schädigung der Bevölkerung, da sich
eine solche nicht so leicht später wieder ausgleichen läßt wie eine
nur quantitative Minderung.
Von der Syphilis ist die rasseschädigende Wirkung bekannt,
weniger von der Gonorrhoe. Da die Gonokokken und ihre Aus¬
scheidungen nicht auf die Keime übergehen, so scheint die Gonorrhoe
auf den ersten Blick die Rassequalität nicht schädigen zu können.
Dennoch übt sie diese Wirkung aus, und zwar auf zwei Wegen.
Es sind nämlich, wenn wir von den besonderen Verhältnissen der
Hafenstädte absehen, sonst überall die jungen Männer der besser
situierten und der gebildeten Stände, also der durchschnittlich wohl
als begabter anzusehenden Volksschichten, die von der Prostitution
den meisten Gebrauch machen und sich dadurch relativ am
häufigsten Geschlechtskrankheiten zuziehen. Letzteres ist bekannt¬
lich von B lasch ko statistisch nachgewiesen worden. Da nun durch
die Syphilis und noch mehr durch die Gonorrhoe die eheliche
Fruchtbarkeit stark verringert wird, so trägt jener Umstand (mit
anderen) dazu bei, daß unsere begabteren Volksschichten im Ver¬
hältnis zu den geringer begabten mit einem zu kleinen Anteil an
der Erzeugung der jeweils folgenden Generation beteiligt sind,
daß also „die fekundative Auslese“, wie v. Ehrenfels diesen
Auslesefaktor genannt hat*), eine unnatürliche Verschiebung zugunsten
der geringer begabten erfährt, was unfehlbar ein Sinken der Durch¬
schnittsbegabung der Bevölkerung zur Folge hat
Und nicht nur durch diese Verschiebung der fekundativen
Auslese schädigt auch die Gonorrhoe die Qualität der Bevölkerung,
sondern wahrscheinlich außerdem durch eine indirekte Beein¬
trächtigung der Ernährung der in den Ovarien wachsenden Eier
und des Embryo. Diese Wahrscheinlichkeit beruht auf folgenden
Voraussetzungen. Wenn die Gonorrhoe eine Frau unfruchtbar
macht, so dürfte dies allerdings in einem großen Teil dieser Fälle
nur durch stenosierende Veränderungen an den Eileitern bedingt sein.
*) Beiträge zur Selektionstheorie In: Annalen der Naturphilosophie,
HL Bd. S. 86.
29*
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392
Schall mayer.
Je einem anderen Teil der Fälle aber fuhrt die Gonorrhoe des Weibes
zu entzündlichen Veränderungen der Eierstöcke von der Art, daß diese
unfruchtbar werden. Auch chronischer Gebärmutterkatarrh ist eine
nicht seltene Folgeerscheinung von Gonorrhoe, besonders in den
Fällen, wo im Anschluß an eine Geburt heftige entzündliche
Prozesse in der zu dieser Zeit besonders saftreichen Gebärmutter¬
höhle eintreten. Bei diesem chronischen Gebärmutterkatarrh können
die Veränderungen der Schleimhaut der Art sein, daß sie einem
befruchteten Ei die Existenzbedingungen nicht mehr zu gewähren ver¬
mag, also wiederum Unfruchtbarkeit die Folge ist. Aber durchaus nicht
immer sind die durch gonorrhoische Entzündung bewirkten Ver¬
änderungen der Ovarien und der Uterusschleimhaut so hochgradig,
daß sie Unfruchtbarkeit bedingen. Daß jedoch in allen diesen
Fällen die Ernährung der Eier in den Ovarien, bezw. des Embryo
in der Gebärmutterhöhle, ganz und gar nicht beeinträchtigt werde,
ist nicht anzunehmen. Wir dürfen es vielmehr als zweifellos an-
sehen, daß es zwischen diesen beiden Extremen mittlere Fälle aller
Grade gibt Es werden also in den Ovarien auch leichtere, nicht
tödliche Ernährungsstörungen der Eier Vorkommen, deren Vererb¬
barkeit keinem Zweifel unterliegen dürfte, und auch in der Uterus¬
schleimhaut werden die Veränderungen z.B. von der Art sein können,
daß sie die Entwicklung des befruchteten Eies bis zu einem gewissen
Grade noch ermöglichen, dann aber Abortus bedingen. Sind je¬
doch die Veränderungen hier noch geringer, so daß sie die völlige
Ausreifung eines lebensfähigen Eindes zulassen, so können sie
doch wohl eine weniger gute Ernährung des Embryo bewirken und
so eine Schwächung der Konstitution des neuen Individuums zur
Folge haben. Zwar ist es fraglich, inwieweit die Wirkung solcher
Einflüsse auf die schon in der Entwicklung begriffene Frucht
erblich ist, d. h. in welcher Weise sie auch das inaktive Keim¬
plasma des Embryo treffen, aus welchem später dessen Keimzellen
hervorgehen. Mindestens aber kann die Qualität der einen
kommenden Generation auch durch solche Ernährungsstörungen
während der Embryonalentwicklung geschädigt werden. — Diese
Ausführungen dürften folgenden Worten von Prof. A. He gar über
den Abortus entsprechen: „Als sicher läßt sich annehmen, daß ....
eine Erkrankung oder Schädigung der Frucht, welche jedoch die
Geburt eines lebensfähigen Kindes noch zuläßt, ungleich häufiger
als Abortus vorkommt. Ebenso läßt sich erwarten, daß dauernde
nachteilige Folgen davon auch das geborene Wesen noch ins Leben
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Infektion als Morgengabe.
393
begleiten“.*) Unmittelbar vorher sagt He gar: „Der Abort ist nun,
auch abgesehen von verbrecherischer Entstehung, außerordentlich
häufig, so daß eine Schätzung, nach welcher auf 3 bis 4 recht¬
zeitige Niederkünfte mindestens ein Abort fällt, gewiß nicht zu
hoch gegriffen ist.“
Nun geht man aber kaum fehl, wenn man annimmt, daß die
Mehrzahl der Aborte sowie der Fälle, wo zur richtigen Zeit oder
etwas früher ein schon im Mutterleib abgestorbenes Kind geboren
wird, teils durch Syphilis 2 ), teils durch Folgezustände einer über¬
standenen gonorrhoischen Erkrankung der weiblichen Genitalien
bedingt sind. — Prof. Kirchner hat bei der konstituierenden Ver¬
sammlung unserer Gesellschaft auch auf die große Zahl solcher
Kinder hingewiesen, die bei uns zwar lebend geboren werden, aber
an angeborener Lebensschwäche bald zugrunde gehen, und die
Überzeugung ausgesprochen, daß ein großer Teil dieser Fälle eben¬
falls der Syphilis zur Last zu legen seien.
Aber auch an dem auffälligen Rückgang unserer Geburten¬
ziffer, der besonders in den großen Städten außerordentlich stark,
zum Teil rapid ist, dürfte das starke Überhandnehmen der Ge¬
schlechtskrankheiten nicht ganz unschuldig sein. Beide Erscheinungen
treffen ja zeitlich zusammen, und die Großstädte, in denen die
Geschlechtskrankheiten viel mehr verbreitet sind als auf dem Land,
zeigen auch einen viel stärkeren Rückgang der Geburtenziffer.
Aus dem Berliner statistischen Jahrbuch lassen sich über diesen
Rückgang folgende sehr bemerkenswerte Daten entnehmen.
Auf je 1000 Ehefrauen kamen in Berlin ehelich geborene
Kinder
1853
219,8
1898
132,4
1854
222,1
1899
128,5
1855
211,9
dagegen
1900
127,0
1856
213,0
1901
125,0
1857
224,7
1902
119,8
>) Der Geschlechtstrieb, Stuttg. 1894. S. 124, 125.
*) Wie in dieser Zeitschrift berichtet wurde, hat Tamowsky vor kurzem
das Ergebnis einer Untersuchung über die Nachkommenschaft von 30 syphili¬
tischen Familien veröffentlicht, die den wohlhabenden Kreisen angehören und
sich stets behandeln ließen. Das auffallendste Ergebnis dieser Untersuchungen
ist die Feststellung des Misverhältnisses zwischen den relativ leichten Folgen
der Syphilis für den Erkrankten selbst und dem geradezu tötlichen Einfluß
auf dessen Nachkommenschaft
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394
Schallmayer.
Ihren Höhepunkt hatte die Berliner Geburtenziffer 1876 mit
240 erreicht; seitdem ist sie also schon unter die Hälfte der
damaligen gesunken! 1 )
Nun unterliegt es aber gar keinem Zweifel, daß die darge¬
legte üble Wirkung der Gonorrhoe und der Syphilis auf die erbliche
oder Rassebeschaffenheit unseres Volkes in sehr beträchtlichem
Maße eingeschränkt werden könnte, wenn das Mitbringen dieser
Krankheiten in die Ehe mit allen zu Gebote stehenden Mitteln
verhindert würde. Weitaus das wirksamste Mittel zu diesem Ziel
wäre aber, wie darzutun sein wird, die Errichtung einer gesetz¬
lichen Schranke, welche solchen Ehekandidaten, die ein noch an¬
steckungsfähiges Geschlechtsleiden haben, den Eintritt in die Ehe
sperren würde.
Nicht leicht zu verhindern bliebe allerdings ein Hineintragen von
Gonorrhoe und Syphilis in die Ehe durch außereheliche Infektion
nach der Eheschließung. Aber warum soll man nicht einen Teil
des Übels verhüten, wenn man nicht das ganze verhüten kann?
Der schlimmere und nach meiner Schätzung auch häufigere Fall
[an die akuten Fälle darf man dabei weniger denken als vielmehr
an die chronischen Frauenleiden, welche die ergiebigste Quelle für
die Praxis der Frauenärzte bilden, sehr oft aber auch unbehandelt
bleiben] ist doch die Vergiftung der Ehe von Anfang an, auch
wenn sie sich, wie so häufig, nur schleichend einstellt. Übrigens
werden jene Ehemänner, die sich vor der Ehe von einer Infektion
frei zu halten wußten, auch nachher nicht so häufig einer solchen
anheimfallen. Überhaupt würde eine erhöhte Vorsicht gegenüber
*) Fr. Prinzing kommt in seiner Abhandlung „Die eheliche Fruchtbar¬
keit in Deutschland“ (Zeitschr. f. Sozialwiss. 1901. S. 97 u. 99) zu dem Er¬
gebnis, daß die eheliche Fruchtbarkeit nur in den Städten nachgelassen habe,
nicht auch auf dem Lande. Derselben Quelle entnehme ich folgendes: In
Berlin ging die eheliche Fruchtbarkeit (die Zahl der ehelichen Geburten pro
Jahr auf 100 verheiratete Frauen im Alter von 15—50 Jahren) von 28,8 in den
Jahren 1872—75 zurück auf 16,9 in der Periode 1894—97. Unter den Ehen
von mehr als 25 jähriger Dauer waren 1895 in Berlin ll,2°/o vollkommen
steril, wobei die Ehen, in welchen nur totgeborene Kinder zur Welt kamen,
nicht zu den sterilen gezählt sind. — Ben zier forschte bei 474 Männern
nach, die als Soldaten an Gonorrhoe erkrankt gewesen und später geheiratet
hatten. Absolut steril war die Ehe in 10,5 °/ 0 der Fälle, bei denen die
Gonorrhoe unkompliziert gewesen war, ferner in 23,4 % jener Fälle, bei denen
einseitige Nebenhodenentzündung bestanden hatte (111 Fälle) und in 41,7 °/ 0
der (24) Fälle mit doppelseitiger Nebenhodenentzündung.
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Infektion als Morgengabe.
395
der An8teclnmg8gefahr za den yermatlichen Nebenwirkungen der
geforderten Einrichtung gehören.
Doch die Hoffnung auf Verwirklichung einer solchen Einrichtung
wäre schwach begründet, wenn nur das generative oder Rasseinteresse
für sie sprechen würde. Denn dieses hat nun einmal in den Kreisen,
welche Einfluß auf die Gesetzgebung haben, bisher noch allzu¬
wenig Beachtung gefunden, als daß es in absehbarer Zeit nur
durch sein eigenes Gewicht sich zur Geltung bringen könnte. Aber
in unserem Falle geht das einflußarme Rasseinteresse Hand in
Hand mit einem Bundesgenossen, der sich bei der heutigen öffent¬
lichen Meinung eines größeren Ansehens erfreut, ich meine das
individuelle Interesse.
Wir wollen also dieses zu Worte kommen lassen. Es hat
weder Beredsamkeit noch Gelehrsamkeit nötig, um seine Sache
überzeugend zu führen, es hat nur nötig, die Aufmerksamkeit der
Gesetzgeber auf bekannte, unleugbare Zustände zu lenken.
Ein frohraütiges, gesundes Mädchen verlobt sich. Heiteren
Sinnes sieht die Braut dem Hochzeitstag als dem Beginn
jenes Lebensabschnittes entgegen, der, wie sie zuversichtlich
hofft, ihren Anspruch auf Lebensglück erfüllen soll. Sie weiß
nichts von Gonorrhoe und Syphilis, jedenfalls weiß und ahnt sie
nicht, daß die Eheschließung heutzutage in recht hohem Grade
das Risiko mit sich bringt, diese Krankheiten zu erwerben. So
bleibt wenigstens ihr bräutliches Glück ungestört, das jämmerlich
beeinträchtigt würde, wenn sie Kenntnis davon hätte, wie viel
Grund sie zu der Sorge hat, ob nicht ihr Erwählter, vielleicht
ohne Wissen oder doch ohne sich darüber klar zu sein, die Eigen¬
schaft besitzt, ihr in der Brautnacht den Keim zu dauerndem
Siechtum einzuverleiben. Sie heiratet, wird gonorrhoisch infiziert.
Mit dem ersten Wochenbett, wenn nicht früher, ist es um ihre
Gesundheit, ihre Frische und ihren Frohmut geschehen. Sie wird
unterleibsleidend, auf Jahre, wenn nicht bis zum Aufhören der
Geschlechtsperiode. Bleibt zudem die Ehe kinderlos, wie so häufig
in solchen Fällen, so ist sie um ihr ganzes Lebensglück betrogen.
Nicht viel besser geht es ihr, wenn sie von ihrem Mann die Syphilis
mit deren Folgen für die eigene Gesundheit und mit den noch viel
verderblicheren Folgen für ihre Leibesfrucht erwirbt — Soll man
sie nun auf die Gefahr aufmerksam machen? Wozu dies? Mir
scheint in solchen Beginnen eine so gut wie ganz zwecklose Härte
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396
Sch&ümayer.
zu liegen, solange man nicht gesonnen ist, der aufzuklärenden zu
gleich einigermaßen zuverlässigen Schutz gegen die dargestellte
Gefahr zu verschaffen. Unsere Gesellschaft hat sich wohl das eine
Ziel gesteckt, das der allgemeinen Aufklärung über die tatsäch¬
lichen Zustände, verschmäht es aber bis jetzt, das am meisten
zuverlässige Schutzmittel für die Bräute zu befürworten, ein Gesetz,
wonach vor jeder Eheschließung durch besonders hierfür vor¬
gebildete, unbefangene und unabhängige Ärzte, also Amtsärzte,
darüber zu befinden wäre, ob der Ehekandidat mit einem Ge¬
schlechtsleiden behaftet ist, das die Gesundheit einer Frau oder
die der Nachkommenschaft gefährden würde.
Auch bei den Vätern und Müttern der Bräute wird unsere
Gesellschaft Sorge und Unruhe entfachen, indem sie allgemein be¬
kannt zu machen sucht, wie sehr die Geschlechtskrankheiten unter
den jungen Männern, besonders der oberen Stände, verbreitet sind,
und welche Gefahren für die Frauen und die Nachkommenschaft
dieser Zustand bedingt
Aus alledem erwächst meines Erachtens unserer Gesellschaft
die Verpflichtung, das äußerste zu tun und zu erstreben, um den
objektiven Grund der erweckten Besorgnisse zu beseitigen. Dieser
Verpflichtung trägt das Programm unserer Gesellschaft bis jetzt
nicht in vollem Maße Rechnung.
Allerdings wird schon die geplante, bessere Aufklärung der
Ehekandidaten zweifellos viel Unheil verhüten. Denn von den
Personen, die jetzt mit einer ansteckenden Krankheit behaftet in
die Ehe treten, würden sicher die meisten das nicht tun, wenn
ihnen das Nochvorhandensein einer Ansteckungsgefahr bewußt wäre.
Die allergewissenhaftesten Menschen befinden sich unter diesen
Unglücklichen, und ein besonders großes Maß von Gewissenhaftig¬
keit gehört ja nicht einmal dazu, um vor dem Gedanken zurück¬
zuschrecken, die erwählte Lebensgefährtin schwer zu schädigen.
Außer solchen gibt es aber allzuviele Personen, denen gegen¬
über die geplante öffentliche Belehrung unwirksam bleiben wird.
Zu ihnen gehören vor allem jene Optimisten, die sich nicht mehr
für Krank halten wollen, sobald sie von der erworbenen Krankheit
keinerlei Beschwerden mehr verspüren, und die sich auch von
ihrem Arzt, dem sie sich übrigens schon frühzeitig zu entziehen
pflegen, nach Eintritt dieses Krankheitsstadiums nicht überzeugen
lassen, daß der Sache noch eine ernstliche Bedeutung zukomme.
Noch viel weniger hat aber eine nur allgemein gehaltene Beleh-
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Infektion als Morgengabe.
397
rang über Geschlechtskrankheiten Aussicht, bei ihnen etwas aus¬
zurichten ; denn einer nur allgemein gehaltenen Belehrung gegenüber
wird ihnen die optimistische Beurteilung des eigenen Falles natür¬
lich viel leichter sein, als gegenüber dem speziellen Urteil des
Arztes, über das sie sich erfahrungsgemäß dennoch leichtherzig
hinwegsetzen, wenn es sie noch krank erklärt. Solche Kranke werden,
wenn man sie nicht daran hindert, künftig ebenso wie jetzt mit
leidlich gutem Gewissen heiraten, sobald es ihnen paßt, ohne es
für nötig zu halten, zuvor einen zuverlässigen Arzt zu fragen,
ob er diesen Schritt für rätlich und zulässig hält
Den zuweilen endlosen Folgen gegenüber hält freilich nachher
der frühere Optimismus sehr häufig nicht mehr Stand. Schon
beim Ledigen wird durch eine Geschlechtskrankheit in der Regel
die Lebensfreude stärker beeinträchtigt als durch eine andere
Krankheit, selbst wenn diese an und für sich beschwerlicher ist,
insbesondere wegen der (nichts weniger als gerechten) Ehren¬
minderung, welcher der mit einer Geschlechtskrankheit behaftete
bei der großen Mehrheit der Gesellschaft ausgesetzt ist, wenn es
ihm nicht gelingt, sie geheim zu halten. Prof. Kirchner befand
sich kaum im Irrtum, als er sagte, daß für einen großen Bruch¬
teil der bei uns so außerordentlich zahlreich gewordenen Selbst¬
morde der äußere Anlaß durch Geschlechtskrankheiten gegeben
sei. Noch viel schwerer aber belastet eine Geschlechtskrankheit in
der Ehe die Wagschale des Unglückes. Die hierbei gewöhnlich
nötig werdenden Unterbrechungen des geschlechtlichen Ehelebens,
die sich unter Umständen auf recht lange Zeiträume erstrecken
können, sind dabei noch nicht das ärgste. Viel schlimmer noch
pflegen die Störungen des psychischen Ehelebens zu sein. Bleibt
der Frau die Ursache und der Charakter ihres durch Ansteckung
verursachten Leidens verborgen, so wird dieser doch die Sorge
nicht los, daß sie den wirklichen Sachverhalt endlich doch einmal
erfahren oder Verdacht schöpfen könnte. Letzteres wird infolge
der auf diesem Gebiet geplanten Volksaufklärung öfter als bisher Vor¬
kommen. Wenn z. B. in einer Ehe, in welcher der Mann die Frau
syphilitisch infiziert hat, „eine Schwangerschaft nach der anderen
mit der Geburt eines toten oder kranken und bald sterbenden Kindes
endigt, so daß die arme Frau 6, 8 und 10 Schwangerschaften
durchmacht und ihr doch das höchste Glück der Frau, das Mutter¬
glück, versagt bleibt" (E. Lesser), so werden solche unglückliche
Frauen von nun an nicht mehr so oft wie jetzt ahnungslos bleiben
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398
Schallm&yer.
über die Ursache ihres Geschickes. Wird aber der Frau die Tat¬
sache bekannt, daß sie von ihrem Mann infiziert ist, so erleidet
die eheliche Harmonie wohl immer eine häßliche Störung, die nur
in besonders günstigen Fällen rasch und ohne dauernde Folgen
überwunden wird. Führt die Infektion, wie es nur allzuhäufig
yorkommt, zu einer bleibenden körperlichen Schädigung der Frau
oder zur Kinderlosigkeit der Ehe, oder erstreckt sich der Schaden
gar auch noch auf die Gesundheit der Kinder, so wird die Ehe
für einen Mann von normaler Empfindung zu einer nicht ver¬
siegenden Quelle seelischen Leidens, mag die Frau die Ursache
der Kalamität kennen oder nicht
Außer den leichtsinnigen Optimisten gibt es aber auch noch
Ehekandidaten von ganz anderer Art. Nur ein Beispiel! Ich
behandelte einen jungen Mann an Syphilis, gleichzeitig mit seiner
Maitresse, die er syphilitisch infiziert hatte. Noch während er in
meiner erstmaligen Behandlung stand, eröffnete er mir eines Tages,
daß er sich verlobt habe und schon sehr bald heiraten werde. Ich
hielt ihm entgegen, was er ohnehin wußte, daß er dann mit Sicherheit
seine Frau ebenso infizieren werde wie zuvor seine Maitresse. Seine
Erwiderung lautete, er könne mit Rücksicht auf seine finanziellen
Verhältnisse auf diese Heirat nicht verzichten und sie auch nicht
verschieben. Ich wies ihm schließlich die Türe. Das hielt ihm aber
nicht ab, seinen Vorsatz auszuführen, und ein halbes Jahr später,
als bei seiner Frau syphilitische Erscheinungen auftraten, meine
ärztliche Hilfe wieder zu verlangen. — Bei solchen Personen wird
jede Aufklärung offenbar unwirksam sein.
Ähnlicher Art sind die Fälle, von denen Prof. Neisser in
seinem Vortrag über die Frage „Dürfen Geschlechtskranke heiraten?“
(bei der ersten öffentlichen Veranstaltung der Frankfurter Orts¬
gruppe) sagte, sie seien nicht selten; nämlich „die Fälle, daß Ehe¬
kandidaten nur zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens die
Zustimmung eines Arztes einzuholen wünschen, dann aber, wenn
ihnen diese Annehmlichkeit nicht geboten wird, darauf verzichten
und gewöhnlich auch sehr leichten Herzens die eigene Verant¬
wortung des folgeschweren Schrittes tragen.“
Die Möglichkeit, eine solche Ehe anzufechten u. dergl. hat für
die Frauen im allgemeinen herzlich wenig Wert Sie werden nur
selten davon Gebrauch machen wollen und können, und wenn sie
es tun, so wird dadurch nicht verhindert, daß sie aus der nichtig
erklärten oder getrennten Ehe nur schwer geschädigt hervorgehen:
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Infektion als Morgengabe.
399
defloriert, infiziert, vielleicht auch geschwängert Die Gesell¬
schaft muß die Frauen auf andere Weise schützen.
Die Notwendigkeit eines solchen Schutzes ist ganz unabweislich,
und zwar nicht nur gegen Personen von der oben dargestellten
Gesinnungsrohheit, die verhältnismäßig doch nur selten vorzkommen
dürfte, sondern auch gegenüber Durchschnittsmenschen. Denn es
ist ja ein alltägliches Vorkommnis, daß ein mit chronischer Gonor¬
rhoe behafteter junger Mann sich verlobt, in der sicheren Erwartung,
daß die Zwischenzeit bis zur Vermählung genügen werde, um die
Krankheit zur Heilung zu bringen. Solche Hoffnung erweist sich
aber nicht selten als trügerisch, nicht bloß, wenn nur wenige
Monate zur Verfügung standen, sondern manchmal auch bei ur¬
sprünglich sehr reichlich scheinender Frist Elin ebenfalls sehr
häufiger Fall ist der, daß ein junger Mann sich nach seiner
Verlobung noch infiziert, wobei die bis zur Hochzeit noch übrige
Frist besonders häufig sich als ungenügend zu völliger Heilung
erweist Die Heirat wird wieder und wieder unter allerlei Vor¬
wänden verschoben, so lange, bis es eben nicht weiter möglich ist.
Die große Mehrzahl derer, welche sich in solcher Lage befinden,
hat nicht den Mut, das Verlöbnis unter irgend einem Vorwand
oder gar unter Mitteilung des wirklichen Grundes zu lösen und
die in jedem Fall bedauernswerte Braut, deren beste Jahre viel¬
leicht schon unter Zuwarten dahingegangen sind, schließlich sitzen
zu lassen. So treten sie un geheilt in die Ehe, wobei sich mancher
wohl an die abenteuerliche Hoffnung klammert, auf die eine oder
andere Art die Ansteckung seiner Frau vermeiden zu können,
eine Hoffnung, die aber auf die Dauer sich fast niemals bewährt.
Nur wenige besitzen ein solches Maß von sittlicher Kraft, um in'
diesem schweren Konflikt das zu tun, was die Pflicht verlangt
Alle anderen bedürfen in solchen Fällen einer äußeren Instanz,
die sich dem unheildrohenden Gang der Dinge hemmend in den
Weg stellt Darum erscheint es zeitgemäß, eine solche zu .schaffen.
Haben doch solche Konflikte eine früher ungeahnte Häufigkeit
erreicht!
Was sollen die besorgten Väter oder Müttertun, denen unserer
Gesellschaft die Augen öffnen wird? Man hat beklagt, daß sie
sich in der Regel beim Bräutigam nicht darnach erkundigen, ob
er nicht etwa mit einer Geschlechtskrankheit behaftet sei. Aber
eine derartige Frage würde, abgesehen von ihrer Peinlichkeit, in
der Regel ihren Zweck nicht erreichen. Gegenüber einem gewissen-
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400
Schallmayer.
haften Mann wäre sie gegenstandslos und nebenbei verletzend;
auch beim nicht gewissenhaften hätte sie letztere Nebenwirkung,
aber kaum eine weitere.
Der Vorschlag, der jetzt öfter geäußert wird, jeder Schwieger¬
vater solle, wie es ja in Nordamerika bereits mehr und mehr Sitte
wird, die Einwilligung zur Eheschließung an die Bedingung knüpfen,
daß der Bräutigam sich in eine Lebenversicherung aufnehmen
lasse, ist ja zweifellos wirtschaftlich und einigermaßen auch selek-
tori8ch nur empfehlenswert, aber für den hier in Rede stehenden
speziellen Zweck hat er nur sehr wenig Wert Abgesehen davon,
daß er nur für die wohlhabenderen Gesellschaftsschichten in Be¬
tracht kommen kann, ist er auch äußerst unzuverlässig. Denn das
Interesse der Versicherungsgesellschaft verlangt nicht, daß der
Versicherungsarzt mit besonderem Eifer z. B. auf Spuren einer
überstandenen Gonorrhoe fahnde; denn für den Versicherungs¬
vertrag kommt ja nur die Lebenswartung des Versicherungsnehmers
in Betracht, nicht aber die Ansteckungsfähigkeit einer etwa vor¬
handenen chronischen Urethritis. Aber auch wenn das Vorhanden¬
sein einer solchen festgestellt wird, fordern die Gesellschaften allen¬
falls erhöhte Prämien oder auch nicht, nur ganz selten aber wird
aus einem solchen Grunde der Versicherungsantrag ganz abgelehnt
Andererseits kann seine Ablehnung seitens der Versicherungsgesell¬
schaft aus ganz anderen Gründen erfolgen, die in den Augen
der Braut oder der Sahwiegereltern, wenn sie davon Kenntnis
hätten, keinen Ablehnungsgrund seines Heiratsantrages bilden
würden. Dazu kommt, daß man einem Freier, der schon früher
eine Lebensversicherung abschloß, nicht wohl zumuten kann, dies
zum zweitenmal zu tun, und von keinem wird man ohne Peinlich¬
keit verlangen können, daß er die Versicherungsnahme gerade
kurz vor der Hochzeit bewerkstellige. Scheut man aber die Pein¬
lichkeit nicht, so könnte man ebensogut und besser gleich ein
spezielles ärztliches Attest verlangen, des Inhaltes, daß der Unter¬
suchte nicht mit einer ansteckenden Krankheit behaftet sei.
Abefr auch ein solches ärztliches Zeugnis bliebe an Zuver¬
lässigkeit hinter dem, was erreicht werden kann und verlangt werden
muß, weit zurück, wenn nur irgend ein Arzt es ausstellen sollte. Ein
solches Attest würde auch dann nicht genügen, wenn es etwa stets
nur von dem Arzt auszustellen wäre, der den Ehekandidaten zu¬
letzt behandelt hat, und es bliebe selbst unter der Voraussetzung
noch unzuverlässig, daß der behandelnde Arzt in allen diesen Fällen
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Infektion als Morgengabe.
401
Spezialist für Geschlechtskrankheiten wäre. Denn auch die Zugehörig¬
keit zu dieser Ärztekategorie bietet keineswegs regelmäßig die sichere
Gewähr, daß der das Zeugnis ausstellende Arzt mit den besonderen
Kenntnissen, Fertigkeiten und Einrichtungen so ausgerüstet ist, wie
es zu einer verlässigen Entscheidung der Frage nötig ist, ob
die Ansteckungsfähigkeit einer nicht spurlos geheilten Gonorrhoe
erloschen ist Die Entscheidung dieser Frage ist bekanntlich in
manchen Fällen recht schwierig. Wieder und wieder liefert
manchem Arzt die Untersuchung auf Gonokokken, obgleich er sich
vielleicht auch des Gram’sehen Verfahrens bedient, negative Er¬
gebnisse in Fällen, die sich nachher, wenn die Untersuchten mit
ärztlicher Zustimmung geheiratet haben, als noch infektiös erweisen.
— Außerdem wird das Urteil des Arztes in manchem zweifelhaften
Fall durch die Neigung beeinflußt, dem Ehekandidaten das zu
sagen, was dieser zu hören wünscht. Es wäre geradezu wunder¬
bar, wenn jeder Arzt, der vielleicht im Laufe längerer Behandlung
seinem Patienten manches objektiv nicht streng begründete Trostes¬
wort gespendet hat, bei der entscheidenden Untersuchung sich von
dem Zwang der Konsequenz ganz frei machen könnte. Für die
Entscheidung in solchen Fällen ist jedoch volle Unbefangenheit
und ein unerbittliches Verantwortlichkeitsbewußtsein nötig. Die
Erfüllung dieser Forderung ist aber sehr schwer in Einklang zu
bringen mit der Stellung, die der behandelnde Arzt im allgemeinen
gegenüber seinen Patienten einnimmt, und die ungefähr dem Ver¬
hältnis des Rechtsanwaltes zu seinem Klienten entspricht. Darum
fehlt dem Arzt gegenüber seinen Patienten in der Regel die
strenge Unbefangenheit, die zu jener gewissermaßen richterlichen
Funktion erforderlich ist, und häufig fehlt ihm außerdem die wirt¬
schaftliche Unabhängigkeit. So konnte Prof. Flesch auf dem
Kongreß in Frankfurt nicht mit Unrecht sagen: „Der chronisch
Gonorrhoische weiß meistens nicht, daß er krank ist, er glaubt auf
Grund ärztlichen Gutachtens gesund zu sein. Erst auf dem Nähr¬
boden der weiblichen Unterleibsorgane gelingt leider die Reinzucht,
die zur Infektion führt '“
Wenn also weder die erstrebte Volksaufklärung noch auch
die Forderung einer der Eheschließung vorausgehenden privat¬
ärztlichen Untersuchung, selbst wenn sie allgemein Sitte würde,
verhindern können, daß mit ansteckenden Krankheiten behaftete
Personen zahlreich in die Ehe treten, so muß eben die Schaffung
eines gesetzlichen Ehehindemisses für Geschlechtskranke ins Auge
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402
Schallmayer.
gefaßt werden, in der Weise, daß jeder Ehekandidat neben den
sonstigen Papieren, die er heutzutage behufs staatlicher Ehebe¬
willigung dem Standesbeamten vorzulegen hat, von denen manches
eher entbehrlich wäre als das verlangte, auch ein amtsärztliches
Zeugnis beizubringen hätte, des Inhaltes, daß er nicht mit einer
ansteckenden Krankheit behaftet sei.
Durch das Bestehen einer solchen Einrichtung würde die
Familie der Braut von der Zumutung entlastet, ihrerseits irgend
eine ärztliche Untersuchung des Heiratskandidaten anzuregen oder
sich bei ihm selbst über diesen Punkt zu erkundigen, beides
Schritte, die nicht nur für alle beteiligten äußerst peinlich, sondern
obendrein, wie wir gesehen haben, ganz unzuverlässig wären.
Bei der tatsächlichen Lage der Dinge ist keine genügende
Veranlassung gegeben, ein solches Zeugnis auch von der
Braut zu verlangen. Denn die Bräute bringen verhältnismäßig
nur selten ansteckende Geschlechtskrankheiten in die Ehe, und
wenn die Männer es ebenso selten täten, so würde niemand finden,
daß ein Bedürfnis zu solchem gesetzgeberischen Eingreifen bestehe.
Nur fakultativ könnte sich eine nicht mehr jungfräuliche Braut
allenfalls ein solches amtsärztliches Zeugnis ausstellen lassen, das
sie aber nicht dem Standesbeamten vorzulegen hätte. Es würde
nur zu ihrer eigenen Kenntnis dienen, falls sie nicht etwa das Be¬
dürfnis fühlen würde, es dem Bräutigam zu zeigen. Wenn man
es aber später für wünschenswert halten wird, auch von weiblichen
Ehekandidaten ein solches Gesundheitsattest zu fordern, so könnten,
wie schon v. Fircks 1 ) bemerkt hat, weibliche Ärzte mit der Aus¬
stellung dieses Zeugnisses und der hierzu erforderlichen Unter¬
suchung betraut werden.
Zur Ausstellung eines solchen Attestes würden sich, wie
bemerkt, nur ärztliche Staatsbeamte eignen, denen eine ähnliche
Stellung gegenüber dem Publikum einzuräumen wäre wie unseren
staatlichen Richtern. Privatpraxis und jeder Erwerb, der sie vom
Publikum abhängig machen könnte, müßte ihnen untersagt sein.
Ihr Urteil hätte sich zu gründen in erster Linie auf eine exakte
technische Untersuchung, zweitens auf die Aussagen des zu unter¬
suchenden, drittens auf gutachtliche Meinungsäußerungen von Privat¬
ärzten, die jenen behandelt haben. Der Ehekandidat müßte bei
Vermeidung strenger Strafe verpflichtet sein, dem untersuchenden
') Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik, Leipzig 1898. S. 861.
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Infektion als Morgengabe.
403
Amtsarzt — oder, wenn es mehrere sein sollen, der Jury aus Amts¬
ärzten, — die Fragen, welche diese bezüglich etwaiger früherer
pathologischer Erlebnisse an ihn zu richten hätten, nach bestem
Wissen wahrheitsgemäß zu beantworten, und es müßte der ärzt¬
lichen Behörde das Recht zustehen, ihm die Beibringung von
Attesten oder Gutachten seitens der Ärzte, die ihn behandelt
haben, zur Auflage zu machen. Zwischen der Untersuchung und
der Eheschließung dürften nur einige Wochen liegen. — Wollte
man die heutigen Kreisphysici oder Bezirksärzte mit einer solchen
Aufgabe betrauen, so müßte zuvor erstens ihre jetzige gemischte,
teils amtsärztliche, teils privatärztliche Stellung in eine ausschlie߬
lich amtsärztliche umgewandelt werden, wie es im Entwurf des
preußischen Medizinalreformgesetzes anfänglich geplant gewesen
war, den jedoch die Regierung schließlich (1899) wieder fallen ließ,
und zweitens müßte von ihnen eine spezielle Vorbildung für die
neue Funktion verlangt werden. Anderenfalls müßte man hierfür
besondere Amtsärzte aufstellen. Wie groß die Bezirke für je
einen sein könnten, würde sich vorläufig schätzungsweise und nach¬
her durch die Erfahrung festsetzen lassen. Es könnte auch für Be¬
rufungsinstanzen gesorgt werden, etwa zusammengesetzt aus je drei
Ärzten, je ein solches Kollegium für eine größere Anzahl von Bezirken.
Besonders hinsichtlich der Gonorrhoe, die nicht nur wegen
ihrer viel größeren Verbreitung die Syphilis an Bedeutung über¬
trifft, sondern auch dem einzelnen gar nicht selten weit verderb¬
licher wird als eine normal verlaufende Syphilis, würde die ge¬
forderte Anordnung und Einrichtung einer sachkundigen Unter¬
suchung der männlichen Ehekandidaten ungemein viel Übel verhüten.
Von der Schwierigkeit dieser Untersuchung war bereits die Rede,
und auch davon, daß nur bei einem kleinen Teil der Privatärzte
die Vorbedingungen für jenen Grad von Zuverlässigkeit der Unter¬
suchung gegeben sind, der heute eben erreichbar ist, und daß
insbesondere von ihnen die unerbittliche Strenge des Urteils, die
mit Rücksicht auf das Gemeininteresse, wie auch auf das individuelle
der Beteiligten, hier geboten ist, in der Regel nicht erwartet
werden darf.
Was die technische Ausrüstung anlangt, so ergibt sich aus
den Untersuchungen, die Fr. Meyer in seiner Abhandlung „Über
die chronische Gonorrhoe und den Gonokokkennachweis“ 1 ) ver-
') Deutsche Med. Wochenschr. 1903. 36.
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404
Schallmayer.
öffentlicht hat, die Überlegenheit der kulturellen Methode. Während
andere Autoren bei chronischer Urethritis nur in 8—14 °/ 0 der
Fälle Gonokokken nachweisen konnten, vermochte Meyer vermittels
des kulturellen Verfahrens in 45 von 90 Fällen noch Gonokokken
festzustellen, und darunter sind 29 Fälle, bei denen die Unter¬
suchung mittels des Mikroskops stets negative Ergebnisse geliefert
hatte. Wegen der technischen Schwierigkeiten der kulturellen
Methode ist sie bisher nur ganz selten angewendet worden, da man
unzutreffend die Färbemethode in der Regel für ausreichend hält
Fr. Meyer schlägt vor, öffentliche, leicht zugängliche Laboratorien
zu schaffen, in welchen kulturelle Untersuchungen gonokokkenver¬
dächtiger Sekrete von geübter Hand ausgeführt würden. Auch
dieser Vorschlag, dessen Ausführung sicher einen großen Fortschritt
bedeuten würde, macht die Forderung einer obligatorischen vorehe¬
lichen Untersuchung keineswegs überflüssig, da sonst wohl nur
eine kleine Minderheit chronisch gonorrhoischer Ehekandidaten von
jener Einrichtung Gebrauch machen würde. Auch die mit der
Untersuchung der Ehekandidaten betrauten Amtsärzte würden
natürlich mit solchen Laboratorien zu kulturellen Untersuchungen
auf Gonokokken ausgestattet. Vielleicht würde (analog den Wirkungen,
welche eine erhöhte Nachfrage in der industriellen Technik zu haben
pflegt) das vermehrte Bedürfnis, von der kulturellen Methode Ge¬
brauch zu machen, bald zu ihrer Vervollkommnung führen. Jeden¬
falls aber würde sich daraus eine verhältnismäßige Minderung des
Arbeits- und Materialaufwandes für den einzelnen Fall ergeben.
In den Fällen, in welchen durch den Befund oder die Anamnese
festgestellt würde oder sich die Wahrscheinlichkeit ergäbe, daß sich
der Ehekandidat Syphilis zugezogen hat, hätte dieser der ärztlichen
Behörde behufs Feststellung des Zeitpunktes, wann die Infektion
stattgefunden, ein Attest von Seite des behandelnden Arztes zu
erbringen. Die Erteilung des zur Eheschließung verlangten Gesund¬
heitsattestes würde hier in erster Linie von dem Nachweis ab¬
hängig zu machen sein, daß seit der Infektion eine gewisse Zahl
von Jahren verflossen ist, mindestens 4, besser noch 1 bis 2 Jahre
mehr. Es ist nicht nötig, soweit zu gehen, wie manche Autoren,
z.B. Prof. A. He gar 1 ), welcher meint: „Menschen, welche Lues gehabt
haben, werden am besten auf die Fortpflanzung verzichten.“
Außerdem müßte der Nachweis verlangt werden, daß mindestens
x ) Der Geschlechtstrieb, Stuttg. 1894. S. 147.
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Infektion als Morgengabe.
405
seit einem Jahr keine syphilitischen Erscheinungen mehr zu finden
waren. Dieser Nachweis wäre vielleicht dadurch zu erbringen,
daß der Ehekandidat schon 1 Jahr vor beabsichtigter Eheschließung
etwa allmonatlich dem Amtsarzt des Bezirkes, in welchem er sich
gerade befindet, zur Untersuchung sich stellt und sich den Befund
bestätigen läßt.
Auf diese Weise würde die von der Syphilis drohende Gefahr
ziemlich auf das erreichbare Minimum herabgesetzt werden. Die
ziemlich seltenen Ausnahmefälle, in welchen die Übertragbarkeit
der Syphilis über längere Latenzperioden hin fortdauert, ließen sich
allerdings durch das vorgeschlagene Verfahren nicht ausschließen.
Durchschnittlich aber wäre die Gefahr jedenfalls für die Frau und
wohl auch für die Nachkommenschaft bei solcher Normierung
doch so gering, daß es ungerechtfertigt wäre, deswegen den syphi¬
litisch infizierten die Ehe noch länger oder ganz zu versagen.
Darin stimmen fast alle Autoritäten überein. — Die Pflicht des
behandelnden Arztes zur Verschwiegenheit bliebe ganz unberührt,
da er ein Gutachten nur dem Ehekandidaten auf dessen Wunsch
zu liefern hätte. Eine Anzeigeptlicht des Arztes käme also hier¬
bei gar nicht in Frage.
Leider kann jedoch für die Forderung, daß Geschlechtskranken
die staatliche Ehebewilligung vorzuenthalten sei, nicht sofort auf
ungeteilten Beifall bei unseren gesetzgeberischen Faktoren gerechnet
werden. Sie stehen noch im Bann von Anschauungen, bei welchen
den Interessen der Einzelnen auch dann, wenn sie im Gegensatz zum
Interesse des Ganzen stehen, übermäßiges Gewicht beigelegt wird.
Wo solche Anschauungen vorwiegen, pflegt das Schlagwort „Ein¬
schränkung der persönlichen Freiheit“ als vernichtendes Argument
zu wirken. Vielleicht den extremsten Ausdruck findet diese individua¬
listische Gesinnungsweise in der Auffassung der Ehe als einer
„Angelegenheit rein privater Natur“. Unser sittliches Gefühl ist
zugunsten des Individuums verbildet und stellt dessen Interesse in
mancher Hinsicht sogar vor das soziale Interesse, d. h. vor das
Gesamtinteresse der jeweils lebenden Generationen des Gemein¬
wesens. Dabei erfreut sich aber dieses soziale Interesse immerhin
einer viel größeren Anerkennung als das generative oder Kasse¬
interesse, d. i. das Gemeininteresse mit Einschluß der kommenden
Generationen des Gemeinwesens. Dem Individuum Opfer zugunsten
der Rasse zuzumuten, wird von den meisten einstweilen noch als
Zeitschrift f. Bekimpfung d. Geschlechtikrankh. II. 30
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406
Schallmayer.
eine ganz unbillige Zumutung empfunden. Die moderne Aus¬
dehnung des Rechtes der Individualität schließt eben eine beinahe
schrankenlose Gleichgiltigkeit gegen die Stammesinteressen, welche
auch die künftigen Generationen umfassen, in sich ein. Auch die
Humanität, deren wir uns rühmen, berücksichtigt ganz einseitig
nur die Empfindungen von Personen der jeweils lebenden Gene¬
rationen und ist völlig gefühllos und blind für die Leiden, die sie
mit ihrem selbstgefälligen Tun über die Individuen der nächsten und
der späteren Generationen bringt Das, was wir Humanität nennen,
ist darum oft Schwäche gegenüber gegenwärtigen, Grausamkeit
gegenüber kommenden Individuen. Denn die Entbehrungen, die
einigen Individuen der jeweils lebenden Generationen durch die
geforderte Aufschiebung der Eheschließung bis zu ihrer Gesundung
oder sogar durch völlige Versagung der Ehe auferlegt würde, wären
geringfügig im Vergleich zu der Summe von Elend, die den
künftigen Generationen dadurch erspart würde. „Was in der Welt
stiftet mehr Leid als die Torheit der Mitleidigen?“, rief Nietzsche.
— Die Kosten der weitherzigen Berücksichtigung der Interessen
der gegenwärtig lebenden Individuen haben hauptsächlich die fol¬
genden Generationen zu tragen. Wir machen gewissermaßen
Schulden zu deren Lasten.
Dabei zeigt unsere Humanität auch insofern eine merkwürdige
Enge des Gesichtsfeldes, als sie es zwar zu grausam findet, unglück¬
lich geborenen oder momentan geschlechtskranken Personen die
Ehe ganz oder zeitweilig zu versagen, gleichzeitig aber nicht das
mindeste dagegen einzuwenden hat, daß fortwährend sehr viele von
Natur aus gut beanlagte und gesund gebliebene Personen beiderlei
Geschlechtes durch den Zwang tatsächlicher — nicht absolut
unwendbarer — Verhältnisse teils dauernd, teils während des besten
Teiles ihrer mannbaren Zeit von der Ehe ausgeschlossen werden.
