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Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

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ZEITSCHRIFT 

FÜR 


BILDENDE  KUNST. 


Herausgegeben 

von 

PROF.  DR.  CARL  VON  LÜTZOW 

Bibliothekar  der  K.  K.  Akademie  der  Künste  zu  Wien. 


NEUE  FOLGE 


Vierter  Jahrgang 


LEIPZIG 

Verlag  von  E.  A.  Seemann 
1893. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi28unse 


Inhalt  des  vierten  Jahrganges. 


Architektur. 

Das  Hasenliaus  in  Wien.  Von  J.  Lcischinrj  .  .  .  . 

Kunstdenkmäler  im  Kreise  Erbach.  Von  Dr.  P.  Schu¬ 
mann  . 

Das  Schloss  zu  Offenbach  am  Main.  Von  J.  lUchter  . 
Das  Pantheon  in  Rom . 


Plastik. 

Vincenzo  Vela.  I.  II.  Von  J.  Carotti . 1, 

Florentinische  Madonnenreliefs  von  H.  Wölfflln  .  .  . 
Ein  neuer  Katalog  der  antiken  Skulpturen  in  Berlin 

von  Ad.  Michaelis . 

Die  Pieta  im  Magdeburger  Dom.  Von  R.  Osiiis  .  . 

Eine  Napoleonsstatue  von  Chaudet.  VonDr.  Chr,  Scherer 
Die  Sammlung  italienischer  Bildwerke  im  Berliner  Mu¬ 
seum.  I.  Von  R.  Graul . 

Neue  antike  Kunstwerke.  Von  R.  Engelmann  .  156, 
Der  Giovannino  des  Michelangelo.  Von  C.  Hasse  178, 
Attische  Grabreliefs.  Von  Ad.  Michaelis  .  .  .  103, 

Die  Polychromie  in  der  griechischen  Plastik.  Von  Th. 
Ballhorn . 261, 

Malerei. 

August  Noack . 

Zur  neuesten  Rubensforschung.  Von  H.  Hgmans  .  . 
Die  Münchener  Kunstausstellung.  I.  II.  III.  IV.  Von 


A.  G.  Meyer .  25,  49,  80, 

Feuerbach’s  Deckengemälde  für  die  Aula  der  Wiener 
Akademie.  I.  II.  Von  G.  v.  Lütxow  ....  43, 
C.  W.  Allers . 


Ein  Gemälde  von  Leonhard  Beck  im  Wiener  Hofmu¬ 
seum.  Von  A.  Schmid . 

Studien  zur  Geschichte  der  Ulmer  Malerschule.  I.  Von 

M.  Bach  . 

Lorenzo  di  Credi  von  W.  Schmidt . 


Seite 

135 


163 

217 


36 

107 

112 

115 

142 

151 

185 

211 

230 

286 


6 

10 

99 

73 

63 

76 

121 

139 


Seite 


Die  Mäcene  der  bildenden  Künste  im  Hause  Habsburg, 
Deckengemälde  von  Julius  Berger  im  kunsthistori¬ 
schen  Hofmuseum  in  Wien.  Von  C.  v.  LüHoic  .  .  145 
Die  städtische  Gemäldegalerie  zu  Straßburg.  Von  Dr. 

G.  P.  Tcrcy . 169 

Friedrich  der  Große  als  Kunstsammler.  Noi\  Ad.  Rosen- 

herg . 204 

Dürer’s  Madonna  mit  dem  Zeisig  in  der  Berliner  Ge¬ 
mäldegalerie.  Von  Ad.  Rosenherg . 225 

Die  Pariser  Kunstausstellungen.  I.  II.  Von  M.  G.  Zimmer¬ 
mann  .  241,  292 

Max  Liebermann.  I.  11.  Von  L.  Kacmmcrer  .  .  249,  278 
Zur  Charakteristik  Bouguereau’s . 257 

Graphische  KUnste. 

Carel  L.  Dake’s  Beethovenbildnis  von  Th.  p.  Frimmel  18 

Radirvereine . 22 

Eine  neue  photographische  Publikation  der  Galerie  Bor¬ 
ghese  in  Rom.  Von  G.  Frixxom . 58 

Ungarn  im  Werke  des  Kronprinzen  Rudolf.  Von 

J.  Dcrnjae . 83 

Zwei  Radirungen  Goethe’s.  Von  G.  Wti.stmann  ...  97 

Der  Tiefstich  auf  Holz.  Von  S.  R.  Köhler  ....  129 
Einige  Bemerkungen  zu  Karl  Stauff'er-Bern’s  Werk.  Von 

R.  Graul . 131 

Die  vervielfältigenden  Künste  auf  den  Pariser  Aus¬ 
stellungen  1893.  Von  R.  Graul . 268 

Biicherschau. 

Die  Malereien  des  Huldigungssaales  im  Rathaus  zu 

Goslar  von  R.  Engelhardt . 116 

Eine  Altdorfer-Biographie.  Von  R.  Stiassny  ....  237 
E.  Michel:  Rembrandt,  sa  vie,  son  oeuvre  et  son  temps  245 

NB.  Die  Kleinen  Mitteilungen  sind  in  das  Register  der 
„Kunstchronik“  aufgenommen. 


IV 


INHALTSVEUZEICHNIS. 


Illustrationen  und  Kunstbeilagen. 

(Die  mit  f  bezeichneten  sind  Einzelblätter.  Die  Abbildungen  der  auf  mehrere  Hefte  verteilten  Aufsätze  folgen  hintereinander.) 


Yincenzo  Vela.  Holzschnitt  von  R.  Bcrlhold  .... 

Spartakus.  Statue  von  T".  Vela . 

Columbus.  Gruppe  von  V.  Vela.  Holzschnitt  von 

R.  Bcrfltold . 

Das  Grabmal  der  Familie  Calosso.  Von  V.  Vela  .  . 
Grabstatue  der  Contessa  Giulini  della  Porta.  Von 

V.  Vela . 

Die  Opfer  des  St.  Gottbardtunnels.  Relief  von  V.  Vela 
■fDie  beiden  Königinnen  von  Piemont.  Marmorgruppe 

von  r.  Te/« . Zu  S. 

Die  letzten  Tage  Napoleon’s  I.  auf  St.  Helena.  Statue 
von  V  Vela.  Holzschnitt  von  Kaeseherg  und  Ocrtcl 

Gethsemane.  Von  A.  Noacl: . 

Das  Marburger  Religionsgespräcb  von  A.  Noaclc .  .  . 
Selbstporträt  des  Rubens,  nach  dem  Stich  von  Pontius 
Helene  Fouiment  mit  einem  Kind  auf  dem  Schoß  von 

Rubens,  nach  dem  Stich  von  Feedcrle . 

Tierstück  von  Rubens  nach  dem  Stich  von  Summcrficld 
Christi  Geburt  von  Rubens,  nach  dem  Stich  von  S.  a 

Bolsuert . 

Deethoven.  Miniatur  von  Chr.  Eornemann  .  .  .  . 

Beethoven.  Büste  von  F.  Klein,  Holzschnitt  von  R. 


Berfhold . 

Beethoven  nach  dem  Stich  von  Blasius  Höfel  .  . 

Beethoven  nach  MAldniüllcr’s  Bildnis . 

vBeethoven  nach  Carcl  L.  Dake’s  Radirung  .  Zu  S 
•j-Fütterung.  Radirung  von  Prof.  Alb.  Brcndel  .  Zu  S 

vRadirung  von  A.  Boering . Zu  S 

Schwere  Arbeit.  Von  IL  Zügel . 


Ausstellung  von  Gemälden  alter  Meister  im  Glaspalast 

zu  München . 

Der  Ciseleur.  KonK.Marr.  Holzschnitt  von  Th.  Knesing 
Am  Waldesrand.  Von  P.  P.  Müller.  Holzschnitt  von 

Kueseberg  und  Oerlel . 

Gesamtansicht  der  Decke  im  Festsaal  der  k.  k.  Aka 
demie  der  Kün.ste  in  Wien.  Von  A.  Feuerbach  . 
Bros,  Umbrastiftzeichnung.  Von  A  Fcnerbach  .  . 

Okeanos,  Umbrastiftzeichnung.  Von  A.  Feuerbach  . 


.•\phrodite  im  Muschclwagen.  Von  A.  Feuerbach.  Holz 

schnitt  von  Kueseberg  und  Oerlel . 

fTitanensturz.  Gemälde  von  A.  Feuerbach  .  .  Zu  S 

•j-Der  gefesselte  Prometheus.  Von  A.  Fcticrbach.  Ra 
dirung  von  TU.  Wörule . Zu  S 


Studie  zu  einem  schwebenden  Broten.  Rötolzeichnung 

von  A.  Feuerbneh . 

'I’itanenweib.  Rötelzeichnung  von  A.  Feuerbaeh, .  .  . 

I’roinetheus  als  Herdgründer.  Stiftzeichnung  von  A. 

Feuerbuch  . 

fKopf  eines  alten  Mannes.  Radirung  von  R.  Ruudner. 

Zu  S. 

f.An  der  Klosterpforte.  Heliogravüre  nach  dem  Gemälde 

von  F.  Koken . Zu  S. 

Wintersonne.  Von//.  ()hlc.  Holzschnitt  von //. //erf/mW 
Die  Bekehrung  des  Hubertus.  Von  TU.  Räuber  .  .  . 

Bin  Märchen.  Von  S.  (Hücklirh.  Holzschnitt  von  Th. 
Knesing . 


Seite 

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57 


Seite 


Madonna  mit  Heiligen.  Von  Oarofalo . 59 

Anbetung  des  Kindes.  Von  Perino  del  Vaga  ....  60 

^Besuch  des  Haram  -  ech  -  Scherif  in  Jerusalem.  Von  C. 

TU.  Alters . 62 

*Titelblatt  des  Werkes  „Bakschisch“.  Von  G.  TU.  Alters  63 

*Der  jüngste  Passagier.  Von  C.  TU.  Alters . 64 

*Der  Felsendom  des  Kubbet  es  Sachrä  (Jerusalem).  Von 

C.  TU.  Alters . 65 

*Kaiphas’  Haus  in  Jerusalem.  Von  C.  TU.  Alters  .  .  66  v 

*Im  Frühstückszelt  von  Cook  &  Son.  Von  C.  TU.  Alters  67  -y 
*Photographische  Packträgerstudien  am  goldenen  Horn. 

Von  G.  TU.  Alters . 69 


(*  Die  Abbildungen  sind  dem  Werke  „Bakschisch“  von 
C.  W.  Allees  entnommen.) 


fBadevergnügen.  Von  M.  Fleischer.  Radirung  von 

TU.  Ziegler . Zu  S.  A9  V 

fVor  dem  Forum  der  Vernunft.  Originalradirung  von 

H.  Laukota . Zu  S.  72/ 

Kampf  des  Ritters  Georg  mit  dem  Drachen.  Gemälde 

von  Leonhard  Beck  (Kais.  Galerie  in  Wien) ....  77  V 

fDas  Ende  Babylons.  Ölgemälde  von  Georg  Roche- 
grosse.  Nach  einer  Photographie  von  Ad.  Braun  &  Co., 

Dörnach  .  • . Zu  S.54/55''/ 

*Pusztenkirche  zu  Szent-Kiraly . SS  g 

^Ungarische  Funde  aus  der  Bronzezeit .  v 

*Die  fünf  Hügel  (Öthalom)  bei  Glogoväcz  (Arader  Ko- 

mitat) . 85  V 

*Goldgefäße  aus  dem  Schatze  von  Nagy-Szent-Miklös  ,  88  V 

*Motiv  vom  Friedhofe  zu  Nagy-Körös . 89  / 

*Hauptplatz  von  Debreczin . 92  y 

(*  Aus  dem  Werke:  Die  österreichisch-ungarische  Monarchie 
in  Wort  und  Bild,  Wien  1888—1891.) 


fC.  V.  Groszheim.  Photogravüre  nach  einem  Gemälde 

von  C.  Siöving  von  Meisenbach,  Riffarth  und  Co.,  / 

Berlin . Zu  S.  96» 

tfZwei  Radirungen.  Von  J.  TU.  v.  Goethe  .  .  Zu  S.  97  ^ 
Sterbender  Christus.  Marmorrelief  von  M.  Antokolskg. 

Holzschnitt  von  Th.  Knesing . 100  p 

Mephisto.  Bronze  von  M.  Antokolskg.  Holzschnitt  von 

Th.  Knesing . 101  v 

Spinoza.  Marmorstatue  von  M.  Antokolskg.  Holz¬ 
schnitt  von  Th.  Knesing . 105 

Die  Madonna  an  der  Treppe.  Marmorrelief  von  Michel¬ 
angelo  . 108 1 

Madonnenrelief.  Nach  einem  Gipsabguss . 109 

Aus  einer  heiligen  Familie.  Federzeichnung  von  Baccio 

Bandinelli . 110 

^Römischer  Sarkophag  aus  Augusteischer  Zeit,  früher 
im  Garten  des  deutschen  Botschaftshotels  in  Rom  .  112 

*Athenastatuette . 112 

*Erzstatue  aus  Kyzikos . 113 

*Sklave.  Von  einer  Grabgruppe  in  Tarent . 113 

*Tanzende  Mänade . 113 

*Weihrelief  an  die  Göttermutter.  Aus  dem  Piräus.  .  113- 

*Antinous . 114 

*Jünglingskopf . 114 


INHALTSVERZEICHNIS. 


V 


Seite 


*Sepulcrales  W eihrelief.  Der  heroisirte  V erstorbene  wird 

von  Familiengenossen  verehrt . 114 

(*  Aus  dem  Werke:  Kgl.  Museen  in  Berlin:  Beschreibung  der 
antiken  Skulpturen.  Berlin,  W.  Sfemann,  1891.) 

Pieta  im  Magdeburger  Dom.  Holzschnitt  von  B.  Bcr- 

iJiold . 115  » 

fldylle.  Originalradirung  von  Ä.  Frenx.  (Aus  den 
Originalradirungen  des  Künstl^'klubs  St.  Lucas. 

Düsseldorf,  H.  1) . Zu  S.  120*' 

Die  Kreuztragung  Christi.  Vom  Tiefenbronner  Altar, 

von  H.  Schühlein . 122 p 

Die  Grablegung  Christi.  Vom  Tiefenbronner  Altar,  von 

H.  Schühlein . 124 1 

Frauengruppe  auf  der  Kreuzigung  des  Hofer  Altar¬ 
werkes.  Von  d/.  ]Vohlgcinnth . 125 

SS.  Florian,  Johannes  und  Sebastian.  Vom  Mickhauser 
Altar,  von  Barth.  Zeithlom.  Holzschnitt  von  Kacsc- 

herg  und  Oertcl . 12(3 

Papst  Gregor,  St.  Johannes,  St.  Augustinus.  Vom  Mick¬ 
hauser  Altar,  von  Barth.  Zeithlom.  Holzschnitt  von 

Kaeseberg  und  Ocrtcl . 128 

Blick  auf  Tiefenbronn . 144  ■ 

•fBildnis  eines  Mannes.  Non  Rubens.  Holztiefstich  von 

IF.  Miller  in  New-York . Zu  S.  129  . 

Conrad  Ferdinand  Meyer  von  Zürich.  Von  K.  Stauffer- 

Bcrn . 132 

Karl  Stauffer  -  Bern.  Selbstbildnis.  Heliogravüre  der 

Eeichsdruckerei . Zu  S.  134 

Vom  Hasenhaus  in  Wien . S.  134,  135  u.  137  j 

Maximilian  I.  und  sein  Kreis.  Mittelgruppe  in  Berger’ s 

Deckenbild . 145 

Die  Mäcene  der  bildenden  Künste  im  Hause  Habsburg. 
Deckenbild  von  Julius  Berger  im  Kunsthistorischen 

Hofmuseum  zu  Wien . 146  , 

Karl  V.  und  Tizian.  Aus  Bergers  Deckenbild  .  .  .  148 
Job.  Bernh.  Fischer  v.  Erlach  und  Daniel  Gran.  Desgl.  149  ^ 
Jacob  Prandauer,  der  Erbauer  von  Mölk.  Desgl.  .  .  150 . 

Kalksteinbüste  einer  urbinatischen  Prinzessin.  Von 

Desiderio  da  Settignano . 152  • 

Die  Stäupung  Christi.  Marmorrelief  von  Donatello  .  .  153  , 

Madonna  mit  dem  Kinde.  Marmorrelief  von  Donatello, 

Holzschnitt  von  Kaeseberg  und  Oertel . 154» 

Johannes  der  Täufer.  Bronzestatuette  von  Do)iatello, 

Holzschnitt  von  R.  Jericke . 155 

Plakette  aus  dem  Königl.  Museum  in  Berlin,  Holz¬ 
schnitt  von  Kaeseberg  und  Oertcl . 168y 

fGiovannino.  Büste  von  Donatello.  Radirung  von  Alb. 

Krüger . Zu  S.  151’/ 

Die  beiden  Becher  von  Vaphio . 157 

Der  Kampf  um  die  Stadt.  Gefäßfragment  aus  Mykenae  158 
Europa  auf  dem  Stier.  Metope  aus  Selinunt  ....  159 

Hera  und  Hermes.  Metope  aus  Selinunt . 160  i 

Venus  mit  Tauhe.  Aus  der  Sammlung  Carapanos  .  .  161 

Kopf  der  Hera.  Aus  dem  Heraion  in  Argos  ....  162 

Kopf  des  Anakreon . 186 

Sarkophag  aus  Saida  in  Konstantinopel . 187 


Relief  des  sog.  Alexander -Sarkophags  aus  Saida  in 
Konstantinopel,  Holzschnitt  von  A.  \V.  F.  Müller .  .  188  '■ 
Aphrodite,  Bronze  der  Sammlung  Tyszkiewicz  zu  Paris  189 1 

Der  betende  Knabe.  Neue  Ergänzung . 190, 

jTh.  Rousseau.  Herbstlandschaft.  Heliogravüre  von 

Fr.  Hanfstängl  in  München . Zu  S.  168^ 

Anbetung  der  Hirten.  Von  Carlo  Crivelli.  Holzschnitt 
von  R.  Berthold . 172'« 


Seite 


Madonna  mit  dem  Christuskind.  Von  Rocco  Mareoni, 

Holzschnitt  von  R.  Berthold . 173. 

Vanitas.  Von  Simon  Marmiou,  Holzschnitt  von  R.  Ber¬ 
thold  . T7() 

Männliches  Porträt.  Von  Hans  Baidung . 177^ 

Giovannino.  Marmorstatue  des  Berliner  Museums,  Holz¬ 
schnitt  von  R.  Berthold . 181  ■ 

f  Winter  am  See.  Original  -  Radirung  von  V.  Olggag- 

iMatirko . Zu  S.  169 

f  Am  Niederrhein.  Originalradirung  von  Prof.  Th.  Hagen. 

(Aus  dem  Heft  des  Radirvereins  zu  Weimar  1892.)  Zu  S.  192 

*Gemalter  Jünglingskopf . 194 

**Grabstele  der  Myrtia . 195 

**Mann  und  Kind . 195 

*Meneas  und  Menekrateia . 196 

**Grabrelief  der  Hegeso . 197 

**Der  Schuster  Xanthippus . 197 

*Mynno  mit  der  Spindel . 198 

*Stele  aus  Karystos . 198, 

**Demokleides  auf  dem  Schilfe . 199 

*Stele  mit  Sirene . 198 

**Naiskos  der  Melitta . 200 

**Grabrelief  des  Dexileos . 201 

**Glaukias  und  Eubule . 202 

**Hohe  Stele  der  Artemisia . 202 

*  Aristoteles  und  Sogenes . 198 

**Grablekythos  und  Lutrophoros . 203 


-j-**p’i-au,  der  ein  Kind  gebracht  wird.  Heliogravüre. 

Zu  S.  193 


*Thraseas  und  Euandria . 

*=i=Demetria  und  Pamjihile . 

f  **Grabrelief  vom  Dipylon  in  Athen.  Radirung.  Zu  S. 
*Grabstele  aus  Smyrna . 

*  Kleinasiatische  Grabstele . 

**Stele  in  Leiden . 

**Prokles  und  Prokleides . 

*Grabstein  aus  Rhenaia . 

**Besuch  bei  der  kranken  Tochter.  (Nach  einer  Photo¬ 
graphie  aus  dem  Apparat  der  Att.  Grabreliefs.) 
Holzschnitt  von  A.  Fels . 

*  Aus  dem  Katalog  der  antiken  Skulpturen  des  kgl.  Mu¬ 
seums  zu  Berlin.  Berlin,  W.  Spemann,  1891. 

**■  Aus  dem  Werke:  Die  Attischen  Grabreliefs,  heraus¬ 
gegeben  von  A.  CoNZE.  Berlin,  W.  Spemann,  1890/92. 
Porträt  von  Ch.  Et.  Jordan.  Von  A.  Pesne.  Holz¬ 
schnitt  von  R.  Berthold . 

Graf  Gustav  Adolf  von  Götter  und  seine  Nichte.  Von 

A.  Pesne . 

Die  Tänzerin  Barbarina.  Von  A.  Pesne.  Holzschnitt 

von  R.  Berthold . 

f  *Die  Tänzerin  Raggiani.  Gemälde  von  A.  Pesne.  Licht¬ 
druck  von  A.  Frisch . Zu  S. 

*  Aus:  Friedrich  der  Grosse  und  die  französische  Malerei 
seiner  Zeit.  Von  Da.  P.  Seidel.  Verlag  von  A.  Frisch, 
Berlin. 

Stillleben.  Gemälde  von  A.  Dubuisson . 

'j'Marmorpalais.  (Aus  dem  Prachtwerk:  Potsdam,  ein 
deutscher  Fürstensitz.  Verlag  von  Amsler  da  Rut- 

hardt  in  Berlin . Zu  S. 

fSchloss  zu  Offenbach.  Detail  der  Südfront.  (Nach 
K.  E.  0.  Fritsch;  Denkmäler  deutscher  Renaissance.) 

Zu  S. 

Merian;  Oö'enbach.  (Aus  der  Topogr.  Hassiae  1646)  . 
Ansicht  der  Südseite  des  Schlosses  zu  Offenbach.  (Aus 
Ortwein:  Deutsche  Renaissance) . 


232 

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VI 


IN  HALTS  VERZEICHNIS. 


Seite 

Kämpferstein  am  Schlosse  in  Offenbach.  Holzschnitt 


von  H.  Voigt . 219 

*rortal  am  östlichen  Treppenturm  im  Schlosse  zu  Offen¬ 
bach  . 220 

*Wende]stiege  im  Schlosse  zu  Offenbach . 221 

*f]rker  an  der  Nordseite  des  Schlosses  zu  Off'enbach  .  222 

*  Aus  Schäfer  ,  Kunstdenkmäler  des  Kreises  Offenbach. 
Damstadt,  Verlag  von  A.  Bergsträsser. 

Erker  am  Schlosse  zu  Oflenbach.  Holzschnitt  von 
H.  Voigt . 224 


f^l.  Dürer.  Madonna  mit  dem  Zeisig.  Heliogravüre. 

(Von  der  Photographischen  Gesellschaft  in  Berlin). 

Zu  S.  225 

Christusknahe.  Zeichnung  von  A.  Dürer  in  der  Kunst¬ 
halle  zu  Bremen . 226 

Weiblicher  Kopf.  Zeichnung  von  A.  Dürer  in  der 

Albertina  zu  Wien . 228 

A.  Altdorfer:  Die  Geburt  Mariä  (Kgl.  Gemäldegalerie 
Augsburg).  Nach  einer  Photographie  des  Hofphoto¬ 
graphen  Höfe  in  Augsburg . 240 

Vignette  von  Probst  in  Stuttgart . 248 

fGerhard  Hauptmann.  Von  ]\lax  lAehermann.  Helio¬ 
gravüre  . Zu  S.  249 


Seite 

Max  Liebermann.  Pastellbild  von  Fr.  v.  Ulide  .  .  .  249  , 
Handzeichnungen  von  Max  Liebermann  251,  253,  255, 

256,  280,  281,  287  ■ 

fim  Garten.  Von  Alax  Liebe?’mann.  Radirung  von 

A.  Krüger . Zu  S.  256 

fln  den  Dünen.  Gemälde  von  Max  Liebermann.  Ra¬ 
dirung  von  W.  Unger . Zu  S.  278  i, 

f Kuhmagd  auf  der  Waldwiese.  Originalradirung  von 

Max  Liebermann . Zu  S.  285  4' 

fKühe  auf  der  W  ei  de.  Handzeichnung  von  Max  Lieber - 

•mann . Zu  S.  285  i 

W.  A.  Bouguereau .  257  , 

Die  Weintraube.  Von  W.  A.  Bougtiereau . 258 

Die  trostreiche  Maria.  Gemälde  von  TV  A.  Bouguereau. 

Holzschnitt  von  Brend'amour  <S;  Co . 259 

Allerseelen.  Von  W.  A.  Bouguereau .  260  ^ 

fAmor  und  Psyche.  Gemälde  von  IF.  A.  Bouguereau. 

Radirung  von  IF.  TVörnle . Zu  S.  257 

Plakat  und  Vignette.  Von  Cher  et .  267,  268 

Kopfleiste  von  A.  Laekner  . . 271 

Rekonstruktionsstudie  zum  Pantheon  in  Rom  ....  273 
Ober  Wandausbildung  vom  Pantheon  in  Rom  ....  277 


Wh'.KIN  FlfF  IRlGIN/il  ^ ',1  ilF,  i  ■  G'NG  T  U  .1;R.,1N  B.Fi:;clu;r 


Viuceuzo  Ve!a. 


VINCENZO  VELA. 

VON  JULIUS  GAROTTI. 


S  niag  wenig  moderne  Künst¬ 
ler  geben,  deren  künstlerische 
Entwickelimg  zu  beobachten 
so  anziehend  wäre,  wie  die 
des  Bildhauers  Viiicenzo  Vela 
aus  Ligornetto,  der  während 
eines  Zeitraumes  von  fast  40 
Jahren  an  der  Spitze  einer 
neuen  Schule  der  Bildnerei  in  Oberitalien  stand. 
Er  bezeichnet  einen  Wendepunkt  in  der  modernen 
italienischen  Sculptur,  war  der  Träger  einer  neuen 
Bewegung  und,  obwohl  nicht  völlig  unbeeinflusst 
von  anderen  Künstlern,  eine  durchaus  selbständige 
Natur,  ein  Pfadfinder,  der  wieder  bei  der  uralten 
Lehrmeisterin  Natur  in  die  Schule  ging,  statt  sie  durch 
das  Medium  vergangener  Kunstübung,  die  allmählich 
konventionelle  Formen  angenommen  hat,  zu  sehen. 

Vincenzo  Vela  wurde  im  Jahre  1822  in  Ligor¬ 
netto  im  Kanton  Tessin  zwischen  Como  und  Lugano 
als  Sohn  arbeitsamer  und  ehrlicher  Eltern  geboren. 
Die  bescheidenen  Lebensformen,  in  denen  seine  frü¬ 
heste  Jugend  sich  bewegte,  nötigten  ihn,  schon  mit 
zwölf  Jahren  als  Lehrling  eines  Steinmetzen  in  der 


Nähe  von  Besazio  seine  Laufbahn  zu  beginnen.  Das 
Leben  in  den  Werkstätten  von  Besazio  war  hart  und 
eintönig;  bei  der  handwerksmäßigen  Beschäftigung 
schweifte  die  Phantasie  des  Knaben  ungehindert,  und 
er  träumte  sich  mit  Vorliebe  nach  Mailand,  wo  ein 
älterer  Bruder  von  ihm,  Lorenzo,  der  Austührung 
dekorativer  Statuen  oblag*).  Diese  angenehme,  oft 
wiederholte  Träumerei  gewann  immer  mehr  Gewalt 
über  das  sehnsüchtige  Gemüt  des  Knaben  und  be¬ 
herrschte  ihn  bald  so,  dass  der  Drang  in  die  Ferne 
unwiderstehlich  in  ihm  wurde.  Auch  seine  Eltern 
und  sein  Bruder  wurden  davon  ergriffen,  und  eines 
schönen  Flerbsttages  brachte  Lorenzo  uuseru  jungen 
Vincenzo  nach  Mailand.  Dort  gab  er  ihn  zu  einem 
gewissen  Franzi,  dessen  Gewölbe  sich  am  Dom  be¬ 
fand,  und  dessen  Thätigkeit  im  Ausführen  dekora¬ 
tiver  Skulpturen  bestand. 

Nun  durfte  Vincenzo  nicht  nur  den  harten 
undankbaren  Stein,  sondern  auch  den  glänzenden 


1)  Lorenzo  Vela  erwarb  sich  einen  guten  Namen  als 
Dekorationsplastiker;  er  wurde  Professor  an  der  Brera,  wo  er 
bis  vor  kurzem  tbätig  war. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


1 


0 


VINCENZO  VELA. 


Marmor  bearbeiten,  und  es  währte  nicht  lange,  so 
bestieg  er  den  Dom  mit,  wenn  neue  Stücke  aufge- 
stellt  oder  die  unaufhörlichen  Reparaturen  ausgeführt 
werden  sollten.  Da  saß  er  nun  in  einem  Walde  von 
Nadeln,  Giebeln,  Strebebogen,  Statuen  und  Statuetten, 
dessen  Durcheinander  ihn  fast  schwindlig  machte. 
Seine  Bestimmung  wachte  hier  leise  auf  und  machte 
sich  in  heißen  Wünschen  zunächst  nur  ihm  be- 
merklich.  Lorenzo  erbat  alsbald  von  dem  ehrsamen 
Meister  Franzi  für  seinen  Schützling  täglich  zwei 
Stunden,  um  ihn  in  die  Elementarklasse  der  Akademie 
einzureihen.  Dort  machte  er  ungewöhnlich  rasche 
Fortschritte,  die  \^eranlassung  gaben,  dass  er  einen 
neuen  Lehrmeister  erhielt,  Cacdatori,  bei  dem  er  als 
Hilfsarbeiter  sich  etwas  erwerben  konnte.  Freilich 
war  der  Lohn  anfangs  nur  karg  und  Lorenzo  musste 
für  seinen  Bruder  noch  andere  Beschäftigung  aus¬ 
findig  machen.  So  saß  Vincenzo  oft  bis  spät  in  die 
Nacht  hinein  beim  Modelliren  und  formte  Leuchter, 
Kelche  und  anderes  Gerät  für  Goldarbeiter. 

An  der  Akademie  durcheilte  der  angehende 
Künstler  rasch  die  Zeichen-  und  die  Aktklasse  und 
wurde  Schüler  von  Sahatelli,  dessen  Aufmerksam¬ 
keit  er  früh  erregte.  Vincenzo  war,  was  unter  Bild¬ 
hauern  nicht  allzu  häufig  ist,  ein  leidenschaftlicher 
und  vorzüglicher  Zeichner,  besonders  des  Nackten, 
und  Sabatelli  war  von  seinen  Leistungen  so  befrie¬ 
digt,  dass  er  ein  kleines  Wortspiel:  U  nostro  Vcia 
f(trn  nla  mit  sanftem  Lächeln  gern  zu  wiederholen 
]. Hegte. 

Endlich  rückte  A’ela  in  die  Bildhauerklasse  auf 
und  wurde  nun  Schüler  des  Mannes,  bei  dem  er  schon 
als  niarmista  tagsüberarbeitete:  Benedetto Cacciatori. 

Cacciatori  war,  wie  die  ganze  Bildhauerschule 
der  Brera,  wie  ganz  Mailand,  wie  die  ganze  Lom¬ 
bardei  in  der  jtseudoklassischen  Manier  befangen,  die 
in  (.'aiiova  iliren  Meister  und  ihr  Muster  sah.  Seiner 
zarten  (ilätte  strebten  sie  nach,  aber  wie  es  deuNach- 
eife-rern  geht:  vom  Geiste,  von  der  Seele  des  Meisters 
war  ihnen  niclit  viel  zu  teil  geworden.  Eine  gewisse 
Würde  pind  inülisam  erzwungene  Größe  Avar  der 
Kunst  der  Cacciatori  etc.  eigen;  aber  sie  ließ  kalt, 
war  gesucht,  im  1  lerkihnmlichen  erstarrt. 

tthwohl  Schüler  der  Brera,  Avar  Vela  doch  noch 
als  .sogenannter  srnljitirni'i  im  Atelier  des  Cacciatori 
tliätig;  ilieser  hatti;  viel  Aufträge  und  beschäftigte 
eine  ganze  Beihe  Hilfsarbeiter,  unter  denen  aber  nur 
sehr  selten  Avirkliche  Künstler  Avaren. 

Da.s  System  der  alten  Künstler,  in  ihre  Ateliers 
eine  Leihe  Schüler  aurziinehmen,  die  den  größten  Teil 
tler  bestellten  Werke  im  Sinne  ihre.«  Oberhaupts  aus¬ 


führen  und  vollenden  halfen,  hat  sich  bis  zum  heu¬ 
tigen  Tage  in  den  Bildhauerwerkstätten  von  Ruf  er¬ 
halten,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  die  meisten 
der  Hilfsarbeiter  sich  von  einem  Atelier  zum  andern 
wenden,  um  Arbeit  zu  suchen.  So  gingen  viele  be¬ 
rühmte  Werke  aus  den  Ateliers  von  Pacetti,  Caccia¬ 
tori,  Marchesi,  Tantardini  u.  s.  w.  hervor  und  gehen 
noch  heute  unter  dem  Namen  des  Meisters,  obvvohl 
dieser  nur  das  Modell  fertigte,  manchmal  auch  nur 
die  Skizze  dazu  lieferte.  Vielfach  spielt  die  Geld¬ 
frage  eine  Rolle  dabei,  noch  häufiger  jedoch  sind 
Lässigkeit  und  Gleichgültigkeit  die  Ur.sachen  davon. 
Diese  Hilfsarbeiter  nun  zerfallen  in  zAvei  Gruppen: 
die  Modelleure,  d.  h.  diejenigen,  die  Avirklich  das 
plastische  Werk  ausführen,  entweder  nach  der  Skizze 
oder  nach  einem  oberflächlichen  Gesamtentwurfe,  und 
die  Marmortechniker,  die  das  Gipswerk  in  Stein  über¬ 
setzen.  Die  letztgenannten,  vornehmlich  aus  der 
Lombardei,  sind  häufig  wahre  Virtuosen,  von  ganz  er¬ 
staunlicher  Handgeschicklichkeit.  Sie  vollenden  das 
Kunstwerk  oft  bis  auf  den  letzten  Schliff,  so  dass  der 
Meister  es  nicht  einmal  mehr  nötig  hat,  den  Meißel 
anzusetzen,  um  es  eigenhändig  zu  übergehen. 

Im  Atelier  Cacciatori’s  Avar  Felix  Figini  der  be¬ 
deutendste  unter  den  Modelleuren,  der  junge  Vin- 
ceuz  Vela  dagegen  der  erste  unter  den  Ausführenden. 
Figini  hat  kein  Werk  hinterlassen,  das  ihm  mit 
Sicherheit  zugeschrieben  werden  könnte,  außer  viel¬ 
leicht  eine  Fontäne,  die  sich  in  Wien  in  einem 
fürstlichen  Hause  befindet.  Doch  Avürde  es  wohl 
möglich  sein,  einige  Werke  seiner  Hand  nachzu- 
Av eisen;  indessen  dies  zu  untersuchen,  fällt  außerhalb 
des  Rahmens  dieser  Arbeit.  Ich  möchte  nur  bei 
dieser  Gelegenheit  an  den  bescheidenen  und  halbver¬ 
gessenen  Künstler  erinnern,  der  einer  der  ersten 
Veristen  und  Neuerer  war;  Cacciatori  hatte  große 
Mühe,  ihn  in  seinem  Fahrwasser  zu  erhalten.  Figini 
übte  den  mächtigsten  Einfluss  auf  Vincenzo  Vela, 
der  seiner  Natur  und  Begabung  nach  berufen  war, 
ähnliche,  neue  Bahnen  einzuschlagen.  Schon  wäh¬ 
rend  seiner  Hilfsthätigkeit  machte  sich  dies  sehr  be- 
merklich ,  denn  Cacciatori  beklagte  sich  oft  mit 
sanften  Vorwürfen  über  seines  Schülers  Eigenmäch¬ 
tigkeit:  Sie  zerstören  mir  die  schönen  Falten;  sie 
maclien  mir  die  Augen  zu  klein;  ich  hatte  sie  ganz 
gross  gemacht,  um  ihnen  mehr  Stil  zu  geben“. 

Die  eigentümliche  Begabung  Vela’s,  seine  Er¬ 
findungskraft  und  künstlerische  Selbständigkeit  zeigte 
sich  besonders  in  den  beiden  letzten  Arbeiten,  die  er 
als  Schüler  der  Brera  für  die  akademischen  Wett- 
bewerl>ungeu  schuf.  Es  Avaren  zwei  Flachreliefs. 


VINCENZO  VELA. 


3 


Das  eine  behandelte  die  Episode  von  der  Rückkehr 
des  Odyssens  nach  Ithaka,  als  ihn  die  Amme  wieder- 
erkennt  und  er  sie  durch  eine  gewaltsame  Bewegung 
zum  Schweigen  bringt.  Unserm  jungen  Künstler 
widerstrebte  die  homerische  Heftigkeit  des  Odyssens, 
der  nach  dem  Dichter  die  Amme  bei  der  Gurgel  packt, 
um  ihr  Freudengeschrei  zu  ersticken.  Er  zog  es  vor, 
den  Vorgang  so  darzustellen,  dass  Odysseus,  während 
Penelope  abgewandt  steht,  den  Finger  auf  die  Lippen 
der  Amme  legt  mit  einer  Bewegung,  als  wolle  er 
sagen:  Schweige!  willst  du  mich  verderben? 

Sabatelli,  die  Absicht  des  Künstlers  erratend, 
floss  von  Lob  über,  aber  Cacciatori  schüttelte  den 
Kopf  und  hielt  dem  Vincenzo  eine  lange  Predigt. 

Das  zweite  Relief  war  für  den  Wettbewerb  aller 
Akademieen  des  lombardisch-venezianischen  König- 
reichs  bestimmt;  alle  Arbeiten  sollten  in  Venedig 
vereinigt  und  beurteilt  werden.  Die  Aufgabe  war: 
Die  Erweckung  der  Tochter  des  Jairus.  Als  Vela 
sein  Modell  beendigt  hatte,  bat  er  seinen  Lehrer 
Cacciatori,  es  zu  prüfen;  aber  dieser  bemängelte  die 
Komposition  von  Grund  aus,  und  der  arme  Vela,  der 
gesucht  hatte,  die  vollste  Empfindung  zum  Ausdruck 
zu  bringen,  konnte  die  Thränen  der  Enttäuschung 
nicht  zurückhalten.  Mit  noch  größerer  Ängstlichkeit 
bat  er  alsdann  den  Professor  Cacciatori,  das  fertige 
Marraorrelief  zu  besichtigen.  In  den  letzten  Jahren 
liebte  es  Vela,  von  dieser  Episode  zu  erzählen.  Er 
erinnerte  sich  gern  daran,  dass  Cacciatori  lange  schwei¬ 
gend  das  Werk  betrachtete  und  dann  sich  wegwandte, 
um  nach  der  Thür  zu  gehen.  Dort  erst  sagte  er, 
zwischen  den  Zähnen  murmelnd:  „Wenn  diese  Arbeit 
nach  meinen  Ideen  beurteilt  wird,  taugt  sie  nichts  — 
wenn  sie  nach  denen  anderer  geprüft  wird,  ist  sie 
ein  Meisterwerk.“  Damit  ging  er.  Vela  pflegte  noch 
hinzuzufügen,  dass  ihn  nur  die  Ehrfurcht  vor  der  Pro¬ 
fessorenwürde  seines  Lehrers  damals  abgehalten  habe, 
ihm  nachzulaufen  und  um  den  Hals  zu  fallen.  Die 
Äußerung  Cacciatori’s  zeugt  von  seiner  Aufrichtigkeit 
und  seinem  trefFlichen  Charakter.  Er  musste  geahnt 
haben,  dass  hier  etwas  geleistet  war,  was  außerhalb 
seiner  Sphäre  lag  und  was  er  dennoch  zu  loben  sich 
nicht  entbrechen  konnte.  Mit  dieser  abgedrungenen 
widerwilligen  Anerkennung  war  das  Verhältnis  von 
Lehrer  und  Schüler  innerlich  aufgehoben;  und  bald 
war  dies  auch  äußerlich  der  Fall,  denn  Vela  gewann 
den  großen  Preis  und  war  ein  fertiger  Künstler  von 
achtzehn  Jahren. 


Um  diese  Zeit  war  es,  dass  Vela  einen  mächtigen 
künstlerischen  Eindruck  empfing,  der  seinem  Streben, 
das  bisher  nur  Tasten  war,  bestimmte  Richtung  gab. 
Lorenzo  Bartolini  hatte  einige  Jahre  vorher,  1830, 
eine  Statue  nach  Mailand  für  Donna  Rosa  Trivulzio 
gesandt,  die  noch  im  Museum  Poldi  Pezzoli  sichtbar 
ist  und  auch  heute  auf  den  Beschauer  ihren  lebhaften 
Reiz  ausübt:  La  fiducia  in  Dio.  Vela  hatte  dumpf 
einen  Gegensatz  gefühlt  zwischen  sich  und  seiner 
Umgebung.  Der  Anblick  dieses  Werkes  erhellte  wie 
ein  Blitz  sein  Inneres  und  zeichnete  ihm  seine  Bahn 
unauslöschlich  vor.  So  mächtig  Avar  der  Eindruck 
dieses  Werkes,  in  dem  sich  tiefe  Empfindung  mit  der 
Wahrhaftigkeit  reiner  Formen  paarte. 

Aber  es  war  Vela’s  Absicht  nicht,  die  Art  an¬ 
derer  und  auch  die  Bartolini’s  nicht,  nachzuahmen. 
Sein  Bildwerk  gab  nur  einen  Ausgangspunkt  für 
ihn  ab  und  zeigte  ihm,  welche  Ziele  er  zu  verfolgen 
hatte.  Bartolini  suchte  das  Schöne  in  der  Wirklich¬ 
keit  auf,  Vincenzo  Vela  zog  vor,  seine  eignen  Ideen 
und  Empfindungen  zu  verkörpern  und  sie  mit  Walir- 
heit,  Schönheit  und  Einfachheit  zu  verbinden,  sowie 
die  Natur  sich  darbietet,  ohne  puristisch  zu  sein.  Und 
diese  unbefangene  Interpretation  der  Natur,  seiner 
Natur  verlieh  seiner  Kunst  das  Persönliche.  Seine 
Maxime  Avar,  ein  Künstler  müsse,  um  Eigenes,  Per¬ 
sönliches  zu  schaffen,  vor  allem  den  Stoff  in  sich 
ganz  auflösen,  im  Feuer  des  schöpferischen  Willens 
flüssig  machen,  ehe  er  ihn  in  die  rechte  Form 
bringen  könne. 

Das  erste  Werk,  das  Vela  als  beglaubigter 
Künstler  hervorbrachte,  Avar  die  Statue  des  Bischofs 
Luini,  die  er  für  den  Palast  der  scliAveizerischen  Re¬ 
gierung  in  Lugano  auszuführen  hatte.  Er  erhielt 
dafür  650  Franken,  und  es  genügte,  das  Werk  in  be¬ 
scheidenem  Material,  Kalkstein  von  Viggia,  auszu¬ 
führen.  Hier  traf  Vela  bei  aller  Besonderheit  das 
Einfache  und  Wahre.  Das  ganze  kunstverständige 
Mailand  kam,  um  seine  Studie  zu  sehen,  wie  Fraiu/ois 
Hajiez  in  seinen  Memoiren  erzählt  ■).  Der  Herzog 
Litta  gab  ihm  hierauf  (1846)  den  Auftrag  zu  einem 
Werke  „Das  Morgengebet“ ;  die  Wahl  der  Aufgabe 
zeigt,  wie  sehr  der  Romanticismus  noch  herrschte  und 
in  welchem  Gegensätze  Vela  sich  mit  den  landläu¬ 
figen  Anschauungen  befand.  Er  bildete  eine  zarte 
und  anmutige  knieende  Mädchengestalt,  hervor¬ 
ragend  durch  den  Ausdruck  tiefer  Andacht  und  Er¬ 
gebung.  Bald  danach  entstand  eine  Genrefigur,  „Der 


1)  Veröffentlicht  von  Dr.  Carotti  in  Mailand  1890  bei 
Bernardoni-Rebeschini. 


1 


Spartacus.  Von  Vikcenzo  Vela. 


VINCENZO  VELA. 


5 


erste  Kummer"  betitelt,  eine  junge  Bäuerin,  die  ihre 
verwundete  Katze  auf  den  Knieen  hält.  Der  gesenkte 
Kopf,  der  ins  Weite  sich  verlierende  Blick  sind  schon 
sprechend  genug  für  die  Szene.  Der  Künstler  hat 
in  beiden  Vorwürfen  nach  größter  Naturwahrlieit 
gestrebt  und  ließ  selbst  die  kleinsten  Einzelheiten 
nicht  außer  acht. 

Kleine  Züge,  wie 
der,  den  Druck 


einer 


engen 


Schnur  auf  der 
Brust  der  Betenden 
kenntlich  zu  ma¬ 
chen,  beweisen  dies. 

Die  neue  Richt¬ 
ung,  mit  der  fast 
ganz  Mailand  im 
Widerspruch  war, 
weckte  natürlich 
auch  Gegnerschaft. 
Man  warf  dem 
Künstler  vor,  er 
vermeide  die  Dar¬ 
stellung  des  Nack¬ 
ten  ,  weil  er  sich 
ihr  nicht  gewach¬ 
sen  fühlte.  Vin- 
cenzo  nahm  sich 
vor,  die  rechte  Ant¬ 
wort  darauf  zu  ge¬ 
ben.  Er  zog  nach 
Rom,  besuchte  un¬ 
terwegs  Livorno, 
wo  er  die  gewaltige 
Sklavengruppe  des 
Pietro  Tacca  be¬ 
wunderte.  Bei  der 
Betrachtung  dieses 


Werkes  kam  ihm 
der  Gedanke  zu 
einem  Spartacus, 
den  er  sogleich  be¬ 
gann,  als  er  in  Rom 
eintraf.  Es  braucht 
kaum  gesagt  zu 

werden,  dass  die  Eindrücke,  die  er  in  Rom  gewann, 
von  nachhaltiger  Wirkung  auf  ihn  waren;  dort 
sättigte  er  sich  mit  dem  Geiste  der  Antike  und  nahm 
so  viel  davon  auf,  wie  seiner  Natur  gemäß  war. 

Von  Rom  aus  sandte  Vincenzo  den  Gipsabguss 
des  Spartacus  nach  Mailand;  die  Ausführung  in  Mar¬ 


Columbus,  Gruppe  von  Vincenzo  Vela. 


mor  besorgte  er  erst  zwei  Jahre  später  für  den  Herzog 
Antonio  Litta.  Das  Werk  wurde  1851  in  der  Brera 
ausgestellt  und  der  Eindruck,  den  es  hervorbrachte, 
war  durchschlagend  und  wirkte  nicht  nur  in  der 
Lombardei,  sondern  in  ganz  Italien  fort.  Auch  für 
die  Weltausstellung  in  Paris  war  diese  Statue  ein 

Ereignis,  denn  noch 
nach  sieben  Jahren 
sprachen  die  fran¬ 
zösischen  Beur¬ 
teiler  der  Londoner 
Weltausstellung 
davon. 

Für  Mailand 
und  für  Oberitalien 
lirachte  der  Spar¬ 
tacus  Vela’s  eine 
Art  künstlerischer 
Umwälzung  her¬ 
vor;  dieser  Sparta¬ 
cus  erklärte  den 
feierlichen  mar¬ 
mornen  Patriziern 
Roms  den  Krieg 
und  pochte  trotzig 
auf  seineUr.sprüng- 
lichkeit.  Das  volle, 
quellende,  unüber¬ 
windliche  Leben 
schien  hier  in  den 
Marmor  hineinge¬ 
haucht  zu  sein,  was 
den  damaligen  Be¬ 
trachtern  wie  ein 
Wunder  vorkam 
Spartacus  machte 
als  erstei'  Sohn 
einer  neuen  Rich¬ 
tung  die  bisherige 
Skulptur  alt.  In 
der  Ausführung 
zeigte  Vela  auch 
seinen  eigenen 
Fortschritt,  denn 
hier  war  nicht  die 
reine  Wirklichkeit  mit  peinlicher  Genauigkeit  nachge¬ 
bildet,  sondern  statt  dessen  versucht,  die  ganze  Mo- 
dellirung,  Haltung  und  Bewegung  in  Bezug  zu 
dem  beseelenden  Gedanken  zu  bringen.  Vela  hatte  die 
Gedanken  und  Empfindungen  des  Spartacus  mitbilden 
wollen  und  dem  Ausdruck  zu  Liebe  gewisse  Verän- 


6 


AUGUST  NOACK. 


deruDgen  vorgenommei),  die  von  der  Naturwirklich¬ 
keit  ahweichen.  Er  bildete  den  oberen  Teil  der 
Brust  seines  Helden  mächtiger  und  entwickelter  als 
den  untern  des  Thorax  und  als  den  Unterleib,  der 
übermäßig  stark  zurücktritt.  Es  wäre  thöricht,  zu 
behaupten,  dass  der  Spartaciis  ein  vollkommenes 
Werk  sei.  Aber  die  Leidenschaftlichkeit  des  Ganzen, 
die  Wucht  der  Darstellung  des  beherrschenden  Ge¬ 
dankens  zeigen,  dass  Vela  schon  seiner  Sache  sicher 
war;  nur  dass  die  Parabel  seiner  künstlerischen  Bahn 
hier  erst  begann.  Denn  die  Sprünge  eines  Künstlers 
sind  nur  scheinbar,  sie  bilden  sich  alle  nach  und  nach 
und  seine  Werke  bezeichnen  nur  Punkte  eines  Wegs 
von  verschiedener  Höhe. 

Die  Marmorstatue  des  Spartacus  bildete  Vela 
in  kleinerem  Format  nach,  und  diese  Reduktion  ist 
sehr  weit  verbreitet  worden.  Das  Original  stand  auf 
der  großen  Treppe  des  Palastes  Litta  bis  zum  Jahre 
1874,  kam  hei  dem  Verkauf  aller  Kostbarkeiten  und 
Kunstwerke  des  Hauses  an  Hrn.  Von  der  Wies,  der 
sie  nach  Lugano  und  später  nach  Petersburg  in  seinen 
Palast  Imachte. 

Auf  dieselbe  oben  erwähnte  Ausstellung  der 
Brera  hatte  Vincenzo  Vela  noch  ein  anderes  Werk 
gebracht,  die  Darstellung  der  Betrübnis  für  das  Grab¬ 
denkmal  der  Familie  Oiani  in  Lugano.  Diese  Statue 
stammt  aus  dem  Jahre  18.51  (der  Spartacus  war  von 
1818)  und  bezeichnet  die  volle  Blüte  des  Talents 
unseres  Künstlers.  Eine  junge  Frau  mit  entblößter 
Brust  und  nackten  Armen  in  reicher,  weiter  Kleidung 
sitzt  mit  den  Ellenbogen  auf  den  Knieen,  das  Haupt 


zwischen  beiden  Händen,  mit  zerstreut  herumfallen¬ 
dem  Haar,  schlaffem  Munde  und  mit  trüben  glasigen 
Augen  ins  Weite  starrend  da,  ein  vollkommener  Aus¬ 
druck  der  Trostlosigkeit.  Ich  habe  das  Werk  oft 
in  Lugano  betrachtet,  aber  jedesmal,  wenn  ich  es 
wiedersehe  oder  mir  seine  Erscheinung  ins  Gedächtnis 
zurückrufe,  durchrinnt  mich  ein  leiser  Schauer,  so 
mächtig  ist  der  Eindruck  dieses  Kunstwerks.  Man 
erzählt  sich,  dass  Vela  nach  vielen  vergeblichen  Ver¬ 
suchen,  den  tiefsten  Schmerz  darzustellen,  zu  einem 
Kunstgriff  seine  Zuflucht  genommen  habe.  Er  war 
damals  noch  verlobt  mit  derjenigen,  die  später  die 
zärtlichste  und  würdigste  Gattin  für  ihn  werden 
sollte,  ein  Geschöpf  von  reiner  zarter  Seele,  wohl 
dazu  angethan,  solch  einen  Künstler  zu  verstehen 
und  anzufeuern.  Vincenzo  entschloss  sich  nach 
langem  Zögern  endlich  zu  folgendem  Gewaltstreich. 
Eines  Tags  stürmte  er  zu  ihr  unerwartet  ins  Zimmer 
mit  wildem  Ausdruck  und  rief  ihr  zu:  Es  ist  aus, 
wir  müssen  entsagen,  ich  kann  nicht  der  Deine  sein ! 
Das  arme  Mädchen  stand  wie  vom  Donner  gerührt 
in  tiefem  Schmerze  da.  Vela  hatte  genug  gesehen, 
eilte  weg  und  hatte  sein  Vorbild  gefunden. 

