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ZEITSCHRIFT
FÜR
BILDENDE KUNST.
Herausgegeben
von
PROF. DR. CARL VON LÜTZOW
Bibliothekar der K. K. Akademie der Künste zu Wien.
NEUE FOLGE
Vierter Jahrgang
LEIPZIG
Verlag von E. A. Seemann
1893.
Digitized by the Internet Archive
in 2018 with funding from
Getty Research Institute
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi28unse
Inhalt des vierten Jahrganges.
Architektur.
Das Hasenliaus in Wien. Von J. Lcischinrj . . . .
Kunstdenkmäler im Kreise Erbach. Von Dr. P. Schu¬
mann .
Das Schloss zu Offenbach am Main. Von J. lUchter .
Das Pantheon in Rom .
Plastik.
Vincenzo Vela. I. II. Von J. Carotti . 1,
Florentinische Madonnenreliefs von H. Wölfflln . . .
Ein neuer Katalog der antiken Skulpturen in Berlin
von Ad. Michaelis .
Die Pieta im Magdeburger Dom. Von R. Osiiis . .
Eine Napoleonsstatue von Chaudet. VonDr. Chr, Scherer
Die Sammlung italienischer Bildwerke im Berliner Mu¬
seum. I. Von R. Graul .
Neue antike Kunstwerke. Von R. Engelmann . 156,
Der Giovannino des Michelangelo. Von C. Hasse 178,
Attische Grabreliefs. Von Ad. Michaelis . . . 103,
Die Polychromie in der griechischen Plastik. Von Th.
Ballhorn . 261,
Malerei.
August Noack .
Zur neuesten Rubensforschung. Von H. Hgmans . .
Die Münchener Kunstausstellung. I. II. III. IV. Von
A. G. Meyer . 25, 49, 80,
Feuerbach’s Deckengemälde für die Aula der Wiener
Akademie. I. II. Von G. v. Lütxow .... 43,
C. W. Allers .
Ein Gemälde von Leonhard Beck im Wiener Hofmu¬
seum. Von A. Schmid .
Studien zur Geschichte der Ulmer Malerschule. I. Von
M. Bach .
Lorenzo di Credi von W. Schmidt .
Seite
135
163
217
36
107
112
115
142
151
185
211
230
286
6
10
99
73
63
76
121
139
Seite
Die Mäcene der bildenden Künste im Hause Habsburg,
Deckengemälde von Julius Berger im kunsthistori¬
schen Hofmuseum in Wien. Von C. v. LüHoic . . 145
Die städtische Gemäldegalerie zu Straßburg. Von Dr.
G. P. Tcrcy . 169
Friedrich der Große als Kunstsammler. Noi\ Ad. Rosen-
herg . 204
Dürer’s Madonna mit dem Zeisig in der Berliner Ge¬
mäldegalerie. Von Ad. Rosenherg . 225
Die Pariser Kunstausstellungen. I. II. Von M. G. Zimmer¬
mann . 241, 292
Max Liebermann. I. 11. Von L. Kacmmcrer . . 249, 278
Zur Charakteristik Bouguereau’s . 257
Graphische KUnste.
Carel L. Dake’s Beethovenbildnis von Th. p. Frimmel 18
Radirvereine . 22
Eine neue photographische Publikation der Galerie Bor¬
ghese in Rom. Von G. Frixxom . 58
Ungarn im Werke des Kronprinzen Rudolf. Von
J. Dcrnjae . 83
Zwei Radirungen Goethe’s. Von G. Wti.stmann ... 97
Der Tiefstich auf Holz. Von S. R. Köhler .... 129
Einige Bemerkungen zu Karl Stauff'er-Bern’s Werk. Von
R. Graul . 131
Die vervielfältigenden Künste auf den Pariser Aus¬
stellungen 1893. Von R. Graul . 268
Biicherschau.
Die Malereien des Huldigungssaales im Rathaus zu
Goslar von R. Engelhardt . 116
Eine Altdorfer-Biographie. Von R. Stiassny .... 237
E. Michel: Rembrandt, sa vie, son oeuvre et son temps 245
NB. Die Kleinen Mitteilungen sind in das Register der
„Kunstchronik“ aufgenommen.
IV
INHALTSVEUZEICHNIS.
Illustrationen und Kunstbeilagen.
(Die mit f bezeichneten sind Einzelblätter. Die Abbildungen der auf mehrere Hefte verteilten Aufsätze folgen hintereinander.)
Yincenzo Vela. Holzschnitt von R. Bcrlhold ....
Spartakus. Statue von T". Vela .
Columbus. Gruppe von V. Vela. Holzschnitt von
R. Bcrfltold .
Das Grabmal der Familie Calosso. Von V. Vela . .
Grabstatue der Contessa Giulini della Porta. Von
V. Vela .
Die Opfer des St. Gottbardtunnels. Relief von V. Vela
■fDie beiden Königinnen von Piemont. Marmorgruppe
von r. Te/« . Zu S.
Die letzten Tage Napoleon’s I. auf St. Helena. Statue
von V Vela. Holzschnitt von Kaeseherg und Ocrtcl
Gethsemane. Von A. Noacl: .
Das Marburger Religionsgespräcb von A. Noaclc . . .
Selbstporträt des Rubens, nach dem Stich von Pontius
Helene Fouiment mit einem Kind auf dem Schoß von
Rubens, nach dem Stich von Feedcrle .
Tierstück von Rubens nach dem Stich von Summcrficld
Christi Geburt von Rubens, nach dem Stich von S. a
Bolsuert .
Deethoven. Miniatur von Chr. Eornemann . . . .
Beethoven. Büste von F. Klein, Holzschnitt von R.
Berfhold .
Beethoven nach dem Stich von Blasius Höfel . .
Beethoven nach MAldniüllcr’s Bildnis .
vBeethoven nach Carcl L. Dake’s Radirung . Zu S
•j-Fütterung. Radirung von Prof. Alb. Brcndel . Zu S
vRadirung von A. Boering . Zu S
Schwere Arbeit. Von IL Zügel .
Ausstellung von Gemälden alter Meister im Glaspalast
zu München .
Der Ciseleur. KonK.Marr. Holzschnitt von Th. Knesing
Am Waldesrand. Von P. P. Müller. Holzschnitt von
Kueseberg und Oerlel .
Gesamtansicht der Decke im Festsaal der k. k. Aka
demie der Kün.ste in Wien. Von A. Feuerbach .
Bros, Umbrastiftzeichnung. Von A Fcnerbach . .
Okeanos, Umbrastiftzeichnung. Von A. Feuerbach .
.•\phrodite im Muschclwagen. Von A. Feuerbach. Holz
schnitt von Kueseberg und Oerlel .
fTitanensturz. Gemälde von A. Feuerbach . . Zu S
•j-Der gefesselte Prometheus. Von A. Fcticrbach. Ra
dirung von TU. Wörule . Zu S
Studie zu einem schwebenden Broten. Rötolzeichnung
von A. Feuerbneh .
'I’itanenweib. Rötelzeichnung von A. Feuerbaeh, . . .
I’roinetheus als Herdgründer. Stiftzeichnung von A.
Feuerbuch .
fKopf eines alten Mannes. Radirung von R. Ruudner.
Zu S.
f.An der Klosterpforte. Heliogravüre nach dem Gemälde
von F. Koken . Zu S.
Wintersonne. Von//. ()hlc. Holzschnitt von //. //erf/mW
Die Bekehrung des Hubertus. Von TU. Räuber . . .
Bin Märchen. Von S. (Hücklirh. Holzschnitt von Th.
Knesing .
Seite
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74 p
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48
52
53
57
Seite
Madonna mit Heiligen. Von Oarofalo . 59
Anbetung des Kindes. Von Perino del Vaga .... 60
^Besuch des Haram - ech - Scherif in Jerusalem. Von C.
TU. Alters . 62
*Titelblatt des Werkes „Bakschisch“. Von G. TU. Alters 63
*Der jüngste Passagier. Von C. TU. Alters . 64
*Der Felsendom des Kubbet es Sachrä (Jerusalem). Von
C. TU. Alters . 65
*Kaiphas’ Haus in Jerusalem. Von C. TU. Alters . . 66 v
*Im Frühstückszelt von Cook & Son. Von C. TU. Alters 67 -y
*Photographische Packträgerstudien am goldenen Horn.
Von G. TU. Alters . 69
(* Die Abbildungen sind dem Werke „Bakschisch“ von
C. W. Allees entnommen.)
fBadevergnügen. Von M. Fleischer. Radirung von
TU. Ziegler . Zu S. A9 V
fVor dem Forum der Vernunft. Originalradirung von
H. Laukota . Zu S. 72/
Kampf des Ritters Georg mit dem Drachen. Gemälde
von Leonhard Beck (Kais. Galerie in Wien) .... 77 V
fDas Ende Babylons. Ölgemälde von Georg Roche-
grosse. Nach einer Photographie von Ad. Braun & Co.,
Dörnach . • . Zu S.54/55''/
*Pusztenkirche zu Szent-Kiraly . SS g
^Ungarische Funde aus der Bronzezeit . v
*Die fünf Hügel (Öthalom) bei Glogoväcz (Arader Ko-
mitat) . 85 V
*Goldgefäße aus dem Schatze von Nagy-Szent-Miklös , 88 V
*Motiv vom Friedhofe zu Nagy-Körös . 89 /
*Hauptplatz von Debreczin . 92 y
(* Aus dem Werke: Die österreichisch-ungarische Monarchie
in Wort und Bild, Wien 1888—1891.)
fC. V. Groszheim. Photogravüre nach einem Gemälde
von C. Siöving von Meisenbach, Riffarth und Co., /
Berlin . Zu S. 96»
tfZwei Radirungen. Von J. TU. v. Goethe . . Zu S. 97 ^
Sterbender Christus. Marmorrelief von M. Antokolskg.
Holzschnitt von Th. Knesing . 100 p
Mephisto. Bronze von M. Antokolskg. Holzschnitt von
Th. Knesing . 101 v
Spinoza. Marmorstatue von M. Antokolskg. Holz¬
schnitt von Th. Knesing . 105
Die Madonna an der Treppe. Marmorrelief von Michel¬
angelo . 108 1
Madonnenrelief. Nach einem Gipsabguss . 109
Aus einer heiligen Familie. Federzeichnung von Baccio
Bandinelli . 110
^Römischer Sarkophag aus Augusteischer Zeit, früher
im Garten des deutschen Botschaftshotels in Rom . 112
*Athenastatuette . 112
*Erzstatue aus Kyzikos . 113
*Sklave. Von einer Grabgruppe in Tarent . 113
*Tanzende Mänade . 113
*Weihrelief an die Göttermutter. Aus dem Piräus. . 113-
*Antinous . 114
*Jünglingskopf . 114
INHALTSVERZEICHNIS.
V
Seite
*Sepulcrales W eihrelief. Der heroisirte V erstorbene wird
von Familiengenossen verehrt . 114
(* Aus dem Werke: Kgl. Museen in Berlin: Beschreibung der
antiken Skulpturen. Berlin, W. Sfemann, 1891.)
Pieta im Magdeburger Dom. Holzschnitt von B. Bcr-
iJiold . 115 »
fldylle. Originalradirung von Ä. Frenx. (Aus den
Originalradirungen des Künstl^'klubs St. Lucas.
Düsseldorf, H. 1) . Zu S. 120*'
Die Kreuztragung Christi. Vom Tiefenbronner Altar,
von H. Schühlein . 122 p
Die Grablegung Christi. Vom Tiefenbronner Altar, von
H. Schühlein . 124 1
Frauengruppe auf der Kreuzigung des Hofer Altar¬
werkes. Von d/. ]Vohlgcinnth . 125
SS. Florian, Johannes und Sebastian. Vom Mickhauser
Altar, von Barth. Zeithlom. Holzschnitt von Kacsc-
herg und Oertcl . 12(3
Papst Gregor, St. Johannes, St. Augustinus. Vom Mick¬
hauser Altar, von Barth. Zeithlom. Holzschnitt von
Kaeseberg und Ocrtcl . 128
Blick auf Tiefenbronn . 144 ■
•fBildnis eines Mannes. Non Rubens. Holztiefstich von
IF. Miller in New-York . Zu S. 129 .
Conrad Ferdinand Meyer von Zürich. Von K. Stauffer-
Bcrn . 132
Karl Stauffer - Bern. Selbstbildnis. Heliogravüre der
Eeichsdruckerei . Zu S. 134
Vom Hasenhaus in Wien . S. 134, 135 u. 137 j
Maximilian I. und sein Kreis. Mittelgruppe in Berger’ s
Deckenbild . 145
Die Mäcene der bildenden Künste im Hause Habsburg.
Deckenbild von Julius Berger im Kunsthistorischen
Hofmuseum zu Wien . 146 ,
Karl V. und Tizian. Aus Bergers Deckenbild . . . 148
Job. Bernh. Fischer v. Erlach und Daniel Gran. Desgl. 149 ^
Jacob Prandauer, der Erbauer von Mölk. Desgl. . . 150 .
Kalksteinbüste einer urbinatischen Prinzessin. Von
Desiderio da Settignano . 152 •
Die Stäupung Christi. Marmorrelief von Donatello . . 153 ,
Madonna mit dem Kinde. Marmorrelief von Donatello,
Holzschnitt von Kaeseberg und Oertel . 154»
Johannes der Täufer. Bronzestatuette von Do)iatello,
Holzschnitt von R. Jericke . 155
Plakette aus dem Königl. Museum in Berlin, Holz¬
schnitt von Kaeseberg und Oertcl . 168y
fGiovannino. Büste von Donatello. Radirung von Alb.
Krüger . Zu S. 151’/
Die beiden Becher von Vaphio . 157
Der Kampf um die Stadt. Gefäßfragment aus Mykenae 158
Europa auf dem Stier. Metope aus Selinunt .... 159
Hera und Hermes. Metope aus Selinunt . 160 i
Venus mit Tauhe. Aus der Sammlung Carapanos . . 161
Kopf der Hera. Aus dem Heraion in Argos .... 162
Kopf des Anakreon . 186
Sarkophag aus Saida in Konstantinopel . 187
Relief des sog. Alexander -Sarkophags aus Saida in
Konstantinopel, Holzschnitt von A. \V. F. Müller . . 188 '■
Aphrodite, Bronze der Sammlung Tyszkiewicz zu Paris 189 1
Der betende Knabe. Neue Ergänzung . 190,
jTh. Rousseau. Herbstlandschaft. Heliogravüre von
Fr. Hanfstängl in München . Zu S. 168^
Anbetung der Hirten. Von Carlo Crivelli. Holzschnitt
von R. Berthold . 172'«
Seite
Madonna mit dem Christuskind. Von Rocco Mareoni,
Holzschnitt von R. Berthold . 173.
Vanitas. Von Simon Marmiou, Holzschnitt von R. Ber¬
thold . T7()
Männliches Porträt. Von Hans Baidung . 177^
Giovannino. Marmorstatue des Berliner Museums, Holz¬
schnitt von R. Berthold . 181 ■
f Winter am See. Original - Radirung von V. Olggag-
iMatirko . Zu S. 169
f Am Niederrhein. Originalradirung von Prof. Th. Hagen.
(Aus dem Heft des Radirvereins zu Weimar 1892.) Zu S. 192
*Gemalter Jünglingskopf . 194
**Grabstele der Myrtia . 195
**Mann und Kind . 195
*Meneas und Menekrateia . 196
**Grabrelief der Hegeso . 197
**Der Schuster Xanthippus . 197
*Mynno mit der Spindel . 198
*Stele aus Karystos . 198,
**Demokleides auf dem Schilfe . 199
*Stele mit Sirene . 198
**Naiskos der Melitta . 200
**Grabrelief des Dexileos . 201
**Glaukias und Eubule . 202
**Hohe Stele der Artemisia . 202
* Aristoteles und Sogenes . 198
**Grablekythos und Lutrophoros . 203
-j-**p’i-au, der ein Kind gebracht wird. Heliogravüre.
Zu S. 193
*Thraseas und Euandria .
*=i=Demetria und Pamjihile .
f **Grabrelief vom Dipylon in Athen. Radirung. Zu S.
*Grabstele aus Smyrna .
* Kleinasiatische Grabstele .
**Stele in Leiden .
**Prokles und Prokleides .
*Grabstein aus Rhenaia .
**Besuch bei der kranken Tochter. (Nach einer Photo¬
graphie aus dem Apparat der Att. Grabreliefs.)
Holzschnitt von A. Fels .
* Aus dem Katalog der antiken Skulpturen des kgl. Mu¬
seums zu Berlin. Berlin, W. Spemann, 1891.
**■ Aus dem Werke: Die Attischen Grabreliefs, heraus¬
gegeben von A. CoNZE. Berlin, W. Spemann, 1890/92.
Porträt von Ch. Et. Jordan. Von A. Pesne. Holz¬
schnitt von R. Berthold .
Graf Gustav Adolf von Götter und seine Nichte. Von
A. Pesne .
Die Tänzerin Barbarina. Von A. Pesne. Holzschnitt
von R. Berthold .
f *Die Tänzerin Raggiani. Gemälde von A. Pesne. Licht¬
druck von A. Frisch . Zu S.
* Aus: Friedrich der Grosse und die französische Malerei
seiner Zeit. Von Da. P. Seidel. Verlag von A. Frisch,
Berlin.
Stillleben. Gemälde von A. Dubuisson .
'j'Marmorpalais. (Aus dem Prachtwerk: Potsdam, ein
deutscher Fürstensitz. Verlag von Amsler da Rut-
hardt in Berlin . Zu S.
fSchloss zu Offenbach. Detail der Südfront. (Nach
K. E. 0. Fritsch; Denkmäler deutscher Renaissance.)
Zu S.
Merian; Oö'enbach. (Aus der Topogr. Hassiae 1646) .
Ansicht der Südseite des Schlosses zu Offenbach. (Aus
Ortwein: Deutsche Renaissance) .
232
233
233
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216
217
217
218
VI
IN HALTS VERZEICHNIS.
Seite
Kämpferstein am Schlosse in Offenbach. Holzschnitt
von H. Voigt . 219
*rortal am östlichen Treppenturm im Schlosse zu Offen¬
bach . 220
*Wende]stiege im Schlosse zu Offenbach . 221
*f]rker an der Nordseite des Schlosses zu Off'enbach . 222
* Aus Schäfer , Kunstdenkmäler des Kreises Offenbach.
Damstadt, Verlag von A. Bergsträsser.
Erker am Schlosse zu Oflenbach. Holzschnitt von
H. Voigt . 224
f^l. Dürer. Madonna mit dem Zeisig. Heliogravüre.
(Von der Photographischen Gesellschaft in Berlin).
Zu S. 225
Christusknahe. Zeichnung von A. Dürer in der Kunst¬
halle zu Bremen . 226
Weiblicher Kopf. Zeichnung von A. Dürer in der
Albertina zu Wien . 228
A. Altdorfer: Die Geburt Mariä (Kgl. Gemäldegalerie
Augsburg). Nach einer Photographie des Hofphoto¬
graphen Höfe in Augsburg . 240
Vignette von Probst in Stuttgart . 248
fGerhard Hauptmann. Von ]\lax lAehermann. Helio¬
gravüre . Zu S. 249
Seite
Max Liebermann. Pastellbild von Fr. v. Ulide . . . 249 ,
Handzeichnungen von Max Liebermann 251, 253, 255,
256, 280, 281, 287 ■
fim Garten. Von Alax Liebe?’mann. Radirung von
A. Krüger . Zu S. 256
fln den Dünen. Gemälde von Max Liebermann. Ra¬
dirung von W. Unger . Zu S. 278 i,
f Kuhmagd auf der Waldwiese. Originalradirung von
Max Liebermann . Zu S. 285 4'
fKühe auf der W ei de. Handzeichnung von Max Lieber -
•mann . Zu S. 285 i
W. A. Bouguereau . 257 ,
Die Weintraube. Von W. A. Bougtiereau . 258
Die trostreiche Maria. Gemälde von TV A. Bouguereau.
Holzschnitt von Brend'amour <S; Co . 259
Allerseelen. Von W. A. Bouguereau . 260 ^
fAmor und Psyche. Gemälde von IF. A. Bouguereau.
Radirung von IF. TVörnle . Zu S. 257
Plakat und Vignette. Von Cher et . 267, 268
Kopfleiste von A. Laekner . . 271
Rekonstruktionsstudie zum Pantheon in Rom .... 273
Ober Wandausbildung vom Pantheon in Rom .... 277
Wh'.KIN FlfF IRlGIN/il ^ ',1 ilF, i ■ G'NG T U .1;R.,1N B.Fi:;clu;r
Viuceuzo Ve!a.
VINCENZO VELA.
VON JULIUS GAROTTI.
S niag wenig moderne Künst¬
ler geben, deren künstlerische
Entwickelimg zu beobachten
so anziehend wäre, wie die
des Bildhauers Viiicenzo Vela
aus Ligornetto, der während
eines Zeitraumes von fast 40
Jahren an der Spitze einer
neuen Schule der Bildnerei in Oberitalien stand.
Er bezeichnet einen Wendepunkt in der modernen
italienischen Sculptur, war der Träger einer neuen
Bewegung und, obwohl nicht völlig unbeeinflusst
von anderen Künstlern, eine durchaus selbständige
Natur, ein Pfadfinder, der wieder bei der uralten
Lehrmeisterin Natur in die Schule ging, statt sie durch
das Medium vergangener Kunstübung, die allmählich
konventionelle Formen angenommen hat, zu sehen.
Vincenzo Vela wurde im Jahre 1822 in Ligor¬
netto im Kanton Tessin zwischen Como und Lugano
als Sohn arbeitsamer und ehrlicher Eltern geboren.
Die bescheidenen Lebensformen, in denen seine frü¬
heste Jugend sich bewegte, nötigten ihn, schon mit
zwölf Jahren als Lehrling eines Steinmetzen in der
Nähe von Besazio seine Laufbahn zu beginnen. Das
Leben in den Werkstätten von Besazio war hart und
eintönig; bei der handwerksmäßigen Beschäftigung
schweifte die Phantasie des Knaben ungehindert, und
er träumte sich mit Vorliebe nach Mailand, wo ein
älterer Bruder von ihm, Lorenzo, der Austührung
dekorativer Statuen oblag*). Diese angenehme, oft
wiederholte Träumerei gewann immer mehr Gewalt
über das sehnsüchtige Gemüt des Knaben und be¬
herrschte ihn bald so, dass der Drang in die Ferne
unwiderstehlich in ihm wurde. Auch seine Eltern
und sein Bruder wurden davon ergriffen, und eines
schönen Flerbsttages brachte Lorenzo uuseru jungen
Vincenzo nach Mailand. Dort gab er ihn zu einem
gewissen Franzi, dessen Gewölbe sich am Dom be¬
fand, und dessen Thätigkeit im Ausführen dekora¬
tiver Skulpturen bestand.
Nun durfte Vincenzo nicht nur den harten
undankbaren Stein, sondern auch den glänzenden
1) Lorenzo Vela erwarb sich einen guten Namen als
Dekorationsplastiker; er wurde Professor an der Brera, wo er
bis vor kurzem tbätig war.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
1
0
VINCENZO VELA.
Marmor bearbeiten, und es währte nicht lange, so
bestieg er den Dom mit, wenn neue Stücke aufge-
stellt oder die unaufhörlichen Reparaturen ausgeführt
werden sollten. Da saß er nun in einem Walde von
Nadeln, Giebeln, Strebebogen, Statuen und Statuetten,
dessen Durcheinander ihn fast schwindlig machte.
Seine Bestimmung wachte hier leise auf und machte
sich in heißen Wünschen zunächst nur ihm be-
merklich. Lorenzo erbat alsbald von dem ehrsamen
Meister Franzi für seinen Schützling täglich zwei
Stunden, um ihn in die Elementarklasse der Akademie
einzureihen. Dort machte er ungewöhnlich rasche
Fortschritte, die \^eranlassung gaben, dass er einen
neuen Lehrmeister erhielt, Cacdatori, bei dem er als
Hilfsarbeiter sich etwas erwerben konnte. Freilich
war der Lohn anfangs nur karg und Lorenzo musste
für seinen Bruder noch andere Beschäftigung aus¬
findig machen. So saß Vincenzo oft bis spät in die
Nacht hinein beim Modelliren und formte Leuchter,
Kelche und anderes Gerät für Goldarbeiter.
An der Akademie durcheilte der angehende
Künstler rasch die Zeichen- und die Aktklasse und
wurde Schüler von Sahatelli, dessen Aufmerksam¬
keit er früh erregte. Vincenzo war, was unter Bild¬
hauern nicht allzu häufig ist, ein leidenschaftlicher
und vorzüglicher Zeichner, besonders des Nackten,
und Sabatelli war von seinen Leistungen so befrie¬
digt, dass er ein kleines Wortspiel: U nostro Vcia
f(trn nla mit sanftem Lächeln gern zu wiederholen
]. Hegte.
Endlich rückte A’ela in die Bildhauerklasse auf
und wurde nun Schüler des Mannes, bei dem er schon
als niarmista tagsüberarbeitete: Benedetto Cacciatori.
Cacciatori war, wie die ganze Bildhauerschule
der Brera, wie ganz Mailand, wie die ganze Lom¬
bardei in der jtseudoklassischen Manier befangen, die
in (.'aiiova iliren Meister und ihr Muster sah. Seiner
zarten (ilätte strebten sie nach, aber wie es deuNach-
eife-rern geht: vom Geiste, von der Seele des Meisters
war ihnen niclit viel zu teil geworden. Eine gewisse
Würde pind inülisam erzwungene Größe Avar der
Kunst der Cacciatori etc. eigen; aber sie ließ kalt,
war gesucht, im 1 lerkihnmlichen erstarrt.
tthwohl Schüler der Brera, Avar Vela doch noch
als .sogenannter srnljitirni'i im Atelier des Cacciatori
tliätig; ilieser hatti; viel Aufträge und beschäftigte
eine ganze Beihe Hilfsarbeiter, unter denen aber nur
sehr selten Avirkliche Künstler Avaren.
Da.s System der alten Künstler, in ihre Ateliers
eine Leihe Schüler aurziinehmen, die den größten Teil
tler bestellten Werke im Sinne ihre.« Oberhaupts aus¬
führen und vollenden halfen, hat sich bis zum heu¬
tigen Tage in den Bildhauerwerkstätten von Ruf er¬
halten, nur mit dem Unterschiede, dass die meisten
der Hilfsarbeiter sich von einem Atelier zum andern
wenden, um Arbeit zu suchen. So gingen viele be¬
rühmte Werke aus den Ateliers von Pacetti, Caccia¬
tori, Marchesi, Tantardini u. s. w. hervor und gehen
noch heute unter dem Namen des Meisters, obvvohl
dieser nur das Modell fertigte, manchmal auch nur
die Skizze dazu lieferte. Vielfach spielt die Geld¬
frage eine Rolle dabei, noch häufiger jedoch sind
Lässigkeit und Gleichgültigkeit die Ur.sachen davon.
Diese Hilfsarbeiter nun zerfallen in zAvei Gruppen:
die Modelleure, d. h. diejenigen, die Avirklich das
plastische Werk ausführen, entweder nach der Skizze
oder nach einem oberflächlichen Gesamtentwurfe, und
die Marmortechniker, die das Gipswerk in Stein über¬
setzen. Die letztgenannten, vornehmlich aus der
Lombardei, sind häufig wahre Virtuosen, von ganz er¬
staunlicher Handgeschicklichkeit. Sie vollenden das
Kunstwerk oft bis auf den letzten Schliff, so dass der
Meister es nicht einmal mehr nötig hat, den Meißel
anzusetzen, um es eigenhändig zu übergehen.
Im Atelier Cacciatori’s Avar Felix Figini der be¬
deutendste unter den Modelleuren, der junge Vin-
ceuz Vela dagegen der erste unter den Ausführenden.
Figini hat kein Werk hinterlassen, das ihm mit
Sicherheit zugeschrieben werden könnte, außer viel¬
leicht eine Fontäne, die sich in Wien in einem
fürstlichen Hause befindet. Doch Avürde es wohl
möglich sein, einige Werke seiner Hand nachzu-
Av eisen; indessen dies zu untersuchen, fällt außerhalb
des Rahmens dieser Arbeit. Ich möchte nur bei
dieser Gelegenheit an den bescheidenen und halbver¬
gessenen Künstler erinnern, der einer der ersten
Veristen und Neuerer war; Cacciatori hatte große
Mühe, ihn in seinem Fahrwasser zu erhalten. Figini
übte den mächtigsten Einfluss auf Vincenzo Vela,
der seiner Natur und Begabung nach berufen war,
ähnliche, neue Bahnen einzuschlagen. Schon wäh¬
rend seiner Hilfsthätigkeit machte sich dies sehr be-
merklich , denn Cacciatori beklagte sich oft mit
sanften Vorwürfen über seines Schülers Eigenmäch¬
tigkeit: Sie zerstören mir die schönen Falten; sie
maclien mir die Augen zu klein; ich hatte sie ganz
gross gemacht, um ihnen mehr Stil zu geben“.
Die eigentümliche Begabung Vela’s, seine Er¬
findungskraft und künstlerische Selbständigkeit zeigte
sich besonders in den beiden letzten Arbeiten, die er
als Schüler der Brera für die akademischen Wett-
bewerl>ungeu schuf. Es Avaren zwei Flachreliefs.
VINCENZO VELA.
3
Das eine behandelte die Episode von der Rückkehr
des Odyssens nach Ithaka, als ihn die Amme wieder-
erkennt und er sie durch eine gewaltsame Bewegung
zum Schweigen bringt. Unserm jungen Künstler
widerstrebte die homerische Heftigkeit des Odyssens,
der nach dem Dichter die Amme bei der Gurgel packt,
um ihr Freudengeschrei zu ersticken. Er zog es vor,
den Vorgang so darzustellen, dass Odysseus, während
Penelope abgewandt steht, den Finger auf die Lippen
der Amme legt mit einer Bewegung, als wolle er
sagen: Schweige! willst du mich verderben?
Sabatelli, die Absicht des Künstlers erratend,
floss von Lob über, aber Cacciatori schüttelte den
Kopf und hielt dem Vincenzo eine lange Predigt.
Das zweite Relief war für den Wettbewerb aller
Akademieen des lombardisch-venezianischen König-
reichs bestimmt; alle Arbeiten sollten in Venedig
vereinigt und beurteilt werden. Die Aufgabe war:
Die Erweckung der Tochter des Jairus. Als Vela
sein Modell beendigt hatte, bat er seinen Lehrer
Cacciatori, es zu prüfen; aber dieser bemängelte die
Komposition von Grund aus, und der arme Vela, der
gesucht hatte, die vollste Empfindung zum Ausdruck
zu bringen, konnte die Thränen der Enttäuschung
nicht zurückhalten. Mit noch größerer Ängstlichkeit
bat er alsdann den Professor Cacciatori, das fertige
Marraorrelief zu besichtigen. In den letzten Jahren
liebte es Vela, von dieser Episode zu erzählen. Er
erinnerte sich gern daran, dass Cacciatori lange schwei¬
gend das Werk betrachtete und dann sich wegwandte,
um nach der Thür zu gehen. Dort erst sagte er,
zwischen den Zähnen murmelnd: „Wenn diese Arbeit
nach meinen Ideen beurteilt wird, taugt sie nichts —
wenn sie nach denen anderer geprüft wird, ist sie
ein Meisterwerk.“ Damit ging er. Vela pflegte noch
hinzuzufügen, dass ihn nur die Ehrfurcht vor der Pro¬
fessorenwürde seines Lehrers damals abgehalten habe,
ihm nachzulaufen und um den Hals zu fallen. Die
Äußerung Cacciatori’s zeugt von seiner Aufrichtigkeit
und seinem trefFlichen Charakter. Er musste geahnt
haben, dass hier etwas geleistet war, was außerhalb
seiner Sphäre lag und was er dennoch zu loben sich
nicht entbrechen konnte. Mit dieser abgedrungenen
widerwilligen Anerkennung war das Verhältnis von
Lehrer und Schüler innerlich aufgehoben; und bald
war dies auch äußerlich der Fall, denn Vela gewann
den großen Preis und war ein fertiger Künstler von
achtzehn Jahren.
Um diese Zeit war es, dass Vela einen mächtigen
künstlerischen Eindruck empfing, der seinem Streben,
das bisher nur Tasten war, bestimmte Richtung gab.
Lorenzo Bartolini hatte einige Jahre vorher, 1830,
eine Statue nach Mailand für Donna Rosa Trivulzio
gesandt, die noch im Museum Poldi Pezzoli sichtbar
ist und auch heute auf den Beschauer ihren lebhaften
Reiz ausübt: La fiducia in Dio. Vela hatte dumpf
einen Gegensatz gefühlt zwischen sich und seiner
Umgebung. Der Anblick dieses Werkes erhellte wie
ein Blitz sein Inneres und zeichnete ihm seine Bahn
unauslöschlich vor. So mächtig Avar der Eindruck
dieses Werkes, in dem sich tiefe Empfindung mit der
Wahrhaftigkeit reiner Formen paarte.
Aber es war Vela’s Absicht nicht, die Art an¬
derer und auch die Bartolini’s nicht, nachzuahmen.
Sein Bildwerk gab nur einen Ausgangspunkt für
ihn ab und zeigte ihm, welche Ziele er zu verfolgen
hatte. Bartolini suchte das Schöne in der Wirklich¬
keit auf, Vincenzo Vela zog vor, seine eignen Ideen
und Empfindungen zu verkörpern und sie mit Walir-
heit, Schönheit und Einfachheit zu verbinden, sowie
die Natur sich darbietet, ohne puristisch zu sein. Und
diese unbefangene Interpretation der Natur, seiner
Natur verlieh seiner Kunst das Persönliche. Seine
Maxime Avar, ein Künstler müsse, um Eigenes, Per¬
sönliches zu schaffen, vor allem den Stoff in sich
ganz auflösen, im Feuer des schöpferischen Willens
flüssig machen, ehe er ihn in die rechte Form
bringen könne.
Das erste Werk, das Vela als beglaubigter
Künstler hervorbrachte, Avar die Statue des Bischofs
Luini, die er für den Palast der scliAveizerischen Re¬
gierung in Lugano auszuführen hatte. Er erhielt
dafür 650 Franken, und es genügte, das Werk in be¬
scheidenem Material, Kalkstein von Viggia, auszu¬
führen. Hier traf Vela bei aller Besonderheit das
Einfache und Wahre. Das ganze kunstverständige
Mailand kam, um seine Studie zu sehen, wie Fraiu/ois
Hajiez in seinen Memoiren erzählt ■). Der Herzog
Litta gab ihm hierauf (1846) den Auftrag zu einem
Werke „Das Morgengebet“ ; die Wahl der Aufgabe
zeigt, wie sehr der Romanticismus noch herrschte und
in welchem Gegensätze Vela sich mit den landläu¬
figen Anschauungen befand. Er bildete eine zarte
und anmutige knieende Mädchengestalt, hervor¬
ragend durch den Ausdruck tiefer Andacht und Er¬
gebung. Bald danach entstand eine Genrefigur, „Der
1) Veröffentlicht von Dr. Carotti in Mailand 1890 bei
Bernardoni-Rebeschini.
1
Spartacus. Von Vikcenzo Vela.
VINCENZO VELA.
5
erste Kummer" betitelt, eine junge Bäuerin, die ihre
verwundete Katze auf den Knieen hält. Der gesenkte
Kopf, der ins Weite sich verlierende Blick sind schon
sprechend genug für die Szene. Der Künstler hat
in beiden Vorwürfen nach größter Naturwahrlieit
gestrebt und ließ selbst die kleinsten Einzelheiten
nicht außer acht.
Kleine Züge, wie
der, den Druck
einer
engen
Schnur auf der
Brust der Betenden
kenntlich zu ma¬
chen, beweisen dies.
Die neue Richt¬
ung, mit der fast
ganz Mailand im
Widerspruch war,
weckte natürlich
auch Gegnerschaft.
Man warf dem
Künstler vor, er
vermeide die Dar¬
stellung des Nack¬
ten , weil er sich
ihr nicht gewach¬
sen fühlte. Vin-
cenzo nahm sich
vor, die rechte Ant¬
wort darauf zu ge¬
ben. Er zog nach
Rom, besuchte un¬
terwegs Livorno,
wo er die gewaltige
Sklavengruppe des
Pietro Tacca be¬
wunderte. Bei der
Betrachtung dieses
Werkes kam ihm
der Gedanke zu
einem Spartacus,
den er sogleich be¬
gann, als er in Rom
eintraf. Es braucht
kaum gesagt zu
werden, dass die Eindrücke, die er in Rom gewann,
von nachhaltiger Wirkung auf ihn waren; dort
sättigte er sich mit dem Geiste der Antike und nahm
so viel davon auf, wie seiner Natur gemäß war.
Von Rom aus sandte Vincenzo den Gipsabguss
des Spartacus nach Mailand; die Ausführung in Mar¬
Columbus, Gruppe von Vincenzo Vela.
mor besorgte er erst zwei Jahre später für den Herzog
Antonio Litta. Das Werk wurde 1851 in der Brera
ausgestellt und der Eindruck, den es hervorbrachte,
war durchschlagend und wirkte nicht nur in der
Lombardei, sondern in ganz Italien fort. Auch für
die Weltausstellung in Paris war diese Statue ein
Ereignis, denn noch
nach sieben Jahren
sprachen die fran¬
zösischen Beur¬
teiler der Londoner
Weltausstellung
davon.
Für Mailand
und für Oberitalien
lirachte der Spar¬
tacus Vela’s eine
Art künstlerischer
Umwälzung her¬
vor; dieser Sparta¬
cus erklärte den
feierlichen mar¬
mornen Patriziern
Roms den Krieg
und pochte trotzig
auf seineUr.sprüng-
lichkeit. Das volle,
quellende, unüber¬
windliche Leben
schien hier in den
Marmor hineinge¬
haucht zu sein, was
den damaligen Be¬
trachtern wie ein
Wunder vorkam
Spartacus machte
als erstei' Sohn
einer neuen Rich¬
tung die bisherige
Skulptur alt. In
der Ausführung
zeigte Vela auch
seinen eigenen
Fortschritt, denn
hier war nicht die
reine Wirklichkeit mit peinlicher Genauigkeit nachge¬
bildet, sondern statt dessen versucht, die ganze Mo-
dellirung, Haltung und Bewegung in Bezug zu
dem beseelenden Gedanken zu bringen. Vela hatte die
Gedanken und Empfindungen des Spartacus mitbilden
wollen und dem Ausdruck zu Liebe gewisse Verän-
6
AUGUST NOACK.
deruDgen vorgenommei), die von der Naturwirklich¬
keit ahweichen. Er bildete den oberen Teil der
Brust seines Helden mächtiger und entwickelter als
den untern des Thorax und als den Unterleib, der
übermäßig stark zurücktritt. Es wäre thöricht, zu
behaupten, dass der Spartaciis ein vollkommenes
Werk sei. Aber die Leidenschaftlichkeit des Ganzen,
die Wucht der Darstellung des beherrschenden Ge¬
dankens zeigen, dass Vela schon seiner Sache sicher
war; nur dass die Parabel seiner künstlerischen Bahn
hier erst begann. Denn die Sprünge eines Künstlers
sind nur scheinbar, sie bilden sich alle nach und nach
und seine Werke bezeichnen nur Punkte eines Wegs
von verschiedener Höhe.
Die Marmorstatue des Spartacus bildete Vela
in kleinerem Format nach, und diese Reduktion ist
sehr weit verbreitet worden. Das Original stand auf
der großen Treppe des Palastes Litta bis zum Jahre
1874, kam hei dem Verkauf aller Kostbarkeiten und
Kunstwerke des Hauses an Hrn. Von der Wies, der
sie nach Lugano und später nach Petersburg in seinen
Palast Imachte.
Auf dieselbe oben erwähnte Ausstellung der
Brera hatte Vincenzo Vela noch ein anderes Werk
gebracht, die Darstellung der Betrübnis für das Grab¬
denkmal der Familie Oiani in Lugano. Diese Statue
stammt aus dem Jahre 18.51 (der Spartacus war von
1818) und bezeichnet die volle Blüte des Talents
unseres Künstlers. Eine junge Frau mit entblößter
Brust und nackten Armen in reicher, weiter Kleidung
sitzt mit den Ellenbogen auf den Knieen, das Haupt
zwischen beiden Händen, mit zerstreut herumfallen¬
dem Haar, schlaffem Munde und mit trüben glasigen
Augen ins Weite starrend da, ein vollkommener Aus¬
druck der Trostlosigkeit. Ich habe das Werk oft
in Lugano betrachtet, aber jedesmal, wenn ich es
wiedersehe oder mir seine Erscheinung ins Gedächtnis
zurückrufe, durchrinnt mich ein leiser Schauer, so
mächtig ist der Eindruck dieses Kunstwerks. Man
erzählt sich, dass Vela nach vielen vergeblichen Ver¬
suchen, den tiefsten Schmerz darzustellen, zu einem
Kunstgriff seine Zuflucht genommen habe. Er war
damals noch verlobt mit derjenigen, die später die
zärtlichste und würdigste Gattin für ihn werden
sollte, ein Geschöpf von reiner zarter Seele, wohl
dazu angethan, solch einen Künstler zu verstehen
und anzufeuern. Vincenzo entschloss sich nach
langem Zögern endlich zu folgendem Gewaltstreich.
Eines Tags stürmte er zu ihr unerwartet ins Zimmer
mit wildem Ausdruck und rief ihr zu: Es ist aus,
wir müssen entsagen, ich kann nicht der Deine sein !
Das arme Mädchen stand wie vom Donner gerührt
in tiefem Schmerze da. Vela hatte genug gesehen,
eilte weg und hatte sein Vorbild gefunden.
Ich habe Vela bei Lebzeiten nie fragen mögen,
ob diese Anekdote wahr ist, und auch seine Ver¬
wandten nicht um Aufklärung gebeten. Es scheint
mir, dass die Geschichte erfunden ist, denn ich ver¬
mag an einen so grausamen Versuch mit der geliebten
Person nicht zu glauben. Ist sie aber erfunden, so
spricht sie deutlicher als alles Lob für den Wert
des Kunstwerks. (Schluss folgt).
AUGUST NOACK.
ER sich der Mühe unterzieht,
abseits der großen Heer¬
straße, auf welcher die
Künstlerschaft unserer Tage
dahintlutetundzu demWelt-
markte der Kunst, den gro¬
ßen Ausstellungen wallfahr¬
tet, — einen Seitenpfad ein¬
zuschlagen, dem wird manch ein Idyll bescheidener
Zurückgezogenheit und künstlerischen Stilllebens
sich erschließen, wohl wert eines aufmerksamen
Blickes in dem raschlebigen Fluge unserer Zeit.
Der siebzigjährige Geburtstag des Professors
August Noack gieht uns Veranlassung, dieses Künstlers
zu gedenken, welcher nahezu 40 Jahre in seiner Vater¬
stadt Darmstadt als Historien- und Porträtmaler
thätig ist, wenn auch unter mancherlei Entsagung,
denn Darmstadt ist keine Kunststadt und ein an¬
regendes Kunstlehen wird ein Künstler dort ver¬
gebens suchen. Hiervon geben Zeugnis die Namen
vieler Darmstädter Künstler, die auf Nimmerwieder¬
sehen ihrer Vaterstadt den Rücken gekehrt haben, und
anderwärts reiche Anerkennung fanden, wie Paul W eher,
Heinrich Hofmann, Raupp, Löfftz, Bracht und andere.
AUGUST NOACK.
7
Noack erblickte am 27. September 1822 das
Licht der Welt; schon in früher Jugend regte sich
in ihm die Lust zum Zeichnen und durch den Land¬
schafter Liieas Avard ihm der Anfangsunterricht
zu teil.
1839 — 1842
studirte Noack zu
Düsseldorf als
Schüler von Sohn,
Lessing und Scha¬
de w und zog von
hier zum Studium
und Erwerb auf
die Wanderschaft.
München übte da¬
mals noch mehr
als jetzt eine mäch¬
tige Anziehungs¬
kraft aus und so
sehen Avir den
jungen Künstlermit
gleich strebenden
Freunden in den
.Jahren 1840 — 1849
in dieser Kunst¬
hauptstadt in Amller
Thätigkeit zur Avei-
teren Ausbildung.
1849 ward er Schü¬
ler der Avieder auf
blühenden Ant-
werpener Akade¬
mie, bereiste Bel¬
gien, Holland und
Frankreich und
kehrte über Mün¬
chen mit reicher
Ausbeute an Ko¬
pien und Stadien
nach Darmstadt zu¬
rück, Avoselbst ihm
1854 durch den
Großherzog die Er¬
nennung zum Hof- Gethsemane,
maler zu teil wurde.
Das Jahr 1855 Avurde in Italien verlebt; hier nahm
Koack in der Villa Albani zu Rom au der fünfzig¬
jährigen Gedenkfeier der ersten Romfahrt LudAvigs
von Bayern teil, Avelcher Begegnung sich der König
bei einer späteren Anwesenheit in Darmstadt erinnerte
und den Kün.stler in seinem Atelier aufsuchte. Im De¬
zember 1855 schloss Noack den Bund der Ehe und
erfreut sich noch heute des glücklichen Zusammen¬
lebens mit Frau und Kindern. Es folgte nun eine
Zeit reger Arbeit, zunächst im Dienste des kunst¬
liebenden Großherzogs LudAvig HL, AA'elcher etAA^a
zwölf Jahre lanfr
Noack ausschlie߬
lich beschäftigte,
bald mit Aufträgen
liistorischer Dar¬
stellungen für
Schenkungen an
Gemeinden, Kir¬
chen und Private,
l)ald mit Porträts
fürstlicher Perso¬
nen.
Tn das .fahr
1804 fällt nach
gewissenhaften
Studien die Voll¬
endung des ersten
großen Historien¬
gemäldes: „Das Re-
ligionsgespräcb zu
Marburg“, jetzt in
derDarmstädter Ge¬
mäldegalerie; 1808
entstand das Bild
zum zweiten Male,
größer und teil-
AA^eise verändert,
und ist jetzt im
Besitze der Stadt
Marburg. Ein an¬
deres Werk aus
dieser Zeit —
Luther in Worms,
von Philipp dem
Großmütigen be¬
sucht — befindet
sich in der Ro¬
stocker Gemälde-
Von A. No.\ck. galerie.
Inzwischen ver¬
säumte der Künstler nicht, alljährlich durch den Be¬
suchgrößerer Ausstellungen in München, Wien, Berlin,
Paris und durch eine zweite italienische Reise weiter
zu lernen und erneute Anregungen zu empfangen.
1809 im Schwabenlande reisend, entdeckte er
in der Stadtkirche zu Wimpfen am Neckar unter
Das Slaiiuu'irev U^‘HKiousf^osln■a^■h. Von A. No.vi'K.
AUGUST NOACK.
9
Tünche und Farbe die ansehnlichen Reste eines
großen, acht Meter hohen Wandgemäldes, die Dar¬
stellung des jüngsten Gerichtes, welches Werk im
Laufe dieses und des nächsten Jahres unter seiner
Hand zu erneuter Schönheit entstand. (Vgl- Zeit¬
schrift für bildende Kunst, 1871, Heft 9.) Die
als Gegenstück zu dem „Jüngsten Gericht“ kompo-
nirte „Bergpredigt“ ist leider nicht zur Ausführung
gekommen. 1870 bezog der Künstler ein eigenes
Haus mit großem Atelierraum ; es erfolgte seine Er¬
nennung zum Professor an der technischen Hoch-
schule und nun begann die Hochflut freudigen
Schaffens infolge größerer Aufträge auf dem Gebiete
der religiösen Historie. Es entstanden für die Kirche
sacre coeur zu Santiago in Chile zwei große Altar¬
bilder, „Christus am Ölberg“ und „Der auferstan-
dene Christus“; für die Friedhofskapelle zu Darm¬
stadt „Der auferstandene Christus am Ostermorgen
den beiden Marien erscheinend“, weiter die Bilder
der Reformatoren, Entwürfe für Kirchenfenster zu
Darmstadt und Oppenheim und andere Kompositionen
dieser Richtung. Auf dem Gebiete heiterer Kunst und
der Allegorie wurden dem Meister Aufträge für Decken¬
gemälde zu teil in verschiedenen Villen zu Frank¬
furt a/M. und dem Schloss Rosenhöhe des Prinzen
Wilhelm von Hessen. Leider nicht zur Ausführung
kamen aus Mangel an Geldmitteln die Kompositionen
für die Decke der erneuerten Kirche zu Gelnhausen.
Eine weitere Rettung vortrefflicher Wandgemälde
nahm Noack in der romanischen Kirche zu Parten¬
heim in Rheinhessen vor.
Durch Großherzog Ludwig IV. und seine kunst¬
sinnige Gemahlin Alice wurden dem Künstler ver¬
schiedene Aufträge für Familienbilder und Porträts
zu teil, die sich im Besitze der großherzoglichen
Familie und der Königin von England befinden.
Ein großes historisches Bild „Paulus vor dem hohen
Rat in Jerusalem“, zu welchem die umfassendsten
Geschichts- und Kostümstudien vorgenommen wur¬
den, befindet sich zur Zeit noch im Atelier, seiner
letzten Vollendung entgegensehend. Auf dem Ge¬
biete der Porträtmalerei erfreut sich Noack in wei¬
teren Kreisen ungeteilter Anerkennung und manche
seiner Lieblingskorapositionen musste ihrer Vollen¬
dung harren mit Rücksicht auf die Erledigung fester
Porträtaufträge.
In Friedrich Bruckmann, Hanfstaengl und Wis-
cott fand der Künstler entgegenkommende Verleger
für verschiedene seiner Werke und wenn er auch an
den großen Wettbewerben und Völkerfesten der Aus¬
stellungen mit Rücksicht auf den für eigenes unbe¬
schränktes Schaffen weniger günstigen heimatlichen
Boden sich nur selten beteiligen konnte, so ist ihm
doch, ferne von dem Hasten und aufreibenden
Schäften großer Kunstcentren, eine seltene Schaffens¬
kraft eigen geblieben bei erfreulicher Rüstigkeit und
der warmen Verehrung seiner Schüler und zahl¬
reichen Bekannten, einer Verehrung, die begründet
ist in der liebenswürdigen Bescheidenheit und Her¬
zensgüte des Künstlers und seiner begeisterten Hin¬
gebung an das ihm vorschwebende Kunstideal, ohne
der Mode des Tages und des wechselnden Zeitge¬
schmackes zu huldigen.
Möchte dem greisen Meister der Abend des
Lebens von heiterem Sonnenlichte noch lange ver¬
klärt bleiben! TH.
Zeitschrift für bildende Kunst.
N. F. IV.
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCHUNG.
MIT ABBILDUNGEN.
M ein richtiges Urteil über das
Schatfen eines Meisters ah-
zngeben, ist es unerlässlich,
alle Umstände seines Lebens¬
laufes zu kennen. Auf den
ensten Blick scheint diese
Behauptung vielleicht zu
weitgehend; allein die her¬
vorragendsten Leistungen auf dem Gebiete der Kunst¬
wissenschaft bringen sie zu stets allgemeinerer An¬
erkennung, und das Werk, dem diese Spalten ge¬
widmet sind, mag als ihr l)ester Beweis dienen ’).
AVir haben es in der That hier mit einem
.Maler zu thun, dessen Jugendarbeiten aus dem farb¬
losen Boden der Schule von Antwerpen erblühen,
jener Schule, als deren letzte Größe Otto Venius
genannt und als Genie gefeiert wird. Dann folgen
acht italienische Wander- und Lehrjahre. Rubens
bringt sie niclit in dem damals in künstlerischer Be¬
ziehung herabgekommenen Rom, sondern größten¬
teils in Mantua zu, wo der strenge Mantegna, der
kühne Giulio Romano zu ihm sprechen, wo er sich
in einem und demselben Palast an den Dichtungen
der größten Koloristen Italiens, vor allen an Tizian
und Correggio l^egeistert, während im nahen Bologna
die neue Richtung bereits ilir siegreiches Banner ent¬
faltet hatte. Dann führt sein günstiger Stern ihn nach
S])anien, wo er von Tizian noch Schöneres sieht
als selbst in Veneclig, endlich nach Rom und Genua.
Kaum in seiner Heimat, wirkt er als das anerkannte
Haupt einer neuen Schule, sammelt um sich eine
Schar vf)n Hilfskräften, die sich an ihm bilden. Sein
Ruhm verschafft ihm so zahlreiche Bestellungen,
1) L’Oeuvre de I’. P. Rubens. Ilistoire et description
de ses tableaiix et dessins par Max Rooses. Anvers, Jos.
Maes, IHSGfl'. IV vols. in 4® royal. .340 planches.
dass er sie ohne seine tüchtigen Gehilfen nicht zu
bewältigen vermochte. Er schafft für Paris, Madrid,
London, er füllt mit seinen Schöpfungen die Kir¬
chen und Paläste Italiens, Deutschlands und Hol¬
lands; er beherrscht mit gleicher Meisterschaft alle
Gebiete der zeichnenden Künste, entwirft Kartons für
Wandteppiche, Zeichnungen für Goldarbeiter, Elfen¬
beinschnitzer und Kupferstecher und drückt allem,
was aus seiner Hand hervorgeht, seinen persönlichen
Stempel auf. Seiner Auffassung, seiner Durchführung,
mit einem Worte seiner Schule verdanken die Bildnisse
van Dycks, die Allegorien und Bacchanale des Jor-
daens, die Jagden des Snyders, die Landschaften van
Udens die ungeteilte Anerkennung. Er scheint selbst
zu fühlen, dass er sie alle überragt, darum erhöht
er den Wert seiner Gemälde nur äusserst selten
durch seine Signatur, ja noch mehr: er ge.steht, dass
eine große Anzahl der von ihm gelieferten Bilder
nicht das Werk seiner Hände sei. Und als die unver¬
gleichlich geniale Persönlichkeit des Meisters nicht
mehr war, wirkte seine Schule noch durch Jahrzehnte
zu Ehren des größten vlämischen Malers fort, und wer
dürfte sich unterfangen, das Schaffen des P. P. Rubens
zu beurteilen, ohne die verschiedenen Umstände zu
kennen, durch deren Summe er eben jener Einzige
geworden, dem wir alle huldigen?
Mag man immerhin behaupten, der Meister ge¬
stalte die verschiedenen Eindrücke, die er empfangen,
eigenartig aus, es sei unwahrscheinlich, dass sein
Oeuvre ihn stets gleichförmig zeige, im Gegenteil:
je bedeutender seine Begabung, desto origineller
gebe er sich, Rubens bleibt dennoch immer eine
ausnahmsweise Erscheinung.
Vollständig kennen wir seine Thätigkeit noch
immer nicht; so umfangreich sein Werk auch schon
geworden, glückliche Forschungen werden es ge¬
wiss noch bereichern. Was wissen wir von seinen
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCHUNG.
11
Gemälden, die vor seiner Abreise nach Ralien ent¬
standen? Auch von den Arbeiten, die er während
seines Aufenthaltes in Spanien, Italien, Frankreich
und England ausgeführt, wissen wir so wenig, dass
sie gewiss nicht die Summe seiner energischen
Schöpferkraft bilden. Sicherlich stehen uns in dieser
Hinsicht noch große Ueberraschungen bevor. Seine
unter den verschiedensten Gesichtspunkten so hoch¬
interessanten Briefe erwähnen seinen malerischen
Beruf gar nicht, und keiner seiner Zeitgenossen hat
diese Lücke ausgefüllt, so dass in seiner Korrespon¬
denz noch immer zahlreiche Stellen Vorkommen, die
sich auf des Meisters gewohnte Beschäftigung be¬
ziehen und uns dennoch im unklaren lassen. So
z. B. verdanken wir einem Zufall erfahren zu haben,
dass Rubens vor 1616 in Holland gewesen und in
persönlichen Beziehungen zu Goltzius gestanden,
was sich dann übrigens wohl voraussetzen ließ.
AUe Museen rühmen sich einen oder mehrere
Rubens zu besitzen, auch in so manchen Kirchen, wo
wir ihn nicht vermuten, tritt er uns überraschend
entgegen; so hat man unlängst in der hl. Kreuz¬
kirche zu Augsburg eine schöne echte Himmelfahrt
der Jungfrau entdeckt.
Was aber versteht man unter einem echten
Rubens? Darüber, meine ich, sollte man sich vor
allem verständigen. Sieht man von den wenigen
eigenhändigen Bildern des Meisters ab — und deren
Zahl ist geringer, als man gemeiniglich annimmt, • —
so weiß jeder Kunstfreund schon nach den Briefen
des Meisters, dass ein echter Rubens entstanden
sein kann, ohne dass er selbst das Bild gemalt hat.
Von den meisten Werken, die man mit seinem
Namen schmückt, lässt sich ohne die geringste Über¬
treibung behaupten, dass sie von ihm nur verbessert,
vollendet worden. Das in diesem Sinne abgeschlossene
Bild gilt, vorbehaltlich seines geringeren oder grö-
ßern Wertes, als ein authentischer Rubens. Unter
den zahlreichen Bildern, die auf seinen Namen gehen,
kostet eine Gattung derselben den Kritikern das
meiste Kopfzerbrechen, die Kopien nämlich, oder um
genauer zu sprechen, die Wiederholungen. Er ließ
mehrere seiner Gemälde unter seinen Augen kopiren,
schlug auch anderen eine diesfallige Bitte nicht ab;
so kam es, dass sich mit seinem stetig wachsenden
Ruhm auch die Zahl der Fälschungen ansehnlich
vermehrte. Es ist nun einmal nicht zu leugnen, dass
alle seine heimischen Zeitgenossen mehr oder min¬
der in seiner Art und Weise zeichneten und malten,
woraus sich ergiebt, dass von seinen beliebtesten
Darstellungen ziemlich schwer zu unterscheidende
Nachahmungen Vorkommen. Viele derselben wurden
ganz arglos ausgeführt, namentlich in Flandern, zu¬
meist auf Kosten religiöser Körperschaften. Als
später unter Maria Theresia die Güter der Jesuiten
eingezogen, die geistlichen Orden unter Joseph II.
aufgehoben, die Kirclien durch die französische Revo¬
lution geplündert wurden, kamen alle die Bilder auf
den öffentlichen Markt und wunderten zumeist in
die öffentlichen Sammlungen, wo sie jetzt den Kunst-
beflissenen erhebliche Verlegenheiten machen, da es
nun einmal ungleich schwieriger ist, dem Meister
ein angezweifeltes W’erk abzusprechen, als ihm ein
bisher nicht genügend beachtetes zurückzustellen.
Es erübrigt noch eine stattliche Zahl von Bildern,
die zu dem Meister selbst in gar keiner Beziehung
stehen, die er weder entworfen noch ausgeführt hat
und die dennoch auf ihn zurückgehn, sei es, dass
sie von frühem Gehilfen, seinen Mitarbeitern, her¬
rühren oder von Namenlosen in trügerischer Absicht
gemalt wurden. Die Bilder dieser letzten Gattung
sind leider zahlreicher als man glaubt; sie erreichen
heute noch erkleckliche Preise, obgleich ihre Fäl¬
schung in die Augen springt; sind doch vor kurzem
in Brüssel zwei Gemälde, die von Rubens nichts als
den Namen trugen — und diesen widerrechtlich —
um 1300 Francs erstanden worden! Und wie statt¬
lich ist nicht die Reihe der Kataloge, die mit ein¬
geschmuggelten Rubens prunken! Es genüge an
diesen flüchtigen Andeutungen, um das Maß der
Schwierigkeiten zu erwägen , welche bei der Aus¬
führung von Hrn. Rooses’ Plan, uns ein vollständiges,
beschreibendes und geschichtliches Verzeichnis des
Oeuvre P. P. Rubens’ zu liefern, zu überwältigen
waren.
Smith, Waagen, Basan, Schneevogt haben ihm
allerdings vorgearb eitet, aber sein Buch bleibt doch
ein selbständiges, höchstens hat er vielleicht den
Behauptungen Schneevogts in dessen ganz unkriti¬
schem Kataloge zu viel vertraut.
Smith führt bekanntlich mehr als 1700 Bilder
von Rubens an, von welchen er kaum die Hälfte
selbst gesehen. Rooses bietet uns nur 1207 Num¬
mern, doch sei sogleich bemerkt, dass einzelne der¬
selben doppelt sind, andre wieder sich auf Werke
beziehen, deren Vorhandensein der Verfasser weder
nachweisen, geschweige denn auf ihre Echtheit hin
untersuchen konnte. Da, wie wir glauben, ein
Supplement des Werkes unter der Presse ist, werden
wir uns im Verlaufe beeilen, seine Aufmerksamkeit
auf einige Bilder des Meisters zu lenken. Der Ver¬
fasser führt nur solche Werke an, welchen er das
12
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCHUNG.
Merkmal der Echtheit zuerkennt, oder deren Exi¬
stenz durch unwiderlegliche Quellen nachgewiesen ist.
Alle andern Bilder sind, selbst wenn sie angeführt
oder erläutert werden, mit keiner Nummer versehen.
Die zahlreichste Klasse wird durch die religiösen
Darstellungen, die heiligen Allegorien, die männ¬
lichen und weiblichen Heiligen, deren mehr als fünf¬
hundert, und durch nahezu dreihundert Bildnisse
gebildet.
Als gründlicher Kenner der ganzen Rubens-Lit-
teratur war Rooses in der Lage uns ein Werk zu
schenken, das durch
großartige Anlage und
sorgfältige Durchführ¬
ung von bleibendem
Wert ist. Wir haben
oben bemerkt, zu einem
richtigen Urteil über
einen Meister sei die
genaue Kenntnis seines
ganzen Lebens unerläss¬
lich; nun denn, ein so
umsichtig angelegter
Katalog , wie der vor¬
liegende, trägt selbst¬
verständlich allen V er-
hältnissen des Meisters
Kechnung. Von die.seu
vier Bänden lässt sich
rühmen, dass sie Rubens
wieder vor uns aufleben
la.ssen. Wir sehen ihn
fast leibhaftig vor uns,
wir leben in seinem
Familienkreise, mit
seinen Freunden, wir
erfahren alle seine Be-
zieliungen zu weltlichen
und gei.stlichen Kreisen,
wir lernen ihn als Philo.sophen, Humanisten, Anti-
cjiiar achten, als einen Geist, der alle Seiten der
menschlichen Natur erfasst, und mit Terenz sagen
kann; nihil liumani a me alienum puto.
Nichts desto weniger lag es dem Verfasser ferne,
die ganze Biograjdiie des Meisters neu aufzubauen.
Er kennzeichnet mit wenigen treffenden Zügen
Hubens’ vielseitige Richtungen, überlässt jedoch
liairtiHhury den y\ntifjuar, dachard und Vilaamü
den Diplomaten, um ihnen lediglich jene Daten zu
entnehmen, die sein Werk unterstützen. Sein Vor¬
trag bleibt stets einfach, klar, er erhebt sich jedoch
in den Beschreibungen einzelner Gemälde zu einer
Poesie, die mit dem Kolorit dieser Farbendichtungen
wetteifert; so z. B. im Höllensturz der Verdammten
(München), den er ergreifend schildert.
Rooses teilt Rubens’ künstlerische Laufbahn in
drei fast gleiche Zeiträume. Die erste Epoche um¬
fasst die Dauer seines italienischen Aufenthalts, die
Zeit, wo er unter dem italienischen Einfluss malte;
sie reicht ungefähr bis 1611 und schließt mit der
Aufrichtung des Kreuzes (Dom zu Antwerpen) ab.
Die zweite Epoche erstreckt sich bis 1625; ihr ge¬
hören die berühmtesten
Bilder an ; der hl. Ignaz,
und der hl. Franz Xaver
in Wien, die Kommu¬
nion des hl. Franz im
Museum zu Antwerpen
und vor allem die Kreuz¬
abnahme (das berühmte
Bild im Antwerpener
Dom). Aus der dritten
Epoche sind hervorzu¬
heben: der Bethlehe^ni-
tische Kindermord., das
Fest der Venus (Wien),
die Anbetung der Könige
im Antwerpener Mu¬
seum.
Man erkennt leicht,
dass es noch eine vierte
Epoche gäbe, eigentlich
die allererste, die jene
Bilder enthielte, die
Rubens vor seiner ita¬
lienischen Reise ge¬
schaffen; allein was wir
aus dieser Zeit von seiner
Thätigkeit kennen,
reicht nicht hin, diesen
Rahmen auszufüllen. Rooses ist viel zu vorsichtig,
diesen Boden zu betreten. Er eifert sogar, und das
mit Recht, gegen die unsinnige Behauptung, das durch
seine Verkürzung berühmte Bild des Museums von
Antwerpen, das den toten Heiland im Schoße seines
Vaters zeigt, sei vor der Abreise nach dem Süden
entstanden. Dr. Reber möchte die Anbetung der
Könige in der Pinakothek zu Lyon (No. 173), die
Vorsterraan in zwei Blättern gestochen, als voritalie¬
nisch ansehen, was nach Rooses’ und unserer Ansicht
ebensowenig statthaft ist. Auch in Bezug auf ein
anderes Bild müssen wir uns gegen das Urteil des
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCHUNG.
13
ausgezeichneten Münchener Kenners erklären, indem
wir überzeugt sind, dass der kleine HöUensturz der
Verdammten in Aachen (No. 93 bis) erst nach der
italienischen Reise entstanden ist. Diese Breite der
Auffassung erreichte Rubens unter dem Einflüsse
seiner lebhaften Erinnerungen erst nach seiner Heim¬
kehr. Als voritalienisch dürfte allenfalls das Jüngste
Gericht im Palazzo Balbi (Genua) (No. 92) angesehen
werden; dieses
schöne Bild atmet
den Geist Michel
Angeles, wir hal¬
ten es für ein
Jugendwerk un¬
seres Meisters.
Die Aufrich¬
tung des Kreuzes
galt bisher als das
früheste der Ant-
werpener Gemälde
von Rubens; es ist
aus d. J. 1611.
Rooses liefert uns
jedoch den höchst
wichtigen Nach¬
weis, dass die Kir¬
chenväter in der
Paulskirche zu
Antwerpen (No,
376), die heute
noch an ihrer ur¬
sprünglichen
Stelle hängen, aus
d. J. 1609 stammen
und ein eigen¬
händiges Werk
sind, das 1616 in
einem Inventar der
Kirche angeführt
wird. Die Aufrich¬
tung des Kreuzes
(No. 271) wurde
bekanntlich für die
Kirche der hl. Walburga gemalt, die man im Beginn un¬
seres Jahrhunderts niedergerissen hat. Mit Hilfe einer
alten Ansicht dieser Kirche konnte Rooses feststellen,
dass das Triptychon mit einem Giebel abschloss,
dessen Mittelbild Gott Vater zwischen zwei Engeln
zeigte. Dieses Giebelbild ist verkauft worden, doch
besitzen wir die mittlere Hauptgestalt heute noch in
einem Kupferstich von Berghe. Das Brüsseler Mu¬
seum besitzt überdies eine Ansicht der Walburga¬
kirche von Neefs; auf dieser Tafel befindet sich zwar
das Meisterwerk des Rubens nur angedeutet, doch ist
die Form des Bildes deutlich zu erkennen.
Schon als Rubens nach Antwerpen zurückkehrte,
war er ein bedeutender Künstler, völlig aber entfaltet
sich sein Genie erst später. Anfangs ist sein Vortrag
strenge, plastisch und hat noch nichts von jener
flüssigen Frische
des Kolorits, die
seine spätesten
Werke auszeich¬
net. Fügen wir
gleich hinzu, dass
er in dieser Zeit
das meiste unter
Mitwirkung seiner
Schüler ausge¬
führt hat und dass
seine Retouchen
seinem Tempera¬
ment entsprechen.
Rooses bemüht
sich , in den Bil¬
dern der dritten
Epoche die Hand
des Meisters von
der seiner Gehil¬
fen und Mitarbei¬
ter zu unterschei¬
den. Das dünkt
uns allenfalls noch
möglich, wenn es
sich um den An¬
teil eines seiner
besten Schüler,
eines van Dyck,
Snyders, Peter
Soutman oder van
Uden handelt. Die
untergeordneteren
Gehilfen, die Die-
penbeck, vanTul-
den und die noch weniger bekannten leben nur in
und durch Rubens; sich selbst überlassen, werden sie
kaum bemerkt. Es wäre übrigens weit gefehlt, wollte
man alle Gemälde des flandrischen Großmeisters aus¬
schließlich nach ihrer Technik beurteilen. Wenn er in
Italien und nach seiner Rückkehr unter dem Einflüsse
der Bolognesen und des Giulio Romano stand und seine
Malweise erst allmählich freier und breiter wurde,
Helene Fourment mit einem Kind auf dem Schooß, von Rubens.
Nach dem Stich von C. Feedeele.
14
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCHUNG.
darf man annähernd gleiche Fortschritte bei seinen
begabteren Gehilfen vorauszusetzen, die es ihnen
ermöglichten, ihrem Meister immer besser zu ent¬
sprechen. Doch diese Fähigkeit haben vs^ohl nicht
alle in gleichem Grade erworben, woraus ich schließe,
dass bei den meisten seiner großen Bilder Rubens
persönlich erst jene Verbesserungen machte, welche
die geübteren seiner Mitarbeiter an den Unter¬
malungen ihrer Vorgänger angebracht hatten. Diese
Gemälde werden also durch verschiedene Hände ge¬
gangen sein, ehe sie von Rubens vollendet wurden.
Aus dem Gesagten ergiebt sich die Folgerung, dass
wir die eigenhändige Arbeit des Meisters am sicher¬
sten in seinen kleineren Darstellungen, in seinen
Bildnissen und Landschaften namentlich der spä¬
teren Jahre vermuten dürfen; beklagt er sich doch
schon während seiner ersten Reise in Spanien, dass
ihm keine Gehilfen zur Seite stehen.
Wenn jedoch Rooses behauptet, große anerkannte
Meisterwerke wie die Kommunion des hl. Franciscus,
(No. 429 des Museums von Antwerpen), die Kreuz-
schlepjiung im Museum von Brüssel (No. 274) seien
eigenhändig von Rubens gemalt, so können wir dem
nicht unbedingt beipflichten. Es giebt gewiss selbst
unter den trefflichsten Werken in die Augen springende
Unterschiede; man darf gleichwohl anuehmen, dass
unter der Leitung eines solchen Meisters ein begabter
Maler Tüchtigeres leistete, als seine angeborenen An¬
lagen erwarten ließen. Wir sehen dies bei den
Kupferstechern seiner Schule , die, sobald sie selb¬
ständig arbeiten, eben doch nur ganz geringe Blätter
liefern.
Diese Bemerkungen wollen keineswegs die hohe
Achtung mindern, die wir dem tüchtigen Konservator
des Musee Blantin zollen. Er hat sich nicht begnügt,
die vornehmsten Galerien von Europa zu durchfor¬
schen, erbat die Beschreibungen aller Bilder, mit denen
der alten und neuen Quellen in Einklang gebracht,
den kün.stlerischen Wert eines jeden in wenigen Worten
genau fe.stgestellt und, dank seiner grossen Kennt¬
nisse, alle ungenügenden oder falschen Bestimmungen
vermieden. Wie das Ouevre vor uns liegt, bringt es
dem Leser mühelos alle erwünschten Aufschlüsse über
jedes erwähnte Bild und zugleich die Angabe aller
nach demselben erschienenen Stiche.
Wir behaupten nicht geradezu, dass mit diesen
vier Bänden die kunstgeschichtliche Würdigung des
Rubens abgeschlossen sei; diese Arbeit kann im
Laufe der Jahre bereichert, vervolkständigt, in ihrer
Gänze aber wohl niemals übertroff'en werden.
Und im Sinne dieser Überzeugung mag mau die
wenigen folgenden ergänzenden Bemerkungen auf¬
nehmen.
Im alten Testament, Bd. I, Seite 126, wird eine
mittelmäßige Radirung von Fr. de Roy: Hagar in der
Wüste (ohne Nummer) beschrieben. Dieses Blatt ist
nichts anderes als eine Wiederholung der hl. Mag¬
dalena in der Galerie des Dulwich College, die Phi¬
lips und Sparks als Helene Fourment im Kataloge
dieser Sammlung anführen. Rooses beschreibt das
reizende Bildchen unter der Nummer 471. Er hält
es, und wir mit ihm, für ein eigenhändiges Werk.
Wir wollen bloß bemerken, dass De Roy die Haupt¬
figur durch die Beifügung eines Engels und eines
noch elenderen Ismael in eine Hagar verwandelte.
Und da wir gerade in Dulwich sind, führen wir ein
von Rooses übergangenes Bild an : Samson, von den
rhilistern überrascht. Nach dem Kataloge wäre es
das Original des Kupferstichs von Jakob Matham,
der unter der Nummer 115 beschrieben wird. Dies
aber ist entschieden ungenau, auch ist das nebenbei
bemerkte schöne Bild nicht von Rubens, sondern von
Van Dyck. Das verschollene, von Matham gestochene
Bild erkennt man im Hintergründe eines Bildes der
Münchener Pinakothek, Nr. 720, von Frans Francken.
In Dulwich befinden sich überdies einige Porträts,
über die wir gerne des Verfassers Ansicht gehört
hätten und ein Mars, eine Venus und ein Cupido, welche
nach dem Kataloge (No. 351) von Boiswert gestochen
sein sollen, was uns ganz und gar überrascht.
Loth und seine Töchter wird in der Ambrosiana
dem Rubens zugeschrieben, wir halten das Bild für
unecht.
Die keusche Susamia, ein Gemälde mit lebens¬
großen Figuren in der Galerie von Turin, gestochen
von C. Jegher, scheint uns mindestens zweifelhaft.
Die Begegnung Jakobs mit Esau; hiervon befindet
sich eine Skizze in der Galerie Colonna in Rom.
Die Jungfraxi im Gebet vor der Wiege des Kindes,
(beschrieben unter No. 188). Das Original ist in
Schleißheim. Das Exemplar, das wir in unserer
Ilistoire de la gravure dans Vecole de Rubens als in der
Brüsseler Nikolaikirche befindlich anführten, ist eine
Kopie.
Nr. 233. Die heilige Familie. Rooses bemerkt,
dass außer dem Bilde im Pitti und bei Lord Lons-
dale Waagen dasselbe Werk auch in der Hougthon
Gallery erwähnt, aus welcher es nach Petersburg ge¬
kommen wäre. Er hat es in der Ermitage vergebens
gesucht. In der genannten Sammlung befindet sich
gleichwohl ein Stich von Valentin Green, jedoch nach
einem Maler „ Williket“ und zwar mit landschaftlichem
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCH ÜNG.
15
Hintergründe. Nun fügte es ein Zufall, dass uns
vor einigen Wochen ein Baron X besuchte, der uns
erzählte, er habe in einer Privatgalerie in Russland
ein Meisterwerk von Van Dyck entdeckt. Als wir
ihm sodann den Stich von Boiswert nach der hl. Fa¬
milie von Rubens zeigten, rief er aus: Das ist mein
Bild! Es dürfte demnach gewiss sein, dass das Bild
der Hougthon Gallery von der Kaiserin Katharina
Bild hat es nie gegeben. Mensaert behauptet, es be¬
finde sich in der Kapuzinerkirche von Courtray.
Descamps in seinem Yoyage piüoresque führt es nicht
an, und schließlich erklärt auch Mals in einer hand¬
schriftlichen Note, dass dieses Bild sich nie bei den
Kapuzinern in Courtray befunden habe.
Die Leidensgeschichte. Nr. 271 und 286. Ecee
homo, gestochen von P. Danmoot; Christus am Kreu%,
Tierstück von Rubens, nach dem Stich von Süjijieefield.
einem Herrn ihres Hofstaates geschenkt worden ist,
dessen Erben es heute noch bewahren.
Nr. 227. Die heilige Familie.^ aus der Sammlung
M. C. Butler, gestochen von Yorsterman. Die
Handzeichnung früher bei Mariette, gegenwärtig im
British Museum.
Nr. 232. Die heilige Familie mit der Taube. Die
Komposition lehnt sich an Raffael; Rubens hat sie
gewiss bald nach seiner Heimkehr gemalt. Eigentum
des Lord Dartmouth.
Nr. 235. Die Anbetung der Könige. Ein solches
gestochen von Vorsterman. Keines von beiden Bildern
scheint von Rubens zu sein, auch trägt keiner der
Stiche seinen Namen; die Bilder weisen entschieden
auf einen der zahlreichen Nachahmer des Meisters hin.
Nr. 340. Die heiligen Frauen am Grabe Christi. Das
Originalgemälde hat Dr. Theodor Frimmel im Bene¬
diktinerstift Molk in Niederösterreich nachgewiesen.
Nr. 378. Christus als Sieger über Tod und Sünde.
Dieses kleine Bild in der Turiner Galerie (Katalog 161)
glauben wir mit Fug und Recht dem Jordaens zuzu¬
weisen.
16
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCHUNU.
Nr. 434. Der hl. Georg den Drachen tötend, im
Museum von Neapel, ist eine alte lebensgroße Kopie
des im Museo del Prado in Madrid befindlichen
Originals.
Nr. 486. Die hh. Peter und Paid. Eine dem
Captain Hankey in London gehörige, herrliche Skizze
Nr. 770. Minerva besiegt die Unwissenheit. In
Brüssel, in der Galerie Potemkine.
Nr. 809. Ätis der Geschichte. Die Enthaltsamkeit
des Scipio. Das Museum von Tournay besitzt eine
alte Wiederholung in verkleinertem Maßstabe.
Verschiedenes. Nr. 851. Ein Mann, der ein Reh
Christi Geburt von Rubens, nach dem Stich von S. a Boiswert.
des Originals in der Müncliener Pinakothek (Katalog
Nr. 750).
Ans der iMglhologie. Nr. 682. Die Hochzeit der
Thetis und des Peleus. Ein kleines, ausgezeichnetes,
eigenhändiges Bild im Besitze des M. .1. P. Heseltine
in London.
trägt, und dessen Eh'au. Gegenwärtig im Besitze des
Sir Eduard Guinness.
Nr. 836. Der Liehesgarten, im Besitze des Baron
Edmond Rothschild in Paris, kommt auch in einer
kleinen alten Kopie im Museum von Neapel vor.
Aus den schönen Wissenschaften. Nr. 871. Cimon
ZUR NEUESTEN RUBENSFORSCHUNG.
17
und Iphigenie. Eine Wiederlioluiig im Museum von
Neapel; die Skizze bei Lord AVemyss.
Bildnisse. Nr. 1013. Ophotius, der Beichtvater
des Meisters. Wir halten das Porträt in der Galerie
Doi'ia in Rom für das Original. Eine alte Kopie
früher bei ARin in Brüssel.
No. 898. Isabella Brandt. Eine alte Wieder¬
holung in der Galerie Potemkine in Brüssel.
o
Nr. 1147. Ein Edelmann, der sich auf sehicn Stock
stützt in der Sammlung des Sir Eduard Bunbury.
Ein herrliches Bildnis des Ambrosius Spinola im
Ornat des goldenen A^ließes. Im Museum von Neapel
kommt ein lebensgroßes Porträt eines Edelmanns
im gleichen Ornate vor. (Ein Croy ?) Es ist ein
Werk zweiten Ranges, dessen Skizze Avir bei Du Bus
de Gisiguis vermuten.
Nr. 1025. Philipp IV. Eine alte Kopie bei Robert
in Brüssel.
Landschaft. Nr. 1170. Die Jagd des Mcleager ttnd
der Atalante. Eine Kopie im Museum von Köln.
Zum IV. Bande, Seite 125. Die iMutter Anna von
.Jesus (Karmeliter-Nonne). Rooses hält diese Benen¬
nung für falsch, er meint, das Bild stelle die hei¬
lige Therese vor. AAbr erlauben uns, ihn auf den
Stich von Wierix, Alvin, Nr. 1844, aufmerksam zu
machen. Es ist zweifellos, dass das Bild die Mutter
Anna von Jesus vorstellt.
Hiermit haben Avir unsere Bemerkungen über
die 1400 Seiten des gediegenen Werkes erschöpft
und laden die Kunstfreunde neuerdings ein, sich von
der Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit des A^er-
fassers zu überzeugen. Ein Avahres Aluster in ihrer
Art sind die Untersuchungen, die er über den be¬
rühmten Chapeau de paille der Londoner National
Gallery anstellt. Es kann nunmehr als erwiesen
gelten, dass wir in diesem Bildnisse Susanne, die
Schwester der Helene Fourment, die Gattin Arnold
Lundens, also Rubens’ SchAvägerin vor uns haben.
Rooses erkennt im Liebesgarten eine A^ersammlung
der Glieder der Familie Fourment und weist uns in
diesem bewunderten Werke bei Baron Edmond Roth¬
schild die AnAvesenheit der Trägerin des Strohhutes
nach. Der Dresdener Liebesgarten Avird endgültig für
eine Kopie erklärt. Sehr wichtig sind ferner die Studien
über die Wandteppiche nach Rubens: Der Triumph
des Glaubens und Consul Decius, bei welchem Rooses
mit Bode in der Beteiligung A^an Dycks überein¬
stimmt In nicht minder überzeugender W eise spricht
der A'^erfasser den heiligen Älcertin von Windsor dem
van Dyck zu.
Hier müssen wir schließlich noch einige Worte
über die 350 Tafeln des AV erkes einreihen. Die Re¬
produktionen sind sehr gut, Avie es von Alaes, dessen
Ruf nicht erst zu machen ist, nicht anders zu erwarten
war. Nur vermögen Avir uns kaum zu erklären,
weshalb es Rooses beliebte, Kupferstiche und Stein¬
drucke reproduziren zu lassen, wo es für die Leser doch
am wichtigsten wäre, mit den besprochenen Bildern
bekannt gemacht zu av erden. Gewiss, viele der
Platten, die unter Rubens’ Leitung gestochen, sind
Meisterstücke; es klebt ihnen nichtsdestoweniger
der Nachteil an, dass sie nicht das Bild selbst, nur
dessen Zeichnung oder Skizze, und diese nicht immer
ganz genau, Aviedergeben. Dies führt uns darauf,
hervorzuhebeu , dass Rooses eine große Anzahl von
jenen Zeichnungen des Louvre, nach Avelchen Vorster-
man stach, ihm auch zuschreibt. Diese seine Mei¬
nung können wir keineswegs teilen. Vorsterman
Avar vor allem Zeichner mit der Feder, seine Blätter
beabsichtigen, die Manier des Kupferstichs wiederzu¬
geben; er hätte nie den freien großen Zug der Zeich¬
nungen des Louvre erreicht. Unserer Überzeugung
nach sind dieselben von der Hand Van Dycks, von
dem Beilori hervorhebt, er habe mit Vorliebe Zeich¬
nungen zum ZAvecke der Vervielfältigung durch den
Grabstichel ausgeführt. Was endlich die Rötel¬
zeichnung der Sammlung Kums in AntAverpen, Venus
und Cupido, anbelangt, so halten wir sie für modern.
HENRI HY M ANS.
1) Noch wollen wir die Aufmerksamkeit des Verfassers
auf einen Wandteppich richten, der eine bisher unbekannte
Szene zur Geschichte des Decius bringt. Wir sahen denselben
1890 in der vom k. k. Österreichischen Museum veranstalteten
Ausstellung von Tapisserien. Die Komposition ist unseres
Wissens nie vervielfältigt worden; ihr Rubensischer Stil ist
unleugbar.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
3
Beetlioven, Miniatur von Chr. Horneman
CAREL L DAKE’S BEETHOVENBILDNIS.
NZÄIlLIGr sind die Versuche,
zumal in der modernen Kunst,
längst verstorbene große
Männer im Bildnis "wieder
aufleben zu lassen. Die
Berechtigung solcher Ver¬
suche muss aber nicht als
allgemein gütig angesehen
werden. Sie wird dort am meisten ausgesprochen
sein, wo es an zuverlässigen guten, gleichzeitigen
llildnissen mangelt. Hier kann man die Bemüh¬
ungen eines modernen Künstlers, etwa nach Person-
heschreil)ungen die Fehler der alten Porträte zu
v(*rhessern, nur sehr begreiflich finden. Sind aber
von einer Persönliclikeit mehrere wahrhaft getreue
Darstellungen vorhanden, so wird unser Interesse
an einem modernen Bildnis geringer und die
Berecliiigung, ein neues Porträt zu formen nur
schwach sein. Mit einem heute gezeichneten Na-
pfdeon 1. wird niemand besonderen Erfolg haben,
es müsste denn sein durch die treffliche sonstige
Beschaffenheit des Kunstwerkes, die ja von der Por-
trätähidichkeit ganz unabhängig ist. Nur dort also,
wo es schwierig ist, aus dem authentischen Material
ein klares Bild der äußeren Erscheinung von Persönlich¬
keiten zu gewinnen, welche der Geschichte ange¬
hören, steigen die Aktien für den modernen Wie¬
deraulbau einer längst verblichenen Gestalt. Die
vielen Unrichtigkeiten der gleichzeitigen Bildnisse
wirken auf den Laien verwirrend, der es wünschen
möchte, ein Porträt vor sich zu haben, das er ohne
viele kritische Vorbehalte für gut hinnehmen darf.
Wahrlich, bei Beethovens Bildnissen liegt uns
ein Fall vor, in dem es an Schwierigkeiten für die
Rekonstruktion der äußeren Erscheinung nicht fehlt.
Unter den authentischen Büdnissen Beethovens, die
auf künstlerischem Wege entstanden sind, giebt es
kaum ein einziges, das man ohne Vorbehalt als gut
bezeichnen könnte. Großes Vertrauen können wir
nur bei dem auf mechanische Weise hergestellten
Bildnis, bei der Maske aus dem Jahre 1812 und bei
der Büste von Franz Klein haben, die sklavisch nach
dieser Maske gefertigt ist. An der Maske fehlt
freilich das Auge, der Blick; auch der Mund, viel¬
leicht allzu krampfhaft geschlossen, mag in Wirk¬
lichkeit weichere Formen gehabt haben. Die Frisur
in Gips abgegossen zu sehen, wird niemand ver¬
langen. Dies die Mängel der Maske, denen nun
Franz Klein, ein Wiener Bildhauer der klassizistischen
Zeit, in dankenswerter Weise abgeholfen hat, indem
er zur Gipsraaske alles hinzu modellirte, was nötig
war, um dieselbe zu einer Büste zu ergänzen. Damals
stand Beethoven in seinen besten Jahren. Der Kla¬
vierfabrikant Streicher wollte von dem Meister, dessen
hohe Begabung schon in den weitesten Kreisen be¬
kannt war, eine Büste besitzen, und beauftragte
CAREL L. DAKE’S BEETHOVENBILDNIS.
19
Franz Klein, eine solche zu fertigen. Vorher wurde
der Komponist gebeten, sein Antlitz abgipsen zu
lassen. Unter welchen Umständen dies geschah, kann
ich hier nicht des näheren auseinandersetzen. Man
schlage mein Beethovenbuch („Neue Beethoveniana“)
auf, wo eingehende Mitteilungen über Beethovens
Bildnisse, insbesondere über die Kleinsche Maske
von 1812 zu finden sind. Hier mangelt es an Raum,
all’ die Dinge zu wiederholen. Nur eines wollen
wir uns von neuem klar machen, dass die Maske
für die Gesamtform des
Gesichtes, sowie für die
Einzelheiten der Stirn, der
Backen, des Kinnes voll¬
kommen zuverlässig ist.
Was Klein in der Büste
hinzuo-efügt hat, deren Ab-
bildung nebenstehend ge¬
geben wird, verdient nahe¬
zu dasselbe Vertrauen,
wenngleich die Unmittel¬
barkeit der Wiedergabe
dafür nicht dieselbe sein
kann, wie beim Abguss des
Gesichtes. Auch ist, wie
es die Zeit vorschreibt, das
Auge leblos gebildet.
Das Original der Klein-
schen Büste befindet sich
noch gegenwärtig im
Streicherscheu Hause. Das
Bonner Beethovenmuseum
beherbergt einen Abguss.
Wir wissen , dass es
neben der Kleinschen Mas¬
ke und Büste auch noch
viele andere Bildnisse des
Titanen der klassischen
Musik giebt. Wenn auch
in aller Kürze, so müssen
wir doch auf die bedeutsamsten derselben hinweiseu,
um eine Grundlage sicherer Art für die Beurteilung
der Dakeschen Radirung zu gewinnen.
Ein Schattenriss giebt uns das Profil des etwa
sechzehnjährigen Beethoven. Diese Silhouette ist
in den biographischen Notizen von Wegeier und Ries
zu finden und danach in meinem Beethovenbuch ab¬
gebildet. Das Köpfchen auf dem kurzen Hals weist
gar deutlich auf den gedrungenen Bau des jungen
Tonkünstlers, der damals noch in Bonn weilte.
Bald nach 1800, als Beethoven schon etwa zehn
Jahre lang Wiener geworden wai', und als er sich
schon mit seinem Klavierspiel den höchsten Ruhm
errungen hatte, wurde er mehrmals porträtirt. Einige
kleine Stiche und eine Miniatur von Horneman
wurden damals gefertigt. Sie geben uns, wie es
scheint, einigermaßen getreu den Beethoven von etwa
32 Jahren. Horneman, dessen Miniatur hier (auf S. 18)
in etwas vergrößerter Nachbildung erscheint, war um
1802 in Wien als Porträtmaler im kleinen thätig. Un¬
längst fand ich die vorbereitende Zeichnung von
Horneman für das Minia¬
turbildnis einer Dame, aus
dem Jahre 1802 und aus
Wien datirt, in der reichen
Sammlung von Handzeich¬
nungen, die vom Benedik¬
tinerstift Lambach in Ober¬
österreich bewahrt wird.
Das kleine Bildnis Beet¬
hovens befindet sich im
Besitz der Erben Dr. G.
V. Breunings.
Ungefähr im .lahre
1804 wurde Beethoven in
Lebensgröße von dem di-
lettirenden Beamten J. TU.
Mäkler gemalt. Das Ant¬
litz, so idealisirt es auch
ist, hat zweifellos gewisse
Analogien mit den Stichen
um 1800 und mit Horne-
mans Miniatur. Dasselbe
gilt , wenn auch in ge¬
ringerem Grade, von einem
bisher wenig beachteten
Beethovenporträt, das ein
anderer Dilettant J. Nen-
fjass im Jahre 1806 ge¬
malt hat. Es ist derselbe
Neugass, von dem man
auch ein lebensgroßes Bildnis Jos. Haydns besitzt. Der
Neugassische Beethoven (durch eine alte Inschrift auf
der Rückseite als Werk dieses Dilettanten beglaubigt
und dem Jahre 1806 zugewiesen) hängt nur noch
sehr locker mit den vorher genannten Bildnissen
zusammen. Das Mädchenhafte der ganzen Erschei¬
nung widerspricht aU dem, was die zuverlässigen
bildlichen und schriftlichen Quellen über Beethoven
zu sagen wissen. Auch die Zeichnung Lndw. v.
Schnorrs aus dem Jahre 1807 ist zweifellos ver¬
fehlt. Geineinsam mit den übrigen Bildern dieser
Beethoven, Büste von Franz Klein.
20
CAREL L. DAKE’S BEETHOVENBILDNIS.
Periode hat sie fast nur das schmale Backeiibärt-
chen, das Beethoven in jenen Jahren trug. Zu dem
Hornemau sehen Bildchen müssen wir noch einmal
zurückkehren, um die Nase desselben zu kritisiren.
Sie wurde von einem Gewährsmann als die best¬
getroffene Nase Beethovens bezeichnet. Eine Ver¬
gleichung mit der Nase an der Maske oder an der
Kleinschen Büste belehrt uns aber in überzeugender
Weise darüber, dass bei Horneman die Nasenspitze
zu groß ausgefallen ist. Berücksichtigt man nun,
dass der Dargestellte bei Horneman etwa 32, bei
Klein etwa 42 Jahre alt war, und dass eine mensch¬
liche Nase zwischen
dem 32. und 42. Le¬
bensjahre nicht klei¬
ner zu werden pflegt,
so fällt der Ruhm
jener Beethovennase
auf der Horneman-
schen Miniatur ganz
in sich zusammen.
Auf die Wichtig¬
keit der Maske und
Büste von Klein aus
dem Jahre IS 12 wur¬
de schon aufmerksam
gemacht. Belebend
tritt noch ein anderes
Bildnis hinzu , das
dem Jahre 1S14 an¬
gehört und das wir
als eines der besten
eben falls in Nachbil¬
dung liieher setzen.
Ich meine den
Stich von Jllasiiis
lliifrl nach einer Zeich¬
nung von Letronne.
Höfel, einer der ge¬
wandtesten und begabtesten Künstler jener Tage, ')
stellte seinen Stich mehr nach der Natur als nach
1) Die wiclitigstc Litteratnr iilicr Iffasius Höfel findet
••'ich in ineineni Ifeetliovenltuclie zusaniincngestellt. (S. 233 tf.)
liier füge icii liin/.n: lloi'inayra Arcliiv von 1822,8.192, 182.3,
S. 217, 1821, S. 220, 1828, No. 110; Pietzniggs ,, Mitteilungen
aus Wien“ 1831, S. 08; Katalog der Wicnior Kunstausstellung
von ls20; Oe.sterr. Nat. Kncyclopädie (183.0); „Pfennig-Maga¬
zin“ vom 1. .luli 183.0; Katalog der (Jalerie zu Lützschena,
8.41; A. .Mayer, Duclidruckergeschichte Wiens II, 220 ff.,
20111'.; „Wiener Ai)endpost“ 12. Mai 1880; Monatshlatt des
Wiener Altertunisvcreins Dez. 1880; Faullianinier : (Irilliiar-
zer, 8. 32.
Letronne’s (wie es heisst) missglückter Zeichnung her.
Diesem Umstande hat man es sicher auch zu dan¬
ken, dass wir ein brauchbares Beethovenbildnis mehr
haben, das uns den berühmten Beherrscher der Töne
in seiner Vollkraft vor Augen führt.
Ein Bildnis aus dem Jahre 1815, das wieder
von Mählers dilettirender Hand herstammt, galt zwar
bei Grillparzer und Bauernfeld als sehr getroffen, doch
fällt es so sehr aus der Reihe der übrigen Bilder
heraus, dass wir hier nicht weiter auf dasselbe ein-
ziigehen brauchen. Einige wenige Züge, die mit der
Maske übereinstimmen, seien anerkannt.
Je weiter wir
uns der Zeit nach von
der Maske des Jahres
1812 entfernen, desto
schwieriger wird die
Beurteilung der spä¬
teren Bildnisse des
Meisters. Denn einen
sicheren Anhalts¬
punkt, den bei an¬
deren Berühmtheiten
gelegentlich eine To-
tenmaske giebt, haben
wir bei Beethoven
deshalb nicht, weil
seine Totenmaske erst
nach der Obduktion
genommen Avorden i.st.
Sie giebt uns ein ver¬
zerrtes und verscho¬
benes Gesicht wieder,
das mit dem leben¬
den Beethoven gar
wenig mehr gemein
hat. Nähere Erörte¬
rungen dieser Fragen
gab ich in meinem
Beethovenbuch und in der jüngst ausgegebenen
Schrift „Jos. Danhauser und Beethoven“.
So sind wir denn hier Avieder auf die bedingungs¬
weise Vergleichung mit der ersten Maske und auf
die Stimmen von Beethovens Zeitgenossen angewie¬
sen, die uns Personbeschreibungen des hässlichen
Meisters hinterlassen haben. Manche dieser Stim¬
men hielten ihn unumwunden für hässlich. Der
Baron de Tremont bezeichnet ihn z. B. als einen
„homme fort laid (et ä l’air d’un mauvais humeur)“,
wie man das erst vor kurzem aus den hinterlassenen
Tagebüchern Tremonts erfahren hat. (Vergl. den
Beetlioven nach dem Stich von Blasius Höfel,
Beethoven nach Carel L. Dake’s Radirung.
f'. ■
CAREL L. DAKE’S BEETHOVENBILDNIS.
21
Guide musical vom 20. März 1892.) Bettina’s Mit¬
teilungen sind allbekannt. Auch die vorhandenen
Bildnisse, von denen wir noch einige nennen wollen,
widerlegen es keineswegs, wenn man Beethovens
Gesicht häs.slich nennen wollte, was übrigens zur
guten Hälfte Ansichtssache ist. lüöhcrs Bildnis, das
ich mit guten Gründen ins Jahr 1818 setze, ist viel¬
fach verzeichnet und falsch modellirt. Die Frisur
allein kann uns dafür nicht entschädigen. Die bald
darauf entstandenen Bildnisse von Schünon und Stieler
sind jedenfalls als
Porträte wert¬
voller. Sie sind
in den weitesten
Kreisen bekannt
und bestimmen viel¬
leicht nur allzu¬
sehr den allgemei¬
nen Begriff, den
man sich von Beet¬
hovens äußerer Er¬
scheinung gebildet
hat. Eine Zeich¬
nung wäre
durch neuerliche
Reproduktion erst
wieder zu Ehren
zu bringen.
Unsere Abbil¬
dung des WaJd-
iuüllerschen Gemäl¬
des giebt eines jener
Beethovenbildnisse
aus den zwanziger
-Jahren wieder, über
de.ssen Porträtähn¬
lichkeit sich strei¬
ten lässt. Schind¬
ler, der Biograph
Beethovens, der die
ungünstigen Um.stände kannte, unter denen das Ge¬
mälde entstanden ist, verwirft es gänzlich; und ge¬
wiss müssen wir eingestehen, dass Waldmüller viel
bessere Porträte gemalt hat als diesen Beethoven,
der auf Bestellung für die Firma Breitkopf und
Haertel entstanden, aber nicht nach der Natur fer¬
tig gemalt ist.
Eine Zeichnung von Decker, die von Steinmüller
gestochen ist, zeigt uns den schon totkrauken Kom¬
ponisten.
Gehen wir an einigen Arbeiten vorüber, die
wahrscheinlich nicht mehr nach dem Leben, sondern
nur aus frischer Erinnerung hergestellt sind, wie am
Medaillon Leopold Heubergers und an der Sclialler-
sclien Büste, so gelangen wir rasch zu den moder¬
nen Beethovenbildnissen, deren eines den Anlass zu
den vorliegenden Erörterungen bildet. Auf die Be-
reehtigung der modernen Kunst, sich einen neuen
Beethoven zu formen, wurde schon hiiigewiesen. Ich
füge noch hinzu, dass die Aufgabe hier wie in ana¬
logen Fällen von Rekonstruktionen keine leichte ist.
Wer sie lösen will,
muss fast ebenso
sehr Gelehrter oder
für die Ergel)uisse
der Wissenscliaft
zugänglich sein, wie
ihm hohe künst¬
lerische Becfabunff
zur Verfügung ste¬
hen muss. Die Ra-
diruug von Carel L.
Dcdce, deren Nach¬
bildung wir heute
den Lesern der Zeit¬
schrift bieten, ge¬
hört unbedingt zu
den besten Lösun¬
gen dieser Art. Ich
halte sie für den
besten Beethoven,
den wir unter den
modernen haben.
Dake’s Radirung
lehnt sich in erster
Linie an die Maske
von 1812 und be¬
rücksichtigt das,
was zuverlässige
Quellen über Beet¬
hovens Gestalt, Fri¬
sur, Kopfhaltung, gewöhnlichen Gesichtsausdruck be¬
richten, sie ist jedenfalls eine Arbeit, in der sich die
Gewissenhaftigkeit des Gelehrten und die gestaltende
Phantasie des Künstlers zu einem schönen Bündnis
die Hände reichen. Man lasse sich die Maske in
derselben Stellung und Beleuchtung vor Augen hal¬
ten, in denen Dake’s Radirung erscheint. Dann wird
die Gewissenhaftigkeit des Künstlers klar, der das
pockennarbige ausdrucksvolle Antlitz des großen
Komponisten in der glücklichsten Weise wieder be¬
lebt hat. Die Klipjien, die in der Benützung einer
Beethoven nach WaldjiBllers Bildnis.
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RADIRVEREINE.
Gripsmaske versteckt liegen, sind nach Möglichkeit
umschifft, und so sei denn Dake’s Radirung als ein
neuer Beethoven begrüßt, der gewissermaßen als
künstlerischer Auszug alles dessen gelten kann, was
man von Beethovens äußerer Erscheinung weiß.
wenigstens soweit, als sich dies in einem Brustbild
und in einem einzigen zum Ausdruck bringen lässt ’).
Wien, im September 1892. Dr. TH. v. FRIMMEL.
1) Bildgrösse cni. Preis vor der Schrift 40 Fr.,
mit der Schrift 25 Fr. Verlag von Dietrich & Co., Brüssel.
RADIRVEREINE.
AS Coalitionsrecht macht sich
neuerdings auch auf dem
Gebiete der bildenden Kunst
hemerklich. Man handelt
nicht mehr auf eigne Faust,
sondern sucht allenthalben
Vereinigung, Verständigung,
Zusammenschluss der Kräfte,
um starke Wirkungen zu erzielen. Auch die Maler¬
radirung, früher nur spärlich und vereinzelt in Deutsch¬
land mit Erfolg bestellt, wird gegenwärtig von Künst¬
lergruppen zum Felde friedlichen Wettstreits gemacht.
Seit längerer Zeit schon ist der Weimarische Radir-
verein in diesem Sinne thätig, ein Berliner Club, der
gleiclie Ziele verfolgt, hat sich vor einigen Jahren ge¬
bildet, ein Münchener Verein ist nachgefolgt und ein
Düsseldorfer geht soeben daran, den ersten Wurf zu
wagen 'j. Aber auch sonst mühen sich in dieser
Kunst in Deutschland viele Talente, und man kann
beinahe sagen, der Tiefdruck arbeite gegenwärtig
mit lloclnlruck. Dabei findet sich auch mehrfach
der erfreuliche Versuch, die künstlich aufgerichtete
Grenze zwischen Stecher und Radirer zu verwischen;
Stecher greifen zur Nadel und Nadelhelden gelegent¬
lich zum Grah.stichel, den man doch schon für halb
begraben erklärt hat. Beide Instrumente werden sogar
nebeneinander auf derselben Platte verwendet und
gewinnen dabei: die flüchtige Nadel, die gar oft zu
,.geriial“ drein fuhr, geht bedächtiger der Form nach
und das phlegmatische Werkzeug des „Stechers von
Fach“ wird in einigen neuen Erzeugnissen des Kunst¬
markts mit einer Freiheit und Leichtigkeit gehand-
habt, flie vom Herkömmlichen abweicht, und deren
Frsprung in der wiedererwachten Schätzung der
Radirung zu suchen ist.
Die ungemeine Beweglichkeit der Radirtechnik,
so viele Vorteile sie auch bietet, hat ihre Gefahren,
1) Das erste Heft cr.seheint im November.
denen selbst begabte Künstler anheimgefallen sind.
Man sehe nur, was Max Klinger vor zehn Jahren
schuf, im Vergleich zu seinen letzten Leistungen.
Das wilde Dreinfahren, die Verachtung des „Äußer¬
lichen“ kennzeichnete das junge Originalgenie, das
der Regel lacht; aber die Sturm- und Drangperiode
ist gewichen, aus dem Prestissimo der Mache ist ein
Allegro geworden, zum großen Vorteil der Werke,
die sich nun bis in die Einzelheiten mit Behagen
genießen lassen.
Der Satz, dass nicht die Thatsachen an sich, son¬
dern die Auffassung der Thatsachen die Welt regiert,
gilt in der Philosophie so gut wie in der Kunst.
Dieser Gedanke beherrscht auch die vorliegenden
Hefte aus Weimar, Berlin und München. Das „Ding
an sich“ einer solchen Radirung ist häufig ganz
unbedeutender Art und soll nur zum Träger der
künstlerischen Anschauung werden , nur die eigen¬
tümliche künstlerische Handschrift zeigen. Die Ver¬
schiedenheit dieser Handschinftprohen ist groß, so
groß, wie etwa die des Schön Schreibers und des
Bankdirektors: der eine strebt nach größter Deut¬
lichkeit und linearer Korrektheit der andere nach —
Unnachahmlichkeit. Dem einen gebricht's hie und
da an charakteristischem Ausdruck, der andere
wirft nur ein Gewirr von Linien und Punkten hin.
Nicht jede Improvisation ist als völlig geglückt zu
bezeichnen, wenn auch das Bestreben, „dem Augen¬
blick Dauer zu verleihen“, allenthalben erkennbar ist.
Die Radirung im engsten Sinne kennzeichnet
eine Verbindung des geätzten (oder von der kalten
Nadel geritzten) Striches mit den gewischten Tönen,
die der Drucker hinzufügt, meist nach Angabe des
Künstlers. Gewisse Radirungen, z. B. viele ameri¬
kanische, sind arm an festen Linien; für den Drucker
bilden sie ein Skelett, dem er erst das Fleisch anzu¬
setzen hat. Andere Künstler geben fast alles, was
im Druck erscheint, der Platte mit, die dann nicht
selten kalil und trocken wirkt. Die rechte Beschrän-
\
i
i
1
EADIRVEKEINE.
2:3
kung beider Elemente, ihre rechte A^erquickung,
kennzeichnet den Meister. Unter den dreißig Blättern,
die uns vorliegen, ist diese Mitte meistens festge¬
halten. Jedes einzeln zu besprechen, wird man uns
gewiß erlassen; ja auch alle anzuführen und mit
etwaigen schmückenden Beiwörtern zu begleiten, muss
uns ebenso sehr Aviederstreben, wie es den so beur¬
teilten Urhebern zu missfallen pflegt. Statt dessen
geben wir von zweien der Sammlungen Proben in
dem vorliegenden Hefte mit. Das Blatt von Alb.
Bmidel, dessen Spezialität in zwei Nummern des
AVeimarischen Albums zu finden ist, und die Mond¬
landschaft von A. Döring sind Stücke, die deutlich
genug für den AA^ert der Sammlungen sprechen. Die
AVeimarischen Künstler haben vierzehn Proben ihrer
Kunst gehefert; die Hälfte davon sind Landschaften,
unter denen die flüchtig, aber energisch behandel¬
ten, stimmungsvollen Blätter hervorragen, die von
V. Gleichen-Rnssmmn und Aspergcr herrühren. Die
AA^eimaraner haben in ihren Heften von jeher das
Bestreben gezeigt, echte Malerradirungen zu liefern
und den Versuch, dem landläufigen Geschmack des
Publikums Konzessionen zu machen, mit Recht ver¬
schmäht. Aber nicht alle Blätter in dem Hefte
stehen auf gleicher Höhe. Zu den weniger gelun¬
genen, denen man die Mühe ansieht, zählen Avir den
Zecher von 0. Fröhlich und den auch in der Kompo¬
sition Avenig anziehenden Frühlingstag von Wcich-
herger. Interessant ist die A^ergleichung der Studie
von 0. Rasch mit einem Blatte ähnlicher Art von
P. Hahn. Es findet sich in dem Münchener Hefte,
in dem, abgesehen von Halms fein gezeichneter Studie,
die kleinen Blätter die besten sind. Den erfahrenen
Radirer und ganz selbstständigen Künstler finden
Avir in Franz Stucks Bildnis seiner Mutter, das höchst
charakteristisch ausgeführt ist, Avieder. Das Mün¬
chener Heft ist numerisch, aber nicht künstlerisch
am schwächsten, es enthält nur sechs Blätter; ein
zweites mit gleichem Inhalt soll binnen k urzem nach-
folgen. Das Berliner Heft bringt acht Proben, die
durchweg eine sorgfältige Behandlung zeigen. G.
Eilers hat wiederum eine sehr gelungene Porträt¬
radirung, Joseph Joachim darstellend, beigesteuert und
außerdem eine Elusslandschaft mit klarer Ferne hin¬
zugegeben. Dieser ganz korrekt ausgeführten Arbeit
mangelt es etwas an AAhirme, an jener Verve, die
man sonst bei dem ccm forte schätzt. Von II. Kohnert
finden Avir eine sorglich ausgeführte Probe, die mit
zu dem Besten gehört, Avas von diesem talentvollen
Künstler herrührt. Ph. Francks stimmungsvolle
AVinterlandschaft mit bleischwerem Himmel reiht
sich ebenbürtig an. II. Schnees Vedute ist sul)til
ausgeführt, aber ein wenig flau; das Titelbild von
G. Lemni, einem jungen Künstler, kommt bei aller
Betonung der Gegensätze nicht zu der AVirkuug, die
Avir auf andern Blättern seiner Hand fanden.
Alles in allem genommen, sind diese drei Samm¬
lungen dem Kunstfreunde zu wiederholter Besichti¬
gung sehr zu empfehlen. Man kann nicht genug
darauf hinAveisen, dass sich der innere AVert der
KunstAverke erst bei näherer Bekanntschaft enthüllt.
Das gedankenlose Begucken der graphischen Kunst¬
Averke, zu dem die stets noch steigende Flut der
Holzschnitte verleitet, stumpft den feineren Sinn ab,
und raubt nach und nach die Fähigkeit, die Blume
einer künstlerischen Leistung zu schmecken. Die
illustrirten Blätter arbeiten fortgesetzt an dieser Ab¬
stumpfung. Dem entgegen zu wirken, ist eine Mission
der Radirung, die sich schon in der Art ihrer Her¬
stellung der Originalzeichnung nähert. Je mehr wir
in Deutschland fortfahren, diese edlere Vervielfälti¬
gung zu pflegen, um so mehr fördern wir die wahre,
echte Kunstbetrachtung.
NAUTILUS.
KLEINE MITTEILUNGEN
X Die Aufsätze über Murillo aus der Feder unseres
geschätzten Mitarbeiters Gebeimrat l’rof. Dr. Justi sind so¬
eben in einer Sonderausgabe erschienen. Sie bilden nun
einen stattlichen Quartband, der gebunden zu dem sehr
mäßigen Preise von sechs Mark zu haben ist.
St. Dresden. Im November findet im zweiten Stockwerk
des Brühlschen Palais in der Augustusstrasse eine Ausstellung
von Mainerhen sächsischer Känstlermnen statt. Die Anmel¬
dungen von seiten der hervorragendsten sächsischen Künst¬
lerinnen, auch solchen, welche gegenwärtig im Ausland
leben, sind bereits so zahlreich eingegangen, dass diese Aus¬
stellung hochinteressant zu werden verspricht. Der Ertrag
der Ausstellung ist für einen wohlthätigen Zweck, den
Centralfonds der obererzgebirgischen Frauenvereine, bestimmt,
[Dresd. Nachr.)
St. Münchc7i. Eine kleine, aber höchst interessante
Sammlung der letzten Arbeiten Herkomers ist bei H. L.
Xenniann zur Ausstellung gelangt.
— X Das Museum in Leipzig hat ein neues Bildnis von
der Hand Franz von Lcnhachs erworben, ein neues Meister¬
stück des berühmten Darstellers berühmter Persönlichkeiten.
Es zeigt den König Albert von Sachsen im Profil. Wie über¬
all in Lenbachs Werken, ist die höchste künstlerische Energie
in den Blick des hohen Herrn gelegt, der gespannt ins Weite
blickt, als verfolge er den Gang des Kriegsspiels. Angesichts
dieses Bildes wird wiederum klar, was menschliche Kunst vor
der photographischen Maschine voraus hat. Sie erst weiß zu be¬
seelen und stellt nicht die Persönlichkeit in einem zufälligen
Momente dar, sondern nimmt die Quintessenz des Wesens her¬
aus und enthüllt mit der Außenseite einen guten Teil des
Geistes, der sich diesen Körper baute. Freilich vermag nur
der echte Künstler dieses Problem zu lösen, und insofern ist
das Porträt der wahre Prüfstein der Meisters genannt worden.
Lenbach hat seine Meisterschaft im emsigen Studium der Alten
erworben, auf die so viele „Moderne“ mit Verachtung blicken.
Und dennoch ist nichts, was aufdringlich an alte Meister er¬
innerte, es seien denn Äußerlichkeiten. Wie man’s machen
mu.«s, um zum echten „bnlividualismus“, nach dem jetzt so
vielfach gerufen wird, zu gelangen, hat kein Neuerer besser
gezeigt, als der große Münchener Meister.
St- l'aris. Wegen einer von der Verwaltung des Louvre
vor einiger Zeit angekauften Bronzestatuettc scheint sich ein
Prozess entspinnen zu wollen, indem dieselbe von sachver¬
ständiger Seite nachträglich als &ine Fälschting erkannt wor¬
den ist. Die Statuette sollte Venezianer Herkunft sein und aus
den letzten .Jahren des LO. .Jahrhunderts stammen. Genaue
I ’ntersuchungen haben ergeben, dass der Kopf einer Büste
im M useiiin Correr in Venedig nachgebildet ist, während der
übrige Körper in seinen Projiortionen mit dem Kopf nicht
in Cl)ereinstimmung steht. Ferner hat sich der Guß als sehr
mittelmäßig herausgestellt, und die Patina ist der der mo¬
dernen venezianisclniti Bronzearbeiter gleich. Glücklicher¬
weise i.st der Kaufjtreis von 4t)0t)0 Francs noch nicht gezahlt
worden, und der Verkäufer wird, wenn er seine Bronze nicht
zurücknehmen will, sich auf einen Prozess wegen Betrug ge¬
fasst machen müssen. {Le Teinps.)
* Von der Breragalerie in Mailand ist soeben ein von
Prof. O. Carotti verfasster neuer Katalog erschienen, welcher
alle Erwerbungen der Sammlung aus den letzten Jahren
und die Resultate der jüngsten Forschung gebührend berück¬
sichtigt und den zahlreichen Besuchern der weltberühmten
Galerie willkommen sein wird. Der Katalog zerfällt in zwei
durch getrennte Nummern folgen gekennzeichnete Abteilungen,
deren erste die im Vestibül aufgestellten Fresken nebst einem
Appendix umfasst, während die zweite die in den eigentlichen
Galerieräumen aufgehängten Bilder enthält. Ein Index nach
Schulen geordnet und zwei Namens- und Nummernverzeich-
nisse dienen zur J:)equemen Orientirung. Die Fassung des
Katalogs ist sehr kurz ; nur von einzelnen wichtigeren Bildern
werden knappe Beschreibungen gegeben. Die Ausstattung
ist gut und handlich.
St. München. Vor einigen Tagen hat Dr. Fi-ed. Neidon
Scott, Professor der Universität von Michigan, einen Vortrag
gehalten, der von der Annahme ausgehend, daß die Weltaus¬
stellung zu Chicago einen mächtigen Einfluss auf die künftige
Wertschätzung der deutschen Kunst seitens der Amerikaner und
besonders auf die fernere Anziehungskraft Münchens als Auf¬
enthaltsort für Kunstbeflissene aus Amerika ausüben werde,
sich dahin aussprach, dass es durchaus notwendig sei, dass
die künstlerische Thätigkeit Münchens, wie sie heute geübt
wird, eine treue Darstellung finde. Dazu gehörten aber auch
die Künstler, welche sich vor einiger Zeit von der Kunstge¬
nossenschaft getrennt hätten, und er könne nicht genug be¬
tonen, dass diesen von der Jury ein gebührender Platz ein¬
geräumt werden möge.
St - Frankfurt a.jM. Am 27. Oktober 1. J. versteigert
Herr Rud. Bangel die Sammlung von Gemälden moderner
und älterer Meister aus dem Besitze des Herrn Karl Mel-
linger in Mainz. Unter den modernen Bildern finden sich
Arlieiten von Th. Schüler, Ant. Burger, A. Adami, Canton,
Dallwigk, H. Koekkoek, Litschauer u. a. Die Sammlung äl¬
terer Meister ist zahlreicher und zeichnet sich, weil sie dem
Besitzer meist durch Erbschaft zugefallen ist, dadurch aus,
dass die Provenienz fast sämtlicher Gemälde als eine gute be¬
kannt ist. Die holländische und vlämische Schule wiegen
vor, ein Rembrandt (Porträt des Predigers Cabeljau, 1634
gemalt) ein Rubens sind zu nennen; doch auch Italiener,
Spanier, Deutsche und Franzosen sind vertreten. Der Kata¬
log, welcher mit neun Abbildungen in Lichtdruck versehen ist,
und noch einige schöne Möbel, Miniaturen u. s. w. beschreibt,
ist soeben erschienen.
X. Unsere Absicht, den Lesern mit vorliegendem Hefte
noch einen dritten Ktipfcrdruck zu l)ieten, wurde leider durch¬
kreuzt durch mangelhafte Druckfähigkeit der fraglichen
Platte; ein Ubelstand , der sich erst während des Druckes
herausstellte. Wir werden das fehlende Blatt (Origiiial-
radirung von IL Laukota) dem nächsten Hefte beifügen.
IlerausgcJjer: Carl von LiiUow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Fries in Leipzig.
Schwere Arbeit, tiemälde von H. Zügel.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
VON ALFEEI) OOTTHOIJ) MEYER.
UF dem von entwor¬
fenen Plakat des diesjährigen
Münchener Salons verzeich-
nete der Genius derGeschichte
den Alicen des Mün¬
vor
chener Kindls diesmal nicht
eine ., Jahres-“ sondern eine
„Internationale“ Ausstellung,
die sechste ihrer Gattung. Dieser veränderte Titel
besagt zunächst lediglich, dass die Leitung des
Unternehmens nicht bei der Münchener Künstler¬
genossenschaft lag, sondern dass an ihm die Staats¬
regierung offiziell beteiligt war, aber dieser äußere
Unterschied lässt auf einen inneren schließen: man
hat sich gewöhnt, in der staatlich privilegirten
Kunst die hergebrachten Wege zu erkennen, die
Pfadfinder aber in den Reihen derer zu suchen, die
Amt und Würden möglichst fern stehen. Wohl
nicht ganz mit Unrecht für etliche Centren der
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
deutschen Kunstpflege, die Reichshauptstadt an der
Spitze, mit halbem Recht aber für die Kunststadt an
der Isar, wie schon der flüchtigste Überblick über
die Ankäufe für die Pinakothek genugsam bezeugt.
In der That war denn auch der Gesamteindruck des
diesjährigen Salons von den „Jahresausstellungen“
nicht wesentlich verschieden: nicht nationaler, ob¬
schon die Schotten fehlten , die Engländer und
Franzosen nur schwach vertreten waren, auch nicht
internationaler, obgleich die Kunst der Amerikaner,
Polen, Ungarn, Österreicher und auch wohl der
Spanier diesmal aus breiteren Spiegelbildern zurück¬
strahlte, und äußerlich eine schärfere Scheidung nach
Volksstämmen durchgeführt wurde. Die Eigenart
der Ausstellung äußerte sieb zunächst darin, dass
die Durchschnittshöhe künstlerischer Leistungsfähig¬
keit diesmal ganz unbedingt den Ton angab, und
Außergewöhnliches nur vereinzelt blieb. Nicht die
extremen Ziele der Zukunft traten hervor, sondern
4
•26
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
die Hauptpfade der bereits vollzogenen Entwicklung:
die Ausstellung bot eine Durcbscbnittsbilanz durch
die Errungenschaften des letzten Jahrzehntes.
In diesem Sinne war das Gesamtbild des Münchener
Salons der beredteste Zeuge gegen jene Unglück
weissagenden Stimmen der Kritik, av eiche in der
„neuen Richtung“ einen zum Verfall führenden Irr¬
weg der Kunst verdammten. Sie vergaßen dabei,
dass eine neue Wahrheit nicht in derjenigen Form
aufzutreten pflegt, in der sie fortleben kann, dass
sie sich allgemach mit dem Bestehenden in Einklang
setzen nnrss und erst in diesem Assimilationsprozess
ihre Lebensfähigkeit bewährt. Der letztere — das
ließen selbst in Deutschland die Münchener Jahres¬
und die letzte Berliner Jubiläumsausstellung deutlich
erkennen — ist für unsere Malerei bereits ein¬
getreten, und sein Ergebnis kann nicht mehr zweifel¬
haft sein. So zahlreiche Namen man der „neuen
Schule“ gegeben, die, von Frankreich ausgehend,
jetzt die Welt erobert hat — ihr allgemeinstes, blei¬
bendes Charakteristikon ist: selbständiges Studium
der natürlichen Erscheinung; im negativen Sinne:
bewusste Abkehr von aller ümvahrheit, vor allem
von konventioneller Mache und bühnengemäßer Pose,
Abkelir selbst von dem Medium, Avelches die Werke
tler Vergangenheit zwischen den heutigen Künstler
und die Natur stellen. — Fast jedwede Zeit freilich
scliwor auf eine ähnliche Parole, aber man fasste
diesellje früher in anderem Sinne auf als lieute. ln
der modernen Malerei steht die Erscl/cinwifj als solche
im Vordergrund, nicht deren TJedetitmu] , und zwar
die Erscbeinung als solche, wie sie flüchtig vor dem
Auge vorüberzieht in Licht und Luft und Farben;
den plötzlicben, scbnell verschwindenden Reiz, der
die Neizbaut triflt, den momentanen Eindruck, den
-ie dort zurücklässt, sollen die Farben auf die Lein¬
wand lainneii. ])iese Nüance des Realismus, Avelche
sieb doch am b(;sten mit dem Begriff Im])ressionismus
deckt, bleiltt in ihrer heutigen, ausgedehnten Herr-
■scliafl ein kunstliistorisches Novum, weit mehr noch
ah die eigentliche Freilichtmalerei, und leitete zum
'Peil thatsächlieh auf neue Bahnen. Sie hat zunächst
den Darstellungsstolf (Tweitert: man schildert mo¬
mentane Bilder mit einer IJchtfülle, mit Farbenkon-
trasteji, im Dunkel der Dämmerung, an deren Wie¬
dergabe man sich früher nur ganz vereinzelt wagte.
Sie hat ferner den Blick für lacht und Farben ver¬
feinert und mit ihm den koloristischen Sinn vertieft
und erweitert. Sie liat en<llich den Maler mit einer
neuen Liebe für jegliclioi Teil der Natur erfüllt,
welche etwas von der christlichen Lehre enthält,
gerade im Dürftigen, Unscheinbaren, Verkommenen
das Wunder der Schöpfung zu achten. — Diese drei
Folgen des eigentlichen Impressionismus beginnen
jetzt bereits auch auf diejenige Kunstweise zurück¬
zuwirken, welche den traditionellen Aufgaben treu
bleibt, und gerade eine solche Ausstellung, wie die
diesjährige Münchener, giebt über das Ergebnis
trefflich Aufschluss, denn sie enthält kaum noch das
ursprüngliche, mit mannigfachen Schlacken versetzte
Gold der ersten, halb zufälligen Funde, sondern den
Ertrag bedächtigen Sammelns, ja schon die sauber
geprägte, gangbare Münze.
Vor allem gilt dies hier von der deutschen
Malerei, denn das Ausland war für diesen Gesichts¬
punkt selbstverständlich nicht reich genug vertreten.
I. Deutsche Med er ei.
Von der Nachahmung der Natur, nicht von der
schöpferischen Phantasie ist die neue Richtung aus¬
gegangen, begreiflich also, dass sich jener Assimi¬
lationsprozess jetzt zunächst auf denjenigen Gebieten
vollzieht, welche das subjektive Element des Schaffens
in verhältnismäßig enge Schranken bannen: im Bildnis
und in der Landschaft. Ich beginne mit der letzteren,
weil sie den oben gekennzeichneten Vorgang zweifellos
am klarsten spiegelt.
Eine gleiche Fülle von Landschaftsbildern, die
jeder Geschmacksrichtung Zusagen und jedem Kunst¬
händler willkommen wären, war Avohl auf keiner
früheren „Jahresausstellung“ vereint, und in dieser
großen Schar, vom monumentalen Museumsstück
bis herab zum Avinzigsten Maßstab, kaum eine einzige
untüchtige, dagegen eine stattliche Reihe muster¬
gültiger Arbeiten! AltbeAvährte und neue Namen
standen hier so dicht nebeneinander, dass eine Aus-
Avahl sch AVer wird. Viele sind bereits gleichsam zum
Schlagwort für bestimmte Richtungen und Stoffe
geworden — selbst abgesehen von Joscjdt Wenglcin
und Jjudu-iej Willroider, die schon zu den Klassikern
zählen und auch diesmal die Schönheit der ober¬
bayerischen Lande in wahrhaft epischem Stile feierten.
Ich nenne nur Karl Ludwig — durch eine prächtige
Alpenlandschaft vertreten, — Friedrich Kalhnorgen,
(„Oktoberabend“ für die Pinakothek angekauft), iJnc/i
Kuhierschkg, dessen Vorfrühlingsbilder den gleichen
Grundton mit wachsender Feinheit variiren, und den
Stuttgarter Otto Jiciniger, dessen ernste Pfade diesmal
auch Erivin Starker mit tüchtiger Schulung betrat.
Andere erreichten innerhalb ihres schon bekannten
Spezialgebietes in dieser Ausstellung eine höhere
Stufe als bisher, so Ander sen-Lundby, welcher mit
DTE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
27
seiner köstlichen Winterflaclilandschaft bei Abend¬
dämmerung seine früheren Arbeiten selbst in den
Schatten stellt. — Nicht auf den Werken dieser
Künstler jedoch beruht der oben angedeutete Ge¬
samteindruck, den die deutsche Landschaftsmalerei
hier hervorrief: sie bezeichnen vielmehr gleichsam
nur einzelne Höhepunkte des Hintergrundes, von
welchem sich das Hauptbild abhob, repräsentirt durch
eine ganze Reihe bisher wenig bekannter Namen,
an deren Spitze freilich wiederum etliche bewährte
Persönlichkeiten stehen. — Gemeinsam ist hier zunächst
ein völlig naiionakr Zug. Fast alle diese Bilder
feiern die Reize der urdeutschen Lande, und fast alle
bleiben hierbei innerhalb der engeren heimatlichen
Grenzen ihrer Meister, fern von den Stätten, an denen
die Sprache der Natur einen höheren, majestätischen
Ton anschlägt, fern besonders von den Regionen
des Hochgebirges. Der Umgebung Münchens mit
ihrem schlichten Seen- und Waldgebiet, dem von der
Natur so dürftig bedachten norddeutschen Flachland,
sind weitaus die meisten Motive entlehnt. Es ist,
als sei den deutschen Malern erst in unseren Tagen,
welche die räumliche Entfernung der Länder ver¬
gessen lassen, der rechte, liebevolle Sinn für das
heimische Stückchen Erde aufgegangen. Aber man
sieht dasselbe jetzt auch mit anderen Augen an, als
zuvor! Eine neue Freude an der Natur ist erwacht,
den Blick beseelend mit einer bisher ganz unge¬
wöhnlichen Wahrnehmungskraft für den Reichtum an
Licht und an Farben, für die Stimmung, für die
Poesie, den selbst der winzigste, beliebig gewählte
Naturausschnitt zu Zeiten birgt. Breitet sich doch
über das kahlste Flachland das herrlichste Schau¬
spiel von Wolken und Sonnenschein und .strahlt
auch aus dem armseligsten Weiher zurück; ist doch
das dürftigste Feld von Mohn und Kornblumen durch¬
webt, und der schmutzige Tümpel in seinem Schlamm
reich an einem Grün von märchenhafter Pracht! —
Mit wenigen Worten ist der Inhalt dieser Darstellungen
zu erledigen, ihre Stimmung zu kennzeichnen aber
reicht meist die beredteste Schilderung nicht aus.
Keller- Ee II tlin gen malt ein bayerisches Dörfchen bei
Nacht — ein paar Dächer, die zwischen dunklen
Bäumen aufragen, etliche Lichter, aus den Fenstern
dringend, darüber der nächtliche Himmel; er zeigt
ein Bächlein, über dessen Wellen die Baumwurzeln
frei hängen, eine Fernsicht über die Wiesen hin,
wo am fernen Horizont eine Stadt auftaucht — und
alle diese Bilder, die auf jedweder Eisenbahnfahrt
vorüberfliegen, werden unter seinem Pinsel zu ge¬
malten Gedichten und fesseln, je länger man sie be¬
trachtet. Charles Falmie belauscht einen Waldweiher
während das Mondlicht auf seinem Wasser zittert,
und unter dessen Strahlen scheint dort ein geheim¬
nisvolles Leben zu beginnen; er widmet in einem
anderen Bild die Hauptfläche der Spiegelung einer
Häuserreihe in einem Gewässer — die Uferlinie ist
dem oberen Rande des Gemäldes nahe — ■ und er weiß
diesem Thema in der Herbststimmung koloristische
Reize abzugewinnen, welche selbst eine italienische
Landschaft verdunkeln könnten. Das gleiche gilt
von der meisterhaften Landschaft Peter Paul Müllers
„Am Weiher“, und von den treffliclien Arbeiten der
Charlotte Marie Walstah („Am Schlossteich“), Fritz
Rahemling^ Otto Eismanii und Adolph Ditscheiner.
Freilich ist bei dieser Richtung eine gewisse Ab¬
sichtlichkeit unverkennbar, aber eine Kunst, die das
Auge für unbeachtete Schönheit der alltäglichen Er¬
scheinung öffnet, ist auf gutem Wege. Noch
schlichteren Stoffen wendet sich eine andere Gruppe
von Künstlern — genannt sei nur Viktor Weishaupt
— zu. Sie wählen Naturausschnitte, welche man
bisher meist nur als Vordergrund für stattliche
Fernsicht zu verewigen pflegte, zu selbständigen
Bildern, verzichten dabei auf drastische Beleuchtung
und schärfere koloristische Kontraste, und schaffen
dennoch reizvolle Werke, weil jeder Pinselstrich die
Freude an der Natur verkündet und eine Liebe zu
deren Kleinleben, wie sie etwa aus Werther’s ersten
Briefen tönt. Hierbei wird dementsprechend ein
kleines Format bevorzugt, und an die Stelle der
breiten, auf Wirkung in die Ferne berechneten Be¬
handlung, wie sie eine Reihe der jungen Münchener
Landschafter, wie Otto Uhhclejhde, mit tüchtigem
Können ausübt, treten feinere Pinselstriche, die, sorg¬
sam vertrieben, das Auge auch in unmittelbarer
Nähe fesseln. Ein gutes Beispiel für diese Malweise
bot das an Spitzweg’s Art erinnernde Gemälde
Philij)p Sporrer’s „Vor dem Gewitter“. — Sonnen¬
schein und Licht haben die Geburtsjahre der mo¬
dernen Schule begleitet, und wenn sie unter dem
Druck der pessimistischen Nebenströmungen zeit¬
weilig verschwanden und der Zauber eines hellen
Sommertages dem Auge des eingefleischten Realisten
— wie Heyse sagt — „als ein prahlerischer Aufputz
der nature endimanchee“ erschien, so beginnt man
diese Verirrung gegen ein gesundes Empfinden schon
seit einigen Jahren wieder gut zu machen, und gerade
die Hellmaler schreiten hier wacker voran. Auch
hierfür brachte die Ausstellung zahlreiche Belege,
und nur als beliebige Beispiele seien die Arbeiten
der Münchener Georg Flad, Josua von Oietl, Theodor
4*
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
29
Heine, Ludtcig Dill, Adalbert Niemeyer, Eduard Selxani
und Wilhelm Trübncr erwähnt. Selbst in den zahl¬
reichen Herhstlandschaften — ich nenne nur von
Münchenern Fritz Baer, Hugo Bürgel und Karl Hart¬
mann, die Düsseldorfer Hermann Bahner, Olof Jern-
bcrg und Lndicig Munthe und H. v. Volkmann (Karls¬
ruhe) — gelangt häufiger der koloristische Reiz des
Laubes und der wallenden Nebel, als die Melancholie
der Herbststimmung zum Ausdruck, ähnlich wde die
lustigen Farben der Obstblüte einen Grundton der
modernen Frühlingslandschaften kennzeichnen. Ern¬
ster fasste der talentvolle Karl Vinnen dies Thema in
einer trefilicheu Flachlaudschaft mit überschwemmten
Wiesen unter regenschwangerem Himmel.
Noch erübrigt es, einzelne Landschafter namhaft
zu machen, die in dieser Ausstellung in ungewöhn¬
licher und für die neuen Ziele besonders bezeich¬
nender Ai't zum Wort gelangten. An der Spitze stand
von den Münchenern hier zunächst Robert Poetzel-
berger. Seinen Ruhm in weiteren Kreisen dankt er
bisher dem Liebreiz seiner Frauengestalten, welche
nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Empfinden
die Wertherperiode spiegeln, als Landschafter aber
schlug er diesmal einen völlig anderen, kräftigeren
Ton an. Aus Franken stammt sein Motiv, und etwas
von des Franken Albrecht Dürers Weise ist auch
dem Gemälde angeflogen. So unbefangen und um
Effekte gänzlich unbekümmert scheint dieser Natur¬
ausschnitt gewählt, v ie in etlichen Dürer’schen Ac^ua-
rellen, und just mit gleich deutscher, liebevoller Gründ¬
lichkeit, wie dort , haftete das Auge am einzelnen.
Von hohem Standort schweift der Blick über das
Thal, wobei der Horizont so weit emporgerückt ist,
dass nur für einen winzigen Streifen Himmel Raum
bleibt. In der Plastik der Einzelformen zeigt sich
ein Achtung gebietendes Können. Hans Thoma, der
in seinen Landschaften ähnliches erstrebt, muss an
diesem Werk seine Freude haben. — Sprach der
Einfluss der modernen Richtung hier nur aus der
subtilen Naturbeobachtung, besonders in den Farben-
nüancen der Luftperspektive, so leuchtete das Zeichen
der neuen Schule aus einer zweiten, ungewöhnlichen
Landschaft der deutschen Abteilung dem Beschauer
schon aus der Ferne entgegen: Hans Olde's „Winter¬
sonne“ zählt zu den Arbeiten, welche die impressio¬
nistischen und pleinairistischen Bestrebungen des
letzten Jahrzehnts unbedingt zur Voraussetzung
haben. Nicht als ob das Thema neu wäre! Ver¬
schneiter Wald im Morgensonnenlicht ist in un¬
zähligen Bildern geschildert. Aber so unbefangen,
wie hier, wusste man das winterliche Weiß und den
blauen Schatten nicht zu sehen und noch weniger
wiederzugeben, und eine solche Fülle von Weiß auf
Weiß, von Licht und Helle, wagte man zuvor über¬
haupt nicht auf der Bildfläche zu vereinen. Schon
technisch ist Olde’s Gemälde eine höchst beachtens¬
werte Leistung, und zugleich ein Stimmungsbild von
seltener Frische — eine Stimmung jedoch, die völlig
realistisch bleibt. — Nach solcher strebt auf gänzlich
anderem Wege auch der Berliner Friedrich Stahl.
Seine große, schon durch die Ausstellung der „Elf“
bekannte Landschaft, welche den Blick über das
frische Grab eines Kirchhofs auf das nächtliche Leben
eines Rangirbahnhofes lenkt und so einen alltäg¬
lichen Gegensatz von Tod und rastlosem Weltgetriebe
zwanglos verkörpert, ist zunächst nur inhaltlich mo¬
dern, aber auch das rein Künstlerische der Aufgabe,
die Beleuchtung der vom Dunst der Großstadt durch¬
hauchten Winternacht und der mannigfachen Lichter
der Bahnstraße, stellte Probleme, wie sie die „neue
Schule“ mit Vorliebe beschäftigen. — Diese drei ge¬
nannten Werke sind nur die vollendetsten Typen für
eine stattliche Gruppe von Stimmungslandschaften
ähnlicher Gattung, in denen die moderne Malweise
bei mehr oder minder ungewöhnliclien Aufgaben das
uralte Ziel erstrebt und auch vielfach erreicht:
durch objektive Wiedergabe von Momentbildern der
Natur im Beschauer subjektive Naturempfindungen
zu wecken. — Die eigentliche Ideallandschaft blieb
dagegen nur vereinzelt. Die Richtung Böcklin’s,
welcher selbst nur zwei Porträts ausstellte, gipfelte
diesmal in seines Schülers Hans Sa7idreuter’s „Sommer¬
tag“, einem Gemälde, das in einzelnen Teilen — be¬
sonders den Baumpartien des Hintergrundes — seiner
selbst kaum unwürdig wäre. — Neben dieser Leistung
sinken Sandreuter’s frühere Arbeiten auf gleichem
Gebiet zu stammelnden Versuchen herab. Traditio¬
neller ist IVenzel Wrkners „Idylle“ gehalten: ein
lauschiges Rasenplätzchen im Walde mit einer nackten
Jungfrau, die, von Schmetterlingen nmkost, sich dem
wollüstig-träumerischen Zauber des Ortes hingiebt,
ein kleines, feines Bildchen, in welchem auch die
Figur wie eine flüchtige Vision wirkt, und nicht so
real und geziert zugleich, wie auf den ähnliche The¬
mata behandelnden Gemälden Heimdch Lossoufs und
Alfred Seif er f s. Die moderne Schule hat ja aber
wieder gelernt, die Landschaft auch ohne Nymphen,
Göttinnen, Feen, und wie immer man diese entblößten
Schönen nennen mag, poetisch zu beseelen, und an¬
gesichts der wenigen Versuche, sie mit Märchen¬
gestalten zu bevölkern, scheint es gut, wenn man sich
vorerst auf die der Natur selbst eigene Stimmung
30
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
bescbi'änkt. — Im Ganzen kennzeichneten die Land¬
schaften diesmal noch unbedingter als sonst das
höchste Durchschnittsmaß der Leistungen, aber bei
dessen Anerkennung darf nicht vergessen werden,
dass die oben skizzirten Richtungen ein einseitiges
Grundelement bewahren: jene Abkehr von dem
epischen, monumentalen, „großen“ Stil der Land¬
schaft, welcher auf die Dauer nicht ohne Gefahr ver¬
nachlässigt werden kann. Es wäi'e zu wünschen,
dass sich einer jener zahlreichen jüngeren Künstler,
die hier Schulter an Schulter in wackerer Arbeit auf
dem gleichen Gebiet der intimen Landschaftsdar¬
stellung thätig sind, nun auch einmal wieder an eines
jener Themata machte, welche in der deutschen Land-
schaftsmalerei traditionell ebenso hoch über den heu¬
tigen Lieblingsstoffen zu stehen pflegen, wie Drama und
Epos über der bukolischenldylleundderDorfgeschichte.
Ist doch auch in einer heroischen Landschaft alten
Stiles Raum genug, die Errungenschaften der neuen
Schule zu bethätigen! Schon das Format der Bilder
kann eine solche erwünschte Wandlung vorbereiten,
und ebenso eine häufigere Berechnung auf dekorative
Zwecke, wie sie beispielsweise Le Lieptres in seinen
„Panneaux“ des diesjährigen Pariser Salons mit großem
Glück durchführt. Bleibt solcher Versuch noch lange
aus, so düx-fte die neue Entwicklungsphase der
deutschen Landschaftsmalerei leicht in eine ähnliche
Sackgasse locken, wie zuvor auf dem Gebiet des
Genres die süßliche „Anekdotenmalerei“ geworden
ist. —
Es war ja zum Teil grade die Beziehung zur
Landschaft, welche unsere Genremalerei seit etlichen
Jahren aus diesem Irrweg befreit hat, und — leider
freilich nicht mehr durchgängig! — auch jetzt noch
hier sowolil die gesuchten Pointen, die Rühr- und
Sensationsstoffe als auch die allzu „sauberen“, ge¬
leckten Erscheinungen verbannt: dank den Prinzipien
der Freilichtmalerei und des Impressionismus, denn
in eine auch nur einigermaßen tüchtige Landschaft
der neuen Schule passten mark- und kraftlose Ge¬
schöpfe nicht hinein, und die unbedingte Wahrheit,
welche zum obersten Gesetz des modernen Land¬
schafters geworden ist, konnte auch in der Staffage
oder vollends in den Hauptakteuren theatralische
Handlung oder Schminke und bühnengemäßen Auf¬
putz nicht lange dulden. — Staffage oder Haupt¬
akteure? — Landschaft mit Figuren oder Figuren
mit landschaftlichem Hintergrund? — diese Klassi¬
fizierung ist heut’ kaum noch durchführbar, und solch
innerer, inniger Zusammenklang der Natur- mit der
Menschenseele, wie ihn zahlreiche Bilder dieser Aus¬
stellung enthielten, ist wahrlich ein gutes Zeichen.
An der Spitze stand hier Walter Firle^s großes Ge¬
mälde: „In der Genesung.“ Die Einzelheiten der
Darstellung sind den Freilichtmalern extremer Rich¬
tung von Anbeginn geläufig gewesen: ein mit Dolden¬
pflanzen und allerhand Unkraut üppig bewachsener
Obstgarten vor niedriger Bauernhütte, ein paar Bäume,
an die sich der Frühling noch nicht recht gewagt
hat, ein Bauernmädchen in dürftiger Tracht, nicht
schön, aber auch nicht abstoßend, neben ihr eine
Alte, — über dem Ganzen Licht und Luft eines
Frühlingstages. Aber diese beiden lebensgroßen Ge¬
stalten sind keine „Akte“ mehr. Wie das Mädchen
in der wohligen Schwäche der Genesung auf der
Holzbank ruht, ein grobes Bettkissen im Rücken,
die Hände müde im Schoß; wie sie den Kopf leicht
an die Schulter der Mutter lehnt; wie diese sich über
sie beugt, die knochigen, mehr zur Landarbeit als
zur Krankenpflege geschaffenen Finger auf Schulter
und Arm der Tochter legt — ein ergreifend wahres,
schlichtes Bild der Menschenliebe! Und ringsnm
das Erwachen der Natur zu neuem Leben — man
meint den würzigen Duft der Pflanzen zu atmen —
das ist ein stummes Loblied auf die allheilende
Mutter Erde! Freilichtlandschaft und Freilichtfiguren
schmelzen hier zu einem echten Genrebilde zusammen
und verbinden sich in wechselseitiger, natürlicher
Symbolik. Durch kleineren Maßstab hätte das Bild
freilich gewonnen.
Arbeiten ähnlicher Gattung, aber von gerin¬
gerer Vollendung, blieben nicht selten. Ich nenne
nur Jernherg's Gemälde „In der Düne“, in dem die
farbenfrohe Erscheinung der beiden Dirnen mit
Licht und Luft ihrer landschaftlichen Umgebung an
Frische wetteifert, Hermann Baisch's „Krewetten-
fischer“, Paul melancholische Ro¬
manzenillustration, Emil Raus „Studie“, Hirsehen-
hercfs Kirchhofscene, Robert Köhlers „Parisurteil“,
Franz Lip'pisciis „Regenstimmung“ und E'anz Rou-
haudls „Heuernte“.
Lafenestre sagt in seiner Besprechung der dies¬
jährigen Pariser Salons, es sei nicht gut, wenn die
Landschaft, wie auf etlichen französischen Genre¬
bildern, „alles verschlingt“, und die Menschengestalt in
ihr sich in Umgebung und Luft völlig verliert. Es
scheint fast, als ob die moderne Schule in Deutschland
hier besser Maß zu halten weiß, als ihre Lehrmeisterin.
— Ja, man ist bei uns noch einen Schritt weiter ge¬
gangen: man beginnt, die Erfolge der modernen Land¬
schaftsmalerei in äußerst glücklicher Art für das reli-
(jiöse Stoffgebiet nutzbar zu machen. Auch in Paris war
DIE MÜKCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
31
das letztere diesmal stärker als üblicli repräsentirt, aber
man folgt dort einmal ausnahmsweise den deutschen
Spuren: die Auffassung Uhde’s wird vielfach variirt
und dabei meist arg veräußerlicht, oder aber der
einheimische ,, koloristische Symbolismus“ auf den
religiösen Stoffkreis übertragen, und die Madonna
als „blauer V ersuch“ und als „rosa Versuch“ behan¬
delt. Wieviel gesunder erscheint dem gegenüber die
von der landschaftlichen Stimmung ausgehende
deutsche Weise, die freilich seit Dürer’s Tagen nie
völlig verklungen ist, jetzt aber offenbar an Kraft
zuzunehmen beginnt! Ein Hauptbild der ganzen
Ausstellung gehört ihr an: Williebn Fernher s „Be¬
kehrung des Hubertus“. Freilich war diese Auffassung
hier vom Stoffe selbst unmittelbar gegeben, unmittel¬
barer als in der S. Georgslegende, an dessen vor¬
jährige Darstellung durch Ilertcrich das Bild äußer¬
lich erinnert. Kein überirdisches Licht, wie dort,
breitet sich hier über die Waldhalde, sondern die
natürliche Beleuchtung eines deutschen Herbsttages;
selbst die allzu beliebten Schlaglichter sind ver¬
mieden. Ganz meisterhaft ist der Vordergrund mit
seinem Gewirr von Gras, Gesträuch und Steinen be¬
handelt. Der Wald hinten seÜDst ist nicht in geheim¬
nisvolles Dunkel getaucht, sondern noch durchsichtig;
man spürt die Luft zwischen seinen Stämmen. Der
weiße Hirsch drängt sich dem Auge nicht auf, er
bleibt visionär und füllt in der stattlichen Bildfläche
nur ein winziges Plätzchen. Und dennoch beherrscht
er das Ganze ! Der Glanz seines Kreuzes und seines
Nimbus ist mit dem Leuchten des Herbsttages un¬
trennbar verbunden und gesellt sich dem zarten
Nebelstreifen, der an ihm vorüberzieht. Nicht
minder trefflich ist die Art, in der des Wunders
Wirkung sich in der Gestalt des legendarischen
Weidmanns verkörpert. Man sieht sie halb im
Kücken, das Lockenhaupt nur im verlorenen Profil,
und dennoch wird deutlich, was in seiner Seele vor¬
geht, vor allem durch die fein beobachtete Bewegung
des linken Armes, mit dem er den Pfeil zurückhält.
Auch auf die beiden Bracken scheint sich sein ehr¬
furchtsvolles Erstaunen zu übertragen. Das Ganze
ist eine musterhafte Leistung. Den gleichen Stoff
hat Rudolf von Rex ähnlich behandelt, für sein Bild
aber gilt die oben angeführte Bemerkung Lafene.stre’s :
die beiden Gestalten verlieren sich hier in der Land¬
schaft und sinken zur Staffage des schon tief in
Abenddämmerung gehüllten Waldes herab. Unver¬
ständlich ist mir, warum L. von Zumbusch seine feen¬
hafte Madonna vor kahle, glatte Tannenstämme
placirt; die koloristische Wirkung dieses Hinter-
ffrnndes ist freilich nicht ohne Reiz. — ln den letzten
o
Jahren nehmen in unseren Ausstellungskatalogen
die religiösen Bildertitel zu, die Zahl der religiösen
Bilder aber ist davon unabhängig, denn der hehre
Gedankengehalt des Evangeliums ist in der modernen
Malerei leider vielfach zu einem Versuchsfeld für
koloristische Probleme, ja selbst für sensations¬
bedürftige Launen geworden. Das ist ein unnötiger
und unschöner Irrweg der neuen Schule, und
man kann es nur freudig begrüßen, wenn ihm das
Altarbild der katholischen Kirche einen unüberwind¬
lichen Damm entgegensetzt. Damit soll freilich nicht
gesagt sein, dass nur ein so unbedingter Anschluss
an die Tradition, wie ihn die fleißigen Arbeiten
L. TU IlcupeVs und selbst F. A. von KaulhacJis in ihrer
Art vollendete „Beweinung Christi“ kennzeichnen,
diese Scheidewand zu überschreiten vermögen. Kaul-
hcich’s Werk ist die Schöpfung eines au den besten
Malern der Vergangenheit geschulten Meisters. Die
pyramidal zugespitzte Komposition mustergültig, die
Farbenstimmung reich und vornehm, jede einzelne
Gestalt sowohl psycliologisch, wie künstlerisch ein-
waudsfrei: es ziemt wahrlich nicht, au einer solchen
Arbeit mit Stillschweigen, oder mit Achselzucken
vorüherzuschreiten, weil sie in ihrer Umgebung wie
ein Anachronismus erscheint, und welch warme
Empfindung hier lebt, spürte man am besten, wenn
mau das Bild mit dem ihm in dieser Ausstellung am
nächsten stehenden Gemälde Lhuguereaids „Die Frauen
am Grabe Christi“ verglich. Solange es Kirchen
geben wird, wird solcher Kunst stets eine Stätte
offen sein, an der sie ihr Ziel vollgültig erreicht.
Aber dies Bild hätte auch zu Zeiten eines Andrea del
Sarto entstehen können. Es enthält wenig mehr, als
diese, nichts von den Ideen, welche Millionen der
heutigen Menschheit mit dem hier dargestellten Stoff
verbinden, wenig von dem, was diejenigen Künstler
fordern und erstreben, auf deren Lebenswerk die
Kunst der Zukunft fußen wird, und darin ist das Urteil
über seinen kunsthistorischen Wert enthalten. —
Auch Ernst Zinunermcinn’s „Christus und S. Thomas“
und das tüchtige Genrebild von E<jgcr-Lien% „Heilige
Familie“ bieten nichts Außergewöhnliches, und Ed.
von Gebhardt bleibt mit seinem Gemälde „Christus
in Bethanien“ völlig auf seinem allbekannten Pfade.
Nicht ganz so der Meister, der wie kein anderer das
religiöse Stoffgebiet der modernen Malweise und dem
modernen Empfinden wiederzuerobern bestrebt ist:
Fritz von Wide. Er liebt es scheinbar, die Reihe
seiner für seine Weise bezeichnendsten Werke durch
Arbeiten zu unterbrechen, welche der Tradition näher
32
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
bleiben, durch Werke, in denen seine extremen An¬
hänger eher einen Rück- als einen Fortschritt sehen
mögen. Meines Erachtens sind es aber gerade diese
Schöpfungen, die seine Kunst zum Siege führen wer¬
den, und neben Bildern wie sein herrliches Tri¬
ptychon „Die heilige Nacht“ wird auch seine dies-
jährige „Verkündigung an die Hirten“ zu dieser
Gruppe zählen. Besser, als die Schar seiner Nach¬
ahmer, weiß Uhde, dass eine große Reihe religiöser
Themata das Märchenlicht der Poesie nicht ent-
nicht etwa auf Kosten ihrer künstlerischen Wirkung
und jedenfalls zu Gunsten ihrer Popularität. Sein
Engel hier, eine liebliche Jungfrauengestalt in duftig
weißem Gewand , das sie gar zierlich emporhebt,
gleicht jenen Segensboten, die im deutschen Märchen
aus wunderbarer Ferne zur Erde herabschweben,
aber sich hüten, mit diesem Jammerthal in gar zu
innige Berührung zu kommen. Ein feiner, über¬
irdischer Lichtstrahl begleitet seinen geheimnisvollen
Pfad, streift seine Flügel und trifft die erregten Ge-
Der (Uselenr. Gemälde von K. Mark.
bahren kann, und er besitzt — hierin weit mehr noch
als im schrc)fFen Realismus dem Genius Zola’s wahl¬
verwandt — die Kraft, diesen Zauber über jeden
Stoff zu breiten. Er bat zuweilen Engel gemalt, an
die man trotz ihrer durchaus irdischen Gliedmaßen
und der offenbar angescbnallten Flügel glauben kann,
wie an die Engel Rembrandt’s. Diesmal aber wird
man doch weniger an diesen, als etwa an seine Schule
gemalmt. Eine ungewöhnliche Weichheit verleiht
Uhde hier den scharfen Zügen seiner Muse, nicht
ohne Schaden für ihre Eigenart, aber darum doch
siebter der Hirten, die unten die Botschaft vernehmen.
Diese aber sind echte Erdenkinder von Fleisch und
Blut, prächtig geschildert in ihrem frommen Er¬
staunen und ihrer unter des Wunders Macht spontan
erwachten Frömmigkeit. Solch scharfen Gegensatz
zwischen Himmel und Erde pflegte Uhde in seinen
religiösen Darstellungen bisher fast geflissentlich zu
meiden, und die volle Größe seiner Kunst bleibt
hier freilich auf den irdischen Teil eingeschränkt,
aber auch das Ganze ist doch ein Bild, wie es heuP
nur wenige malen können, und spricht so innig zum
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
33
deutschen Gemüt, dass man ihm getrost eine Stätte
auf einem Altar bereiten darf. — Auf den Ruhm
eines Kirchenmalers muss Franz Stuck freilich ver¬
zichten, selbst bei seiner „Pieta“, deren eigenartige
Schlichtheit und Größe schon in Berlin volle Aner¬
kennung gefunden. Seelenschilderung liegt abseits
seiner Ziele. Er wird mehr und mehr zu einem An¬
hänger jenes heut’ besonders in Paris herrschenden
„koloristischen Symbolismus“, freilich auf Weise,
die in ihrer gesunden Kraft und Wucht das eigent¬
lich mystische Element verschmäht. Seine Farben¬
seiner Pieta vor allem durch den Kontrast des Leich¬
nams zu der tiefschwarzen Gewandmasse der Maria
wirkt, so auch hier durch die schärfsten koloristi¬
schen Gegensätze. Auf der einen Seite der Leich¬
nam Christi, so weißlich-grün, als sei ihm die Seele
schon etliche Stunden entflohen, und der bräunliche
Körper des sich im Todeskampf windenden Schächers,
dann eine scharfe Cäsur, ein Blick in nächtliches
Dunkel, der den dritten Gekreuzigten trifft — auf
der andern die schwarze Masse der im Rücken ge¬
sehenen Mantelfigur, und hinter ihr eine Fülle satter
Am Waldesraiiil. Gemälde von P. P. Müller.
Symbolik ist auch dem blödesten Auge verständlich.
Seine Farbenmassen stehen so derb nebeneinander,
wie Meißelhiebe, die dem Block die erste Form geben.
Etwas Volkstümliches steckt darin, wie in der Aus¬
drucksweise des deutschen Holzschnitts, aber — auch
eine gewisse Absichtlichkeit, eine Neigung zu sensa¬
tionellem Effekt, die zuweilen an einen Wiertz ge¬
mahnt. Von Neueren malt vielleicht nur Max Klinger
ähnlich, und der gleiche Stoff, den dieser für eines
seiner charakteristischten Gemälde gewählt hat, wird
hier von Stuck in einem umfangreichen Bilde be¬
handelt: die Kreuzigung Christi. Wie Stuck bei
Zeitschrift für bildende Kunst. N F. IV.
Farhentöne, das gelbbraune Gewand des Johannes,
der Purpurmantel des weißbärtigen Greises neben
ihm, und zu äußerst ein Stückchen leuchtenden
Grüns, ein Farbenkomplex, der das wachsbleiche
Antlitz der ohnmächtigen Maria mit dem schwarzen
Haar, und Hals, Haupt und Hand des Lieblings¬
jüngers ganz eigenartig hervortreten lässt. Den
Himmel deckt Nacht, aber von rechts her trifft ein
breiter Lichtstrahl die Trauernden und den Leichnam,
und über die Balustrade, auf welcher sich die Scene
abspielt, ragen die Köpfe der wild erregten Volks¬
menge auf. Auch kompositionell ist es ein eigen-
5
34
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
artiges Bild, und erstaunlicli breit und wuchtig ge¬
malt. Selbst wider Willen wird man von diesem
Werke immer von neuem angezogen. Und dennoch
ist es nur der Zeuge für eine noch unfertige, ener¬
gisch vorwärtsschreitende Kunstweise, die erst der
ruhigeren Klärung bedarf. Weniger „abbozzirt“
und psychologisch schärfer vertieft, würde das Bild
an künstlerischem Wert gewinnen, an Eindruck nicht
einbüßen. Am schönsten spricht Stuck’s Können
doch auf dem kleinen Bildchen, welches vom Prinz¬
regenten angekauft ist, wo die Faunskinder in war¬
mer Sommernacht mit Glühwürmchen spielen. —
Albert Keller's Gemälde „Legende der St. Julia“ ist
noch weniger kirchlich, als die Darstellung Stuck's.
In dieser ans Kreuz Gefesselten sieht man trotz des
großen Nimbus nicht die Heilige, sondern das jugend¬
schöne W^eib. Der Ausdruck des lieblichen Kopfes
erinnert an des Künstlers „Hexe“. Keller scheint
sich mehr an Gabriel Max anzuschließen, aber seine
Frauen sind weniger hysterisch als wollüstig, noch
im Tode, ähnlich wie die verzückten Heiligen des
17. Jahrhunderts, nur mit der echt modernen Nei¬
gung zum Somnambulismus. Malerisch, besonders
in den Lichtreflexen auf dem nackten Körper, zählt
das Bild zu Keller’s besten Arbeiten, und wenn diese
ganze Richtung mit ihrem scheinbar physiologisch
begründeten Mysticismus auch etwas Krankhaftes hat
so ist sie doch weit kraftvoller, als etwa die an
Carlo Dolce’s Manier gemahnende Auffassung in
Jlcrhianu, Knulhaebls Bild „Das Ende vom Liede“. —
Zwei jüngere Künstler, die zusammen genannt werden
dürfen, ol).sclion die Bezeichnungen und zum Teil auch
die Stoffe ihrer Bilder völlig verschieden sind, L. von
Ildfiiianii und Jiili/is ?lrtcr, beide Anhänger des extre¬
men Impressionismus der Pariser Schule, und beide
trotzdem abseits von den breiten Hauptpfaden wan¬
delnd, waren diesmal mit Bildern jener Gattung ver¬
treten, für welche die rechten Titel schwer zu finden
sind, und die man docli nicht ganz grundlos dem
„idealen Genre“ zuzuw(;isen pflegt. Jlofmami nannte
sein Hauptwerk einfach: „Dekorativer Entwurf“
K.rlrr schied seine drei innig verwandten Bilder
durch die Namen „Welle“, Am Strande“, „Verlornes
Paradies“, bei beiden aber handelt es sich um das
gleiche 1 lauj)tthema: um die Wiedergabe des nackten
Mensclienleibes, von Licht und Luft umspielt, aber
nicht in alltäglich irdischer Umgebung, sondern in
einer Welt, wie sie des Dichters Phantasie erträumt,
und des Malers Auge zuweilen erschaut — bei Hof¬
mann in einer Böcklinschen Ideallandschaft, bei
Exter in einem seltsam flimmernden Medium von
Sonnen- und Reflexlicht, von Lokalkolorit und Farben¬
symbolik. Jener folgt hier den Bahnen eines Puvis
de Chavanne und eines Hans von Marees, dieser dem
Vorbild Besnard’s. In München schien ihre Malweise
so grundverschieden, dass sie eine Parallele fast aus¬
schließt — Hofmann’s prächtiger nackter Knabe hebt
sich scharf und plastisch vom Hintergrund ab, Exters
Gestalten gleichen einer flüchtigen Vision — wer jedoch
Hofmanns Arbeiten in der Berliner Ausstellung der „Elf“
gesehen, wird ihn gleich Exter zu den energischten
Impressionisten rechnen und diese Schulung auch in
seinem Münchener Bild erkennen. Gegen die meisten
in Berlin bekannt gewordenen Skizzen bezeichnet das
letztere freilich einen so wesentlichen Fortschritt, dass
man angesichts desselben jene frühere Ausstellung
als einen unpolitischen Missgriff bezeichnen muss,
und ähnlich verhält es sich mit den Erfolgen Exter’s,
der nach etlichen recht unglücklichen Versuchen
jetzt zum erstenmal zielbewusst auftrat und endlich
gefunden zu haben scheint, was er so lange gesucht.
Irre ich nicht, so wird sein Name fortan unter den
deutschen Vorkämpfern der neuen Schule ruhmvoll
genannt werden. — Derjenige Hans Thomabs ist in
den letzten Jahren nicht nur berühmt, sondern auch
populär geworden, freilich nicht in unmittelbarem
Zusammenhang mit den modernen Bestrebungen,
sondern dank völlig individueller Kraft, die mit
seltener Willensenergie gepaart war. Seine drei
Münchener Bilder zeigten auch diesmal den vollgül¬
tigen Stempel seiner Kunst.
Mit diesem Satz darf man hier wohl auch eine
ganze Reihe von trefflichen Arbeiten als genügend
gewürdigt erachten, welche in dieser Ausstellung
altbewährte Namen trugen. Man hatte in München
von dem Recht, bei der Repräsentation der natio¬
nalen Kunst auf deren schon historisch gewordene
Größen zurückzugreifen, freilich keinen so ausge¬
dehnten Gebrauch gemacht, wie in Berlin, keine
Kollektivausstellungen älterer Bilder ins Treffen
geführt, sondern nur einzelne Arbeiten älterer Meister
jüngsten Datums, und dadurch dem ästhetischen Ge¬
nuss auch ein kunstgeschichtliches Interesse gesellt,
denn fast unwillkürlich forschte man in diesen Werken
nach einer Rückwirkung der „modernen Richtung“.
Dieselbe könnte sich einerseits in einer Assimilation,
andererseits aber in einer schrofferen Betonung des
früheren Standpunktes äußern, doch trat hier weder
das eine noch das andere scharf hervor. LenbacJi’s
herrliches Bismarckporträt vom April 1892 ist viel¬
leicht etwas farbiger gehalten als etliche seines¬
gleichen, und man liest diesmal in diesen Zügen noch
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
35
mehr und anderes als zuvor, Defregger' s Gemälde „Vor
dem Tanz“ (1892) mag besonders im Hintergrund von
besonderer koloristischer Feinheit scheinen, Alexander
Wagner hat in seiner Darstellung aus Konstantinopel
seine Fähigkeit, sich in die Kultur fremder Nationen
zu vertiefen und zahllose Figuren erstaunlich lebens¬
wahr zu zeichnen, vielleicht in ungewöhnlicher Art be¬
währt, J/e/j^:ersGouache„BiergarteninKissingen“(1891)
und Bokebnann’ s, Brntfs, Hugo Kaufmanns, Vautier’s,
Megerheims, Simms, Holmbergs, Voltz' , F. M. Bredts hier
ausgestellte Gemälde — von denen einige übrigens schon
älter und gut bekannt waren — mögen demKunstsamm-
1er bald mehr bald weniger willkommen sein, als ihre
Namensgenossen: für diesen Bestandteil des „Salons“
genügt hier im ganzen aber doch der Katalog, denn
hier kennzeichnet der Name der Künstler die Kunst.
Selbst Nikolaus Ggsis hat mit seinem „Kaimeval in
Griechenland“ nur wenige überrascht, und das in
seltsam lichten, vielleicht im ganzen zu flauen Tönen
gemalte Bild, in welchem das Beiwerk noch höheres
Lob verdient als die vielgepriesene, aber etwas allge¬
mein gehaltene Schönheit der Frauen, reiht sich seinen
eignen und seines Landsmanns Lgtras Schilderungen
des neugriechischen Volkslebens nur eben als das
jüngst vollendete Glied an. Zum Teil gilt ähnliches
auch für L. v. Löfftz, aber dessen Gemälde „Alte Frau“
nimmt hier doch eine besondere Stelle ein, nicht nur,
weil man dem Namen seines Meisters seit dessen Lehr-
thätigkeit an der Münchener Akademie in den Aus¬
stellungen selten begegnet, sondern weil es wenigstens
eine Hauptseite in dessen Kunst schärfer charakte-
risirt als früher, und in ihr zugleich sein Verhältnis
zur modernen Schule, welches bei seinem Einfluss als
Akademiedirektor auch kunsthistorisch bedeutsam
werden muss. Ein Stoff, wie ihn just die „Modernen“
lieben! Inhaltlich ohne Pointe: schlichtes Interieur,
durch ein einziges, seitlich oben befindliches Fenster
erhellt; darin, am Tisch, vom Licht gestreift, eine
lesende Alte; eine Alltagserscheinung, ein alltägliches
Momentbild — nein! ein sonntägliches, denn Sonn¬
tagsstimmung herrscht hier; sie spricht nicht nur
aus dem Kostüm, sondern sie ruht auf jedem Möbel
und Gerät, auf jedem Winkel! — Aber dagegen haben
ja auch die „Jüngeren und Jüngsten“ nichts mehr
einzuwenden ! Heyse’s Maler Franz Florian mit seinem
Hass gegen den „sonntäglichen Glanz der Natur“
wird ja erst als Gatte seines „Marienkindes“ ganz
„modern“. Was ferner die Freilichtmaler erstreben,
licht- und lufterfüllten Raum und körperliche Ge¬
bilde in ihm, nicht nach vorgefasster Regel darge¬
stellt, sondern als treuestes Spiegelbild der Erschei¬
nung, ist hier wahrlich vorhanden, und auch die
Impressionisten, welche nur die „Impression“ ver¬
ewigen wollen, müssen, wenn sie dies Bild aus der
Ferne schauen, ihr Ideal anerkennen. Aber seltsam:
man darf trotzdem hier auch bis hart an das Ge¬
mälde herantreten, selbst mit bewaffnetem Auge, und
der Eindruck bleibt, die Freude daran steigert sich. —
Das ist nicht modern! So malten die Niederländer,
der Delfter van der Meer, so hat zuweilen auch
unser Holbein gemalt. Die Wahrheitsliebe, mit der
unsere jüngeren Künstler den Gesamteindruck auf
Kosten des Details in die Farben zu bannen bemüht
sind, ist hier zugleich auf jeden Pinselstrich konzen-
trirt. Das ist kein Anachronismus, wie das Kaul-
bach’sche Bild, auch kein programmgemäßer Kom¬
promiss zwischen Altem und Neuem: wie etwas Selbst¬
verständliches verkündet es, dass Wahrheitsliebe,
Fleiß und technisches Können unabhängig von jeder
„Richtung“ des Eiffolges sicher sind. Fürwahr die
rechte Art. in der die Kunst der zum Lehren beru¬
fenen Meister dem gärenden Ungestüm einer neue
Ziele suchenden, neuen Generation gegenübertreten
muss! ■ — Im Genrebild der deutschen Abteilung
spürte man diesmal von solchen Kämpfen freilich
überhaupt nur wenig, noch weniger, als in der Land¬
schaftsmalerei. Hier wendete sich das meiste in der
That mehr an den Kunstraarkt als an eine von
historischen Gesichtspunkten ausgehende Kritik. Auch
dies ein Zeugnis für den Assimilationsprozess, denn
die umfangreichen Freilicht.s);ur/fe?j, denen lediglich
das malerische Können Einlass in unsere Ausstel¬
lungen gewährt, waren wiederum seltener geworden.