Diesen durch tatsächliche, soziale, nicht gesetzliche Hindernisse
von der Ehe ausgeschlossenen wendet sie kein merkliches Mitleid
zu. Wenn man aber an diese von Natur aus zur Fortpflanzung
geeigneten und gesund gebliebenen Personen, denen die Ehe meist
gegen ihren Wunsch tatsächlich versagt bleibt, kein Mitleid ver¬
schwendet, so sollte man es auch nicht zu grausam Anden, ge¬
schlechtskranken Personen wenigstens einen Aufschub der Ver¬
ehelichung und in einem verhältnismäßig kleinen Teil der Fälle
den völligen Verzicht darauf zuzumuten.
Leider hat diese Forderung von den Juristen unserer Gesell-
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Infektion als Morgengabe.
407
Schaft bisher nur abfällige, dabei allerdings niemals eingehende
Behandlung erfahren. Und auch von ihren ärztlichen Mitgliedern
ist meines Wissens bisher keines für sie eingetreten. Nur Prof.
Gaucher-Paris betonte auf dem Kongreß zu Frankfurt, der Arzt
solle nicht nur abraten, sondern auch verbieten können, daß jemand
heirate, wenn er geschlechtskrank ist, und verlangte, daß diese
Frage von Fachmännern, Ärzten und Gesetzgebern ernstlich
erwogen werde. Wohl hatte Prof. Neisser in der Eröffnungsrede
an die konstituierende Versammlung unserer Gesellschaft die
kräftigen Worte gesprochen: „Wir werden noch schärfere Schwerter
schwingen müssen als die sanfte Waffe der Lehre. Wir werden
die Gesetzgebung anrufen müssen ...“, aber an eine gesetzgeberische
Maßregel zur Zurückhaltung Geschlechtskranker von der Ehe¬
schließung war dabei nicht gedacht; ebensowenig von Prof. E. Hey¬
mann bei den beherzigenswerten Schlußworten seiner Abhandlung
„Zum persönlichen Eherecht" 1 ): „Der furchtbaren Gefahr der Volks¬
verseuchung ist vor allem durch geeignete gesundheitspolizeiliche
und kriminalpolitische Maßregeln entgegenzutreten, nicht durch
möglichst weite Eröffnung des Tores der Ehe für den (geschlechtlich)
erkrankt gewesenen. Seine Zurückweisung vom Familienleben
dient — so schwer sie ihn trifft — den lebenswichtigsten Interessen
der Nation." — Ausdrücklich ablehnend äußerte sich Prof. Hellwig
am Schluß seines Gutachtens über „Die zivilrechtliche Bedeutung
der Geschlechtskrankheiten", das er dem ersten Kongreß unserer
Gesellschaft erstattete. Er ist der Ansicht, daß man sich mit der
bestehenden deutschen Gesetzgebung begnügen könne. Zwar wirft
er de lege ferenda die Frage auf, ob sich die Vorschrift empfehle,
daß der Standesbeamte die Vorlegung eines ärztlichen Attestes
über freisein von Geschlechtskrankheiten zu verlangen habe; doch
erklärt er sich dagegen, einesteils wegen der damit verbundenen
„sehr bedenklichen Verletzung des Schamgefühls", andererseits,
weil es zweifelhaft bliebe, ob die Vorschrift durchgreifenden Erfolg
haben würde. Das erste Bedenken fällt weg, weil kein Bedürfnis
besteht, den Attestzwang auch auf die Bräute auszudehnen. Für
Männer wird jenes Bedenken kaum von jemanden geltend gemacht
werden. Seinen zweiten Einwand begründet Hellwig mit der Be¬
merkung, daß die Resultate der Zwangsuntersuchung bei den
Prostituierten nicht gerade ermutigend seien. Ich glaube nicht,
*) Deutsche Jurißteuzeitung, Berlin 1902. S. 113.
30*
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408
Schallmayer.
daß dieser Einwand auf durchschlagende Bedeutung Anspruch
machen kann. Bei den Prostituierten liegt die Sache schon des¬
wegen anders, weil bei diesen eine wirklich genaue, zeitraubende
Untersuchung in gar keinem Verhältnis zu dem dadurch erziel¬
baren Erfolg stände und deshalb tatsächlich nur selten zur Aus¬
führung kommt Selbst wenn eine solche bei jeder alle Tage aufs
gründlichste stattfände, bliebe der Erfolg notwendig ungenügend,
da die Erscheinungen einer stattgehabten Infektion nicht sofort in
erkennbarerWeise auftreten, sondern erst mehrere Tage und Wochen
später. Die infizierte würde also selbst bei täglicher Unter¬
suchung, die wohl nirgends stattfindet, reichlich Gelegenheit behalten,
vor der Feststellung der Infektion diese weiter zu verbreiten.
Wirkliche Strenge würde übrigens dazu führen, fast jede Prostituierte
nach einer Infektion Monate, bezw. Jahre lang im Krankenhaus
zurückzubehalten und sie nach relativ kurzer Zwischenpause —
denn eine gonorrhoische Neuinfektion wird selten lange ausbleiben —
wieder dorthin zu verbringen und so fort. Die tatsächlichen Verhält¬
nisse liegen so, daß wirkliche Strenge hier zwecklos und undurch¬
führbar wäre. — Die Gleichstellung der geforderten amtsärztlichen
Untersuchung der Ehekandidaten mit der polizeiärztlichen Unter¬
suchung der Prostituierten ist aber auch aus dem Grunde unzu¬
treffend, weil die Untersuchung der weiblichen Genitalien hinsichtlich
des Vorhandenseins eines gonorrhoischen Herdes ungleich schwieriger
ist als die der männlichen. — Übrigens gibt es wohl nur wenige
Gesetze und Wohlfahrtseinrichtungen, deren Erfolg nicht zu wün¬
schen übrig ließe, und ganz besonders läßt sich das auch von den
Rechtsmitteln der Eheanfechtung und Ehescheidung sagen, die der¬
selbe Autor für ausreichend erklärt, „um sich gegen die schlimmen
Folgen zu schützen, welche die Fortsetzung der Ehe mit einem
Geschlechtskranken haben würde“. Vom juristischen Standpunkt
mag die Sache in schönster Ordnung erscheinen. Dem praktischen
Bedürfnis aber können jene Rechtsmittel nicht genügen. Denn die
Fortsetzung der Ehe ist in solchen Fällen das kleinere Übel; das
Hauptübel ist gewöhnlich bereits durch das Eingehen der Ehe
vollzogen. Auch ist nur ein winziger Bruchteil der betroffenen
Frauen tatsächlich in der Lage, sich dieser Rechtsmittel zu be¬
dienen. Und auch diesen ist besten Falles nur halb damit gedient.
Schon die manigfachen Schwierigkeiten, die Langwierigkeit und
die sonstigen Unannehmlichkeiten, mit denen gerichtliche Streit¬
führungen unzertrennlich verbunden zu sein scheinen, und die in
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Infektion als Morgengabe.
409
einer solchen Angelegenheit für eine Frau besonders drückend
sind, fallen schwer ins Gewicht Aber auch in den Fällen, wo
die Scheu davor nicht ausreichen würde, um die Frau davon
abzuhalten, gegen ihren Mann gerichtlich vorzugehen, wird sie mit
nur seltenen Ausnahmen vorziehen, darauf zu verzichten, da auch
ein zu ihren Gunsten ausfallendes gerichtliches Urteil unter keinen
Umständen die bereits erfolgte Defloration, Infektion und vielleicht
auch Schwängerung rückgängig machen kann, und außerdem sind
ja die Verhältnisse nur in einem Teil der Fälle so gelagert, daß
die Frau für die genannten Schäden sowie für die Minderung ihres
Frauenwertes in der öffentlichen Meinung — eine solche Minderung
pflegen Ehescheidung u. dergl. und besonders das Bekanntwerden
einer Infektion für die Frau zur Folge zu haben — wenigstens
eine finanzielle „Entschädigung“ erreichen kann. Mag die Frau
an der Tatsache, daß sie syphilitisch oder gonorrhoisch infiziert
worden ist, noch so unschuldig sein, sie ist nichtsdestoweniger in
den Augen der Gesellschaft gewissermaßen geschändet, und ihr
Geschlechtswert erleidet durch diese Tatsache unleugbar eine Ein¬
buße. Sie wird deswegen fast immer bestrebt sein, die von ihrem
Mann erworbene Geschlechtskrankheit geheimzuhalten, was in der
Regel nur unter Verzicht auf gerichtliches Vorgehen gegen ihren
Mann möglich ist — Dazu kommt, daß sehr viele Frauen von
ihren Männern infiziert sind, ohne es zu wissen. Sie sind aber
doch geschädigt, und auch für das Gemeinwohl sind diese Fälle
nicht viel geringer nachteilig als die anderen.
Aus alledem erhellt, daß den in jüngster Zeit hier mit be¬
sonderer Aufmerksamkeit behandelten juristischen Fragen, inwiefern
vorehelich und außerehelich erworbene Geschlechtskrankheiten
Grund zur Anfechtung oder Scheidung der Ehe sein können, nur
eine verhältnismäßig geringe praktische Bedeutung zukommt. Das
praktische Bedürfnis verlangt gegen das Hineintragen von Ge¬
schlechtskrankheiten in die Ehe nicht so sehr die Möglichkeit der
Ehescheidung oder Eheanfechtung, sondern vor allem Vorbeugung
durch Verhinderung solcher Eheschließungen. Dadurch würde
sowohl für das individuelle wie für das Basseinteresse unendlich
mehr erreicht, als durch alle Möglichkeiten von Eheanfechtung,
Ehescheidung, sowie verschärfter strafrechtlicher Verantwortlichkeit
für Übertragung von Geschlechtskrankheiten, zumal wenn, wie
Prot v. Liszt und J. Köhler vorschlugen, diese Handlung in den
Fällen, in welchen sie von einem Ehegatten gegen den anderen
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410
Schallmayer.
begangen ist, nur auf Antrag verfolgt werden soll, was ja praktisch
fast immer auf Straflosigkeit herauskäme. Ganz anderen Geistes
ist ein in Michigan geltendes Ehegesetz, das in besserer Würdigung
der hervorragenden Bedeutung gerade dieses Falles die Bestimmung
enthält, daß die Ehegatten gezwungen werden können, gegen ein¬
ander Zeugnis abzulegen, wenn der eine Teil mit Syphilis oder
Gonorrhoe behaftet in die Ehe getreten ist
Vielleicht hat Oberlandesgerichtsrat Schmölder nicht Unrecht,
wenn er in seinem dem Frankfurter Kongreß erstatteten Referat
über „Die strafrechtliche und zivilrechtliche Bedeutung der Ge¬
schlechtskrankheiten“ gegenüber den Forderungen neuer Straf¬
gesetze von einer Überspannung der staatlichen Strafgewalt spricht
und meint, „der Pfad zu neuen Strafgesetzen darf nur mit größter
Vorsicht beschritten werden“. Aber leider stimmt er auch in der
Verneinung der Frage, ob ein Gesetzesvorschlag zu empfehlen sei,
nach welchem für die staatliche Ehebewilligung der Nachweis des
freiseins von Geschlechtskrankheiten zu erbringen wäre, mit
Hellwig überein. Er rügt, daß man überhaupt die Kampfesmittel
in sachwidriger Weise zu häufen anfange. Auch er ist der Meinung,
durch das bürgerliche Gesetzbuch sei das Zivilrecht auf dem, die
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten berühren¬
den Gebiet zu einem zufriedenstellenden Abschluß gekommen.
Hoffentlich nehmen recht viele an dieser Zufriedenheit nicht teil
und halten es in Anbetracht der dargelegten Verhältnisse für eine
unabweisbare und auch höchst verdienstliche Aufgabe unserer Ge¬
sellschaft, die Errichtung einer wirksamen gesetzlichen Schranke
zu befürworten, durch welche Geschlechtskrankender Zutritt zur Ehe
verwehrt wird. — Die spezielle Begründung seiner Ablehnung lautet:
„Ein Attestzwang hat einen Nutzen bei dem Verhältnis zwischen Säug¬
ling und Amme, wo der Vertrag oft zwischen wildfremden Personen
in größter Eile geschlossen werden muß .... Brautleute aber und
deren Angehörige haben zu eigenen Feststellungen stets ausreichend
Zeit und Gelegenheit Diese eigenen Feststellungen bieten eine
viel größere Garantie. Der Attestzwang könnte hier einschläfernd
wirken und dem Irrtum und der Täuschung von neuem Tür und
Tor öffnen. Dabei werden auch Ehen, wenngleich nur ausnahms¬
weise, zur wechselseitigen Unterstützung .... geschlossen. Bei
diesen Ehen fallt eine Geschlechtskrankheit nicht mehr ins Gewicht
als jede andere Krankheit Außerdem kann das Interesse vor¬
ehelicher Kinder den baldigen Abschluß einer Ehe selbst dann
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Infektion als Morgengabe.
411
fordern, wenn der eine Teil sich geschlechtlich infiziert hat. Ich
sage: Hier ist kein Baum für staatliche Bevormundung. Hier muß
es, auch im Interesse des Allgemeinwohls, heißen: „Jeder sehe,
wie ers treibe.““
Diese Gründe dienen offenbar ausnahmslos zunächst nur zur
Verfechtung individualistischer Interessen, die ja allerdings mit dem
Allgemeinwohl Hand in Hand gehen könnten. Im vorliegenden
Fall jedoch trifft dies ganz gewiß nicht zu, und auch .den individua¬
listischen Interessen wird mit der Bekämpfung jener Forderung
nur für den Augenblick und unter schwerer Verletzung der Interessen
anderer Individuen gedient. Das dürfte aus den vorausgehenden
Darlegungen hervorgehen. Diesen zufolge erscheint es auch als eine
bloße Fiktion, daß die Brautleute oder deren Angehörige gewöhnlich
oder stets in der Lage seien, gegenseitig die Abwesenheit anstecken¬
der Geschlechtskrankheiten festzustellen; jedenfalls steht ihnen die
Möglichkeit zu solchen „Feststellungen“ wohl niemals in einer Weise
zu Gebote, die irgend eine Garantie gewähren könnte. Ein Attest¬
zwang von der hier vorgeschlagenen Art würde nicht einschläfernd
wirken, sondern eher gegenteilig, er würde höchst wahrscheinlich die
Wirkung haben, daß bei den jungen Leuten, die nicht ledig zu
bleiben im Sinne haben, gegenüber der Gefahr, sich geschlechtlich
zu infizieren, künftig eine größere Vorsicht üblich würde als gegen¬
wärtig. „Dem Irrtum und der Täuschung“ in der Frage, ob eine
früher erworbene Geschlechtskrankheit noch ansteckend ist oder nicht,
sind die Ehekandidaten — von ihren bedrohten Bräuten gar nicht zu
reden — gegenwärtig, selbst wenn sie hierbei Ärzte zu Rate ziehen,
und noch mehr, wenn sie das nicht tun, in viel höherem Grade
ausgesetzt als bei der angestrebten Entscheidung dieser Frage
durch hierzu wissenschaftlich und technisch besonders ausgerüstete
und völlig unbefangene Amtsärzte. Auf die von Schmölder an¬
geführten anormalen Fälle, in denen die Ehe nicht ihrer eigent¬
lichen Bestimmung dienen und jede geschlechtliche Betätigung
zwischen den „Gatten“ ausgeschlossen sein soll, kann doch nicht
prinzipiell Rücksicht genommen werden. Aber man könnte ja für
derartige besondere Fälle unter Umständen Dispens zulassen. Hingegen
erscheint es mir bereits als eine allzuweit gehende Berücksichtigung
eines individualistischen Interesses, noch dazu verbunden mit einer
schweren Schädigung des Wohles einer anderen Person, vielleicht
sogar mehrerer Personen, wenn mit Rücksicht auf ein vorehelich
gezeugtes, noch ungeborenes Kind zugelassen werden soll, daß der
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412
Schallm&yer.
Vater, obgleich noch mit einer ansteckenden Geschlechtskrankheit
behaftet, die künftige Mutter seines Kindes heirate, daß er also
diese Mutter, wenn sie noch nicht infiziert ist, mit fast unfehlbarer
Sicherheit ebenfalls infiziere, und daß in jedem Fall, mag sie schon
vorehelich infiziert sein oder erst der Infektion in der Ehe aus¬
gesetzt werden, die Gesundheit der späteren Kinder, eventuell auch
die des schon gezeugten, gefährdet, oder die Gattin unfruchtbar
gemacht werde; daß überhaupt eine Ehe zustande komme, die
weder für die Gatten noch für die Kinder und erst recht nicht
für das Gemeinwohl gedeihlich zu werden verspricht — Mir scheint,
daß von den Gründen, die Schmölder gegen den Attestzwang vor¬
gebracht hat, nichts übrig bleibt.
Auch Prof. v. Bar 1 ) begründet seine Ablehnung des Attest¬
zwanges ausschließlich mit Rücksichten auf das individualistische
Interesse. Er meint, daß durch jene Forderung eines gewissenhaft
auszustellenden Attestes das Lehensglück vieler Personen vernichtet
oder gefährdet werde. Aber ist denn auch nur mit einiger Wahr¬
scheinlichkeit anzunehmen, daß durch Ehen, die von Anfang an
venerisch vergiftet werden, das Lebensglück solcher Männer be¬
gründet werde — gar nicht zu reden vom Lebensgltick ihrer Frauen,
die der Infektion preisgegeben werden sollen und von der Rück¬
sicht auf das Wohl der Nachkommenschaft! In Wirklichkeit
würde durch die erstrebte Verhinderung bezw. Verschiebung solcher
Eheschließungen eine Unsumme von Unglück und Elend ver¬
hütet werden. — Die durch die Forderung eines solchen Attestes be¬
dingte Erschwerung der Eheschließung fällt gegenüber der ungemein
großen Bedeutung dieses Schrittes nicht schwer in die Wagschale.
Andere als Geschlechtskranke werden sich dadurch nicht leicht
zurtickhalten lassen, schon weil sie sich sonst dem Verdacht aus¬
setzen würden, geschlechtskrank zu sein. Viele sind stolz darauf,
militärtauglich befunden zu werden, auch wenn sie sich nach dem
Militärdienst selbst keineswegs sehnen. Man würde nicht weniger
stolz darauf sein, ehe tauglich befunden zu werden, zumal da der
Ehestand den meisten erwünschter erscheint als der Soldatenstand.
— Ein weiteres Bedenken, das v. Bar gegen unseren Vorschlag aus¬
spricht, nämlich daß die Vererbung von Krankheiten und Schwächen
noch keineswegs für alle oder auch nur für eine überwiegende An¬
zahl von Fällen nachgewiesen sei, ist für den in Frage stehenden
l ) Zeitschr. f. Bek. d. Geschlechtekrankh. Bd. I. S. 64.
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Infektion als Morgengabe.
413
Vorschlag ganz unzutreffend da es sich hier doch um Krankheiten
handelt, die beide zweifellos infektiös sind und die eine davon
außerdem auch erblich übertragbar.
Manche halten es für empfehlenswert, daß syphilitische Männer
sich mit ebenfalls schon syphilisch infizierten Weibern verheiraten,
weil dabei für keinen Teil eine Infektionsgefahr besteht. Aber
schon mit Rücksicht auf die Nachkommenschaft sollten auch solche
Heiraten nicht als zulässig gelten, außerdem auch deshalb, weil
die so häufig außerordentlich rasch aufeinanderfolgenden Aborte
die Gesundheit der Frau schädigen. Beide sollen warten, bis ihre
Syphilis abgelaufen ist, schlimmsten Falles aber dauernd ledig
bleiben. Letztere Notwendigkeit gehört aber zu den Ausnahme¬
fällen.
Privatim wurde mir eingewendet, daß bei der ungeheuren
Verbreitung der Geschlechtskrankheiten die praktischen Schwierig¬
keiten einer Durchführung des Attestzwanges allzugroß sein würden.
Allein je größer das zu verhütende Übel ist, desto mehr ist es
auch geboten, sich durch keine Schwierigkeit von ihrer Verhütung
abhalten zu lassen, und man wird nicht sagen können, daß auch
beim besten Willen unüberwindliche Schwierigkeiten dem vor¬
geschlagenen Modus entgegenstehen. — Ferner wurde mir privatim
entgegengehalten, daß auch der selektorische Wert jener geforderten
Maßregel ein zweifelhafter wäre, da ja nach den statistischen Er¬
gebnissen Blaschkos die begabteren Bevölkerungsschichten ver¬
hältnismäßig stärker an den Geschlechtskrankheiten beteiligt sind
und dementsprechend auch stärker von der vorgeschlagenen Ma߬
regel getroffen würden. Jedoch dem Rasseinteresse ist nicht damit
gedient, daß begabte Personen (Eugeneten nennt sie S. R. Stein¬
metz 1 ) nach G. de Lapouge in geschlechtskrankem Zustand
heiraten. Infizieren sie ihre Frauen, die gewöhnlich ebenfalls
aus den wohl durchschnittlich begabteren Schichten stammen,
mit Gonorrhoe, so bleiben in sehr vielen, vielleicht in der
Mehrzahl dieser Fälle, die Ehen entweder kinderlos, oder es wird
nur ein einziges Kind geboren. Infizieren sie ihre Frauen syphili¬
tisch, so bleiben auch diese Ehen sehr oft kinderlos, weil die
Frucht wieder und wieder schon im Mutterleib abstirbt oder in
nicht lebensfähigem Zustand geboren wird. Und wenn auch in
*) Der Nachwuchs der Begabten, Zeitschrift für Sozialwiss. VII. Bd.
1. Heft 1904.
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414
Schallmayer.
vielen derartigen Ehen ein Teil der Kinder das Fortpflanzungs-
alter erreicht, so sind es doch vom Keim aus geschwächte Indi-
viduen, welche auf ihre Nachkommen bestenfalls nur eine mangel¬
hafte Konstitution vererben. Selbst wenn es notwendig wäre, die
geschlechtskranken Eugeneten dauernd von der Ehe auszu¬
schließen, würde die Rassegüte meines Erachtens nichts mehr da¬
durch verlieren, sondern noch gewinnen. Sie wird aber noch mehr
gewinnen, wenn die Maßregel solche Ehekandidaten nur nötigt,
vor der Eheschließung sich zu vergewissern, bezw. dafür zu sorgen,
daß sie keine Ansteckungsgefahr mehr in die Ehe mitbringen. In
der großen Mehrzahl der Fälle würde es sich wie gesagt, nur
um einen Aufschub der Verheiratung handeln, der in diesen
Fällen im Rasseinteresse schon an und für sich wünschenswert
wäre. Wahrscheinlich aber würde eine solche Maßregel außerdem
die gute Nebenwirkung haben, einerseits die Vorsicht gegenüber
der Gefahr, sich anzustecken, und andererseits das Gewissen gegen¬
über der eigenen, aktiven Ansteckungsfähigkeit bei sehr vielen, die
sonst in beiden Richtungen dem jetzt noch so sehr üblichen Leicht¬
sinn huldigen würden, heilsam zu schärfen. Es ist also nicht nur
vom Standpunkt der Selektion, sondern auch vom Standpunkt der
direkten Keimhygiene wünschenswert, daß insbesondere auch die
Eugeneten in wirksamer Weise verhindert werden, mit ansteckungs¬
fähigen Krankheiten in die Ehe zu treten, und zu diesem Zweck
gibt es wohl, wie dargelegt wurde, kein irgendwie zuverlässiges,
anderes Mittel, als die vorgeschlagene Maßregel.
Manche begnügen sich, die Forderung einfach mit dem Schlag-
wort Utopie abzufertigen, ohne sie einer weiteren Wiederlegung zu
würdigen. Die logische Wucht eines solchen Schlagwortes steht
aber nicht immer so groß wie der starke, ausschlaggebende
Eindruck, den es bei so vielen hervorruft. Man braucht ja
nicht einmal besonders alt zu sein, um die Verwirklichung
einer Bestrebung schon erlebt zu haben, von der man früher
nur als von einer Utopie gehört hat Utopie, das bedeutet
doch eine Idee, die nirgends noch verwirklicht war und ist und
auch gar keine Aussicht hat, in absehbarer Zeit verwirklicht zu
werden. Weder das eine noch das andere trifft für die in Rede
stehende Forderung zu. Denn in verschiedenen Staaten der nord¬
amerikanischen Union ist sie, wenn auch nicht so sehr in Hinsicht
auf Geschlechtskrankheiten, sondern vorwiegend auf Geisteskrank¬
heiten, bereits verwirklicht Im Prinzip besteht aber kein Unter-
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Infektion als Morgengabe.
415
schied zwischen der hier vertretenen Forderung und der dort
bereits bestehenden Gesetzgebung.
Wie Medizinalrat P. Näcke unter Berufung auf eine Notiz
in den „Archives d’anthropologie criminelle“ etc. 1903, S. 757,
die mir momentan leider nicht zugänglich sind, im 11. Bd. des
„Archiv für kriminelle Anthropologie“ etc. v. 16. April 1903, S. 266
mitteilt, „müssen im Staate Dakota die Personen, die sich zu
ehelichen gedenken, gesetzlich durch eine Jury von Ärzten auf
somatische und geistige Fehler sich untersuchen lassen“. Leider
kann ich einstweilen einigen Zweifel an der Richtigkeit dieser
Mitteilung nicht unterdrücken, einmal, weil es wohl einen Staat
North-Dakota und einen Staat South-Dakota, nicht aber einen Staat
Dakota gibt, und dann, weil ich schon einmal die Erfahrung ge¬
macht habe, wie unzuverlässig derartige Nachrichten zuweilen sind.
So hatten die „Münch. Neueste Nachr.“ im Vorabendblatt zum
3. März 1899 die Nachricht gebracht, der Staat North-Dakota habe
soeben ein Gesetz angenommen, wonach jeder Ehekandidat zur
Erhaltung der staatlichen Ehebewilligung ein Zeugnis des Amts¬
arztes beizubringen habe über seine geistigen und körperlichen
Fähigkeiten. Das Zeugnis müsse namentlich bescheinigen, daß der
Ehekandidat nicht mit Tuberkulose, Irrsinn und Säuferwahnsinn
erblich belastet sei. Um mich von der Richtigkeit dieser Nachricht
zu überzeugen, richtete ich eine briefliche Anfrage an den Vor¬
sitzenden des Committee on Expenditures on Public Buildings zu
Washington, Mr. Rob. J. Gamble, der im House of Represeni
U. S. zugleich Vertreter des Staates South-Dakota ist, und erhielt
von ihm im Juni 1900 den Bescheid, daß ein Gesetz obigen In¬
haltes in der letzten Gesetzgebungssession von North-Dakota aller¬
dings vorgeschlagen gewesen, aber nicht durchgegangen sei. Diese
Erfahrung mahnt auch gegenüber obiger Mitteilung der Archives
d’anthrop. er. einstweilen zur Vorsicht, wenn es auch nicht gerade
unwahrscheinlich ist, daß der früher abgelehnte Vorschlag in letzter
Zeit zur Annahme gelangte, zumal da auch in anderen Union¬
staaten ähnliche Gesetze durchgesetzt worden zu sein scheinen.
So ist nach einer Mitteilung des bekannten Gynäkologen Prof.
A. He gar 1 ) „im Unionstaat Michigan ein Gesetz schon in Geltung,
das Verheiratung Geisteskranker und Idioten verbietet, sowie
l ) Die Untauglichkeit zum Geschlechtsverkehr. Polit. - Anthr. Revue,
Mai 1902. S. 104.
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Schallmayer.
Luetische und Gonorrhoische, die eine Ehe eingehen, sehr streng
bestraft .... Die Ehegatten können gezwungen werden, Zeugnis
gegen einander abzulegen. Ebenso unterliegt der behandelnde
Arzt dem Zeugniszwang“. Dieses Gesetz verhindert freilich direkt
nur die Verheiratung Geisteskranker und Idioten, nicht auch Ge¬
schlechtskranker, und sucht die Eheschließungen Geschlechtskranker
nur indirekt dadurch zu verhindern, daß es die Fälle, die nach¬
träglich ans Licht kommen, mit Strafe bedroht. 15s wird aber nur
ausnahmsweise eine Frau, die weiß, daß sie von ihrem Mann
infiziert ist, bereit sein, diese Tatsache bekannt werden zu lassen.
Sinkt doch wie schon bemerkt, ihr Wert als Frau unvermeidlich durch
die bloße Tatsache, daß sie infiziert ist. Kein noch so großes Mitleid kann
das ändern. Wohl in der Mehrzahl der Fälle hat sie aber keine
Kenntnis, oft keine Ahnung vod der Natur ihres Leidens, welches
nichtsdestoweniger wie ein Krebsschaden am Volkskörper wirkt.
Es wäre also ganz gewiß zweckmäßiger, den Geschlechtskranken
die staatliche Ehebewilligung direkt vorzuenthalten, wie es im
gleichen Staat hinsichtlich der Geisteskranken geschieht. — Auch
in Connecticut ist, wie A. Ruppin 1 ) mitteilt, seit kurzem Epi¬
leptikern und Blödsinnigen die Ehe gesetzlich untersagt — Im
alten Europa freilich sind die maßgebenden Kreise zu schwerfällig,
um sich schon jetzt zu solchen Neuerungen aufschwingen zu können,
die einen hochbedeutsamen Anfang zu einer rassebiologischen
Politik darstellen. Wie notwendig eine solche ist, hat der Ver¬
fasser dieses Aufsatzes in einer bereits erwähnten Schrift „Ver¬
erbung und Auslese im Lebenslauf der Völker“ (Jena, 1903), in
welcher die Entartungsfrage das Hauptthema bildet, darzutun ver¬
sucht. Einstweilen sind bei uns derartige Bestrebungen auf die in
der Politik wenig wirksame Gelehrtenwelt beschränkt, und auch in
deren Kreise fangen sie erst an, zur Geltung zu kommen. Als
der Schreiber dieser Zeilen in einem 1891 veröffentlichten Schriftchen *)
die Notwendigkeit einer solchen Gesetzgebung zu begründen suchte
und zunächst wenigstens Vorbereitungen zu einer solchen durch
Anlegung offizieller Vererbungstafeln für jede einzelne Person ver¬
langte, stand er mit dieser Forderung wohl noch völlig allein.
Seitdem hat sich jedoch, besonders in den letzten Jahren, eine statt-
*) Darwinismus und Sozialwissenschaft. 2. Teil von „Natur und Staat“
Jena, 1908. S. 89.
*) Über die drohende körperliche Entartung der Kulturvölker. Neu¬
wied, 1891.
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Infektion als Morgengabe.
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liehe Zahl von Autoren für eine solche Gesetzgebung ausgesprochen,
so unter vielen anderen H. Schüle 1 ), Al. Tille 2 ), A. Ploetz 8 ),
H. Kurella 4 ), A. v. Fircks 6 ), A. Forel 6 ), A. Hegar 7 ). Sogar in
der französischen Deputiertenkammer wurde 1900 ein derartiger
Vorschlag eingebracht, wenn auch einstweilen ohne Erfolg. Und
kurz darauf, im Juni 1900, verteidigte Prof. Pinard in der Acadömie
de Mödecine zu Paris die These, daß die Heirat allen denen unter¬
sagt werden müsse, die an einer ansteckenden Krankheit leiden
oder in gefährlicher Weise erblich belastet sind. In Überein¬
stimmung mit Dr. Cazalis forderte er die obligatorische Leibes¬
untersuchung für alle, die sich verheiraten wollen, und ein Gesetz,
durch welches allen Kranken, die an einem schweren, auf die Frau
oder die künftigen Kinder übertragbaren Übel leiden, die Ehe
absolut verboten werden sollte. Dieser Vorschlag, dessen weiteres
Schicksal mir unbekannt ist, wurde einem Ausschuß überwiesen.
Solche Forderungen sind freilich unvereinbar mit der theoretisch
wie praktisch ganz unhaltbaren, nichtsdestoweniger aber sehr ver¬
breiteten Auffassung, daß die Ehe eine Angelegenheit rein privater
Natur sei. Und doch gab es in Deutschland, wie Prof. J. Conrad 8 )
ausführt, bis in die Mitte, zum teil bis zum Ende des 19. Jahr¬
hunderts, in ausgedehntem Maße gesetzliche Eheschranken, freilich
hauptsächlich nur aus wirtschaftlichen Rücksichten, und noch heute
ist in Norwegen die Ehe allen denen versagt, die Gemeindehilfe
empfangen haben. Wir können uns aber der Einsicht nicht länger
verschließen, daß in Rücksicht auf das Gemeinwohl das Rasse¬
interesse nicht (privaten oder öffentlichen) wirtschaftlichen Interessen
nachgesetzt werden darf. Ich teile nicht ganz den bitteren
Pessimismus in dieser Hinsicht, dem Möbius 9 ) in folgenden Worten
Ausdruck gibt: „Wenn jemand noch daran zweifeln sollte, daß wir
in dicker Barbarei leben, der bedenke, wie Staat und Kirche die
*) Festrede zur Feier des 50jährigen Jubiläums der Anstalt Ilmenau. 1892.
*) Von Darwin bis Nietzsche. Leipzig, 1895.
8 ) Die Tüchtigkeit unserer Rasse etc. Berlin, 1895.
4 ) Soziale Anthropologie. In der „Zukunft“ vom 17. Aug. 1895.
5 ) Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Leipzig, 1898. S. 860.
6 ) Über Ethik. In der „Zukunft“ vom 30. Sept 1899.
7 ) Die Unfähigkeit zur Fortpflanzung. In der „Polik-Anthr. Revue“ v.
Mai 1902.
8 ) Grundriß z. Stud. d. politischen Ökonomie. 2. Teil. 3. Aufl. Jena, 1902.
S. 481 ff.
*) Geschlecht und Entartung. Halle a. d. S. 1903. S. 44.
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Sehallmayer.
Hand segnend über jedes Ehebett ausstrecken, sei es auch noch
so verrucht! Wenn eine arme Frau für ihre Kinder ein Brot weg¬
nimmt, dann kommt Frau Themis mit Schwert und Schild und
macht ein Aufheben. Wenn aber syphilitische, tuberkulöse, blöd¬
sinnige Kinder erzeugt werden, so zuckt sie mit den Achseln und
sagt: das ist Privatsache. Vorläufig ist daran nichts zu ändern.
Ob es wahr ist, daß in Nordamerika vernünftige Ehegesetze ein¬
geführt werden sollen, das weiß ich nicht, auf jeden Fall ist bei
uns keine Aussicht auf so etwas. Vielmehr muß der, der mit unseren
Zuständen nicht zufrieden ist, froh sein, wenn man mit einem mit¬
leidigen Kopfschütteln über ihn zur Tagesordnung übergeht.“ Ich
kann mir nicht versagen, auch noch folgende beherzigenswerte
Stelle desselben Schriftchens (S. 43 f.) hier wiederzugeben: „Erst
sorgt dafür, daß gesunde Menschen da seien, dann lehrt sie, bildet
sie, schmückt sie, aber ohne Gesundheit keine Güte, keine Schön¬
heit! Ein Jammer ist es, zu sehen, wie den Menschen alles
andere wichtiger gewesen ist und noch ist, als das eine, was ihnen
not tut, ein gesundes Geschlecht. Die Alten meinten, wen die
Götter verderben wollten, den verblendeten sie, und an dieses
gottlose Sprichwort muß man denken, wenn man darauf achtet,
was den Menschen alles wichtig vorkommt .... Das Reich ist
die Herrlichkeit, aber was hilft euch das Reich, wenn das Volk
verdirbt? . . . Über den Nordpol regen sie sich auf, aber das
naheliegende läßt sie kalt.... Wenn es so weiter geht, wie jetzt,
so geht das Volk zagrunde, trotz Freiheit, Bildung, Reichtum ..
In ähnlichem Sinn sprach sich der Hygieniker Prof. M. Gruber
bei der ersten öffentlichen Versammlung der Ortsgruppe München
unserer Gesellschaft aus: „Die Erzeugung und .Erhaltung einer
gesunden und edlen Rasse ist unvergleichlich wichtiger als die
Fortvererbung selbst der höchsten Kulturgüter, die in der Hand
des verkommenden doch nur taubes, wertloses Gestein sein würden.
Indes, wir müssen mit der Tatsache rechnen, so bedauerlich
sie ist, daß die Tüchtigkeit der nächsten Generation, soweit sie
nicht schon lebt, und noch mehr die Tüchtigkeit der späteren
Generationen, in der öffentlichen Wertschätzung bei uns einst¬
weilen noch nicht schwer wiegt. Jedoch durch die Eheschließung
Geschlechtskranker wird nicht blos die Tüchtigkeit der Nach¬
kommenschaft, sondern auch die Gesundheit des anderen Ehe¬
gatten, vorwiegend der Frau, geschädigt. Daß ahnungslose Bräute
vor der Verbindung mit geschlechtskranken Männern geschützt
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Infektion als Morgengabe.
419
werden müssen, wird selbst dem einleuchten, dem das Rasseinteresse
völlig gleichgiltig ist Für die Abhaltung Geschlechtskranker von
der Eheschließung spricht also nicht nur das Rasseinteresse, sondern
auch das individualistische. Darum dürfte die Forderung, daß
Geschlechtskranken die staatliche Ehebewilligung vorzuenthalten
sei, bei uns leichter und eher durchzusetzen sein als die in einigen
Staaten der Union bereits eingeführte, gesetzliche Ausschließung
psychopathisch belasteter Personen. Letztere Forderung ist bei uns
für die nächsten Jahrzehnte wohl noch ganz aussichtlos; denn für
sie spricht vorwiegend nur das Rasseinteresse. Hingegen für die
hier vertretene Forderung könnte die öffentliche Meinung, d. h. die
Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren, wohl unschwer in abseh¬
barer Zeit gewonnen werden, wenn unsere Gesellschaft sich ent¬
schließen würde, sie in ihr Programm aufzunehmen. Die geforderte
Maßregel ist ja auch viel weniger rigoros als die in Vergleich ge¬
zogene, weil bei der hier befürworteten Einrichtung die Versagung
der Ehe in der Regel nicht eine lebenslängliche, sondern nur eine
zeitweilige zu sein bräuchte. Ein weiterer Umstand, der dieser
Forderung zugute kommt, ist die noch herrschende Gewohnheit,
Geschlechtskrankheiten als selbstverschuldete anzusehen. Wenn
auch diese Anschauung großenteils weder gerecht noch verständig
oder nützlich ist, so ist sie doch nicht sofort aus der Welt zu schaffen
und kann bis dahin insofern Gutes wirken, als sie geeignet ist,
den Widerstand der öffentlichen Meinung gegen die hier vertretene
Forderung zu vermindern. Aber auch sonst hat diese Forderung,
und zwar auch gemäß den heute herrschenden Begriffen, soviel
Gerechtigkeit, Humanität und Nützlichkeit für sich, daß man zu¬
versichtlich hoffen darfj sie werde, wie schon jetzt bei so manchen,
so künftig immer mehr Anerkennung finden und in absehbarer
Zeit alle ihr noch entgegenstehenden Schwierigkeiten überwinden.
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Referate.
Sexualpädagogik.
Maria Lischnewska. über die Notwendigkeit und methodische Möglichkeit der
geschlechtlichen Belehrung der Jugend. Die Frauenbewegung. Nr. 23. 1903.
Verfasserin stellt folgende Thesen auf:
1. Die geschlechtlichen Funktionen sind wie andere Funktionen des
Leibes durchaus rein und unschuldig. Erst die Heimlichkeit, mit
welcher man sie umgibt, erweckt in dem Kinde die Vorstellung, daß es
sich um etwas Schmachvolles und Sündhaftes handle.
2. Die geschlechtlichen Vorgänge sind den Kindern aller Stände
wohl bekannt. Ältere Kinder, Dienstmädchen, die Schmutzliteratur,
Stellen der Bibel und der antiken Literatur klären sie frühzeitig auf.
Für die Kinder des Arbeiterstandes kommt hinzu, daß der eheliche
Verkehr der Eltern in demselben Zimmer, ja sogar in demselben Bette
vor sich geht, in welchem sie schlafen, und daß die Erwachsenen ge¬
schlechtliche Ausschweifungen in roher und cynischer Weise vor den
Kindern besprechen.
3. Somit werden die Kinder aller Stände in gemeinster Weise
orientiert. Ehrfurcht vor den sexuellen Vorgängen kennen sie nicht
Die erwachenden Triebe verbinden sich nun mit dieser Atmosphäre der
Gemeinheit und richten schweres Unheil an.
4. Die Schule nimmt an dieser Versündigung der Erwachsenen
gegen die Kinder in unverantwortlicher Weise teil, denn
a) sie bespricht alle Organe und Vorgänge des Körpers an der
Hand von Abbildungen aufs eingehendste, die Geschlechtsorgane
berührt sie nie.
b) In dem Religionsunterricht geht sie mit Andeutungen und
scheuen Hinweisen um die Sache herum.
c) Spricht ein Kind sein Wissen in unvorsichtiger Weise aus, so
empfängt es die schwerste Strafe.
5. Die Schule hat Mittel und Wege, das Kind in ehrfurchtge¬
bietender Weise in die Tatsachen des geschlechtlichen Lebens einzuführen.
6. Die Belehrung gehört einzig und allein in den naturgeschicht¬
lichen Unterricht und hat stufengemäß zu erfolgen.
7. Schon auf der untersten Stufe des naturwissenschaftlichen Unter¬
richtes wird das Kind über die Fortpflanzung der Pflanzen, der Fische,
Vögel und Säugetiere, sowie über die Entwicklung des Eies belehrt und
empfängt den Begriff von der Einheit der Natur.
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Referate.
421
Hier wäre anzuknüpfen:
a) die Entwicklung des Kindes im Mutterleibe. Das Kind
weiß, daß jedes Geschöpf „seinen eigenen Samen bei sich hat u
und hört nun, daß solch ein Menschenei auch im Leib der
Mutter liegt. Es findet selbst, daß dieses allmählich wachsen
muß und — nun wird ihm ein Bild gezeigt: der Leib der
Mutter, die äußere Bauchdecke zurückgeschlagen, das Kind
schlummernd. — Jedes noch unverdorbene Kind wird mit dem
höchsten Entzücken dieses Bild betrachten. — Die weitere
Belehrung muß dazu führen, im Kinde die Liebe und Ehr¬
furcht vor der eigenen Mutter zu erhöhen. Die Schmerzen der
Geburt brauchen auf dieser Stufe nur leise angedeutet zu
werden.
b) Der Befruchtungsvorgang bei Fisch und Vogel. Der
Aus- und Einfluß des Samens wird hier unter Berufung auf
das Pflanzenleben geschildert, ein befruchtetes Hühnerei wird
gezeigt. Das Innere des weiblichen Vogelleibes, und der Gang,
den der Same nimmt, ist durch eine bildliche Darstellung zu
veranschaulichen.
8. Die nächste Stufe behandelt dieselben Vorgänge beim
Säugetiere. Hier müssen schon die wundervolle Zweckmäßigkeit der
Natur, der Schutz und die Ernährung des Embryos, sowie die großen
Schmerzen der Geburt eingehend behandelt werden. — Der Begattungs¬
vorgang ist mit ruhigen, einfachen Worten zu schildern. Die Organe
des männlichen und weiblichen Tieres werden genannt. Eine Zeichnung
zeigt wieder den inneren Vorgang: den Eintritt des Samens in die Ge¬
bärmutter.
9. Kindern, welche so vorbereitet sind, kann man auf der Ober¬
stufe — also etwa mit 14 Jahren — alles sagen, was nun noch zu
sagen bleibt. Es weiß längst, daß beim Menschen die Dinge gar nicht
anders sind noch sein können, als beim Säugetier. Es kennt die Bildung
der tierischen Geschlechtsorgane, ihre Namen, ihre Funktionen.
Alles das benutzt der Unterricht. Die äußeren und inneren Fort¬
pflanzungsorgane des Menschen werden in Abbildungen gezeigt,
benannt und besprochen. Es wird dem Kinde gesagt, daß in der Ver¬
bindung von Mann und Frau dem Menschen das höchste Glück und das
furchtbarste Unglück bereitet sei, daß der Mensch sich dieses Genusses
mit Maß und Sittlichkeit bedienen und daß er nie vergessen dürfe, daß
ihm in diesem Akt eine schöpferische Gewalt gegeben sei, die eine
große Verantwortung gegenüber dem neuen Leben in sich schließe.
Ueber Erkrankungen der Geschlechtsorgane, über die Men¬
struation, über die Schädigungen durch zu frühes Geschlechtsleben, über
Vermeidung der Reizmittel Alkohol, sitzende Lebensweise, unsittliche
Bilder und Bücher — wäre das Nötige anzuschließen.
Im Anschluß hieran möchten wir noch Folgendes erwähnen:
Der vom Deutschen Verein für das Fortbildungsschulwesen zu
Frankfurt am Main abgehaltene Kursus für Lehrer hat sich in einem
Zeitschr. f. Bekämpfung d. Geschlechts krtnkh. II. 31
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422
Keferate.
Diskassionsabende mit dem Thema beschäftigt: „Belehrung der Fort¬
bildungsschüler über sexuelle (geschlechtliche) Fragen.“ Nach einem
Vortrage des Schularztes Dr. med. Laquer und nach eingehender Be¬
ratung wurden folgende Thesen angenommen:
1. Unterweisungen der Fortbildungsschüler über das Geschlechts¬
leben des Menschen sowie Belehrungen über Maßnahmen bei erfolgter
Ansteckung sind notwendig.