Ich  habe  Vela  bei  Lebzeiten  nie  fragen  mögen, 
ob  diese  Anekdote  wahr  ist,  und  auch  seine  Ver¬ 
wandten  nicht  um  Aufklärung  gebeten.  Es  scheint 
mir,  dass  die  Geschichte  erfunden  ist,  denn  ich  ver¬ 
mag  an  einen  so  grausamen  Versuch  mit  der  geliebten 
Person  nicht  zu  glauben.  Ist  sie  aber  erfunden,  so 
spricht  sie  deutlicher  als  alles  Lob  für  den  Wert 
des  Kunstwerks.  (Schluss  folgt). 


AUGUST  NOACK. 


ER  sich  der  Mühe  unterzieht, 
abseits  der  großen  Heer¬ 
straße,  auf  welcher  die 
Künstlerschaft  unserer  Tage 
dahintlutetundzu  demWelt- 
markte  der  Kunst,  den  gro¬ 
ßen  Ausstellungen  wallfahr¬ 
tet,  —  einen  Seitenpfad  ein¬ 
zuschlagen,  dem  wird  manch  ein  Idyll  bescheidener 
Zurückgezogenheit  und  künstlerischen  Stilllebens 
sich  erschließen,  wohl  wert  eines  aufmerksamen 
Blickes  in  dem  raschlebigen  Fluge  unserer  Zeit. 


Der  siebzigjährige  Geburtstag  des  Professors 
August  Noack  gieht  uns  Veranlassung,  dieses  Künstlers 
zu  gedenken,  welcher  nahezu  40  Jahre  in  seiner  Vater¬ 
stadt  Darmstadt  als  Historien-  und  Porträtmaler 
thätig  ist,  wenn  auch  unter  mancherlei  Entsagung, 
denn  Darmstadt  ist  keine  Kunststadt  und  ein  an¬ 
regendes  Kunstlehen  wird  ein  Künstler  dort  ver¬ 
gebens  suchen.  Hiervon  geben  Zeugnis  die  Namen 
vieler  Darmstädter  Künstler,  die  auf  Nimmerwieder¬ 
sehen  ihrer  Vaterstadt  den  Rücken  gekehrt  haben,  und 
anderwärts  reiche  Anerkennung  fanden,  wie  Paul  W  eher, 
Heinrich  Hofmann,  Raupp,  Löfftz,  Bracht  und  andere. 


AUGUST  NOACK. 


7 


Noack  erblickte  am  27.  September  1822  das 
Licht  der  Welt;  schon  in  früher  Jugend  regte  sich 
in  ihm  die  Lust  zum  Zeichnen  und  durch  den  Land¬ 
schafter  Liieas  Avard  ihm  der  Anfangsunterricht 
zu  teil. 

1839  —  1842 
studirte  Noack  zu 
Düsseldorf  als 
Schüler  von  Sohn, 

Lessing  und  Scha¬ 
de  w  und  zog  von 
hier  zum  Studium 
und  Erwerb  auf 
die  Wanderschaft. 

München  übte  da¬ 
mals  noch  mehr 
als  jetzt  eine  mäch¬ 
tige  Anziehungs¬ 
kraft  aus  und  so 
sehen  Avir  den 
jungen  Künstlermit 
gleich  strebenden 
Freunden  in  den 
.Jahren  1840 — 1849 
in  dieser  Kunst¬ 
hauptstadt  in  Amller 
Thätigkeit  zur  Avei- 
teren  Ausbildung. 

1849  ward  er  Schü¬ 
ler  der  Avieder  auf 
blühenden  Ant- 
werpener  Akade¬ 
mie,  bereiste  Bel¬ 
gien,  Holland  und 
Frankreich  und 
kehrte  über  Mün¬ 
chen  mit  reicher 
Ausbeute  an  Ko¬ 
pien  und  Stadien 
nach  Darmstadt  zu¬ 
rück,  Avoselbst  ihm 
1854  durch  den 
Großherzog  die  Er¬ 
nennung  zum  Hof-  Gethsemane, 

maler  zu  teil  wurde. 

Das  Jahr  1855  Avurde  in  Italien  verlebt;  hier  nahm 
Koack  in  der  Villa  Albani  zu  Rom  au  der  fünfzig¬ 
jährigen  Gedenkfeier  der  ersten  Romfahrt  LudAvigs 
von  Bayern  teil,  Avelcher  Begegnung  sich  der  König 
bei  einer  späteren  Anwesenheit  in  Darmstadt  erinnerte 
und  den  Kün.stler  in  seinem  Atelier  aufsuchte.  Im  De¬ 


zember  1855  schloss  Noack  den  Bund  der  Ehe  und 
erfreut  sich  noch  heute  des  glücklichen  Zusammen¬ 
lebens  mit  Frau  und  Kindern.  Es  folgte  nun  eine 
Zeit  reger  Arbeit,  zunächst  im  Dienste  des  kunst¬ 
liebenden  Großherzogs  LudAvig  HL,  AA'elcher  etAA^a 

zwölf  Jahre  lanfr 
Noack  ausschlie߬ 
lich  beschäftigte, 
bald  mit  Aufträgen 
liistorischer  Dar¬ 
stellungen  für 
Schenkungen  an 
Gemeinden,  Kir¬ 
chen  und  Private, 
l)ald  mit  Porträts 
fürstlicher  Perso¬ 
nen. 

Tn  das  .fahr 
1804  fällt  nach 
gewissenhaften 
Studien  die  Voll¬ 
endung  des  ersten 
großen  Historien¬ 
gemäldes:  „Das  Re- 
ligionsgespräcb  zu 
Marburg“,  jetzt  in 
derDarmstädter  Ge¬ 
mäldegalerie;  1808 
entstand  das  Bild 
zum  zweiten  Male, 
größer  und  teil- 
AA^eise  verändert, 
und  ist  jetzt  im 
Besitze  der  Stadt 
Marburg.  Ein  an¬ 
deres  Werk  aus 
dieser  Zeit  — 
Luther  in  Worms, 
von  Philipp  dem 
Großmütigen  be¬ 
sucht  —  befindet 
sich  in  der  Ro¬ 
stocker  Gemälde- 
Von  A.  No.\ck.  galerie. 

Inzwischen  ver¬ 
säumte  der  Künstler  nicht,  alljährlich  durch  den  Be¬ 
suchgrößerer  Ausstellungen  in  München,  Wien,  Berlin, 
Paris  und  durch  eine  zweite  italienische  Reise  weiter 
zu  lernen  und  erneute  Anregungen  zu  empfangen. 

1809  im  Schwabenlande  reisend,  entdeckte  er 
in  der  Stadtkirche  zu  Wimpfen  am  Neckar  unter 


Das  Slaiiuu'irev  U^‘HKiousf^osln■a^■h.  Von  A.  No.vi'K. 


AUGUST  NOACK. 


9 


Tünche  und  Farbe  die  ansehnlichen  Reste  eines 
großen,  acht  Meter  hohen  Wandgemäldes,  die  Dar¬ 
stellung  des  jüngsten  Gerichtes,  welches  Werk  im 
Laufe  dieses  und  des  nächsten  Jahres  unter  seiner 
Hand  zu  erneuter  Schönheit  entstand.  (Vgl-  Zeit¬ 
schrift  für  bildende  Kunst,  1871,  Heft  9.)  Die 
als  Gegenstück  zu  dem  „Jüngsten  Gericht“  kompo- 
nirte  „Bergpredigt“  ist  leider  nicht  zur  Ausführung 
gekommen.  1870  bezog  der  Künstler  ein  eigenes 
Haus  mit  großem  Atelierraum ;  es  erfolgte  seine  Er¬ 
nennung  zum  Professor  an  der  technischen  Hoch- 
schule  und  nun  begann  die  Hochflut  freudigen 
Schaffens  infolge  größerer  Aufträge  auf  dem  Gebiete 
der  religiösen  Historie.  Es  entstanden  für  die  Kirche 
sacre  coeur  zu  Santiago  in  Chile  zwei  große  Altar¬ 
bilder,  „Christus  am  Ölberg“  und  „Der  auferstan- 
dene  Christus“;  für  die  Friedhofskapelle  zu  Darm¬ 
stadt  „Der  auferstandene  Christus  am  Ostermorgen 
den  beiden  Marien  erscheinend“,  weiter  die  Bilder 
der  Reformatoren,  Entwürfe  für  Kirchenfenster  zu 
Darmstadt  und  Oppenheim  und  andere  Kompositionen 
dieser  Richtung.  Auf  dem  Gebiete  heiterer  Kunst  und 
der  Allegorie  wurden  dem  Meister  Aufträge  für  Decken¬ 
gemälde  zu  teil  in  verschiedenen  Villen  zu  Frank¬ 
furt  a/M.  und  dem  Schloss  Rosenhöhe  des  Prinzen 
Wilhelm  von  Hessen.  Leider  nicht  zur  Ausführung 
kamen  aus  Mangel  an  Geldmitteln  die  Kompositionen 
für  die  Decke  der  erneuerten  Kirche  zu  Gelnhausen. 
Eine  weitere  Rettung  vortrefflicher  Wandgemälde 
nahm  Noack  in  der  romanischen  Kirche  zu  Parten¬ 
heim  in  Rheinhessen  vor. 

Durch  Großherzog  Ludwig  IV.  und  seine  kunst¬ 
sinnige  Gemahlin  Alice  wurden  dem  Künstler  ver¬ 


schiedene  Aufträge  für  Familienbilder  und  Porträts 
zu  teil,  die  sich  im  Besitze  der  großherzoglichen 
Familie  und  der  Königin  von  England  befinden. 
Ein  großes  historisches  Bild  „Paulus  vor  dem  hohen 
Rat  in  Jerusalem“,  zu  welchem  die  umfassendsten 
Geschichts-  und  Kostümstudien  vorgenommen  wur¬ 
den,  befindet  sich  zur  Zeit  noch  im  Atelier,  seiner 
letzten  Vollendung  entgegensehend.  Auf  dem  Ge¬ 
biete  der  Porträtmalerei  erfreut  sich  Noack  in  wei¬ 
teren  Kreisen  ungeteilter  Anerkennung  und  manche 
seiner  Lieblingskorapositionen  musste  ihrer  Vollen¬ 
dung  harren  mit  Rücksicht  auf  die  Erledigung  fester 
Porträtaufträge. 

In  Friedrich  Bruckmann,  Hanfstaengl  und  Wis- 
cott  fand  der  Künstler  entgegenkommende  Verleger 
für  verschiedene  seiner  Werke  und  wenn  er  auch  an 
den  großen  Wettbewerben  und  Völkerfesten  der  Aus¬ 
stellungen  mit  Rücksicht  auf  den  für  eigenes  unbe¬ 
schränktes  Schaffen  weniger  günstigen  heimatlichen 
Boden  sich  nur  selten  beteiligen  konnte,  so  ist  ihm 
doch,  ferne  von  dem  Hasten  und  aufreibenden 
Schäften  großer  Kunstcentren,  eine  seltene  Schaffens¬ 
kraft  eigen  geblieben  bei  erfreulicher  Rüstigkeit  und 
der  warmen  Verehrung  seiner  Schüler  und  zahl¬ 
reichen  Bekannten,  einer  Verehrung,  die  begründet 
ist  in  der  liebenswürdigen  Bescheidenheit  und  Her¬ 
zensgüte  des  Künstlers  und  seiner  begeisterten  Hin¬ 
gebung  an  das  ihm  vorschwebende  Kunstideal,  ohne 
der  Mode  des  Tages  und  des  wechselnden  Zeitge¬ 
schmackes  zu  huldigen. 

Möchte  dem  greisen  Meister  der  Abend  des 
Lebens  von  heiterem  Sonnenlichte  noch  lange  ver¬ 
klärt  bleiben!  TH. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst. 


N.  F.  IV. 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCHUNG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


M  ein  richtiges  Urteil  über  das 
Schatfen  eines  Meisters  ah- 
zngeben,  ist  es  unerlässlich, 
alle  Umstände  seines  Lebens¬ 
laufes  zu  kennen.  Auf  den 
ensten  Blick  scheint  diese 
Behauptung  vielleicht  zu 
weitgehend;  allein  die  her¬ 
vorragendsten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Kunst¬ 
wissenschaft  bringen  sie  zu  stets  allgemeinerer  An¬ 
erkennung,  und  das  Werk,  dem  diese  Spalten  ge¬ 
widmet  sind,  mag  als  ihr  l)ester  Beweis  dienen  ’). 

AVir  haben  es  in  der  That  hier  mit  einem 
.Maler  zu  thun,  dessen  Jugendarbeiten  aus  dem  farb¬ 
losen  Boden  der  Schule  von  Antwerpen  erblühen, 
jener  Schule,  als  deren  letzte  Größe  Otto  Venius 
genannt  und  als  Genie  gefeiert  wird.  Dann  folgen 
acht  italienische  Wander-  und  Lehrjahre.  Rubens 
bringt  sie  niclit  in  dem  damals  in  künstlerischer  Be¬ 
ziehung  herabgekommenen  Rom,  sondern  größten¬ 
teils  in  Mantua  zu,  wo  der  strenge  Mantegna,  der 
kühne  Giulio  Romano  zu  ihm  sprechen,  wo  er  sich 
in  einem  und  demselben  Palast  an  den  Dichtungen 
der  größten  Koloristen  Italiens,  vor  allen  an  Tizian 
und  Correggio  l^egeistert,  während  im  nahen  Bologna 
die  neue  Richtung  bereits  ilir  siegreiches  Banner  ent¬ 
faltet  hatte.  Dann  führt  sein  günstiger  Stern  ihn  nach 
S])anien,  wo  er  von  Tizian  noch  Schöneres  sieht 
als  selbst  in  Veneclig,  endlich  nach  Rom  und  Genua. 
Kaum  in  seiner  Heimat,  wirkt  er  als  das  anerkannte 
Haupt  einer  neuen  Schule,  sammelt  um  sich  eine 
Schar  vf)n  Hilfskräften,  die  sich  an  ihm  bilden.  Sein 
Ruhm  verschafft  ihm  so  zahlreiche  Bestellungen, 

1)  L’Oeuvre  de  I’.  P.  Rubens.  Ilistoire  et  description 
de  ses  tableaiix  et  dessins  par  Max  Rooses.  Anvers,  Jos. 
Maes,  IHSGfl'.  IV  vols.  in  4®  royal.  .340  planches. 


dass  er  sie  ohne  seine  tüchtigen  Gehilfen  nicht  zu 
bewältigen  vermochte.  Er  schafft  für  Paris,  Madrid, 
London,  er  füllt  mit  seinen  Schöpfungen  die  Kir¬ 
chen  und  Paläste  Italiens,  Deutschlands  und  Hol¬ 
lands;  er  beherrscht  mit  gleicher  Meisterschaft  alle 
Gebiete  der  zeichnenden  Künste,  entwirft  Kartons  für 
Wandteppiche,  Zeichnungen  für  Goldarbeiter,  Elfen¬ 
beinschnitzer  und  Kupferstecher  und  drückt  allem, 
was  aus  seiner  Hand  hervorgeht,  seinen  persönlichen 
Stempel  auf.  Seiner  Auffassung,  seiner  Durchführung, 
mit  einem  Worte  seiner  Schule  verdanken  die  Bildnisse 
van  Dycks,  die  Allegorien  und  Bacchanale  des  Jor- 
daens,  die  Jagden  des  Snyders,  die  Landschaften  van 
Udens  die  ungeteilte  Anerkennung.  Er  scheint  selbst 
zu  fühlen,  dass  er  sie  alle  überragt,  darum  erhöht 
er  den  Wert  seiner  Gemälde  nur  äusserst  selten 
durch  seine  Signatur,  ja  noch  mehr:  er  ge.steht,  dass 
eine  große  Anzahl  der  von  ihm  gelieferten  Bilder 
nicht  das  Werk  seiner  Hände  sei.  Und  als  die  unver¬ 
gleichlich  geniale  Persönlichkeit  des  Meisters  nicht 
mehr  war,  wirkte  seine  Schule  noch  durch  Jahrzehnte 
zu  Ehren  des  größten  vlämischen  Malers  fort,  und  wer 
dürfte  sich  unterfangen,  das  Schaffen  des  P.  P.  Rubens 
zu  beurteilen,  ohne  die  verschiedenen  Umstände  zu 
kennen,  durch  deren  Summe  er  eben  jener  Einzige 
geworden,  dem  wir  alle  huldigen? 

Mag  man  immerhin  behaupten,  der  Meister  ge¬ 
stalte  die  verschiedenen  Eindrücke,  die  er  empfangen, 
eigenartig  aus,  es  sei  unwahrscheinlich,  dass  sein 
Oeuvre  ihn  stets  gleichförmig  zeige,  im  Gegenteil: 
je  bedeutender  seine  Begabung,  desto  origineller 
gebe  er  sich,  Rubens  bleibt  dennoch  immer  eine 
ausnahmsweise  Erscheinung. 

Vollständig  kennen  wir  seine  Thätigkeit  noch 
immer  nicht;  so  umfangreich  sein  Werk  auch  schon 
geworden,  glückliche  Forschungen  werden  es  ge¬ 
wiss  noch  bereichern.  Was  wissen  wir  von  seinen 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCHUNG. 


11 


Gemälden,  die  vor  seiner  Abreise  nach  Ralien  ent¬ 
standen?  Auch  von  den  Arbeiten,  die  er  während 
seines  Aufenthaltes  in  Spanien,  Italien,  Frankreich 
und  England  ausgeführt,  wissen  wir  so  wenig,  dass 
sie  gewiss  nicht  die  Summe  seiner  energischen 
Schöpferkraft  bilden.  Sicherlich  stehen  uns  in  dieser 
Hinsicht  noch  große  Ueberraschungen  bevor.  Seine 
unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  so  hoch¬ 
interessanten  Briefe  erwähnen  seinen  malerischen 
Beruf  gar  nicht,  und  keiner  seiner  Zeitgenossen  hat 
diese  Lücke  ausgefüllt,  so  dass  in  seiner  Korrespon¬ 
denz  noch  immer  zahlreiche  Stellen  Vorkommen,  die 
sich  auf  des  Meisters  gewohnte  Beschäftigung  be¬ 
ziehen  und  uns  dennoch  im  unklaren  lassen.  So 
z.  B.  verdanken  wir  einem  Zufall  erfahren  zu  haben, 
dass  Rubens  vor  1616  in  Holland  gewesen  und  in 
persönlichen  Beziehungen  zu  Goltzius  gestanden, 
was  sich  dann  übrigens  wohl  voraussetzen  ließ. 

AUe  Museen  rühmen  sich  einen  oder  mehrere 
Rubens  zu  besitzen,  auch  in  so  manchen  Kirchen,  wo 
wir  ihn  nicht  vermuten,  tritt  er  uns  überraschend 
entgegen;  so  hat  man  unlängst  in  der  hl.  Kreuz¬ 
kirche  zu  Augsburg  eine  schöne  echte  Himmelfahrt 
der  Jungfrau  entdeckt. 

Was  aber  versteht  man  unter  einem  echten 
Rubens?  Darüber,  meine  ich,  sollte  man  sich  vor 
allem  verständigen.  Sieht  man  von  den  wenigen 
eigenhändigen  Bildern  des  Meisters  ab  —  und  deren 
Zahl  ist  geringer,  als  man  gemeiniglich  annimmt,  • — 
so  weiß  jeder  Kunstfreund  schon  nach  den  Briefen 
des  Meisters,  dass  ein  echter  Rubens  entstanden 
sein  kann,  ohne  dass  er  selbst  das  Bild  gemalt  hat. 
Von  den  meisten  Werken,  die  man  mit  seinem 
Namen  schmückt,  lässt  sich  ohne  die  geringste  Über¬ 
treibung  behaupten,  dass  sie  von  ihm  nur  verbessert, 
vollendet  worden.  Das  in  diesem  Sinne  abgeschlossene 
Bild  gilt,  vorbehaltlich  seines  geringeren  oder  grö- 
ßern  Wertes,  als  ein  authentischer  Rubens.  Unter 
den  zahlreichen  Bildern,  die  auf  seinen  Namen  gehen, 
kostet  eine  Gattung  derselben  den  Kritikern  das 
meiste  Kopfzerbrechen,  die  Kopien  nämlich,  oder  um 
genauer  zu  sprechen,  die  Wiederholungen.  Er  ließ 
mehrere  seiner  Gemälde  unter  seinen  Augen  kopiren, 
schlug  auch  anderen  eine  diesfallige  Bitte  nicht  ab; 
so  kam  es,  dass  sich  mit  seinem  stetig  wachsenden 
Ruhm  auch  die  Zahl  der  Fälschungen  ansehnlich 
vermehrte.  Es  ist  nun  einmal  nicht  zu  leugnen,  dass 
alle  seine  heimischen  Zeitgenossen  mehr  oder  min¬ 
der  in  seiner  Art  und  Weise  zeichneten  und  malten, 
woraus  sich  ergiebt,  dass  von  seinen  beliebtesten 
Darstellungen  ziemlich  schwer  zu  unterscheidende 


Nachahmungen  Vorkommen.  Viele  derselben  wurden 
ganz  arglos  ausgeführt,  namentlich  in  Flandern,  zu¬ 
meist  auf  Kosten  religiöser  Körperschaften.  Als 
später  unter  Maria  Theresia  die  Güter  der  Jesuiten 
eingezogen,  die  geistlichen  Orden  unter  Joseph  II. 
aufgehoben,  die  Kirclien  durch  die  französische  Revo¬ 
lution  geplündert  wurden,  kamen  alle  die  Bilder  auf 
den  öffentlichen  Markt  und  wunderten  zumeist  in 
die  öffentlichen  Sammlungen,  wo  sie  jetzt  den  Kunst- 
beflissenen  erhebliche  Verlegenheiten  machen,  da  es 
nun  einmal  ungleich  schwieriger  ist,  dem  Meister 
ein  angezweifeltes  W’erk  abzusprechen,  als  ihm  ein 
bisher  nicht  genügend  beachtetes  zurückzustellen. 
Es  erübrigt  noch  eine  stattliche  Zahl  von  Bildern, 
die  zu  dem  Meister  selbst  in  gar  keiner  Beziehung 
stehen,  die  er  weder  entworfen  noch  ausgeführt  hat 
und  die  dennoch  auf  ihn  zurückgehn,  sei  es,  dass 
sie  von  frühem  Gehilfen,  seinen  Mitarbeitern,  her¬ 
rühren  oder  von  Namenlosen  in  trügerischer  Absicht 
gemalt  wurden.  Die  Bilder  dieser  letzten  Gattung 
sind  leider  zahlreicher  als  man  glaubt;  sie  erreichen 
heute  noch  erkleckliche  Preise,  obgleich  ihre  Fäl¬ 
schung  in  die  Augen  springt;  sind  doch  vor  kurzem 
in  Brüssel  zwei  Gemälde,  die  von  Rubens  nichts  als 
den  Namen  trugen  —  und  diesen  widerrechtlich  — 
um  1300  Francs  erstanden  worden!  Und  wie  statt¬ 
lich  ist  nicht  die  Reihe  der  Kataloge,  die  mit  ein¬ 
geschmuggelten  Rubens  prunken!  Es  genüge  an 
diesen  flüchtigen  Andeutungen,  um  das  Maß  der 
Schwierigkeiten  zu  erwägen ,  welche  bei  der  Aus¬ 
führung  von  Hrn.  Rooses’  Plan,  uns  ein  vollständiges, 
beschreibendes  und  geschichtliches  Verzeichnis  des 
Oeuvre  P.  P.  Rubens’  zu  liefern,  zu  überwältigen 
waren. 

Smith,  Waagen,  Basan,  Schneevogt  haben  ihm 
allerdings  vorgearb eitet,  aber  sein  Buch  bleibt  doch 
ein  selbständiges,  höchstens  hat  er  vielleicht  den 
Behauptungen  Schneevogts  in  dessen  ganz  unkriti¬ 
schem  Kataloge  zu  viel  vertraut. 

Smith  führt  bekanntlich  mehr  als  1700  Bilder 
von  Rubens  an,  von  welchen  er  kaum  die  Hälfte 
selbst  gesehen.  Rooses  bietet  uns  nur  1207  Num¬ 
mern,  doch  sei  sogleich  bemerkt,  dass  einzelne  der¬ 
selben  doppelt  sind,  andre  wieder  sich  auf  Werke 
beziehen,  deren  Vorhandensein  der  Verfasser  weder 
nachweisen,  geschweige  denn  auf  ihre  Echtheit  hin 
untersuchen  konnte.  Da,  wie  wir  glauben,  ein 
Supplement  des  Werkes  unter  der  Presse  ist,  werden 
wir  uns  im  Verlaufe  beeilen,  seine  Aufmerksamkeit 
auf  einige  Bilder  des  Meisters  zu  lenken.  Der  Ver¬ 
fasser  führt  nur  solche  Werke  an,  welchen  er  das 


12 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCHUNG. 


Merkmal  der  Echtheit  zuerkennt,  oder  deren  Exi¬ 
stenz  durch  unwiderlegliche  Quellen  nachgewiesen  ist. 
Alle  andern  Bilder  sind,  selbst  wenn  sie  angeführt 
oder  erläutert  werden,  mit  keiner  Nummer  versehen. 
Die  zahlreichste  Klasse  wird  durch  die  religiösen 
Darstellungen,  die  heiligen  Allegorien,  die  männ¬ 
lichen  und  weiblichen  Heiligen,  deren  mehr  als  fünf¬ 
hundert,  und  durch  nahezu  dreihundert  Bildnisse 
gebildet. 

Als  gründlicher  Kenner  der  ganzen  Rubens-Lit- 
teratur  war  Rooses  in  der  Lage  uns  ein  Werk  zu 
schenken,  das  durch 
großartige  Anlage  und 
sorgfältige  Durchführ¬ 
ung  von  bleibendem 
Wert  ist.  Wir  haben 
oben  bemerkt,  zu  einem 
richtigen  Urteil  über 
einen  Meister  sei  die 
genaue  Kenntnis  seines 
ganzen  Lebens  unerläss¬ 
lich;  nun  denn,  ein  so 
umsichtig  angelegter 
Katalog ,  wie  der  vor¬ 
liegende,  trägt  selbst¬ 
verständlich  allen  V er- 
hältnissen  des  Meisters 
Kechnung.  Von  die.seu 
vier  Bänden  lässt  sich 
rühmen,  dass  sie  Rubens 
wieder  vor  uns  aufleben 
la.ssen.  Wir  sehen  ihn 
fast  leibhaftig  vor  uns, 
wir  leben  in  seinem 
Familienkreise,  mit 
seinen  Freunden,  wir 
erfahren  alle  seine  Be- 
zieliungen  zu  weltlichen 
und  gei.stlichen  Kreisen, 
wir  lernen  ihn  als  Philo.sophen,  Humanisten,  Anti- 
cjiiar  achten,  als  einen  Geist,  der  alle  Seiten  der 
menschlichen  Natur  erfasst,  und  mit  Terenz  sagen 
kann;  nihil  liumani  a  me  alienum  puto. 

Nichts  desto  weniger  lag  es  dem  Verfasser  ferne, 
die  ganze  Biograjdiie  des  Meisters  neu  aufzubauen. 
Er  kennzeichnet  mit  wenigen  treffenden  Zügen 
Hubens’  vielseitige  Richtungen,  überlässt  jedoch 
liairtiHhury  den  y\ntifjuar,  dachard  und  Vilaamü 
den  Diplomaten,  um  ihnen  lediglich  jene  Daten  zu 
entnehmen,  die  sein  Werk  unterstützen.  Sein  Vor¬ 
trag  bleibt  stets  einfach,  klar,  er  erhebt  sich  jedoch 


in  den  Beschreibungen  einzelner  Gemälde  zu  einer 
Poesie,  die  mit  dem  Kolorit  dieser  Farbendichtungen 
wetteifert;  so  z.  B.  im  Höllensturz  der  Verdammten 
(München),  den  er  ergreifend  schildert. 

Rooses  teilt  Rubens’  künstlerische  Laufbahn  in 
drei  fast  gleiche  Zeiträume.  Die  erste  Epoche  um¬ 
fasst  die  Dauer  seines  italienischen  Aufenthalts,  die 
Zeit,  wo  er  unter  dem  italienischen  Einfluss  malte; 
sie  reicht  ungefähr  bis  1611  und  schließt  mit  der 
Aufrichtung  des  Kreuzes  (Dom  zu  Antwerpen)  ab. 
Die  zweite  Epoche  erstreckt  sich  bis  1625;  ihr  ge¬ 
hören  die  berühmtesten 
Bilder  an ;  der  hl.  Ignaz, 
und  der  hl.  Franz  Xaver 
in  Wien,  die  Kommu¬ 
nion  des  hl.  Franz  im 
Museum  zu  Antwerpen 
und  vor  allem  die  Kreuz¬ 
abnahme  (das  berühmte 
Bild  im  Antwerpener 
Dom).  Aus  der  dritten 
Epoche  sind  hervorzu¬ 
heben:  der  Bethlehe^ni- 
tische  Kindermord.,  das 
Fest  der  Venus  (Wien), 
die  Anbetung  der  Könige 
im  Antwerpener  Mu¬ 
seum. 

Man  erkennt  leicht, 
dass  es  noch  eine  vierte 
Epoche  gäbe,  eigentlich 
die  allererste,  die  jene 
Bilder  enthielte,  die 
Rubens  vor  seiner  ita¬ 
lienischen  Reise  ge¬ 
schaffen;  allein  was  wir 
aus  dieser  Zeit  von  seiner 
Thätigkeit  kennen, 
reicht  nicht  hin,  diesen 
Rahmen  auszufüllen.  Rooses  ist  viel  zu  vorsichtig, 
diesen  Boden  zu  betreten.  Er  eifert  sogar,  und  das 
mit  Recht,  gegen  die  unsinnige  Behauptung,  das  durch 
seine  Verkürzung  berühmte  Bild  des  Museums  von 
Antwerpen,  das  den  toten  Heiland  im  Schoße  seines 
Vaters  zeigt,  sei  vor  der  Abreise  nach  dem  Süden 
entstanden.  Dr.  Reber  möchte  die  Anbetung  der 
Könige  in  der  Pinakothek  zu  Lyon  (No.  173),  die 
Vorsterraan  in  zwei  Blättern  gestochen,  als  voritalie¬ 
nisch  ansehen,  was  nach  Rooses’  und  unserer  Ansicht 
ebensowenig  statthaft  ist.  Auch  in  Bezug  auf  ein 
anderes  Bild  müssen  wir  uns  gegen  das  Urteil  des 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCHUNG. 


13 


ausgezeichneten  Münchener  Kenners  erklären,  indem 
wir  überzeugt  sind,  dass  der  kleine  HöUensturz  der 
Verdammten  in  Aachen  (No.  93  bis)  erst  nach  der 
italienischen  Reise  entstanden  ist.  Diese  Breite  der 
Auffassung  erreichte  Rubens  unter  dem  Einflüsse 
seiner  lebhaften  Erinnerungen  erst  nach  seiner  Heim¬ 
kehr.  Als  voritalienisch  dürfte  allenfalls  das  Jüngste 
Gericht  im  Palazzo  Balbi  (Genua)  (No.  92)  angesehen 
werden;  dieses 
schöne  Bild  atmet 
den  Geist  Michel 
Angeles,  wir  hal¬ 
ten  es  für  ein 
Jugendwerk  un¬ 
seres  Meisters. 

Die  Aufrich¬ 
tung  des  Kreuzes 
galt  bisher  als  das 
früheste  der  Ant- 
werpener  Gemälde 
von  Rubens;  es  ist 
aus  d.  J.  1611. 

Rooses  liefert  uns 
jedoch  den  höchst 
wichtigen  Nach¬ 
weis,  dass  die  Kir¬ 
chenväter  in  der 
Paulskirche  zu 
Antwerpen  (No, 

376),  die  heute 
noch  an  ihrer  ur¬ 
sprünglichen 
Stelle  hängen,  aus 
d.  J.  1609  stammen 
und  ein  eigen¬ 
händiges  Werk 
sind,  das  1616  in 
einem  Inventar  der 
Kirche  angeführt 
wird.  Die  Aufrich¬ 
tung  des  Kreuzes 
(No.  271)  wurde 
bekanntlich  für  die 
Kirche  der  hl.  Walburga  gemalt,  die  man  im  Beginn  un¬ 
seres  Jahrhunderts  niedergerissen  hat.  Mit  Hilfe  einer 
alten  Ansicht  dieser  Kirche  konnte  Rooses  feststellen, 
dass  das  Triptychon  mit  einem  Giebel  abschloss, 
dessen  Mittelbild  Gott  Vater  zwischen  zwei  Engeln 
zeigte.  Dieses  Giebelbild  ist  verkauft  worden,  doch 
besitzen  wir  die  mittlere  Hauptgestalt  heute  noch  in 
einem  Kupferstich  von  Berghe.  Das  Brüsseler  Mu¬ 


seum  besitzt  überdies  eine  Ansicht  der  Walburga¬ 
kirche  von  Neefs;  auf  dieser  Tafel  befindet  sich  zwar 
das  Meisterwerk  des  Rubens  nur  angedeutet,  doch  ist 
die  Form  des  Bildes  deutlich  zu  erkennen. 

Schon  als  Rubens  nach  Antwerpen  zurückkehrte, 
war  er  ein  bedeutender  Künstler,  völlig  aber  entfaltet 
sich  sein  Genie  erst  später.  Anfangs  ist  sein  Vortrag 
strenge,  plastisch  und  hat  noch  nichts  von  jener 

flüssigen  Frische 
des  Kolorits,  die 
seine  spätesten 
Werke  auszeich¬ 
net.  Fügen  wir 
gleich  hinzu,  dass 
er  in  dieser  Zeit 
das  meiste  unter 
Mitwirkung  seiner 
Schüler  ausge¬ 
führt  hat  und  dass 
seine  Retouchen 
seinem  Tempera¬ 
ment  entsprechen. 
Rooses  bemüht 
sich ,  in  den  Bil¬ 
dern  der  dritten 
Epoche  die  Hand 
des  Meisters  von 
der  seiner  Gehil¬ 
fen  und  Mitarbei¬ 
ter  zu  unterschei¬ 
den.  Das  dünkt 
uns  allenfalls  noch 
möglich,  wenn  es 
sich  um  den  An¬ 
teil  eines  seiner 
besten  Schüler, 
eines  van  Dyck, 
Snyders,  Peter 
Soutman  oder  van 
Uden  handelt.  Die 
untergeordneteren 
Gehilfen,  die  Die- 
penbeck,  vanTul- 
den  und  die  noch  weniger  bekannten  leben  nur  in 
und  durch  Rubens;  sich  selbst  überlassen,  werden  sie 
kaum  bemerkt.  Es  wäre  übrigens  weit  gefehlt,  wollte 
man  alle  Gemälde  des  flandrischen  Großmeisters  aus¬ 
schließlich  nach  ihrer  Technik  beurteilen.  Wenn  er  in 
Italien  und  nach  seiner  Rückkehr  unter  dem  Einflüsse 
der  Bolognesen  und  des  Giulio  Romano  stand  und  seine 
Malweise  erst  allmählich  freier  und  breiter  wurde, 


Helene  Fourment  mit  einem  Kind  auf  dem  Schooß,  von  Rubens. 
Nach  dem  Stich  von  C.  Feedeele. 


14 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCHUNG. 


darf  man  annähernd  gleiche  Fortschritte  bei  seinen 
begabteren  Gehilfen  vorauszusetzen,  die  es  ihnen 
ermöglichten,  ihrem  Meister  immer  besser  zu  ent¬ 
sprechen.  Doch  diese  Fähigkeit  haben  vs^ohl  nicht 
alle  in  gleichem  Grade  erworben,  woraus  ich  schließe, 
dass  bei  den  meisten  seiner  großen  Bilder  Rubens 
persönlich  erst  jene  Verbesserungen  machte,  welche 
die  geübteren  seiner  Mitarbeiter  an  den  Unter¬ 
malungen  ihrer  Vorgänger  angebracht  hatten.  Diese 
Gemälde  werden  also  durch  verschiedene  Hände  ge¬ 
gangen  sein,  ehe  sie  von  Rubens  vollendet  wurden. 
Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich  die  Folgerung,  dass 
wir  die  eigenhändige  Arbeit  des  Meisters  am  sicher¬ 
sten  in  seinen  kleineren  Darstellungen,  in  seinen 
Bildnissen  und  Landschaften  namentlich  der  spä¬ 
teren  Jahre  vermuten  dürfen;  beklagt  er  sich  doch 
schon  während  seiner  ersten  Reise  in  Spanien,  dass 
ihm  keine  Gehilfen  zur  Seite  stehen. 

Wenn  jedoch  Rooses  behauptet,  große  anerkannte 
Meisterwerke  wie  die  Kommunion  des  hl.  Franciscus, 
(No.  429  des  Museums  von  Antwerpen),  die  Kreuz- 
schlepjiung  im  Museum  von  Brüssel  (No.  274)  seien 
eigenhändig  von  Rubens  gemalt,  so  können  wir  dem 
nicht  unbedingt  beipflichten.  Es  giebt  gewiss  selbst 
unter  den  trefflichsten  Werken  in  die  Augen  springende 
Unterschiede;  man  darf  gleichwohl  anuehmen,  dass 
unter  der  Leitung  eines  solchen  Meisters  ein  begabter 
Maler  Tüchtigeres  leistete,  als  seine  angeborenen  An¬ 
lagen  erwarten  ließen.  Wir  sehen  dies  bei  den 
Kupferstechern  seiner  Schule ,  die,  sobald  sie  selb¬ 
ständig  arbeiten,  eben  doch  nur  ganz  geringe  Blätter 
liefern. 

Diese  Bemerkungen  wollen  keineswegs  die  hohe 
Achtung  mindern,  die  wir  dem  tüchtigen  Konservator 
des  Musee  Blantin  zollen.  Er  hat  sich  nicht  begnügt, 
die  vornehmsten  Galerien  von  Europa  zu  durchfor¬ 
schen,  erbat  die  Beschreibungen  aller  Bilder,  mit  denen 
der  alten  und  neuen  Quellen  in  Einklang  gebracht, 
den  kün.stlerischen  Wert  eines  jeden  in  wenigen  Worten 
genau  fe.stgestellt  und,  dank  seiner  grossen  Kennt¬ 
nisse,  alle  ungenügenden  oder  falschen  Bestimmungen 
vermieden.  Wie  das  Ouevre  vor  uns  liegt,  bringt  es 
dem  Leser  mühelos  alle  erwünschten  Aufschlüsse  über 
jedes  erwähnte  Bild  und  zugleich  die  Angabe  aller 
nach  demselben  erschienenen  Stiche. 

Wir  behaupten  nicht  geradezu,  dass  mit  diesen 
vier  Bänden  die  kunstgeschichtliche  Würdigung  des 
Rubens  abgeschlossen  sei;  diese  Arbeit  kann  im 
Laufe  der  Jahre  bereichert,  vervolkständigt,  in  ihrer 
Gänze  aber  wohl  niemals  übertroff'en  werden. 
Und  im  Sinne  dieser  Überzeugung  mag  mau  die 


wenigen  folgenden  ergänzenden  Bemerkungen  auf¬ 
nehmen. 

Im  alten  Testament,  Bd.  I,  Seite  126,  wird  eine 
mittelmäßige  Radirung  von  Fr.  de  Roy:  Hagar  in  der 
Wüste  (ohne  Nummer)  beschrieben.  Dieses  Blatt  ist 
nichts  anderes  als  eine  Wiederholung  der  hl.  Mag¬ 
dalena  in  der  Galerie  des  Dulwich  College,  die  Phi¬ 
lips  und  Sparks  als  Helene  Fourment  im  Kataloge 
dieser  Sammlung  anführen.  Rooses  beschreibt  das 
reizende  Bildchen  unter  der  Nummer  471.  Er  hält 
es,  und  wir  mit  ihm,  für  ein  eigenhändiges  Werk. 
Wir  wollen  bloß  bemerken,  dass  De  Roy  die  Haupt¬ 
figur  durch  die  Beifügung  eines  Engels  und  eines 
noch  elenderen  Ismael  in  eine  Hagar  verwandelte. 
Und  da  wir  gerade  in  Dulwich  sind,  führen  wir  ein 
von  Rooses  übergangenes  Bild  an :  Samson,  von  den 
rhilistern  überrascht.  Nach  dem  Kataloge  wäre  es 
das  Original  des  Kupferstichs  von  Jakob  Matham, 
der  unter  der  Nummer  115  beschrieben  wird.  Dies 
aber  ist  entschieden  ungenau,  auch  ist  das  nebenbei 
bemerkte  schöne  Bild  nicht  von  Rubens,  sondern  von 
Van  Dyck.  Das  verschollene,  von  Matham  gestochene 
Bild  erkennt  man  im  Hintergründe  eines  Bildes  der 
Münchener  Pinakothek,  Nr.  720,  von  Frans  Francken. 
In  Dulwich  befinden  sich  überdies  einige  Porträts, 
über  die  wir  gerne  des  Verfassers  Ansicht  gehört 
hätten  und  ein  Mars,  eine  Venus  und  ein  Cupido,  welche 
nach  dem  Kataloge  (No.  351)  von  Boiswert  gestochen 
sein  sollen,  was  uns  ganz  und  gar  überrascht. 

Loth  und  seine  Töchter  wird  in  der  Ambrosiana 
dem  Rubens  zugeschrieben,  wir  halten  das  Bild  für 
unecht. 

Die  keusche  Susamia,  ein  Gemälde  mit  lebens¬ 
großen  Figuren  in  der  Galerie  von  Turin,  gestochen 
von  C.  Jegher,  scheint  uns  mindestens  zweifelhaft. 

Die  Begegnung  Jakobs  mit  Esau;  hiervon  befindet 
sich  eine  Skizze  in  der  Galerie  Colonna  in  Rom. 

Die  Jungfraxi  im  Gebet  vor  der  Wiege  des  Kindes, 
(beschrieben  unter  No.  188).  Das  Original  ist  in 
Schleißheim.  Das  Exemplar,  das  wir  in  unserer 
Ilistoire  de  la  gravure  dans  Vecole  de  Rubens  als  in  der 
Brüsseler  Nikolaikirche  befindlich  anführten,  ist  eine 
Kopie. 

Nr.  233.  Die  heilige  Familie.  Rooses  bemerkt, 
dass  außer  dem  Bilde  im  Pitti  und  bei  Lord  Lons- 
dale  Waagen  dasselbe  Werk  auch  in  der  Hougthon 
Gallery  erwähnt,  aus  welcher  es  nach  Petersburg  ge¬ 
kommen  wäre.  Er  hat  es  in  der  Ermitage  vergebens 
gesucht.  In  der  genannten  Sammlung  befindet  sich 
gleichwohl  ein  Stich  von  Valentin  Green,  jedoch  nach 
einem  Maler  „  Williket“  und  zwar  mit  landschaftlichem 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCH ÜNG. 


15 


Hintergründe.  Nun  fügte  es  ein  Zufall,  dass  uns 
vor  einigen  Wochen  ein  Baron  X  besuchte,  der  uns 
erzählte,  er  habe  in  einer  Privatgalerie  in  Russland 
ein  Meisterwerk  von  Van  Dyck  entdeckt.  Als  wir 
ihm  sodann  den  Stich  von  Boiswert  nach  der  hl.  Fa¬ 
milie  von  Rubens  zeigten,  rief  er  aus:  Das  ist  mein 
Bild!  Es  dürfte  demnach  gewiss  sein,  dass  das  Bild 
der  Hougthon  Gallery  von  der  Kaiserin  Katharina 


Bild  hat  es  nie  gegeben.  Mensaert  behauptet,  es  be¬ 
finde  sich  in  der  Kapuzinerkirche  von  Courtray. 
Descamps  in  seinem  Yoyage  piüoresque  führt  es  nicht 
an,  und  schließlich  erklärt  auch  Mals  in  einer  hand¬ 
schriftlichen  Note,  dass  dieses  Bild  sich  nie  bei  den 
Kapuzinern  in  Courtray  befunden  habe. 

Die  Leidensgeschichte.  Nr.  271  und  286.  Ecee 
homo,  gestochen  von  P.  Danmoot;  Christus  am  Kreu%, 


Tierstück  von  Rubens,  nach  dem  Stich  von  Süjijieefield. 


einem  Herrn  ihres  Hofstaates  geschenkt  worden  ist, 
dessen  Erben  es  heute  noch  bewahren. 

Nr.  227.  Die  heilige  Familie.^  aus  der  Sammlung 
M.  C.  Butler,  gestochen  von  Yorsterman.  Die 
Handzeichnung  früher  bei  Mariette,  gegenwärtig  im 
British  Museum. 

Nr.  232.  Die  heilige  Familie  mit  der  Taube.  Die 
Komposition  lehnt  sich  an  Raffael;  Rubens  hat  sie 
gewiss  bald  nach  seiner  Heimkehr  gemalt.  Eigentum 
des  Lord  Dartmouth. 

Nr.  235.  Die  Anbetung  der  Könige.  Ein  solches 


gestochen  von  Vorsterman.  Keines  von  beiden  Bildern 
scheint  von  Rubens  zu  sein,  auch  trägt  keiner  der 
Stiche  seinen  Namen;  die  Bilder  weisen  entschieden 
auf  einen  der  zahlreichen  Nachahmer  des  Meisters  hin. 

Nr.  340.  Die  heiligen  Frauen  am  Grabe  Christi.  Das 
Originalgemälde  hat  Dr.  Theodor  Frimmel  im  Bene¬ 
diktinerstift  Molk  in  Niederösterreich  nachgewiesen. 

Nr.  378.  Christus  als  Sieger  über  Tod  und  Sünde. 
Dieses  kleine  Bild  in  der  Turiner  Galerie  (Katalog  161) 
glauben  wir  mit  Fug  und  Recht  dem  Jordaens  zuzu¬ 
weisen. 


16 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCHUNU. 


Nr.  434.  Der  hl.  Georg  den  Drachen  tötend,  im 
Museum  von  Neapel,  ist  eine  alte  lebensgroße  Kopie 
des  im  Museo  del  Prado  in  Madrid  befindlichen 
Originals. 

Nr.  486.  Die  hh.  Peter  und  Paid.  Eine  dem 
Captain  Hankey  in  London  gehörige,  herrliche  Skizze 


Nr.  770.  Minerva  besiegt  die  Unwissenheit.  In 
Brüssel,  in  der  Galerie  Potemkine. 

Nr.  809.  Ätis  der  Geschichte.  Die  Enthaltsamkeit 
des  Scipio.  Das  Museum  von  Tournay  besitzt  eine 
alte  Wiederholung  in  verkleinertem  Maßstabe. 

Verschiedenes.  Nr.  851.  Ein  Mann,  der  ein  Reh 


Christi  Geburt  von  Rubens,  nach  dem  Stich  von  S.  a  Boiswert. 


des  Originals  in  der  Müncliener  Pinakothek  (Katalog 
Nr.  750). 

Ans  der  iMglhologie.  Nr.  682.  Die  Hochzeit  der 
Thetis  und  des  Peleus.  Ein  kleines,  ausgezeichnetes, 
eigenhändiges  Bild  im  Besitze  des  M.  .1.  P.  Heseltine 
in  London. 


trägt,  und  dessen  Eh'au.  Gegenwärtig  im  Besitze  des 
Sir  Eduard  Guinness. 

Nr.  836.  Der  Liehesgarten,  im  Besitze  des  Baron 
Edmond  Rothschild  in  Paris,  kommt  auch  in  einer 
kleinen  alten  Kopie  im  Museum  von  Neapel  vor. 

Aus  den  schönen  Wissenschaften.  Nr.  871.  Cimon 


ZUR  NEUESTEN  RUBENSFORSCHUNG. 


17 


und  Iphigenie.  Eine  Wiederlioluiig  im  Museum  von 
Neapel;  die  Skizze  bei  Lord  AVemyss. 

Bildnisse.  Nr.  1013.  Ophotius,  der  Beichtvater 
des  Meisters.  Wir  halten  das  Porträt  in  der  Galerie 
Doi'ia  in  Rom  für  das  Original.  Eine  alte  Kopie 
früher  bei  ARin  in  Brüssel. 

No.  898.  Isabella  Brandt.  Eine  alte  Wieder¬ 
holung  in  der  Galerie  Potemkine  in  Brüssel. 

o 

Nr.  1147.  Ein  Edelmann,  der  sich  auf  sehicn  Stock 
stützt  in  der  Sammlung  des  Sir  Eduard  Bunbury. 
Ein  herrliches  Bildnis  des  Ambrosius  Spinola  im 
Ornat  des  goldenen  A^ließes.  Im  Museum  von  Neapel 
kommt  ein  lebensgroßes  Porträt  eines  Edelmanns 
im  gleichen  Ornate  vor.  (Ein  Croy  ?)  Es  ist  ein 
Werk  zweiten  Ranges,  dessen  Skizze  Avir  bei  Du  Bus 
de  Gisiguis  vermuten. 

Nr.  1025.  Philipp  IV.  Eine  alte  Kopie  bei  Robert 
in  Brüssel. 

Landschaft.  Nr.  1170.  Die  Jagd  des  Mcleager  ttnd 
der  Atalante.  Eine  Kopie  im  Museum  von  Köln. 

Zum  IV.  Bande,  Seite  125.  Die  iMutter  Anna  von 
.Jesus  (Karmeliter-Nonne).  Rooses  hält  diese  Benen¬ 
nung  für  falsch,  er  meint,  das  Bild  stelle  die  hei¬ 
lige  Therese  vor.  AAbr  erlauben  uns,  ihn  auf  den 
Stich  von  Wierix,  Alvin,  Nr.  1844,  aufmerksam  zu 
machen.  Es  ist  zweifellos,  dass  das  Bild  die  Mutter 
Anna  von  Jesus  vorstellt. 

Hiermit  haben  Avir  unsere  Bemerkungen  über 
die  1400  Seiten  des  gediegenen  Werkes  erschöpft 
und  laden  die  Kunstfreunde  neuerdings  ein,  sich  von 
der  Gewissenhaftigkeit  und  Gründlichkeit  des  A^er- 
fassers  zu  überzeugen.  Ein  Avahres  Aluster  in  ihrer 
Art  sind  die  Untersuchungen,  die  er  über  den  be¬ 
rühmten  Chapeau  de  paille  der  Londoner  National 
Gallery  anstellt.  Es  kann  nunmehr  als  erwiesen 
gelten,  dass  wir  in  diesem  Bildnisse  Susanne,  die 
Schwester  der  Helene  Fourment,  die  Gattin  Arnold 
Lundens,  also  Rubens’  SchAvägerin  vor  uns  haben. 
Rooses  erkennt  im  Liebesgarten  eine  A^ersammlung 
der  Glieder  der  Familie  Fourment  und  weist  uns  in 
diesem  bewunderten  Werke  bei  Baron  Edmond  Roth¬ 
schild  die  AnAvesenheit  der  Trägerin  des  Strohhutes 
nach.  Der  Dresdener  Liebesgarten  Avird  endgültig  für 


eine  Kopie  erklärt.  Sehr  wichtig  sind  ferner  die  Studien 
über  die  Wandteppiche  nach  Rubens:  Der  Triumph 
des  Glaubens  und  Consul  Decius,  bei  welchem  Rooses 
mit  Bode  in  der  Beteiligung  A^an  Dycks  überein¬ 
stimmt  In  nicht  minder  überzeugender  W eise  spricht 
der  A'^erfasser  den  heiligen  Älcertin  von  Windsor  dem 
van  Dyck  zu. 