Viel Tüchtiges war freilich darunter — ich nenne
nur C. N. Bantzer's „Abendmahlsfeier in Hessen“, Fritz
StrohcntzJ „In der Kirche“, Georg Bnchner's „Ein Ge¬
löbnis“, Olga Beggroiv-Hartmann s „Zwiebelidylle“ —
aber den Ton gaben doch diejenigen Bilder an, die
nicht nur im Atelier oder in einer Kunstakademie,
sondern im Privatkabinet des Kunstfreundes will¬
kommen wären. Arbeiten wie Gotthard KühVs „Eine
feste Burg ist unser Gott“, Hugo Koenig's „Auf dem
Heimweg“, Adolf Hölzel’s „Hausandacht“, Hermann
Neuhaus' „Nächstenliebe“, Ernst IFmsinann s „Kein
Hüsung“, und Graf Kalkreuth' s „Auf dem Schul¬
wege“ , vor allen aber Haug's köstliche Bilder be¬
kunden zur Genüge, dass die neue Malweise volks¬
tümlich werden kann und wird. Einseitig darf man
sie jedenfalls nicht mehr nennen, denn fast unbemerkt
ist neben der Lust am fröhlichsten Sonnenschein
und vollstem Freilicht, wie sie wohl am besten
und keines erläuternden Wortes bedürftig Max
5*
36
VINCENZO VELA.
Fleischers „Badevergnügen“ verkündet, auch die kolo¬
ristische Stirn mungsmalerei wieder zum Siege gelangt,
sowohl da, wo sie die Welt in kecken Farben sieht,
als da, wo Dämmerschein die Formen und Lokaltöne
duftig verhüllt. Hierin ist neben Peter Behrens in
Ernst Oppler ein ungewöhnlich tüchtiger Vorkämpfer
erstanden.
(Fortsetzung folgt.)
VINCENZO VELA.
VON JULIUS GAROTTL
(Schluss.)
IN wahrhaft einziges W’^erk,
das den Stempel von Ve-
la’s Persönlichkeit durchweg
trägt, ist das Grabmal für
die Comtesse d’Adda in der
Familienkapelle zu Arcore
bei Mailand. Man sieht die
junge Comtesse auf dem
Sterbelager, das Kruzifix in der Linken haltend und
den Blick zum Himmel aufgerichtet. Die Rechte
öffnet sie mit einem Ausdrucke, als wolle sie sagen:
Ich Inn bereit, Herr, dein Wille geschehe.
^"ela stellte nicht nur die ganze Figur auf der
lluliestätte, sondern auch die Vorhänge und Drape¬
rien , die er mit einer Gruppe von kleinen Engeln
krönte, dar. Der Künstler ist hier allen Ernstes
über die vernünftigen und notwendigen Grenzen der
Bildnerei hinausgegangen und griff in’s Malerische
über. Aber man bedenke die Zeit, in der das Denk¬
mal entstand. Ein alter Bildhauer sprach noch in
diesen ^I'agen mit Feuer von dem mächtigen Ein¬
druck, von der lebliaften Bewegung, die der Anblick
die.ses Werkes in der Küustlerwelt Mailands erregt
batte. Lei dem seiner versteinerten Zustande der
damaligen Skuljjfur wirkte die kühne und originelle
Ausfübnm g wie ein Gärungsferment, und hierin
allein beruht der historische Wert des Kunstwerks.
Vincenzo Vela verließ im nächsten Jahre (1852)
Mailand — für immer, denn eine Rückkehr dorthin
war ihm nicht bescliieden. Er wandte sich nach seiner
Heimat Ligornetto. Si:hon damals machte sich bei ihm
ein Hang zur Plinsamkeit, zur Monomanie bemerkbar.
Doch hielt die Notwendigkeit, für Frau und Kind
zu sorgen, diesen J'rieb zurück, er musste weiter
schaffen und streben, und so wandte er sich wieder einer
großen Stadt zu, diesmal Turin. Er war jetzt im
Vollbesitz seiner künstleri.schen Kraft und stieff
während seines vierzehnjährigen Aufenthaltes in
Turin zum Zenith seines Ruhms empor. Die großen
Werke Vela’s folgen in diesem Zeitraum ohne
Unterbrechung auf einander. Vela war immer neu,
eigentümlich, ein leidenschaftlicher Nachbildner der
Wahrheit, oft großartig und breit im Stil, bald in-
spirirt von zarter Poesie und lebhafter Empfindung,
bald von tiefem Gedankenreichtum.
Der Friedhof von Turin bewahrt drei bezeichnete
und datirte Werke seiner Hand. Es sind die Grab-
mäler der Familie Calosso (1853), der Familie Prever
(1854) und das des kleinen dreijährigen Pallestrini
(1856). Das Denkmal der Calosso nimmt die ganze
Breite einer Abteilung im Säulengange des Friedhofs
ein. Sockel und Zierwerk lassen wir außer acht,
denn die sind von anderer Hand. Von Vela rührt
das große Flachrelief auf der hohen Stele und die
Nische mit der Büste des Tommaso Calosso her.
Das Denkmal ist zu Ehren des Tommaso von der
Familie gestiftet und diese kindliche Pietät ist in
dem jungen Mädchen dargestellt, das ein Opfer¬
fläschchen auf dem kleinen Altar ausgießt (vgl. die
Abbildung). Eine Draperie, die als Vorhang gedacht
war, ist zurückgeschlagen, um die Scene zu ent¬
hüllen. Zu Füßen des Altars wacht eine Eule. Die
Anregung zu der Darstellung geht offenbar von der
antiken Kunst aus; die Wahl des Motivs, die Neben¬
dinge, die ganze Behandlung weisen darauf hin.
Die junge Opfernde hat aber bei aller antiken Ein¬
fachheit einen ganz modernen Liebreiz, und selten
waren alte und neue Kunstabsichten so glücklich
verschmolzen, wie hier.
Das Grabmal der Familie Prever besteht in
einer einzigen Statue der Hoffnung. Aber diese Statue
ist in der That einzig, ein großartiges Werk voll
Reiz und Poesie. Ein einfaches Kleid mit lang
herabfallenden Falten, mit eleganter Stickerei auf
der Brust, ohne Gürtel und sonstige Nebensachen,
umschließt den__schlanken Körper der Hoffnung und
Das Grabmal der Familie Calosso. Von Vincenzo Vela.
3S
VINCENZO VELA.
zeigt die Form der Schultern, die köstlichen Arme,
die feine Taille und die wenig betonten Hüften.
Ein Mantel mit .spärlichem Faltenwurf fällt von der
rechten Schulter herab und vereinigt sich mit den
Falten des Kleides, die zum Teil den Anker zu
Füßen der schönen Figur bedecken. Beide Hände
sind auf der Brust vereinigt und drücken in ihrer
Haltung das volle Vertrauen einer zarten und ängst¬
lichen Seele aus. Dieser Ausdruck ist in dem Haupte
noch gesteigert: ein süßes, frommes Gesicht, einge¬
rahmt von breiten Haarmassen, dessen halb ver¬
trauensvoller, halb schmerzlicher Blick schüchtern
zum Himmel aufgerichtet ist.
Der Trostengel bildet den Gegenstand des
Grabmals des kleinen Titus Pallestrini, der mit drei
Jahren seinen Eltern entrissen wurde, Vincenzo Vela
bildete einen Engel, der von der kleinen Gruft das
Kindchen fortführt. Der Engel selbst, mit weitaus¬
gebreiteten Schwingen, hat seinen Flug hier auf
Erden nur einen Augenblick gehemmt. Sein schöner
Kopf ist von ruhigem Ausdruck und himmlischer
Heiterkeit beseelt. In dem Körper des Kleinen ist
eine zitternde Anstrengung, zum Himmel aufzufliegen,
ausgedrückt. Mehr noch in der Skulptur als in
jeder anderen Kunst müssen alle Teile der Figur
den Hauptgedanken dienen; diese Gestalt des kleinen
Pallestrini, die jedem gebildeten Betrachter sehr
schön vorkommt, hat für die Geweihten in der Kunst
zugleich das Verdien.st, eine glückliche Lösung jenes
künstlerischen Gesetzes darzubieten.
Der Ruf Vincenzo Vela’s verbreitete sich nun
mehr und mehr, und Mailand, Bergamo, Vicenza,
Trient, Bologna, Neapel fingen an, sich seine Werke
.streitig zu machen. Um diese Zeit, 1855, lieferte
Vela für die Kirche S. Maria Maggiore nach Bergamo
das Grabmal Donizetti’s. Es zeigt die volle Blüte
von \Vla’s Talent und verbindet wiederum Gefühl
und lilee mit Originalität der Ausführung. Die
Figur der Harmonie sitzt, in tiefe Trauer versenkt,
auf dem Grabmal des Komponisten; in gebeugter
Haltung stützt sie den rechten Arm auf die stumm
gewordene Lyra. Der linke Arm fällt schlaff herunter
und drückt so die A^erlassenheit aus. Das ist der
Paroxysmus dumpfer Trauer, der uns mitleidsvoll
überrascht, wenn uns das Teuerste geraubt wird.
Nicht minder gelang es der Kunst Vela’s, eine
hoch entwickelte l'ersönlichkeit im Porträt so zu
schildern, da.ss ihre ganze Sjdiäre, ihre Kämpfe, ihr
Gedankenreichtum in dem Bildnisse andeutungsweise
zum Ausdruck kommt. In einem entzückenden Winkel
des Lago maggiore, in Stresa, ruhen in der kalten
und melancholischen Kirche des Klosters der Ros¬
minier die sterblichen Reste des Paters Anton Rosmini,
des Gründers der Doktorenkollegien, die nach ihm
benannt wurden. Der Philosoph von Roveredo ist
knieend auf seinem Grabmale dargestellt; er hat die
Lektüre seines Gebetbuchs unterbrochen und lässt
die Arme nachdenklich sinken. Mit gesenktem Haupt,
verlorenem Blick und festgeschlossenem Munde
scheint er in tiefes Nachdenken versunken und der
Erde entrückt zu sein. Über seine hohe Stirn
gleitet kein Schatten; ein heitrer und würdiger Ge¬
danke belebt sein Antlitz. Der Künstler hat hier
die beständige und tiefe Reflexion des Denkers, die
geistigen Freuden eines überlegenen Philosophen
versinnlicht. Auch dies ist ein Werk, in dem Vela
die Kunst zeigt, alle Einzelheiten von dem Grund¬
gedanken beherrschen zu lassen.
*
Vela’s Talent stand in vollster Blüte, als das
Porträt in Pastell von Eliseo Sala entstand, das noch
heute in der Bibliothek Vincenzo Vela’s zu Ligor-
netto zu sehen ist. Ich verdanke der Freundlichkeit
seiner Witwe und seines Sohnes die Photographie,
nach der sein Bild, das zu Anfang dieses Aufsatzes
steht, in Holz geschnitten wurde.
Ebenfalls in Ligornetto, in demselben kleinen
Bibliotheksaal wird der Gipsabguss der allegorischen
Statue des Frühlings aufbewahrt, von der der Künst¬
ler auch eine Wiederholung in Marmor für seinen
Garten gemacht hat; das Original befindet sich in
Triest. Andere Ausführungen desselben Bildwerks
sind nach Neapel, Paris und St. Petersburg ge¬
kommen. Der Bildhauer hat sich von der gewöhn¬
lichen Auffassung des Frühlings als einer jungen
Frauen gestalt losgemacht. Er hat im Gegenteil die
Züge einer Mädchenfigur, die noch an der Grenze
des Kindesalters steht, gewählt; eine zarte und köst¬
liche Knospe, die noch in unbewusster Unschuld
der Zukunft entgegen geht. Sie ist in diesem Augen¬
blick zu neuem Leben erwacht und umgiebt ihr
Haupt mit einem Blumenkränze, den sie sich selbst
gewunden hat. Diese anmutige und poetische
Schöpfung bezeichnet die innigste Vereinigung des
romantischen Empfindungslebens mit dem Kultus
des Wahren in unserm Künstler,
Wenn ich so viel wie möglich die Werke des
Vincenzo Vela der Zeitfolge nach bespreche und
mich nur an solche halte, die sein künstlerisches
Wesen durchaus offenbaren, übergehe ich seine zahl¬
reichen Porträtstatuen, wie die von Cesar Balbo,
VINCENZO VELA.
39
Thomas Grossi, Gabrio Piola, Victor Emanuel, Carl
Albert, Giotto, Dante, Murat u. s. w.
Alle diese Werke sind zwar durch hohen ikono-
graphischen und künstlerischen Wert, durch tech¬
nische Geschicklichkeit und durch große Natur¬
wahrheit ausgezeichnet. Aber die Bewegung auf
diesem Gebiete war allgemein. Und obwohl Vela
Dante’s, die von demselben Gedanken inspirirt ist,
der ihn den Rosmini schaffen ließ, und ein gro߬
artigeres: die Gruppe der beiden Königinnen von
Piemont, Marie Therese, die Witwe des Königs Karl
Albert, und Marie Adelaide, die Gemahlin Victor
Emanuel’s II. — Diese beiden letztgenannten Statuen
befinden sich in der Chorkapelle der Kirche della
Grabstatue der Contessa Giulini della Porta. Von Vincexzo Vela.
einer der kühnsten Künstler Oberitaliens auch auf
diesem Gebiete war, so geht doch das Verdienst um
die Einführung der Wahrhaftigkeit auf diesem Ge¬
biete ursprünglich von dem Mailänder Bildhauer
Alexander Puttinati, der schon mehrere Lustra vor¬
her thätig war, aus. Indessen tragen doch zwei
Werke von dieser Art den Stempel des höheren
Talentes Vincenzo Vela’s, ein bescheidenes: die Büste
Consolata in Turin. Die Inschrift auf dem Monu¬
mente drückt seinen Ursprung aus:
ALLA MEMORIA
DELLE REGINE MARIA TERESA E MARIA ADELAIDE
PIE BENEFICHE
TANTO AMATE E COMPIANTE
IL POPOLO SUBALPINO
L’ANNO MDCCCLXI
4(1
VmCENZO VELA.
Viele Jahre hindurch hatte die Bevölkerung von
Turin die beiden Königinnen gesehen; die Erinne¬
rung an ihre Frömmigkeit und Wohlthätigkeit war
den Turinern teuer. Ihr Hinscheiden war ein wirk¬
licher Trauerfall für sie gewesen; der edle Gedanke,
ihr Gedächtnis durch ein Sanctuarium zu verewigen,
gewann schnell Anhänger und die Kosten wurden
durch öffentliche Zeichnung aufgebracht. Glück¬
licherweise wurde Vela mit der Ausführung betraut.
Er stellte die beiden Königinnen etwas überlebens¬
groß, knieend auf ihrem Betstuhl dar, in Begleitung
Engelfiguren .dieses Monumentes nur selten zu sehen,
da sie im Halbdunkel versteckt sind. Das ganze
Licht der Kapelle fällt auf die Gestalten der beiden
Fürstinnen. Einem glücklichen Umstande verdankte
unser Künstler die Bekanntschaft der Königinnen;
er hatte sie sogar oft in der Kirche della Consolata
an ihren gewohnten Plätzen beim Gebet beobachtet.
Ihr Wesen, ihre Stellung und ihr Antlitz prägten
sich ihm scharf ein, und so hot sich nun eine günstige
Gelegenheit, ein Werk auszuführen, in dem seine
künstlerischen Fähigkeiten, seine starke Empfindung
Die Opfer des St. Gottliardtimnels. Relief von Vincenzo Vela.
dreier Engel, die im Hintergründe erscheinen. Es
ist walir, da.ss es diesen drei Engeln etwas an Har¬
monie gebricht; einer von ihnen war unter dem
direkten Einfluss der Engel des Tabernakels der
lombardisch-venezianischen Schule im archäologi¬
schen Museum der Brera in Mailand komponirt,
wovon Vincenzo Vela einen Gipsabguss in seinem
Atelier besaß. Die andern beiden Engel sind da¬
gegen frei erfunden. Die Gleichartigkeit existirt
indessen in der Ausführung des Basreliefs aller drei
Engelfiguren, das sehr flach gehalten und mit
großer Eleganz ausgeführt ist. Man bekommt die
und das Streben nach genauer Nachahmung der
Natur sich frei entfalten konnten. Die beiden Kö¬
niginnen sind genau so, wie sie viele Jahre unter
den Turinern wandelten, gebildet. Die Königin Mutter,
Maria Theresa, streng und ernst in Andacht versunken,
die junge Königin Marie Adelaide voll Hingebung,
Vertrauen, Zärtlichkeit im inbrünstigen Gebete.
In technischer Beziehung zeigt die Arbeit dieser
beiden Statuen die höchste denkbare Feinheit und
Geschicklichkeit, ohne der Gesamtwirkung Eintrag
zu thun.
*
Die beiden Königinnen von Piemont. Marmorgruppe von Y. Yela.
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VINCENZO VELA.
41
Die Fruchtbarkeit der Arbeit Vincenzo Vela’s
war nicht erschöpft, sondern schien im Gegenteil
zuzunehraen. Er war nunmehr in seine letzte
Periode eingetreten, in die schönste Phase seiner
künstlerischen Laufbahn. Ich beschränke mich auf
die Arbeiten, an denen seine persönlichen Fähigkeiten
sich besonders ausprägen; vor allen die Gruppe des
Christoph Columbus, die Totenmesse und Ecce
Typus, der unzählige Male nachgeahmt wurde, aber,
wie es gewöhnlich geht, nur äußerlich nachgebildet,
ohne den mächtigen Geist des Schöpfers. Eine Fülle
junger Mädchen und Frauen ähnlicher Art über¬
schwemmen seitdem die Ausstellungen und den Kunst¬
markt. Glücklicherweise bieten die beiden anderen
Werke, an die icli erinnern möchte, keinen so gün¬
stigen Vorwurf für platte und gekünstelte Nach¬
homo. Die Gruppe des Christoph Columbus ist aus
Bronze und in kolossalen Verhältnissen gehalten.
Vela führte sie im Aufträge der französischen Kai¬
serin Eugenie aus. Christoph Columbus, freudestrah¬
lend aber in würdiger Haltung, führt dem alten
Europa das junge Amerika vor, welches in Gestalt
eines furchtsamen jungen Mädchens dargestellt ist.
Man beobachte die vollkommene und angenehme
Gestalt dieses jungen Geschöpfes. V ela schuf hier einen
Zeitsclirift für bildende Kunst. N. F, IV.
ahmung. Es sind dies die Totenmesse und das Ecce
homo.
Das erstgenannte Werk findet sich zu Verate
in der Brianza bei Mailand und bildet das Grabmal
der Comtesse Giulini della Porta. Hier entzückt
wieder die besondere Einfachheit und die stille Samm¬
lung, die sich in dem Bildwerke ausprägt, und die
etwa der einer antiken Muse vergleichbar ist, freilich
nicht ohne einen Hauch christlichen Gefühls.
G
Die letzten Tage Napoleons I. auf St. Helena. Statue von Vincenzo Vela.
42
VINCEN520 VELA.
Das christliche Gefühl beherrscht vollständig
das demütig und ergebungsvoll gestimmte Ecce homo.
Für dieses Werk hatte Vela eine Vorliebe, mit be¬
sonderem Wohlgefallen sprach er davon. Seine Witwe
und sein Sohn Spartacus beabsichtigen deshalb eine
Wiederholung in Marmor auf das Grab des Urhebers
in Ligornetto zu setzen. (Das Original befindet sich
ebenfalls in Verate.)
AVir sind nunmehr bei demjenigen Werke des
Künstlers angelangt, das den Höhepunkt seiner künst¬
lerischen Entwicklung und den Abschluss seiner
Triumphe bezeichnet. Es ist die Statue Napoleon’s L,
betitelt: „Die letzten Tage Napoleon’s“.
Ein kraftvoller und ernsthafter Künstler setzt
bei der Ausführung eines Kunstwerks stets sein
ganzes Wesen ein, sowohl beim Entwurf als bei der
Ausführung. Aber je mehr er Kraft und Ernst
hat, je gewissenhafter und sorgfältiger er vorgeht,
um so weniger pflegt er der Wirkung seiner Schö¬
pfung sicher zu sein. Der ungelöste Rest seiner Auf¬
gabe, so gering er sein mag, quält ihn oft mehr als
das, was er vor sich sieht.
Als die Statue des Napoleon aus seinem Atelier
geholt und nach Paris befördert wurde, befielen den
Künstler nagende Zweifel und Befürchtungen. Wie
ein Löwe seinen Käfig, so durchmaß Vela sein Atelier
und murmelte ohne Unterlass voll Aufregung: „Wenn
icli P’iasko machte, wenn ich nicht reüssirte!“ Die
Proteste seiner Freunde und Schüler halfen nichts.
Die Welt kennt den Triumph des Vela’schen
Napoleon in Paris. Vergeblich suchten einige Kri¬
tiker an dem Werke zu mäkeln, um seinen Erfolg
abzuschwächen. Das Publikum drängte sich beständig
darum; Kaiser Napoleon IIL kaufte das Werk und
ließ es nach Versailles bringen; es hatte ihn stumm
und naclidenklicli gemacht.
I n dieser feierlich erhabenen IGgur hat der Künstler
den 'rodeskiimpf niclit nur eijies Menschen, sondern
einer ganzen Plpoche verkörpert. Vor seinem inneren
Auge lässt der gewaltige Mann noch einmal die
Ercigni.sse und Personen, mit denen er gespielt hatte,
an sicli vorüber ziehen. Die Weltbrandung, die er
erregt liatte, schlug noch einmal an sein Ohr und wie
begabt mit einem zweiten Gefühl maß und erkannte
er die P'olgen der Ereignisse, die er hervorgetrieben
liatte. Die linke Hand, zur Faust geballt, ruht auf
der Karte von Eurojta, das so oft die Schwere seiner
Faust tühlen mus.ste. In diesem Werke hat Vela
mehr noch als in früheren die tiefsten Gedanken ver¬
körpert.
Ganz Oberitalien hallte noch von dem Erfolge
Vela’s wieder, als mit einemmal sich das Gerücht
verbreitete, er habe die Stellung eines Professors
der Bildhauerei an der Akademie der Albertina auf¬
gegeben und verlasse die Stadt Turin vollständig.
Er hatte es in der That schon zu einigen Freunden
während der Weltausstellung ausgesprochen: Wenn
ich alles verkaufen kann, schlage ich es los und
ziehe mich nach Ligornetto zurück. Seine PTeunde
hatten dies erst für eine bloße Redensart aus Ent¬
mutigung gehalten; erst als er im Begriff stand,
seinen Entschluss auszuführen, versuchten sie ver¬
geblich ihn umzustoßen. Vela hatte genug erworben,
um den Seinen eine Existenz zu sichern, und gab
nun seiner Neigung, dem Weltgewühl zu entfliehen,
nach. Er wollte freilich damit keineswegs auf künst¬
lerische Thätigkeit verzichten.
Zur Erklärung dieses plötzlichen Abschneidens
aller geselligen Beziehungen kann man neben dem
Wunsche, sich selbst zu leben, noch einen andern
ausfindig machen. Wahre Künstler sind selten Ge¬
sellschaftsmenschen; unter ihren Schöpfungen, bei
ihrer Arbeit wird es ihnen am wohlsten. Wer seiner
Zeit vorauseilt, findet selten Verständnis; das macht
leicht menschenscheu, ja menschenfeindlich. Wohl
belebt der Erfolg, das Glückslächeln berauscht und
verleiht Kraft und Mut; aber ein Misserfolg kann
den Verwöhnten rasch wieder entmutigen.
Vela gehörte zu dem engem Kreise Cavour’s,
war begeistert für Massimo d’Azeglio, bewunderte
den Herzog Ferdinand von Genua und nährte in
seiner Seele den feurigen Wunsch, die Denkmäler
dieser drei Männer für Turin auszuführen. Aber ein
Auftrag nach dem andern entging ihm. Er war
nicht so geartet, Schritte zu thun, um sich diese
Werke zu sichern. Man darf auch wohl behaupten,
dass Vela nach seinen bisherigen Werken in den
Denkmälern der drei Männer keinen PMrtschritt be¬
kundet haben würde.
Wie dem nun sei, der alte Lieblingstraum von
1852 kehrte wieder und wieder und schmeichelnd
lockte ihn die Einsamkeit von Ligornetto.
Wenige Schritte entfernt von dem Häuschen,
wo er das Licht zuerst erblickt hatte, ließ er eine
Villa errichten, die er mit einer Glyptothek von Gips¬
abgüssen aller seiner Werke ausstattete. Dort hauchte
der Künstler im Oktober des Jahres 1891 seinen
Geist aus.
In Ligornetto gab er sich wieder seiner ge¬
wohnten Thätigkeit hin und schuf daselbst u. a.
das PTachrelief: „Die Opfer des Gotthardtunnels“
FEUERBACH’S DECKENGEMÄLDE FÜR DIE AULA DER WIENER AKADEMIE.
43
(vgl. die Abbildung). Das Werk beweist, dass Vela
seine künstlerischen Ideen aus der Gegenwart schöpfte,
und gewiss ist es lebhafte Teilnahme für die Ver¬
unglückten, die die Anregung zu dieser Schöpfung
gab. Aber man muss doch trotz allem gestehen,
dass seine künstlerische Laufbahn mit dem Verlassen
Turins ihren Abschluss fand; zu der Höhe seines
Napoleon hat er sich nicht wieder erhoben.
*
* *
Vincenzo Vela hat, wie jeder selbständige Künstler,
lebhaften Einfluss nicht nur auf seine direkten Schüler,
sondern auch auf andere Künstler ausgeübt. Unter
seinen Schülern sind hervorzuheben: della Vedova,
Ginotti, Cassani, Ramazzotti, ferner Rondoni, Tra-
bucco, Giani, Ruga, Ambrogi, Bernasconi u. s. w.
Andrerseits standen eine Reihe von Künstlern wie
Lahns, Magni, Tabacchi, Barzaghi, Guarnerio, Ber-
gonzoli unter seinem Einflüsse, den fast alle Künstler
der Lombardei mehr oder weniger erfuhren. Als er
Turin verließ, schlag er selbst Tabacchi zu seinem
Nachfolger vor.
Nichts war natürlicher, als dass Vela vielfach
direkt nachgeahmt wurde, wie wir schon erwähnten.
Aber sein Geist war doch nur sehr selten zu Anden,
seine Liebe zur Wahrheit wurde Kopie der Wirk¬
lichkeit; seine Gewohnheit, die Einzelheiten sorgfältig
durchzubilden, wurde übertrieben bis zur minutiösen
Spielerei, seine liebenswürdigen Typen wurden viel¬
fach verwässert und rein äußerlich kopirt. Nur
wenig ging von seinem Geiste auf die Nachahmer
über, aber glücklicherweise ist dieser nicht mit ihm
erstorben. Er lebt nicht nur in seinen Gestalten
fort, sondern auch in der Hand mancher guten Künst¬
ler, die rüstig in Italien in seinem Sinne weiter
schaffen. Mit B/iffi in Mailand, Montcverclc in Genua,
Ettore Ferrari und Ercole Rosa in Rom, Civiletfi in
Palermo seien nur einige davon genannt.
Mailand, im Juli 1892.
FEUERBACH’S DECKENGEMÄLDE
EÜR DIE AULA DER WIENER AKADEMIE.
MIT ABBILDUNGEN.
0 wäre denn nun das einzige
Werk monumentaler Malerei,
welches Anselm Fenerhach
uns hinterlassen hat, an der
Stelle, für die er es ge¬
schaffen, endlich enthüllt!
Das zweihundertjährige Stif¬
tungsfest, welches die Wiener
Akademie am 26. Oktober im Beisein Sr. Majestät
des Kaisers und einer zahlreichen auserlesenen Ver¬
sammlung weihevoll beging, bot uns den ersten über¬
raschenden Anblick der großartigen Schöpfung, und
jedem, der sie seither eingehender hat betrachten
können, musste sich der Gedanke aufdrängen, dass
eine Kraft von titanischer Gewalt aus diesen Bildern
zu uns spricht.
Als Anselm Feuerbach am 4. Januar 1880 in
Venedig starb, ließ er fünf der für die Aula der
Wiener Akademie bei ihm bestellten Bilder in dem
Zustande zurück, wie sie nun an der Decke prangen.
Dem „Titanensturz“, dem großen Mittelbilde des
Cyklus, fehlen noch an einigen Stellen die letzten
Retouchen. Die vier kleineren Gemälde: „Der ge¬
fesselte Prometheus, von den klagenden Okeaniden
umringt“, „Venus Anadyomene im Muschelwageu,
von Amoretten umgeben“, „Gäa“ und „Uranos“,
waren ganz vollendet. Zu den übrigen vier Kom¬
positionen des Gemäldecyklus , welcher im ganzen
somit aus neun Stücken besteht, fanden sich im
Nachlasse des Meisters nur Studien und Andeutungen
vor: zwei größere, auf Tonpapier mit Umbrastift
gezeichnete Studien zn den Einzelgestalten des „Eros“
und des „Okeanos“ (s. die Abbildungen), außerdem
eine Anzahl kleiner Pausen und Detailstudien, welche
zu den beiden letzten Bildern des Cyklus gehören,
sämtlich heute in der Sammlung der Akademie.
Nachdem das hinterlassene Werk in Wien an¬
gelangt war, musste man zunächst den Gedanken
fassen, die unvollendeten Teile durch Schüler des
verstorbenen Meisters ausführen zu lassen. Der
„Titanenstarz“ blieb natürlich unberührt und macht
auch ohne die letzte Retouche seine volle Wirkung.
Die Ausführung der beiden Einzelßguren „Eros“
und „Okeanos“ wurde auf Grund der vorliegenden
6*
44
FEUERBACH’S DECKENGEMÄLDE FÜR DIE AULA DER WIENER AKADEMIE.
N
Zeichnungen dem Maler Ileinrirh Tenf, schert (gegen¬
wärtig in Rom), einem Schüler Feuerbacli’s, über¬
tragen. Derselbe hat die Aufgabe mit Pietät gelost,
freilich ohne die Kraft der Modellirung und den
eigentümlich herben Reiz der farbigen Erscheinung,
welcher die Schöpfungen seines Meisters kenn¬
zeichnet, zu erreichen. Für die beiden anderen
größeren Kompositionen hatte man einen zweiten
begabten Schüler Feuerbach’s, Adalbert Ilynais,
in Aussicht genommen und von diesem, der seit
Jahren in Paris wohnt, auch die Erklärung seiner
Bereitwilligkeit erhalten. Als Hynais dann aber,
aus Anlass der Vollendung seiner Malereien für
das neue Burgtheater, vor einigen Jahren nach
Wien kam und in die Sachlage vollen Einblick er¬
hielt, erklärte er leider, von der gegebenen Zusage
zurücktreten zu müssen. So übernahm denn schlie߬
lich Prof. Chr. Oriepenherl den immer noch sehr er¬
heblichen Rest des großen Werkes und führte die
beiden fehlenden Kompositionen selbständig aus.
Dass den Gegenstand des einen dieser Bilder „Pro¬
metheus als Gründer des Herdes“ bilden musste,
war aus der kleinen Skizze zu entnehmen, welche
Feuerbach in den Hansen’schen Deckenentwurf (in
der Sammlung der Akademie) eingezeichnet hat.
Man erkennt auf derselben, trotz ihrer Flüchtigkeit,
deutlich den zur Rechten (vom Beschauer) sitzenden
Prometheus und unmittelbar vor ihm die auf einer Art
von Dreifuß brennendeFlamme; links davon erscheinen
drei Gestalten, die sich wie vor etwas Göttlichem
zu beugen scheinen, dessen Bedeutung ihnen Pro¬
metheus lehrend auseinandersetzt. Die von Griepen-
kerl ausgeführte Komposition war damit in ihren
Hauptzügen vorgezeichnet. Schwieriger gestaltete
sich die Sache bei dem letzten der Bilder, welches
den Cyklus am Nordende der Decke abschließt und
zu der „Aphrodite im Muschelwagen“ (am Südende)
das Gegenstück bildet. Die halb verwischte und erst
eben angedeutete Skizze Feuerbach’s zeigt hier nur
eine am Boden gelagerte, offenbar weibliche Figur
und über ihr ein sichelförmiges Instrument. Letzteres
bot dem Künstler die Handhabe für die Erklärung
der Figur als Demeter. Diese, die göttliche Grün¬
derin aller Kultur, reiht sich passend an Prometheus,
den Feuerbringer, an:
,,Die Bezäümerin wilder Sitten,
Die den Menschen zum Menschen gesellt
Und in friedliche, feste Hütten
Wandelte das bewegliche Zelt.“
Griepenkerl führt sie uns gelagert neben der von
ihr geflochtenen Garbe vor und gab ihr zur Be¬
gleitung einen Chor von kleinen Genien, welche
die Jahreszeiten symbolisiren. Ohne Zweifel er¬
hält der in den Bildern Feuerbach’s niedergelegte
Eros. Umbrastiftzeichuung von A. Feuerbach. Okeanos. Umbrastiftzeichmmg von A. Feüerbach.
4G
FEUERBACH’S DECKENGEMÄLDE FÜR DIE AULA DER WIENER AKADEMIE.
Gedankenkreis auf diese Weise seinen passenden
Abschluss. Und auch in rein malerischer Hinsicht
kann man es nur freudig anerkennen, wie hier eine
aus ganz anderer Tradition hervorgegangene Künstler¬
natur sich willig und harmonisch in den Dienst der
großen Aufgabe gestellt hat, ohne die eigene Indi¬
vidualität preiszugeben. „Je mehr ich mich“ — so
sagte uns der Künstler — „in das Studium der
Feuerbach’schen Gemälde vertiefte, um die meinigen
ihnen anzupassen, einen um so gewaltigeren Respekt
bekam ich vor der Größe des Meisters. Trotz mancher
Schwächen, besonders in der Zeichnung, muss man
gestehen, dass nichts sich anders denken lässt, als wie
es eben dasteht. Es ist wie eine gebundene Rede,
— in der sich ja auch nicht alles fügt wie im
Rrosastil, — die ihr Gesetz in sich selber trägt. Und
niemals habe ich, obwohl doch in solchen Dingen
einigermaßen ei-fahren, als ich die Feuerbach’schen
Bilder bei mir im Atelier stehen sah, gedacht, dass
sie an der Decke eine so herrliche Wirkung machen
würden.“
Als man daran ging, die somit abgeschlossene
Bilderfolge nun an der Decke zu befestigen, ergab
sich die Notwendigkeit, in einem Punkte von der
oben erwähnten ersten Planskizze Feuerbach’s abzu¬
weichen: nämlich in der Anordnung der vier
schwebenden Einzelgestalten. Der Meister hatte zum
gefesselten Prometheus ursprünglich Gäa und Eros
gesellt, war aber bei der Ausführung der Bilder selbst
davon abgegangen. Eine unten citirte Äußerung
von ihm beweist dies klar. Danach mussten rechts
und links von dem gefesselten Prometheus Gäa und
Uranos angebracht werden. Die Mitte und die
ganze Südseite der Decke gehören somit Feuerbach
allein; an der Nordseite schließen sich die von
Griei)enkerl und Tentschert gemalten Bilder an. Es
wird, unter Hinweis auf die beigefügte Gesamtskizze
des fertigen Plafonds, vielleicht gut sein, die Gegen¬
stände der Bilder und die Namen der Künstler hier
noch einmal nach einander aufzuführen:
1. Mittelbild: J'itanensturz — Feuerbach.
2. Südliche Bildergruppe: a) Venus im Muschel¬
wagen — Feuerbach, b) Der gefesselte Prometheus
- Feuerbacli. c) Gäa — F'euerbach. d) Uranos —
Feuerbach.
3. Nördliche Bildergru])pe: e) Prometheus als
Herdgründer — Griepenkerl. f) Demeter — Griepen-
kerl. g) Eros —Tentschert. h) Dkeanos — Tentschert.
Uber die Plntstehung der P’euerbach’schen Decken¬
bilder für die Wiener Aula sind wir durch ihn selbst
(Vermächtnis, 3. Aufl. 124 ff.) ziemlich genau unter¬
richtet. Mit Beginn des Sommers 1873 trat er in
Wien seine Stellung an der k. k. Akademie als
Professor einer Spezialschule für Historienmalerei an
und erhielt nicht lange darauf die große Bestellung
für den Festsaal des damals im Werden begriffenen
Neubaues. Eine erste, von Hansen entworfene Plan¬
skizze der Decke wurde verworfen. Sie hätte nur
für eine Anzahl kleinerer Bilder Platz gelassen, der
monumentalen Malerei den Leib eingeschnürt. Dar¬
auf machte Hansen den zweiten Entwurf, der im
wesentlichen so, wie er damals gemeinsam mit Feuer¬
bach festgestellt ward, auch zur Ausführung ge¬
kommen ist. Die durch reiche Stuckornamentik ge¬
teilte Decke blieb bis zum Einsetzen der Bilder weiß
und hat erst jetzt, nach Fertigstellung derselben,
ihre polychrome Dekoration erhalten. Die Aus¬
führung der letzteren in mattem Rot, Weiß, Licht¬
blau und Gold, erfolgte nach den Angaben Prof.
G. Niemann’s, der als ein ehemaliger Schüler Hansen’s
in dessen Stilempfindung völlig eingeweiht war und
auch Feuerbach’s malerischen Intentionen in feiner
Weise gerecht geworden ist.
„Oberbaurat Hansen“ — so schreibt Feuerbach
(Wien 1875, Vermächtnis, S. 137) — „hat mich heute
in dem neuen Akademiebau herumgeführt bis zum
Giebel. Im Oktober meint er mir ein großes Atelier
einrichten zu können. Er rät mir, einstweilen mit
den kleineren Nebengruppen zu beginnen. Ich
möchte es eigentlich nicht, weil das große Mittelbild
den Maßstab für den Rest geben sollte; wenn es
aber nicht anders geht, so muss ich mich fügen. —
Der Saal ist schön. Dreißig Marmorsäulen, nicht zu
hoch, nicht zu niedrig, intim und prächtig zugleich.
Man kann sich nichts Harmonischeres denken. Mein
Mittelstück ist glücklich erdacht. Wenn es mir ge¬
länge, wollte ich gerne sterben, es wäre genug für
ein Menschenleben.“
Über den Beginn der Arbeit berichtet eine
zweite Stelle: „Bis ziim Schluss des Winters 1875
war ich beschäftigt, meine Bilder, Amazonen und
zweites Gastmahl, für die Ausstellung in München
vorzubereiten; desgleichen malte ich die erste Skizze
zMtn Tiianensturz und brachte die vordere ’) Gruppe
der Deckenbilder, Prometheus, Venus, Gäa und
Uranos, auf einen ziemlichen Grad der Vollendung.“
1) Dass Feuei’bach die südliche Bildergruppe hier die
„vordere“ nennt, mag darin seinen Grund haben, dass sie
bei dem auf den Tisch gelegten Plan (s. unsere Abbildung)
vorne, d. h. zunächst dem Beschauer zu liegen kommt. An
der Decke erscheint die Gruppe hinten, d. h. im Fond des
Saales.
PEüERBACFrS DECKENGEMÄLDE FÜR DIE AULA DER WIENER AKADEMIE.
47
Die letzte Hand hat Feuerbach an die Bilder
bekanntlich erst in Italien gelegt. Ein Gelenk¬
rheumatismus und eine schleichende Lungenentzün¬
dung trieben ihn von Wien fort, zunächst in die
Heimat, dann nach Rom und Venedig. Im Süden,
unter der unmittelbaren Einwirkung der großen ita¬
lienischen Kunst, sind die Werke ihrer Vollendung
entgegengereift. In Rom fühlte sich der Meister
wieder auf seinem Boden, „ein zweiter Antäus“.
Wie „ein stiller Friede“ kam es über ihn. Er be¬
gann von neuem die Arbeit mit frohen Hoffnungen,
in der glücklichsten Stimmung.
Sehr bezeichnend für die Konzeption des großen
Mittelbildes sind folgende Worte Feuerbach’s: „Alle
meine Werke sind aus der Verschmelzung irgend
Seite; rechts türmen die Titanen Felsblöcke über¬
einander. Unten nächtliches, anbrausendes Meer,
klagende Weiber, Tote, Verwundete, im Wasser
Leichen, ungeheuerliche Fische mit aufgesperrtem
Rachen, rechts Poseidon, mit icild sich cmfhdumenden
Rossen nnd jugendlichem Wagenlenker, erlegt eine Hgdra
mit dem Dreizack; Hermes, der lachende Götterbote,
bringt Botschaft von oben. Dunkler Himmel, Rauch,
Brand au allen Ecken.“
Vergleicht mau diese Skizze mit der in unserer
Zeichnung wiedergegebenen ausgeführten Komposi¬
tion , so zeigt sich , dass die obere Hälfte des
Bildes völlig unverändert geblieben und nur etwas
nach rechts gedreht ist, um das sonnenbafte Em¬
porsteigen des Zeus auf seinem Viergespann zu
Aphrodite im Muschelwageu. Von A. Feuerbach.
einer seelischen Veranlassung mit einer zufälligen
Anschauung entstanden.“ — „Bei den Titanen war
der lachende Poseidon die Figur, welche mir zuerst
vorschwebte und an die sich dann unmittelbar die
übrige Komposition rhythmisch anreihte.“
Merkwürdig, dass gerade diejenige Gestalt,
welche Feuerbach hier sozusagen als das Keimblatt
der ganzen Komposition bezeichnet, auf dem voll¬
endeten Bilde in durchaus veränderter Stellung und
Situation erscheint, als in dem ersten Entwurf. Der
Meister giebt uns von diesem eine gedrängte Be¬
schreibung (a. a. 0. S. 136), die mit der Skizze in
der Sammlung der Akademie in den Hauptpunkten
übereinstimmt. „Oben in Gold und Purpur schleudert
Zeus seine Blitze, beschirmt von allen streitbaren
Göttern des Olymps. Kampf des obersten Titanen
mit dem Adler. Jäher Sturz kopfüber auf der linken
prägnanterem Ausdruck zu bringen. Bedeutsame
Umänderungen weist dagegen die untere Hälfte der
Komposition auf und die wichtigste derselben ist
die Umstellung des Poseidon auf die linke Seite des
Bildes und dessen Lostrennung aus dem Zusammen¬
hänge mit den übrigen Gruppen. Es ist, als wenn
dem Künstler erst während der Ausgestaltung des
Werkes jener Urkeim seiner Titanenkomposition,
der lachende Poseidon, zu voller Klarheit und Pla¬
stizität sich verdichtet hätte. Nichts Genialeres kann
in der That ersonnen werden als diese reckenhaft
ungeschlachte Gestalt des Meeresgottes mit dem
struppigen Bart und den wirr um das Haupt ihm
flatternden Schilf halmen, der an dem Siege des
himmlischen Bruders eine wilde Freude hat, ob¬
schon ihm selbst mehr Titanenhaft-Urgewaltiges an¬
haftet, als den olympischen Gründern der Kultur
4$
KLEINE MITTEILUNGEN.
geziemt. Und erst in ihrer Isolirung kommt die
Gestalt zu voUem Ausdruck!
Die Stelle des Poseidon auf dem ersten Ent¬
würfe nimmt im fertigen Bilde Frau Venus ein.
Und zwar begegnet sie uns hier, wie auf dem kleinen
Seitenbilde am Südende, als die schaumgeborene
Göttin, aber stehend auf dem Muschelwagen, den
zwei von Amor gelenkte Delphine ziehen. Genien
mit Blumengewinden bilden ihr Gefolge. Sie richtet
den Blick trmmphirend nach oben, in der Rechten
den Palmzweig haltend. Eine große, geflügelte Nike
— welche auf dem fertigen Bilde an die Stelle
des Götterboten Hermes getreten ist — verkündet
mit Posaunenschall den Sieg der Schönheit, in der
Linken den Kranz. Dass Aphrodite zweimal er¬
scheint, im Vordergründe des Titanensturzes als Mit-
anteilnehmerin an dem Triumphe der Götter und
dann für sich allein, im ruhigen Behagen, als die
Krone aller Kultur und Kunst, wer wollte das an
der Stätte der Künste anders wünschen! Die Um¬
änderung der großen Komposition in diesem Sinne
war eine innere Notwendigkeit.
Auch die herrlichen Gruppen der Titaiienweiber
und des Meergesindes im Mittel- und Vordergründe
sind ei’st das Ergebnis der schrittweisen Voll¬
endung des Bildes. Die Pause giebt nur wenige
der weiblichen Figuren in flüchtiger Andeutung; in
der obigen Beschreibung des ersten Entwurfs hat
dieser Teil der Komposition bereits nahezu seine
gegenwärtige Gestalt. Auf einer Ölskizze vom Jahre
1875 in der Münchener Pinakothek (Vermächtnis,
S. 215, Nr. 167) sind außer dem Meer auch schon
die „offenen Pforten des Hades“ angedeutet, aus
denen der Höllenhund seinen dreifachen Rachen her¬
vorstreckt. — ■ Im allgemeinen ist der untere Teil des
Bildes ruhiger und in der Farbe gedämpfter als der
obere, besonders die ganz vollendete linke Seite.
Hier kommt die stimmungsvolle Natur des Künstlers
zum Ausdruck. Nur in der oberen Partie erhebt er
sich zur höchsten Lebendigkeit. Ja, es ist dies,
neben der „Ämazonenschlacht“, das einzige Stück echt
dramatisch bewegter Kunst, was wir von Feuerbach
besitzen, und nach unserer Überzeugung dem Ama¬
zonenbilde überlegen. Wenn in den stürzenden
Titanen und den Titanenweibern des Mittelgrundes
mancher Zug an Michelangelo gemahnt und in
anderen Gestalten Farn esina- Motive deutlich nach¬
klingen, so ist dagegen in der Hauptgruppe des
blitzeschleudernden Zeus und seiner Begleiter der
Künstler ganz er selbst in Erfindung und Ausdruck.
Die sieghaften Olympier in ihrer purpurnen Lohe
gehören zu den großartigsten Inspirationen der mo¬
dernen Kunst. Während im Gesamtton des Bildes
eine gewisse erdschwere und gewitterschwüle Stim-
m.ung vorwiegt, bricht in jenen himmlischen Ge¬
stalten ein heller Freskoton farbig und erfrischend
hervor. C. v. LÜTZOW.
(Schluss folgt.)
KLEINE MITTEILUNGEN.
KihrniiKl Koken, dessen stimmungsvolles Bild „An der
Kloster[)fort(!“ wir in Heliogravüre diesem Hefte beigehen,
ist ein Künstler, dessen Name mit der Entwicklung des Pro-
vinzialmuseuras in Ha.nnover eng verknüpft ist. Er wurde
;ini 4. .luni 1814 zu Hannover geboren, besuchte dort die
Hofschule und erhielt seineTi ersten Unterricht im Zeichnen
am Polytechnikum daselbst. Er ging zu seiner künstlerischen
Ausbildung mit Kotsch nach München, wo vor allem der
Einfluss Kottmann’s auf ilm sich geltend machte. Von da
ans besuchte er als Studienreisender Oberitalien, Oberbayern
und Hranilenbiirg und kehrte anfangs der vierziger Jahre
nach Hannover zurück. Obwohl er sich im Forträtfach mit
Erfolg versuchte, ist doch sein eigentliches Gebiet die Land¬
schaft, die er gern in einer lyrischen Grundstimmung zeigt.
Das vorliegende Bild entstand 18G.5 und gelangte durch ein
Vermächtnis des Münzmedailleurs Brehmer in die Galerie
zu Hannover.
Itoherf. Kandner, der Urheber der Malerradirung ,,Kopf
eines alten Mannes“, die diesem Heft beigegeben ist, wurde
im Jahre 1854 zu Nimkau in Schlesien geboren. Er hat
seine Lehrzeit in einer Porzellanfabrik begonnen, zog dann
nach Leipzig und besuchte dort die Kunstschule, 1878 siedelte
er nach München über, um von nun ab die „hohe Kunst“
zu pflegen. Dort hat er unter Kämpfen und Entbehrungen,
angeleitet von Loetftz, Raab, Krauskopf, seine Künstlerlauf¬
bahn emsig verfolgt. Eine Probe seiner damaligen Fähig¬
keit zeigt die Radirung nach Mathias Schmid’s „Rettung“
(Jahrgang XIX dieser Zeitschrift), die unter Leitung von
W. Krauskopf entstand. Ein schreckliches Schicksal schien
ihm zu drohen, als sich bei ihm ein Augenühel einstellte,
das ihm schließlich die Arbeit unmöglich machte. Alle
Früchte seines Fleißes schienen vernichtet, und wer zu em¬
pfinden vermag, was die Sehkraft dem Künstler bedeutet,
wird die Qualen ermessen können, die ihn damals heimsuchten.
Glücklicherweise besserte sich der Zustand nach und nach und
heute beweisen u. a. die großen Studien, die Raudner gegen¬
wärtig bei Amsler & Ruthardt in Berlin ausgestellt hat, seine
technische Meisterschaft und seinen echt malerischen Sinn.
Herausgeber: Carl von JJüxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artv/r Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Titaueiisturz. Gemiilile von A. Fkueebach.
Edin.'Ko'ken. piiix.
Helio^r . v: E . ALTd ert u. r -
AN DEP KLOSTBRPEORTE^
J- ■] .g V E.A Sci-mann , Leipzig.
Lnicli vEA^Bi-ürldians , Leipzig.
BAIDEVERGNUGEN.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
VON ALFRED GOTT HOLD MEYER.
(Fortsetzung.)
ÄHLT man ohne Rücksicht
auf den Kunstwert alles zu¬
sammen, was in der deut¬
schen Abteilung dieses Salons
unter die Rubrik „Grenre“
fallen konnte, so zeigte sich
diesmal doch wieder eine leise
Neigung zu jener pointirten
Aiiekdotenmalerei, zum Süßlichen und Gefälligen,
der die Neuerer nicht mit Unrecht so energisch
entgegengetreten sind. Man kann dem deutschen
Genrebild sicherlich ohne Schaden für die „neue
Schule“ einen reicheren Inhalt wünschen, als die¬
selbe ihr im letzten Jahrzehnt zugestanden hat,
aber diese rückläufige Richtung entspricht solchem
Wunsch nur sehr dürftig. Sie ist weder im Sinne
unserer Zeit national, noch aktuell. Unsere Genre¬
maler sollten sich allgemach wieder der That-
sache bewusst werden, dass sie in ihren Bildern der
Nachwelt Kultur- und Geistesgeschichte unserer
Zeit überliefern können. Fast ängstlich wird von
ihnen alles vermieden, was heute den Mittelpunkt
aller Interessen bildet, die sozialen Ideen, welche
der künftige Kulturhistoriker an die Spitze seiner
Betrachtungen stellen wird, der stetig wachsende
Kampf zwischen Kapital und Arbeit, die Umwäl¬
zungen, welche sich in unserm Gesellschaftsleben
vorbereiten und zum Teil schon vollziehen, die Um¬
wertung der auf das Verhältnis des Einzelnen zur
Gesamtheit bezüglichen Anschauungen, das ganze,
gewaltige Gebiet moderner Geistes- und Maschinen¬
arbeit — kurz alles das, was nach Zolas mächtigem Vor¬
bild in unserer Litteratur mehr undmehr in den Vorder¬
grund tritt. Ist doch aus unserer Genremalerei selbst
die moderne Gesellschaftsfrac/?< noch immer so gut
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
wie verbannt — an sich etwas rein Äußerliches, in
Wahrheit aber etwas sehr Bedeutsames, denn mit
dem Bannspruch über seine Hülle hat man eine Haujit-
klasse des „modernen Menschen“ selbst von der Ma¬
lerei ausgeschlossen! Nur ganz vereinzelt finden sich
Ausnahmen, vertreten durch Künstler, die sich dieser
Aufgabe noch gar nicht recht bewusst sind. Sl'ar-
hina würde sich selbst dagegen .sträuben, wenn man
seine bleibende Bedeutung auf diesen „Stolfkreis“ be¬
schränkte. Malerische und koloristische Probleme
leiten ihn, und nur wie etwas Zufälliges wählt er für
dieselben häufig Momentbilder der salonfähigen Gesell¬
schaft. Ähnlich auch der ihm zuweilen wahlverwandte
Hermann Sclditfgen, der sich diesmal völlig auf kolo¬
ristische Experimente beschränkte, und Joseph Bloch,
der ein gutes Gegenstück zu Skarbina’s „Herbe
Worte“ ausge.stellt hatte. Es ist nicht nötig, dass
bei Versuchen dieser Gattung stets von neuem das
Verhältnis zwischen Mann und Frau den Grund¬
ton angiebt, — für Block nicht einmal wünschens¬
wert, denn seine Männer sind weit wahrer, als seine
Frauen — es ist nicht richtig, denn niemand wird
behaupten wollen, dass heute das Weib im Mittel¬
punkt unseres Kultur- und Geisteslebens steht.
Solche Erörterungen können unnütz erscheinen:
niemals hat die Kritik erfolgreich den Inhalt der
Kunst bestimmt. Aber sie sind auch in anderem
Sinne vielleicht nicht ganz belanglos. Sicherlich
hat diese Abkehr von dem, was unsere Zeit bewegt,
auch den geschichtlichen Blick getrübt, und zum un¬
leugbaren Niedergang unserer Historienmalerei bei¬
getragen. Von Jahr zu Jahr werden die Historien¬
bilder in unseren Ausstellungen seltener, nicht nur
die nationalen, auch nicht nur die guten, sondern
die Darstellungen geschichtlicher Stoffe überhaupt.
7
5(1
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
Im Münchener Salon zog deshalb im Vorjahre
0. Friedrich' s Bild „Canossa“ mit Recht die Aufmerk¬
samkeit auf sich. Diesmal nahm Michael Dienier’s
panoramenartig gemalte Darstellung aus sagenhafter
Zeit „Grettir der Geächtete“ .seine Stelle ein, eine
noch nicht ausgereifte, aber vielversprechende Arbeit.
Daneben wären noch Rouhaud's tüchtiges Gemälde
„Verwundet“, das an Josej^h von Brandt erinnert, und
Theodor EocholVs zum Teil schon bekannte "Werke
zu nennen — unter etlichen tausend Bildern doch eine
gar zu wünzige Schar! Vielleicht ist den Historienmalern
in Zukunft auch der Dresdener Felix Borchardt zuzu¬
rechnen, dessen großes Bild „Die These“ eine un¬
gewöhnlich scharfe Charakteristik der Einzelfiguren
zeigt. — Monumentalmalerei aber bietet keines
dieser Werke, und wie gänzlich die Kraft zu einer
solchen mangelt, bezeugt die für das Erfurter Rat¬
haus bestimmte iimte Ednard Kiwi]) ff er s „Aus Luther’s
Leben in Erfurt“. Ohne ein unerwartetes Genie
wird es noch lange währen, bis unsere Historien¬
malerei die Errungenschaften der neuen Schule so
selbständig verarbeitet, wie es in der Landschaft und
zum Teil aucli im Genrebild bereits erfolgreich ver¬
sucht worden ist.
Die beste Schulung hierfür gewährt zweifellos das
Finzelhildnir , aber dasselbe beharrt leider noch in
einem ähnlichen Ubergangsstadium, wie die moderne
Landschaft. Gerade hier treten die Gegensätze zuweilen
am schärfsten hervor. Hat man doch vorgeschlagen, die
ältere Partei mit dem Namen Lenhach's zu decken!
Nicht ganz grundlos; wenn anders es nicht überhaupt
verfehlt ist, die mannigfachen, in der jüngsten Ent¬
wicklung unserer Malerei herrschenden Strömungen
als einen Zweikampf zwischen Altem und Neuem zu
deuten. Sicherlich bringt Lenbach’s Kunst den Be¬
strebungen der l'leinairisten gegenüber die Majestät
historischer Tradition, durch die Namen eines Tizian,
\'elazf|ucz, Rembraiidt geadelt, am glänzendsten zur
fieltung. Aber zugleich auch am individuellsten!
Schule zu machen, ist sie Avenig geeignet. Was bei
ihm Genialität ist, wird bei den .lungern leicht zu
unverstandener Manier. — Um so beachtenswerter er¬
scheint die Begabung Leo iSmnherf/rr's, der sich mit
seinen drei diesmal ausgestellten Bildnissen mutig
und erfolgreich zu lienbach’s Idealen bekennt. Er be¬
weist damit schon an sich, dass er auch seine eignen
Ideale hat, die den lieuf herrschenden IVinzipien zu¬
widerlaufen, denn für die meisten in München vereinten
jüngeren Porträtiste?i gilt das Wort Goethe’s: „Es ist
der schlimmste Irrtum, wenn junge gute Köpfe
glauben, ilire Originalität zu verlieren, indem sie das
Wahre anerkennen, was von andern schon anerkannt
worden.“ — Neben Samberger ist in diesem Zu¬
sammenhang Sigmund Landsinger zu nennen, dessen
„Pandora“, halb Bildnis, halb Idealfigur, eine gar
hohe Abstammung von den Frauen Lionardo’s und
den Farbenpoesien Böcklin’s erraten lassen möchte.
Nur schade, dass es nicht unbefangen genug ge¬
schieht! Wer solche Farben und solche Seelenschil¬
derung vereinen will, muss den Pinsel beizeiten aus
der Hand zu legen wissen, ehe der Fleiß die Impro¬
visation erstarren lässt. — Samberger’s und Land-
singer’s Arbeiten bewahren jedenfalls eine eigenartige
Künstlerphysiognomie, ein Ruhm, den unter den
Bildnissen dieser Ausstellung kein einziges in gleicher
Weise teilte. Am häufigsten war auch hier, wie bei
der Landschaft, die gute Lösung des lediglich kolo¬
ristischen Problems, des Problems der Freilichtmaler;
die Aufgabe, den Geist der dargestellten Persön¬
lichkeit zu fassen, sie in ihres Wesens Kerngehalt
zu verewigen, stand erst in zweiter Reihe. Tüchtige
Freilichtstudien dieser Gattung gaben besonders Fritz
Strobentz, Theodor Hummel und Karl Hartmann: treff¬
liche Bilder, die jedoch als Bildnisse wenig anziehend
sind. Ein wenig darüber hinaus ging Johanna Kirsch
in ihrem Selbstporträt, dem rechten Ziel aber kam
erst Martin von Aster wenig.stens durch erstaunliche
Lebenswahrheit nahe. Er ist mehr, als ein moderner
Realist und Hellmaler, er ist, selbst unabsichtlich,
Psychologe. Das schlichteste und wahrste Bildnis
der ganzen Reihe war wohl Wilhelm Bäuber’s Porträt
des Prinzregenten zu Pferde, eines der feinsten das
Damenbildnis von Reinhold Lepsius, das poetischste
die zarte Mädchen gestalt Robert Köhler' s. Was man
auch in der Gruppe der Bildnisse am meisten vermisste,
ist der Zug zu monumentaler Größe und das Walten
jener geheimnisvollen Macht des Genies, welche in
der flüchtigen Erscheinung das Ewige zu erkennen
und zu verkörpern weiß. Auf diesem Gebiet bleibt
die moderne Schule noch zu sehr am Äußeren, un¬
mittelbar Gegebenen haften. — Einen eigenartigen,
der Landschaft vergleichbaren Aufschwung beginnt
in ihr dagegen das Tierstnek zu nehmen. Im
Gegensatz zu der geistvollen, völlig .subjektiven
Art eines Meyerheim, die den Tieren nach F. Th.
Vischer’s Weisung „einen Menschen unterlegt“, ist
eine objektive Darstellung erstanden, die etwas von
epischer Größe enthält: ihr Hauptvertreter in München
war, neben dem genialen Friese, und neben //. von
Heyden, welcher seine trefflich gemalten Tierbilder
(loch meist durch drollige Situationen pointirt, Hein¬
rich y/hgel, dessen weiße Ochsen, die, in Licht und
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
Luft gebadet, den Pflug über das Brachland ziehen,
ein homerisches Gleichnis illnstriren könnten: für ein
mustergültiges Pleinairbild, das selbst die extremsten
Anhänger der neuen Schule befriedigt, doch wahr¬
lich ein hohes Lob! — Auch im modernen „Still¬
leben“ klingt Ähnliches an, doch fehlt hier auch
die Achtung gebietende Tradition nicht, welche dies¬
mal in Ludwig Jdaui Kuiiz einen wahrhaft klassi¬
schen Vertreter fand. —
Ich habe yersucht, hier ein Gesamtbild von dem¬
jenigen Bestand der deutschen Abteilung zu entwerfen,
der ihr l'unsthistoriscJ/es Ergebnis enthält. Dass ich
dabei nach dem schon von dem Abgeordneten
Detmold arg verspotteten ikonographischen Prinzip
verfuhr und den Stoff' nach Darstellungskreisen
gliederte, obgleich gerade unsere moderne Malerei
„keine Gedanken verkörpern, sondern malerisch
denken“ will, wird man verzeihlich finden. Der
kunsthistorische Standpunkt selbst aber ist freilich
der gefährlichste der Tageskritik und zugleich der
anspruchsvollste, weil er sich den Schein der Ob¬
jektivität giebt und dennoch naturgemäß individuell
bleiben muss. Gegen diesen Vorwurf kann nur das
Bewusstsein seiner Berechtigung schützen: das
Richteramt übt hier die Zukunft aus, diesem aber
muss sich die Kritik widerspruchslos beugen, wie
die Kunst selbst.
11. Das Ausland.
Für die Kunstgeschichte kann der außerdeutsche
Bestandteil unserer ,, internationalen“ Ausstellungen
nur in beschränkter Weise maßgebend werden, so
wesentlich er für die Entwickelung unserer Kunst auch
sein mag. Über die Beteiligung des Auslandes ent¬
scheidet trotz aller erfolgreichen Bemühungen der
dorthin entsandten Mittelsmänner, zuletzt doch so
unbedingt der Zufall, dass es verfehlt ist, aus ihr
das Gesamtbild großer nationaler Kunstweisen ab¬
leiten zu wollen. Vereinend, was kaum zu einander
gehört, trennend, was nur im Zusammenhang Be¬
deutung gewinnt, vermag sie nur flüchtige Streif¬
lichter auf einzelne Richtungen und einzelne Per¬
sönlichkeiten zu gewähren, und selbst die schärfere
Nuancirung nationaler Gegensätze, welche die inter¬
nationale Gesamtheit ermöglicht, ist häufig trügerisch.
Dennoch empfiehlt es sich, auch hier den historischen
Gesichtspunkt nicht ganz zu verlassen, denn selbst
diese zufälligen Lichtblicke können neue Perspek¬
tiven eröff'nen und späteren Wahrnehmungen den
Weg bahnen.
Das Münchener Unternehmen durfte diesmal
vielfach auf den Besitz der vorjährigen Berliner
Jubiläumsausstellung zurückgreifen, und empfing, wie
stets, als späte Gäste einige Hauptstücke der Pariser
Salons; selbst abgesehen hiervon aber blieb sein
Reichtum an fesselnden Bildern fremder Nationalität
höchst anerkennenswert. Der nationale Zug war
freilich von sehr verschiedener Stärke; bei den Polen
und Ungarn, den Dünen und Sch /reden kräftiger als
in den übrigen Abteilungen. Wechselwirkungen
ließen sich von Saal zu Saal verfolgen. Am viel¬
seitigsten waren hierin die Anierilcaner , bei denen
eine stattliche Schar von Malern sich der spezifi¬
schen Eigenart anderer Nationalitäten anschließen,
so C. F. Ulrich, nicht nur im Stoff, sondern auch in
der Auffassung und im Kolorit seiner Bilder italie¬
nisch, so ferner Cox Kengon, den man der englischen
Schule zuzählen kann, so besonders Carl Marr und
0. Pech, die aucli als Künstler mehr Deutsche als
Amerikaner geblieben sind. — Eine andere, um James
Whistler gescharte, Gruppe schreitet freilich völlig
selbständig vorwärts und nimmt dabei auch inner¬
halb der internationalen Gesamtheit den äußersten
Flügel der modernen Schule für sich in Anspruch.
Sie kennzeichnet die jüngste Entwickelungsphase des
Impressionismus auf einem ganz eigenartigen Sonder-
gebiet. Sie in der That schildert „moderne“ Men¬
schen, Gestalten, welche einzelnen Kreisen unserer
Gesellschaft die bleibende Signatur geben — man
sehe diese Frauen und Mädchen eines Willia'ui Chase
und eines Sarge ai! — moderne Roraanfiguren, im
Äußeren wie in dem Empfindungsleben, das aus
demselben spricht, nicht nur Pleinair- sondern
Charakterstudien! Für solche Erscheinungen ist die
neue Malweise ganz besonders geeignet. Es ist, als
schwebe über diesen leichten, duftigen Farben, die
keine scharfen Konturen mehr dulden — das Beste
sind Pastelle — über diesen feinen, auf einen ein¬
zigen Grundaccord gestimmten Tönen, die Seele der
Dargestellten selbst. Auch für einzelne Landschaften,
besonders für die Arbeiten von Georges Lines, gilt
ähnliches. Hier zeigt sich eine schlagende Analogie
zu derAuffassungsweise der schottischen Maler. — Eine
dritte, am stärksten vertretene Gruppe, zu welcher
beispielsweise George Hitchcock und Mac Erven zählen,
wirft sich mit ganz besonderer Kraft auf die tech¬
nischen Probleme der Freilichtmalerei und des Im¬
pressionismus, und erstrebt und erreicht hierbei,
wie Poliert Vonnoh in seinem „Klatschrosenfeld“
und E. C. Tarhell, zuweilen ganz ungewöhnliche
Effekte. Auch in dieser Neigung, das „Neue“ auf
die Spitze zu treiben, in dieser Absichtlichkeit und
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
ßereclmung, kann man ein nationales Element er¬
kennen, vielleiclit kaum minder, als in den Bildern
eines Weechs, Bridgmann und Moore, in welchen es
auf die dargestellten Stoffe selbst beschränkt bleibt.
Marr's treffliches Gemälde „Sommernachmittag“ fasst
die Bestrebungen der Amerikaner im Sinne der neuen
Schule in einer allgemeingültigen, dem deutschen
Geschmack assimilirten Weise zusammen.
Wer die gleiche Richtung in ähnlicher Reprä¬
sentation studiren wollte, musste sich auch in dieser
Ausstellung von den amerikanischen zu den franzö-
feinen, kleinen Stimmungsbilder — ihren Ton gab hier
Alexander Noxal an, — von Porträts neben der klassi¬
schen Weise Dnran’s der echte Realismus eines Roll
und der stilisirte eines Boldmi, von Darstellungen
mit religiösen Titeln die Märchenpoesie eines Fran-
Qois Flameng und eines Ädrien Demoni neben Jea7i
Bemud’s vielbesprochener ..Kreuzabnahme“, welche
nicht nur Golgatha nach Paris verlegt und hierdurch
auch im Sinne der religiösen Anschauungsweise
einen gar zu absichtlichen Anachronismus begeht,
sondern durch die Hinzufügung des ergrimmten
WiTitersonne. Ölgemälde von Hans Oi.de.
.-i.-fhiii Sälen wenden, obsclion dieselben, wie erwähnt,
'dion viele ältere Arbeiten enthielten. Für den
längst unverkennbar gewordenen Stil eines Bongne-
Iiniiinn, ( uridiis-J )irrnii , Fannf-e, Jlcnnrr, Morot,
b'ii.-ii die liier vereinten Bilder aucli nicht einmal
iifiic Nnaiiecti, und eines dieser französischen Gemälde,
./. Ylhrrt, zeigte sogar die .lahreszahl 18<)7.
Aber au' li die jüngsten Hauptrichtungen waren ver-
tr' ten: von Landschaften sowohl die iubaltlich dürf-
iigen :il»er ini Format um so anspruchsvolleren, mehr
f'di r minder tinlitigen Freilichtstudien, als auch die
Proletariers dem religiösen Glaubensbekenntnis auch
eine sozialpolitische Tendenz unterschiebt. — Wie
an Geist und Inhalt, so gewährten die französischen
Säle auch für die künstlerischen, beziehungsweise für
die technischen Gesichtspunkte ein Wechsel- und lehr¬
reiches Bild, welches von der jede Lokalfarbe und
jeden Kontur in Dämmerlicht autlösenden Darstel¬
lungsart eines f'nrriere und de la Fontinelle bis zu
den erstaunlich kecken Farbenmosaiken eines J. J.
'rissof führte. Besnai-d war diesmal nur durch zwei
winzige Gemälde (Pastelle) vertreten, deren duftiger
Die Bekehrung des Hubertus, Ölgemäble von Wii.helm Radber. Nach der Photographie iler Photogr. Union in München.
DIK MÜNCHENER EITNSTAUSSTELLIINH.
J'arbeii/.aiiber jedoch den ganzen Reiz seiner Kunst
spiegelt. Die Lust an schwierigen Problemen, welche
die jüngste Eutwickelungsphase der neuen Schule
kennzeichnet, sprach besonders aus den Bildern von
IXiiilan und J. E. Blanche, von denen der erstere
einen Schimmel vor dem Weiß einer Schneelandschaft,
der zweite das weiße Kleid eines auf gelbem Sofa
ruhenden Mädchens vor einem weißen Feil darstellt,
N'ersuclie, deren Bedeutung nur der ausübende Künst¬
ler recht zu schätzen weiß. An diesen wandten sich
überhaupt weitaus die meisten dieser französischen
Bilder, eine Thatsache, die man sicherlich nicht
tadeln kann, denn die Münchener Ausstellung soll
nicht nur der Schaulust und den Interessen des
Kunstmarktes dienen, sondern den deutschen Künst¬
lern selber Anregungen und Muster bieten; vergisst
sie diese Aufgal)e, so ist ihr kunsthistorischer Wert
und damit, wenigstens für ihren außerdeutschen Be¬
standteil, ihre Existenzberechtigung gefährdet. Aber
die äußeren Verhältnisse erlieischen auch Rücksicht
auf das lediglich „schauende“ Publikum, und so
mag man es vielfach als ein besonderes Glück be-
trachtet haljen, dass es gelang, das Kolossalgemälde
von Cl(‘or(jes J lochen russe , „Das Ende Babylons“, zu
gewinnen. (Eine Abbildung folgt im nächsten
lieft), ln der That wurde dasselbe für vieleKrei.se
die „jiicf-e de rctsi^ilancE , das Hauptwerk der ganzen
Ausstellung; zunächst wegen seines Maßstabes,
der seinen Eindruck kaum je ganz verfehlt, dann
wegen seines Inhaltes, der durcli den Reichtum
au nackten, wollüstig ruhenden Frauenleibern in
I )eutscliland noch weit sensationeller wirkte, als in
Paris. .\n sich sind das sehr zweifelhafte Ruhmes-
litel, und selbst der ganz ungewölinlicbe Umfang
des Rüdes wird aiicli dadurch zunächst kaum schät¬
zenswerter, dass man seine Herstellungszeit auf drei
.lahre, die Kostim auf 10000 Franken berechnet.
Heunoch liegt schon in der materiellen Größe dieser
beistung ein Teil ihrer l)leibenden Bedeutung. Sie
erscheint wie ein Protest gegen die bei unseren
.Malern herrschende Neigung, Studien mit vollendeten
Knustwerk(m zu identitiziren und unter dem Deck¬
mantel des Jmpre.ssionismus Skizzen und Improvisa¬
tionen auf den Kunstmarkt zu bringen. Der Stempel
einer /y/’o/V// Arhell, den dieses Gemälde trägt, ge¬
bietet heute, wo es sich Meister und Schüler viel¬
fach gar zu leicht machen, doppelte Achtung. —
\V<;sentlicher aber ist die stotfliche Wahl. Ein mo¬
numentales Historienbild, das Ende eines Welti'eiches,
der Untergang eines Menschengeschlechtes, das in
seiner Kraft wie in seiner ausgearteten Sinnenlust
etwas Gewaltiges bewahrt, nicht nur in der Sprache
der Propheten, sondern auch in den erhaltenen Denk¬
mälern seiner Kultur selbst! ■ — Auch dies mutet
wie ein Protest an, ein Kampfruf gegen die inhalt¬
lose Alltäglichkeit, der die modernen „Nurmaler“
ihre Bilder widmen. Und es galt hier nicht nur
allgemeingültig dramatische Kraft und packende
Charakteristik zu entfalten, sondern denselben ein
historisch getreues Gewand zu verleihen; ein umfang¬
reiches archäologisches Wissen war notwendig und
durfte doch nicht in den Vordergrund treten, denn
nicht ganz grundlos hat man dasselbe als eine Ge¬
fahr für die Kunst bezeichnet, — Große Aufgaben
fürwahr, und Rochegrosse musste sich derselben be¬
wusst sein, denn seine bisherigen Werke, vor allem
sein „Vitellins“ und seine „Andromache“, hatten den
freilich noch jungen Künstler auf ähnliche Wege
geführt, ja in seinem im Pariser Salon von 1886
ausgestellten Gemälde hatte er den gleichen Stoff¬
kreis unmittelbar gestreift, den wahnsinnigen Nebu-
kadnezar geschildert, wie er sich unter den Füßen
eines Engels im Kote wälzt („La folie du Roi
Nabuchodonosor“). Wer solches Thema wählt, ist
fürwahr kein „Nurmaler“. Hatte man doch an diesem
Bilde Imrechtigterweise getadelt, es sei „plus litte-
raire que picturale“! Das ließ am wenigsten er¬
warten, Rochegrosse werde den geistigen Inhalt eines
Stoäes in äußerliche Effekte verflüchtigen. — Und
dennoch kann ihm vor seinem ,,Ende Babylons“
dieser Vorwurf nicht ganz erspart bleiben. Bis zum
Mittelgrund reicht die Darstellung eines Bacchanales:
nackte und halbnackte Frauen, von Wein und Liebe
berauscht, wie die Männer neben ihnen, selbstver¬
gessen hingestreckt auf Teppichen, Decken und Kissen,
zwischen Blumen, Prachtgeräten und den Resten des
üppigen Gelages. Das ist ein Bild für sich, ein Bild
von märchenhafter Pracht, für welches der Maler
die altorientalischen Sammlungen des Louvre, die
Antiquitätenläden, aber auch die modernen Orient¬
bazare und echte Pariser Modelle erstaunlich gut
studirt liat, ein Durch- und Nebeneinander alles
dessen , was die Sinne berückt, so wirr, dass es vor
den Augen flimmert, und dennoch mit souveräner
Herrschaft über alle Mittel der dekorativen Kunst
entworfen und komponirt und mit allen Mittelchen
eines raffinirten Sinnenreizes ausgestattet. Hätte Roche¬
grosse sich hierauf beschränkt, hätte er diesem Teil
seines Bildes nur noch die köstliche, panoramaartig
gemalte Architektur des babylonischen Königspalastes
gesellt und das Ganze „Babylonisches Bacchanal“
genannt — sein Werk wäre das Muster eines „deko-
DIE MÜNCHENER KUN8TAUS8TELLÜNC.
rativen Gemäldes“ gewesen. Aber er wollte zugleich
ein Historic7ihi\d schaffen, einen weltgeschichtlichen
Moment zeigen. Die Palastpforte ist erstürmt, und
im kalten Morgenlicht nahen die Perser unter Cyrus’
Führung, die Worte der jüdischen Propheten zu er¬
füllen. Ja, auch ein mystisches Element sollte nicht
fehlen: wie eine Verkörperung jener Worte schwebt
über dem König auf der Freitreppe, inmitten dieses
bis ins kleinste historisch-realen Bildes, die visio¬
näre Gestalt des Racheengels. — Dieses dreifache
Thema, das dekorative Schaustück, das Geschichtsbild
und die Phantasmagorie, zu einem einheitlichen Kunst¬
werk zu gestalten, reichte des Künstlers Kraft nicht
aus. Der geistige Gehalt litt schwere Einbuße. Es
ist vielleicht ein akademischer Einwand, Avenn man
tadelt, dass der König, eine Hauptperson des Ganzen,
hoch oben auf der Freitreppe in kleiner Gestalt
erscheint, und dass die Perser, die Träger der Hand¬
lung, .sich als winzige Figuren im Hintergrund ver¬
lieren, ein Einwand, dem jedenfalls die kleine Gruppe
der Hetären und Babylonier, die im Mittelgrund er¬
schreckt aus ihrer Trunkenheit erwachen, nur dürftig
begegnet. Aber berechtigt ist sicherlich der Tadel,
dass bei jener dreifachen Gliederung des geistigen
Gehaltes der Schwerpunkt ungebührlich verschoben,
und hierdurch auch die künstlerische Gesamtwirkung
des Bildes beeinträchtigt Avurde, dass dieselbe etwas
Unübersichtliches, Unruhiges hat und das Auge des
Beschauers, Avelches fort und fort von den Haupt-
zu den Nebenpersonen und -Dingen scliAveifen muss,
nur mühsam zum vollen Genuss gelangen lässt.
Auch das Kolorit als solches steigert diese Gefahr.
Eine so gewaltige Farbenfläche muss sich schon für
den ersten Blick in große Massen gliedern! Dazu
kommt endlich eine seltsame Vorliebe des Malers
für eigenartig gemischte und gebrochene, übrigens
echt moderne, Farbentöne, die den koloristischen
Grundaccord nicht voll und reich erklingen lassen,
sondern seine Kraft in zahllosen Nuancen gar zu sehr
abschwächen. Dies entspricht in eigenartiger Weise
auch der Charakteristik der Gestalten selbst. Es fehlt
denselben die urwüchsige Kraft, mit denen unsere
Phantasie die Zeitgenossen der Propheten auszu¬
statten liebt, es fehlt ihnen das heiße Blut Rubens’-
scher Frauen: ihre Wollust ist angekränkelt. Das
mag sich durch das Thema rechtfertigen lassen, aber
es hat etwas Unschönes, Abstoßendes an sich. Trotz
aller archäologischen Akribie spürt man das moderne
Auge, und etliche dieser Frauen sind ebenso „modern“,
Avie etliche von den orientalischen Stoffen, zAvischen
denen .sie ihre Glieder dehnen. — So wirkt das Ganze
55
nicht wie ein Historienbild, sondern wie das Schluss-
tableau eines Ausstattungsstückes. Aber die künst¬
lerische Kraft, die dasselbe schuf, bleibt trotz alle¬
dem erstaunlich. Rochegrosse verfügt über ein de¬
koratives Genie und über ein ganz ungewöhnliches
malerisches Können. Nur wenige Maler unserer
Tage vermöchten ein Bild solchen Umfanges in ähn¬
licher Weise zu komponiren; nur Avenige, nackte
Körper, Stoffe, Prachtgeräte, Blumen und Architek¬
turen so zu malen, Avie er. Im Beiwerk findet sieb
hier Einzelnes, das an den Pinsel eines Paolo Vero¬
nese und Tintoretto gemahnt. Und so ist dieses
Werk in der Münchener Ausstellung doch nicht ledig¬
lich der Anziehungspunkt für lüsterne Schaulust,
sondern auch das Objekt ernsten künstlerischen
Studiums geworden. —
Nach Quadratmetern zu berechnende LeinAvand
konnte man sonst diesmal nur noch in den Sälen
der Spanier antreffen, dieselben gar zu schulgerecliten
Historienbilder eines (\ihetls, Moreno- Chrhoiierrp Ra¬
mirex und Saiinas-Ternel, Avelche die Berliner Jubi¬
läumsausstellung füllten. Daneben waren die Avin-
zigen feinen Farbenmosaiken nationalen Charakters
im Stil eines Gailegos und Pradilla besonders durch
SoroJla gut, aber bei weitem nicht so reich Avie in
Berlin vertreten. Im Gegensatz zu denselben brachte
ViJkrjas in einem größeren Bild „Arm und Reich“
einen ernsten Stoff, freilich in einer gar zu dunkel
gehaltenen schweren Malweise, zu packender Geltung,
und auch Jose Benlliure y Gil Avar diesmal in den
lebensgroßen Gestalten seiner zechenden Bauern viel
glücklicher, als in seinem kleinen, durch seinen Mysti¬
zismus fast kindisch wirkenden Gemälde „Vision
des heil. Franziskus“.
Auch die italienische Abteilung bot nur wenige
neue Erscheinungen. Segetntini, welcher die extremste
Richtung der neuen Schule verkörpert, ist wie in
Italien so auch in Deutschland schon bekannt. Er¬
bat sich eine eigenartige Malweise geschaffen, welche
sogar unbedeutende Bilder von seiner Hand wenig¬
stens für Künstler interessant macht. — Selbst in un¬
seren Ausstellungen lässt sich erkennen, wie kräftig
der Impressionismus aucli im Lande der klassischen
Kunst vorwärts schreitet. Zeugen dafür Avaren in
München die Landschaften Bclloni's, Bezxi’s^ Borsa’s,
Cairati’s, GoJa’s und Srniori's. Solche Bilder büßen
freilich ziiAveilen den höchsten Reiz der italienischen
Natur ein und empfangen einen nordischen Charakter.
— Es ist seltsam, dass man auch in Italien die
koloristischen Probleme weniger in der Viel- als in
der Einfarbigkeit aufsucht, wie sich ljeispiclsAvci.se
56
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
De Stefan i mit zweifelhaftem Erfolge bemüht, eine
schwarz gewandete Gestalt vor einem tiefschwarzen
Hintergnind darzustellen. Man hat den Italienern
früher nicht mit Unrecht vorgeworfen, dass sie unsere
Ausstellungen gar zu ausschließlich als Centralstätten
des Kunstmarktes betrachten, und ihre Sendungen
im Hinblick hierauf zu sehr dem Geschmack des
großen Publikums anpassen, welches auf einem ita¬
lienischen Bild, wenn irgend möglich, gefällige Vene¬
zianerinnen, stattliche Römerinnen, oder Lazzaroni
und Banditen, in den Landschaften aber vor allem
die Sonne Italiens zu bewundern wünscht. In diesem
Jahre blieb solche Neigung fast gänzlich unbe¬
friedigt, und nicht zum Schaden für die Kunst. Ein
ernster Ton herrschte vor. Selbst Feragutti, Nono
und Milcsi hatten Bilder ausgestellt, welche sowohl
durch ihren Stoff als auch durch ihre sorgsame Durch¬
führung auf einen Platz in einem Museum Anspruch
erheben konnten. Die schönsten Kabinettstücke
lieferten auf dem Gebiete des Genres Cipriani und
Vannutelli, unter den Landschaften aber gebührt hier
Aristide Sartorio’s Aquarellen aus der Campagna der
Preis, köstlichen, feinen Stimmungslandschaften, mit
denen der Schöpfer des iin vorigen Jahre ausge¬
stellten „Bacchanale“ doppelt überraschte.
A’^on der helgischen, holUmdischen, dänischen und
schwedischen Malerei haben die früheren Münchener
Jahresausstellungen bestimmte Charakterbilder ge¬
boten, denen diesmal nur einige neue Nuancen ein¬
gefügt wurden. In den Sälen der Belgier fiel in
diesem Sinne die größere Anzahl von Werken einer
sowohl in der Malweise als auch im Inhalt retrospektiven
Richtung auf, bei den Holländern traten Landschaft,
Tier- und Genrestück vor dem Bildnis zurück, die
Dänen zeigten neben der Hauptmasse von Arbeiten
eines nüchternen Realismus bisweilen eine barocke
Phantastik, und die Schweden erhoben ihre gesunde
Natnrw'ahrheit häufiger als sonst zur Naturpoesie.
Unter den belgischen Malern, die man zu den
N’orkärapfern der neuen Schule zählte, gab für das
Genre Strngs mit seinem kleinen Bilde „Gottver¬
trauen“, für die Landschaft Verstraele und neben ihm
f'onrlens den Ton an, wobei der letztere seinen
.Goldenen Regen“ freilich nicht eiTeichte. Im übrigen
ward es bezeichnend, dass De Vriendt, welcher im
vorigen Jahre nur eine flüchtige kulturhistorische
Skizze sandte, seine Entwürfe für die Ausschmückung
des Srhöfiensaales im Rathaus zu Brügge ausstellte.
Wie ini Kostüm und in der Umgebung seiner Ge¬
stalten, so .schließt er sich hier auch in der Auf-
fa'^sung und ini Kolorit streng an die Weise eines
van Eyck und Memling an, weit unmittelbarer, als
etwa bei uns Ed. von Gebhardt. Ob dies für „deko¬
rative“ Gemälde der richtige Weg sei, erscheint
zweifelhaft, lässt sich jedoch nur vor den Originalen
entscheiden. So packend wie Gebhardt’s Fresken
in Loccum, dürften diese Bilder jedenfalls nicht
wirken, ein archaistischer Zug haftet selbst diesen
Skizzen an, aber so lange die monumentale Histo¬
rienmalerei die neue Malweise nicht völlig beherrscht,
bleibt ein solcher feinsinnig durch geführter Anschluss
an die Vergangenheit jedenfalls besser als so un¬
zulängliche Versuche, wie sie in der deutschen Ab¬
teilung der Luther-Cyklus für Erfurt bot. In ganz
anderer W eise folgt Rosier den traditionellen Bahnen ;
sein „Menuett“ zur Zeit des Rokoko zählte zu den
liebenswürdigsten Bildern der Ausstellung. Brunin
ließ auch diesmal einige an das klassische Kolorit
der Vlamen gemahnende Meisterwerke bewundern.
Noch schärfere Gegensätze gegen die neue Art zeigten
die seltsamen Allegorien von Leempoels, und die im
Prellerstil gehaltene Landschaft von Portaeis. Dem
standen dann eine Reihe so ausgesprochen moderner
Studien, wie Emile Glaus’ „Rübenernte“ und Van
Strydonck’s Porträt des Bildhauers van der Stappen
gegenüber. Einen erstaunlichen Missgriff in der Be¬
zeichnung seines Bildes that De Geetcre, als er sein
übrigens fein gemaltes Damenporträt „Madonna“
taufte. —
Einheitlicher war der Gesamteindruck der hollän¬
dischen Säle. Hier blieben die Porträts Christoffle
Bisschop's an der Spitze, wobei sich dem von der
Berliner Jubiläumsausstellung her bekannten Bildnis
der Gattin des Künstlers das Porträt der jugendlichen
Königin der Niederlande gesellte. Ein Königskind
im Prachtgewand — für dieses liebenswürdige Thema
haben van Dyck und Velazquez unvergängliche Muster
geschaffen. Bisschop schloss sich ihnen an, ohne
doch die Eigenart seiner Malweise im geringsten zu
ändern. Dem Helldunkel seines Landsmanns Israels
gegenüber bringt er ein warmes Lokalkolorit zu
immer kraftvollerer Geltung, obgleich er ein echter
Impressionist bleibt. Auch Therese Schwartze trug,
besonders durch das eigenartige Porträt der Spiri¬
tistin Miss Fay, dazu bei, dass der Schwerpunkt in
der holländischen Abteilung, zu deren Kennzeich¬
nung im übrigen die Namen Blommers, Nenhuys,
'Fholen, ran de Sande-Bakhuisen und J. H. Vos aus¬
reichen, diesmal von den hergebrachten Hauptgebieten
etwas verschoben wurde.
Bei den Dänen hätten etliche Arbeiten, wie die
kindische Darstellung des Paradieses von Zahrlmann,
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
57
besser fehlen können. Wollte man phantastischen
Träumen zur Repräsentation einer in Dänemarks
Dichtung und Kunst dauernd vorhandenen Richtung
Aufnahme gönnen, so genügte das Gemälde von
Dorpli und die Suite von Zeichnungen Skovgaards
und von dekorativen Entwürfen Bindeshölls. Dankens¬
wert war dagegen, dass die kgl. Gemäldegalerie von
erkennenswert auch immer ihre malerische Qualität
sein mag. Jedenfalls sind dies keine Arbeiten, welche
ihre Schöpfer auf großen internationalen Ausstel¬
lungen gut vertreten. Man empfand es, dass ein
Hauptmeister wie Kroger diesmal nur kleine Bilder
gesandt hatte. Selbst die tüchtigen Leistungen von
H. Al Hansen und Wentorf boten hierfür nicht ge-
Ein Märchen. Ölgemälde von S. Glücklich.
Kopenhagen Julius Paulsen’s „Adam und Eva“ über¬
ließ, ein Bild, das, trotz seines in den Schatten¬
massen viel zu schweren Kolorits, durch seinen poe¬
tischen Gehalt für den nüchternen Grundton seiner
Umgebung entschädigte. Denselben brachten die
Werke von Michael und Anna Äncher, Andersen und
Hammershoi gar zu ausschließlich zur Geltung, so an-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
nügenden Ersatz. Wentorf hat sein Armenhaus mit
gar zu vielen Betten und Gestalten gefüllt. Dadurch
erreicht sein Bild auch nicht annähernd die Wirkung,
wie das ähnliche im vorigen Jahre ausgestellte Ge¬
mälde von Hubert Vos. Vereinzelte Genrebilder, wie
die Arbeiten von Harald Slott-Möller, Hennigsen und
Thomsen, die Landschaften von Niss und Hbme, und
8
5S
EINE NEUE PHOTOGRAPHISCHE PUBLIKATION.
die Seestücke von Olsen und Ärnesen, zeigten das
Können der dänischen Schule im Rahmen der im
vornehmen Kunsthandel herrschenden Ansprüche.
Darüber hinaus ging nur Otto Bache, dessen lebens¬
große „Pferde am Strande“ selbst einen Vergleich
mit ZügeVs „Schwerer Arbeit“ gestatteten.
Wenn der Realismus der dänischen Bilder häufig
gar zu geistlos und unpersönlich wirkte, gewann
dagegen in der Gruppe der Schweden ein subjektives
Element der Naturbetrachtung die Oberhand. Frische
und gesunde Aufitassung ist man an den Bildern
der Nordländer schon gewohnt. Wie die leider nur
ungenügend vertretenen Norweger, — ihr bester
Repräsentant war Normann, ihr eigenartigster Otto
Sinding — blicken auch die schwedischen Maler
mit klaren Augen in die Welt, voll Freude an
kerniger Kraft und kecken Farben. Aber sie haben
dabei auch für die leisere, poetische Sprache der
Natur einen offenen Sinn. Das bezeugten in
München vor allem die Bilder von Liljefor’s, dem
Titel nach Tierstücke, in Wahrheit aber köstliche
Naturpoesien. Auf landschaftlichem Gebiet schloss
sich ihm ein fürstlicher Maler, Eugen Prinz von
Schweden, an, und der gleiche Ton erklang in
den Arbeiten von Thegerström und Wallander. Als
ein tüchtiger und zugleich ungewöhnlich vielseitiger
Freilichtmaler bewährte sich Oscar Björck, und Ceder-
ström’s große Darstellung „Magnus Stenbock in
Malmö 1709“ überträgt die gesunde AVeise dieser
Kunst mit gutem Erfolg auf einen historischen Stoff.
Dieser ganzen Richtung entsprechend beginnt in
Schweden jetzt auch ein Aufschwung der Porträt¬
malerei, auf der gleichen streng realistischen Grund¬
lage, wie in Dänemark, und doch mit schärferer
Betonung des Geistigen und mit größerer Kraft.
Auffällig zahlreich waren hier die Frauennamen,
wie denn überhaupt die Reihe tüchtiger Künstle¬
rinnen in dieser Ausstellung ungewöhnlich stattlich
erschien. —
(Fortsetzung folgt.)
EINE NEUE PHOTOGRAPHISCHE PUBLIKATION
DER GALERIE BORGHESE IN ROM.
E mehr die Zeit vorrückt, desto
klarer stellt es sich heraus,
dass die Kunstkennerschaft
durch die Mitwirkung des kri¬
tischen und des graphischen
Materials in gleichem Maße
gefördert wird. Die neue,
von dem Photographen Do¬
menico Anderson (Via Porta Salaria in Rom) unter-
noinniene Publikation der Galerie Borghese in ihren
Aufnahmen von beinahe 120 Gemälden wird von
allen Kunstfreunden als eine willkommene Neuigkeit
begrüßt werden , bedenkt man namentlich, wie sehr
in den letzten Jahren diese reichhaltigste aller Privat¬
galerien die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich
gezogen hat. in der That, was treten uns für denk¬
würdige Gemälde der verschiedensten Richtungen
vor Augen bei Besichtigung eines solchen Albums!
An Werken der toskanischen Schulen sehen wir da
zunächst die lieblichen Rundbilder von Lorenzo di
Credi, ferner von seinem Schüler (dem mutmaßlichen
Tomaso Lermolietf’s), von dem feinen Pier di Cosimo.
Höchst bezeichnend für die beiden befreundeten
Maler Fra Bartolommeo della Porta und Mariotto
Albertinelli ist die hl. Familie mit den zwei durch
ein Kreuz verbundenen Ringen und der Jahreszahl
1511. Das Kind stimmt in der Haltung vollkommen
mit demjenigen des weit feineren Gemäldes im Be¬
sitze des Herrn L. Mond in London überein, welches
ganz von dem edlen Frate herstammt (Phot, v, Braun).
Desgleichen die Haltung der Madonna, wobei sich
aber von neuem die Bemerkung Morelli’s bestätigt,
dass die flüchtigere Ausführung des Borghese-Bildes
auf Rechnung von Mariotto zu setzen ist. — Die dem
Ridolfo del Ghirlandajo zugeschriebene, von dem ge¬
nannten Kritiker einem tüchtigen, dem F>'. Qranacci
sehr nahe stehenden Künstler zugewiesene Maddalena
Doni kann man in der neuen Aufnahme gut stu-
diren. — Ein eigenes Interesse bieten sodann die
reizenden kleinen Geschichten Josephs von Bachiacca,
wobei man direkt den Vergleich mit der in Rot¬
stift ausgeführten Vorstudie in der Sammlung Mo-
EINE NEUE PHOTOGRAPHISCHE PUBLIKATION.
59
relli anstellen kann. — Desgleichen mag man das
anmutige Bild der Anbetung des Christuskindes von
Pierino del Vaga (s. d. Abbildung) mit der dazu
gehörigen Zeichnung in der Albertina zusammen¬
stellen. — Aus der Umbrischen Schule soll besonders
das charakteristische, ehemals dem C. Crivelli zuge¬
wiesene Täfelchen des Gekreuzigten mit den hl.
Hieronymus undChristophorus hervorgehoben werden,
um zur Entscheidung zu kommen, ob es wirklich
legen können, ob es wirklich die Züge des Pinturicchio
darstelle, wie Morelli es vermutete, oder nicht eher
die des Perugino. — Dass die berühmte Grablegung
nicht fehlen darf, versteht sich von selbst.
Zahlreich sind die Ferraresen vertreten, be¬
sonders Garofalo ; von seinem frühen strengen W erke,
der Beweinung Christi, ausgehend bis auf das vom
feinsten Schönheitssinn durchdrungene Halbfiguren¬
bild der Jungfrau mit dem Kinde zwischen vier
Garofalo, Madonna mit Heiligen. Galerie Borghese in Rom.
dem Pinturicchio, oder seinem Lehrer Fiorenzo di
Lorenzo, an den es doch auch sehr erinnert, schließlich
angehöre. — Auch das von Morelli entdeckte Bildnis
von der Hand Ratfael’s wird man mit Freude unter
den neuen Abbildungen finden und sich dabei über-
1) Sie ist in dem vom Verleger ü. Hoepli in Mailand
veröffentlichten Album ; Quaranta disegni scelti della Rac-
cnlta del Senafore Giov. Morelli (a. 1886) aufgenommen.
Heiligen (s. die Abbildung) kann man sein Wesen
hier eindringlich kennen lernen. — Dosso’s bezau¬
bernde Circe, sein Apoll, sein David mit dem Knechte
rücken uns die phantasiereiche Auffassung des
Meisters klar vor die Seele. Herrlich ist auch der
frühe Francia (S. Stephanus).
Nicht minder fesseln uns die trefflichen Vene-
tianer, vor allem die berühmte „ Göttliche und mensch¬
liche Liehe“ von Titian, eine Schöpfung, von der nur
8*
l’i rino ilcl Vaga, Aiilietung 'les Kindes. Galerie liorgbese iu Kom.
EINE NEUE PHOTOGRAPHISCHE PUBLIKATION.
61
etwas allgemein Bekanntes behauptet wird, wenn
man sagt, sie sei eine ganze bedeutende Galerie
wert. — Antonello da Messina ist durch sein Bildnis
eines höchst realistisch gemalten unbärtigen Mannes-,
antlitzes gut vertreten. Hingegen mag man sich
leicht davon überzeugen, dass Giov. Bellini in der
Galerie Borghese nicht repräsentirt ist. *) Die im
Wetteifer malenden Palma Vecchio und L. Lotto er¬
kennt man wieder, ersteren in seiner brillanten
blonden Lucretia und in einer hl. Familie (der sich eine
seines tüchtigen Schülers Cariani anreiht), letzteren
in seinem merkwürdigen Frühbild und in dem sinnigen,
früher als Pordenone bezeichneten männlichen Por¬
trät. — Ein großartiges, in seiner Art ganz vor¬
treffliches Porträtstück ist dasjenige, worin Bernardino
Licinio von Pordenone eine ganze Familie, Vater,
Mutter und sieben Kinder, lauter gesunde, lebens¬
lustige Menschen, abgebildet hat. Sowohl dieses Bild
als auch das seiner sogenannten Santa Conversazione
sind in der Photographie sehr gelungen. Gut ver¬
treten sind ferner Savoldo, die Bonifazio’s, Paolo
Veronese u. a. m.
Gehen wir zu den Lombarden über, so lassen
sich auch in den photographischen Nachbildungen die
Spuren des großen Lionardo wiederholt in den
Werken seiner Nachfolger erkennen. Zunächst bei
dem geistreichsten von allen, dem erst seit kurzem
1) Das mit dem Namen des Giov. Bellini versehene
Madonnenbild (von Anderson photographirt) gehört , wie
Lermolieff (Kunstkritische Studien I, 34C) richtig bemerkt, zu
den Nachahmungen seines Schülers Francesco Bissolo.
nach Verdienst gewürdigten Sodoma. Keiner seiner
Typen, könnte man sagen, ist denjenigen des Meisters
so nahe gekommen, wie derjenige seiner Leda. Zartes
Gefühl und echter Schönheitssinn zeigen sich in
seinem toten Christus auf dem Schoße der Maria.
Beschränktere Naturen sind die von Marco
d’Oggiono und von Gianpietrino. Und doch haben
auch sie bisweilen, dank der Einwirkung des
Meisters, Vorzügliches zustande zu bringen gewusst.
Dies wird in der Galerie Borghese erstens durch
den lieblichen segnenden Salvator Mundi von Marco
bewiesen, der ja noch unter dem Namen von Lionardo
ausgestellt ist, jedenfalls ein Werk von trefflicher
Technik, andererseits aber durch die elegant kom-
ponirte Gruppe der Mutter, die dem Kinde die Brust
reicht, von Gianpietrino.
Zum Schlüsse nennen wir nur noch zwei mytho¬
logische Gemälde, welche zu den berühmtesten
Stücken der Galerie gehören, nämlich die Danae des
Correggio mit den zwei schalkhaften Amoretten, die
ihre Pfeile spitzen, und die herrliche Jagd der Diana
von Domenichino, bei deren frischer und lebendiger
Auffassung man ganz vergessen könnte, dass man es
mit einem Künstler der eklektischen Schule von Bo¬
logna aus dem XVH. Jahrhundert zu thun hat.
So sind denn alle diese Schätze sehr leicht
jedermann auf anschauliche Weise auch in der
Ferne zugänglich gemacht! Für Deutschland und
Österreich können bekanntlich diese und viele
andere photographische Aufnahmen aus Italien durch
die Finna Hugo Großer in Leipzig bezogen werden.
0 USTA V FEIZZONI.
Besucli des Haram-ech-sclieiif iu Jerusalem. Aus dem Werke von C. W. Allers: Baksehisch.
C. W. ALLERS.
LS Albrecht Dürer anno 1520
nach den Niederlanden zog,
nahm er eine Mappe voll
seiner besten Stiche mit,
teils um sich damit zu em¬
pfehlen , um empfangene
Dienste zu erwidern, teils
um aus dem Erlös einen
Teil der Reisekosten zu bestreiten. Die Künstler
von heutzutage haben es bequemer^ und nichts be¬
zeichnet den Gegensatz von alter und neuer Zeit
besser, als das Skizzenbuch von C. TF. Alkrs , das
dieser fleißige Künstler auf der Augusta Viktoria
gemächlich mit Thatsächlichkeiten füllte, die durch
ilen persönlichen Geist, den sie von seiner Künstler¬
hand erhielten, besonders anziehend gemacht sind.
Das Querfoliobuch hat nahe an 100 Blätter und
führt den bezeichnenden Titel Baksehisch, d. h. Trink¬
geld. Es ist von Anfang bis zu Ende ein Ausfluss
unbefangenen, zwanglosen, jovialen Künstlerhumors,
der wohl verdient, neben den übrigen Leistungen
des vielgenannten Mannes genauer betrachtet zu
werden. Ohne Zweifel ist es den Mitreisenden eine
liebe Erinnerung und hat dem Künstler gewiss mehr
eingebracht, als dem Kollegen Albrecht Dürer der
ambulante Handel mit seinen Stichen auf der Reise
nach Niederlaud.
C. W. Allers ist eine ganz moderne Erscheinung
in der Kunstwelt. Er ist persönlich ein überaus
liebenswürdiger, heiterer Gesellschafter, hat ein ofFenes
Auge, großes Zeichentalent und stellt, was er sieht,
und nur das, mit Sorgfalt dar, giebt auch das, was
ihm an Einfällen durch den Kopf geht, sorglos preis.
Weder seine Zeichnungen, noch seine flüchtig ge¬
schriebenen Berichte sind vom geringsten Zwange
beengt. Er fragt nicht viel nach Komposition, be¬
absichtigt keine schriftstellerische Kunstleistung,
quält sich nicht mit philosophischen Ideen und Ge¬
heimnissen, will auch nicht durch geistreiche „fein¬
sinnige“ Bemerkungen blenden. Dass gelegentlich
dennoch etwas derartiges bei ihm erscheint, fallt
nicht auf, weil alles, was er äußert, den Stempel des
Unmittelbaren trägt; es ist nicht lange hin und
her gewandt, nicht erst auf seine Wirkung hin im
Geiste geprüft, sondern frisch und keck in statu
naseendi hingesetzt.
Der vielbesprochene, nun wohlhabend gewordene
Mann hatte zu Anfang seiner Laufbahn, gleich vielen
Künstler, mit den Widrigkeiten des Daseins zu
kämpfen. Ursprünglich war er, wie gar mancher jetzt
berühmte Maler, Lithograph und wälzte wie Sisjphus
ohne Unterlass seinen Stein. Es ging ihm, wie es
zahlreichen seiner Kunstgenossen ging: seine eigen¬
tümliche Fähigkeit blieb lange ohne Anerkennung,
man sah in seinen Zeichnungen nichts als Leistungen
ziemlich alltäglicher Art. Ein hervorragender Kunst¬
verleger, dem Allers die Herausgabe einer Samm¬
lung seiner Blätter vorschlug, lehnte dies Anerbieten
C. W. ALLERS.
63
ab. So etwas ereignet sieb gar häufig: Fritz Reuter
und Robert Schumann wussten von ähnlichem zu
erzählen.
Wir wollen es nicht verhehlen: eine einzelne
Zeichnung von Allers ist zwar wegen ihrer Sorg¬
falt immer schätzenswert, bedeutet aber nichts Außer¬
gewöhnliches. Sie gilt nicht mehr und nicht
weniger als die Leistung eines wohlgeübten Zeichners.
So wenig wie an einem einzelnen Akkord einer be¬
deutenden Komposition, kann man an einer Zeichnung
nötigt, bald auch, wo die Zeit und die Umstände das
nicht erlauben , mit Hilfe des photographischen
Apparats festhält. Mit diesem malerischen Durch¬
einander verfahrt er dann wie ein geschickter Inten¬
dant und Regisseur: er passt jedem seine Rolle m
den Scenen, die er nun zusammenfügt, an. So ent¬
stand das erste und wohl auch das beste Werk, das
den Grund zu seiner Popularität legte: Club Ein¬
tracht. Wer in Hamburg gut bekannt ist, kann
den Urbildern dieser lustigen Gesellschaft begegnen.
Titelblatt des Werkes : Bakscliisch von C. W. Allers.
von Allers etwas Besonderes erkennen; die technische
Fertigkeit, die der Zeichner hat, erklärt bei weitem
noch nicht den Erfolg seiner Mappen. Was diese
Sammlungen anziehend macht, ist die W’^ahl der
Scenengruppen, innerhalb dieser wiederum die Wahl
der Typen, die alle miteinander in Beziehung und im
Gegensätze stehen. Wie Hogarth sich für seine
satirischen Cyklen die Charakterköpfe zusammenstahl,
so, ganz so verfährt auch Allers, der seine Figuren auf
seinen Reisen im Skizzenbuche sammelt, indem er
sie bald in liebenswürdiger Weise zum „Sitzen“
Es ist der Hamburgische Kunstgewerbeverein, be¬
rühmt an der Elbemündung durch seine Stiftungs¬
feste. In ähnlicher Weise ist „Die silberne Hochzeit“
zusammengesetzt aus Hamburgischen und Leipziger
Typen.
Der Humor, mit dem der Künstler verfährt, ist
kein subjektiver, wie der Wilhelm Busch’s und Ober-
länder’s, sondern objektiv, wie etwa der Harburger’s.
Er zeichnet nur was er sieht so wie es sieht und
wie wir die Personen und Sachen auch sehen. Aber
er streift auch nicht ab, was für das Dargestellte
64
C. W. ALLERS.
Der jüngste Passagier.
Aus dem Werke: Uakschisch von C. W. Allers.
charakteristisch ist^ und stellt sie an den Platz, wo
sie hingehören, wo sie ihre Stelle ausfüllen und zur
Wirkung des Ganzen beitragen. Das ist zunächst
ein kritisches Verfahren, aber zugleich auch ein
künstlerisches. Dazu kommt, dass Allers zu seinen
Blättern kurze Beischriften erfindet, die wiederum
vortrefflich zu der Darstellung passen und ihre
Wirkung erhöhen. Etwas Ähnliches finden wir
häufig in den litterarischen Produkten der Künstler¬
klubs, wie der AUotria in München oder des Mal¬
kastens in Düsseldorf. Aber die Art, wie Allers
diese Dinge vorführt, giebt ihnen ein Anrecht auf
längere Dauer, sie sind nicht für einen kleinen Kreis
bestimmt und auf einen kleinen Kreis angewandt,
sondern haben Geltung und Wirkung allenthalben,
wo man solch einen künstlerischen Roderich Benedix
zu schätzen vermag. Wie mit dem praktischen
Blicke des Lustspieldichters sind diese Scenen zu¬
sammengesetzt und ausgeführt. Einige Sammlungen
nähern sich allerdings mehr dem Reporterstile, z. B.
in den „Spreeathenern“, wo sich der Künstler nicht
frei bewegen konnte, sondern gewissen Vorschriften
nachkommen musste. Wo er aber lediglich seinem
eigenen Gedanken und Gefühl folgen kann, ist er
seiner Wirkung sicher.
Das Reisetagebuch, von dem wir hier sprechen
wollen, enthält ungefähr hundert beiderseitig be¬
druckte Blätter, die meist mit Zeichnungen der ver¬
schiedensten Art, zum kleinen Teil mit Schriftzügen
ganz bedeckt sind. Das Titelbild schildert uns den
Traum des Reisenden, auf den in buntem Durch¬
einander die Erinnerungen einstürmen. In sehr drolliger
Weise aus orientalischen Elementen ist auch das
sog. Vorsatzblatt des Einbandes symmetrisch zusam¬
mengesetzt : aus Palmzweigen, tanzenden Derwischen,
Krokodilen, Affen, Schakalen und Orientreisenden.
Die Mitte bilden vier Halbmonde mit einem gemein¬
samen Stern. Zunächst führt uns der „Mittelmeer¬
maler“ auf Deck im Schnee wetter am 21. Januar 1891,
macht uns mit Umgegend, Einrichtung und guten
Freunden bekannt, die den Künstler bewillkommnen
und die Sache in passender Weise „anfeuchten“, der
Schwabe mit Kirschwasser, der Sachse mit echtem
Korn, ein dritter mit Allasch, ein vierter mit Cognac
— lauter eingeschmuggelte Ware, deren Einfuhr die
Paketfahrtgesellschaft verboten hatte. „Aber“, fährt
der Kenner und Künstler entschuldigend fort, „bei
Cognac traut 'kein Mensch dem andern, nicht einmal
der Paketfahrt — und wie angenehm täuschten wir
uns, da eine Unmasse der besten Sorte an Bord war.“
Wie bald der Passagier auf dem eleganten großen
C W. ALLERS.
65
Dampfer zu Hause war und wie lustig sich’s da
leben ließ, zeigt schon der Bericht vom dritten Tage:
Freitag, den 23 Januar.
Musik in Hülle und Fülle an Bord. — Morgens früh
Flaggenparade und einige Gratisstücke hinterher. — Vor¬
mittags Promenadenkonzert und belegte Butterbrötchen, als
Vorbereitung zum Luncheon. — Außer der Musik bei den
Mahlzeiten noch abends Bierkonzert mit Seideldeckelklapp -
begleitung bei passenden Stücken. Kapellmeister Ascher ist
mit zahllosen Musikpiecen und Döntjes versehen und hat
alle Nationalhymnen an Bord, um das Wohlwollen der
Leitung und Herausgabe einer alle zwei bis drei Tage er¬
scheineirden Reisezeitung, der „Augusta Viktoria-Zeitung“,
übernommen. — Gestern nach Tisch wurde die See etwas
bewegter — viele fehlten an der Tafel — Seekrankheit mit
Musik. — In den sauberen Betten mit den zwei Wolldecken
liegt man sehr behaglich und die vorbeirauschende See lullt
mollig ein. Während wir Passagiere uns faul und behag¬
lich ausstrecken, arbeitet eine gewaltige Menschenmasse Tag
und Nacht für unsere Behaglichkeit und Sicherheit. — Die
Bäckerei, Konditorei, Küche, Maschinenräume, Barbier- und
Badestuben, Druckerei etc. etc.; vom Schiffsjungen bis zum
Kapitän, alles geht wie geschmiert und läuft unhörbar und
Der Felsendom des Kubbet es Sacbrä (Jerusalem). Aus dem Werke: Bakscliiscli von C. W. Allers.
Völker, die wir entdecken werden, zu erwerben. Er hat so
viele Orden, dass es ordentlich klappert, wenn er geht. Im
Rauchsalon haben sich schon eine gehörige Portion Skat¬
ecken zusammengefunden, bei Cocktail, Sherrycobler, Grog,
Bier. — Amüsante Gesellschaft. — Ich wetze schon meinen
Bleistift. — Vier Kollegen von der Tinte sind vertreten;
Hamb. Korrespondent (Benrath), Hamb. Nachrichten (Wallsee),
Hamb. Fremdenblatt und Berliner Börsencourier (Weth) und
Nordd. Allgemeine Zeitung (Jahnel, mein Schlaf kumpan).
Außerdem sind diverse Setzer und Drucker und eine Schnell¬
presse an Bord. — Meister Benrath hat neben seiner Bericht¬
erstatterbeschäftigung noch die anstrengende Aufgabe der
Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. IV.
tadellos seine Wege. Aber Faullenzen auf See ist doch riesig
angenehm, nur wird man dabei leichter seekrank. — Als
alter Matrose von der Kais. Marine sollte ich eigentlich see¬
fest sein, da man als Kuli gar keine Zeit zu solchem Un¬
sinn hat. — Aber das Herumlungern an Bord ohne Herum-
geschubse, Fluchen, Deckscheuern, Segelmanöver, Backs¬
geschirrreinigen, Musterungen, Zeugflicken, Geschützexer-
ziren etc. etc. bringt die alte Seeplage wieder hoch. —
Heute ruhige See, aber graumuffeliges Wetter. — Vormittags
Nebel — ab und zu ein Nebelhorn von unsichtbaren Küsten
— wir tuten auch fleißig. — Bei Dover, das wir ein wenig
aus dem Nebel auftauchen sehen, wird Flaggenparade mit
9
06
C. W. ALLERS.
.Musik abgehalten und durch Signale der Welt und unseren
Freunden daheim unsere Vorbeifahrt gemeldet. — Später
klärt es sich etwas auf. — Viele Dampfer und Segler in
Sicht. — Auch ein altes Wrack auf einer Sandbank liegend.
— Nachmittags frischt der Wind auf, die See geht höher.
Aber gerade, als ein speziell für uns aus Amerika signali-
sirter Sturm einsetzt, wutschen wir hinter die Insel Wight
und sind in Sicherheit und ruhigem Fahrwasser. — Ist noch
verdammt wenig Orientalisches bis jetzt zu sehen. Nur ein
Passagier erfreut unsere Augen mit einem leuchtenden Fez
und unser Herz mit dem türkischen Gruß. Er zaubert
Palmen, Sonne, Minarets, Harems, Eunuchen und sauft-
plätschernde Gewässer in unsere nebelig kalten Gemüter
und wird dafür einstimmig zum Kanaltürken ernannt.
Zu diesen Erläuterungen des behaglichen See¬
lebens sind nun eine ganze Zahl Charakterköpfe und
der schwarzen Kunst aufzurütteln vermag. Am
27. Januar ist großes Fest zur Feier des Geburtstags
S. M. des deutschen Kaisers. Die Musik thut doppelt
ihre Schuldigkeit, das ganze Schiff ist in Gala mit
Flaggenschmuck ; ein großes Bankett wird arrangirt,
die Paketfahrtgesellschaft spendet Sekt, große Fest¬
polonaise und Tanz beschließt die Feier.
Am folgenden Tage ist Gibraltar erreicht; diesem
altberühmten Punkte widmet das Buch einige
Blätter, und Land und Leute sind mit echten Künst¬
leraugen angeschaut.
Kleine, mit der Paketfahitflagge gezierte Dampfer
bringen uns bald an Land. — Am Oldmole stiegen wir aus,
wurden höflich empfangen und waren gleich mitten im Spek-
Kaijjlias’ Haus in .Tenisaiem. Aus dem Werke; Bakschisch von C. W. Allers.
.'^cenen gezeiclinet, und an drolligen Zwischenfällen
fehlt es dabei nicht. Beim Schlingern des Schiffes
fällt auf einmal das ganze Musikkorps in einen Haufen
zusammen; ein malerisches Durcheinander von
.Menschen und Musikinstrumenten. Die Notenblätter
gehen dabei über Bord und treten auf eigene Faust
ihre l'oise an. Ein unglücklicher Klarinettist, der
von der Seekrankheit arg zu leiden hat, muss die
l’ausen seiner Stimme benutzen, um sich über Bord
zu beugen und dem Meere seinen Zoll zu entrichten.
Die Setzer und Drucker der Augusta Viktoria-Zei¬
tung leiden gleichfalls von der Seeplage, so dass der
Redakteur .sie nur mit Mühe und durch Drohungen,
sie in Gibraltar ans Land zu setzen, zur Ausübung
takel und Leben eines südlichen Hafenplatzes. — Famose
Gegend hier am letzten Happen von Europa. — Schwarz-
Ijraune Kerle, Spanier, Araber und rotröckige Engländer —
eine verrückte Misclmng — die rote Uniform der Engländer
wirkt höchst dekorativ und erfreulich auf der silbergrau¬
gelben Felsfarbe. Wohin man sieht, diese leuchtenden Farben,
klexe. — Überall muss man seine Augen haben und alles
möchte man in Blei und Farbe mitnehmen, aber Zeit und
Engländer erlauben es nicht. — Zwischen all den farbigen
Menschengruppen trotten zahlreiche kleine, brave Esel, lustig
und aufmerksam aussehend, flink, wie alle südlichen Esel.
Mit malerischen Körben sind sie bepackt, oben drauf noch
viel malerischere Jungen oder Kerle. — Farbige Frauen¬
zimmer, schlampig und prachtvoll schmutzig. Jede des Mit¬
nehmens wert (d. h. gemalt). Viele hübsche, wild verlumpte
Kinder, Mauren in gelben Schlapppantoffeln. — Schwarze,
dicke Weiber, die kreischend sich gegenseitig anschauend
unglaublich komische Geschichten erzählen, so dass sie sich
C. W. ALLERS.
67
den Bauch vor Lachen halten müssen und sich entzückt auf
die Lenden klatschen und gegenseitig in die Seiten puffen.
Schottische Soldaten mit nackten Beinen, rotem Rock, vorne
ein Ziegenfell und auf dem Kopf den Korkhelm. — Elegante
Herren und langlockige blonde Damen auf schönen Pferden
sitzend. Dazwischen steife Polizeidiener, genau wie in London
und Plymouth .
Bald waren wir in Linea. — Welch ein Unterschied
zwischen dem wohlgeordneten Gibraltar und diesem lidelen
Urzustand, der Wohlanständigkeit der Engländer und dem
Naturspektakel und Dreck der Spanier. — Stolz aussehende
Polizeidiener, erhabene Schildwachen und Bettler voll Hoheit,
Grandezza und Läuse. Einige elende, verkrüppelte, aber
in ihren Wäldern bei der Familienbeschäftigung. — Tn eine
IHeinkinderschule lugten wir auch hinein. Eine alte gemüt¬
liche, gelbe Megäre, die sich mit einem Stöckchen die wirren
grauen Löckchen durchkratzte, leitete die Sache. Ein ein¬
faches, schmutziges Zimmer, angefüllt mit malerisch junger
Brut. Eine Art ABC zierte die Wand. — Bald nachher
trafen wir noch eine junge Dame von 6—7 Jahren auf der
Straße, die von drei älteren Schwestern unter gewaltigem
Geschrei (wie ein Schwein, das gewogen werden soll) zu
diesem Tempel der Wissenschaft geschleift wurde. Durch
unsere Vorstellungen und einigen passenden Fratzen mit Ge¬
brumm brachten wir sie zur Ruhe, dass sich der verdutzte
Racker still ziehen ließ. — An einer Straßenecke war die
Im Friihstückszelt von Cook & Sous. .4us dem Werke: Baksclnsoli vou C. W. Alleks.
tidele Subjekte betteln sich an uns ’ran. Unglaublich lustige
Jungens und Mädels, die sofort alle, selbst die schwierigsten
und komplizirtesten Gesichter, die ich ihnen vorschneide,
eifrig und ohne Fehler nachmachen. —
Zahllose schmierige, flohbeladene Hunde, Ziegen, Hammel¬
haufen, ruppige Hähne nebst Familie, Pferde, Maultiere,
Esel und Mautbeamte. Letztere gegen uns sehr höflich
und verbindlich. — Durchs alte Stadtthor ins Nest hinein
mit dem Kutscher als Führer. Echt spanische Straßen, recht¬
winklig mit einstöckigen Häusern, ln den offenen Thüren
und vorm Haus wird alles verrichtet. — Das einzig rein¬
liche Geschöpf, wie immer, die sich waschende Hauskatze,
hier anscheinend im vollen Einverständnisse mit den Hunden
lebend. — Überall sonst das bekannte Bild unserer Vorfahren
Börse, und die Kaufleute sahen aus wie eine Opern Ver¬
schwörung, lauter ernste Opernhelden mit malerisch drapirten
Giftmischer- und Verschwörermänteln, rotes, grünes und
gelbes Futter.
Es würde uns zu weit führen, wollten wir die
ganze so prächtig geschilderte Reise in ähnlicher
Weise „mit Nachdruck“' empfehlen; der Ereignisse
und Beobachtungen sind so viel, dass man ein ganzes
Heft damit füllen könnte. Wir müssen uns versagen,
die drolligen Scenen und Expektorationen wieder¬
zugeben, die sich beim Landen in Alexandria, beim
Besuch der Moschee, beim Kameelritt durch die Wüste
ü
6S
C. W. ALLERS.
ergeben. Wir wandern mit nach Gizeb, sehen den
Reisenden erschöpft die Besteigung der Pyramide
verwünschen, lesen die Postkarte, die er an die daheim¬
gebliebene Gattin auf der höchsten Spitze verfasst,
sehen die Passagiere wieder an Bord klettern und
verfolgen sie nach Jaffa, Jerusalem, auf den Libanon.
Unterwegs wird gelegentlich das Frühstückszelt von
Cook & Son aufgeschlagen, dessen Inneres wir u. a.
hier mit nachgebildet haben. Prächtig sind die
Menschen und Landschaftsstudien in Jerusalem und
Bethlehem, und wenn man sich noch in den frisch
geschriebenen und anschaulichen Text hineingelesen
hat, lässt das Buch den Leser nicht mehr los, —
schließlich glaubt man alles selbst mit erlebt zu
haben, und im Hinblick darauf sind die 100 Mark,
die für das Buch erlegt werden müssen, eine mini¬
male Ausgabe. Dabei wird es uns auch noch er¬
spart, die gelegentlichen Unfälle und Missgeschicke,
die auch auf solcher Bequemlichkeitsreise nicht
ausbleiben, am eignen Leibe zu erfahren. In Alexan¬
dria erhält unser Reisender aus Sparsamkeitsrück¬
sichten der Firma Cook & Son erst ein schlechtes
Zimmer ohne Fenster und erst nach Gebrauch ener¬
gischer deutscher Deutlichkeit wird ihm in dem fast
leeren Gasthaus ein kleiner netter Salon eingeräumt,
ln Beirut erhalten die Cookreisenden recht unbequeme
Wagen, „wundervoll für einen Ausflug zum Pappen-
büttler Markt bei heißem Wetter, aber miserabel für
eine Libanonfahrt“. Auf der Passhöhe des Gebirges
liegt 12 Fuß hoher Schnee und eine Straße ist schmal
hineiugeschaufelt. „Unser Wagen war der aller¬
miserabelste . . . ohne die vielen Bindfaden, die Freund
Benrath und ich seit Jerusalem wohlweislich immer
in den Taschen trugen, um die Stränge und Räder
dieser schäbigen Kutschen zusammenzubinden, wären
wir unterwegs sitzen geblieben. Bald ging’s in den
Antilibanon . . . Nur einige alte Steinhäuser mit
grinsenden Eingeborenen und zwei Wölfe, die nah
am Wege an den Resten eines Esels kauten, waren
am Eingang ins Gebirge in der Dämmerung zu
sehen.“ In Damaskus, wo die Orientfahrer halb er¬
froren und wie gerädert mitten in der Nacht an¬
langen, bringt die wiederkehrende Sonne und Bequem¬
lichkeit neuen Mut. Bei einem alten reichen Juden
Joseph Alphons sind kostbare alte jüdische Hand¬
schriften aus der Zeit Karls des Großen zu sehen . . .
„Herr Alphons zeigte uns seine Bibliothek. Auch
hat er immer etliche namhafte Gelehrte auf Lager,
die bei ihm wohnen und studiren. — Auch jetzt
saßen zwei malerische alte Gelehrte dort auf ge¬
kreuzten Beinen und guckten mit Vergrößerungs¬
gläsern in alten Schmökern herum. Prachtvolle
Modelle für Alchymisten, Sterndeuter und Teufels¬
beschwörer.“ — Die Tochter holt dann das Familien¬
photograp hiebuch voller langweiliger Gesichter in
photographischer Auffassung. „Gerade wie bei uns,
wo man die armen Besucher auch mit diesen nichts¬
sagenden Konterfeis an ekelt, wobei noch starkes
Interesse beim Anblick all der Tanten, Onkels, Gro߬
mütter, an Säulen gelehnten Hausfreunde. . . geheuchelt
werden muss.“
Die Bazare in Damaskus erregen das besondere
Interesse unseres Reisenden.
Prachtvolle eingelegte Möbel, Metallarbeiten, kunst¬
reiche Gold- und Silberschmiede bei der Arbeit, farbenfrische
Stoffe, Teppiche und ölschwimmende Esswaren. Am reich¬
haltigsten sind aber die Verkaufsbuden für alte Waffen.
Da giebt’s wundervolle Dinge zu sehen ; wenn man’s nur gleich
zu Haus an der Wand hängen hätte! Ich möchte eine Extra¬
reise nach Damaskus machen, um Wandschmuck einzukaufen.
Bei einem dicken Türken kaufte ich einen ganzen Haufen
Pistolen, Gewehre und Säbel für den zehnten Teil der ge¬
forderten Summe. Es dauerte aber eine Stunde, und dreimal
musste ich fortgehen und drei Tassen Kaffee mit dem biedern
Dickwanst trinken. Dann handelte ich noch einige Stücke
für einen Mitreisenden, der an Bord blieb, ein, obgleich wir
verteufelt wenig Platz in unserem Cookkasten hatten. Aber
ich baute auf das gute Herz meiner Mitreisenden, auf deren
Hühneraugen und erfrorene Zehen ich die Flinten lagern
musste. Dann erhandelte ich mir einen prächtigen Schaf¬
pelzrock, den ich gleich anzog, darüber einen wasserdichten,
weiß und braun gestreiften Beduinenmantel. Benrath, der
Schriftgelehrte, fand die Sache so passend, dass er sich auch
in einen Schafpelz wickelte . . . Mir war der Schafpelz und
Beduinenmantel höchst nötig, da ich starkes Fieber hatte
und mit den Zähnen klapperte. Ich verdanke dies den Spar¬
samkeitsrücksichten der Firma Cook & Sons, die uns zu drei
Mann hoch in ein Zimmer packte. Ich bekam nur ein Schlaf¬
sofa und fror jämmerlich auf der harten Pritsche. Dabei
war das Hotel fast leer . Heut nacht 12 Uhr sollen
wir wieder abreisen . . . Dazu noch ein scheußlicher Guss¬
regen, dass die Straßen schwimmen und alle tiefen Pflaster¬
löcher unsichtbar werden. Aber stets trifft man sie beim
Herumsuchen nach dem richtigen Wagen. — Mörderlich kalt
war’s auch . . . Ich klapperte im dicksten Fieber mit den
Zähnen, kam aber bei der Hauerei um die Wagen, wo an¬
scheinend jeder sich selbst der Nächste war, in eine falsche,
glücklicherweise bessere Kutsche rrnd entging so dem Schick¬
sal meiner alten Reisegefährten, die des miserablen Wagens
wegen zurückblieben, da alle Augenblicke die zusammen¬
gebundenen Stränge rissen und sie erst 24 Stunden später
nach zahlreichen Abenteuern und Gefahren an Bord eintrafen.
Wegen der Verspätung wird der Besuch in
Smyrna aufgegeben und die Äugusta Viktoria wendet
sich nun nach Konstantinopel, wo unter anderm sich
die Scene mit den Packträgern als photographische
Objekte abspielt, die wiederzugeben wir uns nicht ver¬
sagen mochten. Auch hier ist ausgiebiger Stoff für
ethnographische, landschaftliche und sonstige Studien.
Von da gehfs nach dem Süden der Balkanhalbinsel,
C. W. ALLEKS.
69
der Piräus, Athen mit der Akropolis werden bewundert,
angesichts deren ein unschuldiger Reisekollege die
Frage aufwirft: „Sagen Sie mal, wo sind wir denn
hier eigentlich ?“ Eine der hübschesten Anekdoten, die
wir zu hören bekommen, ereignet sich hier, auf der
Akropolis:
Wir sahen auch das berühmte Löwenköpfchen liegen,
das, schon so oft mitgenommen, immer wieder erscheint. —
Die Sache geht so zu. Da liegt ein antikes, reizendes Löwen¬
köpfchen, so recht lecker zum Stehlen und in passender
seine Pflicht vernachlässigen mrd den kostbaren antiken
Löwen verkrümeln. Froh, dem Verschüttetwerden so glück¬
lich entronnen zu sein, enteilt der Kenner der Stätte, in der
Tasche den kostbaren Leuen. Aber am nächsten Morgen
liegt ein gleicher Leu dort, vom sorgsamen Wächter behütet.
— Ob das eine Aktiengesellschaft oder ein Privatunter¬
nehmen ist, weiß ich nicht.
lu Athen, an der Geburtsstätte des klassischen
Drama s, wird auch ein neugriechisches Kasperltheater
bewundert. Der Jünger des Aristophanes machte
die besten neugriechischen Witze, die den Reisenden
Photographische Packträgerstiiclieu am goldenen Horn. Ans dem Werke: Bakschisch von G. W. Allers.
,,Na ja, da haben wir’s! Einen Packträger will man i)hotographiren, und da steht schon wieder die ganze Bande nud grinst in
den Apparat ... ’s mir gut, dass man die Witze nicht versteht, die sie machen . . . und dabei wird immer behauptet, die Türken ließen
sich nicht photographiren, weil es Muhammed verboten hätte . . . Blödsinn . . . Wenn ich nur wdisste, wie , ruhig stehen“, ,, nicht wackeln“
auf türkisch heißt! Warum habe ich mir auch keinen , kleinen Muhammedaner in der Westentasche“ mitgenommen, da wird doch sicher ein
Gespräch zwischen Photographen und Packträgeru d’rin stehen!““
Größe zum In- die -Tasche -stopfen. — Ein Blick auf das
Trümmerfeld - dort hinten geht der Wächter und dreht
uns gerade den Rücken zu — wutsch — weg ist der Löwe
und in die Rocktasche. Harmlos gehen wir weiter, die
Trümmer eifrig bewundernd. Da naht der Wächter. -
Wo ist der Löwenkopf? Soeben war er noch da. — Bitte,
mein Herr, wissen Sie, wo er geblieben ist? — Thut mir
leid, muss Sie untersuchen. Der Löwe kommt zum Vor¬
schein. — Große Verlegenheit, drohendes Stirnrunzeln des
Wächters. Zuerst ist er unerbittlich, er ist für den Löwen ver¬
antwortlich. Dann etwas milder gestimmt. Viel Bakschisch
rührt ihn, und noch viel mehr Bakschisch lässt ihn sogar
leider wegen mangelbafter Sprachkenntnis entgingen.
Auf der Rückreise nach Neapel zu werden „olympische
Spiele“ an Bord abgehalten, bestehend in Pflaumen-
kauen, Wettbrotessen, Sackhüpfen u. dergl. In Malta
wird angelegt und große Stift- und Tuschzeichnungen,
die oft über zwei Seiten hinweggehen, sind das
künstlerische Residuum dieses Aufenthalts. Auch
Palermo und der Monte Pellegrino finden ihre Stätte
in dem Buche, ln Neapel begrüßt unser Reisender
70
KLEINE MITTEILUNGEN.
das unvergleichliche Capri, dem er einen eignen
Folianten gevpidmet hat. Hier zerstreut sich schon
die Reisegesellschaft merklich; der Rest besucht noch
Lissabon, sehnt sich aber, schon übersättigt von den
zahllosen Genüssen und Erlebnissen, nach Hause.
Am 22. März läuft der Dampfer unter großem Hallo
wieder in Hamburg ein und mit dem ihm eigenen
Humor schließt der moderne Odysseus seinen Bericht
am Stammtisch:
„Ja, meine Herren, das kann ich Ihnen sagen, großartig
war’s! Nur eins hat mir immer viel Sorge, Verdruss und
Kopfzerbrechen gemacht, das waren die vielen Schreiben
der elenden Briefmarkensammler, Auf allen Poststationen
fehlten immer die sehnlichst erwarteten Briefe von zu Hanse;
nur die Briefmarkensammler hatten ihre Schreiben richtig
berechnet. Was für ein Arger, wenn wir den jubelnd be¬
grüßten Brief öffneten. 45 Aufforderungen zum Mitbringen
von allerlei .seltsamen Briefmarken habe ich bekommen.
5700 Rmk. A«s/o^ekapital wurde mir von diesen schwarzen
Seelen gütigst bewilligt (zum späteren Wiedergeben) — 43
davon kannte ich überhaupt nicht mehr und brachte daher
auch nur für die zwei Übriggebliebenen einige Kilo höchst
thörichter Briefmarken mit (wie man mir später mitteilte),
und das war schon eine böse Arbeit, da die Zeit und das
Programm in viele gleich lange Stücke geschnitten waren
und wir nur selten entwischen konnten, umabseits vom Wege
mal auszupusten. Überall waren die Marken auch viel teurer,
wie zu Hause, und dann die elende Rennerei von einer Post
zur andern, statt seine Mußestunden im behaglichen Umher¬
schlendern zu genießen . Wer mir auf Reisen wieder
von Briefmarken redet, den verachte ich . . . Ich bin immer
gern erbötig, bei genügend Platz allerlei Unrat mitzubringen,
wenn ich es nicht selber gebrauche. Ein mäßig großes Nil¬
pferd, Mumien, kleinere Pyramiden zu Briefbeschwerern,
diverse profane und heilige Gewässer auf Flaschen gefüllt,
Stückchen von Inseln und Vorgebirgen, Kisten voll Wüsten¬
sand und altägyptische Funde aus den renommirtesten Fa¬
briken .... Auch empfehle ich mich zum Mitnehmen von
allerlei heiligen und klassischen Reliquien vom Schädel
Adams bis zu den Figuren des Erechtheion oder was sonst
von eifrigen Reisenden gestohlen oder gesammelt wird —
nur keine Freimarken!“ Ä. S.
KLEINE MITTEILUNGEN.
KUNSTGESCHICHTLICHE FINDLINGE AUS DEM
K. S. HAUPTSTAATSARCHIVE.
:\I1T0ETE1LT VON THEODOR DISTEL IN DRESDEN.
Znr Frurenienvu einiger wertvoller Gemälde, inshesondere
zu ürnnach's d. ä. Eeee Homo in Dresden. Im K. S. Haupt¬
staatsarchive ') kam ich auf eine, 26 Nummern enthaltende
„Spezifikation“ von Gemälden unter dem Datum Dresden,
d. 26. März 1707. Kuiffürst Friedrich. August I. zu Sachsen
(als Polenkönig August TI.) hatte dieselben, nachdem ihm
auch andere, von nicht genannter Seite, zum Ankäufe an-
geboten -worden waren, ,, ausgezeichnet und beliebet“. Als
No. 8 des Verzeichnisses erscheint ein Ecco Homo Lucas
Grumju-h's d. ä. ^) auf „Holz“, für welchen 300 Tlialer ge¬
fordert worden waren. Ist das Gemälde damals auch nicht
nach Kursachsen gekommen, wahrscheinlich war es vorher
bereits einem anderen Käufer zugeschlagen worden, so ist
dies doch 1874 geschehen und giebt der größere lFocr«ia;Mdsc/te
Katalog der Königlichen Gemäldegalerie zu Dresden (1887)
unter No. 1017 Näheres darüber an, nennt auch seinen
Vorbesitzer. Ich füge hinzu, dass, nach Mitteilung des
K. Galerieinsjjektors Müller, dafür über 2000 M. (100 Gui¬
neen) gezahlt worden sind. Andere Bilder sind, wie eine
Vergleichung des Verzeichnisses mit dem angezogenen
Kataloge ergiebt, und wohl zu den dabei ausgeworfenen
Preisen in die Dresdener Sammlung übergegangen, wenn
auch falsche Daten über ihren Erwerb bekannt sind, z. B.
.No. 1236 („Kreuzigung“ von lUocmucrt — Bloinerten ge¬
nannt — , „nach Michelangelo“-*). Sonst nenne ich, nach
meiner Vorlage, noch folgende Gemälde und die dafür seiner¬
zeit geforderten Preise, um zu weiteren Nachforschungen
darüber anzuregen, als: Dürer [l] (zwei Bauernstücke auf
1 Lokal 37!» diverse Verzeichnisse Bl. 3.
3) Hier „Granach“ geschrieben.
3) .So auch JWmrr dort eil.
Holz, zusammen 200 Thaler, und die Geburt Christi, eben¬
falls auf Holz, 80 Thaler), Brueghel — Bregel geschrieben —
(zwei holländische Bauernstücke, auf Kupfer, zusammen 150
Thaler) und Rubens (Geißelung und Krönung Christi, auf
Holz, 80 Thaler).
Ein Meines Ölbild Johann Friedrich des Großmütigen
im Privatbesitxe. Im vergangenen Jahre restaurirte der
K. Galeriekustos Theodor Schmidt in Dresden ein Ölbild
(auf Holz) des Kurfürsten Johann Friedrich des Großmütigen
'30. Juni 1503-3. März 15.54), dessen Eigentümer der K. Pr.
Oberst a. D. von Baund.mch, ebenda, Forststraße 23 wohnhaft,
ist. Das Gemälde ist 11 cm hoch und 872 cm breit und
würde, wenn es nicht das zu weiterer Nachforschung an¬
regende Zeichen: *) trüge, nur Lukas Cranach d. ä., welcher
es, nach dem Dargestellten zu urteilen, spätestens 1540 und
in seinem besten Können geschaffen haben müsste, zuge¬
schrieben werden. Von einem hellgrauen Grunde hebt sich
der leicht nach links gewandte , kräftige Oberkörper des
Kurfürsten, der ein schwarzes, mit Goldknöpfen verziertes
Barett trägt, voll ab. Ruhig und ernst, fast melancholisch
blickt derselbe aus dem Bilde heraus den Beschauer an.
Ein ganz dunkelbrauner, unter dem Halse zusammengehaT
tener Pelzkragen lässt unterhalb ein schwarzes Wams er¬
blicken, über welchem eine vierfache, goldene Kette mit
sauber ausgeführtem Kruzifixe auf die Brust herabhängt.
Die rechte Hand hält einen Handschuh und ruht auf einer,
wenig sichtbai'en , mit rötlichem Stoffe behangenen Tafel,
die Linke ist über die Rechte gelegt. Rechts oben (im
Grunde) stehen die Worte: Joanes Fridericus dux Saxo. et
elector, darunter das Zeichen:
l) Wollte man den Kurfürsten in noch jüngere Jahre setzen,
so könnte man an den Maler Jakobz Lucas, d. i. Lucas Jakobsz
oder Lucas von Leiden (-1- 1533) denken.
KLEINE MITTEILUNGEN.
71
Kurfürst Christian II rru Sachsen als Mater. Dass der
Kurfürst Christian II. zu Sachsen (1583 — 1611) die Maler¬
kunst geübt habe, ist noch unbekannt. Einem alten Inven-
tarium des Schlosses Colditz u. s. w. vom Jahre 1657 (K. S.
Hauptstaatsarchiv: Lokat 12047 Bl. 112 (entnehme ich nun
den Eintrag, dass er das an der Thüre des kurfürstlichen
Kirchstübchens im vergoldeten Rahmen befindlich gewesene
Pergament bild : Gruß der Maria ,.in seiner Jugend mit eigener
Hand gemahlet und geschrieben" hat. Leider ist das Werk
nicht mehr nachzuweisen.
Ein Porträt der Kurfürstin Elisabeth xn Brandenburg
von Zacharias Wehme (?), 1593. Vor dem Kirchensaale
des herzoglichen Residenzschlosses zu Altenburg hängt seit
kurzem ein überaus prächtiges, lebensgroßes (bis unter die
Kniee reichendes) Porträt der Kurfürstin Elisabeth zu Bran¬
denburg, geb Prinzessin zu Anhalt'), vom Jahre 1593, dessen
Maler, Zacharias Wehme, sich leider nur stark vermuten lässt,
wenigstens malte er das Original auch sonst 2) und schuf
ein Bildnis ihres Gemahls, Johann Georgs. Das Altenburger
Ölbild kam zu Anfänge vorigen Jahres im schlimmsten Zu¬
stande nach Dresden, wo es durch den K. Galeriekustos,
Theodor Schmidt, aufs sorgfältigste restaurirt und die fast
unleserlich gewordene Beischrift von mir, im Aufträge
Seiner Hoheit, des regierenden Herzogs Ernst zu Sachsen-
Altenburg s), festgestellt wurde. Dieselbe lautet also: „V: G: G:
Elisabeth marggrevin und churfurstin zu Brandenburg ge-
borne furstin zu Anhald; hertzogin von Stettin Pommern
der Cassuben Wenden und in Schlesien zu Crossen hertzogin
burggrevin zu Nurnbergk und furstin zu Rügen. 1. 5. 93" ^).
Das 137 '/2 cm hohe und 86’/2 cm breite, jetzt schön ein¬
gerahmte Porträt stellt die Fürstin fast ganz en face dar,
stehend, den rechten Arm gestreckt, die dazu gehörige Hand
auf einen mit rötlichem Stoffe behangenen Tisch gestützt.
Der linke Arm liegt rechtwinklig auf dem Leib und ist mit
einem schmalen goldenen Reif an der Hand, deren kleiner
Finger mit einem Ringe, den ein blauer Stein schmückt,
geziert ist und welche Handschuhe hält, versehen. Das
blühende und anmutige Gesicht der Kurfürstin ist in den
hellblonden, zurückgekämmten und un gescheitelten Haaren
mit einem Perlendiadem, in dessen Feldern eingefasste Edel¬
steine glänzen, gekrönt. Das Gesichtsoval umgiebt eine
breite, weiße, strahlenförmig gehende Halskrause. Ein
weißlicher Rock, mit gelben Borden quer durchzogen und
mit schrägliegenden Quadraten , darüber ein schwarzer, be¬
nähter Überwurf mit offenen Ärmeln, sowie Manschetten
bilden die reiche Kleidung. An beiden Seiten des Oberkleides
sind ununterbrochen die Wahrzeichen des Heimatlandes, der
schreitende Bär mit Krone und Kranz, angebracht. Eine fein
1) Dieselbe war eine Schwester der zweiten Gemahlin des Kur¬
fürsten August zu Sachsen, Agnes Hedwig, dessen Hofmaler der zu
Nennende später wurde und dessen vortreffliches Porträt dieses
Meisters in der K. Gemäldegalerie (man vgl. den angez., großen
Katalog, Nr. 1959). Auch das daselbst Nr. 1954 aufgeführte Porträt
halte ich für ein Werk desselben Malers , nicht für eine Röder’sche
Arbeit.
2) Man vgl. Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Alter¬
tumskunde Bd. XI (1890), 279 an erster und fünfter Stelle. Die sel¬
tene Art der Datirung (mit den Punkten nach den einzelnen Zahlen)
tragen auch das in Anm. 1 angezogene Porträt des Kurfürsten
August zu Sachsen (1. 5. 86), sowie zwei andere (1. 5. 91 und 1. 5. 92)
Arbeiten Wehme’s. Die Malweise aller Porträts ist dieselbe.
3) Mit Höchstdessen Gemahlin, einer ebenfalls Anhaitischen
Prinzessin, kam es einst in die Ernestinische Residenz.
4) Sie war damals etwa dreißig Jahre alt (geb. 15. Septemb. 1563)
und hatte als dritte Gemahlin ihres Gatten schon neun Kinder ge¬
boren, Sie starb am 25. September 1607.
gearbeitete Kette, deren einzelne Glieder durch Silberringe
verbunden sind, und deren Teile durch Perlen und Edelsteine
abwechselnd geschmückt sind, läuft unter der Krause hervor
bis an die Brust; ihren Abschluss bildet ein schwarzer
Adler mit a.usgebreiteten Flügeln, eine zweite dergleichen
reicht bis an den Leib und endet in einer großen herz¬
förmigen Perle mit Flügeln in höchst eigenartiger Umgebung.
Rechts wird das von dunklem Grunde herausgehobene Bild
durch den Teil eines grünseidenen, mit goldenem Zierate
eingefassten Vorhang abgeschlossen.
Stammte Benjamin Block ivirldich aus Lübeck? In
Scubci'fs Allgemeinem Künstlerlexikon u. s. w, 1. Bd. (1892)
S. 134 ') werden vier Kupferstiche des Porträtmalers Ben¬
jamin Block, darunter ein äulierst seltener, aufgeführt. Ein
Gemälde von ihm, darstellend den Herzog Friedrich (wohl 1.
von Gotha- Altenburg) sah ich kürzlich im Herzoglichen Resi¬
denzschlosse zu Altenburg. Dasselbe hat der Maler auf der
Donau im Schifte ,,auf einmal“ (d. i. wohl während nur einer
Sitzung des Herzogs) am 15./5. Juni 1676 fertiggestellt, laut
rückseitiger Bemerkung auf dem Bilde. Seubert lässt Block
„um 1690 (1665)“ sterben; nach dem eben Gesagten muss die
Parenthesenzahl aber hinfällig werden. Auch im K. S. Haupt¬
staatsarchive (Loc. 8753 Verwendungen u. s. w. 1651 ff.) bin
ich (Bl. 18) ihm unterm 25. Juli 1655 begegnet. Dort heißt es,
abweichend, auch von Seubert, welcher ihn in Lübeck ge¬
boren sein lässt, dass er von Schwerin stammte und sich vor
seiner Reise nach Italien in Halle aufgehalten, auch einige
Bilder für den dort residirenden Administrator von Magde¬
burg, Herzog August, gefertigt habe. Ein Blumenstück seiner
Frau, Anna Katharina, geb. Fischer (1642 geb., 1664 verm.,
1719 gest.), sah ich in der Großherzoglichen Gemäldegalerie
zu Schwerin; man vgl. das beschreibende Verzeichnis der
genannten Sammlung, 1882, Nr. 73.
INTERNATIONLE AUSSTELLUNG IN MÜNCHEN.
Änliiufe vom 17. August bis Ende Oktober 1892.
Jul. Adam, München, „Ruhestündlein“; 0. Andreoni,
Rom, „Marmorvase“ (Skulptur); H. Bahner, Düsseldorf, „Dorf¬
straße im November“; M. Bashkirtseft' t, Paris, „Weiblicher
Studienkopf“; R. Beyschlag, München, ,, Dorf kokette“; E.
Blume, München, „Ein Kapitel aus der Bibel“; A. Bock,
Berlin, „Bete und arbeite"; J. Bosboom, Haag, „In der
Tenne“ (Aquarelle); A. Botinelli, Rom, „Die Etruskerin“
(Skulptur); E. Bracht, Berlin, „Die Klause“; J. von Brandt,
München, „Pfer'demarkt“ ; L. Brunin, Antwerpen, „Der
Bildhauer“ (Pinakothek); H. Bürgel, München. „Herbsttag
im Hochmoor“; G. von Canal, Düsseldorf, ,, Abendstimmung“ ;
J. Carbin, München, „Dorfweiher“ (Federzeichnung); G.
Chierici, Reggio, ,,Der böse Mann“; N. Cipriani, Rom, „Im
Kloster“ (Aquarell); St. Csok, München, ,,Strohwittwe“;
H. Darnaut, Wien, „Partie aus der Millstätter Schlucht“;
H. David - Nillet, Paris, „Beim Feuer“; Frz, v. Defregger,
München, „Köpfchen“; L. Dettmann, Charlottenburg, ., Nord¬
seestrand“ (Aquarell) ; L. Dettmann, Charlottenburg,,, Rückkehr
des verlorenen Sohnes“ (Aquarell); F. B. Doubeck, München,
„Gesangsprobe beim Intendanten“; A. East, London, „Stür¬
misches Wetter“; A. Egger-Lienz, München, ,, Stillleben“;
H. Eisele, München, „1 Rahmen Radirungen“; Frz. Eismond,
Warschau, „Neckerei“; E. Fremiet, Paris, „Junge Katze“
(Skulptur); Em. Fremiet, Paris, „St. Michael“ (Skulptur);
J. Gärtner, Malaga, „Abend an der Küste von Malaga“;
J. Gallegos, Rom, „Nach der Taufe“; J. Gallegos, Rom,
„Nach der Kommunion“; O. Gebier, München, „Besuch im
1) Vgl. Bd. II ^875), 713.
72
KLEINE MITTEILUNGEN.
Stall"; J. Hamza, Wien, „Genre“; A. Heiike, Düsseldorf,
„Ungebetene Gäste“ (Prinz-Eegent v. Bayern); V.M. Herwegen,
München, „Eingang zur Kirche San Domenico in Rom“
(Aquarell); V. M. Herwegen, München, „Forum Romanum“
(Aquarell); G. Jacohides, München, „Der erste Schritt“; 0.
A. Jernherg, Düsseldorf, „Oktobertag“; M. J. Iwill, Paris,
„September“; E, Kampf, Düsseldorf, „Flandrisches Dorf“;
Hermann Kaulbach, München, „Das Ende vom Lied“; F.
Kinzel, Wien, „Politiker“; K. Klinkenberg, Amsterdam,
„Winterabend“; Kose Shoseki, Tokio, „Gänseherde“ (Prinz-
Regent V. Bayern) ; A. Ritter von Kossak, Krakau, ,,Aus
meinen Kinderjahren“; K. Kronberger, München, „Seelen¬
vergnügt“; P. P. Kroyer, Kopenhagen, „Am Nordsee¬
strand“, Pinakothek; Van Kuyck, Antwerpen, „Im Garten
eines Pachthofes“; A. Leonhardi, München, „Vorfrüh¬
ling“; H. Liesegang, Düsseldorf, ,, Motive aus Holland“
(2 Rahmen-Radirungen); E. Gari Welchers, Paris, ,, Lesendes
Mädchen“ (Pinakothek); A. Müller-Lingke, München, ,,Auf
dem Heimweg“; M. Nonnenbruch, ,, Flora“; L. Nono, Venedig,
„Ave Maria“; A. Normann, Berlin, „Lofotensteene“ ; E.
Oppler, München, „Träumerei“ (Pastell, Prinzregent v. Bayern) ;
C. Pallya, Budapest, „Brunnenscene“; L. Passini, Venedig,
„Calabrisches Mädchen“; F. von Pausinger (Salzburg), „Mond¬
nacht im Walde“ (Karton) ; L. Pelouse f) Paris, „Nussbäume“
(Pinakothek); Hans Petersen, München, ,, Nordseebild“; 0.
Piltz (München), „Herbstsonne“; H. Quitzow, München,
„Abend“; K. Raupp, München, „Heimfahrt der Kloster¬
schule“; W. Graf V. Reichenbach, München, „Ja, ja, so geht’s“;
Otto Riesch, Berlin, „Mignon“ (Bronze); L. Ritter, Nürnberg,
„Burg in Nürnberg“ (Aquarelle); W. Rölofs, Haag, ,, Land¬
schaft“ (Aquarelle); J. Runge, München, „Lagunenfischer“;
J. P. Salinas, Rom, „Wallfahrer“; L. Scaft'ai, Florenz, „Die
Großeltei'n“; M. Schmid, München, ,,Die Ungläubige“;
Th. Schmidt, München, „Der Photograph auf dem Lande“;
E. Schmitz, München, „Zur G’sundheit“; J. Schmitz¬
berger, München, „Jugendzeit“; J. Schmitzberger, München,
„Kein Jäger, kein Heger“; N. Schultheiß, München, „Guter
Fang“; H. von Siemiradzki, Rom, ,,Auf der Klosterterrasse“;
F. Simm, München, „Interessante Aussicht“; F. Simm,
München, „Posttag“; G. Simoni, Rom, ,,Der Waffenhändler“
(Aquarell); G. Simoni, Rom, ,,Scheherezade“ (Aquarell); E.
Slocoiul)e, Watford, „Scheveningen“ (Radirung); Ph, Sporrer,
München, ,,ln der Klemme“; Ph. Sporrer, München, „Vor
dem Gewitter“; Fr. Stuck, München, „Athlet“ (Skulptur,
dreimal); 'j'ajudi-Schunrin, Japan, „Karpfen“; F. P. ter Meulen,
Haag, ,,ln den hollä.ndischen Dünen“; R. Thegerström,
Djursholm, „Sommerabend“ (Pinakothek); Van de Sande-
Bakhuysen, Haag, „Blumen und Früchte“; Van de
Sande- Bakhuysen, Haag, „Weg in Di'enthe“ (Aquarell);
Eduard Veith, Wien, „Von anno dazumal“; A. v. Wahl,
München, ,, Kaukasische Frauen“; R. Weigl, Wien, „Beet-
lioven“ (Skulptur, Ellithstatuette, dreimal); H. v. Weyßenhoff,
•München, ., Weißrussischer Friedhof“; R. Winternitz, Stuttgart,
„Im Atelier“; J. Wopfner, München, ,, Himmelskönigin“; Fr.
Zadow, Berlin, „weibliche Figur“ (Skulptur); CI. Zschille,
Großenhain, „Reseden“.
VI. Münchener Internationale Ausstellung. An Eintritts¬
karten wurden bis Ende Oktober verkauft: 1062 Saison¬
karten ä 10 M., 138 Saisonkarten ä 8 M., 1374 Saisonkarten
ä 5 M., 112 Abonnementshefte ä 15 M., 1079 Abonnements¬
hefte ä 8 M., 250 Abonnementshefte ä 5 M., 93954 Tages¬
karten ä 1 M., 30044 Tageskarten ä 50 Pf. Gesamtsumme
142949 M.
Ergebnis der Eadiningskonlmrrenx. Von den 49 ein¬
gegangenen Blättern hat das Preisgericht keinem den ersten
Preis zuerteilen können, dagegen schlägt es die Verteilung
von drei zweiten Preisen von je 300 Mark vor, und zwar
für folgende Blätter: Nr. 4 „Von oben“; (einstimmig) Nr. 41
„Am häuslichen Herd“ (einstimmig); No. 1 „Dideldum“ (mit
drei gegen zwei Stimmen). Zum Ankauf wurdenTünf Blätter
empfohlen. Der ausführliche Bericht folgt in Nr. 8 der
Kunstchronik.
X. Vor dem Forum der Vernunft, Originalradirung von
Hermine Laukota. Die Künstlerin, deren gewandter und
feinfühliger Hand wir das beiliegende Blatt verdanken,
hat schon anderswo bemerkenswerte Proben ihrer Kunst ab¬
gelegt. Zwei Bilder auf der gegenwärtigen Münchener Aus¬
stellung beweisen ihre Begabung, und vor zwei Jahren waren
Proben ihrer Radirkunst in den „Graphischen Künsten“ zu
sehen, die gleich hervorragend durch Wiedergabe der Licht-
eff'ekte als durch technische Behandlung sind. Das diesem
Hefte beigegebene Blatt lässt eine neue Seite ihrer Kunst
gewahren. Dies ist nämlich ihre eigentümlich kraftvolle
Phantasie, die sich an Verkörperung idealer Begriffe heran¬
wagt. Hier ist nicht die Natur abgeschrieben, keine Dar¬
stellung gemeiner Wirklichkeit, sondern ein kühner Aufstieg
in eine höhere Sphäre. Eine gewisse Monumentalität ist
dem vorliegenden Kunstwerk nicht abzusprechen. Die
Charakteristik der Vernunft, bei der eine ratlose Psyche, der
vielleicht ein Eros davongeflogen ist, Zuflucht sucht, ist gar
trefflich gegeben. Der Zug der Überlegenheit in der auf
steilem Felsen sitzenden Figur, die Strenge des Mundes, die
leise abwehrende Bewegung des steifen Arms sind sprechend.
Dazu steht das ängstliche Anklammern der schmächtigen
Mädchengestalt, die vertrauensvoll aufblickt, in rechtem künst¬
lerischen Gegensätze. Das vorliegende Blatt ist ein Ausschnitt
aus einer größeren Platte von 24 zu 33 cm Bildgröße. Von
der Originalplatte sind Abdrücke auf starkem Papier zu
haben, und stehen Liebhabern zum Preise von 2 Mk. zur
Verfügung. Die Urheberin des Blattes ist durch Doris Raab
mit der Technik der Radirung vertraut gemacht worden und
hat auch in Wien durch W. ünger mannigfache Förderung
erfahren. Den größten Teil ihrer Studienzeit hat sie in Prag
zugebracht und war zumeist ihre eigne Lehrmeisterin.
Herausgeber: Carl von Liit.xow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
H.Latikota iec.
FEUERBACH’S DECKENGEMÄLDE
FÜR DIE AULA DER WIENER AKADEMIE.
MIT ABBILDUNGEN.
(Scliluss.)
AN hat schon früher, als der
„Titanensturz“ noch provi¬
sorisch in der Galerie der
Akademie aufgestellt war,
und neuerdings wieder, nach
seiner Enthüllung in der Aula,
die Bemerkung gemacht, dass
die Komposition in der Per-
spck-Hvc nicht ohne Mängel sei, dass der obere Teil
des Bildes dem Beschauer auf den Kopf zu stürzen
drohe. Die Beobachtung ist nicht ganz unbegründet.
Sie erklärt sich aber wohl zum grössten Teil aus
dem nicht durchaus fertigen Zustande der Malerei.
Hätte der Meister sein Werk bei der letzten Retouche
im Ganzen übersehen und malerisch bis ins Einzelne
durchbilden können, so würde er sicher auch in
diesem Pvinkte zur vollen Herrschaft über den
Riesenstotf gelangt sein und zugleich alle störenden
Fehler in der Bewegung und Zeichnung einzelner
Figuren, wie z. B. in dem stehenden Titanenweibe
links und in der daneben sitzenden, sich stark zurück¬
beugenden Frau mit dem Kinde, glücklich beseitigt
haben. Indessen freuen wir uns an dem, was endlich
vor uns steht und was in jedem Zuge den wahr¬
haft großen Meister verrät, dem Gedanke und Natur
die Pforten weit geöffnet hatten. Auf die Natur
und ihr unausgesetztes Studium war Feuerbach
gerade während der letzten Zeit seines Schaffens,
seit der Rückkehr nach Italien, aufs eifrigste ge¬
richtet. Wir fügen zwei Naturstudien zu dem
„Titanensturz“ hier bei, die sich in der Sammlung
der Akademie befinden: die eine zu der sitzenden
Rückenfigur unter den Titanenweibern, die andere
zu einem der Eroten, welche die Liebesgöttin um¬
schweben (s. die Abb.). Sie sind mit einem so
feinen und respektvollen Sinn für das Leben gemacht,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
und dabei so quellend und großzügig, wie wenn ein
Zeitgenosse RaffaePs sie gezeichnet hätte. „Ich freue
mich, dass alle meine Gestalten Naturlaut haben“,
schrieb der Künstler aus Rom, während er an
dem Werke malte. Außer der Natur hat aber auch
die große Malerei des Cinquecento unverkennbar
stetig auf ihn eingewirkt.
Einen neuen Beweis dafür erhielten wir erst in
diesen Tagen durch die Bekanntschaft mit einer
Stiftzeichnung in der Sammlung des Herrn Arnold
Otto Meyer in Hamburg, die uns der kunstsinnige
Besitzer für die beigefügte Reproduktion freundlichst
zur Verfügung stellte. Es ist der größere Entwurf
zu dem „Prometheus als Herdgründer“, von dessen
kleiner, in der Sammlung der Wiener Akademie be¬
findlicher Skizze bereits oben (S. 44) die Rede war
An Stelle der drei Gestalten links ist hier eine fünf-
figurige Gruppe getreten; sonst blieb das Grundmotiv
das nämliche: Prometheus, wie er den sich um ihn
drängenden Menschen den Segen des häuslichen
Herdes bringt. Die Gestalt des Prometheus bekundet
deutlich den Einfluss der Sixtinischen Decke. Das
Blatt ist in der weichen und doch markigen Be¬
handlung, in dem Verein von Lebensgefühl und
Größe des Stils ein höchst charakteristischer Bele<f
für die Eigentümlichkeit des Meisters.
In dem Gegenbilde des Herdgründers, dem „Ge¬
fesselten Prometheus“, besitzt die Akademie das un¬
streitig wertvollste, ganz vollendete, malerisch durch -
gebildetste Werk des ganzen Cyklus. Die Radirung
von W. Woernle bietet den Lesern davon eine stil¬
gerechte Reproduktion. Nur den tragisch ernsten
Ton der Malerei, den wunderbaren Zusammenklang
von Meergrün, Violett und kühler Fleischfarbe, in
den die klagenden Okeaniden getaucht sind, kann
keine noch so stimmungstreue Übersetzung in
10
Studie zu einem schwebenden Eroten. Titaneiiweib.
Rütelzeielinung von A. Feuer]!.\ch. Rölelzeicltnung von A. Ff.ueru.\vh.
DEE GEEESSELTE PEOMETHEU
FEUERBACH’S DECKENGEMÄLDE FÜR DIE AULA DER WIENER AKADEMIE.
75
Schwarz und Weiß vollkommen wiedergeben. —
Das Bild hat im Laufe seiner Entstehung einen
wichtigen Umgestaltungsprozess durchgemacht: die
Hauptfigur lag in der ersten Skizze mit dem Kopf
nach oben; erst die größere, in der Berliner National¬
galerie befindliche Stiftzeichnung (Fr. Hanfstaengl,
A. Feuerbach’s Handz. Bl. 29) bringt sie bereits in
der kühnen Verkürzung mit dem Kopf nach unten,
wie wir sie auf dem ausgeführten Bilde sehen. Der
Gewinn für den Ausdruck der Situation, der mit
dieser Wendung erzielt ward, liegt so klar auf der
„Das Meer im wilden Wogensturz
Schreit empor, die Tiefe seufzt,
Dazu rauscht des Schattenreichs dunkler Abgrund,
Klar hiii'wogender Ströme Gewässer klagen voll Mitleid.“
Alles ist urgewaltig, düster und feierlich an
der geschilderten Scene; kein Zug verstößt gegen
den Geist jener erhabenen Poesie. Und dabei ist
alles eigenartig, modern, voll Natur und Leben; das
Ganze ein würdiges Seitenstück zu des Meisters
„Pieta“, die Klage um den Erlöser in die hellenische
Sagenwelt übertragen.
Von gleicher Originalität in Erfindung und
Prometheus als Ilenlgrüuder. Stiftzeichmuig vou A. Feuertsach.
Hand, dass man kein Wort darüber zu verlieren
braucht. — Ungerufen tönen uns im Anblick des
Bildes die Worte des Aeschylos im Ohr:
„Er stahl und gab den Menschen des Hephästos Schmuck,
Das schöpferische Feuer; deshalb muss er nun
Der Götter Strafe leiden für so schwer Vergehn,
Damit er Zeus’ erhabnes Scepter ehren lehrt,
Und seiner Menschenliebe Ziel und Schranken setzt.“
Den weichen erlösenden Klang in dieser
heroischen Scene des Duldens für die Menschheit
bilden die klagenden Töchter des Okeanos, die unter
Führung des Nereus herbeigekommen sind, den
Prometheus zu trösten.
Durchbildung sind die drei Einzelfiguren, welche den
„Gefesselten Prometheus“ umgeben. Zu den Seiten
schweben „Gaa“ und „Uranos“, die Eltern der Titanen,
Gestalten von gewaltiger Kraftfülle und Bewegung, in
dunklen und fahlen Gewändern, Repräsentanten der
übermenschlichen, noch ungebändigten Natur. Den
Schluss bildet „Aphrodite im Musch eiwagen“ (s. die
Abb. auf S. 47), die Krönung der Schöpfung, die
Göttin der Schönheit, der Triumph der Kunst. Sie
erscheint hier nicht als die mächtige kosmogonische
Göttin der Urzeit von matronalen Formen, wie auf
dem „Titanensturz“, sondern als das eben dem
10
76
EIN GEMÄLDE VON LEONHARD BECK IM WIENER HOFMUSEUM.
Schaum des Meeres entstiegene Bild höchster Voll¬
kommenheit, das, vom sanften Hauch ans Land ge¬
tragen, überall Frühling und Sonnenschein ver¬
breitet. Dem düstern Klang der drei anderen Bilder
tritt hier ein lichter, hellfarbiger Ton von reizvoller
Frische gegenüber. Die lässig auf einem roten Ge¬
wände hingelagerte Göttin schaut mit behaglichem
Lächeln dem heitern Spiel der Eroten zu. Ihr
Typus ist dem von des Meisters Iphigenia verwandt,
nur ins Blonde übersetzt und üppiger, sinnlicher, die
Bewegung in einzelnen Zügen eigentümlich spröde
und doch voll Hoheit und Grazie. —
Wir sind den Lesern jetzt auch die näheren
Angaben über die räumliche Größe der einzelnen
Bilder und über ihre technische Ausführung schuldig.
Der „Titanensturz ist das umfangreichste voiiFeuer-
bach’s Gemälden: er misst 8,30 m Höhe und 6,40 m
Breite; der „Gefesselte Prometheus“ hat "2,20 m
Höhe bei 3,77) m Breite; „Gäa“ und „Uranos“ haben
2,26 m Höhe und 1,40 m Breite; „Aphrodite im
Muschelwagen“ endlich misst in der Höhe 1,20 m
bei 2,26 m Breite. Sämtliche Bilder sind in Ol auf
Leinwand gemalt und nach der vortrefilich bewähr¬
ten iMinard’schen Methode, die auch im Wiener
Burtftheater und in den Hofmuseen mit bestem Er-
folge zur Anwendung gekommen ist, an der Decke
befestigt. Sie machen die Wirkung technisch höchst
vollendeter Freskomalerei. — •
So hätte denn Wien seine Ehrenschuld an den
dahingeschiedenen Meister, der einst krank und
grollend ihm den Rücken kehrte, in würdigster Form
abgetragen. Der Dank dafür gebührt in erster
Linie der hohen Unterrichtsbehörde, welche das
Werk bei dem Künstler bestellte, dann die nach¬
gelassenen Stücke für die Vollendung des Cyklus
erwarb und endlich auch die Mittel herbeischaffte,
um alle dazu gehörigen Teile der Dekoration des
Raumes, dessen höchste Zier die Gemälde bilden,
gediegen und prächtig ausführen zu können. Drei
Ministerien (Stremayr, Conrad und Gautsch) teilen
sich in den Ruhm. Nahezu zwei Decennien sind
seit dem Beginn der Arbeiten dahingegangen.
„Glaube mir“ — schreibt Feuerbach im Novem¬
ber 1879 — „nach fünfzig Jahren werden meine
Bilder Zungen bekommen und sagen, was ich war
und was ich wollte.“ Wer die tiefe, sensationelle
Wirkung beobachtet hat, welche die Enthüllung der
Titanenbilder auf das Publikum übte, der musste sich
sagen: das prophetische Wort ist heute schon in
Erfüllung gegangen! C. i\ LÜlZOW.
EIN GEMÄLDE
VON LEONHARD BECK IM WIENER HOFMUSEUM.
MIT ABBILDUNG.
N den Einleitungen zu den
Neuausgaben der österrei¬
chischen Heiligen und des
J’lieuerdank , Jahrbuch der
kunsthistori, scheu Samm¬
lungen des allerhöchsten
Kaiserhauses Pd. 1 V, V und
\ II, haf S. Laschitzer bei
zalilreichen Hol/.sclniitfen aus den Werken Kaiser
.Maximilian s einen bisher unbekannten Künstler Na¬
mens Lroiilianl JJrr/,- nachgc-wiesen, dessen Werke
bisher nufer Hans Burgkinair’s Namen gingen, aber
bloß einen minder beanlagten Zeichner verraten,
welcher von seinem Augsburger Kollegen stark be-
|■in^lussf war. Heute bin ich in der Lage, auch auf
ein Gemälde dieses Künstlers aufmerksam zu machen,
und glaube mit meinen Ausführungen Zustimmung
bei den Fachgenossen zu finden, obwohl meine An¬
sicht sich lediglich auf die stilistische Übereinstim¬
mung dieses Bildes mit zahlreichen Holzschnitten
gründet und die Taufe eines Gemäldes auf Grund
von Holzschnitten immer mit anfänglichem Miss¬
trauen wird aufgenommen werden. Ein Prachtbild
der kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien erhält da¬
durch seine Bestimmung. Es stellt den Kamjif des
Ritters Georg mit dem Drachen in schöner Land¬
schaft dar, ist ein Hochbild von beträchtlichen Di¬
mensionen, H. 1,36, Br. 1,17, und befindet sich im
deutschen Saal des neuen Museums unter Nr. 1596
(Katalog von Ed. v. Eugerth, Nr. 1507); früher be-
EIN GEMÄLDE VON LEONHARD BECK IM V^IENER HOFMÜSEUM.
fand es sieh in der Ambraser Sammlung; es wurde
von Loewy pliotographirt und iiacb dieser Photo¬
graphie der beistehende Zinkdruck augefertigt.