2. Sie müssen nach Bücksprache mit dem Lehrerkollegium im An¬
schlüsse an die naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse der Schüler durch
Ärzte — wenn angängig durch Schulärzte — erteilt werden.
3. Es empfiehlt sich, daß in jedem Halbjahre etwa dreimal eine
einstündige ärztliche Vorlesung vor allen Fortbildungsschülern gehalten
wird, welche unter Betonung der wesentlichsten allgemeinen Grundsätze
der Gesundheitspflege das Kapitel der Sexualhygiene mit Hilfe von
guten Zeichnungen, Gipsmodellen und gedruckten Merkblättern ausführ¬
lich behandelt, die dem Bildungsgrade der Schüler anzupassen sind.
4. Welche Altersklassen, beziehungsweise Jahrgänge an den Vor¬
lesungen teilzunehmen haben, entscheidet das Lehrerkollegium.
Soziales.
Adele Schreibeis Kinderwelt u. Prostitution. Leipzig, Frauen-Bundschau, 1908.
Adele Schreiber hat im Berliner Verein für Frauen und Mädchen
der Arbeiterklasse einen Vortrag über Kinder weit und Prostitution ge¬
halten , den sie nachträglich in Broschürenform hat erscheinen lassen.
„Ausgehend von der Notwendigkeit, den furchtbaren Krebsschaden des
käuflichen Liebesgenusses aus der Gesellschaft zu entfernen, schilderte die
Beferentin, wie in unserer Zeit endlich Männer und Frauen aller Stände
eifrig die Prostitution bekämpfen, statt sie, wie bisher, zu verschleiern.
Man sucht den Grund des Übels nicht einseitig in der zur Unsittlichkeit
geborenen, gleichsam direkt vorherbestimmten Einzelpersönlichkeit, sondern
in der wirtschaftlichen Notlage. Erschwerend tritt für manche Kinder
eine angeborene oder anerzogene geringere Widerstandsfähigkeit gegen
unsittliche Einwirkungen zutage, welche in günstiger Lage überwunden
wird, in einem ungeeigneten Milieu jedoch die traurige Folge zeitigt,
daß schon im frühen Kindesalter das arme Wesen der Prostitution
rettungslos anheimfällt. Hauptursache der Verderbnis sind die Ab¬
stumpfung des Schamgefühles und die vorzeitige Erregung der Sinnlichkeit,
wie sie in den überfüllten Wohnungen der Armut in allen Großstädten
(in Berlin 27000 Zimmer, in denen 6 und mehr Personen jeden Alters
und Geschlechtes gemeinsam schlafen) und in all der traurigen Ver¬
wahrlosung der Kinder sich darstellt, deren Eltern, von der Not zum
Erwerb getrieben, die kleinen Wesen sich selbst überlassen müssen.
Schlimmer noch ist die Lage für die Kleinen, die selbst arbeiten als
Blumenmädchen, als Hausierer, als Ausläufer u. s. w.
Eine genaue Umfrage bei den 12 000 geschändeten Kindern Londons
ergab, daß in vielen Fällen die eigenen Verwandten, Väter und sogar
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Tagesgoechichte.
423
Großväter, die Verführer gewesen. Im ganzen sind es ältere Männer,
von 50 Jahren bis zam hohen Greisenalter, die sich so schmachvoll an
der wehrlosen Kindheit vergehen. Mit vertrauenerweckendem Aussehen
und dem Versprechen irgend eines Geschenkes verlocken sie die armen
Kleinen, die sie oft für zeitlebens zugrunde richten. Die Erzählungen
eines frühzeitig verderbten Kindes reißt manche andere mit sich in den
Abgrund, denn die kindliche Neugier will das Erfahrene selbst erleben.
Daß in vielen Fällen die Mutter selbst die Kupplerin spielt, ist einer
der traurigsten Züge in dieser Leidensgeschichte der Kindheit. Als
Heilmittel gegen die soziale Seuche empfiehlt die Referentin vor allem
Mäßigkeit im Alkoholgenuß, da nicht nur die meisten Sittlichkeitsver¬
brechen im Rausch begangen werden, sondern auch die Trunksucht der
Eltern geeignet erscheint, die Veranlagung ihrer Kinder aufs ungünstigste
zu beeinflussen. Die Kinder von Trinkern sind in vielen Fällen epileptisch
oder schwachsinnig, und damit zu vorzeitiger Sinnlichkeit veranlagt, die
sich bei mangelhafter Erziehung nur zu bald entwickelt. Besserung der
Wohnungsverhältnisse, nach der Art der mustergültigen Häuser der ge¬
meinnützigen Baugenossenschaften in Frankfurt a. M., Kindergärten und
Kinderhorte, Behütung der Kleinen vor ungeeigneten Schaustellungen
und vor dem schädlichen Aufenthalt im Wirtshaus sind weitere nützliche
Maßregeln, wie auch die Fürsorgeerziehung, welche die Vortragende
jedoch nach Art der englischen und amerikanischen Erziehungskolonien
gestalten möchte. Diese bestehen in Einzelhäusern auf einem landwirt¬
schaftlichen Gut mit gemeinsamer Schule; ein Dorf mit Familien von
10—12 Kindern unter Leitung einer Lehrerin. Je früher die Kinder
in solch günstige Verhältnisse kommen, je besser für ihre Entwicklung.
Die Frage der Knabenliebe wurde gestreift bei Erwähnung des Buches
von Feriani über Kinderverkauf in Italien. Übergroße Armut veranlaßt
viele Eltern, ihre Kinder, meist Knaben, an einen Unternehmer zu ver¬
kaufen, der sie ins Ausland führt und in jeder Weise ausbeutet. Dieser
Menschenhandel müßte in gleicher Weise wie der Mädchenhandel inter¬
national bekämpft werden. Den Müttern legte die Vortragende ans Herz,
nicht nur den Mädchen in geeigneter Art die notwendige Aufklärung
zu geben, sondern auch die Söhne über ihre sittlichen und hygienischen
Pflichten zu belehren.“
Tagesgeschichte.
Sexuelle Hygiene und sexuelle Aufklärung in der Schule.
Über obiges Thema wurde auf dem ersten internationalen Eon-
greß für Schul-Gesundheitspflege (in Nürnberg am 6. April 1904),
zu welchem der Vorstand unserer Gesellschaft den Generalsekretär dele¬
giert hatte, in eingehender Weise diskutiert.
Prof. Dr. Schuschny-Budapest führte als erster Redner etwa fol¬
gendes aus: Wenn dieSchule die geistige und körperliche Gesundheit der Schul¬
jugend fördern soll, dann darf sie nicht der sexuellen Frage aus dem Wege
81 *
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424
Tageegeschichte.
gehen. Die „Aufklärung“ erfolgt gewöhnlich durch „aufgeklärte“ Alters¬
genossen, die ihre Kenntnisse auf dem Gebiete des Geschlechtslebens
auf demselben Wege erlangt haben. Eltern, die ihre Kinder mit der
größten Sorgfalt erziehen, können dies nicht verhüten, auch kümmern
sie sich nicht um die diesbezüglichen Kenntnisse ihrer Kinder. Der
Weg zur Wahrheit soll nicht nur unsere Kinder, sondern auch uns be¬
seelen. Eben deshalb dürfen wir nicht an der Poesie vom Storche fest-
halten, wenn unsere Kinder über diese längst hinweg sind. Man muß
das Kind schon vor der Volksschule so erziehen, daß es an der sexuellen
Frage gar nichts besonderes findet. Um das zumeist fehlende pädagogische
Geschick der Eltern zu fördern, müßten Elternabende veranstaltet werden.
Ist der Schüler vor der Pubertät aufgeklärt, dann wird ihn, wenn diese
eintritt, der Reiz des Mystischen nicht so erfassen, wie jenen Schüler, der
nach den Regeln der konventionellen höheren Sittlichkeit erzogen wird.
Die Schule könne nicht länger das sexuelle Gebiet mit Stillschweigen
übergehen. Die Nichterörterung der sexuellen Frage in der Schule
führe zweifellos zu sittlichen Übelständen. Er sei der Meinung, es handle
sich nur noch darum, wie solle die Erörterung der Sexualität in der
Schule bewirkt werden. Es sei selbstverständlich, daß die Sexualität
mit dem nötigen Ernst in der Schule erörtert werden müsse. Sehr not¬
wendig sei es, die Schüler schon frühzeitig auf die Gefahren der Selbst¬
befleckung und der geschlechtlichen Krankheiten aufmerksam zu machen.
In den Mittelschulen bietet sich dem Lehrer der Naturwissenschaften
öfters Gelegenheit, das Kapitel der Befruchtung zu streifen. Vortragender
berichtet sodann über den in den ungarischen Mittelschulen eingeführten
hygienischen Unterricht, der in der 7. (Unterprima) Klasse erteilt wird.
Dieser Unterricht wird von mehreren Schulärzten und Professoren der
Hygiene dazu benützt, um auch das Kapitel der venerischen Krankheiten zu
streifen. Der sexual-hygienische Unterricht soll etwas Aufklärung, Winke
und Ratschläge umfassen. Diese müssen in erster Linie gegen die
Masturbation gerichtet sein, auch muß Abstinenz den Schülern ans Herz
gelegt werden. Ein sehr wirksames Feld erwachse also auch in dieser
Beziehung dem Schularzt. Überhaupt müssen in dieser Beziehung
Schulmann und Hygieniker gemeinsam wirken.
Dozent Dr. med. Oker-Blom (Helsingfors) sprach danach über
Schule und sexual-hygienischen Unterricht. Dieser Redner warnte
ebenfalls vor Geheimnistuerei in sexuellen Dingen. Es sollte nicht ver¬
gessen werden, daß im Pubertätsalter eine sittliche Aufklärung dringend
notwendig sei, wenn nicht arge sittliche und gesundheitliche Nachteile
entstehen sollen. Mit der Erörterung des Geschlechtslebens müsse in
den Lehrbüchern in geeigneter Weise begonnen werden. Die Erörterung
müsse selbstverständlich mit Aufklärungen und Warnungen verbunden
werden. Es müsse mit einem Worte in den höheren Schulen Sozial¬
hygiene getrieben werden; dieser Unterricht sei von einem pädagogisch
geschulten Arzt zu erteilen. Den älteren männlichen Schülern müsse
gesagt werden, daß Enthaltsamkeit durchaus nicht gesundheitschädlich
sei, daß sie aber eventuell, wenn Verwarnungen bereits zu spät sein
sollten, sich einem Arzt an vertrauen müssen.
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Tagesgeschichte.
425
Dr. Epstein -Nürnberg besprach die Aufklärung der heran wachsen*
den Jugend über die Geschlechtskrankheiten:
Daß es notwendig ist t die heranwachsende Jugend über die Gefahren
der Geschlechtskrankheiten aufzuklären, daß hier bisher viel versäumt
worden ist, darüber dürfte heute Einstimmigkeit herrschen. Aber gleich
bei der ersten Frage, durch wen die Belehrung erfolgen soll, beginnen
die Schwierigkeiten. Die eigentlich am nächsten liegende Antwort, daß
dies Aufgabe der Eltern sei, kann nicht befriedigen. Das Haus hat hier
bisher versagt und wird ans begreiflichen Gründen auf noch lange hinaus
im allgemeinen versagen müssen. Die Aufklärungsarbeit den Lehrern zu¬
weisen, heißt diesen eine Aufgabe ansinnen, gegen die sie sich selbst
wohl am meisten sträuben würden. Zu leicht kann dabei der Lehrer
den Schülern wie deren Eltern gegenüber in eine schiefe Stellung kommen,
und so der ganze Zweck der Arbeit wesentlich beeinträchtigt werden.
Am zweckmäßigsten erscheint Vortragendem ein Vorschlag, der schon
verschiedentlich gemacht worden ist, nämlich, daß die Schulärzte damit
zu betrauen wären, die Schüler und Schülerinnen über Geschlechtskrank¬
heiten zu belehren.
Wie die Belehrungen erteilt werden sollen? Jedenfalls nicht in
eigenen Vorträgen über dieses Thema, sondern es hätte, wie das schon
von Fournier und anderen empfohlen wurde, die Besprechung sich einzufügen
in den Rahmen einer Vortragsreihe über hygienische Fragen im allgemeinen.
Es würde da genügen, vielleicht in einer Stunde die Geschlechtskrank¬
heiten selbst, ihre Häufigkeit, ihre Gefahren zu behandeln. Es wäre
dabei sehr am Platze, darauf hinzu weisen, daß die Enthaltung vom
geschlechtlichen Verkehr im allgemeinen durchaus nicht schädlich, daß
vielmehr gerade wegen der Gefahren der venerischen Affektionen es ratsam
sei, die Enthaltsamkeit bis zur Ehe durchzuführen. Auch die Onanie
müßte in taktvoller, nicht übertriebener Weise hier berücksichtigt
werden.
Andererseits müsse man sich auch vor Übertreibungen hüten, um
nicht die Jugend in hypochondrische Zustände zu treiben, die schlimmer
seien als wirkliche Geschlechtskrankheiten. Deshalb müsse vor der
gewissenlosen Lektüre gewarnt werden, die im Geldinteresse die jungen
Leute oftmals in schwere hypochondrische Zustände versetzen. Über
die Frage, welches der geeignetste Zeitpunkt sei, wird man verschiedener
Ansicht sein können. Daß man nicht zu früh mit der Aufklärung
kommen darf, ist selbstverständlich. Vielleicht wird man, wie auch
Fournier vorgeschlagen hat, zweckmäßig das 16. Lebensjahr wählen.
Es wäre also der Unterricht nicht in der Volksschule, sondern in den
Fortbildungsschulklassen kurz vor der Entlassung, in den Mittelschulen
in der 7. und 8. Klasse (Obersekunda oder Unterprima) abzuhalten.
Realschullehrer Dr. phil. St an ge r (Trautenau) sprach über: Sexuelles
in- und außerhalb der Schule. Man dürfe nicht verkennen,
daß die weitaus große Mehrheit der Jugend verdorben sei. Die Beicht¬
väter können erzählen, daß die Knaben fast ausnahmslos dem Laster der
Selbstbefleckung frönen. Den Schülern sei Aufklärung und Belehrung
in sexuellen Dingen dringend not. Es sei eigentlich Sache der Familie,
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426
. Tageßgeschieh te.
in dieser Beziehung aufklärend za wirken. Allein die Eltern besitzen
zunächst nicht das erforderliche Verständnis und das notwendige Geschick
dafür. Ganz besonders sei es den ärmeren Klassen, die aus wirtschaft¬
lichen Gründen genötigt seien, die Kinder tagsüber sich selbst zu über¬
lassen, unmöglich, die Kinder vor sittlichen Gefahren zu schützen. Aber
nicht nur die Kinder armer Eltern unterliegen sittlichen Gefahren, selbst
die Leiter der Kadettenanstalten seien aufzufordern, für Aufklärung und
Warnung ihrer Zöglinge zu sorgen. Es müsse den jungen Leuten gesagt
werden, daß der Gebrauch der Geschlechtsorgane vor dem 22. Lebens¬
jahre im allgemeinen zu frühzeitiger körperlicher Verkümmerung, Rücken¬
marks-, Gehirn-, Nervenkrankheiten usw. führe. Ganz besonders empfehle
sich, die Jugend vor dem Mißbrauch des Alkohols zu warnen, sie von
allen obszönen Schaustellungen fern zu halten und das Baden, Turnen
und Eisläufen obligatorisch zu machen. Auch den Schüler-Ausflügen
müsse mehr als bisher Aufmerksamkeit geschenkt werden. In Geschlechts¬
krankheiten sei die Anzeigepflicht der Ärzte notwendiger als bei ver¬
schiedenen Kinderkrankheiten. Das Aushängen unsittlicher Bilder in
Buchhandlungen müsse verboten und in den Mittelschulen und Internaten
seien Sittlichkeits-Inspekteure anzustellen.
Dr. Blaschko (Berlin) als Vertreter unserer Gesellschaft betonte,
daß so notwendig und zweckmäßig auch die sexuelle Aufklärung der
Jugend sei, sich der Durchführung einer solchen doch große Schwierig¬
keiten entgegenstellten, da die herrschenden Lehrpläne, um einen Konflikt
mit der biblischen Weltanschauung zu vermeiden, absichtlich jede biolo¬
gische Unterweisung aus dem Schulunterricht verbannen und die ma߬
gebenden Kreise sich am allerletzten dazu verstehen würden, die Frage
von der Entstehung und Zeugung des Menschlichen in den Unterrichts¬
plan aufzunehmen. Jedenfalls sei der heutige biologisch nicht vorgebildete
Lehrerstand zur Erteilung eines solchen Unterrichts völlig ungeeignet,
und es müsse mit einer systematischen Unterweisung der angehenden
Lehrer auf Seminaren und Universitäten über diese Fragen begonnen
werden, ehe man überhaupt an die Einführung eines derartigen Unter¬
richts an den Schulen — den höheren sowohl wie an den Volksschulen
denken könne. Eher werde sich noch eine praktisch-hygienische Auf¬
klärung der erwachsenen Jugend auf Fortbildungs-, Fach- und Hochschulen,
bzw. bei Entlassung aus dem Schulverband über die Gefahren des
außerehelichen Geschlechtsverkehrs, die Geschlechtskrankheiten und deren
Folgen durchsetzen lassen. Eine solche Aufklärung, die sich durch Vor¬
träge, Flugschriften und Flugblätter nach Art des von der Deutschen
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
herausgegebenen Merkblattes bewerkstelligen lasse, sei um so nötiger,
als die Statistik einen erschreckend hohen Prozentsatz von venerischen
Krankheiten unter den Jugendlichen aller Volksschichten aufweise.
Dr. Blaschko teilt mit, daß die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten die sexuelle Aufklärung der Jugend voraus¬
sichtlich als Beratungsgegenstand auf die Tagesordnung eines ihrer nächsten
Kongresse setzen werde.
Bürgerschuldirektor Tluchor (Wien) betonte die Notwendigkeit,
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Tagesgeschicbte.
427
die in vielen Familien herrschende Ansicht zu bekämpfen: „der junge
Mann müsse sich austoben“. Es sei das eine Ansicht, die geradezu ver¬
hängnisvoll werden könne. Redner stellt den Leitsatz auf, daß die Sexual¬
anlagen in völliger Latenz zu erhalten seien, bis der Gesamtorganismus
ausgebaut und ausgereift sei. Als Ursachen geschlechtlicher Frühreife
bezeichnet er teils von Alkoholikern und sonst anormalen Eltern ererbte,
teils erworbene pathologische und psychopathische Verhältnisse, teils
Erregungs-Dispositionen infolge aufreizender Nahrung, Mangel an Reinlich¬
keit und Bewegung, Mißleitung der Phantasie durch schamlose Erwachsene
und Halbwüchsige, sowie durch Unanständigkeiten in zur Schau gestellten
Bildern; er hebt die Blutstauungen in den Unterleibsorganen, bedingt
durch anhaltendes Sitzen, als besonders schädigend hervor. Redner
bezeichnet die häufig vorkommenden sexuellen Verirrungen der Kinder
als Hauptursachen seelischer und körperlicher Schwächezustände und
geringer Widerstandslähigkeit gegen ansteckende Krankheiten. Er ver¬
urteilt die Indolenz gegen die eminent vitale sexuelle Frage: Wer die
Augen zumacht, sieht wirklich nichts; es ist unsittlich, der reifenden
Jugend die nötigen Belehrungen vorznenthalten und es jedem einzelnen
zu überlassen, daß er zu spät erst und um den Preis seiner und anderer
Gesundheit und Ehre zu Kenntnissen gelange, welche ihm die Schule
schuldig geblieben ist. Man muß die Kinder durch den Hinweis auf
die göttliche Lehre zur Keuschheit erziehen und im Naturgeschichts¬
unterricht darauf hinweisen, daß ein zu frühzeitiger Gebrauch der Fort¬
pflanzungsorgane der Pflanzen die Fortpflanzung in hohem Maße beein¬
trächtigt, ja verkümmert. Dies kann man den Kindern sehr frühzeitig
sagen; die Kinder werden diese Belehrungen ganz von selbst auf das
menschliche Leben übertragen. Eine solche Belehrung in der Natur¬
geschichte enthält keinerlei Anstössigkeiten. Die Kinder müssen zu kalten
Abwaschungen und Leibesübungen aller Art angehalten und alles, was
die Lüsternheit erwecken könne, von den Kindern ferngehalten werden.
Ganz besonders müssen die Schüler und Schülerinnen, sobald sie ins
Pubertätsalter treten, vor den sexuellen Gefahren gewarnt werden.
Die Militär-Anstalten — auch die Kasernen — erklärt er für eine
Kategorie von Schulen und betont, daß der Staat mit dem höchsten
Ausmaß der erzieherischen Rechte auch das höchste Ausmaß erzieherischer
Verantwortlichkeit für die Gesundheit und Sittlichkeit der ihm in gesundem
Zustand anvertrauten Jugend übernimmt. Deshalb darf man auch beim
Militär sich nicht auf Revisionen beschränken, sondern den Krankheiten
durch Warnungen Vorbeugen. Dem Militarismus werden vom Volke
die gesündesten jungen Leute an vertraut, es sei daher auch die Pflicht
der Militärbehörden, dafür zu sorgen, daß die jungen Leute wieder ge¬
sund dem Volke zurückgegeben werden. Der Referent verlangt eine
gründliche Entlastung der Mittelschüler, Streichung alles für die Allgemein-
und Berufsbildung wertlosen Stoffes, dagegen aber die Darbietung der
Gesundheitslehre auf allen Stufen in einer dem jeweiligen Alter ent¬
sprechenden Weise.
Dr. med. Ungar (Außig) bemerkte, daß schon im 5. Lebensjahre
sexuelle Ausschweifungen geschehen. Man könne also mit der Prophylaxe
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Tagesgeschichte.
nicht früh genug beginnen. Man müsse eben mit der Belehrung beginnen,
noch ehe sittliche Verfehlungen geschehen seien. Es sei ja bekannt, daß
90 Proz. aller Männer in der Jugendzeit Selbstbefleckung begehen.
Einer seiner Universitätslehrer behauptete sogar 100 Proz. Diese Tat¬
sache spreche gebieterisch, auf diesem Gebiete Besserung herbeizufahren.
Dr. med. Juba (Budapest) bezeichnete es als notwendig, daß der
Schularzt auf die Krankheiten aufmerksam mache und Aufklärungen und
Warnungen erteile.
Direktor Emanuel Bayer (Wien) bemerkte: ehemalige Schüler
haben ihm über rechtzeitige Belehrungen Dank ausgesprochen.
Mädchenschul-Direktor Schwarz (Mährisch*Ostrau) bezeichnete es
als eine Hauptaufgabe, die erwachsenen Mädchen aufzuklären und zu
warnen.
Lehrerin Frl. Sumper (München) bezeichnete es als notwendig, die
hygienische Unterweisung im Einverständnis und, wenn möglich, in An¬
wesenheit der Mütter an die Mädchen zu erteilen.
Gymnasialdirektor Dr. Straoh (Prachatitz in Böhmen): Es ist bis
jetzt noch nicht gesagt worden, in welcher Weise die Belehrung über
Sexualhygiene geschehen solle. Ich habe meinen Schülern in der ersten
Klasse vor einiger Zeit gesagt: Ihr befindet Euch in einer Periode der
Entwicklung, wo es von Eurem Verhalten abhängt, ob Ihr Euch zur
vollen Manneskraft entwickeln, oder ob Ihr in geistiges und körperliches
Siechtum verfallen werdet Weun Ihr Eure geistige und körperliche
Gesundheit und Kraft erhalten wollt, dann müßt Ihr Euch jeden Alkohol¬
genusses enthalten, alle frivole Lektüre und dergleichen Bilder meiden.
Ihr müßt ferner im Bett auf der rechten Seite und nicht auf dem
Rücken liegen. Wenn Ihr trotzdem üble Folgen habt, dann empfiehlt
es sich, den Rat eines Arztes einzuholen. Ich habe ferner die Schüler
auf die schlimmen Folgen aller Ausschweifungen aufmerksam gemacht.
Ich habe den Schülern ein von Syphilis zerfressenes Gesicht gezeigt, und
ihnen gesagt, daß die Irrenhäuser in der Hauptsache von Alkoholisten
und in Venere Erkrankten bevölkert werden. Ich habe dabei die Ge¬
sichter der Knaben beobachtet. Nicht einer verzog das Gesicht zum
frivolen Lächeln, sondern auf allen Gesichtern lagerte ein tiefer Ernst.
Einige Tage später sagte mir der Stadtarzt, daß einige Schüler ihn um
Rat befragt hätten.
Über die Hygiene der Internate referierte Dr. med. Suba,
Schularzt und Professor der Hygiene in Budapest. Er definierte die
Internate als solche Anstalten, welche die Erziehung der Eltern ersetzen
wollen. Dazu gehören auch die Pensionate, Sch ul Werkstätten, Kinder¬
heime, Tagesheime usw. Redner betont, daß die Gefahr für Kinder
gerade in Internaten sehr groß sei, weil sie meist sehr schwächlich seien.
Anders sei es mit den Internaten, in denen Kinder wohlhabender Eltern
untergebracht seien, die höhere Lehranstalten besuchen. Hier kämen
aber sehr in Betracht die sexuellen Gefahren und die Verbreitung der
ansteckenden Krankheiten. Frey erkläre sich sehr für die Internate,
weil man das gesellige Zusammenleben und -arbeiten nirgends so erhalten
könne als in diesen. Gewiß sei, daß das Studium der Internisten be-
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Tagesgeschichte.
429
deutend fruchtbarer sei als das der Externisten. Um die Verbreitung
sexueller Exzesse zu verhindern, müsse der Arzt die größte Umsicht
walten lassen und energisch einschreiten.
Professor Dr. Mayer (Kremsmünster, Ober-Österreich): Es sei als
Feigheit bezeichnet worden, wenn man es vermeide, die Kinder in der
Sexualhygiene zu unterweisen. Er sei, obwohl katholischer Geistlicher,
kein Religions-, sondern Gymnasiallehrer und erteile nur altsprachlichen
Unterricht. Er sei aber der Meinung, jeder Lehrer sei ein Morallehrer, er
solle wenigstens ein solcher sein. In erster Reihe falle allerdings diese
Aufgabe den Religionslehrem aller Konfessionen zu. Diese seien in erster
Reihe berufen, im Anschluß an den Religionsunterricht, speziell im An¬
schluß an die Lehre vom sechsten Gebot, die Schüler in der Sexuallehre
zu unterweisen. Er habe hauptsächlich das Wort genommen, um dem
Vorwurf zu begegnen, daß ein „Schwarzer“ in der Abteilungssitzung
war und zu feig gewesen sei, sich an der Erörterung über Sexualhygiene
zu beteiligen.
Professor Dr. Hartmann (Leipzig): In Leipzig haben vor einiger
Zeit die Direktoren aller höheren Lehranstalten die Primaner und Sekun¬
daner zu einer Konferenz eingeladen. Die Schüler waren auch sehr
zahlreich erschienen. Man sei in Leipziger Ärzte- und Lehrerkreisen der
Ansicht, daß man schon die Sekundaner in der Sexualhygiene unter¬
weisen solle. Ein Arzt habe in der Konferenz über Sexualhygiene vom
medizinischen Standpunkte gesprochen. Alsdann erzählte ein ehemaliger
Staatsanwalt aus seiner staatsanwaltlichen Praxis einen Vorgang, wonach
ein junger Mann infolge sittlicher Verirrungen zum Ehebrecher und
Mörder geworden sei und im Zuchtbause geendet habe. Beide Vorträge
machten auf die jungen Leute einen tiefen Eindruck. In einer Großstadt
sei es dringend geboten, die jungen Leute frühzeitig vor Ausschweifungen
zu warnen.
Im weiteren Verlauf der Erörterungen wurde betont, daß Lehrer,
Arzt und Eltern gemeinsam wirken müssen, um die heran wachsende
Jugend vor sittlichen Gefahren zu schützen.
Aus Lehrerkreisen wird ein freilich für sie sehr praktisches Be¬
denken geltend gemacht. Wenn wir über das Sexualproblem in der
Schule reden, sagen sie, so setzen wir uns der Gefahr aus, daß wir von
der Schulaufsichtsbehörde gemaßregelt werden. Anerkannt wird allgemein,
daß der Gegenstand wichtig ist. Es wird darum vom Lyceal-Direktor
Schwarz (Mährisch-Ostrau) bei dem geschäftsfuhrenden Ausschüsse des
Kongresses angeregt, daß eine dauernde Abordnung zur weiteren
Prüfung der Aufklärungsfrage eingesetzt werde, die dem
nächsten Kongresse Leitsätze unterbreiten soll.
Das große Interesse, welches die vorstehend behandelte Frage auf
dem ersteh internationalen Kongreß für Schulgesundheitspflege erregte,
bekundete sich einmal dadurch, daß dieser Gegenstand in den Verhand¬
lungen fast aller Sektionen zur Sprache gebracht wurde, und daß in
der dritten Sektion, als die Frage des Sexualunterrichts zur Beratung
stand, der Saal derart überfüllt war, daß zahlreiche Kongreßteilnehmer
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Tagesgeschicbte.
keinen Einlaß fanden. Aach wurde, wie wir oben schon berichtet haben,
nachdem die Diskussion schon am 2. Kongreßtage beendigt war, dieselbe
auf allgemeinen Wunsch noch einmal wieder aufgenommen. Es geht
hieraus hervor, daß es sich bei der Frage der sexuellen Aufklärung. der
Jugend um ein äußerst wichtiges, leider bisher zu sehr vernachlässigtes
pädagogisches Problem handelt, ein Problem, zu dessen Diskussion die
Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank*
heiten in erster Linie berufen sein wird.
Im Anschluß an dieses Referat wollen wir unseren Lesern noch
über zwei Vorträge berichten, welche sich gleichfalls mit der sexuellen
Frage in der Schule beschäftigten.
Kassel, 25. Mai. Der „Landes verein preußischer Volksschul¬
lehrerinnen“ nahm nach einem Vortrage über „die Volksschule und
der Kampf gegen die Unsittlichkeit“ mehrere Thesen an, deren bedeut¬
samste lautet: „Der Volksschule fallen folgende Aufgaben zu: 1. Erzie¬
hung zur Keuschheit: a) durch die Maßregeln der Schulzucht, durch
Leibesübungen und Jugendspiele, die auf Stärkung des Willens, Erhöhung
der Selbstachtung und Pflege des Schamgefühls zu richten sind; b) durch
religiös-sittliche Beeinflussung im Gesinnungsunterricht; o) durch Aus¬
scheidung der Vollbibel und Einführung einer Schulbibel beim evange¬
lischen Religionsunterricht; d) durch unbefangene und sachliche, mit
Beginn des naturkundlichen Unterrichts einsetzende Belehrung über die
zur Erhaltung der Art erforderlichen Lebens Vorgänge bei Pflanzen und
Tieren; e) durch Belehrung über die gesundheitlichen und sittlichen
Gefahren der Unsittlichkeit für das Individuum und die Nation im
menschenkundlichen Unterricht der Oberstufe, der in der Mädchenschule
von der Lehrerin zu erteilen ist; f) durch Aufklärung über den Zusammen¬
hang von Alkoholgenuß und Unsittlichkeit. 2. Reinigung der Um¬
gebung des Kindes von unsittlichen Einflüssen: a) durch
Hausbesuche der Lehrenden; b) durch strenge Handhabung des Fürsorge-
erziehungs- und Kinderschutzgesetzes; c) durch Elternzusammenkünfte;
d) durch planvolle Jugendfürsorge im Erziehungsbeirat und Schulaus¬
schuß; e) durch Veredelung der Muße der Schuljugend; f) durch Vor¬
gehen gegen unzüchtige Auslagen und Schaustellungen, sowie gegen den
Vertrieb unsittlicher Bücher und Bilder unter Schulkindern; g) durch
Vorgehen gegen öffentliche Häuser (Bordelle).
Über das Geschlechtliche im Unterricht und in der Jugend¬
lektüre. Mit diesem Gegenstand beschäftigte sich am 17. Mai der
„Bezirkslehrerverein München“ in einem Diskussionsabend, der von
Vereinsmitgliedern wie auch von Gästen sehr zahlreich besucht war. Lehrer
Benker behandelte zunächst das Thema in einem mehrstündigen Referat
unter Zugrundelegung der überaus umfangreichen Literatur, die bereits
zu der hochwichtigen Frage des Sexuellen in der Jugenderziehung
Stellung genommen hat. Des Vortragenden Standpunkt geht dahin, daß
im Interesse der Volkssittlichkeit und Volksgesundheit der Schule auch
die Aufgabe zufällt, die Jugend während des Unterrichts über ge¬
schlechtliche Dinge aufzuklären, um so mehr, als die Erziehung in der
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Tagesgeechichte.
481
Familie in diesem Punkte vielfach versagt. Die Aufklärung muß jedoch
allmählich, stufenweise, fast unmerklich erfolgen. Am leichtesten und
natürlichsten läßt sich dies während des Unterrichts in der Botanik und
dann später in dem der Biologie erreichen. In der Fortbildungs¬
schule, in einem Lebensalter, bei dem man ohne weiteres annehmen
kann, daß die Zöglinge über das Wesentliche des geschlechtlichen Lebens
schon Bescheid wissen, sind dann die Schüler namentlich vor der Ent¬
lassung aus der Schule am zweckmäßigsten durch Ärzte in Vorträgen
über die Gefahren des außerehelichen Geschlechtsverkehrs und der Ge¬
schlechtskrankheiten zu belehren. Auf das Geschlechtliche in der Jugend -
lektüre übergehend, unterzog der Vortragende zunächst die törichte,
unwahrhaftige Prüderie gewisser Kreise, die schon zur schauderhaftesten
Verstümmelung unserer schönsten Volkslieder geführt hat, einer scharfen
und eines gesunden Humors nicht entbehrenden Kritik. Das Erotische
in der Jugendlektüre schadet der Kinderseele nicht nur nicht, sondern
lehrt das Kind über das Liebesieben vernünftiger und reiner denken,
solange das Gebotene, in der Form keusch, das Liebesieben in seinem
edlen Verlaufe schildert; nur dessen Schattenseiten und Abwege sind
aus der Jugendlektüre fernzuhalten, und hierüber mit Ernst zu wachen,
bezeichnet der Redner als Pflicht der Lehrerschaft
Die sich an den Vortrag anschließende kurze Ansprache lautete
fast durchweg zustimmend, worauf die an wertvollen Anregungen reiche
Veranstaltung ihren Abschluß fand.
Braunschweig. Zu einem Ausführungsgesetz des Reichs¬
seuchengesetzes lag im Braunsohweiger Landtage folgender An¬
trag Selwig vor:
„Wer an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit (Syphilis, Tripper
oder Schanker) leidet, hat sich sofort nach Erkennung seines Krank¬
heitszustandes in die Behandlung eines zur Ausübung des ärztlichen
Berufes befugten Arztes zu begeben; indessen sind die Behörden nicht
berechtigt, irgend eine Person (ausgenommen solche, welche gewerbs¬
mäßig Unzucht treiben) zu dem Zwecke der Feststellung einer angeb¬
lich vorhandenen Geschlechtskrankheit in Bezug auf ihren Gesundheits¬
zustand untersuchen zu lassen.“
Die Kommission gibt Ablehnung des Antrages anheim, da sie glaubt,
daß die Verfügung doch nicht ausgeführt werden wird. Wer nicht zum
Arzte gehen wolle, werde es doch nicht tun. Die Kommission empfehle
den Beschluß der ersten Lesung, der auch die Billigung der Regierung
gefunden habe. Dieser Beschluß lautet:
„Bei einer ansteckenden Geschlechtskrankheit, welche auf
amtlichem Wege zur Kenntnis der Behörde kommt, kann eine
zwangsweise Behandlung der erkrankten Personen angeordnet
werden, wenn solches zur wirksamen Verhütung der Aus¬
breitung der Krankheit erforderlich erscheint, und zwar ge¬
gebenenfalls in einem Öffentlichen Krankenhause.“
Der Kommissionsreferent bemerkt dazu, es solle Wert darauf gelegt
werden, daß nur solche Fälle darunter verstanden werden sollen, in
denen die Krankheit auf amtlichem Wege zur Kenntnis der Behörde komme.
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432
Tagesgescbichte.
Denunziationen sollen unter allen Umständen vermieden werden. Auch
muß die tatsächliche Kenntnis von der Krankheit vorliegen, nicht etwa
bloß der Verdacht einer solchen. Als Geschlechtskrankheiten sind an¬
zusehen : Syphilis, Tripper und Schanker. Das Gesetz über die gewerbs¬
mäßige Unzucht wird durch diese Bestimmungen gar nicht berührt.
Abg. Selwig zieht seinen Antrag zurück, da er auf Annahme nicht
rechnen könne. Er halte aber trotzdem eine solche Bestimmung für
sehr segensreich. Abg. Reuter fragt an, ob denn der Kreisphysikus
als beamteter Arzt verpflichtet wäre, Anzeige von einer solchen Krank¬
heit zu machen. Abg. Floto meint, es sei ganz ausgeschlossen, daß
Ärzte solche Anzeigen machen könnten. Geh. Rat Hart wieg gibt zu,
daß der Ausdruck „auf amtlichem Wege“ Zweifel offen lasse, aber man
habe sich schon in der Kommission darüber geeinigt, daß nur hei auf
amtlichem Wege festgestellter Krankheit die Behörde zum Einschreiten
berechtigt sein soll. Der § 7 wird darauf in der Fassung der
ersten Lesung angenommen.
Dresden. Die internationale abolitionistiscbe Föderation
wird vom 22. — 24. September d. J. einen Kongreß in Dresden ab¬
halten: Das provisorische Programm des Kongresses ist folgendes:
Donnerstag, den 22. Sept.: Die Ausbreitung der abolitionistischen
Grundsätze in Deutschland. Frau K. Scheven. Berichte der
Delegierten. Abends: Große öffentliche Propagandaver¬
sammlung.
Freitag, den 28. Sept.: Warum erachtet die Föderation die
Prostitution nicht als strafbares Vergehen? Berichterstatter:
Frau Marie Stritt-Dresden, Mr. Henri Minod-Genf. Der Neo-
Reglementarismus. Berichterstatter: Mr. Auguste de Morsier-
Genf, Frl. Anna Pappritz, Miß Leppington.
Sonnabend, den 24. Sept.: Die Rolle der obligatorischen Kranken¬
versicherung bei der Prophylaxe der Geschlechtskrank¬
heiten. Berichterstatter: P. Kampffmeyer, Mme. Pieczynska.
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Zeitschrift
für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Band 2. 1903/4. Nr. Ilu.l2 #
Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des
Arztes bei Geschlechtskrankheiten.
Referate, erstattet im Zweigverein Schlesien der Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
Referenten: Dr. med. Chotzen und Oberlandes-Gerichtsrat Simonson.
1. Herr Dr. Chotzen:
Das Arbeitsprogramm, welches der Vorstand der Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten bei seiner Konstituie¬
rung und auch späterhin mehrfach veröffentlicht hat, weist eine
Fülle von Maßnahmen auf, durch welche er nach den verschieden¬
sten Richtungen hin sein Ziel zu erreichen bestrebt sein will. So
vielfach auch die Mittel sein mögen, welche er ins Auge gefaßt
hat, das wirksamste von allen wird doch immerhin die Auf¬
klärung über das Wesen und die Gefahren der Geschlechts¬
krankheiten bilden.
Im Gegensätze zu dieser Aufklärungstätigkeit einer freiwillig
gebildeten Bekämpfungsgesellschaft kann die Aufgabe des Staates
bei der Einschränkung der Geschlechtskrankheiten nur darin be¬
stehen, ebenso wie bei allen übrigen gemeingefährlichen, übertrag¬
baren Krankheiten, durch Gesetzbestimmungen, welche die An¬
zeigepflicht auferlegen, die Aufdeckung der Krankheitsquellen
zu ermöglichen. Nur auf Grund der Anzeigepflicht kann, falls
es die persönlichen Verhältnisse der erkrankten Person
notwendig erscheinen lassen sollten, eine Isolierung oder
zwangsweise sachgemäße Behandlung durchgeführt werden.
Die gesetzgebenden Faktoren werden aber auf das Sorgfältigste
prüfen müssen, ob die Anzeigepflicht gerade bei Geschlechtskrank¬
heiten, welche im Gegensätze zu allen übrigen übertragbaren Krank¬
heiten — abgesehen von seltenen Fällen — fast immer im Bewußt¬
sein der Erkrankungsmöglichkeit erworben und aus Schamgefühl
Zeitochr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankh. II. 32
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434
Chotzen-Simonson.
möglichst verheimlicht werden, allgemein, d. h. allen Bürgern gegen¬
über, durchführbar ist, oder ob sie nicht vielmehr einen derartigen
Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Staatsbürgers darstellt,
daß dieser sich über ein solches Gesetz hinwegsetzen und es gar
nicht erst zur Durchführung kommen lassen würde.
Kommt man zu diesem Schlüsse, dann wäre ein solches Ge¬
setz nur eine unnütze Belästigung des Staatsbürgers und es ent¬
spräche dem Ansehen deB Gesetzes mehr, von seiner Aufstellung
abzusehen.
I.
In Preußen besteht nach dem zur Zeit gültigen Gesetze,
dem Regulative von 1835, eine derartige — allerdings nicht un¬
bedingte, sondern nur für gewisse Fälle gültige — Anzeigepflicht
bei Geschlechtskrankheiten, und selbst in der letzten Zeit (1898)
haben in Preußen die Minister für Medizinal-Angelegenheiten,
Justiz und Kriegswesen es für notwendig erachtet, die Bestimmungen
jenes Regulativs von 1835 der Ärzteschaft zur strengeren Be¬
achtung von neuem in Erinnerung zu bringen. Der Minister des
Innern hat sogar von den ihm unterstellten Polizeipräsidenten
verlangt, daß diese Erinnerung mit Hilfe der ärztlichen Presse in
gewissen kürzeren Zwischenräumen stets wieder aufgefrischt wird.
Die Bestimmungen des Regulativs von 1835, welches durch
seine Aufnahme in die Gesetzsammlung unangreifbare, rechtsgültige
Gesetzeskraft erlangt hat, bestimmt:
1. Eine bedingungsweise Meldung derZivilpersonen(§ 65),
wenn nach Ermessen des Arztes von der Verschweigung
der Krankheit nachteilige Folgen zu befürchten sind:
a) für den Kranken selbst,
z. B. wenn eine Kellnerin, wiewohl sie ihrem Dienstherm
mitteilt, daß sie krank wäre, zur weiteren Tätigkeit
zwangsweise angehalten wird und nicht die Dienst¬
entlassung erlangen kann, um sich in ein Kranken¬
haus zu begeben;
oder wenn ein Wanderbursche die Aufnahme in ein
Krankenhaus nicht erreichen kann, weil sich niemand
für die Tragung der Kosten seiner Krankenhaus¬
behandlung bereit erklärt
b) für das Gemeinwesen, d. h. für jede zweite und
weitere Person neben der ursprünglich infizierten,
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Meldepflicht und Verschwiegenheit-Verpflichtung des Arztes usw. 435
wenn z. B. in einem Dorfe, eingeschleppt durch ein
Individuum, eine Geschlechtskrankheit unter den weib¬
lichen Insassen und von diesen aus auf die weiteren
männlichen Bewohner sich fortpflanzt
Für derartige, wenn auch immerhin nur seltene
Fälle, erweist sich die bedingungsweise, dem Ermessen
des Arztes anheim gegebene Meldepflicht als eine
segensreiche Einrichtung.
2. Die unbedingte Meldung der unteren Militärpersonen
(§ 65, Abs. 3).
Diese Meldung ist, da sie als eine — im Sinne des Ge¬
setzes — „befugte“ anzusehen ist, auch gesetzmäßig zulässig.
(Vgl. meinen Vortrag: Die Meldepflicht bei Geschlechts¬
krankheiten. Deutsche mediz. Wochenschr. 1899. Nr. 23 u. 24.)
3. Versuche zur Ermittelung der Krankheitsquellen (§69),
allerdings nur bei „lüderlichen und unvermögenden Per¬
sonen“.
4. Eine namenlose Statistik (§ 65, Abs. 2) seitens der Medi¬
zinalpersonen und Krankenanstalten-Vorstände, welche den
Behörden in vierteljährlichen Berichten überreicht werden
sollen.
Diese Bestimmungen des Regulativs von 1835 werden nun¬
mehr aber wohl die längste Zeit in Preußen zu Recht bestanden
haben, da das Haus der Abgeordneten bereits zum zweiten Male
den Entwurf eines Gesetzes für ein Ausführungsgesetz zum Reichs-
Seuchengesetz von 1900 erhalten hat, und auch dieser zweite Ent¬
wurf nach der ersten Beratung im Plenum bereits einer Kommission
des Abgeordnetenhauses zur weiteren Durcharbeitung übergeben
worden ist. Es ist zu erwarten, daß dieser Entwurf, zumal der
Minister für Medizinal-Angelegenheiten auf dessen baldige Ver¬
abschiedung großen Wert legt, in allernächster Zeit zur endgültigen
Beschlußfassung an das Abgeordnetenhaus zurückgelangen wird.
Der erste Entwurf jenes Ausführungsgesetzes, welcher am
16. Februar 1903 dem Abgeordnetenhause zuging, hat vorgesehen:
1. Die Meldepflicht von Tripper, Syphilis und Schanker
nur bei jenen Personen, welche gewerbsmäßig Un¬
zucht treiben.