Hier  müssen  wir  schließlich  noch  einige  Worte 
über  die  350  Tafeln  des  AV erkes  einreihen.  Die  Re¬ 
produktionen  sind  sehr  gut,  Avie  es  von  Alaes,  dessen 
Ruf  nicht  erst  zu  machen  ist,  nicht  anders  zu  erwarten 
war.  Nur  vermögen  Avir  uns  kaum  zu  erklären, 
weshalb  es  Rooses  beliebte,  Kupferstiche  und  Stein¬ 
drucke  reproduziren  zu  lassen,  wo  es  für  die  Leser  doch 
am  wichtigsten  wäre,  mit  den  besprochenen  Bildern 
bekannt  gemacht  zu  av erden.  Gewiss,  viele  der 
Platten,  die  unter  Rubens’  Leitung  gestochen,  sind 
Meisterstücke;  es  klebt  ihnen  nichtsdestoweniger 
der  Nachteil  an,  dass  sie  nicht  das  Bild  selbst,  nur 
dessen  Zeichnung  oder  Skizze,  und  diese  nicht  immer 
ganz  genau,  Aviedergeben.  Dies  führt  uns  darauf, 
hervorzuhebeu ,  dass  Rooses  eine  große  Anzahl  von 
jenen  Zeichnungen  des  Louvre,  nach  Avelchen  Vorster- 
man  stach,  ihm  auch  zuschreibt.  Diese  seine  Mei¬ 
nung  können  wir  keineswegs  teilen.  Vorsterman 
Avar  vor  allem  Zeichner  mit  der  Feder,  seine  Blätter 
beabsichtigen,  die  Manier  des  Kupferstichs  wiederzu¬ 
geben;  er  hätte  nie  den  freien  großen  Zug  der  Zeich¬ 
nungen  des  Louvre  erreicht.  Unserer  Überzeugung 
nach  sind  dieselben  von  der  Hand  Van  Dycks,  von 
dem  Beilori  hervorhebt,  er  habe  mit  Vorliebe  Zeich¬ 
nungen  zum  ZAvecke  der  Vervielfältigung  durch  den 
Grabstichel  ausgeführt.  Was  endlich  die  Rötel¬ 
zeichnung  der  Sammlung  Kums  in  AntAverpen,  Venus 
und  Cupido,  anbelangt,  so  halten  wir  sie  für  modern. 

HENRI  HY M ANS. 


1)  Noch  wollen  wir  die  Aufmerksamkeit  des  Verfassers 
auf  einen  Wandteppich  richten,  der  eine  bisher  unbekannte 
Szene  zur  Geschichte  des  Decius  bringt.  Wir  sahen  denselben 
1890  in  der  vom  k.  k.  Österreichischen  Museum  veranstalteten 
Ausstellung  von  Tapisserien.  Die  Komposition  ist  unseres 
Wissens  nie  vervielfältigt  worden;  ihr  Rubensischer  Stil  ist 
unleugbar. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


3 


Beetlioven,  Miniatur  von  Chr.  Horneman 


CAREL  L  DAKE’S  BEETHOVENBILDNIS. 


NZÄIlLIGr  sind  die  Versuche, 
zumal  in  der  modernen  Kunst, 
längst  verstorbene  große 
Männer  im  Bildnis  "wieder 
aufleben  zu  lassen.  Die 
Berechtigung  solcher  Ver¬ 
suche  muss  aber  nicht  als 
allgemein  gütig  angesehen 
werden.  Sie  wird  dort  am  meisten  ausgesprochen 
sein,  wo  es  an  zuverlässigen  guten,  gleichzeitigen 
llildnissen  mangelt.  Hier  kann  man  die  Bemüh¬ 
ungen  eines  modernen  Künstlers,  etwa  nach  Person- 
heschreil)ungen  die  Fehler  der  alten  Porträte  zu 
v(*rhessern,  nur  sehr  begreiflich  finden.  Sind  aber 
von  einer  Persönliclikeit  mehrere  wahrhaft  getreue 
Darstellungen  vorhanden,  so  wird  unser  Interesse 
an  einem  modernen  Bildnis  geringer  und  die 
Berecliiigung,  ein  neues  Porträt  zu  formen  nur 
schwach  sein.  Mit  einem  heute  gezeichneten  Na- 
pfdeon  1.  wird  niemand  besonderen  Erfolg  haben, 
es  müsste  denn  sein  durch  die  treffliche  sonstige 
Beschaffenheit  des  Kunstwerkes,  die  ja  von  der  Por- 
trätähidichkeit  ganz  unabhängig  ist.  Nur  dort  also, 
wo  es  schwierig  ist,  aus  dem  authentischen  Material 
ein  klares  Bild  der  äußeren  Erscheinung  von  Persönlich¬ 
keiten  zu  gewinnen,  welche  der  Geschichte  ange¬ 
hören,  steigen  die  Aktien  für  den  modernen  Wie¬ 
deraulbau  einer  längst  verblichenen  Gestalt.  Die 


vielen  Unrichtigkeiten  der  gleichzeitigen  Bildnisse 
wirken  auf  den  Laien  verwirrend,  der  es  wünschen 
möchte,  ein  Porträt  vor  sich  zu  haben,  das  er  ohne 
viele  kritische  Vorbehalte  für  gut  hinnehmen  darf. 
Wahrlich,  bei  Beethovens  Bildnissen  liegt  uns 
ein  Fall  vor,  in  dem  es  an  Schwierigkeiten  für  die 
Rekonstruktion  der  äußeren  Erscheinung  nicht  fehlt. 
Unter  den  authentischen  Büdnissen  Beethovens,  die 
auf  künstlerischem  Wege  entstanden  sind,  giebt  es 
kaum  ein  einziges,  das  man  ohne  Vorbehalt  als  gut 
bezeichnen  könnte.  Großes  Vertrauen  können  wir 
nur  bei  dem  auf  mechanische  Weise  hergestellten 
Bildnis,  bei  der  Maske  aus  dem  Jahre  1812  und  bei 
der  Büste  von  Franz  Klein  haben,  die  sklavisch  nach 
dieser  Maske  gefertigt  ist.  An  der  Maske  fehlt 
freilich  das  Auge,  der  Blick;  auch  der  Mund,  viel¬ 
leicht  allzu  krampfhaft  geschlossen,  mag  in  Wirk¬ 
lichkeit  weichere  Formen  gehabt  haben.  Die  Frisur 
in  Gips  abgegossen  zu  sehen,  wird  niemand  ver¬ 
langen.  Dies  die  Mängel  der  Maske,  denen  nun 
Franz  Klein,  ein  Wiener  Bildhauer  der  klassizistischen 
Zeit,  in  dankenswerter  Weise  abgeholfen  hat,  indem 
er  zur  Gipsraaske  alles  hinzu  modellirte,  was  nötig 
war,  um  dieselbe  zu  einer  Büste  zu  ergänzen.  Damals 
stand  Beethoven  in  seinen  besten  Jahren.  Der  Kla¬ 
vierfabrikant  Streicher  wollte  von  dem  Meister,  dessen 
hohe  Begabung  schon  in  den  weitesten  Kreisen  be¬ 
kannt  war,  eine  Büste  besitzen,  und  beauftragte 


CAREL  L.  DAKE’S  BEETHOVENBILDNIS. 


19 


Franz  Klein,  eine  solche  zu  fertigen.  Vorher  wurde 
der  Komponist  gebeten,  sein  Antlitz  abgipsen  zu 
lassen.  Unter  welchen  Umständen  dies  geschah,  kann 
ich  hier  nicht  des  näheren  auseinandersetzen.  Man 
schlage  mein  Beethovenbuch  („Neue  Beethoveniana“) 
auf,  wo  eingehende  Mitteilungen  über  Beethovens 
Bildnisse,  insbesondere  über  die  Kleinsche  Maske 
von  1812  zu  finden  sind.  Hier  mangelt  es  an  Raum, 
all’  die  Dinge  zu  wiederholen.  Nur  eines  wollen 
wir  uns  von  neuem  klar  machen,  dass  die  Maske 
für  die  Gesamtform  des 
Gesichtes,  sowie  für  die 
Einzelheiten  der  Stirn,  der 
Backen,  des  Kinnes  voll¬ 
kommen  zuverlässig  ist. 

Was  Klein  in  der  Büste 
hinzuo-efügt  hat,  deren  Ab- 
bildung  nebenstehend  ge¬ 
geben  wird,  verdient  nahe¬ 
zu  dasselbe  Vertrauen, 
wenngleich  die  Unmittel¬ 
barkeit  der  Wiedergabe 
dafür  nicht  dieselbe  sein 
kann,  wie  beim  Abguss  des 
Gesichtes.  Auch  ist,  wie 
es  die  Zeit  vorschreibt,  das 
Auge  leblos  gebildet. 

Das  Original  der  Klein- 
schen  Büste  befindet  sich 
noch  gegenwärtig  im 
Streicherscheu  Hause.  Das 
Bonner  Beethovenmuseum 
beherbergt  einen  Abguss. 

Wir  wissen ,  dass  es 
neben  der  Kleinschen  Mas¬ 
ke  und  Büste  auch  noch 
viele  andere  Bildnisse  des 
Titanen  der  klassischen 
Musik  giebt.  Wenn  auch 
in  aller  Kürze,  so  müssen 
wir  doch  auf  die  bedeutsamsten  derselben  hinweiseu, 
um  eine  Grundlage  sicherer  Art  für  die  Beurteilung 
der  Dakeschen  Radirung  zu  gewinnen. 

Ein  Schattenriss  giebt  uns  das  Profil  des  etwa 
sechzehnjährigen  Beethoven.  Diese  Silhouette  ist 
in  den  biographischen  Notizen  von  Wegeier  und  Ries 
zu  finden  und  danach  in  meinem  Beethovenbuch  ab¬ 
gebildet.  Das  Köpfchen  auf  dem  kurzen  Hals  weist 
gar  deutlich  auf  den  gedrungenen  Bau  des  jungen 
Tonkünstlers,  der  damals  noch  in  Bonn  weilte. 

Bald  nach  1800,  als  Beethoven  schon  etwa  zehn 


Jahre  lang  Wiener  geworden  wai',  und  als  er  sich 
schon  mit  seinem  Klavierspiel  den  höchsten  Ruhm 
errungen  hatte,  wurde  er  mehrmals  porträtirt.  Einige 
kleine  Stiche  und  eine  Miniatur  von  Horneman 
wurden  damals  gefertigt.  Sie  geben  uns,  wie  es 
scheint,  einigermaßen  getreu  den  Beethoven  von  etwa 
32  Jahren.  Horneman,  dessen  Miniatur  hier  (auf  S.  18) 
in  etwas  vergrößerter  Nachbildung  erscheint,  war  um 
1802  in  Wien  als  Porträtmaler  im  kleinen  thätig.  Un¬ 
längst  fand  ich  die  vorbereitende  Zeichnung  von 

Horneman  für  das  Minia¬ 
turbildnis  einer  Dame,  aus 
dem  Jahre  1802  und  aus 
Wien  datirt,  in  der  reichen 
Sammlung  von  Handzeich¬ 
nungen,  die  vom  Benedik¬ 
tinerstift  Lambach  in  Ober¬ 
österreich  bewahrt  wird. 
Das  kleine  Bildnis  Beet¬ 
hovens  befindet  sich  im 
Besitz  der  Erben  Dr.  G. 
V.  Breunings. 

Ungefähr  im  .lahre 
1804  wurde  Beethoven  in 
Lebensgröße  von  dem  di- 
lettirenden  Beamten  J.  TU. 
Mäkler  gemalt.  Das  Ant¬ 
litz,  so  idealisirt  es  auch 
ist,  hat  zweifellos  gewisse 
Analogien  mit  den  Stichen 
um  1800  und  mit  Horne- 
mans  Miniatur.  Dasselbe 
gilt ,  wenn  auch  in  ge¬ 
ringerem  Grade,  von  einem 
bisher  wenig  beachteten 
Beethovenporträt,  das  ein 
anderer  Dilettant  J.  Nen- 
fjass  im  Jahre  1806  ge¬ 
malt  hat.  Es  ist  derselbe 
Neugass,  von  dem  man 
auch  ein  lebensgroßes  Bildnis  Jos.  Haydns  besitzt.  Der 
Neugassische  Beethoven  (durch  eine  alte  Inschrift  auf 
der  Rückseite  als  Werk  dieses  Dilettanten  beglaubigt 
und  dem  Jahre  1806  zugewiesen)  hängt  nur  noch 
sehr  locker  mit  den  vorher  genannten  Bildnissen 
zusammen.  Das  Mädchenhafte  der  ganzen  Erschei¬ 
nung  widerspricht  aU  dem,  was  die  zuverlässigen 
bildlichen  und  schriftlichen  Quellen  über  Beethoven 
zu  sagen  wissen.  Auch  die  Zeichnung  Lndw.  v. 
Schnorrs  aus  dem  Jahre  1807  ist  zweifellos  ver¬ 
fehlt.  Geineinsam  mit  den  übrigen  Bildern  dieser 


Beethoven,  Büste  von  Franz  Klein. 


20 


CAREL  L.  DAKE’S  BEETHOVENBILDNIS. 


Periode  hat  sie  fast  nur  das  schmale  Backeiibärt- 
chen,  das  Beethoven  in  jenen  Jahren  trug.  Zu  dem 
Hornemau sehen  Bildchen  müssen  wir  noch  einmal 
zurückkehren,  um  die  Nase  desselben  zu  kritisiren. 
Sie  wurde  von  einem  Gewährsmann  als  die  best¬ 
getroffene  Nase  Beethovens  bezeichnet.  Eine  Ver¬ 
gleichung  mit  der  Nase  an  der  Maske  oder  an  der 
Kleinschen  Büste  belehrt  uns  aber  in  überzeugender 
Weise  darüber,  dass  bei  Horneman  die  Nasenspitze 
zu  groß  ausgefallen  ist.  Berücksichtigt  man  nun, 
dass  der  Dargestellte  bei  Horneman  etwa  32,  bei 
Klein  etwa  42  Jahre  alt  war,  und  dass  eine  mensch¬ 
liche  Nase  zwischen 
dem  32.  und  42.  Le¬ 
bensjahre  nicht  klei¬ 
ner  zu  werden  pflegt, 
so  fällt  der  Ruhm 
jener  Beethovennase 
auf  der  Horneman- 
schen  Miniatur  ganz 
in  sich  zusammen. 

Auf  die  Wichtig¬ 
keit  der  Maske  und 
Büste  von  Klein  aus 
dem  Jahre  IS  12  wur¬ 
de  schon  aufmerksam 
gemacht.  Belebend 
tritt  noch  ein  anderes 
Bildnis  hinzu ,  das 
dem  Jahre  1S14  an¬ 
gehört  und  das  wir 
als  eines  der  besten 
eben  falls  in  Nachbil¬ 
dung  liieher  setzen. 

Ich  meine  den 
Stich  von  Jllasiiis 
lliifrl  nach  einer  Zeich¬ 
nung  von  Letronne. 

Höfel,  einer  der  ge¬ 
wandtesten  und  begabtesten  Künstler  jener  Tage,  ') 
stellte  seinen  Stich  mehr  nach  der  Natur  als  nach 

1)  Die  wiclitigstc  Litteratnr  iilicr  Iffasius  Höfel  findet 
••'ich  in  ineineni  Ifeetliovenltuclie  zusaniincngestellt.  (S.  233 tf.) 
liier  füge  icii  liin/.n:  lloi'inayra  Arcliiv  von  1822,8.192,  182.3, 
S.  217,  1821,  S.  220,  1828,  No.  110;  Pietzniggs  ,, Mitteilungen 
aus  Wien“  1831,  S.  08;  Katalog  der  Wicnior  Kunstausstellung 
von  ls20;  Oe.sterr.  Nat.  Kncyclopädie  (183.0);  „Pfennig-Maga¬ 
zin“  vom  1.  .luli  183.0;  Katalog  der  (Jalerie  zu  Lützschena, 
8.41;  A.  .Mayer,  Duclidruckergeschichte  Wiens  II,  220  ff., 
20111'.;  „Wiener  Ai)endpost“  12.  Mai  1880;  Monatshlatt  des 
Wiener  Altertunisvcreins  Dez.  1880;  Faullianinier :  (Irilliiar- 
zer,  8.  32. 


Letronne’s  (wie  es  heisst)  missglückter  Zeichnung  her. 
Diesem  Umstande  hat  man  es  sicher  auch  zu  dan¬ 
ken,  dass  wir  ein  brauchbares  Beethovenbildnis  mehr 
haben,  das  uns  den  berühmten  Beherrscher  der  Töne 
in  seiner  Vollkraft  vor  Augen  führt. 

Ein  Bildnis  aus  dem  Jahre  1815,  das  wieder 
von  Mählers  dilettirender  Hand  herstammt,  galt  zwar 
bei  Grillparzer  und  Bauernfeld  als  sehr  getroffen,  doch 
fällt  es  so  sehr  aus  der  Reihe  der  übrigen  Bilder 
heraus,  dass  wir  hier  nicht  weiter  auf  dasselbe  ein- 
ziigehen  brauchen.  Einige  wenige  Züge,  die  mit  der 
Maske  übereinstimmen,  seien  anerkannt. 

Je  weiter  wir 
uns  der  Zeit  nach  von 
der  Maske  des  Jahres 
1812  entfernen,  desto 
schwieriger  wird  die 
Beurteilung  der  spä¬ 
teren  Bildnisse  des 
Meisters.  Denn  einen 
sicheren  Anhalts¬ 
punkt,  den  bei  an¬ 
deren  Berühmtheiten 
gelegentlich  eine  To- 
tenmaske  giebt,  haben 
wir  bei  Beethoven 

deshalb  nicht,  weil 
seine  Totenmaske  erst 
nach  der  Obduktion 
genommen  Avorden  i.st. 
Sie  giebt  uns  ein  ver¬ 
zerrtes  und  verscho¬ 
benes  Gesicht  wieder, 
das  mit  dem  leben¬ 
den  Beethoven  gar 

wenig  mehr  gemein 
hat.  Nähere  Erörte¬ 
rungen  dieser  Fragen 
gab  ich  in  meinem 

Beethovenbuch  und  in  der  jüngst  ausgegebenen 
Schrift  „Jos.  Danhauser  und  Beethoven“. 

So  sind  wir  denn  hier  Avieder  auf  die  bedingungs¬ 
weise  Vergleichung  mit  der  ersten  Maske  und  auf 
die  Stimmen  von  Beethovens  Zeitgenossen  angewie¬ 
sen,  die  uns  Personbeschreibungen  des  hässlichen 
Meisters  hinterlassen  haben.  Manche  dieser  Stim¬ 
men  hielten  ihn  unumwunden  für  hässlich.  Der 

Baron  de  Tremont  bezeichnet  ihn  z.  B.  als  einen 

„homme  fort  laid  (et  ä  l’air  d’un  mauvais  humeur)“, 
wie  man  das  erst  vor  kurzem  aus  den  hinterlassenen 
Tagebüchern  Tremonts  erfahren  hat.  (Vergl.  den 


Beetlioven  nach  dem  Stich  von  Blasius  Höfel, 


Beethoven  nach  Carel  L.  Dake’s  Radirung. 


f'.  ■ 


CAREL  L.  DAKE’S  BEETHOVENBILDNIS. 


21 


Guide  musical  vom  20.  März  1892.)  Bettina’s  Mit¬ 
teilungen  sind  allbekannt.  Auch  die  vorhandenen 
Bildnisse,  von  denen  wir  noch  einige  nennen  wollen, 
widerlegen  es  keineswegs,  wenn  man  Beethovens 
Gesicht  häs.slich  nennen  wollte,  was  übrigens  zur 
guten  Hälfte  Ansichtssache  ist.  lüöhcrs  Bildnis,  das 
ich  mit  guten  Gründen  ins  Jahr  1818  setze,  ist  viel¬ 
fach  verzeichnet  und  falsch  modellirt.  Die  Frisur 
allein  kann  uns  dafür  nicht  entschädigen.  Die  bald 
darauf  entstandenen  Bildnisse  von  Schünon  und  Stieler 
sind  jedenfalls  als 
Porträte  wert¬ 
voller.  Sie  sind 
in  den  weitesten 
Kreisen  bekannt 
und  bestimmen  viel¬ 
leicht  nur  allzu¬ 
sehr  den  allgemei¬ 
nen  Begriff,  den 
man  sich  von  Beet¬ 
hovens  äußerer  Er¬ 
scheinung  gebildet 
hat.  Eine  Zeich¬ 
nung  wäre 

durch  neuerliche 
Reproduktion  erst 
wieder  zu  Ehren 
zu  bringen. 

Unsere  Abbil¬ 
dung  des  WaJd- 
iuüllerschen  Gemäl¬ 
des  giebt  eines  jener 
Beethovenbildnisse 
aus  den  zwanziger 
-Jahren  wieder,  über 
de.ssen  Porträtähn¬ 
lichkeit  sich  strei¬ 
ten  lässt.  Schind¬ 
ler,  der  Biograph 
Beethovens,  der  die 
ungünstigen  Um.stände  kannte,  unter  denen  das  Ge¬ 
mälde  entstanden  ist,  verwirft  es  gänzlich;  und  ge¬ 
wiss  müssen  wir  eingestehen,  dass  Waldmüller  viel 
bessere  Porträte  gemalt  hat  als  diesen  Beethoven, 
der  auf  Bestellung  für  die  Firma  Breitkopf  und 
Haertel  entstanden,  aber  nicht  nach  der  Natur  fer¬ 
tig  gemalt  ist. 

Eine  Zeichnung  von  Decker,  die  von  Steinmüller 
gestochen  ist,  zeigt  uns  den  schon  totkrauken  Kom¬ 
ponisten. 

Gehen  wir  an  einigen  Arbeiten  vorüber,  die 


wahrscheinlich  nicht  mehr  nach  dem  Leben,  sondern 
nur  aus  frischer  Erinnerung  hergestellt  sind,  wie  am 
Medaillon  Leopold  Heubergers  und  an  der  Sclialler- 
sclien  Büste,  so  gelangen  wir  rasch  zu  den  moder¬ 
nen  Beethovenbildnissen,  deren  eines  den  Anlass  zu 
den  vorliegenden  Erörterungen  bildet.  Auf  die  Be- 
reehtigung  der  modernen  Kunst,  sich  einen  neuen 
Beethoven  zu  formen,  wurde  schon  hiiigewiesen.  Ich 
füge  noch  hinzu,  dass  die  Aufgabe  hier  wie  in  ana¬ 
logen  Fällen  von  Rekonstruktionen  keine  leichte  ist. 

Wer  sie  lösen  will, 
muss  fast  ebenso 
sehr  Gelehrter  oder 
für  die  Ergel)uisse 
der  Wissenscliaft 
zugänglich  sein,  wie 
ihm  hohe  künst¬ 
lerische  Becfabunff 
zur  Verfügung  ste¬ 
hen  muss.  Die  Ra- 
diruug  von  Carel  L. 
Dcdce,  deren  Nach¬ 
bildung  wir  heute 
den  Lesern  der  Zeit¬ 
schrift  bieten,  ge¬ 
hört  unbedingt  zu 
den  besten  Lösun¬ 
gen  dieser  Art.  Ich 
halte  sie  für  den 
besten  Beethoven, 
den  wir  unter  den 
modernen  haben. 
Dake’s  Radirung 
lehnt  sich  in  erster 
Linie  an  die  Maske 
von  1812  und  be¬ 
rücksichtigt  das, 
was  zuverlässige 
Quellen  über  Beet¬ 
hovens  Gestalt,  Fri¬ 
sur,  Kopfhaltung,  gewöhnlichen  Gesichtsausdruck  be¬ 
richten,  sie  ist  jedenfalls  eine  Arbeit,  in  der  sich  die 
Gewissenhaftigkeit  des  Gelehrten  und  die  gestaltende 
Phantasie  des  Künstlers  zu  einem  schönen  Bündnis 
die  Hände  reichen.  Man  lasse  sich  die  Maske  in 
derselben  Stellung  und  Beleuchtung  vor  Augen  hal¬ 
ten,  in  denen  Dake’s  Radirung  erscheint.  Dann  wird 
die  Gewissenhaftigkeit  des  Künstlers  klar,  der  das 
pockennarbige  ausdrucksvolle  Antlitz  des  großen 
Komponisten  in  der  glücklichsten  Weise  wieder  be¬ 
lebt  hat.  Die  Klipjien,  die  in  der  Benützung  einer 


Beethoven  nach  WaldjiBllers  Bildnis. 


'22 


RADIRVEREINE. 


Gripsmaske  versteckt  liegen,  sind  nach  Möglichkeit 
umschifft,  und  so  sei  denn  Dake’s  Radirung  als  ein 
neuer  Beethoven  begrüßt,  der  gewissermaßen  als 
künstlerischer  Auszug  alles  dessen  gelten  kann,  was 
man  von  Beethovens  äußerer  Erscheinung  weiß. 


wenigstens  soweit,  als  sich  dies  in  einem  Brustbild 
und  in  einem  einzigen  zum  Ausdruck  bringen  lässt  ’). 
Wien,  im  September  1892.  Dr.  TH.  v.  FRIMMEL. 

1)  Bildgrösse  cni.  Preis  vor  der  Schrift  40  Fr., 

mit  der  Schrift  25  Fr.  Verlag  von  Dietrich  &  Co.,  Brüssel. 


RADIRVEREINE. 


AS  Coalitionsrecht  macht  sich 
neuerdings  auch  auf  dem 
Gebiete  der  bildenden  Kunst 
hemerklich.  Man  handelt 
nicht  mehr  auf  eigne  Faust, 
sondern  sucht  allenthalben 
Vereinigung,  Verständigung, 
Zusammenschluss  der  Kräfte, 
um  starke  Wirkungen  zu  erzielen.  Auch  die  Maler¬ 
radirung,  früher  nur  spärlich  und  vereinzelt  in  Deutsch¬ 
land  mit  Erfolg  bestellt,  wird  gegenwärtig  von  Künst¬ 
lergruppen  zum  Felde  friedlichen  Wettstreits  gemacht. 
Seit  längerer  Zeit  schon  ist  der  Weimarische  Radir- 
verein  in  diesem  Sinne  thätig,  ein  Berliner  Club,  der 
gleiclie  Ziele  verfolgt,  hat  sich  vor  einigen  Jahren  ge¬ 
bildet,  ein  Münchener  Verein  ist  nachgefolgt  und  ein 
Düsseldorfer  geht  soeben  daran,  den  ersten  Wurf  zu 
wagen  'j.  Aber  auch  sonst  mühen  sich  in  dieser 
Kunst  in  Deutschland  viele  Talente,  und  man  kann 
beinahe  sagen,  der  Tiefdruck  arbeite  gegenwärtig 
mit  lloclnlruck.  Dabei  findet  sich  auch  mehrfach 
der  erfreuliche  Versuch,  die  künstlich  aufgerichtete 
Grenze  zwischen  Stecher  und  Radirer  zu  verwischen; 
Stecher  greifen  zur  Nadel  und  Nadelhelden  gelegent¬ 
lich  zum  Grah.stichel,  den  man  doch  schon  für  halb 
begraben  erklärt  hat.  Beide  Instrumente  werden  sogar 
nebeneinander  auf  derselben  Platte  verwendet  und 
gewinnen  dabei:  die  flüchtige  Nadel,  die  gar  oft  zu 
,.geriial“  drein  fuhr,  geht  bedächtiger  der  Form  nach 
und  das  phlegmatische  Werkzeug  des  „Stechers  von 
Fach“  wird  in  einigen  neuen  Erzeugnissen  des  Kunst¬ 
markts  mit  einer  Freiheit  und  Leichtigkeit  gehand- 
habt,  flie  vom  Herkömmlichen  abweicht,  und  deren 
Frsprung  in  der  wiedererwachten  Schätzung  der 
Radirung  zu  suchen  ist. 

Die  ungemeine  Beweglichkeit  der  Radirtechnik, 
so  viele  Vorteile  sie  auch  bietet,  hat  ihre  Gefahren, 

1)  Das  erste  Heft  cr.seheint  im  November. 


denen  selbst  begabte  Künstler  anheimgefallen  sind. 
Man  sehe  nur,  was  Max  Klinger  vor  zehn  Jahren 
schuf,  im  Vergleich  zu  seinen  letzten  Leistungen. 
Das  wilde  Dreinfahren,  die  Verachtung  des  „Äußer¬ 
lichen“  kennzeichnete  das  junge  Originalgenie,  das 
der  Regel  lacht;  aber  die  Sturm-  und  Drangperiode 
ist  gewichen,  aus  dem  Prestissimo  der  Mache  ist  ein 
Allegro  geworden,  zum  großen  Vorteil  der  Werke, 
die  sich  nun  bis  in  die  Einzelheiten  mit  Behagen 
genießen  lassen. 

Der  Satz,  dass  nicht  die  Thatsachen  an  sich,  son¬ 
dern  die  Auffassung  der  Thatsachen  die  Welt  regiert, 
gilt  in  der  Philosophie  so  gut  wie  in  der  Kunst. 
Dieser  Gedanke  beherrscht  auch  die  vorliegenden 
Hefte  aus  Weimar,  Berlin  und  München.  Das  „Ding 
an  sich“  einer  solchen  Radirung  ist  häufig  ganz 
unbedeutender  Art  und  soll  nur  zum  Träger  der 
künstlerischen  Anschauung  werden ,  nur  die  eigen¬ 
tümliche  künstlerische  Handschrift  zeigen.  Die  Ver¬ 
schiedenheit  dieser  Handschinftprohen  ist  groß,  so 
groß,  wie  etwa  die  des  Schön  Schreibers  und  des 
Bankdirektors:  der  eine  strebt  nach  größter  Deut¬ 
lichkeit  und  linearer  Korrektheit  der  andere  nach  — 
Unnachahmlichkeit.  Dem  einen  gebricht's  hie  und 
da  an  charakteristischem  Ausdruck,  der  andere 
wirft  nur  ein  Gewirr  von  Linien  und  Punkten  hin. 
Nicht  jede  Improvisation  ist  als  völlig  geglückt  zu 
bezeichnen,  wenn  auch  das  Bestreben,  „dem  Augen¬ 
blick  Dauer  zu  verleihen“,  allenthalben  erkennbar  ist. 

Die  Radirung  im  engsten  Sinne  kennzeichnet 
eine  Verbindung  des  geätzten  (oder  von  der  kalten 
Nadel  geritzten)  Striches  mit  den  gewischten  Tönen, 
die  der  Drucker  hinzufügt,  meist  nach  Angabe  des 
Künstlers.  Gewisse  Radirungen,  z.  B.  viele  ameri¬ 
kanische,  sind  arm  an  festen  Linien;  für  den  Drucker 
bilden  sie  ein  Skelett,  dem  er  erst  das  Fleisch  anzu¬ 
setzen  hat.  Andere  Künstler  geben  fast  alles,  was 
im  Druck  erscheint,  der  Platte  mit,  die  dann  nicht 
selten  kalil  und  trocken  wirkt.  Die  rechte  Beschrän- 


\ 

i 


i 


1 


EADIRVEKEINE. 


2:3 


kung  beider  Elemente,  ihre  rechte  A^erquickung, 
kennzeichnet  den  Meister.  Unter  den  dreißig  Blättern, 
die  uns  vorliegen,  ist  diese  Mitte  meistens  festge¬ 
halten.  Jedes  einzeln  zu  besprechen,  wird  man  uns 
gewiß  erlassen;  ja  auch  alle  anzuführen  und  mit 
etwaigen  schmückenden  Beiwörtern  zu  begleiten,  muss 
uns  ebenso  sehr  Aviederstreben,  wie  es  den  so  beur¬ 
teilten  Urhebern  zu  missfallen  pflegt.  Statt  dessen 
geben  wir  von  zweien  der  Sammlungen  Proben  in 
dem  vorliegenden  Hefte  mit.  Das  Blatt  von  Alb. 
Bmidel,  dessen  Spezialität  in  zwei  Nummern  des 
AVeimarischen  Albums  zu  finden  ist,  und  die  Mond¬ 
landschaft  von  A.  Döring  sind  Stücke,  die  deutlich 
genug  für  den  AA^ert  der  Sammlungen  sprechen.  Die 
AVeimarischen  Künstler  haben  vierzehn  Proben  ihrer 
Kunst  gehefert;  die  Hälfte  davon  sind  Landschaften, 
unter  denen  die  flüchtig,  aber  energisch  behandel¬ 
ten,  stimmungsvollen  Blätter  hervorragen,  die  von 
V.  Gleichen-Rnssmmn  und  Aspergcr  herrühren.  Die 
AA^eimaraner  haben  in  ihren  Heften  von  jeher  das 
Bestreben  gezeigt,  echte  Malerradirungen  zu  liefern 
und  den  Versuch,  dem  landläufigen  Geschmack  des 
Publikums  Konzessionen  zu  machen,  mit  Recht  ver¬ 
schmäht.  Aber  nicht  alle  Blätter  in  dem  Hefte 
stehen  auf  gleicher  Höhe.  Zu  den  weniger  gelun¬ 
genen,  denen  man  die  Mühe  ansieht,  zählen  Avir  den 
Zecher  von  0.  Fröhlich  und  den  auch  in  der  Kompo¬ 
sition  Avenig  anziehenden  Frühlingstag  von  Wcich- 
herger.  Interessant  ist  die  A^ergleichung  der  Studie 
von  0.  Rasch  mit  einem  Blatte  ähnlicher  Art  von 
P.  Hahn.  Es  findet  sich  in  dem  Münchener  Hefte, 
in  dem,  abgesehen  von  Halms  fein  gezeichneter  Studie, 
die  kleinen  Blätter  die  besten  sind.  Den  erfahrenen 
Radirer  und  ganz  selbstständigen  Künstler  finden 
Avir  in  Franz  Stucks  Bildnis  seiner  Mutter,  das  höchst 
charakteristisch  ausgeführt  ist,  Avieder.  Das  Mün¬ 
chener  Heft  ist  numerisch,  aber  nicht  künstlerisch 


am  schwächsten,  es  enthält  nur  sechs  Blätter;  ein 
zweites  mit  gleichem  Inhalt  soll  binnen  k  urzem  nach- 
folgen.  Das  Berliner  Heft  bringt  acht  Proben,  die 
durchweg  eine  sorgfältige  Behandlung  zeigen.  G. 
Eilers  hat  wiederum  eine  sehr  gelungene  Porträt¬ 
radirung,  Joseph  Joachim  darstellend,  beigesteuert  und 
außerdem  eine  Elusslandschaft  mit  klarer  Ferne  hin¬ 
zugegeben.  Dieser  ganz  korrekt  ausgeführten  Arbeit 
mangelt  es  etwas  an  AAhirme,  an  jener  Verve,  die 
man  sonst  bei  dem  ccm  forte  schätzt.  Von  II.  Kohnert 
finden  Avir  eine  sorglich  ausgeführte  Probe,  die  mit 
zu  dem  Besten  gehört,  Avas  von  diesem  talentvollen 
Künstler  herrührt.  Ph.  Francks  stimmungsvolle 
AVinterlandschaft  mit  bleischwerem  Himmel  reiht 
sich  ebenbürtig  an.  II.  Schnees  Vedute  ist  sul)til 
ausgeführt,  aber  ein  wenig  flau;  das  Titelbild  von 
G.  Lemni,  einem  jungen  Künstler,  kommt  bei  aller 
Betonung  der  Gegensätze  nicht  zu  der  AVirkuug,  die 
Avir  auf  andern  Blättern  seiner  Hand  fanden. 

Alles  in  allem  genommen,  sind  diese  drei  Samm¬ 
lungen  dem  Kunstfreunde  zu  wiederholter  Besichti¬ 
gung  sehr  zu  empfehlen.  Man  kann  nicht  genug 
darauf  hinAveisen,  dass  sich  der  innere  AVert  der 
KunstAverke  erst  bei  näherer  Bekanntschaft  enthüllt. 
Das  gedankenlose  Begucken  der  graphischen  Kunst¬ 
Averke,  zu  dem  die  stets  noch  steigende  Flut  der 
Holzschnitte  verleitet,  stumpft  den  feineren  Sinn  ab, 
und  raubt  nach  und  nach  die  Fähigkeit,  die  Blume 
einer  künstlerischen  Leistung  zu  schmecken.  Die 
illustrirten  Blätter  arbeiten  fortgesetzt  an  dieser  Ab¬ 
stumpfung.  Dem  entgegen  zu  wirken,  ist  eine  Mission 
der  Radirung,  die  sich  schon  in  der  Art  ihrer  Her¬ 
stellung  der  Originalzeichnung  nähert.  Je  mehr  wir 
in  Deutschland  fortfahren,  diese  edlere  Vervielfälti¬ 
gung  zu  pflegen,  um  so  mehr  fördern  wir  die  wahre, 
echte  Kunstbetrachtung. 

NAUTILUS. 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


X  Die  Aufsätze  über  Murillo  aus  der  Feder  unseres 
geschätzten  Mitarbeiters  Gebeimrat  l’rof.  Dr.  Justi  sind  so¬ 
eben  in  einer  Sonderausgabe  erschienen.  Sie  bilden  nun 
einen  stattlichen  Quartband,  der  gebunden  zu  dem  sehr 
mäßigen  Preise  von  sechs  Mark  zu  haben  ist. 

St.  Dresden.  Im  November  findet  im  zweiten  Stockwerk 
des  Brühlschen  Palais  in  der  Augustusstrasse  eine  Ausstellung 
von  Mainerhen  sächsischer  Känstlermnen  statt.  Die  Anmel¬ 
dungen  von  seiten  der  hervorragendsten  sächsischen  Künst¬ 
lerinnen,  auch  solchen,  welche  gegenwärtig  im  Ausland 
leben,  sind  bereits  so  zahlreich  eingegangen,  dass  diese  Aus¬ 
stellung  hochinteressant  zu  werden  verspricht.  Der  Ertrag 
der  Ausstellung  ist  für  einen  wohlthätigen  Zweck,  den 
Centralfonds  der  obererzgebirgischen  Frauenvereine,  bestimmt, 

[Dresd.  Nachr.) 

St.  Münchc7i.  Eine  kleine,  aber  höchst  interessante 
Sammlung  der  letzten  Arbeiten  Herkomers  ist  bei  H.  L. 
Xenniann  zur  Ausstellung  gelangt. 

— X  Das  Museum  in  Leipzig  hat  ein  neues  Bildnis  von 
der  Hand  Franz  von  Lcnhachs  erworben,  ein  neues  Meister¬ 
stück  des  berühmten  Darstellers  berühmter  Persönlichkeiten. 
Es  zeigt  den  König  Albert  von  Sachsen  im  Profil.  Wie  über¬ 
all  in  Lenbachs  Werken,  ist  die  höchste  künstlerische  Energie 
in  den  Blick  des  hohen  Herrn  gelegt,  der  gespannt  ins  Weite 
blickt,  als  verfolge  er  den  Gang  des  Kriegsspiels.  Angesichts 
dieses  Bildes  wird  wiederum  klar,  was  menschliche  Kunst  vor 
der  photographischen  Maschine  voraus  hat.  Sie  erst  weiß  zu  be¬ 
seelen  und  stellt  nicht  die  Persönlichkeit  in  einem  zufälligen 
Momente  dar,  sondern  nimmt  die  Quintessenz  des  Wesens  her¬ 
aus  und  enthüllt  mit  der  Außenseite  einen  guten  Teil  des 
Geistes,  der  sich  diesen  Körper  baute.  Freilich  vermag  nur 
der  echte  Künstler  dieses  Problem  zu  lösen,  und  insofern  ist 
das  Porträt  der  wahre  Prüfstein  der  Meisters  genannt  worden. 
Lenbach  hat  seine  Meisterschaft  im  emsigen  Studium  der  Alten 
erworben,  auf  die  so  viele  „Moderne“  mit  Verachtung  blicken. 
Und  dennoch  ist  nichts,  was  aufdringlich  an  alte  Meister  er¬ 
innerte,  es  seien  denn  Äußerlichkeiten.  Wie  man’s  machen 
mu.«s,  um  zum  echten  „bnlividualismus“,  nach  dem  jetzt  so 
vielfach  gerufen  wird,  zu  gelangen,  hat  kein  Neuerer  besser 
gezeigt,  als  der  große  Münchener  Meister. 

St-  l'aris.  Wegen  einer  von  der  Verwaltung  des  Louvre 
vor  einiger  Zeit  angekauften  Bronzestatuettc  scheint  sich  ein 
Prozess  entspinnen  zu  wollen,  indem  dieselbe  von  sachver¬ 
ständiger  Seite  nachträglich  als  &ine  Fälschting  erkannt  wor¬ 
den  ist.  Die  Statuette  sollte  Venezianer  Herkunft  sein  und  aus 
den  letzten  .Jahren  des  LO.  .Jahrhunderts  stammen.  Genaue 
I ’ntersuchungen  haben  ergeben,  dass  der  Kopf  einer  Büste 
im  M  useiiin  Correr  in  Venedig  nachgebildet  ist,  während  der 
übrige  Körper  in  seinen  Projiortionen  mit  dem  Kopf  nicht 
in  Cl)ereinstimmung  steht.  Ferner  hat  sich  der  Guß  als  sehr 
mittelmäßig  herausgestellt,  und  die  Patina  ist  der  der  mo¬ 
dernen  venezianisclniti  Bronzearbeiter  gleich.  Glücklicher¬ 
weise  i.st  der  Kaufjtreis  von  4t)0t)0  Francs  noch  nicht  gezahlt 
worden,  und  der  Verkäufer  wird,  wenn  er  seine  Bronze  nicht 


zurücknehmen  will,  sich  auf  einen  Prozess  wegen  Betrug  ge¬ 
fasst  machen  müssen.  {Le  Teinps.) 

*  Von  der  Breragalerie  in  Mailand  ist  soeben  ein  von 
Prof.  O.  Carotti  verfasster  neuer  Katalog  erschienen,  welcher 
alle  Erwerbungen  der  Sammlung  aus  den  letzten  Jahren 
und  die  Resultate  der  jüngsten  Forschung  gebührend  berück¬ 
sichtigt  und  den  zahlreichen  Besuchern  der  weltberühmten 
Galerie  willkommen  sein  wird.  Der  Katalog  zerfällt  in  zwei 
durch  getrennte  Nummern  folgen  gekennzeichnete  Abteilungen, 
deren  erste  die  im  Vestibül  aufgestellten  Fresken  nebst  einem 
Appendix  umfasst,  während  die  zweite  die  in  den  eigentlichen 
Galerieräumen  aufgehängten  Bilder  enthält.  Ein  Index  nach 
Schulen  geordnet  und  zwei  Namens-  und  Nummernverzeich- 
nisse  dienen  zur  J:)equemen  Orientirung.  Die  Fassung  des 
Katalogs  ist  sehr  kurz ;  nur  von  einzelnen  wichtigeren  Bildern 
werden  knappe  Beschreibungen  gegeben.  Die  Ausstattung 
ist  gut  und  handlich. 

St.  München.  Vor  einigen  Tagen  hat  Dr.  Fi-ed.  Neidon 
Scott,  Professor  der  Universität  von  Michigan,  einen  Vortrag 
gehalten,  der  von  der  Annahme  ausgehend,  daß  die  Weltaus¬ 
stellung  zu  Chicago  einen  mächtigen  Einfluss  auf  die  künftige 
Wertschätzung  der  deutschen  Kunst  seitens  der  Amerikaner  und 
besonders  auf  die  fernere  Anziehungskraft  Münchens  als  Auf¬ 
enthaltsort  für  Kunstbeflissene  aus  Amerika  ausüben  werde, 
sich  dahin  aussprach,  dass  es  durchaus  notwendig  sei,  dass 
die  künstlerische  Thätigkeit  Münchens,  wie  sie  heute  geübt 
wird,  eine  treue  Darstellung  finde.  Dazu  gehörten  aber  auch 
die  Künstler,  welche  sich  vor  einiger  Zeit  von  der  Kunstge¬ 
nossenschaft  getrennt  hätten,  und  er  könne  nicht  genug  be¬ 
tonen,  dass  diesen  von  der  Jury  ein  gebührender  Platz  ein¬ 
geräumt  werden  möge. 

St  -  Frankfurt  a.jM.  Am  27.  Oktober  1.  J.  versteigert 
Herr  Rud.  Bangel  die  Sammlung  von  Gemälden  moderner 
und  älterer  Meister  aus  dem  Besitze  des  Herrn  Karl  Mel- 
linger  in  Mainz.  Unter  den  modernen  Bildern  finden  sich 
Arlieiten  von  Th.  Schüler,  Ant.  Burger,  A.  Adami,  Canton, 
Dallwigk,  H.  Koekkoek,  Litschauer  u.  a.  Die  Sammlung  äl¬ 
terer  Meister  ist  zahlreicher  und  zeichnet  sich,  weil  sie  dem 
Besitzer  meist  durch  Erbschaft  zugefallen  ist,  dadurch  aus, 
dass  die  Provenienz  fast  sämtlicher  Gemälde  als  eine  gute  be¬ 
kannt  ist.  Die  holländische  und  vlämische  Schule  wiegen 
vor,  ein  Rembrandt  (Porträt  des  Predigers  Cabeljau,  1634 
gemalt)  ein  Rubens  sind  zu  nennen;  doch  auch  Italiener, 
Spanier,  Deutsche  und  Franzosen  sind  vertreten.  Der  Kata¬ 
log,  welcher  mit  neun  Abbildungen  in  Lichtdruck  versehen  ist, 
und  noch  einige  schöne  Möbel,  Miniaturen  u.  s.  w.  beschreibt, 
ist  soeben  erschienen. 

X.  Unsere  Absicht,  den  Lesern  mit  vorliegendem  Hefte 
noch  einen  dritten  Ktipfcrdruck  zu  l)ieten,  wurde  leider  durch¬ 
kreuzt  durch  mangelhafte  Druckfähigkeit  der  fraglichen 
Platte;  ein  Ubelstand ,  der  sich  erst  während  des  Druckes 
herausstellte.  Wir  werden  das  fehlende  Blatt  (Origiiial- 
radirung  von  IL  Laukota)  dem  nächsten  Hefte  beifügen. 


IlerausgcJjer:  Carl  von  LiiUow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Fries  in  Leipzig. 


Schwere  Arbeit,  tiemälde  von  H.  Zügel. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 

VON  ALFEEI)  OOTTHOIJ)  MEYER. 


UF  dem  von  entwor¬ 

fenen  Plakat  des  diesjährigen 
Münchener  Salons  verzeich- 
nete  der  Genius  derGeschichte 
den  Alicen  des  Mün¬ 


vor 


chener  Kindls  diesmal  nicht 
eine  ., Jahres-“  sondern  eine 
„Internationale“  Ausstellung, 
die  sechste  ihrer  Gattung.  Dieser  veränderte  Titel 
besagt  zunächst  lediglich,  dass  die  Leitung  des 
Unternehmens  nicht  bei  der  Münchener  Künstler¬ 
genossenschaft  lag,  sondern  dass  an  ihm  die  Staats¬ 
regierung  offiziell  beteiligt  war,  aber  dieser  äußere 
Unterschied  lässt  auf  einen  inneren  schließen:  man 
hat  sich  gewöhnt,  in  der  staatlich  privilegirten 
Kunst  die  hergebrachten  Wege  zu  erkennen,  die 
Pfadfinder  aber  in  den  Reihen  derer  zu  suchen,  die 
Amt  und  Würden  möglichst  fern  stehen.  Wohl 
nicht  ganz  mit  Unrecht  für  etliche  Centren  der 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


deutschen  Kunstpflege,  die  Reichshauptstadt  an  der 
Spitze,  mit  halbem  Recht  aber  für  die  Kunststadt  an 
der  Isar,  wie  schon  der  flüchtigste  Überblick  über 
die  Ankäufe  für  die  Pinakothek  genugsam  bezeugt. 
In  der  That  war  denn  auch  der  Gesamteindruck  des 
diesjährigen  Salons  von  den  „Jahresausstellungen“ 
nicht  wesentlich  verschieden:  nicht  nationaler,  ob¬ 
schon  die  Schotten  fehlten ,  die  Engländer  und 
Franzosen  nur  schwach  vertreten  waren,  auch  nicht 
internationaler,  obgleich  die  Kunst  der  Amerikaner, 
Polen,  Ungarn,  Österreicher  und  auch  wohl  der 
Spanier  diesmal  aus  breiteren  Spiegelbildern  zurück¬ 
strahlte,  und  äußerlich  eine  schärfere  Scheidung  nach 
Volksstämmen  durchgeführt  wurde.  Die  Eigenart 
der  Ausstellung  äußerte  sieb  zunächst  darin,  dass 
die  Durchschnittshöhe  künstlerischer  Leistungsfähig¬ 
keit  diesmal  ganz  unbedingt  den  Ton  angab,  und 
Außergewöhnliches  nur  vereinzelt  blieb.  Nicht  die 
extremen  Ziele  der  Zukunft  traten  hervor,  sondern 

4 


•26 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


die  Hauptpfade  der  bereits  vollzogenen  Entwicklung: 
die  Ausstellung  bot  eine  Durcbscbnittsbilanz  durch 
die  Errungenschaften  des  letzten  Jahrzehntes. 