Th. V. Frimmel, welcher im Repertorium, Bd. 14,
S. 86 auf das Gemälde gelegentlich zu sprechen
77
kommen im ungewissen war. An die Nieder¬
deutschen nnd Niederländer hat in diesem Bilde
offenbar die Vereinigung von feingestimmtem Kolorit
und ungemein sorgfältiger Zeichnung in der Land¬
schaft erinnert; es sind dies aber Vorzüge, welche
Kaniiif des Kitters Georg mit dem Dracbeu. Gemälde von Leonharh Beck. (Kais. Galerie in Wien.)
kommt, bezeichnet dasselbe richtig als „oherdeuisch''’^
stellt aber verschiedene anders lautende frühere Be¬
zeichnungen zusammen, wie „altniederländisch“,
„niederdeutsch“, aus denen hervorgeht, dass man bis
vor kurzem ülter den Urs])rung des Bildes voll-
bei mehreren Oberdeutschen sich auch iiuden, z. B.
dem frühen Cranach nnd einigen Bildern von Alt¬
dorfer, auch wurden schon einmal die Werke eines
Augsburgers um der Landschaft willen für nieder¬
ländisch angesehen, nämlich die des Ulrich Apt.
TS
EIN GEMÄLDE VON LEONHARD BECK IM WIENER HOFMUSEUM.
Nach meiner Ansicht ist das Kolorit zu frisch
und feurig für einen Künstler aus dem Nordwesten
Deutschlands, es fehlen die violetten Halhtöne, die
Farbenstimmung hat im Gegenteil mit solchen Ge¬
mälden Hans Burgkmair’s aus dem zweiten Jahrzehnt
des 16. Jahrhunderts, welche nicht durch Über¬
malung oder Firnis entstellt sind, die größte Ver¬
wandtschaft z. B. mit dem Kreuzigungsaltar in
Augsburg, dem Gemälde in Hannover, auch schon
der Madonna von 1510 in Nürnberg; die Zeichnung
aber hat mich auf Schritt und Tritt an Burgkmair
erinnert, nur dass alles etwas flauer, weniger schwung¬
voll und charaktervoll ist. Dies spricht für einen
Kün.stler wie Leonhard Beck und eine eingehende
Vergleichung des Gemäldes mit dessen bekannten
Holzschnitten scheint mir bis zur Evidenz zu be¬
weisen, dass dieser der Schöpfer des Bildes ist.
Das Gesicht des Ritters Georg ist übermalt ^),
kommt also für eine stilkritische Vergleichung nicht
in Betracht und seine Rüstung gleicht nur im all¬
gemeinen denjenigen auf Augsburger Holzschnitten
um 1510; hingegen ist von Bedeutung, dass die
Stellung des anspringenden Pferdes, welche für
Burgkmair zu ungeschickt und lahm wäre, auf
mehreren Holzschnitten des Leonhard Beck genau
so wiederkehrt ; man vergleiche z. B. im Theuerdank
Jahrb. VIII, Holzschnitt Nr. 11 und 53, auch bei
C. v. Lützow, Geschichte der deutschen Kunst, Bd. IV,
S. 1 30. Auffallender noch ist die Übereinstimmung
in den Mädchentypen. Die Königstochter Aja kommt
auf den] Gemälde zweimal vor, das eine Mal von vorn
gesellen, dem Kampfe zuschauend, das andere Mal
im Profil nach dem Siege mit dem Drachen ab-
zieliend, nun kehrt sowohl dasselbe Profil als auch
dieselbe Vorderansicht bei den Prinzessinnen auf den
Holzschnitten des L. Beck öfters wieder, und das
wenige, was man auf dem Gemälde von Faltenwurf
sieht, sowie auch die Haltung und Bewegung des
Mädchens stimmt ebenfalls mit den analogen Figuren
auf den Holzscbnitten überein; man vergleiche im
J’lienerdank, Jahrb. Bd. VlJl, Holzschnitt Nr. 4, 5
lind 10b, VN'eisskunig, .lahrb. Bd. VI, S. 0, 130, auch
122 und 131, endlich noch unter den österreichischen
Heiligen, .lahrb. I\’, Holzschnitt Nr. 86
Sehen wir uns nun noch nach den Landschaften
des Leonhard Beck um, so ist zunächst zu bemerken,
dass sowohl in den frühe.sten als auch den spätesten
Holzschnitten des Künstlers öfters Hintergründe vor-
1 ■ KOenso die fjroße Burg, d(!r P’els reclits oben u. a. Der
.1111 niiinnel .‘telnvclieiide Engel ivf uiii IGOf) liiii/.ugeiuiilt.
kommen, die mit sichtlicher Freude an der Sache
gezeichnet sind; insbesondere finden sich dann unter
denjenigen Illustrationen des Theuerdank, welche
Laschitzer als die frühesten bezeichnet, ähnlich an¬
geordnete Hintergründe wie auf dem Gemälde, wenn¬
gleich die ungeschickte Art zu schraffiren in den
früheren Holzschnitten keinen guten Gesamteindruck
aufkommen lässt und man natürlich auch keine der
reizvollen Stimmung des Gemäldes entsprechende
Tonwirkung in einem Holzschnitt vom Beginn des
16. Jahrhunderts erwarten kann. Auch die Einzel-
formen, die dem Gemälde eigentümlichen Pflanzen
und Bäume erweisen sich als Lieblingsmotive des
L. Beck, ganz analoge Bildungen kehren auf den
Holzschnitten wieder. Bäume wie der in der Mitte,
des Gemäldes über dem Kopfe des Ritters sieht man
auf den Theuerdankholzschnitten (Jahrb. Bd. VHl)
Nr. 28, 33, 41, 51 (ebenda auch ein ansteigender
Berg ganz ähnlich wie auf dem Gemälde rechts unter¬
halb des Felsens) , ferner 96 und 106 , sowie etwa
noch in Nr. 64 und 68; dagegen vergleiche man eben¬
da in Holzschnitt Nr. 44, wie Hans Burgkmair den¬
selben Baum stilisirt.
Auch der kahle Baumstamm, welcher im Ge¬
mälde vor der Baumgruppe steht, scheint einer Ge¬
wohnheit des L. Beck zu entsprechen, vergl. a. a. 0.
z. B. Holzschnitt Nr. 33, und auch der Baum,
welcher am Rande des Bildes eine Aussicht ein¬
zurahmen hat, findet sich wieder in Holzschnitt
Nr. 74. Grasbüschel mit größeren Pflanzen in der Mitte,
wie vorn am Rande und links im Hintergrund des
Gemäldes, ferner die vielen über den Boden zer¬
streuten Steinchen und anderes mehr sind lauter
Eigentümlichkeiten, auf die bei den Holzschnitten
schon Laschitzer aufmerksam gemacht hat.
Zu dem allen kommt noch die Identität der
künstlerischen Handschrift, welche sich allerdings
fast nur vor dem Original feststellen lässt, hier aber
um so sicherer, da man z. Th. noch die Schraffirung
der Vorzeichnung durch die Ölfarbe durchsieht.
Auch die Entstehungszeit des Ritters Georg
lässt sich ziemlich genau bestimmen; da das Bild
in jeder Hinsicht mit den frühsten Holzschnitten
Beck’s die größte Verwandtschaft hat, so dürfte
es etwa in den Jahren 1510 — 12 entstanden sein,
kurz bevor die umfangreichen Aufträge des Kaisers
die Ausführung größerer Altargemälde für einige
Zeit unmöglich machten. Für diese Jahre stimmt
auch die Entwicklungsstufe des Kolorits, wie sich
aus den gleichzeitigen Bildern Burgkmair s und Breu’s
(Madonna in Berlin) ergiebt.
EIN GEMÄLDE VON LEONHARD BECK IM WIENER HOEMÜSEUM.
19
Leonhard Beck lernen wir nun von einer ganz
nugealinten Seite kennen; sein Gemälde ist nämlich
von hohem Reiz in der Farbe; prachtvoll stimmt
das leuchtende Rot und Gelb und das warme
Braun der Gestalten zu dem Grün und Blau der
Landschaft, und während bei Dürer die landschaft¬
lichen Untergründe seiner Altarbilder uns nicht viel
mehr bieten als die seiner Holzschnitte, so begreifen
wir bei L. Beck erst angesichts seiner Farben, welch
reizende Bilder er sich bei den Hintergründen seiner
recht ungeschickt gezeichneten Holzschnitte gedacht
hat. So zahm und spießbürgerlich sich auch seine
Figiu’en neben denen Burgkmair’s ausnehmen, so war
er doch ein poesievoller Künstler, der wenigstens
in hohem Grade dazu veranlagt war, die koloristischen
Reize der umgebenden Natur zu verherrlichen.
Dies ist nun nicht ohne allgemeines Interesse;
halten wir dieses Bild mit dem zusammen, was wir
von Breu d. Alt., Burgkmair, Apt, selbst Holbein
d. Alt. aus demselben Jahrzehnt kennen, so ergiebt sich,
dass bei den vorzugSAveise koloristisch veranlagten
Augsburgern sich damals bereits ein Gefühl gerade
für die intimeren Reize der deutschen Landschaft aus¬
gebildet hatte, das sie sehr von Dürer unterscheidet,
der im allgemeinen doch mehr großartige, durch
Formen und Konturen wirkende architektonische
Prospekte und Fernsichten bevorzugt. Die Augs¬
burger lernt man da auf einem Gebiete schätzen,
welches man nur den Niederländern zuzutrauen ge¬
wohnt ist.
Es wäre merkwürdig, Avenn keine anderen
Ölbilder von einem Maler Avie Leonhard Beck auf
uns gekommen Avären, und in der That sind mir
noch drei Bilder bei meinen Forschungen nach
Augsburgern Künstleim aufgefallen, welche von Beck
herzurühren scheinen; doch während ich bei dem Wie¬
ner Bilde mit Sicherheit glaube die Bestimmung aus¬
sprechen zu dürfen, sei auf die andern nur kurz als
hier in Betracht kommend hingeAviesen. Das eine
dieser Bilder befindet sich in der Augsbm-ger Ga¬
lerie (Nr. 59), stellt die Anbetung der Könige dar,
trägt noch heute die früher geltende Bezeichnung
Amberger, Avährend man es jetzt allgemein und
jedenfalls mit mehr Recht dem Giltlinger ziiteilt.
Hier stimmen Faltenwurf, Architektur, Fußboden,
namentlich aber die Gesichtstypen mit zahlreichen
Holzschnitten unter den österreichischen Heiligen
ganz frappant überein, vergl. in Jahrb. Bd. IV,
Nr. 10, 25, 31, 35, 78, bes. aber 8 und 84, das Ko¬
lorit allerdings hat mit dem Wiener Bilde Aveniger
Gemeinsames, als ein später Burgkmair mit einem
frühen. Ob wir es nun hier wirklich mit einem
späten L. Beck zu thun haben, oder ob die Ver-
AAmndtschaft des Bildes mit dessen Holzschnitten aus
engen Beziehungen Giltlinger’s zu unserem Künstler
erklärt werden muss, das wage ich erst zu ent¬
scheiden, Avenn ich Giltlinger’s Bilder in Florenz und
Paris genauer studirt und auch den Zustand des
Augsburger Bildes nochmals untersucht habe.
Die beiden andern Gemälde, welche noch für
Beck in Betracht kommen, befinden sich als Nr. 108
und 116 im fürstlich Hohenzollerschen Museum zu
Sigmaringen und sind dort als „oberdeutsch (an¬
geblich von Tobias Stimmer)“ bezeichnet. Es sind
Pendants, auf dem einen St. Nikolaus, auf dem an¬
dern Sta. Barbara, beides Halbfiguren vor Renaissance¬
architektur. Ich habe diese Bilder früher, beim
ersten Besuche der Galerie, für Burgkmair gehalten;
die Farbenstimmung ist sehr fein, das Karnat warm¬
braun, in der That ganz ähnlich wie bei manchen
Gemälden dieses Künstlers, hingegen ist die Zeichnung
für ihn zu schwach und sowohl die Gesichtstypen als
auch der FalteuAvurf zeigen Eigentümlichkeiten, welche
speziell für Leonhard Beck charakteristisch sind.
ALFRED SCH MID.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
VON ALFRED GOTTHOLD MEYER.
(Fortsetzung.)
M vorigen Jahre hatte in der
englisclien Abteilung J. E. Eeid
die Führung, die.smal nahm
ein Vertreter der klassischen
Richtung, Frederik Leighton,
seine Stelle ein. Er sandte
neben einer Skizze und ei¬
nem Porträt ein Hauptwerk:
„Perseus und Andromeda“, eigenartig komponirt,
mit warmem, an lebhaften Kontrasten reichem
Kolorit, fein und sorgsam durchgearbeitet, ein Bild,
das trefflich geeignet wäre, den schon historisch ge¬
wordenen Namen seines Schöpfers in einer moder¬
nen rialerie zu repräsentiren. Ein Anschluss an
klassisclie Muster, eine gewisse Abneigung gegen
die extremen Ziele der neuen Schule blieb auch in
den meisten üln-igen englischen Gemälden jüngerer
.Meister fühlbar. Arthur Tfacdccr hatte hei seiner
Scene aus Kingsley’s „Hypatia“ offenbar weniger
den geistigen als den malerischen Gehalt des Stoffes
ini .Auge, das Problem, einen nackten Frauenleib im
Wüstensand und unter glühenden Sonnenstrahlen
darzustellen. Er hat dassell^e virtuos gelöst — man
lu-aucide, um di(!s recht zu schätzeJi, nur das Nackte
aul' den Bildern eines Rauher, 'Thoaqiscn , Solomoji
Oller vollends der IIrnriellr Rai zn vergleichen —
aber eine gar zu salonfähige Glätte hattet hier dem
impressionistischen Farbenauftrag an. Um so kraft¬
voller wirkte der Realismus, mit dem RtoU of Old¬
ham seine badenden Knaben -- ein Gegenstück zu
flem Flei.scher’schen Hilde - und die Mädchen
beim lieigentanz. schilderte; die.se beiden umfang¬
reichen Gemälde zählten zu den besten Freilicht-
^ludien fler Ausstellung. Ini übrigen ist von der
englischen Abteilung neben den feinen Stimmungs¬
landschaften von hndley Ilardg und Alfred. East nur
noch die schon durch ihre Komposition autfallige
„N’erkündigung“ von Marianne Stokes zu erwähnen.
Die Polen, Enssen und Ungarn darf man hier
zu einer Gruppe vereinen. Die nationalen Ele¬
mente, welche ihrer Kunst zu eigen sind, haben
etwas Gemeinsames, das auch in München diesmal
fühlbar wurde: vor allem die Verve und Energie
des malerischen Vortrags. Tiefe, warme Farbentöne,
welche die moderne Schule so lange verbannte, sind
bei den Hauptmalern des Ostens dauernd in Kraft
geblieben, und die koloristischen Probleme, in wel¬
chen auch sie der neuen Richtung zu genügen
.suchen, sind anders geartet, als im Westen. Man
liebt es weniger, die Licht- und Schattenwirkung
als solche zu studiren, man geht vielmehr von der
Farbenharmonie selbst aus und stimmt das ganze
Bild auf einen durch eine Lokalfarbe bezeichneten
Grundton. Dazu kommt ferner eine Neigung zum
Effekt, zu wirkungsvoller Stoffmalerei, eine beredte,
drastische Charakteristik des Figürlichen und eine
leise Schwermut in der Auffassung der Landschaft.
Für das letztere boten besonders die Polen Koivalski-
Wiernsx und Chclnionski charakteristische Beispiele.
Das Spezialgebiet Josejdi. von Brandt’s hatte diesmal
auch Franz Eonhand mit seinem Tscherkessenbild
„Verwundet“ erfolgreich betreten, und seinen Ein¬
fluss verriet auch Jan Posen' s „Schlacht bei
Stoczek“. Polens größter Historienmaler, Matejko,
bewährt in seinem figurenreichen Gemälde „Erklä¬
rung der polnischen Konstitution am 3. Mai 1791“
bei der Wiedergabe der einzelnen Persönlichkeiten
die alte Kraft und Sicherheit der Charakteristik,
aber er lässt in ihm gerade diejenigen Vorzüge ver¬
missen, welche in der neuen Schule am meisten
gelten, vor allem die richtige Luftperspektive. Die
Gestalten des Vorder-, des Mittel- und des Hinter¬
grundes sind mit völlig gleicher Exaktheit gemalt,
das Beiwerk, welches vom Auge des Beschauers am
weitesten entfernt ist, wird mit derselben miniatur¬
artigen Feinheit geschildert, wie die in nächster
Das Ende Babylon’s. (Zu Seite 54/55.)
Ölgemälde von Georg Rochegrosse. Nach einer Photographie von Ad. Br.\dn & Co., Dörnach.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
81
Nähe befindlichen Gegenstände, als spiele die ganze
Scene in einem luftleeren Raume. Dieser Mangel
ist, wie verlautet, der Kurzsichtigkeit des Malers zur
Last zu legen. — Anna Bilinska hatte die gleichen
trefflichen Porträts gesandt, die ihrem Namen auf
der Berliner Jubiläumsausstellung neuen Glanz ver¬
liehen, und neben ihr standen KoivalsJd-lVierusx,
(Porträt des f Freiherrn von Lutz), Badowski und
BodkoivinskL. Schulung durch die Münchener Frei¬
lichtmalerei sprach aus dem gar zu säubern Bilde
von Seymanowski, „Idylle“, und eine ähnliche Auf-
fassunojsweise bekundete die tüchtige Arbeit von
OJya von Boxnanska. Zwei Polen endlich haben den
etwas zweifelhaften Ruhm, der Ausstellung einer¬
seits das drolligste, andererseits das abstossendste
Bild geschenkt zu haben: Wodzinski in seiner
„Gigerldeputation“ und Malcze,wski in seiner „Letzte
Etappe“ genannten Scene aus einem Armenlazarette ;
beide aber bewiesen ein achtunggebietendes Können.
Ungewöhnlich ansprechend war der Gesamt¬
eindruck des ungarischen Saales. Oeza Beske's
Knabenbildnis ist sowmhl in der malerischen Haltung
als auch in der Charakteristik von hoher Feinheit; ihm
gesellten sich die Porträts von Benczur, Basch und
Horoivitz, eine treffliche Landschaft von Beda von
Spanyi und zwei mit gutem Humor durchgeführte
Sittenschilderungen von Alexander Bihari („Pro¬
grammrede“) und Stefan Csok („Dienstbotenbüreau“).
W enn auch nicht so glänzend, wie an der Ber¬
liner Jubiläumsausstellung, hatte sich Österreich in
München diesmal doch stattlicher beteiligt, als
früher. In seinen Sälen war zwar keines der Haupt¬
werke des diesjährigen Salons zu suchen, wohl aber
eine große Reihe von Bildern, deren Reiz ein ein¬
gehendes Studium lohnte, nur durfte man dabei
weder eine ausgeprägt nationale Stilweise, noch
einen eigenartigen Einfluss der neuen Schule er¬
warten. Die letztere hat in Österreich nur unter ge¬
mäßigter Form Eingang gefunden, deren Art in
München beispielsweise durch die trefflichen Arbei¬
ten von Leo Lerch und Hans Temj)le, sowie durch
das an Lieblingsmotive Skarbina’s erinnernde Bild
von A. Seliymann gekennzeichnet wurde. Das ein¬
zige Gemeinsame, was sich an diesen österreichischen
Werken entdecken ließ, war eine leichte, effektvolle
Auffassungsweise, die weder besonders tiefe seelische,
noch besonders kecke technische Probleme aufstellt,
die bei einem mehr äußerlichen Erfassen der Auf¬
gaben stehen bleibt, aber fast stets einen gefälligen,
salonfähigen Ton wahrt und nicht selten auch echte
Vornehmheit erreicht. — Unter den Einzelnamen
Zeitschiift für bildende Kunst. N. F. IV.
fehlten einige der klangvollsten nicht. Ich erwähne
nur von den Porträtisten H. v. Anycli und L’ Alle¬
in and , von den Landschaftsmalern neben Emil
Schindler, dessen köstliche Arbeiten auch hier be¬
zeugten, welchen Verlust der Tod ihres Schöpfers
für unsere Kunst bedeutet, Bobert Buß und Eduard
Bitter von Lichtenfels. Aus kaiserlichem Besitz war
unter anderem das groß gehaltene Bild der rö¬
mischen Ruine in Schönbrunn von Carl Moll gesandt
worden. Eduard Veith's Skizzen für die malerische
Ausschmückung des Kunsthofes im Prager Rudol-
finum vergegenwärtigten die dekorative Malerei
historischer Gattung, Benito Kniqifers Meeresidyllen
und Adolf Hirschl's „Prometheus“ die ideale Rich¬
tung einer von Gestalten der antiken Welt erfüllten
Phantasie. Alois Hans Schramm hatte sieb in seinem
umfangreichen Bild „Gloria“ ein äußerlich ähnliches
Thema gestellt, wie Gotthard Kuehl, aber er verlegte
die Scene in das achtzehnte Jahrhundert und in
eine überreiche Barockkirche, wählte einen fast
monumentalen Maßstab und verlieh dem Ganzen den
Charakter eines effektvollen Schaustückes , an
Avelchem künstlerisch vor allem die meisterhafte Be¬
handlung der Architektur und die treffliche Licht-
Avirkung zu rühmen sind. Die Miniaturen eines
Alax Schödl und der Marie Mhllcr, sowie die Blumen¬
stücke der Wisinger -Florian gaben der mit sicht¬
licher Liebe und Sorgfalt zusammengesetzten
Abteilung der österreichischen Malerei ihren in¬
timsten Reiz.
Überblickt man zum Schluss die ausländischen
Arbeiten in ihrer Gesamtheit, so erscheint die so
häufig ausgesprochene Befürchtung, Münchens Aus¬
stellungen gefährdeten die ruhige nationale Ent¬
wickelung deutscher Kunst, diesmal am wenigsten
berechtigt. Der Bestand an fremden Werken bot
zwar auch in diesem Jahre einen für die Schätzung
der heimischen Leistungen zuverlässigen Maßstab,
aber der letztere war minder eigenartig, und für
einzelne Gesichtspunkte auch minder hoch, als
früher. Der nivellirende Zug, Avelcher sich in der
deutschen Abteilung bemerkbar machte, hatte auch
zwischen dieser und dem Auslande vermittelt und
das Gesamtbild einheitlicher gestaltet. So zahlreiche
Anregungen, wie im vorigen Jahre, dürften die
Münchener Künstler diesmal kaum geerntet haben.
Überhaupt konnte man sich des Gefühles nicht ganz
erwehren, dass — trotz aller Kampfbereitschaft der
Parteien — eine gewisse Ausstellungsmüdigkeit ein¬
zutreten beginnt. Von Jahr zu Jahr muss es natur¬
gemäß schwieriger werden, die kunsthi.storische Be¬
ll
S2
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
cleutung dieser Veranstaltungen auf gleicher Höhe
zu halten, und selbst das im höchsten Grade aner¬
kennenswerte Streben, einzelne neue Anziehungs¬
punkte zu schatfen, vermag hier auf die Dauer nicht
genügend zu würken. Im vorigen Jahre boten die
Sonderausstellungen einzelner Meister und die köst¬
liche Sammlung der dem Prinzregenten von der
Münchener Künstler - Genossenschaft gewidmeten
Ehrengaben eine willkommene Abwechselung des
Programms; diesmal hatte man dieselbe in zwei
Veranstaltungen gefunden, welche schon völlig ab¬
seits der bisherigen Wege und Ziele des Münchener
, Salons“ lagen: sowohl Lenhacli’ sehe Kahitieit m\i
seinem reichen Inhalt an wertvollen Gemälden,
Skulpturen und kunstgewerblichen Arbeiten der Ver¬
gangenheit, als vollends der kleine Saal der Japaner
waren Sonderausstellungen, die für sich allein ge¬
würdigt werden müssen und sich dem bisherigen
Rahmen der jährlichen Kunstausstellungen nur ge¬
zwungen fügten. Dem Künstler selbst wie dem
Laien boten sie je eine Welt für sich, losgelöst von
dem übrigen. Der „Lenhach-Saal“ freilich diente
noch einem aktuellen Zweck. In mannigfacher Hin¬
sicht mutete er wie eine ernste Mahnung an: ein
Gegensatz sowohl gegen die äußere Form unserer
Ausstellungen als auch gegen ihren Inhalt. Den Tau¬
senden nacli äußeren Gesichtspunkten nebeneinander
gehängten Bildern stellte er ein von individuellem
Geschmack geschaffenes Kunstkabinett gegenüber
und rief gegen das noch vielfach ziellose Treiben
der modernen Kunstwelt vereinzelte Zeugen abge¬
schlossener Epochen der Kunstgeschichte in die
Schranken. Was hierin berechtigt ist, wird kein
Kinsiebtiger verkennen. Ist man lieute doch mit
glänzendem Erfolg bestrel)t, sogar in den Museums¬
sälen A})wecbselung zu schaffen, die Bilderreihen an
den Wänden durch Skulpturen und mannigfache
Möbel, Geräte und Erzeugnisse der Kleinkunst zu
beleben, an Stelle d(!r Gemälde- Magazine wieder
Kunstkammern nach Art früherer Jahrhunderte, je-
dofdi nacli .Maßgabe historischer Einheitlichkeit zu
setzen! Bin ähnliches Vorgehen hei unseren mo¬
dernen Au.sstellungen kann nur freudig begrüßt
werilen, aber es sind ihm dort sclion äußerlicli nur
enge Schranken gezogen. Wesentlicher war die
innere Bedeutung, welche dieser Lenbach-Saal irn
Hinblick auf seine Umgehung gewann. An Nicht¬
achtung grenzt die Teilnahinlosigkeit, mit welcher
zahlreiche jüngere Künstler den Werken der Ver¬
gangenheit gegenüberstehen. Die Zeit, in welcher
der Maler die Pinakotheken als „Kunsttempel“ an¬
sah, wo man „das Hochamt an keinem Sonn- und
Feiertag versäumen dürfe“, sind längst vorüber.
Viele jüngere Maler sind in unseren Museen nur
anzutrefifen, wenn sie etwa den Auftrag erhalten
haben, ein altes Bild zu kopiren. Diese Er¬
scheinung ist nicht unbegreiflich und nicht unver¬
zeihlich. Es steht ihr vielfach ein von neuer Be¬
geisterung getragenes Naturstudium gegenüber, und
jede Revolution pflegt mit der Nichtachtung des Be¬
stehenden zu beginnen. Aber die höhere Ent¬
wickelungsstufe ist diejenige, auf welcher der durch
neue Offenbarungen geschärfte Blick auch die Rück¬
schau nicht mehr vermeidet und die unsterblichen
Lehren der Vergangenheit für die Gegenwart nutz¬
bar macht. Kein lebender Maler ist berufener,
dies zu lehren, als der, dessen Name in der Kunst¬
geschichte unserer Tage in unvergänglichem Glanze
strahlen wird, und dessen Wei’ke dennoch zugleich
auch neben denen eines Rembrandt, Velazquez und
Rubens bestehen. Mit Lenbach’s Namen am Ein¬
gang erschien jener Saal mit seinen Meisterwerken
der Vergangenheit wie eine Illustration zu dem Aus¬
spruch Anselm Feuerbach’s: „Studirt die alten
Meister, legt zu rechter Zeit eure eigene Indivi¬
dualität in die Wagschale, dann werdet ihr ziemlich
genau erkennen, was ihr vermögt.“ Das sollten
selbst diejenigen beherzigen, die den Schlusssatz
Feuerhach’s: „Andere Wege giebt es heutzutage
nicht“ für antiquirt ansehen.
Aber noch durch ein anderes Mittel hat die
diesjährige Ausstellung sich neue Reize verschafft:
neben der spärlich beschickten Abteilung der „Ver¬
vielfältigenden Kunst“ und der noch spärlicheren
Grup])e „Architektur“ war diesmal die Plastik weit
reicher vertreten als sonst. In meinem vorjährigen
Bericht habe ich an gleicher Stelle dies als beson¬
ders erwünscht bezeichnet, und der Erfolg hat die
Berechtigung dieses Wunsches bestätigt. Vor allem
wird die Kunstgeschichte der Zukunft dieser
Münchener Ausstellung gedenken müssen, denn was
diesmal an Skulpturen im Glaspalast vereinigt war,
bot in ungewöhnlicher Reichhaltigkeit eine Über¬
sicht über einzelne Hauptströmungen innerhalb des
bildnerischen Schaffens der Gegenwart.
(Fortsetzung folgt.)
Puszteuliirclie zu Szeut-Kiralj'.
UNGARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
VON JOSEF DERNJAC.
MIT ABBILDUNGEN.
AST gleich weitab vom eisi¬
gen Nordpol wie vom heißen
Äquator, beinahe im Centrum
des östlichen Teiles von
Mitteleuropa liegt ein Erd¬
strich von scharf markirter
geographischer Individuali¬
tät. Der mächtige Wall der
Karpathen umspannt ihn in einem ungeheuren Bogen
von 1400 km Länge von Presshurg und Theben bis
an das äußerste Ende Siebenbürgens sich erstreckend
im Norden und Osten; nach Westen liegt er offen
da; im Süden bilden die Gelände der Donau und
Save, der Kulpa und Una, der Zug des Velebich und
die Küsten des Golfes von Quarnero seine Grenzen.
Das ist das Ländergebiet der Krone des heil. Stephan,
auch in seinen politischen Formen von den Staaten
des Occidents vielfach verschieden, in kulturhisto¬
rischer, wie in ethnographischer Beziehung in hohem
Grade interessant. Dem Königreich Ungarn haben
nach einander das schon von König Stephan eroberte
und bis zu den Türkenkriegen durch Statthalter
(Woiwodenj, während derselben von eigenen Dynasten
, Niemand aber erbebe sich
über dich, du grüne Ebene,
du Zierde Ungarns.“
Eötvös, Der Dorfnotar.
regirte Siebenbürgen, im elften und zwölften Jahr¬
hunderte die Königreiche Kroatien und Slavonien, im
vorigen Fiume und das Küstenland sich angegliedert.
Als Reste zertrümmerter Reiche, vorgeschobene Posten
auswärtiger Nationen und Zeugen einer mit bewusster
Absicht durchgeführten Kolonisation bewohnt eine
nicht unbedeutende Anzahl verschiedenartiger Völker
die Berge und Thäler, den fruchtbaren und den wenig
ergiebigen Boden ringsum an seiner weiten, kräftig
ausgestalteten Peripherie. Aber alle verbindet ein
energisches, kerntüchtiges Element zu einem großen,
achtunggebietenden Ganzen. Es gehört hinsichtlich
seines Äußern und seiner Sprache weder ihnen, noch
ihren Brüdern Nord-, West- und Südeuropa’s an. Das
Idiom der Magyaren rechnet die Wissenschaft zu den
sogenannten agglutinirenden Sprachen. Aber es kann
mit seinen vierzig rein artikulirten Lauten, die, in
regelmäßige Akkorde zusammengefügt, sich zu den
einzelnen Worten gruppiren, mit seinem Wohlklang,
vollkommenem Satzbau und mit seiner klaren, präzisen
Ausdrucksweise den feinsten Geistesinstrumenten der
civilisirten Menschheit sich an die Seite stellen. Im
Typus sind die Söhne von Ärpäds Scharen, trotz
11*
S4
UNGARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
zahlreiclier Blondköpfe, den Tscherkessen und Persern
iihnliclier, als den Romanen, Germanen und Slaven.
Dass sie aber in ilirer seelischen Anlage eine große
Anzahl eben jener Eigenschaften in sich vereinigen, die
gerade bei den westeuropäischen Nationen von jeher
und allerorten als das unterscheidende Kennzeichen
der „echten Göttersöhne“ unter den Sterblichen be¬
trachtet worden sind, beweisen sie uns täglich und
stündlich und beweist in dem Buche ihrer Vergangen¬
heit jede Seite und jedes Blatt. In der weiten Tief¬
ebene, woliin von dort aus, wo der Kranz der Berge
Mnpfi LI 0 '
riißarischf! Fund»! aus dar Tiron/.ezcit.
die geringste Preite hat, die Windungen der Thäler
sie lierabgel'ülirt, fanden die Magyaren deTi ilu’en an¬
geborenen Neigungen und ererl)ten Lebensgewohn¬
heiten am meisten entsprechenden Boden. Dort
haben sie in dichter Masse sich angesiedelt; von
dort aus in Gruppen mitten unter
den schon Vorgefundenen oder im
Laufe der Zeit herbeigeströmten
Völkersplittern festen Fuß gefasst
und haben als das relativ stärkste
unter allen und in höherem Grade
wie irgend eines unter ihnen mit
staatenbildender Kraft begabt, den
Slowaken im Nord westen und den Ruthenen im
Nordosten, den Slowenen, Kroaten und Serben im
Mur-, Save- und Draugebiet, den Rumänen Sieben¬
bürgens und den Deutschen im Westen, Süden und
Osten, von den nomadisirenden Zigeunern und den
iinvermeidlichen Juden ganz abgesehen, das einheit¬
liche Gepräge des Ungarn aufzudrücken nicht ver¬
geblich sich bemüht. Wir können die charakteristische
Eigenart, das Denken und Empfinden, die Dichtung
und Sage, Sitte und Tracht, vor allem aber die
tausendjährige, wechselvolle Geschichte der Magyaren
gegenwärtig mit wenigen Blicken und ohne sonder¬
liche Mühe überschauen. Von der großen, unter den
Auspizien S. k. k. Hoheit des verewigten Kronprinzen
Rudolf unternommenen Publikation sind von den
Ungarn gewidmeten Bänden zwei, von denen der
eine Ungarn und seine Bevölkerung im allgemeinen,
der andere die Tiefebene des Alföld im besonderen
behandelt, unlängst zum Abschlüsse gelangt. Sie
bieten eine interessante, von einer auserlesenen Schar
der gediegensten ungarischen Schriftsteller mit
Maurus Jökai an der Spitze gearbeitete Artikelfolge.
Große Gesichtspunkte und eine vollständige Be¬
herrschung der Stiltechnik finden sich in letzterer
selbst bei den nur bestimmte Kreise oder einen ein-
UNGA1^,N IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
85
zeluen Facliiuanu interessirenclen Essays. Auf illu¬
strativem Gebiete bat das „Kronpriiizenwerk“ des
Vortreffliclien schon genug geboten. Die unter der
tüchtigen Leitung Professor G. Morelli’s in Holz ge¬
schnittenen Zeichnungen ungarischer Künstler ge¬
hören — die diesseitigen Leistungen in allen Ehren!
— unter seinen Bildern zu den allervorzüglichsten ’).
Ein scharfer Blick für die markanten Charakterzüge,
aber auch das tiefe, mit aufrichtiger Liebe gepaarte
Verständnis der Seele nicht bloß des eigenen, herr¬
schenden Volksstammes sind der Illustration wie dem
Texte gleichermaßen eigen. Dass es in letzterem
an jenem echt magyarischen Humor nicht gebricht,
der seine Mitbürger gerne stichelt, dass er von
der Familien aus A'rpäds Gefolge gestanden haben, in
deren Gebiete heute noch rein und voll, wie nirgends
anders im Lande, die magyarische Sprache ertönt,
der Typus des Orientalen in Physiognomie und Ge¬
stalt am vollkommensten sich erhalten hat. Wir
geben im nachfolgenden unseren Lesern einige Züge
des modernen Ungarn und des alten ini modernen.
Die Geschichte des Landes gehört in den Rahmen
unserer Darstellung nicht hinein. Wir führen aber
gelegentlich einige ihrer Hauptmomente an; sie sind
zum Verständnisse der Gegenwart und ihrer Zustände
unerlässlich.
Neben Pfahlbauten sind die gewissen Tumuli,
denen der Reisende in Ungarn auf Schritt und Tritt
Die fünf Hügel (Öthalom) bei Glogoväcz. (Arader Comitat )
echtem Patriotismus getragen und durchwärmt wird,
braucht wohl nicht erst besonders gesagt zu werden.
jFlusswelt“, dies ist vom kulturgeschichtlichen
Gesichtspunkte aus die richtige Bezeichnung der vom
breiten Gürtel der Donau im Westen und Süden be¬
grenzten ungarischen Tiefebene. Ihren eigenartigen,
zerstörenden und Leben erzeugenden Genius bildet
die Theiß, an deren Ufern die ältesten Ansiedlungen
der Urbewohner und die ersten Hütten und Zelte
1) Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort
und Bild. Wien 1888 und 1891. Ungarn. Bd. I und 11.
Bd. in. Liefg. 1. Bis zu welchem Grade die Übersetzung
Ij. Hevesi’s das magyarische Original prägnant wiedergiebt,
kann ich, des Magyarischen unkundig, nicht beurteilen. Ich
weiß nur so viel, dass sie nicht den Eindruck einer Über¬
setzung, sondern eines trefllich geschriebenen Originals macht.
begegnet, die wichtigsten Reste aus dessen prähisto¬
rischer Zeit. Ihre Höhe variirt zwischen 50 — 100
Metern bei entsprechender Basis; gelegentlich finden
sich deren mehrere zu Gruppen zusammengeordnet,
wie z. B. die Fünfhügel (Öthalom) bei Glogoväcz
(Arad). Von den Namen, die sie führen, deuten so
manche auf ihre ehemalige Bestimmung oder auf
ihre wirklichen oder vermeintlichen Urheber hin,
z. B. die Leshalom, Spähhügel, Testhalom, Leichen¬
hügel, Cziganyhalom, Zigeunerhügel, vor allem aber
die Kvinhalom, Kumanenhügel. Wie die zuletzt an¬
geführte Bezeichnung besagt, sind viele dieser Hügel
verhältnismäßig jung. So manche lassen sich that-
sächlich kanm bis zu den Anfängen der Xrpäden-
epoche zurückdatiren. Werkzeuge und Waffen des
Neolith-Zeitalters, Bronzegegenstände mit außerhalb
UNGARN TM WERKE DES KRONl’RTNZEN RUDOLF.
bG
(le.s Alf'öld höchst sporadisch vorkommeiideia Ver¬
zierungen , eiserne, keltische Ivetten, Dolche und
Schwerter, dies sind die wichtigsten Gegenstände,
die man aus diesen Tumulis zu Tage fördert; daneben
aber gelegentlich auch Geräte, die auf eine frühe
Verbindung mit Griechenland hinweisen, Gegenstände,
bei denen der Einfluss der römischen Provinzial¬
kunst unverkennbar ist, goldene oder stark vergol¬
dete und edelst cingeschmückte Verzierungen aus der
Völkerwanderungsepoche, welche die Einwirkung
von Byzanz, al)er auch das Walten des heimischen
Volksgeistes deutlich verraten, bis zu den Geflechten
aus Silherdraht, welche für den Beginn der Magyaren¬
geschichte, da die Goldschätze der Avaren nicht
mehr vorhanden waren, charakteristisch sind.
Der Römer hat Pannonien, Syrmien, Dacien seinem
Schwerte unterworfen, an den Grenzen des Theißge-
tjietes machten seine Legionen Halt. Von den Städten
keltischen Ursprungs am Rande des Alföld, die sich
ziemlich rasch romanisirt hatten, ist bis auf Siscia und
Sirmium, Sziszek (Sisek) und Szerem (Srem) selbst
der Name untergegangen. Das Gewitter, welches
sie zerstörte, kam aus dem Alföld, dem Wetterwinkel
des sinkenden Imperiums. Zwischen die Zerstörer
Carnuntums, die l)is in die Karpathen hinein sich
ansdehnenden (Juaden und die ostwärts sitzenden
l)acier scliohen die Hunnen, Ostgoten und Lango¬
barden, die Gepiden und Avaren im Verlaufe der
\b’>lkerwanderung sich in das Theißgebiet hinein.
\'on den Ostgoten, Gepiden und Langobarden ist
nur melir der Name und vielleicht noch ein oder
<ler andere Schmuckgegenstand erhalten; an die
Avaren erinnern jene mächtigen, als Csörsz-Graben,
'I'eu felsgraben etc. bekannten Erdwälle, die im Alföld
meilenweit der Länge und der teuere nach verlaufen, noch
imachtundvierziger Kriegein ihrem südlichsten Zweige,
den „ Römerschanzen“ eine Rolle gespielt haben, und
teilweise wohl mit den von Karl dem Großen ge¬
stürmten „Ringen“ identisch sind. Am lebendigsten
i-rbält sich bei den Magyaren das Andenken an die
Hunnen und ihren großeii KöJiig Attila, der zu Etel-
laka (Etzrds Wohnsitz) auf der Puszta von Balmäz-
l^jväros und zu .läszhereny seine Paläste hatte, in
tler Nähe des heutigen Szegedin den staunenden by¬
zantinischen Gesandten era[)ting, vielleicht aus den
am Pontusgestade angefertigten Goldgefäßen von
Nagy-Szent-Miklös (gegenw. im k. k. Antikenkabinett
zu Wien) tafelte und in der Theiß, oder, wie die
• lazygier behaupten, in der Zagyva begraben ward.
Und kein Wunder, dass dem Magyaren der große
König un«l seine Scharen teuer sind. Hält er sich
doch desselben Stammes mit ihnen; hat ihm doch
seine Volkssage so manchen ihm selbst eigentüm¬
lichen Charakterzug von ihnen bewahrt. Die direkten
Abkömmlinge der Hunnen sollen die heutigen
Szekler Siebenbürgens sein. So will es wenigstens
die Legende von Csaba, dem Sohne Attila’s und
seinem immer noch wiederkehrenden Geisterheer.
Der Adler war das Feldzeichen der Hunnen
und bis auf Herzog Geza auch der Fahnenschmuck
der Magyaren, ln der Bekeser Gegend (Bekes-Friede)
begegneten die Scharen Arpäds zum ersten-
male den Plunnenszeklern. Möglich, dass sie auch
in den Resten der Avaren und in den Nachkommen
der schon in der Römerzeit zwischen der Donau
und Theiß ansässig gewesenen Jazyges Metanastae
verwandte Elemente vorfanden. Inschriften, Mithras-
reliefs und Votivaltäre mit absonderlichen asiatischen
Götternamen, sowie Reste des Limes Dacicus im
Gebiete der schwarzen und weißen Körös, dies .sind
die wichtigsten Denkmälergattungen, welche das
Römertum von seiner Herrschaft an den Grenzen
des Alföld zurückgelassen hat. Weitaus jünger als
diese sind die ältesten monumentalen Überreste des
Christentums, das Goldkreuz aus dem Avarengrabe
von Ozora, die Fresken in der Krypte des Domes
von Fünfkirchen und der im Fester Nationalmuseum
befindliche Szegzsardar Sarkophag. Die Christiani-
sirung der Magyaren kostete schwere Mühe. Sie
konnte erst erfolgen, als nach der blutigen Lektion
in der „Hunnen tränke“ von Dortmund, bei Merse¬
burg und Augsburg die abenteuernden Söhne der
Steppe sesshaft geworden, und das berühmte Leb el’sche
Horn, ein Meisterwerk byzantinischer Elfenbein¬
schnitzerei nnd nachmaliges Abzeichen der Oberkapi¬
täne von Jazygo-Kumanien, in Jaszbereny definitiv
zur Ruhe gebracht worden war. Was der Orient
vergebens unternommen und Wolfgang von Ein¬
siedeln, sowie die Bischöfe Pilgrim von Passau und
Adalbert von Prag ohne Erfolge zu ernten versucht,
das führte Stephan der Heilige, überzeugt, dass der
Magyar nur als Christ sich im christlichen Abendland
behaupten könne, mit schonungsloser Niederwerfung
jeglichen Widerstandes durch. Es war im Jahre 1000,
dass die civilisatorische Thätigkeit des üngaruherzogs
von dem Träger der höchsten gei.stigen Autorität auf
Erden ihre wohlverdiente Anerkennung erhielt, dass
derGemahl der aus kaiserlichem Geblüte entsprossenen
Prinzessin Gisela sich als erster apostolischer König
von Ungarn (Rex apostolicus) die vom Papst Sylvesterll.
geschickte Krone auf seine Stirn drückte. Aber das
Christentum machte nur langsame Fortschritte im
UNGARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
heidnischen Lande und war, wie die an den heil.
Gerhard erinnernde Legende vom Blocksberg (St. Ger¬
hardsberg, Szent-Gellerthegy) bei Pest beweist, von
den Gefahren der Ausrottnng häufig bedroht. Das
Mätra- und das Bükkgebiet beherbergen in den
„HexenstühleA“ Opfersteiuen, „Bienenkörben“ (heid¬
nischen Mausoleen) etc. noch heute zahlreiche, kaum
berührte Heiligtümer der Urreligion, und auch in so
manchem Volksgebrauch hat sich ein oder das
andere aus ihrem Kultus erhalten, mit dem wohl
auch der „Sonnenhieb“ des Königs zusammenhängt,
den er, die berühmte, mit dem Diadem des Kaisers
Manuel Dukas zusammengeschmiedete und mit dem
„sinkenden Kreuze“ verzierte Corona Sancti Stephani
auf dem Haupte, nach allen vier Weltgegenden auf
dem „Krönnngshügel“ führt.
Mit Andreas Hl. erlosch im Jahre 1301 die
Arpadendynastie, ausgezeichnet durch Regenten wie
Ladislaus der Heilige, der Gründer der Groß-War-
deiner Kathedrale, wie der wissenschaftlich gebildete
„Bücher-Koloman“, wie Bela 11. „der Blinde“, La¬
dislaus IV. der Kumane, Emerich, Andreas II., Bela IV.
Es kam die glorreiche Zeit eines Karl Robert und
Ludwig’s von Anjou, genannt der Große, die traurige
Epoche des mit der deutschen Kaiserkrone ge¬
schmückten Sigmund, Wladislaw’s I. und des La¬
dislaus Posthumus, bis dann endlich das Reich, nach¬
dem es unter Mathias Corvinus’ zweiuuddreißigjähriger
Regierung nochmals eine Glanzperiode gehabt, unter
Wladislaw 11. traurigen , Angedenkens immer tiefer
sinkt und unter Ludwig 11. vollends in den Staub
getreten wird. Es ist sehr die Frage, ob die Durch¬
züge der Kreuzfahrer, die in Ungarn eine so große
Menge von Salzburger und Friesach er Münzen ver¬
streuten, dass das Pester Nationalmuseum mehr als
jedes andere Kabinett davon besitzt, demselben zum
Vorteil gereichten. Der Einfall der Mongolen unter
Bela IV., die es ein Jahr hindurch plünderten und
verheerten, machte es zu einer menschenleeren Wüste.
Auf der Flucht vor den Mongolen war der letzte
Schwarm der Jazygen und Kumanen in das Land
gekommen, eines Avilden von den Magyaren bitter
gehassten Volkes, das stets Klinge an Klinge mit
ihnen geblieben war und ihre Sitze zu wiederholten
Malen und zwar so lange verheert hatte, bis es selbst
zwischen Zemplen und der Drau, der Theiß und
Komoru welche bekam, in denen die unstäten No¬
maden von einst, die in den Schlachten bei Wiener-
Neustadt und am Marchfelde neben dem schwerge¬
rüsteten Ritter die leichte Kavallerie zu Ehren ge¬
bracht, in den sesshaften Ackerbauern und reichen
Grundbesitzern von jetzt, die das allerechteste Ma¬
gyarisch sprechen , kaum noch zu erkennen sind.
Die Wunden, av eiche diese „letzte Welle der Völ¬
kerwanderung“ und die Mongolen der ungarischen
Ebene geschlagen, begannen kaum erst zu heilen,
da brach, alles verwüstend, der Bauernaufstand
Georg Dosza’s aus, da zog vom Ostende Europas
über Adrianopel, Widdin, Nikopolis, Varna, die
Türkenfiut immer näher und näher, bis ihr durch
den heldenmütigen Johann Hunyadi und Johann
Kapistran bei Belgrad noch einmal, freilich nur für
eine kurze Weile, Halt geboten wurde. Die Ver¬
bindung mit dem Orient brachte es mit sich, dass auch
am ungarischen Hofe im frühen Mittelalter byzan¬
tinische Tracht und Sitte herrschte. Einen BeAveis
dafür liefert die berühmte Reiterstatuette des Pester
Nationalmuseums, da die ehernen Bildsäulen der un¬
garischen Könige seit 1660 nicht mehr existiren,
die den Platz vor dem Dome von Großwardein ge¬
ziert, das interessanteste Denkmal mittelalterlicher
Plastik in Ungarn. Die ursprüngliche Anlage der
Großwardeiner Kathedrale war, wie die der Dome von
Fünfkirchen, Agram und Stuhl weißenburg, romanisch.
Dass auf die Entwickelung der kraftvollen, ge¬
drungenen Erscheinung des romanischen Stiles in
Ungarn und seiner nationalen Eigentümlichkeiten
(vgl. darüber Schuaase VH, S. 629 ff.) ebensogut
die französischen Avie die deutschen Bauschulen ihren
Einfluss geübt haben, ist bekannt. Nur ein geringer
Bruchteil von den zahlreichen gotischen Kirchen
des Landes gehört, Avie der Dom von Kaschau, in
dem sich die daselbst typisch gewordene roma¬
nische Kirchenform mit dem centralen Schema der
Trierer Liebfrauenkirche kreuzt, noch in das vier¬
zehnte Jahrhundert; die meisten zeigen die konstruk¬
tive Nüchternheit und das überladene, ausgeartete
Detail des sechzehnten. Von den glänzenden Profan¬
bauten der Gotik in Ungarn ist das Ofener
Schloss des Königs Sigmund ebensoAvenig erhalten
geblieben, wie das einst vielgerühmte „irdische Pa¬
radies“ auf dem Visegrad, Aber noch steht mit ihren
Zinnen und Mauern die Burg des großen Guber¬
nators, Väjda-Hunyäd. Sie bietet, neuererzeit wieder¬
hergestellt, noch eine kleine Vorstellung von der
damals an Fürstensitzen herrschenden Pracht.
Mit der Thronbesteigung Karl Robert’s von
Anjou wurde Italien für den Geschmack der Großen
und des Hofes tonangebend; die Feldzüge Ludwig’s
des Großen in Neapel erschlossen den Söhnen der
Tiefebene eine neue Welt. Es ist bekannt, dass am
Hofe des Mathias Corvinus, unter dessen Führung
SS
UNGARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
die Ungarn zum erstenmale vor den Mauern Wiens Andrea Sansovino’s nach Portugal und hundert Jahre
erschienen, der Humanismus und die Renaissance eine vor der Thätigkeit eines Andrea del Sarto und Ben-
Pflegestätte gefunden haben. Leider ist seine hochbe- venuto Cellini am Hofe Franz’ L Um dieselbe
rühmte Ofener Burg zusamt ihrem Gemälde- und Sta- Zeit, da der Florentiner den ungarischen Boden
tu enschmuck von der Hand eines Benedetto da Majano, betrat, zog der Goldschmied aus der edlen Familie
Filippino Lippi und Leonardo da Vinci (?) in den Ajtössy aus der Heimat in die Fremde. Es war der
Stürmen der Folgezeit zu Grunde gegangen. Die Vater Albrecht Dürer’s, bei dem, sein deutsches,
Reste seiner an 10000 Codices zählenden Hand- mütterlicherseits ererbtes Gemüt in allen Ehren, an
bibliothek, der Corvina, hat nach der Wieder- seinem Äußern der Magyarentypus, je älter er wurde,
eroberung Ofens Graf Marsigli in seine Heimat, nach immer mehr zu Tage trat. Verrät nicht auch die
Bologna entführt. Die Büste Ladislaus des Heiligen, intime Kenntnis des Pferdes den Abkömmling des
einst im Domschatze von Großwardein, gegenwärtig Reitervolkes? Erinnern seine gespenstigen apokalyp-
in Raab, die Cliorstühle, die Grabdenkmale und das tischen Reiter nicht an Kumanen und Tataren, an
Tabernakel in der Kirche zu Nyir-Bätor, dem Stamm- das von der Heimat seines Vaters schon erduldete
Uoldgefäße aus dem Schatze vou Nagy-Szent-Miklös.
sitz der Bäthoris , sowie die auf der Puszta von
0-Kigyös gefundenen Gegenstände vou italienischer
Niello-Arbeit. dies sind die spärlichen im Alf'öld vor¬
handenen rijerreste der Renaissance. Wäre nicht
neuerdings eine \’ölkerwanderung über das unglück-
liclie Jjand daliingebraust, wir hätten vielleicht neben
df*r |)ortugiesischen , spanischen, französischen und
deutschen auch eine ungarische Renaissance zu ver¬
zeichnen. Der Einmarsch Ludvvig’s des Großen in
Neapel erfolgte anderthalbhundert Jahre vor dem
Zuge Karl’s VI II. nach Italien, die Erhebung Filippo
Scolaris auf den Sitz der reichen und mächtigen
Temeser tlesjiane und die Verknüpfung Ungarns
init der (Jeschichte der florentinischen Malerei ira
Namen Masolino’s siebzitr Jahre vor der Berufumr
und Avieder geAvärtigte Elend? Im Jahre 1498 war
die Apokalypse erschienen. Am 29. August 152G
hielten die von Dürer im Geiste geschauten Dämonen
auf der Wahlstatt von Mohäcs ihre grausige Ernte.
Mit der Eroberung von Temesvär hatte der
Osmaue den Höhepunkt seiner kriegerischen Erfolge
in Ungarn erreicht. Was er besaß von Ungarn,
bildete mit dem adriatischen Meere und Temesvär
als Endpunkten der Basis und Fülek als Spitze die
vorgeschobene Bastion des Orients, Avas von Ungarn
noch übrig geblieben, Avar nur ein schmales, den
Westen vor den Einbrüchen der Türkenhorden not¬
dürftig schützendes, von letzteren stets verwüstetes
Glacis. Unglückseligerweise musste gerade in seiner
kritischsten Stunde auch noch der innere Unfriede,
U^’GARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
89
der Bürgerkrieg die Kräfte des Ltandes zersplittern.
Wie gewisse eigenartig geformte hölzerne Grabdenk¬
male der ungarischen Protestanten beweisen, haben
sich die Reformationsideen auf dem ungarischen
Boden mit den islamitischen gekreuzt. Der Hoch-
imd Kleinadel, die Städte und das Volk wurden erst
lutherisch, dann calvinisch. Aber bald traten die
Magnaten unter dem Einflüsse der Gegenreformation
in großer Anzahl zur alten Kirche zurück, während
ein großer Teil des niederen
Adels, die Bürger und Bauern
bei der neuen Lehre beharrten.
Die Beschützer der letzteren
blieben die, mit Ausnahme der
katholischen Bäthory’s, sämt¬
lich protestantischen Fürsten
Siebenbürgens, Bocskay, Beth-
len, Rakoczy, die, um sich zu
behaupten, dem Türken die
Huldigung leisteten. Nach den
Erbverträgen waren die Habs¬
burger die Herren im Lande
und im Interesse seiner Ver¬
teidigung die Förderer der
Glaubenseinheit, der Kräfti¬
gung der könighchen Macht.
Die Not der Zeit hatte viele
Menschen elend und heimatlos
gemacht. Aus ihnen rekrutir-
ten sich die Hayducken Bocs-
kay’s, die Kurutzen Emeich
Tökölyi’s undFranz Raköczy’sll.
Der Name und die Erschein¬
ung der Hajducken hatten kein
so glücklich Los, wie der Hus-
zar, der im siebzehnten Jahr¬
hundert und in seinen Kriegen
auftritt, gleichzeitig mit der
vermutlich aus türkischen und
tartarischen Elementen hervor¬
gegangenen ungarischen Na¬
tionaltracht, die, kaum entstanden, in gewissen
Kleidungsstücken, z. B. in der „Hongreline“, schon
auf die europäische Mode und auf das Aussehen so
mancher Figur, deren Habitus uns Jacques Callot
überliefert, ihre Wirkung äußert. Während der
Huszar in den großen europäischen Heeren seine
Nachahmungen und in letzteren auch in Bälde
ebenbürtige Gegner findet, gerät der Hajduck, einst
ein tapferer Krieger, oft eine Geißel des Türken,
aber gelegentlich auch der Heimat selbst, allgemach
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
in die Domestikenkarriere, obwohl er den Adel erhalten
von Stephan Bocskay, der ihn in seinem heutigen
Wohnsitze, dem sogenannten Hajducken - Comitat
(Hajdu-megye), dessen Hauptstadt gegenwärtig De-
breczin ist, angesiedelt. Die grünseidene Fahne Bocs¬
kay ’s wird in der Stadt Szoboszlö noch pietätvoll
verwahrt; die Befestigungen der Hajducken sind in
Trümmer zerfallen bis auf die Citadelle der genannten
Stadt und bis auf den gewaltigen stumpfen Turm
von Nagy-Szalonta. Türme,
weit ausblickende Warten bil¬
den überhaupt schier die ein¬
zigen architektonischen Denk¬
male aus Ungarns Türken- und
Reformationsepoche. Kirchen
bauten die Protestanten nicht,
sie übernahmen sie von den
Katholiken. Die Friedens¬
schlüsse von Karlowitz und von
Passarowitz besiegelten die Be¬
freiung Ungarns von den Tür¬
ken, der Szatmarer Friede von
1711 das Ende des Kurntzen-
krieges. Die hervorragendsten
Helden des letzteren, die Tö-
kölyi, Helene Zrinyi, Bercse
und Franz Räköczy H. be¬
schlossen ihr Dasein in der
Fremde. Zahlreich sind in Un¬
garn die Denkmale, an die sich
der Name des mächtigen Rä-
koczy 'sehen Fürstenhauses
knüpft, am wichtigsten dar¬
unter vielleicht die Befesti¬
gungen am Südende des Zem-
plener Komitats, das von den
Glocken (Harang), die auf höl¬
zernen Türmen innerhalb der
letzteren hingen, den Namen
des Harangod erhalten hat.
Bekanntlich läuft auch auf
österreichischem Boden ein Schanzenzug von Petronell
Inder Richtung aufParendorf und den Neusiedlersee.
Man weiß nicht, ward er gegen die Türken oder
ffeffen die Kurutzen erbaut. Der Angst vor den
letzteren verdankt aber der vielverlästerte Wiener
Linienwall seine Entstehung. Verschwindet er und
mit ihm eine Fülle von Reminiscenzen an den
zweiten und an den dritten Anmarsch der Magyaren,
an die Schlacht bei Trencsin und an die Schlacht
bei Schwechat von der Erde, dann wird auf dem
12
Motiv vom Friedhöfe zu Nagy-Körös.
90
UNGARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
Wiener Boden nur noch das Nengebäude, die Kanzel
des Kajiristan und die Ruine des Kahlenberger
Schlosses die Erinnerung an das aus der ungarischen
Tiefebene über die Kaiserstadt emporgestiegene Ge¬
witter, an die Türken- und Kurutzenzeit bewahren.
Von den Burgen des Landes sind die meisten,
wie die alte Ofener Feste, erst nach dem Einfalle
der Tartaren erbaut worden. Die Kanköburg bei
Nagj-Szöllös, die Burgen von Onod, Erdöd, Nyalab,
Sarviir, Adorjan, Szent-Jobb, Pankota, Torontal-Sziget,
Gyula, Biics sind, wie die Katharinenburg von
Körösszeg, nur mehr Ruinen, die Kastelle der
Telegdis, Pazmans, Toldys, Csakys in der Umgegend
von Großwardein, deren Große und Schönheit der
Italiener Gromo noch im 16. Jahrhundert hervorhebt,
Schutt, oder nicht mehr vorhanden. Szinyer ist,
wie die Inselburg Köly, spurlos verschwunden,
Szekelyhid demolirt, Roszaly und Ecsed verödet,
Aran3ms-]\Iedgyed gebrochen und nur mehr halb
bewohnt, Boros-.lenö, noch im siebzehnten Jahr¬
hundert der vielurastrittene Schlüssel Siebenbürgens,
jetzt zum Teil zu einer Honvedkaserne, wenn auch
nicht ganz stilgerecht wiederhergestellt. Das roma¬
nische Kloster zu Szazd (Borsod), woran sich Erin¬
nerungen an die Feldherren Geza und Ladislaus
knüpften, haben die Wogen der Theiß hinweg¬
gespült; das von König Aba gegründete Kloster zu
Saar dient als landwirtschaftliches Gebäude und die
Gruft des Königs als Keller; die Niederlassungen
der , weißen Mönche“, i. e. der Tempelherren von
Ersek-Apäti, Püspöki, Nagy-Kereki, Dösza, Darvas
(Papok-hegye = Pfaffenberg) und Fekete-Bätor hat
die Ungunst der Zeit, bis auf wenige Spuren, hin¬
weggetilgt. I)ie Tempelherrenkirche, jetzt Franzis¬
kanerkirche zu Biics wurde im vorigen .lahrhundert
neu erriclitet; die romanische Kirche von Poroszlö
und die demselben Stile angehörige Abtei von Debrö
haben den Stürmen der Geschichte getrotzt. Wie
den letzteren, so ist es auch einigen gotischen Denk¬
mälern verhältnismäßig gut ergangen, so den Kir¬
chen von Szekelyhid und Földerek, der alten Mathias-
kirehe zu Szegedin, welche noch ein prächtiges, von
fliesem König geschetd<les und gelegentlich auf
60 9(10 Thaler ge.schätztes Messgewand bewahrt, wie
die Kirchen von Szerencs und von Nytr-Bätor, die
wir oben bei dem Räkciczy- und dem Renaissance¬
kapitel bereits erwähnt haben , und wie die Kirche
von Szalärd, die .samt den beiden zuletzt genannten
und der wegen ihres Querschitfes intere.ssanten
romanischen Kirche zu (jcsa gegenwärtig dem Kultus
des reformirten Bekenntnisses dient. Aber auch
von den Monumenten der Gotik ist so manches,
und nicht eben Unbedeutendes der Zerstörung zum
Opfer gefallen. Von der gotischen Erzdechantei zu
Pankota sind erst neuererzeit Reste aufgefunden
worden, ebenso vom uralten romanischen Dom von
Kalocsa, und von der romanischen, durch die Tarta¬
ren zerstörten Kathedrale von Großwardein , an
deren Stelle später der gotische Prachtbau sich erhob,
der in der Reformationszeit geplündert und entweiht,
erst unter Gabriel Bethlen, um für dessen Festung
das Material und den Platz zu liefern, abgebrochen
wurde. Trümmer, mächtige und imposante Trümmer
sind die gotische Kirche zu Nagylak, die gotischen
Abteien zu Szer und zu Aracs. Ihr Verschwinden
ist nichtsdestoweniger nur eine Frage der Zeit und
auch was von romanischen Monumenten, wie ihre
moosüberwachsenen Wände, als Grabmal einer bar¬
barisch vernichteten Kultur da und dort noch in die
Höhe ragt, hat, wie die Taufkirche zu Csanad, die
berühmten Propsteien zu Titel und zu Bäcs, die als
Ziegelrohbau sehenswerte Kirche zu Tamäsda, und
der Turm auf der Puszta von Herpäly keine lange
Lebensdauer noch vor sich. Allenthalben, wohin man
nur blicken mochte, nichts als brandgeschwärzte
Mauern, unkrautüberwucherte Schutthügel und ein
entvölkertes, ödes Gebiet, das war die ungarische
Tiefebene nach den durch zwei Jahrhunderte auf
ihr vor sich gegangenen Kämpfen. In der Puszta,
d. h. Steppe, sehen wir noch heute das gewaltigste
und erschütterndste Denkmal aus der Tartaren-,
Türken- und Kurutzenzeit. Ihre wildbewegte Staffage :
riesige, von der wohlgegliederten Hierarchie der
Gulyäs (Rinderhirten), Csiko’s (Pferdehirten), Kondäs
(Schweinehirten) und Juhäsz (Schafhirten) gehütete
Herden, Brunneuschwengel, zum Schutze vor dem
Sturme errichtete Windfänge, nebst der Csärda
(Puszten Wirtshaus), deren fiedelnden Zigeunern und
gelegentlich einsprechenden „armen Burschen“ ist oft
gemalt und geschildert worden. Wenn die himmel¬
hohe Sandsäule, von der Windsbraut emporgewirbelt,
unter dunklen Gewitterwolken über ihren Plan da¬
hinfährt und sich in weiter Ferne an einem gebor¬
stenen Mauerrest oder an einem einsamen „Kumauen-
bügel“ bricht; wenn das tausendstimmige Gebrüll
der Herden der aufgehenden Sonne ihren Salut
entgegendonnert, oder wenn als immer wiederkeh¬
render „Traum von dem Meere, der es einst bedeckte“
im Zauberspuk des „Delibäb“, der Fata Morgana,
das Spiegelbild entlegener Gewässer, Bäume, Städte
und Dörfer in glühender Mittagshitze sich über ihre
schattenlose Fläche breitet: da übt die ringsum nur
UNGARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
91
vom Himmelsgewölbe begrenzte Pusztaebene auf den
Beschauer einen Eindruck, der an zwingender Ge¬
walt nur mit dem der unendlichen Welt des Ozeans,
der schneebedeckten Alpen- und Himalayagipfel und
der grenzenlosen Wüsten Asiens und Afrikas sich
vergleichen lässt. Dass zu den charakteristischen
Merkmalen der Puszta eine hochragende Kirchenruine
oder ein Hügel gehört, auf dem noch vor kurzem
eine solche zu sehen war, dass auf derselben uralte
Gemarkungen von ehemals blühenden Dörfern, Kir¬
chen und Abteien sich finden, deren Bevölkerung
auf der Flucht sich verloren oder in den Schlachten
und in der Sklaverei ihren Untergang gefunden hat
und deren Namen nur noch der Historiker aus alten
Urkunden zu Tage fördern kann, dies wird weniger
häufig betont, muss aber an dieser Stelle unsererseits
besonders hervorgehoben werden. Die Puszta bleibt
als ein ergreifendes Gebilde der Phantasie für immer¬
dar in die ideale Welt entrückt. Sie wird vor
unseren Augen immer wieder, wie sie war, erstehen,
so lange Eötvös’ Schilderung im „Dorfnotar“ nichts
von ihrem Reiz verliert und so lange nur eines von
Nikolaus Leuau’s „Haidebildern“ uns noch zu begei¬
stern vermag. Indessen verwandelt das kräftig pul-
sirende moderne Leben sie mit Fug und Recht und
im Interesse der fortschreitenden Kultur wieder in
gut bebautes, dicht bevölkertes Ackerland und wird
binnen kurzem noch das Wenige, was von ihrer
historischen Erscheinung sich bis in die Gegenwart
gerettet hat, aus dem realen Dasein gestrichen haben
Wo auf einer mageren Hutweide ehemals dreißig
Wagenspuren neben einander zu sehen waren und
die „armen Bursche“ (szegeny legenyek), d. h. Räuber
auf ihren flinken Rennern mit Windeseile dahin¬
brausten, da schießen jetzt Eisenbahnzüge dahin
ziehen schnurgerade, regelrecht chaussirte und zum
Schutze vor dem Sande mit Gräben und Akazien¬
alleen eingefasste Straßen sich durch das Feld und
grüßen den Wanderer aus dichtumfriedeten, wohl¬
gepflegten Gärten heraus die weißgetünchten Wände
schmucker Tanyas (Wirtschaftshöfe). So manches
Pusztafeld ist, rationell bewirtschaftet, in Bezug auf
Erträgnis dem altbebauten Boden schon heute be¬
deutend überlegen. Die verborgene Kraft der unga¬
rischen Erde, die Jahrhunderte hindurch in tiefem
Schlummer gelegen, ist wieder erwacht. Die Ahnung
des großen magyarischen Staatsmanns und Schrift¬
stellers, dessen Ausspruch wir oben unserer Arbeit als
Motto vorangestellt, erfüllt sich in großartiger Weise.
Obwohl vielfach verändert im Laufe der Zeit ist
die protestantische Kirche zu Nagy-Körös doch
immer noch eines der interessantesten Baudenkmale
aus der Türkenzeit. Viel einfacher, schmuckloser
und bescheidener noch als sie und eben deshalb ein
rührendes Bild der tiefen, beim Beginne seiner
neuen Kulturarbeit in Ungarn herrschenden Armut
ist die kleine, nach der Türkenzeit errichtete „alte“
Domkirche von Großwardein. Was seither auf dem
Gebiete des Kirchen- und Profonbaues in Ungarn
entstanden ist, zeigt die bekannten Formen des
Barock, Rokoko und Klassizismus, so von den
Kirchen die zu Bekes-Csaba, Groß-Kikinda, Nagy-
Käroly, Jäszbereny; so die Marienkirche und der
Dom von Temesvär und die als eine der schönsten
Schöpfungen des calvinistischen Stiles in Ungarn
bekannte Kirche der Reformirten in Feherto; so vor
allem samt den Episkopalpalästen, die zu ihnen ge¬
hören, die zweitürmigen Barockkathedralen von
Kalocsa und von Großwardein. Die Schlösser und
Edelsitze sind meist weitläufige, mit Rücksicht auf
möglicherweise wiederkehrende Kriegszeiten, gele¬
gentlich auch für eine eventuelle Verteidigung be¬
rechnete Anlagen. Bemerkenswert diesbezüglich sind
die Magnatenkastelle von Acsa und von Pilis. Ein¬
facher wie diese erweist sich das an Stelle der ehe¬
maligen Räköczyburg errichtete Schloss von Nagy-
Käroly; das Schloss der Tisza’s zu Geszt zeigt die
dreiflügelige französische Form. Sehr reich an statt¬
lichen Sitzen des Kleinadels, die am Ende des
vorigen oder zu Anfang dieses Jahrhunderts ent¬
standen sind, ist die Fester Ebene in der Gegend
des Galga und Täpiö. Allen Profananlagen voran
müssen die seit 1749 erbaute neue Ofener Königsburff
und das jetzt königliche Schloss von Gödöllö her¬
vorgehoben werden. Der Name des Grafen Anton
Grassalkowich, der das letztere erbaut, ist auch von
ersterem nicht zu trennen. Von den einschlägigen
Bauten neuesten Datums stehen Tisza-Dob, Csfto
und U-Kigyös, die Schöpfungen der Andrässy-
Csekonics und Wenkheim obenan. In dem mit
Kaiser Mathias abgeschlossenen Wiener Frieden,
der mit der goldenen Bulle und mit 1867 in Bezug
auf staatsrechtliche Wichtigkeit in einer Linie ge¬
nannt zu werden verdient, war aus den nördlichen
und westlichen Resten des alten Ungarns wieder
ein Reich geschaffen worden. Mit dem Tode Michael
Apäffy’s hatte die Sonderstellung Siebenbürgens ihr
Ende erreicht. Zwei Jahre nach der Wiedereroberung
Ofens machten die Stände auf dem Pressburger
Reichstage die Krone im Hause der Wiedereroberer
Grans, Neuhäusels und Ofens erblich. 1712 erkannten
die kroatischen Stände das Erbfolgerecht der weib-
12*
Iliiuptiihitz vuu l'ebre^'/.in.
UNGARN IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
93
liehen Linie der Habsburger an. 1713 erließ Karl Yl.
die pragmatische Sanktion; 1722 ward ihm die An¬
erkennung derselben durch den Reichstag durch
eine glänzende Magnatendepntation in der Wiener
„neuen Favorita“^ dem heutigen Theresianum, kund-
gethan. Die mit Karl VI. beginnende Periode der
politischen Reformation und Regeneration ward
durch die Kriege mit Friedrich dem Großen, mit
den Türken und mit Napoleon wieder nnterbrocheu.
Sie haben den Fortschritt des Landes wohl zu
stören, aber nicht gänzlich zu hemmen vermocht.
Unter Maria Theresia wij’d der Sinn für das eigene
Volkstum, der in der kosmopolitischen Strömung
der Zeit schier gänzlich abgestorben schien, wieder
wach. In der Periode zwischen 1820 und 1840 tritt
das inzwischen schon in der Dichtkunst zu Ehren
gelangte magyarische Idiom in Staat und Gesell¬
schaft an Stelle des lateinischen und fremden. Die
Zeit bis zum Jahre 1848 führt die Nation von Stufe
zu Stufe immer höher empor. Sie legt mit der
Theißregulirung und dem Eiseubahngesetz wichtige
Grundlagen für ihren heutigen Wohlstand und eilt
auf dem Gebiete der Rechtsentwickelung der dies¬
seitigen Reichshälfte vielfach voran.
Nur ein Volk wie das magyarische kann sich
auf der weiten Fläche des Alföld behaupten. Beweis
dessen die Thatsache, dass, wie Amerika dem einge-
wanderteu Weißen binnen kurz oder lang den Typus
der Rothäute aufprägt, in dem Klima der Theiß-
und Donauebene jeder ethnisch fremde Bestandteil
der Bevölkerung, wenn er auch den Namen und die
Sprache der Heimat noch eine Weile beibehält, in
Tracht und Sitte, Gesicht und Gestalt, Denken und
Empfinden kernmagyarisch wird. Will man von
der Tüchtigkeit und Rührigkeit der magyarischen
Rasse sich eine Vorstellung machen, so braucht
man nur auf den zunehmenden Flor der Städte des
ungarischen Tieflands einen Blick zu werfen. Zehn¬
mal wurden dieselben von Türken und Tartaren,
Kurutzen und „Labanczen“ (Leopoldern), von Freund
und Feind verheert und ausgeplündert; Feuersbrünste
haben sie vernichtet, Seuchen ihre Bewohner dezi-
mirt und ausgetilgt. Aber jede von ihnen erhob
sich immer und immer wieder zur neuen Blüte und
ist heute schöner, wohlhabender und bevölkerter als
je vorher. Manche von ihnen, wie Pancsova(Panuca),
Török-Beese und Temesvar (Mansio Tibiscum) führen
ihren Ursprung auf Römerkastelle, andere, wie
Jäszbereny, auf Attila, und wie Csongräd (Crni
grad = Schwarzburg), auf die Slaven, wieder andere,
wie Csanäd und Szatmär - Nemeti auf König
Stephan und die Königin Gisela und, wie Groß-
beeskerek, auf Karl Robert von Anjou zurück.
Hatvan in der Mätraehene hat sich durch den be¬
rühmten Reichstag von 1525, Szolnok durch Lorenz
Nyäry’s heldenmütige Verteidigung gegen die Türken,
Nyiregyhäza als trotzige Filialhajduckenstadt einen
wohlbegründeten Ruf erworben. Großkikinda Ideibt
durch die in der Nähe gelegenen Stammsitze der
Hunyadi’s und Szilägyi’s, Nagy-Källo als Heimat
des Hauses Kallay, Nagy-Käroly als Resultat der
rastlosen kolonisatorischen Thätigkeit des gräflichen
Hauses Kärolyi für den Historiker und Politiker
bemerkenswert. Ein höheres Interesse, wie diese
Provinzialstädte zweiten, dritten und vierten Ranges,
das dichtbevölkerte Höd-Mezö-Väsärhely , das alt-
väterische Szeiites, das oben schon angeführte Haj-
duckennest Szobozlö und das ehemals handelsgewal¬
tige Baja mitinbegrilfen, erwecken die in Ungarns
Geschichte vielgenannten „drei Städte“ Czegled,
Keeskemet und Nagy-Körös, das ernste, energische
und reiche Debreczin, das blutbefleckte Arad und
das erinnerungsreiche, vielgeprüfte Großwardeiu.
Frühzeitig haben in Keeskemet Protestanten und
Katholiken einander gegenüber Duldung und Ge¬
rechtigkeit geübt. Dieselbe wird eliensowenig jemals
vergessen werden, wie die für den intellektuellen Auf¬
schwung des Landes im sechzehnten Jahrhundert
von der Hochschule zu Czegled, in der Gegenwart
vom Gymnasium zu Nagy-Körös erworbenen Ver¬
dienste. Aber eine Aveitans höhere Bedeutung als
alle ihre Schulen besitzt für die Geistesgeschichte
der Magyaren „die feste Burg der vaterländischen
Wissenschaft, die erleuchtende Lampe Ungarns und
Siebenbürgens“, das berühmte protestantische „Kol¬
legium“ Debreczins, des „calvinistischen Roms“.
Und besitzt man einigen Sinn für historische Größe
und Tragik, so bleibt es fraglich, Avas einen tiefer
ergreifen und erschüttern kann, der gewisse Obelisk
mit den dreizehn Namen auf einem Hügel bei Arad
oder die Trümmer der Gabriel Bethlen’schen Festung
in GroßAvardein, an deren Stelle einst über der Asche
der hl. Ladislaus „das Pantheon, die Westmiuster-
abtei der Könige, Helden, Bischöfe und Staats¬
männer des Reiches“ sich erhoben.
Die Umgebung der Alföldstädte bietet mit ihren
Ahrenfeldern, Puszten, Tanyas, Brunnenstangen und
Windmühlen mehr oder weniger überall das gleiche
Bild. Sie ähneln einander aber auch im Innern, in
der Anlage ihrer Gassen und Plätze, und selbst in
dem Typus gewisser öffentlicher Gebäude. Die Dome
von Szartmär-Nemeti und von Debreczin z. B. zeigen
O
91
UNGAh’N IM WERKE DES KRONPRINZEN RUDOLF.
beide dasselbe klassizistische Schema iu der Fassade,
einen giebelbekrönten Portikus zwischen zwei mit
Kuppeln ahgeschlosseueii Türmen. Diese Art von
Kirchen und auf dem Gebiete des Profanbaues etwa
die der Überlieferung nach sämtlich vom „Palatin
Joseph“ und zwar allüberall in gleicher Form er¬
bauten Rathäuser der Jazygier und Kumanier werden
wohl unter denjenigen zu verstehen sein, wofür in
dem uns vorliegenden Werke da und dort der Name
des „Alföldstils“ gebraucht wird. In scharfer Weise
trennt die von Nord nach Süd gezogene, vielfach
gewundene Linie der Theiß die ungarische Tiefebene
und deren an Rasse gleiche Bewohner in Bezug auf
Besitz und Erwerb, Geschichte und Glauben in zwei
von einander wesentlich verschiedene Hälften. An
ihrem linken Ufer sehen wir das bekannte „Paradies
der Calviner“, die Sitze der reichen und intelligen¬
ten Ackerbauer, Viehzüchter und Fischer, an ihrem
rechten die überwiegend katholischen Bezirke der
Industriellen, Gärtner, Fuhrleute und Schiffer. Dort
hat die Natur in ausgedehnten, mit hohem Röhricht
bedeckten Sümpfen und Morästen für sichere Zu¬
fluchtstätten vor Türken und Tataren, Missionären
und Protestantenverfolgern gesorgt, hier der Mensch
die schon oben erwähnten uralten Schanzenzüge und
die Reihe jener Städte geschaffen, die in den Kriegen
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts
als Festungen fast ausnahmslos zu irgend einer
größeren oder geringeren Bedeutung gelangt sind.
Die wichtigste unter den letzteren ist Szegedin, die
zweitgrößte Stadt des Reiches, auch „das katholische
Debreczin“ genannt. In dem Neubau dieser Stadt,
deren jüngste furchtbare Heimsuchung wir alle noch
miterlebt, ward das Ring.straßensystem zur An¬
wendung gebracht. Es hieß, dass die Stadt ihre
Größe vor den Türkenkriegen nicht wieder erreichen
werde, bevor die Vorfahren in ihre alten Wohnsitze
iiicbt zurückgekehrt. Sie kamen allesamt wieder
vom l'J-ieflliofe der Oberstadt als Leichen in ihren
von der stürmenden 'l’beiß aus den Gräbern heraus¬
gerissenen Särgen. Die vom Schicksal diktirte Vor¬
bedingung für die gegenwärtige Blüte Szegedins
ward in der Unglücksnacbt vom 12. März 1879 in
grmieuerregender Weise erfüllt.
Wer noch vor vierzig Jahren von der Höhe
des Blocksberges bei Budapest das entzückende
Panorama des Alföld überschaute, dem bot sich rings
um den am linken Douauufer gelegenen Stadtteil
eine öde, wüste, unbepflanzte Gegend. Das war das
historisch berühmte Räkosfeld, auf welchem nach
dem Gesetze Wadislaw II. am St. Georgstage jedes
dritten Jahres, während der König mit den Magnaten
in der Ofener Johanneskirche tagte, die Kirchen¬
fürsten und Bannerherren, die Barone des Reiches
und der landbesitzende Adel zum Reichstag sich
versammelte, um ohne Vorsitzende und ohne Proto¬
koll seine Beschlüsse zu fassen, mitunter gegen den
König zu revoltiren, oftmals vom Schauplatze seiner
etwas wilden parlamentarischen Thätigkeit direkt in
das Feldlager aufzubrechen. In noch höherem Grade
als auf der Puszta hat die neueste Zeit auf diesem
Gefilde, das in vergangenen Tagen dem Magnaten
selbst zum Gegenstand von allerunterthänigsten
Bitten um eine königliche „Donation“ für viel zu
schlecht erschien, das von altersher ererbte Gepräge
verwischt. An der Stelle der Sandhügel erheben
sich gegenwärtig Fabriken, Villen, kleine Gemeinden,
Arbeiterwohnungen, Haine und Gärten. Wo es vor
etlichen Dezennien kaum halbwegs praktikable Straßen
gab, schießen jetzt Eisenbahnzüge nach allen Rich¬
tungen der Windrose dahin. Die Entwickelung der
Hauptstadt des Reiches von dem 'Momente an, da
die Kelten an der Stelle des heutigen Alt-Ofen
(Ö-Buda) die Niederlassung Ak-ink (reiches Wasser,
römisch Aquincum) gegründet, bis auf unsere Tage,
in denen sie das „Herz des Landes“ geworden, zu
schildern hat der dritte Band des Ungarn gewid¬
meten Teiles im Werke des Kronprinzen Rudolf
sich zur Aufgabe gestellt. Wir zweifeln nicht, dass
er uns ebenso viel des Anregenden und Interessan¬
ten, wie die beiden bereits abgeschlossenen bieten
wird. Rüstig ist Budapest seit dreißig Jahren
zur modernen Großstadt vorgeschritten. Die völlige
Verwirklichung jenes prächtigen Bildes, „das aus
dem Nebel der Träume schon hervorgetreten, in
immer bestimmterer Gestaltung denen entgegen¬
wächst, die, während es sich verjüngte, in ihm ge¬
altert sind“, ist nicht mehr allzufern. Aber wieder
steht, wie schon zu öfteren Malen, „eine lange,
kriegerisch gescharte Fronte am Ostrande von
Europa“ und Ungarn im Vordertreffen der reich¬
gegliederten Welt des abendländischen Christentums.
Dass der Brennpunkt seines nationalen Lebens, wie
bisher, in stetiger Entwickelung blühe und gedeihe,
dass, kömmt es zur Entscheidung zwischen Völker¬
freiheit und ertötendem Despotismus, zwischen Rom
und Byzanz, zwischen „den Legionen des Westens
und des Ostens“, was es gepflanzt und geschaffen,
nicht wieder, wie vor Zeiten, vernichtet und nieder¬
getreten werde: dies ist etwas, das mit den Ungarn
jeder aufrichtige Freund des Fortschritts der Mensch¬
heit wünschen mus.s.
Photogravure Meisenbach,Riffarth&Co.,Ber'lin.
C.v GROSZHFJM
Druck von li.Angofr in P ‘rlii.
KLEINE MITTEILUNGEN
KUNSTGESCHICIITLICHE FINDLINGE AUS DEM
K. S. HAUPTSTAATSARCHIVE.
JIITaETEILT VON THEODOR DISTEL IN DRESDEN.
(Schluss.)
Raphael und Therese *) Mengs waren, wie schon N. F. II,
(1S91) S. 279 ff. angefügt werden sollte, Kinder Ismaels (nicht
Israels, wie oft angegeben wird), der aber früher, als ge¬
wöhnlich behauptet wird, (1690) geboren worden ist. Denn
zwei Tage nach seinem Tode (26. Dezember 1764) schi-eibt
seine Witwe, die zweite Frau, die eine geborene NHzscher
war und Anna Katharina hieß (Bianconi-Müller a. angef. 0.
S. 40 nennt sie nur Katharina), ihr Mann sei im 77. Lebens¬
jahre gestorben. Sie bittet gleichzeitig um die „gewöhnlichen
Gnadenmonate nebst einer gnädigst zu bestimmenden Pexision
auf ihre vielleicht noch wenige Lebenszeit“, wird aber
damit, auf Vortrag Christian Ludwig von Hagedorns hin,
abgewiesen. Ich nehme hier gleich noch die Gelegenheit
wahr, nach den Akten zu bemerken, dass der aus der strengen
Zucht des Vaters entlaufene Karl Moritx M. nach Linz in Ober-
Österreich ging, dort Hofmeister bei dem Sohne des Gra fen von
Seean und dem des Baron von Grünthal wurde und später
über 20 Jahre lang französischer und italienischer Sprach¬
lehrer an der adligen Ritterakademie in Kremsmünster war.
Seine Frau hieß Maria Klara und überlebte ihren Mann.
Die Tochter Ismaels, Juliane Charlotte, war auch Hofmalerin,
ging aber unter dem Namen Maria Spcra)tda ins Kloster
Belvedere in der Marca d’ Ancona. Wegen der Anfang des
18. Jahrhunderts in Kopenhagen an der Pest gestorbenen
22 Kinder Ismaels u. s. w. habe ich bereits vor über Jahres¬
frist um Nachrichten nach dort geschrieben, eine Antwort
jedoch nicht erhalten.
Zur Geschichte des K. Grünen Gewölbes in Dresden 2). Zu
Anfang des Jahres 1817 kam der, seit Elnde 1801 (verpflichtet
am 5. Januar 1802) angestellte Inspektor am K. Grünen Ge¬
wölbe zu Dresden, Hofrat (Freiherr) Peter Ludwig Heinrich
7-on Bloch, wegen seiner enormen Unterschleife 2), welche er
an ihm anvertrauten Pretiosen begangen hatte, in Unter¬
suchung; in seinem Bette wurde er am 7. Januar genannten
.lahres verhaftet. Der mir im Originale vorliegende Leipziger
Schöffenspruch ^) welcher im September darnach erging und
nicht weniger als 4.3 Thlr. 12 Gr. kostete, enthält die Worte:
,,Dass [er] nach vorgängiger Ausstellung am Pranger mit
1) Sie kopirte auch Correggio's Heilige Nacht in der Dresdener
Galerie (Katalog S. 797, Nr. 63) für die Kurfürstin zu Sachsen, Maria
.Josepha von Österreich. Ihr Selbstbildnis und das ihrer Schwester,
der Klosterfrau, befinden sich ebendaselbst (Katalog S. 784/5, Nr. 178/9)|
desgleichen das Ismaels und von ihm zwei seines bedeutendsten Sohnes
(Katalog S. 782, Nr. 165 ff.).
2) Nach den Akten des K. S. Ilauptstaatsarchivs : IV. V., 20
fol. 27 (von vorn) Nr. Uc (Voll. I.-III. und Protokoll), 19 fol. 2b
(Lebensbeschr.) Nr. 7 d. Lokate 1097*, 2414*, 2935*, Vol. I. II. 12354*
31124*, 14112*, 896* und 0. Der Verbrecher war um 1764 als Sohn
des Generalmajors d. I. pp. Hans Karl (f 1777) geboren. Seine
Mutter nannte ihn 1777 einen ,, hoffnungsvollen“ Sohn.
3) Der Hofjuwelier Globig fand um jene Zeit einen Defekt an
der Epaulette der grossen Rauten garnitur (ein Stein darin war gegen
einen geringeren und untergewichtigen vertauscht worden und 671/5
Grän gegen 50 Grän, anders der Katalog).
4) Man vgl. über das daran befindliche Siegel (Nr. 5) meinen
Aufsatz in der Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte,
germanistische Abteilung Bd. X. (1889) S. 96.
vierjähriger Zuchthausstrafe zu belegen, auch [seine] längere ')
Enthaltung im Zuchthause nach beendeter Strafzeit höchstem
Ermessen anheimzustellen“ sei. Auch die Leipziger Juristen¬
fakultät 2) sprach im Februar 1818 noch in der Sache und
ließ die Prangerstrafe fallen. Bitten seines einzigen, noch
minderjährigen Kindes — seine Frau war todt — der
später verehelichten D., halfen nichts, am 8. April 1818 kam
er in die Strafanstalt zu Zwickau, am 5. März 1820 in die
zu Waldheim und sollte hier, da man kein sicheres Unter¬
kommen für ihn hatte, noch ein fünftes Jahr bleiben, welches
jedoch ein Gesuch seines Schwiegersohnes, eines bekannten
Malers 2), verkürzen half, so dass er am 10. Januar 1823 auf
freien Fuß kam und sich nach Meißen gewendet zu haben
scheint. Der Katalog des K. Grünen Gewölbes zu Dresden der
Gebrüder Erbstein (1884) dürfte manchen schätzenswerten Zu¬
satz erfahren, wenn vor einer Neubearbeitung derselben die
angezogeneu Akten durchgesehen werden. Ich will hier nicht
vorgreifen, bemerke nur noch, dass das Gesamtobjekt
einen Wert von fast 500ÜÜ Thalern ausmachte, welches
durch das Vermögen v. Blocks (hauptsächlich hatte er
große Privatsammlungen ^) , soweit einzelnes nicht wieder
erlangt wurde, nicht zur Hälfte gedeckt, auch seine Helfers¬
helfer (Abnehmer) zum Teil bestraft wurden. Manches im
K. Grünen Gewölbe aus jener Zeit vermisste Stück (man vgl.
z. B. Katalog S. 201, Anm. la E.) dürfte v. BL ebenfalls
veruntreut haben. Als Kuriosum sei noch angefügt, dass
V. Bl. den König Friedrich August 1. durch Übersendung
einer Silhouette desselben aus zusammengeklebten — Wanzen
von dem Gefängnisse aus zu rühren versucht haben soll. —
Porträts der Frau, von Keitschütx , geh. von Haugwitx,
lind des Hofnarren Fröhlich — letzteres von Anton Kern —
und ein solches Joseph Grassi's ini Privatbesitzer). Die
beiden, hier zu erwähnenden, mir gehörigen Brustbilder
(in Öl. auf Holz) sind gute und seltene Stücke. Das
der Ursula Margaretha von Heilschütz , geb. von Haugwitz,
der Mutter der Geliebten des Kurfürsten Johann Georg
IV. zu Sachsen, Magdalena Sibylla, Gräfin von Rochlitz,
ist 16 cm hoch und hat ovale Form. Sicherlich hat das
Original dem leider nicht zu ermittelu gewesenen Maler ge¬
sessen. Das wohl getroffene des kursächsischen und könig¬
lich polnischen (unter den beiden Augusten) Hofnainen Jo¬
seph Fröhlich, mit dem Spitznamen „Graf Saumagen“^) zeigte
1) Dieser Zusatz beruhte auf dem Generale vom 30. April 1783
§ 16, auf die const. IV., 41 (qualiüzirte Unterschlagung) war von
Block nicht mit verpflichtet worden.
2) Das Original liegt mir ebenfalls vor, dasselbe hat zwar kein
Datum, doch datirt das Konzept der Rechtsfrage vom 16. Eebr. 1818.
3) Auch dessen Sohn ist ein noch lebender (daher verschweige
ich hier alle Namen der h'amilienglieder), angesehener Maler.
4) Goethe gedenkt in seinem Tagebuche unter d. 25 September
1810 derselben, wenn er auch ihren Besitzer ,, Bloch“ schreibt.
5) Ein vortreffliches Porträt (mit demSchuurrbärtchen) auf Perga¬
ment, (Brustbild 23 cm hoch und 17 cm breit) des Malers Jo.ieph Grassi
(1758—1838), welches älter ist, als sein, in den üfficien zu Florenz
befindliches .Selbstporträt, habe ich kürzlich ebenfalls von einem
Händler erworben. Die meisten Arbeiten von ihm besitzt bekannt¬
lich die Gemäldesammlung zu Gotha.
6) Man vergl. meine Mitteilungen in von Webers Archiv
für die Sächsische Geschichte, N. F. V. (1879), 87 ff. Einen weiteren
Aufsatz über den Narren werde ich demnächst im Neuen Archive für
Sächsische Geschichte und Altertumskunde erscheinen lassen.
96
KLEINE MITTEILUNGEN.
bei der Renovation auf der Rückseite seinen, schon längst
aufgeschrieben gewesenen Namen, sowie den des damals
schon angesehenen ]\Ialers Anton Kerns (1710 — 1747), und die
Jahreszahl 1737. Sonstige, auch phantastische Abbildungen
des Narren sind erwähnt im „Sachsengrün“ I. (1861), 62 ff.,
in der „Zeitschrift für Museologie und Antiquitätenkunde I.
(1878), Nr. 1 und 4 (1883), Nr. 9 und 20, den nachher anzu¬
ziehenden Katalog des k. Grünen Gewölbes 8. 116 unter
Nr. 8 und den angezogenen der k. Gemäldegalerie Nr. 602.
Auf einem Bilde Louis’ de Silvester (1675 — 1750) im Billard¬
zimmer des k. Jagdschlosses zu Moritzburg bei Dresden ist
auch Fröhlich zu sehen, als Fischer dargestellt.
Nachtrag. Das Seite 70 mitgeteilte Malerzeichen dürfte
vielleicht früher, anstatt des Ovals in der Mitte, ein G. ge-
liabt haben, also rechts offen gewesen sein, mithin J. G. L.
lauten. Dann käme der spätere Cranachschüler, von welchem
z. B. die Gothaer Galerie unter Nr. 354 ein Bildnis Friedrichs
des Weisen vom Jahre 1566 (auf hellblauem Grunde: Eichen¬
holz 0,54 cm hoch und 0,59 cm breit) besitzt, in Frage.
(Nach freundlicher Mitteilung des Herrn Oberregierungsrates
Dr. W. von 8eidlitz in Dresden.)
O JKe Vorstand sicahl im Verein Berliner Künstler und
die Ansstellnngsfragc. Nachdem Prof. A. v. Werner bei der
vorjährigen Vorstandswahl nur mit einer 8timme Majorität
zum Vorsitzenden gewählt worden war und sich auch im
Laufe des Jahres eine gewisse Gegenbewegung gegen ihn
geltend gemacht, hatte er die Erklärung abgegeben, bei
einer _ etwaigen Wiederwahl auf das Amt des Vorsitzenden
verzichten zu wollen. Man legte diese Erklärung dahin
aus, dass er die Majorität des Vereins nicht mehr hinter
sich zu haben glaube. Als Gegenkandidaten wurden Prof
Carl Becker, der Präsident der Akademie der Künste, und
der Architekt Prof. Fritr., Wolff genannt. Bei der am
3. Januar vorgenommenen Vorstandswahl hat sich jedoch
die Mehrheit der sehr zahlreich besuchten Versammlung
wiederum zu Gunsten A. v. Werner’s entschieden, dem nur
ein Gegenkandidat in der Person des Prof. Becker gegen-
übcrgestellt worden war. A. v. Werner erhielt 155 8timmen,
während auf J’rof Becker nur 115 fielen. Zum ersten Schrift¬
führer wurde Prof. Fritz Wolff gewählt, der die Wahl
jedoch ablehnte. An seine 8telle trat der Kupferstecher
Prof Ihnis Meyer. Zum zweiten Schriftführer wurde der
Bildhauer Max Unger, zum ersten Säckelmeister der Maler
F. Körner, zum zweiten der Baumeister und zum
Archivar der Maler II. Hep.gcr gewählt. — Nach dem Berichte
des Säckelineisters beläuft sich das Vermögen des Vereins
auf rund 2S70(Xl M. — Vor der Wahl machte A. v. Werner
Mitteilungeii über den jetzigen Stand der Ausstellungs¬
angelegenheit, die jetzt in ihren Grundzügen entschieden
worden ist. Danach hat der Kaiser bestimmt, dass die
grollen Kunstausstellungen in Zukunft von der Akademie
der Künste und dem Verein gemeinschaftlich zu ver-
ansLilten und anzuordnen seien, und zwar bei gleicher
finanzieller Verplliehtiing und gleicher Berechtigung. Da¬
neben soll aber auch den Düsseldorfer Künstlern eine Mit¬
wirkung an der Leitung der Ausstellung und an den ver¬
schiedenen Kommissionen eingeräumt werden. Der Uber-
huss s(dl zu gleichen 'I’eilen an die Akademie und den
Kün.^tlcrverein übergehen. Die Akademie will ihren Teil
zum Ankauf von Kunstwerken verwenden. Ursprünglich
■soll an entscheidender Stelle die Neigung bestanden haben,
dem Verein die ausschließliche Leitung der Ausstellungen zu
überlassen. Dass jetzt eine andere Entscheidung getroffen
worden ist, wird in einigen Zeitungen mit dem Fall Munch
in Verbindung gebracht. Dem gegenüber muss daran
erinnert werden, dass sich bisher die Jury der von der
Akademie geleiteten Ausstellungen ebenso ablehnend gegen
die Auswüchse des Naturalismus verhalten hat wie die
Mehrheit der Mitglieder des Künstlervereins im Falle Munch.
H. A. L. Dresden. Am 3. Januar starb der außerordent¬
liche Professor am Kgl. Polytechnikum Dr. Richard Steche.
Ein Gemälde von J. F. Millet, „Die Schäferin“, ist
aus der 8ammlung des verstorbenen belgischen Ministers
van Praet in Brüssel, angeblich für den beispiellos hohen
Preis von 1200000 Frank in den Besitz des Herrn Chauchard
in Paris, eines bekannten Millet- Enthusiasten, übergegangen.
Nach anderen Nachrichten hätte Herr Chauchard für dieses
Bild und Meissonier’s „Mann mit dem Degen“ zusammen
nur 700000 Frank gegeben. Vermutlich sind beide Nach¬
richten fälsch und nur darauf berechnet, 8timmung für den
nordamerikanischen Kunstmarkt zu machen.
ZU DEN TAFELN.
A. R. Bildnis des Architekten C. von Großheim. Photo¬
gravüre von Meisenbach, Riffarth & Co. in Berlin nach dem
Gemälde von Gurt Stoeving. Das Porträt des bekannten Ber¬
liner Baukünstlers, das unsere Photogravüre mit einer in
allen Teilen gleichmäßigen Klarheit, unter treuer Wahrung
der künstlerischen Handschrift wiedergiebt, hat seinen
8chöpfer auf der vorjährigen Ausstellung der Berliner Aka¬
demie zuerst weiteren Kreisen bekannt gemacht. Curt
8toeving ist erst nach mannigfachen Wandlungen seiner
künstlerischen Absichten zur Malerei gelangt. 1863 in Leipzig
geboren, bereitete er sich auf der dortigen Baugewerkschule
für den Architektenberuf vor und setzte seine 8tudien dann
auf dem Polytechnikum in 8tuttgart, besonders unter der
Leitung von v. Leins, fort. Hier bot sich ihm die Gelegen¬
heit, sich auch im Aquarellmalen nach der Natur auszu¬
bilden, und 8tudienausflüge in die Umgegend 8tuttgarts, nach
Maulbronn, Hirsau, Heidelberg u. s. w. trugen dazu bei, seinen
8inn für das Malerische zu wecken. 1884 nach Leipzig zurück¬
gekehrt, bildete er sich anderthalb Jahre lang unter der
Leitung des Professors Caid Werner weiter in der Aquarell¬
technik aus. Den Entschluss, sich gänzlich der Malerei zu
widmen, fasste er aber erst während eines vierjährigen Auf¬
enthalts in Berlin, wo er noch als Architekt im Atelier von
Kayser und v. Großheim thätig war, daneben aber auch
fleißig Figurenstudien machte. Ein einjähriger Aufenthalt
in Italien führte vollends den Umschwung zur Malerei herbei.
Zwar malte er vorzugsweise architektonisch interessante
Interieurs; doch machte er auch landschaftliche und figür¬
liche 8tudien und die ersten Versuche in der Ölmalerei.
Nach seiner Rückkehr nach Berlin setzte er diese Versuche
auf eigene Hand, ohne Lehrer, fort, und es gelang ihm bald,
sich eine solche Gewandtheit im koloristischen Ausdruck an¬
zueignen, dass dem Bildnis von Großheim’s niemand mehr
den Autodidakten anmerkte. Vorher und nachher hat er
noch eine Reihe anderer Bildnisse gemalt, von denen noch
das des Professors Carl Werner in seinem 84. Lebensjahre
(Aquarell) besonders hervorzuheben ist, weil es das städtische
Museum in Leipzig angekauft hat. 8eit dem Herbst v. J.
ist 8tocviiig an Stelle des verstorbenen Prof. Paul Graeb
als Dozent für Architekturmalerei an der technischen Hoch¬
schule in Berlin-Charlottenburg thätig.
Herausgeber: Carl von Lütxotv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
ZWEI RADIRUNGEN GOETHES.
VON G. WUSTMANN.
N einem Leipziger Naclilass
sind or kurzem zwei [viipfer-
platten zum Vurscliein ge¬
kommen, die der junge Goethe
in seiner Leipziger Studenten¬
zeit radirt hat, und die Erben
haben sie auf meine Bitte
der Leipziger Stadtbibliothek
überlassen. Es sind ein paar Gegenstücke, beide
nach Landschaften von Alexander Thiele; die eine
hat Goethe seinem Vater gewidmet, die andre seinem
Freund und Studiengenossen, dem Dr. Christian Gott¬
fried Hermann, dem er noch im Mai 1767 bei seiner
juristischen Doktordisputation den Liebesdienst eines
Opponenten erwiesen hatte, und der nun, ein Jahr
später, schon in eine der untersten Leipziger Rats¬
herrenstellen geschlüpft war. Es ging das damals
schnell, wenn man gute Verbindungen hatte.
In der Zeit ihrer Entstehung sind von den
Platten wohl nur eine kleine Anzahl Abdrücke zur
Verteilung an Freunde gemacht worden. Goethe
selbst hatte später in seinen reichen Sammlungen
nur noch von der zweiten einen Abdruck. ’) Auf der
Leipziger Goetheausstellung 1849 waren Abdrücke
von beiden zu sehen. Sonst sind sie mir nirgends
begegnet. Wenn daher Löper in seinen Erläuterungen
zu Dichtung und Wahrheit (2. Teil, S. 330) sagt,
diese beiden Radirungen dürften „in keiner Goethe¬
sammlung fehlen“, so möchte diese Forderung
wohl bis jetzt leichter auszusprechen als zu erfüllen
gewesen sein. Alte Abdrücke der Platten gehören
offenbar zu den größten Seltenheiten, und ich denke,
es wird den Freunden Goethes (und nicht bloß ihnen)
1) Vgl. Chr. Schuchardt, Goethes Kunstsammlungen,
Bd. 1. S. 142.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
Vieles I/ab’ ich ver sacht, geacicl/nct, i/i Kupfer gestochen.
willkommen sein, tvenn ihnen hiermit von den vor¬
trefflich erhaltenen Platten gute neue Abdrücke vor¬
gelegt werden.
Man kann diese frühen Zeugnisse eines künst¬
lerischen Ringens, das so ehrlich, so leidenschaftlich,
und doch, wie der Ringende später unter Schmerzen
inne wurde, so vergeblich war, nicht ohne Rührung
betrachten. Wie alt war Goethe, als er diese Platten
schuf? Noch nicht neunzehn Jahre. Aus Dichtung
und Wahrheit wissen wir, dass er als Leipziger
Student (1765 — 1768) auch mit dem Kupferstecher
Stock bekannt wurde, der in jener Zeit von Nürn¬
berg nach Leipzig gekommen und in das neu erbaute
Breitkopfsche Haus, den silbernen Bär, gezogen
war, dass er ihm oft bei der Arbeit zusah und
schließlich sein Schüler wurde. „Mich reizte — er¬
zählt er — die reinliche Technik dieser Kunstart,
und ich gesellte mich zu ihm, um auch etwas der¬
gleichen zu verfertigen. Meine Neigung hatte sich
wieder auf die Landschaft gelenkt, die mir bei
einsamen Spaziergängen unterhaltend, an sich erreich¬
bar und in den Kunstwerken fasslicher erschien
als die menschliche Figur, die mich abschreckte.
Ich radirte daher unter seiner Anleitung verschiedene
Landschaften nach Thiele und andern, die, obgleich
von einer ungeübten Hand verfertigt, doch einigen
Effekt machten und gut aufgenommen wurden.“ Das
„wieder“ (meine Neigung hatte sich wieder auf die
Landschaft gelenkt) bezieht sich darauf, dass er
kurz zuvor, wo er von seinem Besuche Dresdens und
der Dresdener Galerie spricht, bei der Erwähnung
eines Bildes von Swanevelt sagt; „Gerade Land¬
schaften, die mich an den schönen, heiteren Himmel,
unter welchem ich herangewachsen, wieder erinnerten,
rührten mich in der Nachbildung am meisten, indem
sie eine sehnsüchtige Erinnerung in mir aufregten.“
13
9S
ZWEI RADIRUNGEN GOETHES.
lUe Zeit, wo Goethe den Unterricht Stocks genoss,
lässt sich genau bestimmen: es war im letzten Jahre
seines Leipziger Aufenthalts, 17G8. Am 26. April
dieses Jahres schreibt er an seinen Freund Behriscli:
„Da hast du eine Landschaft, das erste Denkmal
meines Namens und der erste Yersucli in dieser
Kunst. Bessere nachfolgende werden es rechtfertigen,
ich hotte weiter zu kommen.“ Das kann nur eins
von unsern beiden Blättern gewesen sein, denn nur
diese hat er mit seinem Namen bezeichnet.
Beide Blätter sind schon zu Goethes Lebzeiten
von einem Kenner eingehend gewürdigt worden,
ln dem „Kunstblatt“, das als Beilage zum „Morgen¬
blatt“ erschien, findet sich im Jahrgang 1828 in den
Numuiern 3, 5 undli ein Aufsatz: „Goethe als Kupfer-'
Stecher" von einem gewissen Carl Bücher. Der
Aufsatz liandelt nach einer langen Einleitung that-
sächlich nur von unsern beiden Landschaften. Der
Verfasser beschreibt sie zunächst äußerlich; über die
künstlerische Behandlung, sagt er, habe er einen be¬
freundeten Kupferstecher zu Rate gezogen, und
dessen Urteil ’) lautete: „Die Zeichnung in Masse ist
in beiden Blättern sehr gut gewahrt und die ver¬
schiedenen Gründe auf echt künstlerische Weise in
gegenseitige Harmonie gebracht und anseinander¬
gesetzt. Was die technische Behandlung des Ein¬
zelnen betrifft, so möchte das eine Blatt (Goethes
\’ater dedizirt) mit größerer Fertigkeit und Gewissheit
ausgeführt sein. Das Wassei', welches sich im Vorder¬
gründe sammelte und leise fortbewegt, hat wirklich
Spiegel, weit weniger gut ist das Wasser des eigent¬
lichen asserfalls; Schatten- und Lichttöne der
Felsen sijid in ein gutes Verhältnis gebracht; der
gegen die sonnige Luft sich dunkel abhebende Baum
im Vordergründe zeugt namentlich von großer Fertig¬
keit; die Bartieen liehen sich von einander los, und
das besonnte Blätzchen ist so einladend und wohl
gefertigt, dass man dem rastenden Spaziergänger
tiesellschaft leisten möchte. Uherall in diesem Blatte
scheinen Strichlage und Wendungen überlegter, plan¬
mäßiger zu sein, während das andere hierin weniger
lobenswert ist. Dagegen hat diese Landschaft (Her¬
mann dedizirt) einen andern Vorzug. Die Licht-
und Luftperspektive i.st be.sser behandelt; auch lässt
sich mit die.ser Landschaft hauptsächlich belegen,
dass Goethe für die Schönheit der Form, der Be¬
leuchtung und der ß’arbe in gleich hohem Grade,
1 Ui-i I<Of]icr a. a. 0. voller Felilor und willkürlicher
Änderungen ahgedruckt.
aber noch mehr in Hauptma.ssen als im Einzelnen
gefühlt habe, und dass dieses Fühlen in Masse
namentlich von Baumpartieen gilt, während Felsen
und Erdreich einer größeren Detaillirung sich er¬
freuen. Nicht allein mit Schönheit der Form sich
begnügend, wusste er auch die beiden letzten mit¬
wirkend hineinzuziehen. Die Behandlung der Form
in diesem Blatte ist wirklich meisterhaft zu nennen.
Beide Blätter — um durch Beispiele zu erläutern —
erinnern in artistischer Hinsicht an Swanevelt. Goethe
mag in seiner Art die Gegenstände aufgefasst und
gefühlt haben. In technischer Hinsicht wären sie
den besseren radirten Blättern des Landschaft¬
malers Schönberger zu vergleichen. Wo die An¬
wendung des Grabstichels nötig schien, verrät diese
Anwendung eine höchst geringe Kenntnis seiner
Technik; gerade diese Stellen — die dunkleren
Bartieen — sind deshalb zu den wenigst gelungenen
zu zählen.“ Es wird sich zu diesem Urteil kaum
etwas Wesentliches hinzufügen lassen. Zu dem Be¬
kenntnis Goethes, dass ihn „die menschliche Figur
ahgeschreckt“ habe, geben die sitzenden Gestalten
auf beiden Bildern wohl die beste Erklärung.
Wo Goethe die Thielischen Gemälde gesehen
hat, lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen. Dass
sie sich in einer der damaligen Leipziger Privat-
sammlunffen befunden haben müssen, kann keinem
Zweifel unterliegen. Nun Avaren sie in der Winckler-
schen nicht. Winckler hatte, wie der (von Kreuchaulf
verfasste) prächtige Katalog seiner Sammlung zeigt
(Leipzig, 1768), dreizehn Bilder von Thieles Hand
(fünf Originale nnd acht Kopien), darunter fünf
Paare von Gegenstücken. Die Goethischen sind
nicht dabei. Von der Richterschen Sammlung fehlt
leider ein vollständiges Verzeichnis. Ein paar kurze
Mitteilungen über sie finden sich im Vorwort zum
Wincklerschen Katalog, ein ausführlicher Aufsatz,
offenbar auch aus Kreuchauffs Feder (Nachricht von
Richters Porträt, Leben und Kunstsammlung) steht
in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften
(Lei])zig, 1776. 18. Bd., 2. Stück, S. 303 — 322). Aus
diesem Aufsatze geht hervor, dass auch Richter
Originale nnd Kopien von Thieles Hand besaß ; erstens
wird Thiele mit unter den Meistern genannt, die in
Richters Sammlung „den studirenden Landschafter
zu ihren schönen Waldungen, rauschenden Bächen,
reizenden Dorfschaften rufen“, und später heißt es:
„Einige kleine Landschaften in der Manier des
Poussin, van der Goyen und van der Neer werden
des freien Nachahmers Wunsch erregen, Thielens
uneingeschränkte Nachahmungskunst erreichen zu
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
09
küiinen/' Außer bei Wiuckler und Richter befanden
sich allerdings auch noch in den kleineren Sammlungen
von Zehmisch und Regis Bilder von Thiele. Aber
das wahrscheinlichste ist es doch, dass wir uns den
jungen Goethe unter den „studireuden Landschaftern“
in Richters Sammlung zu denken haben, umsomehr,
als nicht Wincklers, sondern Richters Haus für die
Kunstfreunde Leipzigs, die einheimischen wie die
fremden, die alten wie die jungen, der eigentliche
Mittelpunkt und die immer offene gastliche Stätte war.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG
VON ALFRED GOTTHOLD MEYER.
(Schluss.)
HL Die Plastik.
OR Jahresfrist besaß die
Skulpturenabteilung ihr Cen¬
trum in der Sonderausstel¬
lung eines deutschen Meisters,
welcher auf dem klassischen
Boden Italiens schalft: Adolf
Tlildchrandt’s — diesmal hatte
ein in Paris lebender Russe
ilie Führung: ]\Iark MaUvrjeivilsch Antokolskii. Zwei
große Kün.stler, deren Weisen sich kaum minder
schrofi' gegenüljerstehen, als die eines Lenbach und
Uhde, aber in den Reihen der Bildhauer schwieg
l)is vor kurzem noch der Kampfruf der Parteien! —
Hildebrandt kann in gewissem Sinne als ein
Eklektiker gelten. Die Antike und die italienische
Renaissanceplastik haben ihn geschult, von jedem
seiner Hauptwerke führt ein deutlich erkennbarer
Pfad zu diesen zurück. Antokolsky’s Kunst hat einen
entgegengesetzten Weg eingeschlagen, obschon gerade
die russische Plastik zum Teil völlig im Zeichen
des Klassizismus steht. Kleine Geurefiguren — der
„Schneider“ (1864) und der „Geizhals“ (1865) — in
Holz und Elfenbein geschnitzt, völlig naturalistisch
gehalten, eröffneten dem 1842 in Wilna geborenen
jüdischen Kunsthandwerker die Bahn zu seinem
heutio-en Ruhm, der antikisirendeu Richtung blieb
er von Anbeginn fern, und selbst die Werke Rauch’s
gewannen ihm bei einem zeitweiligen Aufenthalt in
Berlin (1868) nur beschränkte Anerkennung ab.
Dennoch erscheint sein frühestes gefeiertes Werk, die
Statue Iwan’s des Schrecklichen, welche Alexander 11.
für die Ermitage in Petersburg in Erz gießen ließ,
heute weniger naturalistisch und selbst weniger ori¬
ginell als die Reihe der ihr folgenden Arbeiten.
Drastisch und mit einer in jenen Zeiten für einen
Bildhauer ungewöhnlichen Kühnheit hat Antokolsky
freilich schon hier den Stoö erfasst, so packend^
dass er sellist den historisch iiii geschulten Beschauer
ergreifen muss. Aus dem Kopf und vor allem aus
den mageren Händen dieser zusammengesunken
sitzenden Gestalt spricht die Sinnesart des Darge¬
stellten, abschreckend und bemitleidenswert zugleich,
Fieber scheint den Körper zu schütteln und das
geneigte Haupt durch furchtbare Visionen zu ängsti¬
gen, zitternd greift die Rechte an die Sessellehne.
Aber das ist eine Art der Charakteristik, wie sie
Kaulbach liebte: der geistige Gehalt steht in ihr
noch höher als die plastisch-monumentale Wirkung,
und man kann bei aller Bewunderung des eminen¬
ten künstlerischen Könnens nicht vergessen, dass
dieser Stoff der Plastik im Grunde eine wenig
günstige Aufgabe stellte.
Das nächste Hauptwerk, die Kolossalstatue
Peter’s des Großen, ist in Italien gearbeitet, wohin
den Künstler jedoch weniger die Sehnsucht nach
dem klassischen Lande der Kunst, als die Rücksicht
auf seine geschwächte Gesundheit geführt hatte. Es
ist bezeichnend, dass er — wie seine Autobiographie
bezeugt • — inmitten der südlichen Natur von den
Reizen des nordischen Winters träumt, — Dennoch
mag die Bekanntschaft mit den Denkmälern Italiens
auf Antokolsky’s zweite Hauptschöpfung nicht ohne
Einfluss geblieben sein. Historisch ist hier nur etwa
das Kostüm, aber der Charakter, das Wesen einer
zum Erobern und Herrschen berufenen Persönlich¬
keit, ist so machtvoll geschildert, dass das Ganze in
ähnlicher Weise als ein mustergültiger Denkmäler¬
typus wirkt, wie etwa die Colleouistatue. In der
That lebt etwas von deren Geist in dieser Gestalt,
die geschaffen scheint, über den Boden zu herrschen,
den sie betritt. Die Bewegung des stolz erhobenen
Hauptes und vor allem die Haltung des rechten
Armes mit dem Krückstock, der sich unter dem
Druck der Herrscherfaust in die Erde zu bohren
scheint, verleihen dieser Erscheinung eine gewaltige
13*
100
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
Energie, die feine Grenze jedoch, welche eine so ge¬
wagte Antfassung von theatralischem Effekte scheidet,
ist mit erstaunlichem Takt gewahrt. Das Ganze zeigt
echt monumentales Empfinden, aber die fliegenden
Haare, sowie die Art, wie der Waffenrock vorn sich
öffnet und die Schärpe leicht bewegt erscheint.
lands nationaler Plastik fand er für dasselbe keine
Muster vor, und von dem, was hier die antikisirende
Weise bot, hielt ihn seine künstlerische Eigenart fern.
So bleibt er auch hier von Anbeginn völlig selb¬
ständig. Seine 1874 vollendete Christusstatue, die
ihm nachmals einen Weltruf eintrug, erschien zuerst
.Stiiiljumlcr i'hristiis. iMarmorreliel' vou M. AntüKOLSKV.
Lo-bf-n ihm malerisciu-n Reiz: eine vollendetere und
gei.'dig bezeichnendere Wiedergabe von llewegung
in monumentaler Ruhe ist kaum denkbar. Diese
>tatue i: f ein Meisterwerk, welches allein genügen
würde, einen Sehö])fer unsterblich zu machen.
Kurze Zeit darauf wandte sich Antokoksky zum
••rs‘enmal dem religiösen Stfjfi’gebiete zu. ln Rnss-
so seltsam, dass es an tadelnden Stimmen nicht
fehlte. Auch in der Kunstchronik dieses Blattes hat
sie 1874 eine nicht durchgängig anerkennende Kri¬
tik gefunden. Der Berichterstatter rühmt ihre „frap¬
pante Lebendigkeit“, aber er fügt hinzu, dieser
Christus sei „kein Vertreter hingehender Liebe, kein
Prophet der Ergebung, sondern ein gedankentiefer
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLÜNG.
lui
Schwärmer, dem seine idealen Träume auf immer
vernichtet sind“, „der resignirt in die Zukunft schaut“,
und , diese Kälte müsse auch den Beschauer kalt
lassen, ja, ihn entsetzen“. — Wohl verraten die edelen
Züge dieses Hauptes leidvolle Resignation, aber
dieselbe ist sicherlich nicht die einzige Empfindung,
die aus diesem Werke redet und die es im Be¬
schauer erweckt! In München war der Titel dieser
Statue: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“,
sie vor uns, aber etwas Königliches lebt in ihr, das
seine Macht selbst beim Unterliegen fühlen lässt.
Dieser ganz schlicht geschilderte Gegensatz zwischen
Seelengröße und irdischer Ohnmacht übt einen eigen-
artigen Zauber aus. Von hoher Schönheit ist beson¬
ders das Antlitz. Man spürt, dass die Gedanken
unter dieser wundervollen Stirn mit der momen¬
tanen Situation nichts gemein haben, und dass der
Blick über die Gegenwart hinaus auf das Ewige
Mephisto. Bronze von M. Antokülsky.
eigentlich aber lautet er: „Christus vor dem Volks¬
gericht“. Beide Bezeichnungen ergänzen einander,
die eine deutet auf den geistigen Gehalt, die andere
auf die äußere Situation. Man könnte sich zu
diesem Christus Pilatus oder Kaiphas und ihre
Scharen, oder aber den bethörten Volkshaufen und
die Schergen hinzudenken, jedoch auch selbständig,
als Verkörperung eines individuellen Geistes- und
Empfindungslebens, übt diese Gestalt ihre Wirkung
aus. Physisch wehrlos, mit gefesselten Armen, steht
gerichtet ist, den Worten gemäß: „Mein Reich ist
nicht von dieser Welt!“ — Die technische Behand¬
lung zeigt schon hier Antokolsky’s spätere Art völ¬
lig ausgeprägt. Sie bevorzugt breite, große Formen,
mit einer Neigung zum Malerischen, welche scharf
begrenzte F'lächen möglichst vermeidet. Vor allem
ist die Stirn dieses Christuskopfes für diese dem
modernen Impressionismus verwandte Auffassungs¬
weise bezeichnend, und zeigt, welche prächtige Wir¬
kung sich trotz des Mangels bestimmter Konturen
102
DIE MÜNCHENEU KUNSTAUSSTELLUNG.
lediglich durch die zarten Nuancen in Licht und
Schatten erreichen lässt.
Die zweite Christusstatue, welche der Münchener
Sonderausstellung in einem von Thiehaut in Paris
gegossenen Brouzeexemplar einverleibt war, ist
traditioneller und nationaler gehalten. Sie zeigt den
thronenden Heiland als gütigen Vater der Gemeinde.
Sprechend breitet er hier die Arme zum Empfang
des Gläubigen aus. Auch hier ein fein abgewogenes
Wrhältnis zwischen Ruhe und Bewegung, auch hier
die geistige Vornehmheit in Kopf und Haltung, auch
hier jene malerische Behandlung, die — besonders
an den Händen — eher zu wenig als zu viel giebt.
iMalerisch ist auch das Relief gehalten, welches das
Haupt des leidenden Erlösers vor dem Kreuze zeigt.
Antokolskj ist seiner realistischen Neigung hier nicht
untreu geworden. Er versteinert den letzten Seufzer
eines Sterbenden, er zeigt die dünnen, schweißge¬
tränkten Haarsträhnen, von denen eine über die
Backe bis zum Mund herabfällt. Aber er wahrt auch
liier den Adel eines echten Kunstwerks und breitet
über das leidvolle Antlitz die Hoheit des Erlösers
und den Frieden des von irdischer Qual Erlösten.
Dieses Relief ist 1S7S gearbeitet, wohl etwa gleich¬
zeitig mit dem weniger ausdrucksvollen „Haupt
.loliannes des Täufers auf einer Schüssel“. Zwei
.lalire zuvor war die Statue: „Der Tod des Sokrates“
entstanden, in welcher die realistische Auffassung
einen fast brutalen Ausdruck fand. Im schärfsten
Gegensatz zum Christusrelief wird die Befreiung
des Körjjers und der Seele im Augenblick des Todes
liier iin Sinne des Cynisnius geschildert. Breitbeinig
sinkt der Körper vom Sessel herab, schwerfällig
neigt sich das llaujA zur Brust, aber trotz dieser
künstlerisch rücksichtslosen Darstellung schwebt
.auch über diesem Sterbenden der .letzte Seufzer wie
ein Hauch aus einer glücklicheren Welt. Kraftvollen
L’ealismus hat Antokolsky bei den in München
vereinten Werken ferner nur noch in der Statue
.lerniak’s, des Eroberers von Sibirien, entfaltet. Als
\ erkörperung zweckbewussbu’ Energit; bildet dieselbe
ein tjiegenstück zu dem Standliild Peter’s des Großen,
aber lierechtigterweise ist hier die ])hysische Kraft
stärker betont. Der Hoden scheint unter dem Schritt
diesf'S mit iler Axt bewalfneten Riesen zu zittern,
auch hier hat die Art der Bewegung neben der
.Monumentalität etwas Unentrinnbares. —
Es ist .\ntokolsky’s größte Eigenschaft, dass er
in seiner Kunst neben den stärkste)) auch die zai*-
testen Saite)) erklinge)) zu lasse)) weiß, den)) derselbe
Meister, der die Statuen Iwa)i’s, Pete)’’.s des Großen
und Jermak’s schuf, hat in einer Reihe von Werken
fast weiblich empfundene Seelenstimmungen, melan¬
cholische Träume und mystische Visionen verkör¬
pert, ja er ist im Grunde mehr noch Lyriker als
Dramatiker, ein idealistischer Dichter in Stein und Erz.
Am schönsten bezeugt dies seine Statue einer
christlichen Märtyrerin, ein Werk, welches in Mün¬
chen ebenso betitelt war, wie der gefesselte Christus.
Es zeigt ein gar zartes Geschöpf, mehr Kind als
Jungfrau, auf einer Steinbank, von Tauben umspielt,
das Haupt leicht emporgewandt. Die Linke ruht
auf einer Tafel mit dem Monogramm Christi, und
dies ist das einzige, was die Beziehung dieses Wesens
zum Christentum äußerlich kennzeichnet. Ohne diese
Tafel könnte man an eine Jungfrau aus dem Volks¬
märchen de))keu. Die mageren Glieder, die schlichte
Haltung, die kindlichen Züge haben etwas unendlich
Rührendes, sie geben ein Bild der Unschuld, aber ein
leiser Zug zur Mystik fließt mit ein: überirdische
Stimmen scheint diese Gestalt zu vernehmen. In Anto¬
kolsky lebt neben der realistischen Kraft ein weicher,
sentimentaler, träumerischer Sinn, der zuweilen an
Gabriel Max erinnert. — Dem gleichen Geschlecht, wie
diese Märtyrerin, entstammt die „Ophelia“, ein edler
Mädchenkopf in Hochrelief, dessen Hintergrund durch
Schilf belebt ist. Traumhaft blicken die weit geöff¬
neten Augen, als werde vor ihnen zum Bild, was
das rauschende Schilf der Lauschenden zuflüstert.
Endlich kann auch der halb liegend, halb sitzend
auf einem Kindergrabe wachende Engel diesem Ge¬
staltenkreis zugezählt werden. — Aber nicht nur in
jugendlichen Gebilden trifft Antokolsky diesen Mär¬
chenton: auch auf seiner Statue Nestor’s, des Ge¬
schichtsschreibers Russlands, ruht diese weltfremde
Stimmung. Er fas-ste ihn ähnlich auf, wie man den
S. Hieronymus zu schildern pflegt, als einen greisen
Mönch, am Schreibpult, in das Studium eines Foli-
.auten vertieft. Malerisch ist auch hier das Gesamt¬
bild, das Beiwerk und die technische Behandlung.
Wie weit Antokolsky’s malerische Neigung zuweilen
geht, bekundet jedoch neben einem Porträtrelief mit
landschaftlichem Hintergrund vor allem die kleine
Grabtafel eines Kindes, auf welcher über dem Lager
Wolken und Sterne angedeutet sind. Die lyrische
Sti)umung in Antokolsky’s Kunst erklärt dies zur
Genüge. — Am freiesten von der malerischen Art
hat er sich vielleicht in seiner Mephistostatue ge¬
halten. Wie bei der Figur Iwau’s, lag hier die Ge¬
fahr Kaiilbach’scher Hypercharakteristik nahe, aber
Antokolsky ist ihr dies)nal erfolgreich begegnet.
Nichts Cbertriehenes in der mimischen und| physio-
103
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNG.
gnomischen Schilderung, nichts Gezwungenes in der
Haltung dieses schlanken, sehnigen Körpers! Das
früher als der letztere modellirte Haupt bietet den
InbegritF von List und verschlagener Klugheit, ohne
abznstoßen; die Stellung ist ungemein bezeichnend,
aber durch die Kontraste ihrer Linien zugleich von
ungewöhnlichem plastischen Reiz: die „Spottgeburt
aus Dreck und Feuer“ lässt den gefallenen Gott
nicht vergessen! — In einzelnen Büsten (Großfürst
Nikolaus, Turgenietf) und Porträtstatuetten klingt
die realistische Auffassung der Peterstatne weiter,
die harmonischste Vereinigung der in Antokolsky’s
Kunst bestehenden Gegensätze verkörpert dagegen
wohl seine Statue Spinoza’s. Antokolsky hat sich
auf dem Gebiet der christlichen Plastik bleibenden
Ruhm erworben, jedoch nicht das Dogmatische, spezi¬
fisch Kirchliche spiegeln seine Christusfiguren und
seine Märtyrer, sondern das allgemein Menschliche,
Avie es aus einer eigenartig poetischen Verbindung
von Geschichte und Legende zurückstrahlt. So hat
der Jude Antokolsky auch den jüdischen Denker
und Märtyrer Spinoza aufgefasst. Ein reiner Sinn,
Gedaukenschärfe, vereint mit dichterischem Empfin¬
den und gottergebenes Entsagen leuchten aus diesem
jugendlichen Antlitz. Der tote Buchstabe des auf
dem Schoße ruhenden Folianten hat vor dem gei¬
stigen Auge des Gelehrten Leben gewonnen, und
über die real gegebene Situation hinaus wächst auch
diese Gestalt zum ewiggültigen Vertreter einer der
edelsten Menschengattungen empor. —
Antokolsky ist eine Künstlerpersönlichkeit, der
man in wenigen Zeilen nicht gerecht werden kann.
Ein reiches, tiefes Seelenleben spricht aus seinen
Schöpfungen, und nur im Zusammenhang mit seinem
ganzen Denken und Empfinden, Avie dasselbe zum
Teil in seinen autobiographischen Notizen zu Tage
tritt, lässt sich seine Kunst richtig würdigen. Dieser
individuelle Maßstab wird um so notwendiger, als
der knnsthistorische hier unzulänglich bleibt: in der
Geschichte der russischen Plastik nimmt Antokolsky,
soweit die Ausführungen Wilhelm Heiiekel’s^) ergeben,
eine Sonderstellung ein, man müsste denn gerade
in der realistischen Richtung des jetzt in Amerika
tbätigen Fjodor Kamensky eine Parallele zu der einen
Seite seiner Kunst erblicken. — Durchaus individuell
ist aber auch der Charakter seiner Werke selbst.
Henckel macht darauf aufmerksam, dass Antokolsky
die meisten Aufgaben sich selbst gestellt, und sagt,
1) „Neuere russische Bildhauer“ S. 45 tf. in „Die Kunst
unserer Zeit“, III, 9. München 1892,
er könne sich nicht erinnern, von ihm „jemals eine
nackte weibliche Figur, das beliebteste Objekt der
meisten Bildhauer“, gesehen zu haben. In der Tliat
bekundeten schon die in München vereinten Skulp¬
turen zur Genüge, dass nicht das Formale, nicht
der Sinnenreiz der Erscheinung ihren Schöpfer
lockte, sondern der psychische und geistige Gehalt.
Das ist in der modernen Plastik fürwahr besonders
beachtensAvert! — Innerhalb dieser auf Seelenschil¬
derung bedachten Kumst jedoch herrscht ein tief¬
ernster, oft schwermütiger Grundton vor. Leiden,
Entsagen, in rauher Wirklichkeit von einer über¬
irdischen Welt träumen — das ist die Seelenthätig-
keit, die in den meisten dieser Gestalten verkörpert
erscheint. Die auf realem Boden erwachsene Kraft¬
fülle hat Antokolsky verhältnismäßig doch nur selten
zum Thema erAvählt. — Ich habe schon oben bei
einem speziellen Beispiel darauf hingcAviesen, wie
unmittelbar dieses lyrische Element auch äußerlich
zum Ausdruck gelangt. Antokolsky’s ganze Behand¬
lungsweise des Marmors ist davon beeinflusst. Sie
ist durchaus malerisch , sie kennt keine scharf um-
rissenen Konturen, sondern nur ein Aveiches, Avechsel-
volles Spiel von Licht und Schatten, dessen künst¬
lerischer Effekt an die stimmungsvolle Sprache einer
Radirung gemahnt. Die Beziehung zur Pariser
Schule — seit 1880 lebt Antokolsky in der franzö¬
sischen Hauptstadt — mag auf diese Technik nicht
ohne Einfluss geAvesen sein, ungünstig aber kann
man den letzteren jedenfalls nicht nennen, da er
weder die individuelle Grundlage verdeckte, noch
einen störenden Grad erreicht hat.
Weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus
ist Antokolsky seit vielen Jahren berühmt, in Deutsch¬
land aber hat ihn erst diese Münchener Ausstellung
populär gemacht — so populär, wie eine so vor¬
nehme, rein persönliche Kunstweise, wie die seine,
überhaupt Averden kann. Schon dies allein genügte,
um der plastischen Abteilung des diesjährigen „Salon“
dauernden Wert zu geben.
Innerhalb derselben bezeichneten die Arbeiten
des russischen Bildhauers auch kunsthistorisch
eine Sondergruppe. Seelenschilderung, wie er sie
erstrebt und erreicht, fand sich in den übrigen
Skulpturen nur bedingt und vereinzelt. Das For¬
male, die Aktfigur als solche, ohne geistigen Gehalt,
bildete das Hauptthema. Das ist eine ähnliche Ent-
Avicklungsphase, Avie sie die moderne Malerei durch¬
machen musste, bevor sie ihre heutige Leistungs¬
fähigkeit erreichte. Diese Richtung ist einseitig,
aber nicht ungünstig. Stets erneutes, liebevolles
UM
DIE MÜNCHENER KÜNSTAUSSTELLUNG.
Studium des menschlichen Körpers ist für jeden Auf¬
schwung der Plastik die Voraussetzung gewesen,
ln diesem Sinne erscheinen besonders die Arbeiten
einer großen Reihe jüngerer Münchoicr Bildhauer
zukunftsvoll. Ich erwähne nur Alfred Marxolff's
.Bogenspanner“, Emil Dittkrs „AVaffenschmied“
und Ludirir/ Gamp's Hirtenfigur. Alex. Oppler’s „Sau¬
hirt“ und Joli. Baptist Sehrcmcr’s „Grille“ gehen
jedoch über die Bedeutung nackter Akte bereits
hinaus, liesonders hat Schreiner in der Gestalt des
kauernden Mädchens, welches auf einem Halme bläst
und den Beschauer dabei so schelmisch-listig an¬
blinzelt, einen ungemein glücklichen Griff gethan.
Überraschend erschien vielen die kleine Athleten¬
statuette von Franz Stuck, obgleich man dieselbe
schon längere Zeit in seinem Atelier bewundern
konnte. Es ist sicherlich höchst beachtenswert, dass
gerade unsere eigenartigsten Maler und Radirer,
ein Stau ff er- Bern, ein Stuck, ein Klinger sich zeit¬
weilig der Plastik zuwenden. Das bietet ein ge¬
sundes Gegengewicht gegen gar zu vages Träumen.
Eine Rückwirkung auf die AViedergabe der mensch¬
lichen Gestalt durch malerische Mittel ließ sich bei
Stuck freilich bisher noch nicht erkennen. — Dieser
Gin]ipe der „Akte“ standen etliche vortreffliche Por-
t räts , vor allem die Arbeiten von Ernst Hischen,
Friedrich Kühn und Alexander Opplcr, ebenbürtig zur
Seite. Auch in ihnen zeigt sich ein Aufschwung
im Sinne des modernen Realismus. AVeitaus das
Bedeutendste aber bot unter diesen jüngeren Mün¬
chener Arljeiten die Gruppe der „Steinbrecher“ von
denn jM)n})eL Zweifellos hat hier die Kunst eines
Ba.stien-Le])age und Millet eingewirkt, vielleicht un-
mittelltar vermittelt durch die ihr in der Plastik
am scliärfsten entsprechende AVeise des Belgiers
Meuuier. Der Arheiterwelt hat Lampel beide Ge¬
staltet! entlehnt, zwei Männer in Werkel tracht, be¬
müht, einen hier zugleich als Sockel dienenden
Steinhlock mit Stemm- und Precheisen zu s})alten.
Es ist ein alltägliches Momentbild, alter zugleich
eine allgemeingültige Darstellung zweckbewusster
physischer Kraft, und ein monumentaler Zug ver¬
leiht auch diesen Figuren eine au Millet erinnernde
Größe. — Auf älinlichen Wegen scheint Josejdi Floss-
vnmn zu schreiten, dessen Gruppe einer Mutter mit
ihren dicht an sie geschmiegten Kindern ein tüch¬
tiges, freilich etwas befangenes Können verrät. —
AVie in der Malerei, so trat der Gegensatz zwischen
Neuem und Traditionellem auch in der Plastik zu
Tage, aber weit minder schroff. Neben f'hrislof Bolh
war die ältere Weise vor allem durch treffliche
Arbeiten Wilhelm von Bümann's repräsentirt, unter
denen die große Reiterstatue des Prinzregenten für
Landau in der Pfalz hervorragte. Sie geht freilich
auf den Typus des Marc Aurel zurück, aber der¬
selbe ist in der That ewig gültig, und seine selb¬
ständige Verwertung lässt sich durchaus nicht als
Anachronismus bezeichnen, am wenigsten bei diesem
Rümann’schen Werk, welches — besonders in der
Bewegung des ausgestreckten Armes — ungewöhn¬
liche Feinheiten aufweist. Die Denkmälerplastik war
in München im übrigen nur sehr spärlich. Von deut¬
schen Arbeiten wäre hier nur August Brumm' s wir¬
kungsvolles Modell für das Kriegerdenkmal in Ingol¬
stadt und Galandrelli’s Statue des Kurfürsten Fried¬
rich 1. zu nennen. Ohnehin wird es noch lange
währen, bis unsere Plastik auf der neuen Basis für
Monumentalbildnerei großen Stils befähigt ist. Auch
dies ist eine Parallelerscheinung zum Verhältnis der
modernen Malerei, dem Geschichtsbild gegenüber.
Der Hauptvertreter der heutigen Berliner Monumen¬
talplastik, Begas, fehlte ganz, und sein Genosse Eber¬
lein hatte nur Zeugen für die Auakreontische Rich¬
tung seiner Kunst gesandt, freilich einige der köst¬
lichsten, die sie aufzuweisen vermag. Gleich diesen
waren auch die meisten übrigen Berliner Bildwerke
schon wohlbekannt.
Wie billig, hatte in der deutschen Abteilung
München unbedingt die Suprematie. Unter seinen
Skulpturen waren solche, welche das Auge des Be¬
schauers besonders auf sich zögen, freilich nicht gar
zu häutig. Nur wenige Arbeiten, vor allem die in
ihrem gesunden Humor ganz außerordentlich glück¬
liche „Brunnengruppe“ von Matthias Gasteiger und
Matthias Streicher' s „um einen Kuss“ streitendes Cen¬
taurenpärchen, Avaren geeignet, das große Publikum
zu fesseln. Gerade diese Abkehr von effektvollen
Stoffen und effektvoller Mache jedoch stellt der Mün¬
chener Bildnerschule ein günstiges Zeugnis aus. Die
Nachwehen der berüchtigten „Münchener Eilkunst“
können nur durch ein ruhiges, besonnenes Arbeiten
überwunden werden, und von einem solchen gaben
fast sämtliche der hier vereinten Werke erfreuliche
Kunde.
AVeniger noch als Berlin hatte sich Wien be¬
teiligt, aber in der geringen Zahl der österreichischen
Arbeiten fand sich Vortreffliches, wie Tilgner’s Brun¬
nenmodell, Ludivig Dürnbauer’s „Kämpfergruppe“
und Hans Scherpe’s „Bacchant“, und besonders Gutes
unter den Schöpfungen der Kleinplastik. —
Einen Hauptteil des plastischen Besitzstandes
pflegt unseren internationalen Ausstellungen Italien zu
Spinoza. Marmorstatue von M. A-NTOKOLsky.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
14
106
DIE MÜNCHENER KUNST AUSSTELLUNG.
liefern, ohne jedocL das Durchschnittsmaß der Gesamt¬
leistung wesentlich zu erhöhen. Meist sind es nur die
kleineren, gefälligen Arbeiten des üblichen Kunst¬
marktes, welche über die Alpen Avandern und bei uns
besonders durch die virtuose Technik die Aufmerksam¬
keit auf sich lenken. ’ Solcher Art Avaren auch dies¬
mal besonders die Figürchen Benini’s und FrancJd’s,
etliche süßliche oder grob-sinnliche Werke, — unter
den letzteren zeichnete sich besonders ’s frei¬
lich vorzüglich gearbeitete „Messalina“ aus — und
technische Kunststücke, Avie der Frauenkopf mit mo¬
dischem, völlig „impressionistisch“ wiedergegebeuem
Hut von Paolo Troubetzkoi. Auf einem Irrweg zum
Malerischen befindet sich auch AclnlJe Alherti mit
seinem versteinerten Gemälde; „Pindar besingt die
Sieger“, und selbst in Urhano No'no’s edler Christus-
statue tritt dieser Zug zum malerischen Effekt her¬
vor. Leider war auch einer der Hauptmeister Italiens
diesmal schon in der Wahl seines Stofies meines
Erachtens recht unglücklich: Glulio Monteverde ver¬
körpert „das Ende“ in einer Totentanzgrnppe, in
Avelcher ein lebensgroßes Gerippe ein nacktes Weib
ergreift. Seit der beginnenden Barockkunst versucht
die italienische Sepulkralplastik stets von neuem,
den Knochenmann zu schildern, und stets leidet
dabei die monumentale, ja die künstlerische Wir¬
kung. Auch Monteverde hat mit diesem von einem
Laken umhüllten Skelett keinen besseren Erfolg ge¬
habt, und der ab.stoßende Kontrast zwischen den
beiden Gestalten Avird hier durch unschöne Linien
noch ge.steigert. — Wenig bezeichnend Avaren auch
die französisrhea Arbeiten. Für die geringe Be¬
deutung der italienischen und franzö.sischen Skulp¬
turen entschädigte dagegen zunächst die ungeAvöhu-
lich stattliche Reihe guter nonlisckcr BildAverke,
unter denen bei den Dänen ]Vlllidiii Bisscib s „Jägerin“,
l)ei den Srlncrden Jfas.sr/her;/s knieendeni Mädchen
(„Der kleine Frosch“) die Palme gebührte, ihre Sig¬
natur aber emj)fing die plastische Abteilung vor
allfiii durcli die Werke der JSehjler. — ln der durch
Mr ii/iirrs Namen gekennzeichneten Richtung der
belgisehen Plastik ringt eine Knn.stAveise um den
Sieg, welche zum Realismus und Impressionismus
der modernen Malerei in unmittelbarer Wechselbe-
zieliung steht. Schon rein äußerlich! Jene impres¬
sionistische Darstellurigsart, der — freilich maßvoll
— auch Antokolsky huldigt, jene Berechnung auf
den Gesamteindruck, jene Betonung der Licht- und
Schattenma.ssen auf Kosten scharfer Konturlinien,
hat in Belgien die zahlreichsten und begabte.sten
Vertreter gefunden. Neben Mmnier, Heroin und
Weggers repräsentirte sie in München vor allem
Joseph Lanihemix. Ein Zug zum Großen geht durch
seine Gruppe „Kampf mit dem Adler“ und seine
Kolossalbüste des Dr. Gaillard, so unbestimmt und
abozzirt die Einzelformen auch erscheinen. Dass
diese Technik gleichwohl gefährlich ist, dass sie ge¬
eignet erscheint, jedes Gefühl für die richtigen Auf¬
gaben der Plastik zu ertöten, darf freilich nicht ver-
schAviegen werden. Die Neigung zum Malerischen
hatte selbst schon bei diesen Münchener Arbeiten
der Belgier zuweilen das zulässige Maß weitaus über¬
schritten, so beispielsweise an Giiülaume Charlier’s
originellem Fischerdenkmal, dessen Sockelrelief einen
leeren Kahn auf Wellen unter Wolkenhimmel zeigt,
und in Herain’s Gruppe „Mutterliebe“, bei welcher
die Hauptfigur auf einem nur auf den hinteren
Füßen stehenden Sessel ruht! — Bezeichnenderweise
hat diese Richtung ferner, Avie in der Malerei, so
auch in der Plastik einer sensationellen Auffassungs-
weise den Weg gebahnt, welche bisweilen zur Ge¬
schmacklosigkeit wird. Selbst ein so tüchtiger
Meister, wie De Rodder, Aveiß sich davon nicht ganz
frei zu halten. Trotzdem birgt diese extreme Rich¬
tung der heutigen, von Frankreich stark beeinfluss¬
ten belgischen Plastik einen zukunftsvollen Keim,
der sich unter dem Walten eines Genies zu herr¬
licher Blüte entfalten kann. Wie gesund die bel¬
gische Skulptur ist, bezeugten am besten die treff¬
lichen Aktfiguren eines De Haen („ Anfgegeben“),
van Bcnrden („De Redder“) und Van den Kerckhovc
(„Vlämischer Fischer“), und die Arbeiten eines Fnn
der Stoppen, Paul Duhois, Braeckc, Desenfons und
Dillcns bürgen dafür, dass auch die strengere Weise
in Belgien nicht vernachlässigt wird. Einem Meu-
nier geistesverwandt erscheint der Ungar Georg Zola
in seiner nämlichen Kolossalfigur der „Kampf¬
bereitschaft“.
Es fehlt nicht an Anzeichen dafür, dass auch
in den Reihen der Bildhauer ein ähnlicher Streit
bald in hellen Flammen auf lodern Avird, Avie er jetzt
die Reihen der Maler in erbitterte Parteien ge¬
schieden hat. Hoffentlich führt er nicht zu ähnlichen
verhängnisvollen Konsequenzen wie dort. Gerade
die deutsche Pla.stik steht im Hinblick auf die großen
Ereignisse der letzten Jahrzehnte vor gewaltigen,
monumentalen Aufgaben, welche ihre ganze, geeinte
Kraft erfordern. Wer freilich die Geschichte der
größten Kunstschöpfungen aller Zeiten verfolgt, weiß,
dass ihre Geburt fast stets von schlimmen, klein-
™RENT1NISCHE MADONNENRELIEES.
107
liehen Kämpfen und Intriguen begleitet war, in denen
noch vieles Andere mitsprach als das lediglich künst¬
lerische Prinzip. Dies darf vorerst über die trau¬
rigen Folgen trösten, welche der Münchener Künstler-
streit zu bringen droht. Vielleicht würde es sich
empfehlen, die nächste Münchener Ausstellung ganz
zu suspendireu, beziehungsweise sie durch eine Skulp¬
turen- oder eine kunstgewerbliche Ausstellung abzu¬
lösen. Vom kunsthistorischeu Standpunkte aus ist
es doppelt beklagenswert, dass das Alünchener Unter¬
nehmen jetzt vor einer Zersplitterung der Kräfte
steht. Wie immer aber der endgültige Ausgang der
Dinge sein mag, das Echte und Große, was sich
bisher in den Räumen des Münchener Glaspalastes
zusammenfand, kann seine fortwirkende Kraft nicht
mehr einbüßen. Über die Ereignisse des Tages hin¬
weg schreitet die wahre Kunst ihren hohen Zielen
entgegen, und die Wege derer, denen diese Ziele
heilig sind, werden sich wieder vereinen, gleichviel,
oh sie jetzt zu rückläufig oder zu steil aufwärts zu
führen scheinen, um eine momentane Verbindung
zu ermöglichen.
FLORENTINISCHE MADONNENRELIEFS.
VON HEINRICH WOELFFLIN.
MIT AßBILDUNGKN.
ICliELANGELO’S Erstlings¬
werk, seine „Madonna an
der Treppe“, ist in der Ent¬
wicklung der florentinischen
Plastik eine dermaßen be¬
fremdende Erscheinung, dass
man dem Versuch, einige
erklärende Vorstufen nach¬
zuweisen, von vornherein ein williges Ohr entgegen-
hringen muss. Was zu einer solchen Vorgeschichte
beigeschafit wurde, ist folgendes. Die Sammlung
von Gustav Dreyfus in Paris besitzt ein Marmor¬
relief: die Madonna in ganzer Figur, sitzend auf
einem Steinwürfel, im Profil, das Relief von geringer
Erhebung, lauter Züge also, die wohl die Erinnerung
an Michelangelo’s Arbeit wachrufen können. Das
Stück soll auf Desiderio da Settignano zurückgehen:
Michelangelo könnte es also gekannt haben. Die
Vermutung scheint eine Bestätigung zu erhalten
durch eine Zeichnung bei John Heseltine in London,
die michelangelesk aussieht und eine Kopie des Drey-
fus-Reliefs ist, nicht eine genaue, sondern frei ver¬
bessernd und herausgestaltend, was bei dem noch
ungeschickten Marmorarbeiter bloße Absicht und An¬
deutung geblieben war. Was lag näher, als zu sagen:
Hier hat der junge Künstler seine Löwenklaue ge¬
zeigt; Michelangelo hat als Meister den Desiderio
(oder wer nun immer jenes Relief gemacht haben
mag) kopirt, um nachher das Motiv in der „Madonna
an der Treppe“ auf seine Weise umzubilden.
Das sind die Bemerkungen, die Bode in den
„Italienischen Bildhauern der Renaissance“ gelegent¬
lich hingeworfen hat (S. 57). Strzygowski griff dann
die Sache auf und brachte im „Jahrbuch der preu¬
ßischen Kunstsammlungen“ eine ausführliche Be¬
sprechung, wobei er die fraglichen Stücke, das
Dreyfus- Relief und die Heseltine-Zeichnung in Ab¬
bildung mitteilte (Oktoberheft 1891). Da ich nun
selbst vor zwei Jahren über Michelangelo geschrieben
habe und in dem letztgenannten Aufsatz mit ange¬
zogen werde, so sei es mir erlaubt, meine Meinung
auch zu äußern. Es handelt sich nicht um lang¬
weilige Rechthaberei: mit Vergnügen würde ich die
ganze Angelegenheit auf sich beruhen lassen, wenn
mir nicht damit der gute Anlass entginge, neues
Material und neue Fragen den Kunstfreunden vor¬
zulegen.
Wen die „Madonna an der Treppe“ mit ihrer
grandiosen Eigenart einmal ergriffen hat, der wird
sich wohl zunächst wie gegen eine ganz ungehörige
Zumutung auflehnen, wenn er den jungen Michel¬
angelo hier von einem fremden Vorbild 'bedingt
glauben soll. Es ist auch mir so ergangen. Noch
bevor ich die angezogenen Stücke gesehen, wagte ich
die Behauptung, von einem Abhängigkeitsverhältnis
könne unmöglich die Rede sein. Kein Künstler vor
Michelangelo hätte dieses Kind mit dem abgewen¬
deten Gesicht zu bilden gewagt. ’) Das ist nun frei¬
lich richtig; allein es giebt doch einige andere —
mehr äußere — Bezüge zwischen dem Dreyfus-
1) Die .Tugendwerke des Michelangelo. München, 1891.
14*
108
FLORENTINISCHE MADONNENRELIEPS.
Relief und Michelangelo’s Madonna, die es rechtfer¬
tigen können, die Frage nach dem Verhältnis der
beiden Arbeiten aufzuwerfen, zumal wenn die That-
sache sich erweisen lässt, dass Michelangelo eine
Kopie des verwandten Werkes angefertigt habe. Hier
muss ich nun aber mit meinem Widerspruch ein-
setzen. Das Blatt bei Heseltine scheint mir nicht
von Michelangelo gezeichnet zu sein, sondern nur
von einem Werkstattgenossen des Baccio Bandin elli,
und was das Dreyfus-Relief betrifft, so möchte ich
glauben, dass es weder
auf den Namen des De-
siderio noch überhaupt
auf den Ruhm einer
Originalarbeit Anspruch
machen kann , sondern
Kopie ist nach einer
Vorlage, die erst einige
.Jahrzehnte nach Desi-
derio’s Tod (1464) ent¬
standen sein dürfte. Das
behauptete Abhängig-
keitsverhältuis könnte
dann das umgekehrte
sein.
Dass eine Zeich¬
nung Bandinelli’s unter
dem Namen Michelange-
lo’s geht, kommt in
ölfentlicben und priva¬
ten Sammlungen nicht
selten vor. Es ist aber
leicht, den Unterschied
namejitlich zwischen
friilifa Blättern Michel-
angelo’s und solchen
Bamlinelli’s nachzuwei-
sen. Ich will zunächst
auf einige Einzel punkte
hindeuten, welche bei
der lleseltine-Zeichnung
die Autorschaft Michelangelo’s nach meinem Urteil
ausscbließen. Der Kopf «1er Madonna ist ganz
flach rnodellirt mit bloßen horizontalen Strichen;
beim Kinde sind einzelne weiche weiße Haarbüschel
ausgespart: wiederholt kommen in den Schattenpar¬
tien breite 1 lelldunkellagen zur Wirkung; die ganze
Zeichnung erscheint neben Michelangelo’s Arbeiten
von einer ungewohnten malerischen Haltung und
dabei doch von einer fast leeren Einfachheit. Trotz
der starken Verkleinerung, die sich das Blatt in der
Reproduktion des „Jahrbuches“ hat gefallen lassen
müssen und die ihm viel von seinem Charakter nimmt,
wird man doch auch hier noch erkennen können,
dass in dieser Zeichnung eine Technik angewendet
ist, die mit ganz andern Mitteln arbeitet, als die
des 15. Jahrhunderts.
Es ist vor allem eine Vereinfachung in dem
Gebrauch der Linien und Strichlagen eingetreten.
Die früheren, etwa Dom. Ghirlandajo, stricheln so
lange durch- und übereinander, bis sie den nötigen
Schattengrad erreicht
haben. Auch der junge
Michelangelo zeichnet
in den außerordentlich
sorgfältigen frühen
Blättern im wesentlichen
noch so: er setzt Lage
über Lage, nur fasst er
die Feder fester und
macht die Striche breit
und kräftig. Jetzt wird
der Linienaufwand über¬
all beschränkt. Die
Zeichnungen werden
durchsichtig. Jeder
Strich wirkt für sich
und man sieht genau,
wo der erste und wo
der letzte sitzt. Ganze
große Partien werden
mit einer gleich¬
mäßigen Linienschicht
überzogen und dann
nur an den tiefer be¬
schatteten Orten mit
einer Kreuzlage über¬
gangen. Für das größte
Dunkel reicht eine ein¬
fache Kreuzlage aus, in¬
dem dann die einzel¬
nen Striche von vorn¬
herein stärker hingesetzt werden.
Was jener Zeichnung weiterhin einen eigenen
Charakter giebt, ist die Anlage nach malerischen
Rücksichten. Während der junge Michelangelo sich
ausschließlich bemüht, die Formen plastisch und deut¬
lich zu modelliren, geht hier die Hauptabsicht des
Künstlers auf Gewinnung großer Licht- und Schatten¬
massen, die einen wirksamen Kontrast abzugeben im
stände sind. Nicht umsonst ist die ganze Partie des
linken Unterschenkels der Madonna mit dem Knie
FLORENTINISCBE MADONNENRELIEPS.
100
in Dunkel gesetzt. Wenn sogar ausgesprochene
Helldunkeletfekte Vorkommen — die verkleinerte Re¬
produktion giebt davon allerdings kaum eine Vor¬
stellung — so ist das etwas, was sich auch nicht
reimt mit Michelangelo’s Gewohnheiten.
Ich habe gesagt, dass ich in der Heseltine-
Zeichnung die Art des ßaccio Bandinelli erkenne.
Freilich kann es
sich nur um eine
W erkstattleistung
handeln. Es man¬
gelt dem Strich
die Sicherheit und
Entschlossenheit.
An einigen Stellen,
wie am Arm, wird
dieser Mangel
selbst noch in der
kleinen Nachbil¬
dung fühlbar wer¬
den. Charakteris¬
tisch für den ge¬
dankenlosen Ko¬
pisten ist außer¬
dem das Fehlen
der Saumlinie des
Ärmels am Unter¬
arm.
Mit diesen ge¬
ringen Qualitäten
der Zeichnung
steht nun in auf¬
fallendem Gegen¬
satz, dass sie —
die Kopie — vor
ihrem V orbild,
dem Relief hei
G. Dreyfus, ganz
bedeutende Vor¬
züge voraus hat
in der Richtigkeit
der Korperverhält-
nisse, in der schö¬
nen Neigung und
natürlichen Bewegung, in dem vollkommenen Zu¬
sammenschließen der Gruppe. Wie ist das zu er¬
klären? Es ist nicht zu erklären, solange man an¬
nimmt, die Zeichnung sei nach dem Dreyfus’schen
Relief gemacht worden. Es muss eine andere Vor¬
lage vorhanden gewesen sein , die die erwähnten
Vorzüge alle besaß und an die der immerhin nur
schülerhaft zeichnende Kopist genau sich anschließen
konnte.
Und diese Annahme wird noch zwingender,
wenn wir in dem Dreyfus-Relief nun ebenfalls Spuren
entdecken, die einen Kopisten verraten, und zwar
keinen guten. Was vielleicht einen altertümlichen
Eindruck macht, die steifere Haltung, das beschränk¬
tere Ausgreifen
der Arme , die
spitze und eckige
Art der Linien¬
führung ist ledig¬
lich dem Unge¬
schick der aus¬
führenden Hand
zuzuschreiben.
Von Anfang an
hatte der Mann
sich im Raum ver¬
rechnet. Die Mar¬
mortafel reichte in
der Breite nicht
aus und so zog
er die Figur oben
etwas in die Länge,
wobei die untern
Teile völlig ver¬
kümmern mussten.
Dann sehe man,
was er aus dem
Kopftuch gemacht
hat: in der Zeich¬
nung, die das
Original besser
wiedergiel)t , hat
es einen schönen
und natürlichen
Fluss, hier wird
ein unförmlich ge¬
drehter Wulst da¬
raus , weil der
Kopist trotz man¬
gelnden Raumes
die Silhouette der
Endigung mit anbringen wollte, wie sie das Vor¬
bild aufwies. Weiter: Die Falten des am Sitz her¬
unterfallenden Gewandes erscheinen hier im untern
Teil als unverständliche rohe Ritze im Stein — zu
genauerer Durchbildung fehlte der Platz — , sicher¬
lich wäre ein Künstler nicht auf den Gedanken ge¬
kommen, bei dieser Enge überhaupt noch etwas an-
Madonuenrelief. Nach einem Gipsabguss.
FLORENTINISCHE MADONNEN RELIEFS.
1 10
zubriugeu, wenn er eben nicht unter dem Eindruck von der Luft des Cinquecento. Wer von Antonio
einer bestimmten Vorlage gestanden hätte. Rossellino oder Benedetto da Majano herkommt,
Diese Vorlage mm glaube ich aufweisen zu wird überrascht sein von der Einfachheit und Größe
können in dem Relief, das ich hier den Lesern der dieser Madonnendarstellung. Und wenn Donatello
Zeitschrift vorlege (vgl. Abbildung. Originalgröße zeitweise ähnliche Ideale verfolgt hat — ich denke
27 X 19 cm). Es ist in der Litteratnr bisher nicht an das Marmorrelief aus Casa Pazzi in Berlin —
erwähnt. Ich fand es als Gipsabguss in Italien') so wird man doch zugestehen müssen, dass hier der
und bemerke
gleich, dass es mir
nicht gelungen ist,
die Urform vor
Augen zu bekom¬
men, ja, dass ich
auch nicht mit
Sicherheit sagen
kann, wo sie sich
befindet. Allem
Anschein nach ist
dieser Abguss
nach einem Thon¬
relief gemacht
worden, womit na¬
türlich nicht ge¬
sagt sein soll, dass
das eigentliche Ori-
ginal nicht eine
Marmorarbeit ge¬
wesen sei. Für
unsere Zwecke ist
das einstweilen
gleichgültig. Es
liandelt sich jetzt
nur darvim, zu
konstatiren, dass
in der d'hat die
1 leseltine - Zeich¬
nung wie dasDrey-
fus-Relief Kopien
sind nach einer
N’orhige, die in der
Zeiclinungfast ge¬
nau, in (h-r Mar-
inortafel mit Ije,-
Irächllicher Eiidjuße nacligehihlet worden ist.
Wer diese Komposition erfunden hat? ich weiß
auf di*- Frage keine bestimmte Antwort. An Desi-
d*.*rio da St-ttignano Avird kaum mehr jemand denken.
Es weht aus die, sein schönen Helief schon etwas
1) Vor kur/.oui erst ist ein Aliguss iiiich in das Soulli
Keiisingtoii .Mu'euiii eiiigezogeii.
Aus einer lieiligen Familie. Federzeichuung von Bacciü Bandinelli
Schwung im Kon¬
tur und die ge¬
ballte Fülle der
Gruppe über den
Stil des Quattro¬
cento hinausgreift.
Wie diese Ma¬
donna mit dem
Kopf sich neigt
und den Ober¬
körper vorbeugt,
um mit dem Kinde
Fühlung zu neh¬
men, ohne es doch
an sich zu drücken,
das scheint mir in
einer Weise ge¬
geben, wie es bei
keinem Frühem
zu finden ist, auch
bei Luca della
Robbia nicht. Und
wie sehr im Ge¬
schmack des Cin¬
quecento ist das
Motiv des hoch
gesetzten Fußes
bei der Madonna!
Das Motiv mag
früher schon da
und dort sich nach-
weisen lassen, ist
es aber je in dem
Sinne verwendet
wie hier, um die
Gruppe zu runden
und eine völlig geballte Masse zu schaffen? Charak¬
teristisch ist auch die Kugel, die dem tuße als
Untersatz gegeben ist: das ist so recht eine
Äußerung des Geistes, der von aller Andeutung eines
bürgerlich-häuslichen Wesens sich lossagt und ge¬
flissentlich die größten Allgemeinheiten aufsucht. ')
]) Wenn es scheinen sollte, dass auf dem Dreyfus-Relief
eher ein Kissen gemeint wäre, so muss ich bemerken, dass
FLORENTINISCHE MADONNENRELIEFS.
111
Im gleichen Sinne ist der gewohnte Sessel mit reich
verzierter Lehne hier ersetzt durch einen einfachen
Steinwürfel, wie bei Michelangelo’s Treppenmadonna,
wo L. Courajod die stilistische Wichtigkeit der
Neuerung gebührend hervorgehoben hat (Gazette
des Beaux-Arts 1881). Das Kostüm giebt ältere
und neuere Motive in interessanter Mischung. Im
Vorbeigehen sei auch noch hingewiesen auf die
seltene Form des Heiligenscheines der Madonna,
gerade bei einer so flachen Profilfigur ist die ganz
verkürzte Darstellung der Scheibe im 15. Jahrhundert
nicht die übliche.')
Wenn eine runde Zahl verlangt würde, auf die
man das Relief datiren könnte, so würde ich sagen
1500. Wir befinden uns damit nicht weit weg von
Michelangelo’s „Madonna an der Treppe“. Immer¬
hin würde diese zeitlich noch vorangehen und Aver
es darauf abgesehen hat, Entlehnungen zu konsta-
tiren, müsste die Priorität für die den beiden Arbeiten
gemeinsamen Momente dem Michelangelo zuerkenneu.
Sicher macht unser anonymes Relief einen reiferen
es sich auch hier um eine Kugel handelt, die nur wie alles
andere in der Nähe unter der Knappheit des Raumes etwas
hat leiden müssen.
1) Ich kann nicht unterlassen, auch die andere Seite
hervorzuheben, die entschiedene Verwandtschaft unseres
Reliefs mit älteren Arbeiten. Namentlich die linke Hand der
Madonna und die Behandlung der Beine des Knaben führen
auf frühere Beispiele zurück. Insbesondere empfiehlt sich
die Vergleichung mit dem Madonnenrelief am Pal. Pancia-
tichi in Florenz (Via Cavour), das gerade in den berührten
Partien eine auffallende Übereinstimmung zeigt.
Eindruck. Mit wie viel Sicherheit ist hier das Steife
und Rechtwinklige gebeugt und gerundet und das
Ganze zu massiger Geschlosseuheitziisammengebunden
worden.
Durch die .Jahreszahl 1500 möchte ich aus-
drücken, dass mir das Relief gerade auf der Scheide
von Quattrocento und Cinquecento zu stehen scheint.
Das Alte ist aber Avohl mehr in Einzelheiten als im
Wurf des Ganzen zu suchen. Dessen zum Beweis
teile ich noch das Fragment einer Federskizze Bandi-
nelli’s mit, eine heilige Familie, wo die Mutter mit
dem Kind fast Avörtlich unsere Komposition Avieder-
holt. (Das Blatt befindet sich in der Sammlung von
Handzeichnungeii in den Uffizien, unter Nr. 1527.)
Nur die untere Partie ist etAvas geändert: das linke
Bein ist übergeschlagen und die Hand greift nicht
ins Kleid, sondern legt sich zwischen die Füßchen
des Knaben. Mit dieser Zeichnung fällt nun auch
noch ein unerwartetes Licht auf die Heseltine-Kopie,
die Avir in die Werkstatt Bandinelli’s verwiesen.
Vermutlich hing das Relief dort (in irgend einer
Wiederholung)') an der Wand: ein Schüler hat die
Tafel einmal ängstlich und ohne Geist nachgezeichnet,
der Herr der Werkstatt aber hat sich gelegentlich
der Komposition, die ihm stilistisch noch gar nicht
veraltet vorkam, zu eigenem Gebrauche bedient.
1) Ein gutes Exemplar kann es nicht gewesen sein , da
der Ko[iist an einigen Stellen nicht richtig verstanden hat.
Die Haare an der Stirn z. B. giebt er als Binde. Ebenso
irrt er ab, wo er die am Sitz herunterfallenden Gewandenden
wiedergeben soll.
H43. Komischer Sarkophag aus augusteischer Zeit, früher im Garten des deutschen Botschaftspalastes in Rom.
EIN NEUER KATALOG
DER ANTIKEN SKULPTUREN IN BERLIN.
rill einbetfi'itten
Die Geiieralverwaltuiig der König¬
lichen Museen zu Berlin hat der
im .lahre 1888 erschienenen „Be¬
schreibung der Bildwerke der christ¬
lichen Epoche“ von Bode und
Tschndi kürzlich einen ausführ¬
lichen Katalog der antiken Skulp¬
turen des Berliner Museums folgen
lassen'). Dass der wertvollste Be¬
standteil dieser Abteilung, die
pergamenischen Funde, nicht da¬
ist, liegt in allbekannten Übel-
ständen begründet, die erst mit dem Neubau des
.Museums werden beseitigt werden können. Der
neue Katalog unterscheidet sich hinsichtlich des Be¬
standes bis auf wenige neuerworbene Stücke, unter
rlenen ein sehr wohlerhaltener Medeasarkophag und
einige Douhletten aus den Funden von Olympia
hervorragen, nicht von dem im .lahre 1885 heraus-
gegebenen .Verzeichnis“; letzteres war vielmehr ein
kurzer, für das größere Fuhlikum gemachter Aus¬
zug aus dem schon damals iin wesentlichen fertigen
1) Könif^l. .Museon y.n Berlin. Besclireibutif' der antiken
Skulpturen mit Ansschlusa der Pergamenischen Rundstücke.
Mit 1266 Abbildungen im Text. Berlin, W. Spemann, 1891.
ausführlicheren Katalog. Wenn dieser nun durch
nichts anderes von jenem Auszuge sich unterschiede,
als durch die genauere Beschreibung und den rei¬
cheren gelehrten Apparat, wie sie die Rücksicht auf
wissenschaftliche Benutzung verlangen, so würde
diese Zeitschrift kaum der Ort sein, länger bei der
neuen Veröffentlichung zu verweilen. In der That
bietet diese aber etAvas wenigstens bei Antikenver¬
zeichnissen ganz Neues, was auch für av eitere Kreise
von Interesse ist.
Jeder, der darauf angeAviesen ist, sei es ge¬
legentlich, sei es berufsmäßig, Kataloge von Kunst-
Averken, Gemälden oder Skulpturen zu benutzen,
empfindet sicherlich als schwere Übelstände einmal
die Unübersichtlichkeit des Ganzen, der auch genaue
Überschriften nur mangelhaft abhelfen, und zweitens
die ScliAvierigkeit, selbst nach der genauesten Einzel-
besebreibung sich ein ganz entsprechendes Bild
des einzelnen Kunstwerks zu machen — ganz ab¬
gesehen von dessen stilistischer Beschaffenheit, die
keine Beschreibung präzis wiedergeben kann. Es
ist eben die Unzulänglichkeit des Wortes, wo es
gilt eine Anschauung zu gewinnen, was solche Stu¬
dien nach bloßen Katalogen so überaus zeitraubend,
ermüdend und unerquicklich macht und überdies
fast immer ein gewisses Gefühl der Unsicherheit
EIN NEUER KATALOG DER ANTIKEN SKULPTUREN JN BERLIN.