Bereits in der ersten Lesung machte der Abgeordnete
Dr. Martens darauf aufmerksam, daß diese Bestimmung nicht
durchführbar sei, weil der Arzt, in dessen Behandlung sich
32*
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436
Chotzen-Simonson.
eine geschlechtskranke weibliche Person begebe, nicht in der
Lage sei, festzustellen, ob diese gewerbsmäßig Unzucht treibe.
Die gleiche Erwägung veranläßte auch den Vorstand der
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten am 23. Februar 1903 dem Abgeordnetenhause eine
Eingabe zu überreichen, es möge diese Meldepflicht der ge¬
werbsmäßigen Prostituierten nur den Polizeiärzten auferlegt
werden. Diese Eingabe war aber gegenstandslos, weil bereits
die Dienstvorschrift der Polizeiärzte die Meldepflicht der
geschlechtskranken gewerbsmäßigen Prostituierten vorschreibt,
mithin in einen neu zu erlassenden Gesetze nicht erst zum
Ausdrucke gebracht zu werden braucht
2. Die Meldepflicht bei subalternen Soldaten (§ 2, Abs. 3
des Entwurfes).
Diese Bestimmung findet ihre Begründung auf S. 34 des
Entwurfes mit den Worten „Die Aufrechterhaltung dieser
Bestimmung (sc. des Regulativs) erscheint wünschenswert“.
In der zweiten Kommissionslesung des ersten Entwurfes
wurde diese Meldepflicht der subalternen Soldaten gestrichen.
3. Schutzmaßregeln bei gewerbsmäßig Unzucht Trei¬
benden (3. Abschnitt des Entwurfes § 8, Nr. 9 und § 9):
a) Beobachtung, d. h. Untersuchung (§ 12 des Reichs-Seuchen¬
gesetzes);
b) Absonderung eventuell Krankenhausunterbringung (§14
des Reichs-Seuchengesetzes);
c) Zwangsweise Behandlung (§ 9 des Entwurfes).
Hier ist jedoch hervorzuheben, daß die zwangsweise
Behandlung dem Arzte noch nicht das Recht gibt,
zwangsweise eine Operation auszuftthren (vgl. Reichs¬
gerichts-Entscheidung in Strafs. Bd. 25. S. 375).
Dieser erste Entwurf vom 16. Februar 1903 ist nicht zur
Verabschiedung gelangt.
Am 29. Januar 1904 wurde dem Abgeordnetenhause ein neuer
Entwurf vorgelegt, welcher die gegen den ersten Entwurf bereits
erhobenen Einwendungen sich nutzbar gemacht hat.
Der zweite, neuere, augenblicklich der Beratung durch das
Abgeordnetenhaus unterliegende Entwurf vom 29. Januar 1904
hat die Meldepflicht bei PersoneD, welche gewerbsmäßig Unzucht
treiben, aufgehoben, hat aber die Meldepflicht der geschlechtskranken
subalternen Soldaten, welche in der zweiten Kommissionslesung des
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Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 487
ersten Entwurfes gestrichen war, wieder hergestellt und zwar mit
der Begründung (S. 85), sie erscheine im Interesse der Disziplin
und der möglichst schnellen und sicheren Heilung der erkrankten
Mannschaften wünschenswert.
Diese Meldepflicht der subalternen Soldaten bedarf
meinem Ermessen nach einiger, allerdings nur unwesentlicher Ab¬
änderungen.
Als 1898 ein ministerieller Erlaß die erneute Beachtung der
Bestimmungen in § 65 Abs. 1 und 3 des Regulativs von 1835 ver¬
langte, wurde von den Ministem erklärt, daß unter der Bezeichnung
„syphilitische Krankheiten“ des Regulativs nicht nur die constitu¬
tioneile Syphilis, sondern auch Tripper und weicher Schanker
nebst Folgezuständen zu verstehen seien. Auf ein damals von
mir im Vereine der Breslauer Ärzte erstattetes Referat veranlaßte
dieser Verein die Ärztekammer der Provinz Schlesien an den
Minister für Medizinal-Angelegenheiten das Ersuchen zu richten,
es solle der Zusatz „nebst Folgezuständen“ abgeändert werden in
„nebst ansteckungsfähigen Folgezuständen“ (vgl. a. a. 0.),
da der Zweck des Erlasses nur darin bestehe, ansteckungsfähige
Kranke unschädlich zu machen.
Tatsächlich ist auch am 30. August 1899 von seiten des
Ministers eine Ergänzung des Erlasses dahin ergangen, daß nur
ansteckungsfähige Folgezustände der syphilitischen Krankheiten der
Anzeigepflicht unterworfen seien.
Diese Ergänzung des Erlasses ist als eine Verbesserung an¬
zusehen. Es ist demnach zu erstreben, daß auch in dem neuen,
jetzt zur Beratung stehenden Entwürfe die 1899 bereits zum Aus¬
druck gelangte Verbesserung der ministeriellen Auffassung Gesetz¬
bestimmung werde und die Bestimmung des Entwurfes, es seien
in jedem Falle die genannten Krankheiten zu melden, dahin ab¬
geändert werde, daß nur ansteckungsfähige Erscheinungen
jener Krankheiten meldepflichtig sein sollen.
Ferner wäre meinem Ermessen nach jene Bestimmung des
Entwurfes abzuändern, wonach die unter 1 und 3 des § 1 be¬
zeichnten Personen die Meldung auszuüben hätten, wenn sie zur
Behandlung von Geschlechtskrankheiten zugezogen werden.
Das Regulativ von 1835 spricht nur davon, daß syphilitisch
kranke Soldaten von den sie etwa behandelnden Zivilärzten an¬
gezeigt werden müßten*
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488
Chotzen-Simonson.
Es gibt Ärzte, welche jede Behandlung von geschlechtskranken
subalternen Soldaten des aktiven Heeres ablehnen, um der Ver¬
pflichtung zu entgehen nach Feststellung der Geschlechtskrankheit
und Einleitung der Behandlung den Soldaten melden zu müssen,
während der Kranke nichts ahnend von jener Meldepflichtbestim¬
mung sich dem Arzte nur im Glauben an die Verschwiegenheits-
Verpflichtung des Arztes anvertraut hat Nach dem Wortlaute
des vorliegenden Entwurfes wäre auch ein solcher die Behandlung
ablehnender Arzt ein „zur Behandlung zugezogener“ Arzt und
schon in dem Augenblicke zur Meldung verpflichtet, wo er von
der Geschlechtskrankheit des ihn um Rat bittenden Soldaten
erfährt.
Es liegt nicht im Sinne des vorliegenden Gesetzentwurfes
einen Arzt, welcher aus ethischen Bedenken» aus dem Bestreben,
einen Konflikt der Arztptiicht und Patientenauffassung zu ver¬
meiden, die Behandlung ablehnt, zur Meldung zu zwingen.
Es empfiehlt sich daher statt der Worte „zur Behandlung zu¬
gezogene“ „behandelnde Ärzte“ zu setzen.
Einige Monate nach Erstattung dieses Referates, im Juni a. er.,
richtete der Vorstand der D.G.B.G. an das preußische Abgeordneten¬
haus die Bitte, den § 2, Abs. 3 des Entwurfes zu streichen,
also die Meldepflicht betreff der Geschlechtskrankheiten subalterner
Soldaten wieder aufzuheben.
Zur Begründung führte der Vorstand an:
„So wünschenswert im Einzelfalle für die Militärbehörde
die Kenntnisnahme von einem Falle venerischer Erkrankung
auch sein mag, so wird doch dieser Vorteil reichlich aufge¬
wogen dadurch, daß das so überaus wichtige Prinzip der ärzt¬
lichen Diskretion hier durchbrochen wird. Diese Diskretion,
welche sogar den gewerbsmäßigen Prostituierten gegenüber
gewahrt werden soll, ausschließlich gegenüber den Soldaten
niederer Chargen fallen zu lassen, liegt um so weniger Anlaß
vor, als ja durch Inanspruchnahme des Zivilarztes die Kranken
die Absicht bekunden, sich überhaupt behandeln zu lassen,
andererseits gerade aus bestimmten Gründen den Zivilarzt
aufsuchen, auf dessen Verschwiegenheit sie bauen.“
Meiner Auffassung nach hat diese Bitte keine Aussicht, erfüllt
zu werden. Die Durchbrechung des Prinzipes der ärztlichen Dis¬
kretion wird dem Kriegsminister, wenn er zu dieser Bitte sich
äußern soll, sicherlich gleichgültig sein; für ihn ist allein der Ge-
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Meldepflicht und Vergehwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 439
sichtspimkt maßgebend, ob die Meldung geschlechtskranker Soldaten
im dienstlichen Interesse geboten ist Das ist zweifellos zu be¬
jahen. In meinem oben angeführten Vortrage über die Meldepflicht
äußerte ich mich diesbezüglich wie folgt:
„Die Berechtigung des Staates, für Soldaten strengere Be¬
stimmungen behufs Unterdrückung derOeschlechtskrankheiten
zu treffen als für Zivilpersonen, ist von vornherein ohne weiteres
zuzugeben. Die Militärbehörde sorgt für den Soldaten in aus¬
giebigster Weise: sie gewährt ihm Wohnung, Bekleidung,
Beköstigung, tritt im Krankheitsfalle für die kostenfreie
Wiederherstellung seiner Gesundheit ein, kurz, die Fürsorge
des Staates gerade den Soldaten gegenüber weicht von der
seinen sonstigen Beamten und Bürgern gegenüber so sehr
ab, daß die Soldatenklasse außer jedem Vergleiche mit jeder
anderen Bevölkerungsklasse steht. Außer diesem allgemeinen
Gesichtspunkte spricht auch die spezielle Berücksichtigung
des dichten Beieinanderlebens und der dadurch bedingten
leichten Übertragbarkeit der Geschlechtskrankheiten dafür,
daß die Militärverwaltung ein Interesse daran haben muß,
den geschlechtskranken Soldaten nicht nur überhaupt in
ärztlicher Behandlung, sondern speziell in ihrer Behandlung
zu wissen, weil diese allein die Verhütung der Ausbreitung
auf andere Soldaten verbürgt Der Gesetzgeber tut also im
Interesse des Gemeinwohles Recht daran, die Meldung ge¬
schlechtskranker Soldaten bedingungslos zu verlangen.“
Wenn der Kriegsminister mit der Streichung der Meldepflicht
durch die Kommission des Abgeordnetenhauses bei der zweiten
Lesung des ersten Entwurfes sich nicht einverstanden erklärt, und
die Wiederaufnahme dieser Bestimmung in den zweiten Entwurf
durchgesetzt hat, wird er jetzt in eine abermalige Streichung
gewiß nicht einwilligen.
Ein Vergleich der Bestimmungen des Regulativs von 1835,
welche auf die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Bezug
haben, mit denen des neuen, zweiten Entwurfes zum Ausführungs¬
gesetze für das Reichs-Seuchengesetz zeigt demnach, daß
1. vollständig fallen gelassen ist die im Regulativ noch
vorgesehene Statistik.
Die Wiederaufnahme einer ständigen Statistik, welche trotz
der Bestimmungen des Regulativs wohl kaum jemals allseitig
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440
Cbotzen-Simonson.
gleichmäßig und zuverlässig durchgefiihrt, wohl auch von
den Behörden, denen sie einzureichen war, nicht immer nach¬
drücklich abverlangt wurde, erscheint überflüssig. Es dürfte
auch keinen besonderen Zweck haben eine solche Statistik¬
führung als Dauereinrichtung gesetzlich festzulegen und den
Ärzten die damit verbundene Mühe dauernd aufzubürden.
Was die preußische ministerielle Enquete vom 30. April 1901
bezweckte — eine Feststellung sämtlicher am genannten
Tage in ärztlicher Behandlung befindlicher Personen zustande
zu bringen — ist erreicht worden; auch was Blaschko er¬
strebte, als er sich in gar nicht genug anzuerkennender Weise
der außerordentlich großen Mühe unterzog, allein durch eigene
Arbeit, aus dem großen Berliner Krankenkassenmaterial ein
Bild von der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten zu geben,
ist erreicht worden. Die Ärzteschaft zwar wußte es schon
seit langen Jahren und hat an geeigneter Stelle immer wieder
von neuem betont, daß die Zunahme der Geschlechtskrank¬
heiten eine ganz bedeutende Gefahr für den Gesundheits¬
zustand der Gesamtbevölkerung des Landes und die kommenden
Generationen bedeute, nunmehr ist es aber durch diese Statistik
auch dem Publikum sowie den Staatsbehörden durch un¬
angreifbare Zahlen zum Bewußtsein gebracht worden und
beide Teile sind hierdurch nachdrücklichst gewarnt. Wenn
als Produkt jener Warnung die gesetzgebenden Körperschaften
jetzt die Gelegenheit erhalten in einem neuen Gesetze vor¬
beugende Maßnahmen zu treffen, so wird hiermit die Mög¬
lichkeit, auf diesem Gebiete gesetzgeberisch zu wirken, auf
lange Zeit hinaus erschöpft sein. Abänderungen an den jetzt
zu erwartenden Bestimmungen werden vor Ablauf einer
größeren Anzahl von Jahren, während deren Verlauf die
Zweckmäßigkeit oder Lückenhaftigkeit des Gesetzes zu er¬
proben ist, nicht zu erwarten sein. Um für einen ferneren
Zeitpunkt Abänderungsmaterial zu beschaffen, ist es nicht
notwendig, die ganze Zeit hindurch, jahraus, jahrein, die ge¬
samte Ärzteschaft statistische Aufzeichnungen machen zu
lassen. Es wird genügen, wenn nach Art der Volkszählungen
in fünljährigen Zwischenräumen an einem bestimmten Tage
wieder einmal statistische Momentaufnahmen angefertigt
werden.
2. Vollständig fallen gelassen ist der im Regulativ noch
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Meldepflicht and Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 441
vorgesehene „Versuch, die Quellen der Geschlechts¬
krankheiten zu ermitteln“.
Diese Ermittlungsversuche seitens der Ärzte und Behörden
sind meistens wertlos oder erfolglos geblieben.
Der 2. Entwurf des Ausführungsgesetzes sagt auf S. 86
mit Recht, daß es bei der Frage der Ermittelung der Krank¬
heitsursachen geboten sei, alle diejenigen Krankheiten zu
treffen, bei deren Charakter die Feststellung der ersten Fälle
durch den beamteten Arzt unerläßlich ist.
Bei Typhus, Diphtherie und ähnlichen Krankheiten hat
allerdings die Ermittelung des ersten Falles, welcher in einem
Gemeinwesen auftritt, eine große Bedeutung, weil es sich
nur um zeitweise auftretende Infektionskrankheiten handelt
Bei der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten aber, welche
das ganze Jahr hindurch in jedem größeren Orte zu finden sind,
hat die Nachforschung nach der Krankheitsquelle nur geringen
Wert und naturgemäß auch nur geringe Aussicht auf Erfolg.
Nach meinen persönlichen Erfahrungen bin ich davon ab¬
gekommen, bei der Ermittelung der Quelle einer Geschlechts¬
krankheit, welche selbst durch den Verkehr mit einer polizei¬
lich eingeschriebenen öffentlichen Prostituierten zustande ge¬
kommen zu sein schien, mitzuhelfen, wiewohl gerade diese
Quellen aufzudecken und durch zwangsweise Krankenhaus¬
behandlung unschädlich zu machen, am ehesten möglich und
erforderlich ist. Eine Zeitlang habe ich der Polizeibehörde
von der Angabe eines Patienten, er habe bei einer durch
Namen oder Wohnung bestimmt bezeichneten öffentlichen
Prostituierten seine Geschlechtskrankheit erworben, nach Er¬
langung der Erlaubnis des Patienten und ohne Nennung
seines Namens Mitteilung gemacht. Aber einmal der Um¬
stand, daß diese Angaben der Patienten oft unzuverlässige
waren, weil sie verschiedene, zeitlich als möglich in Betracht
kommende Quellen nicht scharf auseinander zu halten ver¬
mochten, andrerseits der Umstand, daß zwischen der Angabe
des Patienten und der polizeiärztlichen Untersuchung der
beschuldigten Person oft eine längere Zeit verging, so daß
Krankheitserscheinungen — weil bereits anderweitig vor der
polizeiärztlichen Untersuchung behandelt — nicht mehr mit
Sicherheit festzustellen waren, ließen mich von der Fortsetzung
. dieser Quellenermittlungsversuche Abstand nehmen.
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Chotzen-Simonson.
3. Erhalten geblieben ist die Bestimmung des Regu¬
lativs betreffs der Meldung geschlechtskranker sub¬
alterner Soldaten.
Der Entwurf enthält sogar eine wertvolle Verbesserung
des Regulativs, indem § 2 Nr. 3 auch nichtärztlichen Personen,
also auch Kurpfuschern, die Meldepflicht auferlegt.
Der Abgeordnete Langerhans hat zwar in der 1. Lesung
des 1. Entwurfes vom 16. Februar 1903 geltend gemacht,
Kurpfuscher könnten keine Anzeige machen, weil sie nach
Ansicht der Ärzte nicht die Krankheit kennen, sondern nur
nach Symptomen behandeln. Für die Meldung geschlechts¬
kranker Soldaten ist dieses Bedenken aber belanglos, da für
die Militärbehörde die Stellung der Diagnose vollkommen
gleichgültig bleibt und ihr nur daran gelegen ist zu erfahren,
welcher Soldat einer, sei es auch nur eingebildeten, Geschlechts¬
krankheit halber einen Kurpfuscher aufgesucht hat, damit sie
diesen Soldaten von ihren Truppenärzten untersuchen und
nötigenfalls in Lazarettbehandlung nehmen kann.
Von der Ausdehnung der Meldepflicht auf nichtärzliche
Personen ist eine wesentliche Einschränkung der Kurpfuscherei
zu erwarten. Geschlechtskranke Soldaten suchen einen Kur¬
pfuscher mit Vorliebe auf, weil ihnen sehr gut bekannt ist,
daß sie von diesem Mitwisser ihrer sorgsam verschwiegenen
Krankheit, welchem Bestrafung wegen Meldungsunterlassung
nicht droht, eine Anzeige bei ihrem Truppenkörper nicht zu
befürchten haben. Wenn die Staatsbehörde nunmehr endlich
einmal gegen die Kurpfuscherei wirklich energisch Vorgehen
will — die in letzter Zeit bekundeten Maßnahmen sprechen
dafür — so wird sie. an dieser von ihr vorgeschlagenen Be¬
stimmung des § 2 Nr. 3 des Entwurfes mit allem Nachdruck
festhalten müssen, zumal es an Versuchen, die Meldepflicht
nichtärztlicher Personen anstatt auszudehnen wieder einzu¬
schränken, nicht fehlt.
4. Fallen gelassen ist die im Regulativ vorgesehene
bedingungsweise Meldung geschlechtskranker Zivil¬
personen — mit Ausnahme von Prostituierten.
In dem 1. Entwürfe zum Ausführungsgesetze wird die Be¬
gründung des Fortfallens der bedingungsweisen Meldung (S. 33)
mit folgenden Worten gegeben:
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Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 443
„Eine Einschränkung schlägt der Entwurf auch bei Sy¬
philis, Tripper und Schanker vor. Bei den Geschlechtskrank¬
heiten findet die Übertragung nicht, wie bei der Tuberkulose,
durch die frei in die Außenwelt beförderten Krankheitserreger,
sondern ausschließlich durch unmittelbare Berührung mit
dem Erkrankten oder mit gewissen Gebrauchsgegenständen,
am häufigsten durch den außerehelichen Geschlechtsverkehr
statt. Es kann daher bei diesen Krankheiten die Anzeige-
pflicht unbedenklich auf solche Personen beschränkt werden,
welche den außerehelichen Geschlechtsverkehr zum Gewerbe
machen.“
Im 2. Entwürfe wird auf S. 21 zur Begründung angeführt:
„Der überwiegend größte Teil der Übertragung von Ge¬
schlechtskrankheiten geschieht durch die Prostitution“.
Gegen beide Ausführungen ist Einspruch zu erheben. Aller¬
dings finden die häufigsten Übertragungen von Geschlechts¬
krankheiten durch den außerehelichen Geschlechts¬
verkehr statt; es entspricht aber durchaus nicht den
tatsächlichen Verhältnissen, daß der überwiegend größte Teil
der Übertragungen durch die Prostitution geschieht.
Die polizeilich eingeschriebenen und polizeiärztlich unter¬
suchten Prostituierten bilden nach dem übereinstimmenden
Urteile aller, welche die einschlägigen Verhältnisse kennen,
schon da diese selbst in den größten Städten nur einen ganz
verschwindend kleinen Teil jener den außerehelichen Verkehr
gestattenden weiblichen Personen ausmachen, nur in verhält¬
nismäßig geringer Anzahl die Quelle von Infektionen. Nicht
die öffentliche, sondern die geheime Prostitution ist die
Ursache für die große Verbreitung der Geschlechtskrankheiten.
Nur der Umstand, daß der geheimen Prostitution durch
Polizeimaßregeln gar nicht beizukommen ist, von den öffent¬
lichen Prostituierten aber, wenn auch nicht alle, so doch
wenigstens ein Teil der kranken Individuen für die Allgemein¬
heit unschädlich gemacht werden kann, rechtfertigt das Fest¬
halten an besonderen Bestimmungen gegenüber den öffent¬
lichen Prostituierten; man darf sich aber nicht vorstellen,
daß die Meldepflicht „unbedenklich“, wie der Entwurf
sagt, auf die öffentlichen Prostituierten zu beschränken sei.
Der zweite Entwurf des Ausführungsgesetzes enthält auf S. 21
des weiteren die Begründung: „Der vorliegende Gesetzentwurf
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Chotzen-Simonson.
nimmt den Standpunkt ein, daß er zwar alle Geschlechts¬
krankheiten aber nicht alle an solchen erkrankten Per¬
sonen in den Bereich seiner Regelung gezogen, und erachtet es
für ausreichend, wenn die Polizeibehörden gegenüber denjenigen
Personen, welche gewerbsmäßig die Unzucht betreiben, eine
wirksame Handhabe zum Einschreiten erhalten.“
Das ist zwar eine sehr vollklingende Antithese, aber sehr
überzeugend wirkt sie nicht; als „ausreichend“ für die Ein¬
schränkung der Geschlechtskrankheiten — und das meint wohl
der Entwurf — ist die Handhabe gegen die gewerbsmäßige Pro¬
stitution nicht anzusehen, höchstens als die einzige, mit Leichtig¬
keit und mit Aussicht auf einen gewissen Erfolgen durchführbare
Maßnahme.
Die Begründung des 1. sowie des 2. Entwurfes zum Aus¬
führungsgesetz läßt die Gesichtspunkte vermissen, von welchen das
Regulativ von 1835 ausging, und welche auch heute noch, nach
annähernd 70 Jahren, ein rühmliches Zeugnis von dem weitaus¬
schauenden Blick des damaligen Referenten sind: nämlich ob eine
Meldung im Interesse des Kranken selbst oder des Gemein¬
wesens geboten erscheint.
Der Kranke selbst kann und wird, abgesehen von sehr seltenen
Ausnahmefällen, für sich selbst sorgen. Er wird es um so mehr,
je weiter, nachdrücklicher und häufiger die Aufklärung über die
Gefahren, welche aus der Vernachlässigung dieser Krankheiten er¬
wachsen, in immer größeren Kreisen der Bevölkerung ver¬
breitet wird.
Das Gemeinwesen bedarf ebenso wie schon vom Jahre 1835
bis heute auch von jetzt ab noch eines gesetzlichen Schutzes gegen
leichtfertige, ungehorsame Kranke, welche die ihnen vom Arzte
strengstens angeratenen Vorsichts- und Schutzmaßregeln betreffs
der Verhütung einer Verbreitung ihrer Krankheit nicht achten und
somit gemeingefährlich werden: Syphilitiker mit ansteckenden
Munderscheinungen, z. B. welche die Mitbenutzung von Eß- und
Trinkgeräten durch die Personen ihrer Umgebung absichtlich
nicht verhüten, nur um sich mit ihrer Krankheit nicht bloßzu¬
stellen; gewissenlose Ehemänner, welche, wiewohl ihnen bekannt
ist, daß sie an einer übertragbaren Geschlechtskrankheit leiden,
dennoch denVerkehr mit ihrer Ehegattin erzwingen, müssen mit Hilfe
des Gesetzes von ihrem gemeingefährlichen Treiben rücksichtslos
abgehalten und zwangsweise im Krankenhause untergebracht werden.
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Meldepflicht und Verschwiegenheit»-Verpflichtung des Arztes usw. 445
Daher sind die Schutzmaßregeln, welche im 3. Abschnitte des
Entwurfes in § 8 Nr. 9 gegenüber den Prostituierten vorgesehen
sind, nicht nur diesen gegenüber, sondern allgemein erforderlich,
zum mindesten ist auf die durch § 14 Abs. 2 des Reichs-
Seuchengesetzes gegebene Möglichkeit der Absonderung
auch für die Allgemeinheit nicht zu verzichten. Werden
sie von dem neuen Gesetze nicht geschaffen, so bleibt die Allgemein¬
heit solchen oben angeführten — wenn auch seltenen — Fällen
gegenüber schutzlos, so bleibt eine Lücke im Gesetze bestehen, welche
weder das ärztliche Denken entschuldigen, noch das Volksbewußt¬
sein wird verstehen können. Die gesetzgebenden Faktoren müssen
darauf achten, daß das von ihnen zu erlassende Gesetz die All¬
gemeinheit ausgiebigste auch für die seltensten Komplikationen des
Alltagslebens schützt
Die Anwendung der Schutzmaßregel des § 12 des Reichs-
Seuchengesetzes, welcher von der Beobachtung d. h. Untersuchung
bei Infektionskrankheiten handelt und dem Entwürfe zum Aus-
f&hrungsgesetze nach nur Prostituierten gegenüber Anwendung
finden soll, gestattet eine Beschränkung in der Wahl des Aufent¬
haltes nur bei einer bestimmten Kategorie von Menschen, nur bei
Obdachlosen und Umherziehenden, also nur bei Personen, welche
durch ihre eigenartigen Lebensverhältnisse der Allgemeinheit ganz
besonders gefährlich werden können. Gerade der Umstand, daß
dieser § 12 des Reichs-Seuchengesetzes nur eine eng umgrenzte Klasse
von Menschen treffen kann, und daß andererseits nach § 14 des Reichs-
Seuchen-Gesetzes die Absonderung von Kranken in einem Kranken¬
hause nur unter Zustimmung eines beamteten Arztes für zulässig
erachtet werden kann, sind eine hinreichende Gewähr dafür, daß
diese Schutzmaßregel etwa jemals mißbräuchlich eine die Ge¬
schlechtskranken im allgemeinen allzuhart treffende und überflüssig
belästigende Maßregel wird. Die Absonderung im Krankenhause
wird immer nur eine im alleräußersten Notfälle anwendungsmög¬
liches Schutzmittel bleiben und schon durch ihr Vorhandensein und
durch die Androhung seitens des Arztes, sie eventuell in Wirk¬
samkeit treten zu lassen, sich von Nutzen erweisen.
Es ist zu erstreben, daß das Abgeordnetenhaus in § 8
Nr. 9 die Worte „bei Personen, welche gewerbsmäßig Unzucht
treiben“ fallen läßt, mindestens in bezug auf die Anwend¬
barkeit des hier erwähnten § 14 3 des Reichs-Seuchengesetzes.
Gegen ein eventuelles epidemisches Auftreten einer Ge-
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Chotzen-Simonson.
schlechtskrankheit, wie z. B. eine oben erwähnte Dorfepidemie,
ist bereits durch § 5 des Entwurfes eine Schutzmaßregel gegeben,
da dieser „eine vorübergehende Ausdehnung der ,Anzeigepflicht für
einzelne Teile der Monarchie“ vorsieht
Der erste Entwurf zum Ausführungsgesetz hebt S. 19 hervor,
daß dem Arzte, mit der seinem Ermessen anheimgestellten Anzeige¬
pflicht der Syphilis nach dem Regulativ von 1835, eine verant¬
wortungsvolle Entscheidung aufgebürdet sei.
Die Verantwortung eines Arztes, welcher einen übertragungs¬
fähigen Geschlechtskranken behandelt, wird nicht durch eine etwa
vorhandene Meldepflicht-Gesetzbestimmung und die Erfüllung dieser
seinem Ermessen anheimgegebenen Pflicht zu einer besonders
schweren, sondern dadurch, daß er mit einer dem Verständnis des
jeweiligen Patienten angepaßten, überzeugenden Darstellung ihm
klarzumachen versuchen muß, welche Gefahren aus einer Nicht¬
achtung der ärztlichen Vorschriften für die Umgebung entstehen
können. Die Verantwortung wird um so größer, je schwerer dem
Kranken das Verständnis für die ärztliche Darstellung aufgeht;
sie erreicht ihren Höhepunkt, wenn zu dem geistigen Unvermögen,
die angeratenen Vorsichtsmaßnahmen in ausreichender Weise durch¬
zuführen, bewußte Leichtfertigkeit und rücksichtslose Roheit hin¬
zukommt, und es dann Pflicht des Arztes wird, hiergegen eine
nichtsahnende Umgebung des Kranken in genügender Weise zu
schützen. Die bisherige bedingungsweise Meldung des Regulativs
von 1835 war kein genügender Schutz und ist wahrscheinlich —
eine ziffernmäßige Angabe, wie oft innerhalb der letzten 20 Jahre
etwa in Preußen von dieser Gesetzbestimmung zum Zwecke des
Schutzes der Allgemeinheit Gebrauch gemacht wurde, habe ich
nirgends Anden können — nur sehr selten zur Anwendung ge¬
kommen. Nicht die Rücksichtnahme auf die schwere Verantwor¬
tung des Arztes, sondern die Erkenntnis von dem geringen Werte
der bedingungsweisen Meldung drängt zum Verlassen dieser Re¬
gulativbestimmung.
Es bricht sich endlich auch in weiteren Kreisen die Über¬
zeugung Bahn, daß nicht durch Zwangsmaßregeln, sondern nur
durch den Selbstschutz eine Verminderung der Geschlechtskrank¬
heiten zu erzielen ist; daß die Bevölkerung zur Selbsthilfe erzogen
werden muß und daß diese Selbsthilfe erst dann in wirksamer
Weise sich geltend machen wird, wenn eine Aufklärung über das
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Meldepflicht and Vergeh wiegenheits-Verpflichtung des Arztes asw. 447
Wesen und die Gefahren der Geschlechtskrankheiten in ausreichen¬
dem Maße, in möglichst häufig sich erneuernder Wiederholung
allen Bevölkerungsschichten zuteil wird. In dieser Überzeugung,
welche in der Entwurfbegründung zwar nicht zum direkten Aus¬
druck kommt, liegt die ethische Bedeutung von dem Fallenlassen
der bedingungsweisen Meldung.
Die Ärzteschaft kann auch noch aus einem anderen Grunde, mit
dem Aufgeben der Regulativbestimmung zufrieden sein: es liegt in ihr
die Anerkennung, daß der Schutz des Berufsgeheimnisses des Arztes,
die Pflicht des Arztes, ein ihm in seinem Berufe anvertrautes Ge¬
heimnis zu wahren — und gerade die Geschlechtskranken bedürfen
mit Recht wegen der ihnen eventuell erwachsenden Folgen in ihrem
Erwerbs- oder Eheleben der strengsten ärztlichen Verschwiegenheit
— auch von den Behörden in ausgiebigstem Maße hochzuhalten
ist. Ein Preisgeben desselben ist nur dann zu verlangen, wenn
eine tatsächliche Gefährdung des öffentlichen Wohles zu befürchten
ist. Diese seltenen Fälle sind in einem Gesetze so scharf zu be¬
zeichnen, daß von einem freien Ermessen nicht mehr die Rede
sein darf. Der höhere Schutz des Berufsgeheimnisses ist eine
höhere Stärkung des Ärztestandes. Der Arzt ist nicht nur ein
Gewerbetreibender, welcher kaufmännisch einzig und allein in der
Abwägung von Leistung und Gegenleistung seinen Beruf ausübt;
sein Wert und auch seine Wertschätzung liegt außer in seinen
Kenntnissen und Fähigkeiten in dem Vertrauensverhältnis, welches
er zwischen sich und seinem Kranken herzustellen weiß und wel¬
ches er nur aufbauen kann auf der Grundlage einer stets zuver¬
lässigen, auch durch Gesetzesvorschriften möglichst undurchbroche¬
nen Verschwiegenheit.
II.
Der Herr Korreferent wird zwar ausführlicher und juristisch
schärfer sich über das Berufsgeheimnis des Arztes äußern, als
ich es vermag, aber zum Verständnis der späteren ärztlichen Aus¬
einandersetzungen über eine etwaige Abänderung des § üOO des
Str.G.B. sei mir gestattet in Kürze folgende juristische Erklärungen,
welche dem selbst für Nichtjuristen klaren und leicht verständlichen
Buche Flügges „das Recht des Arztes“ entnommen sind, anzuführen.
Der § 3u0 des Str.G.B. lautet:
Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Verteidiger in Straf¬
sachen, Ärzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker, sowie die
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448
Chotzen-Simonson.
Gehilfen dieser Personen werden, wenn sie unbefugt
Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft des Amtes,
Standes oder Gewerbes an vertraut sind, mit Geldstrafe bis
zu 1500 Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten be¬
straft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.
Die VerschwiegenheitsVerpflichtung ist, nach Flügge, durch
das Strafgesetzbuch unter den Abschnitt vom strafbaren Eigennutz
eingeführt d. h. es schützt ein Recht des Einzelnen, ein Privat-
recht, nicht ein öffentliches Recht.
Geheimnisse sind diejenigen Tatsachen, welche über den
Kreis derjenigen Personen hinaus noch nicht bekannt geworden
sind, die diese Tatsachen selbst hervorgerufen haben, oder
die von ihnen unmittelbar — sei es in der eigenen Person, sei
es in der Person der ihnen nahestehenden Menschen — betroffen
worden sind. Es können also nicht nur Tatsachen, die den Kranken
selbst angehen, sondern auch solche die andere Menschen be¬
treffen, Gegenstand des anvertrauten Geheimnisses bilden.
Offenkundige Tatsachen sind keine Geheimnisse, wohl
aber sind Dinge, von denen andere nur eine unsichere, unge¬
wisse Kenntnis haben, noch nicht als offenkundig anzusehen
(R. G. Entsch. in Straf. XXVI S. 5).
Die Tatsachen müssen dem Arzte kraft seines Standes
anvertraut sein. Der Stand des Arztes muß der Grund gewesen
sein, der den anderen veranlaßte, sie dem Arzte mitzuteilen.
Für den Begriff des Anvertrauens ist es unerheblich, ob
der Kranke die Tatsachen durch Wort oder Schrift dem Arzte
ausdrücklich mitgeteilt hat, oder ob er infolge seines Ver¬
trauens dem Arzte nur Gelegenheit gegeben hat, die Tatsachen
selbst wahrzunehmen, indem er ihn behandelte (wenn z. B. der
Arzt zufällig bei der Untersuchung der Brustorgane eines Kranken
einen syphilitischen Ausschlag feststellt).
Offenbaren ist jede Mitteilung dieser Tatsachen an andere.
Befugt zum Offenbaren ist der Arzt stets da, wo das
Recht von ihm ein Offenbaren verlangt.
Unbefugt ist nach Olshausen die Mitteilung, wenn sie ohne
Zustimmung der an vertrauenden Person geschieht, soweit nicht
eine gesetzliche Vorschrift den Arzt zur Offenbarung zwingt
oder dieselbe für zulässig erklärt
Flügge hält den Arzt zur Offenbarung eines Privatgeheim¬
nisses befugt, wenn das Recht von ihm die Ablegung eines Zeug-
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Meldepflicht und Verschwiegenheits*Verpflichtung des Arztes usw. 449
ni88es verlangt; der Arzt ist aber berechtigt sein Zeugnis
über Tatsachen, die Privatgeheimnis sind, zu verweigern; er hat
das Recht sich für oder wider die Offenbarung zu entscheiden,
ein rechtlicher Nachteil kann ihm weder aus der einen noch aus
der anderen Entscheidung erwachsen. Es kann sich aber sehr
wohl ereignen, daß ein ärztliches Standesgericht trotz der recht¬
lich zustehenden Zeugnislegungserlaubnis in dem Verhalten des
Arztes einen Verstoß gegen die in Arztekreisen zur Sitte gewor¬
denen Verschwiegenheitsverpflichtung sieht und zur standesgericht¬
lichen Verurteilung des Arztes sich entschließt, indem sie die sitt¬
liche Pflicht zu schweigen für höherstehend erachtet als das
Offenbarungsrecht.
Befugt zur Offenbarung ist der Arzt, wenn der, dessen
Geheimnis er anvertraut erhalten hat, mit der Offenbarung ein¬
verstanden ist, z. B. wenn der Kranke den Arzt zur Einreichung
eines Attestes über die das Geheimnis bildende Tatsache an einen
dritten (Dienstgeber, Behörde) auffordert oder sich als Kassen¬
patient den Krankenschein ausfertigen läßt
Der Arzt muß erwägen, wie weit er mit der Offenbarung
gehen darf, ob er das Geheimnis nur einer oder mehreren
Personen nach dem Willen des Kranken mitteilen darf. Der Arzt
hat die Pflicht, weniger gebildete und weniger selbständig denkende
Patienten, besonders Krankenkassen-Mitglieder, über die Trag¬
weite der Offenbarung ihrer Krankheit aufzuklären, da mancher
Patient lieber auf die Vorteile der kostenlosen Medikamenten-
lieferung verzichtet, als daß er sich dem Bekanntwerden seiner
Krankheit unter den Vorstandsmitgliedern und dem Bureaupersonal
seiner Kasse aussetzt
Der Arzt darf die ihm erteilte Offenbarungs- Erlaubnis
nicht benutzen, wenn der Kranke (z. B. bei beginnender Paralyse,
nicht mehr imstande ist, die Folgen der Erlaubnis zu überblicken.
Auch wenn der Kranke sein Einverständnis nicht ausdrück¬
lich erklärt hat, darf der Arzt das Einverständnis doch für die¬
jenigen Tatsachen annehmen, deren Offenbarung nicht geeignet ist,
irgend ein Interesse des Kranken zu schädigen (R.G. Entsch. Strafs.
XIII S. 60, XXVI S. 5). In solchen Fällen ist aber Vorsicht ge¬
boten, da schwer zu übersehen ist, wie weit der Interessenkreis
des Kranken reicht.
Wissenschaftliches Interesse befugt den Arzt nur so
weit zur Offenbarung, als sie geschehen kann, ohne die Person
Zdtflchr. f. Bekämpfung d. Geechleehtskrankh. II. 33
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450
Chotzen-Simonson.
des Kranken der Öffentlichkeit irgendwie bekannt zu geben. Es
wäre z. B. unstatthaft zu schreiben: „Krankengeschichte des
Robert P. aus Hartlieb bei Breslau“, weil jeder Einwohner des
Dorfes Hartlieb oder aus dessen Umgebung die betreffende Persön¬
lichkeit sofort genau feststellen könnte.
Der Arzt hat auch die Verschwiegenheitsverpflichtung gegen¬
über Privatgeheimni88en eines Kranken, die ihm selbst ohne Wissen
des Kranken von irgend einer Seite (der Dienerschaft oder An¬
gehörigen) anvertraut werden (wenn z. B. eine Amme ein syphi¬
litisches Kind ihres Dienstherm ohne Wissen des letzteren dem
Arzte zuführt, um zu erfahren, ob sie dieses Kind aus Rücksicht
auf ihre eigene Gesundheit weiter säugen darf, hat der Arzt die
Pflicht, die ihm gewordene Kenntnis von der elterlichen Syphilis
als Berufsgeheimnis zu wahren).
Andererseits muß sich der Arzt bewußt sein, daß er in dem
Augenblicke, wo er die ihm gesetzlich obliegende Meldepflicht bei
gemeingefährlichen Krankheiten fahrlässiger oder absichtlicher
Weise unterläßt und dadurch nachweislich die Schädigung eines
oder mehrerer Menschen herbeiführen sollte, hierfür haftbar wird.
Es ist naturgemäß, daß die VerschwiegenheitsVerpflichtung den
Arzt häufig in die schwierigst zu entscheidenden Konflikte zwischen
Arztpflicht und Menschenpflicht geraten lassen wird. Es ist
Hellwig (s. diese Zeitschr. Bd. I, Heft 1 S. 39) beizupflichten, daß
nur im Einzelfalle, nicht allgemein zu entscheiden sei, wie sich
der Arzt zu verhalten habe und daß die Pflicht zu schweigen noch
nicht die Pflicht zu lügen sei. Hellwig geht aber meinem Er¬
messen nach zu weit, wenn er unter Anführung des Falles, daß
eine Amme den Arzt, welcher die Eltern des von ihr gesäugten
Kindes wegen Syphilis behandelt, betreff einer Wunde an ihrer
Brust um Rat fragt, behauptet: der Arzt muß entweder vollständige
Auskunft über seinen Befund geben oder jede Auskunft über seinen
Befund ablehnen. Zur vollständigen Auskunft über seinen Befund
ist der Arzt meiner Meinung nach durchaus nicht verpflichtet, er
hat sachgemäße Behandlungsvorschriften und Vorschriften zur Ver¬
hütung der Krankheitsübertragung zu geben, aber über den Zu¬
sammenhang der festgestellten Krankheit mit der Krankheit eines
anderen, der sich ihm vorher anvertraut, darf er ohne Erlaubnis
dieses anderen sich nicht äußern; ebensowenig braucht er sich
über die Krankheitsursache oder Krankheitsbezeichnung zu äußern.
Der Arzt hat die Pflicht, die Gesundheitsinteressen der Amme
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Meldepflicht und Verschwiegenheita-Verpflichtung des Arztes usw. 451
zu wahren, aber er hat ebenso die Pflicht, das ihm an vertraute
Geheimnis von der Art der Erkrankung der Dienstherrschaft zu
wahren. Mit Vorsicht und Taktgefühl wird es ihm auch in einer
derartigen schwierigen Lage gelingen, beiden Seiten gerecht zu werden.
Die Vielgestaltigkeit des Lebens wird nicht selten den Arzt
vor einen schwer zu lösenden Konflikt stellen zwischen der ge¬
setzlichen Verschwiegenheits -Verpflichtung und der sittlichen Pflicht
eine drohende Krankheitsübertragung zu verhüten und aus diesem
Grunde die Schweigepflicht zu verletzen. In einem solchen Konflikt
wird sich ihm der Gedanke aufdrängen, daß er über die Schweige¬
pflicht sich hinwegsetzen und das Offenbarungsrecht, auch wenn ihm
von dem Kranken die Offenbarungserlaubnis nicht erteilt oder so¬
gar ausdrücklich versagt wurde, aus eigenem Ermessen sich
zusprechen dürfe, weil er aus höheren sittlichen Beweggründen,
im Interesse eines wesentlichen Nutzens für einen anderen (z. B.
Verhinderung der Eheschließung eines übertragungsfähigen syphi¬
litischen Mannes mit einer gesunden Dame) handele. Vom Ge¬
setzesstandpunkt aus hat der Arzt hierzu niemals das Recht; er
ist unbedingt, auch wenn infolge seines Schweigens Unschuldige
sollten zu leiden haben, der Verschwiegenheits-Verpflichtung unter¬
worfen. Das Wesen des Staates, der Bürgergemeinschaft, beruht
darauf, daß sich alle dem bestehenden Gesetze zu fügen haben und
nicht nach eigenen Gutdünken, nach dem persönlichen Ab wägen
von höheren oder weniger hohen sittlichen Pflichten ihr Handeln
einrichten. Wer über das bestehende Gesetz sich hinwegsetzen
will, muß sich der Folgen bewußt sein und das Martyrium der
Strafen hinnehmen: Wer auf die gerichtliche Entscheidung in einem
Beleidigungsfalle verzichtet und zur Selbsthilfe des Zweikampfes
sich entschließt, wer als Redakteur die Zeugnisablegung betreffs
der Urheberschaft eines Mitarbeiters verweigert, muß der ihm
drohenden Freiheitsstrafe gewärtig sein. Auch der Arzt muß sich
bewußt sein, daß er sich ein Melderecht nicht konstruieren kann,
ohne die strafrechtlichen und eventuell auch zivilrechtlichen Folgen
der unerlaubten Offenbarung auf sich zu nehmen. Theoretisch ist
für solche, an den einzelnen Arzt nur selten heran tretende Fälle
eine Richtschnur nicht zu geben; es muß jeder Fall für sich reiflich
erwogen und das Augenmerk darauf gerichtet werden, nicht mittelst
gewaltsamen Durchhauens des Knotens, sondern mittelst Gewand-
heit und Überredungskunst die folgenschweren Schritte eines
rücksichtslosen Kranken zu verhüten.
83*
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452
Chotzen-Simonson.
Angesichts der Tatsache, daß trotz des fast siebzigjährigen
Bestehens der bedingungsweisen Meldepflicht des Regulativs von
1835 die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in erschreckender
Weise zugenommen hat, ist von verschiedensten Seiten — auch
innerhalb der Zweigvereine der Deutschen Gesellschaft zur Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten — der Gedanke erwogen,
ob nicht speziell für Geschlechtskranke die Verschwiegenheits-
Verpflichtung des Arztes aufzuheben und von einer derartigen
Abänderung des § 300 und einer gesetzmäßig den Ärzten auf¬
zuerlegenden Meldepflicht aller Fälle von Geschlechts¬
krankheiten eine erfolgreiche Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten zu erwarten sei.
Diesem Gedanken ist unbedingt und mit aller Schärfe ent¬
gegenzutreten.