In  diesem  Sinne  war  das  Gesamtbild  des  Münchener 
Salons  der  beredteste  Zeuge  gegen  jene  Unglück 
weissagenden  Stimmen  der  Kritik,  av eiche  in  der 
„neuen  Richtung“  einen  zum  Verfall  führenden  Irr¬ 
weg  der  Kunst  verdammten.  Sie  vergaßen  dabei, 
dass  eine  neue  Wahrheit  nicht  in  derjenigen  Form 
aufzutreten  pflegt,  in  der  sie  fortleben  kann,  dass 
sie  sich  allgemach  mit  dem  Bestehenden  in  Einklang 
setzen  nnrss  und  erst  in  diesem  Assimilationsprozess 
ihre  Lebensfähigkeit  bewährt.  Der  letztere  —  das 
ließen  selbst  in  Deutschland  die  Münchener  Jahres¬ 
und  die  letzte  Berliner  Jubiläumsausstellung  deutlich 
erkennen  —  ist  für  unsere  Malerei  bereits  ein¬ 
getreten,  und  sein  Ergebnis  kann  nicht  mehr  zweifel¬ 
haft  sein.  So  zahlreiche  Namen  man  der  „neuen 
Schule“  gegeben,  die,  von  Frankreich  ausgehend, 
jetzt  die  Welt  erobert  hat  —  ihr  allgemeinstes,  blei¬ 
bendes  Charakteristikon  ist:  selbständiges  Studium 
der  natürlichen  Erscheinung;  im  negativen  Sinne: 
bewusste  Abkehr  von  aller  ümvahrheit,  vor  allem 
von  konventioneller  Mache  und  bühnengemäßer  Pose, 
Abkelir  selbst  von  dem  Medium,  Avelches  die  Werke 
tler  Vergangenheit  zwischen  den  heutigen  Künstler 
und  die  Natur  stellen.  —  Fast  jedwede  Zeit  freilich 
scliwor  auf  eine  ähnliche  Parole,  aber  man  fasste 
diesellje  früher  in  anderem  Sinne  auf  als  lieute.  ln 
der  modernen  Malerei  steht  die  Erscl/cinwifj  als  solche 
im  Vordergrund,  nicht  deren  TJedetitmu] ,  und  zwar 
die  Erscbeinung  als  solche,  wie  sie  flüchtig  vor  dem 
Auge  vorüberzieht  in  Licht  und  Luft  und  Farben; 
den  plötzlicben,  scbnell  verschwindenden  Reiz,  der 
die  Neizbaut  triflt,  den  momentanen  Eindruck,  den 
-ie  dort  zurücklässt,  sollen  die  Farben  auf  die  Lein¬ 
wand  lainneii.  ])iese  Nüance  des  Realismus,  Avelche 
sieb  doch  am  b(;sten  mit  dem  Begriff  Im])ressionismus 
deckt,  bleiltt  in  ihrer  heutigen,  ausgedehnten  Herr- 
■scliafl  ein  kunstliistorisches  Novum,  weit  mehr  noch 
ah  die  eigentliche  Freilichtmalerei,  und  leitete  zum 
'Peil  thatsächlieh  auf  neue  Bahnen.  Sie  hat  zunächst 
den  Darstellungsstolf  (Tweitert:  man  schildert  mo¬ 
mentane  Bilder  mit  einer  IJchtfülle,  mit  Farbenkon- 
trasteji,  im  Dunkel  der  Dämmerung,  an  deren  Wie¬ 
dergabe  man  sich  früher  nur  ganz  vereinzelt  wagte. 
Sie  hat  ferner  den  Blick  für  lacht  und  Farben  ver¬ 
feinert  und  mit  ihm  den  koloristischen  Sinn  vertieft 
und  erweitert.  Sie  liat  en<llich  den  Maler  mit  einer 
neuen  Liebe  für  jegliclioi  Teil  der  Natur  erfüllt, 
welche  etwas  von  der  christlichen  Lehre  enthält, 


gerade  im  Dürftigen,  Unscheinbaren,  Verkommenen 
das  Wunder  der  Schöpfung  zu  achten.  —  Diese  drei 
Folgen  des  eigentlichen  Impressionismus  beginnen 
jetzt  bereits  auch  auf  diejenige  Kunstweise  zurück¬ 
zuwirken,  welche  den  traditionellen  Aufgaben  treu 
bleibt,  und  gerade  eine  solche  Ausstellung,  wie  die 
diesjährige  Münchener,  giebt  über  das  Ergebnis 
trefflich  Aufschluss,  denn  sie  enthält  kaum  noch  das 
ursprüngliche,  mit  mannigfachen  Schlacken  versetzte 
Gold  der  ersten,  halb  zufälligen  Funde,  sondern  den 
Ertrag  bedächtigen  Sammelns,  ja  schon  die  sauber 
geprägte,  gangbare  Münze. 

Vor  allem  gilt  dies  hier  von  der  deutschen 
Malerei,  denn  das  Ausland  war  für  diesen  Gesichts¬ 
punkt  selbstverständlich  nicht  reich  genug  vertreten. 

I.  Deutsche  Med  er  ei. 

Von  der  Nachahmung  der  Natur,  nicht  von  der 
schöpferischen  Phantasie  ist  die  neue  Richtung  aus¬ 
gegangen,  begreiflich  also,  dass  sich  jener  Assimi¬ 
lationsprozess  jetzt  zunächst  auf  denjenigen  Gebieten 
vollzieht,  welche  das  subjektive  Element  des  Schaffens 
in  verhältnismäßig  enge  Schranken  bannen:  im  Bildnis 
und  in  der  Landschaft.  Ich  beginne  mit  der  letzteren, 
weil  sie  den  oben  gekennzeichneten  Vorgang  zweifellos 
am  klarsten  spiegelt. 

Eine  gleiche  Fülle  von  Landschaftsbildern,  die 
jeder  Geschmacksrichtung  Zusagen  und  jedem  Kunst¬ 
händler  willkommen  wären,  war  Avohl  auf  keiner 
früheren  „Jahresausstellung“  vereint,  und  in  dieser 
großen  Schar,  vom  monumentalen  Museumsstück 
bis  herab  zum  Avinzigsten  Maßstab,  kaum  eine  einzige 
untüchtige,  dagegen  eine  stattliche  Reihe  muster¬ 
gültiger  Arbeiten!  AltbeAvährte  und  neue  Namen 
standen  hier  so  dicht  nebeneinander,  dass  eine  Aus- 
Avahl  sch  AVer  wird.  Viele  sind  bereits  gleichsam  zum 
Schlagwort  für  bestimmte  Richtungen  und  Stoffe 
geworden  —  selbst  abgesehen  von  Joscjdt  Wenglcin 
und  Jjudu-iej  Willroider,  die  schon  zu  den  Klassikern 
zählen  und  auch  diesmal  die  Schönheit  der  ober¬ 
bayerischen  Lande  in  wahrhaft  epischem  Stile  feierten. 
Ich  nenne  nur  Karl  Ludwig  —  durch  eine  prächtige 
Alpenlandschaft  vertreten,  —  Friedrich  Kalhnorgen, 
(„Oktoberabend“  für  die  Pinakothek  angekauft), iJnc/i 
Kuhierschkg,  dessen  Vorfrühlingsbilder  den  gleichen 
Grundton  mit  wachsender  Feinheit  variiren,  und  den 
Stuttgarter  Otto  Jiciniger,  dessen  ernste  Pfade  diesmal 
auch  Erivin  Starker  mit  tüchtiger  Schulung  betrat. 
Andere  erreichten  innerhalb  ihres  schon  bekannten 
Spezialgebietes  in  dieser  Ausstellung  eine  höhere 
Stufe  als  bisher,  so  Ander sen-Lundby,  welcher  mit 


DTE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


27 


seiner  köstlichen  Winterflaclilandschaft  bei  Abend¬ 
dämmerung  seine  früheren  Arbeiten  selbst  in  den 
Schatten  stellt.  —  Nicht  auf  den  Werken  dieser 
Künstler  jedoch  beruht  der  oben  angedeutete  Ge¬ 
samteindruck,  den  die  deutsche  Landschaftsmalerei 
hier  hervorrief:  sie  bezeichnen  vielmehr  gleichsam 
nur  einzelne  Höhepunkte  des  Hintergrundes,  von 
welchem  sich  das  Hauptbild  abhob,  repräsentirt  durch 
eine  ganze  Reihe  bisher  wenig  bekannter  Namen, 
an  deren  Spitze  freilich  wiederum  etliche  bewährte 
Persönlichkeiten  stehen.  —  Gemeinsam  ist  hier  zunächst 
ein  völlig  naiionakr  Zug.  Fast  alle  diese  Bilder 
feiern  die  Reize  der  urdeutschen  Lande,  und  fast  alle 
bleiben  hierbei  innerhalb  der  engeren  heimatlichen 
Grenzen  ihrer  Meister,  fern  von  den  Stätten,  an  denen 
die  Sprache  der  Natur  einen  höheren,  majestätischen 
Ton  anschlägt,  fern  besonders  von  den  Regionen 
des  Hochgebirges.  Der  Umgebung  Münchens  mit 
ihrem  schlichten  Seen-  und  Waldgebiet,  dem  von  der 
Natur  so  dürftig  bedachten  norddeutschen  Flachland, 
sind  weitaus  die  meisten  Motive  entlehnt.  Es  ist, 
als  sei  den  deutschen  Malern  erst  in  unseren  Tagen, 
welche  die  räumliche  Entfernung  der  Länder  ver¬ 
gessen  lassen,  der  rechte,  liebevolle  Sinn  für  das 
heimische  Stückchen  Erde  aufgegangen.  Aber  man 
sieht  dasselbe  jetzt  auch  mit  anderen  Augen  an,  als 
zuvor!  Eine  neue  Freude  an  der  Natur  ist  erwacht, 
den  Blick  beseelend  mit  einer  bisher  ganz  unge¬ 
wöhnlichen  Wahrnehmungskraft  für  den  Reichtum  an 
Licht  und  an  Farben,  für  die  Stimmung,  für  die 
Poesie,  den  selbst  der  winzigste,  beliebig  gewählte 
Naturausschnitt  zu  Zeiten  birgt.  Breitet  sich  doch 
über  das  kahlste  Flachland  das  herrlichste  Schau¬ 
spiel  von  Wolken  und  Sonnenschein  und  .strahlt 
auch  aus  dem  armseligsten  Weiher  zurück;  ist  doch 
das  dürftigste  Feld  von  Mohn  und  Kornblumen  durch¬ 
webt,  und  der  schmutzige  Tümpel  in  seinem  Schlamm 
reich  an  einem  Grün  von  märchenhafter  Pracht!  — 
Mit  wenigen  Worten  ist  der  Inhalt  dieser  Darstellungen 
zu  erledigen,  ihre  Stimmung  zu  kennzeichnen  aber 
reicht  meist  die  beredteste  Schilderung  nicht  aus. 
Keller- Ee II tlin gen  malt  ein  bayerisches  Dörfchen  bei 
Nacht  —  ein  paar  Dächer,  die  zwischen  dunklen 
Bäumen  aufragen,  etliche  Lichter,  aus  den  Fenstern 
dringend,  darüber  der  nächtliche  Himmel;  er  zeigt 
ein  Bächlein,  über  dessen  Wellen  die  Baumwurzeln 
frei  hängen,  eine  Fernsicht  über  die  Wiesen  hin, 
wo  am  fernen  Horizont  eine  Stadt  auftaucht  —  und 
alle  diese  Bilder,  die  auf  jedweder  Eisenbahnfahrt 
vorüberfliegen,  werden  unter  seinem  Pinsel  zu  ge¬ 
malten  Gedichten  und  fesseln,  je  länger  man  sie  be¬ 


trachtet.  Charles  Falmie  belauscht  einen  Waldweiher 
während  das  Mondlicht  auf  seinem  Wasser  zittert, 
und  unter  dessen  Strahlen  scheint  dort  ein  geheim¬ 
nisvolles  Leben  zu  beginnen;  er  widmet  in  einem 
anderen  Bild  die  Hauptfläche  der  Spiegelung  einer 
Häuserreihe  in  einem  Gewässer  —  die  Uferlinie  ist 
dem  oberen  Rande  des  Gemäldes  nahe  — ■  und  er  weiß 
diesem  Thema  in  der  Herbststimmung  koloristische 
Reize  abzugewinnen,  welche  selbst  eine  italienische 
Landschaft  verdunkeln  könnten.  Das  gleiche  gilt 
von  der  meisterhaften  Landschaft  Peter  Paul  Müllers 
„Am  Weiher“,  und  von  den  treffliclien  Arbeiten  der 
Charlotte  Marie  Walstah  („Am  Schlossteich“),  Fritz 
Rahemling^  Otto  Eismanii  und  Adolph  Ditscheiner. 
Freilich  ist  bei  dieser  Richtung  eine  gewisse  Ab¬ 
sichtlichkeit  unverkennbar,  aber  eine  Kunst,  die  das 
Auge  für  unbeachtete  Schönheit  der  alltäglichen  Er¬ 
scheinung  öffnet,  ist  auf  gutem  Wege.  Noch 
schlichteren  Stoffen  wendet  sich  eine  andere  Gruppe 
von  Künstlern  —  genannt  sei  nur  Viktor  Weishaupt 

—  zu.  Sie  wählen  Naturausschnitte,  welche  man 
bisher  meist  nur  als  Vordergrund  für  stattliche 
Fernsicht  zu  verewigen  pflegte,  zu  selbständigen 
Bildern,  verzichten  dabei  auf  drastische  Beleuchtung 
und  schärfere  koloristische  Kontraste,  und  schaffen 
dennoch  reizvolle  Werke,  weil  jeder  Pinselstrich  die 
Freude  an  der  Natur  verkündet  und  eine  Liebe  zu 
deren  Kleinleben,  wie  sie  etwa  aus  Werther’s  ersten 
Briefen  tönt.  Hierbei  wird  dementsprechend  ein 
kleines  Format  bevorzugt,  und  an  die  Stelle  der 
breiten,  auf  Wirkung  in  die  Ferne  berechneten  Be¬ 
handlung,  wie  sie  eine  Reihe  der  jungen  Münchener 
Landschafter,  wie  Otto  Uhhclejhde,  mit  tüchtigem 
Können  ausübt,  treten  feinere  Pinselstriche,  die,  sorg¬ 
sam  vertrieben,  das  Auge  auch  in  unmittelbarer 
Nähe  fesseln.  Ein  gutes  Beispiel  für  diese  Malweise 
bot  das  an  Spitzweg’s  Art  erinnernde  Gemälde 
Philij)p  Sporrer’s  „Vor  dem  Gewitter“.  —  Sonnen¬ 
schein  und  Licht  haben  die  Geburtsjahre  der  mo¬ 
dernen  Schule  begleitet,  und  wenn  sie  unter  dem 
Druck  der  pessimistischen  Nebenströmungen  zeit¬ 
weilig  verschwanden  und  der  Zauber  eines  hellen 
Sommertages  dem  Auge  des  eingefleischten  Realisten 

—  wie  Heyse  sagt  —  „als  ein  prahlerischer  Aufputz 
der  nature  endimanchee“  erschien,  so  beginnt  man 
diese  Verirrung  gegen  ein  gesundes  Empfinden  schon 
seit  einigen  Jahren  wieder  gut  zu  machen,  und  gerade 
die  Hellmaler  schreiten  hier  wacker  voran.  Auch 
hierfür  brachte  die  Ausstellung  zahlreiche  Belege, 
und  nur  als  beliebige  Beispiele  seien  die  Arbeiten 
der  Münchener  Georg  Flad,  Josua  von  Oietl,  Theodor 

4* 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


29 


Heine,  Ludtcig  Dill,  Adalbert  Niemeyer,  Eduard  Selxani 
und  Wilhelm  Trübncr  erwähnt.  Selbst  in  den  zahl¬ 
reichen  Herhstlandschaften  —  ich  nenne  nur  von 
Münchenern  Fritz  Baer,  Hugo  Bürgel  und  Karl  Hart¬ 
mann,  die  Düsseldorfer  Hermann  Bahner,  Olof  Jern- 
bcrg  und  Lndicig  Munthe  und  H.  v.  Volkmann  (Karls¬ 
ruhe)  —  gelangt  häufiger  der  koloristische  Reiz  des 
Laubes  und  der  wallenden  Nebel,  als  die  Melancholie 
der  Herbststimmung  zum  Ausdruck,  ähnlich  wde  die 
lustigen  Farben  der  Obstblüte  einen  Grundton  der 
modernen  Frühlingslandschaften  kennzeichnen.  Ern¬ 
ster  fasste  der  talentvolle  Karl  Vinnen  dies  Thema  in 
einer  trefilicheu  Flachlaudschaft  mit  überschwemmten 
Wiesen  unter  regenschwangerem  Himmel. 

Noch  erübrigt  es,  einzelne  Landschafter  namhaft 
zu  machen,  die  in  dieser  Ausstellung  in  ungewöhn¬ 
licher  und  für  die  neuen  Ziele  besonders  bezeich¬ 
nender  Ai't  zum  Wort  gelangten.  An  der  Spitze  stand 
von  den  Münchenern  hier  zunächst  Robert  Poetzel- 
berger.  Seinen  Ruhm  in  weiteren  Kreisen  dankt  er 
bisher  dem  Liebreiz  seiner  Frauengestalten,  welche 
nicht  nur  äußerlich,  sondern  auch  in  ihrem  Empfinden 
die  Wertherperiode  spiegeln,  als  Landschafter  aber 
schlug  er  diesmal  einen  völlig  anderen,  kräftigeren 
Ton  an.  Aus  Franken  stammt  sein  Motiv,  und  etwas 
von  des  Franken  Albrecht  Dürers  Weise  ist  auch 
dem  Gemälde  angeflogen.  So  unbefangen  und  um 
Effekte  gänzlich  unbekümmert  scheint  dieser  Natur¬ 
ausschnitt  gewählt,  v  ie  in  etlichen  Dürer’schen  Ac^ua- 
rellen,  und  just  mit  gleich  deutscher,  liebevoller  Gründ¬ 
lichkeit,  wie  dort ,  haftete  das  Auge  am  einzelnen. 
Von  hohem  Standort  schweift  der  Blick  über  das 
Thal,  wobei  der  Horizont  so  weit  emporgerückt  ist, 
dass  nur  für  einen  winzigen  Streifen  Himmel  Raum 
bleibt.  In  der  Plastik  der  Einzelformen  zeigt  sich 
ein  Achtung  gebietendes  Können.  Hans  Thoma,  der 
in  seinen  Landschaften  ähnliches  erstrebt,  muss  an 
diesem  Werk  seine  Freude  haben.  —  Sprach  der 
Einfluss  der  modernen  Richtung  hier  nur  aus  der 
subtilen  Naturbeobachtung,  besonders  in  den  Farben- 
nüancen  der  Luftperspektive,  so  leuchtete  das  Zeichen 
der  neuen  Schule  aus  einer  zweiten,  ungewöhnlichen 
Landschaft  der  deutschen  Abteilung  dem  Beschauer 
schon  aus  der  Ferne  entgegen:  Hans  Olde's  „Winter¬ 
sonne“  zählt  zu  den  Arbeiten,  welche  die  impressio¬ 
nistischen  und  pleinairistischen  Bestrebungen  des 
letzten  Jahrzehnts  unbedingt  zur  Voraussetzung 
haben.  Nicht  als  ob  das  Thema  neu  wäre!  Ver¬ 
schneiter  Wald  im  Morgensonnenlicht  ist  in  un¬ 
zähligen  Bildern  geschildert.  Aber  so  unbefangen, 
wie  hier,  wusste  man  das  winterliche  Weiß  und  den 


blauen  Schatten  nicht  zu  sehen  und  noch  weniger 
wiederzugeben,  und  eine  solche  Fülle  von  Weiß  auf 
Weiß,  von  Licht  und  Helle,  wagte  man  zuvor  über¬ 
haupt  nicht  auf  der  Bildfläche  zu  vereinen.  Schon 
technisch  ist  Olde’s  Gemälde  eine  höchst  beachtens¬ 
werte  Leistung,  und  zugleich  ein  Stimmungsbild  von 
seltener  Frische  —  eine  Stimmung  jedoch,  die  völlig 
realistisch  bleibt.  —  Nach  solcher  strebt  auf  gänzlich 
anderem  Wege  auch  der  Berliner  Friedrich  Stahl. 
Seine  große,  schon  durch  die  Ausstellung  der  „Elf“ 
bekannte  Landschaft,  welche  den  Blick  über  das 
frische  Grab  eines  Kirchhofs  auf  das  nächtliche  Leben 
eines  Rangirbahnhofes  lenkt  und  so  einen  alltäg¬ 
lichen  Gegensatz  von  Tod  und  rastlosem  Weltgetriebe 
zwanglos  verkörpert,  ist  zunächst  nur  inhaltlich  mo¬ 
dern,  aber  auch  das  rein  Künstlerische  der  Aufgabe, 
die  Beleuchtung  der  vom  Dunst  der  Großstadt  durch¬ 
hauchten  Winternacht  und  der  mannigfachen  Lichter 
der  Bahnstraße,  stellte  Probleme,  wie  sie  die  „neue 
Schule“  mit  Vorliebe  beschäftigen.  —  Diese  drei  ge¬ 
nannten  Werke  sind  nur  die  vollendetsten  Typen  für 
eine  stattliche  Gruppe  von  Stimmungslandschaften 
ähnlicher  Gattung,  in  denen  die  moderne  Malweise 
bei  mehr  oder  minder  ungewöhnliclien  Aufgaben  das 
uralte  Ziel  erstrebt  und  auch  vielfach  erreicht: 
durch  objektive  Wiedergabe  von  Momentbildern  der 
Natur  im  Beschauer  subjektive  Naturempfindungen 
zu  wecken.  —  Die  eigentliche  Ideallandschaft  blieb 
dagegen  nur  vereinzelt.  Die  Richtung  Böcklin’s, 
welcher  selbst  nur  zwei  Porträts  ausstellte,  gipfelte 
diesmal  in  seines  Schülers  Hans  Sa7idreuter’s  „Sommer¬ 
tag“,  einem  Gemälde,  das  in  einzelnen  Teilen  —  be¬ 
sonders  den  Baumpartien  des  Hintergrundes  —  seiner 
selbst  kaum  unwürdig  wäre.  —  Neben  dieser  Leistung 
sinken  Sandreuter’s  frühere  Arbeiten  auf  gleichem 
Gebiet  zu  stammelnden  Versuchen  herab.  Traditio¬ 
neller  ist  IVenzel  Wrkners  „Idylle“  gehalten:  ein 
lauschiges  Rasenplätzchen  im  Walde  mit  einer  nackten 
Jungfrau,  die,  von  Schmetterlingen  nmkost,  sich  dem 
wollüstig-träumerischen  Zauber  des  Ortes  hingiebt, 
ein  kleines,  feines  Bildchen,  in  welchem  auch  die 
Figur  wie  eine  flüchtige  Vision  wirkt,  und  nicht  so 
real  und  geziert  zugleich,  wie  auf  den  ähnliche  The¬ 
mata  behandelnden  Gemälden  Heimdch  Lossoufs  und 
Alfred  Seif  er  f  s.  Die  moderne  Schule  hat  ja  aber 
wieder  gelernt,  die  Landschaft  auch  ohne  Nymphen, 
Göttinnen,  Feen,  und  wie  immer  man  diese  entblößten 
Schönen  nennen  mag,  poetisch  zu  beseelen,  und  an¬ 
gesichts  der  wenigen  Versuche,  sie  mit  Märchen¬ 
gestalten  zu  bevölkern,  scheint  es  gut,  wenn  man  sich 
vorerst  auf  die  der  Natur  selbst  eigene  Stimmung 


30 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


bescbi'änkt.  —  Im  Ganzen  kennzeichneten  die  Land¬ 
schaften  diesmal  noch  unbedingter  als  sonst  das 
höchste  Durchschnittsmaß  der  Leistungen,  aber  bei 
dessen  Anerkennung  darf  nicht  vergessen  werden, 
dass  die  oben  skizzirten  Richtungen  ein  einseitiges 
Grundelement  bewahren:  jene  Abkehr  von  dem 
epischen,  monumentalen,  „großen“  Stil  der  Land¬ 
schaft,  welcher  auf  die  Dauer  nicht  ohne  Gefahr  ver¬ 
nachlässigt  werden  kann.  Es  wäi'e  zu  wünschen, 
dass  sich  einer  jener  zahlreichen  jüngeren  Künstler, 
die  hier  Schulter  an  Schulter  in  wackerer  Arbeit  auf 
dem  gleichen  Gebiet  der  intimen  Landschaftsdar¬ 
stellung  thätig  sind,  nun  auch  einmal  wieder  an  eines 
jener  Themata  machte,  welche  in  der  deutschen  Land- 
schaftsmalerei  traditionell  ebenso  hoch  über  den  heu¬ 
tigen  Lieblingsstoffen  zu  stehen  pflegen,  wie  Drama  und 
Epos  über  der  bukolischenldylleundderDorfgeschichte. 
Ist  doch  auch  in  einer  heroischen  Landschaft  alten 
Stiles  Raum  genug,  die  Errungenschaften  der  neuen 
Schule  zu  bethätigen!  Schon  das  Format  der  Bilder 
kann  eine  solche  erwünschte  Wandlung  vorbereiten, 
und  ebenso  eine  häufigere  Berechnung  auf  dekorative 
Zwecke,  wie  sie  beispielsweise  Le  Lieptres  in  seinen 
„Panneaux“  des  diesjährigen  Pariser  Salons  mit  großem 
Glück  durchführt.  Bleibt  solcher  Versuch  noch  lange 
aus,  so  düx-fte  die  neue  Entwicklungsphase  der 
deutschen  Landschaftsmalerei  leicht  in  eine  ähnliche 
Sackgasse  locken,  wie  zuvor  auf  dem  Gebiet  des 
Genres  die  süßliche  „Anekdotenmalerei“  geworden 
ist.  — 

Es  war  ja  zum  Teil  grade  die  Beziehung  zur 
Landschaft,  welche  unsere  Genremalerei  seit  etlichen 
Jahren  aus  diesem  Irrweg  befreit  hat,  und  —  leider 
freilich  nicht  mehr  durchgängig!  —  auch  jetzt  noch 
hier  sowolil  die  gesuchten  Pointen,  die  Rühr-  und 
Sensationsstoffe  als  auch  die  allzu  „sauberen“,  ge¬ 
leckten  Erscheinungen  verbannt:  dank  den  Prinzipien 
der  Freilichtmalerei  und  des  Impressionismus,  denn 
in  eine  auch  nur  einigermaßen  tüchtige  Landschaft 
der  neuen  Schule  passten  mark-  und  kraftlose  Ge¬ 
schöpfe  nicht  hinein,  und  die  unbedingte  Wahrheit, 
welche  zum  obersten  Gesetz  des  modernen  Land¬ 
schafters  geworden  ist,  konnte  auch  in  der  Staffage 
oder  vollends  in  den  Hauptakteuren  theatralische 
Handlung  oder  Schminke  und  bühnengemäßen  Auf¬ 
putz  nicht  lange  dulden.  —  Staffage  oder  Haupt¬ 
akteure?  —  Landschaft  mit  Figuren  oder  Figuren 
mit  landschaftlichem  Hintergrund?  —  diese  Klassi¬ 
fizierung  ist  heut’  kaum  noch  durchführbar,  und  solch 
innerer,  inniger  Zusammenklang  der  Natur-  mit  der 
Menschenseele,  wie  ihn  zahlreiche  Bilder  dieser  Aus¬ 


stellung  enthielten,  ist  wahrlich  ein  gutes  Zeichen. 
An  der  Spitze  stand  hier  Walter  Firle^s  großes  Ge¬ 
mälde:  „In  der  Genesung.“  Die  Einzelheiten  der 
Darstellung  sind  den  Freilichtmalern  extremer  Rich¬ 
tung  von  Anbeginn  geläufig  gewesen:  ein  mit  Dolden¬ 
pflanzen  und  allerhand  Unkraut  üppig  bewachsener 
Obstgarten  vor  niedriger  Bauernhütte,  ein  paar  Bäume, 
an  die  sich  der  Frühling  noch  nicht  recht  gewagt 
hat,  ein  Bauernmädchen  in  dürftiger  Tracht,  nicht 
schön,  aber  auch  nicht  abstoßend,  neben  ihr  eine 
Alte,  —  über  dem  Ganzen  Licht  und  Luft  eines 
Frühlingstages.  Aber  diese  beiden  lebensgroßen  Ge¬ 
stalten  sind  keine  „Akte“  mehr.  Wie  das  Mädchen 
in  der  wohligen  Schwäche  der  Genesung  auf  der 
Holzbank  ruht,  ein  grobes  Bettkissen  im  Rücken, 
die  Hände  müde  im  Schoß;  wie  sie  den  Kopf  leicht 
an  die  Schulter  der  Mutter  lehnt;  wie  diese  sich  über 
sie  beugt,  die  knochigen,  mehr  zur  Landarbeit  als 
zur  Krankenpflege  geschaffenen  Finger  auf  Schulter 
und  Arm  der  Tochter  legt  —  ein  ergreifend  wahres, 
schlichtes  Bild  der  Menschenliebe!  Und  ringsnm 
das  Erwachen  der  Natur  zu  neuem  Leben  —  man 
meint  den  würzigen  Duft  der  Pflanzen  zu  atmen  — 
das  ist  ein  stummes  Loblied  auf  die  allheilende 
Mutter  Erde!  Freilichtlandschaft  und  Freilichtfiguren 
schmelzen  hier  zu  einem  echten  Genrebilde  zusammen 
und  verbinden  sich  in  wechselseitiger,  natürlicher 
Symbolik.  Durch  kleineren  Maßstab  hätte  das  Bild 
freilich  gewonnen. 

Arbeiten  ähnlicher  Gattung,  aber  von  gerin¬ 
gerer  Vollendung,  blieben  nicht  selten.  Ich  nenne 
nur  Jernherg's  Gemälde  „In  der  Düne“,  in  dem  die 
farbenfrohe  Erscheinung  der  beiden  Dirnen  mit 
Licht  und  Luft  ihrer  landschaftlichen  Umgebung  an 
Frische  wetteifert,  Hermann  Baisch's  „Krewetten- 
fischer“,  Paul  melancholische  Ro¬ 

manzenillustration,  Emil  Raus  „Studie“,  Hirsehen- 
hercfs  Kirchhofscene,  Robert  Köhlers  „Parisurteil“, 
Franz  Lip'pisciis  „Regenstimmung“  und  E'anz  Rou- 
haudls  „Heuernte“. 

Lafenestre  sagt  in  seiner  Besprechung  der  dies¬ 
jährigen  Pariser  Salons,  es  sei  nicht  gut,  wenn  die 
Landschaft,  wie  auf  etlichen  französischen  Genre¬ 
bildern,  „alles  verschlingt“,  und  die  Menschengestalt  in 
ihr  sich  in  Umgebung  und  Luft  völlig  verliert.  Es 
scheint  fast,  als  ob  die  moderne  Schule  in  Deutschland 
hier  besser  Maß  zu  halten  weiß,  als  ihre  Lehrmeisterin. 
—  Ja,  man  ist  bei  uns  noch  einen  Schritt  weiter  ge¬ 
gangen:  man  beginnt,  die  Erfolge  der  modernen  Land¬ 
schaftsmalerei  in  äußerst  glücklicher  Art  für  das  reli- 
(jiöse Stoffgebiet  nutzbar  zu  machen.  Auch  in  Paris  war 


DIE  MÜKCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


31 


das  letztere  diesmal  stärker  als  üblicli  repräsentirt,  aber 
man  folgt  dort  einmal  ausnahmsweise  den  deutschen 
Spuren:  die  Auffassung  Uhde’s  wird  vielfach  variirt 
und  dabei  meist  arg  veräußerlicht,  oder  aber  der 
einheimische  ,, koloristische  Symbolismus“  auf  den 
religiösen  Stoffkreis  übertragen,  und  die  Madonna 
als  „blauer  V ersuch“  und  als  „rosa  Versuch“  behan¬ 
delt.  Wieviel  gesunder  erscheint  dem  gegenüber  die 
von  der  landschaftlichen  Stimmung  ausgehende 
deutsche  Weise,  die  freilich  seit  Dürer’s  Tagen  nie 
völlig  verklungen  ist,  jetzt  aber  offenbar  an  Kraft 
zuzunehmen  beginnt!  Ein  Hauptbild  der  ganzen 
Ausstellung  gehört  ihr  an:  Williebn  Fernher s  „Be¬ 
kehrung  des  Hubertus“.  Freilich  war  diese  Auffassung 
hier  vom  Stoffe  selbst  unmittelbar  gegeben,  unmittel¬ 
barer  als  in  der  S.  Georgslegende,  an  dessen  vor¬ 
jährige  Darstellung  durch  Ilertcrich  das  Bild  äußer¬ 
lich  erinnert.  Kein  überirdisches  Licht,  wie  dort, 
breitet  sich  hier  über  die  Waldhalde,  sondern  die 
natürliche  Beleuchtung  eines  deutschen  Herbsttages; 
selbst  die  allzu  beliebten  Schlaglichter  sind  ver¬ 
mieden.  Ganz  meisterhaft  ist  der  Vordergrund  mit 
seinem  Gewirr  von  Gras,  Gesträuch  und  Steinen  be¬ 
handelt.  Der  Wald  hinten  seÜDst  ist  nicht  in  geheim¬ 
nisvolles  Dunkel  getaucht,  sondern  noch  durchsichtig; 
man  spürt  die  Luft  zwischen  seinen  Stämmen.  Der 
weiße  Hirsch  drängt  sich  dem  Auge  nicht  auf,  er 
bleibt  visionär  und  füllt  in  der  stattlichen  Bildfläche 
nur  ein  winziges  Plätzchen.  Und  dennoch  beherrscht 
er  das  Ganze !  Der  Glanz  seines  Kreuzes  und  seines 
Nimbus  ist  mit  dem  Leuchten  des  Herbsttages  un¬ 
trennbar  verbunden  und  gesellt  sich  dem  zarten 
Nebelstreifen,  der  an  ihm  vorüberzieht.  Nicht 
minder  trefflich  ist  die  Art,  in  der  des  Wunders 
Wirkung  sich  in  der  Gestalt  des  legendarischen 
Weidmanns  verkörpert.  Man  sieht  sie  halb  im 
Kücken,  das  Lockenhaupt  nur  im  verlorenen  Profil, 
und  dennoch  wird  deutlich,  was  in  seiner  Seele  vor¬ 
geht,  vor  allem  durch  die  fein  beobachtete  Bewegung 
des  linken  Armes,  mit  dem  er  den  Pfeil  zurückhält. 
Auch  auf  die  beiden  Bracken  scheint  sich  sein  ehr¬ 
furchtsvolles  Erstaunen  zu  übertragen.  Das  Ganze 
ist  eine  musterhafte  Leistung.  Den  gleichen  Stoff 
hat  Rudolf  von  Rex  ähnlich  behandelt,  für  sein  Bild 
aber  gilt  die  oben  angeführte  Bemerkung  Lafene.stre’s : 
die  beiden  Gestalten  verlieren  sich  hier  in  der  Land¬ 
schaft  und  sinken  zur  Staffage  des  schon  tief  in 
Abenddämmerung  gehüllten  Waldes  herab.  Unver¬ 
ständlich  ist  mir,  warum  L.  von  Zumbusch  seine  feen¬ 
hafte  Madonna  vor  kahle,  glatte  Tannenstämme 
placirt;  die  koloristische  Wirkung  dieses  Hinter- 


ffrnndes  ist  freilich  nicht  ohne  Reiz.  —  ln  den  letzten 

o 

Jahren  nehmen  in  unseren  Ausstellungskatalogen 
die  religiösen  Bildertitel  zu,  die  Zahl  der  religiösen 
Bilder  aber  ist  davon  unabhängig,  denn  der  hehre 
Gedankengehalt  des  Evangeliums  ist  in  der  modernen 
Malerei  leider  vielfach  zu  einem  Versuchsfeld  für 
koloristische  Probleme,  ja  selbst  für  sensations¬ 
bedürftige  Launen  geworden.  Das  ist  ein  unnötiger 
und  unschöner  Irrweg  der  neuen  Schule,  und 
man  kann  es  nur  freudig  begrüßen,  wenn  ihm  das 
Altarbild  der  katholischen  Kirche  einen  unüberwind¬ 
lichen  Damm  entgegensetzt.  Damit  soll  freilich  nicht 
gesagt  sein,  dass  nur  ein  so  unbedingter  Anschluss 
an  die  Tradition,  wie  ihn  die  fleißigen  Arbeiten 
L.  TU  IlcupeVs  und  selbst  F.  A.  von  KaulhacJis  in  ihrer 
Art  vollendete  „Beweinung  Christi“  kennzeichnen, 
diese  Scheidewand  zu  überschreiten  vermögen.  Kaul- 
hcich’s  Werk  ist  die  Schöpfung  eines  au  den  besten 
Malern  der  Vergangenheit  geschulten  Meisters.  Die 
pyramidal  zugespitzte  Komposition  mustergültig,  die 
Farbenstimmung  reich  und  vornehm,  jede  einzelne 
Gestalt  sowohl  psycliologisch,  wie  künstlerisch  ein- 
waudsfrei:  es  ziemt  wahrlich  nicht,  au  einer  solchen 
Arbeit  mit  Stillschweigen,  oder  mit  Achselzucken 
vorüherzuschreiten,  weil  sie  in  ihrer  Umgebung  wie 
ein  Anachronismus  erscheint,  und  welch  warme 
Empfindung  hier  lebt,  spürte  man  am  besten,  wenn 
mau  das  Bild  mit  dem  ihm  in  dieser  Ausstellung  am 
nächsten  stehenden  Gemälde  Lhuguereaids  „Die  Frauen 
am  Grabe  Christi“  verglich.  Solange  es  Kirchen 
geben  wird,  wird  solcher  Kunst  stets  eine  Stätte 
offen  sein,  an  der  sie  ihr  Ziel  vollgültig  erreicht. 
Aber  dies  Bild  hätte  auch  zu  Zeiten  eines  Andrea  del 
Sarto  entstehen  können.  Es  enthält  wenig  mehr,  als 
diese,  nichts  von  den  Ideen,  welche  Millionen  der 
heutigen  Menschheit  mit  dem  hier  dargestellten  Stoff 
verbinden,  wenig  von  dem,  was  diejenigen  Künstler 
fordern  und  erstreben,  auf  deren  Lebenswerk  die 
Kunst  der  Zukunft  fußen  wird,  und  darin  ist  das  Urteil 
über  seinen  kunsthistorischen  Wert  enthalten.  — 
Auch  Ernst  Zinunermcinn’s  „Christus  und  S.  Thomas“ 
und  das  tüchtige  Genrebild  von  E<jgcr-Lien%  „Heilige 
Familie“  bieten  nichts  Außergewöhnliches,  und  Ed. 
von  Gebhardt  bleibt  mit  seinem  Gemälde  „Christus 
in  Bethanien“  völlig  auf  seinem  allbekannten  Pfade. 
Nicht  ganz  so  der  Meister,  der  wie  kein  anderer  das 
religiöse  Stoffgebiet  der  modernen  Malweise  und  dem 
modernen  Empfinden  wiederzuerobern  bestrebt  ist: 
Fritz  von  Wide.  Er  liebt  es  scheinbar,  die  Reihe 
seiner  für  seine  Weise  bezeichnendsten  Werke  durch 
Arbeiten  zu  unterbrechen,  welche  der  Tradition  näher 


32 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


bleiben,  durch  Werke,  in  denen  seine  extremen  An¬ 
hänger  eher  einen  Rück-  als  einen  Fortschritt  sehen 
mögen.  Meines  Erachtens  sind  es  aber  gerade  diese 
Schöpfungen,  die  seine  Kunst  zum  Siege  führen  wer¬ 
den,  und  neben  Bildern  wie  sein  herrliches  Tri¬ 
ptychon  „Die  heilige  Nacht“  wird  auch  seine  dies- 
jährige  „Verkündigung  an  die  Hirten“  zu  dieser 
Gruppe  zählen.  Besser,  als  die  Schar  seiner  Nach¬ 
ahmer,  weiß  Uhde,  dass  eine  große  Reihe  religiöser 
Themata  das  Märchenlicht  der  Poesie  nicht  ent- 


nicht  etwa  auf  Kosten  ihrer  künstlerischen  Wirkung 
und  jedenfalls  zu  Gunsten  ihrer  Popularität.  Sein 
Engel  hier,  eine  liebliche  Jungfrauengestalt  in  duftig 
weißem  Gewand ,  das  sie  gar  zierlich  emporhebt, 
gleicht  jenen  Segensboten,  die  im  deutschen  Märchen 
aus  wunderbarer  Ferne  zur  Erde  herabschweben, 
aber  sich  hüten,  mit  diesem  Jammerthal  in  gar  zu 
innige  Berührung  zu  kommen.  Ein  feiner,  über¬ 
irdischer  Lichtstrahl  begleitet  seinen  geheimnisvollen 
Pfad,  streift  seine  Flügel  und  trifft  die  erregten  Ge- 


Der  (Uselenr.  Gemälde  von  K.  Mark. 


bahren  kann,  und  er  besitzt  —  hierin  weit  mehr  noch 
als  im  schrc)fFen  Realismus  dem  Genius  Zola’s  wahl¬ 
verwandt  —  die  Kraft,  diesen  Zauber  über  jeden 
Stoff  zu  breiten.  Er  bat  zuweilen  Engel  gemalt,  an 
die  man  trotz  ihrer  durchaus  irdischen  Gliedmaßen 
und  der  offenbar  angescbnallten  Flügel  glauben  kann, 
wie  an  die  Engel  Rembrandt’s.  Diesmal  aber  wird 
man  doch  weniger  an  diesen,  als  etwa  an  seine  Schule 
gemalmt.  Eine  ungewöhnliche  Weichheit  verleiht 
Uhde  hier  den  scharfen  Zügen  seiner  Muse,  nicht 
ohne  Schaden  für  ihre  Eigenart,  aber  darum  doch 


siebter  der  Hirten,  die  unten  die  Botschaft  vernehmen. 
Diese  aber  sind  echte  Erdenkinder  von  Fleisch  und 
Blut,  prächtig  geschildert  in  ihrem  frommen  Er¬ 
staunen  und  ihrer  unter  des  Wunders  Macht  spontan 
erwachten  Frömmigkeit.  Solch  scharfen  Gegensatz 
zwischen  Himmel  und  Erde  pflegte  Uhde  in  seinen 
religiösen  Darstellungen  bisher  fast  geflissentlich  zu 
meiden,  und  die  volle  Größe  seiner  Kunst  bleibt 
hier  freilich  auf  den  irdischen  Teil  eingeschränkt, 
aber  auch  das  Ganze  ist  doch  ein  Bild,  wie  es  heuP 
nur  wenige  malen  können,  und  spricht  so  innig  zum 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


33 


deutschen  Gemüt,  dass  man  ihm  getrost  eine  Stätte 
auf  einem  Altar  bereiten  darf.  —  Auf  den  Ruhm 
eines  Kirchenmalers  muss  Franz  Stuck  freilich  ver¬ 
zichten,  selbst  bei  seiner  „Pieta“,  deren  eigenartige 
Schlichtheit  und  Größe  schon  in  Berlin  volle  Aner¬ 
kennung  gefunden.  Seelenschilderung  liegt  abseits 
seiner  Ziele.  Er  wird  mehr  und  mehr  zu  einem  An¬ 
hänger  jenes  heut’  besonders  in  Paris  herrschenden 
„koloristischen  Symbolismus“,  freilich  auf  Weise, 
die  in  ihrer  gesunden  Kraft  und  Wucht  das  eigent¬ 
lich  mystische  Element  verschmäht.  Seine  Farben¬ 


seiner  Pieta  vor  allem  durch  den  Kontrast  des  Leich¬ 
nams  zu  der  tiefschwarzen  Gewandmasse  der  Maria 
wirkt,  so  auch  hier  durch  die  schärfsten  koloristi¬ 
schen  Gegensätze.  Auf  der  einen  Seite  der  Leich¬ 
nam  Christi,  so  weißlich-grün,  als  sei  ihm  die  Seele 
schon  etliche  Stunden  entflohen,  und  der  bräunliche 
Körper  des  sich  im  Todeskampf  windenden  Schächers, 
dann  eine  scharfe  Cäsur,  ein  Blick  in  nächtliches 
Dunkel,  der  den  dritten  Gekreuzigten  trifft  —  auf 
der  andern  die  schwarze  Masse  der  im  Rücken  ge¬ 
sehenen  Mantelfigur,  und  hinter  ihr  eine  Fülle  satter 


Am  Waldesraiiil.  Gemälde  von  P.  P.  Müller. 


Symbolik  ist  auch  dem  blödesten  Auge  verständlich. 
Seine  Farbenmassen  stehen  so  derb  nebeneinander, 
wie  Meißelhiebe,  die  dem  Block  die  erste  Form  geben. 
Etwas  Volkstümliches  steckt  darin,  wie  in  der  Aus¬ 
drucksweise  des  deutschen  Holzschnitts,  aber  —  auch 
eine  gewisse  Absichtlichkeit,  eine  Neigung  zu  sensa¬ 
tionellem  Effekt,  die  zuweilen  an  einen  Wiertz  ge¬ 
mahnt.  Von  Neueren  malt  vielleicht  nur  Max  Klinger 
ähnlich,  und  der  gleiche  Stoff,  den  dieser  für  eines 
seiner  charakteristischten  Gemälde  gewählt  hat,  wird 
hier  von  Stuck  in  einem  umfangreichen  Bilde  be¬ 
handelt:  die  Kreuzigung  Christi.  Wie  Stuck  bei 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N  F.  IV. 


Farhentöne,  das  gelbbraune  Gewand  des  Johannes, 
der  Purpurmantel  des  weißbärtigen  Greises  neben 
ihm,  und  zu  äußerst  ein  Stückchen  leuchtenden 
Grüns,  ein  Farbenkomplex,  der  das  wachsbleiche 
Antlitz  der  ohnmächtigen  Maria  mit  dem  schwarzen 
Haar,  und  Hals,  Haupt  und  Hand  des  Lieblings¬ 
jüngers  ganz  eigenartig  hervortreten  lässt.  Den 
Himmel  deckt  Nacht,  aber  von  rechts  her  trifft  ein 
breiter  Lichtstrahl  die  Trauernden  und  den  Leichnam, 
und  über  die  Balustrade,  auf  welcher  sich  die  Scene 
abspielt,  ragen  die  Köpfe  der  wild  erregten  Volks¬ 
menge  auf.  Auch  kompositionell  ist  es  ein  eigen- 

5 


34 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


artiges  Bild,  und  erstaunlicli  breit  und  wuchtig  ge¬ 
malt.  Selbst  wider  Willen  wird  man  von  diesem 
Werke  immer  von  neuem  angezogen.  Und  dennoch 
ist  es  nur  der  Zeuge  für  eine  noch  unfertige,  ener¬ 
gisch  vorwärtsschreitende  Kunstweise,  die  erst  der 
ruhigeren  Klärung  bedarf.  Weniger  „abbozzirt“ 
und  psychologisch  schärfer  vertieft,  würde  das  Bild 
an  künstlerischem  Wert  gewinnen,  an  Eindruck  nicht 
einbüßen.  Am  schönsten  spricht  Stuck’s  Können 
doch  auf  dem  kleinen  Bildchen,  welches  vom  Prinz¬ 
regenten  angekauft  ist,  wo  die  Faunskinder  in  war¬ 
mer  Sommernacht  mit  Glühwürmchen  spielen.  — 
Albert  Keller's  Gemälde  „Legende  der  St.  Julia“  ist 
noch  weniger  kirchlich,  als  die  Darstellung  Stuck's. 
In  dieser  ans  Kreuz  Gefesselten  sieht  man  trotz  des 
großen  Nimbus  nicht  die  Heilige,  sondern  das  jugend¬ 
schöne  W^eib.  Der  Ausdruck  des  lieblichen  Kopfes 
erinnert  an  des  Künstlers  „Hexe“.  Keller  scheint 
sich  mehr  an  Gabriel  Max  anzuschließen,  aber  seine 
Frauen  sind  weniger  hysterisch  als  wollüstig,  noch 
im  Tode,  ähnlich  wie  die  verzückten  Heiligen  des 
17.  Jahrhunderts,  nur  mit  der  echt  modernen  Nei¬ 
gung  zum  Somnambulismus.  Malerisch,  besonders 
in  den  Lichtreflexen  auf  dem  nackten  Körper,  zählt 
das  Bild  zu  Keller’s  besten  Arbeiten,  und  wenn  diese 
ganze  Richtung  mit  ihrem  scheinbar  physiologisch 
begründeten  Mysticismus  auch  etwas  Krankhaftes  hat 
so  ist  sie  doch  weit  kraftvoller,  als  etwa  die  an 
Carlo  Dolce’s  Manier  gemahnende  Auffassung  in 
Jlcrhianu,  Knulhaebls  Bild  „Das  Ende  vom  Liede“.  — 
Zwei  jüngere  Künstler,  die  zusammen  genannt  werden 
dürfen,  ol).sclion  die  Bezeichnungen  und  zum  Teil  auch 
die  Stoffe  ihrer  Bilder  völlig  verschieden  sind,  L.  von 
Ildfiiianii  und  Jiili/is  ?lrtcr,  beide  Anhänger  des  extre¬ 
men  Impressionismus  der  Pariser  Schule,  und  beide 
trotzdem  abseits  von  den  breiten  Hauptpfaden  wan¬ 
delnd,  waren  diesmal  mit  Bildern  jener  Gattung  ver¬ 
treten,  für  welche  die  rechten  Titel  schwer  zu  finden 
sind,  und  die  man  docli  nicht  ganz  grundlos  dem 
„idealen  Genre“  zuzuw(;isen  pflegt.  Jlofmami  nannte 
sein  Hauptwerk  einfach:  „Dekorativer  Entwurf“ 
K.rlrr  schied  seine  drei  innig  verwandten  Bilder 
durch  die  Namen  „Welle“,  Am  Strande“,  „Verlornes 
Paradies“,  bei  beiden  aber  handelt  es  sich  um  das 
gleiche  1  lauj)tthema:  um  die  Wiedergabe  des  nackten 
Mensclienleibes,  von  Licht  und  Luft  umspielt,  aber 
nicht  in  alltäglich  irdischer  Umgebung,  sondern  in 
einer  Welt,  wie  sie  des  Dichters  Phantasie  erträumt, 
und  des  Malers  Auge  zuweilen  erschaut  —  bei  Hof¬ 
mann  in  einer  Böcklinschen  Ideallandschaft,  bei 
Exter  in  einem  seltsam  flimmernden  Medium  von 


Sonnen-  und  Reflexlicht,  von  Lokalkolorit  und  Farben¬ 
symbolik.  Jener  folgt  hier  den  Bahnen  eines  Puvis 
de  Chavanne  und  eines  Hans  von  Marees,  dieser  dem 
Vorbild  Besnard’s.  In  München  schien  ihre  Malweise 
so  grundverschieden,  dass  sie  eine  Parallele  fast  aus¬ 
schließt  —  Hofmann’s  prächtiger  nackter  Knabe  hebt 
sich  scharf  und  plastisch  vom  Hintergrund  ab,  Exters 
Gestalten  gleichen  einer  flüchtigen  Vision  — wer  jedoch 
Hofmanns  Arbeiten  in  der  Berliner  Ausstellung  der  „Elf“ 
gesehen,  wird  ihn  gleich  Exter  zu  den  energischten 
Impressionisten  rechnen  und  diese  Schulung  auch  in 
seinem  Münchener  Bild  erkennen.  Gegen  die  meisten 
in  Berlin  bekannt  gewordenen  Skizzen  bezeichnet  das 
letztere  freilich  einen  so  wesentlichen  Fortschritt,  dass 
man  angesichts  desselben  jene  frühere  Ausstellung 
als  einen  unpolitischen  Missgriff  bezeichnen  muss, 
und  ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  Erfolgen  Exter’s, 
der  nach  etlichen  recht  unglücklichen  Versuchen 
jetzt  zum  erstenmal  zielbewusst  auftrat  und  endlich 
gefunden  zu  haben  scheint,  was  er  so  lange  gesucht. 
Irre  ich  nicht,  so  wird  sein  Name  fortan  unter  den 
deutschen  Vorkämpfern  der  neuen  Schule  ruhmvoll 
genannt  werden.  —  Derjenige  Hans  Thomabs  ist  in 
den  letzten  Jahren  nicht  nur  berühmt,  sondern  auch 
populär  geworden,  freilich  nicht  in  unmittelbarem 
Zusammenhang  mit  den  modernen  Bestrebungen, 
sondern  dank  völlig  individueller  Kraft,  die  mit 
seltener  Willensenergie  gepaart  war.  Seine  drei 
Münchener  Bilder  zeigten  auch  diesmal  den  vollgül¬ 
tigen  Stempel  seiner  Kunst. 