113
3. Erzstatue aus
Kyzikos.
hinsichtlich der gewonnenen Ergebnisse zurücklässt.
Schon längst ist es erkannt worden, dass nur eine
konsequent durchgeführte Illustration der Kataloge
diesem Übelstande abhelfen kann, und es ist ein hohes
Verdienst der preußischen Generalverwaltung, durch
die beiden bisher veröffentlichten Skulpturkataloge mit
dieser Abhilfe Ernst gemacht zu haben. Dabei ist
die Art der Illustration etwas verschieden. Während
in dem früher erschienenen Bande
der Hauptteil der Illustration in
die phototypischen Tafeln verlegt
und der Zinkätzung nur eine Ne¬
benrolle zugewiesen ward, herrscht
in der Beschreibung der antiken
Skulpturen die Zinkätzung allein.
Ausgenommen Doubletten oder
ganz unbedeutende Stücke, ist jede
einzelne Nummer des Katalogs
mit einer, nötigenfalls auch mit
ein paar Abbildungen versehen:
im ganzen sind es 1266 Abbil¬
dungen, die so die Beschreibungen
begleiten. Der Maßstab der Ab¬
bildungen ist sehr verschieden ; mit
Recht, da es ja nur darauf an¬
kommen kann, ein genügend deutliches Bild des
Kunstwerks zu geben. Köpfe also beispielsweise
einen etwas größeren Maßstab verlangen, als ganze
Statuen; auch sind die Maße überall aus dem
Texte zu entnehmen. Die Vorlagen sind unter Auf¬
sicht Jacoby’s von verschiedenen
Händen hergestellt worden. Wenn
nicht alle in ganz gleichem Maße,
sei es dem Charakter der Kunst¬
werke, sei es den Bedingungen
der Technik, gerecht geworden
sind (hie und da stören nament¬
lich allzu dunkle Schatten), so
wird man dies einem ersten Ver¬
such und der erst allmählich zu
erreichenden Schulung der Zeich¬
ner zu gute halten; im ganzen
wird man mit der Ausführung
sehr zufrieden sein dürfen, und
selbst den stilistischen Charakter
des Bildwerks wird der Kundige aus den leichten
Umrissen meistens herauslesen können. Misslungene
Abbildungen sind selten (z. B. Nr. 126, 210); eher
stört gelegentlich der zu tief gewählte Gesichts¬
punkt (z. B. Nr. 4, 215) oder eine falsche Stellung
des Kopfes, so namentlich bei dem schönen archai-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
502. Sklave.
Von einer Grabgruppe
aus Tarent.
sehen Kopf einer sog. Penelope (Nr. 603, vgl. Nr. 77).
Einige Proben, deren Mitteilung wir der Güte der
Verlagshandlung verdanken, werden dem Gesagten
zum Beleg dienen.
Es liegt auf der Hand, dass mit dieser Illustra¬
tion keine allen Ansprüchen
genügende Publikation des
Museums beabsichtigt ist —
obgleich des Neuen, bisher
nicht Veröffentlichten so viel
ist, dass das Buch auch
nach dieser Seite hin leb¬
haften Dank verdient. Die
Hauptsache ist jedenfalls,
dass den oben bezeichneten
Mängeln der bisherigen Ka¬
taloge thunlichst abgeholfen
ist. Schon die Zeitersparnis
ist nicht hoch genug zu
schätzen, denn ein rasches
Durchblättern, ein ttüchtiger
Blick genügt, um das Ge¬
suchte zu finden oder fest-
zustellen, dass Gesuchtes
nicht vorhanden ist. Nach
dieser Seite hätte sich sogar
noch mehr thun lassen, wenn
ausführlichere Inhaltsübersicht ,
Mühe
eine etwas
sie S. XH ge-
mit leichter
durch
als
geben ist, und durch geeignete Überschriften der
einzelnen Seiten für eine raschere Orientirung über
die Anordnung ge¬
sorgt wäre. Ferner
tritt an die Stelle der
Ermüdung , wie sie
beim Gebrauch bloß
beschreibender Kata¬
loge unausbleiblich
ist, durch die Be¬
trachtung der Bilder
immer neue Anre¬
gung , und es kann
nicht fehlen, dass der
Benutzer auf der Jagd
nach irgend einem
Gegenstände seiner
Forschung unwillkürlich noch auf mancherlei an¬
dere Gesichtspunkte geführt wird. Sodann sichern
ihn die Abbildungen , ergänzt durch die sehr ein¬
gehenden und genauen Beschreibungen, vor trüge¬
rischen Folgerungen und falschen Anwendungen,
denen man bei bloß gedruckten Katalogen so leicht
15
091. Weihrelief an die Göttermutter.
Aus dem Piräeiis.
114
EIN NEUER KATALOG DER ANTIKEN SKULPTUREN IN BERLIN.
ausgesetzt ist. Endlich bieten ihm die Abbildungen
genügenden Anhalt, die Kunstwerke stilistisch und
kun.sthistorisch zu beurteilen, den Charakter eines
Porträtkopfes zu erkennen u. s. w. Genug, ein
eigentliches Arbeiten ist erst mit einem solchen
illustrirten Katalog möglich, und man bedauert
fast, es nicht mit einem bedeutenderen Antiken¬
museum zu thuu zu haben als
dem Berliner, in dem, von
den pergamenischen Stücken
abgesehen, neben der ehemals
Salmrotfschen Saminlung doch
nur verhältnismäßig wenige
Stücke einen bedeutenden selb¬
ständigen Wert besitzen. Aber
es kann gar nicht ausbleiben,
dass andere Museen, wollen sie
nicht ganz Zurückbleiben, dem Beispiel des Berliner
folgen werden; ja es verlavitet bereits, dass hie und
da Ähnliches im Werke sei. Liegen erst einmal bei¬
spielsweise das Britische Museum (von dem aller¬
dings soeben der Beginn eines neuen Katalogs mit
nur spärlichen Abbildungen erschienen i.st), das
Museum des Louvre, der Vatikan, die Münchener
3(33. Autiuous.
Glyptothek in solcher Bearbeitung vor, ließe sich gar
dergleichen von den nur erst so bruchstückweise
bekannten athenischen Museen erhoffen — welch
ein sicherer Boden Avürde da der Forschung bereitet
sein, welch eine Lust würde es sein, mit solchem
Material zu arbeiten!
Wie der Herausgeber, der jetzige Direktor der
Skulpturenabteilung, R.Kekule,
im Vorworte bemerkt, gehen
Plan und Durchführung des
Katalogs auf seinen Vorgänger
A. Conze zurück. Schon im
Jahre 1879 begannen die Vor¬
arbeiten. Die Beschreibung ist
der Hauptsache nach von A.
F urtwängler entworfen und von
Conze revidirt; die etruskischen
Denkmäler sind von G. Körte bearbeitet. 0. Puch¬
stein hat die ganzen Akten des Museums durch¬
gearbeitet und die Inschriften behandelt, auch die
Druckbogen einer erneuten Vergleichung mit den
Originalen unterzogen. So ist in gemeinsamer Arbeit
ein Werk entstanden, dem wir recht viele Genossen
wünschen. AD. MICHAELIS.
479. .Jünglingskopf.
K14:. Seimlcrale.s Weilirelief ;
Der lieroisirte Verstorbene wird von Familiengeuossen verehrt.
DIE PIETA IM MAGDEBURGER DOM.
MIT ABBILDUNG.
NTER dem reichen figür¬
lichen Schmncke unseres
ehrwürdigen Gotteshauses,
welcher ans all den Wir¬
ren und Zerstörungen der
vergangenen Jahrhunderte
glücklich gerettet worden
ist, sind besonders bemer¬
kenswert mehrere Madonnendarstellungen, zunächst
dicht an der Paradiesespforte, lebensgroß und in
reichem Farbenschmuck prangend, auf einem Drachen
stehend eine Mutter Gottes von großer Lieblichkeit;
dann im südlichen Kreuzgang die Maria miraculosa;
am Kanzelpfeiler die Maria auf dem Monde, welche
die „natürliche Größe, Gestalt, Länge und Gleichheit
des Leibes gar künstlich vorstellet“, und von welcher
Meinecke in seiner Beschreibung der Merkwürdig¬
keiten Magdeburgs 1786 begeistert sagt, „sie habe
eine unbeschreiblich sanft lächelnde Miene, die immer
holder und freundlicher werde, je länger man sie
l)etrachte, so dass man gleichsam gefesselt werde,
bei ihr länger zu verweilen, als man anfänglich
wollte und glaubte“.
Besonders bemerkenswert ist die kleine, aus
Sandstein gemeißelte schmerzensreiche Mutter Gottes,
die mit thränenüberströmtem Blick herunterblickt
auf den toten Körper Christi, welcher auf ihrem
Schoße ruht, und von welcher Meinecke sagt, „es
scheine bei einer stillen und ernsthaften Betrachtung,
als wenn man ihre heißen mütterlichen Thränen
sichtbar auf die geliebte Leiche ihres göttlichen
Sohnes niederträufeln sähe“.
Viele mögen achtlos an dem Kunstwerk vorüber¬
gehen, welches auf einem der 42 in Ruhestand ver¬
setzten kahlen und schmucklosen Altäre im Dämmer¬
licht einer Chorkapelle des Domes seinen unschein¬
baren Standpunkt hat und das durch einen häss¬
lichen dicken grauen Olanstrich, aus welchem die
15*
DIE MALEREIEN DES HULDIGUNDSSAALES IM RATHAUSE ZU GOSLAR.
1 Iß
Spuren der früheren reichen Bemalung noch hier
und da sichtbar hervortreten, noch unansehnlicher
gemacht wird.
Früher stand die Gruppe auf dem Altar der im
18. Jahrhundert abgerissenen Pilatuskapelle am Ost¬
ende des nördlichen Seitenschiffes; von dort ist sie
in die sog. Tilly-Karnmer, zuletzt an ihre jetzige
Stelle versetzt worden.
Die Gestalt der Madonna, vrelche in Haltung
und I’altenwurf viel Verwandtes mit der bemalten
Thonstatue des Benedetto da Majano im kgl. Mu¬
seum in Berlin zeigt und deren Züge an den Frauen¬
typus des Leonardo da Vinci erinnern, ist von großer
Schönheit der Komposition und liebevollster Fein¬
heit dertechnischenDurchführung. Der tiefe Kummer,
die thränenüberströmten Augen sind in vollendeter
Weise ergreifend zur Darstellung gebracht. Unter
dem das Haupt verhüllenden Tuch wird jede Be¬
wegung des Haares sichtbar, ein breit angelegter,
edler Faltenwurf ohne alles knitterige Beiwerk ver¬
hüllt, in Licht und Schatten machtvoll Avirkend, den
Unterkörper. Auf ihren Knieen, von denen das rechte
leicht in die Höhe gezogen ist, ruht die todesstarre
tiestalt des Gekreuzigten, welche leider einen Miss¬
klang in die Kompo.sition bringt. Die hageren, steif
herabhangenden Beine, deren Zehen abgebrochen
sind, und der dürftige Unterkörper stehen nicht im
Verhältnis zu dem schwerlastenden Kopf und Ober¬
körper, welche unschön aus der Gruppe heraustreten
und die Befürchtung hervorrufen, dass der Körper
demnächst rückwärts von dem Schoß der Madonna,
deren zarte Hand die wuchtige Last nicht länger
stützen kann, herunterstürzen werde.
Im ergreifenden Gegensatz zu diesem Ungeschick
steht wieder die große Schönheit des leidenden Er¬
lösergesichtes mit seinem herrlichen Gelock und dem
schmerzverzogenen Munde, dessen einzelne Zähne
unter dem jugendlichen Bart sichtbar hervortreten.
Welcher Künstler das Werk gemacht, ist gänz¬
lich unbekannt. Keine Urkunde, keine Rechnung
oder sonstige Aufzeichnung des Domarchivs enthält
ein Wort darüber, kein Kunstschriftsteller hat sich
bis jetzt darüber schlüssig machen wollen. Viel¬
leicht gelingt es, wenn erst der entstellende Ölfarben¬
überzug entfernt sein wird, ein Künstlerzeichen an
dem interessanten Werke zu entdecken. Bis jetzt
kann nur aus einem sorgfältig gemeißelten spät¬
gotischen Ornament am Sitz der Madonna im allge¬
meinen auf die Zeit geschlossen werden, in welchem
das Kunstwerk seine Entstehung gefunden haben
mag. Mögen diese Zeilen für weitere Forschungen
als Anregung dienen!
Magdeburg.
DIE MALEREIEN DES HULDIGUNGSSAALES
IM RATHAUSE ZU GOSLAR.
URZ nachdem Januar 1891
aus dem Krätz’schen Nach¬
lasse in der Bibliotheca Be-
vcrina zu llildesheim die
schon von Vischer und
schließlich von d'hode nach-
drücklicli ausgesprochenen
Zweifel betreffs der Autor¬
schaft Wolgemut’s an den Malereien des Goslarer
li'afhauses schlagend ihre Bestätigung gefunden
hatbm '), erschien März 1891 eine Dissertation der Ber-
1) Vergl. 1!. Hiigelliiinl ; Heiträffe ziir Kunstgeschichte
.Nifileryiicliscns. Döttingen 1S!ll. S. 21 tt. Dariiher üejieitorinni
liner Universität von Müller-Grote: Die Malereien des
Huldigungssaales im Rathause zu Go.slar, Berlin 1891,
G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung. 8. S. 87, die auf
Grund stilkritischer und archivalischer Forschung
ebenfalls zu dem .sichern Resultate gelangte, dass
Wolgemut nicht der Maler der Goslarer Rathaus¬
gemälde sei. Nach etwas über Jahresfrist erscheint
in demselben Verlage soeben dieselbe Dissertation mit
Illustrationen und Lichtdrucktafeln und besonders
im Entwürfe über die Sibyllendarstellungen er-
für Kunstwissenschaft XIV, S. 261 ff. und XV, S. 439. Christ¬
liches Kunstblatt Jahrg. 1891, S. 63. Kunstchronik N. F.
1890/91 Nr. 31, S. 544. Müller-Grote; a. a.. 0. 2. Aufl. 1892,
S. 111.
DIE MALEREIEN DES HULDIGUNGSSAALES IM RÄTIIAUSE ZU GOSLAR.
117
weitert. Die Arbeit zerfällt iu vier Teile. Der erste
S. 1 — 16 enthält einen kurzen Überblick über die
deutschen, speziell uiedersächsischen Rathäuser im
14. und 15. Jahrhundert mit besonderer Rücksicht
auf ihre innere Anlage und künstlerische Ausstattung.
Der zweite Teil S. 17 — 29 bildet die Beschreibung der
Malereien im Huldigungssaale mit Berichtigung einiger
kleinerer Versehen der Beschreibung Thode’s: Maler¬
schule in Nürnberg, Frankfurt 1891, S. 201 tf. — Der
dritte Teil beseitigt unter Beifügung eines Faksimiles
aus dem Goslarer Kämmereiregister vom Jahre 1501
die Krätz’sche unglückliche Konjektur über die
Autorschaft Wolgemut’s an den Goslarer Rathaus¬
malereien und bringt in einem Nachtrage S. 111 die
früheren Ergebnisse aus dem Krätz^schen Nachlasse.
— Der vierte Teil S. 36 — 70 umfasst die stilkritische
Untersuchung der betreffenden Gemälde, ob nämlich
Wolgemut, da seine Autorschaft iirhtndlich nicht
nachweisbar ist, in rein künstlerischer Beziehung
mit den Gemälden in Beziehung gebracht v/erden
könne. Zu dem Zwecke sichtet der Verfasser
kritisch die Werke Wolgemut’s und kommt im
Gegensatz zu Thode wesentlich zu denselben Re¬
sultaten über die Thätigkeit Wolgemut’s wie ATscher,
bezüglich der Goslarer Malereien insbesondere zu dem
Schluss, dass hier weder eine direkte Beteiligung
Wolgemut’s, noch eine Arbeit von Schülern nach
den Entwürfen des Meisters anzunehnien sei. Der
Verfasser erblickt dagegen in dem Northeimer
Maler Hans Piaplion den Meister der Goslarer Ge¬
mälde. Prüfen wir das Resultat!
Der Verfasser zählt auch hier die Werke Rap-
hons auf, zunächst die zwei durch vollständigen
Namen inschriftlich beglaubigten Werke (Hannover
und Halberstadt), abgesehen von dem verschollenen
Walkenrieder. Über das vierte, wenn auch nicht voll
inschriftlich, so doch mit Anfangsbuchstaben H. R.
des Meisters Hans Raphon bezeichnete Werk im
Provinzialmuseum zu Hannover hält der Verfasser
bei seinem jetzigen Zustande ein Urteil für gewagt
und bemerkt, dass die beiden Buchstaben H. R.,
welche an der Mütze je eines Henkers angebracht
sind, durchaus nichts bewiesen, da derartige Buch¬
staben ab.sichtslos als Zierde besonders an Kopf¬
bedeckungen angebracht würden. Ich muss dieser
1) Für die Lichtdrucktafeln und Illustrationen sind wir
dem Verfasser zu Danke verpflichtet, zumal die ungünstige
Beleuchtung des Saales der Aufnahme nicht unerhebliche
Schwierigkeiten bietet.
2) Müller-Grote a, a. 0. S. b4, Anm. 1.
Ansicht entschieden entgegentreten. Erstens linden
sich auf diesem Altargemälde überhaupt weiter keine
Buchstaben als dies H an der Mütze einer Haupt¬
figur des linken Altarflügels und das R entsprechend
auf dem rechten Flügel '); dazu kommt, dass auf
denselben Flügeln in offenbar beabsichtigtem Paral¬
lelismus zu den oben angebrachten Buchstaben H. R.
unten auf dem linken Flügel die Inschrift Anno dhi
und auf dem rechten die Jahreszahl 1500 angebracht
ist. Sollten also diese beiden einzigen Buchstaben,
die nun zugleich Anfangsbuchstaben unseres Meisters
Hans Raphon sind, ohne jede Beziehung zu der
darunter befindlichen Zeitbestimmung des AVerkes
sein? Eine streng methodische Forschung darf doch
über solche Inschriften „als absichtslose Zierde“ nicht
gleichgültig hinweggehen. Nun stammt außerdem
dieser Altar aus Einbeck (Marktkirche St. Jacobi),
wo Raphon hauptsächlich seine Thätigkeit entfaltete.
Schließlich ergiebt aber vor allem eine stil kritische
A^ergleichung mit den übrigen in der Cuniberland-
galerie befindlichen Werken Raphon’s zweifellos die
Autorschaft desselben für die Innenseite des äußeren
und die Außenseite des 2. Flügelpaares, während die
Außenseite des 1. Flügelpaares von Schülerhand
herrührt. Dass Müller-Grote ein Urteil über den
Altar bei seinem jetzigen Zustande für gewagt hält,
kann doch nicht maßgebend sein. Ich habe 1888
den Altar auf das eingehendste, zugleich aber auch
auf das unbefangenste untersucht. Damals war
nämlich jener Altar durch einen Zettel fälschlich aus
der Marienkirche zu Ülzeii stammend bezeichnet.
Bei näherer Untersuchung fand ich aber eine Ver¬
wandtschaft mit Raphon in den kräftigen Gestalten
mit markigen Zügen. Die Buchstaben H. R. und
Inschrift Anno dni bestärkten mich in meiner Ansicht,
und Herr Hofmaler Prof. Osterley bestätigte mir an
Ort und Stelle im Provinzialmuseum, dass die Be¬
zeichnung aus Ülzen falsch und es derjenige Altar
sei, welchen er persönlich aus der Jacobikirche zu
Einbeck erworben und später dem Provinzialmuseum
zu Hannover überlassen habe ; damals sei auch noch
die Jahreszahl 1500 vorhanden gewesen, später aber
abgeblättert. ■ — Übrigens sehe ich meine Ansicht
nachträglich von Janitschek bestätigt 2), welcher das
Werk als ein „ganz charakteristisches“ Werk
Raphon’s bezeichnet.
So wenig ich die Ausschließung dieses Raphon’-
1) Die beiden Buchstaben sind abgebildet bei Mithott:
Kunstdenkm. und Altert, im Hannover. II, Taf. 11,
2) Bepertor. für Kun.stwissenscliaft XV, 440.
118
DIE MALEREIEN DES HULDIGUNGSSAALES TM RATHAUSE ZU GOSLAR.
scheu Werkes zugebeii kauii, so wenig kann
ich die beiden Altarflügel im städtischen Museum
zu Hildesheim als Raphon’sche Arbeiten anerkennen,
welche Müller-Grote ihm zuweist. Diese ge¬
hören demselben Meister an, welcher die beiden
Altarflügel der früheren St. Paulikirche zu Hildes¬
heim (jetzige Ptnionshalle) zum Teil nach Dürer’s
.Marienleben malte, die sich jetzt in der Cumberland-
galerie zu Hannover befinden. -) Jene beiden Flügel
im städtischen Museum zu Hildesheim gehörten ur¬
sprünglich zu dem jetzt in der St. Michaeliskirche
befindlichen Flügelaltar, welcher wiederum anderer¬
seits ur.sprünglich der früheren St. Martinikirche
angehörte, später aber bei deren Umgestaltung zum
städtischen Museum in die St. Michaeliskirche über¬
führt wurde, während die beiden schon früher ab-
getrennten oben erwähnten Flügel von dem hoch¬
verdienten Herrn Senator Römer vor dem Unter¬
gänge gerettet und kürzlich auf dessen Veranlassung
von Hauser in Berlin restaurirt sind. Bei einer
Vergleichung im letzten Sommer nach der Restau-
rirung fand ich die Übereinstimmung der Malereien
dieses geteilten Altars unter sich und mit den Flügeln
aus St. Pauli jetzt in der Cumberlandgalerie. Dagegen
möchte ich hier gleich auf ein neues Raphon’sches
Schulbild hinweisen, welches ich im vorigen Sommer
in llildesheim im Betsaale des Arnekenstiftes fand.
Es ist ein kleines gemaltes Triptychon mit Gold¬
grund, etwas gröber als die beiden kleinen der Cum¬
berlandgalerie. Das Mittelbild stellt die hl. Sippe
dar, S. Maria mit Kind; S. Emerentia, die Milch¬
soll wester der hl. Anna, in einem Buche lesend, über
ihrem Haupte ein Baum, in welchem das Christkind
mit Weltkugel erscheint; S. Anna mit Rosenkranz
und Buch. Hinter Anna und Maria steht Joachim
und Joseph. Auf dem rechten Flügel ist St. Jo¬
hannes mit Kelch, auf dem linken Flügel St. An¬
dreas mit Kreuz, in einem Buche lesend dargestellt.
Auf der Außenseite des Flügels St. Katharina mit
Schwert, auf dem linken Flügel St. Barbara. Die
l'onnen und Farben sind ganz die von Raphon;
von den ß'ruuen der hl. Sippe erinnert die hl. Anna
besonders an die gleiche Figur der hl. Sippe des
rechten Flügels vom großen Triptychon in der
Cninberlandgalerie.
1' .Miiller-Orote a. a. 0. S. 04, Anui. 1.
2) Kngelliard, Heitriige zur Kiiiistgeschichte Niedei'-
saclisi'iis, S. 24.
!!) Kngelhanl, a. a. 0. 8. 20 L'brigeus ist niclit der
ganze .41tar von Hauser restaurirt, sondern nur dit; lieiden
im -tiidt isclnm .Mu.'-enm Ixdindlichen J'liigel.
Die beiden kleineren Altarwerke der Cumber¬
landgalerie *) weist der Verfasser ebenfalls Raphon
zu, doch mit dem Unterschiede, dass er bei dem
1503 vom Canonicus Mentzen dem Stift B. Mariae
Virg. zu Einbeck geschenktenTriptychon einen größeren
persönlichen Anteil des Meisters erkennt als selbst
bei den inschriftlich beglaubigten. 2) Das aus der
Alexanderkirche zu Einbeck jetzt in der Cumberland¬
galerie (nicht wie Müller- Grote irrtümlich angiebt
im Provinzialmuseum) befindliche Triptychon hält
er für ein geschäftsmäßiges Produkt der Raphon'schen
Werkstatt (a. a. 0. S. 64). Auch diesem Urteile
kann ich mich nicht anschließen. Die kurzen Pro¬
portionen, die sehr derben Gesichtszüge auf dem Cauo-
nicus Mentzen’schen Bilde könnten mich eher bewegen,
es für ein Werkstattbild zu halten, Janitschek®)
schließt es deswegen sogar ganz von den Raphon’schen
Werken aus; doch geht er nach meiner Ansicht zu
weit; die Figur des Jakobus d. A. erinnert sehr lebhaft
an eine Gestalt des Altares im Provinzialmuseum.
Jedenfalls stelle ich das Bild aus der Stiftskirche
St. Alexander über das Cononicus Mentzen’sche Bild.
— Das Mittelbild des Triptychons aus Kloster
Teistungenburg im Provinzialmuseum zu Hannover^)
hat mit Raphon nichts zu thuu, auch kann ich in
den strengen Zügen keine Anklänge an die lieblichen
älteren Marienbilder der Kölnischen Schule finden.
Die Flügel dieses Triptychons indes erinnern an
Raphon.
Wir kommen schließlich zu dem Braunschweiger
Bilde und den Goslarer Gemälden. Die frappante
Ähnlichkeit zwischen beiden ist schon von Vischer
bekanntlich nachgewiesen und von Thode entschieden
bestätigt worden, so dass kein Zweifel über die Iden¬
tität ihres Meisters herrscht, aber um so allgemeiner
ist der Protest gegen die Bezeichnung des Braun¬
schweiger Bildes als Raphon’sches Werk. Thode
meint „mit Bestimmtheit, dass der Name Raphon’s
unter dem Braunschweiger Bilde zu streichen sei“.^)
Janitschek ist „zu der rückhaltlosen Überzeugung
gelangt, dass das Braun Schweiger Bild nichts mit
Raphon zu thun hat“; Eisenmann desgleichen.^
Auch Vischer hat sich nur hedingnnrjsi reise für Raphon
1) Abgebiklet bei Münzenberger: Zur Kenntnis und
Würdigung mittelalt. Altäre. I. Bd.
2) Müller-Grote a. a. 0. S. (jü.
;3) Janitschek: Repertor. für Kunstwissenschaft XV,
S. 440.
4) Kngelhard a. a. 0. S. 28. Müller-Grote a. a. 0. S- 03.
5) Thode: Malerschule von Nürnberg, S. 201.
0) Repertor. f. K. XIV, S. 203 und XV, 8. 440.
DIE MALEREIEN DES HÜLDIGUNGSSAALES IM RATIIAÜ8E ZU GOSLAR.
119
entschieden, „iccnn nämlich dies Triptychon in der
Galerie zu Braunschweig wirklich mit den bezeich-
neteu Werken dieses Malers in Göttingeu, Halber¬
stadt, Herrenhausen und Hannover so sehr überein¬
stimmt, dass man es zweifellos als eine Arbeit des¬
selben betrachten darf, so ist es gleichfalls Hans
Raphon, welcher einen großen ße.standteil des Bilder¬
schmucks im Rathause zu Goslar ausgeführt hat“^)
Nach dem Erscheinen der bezeichneten Dissertation
habe auch ichnochmalssämtlicheRaphon’schen Werke
mit dem Brannschweiger Bilde verglichen und muss
bei meinem schon 1888, also ehe mir die Urteile
anderer bekannt waren, gewonnenen Resultate stehen
bleiben. Folgendes sind die Gründe: Erstens ist das
Bild weder inschriftlich noch urkundlich als von
Raphon stammend bezeichnet. Ob die falsche Deu¬
tung des verschlungenen Stifterinonogramms auf dem
linken Altarflügel auf einem Schilde zwischen den
knieenden Stiftern die Veranlassung gewesen ist, es
Raphon zuzuschreiben, entzieht sich meiner Beur¬
teilung, Janitschek (Repertor. XV, S. 440) macht es
sehr wahrscheinlich. Zweitens lenkt die stilkritische
Untersuchung ganz von Raphon ab. Wenn ich in
den Beiträgen zur Kunstgeschichte Niedersachsens
S. 24 schrieb, dass ich auf dem Braunschweiger
Bilde die rundlichen Köpfe und den gesetzten Körper¬
bau Raphon’s vermisste, so hatte ich dabei haupt¬
sächlich im Mittelbilde die drei Gefangenen am
Pranger Gisinas, Resinas und Barrabas^) in der Er¬
innerung. Solch schmale Gesichter, scharf geschnit¬
tene Profile sind auf keinem Raphon’schen Werke
zu finden. Dagegen hat der Meister besonderes Ver¬
gnügen an diesen Gestalten, dass er sie an der Decke
des Goslarer Huldigungssaales wiederholt, z. B. Pro¬
phet Habakuk (vergl. Abbildung bei Müller-Grote).
Dazu kommen die eigenartigen Proportionen auf dem
Braunschweiger Bilde, der kurze Oberkörper und
die überlangen Beine, welche besonders auf dem
Mittelbilde „die Verspottung“ auffallen. Dieselben
Proportionen treten auch bei den Goslarer Bildern,
besonders bei der Madonna auf der Mondsichel der
erythräischen und phrygischen Sibylle (abgebildet bei
Müller-Grote) zu Tage. Solche auffallend schlanke
Gestalten sind Raphon ganz unbekannt. Ebenso
fremd sind ihm auch die beleibten Figuren, wie wir
sie unter den Goslarer Kaiserfiguren, besonders bei
dem an der Eingangsthür des Huldigungszimmers
finden, ferner jene schwülstigen, schwammigen Ge¬
ll Vischer: Stucl. zur Kunstgesch. Stuttg. 188G, S. 837 ff.
2) Vergl. fl. photogr. Reprodukt. Berlin, photogr. Be-
sellsch. Quartformat.
siebter mehrerer Pharisäer aus dem Volkshaufen im
Braunschweiger Mittelbilde, sowie mehrere Personen
in der Messe des heil. Gregor. Auch weicht die
Gesichtsbildung der weiblichen Figuren bei dem
Braunschweiger und Goslarer Meister erheblich von
Raphon ab; bei der Braunschweiger und Goslarer
Madonna, sowie bei den Sibyllen finden wir ein
längliches Oval, bei Raphon dagegen rundliche
Köpfe mit ganz charakteristischen rundlichen Wangen.
Auffallend ist sodann, dass auf dem Braun¬
schweiger Bilde eine vollendete Linienperspektive
zu Tage tritt, von der Janitschek (Repert. XIV, S. 269)
sagt, „dass er keinen deutschen Maler jener Zeit
kenne, der die Perspektive so meisterhaft beherrscht
und so sehr mit ihr Staat macht, wie jener“, während,
wie Müller- Grote, S. 60 selbst schreibt, bei Raphon
fast durchgehend sich die Scenen und Gestalten auf
Goldgrund abheben. Nun stammt aber sowohl das
Braunschweiger als auch das Hannoversche Bild
(früher St. Jürgenkapelle in Göttingen) aus dem Jahre
1506. Ich kann mir nicht erklären, dass zwei so
wesentlich verschiedene Bilder aus ein und dem¬
selben Jahre, von ein und demselben Meister stam¬
men sollen. Ja, Müller-Grote geht noch einen Schritt
weiter und behauptet S. 59, das Hannoversche Bild
von 1506 und das Halberstädter von 1508 und 1509
gehörten Raphon’s letzten Lebensjahren an und
wären nur Produkte handwerksmäßiger Ausnutzung
seiner Kunst, und gleich darauf, S. 61 stellt Müller-
Grote die Behauptung auf, dass das Brannschweiger
Bild, welches, wie bemerkt, aus demselben Jahre,
1506, stammt, den künstlerischen Höhepunkt des
Meisters bezeichne. Künstlerischer Höhepunkt und
handwerksmäßige Ausnutzung seiner Kunst aber in
ein und demselben Jahre, 1506, ist doch uninöglich.
Müller-Grote fühlt entschieden den bedeutenden Ab¬
stand zwischen dem Hannoverschen und Halberstädter
Bilde einerseits und dem Braunschweiger Bilde und
den Goslarer Gemälden andererseits und drückt da¬
her die inschriftlich beglaubigten Bilder Raphoii’s
zu Handwerksarbeiten herab, um sich den Abstand
gegen das gleichzeitige Braunschweiger Bild zu er¬
klären. Es ist doch auch ferner nicht glaubwürdig,
dass Raphon die letzten, angeblich handwerksmäßigen
Bilder (Hannover und Halberstadt) inschriftlich be¬
glaubigt hätte und andererseits sein Hauptwerk in
Braunschweig aus demselben Jahre ohne Inschrift
hätte wandern lassen, um dann 1508 das Halber¬
städter Bild, fast eine genaue Wiederholung des
Hannoverschen, nochmals mit seinem Namen zu be¬
glaubigen.
12ü
KLEINE MITTEILUNGEN
Ich halte also an den Hannoverschen und Halber¬
städter Krenzigungsbildern, weil inschriftlich be¬
glaubigt, als den Hauptwerken Raphon's fest und
kann auf Grund stilkritischer Untersuchung das
Braunschweiger Bild und mithin auch die Goslarer
Gemälde als Raphon’sche Werke nicht anerkennen.
Der Meister von Goslar und Braunschweig steht in
Zeichnung und Komposition beträchtlich über Raphon.
R. ENGELHARD.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Der Kü/isflcrl-lab St. Lncas in Düsseldorf hat vor einiger
Zeit das erste Heft seiner Malerradirungen veröftentlicht,
das wir schon vor ein paar Monaten signalisirten. Es sind
zehn Blatt in Folioformat, die das Heft ausmachen; acht
Künstler sind dabei beteiligt gewesen. Auch ein Textbogen
liegt bei, unterzeichnet von der Kupferdruckerei von Hart¬
mann & Beck in Düsseldorf. An diesem Blatte ist nichts
auszusetzen, als das etwas zu kleine Format; der Text weist
mit ernsten Worten auf die Vorzüge der Malerradirungen
hin, in ähnlicher Weise, wie es den Lesern dieser Zeitschrift
schon zu wiederholten Malen eindringlich zu Gemüt geführt
worden ist. Blättert man nun die Mappe durch, so wird
man ein über das andere Mal erstaunt sein, zu sehen, auf
welcher künstlerischen Höhe die Leistungen der Mitglieder
des Vereins stehen. Zunächst sind es technisch vorzügliche
Blätter; alles ist voll Kraft und Gegensätze, voll Stimmung,
voll Charakter. Aber dann — und das ist viel mehr —
sind es echte Kunstwerke. Wie im TAede des Dichters der
Herzschlag zu fühlen ist, der ihm dauernde Wirkung ver¬
leiht, so geht auch von dem aus der Seele des bildenden
Künstlers entsiirossenen Werke ein warmer Hauch inten¬
siven Ijebens aus, der sich sofort beim ersten Blick in die
Seele des empfindungsfähigen Beschauers schleicht und sein
Herz wohlthuend umfängt. ,,E]s weckt der dunklen Gefühle
Gewalt, die im Herzen wunderbar schliefen. ■“ Dieser geheim¬
nisvolle Kontakt verschwindet auch nicht, wenn die kurze
Zeit des Genusses vorüber ist: ein leiser Nachklaug lockt
und mahnt sanft zur Wiederholung des Eindrucks, und wenn
er erneut v'ird, thun sich nach und nach neue Reize des
W'erkes auf. Diese Frohe, das Kennzeichen echter Kunst¬
werke, bestehen die vorliegenden Blätter fast alle. Es ist
schwer und fast überflüssig zu sagen, auf Grund welcher
Eigenschaften diese Wirkung erreicht wird. Der Elemente
sind ja so viele, wie der Organe eines Küri)ers: und dann
genügt ja das Dasein der Elemente nicht, sondern ihre rechte
ZuHammenwirkung maclit das Leben des Werkes aus. Woll¬
ten wir die einzelnen Blätter kritisch untei’suchen und zu
bestimmen wagen, wie es kommt, dass diese Leistungen als
reife .Meisterstücke erscheinen, so würde der Betrachtung
Hchliel’dich doch immer das Beste fehlen: das geistige Band
der einzelnen Teile. Enehriresin nnlnrae nennt’s die Chemie . . .
Ah'xnndrr Frnix. hat anller einem höchst charakteristischen
'l'itelblatt ein Einsieilleridyll beigesteuert, in dem leider ein
paar störende ,\tzllecken auffallen. Die Druckerei hat ver-
-prochen, diesmi .Mangel zu beseitigen, und wir hoffen, bis
Zinn Erscheinen des Heftes dieses stimmungsvolle Blatt eines
frommen Schlangenbändigers, dem eine luftige Dryas zuhört,
ohne jenen kleinen Mangel zeigen zu können. Dann folgen
Interieurs, Landschaftsbilder mit wundersamer Stimmung,
eine Kriegerbestattung im 18. Jahrhundert u. s. w. Die
Künstler sind GerJi. Janssm, Arthur und Eugen Kampf,
11. Liesegang, 0. Jernberg, Heinr. Herrmanns, G. Wendling.
Bei allen hat Vater Rembrandt Pate gestanden. Endlich
soll noch der Druckerei, die das Ihre dazu beigetragen hat,
dem Album zur rechten Wirkung zu verhelfen, das verdiente
Lob gespendet werden^). NAUTILUS.
Die Bildnisse W ieland’ s. Binnen kurzem wird im Ver¬
lag von W. Kohlhammer in Stuttgart als Sonderausgabe aus
dem ersten Heft des zweiten Jahrgangs der Württember-
gischen Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, Neue Folge,
ein Schriftchen über die Bildnisse Chr. M. Wieland’s von
Dr. Paid Weixsäcker erscheinen. Demselben werden zwei
Lichtdrucktafeln und elf Textabbildungen, teils mehrere
Inedita, teils Abbildungen nach Originalaufnahmen oder nach
den zuverlässigsten Stichen beigegeben sein. Da große und
kleine Künstler des vorigen und unseres Jahrhunderts Wie¬
land’s Bild aufgenommen haben, so bietet die kleine Schrift
dem Kunstfreunde nicht weniger Interesse als dem Litterai'-
historiker und den speziellen Verehrern Wieland’s, und es
wird daher nicht unwillkommen sein, wenn sie auch außer¬
halb des Rahmens einer Spezialzeitschrift für Landesgeschichte
einzeln käuflich ist. Den Abbildungen ist nicht geringere
Sorgfalt gewidmet worden als der Zuverlässigkeit des Textes.
Der Kunstlagerkatalog, den der Kunsthändler Fr. Aleyer
in Dresden am Beginn dieses Jahres für die Kunstfreunde
veröffentlicht hat, enthält eine reiche, vom Kunsthändler mit
großem Verständnis erworbene Sammlung von Kunstblättern,
die selbst ausgezeichneten Sammlungen erwünschte Zusätze
vorführen. Eine Anzahl trefflicher, oft auch kostbarer und
seltener Werke finden wir unter den Werken von A. Dürer
und der Kleinmeister, von Schongauer und Israel v. Mecken,
Lucas v. Leyden, Rembrandt, Marc- Anton verzeichnet, und
neben den genannten Meistern enthält der Katalog auch
verschiedene einzelne Blätter solcher Meister, deren hier
vorkommende Blätter zu großen Seltenheiten gehören, die
nicht wenig die Kunstgeschichte fördern. Wir erlauben uns
beispielsweise auf L. Backhuysen, J. de Baen, C. Bega,
J. Lievens, G. Neyts u. a hinzuweisen. W.
1) Die Flecke waren wohl wegen der tiefen .Itzung nicht zu
beseitigen. Der Druck des Blattes für diese Zeitschrift ist nicht
durchweg gleichmäßig.
Herausgeber: Gnrl von LüDoiv in Wien. — E'ür die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
STUDIEN
ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
VON MAX BACH.
MIT ABBILDUNGEN.
NTER den oberdeutschen
Malerschulen des fünfzehn¬
ten Jahrhunderts nimmt un¬
streitig die Schule von Ulm
den ersten Rang ein; denn
abgesehen von der Augs¬
burger Schule, die ihre
Blütezeit erst im sechzehn¬
ten Jahrhundert erreichte, kommt hier nur noch die
Oberrheinische in Betracht, deren Haupt, Martin
Schongauer, als Maler, urkundlich sich nicht nach-
weisen lässt; wenigstens ist keines der ihm bis jetzt
zugeschriebenen Gemälde monogrammistisch oder
sonst inschriftlich als ein Werk seiner Hand kon-
statirt.
Schon frühe haben sich schwäbische Forscher,
vor allen die Pfarrer Albrecht W eyermann (gestorben
1832) und Karl Jäger (gestorben 1842) bemüht, aus
Ulmischen Urkunden und andern Dokumenten No¬
tizen zu sammeln, welche dann spätere Forscher:
Grüneisen, Manch, Passavant und Hassler fortgesetzt
und weiter verarbeitet haben. Auf diesen Studien
fußen alle Mitteilungen, welche die verschiedenen
kunstgeschichtlichen Handbücher bis in die neueste
Zeit an historischen Daten, Lebensumständen u. dergl.
über einzelne Meister der Ulmer Schule beibringen.
Gewiss nur in seltenen Fällen hatten die neueren
Kunsthistoriker sich angelegen sein lassen, diese
Quellen zu prüfen oder gar Neues hinzuzufügen.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
Es liegt auf der Hand, dass dadurch im Laufe der
Zeit eine Menge Ungenauigkeiten, falsche Schlüsse
und Hypothesen in die Kunstlitteratur sich einge¬
schlichen haben; nnr ein Beispiel sei hier genannt,
es ist der Aufsatz von Harzen in Naumann’s Archiv
für die zeichnenden Künste, 186Ü, S. 27 ff. Dieser
Künstlerroman ist bis heute noch nicht ganz über¬
wunden und spnkt da und dort noch in den Köpfen
solcher, welche aus den wenigen überlieferten That-
sachen absolut noch eine anziehende Biographie zu¬
sammenlesen wollen.
Der Verfasser hat sich nun die Aufgabe
gestellt, unterstützt durch einen mehrjährigen Auf¬
enthalt in Ulm, das vorhandene Quellenmaterial zu
sichten und einer eingehenden Prüfung zu untei’-
ziehen,
1.
Hans Schühlem (Schuchlin, Schüchlin, Schuoch-
lin, Schühlin, Schielin, Schiele). Der Name ist Ul¬
misch. Schon 1409 erscheint in einer Urkunde der
Pfarrkirchenbaupflege eine Witwe „Adelheit Schuch-
lerin, Bürgerin von Ulm“; ferner wird 1413 das Haus
der „Schuchlerin“ erwähnt’); dann kommt in einer
Hüttenrechnung von 1417 ein „schöchlin“, 1427 ein
Steinmetzgeselle „Schuochlin“ vor. 2)
1) Bazing u. Veesenmeyer, Urkunden zur Geschichte der
Pfarrkirche in Ulm. 1890.
2) Klemm, Münsterhlätter, 111. u. IV. Heft, S. 93.
16
122
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
Unser Künstler tritt plötzlich durch sein Tiefen-
bronner Altarwerk im Jahre 1469 in die Geschichte
ein; dort nennt er sich auf der Rückseite der Pre¬
della: Hans Schüchlin Maler. Dieses einzig da¬
stehende Werk, welches zuerst von Grüneisen im
die Inschrift am Altäre selbst, welche lautet; „Anno
dommi MCCCC LXVHIj Jare — Ward dißi daffel
vff gesetz un- gantz uß gemacht vff sant steffas tag
des bapst. un- ist gemacht ze Ulm vo- hannße-
Schüchlin malern,“
nie Kreuztraguug i'brisü. Vom Tiefenbronner Altar, von Hans SchÜhlein.
Kunstblatt 1840 kunstgeschichtlicli gewürdigt wurde,
scheint übrigens auch schon Weyermann gekannt
zu haben; denn in seinen neuen Nachrichten (1829,
S. 012) sagt er: „1 168 hat er daselbst (nämlich in
Ulm) eine Tafel gesetzt und ganz aufgemacht auf
St. Lucastag des Pobsts.“ Vergleichen wir damit
Offenbar ist hier nur eine Verwechslung zwischen
St. Lukas und St, Steffan eingetreten. Eine nähere
Beschreibung des Altars ist überflüssig, nur sei
noch bemerkt, dass am Altarschrein oben die Wappen
von Württemberg und Baden, unten das Wappen
der Herren von Gemmingen und ein geisthches
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE
123
(Mitra mit Bischofsstäben) sich befinden, außerdem
liest man dabei noch die Zahl 1469.
Was nun die künstlerische Würdigung des
Werkes anbelangt, so hat man nach dem Vorgang
Harzen’s allgemein das Schulverbältnis zu Rogier
van der Weyden betont, doch sind dafür zu wenig
Anhaltspunkte vorhanden, und richtig bemerkt Lübke
in seiner Geschichte der deutschen Kunst: der Meister
weiß die neue realistische Richtung mit dem der
schwäbischen Schule eigenen idealen Schönheitssinn
zu verschmelzen — wohl merkt man den Einfluss
flandrischer Kunst — aber Schühlein bringt doch
viel von eigener Empfindung hinzu.-) Ein ganz neues
Moment in der Beurteilung des Meisters ist aber dazu¬
gekommen, nachdem Klemm in den Münsterblättern
IV, S. 174 auf eine Stelle hingewiesen hat, welche
Strauch in seinem 1S83 erschienenen Buche über
die Pfalzgräfin Mechtild'’’) mitteilt. Dort ist die Rede
von einer Altartafel, welche 1474 dem Albrecht Reb¬
mann, Maler von Nürnberg, und seinem Schwager
Hans Schühlein für den Chor der Martinskirche in
Rottenburg a/N. zu fassen um 425 Gulden verdingt
wurde. R. Vischer^) schließt daraus, dass Wohlgemuth
sowohl bei Rebmann als auch in Ulm bei Schüh¬
lein in die Lehre gegangen sein könnte, oder dass
alle drei bei einem noch festzustellenden Meister ge¬
lernt haben. Thode dagegen in seinem neuesten
Werke über die Malerschule Nürnbergs steckt noch
engere Grenzen; nach ihm sollen Schühlein und
Wohlgemuth Schüler des Hans Pleydenwurf gewesen
sein. In der That zeigen auch die Tiefenl)ronner
Gemälde viel Übereinstimmung mit der Wohlgemuth-
Pleyden Wurf 'sehen Schule; man beachte nur die heil.
Magdalena anf der Kreuzigung des Hofer Altarwerks
in der Pinakothek zu München (s. unsere Abbildung),
und die Magdalena bei der Grablegung in Tiefenbrouu.
Nur ist Schühlein noch weicher und milder als der
Nürnberger Meister, ein Streben nach idealer Schönheit
bricht sichBahn, in seinen Köpfen erinnert er an Dierick
Bouts und in der Gewandbehandlnng ist derselbe
1) Urkundliche Nachrichten über die Stifter des Altars
sind zu erwarten in dem im Erscheinen begi’iffenen Werke:
,, Kunstdenkmäler im Gr-oßherzogtum Baden“. Vergl. übrigens
auch Weber, Die Kirche zu Tiefenbronn mit ihren Merk¬
würdigkeiten. 1845.
2) Neuerdings sucht A. Schmid im Rep. f. Kunstw. 15.
einen Zusammenhang der Schühlein’schen Kreuzschleppung
mit derjenigen Martin Schön's nachzuweisen , und schließt
auf ein gemeinschaftliches flandrisches Vorbild.
.3) Mechtilde war die Gemahlin des Grafen Ludwig 1.
von Württemberg und Mutter Herzog Eberhard’s im Bart.
4) Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart 188U.
aU seinen oberdeutschen Zeitgenossen entschieden über¬
legen. Interessant ist eine Vergleichung seiner Grab¬
legung mit derjenigen M. Schongauer’s in Kolmar;
wie steif und hölzern ist hier die ganze Komposi¬
tion, bei aller Empfindung der einzelnen Charaktere !
Schühlein ist hier Schon gauer weit überlegen und
wir können dem Urteil Harzen’s vollkommen zu¬
stimmen, wenn er Schühlein den ersten Maler seiner
Zeit und seines Stammes nennt.
Ein Zusammenhang mit der Nürnberger Schule
scheint nach dem Vorstehenden gewiss; hat doch
schon Jäger-) diese Vermutung ausgesprochen, aller¬
dings ohne bestimmte Anhaltspunkte.
Erst im Jahre 1480 tritt Schühlein in Ulmischen
Urkunden auf und zwar als Bürge für andere
Ulmische Bürger.^) Dann sieben Jahre später, in
den Zinsbüchern der Frauenpflege, d. h. des Pfarr¬
kirchenhaupflegamts ^) ; dort wird sein Haus genannt,
„im alten Graben beim Kornhaus hinab“. Er zahlt
1 Gulden 8 Pfennig uff Frytag vor Georg dafür
Zins, ferner giebt er 1 Gulden uff Fritag vor Na-
tivitatis Mariä „dem unslin uff der hütten von
vines — (?) wegen, den er gemaulet hatt“.^)
1491 malt er 12 Bottenbüchsen mit St. Jörgeu-
kreuz für den schwäbischen Bund und ei'hält dafür
1 Pfund 8 Schilling.
1492 Montag nach Bartholomäus erscheint der¬
selbe in einem Prozess vor dem Hofgericht zu Rott¬
weil, wohin ihn Albert Räm (Rehm) vorgeladen,
V^on 1495 bis 1503 war dann Schühlein einer der
drei Pfleger der Pfarrkirche (Frauenpflege), als solcher
erscheint sein Name auch auf den Überschriften der
Zinsbücher und in den Urkunden; hier wird er regel¬
mäßig „Hanns Schühlin oder Schuchlin“, 1502 aus¬
drücklich „Meister Hanns Schühlin Maler“ genannt,
ein andermal ist beigesetzt „des Raths und Zunft¬
meister“. Dieses Amt des Pflegers der Pfarrkirche
war ein sehr angesehenes; es waren seit Beginn des
Baues immer drei, teils aus den Geschlechtern, teils
aus den Zünften gewählte Herren, welche alljähr¬
lich vom Rat neu gewählt werden mussten. Diese
Herren hatten nicht allein die Gelder für den
1) Unsere Abbildungen nach Photographieen von Wahl
in Stuttgart wurden an Ort und Stelle retouchirt. Sie stellen
die beiden unteren Bilder der inneren Flügelseiten dar.
2) Kunstblatt 1833.
3) Wey ermann. Neue Nachrichten, S. 476.
4) Näheres über diese Quellen giebt Klemm in den
Münsterblättern, 111. u. IV. Heft, S. 76.
5) Klemm, a. a. 0. S. 93.
6) Weyerma,nn, li, S. 476.
16^
124
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
Münsterbau zu verwalten, sondern führten auch die
unmittelbare Aufsicht über den Bau, d, b. sie bil¬
deten die administrative Behörde. Es liegt auf der
Hand, dass man den gegen Ende des Baues immer
mehr sich steigernden Luxus in Ausstattungsgegen-
o O o
Schühlein um die Wende des 15. Jahrhunderts be¬
kleidete, haben wir Kenntnis; es ist das Amt eines
Zunftmeisters der St. Lu cas -Verbrüderung in dem
„Gottshauß Wengen“. Das betreffende Dokument:
„Instrumentum Confraternitatis etc.“ befindet sich auf
l»ie GrableguiigiCliiisti. Vom Tiefeiibrouuer Altar, von Hans Schühlein.
'landen, J'lj»ita})liien u. dergl. doch auch insofern
überwaclien wollte, dass man in das Kollegium der
Flieger auch einen Künstler setzte, der als solcher in
dem damaligen Ulm jedenfalls die erste Stelle einnahm.
Aber auch noch von einem weiteren Amt, welches
der Ulmer Stadtbibliothek und wurde schon durch
Weyermann im Kunstblatt 1830 publizirt; einen
Wiederabdruck veranstaltete Manch im Jahrgang
1870 der Verhandlungen des Vereins für Kunst und
Altertum in Ulm, S. 25 ff. Dort ist unter den Ur-
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
125
kundspersonen , welche am „Affter Montag nechst
unser lieben Frauentag Wurzweyhen“ 1499 ihre
Statuten erneuerten, in erster Linie genannt: „Meister
Hanß Schüchlin Alten Zunft Maister“. Diese Zunft
der Maler, Bildhauer, Glaser und Briefdrucker hatte
schon im Jahre 1473 eine Übereinkunft mit dem
damaligen Propst des Wengenklosters Ulrich Kraft 11.
(1468 — 1480) abgeschlossen, Seelenmessen betreffend.
Das Übei’einkommen wurde im Jahre 1499 mit
Propst Johann 11. (1498
bis 1509) erneuert. Der
etwas verworrene und
unklare Inhalt dieses
Schriftstücks gab viel¬
fach zu Missverständ¬
nissen Anlass, indem
die dort genannten
Künstler, worunter
auch Zeitblom , als
schon im Jahre 1473
an der Spitze der Zunft,
bezeichnet werden.
Es heißt dort: nach¬
dem die erbaren und
weisen Meister , die
Maler, Bildhauer etc.,
Gott zu Lob den Tag
des heil. Evang. Lucas
zu Würden mit einem
gesungenen Amt vil
Jahr her in dem ehr¬
würdigen Gotteshaus
hei den Wengen löhl.
begangen , auch her¬
nach eine Bruderschaft
unter sich angefangen,
die sich gemehrt und
demnach Gott zu Lob
— etwie viel Jahr her,
alljährlich auf den
nächsten Sonntag nach
St. Lukas Tag auf St.
Lukas Altar eine gesungene Seelmeß gehabt, — sei
ein Übereinkommen zwischen dem seeligen Propst
Ulrich und seinem Convent und den obgenannten
Meistern (d. h. den nicht mit Namen genannten)
beschehen, laut zweier Zettel mit dem Datum aut
Donnerstag nach St. Gallentag 1473. Jetzt kommt
die etwas schwer verständliche Stelle: „Dass sich
die gemelt gemein Bruderschaft der Brueder, der
Vier Rotten, auf die Zyt in der Bruderschaft schrift¬
lich begriffen, Inhalt des Zettels in der Bichs
ligende durch ihre zu Verwante Brueder dazue ver¬
ordnet mit Namen Maister Hans Schüchlin u. s. w.
sich mit dem ehrwürdigen Herrn Johann Probst und
seinem Convent zu den Wengen obgenandt dass wie
hernach volgt auf ein neues geaint und betragen
haben.“
Daraus folgt doch wohl, dass die genannten
Künstler nicht schon 1473, sondern erst zur Zeit der
Abfassung des Schrei¬
bens im Jahre 1499
aus der Mitte der
Zunft erwählt wurden
— „dazu verordnet“^ —
mit Propst und Kon¬
vent zu verhandeln.
Die weiter genann¬
ten Meister sind fol¬
gende: Maister Nickmß
Wühhmann Bildhauer
zwölf maister, Jkirihol-
me Ziithlajii Mahler,
rcter Liiidenfrost Glas-
ser, l)aiddiser Zit Büch -
sen-Maister, Jacob Si(jl in
Brief-drukher , Conrad
Schorendorff' und Qeor;/
Böringcr Bildhauer. Der
Titel Büchsenmeister,
welcher hier dem Barth.
Zeitblom und Peter
Lindenfrost beigelegt
ist, wurde von Harzen
fälsch gedeutet und
gab V eranlassung zu
der lächerlichen Sage,
Zeitblom habe als
Kriegsmann (Artille¬
rist) im Heere Karl’s
des Kühnen zu Burgund
gedient. Hier ist aber
Büchsenmeister nichts
anderes als der Verwalter der Büchse d. h. der
Schatulle der Zunft, ihr Schatz- und Vermögens¬
verwalter. Das geht schon aus dem Schriftstück
selbst hervor, wo die Rede ist von dem Zettel,
der in der „Bichs“ liegt; an einen militärischen
Büchsenmeister oder Artilleristen ist nicht entfernt
zu denken.
V’^on einer weiteren Kunstthätigkeit Schühlein’s
haben wir nur noch ein Zeugnis in den Annalen des
Frauen gruppe auf der Kreuzigung des Hofer Altarwerkes.
Von Michael Wohi.gemüth.
126
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MÄ.LERSCHULE.
Klosters Lorch. Für dieses Kloster oder speziell
für die Wöllwarth’sclie Grabkapelle in der dortigen
Klosterkirche fertigte er im Jahre 1495 einen Altar.
Die jetzt noch vorhandene Kapelle war dem heil,
Mauritius geweiht und zeichnet sich besonders durch
die interessanten Grabdenkmale der Familie Wöll-
warth aus. Der da¬
malige Abt Georg
Kerler (1480 bis 1510)
war gebürtig aus dem
Ulmischen Gebiet,
unter ihm erhielt das
Kloster manche Ver¬
schönerungen, auch
wird berichtet, dass
die Herren von Sche-
chingen, welche dort
gleichfalls eine Grab¬
lage hatten, im Jahre
1483 eine Tafel auf
St. Uartholomäus-Al-
tar gestiftet haben;
im darauffolgenden
Jalire wird die Tafel
auf dem Hau[italtar
von Ji'inj Siirliu. ge¬
nannt und 1496 stiftet
Lorenz Dogen, Amt¬
mann und zuletzt
IhVündner im Kloster,
die 'l’ai'el auf den
A llerlieiligenaltar.-^j
Noch hal)en wir
aber ein Werk zu be¬
sprechen, welches mit
dein Nannui Schüli-
lein in Verl)indnng
gehraclit wird, näin-
licli den angebliclien
Altar von Münster hei
Augsburg. Meines
Wissens wird dieser
Altar er.stmal.s von
Harzen in der schon
genannten Abhand¬
lung erwähnt und dort dem Schühlein zugeschrie-
hen. Alle späteren Autoreu fußen auf dieser ersten
Notiz und teilen die Inschrift mit, die besagt,
Hans Schühlein habe die Tafel mit B. Zeitblom zu
Ulm gemacht im Jahre 14 . . (die beiden letzten
Zilfern der Jahreszahl fehlen). Nun ist zunächst
festzustellen, wie es mit der Provenienz dieses Werkes
steht. Es giebt nämlich zwei Orte mit dem Namen
Münster in bayerisch
Schwaben, eines bei
Donauwörth gelegen,
das andere südwest¬
lich von Augsburg
an der Schmutter,
Landgericht Schwab-
münchen. Doch kei¬
ner dieser Orte ist die
Heimat dieses Altars,
sondern , wie schon
Woltmann in seiner
Geschichte derMalerei
bemerkt, Mickhausen
(nicht Mückenhausen,
wie es dort heißt) und
auch der Katalog der
Fester Galerie angiebt,
in welcher sich jetzt
dieser Altar befindet.
Miclhaiiscn ist ein
Pfarrdorf an der
Schmutter, die Lehen¬
schaft der dem heil.
Wolfgang geweihten
Kirche gehörte samt
der Herrschaft den
Edlen von Argon,
dann denen von Frei¬
berg, welche dieselbe
im Jahre 1528 dem
König Ferdinand ver¬
kauften, und dieser
als Reichslehen dem
Freiherrn Raymund
Fugger überließ. In
dem Schloss ist die
Lorettokapelle, bei
der die Fugger einen
Priester unterhielten. ’) Es ist also unrichtig, wie es
.SS. Florian .Johannes u. Sebastian. Vom Mickhauser Altar, von Barth. Zeitblom.
1) Das rote tJuch von Lorch, eine Urkundensammlnng
von 1102 — 1.010 iin K. Staatsarchiv zu Stuttgart.
2) Lorent, Denkinale des Mittelalters im Königreich
Württemberg, II, S. .03. Übevamtsbeschreibung von Welzheim.
1) Vergl. Bavaria, Schwaben und Neuburg. Dass Mick¬
hausen kein unbedeutender Ort war, beweist auch, dass es
eine eigene Gerichtsordnung besaß, wovon zwei Manuskripte
von 1.025 und 1532 in der fürstl. Bibliothek zu Sigmaringen
sich befinden.
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
127
Harzen sich von seinem Gewährsmann Eigner in
Aucfshnra: erzählen lässt: das Dorf sei schon im Jahre
1460 durch Kauf an Jakob Fugger ühergegangen, von
dem gemeinschaftlich mit Wolfgang von Freiberg der
Altar gestiftet worden sein soll. Münster ist eine
Filiale von Mickhausen, dort befindet sich die St. Vitus¬
kapelle, in der das Patrocinium gehalten und mehrere
Messen gelesen werden; aus dieser kleinen Kapelle
wird unser Altar wohl schwerlich stammen. Das
Werk, wie schon erwähnt, befindet sich jetzt in der
Landesgalerie zu Pest, wohin es aus der Samm¬
lung Arnold Ipolyi’s gekommen ist (Nr. 185 a — c)-
Es sind zwei zersägte Flügel, deren Außenseiten
jetzt zu einer Tafel vereinigt sind. Auf letzteren
sieht man eine Versammlung der zwölf Jünger
Jesu im Gemach der heil. Maria, welche an einem
Betpult kniet und ohne Zweifel ihren Tod er¬
wartet. An der Seite der Maria hinter dem Pult steht
Johannes in weißem Mantel, mit der linken Hand den
Arm der Maria berührend, ein schöner, edler Kopf
ganz im Geiste Zeitblom’s, rechts und links gruppiren
sich, teils sitzend, teils stehend, in Andacht versunken,
teilweise lesend, die übrigen Apostel. Rechts ist das
Bett der Maria neben einem geöffneten Fenster, links
sieht man ein Wandschränkchen mit allerlei Gerät
und nach außen ein schönes gotisches Bogenfenster
mit Aussicht auf eine felsige Landschaft. Auf den
inneren Seiten der Flügel sind je drei Heilige ge¬
malt und zwar rechts die Heiligen Papst Gregor,
Johannes der Evangelist und Augustinus, links
St. Florian, Johannes der Täufer und St. Sebastian.
Unter dem rechten Flügel liest man folgende In¬
schrift: „und . von Hans . Schülein . B. Zeitblom zu . . .
mit gemacht 14 . .“, unter dem linken Flügel steht
mit lateinischen Buchstaben: „S. Florian Joann.
Pap. S. Sebast.“, darunter schimmern deutlich noch
Reste einer älteren Schrift in Minuskelbuchstaben
durch, die Hintergründe der Gemälde haben einen
schönen damascirten Goldgrund, welcher halbkreis¬
förmig abschließt. (S. die Abbildungen.)
Wer einigermaßen mit Zeitblom'schen Werken
vertraut ist, wird auf den ersten Blick den Meister
in den schönen Heiligengestalten erkennen; die beiden
Johannes erinnern lebhaft an die analogen Figuren
vom Eschacher Altar, der Kopf des heil. Gregor an
denselben Heiligen auf der Predella des nämlichen
Altars. Auch an den sichtlich stark übermalten
Vorderseiten erkennt man noch einzelne Köpfe, die
des Meisters würdig sind.
V ergleicht man damit die Tiefenbronner Gemälde
Schühlein’s, so wird es schwer, irgend welche Be¬
ziehungen herauszufinden. Der Typus der Köpfe
und der Stil der Gewandung sind doch ganz andere.
Aber wie steht es nun mit der Inschrift, die ja be¬
sagt, Schühlein habe das Werk mit Zeitblom ge¬
malt? Dieselbe ist offenbar gefälscht! Schon der
Ort, wo die Schrift angebracht ist, erregt Bedenken,
noch mehr thun dies aber die Schriftformen und die
Fassung der Inschrift.
Bei Altarwerken dieser Zeit war es üblich, den
Namen des Autors, wenn derselbe genannt sein
wollte, entweder auf der Predella oder, was noch
häufiger geschah, auf der Rück- oder Nebenseite des
Altarschreins anzubringen, jedenfalls an einem Platz,
der nicht sofort in die Augen sprang, niemals aber
auf den Gemälden selbst. Man hat dafür an den
Altären zu Tiefenbronn, dann für Zeitblom auf dem
Kilchberger und Heerherger Altar Beispiele. Jetzt
aber die Schrift selbst; es ist ganz undenkbar, dass
im 15. Jahrhundert solche Initialen angewendet
worden, wie sie hier gemalt sind, auch entsprechen
die Formen der Minuskeln durchaus nicht denjenigen
ihrer Zeit, noch mehr aber ist die Schreibweise
Schülein auffallend; urkundlich ist solche nicht nach¬
weisbar, es müsste entweder Schühlin oder Schüchlin
heißen; die Form Schülein ist modern. Wenn nun
Harzen behauptet, die Inschrift auf dem anderen
Flügel sei zu ergänzen: „Dieses Werk wurde von
Jacob Fugger u. W. von Freiberg gestiftet“, so ist
auch das lediglich aus der Luft gegriffen. Die Reste
von Schrift, welche unter der jetzigen lateinischen
Inschrift durchschimmern, scheinen gleichfalls nur
die Heiligen zu bezeichnen, und so wird es auch
auf dem anderen Flügel gewesen sein. Beispiele
hierfür lassen sich leicht anführen, z. B. auf den
Zeitblom’schen Flügeln in der Pinakothek in
München mit den Heiligen Cyprian und Cornelius;
dort sind die Namen der Heiligen unmittelbar unter
den Bildern jedesmal in schöner Minuskelschrift an¬
gegeben.
Aus den Zin.sbüchern der Frauenpflege hat schon
Hassler im Jahrg. 1855, 9. u. 10. Bericht, S. 74, der
Verhandlungen des Vereins für Kunst und Altertum
in Ulm den Nachweis geliefert, dass Schühlein der
Schwiegervater Barth. Zeitblom’s war. Aber erst
Klemm a. a. 0. verdanken wir bestimmtere urkund¬
liche Belege dafür. Darnach erscheint Schühlein
zum erstenmal im Jahre 1499 als Inhaber eines
Kirchenstuhls gemeinschaftlich mit Zeitblom „seim
1) Zu derselben Ansicht gelangte Frimmel in seinen
Kleinen Galeriestudien, S. 247 ff. Bamberg 1892.
128
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHÜLE.
Tochtermanne“. Sie zinsen mit einander zwei Ort,
1503 aber erscheint bei diesem Stuhl Daniel Schüh-
lin, der nach einer Bemerkung zu 1501 von da an für
Hans Schühlin eintrat, und Zeitblom. Hans Schühlein
hatte 1503 einen eigenen Stuhl besessen bei dem
Kaiben Altar und zahlt dafür 1 Gulden Zins. Im
Laufe des Jahres
1505 und zwar an¬
fangs desselben
muss Schühlein ge¬
storben sein. Es
ist zwar bei seinem
Hause die Zahlung
des Zinses als am
Montag nach Petri
und Pauli 1505 er¬
folgt bezeichnet, da¬
gegen schon bei
dem Stuhl der Na¬
me durchstrichen
und dafür der des
Jung Burlin ge¬
setzt, der nun 1507
fF. an dieser Stelle
vorkommt. Schüh-
lein’s Witwe wird
auf S. 84 der Zins¬
bücher gleichfalls
erwähnt als Zin-
serin von 4 ll auf
f)stern, „der alten
1 1 ütteuknechtin
1 laus.“
Von den Söh¬
nen Schühlein’s
werden genannt:
Erasmus, Laux und
])anie]. Von letz¬
terem wird berich-
1(4, dass er im .lahr
1 107 das Gewölbe
der Stadtkirche zu
Blaubeuren ausge¬
malt habe; er war
zu jener Zeit sess-
bafl zu Urach und wird nach Weyermann erst 1510
als Bürger in Ulm aufgenommen. Nach den Hütten¬
büchern zahlt übrigens Daniel schon im Jahre 1505
Zins für seinen Stuhl, den er gemeinschaftlich mit
Zeitblom hatte, 1507 auch den für sein Haus, 1508
muss derselbe schon wieder auswärts gewesen sein,
l’abst (iregor, St. Johannes, St. Augustinus.
Vom Mickhausei’ Altar, von Barth. Zeitblom.
denn von da an bis 1512 erscheint Zeitblom als
der alleinige Inhaber des Stuhls. Das schon er¬
wähnte Haus beim Kornhaus ist 1512 im Besitz des
Martin Schaffner, woraus man schon früher auf enge
verwandtschaftliche Beziehungen zu Schühlein ge¬
schlossen hat.
Nach Hassler
a. a. 0. kommt
auch Lukas oder
Lux Schühlein in
den Hüttenrech¬
nungen von 1509
und 1510 vor, Eras¬
mus Schülein da¬
gegen als Maler und
Bürger in einem
N otariatsinstru-
ment von 1497.
Ein Leonhard
Schielin erscheint
1498 als der Ver¬
fertiger eines deut¬
schen Gebetbuches
in der fürstlichen
Bibliothek zu Sig¬
maringen. Auf dem
letzten Blatt ist rot
geschrieben: „diss
Büchlin ist geschri-
ben und vollendet
durch Leonhartten
Schielin , der zeit
burger zuAugspurg
auff mittwüch nach
Dorothee. In dem
jar alls mann zalt
MO CCCCO unnd
LXXXXVHj“.2)
Außer dem Tie-
fenbronner Altar¬
werk lassen sich
keine sonstigen Ge¬
mälde Schühlein’s
auch nur mit eini¬
ger Sicherheit nach-
weisen. Die Bilder mit der heiligen Sippe in
München und Nürnberg, desgleichen die sieben
1) Vergl. auch Wintterlin in der deutschen Biographie.
2) S. Lehner, Verzeichnis der Handschriften des fürst¬
lichen Museums zu Sigmaringen. 1872.
DER TIEFSTICH AUF HOLZ.
129
Darstellungen aus dem Leben der Maria im Mu¬
seum zu Sigmaringen gehören ihm nicht an.
Da es bis jetzt an allem Vergleichungsmaterial ge¬
fehlt hat, so ist eine Zuweisung anderweitiger Bilder
ungemein erschwert. Das urkundlich Gesicherte über
den Meister glaube ich in Vorstehendem vollständig
beigebracht zu haben.
DER TIEFSTICH AUF HOLZ.
MIT ABBILDUNG.
NTER den neuesten Ver¬
suchen zur Weiterentwicke¬
lung der vervielfältigenden
Künste gehört der Tiefstich
auf Holz zu den interessan¬
testen. Ähnliche Versuche
müssen freilich schon früher
gemacht worden sein, denn
ich erinnere mich, vor längerer Zeit irgendwo gelesen
zu haben, dass Holz zu diesem Zwecke sich nicht
eigne, indem es sich beim Druck nicht gut rein
wischen lasse. Das entspricht der Thatsache, scheint
also auf Erfahrung zu beruhen. Einige gute Ab¬
drücke lassen sich wohl von Holz machen, aber es
tont doch mehr, als angenehm ist. Zudem würde
wohl auch die Dicke des Stockes, die Notwendigkeit,
für gute Drucke die Schwärze warm einzuwalzen,
und endlich das fortgesetzte Wischen, welches nicht
nur die Schärfe der Linien, sondern auch die zwischen
denselben stehen gelassenen Stege gefährden würde,
dem Druck einer Auflage vom Holzstock im Wege
stehen. Alle diese Gegengi’ünde werden aber hin¬
fällig, sobald die Galvanoplastik zu Hilfe genommen
wird. Der Stich wird demnach auf Holz ausgeführt,
und alsdann wird ein Galvanotyp davon gemacht,
welches nicht nur zum Druck der Auflage benutzt
wird, sondern auf dem auch die letzten Retouchen
gemacht werden können, da der weiche galvanische
Niederschlag sich ebenso leicht mit Stichel und
Nadel, wie mit Schaber und Polirstahl bearbeiten
lässt. Holz kann also doch zum Tiefstich angewandt
werden, und der oben erwähnte Ausspruch ist nichtig
geworden. Es ist immer misslich, vorher sagen zu
wollen, was der Mensch nicht kann. Kaum wissen
wir, was wir können. Die Möglichkeiten aber, die in
der Zukunft liegen, sind uns verborgen, bis wir ihnen
gegenüber stehen. Wenn, angesichts der großen
Erfindungen, welche wir jetzt, als selbstredend, kaum
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
beachten, die absprechenden Prophezeiungen gelehrter
Leute zusammengefasst würden, so würde das eine
lustige Blumenlese ergeben.
Dass der Tiefstich auf Holz modernen Holz¬
stechern für Hochdruck , nicht aber Kupferstechern
für Tiefdruck seine Erfindung verdankt, ist leicht
erklärlich. Versuche, dem spröden Metall weichere
Substanzen zu substituiren, um dadurch die Arbeit
des Stechers zu reduziren und zu gleicher Zeit ihm
freieres Spiel zu gewähren, sind zwar schon häufig
gemacht worden, wie das die Geschichte der Surro¬
gatprozesse seit Anfang dieses Jahrhunderts beweist.
Aber die meisten dieser Prozesse haben einen rein
industriellen Boden und sind in der That Produkte
der Entwickelung der Großindustrie unseres Jahr¬
hunderts. Trotz aller Versicherung des Gegenteils
sind sie nur der Ausdruck der Bestrebung, etwas
Billigeres zu erfinden, das den Anschein des Teureren
hat und sich in industriellen Etablissements zum
Gewinn des Verlages rein industriell ausbeuten lässt.
Manchmal tritt dieser wahre Animus ganz unver¬
hohlen zu Tage, wie z. B. in der 1846 in Leipzig im
Interesse der Ahner’schen Glyphographie erschienenen
Broschüre ,,Die Buchdruckerzeichnung“, in der auf
S. 9 zwei spindeldürre Verleger erscheinen, mit der
Unterschrift: „Ostermesse 1846. Vor Ausbreitung der
Glyphographie“, und gleich daneben dieselben Herren
mit dicken Bäuchen und der Unterschrift: „Oster¬
messe 1848. Nach Ausbreitung der Glyphographie.“
Der Tiefstich auf Holz dagegen ist die Errungen¬
schaft einiger Holzstecher , welche ganz auf der
Höhe der malerischen Entwickelung ihrer Kunst
stehen, und deren einziges Bestreben es ist, die Freiheit
und Mannigfaltigkeit der Strichführung, die der Wei߬
linien- und Tonstich bietet, auch auf den Schwarz¬
linienstich zu übertragen. Dass das weiche Holz
hier von großem Vorteil ist, versteht sich von selbst,
und dazu kommt noch der andere Vorteil, dass die
17
130
DER TIEFSTICH AUE HOLZ.
Photogra2)liie aut Holz sich uatürlich für den Schwarz¬
linientiefstich ebensogut auwenden lässt wie für den
Weißlinien- oder Tonhochstich. Der Tiefstich auf
Holz bietet also eine Freiheit, die fast dem der Ra-
diruug gleichkommt, verbunden mit der Tiefe und
Kraft des Stichels, wo diese erwünscht ist. Er
scheint dalier wie geschaffen, die Ansprüche unserer
rein malerisch angelegten Zeit zu befriedigen. Frei¬
lich aber bedarf es zur Ausübung des geübten
Stechers, der zugleich das Gefühl des Malers hat!
Ob ihm trotzdem eine Zukunft bevorsteht, — wer
möchte das sagen? Dass er eine solche verdient, geht
aus dem schönen Beispiel hervor, welchem diese
Notiz als Begleitschreiben dient. Der Stich ist von
William Miller in New York, ausgeführt nach einer
Photographie des bekannten „Porträt eines Mannes“,
von Rubens, welches sich in der Galerie Liechtenstein
zu Wien befindet. Der Originalstock ist im Besitze
des Pratt Institute, Brooklyn, N. J., einer Gewerbe¬
schule, für deren Mustersammlung er speziell ge¬
fertigt wurde. Dieses Institut beabsichtigt nämlich
auch die vervielfältigenden Künste in den Bereich
seiner Thätigkeit zu ziehen und hat daher die Bil¬
dung einer technischen Sammlung in Angriff ge¬
nommen, in welcher, nach dem Vorbilde der ähn¬
lichen Sammlung im National Museum der Vereinigten
Staaten zu Washington, sämtliche Arten der ver¬
vielfältigenden Kunst vertreten sein sollen. Der
Stich ist bisher noch nicht veröffentlicht worden.
Das Galvanotyp, von welchem die beigegebenen
Abdrücke gemacht wurden, verdankt die „Zeitschrift“
Herrn .1. B. Ihatt, dem Sekretär des genannten
Instituts.
Soviel ich weiß, haben sich bis jetzt nur drei
amerikaiiisclie Holzstecher mit derartigen Arbeiten
beschäftigt, — der leider schon verstorbene Friedrich
.luengling, Timothy Cole, seit Jahren in Florenz an¬
sässig, und William Miller, Juengling’s Freund und
eliemaliger Geschäftsteillniber in New York. Wie
das so oft der Fall ist, so auch hier, scheint die Idee
quasi in der Luft gelegen zu haben, und es ist deshalb
die Frage der Priorität zwischen Juengling und Cole
angeregt worden. Nach Juengling’s eigenen Aus¬
sagen, wie sie in der „Art Union“, New York,
Dezember 1885, S. 116, mitgeteilt sind, kam ihm
die Idee im Sommer 1884, und im Herbst dieses
Jahres stach er eine kleine Skizze auf diese Art
direkt nach der Natur auf das Holz. Einen Abdruck
davon schickte er mir zu Weihnachten 1884 mit der
leicht gestochenen Inschrift: „Happy Christmas and
Merry NewYear. F. J. ’84. To S. R. Koehler.“ Als¬
bald stach er auf dieselbe Weise ein Aquarell von
H. Muhrman, „Der Raucher“, frei bis zur Wildheit
in der Linienführung, aber genial, von welcher
Arbeit Abdrücke der oben angezogenen Nummer der
„Art Union“, vom Dezember 1885, beigegeben waren.
Den Originalstock nebst Galvanotyp, sowie Abdrücke
von beiden, schenkte er später dem National Museum
der Vereinigten Staaten zu Washington, wo sie
öffentlich ausgestellt sind. Bei seinem Tode hinter¬
ließ er unvollendet einen größeren Stich gleicher
Art, ein Katzenstück, nach Dolph. Cole schreibt mir
von Florenz aus, unter Datum vom 28. November 1890 :
„In einem meiner alten Tagebücher finde ich, dass
mir die erste Idee am 21. April 1884 kam. Am 1. No¬
vember desselben Jahres polirte ich einen Holzstock
mit Schellack in der Absicht, meine Idee des
Schwarzlinienstiches zur Ausführung zu bringen.“
Den 12. April 1885 fing ich an, Botticellfs „Frühling“
auf meine neue Art des Schwarzlinienstiches zu
stechen. Am 1. Sept. desselben Jahres erhielt ich
Abdrücke durch Herrn Wyatt Eaton, der dieselben
für mich besorgt hatte. Alsdann schrieb ich darüber
an Juengling (sowie an einige andere Stecher), der
mir viele Monate später mitteilte, dass ihm dieselbe
Idee gekommen sei.“ Das sind die Daten, nach denen
die Frage der Priorität, resp. der Simultaueität, be¬
urteilt werden muss. S. R. KOEHLER
EINIGE BEMERKUNGEN
ZU KARL STAUFFER-BERN’S WERK.
\S tragische Geschick, das
Karl Stauffer und Lydia
Welti-Escher in den Tod
trieb, hat im allgemeinen
weit mehr Teilnahme ge¬
funden als die künstlerische
Thätigkeit Stautier’s. Als
Künstler genoss er nur ein¬
mal in vollen Zügen die Freuden der Popularität
— damals, als ihn der Erfolg seiner Ausstellung in
Berlin vom Jahre 1881 zu einem Liebling der Ber¬
liner Gesellschaft machte. Aber während er als einer
der bevorzugten Porträtmaler Aufträge Uber Aufträge
erhielt, erwachte in ihm der Kampf seiner künst¬
lerischen Überzeugung mit den Anforderungen, die
die Gesellschaft an ihre Künstler stellt. Er sollte
liebenswürdig schmeicheln, wo er sich vorsetzte, ein¬
fach ehrlich die Wahrheit zu sagen. Bald ward
ihm auch diese Thätigkeit als Porträtist verleidet.
Und als Maler that er sich schwer. Er, dessen se-
zeichnete Studien einen außerordentlich kräftig ent¬
wickelten Formsinn bezeugen, gestand, dass er sich
zum Malen immer „zwingen“ musste. Und nicht
nur die Technik machte ihm Schwierigkeiten, auch
sein Auge verhielt sich ziemlich spröde gegen die
farbigen Reize der Natur. Als er dann mehr und
mehr der vervielfältigenden Kunst sich zuwandte,
verflüchtigte sich das Interesse der großen Menge
an seinem Wirken. Nur wenige Freunde folgten
seiner Thätigkeit als Originalradirer — für die große
öffentliche Meinung war der Originalradirer verloren,
bis die Katastrophen einer unseligen Leidenschaft
seinen Namen wieder in das Gedächtnis aller zurück¬
riefen.
Seitdem hat Stauffer nicht nur Lobspender seiner
Kunst gefunden, er fand auch als Mensch in Otto
Brahm seinen Anwalt. Otto Brahm, der den Künstler
in Berlin flüchtig kennen gelernt hatte, hat das
Leben und den Tod Stauffer’s in pikanter Weise
geschildert. 1) Für ihn war Stauffer ein psycholo-
ffisches Problem. Er hat sich gewiss ehrlich darum
bemüht, einen möglichst tiefen Einblick in das
Wesen des Künstlers zu gewinnen. Aus den mannig¬
fachen Korrespondenzen Stauffer’s, die ihm auszu¬
wählen ermöglicht war, hat er versucht, Stauffer
zum Helden einer Künstlertragödie zu machen, in der
der Frau Lydia die Rolle eines Dämons zufällt. Viel
Scharfblick und auch Feinheit der Nachempfindung
hat Brahm in seiner psychologischen Studie be¬
wiesen, aber dennoch sträube ich mich, das Ergebnis
seines Plaidoyers für einwandfrei zu erklären. Auf
mich macht seine Schilderung einen mehr legenda¬
rischen als geschichtlichen Eindruck. Und so lange
dem verstorbenen Künstler weit näherstehende Freunde,
als Brahm einer gewesen ist, aus ihrer Reserve nicht
hervortreten, so lange wird dem Charakterbilde
Stauffer’s das legendarische Gepräge bleiben, das es
nun durch Brahm’s dramatische Schilderung er¬
halten hat.
Wertvoller als die an sich interessanten psycho¬
logischen Analysen und Deduktionen Brahni’s sind
die ausgewählten Briefe Stauffer’s, die Brahm in
seinem Staufferbuche in chronologischer Folge ver¬
öffentlicht hat. Sie sind wahrhaftige Denkmale eines
künstlerischen Strebens, das unverwandt den höch¬
sten Zielen nacheiferte. Sie sind reich an feinen
Bemerkungen über das Wesen des künstlerischen
Schaffens und sie sind in einer Form dargeboten,
deren Reiz nicht zum mindesten in der Unmittel¬
barkeit des Ausdruckes liegt.
Diese Bekenntnisse und Reflexionen werfen
1) Stauffer -Bern. Sein Leben. Seine Briefe. Seine
Gedichte, dargestellt von Otto BraJtni. Nebst einem Selbst¬
porträt des Künstlers und einem Brief von Gustav Freytag.
Stuttgart, G. J. Goescben’sche Verlagslmndlung, 1892. 8.
17*
i
Heliogr d Reichs drackeiei
KARL Sll'AUFFEB = BERN
SELBSTBILDNIS,
Verlag von K.A.oe.emann in Leipzig,
Druck von IiAngerer in Berlin,
•i
j
'•}
EINIGE BEMERKUNGEN ZU KARL STAÜFFER-BERN’S WERK.
133
helles Licht auf die künstlerische Wirksamkeit
Stauffer’s. Sie bestätigen, was das Studium seines
Werkes selbst lehren kann. Er war kein Phantasie¬
mensch im scliöpferischen Sinne, — verriete es nicht
sein Werk, seine Definition der malerischen Phan¬
tasie allein könnte es bestätigen (in einem Briefe
vom 15. April 1889). Er war auch nicht im ge¬
meinen Wortverstande ein geschmackvoller Künstler.
Das Kräuseln der Natur, die Eleganz der Pose, der
Effekt im Vortrage, das Virtuosenhafte, das alles
war ihm im Innersten zuwider. „Das ruhige Schaffen
stiller, schöner Werke, dem Ausdruck zu geben, was
einem den Sinn und Geist bewegt, unbekümmert um
Beifall, Anerkennung oder Ruhm und wie die Sachen
alle heißen, deren man leider nicht in jeder Lebens¬
lage ohne weiteres entraten kann, das ist die wahr¬
haft ideale Existenz. Der Natur einen schönen
Spiegel vorzuhalten, daraus sie abgeklärt und stim¬
mungsvoll zurückstrahlt, keinem anderen Triebe
folgen zu dürfen als seinem instinktiven Schönheits¬
gefühl, das ist für den Menschen, der wirklich
künstlerisch begabt ist, das Ziel seiner Wünsche.“
In diesen Worten (aus einem Briefe vom 23. De¬
zember 1887) spricht er das Ziel seiner Bestrebungen
deutlich aus. Noch klarer aber redet für seine Kunst¬
anschauung folgende Briefstelle (29. Juni 1887):
„Ich verlange von einem Kunstwerk, dass es zum
Beschauer spricht, es muss irgend etwas sagen. Sagt
es, sieh, der mich gemacht hat, ist durch Fleiß und
Anstrengung dazu gekommen, ein Stück Natur, das
ihn interessirt, mit Pietät und Empfindung wieder¬
zugeben, so ist es schon etwas Gutes, Respektables.
Nicht alle Leute werden sechs Fuß hoch, ein solches
Kunstwerk versetzt mich auch schon in Stimmung.“
Und von dieser Art sind Stauffer’s Werke, sind vor
allem seine Radirungen und Stiche, über die ich
einiges wenige anmerken möchte.')
In einem von Brahm nicht publizirten Brief an
Halm sagt Stauffer von der Radirung: „Radirung
nenne ich eine Leistung, die die Vorzüge und Eigen¬
heiten des Materials zum Ausdruck bringt und als
Radirung gedacht ist, und wo mit Bewusstsein alle
zu Gebote stehenden Mittel angewandt sind.“ Das
1) Mehr darüber in Bode’s Berliner Malerradirern (Son-
derahdruck aus den Graphischen Künsten, 2. Aufl. 1891), in
meinem Aufsatz über die deutsche Radirung der Gegenwart
in der „Vervielfältigenden Kunst der Gegenwart“ III. Bd.
S. 94 ff. und in Weizsäcker ’s Staufferstudie in der ,, Kunst un¬
serer Zeit“ 1892, S. 53 ff’. — Ein erläuternder Katalog der
Radirungen und Stiche von Staufter wird demnächst
erscheinen.
Festhalten an diesem Glaubenssatz verraten gleich
seine ersten Radirversuche, die er, angeregt durch
Klinger und angeleitet von Peter Halm, 1884 be¬
gann. Ein Selbstbildnis und ein Bildnisse Halm’s,
dann der Torso eines stehenden weiblichen Aktes
waren seine ersten Vorwürfe. Die glückliche Schärfe
seiner Formanschauung kommt bei diesen ersten
Blättern in einer noch etwas unausgeglichenen Technik
zum Ausdruck. Mit sicherer Hand zeichnet er den
Kontur und ist bemüht, in der Modellirung auf der
Platte dieselbe originelle „Rassigkeit“ der Strich¬
führung auszudrücken, die in seinen gezeichneten
Studien so charakteristisch angewandt ist. Noch
experimentirt er in jenen Blättern mit locker ver¬
streuten Punktirungen, um die feineren Übergänge
in den Formen anzudeuten.
Eine immer reifere technische Einsicht zeigen
die folgenden Porträtradirungen, bei denen er mehr
und mehr zum Stichel und zur Schneidnadel greift.
Uber die Art, wie er diese Instrumente handhabt,
hat er sich Halm gegenüber (in einem nicht publizirten
Brief) folgendermaßen ausgesprochen: „Merkwürdiger¬
weise habe ich den Stichel, vor dem ich einen solchen
Heidenrespekt hatte, als ein Material kennen gelernt,
wie ich außer dem Pinsel bis dato keines gefunden.
Eine herrliche Sache! Mein Prinzip in Zukunft bei
meinen Köpfen: strenge, zweckmäßige Zeichnung
der Form, einfache Atzung mit Salpetersäure, die
man wirklich so in der Hand hat, dass, wenn man
gut mit der Nadel zeichnet, in der gleichen Zeit
Striche bis zur größten Tiefe und andere wie ein
Haar ätzen kann. Ist geätzt, so komme ich mit
dem Stichel und schneide die Form in das butter¬
weiche Kupfer.“
Und um die „Form“ zu raodelliren, greift er
keineswegs zu dem akademischen Schematismus der
Linienstecher, auf deren mühevolles Herausgraben
parallel gezogener oder übers Kreuz gelegter Striche
er spöttisch herabsah, sondern zu einer freien Manier,
die auf das engste den zarten Formbewegungen sich
anschmiegt. Seine Manier ist im Grunde nichts
anderes als die malerische Taillenführung eines Lucas
van Leyden, als die um Regelmäßigkeit der Lagen
unbekümmerte Stechweise Schongauer’s und Dürer’s.
Das Porträt, das in Zinkätzung diesem Aufsatze bei¬
gegeben ist, das Bildnis Konrad Ferdinand Meyer’s
mit dem Schlapphut, ein Drittel lebensgroß (drei
Zustände, 1887) ist im letzten Zustand mit dem
Stichel vollendet. Kommt es auch dem Profilkopfe
Peter Halm’s nach links in Zweidrittellebenssrröße
o
(19. — 21. Mai 1887) oder dem etwas größeren Porträt
134
EINIGE BEMERKUNGEN ZU KARL STAUFFER-BERN’S WERK.
Gustav Freytag’s nicht gleich in der Sicherheit der
technischen Durchführung, die wie aus einem Gusse
nach einem klar erkannten Prinzipe geschaffen er¬
scheinen, so ist es doch hervorragendes Beispiel von
Stautfer’s charaktervoller Porträtirkunst.'
Ganz reine Sticharbeiten sind der nur in einem
Zustand bekannte kleine liegende weibliche Akt (die
Wally, 1886) und der stupende große männliche
Akt (1886), der in drei Etats vorliegt. Beide Werke
sind frisch und frei behandelt und von einer Deli¬
katesse und Feinheit im Studium der lebendigen
Form, der nur Ernst Moritz Geyger unter unseren
zeitgenössischen Stechern ähnliches an die Seite zu
stellen wüsste. Ubertrolfen hat Stauffer diese Blätter
Tnit dem Stichlein „so ä la Lucas van Leyden“, das
uns das sympathische Antlitz seiner Mutter zeigt,
denn hier steht die technische Vollendung ganz auf
der Höhe einer in ihrer Intimität wahrhaft vor¬
nehmen und großen Kunstanschauung. An diesem
Blatte sind nur geringfügige Teile der Krause und
der Haube radirt, was indessen nur in dem 1. Zu¬
stand bemerkt wird, denn im zweiten und letzten
Zustand hat Stauffer diese Teile ganz zugestochen.
Der letzte Stich Stauffer’s — das 29. Blatt
seines „Oenvre“ — ist ein Porträt der Frau Lydia
gewesen (1887). Er hat sich damit geplagt, weil er
aus dem Gedächtnis nach einer Photographie arbei¬
tete. Er wurde auch seinem bisher streng an der zeich¬
nerischen Modellirung festhaltenden Prinzipe untreu,
indem er sich bemühte, „die Form durch ganz feine
Fleischbehandlung, die wie Ton wirkt, hervorzu¬
bringen“ ( Brief vom 8. Juli 1887). Er bewegte sich
mithin in der Manier, die Ferdinand Gaillard in
seinen s})äten Blättern anwandte und die Stauffer ange¬
sichts des Leo XIII. in einem Briefe an Halm Glicht
bei Brahm) als „kimststückmäßig“ getadelt hatte.
Er sagt da mit Recht, dass „die ganze Mordsarbeit
den Effekt einer überexponirten Photographie macht“,
und nennt den Leo XHI. „ein ausgezeichnetes Por¬
trät nach einer schlechten Photographie!“ Dasselbe
lässt sich aber nicht einmal von Stauffer’s Stich der Frau
Lydia sagen, denn seine Tomnanier verrät sich hier
sofort als etwas ihm durchaus Fremdes. Frau Lydia
war auch wenig erbaut von diesem ungefälligen
Bildnis mit dem chiclosen Hut, und sie scheint sich
erst getröstet zu haben, als Stauffer ihr mitteilte,
dass die „Platte und Drucke nicht mehr unter den
Lebenden weilen“ (Brief vom 18. Juli 1887)^).
Als besondere Zierde schmückt diese wenigen
Bemerkungen eine von der deutschen Reichsdruckerei
o
in Berlin vortrefflich ausgeführte Heliogravüre nach
einem gezeichneten Selbstbildnis Stauffer’s, dessen
Reproduktion sein Besitzer, Geheimer Regierungsrat
Bode, gütigst gestattete. Dieses bisher unbekannte
Bildnis ist das letzte, das der Künstler von sich ent¬
worfen hat. Es zeigt ihn im Vollbesitze seiner un¬
gestümen strebenden Natur, energisch, wenn auch
etwas unruhig dreinblickend und voller Kraft des
Willens — wie damals, da er, nach neuen hohen
Zielen strebend, über die Alpen zog, um Bildhauer
zu werden, und er jubelnd seiner Freundin kündete:
„Meine Vergangenheit liegt hinter mir wie ein
Traum - ich fange ein ganz neues Leben an,
oder wenn Sie wollen: das ,Leben‘ erst an!“ Das
schrieb er im Februar 1888. Zwei Jahre später saß
der Bedauernswerte ira Florentiner Irrenhaus, nach¬
dem er bitterstes Leid erfahren hatte und um alle
Schaffensfreude gekommen war, und noch ein Jahr
beinahe verging, ehe der Tod sich seiner erbarmte.
BICH ARD OB AUL.
1) Die Platte fand sich im Nachlass. Einige Exemplare
dieses Blattes sind in ötlentliche Kabinette gelangt.
Vom Ilasenliaus in Wien.
Vom Ilaseiiliaus in Wien.
DAS HASENHAUS IN WIEN.
MIT ABBILDUNGEN.
AS historische Museum der
Stadt Wien befindet sich
seit vier Jahren irn Besitz
einer Handzeichnung Salo-
mon Kleiner’s, des berühm¬
ten Kupferstechers, die nicht
nur durch das Signum des
Meisters, sondern auch durch
den Gegenstand der Darstellung von hohem künst¬
lerischen und kulturhistorischen Reiz ist. Wir er¬
kennen nämlich in dem seit Jahren verschollen ge¬
wesenen und erst 1887 vom Bankier Ludwig Tachauer
in Wien wieder entdeckten und dem Museum gewid¬
meten Bilde das im Jahre 1749 abgebrochene „Hasen¬
haus“, das sich einst an der Stelle der heutigen
Nummer 14 in der Kärnthnerstraße (C. Nr. 1073)
befand und im Jahre 1509 „Fridrichen Jäger, haspl-
meister zu Wien“ von Kaiser Maximilian I. verliehen
wurde. Dieses Gebäude, einstmals eines der her¬
vorragendsten der Stadt, wurde damit neuerlich
Gegenstand vielseitiger Beachtung; man kannte ja
nun nicht mehr bloß seine historische Bedeutung,
(auf die wir hier nicht neuerlich eingehen wollen),
sondern auch seine künstlerische Gestalt, und so
reihten sich den zahlreichen Erwähnungen und Be¬
sprechungen der Aeneas Sylvius, Bonfiu, Ranzanus,
L. Fischer, Weiskern, Hormayr, Megerle von Mühl¬
feld, Schimmer und Schlager in neuerer Zeit die
Mitteilungen von C. Weiß in der „Wiener Zeitung“
am 10. April, von Grasberger daselbst am 14. April
1889 und die eingehende Würdigung seitens des
Herrn Regierungsrates Direktor Hg im Maiheft
des „Monatsblatt des Altertumsvereines“ selbigen
Jahres an.
Nachdem wir in einem, im März vorigen Jahres
im „Wissenschaftlichen Klub“ gehaltenen Vortrage
Gelegenheit gehabt, auch die Aufmerksamkeit wei¬
terer Kreise auf dieses Denkmal zu lenken, sind wir
nunmehr dank dem Entgegenkommen des Direktors
der städtischen Sammlungen, Herrn Dr. Glossy, unter
Genehmigung seitens des Herrn Bürgermeisters in der
Lage, die hervorragendsten Bilder der einst ganz be¬
malten Fassade hier zum erstenmal zu veröffentlichen.
Das „Haseuhaus“ bestand nach der Zeichnung
Kleiner’s aus einem Erdgeschoss und zwei oberen
Stockwerken mit einem niederen Dachgeschoss. Drei
Giebel mit Schopfdächern schließen den Bau ab;
jedem von ihnen entspricht ein durch beide Stock¬
werke gehender Erker und zwar auf jeder Seite des
Hauses je ein viereckiger auf drei Konsolen, der
dritte über dem Portal, doch aus der Mittellinie
gerückt. Seine Konsole mit Hnndskopf und Hasen
in zierlicher Bildhauerarbeit dient der reichen Thor¬
umrahmung zugleich als Schlussstein; sie besteht
aus Pilastern mit Kompositkapitälen , durch luftiges
Rankenwerk und Medaillons hier und in den Zwickeln
des Thorbogens belebt. An den zurücktretenden
Flächen der Fassade sind wie an den Erkern die
schmalen, rundbogigen Fenster in Gruppen zu dreien
und vieren zusammengefasst, von ionischen Pilastern
auf hohen Sockeln geteilt. Auch diese, die Bogeu-
z Wickel und der Fries zwischen den beiden Geschossen
sind mit zart gemeißelten Zieraten, Masken, Medail¬
lons, stilisirten Hasen, Füllhörnern u. s. f. belebt.
Wappen an der Brustwand des Mittelerkers bilden
den Beschluss des reichen plastischen Schmuckes,
der aber alles in allem nur die Umrahmung für
die eigentliche, schon von vornherein bedachte
136
DAS HASENHAUS IN WIEN.
malerische Ausstattung abgiebt. Diese beginnt gleich
über dem glatten, schlichten Erdgeschoss, das in
Würdigung seines rein geschäftlichen, nur dem Handel
dienenden Charakters aller Ornamentik ledig bleibt
und nach mittelalterlicher Sitte Thor und Fenster
und Gewölbauslage, nach Größe und Form verschieden,
nur eben dort anbringt, wo es dessen bedarf. Ein
Blick auf diese Architektur lehrt, dass wir es mit
einem vortrefflichen Beispiel der in Wien ohnehin
so seltenen deutschen Renaissance zu thun haben,
vielleicht auf noch gotischer Anlage des im Jahre
1525 abgebrannten älteren Hauses dem neuen, an-
tikisirenden Geschmacke entsprechend äußerlich um¬
gestaltet, als es 1553 durch Margarethe Pernhußin
ihrem Gatten Hans Brock von Dornau zufiel.
Wenden wir uns nunmehr einer eingehenderen
Besichtigung der in 32 Felder verteilten bildlichen
Darstellungen zu, so lacht uns zunächst in der Mitte
des Ganzen vom Oberbau des Portalerkers das fröh¬
liche Gesicht des Schalksnarren entgegen, um uns
darauf vorzubereiten, dass wir es hier mit den Kindern
seiner Phantasie zu thun haben. Mit der Schellen¬
kappe auf dem Haupt, schwingt er seinen Stab, an
dem ein Hasenköpfchen die Spitze bildet, und schon
lugt an seiner Seite ein wirklicher Hase auf, dem
Winke seines Scepters Folge zu leisten. Darüber
beginnt mit Nr. 1 die Reihenfolge der fortlaufenden
Geschichten, worüber eine alte, seinerzeit durch
Freih. von Hess, böhm. Appell-Präsidenten und da¬
maligen Besitzer des Hasenhauses dem Hormayr’schen
Archive mitgeteilte alte Beschreibung folgendermaßen
anhebt: 1. „Ein Hase sitzet als ein König mit Krön und
Sce])ter, ertheilet einen schriftlichen Befehl mit ob¬
hangendem Insiegel seinen Untergebenen, vermuth-
liclien: dass solche die Jäger und Hunde, wie ihre
abgesagte Feinde verfolgen sollten.“ Schon im näch¬
sten Bild, das wir oben bringen, reiten die Hasen-
lierolde. aus, unter Trompetengeschmetter das reisige
Volk zum Krieg zu laden. Unter einem Baum, wie
einst in germanischer Vorzeit, sammeln sich die von
allen Seiten herbeiströmenden Kämpen, lauter Hasen,
mit langen Spießen und Hellebarden bewaffnet. Da¬
mit l)eginnt die Schlacht, nach allen Regeln der Jagd
als Krieg.skunst in die „Verkehrte Welt“ übertragen.
Nicht lange dauert der Widerstand, denn der König
in höchst eigener Person führt mit schrecklich ge¬
zücktem Schwert seine Getreuen in den wildesten
Kamjtf. Schon sieht man einen Jäger zu Boden
.stürzen, zwar bellt noch ein Hund, die anderen aber
entfliehen, denn die Rache der Sieger ist — unmensch¬
lich. \ on allen Seiten treiben sie Gefangene heim.
Wir zeigen in Nr. 7: „Nach erfochtenem Sieg führen
die Heldenhasen einige gefangene Jäger fest-geschlos¬
sener auf einem Wagen mit sich fort, darunter einer
mit Füßen an dem Wagen gebundener, geschleift
Avird, deme ein gewaffneter Hase mit dem Prügel
zu fortgehen aufmuntert.“ Dann schildert das fol¬
gende Bild die Demütigung der stolzen Menschen
und ihrer hündischen Knappen; händeringend sind
sie dem kleinen Haseukönig zu Füßen gefallen und
flehen um ihr Leben, der aber, auf seinem Throne
stolzirend, von Wachen umgeben, scheint mit er¬
hobener Hand sagen zu wollen: Wie du mir, so ich
dir!“ Man führt sie in das Gefängnis, welches „ein
rothbekleideter Hase als Hutstock mit einem Schlüssel
eröffnet. Durch das eiserne Gatter siehet man bereits
einige Eingesperrte, so wunderliche Kalender machen.“
Die folgenden Darstellungen sehen sich fast
wie ein bitterer Hohn auf die Schrecken mittelalter¬
licher Justiz an; keines ihrer Strafmittel bleibt den
Jägern und ihren Hunden erspart. Man schleppt
sie in die Folterkammer (Nr. 11), macht ihnen förm¬
lich den Prozess, nimmt ein Protokoll auf und führt
sie dann unter Begleitung der Schergen mit dem
großen Richtschwert auf den Anger vor die Stadt.
Hasen in Kapuzinertracht spenden den letzten Trost,
dann geht’s ans Spießen, Schlachten, Rädern, Hängen
und Braten. Einer wird zerstückelt und regelrecht
ausgeweidet, und wie man heute wohl einen Kalbs¬
oder Schweinskopf ins Auslagfenster legt, so tragen
sie hier Menschenköpfe und Gliedmaßen zur könig¬
lichen Küche, wo Hasenköche den trefflichen Jäger-
und Hundsbraten zubereiten. Nun erst bricht der
Humor völlig durch.
Die Scenen der Festfreude, des Siegesmahles
und der sich daran schließenden Faschingsscherze
sind in Gedanke und Ausführung, in der Gruppirung
der zahlreichen Mitspielenden voll Lebenswahrheit
und köstlicher Schalkhaftigkeit.
Wir gewinnen einen Einblick in die Küche, an
deren Anrichtetisch eifrige Hände unter Aufsicht des
Oberküchenmeisters beschäftigt sind, die andrängen¬
den Lakaien zu beladen; dann erhebt sich (Nr. 18)
ein stattlicher Festzug unter Vorantritt von Traban¬
ten, die allerhöchste Tafel zu bedienen, an der bereits
„der Hasen-König mit einer Krone ob dem Kopf, in
alter Tracht bekleidet, und mit goldenen Ketten be¬
hängt, sitzet rechter Hand bey der Tafel unter einem
rothen Baldachin, neben ihm erscheint seine Ge-
mahlinn in Gestalt eines weissen Häsens und spa¬
nischem Hofkleid, ebenfalls mit goldenen Ketten
geziert, erlustiget sich mit dem Hof-Narren, welcher
Vom Haseuliaus in Wieu.
138
DAS HASENHAUS IN WIEN.
an seinem, in der Hand habenden Narrheits-Zeichen
erkennet wird. Einige Hasen tragen auf die Tafel
annoch Speisen hey. Ein Mundschenk bringt auch
in einem goldenen Becher dem König einen Trunkl
ingleichen macht ein Oberst -Stabeimeister nebst
einigen Trabanten ihre Aufwartungen. Auf der an¬
deren Seite ergötzen die Hasen ihr hohes Oberhaupt
mit einer vollen Vocal- und Instrumental-Musik. Ja
es schlägt ein anderer Hase zu mehreren Vergnügen
eine Orgel dazu.“ (Nr. 19.)
Die nächsten Felder sind wiederum mit den Groß-
thaten dieses mutigen Völkchens belebt. Zunächst
ein etwas unklares Bild: ein Mann in einem Schlitten,
von dem citirten Bericht für die „Landesverweisung
eines vermuthlichen Oberjägers nach Sibirien“ ge¬
halten. Dann geraten Falken, Habichte, Geier und
Baben in die Fallstricke der Hasen, Eulen werden
die Hälse gebrochen, junge Vögel im Nest ermordet,
„einen großen Bären, so einen Hasen aus Liebe zu
Todt gedruckt, noch im Arm haltend, wird von dessen
hinterlassenen Kameraden erstochen; dergleichen Ehre
auch einem wilden Schwein im Nachjagen geschieht“
— kurz: alles, was ein Menschenherz erfreut, ist
hier dem schnellbeinigen Hasen vergönnt, und es
fehlt nach bewährten Mustern auch die Treibjagd
im AVildpark nicht, denn der Hasenkönig selbst, hoch
zu Ross, reitet die Jäger, darunter einen „in kaiser¬
licher Lieberey“, der durch aufgestellte Netze in
seiner Flucht aufgehalten wird, zu Boden.
Damit ist aber das Vergnügen noch lange nicht
zu Ende. Hatte sich in jenen Gerichtsscenen eine
derbe, das Grauenhafte selbst nicht scheuende Satire
geäußert und dann in den Genrescenen einem liebens¬
würdigen, fast poetischen Humor Platz gemacht,
der uns wohlthuend berührt mit seinen musiziren-
den, singenden, blasenden, orgelspielenden Herren
und Damen Hasen, so bildet den Höhepunkt — wie
in dieser seit alter Zeit stets fröhlichen Stadt nicht
anders zu erwarten — der Fasching mit aller Lustbar¬
keit, die auch ein Hasenherz mit Schelmerei und
Behagen erfüllt. Dazu gehört, dass man einen wehr¬
losen Jäger, Avie einst die Füchse im Prater, prellt;
acht Bursche unterziehen sich mit vieler Kraft dieser
lustigen Strafung. Ein Maskirter schlägt die große
Trommel dazu, indes ein anderer den Dudelsack be¬
arbeitet (Nr. 29). Von der Tanzscene ist nur mehr
ein schAvacher Rest zu erkennen, dagegen sieht man
noch bestätigt, Avas unser alter Gewährsmann schreibt:
„Ein anderer Hase, so auch vermummt ist, reitet
auf einem Ross mit Schellen behängt, dem ein Hase
mit einer Laterne vorleuchtet, dem folget ein anderer
mit einer kleinen Pauke nach. In der Ferne ersiehe!
man Hasen, so ihres Gleichen gleichsam auf den
Achseln tragen. Nicht weit davon lauft ein be-
gleidter Hase (mit einem spitzen Federhut) voller
Freude mit einem Bratspieß sammt daran hangen¬
den Leckerbissen. Weiters tragen zwey Hasen einen
Hasen auf Stangen in Weibskleidern, diesem wird
auch auf Stangen einer in Männlicher Gestalt ent¬
gegengebracht, und scheinet, ob diese beyde gleich¬
sam ein Turnier hielten, wo der Verspielende von
dem Wasser in denen abhangenden Scheffeln gespritzt
wurde. Nahe dabey reitet ein Hase auf einer Geiß
— (ein unzweideutiger Hinweis auf den Blocksberg)
— und hält eine große Larven mit aufhabender
Brille in den Pfoten. Andere ergötzen sich mit einer
Jausen, kurzum — so schließt der Berichterstatter
— dieses alles wird der Hasen Fasching bedeuten.“
Darüber herrscht kein Zweifel, so wenig wie
über die Voraussetzung, dass der Maler alles in allem
keine politische, wie auch vermutet worden, sondern
eine rein menschliche Satire seinen Zeitgenossen im
Spiegelbilde vorführen wollte, und dies zwar auf aus¬
drücklichen Wunsch Kaiser Maximilian’s L, dessen
eifrige Mitarbeiterschaft bei künstlerischen Entwürfen
ja allgemein bekannt ist. Wir wissen nunmehr durch
die im HL Jahrbuche des kunsthistorischen Hof¬
museums veröffentlichten Urkunden auch, dass Kaiser
Maximilian I. selbst es war, der 1509 die Bemalung
der Fassade anordnete. Aber es sind nicht die ur¬
sprünglichen Bilder mehr, die wir hier in der Kopie
vor uns sehen, da doch das Gebäude 1525 abgebrannt
war. In der That erinnern alle Einzelheiten — wie
Reg.-Rat Ilg schon dargethan — an Holzschnitte
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die landschaft¬
liche Umgebung, der Pilaster im Speisesaal, die Orgel
und mancher kleine Zug gemahnen an den Geist
der Renaissance, wie er uns in dem architektonischen
Gepräge des Gebäudes selbst vor Augen tritt. Wir
dürfen daher die fortlaufenden Darstellungen des
Hasenkrieges in dieselbe Zeit wie den Umbau des
Hauses (also etwa um 1553) versetzen, mit Ausnahme
der an den Giebelflächen abgebildeten Allegorieen
von Glaube, Liebe und Hoffnung, die offenbar viel
später entstanden und in Form wie Gedanken ganz
außer Verbindung blieben mit den lustigen Scenen
der unteren Wandflächen.
Aber der geistige Zusammenhang dieser „ver¬
kehrten Welt“ reicht viel weiter hinauf. Er knüpft
an die Satire der frühen epischen Poesie an, als
deren Helden schon um 1100 in Flandern Isengrimm
und Reinhart der Fuchs auftreten. Mit Wilh. Scherer
LORENZO DI CREDI.
139
zu reden: „Geistliche sind die Urheber des Tier¬
epos; in der Fabel von dem Mönchtum des Wolfes
setzen sie ihrem eigenen Stande ein Denkmal; die
(äsopische) Fabel von der Krankheit des Löwen
ward als eine Satire auf das Hof leben ausgebeutet.“
ln jenen Tagen verwandelte der französische Fuchs
für immer seinen Namen in den deutschen Reinhard
— renard. Vor allem aber behagte diese Richtung
beziehungs voller Vergleiche zwischen dem Tier- und
Menschenleben dem deutschen Gemüte, das ja von
jeher an Tieren eine große Freude gefunden und
ihre Gewohnheiten genau beobachtet hatte. Es hat
dann auch unser größter Dichter in dem unsterb¬
lichen Reinecke Fuchs seiner Stammesart den Tribut
gezollt. Alle Narrheiten, aber auch alles Liebens¬
würdige, das Menschengeist je ausgeheckt, spiegelt
sich im Treiben nützlicher und schädlicher Tiere
wider. Es ist derselbe lehrhaft gemütvolle Grund¬
ton des Mittelalters, der auch an geweihter Stätte,
an den drachenartigen Wasserspeiern gotischer Kir¬
chen, an den Teppichwebereien und Messgewändern,
an Säulenkapitälen und Friesen einen aus Asien
nach Europa mitgebrachten reichen Schatz von Fabel¬
tieren in die kleinere, geläufigere Münze deutscher
Eigenart und heimischer Natur umwechselte. Als
die Baukunst säkularisirt wurde, hat sie dann auch
ihre bürgerlichen Bauten in Haus- und Wahrzeichen
mit allerhand Tierbildern geschmückt.
Wien selbst besaß deren eine größere Zahl,
deren bekanntestes: „Wo der Wolf den Gänsen pre¬
digt“ ohne Grund als Satire auf die Reformatious-
bewegung bezogen wurde. Wir erwähnen ferner
nur noch: „Wo die Hannen beißen“, „Wo der Hahn
in Spiegel schaut“, „Wo der Hahn den Hühnern
predigt“, „Wo die Kuh am Brett spielt“. Sie alle
werden oder wurden von dem „Hasenhaus“ an Größe
und Bedeutung überragt. Die Zeit, da hier einst der
Majestät Haspelmeister, der Hüter des Hasengeheges,
seinen Sitz hatte, ist mit ihrem Ernst und Humor,
mit ihrer Freude an ziervoller, beziehungsreicher
Ausschmückung der Fassaden längst vorbei — nun
mässen wir froh sein, wenn wir wenigstens in
Museen, unter Glas und Rahmen, ihrer ansichtig
werden. JULIUS LEISCHING.
LORENZO DI CREDI.
VON W. SGRMIDl.
ERKWÜRDIGES Schicksal
eines Bildes! Ursprünglich
um 22 Mark verkauft, dann
für einen Dürer gehalten,
gelangt es um 800 Mark in
eine der ersten Sammlungen.
Es findet enthusiastische Be¬
wunderer, und man geht so
weit, ihm den Namen des größten „Finders“ der
Kunstgeschichte beizulegen. Da suchen kühne An¬
greifer es vom Throne zu stoßen, erklären es für
das Machwerk eines niederländischen Plagiators,
heischen seine Verbannung aus der Pinakothek.
Und auf beiden Seiten stehen Namen vom besten
Klange in der Kunstgeschichte, Namen, die ihre
Kennerschaft durch die That bewiesen haben.
Das vergötterte und verlästerte Bild ist die Ma¬
donna mit der Blumenvase oder Nelke in der Mün¬
chener Pinakothek. In der Gazette des Beaux-Arts
1890, IV, S. 97 findet sich eine Nachbildung und
eine liebevolle Beschreibung von H. von Geymüller;
auch in Lermolieflf’s „Galerieen von München und
Dresden“, Leipzig 1891, findet man eine Nachbil¬
dung und eine Besprechung. W. Koopmann schrieb
im Repertorium für Kunstwissenschaft XIII, 118 ff.,
und Fr. Rieffel ebendaselbst XIV, 217 ff., über das
Bild.
Die Wahrheit liegt diesmal nicht ganz in der
Mitte. Das Gemälde ist allerdings nicht das Werk
des einzigen Leonardo, aber noch weniger das eines
niederländischen Nachahmers, es ist das liebens¬
würdig empfundene Werk eines fiorentiner Künst¬
lers, der durch das Beispiel Leonardo’s angeregt
und gehoben worden war. Von Leonardo’s Geist
spüren wir allerdings einen Hauch in dem Bilde.
Es muss vor allem bestritten werden, dass eine
niederländische Hand anzunehmen ist. Die Tafel
fällt allem Anschein nach etwa um 1485 (genauer
kann das Jahr vorläufig noch nicht bestimmt wer¬
den, man muss hier einen weiteren Spielraum lassen),
und da ist doch von einer Nachahmung durch Nieder¬
länder gar nicht die Rede. Wann jemals haben diese
eine derartige Farbe, eine solche Formanschauung
gehabt? Was an der Meinung von einem „Fiam-
18*
140
LORENZO DI CREDI.
ruingo“ richtig ist, beruht darauf, dass das Bild in
der That einen gewissen niederländischen Einfluss
zeigt. Dieser Einfluss ist aber in der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts ein sehr weitreichender in Ita¬
lien: wenn wir mit unbefangenen Augen um uns
sehen, entdeckt man zahlreiche Spuren, und besonders
auch ist die Gruppe davon tangirt, die sich an
unser Bild anschließt; Verrocchio’s Taufe Christi,
das Verkündigungsbild (als „Leonardo“) in den Uffi¬
zien, die kleine Dresdener Madonna, das Altarbild
des L. di Credi in Pistoia etc. Dass diese unzwei¬
felhafte Einwirkung übrigens nicht dem gleichkam,
den die Italiener im 16. Jahrhundert auf die Nieder¬
länder ausübten, versteht sich von selbst.
Unser Bild kann aber auch nicht von Leonardo
herrühren, ebenso wenig, wie die Verkündigung in
den Uffizien. Dass beide Bilder von einer Hand
sind und sich zeitlich nahestehen, ist unverkennbar.
Eine so enge Verwandtschaft in der malerischen
Behandlung, im Gefältel, in der Landschaft, ja selbst
in den Blumen, ist nur bei einem Künstler denkbar.
Aber der große Leonardo ist es nicht. Wir haben
ja genügendes Vergleichsmaterial an der Hand. Den
linken Engel auf Verrocchio’s Taufe Christi kann
man getrost als das Werk Leonardo’s anseh en. Gey¬
müller meint nun freilich, wenn der Engelskopf der
Taufe von Leonardo ist, so müsse auch die Verkün¬
digung von ihm herrühren. Mir scheint das Um¬
gekehrte daraus zu folgen. Man vergleiche den
seelenvollen, lieblichen Kopf des Engels, in dem ein
deutliches Bestreben liegt, über den gewöhnlichen
Horentinischen Typus hinauszugreifen, mit den scha¬
blonenhaften leeren Typen des Verkündigungsbildes!
I )ie Maria des letzteren mit ihrem lächerlich kleinen
Ko])fe ist gesucht kindlich. Wie bestrebte sich Leo¬
nardo, auch in den Locken des Engels den orga¬
nischen Bau der Haare in seinen feinsten Beziehun¬
gen wiederzugeben! Und daneben die konventionellere
llaarbildung der Verkündigung! Auch ist in dem
Gewände des Leonardesken Engels eine Kenntnis der
l'’orm und der Licht- und Schattenwirkung ausge¬
sprochen (offenbar unter Einwirkung der Nieder¬
länder), die dem Verkündigungsbilde trotz aller engen
Verwandtschaft abgeht. Die Verkündigung scheint
doch eiimr etwas späteren Zeit anzugehören, da
müsste man aber sagen, wenn Leonardo zuerst den
Enge] und dann die Verkündigung gemalt hätte:
zum Teufel ist der Spiritus, das Phlegma ist ge¬
blieben. Ganz das gleiche B,esu]tat ergiebt sich,
wenn wir den Vergleich mit der Anbetung der heil,
drei Könige (Uffizien) ziehen. Was herrscht da ein an¬
deres Leben, von dem der Meister des Verkündigungs¬
bildes gar keine Ahnung gehabt hat!
Wer ist nun dieser Meister? Darauf antworte
ich: kein anderer als Lorenzo di Credi, der Mit¬
schüler Leonardo’s bei Verrocchio. Diese Verbin¬
dung der beiden so ungleich gearteten Geister er¬
klärt zur Genüge die unstreitig enge Verwandtschaft
der beiderseitigen Jugendbilder. Aber diese Ver¬
wandtschaft geht doch nicht weiter, als es unter
ähnlichen Verhältnissen der Fall zu sein pflegt, und
gestattet keine Übertragung der Jugendbilder Credi’s
an Leonardo. Nehmen wir z. B. das durch Vasari
beglaubigte Altarbild des Lorenzo im Dome zu
Pistoia, so sehen wir, wie der Künstler, von dem
strengen Formstudium des Verrocchio und der Fülle
und Lieblichkeit des Leonardo befruchtet, höchst
Gediegenes schaffen konnte. Bei einem einfachen,
statuarischen Altarbild wird kein Phantasiereichtum
verlangt, den Credi nun einmal nicht besaß, und
den auch selbstverständlich weder Unterweisung noch
Beispiel ihm geben konnten. In Dresden befindet
sich die Zeichnung einer Madonna (von Geymüller
und Lermolieff reproduzirt), welche die deutlichsten
Beziehungen zur Madonna von Pistoia aufweist.
Ob nun diese Zeichnung gerade ein Studium zu
letzterem Bilde ist, lässt sich nicht bestimmt be¬
haupten, aber sie deutet mit Entschiedenheit auf die
gleiche Künstlerhand. Es ist dasselbe „Sehen“, die¬
selbe Empfindung darin, und es kann meiner An¬
sicht nach auch nicht einen Augenblick zweifelhaft
sein, dass die Zeichnung dem Stifte Lorenzo’s ent¬
stammt. Nun ist aber die Münchener Madonna zwei¬
fellos von der Hand desjenigen, der das Altarbild
von Pistoia gemalt hat. Es erstreckt sich diese
Gleichheit bis in die feinsten Verzweigungen und
ist so schlagend, dass z. B. sogar eine bloße Neben¬
einanderstellung der bezüglichen Photographieen zu
diesem Resultate führen muss. Dasselbe Verhältnis
gilt auch von dem V erkündigungsbilde der Uffizien,
das schon Mündler als einen Credi erkannt hatte.
Ein Stückchen Landschaft z. B., die Baumausladun¬
genwürden genügen, dieselbe Künstlerhand zu zeigen,
und es ist interessant, dass die Felsgebilde an allen
dreien ganz identisch sind. Selbstverständlich ist es
nicht erlaubt, die Kunstweise des Credi einseitig
nach den von ihm in späterer Zeit gemalten Bildern
zu konstruiren, das wäre keine historische Betrach¬
tungsweise. Abgesehen davon fand ich das genaue
Studium des Credi zu dem Christusknahen des Mün¬
chener Bildes unter Nr. 1197 in den Uffizien aus¬
gestellt, ich ließ es Mai 1891 von Alinari photo-
LORENZO DT CREDT.
141
graphireii. Dass auch diese feine Zeiclinung (Silber¬
stift auf hellbraunem Grunde) von Credi herrührt,
als welcher sie auch ausgestellt ist, leidet keinen
Zweifel. Überhaupt besitzen die Uffizien Material
genug, um Lorenzo’s Zeichnungsweise gründlich
kennen zu lernen. Als Credi möchte ich noch nach¬
tragen die schöne Studie eines sitzenden, nackten
Kindes, das beide Arme erhebt, als „unbekannt“
unter Nr. 247 ausgestellt.
Als ein frühes Bild dieser Entwickelungsperiode
Credi’s darf wohl die äußerst liebevoll, aber noch
mit sehr schüchterner, suchender Hand ausgeführte
Maria mit dem Kind in der Galerie Colonna zu
Rom (als „Lippo“) betrachtet werden. Mündler hatte
ganz recht, in ihr einen Credi zu erkennen. Von
einer niederländischen Hand kann doch nicht die
Rede sein; wann hat z. B. jemals ein Niederländer
diese Wolken gemalt? Ebenfalls sehr unfrei ist die
vielbesprochene Madonna in Dresden, die auch ein¬
mal das Schicksal hatte, als Leonardo zu gelten,
aber von Wörmann mit Recht als Credi katalogisirt
ist. Die Münchener Madonna mit der Blumenvase
scheint mir später als letztere gemalt, da sie weichere
Formen und breitere Behandlungsweise zeigt. Den
Gipfelpunkt erreicht aber diese Jugendentwickelung
in dem bedeutenden Altarbild im Dome zu Pistoia.
Das Altarblatt im Chor von Sto. Spirito zu Florenz,
das wie ein Pendant dazu aussieht, ist leider schreck¬
lich verschmutzt. (In Sto. Spirito befindet sich noch
eine Verkündigung, als S. Botticelli, welche eben¬
falls den Stil des Credi zeigt, doch hängt sie so
dunkel und ist so vergilbt, dass ich mir ein be¬
stimmtes Urteil, von wem sie gemalt ist, nicht ge¬
traue.) Auch das vorzügliche Porträt Nr. 1163 der
Uffiziengalerie gehört noch in diese Periode. Ol) es
gerade den Lehrer Credi’s, den trefflichen Verrocchio,
darstellt, weiß ich nicht, jedenfalls halte ich die Be¬
zeichnung Credi für unzweifelhaft. Allein das Stück¬
chen Landschaft im Grunde links würde es beweisen
im Zusammenhang mit der landschaftlichen Behand¬
lung auf dem Verkündigungsbilde der Uffizien. Dieses
Stückchen sieht geradezu aus, als ob es der Ver¬
kündigung herausgeschnitten wäre, nur dass es besser
erhalten ist.
Die übrigen Zeiten Lorenzo’s gehören nicht hier¬
her, doch ist darauf aufmerksam zu machen, dass auch
noch in seinen späteren und spätesten Bildern die
Tradition seiner Jugendzeit nicht völlig ausgelöscht
ist. Das unruhige Gefältel und die Härten, aber
auch das gewissenhafte Naturstudium verschwinden
zwar, doch bleibt immer noch ein Rest des ursprüng¬
lichen Empfindens. So z. B. zeigt auf der Taufe
Christi in S. Domenico bei Fiesoie der erste Engel
rechts von den drei zur Linken knieenden im Ge¬
sichtstypus deutlich seine Herkunft von der Maria
der Verkündigung, das Profil des Engels links am
Rande leitet direkt seine Herkunft von dem Ver¬
kündigungsengel ab u. s. w.
Das feine Bildnis des Goldschmiedes, das im
Palazzo Pitti als Leonardo gilt, wurde von Mündler
für Credi gehalten. Davon ist man allerdings ab¬
gekommen. Lermolieff’ und Bode bezeichnen es über¬
einstimmend als ein Werk des Ridolfo Ghirlandajo.
Ich hatte ursprünglich allerdings an ein frühes Werk
des Franciabigio gedacht, gegenüber dem Zusammen-
klansce der beiden genannten Kenner lialte ich jedoch
an dieser Taufe nicht fest, nm so weniger, als die
Übereinstimmung mit der Madonna del Pozzo oder
dem Porträt von 1514 in der Galerie Pitti keines¬
wegs schlagend ist; freilich muss ich gestehen, dass
dasselbe auch von den beiden Bildnissen der Galerie
Pitti (Frauenporträt von 1509 Nr. 224 und die so¬
genannte Monaca des Leonardo Nr. 140) gilt, die
ich doch als Rid. Ghirlandajo’s anerkennen möchte.
Vielleicht ist es noch erlaubt, hier einige Worte
über Verrocchio, den Ausgangspunkt des Lorenzo,
zu sagen. Bode hält den Tobias mit den beiden
Engeln Nr. 24 in der Akademie zu Florenz für ein
Werk des Verrocchio. Hier kann ich ihm jedoch
unmöglich folgen. Meiner Ansicht nach ist es ein
ganz guter früher Botticelli, als der es auch aufgestellt
ist. Wer sonst hat denn diese nervösen Hände, diesen
Gesichtstypus, diese Behandlung der Gewänder und
die Formen der Landschaft? Besonders nahe steht
es den Bildern der Uffizien, Tod des Holofernes Nr.
1158 und Judith Nr. 1161. Auch das Rundbild in
der Ambrosiana zu Mailand Nr. 72 ist hier anzu¬
ziehen. Eine genaue Analyse jeder Einzelheit und
ein entsprechender Vergleich mit anderen Botticelli’s
wird diese Ansicht sicher bestätigen. Darin hat Bode
allerdings recht, dass er dies Werk als vorzüglich
preist, und gern gebe ich auch zu, dass ein unleug¬
barer Einfluss des Verrocchio darin zu erkennen ist.
Ich halte übrigens sämtliche Gemälde, die in den
Uffizien den Namen Botticelli führen, für richtig
bestimmt und möchte noch den heil. Augustinus
Nr. 1179, „Fra Filippo Lippi“ und wohl auch das
Porträt des Pico della Mirandola Nr. 1154 „unbe¬
kannt“ als Botticelli’s nachtragen.
EINE NAPOLEONSTATUE VON CHAUDET.
Treppeubause des Museum
Fridericianum zu Kassel
liegt staubbedeckt ein Mar¬
morbildwerk, das durch sei¬
nen geschichtlichen wie
kunstgeschichtlichen Wert
in gleicher Weise von In¬
teresse ist und wohl verdient,
dem Schicksal der Vergessenheit, dem es anheimzu¬
fallen droht, entrissen zu Averden.
Es ist eine ülAerlebensgroße, aus karrarischem
Marmor gefertigte Statue Kapoleon’s L, welche lange
Zeit hindurch für eine Arbeit Antonio Canova’s galt^),
nunmehr aber als ein Werk Yon Antoine Denis Chaudet
festgestellt Avorden ist. 2)
Die Erhaltung derselben ist, soweit sich bei
ihrem jetzigen ungünstigen Aufbewahrungsort er¬
kennen lässt, eine verhältnismäßig gute; denn abge¬
sehen von den gleich zu erwähnenden Beschädigun¬
gen bezw. Ergänzungen scheint die Oberfläche des
Marmors nur wenig gelitten zu haben, was wohl
allein dem Umstande zu verdanken ist, dass die
Statue nur eine kurze Zeit an dem für sie bestimm¬
ten Orte unter freiem Himmel gestanden hat. Sie
Avurde, nachdem sie kaum ein Jahr lang als Denk¬
mal französischer Gewaltherrschaft dem öffentlichen
Platz eines deutschen Fürstensitzes zum Schmucke
gedient hatte, von ihrem Platze entfernt und hat
seitdem ein rühmloses, nur wenigen bekanntes Da¬
sein geführt.
Die Statue ist unterhalb des linken Kniees und
oberhalb des Knöchels des rechten Ikißes gebrochen;
die Basis mitsamt diesem Fuße und einem an ihr
1) Diese Ansiclit l^estand noch 18;>7. Vgl. Lobe, Wan-
ilerung durch Kassel und Umgegend, S. 82.
2) Siehe Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte
und Jjandeskunde, N. EL IX, S. 298, Anmerk., und J. Hoff¬
meister in der von ihm he.sorgten zweiten Auflage von Piderit’s
Geschichte der Haupt- und Residenzstadt Kassel, S. 3.36.
haftenden Stück des Mantels ist noch vorhanden,
dagegen fehlt das ganze linke untere Bein. Der in
Gips ergänzte rechte Unterarm liegt neben der
Statue; die einst weggebrochene, später aber wieder
in Gips ergänzte Nase ist heute nicht mehr vor¬
handen. Schließlich sind die Blätter des Kranzes
noch hier und da leicht beschädigt und abgestoßen.
Alle diese Beschädigungen sind aber nicht derart,
dass sie das Werk erheblich entstellten oder seinen
Gesamteindruck irgendwie schädigten.
Der Kaiser ist dargestellt als römischer Impe¬
rator. Ein weiter, am Rande mit Blätterornament
besetzter Mantel, der auf der linken Schulter durch
eine Spange zusammengehalten wird, umhüllt in
schwerem, aber vornehm geordnetem Faltenwurf die
mächtige Gestalt, so dass nur der linke Unterschenkel,
der rechte Arm und ein Teil der Brust unbedeckt
bleiben. Die in die Seite gesetzte Linke ist ganz
im Gewand verborgen, die Rechte hält eine Perga¬
mentrolle als Hinweis auf die von ihm verliehene
Konstitution des Königreichs Westfalen. Im Haar
trägt er einen Lorbeerkranz mit herabfallenden Bän¬
dern, über der Schulter ein Bandelier, an welchem
das Schwert hängt, dessen unterer Teil unter dem
Mantel sichtbar wird; die Füße sind mit Sandalen
bekleidet.
Idealisirt wie Gestalt und Tracht sind auch die
Züge des Kopfes. Von einer getreuen Wiedergabe
derselben und einer scharfen Porträtähnlichkeit hat
der Künstler abgesehen, dagegen die charakteristischen
Züge des Kaisers, jedoch verallgemeinert und bis
zum Großartigen, ja Heroischen gesteigert, beibehalten.
Die Gestalt des Kaisers atmet würdevolle Ruhe und
selbstbewusste, in sich geschlossene Kraft und kenn¬
zeichnet ihren Schöpfer als würdigen Schüler jener
im Geiste des römischen Altertums schaffenden Meister,
mit denen er auch eine gewisse Strenge und Herb¬
heit des Stiles teilt, welche fast allen seinen Werken
aus späterer Zeit anhaften und dieselben für unser
EINE NAPOLEONSTATUE VON CHAUDET.
143
modernes Gefühl wenigstens etwas kalt und frostig
erscheinen lassen.
Es ist bekannt, wie hoch Napoleon die Kunst
Chaudet’s schätzte und wie dieser Künstler den Vor¬
zug genoss, das Bild des Kaisers zu verschiedenen
Malen in Erz und Marmor ausführen zu dürfen.')
Neben einigen Büsten ist am bekanntesten unter
diesen Bildwerken die eherne Statue, welche von 1810
bis 1814 auf der Vendomesäule zu Paris stand und
Napoleon als einen durch Schwertes Gewalt die
Völker beherrschenden Cäsar mit Lorbeerkranz, Har¬
nisch und Feldherrnmantel, sich mit der Rechten
auf das Schwert stützend, in der Linken die Welt¬
kugel haltend, darstellte. Eine andere Seite seiner
Herrscherthätigkeit, seine Eigenschaft als Gesetz¬
geber, kam dagegen in jener Bildsäule zum Aus¬
druck, welche der Künstler für den Saal des gesetz¬
gebenden Körpers in Paris anfertigte. 2) Es ist das¬
selbe Werk, welches sich jetzt im Berliner Museum
befindet und von dem das unserige eine getreue
Kopie ist, die vermutlich von Chaudet selbst an ge¬
fertigt wurde, nachdem die Errichtung dieser Statue
durch ein königliches Dekret vom 25. Februar 1810
beschlossen und der ursprüngliche Plan, sie in Bronze
ausführen zu lassen, fallen gelassen worden war.^)
Die Statue kam fertig aus Paris nach Kassel,
wurde hier auf dem in der Mitte des kreisrunden
Königsplatzes von Grandjean de Montigny, einem
der ersten Baumeister Jeröme’s, errichteten Brunnen
aufgestellt^) und am 12. November 1812 unter gro߬
artigen Feierlichkeiten enthüllt. •') Auf diesem Platze
1) Siehe über Chaudet (1763 — 1810) und seine Kunst
A. Rosenberg, Gesch. d. modern. Kunst, I, S. 406; ferner
A. Jal, Dictionnaire critique de biographie et d’histoire,
S. 373 ff., und De la Chavignerie et Auvray, Dictionnaire
generale des artistes de l’ecole fran^aise, S. 242.
2) Abgebild. in den Annales du Musee et de l’Ecole
Moderne des Beaux-Arts. Salon de 1808. Tome I, pl. 23.
3) Siehe Gerhard, Verzeichnis der Bildhauerwerke der
Königl. Museen, 1861, S. 92, Nr. 414; vgl. auch Seubert, Allgem.
Künstlerlexikon, S. 362, der merkwürdigerweise den Kopf
für „das ähnlichste plastische Bild Napoleon’s“ hält. Die
Berliner Statue gelangte, wie Schadow in seinen Kunstwerken
und Ansichten, S. 154 berichtet, im März 1816, geleitet von
dem preußischen Lieutenant Georg Spener, als Kriegsbeute
nach Berlin; nach Gerhard hingegen war sie ein Geschenk
Ludwig’s XVlIl.
4) Siehe Gesetz -Bulletin des Königreichs Westfalen,
1, 1810, Nr. 1—16, S. 237 f.
5) Siehe die französische Garküche an der Fulda; 1. Ge¬
richt, S. 35; Petersburg 1814, Über Montigny vergl. Zeit¬
schrift des Vereins a. a. 0., S. 276.
6) Siehe R. Göcke, Das Königreich Westfalen, S. 241.
Jhn im Volke verbreitetes Spottlied:
stand dieselbe unversehrt bis zum 30. September 1813,
wo nach dem Einrücken der Russen und dem vor¬
läufigen Abzüge der Franzosen das Volk in seiner
Erbitterung gegen die bisherigen Machthaber auch
an die Statue Hand anlegte. Da der Versuch, sie
mit Gewalt von ihrem Sockel zu stürzen, misslang,
begnügte man sich damit, ihr die Nase und den
rechten Arm abzuschlagen.') Ein Student, nach
anderer Version Kosaken, sollen die Urheber dieses
Vandalismus gewesen sein.
Freilich blieb die Statue nicht lange in ihrem
verstümmelten Zustand. Denn bald nachdem Czer-
nitschelf mit seinen Russen Kassel plötzlich wieder
(am 3. Oktober) verlassen hatte, ließ Heinr. Chr
Jussow, der damalige „Directeur des bätiments de la
Couronne“, unverzüglich durch den Bildhauer Joh.
Chr. Ruhl Arm und Nase in Gips ergänzen. Zu
dieser schleunigen Ausbesserung mochte ihn wohl
die Drohung Jeröme’s veranlasst haben, der an den
Gouverneur der Stadt, den Divisionsgeneral Allix,
geschrieben hatte „malheur ä la ville, si je ne trouve
pas la statue de mon auguste frere“. So fand denn
Jeröme, als er am 16. Oktober zu kurzem Aufent¬
halte nach Kassel zurückgekehrt war, dank dem
Eifer seines Bautenministers die Statue seines kaiser¬
lichen Bruders noch an ihrem Platze vor, und erst
nach dem endgültigen Abzug der Franzosen und
der Rückkehr des angestammten Herrscherhauses
wurde dieselbe auf immer davon entfernt. Ihr oberer
Teil bis etwa zu den Knieen lag lange Zeit hin¬
durch im sog. Materialienhause in der Schäfergasse,
der untere Teil, die Platte mit den Füßen, noch bis
zum Jahre 1882 im Hause des verstorbenen Geheimen
Hofrats Ruhl zu Kassel. Jetzt befinden sich die
sämtlichen vorhandenen Stücke, wie schon oben er¬
wähnt, im Treppenhause des Museum Fridericianum,
harrend auf den Tag ihrer Auferstehung.
Es wäre zu wünschen, dass derselbe nicht mehr
allzu ferne läge. Denn wenn sich auch für Kassel
mit diesem Denkmal die Erinnerung an eine schwere,
trübe Zeit verknüpft und manches patriotische Gemüt
in gerechter Erbitterung sich gegen die Wiederauf¬
in Kassel auf dem Zaitenstock
Ohne^^Hemd und ohne Rock
Ohne Schuh’ und ohne Hosen
Steht der Kaiser der Franzosen,
spielte auf den Aufstellungsort und die für Laienaugeu
höchst dürftige Bekleidung des Marmorbildes an. Vgl.
F. Müller, Kassel seit 70 Jahren, S. 43.
1) Vgl. Zeitschrift des Vereins a. a. 0., S. 298, nach
den Aufzeichnungen des Oberhofrats Dr. Völkel.
144
KLEINE MITTEILUNGEN.
richtung desselben sträuben möchte, so verdient es
doch als ein Kunstwerk von nicht geringem Wert
eine würdigere Behandlung, als ihm bis jetzt zu teil
geworden ist. Eine geeignete Ergänzung und Auf¬
stellung im Vestibül des Kasseler Museums inmitten
der dort bereits vorhandenen Büsten von Mitgliedern
des Napoleonischen Hanses würde unseres Erachtens
als ein Akt der Pietät gegen das Werk und seinen
Schöpfer gewiss von allen Seiten mit lauter, unge¬
teilter Freude begrüßt werden. Diesen Gedanken
anzuregen und zu seiner Verwirklichung aufzu¬
muntern, sollte der Hauptzweck des vorstehenden
Aufsatzes sein. Dr. CHR. SCHERER.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Q Die Kunst und die Soxicddemokratie. Dass auch ein¬
mal ein Sozialdemokrat öttentlicli für eine regere Fliege und
Förderung der Kunst durch das Deutsche Reich eintritt, ist
eine so ungewöhnliche Erscheinung, dass wir an dieser Stelle
Notiz davon nehmen wollen. Es geschah in der Sitzung des
Deutschen Reichstages vom 18. Februar, wo der sozialdemo¬
kratische Abgeordnete Kunert bei Kapitel 8, Allgemeine EMnds,
Titel 1 (Unterstützung für das Germanische Museum in Nürn¬
berg 48000 M.) bedauerte, dass für die deutsche Kunst von
Reichswegen viel zu wenig gethan werde. Wenn man ver¬
gleiche, was an Zöllen aufkomme und was für Militärzwecke
aufgewendet werde, so sei der Gesamtbetrag von 80000 M.
geradezu verschwindend. Der Einwand, dass die Einzel¬
staaten Aufwendungen machten, träfe nicht zu; das Deutsche
Reich habe für die deutsche Kunst auch eine Aufgabe zu er¬
füllen. Wenn man etwa gegen seinen Standpunkt einwenden
wollte, dass die Sozialdemokratie dem Kapitalismus und
also auch der heutigen Kunstpflege feindlich gegenüberstehe,
so sei das eine ganz philiströse Ansicht. Redner wies auch
auf den eminenten Wert der Kunst für die geistige Hebung
der arbeitenden Klassen, für den EMrtschritt der Kulturarbeit
am Menschengeschlechte hin. „Sie müsse dann aber allen,
nicht wie im heutigen Klassenstaate nur einzelnen zugäng¬
lich gemacht werden.“ Der übliche Beitrag für das Germa¬
nische Museum wurde bewilligt, ohne dass in den Verhand¬
lungen die gegenwärtige, unsichere Lage des Museums be¬
rührt wurde.
Vor uns liegen Lieferung 1 und 2 eines Werkes aus dem
Verlage von Hermann Oestencitx zu Dessau, betitelt: „An¬
halts Bau- und Kunstdenkmäler. Mit Illustrationen in Licht¬
druck, Phototypieen und Zinkographieen. Herausgegeben
und bearbeitet von Dr. Büttner Pfänner %u Thal.“' — Nach
einer kurzen, von Th. Stenxel klar und übersichtlich ent¬
worfenen Skizze der staatlichen Entwickelung des Anhalter
Landes seit frühem Mittelalter entrollt sich vor dem Blick
des Lesers in Wort und Bild die stattliche Fülle geschicht¬
licher Denkmale von Bauten und Kunstwerken verschieden¬
ster Art, an denen Anhalt reicher ist, als manches weit
größere Staatsgebiet. In der vorliegenden Lieferung werden
wir zunächst in den Denkmälerreichtum des Ballenstedter
Kreises eingeführt. Der Text ist knapp gehalten, unterrichtet
aber stets verlässlich an der Hand der genau angeführten
Quellenlitteratur über das Geschichtliche und mit Hilfe ein¬
gedruckter Grundrisse über das Bauliche.
Blick auf Tiefenbroun.
Herausgeber: Carl von Lütxoiv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Maximilian I. und sein Kreis. Mittelgrupije in Berger’s Deckenbild.
DIE MÄCENE DER BILDENDEN KÜNSTE IM HAUSE
HABSBURG.
Deckengemälde von Julius Berger im kunsthistorisehen Hofmuseum zu Wien.
DEALE Vereinigungen zeit¬
lich getrennter PeASÖnlich-
keiten zu malerisch ge¬
schlossener Komposition, wie
sie das Berger’sche Bild
uns darhietet, kennt die
Kunstgeschichte seit Jahr¬
hunderten. Raphaers „Par¬
nass“ und „8chule von Athen“, Paul Delaroche’s
^Hemicycle“, Overbeck’s , Triumph der Religion in
den Künsten“ sind die geläufigsten Beispiele der
weitverbreiteten Gattung.
Aber die genannten Vorbilder und die große
Mehrzahl der Werke verwandten Inhalts sind Wand¬
gemälde. Und man nahm auch die vorliegende
Schöpfung des hochbegabten Wiener Meisters -an¬
fangs ganz einfach als Wandbild hin, als dieselbe
vorigen Sommer im Künstlerhause zuerst vor die
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
Öffentlichkeit trat. ‘Ungezwungen fügt' sich die
architektonische Behandlung des Raumes auf dem
Bilde dieser Voraussetzung, ohne Schwierigkeit
entspricht ihr auch der figürliche Teil der Kom¬
position.
Um so größer — und, setzen wir gleich hin¬
zu — auch freudiger war die Überraschung, als wir
dann plötzlich das Berger’sche Bild am Orte seiner
endgültigen Bestimmung als Dee/fcubild wiedersahen!
Und zwar in der Mitte des Plafonds jenes glanz¬
erfüllten Saales im Hochparterre des kaiserlichen
Hofmuseum.s, welcher die Werke der Goldschmiede¬
kunst der Renaissance und der neueren Zeit ent¬
hält. Hier, wo die Kunstliebe des habsburgischen
Herrscherhauses ihre höchsten Triumphe feiert, war
die richtige Stelle zur Verherrlichung dieses edlen
Mäcenatentums. Hier bot sich , am Mittelfelde der
langgestreckten Decke, auch der genügende Elächen-
19
Die Miii'eiie der bildenden Künste im Hanse llabsliiuft. Deckcnbild von dui.ii’s Hv.Ui'.eu im knusibistorisi limi Hofmu'enin /n Wim.
146 DIE MÄCENE DER BILDENDEN KÜNSTE IM HAUSE HABSBURG.
raum dar, um der Menge fürstlicher und künstle¬
rischer Persönlichkeiten gerecht werden zu können,
welche darauf Anspruch haben, in diesem erlauchten
Kreise zu erscheinen.^)
Allerdings ist es ein ganz ebenes, regelmäßig
ein gerahmtes Deckenfeld, nur an den schmalen
Enden durch zwei halbkreisförmige Ausbuchtungen
erweitert (s. die Abbildg.). Sowohl die Gestalt der
Fläche als auch ihre Umgebung schlossen den Ge¬
danken aus, hier eine perspektivische Deckenmalerei
mit naturalistischer Illusion anzubringen, wie sie
den Barockmalern geläufig war, wie sie Correggio
schuf, und wie sie schon Mantegna und Melozzo
meisterhaft zu liefern verstanden. Die Aufgabe, die
sich in unserem Falle dem Künstler aufdrängte,
war die: für den idealen Zeitgedanken auch
einen idealen Raumgedanken zu schallen und
zugleich dem Ganzen wie den Details diejenige
volle Realität aufzuprägen, welche uns das Gedachte
als Wirkliches , das niemals in der Geschichte so
Dagewesene als historisch erscheinen lässt. Und
diese schwierige Aufgabe hat Berger gelöst! Auch
nach seiner Übertragung an die Decke macht sein
Bild geistig wie malerisch den Eindruck überzeu¬
gender Wahrheit und Lebendigkeit. Von dem für
die Ansicht des Bildes günstigsten Standpunkt an
der Fensterseite des Saales aus betrachtet, über¬
blicken wir die Scene mit voller Klarheit und
glauben alle Vorgänge wie auf einer Bühne mit
einem Blick umspannen zu können. Die Wahl des
Augenpunktes im Bilde ist eine so glückliche, die
Verteilung der Gruppen auf der Fläche eine so
wohlgelungene, dass alle Momente des geschicht¬
lichen Lebens, die uns da vorgeführt werden, in
ihrer besonderen Bedeutung hervortreten, alle Haupt¬
figuren scharf sich loslösen, ohne dass dadurch der
geistige Zusammenhang zerrissen und die male¬
rische | Einheit zerstört würde. In koloristischer
Beziehung wirkt das Bild an der Decke günstiger,
als l)ei seiner ersten Ausstellung im Künstlerhause,
weil es jetzt gedämpftes Licht hat, welches den
silberklaren Grundton der Malerei mildert, ohne die
plastische Rundung der Gestalten aufzuheben. Diese
stehen in voller Tageshelle vor uns, nur kurze,
transparente Schatten werfend; die einzige Partie,
welche ein kräftigeres Dunkel zeigt, ist die äußerste
1) Die Länge der Bildfläche beträgt genau 15 V2 ni.
Die Figuren sind durchschnittlich lebensgroß. Das Bild ist
in Öl auf Leinwand gemalt und nach dem Minard’schen
Verfahren an der Decke befestigt.
jä
DIE MACENE DER BILDENDEN KÜNSTE IM HAUSE HABSBURG.
147
Gruppe zur Linken unter der mit Teppichen be¬
kleideten Säulenhalle.
Die Architektur des Bildes, auf die wir damit
geführt werden, stellt einen von Säulenhallen fian-
kirten Terrassenbau dar, welcher gegen rückwärts
durch Wandungen von mäßiger Höhe abgeschlossen
ist. Geflügelte weibliche Gestalten und wappen¬
haltende Löwen dienen als plastischer Schmuck der
vorspringenden Pfeiler des Wandbaues. Der Stil
der Architektur ist im Charakter der Gegenwart
gehalten, „um anzudeuten, dass die Gegenwart
durch ihre Pietät für das Alte und ihren fortleben¬
den Kunstsinn im neuen Museum den mannigfachen
Schätzen der Vergangenheit hier einen einheitlichen
Rahmen geschaffen hat.“
Der Verfasser des historischen Programms
der Berger’schen Komposition, Dr. A. llg, wel¬
chem wir diese Worte entlehnen, soll uns nun
auch als Führer dienen bei der Einzelbetrach¬
tung der in dem Bilde dargestellten Persönlichkeiten,
von denen einige nach Zeichnungen von Berger’s
trefflichem Schüler 0. Kempf diesem Aufsatze in
getreuen Nachbildungen beigegeben sind.
Wir beginnen mit der Mittelgruppe, die unser
Zinko nach einer Löwy’schen Photographie repro-
duzirt. Hier ist mit Fug und Recht Kaiser Maxi¬
milian I. (1459 — 1519) als Kern- und Ausgangs¬
punkt des Ganzen dargestellt. Er thront unter
einem Baldachin, dessen Behang mit dem Relief¬
bilde des jetzigen Kaisers, als des Erbauers der
beiden Hofmuseen und des kunstbegeisterten Nach¬
folgers seiner großen Ahnen, geschmückt ist, und
an dessen Rückwand der mächtige Doppeladler auf
goldenem Hintergründe prangt. An der Thronstufe
zu Füßen Maximilian’s lesen wir die Devise von
de.ssen Vater Friedrich IIL: A. E. I. 0. V. (Aller
Ehren ist Österreich voll). Zu beiden Seiten des
Kaisers, wie auch im Umkreise der übrigen fürst¬
lichen Mäcene sind die Künstler und Gelehrten
gruppirt, welche die Ideen Maximilian’s verwirk¬
lichen halfen. Da steht links (von ihm) Albrecht
Dürer, mit ehrerbietiger Geberde dem Kaiser eine
Zeichnung erklärend, welche dieser prüfend in Hän¬
den hält, rechts der gelehrte Dichter und Mathe¬
matiker Johann Stabius, der den historischen Plan
zu Dürer’s „Ehrenpforte“ entwarf; weiter nach
rechts, in braunem Gewände, sehen wir den Erz¬
gießer Gilg Sesslschreiber, mit dem Modell der
Bronzestatue Rudolfs 1. für das Grabdenkmal in
der Innsbrucker Hofkirche; unter Sesslschreiber
kniet, in grünem Gewände, der Augsburger Maler
und Zeichner Hans Springinklee, mit der Rechten
eine große Holzschnitttafel aufstützend; diese, sowie
die auf der untersten Stufe liegenden Bücher, deuten
auf des Kaisers litterarisch-artistische Publikationen
hin, auf den Freydal, den Theuerdank, den Weis-
kunig u. s. w. Die über den Büchern liegende
Pfauenfeder ist dem uralten Helmschmuck des kai¬
serlichen Geschlechts entnommen ; das Kanonenrohr
auf der zweithöheren Stufe erinnert an des Kaisers
Wirken für das Heer- und Geschützwesen. Auf der
andern Seite der Mittelgruppe, neben Dürer, nur
einige Stufen tiefer, steht ein anderer Hauptmit¬
arbeiter an den Publikationen des Kaisers , der
Augsburger Meister Hans Burgkmair, und zu seiner
Rechten der Bildhauer Alexander Collin, der aller¬
dings erst lange nach dem Tode Maximilian’s dessen
Grabmal in der Hofkirche zu Innsbruck den letzten
künstlerischen Schmuck verlieh. Die Rüstungsstticke
am Boden erinnern an das Turnierwesen des
„Letzten Ritters“.
Von der Mittelgruppe wenden wir zunächst
der links im Vordergründe befindlichen Hauptgruppe
unsere Aufmerksamkeit zu, deren zwei hervor¬
ragendste Figuren, Karl V. (1500 — 1558) und Tizian,
in unserer Detailzeichnung erscheinen. Der Mon¬
arch steht, in dunkler spanischer Tracht , ernsten,
weltverachtenden Blickes neben dem greisen vene-
tianischen Meister, der wie fragend nach ihm hin¬
schaut. Auf ihre künstlerischen Beziehungen deutet
kein bestimmtes Moment hin. Nur das glühende
Rot von Tizian’s Tracht erinnert an die Farben¬
pracht der Schule Venedigs. In lebendige An¬
schauung vertieft zeigen sich dagegen die beiden
fürstlichen Damen etwas rückwärts zur Seite des
Kaisers: seine Gemahlin Isabella von Portugal und
die ihr über die Schulter schauende Schwester des
Kaisers, Königin Maria von Ungarn; beide betrach¬
ten aufmerksam eine Zeichnung, welche die Kaiserin
vor sich mit der Rechten hält. Zu Füßen der hohen
Dame, ganz vorn auf den untersten Stufen der Ter¬
rasse, sind eine Anzahl von Waffen und Pracht¬
stücken der Kunstindustrie zusammengruppirt, die
sich noch heute in den Sammlungen des kaiserlichen
Hauses befinden. In ihrer höchst sorgfältigen und
virtuosen Darstellung bekundet Berger eine beson¬
ders starke Seite seines malerischen Könnens. —
Im Rücken Tizian’s, in mäßigem Abstande, sieht
man eine Gruppe seiner künstlerischen Zeitgenossen:
da sitzt Benvenuto Cellini, auf dem Schoße das
gefeierte Salzfass, den Stolz der kaiserlichen Samm¬
lung, tragend, und neben ihm der berühmte Mecha-
MS
DIE MACENE DER BILDENDEN KÜNSTE IM HAUSE HABSBÜRG.
uiker und Uhrmacher Janello Torriani aus Cremona,
die Rückenfigur in Weiß, welche neben Benvenuto
steht, ist der Bildhauer Leone Leoni, von dem wir
mehrere Porträts Karl’s V. besitzen. — Hinter der
Balustrade im Rücken Torriani’s werden zwei an¬
dere Künstler jener Zeit als Halbfiguren sichtbar:
gründer der Ambraser Sammlung selbst ist erkenn¬
bar an der Sturmhaube, einem Stück der sogenann¬
ten Herkulesrüstung, das er in den Händen trägt.
Die hinter ihm stehenden beiden Männer sind die
Mailänder Waft'en schmiede Lucio Piccinino und
Giov. Batt. Serabaglio; der Erstgenannte bringt
Kail \ . mul 'l'iziaii. Aus Berger’s Detkenhild.
(1er Bärtige im grauen Gewände ist der Bildhauer
Giovanni da Bologna; neben ihm, auf der Brüstung,
.stehen mehrere seiner in der kaiserlichen Sammlung
Ijefindlichen Werke. — Weiter nach rechts, eben¬
falls als llalbtiguren hinter der Balustrade, werden
die den Erzherzog Ferdinand von Tirol (ir)29 bis
irdlü) umgebenden Künstler sichtbar. Der hohe Be¬
den zu der Herkulesrüstung gehörigen Schild mit
dem Medusenhaupt herbei. Dazu kommt der
Maler Franc. Terzio Bergamasco, der Zeichner der
„Imagines domus Austriacae“ und Urheber ver¬
schiedener anderer für den Erzherzog geschaffener
Werke.
Volle Bedeutung ist der am linken Ende des
DIE MÄCENE DER BILDENDEN KÜNSTE IM HAUSE HABSBURG.
149
Bildes befindlichen Gruppe zugewiesen, als deren
Hauptperson Kaiser Rudolf 11. (1552—1612) da¬
steht. Er ist ja der eigentliche Gründer der großen
Kunst- und Schatzkammern des Kaiserhauses. Wir
sehen ihn umgeben von seinen kunsterfahrenen Rat¬
gebern, einem Strada, Miseroni und Attemstetter,
und gewahren am Boden um ihn herum, sowie auf
Eugenia, der Tochter Philipps 11. von Spanien. Sie
beide zieren bekanntlich in Meisterwerken der Por¬
trätmalerei von der Hand des Rubens dessen welt¬
bekanntes Ildefonsobild in der kaiserlichen Galerie.
Einige hervorragende Zeitgenossen, Jordaens (dem
Rembrandt auffallend ähnlich, nur mit anderem
Bart), Daniel Seghers, Callot u. a. schließen sich
Joh. Bernh, Fischers von Erlach und Daniel Gran. Aus Berger's Deckenbild.
dem Pfeiler im Vordergründe mehrere der unter
ihm erworbenen Antiken, den Fugger sehen Ama¬
zonensarkophag u. a.
Der äußerste Endpunkt des Bildes rechts bietet
uns die chronologische Fortsetzung zu der eben be¬
trachteten Gruppe. Hier werden wir in die glanz¬
volle Periode des Rubens und van Dyck versetzt,
ln ihrer Mitte erscheint der damalige Statthalter der
Niederlande, Erzherzog Albrecht Vll. (1559 — 1621)
mit seiner Gemahlin, der Infantin Isabella Clara
der Gruppe an. — Auf der Terrasse links von der¬
selben, gegen die Mitte zu, bemerken wir die in
blankem Harnisch erscheinende Gestalt des Erz¬
herzogs Leopold Wilhelm (1614—1662), des Haupt¬
begründers der kaiserlichen Gemäldegalerie. Er
unterhält sich mit seinem Galeriedirektor und Hof¬
maler David Teniers d. J., welchem Adriaen Brou wer
beigesellt ist, der glänzendste Vertreter des von Leo¬
pold Wilhelm besonders protegirten Bauerngenres.
Den Schluss der historischen Reihe und einen
150
DIE MÄCENE DER BILDENDEN KÜNSTE IM HAUSE HABSBURG.
mit sichtlicher Vorliebe behandelten Teil der Kom¬
position bilden die rechts im Vordergründe versam¬
melten Meister aus der Periode Kaiser KaiTs VL
(^1685 — 1740). Der Monarch, im goldenen spani¬
schen Hofkleide, das Federbarett auf der Allonge¬
perücke, steht inmitten der Plattform, und vor
ihm auf den Stufen kniet, nur als Rückenfigur
sichtbar (s. die Abbildg.), der Baumeister Jakob
Den edlen Meister selbst gewahren wir im Hinter¬
gründe unter den Halbfiguren über der mit einem
gestickten Teppich bekleideten Balustrade: er hat
das Modell der Bekrönung seines Brunnens mit der
sitzenden Gestalt der Hygieia vor sich. Heben ihm
erscheint, in blauem Rock, der größte Kunstmäcen
der Epoche, Prinz Eugen von Savoyen. — Rechts
gegen den Vordergrund hin sind noch drei be-
Jakob I'randauftr, der Erbauer von Molk. Aus Berger’S Deckenbild.
Prandauer, iler Erbauer des grandiosen Klosters
.Mölk an der Donau, einen Plan dem Kaiser zeigend.
Hinter dem .Monarchen rechts hält ein Page dessen
„Nuinmotheca“ in Buchform, wie sie Karl selbst
auf Reisen mit sich zu führen liebte, um den Schatz
der kostbaren griechischen Goldmünzen immer be¬
trachten zu können. Links von ihm gewahren wir
die Modellfigur des fJnsses Yblis von G. R. Donner’s
schönem Brunnen auf dem Neuen Markt in Wien.
rühmte Persönlichkeiten zusammengruppirt. Zur
Seite des gelehrten Archäologen und Numismatikers
C. G. Heraeus, sitzt in braunrotem Sammetkleide, der
liedeutendste Architekt des Barockstils in Öster¬
reich, Johann Bernhard Fischers von Erlach, ein
Gemälde betrachtend, welches der hervorragendste
österreichische Maler jener Zeit, Daniel Gran,
vor ihm auf den Boden stellt (s. die Abbildg.)
Eine Gruppe von Büchern, Globen u. dergl. kenn-
DIE SAMMLUNG ITALIENISCHER BILDWERKE IM BERLINER MUSEUM.
151
zeichnet den wissenschaftlichen Charakter der Epoche,
in der u. a. zu der weltberühmten Wiener Hofbiblio-
thek der Grund gelegt wurde.
Wir machen ungesucht einen kleinen Kursus der
Kultur- und Kunstgeschichte durch, wenn wir die auf
Berger’s Bild versammelten Personen nach ihren
Namen fragen. Ungesucht und unbelästigt. Denn
der Ballast des geschichtlichen Stoffes drängt sich
nirgends erstickend auf, alles bleibt leicht verständ¬
lich, klar und erfreuend; unter dem blauen, duftig
bewölkten Himmel, in den die Gestalten aufragen,
weht eine frische, echt künstlerische Luft.
Der Meister hat mit diesem Werke seine volle
Kraft für Aufgaben echt historischen Stils erprobt.
Möge es ihm bald vergönnt sein, sie von neuem zu
bewähren! Am nächsten dafür läge wohl der Ge¬
danke, ihm die schönen Skizzen zur Ausführung zu
übertragen, die er vor Jahren bereits für den Wiener
Justizpalast entworfen hat. Besäßen wir, was jüngst
im Abgeordneteuhause verlangt wurde, einen „Mi¬
nister für die schönen Künste“, so wäre das eine der
Aufgaben, die er durchzuführen hätte!
C. A’. L.
DIE SAMMLUNG
ITALIENISCHER BILDWERKE IM BERLINER MUSEUM.
Berliner Sammlung ita¬
lienischer Bildwerke im alten
Museum ist eine der bedeu¬
tendsten ihrer Art und wird
an Mannigfaltigkeit und
künstlerischem W erte weder
vom Museo Nazionale in
Florenz noch vom South
Kensington Museum in London übertroffen; der Re¬
naissancesammlung des Louvre in Paris hat sie be¬
reits den Rang abgelaufen.
Als 1830 Schinkers Museumsbau seiner Bestim¬
mung übergeben wurde, war eine Abteilung für
plastische Bildwerke des Mittelalters und der Re¬
naissance wohl vorgesehen, allein was an dahin¬
gehörigen Werken vorlag, war wenig und bot mehr
ein kunstgewerbliches als ein rein künstlerisches
und kunstgeschichtliches Interesse. Es waren gla-
sirte Thonarbeiten der della Robbia, Majoliken, Glas¬
malereien und andere Werke, die großenteils aus
dem Nachlasse der Sammlung Bartholdy in Rom
herrührten. Der Zuwachs, den die Abteilung durch
den Ankauf der Sammlung Nagler 1835 und 1839
durch die Zuweisung einiger plastischer Bildwerke
aus der alten Kunstkammer erhielt, verstärkte noch
den kunstgewerblichen Charakter der Sammlung,
erst die Erwerbungen in Venedig und Florenz, die
der Galeriedirektor Waagen in den Jahren 1841 und
1842 machte, haben den Grund zu der gegenwärtig
so hervorragenden Sammlung italienischer Bildwerke
gelegt. Neben einer Anzahl altchristlicher und by¬
zantinischer Arbeiten aus Venedig und seiner Um¬
gebung brachte Waagen als Beispiele der venezia¬
nischen Plastik eine sehr lehrreiche Gruppe von
Denkmälern zusammen, Werke des 15. Jahrhunderts,
wie das große Hochrelief des heiligen Hieronymus
in der Art des Bartolommeo Buon und die beiden
Schildhalter des Alessandro Leopard! vom Grabmal
Vendramin, dann Werke des Cinquecento, darunter
namentlich Arbeiten von Jacopo Sansovino und Ales¬
sandro Vittoria. Aus Florenz wurden erworben eine
Anzahl zum Teil hervorragender Büsten in Marmor,
Kalkstein und Terracotta, darunter das schönste
weibliche Bildnis der Berliner Sammlung (s. S. 152),
die Büste einer urbinatischen Prinzessin von Desi-
derio da Settignano.
Nach diesen Erwerbungen Waagen’s im großen
Stil erhielt die Sammlung auf mehrere Jahrzehnte
hinaus nur durch einzelne Zuweisungen, Geschenke
und gelegentliche Käufe eine Mehrung ihres Be¬
standes. Erst nach dem französischen Kriege kam
neues Leben in die Verwaltung der königlichen Mu¬
seen, deren Protektorat der damalige Kronprinz
Friedrich übernahm. Die Leitung der einzelnen Ab¬
teilungen des Museums wurde bewährten Fachmän¬
nern übertragen und zur Vermehrung der Samm¬
lungen wurden erheblich größere Geldmittel auf¬
gewandt. Im Jahre 1872 wurde Wilhelm Bode die
152
DIE SAMMLUNG ITALIENISCHER BILDWERKE IM BERLINER MUSEUM.
Sorge für die Renaissanceabteilung des Museums
übertragen, und seitdem hat diese Sammlung in
schnellem Wachstum den hohen Wert erlangt, den
ihr heute die Kenner und Forscher italienischer Re¬
naissancekunst zusprechen.
Mit unermüdlichem Eifer verfolgte Bode das
Ziel einer systematischen Erweiterung der plasti¬
schen Sammlung nach ihren hauptsächlichen Rich¬
tungen, doch mit besonderer Berücksichtigung der
Renaissanceplastik Toskanas im Quattrocento. Und
nicht nur sorgte er für die große Plastik, auch der
Kleinkunst wandte er eine Aufmerksamkeit zu, die
in den betreffenden Abteilungen, den Bronzen und
Plaketten in kurzer Zeit
Sammlungen bildete, die
den berühmtesten ähn¬
lichen des Auslandes den
Rang streitig machen.
Der Ankauf einer grö¬
ßeren Anzahl von Original¬
skulpturen bereicherte 1877
das Museum mit hervor¬
ragenden Marmor büsten
aus dem Palazzo Strozzi,
mit charakteristischen
Hauptwerken des Deside-
rio da Settignano, des Mino
da Fiesoie und des Bene-
detto da Majano. Kurz
vorher war die bemalte
Stuckbüste des Giovatini
Bucellai erworben worden;
1878 folgte die Bronze¬
statuette .lohannes des
Täufers von Donatello
(s. S. 155), dann die dem
Donatello nahestehende
unci.selirte Büste des Lu-
dovico Gonzaga HL; 1879 ein anmutiges Jugendwerk
Miclielangelo’s, der jugendliche Johannes der Täufer.
Waren so eine Anzalil ausgezeichneter Meisterwerke
vereinigt wtjrden, so riclitete sich das Ziel der Er¬
werbungen in den folgenden Jahren besonders auf
die Anlegung einer Sammlung altberaalter Stuck¬
reliefs und Thonabdrücke von meist verloren gegan¬
genen Marmor- oder Bronzeoriginalen. Gegenwärtig
ist diese Berliner Sammlung die reichste der Art.