Die Meldung an die Behörde könnte nur dann die Ver¬
breitung der Krankheiten beeinflussen, wenn die Behörde auch
die Macht erhielte, eine sachgemäße Behandlung des Erkrankten
und zwar in einem öffentlichen Krankenhause zu erzwingen, aus
welchem der Patient nur nach Verschwinden seines ansteckungs-
ähigen Zustandes entlassen werden darf. Die Auferlegung eines
solchen Zwanges ist einer bestimmten, eng umschriebenen Be¬
völkerungsklasse, wie den öffentlich Prostituierten, gegenüber, auch
im Rahmen einer im ganzen Lande gleichmäßig organisierten
Gemeinschaft, wie dem stehenden Heere, durchführbar, nicht aber
für die Gesamtbevölkerung des Landes. Selbst für die staatlich
oder privatlich organisierten Krankenkassenmitglieder wird eine
unbedingte, stets durchzuführende Krankenhausbehandlung der
Geschlechtskranken niemals zu erreichen sein; man wird sich be¬
gnügen müssen mit dem indirekten Zwange, welcher dadurch aus¬
geübt wird, daß bei der Weigerung des Kassenmitgliedes, sich
der ärzlichen Vorschrift gemäß in ein Krankenhaus aufnehmen
zu lassen, das Krankengeld entzogen werden kann.
Die Fanatiker der unbedingten Meldepflicht aller Geschlechts¬
kranken und der Krankenhaus-Zwangsbehandlung sollten, bevor
sie von der Staatsbehörde eine derartige weitgehende — und
praktisch undurchführbare — Beeinträchtigung der persönlichen
Freiheit verlangen, zunächst überlegen, ob denn der Staat zu
einem so ausgiebigen Schutze vor der Erwerbung von Geschlechts¬
krankheiten verpflichtet sei. Die Geschlechtskrankheiten sind in
dieser Richtung mit den übrigen Infektionskrankheiten nicht in
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Meldepflicht und Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 458
gleiche Reihe zu stellen. Cholera, Typhus, Diphtherie sind für
die Einzelnen schwer oder unmöglich vermeidbare Erkrankungen;
es hat diesen gegenüber der Staat die Pflicht durch strenge Vor¬
schrift betreff Meldung, Isolierung und Krankenhausaufnahme der
Weiter Verbreitung einen Riegel vorzuschieben; Geschlechtskrank¬
heiten aber sind — mit Ausnahme der seltenen Infektionen auf
schuldlosem Wege — die Folgen vermeidbarer, aus eigenem Antriebe
ausgeführter, im Bewußtsein der damit verbundenen Gefahren aus¬
geübter Handlungen. Es ist Sache des Selbstschutzes des Indi¬
viduum die Gefahr-Wahrscheinlichkeit jenes selbst gewählten Ver¬
kehres sich nach Möglichkeit zu verringern. Der Staat hat nicht
die Pflicht den außerehelichen Geschlechtsverkehr in jeder Form
zu schützen; er hat nur die Pflicht, diejenigen Personen, welche
auf Grund ihres Lebenswandels — der gewerbsmäßigen Unzucht
— erfahrungsgemäß befürchten lassen, daß sie eine wesentliche
dauernde Gefahr für das Gemeinwesen werden und ihre Geschlechts¬
krankheiten unabsehbar verbreiten, zwangsweise, durch polizeiärzt¬
liche Untersuchung und Krankenhausbehandlung, möglichst un¬
schädlich zu machen.
Die Ärzteschaft muß jede Absicht, die Verschwiegenheits-
Verpflichtung des § 300 zu untergraben und eine allgemeine
unbedingte Meldung aller Geschlechtskranken einzuführen, mit
Entschiedenheit zurtickweisen. Selbst wenn man sich vorstellen
dürfte, daß gleichzeitig mit der Meldung eine zwangsweise Kranken¬
hausbehandlung durchgeführt und hierdurch eine erfolgreiche Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten erreicht werden könnte, selbst
dann steht der hieraus erwachsene Nutzen in keinem Verhältnis
zur Erschütterung der Arztstellung, zu dem Verluste des Ver¬
trauensverhältnisses zwischen Arzt und Patienten. Die Ver¬
schwiegenheits-Verpflichtung des Arztes ist das Palladium, durch
welches er sich alle Zeiten hindurch, allen Ständen gegenüber
eine besondere Stellung zu wahren gewußt hat. Wird diese
Schranke durchbrochen, weiß der Patient, daß er mit seiner Ge¬
schlechtskrankheit an den meldepflichtigen Arzt sich nicht mehr
wenden darf, ohne einer Preisgebung des anvertrauten Geheimnisses
gewärtig zu sein, dann wird er entweder solange als möglich seine
Erkrankung verheimlichen und seinen Zustand verschlimmern oder
den Arzt ganz ausschalten und der Kurpfuscherei sich zuwenden.
Es ist ferner von verschiedenen Seiten erwogen worden, ob,
wenn eine unbedingte Meldepflicht aller Geschlechtskranken den
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454
Chotzen-Simonaon.
Ärzten aufzuerlegen nicht durchführbar sei, es sich empfehle, den
§ 300 dahin abzuändern, daß der Arzt das Recht erhalte, ge-
schlechtskranke Ehekontrahenten der Behörde anzuzeigen,
um deren Eheschließung zu verhindern. Man macht dafür geltend,
daß die Eheschließung eines Geschlechtskranken eine Gefährdung
des Gemeinwesens, des öffentlichen Wohles darstelle, daß die Ehe
nicht lediglich eine Privatangelegenheit, sondern von der größten
Bedeutung für das Staatswohl sei. Der Staat ist zu seiner Er¬
haltung auf eine fruchtbare Ehe, auf die Erzeugung zahlreicher
gesunder Nachkommen, zur Hebung des Nationalwohlstandes auf
die Erziehung widerstandsfähiger Arbeitskräfte, zum Schutze
des Landes auf den Erhalt eines leistungsfähigen Heeresersatzes
angewiesen: Gründe genug, um dem Staate ein Einspruchsrecht
zu gewähren, falls Personen, welche durch ihren Gesundheitszustand
eine Zukunftssicherheit nicht gewähren, die Ehe eingehen wollen.
Gerade die Vererbungsfähigkeit der Syphilis rechtfertige einen be¬
sonderen Schutz der Ehe.
Ein solcher Schutz der Ehe müßte nach zwei Seiten hin er¬
folgen: es müßte die Eheschließung mit einem Geschlechtskranken
verhütet und es müßte die Ehe mit einem Geschlechtskranken ge¬
trennt werden können.
Zum Zwecke der Verhütung der Eheschließung mit
einem Geschlechtskranken sind die vielfältigsten Vorschläge
gemacht worden:
a) Hempfing-Wiesbaden(WiesbadenerOrtsausschuß derD.G.B.G.
31. I. 1903) verlangt die Meldung aller Geschlechtskranken
durch den behandelnden Arzt an den Kreisarzt, die Meldung
von der Behandlungsbeendigung ohne Heilung resp. durch
Heilung und die Befugnis des Kreisarztes „berechtigten
Interessenten“ von den ihm gewordenen dienstlichen Angaben
Mitteilung zu machen;
b) ein Gesundheitsnachweis vor der Eheschließung bei der Orts¬
behörde (diplome conjugal):
a) Lederer (diese Zeitschr. Bd. II, Heft 5 S. 213) verlangt
ein Zeugnis über gesundenKörperbau;
ß) Anonymus (ebenda) eine amtsärztliche Beglaubigung
der körperlichen und geistigen Tauglichkeit für die Ehe;
y) Haskovec (ebenda) ein ärztliches Zeugnis über den
körperlichen und geistigen Gesundheitszustand;
c) ein gesetzmäßiges staatliches Eheverbot:
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Meldepflicht und Verschwiegenheit-Verpflichtung des Arztes usw. 455
a) Pinard und Gagalis (ebenda) verlangen: Die Ehe ist
allen Kranken verboten, welche an einem schweren,
auf die Frau oder das künftige Kind übertragbaren
Übel leiden;
ß) He gar (ebenda): staatliches Eheverbot bei Syphilis und
Tripper;
y) im Staate Michigan besteht ein Gesetz: Geisteskranken
und Idioten ist die Eheschließung verboten, ebenso bei
Syphilis und Tripper bei Gefängnis- und Geldstrafe. Der
Arzt untersteht dem Zeugniszwange. Ehegatten können
gezwungen werden, Zeugnis gegen einander abzulegen.
Gegen diese Vorschläge ist einzuwenden:
a) gegen den Vorschlag Hempfing-Wiesbaden:
Die Arztmeldung an den Kreisarzt würde ein Fernbleiben
der Kranken von dem Arzte zur Folge haben; die Befugnis
des Kreisarztes „berechtigten Interessenten“ über den Ge¬
sundheitszustand eines ihm als geschlechtskrank gemeldeten
Patienten Auskunft zu geben, ist undurchführbar, da der
Kreisarzt nicht imstande ist „das berechtigte Interesse“ ein¬
wandsfrei festzustellen und auch jeder beliebige böswillige
Neugierige ein derartiges „berechtigtes Interesse“ — ein
meist subjektives, selten objektiv nachweisbares Moment —
als vorhanden anführen kann.
b) gegen den Gesundheits-Nachweis:
Der Arzt ist nur imstande ein augenblickliches Freisein
von Krankheitserscheinungen festzustellen; ein Urteil darüber,
ob der früher einmal von einer Geschlechtskrankheit heim¬
gesucht Gewesene auf längere Zeit oder für immer von
Rückfallserscheinungen seiner Krankheit frei bleiben wird —
und diese Möglichkeit spielt gerade bei den Geschlechts¬
krankheiten eine große Rolle — kann der Arzt nicht ab¬
geben. Es kann eine Person, welche vor einer gewissen Zeit
Syphilis erworben hat, zur Zeit der Untersuchung so frei
von jeder Syphilis- auch Syphilis-Rest-Erscheinung sein, daß
der Arzt gar nicht auf die Vermutung zu kommen braucht,
es habe jemals eine Syphilisinfektion stattgefunden. Das
Zeugnis über den gesunden Körperbau wäre in solchem Falle
zu erteilen und wäre schließlich einer Person erteilt, welche
nach dem Sinne Lederers zur Eheschließung nicht zu¬
gelassen werden sollte.
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Chotzen-Simonson.
c) Gegen das staatliche Eheverbot:
Die Vererbung der Syphilis oder die Übertragung des
Trippers durch den ehelichen Verkehr ist nicht für alle
Falle, in welchen Geschlechtskranke nach Abheilen des
ersten, gefährlichsten Infektionsstadiums die Ehe ein¬
gingen, festgestellt. Ein jeder Arzt kennt Fälle, in
welchen — auch ohne daß sie in ausreichender Weise
antisyphilitisch oder antigonorrhoisch behandelt wurden —
eine Übertragung auf die andere Ehehälfte oder die Nach¬
kommen nicht stattgefunden hat; er kennt auch Fälle,
in denen selbst nach einer oder mehreren Fehlgeburten
schließlich eine gesunde Nachkommenschaft erzeugt wurde.
Wenn auch heute fast allgemein anerkannt wird, daß eine
möglichst ausgiebige, auch in erscheinungsfreien Stadien
fortgesetzte, chronisch-intermittierende Behandlung der
Syphilis die größte Wahrscheinlichkeit für ein Freibleiben
von späteren Syphiliserscheinungen oder Syphilisübertragungen
gewährt, so darf man doch nicht so weit gehen zu behaupten,
daß alle nicht chronisch behandelten Fälle jahrelang nach
ihrer Infektion unfehlbar übertragungsfähig bleiben. Ein
generelles Verbot, daß Individuen, welche irgendwann ein¬
mal vor ihrer Eheschließung mit Syphilis oder Tripper be¬
haftet waren, von der Ehe ausgeschlossen werden müßten, ist
der ärztlichen Erfahrung nach also nicht gerechtfertigt.
Man muß sich auch gegenwärtig halten, daß die Eheschließung
nicht allein den Endzweck der Erzeugung von Nachkommen
im Auge hat; sondern daß viele, seien es im Alter vorge¬
schrittenere, seien es in noch nicht völlig gesicherter Lebens¬
stellung befindliche Personen, allein in der endlichen Er¬
reichung der Lebensvereinigung bereits eine Lebensbefriedi¬
gung finden. Wenn auch der Staat an einer fruchtbaren,
die Nachkommenschaft bis zu einem gewissen Selbständig¬
keitsalter erhaltenden Ehe das größte Interesse hat, so ist
doch auch die Eheschließung an sich, weil sie die Seßhaftig¬
keit, einen höheren Ansporn zur Entwicklung der schlummern¬
den Arbeitskräfte, die Erwerbung von Besitz, also die
Förderung des Volkswohlstandes herbeizuführen vermag, für
das Staatsleben von Wert. Ein aus rein theoretischen Er¬
wägungen entstehendes, nach ärztlichen Anschauungen zu¬
weit gehendes staatliches Eheverbot würde durch die Ver-
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Meldepflicht und Verschwiegenheitsverpflichtung des Arztes usw. 457
nichtung und Störung des Lebensglückes das Einzelwesen
mit unnützer Härte bedrücken und das Staatswesen schädigen.
Das Beispiel des Bestehens eines staatlichen Eheverbotes in
dem kleinen Staate Michigan hat keine Beweiskraft für die Richtig¬
keit und den etwaigen Erfolg dieser Maßnahme; die Umgehung
des Verbotes ist mit dem Opfer einer nur kurzen Bahnfahrt nach
einem der Nachbarstaaten und der dortigen Vornahme einer auch
in Michigan als rechtsgültig anerkannten Eheschließung mit Leich¬
tigkeit zu bewerkstelligen.
Eine Prüfung der Vorschläge zur Verhütung der Einschleppung
der Geschlechtskrankheiten in die Ehe ergibt, daß auch auf diesem
eng begrenzten Gebiete mit allgemein gültigen Zwangsmaßregeln
eine Abhilfe nicht geschaffen, daß auch hier nur von einer Auf¬
klärung, von einem Selbstschutze der Bevölkerung eine
Besserung der augenblicklichen Zustände erhofft werden kann.
Diese Aufklärung muß dahin gehen, daß diejenigen Personen,
welche die Ehe eingehen wollen, sich bewußt werden, daß
sie einen Gegenseitigkeitsvertrag schließen, und daß bei diesem
auf Lebenszeit zu schließenden Vertrage beide Teile verpflichtet
sind, die denkbar größte Vorsicht zu üben. Es ist die Pflicht
der Eltern oder des Vormundes sich nicht nur über die Ver¬
mögens-, sondern auch über die Gesundheitsverhältnisse des
Partners zu vergewissern und zwar entweder durch direktes Be¬
fragen des Ehekandidaten, welcher zur Offenbarung aufgefordert,
durch Verschweigen einer früheren oder bestehenden Erkrankung
sich strafbar machen würde, oder durch die Forderung, der
Ehekandidat solle seinen Arzt von der Verschwiegenheits-
Verpflichtung befreien und die Aussage über seinen Gesund¬
heitszustand genehmigen. Eine Verweigerung dieses Ansuchens
wird vorsichtigen Eltern für die Beurteilung des Ehekandidaten
genügen. Zartfühlende Eltern, welche mit einem derartigen direkten
Verlangen Anstoß zu erregen befürchten — die Schwere der Ver¬
antwortung sollte solche kleinliche Befürchtungen nicht aufkommen
lassen —, könnten ihrer Pflicht auch damit genügen, daß sie von
dem Ehekontrahenten den Nachweis vom Abschlüsse einer Lebens¬
versicherung verlangen, da im allgemeinen die Lebensversicherungs-
Gesellschaften Antragsteller in den ersten zwei bis drei Jahren
nach der Infektion mit einer Geschlechtskrankheit zurückweisen.
Es ist auch nicht nur die Pflicht, sondern liegt im direkten
Interesse des Ehekandidaten, seinem Vertragsgenossen von früher
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Chotzen-Simonson.
überstandenen Geschlechtskrankheiten Mitteilung zu machen, um
bei einem eventuellen Wiederausbruch der Krankheit während der
Ehe — und mit der Möglichkeit, wenn auch nicht der Wahrschein¬
lichkeit eines Wiederausbruches muß gerechnet werden — vor der
rechtlichen Eheanfechtung bewahrt zu sein.
Es ist des weiteren angeregt worden, die Verschwiegenheits-Ver¬
pflichtung des Arztes für den Fall aufzuheben, daß es sich um die
Trennung der Ehe mit einem Geschlechtskranken handle.
Flesch-Wertheimer haben („Geschlechtskrankheiten und
Rechtsschutz“ Jena, Gustav Fischer 1903 S. 44) zu diesem Zwecke
eine Abänderung des § 300 in folgender Form vorgeschlagen: Der
den Ehegatten behandelnde Arzt ist in Ehesachen als Sachver¬
ständiger vor Gericht von der Wahrung des Berufsgeheimnisses
ohne weiteres zu entbinden.
Namhafte Juristen wie Hellwig (Lc.) und Schmölder ebenda
(S. 92) führen hiergegen an, eine Abänderung des § 300 sei überflüssig,
die bestehende Gesetzgebung schütze gegen die Fortsetzung der
Ehe mit einem Geschlechtskranken zur Genüge. Die Eheanfechtung
sei in einem solchen Falle möglich, wegen des Irrtums, in welchem
bei der Eheschließung der gesunde Teil über die persönlichen
Eigenschaften des anderen Teiles sich befunden habe, selbst wenn
letzterer zur Zeit der Eheschließung sich im Stadium der vorüber¬
gehenden Latenz befunden habe. Verabsäumt der krank gewesene
Ehekontrahent, vor der Eheschließung den ihn behandelnden Arzt
zu befragen, ob er die Ehe ohne Bedenken schließen dürfe, ja
selbst wenn er den ärztlichen Ehekonsens erhalten, aber dem
anderen Ehegenossen vor der Eheschließung das Vorhandensein
der früheren Erkrankung verheimlicht hat, selbst dann ist er bei
Wiederausbruch der Krankheit wegen arglistiger Täuschung ver¬
folgbar und die Ehe anfechtbar. Die Eheanfechtungsklage kann,
nach Schmölder, durch die Scheidungsklage kumuliert werden.
Schmölder sowohl wie Hellwig kommen zu dem Schlüsse, daß
das bürgerliche Gesetzbuch zu einem befriedigenden Abschlüsse in
dieser Materie gelangt ist
Die Nichtjuristen, sowohl die Arzte als das große Publikum,
scheinen von dem Schutze, welche ihnen das Gesetz in derartigen
Ehetrennungsfällen gewährt, nicht genügend unterrichtet zu sein.
Je mehr diese Kenntnis verbreitet wird, um so mehr wird das
Gewissen jener, welche vorehelich eine Geschlechtskrankheit er-
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Meldepflicht und Verochwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 469
worben haben, geschärft werden, um so mehr werden sie, nicht
nur aus sittlichen Gründen, sondern schon um sich vor einer
eventuellen gerichtlichen Verantwortung zu schützen, vor einer Ver¬
heimlichung ihrer früheren Krankheit zurückschrecken und eine
Ehe nur auf der Grundlage des rückhaltlosen gegenseitigen Sich-
anvertrauens aufbauen. Auch für den Arzt ist die Kenntnis von
dem Vorhandensein der einschlägigen Gesetzbestimmungen erforder¬
lich. Auf Grund dieser Kenntnis wird er den von ihm behandelten
geschlechtskranken Ehekandidaten durch Hinweis auf die betreffen¬
den Gesetzesparagraphen gar oft noch eher von der Eheschließung
zurückhalten, als er es sonst nur durch Geltendmachung der
moralischen Verantwortung vermag.
Bei der Trennung der Ehe mit einem Geschlechtskranken
scheint in dem Gesetze ein Schutz dagegen zu fehlen, daß dem
anfechtenden Ehegatten die Beweisführung für das Vorhandensein
einer Geschlechtskrankheit unmöglich gemacht werden kann, indem
der beschuldigte Ehegatte den ihn behandelnden Arzt von der
Verschwiegenheits Verpflichtung nicht entbinden will, oder indem
sich der Arzt auf das Recht der Zeugnisverweigerung beruft.
Eine Entscheidung, ob in dieser Richtung eine Lücke im Gesetze
tatsächlich besteht und ob diese Lücke durch irgendwelche Gesetz¬
bestimmungen geschlossen werden kann, ohne die Verschwiegenheits¬
verpflichtung des Arztes im allgemeinen zu erschüttern, wird der Herr
Korreferent besser zu beantworten imstande sein, als ich es vermag.
Auf Grund des vorstehend Dargelegten komme ich zu dem
Schlüsse, daß eine erfolgreiche Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten nicht durch eine Erweiterung der Meldepflicht, nicht durch
eine, auch nur beschränkte, Aufhebung der Verschwiegenheitsver-
pflichtung des Arztes zu erreichen ist, sondern nur durch eine
schärfere Anwendung der j etzt schon vorhandenen Gesetzbestimmungen
betreffs der Eheanfechtung und vor allem durch eine unablässig
tätige, allen, auch den sogenannten gebildeten Schichten der Be¬
völkerung zugängige, dem Verständnis der jeweiligen Zuhörer
bestens angepaßte Aufklärung über das Wesen und die Bedeutung
der Geschlechtskrankheiten. Nur wenn diese Kenntnisse Allgemein¬
gut der Bevölkerung geworden sein werden, erst dann wird das
Verantwortlichkeitsgefühl des einzelnen auch auf diesem Gebiete
der Lebensbetätigung besser ausgebildet werden als bisher und
erst dann wird eine allmähliche Verminderung der Geschlechts¬
krankheiten zu erwarten sein.
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460
Chotzen-Simonson.
Schlußsätze.
1. Die Erweiterung der Meldepflicht bei Geschlechtskrankheiten
über die Grenzen des zur Zeit dem Abgeordnetenhause vor-
liegendenEntwurfes zum Ausführungsgesetz des Reichs-Seuchen¬
gesetzes hinaus entspricht wegen der dadurch bedingten Be¬
einträchtigung der Verschwiegenheitsverpflichtung des Arztes
und der Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen
Arzt und Kranken weder dem Interesse der Ärzte noch dem
der Kranken oder der Allgemeinheit.
2. In Hinsicht auf die Gemeingefährlichkeit derjenigen Geschlechts¬
kranken, welche den Anordnungen des Arztes absichtlich
zuwiderhandeln und durch Fortsetzung des ihnen verbotenen
Geschlechtsverkehres oder durch bewußte Fahrlässigkeit ihre
Krankheit verbreiten, erscheint es geboten, die in § 14*
des Reichs-Seuchengesetzes vorgesehene Schutzmaßregel nicht
nur, wie § 8 Nr. 9 des Gesetzentwurfes zum Ausführungs¬
gesetze des Reichs-Seuchengesetzes vorsieht, auf diejenigen
Personen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben, sondern für
allgemein anwendbar zu erklären.
Da die Schutzmaßregeln des § 14 (Überführung in
ein Krankenhaus) nur auf Anordnung eines beamteten Arztes
zur Ausführung kommen kann, ist gegen eine mißbräuchliche
oder überflüssige Anwendung desselben genügender Schutz
vorgesehen.
3. Zur Verhütung der Übertragung der Geschlechtskrankheiten
in die Ehe ist eine Aufhebung der Verschwiegenheits-
Verpflichtung im allgemeinen nicht geboten, da genügende
sonstige Schutzmaßregeln bestehen um das Eingehen der Ehe
mit einem Geschlechtskranken zu vermeiden und um die Tren¬
nung der Ehe mit einem Geschlechtskranken zu ermöglichen.
Nur für den Fall, daß die bei Eheanfechtung und Ehescheidung
gerichtlich als notwendig erachtete Aussage eines Arztes von
diesem unter Berufung auf die Verschwiegenheitsverpflichtung
des § 300 Str.G.B. verweigert wird, ist einer Änderung des
§ 300 dahin zuzustimmen/ daß der Arzt von dem Kranken,
welcher ihm das Leiden anvertraut hat, der Verschweigungs¬
pflicht zu entheben und alsdann zur Aussage verpflichtet ist.
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Meldepflicht iuid Verschwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 461
Anträge.
Der schlesische Zweigverein der Deutschen Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten richtet an das Haus der
Abgeordneten das Ersuchen:
in dem Entwürfe eines Ausführungsgesetzes zu dem
Reichsgesetze, betreffend die Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900 (Druck¬
sache Nr. 25—20. Legislaturperiode. I. Session—1904).
I. den Wortlaut von § 2 Abs. 3 abzuändern in:
„Die unter 1 und 3 bezeichneten Personen haben, falls
sie Unteroffiziere und Mannschaften des aktiven Heeres
wegen ansteckungsfähiger Erscheinungen von
Syphilis oder Tripper sowie wegen weichen Schankers
behandeln, dies dem Kommando des betreffenden
Truppenteils oder dem bei demselben angestellten Ober-
Militärarzte unverzüglich anzuzeigen.“
Et. den Wortlaut von § 8 Nr. 9 abzuändern in:
„Syphylis, Tripper und Schanker:
a) bei Personen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben:
Beobachtung Kranker, krankheits- oder ansteckungs¬
verdächtiger Personen (§ 12), Absonderung kranker
Personen (§14 Abs. 2);
b) bei allen übrigen Personen: Absonderung
kranker Personen (§ 14 Abs. 2).
2. Herr Oberlandes-Gerichtsrat Simonson:
Jeder Stand hat seinen nach besonderen Richtungen aus¬
geprägten Ehrbegriff. Der Stand der Ärzte hat, solange er be¬
steht, die Geheimhaltung des Berufsgeheimnisses als eine der ver¬
nehmlichsten Ehrenpflichten seines Standes angesehen, ursprünglich,
solange als die Arzt- und Priesterkaste miteinander verbunden
waren, um ihr mit dem Nimbus des Geheimnisvollen, des Über¬
sinnlichen umkleidetes und vielfach dadurch bedingtes Ansehen
zu wahren, später aus dem noch jetzt geltenden Gesichtspunkte
heraus, daß der Arzt, und zwar in noch höherem Maße als der
Seeborger und Anwalt, das unbedingte Vertrauen der sich ihm
Anvertrauenden genießen müsse. Und in der Tat, nur dann kann
dieser Stand seine Aufgabe erfüllen, wenn jeder, der sich an einen
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Chotzen-Simonson.
Arzt wendet, gewiß ist, daß das, was er ihm gesagt hat oder der
Arzt sonst an ihm wahrgenommen hat, in dessen Brust verschlossen
bleibt, wenn der seine Hilfe in Anspruch Nehmende es nicht
anders will.
Dieser Grundsatz wird auch ferner, da die Gründe unver¬
ändert fortbestehen, als oberster erhalten werden müssen, wie
denn auch kaum Bestrebungen nach der Gegenseite sich geltend
gemacht haben.
Es kann sich daher nur fragen, ob für besondere Fälle, für
gewisse Sondergebiete, ein Ab weichen von diesem Grundsätze ge¬
boten erscheint.
Niemand weiß so genau, wie der Pfleger des Rechtes, daß die
starre Aufrechterhaltung eines Grundsatzes im Einzelfalle nicht
nur hart erscheinen, sondern auch hart sein kann. Aber niemand
ist auch durch seinen Beruf ebenso wie der Jurist geschult worden,
die hohe Bedeutung des Grundsatzes nicht außer acht zu lassen,
trotz des Gemüt und Billigkeitsgefühl ergreifenden Eindrucks des
Einzelfalles, der durch das Festhalten an dem Grundsätze schwer
verletzt sein mag. Er hat gelernt, auf hoher Warte stehend, sich
durch solchen Eindruck nicht hinreißen zu* lassen. Das ist der
wahre, edle Sinn des so oft geschmähten Wortes „fiat justitia,
pereat mundus“.
Wenn ich als Jurist, der mich ehrenden Aufforderung folgend,
zu Ihnen spreche, so werden Sie es nach dem Vorhergesagten
verstehen, wenn ich mich bemühe, den hervorgehobenen Grundsatz
nicht aus den Augen zu verlieren.
Der moderne Staat, dessen Bestreben dahin geht, das all¬
gemeine Wohl zu erhalten und zu fördern, hat und fühlt die
Pflicht, abzuwägen, ob nicht gerade aus dem Gesichtspunkte der
allgemeinen Wohlfahrt ein bisher in Geltung gewesener Grundsatz,
sei er auch noch so wichtig, aufzuheben oder abzuändem oder für
einzelne Gebiete oder Fälle zu durchbrechen sei. Und er hat die
Pflicht, den Fortschritten der Wissenschaft hier sorgfältigste Rech¬
nung zu tragen. Gerade die medizinische Wissenschaft hat, ins¬
besondere in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts,
die Vorstellungen, die man über viele Dinge hatte, so gänzlich
verschoben, daß sie den Staat genötigt hat, vielfach neue Bahnen
einzuschlagen. Hier steht, abgesehen von der Wissenschaft der
Tuberkulose, die Lehre von den Geschlechtskrankheiten, die Kennt¬
nis ihrer Entstehung, Übertragung und ihrer das ganze Volkswohl
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Meldepflicht und Verachwiegenheita-Verpflichtung des Arztes usw. 463
ergreifenden Folgeerscheinungen in allererster Linie, wobei be¬
sonderer Hervorhebung wert erscheint, daß die Feststellung der
riesengroßen Gemeingefährlichkeit der Gonorrhoe für die große
Masse, die Gebildeten nicht ausgeschlossen, noch so neu ist, daß,
um dem Unglauben daran zu begegnen, nicht oft genug von Sach¬
kundigen darauf hingewiesen werden kann.
Je neuer und stärker die Errungenschaften auf dem Gebiete
der Lehre der Geschlechtskrankheiten sind, desto erklärlicher ist
es, daß Vertreter dieser Lehre, soweit sie in der Geheimhaltung
des Arztgeheimnisses ein Übel sehen, mit besonderer Lebhaftigkeit
für ihr Gebiet dessen Beseitigung erstreben. Aber man sollte
hier nicht vergessen, daß hier so stark wie nirgends sonst der
Leidende die Geheimhaltung verlangt, und daß der Gesetzgeber
zu erwägen hat, ob die Sondergründe, die für dieses Gebiet geltend
gemacht werden, nicht auch bei andern zutreffen, und oh nicht
noch wichtigere Gründe einer so allgemeinen Durchlöcherung des
Grundsatzes entgegenstehen.
Das Deutsche Reich hat den Grundsatz der Wahrung des
Berufsgeheimnisses im § 300 R. Str. G. B. zum Ausdruck gebracht,
wobei ich bemerke, daß fast alle Kulturstaaten im wesentlichen
die gleiche Regelung getroffen haben. Auffälligerweise fehlen in
England und in einigen Kantonen der Schweiz den Arzt betreffende
Bestimmungen.
§ 300 R. Str. G. B. straft auf Antrag die unbefugte Offenbarung
von Privatgeheimnissen, die einem Arzte (die andern dort erwähnten
Personenklassen interessieren hier nicht) kraft seines Standes an¬
vertraut sind.
Unter Privatgeheimnis ist jede mit der ausdrücklichen Auf¬
lage der Geheimhaltung gemachte Mitteilung zu verstehen, diese
Auflage kann sich aber auch aus den Umständen ergeben und
solche gelten als vorliegend, wenn die mitteilende Person ein er¬
kennbares Interesse an der Geheimhaltung hat
Das Wort „anvertrauen“ ist nicht besonders zu betonen, sein
Tatbestand liegt vielmehr schon vor, sobald nur der Arzt kraft
seines Berufs in den Besitz der Kenntnis der als Geheimnis be¬
handelten Tatsache gelangte. Übrigens kann auch der ein Berufs¬
geheimnis verletzen, der zur Zeit der Offenbarung den Beruf bereits
aufgegeben hat Als „Offenbarung“ wird jede Mitteilung an irgend
einen andern, also auch an eine Vertrauensperson angesehen, auf
deren Verschwiegenheit gerechnet werden durfte.
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Chotzen-Simonson.
Unbefugt ist nach Olshausen, dem ich bei der Begriffs¬
bestimmung gefolgt bin (Olshausen, RStr.G.B. § 300, Nr. 2,3,4,8,9),
gleichbedeutend mit widerrechtlich. Nach ihm ist eine Mitteilung
stets unbefugt, wenn sie gegen den Willen des Anvertrauenden
erfolgt, soweit nicht gesetzliche Bestimmungen eine Offenbarung
auch ohne diese Zustimmung gebieten oder wenigstens für zulässig
erklären. Als solches flir das ganze Deutsche Reich geltendes
Gebot kommen nur § 139 RStr.G.B. und das Reichsgesetz betr.
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900
(R G. Bl. S. 306) in Frage. Letzteres erstreckt sich auf Geschlechts¬
krankheiten nicht § 139 R.Str. G. B. begründet eine Anzeigepflicht
bei Kenntnis von dem Vorhaben gewisser einzeln aufgeflihrter
sowie allgemein der gemeingefährlichen Verbrechen. Auch dieser
Paragraph schränkt die Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheim¬
nisses als solchen nicht ein. Unzweifelhaft kann die Übertragung
einer geschlechtlichen Erkrankung als Körperverletzung strafbar
sein und zwar, wenn sie die im § 224 R. Str. G. B. erwähnten
Folgen mit sich führt, als Verbrechen, das man an sich wohl
als ein gemeingefährliches ansehen könnte. Da aber dieser Be¬
griff ein technischer des Gesetzes ist und es die gemeingefährlichen
Verbrechen und Vergehen in einem besonderen, die Körperver¬
letzungen nicht enthaltenden Abschnitte (Nr. 27) behandelt, so kann
dieser Paragraph den Arzt nicht veranlassen, anderes, als was auch
andere Personen anzuzeigen hätten, zu offenbaren. Auch Ver¬
öffentlichungen oder Mitteilungen, die aus wissenschaftlichem In¬
teresse ergehen, sind nicht straffrei. Mit der herrschenden Meinung
nimmt Olshausen an, daß Aussagen, die der Arzt vor Gericht
als Zeuge macht (§ 52 Str. Pr. 0.; § 188 Mil. Str. Pr. 0.; § 383 Z.P.O.
straffrei seien, denn da hier die betreffenden Personen zur Ver¬
weigerung des Zeugnisses nur flir berechtigt erklärt werden, so
ergebe sich daraus, daß die Offenbarung des Geheimnisses bei der
Zeugnisablegung nicht widerrechtlich sein könne. Ich muß nach
reiflicher Prüfung den entgegengesetzten Standpunkt vertreten,
wobei ich mich in Übereinstimmung mit Liebmann (Die Pflicht
des Arztes zur Bewahrung anvertrauter Geheimnisse. 1890. S. 7)
befinde. Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit dieser Frage für den
Arzt, bitte ich um die Erlaubnis, meine Ansicht etwas eingehender
zu begründen. Die Bestimmungen der Prozeßordnungen haben
diese Frage gar nicht entscheiden wollen. Die Begründung zum
Entwürfe der Z. P. 0. (S. 252), die die Gesetz gewordene Bestim-
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Meldepflicht und Verschwiegenheit»-Verpflichtung des Arztes usw. 465
mung bereits enthielt, hebt hervor, daß, wenn auch frühere Ent¬
würfe der Einzelstaaten diese Zeugen als unzulässig erklären, eine
derartig allgemeine Vorschrift doch entbehrlich erscheine, weil das
Strafgesetz gegen Indiskretionen der zum Zeugnis vorgeschlagenen
Personen genügend schütze. Man ist also davon ausgegangen,
daß es zur grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Schweigepflicht
nicht geboten sei, diese Personen als testes inhabiles auszuschließen.
Sie sollen selber die Entscheidung darüber haben, ob sie aussagen
wollen, das Vorhandensein des § 300 RStr. G. B. wird sie schon
ausreichend veranlassen, die Schweigepflicht nicht zu brechen. Ob
sie sich strafbar machen, spielt für den Rechtsstreit, in dem sie
sich als Zeugen vernehmen lassen, keine Rolle (s. E. R G. Str. S.,
Bd. 19 S. 365). Aber in ihrem Interesse gibt das Gesetz dem
Richter einen Hinweis, sie nicht in Versuchung zu führen, indem
es im Schlußsatz des § 383 Z. P. 0. bestimmt: „Die Vernehmung
der Nr. 4 und 5 bezeichneten Personen ist, auch wenn das Zeug¬
nis nicht verweigert wird, auf Tatsachen nicht zu richten, in An¬
sehung welcher erhellt, daß ohne Verletzung der Verpflichtung
zur Verschwiegenheit ein Zeugnis nicht abgelegt werden kann."
Den umgekehrten Weg schlug der Entwurf der Str. Pr. 0. ein,
indem er nur die Geistlichen und die Verteidiger, aber nicht die
Ärzte als zeugnisverweigerungsberechtigt erwähnte. Aber in der
Kommission I. Lesung (Prot. S. 42) wurden sie auf Grund der
Anträge Zinn und Hauck eingeschoben aus folgenden Erwägungen.
Grade wegen der Strafandrohung des § 300 R Str. G. B. sollte der
Arzt von der allgemeinen Zeugnispflicht bewahrt bleiben, um ihm
die Stellung als Vertrauensmann zu erhalten, da man sonst das
öffentliche Interesse schädige, indem man die Hilfesuchenden zur
Zurückhaltung nötige. Wenn man das Recht der Ärzte zur Zeug¬
nisverweigerung nicht zulasse, so erreiche man nichts als eine
Schädigung des Lebens und der Gesundheit der Staatsbürger, denn
ein pflichtgetreuer Arzt werde sich lieber wegen Zeugnisverweigerung
strafen lassen, als Aussagen machen, welche eine Diskretionsver¬
letzung enthalten (s. a. Prot., II. Komm., S. 805). Auch hier nirgends
ein Wort von der Straffreiheit des Zeugnis Ablegenden! Ich habe
bei Ärzten verschiedentlich die Meinung vertreten gefunden, daß
das Gericht dadurch, daß es sie zum Zeugnis aufrufe, ihnen die
Strafgefahr abnehme. Diese Auffassung ist schon deshalb un¬
zweifelhaft haltlos, weil das Gericht jeden über eine erhebliche
Behauptung angetretenen Zeugenbeweis zu erheben hat und erst,
Zeitachr. f. Bekämpfung d. Geachlechtskronkh. IT. 34
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466
Chotzen-Simonaon.
wenn der Zeuge ein Zeugnisverweigerungsrecht geltend macht,
dazu kommt, über die Berechtigung zu befinden. Aber auch dann
hat das Gericht nicht zu prüfen, ob der Arzt sich strafbar machen
würde, denn es hat die Weigerung als begründet anzusehen, wenn
die Tatsachen, auf die sie sich gründet, angegeben und glaubhaft
gemacht sind. Wie Loewe (Str. Pr. 0. § 55, Anm. 1) m. E. zu¬
treffend bemerkt, hat der Arzt nur glaubhaft zu machen, daß ihm
dasjenige, worüber er aussagen soll, nur bei Ausübung seines Be¬
rufes anvertraut worden und daß er davon nicht auch auf andere
Weise Kenntnis erlangt hat So hat m. E. das Oberlandesgericht
Hamburg (Rechtsprechg. d. Oberl.-G., Bd. 6, S. 126) mit Recht aus¬
gesprochen, daß das Gericht den Arzt nicht von seiner Ver¬
schwiegenheitspflicht entbinden könne, und daß eine solche Ent¬
bindung, wenn sie doch erfolgen sollte, keine Straffreiheit gewährleiste,
da eine derartige Entscheidung den Strafrichter nicht binde. Anders
würde allerdings m. E. der Fall liegen, wenn durch eine rechts¬
kräftig gewordene — selbst unrichtige — Entscheidung eines Ge¬
richts das Zeugnisverweigerungsrecht verneint worden ist (s. R. G. E.
in Z. S., Bd. 53, S. 317). Denn ist jemand ohne sein Verschulden
rechtskräftig verurteilt, Zeugnis abzulegen, dann handelt er nicht
mehr unbefugt, wenn er diese unter Strafe gestellte Pflicht erfüllt
Für Preußen kommt als gesetzliches Redegebot ferner die
noch in Geltung befindliche Kab. Order vom 8. August 1835 (G. S.
S. 240) in Betracht, die im § 9 die Anzeige von vorkommenden
Fällen wichtiger und dem Gemeinwesen Gefahr drohender an¬
steckender Krankheiten auch den Ärzten zur Pflicht macht, aber
für die Syphilis insofern besondere Bestimmung trifft, als sie hier
ausdrücklich die Anzeige nur dann vorschreibt (§ 65), wenn nach
dem Ermessen des Arztes von der Verschweigung der Krankheit
nachteilige Folgen für den Kranken selbst oder für das Gemein¬
wesen zu befürchten sind. Nur für syphilitisch kranke Soldaten
wird die allgemeine Pflicht zur Anzeige an den Kommandeur oder
Oberarzt angeordnet. Endlich legt § 69 den Ärzten die Pflicht
auf, sich um die Ermittelung der Ansteckungsquelle zu bekümmern.
Selbstverständlich handelt der diesen Bestimmungen entsprechende
Arzt nicht unbefugt, wenn er im Rahmen dieses Gebotes ihm
als Arzt anvertraute Privatgeheimnisse der Ortspolizeibehörde
offenbart
Die Ersetzung dieser Kab.-Order durch ein den zeitigen Er¬
rungenschaften der Wissenschaft in gewisser Beziehung gerecht
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Meldepflicht und Verechwiegenheits-Verpflichtung des Arztes usw. 467
werdendes Ausflihrungsgesetz zum Reichsseuchengesetz vom 30. Juni
1900 steht, wie zu erwarten ist, in Kürze bevor. Der dem Ab¬
geordnetenhaus am 15. Januar 1904 zugegangene Entwurf befindet
sich zurzeit nach der Generaldebatte, die im wesentlichen ihre Zu¬
friedenheit aussprach, in der Kommission. Der Entwurf läßt im
§ 1 die beschränkte Anzeigepflicht des § 65 der Kab.-Order fallen,
weil sie, wie die Begründung sagt, erfahrungsgemäß eher schädlich
als nützlich wirke, denn sie verführe die Kranken zur Verheim¬
lichung ihres Leidens oder treibe sie Kurpfuschern in die Arme
und trage auf diese Weise eher zur Verbreitung als zur Ver¬
minderung der Krankheit bei. Der Entwurf ordnet daher die
Anzeigepflicht nur für Unteroffiziere und Mannschaften des aktiven
Heeres an, wobei er als anzeigebedürftig nicht mehr syphilitische
Übel, sondern, dem Stande der Wissenschaft entsprechend, Sy¬
philis, Tripper und Schanker nennt. Für diese drei Krankheiten
Prostituierter gestattet er (§ 8) die Anwendung der Absperrungs¬
und Aufsichtsmaßregeln des Reichsgesetzes, auch können diese
Prostituierten in zwangsweise Behandlung genommen werden, wenn
dies zur wirksamen Verhütung der Ausbreitung der Krankheit
erforderlich erscheint
Selbstverständlich ist eine Offenbarung dann nicht unbefugt,
wenn sie mit Erlaubnis geschieht Hier aber entsteht die im
Einzelfall oft sehr schwer zu beantwortende Frage, wessen Erlaub¬
nis erforderlich ist oder genügt, sobald mehr als eine Person ein
Interesse an der Geheimhaltung hat oder haben kann. Auf diesen
Punkt will ich hier nicht eingehen.
Das Schwergewicht wird stets in der dem Worte „unbefugt"
beizulegenden Bedeutung zu suchen sein und auch diejenigen, die
eine Einschränkung der Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheim¬
nisses erstreben, wollen nichts anderes als Bestimmungen, die in
gewissen Fällen den Bruch des Geheimnisses ausdrücklich für be¬
fugt erklären.
Je höher man den Begriff der ärztlichen Berufs Verschwiegen¬
heit im Interesse des Gemeinwohles wertet, desto weniger wird
man geneigt sein, derartige Durchbrechungen des Grundsatzes zu¬
zulassen.
Aber auch, davon abgesehen, erscheint es mir nicht angängig,
derartige Ausnahmen für ein bestimmtes Krankheitengebiet zu be¬
fürworten, es sei denn der Nachweis erbracht, daß für dieses allein
und kein anderes besonders triftige Gründe sprechen. Dies wird
34*
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Chotzen-Simonson.
in vielen, dem Gebiete der Geschlechtskrankheiten entnommenen
Fällen überhaupt nicht zutreffen, in manchen anderen wird man,
wenn überhaupt, das gleiche Verlangen, schon von dem gleichen
Gesichtspunkte der Gemeingefährlichkeit aus, für die Tuberkulose,
vielleicht aber auch für die Erkrankungen des Nervensystems,
stellen müssen.
Jedenfalls sollte der Gesetzgeber, insoweit er eine Einschrän¬
kung der Schweigepflicht über die Fälle der Erlaubnis durch den
Berechtigten und über die bestehenden gesetzlichen Anordnungen
hinaus gebieten oder zulassen will, dies im Gesetze zum Ausdruck
bringen, um dem Arzte das übergroße Maß der Verantwortung
abzunehmen, das immer noch groß genug bleiben wird, da das
Gesetz nur allgemeine Gesichtspunkte aufstellen kann.
Ein ausdrückliches Gebot zum Bruch der Schweigepflicht
würde ich nur da für zulässig halten, wo das Schweigen eine
weitere Kreise berührende Gefahr heraufbeschwören würde.
Aber auch die Zulässigkeit des Redens würde m. E. so
eingeschränkt wie möglich anzunehmen sein, und ich möchte hier
gleich hervorheben, daß die von dem Oberlandesgericht Hamburg
in dem bereits erwähnten Beschlüsse vom 20. Dezember 1902
(Rechtspr. d. Oberl. G., Bd. 6, S. 126) an gestellte Erwägung ernste
Beachtung verdienen dürfte. Es ist dort ausgeführt, daß nicht
nur das Einzelinteresse des An vertrauenden, sondern ein öffent¬
liches Interesse aller die Verschwiegenheit bedinge. Selbst in den
Fällen, in denen der Arzt mit dem Sonderinteresse des Anver¬
trauenden oder anderer berechtigter Personen nicht zu rechnen
hätte, wird er sorgsam zu erwägen haben, ob er nicht durch eine
Mitteilung dieses allgemeine öffentliche Interesse verletzt.