Mit  diesem  Satz  darf  man  hier  wohl  auch  eine 
ganze  Reihe  von  trefflichen  Arbeiten  als  genügend 
gewürdigt  erachten,  welche  in  dieser  Ausstellung 
altbewährte  Namen  trugen.  Man  hatte  in  München 
von  dem  Recht,  bei  der  Repräsentation  der  natio¬ 
nalen  Kunst  auf  deren  schon  historisch  gewordene 
Größen  zurückzugreifen,  freilich  keinen  so  ausge¬ 
dehnten  Gebrauch  gemacht,  wie  in  Berlin,  keine 
Kollektivausstellungen  älterer  Bilder  ins  Treffen 
geführt,  sondern  nur  einzelne  Arbeiten  älterer  Meister 
jüngsten  Datums,  und  dadurch  dem  ästhetischen  Ge¬ 
nuss  auch  ein  kunstgeschichtliches  Interesse  gesellt, 
denn  fast  unwillkürlich  forschte  man  in  diesen  Werken 
nach  einer  Rückwirkung  der  „modernen  Richtung“. 
Dieselbe  könnte  sich  einerseits  in  einer  Assimilation, 
andererseits  aber  in  einer  schrofferen  Betonung  des 
früheren  Standpunktes  äußern,  doch  trat  hier  weder 
das  eine  noch  das  andere  scharf  hervor.  LenbacJi’s 
herrliches  Bismarckporträt  vom  April  1892  ist  viel¬ 
leicht  etwas  farbiger  gehalten  als  etliche  seines¬ 
gleichen,  und  man  liest  diesmal  in  diesen  Zügen  noch 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


35 


mehr  und  anderes  als  zuvor,  Defregger' s  Gemälde  „Vor 
dem  Tanz“  (1892)  mag  besonders  im  Hintergrund  von 
besonderer  koloristischer  Feinheit  scheinen,  Alexander 
Wagner  hat  in  seiner  Darstellung  aus  Konstantinopel 
seine  Fähigkeit,  sich  in  die  Kultur  fremder  Nationen 
zu  vertiefen  und  zahllose  Figuren  erstaunlich  lebens¬ 
wahr  zu  zeichnen,  vielleicht  in  ungewöhnlicher  Art  be¬ 
währt,  J/e/j^:ersGouache„BiergarteninKissingen“(1891) 
und  Bokebnann’ s,  Brntfs,  Hugo  Kaufmanns,  Vautier’s, 
Megerheims,  Simms,  Holmbergs,  Voltz' ,  F.  M.  Bredts  hier 
ausgestellte  Gemälde  —  von  denen  einige  übrigens  schon 
älter  und  gut  bekannt  waren — mögen  demKunstsamm- 
1er  bald  mehr  bald  weniger  willkommen  sein,  als  ihre 
Namensgenossen:  für  diesen  Bestandteil  des  „Salons“ 
genügt  hier  im  ganzen  aber  doch  der  Katalog,  denn 
hier  kennzeichnet  der  Name  der  Künstler  die  Kunst. 
Selbst  Nikolaus  Ggsis  hat  mit  seinem  „Kaimeval  in 
Griechenland“  nur  wenige  überrascht,  und  das  in 
seltsam  lichten,  vielleicht  im  ganzen  zu  flauen  Tönen 
gemalte  Bild,  in  welchem  das  Beiwerk  noch  höheres 
Lob  verdient  als  die  vielgepriesene,  aber  etwas  allge¬ 
mein  gehaltene  Schönheit  der  Frauen,  reiht  sich  seinen 
eignen  und  seines  Landsmanns  Lgtras  Schilderungen 
des  neugriechischen  Volkslebens  nur  eben  als  das 
jüngst  vollendete  Glied  an.  Zum  Teil  gilt  ähnliches 
auch  für  L.  v.  Löfftz,  aber  dessen  Gemälde  „Alte  Frau“ 
nimmt  hier  doch  eine  besondere  Stelle  ein,  nicht  nur, 
weil  man  dem  Namen  seines  Meisters  seit  dessen  Lehr- 
thätigkeit  an  der  Münchener  Akademie  in  den  Aus¬ 
stellungen  selten  begegnet,  sondern  weil  es  wenigstens 
eine  Hauptseite  in  dessen  Kunst  schärfer  charakte- 
risirt  als  früher,  und  in  ihr  zugleich  sein  Verhältnis 
zur  modernen  Schule,  welches  bei  seinem  Einfluss  als 
Akademiedirektor  auch  kunsthistorisch  bedeutsam 
werden  muss.  Ein  Stoff,  wie  ihn  just  die  „Modernen“ 
lieben!  Inhaltlich  ohne  Pointe:  schlichtes  Interieur, 
durch  ein  einziges,  seitlich  oben  befindliches  Fenster 
erhellt;  darin,  am  Tisch,  vom  Licht  gestreift,  eine 
lesende  Alte;  eine  Alltagserscheinung,  ein  alltägliches 
Momentbild  —  nein!  ein  sonntägliches,  denn  Sonn¬ 
tagsstimmung  herrscht  hier;  sie  spricht  nicht  nur 
aus  dem  Kostüm,  sondern  sie  ruht  auf  jedem  Möbel 
und  Gerät,  auf  jedem  Winkel!  —  Aber  dagegen  haben 
ja  auch  die  „Jüngeren  und  Jüngsten“  nichts  mehr 
einzuwenden !  Heyse’s  Maler  Franz  Florian  mit  seinem 
Hass  gegen  den  „sonntäglichen  Glanz  der  Natur“ 
wird  ja  erst  als  Gatte  seines  „Marienkindes“  ganz 
„modern“.  Was  ferner  die  Freilichtmaler  erstreben, 
licht-  und  lufterfüllten  Raum  und  körperliche  Ge¬ 
bilde  in  ihm,  nicht  nach  vorgefasster  Regel  darge¬ 
stellt,  sondern  als  treuestes  Spiegelbild  der  Erschei¬ 


nung,  ist  hier  wahrlich  vorhanden,  und  auch  die 
Impressionisten,  welche  nur  die  „Impression“  ver¬ 
ewigen  wollen,  müssen,  wenn  sie  dies  Bild  aus  der 
Ferne  schauen,  ihr  Ideal  anerkennen.  Aber  seltsam: 
man  darf  trotzdem  hier  auch  bis  hart  an  das  Ge¬ 
mälde  herantreten,  selbst  mit  bewaffnetem  Auge,  und 
der  Eindruck  bleibt,  die  Freude  daran  steigert  sich. — 
Das  ist  nicht  modern!  So  malten  die  Niederländer, 
der  Delfter  van  der  Meer,  so  hat  zuweilen  auch 
unser  Holbein  gemalt.  Die  Wahrheitsliebe,  mit  der 
unsere  jüngeren  Künstler  den  Gesamteindruck  auf 
Kosten  des  Details  in  die  Farben  zu  bannen  bemüht 
sind,  ist  hier  zugleich  auf  jeden  Pinselstrich  konzen- 
trirt.  Das  ist  kein  Anachronismus,  wie  das  Kaul- 
bach’sche  Bild,  auch  kein  programmgemäßer  Kom¬ 
promiss  zwischen  Altem  und  Neuem:  wie  etwas  Selbst¬ 
verständliches  verkündet  es,  dass  Wahrheitsliebe, 
Fleiß  und  technisches  Können  unabhängig  von  jeder 
„Richtung“  des  Eiffolges  sicher  sind.  Fürwahr  die 
rechte  Art.  in  der  die  Kunst  der  zum  Lehren  beru¬ 
fenen  Meister  dem  gärenden  Ungestüm  einer  neue 
Ziele  suchenden,  neuen  Generation  gegenübertreten 
muss!  ■ —  Im  Genrebild  der  deutschen  Abteilung 
spürte  man  diesmal  von  solchen  Kämpfen  freilich 
überhaupt  nur  wenig,  noch  weniger,  als  in  der  Land¬ 
schaftsmalerei.  Hier  wendete  sich  das  meiste  in  der 
That  mehr  an  den  Kunstraarkt  als  an  eine  von 
historischen  Gesichtspunkten  ausgehende  Kritik.  Auch 
dies  ein  Zeugnis  für  den  Assimilationsprozess,  denn 
die  umfangreichen  Freilicht.s);ur/fe?j,  denen  lediglich 
das  malerische  Können  Einlass  in  unsere  Ausstel¬ 
lungen  gewährt,  waren  wiederum  seltener  geworden. 
Viel  Tüchtiges  war  freilich  darunter  —  ich  nenne 
nur  C.  N.  Bantzer's  „Abendmahlsfeier  in  Hessen“,  Fritz 
StrohcntzJ  „In  der  Kirche“,  Georg  Bnchner's  „Ein  Ge¬ 
löbnis“,  Olga  Beggroiv-Hartmann  s  „Zwiebelidylle“  — 
aber  den  Ton  gaben  doch  diejenigen  Bilder  an,  die 
nicht  nur  im  Atelier  oder  in  einer  Kunstakademie, 
sondern  im  Privatkabinet  des  Kunstfreundes  will¬ 
kommen  wären.  Arbeiten  wie  Gotthard  KühVs  „Eine 
feste  Burg  ist  unser  Gott“,  Hugo  Koenig's  „Auf  dem 
Heimweg“,  Adolf  Hölzel’s  „Hausandacht“,  Hermann 
Neuhaus'  „Nächstenliebe“,  Ernst  IFmsinann  s  „Kein 
Hüsung“,  und  Graf  Kalkreuth' s  „Auf  dem  Schul¬ 
wege“  ,  vor  allen  aber  Haug's  köstliche  Bilder  be¬ 
kunden  zur  Genüge,  dass  die  neue  Malweise  volks¬ 
tümlich  werden  kann  und  wird.  Einseitig  darf  man 
sie  jedenfalls  nicht  mehr  nennen,  denn  fast  unbemerkt 
ist  neben  der  Lust  am  fröhlichsten  Sonnenschein 
und  vollstem  Freilicht,  wie  sie  wohl  am  besten 
und  keines  erläuternden  Wortes  bedürftig  Max 

5* 


36 


VINCENZO  VELA. 


Fleischers  „Badevergnügen“  verkündet,  auch  die  kolo¬ 
ristische  Stirn  mungsmalerei  wieder  zum  Siege  gelangt, 
sowohl  da,  wo  sie  die  Welt  in  kecken  Farben  sieht, 
als  da,  wo  Dämmerschein  die  Formen  und  Lokaltöne 


duftig  verhüllt.  Hierin  ist  neben  Peter  Behrens  in 
Ernst  Oppler  ein  ungewöhnlich  tüchtiger  Vorkämpfer 
erstanden. 

(Fortsetzung  folgt.) 


VINCENZO  VELA. 

VON  JULIUS  GAROTTL 
(Schluss.) 


IN  wahrhaft  einziges  W’^erk, 
das  den  Stempel  von  Ve- 
la’s  Persönlichkeit  durchweg 
trägt,  ist  das  Grabmal  für 
die  Comtesse  d’Adda  in  der 
Familienkapelle  zu  Arcore 
bei  Mailand.  Man  sieht  die 
junge  Comtesse  auf  dem 
Sterbelager,  das  Kruzifix  in  der  Linken  haltend  und 
den  Blick  zum  Himmel  aufgerichtet.  Die  Rechte 
öffnet  sie  mit  einem  Ausdrucke,  als  wolle  sie  sagen: 
Ich  Inn  bereit,  Herr,  dein  Wille  geschehe. 

^"ela  stellte  nicht  nur  die  ganze  Figur  auf  der 
lluliestätte,  sondern  auch  die  Vorhänge  und  Drape¬ 
rien  ,  die  er  mit  einer  Gruppe  von  kleinen  Engeln 
krönte,  dar.  Der  Künstler  ist  hier  allen  Ernstes 
über  die  vernünftigen  und  notwendigen  Grenzen  der 
Bildnerei  hinausgegangen  und  griff  in’s  Malerische 
über.  Aber  man  bedenke  die  Zeit,  in  der  das  Denk¬ 
mal  entstand.  Ein  alter  Bildhauer  sprach  noch  in 
diesen  ^I'agen  mit  Feuer  von  dem  mächtigen  Ein¬ 
druck,  von  der  lebliaften  Bewegung,  die  der  Anblick 
die.ses  Werkes  in  der  Küustlerwelt  Mailands  erregt 
batte.  Lei  dem  seiner  versteinerten  Zustande  der 
damaligen  Skuljjfur  wirkte  die  kühne  und  originelle 
Ausfübnm  g  wie  ein  Gärungsferment,  und  hierin 
allein  beruht  der  historische  Wert  des  Kunstwerks. 

Vincenzo  Vela  verließ  im  nächsten  Jahre  (1852) 
Mailand  —  für  immer,  denn  eine  Rückkehr  dorthin 
war  ihm  nicht  bescliieden.  Er  wandte  sich  nach  seiner 
Heimat  Ligornetto.  Si:hon  damals  machte  sich  bei  ihm 
ein  Hang  zur  Plinsamkeit,  zur  Monomanie  bemerkbar. 
Doch  hielt  die  Notwendigkeit,  für  Frau  und  Kind 
zu  sorgen,  diesen  J'rieb  zurück,  er  musste  weiter 
schaffen  und  streben,  und  so  wandte  er  sich  wieder  einer 
großen  Stadt  zu,  diesmal  Turin.  Er  war  jetzt  im 
Vollbesitz  seiner  künstleri.schen  Kraft  und  stieff 
während  seines  vierzehnjährigen  Aufenthaltes  in 


Turin  zum  Zenith  seines  Ruhms  empor.  Die  großen 
Werke  Vela’s  folgen  in  diesem  Zeitraum  ohne 
Unterbrechung  auf  einander.  Vela  war  immer  neu, 
eigentümlich,  ein  leidenschaftlicher  Nachbildner  der 
Wahrheit,  oft  großartig  und  breit  im  Stil,  bald  in- 
spirirt  von  zarter  Poesie  und  lebhafter  Empfindung, 
bald  von  tiefem  Gedankenreichtum. 

Der  Friedhof  von  Turin  bewahrt  drei  bezeichnete 
und  datirte  Werke  seiner  Hand.  Es  sind  die  Grab- 
mäler  der  Familie  Calosso  (1853),  der  Familie  Prever 
(1854)  und  das  des  kleinen  dreijährigen  Pallestrini 
(1856).  Das  Denkmal  der  Calosso  nimmt  die  ganze 
Breite  einer  Abteilung  im  Säulengange  des  Friedhofs 
ein.  Sockel  und  Zierwerk  lassen  wir  außer  acht, 
denn  die  sind  von  anderer  Hand.  Von  Vela  rührt 
das  große  Flachrelief  auf  der  hohen  Stele  und  die 
Nische  mit  der  Büste  des  Tommaso  Calosso  her. 
Das  Denkmal  ist  zu  Ehren  des  Tommaso  von  der 
Familie  gestiftet  und  diese  kindliche  Pietät  ist  in 
dem  jungen  Mädchen  dargestellt,  das  ein  Opfer¬ 
fläschchen  auf  dem  kleinen  Altar  ausgießt  (vgl.  die 
Abbildung).  Eine  Draperie,  die  als  Vorhang  gedacht 
war,  ist  zurückgeschlagen,  um  die  Scene  zu  ent¬ 
hüllen.  Zu  Füßen  des  Altars  wacht  eine  Eule.  Die 
Anregung  zu  der  Darstellung  geht  offenbar  von  der 
antiken  Kunst  aus;  die  Wahl  des  Motivs,  die  Neben¬ 
dinge,  die  ganze  Behandlung  weisen  darauf  hin. 
Die  junge  Opfernde  hat  aber  bei  aller  antiken  Ein¬ 
fachheit  einen  ganz  modernen  Liebreiz,  und  selten 
waren  alte  und  neue  Kunstabsichten  so  glücklich 
verschmolzen,  wie  hier. 

Das  Grabmal  der  Familie  Prever  besteht  in 
einer  einzigen  Statue  der  Hoffnung.  Aber  diese  Statue 
ist  in  der  That  einzig,  ein  großartiges  Werk  voll 
Reiz  und  Poesie.  Ein  einfaches  Kleid  mit  lang 
herabfallenden  Falten,  mit  eleganter  Stickerei  auf 
der  Brust,  ohne  Gürtel  und  sonstige  Nebensachen, 
umschließt  den__schlanken  Körper  der  Hoffnung  und 


Das  Grabmal  der  Familie  Calosso.  Von  Vincenzo  Vela. 


3S 


VINCENZO  VELA. 


zeigt  die  Form  der  Schultern,  die  köstlichen  Arme, 
die  feine  Taille  und  die  wenig  betonten  Hüften. 
Ein  Mantel  mit  .spärlichem  Faltenwurf  fällt  von  der 
rechten  Schulter  herab  und  vereinigt  sich  mit  den 
Falten  des  Kleides,  die  zum  Teil  den  Anker  zu 
Füßen  der  schönen  Figur  bedecken.  Beide  Hände 
sind  auf  der  Brust  vereinigt  und  drücken  in  ihrer 
Haltung  das  volle  Vertrauen  einer  zarten  und  ängst¬ 
lichen  Seele  aus.  Dieser  Ausdruck  ist  in  dem  Haupte 
noch  gesteigert:  ein  süßes,  frommes  Gesicht,  einge¬ 
rahmt  von  breiten  Haarmassen,  dessen  halb  ver¬ 
trauensvoller,  halb  schmerzlicher  Blick  schüchtern 
zum  Himmel  aufgerichtet  ist. 

Der  Trostengel  bildet  den  Gegenstand  des 
Grabmals  des  kleinen  Titus  Pallestrini,  der  mit  drei 
Jahren  seinen  Eltern  entrissen  wurde,  Vincenzo  Vela 
bildete  einen  Engel,  der  von  der  kleinen  Gruft  das 
Kindchen  fortführt.  Der  Engel  selbst,  mit  weitaus¬ 
gebreiteten  Schwingen,  hat  seinen  Flug  hier  auf 
Erden  nur  einen  Augenblick  gehemmt.  Sein  schöner 
Kopf  ist  von  ruhigem  Ausdruck  und  himmlischer 
Heiterkeit  beseelt.  In  dem  Körper  des  Kleinen  ist 
eine  zitternde  Anstrengung,  zum  Himmel  aufzufliegen, 
ausgedrückt.  Mehr  noch  in  der  Skulptur  als  in 
jeder  anderen  Kunst  müssen  alle  Teile  der  Figur 
den  Hauptgedanken  dienen;  diese  Gestalt  des  kleinen 
Pallestrini,  die  jedem  gebildeten  Betrachter  sehr 
schön  vorkommt,  hat  für  die  Geweihten  in  der  Kunst 
zugleich  das  Verdien.st,  eine  glückliche  Lösung  jenes 
künstlerischen  Gesetzes  darzubieten. 

Der  Ruf  Vincenzo  Vela’s  verbreitete  sich  nun 
mehr  und  mehr,  und  Mailand,  Bergamo,  Vicenza, 
Trient,  Bologna,  Neapel  fingen  an,  sich  seine  Werke 
.streitig  zu  machen.  Um  diese  Zeit,  1855,  lieferte 
Vela  für  die  Kirche  S.  Maria  Maggiore  nach  Bergamo 
das  Grabmal  Donizetti’s.  Es  zeigt  die  volle  Blüte 
von  \Vla’s  Talent  und  verbindet  wiederum  Gefühl 
und  lilee  mit  Originalität  der  Ausführung.  Die 
Figur  der  Harmonie  sitzt,  in  tiefe  Trauer  versenkt, 
auf  dem  Grabmal  des  Komponisten;  in  gebeugter 
Haltung  stützt  sie  den  rechten  Arm  auf  die  stumm 
gewordene  Lyra.  Der  linke  Arm  fällt  schlaff  herunter 
und  drückt  so  die  A^erlassenheit  aus.  Das  ist  der 
Paroxysmus  dumpfer  Trauer,  der  uns  mitleidsvoll 
überrascht,  wenn  uns  das  Teuerste  geraubt  wird. 

Nicht  minder  gelang  es  der  Kunst  Vela’s,  eine 
hoch  entwickelte  l'ersönlichkeit  im  Porträt  so  zu 
schildern,  da.ss  ihre  ganze  Sjdiäre,  ihre  Kämpfe,  ihr 
Gedankenreichtum  in  dem  Bildnisse  andeutungsweise 
zum  Ausdruck  kommt.  In  einem  entzückenden  Winkel 
des  Lago  maggiore,  in  Stresa,  ruhen  in  der  kalten 


und  melancholischen  Kirche  des  Klosters  der  Ros¬ 
minier  die  sterblichen  Reste  des  Paters  Anton  Rosmini, 
des  Gründers  der  Doktorenkollegien,  die  nach  ihm 
benannt  wurden.  Der  Philosoph  von  Roveredo  ist 
knieend  auf  seinem  Grabmale  dargestellt;  er  hat  die 
Lektüre  seines  Gebetbuchs  unterbrochen  und  lässt 
die  Arme  nachdenklich  sinken.  Mit  gesenktem  Haupt, 
verlorenem  Blick  und  festgeschlossenem  Munde 
scheint  er  in  tiefes  Nachdenken  versunken  und  der 
Erde  entrückt  zu  sein.  Über  seine  hohe  Stirn 
gleitet  kein  Schatten;  ein  heitrer  und  würdiger  Ge¬ 
danke  belebt  sein  Antlitz.  Der  Künstler  hat  hier 
die  beständige  und  tiefe  Reflexion  des  Denkers,  die 
geistigen  Freuden  eines  überlegenen  Philosophen 
versinnlicht.  Auch  dies  ist  ein  Werk,  in  dem  Vela 
die  Kunst  zeigt,  alle  Einzelheiten  von  dem  Grund¬ 
gedanken  beherrschen  zu  lassen. 

* 

Vela’s  Talent  stand  in  vollster  Blüte,  als  das 
Porträt  in  Pastell  von  Eliseo  Sala  entstand,  das  noch 
heute  in  der  Bibliothek  Vincenzo  Vela’s  zu  Ligor- 
netto  zu  sehen  ist.  Ich  verdanke  der  Freundlichkeit 
seiner  Witwe  und  seines  Sohnes  die  Photographie, 
nach  der  sein  Bild,  das  zu  Anfang  dieses  Aufsatzes 
steht,  in  Holz  geschnitten  wurde. 

Ebenfalls  in  Ligornetto,  in  demselben  kleinen 
Bibliotheksaal  wird  der  Gipsabguss  der  allegorischen 
Statue  des  Frühlings  aufbewahrt,  von  der  der  Künst¬ 
ler  auch  eine  Wiederholung  in  Marmor  für  seinen 
Garten  gemacht  hat;  das  Original  befindet  sich  in 
Triest.  Andere  Ausführungen  desselben  Bildwerks 
sind  nach  Neapel,  Paris  und  St.  Petersburg  ge¬ 
kommen.  Der  Bildhauer  hat  sich  von  der  gewöhn¬ 
lichen  Auffassung  des  Frühlings  als  einer  jungen 
Frauen  gestalt  losgemacht.  Er  hat  im  Gegenteil  die 
Züge  einer  Mädchenfigur,  die  noch  an  der  Grenze 
des  Kindesalters  steht,  gewählt;  eine  zarte  und  köst¬ 
liche  Knospe,  die  noch  in  unbewusster  Unschuld 
der  Zukunft  entgegen  geht.  Sie  ist  in  diesem  Augen¬ 
blick  zu  neuem  Leben  erwacht  und  umgiebt  ihr 
Haupt  mit  einem  Blumenkränze,  den  sie  sich  selbst 
gewunden  hat.  Diese  anmutige  und  poetische 
Schöpfung  bezeichnet  die  innigste  Vereinigung  des 
romantischen  Empfindungslebens  mit  dem  Kultus 
des  Wahren  in  unserm  Künstler, 

Wenn  ich  so  viel  wie  möglich  die  Werke  des 
Vincenzo  Vela  der  Zeitfolge  nach  bespreche  und 
mich  nur  an  solche  halte,  die  sein  künstlerisches 
Wesen  durchaus  offenbaren,  übergehe  ich  seine  zahl¬ 
reichen  Porträtstatuen,  wie  die  von  Cesar  Balbo, 


VINCENZO  VELA. 


39 


Thomas  Grossi,  Gabrio  Piola,  Victor  Emanuel,  Carl 
Albert,  Giotto,  Dante,  Murat  u.  s.  w. 

Alle  diese  Werke  sind  zwar  durch  hohen  ikono- 
graphischen  und  künstlerischen  Wert,  durch  tech¬ 
nische  Geschicklichkeit  und  durch  große  Natur¬ 
wahrheit  ausgezeichnet.  Aber  die  Bewegung  auf 
diesem  Gebiete  war  allgemein.  Und  obwohl  Vela 


Dante’s,  die  von  demselben  Gedanken  inspirirt  ist, 
der  ihn  den  Rosmini  schaffen  ließ,  und  ein  gro߬ 
artigeres:  die  Gruppe  der  beiden  Königinnen  von 
Piemont,  Marie  Therese,  die  Witwe  des  Königs  Karl 
Albert,  und  Marie  Adelaide,  die  Gemahlin  Victor 
Emanuel’s  II.  —  Diese  beiden  letztgenannten  Statuen 
befinden  sich  in  der  Chorkapelle  der  Kirche  della 


Grabstatue  der  Contessa  Giulini  della  Porta.  Von  Vincexzo  Vela. 


einer  der  kühnsten  Künstler  Oberitaliens  auch  auf 
diesem  Gebiete  war,  so  geht  doch  das  Verdienst  um 
die  Einführung  der  Wahrhaftigkeit  auf  diesem  Ge¬ 
biete  ursprünglich  von  dem  Mailänder  Bildhauer 
Alexander  Puttinati,  der  schon  mehrere  Lustra  vor¬ 
her  thätig  war,  aus.  Indessen  tragen  doch  zwei 
Werke  von  dieser  Art  den  Stempel  des  höheren 
Talentes  Vincenzo  Vela’s,  ein  bescheidenes:  die  Büste 


Consolata  in  Turin.  Die  Inschrift  auf  dem  Monu¬ 
mente  drückt  seinen  Ursprung  aus: 

ALLA  MEMORIA 

DELLE  REGINE  MARIA  TERESA  E  MARIA  ADELAIDE 
PIE  BENEFICHE 
TANTO  AMATE  E  COMPIANTE 
IL  POPOLO  SUBALPINO 
L’ANNO  MDCCCLXI 


4(1 


VmCENZO  VELA. 


Viele  Jahre  hindurch  hatte  die  Bevölkerung  von 
Turin  die  beiden  Königinnen  gesehen;  die  Erinne¬ 
rung  an  ihre  Frömmigkeit  und  Wohlthätigkeit  war 
den  Turinern  teuer.  Ihr  Hinscheiden  war  ein  wirk¬ 
licher  Trauerfall  für  sie  gewesen;  der  edle  Gedanke, 
ihr  Gedächtnis  durch  ein  Sanctuarium  zu  verewigen, 
gewann  schnell  Anhänger  und  die  Kosten  wurden 
durch  öffentliche  Zeichnung  aufgebracht.  Glück¬ 
licherweise  wurde  Vela  mit  der  Ausführung  betraut. 
Er  stellte  die  beiden  Königinnen  etwas  überlebens¬ 
groß,  knieend  auf  ihrem  Betstuhl  dar,  in  Begleitung 


Engelfiguren  .dieses  Monumentes  nur  selten  zu  sehen, 
da  sie  im  Halbdunkel  versteckt  sind.  Das  ganze 
Licht  der  Kapelle  fällt  auf  die  Gestalten  der  beiden 
Fürstinnen.  Einem  glücklichen  Umstande  verdankte 
unser  Künstler  die  Bekanntschaft  der  Königinnen; 
er  hatte  sie  sogar  oft  in  der  Kirche  della  Consolata 
an  ihren  gewohnten  Plätzen  beim  Gebet  beobachtet. 
Ihr  Wesen,  ihre  Stellung  und  ihr  Antlitz  prägten 
sich  ihm  scharf  ein,  und  so  hot  sich  nun  eine  günstige 
Gelegenheit,  ein  Werk  auszuführen,  in  dem  seine 
künstlerischen  Fähigkeiten,  seine  starke  Empfindung 


Die  Opfer  des  St.  Gottliardtimnels.  Relief  von  Vincenzo  Vela. 


dreier  Engel,  die  im  Hintergründe  erscheinen.  Es 
ist  walir,  da.ss  es  diesen  drei  Engeln  etwas  an  Har¬ 
monie  gebricht;  einer  von  ihnen  war  unter  dem 
direkten  Einfluss  der  Engel  des  Tabernakels  der 
lombardisch-venezianischen  Schule  im  archäologi¬ 
schen  Museum  der  Brera  in  Mailand  komponirt, 
wovon  Vincenzo  Vela  einen  Gipsabguss  in  seinem 
Atelier  besaß.  Die  andern  beiden  Engel  sind  da¬ 
gegen  frei  erfunden.  Die  Gleichartigkeit  existirt 
indessen  in  der  Ausführung  des  Basreliefs  aller  drei 
Engelfiguren,  das  sehr  flach  gehalten  und  mit 
großer  Eleganz  ausgeführt  ist.  Man  bekommt  die 


und  das  Streben  nach  genauer  Nachahmung  der 
Natur  sich  frei  entfalten  konnten.  Die  beiden  Kö¬ 
niginnen  sind  genau  so,  wie  sie  viele  Jahre  unter 
den  Turinern  wandelten,  gebildet.  Die  Königin  Mutter, 
Maria  Theresa,  streng  und  ernst  in  Andacht  versunken, 
die  junge  Königin  Marie  Adelaide  voll  Hingebung, 
Vertrauen,  Zärtlichkeit  im  inbrünstigen  Gebete. 

In  technischer  Beziehung  zeigt  die  Arbeit  dieser 
beiden  Statuen  die  höchste  denkbare  Feinheit  und 
Geschicklichkeit,  ohne  der  Gesamtwirkung  Eintrag 
zu  thun. 

* 


Die  beiden  Königinnen  von  Piemont.  Marmorgruppe  von  Y.  Yela. 


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VINCENZO  VELA. 


41 


Die  Fruchtbarkeit  der  Arbeit  Vincenzo  Vela’s 
war  nicht  erschöpft,  sondern  schien  im  Gegenteil 
zuzunehraen.  Er  war  nunmehr  in  seine  letzte 
Periode  eingetreten,  in  die  schönste  Phase  seiner 
künstlerischen  Laufbahn.  Ich  beschränke  mich  auf 
die  Arbeiten,  an  denen  seine  persönlichen  Fähigkeiten 
sich  besonders  ausprägen;  vor  allen  die  Gruppe  des 
Christoph  Columbus,  die  Totenmesse  und  Ecce 


Typus,  der  unzählige  Male  nachgeahmt  wurde,  aber, 
wie  es  gewöhnlich  geht,  nur  äußerlich  nachgebildet, 
ohne  den  mächtigen  Geist  des  Schöpfers.  Eine  Fülle 
junger  Mädchen  und  Frauen  ähnlicher  Art  über¬ 
schwemmen  seitdem  die  Ausstellungen  und  den  Kunst¬ 
markt.  Glücklicherweise  bieten  die  beiden  anderen 
Werke,  an  die  icli  erinnern  möchte,  keinen  so  gün¬ 
stigen  Vorwurf  für  platte  und  gekünstelte  Nach¬ 


homo.  Die  Gruppe  des  Christoph  Columbus  ist  aus 
Bronze  und  in  kolossalen  Verhältnissen  gehalten. 
Vela  führte  sie  im  Aufträge  der  französischen  Kai¬ 
serin  Eugenie  aus.  Christoph  Columbus,  freudestrah¬ 
lend  aber  in  würdiger  Haltung,  führt  dem  alten 
Europa  das  junge  Amerika  vor,  welches  in  Gestalt 
eines  furchtsamen  jungen  Mädchens  dargestellt  ist. 
Man  beobachte  die  vollkommene  und  angenehme 
Gestalt  dieses  jungen  Geschöpfes.  V ela  schuf  hier  einen 

Zeitsclirift  für  bildende  Kunst.  N.  F,  IV. 


ahmung.  Es  sind  dies  die  Totenmesse  und  das  Ecce 
homo. 

Das  erstgenannte  Werk  findet  sich  zu  Verate 
in  der  Brianza  bei  Mailand  und  bildet  das  Grabmal 
der  Comtesse  Giulini  della  Porta.  Hier  entzückt 
wieder  die  besondere  Einfachheit  und  die  stille  Samm¬ 
lung,  die  sich  in  dem  Bildwerke  ausprägt,  und  die 
etwa  der  einer  antiken  Muse  vergleichbar  ist,  freilich 
nicht  ohne  einen  Hauch  christlichen  Gefühls. 

G 


Die  letzten  Tage  Napoleons  I.  auf  St.  Helena.  Statue  von  Vincenzo  Vela. 


42 


VINCEN520  VELA. 


Das  christliche  Gefühl  beherrscht  vollständig 
das  demütig  und  ergebungsvoll  gestimmte  Ecce  homo. 
Für  dieses  Werk  hatte  Vela  eine  Vorliebe,  mit  be¬ 
sonderem  Wohlgefallen  sprach  er  davon.  Seine  Witwe 
und  sein  Sohn  Spartacus  beabsichtigen  deshalb  eine 
Wiederholung  in  Marmor  auf  das  Grab  des  Urhebers 
in  Ligornetto  zu  setzen.  (Das  Original  befindet  sich 
ebenfalls  in  Verate.) 

AVir  sind  nunmehr  bei  demjenigen  Werke  des 
Künstlers  angelangt,  das  den  Höhepunkt  seiner  künst¬ 
lerischen  Entwicklung  und  den  Abschluss  seiner 
Triumphe  bezeichnet.  Es  ist  die  Statue  Napoleon’s  L, 
betitelt:  „Die  letzten  Tage  Napoleon’s“. 

Ein  kraftvoller  und  ernsthafter  Künstler  setzt 
bei  der  Ausführung  eines  Kunstwerks  stets  sein 
ganzes  Wesen  ein,  sowohl  beim  Entwurf  als  bei  der 
Ausführung.  Aber  je  mehr  er  Kraft  und  Ernst 
hat,  je  gewissenhafter  und  sorgfältiger  er  vorgeht, 
um  so  weniger  pflegt  er  der  Wirkung  seiner  Schö¬ 
pfung  sicher  zu  sein.  Der  ungelöste  Rest  seiner  Auf¬ 
gabe,  so  gering  er  sein  mag,  quält  ihn  oft  mehr  als 
das,  was  er  vor  sich  sieht. 

Als  die  Statue  des  Napoleon  aus  seinem  Atelier 
geholt  und  nach  Paris  befördert  wurde,  befielen  den 
Künstler  nagende  Zweifel  und  Befürchtungen.  Wie 
ein  Löwe  seinen  Käfig,  so  durchmaß  Vela  sein  Atelier 
und  murmelte  ohne  Unterlass  voll  Aufregung:  „Wenn 
icli  P’iasko  machte,  wenn  ich  nicht  reüssirte!“  Die 
Proteste  seiner  Freunde  und  Schüler  halfen  nichts. 

Die  Welt  kennt  den  Triumph  des  Vela’schen 
Napoleon  in  Paris.  Vergeblich  suchten  einige  Kri¬ 
tiker  an  dem  Werke  zu  mäkeln,  um  seinen  Erfolg 
abzuschwächen.  Das  Publikum  drängte  sich  beständig 
darum;  Kaiser  Napoleon  IIL  kaufte  das  Werk  und 
ließ  es  nach  Versailles  bringen;  es  hatte  ihn  stumm 
und  naclidenklicli  gemacht. 

I  n  dieser  feierlich  erhabenen  IGgur  hat  der  Künstler 
den  'rodeskiimpf  niclit  nur  eijies  Menschen,  sondern 
einer  ganzen  Plpoche  verkörpert.  Vor  seinem  inneren 
Auge  lässt  der  gewaltige  Mann  noch  einmal  die 
Ercigni.sse  und  Personen,  mit  denen  er  gespielt  hatte, 
an  sicli  vorüber  ziehen.  Die  Weltbrandung,  die  er 
erregt  liatte,  schlug  noch  einmal  an  sein  Ohr  und  wie 
begabt  mit  einem  zweiten  Gefühl  maß  und  erkannte 
er  die  P'olgen  der  Ereignisse,  die  er  hervorgetrieben 
liatte.  Die  linke  Hand,  zur  Faust  geballt,  ruht  auf 
der  Karte  von  Eurojta,  das  so  oft  die  Schwere  seiner 
Faust  tühlen  mus.ste.  In  diesem  Werke  hat  Vela 
mehr  noch  als  in  früheren  die  tiefsten  Gedanken  ver¬ 
körpert. 


Ganz  Oberitalien  hallte  noch  von  dem  Erfolge 
Vela’s  wieder,  als  mit  einemmal  sich  das  Gerücht 
verbreitete,  er  habe  die  Stellung  eines  Professors 
der  Bildhauerei  an  der  Akademie  der  Albertina  auf¬ 
gegeben  und  verlasse  die  Stadt  Turin  vollständig. 
Er  hatte  es  in  der  That  schon  zu  einigen  Freunden 
während  der  Weltausstellung  ausgesprochen:  Wenn 
ich  alles  verkaufen  kann,  schlage  ich  es  los  und 
ziehe  mich  nach  Ligornetto  zurück.  Seine  PTeunde 
hatten  dies  erst  für  eine  bloße  Redensart  aus  Ent¬ 
mutigung  gehalten;  erst  als  er  im  Begriff  stand, 
seinen  Entschluss  auszuführen,  versuchten  sie  ver¬ 
geblich  ihn  umzustoßen.  Vela  hatte  genug  erworben, 
um  den  Seinen  eine  Existenz  zu  sichern,  und  gab 
nun  seiner  Neigung,  dem  Weltgewühl  zu  entfliehen, 
nach.  Er  wollte  freilich  damit  keineswegs  auf  künst¬ 
lerische  Thätigkeit  verzichten. 

Zur  Erklärung  dieses  plötzlichen  Abschneidens 
aller  geselligen  Beziehungen  kann  man  neben  dem 
Wunsche,  sich  selbst  zu  leben,  noch  einen  andern 
ausfindig  machen.  Wahre  Künstler  sind  selten  Ge¬ 
sellschaftsmenschen;  unter  ihren  Schöpfungen,  bei 
ihrer  Arbeit  wird  es  ihnen  am  wohlsten.  Wer  seiner 
Zeit  vorauseilt,  findet  selten  Verständnis;  das  macht 
leicht  menschenscheu,  ja  menschenfeindlich.  Wohl 
belebt  der  Erfolg,  das  Glückslächeln  berauscht  und 
verleiht  Kraft  und  Mut;  aber  ein  Misserfolg  kann 
den  Verwöhnten  rasch  wieder  entmutigen. 

Vela  gehörte  zu  dem  engem  Kreise  Cavour’s, 
war  begeistert  für  Massimo  d’Azeglio,  bewunderte 
den  Herzog  Ferdinand  von  Genua  und  nährte  in 
seiner  Seele  den  feurigen  Wunsch,  die  Denkmäler 
dieser  drei  Männer  für  Turin  auszuführen.  Aber  ein 
Auftrag  nach  dem  andern  entging  ihm.  Er  war 
nicht  so  geartet,  Schritte  zu  thun,  um  sich  diese 
Werke  zu  sichern.  Man  darf  auch  wohl  behaupten, 
dass  Vela  nach  seinen  bisherigen  Werken  in  den 
Denkmälern  der  drei  Männer  keinen  PMrtschritt  be¬ 
kundet  haben  würde. 

Wie  dem  nun  sei,  der  alte  Lieblingstraum  von 
1852  kehrte  wieder  und  wieder  und  schmeichelnd 
lockte  ihn  die  Einsamkeit  von  Ligornetto. 

Wenige  Schritte  entfernt  von  dem  Häuschen, 
wo  er  das  Licht  zuerst  erblickt  hatte,  ließ  er  eine 
Villa  errichten,  die  er  mit  einer  Glyptothek  von  Gips¬ 
abgüssen  aller  seiner  Werke  ausstattete.  Dort  hauchte 
der  Künstler  im  Oktober  des  Jahres  1891  seinen 
Geist  aus. 

In  Ligornetto  gab  er  sich  wieder  seiner  ge¬ 
wohnten  Thätigkeit  hin  und  schuf  daselbst  u.  a. 
das  PTachrelief:  „Die  Opfer  des  Gotthardtunnels“ 


FEUERBACH’S  DECKENGEMÄLDE  FÜR  DIE  AULA  DER  WIENER  AKADEMIE. 


43 


(vgl.  die  Abbildung).  Das  Werk  beweist,  dass  Vela 
seine  künstlerischen  Ideen  aus  der  Gegenwart  schöpfte, 
und  gewiss  ist  es  lebhafte  Teilnahme  für  die  Ver¬ 
unglückten,  die  die  Anregung  zu  dieser  Schöpfung 
gab.  Aber  man  muss  doch  trotz  allem  gestehen, 
dass  seine  künstlerische  Laufbahn  mit  dem  Verlassen 
Turins  ihren  Abschluss  fand;  zu  der  Höhe  seines 
Napoleon  hat  er  sich  nicht  wieder  erhoben. 

* 

*  * 

Vincenzo  Vela  hat,  wie  jeder  selbständige  Künstler, 
lebhaften  Einfluss  nicht  nur  auf  seine  direkten  Schüler, 
sondern  auch  auf  andere  Künstler  ausgeübt.  Unter 
seinen  Schülern  sind  hervorzuheben:  della  Vedova, 
Ginotti,  Cassani,  Ramazzotti,  ferner  Rondoni,  Tra- 
bucco,  Giani,  Ruga,  Ambrogi,  Bernasconi  u.  s.  w. 

Andrerseits  standen  eine  Reihe  von  Künstlern  wie 
Lahns,  Magni,  Tabacchi,  Barzaghi,  Guarnerio,  Ber- 
gonzoli  unter  seinem  Einflüsse,  den  fast  alle  Künstler 
der  Lombardei  mehr  oder  weniger  erfuhren.  Als  er 


Turin  verließ,  schlag  er  selbst  Tabacchi  zu  seinem 
Nachfolger  vor. 

Nichts  war  natürlicher,  als  dass  Vela  vielfach 
direkt  nachgeahmt  wurde,  wie  wir  schon  erwähnten. 
Aber  sein  Geist  war  doch  nur  sehr  selten  zu  Anden, 
seine  Liebe  zur  Wahrheit  wurde  Kopie  der  Wirk¬ 
lichkeit;  seine  Gewohnheit,  die  Einzelheiten  sorgfältig 
durchzubilden,  wurde  übertrieben  bis  zur  minutiösen 
Spielerei,  seine  liebenswürdigen  Typen  wurden  viel¬ 
fach  verwässert  und  rein  äußerlich  kopirt.  Nur 
wenig  ging  von  seinem  Geiste  auf  die  Nachahmer 
über,  aber  glücklicherweise  ist  dieser  nicht  mit  ihm 
erstorben.  Er  lebt  nicht  nur  in  seinen  Gestalten 
fort,  sondern  auch  in  der  Hand  mancher  guten  Künst¬ 
ler,  die  rüstig  in  Italien  in  seinem  Sinne  weiter 
schaffen.  Mit  B/iffi  in  Mailand,  Montcverclc  in  Genua, 
Ettore  Ferrari  und  Ercole  Rosa  in  Rom,  Civiletfi  in 
Palermo  seien  nur  einige  davon  genannt. 

Mailand,  im  Juli  1892. 


FEUERBACH’S  DECKENGEMÄLDE 
EÜR  DIE  AULA  DER  WIENER  AKADEMIE. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


0  wäre  denn  nun  das  einzige 
Werk  monumentaler  Malerei, 
welches  Anselm  Fenerhach 
uns  hinterlassen  hat,  an  der 
Stelle,  für  die  er  es  ge¬ 
schaffen,  endlich  enthüllt! 
Das  zweihundertjährige  Stif¬ 
tungsfest,  welches  die  Wiener 
Akademie  am  26.  Oktober  im  Beisein  Sr.  Majestät 
des  Kaisers  und  einer  zahlreichen  auserlesenen  Ver¬ 
sammlung  weihevoll  beging,  bot  uns  den  ersten  über¬ 
raschenden  Anblick  der  großartigen  Schöpfung,  und 
jedem,  der  sie  seither  eingehender  hat  betrachten 
können,  musste  sich  der  Gedanke  aufdrängen,  dass 
eine  Kraft  von  titanischer  Gewalt  aus  diesen  Bildern 
zu  uns  spricht. 

Als  Anselm  Feuerbach  am  4.  Januar  1880  in 
Venedig  starb,  ließ  er  fünf  der  für  die  Aula  der 
Wiener  Akademie  bei  ihm  bestellten  Bilder  in  dem 
Zustande  zurück,  wie  sie  nun  an  der  Decke  prangen. 
Dem  „Titanensturz“,  dem  großen  Mittelbilde  des 
Cyklus,  fehlen  noch  an  einigen  Stellen  die  letzten 


Retouchen.  Die  vier  kleineren  Gemälde:  „Der  ge¬ 
fesselte  Prometheus,  von  den  klagenden  Okeaniden 
umringt“,  „Venus  Anadyomene  im  Muschelwageu, 
von  Amoretten  umgeben“,  „Gäa“  und  „Uranos“, 
waren  ganz  vollendet.  Zu  den  übrigen  vier  Kom¬ 
positionen  des  Gemäldecyklus ,  welcher  im  ganzen 
somit  aus  neun  Stücken  besteht,  fanden  sich  im 
Nachlasse  des  Meisters  nur  Studien  und  Andeutungen 
vor:  zwei  größere,  auf  Tonpapier  mit  Umbrastift 
gezeichnete  Studien  zn  den  Einzelgestalten  des  „Eros“ 
und  des  „Okeanos“  (s.  die  Abbildungen),  außerdem 
eine  Anzahl  kleiner  Pausen  und  Detailstudien,  welche 
zu  den  beiden  letzten  Bildern  des  Cyklus  gehören, 
sämtlich  heute  in  der  Sammlung  der  Akademie. 

Nachdem  das  hinterlassene  Werk  in  Wien  an¬ 
gelangt  war,  musste  man  zunächst  den  Gedanken 
fassen,  die  unvollendeten  Teile  durch  Schüler  des 
verstorbenen  Meisters  ausführen  zu  lassen.  Der 
„Titanenstarz“  blieb  natürlich  unberührt  und  macht 
auch  ohne  die  letzte  Retouche  seine  volle  Wirkung. 
Die  Ausführung  der  beiden  Einzelßguren  „Eros“ 
und  „Okeanos“  wurde  auf  Grund  der  vorliegenden 

6* 


44 


FEUERBACH’S  DECKENGEMÄLDE  FÜR  DIE  AULA  DER  WIENER  AKADEMIE. 


N 


Zeichnungen  dem  Maler  Ileinrirh  Tenf, schert  (gegen¬ 
wärtig  in  Rom),  einem  Schüler  Feuerbacli’s,  über¬ 
tragen.  Derselbe  hat  die  Aufgabe  mit  Pietät  gelost, 


freilich  ohne  die  Kraft  der  Modellirung  und  den 
eigentümlich  herben  Reiz  der  farbigen  Erscheinung, 
welcher  die  Schöpfungen  seines  Meisters  kenn¬ 
zeichnet,  zu  erreichen.  Für  die  beiden  anderen 
größeren  Kompositionen  hatte  man  einen  zweiten 
begabten  Schüler  Feuerbach’s,  Adalbert  Ilynais, 
in  Aussicht  genommen  und  von  diesem,  der  seit 
Jahren  in  Paris  wohnt,  auch  die  Erklärung  seiner 
Bereitwilligkeit  erhalten.  Als  Hynais  dann  aber, 
aus  Anlass  der  Vollendung  seiner  Malereien  für 
das  neue  Burgtheater,  vor  einigen  Jahren  nach 
Wien  kam  und  in  die  Sachlage  vollen  Einblick  er¬ 
hielt,  erklärte  er  leider,  von  der  gegebenen  Zusage 
zurücktreten  zu  müssen.  So  übernahm  denn  schlie߬ 
lich  Prof.  Chr.  Oriepenherl  den  immer  noch  sehr  er¬ 
heblichen  Rest  des  großen  Werkes  und  führte  die 
beiden  fehlenden  Kompositionen  selbständig  aus. 
Dass  den  Gegenstand  des  einen  dieser  Bilder  „Pro¬ 
metheus  als  Gründer  des  Herdes“  bilden  musste, 
war  aus  der  kleinen  Skizze  zu  entnehmen,  welche 
Feuerbach  in  den  Hansen’schen  Deckenentwurf  (in 
der  Sammlung  der  Akademie)  eingezeichnet  hat. 
Man  erkennt  auf  derselben,  trotz  ihrer  Flüchtigkeit, 
deutlich  den  zur  Rechten  (vom  Beschauer)  sitzenden 
Prometheus  und  unmittelbar  vor  ihm  die  auf  einer  Art 
von  Dreifuß  brennendeFlamme;  links  davon  erscheinen 
drei  Gestalten,  die  sich  wie  vor  etwas  Göttlichem 
zu  beugen  scheinen,  dessen  Bedeutung  ihnen  Pro¬ 
metheus  lehrend  auseinandersetzt.  Die  von  Griepen- 
kerl  ausgeführte  Komposition  war  damit  in  ihren 
Hauptzügen  vorgezeichnet.  Schwieriger  gestaltete 
sich  die  Sache  bei  dem  letzten  der  Bilder,  welches 
den  Cyklus  am  Nordende  der  Decke  abschließt  und 
zu  der  „Aphrodite  im  Muschelwagen“  (am  Südende) 
das  Gegenstück  bildet.  Die  halb  verwischte  und  erst 
eben  angedeutete  Skizze  Feuerbach’s  zeigt  hier  nur 
eine  am  Boden  gelagerte,  offenbar  weibliche  Figur 
und  über  ihr  ein  sichelförmiges  Instrument.  Letzteres 
bot  dem  Künstler  die  Handhabe  für  die  Erklärung 
der  Figur  als  Demeter.  Diese,  die  göttliche  Grün¬ 
derin  aller  Kultur,  reiht  sich  passend  an  Prometheus, 
den  Feuerbringer,  an: 

,,Die  Bezäümerin  wilder  Sitten, 

Die  den  Menschen  zum  Menschen  gesellt 

Und  in  friedliche,  feste  Hütten 

Wandelte  das  bewegliche  Zelt.“ 

Griepenkerl  führt  sie  uns  gelagert  neben  der  von 
ihr  geflochtenen  Garbe  vor  und  gab  ihr  zur  Be¬ 
gleitung  einen  Chor  von  kleinen  Genien,  welche 
die  Jahreszeiten  symbolisiren.  Ohne  Zweifel  er¬ 
hält  der  in  den  Bildern  Feuerbach’s  niedergelegte 


Eros.  Umbrastiftzeichuung  von  A.  Feuerbach.  Okeanos.  Umbrastiftzeichmmg  von  A.  Feüerbach. 


4G 


FEUERBACH’S  DECKENGEMÄLDE  FÜR  DIE  AULA  DER  WIENER  AKADEMIE. 


Gedankenkreis  auf  diese  Weise  seinen  passenden 
Abschluss.  Und  auch  in  rein  malerischer  Hinsicht 
kann  man  es  nur  freudig  anerkennen,  wie  hier  eine 
aus  ganz  anderer  Tradition  hervorgegangene  Künstler¬ 
natur  sich  willig  und  harmonisch  in  den  Dienst  der 
großen  Aufgabe  gestellt  hat,  ohne  die  eigene  Indi¬ 
vidualität  preiszugeben.  „Je  mehr  ich  mich“  —  so 
sagte  uns  der  Künstler  —  „in  das  Studium  der 
Feuerbach’schen  Gemälde  vertiefte,  um  die  meinigen 
ihnen  anzupassen,  einen  um  so  gewaltigeren  Respekt 
bekam  ich  vor  der  Größe  des  Meisters.  Trotz  mancher 
Schwächen,  besonders  in  der  Zeichnung,  muss  man 
gestehen,  dass  nichts  sich  anders  denken  lässt,  als  wie 
es  eben  dasteht.  Es  ist  wie  eine  gebundene  Rede, 
—  in  der  sich  ja  auch  nicht  alles  fügt  wie  im 
Rrosastil,  —  die  ihr  Gesetz  in  sich  selber  trägt.  Und 
niemals  habe  ich,  obwohl  doch  in  solchen  Dingen 
einigermaßen  ei-fahren,  als  ich  die  Feuerbach’schen 
Bilder  bei  mir  im  Atelier  stehen  sah,  gedacht,  dass 
sie  an  der  Decke  eine  so  herrliche  Wirkung  machen 
würden.“ 

Als  man  daran  ging,  die  somit  abgeschlossene 
Bilderfolge  nun  an  der  Decke  zu  befestigen,  ergab 
sich  die  Notwendigkeit,  in  einem  Punkte  von  der 
oben  erwähnten  ersten  Planskizze  Feuerbach’s  abzu¬ 
weichen:  nämlich  in  der  Anordnung  der  vier 
schwebenden  Einzelgestalten.  Der  Meister  hatte  zum 
gefesselten  Prometheus  ursprünglich  Gäa  und  Eros 
gesellt,  war  aber  bei  der  Ausführung  der  Bilder  selbst 
davon  abgegangen.  Eine  unten  citirte  Äußerung 
von  ihm  beweist  dies  klar.  Danach  mussten  rechts 
und  links  von  dem  gefesselten  Prometheus  Gäa  und 
Uranos  angebracht  werden.  Die  Mitte  und  die 
ganze  Südseite  der  Decke  gehören  somit  Feuerbach 
allein;  an  der  Nordseite  schließen  sich  die  von 
Griei)enkerl  und  Tentschert  gemalten  Bilder  an.  Es 
wird,  unter  Hinweis  auf  die  beigefügte  Gesamtskizze 
des  fertigen  Plafonds,  vielleicht  gut  sein,  die  Gegen¬ 
stände  der  Bilder  und  die  Namen  der  Künstler  hier 
noch  einmal  nach  einander  aufzuführen: 

1.  Mittelbild:  J'itanensturz  —  Feuerbach. 

2.  Südliche  Bildergruppe:  a)  Venus  im  Muschel¬ 
wagen  —  Feuerbach,  b)  Der  gefesselte  Prometheus 

-  Feuerbacli.  c)  Gäa  —  F'euerbach.  d)  Uranos  — 
Feuerbach. 