Zur gleichen Zeit brachte die Plrwerbung einer um¬
fangreichen Sammlung von Plaketten, die der Floren¬
tiner Händler Bardini vereinigt hatte, neuen Zu¬
wachs; und neben den Vermehrungen der anderen
Bestände, der Marmor-, Bronze- und Thonwerke,
wurde noch in den letzten Jahren der Grund zu
einer höchst wertvollen Sammlung von Werken der
italienischen Kleinplastik in Bronze gelegt.
Bei diesem stetigen Wachsen der Sammlung
machte sich mehr und mehr das Bedürfnis nach
Licht und Raum für die in gedrängter Häufung
aufgestapelten Kunstschätze geltend. Schon hatten
die Werke deutscher Skulptur, die anfänglich mit
den italienischen Arbeiten zusammen aufgestellt
waren, dem Platzmangel weichen müssen, um im
Souterrain des Museums einen Ehren winkel zu finden.
Es genügte der rasch sich mehrenden Sammlung
auch nicht, dass ihr einige
Kabinette der Antiken¬
abteilung eingeräumt wur¬
den. Erst durch die An¬
lage eines langgestreckten
Anbaues mit Oberlicht, der
auf eisernen Trägern in
einem der beiden Licht¬
höfe des alten Museums
eingebaut worden ist, ge¬
lang es, wenigstens einen
Teil der plastischen Werke
in einer Weise aufzustellen
die ihre Qualitäten zu
besserer Wirkung kommen
lässt.
Die Folge dieses Er¬
weiterungsbaues ist eine
durchgehende Neuaufstell¬
ung der ganzen Sammlung
gewesen, die indes ihren
provisorischen Charakter
offen bekennt. Denn weder
ermöglichte die Disposition
der einzelnen Räume die
Einhaltung einer streng systematischen Ordnung, noch
waren hinreichende Mittel zur Hand, um die Werke in
einer ihrem hohen künstlerischen Werte entsprechen¬
den Ausstattung des Raumes aufzustellen. War man
also gezwungen, in der historischen Anordnung der
Skulpturen auf eine chronologisch fortschreitende
Entwickelung zu verzichten, so war man dagegen
bestrebt, die Hauptwerke wenigstens so zur Geltung
zu bringen, dass sie in möglichst guter und ent¬
sprechender Beleuchtung wirken. Und das ist doch
eine wichtigere Rücksicht, als die Beachtung des
„organischen Entwickelungsganges“, dessen einseitige
Befolgung mehr das Talent eines datenfesten Maga-
Kalksteinbüste einer nrbinatischen Prinzessin.
Von Desiderio da Settignano.
DIE SAMMLUNG ITALIENISCHER BILDWERKE IM BERLINER MUSEUM. 153
ziniers erfordert, als eines Kenners und Beamten, der
nicht aufhören soll, ein Kunstfreund zu sein.
Die Eröffnung der Kaiserlichen Kunstsammlun¬
gen in Wien hat die Fragen nach der wünschens¬
werten Beschaffenheit eines Museums und nach der
Art und Weise der Aufstellung von Kunstgegen¬
ständen neu belebt und , Gott sei Dank , jetzt dahin
gekommen, dass der ärgste Fehler jener Sammlung, die
Aufstellung der Gemäldegalerie, berichtigt werden
italienischen Skulpturen im Berliner Museum ist
keine Antwort auf die Wiener Vorgänge; mit
sehr bescheidenen Mitteln schuf man einen den
Raum erweiternden Notbau und hatte in der Aus¬
stattung dieses neuen Saales nicht die Absicht, eine
mustergültige Probe dessen zu bieten , was in dem
seit langem geplanten Neubau des Berliner Museums
seinerzeit soll geleistet werden. Aber so bescheiden
sich der neue Raum auch darbietet, so wird der
Die Stäupung Gliristi. Marmorrelief vou Donatello.
soll. Man wird die Bilder umhängen, man wird
sie besser zur Wirkung bringen und verständiger
taufen , aber man wird die vorlaute Dekoration der
Bildersäle des Hofmuseums nicht los werden, so
wenig man sich des Prunkes im Erdgeschoss
erwehren konnte, wo die plastischen und kunst¬
gewerblichen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiser¬
hauses zum Teil in wahrhaft mustergültiger Weise
gruppirt worden sind. Die Neuaufstellung der
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
vorurteilsfreie Betrachter doch gestehen, dass hier
mit wenigem etwas geschaffen worden ist, das in
der That Achtung verdient, und das, so viele am
einzelnen mäkelnde Stimmen sich auch äußern mögen,
doch im allgemeinen nicht nur die Zustimmung der
Fachgenossen, sondern auch der Künstler und Kunst¬
freunde gefunden hat.
Man kann sagen, dass die Skulpturen nach den
Bedingungen der Beleuchtung in drei verschiedene
20
154
DIE SAMMLUNG ITALIENISCHER BILDWERKE IM BERLINER MUSEUM.
Gruppen sind verteilt worden. In denvier AaimeWe^ides
Westsaales, die von der antiken Abteilung abgetrennt
worden sind, haben in gutem Seitenlicht die Ar¬
beiten in Marmor, die bell bemalten Stückarbeiten
und die Robbiawerke Platz gefunden. Auf matt¬
blauem Stoffgrund beben sieb die Büsten, Reliefs
und Statuen vortrefflicb ab; so viel wie möglich,
suchte man der Uberfüllung zu entgehen und suchte
Zusammengehöriges möglichst zusammen zu halten.
Die Rückwand des vierten Kabinetts, auf das der
Mittelgang führt, zeigt in wirkungsvoller Gruppirung
als point de vue,
entsprechend der
mächtigen Athe-
na aus Pergamon
in der Abteilung
der Antiken, die
zwei schlanken
Schildh alter vom
Gral)mal Vendra-
min, dazwischen
die herrliche
Büste des Otta-
vio Grimani von
AlessandroVitto-
riaund darüber in
prächtigem Ba¬
rockrahmen ein
Hochrelief in ge¬
branntem Thon,
Maria mit dem
Kinde, von San-
sovino.
Die daran-
sl obende Halle
(Zwiscbensaal)
hat die ungün¬
stigste Beleuch¬
tung, denn nur
vom Hofaus erhält sie rellektirtes Licht. Hier haben
all(!rdings in starker Häufung die mittelalterlichen
Werke, altchrkstliche, byzantinische, venezianische,
.Aufstellung gefunden und dazu eine Menge solcher
Wf-rke verschiedener Gattung, deren künstlerischer
Wert nicht derart ist, dass ilinen unter allen Um¬
ständen günstigere Plätze müssten angewiesen werden,
liier vor allem galt der Satz: Das Bessere ist der
^'eind des Guten!
An diesen verhältnismäbig ungünstigen Aus-
.stellungsraum schliebt sich der neue Anbau mit
hellem Oberlicht an. Die Wände sind matt grau¬
grün getönt, ein aufschablonirtes Muster, das Me¬
diceerwappen in bleichem Gold, belebt diesen neu¬
tralen Grund der Wände, die unten von einem oliv¬
grünen Sockel umzogen sind und auf beiden Seiten
von zwei vertikalen Streifen desselben Stoffes wie
von Pilastern in Felder geteilt werden. Die Ab¬
schlusswand hat einen eigenartigen Wandschmuck
erhalten von höchstem dekorativen Reiz und gröbtem
künstlerischen W ert. Hier entfaltet ein altpersischer
Teppich vom Anfang des 16. Jahrhunderts das bunte
Spiel einer im roten Mittelfeld chinesischen, im
übrigen persi¬
schen Formen¬
sprache. Es ist
ein mächtiger
Seidenteppich,
matt und vor¬
nehm in der
Farbe, er dient
einem der ent¬
zückendsten
W erke farbiger
Thonplastik zum
Hintergrund, der
lebensgroßen
Statue der Maria
mit dem Kinde
von Benedetto da
Majano, die auf
hohem Posta¬
ment königlich
thront. Rechts
und links von
diesem Werke
stehen auf hohen
Pfeilern zwei
feine Marmor¬
büsten , das rei¬
zende Bildnis
einer Prinzessin von Neapel von Francesco Laurana und
die Büste eines florentinischen Edelmannes von An¬
tonio Rossellino. Die übrigen Werke dieser Schluss¬
wand sind bemalte Stuckreliefs von Michelozzo,
Luca della Robbia u. a.
Die beiden Längswände des Oberlichtsaales haben
je einen mächtigen Kamin, links aus istrischem Kalk¬
stein in der Art des Jacopo Sansovino, rechts in
grünem Sandstein von Francesco di Simone als
dekorative Mittelstücke. Über diesen Kaminen haben
zumeist gröbere Bronzestatuetten und Gruppen ihren
Platz erhalten, und darüber ziehen sich zwei italienische
DIE SAMMLUNG ITALIENISCHER BILDWERKE IM BERLINER MUSEUM.
155
Verduren hin. In geschlossenen Gruppen haben an
den so gegliederten Wänden die mannigfaltigen
Werke der Thonplastik, bemalt und unbemalt, in
guter Beleuchtung Aufstellung gefunden. Dazu, auf
Pfeilern emporgehoben, eine Anzahl von Büsten und
einstweilen auf Bortbrettern, in Kästen und einem
Schrank eine Auswahl von Plaketten, sowie die große
Sammlung von kleinen Bronzewerken, an denen das
Berliner Museum jetzt so reich ist.
Ist auch in dem neuen Saal noch nicht alles
an seinem rechten Platz — die Bronzen werden in
neuen Schränken aufgestellt werden — und der
Schmuck des Raumes, besonders des Bodenbelags,
noch nicht vollendet, so giebt er doch ein fertiges
Bild, ladet in freundlichem Licht zur Betrachtung
und zum Studium einer Reihe von Werken ein, wie
sie in edlerem Verein nicht können vorgestellt werden.
Indem wir den Versuch machen, einen Überblick über
den Reichtum der Berliner Sammlung an Werken
hervorragender Meister der Renaissance in diesen
Blättern zu geben, haben wir nicht die Absicht, das
namentlich aus Bode’s grundlegenden Studien zui
Geschichte der italienischen Plastik bekannt Gewor¬
dene von neuem darzulegen, sondern wir werden
uns namentlich bei denjenigen Werken aufhalten,
die entweder in jüngster Zeit Gegenstand gelehrter
Diskussion gewesen sind oder die erst unlängst als
neue Erwerbungen zur Aufstellung gelangt sind.
RICHARD GRAUL.
Johannes der Täufer. Bronzestatiiette von Donatello.
20*
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
EIT dem Berichte, den H.
Heydemann über neugefun-
deue Antiken in dieser Zeit¬
schrift gegeben hat (N. F.
I S. 117), ist nicht bloß in
dem griechischen Mutter¬
lande, sondern auch in Sici-
lien eine Reihe höchst inter¬
essanter Denkmäler an das Tageslicht gefördert
worden, die sachlich und kun.stgeschichtlich von
hervorragender Bedeutung sind. In erster Linie sind
wegen ihres hohen Altertums die in Vaphio, dicht
bei dem alten Amyklae, gemachten Funde hervor-
zulieben. Sie stammen aus einem von Tzuntas im
Aufträge der Griechischen Archäologischen Gesell¬
schaft 1889 untersuchten Kuppelgrabe, dessen Wände
aus kleinen, wie es scheint, nur wenig bearbeiteten
und mit Lehm verbundenen Steinen aufgemauert
.sind. Da wo man vom Dromos, dem langen zum
Grabe führenden Gang, aus in das Grab eintrat,
fäud sich eine tiefe Grube ausgehoben, deren Be¬
stimmung (loch wahrscheinlich die gewesen ist den
dargehrachteii Totenopfern einen schnellen Eingang
zur Unterwelt zu verschaffen. Innerhalb des Kuppel-
grahes waren verschiedene Lagen mit Kohlen durch¬
setzter Erde zu unt(;rscheiden, auch fanden sich ver¬
schiedene Kostbarkeiten, z. B. mehrfache geschnit¬
tene Steine, über den ganzen Raum hin verstreut,
doch die 1 lau])tbeut,e stammt aus einer innerhalb
d(!.s Kujipelgrabes angebrachten Vertiefung, in der
man die dem Totmi mitgegebenen Gegenstände in
größter Vollständigkeit und ziemlich guter Erhaltung
vorfand. V or allem verdienen daraus zwei goldene
Becher mit getriebener Arbeit hervorgehoben zu
werden (Fig. 1), auf denen das Einfangen und die
Zähmung wilder Stiere dargestellt ist. Zwischen zwei
Bäumen ist ein Netz aufgespannt, in dem sich ein
Stier gefangen hat; während dieser kläglich brüllend
sein Haupt erhebt, entflieht ein anderer, durch sein
Beispiel gewarnt, in wilden Sätzen nach rechts;
links vom Netz weiß ein dritter Stier .sich seiner
Gegner, die für einen Augenblick sich seiner be¬
mächtigt hatten, zu entledigen, indem er den einen
zu Boden wirft, den andern auf die Hörner nimmt.
Friedlicher gestaltet sich die Scene auf dem zweiten
Becher; dort sind vier Stiere dargestellt, von denen
einer von einem Mann am linken Hinterfuß gefesselt
wird, während die andern ruhig weiter weiden. Über¬
raschend ist die frische Auffassung und treue Wieder¬
gabe der natürlichen Erscheinung, die in der Dar¬
stellung des Terrains und der Verkürzung des ge¬
fangenen Stieres namentlich hervortritt. Die Männer
sind sämtlich mit lang in den Rücken hinabfallen¬
den Haaren dargestellt, als Bekleidung dient ihnen
ein Schurz in der Lendengegend und Sandalen, deren
Riemen hoch hinauf um die Beine gewickelt sind;
Haartracht und Kleidung ist also genau die.selbe,
wie die, welche der über dem Stier schwebende
Mann auf dem Tirynther Wandgemälde zeigt. Aber
an Vorzüglichkeit der Darstellung, an Lebendigkeit
der Wiedergabe sind die Becher aus Vaphio dem
Wandgemälde weit überlegen. Auch mit den Dar¬
stellungen auf den bekannten Dolchklingen von
Mykenae sind viele Anknüpfungspunkte vorhanden.
Uber die Frage, von welchem Volke diese Denk¬
mäler herrühren, gehen die Meinungen vielfach aus¬
einander. Während die einen die Anfänge griechi¬
scher Kunst in ihnen sehen wollen, weisen andere
auf Asien mit seiner hittitischen Kunst hin, indem
sie die Bäume, die zwischen die Darstellung verteilt
sind (Palmen und Ölbäume, die nach v. Helm zu
Homers Zeit noch Griechenland gefehlt haben),
gegen griechischen Ursprung ins Feld führen. Für
die Zeit, in der man sich diese Becher entstanden
denken kann, ist die Hinweisung auf Teil el Amarna
in Ägypten, die Rezidenz des Ketzerkönigs Amen-
hotej) IV., wo in Erfindung und Ausführung ähn¬
liche Denkmäler zum Vorschein gekommen sind.
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
157
nicht ohne Bedeutung (14. Jahrh. v. Ohr.), allein
damit ist die andere Frage, ob griechischer oder
nicht griechischer Ursprung für diese Denkmäler
anzunehmen ist, immer noch nichts entschieden, denn
die in Teil el Amarna auftretenden Kunstwerke sind
von allen vorher und nachher in Ägypten üblichen
Kunstweisen so sehr abweichend, dass wir für sie
gleichfalls Anregung von außen und auswärtigen
Einfluss annehmen müssen. Warum soll man aber
den Griechen, d. h. den zu jener Zeit in Griechen¬
land lebenden Stämmen, die Möglichkeit abstreiten,
gefundenen Gerätschaften befand sich das Fragment
eines silbernen Gefäßes, dessen Außenseite, wie erst
jetzt bei der Reinigung erkannt ist, mit höchst in¬
teressanten Reliefs verziert ist. Dargestellt ist die
Belagerung einer Stadt. W ährend oben die Frauen
der Furcht und dem Entsetzen, das sie über das
Herannahen der Feinde empfinden, durch Jammer
und Wehklagen deutlichen Ausdruck geben, sind
ihre Männer unten vor der Mauer versammelt, um
durch Schleudern von Steinen und Pfeilschüsse die
Angreifer zurückzutreiben. Sowohl Schleuderer als
Kig. 1. Die beiden Beeüer von Vapliio.
diese Kunstwerke hervorgebracht zu haben? Es
scheint, dass um die Mitte des zweiten Jahrtausends
V. Chr. die ganze Küste der östlichen Hälfte des
Mittelmeeres einer gleichartigen Kultur sich erfreute,
die demnach in Amyklae wie in Mykenae, Tiryns,
Troja u. s. w. gleiche Erzeugnisse hervorrufen konnte.
Dieser Kultur wurde durch die sogenannte dorische
Wanderung ein jähes Ende bereitet.
Den Bechern von Vaphio gesellt sich noch ein
anderes Denkmal ungefähr gleicher Zeit hinzu, das
schon längst gefunden, aber erst neuerdings in seiner
Bedeutung erkannt worden ist. Unter den in Mykenae
auch Pfeilschützen sind ganz nackt dargestellt, während
zwei dahinterstehende Männer, die, wie es scheint,
Speere iii der rechten Hand halten, mit einer Art
Chiton bekleidet scheinen, falls nicht etwa Schilde
gemeint sind, mit denen sie ihre Körper schützen.
Ein nur zum Teil erhaltener Krieger am unteren
Rande trägt auf dem Haupte einen merkwürdigen,
in Etagen sich aufbauenden und oben, scheint es,
mit wehender Feder verzierten Helm. Auch bei
diesem Stück ist das Terrain sorgfältig angegeben,
man gewahrt deutlich das nach der Stadt hin an¬
steigende Gelände, das mit Gräsern und Bäumen
158
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
(offenbar sind wieder Olbäume gemeint) bewachsen
ist. Von den andringenden Feinden ist leider durch
den Bruch des Gefäßes keine Spur erhalten.
Gegen die Meinung, dass derartige Gefäße auch
in Griechenland gefertigt sein könnten, wird häufig
mit scheinbarem Recht der Umstand angeführt, dass
bei Homer alle kostbareren, durch Kunstwert hervor¬
ragenden Stücke ausdrücklich als eingeführt, von
den Phöniziern erworben bezeichnet werden. Aber
was für Homer gilt, braucht nicht für die voraus¬
gehende Zeit richtig zu sein. Die durch die Aus-
grabungen von Mykenae, Tiryns und Vaphio ans
Licht gezogenen Denkmäler hängen derartig iinter-
einander zusammen
und sind so sehr
aus gemeinsamem
Boden erwachsen,
dass es nicht an¬
geht, das eine oder
andere Stück daraus
für eingeführt zu
halten , während
man für andere,
z. B. die Thon¬
waren, die Wand¬
malerei und dergl.,
Wrfertigung an
Ort und Stelle an-
nehnien muss.
Einer sehr frü¬
hen Zeit griechi¬
scher Skulptur ge¬
hören auch die' in
Selinunt zum Vor¬
schein gekomme¬
nen .Metopen an,
die in den Monum.
ant. piibbl. per ciira
dci Lincei Bd. I, S. 2-15 und ‘.157 veröffentlicht und
hesproclien sind. Am 10. ß’ebruar 1801 fand man
in Selinimt nicht weit von dem halbkreisförmigen
'rnnne, der lälsclilich für ein The.ater angesehen
wird, drei Metopen. 1. h, 0,81 m, br. 0,G9 m
Euroj)a auf dem Stier. 2. h. 0,81 m, br. 0,64 m
geflügelte Spbin.x. b. 0,81 m, l)r. 0,70 m Herakles
mit ilem Stier. Letztere ist, um den Stein für
dia Neu Verwendung ])assend zu machen, im Alter¬
tum ab.sicbtlicb zerschlagen worden, so dass man
nur noch dürftige Spuren des , wie es scheint,
auf der Erde knieenden Helden, der den Stier zu
Roden gezwungen hat, erkennen kann. Um so
besser sind die beiden anderen Metopen erhalten.
Die Sphinx mit Menschenkopf, von dem das Haar
in langen Locken über Rücken und Schultern herab¬
fällt, steht ruhig e. pr. nach rechts, nach rechts
schwimmt auch der Stier, der die Europa trägt, aber
er wendet den Kopf herum dem Beschauer zu;
dass er schwimmt, hat der Bildhauer nicht bloß
durch zwei unter dem Leibe des Stieres sichtbare
Fische, sondern auch dadurch, dass der Stier nur
mit dem Rande seiner Füße den Boden berührt,
auszudrücken gewusst. Auf seinem Rücken sitzt
in gewöhnlicher Stellung, d. h. eine Hand auf den
Rücken des Stieres stützend, während sie mit der
anderen sich an
einem Horn fest¬
hält, Europa, mit
Chiton und darüber
mit einer Art Um¬
hang bekleidet, der
nach Art eines rad¬
förmigen Kragens
über Brust und
Schulter fällt; ihr
dichtes Haar ist
gleich hinter dem
Hinterkopf durch
ein Band zusam¬
mengenommen und
fällt dann in dicken
Strähnen in den
Rücken und über die
Schultern hinab.
Äußerst wich¬
tig sind die Farbe¬
spuren, die bei der
Auffindung noch
deutlich vorhanden
waren. Der Grund
war rot gemalt, ebenso das Innere der Stierobren,
auch die Augen desselben waren bemalt, sowie
auch ira Schwänze Farbenreste noch sichtbar sind.
Dass auch das andere bemalt war, darüber kann
bei dem ganzen Charakter der Zeichnung gar
kein Zweifel sein , wenngleich der Berichterstatter
über die Auffindung der Metopen in den Monum.
ant. ])ubbl. ])ercura dei Lincei I, S. 957 die am Fuße
des Herakles sichtbaren Farbespuren auf ein Ver¬
sehen des Malers beim Färben des Grundes zurück¬
führt.
Die gleichen Höhenmaße lassen erkennen, dass
alle drei Metopen einst ein und demselben Bau-
Fig. 2. Der Kanipl' iiiii die Stadt.. Oefällfragmeiit ans Mykeuae.
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
159
werke angeliörten; die Breitenmaße konnten und
mussten verschieden sein, da ja auch die Inter-
kolumnien immer verschieden sind; während nämlich
in der Mitte die Säulen weiter auseinanderstehen,
pflegen sie nach den Enden hin mehr an einander
gedrängt zu werden. Was für ein Tempel das war,
vermögen wir nicht anzugeben, immerhin lässt sich
vermuten, auf Grund der jetzt vorliegenden Skul¬
pturen, dass er im 6. Jahrh. v. Chr. entstanden ist,
sich die Größe desselben auf 0,25 m berechnen, so
dass die Metope eine ursprüngliche Höhe von
0,850 m gehabt haben muss. Von welchem Tempel
sie stammt, ist ebensowenig wie bei den drei anderen
zu bestimmen, aber jedenfalls muss er in der Nähe
gelegen haben, da Hermokrates zur Herstellung
seiner Befestigungen vor allem das Material nahe
gelegener Ruinen benutzt haben wird. Der Stein
ist Porosstein, aus den Steinbrüchen von Menfi, die
denn in diese Zeit, und wohl mehr nach dem Anfang
des 6. Jahrhunderts hin, scheinen die Vorgefundenen
Metopen zu gehören.
Einer etwas jüngeren Zeit gehört die am 25. Mai
1890 bei der Bloßlegung der nach 409 von Hermo¬
krates wiederhergestellten Ringmauern und Türme
gefundene Tempelmetope an, 0,745 m breit und
0,625 m hoch; das untere Stück ist abgebrochen
und bis jetzt nicht wieder aufgefunden, doch lässt
auch zu den anderen Metopen das Material geliefert
haben; es lässt sich noch erkennen, dass man die
verschiedenen in dem Steine vorhandenen Löcher
durch Einflickung von rundlichen Brocken auszu¬
füllen bemüht gewesen ist (vgl. die rechte Schulter
und den scheinbaren Nabel), ein Verfahren, das man
ohne jede Gefahr anwenden konnte, da die darauf
angebrachte Bemalung die Spuren des Flickens
völlig verbarg. Auf der Metope sind zwei Gestalten
160
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
erhalten, eine Frau, die mit fein gefälteltem Chiton
nnd darüber mit einem Peplos bekleidet ist, der
schleierartig über das Hinterhaupt gezogen ist und
von da über Rücken und Schultern shawlartig
herabfällt, und ein Jüngling, der mit einem fein¬
gefältelten Chiton und darüber mit einer auf der
rechten Schulter zusammengehaltenen Chlamys be¬
kleidet ist; sein Haar, das in kurzen Locken rings
um den Kopf angeordiiet ist, ist mit einem Petasos
bedeckt. Die Göttin, denn um eine solche handelt
es sich offenbar, erinnert wegen der Stephane auf
dem Haupte und des schlicht nach hinten ge-
Hand hielt er wohl das Kerykeion, den Herolds¬
stab. Trotz aller Zerstörung, die der Oberfläche
widerfahren ist, lässt sich noch die Schönheit der
Zeichnung und die Lebendigkeit und Natürlichkeit
der Bewegung herausfühlen, so dass man trotz des in
den Falten der Gewänder und in den Haaren zu
Tage tretenden Archaismus das Bildwerk nicht zu
hoch hinaufsetzen darf. Es scheint mir, dass die
Metope etwas vor 450 v. Chr. anzusetzen ist.
Gleichfalls ein Werk der strengen Kunst, das
erst neuerdings bekannt geworden ist, tritt uns in
Fig. 5 (nach Bull, de Corr. Hell. 1891, T. 9) ent-
Fig. 4. Hera mul Hermes. Metope ans Seli)iunt.
strichenen Haares am meisten an Hera, doch spricht
gegen die Deutung auf diese Göttin die Lebhaftig¬
keit der Haltung (sie hat den linken Ful.i offenbar
auf eine Erhöhung gesetzt, nnd während sie die
rechte Hand au die Hüfte legt, streckt sie den
linken Arm befehlend oder anweisend nach dem
Jüngling aus), so dass die Benennung bis auf weiteres
fraglich bleiben muss. Sicherer lässt sich der Jüng¬
ling benennen, es ist Hermes, der den Kopf der
Höttin noch zuwendet, um ihre Weisungen zu
empfangen, während er sich schon zum Weggehen
rü.stet. Her rechte Arm lag vor dem Leibe, in der
gegen; es ist eine Bronze der Sammlung Carapanos in
Athen, sie stellt eine auf niederer Basis stehende
Frau dar, die mit einem leinenen ionischen und
darüber einem wollenen dorischen Chiton mit Über¬
schlag bekleidet ist; während die Falten des leinenen
Chitons in einem Bündchen am Halse zusammen¬
genommen sind, ist der dorische Chiton auf den
Schultern zusammengeheftet nnd umgiebtden Körper,
indem er, ohne durch einen Gürtel zusammengehalten
zu sein, in breiten regelmäßigen Falten bis zu den
Füßen herabfällt, so dass man fast den Eindruck von
Kannelüren einer ionischen Säule gewinnt. Das
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
161
Haar ist durch einen Scheitel in der Mitte geteilt
und von da in schlichten Wellen nach hinten ge¬
strichen und durch ein Band, das hinten um den
Schopf herumgewunden ist, über der Stirn zusammen¬
gehalten. Beide Oberarme sind fast gleichmäßig
an den Körper angelegt und die Unterarme halb
seitwärts nach vorn
ausgestreckt ; wahr¬
scheinlich hielt die
rechte , etwas zer¬
störte Hand , eine
Blume Die Füße
sind ohne Sanda¬
len. Das Gresicht
zeigt in der Bil¬
dung der vorquel¬
lenden Augen noch
archaische Formen,
es fehlt selbst nicht
das leise, den ar¬
chaischen Statuen
eigentümliche
Lächeln; die For¬
men des Gesichtes
erinnern etwas an
Polykletischen Ty¬
pus, woraus wohl
nur geschlossen
werden kann, dass
unser W erk der
peloponnesischen
Schule angehört.
Ich glaube, mau
wird es wohl dem
Anfang des fünften
Jahrhunderts zu¬
schreiben müssen.
Eine techni¬
sche Eigentümlich¬
keit verdient noch
eine besondere Er¬
wähnung. Die Sta¬
tuebesteht aus zwei
Teilen, dem Ober¬
körper mit dem
Überschlag des Chiton, und dem Unterkörper mit
den steilen Falten; beide wurden ursprünglich durch
vier Niete zusammengehalten, deren Köpfe unter
viereckigen, sorgsam eingefügten Blechstückchen ver¬
borgen waren. Auch die Basis ist besonders ge¬
arbeitet, so dass die Figur vermöge der unter den
Zeitschrift für bilcleuJe Kirnst. N. F. IV.
Füßen vorhandenen Vorsprünge darin eingesetzt
werden musste. Die Feinheit der Arbeit und die
Sorgsamkeit, mit der alle Schäden des Gusses durch
Einfügung von dünnen Bronzestreifen ausgeglichen
sind, verdient Bewunderung. Auch die Patina der
Bronze, oder besser gesagt, die ihr schon im
Altertum gegebene
künstliche Färbung
(grün - blau ) lassen
das W erk trotz
seiner Kleinheit als
ein beachtenswer¬
tes Kunstwerk er¬
scheinen. Dass es
aus Epirus stammt,
ist wohl sicher, ge¬
nauere Nachrichten
fehlen.
Gleichfalls dem
Peloponnes und
wahrscheinlich so¬
gar der Polykleti¬
schen Schule gehört
ein bei dem argi-
vischen Heraion ge¬
fundener Kopf an,
den wir mit gütiger
Erlau bnis des Herrn
Ch. Waldstein, des
Direktors der Ame¬
rikanischen Schule
in Athen, nach „Ex-
cavations of the
American School of
Athens at the He¬
raion of Argos
1892, Nr. 1“ Taf. 4
hier unter Seite 162
veröffentlichen. Die
amerikanische
„ School of Athens “
hat, trotzdem sie
erst seit wenigen
Jahren in Athen
besteht, der Alter¬
tumswissenschaft schon manche wertvollen Dienste
zu erweisen, Gelegenheit gehabt: so verdanken wir
ihr z. B. die Ausgrabungen der Theater in Eretria
und Sikyon, um anderer früherer Unternehmungen
hier nicht zu gedenken. Beinahe wäre ihr das große
Los, Delphi auszugraben, zugefallen, wenn nicht im
21
Fig. 5. Venus mit Taube. Aus der Sammlung Carapanos.
162
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
letzten Augenblick noch das französische Parlament
ein Einsehen gehabt und für die Ecole d’Athenes
die Mittel für Delphi flüssig gemacht hätte. An Stelle
der Ausgrabung in Delphi ist nun der Amerika¬
nischen Schule die Erlaubnis zu Ausgrabungen
im Heraion von Argos und in Sparta verliehen
worden; während die letzteren bis jetzt noch wenig
Erfolge gezeitigt haben (es sind dazu weitere in
größerem Maßstabe
unternommene Nach¬
forschungen nötig),
hat das Heraion schon
jetzt zahlreiche Funde
gespendet, die sowohl
über die älteste Peri¬
ode der griechischen
Kunst, die Heroenzeit,
Licht zu verbreiten
im stände sind, als
auch für die Erkennt¬
nis der Schule des
Polyklet wichtige Bei¬
träge liefern. W äh¬
rend aber die der
Heroenzeit angehö¬
renden Funde bis zu
weiterer Durcharbeit¬
ung beiseite gelegt
sind, hat Dr. Wald¬
stein initanerkennens-
wertem Eifer die
zweite Serie sofort
nach Abschluss der
Campagne in dem
o))en erwähnten Be¬
richte veröffentlicht.
Das Hauptstück dar¬
unter ist ohne Zwei¬
fel der hier abgebildete Kopf, der ziemlich genau
vor der Mitte der Westseite des Tempels zum Vor¬
schein gekommen ist und sicherlich nicht zu den
Metopen, sondern zu den Giebelskulpturen gehört
hat; denn dass Giebelskulpturen vorlianden gewesen
sind (l’ausanias redet im allgemeinen von den Skul¬
pturen oberhalb der Säulen), geht aus den Funden
unzweifelliaft hervor. Der Kopf zeigt reichlich Lebens¬
größe, er muss genau gerade nach vorn gestellt gewesen
sein, so dass eine von der Stirnhöhe über die Nase
gezogene Linie senkrecht zu der durch die beiden
Schultern gezogenen stehen würde, eine Stellung,
die fast mit Sicherheit auf den Mittelpunkt des
Giebels hinweist, sobald dieser einmal in Frage
kommt. Leider ist die rechte Hälfte des Kopfes
durch Berührung mit Säuren in der Erdschicht an¬
gefressen, um so besser ist aber die linke erhalten.
Das Haar ist auf der
Mitte des Hauptes
durch einen Scheitel
geteilt und wellig nach
unten gestrichen, so
dass es ursprünglich in
reichenFlechtenin den
Nacken hinabhing;
eine schmale Stephane
dient dazu, das Haar
zusammenzuhalten.
Die Ohrläppchen, die
unter den Haaren her¬
vortreten, sind durch¬
bohrt , um Ohrringe
zu tragen; der Mund
ist leise geöffnet. Dass
die Augen ehemals
farbig bemalt waren,
erkennt man noch
deutlich aus der ver¬
schiedenen Erhaltung
der Oberfläche. Eine
Ähnlichkeit mit der
Hera Farnese, aber
auch mit der Hera
Ludovisi, ist entschie¬
den vorhanden. Man
kann Herrn Wald¬
stein nur recht geben,
wenn er den Kopf auf die Schule des Polyklet
zurückführt und ihn Hera benennt. — Von an¬
deren Resten verdienen noch Metopenreste , Köpfe
und der lebhaft bewegte Torso eines Jünglings
(Taf. 6 und 7) erwähnt zu werden, sowie eine Reihe
von eigentümlich gestalteten Terrakotten, die unter¬
halb der Fundamente des zweiten Tempels zu Tage
gekommen sind. (Schluss folgt.)
Fig. G. Kopf iler Hera. Aus dem Heraion in Argos.
KUNSTDENKMÄLER IM KREIS ERBACH.
AS Verdienst, die Inventari¬
sation der Kirnst de nJanü kr
im Großherzogtum Hessen
angeregt und dafür ein vor-
bildliclies Werk geschaffen
zu haben, gebührt Herrn
Hofrat Prof. Dr. Schäfer in
Darmstadt, der im Jahre 1878
eine darauf bezügliche Denkschrift dem Großherzog¬
lichen Staatsminister einreichte und alsdann dem
weiteren Inventarisationswerk durch den muster¬
gültigen Eröffnungsband über den Kreis Offenbach
die Wege wies. Seitdem sind erschienen Kreis Worms
von Ernst Wörner (1887), Kreis Büdingen von Prof.
Heinrich Wagner (1890) und soeben als vierter Band
der „Kreis Erbach'''' von Prof. Dr. Georg Schäfer.*)
Der stattliche und glänzend ausgestattete Band be¬
ansprucht wegen der Fülle schöner und kunst-
geschichtlich wichtiger Kunstaltertümer aus fast
allen Perioden der Kunstgeschichte, die der Kreis
birgt, ganz besonderes Interesse. Neben den Resten
römischer Ansiedelungen und neben kostbaren an¬
tiken Museumsstücken finden wir ein höchst wert¬
volles Denkmal der Karolingerzeit, ferner sind die
romanische Zeit, die Gotik, die Renaissance mit
ihren Ausläufern durch eine Anzahl hervorragender
Werke der hohen Kunst wie des Kunsthandwerks
vertreten, von denen eine Fülle ausgezeichneter Ab¬
bildungen, z. T. in Lichtdruck, die Anschauung
übermitteln. Der Text des Herrn Verfassers ist
ein Muster von klarer und geschmackvoller, oft
dichterisch schöner Darstellung, so dass es ein wahres
1) Kunstdenkmäler im Großherzogtum Hessen, heraus¬
gegeben durch eine im Auftrag Seiner Königlichen Hoheit
des Großherzogs zu diesem Zwecke bestellte Kommission.
Provinz Starkenhurg, Kreis Erbach von Dr. Georg Schäfer.
Darmstadt 1891. Verlag von Arnold Bergsträßer. 284 S. Gr. 8.
Vergnügen ist, seiner zugleich durchaus sachkundigen
Führung sich anzuvertrauen.
Wollen wir einen kurzen Überblick über die
Kunstwerke des Kreises Erbach geben, so stoßen
wir zunächst auf die Reste der unter dem Namen
Limes Romanus bekannten römischen Grenzwehv
gegen Deutschland, und zwar handelt es sich hier
im besonderen um die sogenannte Mümlinglinie.
Der Limes hatte wohl im wesentlichen den Zweck,
den freien Germanen ein sichtbares Zeichen der
Reichsgrenze vor Augen zu stellen, die nicht un¬
gestraft überschritten werden dürfte; durch seinen
Signaldienst war es möglich, bei räuberischen Ein¬
fällen alsbald die Besatzung des nächsten Kastells
herbeizurufen; zugleich diente er als Heerstraße in¬
mitten des Urwaldes. Während von der Nordsee
bis Bonn der Rhein als nasse Wehr diente, erstreckt
sich der römische Grenzwall von Bonn bis Regens¬
burg in einer Länge von 542 Kilometern. Die
sogenannte Mümlinglinie schließt sich an den mitt-
leren Abschnitt, der vom Main bei Hanau bis Milten¬
berg sich genau südlich bis zur Rems bei Lorch in
Württemberg erstreckt. Sie zieht sich als eine
zweite Kette von Kastellen und Wachttürmen
20 Kilometer von der Hauptlinie entfernt von Wörth
am Main aus über den Odenwald bis zum Neckar
bei Gundelsheim unterhalb Wimpfen. Die Mümling¬
linie, die nicht, wie der Limes selbst, Wälle und
Gräben hat, ist 50 km lang und berührt nach
Schäfer’s Nachweisen, die durch eine Karte unter¬
stützt werden, auf hessischem Gebiete die Orte
Hesselbach, Würzberg, Eulbach, Hainhaus (Heunhaus)
bei Vielbrunn und die Gemarkung von Lützel-
Wiebelsbach. Die Mümlinglinie mag als befestigte
Straße zur Überwachung der Straßen und vielleicht
als Rückzugslinie beim Verlust der Neckargrenze
gedient haben. Schäfer giebt einen wichtigen rö¬
mischen Inschriftstein wieder, der bei Hesselbach
21*
164
KUNSTDENKMÄLER IM KREIS ERBACH.
gefunden worden ist und aus dem Jahre 146 n. Chr.
stammt. In die Nähe dieses Jahres darf man die
Entstehung der Mümlinglinie setzen. An einer
anderen Stelle macht Schäfer darauf aufmerksam,
dass das alte Röinerkastell bei Lützel- Wiebelsbach
dem gegenwärtigen Besitzer als bequemer Steinbruch
dient.
Die römische Kunst vertreten die bekannten
römischen Zimmer des Schlosses Erbach in überaus
stattlicher Weise. In trefflichen Abbildungen nnd
wohl beschrieben finden wir in dem Buche den
rnhig-ernsten Kopf eines jugendlichen Athleten
mit der Siegerbinde, dann den vorzüglich erhal¬
tenen 1791 zu Tivoli ausgegrabenen Alexanderkopf,
den Kopf des schmerzvoll bewegten Perseus und
den 1787 zn Albano gefundenen Kopf des Sertorius
mit dem eingefallenen linken Auge. Ein reizvolles
(lenrebild ist der im kindlichen Alter dargestellte
schalkhafte Merkur mit dem Geldbeutel als Be¬
schützer des Handels. Zu dem überlebensgroßen,
bildnisgetreuen Standbilde des Kaisers Hadrian tritt
die große Amphora aus Bari mit der klagenden
Frau, endlich der berühmte Helm von Cannä, der
einst auf dem Schlachtfelde ausgegraben und von
den Mönchen eines apulischen Klosters dem Papste
Clemens XIV. als Geschenk verehrt wurde, am
Schlüsse des vorigen Jahrhunderts aber aus dem
vatikanischen Museum verschwand, um später in
der Erbacher Sammlung wieder aufzutauchen.
PMr die mittelalterliche Kunst kommt vor allem
ein höchst wichtiges Werk aus karolingischer Zeit
in Betracht: die Ruine der Einhard-Basilika zu
Steinbach bei Michelstadt. In ihrer wahren Be¬
deutung ist sie erst von Dr. Schäfer erkannt und in
diesem Blatte (Bd. IX, 1874 S. 129 — 145) als eines
der beachtenswertesten Architekturdenkmäler für
die Entwickelung der ältesten deutschen Kirchen-
l>aukunst in rnittelrheinischen Landen nachgewiesen
worden, während man früher wähnte, von diesem
Bauwerk sei keine Spur mehr vorhanden. Alle
seitdem erschienenen Schriften über die Einhard-
Basilika fußten auf den Ergebnissen der Schäfer’schen
F()rschungen. In dem hier vorliegenden Inventari¬
sationswerke erhalten wir eine zweite umfassende
und ab.schließende Itarstellung des Bauwerks und
seiner Gescliichte mit 12 trefflichen klaren Abbil¬
dungen des gesamten Baues und der maßgebenden
Einzelheiten. Wir geben ein paar davon wieder.
Die Steinbacher Basilika ist bekanntlich eine Grün¬
dung Einhard’s, der bei Karl dem Großen das Amt
eines Intendanten der künstlerischen Unternehmungen
einnahm und sich 815 mit seiner Frau Imma auf
die Domäne zu Michelstadt im Odenwalde zurückzog,
die ihm Ludwig der Fromme geschenkt hatte. Die
Basilika, durch die Einhard der Schenkung die reli¬
giöse Weihe gab, war im Jahre 821 vollendet (nicht,
wie Dohme fälschlich angiebt, erst 828 begonnen).
Das in seinem Kern wohlerhaltene Bauwerk schließt
sich in seiner Anlage streng der frühchristlich¬
römischen Basilika an. Die Anordnung ist drei-
schiffig: erhöhtes Mittelschiff, niedrige Seitenschiffe,
alle drei Schiffe in halbrunde Apsiden auslaufend.
Nur das Mittelschiff indes mit seinen sieben Pfeilern,
Arkaden, die Hauptapsis und die Apsis des nörd¬
lichen Seitenschiffes stehen von dem eigentlichen
karolingischen Bau Einhard’s noch aufrecht. Neuer¬
dings ausgegrabenes Mauerwerk deutet auf eine
ehemals vorhandene Vorhalle und einen Hofraum.
Das erhaltene Mittelschiff ist 21 m 10 cm lang,
7 m 10 cm breit. Ein Notdach überspannt gegen¬
wärtig an Stelle des ursprünglichen das Hauptschiff.
Zur Charakteristik des Baus gehört auch die römische
Ziegelbautechnik. Uber der mächtigen Schicht von
Bruchsteinen, die die Fundamentirung abschließt
erheben sich die schlanken Pfeiler aus tiefroten
Ziegelschichten aufgemauert, die durch breite Mörtel¬
lagen geschieden sind, während alsdann Kämpfer
aus buntem Sandstein und Archivolten in Haustein
folgen. Die Technik der Holzwände verbirgt leider
der Bewurf. Das Ganze mag einst einen farbig
prächtigen Anblick geboten haben. Überaus merk¬
würdig und am besten erhalten von dem Bau ist die
Krypta in Ge.stalt eines lateinischen Kreuzes mit ganz
ungewöhnlicher Behandlung und Ausgestaltung der
vier Enden der Kreuzarme. Die beiden sich durch¬
schneidenden Korridore laufen nämlich in kapellen¬
artig erweiterte Räume aus, die teils an Oratorien,
teils an Arkosolien in den römischen Katakomben
gemahnen. (Die Abbildung in Dohme’s Geschichte
der deutschen Baukunst ist für den Westarm ungenau.)
Vor Schäfer’s Forschungen galt die Basilika zu Stein¬
bach als ein romanisches Bauwerk. Wirklich ro¬
manisch sind indes, wie Schäfer nachweist, an der
Steinbacher Klosterruine nur einige Veränderungen
und Erweiterungen: der Flügelbau an der Nordseite,
der Winterchor (mit Ausnahme des in der Renaissance-
Epoche aufgesetzten Obergeschosses) nnd ein nur in
Abbildungen erhaltenes Portal. Der Kern des Baus
aber, den vor Schäfer noch niemand auf seine
charakteristische Struktur und seine eigentümlichen
Bildungsverhältnisse wissenschaftlich geprüft hat,
der Kern ist echt karolingisch. Dies für alle Zeiten
KUNSTDENKMÄLER IM KREIS ERBACH.
165
endgültig festgestellt zu liaben, ist Schäfer’s unbestreit¬
bares Verdienst.
Ans der romanischen Zeit ist weiter noch der
riesenhaft gewaltige Bergfried zu erwähnen, der sich
im inneren Burghof der Burg Breuberg trotzig er¬
hebt. Schäfer setzt ihn mit guten Gründen in die
zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts. Leider krönt
ihn in wenig harmonischer Weise ein quadratischer
Pavillon aus der Spätrenaissancezeit. Die Frühgotih
bietet wenig Erhebliches. Dagegen ist die spätere
Gotik nach allen Seiten hin reich vertreten. Hier
haben wir zunächst die Pfarrkirche zu Michelstadt,
deren erste Gründung in die ältesten Zeiten der
Christianisirung zurückführt (um 700); der älteste
Holzbau wich zunächst wohl einem Steinbau, doch
hat der gotische Umbau im 15. Jahrhundert keine
Spuren von den früheren Stilstadien gelassen. Leider
haben aber die Umbauten des 17. und 18. Jahr¬
hunderts dem Gotteshause namentlich durch das
Einzwängen eines massigen, plumpen Orgelgehäuses
zwischen Mittelschiff und Chor und durch die Em¬
porenanlagen seine künstlerische Wirkung geraubt.
Dr. Schäfer äußert sich darüber in gerechter Ent¬
rüstung: „Alle Ruhe, alle Harmonie und Stimmung
des Raumes ist durch solche Geschmacklosigkeit in
widerwärtiger Weise vernichtet. Diese brutalen
Massen, mit denen eine verständige Erneuerung
hoffentlich bald aufräumen wird, sind das non plus
ultra der Emporenmanie, die sich schlechterdings
das Innere evangelischer Kirchen nicht ohne solche
hässlichen Einbauten vorstellen kann, mitunter sogar
bei neuen Gotteshäusern davon nicht lassen will,
ohne zu bedenken, dass die Entstehung dieser un¬
förmlichen Gerüste der Not des Raummangels ge¬
horchte, nicht dem künstlerischen Triebe.“
Ganz besonders bemerkenswert wird die Michel¬
städter Kirche durch die zahlreichen prächtigen
Grabdenkmäler, die sie birgt. Die lange Reihe
beginnt mit dem Plattengrabe des Schenken Hein¬
rich von Erbach aus dem Jahre 1387. Unter den
Grabmonumenten gotischen Stils ist das Kenotaph
der beiden Schenken Philipp von Erbach f 1456
und Georg von Erbach f 1481 die hervorragendste
künstlerische Leistung. Es besteht aus buntem
Sandstein und umschließt einen .4rkadenpfeiler des
Hochschiffes fast zur Hälfte. Die beiden gewapp¬
neten Schenken stehen unter gotischem Baldachin
auf den bekannten symbolischen Tierfiguren, Löwe
und Bracke. Ungeachtet der Schwere der Kampf¬
rüstungen zeigt das stattliche Schenkenpaar den
Ausdruck leichter, ritterlicher Bewegtheit. In der
Auffassung wie in der sorgfältigen Ausführung
gehört die Gruppe zu den tüchtigsten Schöpfungen
der Figurenplastik ihrer Zeit. Der Name des von
der fränkischen Schule berührten Meisters ist leider
unbekannt.
Sehr merkwürdig ist die Grabkapelle des Grafen
Eberhard L, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts
der Michelstädter Kirche angefügt wurde. Der Raum
ist von rechteckiger Planform und mit einem Rauten¬
gewölbe überspannt, dessen geschwungene Rippen
nach spät-gotischer Weise ohne Kapitellvermittelung
den vier Winkeln des kleinen Heiligtums entsteigen.
Das Merkwürdige ist, dass das hier befindliche,
gleichzeitig hergestellte Wandgrabmal des Grafen
Eberhard 1. (f 1539) und seiner Gemahlin Maria
von Werthheim (f 1558) im Stile der deutschen
Renaissance gehalten ist. Im Umfang der Odenwald¬
zone ist dies Denkmal nicht nur als eine frühe,
sondern in stilistischer Beziehung geradezu als eine
hervorragende Leistung zu bezeichnen. Das Neben-
einandergehen einer entschieden gotischen Formen¬
sprache in der Architektur und einer ausgebildeten
Renaissanceplastik ist für die gleichzeitige Pflege
der beiden Stilarten in der Odenwaldzone um die
Mitte des 16. Jahrhunderts entscheidend und eine
nicht unwichtige kunstgeschichtliche Erscheinung.
Von der spätgotischen Wallfahrtskirche zu
Schöllenbach (begründet 1465) steht nur noch der
jetzt als selbständiger Kapellenraum eingerichtete
Chor. Ein kostbarer Kunstschatz aus ihr ist in
gutem Zustande erhalten geblieben: der großartige
Flügelaltar, der in reichster plastischer, malerischer
und farbenprächtiger Ausstattung jetzt in der
St. Hubertus-Schlosskapelle zu Erbach prangt. Er
ist von stilkundigen Händen aufs trefflichste erneuert
worden. Das Werk, das bei geöffneten Flügeln
5,25 m breit und 3,75 m hoch ist, zeigt in der Pre¬
della und der Mittelnische die Wurzel Jesse und
den Stammbaum Christi in holzgeschnitzten freien
Gestalten, auf den Innenseiten der Flügel acht Dar¬
stellungen aus dem Leben der Maria in malerischen
Hochreliefgruppen. Der würdige Greis Jesse, neben
ihm Moses und Aaron, dann die 12 Könige in den
Zweigen des Stammbaums und die gekrönte Mutter
Gottes mit dem Chri.stuskinde sind wohlindividualisirt;
die sieben Darstellungen aus dem Leben Mariä
spiegeln das bürgerliche Leben um die Wende des
15. und 16. Jahrhunderts in treuem Abbilde mit
einer realistischen Anschaulichkeit wider, welche
zeigt, wie damals das Volksgemüt auch in der künst¬
lerischen Wiedergabe biblischer Thatsachen immer
166
KUNSTDENKMALER IM KREIS ERBACH.
in der unmittelbaren Gegenwart sich bewegen und
bei sich selbst zu Hause sein wollte. Die gotische
Kunst hat hier an der Wende des Mittelalters in
einem großartigen Werke gewissermaßen noch einmal
die Vollkraft ihres Könnens zusammengefasst.
Bedeutsam ist im Kreise Erbach der Buxgenbau
vertreten: und zwar durch die Hochburgen Breuberg
und Freienstein, die Wasserburg Fürstenau und das
Schloss Reichenberg. Namentlich ist der Breuberg
eine Hochburg ersten Ranges, ebensowohl durch die
Ausdehnung und Großartigkeit der Anlage, wie durch
den Umstand, dass an den einzelnen Architektur¬
gruppen und fortifikatorischen Bestandteilen die
Entwickelung des deutschen Burgenbaus von Ende
des 12. bis 17. Jahrhunderts hinein klar und be¬
stimmt, wie nicht leicht an einem anderen Beispiel
des Großherzogtums Hessen sich verfolgen lässt.
Unsere Abbildung giebt die Gebäudegruppe am
Burgthor wieder. Wir blicken in den tiefen Wehr¬
graben mit seinen starken Futtermauern, der das
Vorwerk vom Inneren trennt. Die im Jahre 1739
erbaute Steinbrücke vermittelt jetzt den Zugang zum
inneren Thorbau mit seinem stattlichen Giebel, an
den sich die ehemalige Wachtstube und die Burg¬
küche anschließen. Weiter sehen wir das schmuck¬
lose Herrenhaus oder Palas der alten Burg, dahinter
aber den aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts
stammenden trotzigen Bergfried. Er erhebt sich auf
viereckigem Grundriss bis zu einer Höhe von rund
25 m hinan. Die Breite der Seitenflächen beträgt
am Fuße je 9 m, die Mauerdicke 2,60 m. Das
riesenhaft gewaltige Bauwerk stammt wohl aus der
zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts, die Spät¬
renaissance hat leider auf der Plattform einen mit
dem tiefernsten Gepräge des Bergfrieds wenig
liarmonirenden Pavillon aufgesetzt. Zur Linken
von dem Portalbau sehen wir den sogenannten
Kasimirbau (aus dem Jahre IfilS) neb.st seinem
runden Treppenturm aufsteigen. Von der in der
Kunstgeschichte schon bekannten überaus reichen
Stukkodecke im Rittersaale dieses Renaissancebaus
bringt das Schäfer’sche Werk vier vortreffliche Ab¬
bildungen und eine ausführliche sachgemäße Be¬
schreibung.
Aus der Renaissancezeit sind weiter noch vier
Grabdenkmäler im Chor der Michelstädter Kirche zu
erwähnen: die in deutscher Frührenaissance ge¬
haltene Tumba des Grafen Georg 1. von Erbach und
seiner Gemahlin Elisabeth, ein Werk des Bildhauers
Johann von Trarbach (um 1569); dann das prunk¬
volle, fast überreich mit Bildwerk ausgestattete Hoch¬
wandmonument des Grafen Georg II. von Erbach
(t 1605) und das Hochwanddenkmal mit davor¬
stehendem Sarkophag des Grafen Friedrich Magnus
von Erbach (f 1618). Das künstlerisch bedeutsamste
dieser Grabdenkmäler aber, das schon dem Barockstil
angehört, ist das des Grafen Johann Kasimir (f 1627),
dessen Schöpfer sich wohl bezüglich der Hauptfigur
an der Gestalt des Lorenzo de’ Medici in der Medi¬
ceer-Kapelle zu Florenz inspirirt haben mag. Der
Raum erlaubt nicht, hierauf näher einzugehen. Um
auch endlich noch dem Barock- und Rokokostil ein
Wort zu widmen, sei auf das markgräfliche Zimmer
nebst dem Boudoir im Schlosse Fürstenau hingewiesen,
in welchem diese Stilreformen in reizvoller Weise
zur Erscheinung kommen.
Unser Urteil über das Schäfer’sche Werk können
wir dahin zusammenfassen, dass es mit ebenso großer
Sachkenntnis wie Sorgfalt gearbeitet ist und sich
durch seine fesselnde, geschmackvolle Darstellung
über viele andere derartige Werke erhebt. Zu der
formvollendeten Darstellung tritt die reiche Aus¬
stattung des Werks, dessen 116 Abbildungen im
Texte und 23 Tafeln im Lichtdruck unter Leitung
von Prof. E. Marx in Darmstadt ausgeführt sind.
Die Kunstforschung erfährt durch das Schäfer’sche
Werk, von dessen reichem Inhalte wir einige Haupt¬
sachen erwähnt haben, eine nicht unbedeutende Be¬
reicherung. P. SCH.
KLEINE MITTEILUNGEN
BÜCHERSCHAU.
Handbuch der Kunstpdege in Österreich. Auf Grund
amtlicher Quellen herausgegeben im Aufträge des Ministe¬
riums für Kultus und LTnterricht. Zweite Auflage. Wien,
k. k. Schulbücheiwerlag. 1893. XXIII u. 484 S. 8.
* Diese soeben erschienene zweite Auflage des von uns
früher eingehend gewürdigten österreichischen Kunsthand¬
buchs kündigt sich gleich beim äußeren Anblick als eine
beträchtlich erweiterte Ausgabe an: der Umfang hat um
ca. 150 Druckseiten zugenommen, 5ö Artikel des Buches
sind wesentlich erweitert, 182 ganz neu hinzugefügt. Die
Darstellung bietet ein überraschend reiches Bild von dem
regen und weitverzweigten Kunstleben des Kaiserstaates,
von der EMlle seiner Kunstinstitute, Schulen, Vereine, Mu¬
seen, Privatsammlungen u. s. w. Die Abschnitte über die
Museen und Galerieen sind der Redaktion des Handbuchs
vielfach von den Vorständen der Sammlungen selbst in
dankenswerter Weise zugeflossen. Außerdem hat, von an¬
deren fachlichen Organen abgesehen, besonders die Central¬
kommission für Kunst- und historische Denkmale zahlreiche
Ergänzungen und Bereicherungen beigesteuert. Ein Ver¬
zeichnis der Konservatoren der Centralkommission ist als
erwünschte Beigabe der Einleitung angefügt. Wer in irgend
einer Lokalfrage zuverlässige Auskunft wünscht, wird sie
am besten durch diese kundigen Männer erhalten. Als Zeug¬
nis für die bedeutende Erweiterung des museographischen
Teiles der neuen Auflage sei hier nur der Abschnitt über
den Wiener Privatbesitz hervorgehoben. Er zählt über 70
größere Sammlungen auf (etwa das Dreifache von der ersten
Auflage) und wir erhalten von den wichtigeren dieser zu¬
meist dem Publikum unzugänglichen Kunstkammern wenig¬
stens summarische Übersichten, so z. B. von den unver¬
gleichlich kostbaren und reichen Sammlungen der Gebrüder
Bar. Rothschild. Der Schlusssatz über die Sammlung des
Freiherrn Nathaniel v. Rothschild (Theresianumgasse) lautet:
,,Für die französische Kunst des 18. Jahrhunderts steht diese
Sammlung, wenigstens in Österreich, einzig da und dürfte
auch durch wenige ausländische Sammlungen erreicht oder
übertroffen werden.“ — Auf S. 149 des Buches findet sich
die Notiz, dass in Wien ein „Diöcesan -Museum“ im Ent¬
stehen begriffen sei. Dies wäre der erwünschte Sammel¬
punkt für manche in der Stadt und deren nächster Um¬
gebung zerstreute, schwer zugängliche Kunstwerke. Wir
nennen darunter beispielsweise das Dürer’sche Werkstattbild
der ,, Kreuzigung“ in der erzbischöflichen Landwohnung zu
Ober -St. Veit. — Zu den sorgfältig verzeichneten Publika¬
tionen über die Museen und Sammlungen haben wir nur
wenige heliographische und photographische Erscheinungen
der letzten Zeit nachzutragen. So fehlt z. B. das Heck-
Löwy’sche Heliogravürenwerk über die Wiener Privatgale-
rieen mit Text von Bodenstein, Chmelarz, Frimmel, Wick-
hoff u. a. Auch die große photographische Publikation von
Ad. Braun in Dörnach über die Galerie Liechtenstein (in 4
Bänden Fol.) wäre zu verzeichnen gewesen. — Doch das
sind Kleinigkeiten gegenüber der großen Menge dankens¬
werter Angaben, welche das Handbuch bietet das wir hier
mit nochmals , als den verlässlichsten Führer durch die
Kunstwelt Österreichs, den Lesern bestens empfehlen wollen.
Rückblick auf die Entwickelung der deutschen
Architektur in den letzten SO Jahren. Vortrag
gehalten auf der X. Wanderversammlung des Verbandes
deutscher Architekten- und Ingenieurvereine zu Leipzig
am 28. August 1892 von Hubert Stier. Sonderabdruck
aus der Deutschen Bauzeitung. Berlin 1892, Kommissions¬
verlag von Ernst Toeche.
Alle Besonderheiten und Details beiseite lassend, weiß
Stier in großen allgemeinen Zügen ein so vollendetes Bild
der Architekturentwickelung des letzten halben Jahrhunderts
zu geben, wie es nur einem objektiven Augenzeugen möglich
ist; denn er hat all das Charakterisirte mit Bewusstsein
miterlebt und werden sehen. Bei all dem Unfertigen, das
der geschilderten Epoche nochthatsächlich anhaftet, ist es dem
Redner doch am Ende gelungen, fast ein typisches Bild zu
Schäften , das für die Zukunft seine Richtigkeit behält. Der
Weg, den er zur Erreichung dieses Ziels, in einem so engen
Rahmen, einschlägt, ist ebenso originell wie sicher: er
schildert vorzugsweise den Beginn des in Rede stehenden
Zeitraums in den vierziger Jahren mit all den Anläufen
sowohl zum Studium als auch zur Praxis, oder besser zum
Wiederauffinden der verlorenen Technik, und fasst dann
den Schluss der Epoche in der heutigen Zeit ins Auge und
berührt für die Zwischenzeit nur diejenigen Momente, welche
zum Verständnis der gegenseitigen Erscheinungen unbedingt
notwendig sind. Ein Vergleich zwischen beiden Zeiten er-
giebt sich bei der trefflichen Charakteristik derselben von
selbst. Der Autor betont ganz richtig, dass uns eine kurz
hinter uns liegende Zeit oft weniger vertraut ist als eine
langvergangene und dass wir zweifellos mit 1740 und seinen
Leistungen vertrauter sind als mit 1890. Gründe dafür bringt
er eine Menge vor. Die kurze Schrift birgt überhaupt eine
Fülle interessanter historischer Reflexionen, namentlich über
die lokalen Architekturerscheinungen Deutschlands und
Deutsch-Österreichs, und die mannigfachen Schulrichtungen,
so dass nicht nur der Fachmann ander Arbeit des Fachmanns,
sondern auch der Kunstkritiker daran Freude haben kann.
BK.
Schuster, Dr. Richard, Zappcrt^s ältester Plan von Wien.
(Sitzungsber. der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften,
philos.-hist. Klasse, CXXVII. Bd., Ahhandl. VI.) 1892. 8.
Im Jahre 1856 veröffentlichte Georg Zappert in den
Sitzungsberichten der Wiener Akademie das Faksimile eines
angeblich von dem Buchdeckel eines Codex, über dessen
Verbleib er sich weiter nicht aussprach, abgelösten Perga¬
mentes mit einem dem 11. oder 12. Jahrhundert angehörigen
Stadtplan von Wien; zwei Jahre später die Reproduktion
eines anderen von einem gegenwärtig in der Wiener Hof¬
bibliothek befindlichen Codex ahgelösten Pergamentblattes
mit einem althochdeutschen „Schlummerlied“. Dieses wurde
u. a. von Jacob Grimm für viel höher erachtet, als die
Merseburger Sprüche und der „Wiener Hundesegen“; durch
jenen, den Zappert in das 11. bis 12. Jahrhundert versetzte.
I6S
KLEINE MITTEILUNGEN.
die soeben erst von Camesina publizirte ächte allerälteste
Ansicht Wiens „um rund 400 Jahre überboten“. Das Schlum¬
merlied wurde jedoch alsbald aus inneren Gründen ange-
fochten, schließlich nach einer genauen Prüfung des Origi¬
nals von C. Hofmann, Ph. Jaffe und W. Müller als eine
dreiste Fälschung erklärt. Auch gegen den „Zappert’schen
Stadtplan“, der zur Erläuterung von passauischen Gülten
auf Wiener Häusern und Weinbergen dienen sollte, wurden
gleich nach seinem Erscheinen gewichtige Bedenken laut,
и. a. von Ottokar Lorenz und Karl Weiß, der z. B. eine
darin vorkommende Straßenbezeichnung auf einen Schreib¬
fehler des HirschvogePschen Planes zurückführte. Der Be¬
weis dafür, dass man es mit einem Falsifikate zu thun habe,
konnte aber bisher mit Sicherheit nicht erbracht werden, da
das Original unsichtbar blieb. Es kam neuerdings in der
к. k. Hofbibliothek zu tage, dank den Bemühungen Herrn
Dr. Richard Schuster’s, den die Bezeichnung der Weinberge
in der linken Ecke unten „durch Reihen von Doppelkreuz-
chen“ sehr an die moderne kartographische Praxis, die Be¬
zeichnung einer ganzen Gasse als „unter den Badern“ (inter
balneatores) bedenklich an Zappert’s ,,Badewesen im Mittel-
alter“ und die „Goldschmiedgasse“ an der Stelle des heu¬
tigen Judenquartiers nicht minder bedenklich an desselben
Autors im Kommentar zu dem Plane niedergelegten „Lieb-
lingsphantasieen“ über das Goldschniiedehandwerk und an
das ebendort „für die mittelalterlichen Bankierviertel be¬
kundete Interesse“ erinnerte. Herr Schuster unterzog nun das
Pergament einer eingehenden, mit einem großen Aufwande
von paläographischer, litterar- und kulturhistorischer Gelehr¬
samkeit geführten Untersuchung, die bis zur Evidenz erweist,
dass auch der Stadtplan eine freche Fülsclmng und dass der
Fälscher niemand anders ist als derjenige, hei dem schon
Zappert selbst eine jüdische Schreiberhand vermutet und der
sich obendrein das Vergnügen gemacht hat, sich, wie schon
Jaffe nachgewiesen, im Schlummerlied als „Zprt“ zu unter¬
zeichnen und, wie nun Dr. Schuster nachweist, im „scatet
erroribus“ des Stadtplans nicht nur die Vokale, sondern auch
die Anfangsbuchstaben seines Namens „Zappert Georgius“
der Nachwelt als Rätsel zu hinterlassen. Damit ist dieses
Machwerk aus den „Geschichtsquellen der Stadt Wien“ defi¬
nitiv entfernt, aber auch über einen „Gelehrten“ der Stab
gebrochen, dessen stilles Vergnügen über die Geschicklich¬
keit, mit der er seine Leute hinter das Licht geführt hat,
und über die verdutzten Gesichter beim dereinstigen Bekannt¬
werden des wahren Sachverhaltes sich jedermann im Geiste
vorstellen mag. Traurig bleibt es nur, dass eine so hoch¬
bedeutsame Körperschaft, wie die Wiener Akademie der
Wissenschaften, von dem Schwindler dazu ausersehen war,
mit seinen Machwerken getäuscht zu werden. /, B.
ZU DER TAFEL.
* Die „Herbstlandschaft“ von Theodor Rousseau aus
der Sammlung Behrens in Hamburg, welche wir den Lesern
in der beiliegenden trefflichen Photogravüre von Hanfstaengl
vorführen, behandelt eines jener einfachen Themen, auf
welche der Meister seine volle Kraft zu verwenden liebte,
um die Größe seiner Kunst zu zeigen. Bewaldetes Terrain,
rechtshin ansteigend, lässt im Mittelgründe einen Durchblick
offen, aus dem uns ein gelbes Kornfeld hell entgegenleuchtet.
Dahinter der Dorfkirchturm. Über den Wipfeln, die zum
Teil schon herbstlich gefärbt sind, spannt sich ein in metal¬
lischem Ton gehaltener, leicht bewölkter Himmel aus. Er
ist mit einer Meisterschaft gemalt, die seit den Zeiten des
Ruisdael und Hobbema verloren gegangen war, bis Rousseau,
der auch als Waldmaler ihnen nahe kam, sie wieder er¬
reichte. Auf der Anhöhe rechts verstreut weidet buntes
Vieh, von einem Hirtenjungen gehütet; weiter vorn im Halb¬
schatten sitzt eine Frau. Die Durchführung des Gemäldes
ist bis ins kleinste Blättchen von der größten Sorgfalt. Das
Bild trägt die Namensbezeichnung.
Herau.sgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Ee]iogr.v;FraBzHajiista£n^ , Munclieii.
WM TER AM SEE
DIE NEUE
STÄDTISCHE GEMÄLDEGALERIE ZU STRÄSSBURG.
MIT ABBILDONÖEN.
UBENS Lat im Aufträge des
Großherzogs von Toskana
eine geistreiche, lebensvoll
sinnbildliche Darstellung ge¬
malt, welche gleichzeitig zu
den farbenprächtigsten und
-reichsten Bildern gehört
— die Allegorie auf den
Krieg. Meisterhaft hat der nordische Tizian, indem
er das Vermächtnis des dreißigjährigen Krieges schil¬
derte, diesen Stoff behandelt. Alles flieht, alles
flüchtet sich, unendlich ist der Jammer, schrecklich
die Feuersglut, wie sie verheerend und vernichtend
wirkt. Und so war es auch im letzten deutsch-fran-
zö.sischen Krieg. Die Nacht vom 24. auf den 25.
August 1870 hat infolge des Eigensinnes ihrer Hüter
die Zerstörung der Straßburger Bildergalerie bewirkt.
Der Krieg ist nun glücklich beendet, die Wunden
sind zugeheilt, man restaurirt, baut und verschönert
die Stadt, man will den verursachten Schaden her-
stellen, und so ist auch aus Reichsmitteln nach
vollen zwanzig Jahren die neue städtische Gemälde¬
galerie zu Straßburg hervorgegangen. Mit verhält¬
nismäßig wenig Mitteln ist durch die altbewährten
und rastlosen Bemühungen Wilhelm Bode’s eine
stattliche und ausgewählte Sammlung von Bildern
zu stände gekommen. Mit Recht darf die Stadt
Straßburg auf die neue Galerie stolz und befriedigt
hinblicken, denn diese besitzt bereits Perlen, um die
sie manche Schwestersammlung beneiden kann.
Der provisorische, von Hubert Janitschek ver¬
fasste Katalog von 1890 weist bereits 67 Nummern
auf. Seither ist die Sammlung durch einen Rubens,
zwei Skizzen von Tiepolo und ein Bild aus der
Schule des Giorgione bereichert worden. Auch haben
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
zehn italienische Terrakotten aus dem 1 5. und 16. Jahr¬
hundert hier Aufstellung gefunden. Ferner muss
bemerkt werden, dass die Galerie dadurch bedeutend
an Wert gewonnen hat, dass der Photograph Matthias
Gerschel in Straßburg die Bilder in wohlgelungenen
Photographieen veröffentlichte.
/. Italien.
V on jenem gotterfüllten altflorentinischen Meister,
den wir an die Spitze einer neuen Bewegung zu
stellen haben, besitzt die Galerie noch kein Werk.
Wohl ist aber in der Art des Giotto eine kleine,
auf Goldgrund gemalte Darstellung der Kreuzigung
(Nr. 1) als das älteste Bild in der Sammlung hervor¬
zuheben. Daran schließt sich (Nr. 2) ein fragmen¬
tarisches Stück einer Altartafel mit den Brustbildern
von fünf Aposteln, von denen Petrus und Bartho¬
lomäus die üblichen Attribute führen. Es sind gut
gemalte und sorgfältig ausgeführte Halbfiguren, deren
Entstehungszeit ungefähr die Mitte des 14. Jahr¬
hunderts ist. Das fürstlich Hohenzollern’sche Mu¬
seum in Sigmaringen besitzt einen dazu gehörigen
Teil. Neben diesen zwei genannten Bildern hängt
die dem Don Lorenzo Monaco zugewiesene Dornen¬
krönung (Nr. 3), ein handwerksmäßiges und uncha¬
rakteristisches Bild, welches ebenso gut das Werk
eines anderen sein könnte. Noch ungünstiger muss
das Urteil über das folgende Bildchen ausfallen (Nr. 4).
Ein auferstandener Christus, umgeben von einer
großen Strahlenmandorla auf hellblauem Hintergrund,
ist hier dargestellt. Der Katalog sagt „Art des
Masolino*. Bei genauer Prüfung fallen besonders
die verzeichneten Füße auf, ferner das ungeschickte
Anordnen des dünnen weißen flatternden Tuches,
das von der linken Schulter ausgeht, die Lenden
22
170
DIE NEUE STÄDTISCHE CEMALDEUALERIE ZU STRASSBÜRH.
uinscliliiigt und das linke Bein völlig eiuwiekelt.
^'el•fasser hat in den letzten Wochen Gelegenheit
geliabt, an Ort und Stelle die Werke des Masolino
zu prüfen und sich zu überzeugen, dass das kleine
Straßburger Bild nicht der Richtung des Meisters
der Fresken von Castiglione d’Olona angehört; viel¬
mehr ist es der umbrischen Schule der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts zuzuweisen.
Wenn die bis jetzt besprochenen Bilder Werke
mittleren Ranges repräsentiren, so steht es ganz
anders mit der Anbetung der Hirten (Nr. 5) des
Carlo Crivelli, in der eine wahre Perle der früh¬
venezianischen Malerschule zu erblicken ist. Hier
steht der Beschauer nicht vor einem konventionellen
und steifen Madonnenbild, wie Crivelli sie so häufig
zu malen pflegte (Mailand, Accademia di belle arti;
Rom, Galerie des Laterans; London, Kollektion Lord
Nurthbrook etc.), noch vor einem riesigen Altar¬
werke, wie das der Londoner Nationalgalerie (Nr. 788),
wo drei Reihen von Heiligen schematisch über¬
einandergesetzt sind, noch vor einer affektirten und
die Hände verrenkenden weiblichen Heiligen (London.
Nat. Mus. Nr. 907; Berlin, Nr. 1156), sondern vor
einem Bilde, das mit des Meisters reifster Schöpfung,
der Verkündigung der Londoner Nationalgalerie
(Nr. 7.39), die Dürer gewiss auch gekannt hat, wett¬
eifern darf. Die unten reproduzirte Abbildung legt
deutliclies Zeugnis von der so glücklichen Komposi¬
tion ab. Aber es treten noch zwei ebenso wichtige
l''aktoren hinzu. Erstens die sorgfältige und ge¬
wissenhafte Ausführung und zweitens die Harmonie
der Farben, die vielleicht auf keinem anderen Bilde
des Meisters so deutlich wahrzunehmen ist. Es sei
liier gestattet, auf eine Kleinigkeit hinzuweisen. Links
von der Hütte im Hintergründe steht ein Mann, der
dem himmlischen Chor der Engel zuhört. Er stützt
seinen Wanderstab, von dem ein Hase herabhängt,
auf die rechte Schulter. Pis ist dies ein altbeliebtes,
schon sehr früh auftretendes Motiv, das unter an¬
derem z. B. auch bei Taddeo Gaddi auf dem PVesko
mit der Darstellung des „.loachirn und der Anna an
dt-r goldenen Pforte“ in S. Croce zu PJorenz vor-
koinmt; dort ist es statt des Hasen ein Schäflein,
auch fehlen die musizirenden Engel, — das Motiv
aber bleibt dasselbe. Plin ungefährer Zeitgenosse
I'rivelli’s ist Bartolommeo Montagna, der durch ein
tüchtiges und in der I^euchtkraft der Parbe an Gio¬
vanni Bellini grenzendes, leider jetzt allzu stark re-
staurirtes Amlachtswerk (Nr. 6), die Maria mit dem
Kind und dem heiligen .Iose])h, Vertretung gefunden
hat. Besonders muss der ß’altenAvurf des Mantels
der Madonna hervorgehoben werden, wogegen die
Hände etwas steif ausgefallen sind. Bleiben wir
noch eine Weile bei den Venezianern, die unter den
Italienern sowohl an Zahl als auch der Güte nach
hier überwiegen. Marco Basaiti’s büßender heiliger
Hieronymus (Nr. 7) verrät deutlich den Einfluss Gio¬
vanni Bellini’s. Es ist ein für den Meister recht
bezeichnendes Werk, das mit Nr. 281 der Londoner
Nationalgalerie nicht nur in der Wahl des Stoffes,
sondern in der ganzen Auffassung und Farbengebung
sehr nahe verwandt ist. Auf beiden Bildern Ist der
heil. Hieronymus dargestellt; auf dem Londoner
Exemplar hält er einen offenen Folioband auf den
Knieen, auf dem Straßburger dagegen hat er mit
der rechten Hand einen Stein erfasst, mit der Linken
das Kreuz und das Gewand. Ein Löwe ruht neben
ihm. Beiden Bildern ist eigen, dass die Berge der
Hügellandschaft in einem wahren Zauber von leuch¬
tend blauer Farbe ausgeführt sind. Als Inkarnat liebt
Basaiti einen dunkelbraunen Ton, den weißen Bart
bildet er in feinen dünnen Fäden, die Modellirung
des Körpers ist eine Avohlstudirte , der Faltenwurf
ist majestätisch, und in der Farbe der Gewandung
erblickt man die Vorboten für das in der Zukunft
so bedeutsam gewordene warme venezianische Ko¬
lorit. Auch von einem unmittelbaren und begabten
Schüler Giovanni Bellini’s, von Rocco Marconi her¬
rührend, ist die unten reproduzirte und mit echter
Signatur „rocus. de. marconib.“ versehene Madonna
mit dem Christuskind (Nr. 8) zu der glücklichsten
Erwerbungen der Sammlung zu rechnen. Der Schüler
schloss sich eng an das Madonnenideal seines Lehrers
an. Aus dem fein geformten spitzovalen Gesicht
der Gottesmutter leuchtet tiefer Ernst, aber gleich¬
zeitig Milde und Barmherzigkeit hervor. Leise hat
sie ihren rechten Arm um das göttliche Kind ge¬
schlungen, während sie mit der anderen Hand seinen
linken Fuß stützt. Ein feiner Ausblick in die Land¬
schaft trägt nicht unerheblich zu dem Reize bei, den
das Bild auf den Betrachter ausübt. Das Ganze
zeigt eine bewunderungswürdige Durchführung,
welche bei dem jungen Künstler eine sichere Pinsel¬
führung voraussetzt. Wie köstlich ist die Haar-
behandlung bei der Madonna, wie harmonisch wirken
alle Farben, wie fein und woblüberdacbt hebt sich
der nach außen blaue, nach innen olivengrüne Mantel
von dem roten GeAvande ab! Nichts Störendes ist
in dem Bilde, alles passt zur Stimmung und fordert
den Menschen zur Bewunderung auf.
Wenn die letztgenannten Bilder den Einfluss
Giovanni Bellini’s bekunden, so bringen uns die drei
DIE NEDE STÄDTISCHE CEMÄLDEGALEKIE ZU STilASSBUKG.
folgenden in die Nähe des gewaltigsten Koloristen
Venedigs, ln der heiligen Familie (Nr. 10) des Paris
Bordone erblickt man den unmittelbaren Schüler
Tizian’s. Weder Komposition noch Farbe lassen
etwas zu wünschen übrig. Die Gruppe der spielen¬
den Kinder (Christus und Johannes) und des Joseph,
der in Gedanken vertieft sie beobachtet, ferner die
imposante Erscheinung der Elisabeth verdienen Be¬
achtung. Nicht weniger ist auch der durch Boni-
fazio Veronese und Tizian beeinflusste Giacomo da
Ponte durch ein gutes Werk vertreten. Als Thema
ist die Verkündigung an die Hirten (Nr. 12) gewählt.
Der Hauptreiz liegt in der wundervollen Beleuch¬
tung der Landschaft durch den teilweise von Wolken
verdeckten Mond, auch sind die Tiere mit Sorgfalt
ausgeführt. Ein anderes Bild, das wegen der Auf¬
fassung des Stoffes fesselt, ist Tiutoretto's Werbung
des Bacchus um Ariadne (Nr. 11). Die Sonne taucht
gerade im Meer unter. Ariadne liegt auf einem
gelben Vorhang hingebreitet; der bekränzte Bacchus,
von ihrer Schönheit hingerissen, hält in den Händen
Trauben, bunte Vögel auf Rebgewinden umringen
ihn. Herab zu der Verlassenen schwebt die Göttin
der Liebe und drückt ihr die Krone auf das Haupt.
Unter den übrigen Venezianern sei hier ein in letzter
Zeit der Galerie einverleibtes Bild ganz besonders
hervorgehoben. Es ist das Brustbild eines laute¬
spielenden Jünglings (Nr. 69) aus der Schule des
Giorgione. Er hat soeben eine düstere Melodie an¬
gestimmt, aus dem etwas kantigen und braunen
Antlitz leuchtet ein Paar schwarzer Augen hervor;
wehmütig blicken sie uns an. Ebenfalls zu den
neuen Erwerbungen gehören zwei farbenreiche Skizzen
von Tiepolo: Die Hochzeit zu Kana und die Ehe¬
brecherin vor Christus. Um die Aufzählung der
Venezianer zum Abschluss zu bringen, sei hier eine
fein empfundene Ansicht des Canale Grande mit
dem Ponte Rialto (Nr. 18) von F. Guardi, einem
Schüler Canaletto’s, und Leandro da Ponte’s Nacht¬
stück „Die Vorbereitung zu einem nächtlichen Mahle“
(Nr. 13) angeführt. Diese letzte Bezeichnung dürfte
wohl korrekter sein als „Bauerngelage“.
Der nicht bedeutende Fra Vittore Ghislando
von Bergamo, den der Katalog zu der „venezianischen
Schule“ zählt, ist durch ein in der Farbenstimmung
wenig günstig wirkendes männliches Porträt (Nr. 17)
vertreten.
Werfen wir noch einen Blick auf das übrige
Italien ! Das Brustbild eines jungen Mädchens (Nr. 9)
von dem Florentiner Giovanfrancesco Penni bildet
einen weiteren Schatz der Sammlung. Dieses in
171
London erworbene Bild blieb dem vielseitigen Mo-
relli unbekannt. Sein Urteil über die Barberiui’sche
Foruarina ist daher umsomehr als eine Frucht lang¬
jähriger Beobachtung und eindringenden Studiums
anzusehen. Wenn man diese beiden Bilder mit¬
einander vergleicht, muss man Morelli durchaus bei-
püichten. Beide stellen die sogen. Geliebte Raphael’s
dar, das Barberini’sche Exemplar ist das Werk des
Giulio Pippi genannt Romano — das Straßburger
das des Penni; nur ist in dem Straßburger Bilde
„diese hässliche, wie eine liederliche Dirne drein¬
schauende Fornarina“ — wie Morelli mit Recht die
Barberini'sche bezeichnet — ein für uns nicht ganz
so unsympathisches Wesen. Das Gesicht der Buh¬
lerin hat sie auch hier, nur macht sie einen etwas
bescheidenen Eindruck. Verfasser möchte auch glau¬
ben, dass das Bild sehr gelitten hat und von einem
anderen Künstler nicht nur restaurirt, sondern auch
ganz verändert wurde. Dafür spricht der Umstand,
dass eine starke Querliuie über die Brust bemerk¬
bar ist, sie gehört zu der ursprünglichen Komposi¬
tion; ferner ist in dem purpurroten Sammet und
dem dunkelgelben Damaststoff' eine solche Leucht¬
kraft in der Farbe, wie sie nur eigentlich bei den
Venezianern angetroffen wird. Von dieser Restau¬
ration rührt auch der dunkle und nun erhöhte
Hintergrund her, wodurch der Kopf und Oberkörper
eine leise Vertiefung erfahren hat. Aber das Werk
des Penni bleibt der Kopf, der Hals und der noch
wenig sichtbare Teil der Brust. Das in Dreiviertel¬
profil gesetzte platte Gesicht ist fein modellirt, das
Inkarnat wie bei seiner Madonna mit Kind in der
Cappella dei Cannonici in St. Peter zu Rom; die
Haarbehandlung ist meisterhaft durchgeführt. Im
Vergleich mit der Barberini’schen ist das Gesicht
länglicher und die Formen zarter, der Hals ist kürzer
und dünner. Verfasser kann Hubert Janitschek nicht
beipffichten, wenn dieser wegen des rechts im Hinter¬
gründe des Bildes angebrachten Rades — das Marter¬
werkzeug der heiligen Katharina — glauben möchte,
dass die Fornarina Katharina, und nicht Margareta
geheißen hat. Den ganz gleichen Typus weist auch
die das Salbgefäß haltende heilige Magdalena auf
dem St. Cäcilienbilde zu Bologna auf; die Folgerung
aber daraus zu ziehen, dass sie Magdalena hieß,
wäre gewiss recht gewagt!
Der Begründer der neuen römischen Schule des
17. Jahrhunderts, Andrea Sacchi, ist durch das
mächtig aufgefasste Kniestück eines leider für uns
noch unbekannten Camaldulensers vorzüglich ver¬
treten. Er malte ja diese Mönche mit Vorliebe, mul
22*
172
DIE NEUE STÄDTISCBE GEMÄLDEGALERIE ZU STRASSBURG.
wer einmal seine Werke in der Pinakothek des Vati¬
kans gesehen hat, wird den Eindruck, den sie auf
den Betrachter machen, nicht leicht vergessen.
Gehen wir einen Schritt südlicher — nach Neapel !
Seine Bedeutung in der Geschichte der Malerei hat
es ohne Zweifel dem aus Spanien eingewanderten
Jusepe de Ribera zu verdanken, der nicht nur die
Malweise seines eigenen Landes, sondern auch die
Norditaliens, besonders Correggio’s, gründlich kannte.
Von diesem Meister besitzt die neue städtische Ge¬
mäldegalerie in Nr. 14 in dem Kniestück mit der
Darstellung der Apostel Petrus und Paulus ein vor¬
achtete eine bewunderungswürdig korrekte Perspek¬
tive, er hat es so trefflich verstanden, Licht und
Schatten sorgfältig gegeneinander abzuwägen und
mit wenig Mitteln, mit nur einigen zarten Tönen
das Ganze in Duft und Zauber einzuhüllen. Diese
Worte mögen für seine heroische Berg- und Fluss¬
landschaft (Nr. 15) gelten.
11. Die Niederlande, DeniscJdand und Franh'eich.
Die neuere Kunstgeschichte hat ihre Studien
in den letzten elahren mit berechtigter Vorliebe den
Einzelforschungen zugewandt. Dank der streng
Aiiljetimg iler Hirten. Von Caui.o Crivei.li.
zügliclies, durch Namensinschrift: Joseph Ribera
llispanns valentinos civitatissetabis academicos ro-
nianos l)eglaul)igte.s Werk. Es sind großartig und
naturalistisch ausgearbeitete Gestalten in ernster
Auffa.ssung und tadelloser Durchführung in der
'rcchnik. Dieses Bild steht den zwei echten und
bezcichnctcn Ribera’s in der Galleria des Principe
t.b'ietauo Filangieri in Neajiel nur an Ausführung
• •twa nach. Hieran reiht sich, um damit den ersten
.M e.hluss zu Ende zu führen, das große Bild Sal¬
vator Rci-.a’.s, des Fürsten der iieajiolitanischen Maler¬
schule. Dieses allseitig starke Talent war mit den
‘ iehi-iumisa-ii di-r Malerei wohl vertraut, er beob-
historischen Methode und stilkritischen Untersuchun¬
gen ist es gelungen, in dem bis daher unbekannten,
der van Eyck’schen Richtung angehörigen Künstler,
dessen Werke man dem Hans Memelinc zuzuweisen
pflegte, den zu Valeuciennes thätigen und im Jahre
1489 verstorbenen Simon Marmion zu erkennen.
Am höch, steil geschätzt zu werden verdient — ob¬
gleich er auch daneben als Illuminator angesehen
war — sein kleines, ans sechs Täfelchen bestehen¬
des Reisealtarwerk (Nr. 19). Die auf Eichenholz ge¬
malten Bildchen (22 x 14 cm) haben nebeneinander
in einem Rahmen mit Glasverschluss Aufstellung
gefunden. Auf der Außenseite ist dargestellt, wenn
DIE NEUE STÄDTISCHE CtEMÄLDEGALERIE ZU STRASS UURG.
man das Altar werkchen sich rekonstruirt denkt,
links das Wappen mit dem Wahlspruch „nul bien
Sans paine“, rechts ein Totenkopf. Die vier übrigen
Darstellungen, welche sichtbar waren, wenn das
Reisealtärchen geöffnet ward, zeigten Gott Vater,
umgeben von musizirenden Engeln; die Gestalt des
Todes; den. triumphirenden Satan mit der unter ihm
ano-ebrachten Hölle; endlich die Eitelkeit. Jedes
der Modellirung des Körpers so fein durchgeführteu,
aber keineswegs schönen Weibes (siehe die Abbil¬
dung), nicht minder trefflich sind auch die sie um¬
gebenden Hunde. Die Landschaft entspricht dem
damaligen Zeitgeist. Und noch eines! Die mikro¬
skopische Durchführung und koloristische Behand¬
lung streifen an die feinst ausgeführten Miniaturen.
Aus der Zeit der Wende des 15. oder vom An-
Madonna mit dem Christuskiud. Vou Rocco Marconi,
Bildchen ist mit gleicher Liebe und Freude aus¬
geführt. Aus dem individuellen Antlitz Gott Vaters
leuchtet strenger Ernst; der Teufel in seiner Bunt¬
farbigkeit und halb tierischen Auffassung ist ein
Schrecken einflößendes Ungeheuer; in der stehenden
Gestalt des Todes steckt ein entsetzlicher Realismus,
eine Öffnung hat sich an seinem Leibe gebildet,
Würmer treten daraus hervor, die Stelle der Ge¬
schlechtsteile nimmt eine Kröte ein; nicht minder
realistisch ist die Darstellung der Vanitas, jenes in
fang des nächsten Jahrhunderts stammt, gleichfalls
der vlämischen Schule angehörend, ein Werkstatts¬
bild des Rogier de la Pasture, die tüchtig komponirte
und durchgeführte Kreuzabnahme (Nr. 21). Der
dramatische Pathos ist hier gemäßigter, der Aus¬
druck des Schmerzes geringer, als auf des Meisters
eigenhändiger Darstellung im Escurial. Die etwas
spätere Zeit der Vlämen ist durch ein kräftiges männ¬
liches Bildnis (Nr. 23), das mit Fragezeichen dem Joost
van Cleef, von dem wir recht wenig wissen, ferner
DIE NEUE STÄDTISHCE GEMÄLDEUALEEIE ZU STRASSBURG.
(Inrcli das in Zeichnung und in Leuchtkraft der Farbe
vorzügliche Brustbild der händeringenden Magdalena
des Quinten Massys (Nr. 22) vertreten. Nicht un¬
interessant sind zwei in den frühesten Anfang des
IG. Jahrhunderts zu setzende Brustbilder: der dorn-
gekrünte Heiland (Nr. 20) und die betende Maria
(Nr. 20 a); beiden Bildern ist ein stark braunes In¬
karnat eigen; sie führen uns vielleicht in die Nähe
des Niederrheines. Dagegen trägt die heilige Familie
(Nr. 28), die der Katalog, ob mit Recht, als Art
des Meisters von Frankfurt bezeichnet, einen aus¬
geprägten niederrheinischen Charakter. Das beste
daran ist freilich der reiche architektonische Hinter¬
grund, wogegen die ganze Faltengebung der Ge¬
wänder der so steif sitzenden heiligen Frauen, ferner
das gar hölzern aussehende Christuskind nur einen
untergeordneten, Avenig bedeutenden Meister verraten.
Das gleiche muss auch von dem oberdeutschen Bild¬
chen vom Ende des 15. Jahrhunderts: Christus am
Kreuze (Nr. 25) bemerkt werden. Die gar zu lang
geratenen Gestalten mit den kleinen runden Augen
repräsentiren einen Maler von mittlerem Können.
Schlimm steht die Sache mit den deutschen
Meistern. Die Galerie besitzt aus der Blütezeit nur
wenige Werke. An der Spitze steht das Brustbild
eines gelehrten Mannes von mittleren Jahren von
Hans Baidung (Nr. 24), ein Geschenk des deutschen
Kaisers (s. Abb.). Dasselbe, bezeichnet durch das ver¬
schlungene Monogramm H. und B. und die Jahreszahl
1538, ist in jener flotten und breiten Weise, wie er
in seinen letzten Lebensjahren zu malen pflegte, aus¬
geführt. ln der Lichtbehandlung ist der Einfluss
des deutschen Correggio deutlich sichtbar. Sein
Skizzenbuch in Karlsruhe enthält Skizzen von Reb-
gewinden (42 Stirn- und Rückseiten; vor Rosenberg
nicht veröffentlicht), welche auf unserem Bilde
\'erwendung fanden. Lucas Cranach’s mit der
geflügelten Schlange und aufrecht stehenden Flügeln
bezeichneter „Sündenfall“ (Nr. 26) hat etwas ge¬
litten, bewahrt jedoch die dem Haupte der sächsi¬
schen Malerschule eigene Glätte. Die Kreuzigung
(Nr. 27) ist dagegen als ein fleißiges Werkstattbild
zu betrachten; lehrreich ist die Vergleichung mit
derselben Darstellung, von des Meisters eigener
Hand ausgeführt, im Städel’schen Institut (Nr. 87).
Endlich müssen noch die zwei Bilder des Barthel
Bruyn angeführt werden. Nr. 20 ist das Brustbild
eines Mannes, Nr. 30 das seiner Ehegattin. Beide
tragen die Jahreszahl 1532. Es sind fleißige Ar¬
beiten des in Köln thätig gewesenen Meisters. Die
größte Sorgfalt hat er der .Ausführung dos Pelzes
und des landschaftlichen Hintergrundes gewandt,
weniger aber ist ihm der feine, den Kopf der Frau
bedeckende Schleier gelungen. Auf der Rückseite
von Nr. 30 ist das Bild des Heilands dargestellt.
Bruyn hielt entschieden an dem niederländischen
Christustypus des 15. Jahrhunderts fest.
Das rasche Aufblühen der von Künstlern und
Privatbestellern getragenen vlämischen und hollän¬
dischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts ist
im wesentlichen dem vollkommenen Lossagen von
der römischen Schule, ganz besonders aber von dem
durch Michelangelo’s jüngstes Gericht hervorgeru¬
fenen Manierismus zuzuschreiben. Von diesen zwei
Schulen besitzt ' die neue städtische Gemäldegalerie
zu Straßburg nicht weniger als 33, und zwar 12
vlämische und 21 holländische Bilder. Rubens’ thro¬
nender Christus (Ni*. 68) ist zwar ein durch die Ge¬
heimnisse der Farbenstimraung wirkendes Bild, aber
keineswegs vollständig vom Amsterdamer Altmeister
eigenhändig durchgeführt. Es ist dem Münchener
Dreifaltigkeitsbild (Nr. 749) in der Komposition nahe
verwandt, auch hat Rubens auf beiden Bildern mit
gewohnter Genialität die den Erdenball stützenden
Engel ausgeführt; in beiden Bildern kehrt der
gleiche, etwas morose Typus Christi wieder. Durch
glückliche Anordnung und besonders dm-ch die
Frische der Farben zeichnet sich seine Skizze, die
heilige Familie (Nr. 32) aus. Dieselbe ist wohl nur
für den Kupferstich bestimmt gewesen. Sein größter
und bedeutendster Schüler van Dyck ist durch das
Porträt einer vornehmen alten Dame (Nr. 33) ver¬
treten. Dasselbe stammt aus dem Palazzo Durazzo
in Genua und ist in der Manier der in den genue¬
sischen Aufenthalt gehörenden Bilder des Meisters
ausgeführt. Das Gesicht ist meisterhaft aufgefasst,
wogegen die allzu langen, wie Krallen aussehenden
Finger Gehilfenhand verraten. Ihm gehört auch
eine dem Rubens zugewiesene Skizze: die Heim¬
suchung (Nr. 31) an. Es ist eine im Geiste des
Rubens entstandene herrliche, aber etwas farben¬
kühle Skizze, welche von jener Zeit, in der sich bei
van Dyck gerade die stärksten Eindrücke von des
Lehrers Manier befestigt hatten, Zeugnis ablegt.
Jacob Jordaens’ sogenannter Breiesser (Nr. 34) ist
mit „J. Jordaens 1652“ bezeichnet. Die Kasseler
Galerie besitzt dasselbe Bild in derselben Größe; es
ist aber eine Kopie des Straßburger Exemplars und
unterscheidet sich von diesem durch den blond¬
gelockten Knaben am Boden, der auf dem Kasseler
Bilde „kindlich seine natürlichen Wasserkünste
spielen lässt“. Am Straßburger ist der „Rebenzweig,
DIE NEUE STADTISCFIE GEMÄLDEGALERIE ZU STRASSBURG.
welcher das Feigenblatt ersetzt“, eine Zuthat des
vorigen Jahrhunderts. David Teniers d, j. ist glän¬
zend durch eine prächtig erhaltene und mit D. Teniers
F. bezeichnete Bauernschenke vertreten (Nr. 35).
Das schlichte Interieur wird durch die trefflich cha-
rakterisirten Figuren, welche mit einer bewunde¬
rungswürdigen Technik ausgeführt sind, belebt.
Nicht minder bemerkenswert in seiner Art ist Jan
van Kessel’s Stillleben (Nr. 42). Das Bild ist auf
Kupfer gemalt und mit J. V. Kessel F. bezeichnet.
Mit erstaunlicher Sicherheit und Genauigkeit um¬
rahmen eine graue Steinnische Tiere und Pflanzen
aller Art; hervorzuheben ist besonders die Eule,
welche ihre im Nest zwitschernden Jungen vor einer
anstürmenden Ente schützt — alles dies in peinlich
sorgfältiger Durchführung. Gleichfalls auf Kupfer
sind die Innenansichten zweier gotischer Kirchen
(Nr. 40 u. 41) anzuführen. Sie rühren von der Hand
Peter Neefs d. ä. her. Nr. 40 trägt die Meistersig¬
natur: Peter Neef 1654. — Von den übrigen Meistern,
Avomit wir die vlämische Schule verlassen, sind noch
die Landschafter zu nennen. Robrecht van den
Hoecke lernt man durch eine bezeichnete und statt¬
liche Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern (Nr. 39)
kennen. Er hat nicht nur die Landschaft, sondern
auch die Figuren mit fast gleicher Sorgfalt, wie
auf dem Wiener Bilde „Schlittschuhlaufen im Brüs¬
seler Stadtgraben“ ausgeführt. Es sei hier gestattet
uachzuholen, was der Katalog nicht angiebt, dass
das Bild ein Geschenk des Herrn L. Lachmann zu
Uhlenhorst bei Hamburg ist. Auf Lucas van Uden’s
.Erntelandschaft (Nr. 38) pa.sst Woermann’s treff¬
liches Wort „natürlich heimische Gegend“. Er
schildert auch in dem Straßburger Bild eine schlichte,
aber höchst anmutige Landschaft in hochsommer¬
licher Stimmung mit Erntefeldern. Von der Arbeit
kehren Schnitter heim. Über die Hügellandschaft
(Nr. 36) in der Art des Cornelius Huysmans ist
nichts Besonderes zu bemerken.
Wie steht es mit den Holländern? Die wich¬
tige Stellung, welche Thomas de Keyser als eigent¬
licher Vorgänger Rembrandt’s in der Geschichte
der holländischen Bildnismaler einnimmt, braucht
an dieser Stelle nicht noch besonders hervorgehoben
zu werden, wohl aber sein Regentenstück (Nr. 45), das
in der That zu des Meisters herrlichsten Schöpfun¬
gen gehört. Sechs Regenten sind um einen kleinen
Tisch gruppirt, sie bilden den Vorstand der Gold¬
schmiedegilde und halten dementsprechende Kunst¬
gegenstände in den Händen. Mit ergreifender Treue
und packender Wahrheit ist ein jeder von ihnen
geschildert; sie scheinen mit uns sprechen zu wmllen,
ein jeder Kopf ist individuell und ausdrucksvoll
und tritt plastisch aus dem Gemälde hervor. Inter-
e.ssant ist folgende Erscheinung. Einer der Regen¬
ten ist ausgeschlossen worden und ein anderer nimmt
seine Stelle ein. Er ist im Verhältnis zu den an¬
deren noch recht jung und trägt einen schwarzen
Schnurrbart. Auch in der Malweise unterscheidet
sich dieser von den übrigen Kameraden. Sein Kopf
verrät eine breitere Behandlung mit dem Pinsel,
auch weicht das Inkarnat (es ist rötlicher) von dem
der übrigen ab. Man möchte gerne glauben, dass
dieser Kopf nicht von de Keyser gemalt ist; jeden¬
falls bew^eist derselbe, dass er der Rembran dt sehen
Richtung nahe steht, oder darf hier der Einfluss
Rembrandt’s auf de Keyser, von dem ja ersterer in
seiner Jugend starke Eindrücke aufnahm, konstatirt
werden? Das Bild ist TDK 1627 bezeichnet; ferner
weist eine der mittleren Figuren die Jahreszahl 1636
und Aet. 26 auf. Jan van Ravensteyn ist durch
zwei Brustbilder, Mann (Nr. 43) und Frau (Nr. 44),
die Pendants zu einander bilden, gut repräsentirt.
Es sind keineswegs hübsche Menschen, die er zu
malen gewohnt Avar, und er hat sie auch keiues-
Avegs verschönert — darin liegt eben seine Kraft.
Auch sein Frauenporträt Nr. 395 im Brüsseler Mu¬
seum (vgl. Formenschatz 1889, Nr. 152) stellt, Avie
das Straßburger Bild Nr. 44, eine biedere, brave
Frau dar — beide aber sind ein wenig hässlich.
Nach diesen Werken seien zwei Gesellschaftsbilder
erwähnt. Eine musizirende Gesellschaft (Nr. 48), die
der Katalog dem Leonard Bramer mit Recht mit
Fragezeichen zuweist, ist in der Art des Antoiii
Palamedesz gehalten. Der Künstler betrachtet das
Objekt als Nebensache, Hauptsache für ihn sind
Licht und Schatten. In dieser Beziehung ist er dem
Rembrandt verwandt. Christoffel Jacobsz van der
Laenen’s Gesellschaftsbild (Nr. 37 ) verrät feine Be¬
obachtung und gediegene Technik. Auch die hollän¬
dische Feinmalerei hat einen würdigen Vertreter in
Gabriel Metsu’s Parabel vom reichen Mann und dem
armen Lazarus (Nr. 47) gefunden. Er unterscheidet
sich von seinem Meister Gerard Dou durch den flüch¬
tigen Auftrag der Farbe, so auch auf dem Stra߬
burger Bilde. An einer reichbesetzten Prunktafel
in einem hohen Saale, zu dem eine breite Treppe
hinaufführt, sitzt die üppige Tischgesellschaft. Der
arme Lazarus liegt am Fuße der Treppe mit ent¬
blößtem Oberkörper, ein Hund beleckt sein linkes
Bein. Ursprünglich hat einer der trunkenen Gäste
sein Bedürfnis gegen ihn befriedigt. Neuerdings
176
DIE NEUE STÄDTISCHE GEMÄLDEGALERIE ZU STRASSBURG.
hat der Restaurator eine Veränderung getroffen —
der unerfreuliche Gast hält jetzt unmotivirt eine
kleine Bretterwand. Vorzüglich ist die im gelben
Atlaskleid die Treppe hinaufschreitende graziöse
Dienerin, sie trägt eine Schüssel und blickt auf den
armen Lazarus herab. Rechts wird ein Tischtuch
mit Mahlzeitsüberresten von der Höhe herabgeschüt¬
telt, auch fehlt dabei der hungrige Hund nicht. An
der Balustrade findet sich des Meisters Bezeichnung:
G. Metsu. Ein Bild, das ebenfalls ein Interieur
schildert, aber von ganz anderem Inhalt, ist das des
Pieter de Hooch (Nr. 46). Wir sehen das Vor¬
zimmer eines vornehmen
Hauses. Ein junges Ehepaar
ist gerade im Begriff, einen
Spaziergang anzutreten und
schreitet, begleitet von einem
Hund, durch das von Pilastern
umgebene Vorzimmer; eine
Dienerin mit dem jungen
Kinde am Arm folgt ihnen.
Die Thüre eines auf das Vor¬
zimmer sich öffnenden kleinen
Gemaches steht offen und
gewährt durch das geschlos¬
sene Fenster einen Ausblick
in den Garten. Besonders leb¬
haft wirken die Kostüme des
Ehepaares, Avobei auf das
Gewand des Mannes volles
Licht fällt. Das durch das
verschlungene Monogramm
P. 11. bezeichnete Bild stammt
aus der Blütezeit des Künstlers.
Die Stillleben- und Blu¬
menmaler fehlen auch nicht.
Willem Kalffs Stillleben (Nr. Vanitas. Von
62) kann bestenfalls durch
den Hintergrund wirken, aber keineswegs durch
die auf den Boden hingeworfenen Gemüse, die in
keiner Prctjxjrtion zum Bilde stehen. Dagegen
ist Jan David de Heern’s Stillleben (Nr. 61) ein
anmutiges Bild, das vielfach an die Werke Heda’s
erinnert. Es trägt die Bezeichnung J. D. heem.
W'^enn das holländische Stillleben in der Galerie
noch kein hervorragendes Exemplar aufweist, so ist
durch die Plrwerbitng des Blunien.stückes (Nr. 63)
von .hin van lluysnn (bez. Jan van Huysum fecit)
ein Kapitalstück gewonnen, das sowohl in Bezug
auf die natürliche Zusammenstellung der Blumen,
als auch in Bezug auf tadellose Au.sführung und
harmonische Farbenstimmung seinesgleichen wenig
findet.
An Zahl excelliren die Holländer durch die Land¬
schaftsbilder. In Italien oder wenigstens in Er¬
innerung daran ist Willem de Heusch’s stimmungs¬
volle italienische Berg- und Seelandschaft (Nr. 58)
entstanden. Gleichfalls zu der Utrechter Schule ge-
hört Gillis d’Hondecoeter, dessen Gebirg.slandschaft
(Nr. 52) durch die treue Wiedergabe der Natur
wirkt; der Baumschlag ist äußerst sorgfältig aus¬
geführt. Alloert van Everdingen verewigte einen
seiner in 1640 in Norwegen gewonnenen Eindrücke
in einer Gebirgslandschaft mit
Wasserfall (Nr. 55). Leider
verrät das Bild noch eine
ziemlich große Befangenheit,
besonders in der Wiedergabe
des Wassers, und wirkt auf
den Beschauer etwas kühl,
doch darf nicht vergessen
werden, dass der Künstler
erst ungefähr 20 Jahre alt
war. In der Auffassung und
Ausführung des Baumschlages
ist mit Willem de Heusch
Friederick de Moucheron ver¬
wandt. Er ist in der Galerie
durch eine Hügellandschaft
mit Wald (Nr. 57) vertreten.
Letztere hat er mit Adrian
van de Velde zusammen ge¬
arbeitet. Besonders fein führte
er in duftigen blauen Tönen
die in der Ferne gelegenen
Albanerberge aus; im Vorder¬
grund erblickt man einen Teil
Simon Marmion. von S. Stefano Rotondo in
Rom. Mit besonderer Genug-
thuung muss hier verzeichnet werden, dass es
gelungen ist, für die Galerie zwei prächtige Jan
van Goyen zu erwerben. Beide sind in einem
bräunlichen Gesamttone gehalten. Sein Dünenbild
(Nr. 53) mit Strohhütten und einigen Figuren,
die als Stafiage dienen, dürfte in die 1630er Jahre
fällen, wogegen die Gracht mit den Schiffen (Nr. 54)
ein durch V G und 1 643 (fehlt im Katalog) be-
zeichnetes Werk ist. Letzteres ist eine Mondland¬
schaft. Der Himmel ist mit schweren Wolken be¬
deckt, der Mond kann nur mit Mühe und Not das
ruhige Wasser beleuchten, es herrscht vollkommene
Windstille. Mit wenig Mitteln — denn es sind nur
DIE NEUE STÄDTISCHE GEMÄLDEGALERIE ZU STRASSBURG.
177
braune und weiße Farbe zur Verwendung gekom¬
men — ist hier ein Meisterstück an Stimmung und
Harmonie geschaffen. Unter italienischem Einfluss
ist eine Flusslandschaft beim Hereinbrechen des
Abends (Nr. 60). Besonders die Art und Weise, wie das
Gebirge — ähnlich wie bei manchen Venezianern
— durchgeführt ist, beweist, dass der Künstler Ita¬
lien gekannt hat. In Philips Wouyerman’s Zoll¬
schranke (!) (Nr. 49)
erblickt man des
Meisters größte
Eigens chaften : das
Pferde- und Land¬
schaftsmalen. Ihm
steht fern Gerrit An-
driaensz Berck Hey-
de. Seine zwei Bil¬
der, die das gleiche
Thema mit wenig
Veränderungen be¬
handeln _, stellen
einen Jagdausflug
(Nr. 50 und 51) dar,
stehen aber den
Werken des Har-
lemer Meisters be¬
deutend nach. Dies
gilt nicht nur für
die etwas monotone
Landschaft, sondern
auch für die Auf¬
fassung und Behand¬
lung seiner Pferde.
A. van Borssom ist
durch eine bren nende
Stadt (Nr. 59) gut
vertreten. Noch sei
nachgeholt, dass Nr.
51 die Meistersigna-
tur führt.
DenVlämen und
Holländern mögen die Franzosen angereiht werden.
Sie erweisen der Galerie alle Ehre. Das merk¬
würdigste, und eben deswegen interessanteste Bild ist
ohne Zweifel die Geschirrputzerin (Nr. 66) des
Antoine Watteau. Es ist ein Jugendwerk des
Künstlers und mit dem Kesselflicker des Frans van
Mieris d. ä. (Dresden, Nr. 1749) in mancher Be¬
ziehung verwandt. Die Jugend werke Watteau’s sind
äußerst selten, sie stehen unter dem Einfluss der
Vlämen, besonders Teniers, was’ auch auf dem Stra߬
burger Bilde deutlich zu erkennen ist. Wohl atmet
aber Nicolas Lancret’s etwas ausgelassene Garten¬
gesellschaft (Nr. 67) den Geist der damaligen Zeit.
Es ist ein in der Art des Antoine Watteau auf¬
gefasstes Sittenbild, ungemein zart und duftig in
der Farbe. Ein vortreffliches Werk des Gaspard
Poussin ist die Waldlandschaft (Nr. 64) mit einem
See und einer Basilika, mit antiker Tempelfront an der
Langseite. Ein herr¬
liches Stück Erde 1
Fern von dem Welt¬
treiben, haben sich
die Hirten mit ihren
Herden um den See
niedergelassen ;
glückselige Ruhe
breitet sich über das
Ganze aus. Endlich
sei die Flucht nach
Ägypten (Nr. 65),
ein Werk des Jean
Francois Millet, eines
Schülers des vorigen,
erwähnt. Das Bild
wirkt durch die
leuchtend blauen
Farben desGewandes
der Maria und durch
die glücklich auf-
gefasste Landschaft.
Der Auftrag ist da¬
gegen recht dünn.
Nachtrag.
Die neue städti¬
sche Gemäldegalerie
in Straßburg hat
im Juli 1892 eine
Bereicherung von
fünfBildern, die teil¬
weise anfangs ohne
Rahmen im Bürgermeisteramte lagen und bald der
Galerie einverleibt wurden, erfahren. Tintoretto’s
Kreuzabnahme ist ein durch die Komposition und die
wundervolle Leuchtkraft derFarben mächtig wirkendes
Bild. Dasselbe ist für die verhältnismäßig kleine
Summe von £ 120 in London erworben worden.
Francesco Torbido, genannt il Moro, hat in einem
auf Schiefer gemalten Bild, die Grablegung, Ver¬
tretung gefunden. Er erweist sich auf demselben
als unter venezianischem Einfluss stehend. Die Mai-
Männliches Porträt. Von Hans Baldung.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. lY-
23
178
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
länder Schule repräsentirt eine kleine Madonna mit
Kind und eine Pieta — in der Richtung des Lionardo
— die Ferraresische eine Anbetung der Hirten von
Garofalo oder Ortolano. Zum Schlüsse, last but not
least, sei die herrliche Landschaft des Claude Lor-
rain angeführt.
An dieser Stelle sei auch der Wunsch, den
schon Hubert Janitschek in der Vorrede zum pro¬
visorischen Katalog aussprach, wiederholt, dass die
deutsche Malerei der Blütezeit, besonders die ober¬
rheinische und schwäbische, Vertretung finden
möchte. Auch thut ein wissenschaftlicher Katalog
mit Faksimile -Reproduktionen der Meistersignatu-
ren not.
Straßhurg i/E. Dr. GABBIEL v. TEREY.
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
VON C. HASSE.
IE Annahme, dass Michel¬
angelo eine Statue des ju¬
gendlichen Johannes des
Täufers (Giovannino) schuf,
beruht auf einer Notiz bei
Condivi^), welcher dersel¬
ben mit folgenden Wor¬
ten erwähnt; „Rimpatriato
Michelagnolo, si poie a far di marmo un Dio d’amore
d’eta de sei anni in sette, a gracere in guisa d’uom che
derrna: il quäl vedendo Lorenzo di Pier Francesco de’
Medici (al quäle in quel mezzo Michelagnolo aveva
fatto nn San Giovannino) e giudicandolo bellissimo“
etc. Es geht daraus hervor, dass derselbe eine
Jugendarbeit des großen Florentiner Meisters war.
Die Notiz wird dann von Vasari 1568 in der
zweiten Ausgabe seines Werkes folgendermaßen
wiederholt: , volontier! se ne tornä a Firenze, e fe
per Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici di marmo
un San Giovannino“.
ln R. Valdek’s Übersetzung des Condivi (Wien,
Brauinüller 1874), Anmerkung zum Abschnitt XVIII
heißt es noch, dass dieser Johannes verschollen sei;
allein in Italien beginnt um diese Zeit die Ansicht
sich Bahn zu brechen, dass dm’ jetzt in Berlin be¬
findliche jugendliche Johannes der Täufer das von
Condivi erwähnte Werk Michelangelo’s darstelle, und
diese Ansicht wird jetzt von anerkannten deutschen
Forschern auf das lebhafteste verfochten.
Ein Werk Michelangelo’s nimmt das Interesse
der ganzen gebildeten Welt gefangen, und die Frage,
ob ein solches vorliegt oder nicht, erregt die Ge-
1) Vita di Michelagnolo Buonarotti. Roma. 1,553. Quarto;
seconda edizione. Firenze 1746. Abschnitt XVIII.
müter in weiten Kreisen. Wird eine solche Frage
aufgeworfen, so muss dieselbe sorgfältig und leiden¬
schaftslos geprüft werden. Ehe ein maßgebendes
Urteil abgegeben werden kann und bevor man an
die ästhetische Würdigung herantritt, muss das That-
sächliche streng wissenschaftlich, naturwissenschaft¬
lich möchte ich sagen, durchgearbeitet werden, um
so mehr, wenn, wie es hier der Fall, urkundliche
Beweise für die Urheberschaft des Bildwerkes fehlen.
Diese streng sachliche Prüfung habe ich meh¬
rere Tage hindurch vor dem Original und den Ab¬
güssen der echten Werke Michelangelo’s sowohl,
als der Meister des Quattrocento, welche das Ber¬
liner Museum in großer Zahl enthält, angestellt;
allein bevor ich das Resultat aller dieser Unter¬
suchungen vorbringe, möge es mir gestattet sein,
die Geschichte der Statue und die Geschichte der
Meinungen über dieselbe vorzuführen.
Die Statue wurde 1817 von dem Cavaliere Ra-
nieri Pesciolini für tausend toskanische Frauken in
einer Trödlerbude in Florenz gekauft und in seinen.
Palast nach Pisa gebracht. Nach einigen Jahren
ging sie mit dem Palast in den Besitz des Grafen
Rosselmini- Gualandi über. Der Professor Salvino
Salvini erklärte dieselbe für eine Jugendarbeit des
Buonarroti, und sein Urteil wurde von einer Kom¬
mission von auserwählten Bildhauern bestätigt. Bei
Gelegenheit der Jahrhundertfeier des Michelangelo
in Florenz 1875 wurde die Statue mit den Werken
Michelangelo’s in der Galerie der Akademie der
schönen Künste verglichen. Der kleinere Teil der
Künstler und der Aufseher der Museen war einig
in der Anerkennung als eines Werkes von Buonar¬
roti, aber der Meinung wurde von anderen mit
guten Gründen widersprochen, weil in dieser Figur
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
179
weder die Form, noch der besondere Stil des Michel¬
angelo, welcher in entschiedener Form, in Energie
und StrafQieit beruht, zu finden sei. Bei diesem Wider¬
streit der Meinungen über den Wert der Statue und
ihre Bedeutung gelang es, sie 1880 für das Berliner
Museum zu erwerben.
Von Nichtitalienern schließt sich zuerst Charles
Heath Wilson i) dem Urteil des Professors Salvini
an und erklärt die in Rosselmini 'sehen Besitz über¬
gegangene Johannesstatue für den Giovannino Michel-
angelo’s. Das Wesentliche in seinen Ausführungen
ist folgendes: «Er hat gerade den Kopf einer Heu¬
schrecke, oder eine Wurzel, welche er in der rech¬
ten Hand hält, abgebissen und strebt mit einem ge¬
wissen Ausdruck des Ekels rückwärts. Er macht
den Eindruck, als sei er im Begriff, vorwärts zu
gehen. Die plötzliche Bewegung rückwärts wirft
ihn aus seinem Schwerpunkt, und er befindet sich
für den Augenblick in einer Lage, wobei es mög¬
lich sein würde, das Gleichgewicht aufrecht zu er¬
halten, ohne zu schwanken. Dieses Auswählen einer
plötzlichen Aktion ist sehr charakteristisch für
Michelangelo. Es ist eine Statue wie die des Engels
von Bologna. Das Gesicht hat einen ähnlichen Typus
jugendlicher Schönheit, nur das Haar ist nicht so
vollendet wiedergegehen. Die Hände und Füße sind
hervorragend charakteristisch für Michelangelo. Er
steht mitten inne zwischen dem Engel von Bologna
und dem Cupido und Bacchus und die Abwesenheit
des Ausgeprägtseins anatomischer Kenntnis, welches
die späteren Werke Michelangelo’s auszeichnet, ist
eine angenehme Zugabe dieser schönen Schöpfung.“
Einige Jahre später äußert Milanesi^) in einer
Anmerkung, dass die landläufige Meinung, wonach
die dem Grafen Rosselmini-Gualandi gehörige Statue
demDonatello zugeschrieben werden müsse, unrichtig
sei, dass sie aber eine gewisse Abnlicbkeit mit dem
Sebastian des Matteo Civitale habe, und vielleicht von
ihm selbst oder von einem seiner Nacbabmer berrübre.
Zum Schluss spricht er sieb bestimmter dahin aus,
dass diese Figur den Stil und die Hand Civitale’s
zeige.
Von allen späteren Forschern ist W. Bode^) der
erste, welcher wiederholt in ausführlicher Weise diese
1) Life and works of Michelangelo Buonarotti. Lon¬
don 1876.
2) Vasari: Le vite de piu excellenti pittori, scultori et
architettori etc. ed. Milanesi Tom. 11, S. 119. Firenze 1878.
3) Handbuch der königlich preußischen Kunstsammlun¬
gen, Bd. II, S. 72. Berlin 1881. Italienische Bildhauer der
Renaissance. Berlin 1887, S. 272.
Statue behandelt. Das Wesentliche seiner Ausfüh¬
rungen besteht in folgendem: «Die Statue stellt Jo¬
hannes den Täufer im Alter von etwa 16 Jahren
dar. Die Figur ist lebensgroß und misst ohne Sockel
1,375 m. Der Marmor ist die schöne, unter dem
Namen Crestola bekannte Gattung des carrarischen
Marmors, welcher zu Micbelangelo’s Zeit noch ge¬
brochen und von ihm mit Vorliebe benutzt wurde.“
Bode nimmt dabei an, dass weder Condivi noch
Vasari die Statue gesehen haben, nicht einmal von
ihrem Aufbewahrungsorte wussten, und er weist die
Annahme zurück, dass der Ausdruck Giovannino eine
Kindergestalt fordere. Derselbe sei recht wohl auf
eine Jünglingsgestalt anwendbar. „Am anstößigsten
für die meisten Beschauer und von allen Zweiflern
an der Originalität am stärksten als Grund gegen
die Echtheit hervorgehoben ist der Ausdruck des
Kopfes. Dass der stark geöffnete Mund und der starre
Blick keineswegs schön ist, dass er vielmehr die
anmutigen Formen des Kopfes entstellt, wird man
zugeben müssen, ebenso sicher lässt sich aber dieser
Ausdruck in seiner naturalistischen Wahrheit gerade
als durchaus charakteristisch für Michelangelo be¬
zeichnen, sobald man sich nur das Motiv der Statue
klar macht. Der Künstler bat sich den jungen Pro¬
pheten vorgestellt, wie er sich in der Wüste hei der
Nahrung, die sich ihm darbot, dem Honig von
wilden Bienen, auf seine Laufbahn vorbereitete. Teils
den Stilanforderungen einer Statue entsprechend,
allerdings auch im «naturalistischen Streben noch
darüber hinausgehend, ist Johannes im Begriff, den
Honig zu sich zu nehmen, dargestellt“.
In dem abgestoßenen Gegenstände erkennt dann
Bode ein Horn. „Johannes ist im Begriff, den flüs¬
sigen Honig im Horn zum Munde zu führen, um
ihn auszuschlürfen. Daraus ergiebt sich der Aus¬
druck sowohl wie die Stellung, und beide werden
uns gerade unter diesem Gesichtspunkte als außer¬
ordentlich wahr beobachtet erscheinen. In gerader
Stellung ließ der Jüngling aus den Waben in der
erhobenen Linken den Honig in das kleine Horn in
seiner Rechten hineinträufeln, nun hat er die Linke
mit der Honigwabe sinken lassen, und indem er mit
der Rechten das gefüllte Horn nach dem Munde
führt, macht er mit der rechten Seite seines Körpers
die Bewegung nach links mit. Die vorgestreckte
Zunge, die in dem offenen Munde sichtbar wird,
wird im nächsten Augenblicke den ganzen Inhalt
aufnehmen, um denselben — da er für den Gaumen,
nicht für den Mund angenehm ist — sofort dem
Gaumen zuzuführen. So ist das Vor und Nach in
23
180
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
der Bewegung wie im Ausdruck der Statue mit dem
Momente, in dem sie dargesteUt ist, in glücklichster
Weise vereinigt und dem Ganzen gerade dadurch
jene außerordentliche Mannigfaltigkeit gegeben, welche
Michelangelo’s Gestalten eigentümlich ist.“
„Die Vorderansicht der Statue zeigt dieses Heraus¬
treten aus einer Thätigkeit in die andere in ihrer
schärfsten Weise, und zwar in einer für Michelangelo
charakteristischen, dem schönen Fluss in der Be¬
wegung antiker Statuen gerade entgegengesetzten
Weise. Die Stellung vom Kopf zum Hals, vom Hals
zum Oberkörper, von diesem zu den Schenkeln und
von den Schenkeln zu den Beinen bildet beinahe
eine Zickzacklinie.“
„Dagegen bieten die Profilansichten, jede in ihrer
Art, ein höchst anmutiges Bild, indem die eine die
aus der Thätigkeit zur Ruhe gekommene Seite des
Körpers, die andere die volle ebenmäßige Bewegung
der anderen Seite zur Ansicht bringt. Auch der
Kopf, dessen Ausdruck in der Vorderansicht durch
den geöffneten Mund entstellt wird, zeigt in diesen
Seitenansichten ein gefälliges Profil und seine feinen
Verhältnisse.“
„Im Gegensätze gegen die vorangegangenen
Meister der Frührenaissance, mit denen er die ent¬
schiedene Richtung auf die Natur gemein hat, ist
er völlig bewusst und absichtlich. Was diesem Jüng¬
ling abgeht an geistigem Inhalt, was ihn der Meister
dem gewählten Motiv zu Liebe an Sicherheit und
Ernst des Ausdruckes einbüßen ließ, hat er aufzu¬
wiegen gesucht durch jene eben besprochenen wir¬
kungsvollen Kontraste in der Bewegung, wie durch
eine Vollendung in der Formen gebung, welche wir
bei den Darstellungen seiner Vorgänger sowohl, wie
bei dem Johannes Raphael’s vergeblich sehen wer¬
den, die aber auch in den besten Werken der Grie¬
chen nicht übertroffen wird.“
„Der Giovannino trägt den Stempel Michel¬
angelo’s in Motiv und Bewegung, jedoch den seiner
Jugend.“
„Die Jugend werke zeigen die schlichte, treue
Anschauung des Körpers in seiner Oberfläche, gegen¬
über der bewussten anatomischen Anschauung seiner
.späteren Zeit.“
„Der Bacchus im Bargello ist in der Form¬
gebung sowohl, als in der Bewegung auffallend ver¬
wandt mit dem Giovannino. Noch näher steht na¬
mentlich im Kopfe Bacchus, der sich nach einem
Satyr umschaut. Letztere Statue ist aber im Torso
bis zu den Knieen antik.“
Das über den Körper geschlungene Baud be¬
trachtet Bode als ein wesentliches Hilfsmittel für
Michelangelo, um die Formen der Brust und der
Schulter schärfer zu betonen. Die Technik entspricht
nach ihm der Weise Michelangelo’s. „Die Statue be¬
sitzt außer der Politur noch den goldenen, lebens¬
warmen Ton, der durch eine Art Tränkung der Ober¬
fläche hervorgerufen sein muss. Diese findet sich
bei Michelangelo nur bei wenigen seiner früheren
Werke.“ Er lässt dabei die Statue kurz vor dem
Bacchus entstehen, „welcher dem Giovannino auf¬
fallend verwandt ist, aber in seiner breiteren eigen¬
artigen Auffassungs- und Behandlungsweise schon
einen weiteren Fortschritt in der Entwickelung des
Künstlers kennzeichnet“.
„Wie derselbe dem harten knochigen Bau von
Donatello’s Charakterfiguren — so sehr der Meister
von diesem gelernt haben mag — ebenso fern steht,
als der oberflächlichen Anmut der Gestalten Civi-
tale’s, welchem das tiefere Verständnis des mensch¬
lichen Körpers überhaupt abgeht, so zeigt die Statue
andererseits zugleich noch viel zu sehr den Einfluss
der naiven Naturanschauung des Quattrocento, um
den Gedanken an einen der Nachahmer Michel¬
angelo’s, die gerade die Eigentümlichkeit der spä¬
teren Zeit desselben in karikirter, unverstandener
Weise nachäfften, gerechtfertigt erscheinen zu lassen.“
Wie Lippmann, ’) so schreibt auch Springer 2)
die Statue dem Michelangelo zu. Letzterer äußert
sich aber folgendermaßen: „Es lässt sich nicht leug¬
nen, dass der Giovannino für den ersten Anblick
etwas Befremdendes hat Das Werk offenbart einer¬
seits eine merkwürdig sichere, fast raffinirte Technik,
welche für eine gereifte Erfahrung spricht, und be¬
kundet außerdem ein eingehendes Studium der An¬
tike, geht aber andererseits im naturalistisch behan¬
delten Munde stark in die Geleise des Quattrocento
zurück. Der Kopf ist nebenbei gesagt der häss¬
lichste Teil der Statue. Hat Michelangelo dieselbe
geschaffen, so kann das Disparate und Widerspruchs¬
volle nur aus der autodidaktischen Richtung Michel¬
angelo’s geschlossen werden.“
Diesen letzten Forschern gegenüber kann sich
H. Grimm nicht veranlasst fühlen, den Giovannino
dem Michelangelo zuzuschreiben, doch vermag er
weder in seinem Buche, noch in seiner Anzeige'^)
1) Jahrbuch der königlich preußischen Kunstsammlun¬
gen Bd. IV, S. 71.
2) Raffael und Michelangelo 1. Band. Leipzig 1883.
3) Leben Michelangelo’s, 6. Auflage.
4) Deutsche Rundschau, I. Quartal 1891. S. 148.
Giovannino. Marmorstatue des Berliner Museums.
182
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
des Buches von Wölfflin zu sagen, wer sonst die
liebenswürdige, zarte Gestalt hätte arbeiten können.
Einen sehr entschiedenen Standpunkt nimmt
Wölfflin^) ein und erklärt es am Schlüsse seines Auf¬
satzes über die Statue, wenn auch nur in einer An¬
merkung, als seine feste Überzeugung, dass die Ar¬
beit in das 16. Jahrhundert gehört. Er wendet sich
ganz besonders gegen die Ausführungen Bode’s und
zwar in folgender Weise: „In der Art der Bewegung
findet Bode das erste Merkmal von Michelangelo’s
Stil, allein es handelt sich hier nicht um eine ge¬
brochene Bewegung, sondern um eine vielfache Wen¬
dung des Körpers im Sinne einer gesteigerten Zier¬
lichkeit. Das Band findet er ein kleinliches Bra¬
vourstückchen, indem es zweimal um den Körper
herumgeführt ist, ebenso der umgeschlagene Rand,
sowie das Hinüberführen über das Schurzfell. Der
Baumstamm ist ebensowenig wie der Felsboden der
gleiche wie beim Bacchus, der Pieta und dem David.
Hier ist allerbestimmteste Arbeit, zähes Gewächs,
Ring an Ring, dort blöde, allgemein gehaltene Rinde.
Die Wurzeln des Stockes zeigen im Bacchus etc.
zähe Kraft, mit der sie sich in den Boden einsenken.
Beim Giovannino dagegen weichlicher Anlauf des
Stammes. Der Boden Michelangelo’s ist scharfrissig
und schroff. Hier ist die Platte blöde. Wann hat
Michelangelo ein Händchen gebildet wie dasjenige,
das hier das Ziegenhörnchen fasst, mit niedlich aus¬
gespreiztem fünften Fingerchen? Bei Buonarroti ist
es ein breites Zugreifen selbst da, wo es nicht passend
erscheint. Bei Arbeiten der älteren Periode kommt
wohl Spreizung vor, allein das Kindliche ist immer
au.sgeschlossen. Ganz leicht steht der schlanke
Knabe da und mit der Spitze berührt der spielend
nachgezogene Fuß den Boden. Das Hochheben eines
ganz kleinen Hörncliens ist die eigentliche Aktion.
Dieses Hörnchen aber, dem das leckere Mäulchen
sicli entgegensjjitzt, ist so winzig und kommt zudem
zwischen den Fingern so wenig zum Vorschein, dass
man sagen kann, die ganze Komposition stehe auf
einem Stecknadelknopf. Dieses reizend erfundene
Figürcheu setzt einen Sinn für das Leichtbewegte,
Zierliclie voraus, der mit Michelaugelo’s Art von An¬
fang an völlig iin Widerspruch steht.“
Diesen Ausführungen Wölfflin’s trat alsbald
Henkc'^) in einem ausführlichen Aufsatze entgegen.
Der Kern seiner Ausführungen ist in folgendem ent-
1) Die .Jugendwerke ]\Iiclie]angelo’s. München 1891. S. 09.
2j Der Giovannino von Michelangelo im Museum zu
Herlin. Preußische .lahrhücher, .luli bis Dezember 1891,
S. 44 u. folg.
halten: „Wie Michelangelo zuweilen gewaltige, zu¬
weilen blöde Menschen gebildet habe, so kann er
auch eine verschiedene Behandlungsweise des stei¬
nigen Grundes und des Baumstammes gehabt haben
und erst von dem weniger Scharfen zu dem Scharf¬
rissigen und Schroffen übergegangen sein. Das Wölff-
lin’sche Bravourstückchen des Bandes bildet für ihn
kein Hindernis, es Michelangelo zuzutrauen, denn
„warum soll sich so ein junger Mann, der sich durch
eines seiner ersten, frei komponirten Werke bei Lieb¬
habern einführen will, nicht auch einmal ein kleines
Bravourstückchen erlauben?“ Die Art des Anfassens
des Hörnchens erklärt sich nach ihm durch die Klein¬
heit desselben und er sagt: „Wie soll er das anders
als mit spitzen Fingern anfassen?“ und bei seiner
Kleinheit heißt es „mit den verschiedenen Fingern,
die es halten sollen, richtig ausgreifen, um es sicher
in der Schwebe zu halten. Die Hand passt zu dieser
Bestimmung, die sie zu erfüllen hat“. Das Gleiche
gilt von dem rechten Fuße. Er kann nicht anders,
als mit der Spitze den Boden berühren, da er von
dem nachschleppenden Spielbeine nachgeschleift wird,
während der Oberkörper sich auf dem Standbein
vorwärts neigt und wendet.“
„Sehen wir uns nun die Gestalt darauf an,
welche Art von Haltung ihr der Künstler zum Zwecke
der dargestellten Handlung gegeben hat, so fäUt
zunächst rein äußerlich die eckig gebrochene Füh¬
rung der Linien oder kontrastirende Biegung der
Glieder gegen einander auf. Die Hauptfrage wird
aber sein, wie diese Art von Zug der Umrisse, der
Kontrast in ihren Bewegungen von Glied zu Glied
auch innerlich durch die Bewegungen derselben mo-
tivirt ist. Es handelt sich um eine gebrochene Be¬
wegung, um die Darstellung „zweier aufeinander fol¬
gender, zusammenhängender Bewegungen, wie sie
nach ihm für den Michelangelo so recht eigentüm¬
lich ist.“ Er steht auf dem linken Fuße und blickt
nicht nur mit dem Kopfe, sondern wendet auch den
Rumpf nach links, oder mit anderen Worten: die
Spitze des linken Fußes ist einwärts, wie man sagt,
d. h. nach links gerichtet im Verhältnis zum Ober¬
körper, weil dieser sich über ihn nach rechts hin
gewendet hat. Das Spielbein oder hier das rechte,
welches zuvor rechts zur Seite des Standbeines auf¬
gestanden hat, wird nun vom Oberkörper an der
Hüfte herabhängend nachgeschleift, und daher kommt
es, dass es einwärts im Knie einlcnickend mit der
Fußspitze den Boden anstreift. Dieses ungewöhn¬
liche Verhältnis macht einen so eigentümlich eckig
eingeknickten Eindruck.“
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
183
Durch die Biegung der Körperteile sucht der
Johannes nach seiner Meinung das Beträufeln des
Körpers mit Honig zu vermeiden, da er beide Hände
über die Hüfte des Standbeines hinaus hält, und
diese zweckmäßige Bewegung gesellt sich dann nach
ihm zu der anderen, welche das Austrinken des
Hörnchens vorbereitet.
„Der Eindruck dieser etwas künstlerisch ver¬
drehten Bewegungskombination ist aber durchaus
nicht etwa ein Bild kraftvoller Aktion. Die Drehung
des Oberkörpers auf dem rechten Beine nach rechts
ist ungewöhnlich, sie resultirt aus einem schlaffen
Sichhängenlassen. Dazu kommt ferner, dass auch
die gewöhnliche Einknickung der Hüfte des Stand¬
beines hier besonders ausgesprochen ist, die darin
besteht, dass die andere etwas von ihr hinabhängt,
sie selbst aber stark heraustritt, und dies ist auch
nicht die Folge einer kräftigen, sondern einer
schwachen Muskelleistung. Also macht diese Hal¬
tung des Johannes einen weichlich schlaffen Ein¬
druck, und mit diesem harmonirt denn auch die
schmächtig halbwüchsige Bildung seines ganzen
Körpers. Es bricht hier eben wie in keinem frü¬
heren uns erhaltenen Werke von Michelangelo seine
Eigenart durch, die darin besteht, dass die Glieder
in zerstreuten Bewegungen durch vereinzelte Be¬
wegungsmotive eingestellt und durch eine lässige
oder wenig frische und kraftvolle Muskelanstrengung
erhalten werden.“
„Die Art der Bewegungen des Johannes ist der
des Bacchus verwandt. Das Spielbein des Johannes
schleppt lässig nach, das des Bacch^is fällt taumelnd
vor, aber beide knicken sie kraftlos ein, und infolge¬
dessen schleift die Fußspitze am Boden. Der Gegen¬
satz der Zartheit und Plumpheit in beiden Gestalten ist
nebensächlich neben dieserVerwandtschaft der Motive“.
„Ferner ist das Motiv des kolossalen Knaben
David in Florenz eine veränderte Bearbeitung des
Motives der Johannesstatue. Es ist ein halbwüch¬
siger Jüngling wie der Johannes. Sie verhalten sich
zu einander wie Spiegelbilder. An beiden der Arm
auf der Seite des Standbeines abwärts, mit der Hand
neben der Hüfte ausgestreckt, der nach der Seite
des Spielbeines dagegen spitzwinkelig nach oben mit
der Hand bis zur Höhe der Schulter gebeugt. Das
Spielbein selbst zwar beim Johannes etwas nach¬
schleppend, beim David etwas vorgesetzt, aber bei
beiden lässig mit dem Knie einwärts einknickend,
und nur eines total verschieden, der Blick, die Drehung
des Kopfes beim Johannes über das Standbein, beim
David über das Spielbein hinaus.“
In seiner jüngsten Schrift kommt Henke dann
noch einmal auf den Giovannino mit folgenden
Worten zu sprechen; „Der Johannes steht schlaff
einffeknickt linkswärts gewendet auf dem linken Fuß
mit der Fußspitze einwärts, eine sehr ungewöhnliche
Haltung, da man sich sonst immer auf dem einen
Fuße nach der anderen Seite wendet. Warum steht
der Johannes so nach links (man könnte sagen
linkisch) hin gewendet? Er hat sich offenbar mit
dem Honig selber die Beine nicht beträufeln wollen
und hat beide, Wabe und Hörnchen, deswegen mög¬
lichst weit über seine Füße hinaus neben der linken
Hüfte von sich weg gehalten. Und so hält er die
Wabe noch und bleibt auch so stehen, während er
jetzt dazu übergeht, das Hörnchen auszutrinken.
Also eine Stellungskombination aus einem früheren
und jetzigen Motiv.“
Wie die Dinge nun liegen, glaube ich, wird es
notwendig sein, von der Frage nach dem Urheber
des Werkes einstweilen gänzlich abzusehen und das¬
selbe lediglich von anatomischen Gesichtspunkten
aus zu betrachten. Schwerlich wird wohl der fol¬
gende Satz irgend einen Widerspruch erfahren:
Jedes wahre Kunstiverk muss anatomisch und statisch
richtig at(,fgehaut sein.
Es fragt sich nun; entspricht der Giovannino
diesen Anforderungen? Diese Frage lässt sich im
allgemeinen mit Ja! beantworten. Somit ist der
Statue ein besonderes Lob zu erteilen, wenn auch
dieses Lob nicht uneingeschränkt ist. Fehler
finden sich, wenn ihrer auch nur wenige sind.
Fehlerhaft ist zunächst die große Breite des
rechten Handrückens. Misst man denselben über
die Knöchel der vier letzten Finger, so beträgt die
Breite rechts über 1 cm mehr als links, während
der Unterschied bei halbwüchsigen Personen und
Erwachsenen höchstens 0,5 cm zu Gunsten der
rechten Hand betragen soll. Infolgedessen er¬
scheint, namentlich von vorne gesehen, die rechte
Hand plump. Unrichtig ist auch das übermäßig
starke Vortreten des äußeren Kopfes des Oberarm¬
streckers rechts, wie es bei der Betrachtung der
Figur von hinten zu Tage tritt.
Merkwürdig ist nun aber, wie trotz des ana¬
tomisch richtigen Aufbaues der Statue dieselbe bei
dem ersten Betrachten den Eindruck einer nicht
vollkommen richtig gearbeiteten macht. Das rechte
Bein, welches thatsächlich und wie es innerhalb der
1) Vorträge über Plastik, Mimik und Drama. Rostock
1892. S. 118.
184
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
Norm liegt, L5 cm länger ist als das linke, er¬
scheint beträchtlich kürzer als dieses. Der Grund
liegt meines Erachtens darin, dass das Fell fast
horizontal über den Körper gelegt ist und rechts
die Hüfte tiefer überschneidet als links.
Im übrigen ist der Körper so fein modellirt,
lässt den Charakter der Haut, lässt die unvoll¬
kommenen, unausgebildeten , eckigen Formen des
Körpers so ausgezeichnet hervortreten, dass man,
wenn man sich auf den rein anatomischen Stand¬
punkt stellt, erklären muss: die Statue ist schwer¬
lich das Werk eines ganz jungen Künstlers, sondern
lässt in der Technik und in der Wiedergabe der
Formen einen erfahrenen und vielgewandten Meister
erkennen. Statisch lässt sich der Statue auch nichts
außerhalb des Bereiches des Möglichen Gelegenes
vorwerfen, anders aber stellt sich die Sache in dem
Augenblicke, wo man sie unter dem Gesichtspunkte
der zweiten Forderung betrachtet:
Jedes wahre Kunstwerk soll das Motiv oder die
Motive klar und deutlich zeigen.
Ist dies bei dem Giovannino der Fall? Diese
Frage lässt sich nur zum Teil mit Ja! beantworten.
Das Motiv des Honiggenusses lässt sich wohl
aus dem Vorhandensein der Honigwabe, sowie aus
der Haltung des Kopfes und des Mundes ahnen,
allein auf welchem Wege, oder besser gesagt mit
welchen Mitteln der Johannes zu diesem Genuss
gelangen wird, das tritt nicht klar hervor. Daraus
erklärt es sich auch, dass Wilson sogar annahm, er
habe einer Heuschrecke den Kopf ahgebissen, oder
er sei im Begriff, eine Wurzel zu verspeisen, beides
ja nach der Legende Nahrungsmittel, von denen
er lebte. Das kommt daher, dass das Ziegenhörn¬
chen größtenteils durch die dasselbe haltenden
Finger verdeckt ist, und dass das Stück, welches
über die Hand hinausragt, namentlich bei der Be¬
trachtung von vorne so nndeutlich, unbestimmt und
klein ist, dass es erst einer ganz genauen Besich¬
tigung bedarf, um über dasselbe zur Klarheit zu
kommen. Ich weiß dabei recht gut, dass oben ein
Stück abgebrochen ist, ich habe aber diesen Umstand
recht wohl in Rechnung gezogen, komme aber doch
dabei zu keinem anderen Resultate. Dieser Umstand
in Verbindung mit der ungeschickten Anordnung
des Felles, dessen plumper, auf den Baumstamm
niederhängender Zipfel auch nicht gerade rühmend
zu erwähnen ist, sowie das in seiner Beziehung
zum Felle durchaus unmotivirte Band, welches nur
als ein Hilfsmittel dient, die darunter liegenden
Körperformen besser hervorzuhehen , lassen schon
eher auf die Hand eines jugendlichen Künstlers
schließen. Diese Erscheinungen gestatten aber
auch den Schluss , dass die Statue von einem
Künstler geschaffen wurde, der wohl einen ausge¬
bildeten anatomischen Sinn nebst tüchtigem Wissen
und hoher technischer Fertigkeit besaß, dem aber
der Funke des Genius und somit auch der Sinn für
das vollendet Schöne fehlte, und der im Bewusstsein
seiner Ohnmacht zu künstlichen Mitteln greift, die
wohl zuerst die Aufmerksamkeit erregen und ver¬
blüffen, die aber kaum von wahrhaft großen
Künstlern angewandt werden und angewandt zu
werden brauchen.
Weiter meine ich:
Jedes wahre Kunstwerk muss in Bewegung und
Haltung einfach xmd ebenmäßig sein, d. h. jede im
Motiv nicht liegende und jede über die Grenze des
Natürlichen hinaus oder bis an dieselbe gehende Be¬
wegung und Halhing muss vermieden werden. Werden
solche Beivegungen und Haltungen dargestellt und zwar
über die natürliche Grenze hinaus, so erscheinen sie
bei dramatischen Darstellungen oder bei Darstellungen
erhöhter Muskelthätigkeit als Verzerrungen , gehen, sie
dagegen bis an die Grenze des Natürlichen, so zeigen
sie sich bei schwacher Muskelthätigkeit oder in der
Ruhe als Geziertheiten.
Wie erscheint nun aber der Giovannino unter
diesen Gesichtspunkten, welche man wohl ebenfalls
als zutreffend anerkennen wird? An "diesem Ma߬
stabe gemessen, ist die Figur in jeder Beziehung
geziert.
Der Beweis ist leicht zu führen, doch bevor ich
darauf eingehe, möchte ich zuvor noch einiges
über das Motiv, welches der Statue zu Grunde
liegt und zu Grunde liegen soU, sagen, und ich
glaube auf diese Weise am besten zu der Be¬
antwortung der vorhin aufgesteUten Frage überzu¬
leiten.
(Schluss folgt)
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
(Schluss.)
INE wichtige Erwerbung
des Berliner Museums ist der
unter Figur 7 abgebildete
Kopf des Anakreon. Be¬
kanntlich besaß die Samm¬
lung Borghese in Rom zwei
Bildnisstatuen, eine stehende
und eine sitzende, von denen
jene für Tyrtaeus, diese für Anakreon erklärt
wurde. Durch die Auffindung einer mit Inschrift
versehenen Büste in Rom wurde diese Annahme
als falsch erwiesen, da der als Anakreon bezeich-
nete Kopf offenbar eine Kopie der stehenden, nicht
der sitzenden Figur war, so dass für diese letz¬
tere noch der Name zu suchen bleibt. Die neue
Berliner Büste, die offenbar zum Einsetzen in eine
Herme bestimmt war, kommt ohne Zweifel dem Ori¬
ginal von allen Kopien am nächsten, man darf ver¬
muten, dass dies eine Bronzestatue war, und zwar die
von Pausanias als auf der Akropolis befindlich be-
zeichnete, die demnach um die Mitte des fünften
Jahrhunderts entstanden sein muss. Der leise geöff¬
nete Mund und die Neigung des Kopfes, die auch
in der kapitolinischen Büste erhalten und für das
Berliner Exemplar gleichfalls anzunehmen ist, passt
recht wohl zu der Schilderung des Pausanias, nach
der Anakreon singend, und zwar in Weinlaune vor
sich hinsingend, dargestellt war. (Fig. 7.)
Eine andere bedeutsame Erweiterung unserer
Kenntnis griechischer Denkmäler ist uns durch
die in Sa'ida, dem alten Sidon, gemachten Aus¬
grabungen vermittelt worden. Während bei den
griechischen und römischen Städten gewöhnlich die
aus der Stadt führenden Straßen rechts und links
mit Grabdenkmälern besetzt sind, hat man in Sidon
die Toten bald hier bald dort in der ümgebuno;
n o
bestattet, indem man überall da, wo der leicht zu
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
bearbeitende Kalkstein gefunden wurde, in die Tiefe
ging, um dort die in Sidon üblichen Grabkammern
anzulegen. Derartige Grabkammern sind schon seit
langer Zeit bekannt und durchforscht worden, leider
meist so, dass die Ausgrabung nur im Geheimen
vorgenommen und die gewonnene Ausbeute unter
Verschweigung des Fundortes in den Handel ge¬
bracht und in alle Welt zerstreut wurde.
Von hervorragender Bedeutung war der 1855
entdeckte Sarkophag des Eschmunazar, der sich als
Sohn des Tabnit bezeichnete, ein die menschliche
Gestalt nachahmender Sarkophag, der durch den
Herzog von Luynes in den Louvre gelangt ist. Um
die Fragen, die durch seine Auffindung sich auf¬
drängten, zu lösen, wurde 1860 die bekannte Expe¬
dition de Syrie unter Renan ausgeschickt, doch trotz
aller Nachforschungen und Ausgrabungen, die
Renan damals angestellt hat, ist es nicht gelungen,
das Rätsel zu lösen. Heute hat der Zufall darauf
eine Antwort in einer Deutlichkeit gegeben, wie man
nie hätte erwarten können, und zugleich sind eine
Reihe von Denkmälern an das Licht gezogen worden,
die für die Kunstgeschichte von einschneidender
Bedeutung sind.
Im Jahre 1887 grub Mehmed Scherif, Eigen¬
tümer eines unfruchtbaren Feldes, Ayaa genannt,
östlich von Saida, ungefähr 1550 m vom Meer ent¬
fernt, auf seinem Eigentum nach, um Bausteine zu
gewinnen. Am 2. März meldete er dem Kaimakam
von Saida, dass er auf einen Brunnen von 13 m Tiefe
gestoßen sei, der allem Anschein nach zu einer an¬
tiken Begräbnisstätte führe. Der Kaimakam sendete
sofort einen Ingenieur, Bechara, zur Berichterstattung
ab, und dieser gewahrte bald, dass von dem Brunnen,
dessen Höhlung gleichsam als centraler Eingangs¬
raum diente, sieben, teilweise in verschiedener Höhe
liegende Grabkammern zugänglich waren, die sieb-
24
186
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
zehn wolileFhaltene, wenngleicli ihres Inhaltes schon
im Altertum beraubte Sarkophage aus Kalkstein
oder aus schwarzem oder weißem Marmor ent¬
hielten, die zum Teil mit gut erhaltenen und poly¬
chrom bemalten Skulpturen geschmückt waren.
Auf die Nachricht von dieser Entdeckung eilte der
Generaldirektor der türkischen Museen, Hamdy Bey,
sofort nach Sai'da, und durch seine Bemühungen
gelang es, nachdem ein schräg nach oben geführter
Tunnel angelegt war, die sämtlichen Sarkophage
innerhalb von 25 Tagen wohlbehalten aus der Tiefe
herauszuziehen, nach dem Meere zu führen, auf
Flößen nach dem Schiffe hinzubringen, sie dort zu
verfrachten und glücklich ohne jeden Unfall nach
Konstantinopel überzuführen. Was
für Schwierigkeiten bei diesem Trans¬
port zu überwinden waren, kann
man ermessen, wenn man hört, dass
der eine Sarkophag 3,30 m lang ist
uni ein Gewicht von 15 Tonnen
besaß. Nach der Ankunft in Kon-
stantiuopel sind die Sarkophage bis
zur Fertigstellung des für sie beson¬
ders bestimmten Museums in einem
Verschlage vorläufig aufbewahrt
worden, wo der Bildhauer Osgan
Effendi die Anfügung aller der seit
alter Zeit oder neuerdings^) abge¬
brochenen Bruchstücke unternahm;
seit 1891 ist der Pavillon vollendet
und künstlerisch verziert, so dass die
Aufstellung der Sarkophage darin
hat erfolgen können. Das Gebäude,
6-1 m lang, enthält zwei Säle, in
denen die Sarkophage aufgestellt
und der Besichtigung durch das Publikum zugängig
gemacht sind. Ihre Zahl ist ühiägens inzwisclien
nocli gewachsen.
Gleich hei dem llerausziehen der Sarkophage
hatf(! Hamdy Bey das Glück, geleitet durch ein von
antiken Schatzgräbern geschlagenes Loch, noch ein
neues unterirdisches Grabgeniach zu entdecken, in
dem man unter einer vierfachen Reihe von kolos¬
salen Flatten einen Sarkoj)hag von menschlicher
1 1 Die Sarkophage hatten flurch die antiken Leiclien-
dieht; nur geringen Schaden erlitten, viel größeren aber
dtirch die bifl zur Ankunft Hamdy Dey’s in die Gräber ein¬
gedrungenen Deaucher, von denen viele sich nicht gescheut
haben, Bruchstücke zur Erinnerung sich herabzuschlagen.
Eines großen 'l’cils derselben ist man glücklicherweise
wieder habhaft geworden.
Gestalt fand, der außer einer phönizischen Inschrift
noch ägyptische Hieroglyphen trug. Dadurch ist
die von Renan vergebens angestrebte Lösung mit
einemmal gefunden: der in dem Sarkophag Be¬
stattete war Tabnit, der Vater des* Eschmunazar,
König von Sidon, und durch die ägyptischen Hiero¬
glyphen ergab sich, dass der Sarkophag nicht in
Sidon etwa angefertigt war, sondern, nachdem er
mehrere Male in Ägypten selbst zur Bestattung ge¬
dient hatte, als Handelsware nach Sidon gelangt
und dort für das Begräbnis des Königs verwendet
worden war. Dasselbe gilt nun auch für Eschmu-
nazar’s Sarkophag, bei dem man die Vorsicht ge¬
braucht hatte, die hieroglyphische Inschrift wegzu¬
meißeln, und während man früher
geneigt war, für den Sarkophag des
Louvre ungefähr das achte vorchrist¬
liche Jahrhundert als Entstehungs¬
zeit anzunehmen, stellt sich nun
heraus, dass beide Könige, Tabnit
sowohl wie Eschmunazar, in die
Zeit der Ptolemäer gehören.
Was von den aus Ägypten ein¬
geführten Sarkophagen gilt, muss
auch für die anderen in den Grab¬
kammern gefundenen Sarkophage
gelten, sie sind nicht etwa in Sidon
angefertigt worden , sondern als
fertige, ja meist wohl schon ander¬
weitig gebrauchte Ware dorthin
gelangt. Dadurch sind eine Zahl
von Sarkophagen in den Grab¬
kammern vereinigt worden, die ganz
verschiedene Epochen der griechi¬
schen Kunst, von Phidias bis zu
Lysippos hinab, vertreten.
Die griechischen Sarkophage brauchten, um wert¬
voll zu erscheinen, gar nicht erst mit Skulpturen ver¬
ziert zu sein, sie sind architektonische Kunstwerke
in sich, die gewöhnlich die Form des Tempels nach¬
ahmen, während bei den römischen Sarkophagen der
Kunstwert nur in der Ausschmückung durch das
Relief liegt und, sobald man sich dies wegdenkt,
ein nacktes Gebrauchsgefäß übrig bleibt. Aber
auch bei den griechischen Sarkophagen wird man
die mit Skulpturen ausgeschmückten natürlich in
erste Reihe stellen, besonders wenn die Skulpturen
solche kunstgeschichtlich wichtige Denkmäler sind,
wie in unserem Falle.
Nur vier Sarkophage sind mit Skulpturen ver¬
sehen, die hier kurz erwähnt werden dürfen.
Fig. 7. Kopf des Anakreou.
Nach Jahrb. d. Inst. VII, T. 3.
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
187
Der erste, offenbar an Zeit älteste, dessen Bild¬
werke man als den Partbenonskulpturen gleichzeitig
bezeichnen muss, trägt die bekannte Form des
lykischen Sarkophags, d. h. über dem eigentlichen
Körper des Sarkophags erhebt sich ein hoher , mit
einer Art Spitzbogen gewölbter Deckel. Das hohe
Piedestal, auf dem diese Sarkophage regelmäßig zu
stehen pflegen, hat der Händler nicht mit nach
Sidon gebracht, sondern nur den oberen Teil, den
eigentlichen Sarkophag; er ist mit einem Kentauren-
phag achtzehn Frauengestalten in klagender Hal¬
tung. Alle sind mit Chiton und darüber mit
Himation bekleidet , das sie gewöhnlich schleier¬
artig über den Hinterkopf gezogen haben. Auch
um die Basis des Tempels herum zieht sich eine
figurenreiche Darstellung; dort sieht man gegen
hundert Personen, die Hirsche, Bären und andere
Tiere jagen. Der Umstand, dass man innerhalb
des Sarkophags neben den Gebeinen des Besitzers
die Reste von vier Jagdhunden fand, lässt darauf
Fig. 8. Sarkophag aus Saida in Konstantinopel. Nach Gazette des Beaux-Arts, 1892, 1. Hälfte. S. 95.
und Amazonenkampf, einer Löwen- und einer Eber¬
jagd verziert.
Während dieser in dem Stil seiner Skulpturen
Anklänge an Phidias zeigt, wird man geneigt sein,
den zweiten Sarkophag (vgl. unsere Abbildung
Fig. 8), der gewöhnlich le sarcophage des pleureuses
genannt wird, dem Anfang des vierten Jahrhunderts
zuzuschreiben.
Der Sarkophag ist als ionischer Peripteros
gedacht, mit Pfeilern statt Ecksäulen an den vier
Ecken und mit einer zwischen den Säulen sich
hinziehenden Balustrade. An diese gelehnt oder
auf ihr sitzend erblickt man rings um den Sarko-
schließen, dass der Bestattete ein großer Freund der
Jagd war und dass man deshalb für ihn den so
ansgeschmückten Sarkophag ausgewählt hat.
Das Dach des Sarkophags zeigt an den vier
Ecken je eine gelagerte Sphinx und in den Giebeln
trauernde, um den Leichenhügel gelagerte Figuren.
Auf die Bestattung bezieht sich auch die Darstel¬
lung einer Art von Balustrade, die rings um das
Dach gelegt ist; man sieht dort den Trauerzug,
voraus gehen zwei Pferde des Verstorbenen, von
Männern, die neben ihnen gehen, geleitet; darauf
folgt der Kriegswagen, darauf ein Viergespann, das
nach der gewöhnlichen Deutung den Sarkophag des
24*
188
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
Verstorbenen zieht, von einem vorausgehenden
Manne an den Zügeln geleitet. Gegen die Deutung
auf einen Sarkophag lassen sich aber viele Gründe
Vorbringen; erstens würde man natürlich erwarten,
den Sarg in derselben Form dargestellt zu sehen,
wie der ist, in dem der zu Ehrende bestattet wor¬
den ist, d. h. als ionischen Tempel; zweitens
müsste der Sarg nicht quer, sondern der Länge
nach, und zwar auf einen vierrädrigen Wagen ge¬
stellt sein; ferner aber ist es ganz ungewöhnlich,
auf einem griechischen Sarkophag den Transport
eines geschlossenen Sarges dargestellt zu finden, da
in Griechenland, im Altertum wie noch heute, die
Särge überall da, wo Bestattung herrschte, offen
zum Grabe getragen und dort erst geschlossen zu
werden pflegten. Sind doch deshalb die Sarko-
des Mausoleums in Halikarnass; leider sind hier die
Einzelheiten ziemlich zerstört. Um so besser 'ist
dafür der vierte, der sogenannte „Alexandersarko¬
phag“, erhalten; während nämlich bei den anderen
die ursprünglich alle Flächen deckende Polychromie
bis auf mehr oder weniger geringe Spuren ver¬
schwunden ist, sind hier die Farben in einer ganz
erstaunlichen Frische erhalten. Auch die archi¬
tektonische Form verdient eine genaue Betrachtung.
Der Fuß ist nach Art der ionischen Säulen aus
Hohlkehlen und Polstern zusammengesetzt,'] die
mehrfach mit dem Flechtornament überzogen sind;
darauf erhebt sich der viereckige Körper des Sarko¬
phags, der zur Aufnahme des Leichnams dient, auf
allen sechs Seiten mit Darstellungen geschmückt,
die uns weiter unten noch beschäftigen werden.
Fig. 9. Relief des sog. Alexandersarkophags aus Saida in Konstantinopel.
Nach Gazette des Beaux-Arts, 1892, 2. Hälfte. S. 190.
pliage von Klazomenae an der Oberseite des Unter¬
teils kostbar verziert, während als Deckel nachher
ein beliebiger flacher Stein verwendet wird. Viel
natürlicher scheint es mir, in dem fraglichen Gestell
den gedeckten Reisewagen des Verstorbenen, der in
älinlicber Form mehrfach vorkommt, zu sehen.
Nebenbei sei übrigens bemerkt, dass die Art, wie die
nur in Malerei ausgedrückten Zügel von dem vor-
ausgebenden Manne gehalten werden, für die Er¬
gänzung des Ostgiebels in Olympia im Curtius’schen
Sinn nicht unwichtig ist. Ein Mann, der das Leib-
ro.ss des Verstorbenen führt, und eine in klagender
Haltung dargestellte Figur machen den Schluss.
Der dritte Sarkophag, mit Darstellungen aus
dem Leben eines orientalischen Dynasten, erinnert
lebhaft an ähnliche Sceneu aus dem Reliefschmuck
Darüber folgt ein mit kunstreichem Mäander ver¬
zierter Architrav, über diesem ein Fries, den eine
Ranke wilden Weins ziert (gelb auf Purpurgrund).
Das darüber folgende Dach ist scheinbar mit Mar¬
morziegeln gedeckt; Köpfe von Steinböcken mit
drei Hörnern dienen als Regenspeier, Masken, die
strahlenförmig mit Blättern ausgeschmückt sind,
als Stirnziegel und Firstziegel. Auch die vier
Picken des Daches sind geschmückt, je mit einem
gelagerten Löwen, und als Giebelakroterien dienen
endlich Doppelpalmetten zwischen zwei geflügelten
Greifen.
Die Darstellungen, mit denen der Körper des
Sarkophags geschmückt ist, beziehen sich auf
Kämpfe zwischen Griechen und Persern, oder
.Jagden, bei denen beide Völker vereint thätig sind.
Fig. 10 und 11. Aphrodite, Bronze der Sammlung Tyszhiewicz zu Paris. Nach Mon. aut. pubbl. per cura dei Line. I, S. 905.
190
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
Da der eine der Griechen unzweifelhaft eine große
Ähnlichkeit mit Alexander dem Großen zeigt, so
hat man gleich nach der Auffindung den Sarkophag
mit dem Namen Alexander’s bezeichnet, ja unge¬
achtet der bestimmten Nachrichten, die uns über
die Bestattung des jugendlichen Königs in Alex¬
andria hinterlassen sind (so wissen wir z. B., dass
dem Augustus der Leichnam Alexander's in Alex¬
andria gezeigt worden ist), hat man ganz ernsthaft
den Versuch gemacht, zu beweisen, dass Alexander
in Sidon habe begraben werden können- Andere,
für welche die Bestattung Alexanders
in Alexandria feststand, haben wenig¬
stens annehmen zu können geglaubt,
dass in dem Sarkophag einer der Gene¬
räle des Welteroberers bestattet worden
sei, zu dessen Ehren die Ausschmück¬
ung des Sarkophags mit der Figur
Alexander’s ja wohl erklärlich wäre.
Aber alle diese Deutungen verschwin¬
den vor der einen Thatsache, dass nicht
die Person Alexander’s, sondern die eines
persischen Fürsten in den Vordergrund
als Hauptperson gerückt ist; er ist es,
der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht,
während die Figur Alexander's nur als
Nebenfigur erscheint. Er ist dargestellt,
wie er mit Hilfe seiner Diener einen
Panther jagt, ferner wie er einen
Griechen nieder wirft, ferner im Kampf
mit einem Löwen, der ein Pferd au der
Brust gepackt hat, und schließlich im
Kampf mit Alexander selbst. Th.Reinach,
der in der Gaz. d. b. a. 1892, I, S. 89
und H, S. 177 eine vorläufige Besprech-
>mg der Sarkophage giebt (er ist Mit¬
arbeiter an dem Prachtwerk „Une
necropole royale ä Sidon, par Hamdy
Bey et Tlieodore Reinach, Paris, Leroux“), schließt
liieraus, dass der ursprüngliche Besitzer des Sarko¬
phags, ein persisclier Dynast, ursprünglich Gegner
des Alexander gewesen sei, dann aber, nach der
Besiegung des Königs und der Übernahme der Herr¬
schaft durch Alexander, als h’reund und Genosse des
Macedoniers aufgetreten sei, was an sich ja möglich
ist. .Jedenfalls Averden die Skulpturen dadurch an
das Ende des vierten .Jahrhunderts gerückt, eine
Be.stimrnung, die mit dem, was durch stilistische
Würdigung derselben sich ergiebt, völlig in Ein¬
klang steht. (Pig. 9.)
Bevor wir diesen wunderbaren Fund von Sidon
verlassen, verlohnt es sich, noch ein paar Worte
über die polychrome Behandlung, besonders des zu¬
letzt geschilderten Sarkophags zu sagen. Die Farben,
die zur Verwendung gekommen sind, sind folgende:
Violett, Purpurfarbe, Blau, Gelb, Rot, Rotbraun und
vielleicht eine Art Rußbraun; ob alle diese Farben
einfach oder zusammengesetzt sind, steht noch dahin
und wird vielleicht durch weitere Untersuchungen
noch geklärt werden, aber jedenfalls sind die ein¬
mal für die Verwendung bestimmten Farben einfach
verwendet worden, es sind nur einfache, nicht ge¬
brochene Töne angewandt worden. Mit
Recht hat der Künstler, der die Be¬
malung der Skulptur übernommen hat,
darauf verzichtet, von seiner Palette
her Licht und Schatten über die Fläche
zu verteilen, nein, er hat einfach der
Sache entsprechend einheitliche Farben
über die Flächen gelegt, indem er es der
Skulptur überließ, durch Höhen- und
Tiefenwirkung Licht und Schatten über
das Ganze auszubreiten. Wie voraus¬
zusehen war, sind nicht etwa bloß die
Gewänder durch Farbe hervorgehoben,
sondern auch die nackten Körperteile sind
farbig gehalten, die Griechen heller, die
Asiaten dunkler, und auch die Augen
sind genau bezeichnet, sowohl die Iris
als auch die Pupille, und zwar hat der
Maler den Griechen braune, den Persern
blaue Aiigen gegeben. Sobald die far¬
bigen Tafeln vorliegen, die man in
dem Werke von Hamdy Bey erwarten
darf, wird es sehr erwünscht sein, dass
auch nach dieser Seite hin für weitere
Kreise durch Nachbildungen der far¬
bigen Reste eine genauere Kenntnis von
der Polychromie der Alten verbreitet
wird; ist doch zu hoffen, dass auf solche Weise
die mannigfachen Vorurteile, die noch heute in
Künstlerkreisen besonders gegen die Polychromie
herrschen, allmählich verschwinden, wenn sie sehen,
was für wunderbare Erfolge mit dieser Färbung zu
erreichen sind.
Für die spätere Zeit ist der Kunstwissenschaft
ein Zuwachs durch die Veröffentlichung einer herr¬
lichen Bronze zu teil geworden, die sich in der be¬
rühmten Sammlung Tyszkiewicz zu Paris befindet
(Mon. ant. pubbl. per cura dei Line. I, S. 965); sie
soll aus Griechenland stammen. Doch i.st, wie ge¬
wöhnlich in solchen Fällen Genaueres, über die Her-
Fig. 12. Der betende Knabe,
neue Ergänzung.
Nach Arch. Anz. 1890, S. 165.
NEUE ANTIKE KUNSTWERKE.
19]
kimft nicht zu ei'fahren. Die Statuette ist 0,263 m
hoch, abgesehen von der Basis, die 0,048 misst. Die
Arme sind erhalten, sie waren besonders gegossen
und dann angelötet; bei dem Loslösen der Arme
sind einige Teilchen der Oberarme an den Unter¬
armen mit sitzen geblieben. Die Statuette ist mit
prachtvoller Patina überzogen, außer an einigen
Stellen, wo die unmittelbare Nähe von Eisen ihr
Flecke von Eisenoxyd zugezogen hat, namentlich
auf den Haaren oberhalb der Stirn. Sonst ist sie
vorzüglich erhalten, ja sie genießt den ganz beson¬
deren Vorzug, dass bei ihr die Ohrringe in den Ohr¬
läppchen erhalten geblieben sind; diese bestehen aus
feinem Golddraht, auf den eine Perle aufgezogen
ist ; darauf ist der Draht durch die Ohrlöcher ge¬
zogen und spiralförmig um den unteren Teil bis
zur Perle hin gewickelt. Die Bedeutung und Hal¬
tung der Figur ist keinem Zweifel unterworfen, es
ist Aphrodite, die mit der rechten Hand ihre Brust,
mit der linken die Scham deckt, also in der von
der Venus des Kapitols und der Mediceischen Venus
her bekannten Haltung, die mehr oder weniger auf
die Knidierin des Praxiteles zurückgeht. Wie es
scheint, steht die Bronzestatuette dem Werk des
Praxiteles näher als selbst die kapitolinische Statue;
vor allem im Haar, das hier bei weitem einfacher
und dem der Knidierin ähnlicher ist, als bei der
Venus Capitolina, aber auch der Körper scheint
strengere Formen aufzuweisen, als bei der kapito¬
linischen Marmorfigur. Allerdings fehlt bei der Sta¬
tuette das danebenstehende Gefäß, durch welches das
Bad angedeutet und die Nacktheit der Figur moti-
virt wird, es scheint, als ob der Hersteller der
Bronze diese Zusätze als solche angesehen habe, die
erst vom Marmorarbeiter als Stütze zugefügt wurden,
deren er bei der Bronze entraten konnte. (Fig. 10 u. 11.)