Fromme (Die rechtliche Stellung des Arztes und seine
Pflicht zur Verschwiegenheit im Beruf. Berlin 1902. S. 15 u. 27)
scheint mir zu weit zu gehen, wenn er die Offenbarung gestattet,
sofern sie sich aus Rücksichten der öffentlichen Gesundheitspflege
oder zur Wahrung des Wohles eines Menschen oder besonderer
persönlicher Interessen rechtfertigt. Ich habe keinen Zweifel,
daß der Arzt z. B. das Berufsgeheimnis nicht verletzen darf, um
sein berufliches Verhalten zu rechtfertigen, wie dies auch fran¬
zösische Gerichte mehrfach ausgesprochen haben. Dagegen würde
ich ihm bei Rechtsstreitigkeiten über Honorarforderungen das
Recht zugestehen, soweit, wie es zum Beweise, namentlich der
Angemessenheit seiner Forderung, unbedingt erforderlich ist, auf
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Meldepflicht und Verschwiegenheit*-Verpflichtung des Arztes usw. 469
die Lage des Falles einzugehen. Er würde sonst rechtlos gemacht*
auch werden die Fälle, daß Ärzte unbillige Forderungen vor Ge¬
richt bringen, verhältnismäßig selten sein, so daß es also der
Eiranke sich meist selbst zuzuschreiben haben wird, wenn das
Geheimnis bei solcher Sachlage nicht gewahrt wird. Abgesehen
hiervon würde ich der Wahrung persönlicher Interessen keine
Straffreiheit gewähren. Der Begriff der Wahrung des Wohles
eines Menschen ist sehr weit und unklar. Für die nicht seltenen
Fälle, daß vor Eingehung eines Verlöbnisses oder einer Ehe der
eine der beiden Beteiligten oder ein Verwandter vom Arzte Aus¬
kunft über die Gesundheit des andern Teils verlangt, bedarf es
m. E. überhaupt keiner Durchbrechung des Grundsatzes der
Schweigepflicht, denn der gewünschte Erfolg läßt sich dadurch
herbeiführen, daß man den, über dessen Gesundheit man Auskunft
wünscht, um die Erlaubnis angeht, seinen Arzt zu befragen oder
daß man von ihm verlangt, daß er sein Leben bei einer Ver¬
sicherungsgesellschaft versichert und die Polize zeige; tut er dies
nicht, so läßt sich daraus ein ausreichender Schluß ziehen. Daß
der Arzt ungefragt reden sollte, kann ich nicht ohne weiteres zu¬
geben. F. Ottmer (die Gattin des kürzlich verstorbenen Carl
Emil Franzos) behandelt diese hochinteressante Frage in einer 1902
in Buchform (Berlin, Concordia) erschienenen Novelle „Schweigen“
Ein Arzt kann sich nicht darüber schlüssig werden, ob er den
Eltern eines Mädchens, das er liebt und das sich mit einem ge¬
wissenlosen Manne verlobt hat, dem er nach eingehender Unter¬
suchung gesagt hat, daß er nicht heiraten dürfe, den Sachverhalt
mitteilen solle. Er hat bisher geschwiegen, um seines Berufes
würdig zu bleiben, und in seiner ihn unsäglich peinigenden Rat¬
losigkeit sucht er seine verständige Schwester auf und sagt ihr:
„Noch ist es Zeit, darf ich reden — macht es mich nicht ehrlos?“
Und sie antwortet ihm: „Das ist eine falsche Ehre, die zögert,
einen Mitmenschen vor dem Untergange zu retten," und auf seine
Einwürfe erwidert sie: „Wer eine Krankeit geheim hält, um andere
zu betrügen, verdient keine Schonung“ und „Hier handelt es sich
um einen besondern Fall, wo das Wahren der Verschwiegenheit
in keinem Verhältnisse steht zum angerichteten Unglück." Er
aber schwieg, und ich möchte fast meinen, er hat recht gehandelt
Ein „besonderer Fall“ wird fast stets vorliegen, es handelt sich
auch gar nicht um die eigene Ehre des Arztes, um die Ehre
seines Standes, sondern darum, daß, wenn der einzelne „besondere
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Chotzen-Simonson.
Fall" die sittliche Pflicht zum Reden rechtfertigen würde, damit
der seit Jahrtausenden festgehaltene Grundsatz der Schweigepflicht
beseitigt würde. Wie so oft im Leben muß hier der Einzelne dem
Wohle des Ganzen ein Opfer bringen, ja zum Opfer werden.
Noch ungleich weniger rechtfertigt sich das von Flesch und
Wertheimer „Geschlechtskrankheiten und Rechtsschutz“ (Jena 1903
S. 44) ausgesprochene Verlangen, daß der den geschlechtskranken
Ehemann behandelnde Arzt in Ehesachen, die auf das Auftreten
von Syphilis und Gonorrhoe gestützt sind, als Sachverständiger
oder sachverständiger Zeuge vor Gericht der Wahrung des Be¬
rufsgeheimnisses ohne weiteres als entbunden angesehen werden
solle. Einmal greift hier der oben bereits erhobene Einwurf durch,
daß keine Gründe vorliegen würden, diese Befreiung auf Geschlechts¬
krankheiten zu beschränken. Mag man den Fall unter den Ge¬
sichtspunkt der Wahrung persönlicher Interessen oder unter den
der Wahrung des Wohles eines Menschen bringen, gleichviel, auch
hier geht das Interesse der Gesamtheit vor. Die beiden Verfasser
benutzen gewissermaßen als Unterlage für ihr Begehren eine sehr
interessante Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg (Rechtspr.
d. Oberl. G., Bd. 3, S. 245). Es wird dort ausgeführt, daß der ehe¬
liche Geschlechtsverkehr zur selbstverständlichen Voraussetzung
habe, daß kein Teil den andern durch Geschlechtskrankheit ge¬
fährden dürfe. Daraus ergebe sich der Anspruch des einen Teils
gegen den andern, über Entstehung und Art einer sich hei dem
andern zeigenden Geschlechtskrankheit verläßlichen Aufschluß zu
erhalten. Da aber der Arzt durch § 300 R. Str. G. B. zur Ver¬
schwiegenheit verpflichtet sei und der gesunde Teil ein Recht auf
sachverständige Auskunft habe, so bestehe für diesen ein recht¬
licher, im Rechtswege zu verfolgender Anspruch gegen den andern
Ehegatten, daß er seinen Arzt von der Schweigepflicht entbinde.
Dementsprechend ist denn auch erkannt Unter Heranziehung der
Bestimmung der Z. P. 0. (§ 894), daß eine Willenserklärung, zu
deren Abgabe jemand verurteilt ist, mit der Rechtskraft des Urteils
als abgegeben gilt, führen Flesch und Wertheimer aus, daß
mit der Rechtskraft eines derartigen Urteils der Arzt als von der
Schweigepflicht entbunden gilt und nunmehr aussagen muß. Wäre
das Urteil und diese Schlußfolgerung unbedenklich richtig, dann
wäre auch das Verlangen dieser beiden Schriftsteller nach der er¬
wähnten gesetzlichen Neuregelung begründet, die das Erfordernis
eines derartigen Zwischenstreits unnötig macht. Aber einmal ist
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Meldepflicht and Verschwiegenheit«-Verpflichtung des Arztes usw. 471
die rechtlliche Auffassung des Hamburger Oberlandesgerichts über
die Rechtspflicht der Ehegatten untereinander, sich stets über
ihre geschlechtlichen Gesundheitsverhältnisse vollen Aufschluß zu
geben — ich betone, daß ich nur von der Rechtspflicht spreche —,
höchst bedenklich, wie dies auch das Reichsgericht nicht verkennt
(s. E. R. G., Bd.58, S. 317), ferner aber ist, wie das Reichsgericht
ebenfalls ausgesprochen hat, die Heranziehung des § 894 Z. P. 0.
unrichtig, da die Verurteilung des einen Ehegatten zur Abgabe
einer Willenserklärung, weil nur dem andern Ehegatten gegenüber
ergangen, den Arzt noch nicht von seiner Schweigepflicht befreit
(8. Rechtspr. d. Oberl. G., Bd. 6, S. 127). Der erwähnte Fall hatte
nämlich folgenden, Flesch und Wertheimer noch nicht bekannt
gewordenen Verlauf genommen. Trotz Rechtskraft jenes Urteils
hatte der Arzt sich geweigert, über die Frage, ob er den Ehe¬
mann an während der Ehe frisch erworbener Syphilis behandelt
habe, als Zeuge auszusagen. Das Oberlandesgericht hatte aber
mit Rücksicht auf jene rechtskräftige Entscheidung in Verbindung
mit § 894 Z. P. 0. angenommen, daß der Arzt von der Schweige¬
pflicht entbunden und daher zeugnispflichtig sei. Das Reichsgericht
hat indessen mit der erwähnten Begründung, daß das gegenüber
der Ehefrau ergangene Urteil dem Arzte gegenüber nicht wirke,
das den Arzt zur Ablegung des Zeugnisses verurteilende Zwischen¬
urteil aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurück¬
verwiesen, worauf dieses dieselbe Entscheidung mit anderer Be¬
gründung wiederholt hat. Das Reichsgericht hat dann in dem
Beschlüsse vom 19. Januar 1903 (E. R. G., Bd. 53, S. 815) die Zeug¬
nispflicht des Arztes verneint Nachdem es festgestellt hat, daß
es sich um ein anvertrautes Privatgeheimnis handelt und daß es
ganz besonderer Gründe bedarf, um dessen Offenbarung als eine
befugte erscheinen zu lassen, führt es aus, daß allerdings dem
Ehegatten gegenüber sich mancherlei solche Gründe denken ließen,
ja daß es sogar unter Umständen als ganz berechtigt erscheinen
könne, wenn der Arzt gegen den ausgesprochenen Willen des
Kranken dessen Ehegatten Mitteilung von einer solchen Krankheit
mache. Denn wie es Rechtspflichten gebe, die einer Verschwiegen¬
heitspflicht vorgehen (wie z. B. die Anzeigepflicht des § 139 Str.G.B.),
so seien auch höhere sittliche Pflichten anzuerkennen, vor denen
die Verpflichtung zur Verschwiegenheit zurücktreten müsse. So
könne es z. B. unter Umständen für den Arzt geboten erscheinen,
die Ansteckung der Ehefrau nach Möglichkeit dadurch zu ver-
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Chotzen-SimoDson.
hindern, daß er ihr von der geschlechtlichen Erkrankung des
Mannes Kunde gibt, wie es auch vielleicht nicht schlechthin aus¬
geschlossen wäre, eine solche moralische Mitteilungspflicht unter
besonderen Umständen einer dritten Person gegenüber, die nicht
die Ehefrau wäre, als gegeben anzunehmen. Aber hier handle es
sich nicht um eine zur Erhaltung der körperlichen Gesundheit
der Klägerin zu machende Mitteilung, sondern die Klägerin wolle
die Aussage nur benutzen, um einen Ehebruch ihres Mannes zu
erweisen und dadurch die Scheidung zu erlangen. Nun könne
man freilich auch darin einen sittlichen Zweck erblicken, einer
Ehefrau zur Scheidung von ihrem Manne zu verhelfen, wenn dieser
sich so schwer gegen sie vergangen habe. Aber das wäre im Ver¬
gleiche mit der Verschwiegenheitspflicht nicht die höhere sittliche
Pflicht; vielmehr würde mit solchen Erwägungen dieser ganze Fall
des Zeugnis Weigerungsrechts überhaupt zu beseitigen sein.
Also das Reichsgericht erkennt zwar die Möglichkeit an, daß
die Rechtspfiicht der Verschwiegenheit vor einer höheren sitt¬
lichen Pflicht zurückzutreten habe, aber es sieht in dem Zwecke,
einem Ehegatten den Beweis für seinen Scheidungsgrund zu
schaffen, zwar möglicherweise einen sittlichen Zweck, aber dieser
vermöge nicht eine im Verhältnisse zum Schweigegebot höhere
sittliche Pflicht auszulösen. Wenn das Reichsgericht auch weitere
Gründe hierfür nicht angibt, als den, daß andernfalls die das
Recht der Zeugnisweigerung regelnde Bestimmung der Proze߬
gesetze gegenstandslos würde, so wird ihm doch in diesem Ergeb¬
nisse beizustimmen und deshalb der Flesch-Wertheimersche
Vorschlag nicht zu befürworten sein. Verlangt das Gemeinwohl
die Schweigepflicht, so darf sie nicht aus Gründen eines Einzel¬
interesses beseitigt werden und gewiß nicht, wenn es sich nicht
darum handelt, das Wohl eines Einzelnen gegen künftige Schädi¬
gungen der Gesundheit zu schützen.
Ungleich bedenklicher ist die Beantwortung der Frage, wenn
es sich um den zukünftigen Schutz des Einzelnen oder gar eines,
wenn auch beschränkten, Personenkreises handelt. Der die Auf¬
rechterhaltung des Grundsatzes der Verschwiegenheit wünscht, muß
die Gesichtspunkte des Mitleids, des Mitgefühls, der Pflicht der
Hilfe gegenüber dem Nächsten zurückstellen. Für ihn darf nur
entscheidend sein, ob dem auf der Wahrung des Gemeinwohles
ruhenden Grundsatz andere ebenso wichtige Rücksichten auf das
allgemeine Wohl entgegentreten, die die Offenbarung zu einer
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Meldepflicht und Verschwiegenheit«-Verpflichtung des Arztes usw. 473
höheren sittlichen Pflicht machen, denn wie Liebmann (S. 46)m.E.
zutreffend hervorhebt, kann der Staat eine Geheimhaltung, die gerade¬
zu dem von ihm vorgesteckten Ziele widerspricht, nicht gewollt haben.
Wenn der hinzugezogene Arzt feststellt, daß ein Hauskind
oder sonst in der häuslichen Gemeinschaft Lebender, wie z. B. ein
Dienstbote, an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit leidet, so
würde ich hiernach allenfalls den Arzt, der nach Lage der Um¬
stände eine Ansteckung anderer Mitglieder der Hausgemeinschaft
besorgt, wenn andere Mittel versagen, z. B. der Kranke nicht
sofort dem ärztlichen Anraten gemäß sich in ein Krankenhaus
begibt, zur Mitteilung an den Vorstand der häuslichen Gemein¬
schaft (Vater, Pensionsvorsteher oder dergl.) für befugt erachten,
denn hier kann man wohl sagen, daß das öffentliche Wohl in
Frage kommt, und es ist dann gleichgültig, ob der Kranke oder
der Hausherr sich an den Arzt gewendet hat. Aber der Arzt
muß sich klar sein, daß dieses Mittel nur im äußersten Falle zur
Anwendung gelangen darf, nur nach vorgängiger Androhung und
nur, wenn es entweder ausreichende Vorsichtsmaßregeln bei Ver¬
bleiben in der Gemeinschaft nicht gibt oder er erwarten muß, daß
sie nicht beobachtet werden. Ist der Hausherr selbst der Kranke,
so wird die Mitteilung an das zunächst in Frage kommende Haupt
der Gemeinschaft, sonst an alle Mitglieder zu richten sein. Nicht
die Sorge um das W T ohl des Kranken kann einen Bruch der
Schweigepflicht gebieten, sondern nur das öffentliche Wohl, das
den Schutz der Gesunden verlangt, und auch dieses rechtfertigt
die Offenbarung nur dann, wenn auf andere Weise dieser Schutz
nicht bewirkt werden kann. Daher möchte ich Fromme (S. 28)
nicht beitreten, der bei Erörterung des Falles, daß eine Haus¬
tochter ohne Wissen der Eltern sich dem Arzte an vertraut hat
und von diesem für schwanger befunden worden ist, annimmt, daß
das Wohl der Tochter die Mitteilung an die Eltern erlaube, ja
erfordere, während ich mit ihm die festgestellte ansteckende Ge¬
schlechtskrankheit der Amme wohl für anzeigefähig erachten
möchte. Sollte dieser Grundsatz Billigung finden, so würde es
sich empfehlen, ihn als Unterabsatz zu § 300 R. Str. G. B. etwa in
folgender Form festzulegen: „Unbefugt ist die Offenbarung eines
Arztes usw. nicht, wenn sie aus Gründen des öffentlichen Ge¬
meinwohls zum Schutze der Gesundheit anderer Personen als des
Kranken notwendig erscheint" Vielleicht wird man dann auch
den Ottmerschen Fall hierunter einbegreifen können.
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Chotzen-Simonson.
In den Rahmen einer derartigen gesetzlichen Bestimmung
würde auch die von Neisser (Zeitschr. f. Bek. d. Geschlechtskr.
Bd. 1, S. 238 ff.) geforderte beschränkte Anzeigepflicht „der Ärzte
an die von ihm erstrebte Sanitätskoramission fallen, während die
von ihm gewünschte allgemeine Anzeigepflicht (S. 241) zu statistischen
Zwecken, da sie ohne Namensnennung erfolgen soll, die Geheim¬
haltungspflicht überhaupt nicht verletzt.
Das in bälde zu erwartende Ausführungsgesetz zum Reichs¬
seuchengesetz will die Anzeigepflicht der Kabinetts-Order vom
8. August 1835, abgesehen von Soldaten, ganz fallen lassen. So¬
weit die Kab.-Order die Anzeige für den Fall gebot, daß der Arzt
aus der Verschweigung der Krankheit nachteilige Folgen fiir den
Kranken selbst befürchtete, steht die Aufhebung mit der von mir
vertretenen Auffassung im Einklang, soweit die Aufhebung darüber
hinausgeht, wird sie bei der zurzeit bestehenden Regelung des
Prostitutionswesens und in Ermangelung einer sonstigen wirksamen
Überwachung wohl auch von den verschiedenen Richtungen der regle¬
mentarischen Schule nicht bekämpft werden. Da aber die geordnete
Zusammenfassung der Bestrebungen zum Schutze gegen Geschlechts¬
krankheiten noch sehr jung ist, so ist es m. E. zu bedauern, daß
durch ein preußisches Gesetz überhaupt jetzt schon zu der Frage
Stellung genommen wird. Ich sollte meinen, daß man besser die
Geschlechtskrankheiten ausschiede, um, wenn die so wichtigen
Fragen ausreichend geklärt sind, dieses ganze für das Volkswohl
so ungeheuer bedeutungsvolle Gebiet reichsgesetzlich zu regeln.
Die Frage der ärztlichen Berufsverschwiegenheit wird in dem
preußischen Ausführungsgesetze nur äußerst nebensächlich be¬
handelt und auch dies in einer Weise, die mit meinem Vorschläge
nicht in Widerspruch steht. Es steht also nichts im Wege, bei
der bevorstehenden Revision des Strafgesetzbuchs dazu Stellung
zu nehmen, und ich spreche, indem ich schließe, die Hoffnung aus,
daß die ganz Deutschland umfassende, junge, mit frischer Kraft
arbeitende Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
diese Frage im Laufe der nächsten Jahre sorgsamer Erörterung
für würdig erachte.
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Referate.
Max Thal« Sexuelle Moral Breslau, Wilh. Koebner. 1904.
Die Anregung zu seiner Arbeit gaben dem Verf. zwei in jüngster
Zeit erschienene Abhandlungen, die beide auch in dieser Zeitschrift be¬
sprochen worden sind; es sind dies die Broschüre von Johanna Elbers-
kirchen über „die Sexualempfindung von Mann und Weib“ und der
Vortrag von Carl Fraenkel: „Die Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten.“ Sie haben die Kritik Max Thals herausgefordert, dessen Auf¬
satz aber weit über eine eigentliche polemische Schrift hinausgewachsen
ist und eine auf selbständigen Untersuchungen und eignem Nachdenken
basierende Studie darstellt. Der Verf. versucht in ihr das Problem der
sexuellen, insbesondere der sogen, „doppelten“ Moral seiner Lösung
näher zu bringen und deutet schon in dem einleitenden Kapitel seinen
Standpunkt an, indem er für seine Ausführungen das Interesse aller
derer fordert, „welche die Unzulänglichkeit und innere Verlogen¬
heit der überkommenen herrschenden Moralanschauungen em¬
pfinden und der Erkenntnis sich nicht verschließen, daß unter ihrem
Schutze und Deckmantel ein Teil der Menschheit schadlos sündigt,
während ein anderer Teil unter ihren Rutenstreichen schuldlos
leidet.“ Man kann mit dem Verf. in der Charakterisierung unserer heutigen
Moral rückhaltlos übereinstimmen; den von ihm aufgestellten Gegensatz zwi¬
schen „schadlos Sündigenden“ und „schuldlos Leidenden“ vermag ich aber
nicht anzuerkennen. Erst jüngst hat B lasch ko *) gegen die von Thal
vertretene Auffassung in überzeugendster Weise Widerspruch erhoben
und darauf hingewiesen, daß, wenn diese (sc. biologischen, ökonomischen
und soziologischen) Zustände eine zwiespältige geschlechtliche Moral für
beide Geschlechter geschaffen haben, es nicht angeht, nur das eine Ge¬
schlecht als das Opfer hinzustellen, sondern daß man einsehen muß,
wie sehr beide Geschlechter in gleicher Weise, wenn auch in
anderer Form, unter dem unerbittlichen Zwange dieser Ver¬
hältnisse leiden. — Im 2. Kapitel widerlegt der Verf. die Behaup¬
tung, „daß die Geschlechtsempfindung beim Weibe und beim Manne
gleichartig und gleichwertig“ sei, — nicht bloß, indem er die Züricher
Medizinerin erheblicher Fehler in der Beobachtung, grober Mängel an
Logik und beträchtlicher Lücken in ihrem Wissen überführt, sondern
auch selber den Beweis dafür erbringt, „daß das sexuelle Empfinden
von Mann und Weib wesentliche Verschiedenheiten zeigt, die
l ) Mitteilungen d. D. G. z. B. d. G. Bd. II. Heft 2.
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476
Referate.
in den natürlichen Verhältnissen selbst ihre Ursachen haben.“
— Das 3. Kapitel hat die Überschrift ,,Mutterschaft und Vater¬
schaft“ und ist Prof. Fraenkel-Halle „gewidmet“. Fraenkel ver¬
teidigt bekanntlich die „doppelte“ Moral, indem er u. a. die Verschieden¬
heit der physischen Folgen des Geschlechtsverkehrs für die beiden
Geschlechter betont „Der Mann geht von dannen, als sei nichts ge¬
schehen; das Weib kann die größte Veränderung erfahren, die ihm
überhaupt im Leben beschieden ist: es kann zur Mutter werden . . .
Die Jagd nach der einheitlichen Moral für beide Geschlechter ist eine
wunderliche Verirrung.“ Demgegenüber lautet Thals Antwort folgender¬
maßen: „Ist wirklich nichts geschehen? Physiologisch gewiß nichts.
Selbst im Falle der fruchtbaren Beiwohnung bleibt der Mann schlank
und nett, wie er ist, und kann frohgemut von dannen ziehen. Es
werden hier indes Folgerungen gezogen, welche unmittelbar für die
Moral Geltung haben sollen; und da sollte nicht die schöpferische
Mitwirkung des Mannes bei der Schaffung des neuen Menschen
vorerst in Betracht kommen? Wie, wenn jemand eine Mine unter einem
Wohnhause der Menschen entzündet, dann schlank und frohgemut von
dannen zieht, sollte er nicht für die unmittelbaren Folgen, für die ver¬
nichteten Menschenleben moralisch verantwortlich sein? Wie hierüber
ein Zweifel nicht obwalten kann, so auch darüber nicht, daß der Mann
moralisch für die unmittelbaren Folgen des Verkehrs, für den von ihm
gezeugten neuen Menschen verantwortlich ist, daß er schon durch die
geschlechtliche Vereinigung die moralische Verantwortlichkeit hierfür
eingeht und post coitum keineswegs so, wie er kam, als wäre
nichts geschehen, sondern mit dieser moralischen Verantwort¬
lichkeit für die Folgen belastet, von dannen zieht. Es ist
etwas geschehen, etwas Großes auch für den Mann . . . Wir sehen,
daß in moralischer Hinsicht der Geschlechtsverkehr den Mann durchaus
nicht so unberührt läßt, wie es den Anschein hat und gang und gäbe
ist, anzunehmen. Es ist verfehlt, die physiologische Seite des Koitus,
wie Prof. Fraenkel dies tut, einfach mit der moralischen Seite des¬
selben gleichzustellen ... Was moralisch ist oder nicht, läßt sich nur
vom Standpunkte der Moral, gemäß deren allgemein gültigen Grund¬
lehren, nicht aber von physiologischen oder irgendwelchen anderen Stand¬
punkten aus finden . . .“
Scharfsinnig und gedankenreich argumentiert zweifellos der Autor,
aber der letztgenannte Satz enthält doch einen Widerspruch, den der
Verf. offenbar selbst empfindet, auch durch eine gewisse Einschränkung
des eben Gesagten zu mildern sucht, aber nicht zu lösen vermag. Denn
wenn Thal meint, für die Beurteilung des moralischen Wertes oder
Unwertes einer Handlungsweise gebe allein die Moral den einzig gültigen
Maßstab, so erinnert das ein wenig an die bekannte Erklärung, daß die
Armut von der pauvret4 komme. Außerdem aber ist die Auffassung
Thals m. E. falsch, weil sie — auch im Gegensatz zu seiner eignen,
im ganzen Verlauf seines Buches immer wieder zum Ausdruck kom¬
menden Überzeugung — voraussetzt, daß die Lehren der Moral von
aprioristischem und absolutem Werte seien, während ihnen doch nur
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Referate.
477
eine sekundäre und sehr variable, weil völlig relative Bedeutung zu¬
kommt Die Beweiskraft der Thal sehen Ausführungen wird indes durch
das in diesem Zusammenhänge nur unwesentliche Versehen gar nicht
beeinträchtigt. — Im nächsten Kapitel werden die „Grundfragen der
Morallehre“ zu beantworten gesucht, insbesondere wird die christliche
Ethik einer eingehenden Erörterung unterzogen. Der Verf. erweist sich
hier als ein geistvoller und kritischer Philosoph, und seine Definition:
„Moralisch handeln heißt menschliche Entwicklungsmöglich¬
keiten fördern, unmoralisch handeln heißt solche Entwick¬
lungsmöglichkeiten hemmen“ — zeugt von scharfem und durch
vorurteilslose Beobachtung, geschultem naturwissenschaftlichen Denken. —
Mit beißender Satire zieht Thal im 5. Kapitel gegen „die herrschenden
Anschauungen über sexuelle Moral“ zu Felde; er ficht mit der schneidigen
Waffe einer unerbittlichen Logik, und unter deren wuchtigen Hieben
sehen wir das ganze Heer der Thesen und Dogmen unseres modernen
Sittenkodex vernichtet werden; rücksichtslos — nur der Wahrheit zu
Diensten — zerreißt er das aus Gewohnheit, Prüderie und Heuchelei
gewobene Netz, in dem wir, selbst kaum dessen uns bewußt, gefangen
sind. — Im folgenden Abschnitt seines Buches erörtert der Verf. die
Frage nach der „Moralität des geschlechtlichen Verkehrs überhaupt und
der doppelten Moral.“ Den ersten Teil dieser Frage beantwortet Thal
dahin, daß der Geschlechtsverkehr „moralisch und gut“ ist, wenn er
erfolgt: 1. von voll geschlechtsreifen, gesunden Personen in
maßvoller Weise; 2. auf Grund gegenseitiger Übereinstim¬
mung und Neigung; 3. im beiderseitigen Bewußtsein der Ver¬
antwortlichkeit für das zu zeugende Kind und der dadurch
begründeten elterlichen Pflichten; 4. ohne Verletzung sitt¬
lich begründeter Pflichten, insbesondere der Treue eines der
Liebenden, gegenüber dritten Personen; — daß er aber in
dem Maße als er auch nur gegen eine dieser Voraussetzungen
verstößt, sittlich verwerflich wird.“
Der Punkt 8. dieser Definition würde meinen entschiedenen Wider¬
spruch herausfordern, wenn er nicht von Thal selbst eine beachtens¬
werte und nach meinem Dafürhalten sehr berechtigte und durch die
eignen geistvollen Ausführungen des Verfs. glänzend motivierte Ein¬
schränkung erfahren hätte; eine Einschränkung, die durch die Tatsache
bedingt ist, daß der mit möglichster Vermeidung einer Konzeption
ausgeübte Verkehr an und für sich keineswegs unsittlich zu sein braucht.
Die Antwort auf die zweite der gestellten Fragen: „Inwieweit ist der
Geschlechtsverkehr moralisch anders für den Mann als für das Weib
zu beurteilen?“ soll die Lösung des Problems der doppelten Moral
bringen. Sie ergibt sieh aus der oben erfolgten Feststellung der Ge¬
samtheit der Voraussetzungen, welche für die Moral des Verkehrs ma߬
gebend sind. „Dabei hat sich ein irgendwie erheblicher Unterschied in
den Voraussetzungen für Mann und Weib nicht gezeigt; an beide stellt
die Moral (mit der alleinigen Ausnahme der Rücksichtnahme des Weibes
auf ihre eigne Gebärtüchtigkeit, welche indessen mit der beiderseits zu
wahrenden Rücksicht auf «Gesundheit» zusammenfUllt) genau die gleichen
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478
Referate.
Anforderungen . . . Hieraus folgt unzweifelhaft, daß die geschlecht¬
liche Moral für Mann und Weib die gleiche ist und eine «dop¬
pelte Moral» in Wahrheit nicht existiert.“ —
Das Schlußkapitel handelt von der „Ehe“. Die Stellungnahme des
Verfs. zu ihr wird am besten durch dessen eigne Worte charakterisiert:
„Die Einehe ist die denkbar innigste und stärkste Verbindung zwischen
einem Manne und einer Frau zum Zwecke sowohl der vollständigen
Lebens- und Seelengemeinschaft, als auch der Erzeugung und
gemeinsamen Erziehung der Kinder“ . . . „Aber sie ist nicht
der Abschluß, sondern eine Stufe der Entwicklung, die nimmer
still steht“ . . . „Das Prinzip der Unauflöslichkeit wird die Ehe
in Zukunft fallen lassen, auf ihre und der ehelichen Nachkommen recht¬
liche und moralische Privilegierung wird sie Verzicht leisten müssen“ ...
„Wie von einem schweren drückenden Alp befreit würde die Menschheit
aufatmen und in der Ehe seelische Zufriedenheit und sittliches Gedeihen
finden können, wenn die Fessel der Unauflöslichkeit fiele. Dann erst
wird die rechte Ehe, die Menschen selbst zu sich heranziehend, ohne
Zwang ihr schönstes und höchstes Lebensziel werden. Die sich
entwickelnde Gemeinschaft der Interessen und Pflichten, die gemeinsame
Liebe zu den Kindern, wird die Ehe zu einer frei willig unauflöslichen
machen; und sie wird dann in Wirklichkeit und im Leben dem Ideale,
das wir aufstellten, näher kommen: dem Glück der Ehegatten und
der Vervollkommnung der Art.“ —
Die ausführliche Besprechung, die wir dem Buche von Max Thal
gewidmet haben, rechtfertigt sich schon dadurch, daß es durchweg von
sittlicher Würde und wissenschaftlichem Ernste getragen ist und die
vornehme Form wie der gediegene Inhalt nicht nur bei den Anhängern,
sondern auch bei den Gegnern der darin vertretenen Anschauungen An¬
erkennung finden muß und wird. Die Leser unserer Zeitschrift — und
weite Kreise darüber hinaus — mögen daraus das eigentümliche Schick¬
sal, das dem Buche von Thal widerfahren ist, in seiner ganzen Bedeu¬
tung würdigen: Das „Börsenblatt“ — das offizielle Organ des
deutschen Buchhandels!! — hat die Aufnahme einer auf die
Th al sehe Broschüre bezüglichen Anzeige verweigert, mit der
Begründung, „daß eine solche infolge der überhand nehmen¬
den geschlechtlichen populären Literatur Anstoß erregen“
müßte!! Auf eine Beschwerde beim Ausschuß für das Börsenblatt
bestätigte dieser, daß „derartige Werke“ nicht mehr zur Insertion
gelangen. Und warum? Lediglich wegen des Titels! Von dem
Inhalte hatte die Redaktion überhaupt nicht Kenntnis ge¬
nommen !!
In dem letzten Hefte unserer „Mitteilungen“ ist diese merkwürdige
Art der Titularzensuren bereits einer eingehenden Kritik unterzogen
worden, auf die ich an dieser Stelle nur kurz zu verweisen brauche.
Nachdem das seltsame Verhalten des „Börsenblattes“ an allen einsichtigen
und vorurteilsfreien Siellen, auch bei einem Teile unserer Tagespresse,
geradezu Entrüstung bervorgerufen, haben sich nach langem Zaudern
Redaktion und Ausschuß des „Börsenblatts“ endlich doch davon über-
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Referate.
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zeugt, daß sie verkehrt gehandelt haben; diese freilich etwas späte Er¬
kenntnis ihres Irrtums überhebt uns der Notwendigkeit, auch von hier
aus gegen jene „Buchhändler-Prüderie“ Protest zu erheben. Die
Inserate, betr. die Thal sehe Broschüre haben inzwischen in dem Börsen¬
blatts Aufnahme gefunden, und es ist dringend zu wünschen, daß dem
lehrreichen und geistvollen Buche ein recht großer und verständiger
Leserkreis zu teil werde. Es hat Anspruch darauf. —
Dr. Max Marcuse (Berlin).
Jules Janet. Prophylaxe der Gonorrhoe. Annales de th£rapeutique dermato-
logique et syphiligraphique. Tome IV. Nr. 1. (Referat aus Revue de
th6rap. med. ch. 15. Dezember 1903).
Der Autor vertritt die Anschauung, daß es unzweckmäßig sei, die
Gonorrhoe der Prostituierten zu heilen. Bei der ersten Ansteckung ent¬
stünden bei derselben heftigere Entzündungserscheinungen, sie kommt
ins Krankenhaus, verläßt dasselbe wieder ohne Entzündungserscheinungen,
aber mit Gonokokken. Sie wird immer wieder frisch infiziert, wird
nach eiuigen Jahren schließlich immun nicht gegen den Gonokokkus,
aber gegen sein Toxin. Sie beherbergt denselben, wenn auch in geringer
Zahl, dauernd, obgleich die Genitalien dabei anscheinend vollständig
gesund sind. Angesichts dieser Tatsache zweifelt der Autor an der Mög¬
lichkeit, ein Gonokokken tötendes Serum herzustellen, da die Prosti¬
tuierten, obgleich mit Gonokokkentoxinen gesättigt, den Gonokokkus
nicht zerstören, wenn auch in seiner Wirkung paralysieren können.
Von dieser Anschauung ausgehend, glaubt der Autor, daß man den
Prostituierten einen schlechten Dienst erweise, wenn man ihre Gonorrhoe
antibakteriell behandle. Man erreiche bei einer eventuellen Heilung nur,
daß die unausbleibliche neue Infektion eine akute Gonorrhoe hervorrufe.
Trotzdem hält Janet die Infektionsgefahr nicht für übermäßig
groß, da die Gonokokken bei den Prostituierten mit der Zeit immer
spärlicher werden und schließlich nur noch gelegentlich aus Schlupf¬
winkeln hervorkommen. Ferner, weil die Prostituierten gewisse Vor¬
sichtsmaßregeln brauchen: vor dem Koitus urinieren, Ausspülung machen
und Schwämmchen in die Vagina einführen. Unglücklicherweise werden
diese Vorsichtsmaßregeln nur von der besseren Prostitution angewandt.
Man müßte auch die übrigen in diesem Sinne besser instruieren. Hierzu
kommen die Vorsichtsmaßregeln, die der Mann nach dem Koitus ge¬
brauchen soll, welche die Infektionsgefahr bedeutend herabsetzen. Urinieren
mit zeitweiser Kompression der Harnröhrenöffnung und Waschungen
nach dem Koitus hält der Autor durchaus nicht für so nutzlos als man
glaubt. Am häufigsten treten Infektionen ein bei Koitus im Chambre
separöe, in der Droschke usw., wo eine nachträgliche Reinigung nicht
möglich ist. Er sah viele Männer monatelang mit einer gonorrhoisch
Infizierten verkehren, die erst ihre Gonorrhoe bekamen, wenn sie
sich nach dem Koitus nicht wuschen. Auf das Waschen mit Seife
nach dem Koitus legt der Autor ganz besonderen Wert. Gerade dazu
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480
Referate.
bestehe häufig keine Gelegenheit. Natürlich dürfe es nicht ein Stück
Seife sein, das von Hand zu Hand geht, sondern für jeden ein frisches
Stück.
Für die wohlhabendere Bevölkerung kommen außerdem folgende
Maßregeln in Frage: 1. der Kondom als das beste Mittel. Verf. sah
jedoch auch bei Anwendung des Kondoms zweimal gonorrhoische In¬
fektion, wahrscheinlich beim Zurückstreifen desselben. Ferner Waschen
der ganzen Genitalgegend mit Sublimat. Viele seiner Patienten haben
nur, wenn sie diese Waschungen vernachlässigten, Gonorrhoe akquiriert.
Besonders zweckmäßig ist hierbei die Benutzung von Sublimatpapier,
das man zum Unterschied von den Pastillen stets in der Brieftasche mit
sich tragen kann, wenn auch die Konzentration der Lösung bei An¬
wendung des Sublimatpapiers nicht so genau ist. Er rät, einige Tropfen
der V«— l°loo l 8 en Lösung nach der Waschung eine Minute auf das
Orificium urethrae einwirken zu lassen.
Sicherer noch helfen die verschiedenen Instillationsmethoden. Für
den geeignetsten Apparat würde er den Blokusewskisehen Tropf¬
apparat halten, wenn er etwas handlicher und unauffälliger wäre, d. h.
länger und schmäler, bleistiftähnlicher. Er empfieht seinen Patienten
die Instillationen nach Blokusewski, Frank usw., Einspritzungen
widerrät er vollständig, weil sie in den Händen unvorsichtiger oder un¬
geschickter Menschen schaden können.
Das beste Prophylaktikum gegen Gonorrhoe schließlich ist die Ehe,
bevor man Gonorrhoe akquiriert hat, und die eheliche Treue.
Dr. Julius Baum, Berlin.
Tissier. Die Syphilis im Heere der Chinaexpedition. (Le Caduc6e, 18. Juli 1903).
Schon vor der Ankunft der Truppen der Verbündeten in Tientsin
gab es dort Bordelle, ebenso in Peking, und zwar sowohl in dem von
Chinesen bewohnten als auch in den, den Europäern abgetretenen Stadt¬
teilen, in denen sie sogar relativ zahlreich waren. Die Prostituierten
in China zeigen sich nicht auf der Straße, sondern man muß sie in
ihrer Wohnung aufsuchen. Neben chinesischen Prostituierten gab es
europäische oder amerikanische Bordelle, und neben der weiblichen existiert
in China noch eine männliche Prostitution, ferner noch eine heimliche,
welche von eingeborenen Sängerinnen und Tänzerinnen ausgeübt wird.
Sobald man in den Hauptstädten Garnisonen einrichtete, wuchs die
Prostitution erheblich. In Tientsin zählte man ungefähr 20, in Peking
mehr als 50 Bordelle. Eine der Hauptsorgen des Kommandos war die
Reglementierung der Prostitution. Jede Stadt wurde in Quartiere ein¬
geteilt, und jedes derselben wurde von den Truppen einer Nation besetzt,
welche die Polizeiaufsicht auszuüben hatten. Die chinesische Prostituierte,
welche keine Ahnung von Reinlichkeit hat, war die Hauptquelle für
die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten. Die einzelnen Mächte trafen
für ihre Soldaten die Auswahl unter den Häusern, und zu Anfang ging
auch alles gut, aber bald wurde eine Überwachung zur Unmöglichkeit.
Die Chinesen drangen in die Bordelle ein, infizierten die Insassinnen,
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Referate.
481
nach einige Tagen weigerten die Weiber sich auch, sich untersuchen
zu lassen, und bald sah man sich gezwungen, die Bordelle zu schließen.
Da begann die Straßenprostitution aufzublühen und mit ihr die Syphilis.
In Japan wurde eine relativ beschränkte Zahl der Soldaten infiziert,
weil dort die Überwachung gut und regelmäßig ist. In Nagasaki gab
es außer den japanischen Bordellen Bars, die sich fast sämtlich in
den Händen von russischen Juden befanden, und in denen die Soldaten
trinken und sich mit den zu allem bereiten Mädchen unterhalten konnten.
Da wurden auch die meisten angesteckt. Wenn man zusammenfaßt,
so waren die schwierige, fast unmögliche Überwachung in China und
die heimliche Prostitution in Japan die Hauptquellen der Ansteckung.
Bruno Sklarek (Berlin).
H. Gilleta Reglementation. Annales de therapeutique dermat. et syphili-
graphique. Tome IV. No. 5. 1904.
Bei der Beurteilung der Frage der Reglementierung muß man sich
nach der Ansicht Gillets auf den rein wissenschaftlichen ärztlichen
Standpunkt stellen. Gegen jede ansteckende Krankheit lehrt uns die
Hygiene Vorsichtsmaßregeln ergreifen, welche darin bestehen, erstens
den Krankheitsherd zu vernichten, zweitens den Träger der Ansteckung
zu isolieren, drittens womöglich serotherapeutisch vorzugehen. Ebenso
müsse es bei Gonorrhoe und Syphilis geschehen, um so mehr, als die
davon Befallenen nicht bettlägerig sind und man ihnen die Krankheit
nicht ansehen kann zum Unterschied von andern Infektionskrankheiten.
Die Reglementierung nun muß für die Isolierung sorgen, besonders da
die Infektiosität viel länger dauert, als bei den meisten anderen Infektions¬
krankheiten und die venerischen Krankheiten größere Bedeutung haben.
Das ideale Ziel der Tilgung der Geschlechtskrankheiten wäre die Ver¬
allgemeinerung der prophylaktischen Mittel. Wenn dieses Problem auch
schwierig und zunächst nicht ganz durchführbar sei, so dürfe man des¬
wegen nicht ganz untätig sein. Julius Baum, Berlin.
L« Butte. Die Sittenpolizei. Annales de therapeutique dermatologique et
syphiligraphique. Tome IV. Nr. 5. 1904.
Eine Entgegnung auf einen Artikel des Abolitionisten Berthod,
welcher den Regiementaristen vorwirft, daß sie die Prostitution künst¬
lich großzüchten, und die Beseitigung der Sittenpolizei fordert. Dem¬
gegenüber legt der Autor den Zweck der Reglementierung klar. Die
Reglementierung soll die doch unvermeidliche Prostitution möglichst
gefahrlos machen, ihre Gesundheit überwachen und durch geeignete Ma߬
regeln verhüten, daß die Prostituierten, wenn sie krank sind, nicht
andere infizieren. Da sie sich von selbst ohne die Sittenpolizei nicht
zur Untersuchung melden, muß man sie dazu zwingen. Die Anschauung,
daß die Sittenpolizei die Hauptquelle der Prostitution sei, ist falsch,
wie man an England sieht, wo keine Sittenpolizei besteht. Der Vorschlag,
Zeltschr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskranke II. 35
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Referate.
die Mädchen vor den Friedensrichter zu führen, schaffe nur einen anderen
Namen, aber ändre die Verhältnisse nicht. Jeder, der die Prostitution
genau kenne, müsse die Sittenpolizei billigen, wenn auch gelegentlich
Mißgriffe Vorkommen. Dr. Julius Baum, Berlin.
Max Marcuae. Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten?
W. Malende, Leipzig 1904. 1.50.
Da die Frage, ob der Arzt zum außerehelichen Umgang raten darf,
an diesen keineswegs selten heran tritt, so gilt es, die hier herrschende
Planlosigkeit, unter der Arzt wie Patient in gleicher Weise zu leiden
haben, durch eine grundsätzliche Stellungnahme zu beseitigen.
Zu diesem Zwecke bedarf es zunächst einer Untersuchung über den
Einfluß der sexuellen Abstinenz auf den Gesundheitszustand.
Für die Praxis kommt natürlich nur die relative, d. h. teilweise
oder temporäre Abstinenz in Betracht, da eine absolute, d. h. völlige
und lebenslängliche Enthaltsamkeit in Wirklichkeit wohl nicht vorkomrat.
Die etwaigen schädlichen Folgen der Abstinenz richtig zu beurteilen,
ist aus mehrfachen Gründen sehr schwierig. Erstens wird das betreffende
Individuum, sobald es solche Folgen zu verspüren vermeint, wenn nicht
schwerwiegende Gründe es daran hindern, in der Regel von selbst, wenig¬
stens der Mann, die Enthaltsamkeit aufgeben; zweitens sind die Fälle
von sexueller Abstinenz — auch der relativen — überhaupt nur spär¬
lich an Zahl und betreffen meist das weibliche Geschlecht, dessen Sexual¬
trieb nachgewiesenermaßen im Durchschnitt nicht stark ist, und bei dem
überdies der Erforschung der einschlägigen Verhältnisse sehr häufig un¬
überwindliche Hindernisse entgegenstehen; ferner ist zu bedenken, daß,
wo geschlechtliche Enthaltsamkeit geübt wird, oftmals in der geistigen,
sittlichen oder materiellen Lebenshaltung des betreffenden Individuums
Faktoren eine Rolle spielen, die ihrerseits ebenfalls schon geeignet sind,
Schädigungen hervorzurufen, ohne daß man sie als die eigentliche Ursache
auszuschließen vermag; und viertens endlich ist zu berücksichtigen, daß es
häufig unmöglich ist, festzustellen, ob die Abstinenz wirklich Ursache
oder nicht vielmehr Folge der etwa gleichzeitig vorhandenen Gesundheits¬
störungen ist Trotz alledem ist nach M's Ansicht durch zahlreiche ein¬
wandfreie Beobachtungen der Beweis erbracht, daß die sexuelle Ent¬
haltsamkeit eine beachtenswerte Rolle in der Ätiologie, die
physiologische Betätigung des Geschlechtstriebes eine solche
in der Therapie der Krankheiten spielt. Freilich sind in früheren
Zeiten die gesundheitlichen Folgen der Abstinenz vielfach überschätzt
worden; daß sie aber doch nicht ganz selten in Form leichterer Störungen
des Wohlbefindens bis zu schweren Erkrankungen des Nervensystems wirk¬
lich Vorkommen, darüber läßt die Literatur einen Zweifel nicht zu.