3.  Nördliche  Bildergru])pe:  e)  Prometheus  als 
Herdgründer  —  Griepenkerl.  f)  Demeter  —  Griepen- 
kerl.  g)  Eros —Tentschert.  h)  Dkeanos  —  Tentschert. 

Uber  die  Plntstehung  der  P’euerbach’schen  Decken¬ 
bilder  für  die  Wiener  Aula  sind  wir  durch  ihn  selbst 
(Vermächtnis,  3.  Aufl.  124  ff.)  ziemlich  genau  unter¬ 


richtet.  Mit  Beginn  des  Sommers  1873  trat  er  in 
Wien  seine  Stellung  an  der  k.  k.  Akademie  als 
Professor  einer  Spezialschule  für  Historienmalerei  an 
und  erhielt  nicht  lange  darauf  die  große  Bestellung 
für  den  Festsaal  des  damals  im  Werden  begriffenen 
Neubaues.  Eine  erste,  von  Hansen  entworfene  Plan¬ 
skizze  der  Decke  wurde  verworfen.  Sie  hätte  nur 
für  eine  Anzahl  kleinerer  Bilder  Platz  gelassen,  der 
monumentalen  Malerei  den  Leib  eingeschnürt.  Dar¬ 
auf  machte  Hansen  den  zweiten  Entwurf,  der  im 
wesentlichen  so,  wie  er  damals  gemeinsam  mit  Feuer¬ 
bach  festgestellt  ward,  auch  zur  Ausführung  ge¬ 
kommen  ist.  Die  durch  reiche  Stuckornamentik  ge¬ 
teilte  Decke  blieb  bis  zum  Einsetzen  der  Bilder  weiß 
und  hat  erst  jetzt,  nach  Fertigstellung  derselben, 
ihre  polychrome  Dekoration  erhalten.  Die  Aus¬ 
führung  der  letzteren  in  mattem  Rot,  Weiß,  Licht¬ 
blau  und  Gold,  erfolgte  nach  den  Angaben  Prof. 
G.  Niemann’s,  der  als  ein  ehemaliger  Schüler  Hansen’s 
in  dessen  Stilempfindung  völlig  eingeweiht  war  und 
auch  Feuerbach’s  malerischen  Intentionen  in  feiner 
Weise  gerecht  geworden  ist. 

„Oberbaurat  Hansen“  —  so  schreibt  Feuerbach 
(Wien  1875,  Vermächtnis,  S.  137)  —  „hat  mich  heute 
in  dem  neuen  Akademiebau  herumgeführt  bis  zum 
Giebel.  Im  Oktober  meint  er  mir  ein  großes  Atelier 
einrichten  zu  können.  Er  rät  mir,  einstweilen  mit 
den  kleineren  Nebengruppen  zu  beginnen.  Ich 
möchte  es  eigentlich  nicht,  weil  das  große  Mittelbild 
den  Maßstab  für  den  Rest  geben  sollte;  wenn  es 
aber  nicht  anders  geht,  so  muss  ich  mich  fügen.  — 
Der  Saal  ist  schön.  Dreißig  Marmorsäulen,  nicht  zu 
hoch,  nicht  zu  niedrig,  intim  und  prächtig  zugleich. 
Man  kann  sich  nichts  Harmonischeres  denken.  Mein 
Mittelstück  ist  glücklich  erdacht.  Wenn  es  mir  ge¬ 
länge,  wollte  ich  gerne  sterben,  es  wäre  genug  für 
ein  Menschenleben.“ 

Über  den  Beginn  der  Arbeit  berichtet  eine 
zweite  Stelle:  „Bis  ziim  Schluss  des  Winters  1875 
war  ich  beschäftigt,  meine  Bilder,  Amazonen  und 
zweites  Gastmahl,  für  die  Ausstellung  in  München 
vorzubereiten;  desgleichen  malte  ich  die  erste  Skizze 
zMtn  Tiianensturz  und  brachte  die  vordere  ’)  Gruppe 
der  Deckenbilder,  Prometheus,  Venus,  Gäa  und 
Uranos,  auf  einen  ziemlichen  Grad  der  Vollendung.“ 


1)  Dass  Feuei’bach  die  südliche  Bildergruppe  hier  die 
„vordere“  nennt,  mag  darin  seinen  Grund  haben,  dass  sie 
bei  dem  auf  den  Tisch  gelegten  Plan  (s.  unsere  Abbildung) 
vorne,  d.  h.  zunächst  dem  Beschauer  zu  liegen  kommt.  An 
der  Decke  erscheint  die  Gruppe  hinten,  d.  h.  im  Fond  des 
Saales. 


PEüERBACFrS  DECKENGEMÄLDE  FÜR  DIE  AULA  DER  WIENER  AKADEMIE. 


47 


Die  letzte  Hand  hat  Feuerbach  an  die  Bilder 
bekanntlich  erst  in  Italien  gelegt.  Ein  Gelenk¬ 
rheumatismus  und  eine  schleichende  Lungenentzün¬ 
dung  trieben  ihn  von  Wien  fort,  zunächst  in  die 
Heimat,  dann  nach  Rom  und  Venedig.  Im  Süden, 
unter  der  unmittelbaren  Einwirkung  der  großen  ita¬ 
lienischen  Kunst,  sind  die  Werke  ihrer  Vollendung 
entgegengereift.  In  Rom  fühlte  sich  der  Meister 
wieder  auf  seinem  Boden,  „ein  zweiter  Antäus“. 
Wie  „ein  stiller  Friede“  kam  es  über  ihn.  Er  be¬ 
gann  von  neuem  die  Arbeit  mit  frohen  Hoffnungen, 
in  der  glücklichsten  Stimmung. 

Sehr  bezeichnend  für  die  Konzeption  des  großen 
Mittelbildes  sind  folgende  Worte  Feuerbach’s:  „Alle 
meine  Werke  sind  aus  der  Verschmelzung  irgend 


Seite;  rechts  türmen  die  Titanen  Felsblöcke  über¬ 
einander.  Unten  nächtliches,  anbrausendes  Meer, 
klagende  Weiber,  Tote,  Verwundete,  im  Wasser 
Leichen,  ungeheuerliche  Fische  mit  aufgesperrtem 
Rachen,  rechts  Poseidon,  mit  icild  sich  cmfhdumenden 
Rossen  nnd  jugendlichem  Wagenlenker,  erlegt  eine  Hgdra 
mit  dem  Dreizack;  Hermes,  der  lachende  Götterbote, 
bringt  Botschaft  von  oben.  Dunkler  Himmel,  Rauch, 
Brand  au  allen  Ecken.“ 

Vergleicht  mau  diese  Skizze  mit  der  in  unserer 
Zeichnung  wiedergegebenen  ausgeführten  Komposi¬ 
tion  ,  so  zeigt  sich ,  dass  die  obere  Hälfte  des 
Bildes  völlig  unverändert  geblieben  und  nur  etwas 
nach  rechts  gedreht  ist,  um  das  sonnenbafte  Em¬ 
porsteigen  des  Zeus  auf  seinem  Viergespann  zu 


Aphrodite  im  Muschelwageu.  Von  A.  Feuerbach. 


einer  seelischen  Veranlassung  mit  einer  zufälligen 
Anschauung  entstanden.“  —  „Bei  den  Titanen  war 
der  lachende  Poseidon  die  Figur,  welche  mir  zuerst 
vorschwebte  und  an  die  sich  dann  unmittelbar  die 
übrige  Komposition  rhythmisch  anreihte.“ 

Merkwürdig,  dass  gerade  diejenige  Gestalt, 
welche  Feuerbach  hier  sozusagen  als  das  Keimblatt 
der  ganzen  Komposition  bezeichnet,  auf  dem  voll¬ 
endeten  Bilde  in  durchaus  veränderter  Stellung  und 
Situation  erscheint,  als  in  dem  ersten  Entwurf.  Der 
Meister  giebt  uns  von  diesem  eine  gedrängte  Be¬ 
schreibung  (a.  a.  0.  S.  136),  die  mit  der  Skizze  in 
der  Sammlung  der  Akademie  in  den  Hauptpunkten 
übereinstimmt.  „Oben  in  Gold  und  Purpur  schleudert 
Zeus  seine  Blitze,  beschirmt  von  allen  streitbaren 
Göttern  des  Olymps.  Kampf  des  obersten  Titanen 
mit  dem  Adler.  Jäher  Sturz  kopfüber  auf  der  linken 


prägnanterem  Ausdruck  zu  bringen.  Bedeutsame 
Umänderungen  weist  dagegen  die  untere  Hälfte  der 
Komposition  auf  und  die  wichtigste  derselben  ist 
die  Umstellung  des  Poseidon  auf  die  linke  Seite  des 
Bildes  und  dessen  Lostrennung  aus  dem  Zusammen¬ 
hänge  mit  den  übrigen  Gruppen.  Es  ist,  als  wenn 
dem  Künstler  erst  während  der  Ausgestaltung  des 
Werkes  jener  Urkeim  seiner  Titanenkomposition, 
der  lachende  Poseidon,  zu  voller  Klarheit  und  Pla¬ 
stizität  sich  verdichtet  hätte.  Nichts  Genialeres  kann 
in  der  That  ersonnen  werden  als  diese  reckenhaft 
ungeschlachte  Gestalt  des  Meeresgottes  mit  dem 
struppigen  Bart  und  den  wirr  um  das  Haupt  ihm 
flatternden  Schilf halmen,  der  an  dem  Siege  des 
himmlischen  Bruders  eine  wilde  Freude  hat,  ob¬ 
schon  ihm  selbst  mehr  Titanenhaft-Urgewaltiges  an¬ 
haftet,  als  den  olympischen  Gründern  der  Kultur 


4$ 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


geziemt.  Und  erst  in  ihrer  Isolirung  kommt  die 
Gestalt  zu  voUem  Ausdruck! 

Die  Stelle  des  Poseidon  auf  dem  ersten  Ent¬ 
würfe  nimmt  im  fertigen  Bilde  Frau  Venus  ein. 
Und  zwar  begegnet  sie  uns  hier,  wie  auf  dem  kleinen 
Seitenbilde  am  Südende,  als  die  schaumgeborene 
Göttin,  aber  stehend  auf  dem  Muschelwagen,  den 
zwei  von  Amor  gelenkte  Delphine  ziehen.  Genien 
mit  Blumengewinden  bilden  ihr  Gefolge.  Sie  richtet 
den  Blick  trmmphirend  nach  oben,  in  der  Rechten 
den  Palmzweig  haltend.  Eine  große,  geflügelte  Nike 
—  welche  auf  dem  fertigen  Bilde  an  die  Stelle 
des  Götterboten  Hermes  getreten  ist  —  verkündet 
mit  Posaunenschall  den  Sieg  der  Schönheit,  in  der 
Linken  den  Kranz.  Dass  Aphrodite  zweimal  er¬ 
scheint,  im  Vordergründe  des  Titanensturzes  als  Mit- 
anteilnehmerin  an  dem  Triumphe  der  Götter  und 
dann  für  sich  allein,  im  ruhigen  Behagen,  als  die 
Krone  aller  Kultur  und  Kunst,  wer  wollte  das  an 
der  Stätte  der  Künste  anders  wünschen!  Die  Um¬ 
änderung  der  großen  Komposition  in  diesem  Sinne 
war  eine  innere  Notwendigkeit. 

Auch  die  herrlichen  Gruppen  der  Titaiienweiber 
und  des  Meergesindes  im  Mittel-  und  Vordergründe 
sind  ei’st  das  Ergebnis  der  schrittweisen  Voll¬ 
endung  des  Bildes.  Die  Pause  giebt  nur  wenige 
der  weiblichen  Figuren  in  flüchtiger  Andeutung;  in 
der  obigen  Beschreibung  des  ersten  Entwurfs  hat 
dieser  Teil  der  Komposition  bereits  nahezu  seine 


gegenwärtige  Gestalt.  Auf  einer  Ölskizze  vom  Jahre 
1875  in  der  Münchener  Pinakothek  (Vermächtnis, 
S.  215,  Nr.  167)  sind  außer  dem  Meer  auch  schon 
die  „offenen  Pforten  des  Hades“  angedeutet,  aus 
denen  der  Höllenhund  seinen  dreifachen  Rachen  her¬ 
vorstreckt.  — ■  Im  allgemeinen  ist  der  untere  Teil  des 
Bildes  ruhiger  und  in  der  Farbe  gedämpfter  als  der 
obere,  besonders  die  ganz  vollendete  linke  Seite. 
Hier  kommt  die  stimmungsvolle  Natur  des  Künstlers 
zum  Ausdruck.  Nur  in  der  oberen  Partie  erhebt  er 
sich  zur  höchsten  Lebendigkeit.  Ja,  es  ist  dies, 
neben  der  „Ämazonenschlacht“,  das  einzige  Stück  echt 
dramatisch  bewegter  Kunst,  was  wir  von  Feuerbach 
besitzen,  und  nach  unserer  Überzeugung  dem  Ama¬ 
zonenbilde  überlegen.  Wenn  in  den  stürzenden 
Titanen  und  den  Titanenweibern  des  Mittelgrundes 
mancher  Zug  an  Michelangelo  gemahnt  und  in 
anderen  Gestalten  Farn esina- Motive  deutlich  nach¬ 
klingen,  so  ist  dagegen  in  der  Hauptgruppe  des 
blitzeschleudernden  Zeus  und  seiner  Begleiter  der 
Künstler  ganz  er  selbst  in  Erfindung  und  Ausdruck. 
Die  sieghaften  Olympier  in  ihrer  purpurnen  Lohe 
gehören  zu  den  großartigsten  Inspirationen  der  mo¬ 
dernen  Kunst.  Während  im  Gesamtton  des  Bildes 
eine  gewisse  erdschwere  und  gewitterschwüle  Stim- 
m.ung  vorwiegt,  bricht  in  jenen  himmlischen  Ge¬ 
stalten  ein  heller  Freskoton  farbig  und  erfrischend 
hervor.  C.  v.  LÜTZOW. 

(Schluss  folgt.) 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


KihrniiKl  Koken,  dessen  stimmungsvolles  Bild  „An  der 
Kloster[)fort(!“  wir  in  Heliogravüre  diesem  Hefte  beigehen, 
ist  ein  Künstler,  dessen  Name  mit  der  Entwicklung  des  Pro- 
vinzialmuseuras  in  Ha.nnover  eng  verknüpft  ist.  Er  wurde 
;ini  4.  .luni  1814  zu  Hannover  geboren,  besuchte  dort  die 
Hofschule  und  erhielt  seineTi  ersten  Unterricht  im  Zeichnen 
am  Polytechnikum  daselbst.  Er  ging  zu  seiner  künstlerischen 
Ausbildung  mit  Kotsch  nach  München,  wo  vor  allem  der 
Einfluss  Kottmann’s  auf  ilm  sich  geltend  machte.  Von  da 
ans  besuchte  er  als  Studienreisender  Oberitalien,  Oberbayern 
und  Hranilenbiirg  und  kehrte  anfangs  der  vierziger  Jahre 
nach  Hannover  zurück.  Obwohl  er  sich  im  Forträtfach  mit 
Erfolg  versuchte,  ist  doch  sein  eigentliches  Gebiet  die  Land¬ 
schaft,  die  er  gern  in  einer  lyrischen  Grundstimmung  zeigt. 
Das  vorliegende  Bild  entstand  18G.5  und  gelangte  durch  ein 
Vermächtnis  des  Münzmedailleurs  Brehmer  in  die  Galerie 
zu  Hannover. 

Itoherf.  Kandner,  der  Urheber  der  Malerradirung  ,,Kopf 
eines  alten  Mannes“,  die  diesem  Heft  beigegeben  ist,  wurde 


im  Jahre  1854  zu  Nimkau  in  Schlesien  geboren.  Er  hat 
seine  Lehrzeit  in  einer  Porzellanfabrik  begonnen,  zog  dann 
nach  Leipzig  und  besuchte  dort  die  Kunstschule,  1878  siedelte 
er  nach  München  über,  um  von  nun  ab  die  „hohe  Kunst“ 
zu  pflegen.  Dort  hat  er  unter  Kämpfen  und  Entbehrungen, 
angeleitet  von  Loetftz,  Raab,  Krauskopf,  seine  Künstlerlauf¬ 
bahn  emsig  verfolgt.  Eine  Probe  seiner  damaligen  Fähig¬ 
keit  zeigt  die  Radirung  nach  Mathias  Schmid’s  „Rettung“ 
(Jahrgang  XIX  dieser  Zeitschrift),  die  unter  Leitung  von 
W.  Krauskopf  entstand.  Ein  schreckliches  Schicksal  schien 
ihm  zu  drohen,  als  sich  bei  ihm  ein  Augenühel  einstellte, 
das  ihm  schließlich  die  Arbeit  unmöglich  machte.  Alle 
Früchte  seines  Fleißes  schienen  vernichtet,  und  wer  zu  em¬ 
pfinden  vermag,  was  die  Sehkraft  dem  Künstler  bedeutet, 
wird  die  Qualen  ermessen  können,  die  ihn  damals  heimsuchten. 
Glücklicherweise  besserte  sich  der  Zustand  nach  und  nach  und 
heute  beweisen  u.  a.  die  großen  Studien,  die  Raudner  gegen¬ 
wärtig  bei  Amsler  &  Ruthardt  in  Berlin  ausgestellt  hat,  seine 
technische  Meisterschaft  und  seinen  echt  malerischen  Sinn. 


Herausgeber:  Carl  von  JJüxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artv/r  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Titaueiisturz.  Gemiilile  von  A.  Fkueebach. 


Edin.'Ko'ken.  piiix. 


Helio^r .  v:  E .  ALTd  ert  u.  r  - 


AN  DEP  KLOSTBRPEORTE^ 


J-  ■]  .g  V  E.A  Sci-mann , Leipzig. 


Lnicli  vEA^Bi-ürldians  ,  Leipzig. 


BAIDEVERGNUGEN. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 

VON  ALFRED  GOTT  HOLD  MEYER. 

(Fortsetzung.) 


ÄHLT  man  ohne  Rücksicht 
auf  den  Kunstwert  alles  zu¬ 
sammen,  was  in  der  deut¬ 
schen  Abteilung  dieses  Salons 
unter  die  Rubrik  „Grenre“ 
fallen  konnte,  so  zeigte  sich 
diesmal  doch  wieder  eine  leise 
Neigung  zu  jener  pointirten 
Aiiekdotenmalerei,  zum  Süßlichen  und  Gefälligen, 
der  die  Neuerer  nicht  mit  Unrecht  so  energisch 
entgegengetreten  sind.  Man  kann  dem  deutschen 
Genrebild  sicherlich  ohne  Schaden  für  die  „neue 
Schule“  einen  reicheren  Inhalt  wünschen,  als  die¬ 
selbe  ihr  im  letzten  Jahrzehnt  zugestanden  hat, 
aber  diese  rückläufige  Richtung  entspricht  solchem 
Wunsch  nur  sehr  dürftig.  Sie  ist  weder  im  Sinne 
unserer  Zeit  national,  noch  aktuell.  Unsere  Genre¬ 
maler  sollten  sich  allgemach  wieder  der  That- 
sache  bewusst  werden,  dass  sie  in  ihren  Bildern  der 
Nachwelt  Kultur-  und  Geistesgeschichte  unserer 
Zeit  überliefern  können.  Fast  ängstlich  wird  von 
ihnen  alles  vermieden,  was  heute  den  Mittelpunkt 
aller  Interessen  bildet,  die  sozialen  Ideen,  welche 
der  künftige  Kulturhistoriker  an  die  Spitze  seiner 
Betrachtungen  stellen  wird,  der  stetig  wachsende 
Kampf  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  die  Umwäl¬ 
zungen,  welche  sich  in  unserm  Gesellschaftsleben 
vorbereiten  und  zum  Teil  schon  vollziehen,  die  Um¬ 
wertung  der  auf  das  Verhältnis  des  Einzelnen  zur 
Gesamtheit  bezüglichen  Anschauungen,  das  ganze, 
gewaltige  Gebiet  moderner  Geistes-  und  Maschinen¬ 
arbeit —  kurz  alles  das,  was  nach  Zolas  mächtigem  Vor¬ 
bild  in  unserer  Litteratur  mehr  undmehr  in  den  Vorder¬ 
grund  tritt.  Ist  doch  aus  unserer  Genremalerei  selbst 
die  moderne  Gesellschaftsfrac/?<  noch  immer  so  gut 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


wie  verbannt  —  an  sich  etwas  rein  Äußerliches,  in 
Wahrheit  aber  etwas  sehr  Bedeutsames,  denn  mit 
dem  Bannspruch  über  seine  Hülle  hat  man  eine  Haujit- 
klasse  des  „modernen  Menschen“  selbst  von  der  Ma¬ 
lerei  ausgeschlossen!  Nur  ganz  vereinzelt  finden  sich 
Ausnahmen,  vertreten  durch  Künstler,  die  sich  dieser 
Aufgabe  noch  gar  nicht  recht  bewusst  sind.  Sl'ar- 
hina  würde  sich  selbst  dagegen  .sträuben,  wenn  man 
seine  bleibende  Bedeutung  auf  diesen  „Stolfkreis“  be¬ 
schränkte.  Malerische  und  koloristische  Probleme 
leiten  ihn,  und  nur  wie  etwas  Zufälliges  wählt  er  für 
dieselben  häufig  Momentbilder  der  salonfähigen  Gesell¬ 
schaft.  Ähnlich  auch  der  ihm  zuweilen  wahlverwandte 
Hermann  Sclditfgen,  der  sich  diesmal  völlig  auf  kolo¬ 
ristische  Experimente  beschränkte,  und  Joseph  Bloch, 
der  ein  gutes  Gegenstück  zu  Skarbina’s  „Herbe 
Worte“  ausge.stellt  hatte.  Es  ist  nicht  nötig,  dass 
bei  Versuchen  dieser  Gattung  stets  von  neuem  das 
Verhältnis  zwischen  Mann  und  Frau  den  Grund¬ 
ton  angiebt,  —  für  Block  nicht  einmal  wünschens¬ 
wert,  denn  seine  Männer  sind  weit  wahrer,  als  seine 
Frauen  —  es  ist  nicht  richtig,  denn  niemand  wird 
behaupten  wollen,  dass  heute  das  Weib  im  Mittel¬ 
punkt  unseres  Kultur-  und  Geisteslebens  steht. 

Solche  Erörterungen  können  unnütz  erscheinen: 
niemals  hat  die  Kritik  erfolgreich  den  Inhalt  der 
Kunst  bestimmt.  Aber  sie  sind  auch  in  anderem 
Sinne  vielleicht  nicht  ganz  belanglos.  Sicherlich 
hat  diese  Abkehr  von  dem,  was  unsere  Zeit  bewegt, 
auch  den  geschichtlichen  Blick  getrübt,  und  zum  un¬ 
leugbaren  Niedergang  unserer  Historienmalerei  bei¬ 
getragen.  Von  Jahr  zu  Jahr  werden  die  Historien¬ 
bilder  in  unseren  Ausstellungen  seltener,  nicht  nur 
die  nationalen,  auch  nicht  nur  die  guten,  sondern 
die  Darstellungen  geschichtlicher  Stoffe  überhaupt. 

7 


5(1 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


Im  Münchener  Salon  zog  deshalb  im  Vorjahre 
0.  Friedrich' s  Bild  „Canossa“  mit  Recht  die  Aufmerk¬ 
samkeit  auf  sich.  Diesmal  nahm  Michael  Dienier’s 
panoramenartig  gemalte  Darstellung  aus  sagenhafter 
Zeit  „Grettir  der  Geächtete“  .seine  Stelle  ein,  eine 
noch  nicht  ausgereifte,  aber  vielversprechende  Arbeit. 
Daneben  wären  noch  Rouhaud's  tüchtiges  Gemälde 
„Verwundet“,  das  an  Josej^h  von  Brandt  erinnert,  und 
Theodor  EocholVs  zum  Teil  schon  bekannte  "Werke 
zu  nennen  —  unter  etlichen  tausend  Bildern  doch  eine 
gar  zu  wünzige  Schar!  Vielleicht  ist  den  Historienmalern 
in  Zukunft  auch  der  Dresdener  Felix  Borchardt  zuzu¬ 
rechnen,  dessen  großes  Bild  „Die  These“  eine  un¬ 
gewöhnlich  scharfe  Charakteristik  der  Einzelfiguren 
zeigt.  —  Monumentalmalerei  aber  bietet  keines 
dieser  Werke,  und  wie  gänzlich  die  Kraft  zu  einer 
solchen  mangelt,  bezeugt  die  für  das  Erfurter  Rat¬ 
haus  bestimmte  iimte  Ednard  Kiwi])  ff  er  s  „Aus  Luther’s 
Leben  in  Erfurt“.  Ohne  ein  unerwartetes  Genie 
wird  es  noch  lange  währen,  bis  unsere  Historien¬ 
malerei  die  Errungenschaften  der  neuen  Schule  so 
selbständig  verarbeitet,  wie  es  in  der  Landschaft  und 
zum  Teil  aucli  im  Genrebild  bereits  erfolgreich  ver¬ 
sucht  worden  ist. 

Die  beste  Schulung  hierfür  gewährt  zweifellos  das 
Finzelhildnir ,  aber  dasselbe  beharrt  leider  noch  in 
einem  ähnlichen  Ubergangsstadium,  wie  die  moderne 
Landschaft.  Gerade  hier  treten  die  Gegensätze  zuweilen 
am  schärfsten  hervor.  Hat  man  doch  vorgeschlagen,  die 
ältere  Partei  mit  dem  Namen  Lenhach's  zu  decken! 
Nicht  ganz  grundlos;  wenn  anders  es  nicht  überhaupt 
verfehlt  ist,  die  mannigfachen,  in  der  jüngsten  Ent¬ 
wicklung  unserer  Malerei  herrschenden  Strömungen 
als  einen  Zweikampf  zwischen  Altem  und  Neuem  zu 
deuten.  Sicherlich  bringt  Lenbach’s  Kunst  den  Be¬ 
strebungen  der  l'leinairisten  gegenüber  die  Majestät 
historischer  Tradition,  durch  die  Namen  eines  Tizian, 
\'elazf|ucz,  Rembraiidt  geadelt,  am  glänzendsten  zur 
fieltung.  Aber  zugleich  auch  am  individuellsten! 
Schule  zu  machen,  ist  sie  Avenig  geeignet.  Was  bei 
ihm  Genialität  ist,  wird  bei  den  .lungern  leicht  zu 
unverstandener  Manier.  —  Um  so  beachtenswerter  er¬ 
scheint  die  Begabung  Leo  iSmnherf/rr's,  der  sich  mit 
seinen  drei  diesmal  ausgestellten  Bildnissen  mutig 
und  erfolgreich  zu  lienbach’s  Idealen  bekennt.  Er  be¬ 
weist  damit  schon  an  sich,  dass  er  auch  seine  eignen 
Ideale  hat,  die  den  lieuf  herrschenden  IVinzipien  zu¬ 
widerlaufen,  denn  für  die  meisten  in  München  vereinten 
jüngeren  Porträtiste?i  gilt  das  Wort  Goethe’s:  „Es  ist 
der  schlimmste  Irrtum,  wenn  junge  gute  Köpfe 
glauben,  ilire  Originalität  zu  verlieren,  indem  sie  das 


Wahre  anerkennen,  was  von  andern  schon  anerkannt 
worden.“  —  Neben  Samberger  ist  in  diesem  Zu¬ 
sammenhang  Sigmund  Landsinger  zu  nennen,  dessen 
„Pandora“,  halb  Bildnis,  halb  Idealfigur,  eine  gar 
hohe  Abstammung  von  den  Frauen  Lionardo’s  und 
den  Farbenpoesien  Böcklin’s  erraten  lassen  möchte. 
Nur  schade,  dass  es  nicht  unbefangen  genug  ge¬ 
schieht!  Wer  solche  Farben  und  solche  Seelenschil¬ 
derung  vereinen  will,  muss  den  Pinsel  beizeiten  aus 
der  Hand  zu  legen  wissen,  ehe  der  Fleiß  die  Impro¬ 
visation  erstarren  lässt.  —  Samberger’s  und  Land- 
singer’s  Arbeiten  bewahren  jedenfalls  eine  eigenartige 
Künstlerphysiognomie,  ein  Ruhm,  den  unter  den 
Bildnissen  dieser  Ausstellung  kein  einziges  in  gleicher 
Weise  teilte.  Am  häufigsten  war  auch  hier,  wie  bei 
der  Landschaft,  die  gute  Lösung  des  lediglich  kolo¬ 
ristischen  Problems,  des  Problems  der  Freilichtmaler; 
die  Aufgabe,  den  Geist  der  dargestellten  Persön¬ 
lichkeit  zu  fassen,  sie  in  ihres  Wesens  Kerngehalt 
zu  verewigen,  stand  erst  in  zweiter  Reihe.  Tüchtige 
Freilichtstudien  dieser  Gattung  gaben  besonders  Fritz 
Strobentz,  Theodor  Hummel  und  Karl  Hartmann:  treff¬ 
liche  Bilder,  die  jedoch  als  Bildnisse  wenig  anziehend 
sind.  Ein  wenig  darüber  hinaus  ging  Johanna  Kirsch 
in  ihrem  Selbstporträt,  dem  rechten  Ziel  aber  kam 
erst  Martin  von  Aster  wenig.stens  durch  erstaunliche 
Lebenswahrheit  nahe.  Er  ist  mehr,  als  ein  moderner 
Realist  und  Hellmaler,  er  ist,  selbst  unabsichtlich, 
Psychologe.  Das  schlichteste  und  wahrste  Bildnis 
der  ganzen  Reihe  war  wohl  Wilhelm  Bäuber’s  Porträt 
des  Prinzregenten  zu  Pferde,  eines  der  feinsten  das 
Damenbildnis  von  Reinhold  Lepsius,  das  poetischste 
die  zarte  Mädchen  gestalt  Robert  Köhler' s.  Was  man 
auch  in  der  Gruppe  der  Bildnisse  am  meisten  vermisste, 
ist  der  Zug  zu  monumentaler  Größe  und  das  Walten 
jener  geheimnisvollen  Macht  des  Genies,  welche  in 
der  flüchtigen  Erscheinung  das  Ewige  zu  erkennen 
und  zu  verkörpern  weiß.  Auf  diesem  Gebiet  bleibt 
die  moderne  Schule  noch  zu  sehr  am  Äußeren,  un¬ 
mittelbar  Gegebenen  haften.  —  Einen  eigenartigen, 
der  Landschaft  vergleichbaren  Aufschwung  beginnt 
in  ihr  dagegen  das  Tierstnek  zu  nehmen.  Im 
Gegensatz  zu  der  geistvollen,  völlig  .subjektiven 
Art  eines  Meyerheim,  die  den  Tieren  nach  F.  Th. 
Vischer’s  Weisung  „einen  Menschen  unterlegt“,  ist 
eine  objektive  Darstellung  erstanden,  die  etwas  von 
epischer  Größe  enthält:  ihr  Hauptvertreter  in  München 
war,  neben  dem  genialen  Friese,  und  neben  //.  von 
Heyden,  welcher  seine  trefflich  gemalten  Tierbilder 
(loch  meist  durch  drollige  Situationen  pointirt,  Hein¬ 
rich  y/hgel,  dessen  weiße  Ochsen,  die,  in  Licht  und 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


Luft  gebadet,  den  Pflug  über  das  Brachland  ziehen, 
ein  homerisches  Gleichnis  illnstriren  könnten:  für  ein 
mustergültiges  Pleinairbild,  das  selbst  die  extremsten 
Anhänger  der  neuen  Schule  befriedigt,  doch  wahr¬ 
lich  ein  hohes  Lob!  —  Auch  im  modernen  „Still¬ 
leben“  klingt  Ähnliches  an,  doch  fehlt  hier  auch 
die  Achtung  gebietende  Tradition  nicht,  welche  dies¬ 
mal  in  Ludwig  Jdaui  Kuiiz  einen  wahrhaft  klassi¬ 
schen  Vertreter  fand.  — 

Ich  habe  yersucht,  hier  ein  Gesamtbild  von  dem¬ 
jenigen  Bestand  der  deutschen  Abteilung  zu  entwerfen, 
der  ihr  l'unsthistoriscJ/es  Ergebnis  enthält.  Dass  ich 
dabei  nach  dem  schon  von  dem  Abgeordneten 
Detmold  arg  verspotteten  ikonographischen  Prinzip 
verfuhr  und  den  Stoff'  nach  Darstellungskreisen 
gliederte,  obgleich  gerade  unsere  moderne  Malerei 
„keine  Gedanken  verkörpern,  sondern  malerisch 
denken“  will,  wird  man  verzeihlich  finden.  Der 
kunsthistorische  Standpunkt  selbst  aber  ist  freilich 
der  gefährlichste  der  Tageskritik  und  zugleich  der 
anspruchsvollste,  weil  er  sich  den  Schein  der  Ob¬ 
jektivität  giebt  und  dennoch  naturgemäß  individuell 
bleiben  muss.  Gegen  diesen  Vorwurf  kann  nur  das 
Bewusstsein  seiner  Berechtigung  schützen:  das 
Richteramt  übt  hier  die  Zukunft  aus,  diesem  aber 
muss  sich  die  Kritik  widerspruchslos  beugen,  wie 
die  Kunst  selbst. 

11.  Das  Ausland. 

Für  die  Kunstgeschichte  kann  der  außerdeutsche 
Bestandteil  unserer  ,, internationalen“  Ausstellungen 
nur  in  beschränkter  Weise  maßgebend  werden,  so 
wesentlich  er  für  die  Entwickelung  unserer  Kunst  auch 
sein  mag.  Über  die  Beteiligung  des  Auslandes  ent¬ 
scheidet  trotz  aller  erfolgreichen  Bemühungen  der 
dorthin  entsandten  Mittelsmänner,  zuletzt  doch  so 
unbedingt  der  Zufall,  dass  es  verfehlt  ist,  aus  ihr 
das  Gesamtbild  großer  nationaler  Kunstweisen  ab¬ 
leiten  zu  wollen.  Vereinend,  was  kaum  zu  einander 
gehört,  trennend,  was  nur  im  Zusammenhang  Be¬ 
deutung  gewinnt,  vermag  sie  nur  flüchtige  Streif¬ 
lichter  auf  einzelne  Richtungen  und  einzelne  Per¬ 
sönlichkeiten  zu  gewähren,  und  selbst  die  schärfere 
Nuancirung  nationaler  Gegensätze,  welche  die  inter¬ 
nationale  Gesamtheit  ermöglicht,  ist  häufig  trügerisch. 
Dennoch  empfiehlt  es  sich,  auch  hier  den  historischen 
Gesichtspunkt  nicht  ganz  zu  verlassen,  denn  selbst 
diese  zufälligen  Lichtblicke  können  neue  Perspek¬ 
tiven  eröff'nen  und  späteren  Wahrnehmungen  den 
Weg  bahnen. 

Das  Münchener  Unternehmen  durfte  diesmal 


vielfach  auf  den  Besitz  der  vorjährigen  Berliner 
Jubiläumsausstellung  zurückgreifen,  und  empfing,  wie 
stets,  als  späte  Gäste  einige  Hauptstücke  der  Pariser 
Salons;  selbst  abgesehen  hiervon  aber  blieb  sein 
Reichtum  an  fesselnden  Bildern  fremder  Nationalität 
höchst  anerkennenswert.  Der  nationale  Zug  war 
freilich  von  sehr  verschiedener  Stärke;  bei  den  Polen 
und  Ungarn,  den  Dünen  und  Sch /reden  kräftiger  als 
in  den  übrigen  Abteilungen.  Wechselwirkungen 
ließen  sich  von  Saal  zu  Saal  verfolgen.  Am  viel¬ 
seitigsten  waren  hierin  die  Anierilcaner ,  bei  denen 
eine  stattliche  Schar  von  Malern  sich  der  spezifi¬ 
schen  Eigenart  anderer  Nationalitäten  anschließen, 
so  C.  F.  Ulrich,  nicht  nur  im  Stoff,  sondern  auch  in 
der  Auffassung  und  im  Kolorit  seiner  Bilder  italie¬ 
nisch,  so  ferner  Cox  Kengon,  den  man  der  englischen 
Schule  zuzählen  kann,  so  besonders  Carl  Marr  und 
0.  Pech,  die  aucli  als  Künstler  mehr  Deutsche  als 
Amerikaner  geblieben  sind.  —  Eine  andere,  um  James 
Whistler  gescharte,  Gruppe  schreitet  freilich  völlig 
selbständig  vorwärts  und  nimmt  dabei  auch  inner¬ 
halb  der  internationalen  Gesamtheit  den  äußersten 
Flügel  der  modernen  Schule  für  sich  in  Anspruch. 
Sie  kennzeichnet  die  jüngste  Entwickelungsphase  des 
Impressionismus  auf  einem  ganz  eigenartigen  Sonder- 
gebiet.  Sie  in  der  That  schildert  „moderne“  Men¬ 
schen,  Gestalten,  welche  einzelnen  Kreisen  unserer 
Gesellschaft  die  bleibende  Signatur  geben  —  man 
sehe  diese  Frauen  und  Mädchen  eines  Willia'ui  Chase 
und  eines  Sarge ai!  —  moderne  Roraanfiguren,  im 
Äußeren  wie  in  dem  Empfindungsleben,  das  aus 
demselben  spricht,  nicht  nur  Pleinair-  sondern 
Charakterstudien!  Für  solche  Erscheinungen  ist  die 
neue  Malweise  ganz  besonders  geeignet.  Es  ist,  als 
schwebe  über  diesen  leichten,  duftigen  Farben,  die 
keine  scharfen  Konturen  mehr  dulden  —  das  Beste 
sind  Pastelle  —  über  diesen  feinen,  auf  einen  ein¬ 
zigen  Grundaccord  gestimmten  Tönen,  die  Seele  der 
Dargestellten  selbst.  Auch  für  einzelne  Landschaften, 
besonders  für  die  Arbeiten  von  Georges  Lines,  gilt 
ähnliches.  Hier  zeigt  sich  eine  schlagende  Analogie 
zu  derAuffassungsweise  der  schottischen  Maler.  — Eine 
dritte,  am  stärksten  vertretene  Gruppe,  zu  welcher 
beispielsweise  George  Hitchcock  und  Mac  Erven  zählen, 
wirft  sich  mit  ganz  besonderer  Kraft  auf  die  tech¬ 
nischen  Probleme  der  Freilichtmalerei  und  des  Im¬ 
pressionismus,  und  erstrebt  und  erreicht  hierbei, 
wie  Poliert  Vonnoh  in  seinem  „Klatschrosenfeld“ 
und  E.  C.  Tarhell,  zuweilen  ganz  ungewöhnliche 
Effekte.  Auch  in  dieser  Neigung,  das  „Neue“  auf 
die  Spitze  zu  treiben,  in  dieser  Absichtlichkeit  und 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


ßereclmung,  kann  man  ein  nationales  Element  er¬ 
kennen,  vielleiclit  kaum  minder,  als  in  den  Bildern 
eines  Weechs,  Bridgmann  und  Moore,  in  welchen  es 
auf  die  dargestellten  Stoffe  selbst  beschränkt  bleibt. 
Marr's  treffliches  Gemälde  „Sommernachmittag“  fasst 
die  Bestrebungen  der  Amerikaner  im  Sinne  der  neuen 
Schule  in  einer  allgemeingültigen,  dem  deutschen 
Geschmack  assimilirten  Weise  zusammen. 

Wer  die  gleiche  Richtung  in  ähnlicher  Reprä¬ 
sentation  studiren  wollte,  musste  sich  auch  in  dieser 
Ausstellung  von  den  amerikanischen  zu  den  franzö- 


feinen,  kleinen  Stimmungsbilder  —  ihren  Ton  gab  hier 
Alexander  Noxal  an,  —  von  Porträts  neben  der  klassi¬ 
schen  Weise  Dnran’s  der  echte  Realismus  eines  Roll 
und  der  stilisirte  eines  Boldmi,  von  Darstellungen 
mit  religiösen  Titeln  die  Märchenpoesie  eines  Fran- 
Qois  Flameng  und  eines  Ädrien  Demoni  neben  Jea7i 
Bemud’s  vielbesprochener  ..Kreuzabnahme“,  welche 
nicht  nur  Golgatha  nach  Paris  verlegt  und  hierdurch 
auch  im  Sinne  der  religiösen  Anschauungsweise 
einen  gar  zu  absichtlichen  Anachronismus  begeht, 
sondern  durch  die  Hinzufügung  des  ergrimmten 


WiTitersonne.  Ölgemälde  von  Hans  Oi.de. 


.-i.-fhiii  Sälen  wenden,  obsclion  dieselben,  wie  erwähnt, 
'dion  viele  ältere  Arbeiten  enthielten.  Für  den 
längst  unverkennbar  gewordenen  Stil  eines  Bongne- 
Iiniiinn,  (  uridiis-J )irrnii ,  Fannf-e,  Jlcnnrr,  Morot, 
b'ii.-ii  die  liier  vereinten  Bilder  aucli  nicht  einmal 
iifiic  Nnaiiecti,  und  eines  dieser  französischen  Gemälde, 
./.  Ylhrrt,  zeigte  sogar  die  .lahreszahl  18<)7. 
Aber  au'  li  die  jüngsten  Hauptrichtungen  waren  ver- 
tr'  ten:  von  Landschaften  sowohl  die  iubaltlich  dürf- 
iigen  :il»er  ini  Format  um  so  anspruchsvolleren,  mehr 
f'di  r  minder  tinlitigen  Freilichtstudien,  als  auch  die 


Proletariers  dem  religiösen  Glaubensbekenntnis  auch 
eine  sozialpolitische  Tendenz  unterschiebt.  —  Wie 
an  Geist  und  Inhalt,  so  gewährten  die  französischen 
Säle  auch  für  die  künstlerischen,  beziehungsweise  für 
die  technischen  Gesichtspunkte  ein  Wechsel-  und  lehr¬ 
reiches  Bild,  welches  von  der  jede  Lokalfarbe  und 
jeden  Kontur  in  Dämmerlicht  autlösenden  Darstel¬ 
lungsart  eines  f'nrriere  und  de  la  Fontinelle  bis  zu 
den  erstaunlich  kecken  Farbenmosaiken  eines  J.  J. 
'rissof  führte.  Besnai-d  war  diesmal  nur  durch  zwei 
winzige  Gemälde  (Pastelle)  vertreten,  deren  duftiger 


Die  Bekehrung  des  Hubertus,  Ölgemäble  von  Wii.helm  Radber.  Nach  der  Photographie  iler  Photogr.  Union  in  München. 


DIK  MÜNCHENER  EITNSTAUSSTELLIINH. 


J'arbeii/.aiiber  jedoch  den  ganzen  Reiz  seiner  Kunst 
spiegelt.  Die  Lust  an  schwierigen  Problemen,  welche 
die  jüngste  Eutwickelungsphase  der  neuen  Schule 
kennzeichnet,  sprach  besonders  aus  den  Bildern  von 
IXiiilan  und  J.  E.  Blanche,  von  denen  der  erstere 
einen  Schimmel  vor  dem  Weiß  einer  Schneelandschaft, 
der  zweite  das  weiße  Kleid  eines  auf  gelbem  Sofa 
ruhenden  Mädchens  vor  einem  weißen  Feil  darstellt, 
N'ersuclie,  deren  Bedeutung  nur  der  ausübende  Künst¬ 
ler  recht  zu  schätzen  weiß.  An  diesen  wandten  sich 
überhaupt  weitaus  die  meisten  dieser  französischen 
Bilder,  eine  Thatsache,  die  man  sicherlich  nicht 
tadeln  kann,  denn  die  Münchener  Ausstellung  soll 
nicht  nur  der  Schaulust  und  den  Interessen  des 
Kunstmarktes  dienen,  sondern  den  deutschen  Künst¬ 
lern  selber  Anregungen  und  Muster  bieten;  vergisst 
sie  diese  Aufgal)e,  so  ist  ihr  kunsthistorischer  Wert 
und  damit,  wenigstens  für  ihren  außerdeutschen  Be¬ 
standteil,  ihre  Existenzberechtigung  gefährdet.  Aber 
die  äußeren  Verhältnisse  erlieischen  auch  Rücksicht 
auf  das  lediglich  „schauende“  Publikum,  und  so 
mag  man  es  vielfach  als  ein  besonderes  Glück  be- 
trachtet  haljen,  dass  es  gelang,  das  Kolossalgemälde 
von  Cl(‘or(jes  J lochen russe ,  „Das  Ende  Babylons“,  zu 
gewinnen.  (Eine  Abbildung  folgt  im  nächsten 
lieft),  ln  der  That  wurde  dasselbe  für  vieleKrei.se 
die  „jiicf-e  de  rctsi^ilancE ,  das  Hauptwerk  der  ganzen 
Ausstellung;  zunächst  wegen  seines  Maßstabes, 
der  seinen  Eindruck  kaum  je  ganz  verfehlt,  dann 
wegen  seines  Inhaltes,  der  durcli  den  Reichtum 
au  nackten,  wollüstig  ruhenden  Frauenleibern  in 
I  )eutscliland  noch  weit  sensationeller  wirkte,  als  in 
Paris.  .\n  sich  sind  das  sehr  zweifelhafte  Ruhmes- 
litel,  und  selbst  der  ganz  ungewölinlicbe  Umfang 
des  Rüdes  wird  aiicli  dadurch  zunächst  kaum  schät¬ 
zenswerter,  dass  man  seine  Herstellungszeit  auf  drei 
.lahre,  die  Kostim  auf  10000  Franken  berechnet. 
Heunoch  liegt  schon  in  der  materiellen  Größe  dieser 
beistung  ein  Teil  ihrer  l)leibenden  Bedeutung.  Sie 
erscheint  wie  ein  Protest  gegen  die  bei  unseren 
.Malern  herrschende  Neigung,  Studien  mit  vollendeten 
Knustwerk(m  zu  identitiziren  und  unter  dem  Deck¬ 
mantel  des  Jmpre.ssionismus  Skizzen  und  Improvisa¬ 
tionen  auf  den  Kunstmarkt  zu  bringen.  Der  Stempel 
einer  /y/’o/V//  Arhell,  den  dieses  Gemälde  trägt,  ge¬ 
bietet  heute,  wo  es  sich  Meister  und  Schüler  viel¬ 
fach  gar  zu  leicht  machen,  doppelte  Achtung.  — 
\V<;sentlicher  aber  ist  die  stotfliche  Wahl.  Ein  mo¬ 
numentales  Historienbild,  das  Ende  eines  Welti'eiches, 
der  Untergang  eines  Menschengeschlechtes,  das  in 
seiner  Kraft  wie  in  seiner  ausgearteten  Sinnenlust 


etwas  Gewaltiges  bewahrt,  nicht  nur  in  der  Sprache 
der  Propheten,  sondern  auch  in  den  erhaltenen  Denk¬ 
mälern  seiner  Kultur  selbst!  ■ —  Auch  dies  mutet 
wie  ein  Protest  an,  ein  Kampfruf  gegen  die  inhalt¬ 
lose  Alltäglichkeit,  der  die  modernen  „Nurmaler“ 
ihre  Bilder  widmen.  Und  es  galt  hier  nicht  nur 
allgemeingültig  dramatische  Kraft  und  packende 
Charakteristik  zu  entfalten,  sondern  denselben  ein 
historisch  getreues  Gewand  zu  verleihen;  ein  umfang¬ 
reiches  archäologisches  Wissen  war  notwendig  und 
durfte  doch  nicht  in  den  Vordergrund  treten,  denn 
nicht  ganz  grundlos  hat  man  dasselbe  als  eine  Ge¬ 
fahr  für  die  Kunst  bezeichnet,  —  Große  Aufgaben 
fürwahr,  und  Rochegrosse  musste  sich  derselben  be¬ 
wusst  sein,  denn  seine  bisherigen  Werke,  vor  allem 
sein  „Vitellins“  und  seine  „Andromache“,  hatten  den 
freilich  noch  jungen  Künstler  auf  ähnliche  Wege 
geführt,  ja  in  seinem  im  Pariser  Salon  von  1886 
ausgestellten  Gemälde  hatte  er  den  gleichen  Stoff¬ 
kreis  unmittelbar  gestreift,  den  wahnsinnigen  Nebu- 
kadnezar  geschildert,  wie  er  sich  unter  den  Füßen 
eines  Engels  im  Kote  wälzt  („La  folie  du  Roi 
Nabuchodonosor“).  Wer  solches  Thema  wählt,  ist 
fürwahr  kein  „Nurmaler“.  Hatte  man  doch  an  diesem 
Bilde  Imrechtigterweise  getadelt,  es  sei  „plus  litte- 
raire  que  picturale“!  Das  ließ  am  wenigsten  er¬ 
warten,  Rochegrosse  werde  den  geistigen  Inhalt  eines 
Stoäes  in  äußerliche  Effekte  verflüchtigen.  —  Und 
dennoch  kann  ihm  vor  seinem  ,,Ende  Babylons“ 
dieser  Vorwurf  nicht  ganz  erspart  bleiben.  Bis  zum 
Mittelgrund  reicht  die  Darstellung  eines  Bacchanales: 
nackte  und  halbnackte  Frauen,  von  Wein  und  Liebe 
berauscht,  wie  die  Männer  neben  ihnen,  selbstver¬ 
gessen  hingestreckt  auf  Teppichen,  Decken  und  Kissen, 
zwischen  Blumen,  Prachtgeräten  und  den  Resten  des 
üppigen  Gelages.  Das  ist  ein  Bild  für  sich,  ein  Bild 
von  märchenhafter  Pracht,  für  welches  der  Maler 
die  altorientalischen  Sammlungen  des  Louvre,  die 
Antiquitätenläden,  aber  auch  die  modernen  Orient¬ 
bazare  und  echte  Pariser  Modelle  erstaunlich  gut 
studirt  liat,  ein  Durch-  und  Nebeneinander  alles 
dessen ,  was  die  Sinne  berückt,  so  wirr,  dass  es  vor 
den  Augen  flimmert,  und  dennoch  mit  souveräner 
Herrschaft  über  alle  Mittel  der  dekorativen  Kunst 
entworfen  und  komponirt  und  mit  allen  Mittelchen 
eines  raffinirten  Sinnenreizes  ausgestattet.  Hätte  Roche¬ 
grosse  sich  hierauf  beschränkt,  hätte  er  diesem  Teil 
seines  Bildes  nur  noch  die  köstliche,  panoramaartig 
gemalte  Architektur  des  babylonischen  Königspalastes 
gesellt  und  das  Ganze  „Babylonisches  Bacchanal“ 
genannt  —  sein  Werk  wäre  das  Muster  eines  „deko- 


DIE  MÜNCHENER  KUN8TAUS8TELLÜNC. 


rativen  Gemäldes“  gewesen.  Aber  er  wollte  zugleich 
ein  Historic7ihi\d  schaffen,  einen  weltgeschichtlichen 
Moment  zeigen.  Die  Palastpforte  ist  erstürmt,  und 
im  kalten  Morgenlicht  nahen  die  Perser  unter  Cyrus’ 
Führung,  die  Worte  der  jüdischen  Propheten  zu  er¬ 
füllen.  Ja,  auch  ein  mystisches  Element  sollte  nicht 
fehlen:  wie  eine  Verkörperung  jener  Worte  schwebt 
über  dem  König  auf  der  Freitreppe,  inmitten  dieses 
bis  ins  kleinste  historisch-realen  Bildes,  die  visio¬ 
näre  Gestalt  des  Racheengels.  —  Dieses  dreifache 
Thema,  das  dekorative  Schaustück,  das  Geschichtsbild 
und  die  Phantasmagorie,  zu  einem  einheitlichen  Kunst¬ 
werk  zu  gestalten,  reichte  des  Künstlers  Kraft  nicht 
aus.  Der  geistige  Gehalt  litt  schwere  Einbuße.  Es 
ist  vielleicht  ein  akademischer  Einwand,  Avenn  man 
tadelt,  dass  der  König,  eine  Hauptperson  des  Ganzen, 
hoch  oben  auf  der  Freitreppe  in  kleiner  Gestalt 
erscheint,  und  dass  die  Perser,  die  Träger  der  Hand¬ 
lung,  .sich  als  winzige  Figuren  im  Hintergrund  ver¬ 
lieren,  ein  Einwand,  dem  jedenfalls  die  kleine  Gruppe 
der  Hetären  und  Babylonier,  die  im  Mittelgrund  er¬ 
schreckt  aus  ihrer  Trunkenheit  erwachen,  nur  dürftig 
begegnet.  Aber  berechtigt  ist  sicherlich  der  Tadel, 
dass  bei  jener  dreifachen  Gliederung  des  geistigen 
Gehaltes  der  Schwerpunkt  ungebührlich  verschoben, 
und  hierdurch  auch  die  künstlerische  Gesamtwirkung 
des  Bildes  beeinträchtigt  Avurde,  dass  dieselbe  etwas 
Unübersichtliches,  Unruhiges  hat  und  das  Auge  des 
Beschauers,  Avelches  fort  und  fort  von  den  Haupt- 
zu  den  Nebenpersonen  und  -Dingen  scliAveifen  muss, 
nur  mühsam  zum  vollen  Genuss  gelangen  lässt. 
Auch  das  Kolorit  als  solches  steigert  diese  Gefahr. 
Eine  so  gewaltige  Farbenfläche  muss  sich  schon  für 
den  ersten  Blick  in  große  Massen  gliedern!  Dazu 
kommt  endlich  eine  seltsame  Vorliebe  des  Malers 
für  eigenartig  gemischte  und  gebrochene,  übrigens 
echt  moderne,  Farbentöne,  die  den  koloristischen 
Grundaccord  nicht  voll  und  reich  erklingen  lassen, 
sondern  seine  Kraft  in  zahllosen  Nuancen  gar  zu  sehr 
abschwächen.  Dies  entspricht  in  eigenartiger  Weise 
auch  der  Charakteristik  der  Gestalten  selbst.  Es  fehlt 
denselben  die  urwüchsige  Kraft,  mit  denen  unsere 
Phantasie  die  Zeitgenossen  der  Propheten  auszu¬ 
statten  liebt,  es  fehlt  ihnen  das  heiße  Blut  Rubens’- 
scher  Frauen:  ihre  Wollust  ist  angekränkelt.  Das 
mag  sich  durch  das  Thema  rechtfertigen  lassen,  aber 
es  hat  etwas  Unschönes,  Abstoßendes  an  sich.  Trotz 
aller  archäologischen  Akribie  spürt  man  das  moderne 
Auge,  und  etliche  dieser  Frauen  sind  ebenso  „modern“, 
Avie  etliche  von  den  orientalischen  Stoffen,  zAvischen 
denen  .sie  ihre  Glieder  dehnen.  —  So  wirkt  das  Ganze 


55 

nicht  wie  ein  Historienbild,  sondern  wie  das  Schluss- 
tableau  eines  Ausstattungsstückes.  Aber  die  künst¬ 
lerische  Kraft,  die  dasselbe  schuf,  bleibt  trotz  alle¬ 
dem  erstaunlich.  Rochegrosse  verfügt  über  ein  de¬ 
koratives  Genie  und  über  ein  ganz  ungewöhnliches 
malerisches  Können.  Nur  wenige  Maler  unserer 
Tage  vermöchten  ein  Bild  solchen  Umfanges  in  ähn¬ 
licher  Weise  zu  komponiren;  nur  Avenige,  nackte 
Körper,  Stoffe,  Prachtgeräte,  Blumen  und  Architek¬ 
turen  so  zu  malen,  Avie  er.  Im  Beiwerk  findet  sieb 
hier  Einzelnes,  das  an  den  Pinsel  eines  Paolo  Vero¬ 
nese  und  Tintoretto  gemahnt.  Und  so  ist  dieses 
Werk  in  der  Münchener  Ausstellung  doch  nicht  ledig¬ 
lich  der  Anziehungspunkt  für  lüsterne  Schaulust, 
sondern  auch  das  Objekt  ernsten  künstlerischen 
Studiums  geworden.  — 

Nach  Quadratmetern  zu  berechnende  LeinAvand 
konnte  man  sonst  diesmal  nur  noch  in  den  Sälen 
der  Spanier  antreffen,  dieselben  gar  zu  schulgerecliten 
Historienbilder  eines  (\ihetls,  Moreno- Chrhoiierrp  Ra¬ 
mirex  und  Saiinas-Ternel,  Avelche  die  Berliner  Jubi¬ 
läumsausstellung  füllten.  Daneben  waren  die  Avin- 
zigen  feinen  Farbenmosaiken  nationalen  Charakters 
im  Stil  eines  Gailegos  und  Pradilla  besonders  durch 
SoroJla  gut,  aber  bei  weitem  nicht  so  reich  Avie  in 
Berlin  vertreten.  Im  Gegensatz  zu  denselben  brachte 
ViJkrjas  in  einem  größeren  Bild  „Arm  und  Reich“ 
einen  ernsten  Stoff,  freilich  in  einer  gar  zu  dunkel 
gehaltenen  schweren  Malweise,  zu  packender  Geltung, 
und  auch  Jose  Benlliure  y  Gil  Avar  diesmal  in  den 
lebensgroßen  Gestalten  seiner  zechenden  Bauern  viel 
glücklicher,  als  in  seinem  kleinen,  durch  seinen  Mysti¬ 
zismus  fast  kindisch  wirkenden  Gemälde  „Vision 
des  heil.  Franziskus“. 