Als eine wenigstens teilweise neu gefundene
Antike darf sich auch der bekannte „Betende Knabe“
des Berliner Museums darstellen. Seine Geschichte,
die bis dahin in völliges Dunkel gehüllt war, hat in
letzter Zeit vielfache Aufklärungen erfahren; es hat
sich herausgestellt (Jahrb. d. Inst. I, S. 8 ff.), dass
die Statue wahrscheinlich aus der Sammlung Grimani
in Venedig in den Besitz des Intendanten Nicolas
Foucquet, und von da nach dem Sturz desselben in
die Sammlung des Prinzen Eugen von Savoyen über-
Seffangen ist, aus der sie nach kurzem Aufenthalt
im Palais Liechtenstein Friedrich der Große für 5000
Thaler erworben hat. Zugleich ist festgestellt wor¬
den, dass die Arme der Figur wahrscheinlich für
Foucquet in Paris ergänzt worden sind. Der Wunsch
des Sammlers van Branteghem in Brüssel, einen
Bronzeabguss der Statue mit neu ergänzten Armen
zu besitzen, brachte die erwünschte Gelegenheit, der
Frage nach der Ergänzung der Arme näherzutreten,
und so hat sich durch die Versuche des Bildhauers
Herrn Gomansky, der sich der Unterstützung Sie-
mering’s erfreuen konnte, herausgestellt, dass, wie
Rauch schon bei einer nach dem betenden Knaben
an gefertigten Figur ausgeführt hat, die Arme mehr
gehoben werden und die Finger einfacher empor¬
gestreckt gebildet werden müssen, um die ursprüng¬
liche Haltung herzustellen (Fig. 12). Ohne dass man
behaupten kann, dass jetzt dem betenden Knaben
die ursprüngliche Haltung wirklich wiedergegeben
sei, wird jeder doch einräumen, dass bei der Ver¬
gleichung der neu gefundenen Haltung mit der
alten jener der Vorzug einer größeren Einheitlich¬
keit und Natürlichkeit nicht abzusprechen ist.
Wie der „Betende Knabe“ in Berlin, hat auch
der Apollo von Belvedere in letzter Zeit vielfache
Beachtung gefunden. Es hat sich herausgestellt,
dass die allgemeine Angabe, er sei in Porto d’Anzio
gefunden, nicht auf Wahrheit beruht, sondern dass
er in der Commenda von Grotta ferrata zu Tage
gekommen ist (Jahrb. d. Inst. 1890, S. 50). Auch
ist jetzt sicher geworden, dass der rechte Unterarm
ergänzt ist; ja Winter (Jahrb. d. Inst. 1892, S. 164)
zweifelt schon an der Zugehörigkeit des linken
Arms. Ebenso ist man immer mehr geneigt, die
Bedeutung des sog. Stroganoff’schen Apollo für die
Ergänzung der linken Hand (mit der Agis) abzu¬
weisen (Bull, mun 1889, S. 407, l’Apollo del Belve¬
dere e la critica moderna, von Gherardo Ghirardini,
nach den Untersuchungen von Hoffmann in Stra߬
burg), so dass schließlich die alte Ergänzung mit
dem Bogen doch als die richtige erscheinen muss.
R. ENGELMANN.
KLEINE MITTEILUNGEN
Yicior Olgijaij-]\Iatirho, der Urheber der Originalradi-
riing „Winter am See“, die diesem Hefte beigegeben ist,
hat sein Motiv dem Neusiedler See (Ödenburger Komitat)
entnommen, dessen Ufer ihm bereits Stoff zu einer größeren
Radirung (bei Stiefbold & Co. in Berlin) geboten haben.
Der Künstler ist ein Schüler Geza von Meszöly’s; er stellt
mit Vorliebe Winterbilder dar. Die Unterweisung in der
Radirung verdankt er dem Radirer Th. Alphons.
Das Jalireslieft des Wcimarisc-hen Badirvereins darf
seinen Vorgängern mit Fug und Recht zur Seite treten; es
enthält wiederum vierzehn Blatt, die das Bestreben der
Künstler, echte Malerradirungen zu schaffen, deutlich er¬
kennen lassen. Den Anfang macht Konrad Ahrendfs mit
einem Waldinnern, dem eine Rehfamilie als Staffage dient.
Das Blatt ist solid ausgeführt; es könnte einen sehr hüb¬
schen Wandschmuck bilden, da es groß im Format und sehr
ansprechend ist. Die darauf folgenden Landschaften von
Ar/) und Asperger sind trübe und arm an Gegensätzen,
fallen daher nicht so sehr ins Auge. VorUeff lieh wie immer
sind die Studien von Brendel „Zum Stall“, Schafe, die zu
ihrer Behausung getrieben werden, und „Stallruhe“, eine
Anzahl Schafe, die ein beschaulich-verdauliches Dasein führen.
Ein Mondaufgang von L. v. Cranach ist satt im Ton, aber
etwas weichlich; viel Selbständigkeit und Wahrheit zeigt
die Porträtstudie von 0. Froelich -, warum hat der Künstler
aber diesem Kopf das ,, Oberstübchen“, beschnitten? Zu
loben ist an dem Blatt die freie, voraussetzungslose Technik.
Kühn, skizzenhaft, aber markig erscheinen die Improvisa¬
tionen von Oleichen-Bußwurnd s, der auf den Spuren Lieber-
mann’s wandelt und es völlig verschmäht, seine Platte zu
ciseliren. Des Beschauers Auge muss ergänzen, was der
Künstler absichtlich fehlen ließ. Th. von Hagen’s Beitrag
„Am Niederrhein“ spricht für sich selbst, wir legen es als
Probe vor. Eine Helldunkelstudie von 0. Basch ist mit
Behutsamkeit und Fleiß ausgeführt; das Blatt stellt ein Pär¬
chen im eifrigen Zwiegespräch vor. „Sie“ hat bei der Er¬
zählung, die ihr ganzes Interesse in Anspruch nimmt, die
Näherei sinken lassen; „er“ scheint ein Haudegen in Civil
zu sein, denn in seinem Gesicht glauben wir eine Schmarre
zu sehen, die über die Nase geht. Die Scene ist anspruchs¬
loser Art, doch liegt etwas Stillvergnügtes darin. Eine Dorf¬
prinzessin von 0. Schnhi probirt den Kopfputz ihrer Gro߬
mutter, ein gut gezeichnetes, aber etwas hausbackenes Bild¬
chen ; eine sumpfige W aldlandschaft von 0. Weichherger
macht den Beschluss. Die obere Partie des letzten Bildes
ist gut beobachtet, bei der unteren sind die Massen nicht
wohl gegliedert, daher herrscht hier etwas Unklarheit.
Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
• Druck von August Pries in Leipzig.
ATTISCHE GRABRELIEFS').
VON AD. MICHAELIS.
MIT ABBILDUNGEN.
ON dem reichen Antiken¬
schatze, den das National¬
museum an derPatissiastraße
zu Athen in seinen Räumen
vereinigt, fesselt keine Ab¬
teilung den empfänglichen
Sinn des Besuchers in hö¬
herem Maße als der große
Saal der Grabreliefs. Hier ist eine Welt von Schön¬
heit und Anmut vereinigt, von welcher auch die
bedeutendsten europäischen Museen nur vereinzelte
Bruchstücke aufzuweisen haben. Sind auch für den
Kunstforscher die ebendort aufbewahrten Überbleibsel
archaischer Kunst von mindestens gleicher Bedeutung,
dem Kunstfreunde geht nirgends das Herz so auf wie
angesichts der sinnig schönen Denkmale, mit denen
einst die alten Athener die Ruhestätten ihrer Toten
schmückten. Das Andenken an die stillen weihevollen
Stunden, die ihm deren Betrachtung gewährt hat,
wird zu den köstlichsten Erinnerungen gehören, die
er in die Heimat zurückbringt.
Nicht so bequem und ungestört war ein solcher
Genuss vor einem Menschenalter, als den antiken
l'l Die attischen Grabreliefs, herausgegeben iin Auf¬
träge der Kais. Akademie der Wissenschaften zu Wien von
Alexander Gonxe unter Mitwirkung von Ad. Michaelis, Ach.
Postolakkas, Roh. von Schneider, Ein. Löwy, Alfr. Brückner.
Berlin, Verlag von W. Spemann. Heft 1 — 3 (Taf. 1 — 75 nebst
Text), 1890 — 92. — Durch die Güte der Verlagshandlung sind
wir in den Stand gesetzt, zwei Tafeln als Proben und außer¬
dem eine bedeutende Anzahl weiterer Illustrationen im Texte
nach Vorlagen zu bringen, die zum Teil den schon aus¬
gegebenen Heften, zum Teil den noch nicht publizirten Ta¬
feln des Werkes entnommen sind. Zur Ergänzung dienen
einige Skizzen aus dem in demselben Verlage erschienenen
Verzeichnis der Berliner Skulpturen, dessen Besprechung sich
oben S. 112 tl findet.
Skulpturen Athens noch kein gemeinsames Unter¬
kommen bereitet war. Die Hauptmasse der Grab¬
reliefs befand sich damals in dem sog. Theseustempel,
aber nur enge Pfade führten durch den Wirrwarr
der dort aufgespeicherten Schätze, und es war schwer,
in dieser Rumpelkammer zu der ruhigen Sammlung
zu gelangen, die grade diese Zeugnisse inniger Em¬
pfindung vor allen verlangen. Noch übler stand es
um die Stücke, denen der schlecht umzäunte Platz
an der sog. Hadriansstoa ein unsicheres Obdach
bot. Was davon an den Wänden befestigt oder auf
dem Boden aufgestellt war, das war allen Unbilden
des Wetters und allem Übermut der Gassenjugend
ausgesetzt, und was die weise Fürsorge des damaligen
Generaldirektors der Altertümer mit der Reliefseite
auf den Boden gelegt oder gegen die Mauer gestellt
hatte (es waren nicht grade die schlechtesten Stücke),
das blieb natürlich den Blicken gewöhnlicher Sterb¬
licher ganz entzogen.
In solche Zeiten gehen die bescheidenen Anfänge
des Werkes zurück, dessen erste Lieferungen nun¬
mehr vorliegen. Der Herausgeber Alexander Conze
und der Schreiber dieser Zeilen brachten im Sommer
1860 einige Monate in enger Studiengemeinschaft
in Athen zu, jeder seine eigenen Ziele verfolgend und
jeder des anderen Interessen teilend. Während Conze
seine Aufmerksamkeit zumeist den Überresten der
frühesten Kunstperioden zuwandte, begann ich alle
Grabreliefs, die damals erreichbar waren, genau zu
beschreiben und so weit wie möglich zu skizziren;
denn Skulpturen zu photographiren war damals außer¬
halb Roms noch wenig üblich. Conze nahm an
diesen Studien eifrig teil, und was er fand stellte
er mir zur A'erfügung oder wies mich darauf hin.
Die Absicht ging auf ein möglichst historisch ge¬
ordnetes Verzeichnis sämtlicher Grabreliefs mit
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
25
ATTISCHE GRABRELIEFS.
19 4
einigen Abbildungen cbarakteristisclier Muster. Ähn¬
liche Studien in Oberitalien, im Britischen Museum,
in Paris ergänzten das in Athen und sonst in Griechen¬
land gesammelte Material. Im ganzen ergaben sich
5 — 600 Nummern.
Ein Antrag an die Berliner Akademie um eine
Beihilfe zur Ausführung des Plans blieb infolge von
Ed. Gerhard’s Tod liegen. Schon sehr bald aber
mussten jene Vorarbeiten als ganz unzulänglich er¬
scheinen gegenüber den rasch sich mehrenden Funden
neuer wichtiger Stücke in Griechenland selbst. Ebenso
ward es immer deutlicher, dass ein bloßer Katalog
den mannigfachen Interessen, die diese Gruppe von
Kunstwerken bietet, den gegenständlichen, stilisti¬
schen, kunstgeschichtlichen, nicht gerecht werden
könne. Hierzu bedurfte es reicher und guter bild¬
licher Wiedergabe, wie sie sich mittlerweile mit
Hilfe der Photographie leichter
erzielen ließ. Der Gedanke, eine
möglichst vollständige Sammlung
griechischer Grabreliefs in Abbil¬
dungen zu veranstalten, lag ganz
in derselben Richtung, in der schon
Gerhard und Brunn mit ihren
Sammlungen etruskischer Spiegel
und Urnenreliefs vorgegangen waren
und in der zu Anfang der siebziger
Jahre von verschiedenen Seiten
Pläne zur Sammlung der römischen
Sarkophage, der griechischen Ter-
racotten, der antiken Statuen ent¬
worfen wurden. Was sich für die
griechischen und lateinischen In¬
schriften ])ewährt hatte, durch voll¬
ständige Sammlung und kritische Herausgabe des ge¬
samten Stotfes eine neue feste Grundlage für die
wissenschaftliche Bearbeitung zu schaffen, das ward
mehr und mehr als ebenso notwendig für die antiken
Kunstwerke erkannt, wenn die Archäologie von
der mehr oder weniger zufälligen Behandlung un¬
vollständigen Materials zur sicheren methodischen
Bewältigung der gesamten künstlerischen Über¬
lieferung Vordringen sollte. Hier hieß es viribus
unitis Vorgehen; denn dass dergleichen umfassende
L’ nternehinungen die Kräfte eines einzelnen über¬
schreiten, liegt auf der Hand.
Zu rechter Stunde kam Conze, nachdem er seit
kurzem in Wien ansässig geworden war, auf die
nie ganz verge.ssene, aber doch beiseite geschobene
Aiitgabe zurück. Am ,3. März 1873 legte er in vollem
Einverständnis mit mir der Wiener Akademie den
Fig. 1.
Gemalter .liinglingskopf. Berlin, Nr. 734.
Plan einer möglichst vollständigen Sammlung der
griechischen Grabreliefs vor. Die Akademie gab
alsbald ihre Zustimmung zur Ausführung, in der
richtigen Einsicht, dass ein volles Eintreten Öster¬
reichs in die archäologische Mitarbeit sich nicht
etwa auf die Erforschung der heimischen Altertümer
beschränken dürfe, sondern auch das Angreifen einer
solchen allgemeineren Aufgabe größeren Stils er¬
heische. Eine Kommission ward eingesetzt, die Mittel
bewilligt. Was wir beide bisher gesammelt hatten,
konnte als Grundstock und als Wegweiser für wei¬
teres Suchen dienen, aber alles war von neuem
anzufassen. Dass die Photographie so weit wie irgend
möglich heranzuziehen sei, konnte nicht zweifelhaft
sein, ebensowenig, dass der Haupthebel zunächst in
Athen angesetzt werden müsse. Da erwiesen sich
denn die aufopfernde Freundschaft und der wissen¬
schaftliche Eifer des aus Triest ge¬
bürtigen, seit lange in Athen an¬
sässigen Numismatikers Achilleus
Postolakkas als überaus hilfreich.
Treueren, sorgfältigeren, zuverlässi¬
geren Händen konnte die Aufgabe
nicht anvertraut werden, das weit
verzettelte Material, besonders auch
in schwerer zugänglichem Privat -
besitz, aufzusuchen, photographiren
zu lassen und mit peinlichster Ge¬
nauigkeit zu beschreiben. Da ich
im Herbst 1873 Gelegenheit hatte,
die zerstreuten Sammlungen Eng¬
lands und das Leidener Museum
in ähnlichem Sinne zu bearbeiten
und da auch ein Besuch Conze’s
in Konstantinopel zur Aufnahme der dortigen
Grabreliefs geführt hatte, so lag nach Jahresfrist
bereits ein photographischer Apparat von etwa
1300 Nummern vor, darunter allein über tausend
Stück aus Attika.
Eben dies unerwartete Anwachsen des Stoffes
führte zu einer Beschränkung des ursprünglichen
Planes. Schon im Jahre 1875 ward der Beschluss
gefasst, vorläufig nur die attischen Grabreliefs zur
Herausgabe vorzubereiten; war doch deren Anzahl
inzwischen auf 1860 Stück gestiegen! Innerhalb
dieser neuen Grenzen ward das Unternehmen in den
nächsten Jahren nach Kräften gefördert, unter man¬
nigfacher Unterstützung von allen Seiten. Paris und
Berlin wurden von Conze selbst, die Museen Süd¬
frankreichs von seinem Schüler Robert von Schneider
bearbeitet; die Litteratur ward, wiederum mit Schnei-
ATTISCHE GRABRELIEFS.
195
der’s Hilfe, ausgebeutet und alle älteren Angaben
„verzettelt“; in W. Spemann ward der kunstsinnige
Verleger gewonnen, der in einer nicht dankbar genug
anzuerkennenden Weise in das Unternehmen eintrat;
L. Jacoby nahm sich der Leitung und Überwachung
der künstlerischen Wiedergabe an. Alles schien einen
baldigen Beginn der Herausgabe zu versprechen.
Die von Corize geleitete zweifache Expedition
nach Samothrake, seine Übersiedelung an das Berliner
Museum im Jahre 1877, undhald darauf die wiederum
Fig. 2. Grabstele der Myrtia. (Nach Att. Grabr. Taf. 29.)
unter seiner Leitung unternommenen Ausgrabungen
in Pergamon brachten eine neue Unterbrechung.
Die Grahreliefs traten mehr in den Hintergrund,
wenn sie auch niemals ganz aus den Augen gelassen
wurden. Einmal z. B. konnte Conze sich in Athen
eine Zeitlang der Revision des bisher gesammelten
Apparates widmen. Dabei erwiesen sich Fr. Stud-
niczka und P. Wolters als hilfreich, und besonders
förderlich war es, dass Em. Löwy sich bereit finden
ließ, die von Conze nur begonnene mühselige Ver¬
gleichung aller Materialien mit den Originalen wirk¬
lich zu Ende zu führen und durch eigene Skizzen
der noch fehlenden Stücke zu ergänzen. Nichts
fehlte als die von dem Herausgeber schmerzlich ent¬
behrte Muße, die ihm erlaubt hätte, seine Arbeits¬
kraft vorzugsweise für dieses Unternehmen einzu¬
setzen. Diese fand Conze erst, seit er im Jahre
1887 aus der Stellung am Berliner Museum aus¬
geschieden war und als Generalsekretär des kais.
deutschen archäologischen Instituts sich ganz dessen
Aufgaben widmen konnte. Zu diesen gehörte nun¬
mehr auch die Herausgabe der attischen Grabreliefs.
Fig. 3. Mann nud Kind. (Nach Att. Grabr.)
Denn nachdem die Wiener Akademie für ihre sehr
liberalen Aufwendungen das Jahr 1883 als Grenze
gesetzt hatte, war das archäologische Institut mit
einem jährlichen Geldbeiträge an ihre Stelle getreten,
da es durchaus notwendig erschien, den beständigen
Zuwachs an neu auftauchenden Grabreliefs der Samm¬
lung nicht verloren gehen zu lassen. Mit Hilfe dieser
Unterstützung kamen denn auch noch reichlich 300
Photographieen aus Athen zu dem früheren Bestände
hinzu. Den Abschluss fanden diese Vorbereitungen
in Reisen Conze’s nach Paris und London, wo die
Aufzeichnungen und Skizzen älterer Reisender, na-
25*
196
ATTISCHE GRABRELIEFS.
meutlicli des französischen Konsuls Fauvel, ausge¬
beutet wurden.
Die Tafeln waren mittlerweile zum großen Teil
hergestellt worden. Bei den hervorragenden oder
wegen ihrer Technik interessanten Reliefs ist, soweit
die Aufstellung eine ganz genügende Aufnahme ge¬
stattet hat, die Heliogravüre angewandt worden;
auserlesene Stücke sind auch, namentlich wo eine
direkte mechanische Wiedergabe sich verbot, in Ra¬
dirung ausgeführt Avorden. Diese Haupttafeln werden
durch andere Blätter ergänzt, auf denen Wieder¬
holungen und geringe Variationen, fragmentirte oder
geringwertige Stücke in bescheidener Größe und
einfachen Umrissen zusammengestellt werden. Ein
solches Verfahren ergiebt sich von selbst bei der
vielfach handwerksmäßigen Wiederholung der glei¬
chen Typen und bei der Überfülle des
Stoffes ; ist doch das ganze Werk auf
450 Tafeln berechnet! Für ganz unbedeu¬
tende, unerreichbare oder verschollene
Stücke tritt die bloße Beschreibung an
die Stelle bildlicher Wiedergabe. Der
Text giebt zu jedem einzelnen Stück die
notwendigen thatsächlichen Angaben, wäh¬
rend die allgemeinen Erörterungen bis
zum Schluss aufgespart bleiben. Um aber
allen Angaben die größtmögliche Zuver¬
lässigkeit zu sichern, geht jeder Textbogen
vor dem Druck nach Athen zu einer noch¬
maligen Revision vor den Originalen, der
sich die Sekretäre des dortigen deutschen
archäologischen Instituts, zumal der zweite,
Paul Wolters, in hingehender Weise widmen, mit
ihnen, so lange er in Athen weilte, Alfr. Brückner,
ferner Erich Pernice und andere jüngere Angehörige
des Instituts. Brückner, der durch seine Schrift über
„Ornament und Form der attischen Grabstelen“
(Weimar 1&S6) und durch einige weitere Ai'beiten
eine Anzahl wichtiger einschlägiger Punkte aufgehellt
hat, ist seitdem nach Berlin übergesiedelt und geht
Conze bei der Herausgabe zur Hand.
Diese ])arlegungen können Fernerstehenden
zeigen, Avie mülisam und kostsjiielig die Vorarbeiten
dieses Avie eines jeden ähnlichen Avissenschaftlichen
Unternehmens sich gestalten; wie es dazu der Ein¬
sicht und der Opferbereitwilligkeit einer mit großen
Mitteln ausgestatteten Avissenschaftlichen Körper¬
schaft, wie hier der Wiener Akademie, bedarf; Avelche
Geduld und Ausdauer von seiteji des Herausgebers,
welch opferbereites und nur auf die Sache schauendes
Zusammenwirken aller Mitarbeiter und Mitforscher
erforderlich ist, damit ein Werk zustande komme,
welches nicht für den Augenblick blenden, sondern
ein bleibender Besitz der Wissenschaft sein soll.
Bei umfassenden, nach Vollständigkeit des Stoffes
strebenden Sammelwerken, wie den „Attischen Grab¬
reliefs“, kommt sehr viel auf eine zweckmäßige An¬
ordnung an. Auf den ersten Blick scheint nichts
einfacher, und in der Tat liegt nichts mehr im Zuge
der heutigen Forschung, als die geschichtliche Ent-
Avickelung dieser Denkmälerklasse zum leitenden
Faden zu machen. Allein so leicht es ist, die großen
Massen der Reliefs nach ihrer historischen Aufein¬
anderfolge zu scheiden, so schwierig wird die Auf¬
gabe, sobald es gilt, jedem einzelnen Stücke seinen
Ijestimmten Platz anzuweisen. Ohne starke Sub¬
jektivitäten des Urteils Avürde es hierbei
kaum abgehen können, und grade gewisse
Forschungen der letzten Jahrzehnte sind
wohl geeignet, uns zu lehren, wie schritt¬
weise erst z. B. die Grenzen des fünften
und des vierten Jahrhunderts fester haben
bestimmt werden können, wie viel Schwan¬
kendes noch übrig bleibt, wie groß die
Gefahr ist, dass Resultate, die heute fest
zu stehen scheinen und nach denen man
ganz sicher glaubt Vorgehen zu dürfen,
binnen kurzem infolge neuer Entdeckungen
und Forschungen besserer Einsicht Platz
machen müssen.
Solche Erwägungen mögen den Her¬
ausgeber bestimmt haben, wenn auch nicht
ganz auf den historischeii Gesichtspunkt zu verzichten,
so doch der Einzelanordnung ein anderes Einteilungs¬
prinzip zu Grunde zu legen. Drei Hauptklassen um¬
fassen: die erste die vorpersischen Grabmäler; die zweite
die schönen, in allmählichen Übergängen immer
■prunkvoller sich entwickelnden Denkmäler des fünften
und vierten Jahrhunderts, von den Perserkriegen
bis zur neuen Gräberordnung des Demetrios von
Phaleron, deren tief einschneidende Wirkung erkannt
zu haben Brückner’s Verdienst ist; die dritte den
ärmlichen, einförmigen Ausklang aus der Zeit des
mehr und mehr verkommenden Athen. Innerhalb
dieses geschichtlichen Rahmens aber bestimmt der
Gegenstand (Frauen, Männer u. s. av.) und das künst¬
lerische Hauptmotiv (stehend, sitzend, liegend; eine
Person, mehrere gruppirt u. s. w.) die Anordnung,
dergestalt, dass innerhalb der einzelnen DarsteUungs-
typen sich wiederum deren allmähliche Umwandlung
verfolgen lässt. Bei einer solchen Materialsammlung
Fig. 4.
Meneas und Menekrateia.
Berlin, Nr. 756.
ATTISCHES GRABRELIEF IM HAAG.
280. - H. 0, 67
ATTISCHE GRABRELIEFS.
197
ist leichte Benutzbarkeit, die das rasche Auffinden
ermög'licht, die erste Bedingung. Die lexikalische
oder typologische Anordnung entspricht diesem Be¬
dürfnis am besten; die kuustgeschichtliche Aus¬
beutung bleibt der Einleitung und den zahlreichen
Geschichten der griechischen Skulptur vorhehalteu,
die bisher den Grabreliefs nur eine recht stiefmütter¬
liche Aufmerksamkeit zu schenken pflegen.
Ausgrabungen in Attika, welche in den letzten
Jahren auf Veraulassuns; des überaus thätigen Ge-
o Cj
Fig. 5. Grabrelief der Hegeso. (Nach Att. Grabr.)
neraldirektors der Altertümer Kabbadias stattge¬
funden haben, lassen uns jetzt die Entwickelung der
attischen Gräberanlagen im Zusammenhänge bis ins
achte Jahrhundert hinauf verfolgen. Aber Grab-
reliefs treten erst um die Mitte des sechsten Jahr¬
hunderts, etwa in der Zeit des Peisistratos auf, und
zwar mehr auf dem Lande, als in Athen selbst. Es
sind schmale, hochaufragende Platten („Stelen“),
meistens oben in eine Palmette oder einen ähnlichen
Blätterschmuck t Anthemion) auslaufend, die am einen
Ende des Grabhügels aut niedriger Basis aufge¬
richtet wurden; vermutlich nach ionischer Sitte, wie
ja in den homerischen Gedichten Hügel und Stele
zusammen das gewöhnliche Grab bezeichnen: an die
ragende Platte des Ilosgrabes lehnt sich Paris, um
auf 'Diomedes zu schießen. Von den erhaltenen
attischen Stelen dieser älteren Art (denen die ersten
14 Tafeln gewidmet sind) ist keine aus dem heimi¬
schen Porosstein gearbeitet, der in Solonischer Zeit
noch selbst für Giebelreliefs üblich war; auch der
in der Plastik zunächst verwandte bläuliche hymet-
tische Marmor begegnet uns nur an einem auch sonst
abweichenden und auffälligen Grabstein (Taf. 11),
der im unmittelbaren Bereich des Hymettos gefunden
ist. Das regelmäßige Material bildet der weiße
Marmor, teils der auf den Inseln des ägäischen Meeres
gebrochene, darunter auch der kostbare von Paros,
teils der einheimische attische vom pentelischen
Berge. Dies Material führt uns in die Peisistratische
Zeit, wo ionische Künstler von den Küsten Klein¬
asiens und den Inseln nach Athen übersiedelten, um
dort teils ihre Kunst selbst auszuüben, teils attischen
Künstlern als Lehrmeister zu dienen. So nennt
sich auf der Basis einer verlorenen Platte der Ionier
Endoios, einer der bedeutendsten Bildhauer jener
Zeit, der sowohl in Kleinasien als auch in Athen
thätig war; auf anderen verwandten Werken Aristion
von Paros. Aber auch anscheinend attische Künstler-
Fig. ü. Der Schuster Xaiithippos. (Nach Att. Grahr.)
198
ATTISCHE GRABRELTEFS.
Fig. 7. Mynno mit
iler Spindel.
(Berlin, Nr. 737.)
namen fehlen nicht, wie z. B. der des Aristokles auf
der allgemein bekannten Stele des Kriegers Aristion
(Taf. 2). Diese kann als Beispiel der ganzen Gattung
dienen, auch in der noch großenteils erhaltenen Be¬
malung, die für diese alten Flachreliefs ganz un¬
entbehrlich ist. Das Relief bietet
nur die Grundlage und scharfe
Umrisse mit leiser Schattenwir-
kung; die Einzelausführung und
Belebung giebt erst die Farbe,
ja diese ist so sehr Haupt.sache,
dass die Stele wohl des Reliefs,
aber nicht der Malerei entraten
kann. Die Lyseasstele (Taf. 1), auf
der nach langem vergeblichen
Suchen anderer Löschcke und
Thiersch den langbekleideten
Mann mit Becher und Ahren-
büschel glücklich wiederentdeckt
haben, und der fein gemalte Jüng¬
lingskopf auf Taf. 6, 2 (s. Fig. 1),
geben bezeichnende Beispiele bloß bemalter Stelen;
auch kann eine Vergleichung der im wesentlichen
nach dem gleichen Muster ausgeführten Krieger¬
darstellungen mit ihren Nebenbildchen auf Taf. 2.
o. 8. 9 deutlich zeigen, wie bemaltes Relief und
bloße Malerei als völlig gleich¬
wertig gelten. Der ganzen Gat¬
tung eigen ist sodann die strenge
Profilbildung der in den engen
Raum der Platten eingezwängten
und diesen vollständig ausfüllen¬
den lebensgroßen Gestalten; un¬
willkürlich stellen sie dem Be¬
schauer die halbirten Menschen
vor Augen, von denen der pla¬
tonische Aristophanes scherzt:
.Wenn wir uns nicht anständig
gegen die Götter benehmen, so
werden wir, fürchte ich, noch¬
mals entzweigeschnitten werden
und herumlaufen wie die Profil¬
gestalten auf den Grabreliefs,
längs den Nasen durchgesägt,
wie knöcherne Spielmarken.“
Die erhaltenen Reliefplatten dieser älteren Art
geben nicht über die Zeit der Perserkriege hinab,
und nur vereinzelte Nachklänge begegnen uns später,
wälirend die hochstrebende Form der Platte selbst,
sowohlaufden bemalten Vasen, namentlich denschönen
weißgrundigen Lekytheu, als auch auf Reliefs noch
Fig. 8.
■^tclc aiiH Karysfos.
(Berlin, Nr. 738.)
längere Zeit die typische
bleibt. Die mächtige Umgi
aller Verhältnisse, die
die Folge der Riesen¬
anstrengungen und des
Sieges über die Bar¬
baren war , hatte mit
der alten Weise des
Denkmals aufgeräumt,
ohne doch sogleich eine
feste neue Form an die
Stelle zu setzen; mög¬
lich, dass auch eine
sittenpolizeiliche Ma߬
regel, von der Cicero
berichtet, eben damals
den Gräberluxus be¬
schränkte. Es folgte,
wie uns eine klärende
Untersuchung Ulr. Köh¬
Darstellung des Grabes
istaltung und Neubildung
,
ler’s gelehrt hat, eine
im wesentlichen die Perikleische Zeit umfassende
Periode des Tastens und Suchens, wie im Relief¬
stil und in der Schrift, so auch in der Gesamt¬
form des Grabsteines. Meistens ist es eine kleine
Platte, beiderseits ohne Einrahmung, oben durch
eine einfach profilirte Leiste, seltener durch einen ein¬
gezeichneten Giebel (Taf. 29, s. Fig. 2) oder gradezu
giebelförmig (Taf. 24) abgeschlossen. Dazu kommt
auch schon die Form eines
einhenkeligen Kruges (Leky-
thos, früher fälschlich als
Marathonische Grabvase be¬
zeichnet), eine massive Nach¬
bildung in Marmor der wirk¬
lichen Olkrüge, die frommer
Brauch auf das Grab geschie¬
dener Lieben zu stellen
pflegte. Wie unbeholfen an¬
fangs die Versuche ausfielen,
auf der kleineren Fläche ein
Reliefbild anzubringen, zeigt
gleich der ph’äische Grabstein
mit einer thronenden Frau, der
auf Taf. 15 die Reihe der Reliefs
„von den Perserkriegen bis zu Demetrios von Pha-
leron“ eröffnet. Das ist nicht bloß altertümliche
Befangenheit, wie in der archaischen Frauenstele
auf Taf. 12, sondern individuelles künstlerisches
Ungeschick, das einen gradezu unattisch anmutet.
Wie ganz anders wirkt Taf. 24, die Handreichung
(Berlin, Nr, 760.)
r
ATTISCHE GRÄBRELIEFS.
199
der sitzenden Rhodilla, mit der vor ihr stehenden
Tochter Aristylla, die hier die Abgeschiedene
ist; die Befangenheit der ganzen Darstellung, die
Unsicherheit in der Gewandbehandlung, die Fehler
in den Proportionen treten ganz zurück hinter der
liebenswürdigen Naivetät und Frische der künst¬
lerischen Empfindung, der nichts fehlt als die volle
Herrschaft über die Form. Noch einen Schritt weiter
führt uns die schöne Stele der Eutamia (Taf. 28) oder
die technisch noch reifere der Myrtia (Taf. 29, s. Fig. 2)
mit der seltsamen Nebenfigur: man erkennt den Weg,
den diese Kunst im Begriff ist einzuschlagen. Be¬
sonders charak¬
teristisch für
diese Frühzeit
sind eine Reihe
von Platten und
Lekythen , die
uns bärtige Män¬
ner im Mantel
vorführen, bald
einander die
Hand reichend,
bald ein Kind
freundlich an-
sprechend(Fig.3),
oder in ähnlichen
Darstellungen;
auch Mädchen
mit ihrem Vögel¬
chen, Knaben mit
ihrem Hunde
kommen vor. Das
Relief setzt gern
in scharfem Um¬
riss vom Grunde
ab, nach der alt¬
hergebrachten
Weise, durchwei¬
che die attische Kunst den Vorzug fester Profilzeich¬
nung sich erworben und bewahrt hat. Die Männer
haben etwas Ernstes, Gehaltenes, wie es der älteren
Zeit ansteht; die Motive der einfachen Gruppen sind
noch neu und zeigen daher Züge frischer Erfindung,
noch nichts Abgegriffenes, Konventionelles. Diese an¬
spruchslosen Reliefs (denen eine erhebliche Zahl ähn¬
licher ganz glatter, also für bloße Malerei bestimmter
Platten zur Seite geht) sind überaus wirksam durch
den Charakter einfacher Vornehmheit. Die bisherigen
Lieferungen bieten noch keine Beispiele, da in der
Publikation den Frauen der Vortritt gelassen ist und
es sich zunächst noch um die Darstellungen der
sitzenden Frau — allein, mit einer zweiten ligur
(Kind, Frau, Mann), in größerer Umgebung —
handelt.
Diese in manchen Dingen ihrer Mittel noch nicht
sichere Gruppe von Reliefs hat aus der älteren Zeit
die überhaupt in Attika herrschende Grundauffassung
bewahrt, dass das Grabmal den Verstorbenen so dar¬
zustellen habe, wie er im Lehen erschienen Avar,
ohne den Versuch einer Idealisirung, einer Dar¬
stellung des Toten als zum Heros erhöhten Fort-
lebenden, überhaupt ohne einen deutlichen Hinweis
auf den Tod. Wer
zum Grabe ging,
fand dort den
Dahingeschiede¬
nen in der ge¬
wohnten liehen
Gestalt , sei es
allein oder mit
seinem Liehlings-
tiere, sei es im
engeren oder
weiteren Kreise
der Nächsten,
und konnte so
den Umgang mit
ihm fortsetzen.
Für solchen trau¬
ten Verkehr er¬
fand diese Früh¬
zeit die symbo¬
lische Form der
Handreichung
(„Dexiosis“), die
nicht eben bloß
den Abschied
ausdrückt, son¬
dern jedes Ver¬
hältnis der Zusammengehörigkeit, jede Bethätigung
herzlichen Anteils in sich schließt. Sie stellte
auch das Sitzen fest, oder übernahm es wohl schon
aus der älteren Kunst, als charakteristisch für die
Frau des Hauses, seltener auch für den Haus¬
herrn, während sonst die Männer und die jün¬
geren Mitglieder der Familie, vollends die Diener
und Dienerinnen, zu stehen pflegen. Das sind ein
paar der einfachen Mittel, die fortan festgehalten
Avurden; grade in ihrer Einfachheit enthielten sie
ebenso die Gewähr leichten Verständnisses, wie sie
den Keim zu überaus reicher Entfaltung in sich trugen.
200
ATTISCHE GRABRELIEFS.
Inzwischen batte die attische Bildhauerei die
hohe Schule der Thätigkeit am Parthenon durch -
gemacht, und namentlich der Fries jenes Tempels
hatte nicht nur in stilistischer und technischer
Beziehung, sondern auch hinsichtlich der künst¬
lerischen Empfindung der nächsten Generation das
Muster gegeben. Der Einfluss ist denn auch alsbald
mit Händen zu greifen. Tafel 69 bietet eine Scene
dreier Figuren, durch
Handreichung geeint, die
dem Stile nach unmittel¬
bar aus jenem Friese ent¬
nommen sein könnte;
ebenso das palmettenbe¬
krönte Relief des Meneas
und der Menekrateia (Taf.
ÖO, s. Fig. 4). Die mit
Recht hochbewunderte
Stele der sitzenden He-
geso, der die Dienerin
ihr Schmuckkästchen dar¬
reicht (Taf. 30, s. Fig, 5,
leider an Mund und Nase
der Dienerin im Stiche
etwas entstellt) , bietet
das herrlichste Beispiel
dieser durch und durch
vornehmen, wahrhaft
ethisclien Darstellungs¬
weise. Man vergleiche nur
die ähnliche Komposition
auf Taf. 31, um alsbald
innezuwerdeu , wie eine
bald folgende Zeit so¬
wohl die äußeren Mittel
de.s Reliefs steigerte, als
auch einen stärkeren Zu¬
satz von Empfindungnicht
glaubte entbehren zu
können: man sollte nicht
vergessen, dass man sich
am tirabe befinde. I)a,-
studirt in einer Rolle; der in Dekeleia verstorbene
peloponnesische Krieger Lisas tritt uns in der Stel¬
lung eines Kämpfenden entgegen; die jugendliche
Mynno ist mit Spindel und Wollkorb dargestellt
(Taf 17, s. Fig. 7); Mika legt nicht einmal den
Spiegel beiseite, während Dion ihr die Hand reicht
(Taf. 48). Auf einem anderen Steine lässt die junge
Frau sich von der Wärterin ihr Kindchen bringen,
das die Hände verlangend
nach der Mutter aus¬
streckt (Taf 65, s. die
diesem Hefte beigegebene
Tafel). Überall werden
wir unbefangen mitten
in das Leben eingeführt;
es ist eine ganz seltene
Ausnahme, wenn ein¬
mal auf einer großen
Lekythos Myrrine in tie¬
fer Verschleierung vom
Seelengeleiter Hermes da¬
von geführt wird. Andere
Beispiele mögen in den
vorliegenden Heften die
Tafeln 25. 26. 35. 36.
38.39.42. 47.49. 57 bie¬
ten; man wird leicht des
besonderen Charakters
dieser Werke aus den
letzten Jahrzehnten des
fünften Jahrhunderts, wo
Alkamenes und der ältere
Praxiteles die hohe Kunst
des Phidias fortführten,
innewerden, sowohl ge¬
genüber jener älteren
Gruppe, als auch im
Vergleich mit den ent¬
wickelteren, reicheren der
Folgezeit. Noch herrscht
einereine klare Frühlings¬
stimmung, und was Conze
Fig. 11. Naiskos dor Melitta. (Nach Att. Giahr. Taf. 32.)
von .sollen die schönsten Grabsteine der Zeit des
peloponnesischen Krieges noch ab. Der Erzgießer
Sosino.s aus dem arkadisclien Gortys, der sich im
I’iräeuH niedergelassen hatte, sitzt einfach mit dem
Stabe des Werkmeisters da, die großen Kupferplatten
neben sieb; <ler Schuster Xanthipjios hat selbst auf
dem (irabstein seinen Leisten niclit im Stich ge¬
lassen, (s. Fig. t)); ein tleißiger Jüngling, den Bücher¬
kasten neben sich und den Hund unter dem Stuhle,
von Nr. 280 (Taf 65, s. die Heliogravüre, die diesem
Hefte beigegeben ist) bemerkt, lässt sich bis zu
einem gewissen Grade auf die ganze Kla.sse anwenden;
im Vergleiche zu den Reliefs des vierten Jahrhunderts
wirken sie in ihrer fein empfundenen, noch nicht
auf Wiederholung eines durchaus geläufigen Schema’s
beruhenden, sondern mit einiger Freiheit und un-
gemein lebendig erfundenen Komposition annähernd
wie ein italienisches Frührenaissancewerk den Hoch-
ATTISCHE GRÄBRELIEES.
201
renaissancewerken gegenüber. Dem festeren, auf
geregelter Schulung beruhenden stilistischen Charak¬
ter dieser Gruppe, in dem wir den bestimmenden
Einfluss Pheidias’scher Kunstübung auf das Kunst¬
handwerk deutlich erblicken, entspricht auch die
allmähliche Entwickelung der äußeren Grabmalform
zu größerer Regelmäßigkeit. Nur selten erscheint
noch die schlanke hohe, palmettenbekrönte Stele mit
der sie ganz aus¬
füllenden lebens¬
großen Gestalt; so
z. B. auf einem herr¬
lichen Bruchstück
des Berliner Mu¬
seums, das aus dem
ganz unter atti¬
schem Einfluss
stehenden Euböa
stammt. (Fig. 8.)
Daneben tritt nicht
selten eine auch in
alter Zeit nicht un¬
bekannte ungefähr
quadrate Platte auf,
die oben entweder,
wie bei Xanthip-
pos (vgl. auch Taf.
48), mit einem in
Relief gezeichneten
Giebel, oder, wie
bei Sosinos, mit
einem geraden Ar-
chitrav mit Stini-
ziegelu darüber ab¬
geschlossen wird.
Von letzterer Art
bietet die Stele des
auf der See ver¬
storbenen Demo¬
kleides (Fig. 9) ein
auch nach anderer
Seite bemerkens¬
wertes Beispiel. Wie überhaupt auch in dieser
Zeit bloß gemalte Stelen neben den Reliefplatten
hergehen, so zeigt die genannte Stele bloß den
trauernden Demokleides, von seinen Waffen um¬
geben, in ausgeführtem Relief, während das Kriegs¬
schiff, auf dem er sitzt, nur in scharfem Umrisse
sich vom Grunde abhebt, sonst aber in Malerei aus¬
geführt war. Da die Farben natürlich bei der Gestalt
des Demokleides nicht fehlen konnten, so ist deutlich,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV,
dass hier wie auf den altertümlichen Stelen das Relief
nur als hervorhebendes, verstärkendes Mittel der
Malerei dient. Andererseits hatte sich aus dem in
Relief gezeichneten Giebel nach Art des Xanthippos-
denkmals schon in Perikleischer Zeit als ganz natur¬
gemäßer Abschluss der wirkliche Giebel entwickelt,
bald über der quadraten Platte, häufiger auf einem
überhöhten Rechteck, wofür Taf. 17 oder die schöne
Stele auf Taf. 05
ein gutes Beispiel
giebt. (Etwas rei¬
cher ist der obere
Abschluss in der
feinen Sirenenstele
Pourtales im Ber¬
liner Museum, Fig.
10, gestaltet.) Von
hier aus ist es aber
nur ein geringer
Schritt weiter, den
über der Platte frei
vorspringenden
Giebel beiderseits
durch einen Pila¬
sterzuunterstützen.
Zuerst heben sich
die Pilaster nur
schwach, dem Gie¬
belvorsprung noch
nicht entsprechend,
überden Grund hin¬
aus und dienen dem
Reliefbilde als
leichter Rahmen, so
leicht, dass die Fi¬
guren nicht selten
über den Rahmen
übergreifen. (S. die
der zweiten Hälfte
dieses Aufsatzes bei¬
zugebende Tafel,
die ein besonders
schönes Grabrelief vom Friedhof am Dipylon dar¬
stellt.) Es ließe sich wohl denken, dass in den an¬
scheinend pilasterlosen Platten die Pilaster gemalt ge¬
wesen seien; sicher ist, dass in den Reliefs mit flacher
Andeutung der Pilaster zuerst die Figuren plastisch
ausgearbeitet, dann erst, bei weiterer Vertiefung des
Grundes, die flachen Pilaster ausgespart w’urden.
Auch der äußerst flache Giebel liegt mehr auf einer
andeutenden schmalen Leiste als auf einem wirklichen
26
Fig. lä. GraFrelief des Dexileus. (Nacdi Att. Grabr.)
202
ATTISCHE GRABRELIEFS.
Architrav. Aber die Neuerung ist folgenschwer;
die alte einfache Platte tritt mehr und mehr hinter
dem architektonischen Rahmen zurück, der sich zu
einer förmlichen Tempelfassade („Naiskos“)auswächst:
die flachen Pilaster verwandeln sich in kräftige
Anten, die langgestreckten Giebel in entsprechend
durchgebildete Giebelfelder mit höherem Architrav
und kräftigen Akroterien. Die drei Giebelstelen der
Asia (Taf. 2G), der Hegeso (Fig. 5, vgl. Taf. 31. 69),
Fif?. i;i. (ihliilsias und Kulnilc,.
(Na<li Atl. (iralir. Tal'. 00)
394 im korinthischen Kriege gefallenen jungen Ritters
Dexileos (Fig. 12), ist wohl das letzte datirbare Beispiel
dieser Form. Aber daneben giebt es auch andere an¬
spruchslosere Formen. Einmal die einfache kleine über¬
höhte Platte der Perikleischen Zeit, die den Ansprüchen
Fig. M. Hübe Stele der Artemi.sia.
(Nach Att. Grabr. Taf. 19.)
der Melitta (Fig. 11, vgl. Taf. .69) können den all- ärmerer Leute entsprach. Entweder schmückte sie
mählichen Fortschritt anschaulich machen. ein bloß gemaltes Bild, oder Umrisse wurden in den
Mit dem tempelförmigen Grabstein ist der Folge- Grund eingeschabt, offenbar als Vorzeichnung für
zeit die Hauptgestaltung für größere Denkmäler Farbenausfüllung bestimmt; meistens sind es zwei
gegeben, neben der z. B. die bloßen (puidraten Platten Figuren, die einander die Hand reichen. Die Tafeln
ganz verschwinden; das berühmte Monument des 41 und GO (Fig. 13) vertreten diese überaus zahlreiche
Figur 16.
Grablekythos und Lutrophöros. (Nach Att. Grabr.)
2Ü*
204
FRIEDRICH DER GROSSE ALS KUNSTSAMMLER.
Gattung. Eine andere nicht minder häufige Art knüpft
an die alte schmale und hohe Stele an, aber nicht mehr
nimmt eine einzige Gestalt den ganzen Raum ein, son¬
dern in dem oberen Teile der Platte wird ein ungefähr
quadrates Bildfeld ausgespart (vgl. Fig. 14). Bald ge¬
nügt ein leichtes Wegschaben des Grundes, um die
Figuren sichtbar zu machen oder für die Farbe vor¬
zuzeichnen, bald heben sie sich in immer höherem
und mehr durchgearbeitetem Relief aus dem stärker
eingetieften Grunde heraus; denn dass das griechische
Marmorrelief nicht sowohl auf Herausarbeitung der
Figuren aus einer gegebenen Grundfläche, als auf
Eintiefung des die Figuren umgebenden Grundes in
die ebene Oberfläche des Marmorblockes beruht, ist
nach den Darlegungen Schoene’s und Conze’s bekannt.
Die Tafeln 46, 21, 18, 19 können wiederum die ver¬
schiedenen Reliefabstufungen deutlich machen. Dabei
ist die Bild Vertiefung selten ganz viereckig, sondern
gewöhnlich ragen oben von den Seiten kleine Vor¬
sprünge in die Bildfläche vor, Andeutungen bemalter
Antenkapitelle. Sehr deutlich sind diese z. B. in der
edlen Stele der Artemisia (Fig. 14); dass wirklich
Antenkapitelle gemeint sind, ergiebt deren plastische
Durchführung in der Stele der krank auf ihrem
Bette hinsinkenden Malthake (Taf. 46). Das Be¬
dürfnis architektonischer Umrahmung ist also diesen
schlichteren Stelen mit den „Naiskoi“ gemeinsam.
Den oberen Abschluss bildet bald ein Giebel, bald
eine einfachere oder künstlichere Rundung, die nach
alter Weise mit einem Anthemion, sei es nur ge¬
malt (Taf. 52), sei es in Relief (Taf. 51), geschmückt
zu sein pflegt (vgl. Fig. 15); dies Pflanzenornament
ist aber im fünften Jahrhundert noch nicht realistisch
gebildet, sondern hält sich an die alten streng stili-
sirten Ornamentformen.
Daneben geht auch die einhenkelige Lekythos fort,
weniger geradlinig als in der vorigen Periode (Taf. 70),
bauchiger, aber mit einem langen schlanken Halse
hoch emporragend. Ihr zur Seite tritt die sehr
schlanke zweihenkelige Grabaraphora, ebenfalls die
Nachahmung eines thönernen Gefäßes, wie man es
seit dem sechsten Jahrhundert auf den Gräbern
Unvermählter als bezeichnendes Merkmal aufzustellen
pflegte. Es ist, wie zuletzt eine Untersuchung von
Wolters sichergestellt hat, das prunkvolle Wasser¬
gefäß, Lutrophöros (Wasserträgerin) genannt, in dem
man namentlich zum Brautbade das Wasser zu holen
pflegte. Jetzt steht es in festem Marmor gebildet
oder im Relief auf der Stele dargestellt auf dem
Grabe derer, denen solche Ehre im Leben nicht be-
schieden war, denen, wie die Grabepigrarame sich
auszudrücken lieben, gleich der Antigone das dunkle
Gemach des Hades zum Brautgemach geworden ist
(s. Fig. 16). (Schluss folgt.)
FRIEDRICH DER GROSSE ALS KUNSTSAMMLER.
MIT ABBILDUNGEN.
UF den großen Schatz von
Kunstwerken, den der Sam¬
meleifer Friedrich’s 11. dem
Besitze des preußischen
Königshauses zugefülirt hat,
ist zuerst in dieser Zeit¬
schrift das Licht wissen¬
schaftlicher Forschung ge¬
worfen worden in einem Aufsatze, den Robert Dohme
unter dem bescheidenen 'l'itel „Zur Litteratur über
Antoine W'atteau* veröffentlicht hat (Bd. XI, S. 86
bis 9.'»). Es geht noch ein etwas zaghafter Zug
durch diesen Aufsatz. Im Jahre 1875 war Watteau
— in Deutschland wenigstens — noch eine etwas
zweideutige tiröße, die mati beiläufig hinnahm, weil
der Name Watteau ein bequemer Sammelname für
eine Periode immerhin pikanter Decadence war.
Dohme spricht denn auch nur gelegentlich von „einer
Liebhaberei Friedrich’s des Großen“, der „die be¬
deutendste Sammlung von Watteau’schen Bildern,
die überhaupt existirt“, ihre Entstehung verdankf
Über die Erwerbung dieser und anderer Kunst¬
schätze war damals nur wenig bekannt, weil die
Schatull-Rechnungen des Königs noch ungeordnet
waren. In den letzten Jahren hat aber der Nach-
fol<ier Dohme’s im Amte eines Kustos der Kunst-
o
Sammlung des Königlichen Hauses, Dr. Faul Seidel,
durch umfassende Nachforschungen diesem Miss¬
stande abgeholfen, und je mehr die ötfentlicheu
Ausstellungen von Kunstschätzen aus königlichem
Privatbesitz seit 1883 den Avirklichen Bestand
kritischer Prüfung zugänglich machten, desto reich-
FRIEDRICH DER GROSSE ALS KUNSTSAMMLER.
205
baitiger wurden auch die Ergebnisse der arcbiva-
liscben Ermittelungen, weil sie auf feste Punkte ge¬
richtet werden konnten. In gleicbem Maße wuchs
aber auch die Scbätzunfj des großen Königs als
Kunstsammlers. Es ist keine bloße Liebhaberei, die
einer Laune des Augenblicks folgt, sondern ein seines
Zieles bewusstes, systematisches Streben, in den Be¬
sinne gewesen, der seine Kapitalien nur anlegte,
wo er gute Zinsen davon erwartete. Es ist richtig,
dass er bei seinen Bilderkäufen von seinen aus¬
wärtigen Agenten häufig getäuscht, bisweilen auch
betrogen wurde. Wir vergessen aber, wenn wir die
von Friedrich gezahlten Preise für gewisse Bilder
mit ihrem wirklichen, d. h. jetzt gültigen Werte
Porträt von Cli. Et. Jordan. Von A. Pesne.
sitz von Kunstwerken einer bestimmten, zusammen¬
gehörigen Gruppe zu gelangen. Wie wir jetzt
wissen, war hriedrich II. einer der größten Sammler
des sammelwütigen 18. Jahrhunderts, aber keiner
der leidenschattlichen, die blindlings große Summen
hergaben, um ihren Ehrgeiz zu befriedigen. Auch
als Kunstsammler ist Friedrich II. ein Mann von
kluger Sparsamkeit, ein Volkswirt im modernen
vergleichen, dass unsere Schätzung eine ebenso sub¬
jektive ist, wie die damalige der Zwischenhändler,
die einmal die Betrüger, ein andermal aber auch die
Betrogenen waren. Was Friedrich der Große für
seine sämtlichen Watteau’s, die echten und die
Schülerarbeiten, gezahlt hat, reicht nicht entfernt
an den Preis heran, den gegenwärtig nur das
Hauptbild der Gruppe, „die Einschiffung nach der
fiiiil' (iiistiiv Adolf V. liottei' und Hoiiic Xiclite. Clcitiiilde von A. Pesne.
FRIEDRICH DER GROSSE ALS KUNSTSAMMLER.
207
Insel CytLere“, auf einer öffentlichen Versteigerung
erreichen würde.
Besonders geringschätzig hat man über die von
Friedrich erworbenen großen Bilder aus der Ant-
werpener Schule geurteilt, die man, solange sie in
der Gemäldegalerie bei Sanssouci, im Neuen Palais
und im Berliner Schlosse hingen, schlechtweg als
Kopieen und Schülerarbeiten abgethan hat. Nachdem
sie aber durch die Ausstellungen in der Kunst¬
akademie erst in das richtige Licht gebracht worden
waren, nachdem man sich die Mühe genommen hat,
ihrem Ursprünge nachzuspüren, hat sich herausgestellt,
dass ein großer Teil dieser Bilder, namentlich einige
Rubens und van Dyck, nicht nur unzweifelhafte
Originale, sondern auch von hervorragendem kunst¬
geschichtlichen Interesse sind. Wir erinnern nur
au die sterbende Kleopatra von Rubens, die mit
einem im Kataloge seines Nachlasses fälschlich als
„sterbende Dido“ bezeichneten Bilde identisch ist.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die von
Friedrich dem Großen erworbenen Hauptbilder von
Rubens und van Dyck bei Begründung der könig¬
lichen Museen ihrer Gemäldegalerie überwiesen
worden sind. Beiläufig sei bemerkt, dass ein figuren¬
reiches, Rubens zugeschriebenes Gemälde im Neuen
Palais bei Potsdam, eine Anbetung der Könige, die
bisher noch auf keiner der öffentlichen Ausstellungen
erschienen ist, sich einer sehr vertrauenswürdigen Her¬
kunft erfreut. Es ist dasselbe Bild, das Rooses, der
seinen gegenwärtigen Aufbewahrungsort nicht an¬
gegeben hat, in B. I, Nr. 177 seines vortrefflichen
Rubenswerkes beschreibt. Nach seinen Ermittelungen
war der Antwerpener Buchdrucker Balthasar Moretus,
Rubens’ Freund, der erste Besitzer des Bildes, der
es doch vermutlich von Rubens selbst gekauft hat.
ln einem Inventar des Moretus’schen Geschäfts von
1658 wird es mit 600 Gulden berechnet. In der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaufte es ein
Brüsseler Goldschmied für 12 — 1400 Gulden. Um
1750 verkaufte es dessen Frau für 8000 Frank an
den Herzog von Tallard in Paris, und als dessen
Sammlung am 22. März 1756 versteigert wurde,
ging es für 7500 Frank in den Besitz Friedrich’s H.
über. Danach wäre eine gründliche Untersuchung
des Bildes wünschenswert.
Eine Sichtung der Ergebnisse der doppelten
Thätigkeit des großen Königs für die Förderung der
Künste, der Thätigkeit des Sammlers und der des
Landesfürsten, der künstlerische Kräfte für seine
großen Bauten aus dem Auslande heranzog und ein¬
heimische nach jenen bilden ließ, kann nur all¬
mählich erfolgen. Dr. Paul Seidel hat darum richtig
gehandelt, dass er aus dem umfangreichen Material
zuerst nur eine Gruppe, die dem Interesse der Kunst¬
sammler und Kunstfreunde unserer Zeit am nächsten
liegt, die Kunst der Rokokozeit herausgehoben und
zum Gegenstände eingehender Studien gemacht hat.
Nachdem er in dieser Zeitschrift, in dem „Jahrbuch
der königlich preußischen Kunstsammlungen“, in
den „Preußischen Jahrbüchern“ und in der „Gazette
des Beaux-Arts“ einige Vorläufer vorausgeschickt,
hat er Ende vorigen Jahres den ersten Teil seiner
Forschungen in einem monumentalen Prachtwerk
„Friedrich der Große und die französische Malerei
seiner Zeit“ zusammengefasst ^), in dem er sich in
litterarischer Beziehung eine vielleicht etwas zu große
Beschränkung auferlegt, dafür aber für eine überaus
reiche Veranschaulichung des künstlerischen Stoffes
gesorgt hat, was schließlich bei Publikationen dieser
Gattung die Hauptsache ist.
Das Werk fordert ein doppeltes Interesse heraus,
einerseits durch den in einer deutschen Veröffent¬
lichung bisher beispiellosen Reichtum an bildlichen
Beigaben im Texte und auf besonderen Tafeln, an¬
dererseits durch die bei der Reproduktion geübte
Technik, in der Albert Frisch das von ihm erfun¬
dene Verfahren des farbigen Lichtdrucks zum ersten¬
mal in umfangreichem Maßstabe angewendet hat.
Darüber, dass die Gemälde eines Watteau, Laueret,
Pater, Antoine Pesne und anderer gleicher Richtung
nur in einer farbigen Reproduktion zu ihrem Rechte
gelangen können, wird kaum ein Zweifel bestehen.
Nur über das dabei anzuwendende Maß der farbigen
Wirkungen kann mau verschiedener Meinung sein.
Frisch hat sich bei den Reproduktionen die höch¬
sten Ziele gesteckt. Er strebt, soweit es die ver¬
schiedenartige Technik überhaupt zulässt, direkt nach
einer Faksimilenachbildung, freilich bei verkleiner¬
tem Maßstabe, und es muss anerkannt werden, dass
er auf mehreren von den zwölf Farbentafeln des
Bandes dieses Ziel erreicht hat oder ihm doch sehr
nahe gekommen ist, so besonders auf dem Bilde der
Tänzerin Reggiani von A. Pesne, das wir in ein¬
fachem Lichtdruck wiedergeben (s. die Tafel), in der
1) Friedrich der Große, und die französische Malerei
seiner Zeit. Mit Genehmigung Seiner Majestät des Kaisers
und Königs herausgegeben von Dr. Pani Seidel, Kustos der
Kunstsammlungen des königlichen Hauses. GO Tafeln in
Lichtdruck, darunter 12 farbige, nebst zahlreichen Textillu¬
strationen nach den Gemälden im Besitz Sr. Majestät des
Kaisers und Königs von Albert Frisch. Berlin (1892), Verlag
von Albert Frisch. Fol.
20S
FRIEDRICH DER CROSSE ALS KUNSTSAMMLER.
Gruppe aus dem Bliudekuhspiel von Pater, die sogar
die eigentümliche Pinselführung des Künstlers, na¬
mentlich in den spitzen, vorsichtig hingetupften Lich¬
tern erkennen lässt, und in der Figur der anmutigen
kleinen Iris aus Watteau’s Gemälde „Der Tanz“.
Andere Farbendrucke sind noch minder gleichmäßig
geraten. Auf einigen hat der Fleischton einen zu
starken Stich ins Gelbliche erhalten, auf anderen
fügen sich einige Lokalfarben, insbesondere Blau
in einfachem Lichtdrucke ausgeführten Tafeln sowie
die dem Texte eingefügten Lichtdrucke sind fast
durchweg von höchster Vollendung, wovon unsere
danach angefertigten Holzschnitte und Zeichnungen,
das Bildnis des geistvollen Charles Etienne Jordan,
des Freundes des großen Königs, vielleicht die voll¬
endetste Bildnisschöpfung Antoine Pesne’s, desselben
Bildnis des Grafen Götter und seiner Tochter in
Pilgertracht und das als Sopraporte dienende Still-
Die Tiinzi'iiii nailiariiia. Geinälile von A. Pksne.
tmd Rosa, nicht diskret genug in die koloristische
Harmonie. Immerliin sind die hier vorliegenden Er¬
gebnisse dieser Reproduktionsmethode so erfreulich,
ilfi.ss man von ilirer weiteren Vervollkommnung, an
(h-r A. Frisch unablässig arbeitet, das Höchste er¬
warten darf. Inzwischen ist ihm schon eine wesent-
liche Vereinfachung des Druckverfalirens gelungen,
die zunäclist dessen Kostspieligkeit verringert, ohne
dabei die farbige Wirkung zu beeinträchtigen. Die
leben von Augustin Dubuisson eine Vorstellung
bieten. Noch zarter und duftiger im Ton sind einige
der Lichtdrucke im Text, von denen wir das Bild¬
nis der Tänzerin Barbarina mit dem phantasievoll
erfundenen Rokokorahmen wiedergeben.
Nicht bloß „Liebhaberei“, nicht ein „müßiger
Zeitvertreib“ , sondern ein „wirkliches Herzens¬
bedürfnis“ zog den großen König zu dem täglichen
Unmanffe mit den Werken der Kunst. Seidel citirt
O O
209
FRIEDRICH DER GROSSE ALS KUNSTSAMMLER.
zum Beweise dafür eine Stelle aus einem an Grimm
gerichteten Briefe desKönigs vom 26. September 1770,
aus einer Zeit also, wo der Held des siebenjährigen
Krieges die Widersprüche seines Charakters, die
Wechselfälle seiner Neigungen und die Stürme seines
zu verbreiten, so widme ich mich dieser Aufgabe
mit der ganzen Glut, der ich fähig bin, weil es in
dieser Welt kein wahres Glück ohne sie giebt.“ Man
könnte in diesen Worten vielleicht nur den Wider¬
hall jener von den französischen Philosophen und
Temperaments zu der ruhigen Harmonie des Welt¬
weisen von Sanssouci abgeklärt und ausgeglichen
hatte. „Ich habe seit meiner Kindheit die Künste,
die Litteratur und die Wissenschaften geliebt, schreibt
der König, und wenn ich dazu beitragen kann, sie
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F IV.
Schöngeistern des 18. Jahrhunderts gepredigten
Lehren zu hören vermeinen, die das letzte Ziel mensch¬
licher Glückseligkeit in dem mit allen Reizen der
Kunst geschmückten, raffinirtesten Genüsse des Da¬
seins erblickten, wenn nicht die zum Teil erst von
27
•210
FRIEDRICH DER GROSSE ALS KÜNSTSAMMLER
Seidel erschlossene Korrespondenz des Königs mit
seinen Agenten im Anslande den Beweis lieferte,
wie ernst es ihm mit der Kunst war, wie er bei
jedem Erwerbe, bei jeder Bestellung darauf bedacht
war, den Kunstgegenstand in Einklang mit seinen
Wohnzimmern zu bringen, wie er jedem Ankauf
selbst seinen Platz anwies, und wie streng und fein
zugleich er Kritik zu üben wusste, wenn einmal eine
Erwerbung den durch briefliche Berichte rege
gemachten Hoffnungen nicht entsprach oder wenn er
sich ühervorteilt glaubte.
Die Liehe für Watteau, Laueret, Pater und andere
französische Künstler der Rokokozeit scheint ihm, wie
Seidel wohl mit Recht vermntet, Antoine Pesne, der
selbst eine kleine Sammlung solcher Bilder besaß,
schon in der Rheinsberger Zeit eingeflößt zu haben,
und dieser Vorliebe blieb der König bis gegen die
Mitte der fünfziger Jahre des Jahrhunderts treu.
Sein Hauptagent in dieser ersten Periode seiner
Sammlerschaft war der preußische Gesandte in Paris,
Graf Rothenburg, aus dessen Briefen Seidel manche
interessante Mitteilungen macht. So z. B. aus einem
Briefe vom 30. März 1744, in dem Graf Rothenburg
dem Könige schreibt, dass er zwei Bilder von Laueret
(es sind „ das Moulinet “ und , die Gesellschaft
im Gartenpavillon“, jetzt im Stadtschlosse zu Pots¬
dam, gemeint) aus dem Nachlasse des verstorbenen
Prinzen von Carignan für 3000 Livre (750 preußische
'Phaler) gekauft habe, während der Prinz selbst dem
Maler dafür 10 000 Livres gezahlt hätte. Mehr als
nach Laueret drängte der König nach Bildern
^^'atteau’s, deren Beschaffung dem Gesandten die größte
Mühe machte, weil sie schon damals sehr selten
waren und in England hohe Preise erzielten. Noch
mehr erschwert wurde die Aufgabe des Agenten,
weil der König zur Ausschmückung seiner Bauten
in Potsdam und Umgegend gern große Bilder von
Watteau haben wollte, deren es doch nur äußerst
wenige gab. Als der Gesaiidte einmal schreibt, dass
ihm zwei Pendants von Watteau für 8000 Livres an-
geljoton worden seien, antwortet ihm Friedrich sofort,
dass er gut daran gethan habe, nicht abzuschließen,
da er den l’reis „exorbitant“ finde. Er wolle einen
„raisonnaheln Preis“ haben. Wie hier, ist auch in
späteren Jahren eine vernünftige Sparsamkeit der
oberste Grundsatz des königlichen Sammlers gewesen,
der nicht einmal geahnt hat, zu welch unschätz¬
barem Werte sich das von ihm in Kunstwerken an¬
gelegte Kajdtal im Laufe von 150 Jahren .steigern
würde.
Die französischen oder von Frankreich beein-
flus.sten Maler, die in den Kunstsammlungen Friedrich’s
des Großen vertreten sind, hat Seidel in zwei Gruppen
gesondert, deren erste die in Berlin zeitweilig oder
bis an ihr Lebensende thätig gewesenen französischen
Maler umfasst: Antoine Pesne, dessen in könig¬
lichem Besitz befindliche Hauptwerke, darunter auch
die feinen, ganz in der Art Watteau’s erdachten und
ausgeführten Schäferstücke „der Tanz im Freien“
und „das Konzert im Freien“ und als Probe seiner
dekorativen Malereien zwei mythologische Stücke
„Pan und Syrinx“ und ,,Vertumnus und Pomona“
reproduzirt werden, im ganzen 33, dann der schon
erwähnte Stilllebenmaler Augustin Dubuisson
(1700 - 1771), der schon in Rheinsberg für den Kron¬
prinzen Friedrich thätig gewesen war, und Charles
Amede Philipp van Loo, der 1748 in die Dienste
des Königs trat, um vornehmlich an Stelle des alt¬
gewordenen Pesne Decken- und Wandmalereien in
den Schlössern Friedrich’s auszuführen. Seine Haupt-
thätigkeit begann aber erst nach Beendigung des
siebenjährigen Krieges und dauerte bis 1769, wo er
wieder nach Paris zurückkehrte, weil ihm die Arbeit
unter der strengen Kontrolle des Königs von Preußen
nicht mehr hehagte.
Die zweite Abteilung des Seidel’schen Werkes
beschäftigt sich mit den französischen Malern, deren
Werke in der Sammlung Friedrich’s vertreten sind,
mit Watteau, von dem zehn seiner besten Bilder
ganz und aus ihnen noch mehrere Gruppen und
Einzelfiguren wiedergegeben sind, darunter die . Ein¬
schiffung zur Liebesinsel mit Gegenüberstellung der
im Louvre befindlichen Skizze zum lehrreichen Ver¬
gleich, dann mit Laueret, Pater, Chardin, Francois
und Jean Francois de Troy, F. Boucher und Antoine
und Charles Antoine Coypel. Trotz des knappen
Rahmens, den Seidel seinem Texte gezogen hat, hat
er doch neben den notwendigen geschichtlichen An¬
gaben noch den Raum für manche feinsinnige Be¬
obachtung, für manch einen neuen Zug scharf¬
blickender Charakterisirungskunst gefunden. Der
stattliche Folioband, der auch in seinem Einbande
den Kunstgeschmack des großen Königs wider¬
spiegelt, giebt uns jedoch nur ein Bild von der einen
Hälfte seiner der französischen Kunst des 18. Jahr¬
hunderts gewidmeten Neigungen. Voraussichtlich
wird uns ein zweiter Band in gleich opulenter Weise
einen Überblick über die von Friedrich 11. gesammelten
Schätze der französischen Plastik und des französischen
Kunstgewerbes geben, die nicht minder nach
Hunderttausenden von Frank geschätzt werden als
seine Bilderschätze.
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
'211
Ein Drittes bliebe dann noch zn tliun übrig,
um das Bild des königlichen Knnstsammlers so völlig
abzurunden, wie es viele andere Geschieh tscbreiber
mit dem Herrscher, dem Heerführer, dem Philo¬
sophen, dem Volkswirt, dem Landesvater und dem
Schriftsteller gethan haben. Nach der Mitte der
fünfziger Jahre wandte sich der Geschmack des
königlichen Sammlers, wie uns durch Briefe seiner
vertrauten Freunde und durch andere Zeugnisse aus
Akten und Rechnungen belegt wird, mehr der Ge¬
schichtsmalerei großen Stils zu. Es werden dabei
nebeneinander Rubens und Correggio genannt; aber
wichtiger als der Klatsch geheimer Korrespondenzen
sind die vorhandenen Denkmäler, die großen Gemälde
von Rubens, van Dyck, Snyders u. s. w. Der äußere
Vorwand zur Erwerbung dieser Gemälde wird in den
Korrespondenzen in dem Wunsche des Königs ge¬
funden, für die Ausschmückung seiner großen Räume
große Gemälde zu gewinnen. Sollte der Grund dieser
Geschmackswandlung nicht tiefer liegen? Sollte er
nicht im Zusammenhang mit der Wandlung im Cha¬
rakter des großen Königs stehen? Der Held von
Mollwitz und Hohenfriedberg hatte noch etwas von
einem Rokokokönig, dem der Verkehr mit Watteau,
Laueret und Pater zu den „petits plaisirs“ gehörte.
Als sich aber um die Mitte der fünfziger Jahre die
Charaktergestalt des einsamen Herrschers herauszu¬
bilden begann, der seinem Zeitalter seinen Namen
ffecreben hat, nahm auch seine Kunstliebe einen heroi-
sehen Ton an. Als er sich zu dem Kriege rüstete,
der sieben Jahre dauern sollte, war die Neigung
des jugendlichen Schwärmers von Rheinsberg nur
noch eine romantische Erinnerung, und als er 1763
heimkehrte, waren die großen Historienmaler, Rubens
an der Spitze, die Ideale seines Kunstgeschmacks.
Das Bild des königlichen Kunstsammlers würde also
erst vollständig werden, wenn auch dieser Teil seiner
Bestrebungen, in der Kunst den höchsten Genuss
seines Daseins zu suchen, eine würdige Darstellung
in Wort und Bild fände.
ADOLF L’OSENBFFG.
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
VON G HASSE.
(Schluss.)
ASS die Statue einen Jüng¬
ling darstellen soll, welcher
im Begriff steht Honig zu
naschen, darüber sind alle
Forscher bis auf Wilson
einig, welcher meint, er
habe bereits von dem Ge¬
genstände, den er in der
Hand hält, genossen, dagegen gehen die Ansichten
über die begleitenden und die vorangegangenen
Vorgänge weit auseinander.
Wilson meint, er mache den Eindruck, als
wolle er sich vorwärts bewegen, und sagt zugleich,
dass er sich mit einem Ausdruck von Ekel zurück¬
werfe. Bode dagegen betrachtet den Jüngling als
stehend und nur insoweit in Bewegung, als er die
Erhebung der rechten Hand mit dem honiggefüll¬
ten Hörnchen durch eine Bewegung seiner rechten
Körperseite nach links hin begleitet. Damit ist für
ihn das Vor und Nach in der Bewegung in glück¬
lichster Weise vereinigt. Henke beschäftigt sich
nicht ausdrücklich mit dieser von Bode hervor¬
gehobenen Bewegung, die doch wohl als eine
Drehung der rechten Körperhälfte nach vorne links
hinüber zu bezeichnen wäre, sondern macht beson¬
ders auf die ungewöhnliche Art der Wendung des
Oberkörpers über die Hüfte des Standbeines hin
aufmerksam und sucht in derselben das Bestreben,
den Körper vor dem etwa niederträufelnden Honig
zu schützen. Nach ihm ist also der Giovannino
nicht bloß der Honig naschende, sondern auch der
die Reinlichkeit anstrebende Jüngling, und diese
beiden im ganzen recht lobenswerten Thätigkeiten
gehen nebeneinander her. Während also bei Bode
Ruhe im unteren Teil des Körpers herrscht und
der obere in Bewegung ist, zeigt letzterer nach
Henke, welcher auch den Johannes als stehend an¬
nimmt, zwei Bewegungen.
Wie erklären sich nun zunächst die Wider¬
sprüche zwischen Wilson einer- und Bode, Henke
andererseits? In der That macht die Statue auf den
ersten Blick den Eindruck, als ob eine Vorwärts¬
bewegung stattfände. Das Spielbein ist nicht wie bei
dem gewöhnlichen Ruhen auf dem Standbeine leicht
27*
DER GIOVANNTNO DES MICHELANGELO.
•2 12
im Knie gebogen und etwas auswärts gedreht, mit
entsprechend gesenkter und auf der entgegen¬
gesetzten Seite gehobener Hüfte, sowie leicht Vor¬
gesetztem, gelten zurück gesetztem, nach außen
gedrehtem und abduzirtem Fuße und platt auf-
sresetzter Sohle oder leicht erhobener Ferse, sondern
dasselbe ist wie beim Gehen stark rückwärts
gewandt. Die Fußspitze berührt bloß den Boden,
während die Ferse hoch gehoben ist, gerade wie
beim Gehen, und dies mag wohl Wilson zu der
Annahme einer Vorwärtsbewegung gebracht haben.
Eine nähere Betrachtung lehrt nun aber, dass diese
Absicht dem Künstler fern liegen musste. Hätte er
eine Vorwärtsbewegung darstellen wollen, so hätte
er den Oberkörper nicht nach rechts und hinten hin
übergebogen, sondern er hätte ihm eine Neigung
nach links und vorne gegeben, denn beim Gehen
muss sich der Körper in der entgegengesetzten
Riclitung des schwebenden Beines bewegen, soll
nicht das Gleichgewicht verloren gehen oder un¬
nötiger Muskelaufwand zur Aufrechthaltung einer
unnatürlichen Stellung gemacht werden. Eine be¬
sondere Kraftentfaltung zur Aufrechthaltung einer
solchen für das Gehen unnatürlichen Stellung ist
an dem Körper der Statue nirgends zu entdecken,
und da nun außerdem das Bein für den gewöhn¬
lichen Gang zu weit abducirt und nach außen ge-
drelit erscheint, und da seine Muskulatur nicht
gespannt, sondern schlaft ist, so darf man auf Grund
seiner sonstigen genauen anatomischen Kenntnisse
dem Künstler wohl Zutrauen, dass er die Figur
stehend und nicht gehend bilden wollte. Immerhin
sielit man aber aus allen diesem, wie wenig klar
und ein lach die Haltung des unteren Teiles der
Statue ist.
Nun die dem Künstler zugeschriebenen Be¬
wegungen des obereji Körperteiles. Von vornherein
muss die Wilson’sche Ansicht, als drücke sich in der
Bewegung des Oberkör})ers ein Gefühl des Ekels
vor der genossenen Si)eise aus, von der Hand ge¬
wiesen werden. Wäre ein solches Ekelgefühl vor¬
handen, so mü.sste das im Mienenspiel sich aus-
drücken, und in diesem Gesichte sieht man davon
gar nichts, im Gegenteil. Das einzige, was zu
Gunsten die.ser Annahme angeführt werden könnte,
wäre die Biegung des Oberkörpers im Kreuze nach
hinten, allein dieselbe geschieht ohne besondere Kraft,
ohne Mnskelanstrengung, wie man leicht bei der Be¬
trachtung von hinten sieht. Somit kann es nicht
Whiuder nehmen, wenn keiner der s{)äteren Autoren auf
diese Wilson’sche Annahme zurückkommt. Es bleibt
also die Bewegung zum Genüsse des Honigs übrig,
welche in der erhobenen rechten Hand und in der
Drehung des Oberkörpers mit seiner rechten Seite
nach vorne, und in der Neigung des Kopfes und
Halses nach vorne erkannt werden kann.
Wie steht es nun aber mit der von Henke an¬
genommenen Bewegung, welche durch den lobens-
werthen Reinlichkeitssinn des Johannes hervorge¬
rufen ist? Ich gestehe, es ist mir unerfindlich, wie
zunächst das Betröpfeln aus dem Hörnchen durch
die an der Statue sich zeigende Wendung des Körpers
vermieden werden kann. Es ist richtig, durch die
Neigung des Oberkörpers in der Hüfte nach rechts,
durch das Nachlinksdrängen desselben bekommt
das Standbein die Richtung von oben außen nach
unten und innen, allein dadurch wird die Beschmutzung
des Beines nicht ohne weiteres vermieden. Es wäre
das nur dann der Fall, wenn das Hörnchen nach
außen von der senkrechten Ebene, welche man durch
die am weitesten nach außen links liegenden Punkte
des Körpers ziehen kann, stände, oder wenn es vor
sämtliche Punkte desselben gebracht wäre. Die' Mög¬
lichkeit dazu wäre in einer starken Drehung des
Körpers von rechts nach links, oder in einer starken
Vorwärtsneigung desselben gegeben, allein von allen
diesen Bewegungen ist entweder gar nichts vorhanden
oder die Bewegung ist wie die Drehung nach links
nicht so ausgiebig, dass die rechte Hand nach außen
vom Körper zu liegen kommt. Im Gegenteil, sie
steht vor der linken Brust, und dabei ist der Ober¬
körper noch nach rechts und seitwärts gebeugt und
nicht nach vorne, sondern nach hinten übergeneigt.
Man könnte somit eher an eine Beschmutzung des
Körpers durch den Inhalt des Hörnchens denken,
als an das Gegenteil. Günstiger liegen schon die
Dinge für die Henke’sche Annahme, was das Ab¬
tröpfeln von der Honigwabe betrifft. Diese, welche
nicht dicht der linken Hüfte anliegt, sondern ein
klein wenig von ihr abgehalten wird, kann bei der
vorhandenen Stellung und Biegung des Körpers
unmöglich das Bein beschmutzen, aber war damit
diese Stellung nötig? Ich meine, nein! Selbst beim
geraden aufrechten Stehen war eine Beschmutzung
des Beines ausgeschlossen, denn die Hüfte bildet
schon an und für sich den am weitesten nach außen
liegenden Teil der unteren Extremität, und zudem
hält Johannes die Wabe etwas vom Körper ab und
außerdem fast horizontal, so dass der Honig aus den
Zellen, soweit sie nicht von den Fingern berührt
werden, nicht abfließen kann.
Somit schließe ich mich Bode an, indem auch
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
ich meine, dass der Giovannino im Begriff ist,
stehend das Hörnchen zum Munde zu führen, und
dass er sich in jugendlicher Naschhaftigkeit des be¬
vorstehenden Genusses des fionigs freut.
Habe ich nun so aus der Haltung der Figur
das Motiv, den Grundgedanken, abgeleitet, so fragt
es sich jetzt, wie dieser Grundgedanke im einzelnen
durch geführt ist und inwieweit die Ausführung
den vorhin aufgestellten Forderungen entspricht,
und da lautet die Antwort; ,,Die Statue ist im Ganzen
und im Einzelnen geziert“, denn es finden sich un¬
nötige und über das Ebenmaß hinausgehende Be¬
wegungen und dem entsprechend Haltungen. Damit
trifft die ganze Figur von meinen im Eingänge scharf
und kurz entwickelten Gesichtspunkten aus ein
schwerer Tadel und das Schönheitsgefühl und Schön-
heitshedürfnis wird durch sie durchaus nicht voll be¬
friedigt. Springer, Grimm und vor allen Wölfflin, ja
selbst Bode haben bereits früher ihre Nichtbefriedigung
ausgedrückt, wenn dieselben auch zum Teil ihren
Tadel auf einzelne Abschnitte des Körpers, nament¬
lich auf den Kopf beschränkten, während Wilson
und in der neuesten Zeit Henke nur Worte zum
Teil überschwenglichen Lohes zu finden wissen,
ersterer ohne Einschränkung, letzterer mit dem Be¬
merken, dass einzelne Bewegungen ungewöhnliche
seien.
Geziert ist vor allen Dingen die Stellung des
rechten Beines, des sogenannten Spielbeines, und aus
dieser erklärt sich am besten die Haltung des größten
Teiles der übrigen Körperabschnitte.
Das rechte Bein ist innerhalb der natürlichen
Grenzen, aber zu stark abduzirt und nach außen ge¬
dreht, und der Künstler musste, um die starke
Beugung des Knies zu erreichen, infolgedessen
die rechte Hüfte stark senken und somit den Rumpf
kräftig nach rechts überneigen. Er erreichte damit
zu gleicher Zeit den Vorteil, dass die seitlich gestellte
Masse des rechten Beines nicht für sich allein steht
und störend in die Augen fällt, sondern dass das
Auge oben rechts noch eine weitere Masse findet.
Wie nun aber die Stellung des rechten Beines
über das gewöhnliche Maß hinausgeht, so auch die
Neigung des Rumpfes in der Hüfte nach rechts.
Wie schon Henke erwähnt, ist diese Stellung eine
ungewöhnliche, um ohne besondere Muskelanstren¬
gung das Gleichgewicht des Körpers aufrecht zu er¬
halten. Wird das eine Bein, wie das Spielbein der
Statue, seitwärts rechts von dem Körper entfernt,
so muss der Rumpf nach statischen Gesetzen regel¬
recht nach links hin abweichen. Hier findet sich
nun aber in den unteren Rumpfpartieen eine gleich¬
sinnige Neigung, und die Folge ist, dass bei dieser
ungünstigen Anordnung des Körpers für die Auf¬
rechterhaltung des Gleichgewichtes die über dem
unteren Rumpfabschnitte liegenden Körperpartieen
nach rechts übergebogen sein müssen, und da das
nur in einem ungenügenden Maße möglich, so musste
das ganze Becken nach rechts hinübergeschoben
werden. Daraus resultirte dann einfach die Schräg¬
stellung, die Stellung einwärts (Henke) des rechten
Beines. Alle diese Gleichgewichtsbewegungen be¬
dingen die gebrochenen, die Zickzacklinien, welche
ja den Forschern bereits aufgefallen sind, ohne dass
sie den Versuch gemacht haben, den Verlauf der¬
selben wissenschaftlich zu erklären.
Infolge dieser ungewöhnlichen Stellung, welche
allerdings den Eindruck jugendlicher Schlaffheit, aber
meiner Ansicht nach nicht gerade zu Gunsten der
Statue erhöht, ist vor allem über dieselbe eine
gewisse Unruhe gelagert, ein übermäßiges Bewegt¬
sein der Linien, und das ist eben das Gezierte in
der Figur.
Weiter aber bedingt die weit über das Maß
der Ruhe.stellung hinausgeheude Lage des linken
Beines nach hinten ein Vorschieben des unteren
Rumpfabschnittes und somit des Beckens, und da
aus statischen Gründen der obere Körperteil sich
nach hinten neigen musste, Kopf und Hals dann
wieder nach vorne, so entstand dadurch nicht bloß
die starke Einknickung im Kreuze, sondern es er¬
scheint damit auch in der Profilansicht die Zickzack¬
linie, welche von vorne so in die Augen fällt. So¬
mit i.st auch in dieser Ansicht eine über das Eben¬
maß hinau.sgehende Bewegung und Haltung, Unruhe
und Geziertheit.
Wie man sieht, sind alle diese Bewegungen nur
naturgemäße Folgerungen aus einander, die eine
musste die andere bedingen, wollte der Künstler
nicht die statischen Grundlagen seines Werkes preis¬
geben, und somit ein Werk schaffen, welches der
richtigen Körperstellung Hohn spricht. Allein es
finden sich auch unnötige Bewegungen, und dazu
gehört einmal die starke Drehung des Körpers nach
vorne links und dann die starke Beugung der rechten
Hand im Gelenk. Der Eindruck des Gezierten
wird dadurch meines Erachtens wesentlich erhöht,
und derselbe wird gewiss nicht gemindert durch
die Haltung der Finger derselben Hand. Allerdings
ist das Hörnchen zu klein, um mit der vollen Hand
gefasst zu werden, unnötig aber ist es dasselbe mit
sämtlichen Fingerspitzen fassen zu lassen oder sämt-
214
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
liehe Fingerspitzen an dasselbe zu legen. Es hätte
genügt, wenn der Honigbeliälter von den drei ersten
Fingern mit den Spitzen gefasst wurde, jedoch will
ich auf diesen Punkt kein übermäßig großes Gewicht
legen. Immerhin wäre es durch Anwendung eines
anderen Griffes möglich gewesen, das Hörnchen dem
Beschauer besser als solches vorzuführen, und ich
kann nicht anders als die besondere Spreizung des
kleinen Fingers auch als geziert zu erklären.
Und nun das Gesicht! W^enn ich auch absehe
von dem wuchtigen, an der Schläfe tief ausgehöhlten,
ja durchbohrten, sich tief auf den Nacken nieder¬
senkenden Gelock, welches dem Kopfe einen ent¬
schieden weibischen Charakter aufprägt, so entspricht
dies Mienenspiel nicht vollkommen dem Grundge¬
danken der Statue. In der weiten, viereckigen Mund¬
öffnung mit der sich vorstreckenden Zunge ist aller¬
dings Begehrlichkeit ausgedrückt, jedoch ebenfalls
über das Ebenmaß hinausgehend. Die Forderung
wäre aber doch wohl gerechtfertigt gewesen, dass
der Künstler der Begehrlichkeit dee Mundes einen
jugendfrohen, genussbegierigen Blick zugesellte,
allein das ist nicht der Fall. Der Blick ist aller¬
dings auf das Hörnchen gerichtet, aber er ist nicht
offen froh, sondern es liegt etwas in der ganzen
Lage nicht Begründetes, Schläfriges in demselben.
Das rührt daher, dass die Lidspalten schmal, dass
namentlich die oberen Lider stark gesenkt sind, vor
allen Dingen aber liegt der Grund darin, dass
namentlich das linke Auge wie bei eintretender
Schläfrigkeit etwas nach oben gerollt erscheint, und
dass somit das untere Lid den Augenstern nicht
übersclineidet. Dieser kommt etwas oberhalb des
Lidrandes zum Vorschein. Dieses Schläfrige, oder
wenn man lieber will Schwärmerische im Blick ist
nicht bloß geziert, ich meine, es ist auch unnatür¬
lich. Dabei zeigen sich im Gesichte besondere auf¬
fallende Scbönbeitsfehler. Unschön ist meines Er¬
achtens die große Breite des Untergesichts, besonders
in der Gegend der Kieferwinkel. Dadurch bekommt
das ganze Gesicht ein viereckiges Aussehen. Unschön
ist fernerliin die Modellirung der Lippen. Die
Lij)pen sind dünn, in ihren Grenzen schwach aus¬
geprägt und besonders die Unterlippe ist mit ihrer
mittleren V'ertiefung ungenügend ausgearbeitet.
Dies die Tliatsachen und ihre Begründung. Ich
bitte die Länge und vielleicht auch die Langweiligkeit
derselben dem Anatomen, dessen eigenstes Gebiet
notwendig betreten Averden mmsste, zu Gute zu hal¬
ten und sie mit der Notwendigkeit zu entschuldigen,
der ganzen Angelegenheit eine streng wissenschaft¬
liche Behandlung zu Teil werden zu lassen. Ich
komme jetzt zu der nächsten Frage: Kami dieses
Wet'lc eine Jugenda7'beit Michelangelo’ s sein? Ich meine
mit Milanesi, H. Grimm’ und Wölfflin: Nein!
Für dieses Urteil ist an erster Stelle die Dar¬
stellungsweise Michelangelo’s maßgebend, und diese
lässt sich ja zum Glück an Jugendwerken desselben
nachweisen.
Der Bacchus, welcher kurz nach dem Giovannino
entstanden ist, bietet das beste Vergleichsobjekt,
und als solches benutzen ihn ja auch die gegnerischen
Autoren.
An der Statue des Bacchus findet sich keine
einzige überflüssige, sich nicht aus dem Motiv und
aus der augenblicklichen Lage ergebende Bewegung,
ja, es ist keine einzige vorhanden, welche das Maß
des in der Situation Liegenden, das Maßvolle über¬
schritte. Keinen Augenblick ist man zweifelhaft,
welchen Gedanken der Künstler ausdrücken wollte.
Das Motiv wird nicht gestört, vermindert und ver¬
dunkelt durch eine über die Figur ausgebreitete Un¬
ruhe in der Linienführung, eine Unruhe, welche sich
auf das Denken und die Betrachtung des Beschauers
uuAvillkürlich überträgt. Nicht mühsam hat man
sich, wie beim Giovannino, zum Gedanken durchzu¬
winden, sondern derselbe bietet sich von vornherein
als feste Stütze, mittelst der man allmählich sicher
zur Würdigung der Einzelheiten geführt wird. Ich
will die Frage nach dem ästhetischen Wert der
Statue nicht weitläufig erörtern. Es lässt sich ja
darüber streiten, wie sich auch darüber streiten
lässt, ob ein schlafender, wie der Barberini’sche Faun
in München, ästhetisch wertvoller ist, als ein einher¬
taumelnder Trunkener. Auch will ich bei dieser
Gelegenheit die Frage nicht eingehend behandeln,
ob die Ausbildung der einzelnen Formen den An¬
sprüchen an Schönheit genügt, ich möchte diese
Frage bei diesem Jugendwerke Michelangelo’s nicht
ohne weiteres bejahen, aber das ist sicher, aus oben
genannten Gründen überragt der Bacchus den Gio¬
vannino so weit, wie z. B. der Hermes des Praxiteles
irgend eine spätrömische Statue überragt.
Den Blick in seliger Vergessenheit der vollen
Schale zugekehrt, hebt er, in der Trunkenheit nicht
mehr die Größe des Kraftaufwandes seiner Muskeln
zur Erreichung des bestimmten Zweckes ermessend,
dieselbe über die Höhe des Mundes hinaus. Dabei
sind Zweifel und Begierde nach dem Trünke
in maßvollster Weise im Gesichte ausgedrückt.
Er taumelt vorAvärts und vermag auch nicht mehr
die Bewegung seines Spielbeines in den natür-
DER GIOVANNINO DES MICHELANGELO.
215
liehen Schranken zu halten. Der Oberkörper fällt
nach hinten über und wird durch Vornüberheugen
des oberen Abschnittes in seinem Falle aufgehalten.
Um das Gleichgewicht dann weiter so viel wie mög¬
lich in der einfachsten, natürlichsten Weise zu sichern,
ist der Körper nach der Seite des Standbeines über¬
geneigt dargestellt, während das Spielbein in trun¬
kener Vergessenheit stark ahduzirt, auswärts gedreht
und etwas erhoben erscheint. Das Knie ist dabei ge¬
beugt, der Fuß auf den Zehenspitzen erhoben. Die
schlatfe Haltung lässt kaum erwarten, dass er im
nächsten Augenblick das Standbein zu wechseln im
stände sein wird und das Gleichgewicht aufrecht zu
erhalten vermag. Er steht da, das vollendete Bild
eines Trunkenen, aber eines Trunkenen rieht aus
Gewohnheit, sondern aus üherschäumendem Jugend¬
mut, in einer Haltung, welche den Blick wohl fesselt,
aber nicht beleidigt. Er versöhnt mit dem unge¬
wöhnlichen Zustand, in dem er sich befindet, und
nötigt dem Beschauer eher ein Lächeln, als einen
Ausruf des Bedauerns ah. Jeder Zug ist dem Leben
abgelauscht und verfeinert, aber nicht geziert dar¬
gestellt.
Wie ganz anders der Giovannino, und wie scharf
würde dieser Gegensatz hervortreten, wenn man ihn,
sei es unter die Originale in Florenz, sei es unter
die Gipsabgüsse der echten Werke Michelangelo’s,
wie es für das Berliner Museum naturgemäß wäre,
stellen würde.
Angesichts eines Werkes wie des Bacchus kann
man nicht annehmen, dass Michelangelo kurz vorher
den durchaus anders gearteten Giovannino schuf,
um so weniger, weil wir bei keiner der nachfolgen¬
den Einzelstatuen des Michelangelo und selbst bei
den früheren, wie dem Cupido, auch nur einen leisen
Anklang an die Darstellungsweise im Giovannino
finden. Auch bei ihnen ist das Ebenmaß, das Natür¬
liche in Haltung und Bewegung durchaus gewahrt.
Ich kann nun die Bacchusstatue nicht verlassen,
ohne auf die Bildung des Gesichtes und vor allem
auch des Mundes näher einzugehen. Das Unter¬
gesicht ist schmal, die Haarfülle gegenüber dem
Giovannino gemäßigt, das Mienenspiel und der Blick
entspricht der Lage und ist nicht wie bei dem Jo¬
hannes mit einem anderen, nicht dem Gedanken
entsprechenden Ausdruck verbunden, und schließlich
meine ich, wer einen solchen Mund wie bei dem
Bacchus schuf, der konnte unmöglich kurz vorher
einen Mund wie den des Giovannino bilden.
Bei dem Bacchus ist die Mundöffnung in den
Winkeln schmäler wie in der Mitte. Die obere
Begrenzung derselben erscheint nicht parallel der
unteren, sondern gegenüber der mehr horizontalen
Unterlippe erhebt sich die obere in der Mitte und
senkt sich nach den Seiten abwärts, und dieser
Wechsel in den Linien, welcher durchaus dem beab¬
sichtigten Eindruck der Begehrlichkeit nach Genuss
entspricht, wird dann weiter gefördert durch das
scharfe Ausprägen der Plastik der hier viel mehr
wie bei dem Johannes schwellenden Lippen. Niemals
hat Michelangelo einen solchen Mund wie den des
Giovannino gebildet. Es bleibt also nichts, was für
diesen Meister spräche, als die schildförmige Brust¬
warze, und ich muss gestehen, dass ich diese eigen¬
tümliche Form nicht in der Schärfe ausgeprägt finde,
um dieselbe als entscheidendes Merkmal für die Ur¬
heberschaft des Michelangelo zu verwerten.
Auch die Kolossalstatue des David ist nament¬
lich von Henke zum Vergleich mit dem Giovannino
herangezogen worden. Allein, was für den Bacchus
gilt, das gilt auch für den David, welcher meines
Erachtens durch die feinere Modellirung des Körpers
den Bacchus übertrifft und damit das Wachsen der
anatomischen Kenntnisse seines Meisters bekundet.
Im übrigen ist auch bei ihm in Haltung und Be¬
wegung sowohl das Zuviel, als das Zuwenig durch¬
aus vermieden, und klar und einfach tritt auch bei
ihm der Grundgedanke dem Beschauer entgegen.
Die Schleuder gleichsam in seinen Händen wie¬
gend, das linke Bein leicht vorgestützt und demnach
der Körper leicht nach rechts und hinten übergebogen,
die Ferse des linken Fußes gehoben, so beobachtet er
mit der gespanntesten Aufmerksamkeit und zugleich
mit Zorn im Blick den von links her kommenden
Feind und dreht demselben seine schmale Seite zu.
Damit ist zugleich eine Stellung geschaffen, um in der
zweckmäßigsten Weise die Kraft abzumessen, welche
nötig sein wird, damit der mit der Schleuder ge¬
worfene Stein sein Ziel erreiche. Es ist genau die
Stellung, wie man sie so oft beim Schlagballspiel
sehen kann, wenn der Spieler den Ball an das
Schlagbrett legt, um im nächsten Augenblicke mit
abgemessener Kraft den Schlag zu führen.
Ist es mir nun somit nicht möglich, den Gio¬
vannino als Werk des Michelangelo anzuerkennen,
so fragt es sich, welchem Meister dasselbe zukommt,
und wenn sich das nicht bestimmen lässt, zu welcher
Zeit dasselbe geschaffen wurde. Milanesi spricht es
klar und deutlich aus, dass es ein Werk des Matteo
Civitale sei, und Bode und Henke weisen darauf
hin, dass, wenn man die Urheberschaft des Michel¬
angelo nicht anerkennen wolle, man doch wohl ge-
216
KLEINE MITTEILUNGEN.
nötigt sei, denselben, sei es dem Donatello, sei es
dem Yerroccbio, zuznschreiben, eine Notwendigkeit,
'welche Wülfflin freilich nicht anerkennt, sondern
dieser Forscher spricht seine Überzeugung dahin aus,
dass es sich um ein Werk des 16. Jahrhunderts handle.
Meine Kenntnisse und Erfahrungen reichen nicht
so weit, dass ich Angaben darüber machen könnte,
ob die besondere Marmorart, welche von Michel¬
angelo oft verwandt worden sein soll, und aus welcher
nach Bode der Giovannino verfertigt ist, noch in
späterer Zeit gebrochen und verwandt wurde oder nicht.
Demnach bin ich zur Zeit außer stände, die Urheber¬
schaft irgend eines der Vorgänger des großen floren-
tiner Meisters, am wenigsten die des Donatello
wahrscheinlich zu machen. Soweit mein Vergleichs¬
material reichte, vermochte ich nur festzustellen, dass
ein solcher Grad von Geziertheit, wie er dem Gio¬
vannino eigentümlich ist, bei keinem der Quattro¬
centisten vorkommt, am wenigsten bei Donatello,
auch nicht bei Civitale. Am ehesten ließe sich noch
an Verrocchio denken, dessen David auf den ersten
Blick manche dem Giovannino verwandte Züge zeigt.
Das gilt namentlich auch für die Bildung und Aus¬
arbeitung des Haares, welches jedoch dem Gesichte
keinen weibischen Charakter verleiht, ferner für die gute
Darstellung der jugendlichen, eckigen Formen mit
dem langen, schlanken Halse, allein ich bin bei ein¬
gehenderer Betrachtung immer wieder von dem Ge¬
danken an Verrocchio zurückgekommen. Klar und
ruhig ist das Motiv des siegreichen Knaben durch -
geführt. Die Haltung des Kopfes und des Körpers
zeigt in keiner Weise ein Übermaß, selbst nicht das
an der einen Darstellung neben dem Haupte des
Goliath stehende Bein, welches an der Replik im
Bargello in derselben Weise frei steht, da der Kopf
des Goliath bei dieser neben dem Standbeine liegt.
Die Stellung des Spielbeines , die bei der ersten
Statue allein schon durch die Lage des Hauptes vor
und zwischen den Beinen bedingt ist, erhöht sogar
den Eindruck des Sieghaften, Triumphirenden, na¬
mentlich da die statischen Verhältnisse (Überneigen
des Rumpfes an der Seite des Standbeines) außer¬
ordentlich einfache sind. Man könnte mir nun frei¬
lich entgegenhalten, dass es sich wohl um eine
Jugendarbeit dieses Meisters handle. Dagegen ist
aber wiederum zu sagen, dass der Giovannino eine
so tief eingehende Kenntnis des Baues des mensch¬
lichen Körpers und ein solches Raffinement in der
Technik verrät, dass an ein Jugendwerk irgend eines
Meisters überhaupt nicht zu denken ist. Man hat das
Werk als die Frucht eines sehr gereiften Könnens
anzusehen, und da bietet sich nur die einzige Mög¬
lichkeit, den Giovannino in ein späteres, der Geziert¬
heit huldigendes Jahrhundert zu setzen.
KLEINE MITTEILUNGEN.
— Das Blatt, welches wir den Lesern heute bieten, stammt
aus dem I’rachtwerke: „Potsdam, ein deutscher Fürstensitz“,
das im Verlage von Amsler & Riithardt in Berlin kürzlich er¬
schienen ist. Dasselbe enthält auf 30 Blättern eine Aus¬
wahl der schönsten und malerischesten Punkte, welche die von
der Natur und der Kunst so reich bedachte Residenzstadt
der 1 lohenzollern in reicher Fülle bietet. Die photographi¬
schen Aufnahmen stammen von Otto Rau, die einzelnen
Punkte sind mit künstlerischem Verständnis ausgewählt wor¬
den; die Heliogravüren sind in der bekannten Anstalt von
.Meisenhach, lüllärtli <& Co. in Berlin vortrefflich ausgeführt.
Potsdam, das Kleinod im märkischen Sande, bietet des
Schönen so viel, dass eine Auswahl schwer wird, und wer
den Ort genau kennt, wird noch viele Punkte finden, die
wohl auch wert wären, in die Sammlung mit aufgenommen
zu werden. Doch wenn man die ganze Folge durchblättert,
wird man <lem Künstler im allgemeinen zugeben müssen,
da.ss er die richtige Auswahl gctrolfen hat. Er führt uns
erst in die Stadt, wo das Schloss und die Garnisonkirche
als hervorragendste Vertreter der Kunst, in letzterer die
firuft E’riedrich’s des Grollen, als weihevolle Stätte für jedes
PreuP.enherz, uns vor Augen geführt werden. Dann wandern
wir nach Sanssouci hinaus, besuchen die Friedenskirche, die
Gruft Kaiser Friedrich’s III. und genießen die Schönheiten
des Parkes in allen seinen Teilen, die alten Baumriesen des
eigentlichen Saussouciparks und die neuen Anlagen des
Sicilianischen Gartens unterhalb des Orangeriegebäudes. Von
wahrhaft bestrickendem Reiz ist die alte holländische Mühle
beim Mondenschein, ein wundervolles Bild die Dresdener
Vase. Weiter geht es nach dem Neuen Palais, dem Sommer¬
sitz unseres Kaiserpaares, auf das uns ein wundervoller Blick
durch das Kolonnadenportal der Communs geboten wird, und
nach Charlottenhof, der idyllischen Schöpfung Friedrich Wil-
helm’s IV. Nun wendet sich der Künstler dem Osten zu.
Das Marmorpalais, das verwunschene Schloss der Zauber¬
märchen, an das sich allerhand Spuk und Sage knüpft, bieten
wir unseren Lesern in vortrefflichem Abdruck. Ein feiner
Dunst steigt aus dem Wasser des heiligen Sees, der die Fun¬
damente des Schlosses bespült, empor und hüllt das Ganze
in leichten Nebel. Dann erblicken wir die weiten Flächen
des .Jungfernsees und wandern nach Glienicke und Babels¬
berg, von dessen Schloss uns ein vortreffliches Bild gegeben
wird, und enden unsern Weg bei der Heilandskirche in
Sakrow.
Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
OUo Rau. phol. 1892.
Meisenbach.Riffarth & Co.,Beplin.2rav.
MARMORPALAIS,
Verlag von Amsler a. Rulhardt in Berlin.
Schlf)ss zu OfFenl)acli; Detail der Südfront 1572.
'Nafh K. fi. 0. Fritsch; Denkmäler deutscher Renaissance.)
r
Fig. 1. Merian; Offenbacli. (Aus der Topogr. Hassiae 1646.)
DAS SCHLOSS ZU OFFENBACH AM MAIN.
VON JOHANNES RICHTER.
MIT ABBILDUNGEN.
U DEN schon, steu Kunstschö-
pfungen clerRenaissance, nicht
nur des an stilvollen und
wichtigen Baudenkmälern rei¬
chen Groliherzogtums Hes¬
sen, sondern wohl ganz
Deutschlands, gehört das
prächtige Schloss des Fürsten
Isenburg-Birstein zu Offenbach am Main. Neben der
ehedem einzigen Fährstelle über den Main gelegen
und somit in belebter Gegend erbaut, hat das Schloss
schon in diesem Punkte einen Wandel erfahren.
Denn seit Anlage der Eisenbahn und insbesondere
der neuen steinernen Brücke mainabwärts ist es
recht stille um den Platz geworden, den das
Kleinod eines an hervorragenden Denkmälern reichen
Kunstabschnittes ziert, und mit der Übersiedlung
der fürstlichen Herrschaft nach Birstein hat der
Sitz seine frühere Bedeutung völlig eingebüßt. Heute
wohnen Leute geringeren Standes in den Räumen, die
weiland Graf Reinhard von Isenburg als „ein
lustiges, bequemes Lager“ bezeichnete und trotz
schweren, in diesen Mauern erfahrenen Missgeschickes
über alles liebte. Ruhig fließt der Main daran vorbei,
jetzt durch ansehnliche Dammbauten von dem Schlosse
auf etwa hundert Meter ferngehalten, damals noch
ein allernächster, aber nicht sonderlich friedsamer
Nachbar, denn er suchte mit seinen trüben Wogen
gar oft das Gebäude heim, wenn er aus den blauen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
Spessarthöhen in jedem Lenze die Schneeschmelze
hinabtrug ins flache Land, wovon aus fünf Jahr¬
hunderten noch heute Gedenksteine in der Mauer des
Bogenganges eindringlich zu uns sprechen. Deshalb
ist auch die dem Flusse und dem rauhen Nprd zu¬
gekehrte Seite ein fast trutziger, winterlicher Bau,
die Südreihe aber eine sommerliche Halle und
reizende Bildwerkfläche.
Wenn es die nachfolgenden Zeilen unternehmen,
ein Bild von der vornehmen Erscheinung des Schlos¬
ses zu entrollen, so ist sich der Verfasser wohl be¬
wusst, nur in den Nebensachen einzelnes Neue
bieten zu können. Denn die Kunstgeschichte und
einige tüchtige Abhandlungen in Zeitschriften und
Sonderwerken haben uns mit dem Gesamtbilde
schon bekannt gemacht. So eingehend Lübke in
seiner Geschichte der Renaissance in Deutschland
das Oftenbacher Schloss behandelt, gerechter ist
er ihm noch in einer kleinen Plauderei in der
Augsburger Allgemeinen Zeitung geworden, von
der uns ein Nachdruck der Frankfurter Süddeut¬
schen Zeitung vom 24. Februar 1863 vorliegt. Da
spiegelt sich der ihm wohl soeben gewordene Ein¬
druck mit voller Wärme wieder. Er berichtet hier
im Ton gerechtfertigter Entdeckerfreude*) u. a.:
1) Das Schloss war vorher fast nur in dem wenig ver¬
breiteten Werke „Städte und Gegenden zwischen Rhein, Main
und Neckar“ von J. H. Ludewig 1853 eingehend gewürdigt
28
Ansicht der Südseite des Schlosses zu Otl'eiihach. (Aus Ortweiu; l'eutsche Iveiiaissance.)
DAS SCHLOSS ZU OFFENBACH AM MAIN.
219
„Dieses Schloss gehört zu den zierlichsten
Bauwerken der Renaissancezeit, die wir in Deutsch¬
land besitzen. Ja, an Grazie und Feinheit der Aus¬
führung in den ornamentalen Teilen sucht es dies-
seits der Alpen seines Gleichen. In der Austeilung
und Anordnung herrscht der klare Sinn eines
Meisters architektonischer Komposition. Die Aus¬
führung gehört zum Elegantesten, Zierlichsten, was
bei uns der Meißel in solchen Dingen je hervorge¬
bracht. Die Zartheit der Ornamentik übertriflft iveit-
aus die des gleichzeitigen Otto-Heinrich-Baues zu
Heidelberg, dem sonst das Offenbacher Schloss am
nächsten steht. Das Heidelberger Schloss hat etwas
Herrisches; das Offenbacher Schloss ist eine anziehende
Idylle in Stein. Es ist ein kleines
Meisterstück von Grazie.“
Was nun den Schluss der er¬
wähnten Schilderung, sowie des
Aufsatzes von Manchot und An¬
deren bildet, ist auch der End¬
zweck der vorliegenden Mit¬
teilungen: „Sie wünschen die
Aufmerksamkeit auf das zierliche
Bauwerk zu lenken, es der Scho¬
nung, der Sorgfalt, dem Respekt
derer zu empfehlen, die ein
nächstes Interesse an seiner wür¬
digen Erhaltung haben.“ Dieser
nächste Anspruch liegt in der
That für jeden Kunstfreund vor
und insbesondere obliegt die
Wachsamkeit, ja die thatkräftige
Schutznahmeden hessischen Alter¬
tumsvereinen. Möchten sie sich
dieser Pflicht voll bewusst sein,
um das zu retten, was noch vor¬
handen ist!
Von den Bahnhöfen 15 — 20 Minuten entfernt,
steht das herrliche Schloss verwahrlost und im lang¬
samen Verfalle trauernd da. Auf weitem, freiem
worden, da frühere Schriftsteller die künstlerische Bedeutung
des Schlosses in ihren Berichten nur nebenher erwähnten.
Nach Lübke hat Architekt Manchot 1867 einen schönen
Aufsatz mit 8 Tafeln Abbildungen in Förster’s Allgemeiner Bau¬
zeitung, Wien, veröfi'entlicht und 1884 Baumeister C. Braun
in der Münchener Zeitschrift für Baukunde es ihm mit
3 guten Tafeln und kurzem Texte über den westlichen Trep¬
penturm und die untere Halle nachgethan. In dem treff¬
lichen Buche „Kunstdenkmäler im Großherzogtum Hessen,
Provinz Starkenburg, Kreis Offenbach“, hat 1885 Dr. Georg
Schaefer eine längere, gründliche Arbeit über den Bau nieder¬
gelegt,
Platze eröffnet sich uns der wundervolle Hallenbau,
dessen Pracht früher wohl noch gewaltiger zum Be¬
schauer sprach, als der engere Schlosshof das Ge¬
samtbild noch begrenzte.
Gehen wir auf die Geschichte des Baues ein, so
erheischt schon die Spärlichkeit der Nachrichten
eine bündige Kürze. Wir entnehmen das Mit¬
zuteilende der „Geschichte des reichsständischen
Hauses Isenburg -Büdingen“ von G. Simon. 1865.
Im Jahre 1356 wird Offenbach erstmals als Besitz
Derer von Falkenstein erwähnt, die ihn 1372 der
Stadt Frankfurt um 1000 Gulden verpfändeten. Da
König Wenzel 1398 dem Schlosse den Mainzoll be¬
willigte und die Zollstraße am heutigen Schloss¬
plätze vorbeiführte, so werden
wir mit Grund um diese Zeit
schon eine Herrenburg hier ver¬
muten dürfen. Von 1418 an am
Schlosse als Miteigentümer be¬
teiligt, trat 1486 daslsenburg’sche
Geschlecht in den Alleinbesitz
ein. Im Jahre 1556 wird das
Schloss als alt und baufällig be¬
zeichnet und sein neuer Besitzer,
der kunstsinnige und unterneh¬
mende Graf Reinhard von Isen¬
burg — ein Mann, dessen ganzes
Leben ihn als Vorl)ild fürstlicher
Tugenden, unermüdlicher Arbeit¬
samkeit und einträchtiger Liebe
zu seinen Brüdern erscheinen
lässt und dessen vornehme Geistes¬
richtung aus seinem Briefwechsel
mit Philipp Melanchthon erhellt
— veranlasste einen Neubau, bei
dem wohl die Grundmauern und
das Erdgeschoss im großen und
ganzen geschont blieben. Denn nur so erklärt
sich die heutige Gestalt dieser Räume und ferner
der Umstand, dass der Graf schon in kurzer Zeit
das neue Schloss zu bewohnen vermochte. Doch
waltete kein günstiger Stern über dem Bau; denn
schon 1564 zerstörte der Blitz den Oberteil der
Anlage bis auf die Nordseite. Graf Reinhard hatte
zum zweitenmal seine ßaulust zu erproben und
er ging ungesäumt ans Werk. Das Unglück barg
nun auch ein Glück für ihn im Schoß, denn er
fand einen Baumeister, der mit so warmem Verständ¬
nis und solchem Gedankenreichtum begabt war, dass
Fürst und Künstler sich hier ein bleibendes Denk¬
mal errichtet haben. Kennen wir den Namen des
Fig. 4. Käinpfei’steiu am Schlosse in Offeiibacli.
28*
220
DAS SCHLOSS ZU OFFENBACH AM MAIN.
Bauroeistei's auch nicht, so stehen wir doch begeistert
vor dem herrlichen Werke, das uns noch um so
größere Ehrfurcht abringt, wenn wir die hinder¬
liche Mitverwen¬
dung des alten Un¬
terbaues und der
Nordseite berück¬
sichtigen. Dem
Grafen Reinhard
war es nicht mehr
heschieden, die
Freude seines Le¬
bens, den Schloss¬
bau , vollendet zu
sehen; Ende 1568
starb er im fünfzig¬
sten Lebensjahre.
Es war seinem Bru¬
der Ludwiglll. Vor¬
behalten, die letzte
Hand an die Aus¬
schmückung zu
legen und 1570 die
noch jetzt erhalte¬
nen zweistöckigen
offenen Säulen¬
gänge mit den
Wa[)pen der ihm
verwandten Häuser
anzufügen.
Die am Ge-
wölheschlussstein
des westlichen Er¬
kers der Maiuseite
ersichtliche Jahres¬
zahl 157S kann uns
darüber aufklären,
wann ungefähr die
letzten Ihiuarheiten
beendigt waren. J)ie
Ausführung und
Vollendung des
Gaues fielen hier¬
nach in die Blüte¬
zeit der deutschen
Benaissauce.
Der Grundriss
des Schlosses zeigt uns ein langgestrecktes, ziem¬
lich schmales Rechteck, im Süden von zwei vor-
.'])ringenden achteckigen Treppentürmen während
im Norden die zwei runden Ecktürme, welche in
I I I | . d— t— |-
Fif; b. I’ortal am östlic)icn Treppenturm im Schlosse zu Offenbach.
(Aus Schaefcr: Kunstdeukmälor des Kreises Offeubach. Darmstadt, A. Bergstraesser.)
ihrer Achsenrichtung von den südlichen Türmen ab¬
weichen, nur halb aus der Grundmauer herausragen.
Diese beiden Sonderbarkeiten der nördlichen Türme
lassen vielleicht
darauf schließen,
dass ihr Grund¬
bau und Unterteil
aus der früheren
Burg unverändert
in das neue Schloss
mit herübergenom¬
men wurden, ob¬
wohl letzteres in
der Schmalseite
eine Verbreiterung
erfuhr , die Nord¬
seite ziert in ihrer
Mitte ein vomGrund
bis zum Oberge¬
schoss geführter
rechtwinkeliger
Erker. Die süd¬
lichen Türme ent¬
halten die Wendel¬
treppen und sind
in der Breite ihrer
Vorlagerung vor
dem Schlosskörper
durch herrliche
offene Säulengänge
verbunden. Das ist
es, was dem Bau
in der Kunstge¬
schichte einen der
ersten Plätze unter
den Schlossanlagen
sichert, und ihm
wollen wir zu¬
nächst uns zuwen¬
den.
Der schöne rote
Sandstein , dessen
warmer Ton dem
Auge so wohlbe-
hagt, wurde zum
Bau der offenen
Halle verwendet.
IM.
Auf sieben mächtige, rechtwinkeiige Pfeiler stützt
sich dieselbe. Sie gehen in stolzer Höhe in Rund¬
bogen über, die ihrerseits die Gänge der beiden oberen
Geschosse tragen. Der Schmuck der uuteren Pfeiler
DAS SCHLOSS ZU OFFENBACH AM MAIN.
221
besteht in dem schönen, hohen Sockel, dessen Rahmen
je ein Löwenhaupt, abwechselnd mit und ohne Ring
im Rachen, in kräftiger Ausmeißelung
umschließt. Die zottige Mähne erhöht
den Eindruck. Über dem Sockel sind
den Pfeilern anmutige ionische, sieben¬
fach kannelirte Pilaster vorgelegt,
deren Fuß in attischer Form gebildet
wird und deren Knäufe unter den
leichten, auch seitwärts mit Einker¬
bungen verzierten Schnecken in reicher
Abwechselung schöne, flach gearbeitete
Akanthusblätter oder sonstiges Blatt¬
werk mit Fratzenköpfen, Putten oder
kleinen Tiergestalten zeigen. In den
Bogenzwickeln sind zumeist Metall-
beschlägmuster verwendet, die in ihrer
großen Mannigfaltigkeit eine Muster¬
sammlung für den Kunsthandwerker
in sich bergen. Kräftige Blumen- oder
Fruchtgewinde, von Kindern gehalten
oder um seltsame Fratzen gerahmt,
dienen als weiterer Schmuck. Aber
selbst die Innenseite der Bögen ward
wenigstens zum Teil für die Aus¬
schmückung herangezogen, denn an
vieren derselben gewahren wir im
Scheitelpunkte buntbemalte, steinge¬
meißelte, männliche und weibliche Por¬
trätköpfe, einzelne derselben von einem
Kränzchen umfasst. Es ist kein
Zweifel, dass wir es bei denselben
mit Schlusssteinen aus dem gotischen
Bau zu thun haben; sie wurden in
der neuen Anlage mitverwendet, weil
sie vermutlich Ahnenbildnisse sind.
An der westlichen Abschlussstelle der
Halle stützt sich der Bogen nur auf
einen schmalen, kurzen Wandpfeiler
mit drei Hohlkehlen. Dieser ruht auf
einem Kragstein, der seither noch
nicht in genügender Weise abgebildet
und hervorgehoben worden ist. Aus
der an der Seite schneckenartig ge¬
wundenen Rolle, welche den Kragstein
bildet, tritt frei eine männliche Büste
heraus, unbestreitbar die bedeutendste
Kunstleistung des Bildhauers am
Schlosse. Es ist ein vorzüglicher
Porträtkopf mit schön gelocktem Haare, hoher, fal¬
tiger Stirne, strengen, klugen Augen und einem
Fig. 6. Wendelstiege im Schlosse
zu Oifenhach.
(Aus Schaefer: Kunstdenkmäler.)
gewaltigen Barte. Ein in leichte Falten gelegtes
Tuch ist über seine Brust geschlungen und an dem
Kämpferstein durch Knotung festge¬
halten. So weit das Tuch die Brust
freilässt, sehen wir eine abwechselnd
mit dem Dreiblatt und Vierblatt-Klee
gemusterte Bekleidung, die vermut¬
lich die Ciselirung des Panzers aus¬
drückt. Wäre es dies nicht, so wür¬
den wir vielleicht das Bildnis des
Steinmetzen vor uns haben, so aber
liegt der Gedanke an das Porträt des
Grafen Reinhard nahe. Da der Bruder
des Grafen erst 1569 die Erbschaft
des Schlosses antrat und bis dahin
im geistlichen Stande gelebt hatte,
auch dann sich wenig um die Dinge
außer seinen Mauern sorgte, wird er
für diese Büste kaum in Anspruch
genommen werden können. Der Kopf
befindet sich neben der Pforte zur
Herrentreppe, was uns die Anbringung
des Bildnisses des Erbauers gerade
an diesem Orte ebenfalls erklärlich
macht, da er hierdurch gewisser¬
maßen seinen Nachkommen im Ge¬
dächtnis erhalten werden sollte. Wir
hätten alsdann ein Zeichen brüder¬
licher Liebe des Grafen Ludwigr
vor
uns.
Ehe wir unsere Aufmerksamkeit
dem ersten Stockwerke zuwenden,
haben wir noch das Gewölbe des
unteren Bogenganges zu betrachten.
Wir finden uns hier aus der vollendet¬
sten Renaissance unvermittelt in die
Spätgotik versetzt: ein schönes Kreuz¬
gewölbe zeigt sich uns. Verfolgen
wir den Aufbau der Halle, so er¬
kennen wir die Gleichzeitigkeit der
Arbeiten, da die gotischen wie die
1) Wenn es statthaft wäre — was ich
mir nicht zu entscheiden getraue — die Ver¬
zierung des Panzers als Lindenblätter zu
deuten, so hätten wir darin das Ehrenzeichen
des Hauses Isenburg. Denn seit dem 14. Jahr¬
hundert ist dieses Zeichen dem Isenburger
W appen beigefügt worden , wir ersehen es
zuerst an dem schönen Grabsteine Lud-
wig's I. aus dem Jahre 1302 (abgebildet
in Simon’s oben erwähnter Hausgeschichte). Seit Heinrich H.
wird das Lindenblatt auch im Siegel geführt.
222
DAS SCHLOSS ZU OPFENBACH AM MAIN.
Renaissaneelinien des öfteren aus dem gleichen
Steinblock sich emporschwingen. Man hatte eben
dem alten Stile doch nicht ganz entsagt, eine Er¬
scheinung, die sehr erklärlich und ja auch viel¬
fach anderwärts bekundet ist. Die einzelnen Sockel
sollen früher durch Brüstungstafeln, wie noch jetzt
die Pfeiler der beiden oberen Geschosse verbunden
gewesen sein, doch ist mit ihnen leider gründlich
aufgeräumt worden. Der reiche
Schmuck der oberen Tafeln lässt
uns einen beklagenswerten Verlust
in diesen jedenfalls nicht minder
vollendeten Darstellungen ahnen.
Mit Recht wird die formenprächtige
Ausladung der Gesimse, Vordach¬
ungen, Fenster- und Thürumrah¬
mungen gerühmt.
Eber dem Simse des Erdge-
geschosses hebt ein ungemein
reicher Arabeskenfries an, dessen
unerschöpfliche Abwechselung die
Beachtung in hohem Maße ver¬
dient. Wo die Pfeilerstellung ein
Vorspringen des Simses bedingt,
ist die Fläche zur Aufnahme
schöner Gesichtsmasken, meist auf
einem Hintergründe von wirkungs¬
voll fallendem Tuche über den be¬
kannten Beschlägmustern benützt.
I )ass über dem Scheitelpunkte der
Bögen auch ein entsprechendes,
die Gesimszeile teilendes Mittel¬
stück der Arabesken erscheint,
verleiht dem lustigen Ranken¬
werke eine vornehme Ruhe und
l ’bersichtlichkeit. Ein mit Zah¬
nungen versehener Karnies bekrönt
das Untergeschoss und trägt die
Pfeilerreihe und die dazwischen
befindlichen Brüstungsjilatten des
ersten Stockwerkes, das, wie das
zweite, einen backsteingej)fiasterten
Boden besitzt. Die Gedrücktheit der Pfeiler beider
Stockwerke und die Abdeckung ohne Bögen, nur
mittelst eines Architravs, ist eine Folge der gerin¬
gen Stockwerkshöhe des alten Baues, auf dessen
Einteilung wegen der mitverwendeten Nordseite
Bücksicht genommen werden musste. Auf ent¬
sprechend kleineren, sonst jenen löwenkopfgezier¬
ten Sockeln des Untergeschosses gleichenden Unter-
sätzeu erheben sich die Säulen des ersten Geschosses.
Die Postamente haben ihren Figurenschmuck aus
der römischen Götterlehre empfangen und wir be¬
gegnen, von Ost nach West beschaut, folgenden
Relief bildern; Luna mit der Mondsichel in der Hand;
Mercurius in lebhafter Bewegung, den Schlangenstab
in der rechten Hand hochhaltend; Venus in flatterndem
Gewände mit Flammenherz und Speer; Sol, das Son-
nenscepter schwingend, dem Beschauer fast den
Rücken kehrend; Mars, auf die
Streitaxt gestemmt, der Widder und
eine große Geschosskugel nebenan;
Jupiter als Schütze mit dem Bogen¬
spanner im Hintergründe; Satur-
nus an der Krücke mit dem über
einer Stelze auf das Brett ge¬
schnallten rechten Fuß, ein Kind
auf dem Arme, eines zur Seite, die
Sichel in der Linken und den
Steinbock hinter sich. Es sind
meist köstliche, echt mittelalter¬
lich-deutsche, kernige Gestalten,
von denen Saturnus und Mars allen
anderen voranstehen. An den Re¬
liefs ist stets die Darstellung meist
auf Tafeln oder Bändern bezeich¬
net und obendrein noch die Num¬
mer in den Ecken angebracht.
An der Stelle, wo der offene Gang
an den westlichen Turm sich an¬
schließt, ist der Pfeiler etwa nur
zu drei Viertel entwickelt, wir
haben also auch einen demgemäß
verschmälerten Sockel vor uns. Auf
ihm ist eine, nur um die Hüfte be¬
kleidete Knaben gestalt dargestellt,
deren rechter Arm in gezwungener
Haltung herabhängt, etwa wie hei
einem auf einer Krücke Schreiten¬
den. Dabei tritt der Arm über
den Rahmen des Sockels heraus,
was sich ebenfalls sehr ungünstig
ansieht. Da nun diese linkische
Gestalt Aveder in den Gedankenkreis, noch in die
Künstlerart der übrigen Darstellungen passt, auch
die Numerirung der anderen Tafeln diese außer
Betracht lässt, so ist möglicherweise anzunehmen,
dass der Erfinder des Ganzen sie nicht mit in seine
Verantwortung einschließen wollte. Eine Erklärung
der Darstellung kann sich nur auf Mutmaßung
beschränken. — An dem Bilde der Venus findet sich
das auch sonst am Bauwerke wiederkehrende Stein-
Fig. 7. Elker an der Nordseite des Schlosses
zu Offenbach
(Aus Schaefer: Kuiistdeukraäler.)
223
DAS SCHLOSS ZU OFFENBACH AM MAIN.
metzzeichen des unbekannten Meisters. Von
anderen, an (W der Außenwand sichtbaren Mei-
sterzeicben erwähnen wir die folgenden:
wovon das letzte auch an der westlichen Treppe
vorkommt, und bemerken hierzu, dass insbesondere
die genannte Treppe nahezu auf jeder Stufe solche
Zeichen aufweist.
Auf diesen bildgeschmückten Fußgestellen erheben
sich kräftige Pfeiler, welchen hermenartige Gebilde
vorgesetzt sind. Es sind abwechselnd männliche und
weibliche Halbgestalten mit strengen Gesichtszügen und
leichter, faltiger Gewandung, das Hinterhaupt von
einem auf die Schulter fallenden Tuche bedeckt, auf
kannelirten, sich verjüngenden Pilastern. Sie geben
ihrer Größe wegen dem ganzen Hallenbau sein
Gepräge. Da diese Halbgestalten nicht das Gebälke
tragen, das allein auf dem hinter ihnen liegenden
Pfeiler ruht, so ist ihre Karyatidenart wenigstens
zum Scheine durch eine schwache ionische Knauf¬
schnecke auf ihren Häuptern gewahrt.
Das zweite Stockwerk beginnt mit einem ohne
Unterbrechung die ganze Breite des offenen Ganges
durchlaufenden Architrav mit darüber liegendem
Friese, dessen sinnvoll geschwungenes Ranken- und
Blattwerk die anmutige Leichtigkeit des Bauwerkes
erhöht. Auch oberhalb dieses Frieses folgen Zahn¬
schnitte und das uns vom ersten Stockwerke be¬
kannte Gesimse, welchem stets unter dem die Brüstungs¬
tafeln teilenden Zwischenstücke Wasserspeier mit
in den offenen Rachen mündenden Rinnen vor^
gelegt sind. Das lässt uns vermuten, dass die un¬
schönen, auch der Farbe nach jüngeren Pfeiler dieser
Altane samt dem Dache darüber neueren Ursprungs
sind und Dr. Schaefer das Richtige trifft in der An¬
nahme, es hätten die Sockel dieser Zeile ursprüng¬
lich Standbilder oder Prachtgefäße geziert. Denn
wir müssen berücksichtigen, dass nach der Aufnahme
Merian’s das Gebäude mit dem zweiten Geschosse ab¬
schloss, also das weitere Stockwerk mit seinen „nüch¬
ternen Rahmenpilastern“ (Lübke) und plumpen Knauf¬
ansätzen am vorspringenden Schlussgebälke des
Hauses, sowie das Mansardendach neuerer Abstam¬
mung sind und dementsprechend die Türme hoch
über die Hausmauern hinausragten. Warum einzelne
Beschreiber den Wappen des zweiten Umganges ge¬
ringeren Kunstwert und andere Verfertigerhand bei¬
messen, ist mir nicht klar; ich schätze sie und die
Reliefgestalten der Sockel nicht minder hoch. Die
ffö-ürlichen Darstellungen sind sinnbildlichen Inhalts,
ebenfalls mit Inschriften und Nummern versehen und
stellen von Ost nach West dar: Temperantia, die
Schale aus einem Gefäß mit Wasser füllend; Forti-
tudo mit der zerbrochenen Säule; Spes mit betend
aufgehobenen Händen; Fides mit Kreuz und Kelch,
gegen Osten blickend; Justitia mit Schwert und
Wage; Charitas, eine liebliche Frauengestalt mit
einem Kindchen auf dem Arme; Prudentia, die sich
im Spiegel beschaut; endlich, ohne Nuraerirung,
ein sehr stiefmütterlich behandeltes Mädchen mit dem
Widder, dem Bilde der Wissenschaft.
Die beiden Türme enthalten die Treppen, eine
Baueinteilung, der wir nicht gerade selten begegnen
und welche Lübke noch am Aschaffenburger Schlosse
1613 nach weist. Der westliche Turm öffnet sich in
einer schönen, von zwei kräftigen, kannelirten Pilas¬
tern auf löwenhauptgeziertem Sockel umrahmten,
rundbogigen Pforte. Es ist dies der den Bogen¬
gängen entsprechende, etwain deren halber Pfeilerhöhe
ausgeführte Aulbau. Eine architravirte , wappen¬
geschmückte und dann mit dem geschlossenen Drei¬
eckgiebel endigende Bekrönung schließt die reiche
Pfortenzierde ab. Die Bogenzwickel schmücken
Medaillons mit je einem Brustbilde in Relief. Im
Friese darüber lesen wir die Jahreszahl 1570. Die
Pforte des westlichen Turms ist von gleicher Aus¬
stattung, nur schweben in den Medaillons Genien,
die ihr Füllhorn blumenstreuend dem Eintretenden
entö-egenschütten. Über dem kräftigen Simse sind
in meisterhafter Arbeit die Wappen der Isenburger
und Württemberger angebracht und der Fries trägt
die Jahreszahl 1572. Im östlichen Turme winden
sich die Stufen um einen starken Schaft, im
östlichen treten drei schlanke Säulen an dessen
Stelle, die nach C. Braun in ihrer Zierlichkeit
der berühmten Stiege im Frauenhause zu Stra߬
burg im Eisass ähneln. In der Turmwandung
sind Nischen für das Einstellen der Lampen. Die
Treppe endigt mit einer schönen Brüstungsplatte
(s. die Abbildg. bei Manchot, Blatt 49, Förster’s allg.
Bauzeitung, Wien 1867), deren durchbrochene Fül¬
lung noch Maßwerk in gotischen Formen zeigt.
Ein Sterngewölbe deckt den Turm im Inneren auf
das zierlichste ab und der Schlussstein trägt eine
Maske, vielleicht den Kopf des Wächters versinn¬
bildlichend, dessen Auge zwischen den drei Säulen
hinabschaut bis zum Eingänge.
Das Untergeschoss des Hauses ist gewöhnlich
nicht geöffnet. Nur während der gottesdienstlichen
Handlungen der katholischen Gemeinde ist der öst-
224
DAS SCHLOSS ZU OFFENBACH AM MAIN.
liebe zur Kapelle bestimmte Teil dem Zutritte frei¬
gegeben. Wir seben hier ein gotisches Kreuzge¬
wölbe von bester Arbeit und erkennen in dem im
Turm eingebauten kreisrunden Raume der Sakristei
— wie Dr. Sebaefer dargetban bat — das alte Verließ.
Der westliebe große Saal weist ein Netzgewölbe
mit sieb kreuzenden Rippen und einen Erker mit
sebönem gotischen Rippendacbe auf. Wir haben
in diesen Räumen jedenfalls noch die Reste der go¬
tischen Burg vor uns.
Betrachten wir uns nun die dem Main zuge¬
wendete Nordseite, so fühlen wir deren Armut
und Kälte recht eindringlich.
Wir werden gutthun, die Ver¬
söhnung auch mit dieser Fläche
in einem Bilde aus der Ver¬
gangenheit zu suchen, wie es
uns Merian’s Topographie von
1 046 darbietet. Wir gewahren
hier einen weit günstiger
wirkenden Anblick. Vor allem
mutet uns die läng.st geop¬
ferte stolze Aufgiebelung des
Hauses im Bilde wohlthuend
an. Von kräftigen Gesimsen
abgestuft, beben sich die Giebel
ffefälli" in die Höbe. Der
damals noch über dem LTnter-
gesebosse nur zwei Stock¬
werke tragende Bau besaß
auf den Türmen statt des
jetzigen Balkon - Abschlusses
den.selben achteckigen Turm¬
aufsatz mit Helm und Laterne,
wie ihn die Südseite sich be¬
wahrt bat; nur einen kleinen
Gieljel am Helmdacbe bat die
Nordseite vorausgebabt. Der
Erker in der Mitte der Fläche
scheint die besclieidenste Bekrönung erhalten zu
haben, wälirend die Aufsätze auf dem Dache
zwischen den Türmen und dem Erker zierlicher
sind. Selbst die über den Umfang des östlichen
'J’urmes vors})ringende Mauer hatte nicht des Giebel-
aufsatzes zu entraten. Auch die Dach wände sind
stilgemäß behandelt und durch volutenartige Schnör¬
kel in Stockwerke abgetreppt, was bei dem späteren
Dachbau fallen musste. Am anziehendsten aber er¬
scheint der hohe, runde Turm, von welchem heute
auch nicht die Stätte mehr ersichtlich ist ; er dürfte
der Wartturm des damals befestigten Schlosses
gewesen sein. Der seitwärts kammähnlich oder
wie eine Mauerstütze aufsteigende Turm ist eben¬
falls längst gesunken. Neben dem Schlosse, main-
aufwärts, steht das jetzt gleichfalls völlig veränderte
Gesindehaus und abwärts die turmlose Schloss¬
kapelle, wie es scheint, aus gotischer Zeit. In
ihr lag neben vielen seiner Ahnen Graf Reinhard,
bis auch er dem neuen Schlosskirchenbau weichen
musste.
Das heute wesentlich veränderte Bild entbehrt
dennoch nicht einiger interessanter Einzelheiten.
Die halb in das Gebäude eingemauerten runden
Türme an den Flanken, wie
der rechtwinkelige Erker in
der Mitte der Mauerfläche
tragen jetzt an dem über dem
alten Schlussgesimse des zwei¬
ten Geschosses errichteten
dritten Stockwerke mit seinen
kasernenmäßigen 20 Fenstern
an Stelle der alten Brüstungen
Giebel. Der rechteckige Erker
zeigt schöne, spätgotische
Steinmetzarbeiten, deren Zier¬
lichkeit das Auge gefangen
nimmt. Wir begegnen hier
unter dem durch Steinpfosten
dreigeteilten Fenster des Un¬
tergeschosses, sowie unter dem
zweiteiligen des zweiten Stock¬
werks gotischen Fischblasen¬
ornamenten, die sich an den
Seiten des Erkers wiederholen.
Besonders sorgfältig ist das
Zierwerk des Untergeschosses
behandelt, welches in schöner
Kreisumfassung eine in Um¬
drehung gestellte Dreieckform
enthält. Auch unter der
Fensterbrüstung des ersten Stockwerkes beflnden
sich reiche Verzierungen. Hier umschließen die
im Bogenscheitel zusammenstoßenden Dreipässe
zwei kleine, reizend gemeißelte Wappenschilde. In
Fußbodenhöhe des ersten Stockes läuft ein derber
Rundbogenfries vom Erker zu den Türmen und
setzt sich auch an den Schmalseiten des Hauses fort.
Die plumpe und un ebenmäßige Ausführung desselben
steht im Widerspruch zu aller sonstigen Zierlichkeit
des Bauwerkes und scheint seine Erklärung wohl nur
in dem Umstande zu finden, dass er samt dem
Untergeschosse noch von der alten Anlage stammt.
Fig. 8. Erker am Schlosse in Offenbach.
PHOTOGRAPHISCHE GESELLSCHAFT KUNST VERLAG BERLIN
Dürer püur.
MADONNA MIT DEM ZEISIG.
Zfitsrlii'ift für 'bildende Kunst R’P.IV
Druck vF. A.'Brockhaus, Leiurk.
m DER BERLINER GEMÄLDEBALERTE. 225
DÜRER’S MADONNA MIT DEM ZEISIG
die, wie wir wissen, in das 15. Jahrhundert zurück¬
weist.
An dem westlichen Turme baut sich auf vier
kräftigen, verzierten Tragsteinen im ersten Stocke
ein reizender Erker mit dreiteiligem Fenster und
Giebelbedachung heraus. Das Maßwerk, welches sich
unter seiner Fensterhrüstung ausbreitet, steht im
Formenausdruck weit hinter dem Südbau zurück,
ist aber trotzdem hübsch genug, um eine Ab¬
bildung zu rechtfertigen, zumal es hier den Witte¬
rungseinflüssen besonders ausgesetzt ist und kaum
sehr lange mehr ei’kennbar sein dürfte. Die
Ornamente stehen nach Lübke an der „Grenze reiner
gotisirender Überlieferung“. Das Innere des Erkers
ist gewölbt und trägt im Schlusssteine die schon
erwähnte Jahreszahl 1578, sowie die Majuskeln A. S.
Wäre es nicht ein Jammer, wenn ein so wür¬
diges Baudenkmal dem Untergang anheiinfiele? Da
aber seitens des Besitzers zur Erhaltung des Hauses
nichts geschieht, geht es mehr und mehr seinem
Verfalle entgegen. Möchten diese Zeilen das Ihrige
dazu beitragen, den richtigen Weg zu einer sorg¬
fältigen Ausbesserung und Erhaltung anbahnen zu
helfen! Dann haben sie ihren Zweck erfüllt.
DÜRER’S MADONNA
MIT DEM ZEISIG IN DER BERLINER GEMÄLDEGALERIE.
MIT ABBILDUNGEN.
EIT der Erwerbung der
Botticelli’schen Illustratio¬
nen zu Dante’s „Göttlicher
Komödie“ für das Berliner
Museum ist aus dem Dunkel
des englischen Privatbesitzes,
der noch manche Überra¬
schungen zu bergen scheint,
kein Werk von so großer kunstgeschichtlicher Be¬
deutung aufgetaucht wie Dürer’s „Madonna mit dem
Zeisig“. Von dem Vorhandensein der Zeichnungen
Botticelli’s gab es wenigstens eine litterarische Über¬
lieferung. Die „Madonna mit dem Zeisig“ ist aber
bis zum Jahre 1871, wo sie zum ersten- und letzten¬
mal in London öffentlich ausgestellt wurde, völlig
unbekannt geblieben, und diese erste Ausstellung
hat, in der deutschen Kunstlitteratur wenigstens,
nur eine geringe Spur hinterlassen. Thausing (Dürer
I 2. Aufl. S. 366) erwähnt das Bild, das er selbst nicht
gesehen hat, beiläufig mit folgenden Worten; „Eine
sitzende Madonna von 1506, fast lebensgroß, von
zwei schwebenden Engeln gekrönt, befindet sich im
Besitze des Marquis von Lothian in Schottland . . .
sie ist stark verrieben und übermalt, soll aber die
Spuren der Echtheit noch an sich tragen.“ Aus
dem Besitze des Marquis von Lothian hat es Geheim¬
rat Dr. Bode Ende vorigen Jahres für die Berliner
Gemäldegalerie erworben, wo es, wie wir seiner Zeit
in der „Kunstchronik“ berichtet haben, im Januar
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV-
dieses Jahres zur öffentlichen Ausstellung gelangte,
nachdem es zuvor einer Wiederherstellung unter¬
zogen worden war. Einzelne Teile, besonders das
CT
Antlitz und der Hals der Madonna, waren allerdings
verrieben, ihres Schmelzes beraubt, aber doch nicht
so stark, wie sich nach der Bemerkung Thausing’s
erwarten ließ. Der bei weitem größte Teil des Bildes,
insbesondere die köstliche Landschaft, die sich zu
beiden Seiten des hinter der thronenden Madonna
aufgespannten purpurnen Teppichs tief in das Bild
hinein bis zu einer Kette bläulicher Berge einerseits
und bis zur Fläche des tiefblauen Meeres anderer¬
seits erstreckt, ist wohl erhalten und damit das ein¬
zige Denkmal der Malweise Dürer’s während seines
Aufenthalts in Venedig, da weder das Rosenkranz¬
fest aus dem Kloster Strahow in Prag noch der
Jesusknabe unter den Schriftgelehrten im Palazzo
Barberini in Rom wegen ihres ruinenhaften Zustan¬
des zur Beurteilung des Malwerks hier heran¬
gezogen werden können.
Über die Herkunft und den Stammbaum des
Bildes ist freilich auch jetzt noch nicht mehr er¬
mittelt worden, als dass es in den sechziger Jahren
von dem Marquis of Lothian bei einem Edinburger
Antiquar erworben worden ist. Aber für seine Echt¬
heit bedarf es nicht eines Ursprungszeugnisses, da
es nicht bloß „die Spuren der Echtheit“, sondern
die volle Beglaubigung von Dürer’s Hand an sich
trägt. Auf dem rechts von der Madonna stehenden
29
('liiistusknahe. Zeichnung von A. Dürer in der Kunsthalle zu Bremen.
DÜRER’S MADONNA MIT DEM ZEISIG IN DER BERLINER GEMÄLDEGALERIE. ■ 227
niedrigen Sclieniel, von dem nur die obere, rot¬
braun gestrichene Platte sichtbar ist, liegt ein an
der Seite aufwärts gekniffter Zettel mit der Inschrift
in gotischen Minuskeln: Alberts dürer germanus
faciebat post virginis partum 1506, und dahinter das
Monogramm. Wir bemerken also dieselbe stolze
Betonung der Nationalität inmitten der wälschen
Umgebung wie auf dem Bilde des Rosenkranz¬
festes.
Die beigegebene Photogravüre nach einer Auf¬
nahme, die nach der Wiederherstellung des Bildes
erfolgt ist, überhebt uns einer eingehenderen Be¬
schreibung. Nur so viel sei bemerkt, dass es in der
Natur dieser Reproduktionsart liegt, dass sie den
hellen, fast goldig strahlenden Gesamtton des Bildes
um einige Töne tiefer transponirt hat, dass sich ins¬
besondere der Kopf der Madonna und ihr licht¬
blondes, über dem Kopfe glatt gescheiteltes, über
Hals und Schultern in lockigen Fluten herabfallen¬
des Haar von dem purpurnen Hintergründe viel
leuchtender abhebt, als es die Photogravüre erkennen
lässt. Der blaue, faltenreiche Mantel ist von den
Schultern der Madonna gesunken, nachdem das jetzt
von der linken Schulter herabhängende, aus bunten
Schnüren zusammengeflochtene Nestelband herab-
geff litten ist. Dieselbe Verschnürung des Mantels
o o O
ist, beiläufig bemerkt, auf dem Selbstbildnis des
Meisters von 1498 im Museum zu Madrid zu sehen,
wo die quer über den Hals gezogene Doppelschnur
den Mantel noch straff zusammenhält. Von ähn¬
licher Farbe, wie der Mantel, ist auch das Kleid
der Madonna bis auf den Brustlatz des Mieders,
der in seiner kräftigen kirschroten Farbe wieder
einen warmen Hintergrund für den Körper des
Kindes abgiebt, das über einer bläulichweißen Windel
auf einem Kissen von purpurrotem Sammet sitzt, in
der erhobenen Rechten einen Lutschbeutel oder Zulp
haltend und das linke Ärmchen, auf dem sich der
Zeisig niedergelassen hat, an sich heranziehend.
Das Vöglein ist die Gabe des kleinen Johannes, der
sich unter dem Geleite eines Engelsbuben, der ihm
inzwischen den Kreuzesstab abgenommen, der Ma¬
donna genaht hat und ihr ein Sträußchen von Mai¬
blumen reicht. Wie dieser Engelsknabe sind auch
die beiden Cherubim, die über dem Haupt der Ma¬
donna einen Kranz aus Blumen und Früchten halten,
mit buntem Gefieder ausgestattet. Es ist eben alles
eitel Farbe und Licht auf diesem Bilde. Man glaubt,
aus jedem Pinselstriche die Wonne und Glückselig¬
keit herausleuchten zu sehen, die trotz aller sorgen¬
den Gedanken an die kalte, armselige Heimat doch
die Grundstimmung von Dürer’s Wesen während
seines Aufenthalts in Venedig bildeten.
Seine Briefe an Pirkheimer enthalten nicht die
geringste Andeutung, die sich ohne Zwang auf unser
Bild beziehen ließe. Dass er aber noch mehr Bilder
in Venedig gemalt hat, als das Rosenkranzfest und
den Christus unter den Schriftgelehrten, geht aus
dem Briefe vom 23. September 1506 hervor, worin
er nicht nur erwähnt, dass er noch „etliche zu
kunterfetten“, sondern auch nach Vollendung des
Rosenkranzfestes für 2000 Dukaten Arbeit aus¬
geschlagen hätte. Wenn das die Wahrheit und nicht,
wie Thausing meint, „starke Übertreibung“ ist, wird
er seine Zeit nicht allein mit der Ausführung jener
Bilder ausgefüllt haben, um so weniger, als er mit
der Absicht nach Venedig kam, dort so viel Geld
zu verdienen, dass er lästige Schulden abtrageu
konnte. Vielleicht haben gerade beiläufige Aufträge,
die er wegen des Gelderwerbs nicht von der Hand
weisen wollte, die Vollendung des Rosenkranzfestes
gegen seine Berechnung verzögert, worüber er in
seinen Briefen oft genug Klage führt, und dass
unser Bild zu diesen Zwischenarbeiten gehört haben
kann, ist eine Vermutung, die durch die Thatsache
unterstützt wird, dass sich die Madonna mit dem
Zeisig deutlich als eine Vorstufe zu der gleichfalls
von zwei Cherubim gekrönten Madonna des Rosen¬
kranzfestes darstellt.
Wenn Dürer in seiner Inschrift auf dem Rosen-
kranzfest die darauf verwendete Arbeitszeit auf fünf
Monate angiebt und, wohl in beabsichtigtem Gegen¬
satz dazu, den Christus unter den Schriftgelehrten
ein „Werk von fünf Tagen“ nennt, so mag unser
Bild hinsichtlich der Dauer der Ausführung zwischen
jenen beiden Extremen in der Mitte liegen. Allzu¬
lange scheint er nicht daran gearbeitet zu haben,
obwohl er in der feinen Ausführung der Haare der
Madonna und des landschaftlichen Hintergrundes
sichtlich einen ganz besonderen Fleiß entfaltet hat.
Aber gerade die Landschaft scheint ihn nicht zeit¬
raubende Studien gekostet zu haben. Wenigstens
besteht sie in der linken Seite (vom Beschauer aus)
zum Teil aus Erinnerungen. Der vereinzelte, an
eine Ruine sich anlehnende Rundbogen ist die
Wiederholung eines gleichen oder doch ähnlichen
Bauwerks im landschaftlichen Hintergründe der 1504
gemalten Anbetung der Könige in den Uffizien zu
Florenz, und die hügelige, reich mit Baumgruppen
bestandene Landschaft auf der anderen Seite trägt
O
auch einen deutschen Charakter, mit dem das sich
hinten ausdehnende Meer nicht recht harmoniren will.
29
22S
DURER’S MADONNA MIT DEM ZEISIG
Auch die überaus subtile Durchführung der
Haare — man glaubt jedes einzelne zu unterscheiden
und auf jedem einzelnen das Licht blitzen zu sehen
— mag Dürer weit leichter und schneller von der
Hand, gegangen sein, als es den Anschein hat.
IN DER BERLINER GEMÄLDEGALERIE.
die Haare male. Wie aus dem Briefe Dürer’s vom
7. Februar hervorgeht, hat ihn Bellini wirklich kurz
vorher besucht, und es lag durchaus in Dürer s Art,
wenn er einmal den Venezianern nach dieser Rich¬
tung hin mit einem ganz besonderen Bravourstück,
Wf-iblicher Kopf. Zeiohnung von A. UÜRER in der Albertina zu Wien.
Immerliiii ist das Bild nach dieser Richtung hin ge¬
eignet , die Wahrheit jener von Camerarius über-
lieff-rteii Anekdote zu unterstützen, nach der der
alte tnovanni Bellini sich von Dürer einen jener
wiiiiderljaren Pinsel au.sgebeten habe, mit denen er
wie es das Haargelock der Madonna mit dem Zeisig
darstellt, imponiren wollte.
An gründlichen Vorstudien hat es Dürer, seiner
Gewohnheit gemäß, auch bei diesem Bilde nicht
fehlen lassen. Einige dieser Studien haben sich er-
DÜRER’S MADONNA MIT DEM ZEISIG IN DER BERLINER GEMÄLDEGALERIE.
229
halten. Die wichtigste und wertvollste davon, die
wir in etwas mehr als halber Größe des Originals
nach Lippmann’s Dürerwerk reproduziren (s. die Ab¬
bildung), ist eine Naturstudie zum Christuskinde (in
der Kunsthalle zu Bremen). Das nackte Knäblein
sitzt auf einem niedrigen, mit einem Kissen bedeckten
und auch unten drapirten Sitze, in der Rechten ein
Kreuz erhebend. Der Vergleich mit dem Bilde lehrt,
wie eng sich Dürer in der Körperbildung an die
Studie angeschlossen und mit welcher Freiheit er
zugleich die Haltung der Studienfigur für das Bild
umgestaltet hat. Auf der Zeichnung bildet ein auf¬
gehängter Teppich, in dessen Muster das Granat¬
apfelmotiv zu erkennen ist, den Hintergrund. Dürer
hat das den Andachtsbildern der venezianischen
Maler abgesehen; aber er hatte auch Gelegenheit,
orientalische Teppiche im Original zu studiren. Pirk-
heimer hatte ihm nämlich den Auftrag gegeben, für
ihn einen Teppich in Venedig zu kaufen, womit
Dürer, wie er zweimal in seinen Briefen erwähnt,
weidliche Plage hatte, denn Pirkheimer wollte einen
„viereckten“ d. h. cpiadratischen haben, während
alle, die Dürer zu Gesicht bekam, ,,lang und schmal“
waren. So hat er .sie auch auf seinen beiden Ma¬
donnenbildern dargestellt.
Die Zeichnung in der Kunsthalle zu Bremen
ist auf hellblauem Papier in brauner Tusche mit
weißen Lichtern ausgeführt. Schon Thausing hat
darauf aufmerksam gemacht, dass sich Dürer dieses
„hellblauen Naturpapiers mit dem Wasserzeichen
des Ankers“ damals in Venedig mit Vorliebe be¬
diente. Auch fast alle Studien zu dem Rosenkranz¬
feste sind auf diesem Papier ausgeführt. Eine mit
der Jahreszahl 1506 und dem Monogramm be-
zeichnete Studie nach einem Kinderkopfe im Louvre
scheint ebenfalls für die Madonna mit dem Zeisig
gemacht zu sein, da sie mit dem rechts von der
Madonna schwebenden Cherubim übereinstimmt, und
auf einem Studienblatte mit drei in Wolken
schwebenden Engelsköpfchen in der Pariser National¬
bibliothek ist der äußerste rechts zu dem anderen
Cherubim benutzt worden. Zugleich haben aber auch
diese Studien zu dem Rosenkranzfeste gedient, ein
Beweis mehr dafür, dass beide Bilder den Meister in
derselben Zeit beschäftigt haben. Ebenso steht es
mit dem stolzen, etwas nach rechts gewendeten
Frauenkopfe in der Albertina, den unsere Abbildung,
auf die Hälfte verkleinert, nach der Braun sehen
Photographie wiedergiebt. Thausing hat die Zu¬
gehörigkeit dieses „Venezianischen Frauenkopfes“ zu
der Reihe von Zeichnungen, die uns hier interessirt,
ebenfalls bereits erkannt, obwohl er nicht mit der
Jahreszahl 1506, sondern nur mit dem Monogramm
bezeichnet ist. Er ist geneigt, darin die Studie zu
dem im Bilde völlig zerstörten Kopfe der Madonna
des Rosenkranzfestes zu erkennen. Die Studie kann
aber auch für die Madonna mit dem Zeisig benutzt
worden sein, deren Kopf ebenfalls manche Schäden
erlitten hat. Jedenfalls ist er ein wertvolles Doku¬
ment für den mächtigen Eindruck, den Venedigs
Frauengestalten auf Dürer, leider nur für kurze Zeit,
gemacht haben. Es giebt kein zweites Werk seiner
Hand, worin er der aufs Große gerichteten Auf¬
fassung eines Giorgione, Tizian und Palma so nahe
oder vielmehr so gleich gekommen ist, wie in dieser
Zeichnung. Man kann sie getrost mit Palma’s Bar¬
bara oder mit Tizian’s himmlischer Liebe zusammen¬
bringen, ohne dass sie etwas von ihrer Hoheit, von
ihrer stolzen Würde einbüßte. W'^enn man die Studie
mit unserem Bilde vergleicht, ergiebt sich freilich,
dass Dürer die Hoheit und Formenstrenge des Mo¬
dells in der Ausführung nach seiner Art gemildert,
dass er aus der stolzen Heroine die anmutig lächelnde,
still vor sich hin sinnende Hausmutter gemacht hat.
Bei diesem immerhin erheblichen Aufwand von
Vorstudien ist es auffallend, dass Dürer die Hände
der Madonna so ungleichmäßig behandelt hat. Er
scheint sogar dazu Studien nach männlichen Händen
benutzt zu haben , vielleicht nach seinen eigenen,
was besonders die rechte, das Buch haltende Hand
der Madonna vermuten lässt. Nach dieser wie nach
anderen Richtungen wird der Dürerforschung noch
manches zu thun übrig bleiben, damit das Bild in
seiner vollen Bedeutung für die Entwickelung Dürer’s
richtig gewürdigt werden kann. Dass es zunächst
dieser Forschung zugänglich gemacht worden ist,
ist ein neues unter den zahlreichen Verdiensten
Bode’s, dem wir im Interesse unserer Wissenschaft
noch viele solcher Entdeckungen wünschen.
ADOLF ROSENBERG.
ATTISCHE GRABRELIEFS').
VON AD. MICHAELIS.
MIT ABBILDUNGEN.
(Schluss.)
AS vierte Jahrliundert hat
als reiches Erbe der Periklei-
schen und der nächstfolgen¬
den Zeit die Hauptformen des
Grabmals — das tempel¬
förmige Grab, die hohe pal¬
mettengekrönte Stele mit
dem viereckigen Bildfelde,
die kleine Platte, die Lekythos und die Lutro-
phöros — überkommen. Was das neue Jahr¬
hundert, die Zeit eines Kephisodot Skopas Pra¬
xiteles, hinzufügte, war ein Zweifaches. Einmal
wurden alle Formen ins Größere, Reichere, Prunk-
haftere fortgebildet. Je mehr der athenische Staat
verarmte, desto reicher wurden viele seine Bürger.
Aus der tempelförmig umrahmten Platte mit meist
bescheidenem Reliefbild werden förmliche Kapellen.
Aus den Pilastern bilden sich oft Seiten wände mit
Anten heraus, aus dem Giebel ein Dach, anstatt der
Reliefplatte eine tiefe Nische, in der die Gestalten
in anspruchsvoller, malerischer Gestaltung, kaum
noch in Relief, fast volle Rundfiguren, stehen und
sitzen; den Hintergrund scheint der tiefe Schatten
1) Die attischen Grahreliefs, herausgegeben im Auf¬
träge fler Kais. Akademie der Wissenschaften zu Wien von
Alcrander Conxe wniex Mitwirkung von Ad. Michaelis, Ach.
l’ostolakkas, Roh. von Schneider, Em. Löwy, Alfr. Brückner.
Berlin, Verlag von W. Spemann. Heft 1—3 (Taf. 1 — 75 nebst
Text), 1800 — 02. — Durch die Güte der Verlagshandlung sind
wir in den Stand gesetzt, zwei 'i’afeln als Proben und außer¬
dem eine bedeutende Anzahl weiterer Illustrationen im Texte
nach Vorlagen zu bringen, die zum Teil den schon aus¬
gegebenen Heften, zürn 'J'eil den noch nicht publizirten Ta¬
feln des Werkes entnommen sind. Zur Ergänzung dienen
einige Skizzen aus dem in demselben Verlage erschienenen
Verzeichnis der Berliner Skulpturen, dessen Besprechung sich
oben S. 112 tf. findet.
zu ersetzen, der in diesen Kapellen die Gestalten
umgiebt. Die Berliner Hautreliefplatte des Thraseas
und der Euandria mit dem „Tempel“ als Hintergrund
(Fig. 17), sodann das Leidener Grabmal der Archestrate
(Taf 71) und das Berliner der Ly.sistrate (Taf. 72)
bezeichnen diesen Entwickelungsgang, der in dem
prunkvollen Monument der Demetria und Pamphile
(Fig. 18) seine Höhe erreicht. Die schlanken schmalen
Stelen erhalten gern den Schmuck von ein paar
Rosetten oben am Schaft, vor allem aber macht
die Palmettenbekrönung eine neue reiche Entwicke¬
lung durch. Die alten stilisirten Muster ziehen sich
auf die bloß bemalten glatten Krönungen der kleinen
Platten für geringere Leute zurück, an den reicheren
Stelen herrscht die Skulptur. Es ist die Zeit, da
das kürzlich erfundene korinthische Kapitell anfängt
sich zu entwickeln. Etwa wie in der Zeit des be¬
ginnenden gotischen Stils tritt man den Pflanzen¬
formen mit lebhafterem Naturgefühl gegenüber. Der
Akanthos mit seinen krausen und steifen, starkrip-
pigen und scharfrandigen Blättern lagert sich breit
oben auf der Stele und aus ihm sprießen in gar
mannigfaltiger, aber stets organischer Entwickelung
gewundene Blattstengel und breit sich öffnende, oben
sich wieder zusamraenschließende Blattfächer empor.
Die ganze hohe Stele klingt erst so in einem präch¬
tigen rhythmischen Abschluss voll aus. An den
Grabvasen endlich, namentlich an der zweihenkeligen
Lutrophöros, entschädigt eine überaus feine, üppige
Ornamentik dafür, dass die Darstellungen anstatt
des Reichtums der thönernen Lutrophören — Scenen
der Brautschmückung, der Hochzeit, des Begräb¬
nisses, des Verkehrs am Grabe — sich auf die ge¬
wöhnlichen Gegenstände der Grabreliefs, namentlich
das Motiv der Handreichung, beschränken.
Die zweite Neuerung des vierten Jahrhunderts
ATTISCHE GRABRELIEFS.
231
liegt noch tiefer in der veränderten Sinnesart der
neuen Zeit begründet. Ebenso wenig wie in der
strengen Profilstellung der Figuren und der ma߬
vollen Erhebung des Reliefs findet die junge Gene¬
ration in dem stillen Ethos der älteren Auffassung
ihr Genüge. Die Malerei ist inzwischen zu einer
selbständigen, mit Farbe, Licht und Schatten wirken¬
den, psychologisch motivirenden Kunst geworden;
die Tragödie des Euripides hat die Seelenkämpfe
tragischer Leidenschaft zur Herrschaft auf der Bühne
gebracht ; die Philosophie hat die Menschen gelehrt,
ihr eigenes Innere zu erkennen, die Rhetorik ihrer
ganzen Denk- und Ausdrucksweise ein kunst- und
anspruchsvolleres Gepräge verliehen. Alle diese Ein¬
flüsse machen sich, wie in der gesamten Plastik, so
auch in den Grabreliefs des vierten
Jahrhunderts geltend. Zunächst er¬
höht die gesteigerte Erhebung des
Reliefs die äußerliche Wirkung: es
entsteht „eine wundervoll in der
Schwebe zwischen Freiskulptur und
Flächendarstellung sich haltende Re¬
liefweise, in der sich auf das voll¬
kommenste plastisches und malerisches
Prinzip verschmilzt“. Und sollen wir
glauben, dass die Farbe selbst auf ihr
altes Anrecht verzichtet und sich
schüchtern zurückgezogen hätte in
jener farbenfrohen Zeit, wo große
Kün.stler wie Apelles die Malerei zu
ungeahntem Glanze erhoben, wo ein
Meister wie Praxiteles der Mitwirkung
des Malers bei seinen Statuen nicht
entraten mochte, wo sein Gehilfe,
der geschmackvolle Maler Nikias,
nach sicherem Zeugnis ein Grabmal in Arkadien
mit einer farbigen Darstellung ganz der üblichen
Art schmückte? Wer zweifelt, der blicke auf den
wundervollen Sarkophag von Sidon mit Kampf- und
Jagdscenen, der seit kurzem im Museum zu Kon¬
stantinopel seine ganze alte Pracht farbiger Reliefs
enthüllt: was ein besonders günstiges Geschick uns
hier bewahrt hat, das müssen wir den minder glück¬
lichen Genossen, den attischen Grabreliefs, auf denen
sehr häufig vereinzelte, aber nur selten zusammen¬
hängende Farbspuren sich erhalten haben, wenig¬
stens in unserer Phantasie zu gute kommen lassen.
Spuren von Metallzusätzen, die nicht ganz selten
Vorkommen, können als weiteres Zeugnis für far¬
bige Ausschmückung dienen.
Auf den älteren Reliefs pflegen die Gruppen durch
eine gemeinsame Handlung miteinander verbunden
zu sein: Hegeso (Fig. 5) entnimmt dem Kästchen
der Dienerin einen Schmuck, Ameinokleia lässt sich
die Sohlen anlegen, andere lassen sich ihr Kind
bringen oder reichen einander freundlich die Hände,
Dexileos (Fig. 12) durchbohrt vom Rosse aus den Feind
— sie alle sind ganz sich selbst genug und denken
gar nicht daran, dass man ihnen zuschauen könnte.
Die strenge Profilbildung passt vortrefflich zu dieser
in sich geschlossenen Darstellangsweise. Allmählich
ändert sich das. Mit dem ganzen reicheren Auf¬
treten, wie es die gesteigerten Kunstmittel mit sich
bringen, hebt sich auch sozusagen das Selbstgefühl
der Dargestellten; sie blicken gern aus dem Bilde
heraus und scheinen sich dem Beschauer zuzu¬
wenden, in erster Linie für ihn da
zu sein. Bei Einzelfiguren ist das
nicht so störend, aber bei Gruppen
hebt dies Bestreben leicht den Zu¬
sammenhang einer Handlung auf. In
geringerem Grade gilt das für die sog.
Stele vom llissos (Zeitschr., N. F. II,
293), wo der Jüngling freilich ganz
aus dem Bilde herausschaut, die Auf¬
merksamkeit des Vaters aber so völlig
auf ihn gerichtet ist, dass dadurch
die innerliche Geschlossenheit der
Gruppe hergestellt wird. Diese fehlt
schon empfindlicher auf der sehr eigen¬
tümlichen Darstellung einer Fischer¬
familie (Schreiber, Kulturhistor. Atlas
Taf. 63, 6); freilich sitzen sie beim
Mahle an gemeinsamem Tisch, aber
alle sitzen uns voll zugewandt und der
Fischer im Boot fällt ganz aus dem
Bilde heraus. Vollends aberblicke man auf das vorhin
schon genannte Grabmal der Demetria und Pamphile
(Fig 18), in seiner Art ein Prachtstück: sitzt nicht
Pamphile in ihrer „Junonischen Fülle“ da, als ob sie
photographirt werden sollte, und die ältere Genossin
leistet ihr dabei mit einer zierlichen Handbewegung
Gesellschaft? Dieses Aufheben des Zusammenhanges
O
um eines reicheren Effekts, einer gefälligen Pose
willen ist jedoch hier erst in seinen Anfängen ver¬
folgbar; sein Übermaß erreicht es in den etwas jün¬
geren kleinasiatischen Grabstelen, in welchen jede
Gestalt statuenhaft von vorn dem Beschauer gegen¬
übertritt (s. Fig. 19); ja wo die dergestalt auftreten¬
den Ehepaare sich, fast als ob sie schmollten, ein¬
ander den Rücken, wenigstens die Schulter zuzu¬
wenden pflegen (s. Fig. 20).
Fig. 17. Thraseas und Euandria.
Bei'liu, Nr. 738.
232
ATTISCHE HRABRELIEFS.
Wenn wir von den in Attika nicht gerade sel¬
tenen, aber doch nur eine Sonderart bildenden „Toten-
malilen“, Weihreliefs an heroisirte Abgeschiedene,
und von wenigen anderen Ausnahmen absehen, so
pflegt, wie schon oben bemerkt, die attische Auf¬
fassung die Verstorbenen ganz wie Lebende, in irgend
halten, sie spricht aus den Zügen der Gesichter, aus
bezeichnenden Gebärden wie dem Greifen an das
Kinn oder in den Bart, aus der ganzen Handlung
nicht düster, nicht aufdringlich, sondern es breitet
sich nur ein Zug leiser Trauer wie ein leichter
Schleier über das Ganze. Charakteristisch ist, dass
Fig. 18. Uemetria und Pamphile. (Nach Att. Grabr. Taf. 40.)
einer Situation oder Beschäftigung des wirklichen
Lebens, darzustellen. Die Stimmung dieser lieb-
lielicn Bilder ist einfach und natürlich, wohl ernst,
aber dure.baus nicht traurig. Immer deutlicher aber
nia' ht .sich die Friedbofsstimmung geltend. Die Em-
jifindung, dass es Verstorliene sind, deren Abbildern
wir uns nahen, lässt sich nicht mehr ganz zurück-
diese traurige Stimmung sich weniger in den Haupt¬
personen als in den Nebenfiguren ausspricht; die
maßvolle Haltung wirkt überaus vornehm. Auch
das Motiv der Handreichung scheint in dieser mat¬
teren Beleuchtung leicht die Bedeutung eines Ab¬
schiedes anzunehmen. Keine Frage, dass uns Mo¬
dernen diese Bilder mit ihrer etwas lebhafteren Em-
GRABRELIEF VOM DIPYLON IN ATHEN.