Daß die Autoren stets mehr von dem schädlichen Einfluß der Ab¬
stinenz auf den Mann, als von dem auf das Weib zu berichten wissen,
erscheint selbstverständlich, wenn man die fast übereinstimmende Er¬
fahrung der Physiologen, der Gynäkologen und der Nervenärzte bedenkt,
nach der 1. die normal veranlagte Jungfrau, die von sexuellen
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Reizen noch unberührt ist, eine eigentliche Libido kaum kennt
und nach der es 2. unter den Frauen sehr viel mehr Naturae
frigidae gibt als unter den Männern. Diese beiden Tatsachen
schließen nicht aus, daß das normal organisierte Weib, wenn es den Ge¬
schlechtsverkehr erst kennen gelernt hat, seine sexuellen Bedürfnisse em¬
pfindet, die ihre Befriedigung verlangen. Nicht minder selbstverständlich
ist es, daß die Enthaltsamkeit um so schädlichere Wirkungen zur Folge hat,
je weniger widerstandsfähig das Nervensystem des betreffenden Individuums
konstituiert ist, und daß völlig gesunde und normal veranlagte Leute
eine Abstinenz oft ohne Schädigung ertragen können, während psycho¬
pathisch belastete und stark sinnliche Individuen ernstlich darunter
leiden. Aus der jüngeren und jüngsten medizinischen Literatur zitiert
Marcuse eine größere Anzahl der zuverlässigsten und erfahrensten Be¬
obachter, welche diejenigen Lügen strafen, die die absolute Unschädlich¬
keit der sexuellen Abstinenz verkündigen. Es seien hier nur einige der
besten Namen genannt: Erb, Jastrowitz, Krafft-Ebing, Tarnowsky.
Diese und viele andere haben ihre Beobachtungen, zum Teil unter Mit¬
teilung der ganz eindeutigen Krankengeschichten, niedergelegt, wonach
es als erwiesen gelten muß, daß Hysterie und die ihr verwandten Neu¬
rosen, daß schwere Nerven- und Geisteskrankheiten, daß geschlecht¬
liche Perversitäten und seelische wie körperliche Entwicklungs¬
störungen gelegentlich die ernsten Folgen einer sexuellen Enthaltsamkeit
sein könnnen. Daß solchen Autoren auch andere gegenüberstehen, welche
nennenswerte Schädigungen der Gesundheit durch Abstinenz nicht gesehen
haben, bedeutet wenig, zumal die positiven Befunde, deren jeder — wenn
von einem sorgfältigen, kritischen und erfahrenen Arzt erhoben — natür¬
lich beweiskräftiger -ist als zehn negative, keineswegs spärlich sind; auch
bemühen sich nur die allerwenigsten Ärzte, die sexuellen Verhältnisse
ihrer Patienten zu erforschen — und wer nicht sucht, der kann auch
nicht finden; ferner wird der Begriff der Gesundheit oft vielzu eng
gefaßt; es gibt Gesundheitsstörungen, die jenseits von Stethoskop, Plessi¬
meter und Reagenzglas liegen; und zum Wesen der Gesundheit
gehört auch das eigene Gefühl des Wohlbefindens. — Das Funda¬
ment für die ganze Stellungnahme des Verfassers zu der vorliegenden Frage
— die sich übrigens mit der von Erb in dieser Zeitschrift vertretenen
völlig deckt — gibt die Voraussetzung, daß der Geschlechtsverkehr
für eine ganze Anzahl von Leiden und Krankheiten ein außer¬
ordentlichwirksames Therapeutikum darstellt. Nachdem Marcuse
die Berechtigung dieser Voraussetzung nachgewiesen und daraus den zu¬
nächst somit ganz selbstverständlichen Schluß gezogen hat, daß der Arzt
auch befugt ist, sich dieses Therapeutikums in seiner Praxis zu bedienen,
erörterter ausführlich die Ein wände, die trotzdem gegen die Anwendung
dieses Heilmittels erhoben werden können und die ja auch nahe liegen.
Zunächst könnte entgegengehalten werden, daß die Gefahren, die
den außerehelichen Geschlechtsverkehr umgeben, diesen als
Therapeutikum oder Prophylactikum a priori ausschließen
sollten. Marcuse betont dem gegenüber, daß die Gefährlichkeit eines
Mittel, uns von dessen Verordnung überhaupt nicht abhalten darf. Wir
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Referate.
greifen ja täglich zu mehr oder minder differenten Medikamenten, und
sogar angesichts einer Lebensgefahr, in die der Patient durch unsere
Behandlung gerät, wie bei schweren Operationen, fühlen wir uns
durchaus nicht verpflichtet, von dem uns indiziert erscheinenden Mittel
grundsätzlich abzusehen. Was die Nähe der Gefahren betrifft, d. h. die
Wahrscheinlichkeit, bei Gelegenheit eines außerehelichen Coitus eine Ge¬
schlechtskrankheit zu akquirieren, für ein weibliches Individuum noch über¬
dies befruchtet zu werden, so muß ohne weiteres zugestanden werden,
daß nach der heutigen Lage der Dinge diese Wahrscheinlichkeit
eine sehr große ist, aber doch nur, wenn der Beischlaf ohne Vorsichts¬
maßregeln vollzogen wird. Marcuse meint, daß wirklich peinliche
Handhabung der uns zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen die
Möglichkeiten der Ansteckung und Empfängnis auf einen sehr kleinen
Best von Fällen reduziert, in denen ein besonders unglücklicher Zufall
den Mißerfolg verschuldet. Marcuse stützt sich hierbei auf die Er¬
fahrungen Benarios, Michels u. a.
Er gelangt zu der Überzeugung, daß der Arzt, wenn er die
Chancen sachkundig und gewissenhaft ab wägt, nicht umhin kann,
z. B. in einigen Fällen von schwerer Hysterie, bei manchen hart¬
näckigen Onanisten, gegenüber einer bestimmten Art von Urningen,
bei gewissen Fällen von Angstneurose — alles Zustände, die den Klienten
unter Umständen zur Verzweiflung und bis zum Lebensüberdruß bringen
und durch deren Heilung oder auch nur nennenswerte Besserung der
Arzt an diesen Unglücklichen eine Wohltat ohnegleichen übt — den
Geschlechtsverkehr — der, wenn die Gelegenheit zum legitimen fehlt,
eben nur extra matrimonium vollzogen werden kann — als wünschens¬
wert zu bezeichnen. Hieran können auch die moralischen Bedenken,
die gegen die ärztliche Empfehlung des außerehelichen Umgangs etwa
geltend gemacht wurden, nichts ändern. Denn erstens darf die sog.
konventionelle Moral auf unsere therapeutischen Maßnahmen an und
für sich in keiner Weise einen Einfluß ausüben; lediglich ihre Folgen für
den Patienten müssen von uns in Betracht gezogen werden. Etwas
anderes ist die Frage, ob der Arzt denn auch über seine eigene mora¬
lische Überzeugung sich hinwegzusetzen das Recht oder gar die Pflicht
hat. Angenommen, der Arzt verwirft aus moralischen Gründen den
außerehelichen Geschlechtsverkehr, den er bei einem Patienten aus thera¬
peutischen Gründen für indiziert hält, so resultiert ein Konflikt
zwischen sittlicher Überzeugung und beruflicher Pflicht. Die
Lösung heißt hier entweder Aufgabe des Berufes oder Preisgabe der
sittlichen Überzeugung. Nur unter einer einzigen Bedingung wäre ein
Kompromiß denkbar: Wenn der Arzt, der bei allen Krankheiten, bei
denen er im gesundheitlichen Interesse des Patienten den Geschlechts¬
verkehr für indiziert hält, den zu empfehlen er aber aus moralischen
Bedenken perborresziert, jeden Rat und jede Hilfe prinzipiell ver¬
weigert und den Patienten einen anderen Arzt zu konsultieren veranlaßt,
so löst er das Dilemma auf durchaus einwandfreie Weise; tut er doch nichts
anderes, als z. B. der praktische Arzt, der einen Patienten einem Spezialisten
zur Behandlung überweist, weil er selbst dieser nicht gewachsen zu sein
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glaubt oder aus irgendwelchen anderen Gründen die Verantwortung nicht
übernehmen will. Aber wenn der Arzt sich einmal bereit erklärt, einen
Klienten zu behandeln, so verpflichtet er sich dadurch, dessen gesundheit¬
liches Interesse nach jeder Richtung hin und nach seinem besten Wissen
und Können zu schützen und zu fördern, keineswegs darf er, um nicht
mit seiner sittlichen Überzeugung in Widerspruch zu geraten, seinem
Klienten eine Verordnung vorenthalten, die für diesen nützlich und heil¬
sam wäre. Marcuse stellt sich hierin ganz auf den Standpunkt von
Erb: „Es ist lediglich Sache des Arztes, die Sache mit seinem Klienten
und lediglich im Interesse dieses selbst zu erwägen und zu ent¬
scheiden. Der Moralist hat bei diesen rein ärztlichen Entschei¬
dungen keine Stimme; es ist ausschließlich der moralische
Standpunkt des Patienten selbst in Betracht zu ziehen.“
Der Verf. wendet sich dann zur Widerlegung eines dritten Einwandes,
der gegen die von ihm behauptete Berechtigung des Arztes zum Anraten
des außerehelichen Geschlechtsverkehres geltend gemacht wird und in der
Forderung besteht, der Arzt solle in den Fällen, in denen ihm ein sexu¬
eller Verkehr geboten erscheint, grundsätzlich die Verheiratung
empfehlen. Dem gegenüber betont Marcuse mit Bezug auf ganz be¬
stimmte Krankheiten, daß es nicht nur frivol, sondern therapeutisch
auch wenig aussichtsvoll wäre, diesen Patienten die Ehe anzuraten.
Im übrigen aber sei es überhaupt unverantwortlich, jemanden zur Hei¬
rat zu veranlassen, der z. Zt. krank ist — hoch dazu nervenkrank.
Dazu kommt, daß ja eine sichere Prognose niemals zu stellen und es
darum ärztlich unmöglich ist, eine Therapie anzuwenden, die — selbst
wenn sie versagen oder gar als schädlich sich erweisen sollte — niemals
wieder ausgesetzt oder geändert werden kann.
Marcuse resümiert seine Auffassung folgendermaßen: „Die Frage,
ob dem Arzte das prinzipielle Recht zusteht, den außerehelichen
Geschlechtsverkehr anzuraten, ist zu bejahen — und zwar
grundsätzlich sowohl dem männlichen wie dem weiblichen
Patienten gegenüber; indes hat der Arzt die Verpflichtung, stets
sämtliche Folgen zu bedenken, die sein Rat für den Klienten haben
kann; und da die Folgen eines illegitimen Verkehrs in der Regel für
ein Mädchen oder eine Frau außerordentlich viel nachteiligere sein können
als für den Mann, so wird in praxi der Arzt dem weiblichen Geschlecht
gegenüber mit dem Rate zum außerehelichen Umgang noch weit zurück¬
haltender sein müssen, als er schon dem Manne gegenüber natürlich auch
die Pflicht hat. Die Empfehlung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs
muß entschieden eine Ausnahme sein; aber das grundsätzliche Recht zu
dieser Empfehlung muß dem Arzte unbedingt zugestanden werden, und
er darf sich nicht scheuen, von diesem Rechte in geeigneten
Fällen Gebrauch zu machen. Dann aber hat er zugleich die absolute
Pflicht, dem Patienten sachverständige und wahrheitsgemäße
Aufklärung zu geben über die Gefahren, die mit dem Coitus
extra matrimonium verbunden sind, so wie er ihn ja auch vor
einer etwaigen Operation über die Chancen dieser zu belehren verpflichtet
wäre. Und es ist nicht minder die unbedingte Pflicht des Arztes,
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Referate.
dem Klienten auch rückhaltlos die Mittel zu nennen und ihm
deren sorgfältige Anwendung dringend ans Herz zu legen,
durch die jene Gefahren vermindert werden können.“
Ich habe in vorstehendem eine besonders eingehende Analyse der
Marcus eschen Schrift gegeben, nicht etwa, um eine Lektüre derselben
überflüssig zu machen — sondern vielmehr um die Leser der Zeitschrift
zu einem eingehenden Studium der überaus gehaltvollen und anregenden
Arbeit zu veranlassen. Die Frage, welche Marcuse aufwirft, ist meines
Erachtens für uns Ärzte eine hochwichtige, aber auch überaus schwierige,
weil sich bei derselben rein medizinische und ethische Fragen in fast
unlöslicher Weise miteinander verquicken. Wenn Marcuse für eine ganz
bestimmte, nicht sehr große Zahl von Fällen dem Arzte das Recht
zugesteht, seinem Patienten zum außerehelichen Beischlaf zu raten, so
werden ihm wohl die meisten Ärzte beipflichten. Aber die Hauptschwierig¬
keit ist, wie ich glaube, für den Arzt viel weniger in diesen paar Aus¬
nahmefällen gegeben, als vielmehr in der großen Zahl von Fällen, in denen
keine schweren Krankheitszustände vorliegen, sondern nur jene leichten
Gesundheitsschädigungen, die, wie Marcuse sich recht hübsch ausdrückt,
jenseits von Hörrohr und Plessimeter liegen, jene Schädigungen der all¬
gemeinen Lebensfrische und Arbeitskraft, jene so häufigen, zeitweiligen oder
andauernden seelischen Verstimmungen, die man noch nicht gerade als Ge¬
müts- oder Geisteskrankheiten bezeichnen darf, und denen wir doch so
oft auch bei manchen sonst ganz glücklich veranlagten, nicht nervösen oder
psychopathischen Individuen begegnen wenn sie aus irgend einem Grunde ge¬
zwungen sind, eine starke Regung ihre sinnlichen Triebe lange Zeit waltsam
niederzukämpfen. Auch die Frage, wie der Arzt sich gegenüber den so zahl¬
reichen Fällen von Masturbation verhalten soll — nicht zur Zeit der schweren
Erkrankung sondern im Rekonvaleszenzstadium, nachdem es gelungen ist, die
krankhafte Neigung für längere Zeit zu unterdrücken und wo es gilt
einen Rückfall in den alten Zustand zu verhüten, wäre noch näher
zu erörtern.
Und wie vor allem soll sich der Arzt verhalten in der weitaus
größeren Zahl von Fällen, in denen sein Klient mit dem außerehelichen
Geschlechtsverkehr als mit einer Selbstverständlichkeit rechnet und an seinen
Arzt — wiederum wie etwas ganz Selbstverständliches — das gleiche An¬
sinnen richtet? Das Merkblatt der Deutschen Geselisch. z. B. d. G, warnt
in solchen Fällen vor dem außerehelichen Geschlechtsverkehr wegen der
Gefahr der venerischen Infektion; wie aber, wenn besondere Um¬
stände eine solche Infektion als unwahrscheinlich oder ausgeschlossen er¬
scheinen lassen? Soll der Arzt in solchem Falle „Moral predigen“ oder
soll er ausschließlich vom medizinisch-naturwissenschaftlichen Standpunkte
aus urteilen? Marcuse hat diese Frage, die ja, streng genommen, nicht
zu seinem eigentlichen Thema gehört, nur kurz gestreift, aber die
Häufigkeit, mit der gerade sie sich in der Praxis wiederholt, scheint
uns einer eingehenden Erörterung wert. Wir werden voraussichtlich schon
in einer der nächsten Nummern der Zeitschrift Gelegenheit hierzu finden.
A. Blaschko.
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Referate.
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1. L. Butte. Ober den Gesundheitszustand, rOcksichtlich der Syphilis, bei den bordel¬
iierten Prostituierten in Paris in den Jahren 1872 bis 1903 einschließlich. (Journal
de mädecine de Paris 1903. Seite 221.)
2. Ober den Gesundheitszustand, rtlcksichtlich der Syphilis, bei den kontrollierten Einzel¬
prostituierten in Paris in den Jahren 1872 bis 1902 und den Einfluß der mehr
oder weniger zahlreichen Verhaftungen auf diese Gesundheitsstatistik. (Annales
de Therapeut dermat. et syphiligraph. (Bd. 111. Nr. 24; 20. Dezember 1903.)
1. Die Zahl der öffentlichen Häuser in Paris hat in 80 Jahren fort¬
schreitend rasch abgenommen; sie ist von 138 im Jahre 1872 bis auf
48 im Jahre 1902 gesunken, und ebenso hat sich der Bestand ihrer
Insassinnen während dieser Zeit um 2 / s verringert. In gleicher Weise
mit diesem Ruckgange ist auch eine Abnahme der Syphilisfälle in ihnen
fast bis auf Null zu verzeichnen: 1 Fall im Jahre 1902. Interessanter
als nur die Syphilisfälle zu zählen, die bei dem Rückgänge der Zahl
der Prostituierten natürlich auch abnehmen mußten, ist nachzusehen,
ob man bei prozentualer Berechnung eine Modifikation in bonam oder
in malam partem zu konstatieren hat. Nun vom Jahre 1873 ist der
Prozentsatz der Syphilitischen von 80°/ 0 ganz rapide bis auf 7,2 im
Jahre 1883 gesunken. Von da ab ist er bis zum Jahre 1894 — ab¬
gesehen von einer kleinen Zunahme während der Ausstellung 1889 —
ungefähr gleich niedrig geblieben und ist dann wieder, mit einer Ver¬
mehrung während des Ausstellungsjahres 1900, bis zu der niedrigen
Ziffer von 0,23 °/ 0 Jahre 1902 gesunken. Am 1. Januar d. J. hat
man nur einen einzigen Fall von Syphilis bei 429 Frauen gefunden.
2. In der anderen Arbeit hat der Verf. festzustellen gesucht, ob
die Syphilis bei den kontrollierten, allein wohnenden Prostituierten in
Paris im Verlaufe der letzten Jahre in der gleichen Weise abgenommen
hat, wie bei den bordellierten Mädchen, und hat bei diesen statistischen Er¬
hebungen zunächst entsprechend der Abnahme der letzteren eine Zunahme
der frei wohnenden Prostituierten von 2500 (im Jahre 1872) auf 6000
(im Jahre 1902), dabei aber eine Abnahme der Syphilis von 186 auf
72 Fälle gefunden.
Procentualiter berechnet ergibt sich daraus, daß bei den regelmäßig
Untersuchten im Mittel 5°/ 0 Syphilisfällen vor 20 Jahren 1,2 °/ 0 in den
letzten 10 Jahren gegenüberstehen. Nun entziehen sich aber viele Mäd¬
chen, gerade weil sie sich krank fühlen, der Kontrolle, und Butte hat
daher, um genauere Resultate zu erhalten, zu diesen Zahlen noch die
Luesfälle hinzugerechnet, welche bei arretierten Prostituierten gefunden
wurden, dabei aber doch eine annähernd gleiche Differenz der Prozent¬
sätze innerhalb derselben Zeiträume festgestellt: Ein Fallen von 12,1 °/ 0
im Mittel vor 20 Jahren auf 4,8 °/ 0 während der letzten 10 Jahre.
Worauf ist diese erhebliche Besserung des Gesundheitszustandes der
Prostituierten zurückzuführen? Verf. glaubt, daß in erster Linie die
großen Entdeckungen, welche, wie überall, so auch bei den Prostituierten
Aufnahme gefunden haben, es gewesen sind, welchen sie Sauberkeit und sorg¬
fältige hygienische Maßnahmen, welche sie früher vernachlässigt haben,
verdanken. Dann muß man die etwas besser gewordene Erziehung der
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Referate.
Prostituierten berücksichtigen, denn das Gesetz über den ersten obli¬
gatorischen Unterricht hat seinen Einfluß bis auf die untersten Klassen
ausgeübt, die Kenntnisse sind erweitert worden, und die Mädchen ver¬
stehen es eher als früher, daß es in ihrem Interesse ist, wenn sie sauber
und gesund sind. Mit Rücksicht auf die bordeliierten Mädchen wird
noch hervorgehoben, daß die Bordell Wirtinnen in bezug auf die Rekru¬
tierung ihres Personals anspruchsvoller als früher geworden sind; ein
etwas weniger schlechter sittlicher Zustand hat auch einen besseren
Gesundheitszustand zur Folge gehabt. Bruno Sklarek (Berlin)
H a Gillet. Die gesunde Dirne. Annales de th4rapeut dermat et syphiligr.
et de prophyl. anti-v6n6r. Bd. IV. Nr. 4. 20. Febr. 1904. S. 78.
Verf. bedauert, daß von den Ärzten bisher ein, wenn auch
nicht absolutes, so doch relatives Mittel zur Bekämpfung der venerischen
Gefahr von seiten der Prostitution vernachlässigt worden ist: Er hofft,
daß durch eine hygienische Erziehung der Prostituierten viel genützt
werden könnte. Die polizeilichen Vorschriften für die Eingeschriebenen
veranlaßten durch ihre Schärfe dieselben nur, sich einen Zuhälter zu
nehmen. Zur Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten würde durch
hygienische Ratschläge, welche den Prostituierten gegeben werden sollten,
bei weitem mehr beigetragen werden. — Dieselbe Sorglosigkeit geschlecht¬
licher Ansteckung gegenüber findet sich sowohl bei der schlecht als
auch bei der gut bezahlten Dirne, in den eleganten Bordellen ebenso
wie in den minderwertigen. Überall glaubt man der Hygiene durch
eine Waschung der äußeren Genitalien auf deren Bidet Genüge geleistet
zu haben. Irrigatoren wären bei den Prostituierten selten zu finden,
und wenn sie vorhanden wären, würden sie von den Besitzerinnen auch
nur aus Furcht vor Konzeption angewendet. Wenn von einer Prosti¬
tuierten nicht nach jedem geschlechtlichen Verkehr die Scheide gut aus¬
gespült wird, ist es aber möglich, daß ein Klient des Mädchens, sich an
dem von dem Vorgänger deponierten infektiösen Sekret ansteckt, d. h.
sogar ohne daß das betreffende Mädchen angesteckt worden zu sein
braucht. — In manchen Ländern wird den Prostituierten nach der
zwangsweisen Untersuchung eine antiseptische Ausspülung gemacht,
Verf. hält dies für empfehlenswert, wünscht aber mit Recht weitere Fort¬
schritte in dieser Richtung. Zugleich mit dem rein polizeilichen Regle¬
ment sollten den Prostituierten hygienische Vorschriften eingehändigt
werden; eine jede müßte ihren Irrigator haben und ihn bei jeder Unter¬
suchungsvisite in gutem Zustande vor weisen. Ebenso müßten solche
Apparate in den öffentlichen Häusern sein und man müßte sich offiziell von
ihrer Gebrauchsfähigkeit überzeugen. So würde viel zur venerischen
Prophylaxe beigetragen werden. Bruno Sklarek.
O. Rosenthal. Therapie der Syphilis und der venerischen Krankheiten. Alfred
Holder. Wien. 1904. Ji 3.40.
Das Buch ist als XI. Band der „Medicinischen Handbibliothek“
erschienen, die vor allem dem Bedürfnisse des praktischen Arztes,
in kurzer, leicht faßlicher Form das Neueste auf dem Gebiete der Therapie
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Referate.
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zu erfahren, entgegenzukommen bestrebt i st Da diese Gesichtspunkte
natürlich auch für Rosenthal maßgebend sein mußten bei der Abfassung
des vorliegenden Bändchens, so würde dessen Besprechung aus dem Rahmen
dieser Zeitschrift herausfallen, wenn es nicht einige allgemeine Aus¬
führungen und ErÖterungen enthielte, die auf das Interesse auch des
Laien, wenn er der Bedeutung der Geschlechtskrankheiten nur einiges
Verständnis entgegenzubringen vermag, Anspruch erheben dürfen.
In dem einleitenden Kapitel über die „Prophylaxe“ gibt Rosen¬
thal einen Überblick über die zuverlässigsten und brauchbarsten Schutz¬
mittel gegen Ansteckung. Er streift darin ferner die Frage, welche
Berufsarten ihre Tätigkeit einstellen müßten, sobald sie von einer Ge¬
schlechtskrankheit befallen werden; es kommen da namentlich Ärzte,
Hebammen, Friseure, Glasbläser, Köche, Bäcker, Kellner in Betracht,
die, wenn sie mit infektiösen Symptomen behaftet sind, ihren Beruf nur
unter ernstlicher Gefährdung ihrer Mitmenschen auszuüben vermögen;
gleichwohl ist die im Interesse der öffentlichen Hygiene so dringliche
Forderung zurzeit nur ein „pium desiderium“, zu dessen Durchführung
die vorhandenen Krankenhäuser nicht annähernd ausreichen.
In dem Kapitel über „Gonorrhoe und Ehe“ erörtert Rosenthal
die Frage, wann ein ehemals Tripperkranker heiraten darf. Den Stand¬
punkt, daß überall, wo Eiterkörperchen vorhanden sind, auch Gonokokken
vorhanden sein müssen, hält er für völlig unzutreffend. Er trägt viel¬
mehr kein Bedenken, auch bei einer mäßigen Menge von Leukocyten
den Ehekonsens zu erteilen. Der Verf. bekämpft die Ein wände, die gegen
diese Auffassung von manchen Seiten erhoben werden und kommt zu
dem Schlüsse, daß der Arzt, der bei mehrfach wiederholter und gewissen¬
haftester Untersuchung Gonokokken nicht mehr findet, unbekümmert um
einen etwaigen Eitergehalt der Sekrete die Heirat mit gutem Gewissen
erlauben darf, ohne Enttäuschungen befurchten zu müssen.
Über die Frage der Heilbarkeit der Syphilis im allgemeinen
äußert sich Rosenthal folgendermaßen: „Mit großer Bestimmtheit kann
man den Satz aussprechen, daß die Syphilis nach einer gewissen Zeit
und bei geeigneter Behandlung geheilt werden kann; nur ein ganz ver¬
schwindender Prozentsatz dürfte von dieser Regel ausgenommen werden. ...
Man kann ferner mit Bestimmtheit sagen, daß der größte Teil derjenigen
Fälle, bei denen eine vollständige Wiederherstellung nicht stattfindet,
nicht in genügender und ausgiebiger Weise behandelt worden ist.“
Max Mareuse (Berlin).
Tagesgeschichte.
Deutschland.
Das Reichsgericht (IV. Zivilsenat) spricht sich in seinem Urteile
vom 19. Januar 1903, Entscheidungen in Zivilsachen Bd. 53, S. 315,
folgendermaßen aus:
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß wenn ein Arzt bei Behand¬
lung eines Patienten bei diesem eine geschlechtliche Krankheit
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490
Tagesgeschichte.
festgestellt, ihm damit ein Privatgeheimnis desselben anvertrant ist und
daß es ganz besonderer Gründe bedarf, um die Offenbarung dieses Geheim¬
nisses an eine andere Person als eine befugte erscheinen zu lassen. An¬
dererseits ist nicht zu leugnen, daß, wenn diese andere Person gerade
der Ehegatte des Patienten ist, sich mancherlei solche besonderen Gründe
denken lassen, ja daß es sogar unter Umständen als ganz berechtigt er¬
scheinen kann, wenn der Arzt gegen den ausgesprochenen Willen des
Patienten dem Ehegatten desselben Mitteilung von einer Krankheit macht.
Denn, wie es Rechtspflichten gibt, die einer Verschwiegenheitspflicht
Vorgehen können (wie z. B. die Anzeigepflicht des § 139 St.G.B.), so
sind auch höhere, sittliche Pflichten anzuerkennen, vor denen die Ver¬
pflichtung zur Verschwiegenheit zurücktreten muß. So kann es z. B.
unter Umständen für den Arzt geboten erscheinen, der Ehefrau von der
geschlechtlichen Erkrankung des Mannes Kunde zu geben, um eine An¬
steckung derselben nach Möglichkeit zu verhindern; wie es auch vielleicht
nicht schlechthin ausgeschlossen sein dürfte, eine solche moralische Mit
teilungspflicht unter besonderen Umständen einer dritten Person, welche
nicht die Ehefrau wäre, gegenüber als gegeben anzunehmen.
Frankreich.
Außerparlamentarische Kommission über die Reglementierung der
Prostitution.
Die Verhandlungen der außerparlamentarischen Kommission in Paris
haben einen für die zukünftige Entwickelung der ganzen Prostitutions¬
frage und der Frage der Syphilis-Prophylaxe so bedeutsamen Verlauf
genommen, und werden voraussichtlich — nachdem in einer Sitzung
vom 10. Juni die Kommission sich mit 19 gegen 10 Stimmen für
die Abschaffung der Reglementierung ausgesprochen hat, —
die ganze Gestaltung der Dinge in Frankreich in so entscheidender Weise
beeinflussen, daß wir die Verhandlungen von nun an ausführlich wieder¬
geben wollen. Da ein offizieller Bericht noch nicht vorliegt, so halten
wir uns an den des „Progrfes Medical“, der auch in das „Bulletin
Abolitionniste“ übergegangen ist. Dieser Bericht ist zwar deutlich abo-
litionistisch gefärbt, doch gibt er die Hauptphasen der Verhandlungen
in anschaulicher Weise wieder.
Für diesmal bringen wir den Bericht über die Sitzungen vom 4..
5. u. 18. März.:
Gegenstand derselben war die Diskussion über die Berichte der
Herren Professoren Alfred Fournier und Augagneur, sowie die
Prüfung der von Herrn Polizeipräfekten Lepine und insbesondere von
M. Hennequin, dem Generalsekretär der Kommission eingereichten
Dokumente.
Prof. Augagneur eröffnet die Diskussion mit einer Kritik des
Fournierschen Berichtes. Er führt im wesentlichen folgendes aus:
Seitdem vor fünf Jahren auf der Internationalen Konferenz in Brüssel
die Debatten begannen, erwartet er vergeblich von den Regiementaristen
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TagcsgcBchichte.
491
den Beweis, daß die Sittenpolizei zur Prophylaxe der venerischen Krank¬
heiten gedient hätte. In Wahrheit aber bemerkt man in allen europäischen
Staaten, gleichviel ob mit oder ohne Reglementierung, wie die Schweiz
und England einerseits, oder Rußland andrerseits, eine allgemeine Ab¬
nahme der venerischen Krankheiten. Diese Erscheinung, welche er be¬
reits 1899 angekündigt habe, verdanken wir offenbar der allge¬
meinen Bewegung einer aufgeklärten Zivilisation, einem höheren geistigen
und sittlichen Niveau, sowie auch einer wirksameren Behandlungsweise.
Es wäre kindisch, leugnen zu wollen, daß es eine venerische Gefahr,
eine venerische Morbidität und Mortalität gibt, gerade wie es eine Pocken¬
gefahr, eine Typhusgefahr und schlechthin eine Gefahr aus jeder mensch¬
lichen Krankheit gibt; es handelt sich aber darum, von klinischen und
statistischen Standpunkten aus die Intensität dieser Gefahr zu fixieren.
Nun wirft M. Augagneur Fournier und seiner Schule vor, diese
Gefahr der ehelichen, prostitutionellen und erblichen Syphilis nach jenen
beiden Richtungen hin übertrieben zu haben.
Für die Länder, deren Regierungen einen durch seine Organisation
Vertrauen erweckenden offiziellen statistischen Dienst eingerichtet haben,
für Schweden und Dänemark z. B. hat Augagneur ermittelt, daß 2°/ 0
der allgemeinen Sterblichkeit auf Syphilis entfallen, also bei weitem
weniger als die allgemein angegebenen 14—16°/ 0 . In seinem Bericht
führt Fournier eine persönliche Statistik an über mehr als 4400
ihm selbst beobachtete Fälle von Tertiär-Stadium (4000 Männer,
400 Frauen); wenn man jedoch bedenkt, daß diese Statistik sich über
die 39 Jahre erstreckt, die Fournier zur Zusammenstellung verwendete,
so schließt Augagneur, 1. daß das tertiäre Stadium, das einzige
bedenkliche Stadium, nicht der unvermeidliche Ausgang aller Syphilis
ist; 2. daß wenn Fournier in 89 Jahren 66 Todesfälle an Hirn¬
syphilis beobachtet habe, dies einen Prozentsatz von 2 Toten pro Jahr
ergeben würde.
Auf eine Bemerkung von Fournier erkennt Augagneur an, daß
es tötliche Lokalisationen der Syphilis in den Nieren, den Gefäßen etc. gibt,
aber er erklärt, daß das ganze Kapitel von der Parasyphilis für ihn
ein wenig problematisch bleibt; bei der Parasyphilis verliert jedes er¬
krankende Individuum seinen Charakter als „gewöhnlicher“ Kranker, und
wenn er erliegt, so ist er — in den Augen der Parasyphilis-Schule —
an Syphilis gestorben. Sieht man die fast vollständige, um nicht zu
sagen vollständige Abwesenheit der heute in Frankreich als parasyphi¬
litisch bezeichneten Krankheiten, wie Tabes, und allgemeiner Paralyse
in den Ländern mit endemischer Bauem-Syphilis, den ostrussischen Dörfern,
in Bulgarien, Abessynien, Algier usw., so ist das letzte Wort in dieser
Frage noch nicht gesprochen.
Auf die Sterblichkeit bei Säuglingen in sehr^ jungem Alter über¬
gehend, sagt Augagneur, man müsse diese Sterblichkeit im Verhältnis
zu der Masse der Geburten betrachten, dann ist sie unbedeutend; die
Nationen ohne Sittenpolizei, wie England (ohne Irland) sind bezüglich des
Anwachsens der Bevölkerung viel besser gestellt. Was zeigt überdies
ein Vergleich der Kindersterblichkeit in beiden Ländern? England hat
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Tagesgeschichte.
eine Kindersterblichkeit von 164,4 auf 1000 Kinder von GUbis 1 Jahr
und 52,2 auf 1000 Kinder von 1—5 Jahren, während diese beiden Zahlen
in Frankreich 168,8 und 60 betragen. Bei dieser überall sehr hohen
Kindersterblichkeit sind in Wahrheit eine Reihe anderer viel gefährlicherer
Faktoren ausschlaggebend: Brechdurchfall, Mangel an Pflege und Er¬
nährung, Elend oder Fahrlässigkeit der Eltern, usw.
Augagneur wendet sich ebenso gegen das ganze Kapitel des
Foumierschen Berichts über den sanitären Zustand der europäischen
Armeen und die pessimistischen Schlüsse in hygienischer Beziehung, die
dieser gegen die Nationen ohne Sittenpolizei daraus gezogen habe.
Augagneur wundert sich, daß man zwei so heterogene Organisationen
wie die deutsche und die englische Armee miteinander vergleichen konnte,
deren erstere aus jungen Volksgenossen, die für kurze Zeit dienen, besteht,
während die andere sich aus gewerbsmäßigen Mietlingen und Söldnern
zusammen setzt. Es ist durchaus unrichtig, zu sagen, daß das Maximum
an Sittenpolizei mit dem Minimum an venerischen Krankheiten zusammen¬
fällt; denn man sieht dasselbe mit Sittenpolizei versehene Land in der
Reihenfolge der Schwere von Syphilis an fünfter Stelle, von Blennorrhoe
und einfachem Schanker gar an achter Stelle: z. B. in Italien, welches
mehr Tripper- und Schankerkranke hat als England. Ferner — und
das ist ein sehr gewichtiges und unwiderlegliches Faktum zum Beweise
der Nutzlosigkeit der Sittenpolizei für die Prophylaxe — findet man bei
den verschiedenen Truppenteilen einer und derselben Garnison erstaun¬
liche Unterschiede in ihrer sexuellen Morbidität, wie z. B. in Paris selbst,
wo die Venerischen durchschnittlich 32°/ 00 vom Durchschnitt der ganzen
französischen Armee betragen, während in der Republikanischen Garde
der Durchschnitt auf 102,04 steigt! Die Sittenpolizei ist nur angeblich
eine Verbesserung, und ihre ganze Bedeutung liegt in unbewiesenen An¬
nahmen und vorgefaßten Meinungen.
Entgegen gewissen Behauptungen gilt es nicht, die Ziffer der
Inskriptionen, sondern die der tatsächlichen Behandlung zu erhöhen; nun
aber hat die Statistik, die Augagneur als Maire von Lyon zu sammeln
in der Lage war, ganz besonders die angeblich guten Resultate einer
strengen und unerbittlichen Sittenpolizei Lügen gestraft Das Bild,
das er selbst in einem eigenen Bericht von den eingeschriebenen und
den freien während 27 Jahren, von 1876—1903, in der Antiquaille be¬
handelten Mädchen entwirft, zeigt, daß je weniger terroristisch die Über¬
wachung ist, desto eher die freien Venerischen freiwillig wiederkommen,
aus eigenem Antriebe den Arzt konsultieren und sich in Pflege geben.
Wenn die Inspektoren 700—900 eingeschriebene Venerische bruta¬
lisieren und zur Antiquaille schleppen, so schmilzt zusehends die Anzahl
der freien Venerischen, die sich behandeln lassen, zusammen; ist aber
die Polizei weniger streng, dann ist die Zahl der Kranken, die sich frei¬
willig vorstellen, ebenso hoch oder höher wie die der zwangsweise Vor¬
geführten. Betrachtet man die Periode von 1876—1888, wo die Polizei
von Lyon auf eine wilde Art wütete, und die Periode von 1890—1903,
wo sich die Tätigkeit der Lyoneser Maires in günstigem liberalen und
humanen Sinne fühlbar machte, so ist der numerische Kontrast un-
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Tagesgeschichte.
493
leugbar. Augagneur wendet sich denn auch kräftig gegen das von
Dr. Etienno aus Nancy aufgestellte „Gesetz des Parallelismus.“ Er
sieht das Heil der Prostituiertenbesucher nur in der Einführung
einer medizinisch administrativen Schreckensherrschaft gegen die Prosti¬
tuierten selbst.
Zum Schluß sagt Augagneur, die Reglementierung ist ein Netz
mit großen Maschen, das nur die Walfische einfängt; eine Menge von
Kranken, eingeschriebenen und nichteingeschriebenen, schlüpfen hindurch;
das gegenwärtige System ist eine Täuschung, die abgeschafft werden muß;
es muß eine neue Richtung in den Polizei Vorschriften und in der Medizin
eingeschlagen werden, die in völligem Widerspruch zur Sittenpolizei steht.
Er protestiert gegen die ungerechte Anschuldigung, daß die Abolitionisten
für das Allgemeinwohl kein Interesse hätten, weil sie sich nicht auf ein
System versteifen, dessen ganzes Getriebe gerade dem Allgemeinwohl
feindlich ist.
Frau Avril de Ste Croix rügt die in dem Fourniersehen Be¬
richt enthaltenen Angriffe gegen die Föderation und erklärt, daß die
französische abolitionistische Gruppe sich mit den von Fournier in-
kriruinierten pietistischen Lehren nicht solidarisch fühlt.
Dr. Butte, Arzt am Dispensaire, liest einen Aufsatz vor, worin
er erwähnt, daß seine Kollegen und er in 81 Jahren, von 1872 —1908,
53 000 Venerische ausfindig gemacht haben. Diese Kranken hätten sich
nach seiner Meinung nicht behandeln lassen, wenn sie nicht durch das
herrschende Zwangssystem dazu genötigt gewesen wären; wenn er auch
zugibt, daß die Syphilitischen durchschnittlich nicht mehr als einen,
selten zwei Monate in St. Lazare bleiben.
Generalsekretär Hennequin gibt einen Bericht über die all¬
gemeine Lage der Sittenpolizei in der Provinz, aus welchem hervorgeht,
daß die Toleranzhäuser in Frankreich nicht im Abnehmen begriffen sind,
daß vielmehr eine kleine Zunahme stattfindet.
Dr. Auffret, Generalinspekteur des Marine-Gesundheitsamtes, be¬
streitet, daß die Zustände bei der Marine gar so ungünstig seien, doch
erkennt er an, daß bei dem häufigen Ortswechsel der Mannschaften die
Ziffern nur relativen Wert besitzen. Der Seemann ist durch sein Hin-
und Herreisen übers Meer zu gleicher Zeit Importeur und Exporteur
der Syphilis. Die durch das Reglement vorgeschriebene Untersuchung der
Leute ist daher gerechtfertigt, und Auffret fordert, daß im Kranken¬
hause die Männer gesondert untersucht werden. Nebenbei bekämpft er die
Rendez-vous-Häuser, die „ Halb-Toleranzhäuser“, die die Pariser Polizei¬
präfektur einführen zu wollen scheint, und erklärt sie für „die schlimmste
Form der reglementierten Prostitution“.
Fournier hält seine Ansicht von der überaus großen Häufigkeit
und der Bedeutung der venerischen Krankheiten und besonders der
Syphilis und Blennorrhoe aufrecht. Unberührt von allen reglemen-
taristischen und abolitionistischen Ziffern, von all den Diskussionen um
Lehren und Argumente bleibt das bestehen, was Fournier in Brüssel
das Argument des gesunden Menschenverstandes nannte: „Wenn ein Weib
mit Plaques muqueuses oder mit Schanker in St. Lazare sich schlafen legt,
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Tagesgeschichte.
dann ist sie allein in ihrem Bette und unschädlich. Was würde
sie in dieser selben Nacht getan habeD, wenn sie frei wäre? Sie würde
sicherlich die Seuche auf einen oder mehrere Männer übertragen haben.
Daraus folgt: Man muß dieses Weib internieren/ 4 Fournier hat seine
Beweisführung das Argument des gesunden Menschenverstandes getauft;
das Wort hat Glück gehabt und hat überall — außer bei den Abo-
litionisten — vortreffliche Aufnahme gefunden. Fournier hält sein
Argument mehr als je aufrecht. Dann zitiert er eine andere Statistik von
Kindern syphilitischer Eltern und bekennt, daß er unwiderruflich An¬
hänger der Reglementierung der Prostitution ist, die seiner Meinung
nach allein imstande ist, die Weiter Verbreitung der venerischen Krank¬
heiten zu verhindern. Aber wenn er auch die Reglementierung aufrecht
erhalten will, so mißbilligt er doch das Polizeiregime — sowohl in
medizinischer als auch in administrativer Beziehung —, welches heute
die Überwachung der Prostitution durchsetzt: er will eine wirksame,
aber medizinische, humanitäre und sittlichkeitsfördernde Überwachung;
besonders aber verlangt er, daß diese Überwachung nicht mehr willkürlich,
sondern gesetzlich geregelt sei, um die Interessen der allgemeinen Ge¬
sundheit mit den Rechten der individuellen Freiheit zu versöhnen.
In einem halb ernstgemeinten Scherz wirft Fournier Madame
Avril de Sainte Croix ihre „Undankbarkeit“ vor: Von allen Gegnern
des Abolitionismus sei er vielleicht derjenige, der dieser internationalen
Vereinigung am meisten Gerechtigkeit habe widerfahren lassen. Er
geht so weit, zu sagen, daß ohne sie die heute unwiderstehliche Reform¬
bewegung weder diese Intensität noch diese Ausdehnung erhalten hätte.
Aber er werde dennoch in aller Loyalität fortfahren, sich aus den Reden
und Schriften der hervorragendsten Abolitionisten — mögen sie nun
Engländer oder Engländerinnen sein — die typischen Stellen heraus¬
zusuchen, welche ihm für die in der Föderation herrschende Denkungsart
besonders charakteristisch erscheinen.
Dr. Fiaux stellt Vergleiche zwischen den Berichten von L6pine
und Turot im Munizipal rat an und zeigt, daß trotz erhaltener Lektionen,
fortgesetzter Warnungen, zunehmender Mißgriffe die Sittenpolizei sich
nicht dazu versteht, die Waffen zu strecken, noch sich zu ändern. Man
brandmarkte ihre brutale Handlungsweise, die die Mädchen von der
Einschreibung fernhalte, und alsobald verdoppelte sich ihre Härte:
1901 wurden 52 510 Verhaftungen eingeschriebener Mädchen vorgenommen,
1903 waren es 55 641; 1901 gab es 5925 Isolierte und 1903 6031.
Man sagte zu dieser Polizei: Euer terroristisches Vorgehen verscheucht
die Eingeschriebenen, und eure angeblichen Effektivzahlen von fast
7000 Mädchen mit Karten sind nur fiktiv; seit 1888, wo die Ziffer
der „Verschwundenen 44 1787 betrug, ist sie nicht wieder so hoch gewesen
wie in diesen letzten Jahren; 1901 betrug sie 1717. Man sagte zur
Polizei: Schreibt keine Minderjährigen ein, macht nicht diese Kinder zu
gewerbsmäßigen Prostituierten; nun, seit 10 Jahren hat die Sittenbehörde
nie wieder so eine Menge von Minderjährigen eingeschrieben. So sind
1902 457; 1901 660; 1889—1903 in 5 Jahren 1913 junge Mädchen
von 17—21 Jahren offizielle Prostituierte geworden; in 27 Jahren,
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Tagesgeschichte.