Auch  die  italienische  Abteilung  bot  nur  wenige 
neue  Erscheinungen.  Segetntini,  welcher  die  extremste 
Richtung  der  neuen  Schule  verkörpert,  ist  wie  in 
Italien  so  auch  in  Deutschland  schon  bekannt.  Er¬ 
bat  sich  eine  eigenartige  Malweise  geschaffen,  welche 
sogar  unbedeutende  Bilder  von  seiner  Hand  wenig¬ 
stens  für  Künstler  interessant  macht.  —  Selbst  in  un¬ 
seren  Ausstellungen  lässt  sich  erkennen,  wie  kräftig 
der  Impressionismus  aucli  im  Lande  der  klassischen 
Kunst  vorwärts  schreitet.  Zeugen  dafür  Avaren  in 
München  die  Landschaften  Bclloni's,  Bezxi’s^  Borsa’s, 
Cairati’s,  GoJa’s  und  Srniori's.  Solche  Bilder  büßen 
freilich  ziiAveilen  den  höchsten  Reiz  der  italienischen 
Natur  ein  und  empfangen  einen  nordischen  Charakter. 
—  Es  ist  seltsam,  dass  man  auch  in  Italien  die 
koloristischen  Probleme  weniger  in  der  Viel-  als  in 
der  Einfarbigkeit  aufsucht,  wie  sich  ljeispiclsAvci.se 


56 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


De  Stefan i  mit  zweifelhaftem  Erfolge  bemüht,  eine 
schwarz  gewandete  Gestalt  vor  einem  tiefschwarzen 
Hintergnind  darzustellen.  Man  hat  den  Italienern 
früher  nicht  mit  Unrecht  vorgeworfen,  dass  sie  unsere 
Ausstellungen  gar  zu  ausschließlich  als  Centralstätten 
des  Kunstmarktes  betrachten,  und  ihre  Sendungen 
im  Hinblick  hierauf  zu  sehr  dem  Geschmack  des 
großen  Publikums  anpassen,  welches  auf  einem  ita¬ 
lienischen  Bild,  wenn  irgend  möglich,  gefällige  Vene¬ 
zianerinnen,  stattliche  Römerinnen,  oder  Lazzaroni 
und  Banditen,  in  den  Landschaften  aber  vor  allem 
die  Sonne  Italiens  zu  bewundern  wünscht.  In  diesem 
Jahre  blieb  solche  Neigung  fast  gänzlich  unbe¬ 
friedigt,  und  nicht  zum  Schaden  für  die  Kunst.  Ein 
ernster  Ton  herrschte  vor.  Selbst  Feragutti,  Nono 
und  Milcsi  hatten  Bilder  ausgestellt,  welche  sowohl 
durch  ihren  Stoff  als  auch  durch  ihre  sorgsame  Durch¬ 
führung  auf  einen  Platz  in  einem  Museum  Anspruch 
erheben  konnten.  Die  schönsten  Kabinettstücke 
lieferten  auf  dem  Gebiete  des  Genres  Cipriani  und 
Vannutelli,  unter  den  Landschaften  aber  gebührt  hier 
Aristide  Sartorio’s  Aquarellen  aus  der  Campagna  der 
Preis,  köstlichen,  feinen  Stimmungslandschaften,  mit 
denen  der  Schöpfer  des  iin  vorigen  Jahre  ausge¬ 
stellten  „Bacchanale“  doppelt  überraschte. 

A’^on  der  helgischen,  holUmdischen,  dänischen  und 
schwedischen  Malerei  haben  die  früheren  Münchener 
Jahresausstellungen  bestimmte  Charakterbilder  ge¬ 
boten,  denen  diesmal  nur  einige  neue  Nuancen  ein¬ 
gefügt  wurden.  In  den  Sälen  der  Belgier  fiel  in 
diesem  Sinne  die  größere  Anzahl  von  Werken  einer 
sowohl  in  der  Malweise  als  auch  im  Inhalt  retrospektiven 
Richtung  auf,  bei  den  Holländern  traten  Landschaft, 
Tier-  und  Genrestück  vor  dem  Bildnis  zurück,  die 
Dänen  zeigten  neben  der  Hauptmasse  von  Arbeiten 
eines  nüchternen  Realismus  bisweilen  eine  barocke 
Phantastik,  und  die  Schweden  erhoben  ihre  gesunde 
Natnrw'ahrheit  häufiger  als  sonst  zur  Naturpoesie. 

Unter  den  belgischen  Malern,  die  man  zu  den 
N’orkärapfern  der  neuen  Schule  zählte,  gab  für  das 
Genre  Strngs  mit  seinem  kleinen  Bilde  „Gottver¬ 
trauen“,  für  die  Landschaft  Verstraele  und  neben  ihm 
f'onrlens  den  Ton  an,  wobei  der  letztere  seinen 
.Goldenen  Regen“  freilich  nicht  eiTeichte.  Im  übrigen 
ward  es  bezeichnend,  dass  De  Vriendt,  welcher  im 
vorigen  Jahre  nur  eine  flüchtige  kulturhistorische 
Skizze  sandte,  seine  Entwürfe  für  die  Ausschmückung 
des  Srhöfiensaales  im  Rathaus  zu  Brügge  ausstellte. 
Wie  ini  Kostüm  und  in  der  Umgebung  seiner  Ge¬ 
stalten,  so  .schließt  er  sich  hier  auch  in  der  Auf- 
fa'^sung  und  ini  Kolorit  streng  an  die  Weise  eines 


van  Eyck  und  Memling  an,  weit  unmittelbarer,  als 
etwa  bei  uns  Ed.  von  Gebhardt.  Ob  dies  für  „deko¬ 
rative“  Gemälde  der  richtige  Weg  sei,  erscheint 
zweifelhaft,  lässt  sich  jedoch  nur  vor  den  Originalen 
entscheiden.  So  packend  wie  Gebhardt’s  Fresken 
in  Loccum,  dürften  diese  Bilder  jedenfalls  nicht 
wirken,  ein  archaistischer  Zug  haftet  selbst  diesen 
Skizzen  an,  aber  so  lange  die  monumentale  Histo¬ 
rienmalerei  die  neue  Malweise  nicht  völlig  beherrscht, 
bleibt  ein  solcher  feinsinnig  durch  geführter  Anschluss 
an  die  Vergangenheit  jedenfalls  besser  als  so  un¬ 
zulängliche  Versuche,  wie  sie  in  der  deutschen  Ab¬ 
teilung  der  Luther-Cyklus  für  Erfurt  bot.  In  ganz 
anderer  W eise  folgt  Rosier  den  traditionellen  Bahnen ; 
sein  „Menuett“  zur  Zeit  des  Rokoko  zählte  zu  den 
liebenswürdigsten  Bildern  der  Ausstellung.  Brunin 
ließ  auch  diesmal  einige  an  das  klassische  Kolorit 
der  Vlamen  gemahnende  Meisterwerke  bewundern. 
Noch  schärfere  Gegensätze  gegen  die  neue  Art  zeigten 
die  seltsamen  Allegorien  von  Leempoels,  und  die  im 
Prellerstil  gehaltene  Landschaft  von  Portaeis.  Dem 
standen  dann  eine  Reihe  so  ausgesprochen  moderner 
Studien,  wie  Emile  Glaus’  „Rübenernte“  und  Van 
Strydonck’s  Porträt  des  Bildhauers  van  der  Stappen 
gegenüber.  Einen  erstaunlichen  Missgriff  in  der  Be¬ 
zeichnung  seines  Bildes  that  De  Geetcre,  als  er  sein 
übrigens  fein  gemaltes  Damenporträt  „Madonna“ 
taufte.  — 

Einheitlicher  war  der  Gesamteindruck  der  hollän¬ 
dischen  Säle.  Hier  blieben  die  Porträts  Christoffle 
Bisschop's  an  der  Spitze,  wobei  sich  dem  von  der 
Berliner  Jubiläumsausstellung  her  bekannten  Bildnis 
der  Gattin  des  Künstlers  das  Porträt  der  jugendlichen 
Königin  der  Niederlande  gesellte.  Ein  Königskind 
im  Prachtgewand  —  für  dieses  liebenswürdige  Thema 
haben  van  Dyck  und  Velazquez  unvergängliche  Muster 
geschaffen.  Bisschop  schloss  sich  ihnen  an,  ohne 
doch  die  Eigenart  seiner  Malweise  im  geringsten  zu 
ändern.  Dem  Helldunkel  seines  Landsmanns  Israels 
gegenüber  bringt  er  ein  warmes  Lokalkolorit  zu 
immer  kraftvollerer  Geltung,  obgleich  er  ein  echter 
Impressionist  bleibt.  Auch  Therese  Schwartze  trug, 
besonders  durch  das  eigenartige  Porträt  der  Spiri¬ 
tistin  Miss  Fay,  dazu  bei,  dass  der  Schwerpunkt  in 
der  holländischen  Abteilung,  zu  deren  Kennzeich¬ 
nung  im  übrigen  die  Namen  Blommers,  Nenhuys, 
'Fholen,  ran  de  Sande-Bakhuisen  und  J.  H.  Vos  aus¬ 
reichen,  diesmal  von  den  hergebrachten  Hauptgebieten 
etwas  verschoben  wurde. 

Bei  den  Dänen  hätten  etliche  Arbeiten,  wie  die 
kindische  Darstellung  des  Paradieses  von  Zahrlmann, 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


57 


besser  fehlen  können.  Wollte  man  phantastischen 
Träumen  zur  Repräsentation  einer  in  Dänemarks 
Dichtung  und  Kunst  dauernd  vorhandenen  Richtung 
Aufnahme  gönnen,  so  genügte  das  Gemälde  von 
Dorpli  und  die  Suite  von  Zeichnungen  Skovgaards 
und  von  dekorativen  Entwürfen  Bindeshölls.  Dankens¬ 
wert  war  dagegen,  dass  die  kgl.  Gemäldegalerie  von 


erkennenswert  auch  immer  ihre  malerische  Qualität 
sein  mag.  Jedenfalls  sind  dies  keine  Arbeiten,  welche 
ihre  Schöpfer  auf  großen  internationalen  Ausstel¬ 
lungen  gut  vertreten.  Man  empfand  es,  dass  ein 
Hauptmeister  wie  Kroger  diesmal  nur  kleine  Bilder 
gesandt  hatte.  Selbst  die  tüchtigen  Leistungen  von 
H.  Al  Hansen  und  Wentorf  boten  hierfür  nicht  ge- 


Ein  Märchen.  Ölgemälde  von  S.  Glücklich. 


Kopenhagen  Julius  Paulsen’s  „Adam  und  Eva“  über¬ 
ließ,  ein  Bild,  das,  trotz  seines  in  den  Schatten¬ 
massen  viel  zu  schweren  Kolorits,  durch  seinen  poe¬ 
tischen  Gehalt  für  den  nüchternen  Grundton  seiner 
Umgebung  entschädigte.  Denselben  brachten  die 
Werke  von  Michael  und  Anna  Äncher,  Andersen  und 
Hammershoi  gar  zu  ausschließlich  zur  Geltung,  so  an- 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


nügenden  Ersatz.  Wentorf  hat  sein  Armenhaus  mit 
gar  zu  vielen  Betten  und  Gestalten  gefüllt.  Dadurch 
erreicht  sein  Bild  auch  nicht  annähernd  die  Wirkung, 
wie  das  ähnliche  im  vorigen  Jahre  ausgestellte  Ge¬ 
mälde  von  Hubert  Vos.  Vereinzelte  Genrebilder,  wie 
die  Arbeiten  von  Harald  Slott-Möller,  Hennigsen  und 
Thomsen,  die  Landschaften  von  Niss  und  Hbme,  und 

8 


5S 


EINE  NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  PUBLIKATION. 


die  Seestücke  von  Olsen  und  Ärnesen,  zeigten  das 
Können  der  dänischen  Schule  im  Rahmen  der  im 
vornehmen  Kunsthandel  herrschenden  Ansprüche. 
Darüber  hinaus  ging  nur  Otto  Bache,  dessen  lebens¬ 
große  „Pferde  am  Strande“  selbst  einen  Vergleich 
mit  ZügeVs  „Schwerer  Arbeit“  gestatteten. 

Wenn  der  Realismus  der  dänischen  Bilder  häufig 
gar  zu  geistlos  und  unpersönlich  wirkte,  gewann 
dagegen  in  der  Gruppe  der  Schweden  ein  subjektives 
Element  der  Naturbetrachtung  die  Oberhand.  Frische 
und  gesunde  Aufitassung  ist  man  an  den  Bildern 
der  Nordländer  schon  gewohnt.  Wie  die  leider  nur 
ungenügend  vertretenen  Norweger,  —  ihr  bester 
Repräsentant  war  Normann,  ihr  eigenartigster  Otto 
Sinding  —  blicken  auch  die  schwedischen  Maler 
mit  klaren  Augen  in  die  Welt,  voll  Freude  an 
kerniger  Kraft  und  kecken  Farben.  Aber  sie  haben 
dabei  auch  für  die  leisere,  poetische  Sprache  der 
Natur  einen  offenen  Sinn.  Das  bezeugten  in 
München  vor  allem  die  Bilder  von  Liljefor’s,  dem 


Titel  nach  Tierstücke,  in  Wahrheit  aber  köstliche 
Naturpoesien.  Auf  landschaftlichem  Gebiet  schloss 
sich  ihm  ein  fürstlicher  Maler,  Eugen  Prinz  von 
Schweden,  an,  und  der  gleiche  Ton  erklang  in 
den  Arbeiten  von  Thegerström  und  Wallander.  Als 
ein  tüchtiger  und  zugleich  ungewöhnlich  vielseitiger 
Freilichtmaler  bewährte  sich  Oscar  Björck,  und  Ceder- 
ström’s  große  Darstellung  „Magnus  Stenbock  in 
Malmö  1709“  überträgt  die  gesunde  AVeise  dieser 
Kunst  mit  gutem  Erfolg  auf  einen  historischen  Stoff. 
Dieser  ganzen  Richtung  entsprechend  beginnt  in 
Schweden  jetzt  auch  ein  Aufschwung  der  Porträt¬ 
malerei,  auf  der  gleichen  streng  realistischen  Grund¬ 
lage,  wie  in  Dänemark,  und  doch  mit  schärferer 
Betonung  des  Geistigen  und  mit  größerer  Kraft. 
Auffällig  zahlreich  waren  hier  die  Frauennamen, 
wie  denn  überhaupt  die  Reihe  tüchtiger  Künstle¬ 
rinnen  in  dieser  Ausstellung  ungewöhnlich  stattlich 
erschien.  — 

(Fortsetzung  folgt.) 


EINE  NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  PUBLIKATION 
DER  GALERIE  BORGHESE  IN  ROM. 


E  mehr  die  Zeit  vorrückt,  desto 
klarer  stellt  es  sich  heraus, 
dass  die  Kunstkennerschaft 
durch  die  Mitwirkung  des  kri¬ 
tischen  und  des  graphischen 
Materials  in  gleichem  Maße 
gefördert  wird.  Die  neue, 
von  dem  Photographen  Do¬ 
menico  Anderson  (Via  Porta  Salaria  in  Rom)  unter- 
noinniene  Publikation  der  Galerie  Borghese  in  ihren 
Aufnahmen  von  beinahe  120  Gemälden  wird  von 
allen  Kunstfreunden  als  eine  willkommene  Neuigkeit 
begrüßt  werden ,  bedenkt  man  namentlich,  wie  sehr 
in  den  letzten  Jahren  diese  reichhaltigste  aller  Privat¬ 
galerien  die  Aufmerksamkeit  des  Publikums  auf  sich 
gezogen  hat.  in  der  That,  was  treten  uns  für  denk¬ 
würdige  Gemälde  der  verschiedensten  Richtungen 
vor  Augen  bei  Besichtigung  eines  solchen  Albums! 
An  Werken  der  toskanischen  Schulen  sehen  wir  da 
zunächst  die  lieblichen  Rundbilder  von  Lorenzo  di 
Credi,  ferner  von  seinem  Schüler  (dem  mutmaßlichen 


Tomaso  Lermolietf’s),  von  dem  feinen  Pier  di  Cosimo. 
Höchst  bezeichnend  für  die  beiden  befreundeten 
Maler  Fra  Bartolommeo  della  Porta  und  Mariotto 
Albertinelli  ist  die  hl.  Familie  mit  den  zwei  durch 
ein  Kreuz  verbundenen  Ringen  und  der  Jahreszahl 
1511.  Das  Kind  stimmt  in  der  Haltung  vollkommen 
mit  demjenigen  des  weit  feineren  Gemäldes  im  Be¬ 
sitze  des  Herrn  L.  Mond  in  London  überein,  welches 
ganz  von  dem  edlen  Frate  herstammt  (Phot,  v,  Braun). 
Desgleichen  die  Haltung  der  Madonna,  wobei  sich 
aber  von  neuem  die  Bemerkung  Morelli’s  bestätigt, 
dass  die  flüchtigere  Ausführung  des  Borghese-Bildes 
auf  Rechnung  von  Mariotto  zu  setzen  ist.  —  Die  dem 
Ridolfo  del  Ghirlandajo  zugeschriebene,  von  dem  ge¬ 
nannten  Kritiker  einem  tüchtigen,  dem  F>'.  Qranacci 
sehr  nahe  stehenden  Künstler  zugewiesene  Maddalena 
Doni  kann  man  in  der  neuen  Aufnahme  gut  stu- 
diren.  —  Ein  eigenes  Interesse  bieten  sodann  die 
reizenden  kleinen  Geschichten  Josephs  von  Bachiacca, 
wobei  man  direkt  den  Vergleich  mit  der  in  Rot¬ 
stift  ausgeführten  Vorstudie  in  der  Sammlung  Mo- 


EINE  NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  PUBLIKATION. 


59 


relli  anstellen  kann.  —  Desgleichen  mag  man  das 
anmutige  Bild  der  Anbetung  des  Christuskindes  von 
Pierino  del  Vaga  (s.  d.  Abbildung)  mit  der  dazu 
gehörigen  Zeichnung  in  der  Albertina  zusammen¬ 
stellen.  —  Aus  der  Umbrischen  Schule  soll  besonders 
das  charakteristische,  ehemals  dem  C.  Crivelli  zuge¬ 
wiesene  Täfelchen  des  Gekreuzigten  mit  den  hl. 
Hieronymus  undChristophorus  hervorgehoben  werden, 
um  zur  Entscheidung  zu  kommen,  ob  es  wirklich 


legen  können,  ob  es  wirklich  die  Züge  des  Pinturicchio 
darstelle,  wie  Morelli  es  vermutete,  oder  nicht  eher 
die  des  Perugino.  —  Dass  die  berühmte  Grablegung 
nicht  fehlen  darf,  versteht  sich  von  selbst. 

Zahlreich  sind  die  Ferraresen  vertreten,  be¬ 
sonders  Garofalo ;  von  seinem  frühen  strengen  W erke, 
der  Beweinung  Christi,  ausgehend  bis  auf  das  vom 
feinsten  Schönheitssinn  durchdrungene  Halbfiguren¬ 
bild  der  Jungfrau  mit  dem  Kinde  zwischen  vier 


Garofalo,  Madonna  mit  Heiligen.  Galerie  Borghese  in  Rom. 


dem  Pinturicchio,  oder  seinem  Lehrer  Fiorenzo  di 
Lorenzo,  an  den  es  doch  auch  sehr  erinnert,  schließlich 
angehöre.  —  Auch  das  von  Morelli  entdeckte  Bildnis 
von  der  Hand  Ratfael’s  wird  man  mit  Freude  unter 
den  neuen  Abbildungen  finden  und  sich  dabei  über- 


1)  Sie  ist  in  dem  vom  Verleger  ü.  Hoepli  in  Mailand 
veröffentlichten  Album ;  Quaranta  disegni  scelti  della  Rac- 
cnlta  del  Senafore  Giov.  Morelli  (a.  1886)  aufgenommen. 


Heiligen  (s.  die  Abbildung)  kann  man  sein  Wesen 
hier  eindringlich  kennen  lernen.  —  Dosso’s  bezau¬ 
bernde  Circe,  sein  Apoll,  sein  David  mit  dem  Knechte 
rücken  uns  die  phantasiereiche  Auffassung  des 
Meisters  klar  vor  die  Seele.  Herrlich  ist  auch  der 
frühe  Francia  (S.  Stephanus). 

Nicht  minder  fesseln  uns  die  trefflichen  Vene- 
tianer,  vor  allem  die  berühmte  „  Göttliche  und  mensch¬ 
liche  Liehe“  von  Titian,  eine  Schöpfung,  von  der  nur 

8* 


l’i  rino  ilcl  Vaga,  Aiilietung  'les  Kindes.  Galerie  liorgbese  iu  Kom. 


EINE  NEUE  PHOTOGRAPHISCHE  PUBLIKATION. 


61 


etwas  allgemein  Bekanntes  behauptet  wird,  wenn 
man  sagt,  sie  sei  eine  ganze  bedeutende  Galerie 
wert.  —  Antonello  da  Messina  ist  durch  sein  Bildnis 
eines  höchst  realistisch  gemalten  unbärtigen  Mannes-, 
antlitzes  gut  vertreten.  Hingegen  mag  man  sich 
leicht  davon  überzeugen,  dass  Giov.  Bellini  in  der 
Galerie  Borghese  nicht  repräsentirt  ist.  *)  Die  im 
Wetteifer  malenden  Palma  Vecchio  und  L.  Lotto  er¬ 
kennt  man  wieder,  ersteren  in  seiner  brillanten 
blonden  Lucretia  und  in  einer  hl.  Familie  (der  sich  eine 
seines  tüchtigen  Schülers  Cariani  anreiht),  letzteren 
in  seinem  merkwürdigen  Frühbild  und  in  dem  sinnigen, 
früher  als  Pordenone  bezeichneten  männlichen  Por¬ 
trät.  —  Ein  großartiges,  in  seiner  Art  ganz  vor¬ 
treffliches  Porträtstück  ist  dasjenige,  worin  Bernardino 
Licinio  von  Pordenone  eine  ganze  Familie,  Vater, 
Mutter  und  sieben  Kinder,  lauter  gesunde,  lebens¬ 
lustige  Menschen,  abgebildet  hat.  Sowohl  dieses  Bild 
als  auch  das  seiner  sogenannten  Santa  Conversazione 
sind  in  der  Photographie  sehr  gelungen.  Gut  ver¬ 
treten  sind  ferner  Savoldo,  die  Bonifazio’s,  Paolo 
Veronese  u.  a.  m. 

Gehen  wir  zu  den  Lombarden  über,  so  lassen 
sich  auch  in  den  photographischen  Nachbildungen  die 
Spuren  des  großen  Lionardo  wiederholt  in  den 
Werken  seiner  Nachfolger  erkennen.  Zunächst  bei 
dem  geistreichsten  von  allen,  dem  erst  seit  kurzem 


1)  Das  mit  dem  Namen  des  Giov.  Bellini  versehene 
Madonnenbild  (von  Anderson  photographirt)  gehört ,  wie 
Lermolieff  (Kunstkritische  Studien  I,  34C)  richtig  bemerkt,  zu 
den  Nachahmungen  seines  Schülers  Francesco  Bissolo. 


nach  Verdienst  gewürdigten  Sodoma.  Keiner  seiner 
Typen,  könnte  man  sagen,  ist  denjenigen  des  Meisters 
so  nahe  gekommen,  wie  derjenige  seiner  Leda.  Zartes 
Gefühl  und  echter  Schönheitssinn  zeigen  sich  in 
seinem  toten  Christus  auf  dem  Schoße  der  Maria. 

Beschränktere  Naturen  sind  die  von  Marco 
d’Oggiono  und  von  Gianpietrino.  Und  doch  haben 
auch  sie  bisweilen,  dank  der  Einwirkung  des 
Meisters,  Vorzügliches  zustande  zu  bringen  gewusst. 
Dies  wird  in  der  Galerie  Borghese  erstens  durch 
den  lieblichen  segnenden  Salvator  Mundi  von  Marco 
bewiesen,  der  ja  noch  unter  dem  Namen  von  Lionardo 
ausgestellt  ist,  jedenfalls  ein  Werk  von  trefflicher 
Technik,  andererseits  aber  durch  die  elegant  kom- 
ponirte  Gruppe  der  Mutter,  die  dem  Kinde  die  Brust 
reicht,  von  Gianpietrino. 

Zum  Schlüsse  nennen  wir  nur  noch  zwei  mytho¬ 
logische  Gemälde,  welche  zu  den  berühmtesten 
Stücken  der  Galerie  gehören,  nämlich  die  Danae  des 
Correggio  mit  den  zwei  schalkhaften  Amoretten,  die 
ihre  Pfeile  spitzen,  und  die  herrliche  Jagd  der  Diana 
von  Domenichino,  bei  deren  frischer  und  lebendiger 
Auffassung  man  ganz  vergessen  könnte,  dass  man  es 
mit  einem  Künstler  der  eklektischen  Schule  von  Bo¬ 
logna  aus  dem  XVH.  Jahrhundert  zu  thun  hat. 

So  sind  denn  alle  diese  Schätze  sehr  leicht 
jedermann  auf  anschauliche  Weise  auch  in  der 
Ferne  zugänglich  gemacht!  Für  Deutschland  und 
Österreich  können  bekanntlich  diese  und  viele 
andere  photographische  Aufnahmen  aus  Italien  durch 
die  Finna  Hugo  Großer  in  Leipzig  bezogen  werden. 

0  USTA  V  FEIZZONI. 


Besucli  des  Haram-ech-sclieiif  iu  Jerusalem.  Aus  dem  Werke  von  C.  W.  Allers:  Baksehisch. 


C.  W.  ALLERS. 


LS  Albrecht  Dürer  anno  1520 
nach  den  Niederlanden  zog, 
nahm  er  eine  Mappe  voll 
seiner  besten  Stiche  mit, 
teils  um  sich  damit  zu  em¬ 
pfehlen  ,  um  empfangene 
Dienste  zu  erwidern,  teils 
um  aus  dem  Erlös  einen 
Teil  der  Reisekosten  zu  bestreiten.  Die  Künstler 
von  heutzutage  haben  es  bequemer^  und  nichts  be¬ 
zeichnet  den  Gegensatz  von  alter  und  neuer  Zeit 


besser,  als  das  Skizzenbuch  von  C.  TF.  Alkrs ,  das 
dieser  fleißige  Künstler  auf  der  Augusta  Viktoria 
gemächlich  mit  Thatsächlichkeiten  füllte,  die  durch 
ilen  persönlichen  Geist,  den  sie  von  seiner  Künstler¬ 
hand  erhielten,  besonders  anziehend  gemacht  sind. 
Das  Querfoliobuch  hat  nahe  an  100  Blätter  und 
führt  den  bezeichnenden  Titel  Baksehisch,  d.  h.  Trink¬ 
geld.  Es  ist  von  Anfang  bis  zu  Ende  ein  Ausfluss 
unbefangenen,  zwanglosen,  jovialen  Künstlerhumors, 
der  wohl  verdient,  neben  den  übrigen  Leistungen 
des  vielgenannten  Mannes  genauer  betrachtet  zu 
werden.  Ohne  Zweifel  ist  es  den  Mitreisenden  eine 
liebe  Erinnerung  und  hat  dem  Künstler  gewiss  mehr 
eingebracht,  als  dem  Kollegen  Albrecht  Dürer  der 
ambulante  Handel  mit  seinen  Stichen  auf  der  Reise 
nach  Niederlaud. 

C.  W.  Allers  ist  eine  ganz  moderne  Erscheinung 
in  der  Kunstwelt.  Er  ist  persönlich  ein  überaus 


liebenswürdiger,  heiterer  Gesellschafter,  hat  ein  ofFenes 
Auge,  großes  Zeichentalent  und  stellt,  was  er  sieht, 
und  nur  das,  mit  Sorgfalt  dar,  giebt  auch  das,  was 
ihm  an  Einfällen  durch  den  Kopf  geht,  sorglos  preis. 
Weder  seine  Zeichnungen,  noch  seine  flüchtig  ge¬ 
schriebenen  Berichte  sind  vom  geringsten  Zwange 
beengt.  Er  fragt  nicht  viel  nach  Komposition,  be¬ 
absichtigt  keine  schriftstellerische  Kunstleistung, 
quält  sich  nicht  mit  philosophischen  Ideen  und  Ge¬ 
heimnissen,  will  auch  nicht  durch  geistreiche  „fein¬ 
sinnige“  Bemerkungen  blenden.  Dass  gelegentlich 
dennoch  etwas  derartiges  bei  ihm  erscheint,  fallt 
nicht  auf,  weil  alles,  was  er  äußert,  den  Stempel  des 
Unmittelbaren  trägt;  es  ist  nicht  lange  hin  und 
her  gewandt,  nicht  erst  auf  seine  Wirkung  hin  im 
Geiste  geprüft,  sondern  frisch  und  keck  in  statu 
naseendi  hingesetzt. 

Der  vielbesprochene,  nun  wohlhabend  gewordene 
Mann  hatte  zu  Anfang  seiner  Laufbahn,  gleich  vielen 
Künstler,  mit  den  Widrigkeiten  des  Daseins  zu 
kämpfen.  Ursprünglich  war  er,  wie  gar  mancher  jetzt 
berühmte  Maler,  Lithograph  und  wälzte  wie  Sisjphus 
ohne  Unterlass  seinen  Stein.  Es  ging  ihm,  wie  es 
zahlreichen  seiner  Kunstgenossen  ging:  seine  eigen¬ 
tümliche  Fähigkeit  blieb  lange  ohne  Anerkennung, 
man  sah  in  seinen  Zeichnungen  nichts  als  Leistungen 
ziemlich  alltäglicher  Art.  Ein  hervorragender  Kunst¬ 
verleger,  dem  Allers  die  Herausgabe  einer  Samm¬ 
lung  seiner  Blätter  vorschlug,  lehnte  dies  Anerbieten 


C.  W.  ALLERS. 


63 


ab.  So  etwas  ereignet  sieb  gar  häufig:  Fritz  Reuter 
und  Robert  Schumann  wussten  von  ähnlichem  zu 
erzählen. 

Wir  wollen  es  nicht  verhehlen:  eine  einzelne 
Zeichnung  von  Allers  ist  zwar  wegen  ihrer  Sorg¬ 
falt  immer  schätzenswert,  bedeutet  aber  nichts  Außer¬ 
gewöhnliches.  Sie  gilt  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  als  die  Leistung  eines  wohlgeübten  Zeichners. 
So  wenig  wie  an  einem  einzelnen  Akkord  einer  be¬ 
deutenden  Komposition,  kann  man  an  einer  Zeichnung 


nötigt,  bald  auch,  wo  die  Zeit  und  die  Umstände  das 
nicht  erlauben ,  mit  Hilfe  des  photographischen 
Apparats  festhält.  Mit  diesem  malerischen  Durch¬ 
einander  verfahrt  er  dann  wie  ein  geschickter  Inten¬ 
dant  und  Regisseur:  er  passt  jedem  seine  Rolle  m 
den  Scenen,  die  er  nun  zusammenfügt,  an.  So  ent¬ 
stand  das  erste  und  wohl  auch  das  beste  Werk,  das 
den  Grund  zu  seiner  Popularität  legte:  Club  Ein¬ 
tracht.  Wer  in  Hamburg  gut  bekannt  ist,  kann 
den  Urbildern  dieser  lustigen  Gesellschaft  begegnen. 


Titelblatt  des  Werkes :  Bakscliisch  von  C.  W.  Allers. 


von  Allers  etwas  Besonderes  erkennen;  die  technische 
Fertigkeit,  die  der  Zeichner  hat,  erklärt  bei  weitem 
noch  nicht  den  Erfolg  seiner  Mappen.  Was  diese 
Sammlungen  anziehend  macht,  ist  die  W’^ahl  der 
Scenengruppen,  innerhalb  dieser  wiederum  die  Wahl 
der  Typen,  die  alle  miteinander  in  Beziehung  und  im 
Gegensätze  stehen.  Wie  Hogarth  sich  für  seine 
satirischen  Cyklen  die  Charakterköpfe  zusammenstahl, 
so,  ganz  so  verfährt  auch  Allers,  der  seine  Figuren  auf 
seinen  Reisen  im  Skizzenbuche  sammelt,  indem  er 
sie  bald  in  liebenswürdiger  Weise  zum  „Sitzen“ 


Es  ist  der  Hamburgische  Kunstgewerbeverein,  be¬ 
rühmt  an  der  Elbemündung  durch  seine  Stiftungs¬ 
feste.  In  ähnlicher  Weise  ist  „Die  silberne  Hochzeit“ 
zusammengesetzt  aus  Hamburgischen  und  Leipziger 
Typen. 

Der  Humor,  mit  dem  der  Künstler  verfährt,  ist 
kein  subjektiver,  wie  der  Wilhelm  Busch’s  und  Ober- 
länder’s,  sondern  objektiv,  wie  etwa  der  Harburger’s. 
Er  zeichnet  nur  was  er  sieht  so  wie  es  sieht  und 
wie  wir  die  Personen  und  Sachen  auch  sehen.  Aber 
er  streift  auch  nicht  ab,  was  für  das  Dargestellte 


64 


C.  W.  ALLERS. 


Der  jüngste  Passagier. 

Aus  dem  Werke:  Uakschisch  von  C.  W.  Allers. 


charakteristisch  ist^  und  stellt  sie  an  den  Platz,  wo 
sie  hingehören,  wo  sie  ihre  Stelle  ausfüllen  und  zur 
Wirkung  des  Ganzen  beitragen.  Das  ist  zunächst 
ein  kritisches  Verfahren,  aber  zugleich  auch  ein 
künstlerisches.  Dazu  kommt,  dass  Allers  zu  seinen 
Blättern  kurze  Beischriften  erfindet,  die  wiederum 
vortrefflich  zu  der  Darstellung  passen  und  ihre 
Wirkung  erhöhen.  Etwas  Ähnliches  finden  wir 
häufig  in  den  litterarischen  Produkten  der  Künstler¬ 
klubs,  wie  der  AUotria  in  München  oder  des  Mal¬ 
kastens  in  Düsseldorf.  Aber  die  Art,  wie  Allers 
diese  Dinge  vorführt,  giebt  ihnen  ein  Anrecht  auf 
längere  Dauer,  sie  sind  nicht  für  einen  kleinen  Kreis 
bestimmt  und  auf  einen  kleinen  Kreis  angewandt, 
sondern  haben  Geltung  und  Wirkung  allenthalben, 
wo  man  solch  einen  künstlerischen  Roderich  Benedix 
zu  schätzen  vermag.  Wie  mit  dem  praktischen 
Blicke  des  Lustspieldichters  sind  diese  Scenen  zu¬ 
sammengesetzt  und  ausgeführt.  Einige  Sammlungen 
nähern  sich  allerdings  mehr  dem  Reporterstile,  z.  B. 
in  den  „Spreeathenern“,  wo  sich  der  Künstler  nicht 
frei  bewegen  konnte,  sondern  gewissen  Vorschriften 
nachkommen  musste.  Wo  er  aber  lediglich  seinem 
eigenen  Gedanken  und  Gefühl  folgen  kann,  ist  er 
seiner  Wirkung  sicher. 

Das  Reisetagebuch,  von  dem  wir  hier  sprechen 
wollen,  enthält  ungefähr  hundert  beiderseitig  be¬ 
druckte  Blätter,  die  meist  mit  Zeichnungen  der  ver¬ 
schiedensten  Art,  zum  kleinen  Teil  mit  Schriftzügen 
ganz  bedeckt  sind.  Das  Titelbild  schildert  uns  den 
Traum  des  Reisenden,  auf  den  in  buntem  Durch¬ 
einander  die  Erinnerungen  einstürmen.  In  sehr  drolliger 
Weise  aus  orientalischen  Elementen  ist  auch  das 
sog.  Vorsatzblatt  des  Einbandes  symmetrisch  zusam¬ 
mengesetzt  :  aus  Palmzweigen,  tanzenden  Derwischen, 
Krokodilen,  Affen,  Schakalen  und  Orientreisenden. 
Die  Mitte  bilden  vier  Halbmonde  mit  einem  gemein¬ 
samen  Stern.  Zunächst  führt  uns  der  „Mittelmeer¬ 
maler“  auf  Deck  im  Schnee wetter  am  21.  Januar  1891, 
macht  uns  mit  Umgegend,  Einrichtung  und  guten 
Freunden  bekannt,  die  den  Künstler  bewillkommnen 
und  die  Sache  in  passender  Weise  „anfeuchten“,  der 
Schwabe  mit  Kirschwasser,  der  Sachse  mit  echtem 
Korn,  ein  dritter  mit  Allasch,  ein  vierter  mit  Cognac 
—  lauter  eingeschmuggelte  Ware,  deren  Einfuhr  die 
Paketfahrtgesellschaft  verboten  hatte.  „Aber“,  fährt 
der  Kenner  und  Künstler  entschuldigend  fort,  „bei 
Cognac  traut  'kein  Mensch  dem  andern,  nicht  einmal 
der  Paketfahrt  —  und  wie  angenehm  täuschten  wir 
uns,  da  eine  Unmasse  der  besten  Sorte  an  Bord  war.“ 
Wie  bald  der  Passagier  auf  dem  eleganten  großen 


C  W.  ALLERS. 


65 


Dampfer  zu  Hause  war  und  wie  lustig  sich’s  da 
leben  ließ,  zeigt  schon  der  Bericht  vom  dritten  Tage: 

Freitag,  den  23  Januar. 

Musik  in  Hülle  und  Fülle  an  Bord.  —  Morgens  früh 
Flaggenparade  und  einige  Gratisstücke  hinterher.  —  Vor¬ 
mittags  Promenadenkonzert  und  belegte  Butterbrötchen,  als 
Vorbereitung  zum  Luncheon.  —  Außer  der  Musik  bei  den 
Mahlzeiten  noch  abends  Bierkonzert  mit  Seideldeckelklapp - 
begleitung  bei  passenden  Stücken.  Kapellmeister  Ascher  ist 
mit  zahllosen  Musikpiecen  und  Döntjes  versehen  und  hat 
alle  Nationalhymnen  an  Bord,  um  das  Wohlwollen  der 


Leitung  und  Herausgabe  einer  alle  zwei  bis  drei  Tage  er¬ 
scheineirden  Reisezeitung,  der  „Augusta  Viktoria-Zeitung“, 
übernommen.  —  Gestern  nach  Tisch  wurde  die  See  etwas 
bewegter  —  viele  fehlten  an  der  Tafel  —  Seekrankheit  mit 
Musik.  —  In  den  sauberen  Betten  mit  den  zwei  Wolldecken 
liegt  man  sehr  behaglich  und  die  vorbeirauschende  See  lullt 
mollig  ein.  Während  wir  Passagiere  uns  faul  und  behag¬ 
lich  ausstrecken,  arbeitet  eine  gewaltige  Menschenmasse  Tag 
und  Nacht  für  unsere  Behaglichkeit  und  Sicherheit.  —  Die 
Bäckerei,  Konditorei,  Küche,  Maschinenräume,  Barbier-  und 
Badestuben,  Druckerei  etc.  etc.;  vom  Schiffsjungen  bis  zum 
Kapitän,  alles  geht  wie  geschmiert  und  läuft  unhörbar  und 


Der  Felsendom  des  Kubbet  es  Sacbrä  (Jerusalem).  Aus  dem  Werke:  Bakscliiscli  von  C.  W.  Allers. 


Völker,  die  wir  entdecken  werden,  zu  erwerben.  Er  hat  so 
viele  Orden,  dass  es  ordentlich  klappert,  wenn  er  geht.  Im 
Rauchsalon  haben  sich  schon  eine  gehörige  Portion  Skat¬ 
ecken  zusammengefunden,  bei  Cocktail,  Sherrycobler,  Grog, 
Bier.  —  Amüsante  Gesellschaft.  —  Ich  wetze  schon  meinen 
Bleistift.  —  Vier  Kollegen  von  der  Tinte  sind  vertreten; 
Hamb.  Korrespondent  (Benrath),  Hamb.  Nachrichten  (Wallsee), 
Hamb.  Fremdenblatt  und  Berliner  Börsencourier  (Weth)  und 
Nordd.  Allgemeine  Zeitung  (Jahnel,  mein  Schlaf kumpan). 
Außerdem  sind  diverse  Setzer  und  Drucker  und  eine  Schnell¬ 
presse  an  Bord.  —  Meister  Benrath  hat  neben  seiner  Bericht¬ 
erstatterbeschäftigung  noch  die  anstrengende  Aufgabe  der 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  N.  F.  IV. 


tadellos  seine  Wege.  Aber  Faullenzen  auf  See  ist  doch  riesig 
angenehm,  nur  wird  man  dabei  leichter  seekrank.  —  Als 
alter  Matrose  von  der  Kais.  Marine  sollte  ich  eigentlich  see¬ 
fest  sein,  da  man  als  Kuli  gar  keine  Zeit  zu  solchem  Un¬ 
sinn  hat.  —  Aber  das  Herumlungern  an  Bord  ohne  Herum- 
geschubse,  Fluchen,  Deckscheuern,  Segelmanöver,  Backs¬ 
geschirrreinigen,  Musterungen,  Zeugflicken,  Geschützexer- 
ziren  etc.  etc.  bringt  die  alte  Seeplage  wieder  hoch.  — 
Heute  ruhige  See,  aber  graumuffeliges  Wetter.  —  Vormittags 
Nebel  —  ab  und  zu  ein  Nebelhorn  von  unsichtbaren  Küsten 
—  wir  tuten  auch  fleißig.  —  Bei  Dover,  das  wir  ein  wenig 
aus  dem  Nebel  auftauchen  sehen,  wird  Flaggenparade  mit 

9 


06 


C.  W.  ALLERS. 


.Musik  abgehalten  und  durch  Signale  der  Welt  und  unseren 
Freunden  daheim  unsere  Vorbeifahrt  gemeldet.  —  Später 
klärt  es  sich  etwas  auf.  —  Viele  Dampfer  und  Segler  in 
Sicht.  —  Auch  ein  altes  Wrack  auf  einer  Sandbank  liegend. 
—  Nachmittags  frischt  der  Wind  auf,  die  See  geht  höher. 
Aber  gerade,  als  ein  speziell  für  uns  aus  Amerika  signali- 
sirter  Sturm  einsetzt,  wutschen  wir  hinter  die  Insel  Wight 
und  sind  in  Sicherheit  und  ruhigem  Fahrwasser.  —  Ist  noch 
verdammt  wenig  Orientalisches  bis  jetzt  zu  sehen.  Nur  ein 
Passagier  erfreut  unsere  Augen  mit  einem  leuchtenden  Fez 
und  unser  Herz  mit  dem  türkischen  Gruß.  Er  zaubert 
Palmen,  Sonne,  Minarets,  Harems,  Eunuchen  und  sauft- 
plätschernde  Gewässer  in  unsere  nebelig  kalten  Gemüter 
und  wird  dafür  einstimmig  zum  Kanaltürken  ernannt. 

Zu  diesen  Erläuterungen  des  behaglichen  See¬ 
lebens  sind  nun  eine  ganze  Zahl  Charakterköpfe  und 


der  schwarzen  Kunst  aufzurütteln  vermag.  Am 
27.  Januar  ist  großes  Fest  zur  Feier  des  Geburtstags 
S.  M.  des  deutschen  Kaisers.  Die  Musik  thut  doppelt 
ihre  Schuldigkeit,  das  ganze  Schiff  ist  in  Gala  mit 
Flaggenschmuck ;  ein  großes  Bankett  wird  arrangirt, 
die  Paketfahrtgesellschaft  spendet  Sekt,  große  Fest¬ 
polonaise  und  Tanz  beschließt  die  Feier. 

Am  folgenden  Tage  ist  Gibraltar  erreicht;  diesem 
altberühmten  Punkte  widmet  das  Buch  einige 
Blätter,  und  Land  und  Leute  sind  mit  echten  Künst¬ 
leraugen  angeschaut. 

Kleine,  mit  der  Paketfahitflagge  gezierte  Dampfer 
bringen  uns  bald  an  Land.  —  Am  Oldmole  stiegen  wir  aus, 
wurden  höflich  empfangen  und  waren  gleich  mitten  im  Spek- 


Kaijjlias’  Haus  in  .Tenisaiem.  Aus  dem  Werke;  Bakschisch  von  C.  W.  Allers. 