^22. - H, 1,45
ATTISCHE GRABRELIEFS.
233
pfindung-sweise gemäßer sind; das ruhigere Ethos
der älteren Darstellungen erinnert mehr an die hohe
Grazie Winckelmann’s, die „sich seihst genugsam
scheinet und sich nicht anhietet, sondern will ge-
suchet werden; sie verschließt
in sich die Bewegungen der
Seele und nähert sich der
seligen Stille der göttlichen
Natur. Die zweite Grazie aber
lässt sich herunter von ihrer
Hoheit und macht .sich mit
Müdigkeit, ohne Erniedrigung,
denen , die ein Auge auf sie
werfen, teilhaftig; sie ist nicht
begierig zu gefallen, sondern
nicht unbekannt zu bleiben.“
Mit den letzteren Worten hat
der Seher die Kunst des vierten
Jahrhunderts bezeichnet; sie
passen vollkommen auch auf
unsere Reliefs, von denen
Winckelmann kein einziges
kannte. Das Hervorkehren des Seelenlebens ist
ja die Signatur dieser Kunst; noch nicht die stür¬
mische, alles mit sich reißende, vernichtende Leiden¬
schaft der Diadochenzeit, sondern
leisere Erregungen der Seele genügen
noch dem Bedürfnis des Künstlers
wie des Beschauers. Es liegt ein
eigentümlicher Zaiiber über diesen
Darstellungen gehaltener Empfin¬
dung; man glaubt sachter auftreten,
leiser reden zu müssen, so unmittel¬
bar nahe treten einem die lieben
Toten und ziehen einen zu trautem
stillen Zwiegespräch heran. Welch
ein Unterschied von der Stimmung
eines modernen Kirchhofes mit seinem
kalten Monumentenprunk, seinen ver¬
hüllten Krügen, geborstenen Eichen
oder Säulen, aufgeschlagenen Büchern
und ähnlichen Werken zopfiger Ge¬
schmacklosigkeit; vollends von dem
Eindruck eines neuitalienischen Cam-
po Santo mit seiner virtuosen Nach¬
bildung alles Stofflichen und seiner
aufdringlich realistischen Schilde¬
rung' des Schmerzes! Ist es für unsere Bildhauer so
schwer zu lernen, wo die Muster so reichlich und
so anziehend geboten sind? Möchte doch die vor¬
liegende Sammlung nach dieser Seite eine Reform
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F IV.
bewirken. Freilich sind es ja nur Kunsthandwerker,
von denen unsere Grabmalfabrikanten lernen sollen,
aber diese Handwerker sind eben Athener; auch
fehlte es ihnen nicht an bedeutenden Vorbildern.
Während die attischen Grabreliefs aus der Zeit
des peloponnesischen Krieges durchweg ein einheit¬
liches Gepräge, das der Pheidias’schen Kunst, tragen,
zeigen die Denkmäler des
vierten Jahrhunderts eine
größere Mannigfaltigkeit.
Derspezifisch attische Grund¬
charakter freilich bleibt allen
gemeinsam, aber sie verhal¬
ten sich zu den älteren ver¬
wandten Darstellungen etwa
wie die Eirene mit dem Plu-
tosknahen des älteren Kephi-
sodotos, die „antike Ma¬
donna“, zur Athena des Phei-
dias, zur Hera des Alka-
menes, zu den Göttinnen des
Eleusinischen Reliefs. Dieser
aus der älteren attischen Weise unmittelbar sich ent¬
wickelnden, nur empfindungsvolleren Richtung, als
deren Hauptträger uns eben Kephisodot erschein!,
gehört die große Masse der Grab¬
reliefs, wenigstens aus der ersten
Hälfte des vierten Jahrhunderts, an.
Daneben glaubt man aber auch die
Einflüsse anderer bedeutender Künst¬
ler zu spüren, so z. B. den von
Kephisodot’s großem Sohne Praxi¬
teles. Eine Stele in Leiden, der zahl¬
reiche Genossinnen zur Seite stehen
— ein schöner Jüngling, mit dem
linken Arm auf einen Baumstamm
gelehnt, in der gesenkten Rechten
ein Vögelchen haltend (Fig. 21) —
erinnert in dem zarten Epheben-
körper, in dem Lehnen auf den Baum¬
stamm, in dem weich geschwungenen
Rhythmus der ganzen Haltung, in der
lyrischen Stimmung des geneigten
Hauptes durchaus an den uns wohl-
bekannten Charakter jenes Meisters,
der jedenfalls der echteste Vertreter
dieses jüngeren Atticismus ist.
Neben ihm steht in kräftigerer Ausprägung sein
älterer, aus dem Peloponnes herübergekommener
Nebenbuhler Skopas, dessen Kunstart wir erst neuer¬
dings genauer erkennen lernen. Kürzlich hat L. von
30
Fig. 19. Grabstele aus
Smyrua Berlin, Nr. 767.
Fig. 21. Stele in Leiden.
(Mach Att. Grabr.)
234
ATTISCHE GRAERELIEFS.
Sybel in dieser Zeitschrift (II, 293), gewiss mit Recht,
das „Grabrelief vom Ilissos“ in diesen Zusammen¬
hang gestellt; der Kopf des Jünglings mit seinem
tiefen Pathos zeigt alle Merkmale einer unter Skopas’
Einfluss stehenden Kunstübung. Dies Relief aber
zieht eine ganze Gruppe ähnlich aufgefasster Reliefs
nach sich, ja es fehlt auch nicht an Beispielen
bekannt ist, in einer großen Stele des Prokies und
Prokleides (Fig. 22) wiedergefunden. Die Köpfe des
alten Prokleides und des gerüsteten Sohnes Prokies, der
ihm die Hand reicht, auch der der Mutter Archippe
im Hintergründe, zeigen die gleiche unerbittliche
Naturwahrheit wie der Platonkopf, so dass man un¬
willkürlich denkt: so müssen die Leute wirklich aus-
Kig. 22. l’ioliles nnd l’roklcjides. (Nacli Att. Grabr.)
prachtvoller weiblicher Köpfe von verwandter Plm-
pfindung und Kunstart. Ob wir auch den hoch-
fiiegendf'n Idealismus von Skopas’ attischem Genossen
Leochares auf den Grabreliefs werden suchen düi’feii,
mag zweifelhaft erscheinen. Dagegen hat Franz
Winter den schlichten Realismus eines Silanion, wie
er uns am authentischsten aus seiner Platonbüste
gesehen haben; ein Eindruck, der den Alten gerade
ebenso an den Porträtbildungen von Silanion’s Zeit-
und noch etwas naturalistischerem Kunstgenossen
Demetrios entgegentrat. So ist also auch der at¬
tische Realismus, der in der ersten Hälfte des vier¬
ten Jahrhunderts aufkommt, in dieser Denkmäler¬
gattung vertreten.
ATTISCHE GRABRELIEFS.
235
Von demselben Silanion rührte eine bewunderte
Erzstatue der sterbenden lokaste her, wie sie matt
und bleich — den Wangen war Silber beigemisclit —
dabin schwand. Täuscht mich nicht
alles, so finden wir eine verwandte
Stimmung in einer packenden Scene,
dem wohlerbaltenen Hauptstück eines
einstigen tempelförmigen Grabmals, das
eben jener Zeit angebört (Fig. 23).
Die Gestalten, fast statuarisch heraus¬
gearbeitet, sind lebensgroß. Auf einem
polsterbedeckten Sessel sitzt ein voll¬
bekleidetes Mädchen, nicht in der üb¬
lichen freien Haltung, sondern sie hat
die Füße zurückgezogen und die Arme
wie hilfesuchend vorgestreckt. Den
ganzen Oberkörper und den Hals leicht
vorgebeugt, blickt sie mit mattem,
krankem Ausdruck zu einer älteren verschleierten
Frau, wohl ihrer Mutter, empor, die mit lebhaftem
Schritt auf sie zu eilt
und ihr Antlitz mit dem
ergreifenden Ausdruck
schmerzlicher Beküm¬
mernis auf die leidende
Tochter richtet. Während
die leicht gehobene Rechte
ihre Rede mit einem be¬
kannten Gestus begleitet,
unterstützt ihre Linke
den matten rechten Arm
der Kranken. Hinter dieser
blickt eine Dienerin oder
Gefährtin mit stiller Teil¬
nahme auf die heran¬
tretende Frau; nur der
Lieblingsvogel unter dem
Stuhl der Tochter lässt
sich im Picken auf dem
Boden nicht stören. Das
ist kein Wiedersehen im
Hades, wie man geglaubt
hat, sondern der letzte
Besuch bei der sterbens¬
matten Tochter, ganz in
der packenden, der Wirk¬
lichkeit entlehnten Weise
geschildert, wie wir es
von Silanion voraussetzen zu dürfen glauben. Das
Relief steht auch nicht allein da. In Athen selbst
findet sich ein ganz verwandtes Stück; eine ähnliche
Scene, nur viel weniger lebendig geschildert, schmückt
eine Stele im Louvre (Taf. 63, n. 307); hübsche
Lekythen (Taf. 74, sehr fein und lebhaft, 75) und
kleinere Reliefs (Taf. 46, S. 70) zeichnen
drastischer, aber weit weniger poetisch
das Hinsinken einer auf Stuhl oder
Bett sitzenden Frau, die von einer
Freundin aufgefangen wird, gewöhnlich
umgeben von trauernden Angehörigen.
Immerhin ist diese Gruppe von Dar¬
stellungen verschwindend klein gegen¬
über der Masse der den Abschied
ruhiger andeutenden Reliefs.
Der im Laufe des vierten Jahr¬
hunderts bedeutend gesteigerte Luxus
des plastischen Gräberschmuckes —
erzählt uns doch Demosthenes von
einem Grabmal, das zwei Talente (etwa 9500 Mark)
gekostet habe — stand in umgekehrtem Verhältnis
zu der rasch abnehmen¬
den Wohlhabenheit der
Athener. Schon Platon
hatte auf die Rückkehr
zu den einfachen Verhält¬
nissen der Solonischen
Zeit gedrungen. So mochte
es denn wohl als Not¬
wendigkeit, ja als Wohl-
that empfunden werden,
als Demetrios von Pha-
leron gegen Ende jenes
Jahrhunderts (zwischen
317 und 307) diesem
ganzen Luxus durch eine
neue Begräbnisordnung
ein jähes Ende berei¬
tete. Fortan durften auf
den Gräbern nur noch
„Tische“, d. h. längliche,
dicht über dem Boden
liegende Platten, kleine
„Becken“, auf einfachen
Füßen ruhend, und nied¬
rige „Säulchen“ errichtet
werden. Letztere, runde
steinerne Pflöcke , dicht
unter dem oberen flachen
Ende mit einem Wulst, der wohl eine Binde vertritt,
versehen, meist nur mit einer Inschrift, seltener mit
einem bescheidenen Relief oder einer Umriss-
Grabstein aus Rheneia.
Berlin, Nr. 801.
Fig. 23. Besuch bei der kranken Tochter.
(Nach einer Photographie aus dem Apparat der Att. Grabreliefs.)
30*
236
ATTISCHE GRABRELIEFS.
Zeichnung geschmückt, bilden die Masse der späteren
attischen Grabdenkmäler, Die Plastik mit allen
ihren reichen Motiven war mit einem brutalen
Schlage vernichtet, attische Friedhöfe sahen fortan
so öde aus wie heutzutage türkische Gräberplätze
mit ihren einförmigen Leichensteinen oder wie ein
abgelegener Dorfkirchhof mit seinen kahlen Holz¬
kreuzen. Die unten wiedergegebene Zeichnung
R. Koldewey’s, die eine Zusammenstellung dieser
Perseus bis zur Zerstörung durch Mithradates in hoher
Blüte stand (Fig. 24). Neben neuem Inhalt und neuen
Formen führten auch die alten attischen Motive hier
ein bescheidenes Nachleben, immer mehr erstarrend
und verknöchernd. Und doch besaßen diese kläg¬
lichen Epigonen attischer Kunst noch genug ererbte
Anziehungskraft, um Goethe, als er ihrer in Verona
ansichtig ward, zu der oft angeführten Äußerung
zu begeistern: »Der Wind, der von den Gräbern
Fig. 2.'). Attische Gräljcrstätte des dritteu Jahrhunderts. Zeichnuug von R. Koldewey.
Späteren Grabformen giebt iFig. 25), kann freilich
zeigen, dass auch solche erzwungene Nüchternheit
in südliclier Umgebung nicht ganz der Poesie bar
zu sein Itrauchte. Die Gräberplastik flüchtete aus
Attika an andere Stätten, nach den reicheren Städten
Kleinasiens — aus Syrien stammt jener farbige Pracht-
sarkophag, von dem oben die Rede war — und auf
die Inseln des ägäischen Meeres, namentlich Rheneia,
die Gräberinsel von Delos, das als von Rom privile-
girter Freihandelsplatz von der Besiegung des
der Alten herweht, kommt mit Wohlgerüchen wie
über einen Rosenhügel. Hier ist kein geharnischter
Mann auf den Knieen, der einer fröhlichen Aufer¬
stehung wartet, hier hat der Künstler mit mehr oder
weniger Geschick immer nur die einfache Gegen¬
wart der Menschen hingestellt, ihre Existenz dadurch
fortgesetzt und bleibend gemacht. Sie falten nicht
die Hände zusammen, schauen nicht gen Himmel,
sondern sie sind was sie waren, sie stehen beisammen,
sie nehmen Anteil an einander, sie lieben sich, und
EINE ALTDORFER- BIOGRAPHIE.
237
das ist in den Steinen, oft mit einer gewissen Hand¬
werks Unfähigkeit, allerliebst ausgedrückt.“
Der Zweck dieses Überblickes ist erreicht, wenn
er recht viele Leser dieser Zeitschrift, zumal aus¬
übende Künstler, auf die reiche Quelle reinster Schön¬
heit hinweist, die diese Sammlung attischer Grab¬
reliefs erschließt. Neben den schönsten der bemalten
Vasen giebt es keine Klasse griechischer Kunstwerke,
die uns so tief in die Reize griechischer Menschen¬
natur und griechischen Familienlebens einweihte.
Grade die Grabmäler der Frauen, die zunächst in
Bearbeitung sind, geben einen überraschenden Ein¬
blick in das vornehme Gehaben attischer Weiber,
ein erquickliches Gegenbild gegen den tollen Spott
eines Aristophanes. Diese Reliefs werden auf keinen
kunstsinnigen Beschauer ihre Wirkung verfehlen,
solange moderner Realismus noch nicht alles Gefühl
für den hohen Adel einer Kunst abgestumpft hat,
welche für die einfachsten, innigsten Empfindungen
mit instinktiver Sicherheit stets die ganz entsprechende
Ausdrucksform zu finden weiß.
EINE ALTDORFER-BIOGRAPHIE.
MIT ABBILDUNG.
EITDEM die Geschichte der
deutschen Malerei des sech¬
zehnten Jahrhunderts das be¬
vorzugte Versuchsfeld jünge¬
rer Kunstgelehrter geworden
ist, sind auch die Meister
zweiten Ranges in ihrem
kunsthistorischenSchätzungs-
werte gestiegen und werden der Reihe nach in
mehr oder weniger satten Monographieen behandelt.
Der wissenschaftliche Gewinn dieser unscheinbaren
„Beiträge zur Kunstgeschichte“, von den bloßen
„specimina eruditionis“ unter ihnen abgesehen, ist
kaum geringer anzuschlagen als jener einer anderen
Spezialforschung, die in den ausgetretenen Spuren
anerkannter Kunstgrößen oft mehr in die Breite als
in die Tiefe geht. Denn dank der Beschäftigung
mit jenen weniger beachteten Künstlern vervoll¬
ständigt sich in immer weiterem Umfange das Bild
der deutschen Renaissance, tritt mehr und mehr ihr
ganzer Reichtum an selbständigen Talenten, die
Vielseitigkeit ihrer Richtungen zu Tage, die man
früher auf wenige Hauptraeister zurückzuführen
pflegte. So ist uns auch Älhrecht Altdorfer, der
Maler von Regensburg, den man die längste Zeit der
Nachfolge Dürer’s zugezählt, erst durch die vor¬
liegende Schrift Max Friedlmiders als eine kunst¬
geschichtliche Sondergestalt näher gerückt worden.
1) Beiträge zur Kunstgeschichte, Neue Folge, XIII.
Leipzig, E. A. Seemann, 1891.
Mit nicht gewöhnlichem Erfolge — und dieser Er¬
folg rechtfertigt unsere verspätete Anzeige — ist es
dem Verfa.sser gelungen, den Charakterkopf des
Regensburger Meisters zu zeichnen, seine persönliche
Eigenart in ihrer geschichtlichen Entfaltung zu er¬
fassen.
Glücklich führt sich die Arbeit mit dem Ver¬
suche ein, Altdorfer’s Frühstil aus der bayerischen
Stammeskunst, speziell aus der zu Ende des fünf¬
zehnten Jahrhunderts in Regensburg blühenden
Miniaturmalerei, herzuleiten. In der That zeigen
die Bilder aus den Jahren 1506 — 1511, denen
sich eine aus englischem Privatbesitze kürzlich
für die Berliner Galerie erworbene „Geburt Christi“
anschließen soll, mehr Berührungspunkte mit den
Buchmalereien Furtmayr’s als mit der Kunst Dürer’s,
an welche Friedländer nur eine Annäherung Alt¬
dorfer’s im zweiten Jahrzehnt des sechzehnten Jahr¬
hunderts zugeben will. Nun ist es gewiss richtig,
dass die gleiche Zeitdisposition, getrennt von ein¬
ander, wesensverwandte Erscheinungen hervorge¬
trieben hat, und im Gegensatz zur üblichen Reminis-
cenzenjagd und Entlehnungswirtschaft thut es recht
eigentlich wohl, Altdorfer’s Abhängigkeit von Dürer
eingeschränkt, jene von Grünewald, die Janitschek
namentlich ungebührlich betont hatte, überzeugend
abgewiesen zu sehen. Andererseits ist nicht zu ver¬
kennen, dass der Verfasser in dem Bestreben, Alt¬
dorfer so viel als möglich aus sich selbst heraus zu
konstruiren, über das Ziel hinausschießt. Wenn auch
keinesfalls in Nürnberg, so hat unser Künstler doch
238
EINE ALTDORFER- BIOGRAPHIE.
von Nürnberg gelernt, — besäßen wir auch nicht in
dem Madonnenstich B. 16 aus dem Jahre 1509
ein unmittelbares Zeugnis seines frühen Studiums
nach Dürer.
Daneben hätten aber auch seine Beziehungen zu
einzelnen bayerischen Tafelmalern, gerade des Dunkels
wegen, das über dieser Künstlergruppe noch liegt,
einer genaueren Erörterung bedurft. So bekunden
die Gemälde eines 1511 datirten Altares in der Kirche
zu Altenmühldorf in Niederbayern, zumal die „Be¬
weinung“ auf der Staffel, welche die „Kunstdenk¬
male des Königreichs Bayern“ in Abbildung bringen
werden, eine merkwürdige Verwandtschaft mit spä¬
teren Arbeiten Altdorfers. Haben wir in dem Meister
I S B, der diesen Altar mit seinem Monogramm ge¬
zeichnet hat (vgl. Sighart, Die mittelalterliche Kunst
in der Erzdiöcese Münch en-Freising, S. 173), einen
Vorläufer oder einflussreichen Jugendgenossen des
Künstlers zu erblicken? Und gehört diesem nicht
auch die „1 1511 S“ signirte Zeichnung mit der
Kreuzigung Christi im Berliner Kabinette an,
von welcher sich Wiederholungen in München,
Prag (Sammlung Lanna), Frankfurt und Erlangen
finden? Ebenso wäre über Altdorfer’s Verhältnis
zu Wolf Huber in Passau, dessen Abstammung aus
h^eldkirch in Vorarlberg W. Schmidt vor kurzem in
der Beilage der Allgemeinen Zeitung (1893, Nr. 11)
nachgewiesen — ein Verhältnis, das, mag es nun
Anregung gebend oder empfangend, jedenfalls ein
nahes gewesen sein muss — ein Wort der Auf¬
klärung am Platze gewesen.^)
Zutreffend abgewogen erscheint hingegen der
italienische Einfluss auf die Entwickelung des Regens¬
burgers. Am nachdrücklichsten macht sich der¬
selbe in einer mit Recht um 1520 angesetzten
Grujipe von Stichen geltend, in welchen Referent
eine Anzahl von Kopieen italienischer Niellen und
Plaquetten zuerst bemerkt hat (Chronik für ver¬
vielfältigende Kunst, 111, 35). Friedländer hat die
Vorbilder von B. 28 und 37 selbständig ermittelt,
den interessanten Umstand aber übersehen, dass die
in dem letzteren Blättchen (der Centaur mit dem
Fenerbecken) benutzte Plaquette die Komposition
einer antiken Kamee wiedergiebt, die schon Dona-
1) Von Bilflorn ans dem zweiten .lahrzehnt des sech¬
zehnten .Tahrhnnderts sind Friedländer die beiden Tafeln
mit je zwei Darstellungen aus der Kindheitsgeschichte Christi,
vormals in der Sammlung Untres in München, entgangen,
von welchen eine (Nr. 2560 des Auktionskataloges von 18G8)
signirt und 1514 datirt gewesen; ihr derzeitiger Verbleib ist
unbekannt.
tello in einem der Reliefmedaillons im Hofe des Pal.
Riccardi nachgebildet hatte (Müntz, Revue archeo-
logique 1879, pag. 245 und Les precurseurs de la
renaissance, pag. 70). Sonst scheint die Plaquette
vorwiegend bei norditalienischen Renaissancebild¬
hauern Anwert gefunden zu haben, wie ihre Kopieen
unter den ornamentalen Reliefs am Sarkophag des
h. Brivio von Cazzanigo in St. Eustorgio zu Mailand
und den Skulpturen der Porta della Rana der Ge¬
brüder Rodari am Dom zu Como beweisen. Alt¬
dorfer hat ferner das Hauptmotiv des Stiches B. 31
— den von Seepferden gezogenen und von Tritonen
geleiteten Wagen — einem Niello, dem von Duchesne,
Essai, unter Nr. 214 beschriebenen Blättchen im ver¬
kehrten und die Figur des Arion B. 39 dem Niello
Pass. V. pag. 258, Nr. 37 im gleichen Sinne ent¬
nommen. Die Venus B. 32 lehnt sich eng an das dem
Peregrini da Cesena zugeteilte Niello Pass. 654 (Licht¬
druck im Auktionskatalog Durazzo, Nr. 2887) an, jene
von B. 35 geht zweifellos gleichfalls auf ein italieni¬
sches Original zurück; sie erinnert wenigstens auffällig
an eine Aktstudie Verrocchio’s (Lippmann, Zeichnungen
alter Meister, Taf. 116). Den Stempel italienischer
Herkunft tragen noch B. 30 und B. 62, — letzteres
Blatt, ein Porträtkopf, ist besonders wichtig, weil es
durch sein frühes Datum 1507 die von Friedländer
bestrittene Thatsache erhärtet, dass Altdorfer’s An¬
fänge bereits eine gewisse Bekanntschaft mit
italienischer Kunst verraten. Neuerdings hat Fried¬
länder selbst eine erfreuliche Bestätigung dieser,
schon von S. Colvin, The Portfolio, 1877, pag. 139
vertretenen Ansicht beigebracht, indem er den Pru-
dentia-Stich Pass. 99 von 1506 sowie ein unbe¬
schriebenes Blättchen gleichen Gegenstandes, aber
späterer Entstehung im Berliner Kabinett den Kopien
italienischer Niellen hinzufügte und zugleich eine
ebenda befindliche Handzeichnung aus dem nämlichen
Jahre 1506 als Übersetzung einer italienischen Dar¬
stellung ansprach (Jahrbuch der preuß. Kunst¬
sammlungen, XIV, 22 ff.). Ein weiteres Beispiel der
Verwertung einer Plaquette liegt, einer Vermutung
Friedländer’s zufolge, die vieles für sich hat, in
der hl. Familie von 1515 in der Wiener Galerie vor.^)
Endlich wäre in diesem Zusammenhänge noch
auf die polygonalen Centralbauten in den Hinter¬
gründen einer Reihe von Gemälden Altdorfer’s,
1) Von den deutschen Kleinmeistern hat sonst nur Bartel
Beham in dem Stiche B. 33 ein Niello (Duchesne, 240) re-
produzirt und in B. 39 anscheinend das Motiv einer Plaquette
(Molinier, Les plaquettes, Nr. 632) verarbeitet (Chronik für
vervielfältigende Kunst, III, 50).
EINE ALTDORFER- BIOGRAPHIE.
"239
der Alexanderschlacht und des Madonnenbildes in
München sowie der Wiener „Geburt“ zu verweisen.
Der Grundtypus dieser phantastisch dekorativen
Bauten, der in leichten Variationen in jener von
dem Bayernherzog Wilhelm IV. bei verschiedenen
Malern bestellten Folge von Historienbildern mehr¬
fach wiederkehrt, ist, Friedländer’s Einwendungen
ungeachtet, gewiss nicht auf deutschem Boden ge¬
wachsen. Mag auch Hans Hieher’s, übrigens von
Mailänder Mustern angeregtes Modell zur Neupfarr¬
kirche in Regensburg unserem Künstler die ersten
unklaren Renaissancevorstellungen vermittelt haben,
so bleibt doch daneben eine Bereicherung derselben
durch Einblick in die architektonischen Reiseaul¬
nahmen anderer Italienfahrer — man denke etwa
an Hermann Vischer’s Skizzenbuch im Louvre mit
seinen zahlreichen Studien gerade nach Central¬
anlagen (Jahrbuch der preuß. Kunstsammlungen
XII, 50 ff.) — sehr wahrscheinlich.
Nicht im gleichen Maße wie die übrigen Klein¬
meister ist Altdorfer von der wälschen Invasion er¬
griffen worden. Dennoch hatte sie auch in seiner
Kunstweise seit dem Anfang der zwanziger Jahre
einen entschiedenen Stilwandel zur Folge, der sich
in der strengeren Symmetrie der Komposition,
einer größeren Farbenfreude und der Ausbildung
einer Art Schönheitsideal äußert. Der neuen For¬
menwelt sich nachhaltiger hinzugeben, wurde Alt¬
dorfer, von seiner kerndeutschen Individualität ab¬
gesehen, durch ein Regensburger Lokalereignis eben
derselben Zeit verhindert, das den Künstler zu
seinem Segen zur Einkehr in sein Volkstum nötigte.
Die Judenvertreibung von 1519 und der sich an sie
knüpfende, bis zur Extase gesteigerte Kultus
der „Schönen Maria“ gab bekanntlich zu einer
reichen graphischen Thätigkeit des Meisters Anlass.
Neben dem Helldunkelschnitt des Wunderbildes
(B. 51) hätten hier die überaus stimmungsvollen
Holzschnitte „Rast der hl. Familie in einer Kapelle“
(B. 47) und die Marienandacht des Mönches (B. 49)
sowie die radirten Synagogenblätter, schon ihrer
stofflichen Originalität wegen, eine eingehendere
Würdigung verdient. Eine solche hätte Friedländer
auch die Frage nahegelegt, ob der Holzschnitt B. 42
(Abb. Lützow, Gesch. d. deutsch. Kupferstiches und
Holzschnittes, S. 177)- thatsächlich auf die Kund¬
schafter aus dem gelobten Lande, oder, bei dem
Fehlen der großen Traube, nicht vielmehr auf einen
antiken Vorwurf, die Vorbereitung zu einem Feste
etwa, zu deuten sei. Von Gemälden setzt Fried¬
länder außer dem Sigmaringer Dreikönigsbild und
den Quirinustafeln in Nürnberg und Siena noch die
hochbedeutsamen Altarfragmente in der Kloster¬
galerie zu St. Florian in Oberösterreich, die Schreiber
o
dieses in der „Zeitschriftfür bildende Kunst“ (N. F. II,
S. 256 ff. und 296 ff.) ausführlich besprochen, in
den gleichen Zeitraum (1518 — 1521). Die Urheber¬
schaft Altdorfer’s bei den letztgenannten sechzehn
Bildern lässt sich indes leichter behaupten als er¬
weisen und wie schwierig die Beantwortung der noch
offenen Frage ist, geht daraus hervor, dass ein sonst
so taktfester Kenner der Altdeutschen wie W. Schmidt
sie nach dem ersten Eindruck für ausgeschlossen,
nach wiederholter Prüfung der Originale aber für
— unantastbar erklärte (Chronik für vervielfältigende
Kunst IV, 57),
Die Arbeiten aus Altdorfer’s letzter Periode
haben als die bekanntesten die Vorstellung von
seiner Kunst nur zu ausschließlich bestimmt. Gleich¬
wohl fällt von den Auseinandersetzungen des Ver¬
fassers manch neues Licht auf diese liebenswürdigen
Schöpfungen der Spätzeit, teils romantische Genre¬
stücke wie die Susanna und das Schlachtbild der
Pinakothek, teils gemütvolle, von der Poesie nordischen
Kleinlebens verklärte Andachtsbilder wie die „Maria
in W'^olken“ der gleichen Sammlung und die „Geburt
Mariä“ in der Augsburger Galerie (siehe die Abb.).
Mit der Madonnendarstellung in München hat ein
Marienbild bei Postrat Breisch in Stuttgart so
viel Abnlichkeit, dass man es nach einem ansprech¬
enden Vorschläge F. Wickhoff’s eher Altdorfer als
Baidung Grien, unter dessen Namen es 1886 auf
der Schwäbischen Kreisausstellung zu Augsburg
zu sehen war (Nr. 72), beimessen möchte. Ein weiteres
nachweisbares Bild unseres Malers, das von Fried¬
länder und der gesamten Altdorferforschung irrtüm¬
lich als verschollen bezeichnet wird, wurde nach Eng¬
land verschlagen: der „Abschied Christi von seiner
Mutter“, ehemals bei Abt Steiglehner in Regeus-
burg, gegenwärtig in der Sammlung J. F. Rüssel
in Enfield bei London. Nach der Charakteristik
Waagen’s sowohl, der es in den Treasures of
art in Great Britain (11, 463) als Dürer anführt, als
auch S. Colviu’s (The Portfolio, pag. 140) scheint es sich
um ein Hauptwerk zu handeln; falls es wirklich,
wie Colvin erwähnt, das Datum des Sterbejahres Alt¬
dorfer’s 1538 trägt, würde es zugleich den Rang seines
letzten Gemäldes der Münchener, um 1532 entstan¬
denen Landschaft streitig machen. Künstlerisch hat
Altdorfer indes auf alle Fälle in dieser köstlichen
Vedute sein letztes Wort gesprochen. Hier und in
der Folge der zehn Landschaftsradirungen erweist er
240
EINE ALTDORFER -BIOGRAPHIE.
sich als der Eröffuer der deutschen Landschaftsmalerei,
wie man an die Synagogenblätter und die Binnen¬
raumdarstellung eines gotischen Kirclrenchores auf der
, Geburt Mariä“ die Emanzipation der Architektur¬
deutschen nicht nur Studir-, sondern wahre Genuss¬
bilder zu bieten hat. Doppelt freut es uns daher,
dass der Historiograph des Malers von Regensburg
neben einem methodisch geschulten Blick ein ent-
I '.i ' I I,- lii' f.i'biiil Miiriii ( Inniiililegalerie, Augsburg.) Narb einer l’botographie des Ilofpbotogi’aphen Höfle in Augsburg.
I II! (!!-r (Iculscli'-n Kunst knüpfen könnte. Und
M ,i' i. . Ine T^iiinhcliaftcn vor allem, in denen er die
iiiruli 11;- Kiiipfindiing für die ,natnre vierge“ merk-
s'» iii-ii'j- Irüiircif vdiMiisnininit, wendet sich Altdorfer
,1)1 ii;is iH iillLc Aiigi-, di'in er ungleicli anderen Alt¬
schied enes Darstellungstalent für seine Aufgabe mit¬
gebracht und sich ihr dergestalt, mag sein Erstlings¬
werk auch eine tiefer eindringende Betrachtungs¬
weise zuweilen vermissen lassen, doch litterarisch
gewachsen gezeigt hat. FOBERT STTASSNY.
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
lE schon im vorigen Jahre
auf den Ausstellungen in
Paris, und nicht anders in
München, Werke fehlten,
welche die Aufmerksamkeit
derBesucher in besonders her¬
vorragendem Maße zu fesseln
und lebhafte Meinungsver¬
schiedenheiten hervorzurufen geeignet gewesen wären,
so auch in diesem Jahre. Bei dieser Wiederholung
ist die Pause kaum mehr als etwas Zufälliges an¬
zusehen. Die große Spaltung, welche vor drei
Jahren von Paris aus sich durch die ganze Künstler¬
schaft Europa’s fortgepflanzt hat, war nur die zufällig
gerade zu dieser Zeit eintretende Folge lange vor¬
handener Gegensätze. Dieselben haben sich in
großen, allgemeines Aufsehen erregenden Werken
ausgesprochen, und es ist eine Zeit des Ah Wartens
gekommen. Der Hauptreiz der diesjährigen Pariser
Ausstellungen ist der, zu sehen, wie sich die Mars¬
feldkünstler in den neuen Verhältnissen ihrer geson¬
derten Ausstellung heimisch einrichten, und wie auch
im alten Salon der Champs Elysees die neuen Ideen
sich allmählich Eingang verschaffen. Die Trennung
ist in Paris ebensowenig wie bei uns in Deutsch¬
land eine künstlerisch haarscharf durchgeführte;
vielfach haben persönliche Gründe für die einzelnen
Künstler mitgesprochen, sich der einen oder der
anderen Partei anzuschließen. Auch fällt es dem
von Deutschland Kommenden, da wir zum Teil noch
tief im Zeitalter der Romantik stecken, auf, wie
modern im allgemeinen auch der alte Salon ist.
Die Franzosen sind das erstgeborene Volk unseres
Jahrhunderts, welches aus dem Blutbad zu Ende
Zeitschrift für bildende Kunst. N. P. IV.
des vorigen her vor gegangen ist. Ja es will manchmal
scheinen, als wenn die Franzosen immer modern in
dem heutigen Sinne gewesen wären, selbst schon
im Mittelalter. Das scheint mir daher zu kommen,
dass die Kunstwerke denselben spezifisch französi¬
schen Geist atmen, der schon in der gotischen
Epoche vollständig ausgebildet war. Der französische
Geist hat aber seit dem Zeitalter des Rokoko eine
Herrschaft über ganz Europa gewonnen, und das,
was wir heute modern nennen, ist wesentlich von
demselben durchsetzt und bedingt. — Wir werden aber
dennoch nicht umhin können, die beiden Ausstellun¬
gen in den Champs Elysees und auf dem Champ
de Mars als zwei verschiedene individuelle Erschei¬
nungen zu betrachten, von denen namentlich die
letztere sehr bestimmte, scharf begrenzte Charakter¬
züge an sich trägt. Überall werden wir darauf hin-
weisen müssen, wie verschieden dieselbe Art von
Gegenständen in den beiden Ausstellungen behan¬
delt ist. Ganze Kategorieen von Bildern sind in der
einen mehr, in der anderen wenig oder gar nicht ver¬
treten. Alle diese Betrachtungen werden uns immer
mehr in der Überzeugung bestärken, dass der Gegen¬
satz in der Künstlerschaft seine Ursache nicht in
persönlicher Streitsucht der einzelnen Künstler hat,
sondern dass er ein naturnotwendiger ist, dessen
Hervortreten gar nicht zu vermeiden war, und diese
Erkenntnis wird es rechtfertigen, wenn wir denselben
überall betonen.
Die Marsfeldausstellung macht einen vornehmeren
Eindruck, insofern die Auswahl der aufnahmefähigen
Arbeiten eine sehr viel strengere gewesen ist; auch
verfolgen diese Künstler ganz bestimmte Ziele und
wollen mit ihrer Ausstellung künstlerische Behaup-
31
242
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
tungen aufstellen, während der alte Salon den ge¬
wöhnlichen Stempel eines Kunstmarktes an sich
trägt. Dafür ist die Marsfeldausstellung aber auch
sehr viel einseitiger und für den Laien uninteressanter.
Nur der alte Salon enthält das, was die eigentliche
Aufgabe der Kunst sein soll, eine erschöpfende
Schilderung von dem kulturellen Lehen und Empfin¬
den des Volkes zu sein, welches sie hervorhringt.
Schon dem nur äußerlich beobachtenden Auge
machen beide Ausstellungen einen ganz verschiedenen
Eindruck, im alten Salon ist bunte, prächtige Farben¬
freude und liebevolles Eingöhen auf den dargestellten
Gegenstand, während auf dem Marsfelde alles in
wenigen hellen Farben matt und flach gehalten ist
und der Künstler nicht über die Wirkungen des
Lichtes hinausgeht, wobei es ihm meistens ziemlich
gleichgültig ist, oh er ein Bildnis oder eine Land¬
schaft malt. Es ist ganz richtig, dass bei der Malerei
vor allem das spezifisch Malerische betont werden
soll; aber wir wollen hoffen, dass die Künstler nicht
bei den Wirkungen des Lichtes allein stehen bleiben
werden, sondern die Ausbildung in der Darstellung
desselben nur als eine Vorstufe betrachten, welcher
sie die malerisch ebenso notwendige Farbe hinzu¬
fügen werden: von dem Inhalt der Bilder, ohne den
eine Kunst, die auf Größe Anspruch erhebt, nicht
bestehen kann, vorläufig noch ganz abgesehen. Wir
fassen die Marsfeldkünstler als solche auf, die
methodisch zu Werke gehen und eins nach dem
anderen ausbilden wollen. Wie viele sich des not¬
wendigen weiteren Weges schon jetzt bewusst sind,
das mag freilich dahingestellt sein.
Die meisten nehmen die gedankenlose Phrase
vom .lahrhundertende ernst und denken, wie es im
vorigen .Jahrhundert war, so muss es auch in diesem
sein, „das Alte stürzt, und neues Leben blüht aus
den Ruinen.“ Aber während die einen in ernster
Arbeit danach ringen, eine neue Art zu sehen für
die Kunst zu entdecken, gefallen sich die anderen in
einer kunterbunten Tollheit, in der alles durchein¬
ander geht. Auch diese kann man ganz ernsthaft
reden hören von dem Leichnam der Kunst, an dem
sie Wiederbelebungsversuche anstellen, ohne zu
nifrken, dass dieselben galvanisch sind und niemals
wirkliches Leben erzeugen können. Da giebt La
Tonthn eine Prozession von Konfirmandinnen, bei
welclier man nichts wie von der Sonne beschienene
weiße Schleier sieht, und den Kopf einer sterbenden
Frau in einem Wust von weißem Bettzeug und
Gardinen; da malt Haffriclti seine Bilder in Öl, als
wären sie mit schwarzer Kohle und Pastell gezeichnet;
da verschwendet Berton sein bedeutendes Talent,
um die Köpfe seiner sehr lebendigen Bildnisse nur
eben aus einem Rembrandtartigen braunen Dämmer
auftauchen zu lassen. Rusinol porträtirt einen wei߬
gekleideten Herrn vor einer weißen Mauer im hell¬
sten Sonnenschein. Der Belgier Leon Frederie will
es einmal mit einer vergessenen Manier versuchen
und wärmt uns den bronzeartigen Vortrag und die
Typen Botticelli’s auf. Der Tollste ist wie immer der
Amerikaner Dannat, der sich mit Gewalt in eine Art
von japanischem Sehen und magnesiumartiger Be¬
leuchtung hineinschraubt. So hellblaue Schatten
wie auf seinen Bildern kommen in der That in der
Wirklichkeit vor, aber nur an einzelnen Stellen und
unter besonderen Umständen; das verallgemeinert
und ins Unendliche übertrieben ist widersinnig. Dass
diese Maler ganz gut anders schaffen können, ohne
das Lebendige des Dargestellten aufzugeben, beweist
Louis Picard, der sich sonst nicht genug thun kann
in dem flachen braunen Dämmer seiner Bildnisse,
an dem fein und sauber ausgeführten kleinen Bildnis
eines Kindes. Das Publikum hat nicht Unrecht,
wenn es diese Bilder nicht fertig gemalt nennt.
Solche Sonderbarkeiten finden sich auch im alten
Salon, wie die blauen Cypressen von Lehoux oder
das Gemälde von Princeteau mit lebensgroßen Ochsen,
welche einen in ihren Stall fallenden Sonnenstreifen
ebenso erstaunt betrachten wie der Beschauer diese
braunen Farbenmassen, in denen er nur mit großer
Mühe die beliebten, das Roastbeef spendenden Vier¬
füßler erkennt.
Wer die Marsfeldausstellung von ihrer besten
Seite kennen lernen will, der muss vor das Gemälde
von Albert Fourie treten: A travers bois. Aus dem
Waldesdickicht bricht ein Zug von vier nackten
Gestalten hervor, ein Knabe, welcher einen Esel
führt, ein Knäblein, welches auf demselben reitet,
eine junge Frau, die das Kind haltend daneben läuft,
und ein Mädchen, welches ihr zur Seite folgt. Die
goldenen Sonnenstrahlen brechen durch das Blätter-
gewirr, betupfen die üppigen Leiber und ver¬
golden funkelnd das blonde Haar des Kindes und
des Mädchens. Frische Landluft weht uns aus den
derben Gesichtern entgegen. Weit hinter diesen Ge¬
stalten liegt alles Übergebildete und Krankhafte, aber
fern ist auch jede Roheit. In einer reich spenden¬
den Natur .sind diese vollen Leiber erblüht und
tummeln sich in frischer naturwüchsiger Ausgelassen-
lieit. Man könnte das Bild als ein Prototyp der
ganzen Richtung nehmen, auch sie bricht hellleuch¬
tend und jubelnd aus dem dunkeln Walde der Ver-
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
243
gangenheit hervor und Avirft sich mit jugendlicher
Frische der Zukunft entgegen.
Die Lichtwirkungen sind es vor allem, welche
die Marsfeldkünstler aufsuchen, sei es, dass sie das
fleckige Sonnenlicht unter Bäumen darstellen, wie
Binet und Änthonissen, oder die bekannte große
Wäsche, wie der Schwede Edelfeldt, oder das Gesicht
eines Leuchtturmwächters bei seiner grünen Laterne
wie Eichon-Brun et. Auch der Mondschein wird nicht
mehr poetisch-träumerisch, sondern allein auf seine
matte Wirkung hin gemalt, wie auf dem Bilde von
Binet, welches in einem Flusse badende Mädchen
darstellt, deren Schamgefühl nicht zu leiden braucht,
da man von ihnen fast gar nichts erkennt.
Die Beherrschung der Technik verleiht fast allen
Bildern des Marsfeldes den Eindruck einer großen
Sicherheit und Freiheit in der Mache. Was diese
Künstler mit technischen Mitteln ausdrücken wollen,
ist oft bis zu verblüffender Wahrheit erreicht; ich
glaube kaum, dass niederströmender Regen jemals
so naturgetreu gemalt ist, wie in dem kleinen Bilde
von Checa.
Im Zusammenhang mit den angeführten Bestre¬
bungen werden auch rein technische Experimente
versucht. Emile Bastien Lepage malt Tafelbilder
al fresco. Sehr beliebt ist es, eine Technik in die
andere hinüber spielen zu lassen, wie ein Musik¬
virtuose wohl versucht, ein Instrument durch ein
anderes nachzuahmen. Man will zuweilen mit der
Ölfarbe eine pastellartige Wirkung erzielen, wozu
fast immer eine übergelegte Glasplatte zu Hilfe
genommen wird; so auf den Bildern von Gandara.
Das mag den Reiz des Ungewöhnlichen haben, im
übrigen sei daran erinnert, dass es gerade eine Höhe
der Kunst bedeutet, die Mittel jeder Technik aufs
äußerste auszunutzen, aber sich auch darauf zu be¬
schränken. Wie man Aquarell als solches malt und
dabei alle seine Vorzüge herausfindet, das kann man
gerade jetzt auf der Berliner Ausstellung an den
schönen Studien Kröner’s sehen. Das Pastell ist auf
beiden Ausstellungen nicht so stiefmütterlich be¬
handelt wie gewöhnlich auf den deutschen, nicht in
einen abgelegenen Winkel verbannt. Der Saal des
Pastells, dessen eigentliche Schönheit in der Farbe
liegt, ist der einzige farbige in der Marsfeldausstel¬
lung. Der berühmte Pastellist Carrier- Bellen se hat
einen herrlichen weiblichen Akt vor einem weißen
Vorhang in dieser Technik gemalt. Reizende Herbst¬
landschaften hat Iwill darin geschaffen mit vielen
harmonisch gestimmten Farbentupfen. Das Pastell
hat auch noch den Vorzug, selbst die Tollsten in
ihren Ausschreitungen zu beschränken, weil es über
gewisse Wirkungen nicht hinausgehen kann.
Auch im alten Salon befleißigt man sich der
Übung im Pastell und in Gouache oder Gouache mit
Aquarell kombinirt, seltener Aquarell allein. So schön
die Farbe des Pastells ist, für die meisten Gegenstände
fehlt ihm die Transparenz. Es gelingt nur selten,
darin einen Akt so lebendig zu malen, wie es Gilbert
in seinem unter einem japanischen goldgelben Schirm
liegenden Mädchen gelungen ist. Das Bild hat noch
außerdem das Verdienst, die Farbe des Körpers nicht
durch die ähnliche, aber brillantere, des Schirmes ab¬
schwächen zu lassen, vielmehr erscheint dieselbe
gegen diesen Hintergrund um so zarter und duftiger.
Auch für Blumen ist das Pastell nicht im stände,
die letzten Wirkungen zu erzielen, da die moderne
Kunst mit Recht über die Anforderungen der be¬
rühmtesten Blumenmaler, der Holländer des 17. Jahr¬
hunderts, hinausgegangen ist, und neben der schönen
Zeichnung und Farbe die tauige, duftige und
lebende Naturfrische verlangt.
Das Blumenstück ist die Freude des alten Salons,
aber nicht als Stillleben, wie meistens bei uns, sondern
als blühender Garten oder als Verkaufstelle für Blu¬
men, wie es Rozier und Tlnmier gemalt haben. Be¬
sonders beliebt sind noch immer Chrysanthemum und
Stockrosen, de Schräger giebt einen Blumenkorso im
Bois de Boulogne, Monginot setzt das prächtige Ge¬
fieder eines Pfaues mit Blumen in Einklang. Die
Farbenfreude des alten Salon macht sich auch ira
Kostümbild geltend. Das Beste hat darin Eoyhet in
seinen Propos galants geleistet. Ein Trompeter des
30jährigen Krieges macht dieselben einer dicken
Küchenfee, welche mit blutigen Händen und in über
dem fetten Busen offen stehendem Gewände einen
Hahn rupft. Es ist eine Rubens’sche Pracht und
Kraft in dem Bilde, derb und plebejisch ist das Weib,
wie auf einem Bilde von Jordaens.
Auch zu der Lieblingsaufgabe der französischen
Kunst, dem weiblichen Akt, verhalten sich beide
Ausstellungen sehr verschieden. Gemeinsam ist bei¬
den, dass sie denselben nur sehr selten naturalistisch
malen, sie bleiben nicht gern bei der Wiedergabe
des Modells stehen. Als Ausnahme wären unter den
Jungen Moutte zu nennen und Rousseau, der eine
sterbende Nana ihren verbrauchten Körper auf das
ärmliche Bett hat werfen lassen, unter den Alteren
Gugon mit einem gähnenden Modell. Es hat sich
zu tief in das Bewusstsein der französischen Künstler
geprägt, im weiblichen Akt eine Haupterscheinung
der Schönheit zu sehen. Der Hauptreiz des Aktes
31*
244
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
liegt, außer in der Farbe, in der schönen Modellirung
und Bewegung, und beidem geben die Marsfeld¬
künstler aus dem Wege. Daher verwenden sie den
Akt fast nur in dekorativen Gemälden oder malen
ganz junge Mädchenkörper, wozu sie häufig die
keusche Diana als Vorwand nehmen, die seit alters-
her in Frankreich eine beliebte Figur ist, so Duhufe
fls und 31. B. de Llonvel. Im alten Salon dagegen
wird man nicht müde, den nackten weiblichen Körper
zu schildern. Auch hier bevorzugt man kaum ent¬
wickelte jungfräuliche Körper. Bald sind es badende
Mädchen, bald Sirenenjungfrauen am Ufer des Meeres,
bald Nymphen am Teich. Das ergiebigste Aktbild
ist von Lc Quesne. Es stellt nach einem Gedicht
von Dubut de Laforest die Töchter des Menestho
vor, die aus einer am Ufer des Meeres liegenden
Riesenmuschel hervorkommen. Herrlich stehen die
graziös bewegten blassgelben Leiber gegen das rosige
Innere der Muschel oder gegen die transparenten
grünen Wellen, in schön verschlungener Gruppe
laufen die vordersten über den nassen Strand. Wie
Blüten erscheinen die nackten Knaben von Salvador-
31ege und das Mädchen von Jacquessoyi de la Chevreuse
unter oder in den Zweigen von Blütenbäumen. Auf
Jam ins kleinem Bilde betrachtet Brennus lachend
seinen Teil der Beute bei der Eroberung Roms,
eine Gruppe schöner gefesselter Sklavinnen. 3'Iartcns
wollte einen nackten Körper auf weiß malen, hätte
aber besser gethan, die unwahrscheinliche Situation
eines entkleideten Mädchens im Walde auf Schnee
liegend zu vermeiden und dieselbe in das warme,
ebenfalls weiße Bett zu legen. Den schönsten Akt
hat Henri Rcjyer gemalt, ein Mädchen im Walde
stehend und das Haar mit Blüten schmückend.
Sie befindet sich im dämmerigen Schatten der Bäume,
durcli welchen nicht die häs.slichen, im neuen Salon
beliebten Sonnenflecke hindurchdringen können; in
sanften l’bergängen ist die edle Gestalt modellirt.
Weibliche Körper kräftig bewegt giebt Luminais in
seinen Amazonen, die sich verzweifelt zu Pferde in
den Abgrund stürzen. Wie diese energisch gezeichnet
und kräftig modellirt sind, kommen aber auch flaue
und süßliche Akte vor, z. B. von Tony Tollet, Saint-
jiierre, Peiranlt und Piol. Das Gemälde des letzteren,
ein halb entblößtes Mädchen in einem Lehn.stuhl,
zeichnet sich jedoch durch eine schöne Farben¬
wirkung aus des schwarzen Samtkleides, des roten
Tuches und des goldig leuchtenden Fleisches. In
der Far})e dekorativ verwertet sind ein goldiger
weiblicher und ein brauner männlicher Akt in dem
Bilde von Julian Story, welches in der Wiedergabe
eines Fauns und einer Nymphe gerade noch den rich¬
tigen Augenblick erwischt hat, ehe die Scene undar¬
stellbar wird.
Freuen wir uns der reichen Fülle der Akte,
welche in Paris gemalt wird, denn sie halten den
Idealismus in der Malerei aufrecht, selbst der Mars¬
feldkünstler kann sich dem nicht entziehen. Der
Franzose durchdringt seine ganze künstlerische Her¬
vorbringung fast unwillkürlich mit einem poetischen
Empfinden, und poetische Gegenstände sind in der
französischen Kunst sehr beliebt. Vielen Bildern,
vielen Statuen sind zur Erläuterung Verse beige¬
geben, auch wenn das Werk nicht eine Illustration
zu denselben ist. Diese Poesie hat auch viele Bilder
des Marsfeldes übergoldet. Darin ist vor allem der
Meister Dagnan-Bouveret zu nennen. Am Rande
eines Waldes hat er auf seinem Bilde Hirten ver¬
sammelt, deren einer sich in ihre Mitte gestellt hat
und die Geige spielt. Die Köpfe tragen realistische
Züge, aber sie sind flach gemalt und der dämme¬
rige Vortrag ist sehr geschickt benutzt, um eine
poetische Stimmung hervorzurufen. Man glaubt die
sanfte Melodie der Geige zu hören, man glaubt den
verschönenden Hauch der Musik in den Seelen dieser
einfachen Leute zu spüren. Vortrefflich eignet sich
die Malweise des Marsfeldes, das Flache, Körperlose,
zu 'Gegenständen , wie der von Sala behandelte,
welcher den Tau als halbdurchsichtige weibliche
Gestalten auf einer Wiese liegend und wandelnd
oder im Nebel dahinschwebend darstellt. Im alten
Salon ist die größte Zahl der Bilder poetischen Ge¬
haltes zu finden. Mehrfach ist die Sage vom Faden
der heiligen Jungfrau behandelt, wie sie über die
Wiesen geht, die vom Fell der weidenden Schafe
an den Büschen und Kräutern hängen gebliebenen
Wollflocken sammelt und zu einem Faden verspinnt,
mit dem sie das Symbol ihrer Reinheit, die Lilien,
zusammenbindet. So lässt sie Perrin an drei Mäd¬
chen vorübergehen, die erschreckt und erstaunt über
die Erscheinung aufgesprungen sind; erst eine hat
Zeit gefunden, sich betend niederzuwerfen. Laugee
hat diese Legende etwas anders gefasst. Bei ihm
ist es Abend, und die heilige Jungfrau wandelt un¬
beobachtet; der Schäfer, der in seiner Hütte betet,
sieht sie nicht. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
Bilde von Sala hat das von Fh-anc Lamy. Nackte
weibliche Gestalten liegen und wandeln auf einer
Wald wiese, die in blauem Dämmer daliegt: es sind
die Geister der Blumen. Sehr schön ist es erdacht,
dass die vorderen sich im Schatten befinden, während
die Leiber der rückwärtigen sonnenbeschienen hervor-
BÜCHERSCHAU.
245
leuchten. Einen antiken Stoff hat Bouguereau be¬
handelt; junge griechische Mädchen bringen dem
Gott Amor, der auf einem Altar steht, Opfergaben
dar. Auch in diesem Gemälde Bouguereaii’s ist die
glatte und süßliche Form wieder wett gemacht durch
einen reichen Gehalt tiefer, zarter und inniger Poesie.
Sonderbarkeiten kommen auch unter diesen poeti¬
schen Bildern vor. Sinihaldi lässt sieben halb ideal
halb nach der neuesten Empiremode gekleidete Mäd¬
chen in einer blühenden Frühlingslandschaft über
einen Hügel gehen, während die Tiefe der Land¬
schaft in rosigem, nur zu rosigem Nebel liegt, durch
den Soldaten ziehen, und betitelt dieses Bild Aurora.
Der französische Künstler hat in diesem reichen
Gehalt von poetischem Empfinden seines Volkes
eine wohlthätige Sonne. Dieselbe kann wohl für
Zeiten hinter Wolken verschwinden, um rein tech¬
nischen Versuchen das Feld zu lassen; sie beginnt
aber auch auf dem Marsfelde schon wieder hervor¬
zutreten und die Gemälde desselben mit ihrer Schön¬
heit zu übergolden.
MAX GEORG ZIMMERMANN.
BÜCHERSCHAU.
EIT Vosmaer im Jahre 1868
zum erstenmal eine um¬
fassende Biographie Rem-
brandt’s herausgegeben hat,
ist erst in unseren Tagen
wieder der Versuch gemacht
worden, das Leben und Wir¬
ken des holländischen Mei¬
sters in großem Stile zu schildern. Der bekannte franzö¬
sische Maler und Kunstschriftsteller Emile Michel V hat
diesen Versuch gewagt und in dem unten citirten Buche,
das die Verleger mit prächtigem Bilderschmuck aus¬
gestattet haben, bewiesen, dass er mit Urteil und Ge¬
schmack den mannigfachen Ergebnissen der Rem-
brandtstudien während fünfundzwanzig Jahren gefolgt
ist. Wiewohl es schon Vosmaer und noch vor ihm in
einem geistreichen Essay Kolloff gelungen war, das Bild
Rembrandt’s als Künstler in den wesentlichen Zücken
richtig zu zeichnen, so sind doch die Ergebnisse der
archivalischen und stilkritischen Bemühungen jün¬
gerer Forscher so belangreich und auf klärend o-e-
wesen, dass die Forderung nach einer neuen Rem-
brandt- Biographie auf breiterer Grundlage, als
Vosmaer sie schreiben konnte, immer dringender ge¬
worden ist. Unermüdlich auf seinen Kreuz- und
Querzügen durch die kontinentalen Kunstsammlun¬
gen hat Wilhelm Bode das Werk Rembrandt’s außer¬
ordentlich vermehrt. Ganze Folgen versteckter oder
verkannter Bilder, wie zum Beispiel diejenigen aus
der Jugendzeit Rembrandt’s, hat er ihrem Urheber
wiedergegeben und sie rühmend ans Licht gezogen.
Abraham Bredius hingegen danken wir die Kenntnis
zahlreicher neuer Urkunden, die uns in das Leben
1) Rembrandfc , sa vie, son oeuvre et son temps. Mit
343 Illustrationen. Paris, 1893. Hachette et Cie.
des Künstlers neue überraschende Blicke thun lassen
und uns aufklären über Rembrandt’s Beziehungen
zu zeitgenössischen Malern. Zahlreiche Einzelunter¬
suchungen sind hinzugekommen. Namentlich das
Radirwerk hat eine gründliche Revision erfahren,
seit Middleton und Seymour-Haden mit ihren Zwei¬
feln zur Kritik des alten Bartsch aufforderten, und
seit Dmitri Rovinski in seinem Codex von Repro¬
duktionen alter Radirungen mit Berücksichtigung
sämtlicher Zustände ein jedem Forscher und Sammler
unentbehrliches Corpus herausgegeben hat. Von
diesen wichtigen Vorarbeiten ist von Seidlitzens
feine Analyse der Radirerthätigkeit Rembrandt’s aus¬
gegangen. Nur ein Gebiet der künstlerischen Hinter¬
lassenschaft Rembrandt’s harrt noch der vorsichtigen
Nachprüfung: die Menge seiner Zeichnungen. Zu
groß, viel zu groß ist noch die Summe dieser Zeich¬
nungen. Eigenes und Fremdes, Echtes und Falsches
liegen in den meisten Kabinetten noch friedlich
nebeneinander. Aber auch hier wird Rat geschaffen
werden; bietet doch Lippmann’s große Publikation
der Zeichnungen Rembrandt’s durch die Vortrefflich¬
keit ihrer Faksimilereproduktionen ein Material, mit
dessen Hilfe das vergleichende Studium der Hand¬
zeichnungen des Meisters sichere Ergebnisse er¬
hoffen darf.
Emile Michel hat keine Mühe gescheut, sich die
Fülle dieses weitverzweigten Studienmaterials zu
Nutze zu machen. Er kennt alles, was über Rem-
brandt gedruckt worden ist, hat auf vielfachen Reisen
den Meister in seinen Werken studirt. Die eigene
künstlerische Vergangenheit kam ihm bei diesen
Studien hilfreich zu statten. Das eigene Wissen um
die malerischen Dinge — als Landschafter im Sinne
der Schule von Fontainebleau hat sich Michel aus¬
gezeichnet — stellte ihn in engen Rapport zu seinem
246
BUCHERSCHAU.
Helden, dessen Studium er sich mit warmer Be¬
geisterung hin gegeben hat. Michel ist frei von dem
Wahne eitler Asthetisirerei, die in dem Künstler eher
einen Poeten, Philosophen, Heiligen, kurz eine Art
Abgott erblickt als einen glücklichen Menschen,
dem Katur Empfindung in die Seele senkte und die
wunderweckende Kraft lieh, zu gestalten, was er als
Künstler empfand, anschaulich und mitteilsam. Eine
seltene Fähigkeit feiner Nachempfindung zeichnet
Michel aus. Daher die Wärme seiner Schilderung
in einem Stile, dessen anschauliche Kraft und Be¬
weglichkeit des Ausdrucks den geborenen Schrift¬
steller verrät und den Künstler nie verleugnet. Michel’s
Rembrandt ist nicht nur gut geschrieben — das ist
ja, wenigstens in Frankreich, für den, der schreibt,
selbstverständlich, — seine Biographie erhebt selbst
künstlei'ischen Anspruch, weil sie in künstlerischer
Empfindung wurzelt und ihr die Kraft innewohnt,
diese Empfindung im geschriebenen Worte durch¬
scheinen zu lassen.
Dem litterarischen Werte dieser Veröffentlichung
hält der wissenschaftliche durchaus die Wage. Denn
— ich deutete es schon an — Michel schreibt als
ein gut Informirter. In seinem kritischen Urteil
steht er im allgemeinen auf dem Standpunkte Bode’s.
Aber in allem und jedem verrät er eigene Nach¬
prüfung, zeigt überall den gewissenhaften, selbständig
wägenden Verarbeiter des ungeheuren Materials, aus
dem sich eine großangelegte Biographie des hol¬
ländischen Meisters aufbauen muss. Michel’s alleiniges
Eigentum ist die geschickte Gruppirung des Stoffes.
Gleich die ersten Kapitel, die von dem Milieu handeln,
aus dem Rembrandt herauswächst, und die Spuren
seiner ersten Thätigkeit verfolgen, zeugen fürMichel’s
Stoffljeherrschung und gefällige Kunst einer schlicht
und klar sich aufreibenden Erzählung. Nirgends
überwuchern kulturgeschichtliche Betrachtungen oder
subtile Detailuntersuchungen den ruhigen Gang der
Schilderung, stets bleibt Rembrandt im Mittelpunkt
des Interesses. Findet so in dieser Biographie der
nach guter kunstgeschichtlicher Arbeit verlangende
Gebildete vollauf seine Rechnung, so geht auch der
auf kunstwissenschaftliche Findlinge auslugende Fach¬
mann nicht leer aus. Im Einzelnen natürlich wird
er manchen Ausführungen des Verfassers nicht bei-
stiimnen und vielleicbt manche Umwertung der
P»ilder vornehmen, auch wohl an der Chronologie
inanclier Werke Anstoß nehmen. Aber bei einer
im Ganzen so vortrefflichen Schilderung überlasse
ich es gern anderen, sich mit einzelnen Bedenken
ihr kritisches .Mütchen zu kühlen. An dieser Bio¬
graphie, die unser Wissen von Rembrandt zusammen¬
fasst und erweitert, kann jeder fernere Biograph
lernen, keiner wird sie ohne Nutzen und Genuss
aus der Hand legen.
Im Anhänge zu seinem Buche hat Michel sorg¬
fältig gearbeitete Verzeichnisse der Werke Rem-
brandt’s veröffentlicht, die gegenüber den früheren
von Vosmaer, Bode und Dutuit den Vorzug größerer
Vollständigkeit besitzen. Etwa 450 Gemälde führt
Michel an; definitiv ist diese Summe freilich nicht;
in der großartigen Publikation, die Bode über Rem¬
brandt vorbereitet, wird sie jedenfalls nicht un¬
erheblich gesteigert werden. Das Verzeichnis der
Zeichnungen, obwohl weit kritischer gearbeitet als
dasjenige von Dutuit, enthält doch noch zu viel, das
auf seine Authenticität hin noch nicht untersucht
worden ist. Das Verzeichnis der Radirungen berück¬
sichtigt überall die Einwände, welche in den letzten
Jahren gegen die Urheberschaft Rembrandt’s in
verschiedenen Fällen geltend gemacht worden sind.
Den Beschluss macht ein V erzeichnis der Rembrandt-
litteratur von Orlers’ Beschryving der Stadt Leiden
(1641) bis auf die Erscheinungen des Jahres 1892,
wobei insofern eine Kritik geübt wird, als Avertlose
Erzeugnisse wie Lautner’s „Verbolhornirung“ Rem¬
brandt’s ausgelassen sind.
Für die Illustration des Werkes sind durchaus
die Hilfsmittel der photomechanischen Technik heran¬
gezogen worden. Die Heliogravüren, wenigen Licht¬
drucke und die Zinkätzungen sind vorzüglich ge¬
druckt. Mit besonderer Freude betrachten wir die Korn¬
hochätzungen neben den gewöhnlichen Autotypieen.
Obwohl auch bei uns die Kornmanier bei zinkogra-
phischen Vervielfältigungen, wie einige Publika¬
tionen der Reichsdruckerei zeigen können, vortrefflich
geübt wird, suchen wir vergeblich in unseren illu-
strirten Werken nach Beispielen ihrer Anwendung i).
Freilich macht der Druck dieser Cliches nicht ab¬
zuweisende Ansprüche auf gutes Papier und sorg¬
fältigste Zurichtung. BIGHAJRD ORAUL.
Iiiber regum. Nach dem in der k. k. Universitätsbiblio¬
thek zu Innsbruck befindlichen Exemplare zum erstenmal
herausgegeben von Dr. Riid. Hochcgc/er. Mit 20 Faksimile¬
tafeln. Leipzig, 0. Harrassowitz, 1892. 4.
Die vorliegende Publikation enthält eine technisch vor¬
züglich gelungene Faksimilewiedergabe des auf der Inns¬
brucker Bibliothek befindlichen Blockbucbs, das unter dem
1) Anm. d. Red. Soviel uns bekannt, werden diese
Kornätzungen, außer in der Reicbsdruckerei die nur für den
Staat arbeitet, in Deutschland nirgends gut bergestellt.
BÜCHERSCHAU.
247
Namen des „Liber regum“ den Kunstfreunden bekannt ist.
Es ist einer der merkwürdigsten jener Sammelbände von
Holztafeldrucken, welche sich aus den ältesten Zeiten der
Xylographie bis auf unseren Tag erhalten haben. Schon der
Seltenheit des Originals wegen muss eine solche Vervielfäl¬
tigung des alten Buches hochverdienstlich genannt werden.
Umsomehr, wenn sie unter Beibringung eines reichen kri¬
tischen und exegetischen Materials geschieht, wie wir es von
Hochegger seiner Publikation hinzugefügt finden. Von
dem „Liber regum“, welches in dem vorliegenden Exem¬
plar zwanzig Tafeln mit je zwei Bildern und kurzen Texten
zur Geschichte des David enthält, haben sich im ganzen
(soweit unsere bisherige Kenntnis reicht) nur fünf Exemplare
noch erhalten: in Innsbruck, in der Hofbibliothek zu Wien,
beim Herzog von Aumale in Twickenham, im k. Kupfer¬
stichkabinett zu Bei’lin und in der Bibliothek des Vatikans.
Das Innsbrucker ist neben dem Exemplar des Herzogs von
Aumale das an Vollständigkeit und Erhaltung beste der
Reihe. Es zeigt uns den Holzschnitt in jener derben, aber
ausdrucksvollen Umrissmanier, wie sie bis über die Mitte
des 15. Jahrhunderts in Deutschland die allein herrschende
war. Und einem deutschen Meister muss ohne Zweifel
Zeichnung wie Schnitt unseres Blockbuches zugeschrieben
werden. Fi’eilich steht derselbe dem Illustrator der „Biblia
pauperuni“ nach, jedoch keineswegs auf ganz niedriger Stufe:
die Bilder ,, verraten viel Eigenait in der Komposition und
vor allem eine gewisse individuelle Färbung“. Charakter
und Gemütsverfassung der Personen sind scharf und fein
unterschieden, die Situationen, die verschiedenen Stände vor¬
trefflich und nicht ohne Humor gekennzeichnet; bei Wieder¬
holungen ähnlicher Motive ist eine glückliche Abwechselung
erreicht. Nur in den Proportionen zeigt sich ein arges Un¬
geschick, auch das Landschaftliche ist noch sehr dürftig. —
Dass der „Liber regum“ sich mit der „Ars memorandi“
mehrfach in einem Sammelbande vereinigt findet und des¬
halb , sowie auch aus anderen Gründen, wahrscheinlich mit
dieser aus einer und derselben Werkstätte herrührt, hat
Hochegger bereits in seiner früheren Schrift über die „Ent¬
stehung und Bedeutung der Blockbücher“, wie uns dünkt,
mit Glück dargelegt. Hingegen können wir unserem Herrn
Referenten über die damalige Schrift Hochegger’s nicht bei¬
pflichten, wenn er auch die Ansicht des Autors, dass die
Blockbücher von Haus aus „Unterrichtsbehelfe“ gewesen seien,
für erwiesen hält. Uns scheint damit die Bestimmung dieser
Bilderbücher zu eng gefasst zu sein. Sie waren — das geht
aus ihrem fast ausschließlich religiösen Inhalt klar hervor
— in erster Linie zur Erbauung und Belehrung des Volks,
zur Unterweisung desselben in den Heilswahrheiten und in
den Erzählungen der heiligen Schrift bestimmt. Diesen lehr¬
haften Zweck im religiösen Sinne darf man aber nicht als
einen ausschließlich didaktischen in der heutigen Bedeutung
des Wortes auffassen und etwa bloß an Lehrbücher für die
Jugend denken, wozu der von Hochegger gebrauchte Aus¬
druck „Unterrichtsbehelfe“ leicht verleiten könnte. Es ist
möglich, dass einige der Blockbücher, z. B. die „Ars memo¬
randi per figuras Evangelistarum“, in das ausschließlich di¬
daktische Gebiet fallen. Aber bei anderen, wie der „Ars
moriendi“ oder dem „Speculum humanae salvationis“ ist der
spezielle Unterrichtszweck, wenn nicht ausgeschlossen, so
doch sicher nicht die Hauptsache gewesen. Sie waren viel¬
mehr in erster Linie Erbauungsbücher. Der „Liber regum“
hält offensichtlich die Mitte zwischen Erbauung und Beleh¬
rung. Er führt uns die bedeutsamsten Momente aus der
Geschichte David’s nach den „Büchern der Könige“ des Alten
Testaments in Bildern vor, mit unten hinzugefügten Texten,
die jedoch von den Kapiteln der Bibel nur dürftige Inhalts¬
angaben bieten. Die religiöse Bedeutung des Ganzen beruht
namentlich auf der vorbildlichen Beziehung der Königs¬
bücher zu der Geschichte Christi. David galt, als der Be¬
sieger Goliath’s, für das Vorbild des Heilands, als des Be-
kämpfers der Irrlehren und des Teufels. „Der widerspen¬
stige Absalom gleicht den Juden, welche sich gegen Christus
auflehnten, und Salomo versinnbildlicht die Weisheit Christi.“
ln diesem Sinne also, als Mittel der Unterweisung des Volkes
in der Heilslehre, als Einführung in den geistigen Zusam¬
menhang der biblischen Welt durch typologisch geordnete
Bildergruppen und Bilderreihen, hat man den didaktischen
Zweck der alten Blockbücher aufzufassen. Und — beiläufig
bemerkt — in dieser Weise könnten sie mit ihrem klar ge¬
ordneten Gedankeninhalt und Bilderschmuck auch für unsere
Zeit wieder vorbildlich werden , wenn man sie in den heu¬
tigen Bilderbuchstil mit edlem Geschmack zu übertragen
verstünde. c. v L.
Wilhelm Kaulbach von Hans Müller. 1. Band. Mit
Kaulbach’s Selbstbildnis vom Jahre 1824. Berlin W.
F. Fontane & Co. 1893. 8'’. (111. 572 S.)
Bei keinem anderen deutschen Künstler hat sich die
allgemeine Wertschätzung seiner Bedeutung so rasch in das
Gegenteil verkehrt, wie dies bei Wilhelm von Kaulbach ge¬
schehen ist. Von den Zeitgenossen als der erste deutsche
Maler seiner Zeit gefeiert und populär wie kein anderer vor
ihm oder irach ihm, wird er heute nicht nur von Künstlern,
sondern auch von den Kunstkritikern und Laien kaum noch
zu den Größen zweiten Ranges gezählt und erst weit hinter
Cornelius genannt, dessen Ruhm von dem seinigen bei seinen
Lebzeiten stark verdunkelt wurde. Man hat sich geeinigt,
von seinen Schöpfungen nur noch die Zeichnung zum Narren¬
haus und zum Verbrecher aus verlorener Ehre, die Illustra¬
tionen zum Reineke Fuchs und den Karton zur Hunnen¬
schlacht als bedeutendere Kunstwerke gelten zu lassen und
alle übrigen Werke, sogar die Zerstörung Jerusalems in der
Neuen Pinakothek in München und die Treppenhausbilder
im Neuen Museum zu Berlin als mehr oder minder bedenk¬
liche Leistungen anzusehen. Dieses Urteil dürfte auch in
der Zukunft kaum als zu hart empfunden werden, ja es
liegt die Möglichkeit nahe, dass es einst noch viel schärfer
ausfallen könnte. Trotzdem wird der Name Kaulbach aus
der Kunstgeschichte nicht verschwinden, vielmehr wird das
Kapitel, das von ihm handelt, stets eines der wichtigsten
bleiben, weil Kaulbach wie kein anderer Maler zeitgemäß
gewesen ist und seine Verirrungen als der vollendetste Aus¬
druck der damaligen künstlerischen Ideale in Deutschland
erscheinen. Aus diesem Grunde muss der Gedanke, Kaul¬
bach’s Leben und Wirken in einer umfassenden Monographie
därzustellen, als höchst glücklich bezeichnet werden, umso¬
mehr, als uns eiir solches Werk bis jetzt vollständig gefehlt
hat, da Karl Stieler die geplante Biographie seines Freundes
nicht geschrieben hat und auch sonst nur kürzere Aufsätze
über den Maler veröffentlicht worden sind. Leider aber
lässt sich nicht behaupten, dass Hans Müller die Aufgabe,
die er sich gestellt hat, geschickt gelöst habe. An gutem
Willen dazu, das muss anerkannt werden, hat es ihm aller¬
dings nicht gefehlt. Er hat, soviel wir bemerken konnten,
aus der bisherigen Litteratur über Kaulbach nichts Wesent¬
liches übersehen und mit großem Fleiß den ganzen schrift¬
lichen Nachlass des Künstlers, der ihm von der Familie zur
Verfügung gestellt wurde, durchmustert. Er war daher in
der Lage, eine Menge brieflicher Mitteilungen Kaulbach’s
und der Seinen, die bis jetzt unbekannt waren, zu veröffent-
248
BÜCHERSCHAU.
liehen und uns dadurch intime Einblicke in das Seelenleben
seines Helden zu gewähren, die seine Persönlichkeit weit
weniger abstoßend erscheinen lassen, als sie von solchen,
die ihm ferner standen, in der Regel beurteilt wurde. Ein
besonders günstiges Licht fällt nunmehr auf Kaulbach als
Sohn , Gatte und Familienvater , als welcher er es niemals
an liebevoller Sorgfalt und werkthätiger Teilnahme hat
fehlen lassen. Auch verstehen wir jetzt, nachdem uns Müller
die traurigen Verhältnisse in seinem elterlichen Hause und
das schwere, zum Teil selbst verschuldete Schicksal des
Vaters taktvoll enthüllt hat, wie Kaulbach zu seiner Men¬
schenfeindlichkeit und zu seinem bitteren Sarkasmus kam,
und erkennen ferner den inneren Konflikt, in den ihn das
Bewusstsein, nicht malen zu können, und doch vor die Auf¬
gabe, malen zu müssen, gestellt zu sein, versetzte. Damit
sind wir ein gutes Stück in dem psychologischen Verständ¬
nis des Künstlers weiter gekommen, und wir wissen uns für
diese Förderung Müller zu Danke verpflichtet. Dasselbe gilt
auch von den auf dem Studium der Akten in der geheimen
Registratur des preußischen Kultusministeriums beruhenden
i^litteilungen, die Müller über das Wirken und die Bestre¬
bungen von Cornelius als Direktor der Düsseldorfer Aka¬
demie gemacht hat. Das betreffende Kapitel seines Buches
und dasjenige, in welchem von den von dem Maler Kolbe aus¬
gehenden Gegenströmungen gegen die Cornelius’sche Karton¬
schule die Rede ist, können als entschiedene Bereicherungen
unseres Wissens rühmlich her^orgehoben werden. Endlich
darf auch auf die eingehende Darstellung des freundschaft¬
lichen Verhältnisses hingewiesen werden, die Müller von den
Beziehungen Kaulbach’s zu dem Grafen Raczynski entworfen
hat. Die Auszüge aus ihren beiderseitigen Briefen wird
jeder mit Interesse lesen, dabei aber auch den Eindruck
gewinnen, dass Raczynski Kaulbach sehr überschätzt hat.
Mit diesen Hinweisen haben wir aber auch alles erschöpft,
Avas wir zur Empfehlung von Müller’s Arbeit zu sagen
wüssten. So vielerlei stofllich interessante Neuigkeiten wir
auch aus seinem Buche schöpfen mögen, so wenig ist es in
formeller Beziehung befriedigend ausgefallen. Dem Ver¬
fasser fehlt das Vermögen, die Fülle seines Stoffes künst¬
lerisch zu bewältigen, und die Fähigkeit, zu beurteilen, was
wichtig und was es nicht ist. Man merkt es beim Lesen
alle Augenblicke, dass er sich reichliche Auszüge aus dem
handschriftlichen Nachlass gemacht hat, aber man bedauert
es, dass er der Meinung war, alles, was er sich notirt hatte,
auch in sein Werk aufnehmen zu müssen. Dazu kommen
die vielen Wiederholungen, namentlich da, wo Müller von
Kaulbach’s Liebe zu seinen Kindern und von seinem Fami¬
liensinn spricht, und der Mangel einer durchgeführten Dis¬
position, durch die die übertriebene Breite des Buches hätte
vermieden werden können. Höchst überflüssig ist das sechste
Kapitel, in dem Müller von den Kunstbestrebungen König
Ludwig’s 1. in München handelt, da er hier längst Bekanntes
unnötig ausführlich aufs neue darlegt, ohne unser Wissen
in irgend einem Punkte zu bereichern. In der kritischen
Würdigung von Kaulbach’s Schöpfungen steht Müller so
ziemlich auf demselben Standpunkt, den wir oben als den
allgemeinen bezeichnet haben. Er verschließt sich keines¬
wegs vor den künstlerischen Schwächen seines Helden, aber
wir vermissen den Versuch, die Programm malerei Kaul¬
bach’s aus der Zeitströmung zu erklären. Da indessen der
noch ausstehende zweite Band der Biographie diesen Mangel
nachholen kann, wollen wir ihn hier bei der Würdigung
des ersten Bandes nur angedeutet haben. Viel zu breit er¬
scheinen uns die Beschreibungen, die Müller von den ein¬
zelnen Werken Kaulbach’s giebt. Zwanzig Seiten über die
Illustrationen zum Reineke Fuchs, das dürfte doch des Guten
zu viel sein, denn wer die Bilder nicht kennt, kann sich
von ihnen trotz dieser eingehenden Schilderung nur einen
unvollkommenen Begriff machen, und wer sie kennt, der
bedarf ihrer wiederum nicht. Eine treffende, knappe Cha¬
rakteristik, die freilich schwer ist, leistet in solchen Fällen
mehr, als derartige langatmige Erörterungen, die wenigstens
für uns immer etwas Einschläferndes haben.
H. A. LIER.
Horausgeber: Carl von lAitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von Angust Pries in Leipzig.
MAX LIEBERMANN.
VON LUDWIG KAEMMERER.
Der realisfDcJ/e Maler.
„Treu die Natur und ganz!“ — Wie fängt er’s an:
Wann wäre je Natur im Bilde alj(/efl/a)i?
Unendlich ist das kleinste Stück der Welt! —
Er malt zuletzt davon, was ihm (jefüUt.
Und was gefällt ihm? — Was er malen kann.
(F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, S. 17.)
1.
AS kann Max Liebermann? Wenn wir uns
bei der Würdigung eines Künstlers stets nur
diese einfache und doch erschöpfende Frage
stellten, um sie gründlich zu beantworten, würde
unsere Kritik zwar wortärmer, bliebe aber gerecht.
Statt dessen liebt man
es, zunächst zu erörtern,
warum ein Künstler so
und nicht anders die
Natur sehe, spürt den
Einflüssen nach , die
seine Auffassung be¬
stimmten, sucht etwas
zu erklären, bevor man
sich von dessen Vor¬
handensein und Be¬
schaffenheit deutlich
Rechenschaft gegeben.
Gewiss ist das künst¬
lerische Schaffen auch
ein geschichtliches
Phänomen, und zu
seiner Erklärung kann
man des Handwerk¬
zeuges historischer Me¬
thode nicht entraten,
die Wirkung von In¬
dividuum zu Indivi¬
duum wird uns aber
niemals geschichtlich,
sondern nur psycholo¬
gisch enthüllt werden.
Die moderne Psycho¬
logie
Max Liebermann. Pastellbild von Fß. v. Uhde.
hat mit gutem Grund und reichem Er¬
folg den Weg des Experiments lietreten. Exakte
Beobachtung und Feststellung der Erscheinungen
und Thatsachen muss jeder Schlussfolgerung voraus¬
gehen. Wenige nur wählen diesen sicheren Weg,
auch bei der Kunst¬
betrachtung. Man ver¬
langt vom Kunstwerk
selbst und unmittelbar
die Erklärung, die doch
nur die nachfühlende
und nachdenkende Ar¬
beit des Beschauenden
geben kann. Wer an
die Selbstthätigkeit der
Einbildungskraft die
geringsten Anforde¬
rungen stellt, die über¬
kommene Art zu sehen
am wenigsten antastet,
ist der Held der Tages¬
kunst. Die überwie¬
gende Masse unseres
Kimstpublikums setzt
sich aus gewohnheits¬
trägen Behaglichkeits¬
schwärmern zusam¬
men, die dem aus tief¬
ernster Überzeugung
Schaffenden das Recht
dieser Überzeugung
verschränken,sobald sie
den Zugang zu dersel-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
32
250
MAX LTEBERMANN.
ben uiclit auf den ersten Blick finden, denen Lust, Kraft
und Begabung zum Umlernen fehlen. So begegnete
man auch Liebermann’s Leistungen mit Gleichgültig¬
keit, Unmut und Widerspruch, bis die Beharrlich¬
keit seines Schaffens ihm wenigstens zu dem Ruhm
des Eigenwillens verhalf Als wunderlichen Kauz
wird man ihn verspotten und vergessen, bis man
ihn eines Tages als historisches Phänomen wieder
ausgräbt und mit hämischem Seitenblick auf die
Beschränktheit seiner Zeitgenossen auf eine Ruhmes¬
staffel stellt, die seiner Bedeutung vielleicht ebenso
wenig entspricht, wie seine gegenwärtige Missach¬
tung. Da lohnt es doch der Mühe, heute, wo wir
den Menschen Liebermann in Fleisch und Blut vor
uns haben, der Kunsthistorie späterer Geschlechter
vorzugreifen und uns Rechenschaft zu geben über
die Frage: was kann Max Liebermann? ehe sie
lautet: was konnte der Verkannte?
L)ie hohe geistige Spannung und Hast, in der
sich die Kunstentwickelung unserer Tage vollzieht,
verlangt von dem Schafi'enden ein bewegliches Tem¬
perament, nervösen Spürsinn, Elastizität zugleich
mit fester Energie und ausdauernder Widerstands¬
kraft. Liebermann l)esitzt diese Eigenschaften in
hohem Maße. Dazu kommt ein wahnsinniger Ehr-
(jeiz — nach seinem eigenen Geständnis — und eine
stets bereite Arl)eitslust. Wenn man zu seinem Ber¬
liner Atelier in der Kaiserin- Augustastraße, einer
geräumigen Glasveranda mit dem Ausblick in einen
meist wäschebehangenen, von hohen Häusermassen
umzirkten Hof, hinaufsteigt, findet man unter einem
Gewirr von holländischen Pantinen, Netzen und un-
säglicliem Gerümpel an Wänden und in Winkeln
eine Unzahl Bilder und Studien aufgestapelt, und
inmitten dieses naturalistischen Durcheinander stets
den Künstler emsig vor seiner Staffelei. In letzter
Zeit erst ist er mit Bildnissen hervorgetreten, bis
daliin verließen seine Werkstatt fast ausschließlich
holländische Landschaften und Volksschilderungen.
Man hat sich deshalb daran gewohnt, Liebermann’s
Eigenart nach seinen Stoffen zu kennzeichnen. Er •
ist und bleibt für viele und namentlich Fernerstehende
der einseitige .Maler des verrotteten Proletariats in
Stadt und Land, der holländischen Invaliden und
Waisen, der Nachahmer Millet’s und Israels’. Als
solcher hat er sein(! Aktennummer im kunsthisto¬
rischen Kepositorium der Gegenwart und mit echter
Registratorenpedanterie weist ihn die Kritik immer
wieder in dies Fach zurück. Auf meinem Schreibtisch
liegt ein Stoß ihn ])etreffendcr biographischer Abhand¬
lungen und Einzelbesprechungen seiner Werke, die
sich fast durchgehends zum Ziel setzen, seine Stoff¬
wahl zu rechtfertigen, die Krüppel und Spittler
dem Publikum mundgerecht zu machen, und die
Geister der altholländischen Meister beschwören, um
Liebermann wenigstens in anständiger Gesellschaft
zu zeigen. Diese Ehrenrettungen wenden sich aller¬
dings zumeist an Kreise, vor denen der Naturalist
noch immer einen litterarischen Anwalt braucht.
Der engere Gerichtshof, der dem Prozess moderner
Kunstentwickelung aufmerksamer gefolgt ist, wird
ihrer kaum bedürfen. Indes giebt es Fälle, wo nach
Voltaire das Überflüssige ein höchst wichtiges Ding
ist, und so wollen auch wir die geschichtliche Not¬
wendigkeit des modernen Verismus, dessen kräftig¬
ster Vertreter Liebermann in Deutschland ohne
Zweifel ist, wenigstens in Kürze zu erklären ver¬
suchen.
Das Bestreben, der gesehenen Natur ihre un¬
mittelbare Wirkung abziüauschen und alle Kräfte
darauf zu konzentriren , ihr gleichwertig nachzu¬
schaffen, begegnet uns in allen Epochen der Kunst¬
geschichte als wichtigster Entwickelungstrieb. Das
Ergebnis dieses Strebens ist abhängig von den künst¬
lerischen Mitteln, der Organisation und Erziehung
der Sinne, dem Temperament und der geistigen Bil¬
dung der Künstler, und zwar schafft sich stets das
lebhaftere Naturgefühl reichere technische Mittel.
Unser Verhalten der Natur gegenüber in Betrach¬
tung und Genuss ist nun durchaus verschieden von
dem unserer Voreltern. Naturwissenschaftliche Er¬
kenntnis hat unsere Sinne zu schärferer Beobach¬
tung geweckt, die weichherzige und verschwommene
Naturschwärmerei, ein Erbteil der Aufklärungs¬
epoche, ist intimer Einzelbetrachtung gewichen.
Eine Wiederentdeckung der unscheinbaren Reize des
Naturlebens, wie sie namentlich dem modernen Gro߬
städter sich bieten, wenn er befreit vom „Druck
von Giebeln und Dächern, aus der Straßen quetschen¬
der Enge“ hinausdrängt ans Licht, hat begonnen.
Ernste Innigkeit bildet den Grundzug die,ses Natur¬
gefühls, das zugleich versetzt ist mit der aus stillem
Neid und scheuem Mitleid gemischten Teilnahme
an dem Geschick, dem Leben und Treiben der Natur¬
menschen, der Mühseligen und Beladenen, die gleich¬
wohl frei sind von den Lasten des entnervenden
Kulturlebens. Und doch ist dies Empfinden ver¬
schieden von dem anderer blasirter Epochen, ver¬
schieden von dem eines Calpurnius, Theokrit und
Virgil, verschieden von dem eines Teniers und Ostade,
grundverschieden von der Schäfergalanterie des acht¬
zehnten Jahrhunderts, zumal wo es künstlerische
MAX LTEBERMÄNN.
251
Form annimmt. Denn hier — und das ist der be¬
sondere moderne Zug — passt es die letztere dem
Gegenstände durchaus an. Man begnügt sich nicht
mit sentimentaler Nachdenklichkeit, sondern analy-
sirt mit fast wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit
Wesen und Gefühle dieses Menschenschlages, sucht
einen unmittelbar überzeugenden künstlerischen Aus¬
druck dafür. Und gerade hier liegt Liebermann’s
zu seinem ersten Bauernbilde inspirirt wurde. Als
er in Weimar, wohin er nach absolvirter Gymnasial¬
zeit und einem kurzen Unterricht bei Steffeck in Berlin
gegangen war und wo er unter Thumann und Pauwels
zu allem anderen eher als zu unbefangener Natur¬
betrachtung an geleitet wurde, nach einer heftigen
Krankheit zum erstenmal wieder hinaus ins Freie
durfte, fesselte ihn — man begreift die dankbare
"'""Ui
V- --i. 'u _ _ _ ^ - -
Handzeichmiiig von Max Liebermann.
Bedeutung. Nicht, dass er beschwert von tiefsinni¬
ger Reflexion an sein Werk ginge, rein malerisch
bleibt seine Analyse, sein Suchen nach treffendem
Ausdruck, in dem ebenfalls durchaus modernen Em¬
pfinden, dass das Wesen der Dinge notwendigerweise
in ihrer äußeren Erscheinung zum reinen Ausdruck
gelange. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass
dieser Standpunkt für den bildenden Künstler der
fruchtbarste ist. Liebermann erzählt gern, wie er
Stimmung des aus dem Krankenzimmer Befreiten —
der Anblick eines Landmanns, der sein Feld bebaute,
ihm, der niemals etwas von Courbet oder Millet
bisher gesehen, drängte sich unabweisbar das Gefühl
auf: das musst du malen, so wie es hier vor deinen
Augen steht. „Und wie er musst’, so könnt’ er’s.“
Das spricht so deutlich für die Innerlichkeit und
Unmittelbarkeit seines Kunsttriebes, dass die fable
conveuue von der verstandesmäßigen oder gar ge-
32*
•252
MAX LIEBERMANN.
schäftsmäßigen ßerecbnung in seinem Schaffen da¬
mit von vornherein als Fabel abgethan wird. Wer
es hören will, kann sogar Liebermann, den unver¬
besserlichen Naturalisten, von seinem „Ideal“ reden
hören, und wer Augen bat, zu sehen, wird erkennen,
dass das keine Phrase in seinem Munde ist. Hier
und da betrachtet man das Wort Idealismus heute
noch immer als Monopol der konturseligen Gedanken¬
maler und vergisst, dass gerade bei diesen oft An¬
passung und Berechnung jedes ursprüngliche, warme
Kunstgefühl uiederhalten. Glücklicherweise beginnt
sich die Kunstkritik allmählich aus dieser Befangen¬
heit der Schlagwörterästhetik zu befreien, und durch
das fadenscheinige Mäntelchen irgend eines ■ — ismus
wird heute die Künstlerpersönlichkeit, die darin
steckt, nicht mehr gedeckt oder vielmehr dem un¬
befangenen Blick verdeckt. Und eine große kraft¬
volle Persönlichkeit offenbart sich in Liebermann’s
Schaffen. Man streite nicht um das Prinzip, welches
er verficht, ohne die Kraftnatur zu würdigen, die
der konsequenten Lösung ihrer Aufgaben sich weiht!
Der Kampf um neue Anschauung wird stets nur
durch die Fähigkeit schöpferischer Kämpen ent¬
schieden, ihre Eigenart den Zeitgenossen aufzudrän¬
gen, sie sehen zu lehren. Liebermann wird aus
solchem Kampfe — das müssen auch seine Gegner
zugestehen — mit Ehren hervorgehen. Mag man
die im])ressionistische Bewegung als Episode oder
als Epoche in der Entwickelung der modernen Ma¬
lerei ansehen, die Stellung Liebermann’s in dieser
Bewegung bleibt ohne Einwand die eines Bahn¬
brechers und Führers der deutschen Kunst, wie auch
der neueste Geschichtschreiber der modernen Ma¬
lerei, Richard Muther, mit Recht betont.
Als im .lahre 1S73 unser Künstler mit seinen
„Gän.serupferinnen“ zum erstenmal in Berlin auf
dem Kampfplatz erschien, begrüßte den „Rhyparo-
graj)hen“, den ,A})Ostel der Hässlichkeit“ ein Hagel
kritisch-feindlicher Geschosse. Er hielt wacker stand.
Eine Somnierreise nach Paris führte ihn mit Mun-
kacsy, der seit Anfang des .lalires 1S72 nach Paris
ühergesiedelt war, zusammen. Der damals in Rihot’s
Bahnen wandelnde Ungar bestärkte den vierund-
zwanzigjährigen Berliner in seiner bedenklichen Vor¬
liebe für Beinschwarz nnd jene undurchdringlichen
sehwerun Schattentöne, die schon in den Gänserupfe-
rinnen sich geltend machte und den Vondel’s der
llerliner Kritik Veranlassung hot, über den „Sohn
der känsternis“ Wehe zu rufen, kline kleine Skizze,
den finster.sten Winkel seines Pariser Ateliers dar¬
stellend, gicht eine gute Vorstellung von diesem
fanatischen Missbrauch Ribot’schen Helldunkels. Als
er an einem Abend von den „Folies Bergere“ heim¬
gekehrt, die Eindrücke des wilden Treibens im Foyer
dieses Cafe-chantant in einer ebenso wilden Farben¬
studie festhielt, hatte er die Genugthuung, dass
Vater Corot, als er das Atelier in seiner Abwesen¬
heit besuchte, ein aufmunterndes „bravo, bravissimo“
unter diese etwas wüste impressionistische Kleckserei
setzte. Erst später erfuhr Liebermann von dem
Besuch und zeigt noch heute mit Stolz jenes Zeugnis
seines ersten Pariser Erfolgs.
Die „Konserveneinmacherinnen“, die in dem¬
selben Jahre im Antwerpener Salon und 1880
in Paris die Aufmerksamkeit auf den jungen deut¬
schen Naturalisten lenkten, zeigen bereits eine grö¬
ßere Leichtigkeit und Klarheit des Vortrags. Auf
Holzhänken und Fässern sitzen die Arbeiterinnen
über Kohlköpfe, Spargel und Artischocken gebückt
die sie mit kurzen Messern für den überjährigen
Genuss herrichten. Stillzufriedene Emsigkeit lesen
wir in den Zügen der jüngeren, unter denen uns
zwei allerliebste Mädchenköpfe links im Vorder¬
gründe auffällen, stumpfe Resignation blickt aus
den Furchen im Antlitz der älteren. Zwei Klatsch¬
basen haben die Arbeit unterbrochen und diskutiren
heftig über ein teilnahmslos vor sich hin blickendes
Mädchen hinweg. Trotz des unscheinbaren Vorwurfs
blüht in diesen Gestalten und Gruppen ein so reiches
Lehen, der Ausdruck der Gesichter unterhält den
Beschauer von so vielen Lebenserfahrungen und Schick¬
salen, dass das beliebte Schlagwort von Inhaltlosig¬
keit, blöder Naturnachahmung ohne feineres künst¬
lerisches Empfinden vor dieser Leistung verstummen
muss. Freilich malt Liebermann Prosa, die pessi¬
mistische Prosa eines Zola, aber mit demselben un¬
endlich feinen Gefühl für Stimmung und Seelenleben
wie dieser. Insofern hinkt auch der so oft ange¬
zogene Vergleich mit Millet, als dessen dankbaren
Schüler sich Liebermann übrigens selbst bekennt:
für das feinere Ohr klingt selbst in Millet’s weh¬
mütigen Bauernschilderungen und Landschaftsdich¬
tungen noch immer leise der Hexameterrhythmus
eines Poussin und Claude nach, eine gewisse Rühr¬
seligkeit, vereint mit dem Zug ins Große, die Nei¬
gung, das Geschaute malerisch zu verdichten, in
große Formen zusammenzufassen, 'dieser letzte Rest
von Arrangement, der Millet’s Werken anhaftet, fehlt
Liebermann. Er durchdringt seinen Stoff, kennt den
Unterschied zwischen Wesentlichem und Unwesent¬
lichem nur, soweit er sich auf die Vereinfachung
der malerischen Mittel und Verstärkung der sinn-
Majr Liebermann pinx.
^ ITn^er rad.
IN DEN DUNEN.
Zf’H .».clirift für Lildende Kunst
Druck wF.A.BrocJdiaii: , Leipzig.
MAX LIEBERMANN.
253
liehen Wirkung bezieht, darüber hinaus macht er
sich keine Gedanken und Sorgen. In dieser Hin¬
sicht ist er naiver als Millet, als ausführender Künstler
dagegen überlegter, scharfsichtiger als dieser. Auf
Millet kann man vielleicht Zola’s treffenden Aus¬
druck anwenden: „regarder sans voir“; er betrachtet
die Natur mehr, als er sie fixirt. Emgekehrt Lieber-
mauu: er geht von schärfster Beobachtung aus, diese
die Unfertigkeit ihrer Mache auffallen. Nur mit
Widerwillen nimmt er die Arbeit an älteren Ent¬
würfen wieder auf, und seine Hauptklage ist, dass
er nicht die Fähigkeit besitzt, seine Stimmung zu
verlängern, bis alles, was er zu leisten vermag, ge¬
leistet ist. Dieser Kleinmut schmeckt allerdings —
nach Liebermann’s eigenem treffenden Ausdruck —
stark nach „versetzter Eitelkeit“.
llanflzeiclmung von Max Lieüermaxn.
reizt ihn an sich, seine Arbeit beginnt und endet
mit ihr. Von Millet hören wir, dass er fast stets
die Eindrücke, die er von der Natur in sich aufge¬
nommen, erst im Atelier auf die Leinwand brachte.
Das würde Liebermann schwer fallen. Nicht, dass
er durchaus alles vor dem Modell fertig malte —
das thut auch der enragirteste Freilichtmaler nicht
— aber seine Lust, seine Schaffensfreude verglüht,
sobald die vergleichende Beobachtung aufhört. Das
ist auch der Grund, dass viele seiner Bilder durch
Im Spätherbst 1873 übersiedelte Liebermann
nach Paris; in Barbizon sah er noch kurz vor dessen
Tode Jean Franc, -ois Millet, ohne doch in nähere
persönliche Beziehung zu ihm zu treten. Um so
tiefer war der Eindruck, den Millet’s Werke auf
den gleichstrebenden Künstler machten. Auch er
wollte „festen Schrittes, warmen Herzens, treu sich
selbst, den Menschen und der Natur“ auf der selbst¬
gewählten Bahn sein Ziel erreichen. Ein leuchten¬
deres und zugleich sympathischeres Vorbild als
•254
MAX LIEBERMANN.
Millet konnte er nicht finden. Diese Zustandshilder,
die uns den normannischen Bauer, bald in stiller
Beschaulichkeit, bald in dumpfem Hinbrüten dar¬
stellen, durchweg schweigsam in stiller Naturum¬
gebung, ohne die anekdotische Zuspitzung, wie sie
die Düsseldorfer Bauernnovellisten damals noch mit
allgemeiner Zustimmung kultivirten, ohne den Humor
und die Ausgelassenheit eines Brouwer und Ostade,
ohne die sentimentale Verlogenheit der Schäfer¬
poesie des achtzehnten Jahrhunderts — sie waren
in der That die Frucht einer neuen ursprünglichen
Naturauffassung, die jeden aufstrebenden, gleich¬
fühlenden Künstler widerstandslos in ihren Bann
ziehen nnasste. „Mettre l’homme vrai dans son
milieu vrai“, das war die Losung, die Liebermann
mit Begeisterung zur seinigen machte. Die „Arbeiter
in einem Rübenfelde“ verkünden dieses Programm
im feierlichen Tone MillePs. Schärfer konzentrirt
klingt es uns auch aus jener Einzelschilderung „Die
Geschwister“ entgegen, die 1876 gemalt, durch Karl
Köpping’s meisterhafte Radirung im L’Art bekannt
ist. Die ältere Schwester hat ihr kleines Brüder¬
chen auf den Arm genommen und stützt die offen¬
bar unterschätzte Last mit dem erhobenen linken
Knie. Die Gruppe hebt sich von einem durchaus
neutralen Hintergrund ab, nur das Motiv und die
y)ikante Beleuchtung werben um unsere Teilnahme.
Das dem Säuglingsalter kaum entwachsene Kleine
mit seinen skrofulös geschwollenen, unentwickelten
Zügen blickt voll aus dem Bilde heraus, mit jener
ünbeholfenheit in den Armen der Schwester hän¬
gend, die den Anblick junger Hundetölpel so ko¬
misch wirken lässt. Das Antlitz des älteren Mädchens,
mütterlich ernst und besorgt auf die etwas unbe-
<|ueme Last blickend, wird nur von einem Streifen
Licht erhellt, der den Kontur des Kopfes scharf
hervortreten lässt. Der Reiz des Ganzen beruht ledig¬
lich auf der glücklich beobachteten, wie echtes Leben
uns anrniitenden Haltung und Bewegung beider Ge¬
stalten, dem intimen Zug, der das Motiv belebt, und
jenem delikaten Lichtspiel, das die Modellirung des
Koj)fes, das Zurücktreten des Unwesentlichen be¬
wirkt. Bis auf das etwas lebhaftere Temperament
zeuehnen auch Frans Hals’ köstliche Kindswärterin
in der Berliner Galerie; keine anderen Vorzüge aus.
Frans Hals war es denn auch, der Liebermann bei
seinem ersten Studienaufenthalt in Holland 187t)
am mächtigsten von allen altholländischen Meistern
anzog und den er eifrig kopirte;. Die naive Frische
.seiner Auffassung, die Einfachheit und Keckh(;it
seines Vortrags, die Unterordnung der Lokalfarben
unter den durch die Beleuchtung bedingten Gesamt¬
ton, wie sie der Haarlerner Altmeister verstand, waren
Eigenschaften, die selbst dem Milletschwärmer als
neue Offenbarungen erscheinen mussten. Schon Fro-
mentin hatte drei Jahre vorher Holland seine Rolle
als gelobtes Land für das aufwachsende Naturalisten¬
geschlecht mit richtigem Seherblick prophezeit. „Ich
würde nicht überrascht sein,“ schreibt er in seinen
köstlichen Essays über altniederländische Kunst,'
„wenn Holland uns noch einen zweiten Dienst leistete
und, nachdem es uns von der Litteratur zur Natur
geführt, eines schönen Tages, vielleicht auf langen
Umwegen, uns von der Natur zur Malerei brächte.“
Glänzend hat sich diese Weissagung erfüllt. Unter den
Deutschen, die Holland für die moderne Malerei ent¬
deckten und eroberten, gebührt Liebermann ein Ehren¬
platz. Jeden Sommer zieht er seit 1879 für mehrere
Monate mit seiner Familie nach einem malerischen
Dörfchen bei Hilversum, einer Station der Bahn
von Amsterdam nach Leeuwarden, unweit des Hörster
Binnenmeers; hier setzt er sich vor die Natur, um
sie in ihrer elementaren Urwüchsigkeit zu studiren,
ihren Erdgeruch in Farben umzuwerten. Von hier
unternahm er seine Ausflüge nach Amsterdam, nach
den Poldern, an die Küste der Zuydersee; hier
fühlte er sich heimisch; Land und Leute boten ihm
die glücklichsten Motive, Joseph Israels’ Bekannt¬
schaft bestärkte ihn im Festhalten an seinen Zielen.
Die „Kleinkinderschule in Amsterdam“ ist die früheste
Frucht seiner holländischen Studien. Sie führt uns
wieder auf das Gebiet, das Liebermann schon in den
Geschwistern betreten und das vielleicht am ehe¬
sten geeignet ist, seine Gegner mit ihm zu versöhnen:
die naive Schilderung der Kinderwelt; ihre Necke¬
reien, ihre Altklugheit, ihre Frische und Ungezwun¬
genheit, alles versteht er treffend zu charakterisiren.
Die runzlige Alte mit ihrem Strickstrumpf ist dies¬
mal in eine Ecke verbannt, dem lustigen kleinen Völk¬
chen die ganze Breite des Bildes gegönnt. Dazu eine
klare, lichtvolle Farbenhaltung, helle Kleider, freund¬
liche, schelmisch dreinblickende Gesichter. Wer er¬
kennt den Rhyparographen der Gänserupferinnen
in diesem sonnigen Interienr wieder? Warme Herzens¬
töne werden hier angeschlagen, die Echtheit der
Empflndung ist ebenso groß wie die gegenständliche
Wahrheit. Im Pariser Salon des Jahres 1880 waren
die Konserveneinmacherinnen mit der Kleinkinder¬
schule zusammen ausgestellt. P. de Chennevieres
feierte in der „Gazette des Beaux-Arts“ den talent¬
vollen Impressionisten, „dont la reputation est dejä
faite dans son pays et qui a obtenu un grand succes
255
MAX LIEBERMANN.
LeitsdiirstigGn Vorlfiiiier der venezianisclieii Blüte¬
zeit, die Carpaccio und Bellini in der Akademie in-
teressirt hatten. Lenbach und einige andere Mün¬
chener Fachgenossen, die er in der Lagunenstadt
Handzeiclinung von Max Lieisermann.
ä l’exposition de Munich par un Jesus parmi les
docteurs.“
Welcher Art war nun diese reputation und dieser
succes in der Heimat? Zu seiner Wiederherstellung
nach einem längeren Krankenlager hatte sich Lieber¬
mann 1878 nach Gastein und von hier nach Venedig
begeben , wo ihn bezeichnenderweise weniger die
Farben virtuosen des späten Cinquecento als die wahr¬
kennen lernte, überredeten ihn, sich nacli seiner
Rückkehr in München niederzulassen. Im Dezember
des Jahres 1878 langte er in der Kunststadt
an der Isar an und machte sich rüstig an die
256
MAX LTEBERMANN.
Arbeit. Schon auf der nächsten Münchener Kunst¬
ausstellung debutirte er mit seinem „Christus unter
den Schriftgelehrten“. Einen Sturm der Entrüstung
entfesselte diese tendenziös-vulgäre Darstellung, die
stand in derselben derb rationalistischen Weise auf¬
gefasst und in derselben Ausstellung Robert Zimmer¬
mann — nur ein wenig zahmer und lahmer — das
Gleiche gewagt. Das große Bild, dessen eindring-
]Iaii(lz(;icliiiuiig von Max Likiikrmann.
'letn Ijavoriscluai Klerus wie ein Angriff auf die Reli-
ffion ersehien. Sogar der Landtag wurde mit der
Angelegenlieit belässt. Und doch batte vor acbt-
undzwaii/.ig .fahren .Adolf Menzel den gleichen Gegen-
liche Kraft der Charakteristik und flotter Vortrag
einen Lenbach und Gedon entzückten, sollte das erste
und — bis heute — letzte biblische Historienbild
unseres Künstlers bleiben. Tantum religio potuit
ZUR CHARAKTERISTIK BOÜGUEREAÜ’S.
257
suadere inaloruin. Der „Christus bei den Schrift¬
gelehrten“ befindet sich heute im Besitz — Fritz
von Uhde’s, des dankbaren Schülers Lieber mann’s,
dem man Irreligiosität wohl kaum vorwerfen wird:
es ist eine anspruchsvolle Leinwand, durchtränkt
vom Geiste Renan’s und David Strauß’, aber, was
mehr ist, eine malerische Leistung von außerordent¬
licher Kraft und von einer psychologischen Dramatik,
die mit der etwas karikirten Figur des frühreifen,
Judenknaben versöhnt. Es ist richtig, die letztere
weckt zunächst mehr Überraschung als Teilnahme,
aber die Kunst, mit der diese unscheinbare, ver¬
kümmerte Gestalt zum Knotenpunkt der ganzen
Handlung gemacht ist, die Ausdrucksfähigkeit in
Gebärde und Blick zwingt immer wieder zur Be¬
wunderung. (Schluss folgt.)
ZUR CHARAKTERISTIK BOUGUEREAU’S.
MIT ABBILDUNGEN.
Das alte Widerspiel der Eigenschaften, welches
den französischen Volkscharakter kennzeichnet, die
keltische Beweglichkeit und Neuerungssucht einer¬
seits, der römische Ruhmsinn und Schulgeist anderer¬
seits, bestimmt auch das
Wesen der französischen
Kunst, erklärt zum gro¬
ßen Teil den unzerstör¬
baren Glanz ihrer Welt¬
stellung. Für fast sämt¬
liche moderne Evolutio¬
nen des malerischen und
des bildnerischen Stils
haben wir den Ausgangs¬
punkt in Frankreich zu
suchen: von den Klas¬
sikern bis zu den Rea¬
listen, von den Intimen
bis zu den Impressio¬
nisten und Symbolisten.
Aber all dies von jedem
Windhauch bewegte Blät¬
terwerk der Tagesmoden
und Geschmacksrich-
wird dort von
tun gen
festgewurzelten
einem
Stamm alter Tradition ge¬
tragen; gleich stark mit
dem Drang nach Freiheit
und Natur ist der fein
ausgebildete Sinn der Franzosen für Form und Gesetz.
Und es ist schwer zu sagen, welchem der beiden
zusammen wirkenden Charakterzüge die französische
Kunst den größeren Teil ihres Ruhmes verdankt.
William Adolphe Bouguereau (geboren 1825 zu
W. A. Bouguereau.
La Rochelle), von dem wir den Lesern eine kleine
Auswahl seiner Werke vorführen, gehört zu den
anerkannten Vertretern der formalen, vornehmlich
auf Reinheit und Adel der Erscheinung abzielenden
Kunstrichtung. Sei es im
Bildnisfach, sei es in der
kirchlichen oder in der
mythologischen Malerei:
immer ist er in erster
Linie der Akademiker,
der gelehrte Kenner der
Anatomie, der souveräne
Beherrscher derForm und
der malerischen Technik.
Seelenglut, Originalität
der Erfindung, Witz und
Kühnheit wird man bei
ihm vergebens suchen.
Aber Eines besitzt er,
eine echt französische
Eigenschaft, die seinen
Werken ihren unbestreit¬
baren Wert verleiht: den
Sinn für Grazie, für zart
bewegte und vollendet
durchgebildete Form. In
seinen religiösen Bildern
bildet Flandrin, in den
mythologischen Ingres
das ihm vorschwebende
Muster. Und wenn er auch hinter beiden an Em¬
pfindungstiefe und an Ernst zurücksteht, so tritt
er ihnen andererseits durch die vollendete Model-
lirung der Form und die Meisterschaft des Vortrags
ebenbürtig an die Seite.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
33
258
ZUR CHARAKTERISTIK BOÜGÜEREAU’S.
Unter Bouguereau’s Gemälden religiösen Gegen¬
standes verdienen zunächst die Wandgemälde in den
Kirchen Ste. Clotilde (1859) und St. Augustin (18G6)
zu Paris Erwähnung; stilvolle Schöpfungen von
edlem, gemessenem Ausdruck, die nur den starken
Grundton tiefer Empfindung vermissen lassen. Wer
sie deshalb allzu herb tadeln wollte, den möchten
wir an die schon von Julius Meyer (Gesch. der
mod. französ. Malerei, S. 367) betonte Thatsache er¬
innern, dass das meiste, was bei uns zu Lande neuer¬
dings an kirchlicher
Malerei großen Stils
geleistet wird, hin¬
ter diesen Werken
tles Pariser Mei¬
sters immer noch '
zurückbleibt. — In
zweiter Linie stehen
Bouguereau’s zahl¬
reiche kleinere Bil¬
der christlichen In¬
halts: die in Rom
noch während der
Pensionärzeit aus¬
geführte, im Lu-
.\eiid>ourg befind¬
liche „Heil. Cäcilia
in den Katakomben“
(1^51), die „Heil,
Ihiinilie“ (Sahm von
1863), die zuerst
1S77 enschienetie,
später auch hei uns
durch Ausstellun¬
gen in weiten Krei¬
sen h<,‘kannt g(;vvor-
deiic -\'ierge C(ni-
solatrice“, endlich
die a\is den letzten
.lahnui staniniende
„Not re - 1 )anie-des-
.\ngc.K‘‘ II. v. a. Sie sind uns in der Empfindung
nicht iinnn-r .syinjiathisch und leiden auch vielfach
an jener jiorzellanartigen Glätti; der Malerei, welche
die trisclie Lebendigkeit der Wirkung beeinträch¬
tigt. Aber auch sie verdienen deshalb die gering-
'chätzige Beurteilung nicht, welche die Kritik
jüngeren Datums ihnen bei uns hat angedeihen
lassen. Die religiöse und die malerische Empfin¬
dungsweise der \’ölker sind verschieden, so ver¬
schieden wie ihr Gefühl für Metrik und Musik.
!ii(! Weintiaulie. Uemälile von W. A. Bouguereau.
Gleich hoch dagegen bleibt stets das Niveau der
künstlerischen Meisterschaft, der Vollendung in der
Handhabung der Kunstmittel. Und diese ist es,
welche die vorurteilslose Kritik in erster Linie zu
beurteilen, zu bemessen hat. Ein Künstler, der in
seiner Art und Sphäre ein solcher Meister ist, wie
Bouguereau, darf von dem Kritiker nicht herab¬
gewürdigt werden, — sei es aus übler Laune, sei es
aus nationalem Widerwillen, sei es aus anderen,
nicht rein künstlerischen Gründen oder Neigungen.
Der Weg, den
unsere Kunst viel¬
fach neuerdings
wieder genommen
hat, wird ihr leider
nicht selten geebnet
durch eine dienst¬
gefällige Kritik,
welche jeder Laune
des Geschmacks,
der Stimmung des
Tages eine sym¬
ptomatische Bedeu¬
tung beimisst und
selbst für den ver¬
rückten Dilettantis¬
mus noch eine geist¬
reiche Erklärung
bei der Hand hat.
Es wird gut sein,
diesem Treiben zu¬
weilen ein Halt zu¬
zurufen und daran
zu erinnern, dass
Kunst vor allem
eine Summe reellen
Könnens voraus¬
setzt und dass
Meisterschaft nicht
denkbar ist ohne
Vollendung der
Form. Als ein unbestreitbar hoher Meister in der
Beherrschung der Form erweist sich Bouguereau in
seinen weltbekannten Bildern mythologischen und
poetischen Inhalts, von denen wir eines der lieb¬
lichsten den Lesern in Radirung vorführen. Das¬
selbe gehört dem erotischen Kreise an, aus welchem
der Meister die Stoffe zu mehreren seiner form¬
vollendetsten Werke entnommen hat, wie „La Jeu¬
nesse et l’Amour“, „L’Amour blesse“, „L’Amour au
papillon“, „Le guepier“ u. s. w. Auf dem vorliegen-
Die trostreiche Maria. Gemälde von W. A. Bougüeeeaü. Nach einer Photographie.
33*
260
ZUR CHARAKTERISTIK BOUGUEREAU’S.
den Bilde: „L’Amour et Psyclie enfants“' sind es die
Gestalten der Märchenwelt des Apulejus, die er uns
in kindlichem Alter, umkleidet mit dem vollen
frischen Reiz der Unschuld und der naiven Zärtlich¬
keit vor Augen führt. Psyche, auf einer Wolke
knieend, schmiegt sich schüchtern an den neben ihr
stehenden Amor an, der sie zart umfängt und einen
Kuss ihr auf die
Wange drückt.
Die anmutig be¬
wegten Körjier,
die fein beseelten
Köpfchen mit dem
duftigen Locken¬
haar sind von
tadelloser Zeich¬
nung und Model-
lirung, vollendet
bis ins letzte De¬
tail; alles zeugt
von dem edelsten
Ges eil mack, dem
liöchst entwickel¬
ten Schönlieits-
sinn. Man wird
nicht sagen kön¬
nen, dass der
Künstler auch nur
dureb einen ein¬
zigen Zug moder-
ner Emi)findsam-
keit oder Koket¬
terie den reinen
Duell der Natur
lind Scböiiheit ge¬
trübt liätte, der
in der Dicht ling Allerseelen, (leraäiae
des Altertums
fliel.it. Und doch verstand er diese der heutigen
Welt menschlich ganz nahe zu bringen nnd ver-
leiignete zugleich keinen Augenblick die Ansdrucks¬
weise nnd den Gesclimack seines Volkes und seiner
Sfdinle.
Die äußerst fruchtbare Natur unseres Meisters
böte noch manche Seite der Betrachtung dar; doch
Avollen wir uns damit begnügen, nur eine einzige
hier noch mit wenig Worten zu berühren: das ist
sein Anteil an der ideal gestimmten Genremalerei.
Vorwiegend sind es Figuren aus dem italienischen
Landleben, Campagnolen, Pifferari und ähnliches
Volk, die er in der Stil- und Empfindungsweise
Leopold Robert’s, mit regem Sinn für den stolzen
Gliederbau und die ausdrucksvollen Typen der süd¬
lichen Rasse uns
vor Augen führt.
Bisweilen wählt
er aber auch die
Stoffe dieser (häu¬
fig nur einfigu-
rigeu) Bilder aus
der nordfranzösi¬
schen Bauernwelt
und streift damit
die Sphären eines
Breton und Millet
oder der ihnen
stilverwandten
Pariser Bildhauer.
Das letztere gilt
z. B. von der im
Salon von 1874
ausgestellten
„Charite“, einem
würdigen, nur et¬
was allzu melan¬
cholisch aufge¬
fassten Seiten¬
stück zu der herr¬
lichen Gruppe von
Paul Dubois am
Grabmal des Ge¬
nerals Lamori-
ciere. Man wird
nicht behaupten
können, dass Bouguereau das Gebiet der idealen
Genremalerei mit neuen Motiven bereichert hätte,
aber er bewährt sich auch hier als ein Mann von
feiner Empfindung für die Natur, als ein Künstler,
der sich allerwegen an die eine, höchste Aufgabe
liält, in schöne Form den Ausdruck einer edlen
Seele zu leffen,
^ C. r. L.
VOU W. A. BOUGUF.HF.AU.
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
VON THEODOR BALLIIORX, GÖRLITZ.
LS ein allgemein gültiges
ästhetisches Dogma konnte
bis m die neuere Zeit der
Satz gelten, dass die Skul¬
ptur, als die Kunst der reinen
Form, die Anwendung der
Farbe nicht zulasse. Waren
unn die Alten in der Skul¬
ptur, welche wiederum für die eigentliche Kunst des
Altertums gilt, als die unbestrittenen Meister aner¬
kannt, wie sollten sie an dieser Reinheit der Form
nicht festgehalten haben! Die wunderbare Schön¬
heit des Marmors, die Meisterschaft in der Behand¬
lung desselben, welche darauf ausging, eben diese
Schönheit zur vollen Wirkung zu bringen, musste,
so schloss man, fast mit Notwendigkeit dahin
führen, dass der Bildhauer dem Marmor seine farb¬
lose Reinheit vindicirte. „Jeder bessere Geschmack“,
so schreibt noch Hermann Riegel im Jahre 1875,
„lehnt sich gegen eine solche Zuthat (der Farbe)
auf; denn die farbige Lebendigkeit scheint der pla¬
stischen Ruhe und Idealität entschieden zu wider¬
streben und lässt sich eines gewissen barbarischen
Charakters nicht entkleiden.“ Er beruft sich für
diese Ansicht auch auf Welcher, der, wie er meint,
sehr treffend sagt; „Offenbar hat die Kunst in ihrer
Fortbildung die kleine, in Farben gegebene Nach¬
hilfe des Ausdrucks als eine dem höheren Stil und
der in die reine Form gelegten Würde nicht ange¬
messene Nebensache abgestreift und nicht in einer
entstellenden Buntheit eine Illusion gesucht, die
durch den Charakter der Gestalten, Stellungen, Ge¬
bärden, durch den Gesichtsausdruck zu erreichen die
höhere Aufgabe selbständiger, idealer, erhabener
Bildkunst war. Den Sinn der südlichen Völker für
lebhafte Farben ira gemeinen Leben sollte man nicht
übertragen auf die Regionen vollendeter Bildhauerei,
wo das Ideal in der Auffassung und in den Weisen
und Mitteln der Darstellung eine so große und so
sichere Herrschaft ausübt.“
Unterstützt wurde diese Ansicht von der Farb¬
losigkeit der alten Bildwerke ja auch durch eine
ganze Welt von weißen Marmorstatuen, wie sie die
Museen der verschiedenen Länder aufweisen. Man
wusste eben noch nicht, wie verderblich die Ein¬
wirkungen der Luft und noch mehr der Erde auf
die Oberfläche des Marmors und ganz besonders aiif
die Farbe sind. Denn selbst, wenn Spuren davon
beim Ausgraben eines Marmorwerkes noch deutlicli
o
erkennbar sind, so verlieren sie sich gewöhnlich bald
an der frischen Luft. Wer in eine neu geöffnete
etruskische Grabkammer eintritt, wird überrascht
durch den bunten Farbenschmuck, in welchem die
Reliefs der Sarkophage prangen; nach einigen Jahren
sind meist nur noch einzelne Überbleibsel desselben
wahrzunehmen, und auch sie verschwinden mehr und
mehr. Wer sieht z. B. heute noch, dass die Medi-
ceische Venus einst goldene Haare hatte, dass die
Pallas von Velletri bemalt war? Häufig sogar wur¬
den auch solche Farbenspuren, die den Gesamtein¬
druck störten und als eine Geschmacklosigkeit an
einem antiken Kunstwerk unwillkommen waren, weg¬
getilgt. Ja, es konnte geschehen, dass man, wenn die
alten Schriftsteller verschiedener Zeiten von bemal¬
ten Statuen oder bemalten Bildern in den Giebel¬
feldern reden, wenn Vergolder oder Bemal er von Sta¬
tuen auf Inschriften erwähnt werden, wenn ein Dichter
die Locken eines Mädchens mit denen einer bemalten
Statue vergleicht, lieber irgend welche IJngenauig-
keit des Ausdrucks annahm, als bemalte Skulptur.
Bei dieser allgemein verbreiteten und festge-
wurzelten Auffassung war es denn kein Wunder,
dass nur unwilliges Erstaunen, ja ein Schrei des
Entsetzens bei allen Gebildeten laut wurde, als ein
junger Architekt, Gottfried Semper, der nach seinen
eigenen Worten „als ein obskurer Arbeiter im Leinen-
262
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
kittel wocLenlaug auf dem Theseustempel herum-
geklettert und mit dem Federmesser her umgekratzt“,
in seinen „Bemerkungen über bemalte Architektur
und Plastik bei den Alten, 1834“ als Ergebnis seiner
Untersuchungen die Ansicht in die Welt schickte,
dass die Alten auch noch in der Blütezeit der Kunst
nicht nur bei ihren Bauwerken, sondern auch hei
ihren Bildwerken Farben verwendet hätten. Doch
so sehr man sich auch dagegen sträubte, aus Furcht,
einen Teil der Bewunderung, welche man dem Alter¬
tum zu zollen gewohnt war, zurücknehmen zu müssen,
die Werke des Phidias und Praxiteles mit den be¬
malten Schnitz- und Steinbildern der gotischen Dome
auf einer Linie zu sehen, neuere Untersuchungen,
besonders auch die jüngsten Akropolisfunde haben
jeden Zweifel darüber gehoben. In jeder künftigen
Kunstgeschichte wird daher der farbigen Skulptur
ein ])esonderer Abschnitt einzuräumen sein. Ist doch
hei diesen Erscheinungen gar nicht die Rede von
der Verworrenheit der ersten rohen Kunstanfänge,
noch von dem barbarischen Ungeschmack einer ent¬
arteten Epoche; ebenso wenig von Ungeschick und
oder Bizarrerie einzelner Künstler. Es handelt sich
vielmehr um eine festgewurzelte Sitte, welche mit
den Thongehilden des Dihutades beginnt und erst
mit den Büsten und Genien der römischen Impera¬
toren endet, mit einer Sitte, welcher selbst die grö߬
ten Künstler huldigten. Die Proben der bunten
IMastik, welclie wir selbst noch besitzen, tragen den
Stempel der verschiedensten Epochen, sind bald von
höherem, l^ald von geringerem Kunstwert, sind Ge-
hilde jegliclier Klasse, Götter, Menschen und Heroen,
sowie jedes Maßstahs, von der Anticaglie bis zum
Koloss hinauf Nicht vereinzelt, nicht wie aus den
Wolken gefallen stehen diese Zwittergestalten der
Plastik und Malerei, wie ein theoretischer Eiferer
sie nennen könnte, vor unseren Augen; sie hängen
aufs genaueste mit anderen verwandten Erscheinun-
gfii, mit einem malerischen Faltenwurf und mit
ojitisehcn n»*zieliungen zusammen. Da ist eine wolil-
g(!glied(;rle Kette, aus welcher kein Ring sich
h'fsen lässt.
( her die 4'hatsache der Bejnahmg der Statuen
köiimui wir also nicht mehr in Zweifel sein; doch
sf lifdiit es, als s<‘i di(! volle Bemalung, als notwen¬
dige Folge farhen])rä(;htiger Behandlung der Wände,
wie in As.syrien und Agyj)ten, so auch im alten
Hellas, wenn auch ursj)rünglich allgemein üblich,
so doeh sjiäter vorwiegend auf hieratische, kirchliche
Bildnisse heschriuikt gewesen. Die BildAverke der
.\ kn, pol is in Athen, von denen die ältesten aus
einem tuffartigen Kalkstein, die späteren aus Marmor
bestehen, sind sämtlich polychrom, farbig behandelt,
sämtlich aber auch hieratischer Natur, denn eine
Akropolis ist ja eine Heimstätte der Götter und
Priester, wo das Profane nicht geduldet wurde. Da
nun die bisher aufgefundenen bemalten Bildwerke
regelmäßig Tempel- oder Götterbilder, also hiera¬
tische sind, so scheint es immer sicherer zu werden,
dass die Alten, gerade so wie wir, vorzugsweise in
ihre kirchlichen Bauten bemalte Bildwerke setzten,
dagegen für die in das Haus und den Garten be¬
stimmten, namentlich in späterer Zeit die Natur¬
farbe des Marmors, soweit für die Griechen dies
möglich war, aus ästhetischen Gründen vorzogen.
Die bemalten Bildwerke fertigten sie gerade des¬
halb, weil das Material doch nicht zur Geltung kam,
vorwiegend aus geringwertigen Steinen oder aus
Terrakotten, selten aus Marmor. Aus der ältesten
Zeit haben sich nun nur die Tempelbilder erhalten,
denn diese überdauerten aus natürlichen Gründen
überall die profanen.
Aber wenn nun auch so in der Antike kirch¬
liche einerseits und bürgerliche oder weltliche Kunst
andererseits unterschieden werden muss, so wird
vieles auch von diesen weltlichen Kunstwerken noch
dem hieratischen Kanon gefolgt sein, um erst all¬
mählich die das künstlerische Schaffen hemmende
kirchliche Symbolik nach Möglichkeit zurückzu¬
drängen. So erklärt sich z. B. die rote, blaue, grüne
Farbe der Haare. Alles ist Symbolik. So finden
wir in Hellas Gleiches, wie überall im Orient und
Occident bis hinüber zum Lande der Azteken und
wie noch heute auf Ceylon und in China.
Sind wir somit über die Thatsache der Bema¬
lung der Statuen nicht mehr in Zweifel, dagegen
darüber noch unsicher, ob und wie weit neben den
bemalten Bildwerken auch unhemalte, farblose vor¬
kamen, so ist nun wieder durchaus sicher und
leicht zu verstehen, wie die Griechen zu dieser Be¬
malung der Statuen gekommen sind, und wie es zu¬
ging , dass sie von ihr sich nie ganz losmachen
konnten. Ist doch diese Färbung der Statue schon
eine notwendige Folge der Anwendung der Farbe
in der Arcliitektur. Denn sicherlich schon früh
haben auch die Griechen, wie die Assyrer und
Agyptei*, die Wände ihrer Tempel mit Farben über¬
zogen, zuerst wohl, um ihnen, wie in Assyrien und
Ägypten, einen glänzenden Schmuck zu verleihen,
bald aber auch, um dadurch die symbolische Bedeu¬
tung der Ornamente für den künstlerischen Cha¬
rakter des Bauwerks klar hervortreten zu lassen.
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
263
Das Auge folgt ja z. B. auch an sich schon mit
Befriedigung den mächtig geschwungenen Umriss¬
linien des Echinus am dorischen Kapitell, die ihn
als eine höher angespannte Entfaltung derselben
Kraft erkennen lassen, welche der kannelirte Stamm
der Säule zeigte. Allein ungleich lebendiger wird
die Vorstellung des Tragens, in welchem der Kon¬
flikt der frei aufstrebenden Kraft mit einem auf
dieselbe von oben geübten Druck zu Tage tritt, ver¬
sinnlicht, wenn auf dem Kapitell mit Farben das
Ornament des doppelten Blätterkranzes aufgetragen
erscheint, dessen Spitzen unter dem Druck des sich
herabsenkenden Gebälkes sich neigen und zwar um
so tiefer, je schwerer der Druck auf ihnen lastet,
wodurch das verschiedene Profil des Kapitells ge¬
rechtfertigt wird. Ebenso wird der Gedanke des
elastischen Bandes, das mehrere Glieder miteinander
verbindet, durch ein in Farben aufgetragenes Orna¬
ment veranschaulicht, welches die Textur eines aus
verschiedenen Fäden mannigfacher Art zusammen¬
gesetzten Geflechts darstellt. Und überall, wo die¬
selbe Funktion eintritt, kommt auch dasselbe Orna¬
ment zur Anwendung, ein Beweis dafür, wie be¬
stimmt und klar diese Vorstellungen ausgebildet
waren. Noch mehr wird der Wert, welchen man
auf das Hervorheben durch die Farbe legte, daraus
ersichtlich, dass man auch da, wo das Ornament
durch Skulptur ausgedrückt war, die Farbe zu Hilfe
nahm. Nicht selten gehen daher bemalte Skulptur
und Färbung in der Ornamentik nebeneinander her.
Wo an der einen Stelle bemalte Skulptur ange¬
wendet ist, zeigt sich an der anderen Stelle Malerei;
untergeordnete Momente bleiben ganz der Malerei
überlassen, mitunter wird sogar ein in Skulptur be¬
gonnenes Ornament durch ein gemaltes fortgesetzt.
Man sieht, es wurde überall auf ein Eingreifen der
Malerei gerechnet, und die Wirkung, welche unter
allen Umständen hervorgebracht werden sollte, war
die der Polychromie. —
Hatte so die Skulptur da, wo sie hervortretende
Glieder des Baues mit Ornamenten schmückte, die
Farbe angenommen, so musste sie nun auch da, wo
sie gewissermaßen auf neutralen Flächen, in Giebel¬
feldern, auf Metopen und Friesen, selbständig mit¬
wirkte, sich dem durchgeführten System der Viel¬
farbigkeit unterwerfen. Auch unser Auge, das diu’ch
Farbenpracht sicherlich nicht verwöhnt ist, würde
es als Disharmonie empfinden, wenn es aus den
leuchtenden Farben, mit welchen die Griechen die
Wände ihrer Tempel überzogen, grelle, weiße Mar¬
morgestalten heraustreten sähe. Dies Postulat der
künstlerischen Konsequenz ist denn auch durch die
Beobachtung der Thatsachen vollständig gerechtfer¬
tigt worden. Skulpturen griechischer Tempel, ver¬
schiedenen Arten und Zeiten angehörig, zeigen über¬
einstimmend die noch erkennbaren Reste der Farbe
selbst oder deutliche Spuren, dass sie einst dage¬
wesen ist. Dahin gehört es auch, wenn die Bohr¬
löcher sichtbar sind, mittelst deren einzelne Stücke
des Schmucks, der Bewaffnung und Ähnliches aus
vergoldeter Bronze angesetzt wurden; ein Verfahren,
das immer auf weitere Anwendung der Farbe schlie¬
ßen lässt. Alle diese Spuren der Polychromie, immer
im Zusammenhänge mit der buntfarbigen Architek¬
tur, sind ausreichend, um den Zufall auszuschließen
und eine allgemein gültige Gesetzmäßigkeit festzu¬
stellen.
Waren so die bemalten Statuen am Äußeren
des Tempels eine notwendige Folge der Polychromie
in der Architektur, so konnte nun auch das eigent¬
liche Götterbild in der Cella des Tempels nicht
ohne farbigen Schmuck bleiben. Ein künstlerisch
so feinfühliges und gebildetes Volk, wie das grie¬
chische, das der im Bilde vertretenen Gottheit den
Tempel zur Wohnung gab, musste auch dieses
Götterbild als das wesentlichste Glied des durch die
Kunst geschmückten Raumes anseben und mit dem
Charakter dieses Schmuckes, der sich ja auf dasselbe
bezog und in ihm erst seinen Abschluss fand, in
Einklang setzen. Und dies war um so schwieriger,
aber auch um so nötiger, je älter diese Kultusbilder
waren. Denn die ältesten von ihnen waren ja nicht
einmal aus Marmor, wie die den äußeren Bau des
Tempels schmückenden plastischen Gestalten, son¬
dern es waren unförmliche Schnitzbilder von FIolz,
die vom Himmel gefallen oder sonst unbekannten
Ursprungs, von Götterhänden oder von den ältesten
Künstlern der Sage verfertigt sein sollten. Dieser
Stoff verlangte schon an sich ein Überziehen mit
Farbe; die Erneuerung derselben an der Statue wurde
bald zu einem Kultusakt; ja so sehr verband sich
bei Griechen und Römern das Bemaltsein mit dem
Begriff des Göttlichen, dass nicht nur der Priester
des Bacchus in Athen, sondern auch der triumphi-
rende Feldherr in Rom bei der Prozession, wo beide
in vollem Ornat den Gott selbst — dieser den Ju¬
piter, jener den Dionysos — darstellten, sich das
Gesicht rot färben mussten. ■ —
Doch die Farbe konnte hier wohl nur in den
seltensten Fällen zum Schmucke des Gottes aus¬
reichen. Die rohe, imkünstlerische Schnitzarbeit ver¬
langte, dass diese Holzbilder mit wirklichen Gewän-
264
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
dem bekleidet imd mit mancherlei Sclimuckgegen-
ständen geputzt wurden, wie wir dies ja noch heut
bei den Heiligenstatuen in den katholischen Kirchen
finden. Eine reiche Tempelgarderobe bot dafür die
Mittel; die Priesterschaft leistete die Bedienung und
Avieder Avurde das Neueinkleiden der Kultusbilder
ein Hauptteil des Ritus, so vor allem bei den Pana-
thenäen in Athen, wo das alte Athenebild im Erech-
theum mit einem zu diesem ZAvecke von athenischen
Jungfrauen neugefertigten Peplos geschmückt wurde.
Und diese Kleider der Götter waren nun nicht
etAva vollständig weiß, schon darum nicht, weil auch
die geAvöhuliche Kleidung der Griechen, wie man
Avohl meist denkt, nicht weiß, sondern verschieden¬
farbig Avar. Eine ebenso interessante, Avie zuverläs¬
sige Bestätigung der sonstigen Zeugnisse der Alten
für diese Farbigkeit der griechischen Kleidung bieten
noch die erst vor kurzem aufgefundeneu sogenann¬
ten ägyptischen Mumienbilder von Kerke. Die Farben
aller GeAAfiinder, die wir auf diesen Bildern sehen,
sind, Avie man es von den feinsinnigen Griechen nur
erwarten kann, nicht schreiend bunt, wie oft heu¬
tige südliche Volkstrachten, aber auch nicht ein¬
förmig Aveiß, sondern mild und gesättigt und häufig,
besonders bei den Frauenbildern, mit raffinirtem
Farbensinn der individuellen Erscheinung angepasst.
Besonders beliebt scheint ein mattes, ins Braunrote
spielende Violett gewesen zu sein, das bald als Ein¬
fassung der Aveißen Gewänder, bald als Grundfarbe
mit meist schwarzen oder goldenen Streifen geziert,
v(jrkommt und durch eine ganze Reihe bald röt¬
licher, bald bläulicher ZAvischentöne vom zartesten
Lila bis zum dunkelsten Blauschwarz abgestuft er-
>chi‘int. Höchst Avahrscheinlich stellt dies Violett
diui b<-rühmten Pur[tur der Alten dar. Denn die
laridhiuHge \ orstelluiig, die wir heut mit dem Aus¬
druck Pur])ur verbinden, die eines mehr oder weniger
Iid)|i;iften Kots, ist sicher nicht festzuhalten, sondern
di<- lorlgeschritteiien Färbemethoden s{)äterer Zeiten
'•rzicdbui uiizälilige Modifikationen des Pur])urs, deren
eine l’iirlaing derartig gewesen sein muss, dass
dii“ Dirhter so verschiedene Dinge, wie das Meer,
Iraulxui, Klut, diuikle Haare und Rosen damit ver-
ulfichen komden. Dass der Purjuir der Alten aber
l■r^ pri^lgli( h violett gewesen ist, liat Lacaze-Duthiers
in .riiiciu Mfinoire siir la p(nir[)re dargethan. ')
1) Aie (Ifii Yfrsiidien , die dieser (ielelirte mit dem
n I’iir|iiirseliriec.ke iiiif^estellt hat, winl es klar, warum
' '■ iai!: ' im Altertum mit (leid und Silber aufgeworfen
wiii -I' und ah höchster Khrenschmuck iler («roßen galt. Die
''innen liahlen, unter deren Kinwirkung der ursprünglich
So also dürfen wir uns diese ältesten Kultus¬
bilder nur als noch sehr rohe, entweder nur bemalte
oder auch überkleidete Holzpuppen denken. Als
dann nun die Zahl der Tempel sich mehrte und
die inzwischen fortgeschrittene Kunst die Aufgabe
erhielt, für diese neuen Tempel die Kultusbilder zu
schaffen, mussten die Künstler selbstverständlich an
den ihres Alters wegen verehrten Holzbildeni, be¬
sonders an deren Gewandung die ersten Studien
machen. Dabei stellte sich dann wohl zuerst das
Bedürfnis heraus, diese Gewandung selbst, also das
Bekleiden der Statuen mit wirklichen Kleidern über¬
flüssig zu machen. Um dahin zu gelangen, bediente
man sich der Zusammensetzung mehrerer nach Art
und Farbe verschiedener Stoffe, wobei die alte Tra¬
dition der Technik, wie sie an kunstreichen Geräten
ausgebildet war, mitwirkte. So wurden Ebenholz,
Elfenbein, Gold und Silber für einzelne angesetzte
oder eingelegte Teile zu Hilfe genommen, teils zu
größerer Deutlichkeit der in solcher Weise hervor-
gehobeneu Partieen, teils um durch die Vielfarbigkeit
zu wirken; also auch hier bildete sich, wenn auch
mit sparsamen Mitteln, ein gewisses System der
Polychromie aus, bei welchem der Reiz der Farbe
etAvas Wesentliches ausmachte.
Hieraus entwickelte sich ja dann die Technik,
in Avelcher die vollendete Kunst der größten Meister
die höchsten Ideale der Götterbilder darstellte, die
Technik der Chryselephantine, bei der nur Elfenbein
und Gold verwendet wurden. Bekanntlich waren
die beiden HauptAverke des Phidias, die Athene Par-
thenos und der olympische Zeus, sodann auch das
berühmteste Werk des Polyklet: die argivische Hera
aus Gold und Elfenbein, und geraume Zeit galt
diese das edelste und kostbarste Material verwen¬
dende Technik für die eines Tempelbildes vorzugs¬
weise würdige. Oft aber reichten die Mittel für
diese Herstellungsart nicht aus; da suchte man dann
eine ähnliche Wirkung dadurch zu erzielen, dass
man z. B. Marmor und vergoldetes Holz an die
Stelle setzte, an dem Gegensatz des verschieden¬
farblose Saft der Schnecken so schönes Violett entwickelt,
vermögen dem einmal gefärbten Stoffe nichts mehr anzu¬
haben; wo andere Farben ausbleichen würden, färbt sich
der Purpur nur noch satter. Für ein im Freien und unter
südlicher Sonne lebendes Volk nun ist diese Eigenschaft
sicher sehr wertvoll. Dies aber umsomehr, als es kaum
eine Farbe giebt, die harmonischer und feiner zu dem war¬
men, bräunlichen Kolorit der Südländer stünde, als diese.
So sind denn auch heute noch mit Purpur gefärbte Gewänder
die beliebteste und gewöhnlichste Tracht der Fischer- und
Schiff'erbevölkerung an der kleinasiatischen Küste.
DIE FOLYCHUOMIE IN DEIl GRIECHISCHEN PLASTIK.
265
artigen und verschiedenfarbigen Stoffes also festliielt.
Als dann endlich die wundervoUe Schönheit des
Marmors, wie die Meisterschaft in der Behandlung
desselben es mit sich brachte, dass man erkannte,
wie auch die Götterbilder am schönsten nur ans
reinem Marmor hergestellt werden könnten, hatte
sich die vielfarbige Skulptur schon so fest einge¬
bürgert und ihre Wirkung schon in solchem Um¬
fange geäußert, dass das Auge der Griechen durch¬
aus an dieselbe gewöhnt war, dass die Unterstützung
der Plastik durch die Farbe für ihre Herstellung
das angemessene Verfahren mit den der Kunst zu
Gebote stehenden Mitteln war. So fuhr man auch
jetzt fort, die Marmorgestalten zu bemalen, ja gerade
von Meistern, die als die edelsten Repräsentanten
dieser Marmorskulptur gelten müssen, von Skopas
und Praxiteles , sind Nachrichten erhalten , die uns
beweisen, dass auch sie die Farbe nicht verschmäh¬
ten. Und unmöglich kann man annehmen, dass uns
in diesen Nachrichten nur vereinzelte Erscheinungen
vorliegen, dei denen Zufall und Laune ihr Spiel
trieben, wir müssen sie vielmehr als bezeichnende
Beweise für die Thatsache ansehen, dass auch die
vollkommen entwickelte Marmorskulptur die Be¬
nutzung der Farbe nicht aufgab.
Auch in der folgenden Zeit der Diadochen, aus
der keine mit Bestimmtheit redenden Überlieferungen
auf uns gekommen sind, wird man bei der vorherr¬
schenden Richtung der damaligen Kunst auf Pracht
und Luxus nicht zu der Annahme geneigt sein,
dass sie auf die überkommenen Mittel einer heiteren
Farbenwirkung zu Gunsten einer reinen, strengen
Einfachheit verzichtet habe, zumal wenn man er¬
wägt, dass die asiatische und ägyptische Kunst, in
deren Umgebung sie sich nunmehr befand, durch¬
aus polychrom war. Es wäre eine durchaus ano¬
male Erscheinung, wenn die griechische Skulptur unter
solchen Verhältnissen und Einflüssen den bis dahin
konsequent verfolgten Weg verlassen und die An¬
wendung der Farbe aufgegeben hätte.
Doch auch eine ausdrückliche Bestätigung da-
für, dass weder in der Blütezeit der Marmorskul¬
ptur, noch in der Zeit der Diadochen die Bemalung
aufgehört hat, findet sich für uns noch in der Be¬
handlung der Augen; schließt doch die polychrome
Behandlung der Statuen natürlich auch eine ent¬
sprechende Herstellung der Augen ein. Dazu boten
sich nun zwei Herstellungsarten dar; sie wurden ent¬
weder durch Glas, Schmelz oder kostbare Steine
oder aber mit dem Meißel mittelst der Vertiefung
der Iris und Pupille gebildet. Denn diese letzte
Zeitschrift fiir bildende Kunst. N. F, IV.
Herstellung mit dem Meißel datirt nicht erst aus
der Zeit des Niederganges der griechisch-römischen
Kunst, wie man bisher annahm, sondern sie findet
sich schon an einzelnen der archaischen Bildwerke,
die man bei den letzten Ausgrabungen auf der Akro¬
polis von Athen gefunden hat. Diese wirkungsvolle
Behandlung des Auges, die die Renaissance wieder
aufgeuommen hat, ist mithin uralt. Sie hebt in An¬
lehnung an den Ban und die Lichtstrahlung des
Auges die dunkle Pupille durch einen tiefen, also
stark beschatteten Kreis von dem heller beleuchteten
Iriskreis ab oder lässt auch wohl umgekehrt, um
das Funkeln des Auges wiederzugeben, die Pupille
wie einen Stift, also hell beleuchtet, in der vertief¬
ten, dunkeln Iris stehen.
Warum wurde nun in der Blütezeit der Kunst
dies Hilfsmittel aufgegeben, sehen uns doch die herr¬
lichsten Bildwerke aus dieser Zeit mit ihren leeren
Augen sehr befremdlich an? Denn von dem Aus¬
druck dieser Augen zu sprechen, ist doch wohl nur
eitel Phrase. Den „großen Blick“ der Juno Ludo-
visi erkennen wir aus ihren weitgeöftheten Augen.
Wer aber von dem sterbenden Gallier sagt: „Todes¬
schatten umfloren schon seinen Blick“, oder gar
vom Apoll vom Belvedere: „Das leuchtende Auge
scheint die Wirkung des eben abgeschossenen Pfeiles
zu verfolgen“, dem fehlt aller Blick für das Wirk¬
liche; und ebenso kann man auf einen Blick der Niobe,
in welchem sich „tiefer Schmerz und hoher Seelen¬
adel wunderbar mischen“, nur aus dem Gesichts¬
ausdruck und der Blickrichtung des Auges schließen.
Diesen jetzt so leeren Augen jener Bildwerke
gegenüber müssen wir doch sicherlich annehmen,
dass sie einst gemalt waren, gemalt mit aller Meister¬
schaft tüchtiger Porträtmaler, wie sie die alten
Schriftsteller so überschwenglich rühmen; und dies
ist dann der sehr natürliche Grund, warum man in
der Blütezeit hellenischer Kunst die Vertiefung der
Iris und Pupille aufgab und eine glatte Fläche für
die Arbeit des Pinsels vorzog. Solchen ausdrucks¬
voll gemalten Augen gegenüber konnten dann auch
die antiken Schriftsteller von der Aphrodite von
Knidos schreiben, dass der Blick des Auges jenen
feuchten, schwimmenden Ausdruck zeigte, der, weit
entfernt von sehnsüchtigem Verlangen, doch die
weiche Empfindung einer Göttin der Liebe ausspreche.
Auch diese jetzt so leeren Augen, an denen die
Farbe dann nach und nach geschwunden ist, zeigen
uns also, dass auch in der Zeit der Blüte und Nach¬
blüte die Bemalung der Bildwerke nie ganz aufge¬
hört hat. —
34
26G
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
Der AVeg’, auf dem die Griechen zur Bemalung
ihrer Bildwerke kamen, liegt sonach klar vor uns;
verständlich und leicht erklärlicli ist es sodann,
warum sie auch in der reinen Marmorskulptur nie
ganz von der Farbe sich losmachen konnten. Doch
die Gewohnheit war es nicht einmal allein, die dies
bewirkte; nicht nur der Umstand, dass ihr Auge
eine unbemalte Statue nie erblickte, ließ die Künstler
an der Vielfarbigkeit festhalten, sondern es gab für
den griechischen Plastiker auch noch einen zwin¬
genderen Grund für diese uns so barbarisch erschei¬
nende Sitte.
Auch in unserer Gedankenwelt führen ja die
Götter der Griechen noch ein lebendiges Dasein;
von Jugend auf sprechen wir von dem wilden En-
gestüm des Ares, von der Weisheit der Athene, von
der Schönheit einer Aphrodite; dabei aber sind wir
keineu Augenblick darüber in Zweifel, dass Athene
und Aphrodite nur Namen von Idealgestalten sind,
die, in der Phantasie geboren, nirgends in Wirklich¬
keit existiren. Was aber waren jene Bewohner des
Olymps für die Griechen? Weder moralisch-poli¬
tische Allegorieen, wie die Götter der Perser, noch
bloße Symbole von Kräften der Natur, wie die ägyp¬
tischen , sondern lebendige Charaktere, Individuen ;
und diese nicht etwa, wie der Brahma der Indier,
ins Anschauen ihrer selbst versunken, sondern in
steter willkürlicher Thätigkeit begriffen, mit dem
menschlichen Leben aufs engste handelnd und selbst
leidend verknüpft. So konnte dem Griechen auch
das Bihl seines Gottes, die Statue, nicht etwa bloß
das Symbol eines abstrakten Begriffs bleiben, gleich¬
sam nur ein mnemonisches Zeichen, um den Ge¬
danken an höhere Natur zu erwecken; sie war ihm
vielmehr der sichtbare Olympier selbst, seine körimr-
liche Hülle. Götter und ihre Statuen sind unzer-
Irennliche Pegrilfe, und alles, was jenen zukam,
wurde auf diese übertragen.
Immer sind daher die Götter unverkennbar nicht
bloß als seiend, sondern als erscheinend dargestellt.
Alle Feierlichkeit des erhaljenen Temj)elstils ist über
die Pallas von V'clletri ausgegossen; strenge Größe
und hoher Ernsl ist der Charakter dieser bewunde¬
rungswürdigen Gestalt. Aber das Haupt ist sanft
zur Erde geneigt. Sie winkt dem Flehenden Ge¬
währung zu. I)iesen;e Haliung zeigt die herrliche
.Miiicrvabüsfe aus der Villa All)ani; und ebenso hat
man .sich den olympischen .Iiipiier des l’hidias zu
denken, wenn anders die Sage gegründet ist, dass
seine Idee von Homer entlehnt war (II. I v. .ö2S ff.).
.Vndere Götterstatuen hielten die Rechte mit einer
Schale ausgestreckt, um die heilige Spende zu em¬
pfangen, oder sie reichten den Kranz, die Binde des
Sieges oder das Bild der geflügelten Nike selb.st
dar.i) Hier war also überall Handlung, freilich die
Handlung von Wesen, deren That meist nur ein
Wink ist; aber, was nicht zu übersehen, von künst¬
lerischer Seite betrachtet, zugleich eine Handlung,
welche nicht in den ideellen Kreis des Kunstwerkes
eingeengt bleibt, sondern aus diesem heraus sich in
die Wirklichkeit bewegt, ja erst in dieser Sinn und
Bedeutung erhält. Nirgends also Beschränkung
des Kunstwerkes auf sich selbst, sondern lebendige
Beziehung der Statue zu ihrem Beschauer.
Auch alle Tempelgebräuche, das ganze Ritual
war ja recht eigentlich darauf berechnet, zwischen
der Statue und ihren Verehrern einen möglichst leb¬
haften Verkehr zu unterhalten. An die Statue wur¬
den die Hymnen und Gebete gerichtet, ihre Kniee
wurden im Augenblick der Gefahr umfas.st. Zur
Gesellschaft sind in ihrem Wohnsitz, dem Tempel,
die Statuen der nächstverwandten Götter und ihrer
Lieblinge um sie versammelt; selbst für den nötigen
Hausbedarf ist gesorgt. In festlichen Aufzügen wer¬
den neue Prunkgewänder für das Tempelbild ge¬
bracht, und im Opisthodomos häufen sich die Schätze.
Gerade wie lebende Wesen werden die Statuen ge¬
hegt und gepflegt, sie werden bekränzt, gesalbt, ge¬
badet, sogar, als hätte man es für nötig erachtet,
ihrer plastischen Langeweile vorzubeugen, mit Possen¬
spielen erlustigt.-)
So wurde alles aufgeboten, um ihnen ihren
Wohnsitz so angenehm wie möglich zu machen.
Denn sie konnten ihn verlassen, mit einem glück¬
licheren Boden vertauschen. Und wie viel war nicht
an die persönliche Gegenwart der Götter in ihren
Statuen geknüpft! So lange das Bild des Schutz¬
gottes der bedrängten Stadt noch nicht entrissen
worden, ist nicht alle Hoffnung gesunken; erst die
von ihm verwaiste Stadt ist dem Verderben sicher
])reisgegeben. Deshalb legte man in dem von
Alexander belagerten Tyrus der Statue des Apollo
goldene Ketten an und knüpfte diese an den Altar
]) Dass die Götterbilder die Victorien und Kränze nicht
l)loß trupjen, sondern darreichten, hat niemand besser ver¬
standen, als der Terapelräuber Dionys. „Ea se accipere, non
auferre dicebat.“ Cicero: de natura deorum. III. 34. p. 672.
cd. Cr. —
2) Vgl. Clemens Alex. Paedag. II, cd. Sylb. p. 181. C.
Paschal. coronae p. 201 ff. — Artemid. Oneiror. II ,34. p.
122. ed. K. Prudent. in Symmach. I, v. 204. — Spanh. ad
Callim. p. ,326. — Herodot v. .38. p. 318. ed. Jungerm. Vgl.
Kannegießer, Komische Bühne von Athen p. 28.
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
267
des Herkules. Ja, einzelne Statuen in Griechenland
trugen von jeher Fesseln, damit man ein für alle¬
mal ihrer Treue versichert sei. Götterbilder, der er¬
stürmten Stadt entrissen, sind erst das Zeichen des
vollendeten Sieges, und ihre schirmende Kraft wird
auf fremden Boden verpflanzt, um dort gleichsam
neue Wurzel zu schlagen. Orakel gebieten, das
Götterbild eines fremden Volkes dem Vaterlande
einzuverleiben, und Statuen anerkannter Segenskraft
werden in entscheidenden Momenten von ihren Be¬
sitzern als Bundesgenossen und Mitkämpfer erbeten
und eingeholt. Eine Sage lässt sogar eine Statue
des delphischen Apollotempels durch göttliche Kraft
nach Korcyra wandern und die Mauern dieser Stadt
verteidigen. ')
Doch nicht bloß solche in Bedrängnis und Ge¬
fahr schirmende Kraft schrieb man den Götterbildern
zu; die Gegenwart der Götter in ihren Bildern
hatte diese auch mit anderen dämonischen Kräften
erfüllt, die zwar in der Regel schlummerten, aber
doch von außen geweckt werden konnten und dann
wunderthätig ins Leben traten. So wurde gewissen
Götterstatuen die Kraft der Weissagung zugeteilt,
z. B. einem Bilde der Hekate, welches Theagenes
immer mit sich führte und um Rat fragte. Ja, noch
Pausanias sah auf dem Markte von Pharae in Achaja
das Bild eines weissagenden Hermes. Man sagte
der Bildsäule sein Anliegen ins Ohr, und die erste
Stimme, welche sich hören ließ, wenn man den hei¬
ligen Bezirk verlassen hatte, galt als Orakel. Ander¬
wärts hörte der fromme Wahn von den Lippen der
Statue selbst das Wort des Gottes; auch den Klang
der Cither wollte man zu Daphne von der Äpollo-
1) Vgl. Paus. VIII. 40, 1. tf. p. 551. — Liv. XXIX, 10.
Ovid. fast. IV, 2.75 ff. — Herocl. V, yü. 81. p. 31T. Vlll, 04.
p. 482. — Servius ad Virg. Aeneid. I. 97.
statue des Tempels vernommen haben. (Wo es für
nötig erachtet wurde, kam wohl auch Betrug dem
Wahn zu Hilfe und half die Zunge der Statue lösen.
So wird berichtet, dass der Bischof Theophilus bei
Zerstörung der Götzenbilder in Alexandrien mehrere
fand, welche hohl und so an die Wand gestellt
waren, dass man hinter ihnen durch den Mund der
Statue reden konnte. ')
Kein Wunder dann, wenn nun auch den Sta¬
tuen geradezu Empfindung beigelegt wurde, wenn
ihre tote Materie von Zeit zu Zeit die Natur eines
organischen Körpers annimmt, wenn hier ein Stand¬
bild Thränen vergießt, dort die Angst ihm Schweiß
oder Blut austreibt, und endlich die Statue in
ein sympathisches Verhältnis mit dem mensch¬
lichen Körper tritt, so dass z. B. Kraut, auf dem
Kopfe einer Statue gewachsen, wie Plinius in allem
Ernst versichert, Kopfschmerzen heilt.-)
Nur als beseeltes Werk also hatte der grie¬
chische Künstler das Götterbild von der Beligion
überkommen. Es bewegte sich, es schritt einher,
es empfand und wirkte mit dämonischer Kraft. Sollte
das atmende Werk nun unter seinen Händen zur
toten Marmorbüste erkalten? Nein, der Glaube des
Volkes verlangte von ihm, dies Prinzip der Besee¬
lung vor allen anderen festzuhalten, der ganzen
Form gleichsam die Beweglichkeit eines Gewandes
zu geben, in welchem die Seele, die es umgeworfen,
sich ungehindert und frei bewegen, in glücklich
überraschenden Momenten sich offenljaren könne. —
(Schluss folgt.)
1) Suid. ecl. Kust. II, p. 1G8. Paus. VII, 2. 3. p. 457
Pluti. de fort. Rom. Opp. ed. X, II, p. 319. A. Theodoret.
bist. eccl. V, 22. —
2) Liv. XI, 10. — XXllI, 31. - XXVII, 4. — Plin. h.
n. XXIV, 5. lUü. p. 352. —
34*
DIE VERVIELFÄLTIGENDEN KÜNSTE
AUF DEN PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN 1893.
IE Kün.stler graphischer Ver¬
vielfältigung, die Schöpfer
eigener Erfindungen, wie die
Reproduzenten von Anderer
Werken, haben sich im neuen
Salon des Champ de Mars
kaum minder zahlreich ein-
gefunden als in den Sälen
des Inrlustriepalastes auf den Champs Elysees. In
der Radirung und im Holzschnitte liegen hervor¬
ragende Leistungen vor, allein ein weit größeres
Interesse knüpft sich an eine Anzahl Steindrucke,
die eine Art von Renaissance der künstlerischen
Lithographie rühmlich bezeugen. In der That kann
seit einigen Jahren in Frankreich eine unerwartet
sich steigernde Vorliebe der Künstler für die Ori-
ginallithographie beobachtet werden, für eine Kunst
also, die im allgemeinen als längst begraben ange¬
sehen zu werden pflegt. Freilich bis zu der Schät¬
zung und Verbreitung, deren die Lithographie sich
vor fünfzig Jahren erfreute, ist noch ein weiter
Schritt. Aber die Wiederbelebungsversuche, die
gegenwärtig von einer Anzahl eifriger Künstler er¬
folgreich gemacht werden, verdienen umsomehr
unsere 'l’eilnahme, als unlängst auch bei uns einige
.scliiuditerne \’ersuche derart sich hervorgewagt
liaben. Ich erinnere an die Lithographieen von
UnuTier und die C(dorirten Rlätter von Hans Thoma.
ln l’rankreich hat die Lithogra])hie nie ganz
aiifgfdiört, Künsller zu originalen Erfindungen an¬
zuregen. Zu laut mahnte die stolze Vergangenheit
dieser Kunst und jede jiosfhume Ausstellung, wie
diejenige der ^Verke von A. M. Hälfet vor zwei
Jahren und die diesjährige der Werke von N. T.
Gbarb't, warb der lithographischen Kunst nicht
nur Hewnnderer, sondern auch eine tüchtige Schar
niMii-r Irenmb*. Hesonders l’aiil Maiirnu, dem im
vorigen Jahre die Medaille d’honneur des Salons zu¬
erkannt worden ist, hat sich um die Sache der Litho¬
graphie verdient gemacht; er gründete 1884 die
Societe des Artistes lithographes fran^ais. Den
ersten großen Erfolg dieser Bemühungen brachte
die Exposition de Blanc et Noir 1890 und seitdem
ist die Anzahl der Künstler -Lithographen so ge¬
wachsen, dass ich davon ahstehe, eine Liste auch
nur der tüchtigsten aufzustellen. Nur auf einige
wenige will ich hinweisen, indem ich mit den beiden
Salons zugleich auch diejenigen Künstler berück¬
sichtige, die bei Durand-Ruel sich der Charlet-Aus-
stellung angeschlossen haben.
Von den älteren Künstlern muss Cheret an erster
Stelle genannt werden, — Cheret, von dem an den
Anschlagsäulen in Paris die phantastischesten aller
Affichen herrühren, der aber trotz der praktischen
Absichten seiner Aufgaben einer der originellsten
Pariser Zeichner ist. Cheret ist ein Meister für sich,
wie Raffet, Celestin Nanteuil oder Dore, die vor
ihm Geschäftsanzeigen in monumentalen Lithogra¬
phieen illustrirten. Cheret wird gesammelt, katalo-
gisirt nicht minder eifrig als seine Vorläufer, die
Buntdruck.stecher des 18. Jahrhunderts. Nicht selten
kann man nächtlicherweile begeisterte Sammler
überraschen, wie sie bemüht sind, Cheret’sche Pla¬
kate von der Mauer abzulösen; und haben sie glück¬
lich ihre Beute erhascht, daun wird wohl der neue
Cheret fein säuberlich aufgezogen und unter Glas
an die Wand gehängt. Und gewiss steckt in diesen
scheinbar flüchtig entstandenen Gebilden mehr Künst¬
lerschaft, als in mancher sorgfältig durch gefeilten
Academie. Eine feine Empfindung für das Gefällige
der bewegten weiblichen Figur, wenn auch mit einem
Zug zur Gauloiserie, verbindet sich da mit unleug-
licher Meisterschaft in der Formenbehandlung. Der
Reiz der Bewegung ist außerordentlich wie die
DIE VERVIELFÄLTIGENDEN KÜNSTE AUF DEN PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN 1893. 269
LlBRAlRIE
kühne fleckige Ziisammenstellung von Rot, Gelb und
Blau, die bei einiger Entfernung höchst harmonisch
Zusammengehen.
Cheret’s Anfänge reichen weit in die siebziger
Jahre zurück , schon die Aus¬
stellung vom Jahre 1878brachte
ihm den großen Erfolg und
seitdem hat seine freizügige
und geistreiche Kunst immer
an Bedeutung gewonnen, so
sehr, dass seine Art, den be¬
wegten Körper zu sehen, nicht
ohne Eindruck auf seine Kol¬
legen von der Palette geworden
ist. Das nimmt umsoweniger
Wunder, als sein Kolorit, so
roh es anfänglich auch scheint,
doch mit den lebhaften Farben-
eöekten modernster Malerei im
besten Einklang steht. In
Schlittgen’s Tänzerinnen auf
der Berliner Ausstellung steckt
etwas, das sich mit Cheret’s
zeichnerischer Bravour verglei¬
chen lässt. Neben diesen Ar¬
beiten einer ausgelassenen Ori¬
ginalität ist es schwer, den
romantischen Lithographieeii
Faniin- Latour' h; völlige Gerech¬
tigkeit angedeihen zu lassen.
Seine Kompositionen nach W ag-
ner’schen Motiven sind in einer
etwas nebelhaften F’ormen-
sprache vorgetragen; gegenüber
den Arbeiten jüngerer Künstler
erscheint Fantin’s strichelnde
Manier fast unfrei, unlebendig.
Von den Neueren macht Alexan¬
dre Lunois durch seine modula¬
tionsreichen Originallithogra-
phieen Aufsehen, worunter sich
auch einige farbige Versuche
befinden; mit ihm wetteifern
Henri - Patrice Dillon, Ernest-
AngeDuez (Landschaften), Einet,
Aman Jean und andere, deren
Arbeiten teils in dem Journal
dem Album des Peintres lithographes erschienen sind.
Auf gleicher Höhe wie die originale Lithographie
stehen die Reproduktionen. Was Etienne Corpet,
0. Fuchs (nach Henner), Lauget, Siroug und besonders
Plakat von Chferet
,L'Artiste“, teils in
Paul Maurou darhieten, gehört zu dem Besten, was
die lithographische Reproduktionskunst hervorge¬
bracht hat.
Gegenüber diesen Lithographieen behaupten der
Holzschnitt und die Radirung
den hohen Rang, den sie seit
langem in Frankreich inne¬
haben, während der Kupfer¬
stich nur noch wenige Ver¬
treter mehr gefunden hat.
Von den französischen Ori-
ginalradirern zeichnen sich auf
dem Champ de Mars einige
Künstler aus, von deren Um¬
gang mit dem Scheidewasser
bisher nur dürftige Kunde in
weitere Kreise gedrungen ist.
P. G. Hellen ist einer dieser
homines novi, und seine Ar¬
beiten mit der kalten Nadel,
meist weibliche Porträtstudien,
leicht und frei hingeschrieben,
gehören zu dem Geistreichsten
und Anmutigsten, was man
von diesem vielseitigen Künstler
sehen kann, ln seinen Blumen¬
studien kommt ihm Ernest-
Ange Duez sehr nahe, während
Auguste LejFre, Paul Penouard
und Henri Guerard selbstän¬
digere Pfade wandeln.
Lepere olfenhart in seinen
originalen Ätzungen dieselbe
künstlerische Kraft und Selb¬
ständigkeit, die seine Holz¬
schnitte und Ölbilder aufweisen.
Als echter Impressionist im
Sinne von Monet und Degas
sucht er in seinen Naturvisio¬
nen das „Inedirte“, dem ge¬
wöhnlichen Auge Verborgene
auf, und er weiß, was sein
Sinn lebhaft und unmittelbar
erfasste, mit überzeugender
Kraft vorzuführen. Seine Ton¬
schnitte sind allgemein be¬
kannt. Seine feinen Ätzungen, in denen er lebendige
Bilder des Pariser Lebens, der Pariser Landschaft
entwirft, sind der Stolz jedes wohlorientirten Samm¬
lers von modernen Radirungen. Interessant sind seine
Versuche im Farbenholzschnitt, bei denen ihm die
27U DIE VERVIELFÄLTIGENDEN KÜNSTE AUF DEN PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN 1893.
Vorbilder japaniscber Kunst vorschweben. Paul
Renouard erscheint in einigen Blättern, auf denen
er die Aquatinta mit der kalten Nadel zu sehr
feinen Wirkungen vermählt, im Technischen als eine
Art Goya auf eigene Hand. Seine Schilderungen
vom Tanzboden der Pariser Oper sind ebenso fein
und geistreich wie seine Tierstudien charakteristisch
sind. Henri Guerard nimmt eine Lieblingsbeschäf¬
tigung Jacquemart’s wieder auf, indem er kost¬
bare Gefäße mit feinster Charakteristik ihrer Mate¬
rialien unter Anwendung oft verwickelter technischer
Kniffe so wiedergiebt, wie sie einem impressionistisch
schauenden Auge erscheinen: als Träger subtiler
malerischer Wirkungen — nicht im Hinblick auf
das Detail der Formengebung und Ornamentation.
Euyiiir Brjoi benimmt
sich in seinen Atzungen wie
ein etwas harter Nachahmer
Le})ere’s. Storni rrurs Urave-
,sr//n/e scheint an seinem Ruhm
zu zehren, vermag mit seinen
Maasschilderungen keinen
starken Eindruck zu erzielen.