495
1872—1898 hatte die Behörde nur 6275 unter Aufsicht gestellt, also
verhältnismäßig die Hälfte weniger pro Jahr. Was die Statistik der
Präfektur über den sanitären Zustand der Bordellmädchen betrifft, so
ist sie ganz einfach unerklärlich und vielleicht irgend einem autosuggestiven
Irrtum entsprungen — wie wir schon in Sachen der Polizeistatistik
sahen. Fiaux führt typische Beispiele dafür an, dann zeigt er, wie
die Technik der Ansteckung und die sichersten Fortschritte der syphi-
lidographischen Wissenschaft von der Sittenpolizei verkannt werden. Zum
Schluß bittet er die Kommission, die bereits eingereichten Berichte als
Ausgangspunkte zn nehmen und sich zur Fortführung der gesamten Frage
und aller Einzelheiten in mehrere, mit dem Studium der verschiedenen
Gebiete beauftragte Unterkommissionen zu teilen.
Senator Berenger bittet, den Antrag Fiaux abzulehnen; erneute
Untersuchungen würden nur neue Momente in diese unfruchtbaren Kontro¬
versen hinein bringen; er schlägt vor, über die folgenden beiden Punkte
die Diskussion zu eröffnen:
1. Soll die öffentliche Prostitution Gegenstand einer Überwachung sein?
2. Soli diese Überwachung im Namen des Gesetzes ausgeübt werden?
Wenn die Kommission auf die Frage der Überwachung negativ
antwortet, dann ist die Debatte geschlossen. Wenn diese Überwachung
zugelassen und durch ein Gesetz geregelt wird, dann soll die Kommission
beschließen, daß die Internierung nur auf gerichtlichem Wege verfugt
und der medizinische oder administrative Charakter ihrer Dauer festge¬
setzt werden kann; ebenso muß auch die Frage der Einschreibung ge¬
regelt werden.
M. Monod, Direktor der Armenverwaltung, sagt, der Minister sei
der Meinung, daß sich die Debatte nur auf die Frage der Prophylaxe
beschränken sollte.
Präsident Disl&re möchte, daß die Kommission jetzt die Frage an-
schnitte, ob die Prostitution überwacht werden soll oder nicht. Man
würde dann sehen, ob über diesen Hauptpunkt eine Majorität zu er¬
zielen ist.
M. Yves Guyot stellt fest, daß die Regelementaristen nicht den
Beweis erbringen konnten, daß die Sittenpolizei für die Prophylaxe
förderlich sei; er möchte, daß sie nicht vage Wünsche einer öffentlichen
Vereinigung Vorbringen wie 1888 die der Acad&nie de mädecine, sondern
einen Gesetzentwurf, eine positive Formulierung, die eine klare Vorstellung
von dem Grade und der Natur der von ihnen zugestandenen Reformen
gibt. Das wäre ein fruchtbares Gebiet zur Diskussion.
M. Augagneur reicht dem Bureau einen Antrag ein, worin er
die Ernennung einer Unterkommission verlangt, die beauftragt wäre,
einen Entwurf auszuarbeiten, um die jetzt herrschende Reglementierung
zu ersetzen oder zu modifizieren.
M. Fiaux hält seinen Antrag aufrecht und bittet den Präsidenten,
die Kommission zu fragen, ob sie die Enquete für beendigt hält und
ob die Debatte über die Tatsachen und Zahlen geschlossen ist.
Prof. Fournier glaubt ebenfalls, daß in den drei Sitzungen nicht
alles gesagt worden ist und unterstützt teilweise den Antrag Fiaux
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496
Tagesgeschichte.
gegen den Schluß der Debatte. Bisher hat man nur von der medi¬
zinischen Seite gesprochen. Es gibt aber auch andere Gesichtspunkte.
Das beweist schon die Zusammensetzung der Kommission; sie enthält
Richter, Professoren der juristischen Fakultät, Publizisten, Ethiker.
Keinen von ihnen hat man in diesen beiden Sitzungen voll medizinischer
Diskussionen gehört. Fournier glaubt, daß diese das Wort ergreifen
müssen, da die Kommission nunmehr die Frage der Überwachung der
Prostitution und ihren neuen möglichen Charakter — die Gesetzlichkeit
— diskutieren muß.
M. Fourniers Antrag wird einstimmig angenommen. Die Kom¬
mission vertagt sich bis zum 18. März, um die Debatte fortzusetzen und
die Juristen zu hören.
Die vierte und fünfte Sitzung der Kommission am 18. und 19. März
gaben Gelegenheit zu Erklärungen, die durch die offizielle
Stellung der Redner als bemerkenswerte Ereignisse in der
Geschichte der Reglementierung der Prostitution zu be¬
zeichnen sind.
Prof. Gaucher nähert sich bezüglich des Ernstes der Syphilis viel mehr
dem Pessimismus Fourniers als dem Optimismus Augagneurs.
Dieser letztere ist Chirurg, und die späteren Folgen der Syphilis sind
mehr innermedizinischer als chirurgischer Natur; so kommt es, daß
M. Augagneur weniger schwere Syphilis sieht als ein innerer Mediziner.
Aber die eigentliche Frage ist ja die Wirksamkeit der Reglementierung.
Gau eher erklärt die Reglementierung für ungerecht, ungesetzlich, und
nicht allein unwirksam, sondern sogar schädlich; er akzeptiert für
sein Teil nicht das Argument des gesunden Menschenverstandes: die
Reglementierung ist nur wie ein Wassertropfen im Meere. Es gibt in
Paris 60000 aktive Prostituierte; auf der Präfektur sind 6000 ein¬
geschrieben, die auch noch zum Teil entwischen. Wen arretiert man
denn? „Diejenigen, die keine fünf Franken in der Tasche haben.
man weiß für wen.“ Die Inspektion der arretierten Mädchen in
St. Lazare zeigt, daß man nur die allerniederste Kategorie dieser Un¬
glücklichen belästigt. Es ist eine Willkürherrschaft, die nichts mit
Hygiene gemein hat. Gau eher macht dieselbe Beobachtung auch bei
den Rendez-vous-Häusern — den neuen von dem Präfekten Lepine
geschaffenen Bordellen — die gegenwärtig in Paris bestehen. Diese
Häuser werden nur je nach ihrem Tarif überwacht und in den Listen
geführt: es sind also nur die Kategorien unter 40 Franken reglementiert,
bei denen über 40 Franken herrscht carte blanche. Hier geht es noch
ganz willkürlich zu, selbst vom hygienischen Standpunkte aus. Das
alles spricht gegen die Reglementierung. G a u c h e r fügt hinzu, daß
nach seinen persönlichen Erfahrungen die Mädchen, sogar die einge¬
schriebenen Prostituierten, viel ehrenhafter sind als viele Männer; letzthin
kam eine junge eingeschriebene Person nach dem Hospital St. Louis
und sagte ihm wörtlich: „Es läßt mir keine Ruhe, ich muß wohl krank
sein, ich muß einen Plaque im Munde haben; im Dispensaire hat man
mir gesagt, es wäre nichts; aber ich möchte lieber ins Hospital St. Louis
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Tagesgeaehichte.
497
kommen and mich pflegen lassen.“ Die Diagnose des Mädchens war
richtig und ihre Furcht gerechtfertigt.
Der Polizeipräfekt Lupine erklärt die Zeit für gekommen, wo
jedermann seine Meinung öffentlich kundtun müsse. Er erklärt sich im
Prinzip für die Reglementierung, aber er will eine legale Reglemen¬
tierung, die nicht die Willkür gutheißt und die nichts mit der heutigen
Reglementierung zu tun hat, welche sein Amt und die jetzt nun einmal
so beschaffene Lage der Dinge ihn häufig zu seinem Bedauern anzu¬
wenden zwingen. Eine gute Reglementierung muß repressiv, nicht
präventiv sein; eine gute Sittenpolizei darf nicht administrativ
sein, sie muß gerichtlich sein. Den Reglementaristen fällt eine
schlimme Rolle zu, sie sollen die Nützlichkeit der Sittenpolizei vom
medizinischen und vom Standpunkte der öffentlichen Ordnung beweisen.
Lupine bedauert, daß sich unter den Berichterstattern kein Jurist be¬
findet. Indem er sich der Beweisführung von Yves Guyot und Fiaux
anschließt, die von allen Schriftstellern und Ärzten sogar von der Polizei¬
präfektur scharf kritisiert wurde, erklärt er, daß unter den freien
Prostituierten eine Menge ganz gesunder seien. Wenn sie die jungen
Männer ansteckten, könnten sie leicht denunziert und festgenommen
werden, aber sie geben sich nicht dem ersten besten hin, sie sind
intelligenter als die Eingeschriebenen, kurz sie sind bei weitem nicht so
im äußersten Elend. Übrigens leugnet Lupine nicht, daß viele nicht
eingeschriebene junge Mädchen Syphilis und noch mehr Blennorrhoe
haben, z. B. die Dienstmädchen usw. Aber gerade deshalb, weil so viele
Unkontrollierte den hygienischen Maßregeln entschlüpfen, muß die gegen¬
wärtige, Scherereien verursachende, chikanöse Reglementierung durch eine
repressive Reglementierung ersetzt werden. An dieser neuen gewisser¬
maßen freiwilligen Reglementierung arbeitet augenblicklich der Präfekt
mit den Referenten vom Munizipalrat. Ein gutes Reglement wird jedes
Weib ohne Unterschied dazu anreizen, sich heilen zu lassen. Wenn die
Prostitution ein Gewerbe ist (und das ist sie nach Läpines Meinung),
so darf sie nicht gesundheitsschädlich sein.
Bezüglich der öffentlichen Ordnung erinnert der Präfekt daran, wie
er heutzutage mit einem Riesenaufwand an Mühe mit seinem Personal
gerade ein Minimum von Anstand zu wahren imstande ist. Für die
Straße bedarf es eines soliden unangreifbaren Instruments, das sich auf
das Gesetz stützen kann. Wenn der Prostitution eile Aktus an sich nicht
strafbar ist, so ist doch die Provokation ein Delikt, und so muß denn
die Ordnungsfrage von hier aus gelöst werden.
M. Turot, Stadtverordneter von Paris, beglückwünscht den Prä¬
fekten zu seiner neuerdings erfolgten Bekehrung zur Religion der Gesetz¬
lichkeit und meint, die Unwirksamkeit der Reglementierung gehe deutlich
aus der geringen Zahl der Eingeschriebenen hervor, gegenüber der großen Zähl
der Unkontrollierten, der großen Zahl der das Jahr über Verschwindenden,
der großen Zahl der Kranken unter den verschwunden Gewesenen und
Wiederaufgefundenen. Diese ganze Einrichtung flößt ihren Opfern Gräuen
ein. Turot sieht die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Prosti¬
tuierten , und folglich des öffentlichen Gesundheitszustandes überhaupt,
Zeitsohr. f. Bekämpfung d. Geschlechtskrankb. II. 36
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498
Tagesgeschichte.
in der Abschaffung der Vorurteile, der Krankenhaus genannten Ge¬
fängnisse, und in einer weiten Ausdehnung der öffentlichen Behandlung.
Zum Schluß protestiert er gegen die Erteilung der Karte an die Minder¬
jährigen.
Frau Avril de Sainte-Croix sagt, daß in der Provinz die Ein¬
schreibung Minorenner ganz geläufig sei; sie hat ein kleines Mädchen
von 12V a Jahren gesehen, daß eine polizeiliche, auf ihren Namen lautende
Karte besaß.
M. Bulot, Oberstaatsanwalt am Kammergericht wundert sich, daß
die Debatten der Kommission sich immer ganz allein auf die sogenannte
Sittenpolizei beschränken. Die Berichte von Proff. Augagneur und
Fournier stimmen im Grunde überein: in dem Vorhandensein der als
ansteckend angesehenen Krankheiten liegt eine öffentliche Gefahr. Wes¬
halb soll man dann den Herd der Gefahr nur bei den Prostituierten
suchen?
Seit dem 15. Februar 1902 besteht ein neues Sanitätsgesetz.
Warum hat man nicht aus der Gefahr den Schluß gezogen, die Blennorrhoe
und die Syphilis den in der Verfügung von 1903 aufgezählten Krank¬
heiten hinzuzufugen und sie in eine Reihe mit den Pocken, dem
Scharlach usw. zu stellen? M. Bulot weiß wohl, daß eine solche Reform
die Frage revolutionieren, „auf den Kopf stellen“ würde. Die kranken
Männer würden wohl zu Tausenden dagegen protestieren. — Sagen Sie
zu Millionen, ruft Prof. Landouzy dazwischen — M. Bulot hält eine
auf die Frauen beschränkte Sanitäts- Gesetzvorlage für zwecklos: schlimm
genug, wenn das ärztliche Geheimnis sich auf die Männer beschränke.
Redner läßt das Argument der gesundheitsschädlichen Industrie nicht
gelten, um bloß die Prostitution der Mädchen zu bekämpfen. In der
Kommission muß man sich darüber einig werden, daß die Männer wie
die Mädchen zu behandeln sind. Ist dieser Hauptpunkt einmal be¬
schlossen , dann kann die Kommission logischerweise zum speziellen
Studium der einzelnen Unterfragen des Kapitels: Prostitution der Frauen,
Straßenordnung usw. übergehen. Zum Beweise, wie notwendig es ist,
sich auch mit den Männern zu beschäftigen, erinnert M. Bulot an einen
entsetzlichen Aberglauben, der in einer großen Anzahl von Departements
in Südfrankreich und besonders im D6p. Dröme im Schwange ist; wenn
ein Bauer oder selbst ein Städter infiziert ist, so glaubt er, um gesund
zu werden, brauche er nur zu einem kleinen Mädchen, einem ganz jungen
Kinde zu gehen. Dieser Aberglaube ist so allgemein bei den Männern,
daß es not tut, ihn zu beseitigen. Höchst gefährliche Männer, ebenso
gefährlich wie die Venerischen selbst, nennt Bulot jene „docteurs
d’urinoirs“, jene Quacksalber, welche die Krankheit „schminken“, und
indem sie nach wenigen Tagen ihren Patienten für ganz gesund erklären,
mitschuldig sind, kranke Männer zur Ansteckung gesunder Frauen zu
ermutigen. Gegen diese schamlosen Charlatane müßte das Gesetz von
1892 über die Ausübung der Heilkunde angewendet werden. Bulot
protestiert gegen das verhängnisvolle Vorurteil, das die Geschlechts¬
krankheiten zu einer Schande gestempelt hat; es gibt überhaupt keine
schimpf liehen Krankheiten; die geschlechtlichen Beziehungen sind ein
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Tagesgeschichte.
499
Naturgesetz, aber das soziale Gesetz der Menschlichkeit verlangt, daß
man niemanden ansteckt; wenn einen jungen Mann das Unglück trifft,
so muß er es ohne Scheu seinem Vater, seinem Lehrer, gestehen. Jeden¬
falls muß die spezielle Aufklärung der Jünglinge in dem Alter statt¬
finden, wenn sie etwa in Unterprima sitzen. Wenn alle diese Punkte
erledigt sind, das Sanitätsgesetz abgeändert ist, dann kann die Prüfung
der Reglementierung beginnen: vorher hat man billigerweise nicht das
Recht dazu.
M. Bulot kommt nun zur Frage der öffentlichen Ordnung. Der
Herr Präfekt, sagt er, will künftighin eine repressive Polizei. Aber was
ist das anderes als gemeines Recht? Wer will bestreiten, daß das skandalöse
Anreden wirklich zu einer öffentlichen Verletzung des Schamgefühls
werden kann, also unter Artikel 330 des Strafgesetzbuches fällt, der
die Sittlichkeitsvergehen bedroht? Bulot führt mehrere skandalöse
Fälle von Anreden durch Mädchen in der Nähe stark besuchter Orte an;
um diesen tatsächlichen Delikten ein Ende zu machen, brauchte man nur
in den Artikel 830 das Anreden, die obszöne Aufforderung zur Unzucht
aufzunehmen. So könnte das Gesetz zugleich den jungen und den alten
Anreißer wie die Dime treffen, zum großen Nutzen der Moral und der
öffentlichen Ordnung. Wenn sich heute, sagt M. Bulot, ein Mädchen
beklagt, angeredet worden zu sein, dann kann sie womöglich selbst
arretiert werden, und wenn dieses Mädchen eine Prostituierte ist, die
sich beklagt, in zynischer Weise angesprochen worden zu sein, so wird
sie ganz sicher arretiert.
Zum Schlüsse spricht sich Redner dagegen aus, die Ansteckung
als Strafdelikt zu behandeln, ebensowenig wie er die Prostitution als
Delikt gelten lassen will. Seiner Meinung nach ist. die Schwierigkeit
viel zu groß, den wahren Urheber der Ansteckung immer festzustellen.
Er sieht in dem neuen Delikt eine reichliche Quelle zur Erpressung;
er zieht der Anwendung des Strafgesetzes die Verfolgung auf zivilem
Wege durch den Artikel 1882 vor, der die Verseuchung als ersatz¬
pflichtige Beschädigung behandelt.
Prof. Fournier wiederholt seine formellen Bedenken gegen die
Abschaffung des ärztlichen Geheimnisses und Prof. Lande, Maire von
Bordeaux, sowie M. d’Iriart d'Etchepare, Deputierter von Pau, unter¬
stützen den Teil von M. Bulots Rede, der sich auf den Aberglauben
der Männer bezieht, daß durch Kontakt mit einer Jungfrau, mit einem
Kinde, der Tripper geheilt wird. (Wie gerichtsärztliche Erhebung er¬
gab, lag bei 70 von 100 Fällen dieses anormale Motiv zugrunde).
36*
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Namenregister.
(Die fettgedruckten Seitenzahlen weisen auf Originalarbeiten hin)
Anonymus 213.
Baer, Theodor 34.
Baermann 100. 133.
Bayer 428.
Beer 78.
Behrmann 72.
Berger 175.
Bemeker 176*
Blaschko 426.
Block 42.
Blokusewski 72. 229.
Br6, Ruth 78.
Breitenstein 72.
Butte 481. 487.
Chotzen 433.
Combes 88.
Elberskirchen 256.
Epstein 425.
Erb 1.
Feibes 215.
Flesch 32. 41. 42. 74. 261. 322.
Frankel, C. 174.
Freudenberg 78.
Fürth 78.
Gillet 481. 488.
Glück 70.
Gradenwitz 384.
Grandhomme 32/33.
Grazianow 203.
Grimm, Nellie — 293.
Grünwald 33.
Hanauer 32.
Hartmann 429.
Hastreiter 291.
Hegar 213.
Hellpach 43.
Herxheimer 82.
Hilty 40.
Holländer 285.
Hubenick 37.
Jacobsolm 257.
Janet 479.
Jordan 78.
Juba 428.
Kade 154.
Köhler 19.
Lass&r 294.
Laurent-Montanus 89. 40.
Lederer 218.
Ledermann, R. 35. 36.
Legrain 75.
Lischnewska 420.
Loeb 93.
Marcuse 125. 482.
Margulies 50.
Mayer, Joseph 76.
Mayer (Kremsmünster) 429.
Meissner 290.
Metschnikow 294.
Meyer, Fritz 34.
Mielecki, v. 38.
Neisser, A. 83. 161. 181. 221. 381.
Neumann, Anna 42.
Neumann 386.
Niessen, von. 50. 124.
Oker-Blom 424.
Olberg 43.
Pappenheim 207.
Pappritz 40. 42.
Pieczynska 76.
Rabinowitsch 207.
Rhyn, Henne am 213.
Riebeling 78.
Ries 81 .
Rosenack 207.
Rosenkranz 294.
Rosenthal 35. 488.
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Namenregister. Sachregister.
501
Sachs, Theodor 33.
Sack 73.
Salomon, Hugo 34.
Schäfer 218.
Schallmayer 389.
Schiller 297. 341. 386.
Schlesinger 53.
Schlosberg 173.
Schrank 75.
Schreiber 422.
Schnitze, Erich 292.
Schuschny 423.
Schwarz 429.
Schwimmer 212.
Serio, Vito 122.
Siebert 176.
Simonson 380. 385. 461«
Sioli 34.
Stanger 425.
Stern 314.
Sticker 47.
Stiehl 82.
Stöcker 256.
Strach 428.
Ströhmberg 122. 326.
Stuelp 39.
Suba 428.
Sumper 428.
Suzuki, Tokujero 70.
Tarnowsky 172.
Thal 475.
Thaler 33.
Thibierge, Georges 38.
Tissicr 480.
Tluchor 426.
Tschistpakow 31.
Tuch 207.
Uhl 72.
Ungar 427.
Verth, zur 290.
Welander 291.
Wertheimer 73. 74.
Wolffhügel 170.
Wolters 50.
Wolzendorff 195. 248.
Sachregister.
Abolitionistische Föderation, Interna¬
tionale 432.
Abstinenz, Bemerkungen über die
Folgen der sexuellen — (Erb) 1.
Alkohol und Prostitution (Legrain) 75.
Allgemeiner deutscher Frauenverein
(Köln) 127.
Altertum, Über Syphilis im —, speziell
in China und Japan. (Suzuki) 70.
Ambulanter Behandlungsstätten für
Syphilitischkranke, Über Errichtung
— (Ledermann) 36.
Ambulatorium für Prostituierte, Das
Dorpater — (Ströhmberg) 326.
Anfechtung, Ein gerichtliches Erkennt¬
nis über — einer Ehe wegen vor¬
ehelicher Gonorrhoe (Wertheimer) 73.
Ansteckung, Zur Kasuistik der Schaden¬
ersatzklagen auf Grund einer durch
Geschlechtsverkehr erfolgten syphi¬
litischen — (Sack) 78.
Aufklärung, Die geschlechtliche — in
Haus und Schule. (Fürth) 78.
— Die geschlechtliche — der Jugend
(Schlesinger) 53.
Außerehelicher Geschlechtsverkehr,
Darf der Arzt zum—raen ? (Marcuse).
482.
Außergesch lechtliche Syphilisansteckg.
Über — und ihre soziale Bedeutung
(Sachs) 33.
Außerparlamentarische Kommission
(Paris) 52, 88, 131, 337, 490—499.
Ausführungsgesetz des Reichsseuchen-
gesezes im Braunschweiger Land¬
tage 431.
Bakteriologischen Untersuchungen, Die
Resultate der — bei der Beobachtung
des Gesundheitszustandes der Prosti¬
tuierten in Dorpat (Ströhmberg) 326.
Behandlung, Die unentgeltliche — der
Geschleditskrhtn. (Rosenthal) 85.
Behandlungsstätten, Über Errichtung
ambulanter — für Syphilitischkranke
(Ledermann) 36.
Belehrung der Jugend, Über die Not¬
wendigkeit und methodische Mög¬
lichkeit der geschlechtlichen— (Liscn-
newska) 420.
— Über sexuelle — der Jugend (Rosen¬
kranz) 294.
Berichtigung (v. Nießen) 124.
Berufsgeheimnis, Ärztliches (Chotzen)
433« (Simonson) 461.
Bezirkslehrerverein München 430.
*'
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502
Sachregister.
Binäre Syphilis und Erblichkeit der
Syphilis (Tamowsky) 172.
Bordelle (Schweiz) 180.
Bordellen, Wiedereinführung von —
im Kanton Zürich 218.
Bordell- and Prostitutionswesen in Ham¬
burg (Schäfer) 218.
—betrieb,Schadenersatz(Hamburg)l 30.
Braunschweiger Landtage, Ausfüh¬
rungsgesetz des Reichsseuchenge¬
setzes im — 481.
Brief, Offener — an Fräulein Anna
Pappritz (Block) 42.
Briefe, Antwort auf die — der Herren
Prof.Fleschund Dr. Block (Pappritz) 42.
Circumzision, Die — in der Prophy¬
laxe der Syphilis (Breitenstein) 72.
China, Tropenhygienische Erfahrungen
in — (Wolffhügel) 170.
China und Japan, Über Syphilis im
Altertifmc, speziell in — (?>uzuki) 70.
Chinaexpedition, Die Syphilis im Heere
der — (Tissier) 480.
Dänische Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten 220.
Döontologie, Syphilis et — (Thibierge)
38.
Dime, Die gesunde — (Gillet) 488.
Ehe, Musterung der Frauen zur —
(Lederer) 213.
Eherecht, Über die Behandlung der
Geschlechtskrankheiten im englischen
und amerikanischen — (Hubenick) 87.
Einträufelungsverfahren (Blokusewski)
292.
Einzelprostituierte in Paris, siehe Ge¬
sundheitszustand (Butte) 487.
Elternpflicht und Kindesrecht (Riebe-
ling) 78.
Entartung, Prostitution und — (Lau¬
rent-Montanus) 40.
— Über Vererbung und — (Anony¬
mus) 213.
Enthaltsamkeit, Gibt es Schädigungen
der Gesundheit als Folge von sexuell
sittlicher — V (Mayer, Joseph) 76.
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
geschlechtlicher Krankheiten und
öffentlicher Unsittlichkeit(Norwegen)
179.
— eines Ausführungsgesetzes zu dem
Reichsgesetz, betreffend die Be¬
kämpfung gemeingefährlicher Krank¬
heiten 215.
Erblichkeit der Syphilis, Binäre Syphi¬
lis, und — (Tamowsky) 172.
Erwiderung (Marcuse) 125.
Erziehung, Gesundheit und — (Sticker)
47.
Erziehungsproblem, Ein (Pieczynska)
76.
Festschrift zum 1. Kongreß der D. G.
z. B. d. G. in Frankfurt a. M. 82.
Fortpflanzung, Die Untauglichkeit zum
Geschlechtsverkehr und zur — (He-
gar) 218.
Frauen, Musterung der — zur Ehe
(Lederer) 213.
Frauenkongreß, Internationaler zu
Berlin 388.
Frauenverein, Allgemeiner deutscher
(Köln) 127.
Fürsorgeerziehung und Prostitutions¬
bekämpfung (Schiller) 297. 341.
— Minderjähriger, Reichsgesetzliche
Bestimmungen über die Zwangs- —
377.
— Minderjähriger vom 2. Juli 1900,
Gesetz über die — 879.
Galizien, Zur Lage der Bevölkerung
in — (Pappenheim und Rabinowitsch)
207.
Gebärasylen, Über die Infektion mit
Syphilis durch das Zufüttern fremder
Neugebomer in den —(Tschistjakow)
31.
„Geborene“ Prostituierte, Giebt es — ?
(Pappritz) 40.
Gemeingefährliche Krankheiten, Ent¬
wurf eines Ausfiihrungsgesetzes zu
dem Reichsgesetz, betreffend die Be¬
kämpfung — 215.
Geschichte und Bedeutung der Ge¬
schlechtskrankheiten (Wolters) 50.
— der Prostitution in Frankfurt a. M.
(Hanauer) 32.
Geschlechtliche, Das — im Unterricht
und in der Jugendlektüre 430.
— Die — Aufklärung der Jugend
(Schlesinger) 63.
— Aufklärung, Die — in Haus und
Schule (Fürth) 78.
— Erkrankungen, Über unverschuldete
(Ries) 31.
Geschlechtlicher Krankheiten und
öffentlicher Unsittlichkeit, Entwurf
eines Gesetzes zur Bekämpfung —
(Norwegen) 178.
Geschlechtskrankenbewegung, Über die
im letzten Jahrzehnt erfolgte —
(Thaler) 38.
Geschlechtskrankheiten, Die — des
Mannes (Hastreiter) 291.
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Sachregister.
503
Geschlechtskrankheiten in Christiania,
Populäre Vorlesungen über — 178.
•*- die Bedeutung der — für den Beruf
der Hebeammen (Ledermann) 35.
— Geschichte und Bedeutung der —
(Wolters) 50.
— Die unentgeltliche Behandlung der
— (Rosenthal) 35.
— Über Behandlung der — im eng¬
lischen und amerikanischen Eherecht
(Hubenick) 37.
•— Der Kampf gegen die — (Olberg) 48.
— Der Kampf gegen die — (Hell-
pach) 43.
— Prinzipielles zum Kampf gegen die
— (Hellpach) 43.
— Womit sind die — als Volksseuche
im deutschen Reiche wirksam zu be¬
kämpfen? (Von Niessen) 50.
— Über die Bekämpfung der — (Mar-
gulies) 50.
— Bekämpfung der — in Amerika 52.
— Die Bekämpfung der ansteckenden
— im deutschen Reich (Ströhm-
berg) 122.
— Inwieweit können die Kranken¬
kassen zur Bekämpfung der — bei¬
tragen? (Neisser) 161.181. 221.
— Die Bekämpfung der — (C. Fränkel)
174.
— Die Bekämpfung der — (Berger) 175.
— Dänische Gesellschaft zur Bekämp¬
fung der — 220.
— Kurpfuscherei und — (Kade) 154.
— Zur Prophylaxe der — (Uhl) 72.
— Prophylaxe der — (Blokusewski) 72.
— Zur Verhütung von — (Feibes) 215.
— Zur Prophylaxe der —, speziell
des Trippers (Schultze) 292.
und Prostitution (Jordan) 78.
— Die — in ihren Beziehungen zu
den Psychosen in der Irrenanstalt
(Sioli) 34.
— und Rechtsschutz (Flesch u. Wert¬
heimer) 74.
— Eine neue Verurteilung wegen Über¬
tragung von — (München) 131.
— Übersicht über die bei d. Frank¬
furter Prostituierten festgestellten —
(Grandhomme u. Grünwald) 33.
— Statistik über die in den Jahren
1897—1902 in der Dr. Baer sehen
dermatolog. Poliklinik beobachteten
— (Baer) 34.
— Statistisches über — in Mannheim
(Loeb) 93.
— Statistik der — in Christiania 178.
Geschlechtsverkehr, Die Untauglich¬
keit zum — und zur Fortpflanzung
(Hegar) 213.
Geschlechtsverkehr, Darf der Arzt zum
außerehel ich en—raten? (Marcuse)482.
Gesetz über die Fürsorgeerziehung
Mindeijähriger vom 2. Juli 1900 379.
Gesundheitszustand, Über den —, rück¬
sichtlich der Syphilis, bei den bor¬
deliierten Prostituierten in Paris
(Butte) 487. — bei den kontrollierten
Einzelprostituierten (Butte) 487.
Gesundheit und Erziehung (Sticker) 47.
Gesundheitszustandes, Die Resultate
der bakteriologischen Untersuchun¬
gen bei der Beobachtung — der des
Prostituierten in Dorpat(Ströhmberg)
326.
Gonokokkennachweis, Über chronische
Gonorrhoe und — (Meyer) 34.
Gonorrhoe, Über chronische — und
Gonokokkennachweis (Meyer) 34.
— Die Diagnose der — in der Gy¬
näkologie und ihrer forensen Be¬
deutung (Flesch) 261.
— Die —, ihre Gefahren und ihre Hei¬
lung (Meissner) 290.
— Ein gerichtliches Erkenntnis über
Anfechtung einer Ehe wegen vorehe-
lieher — (Wertheimer) 73.
— Klinische Studien über (Schlosberg)
173.
— Prophylaxe der — (Janet) 480.
— Die — der Prostituierten (Baer-
mann) 100. 133.
Gravidität, Wie kann der sozialen Ge¬
fahr entgegengetreten werden, die
eine luetische — mit sich führt?
(Welander) 291.
Gynäkologie, Die Diagnose der Gonor¬
rhoe in der — in ihrer forensen Be¬
deutung (Flesch) 261.
Hebeammen, Die Bedeutung der Ge¬
schlechtskrankheiten für den Beruf
der — (Ledermann) 35.
Herrenmoral (Flesch) 42.
— (Pappritz) 42.
Hy« ;iene. Sexuelle Moral und sexuelle —
(Siebert) 176.
Indien, Die Prostitution in — (Lau¬
rent-Montanus) 39.
Infektion als Morgengabe (Schallmayer)
389.
— Über die — mit Syphilis durch
das Zufüttern fremder Neugeborener
in den Gebärasylen (Tschisljakow) 31.
Infektionsstoffe, Über —, deren bak¬
terielle Natur nicht nachgewiesen
ist, und über Maßregeln zur Ver¬
meidung solcher Infektionen vom sani-
täts polizeilichen Standpunkte aus
(Stuelp) 39.
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504
Sachregister.
Internationale abolitionistische Föde¬
ration 432.
Japan, Über Syphilis im Altertume
speziell in China und — (Suzuki) 70.
J ugend, Die geschlechtliche Aufklärung
der — (Sdilesinger) 53.
— Ein Wort an die weibliche —
(Freudenberg) 78.
— Über sexuelle Belehrung der —
(Rosenkranz) 294.
— Über die Notwendigkeit und me¬
thodische Möglichkeit der ge¬
schlechtlichen Belehrung der — (Li-
schncwska) 420.
Jugendlektüre, Das Geschlechtliche im
Unterricht und in der — 430.
Kind, Mutter und — (Grimm) 293.
Kinderwelt und Prostitution (Schreiber)
422.
Kindesrecht, Elternpflicht und — (Rie-
beling) 78.
Körperverletzung — Übertragung einer
Geschlechtskrankheit 296.
Konferenz, Allgemeine — der deut¬
schen Sittlicmkeitsvereinc 128.
Kongreß der D. G. B. G. in Frankfurt
a./M., Festschrift zum 1. — 32.
— Für Schul-Gesundheitspflege 423.
Krankenkassen, Inwieweit können die
— zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten beitragen? (Neisser) 161.
181 . 221 .
Kurpfuscherei und Geschlechtskrank¬
heiten. (Kade) 154.
Landesverein preußischer Volksschul¬
lehrerinnen. 430.
Landesversicherungs- Anstalt Rhein¬
provinz 388.
Ledigenheims, Die Errichtung eines —
in Charlotten bürg 295.
Mädchenhandel, Der Kampf gegen den
— (Schwimmer) 212.
— Prostitution und — (Henne am
Rhyn) 213.
— Deutsche Nationalkonferenz zur
internationalen Bekämpfung des —
126.
— zur Bekämpfung des — (Rosenack)
207.
— Die Ursachen des galizischen —
und ihre Bekämpfung (Tuch) 207.
Mann, Von — und Weib (Stöcker) 256.
— Die Sexualempfindung bei Weib
und — (Elberskirchen) 256.
Militärischen Bevölkerung, Verbreitung
der Geschlechtskrankheiten in der —
(Unteroffiziere und Mannschaften) der
Garnison Frankfurt a./M. — Bocken-
heim (v. Mielecki) 83.
Moral, Sexuelle — und sexuelle Hygiene
(Sichert) 176. (Thal) 475.
Musterung der Frauen zur Ehe (Lederer)
213.
Mutter und Kind (Grimm) 298.
Mutterpflicht, Eine (Stiehl) 82.
Mutterschaft, Das Recht auf die —
(Br4) 78.
Nationalkonferenz, Deutsche — zur
internationalen Bekämpfung des
Mädchenhandels. 126.
Neugeborener in den Gebärasylen,
Über die Infektion mit Syphilis durch
das Zufüttern fremder — (Tschist-
jakow) 31.
Notwendigen Übel, Vom (Flesch) 41.
Ortskrankenkassen, Zentral verband der
Deutschen — 83.
Pappritz, In Sachen Flesch contra —
(A. Neumann) 42.
Polizeiassistentin (Stuttgart) 128.
Populäre Vorlesungen über Geschlechts¬
krankheiten in Christiania 178.
Prophylaxe der Gonorrhoe (Jauet) 479.
Prostituierte, Bordellierte — in Paris
siehe Gesundheitszustand (Butte) 487.
— Giebt es „geborene“ — ? (Pappritz)40.
— Das Dorpater Ambulatorium für —
(Ströhmberg) 326.
Prostituierten, Übersicht über die b. d.
Frankfurt. — festgest. Geschlechts-
krankh. (Grandhomme u. Grünwald)
33.
— Die Gonorrhoe der — (Baermann)
100. 133.
— in Dorpat, Die Resultate der bak¬
teriologischen Untersuchungen bei
der Beobachtung des Gesundheits¬
zustandes der — (Ströhmberg) 826.
— Die gemischte stationär-ambulato¬
rische Syphilisbehandlung der Dor¬
pater — (Ströhmberg) 826.
Prostitution, Alkohol und — (Legrain)
75.
— und Entartung (Laurent-Montanus)
40.
— Geschichte der — in Frankfurt
a./M. (Hanauer) 32.
— Geschlechtskrankheiten und —
(Jordan) 78.
: — Die — in Indien (Laurent-Montanus)
39.
— Kinderwelt und — (Schreiber) 422. •
I — und Mädchenhandel (Henne am
I Rhyn) 218.
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Sachregister.
505
Prostitution der Stadt Minsk, Ein
Jahrzehnt der Aufsicht über die —
(Grazianow) 203.
— Bekämpfung der — (in Holland)
131.
— Vorschläge zur Eindämmung der
schädlichen Folgen der — (Schrank)
75.
— Das Verschleierungssystem und die
— (Beer) 78.
— Alkohol und — (Legrain) 76.
Prostitutionsbekämpfung, Fürsorgeer¬
ziehung und — (Schiller) 297. 341.
Prostitutionswesen. Bordell- und — in
Hamburg (Schäler) 218.
Prophylaxe, Zur — der Geschlechts¬
krankheiten (Uhl) 72.
— der Geschlechtskrankheiten (Blo-
knsewski) 72.
— Zur — der Geschlechtskrankheiten,
speziell des Trippers (Schultze) 292.
— individuelle (Blokusewski) 292.
— Die — der venerischen Krankheiten
bei Männern (Behrmann) 72.
— der Syphilis, Die Zirkumzision in
der — (Breitenstein) 72.
Psychosen, Die Geschlechtskrankheiten
in ihren Beziehungen zu den — in
der Irrenanstalt (Sioli) 34.
Rechtsordnung, Stellung der — zur
Gefahr der Geschlechtskrankheiten
(Köhler) 19.
Rechtsschutz, Geschlechtskrankheiten
und — (Flesch und Wertheimer) 74.
Reglementation 481.
Reglementierung cf. (Außerparlamen¬
tarische Kommission) 337.
Reglementierungsfrage (Allgemeiner
Deutscher Frauenverein zu Köln) 127.
Reichsgerichtsentscheidung betr. Ver¬
schwiegenheitspflicht 489.
Reichsgesetz, Entwurf eines Aus-
f&hrungsgesetzes zu dem —, be¬
treffend die Bekämpfung gemeinge¬
fährlicher Krankheiten 215.
Reichsgesetzliche Bestimmung über die
Zwang8-(Für8orge)-Erziehung Min-
deijähriger 377.
Reichsseucheugesetzes im Braun¬
schweiger Landtage, Ausführungs¬
gesetz des — 431.
Rekonvaleszentenheime für Syphili¬
tische (Stern) 314.
Schadenersatz, Bordellbetrieb (Ham- j
bürg) 130. j
Schadenersatzklagen, Zur Kasuistik der I
— auf Grund einer durch Geschlechts-
verkehr erfolgten syphilitischen An¬
steckung (Sack) 73.
Schule, Die geschlechtliche Aufklärung
in Haus und — (Fürth) 78.
Schulgesundheitspflege (Kongreß) 423.
Sexualempfindung, Die — bei Weib
und Mann (Elberskirchen) 256.
Sexualhygiene, Die — des alten Testa¬
mentes (Wolzendorff) 195. 248.
Sexuelle Belehrung, Über—der Jugend
(Rosenkranz) 294.
Sexuelle Moral und sexuelle Hygiene
(Siebert) 176. (Thal) 475.
Sittenpolizei (Butte) 481.
Sittlicnkeitsvereine, Allgemeine Kon¬
ferenz der deutschen — 128.
Soziale Bedeutung, Über außerge¬
schlechtliche Sypnilisansteckung und
ihre — (Sachs) 38.
Sozialen Gefahr, Wie kann der — ent¬
gegengetreten werden, die eine lue¬
tische Gravidität mit sich führt?
(Welander) 291.
Statistik über die in den Jahren 1897-
1902 in der Dr. Baerschen derma-
tolog. Poliklinik beobachteten Ge¬
schlechtskrankheiten (Baer) 34.
— der Geschlechtskrankheiten in Chri-
stiania 178.
Statistisches über Geschlechtskrank¬
heiten in Mannheim (Loeb) 93.
Studierenden, Eine amtliche Warnung
der — vor den Gefahren der Ge¬
schlechtskrankheiten 51.
Studierenden Jugend, Maßnahmen zur
Bekämpfung der Verbreitung der
venerischen Krankheiten unter der
— (Jakobsohn) 257.
Syphilis, Über — im Altertume, speziell
in China und Japan (Suzuki) 70.
— Die Zirkumzision in der Prophylaxe
der — (Breitenstein) 72.
— et D6ontologie (Thibierge) 88.
— Binäre Syphilis und Erblichkeit der
— (Tamowsky) 172.
— Ist die — heilbar? (Neisser) 83.
— Über die Infektion mit — durch
das Zufüttern fremder Neugeborener
in den Gebärasylen (Tschistjakow)
31.
— Die — der Europäer in den tropi¬
schen Gegenden der ostamerikani¬
schen Küste (zur Verth) 290.
— Die — im Heere der Chinaexpedi¬
tion (Tissier) 480.
— Therapie der — und der venerischen
Krankheiten (Rosenthal) 488.
— Über den Gesundheitszustand rück¬
sichtlich der — bei Prostituierten in
Paris (Butte) 487.
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506
Sachregister.
Syphilis, Überimpfung auf Affen
Metschnikow; Lassar) 294.
— Der Ursprung der — (Vito Serio)
122 .
— Ursprung der — (Vito Serio) 122.
Syphilisansteckung, Über außerge-
scblechtliche — and ihre soziale
Bedeutung (Sachs) 88.
Syphilisbehandlung, Die gemischte
stationär- ambulatorische — der Dor-
pater Prostituierten (Ströhmberg)
826 .
Syphilitischen Ansteckung, Zur Ka¬
suistik der Schadenersatzklagen auf
Grund einer durch Geschlechtsver¬
kehr erfolgten — (Sack) 78.
Syphilitische, Rekonvaleszentenheime
für — (Stern) 814.
Syphilitischkranke, Über Errichtung
ambulanter Behandlungsstätten für
— (Ledermann) 86.
Testamentes, Die Sexualhygiene des
alten — (Wolzendorff) 195. 248.
Therapie der Syphilis und der vene¬
rischen Krankheiten (Rosenthal) 488.
Traite blanche, La — (Hilty) 40.
Trippers, Zur Prophylaxe der Ge¬
schlechtskrankheiten, speziell des —
(Schnitze) 292.
Tropenhygienische Erfahrungen in
China (Wolffhügei) 170.
Tropischen Gegenden, Die Syphilis der
Europäer m den — der ostamerika-
nischen Küste (zur Verth) 290.
Übertragung von Geschlechtskrank¬
heiten, Eine neue Verurteilung wegen
— (München) 181.
— einer Geschlechtskrankheit — Kör¬
perverletzung 296.
Unentgeltliche Behandlung der Ge¬
schlechtskrankheiten (Rosenthal) 85.
Unsittlichkeit, Entwurf eines Gesetzes
zur Bekämpfung geschlechtlicher
Krankheiten und Öffentlicher —
(Norwegen) 179.
— Die Volksschule und der Kampf
gegen die — 430.
Untauglichkeit, Die—zum Geschlechts¬
verkehr und zur Fortpflanzung (He-
gar) 213.
Unterricht und in der Jugendlektüre,
Das Geschlechtliche im — 430.
Unverschuldet, Nicht 87.
Unverschuldete, Über — geschlecht¬
liche Erkrankungen (Ries) 81.
Urteil, Ein wichtiges 87.
Urteile, Zwei gerichtliche (Flesch) 322.
Venerischen Krankheiten bei Männern,
Die Prophylaxe der — (Behrmann) 72.
Venerischen Krankheiten, Zur Ver¬
breitung und Bekämpfung von —
(Holländer) 285.
Venerische Krankheiten, Therapie der
Syphilis und der — (Rosenthal) 488.
Verbreitungder Geschlechtskrankheiten
in der militärischen Bevölkerung
(Unteroffiziere und Mannschaften)
der Garnison Frankfurt a/M. —
Bockenheim (v. Mielecki) 33.
— Zur — und Bekämpfung der vene¬
rischen Krankheiten (Holländer) 285.
Vererbung, Über — und Entartung
(Anonymus) 213.
Verhütung, Zur — von Geschlechts¬
krankheiten (Feibes) 215.
Vermeidung solcher Infektionen vooa
sanitätspolizeiliche n fU—rijwmkto aus.
Über Infoktiensstoffe, deren bakte¬
rielle Notar nicht nachgewiesen wer¬
den kann, und über Maßregeln zur
— (Stuelp) 39.
Verschleierungssystem, Das — und die
Prostitution (Beer) 78.
Volksschule, Die — und der Kampf
gegen die Unsittlichkeit 430.
Volksseuche, Womit sind die Ge¬
schlechtskrankheiten als — im Deut¬
schen Reiche wirksam zu bekämpfen?
(von Niessen) 50.
Volkssypbilis, Die Bekämpfung der —
in Bosnien und Herzegowina (Glück)
70.
Vorehelicher Gonorrhoe, Ein gericht¬
liches Erkenntnis über Anfechtung
einer Ehe wegen — (Wertheimer) 73.
Vorlesungen, Populäre — über Ge¬
schlechtskrankheiten in Christiania
178.
Warnung, Eine amtliche — der Studie¬
renden vor den Gefahren der Ge¬
schlechtskrankheiten 51
Weib, Von Mann und — (Stöcker) 256.
— und Mann, Die Sexualempfindung
bei — (Elberskirchen) 256.
Zentralverband der Deutschen Orts¬
krankenkassen 88.
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