Bemerkenswert ist die große
Sammlung höchst sugges¬
tiver Radirungen von 3Ia.r
Licli('nii(uin und die große,
in derkoloristischen Wirkung
stnpende Sommeridylle von
Kurl Kojij)iii(j, mit der der
Künstler sich in markanter
W(~-
W'eise als Originalradirer
einfülirt. Die Gestalten dieses Sommeridylls, zwei
l‘'raucnßguren, entsprechen vielleicht nicht der Idea¬
lität klassischer Formengebung, allein das Blatt ist
so ganz auf die Wirkungen der Ätzkunst hingear¬
beitet und erscliöptt gewissermaßen ihre reichen
inalerisclien Befäliigimgen, dass es allein um dieser
teelinischen d’ugend willen eingeliender Betrachtung
wert ist, und je<lenfalls die Kün.stler auf das leb-
liafte.stf! interessirt. Erwähnt seien noch, der
Kuriosität lialber, der Versuch einer vierfarbigen
Kadirung von Uelalrr und die Bemühungen
von Unui I hidvalirr, Atzung und Aquatinta harmo-
niscli zu verbinden. Von den rei)ioduzirenden Künst¬
lern auf dem tdiamp de Mars nenne ich Fdix -hi-
ungemein einlässliclie, aber kraft- und salt-
bjse Wiedergabe von Botticelli’s Primavera. Sein
großes Blatt wirkt wie eine Heliogravüre, so ängst¬
lich ist jeder .Strich“ vermieden; zudem macht es
nicht den Eindruck, als sei die Platte vor dem Uri-
Viguette vou Cli6ret.
ginal entstanden. Etwas unruhig, aber nicht un¬
künstlerisch ist die Kaltenadelarbeit, mit der Andre-
Henri Proust Botticelli’s Fresken aus der Villa Lemmi
im Louvre wiedergegeben hat. Andere Werke repro-
duzirender Kunst stellten die bekannteren Künstler
wie Waltncr , Lerat, Riccmlo de los Ilios aus, ohne
damit indessen den Wert früherer Arbeiten zu über¬
bieten.
Wie der Salon in denChamps Elysees irn Vergleich
zu dem des Marsfeldes als der zahmere, allgemein
gefälligere , aber künstlerisch belanglosere erscheint,
so trägt auch seine graphische Abteilung einen im
allgemeinen konservativeren Charakter. Aber wie sich
in der Malerei und Skulptur einzelne fortschrittlich
moderne Strömungen auch im Industriepalast Ein¬
gang verschafft haben, die
den Roybet, Bouguereau und
Henner gegenüber kühn und
erfolgreich die Sache einer
frischeren neuen Kunst ver¬
fechten, so finden wir auch
unter den vervielfältigenden
Künstlern welche, denen
Selbständigkeit im Empfin¬
den und in der Formen¬
gebung wichtiger ist als die
(jebenedeite Routine älterer
Tüchtigkeit. Namentlich die
reproduzirenden Holzschnei¬
der feiern mit ihrer echt
modernen, malerisch warm
empfindenden Virtuosität
ebenso einige Lithographen,
die ich schon nannte. Holzschnitte von Charles
Dande, Entile- Philippe Lemaire, Auguste- Hilaire Le-
rcillc, Lron Puffe, Vintraut, Gilardi gehören zu den
einrabmens würdigsten Bildern. Von den Radirern
dieses Salons zeichneten sich aus Chanvel, Ileseltine,
Sloromhe, Ilügg (Haigh), Gourtrg, Dainman, Layuillcr-
iule, Lalauze, Le Gouteux, Milius, Turletti und last
not least Albert Krüger aus Berlin. Im reinen Stich
schuf Jacqnct das Tüchtigste und hatte Jacohy seine
Hochzeit Alexander’s mit Roxane nach Giovan An¬
tonio de’ Bazzi ausgestellt.
So zeiiit sich denn auf mehreren Gebieten ver-
vielfältigender Kunst reges Leben, offenbart sich in
den Werken der Orginalradirer und Lithographen
der frische künstlerische Zug der Zeit und in denen
der Reproduzenten ein ernstliches Streben nach
l’reieren künstlerischen Ausdrucksformen.
Paris, Ende Juni 1893. PIVllARD URAUL.
schöne Triumphe,
Kopfleiste von A. Lackner.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Auktion der Kupferstiche, Badiriingcn und Zeichnungen
aus der „Holford - Sanunlung“. Diese berühmte Sammlung,
fast die letzte ihrer Art in Privatliänden Englands, kam
am 11. Juli und den drei folgenden Tagen bei Christie in
London zur Auktion. Die hervorragendsten Stücke der Kollek¬
tion befanden sich längere Zeit zur Ansicht in der Kunst¬
handlung von Colnaghi ausgestellt, deren Chef, Mr. Andrew
McKay , einen sehr genauen Katalog der Sammlung ver¬
fasste. Der verstorbene Mr. Holford, obwohl ein Mann von
Geschmack und Kenntnissen, war dennoch kein Sammler
im eigentlichen Sinne, und so blieb denn diese Kollektion
in der Hauptsache in demjenigen Zustande, in welchem sie
als „Woodburn“, und schon früher als „Aylesford-Sammlung“
rühmlichst bekannt war. Die nunmehr stattgehabte Auktion
hatte aus allen Weltteilen Liebhaber und Vertreter von
Museen herbeigelockt. Den Hauptanziehungspunkt bildeten;
die Radirungen Rembrandt’s, die Stiche Dürer’s, Martin
Schongauer’s, viele andere seltene deutsche Meister und eine
kleine, aber sehr ausgewählte Anzahl von Originalzeichnun¬
gen. Vor allem gebührt den Radirungen Rembrandt’s der
Preis. Verglichen mit anderen bedeutenden Verkäufen von
„Rembrandt - Kollektionen“ , so namentlich der des Herzogs
von Buccleuch und des Rev. Dr. Griffith, finden wir, dass
jene eine außergewöhnliche Anzahl „erster Plattenzustände“
enthält, und dass die Blätter hier alle in guter Verfassung
sind. Dies ist besonders hervorzuheben vom „Hundertgulden-
Blatt“, „Rembrandt mit dem Säbel“ und von „Ephraim
Bonus mit dem schwarzen Ring“. Von dem „Hundert¬
guldenblatt“ dieses Plattenzustandes sind nur sieben Exem¬
plare bekannt, und da seit 100 Jahren die Blicke aller For¬
scher vergebens gesucht haben, so mag wohl mit einiger
Sicherheit behauptet werden, dass deren keine weiteren vor¬
handen sind. Von diesen sieben Blättern befindet sich je
eins im British Museum, in der Nationalbibliothek in Paris,
in Amsterdam, in Wien, Berlin (aus dem Verkauf der Bnc-
cleuch-Sammlung), und dasjenige aus dem Besitz von M. Du-
tuit kommt an die Stadt Rouen; das hier in der Holford-
Sammlung befindliche ist das siebente Exemplar. Vielleicht
ist dies das schönste von allen Blättern, und ebenso weich
im Ton wie zart in Licht und Schatten, so dass es jeden¬
falls von keinem der sechs anderen Exemplare übertroffen
wird. Der 1867 verkaufte Abdruck in der Auktion von Sir
Charles Price erzielte 1180 £, und ein gleiches Blatt aus
der erwähnten Auktion des Herzogs von Buccleuch 1300 £.
Noch seltener ist das Blatt , .Rembrandt mit dem Säbel“,
von dem im ganzen vier existiren, und zwar drei Abdrücke
in öft’entlichen Galerieen, während der vierte hier zxim Ver¬
kauf kam. „Ephraim Bonus“, erster Plattenzustand mit dem
schwarzen Ring, ist nur dreimal vorhanden: im British Mu¬
seum aus der Verstolk -Sammlung, dann in Paris und end¬
lich hier in der Holford-Auktion. Dieses Meisterwerk voller
Ausdruck und tiefster innerer Erfassung zeigt uns die cha¬
rakteristische Individualität des Künstlers in gleicher Weise
wie das kleine Ölbild desselben Sujets in der „Six- Kollek¬
tion“ in Amsterdam. Für italienische Stiche, mit Ausnahme
derjenigen des 15. Jahrhunderts, ist in England die Lieb¬
haberei nicht mehr so groß, wie dies vor einer Generation
der Fall war, und die Werke von Marcanton Raimondi,
obwohl hier sehr gut vertreten , würden vor 40 Jahren be¬
deutend höhere Preise erreicht haben. Die bemerkenswerte¬
sten Preise am ersten Tage waren folgende: „St. Georg und
der Drachen“, von dem unbekannten Meister von 1466, 165
„Das Urteil Salomo’s“, von F. v. Bocholt, 100 £; von dem¬
selben, „St. Michael“, aus der Esdaile-Sammlung, 135
„Die heilige Familie“ von G. Antonio von Brescia, aus der
Du Bois-Sammlung, 140 £; „St. Georg“, von Hans Burgkmair,
auf Pergament, 120 Albrecht Dürer: „Adam und Eva“,
100 „Die Passion“, 50 „Die heilige I’amilie“, seltene
Radirung, 110 ,,St. Hubertus“, 150 30; „Der hl. Hierony¬
mus in seiner Zelle“, 130 30; „Melancholie“, 62 30; „Tod
und Teufel“, 145 30; „Das Wappen mit dem Schädel“, 75^;
— Am zweiten Auktionstage ist nachstehendes besonders
erwähnenswert: „Kampf der Meergötter“, von Andrea Man-
tegna, 50 30; ,, Aurora“ nach Guido Reni, von Raphael Mor-
ghen, 52 30; „Die trauernde Maria“, von M. A. Raimondi,
55 30; von demselben Meister: ,,Adam und Eva“, 180 £;
„Der betblehemitiscbe Kindermord“, 190 30. Manche alten
Platten von Marc Antonio Raimondi sind von Hand zu Hand
gegangen, wieder aufgestochen und noch in neuerer Zeit in
ganz schwachen Abdrücken ein Handelsartikel der päpst¬
lichen Kupferdruckerei in Rom gewesen. Bei dieser Gelegen¬
heit mag daran erinnert werden, dass Lucas van Leyden
auf seinen guten Namen so eifersüchtig gewesen sein soll,
dass er alle Fehldrucke vernichtete; „Der Tanz der Magda-
272
KLEINE MITTEILUNGEN.
lena“ von diesem Meister erzielte 88 £. Von Israel van
Mecken; „Judith“, 78 £•, „Zwei Liebende“, 71 £■, die „Ma¬
donna di San Sisto“ von F. Müller, nach Raphael, 80 £. —
Der dritte Tag brachte die Badirungen Bcinbrandt’s. Die
Preise waren außerordentlich hoch. Die Abdrücke der ersten
Plattenzustände von ,, Christus heilt die Kranken“, „Rem-
hrandt mit dem Säbel“ und , .Ephraim Bonus“ brachten zu¬
sammen 5700 £. Diese, sowie die anderen bedeutendsten
Blätter gingen nach Berlin, Wien, Paris und Stuttgart.
..Rembrandt mit Hut und gesticktem Mantel“, 1. Platten¬
zustand, 420 £ (Käufer: Bouillon). Ein anderer Abdruck,
5. Plzst., 66 £ (Gutekunst); „Rembrandt an eine Steinbrü.
stung angelehnt“, 2. Plzst., 82 £ (Gutekunst); „Rembrandt
zeichnend“, 3. Plzst., 280 £ (Meder); ein anderer Abdruck,
5. Plzst., 82 £ (Gutekunst) ; „Rembrandt auf einen Säbel ge¬
stützt“, 1. Plzst., aus der Aylesford-Sammlung, 2000 £ (De-
prez und Gutekunst); „Die Flucht nach Ägypten“, in dem
Stil von Elsheimer, 2. Plzst., 160 £ (Meder); „Die Aufer¬
weckung des Lazarus“, 3. Plzst., 125 £ (Meder); „Christus
heilt die Kranken“, ..Hundertguldenblatt“, 1. Plzst. auf chine¬
sischem Papier, aus der Hibbart- und Esdaile - Sammlung,
17.50 €' (Danlos); dasselbe Blatt im 2. Plzst. 290 £ (Deprez);
, .Christus vor Pilatus“, 1. Plzst. auf chinesischem Papier,
1250 £ (Bouillon); ein anderer Abdruck im 3. Plzst. 57 £
(Meder); „Christus gekreuzigt zwischen den beiden Schächern“,
1. Plzst., 200 £ (Meder); ,,Der gute Samariter“, 1. Plzst.,
39 £ (Dunthorne) ; „Tod der Jungfrau Maria“, 1. Plzst.,
145 £ (Meder); „Hieronymus vor einem alten Baume sitzend“,
1 Plzst. auf chinesischem Papier, 61 £ (Gutekunst); eine auf
Herzog Alba bezügliche allegorische Scene 41 £ (Colnaghi) ;
„Der Schlittschuhläufer“, 48 £ (Dunthoime) ; „Ein Maler, ein
Modell zeichnend“, 125 £ (Meder); „Ansicht von Omwal“,
.320 £ (Bouillon); „Ein Bauer“, 145 £ (Colnaghi); „Eine
Landschaft“, 80 56 (Danlos); „Landschaft mit einer Kutsche“,
130 £ (Bouillon); „Die drei Landhäuser“, 1. Plzst., 275 £,
2. Plzst. 100 £ (Meder); „Ein Dorf mit viereckigem Kirch¬
turm“, 1. Plzst., 210 £ (Meder); „Der Kanal“, auf chine¬
sischem Papier, 260 £ (Bouillon); „Landschaft mit verfalle¬
nem Turm“, 1. Plzst., 145 £ (Colnaghi); ..Eine Landschaft
mit Schafherde“, 245 £ (Sabin); „Eine Landschaft mit Obe¬
lisken“, 1. Plzst., 185 £ (Meder); ,, Ein Obstgarten mitScheune“,
1. Plzst., 170 £\ „Landschaft mit großem Boote“, 200 £■,
„Der junge Haaring“, 145 £ (sämtlich Meder) ; „Renier Ans-
loo“, 120 £ (Colnaghi); „Der alte Haaring“, 3. Plzst., \%) £
(Gutekunst), „Johann Lutma“, 1. Plzst , ISO £ (Gutekunst);
„Jan Asselyn“, 1. Plzst., 140 ^ (Colnaghi) ; „Ephraim Bonus“,
1. Plzst. mit dem schwarzen Ring, 1950 .5^ (Danlos) ; dasselbe
Blatt, 2. Plzst., 135 £ (Meder); „Johann Cornelius Sylvius“,
als bester Abdruck von Wilson bezeichnet, 450 £ (Bouillon);
„Coppenol“, große Platte, nach Wilson 2. Plzst., während
nach dem Urteil von Middleton 1. Plzst., 1350 £ (Bouillon);
ein ähnliches Exemplar erzielte in der „Buccleuch-Auktion“
1190 £•, „Porträt von van Tolling“, 2. Plzst., 530 £ (Meder);
„Der Bürgermeister Six“, 2. Plzst., 380 £ (Colnaghi); das¬
selbe Blatt, 3. Plzst., 255 £ (Meder); „Die Judenbraut“,
1. Plzst., 175 £ (Gutekunst). — Am letzten und vierten Auk¬
tionstage waren ebenfalls gute Preise zu verzeichnen: Kupfer¬
stiche von Martin Schongauer: „Die Gehurt Christi“, 94 £\
„Die Kreuzigung“, 66 £•, „St. Georg“, 50 £\ „St. Georg“
von Zwolle, 265 £ (Meder). — Zeichnungen alter Meister:
„Studie“, Drei Kinder von Correggio, 82 Dürer; „Ein knie-
ender Mann“, Bleistiftzeichnung auf blauem Papier, Mono¬
gramm, 1506, kam auf 60 £\ Federzeichnung „Ein Storch“,
Monogramm und 1517, 54 £\ ein Blatt aus Dürer’s Skizzen¬
buch, Bleistiftzeichnung, 7V2 Zoll X 5, zwei Köpfe, Mono¬
gramm und 1520, 635 £ (Meder); „Ein italienischer See¬
hafen“, von Claude Gelee, 96 £', die berühmte Zeichnung
„Der Kelch“ von Mantegna, gestochen von Hollar, 185 £
(British Museum); A. Ostade, „Außerhalb eines Wirtshauses“,
(das Bild in der Galerie im Haag), 225 £', eine ländliche
Scene von Paul Potter, 270 £\ „Porträt von Elisabeth Brandt“,
in Schwarz und Rot von Rubens, 68 £\ A. v. d. Neer, „Fluss¬
scene“, 86 £•, eine Vase mit Blumen von van Huysum,
150 £. — Der Gesamterlös der Auktion betrug 27892 £.
Herausgeber: Barl rnn IJUxmv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Scemunii in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
"Wöernle rad.
AMOR UND PSYCHE^
Verlag '■^^'I -A.Seemaiin, Leipzig,
Druclc v7.ABrocl5ih.aus Leipzig.
DAS PANTHEON IN ROM.
MIT ABBILDUNGEN.
A das Interesse für das sogenannte Pantheon
des Agrippa in Rom wieder ein aUgemeines
geworden ist, soll hier ein Auszug aus den
Ergebnissen der Untersuchung geboten werden, wel¬
che bereits im Sommer 1890 in Rom von dem da¬
maligen Reisestipendisteu der Wiener k. k. Akademie
der bildenden Künste, Architekten Josef Dell aus-
ge.sprochen und seitdem von anderen wiederholt
worden sind. Diese Ergebnisse werden demnächst
in einer größeren Publikation erscheinen.
Was jetzt „Pantheon“ benannt
wird, bildet einen antiken Baukom¬
plex, der von drei Straßen und einem
Platze begrenzt wird und sich natur¬
gemäß in fünf Teile gliedert: die
Vorhalle, den Vorbau, den Rund¬
bau, den sogenannten Thermensaal
und die zwischen beiden liegenden
Gemächer. Mannigfache Verände¬
rungen sind an allen diesen Teilen
bemerkbar. Die Renaissance, das
Mittelalter, die altchristliche Zeit,
ja selbst die Römerzeit nahm schon
Teil an der Umgestaltung des ur¬
sprünglichen Bauwerkes, glück¬
licherweise ohne dassell>e zu sehr
zu verändern.
Die Rotunde bildet den her¬
vorragendsten und mächtigsten aller
Teile. Sie besteht aus mehreren
Geschossen. Im Äußeren tragen drei
derselben die segmentförmige Ku¬
gelcalo tte; die beiden unteren Ge¬
schosse des Äußeren entsprechen den
zwei Stockwerken des Inneren, mit
denen sie im innigen konstruktiven
Zusammenhänge stehen. Die halb¬
kugelförmige Kuppel bildet die
Decke.
Der Grundriss ist kreisförmig
angelegt. Acht mit Hohlräumen
versehene Pfeiler werden im zweiten
Geschosse mit Tonnen verbunden;
35
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
274
DAS PANTHEON IN ROM.
die dadurcli entstandenen Laibungen sind nach außen
mit Mauern geschlossen und bilden auf diese Weise
Nischen, die mit Ausnahme der Eingangstonne in den
Hauptachsen in ^kreissegmentförmigem Grundriss, in
den vier Nebenaclisen aber in kreisringförmiger Form
ausgebildet sind. Die Hauptnische allein lässt den
halbkujipelförmigen Abschluss sichtbar erscheinen;
jener der beiden mittleren zur Seite ist durch die Ober-
waudmauer verdeckt, aber auch vfie die Hauptnische
in der Form von Halbkuppeln ausgebildet.
Die Laibung des Einganges sowie die vier
Nischen in den Nebenachsen besitzen tonnenförmige
Uberdeckungen. Nur die letzteren vier sind unter
sich gleich. Die Eingangstonne ist schmäler, ihr
Scheitel gleich hoch mit dem Schluss der Altar¬
nische (Hauptnische). Die sechs seitlichen Nischen
haben im unteren Geschosse eingestellte Säulen
mit einem darüber befindlichen Gebälke korinthischer
Ordnung. Bekannt ist, dass die unteren Geschosse
zusammengenommen gleiche Dimensionen haben mit
dem Radius des Grnndrisskreises und der Höhe
der Kujjpel (Fig. ]. Radius MP = Höhe PT.) Die
Architekturteile des Inneren wurden für dieses
Bauwerk sicher nicht neu hergestellt, sondern sie
wai-en, als man dasselbe errichtete, schon vor¬
handen; dies beweisen die ungleich breiten Pila.ster-
kapitäle bei vollkommen gleich breiten Pilaster-
scliäften. Die Pilasterkapitäle der Tabernakel sind
mit l)earl)eiteten Teilen einverbaut, deuten somit
auf eine ursprünglich anders beabsichtigte oder
ausgefübrt gewesene Verl>indung.sart liin, so dass
die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass dieselben
von einem ander(!n Bauwerke stammen. — Alle Werk¬
stücke sind aber so innig mit dem Gebäude ver-
luimbm, dass die Annabme eines späteren Einbaues
derselben vollkommen ausgeschlossen ist, wie es
Hirt hei seiner Rekon.struktion angenommen hatte.
1 )ie Schäfte der Säulen und Pilaster jedoch dürften
aus neuen Werkstücken hergestellt worden sein.
Die \b.*ränderungen, welchen der Rundbau aus¬
gesetzt war, beziehen sich hauptsächlich auf die
Kntfernung der alten Oberwandincrustation im Jahre
1771 durch Paolo Posi. Wir übergehen alle anderen
und erwähnen nur diejenigen der ersten Tabernakel
reclits und links vom Eingänge, die in altchri.st-
lieber Zeit schon verdorben wurden.
\'on den vorhandenen Aufnahmen des Denk¬
mals sind bloß zwei erwähnenswert: vor allem
das in seinen Messungen zum Teil sehr genaue und
vorzügliche Werk von T)esi/odrtz, welches zumeist
die künstlerische Seite behandeln sollte; die nur
bis zu einem gewissen Grade von Genauigkeit aus¬
geführte Darstellungen mancher Dekorationen und
der Konstruktion sind aber gewiss nicht in Rom fertig
gestellt worden. Das größte Verdienst Desgodetz’s
besteht in der Rettung der Anordnung der alten, dem
Septimius Severus zugeschriebenen Oberwandver¬
kleidung durch eine sehr genaue Aufnahme, beson¬
ders mit Berücksichtigung des dabei verwendeten
Materiales. Die Publikation \oia. Ledere bei Isabelle —
Edifices circulaires et les domes — weist leider
manchen Fehler auf. — Adler stützt sich bei seiner
Rekonstruktion auf letzteres Werk und konnte des¬
halb zu keiner richtigen Lösung gelangen, obwohl
er dieselbe ahnte.
Um diesem Übelstande abzuhelfen, wurde durch
Herrn Dell durch fünf Monate hindurch eine voll¬
kommene Neuaufnahme des Pantheon gemacht, bei
welcher er in den Nischen aller Stockwerke auf
viele Stempel stieß, welche ihm von Dr. Dressei als
der Hadrianischen Zeit angehörig bezeichnet wur¬
den. Seine präzise Erklärung, welche er Ende Juni
1890 in Rom Dr. Dressei gegenüber aussprach, dass
dann das Pantheon zum mindesten sicher ein voll¬
kommen neuer Hadrianischer Wiederaufbau sei, stieß
damals auf lebhaften Widerspruch, und erst als von
anderer Seite später dasselbe ausgesprochen wurde,
fand die Deutung allgemeine Zustimmung. Auch
der Vorbau und die Vorhalle zeigen Veränderungen.
Als die für uns wichtigste mag die der drei öst¬
lichen Säulen gelten. Die dritte stand einst an Stelle
der ersten an der Ecke, die erste und zweite jedoch
stammen von einem anderen Denkmale, wie es uns
Hirt berichtet, her.
Die Vorhalle wie der Vorbau sind aber beide
in Hadrianischer Zeit zusammengefügt und erbaut
worden, nur zeigen sich verschiedene Stadien der
Ausführung. Um jene großen Gesimsstücke in
den fertigen Vorbau einfügen zu können, wären be¬
deutende Stützen und Abstrebungen notwendig ge¬
wesen zum Unterfangen des darüber liegenden Mauer¬
werkes, welche gewiss Spuren ihrer Anwendung
hinterlassen hätten, die aber nirgends erkennbar
sind. Auch an der Vorderseite des Vorbaues bilden
mehrere Steine die Kämpfer zweier in der Mauer
befindlichen Entlastungsbögen, welche sicher durch
das Einfügen der Architravstreifen dortselbst in
Mitleidenschaft gezogen worden wären.
Es spricht sich hier somit unverkennbar eine
Änderung im Bauprogramme während des Baues aus.
Vielleicht wollte man eine Fassade ohne Vor¬
halle ausführen; die angestellten und nicht einver-
DAS PANTHEON IN ROM.
275
bauten Pfeiler weisen darauf hin, aber eine fertig
gestellte Fassade bis in die jetzt aufgeführte Höhe
bestand nie. Durch das Anfügen der Vorhalle an
den Vorbau wäre das Horizontalgesimse des oberen
Giebels überdies zerstört worden; nun ist dasselbe
in seinen mittleren Teilen von Anbeginn an unfertig
geblieben, es ist das Dach der Vorhalle somit älter
als diese Teile des Vorbaues.
Den schlagendsten Beweis für die hier ausge¬
sprochene Behauptung bildet der Vorbau selbst. Bis
in die Höhe der Pilasterkapitäle der Vorhalle ist
derselbe mit dem Rundbau innig verbunden , also
gleichzeitig, von da an bis hinauf durch eine Sto߬
fuge getrennt, also angebaut und später als der
Rundbau. Leicht denkbar ist somit eine Aus¬
bildungsform, bei welcher das Dach bis an den Rund¬
bau anschloss.
Bedeutungsvoll sind auch noch die zu beiden Seiten
der Schwelle der großen Eingangsthüre nach innen
zu liegenden Steine, welche in ihrer unfertigen Gestalt
und in Anbetracht der ursprünglichen Lage der
obigen Behauptung zur Bekräftigung dienen.
Gewiss ist die jetzige Form des Vorbaues nur
zu dem Zwecke hergestellt worden, um einen Ver¬
bindungsweg zu schaffen zu dem Dache und den
von außen über den Platten des zweiten Gesimses
begehbaren Nischen, dessen Thürverschlüsse auf eine
frühere Benutzung hindeuten. — Ob die Vorhalle
der älteste Teil ist, wie geglaubt wird, muss durch
Untersuchungen ihres Fundaments ermittelt werden,
was Herrn Dell seiner Zeit in Rom nicht gestattet
wurde. Wir wissen aber, dass die Schäfte der Säu¬
len aus Granit sind, und da Richter bewies, dass zur
Zeit Agrippa’s Granit bei den Säulen nicht zur An¬
wendung kam, so ist damit die Frage zu Gunsten
eines späteren Baues gelöst, bei dem aber die Werk¬
stücke, welche die Friesinschrift Agrippa’s tragen
und die von Säule zu Säule mit dem Architrave der
Höhe nach ein Stück bilden, sicherlich wieder zur
Verwendung gelangten. Das Alter des Kranzgesimses
bleibt dabei immer noch in der Schwebe. Der
wichtige Umstand, dass über den Architraven der
vier innerhalb der Vorhalle stehenden Säulen, in
den Mauern, welche den Dachstuhl stützen, ver¬
arbeitete Werkstücke zur Wiederverwendung kamen,
deutet ohnedies mit Sicherheit auf keinen primä¬
ren Bau.
Im Giebelfelde des Vorbaues oberhalb des Daches
der Vorhalle befinden sich noch etliche durchlochte
Steine, die bei näherer Betrachtung für bestimmt
später eingefügt erklärt werden müssen und die
zweifelsohne zur Befestigung von Gerüsten während
des Baues dienten.
Kehren wir nun zum Inneren des Rundbaues
zurück, wo schönere Resultate zu gewärtigen sind,
besonders in betrefl' der Ermittelung der ehemaligen
Oberwandausbildung. Von der alten Oberwand-In¬
krustation ist jetzt nur mehr die Chambranle der
Bogen der Eingangstonne und Altarnische, welche
schon in der Aufnahme bei Desgodetz erscheinen,
vorhanden. Die Eingangstonne selbst geht auch
durch die voUe Mauerstärke hindurch, wie die sechs
anderen Mauerbögen, welche an der Außenseite sicht¬
bar sind. Durch eine genaue Aufnahme gelangt
man zur Kenntnis, dass die letzteren in der Form
von kegelförmigen Tonnen ausgeführt sind, deren
Achsen ansteigen, deren Scheitel HS (Fig. 1) hori¬
zontal liegen, und deren Spitze S in der Achse des
Rundbaues SM sich befindet. Es sind somit I, II,
HI, IV, die Mittelpunkte der kreisförmigen Lehr¬
bogengerüste, auf welche zuerst die zweischuhigen
Plattenreihen gelegt wurden, die zur Fertigstellung '
des Bogens dienten.
Die achtschuhige Mauer, welche in Fig. 1 weg¬
gelassen ist, wurde sicher vor Beginn der Einwölbung
ausgeführt und half gleich dem Lehrgerüste mit zur
Stütze des Bogens.
Obige fünf Plattenreihen, welche in der Breite
von zehn Fuß den Raum überdecken, mussten ursprüng¬
lich einverbaut werden, ihre Stempel sind bestimmend
für das Alter des Denkmals. Dass an der Kuppel
dieselben Stempel vorhanden sind, deutet auf einen
vollkommen gleichzeitigen Bau, was die früher aus¬
gesprochene Behauptung nur bekräftigen kann.
Die beiden Rundnischen rechts und links von der
Mitte haben denselben Radius wie die Altarnische,
nur zeigt letztere eine andere architektonische Aus¬
bildungsform und Verbindung mit der Innenwand.
Die überdeckenden Halbkuppeln der seitlichen Rund¬
nischen wurden ebenfalls auf Holzgerüsten und mit
Hilfe der zweischuhigen Platten hergestellt, welche
gleichfalls Stempel der Zeit Hadrian’s tragen wie jene
aller übrigen Nischen. Dadurch, dass sie sich auch
hier an ursprünglicher Stelle befinden, wird obige
Behauptung der Erbauungszeit bekräftigt. Es ist
nahezu gewiss, dass über den zwei seitlichen Rund¬
nischen sich ein gleicher Mauerbogen befindet, wie
bei den anderen vier in den Nebenachsen befindlichen
Nischen, indem bei den ersteren an der Außenseite
des Rundbaues derselbe Segmentbogen erscheint,
wie bei den letzteren, so dass die Kuppel sich so¬
zusagen an die Tonne anschmiegt und einfügt. Kleine
35*
•276
DAS PANTHEON IN ROM.
Unregelmäßigkeiten sollen später erwähnt werden.
Alle sechs Nischen waren aber ehemals an der in¬
neren Oberwand zum Ausdrucke gebracht worden,
da die innere drei Fuß dicke Mauer ursprünglich nicht
vorhanden war.
Die Konstruktion derselben ist bekannt. Auf
dem Gebälke befinden sich übereinander zwei Reihen
Verbindung besonders hei den Konsolen deutlich
zeigt. Die beiden seitlichen Nischen besitzen keine
Verbindungsmauern, aber hier wie dort ist die nischen¬
schließende Innenmauer viel weniger dicht eingefügt
als die äußere, acht Fuß breite. Sie trägt infolge
ihrer relativ schwächeren Dimension und der losen
Fuge beim Bogen zur Unterstützung und Entlastung
•/OK HADRIAN.
OBERWAN D -AVSBILDVNG.
VOM PANTHEON IN ROM .
-1-' I I --I - ^ - 1 - ^ - h
YON SEri.SEVERVS.
, METFR.
VOM je drei Eiitlasf uiigshögen , welche den Inter-
koluiiiiiieii fiits[)reclien. Sie tragen die Mauer, welche
III der Mitte feiisterartig durehhrochen ist. Die
Mauer wurde durch radialgestellte (^uermauern über
Bogen und Konsfdeii mit der äußeren Mauer ver¬
bunden. gewiss aber erst in sjiäterer Zeit, wie es
bei genauerer Untersuchung die Art und Weise der
desselben fast nichts bei. Die deutlichsten Erken¬
nungszeichen der späteren Einfügung des ganzen
Systemes bilden die bis über die innere Mauer hinein¬
greifenden zweischuhigen Plattenreihen und die in
die äußere Mauer später eingefügten Konsolen paare
im Inneren der Nische; auch wurden durch das Ein¬
fügen der kleinen Entlastungsbögen Teile der großen
DAS PANTHEON IN ROM.
277
Tonne zerstört, so dass man die vollkommene Über¬
zeugung gewinnen muss, dass die Innenmauer, wie
es in der Zeichnung Fig. 1 dargestellt erscheint,
nicht gleichzeitig, sondern später ist, und dass man
von derselben bei der Rekonstruktion deshalb ab-
sehen muss; dies um so mehr, als in den seitlichen
Rundnischen, wo die gleichen Druckverhältnisse be¬
stehen, wie in den kreisförmigen Nischen, den¬
noch die Radialmauern, wahrscheinlich technischer
Schwierigkeiten wegen, nicht eingefügt worden
sind. Der an der Innenwand zu Tage tretende
Bogen hat nun folgende Form (Fig. 1 und 2): er
ist halbkreisförmig, sein Mittelpunkt in IV (resp. C),
und besitzt eine um ein geringes größere Spannweite
als die Entfernung der Mauerkerne der Nischen¬
pfeiler (Radius Ca in Fig. 2), welchen die Pilaster
in der Stärke von ca. 16 cm im Mittel (c d) vor¬
liegen. Durch die Ecken derselben ist die segment¬
förmige Gestalt vollkommen genau gegeben.
Betrachten wir die Oberwandkonstruktion des
Septimius Severus, 10 GN Fig. 2, so finden wir, dass
das mittlere der drei Felder zwischen den Fenstern
ein Verlegenheitsmotiv enthält. Dasselbe ist auf
eine Veränderung dieser Verkleidung, welche in
jenem Zustande das untere Geschoss mit der Kuppel
gewiss nicht günstig verbindet, zurückzuführen.
Lässt man den segmentförmigen Mauerbogen in
die Oberwand einschneiden, so ersehen wir sofort,
welche Teile derselben die alten sind und somit
dem Baue des Hadrian angehören, wenn man die
Bogenumrahmung gleich breit nimmt mit der er¬
haltenen der Eingangstonne und Altarnische (GHIK
Fig. 2). Wohl könnte man mit etwas Gewalt auch
einen halbkreisförmigen Bogen erzielen; dann wür¬
den aber die Werkstücke desselben zu groß und
schwer, um angeheftet zu werden, zu klein aber, um
einen selbständig sich stützenden Mauerbogen bilden
zu können.
Es ist somit von dem Hadrianischen Pantheon
viel weniger zerstört, als allgemein angenommen
wurde, da jetzt bloß die Zwickel durch ein passen¬
des Motiv zu füllen sind (LMIG Fig. 2).
Dieses Bogenfenster konnte aber nicht offen
gewesen sein, indem dabei die bloßen Ziegel der
Gewölbe zu Tage getreten wären; die Annahme einer
Bronzeverkleidung der Nischenwände ist unthun-
lich, da in diesem Falle die Bronzestifte zur Befesti¬
gung derselben an die Mauer wenigstens durch die
Spuren einer späteren Entfernung erkennbar wären.
Aus diesem Grunde ist die Adler’sche Rekonstruk¬
tion unzulässig.
Es bleibt somit nur mehr die Annahme eines
Gitters in nebenstehender Ausbildungsform übrig,
durch welches der Bogen geschlossen war. Dasselbe
kann aus Stein oder aus Bronze gedacht werden;
im letzteren Falle sind sowohl die häufigen Blitz¬
schläge leicht erklärlich als auch die spätere Ent¬
fernung desselben in Anbetracht des großen Wertes.
Durch die jetzt sich ergebende Ausbildung wird
auch das verschiedene Material der Pilaster der
Nischen motivirt, indem die beiden mittleren Nischen
die Verwendung von Pavonazzetto, jene der Neben¬
achsen aber von Giallo aufweisen, ebenfalls eine Be¬
kräftigung unserer Rekonstruktion, bei der die
Nischen dominiren. Die großen Kassetten der Kuppel
verbinden sich dabei viel leichter mit der Oberwand,
deren Inkrustation jetzt gewiss nur als Wandmalerei
wirkt, die freilich mit kostbarem Marmormaterial
hergestellt wurde. Eine architektonische Wirkung
jedoch ließe sich mit den kleinen Pilastern allein
nie und nimmer erzielen.
Es liegen genug Anhaltspunkte vor, mit deren
Hilfe der Nachweis erbracht werden kann, dass die
am Äußeren erkennbare Programmänderung sich auch
im Inneren vorfindet. Dieselbe beginnt am oberen
Ende der Oberwand über dem zweiten Gesimse und
erstreckt sich auf die Kuppel und auf das dritte
Geschoss des Äußeren. Sie gab sicherlich Anlass
dazu, dass nachher die Nischen des zweiten Ge¬
schosses geschlossen wurden. Im ursprünglichen
Projekte war gewiss dasselbe Halbkuppelprofil, jedoch
mit zweiunddreißig Kassetten in jeder Zone ange¬
nommen worden, welches sich dem ganzen Aufbau
einheitlich anpassen würde, und von welchem man
vielleicht nur der Zahl sieben wegen abging. Ob
eine andere Kuppel thatsächlich ausgeführt war,
lässt sich nicht mehr beweisen, doch würde dieselbe
ebenfalls in die Hadrianische Zeit fallen müssen.
Die Klammerlöcher der Tabernakelgiebel deuten
auf Akroterien aus Bronze; die Sima der unteren
Ordnung war sicher mit einem Gittermotiv ge¬
schmückt, während das Gesimse der oberen Ord¬
nung eine Bekrönung gehabt haben mag. Die Kas¬
setten zeigen Spuren einer Profildekoration, die viel¬
leicht aus Bronze hergestellt worden war.
Über die Form des Pantheons des Agrippa
wissen wir nichts. Hirt hat zwar schon den um
ca. zwei Meter tieferen Boden gekannt und erwähnt,
welcher jetzt wieder aufgedeckt wurde; er hielt ihn
damals für den Boden des Caldariums der Agrippa-
Thermen, eine Ansicht, die seither unhaltbar ge¬
worden ist.
27S
MAX LIEBERMÄNN.
Als weiteres Ergebnis dieser Studien muss be¬
tont werden, dass es Herrn Dell gelungen ist, das
alte Fußbodenmotiv des Saales der sogenannten
Agrippa-Therraen zu ermitteln, ebenso wie die Ein¬
deckung dieses Saales durch Kreuzgewölbe (vielleicht
in Verbindung mit Stichkappen) zu konstatiren.
Dadurch wird die Rekonstruktion von K A. Bla-
vette in denMelanges archeologiques 1885 I zur freien
Phantasierekonstruktion von keinem wissenschaft¬
lichen Werte. Der obere Teil der Agrippa-Thermen
war innig mit dem Pantheon verbunden und gleich¬
zeitig, so dass dieselben dadurch ebenfalls wenigstens
in den oberen Teilen, die leider nicht mehr vorhanden
sind, in eine spätere Zeit gerückt werden. In welche
Zeit die unteren Partieen gehören, das muss erst
durch Untersuchungen an diesem Denkmal ermittelt
werden.
Die Einbauten zwischen den Thermen und dem
Rundbaue sind durch das Vorkommen der gleichen
Stempel wie bei letzteren ebenfalls aus der Zeit
Hadrians. Sie weisen auch ein geändertes Baupro¬
gramm auf, was zu der die Vorhalle betreffenden
Behauptung ganz gut passt, und welche ebensowohl
wie alle anderen durch genaueste Untersuchungen
keiner Änderung fähig sind, sobald man den Sach¬
verhalt an Ort und Stelle in Augenschein nimmt.
Da nun Herr Dell schon im Jahre 1890 sowohl
an das kaiserl. deutsche Institut in Rom als auch
an die k. k. Akademie der bildenden Künste in Wien
über seine Entdeckungen in vollkommen präziser
Weise berichtete, so gebührt ihm allein die jetzt
von anderen ihm streitig gemachte Priorität. In Wien
wurden seine Arbeiten seit dem Studienjahre 1891/92
den an der k. k. Technischen Hochschule gehaltenen
Vorträgen über antike Baukunst eingefügt. Bei
dem jüngsten Philologentage in Wien hielt Dell
über seine Ermittelungen einen beifällig aufgenom¬
menen Vortrag. Sein bestimmter Ausspruch in Rom
sichert ihm volles Anrecht auf alle seine ihm jetzt
bestrittenen Errungenschaften.
MAX LIEBERMANN.
VON LUDWIG KAEMMERER.
EN Freilichtmaler ohne
Furcht und Tadel lernen wir
dann 1881 in dem „Alt¬
männerhaus in Amsterdam“
(s Zeitschr. f. b. K., Bd.23, S.
288) kennen. Die städtischen
Armenanstalten, Schöpfun¬
gen echt holländischer Mild¬
herzigkeit, zählen mit Recht zu den Sehenswürdigkeiten
der Amstelstadt. Das Oude Mannenhuis, an der Nieuwe
Ileerengracht und Binnenamstel gelegen, mit seinen
.schattigen Laubgängen und friedlichen Ruheplätzcben,
hat es Lieberraann besonders angethan. Da sehen wir
die von Alter und Sorgen gebeugten Gestalten in der
.Mittagssonne, die ihr Licht durch die Laubzweige
spielen lässt, auf langen Bänken ausruhen. Stumm
hängt ein jeder seinen Gedanken nach, die Bilder
einer besseren V'ergangenheit ziehen an der Erinne¬
rung vorüber, fast alle scheinen von dem gleichen
Empfinden bewegt, und doch — welche Fülle in¬
dividuellen Lebens in jedem dieser markanten Köpfe!
II.
Eine gewisse Reputierlichkeit zeichnet die meisten
trotz ihrer uniformen Tracht aus, einzelne haben
sich aus besseren Zeiten noch ihre Allüren bewahrt,
nur wenige fühlen das Bedürfnis, sich einander mit¬
zuteilen. Was gebe es auch viel Mitteilenswertes
in dem gleichförmigen Dasein des Altmännerhauses?
Freilich, die Politik hat ihren Weg auch in diese
Abgeschiedenheit gefunden: ein bärtiger Greis liest
in der Zeitung und um ihn hat sich eine neugierige
Gruppe gebildet, andere schmauchen teilnahmlos aus
ihrer mit Kanaster gestopften Thonpfeife, die mit
der weißen Binde und der flachen Schirmmütze ge¬
wissermaßen mit zur Uniform gehört. Das Ganze
ein Bild heiterer Friedfertigkeit, überstrahlt von der
warmen Mittagssonne, die ihre Kreise auf den sauber
gepflegten Kiesweg malt. — Ein andermal schildert
uns Liebermann die Frauenabteilung derselben An¬
stalt in jenem farbenleuchtenden Bilde, das auf der
Berliner internationalen Ausstellung von 1891 seine
Kunst vertrat. Auch hier hat die Sonne die
Alten mit ihrem Strickstrumpf hinausgelockt; an
MAX LIEBERMANN.
279
dem schmalen Rain, der das Haus von den in voller
Blütenpracht prangenden Einzelgärtchen trennt,
wärmen sie ihre steifen Glieder. Man glaubt die
stille Wärme des Sommernachmittags selbst zu ver¬
spüren, die alles umfängt und die stumpfe Resigna¬
tion der Mütterchen nur als behagliches Selbst¬
genügen erscheinen lässt. Muss ein Künstler, der
so überzeugende Töne findet, nicht selbst mit diesen
Geschöpfen empfinden, ist es denkbar, dass er allein
aus kühler Berechnung der malerischen Wirkung
heraus zu solchen warmherzigen Schilderungen die
Kraft findet? Oder er führt uns vor das katholische
Waisenhaus, wo die Mädchen in ihrer kleidsam-
sauberen Tracht über ihre Näherei gebückt dasitzen,
während andere im Schatten der Bäume lustig plau¬
dernd umherwandeln. Wunderbar ist auch hier die
Tiefe des Raums, das Licht- und Luftleben wieder¬
gegeben und jede Bewegung mit erstaunlicher Schärfe
beobachtet. Freilich ist nichts beschönigt, den Köpfen
kein sentimentaler Liebreiz aufgeschminkt. Diese
Geschöpfe scheinen nicht zu ahnen, dass sie gemalt
werden, so unbefangen und frei geben sie sich in
Wesen und Gebahren. Erst unlängst hat Lieber¬
mann wieder einen verwandten Vorwurf behandelt:
die Mädchen des Bürgerwaisenhauses in ihren schwarz¬
rot — aus den Wappenfarben der Stadt — zusam¬
mengesetzten Jacken, die in dem schönen Park der
Anstalt sich ergehen. Das Bild, das bei Schulte in
der diesjährigen Elferausstellung uns begegnete, ver¬
rät jener älteren Arbeit gegenüber einen weiteren
Fortschritt der Freilichtmalerei. Blendender Sonnen¬
schein umleuchtet die Gestalten, tanzt auf dem Kies¬
boden, rieselt über das Laub der Gesträuche; der
Hintergrund ist voll belichtet und hat trotzdem
nichts an Tiefe verloren, die Gruppen des Vorder¬
grundes setzen sich scharf und kraftvoll ab, die all¬
gemeine Helle vermeidet jede Eintönigkeit, die zar¬
testen atmosphärischen Tonwerte behalten vollständig
ihre Selbständigkeit und Klarheit, die Schatten trotz
der pastosen Malweise ihre Durchsichtigkeit. Schon
als Licht- und Luftstudie allein betrachtet bietet
das Bild reichste Anr-egung. Die hier sich bekun¬
dende Feinfühligkeit des Auges bedurfte zu ihrer
Ausbildung ebenso unermüdlicher Beobachtung und
rastloser Experimente, wie die Sicherheit der Hand.
In der 1882 in München gemalten Schusterwerkstatt,
die durch Halm^’s geistreiche Radirung in den Gra¬
phischen Künsten bekannt ist, sehen wir ihn noch
mit dem Problem der Lichtverteilung ringen; eine
gewisse Unruhe und kleinliche Zerrissenheit von
Licht und Schatten beeinträchtigt die Wirkung des
Ganzen. Auch der „Münchener Biergarten“ (1884)
und die in demselben Jahre entstandene „Weber¬
werkstatt“ lassen die Unrast des Experimentators
deutlich erkennen. Bei weitem reifer tritt uns seine
Kunst in der großen „Bleiche“ entgegen, die zu den
hervorragendsten Leistungen seines Pinsels zu zählen
ist. Farbensaftigkeit und ausgeglichene Lichtführung
vereinigen sich in diesem Werk zu harmonischem
Gesamteindruck. Im allgemeinen darf man sagen,
dass Liebermann im Interieur weniger glücklich ist
als in der staffirten Landschaft. Es macht den Ein¬
druck, als fühle sich seine breite Technik beengt
durch den geschlossenen Raum, wo es gilt, unbestimmte
Zwischentöne subtil herauszuarbeiten, wo die Fein¬
heit der Durchführung nicht selten Kraft und Un¬
mittelbarkeit des ersten Entwurfs zu ersetzen ver¬
mag. Oft haben seine Innenscenen einen etwas leb¬
losen kreidigen Ton, das Bemühen, die gedeckten
Tonwerte richtig zu geben, führt ihn nicht selten
zur Missfarbigkeit. Als Ausnahmen dieser Regel
seien die für die Berliner Nationalgalerie erworbe¬
nen Hanfspinnerinnen (Motiv aus Laren bei Hilver¬
sum, 1887) und die „Strickende Alte“ der Galerie
Maitre in Paris (Stichradirung von A. Krüger in
dem XV. Bande der Graphischen Künste) genannt.
Frei von aller Beklommenheit, sicher in seinen
Mitteln dagegen fühlt sich Liebermann auf den Dünen
der Zuydersee, in den weit sich dehnenden Niede¬
rungen und Poldern Nordhollands. Das Flachland,
über dem sich eine warmfeuchte, seedunstgeschwän¬
gerte Atmosphäre mit grauen Nebelwolken lagert,
wo das Auge weit und breit hinausschweift bis zu
den sanften Hügellinien des Horizonts, die Land¬
schaft Albert Cuyp’s, Jan van Goyen’s und Jacob Ruys-
dael’s hat es ihm angethan. Nicht weniger das
friedlich harmlose, bis zur plumpen Schwerfälligkeit
bedächtige Leben der friesischen Landbauern und
Fischer, dieser Vettern der normännischen Bauern
Millet’s; ihr Treiben, ihre Sorgen, ihre Erlebnisse
bewegen seine künstlerische Phantasie. Da trefien
wir die weibliche Jugend beim Netzeflicken, die
Kuhmagd auf dem Wege zur Weide, die Ziegen¬
hirtin mit ihren Schutzbefohlenen, die träumerische
Schäferin auf der Düne, die Schifferfrau beim Wäsche¬
trocknen, lauter schlichte, belanglose, scheinbar un¬
interessante Motive, die erst Leben und Stimmung
erhalten für das Auge des Malers, die erst durch
die packend lebendige Schilderung in Farben, durch
die Vermittelung einer bedeutenden Künstlerpersön¬
lichkeit den Beschauer zu fesseln vermögen. Denn
jede Kunst bedeutet der Natur gegenüber Konven-
280
MAX LIEBERMANN.
tion und auch die wörtlichste Wahrheit kann per¬
sönlicher Vermittelung nicht entbehren. Wie erfüllt
nun Liebermann diesen Beruf des künstlerischen Me¬
diums? Wer unsere Rührung und Teilnahme mit
pathetischem Schwünge zu gewinnen sucht, uns
vom Himmel durch die Welt zur Hölle führt, den
Sturm der Leidenschaften wüten lässt, hat leichtes
Spiel. Wer dagegen mit naiver Darstellung des
schlichten, von Not und Armut eng umzirkten Da-
der Wind streicht, sehen wir die Fischerfrauen und
Mädchen bei ihrer mühseligen Arbeit hockend; von
dieser scheinbar unpersönlichen Menge löst sich
im Vordergründe stehend eine weibliche Gestalt ab,
deren Gewand zerzaust wird vom Sturme, gegen
den sie sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers
anstemmen muss. Eine machtvolle Figur, blond¬
haarig, den träumerisch-traurigen Blick des schönen
Kopfes ins Unabsehbare gerichtet — eine Heldm
S(:li\v(!iij('l'iU.ti;i’uiig. lIaTi(l/,(3iohniiiig von Max Liebermann.
'■in:: df'ii Cg zu unserem Herzen findet, wie Lieber-
maim, dessen Können, dessen Kunst sollten wir
liölier feilen lind bewundern, stuft ihn als unfreien
Sklaven eini-r naturalisfischen Schrulle zu verklei¬
nern und zu nii.ssHehfen. Und wer wollte sich dem
Kindruek ej'nes Bildes, wit; es die „Netzflickerinnen“
im Besitz der Kunsthulle zu Hamburg sind, ent¬
ziehen? .Auf einer weithin sich dehnenden Heide
mit hohem, in sanften Ilügellinien abschneidendem
llorizoni, über die ein heftiger, Wolken zerfetzen-
im Fischergewande. Es lebt ein sieghafter Herois¬
mus, ein gewaltiger kühner Wille in dieser selbst¬
gewissen Gestalt, die damit um so kräftiger aus
ihrer ärmlichen Umgebung herausgehoben wird.
Weiter im Mittelgründe verstärken einzelne auf¬
recht stehende netzspannende Frauen den Eindruck
der unendlichen Weite des Raumes. Das Ganze um¬
rahmt von dem trostlosen Graugrün des bewölkten
Himmels, den nur am Horizont ein schmaler Licht¬
streif aufhellt, eingetaucht in jene wehmütig- ernste
;tez. V, Max Liebekmann Lithographie dei R.eichsdruckerei,
Kühe AUE DEE Weide
MAX LIEBERMANK
281
Stimmung, iu die uns der Anblick einförmiger Natur
zu versetzen pflegt, und doch mächtig bewegt durch
den tobenden Kampf der Elemente. Man meint die
scharfe salzige Seeluft zu verspüren, die hier mit
wunderbarer Kunst durch das Medium der Farbe
uns vorgezaubert wird. Und mit welcher erstaun¬
lichen Sicherheit sind die einzelnen Gestalten iu den
Raum gestellt, wie knapp und fest ist die Mache des
Bildes! Freundlicher ist der Grundton der Stim-
Dorfliütte. Auch iu diesem Bilde übt das atmo¬
sphärische Leben einen mächtigen Reiz auf den Be¬
schauer aus. Ein fruchtbarer Sommerregen hat das
Land erquickt, die Wasserlachen des Weges spiegeln
die Gestalten wieder, auf dem Laub der Bäume
liegt der feuchte Glanz der letzten Regentropfen,
das gackernde Hühnervolk hat sich wieder hinaus¬
gewagt und pickt im Grase Regenwürmer und an¬
dere delikate Kabrung auf. Auch die Kuh, welche
Feldjätendes Baiierupaar. Handzeichnuiig von JIax Liebermann.
mung in der „Holländischen Dorfstraße“ (1888 ge¬
malt), im Besitz des Herrn W. von Seidlitz in
Dresden. Auf dem Wege zur Weide hat eine Kuh¬
magd auf der Dorfstraße Halt gemacht, um mit
einer anderen Dorfschönen, die auf einem Karren
Viehfutter heimführt, zu plaudern. Weiter links im
Mittelgründe ein Pferdekarren, dem eine Kuh nach¬
trottet, rechts eine Baumgruppe mit dem Durch¬
blick in den wäschebehangenen Vorgarten einer
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
das kräftige Landmädchen am Stricke führt, kann
sich eine kleine Vorfreude der Weide bereits am
Wege nicht versagen und zerrt ihre Führerin un¬
geduldig vorwärts. Links im Hintergründe aber
öffnet sich der Blick auf die weiten dunstigen Wieseu-
ffächen und Triften der Niederung. Der keusche
Reiz der vom Regen erfrischten Natur tritt uns in
voller Ursprünglichkeit entgegen, kräftiger Erdgeruch
scheint der Schilderung zu entströmen. Zola’sWort,
36
2S2
MAX LIEBERMANN.
das Kunstwerk sei nichts anderes als ein „coin de
la nature vu a travers d’un temperament“, kann
nicht treffender illustrirt werden als durch solche
Schöpfungen. Ihnen reiht sich die ganz im Geiste
Millet’s empfundene Schafhirtin in den Dünen (vgl.
Unger’s Radirung in diesem Heft), die grandios
silhouettirte Ziegenhüterin in der Münchener Pina¬
kothek (in einer Radirung Halm’s in den Gra¬
phischen Künsten reproduzirt) , die Kuhmagd auf
der Wald wiese (in der Elferausstellung bei Schulte
1892), die holländische Seilerei und das von Lieber¬
mann selbst nach einem Pastell radirte Hirten¬
mädchen auf der Weide an. Überall dieselben ern¬
sten Grundtöne, einfache Größe der Auffassung, die
Absicht, das Ganze in seinen wichtigsten Zügen
überzeugend und wirkungsvoll festzuhalten, überall
die gleiche Nachlässigkeit im Beiwerk, die gleiche
nervöse Hast der Ausführung. „Nicht das soge¬
nannte Malerische, sondern die Natur malerisch auf-
zufassen, ist’s, was ich suche, die Natur in ihrer
Einfachheit und Größe ohne Atelier- und Theater¬
kram und Hadern — das Einfachste und das —
Schwerste!“ schrieb der Künstler einmal. Und Millet,
sein großes Vorbild, gebraucht gelegentlich den
drastischen Vergleich: „Wenn ein Schneider einen
Ikiletot zu machen hat, muss er zur Beurteilung
des guten Sitzens auf einen gewissen Abstand von
seinem Objekt zurücktreten. Derjenige, der sich
darauf beschränkte, einen schlechtsitzendeii Paletot
durch schöne Knöpfe zu retten, würde sich ver¬
gebene Mühe machen.“ Das ist auch Liebermann’s
Standpunkt seinen Vorwürfen gegenüber, nach diesem
Plane schneidert er seine Bilder zusammen. Frei¬
lich giebt es ja auch unter den Kunstfreunden Gi¬
gerln, denen die schöne „Boutonnerie“ höher steht,
als Sclinitt und Sitz der Kunstkleider. Sie müssen
sich schon an die zahlreichen Boutonniers unter den
Mal ern lialten. Von diesen braucht man keineswegs
gfring zu denken: in gewissem Sinne darf man so¬
gar Adolf Menzel zu ihnen zählen. Sein malerisches
Etupfinden, seine Art, die Dinge unter das Mikro-
ko)) geisi reichen Verstandes zu nehmen, setzt aller¬
dings eine andere künstlerische Organisation voraus,
als sie Liebennann besitzt. Deshalb hat dieser mit
den Werken, die ohne Zweifel unter Menzel’s Einfluss
ste-hen, wie der „Gedächtnisfeier für Kaiser Friedrich
im Walde bei Kösen“, der Zeichnung „ Kinderspiel-
ydatz im Berliner Tiergarten“, dem holländischen
Marktbihle der Münchener Ausstellung von 1891 —
das Münchener Bierkonzert dürfen wir vielleicht
auch dazu rechnen — nicht eben reüssirt. Für lie¬
benswürdige, prickelnde Causerie fehlen ihm die
malerischen Ausdrucksmittel ebenso wie für harm¬
losen Humor, so sehr ihm beide Gaben als Mensch
eigen sind. Die Großzügigkeit stört hier als un¬
gefüge Plumpheit, man fühlt aus diesen Werken das
Gequälte, Unfreie heraus. Man möchte ihm mit
Lionardo Zurufen: dico alli pittori, che mai nessuno
debbe imitare la maniera delF altro, perche sara
detto nipote e non figluolo della natura, in quanto
air arte.
Die Frage: „Was kann Max Liebermann?“ wäre
nur halb beantwortet, wenn wir die Antwort allein
aus seinen vollendeten Ölbildern herauslesen wollten.
Der Zeichner, der Pastellist, der Radirer Liebermann
enthüllt uns erst ganz die Tiefen seiner künstleri¬
schen Persönlichkeit. Eine so nervöse, so beweg¬
liche Natur wird in der Technik am glücklichsten
und unmittelbarsten schaffen, die jeder Regung der
Phantasie am willigsten nachgiebt, ja zum Festhal¬
ten flüchtiger Einfälle geradezu auffordert. Selbst
die breiteste Ölmalerei, die keckste Pinselführung
verlangt, dass das Urteil dem Werke vorauseilt.
Die intimste, frischeste Inspiration lässt sich nur in
der Skizze festhalten. Welche Fülle von Aufschlüs¬
sen gewähren uns Rembrandt’s Zeichnungen und
Radirungen, der Maler Rembrandt wird oft erst
durch sie verständlich. Gleich Rembrandt bekennt
sich auch Liebermann zu dem Grundsatz, dass „een
stuk voldaan is als de meester zyn voornemen daar
in bereikt heeft“. Und von seinem Eigensinn in
dieser Hinsicht, seiner „Koppigheid“, wie der Hollän¬
der sagt, ließen sich zahlreiche Anekdoten erzählen.
Für die Illustration dieses Aufsatzes sind besonders
Zeichnungen Liebermann’s benutzt worden, und man
darf getrost behaupten, dass an ihnen sich die Ziele
seines Strebens genau so gut, wenn nicht besser er¬
läutern lassen, als an den Gemälden seiner Hand. Be¬
trachten wirz. B.das „Feldjätende Bauernpaar“ (S. 281)1
Was fehlt ihm zur Bild Wirkung? Die Tiefe des
Raums hat der Künstler mit wunderbarem Ge¬
schick in der schlichten Schwarzweißtechnik zu geben
verstanden; die Gestalten lösen sich körperhaft los,
die flüchtige Andeutung der Vegetation mit einigen
rapiden Kreidestrichen bekundet erstaunliche Tretf-
.sicherheit für Tonwerte. Die Luftperspektive, das
Verschwimmen der zurückliegenden Landschafts¬
gründe, das einförmige lichte Grau des Himmels,
alles schließt sich zu einer einheitlichen Wirkung
zusammen. In dem „Wirtshause an der Landstraße“
wiederum überrascht uns die mit wenigen Wei߬
höhungen erzielte lebendige Lichtführung, die Son-
MAX LIEBERMANN.
283
nigkeit und luftige Tiefe. Bei aller Flüchtigkeit
und Leichtigkeit der Strichführung steht alles klar
und fest im Raum, jeder Lichtfleck sitzt an der
rechten Stelle. Dem emsigen Beobachter momen¬
taner Haltung und physiognomischen Ausdrucks be¬
gegnen wir in den drei Figurenstudien, die in ge¬
lungener Reproduktion diesen Blättern beigegehen
sind. Die Frau mit dem schlafenden Kinde, die
uns wie dem Skizzenbuch eines altholländischen
Meisters entnommen anmutet, ist besonders charak¬
teristisch für dieses ruhelose Nachspüren, das sich
nicht genügen lässt mit dem ersten mühelosen Ent¬
wurf, das die verschiedenen Stadien des erschlaffen¬
den Gesichtsausdruckes im Kopf des schlummernden
Kindes festzuhalten sucht, überallhin seine Fühler
ausstreckt und immer wieder von neuem ansetzt.
So skizzirte auch Rembrandt; ich erinnere nur an
die auch gegenständlich verwandten Studien des Mei¬
sters im Besitz des britischen Museums, Heseltines
Bounats und des Stockholmer Kabinets (Lippmann
114, 173a, 131 u. 45). Die Rinderweide erscheint
wie eine Spezialstudie für die Bewegungsmotive
weidenden Viehes. Es kommt dem Künstler nicht
darauf an, den Kontur des Tierleibes zu entstellen,
wenn nur das energische Vorstrecken des Halses
recht scharf und charakteristisch zum Ausdruck
gebracht wird. Auch jene köstliche Kreideskizze,
eine Schafherde auf dem Heimweg, die unser Mit¬
arbeiter Graul seiner Liebermann - Studie in den
Graphischen Künsten in gelungener Photogravüre
beigegeben hat, sei hier erwähnt. So ließen sich
unzählige Beispiele aus seinen Studienmappen heran¬
ziehen, die uns die elementare Vehemenz im Kunst¬
schaffen Liebermann’s belegen. Neuerdings hat er
sich mit großem Eifer auch der Pastellteehnik zuge¬
wendet und an dieser merkwürdigerweise seinen
Farbensinn neu belebt. Seine pastellirten Landschaf¬
ten zeigen eine ungewöhnliche Tiefe und Leucht¬
kraft der Töne, eine Freude an ungewöhnlichen Be¬
leuchtungseffekten und Farbenzusammenstellungen,
die bei dem Vorkämpfer der Tonmalerei überrascht.
Saftige, im hellen Licht gesehene Töne überwiegen
und mit großer Meisterschaft versteht er die krei¬
dige Stumpfheit des Malmittels zu überwinden. Wir
nennen nur eine holländische Abendstimmung (im
Pariser Kunsthandel) und die jüngst bei Gurlitt aus¬
gestellte Schweinefamilie mit zuschauenden Kindern.
Auch seine Fwträts, die seit zwei Jahren die Auf¬
merksamkeit der Besucher unserer Kunstausstellun¬
gen lebhaft beschäftigen, sind vielfach in Pastell
ausgeführt. Möglich, dass hier die Werke der jungen
Schweden und Schotten, ihre schillernde Strichel¬
manier die Anregung geboten haben. Auch im Bild¬
nis bewährt sich Liebermann als der stürmisch kecke
Eroberer der Wahrheit, als scharf und tief blickender
Beobachter. Die erste Leistung, die für das Familien¬
blatt Schorer’s entworfene Kreidezeichnung Wilhelm
Bode’s (vgl. die ausgezeichnete Autotypie von Angerer
und Göschl in dem schon mehrmals ano-ezogenen
Heft der Graphischen Künste), bedeutete einen durch¬
schlagenden Erfolg; Haltung und Ausdruck bis in
die Fingerspitzen hinein sind von überzeugender
Wahrheit. Das charakteristische Profil des Schädels,
die scharfen Gesichtszüge, zu nachdenklicher Kunst¬
betrachtung versteint, der Schnitt des Auges, das
energische Kinn, alles spricht unmittelbar zu dem¬
jenigen, der den Leiter der Berliner Galerie zu
kennen oder zu beobachten Gelegenheit fand. Ebenso
gelungen ist das Bildnis seines Freundes Fritz von
Uhde mit dem derben Knochenbau des kurzhaarigen
Kopfes, aus dem unter breiter Stirn ein nachdenk¬
liches Augeupaar herausblickt, der straffen militäri¬
schen Haltung, der energisch geballten Hand. Das
Pastellporträt des Grafen Kayserlinck sowie das Brust¬
bild des Berliner kunstsinnigen Professors Bernstein
seien als weitere Belege für die Treffsicherheit Lieber¬
mann’s angeführt. Im Aufträge der Hamburger
Kunsthalle entstand 1892 das lebensgroße Porträt
des ersten Bürgermeisters der Hansestadt, Dr. Peter-
sen, gemalt in der breiten Manier von Frans Hals,
voll unbarmherziger, aber überzeugender Lebenswahr¬
heit; mit wenigen keck hingesetzten Pinselstrichen
werden die großen charakteristischen Züge des
Kopfes markirt, die altfränkische schwarze Amts¬
tracht mit ihrem weißen Mühlsteinkragen giebt will¬
kommenen Anlass, das kräftig modellirte, von Run¬
zeln durchfurchte und von buschigem Weißhaar um¬
rahmte Antlitz scharf herauszuheben. Gleich seinem
Haarlemer Vorbild löst der Maler hier die etwas
gebrechliche und jeden Anflug von Pose ängstlich
vermeidende Greisengestalt von einem hellgrauen
Hintergründe ab, und doch gewinnt man vor dem
Bilde in keiner Weise den Eindruck einer schrullen¬
haften Altertümelei, da jede Steifheit, jeder Hauch
«
von Langeweile fehlt. Das Porträt — mag man
auch über die Berechtigung dieser Auffassung eines
Repräsentationsbildes streiten — ist in jedem Pinsel¬
zuge geistreich und verdiente deshalb nicht die kühl¬
ablehnende Aufnahme, die es in Hamburg fand. Als
Probe echt Liebermann’schen Stils gebührt ihm
sogar eine ganz hervorragende Stelle. Auch das
diesen Zeilen in einer Photogravüre der Reichsdruckerei
36*
2S4
MAX LIEBERMANN.
beigegebene Bildnis, das die Züge Gerhard Haupt-
mann’s verewigt, zählen wir zu den besten Leistun¬
gen unseres Künstlers. Die nachdenkliche Haltung,
der charaktervolle Schnitt des Mundes, der klare,
gemalt, das sich den erwähnten Porträts vollwertig
anreiht.
Nur noch wenige Zeilen seien dem Radirer Lieber¬
mann gewidmet. Erst seit wenigen Jahren versucht
llanil/.eielinung von Max Likhermann.
ii'if dfiii llcscliancr rulicndo illick gcdx'ii die Pcr-
"ii liclikcil des gideiertfii jungen Dichlers mit üher-
i’.i (■le i der 'I rene wieder. I’nlängst hat Liehermann
■len Jyeiler der elialkograjilii.schen Abteilung der
Ih iclisdi ie l-cerei. Pivdi Uh.se, in einem Pastellhilde
sich der Künstler auf diesem Gebiet mit der Unruhe
und Unsicherheit, aber auch mit dem Glück eines
genialen Experimentators. „All etching must be
uncertain“, schreibt Herkomer in seinen fesselnden
Sladevorlesungen über Radirung und Schabkunst,
MAX LIEBERMANN.
285
lind bestätigt damit Ruskin’s treffenden Anssprucb,
dass die Atzknnst immer ein „blundering art“, eine
Zufalls- oder Glückskunst bleiben wird. Auch Lieber¬
mann hat sich mit Passion auf die Radirnng ge¬
worfen, in unablässigen Versuchen sich abgemüht,
und die ganze nervöse Hast seines Wesens spiegelt
sich in diesen Blättern, die nicht wie mit der Radir-
nadel gerissen, sondern wie mit dem Kohlestift hin-
gestrichen erscheinen. Selbst die breite Manier Le
Gros’ und Whistler s muss zart genannt werden gegen
seine Nadeltührung. Am ehesten lässt sich diese
mit den Versuchen Joseph Israels’ vergleichen. Eines
seiner ersten und größten Blätter ist der in der
Publikation des Berliner Vereins für Originalradi-
ruug erschienene „Kinderspielplatz im Tiergarten“.
Noch etwas zaghaft in der Betonung der Gegensätze
von Licht und Schatten, giebt sie doch eine gute
Vorstellung von den Zielen, die sich Liebermann in
der Technik Rembrandt’s gesteckt hat: die Sugge-
stion von Farbe und Ton durch die verschieden¬
artige Verbindung von Linien und Strichen. Die¬
selben Probleme, die er in der Kreidezeichnung zu
lösen sich vorsetzte, beschäftigen ihn auch hier. Nur,
dass ihre Lösung in der unberechenbaren Schwarz¬
kunst wesentlich größere Schwierigkeiten bietet.
Aber der Reiz, durch kühne Versuche zu neuen un¬
vorhergesehenen Wirkungen zu gelangen, übt auf
ihn, wie auf jeden echten Peiutre-graveur eine un¬
widerstehliche Anziehungskraft. Als ihn die um¬
ständlichen Manipulationen der gewöhnlichen Radi¬
rung in der Vehemenz seiner Schaffensart hemmten,
griff er unbedenklich zu jenem becpiemen, wenn auch
vom Fachtechniker als dilettantisch verachteten Ver¬
fahren der Radirung auf weichem Ätzgrund (vernis
mou oder soft-ground): der durch Fettzusatz erweichte
Atzgrund wird mit einem dünnen Papier bedeckt
und auf diesem die Zeichnung mit breitem Stift ent¬
worfen. Beim Ablösen des Papiers bleibt die weiche
Masse an den eingedrückten Stellen am Papier haf¬
ten und lässt den Grund nur an den Stellen unver¬
sehrt, welche im Abdruck weiß bleiben sollen. Es
lässt sich auf diese Art, die auch beim Drucken
Erleichterungen bietet, eine tonige Wirkung erzielen,
die der Nadelradirung versagt sind, ohne dass man
die schärfere Hervorhebung einzelner Linien völlig
einbüßen müsste, da man bei fortgeschrittener Arbeit
noch immer mit der Nadel nachciseliren kann. Ein¬
zelne von Liebermann’s gelungensten Blättern, wie
das Hirtenmädchen auf dem Felde und der Sensen-
scliärfer, sind so hergestellt. Der eigentliche Cha¬
rakter der Radirung geht allerdings dabei verloren,
diese Vernis mou -Arbeiten wirken eher wie Litho-
graphieen und besitzen in den Schattenpartieen nicht
jene reizvolle Durchsichtigkeit, die wir an der Ra¬
dirung besonders zu schätzen gewohnt sind.
Den Druck seiner graphischen Arbeiten überwacht
Liebermann mit größtem Eifer, und wenn er sich
auch noch nicht zu Herkomer’s Leidenschaft darin auf¬
geschwungen hat, der in Bushey Park sich eine
eigene Presse hält, ja die Arbeit vom Zubereiten des
Firnisses bis zum Trocknen der Blätter durchgeliends
eigenhändig besorgt, so zeigt er doch nngewölinlich
viel Verständnis für die ihm so ganz neue und des¬
halb besonders interessante Art künstlerischer Arljeit.
Sein „Werk“ ist bis jetzt auf etwa zwanzig Blatt
angewachsen und soll demnächst in vollem Umfange
publizirt werden.
'I' ^
*
Unsere Schilderung Max Liebermann’s und Dessen,
„was er kann“, hat hier und da den Charakter einer
Apologie angenommen. Man könnte meinen, es
gelte einer Kunstrichtung das Wort zu reden, die
sich erst noch zukünftige Ehren erringen soll; wer
schärfer auf die Entwickelung unserer zeitgenössi¬
schen Kunst hinblickt, weiß indes, dass jetzt das
rücksichtslose Streben nach nnmittel))arer Natürlich¬
keit von den rastlos Vorstürmendeu bereits wieder
als vieux jeu zur Seite geschoben wird, nachdem
eben erst der Sturm der Entrüstung einer gerech¬
teren Würdigung dieser Strömung gewichen. Ein
„chorus mysticus“ ist an der Arbeit, der das so lange
zurückgedrängte Bedürfnis nach Übersinnlichem in
der Kunst in iiberschwäuglicher hysterischer Sensi-
tivität zu Ijefriedigen strebt. Aber diese Verinner¬
lichung und Vertiefung des Empfindens, die uns
zum Teil in recht dilettantischer Kunstform geboten
wird und an krankhaften Auswüchsen keinen Mangel
leidet — ich erinnere nur an die Rosenkreuzerei
eines Sär Peladan in Paris mit ihren „gestes esthe-
tiones“ — ist im letzten Grunde nicht die selbstän¬
dige Äußerung einer positiven Kraft, sondern nur
die Rückwirkung einer solchen, nämlich des Natura¬
lismus. Unter denen aber, die an der Befreiung
ans dem Bann überlieferter Typen in unserer Zeit
mitgewirkt haben, indem sie sich eine eigene
Kunstsprache prägten, wird Max Liebermann in
allen Zeiten als einer der Tüchtigsten mit dank¬
barer Bewunderung zu nennen sein. In seinen
Gestalten, mögen sie noch so ärmlich scheinen, ist
nichts Morsches, nichts Verwaschenes, volle Mann¬
haftigkeit, eine durch Selbstgewissheit errungene
286
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
Selbstlierrliclikeit spriclit aus seinen Werken. Schon
diese Gemütskraft, diese Festigkeit seines künstleri¬
schen Charakters darf man als vorbildlich hinstellen
für all die Zahmen und Seichten unter den Künst¬
lern, die sich im Streben nach Anpassung an die
modernste Kunstrichtung notwendigerweise aufreiben,
sich selbst verlieren müssen. Ein bekannter Archäo¬
loge hat jüngst den Satz niedergeschrieben: ^Zum
OlücJc stehen die Kunsturteile nicht fest.“ Auch das
Urteil über Liebermann’s Können wird sicherlich
viele Wandlungen erfahren: seine Standhaftigkeit,
die Folgerichtigkeit und Ehrlichkeit seines Schaffens
wird es niemals antasten.
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
VON THEODOR BALLIIORN, GÖRLITZ.
(Schluss.)
ILT nun diese Forderung
der Beseeltheit aber schon
für die Idealgestalten der
Götter, wie viel mehr wurde
sie zur notwendigen For¬
derung für die aus dem
wirklichen Leben genom¬
menen plastischen Werke?
Seine Studien zu diesen machte ja der Künstler
bei den Übungen in den Gymnasien, bei den
heiligen Kampfspielen zu Olympia. Hier war es,
wo dem Bildner zuerst die Schönheit des Nackten
in ihrem vollen Glanze aufging und zwar eine
Schönheit im freiesten, kühnsten Schwung der Be¬
wegung. Hier war es, wo der menschliche Körper
zu einer Reg.samkeit, zu einer allseitigen Ge¬
wandtheit herangereift war, wie er sie nur einmal
erreicht hat und nur in Griechenland erreichen
konnte. Da musste denn auch wohl die nachbildende
Kunst eine ganz andere werden, einer ganz anderen
I'Veiheit sich erfreuen dürfen, als sie von unseren Aka-
demiefiguren und Gliederpuj)pen uns vorgegaukelt wird.
Das AuBerste in Bewegung war für die griechische
Kutist noch immer Natur, und nichts kam gewiss
auf dem Kam])fplatz von Olympia vor, in Sprung und
Lauf, im Ringkam})f und Faustschlag, was für den
griechischen MeiBel zu gewagt gewe.sen wäre. Nichts
lag auBerhalb des Bereichs des griechischen Künst¬
lers, als der Tod der ägyptischen Ruhe; und nie be¬
wunderten die Griechen ein Werk mehr, als wenn
das Bild zu atmen, zu em})finden, zu leben schien.
War doch ihr Kunstgenuss ein sympathisches Mit¬
gefühl. Sie empfinden den Schmerz in der Wunde
d' s l’hilokfpf; sie forschen am sterbenden Fechter,
wie lange er noch zu atmen hat, und glauben die
Stimme des Betenden zu vernehmen. Als Paulus
Aemilius den Tempel zu Olympia betrat, wurde er,
wie Livius berichtet, von dem Anblick der Tempel¬
statue erschüttert, als sehe er den Jupiter selbst
von Angesicht zu Angesicht. Die Statue des Läufers
springt von der Basis nach dem Kranze empor,
und selbst der Adler des Ganymed scheint zu fühlen,
was er in den Klauen trägt. Die Bacchantin des
Skopas ist von heiligem Wahnsinn erfüllt, jene Statue
des Pythagoras würde sprechen, wenn sie nicht den
schweigsamen Weisen darstellte, und jene Niobe
leben, wenn es nicht die auf dem Grabe ihrer Kinder
zu Stein erstarrte wäre.
Zu allen Zeiten also suchte und verlangte das
Auge des Griechen an seinen plastischen Werken
den Schein des vollen Lebens, nicht nur das Götter¬
bild sieht es durch und durch mit wirklichem Leben
erfüllt. Das von allen Impulsen des wirklichen
Lebens absehende, über ihnen stehende Ideal ist erst
im Christentum entstanden, verdankt erst ihm sein
Dasein. Die griechische Kunst dagegen hat im
Sinnenleben ihren Odem, in physischer und seelischer
Harmonie ihren Inhalt. Geistige Überschüsse und
noch weniger einen Geist, der im Stoff gleichsam
zur Miete wohnt, kannte sie nicht. So durften und
konnten die Meisterwerke der Plastik auch in der
Blütezeit der Marmortechnik nicht in ihrer vollen,
durch nichts unterbrochenen Marmorblässe verbleiben;
das vom Griechenauge in ihnen gesuchte Leben
1) Vgl. Plinius XXXIV, s. 14, p. 054. - Liv. XLV, 28.
— Antbol. ed. Jac. IV, p. 185. Nr. 313. a. — Plin. h. n. XXXIV,
s. 19, p. 050. — Antbol. III, p. 2ü2. Nr. 34. — III, p. 201.
Nr. 28. — IV, p. 181. Nr. 298. — I, p. 74. Nr. 75. —
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
287
forderte unbedingt auch äußerlich das Zeichen des
Lebens, die Farbe.
Sicher aber durfte hierbei die Farbe nun nicht
in der Weise zur Anwendung kommen, wie etwa
bei den Wachsfiguren unserer Panoptiken; schon
deshalb nicht, weil gerade hier der Schein des wirk¬
lichen Lebens gar nicht erreicht wird. Denn mag
auch auf den ersten Blick eine solche Wachsgestalt
uns durch ihr sprechendes Leben überraschen, be¬
trachten wir sie nur eine kurze Zeit, so schwindet
alles Leben und die unbewegliche Todesstarre blickt
uns aus diesen übertünchten Gestalten an. Nein, in
ganz anderer Weise nur konnte das auch ohne die
Farbe in den griechischen Statuen schon pulsirende
Leben durch sie verstärkt werden; und dies wird
uns denn bestätigt, wenn wir nun zu der auch sonst
so wichtigen Frage übergehen, wie die Griechen bei
ihren Bildwerken die Farbe verwendeten, wie wir
uns also hier die Bemalung zu denken haben. —
So mangelhaft nun auch unsere Anschauung
hierüber trotz vieler Entdeckungen und Beobach¬
tungen noch ist, so lässt sich doch manches
als sicher nachweisen. Dazu verhelfen uns nicht
nur ein paar Werke der älte.sten Zeit; wichtiger
noch ist dazu eine Reihe von Skulpturen aus der
römischen Kaiserzeit, die durch die Gunst der
Umstände besonders gut erhalten geblieben sind.
Als eines der ältesten Werke griechischer Plastik
ist ja das Grabmal des Aristion in Athen bekannt.
In voller Rüstung steht der alte Marathonkämpfer,
die Lanze in der Linken, wie zur Parade da. Mit
der eingehenden Sorgfalt, welche die Werke der
alten Kunst charakterisirt, ist selbst das kleinste
Detail am Panzer angegeben, Stern und Löwenkopf
auf der Schulterklappe, die Streifen und Säume mit
ihren verschiedenen Ornamenten und Mustern nicht
bloß sauber eingeritzt, sondern mit bunten Farben
aufs zierlichste ausgeführt. Dem entsprechend waren
auch Haar und Bart, Augen und Lippen durch Farben
ausgezeichnet, und die ganze Figur hob sich auf
einem kräftig roten Grunde ab.
In noch frühere Zeit führen uns zwei kleinere
und zwei größere Giebelreliefs aus Porosstein, welche
erst in den Jahren 1882, 1887 und 1888 auf der
Akropolis in Athen ausgegraben wurden. In ihnen
besitzen wir die ältesten auf uns gekommenen, viel¬
leicht aus der Zeit des Solon stammenden Werke
der einheimischen, attischen bildenden Kunst, Skul¬
pturen, noch unbeeinflusst von der Technik, welche
aus dem ionischen Asien über die Inseln des ägä-
ischen Meeres in Attika eingeführt wurde. Beson¬
ders wertvoll werden nun diese Funde einmal da¬
durch, dass sie uns den älteren Brauch der Giebel¬
verzierung durch Reliefs, noch nicht durch frei¬
stehende Figuren mit neuen, reichen Beispielen be¬
legen, mehr noch für unsere Aufgabe dadurch, dass
sie uns deutlich die Verbindung der Malerei mit
der Bildhauerkunst zeigen; denn noch heute, nach
etwa 2500 Jahren, sind die Farbenspuren auf der
Gewandung und den Körperteilen der Figuren sicht¬
bar, und mit aller Sorgfalt ist man bemüht, die so
lange dem Licht entzogenen Farben, die zu ver¬
bleichen drohen, zu erhalten. Das eine dieser Re¬
liefs nun zeigt uns den Kampf des Göttervaters
Zeus gegen den Typhon, eine Personifikation der
vulkanischen Gewalt, ein geflügeltes, in Schlangen¬
leiber ausgehendes Ungeheuer mit drei bärtigen
Köpfen und drei männlichen Oberkörpern. *) Der eine
dieser Köpfe nun hat weißes Haar; an dem andern
umrahmen blaues, über der Stirn steil emporstehen¬
des Haar, blauer Kinn-, Backen- und Schnauzbart
— daher wurde er von den Arbeitern Blaubart ge¬
nannt — ein rotes Gesicht, dessen gelbes, mit grüner
Iris und schwarzer Pupille bemaltes Auge, verbunden
mit einem grinsenden Lachen, die ganze Erscheinung
zu einer im höchsten Grade grotesken und aben¬
teuerlichen stempeln. Am Leibe der Schlange wech¬
seln Rot, Weiß und Blau miteinander ab. Der Re¬
liefgrund ist farblos gelassen worden. So hat der
Künstler hier ein farbenprangendes, aber durchaus
kein naturwahres Bild geschaffen. Auch die bei
denselben Ausgrabungen gefundenen lebensgroßen,
archaischen Porträtstatuen, wahrscheinlich Prieste-
rinnen der Stadtgöttin darstellend und gekennzeich¬
net durch Unproportionalität der Glieder, winklige
Stellung der Augen, lange, ängstlich stilisirte Ge¬
wandung, zeigen grüne und rote Farbenspuren.
Diesen alten Werken steht dann die auch erst
in neuerer Zeit in der Villa der Livia gefundene
Marmorstatue des Kaisers Augustus gegenüber,
welche die Spuren der ursprünglichen Bemalung
noch in ungewöhnlicher Ausdehnung und Deutlich¬
keit zeigt. Als das Werk eines angesehenen Künst¬
lers, als ein Bild des Kaisers, mit Meisterschaft zum
Schmuck einer kaiserlichen Villa ausgeführt, wird
gerade sie zu einem bedeutsamen Zeugnis. Dies um¬
somehr, da die Kunst zur Zeit des Augustus, im
Gefühl der fehlenden Schöpferkraft, sich keine neuen
1) Die griechische Zeitschrift ^Ecprj^SQlq dQxc<.ioXoy(xri
bringt auch die polychromen Darstellungen in ganz natur¬
getreuer Weise zur Anschauung.
2S8
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
uud großen Aufgaben stellte, auf Originalität der
Auffassung verziclitete und vor allem nach Korrekt¬
heit der Formgebung, Eleganz der Darstellung und
Meisterschaft der Technik strebte. Mit Bewusstsein
wandte sie sich zu der vollendeten Kunst früherer
Zeiten zurück und entnahm vorzugsweise der atti¬
schen Kunst ihre Vorbilder, welche man teils mit
mehr oder weniger Freiheit und Geist nachbildete,
teils zum Gegenstände des Studiums für Formge¬
bung und Technik machte. Wenn also in dieser
Zeit des korrekten Atticismus uns ein bedeutendes
Werk der Skulptur in vollem Farbenschmuck ent¬
gegentritt, so dürfen wir mit Sicherheit annehmen,
dass wir es nicht mit einer vereinzelten Kuriosität,
nicht mit einer Neuerung zu thun haben, sondern
die Tradition der früheren, namentlich auch der at¬
tischen Kunst anerkennen müssen.
Die reicblicb und deutlich erhaltenen Farben¬
spuren dieser Statue zeigen nun die Tunika des
Augustus karmesinrot, den Mantel purpurrot, die
Fransen des Harnisches gelb; dagegen sind an den
nackten Körperteilen keine Farbenspuren bemerkbar
mit einziger Ausnahme der Bezeichnung der Pupille
durch gelbliche Farbe; auch das Haar lässt keine
Farbe mehr erkennen. Mit besonderer Sorgfalt sind
aber die Reliefverzierungen des Harnisches, dessen
Grundfläche farblos geblieben ist, kolorirt. Die
Schulterblätter sind jedes mit einer Sphinx verziert,
unter welcher an einer Rosette ein Ring befestigt
ist. Von den Figuren hält der aus blauen Wellen
oder Wolken liervorragende Himmelsgott mit beiden
Händen ein purpurfarbiges Gewand gefasst; der
Wagen des Sonnengottes ist karmesinrot; vor ihm
schwebt eine Frau mit ausgebreiteten blauen Flügeln;
die Erdgöttin trägt einen Ährenkranz im blonden
I laar. Apollo im karmesinroten Mantel reitet auf einem
Greifen mit Idauen Flügeln; die blondgelockte Diana
im karmesinroten Gewand wird von einem braun¬
roten Hirsch getragen, ln der Mitte steht ein rö-
niisclier Feldlierr im blau und rot gefärbten Harnisch,
karjnesinfarbiger Tunika und purpurnen Mantel mit
blauem Helm. Ein bärtiger Krieger in karmesin¬
roter Tunika und Idauen Hosen hält ein römisches
Eeldzeicben mit blau gemalten Insignien in die
lli'die. Der Barbar rechts mit rotblonden Locken im
purjuirnen Mantel hält eine Kriegstrompete; die
Figur links ist ebenfalls blond gelockt und mit
eitlem blauen iMantel bekleidet.
Audi für die spätere Kaiserzeit fehlt es nicht
an Bi'i.'']uelen polychromer Skulptur. Besonders lelir-
reich sind die in Herculanum und Pompeji an
Skulpturen aller Art häufig wahrgenommenen Spuren
der Färbung, weil sie einer bestimmt begrenzten Zeit
an gehören. Meistens sind sie auch hier nur noch
an einzelnen Teilen erkennbar, wie die Vergoldung
an den Haaren der Töchter des Baibus, einer Venus¬
statue und an einer im Angriff vorschreitenden
Athene, von der man die Goldblättchen ablösen
konnte; in Pompeji wurde die Hand einer Ceres
mit vergoldeten Ähren und rotgefärbten Mohn¬
stengeln gefunden. Am besten erhalten sind die
Farben an der 1760 in Herculanum ausgegrabenen
Artemis, einer feinen Nachbildung einer altertüm¬
lichen Statue. Ihre Haare sind vergoldet, wie die
auf dem Stirnband aufgesetzten Rosetten. Das Ober¬
gewand ist von einem roten, mit einem weißen
Ornament verzierten, durch Goldstreifen begrenzten
Saum eingefasst, der Chiton hat unten, am Hals
und an den Ärmeln einen rosenroten Saum. Die
Riemen, mit denen die Sandalen gebunden sind, das
Band, an welchem der Köcher hängt, sind durch
verschiedenes Rot ausgezeichnet, auf dem letzten
durch weiße Punkte auch die Buckeln angegeben.
Dass auch in Griechenland in späterer Zeit dieselbe
Sitte beibehalten wurde, lehren manche Beispiele.
So wurde in Athen im Odeum des Herodes Atticus
ein Kopf gefunden, dessen Pupillen, um einen eigen¬
tümlichen Effekt hervorzubringen, von Bernstein ein¬
gesetzt waren. Ein spätes Epigramm preist eine
Statue der Daphne, in welcher die Verwandlung in
einen Lorbeerbaum nicht nur durch die Verschmel¬
zung der Formen, sondern auch durch die ent¬
sprechenden Farben meisterlich ausgedrückt ge¬
wesen sei.
Nach diesen Beispielen und der damit überein¬
stimmenden Überlieferung hat sonach die Farbe
sicher nicht die Aufgabe, der Bildsäule erst zum
Leben zu verhelfen. Wenn der Lebensodem nicht
schon in dem Marmorwerk an sich pulsirt, so
kommt er auch durch die Farbe ebensowenig in
dasselbe hinein, wie in die Wachsfigur. Auch
darauf ist es nicht abgesehen, die eigentümlichen
Effekte der eigentlichen Malerei mit denen der
Skulptur in Konkurrenz zu setzen, sondern sie soll
wie in der Architektur so auch bei dem Bildwerke
nur die charakteristischen Wirkungen der Plastik
noch erhöhen. Soweit es nun zu diesen Wirkungen
nehört, dass die Statue dem Beschauer auch mit
innerem Leben entgegentritt, hat sie auch hierzu
beizutragen. Daher ist die Malerei nicht schattirt,
da die Skulptur diese Wirkung schon durch ihre
Formen hervorbringt; reine Farben in beschränkter
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
289
Auswahl — rot, blau und gelb oder Vergoldung
kamea, wie bei der Architektur, vorzugsweise zur An¬
wendung — sind nebeneinander gesetzt, und offen¬
bar war eine dem Auge wohlthuende, harmonische
Wirkung solcher luit einer gewissen symmetrischen
Abwechslung verteilten Farben ein Hauptaugen¬
merk dieser Technik. Außerdem sollte aber der
Reiz, welchen die durch die Farbe ausgezeichneten
Teile übten, auch zu einer leichteren und präziseren
Auffassung führen; bedeutende Einzelheiten wurden
kräftig hervorgehoben, Merkmale der künstlerischen
Anordnung bezeichnet, das Auge gewissermaßen zur
Gliederung und Übersicht geleitet. Besonders wurde
das mit Farbe bedacht, was als mehr äußerliches
Beiwerk gilt: Gewänder und Beschuhung, an den
Kleidern wieder Einfassungen und Säume, Waffen
und Stäbe, Kranz und Binden, Schmuck und Ge¬
schmeide. Auch am menschlichen Körper sind es
gewisse Teile: Haupt- und Barthaar, Augen und
Lippen. Sicher hat bei dieser Behandlungsweise
die altüberkommene Tradition stark mit eingewirkt,
die nach der Weise griechischer Kunstentwickelung
nicht beseitigt, sondern immer nur umgebildet und
verfeinert wurde. Denn auch wo die Plastik in
Metall durch Verwendung von Gold, Silber, rotem
Kupfer neben der Bronze eine Polychromie zur
Geltung bringt, sind es dieselben Teile, welche da¬
durch hervorgehoben werden. Ja dasselbe System
lässt sich noch in der Art, wie auf den bemalten
Thongefäßen bunte Farben zur Ausschmückung ver¬
wandt sind, nachweisen. Dieselben Accessorien,
dieselben Teile des Körpers werden auch hier durch
besondere Farbe ausgezeichnet.
So steht uns, so mangelhaft unsere Anschauung
von der Polychromie der antiken Bildwerke auch
noch ist, doch in den Hauptzügen hiernach ein ziem¬
lich deutliches Bild davon vor Augen. Die geschicht¬
liche Forschung hat hier nun zwar nur die Fest¬
stellung des Thatsächlichen ins Auge zu fassen; sie
darf bei ihren Untersuchungen nicht darnach fragen,
ob sie dadurch ästhetische Empfindungen und An¬
schauungen beleidigt. Hat die geschichtliche For¬
schung aber ihre Arbeit gethan, so dürfen wir denn
doch wohl auch fragen, ob solche bemalte Bild¬
werke nun noch schön genannt werden können,
ob sich die Griechen hier nicht eine Geschmacklosig¬
keit zu schulden kommen ließen.
Doch sind nicht die Griechen gerade in allem,
was schön ist, Muster und Lehrmeister für alle
anderen Völkern gewesen und geworden, finden wir
nicht ihren Schönheitssinn überall sonst in einer
Weise bethätigt, wie bei keinem anderen Volke? So
kann wohl auch die Anwendung der Farbe bei
ihren Marmorwerken nicht so vernichtend für deren
Schönheit gewirkt haben. Sind doch gerade von
Meistern, die als die edelsten Repräsentanten schöner
Marmorskulptur gelten müssen, von Skopas und
Praxiteles Nachrichten erhalten, welche beweisen,
dass auch sie die Farbe nicht verschmähten. Von
einem der gepriesensten Werke des Skopas, der
in enthusiastischer Aufregung mit flatterndem Haar
dahinstürmenden Bacchantin, welche ein in der
Raserei zerrissenes Böcklein in den Händen trug,
wird ausdrücklich hervorgehobeu, wie die Wirkung
der Skulptur durch die Farbe erhöht werde. Be¬
deutsamer ist hier eine Äußerung des Praxiteles.
Auf die Frage, welchen seiner Werke er den Vor¬
zug gebe, erwiderte er, denjenigen, an welchen
Nikias die Malerei ausgeführt habe. Wenn ein Bild¬
hauer wie Praxiteles solches Gewicht auf die Mit¬
wirkung des Malers legte, musste ihm doch die
Farbenwirkung als ein wesentliches, von ihm be¬
stimmt berechnetes Moment der Totalwirkung er¬
scheinen; und wenn ein namhafter Maler, wie Nikias,
es nicht verschmähte, Hand an die Bemalung von
Statuen zu legen, so musste dies denn doch ebenso
eine Aufgabe sein, bei welcher ein Künstler seinen
Geschmack und gebildeten Sinn für Harmonie der
Farbe und ihr Zusammenstimmen mit der Skulptur
bewähren konnte. Und auch alle späteren Bericht¬
erstatter, welche diese Meisterwerke noch mit eigenen
Augen sehen durften, kommen ja nur in begeistertem
Lobe für dieselben überein; nirgends begegnen wir
bei ihnen auch nur der geringsten Andeutung, dass
sie an der Buntheit derselben Anstoß genommen
hätten.
So darf uns diese Buntheit ihrer Bildwerke an
dem Geschmack der Griechen denn doch wohl nicht
irre werden lassen; im Gegenteil, der Umstand,
dass die sonst in Geschmackssachen so feinfühlenden
Griechen uns hier als Barbaren erscheinen, legt uns
die Frage nahe, ob wir denn wirklich so berechtigt
sind, dies Bemalen von Marmorbildern so unästhe¬
tisch zu finden, ob es nicht an uns liegt, wenn wir
hier so anders als die Griechen empfinden. Und da
müssen wir dann bei einiger Überlegung wohl so¬
fort zugeben, dass uns etwas fehlt, was die Griechen
in hohem Maße besaßen imd vor uns voraus hatten,
nämlich einen ausgebildeten Farbensinn, eine immer
rege Farbenfreudigkeit. Woher sollten wir denn
auch einen solchen Farbensinn gewinnen? Unsere
den größten Teil des Jahres hindurch in Winter-
Zeitschrift für bildende Kunst. N, P. IV.
37
290
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PLASTIK.
schlaf erstarrt daliegende Natur lässt uns die Farben¬
pracht des Orients nicht ahnen; und kommt dann
endlich der Frühling mit seinem frischen Grün und
seinem Blütenkranz, so wird uns auch sein Genuss
nur zu oft durch unsere mit Rauch und Nebel er¬
füllte Luft verkümmert. Und dieser unserer Natur
entspricht ja nun auch unsere so trostlos farbenöde
Kleidung. Gerade sie zeigt uns unseren Mangel an
Farbensinn recht deutlich; wie oft verletzen nicht
schon helle, leuchtende Frauengewänder unser Auge
und müssen dies thun, weil sie in unsere trübe At¬
mosphäre und farblose Natur nicht hineinpassen.
Nur im lichtdurchflossenen Festsaal und in sonnen¬
beschienener Sommerlandschaft ergötzt sich auch
unser Auge an Gestalten, die in hellfarbigen Ge¬
wändern sich leicht und heiter bewegen.
Aber nicht nur unser Mangel an Farbensinn
lässt uns Anstoß nehmen an bunten Marmorgestalten,
dazu trägt noch bei, dass der Marmor bei uns eine
ganz andere Rolle spielt, als in Griechenland. Schon
durch ihre Seltenheit erhalten Marmorwerke für uns
einen viel höheren Wert als für den Griechen. In
Griechenland war auch der Bewohner einer kleinen
Stadt von Jugend auf an den Anblick von Marmor¬
gestalten gewöhnt; sie gehörten zu der Welt, in
der er aufwuchs. Bei uns kennt, abgesehen von
den kleinen Residenzen, nur der Großstädter den An¬
blick von Marmorbildern von Kindheit auf; aber
das rastlose Treiben der Großstadt giebt ihm wieder
weder Zeit noch Muße zu ruhigem Betrachten und
Genießen derselben. Daher dann auch der mächtige
Eindruck, wenn einmal in einer weniger lebendigen,
kleineren Stadt ein Marmorwerk aufgestellt wird;
auch ein an wirklichem Kunstwert sehr geringes
Werk ist dann schon das Entzücken der städtischen
Bevölkerung; die fein polirte, lichteinsaugende und
• lamm auch wieder lichtausstrahlende weiße Marmor¬
fläche i.st schon an sich ein Genuss für unser Auge,
den wir uns durch farbige Bemalung nicht ver-
kinimi(!rn hissen wollen. Dazu verhilft ja auch erst
unser Norden mit seinem gedämpften Licht dem
.Marmor zu seiner ganzen Macht. Bescheint auch
bf'i uns einmal die Sonne eine Marmorgestalt mit
ganzer, ungebrochener Leuchtkraft, so bekommt der
.Marmor auch hier schon etwas Stumpfes und Kalki¬
ges. Viel stärker uinleuchtet ja nun die griechische
Sonne <lie im Freien aufgestellten Statuen, so dass
.■<ie die feineren Konturen verwischt und das Ganze
mehr oder minder nur zu einem großen Lichtfleck
worden lässt. Sollte da <lie volle Schönheit des
.Marmors zur Geltung gebracht werden, so konnte
dies, wenn die Statuen im Freien standen, nur durch
die Farbe bewirkt werden; standen sie aber in der
nur schwach erleuchteten Tempelcella, so wurde auch
hier die Färbung wieder nötig, um eine stärkere
Schattirung hervorzubringen und die plastische
Rundung der Gestalten zu verstärken. In dem ge¬
dämpften Licht unserer Atmosphäre dagegen ist die
Farbe durchaus nicht nötig; hier reicht das Licht
eben nur hin, die ganze Schönheit des Marmors zur
Geltung zu bringen. Auch eine Entdeckung, welche
die Physik vor nicht langer Zeit erst gemacht hat,
ist hier noch von Wichtigkeit. Bei sehr starker
Beleuchtung werden nämlich alle Farben immer
mehr weißlich, so dass an dem unmittelbar im Fern¬
rohr betrachteten Sonnenspektrum fast jeder Farben¬
eindruck schwindet; nur am roten Ende bleibt noch
ein hellgelber Schimmer bestehen. Indem nun die
Farben weißlich werden, mindert sich ihr greller
Gegensatz; sie fließen mehr harmonisch ineinander.
Daher machen denn auch die feuerrote Farbe, wie
das leuchtende Weiß unter freiem Himmel keinen
verletzenden Eindruck. So konnten unter dem leuch,-
tenden griechischen Himmel die mehr oder minder
grell bemalten Bildsäulen nur einen gefälligen An¬
blick gewähren; im grauen nordischen Licht, vollends
in geschlossenen Räumen müssen sie dagegen ganz
anders wirken.
Dann aber kommt ja bei unserer Frage sehr in
Betracht, in welcher Umgebung diese Marmorwerke
aufgestellt sind. Wo sehen wir denn unsere Statuen?
Erst in allerneuester Zeit hat man ja bei uns an¬
gefangen zu fragen, welche Umgebung ein Bild¬
werk haben muss, wenn es zu voller Wirkung kom¬
men soll. So hat z. B. das Goethedenkmal von Schaper
in Berlin eine solche würdige Aufstellung gefunden,
und in anderen Städten sind andere Künstler diesem
Beispiel mit Verständnis gefolgt. Bis dahin aber
sahen wir unsere Marmorbilder nur zwischen oder
vor den hellgetünchten Häuserfronten unserer Städte,
so dass von einem Sichabheben der Gestalt von
seinem Hintergründe nicht die Rede sein konnte.
Ein farbiges Marmorbild vor einem solchen eintönig
hellen Hintergründe wäre ja allerdings nun ein un¬
erträglicher Widerspruch.
Und nun gar erst die schönsten Werke unserer
neusten Marmorskulptur, die wir unseres Klima’s
wegen nicht ins Freie zu stellen wagen! Sie teilen
mit dem, was uns von den Alten als kostbarer Schatz
erhalten ist, das gleiche Los. An den langen Wän¬
den unserer Museen reiht sich eins an das andere
und steht so in langweiligster Paradeaufstellung da.
DIE POLYCHROMIE IN DER GRIECHISCHEN PL4STIK.
291
Siclieiiich würde auch ein Grieche aufs höchste er¬
schrocken sein, wenn er seine farbigen Marmor¬
gebilde in solcher Umgebung gesehen hätte.
Denn in seiner Heimat war er gewohnt, sie in
ganz anderer Weise aufgesteUt zu finden. Hat sich
doch die antike Plastik nicht nur mit und an der
Architektur herangebildet; sie blieb auch fortwäh¬
rend mit ihr in dem engsten Verbände. Mochte die
Statue für die Cella des Tempels oder zum Schmucke
einer Säulenhalle oder des Giebelfeldes gefertigt sein,
immer blieb sie der integrirende Teil eines größeren,
harmonisch geordneten Ganzen; nie wurde sie eine
abgeschlossene Welt für sich. So wurden die Tem¬
pel und Heihgtümer sogar nach und nach zu Kunst¬
sammlungen, von deren Zahl und Reichtum wir uns
kaum einen Begriff machen. In den großen Mittel¬
punkten griechischen Lebens wurden sie zu einem
gedrängten Ruhmesauszug aus der Geschichte des
Staates^ so auf der Akropolis von Athen; eine un¬
vergleichliche Kunstgeschichte stellten sie dar zu
Olympia und Delphi. Aber sie ivurden eben; wie
die Bildwerke mit dem Leben verwachsen waren, so
war es mit dem sinnvoll gewählten Orte ihrer Auf¬
stellung; sie aus irgend einer Absicht diesem zu ent¬
reißen, das hieß ihnen einen wesentlichen Teil ihrer
Bedeutung nehmen: über dem Marktplatze von Athen
waren die Befreier der Stadt Harmodios und Aristo-
geiton an ihrer rechten Stelle; in einem Apollo¬
heiligtum die Niobiden, in einem dem Dionysos ge¬
weihten Bezirke die froh erregten Aufzüge der Sa¬
tyrn und Maenaden.
Aber auch dann, wenn sich die Statue von dem
Tempelheiligtum oder jedem anderen Bauwerke los¬
löste, auch dann durfte sie nie allein und abgesondert
auf sich selbst beruhen; immer zeigt sich bei den
Griechen das bewusste Streben, die Statue in ein
näheres Verhältnis zu dem Raume außer ihr zu
setzen. Eine Statue des Orpheus würde Orpheus
bleiben, ob sie in der Nähe eines Tempels oder in
einer Lesche steht; doch war sie nach griechischem
Gefühle erst auf der Höhe des Helikon ganz an
ihrer Stelle. Das erste Urbild der Venus, aus wel¬
chem ihre ganze spätere Idealschöpfung hervorging
stellte Alkamenes in den Gärten auf. Die Merku-
rius-, Herkules- und Erosbilder wohnten auf den Turn¬
plätzen, in den Gymnasien ; Tritonen, Nereiden und ihr
Herrscher Neptun standen am Meer; Diana mit ihren
hochgeschürzten Nymphen in schattigen Hainen.
Lebendiges Wasser entströmte hier dem Delj)hin des
Neptun, dort sprudelte neben Bellerophon ein wirk¬
licher Quell unter dem Hufe des Pegasus hervor.
Manchmal sogar half die Natur recht eigentlich da¬
zu, in einem sinnreichen Ineinanderspielen von Kunst
und Wirklichkeit das Kunstwerk zu ergänzen. So
stand jene Statue des Narcissus an einer Quelle,
welche das Bild desselben widerstrahlte. Hier und
dort waren dann auch wohl Szenen der Natur künst¬
lich nachgebildet, um der Statue den ihrer Bedeu¬
tung entsprechenden Hintergrund zu geben ; so stand
auf dem Taenarischen Vorgebirge das Bild des Nep¬
tun vor einem Tempel, der in Form einer Grotte
aufgeführt war.
Das natürliche Band zwischen Bildwerk und
Natur, für die sie entstanden, zu zerreißen, blieb
den Römern Vorbehalten, welche aus Griechenland
die strahlenden Götter und Heroen, Bilder und Ge¬
mälde als eine wertvolle Kriegsbeute heimbrachten,
um so willkommener, als sie, öffentlich aufgestellt,
dem Andenken des Sieges Dauer verleihen half für
späte Zeiten. Aber auch die Römer hatten denn
doch so viel von den Griechen gelernt, dass auch
sie für eine würdige Aufstellung der Statuen sorg¬
ten; ja der luxuriöse Geschmack späterer Zeit ge¬
fiel sich sogar darin, die Statue mit wahrer Deko¬
rationspracht zu umgeben. Die Schilderung, welche
Apulejus, wenn auch mit Übertreibung, von einer
Statue der Diana entwirft, ist recht geeignet, ein
le1)endiges Bild von solchen Kompositionen zu er¬
wecken. Die Statue war aus parischem Marmor
gebildet, im heftigen Lauf begriffen, das Gewand
zurückgeweht; auf beiden Seiten Hunde mit drohen¬
den Blicken, gereckten Ohren und schnaubenden
Nüstern. Hinter der Göttin erhob sich ein Felsen
nach Art einer Grotte mit Moosen und Kräutern,
Blättern und blühendem Gesträuch, alles aus Stein,
und am Rande der Höhle hingen Baumfrüchte und
Trauben, aufs kunstvollste der Natur treu nachge¬
bildet. Nur die Farbe der Herbstreife schien ihnen
zu fehlen, um sie zu pflücken. Quellen zitterten zu
den Füßen der Göttin und zwischen dem Blätter¬
werk lauschte — Aktaeon. Wie so manche Scene
der Art, welche kühne Verzweigung der Kunst und
Natur mögen die Gärten der römischen Großen, ja
die einzige Tiburtina des Hadrian verschönert haben !
Und sollten nun in solcher Umgebung die Marmor¬
bilder farblos in ihrer Marmorblässe dagestanden
haben? Wenn einmal den Alten solche Vermischung:
von Kunst und Natur, wenn auch erst in späterer
Zeit, möglich war, wie sollten sie da auch in ihrer
besten Zeit vor einer immer doch mäßigen Anwen¬
dung der Farbe zurückgeschreckt sein! —
Wir stehen am Ende unserer Untersuchung.
37*
292
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
Wir Laben gesehen, Avie die Alten znr Färbung
ihrer Marmorwerke gekommen sind , - und wie sie
dieselbe ausfübrten; uns ist klar geworden, warum
uns diese Färbung widerstrebt, und was die Alten
tbaten, um sie durch richtige Aufstellung nicht nur
erträglich, sondern sogar nötig zu machen. Brau¬
chen wir nun nach diesem allen noch die Frage
aufzuwerfen, ob auch wir hierin den Alten zu folgen
haben? Es liegt ja auf der Hand, dass die Antwort
der meisten hierauf nur ein entschiedenes Nein sein
kann. Uraltes Herkommen, festgewurzelte Überlie¬
ferung hielten den Griechen bei der Farbe seiner
Bikhverke fest; nie hat ein Griechenaiige ein völlig
farbloses Marmorwerk gesehen. Im schroffsten Gegen¬
satz dazu hat sich von Jugend auf unser Auge an
die völlig reine Marmorschönheit gewöhnt, uns ist
diese völlige Reinheit des Marmors zur Bedingung
der Schönheit geAVorden.
Der griechische Plastiker sodann stand, wie der
Maler des Mittelalters, im Dienste der Religion.
Seine höchste Aufgabe blieb es doch immer, Kultus-
l)ilder zu schaffen, und diese verlangte der Grieche
voller Leben; zu toten Bildern konnte er nicht beten.
Unser Plastiker dagegen ist nur Künstler; nichts
beengt ihn in seinem künstlerischen Schaffen; er
steht nur im Dienste der Schönheit. So oft aber
der griechische Plastiker auch nicht im Dienste der
Religion stand, auch daun noch trennte ihn ein Be¬
deutsames vom modernen Künstler. Ist doch sein
Menschenideal ein anderes, als das unserige. Für
das christliche Bewusstsein ist der Körper immer
nur Träger und Diener des Geistes, so hat unser
Ideal immer etwas abstrakt Geisterhaftes an sich.
Der Grieche dagegen, dem harmonische Verbindung
von Geist und Körper als höchstes Ziel gilt, ver¬
langt Gestalten, die nicht nur geistig, sondern auch
körperlich leben. Endlich aber leuchtet dem Grie¬
chen eine andere Sonne als uns; die Farbenpracht
seiner Natur zwingt den Plastiker, auch in seinem
Bildwerk mit ihr zu konkurriren.
So ist es als ein Wagnis anzusehen, wenn mo¬
derne Künstler nach einer Erneuerung der Poly-
chromie streben. Dies umsomehr, Avenn sie wie bis¬
her durch leichte Abtönung der ganzen Figuren die
farbige Skulptur wiedergewinnen wollen. Sollten
diese Versuche einen Erfolg haben, so müssten die
Künstler jedenfalls dabei von der Gold-Elfenbein¬
kunst ausgehen, vor allen Dingen dürften die Fleisch¬
teile der Statue nie gefärbt werden. Sollte einmal
in einem anderen Jahrhundert auch für den Nord¬
länder eine Zeit kommen, in der seine Ideale ihre
Blutlosigkeit aufgegeben und sich der heiteren Sinnen¬
freudigkeit der Griechen wieder zugewandt haben,
sollte damit in Verbindung ein neuer Farbensinn
erwachen, dann werden auch die Meister schon er¬
scheinen, Avelche die Wege finden, auf denen ein
Färben der Bildwerke wieder möglich ist.
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
II.
EUR bezeichnend für den
Unterschied zwischen dem
Salon der Champs-Elysees
und der Marsfeldausstellung
ist es, dass das Historien¬
bild in der letzteren mit
einer Ausnahme gar nicht
vertreten ist. Da ist alles
GegeiiAvart oder Mystik und Zauberland. Die eine
.\tisji!ilime bestätigt die Regel, denn cs ist ein Vor¬
gang jüngsten Datums, Avelcher in dem groben Re-
präsenlationsbild von JloU, die Feier des Jahrliundert-
tfiges der Revolution in Versailles, dargestellt ist.
In diesem Riesenbild hatte der Künstler Gelegenheit,
seine kühne und derbe Vortragsweise passend zu
verwerten. Das Gemälde zeichnet sich durch eine
sehr übersichtliche Gruppirung aus; trotzdem der
Präsident Carnot mitten im Menschengewühl steht,
fällt er sofort als die Hauptperson auf; das ist da¬
durch erreicht, dass sein Gefolge hinter ihm auf an¬
steigenden Stufen steht und die vor ihm befindliche
Volksmenge ihm zujubelt. Solcher Repräsentations¬
stücke in Riesenformat giebt es im alten Salon eine
ganze Reihe, nur mit dem Unterschied, dass sie viel
langweiliger vorgetragen und dadurch fast unerträg¬
lich sind, so der Empfang des Präsidenten der Re¬
publik in Boulogne sur Mer von Schommcr ; das
gleichmäßig helle Sonnenlicht lässt die große Fläche
noch um so eintöniger erscheinen. Nicht besser ist
der offizielle Akt der Gründung der Universität
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
293
Müutpellier vou Lcmatte. Auch das uuendlich lange
Bild von Munkacsy, welches Arpad, den Gründer
Ungarns, darstellt, wie ihm die unterworfenen Völker
Erde und Wasser bringen, ist solch ein Repräsen¬
tationsstück; selbst die Kraft dieses bedeutenden
Künstlers hat nicht vermocht, den Gegenstand auch
nur einigermaßen interessant zu machen. Es wird
von neuem der Satz bestätigt, dass die Zeit der
Historienmalerei vorüber ist. Und, möchte ich fragen,
hat diejenige Kunstart, welche wir heute mit diesem
Namen bezeichnen, überhaupt jemals Werke ersten
Ranges hervorgebracht? Was Avir aus vergangenen
Jahrhunderten Historienbilder nennen, ist etAvas ganz
anderes. Die Historienbilder eines Raffael Avie die
Schule von Athen oder auch die Konstantinschlacht
sind Idealgemälde. Rubens hat seine Geschichts¬
bilder immer mit allegorischen Gestalten staffirt, Aveil
er sehr Avohl fühlte, dass sich das Bedeutsame eines
geschichtlichen Vorganges in rein realistischer Weise
nicht darstellen lässt. Von den Historienbildern der
Napoleonischen Epoche sind die wirklich machtvollen
und guten diejenigen mit Vorgängen aus der sagen¬
haften ältesten römischen Geschichte, Aveil hier der
Stoff schon durch eine andere Kunst, die poetische
Sage, hindurchgegangen und vorbereitet war. Als
die jetzt noch nachlebende Historienmalerei in der
Mitte dieses Jahrhunderts auf das Feld trat, Avar
sie wesentlich Kostümmalerei, und das ist sie auch
geblieben. Ein Kostümbild im wahrsten Sinne ist
das große Gemälde von Eoyhet: Karl der Kühne
ist in die Kirche zu Nesle geritten und leitet das
entsetzliche Blutbad, welches seine Ritter unter den
in die Kirche geflüchteten Einwohnern der Stadt
anrichten. Die Hauptfigur mit niedergeschlagenem
Visir ist nur ein Rüstungsstillleben. Herrlich ist
die Farbenpracht in den mittelalterlichen GeAvändern
der Verfolgten, dazwischen hin und wieder halb ent¬
blößte Frauenkörper, Avenn man auch nicht gerade
einsieht, warum die Kleider der Frauen soviel
schlechter genäht sind als die der Männer, dass sie
im Handgemenge eher zerreißen. Auf den Glanz
eines Farbenfeuerwerkes ist der Tod des Roland,
der Engeln seinen Handschuh übergiebt, von Biissicrc
gemalt. Eine gewisse historische Größe ist in dem
Bilde von Jean Paul Laurens erreicht, Johannes
Chrysostomos bezichtigt von der Kanzel die anwesende
Kaiserin schwerer Verbrechen. Die Gestalt des Pre¬
digers ist von fanatischer Leidenschaft durchglüht,
und man merkt ihm an, dass es ihn unwidersteh¬
lich treibt, die verhängnisvollen Worte auszustoßen.
Die große Napoleonische Epoche hallt in der Kunst
noch immer nach, Orange, Eoussel, Scrgcnt , Eogcr,
Cain haben darauf bezügliche Bilder meistens mit
wenig Talent gemalt. (Auch das Revanchebild tritt
immer Avieder auf. Die Leute, Avelche mit demselben
in Paris ihre blau- weiß -rot geränderte Visitenkarte
abgeben, haben echt französische Namen, Avie Eiiders
und Ziviller!) Halb Historien-, halb Genrebild ist
das beste hierher gehörige Gemälde, Eocltcgrosse’s
Plünderung einer römischen Villa durch die Hunnen,
in kleinem Format. Packend ist der Gegensatz zwi¬
schen den mongolischen Typen der asiatischen Hor¬
den und der weißen edeln Schönheit der gefesselten
und erschlagenen Römer. In dem schönen Bilde
drängt sich Aveder die Farbe des buntblüheuden
Gartens, der Rüstungen und Gewänder, noch histo¬
rische Pose vor, es ist die einfache und geistreiche
Erzählung eines erschütternden Vorgangs.
Auch das religiöse Bild ist fast ausschließlich
im alten Salon zu finden. Dasselbe ist Avesentlich
besser daran als das Historienbild, Aveil der Beschauer
für dasselbe die notwendigen Voraussetzungen mit¬
bringt, die Kenntnis des Gegenstandes und die Mit¬
empfindung für denselben, und weil dieser Stoff
während vieler Jahrhunderte durch die Kunst für
dieselbe verarbeitet und gestaltet ist. Eine Anzahl
religiöser Gemälde hat die alten bis zur vollstän¬
digen Kraftlosigkeit verbrauchten süßlichen Ideal¬
formen, wie der heilige Franz den Vögeln predigend
von Eiant, die Pieta von Eohert, die Ruhe auf der
Flucht nach Ägypten von Meurisse-Francliomme,
der Besuch der heiligen Frauen am Grabe von Älhcrt
Laiirent u. s. w. Oder es werden die alten Meister
nachgeahmt, Murillo von Ilenrg Levg, Holbein von
Doiceet. Daneben aber zeigt sich auf das glänzendste
die Fähigkeit der Franzosen, in die alten Stoffe neue,
schöne und malerisch verwertbare Ideen hineinzu¬
tragen. Es ist eine freie und schön menschliche
Religionsauffassung. Brimet stellt das Erdbeben bei
der Kreuzigung dar; das Volk stiebt aufgeschreckt
auseinander, die Kreuze der Schächer brechen zu¬
sammen, nur die Madonna mit ihren Frauen wirft
sich in um so heftigerer Liebe dem Sohn entgegen.
Buffet giebt die Versuchung Christi auf einem öden
Bergeshang; der Teufel bietet ihm mit scheuer Ge¬
bärde eine Krone dar, Christus aber hat sich nieder¬
geworfen und ringt in brünstigem Gebet, in weitem
Kreise um ihn knieen einzelne an Fra Giovanni Ange-
lico erinnernde Engel, welche ebenfalls beten oder
sich weinend umschlungen halten. Brisson schildert
die Trauer der heiligen Jungfrau, sie sitzt am Waldes¬
rande, ihr gekreuzigter Sohn erscheint ihr in den
294
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
Wolken. Auf dem Bilde von Fritel liat sich ein
Verfolgter in den Schoß Christi geflüchtet und der¬
selbe fleht seinen himmlischen Vater an, mehr Liebe
und Brüderlichkeit in das Herz des Menschen zu
pflanzen. Karl Gutherz stellt den letzten Tag der
Schöpfung dar; Adam und Eva, zwei schön gezeich¬
nete Gestalten, sind am Rande eines Berghanges
niedergesunken, der Himmel hat sich geöffnet und
Gottvater erscheint segnend inmitten unzähliger Engel¬
scharen, es ist ein lichtes Flimmern und Durch¬
einanderwogen, in dem man nichts Deutliches er¬
kennt, in den Farben eines blassen Regenbogens.
Aber auch Sonderbarkeiten kommen auf dem reli¬
giösen Gebiet vor. H. Pinta lässt den heiligen Lukas
die Madonna malen, während ihn modern gekleidete
Mädchen als Engel mit Pinsel und Palette bedienen ;
Emile Motte stellt zwei der thörichten Jungfrauen
dar aus der Parabel, nackt mit verzweifelten Ge¬
bärden an einer Mauer, die eine hat die verwelkten
Formen einer Greisin.
Die Vorliebe für die Allegorie ist dem Fran¬
zosen so tief eingeprägt, dass beide Ausstellungen
daran teilnehmen. Der Führer der Sezessionisten,
Pucia de Chavannes, ist wie gewöhnlich auch diesmal
wieder mit einem Bilde dieser Gattung vertreten,
aber die auffallende Abnahme in der künstlerischen
Kraft dieses Künstlers, welche sich schon im vorigen
Jahre zeigte, macht sich auch in diesem bemerkbar.
Sein diesmaliges Bild hat einen höchst unglücklichen
Gegenstand, es ist die Huldigung Victor Hugo’s,
des Nationalheiligen, an die Stadt Paris. Der Dichter,
der sich in seinem antiken Kostüm sehr unbehag¬
lich iühlt, lässt einer weiblichen Gestalt, welche eine
Inschrifttafel mit der bekannten geschmacklosen
I’lirase als ville lumiere bezeichnet, durch einen
Genius seine Leyer überreichen. Das ist so lang¬
weilig vorgetragen, als hätte der Künstler das Un¬
sinnige solcher Gegenstände darthun wollen. Auch
was sonst von allegorischen Gestalten auf dem Mars¬
felde vorhanden ist, von Frappa, Lerolle, Gouriois,
kennzeiclinet sich durch fade Flachlieit. Dagegen
gehört in diese Gattung ein Hauptwerk der Aus¬
stellung, das Gemälde L’herniittc’s. Ein greiser Holz-
sami7der ist am L’ande des lierbstlichen Waldes unter
der Last seines schweren Bündels niedergesunken,
leise und erlösend tritt mit gesenkter Sense der Tod
aus den Büschen liervor. Das ist mit so tiefer Em¬
pfindung gegeben, dass inan keinen Zwiespalt zwi¬
schen dem, diesem Künstler eigenen naturalistischen
N’ortrag und der übernatürlichen Erscheinung em¬
pfindet. — in ihrer reichsten Entfaltung finden wir
die Allegorie im alten Salon, es sind meistens Ideen,
die sich für malerische Darstellung außerordentlich
gut eignen, geistreich und feinfühlig erfunden,
Edouard Duran lässt ein junges Mädchen am Tage
der Konfirmation in ihrem Andachtbuch lesend
durch den Garten gehen, als Verkörperung ihres
Gebetes schwebt ein Engel hinter ihr. Auf dem
Gemälde von Henri Banger wandelt Christus weinend
durch die Leichen im Glaubenskriege Gefallener,
Calbert schildert die Musik durch eine Versammlung
nackter oder mit zartfarbigen Schleiern bekleideter
weiblicher Gestalten auf einer Wiese. Es ist ein
musikalisches Element in dem Fluss der Bewegung,
der Grazie der Zeichnung und dem Einklang der
gedämpften Farbe. Eine gute Allegorie ist auch
der Kampf um das Leben von Henry E. Delacroix,
eine Menge nackter Männer und Weiber ringen um
die wenigen Plätze in einem mitten auf wildrollen¬
der See umhergeworfenen Boot. — Es kommen aber
auch höchst sonderbare Ideen dieser Art vor. Um
nur ein solches Gemälde zu erwähnen, weil es von
einem bedeutenden Künstler stammt: Henri Martin
hat drei Troubadours dargestellt, wie sie in einem
Walde herumstehen und Genien über ihnen schweben.
Das Gemälde ist in der bekannten gesuchten Manier
dieses Künstlers gemalt und wirkt wie eine, auf
rauhem Mauerwerk ausgeführte, schwach kolorirte
und verwischte Umrisszeichnung.
Das Sitten(Genre-)bild in unserem Sinne kennt
die französische Kunst nicht, selbst im alten Salon
sind es fast immer malerische Probleme, welche in
genreartigen Bildern gelöst werden, dabei zeichnen
sich diejenigen der Marsfeldausstellung durch die
größere Frische vorteilhaft aus. Von großem male¬
rischem Reiz ist das Bild von Älpli. Moutte, Feld¬
arbeiter frühstücken unter herbstlichen Weiden.
L. G. Giradot hat einen sensationellen Stoff behandelt,
ein nacktes Mädchen, das tot neben seinem Bett
liegt, während die Nachbarn entsetzt herbeigeeilt
sind, der Arzt den Kopf schüttelt und der Kriminal¬
beamte den Thatbestand aufnimmt. Hagborg bringt
ein Begräbnis in der Normandie, fast ausschließlich
auf die malerische Wirkung hin gearbeitet. Im alten
Salon haben einige. Bilder dieser Art eine schöne
Empfindung. Ermüdet von der Arbeit geht ein junges
Weib über das dunkelnde Feld, auf dem sie Ähren
trelesen, nach Hause, während ihr kleines Schwester-
chen emsig Blumen pflückt. Dem Franzosen fehlt
auch ganz der Humor, der zur eigentlichen Genre¬
malerei notwendig gehört; das einzige humoristische
Bild beider Ausstellungen ist von einem Spanier,
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
295
Frappa: ein Mönch, der lachend ein Ferkel nach
Hanse trägt.
Im Bildnisfach sind beide Salons ziemlich gleich¬
wertig vertreten. Der alte Salon hat darin die be-
rähmtereu Namen für sich. Das kräftige und lebens¬
volle Bildnis einer alten Dame von Bonnat ist doch
etwas zu hart; der Maler hat zu viel von der Zeich¬
nung stehen gelassen, und dagegen sind wir jetzt
etwas empfindlich geworden. In van Dyck’scher
Weise hat Be^ijamin Constant den englischen Bot-
schaiter Lord Dulferin in seiner feuerroten Amts¬
tracht sremalt; von überaus feinem Reiz ist auch
das Bildnis der Lady Helene Vincent, thronend wie
eine Juno mit einer Nike auf der Hand als dekora¬
tives Gemälde. Des Gegenstandes halber interessant
ist das Bildnis der Rosa Bonheur in Männerkleidung
vor ihrer StafPelei sitzend von Fräulein Ächille-Fould.
Sprühende Farbenstudien sind die Bildnisse der
Sarah Bernhard als Kleopatra und der berühmten
Sängerin Caron als Salambo von Clairin. Von früher
bekannt ist das überaus kräftige Bildnis des Grafen
Wladimir Dzieduszychi von Pochwahhi, das aller¬
dings etwas brutal wirkt. Ein sehr gutes Bildnis
eines Kardinals hat Vilma Barlagliy gesandt. Sehr
interessant ist ein Vergleich zwischen dem Selbst¬
bildnis von Van Hove und dem vortrefflichen Bild¬
nis Eugen Bracht’s von Koner in der Berliner Aus¬
stellung. Beide zeichnen und sehen mit beobachten-
dem Blick aus dem Bilde heraus, van Hove hat
glücklicher das allzu Scharfe des Blickes vermieden,
das bei Koner das ganze Bild unter die Herrschaft
des Auges stellt und ihm das Bildnisartige nimmt.
Den Malern des Marsfeldes kommt ihr Streben nach
möglichster Einfachheit beim Bildnis vorzüglich zu
statten. Die beiden Bildnisse von Rivey , ein Mo¬
delleur in seinem weißen Arbeitshemd und ein Knabe
mit roter Mütze, haben in ihrer Weise eine ähnliche
Größe und Einfachheit wie die Florentiner Quattro¬
centobüsten. Auch M. B. de Mouvel schafft in seinem
Bildnis eines jungen Mädchens mit Erfolg in ähn¬
licher Weise. Beide Künstler wenden wenige inten¬
sive Farben an. Auch den Zauber poetischer Fein¬
heit wissen einige Marsfeldkünstler in ihre Bildnisse
zu legen; so Rondel in seinem Bildnis einer alten
Dame in Trauer vor einem Stück Landschaft, das
nur angedeutet als grüner Hintergrund wirkt. Das
Schwarz der Kleidung, der mattgrüne Hintergrund
und das feine Gelb des schön gezeichneten Gesichtes
stehen vorzüglich zusammen. Tofano giebt in klei¬
nem Format das Bildnis einer in ihrem Zimmer
sitzenden jungen Dame in lockerem hellfarbigem
Vortrag mit der ganzen Poesie einer reichen Rokoko¬
stimmung. Der beliebte Bildnismaler Carolus Daran
ist wieder mit einer ganzen Reihe von Bildnissen
vertreten, die aber wenig in den Rahmen des Mars¬
feldes passen; es sind vorwiegend Kostümstücke mit
hässlichen harten Farben, zudem in der Charakte¬
ristik des Stofflichen schwach und unwahr.
Alle diese Bildnisse sind in beiden Ausstellun¬
gen zwischen eine Fülle schöner Landschaften ge¬
ordnet. Die Landschaft der Franzosen ist immer
objektiver aufgefasst als die der Deutschen. Sie
will nicht das persönliche Gefühl des Beschauers
ergreifen, sondern l^esteht mehr außerhalb desselben
für sich. So fallen denn auch die Landschaften des
seit langen Jahren in Paris lebenden (fsterreichers
Jeitel aus allen anderen heraus durch ihre deutschen
Eigenschaften der Stimmung und einer gewissen Art
des Tons. Zwischen beiden Ausstellungen macht
sich in der Landschaft ein bedeutender Unterschied
geltend. Die Künstler des Marsfeldsalons wandern
zu ihren Studien nach dem Süden ihres Landes, wo
alles in gleichmäßigem hellem Sonnenlicht daliegt.
Es sind immer weite Flächen, welche man über¬
schaut; mit Vorliebe wird auch der ruhige Glanz
der unbewegten Meeresfläche dargestellt, wie über¬
haupt das Wasser, das Auge der Landschaft, bei
den französischen Künstlern selten fehlt. Schnee¬
landschaften werden aus denselben künstlerischen
Gründen ebenso gern gegeben wie die Meeresfläche.
Solche südlichen Landschaften hat Dauphin z. B.
gemalt. Trotz der hellen Schatten wirken die Bilder
nicht matt, wie so oft bei Nordländern, welche süd¬
liche Gegenden schildern. Der nordische Landschafter
begeht dabei meistens den Fehler, dass er von den
Schatten ausgeht, dieselben so hell malt, wie sie
wirklich sind, dann bleibt ihm für das Licht keine
genügende Helligkeit mehr übrig, während der Süd¬
länder in seinen Landschaften die Schatten meist
dunkler malt als in der Natur, um die Leuchtkraft
des Lichtes durch den Gegensatz herauszubekommen.
Dauphin wandte dieses Mittel nicht an und bringt
das Leuchten der südlichen Sonne durch eine große
Vielheit der Nuancen im Licht heraus, welche ein
gewisses Vibriren erzeugen, ohne dass er dabei in
die Ausschreitungen der sogenannten Vibristen ver¬
fällt. Ähnliche Landschaften malt Montenard. Boudin
hat sich seine Motive von Antibes geholt. Die
Landschaft des nördlichen Frankreich schildert Da-
moye. Dasselbe ist landschaftlich ziemlich gleich¬
förmig und bietet wenig Bildmäßiges, das prägt sich
auch in diesen Gemälden aus. Eine vielfarbige Bunt-
296
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
heit bringen Firmiu - Girard und IiviU, ersterer in
sommerlich und herbstlich blühenden Gärten mit
duftiger Ferne, letzterer in vieltupfigen Herbstland¬
schaften. Bei beiden ist eine liebenswürdige Farben¬
freudigkeit; sie sprechen aus, wie das so schön ist,
was sie vor sich sehen. Vortreffliche Landschaften
hat wieder der Belgier Franz Coxiriois geschickt.
Verschiedene Jahreszeiten sind dargestellt, und überall
sind die niemals ruhende Bewegung der Luft und
das Zittern des Lichtes schlagend wiedergegeben.
Die schönsten Sachen hat der Amerikaner Harrison
gemalt, in seiner bekannten Weise oft Akte mit der
Landschaft verbindend. Über stillen Waldwinkeln
mit einem See oder Teich liegt träumerisch dunkelnd
der Abend, die nackten Figuren und die Landschaft
wecken gegenseitig Stimmung für einander, sie
drücken weltferne Einsamkeit aus. Herrlich sind
seine Strandbilder im aufgehenden Monde und in
der Glut des Sonnenuntergangs. Das ist weit und
feierlich, bescheiden und groß mit einfachen Mitteln
dargestellt. — Die Landschaft im alten Salon ist viel¬
seitiger; sie stellt sich zur Aufgabe, die Natur nach
allen Seiten zu schildern. Hier ist auch ein See¬
stück mit wühlendem Sturm von Emile Maillard;
iJirjmi malt eine Heuernte bei aufsteigendem Ge¬
witter, BogUani eine Landstraße mit Viehherden
und einem Omnibus in hellem Sonnenglanz, Armand
Gurry eine schöne Flachlandschaft mit einem kar-
moisinrot hlühenden Feld im Vordergründe, Boudet
eine sumpfige Wiese in grauem Dunst, Cachaud
einen Bergsee; Tanzin schildert vedutenartig die reich¬
besiedelten Höhen von Sevres; Battcuse lässt bei
einer Heuernte das helle Sonnenlicht von rückwärts
auf die Halme fallen und nur die Ränder derselben
leuchtend vergolden; das ist besser, als das Getreide
diircli lielle Heleuchtung von vorn wie ungeheure
Goldklumpen zu geben. E. Bail hat ein großes Land-
scliaftsbild ausgestellt, eine in geringer Tiefe von
Weiden begrenzte Wiese mit Durchblick in die
f’erne, alles in hellblauem Duft. Das ist eine Über¬
treibung der Natur; so gleichmäßig über eine ganze
weite Fläche hingegossen kommen die blauen Töne in
ilerselben nicht vor. Diese Art erleichtert dem Maler
seine Aufgala;. Es ist so, als wenn man auf einer Geige
ein ganzes Musik.stück mit dem Reiter auf den Saiten
i)i gedäm])fter Tonart si)ielen wollte; dadurch Avird
allerdings eine größere Einheitlichkeit erzielt, auch
Stiininung, aber der Reichtum dessen, was aus-
gedrückt werden kaiin, ist herabgeniindert.
Bei allen Arten von Gemälden haben wir einen
durcligreifenden Unterschied zAvischen den beiden
Ausstellungen feststellen können. Je mehr wir uns
in die Betrachtung derselben versenken, desto mehr
fühlen wir, dass die Gegensätze aus einer geschicht¬
lichen Notwendigkeit herausgewachsen sind. Es hat
für die neuere Richtung Jahre des unsicheren Suchens
und Tastens gegeben, und diese Zeit ist noch lange
nicht abgeschlossen. Aber dennoch, nicht nur die
Auflösung des Alten, sondern auch die Ansätze zum
Neuen, Positiven treten uns entgegen. Die Künstler
ringen nach der größtmöglichen Freiheit im Können,
damit sie wagen können, alles zu sagen. Das sind
Bestrebungen, wie sie ähnlich im Quattrocento sich
zeigten; und wie sie dort zu der Höhe der Kunst
geführt haben; so hoffen wir, dass auch hier etwas
Bedeutendes dabei herau.skommen wird, wenn sich
auch noch keineswegs absehen lässt, welcher Art
dasselbe sein wird, das hängt von der gesamten
kulturellen Entwickelung ab. Was den französischen
Künstlern schwerwiegend mithilft, empor zu kom¬
men, ist, dass sie durchaus national sind. Paris übt
in dieser Beziehung eine zwingende Macht, was von
außen hinzukommt, muss den französischen Geist in
sich aufnehmen : die vielen in Paris lebenden ameri¬
kanischen Künstler sind von ihren französischen
Kollegen kaum zu unterscheiden. Das Ausland ist
bezeichnenderweise sehr wenig auf den Pariser Aus¬
stellungen vertreten. Die Gegensätze zwischen der
alten und der neuen Richtung werden sich vorläufig
nicht verwachsen, und das ist gut. Die neue Rich¬
tung muss in ihrer Abgeschiedenheit erst den ge¬
nügenden Reifegrad erreichen, dann wird sie einen
wohlthätigen Einfluss auf die ganze Künstlerschaft
ausüben, indem sie dieselbe zwingt, sich an ihr zu
erfrischen. Auch die Ausstellung im alten Salon
ist schon vielfach von dem modernen Geiste durch¬
setzt. Die Marsfeldkünstler sind die voraneilende
äußerste Linke; sie werden ihrerseits Halt machen
müssen, um die anderen nachkommen zu lassen, in
der Verschmelzung beider werden die alten unab¬
änderlichen Kunstgesetze wieder zur Geltung kom¬
men, dann wird der Pionierdienst der Marsfeld¬
künstler seine wahren Früchte tragen.
Auch die Stärke der Plastik besteht in diesem
Jahre weniger in bedeutenden Hauptstücken als in
einer Reihe tüchtiger Leistungen. Die Vorzüge der
Pariser Plastik sind so vielseitig, dass es unmöglich
ist, sie in einer Ausstellungsbesprechung genügend
ins Licht zu setzen, deshalb behalte ich mir einen
nicht an diese eine Ausstellung gebundenen zusam¬
menfassenden Aufsatz darüber vor und gebe hier
nur einige Fingerzeige. Die Plastiker sind fast alle
DIE PARISER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
297
dem alten Salon treu geblieben; das ist natürlich,
denn die Plastik, als die gebundenere Kunst kann
sieb nicht mit so waghalsigen Experimenten abgeben
wie die beweglichere Malerei. Auch in der Mars-
teldausstellung sind einige vorzügliche Kräfte, aber
ihre Werke stehen zum Teil mit den plastischen
Gesetzen in argem Konflikt. So vortrefflich die
kauei'nde junge Mutter mit ihrem Kinde von Cam.
Leferre gearbeitet ist, die naturalistische Üppigkeit
dieses Körpers wirkt abstoßend, und ihr Reiz ist
nicht auf dein Gebiete der Kunst zu suchen.
Im alten Salon finden wir eine große Zahl von
ßildnisbüsten. Das plastische Porträt liegt dem Fran¬
zosen weniger gut als dem Deutschen, wir werden es
meistens zu äußerlich finden. Der französische Bild¬
hauer entfaltet seine Größe viel mehr im Akt und
zwar im männlichen wie im weiblichen, während
die Pariser Maler fast ausschließlich den weiblichen
Akt bevorzugen. Der männliche Akt ist dem Pariser
vor allem ein Bild der Kraft, und er stellt denselben
daher meistens in heftiger und angestrengter Be¬
wegung dar. So hat Balloni einen Geizigen gebildet,
der in der Unterwelt einen schweren Geldsack wälzen
muss, der Amerikaner Clarke einen muskulösen
nackten Arbeiter, der eine Apfelpresse dreht, als
Brunnenfigur. Beim weiblichen Akt ist das Schlanke,
Elastische beliebt, und der nackte Köi'per wird mög¬
lichst entsinnlicht, meistens werden ganz junge Mäd¬
chen dargesteUt. Die zarte unschuldige Naivetät
dieser kaum entwickelten Körper ist wie das schöne
Gegenbild zu dem üppigen Raffinement des „Jahr¬
hundertendes“. Es ist eine Bescheidenheit und doch
Größe in der Anwendung der künstlerischen Mittel,
welche direkt an die Antike erinnert. Wie in der
Antike, sind die Figuren durchgehends rein plastisch
gedacht und auf einen schönen und runden Anblick
von allen Seiten berechnet; die Gestalten sind nicht
nur gut gearbeitete Akte, sondern durchdachte und
edel empfundene Kunstwerke. Wie schön ist die
Susanne you Eugene Aizelin erfunden; das Badetuch,
das sie erschreckt quer über den Körper zieht, deckt
und hebt das Nackte desselben in geistreicher Weise.
Wie künstlerisch geschlossen ist die Stellung des
jungen Mädchens von Mäcltell, das träumend auf
einem Felsblock sitzt, den einen Fuß an den schrägen
Abfall desselben gestützt, auf dem Knie eine Vase
und darauf die übereinandergelegten Hände, auf
denen das Kinn ruht. Auch die Darstellung des
nackten Knabenkörpers ist sehr beliebt, da er einige
Vorzüge des männlichen und des weiblichen Aktes
o
in sich vereinigt: Kraft, interessante Fülle des De¬
tails und geschmeidige Grazie. In seiner Gruppe:
die Wiese, welche den enteilenden Bach küsst, hat
Lärche den Körper eines eben erwachsenen Mädchens
und eines Knaben in wundervollen Kontrast und
Einklang gesetzt. Es ist herrlich erfunden, wie der
fein gemuskelte, jugendlich männliche Körper gegen
den weichen weiblichen steht, und das härtere, nach
That verlangende Männliche sich von dem ganz der
Empfindung hingegebenen Weiblichen zu lösen strebt.
Aber auch den Reizen üppiger Weiblichkeit ver¬
schließen sich die Pariser Künstler nicht. Fournier
hat eine Salome mit dem Haupt Johannes des
Täufers dargestellt. Erregt von der Hitze des Tanzes
steht sie da, das Haupt umwallt von der ungebän-
digten Fülle schwarzer Locken; der üppige Körper,
der schon das Gewand über der Brust gesprengt
hat und auch die übrigen Hüllen von sich werfen
möchte, bringt die ganze schwüle Atmosphäre des
Mahles mit sich, bei welchem um solchen Preis ge¬
tanzt werden konnte. Ein anderes Werk dieses
Künstlers ist trotz seiner kleinen Dimensionen viel¬
leicht das bedeutendste der ganzen Ausstellung. Es
ist eine Versuchung des heiligen Antonius: Der
Alte mit sehnigem Körper sitzt auf einigen Büchern,
vor ihm hat sich ein junges, nacktes Weib nieder¬
gelassen mit voller Brust und üppigem Bauch und
zupft ihn lachend am Bart. Diese Scene ist trotz
allem decent gegeben; sie wird gedämpft durch die
Ausführung in Bronze und dadurch, dass der Be¬
schauer hauptsächlich die Rückseite des Weibes
sieht.
In den besten Werken der französischen Plastik
findet sich das, was der Malerei noch fehlt: Be¬
scheidenheit und doch Allseitigkeit in den Mitteln,
charakteristisches Erfassen der Aufgabe, durchdachte
Geschlossenheit und Harmonie aller Teile, mit einem
Wort: Reife der Kunst.
MAX GEOFG ZIMMERMANN.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. IV.
3S
KLEINE MITTEILUNGEN
Clemeu, Faul, Die Kimstdcnlunäler der Dlietnprovinx.
Erster Band. Die Kunstdenkmäler der Kreise Kempen,
Geldern, Mors und Kleve. Düsseldorf, 1892. XIV und
904 Seiten. Mit zahlreichen Abbildungen. M. 20.
Es ist eine Freude, über ein Werk, wie das vorliegende,
berichten zu können; freilich ist es auch nicht leicht, ihm
gerecht zu werden. Als das Eirgebnis größten Heißes, ein¬
dringendster Stndien und gründlichster Kenntnis ist es zu
einer solchen E'undgrube und zu einem so zuverlässigen
Quellenwerk geworden, dass man fast in die Gefahr gerät,
im Lobe eher zu wenig als zu viel zu thun. Die Vorge¬
schichte des Buches ist bekannt. Es gehört zu denjenigen
Unternehmungen, welche nunmehr glücklicherweise in allen
deutschen Landesteilen im Gange sind, um den Bestand an
älteren Kunstdenkmälern festzustellen und zu würdigen.
Jlit Recht ist wiederholt, und auch in diesen Blättern, die
Klage erhoben worden, dass die einzelnen Staaten und Pro¬
vinzen hierbei ohne gegenseitige wirksame Fühlung vorge¬
gangen und dass daher die einzelnen Inventarien gar zu
verschieden ausgefallen sind. Eine größere Mannigfaltigkeit
in Anordnung, Umfang und Charakter kann man sich in der
That nicht denken, als sie in den bisher veröffentlichten
Bänden zu Tage getreten ist. Allerdings darf nicht ver¬
gessen werden, dass sich die Anschauungen und Begriffe
über Wesen und Zweck der Inventare sowohl in der öffent¬
lichen Meinung als auch in den Kreisen der Fachgenossen im
Verlaufe der Zeit wesentlich geändert haben und dass mit
dem gerade in diese Zeit fallenden ungeahnten Fort¬
schreiten der Wissenschaft und der kunstgeschichtlichen Er¬
kenntnis immer mehr Gegenstände und Gesichtspunkte be-
achtfff worden sind. ]\Ian vergleiche nur einmal den ersten
Band von Franz Xaver Kraus’ Werk über Ellsass-Lothringen
iidt seinetn lelzterschienenen lieft über Baden, und man
will] iiljcr den Unterschied erstaunen, der sich in verhält-
nismällig kurzer Frist in der Arbeitsweise eines einzelnen
Mannes vollzogen hat. Mehr aber noch wird man über-
ra.schf sein, wenn man das einst viel gepriesene und oft als
,\Iu-ler hingestellte Werk von Lotz und Dehn-Rothfelser
über IlesHen mit einem der neueren besseren Inventare zu-
ammen. teilt. Auch wird cs heute geradezu unverständlich
und unbegreiflich erscheinen, dass die sächsische ITovinzial-
verwaltiing grundsätzlich und hartnäckig die Elrzcugnisse
de:- ganzen IS. .lahrhunderts von der Inventarisirung aus-
' blot .Man wf;in, dass es verfassungsrechtliche Bedenken
waren , weh lie die einheitliche Inangriffnahme des Werkes
von Beielis wegen ausschlosscn ; die Aufgabe ist Sache der
EinzeUtaaten , und in l’reutlen seit dem Gesetz vom Jahre
H7.Ö Sache der einzelnen Provinzen. Der hierdurch be¬
dingten Gefahr einer gar zu willkürlichen und systemlosen
\ erschiedenheit liätte immernoch vorgebeugt werden können,
wenn man eine gegenseitige Verständigung, etwa in Ii'orm
von freien jährlichen Besjirechnngen , versucht hätte. Dies
ist leider versäumt worden, und so traten zu jenen inneren
noch die vermeidbaren äußeren Gründe, um die oben ge¬
rügte Bunts checkigkeit hervorzurufen. Es ist nicht Pedan¬
terie, weshalb ich eine größere Systematik wünsche, sondern
die einfache Wahrnehmung, dass Auftraggeber wie Aus¬
führende mitunter ohne die nötige Überlegung an die Auf¬
gabe herangegangen , dass einzelne Leistungen recht frag¬
würdig ausgefallen, ja dass an einzelnen Stellen durch Nicht¬
beachtung der anderwärts gesammelten Erfahrungen ganz
erhebliche Summen geradezu nutzlos vergeudet sind. Ich
begrüße es daher mit großer Freude, dass das, was von der
Gesamtheit versäumt ist, jetzt von einem Einzelnen ver¬
sucht wird; Clemen hat in der Einleitung zu dem vorlie¬
genden Bande durch ausführliche Darlegung der für ihn
maßgebenden Gesichtspunkte eine Systematik der Inven¬
tarisirung geschaffen, und er hat dies in einer so klaren
und in einer so scharf durchdachten Weise gethan, dass ich
die Aufmerksamkeit aller beteiligten Kreise recht eindring¬
lich auf seine Auseinandersetzungen lenken möchte. Gewiss
bedingt die verschiedenartige geschichtliche Entwickelung
der einzelnen deutschen Landesteile auch eine verschiedene
Behandlung ihrer Altertümer und Denkmäler; zweifellos hat
man altrömische Funde an der Mosel unter einem anderen
Gesichtswinkel zu beachten als an der Ostseeküste; un¬
streitig ist es ein großer Unterschied, ob man eine gotische
Kirche in der Rheinprovinz oder in Ostpreußen zu verzeich¬
nen hat. Es kann also die innere und äußere Anordnung,
die Clemen seinem Werke gegeben hat, nicht ohne weiteres
und nicht sklavisch anderswohin übertragen werden. Aber
sicherlich wird man bei Clemen lernen können, wie man
den Stoff anzufassen und wie man ihn zu gruppiren hat,
welches Maß man bei der Beschreibung der einzelnen Ge¬
genstände zu beobachten hat, wie die Inschriften wiederzu¬
geben sind u. dgl. mehr. Ganz besonderen Dank aber
hat sich Clemen dadurch erworben, dass er mit der recht
merkwürdigen Art gebrochen hat, mit welcher in einzelnen
Inventaren bibliographische Zusammenstellungen (mitunter
in fast schülerhafter Weise) geboten sind. Er strebt da¬
nach, für jeden Ort und für jede Kirche und für jedes
sonstige Denkmal auf wissenschaftlicher Grundlage eine
möglichst vollständige Zusammenstellung alles einschlägigen
gedruckten und ungedruckten Materials zu geben. Beson¬
ders zieht er die Pfarrarchive heran, und in der That ist
schwer abzusehen, warum die Inventarisatoren eine solche
einfache und geringe Mühe nicht mit leisten sollen. Für
kunstgeschichtliche (und auch für andere) Forschungen ist
es von Wichtigkeit zu wissen, ob in der Pfarrei Baurech¬
nungen, ältere Inventare u. dgl. lagern; eigens aber Ge¬
lehrte von Dorf zu Dorf zu senden, lediglich um den Be¬
stand der Pfarrarchive zu mustern und zu verzeichnen, ist
zu kostspielig; wenn man aber schon jeden Kelch und jedes
Parament vermerkt, so kann man dies auch für die wenigen
KLEINE MITTEILUNGEN.
299
handschriftlichen Bände thun, welche bei den Kirchen auf-
hewahrt zu werden pflegen. — Übrigens ist das, was Clemen
auf diesem Gebiet geleistet hat, ganz besonders erstaunlich.
Für die Stadt Kempen hat er z. B. eine Bibliographie von
zwei vollen Druckseiten zusammengestellt, dazu für die
Pfarrkirche in Kempen noch besonders eine ganze Seite;
für die Stadt Geldern beträgt der Quellennachweis S'/a, ^md
für die Pfarrkirche noch besonders eine Seite, und die all¬
gemeine Litteratur für Kleve umfasst gar fünf Seiten. Wenn
man nun erwägt, dass Clemen erst seit 1890 bei der Arbeit
ist, und dass jetzt, wo diese Besprechung abgeschlossen
wird, bereits der zweite Band ausgegeben wird, so tritt die
ungewöhnliche, erstaunliche Arbeitskraft des Verfassers in
das rechte Tageslicht. Selbst wenn man in Rechnung stellt,
dass ihm wohl mehr Vorarbeiten zu Gebote standen, als
all seinen Kollegen, so ist doch das redaktionelle Geschick
allein schon bewundernswert, und auf alle Fälle liegt ein
Fleiß vor, wie er fast ohne Gleichen dasteht. Der vorlie¬
gende erste Band umfasst die landrätlichen Kreise Kempen,
Geldern, Mörs und Kleve, also die linksufrigen , untersten
Teile des niederrheinischen Gebiets. Jeder Kreis ist für
sich als selbständiges Ganze behandelt, die Ortschaften wer¬
den innerhalb desselben in alphabetischer Folge aufgeführt.
Die vier Kreise sind zugleich aber auch als einheitlicher
Band mit einer zweiten, durchgehenden Seitenzählung ge¬
dacht und durch ein genaues und sehr willkommenes Ge¬
samtregister vereinigt. Der Reichtum an Kunstwerken, die
solchergestalt uns vorgeführt werden, ist beträchtlich. Unter
den Bauwerken kirchlicher Art finden wir freilich nicht
viele, welche eine weit über die Grenzen der Provinz hin¬
ausgehende Bedeutung besitzen; dafür ist unter ihnen ein
Denkmal allerersten Ranges: die herrliche Viktorskirche in
Xanten, der dafür auch (einschließlich der Ausstattung) nicht
weniger als 73 Seiten gewidmet sind. Wichtiger scheint
mir das Buch für die Kenntnis der Profanarchitektur zu
sein; besonders die Geschichte der Burg und des Schlosses
erhält hier manchen wertvollen Beitrag. Die flache Ebene
erheischte eine besondere Art von Verteidigung, das Wasser
bildet ein nicht zu unterschätzendes Element. Ich nenne
hier u. a. die Kempener Burg, ferner Krieckenbeck, Schloss
Wissen, Schloss Moyland und Schloss Kleve. Beachtenswert
ist auch die Anlage des kleinen geldrischen Rittersitzes des
17. Jahrhunderts (S. 227). Wir finden hier weiter stattliche
Bauten aus dem Mittelalter; das Rathaus zu Kalkar ist eine
mächtige und stolze Schöpfung, gute Privathäuser aus go¬
tischer Zeit begegnen uns in Xanten, Goch und Kalkar. Wich¬
tig sind die Stadtbefestigungen von Geldern aus dem 14. und
1.5. Jahrhundert, für welche auch zum Glück die Baurech¬
nungen mit einer Fülle der interessantesten Aufschlüsse
erhalten sind. Den Schwerpunkt des Bandes möchte ich
aber doch suchen in dem Material, welches er zur Ge¬
schichte der niederrheinisch-holländischen Bildschnitzer- und
Malerkunst des 15. und 16. Jahrhunderts bietet. Kalkar,
dessen Schule von je das Augenmerk der Kunstfreunde auf
sich gezogen hat, liegt im Gebiet der Veröffentlichung, und
hier wie in Xanten sind schöne Erzeugnisse der Schule er¬
halten; ich nenne nur ihr bedeutendstes und größtes Werk,
den Hochaltar des Meisters Loedewich (S. 480 fl'.), fernerden
Altar der sieben Schmerzen von Heinrich Douvermann und
den wundervollen Johannes- Altar, sämtlich in Kalkar, dazu
den Xantener Marienaltar, gleichfalls von Heinrich Dou¬
vermann. — Eine bedeutende Schöpfung ist ferner der
Straelener Marienaltar (S. 207 fl'.), Antwerpener Arbeit von
etwa 15.30; ungefähr gleichzeitig ist das niederländische
Altarbild in Haus Caen (214). Mehrfach vertreten ist Victor
Dünwegge (so in Xanten), den Clemen mit dem Meister von
Kappenberg identifizirt (363 f.). In Gnadenthal (S. 448)
befindet sich ein dem bekannten Werk in Palermo ähnliches
Tafelbild, eine Madonna, die Clemen Mabuse (im Gegensatz
zur Anton Springer nicht dem Jakob Cornelissen) zuweist.
Auch die Epitaphien im Xantener Kreuzgang sind beach¬
tenswert wegen des Überganges von der Spätgotik zur
Frührenaissance und weil sonst viel aus dieser Zeit din-ch
die Bilderstürmerei zerstört ist. — Die Kleinkunst ist durch
gute Schöpfungen aller Zeiten und Arten vertreten. Auf
diese kurze, dürftige Skizzirung des Inhalts muss ich mich
beschränken; eine erschöpfende Widerspiegelung dessen,
was Clemen uns bietet, ist unmöglich, will ich anders nicht
den üblichen Rahmen einer Buchanzeige überschreiten.
Um jedoch noch einige Worte zur Charakterisirung der
Arbeitsweise des Verfassers hinzuzufügen, so will ich er¬
wähnen, dass die Beschreibung der Denkmäler durchaus
erschöpfend und trotz aller Knappheit in der Regel klar
und verständlich ist. Fremdwörter und seltene Fachaus¬
drücke sind mit Geschick vermieden. Sorgsam ist darauf
Bedacht genommen, die Entstehung und den Verfertiger
eines jeden Werkes festzustellen. Nur bei den Goldschmiede¬
arbeiten ist auf die Stempel nicht genügend geachtet worden.
Bei dem schönen Pokal in Haus Caen (S. 215) ist zwar die
„Marke“ angegeben, sie besteht indessen sicherlich aus zwei
besonderen Stempeln, von denen der eine auf Nürnberg als
den Herstellungsort hindeutet, der andere auf den Namen
des Meisters. Der Trinkbecher in Hüls (S. 44) und andere
Werke sind es wohl wert, gleichfalls auf ihre Marken hin
untersucht zu werden. Nicht unbedingt einverstanden bin
ich mit den Abbildungen. Bei den reichen Geldmitteln, die
in der Rheinprovinz zur Verfügung stehen, erwartet man
zunächst mehr, sodann öfters ein besseres Maß der Leistung.
Die Abbildungen z. B. auf S. 22, 215 und 525 können wohl
kaum genügen, und ebenso sind die Lichtdrucktafeln Nr. HI
im Heft Geldern, HI im Heft Kempen und 1 im Heft Kleve
nicht scharf und deutlich genug. Im übrigen aber ist die Aus¬
stattung eine ungemein vornehme, in jeder Beziehung ver¬
rät sich die sorgfältige und liebevolle Vorbereitung des
Werkes, und die Provinzial Verwaltung der Rheinprovinz,
besonders die von ihr eingesetzte, unter dem Vorsitz von
Geh. Rat Prof. Dr. Lörsch stehende Denkmälerkommission
hat sich mit dem Clemen’schen Inventar gegründeten An¬
spruch auf Dankbarkeit erworben. HERMANN EHRENDERO.
„'Wienerstadt.“ Lebensbilder aus der Gegenwart, geschil¬
dert von Wiener Schriftstellern, gezeichnet von M/jrbac//.
Wien, Prag, Leipzig, F. Tempsky, G. Freytag. 1893. Lexi-
' konformat.
Wenn irgendwo etwas Gutes geboten wird, so ist es
immer, als ob einem in dieser Richtung längst gefühlten
Bedürfnis nunmehr abgeholfen worden wäre. So geht es uns
auch mit diesem Werke, von dem bisher sechs Lieferungen
vorliegen, die uns schon deutlich Plan, Anlage und künst¬
lerische Absichten des Ganzen verraten. Über die zum grö߬
ten Teil bereits seit langem gutklingenden Autorennamen
des Textes wie Schlögl, Chiavacci, Pötzl etc. hinweg, wollen
wir gleich den uns hier näh erstehenden Illustrator Baron
Mijrhach mit seinen zahlreichen Arbeiten ins Auge fassen.
Es ist erstaunlich, in welchen Massen dieser Künstler pro-
duzirt, ohne deshalb im schlechten Sinne Massenprodukte zu
liefern. Die Textautoren hätten keinen besseren Interpreten
ihrer Worte finden können, und wir sind überzeugt, dass die
Bilder noch populärer werden als der literarische Teil; sie
.38*
300
KLEINE MITTEILUNGEN.
werden dies ihrer oft verblüffenden Wahrheit und Unmittel¬
barkeit verdanken. Myrbach hat dabei alle ihm zu Gebote
stehenden Hilfsmittel ebenso benutzt, wie in seinen vortreff¬
lichen Illustrationen französischer Bücher; er hat gezeigt,
was ein ]\Iann von Geschmack und poetischer Kraft mit der
so oft in lächerlicher Weise verlästerten Zugrundelegung
photographischer Momentaufnahmen zu leisten vermag. Dass
bei der großen IMenge des Gebotenen nicht alles gleichwertig
ist, liegt auf der Hand, allein gar vieles hat auch hier und
da die Reproduktion verschuldet. Den geringsten Beitrag
hat der Holzschnitt geliefert, und zwar darin als Meister¬
leistung, die wir erwähnen müssen, Oedan in Leipzig mit
einem Faksimileschnitt nach der einleitenden, in Feder ge¬
zeichneten Kopfleiste, der frappant ist. Wir bedauern nur,
wie dies durchwegs von den Illustrationen gilt, dass die Zn-
richtiinrj der fein abgestuften Tonschnitte, wie auch vieler
Federzeichnungen, von allzu geringer Sorgfalt zeugt, was für
den Künstler ebenso verdrießlich ist, wie für den Kenner des
Besseren. Neben Gedan haben J/e«<er und Kirmse einige selbst
in dem abgequetschten Druck noch das Gute verratende, vor¬
zügliche 'J'onschnitte beigesellt, wie das Vollbild: „Beim
Auslaufbrunnen“, das in einer Weise flach gedruckt ist, die
genau zeigt, wie man es nicht machen soll. Angerer und
Göschl haben die Mehrzahl der Illustrationen teils als Zinko-
graphieen, teils als Photographieen durchs Netz, teils als Chromo-
phototypieen hergestellt, letztere in der bekannten Unüber-
trelflichkeit dieser Firma; die Phototypie, die eo ipso schon
jeder Tuschirung schadet durch Aufhebung der Kontraste,
zeigt dann noch am deutlichsten die Mängel der typogra¬
phischen Herstellung. — Wir stimmen zwar nicht damit
überein, klyibach einen Wiener Künstler zu nennen, wie
dies der Prospekt thut, — er ist denn doch ein Pariser, die
Krziehung macht ja den Mann, aber, und wir glauben ihm
damit kein alltägliches, doch wohlverdientes Lob zu spenden,
er hat das allgemein Gültige und Typische ebenso vortreff¬
lich wie das Besondere sowohl in den geschilderten Figuren
als auch in den Örtlichkeiten zu ergi'eifen und festzuhalten
gewusst, wie kein Zweiter. Er ist eine Proteusnatur, wie er dies
schon in seinen Illustrationen für das Kronprinzenwerk und
in den Bildern aus dem österreichischen und französischen
iMilitärleben bewiesen hat, die doch etwas von seiner gewohnten
'l'liätigkcit in Paris sehr Verschiedenes bieten. Myrbach ist
einer der Marksteine in der modernen Buchillustration. Man¬
ches davon würde, recht intim in derFarbe gehalten, ein reizen¬
des Wiener Sittenbild geben, so gleich das Farbendruckbild „In
der Wäscherburg“, das in seinen durch Mienen und Bewegung
vorzüglich charaktcrisirten 'I'ypen das beste genannt werden
iiiu.‘-s. So zeigen viele oft selbst ganz kleine Bildchen, was für
reizende Dinge sich mit Hilfe der Photographie, die wir hier
aufs angenebmstc verwertet finden, schaffen lassen — wenn
ein M.mn von 8chö])fcrischer Kraft kommt. Uber die deli¬
kate tee.hnischc Ausführung speziell der .Federzeichnungen
brauchen wir wohl kein Wort zu verlieren. So haben wir,
außer dem oben eindringlich bct07iten Wunsch betreffs des
I5ui bdruck<'rs, nur tJutes von dem Buche zu sagen.
UIU). BÜCK.
VOM KUNSTMARKT.
l.iiiidmi. Am 20. .luli wur<len die Bilder und Kunst-
gegenstände aus dem Nacldass des Grafcm von Onslow und
in den darauffolgenden 'fagen die dcj.s Grafen von Essex,
■iwie Kunstwerke au?: \ erHchie<lenem Besitz durch (ihr ist ie
vr-rsteigert. I)ie bemerkenswertesten Preise waren folgende:
zwei Porträt- von Sir .1. Iteynolds, je 30.') L (Sedelmeyer);
ein Zigeunerlager von J. Stark, 304 £ (Wallis); Napoleon’s
Zug über die Alpen von Paul de la Roche, 1848 gemalt,
785 £ (Besser); Ansicht von Venedig, der Dogenpalast, von
Canaletto, 165 £ (Colnaghi); der Kopf eines alten Mannes
von Denner, 273 £ (Davis); eine kleine Landschaft von Hob-
bema, bez. 131 £ (Sedelmeyer). Hierauf folgten vier Werke
von Jacob Ruysdael: ein Wasserfall, 39x33 Zoll, 1271 £
(Besser); ein Fluss in Kaskaden über Felsen springend, bez.
39x55, 1365 (Besser) ; eine pittoreske Waldlandschaft mit
Wasserfällen, bez. 26x20, 462 £ (Colnaghi); felsige Land¬
schaft, 588 £ (Besser); J. Both, eine große italienische Land¬
schaft, 872 £ (Lord Cheylesmore). Im ganzen brachte die
kleine, aber gute Sammlung 7729 £. — Die an demselben
Tage verauktionirten Bilder des Grafen von Essex, obgleich
nur 9 Stück an der Zahl, haben zusammen 16453 £ ge¬
bracht, und somit den höchsten bis jetzt bekannten Durch¬
schnittspreis hierselbst, d. h. 1828 £. „Rotterdam“ von Cal-
cott, 399 £ (Gooden); „Küstenlandschaft“ von Collins, 788 £
(Gibbs) ; „Eine musikalische Abendgesellschaft“ von Hogarth,
Porträts enthaltend von dem Künstler selbst und anderen
berühmten Zeitgenossen, 210 £ (Agnew); ein Tierstück von
E. Landseer, 935 £ (Gooden); „Eine Kriegsscene im Hoch¬
lande“ von Wilkie, 375 £ (Sedelmeyer). Sehr hohe Preise
erzielten die drei nachstehenden Bilder von Turner: „Der
Forellenbach“, 35 X 47 , 5040 £ (Thomas Johnson in Man¬
chester); „Walton-Bridge“ und „The Nore“ wurden beide
von Mr. C. White für den Preis von je 4305 £ erstanden.
— Bilder aus verschiedenem Besitz: „Mademoiselle Camargo“
von N. Lancret, 44 X 38, gestochen von Cars, 262 £ (Edwards) ;
David Cox, „Sammeln der Herde“, bez. 1848, eins der
größten Bilder des Künstlers, 36x54, 1208 £ (Francis);
Gainsborough, eine Landschaft, 299 £\ J. Ruysdael, Wald¬
landschaft, 455.^; W. Müller, 1837, Winterlandschaft, 315
— Skulpturen: „Venus mit dem Apfel“ von Gibson, 915 £',
„Venus und Cupido“ von E. Spence, 368 £. — Kunstgegen¬
stände aus dem Nachlass des Grafen Onslow; ein Satz von
drei Sevresvasen, grosbleu, weiß und gold, Malerei von länd¬
lichen Scenen, Kränzen und Blumen in Medaillons, 346 £-,
ein Paar Sevresvasen mit Deckeln, grosbleu, mit einem Fries
von klassischen Figuren, in schöner Goldbronze montirt,
525 £ (C. Wertheimer); ein Satz von vier Louis XVl-Tisch-
leuchtern, Goldbronze, getriebener Griff in weiblicher Figur
endend, 315 £■, ein Paar altenglische Kamin vorsetzer, Silber,
in Form von Hunden, aus der Zeit Karl’s II., 478 £‘, ein
Louis XV-Parqueteriesekretär, Einfassung von Goldbronze,
331 £-, ein Paar Louis XVI-Kandelaber, weibliche Figuren,
Goldbronze mit Marmoruntersatz, 672.^; ein Bücherschrank
mit Einlagen von Tulpen- und Rosenholz, 220 £', ein ob¬
longer Louis XVI-Schreibtisch mit Verzierungen in Goldlack,
252 £-, ein Paar Louis XIV -Boulle- Kommoden mit Monti-
rung von Goldbronzen, rot und grün, geaderten Marmor¬
platten, 2415 £ (Philpot); ein Paar altitalienische Bronze¬
gruppen, Hund mit einem Wolf, Drachen mit einem Einhorn
kämpfend, 9 Zoll hoch, 263 £-, ein Paar silberne Wand-
Icuchter, 1711, aus der Zeit der Königin Anna, per Unze 80
Schilling. DieAntiquitäten erzielten im Ganzen 12310#. $
Berlin, Im Kunstauktionshause von Rud. Lepke findet am
21 . September und folgende Tage die öffentliche Versteigerung
von älteren und neueren Kupferstichen, Radirungen, Holz¬
schnitten, Schabkunstblättern, Farbendrucken, Lithographieen,
Ülstudien, Handzeichnungen etc. aus Privatsammlungen statt;
darunter befindet sich ein Exemplar der Raj)hael’schen Stan¬
zen in 38 Blatt.
lleniusgclicr; (htrl von LiUx<nv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlicli: Artur Hecmann in Leipzig.
Druck von Awjml Pries in Loi])zig.
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