.'^cenen  gezeiclinet,  und  an  drolligen  Zwischenfällen 
fehlt  es  dabei  nicht.  Beim  Schlingern  des  Schiffes 
fällt  auf  einmal  das  ganze  Musikkorps  in  einen  Haufen 
zusammen;  ein  malerisches  Durcheinander  von 
.Menschen  und  Musikinstrumenten.  Die  Notenblätter 
gehen  dabei  über  Bord  und  treten  auf  eigene  Faust 
ihre  l'oise  an.  Ein  unglücklicher  Klarinettist,  der 
von  der  Seekrankheit  arg  zu  leiden  hat,  muss  die 
l’ausen  seiner  Stimme  benutzen,  um  sich  über  Bord 
zu  beugen  und  dem  Meere  seinen  Zoll  zu  entrichten. 
Die  Setzer  und  Drucker  der  Augusta  Viktoria-Zei¬ 
tung  leiden  gleichfalls  von  der  Seeplage,  so  dass  der 
Redakteur  .sie  nur  mit  Mühe  und  durch  Drohungen, 
sie  in  Gibraltar  ans  Land  zu  setzen,  zur  Ausübung 


takel  und  Leben  eines  südlichen  Hafenplatzes.  —  Famose 
Gegend  hier  am  letzten  Happen  von  Europa.  —  Schwarz- 
Ijraune  Kerle,  Spanier,  Araber  und  rotröckige  Engländer  — 
eine  verrückte  Misclmng  —  die  rote  Uniform  der  Engländer 
wirkt  höchst  dekorativ  und  erfreulich  auf  der  silbergrau¬ 
gelben  Felsfarbe.  Wohin  man  sieht,  diese  leuchtenden  Farben, 
klexe.  —  Überall  muss  man  seine  Augen  haben  und  alles 
möchte  man  in  Blei  und  Farbe  mitnehmen,  aber  Zeit  und 
Engländer  erlauben  es  nicht.  —  Zwischen  all  den  farbigen 
Menschengruppen  trotten  zahlreiche  kleine,  brave  Esel,  lustig 
und  aufmerksam  aussehend,  flink,  wie  alle  südlichen  Esel. 
Mit  malerischen  Körben  sind  sie  bepackt,  oben  drauf  noch 
viel  malerischere  Jungen  oder  Kerle.  —  Farbige  Frauen¬ 
zimmer,  schlampig  und  prachtvoll  schmutzig.  Jede  des  Mit¬ 
nehmens  wert  (d.  h.  gemalt).  Viele  hübsche,  wild  verlumpte 
Kinder,  Mauren  in  gelben  Schlapppantoffeln.  —  Schwarze, 
dicke  Weiber,  die  kreischend  sich  gegenseitig  anschauend 
unglaublich  komische  Geschichten  erzählen,  so  dass  sie  sich 


C.  W.  ALLERS. 


67 


den  Bauch  vor  Lachen  halten  müssen  und  sich  entzückt  auf 
die  Lenden  klatschen  und  gegenseitig  in  die  Seiten  puffen. 
Schottische  Soldaten  mit  nackten  Beinen,  rotem  Rock,  vorne 
ein  Ziegenfell  und  auf  dem  Kopf  den  Korkhelm.  —  Elegante 
Herren  und  langlockige  blonde  Damen  auf  schönen  Pferden 
sitzend.  Dazwischen  steife  Polizeidiener,  genau  wie  in  London 
und  Plymouth . 

Bald  waren  wir  in  Linea.  —  Welch  ein  Unterschied 
zwischen  dem  wohlgeordneten  Gibraltar  und  diesem  lidelen 
Urzustand,  der  Wohlanständigkeit  der  Engländer  und  dem 
Naturspektakel  und  Dreck  der  Spanier.  —  Stolz  aussehende 
Polizeidiener,  erhabene  Schildwachen  und  Bettler  voll  Hoheit, 
Grandezza  und  Läuse.  Einige  elende,  verkrüppelte,  aber 


in  ihren  Wäldern  bei  der  Familienbeschäftigung.  —  Tn  eine 
IHeinkinderschule  lugten  wir  auch  hinein.  Eine  alte  gemüt¬ 
liche,  gelbe  Megäre,  die  sich  mit  einem  Stöckchen  die  wirren 
grauen  Löckchen  durchkratzte,  leitete  die  Sache.  Ein  ein¬ 
faches,  schmutziges  Zimmer,  angefüllt  mit  malerisch  junger 
Brut.  Eine  Art  ABC  zierte  die  Wand.  —  Bald  nachher 
trafen  wir  noch  eine  junge  Dame  von  6—7  Jahren  auf  der 
Straße,  die  von  drei  älteren  Schwestern  unter  gewaltigem 
Geschrei  (wie  ein  Schwein,  das  gewogen  werden  soll)  zu 
diesem  Tempel  der  Wissenschaft  geschleift  wurde.  Durch 
unsere  Vorstellungen  und  einigen  passenden  Fratzen  mit  Ge¬ 
brumm  brachten  wir  sie  zur  Ruhe,  dass  sich  der  verdutzte 
Racker  still  ziehen  ließ.  —  An  einer  Straßenecke  war  die 


Im  Friihstückszelt  von  Cook  &  Sous.  .4us  dem  Werke:  Baksclnsoli  vou  C.  W.  Alleks. 


tidele  Subjekte  betteln  sich  an  uns  ’ran.  Unglaublich  lustige 
Jungens  und  Mädels,  die  sofort  alle,  selbst  die  schwierigsten 
und  komplizirtesten  Gesichter,  die  ich  ihnen  vorschneide, 
eifrig  und  ohne  Fehler  nachmachen.  — 

Zahllose  schmierige,  flohbeladene  Hunde,  Ziegen,  Hammel¬ 
haufen,  ruppige  Hähne  nebst  Familie,  Pferde,  Maultiere, 
Esel  und  Mautbeamte.  Letztere  gegen  uns  sehr  höflich 
und  verbindlich.  —  Durchs  alte  Stadtthor  ins  Nest  hinein 
mit  dem  Kutscher  als  Führer.  Echt  spanische  Straßen,  recht¬ 
winklig  mit  einstöckigen  Häusern,  ln  den  offenen  Thüren 
und  vorm  Haus  wird  alles  verrichtet.  —  Das  einzig  rein¬ 
liche  Geschöpf,  wie  immer,  die  sich  waschende  Hauskatze, 
hier  anscheinend  im  vollen  Einverständnisse  mit  den  Hunden 
lebend.  —  Überall  sonst  das  bekannte  Bild  unserer  Vorfahren 


Börse,  und  die  Kaufleute  sahen  aus  wie  eine  Opern  Ver¬ 
schwörung,  lauter  ernste  Opernhelden  mit  malerisch  drapirten 
Giftmischer-  und  Verschwörermänteln,  rotes,  grünes  und 
gelbes  Futter. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wollten  wir  die 
ganze  so  prächtig  geschilderte  Reise  in  ähnlicher 
Weise  „mit  Nachdruck“'  empfehlen;  der  Ereignisse 
und  Beobachtungen  sind  so  viel,  dass  man  ein  ganzes 
Heft  damit  füllen  könnte.  Wir  müssen  uns  versagen, 
die  drolligen  Scenen  und  Expektorationen  wieder¬ 
zugeben,  die  sich  beim  Landen  in  Alexandria,  beim 
Besuch  der  Moschee,  beim  Kameelritt  durch  die  Wüste 


ü 


6S 


C.  W.  ALLERS. 


ergeben.  Wir  wandern  mit  nach  Gizeb,  sehen  den 
Reisenden  erschöpft  die  Besteigung  der  Pyramide 
verwünschen,  lesen  die  Postkarte,  die  er  an  die  daheim¬ 
gebliebene  Gattin  auf  der  höchsten  Spitze  verfasst, 
sehen  die  Passagiere  wieder  an  Bord  klettern  und 
verfolgen  sie  nach  Jaffa,  Jerusalem,  auf  den  Libanon. 
Unterwegs  wird  gelegentlich  das  Frühstückszelt  von 
Cook  &  Son  aufgeschlagen,  dessen  Inneres  wir  u.  a. 
hier  mit  nachgebildet  haben.  Prächtig  sind  die 
Menschen  und  Landschaftsstudien  in  Jerusalem  und 
Bethlehem,  und  wenn  man  sich  noch  in  den  frisch 
geschriebenen  und  anschaulichen  Text  hineingelesen 
hat,  lässt  das  Buch  den  Leser  nicht  mehr  los,  — 
schließlich  glaubt  man  alles  selbst  mit  erlebt  zu 
haben,  und  im  Hinblick  darauf  sind  die  100  Mark, 
die  für  das  Buch  erlegt  werden  müssen,  eine  mini¬ 
male  Ausgabe.  Dabei  wird  es  uns  auch  noch  er¬ 
spart,  die  gelegentlichen  Unfälle  und  Missgeschicke, 
die  auch  auf  solcher  Bequemlichkeitsreise  nicht 
ausbleiben,  am  eignen  Leibe  zu  erfahren.  In  Alexan¬ 
dria  erhält  unser  Reisender  aus  Sparsamkeitsrück¬ 
sichten  der  Firma  Cook  &  Son  erst  ein  schlechtes 
Zimmer  ohne  Fenster  und  erst  nach  Gebrauch  ener¬ 
gischer  deutscher  Deutlichkeit  wird  ihm  in  dem  fast 
leeren  Gasthaus  ein  kleiner  netter  Salon  eingeräumt, 
ln  Beirut  erhalten  die  Cookreisenden  recht  unbequeme 
Wagen,  „wundervoll  für  einen  Ausflug  zum  Pappen- 
büttler  Markt  bei  heißem  Wetter,  aber  miserabel  für 
eine  Libanonfahrt“.  Auf  der  Passhöhe  des  Gebirges 
liegt  12  Fuß  hoher  Schnee  und  eine  Straße  ist  schmal 
hineiugeschaufelt.  „Unser  Wagen  war  der  aller¬ 
miserabelste  . . .  ohne  die  vielen  Bindfaden,  die  Freund 
Benrath  und  ich  seit  Jerusalem  wohlweislich  immer 
in  den  Taschen  trugen,  um  die  Stränge  und  Räder 
dieser  schäbigen  Kutschen  zusammenzubinden,  wären 
wir  unterwegs  sitzen  geblieben.  Bald  ging’s  in  den 
Antilibanon  .  .  .  Nur  einige  alte  Steinhäuser  mit 
grinsenden  Eingeborenen  und  zwei  Wölfe,  die  nah 
am  Wege  an  den  Resten  eines  Esels  kauten,  waren 
am  Eingang  ins  Gebirge  in  der  Dämmerung  zu 
sehen.“  In  Damaskus,  wo  die  Orientfahrer  halb  er¬ 
froren  und  wie  gerädert  mitten  in  der  Nacht  an¬ 
langen,  bringt  die  wiederkehrende  Sonne  und  Bequem¬ 
lichkeit  neuen  Mut.  Bei  einem  alten  reichen  Juden 
Joseph  Alphons  sind  kostbare  alte  jüdische  Hand¬ 
schriften  aus  der  Zeit  Karls  des  Großen  zu  sehen  .  .  . 
„Herr  Alphons  zeigte  uns  seine  Bibliothek.  Auch 
hat  er  immer  etliche  namhafte  Gelehrte  auf  Lager, 
die  bei  ihm  wohnen  und  studiren.  —  Auch  jetzt 
saßen  zwei  malerische  alte  Gelehrte  dort  auf  ge¬ 
kreuzten  Beinen  und  guckten  mit  Vergrößerungs¬ 


gläsern  in  alten  Schmökern  herum.  Prachtvolle 
Modelle  für  Alchymisten,  Sterndeuter  und  Teufels¬ 
beschwörer.“  —  Die  Tochter  holt  dann  das  Familien¬ 
photograp  hiebuch  voller  langweiliger  Gesichter  in 
photographischer  Auffassung.  „Gerade  wie  bei  uns, 
wo  man  die  armen  Besucher  auch  mit  diesen  nichts¬ 
sagenden  Konterfeis  an  ekelt,  wobei  noch  starkes 
Interesse  beim  Anblick  all  der  Tanten,  Onkels,  Gro߬ 
mütter,  an  Säulen  gelehnten  Hausfreunde. . .  geheuchelt 
werden  muss.“ 

Die  Bazare  in  Damaskus  erregen  das  besondere 
Interesse  unseres  Reisenden. 

Prachtvolle  eingelegte  Möbel,  Metallarbeiten,  kunst¬ 
reiche  Gold-  und  Silberschmiede  bei  der  Arbeit,  farbenfrische 
Stoffe,  Teppiche  und  ölschwimmende  Esswaren.  Am  reich¬ 
haltigsten  sind  aber  die  Verkaufsbuden  für  alte  Waffen. 
Da  giebt’s  wundervolle  Dinge  zu  sehen ;  wenn  man’s  nur  gleich 
zu  Haus  an  der  Wand  hängen  hätte!  Ich  möchte  eine  Extra¬ 
reise  nach  Damaskus  machen,  um  Wandschmuck  einzukaufen. 
Bei  einem  dicken  Türken  kaufte  ich  einen  ganzen  Haufen 
Pistolen,  Gewehre  und  Säbel  für  den  zehnten  Teil  der  ge¬ 
forderten  Summe.  Es  dauerte  aber  eine  Stunde,  und  dreimal 
musste  ich  fortgehen  und  drei  Tassen  Kaffee  mit  dem  biedern 
Dickwanst  trinken.  Dann  handelte  ich  noch  einige  Stücke 
für  einen  Mitreisenden,  der  an  Bord  blieb,  ein,  obgleich  wir 
verteufelt  wenig  Platz  in  unserem  Cookkasten  hatten.  Aber 
ich  baute  auf  das  gute  Herz  meiner  Mitreisenden,  auf  deren 
Hühneraugen  und  erfrorene  Zehen  ich  die  Flinten  lagern 
musste.  Dann  erhandelte  ich  mir  einen  prächtigen  Schaf¬ 
pelzrock,  den  ich  gleich  anzog,  darüber  einen  wasserdichten, 
weiß  und  braun  gestreiften  Beduinenmantel.  Benrath,  der 
Schriftgelehrte,  fand  die  Sache  so  passend,  dass  er  sich  auch 
in  einen  Schafpelz  wickelte  .  .  .  Mir  war  der  Schafpelz  und 
Beduinenmantel  höchst  nötig,  da  ich  starkes  Fieber  hatte 
und  mit  den  Zähnen  klapperte.  Ich  verdanke  dies  den  Spar¬ 
samkeitsrücksichten  der  Firma  Cook  &  Sons,  die  uns  zu  drei 
Mann  hoch  in  ein  Zimmer  packte.  Ich  bekam  nur  ein  Schlaf¬ 
sofa  und  fror  jämmerlich  auf  der  harten  Pritsche.  Dabei 

war  das  Hotel  fast  leer .  Heut  nacht  12  Uhr  sollen 

wir  wieder  abreisen  .  .  .  Dazu  noch  ein  scheußlicher  Guss¬ 
regen,  dass  die  Straßen  schwimmen  und  alle  tiefen  Pflaster¬ 
löcher  unsichtbar  werden.  Aber  stets  trifft  man  sie  beim 
Herumsuchen  nach  dem  richtigen  Wagen.  —  Mörderlich  kalt 
war’s  auch  .  .  .  Ich  klapperte  im  dicksten  Fieber  mit  den 
Zähnen,  kam  aber  bei  der  Hauerei  um  die  Wagen,  wo  an¬ 
scheinend  jeder  sich  selbst  der  Nächste  war,  in  eine  falsche, 
glücklicherweise  bessere  Kutsche  rrnd  entging  so  dem  Schick¬ 
sal  meiner  alten  Reisegefährten,  die  des  miserablen  Wagens 
wegen  zurückblieben,  da  alle  Augenblicke  die  zusammen¬ 
gebundenen  Stränge  rissen  und  sie  erst  24  Stunden  später 
nach  zahlreichen  Abenteuern  und  Gefahren  an  Bord  eintrafen. 

Wegen  der  Verspätung  wird  der  Besuch  in 
Smyrna  aufgegeben  und  die  Äugusta  Viktoria  wendet 
sich  nun  nach  Konstantinopel,  wo  unter  anderm  sich 
die  Scene  mit  den  Packträgern  als  photographische 
Objekte  abspielt,  die  wiederzugeben  wir  uns  nicht  ver¬ 
sagen  mochten.  Auch  hier  ist  ausgiebiger  Stoff  für 
ethnographische,  landschaftliche  und  sonstige  Studien. 
Von  da  gehfs  nach  dem  Süden  der  Balkanhalbinsel, 


C.  W.  ALLEKS. 


69 


der  Piräus,  Athen  mit  der  Akropolis  werden  bewundert, 
angesichts  deren  ein  unschuldiger  Reisekollege  die 
Frage  aufwirft:  „Sagen  Sie  mal,  wo  sind  wir  denn 
hier  eigentlich  ?“  Eine  der  hübschesten  Anekdoten,  die 
wir  zu  hören  bekommen,  ereignet  sich  hier,  auf  der 
Akropolis: 

Wir  sahen  auch  das  berühmte  Löwenköpfchen  liegen, 
das,  schon  so  oft  mitgenommen,  immer  wieder  erscheint.  — 
Die  Sache  geht  so  zu.  Da  liegt  ein  antikes,  reizendes  Löwen¬ 
köpfchen,  so  recht  lecker  zum  Stehlen  und  in  passender 


seine  Pflicht  vernachlässigen  mrd  den  kostbaren  antiken 
Löwen  verkrümeln.  Froh,  dem  Verschüttetwerden  so  glück¬ 
lich  entronnen  zu  sein,  enteilt  der  Kenner  der  Stätte,  in  der 
Tasche  den  kostbaren  Leuen.  Aber  am  nächsten  Morgen 
liegt  ein  gleicher  Leu  dort,  vom  sorgsamen  Wächter  behütet. 
—  Ob  das  eine  Aktiengesellschaft  oder  ein  Privatunter¬ 
nehmen  ist,  weiß  ich  nicht. 

lu  Athen,  an  der  Geburtsstätte  des  klassischen 
Drama  s,  wird  auch  ein  neugriechisches  Kasperltheater 
bewundert.  Der  Jünger  des  Aristophanes  machte 
die  besten  neugriechischen  Witze,  die  den  Reisenden 


Photographische  Packträgerstiiclieu  am  goldenen  Horn.  Ans  dem  Werke:  Bakschisch  von  G.  W.  Allers. 

,,Na  ja,  da  haben  wir’s!  Einen  Packträger  will  man  i)hotographiren,  und  da  steht  schon  wieder  die  ganze  Bande  nud  grinst  in 
den  Apparat  ...  ’s  mir  gut,  dass  man  die  Witze  nicht  versteht,  die  sie  machen  .  .  .  und  dabei  wird  immer  behauptet,  die  Türken  ließen 
sich  nicht  photographiren,  weil  es  Muhammed  verboten  hätte  .  .  .  Blödsinn  .  .  .  Wenn  ich  nur  wdisste,  wie  , ruhig  stehen“,  ,, nicht  wackeln“ 
auf  türkisch  heißt!  Warum  habe  ich  mir  auch  keinen  , kleinen  Muhammedaner  in  der  Westentasche“  mitgenommen,  da  wird  doch  sicher  ein 
Gespräch  zwischen  Photographen  und  Packträgeru  d’rin  stehen!““ 


Größe  zum  In- die -Tasche -stopfen.  —  Ein  Blick  auf  das 

Trümmerfeld - dort  hinten  geht  der  Wächter  und  dreht 

uns  gerade  den  Rücken  zu  —  wutsch  —  weg  ist  der  Löwe 
und  in  die  Rocktasche.  Harmlos  gehen  wir  weiter,  die 

Trümmer  eifrig  bewundernd.  Da  naht  der  Wächter. - 

Wo  ist  der  Löwenkopf?  Soeben  war  er  noch  da.  —  Bitte, 
mein  Herr,  wissen  Sie,  wo  er  geblieben  ist?  —  Thut  mir 
leid,  muss  Sie  untersuchen.  Der  Löwe  kommt  zum  Vor¬ 
schein.  —  Große  Verlegenheit,  drohendes  Stirnrunzeln  des 
Wächters.  Zuerst  ist  er  unerbittlich,  er  ist  für  den  Löwen  ver¬ 
antwortlich.  Dann  etwas  milder  gestimmt.  Viel  Bakschisch 
rührt  ihn,  und  noch  viel  mehr  Bakschisch  lässt  ihn  sogar 


leider  wegen  mangelbafter  Sprachkenntnis  entgingen. 
Auf  der  Rückreise  nach  Neapel  zu  werden  „olympische 
Spiele“  an  Bord  abgehalten,  bestehend  in  Pflaumen- 
kauen,  Wettbrotessen,  Sackhüpfen  u.  dergl.  In  Malta 
wird  angelegt  und  große  Stift-  und  Tuschzeichnungen, 
die  oft  über  zwei  Seiten  hinweggehen,  sind  das 
künstlerische  Residuum  dieses  Aufenthalts.  Auch 
Palermo  und  der  Monte  Pellegrino  finden  ihre  Stätte 
in  dem  Buche,  ln  Neapel  begrüßt  unser  Reisender 


70 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


das  unvergleichliche  Capri,  dem  er  einen  eignen 
Folianten  gevpidmet  hat.  Hier  zerstreut  sich  schon 
die  Reisegesellschaft  merklich;  der  Rest  besucht  noch 
Lissabon,  sehnt  sich  aber,  schon  übersättigt  von  den 
zahllosen  Genüssen  und  Erlebnissen,  nach  Hause. 
Am  22.  März  läuft  der  Dampfer  unter  großem  Hallo 
wieder  in  Hamburg  ein  und  mit  dem  ihm  eigenen 
Humor  schließt  der  moderne  Odysseus  seinen  Bericht 
am  Stammtisch: 

„Ja,  meine  Herren,  das  kann  ich  Ihnen  sagen,  großartig 
war’s!  Nur  eins  hat  mir  immer  viel  Sorge,  Verdruss  und 
Kopfzerbrechen  gemacht,  das  waren  die  vielen  Schreiben 
der  elenden  Briefmarkensammler,  Auf  allen  Poststationen 
fehlten  immer  die  sehnlichst  erwarteten  Briefe  von  zu  Hanse; 
nur  die  Briefmarkensammler  hatten  ihre  Schreiben  richtig 
berechnet.  Was  für  ein  Arger,  wenn  wir  den  jubelnd  be¬ 
grüßten  Brief  öffneten.  45  Aufforderungen  zum  Mitbringen 
von  allerlei  .seltsamen  Briefmarken  habe  ich  bekommen. 
5700  Rmk.  A«s/o^ekapital  wurde  mir  von  diesen  schwarzen 
Seelen  gütigst  bewilligt  (zum  späteren  Wiedergeben)  —  43 


davon  kannte  ich  überhaupt  nicht  mehr  und  brachte  daher 
auch  nur  für  die  zwei  Übriggebliebenen  einige  Kilo  höchst 
thörichter  Briefmarken  mit  (wie  man  mir  später  mitteilte), 
und  das  war  schon  eine  böse  Arbeit,  da  die  Zeit  und  das 
Programm  in  viele  gleich  lange  Stücke  geschnitten  waren 
und  wir  nur  selten  entwischen  konnten,  umabseits  vom  Wege 
mal  auszupusten.  Überall  waren  die  Marken  auch  viel  teurer, 
wie  zu  Hause,  und  dann  die  elende  Rennerei  von  einer  Post 
zur  andern,  statt  seine  Mußestunden  im  behaglichen  Umher¬ 
schlendern  zu  genießen . Wer  mir  auf  Reisen  wieder 

von  Briefmarken  redet,  den  verachte  ich  .  .  .  Ich  bin  immer 
gern  erbötig,  bei  genügend  Platz  allerlei  Unrat  mitzubringen, 
wenn  ich  es  nicht  selber  gebrauche.  Ein  mäßig  großes  Nil¬ 
pferd,  Mumien,  kleinere  Pyramiden  zu  Briefbeschwerern, 
diverse  profane  und  heilige  Gewässer  auf  Flaschen  gefüllt, 
Stückchen  von  Inseln  und  Vorgebirgen,  Kisten  voll  Wüsten¬ 
sand  und  altägyptische  Funde  aus  den  renommirtesten  Fa¬ 
briken  ....  Auch  empfehle  ich  mich  zum  Mitnehmen  von 
allerlei  heiligen  und  klassischen  Reliquien  vom  Schädel 
Adams  bis  zu  den  Figuren  des  Erechtheion  oder  was  sonst 
von  eifrigen  Reisenden  gestohlen  oder  gesammelt  wird  — 
nur  keine  Freimarken!“  Ä.  S. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


KUNSTGESCHICHTLICHE  FINDLINGE  AUS  DEM 
K.  S.  HAUPTSTAATSARCHIVE. 

:\I1T0ETE1LT  VON  THEODOR  DISTEL  IN  DRESDEN. 

Znr  Frurenienvu  einiger  wertvoller  Gemälde,  inshesondere 
zu  ürnnach's  d.  ä.  Eeee  Homo  in  Dresden.  Im  K.  S.  Haupt¬ 
staatsarchive  ')  kam  ich  auf  eine,  26  Nummern  enthaltende 
„Spezifikation“  von  Gemälden  unter  dem  Datum  Dresden, 
d.  26.  März  1707.  Kuiffürst  Friedrich.  August  I.  zu  Sachsen 
(als  Polenkönig  August  TI.)  hatte  dieselben,  nachdem  ihm 
auch  andere,  von  nicht  genannter  Seite,  zum  Ankäufe  an- 
geboten  -worden  waren,  ,, ausgezeichnet  und  beliebet“.  Als 
No.  8  des  Verzeichnisses  erscheint  ein  Ecco  Homo  Lucas 
Grumju-h's  d.  ä.  ^)  auf  „Holz“,  für  welchen  300  Tlialer  ge¬ 
fordert  worden  waren.  Ist  das  Gemälde  damals  auch  nicht 
nach  Kursachsen  gekommen,  wahrscheinlich  war  es  vorher 
bereits  einem  anderen  Käufer  zugeschlagen  worden,  so  ist 
dies  doch  1874  geschehen  und  giebt  der  größere  lFocr«ia;Mdsc/te 
Katalog  der  Königlichen  Gemäldegalerie  zu  Dresden  (1887) 
unter  No.  1017  Näheres  darüber  an,  nennt  auch  seinen 
Vorbesitzer.  Ich  füge  hinzu,  dass,  nach  Mitteilung  des 
K.  Galerieinsjjektors  Müller,  dafür  über  2000  M.  (100  Gui¬ 
neen)  gezahlt  worden  sind.  Andere  Bilder  sind,  wie  eine 
Vergleichung  des  Verzeichnisses  mit  dem  angezogenen 
Kataloge  ergiebt,  und  wohl  zu  den  dabei  ausgeworfenen 
Preisen  in  die  Dresdener  Sammlung  übergegangen,  wenn 
auch  falsche  Daten  über  ihren  Erwerb  bekannt  sind,  z.  B. 
.No.  1236  („Kreuzigung“  von  lUocmucrt  —  Bloinerten  ge¬ 
nannt — ,  „nach  Michelangelo“-*).  Sonst  nenne  ich,  nach 
meiner  Vorlage,  noch  folgende  Gemälde  und  die  dafür  seiner¬ 
zeit  geforderten  Preise,  um  zu  weiteren  Nachforschungen 
darüber  anzuregen,  als:  Dürer  [l]  (zwei  Bauernstücke  auf 

1  Lokal  37!»  diverse  Verzeichnisse  Bl.  3. 

3)  Hier  „Granach“  geschrieben. 

3)  .So  auch  JWmrr  dort  eil. 


Holz,  zusammen  200  Thaler,  und  die  Geburt  Christi,  eben¬ 
falls  auf  Holz,  80  Thaler),  Brueghel  —  Bregel  geschrieben  — 
(zwei  holländische  Bauernstücke,  auf  Kupfer,  zusammen  150 
Thaler)  und  Rubens  (Geißelung  und  Krönung  Christi,  auf 
Holz,  80  Thaler). 

Ein  Meines  Ölbild  Johann  Friedrich  des  Großmütigen 
im  Privatbesitxe.  Im  vergangenen  Jahre  restaurirte  der 
K.  Galeriekustos  Theodor  Schmidt  in  Dresden  ein  Ölbild 
(auf  Holz)  des  Kurfürsten  Johann  Friedrich  des  Großmütigen 
'30.  Juni  1503-3.  März  15.54),  dessen  Eigentümer  der  K.  Pr. 
Oberst  a.  D.  von  Baund.mch,  ebenda,  Forststraße  23  wohnhaft, 
ist.  Das  Gemälde  ist  11  cm  hoch  und  872  cm  breit  und 
würde,  wenn  es  nicht  das  zu  weiterer  Nachforschung  an¬ 
regende  Zeichen:  *)  trüge,  nur  Lukas  Cranach  d.  ä.,  welcher 
es,  nach  dem  Dargestellten  zu  urteilen,  spätestens  1540  und 
in  seinem  besten  Können  geschaffen  haben  müsste,  zuge¬ 
schrieben  werden.  Von  einem  hellgrauen  Grunde  hebt  sich 
der  leicht  nach  links  gewandte ,  kräftige  Oberkörper  des 
Kurfürsten,  der  ein  schwarzes,  mit  Goldknöpfen  verziertes 
Barett  trägt,  voll  ab.  Ruhig  und  ernst,  fast  melancholisch 
blickt  derselbe  aus  dem  Bilde  heraus  den  Beschauer  an. 
Ein  ganz  dunkelbrauner,  unter  dem  Halse  zusammengehaT 
tener  Pelzkragen  lässt  unterhalb  ein  schwarzes  Wams  er¬ 
blicken,  über  welchem  eine  vierfache,  goldene  Kette  mit 
sauber  ausgeführtem  Kruzifixe  auf  die  Brust  herabhängt. 
Die  rechte  Hand  hält  einen  Handschuh  und  ruht  auf  einer, 
wenig  sichtbai'en ,  mit  rötlichem  Stoffe  behangenen  Tafel, 
die  Linke  ist  über  die  Rechte  gelegt.  Rechts  oben  (im 
Grunde)  stehen  die  Worte:  Joanes  Fridericus  dux  Saxo.  et 

elector,  darunter  das  Zeichen: 


l)  Wollte  man  den  Kurfürsten  in  noch  jüngere  Jahre  setzen, 
so  könnte  man  an  den  Maler  Jakobz  Lucas,  d.  i.  Lucas  Jakobsz 
oder  Lucas  von  Leiden  (-1-  1533)  denken. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


71 


Kurfürst  Christian  II  rru  Sachsen  als  Mater.  Dass  der 
Kurfürst  Christian  II.  zu  Sachsen  (1583 — 1611)  die  Maler¬ 
kunst  geübt  habe,  ist  noch  unbekannt.  Einem  alten  Inven- 
tarium  des  Schlosses  Colditz  u.  s.  w.  vom  Jahre  1657  (K.  S. 
Hauptstaatsarchiv:  Lokat  12047  Bl.  112  (entnehme  ich  nun 
den  Eintrag,  dass  er  das  an  der  Thüre  des  kurfürstlichen 
Kirchstübchens  im  vergoldeten  Rahmen  befindlich  gewesene 
Pergament bild :  Gruß  der  Maria  ,.in  seiner  Jugend  mit  eigener 
Hand  gemahlet  und  geschrieben"  hat.  Leider  ist  das  Werk 
nicht  mehr  nachzuweisen. 

Ein  Porträt  der  Kurfürstin  Elisabeth  xn  Brandenburg 
von  Zacharias  Wehme  (?),  1593.  Vor  dem  Kirchensaale 
des  herzoglichen  Residenzschlosses  zu  Altenburg  hängt  seit 
kurzem  ein  überaus  prächtiges,  lebensgroßes  (bis  unter  die 
Kniee  reichendes)  Porträt  der  Kurfürstin  Elisabeth  zu  Bran¬ 
denburg,  geb  Prinzessin  zu  Anhalt'),  vom  Jahre  1593,  dessen 
Maler,  Zacharias  Wehme,  sich  leider  nur  stark  vermuten  lässt, 
wenigstens  malte  er  das  Original  auch  sonst  2)  und  schuf 
ein  Bildnis  ihres  Gemahls,  Johann  Georgs.  Das  Altenburger 
Ölbild  kam  zu  Anfänge  vorigen  Jahres  im  schlimmsten  Zu¬ 
stande  nach  Dresden,  wo  es  durch  den  K.  Galeriekustos, 
Theodor  Schmidt,  aufs  sorgfältigste  restaurirt  und  die  fast 
unleserlich  gewordene  Beischrift  von  mir,  im  Aufträge 
Seiner  Hoheit,  des  regierenden  Herzogs  Ernst  zu  Sachsen- 
Altenburg  s),  festgestellt  wurde.  Dieselbe  lautet  also:  „V:  G:  G: 
Elisabeth  marggrevin  und  churfurstin  zu  Brandenburg  ge- 
borne  furstin  zu  Anhald;  hertzogin  von  Stettin  Pommern 
der  Cassuben  Wenden  und  in  Schlesien  zu  Crossen  hertzogin 
burggrevin  zu  Nurnbergk  und  furstin  zu  Rügen.  1.  5.  93"  ^). 
Das  137 '/2  cm  hohe  und  86’/2  cm  breite,  jetzt  schön  ein¬ 
gerahmte  Porträt  stellt  die  Fürstin  fast  ganz  en  face  dar, 
stehend,  den  rechten  Arm  gestreckt,  die  dazu  gehörige  Hand 
auf  einen  mit  rötlichem  Stoffe  behangenen  Tisch  gestützt. 
Der  linke  Arm  liegt  rechtwinklig  auf  dem  Leib  und  ist  mit 
einem  schmalen  goldenen  Reif  an  der  Hand,  deren  kleiner 
Finger  mit  einem  Ringe,  den  ein  blauer  Stein  schmückt, 
geziert  ist  und  welche  Handschuhe  hält,  versehen.  Das 
blühende  und  anmutige  Gesicht  der  Kurfürstin  ist  in  den 
hellblonden,  zurückgekämmten  und  un gescheitelten  Haaren 
mit  einem  Perlendiadem,  in  dessen  Feldern  eingefasste  Edel¬ 
steine  glänzen,  gekrönt.  Das  Gesichtsoval  umgiebt  eine 
breite,  weiße,  strahlenförmig  gehende  Halskrause.  Ein 
weißlicher  Rock,  mit  gelben  Borden  quer  durchzogen  und 
mit  schrägliegenden  Quadraten ,  darüber  ein  schwarzer,  be¬ 
nähter  Überwurf  mit  offenen  Ärmeln,  sowie  Manschetten 
bilden  die  reiche  Kleidung.  An  beiden  Seiten  des  Oberkleides 
sind  ununterbrochen  die  Wahrzeichen  des  Heimatlandes,  der 
schreitende  Bär  mit  Krone  und  Kranz,  angebracht.  Eine  fein 


1)  Dieselbe  war  eine  Schwester  der  zweiten  Gemahlin  des  Kur¬ 
fürsten  August  zu  Sachsen,  Agnes  Hedwig,  dessen  Hofmaler  der  zu 
Nennende  später  wurde  und  dessen  vortreffliches  Porträt  dieses 
Meisters  in  der  K.  Gemäldegalerie  (man  vgl.  den  angez.,  großen 
Katalog,  Nr.  1959).  Auch  das  daselbst  Nr.  1954  aufgeführte  Porträt 
halte  ich  für  ein  Werk  desselben  Malers ,  nicht  für  eine  Röder’sche 
Arbeit. 

2)  Man  vgl.  Neues  Archiv  für  Sächsische  Geschichte  und  Alter¬ 
tumskunde  Bd.  XI  (1890),  279  an  erster  und  fünfter  Stelle.  Die  sel¬ 
tene  Art  der  Datirung  (mit  den  Punkten  nach  den  einzelnen  Zahlen) 
tragen  auch  das  in  Anm.  1  angezogene  Porträt  des  Kurfürsten 
August  zu  Sachsen  (1.  5.  86),  sowie  zwei  andere  (1.  5.  91  und  1.  5.  92) 
Arbeiten  Wehme’s.  Die  Malweise  aller  Porträts  ist  dieselbe. 

3)  Mit  Höchstdessen  Gemahlin,  einer  ebenfalls  Anhaitischen 
Prinzessin,  kam  es  einst  in  die  Ernestinische  Residenz. 

4)  Sie  war  damals  etwa  dreißig  Jahre  alt  (geb.  15.  Septemb.  1563) 
und  hatte  als  dritte  Gemahlin  ihres  Gatten  schon  neun  Kinder  ge¬ 
boren,  Sie  starb  am  25.  September  1607. 


gearbeitete  Kette,  deren  einzelne  Glieder  durch  Silberringe 
verbunden  sind,  und  deren  Teile  durch  Perlen  und  Edelsteine 
abwechselnd  geschmückt  sind,  läuft  unter  der  Krause  hervor 
bis  an  die  Brust;  ihren  Abschluss  bildet  ein  schwarzer 
Adler  mit  a.usgebreiteten  Flügeln,  eine  zweite  dergleichen 
reicht  bis  an  den  Leib  und  endet  in  einer  großen  herz¬ 
förmigen  Perle  mit  Flügeln  in  höchst  eigenartiger  Umgebung. 
Rechts  wird  das  von  dunklem  Grunde  herausgehobene  Bild 
durch  den  Teil  eines  grünseidenen,  mit  goldenem  Zierate 
eingefassten  Vorhang  abgeschlossen. 

Stammte  Benjamin  Block  ivirldich  aus  Lübeck?  In 
Scubci'fs  Allgemeinem  Künstlerlexikon  u.  s.  w,  1.  Bd.  (1892) 
S.  134 ')  werden  vier  Kupferstiche  des  Porträtmalers  Ben¬ 
jamin  Block,  darunter  ein  äulierst  seltener,  aufgeführt.  Ein 
Gemälde  von  ihm,  darstellend  den  Herzog  Friedrich  (wohl  1. 
von  Gotha- Altenburg)  sah  ich  kürzlich  im  Herzoglichen  Resi¬ 
denzschlosse  zu  Altenburg.  Dasselbe  hat  der  Maler  auf  der 
Donau  im  Schifte  ,,auf  einmal“  (d.  i.  wohl  während  nur  einer 
Sitzung  des  Herzogs)  am  15./5.  Juni  1676  fertiggestellt,  laut 
rückseitiger  Bemerkung  auf  dem  Bilde.  Seubert  lässt  Block 
„um  1690  (1665)“  sterben;  nach  dem  eben  Gesagten  muss  die 
Parenthesenzahl  aber  hinfällig  werden.  Auch  im  K.  S.  Haupt¬ 
staatsarchive  (Loc.  8753  Verwendungen  u.  s.  w.  1651  ff.)  bin 
ich  (Bl.  18)  ihm  unterm  25.  Juli  1655  begegnet.  Dort  heißt  es, 
abweichend,  auch  von  Seubert,  welcher  ihn  in  Lübeck  ge¬ 
boren  sein  lässt,  dass  er  von  Schwerin  stammte  und  sich  vor 
seiner  Reise  nach  Italien  in  Halle  aufgehalten,  auch  einige 
Bilder  für  den  dort  residirenden  Administrator  von  Magde¬ 
burg,  Herzog  August,  gefertigt  habe.  Ein  Blumenstück  seiner 
Frau,  Anna  Katharina,  geb.  Fischer  (1642  geb.,  1664  verm., 
1719  gest.),  sah  ich  in  der  Großherzoglichen  Gemäldegalerie 
zu  Schwerin;  man  vgl.  das  beschreibende  Verzeichnis  der 
genannten  Sammlung,  1882,  Nr.  73. 

INTERNATIONLE  AUSSTELLUNG  IN  MÜNCHEN. 

Änliiufe  vom  17.  August  bis  Ende  Oktober  1892. 

Jul.  Adam,  München,  „Ruhestündlein“;  0.  Andreoni, 
Rom,  „Marmorvase“  (Skulptur);  H.  Bahner,  Düsseldorf,  „Dorf¬ 
straße  im  November“;  M.  Bashkirtseft'  t,  Paris,  „Weiblicher 
Studienkopf“;  R.  Beyschlag,  München,  ,, Dorf  kokette“;  E. 
Blume,  München,  „Ein  Kapitel  aus  der  Bibel“;  A.  Bock, 
Berlin,  „Bete  und  arbeite";  J.  Bosboom,  Haag,  „In  der 
Tenne“  (Aquarelle);  A.  Botinelli,  Rom,  „Die  Etruskerin“ 
(Skulptur);  E.  Bracht,  Berlin,  „Die  Klause“;  J.  von  Brandt, 
München,  „Pfer'demarkt“ ;  L.  Brunin,  Antwerpen,  „Der 
Bildhauer“  (Pinakothek);  H.  Bürgel,  München.  „Herbsttag 
im  Hochmoor“;  G.  von  Canal,  Düsseldorf, ,, Abendstimmung“ ; 
J.  Carbin,  München,  „Dorfweiher“  (Federzeichnung);  G. 
Chierici,  Reggio,  ,,Der  böse  Mann“;  N.  Cipriani,  Rom,  „Im 
Kloster“  (Aquarell);  St.  Csok,  München,  ,,Strohwittwe“; 
H.  Darnaut,  Wien,  „Partie  aus  der  Millstätter  Schlucht“; 
H.  David  -  Nillet,  Paris,  „Beim  Feuer“;  Frz,  v.  Defregger, 
München,  „Köpfchen“;  L.  Dettmann,  Charlottenburg,  ., Nord¬ 
seestrand“  (Aquarell) ;  L. Dettmann,  Charlottenburg,,, Rückkehr 
des  verlorenen  Sohnes“  (Aquarell);  F.  B.  Doubeck,  München, 
„Gesangsprobe  beim  Intendanten“;  A.  East,  London,  „Stür¬ 
misches  Wetter“;  A.  Egger-Lienz,  München,  ,, Stillleben“; 
H.  Eisele,  München,  „1  Rahmen  Radirungen“;  Frz.  Eismond, 
Warschau,  „Neckerei“;  E.  Fremiet,  Paris,  „Junge  Katze“ 
(Skulptur);  Em.  Fremiet,  Paris,  „St.  Michael“  (Skulptur); 
J.  Gärtner,  Malaga,  „Abend  an  der  Küste  von  Malaga“; 
J.  Gallegos,  Rom,  „Nach  der  Taufe“;  J.  Gallegos,  Rom, 
„Nach  der  Kommunion“;  O.  Gebier,  München,  „Besuch  im 


1)  Vgl.  Bd.  II  ^875),  713. 


72 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Stall";  J.  Hamza,  Wien,  „Genre“;  A.  Heiike,  Düsseldorf, 
„Ungebetene Gäste“ (Prinz-Eegent  v.  Bayern);  V.M.  Herwegen, 
München,  „Eingang  zur  Kirche  San  Domenico  in  Rom“ 
(Aquarell);  V.  M.  Herwegen,  München,  „Forum  Romanum“ 
(Aquarell);  G.  Jacohides,  München,  „Der  erste  Schritt“;  0. 
A.  Jernherg,  Düsseldorf,  „Oktobertag“;  M.  J.  Iwill,  Paris, 
„September“;  E,  Kampf,  Düsseldorf,  „Flandrisches  Dorf“; 
Hermann  Kaulbach,  München,  „Das  Ende  vom  Lied“;  F. 
Kinzel,  Wien,  „Politiker“;  K.  Klinkenberg,  Amsterdam, 
„Winterabend“;  Kose  Shoseki,  Tokio,  „Gänseherde“  (Prinz- 
Regent  V.  Bayern) ;  A.  Ritter  von  Kossak,  Krakau,  ,,Aus 
meinen  Kinderjahren“;  K.  Kronberger,  München,  „Seelen¬ 
vergnügt“;  P.  P.  Kroyer,  Kopenhagen,  „Am  Nordsee¬ 
strand“,  Pinakothek;  Van  Kuyck,  Antwerpen,  „Im  Garten 
eines  Pachthofes“;  A.  Leonhardi,  München,  „Vorfrüh¬ 
ling“;  H.  Liesegang,  Düsseldorf,  ,, Motive  aus  Holland“ 
(2  Rahmen-Radirungen);  E.  Gari  Welchers,  Paris,  ,, Lesendes 
Mädchen“  (Pinakothek);  A.  Müller-Lingke,  München,  ,,Auf 
dem  Heimweg“;  M.  Nonnenbruch, ,, Flora“;  L.  Nono,  Venedig, 
„Ave  Maria“;  A.  Normann,  Berlin,  „Lofotensteene“ ;  E. 
Oppler,  München,  „Träumerei“  (Pastell,  Prinzregent  v.  Bayern) ; 
C.  Pallya,  Budapest,  „Brunnenscene“;  L.  Passini,  Venedig, 
„Calabrisches  Mädchen“;  F.  von  Pausinger  (Salzburg),  „Mond¬ 
nacht  im  Walde“  (Karton) ;  L.  Pelouse  f)  Paris,  „Nussbäume“ 
(Pinakothek);  Hans  Petersen,  München,  ,, Nordseebild“;  0. 
Piltz  (München),  „Herbstsonne“;  H.  Quitzow,  München, 
„Abend“;  K.  Raupp,  München,  „Heimfahrt  der  Kloster¬ 
schule“;  W.  Graf  V.  Reichenbach,  München,  „Ja,  ja,  so  geht’s“; 
Otto  Riesch,  Berlin,  „Mignon“  (Bronze);  L.  Ritter,  Nürnberg, 
„Burg  in  Nürnberg“  (Aquarelle);  W.  Rölofs,  Haag,  ,, Land¬ 
schaft“  (Aquarelle);  J.  Runge,  München,  „Lagunenfischer“; 
J.  P.  Salinas,  Rom,  „Wallfahrer“;  L.  Scaft'ai,  Florenz,  „Die 
Großeltei'n“;  M.  Schmid,  München,  ,,Die  Ungläubige“; 
Th.  Schmidt,  München,  „Der  Photograph  auf  dem  Lande“; 

E.  Schmitz,  München,  „Zur  G’sundheit“;  J.  Schmitz¬ 
berger,  München,  „Jugendzeit“;  J.  Schmitzberger,  München, 
„Kein  Jäger,  kein  Heger“;  N.  Schultheiß,  München,  „Guter 
Fang“;  H.  von  Siemiradzki,  Rom,  ,,Auf  der  Klosterterrasse“; 

F.  Simm,  München,  „Interessante  Aussicht“;  F.  Simm, 
München,  „Posttag“;  G.  Simoni,  Rom,  ,,Der  Waffenhändler“ 
(Aquarell);  G.  Simoni,  Rom,  ,,Scheherezade“  (Aquarell);  E. 
Slocoiul)e,  Watford,  „Scheveningen“  (Radirung);  Ph,  Sporrer, 
München,  ,,ln  der  Klemme“;  Ph.  Sporrer,  München,  „Vor 
dem  Gewitter“;  Fr.  Stuck,  München,  „Athlet“  (Skulptur, 
dreimal);  'j'ajudi-Schunrin,  Japan,  „Karpfen“;  F.  P.  ter  Meulen, 
Haag,  ,,ln  den  hollä.ndischen  Dünen“;  R.  Thegerström, 
Djursholm,  „Sommerabend“  (Pinakothek);  Van  de  Sande- 
Bakhuysen,  Haag,  „Blumen  und  Früchte“;  Van  de 
Sande- Bakhuysen,  Haag,  „Weg  in  Di'enthe“  (Aquarell); 
Eduard  Veith,  Wien,  „Von  anno  dazumal“;  A.  v.  Wahl, 
München,  ,, Kaukasische  Frauen“;  R.  Weigl,  Wien,  „Beet- 
lioven“  (Skulptur,  Ellithstatuette,  dreimal);  H.  v.  Weyßenhoff, 
•München, ., Weißrussischer  Friedhof“;  R.  Winternitz, Stuttgart, 


„Im  Atelier“;  J.  Wopfner,  München,  ,, Himmelskönigin“;  Fr. 
Zadow,  Berlin,  „weibliche  Figur“  (Skulptur);  CI.  Zschille, 
Großenhain,  „Reseden“. 

VI.  Münchener  Internationale  Ausstellung.  An  Eintritts¬ 
karten  wurden  bis  Ende  Oktober  verkauft:  1062  Saison¬ 
karten  ä  10  M.,  138  Saisonkarten  ä  8  M.,  1374  Saisonkarten 
ä  5  M.,  112  Abonnementshefte  ä  15  M.,  1079  Abonnements¬ 
hefte  ä  8  M.,  250  Abonnementshefte  ä  5  M.,  93954  Tages¬ 
karten  ä  1  M.,  30044  Tageskarten  ä  50  Pf.  Gesamtsumme 
142949  M. 

Ergebnis  der  Eadiningskonlmrrenx.  Von  den  49  ein¬ 
gegangenen  Blättern  hat  das  Preisgericht  keinem  den  ersten 
Preis  zuerteilen  können,  dagegen  schlägt  es  die  Verteilung 
von  drei  zweiten  Preisen  von  je  300  Mark  vor,  und  zwar 
für  folgende  Blätter:  Nr.  4  „Von  oben“;  (einstimmig)  Nr.  41 
„Am  häuslichen  Herd“  (einstimmig);  No.  1  „Dideldum“  (mit 
drei  gegen  zwei  Stimmen).  Zum  Ankauf  wurdenTünf  Blätter 
empfohlen.  Der  ausführliche  Bericht  folgt  in  Nr.  8  der 
Kunstchronik. 

X.  Vor  dem  Forum  der  Vernunft,  Originalradirung  von 
Hermine  Laukota.  Die  Künstlerin,  deren  gewandter  und 
feinfühliger  Hand  wir  das  beiliegende  Blatt  verdanken, 
hat  schon  anderswo  bemerkenswerte  Proben  ihrer  Kunst  ab¬ 
gelegt.  Zwei  Bilder  auf  der  gegenwärtigen  Münchener  Aus¬ 
stellung  beweisen  ihre  Begabung,  und  vor  zwei  Jahren  waren 
Proben  ihrer  Radirkunst  in  den  „Graphischen  Künsten“  zu 
sehen,  die  gleich  hervorragend  durch  Wiedergabe  der  Licht- 
eff'ekte  als  durch  technische  Behandlung  sind.  Das  diesem 
Hefte  beigegebene  Blatt  lässt  eine  neue  Seite  ihrer  Kunst 
gewahren.  Dies  ist  nämlich  ihre  eigentümlich  kraftvolle 
Phantasie,  die  sich  an  Verkörperung  idealer  Begriffe  heran¬ 
wagt.  Hier  ist  nicht  die  Natur  abgeschrieben,  keine  Dar¬ 
stellung  gemeiner  Wirklichkeit,  sondern  ein  kühner  Aufstieg 
in  eine  höhere  Sphäre.  Eine  gewisse  Monumentalität  ist 
dem  vorliegenden  Kunstwerk  nicht  abzusprechen.  Die 
Charakteristik  der  Vernunft,  bei  der  eine  ratlose  Psyche,  der 
vielleicht  ein  Eros  davongeflogen  ist,  Zuflucht  sucht,  ist  gar 
trefflich  gegeben.  Der  Zug  der  Überlegenheit  in  der  auf 
steilem  Felsen  sitzenden  Figur,  die  Strenge  des  Mundes,  die 
leise  abwehrende  Bewegung  des  steifen  Arms  sind  sprechend. 
Dazu  steht  das  ängstliche  Anklammern  der  schmächtigen 
Mädchengestalt,  die  vertrauensvoll  aufblickt,  in  rechtem  künst¬ 
lerischen  Gegensätze.  Das  vorliegende  Blatt  ist  ein  Ausschnitt 
aus  einer  größeren  Platte  von  24  zu  33  cm  Bildgröße.  Von 
der  Originalplatte  sind  Abdrücke  auf  starkem  Papier  zu 
haben,  und  stehen  Liebhabern  zum  Preise  von  2  Mk.  zur 
Verfügung.  Die  Urheberin  des  Blattes  ist  durch  Doris  Raab 
mit  der  Technik  der  Radirung  vertraut  gemacht  worden  und 
hat  auch  in  Wien  durch  W.  ünger  mannigfache  Förderung 
erfahren.  Den  größten  Teil  ihrer  Studienzeit  hat  sie  in  Prag 
zugebracht  und  war  zumeist  ihre  eigne  Lehrmeisterin. 


Herausgeber:  Carl  von  Liit.xow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


H.Latikota  iec. 


FEUERBACH’S  DECKENGEMÄLDE 
FÜR  DIE  AULA  DER  WIENER  AKADEMIE. 

MIT  ABBILDUNGEN. 

(Scliluss.) 


AN  hat  schon  früher,  als  der 
„Titanensturz“  noch  provi¬ 
sorisch  in  der  Galerie  der 
Akademie  aufgestellt  war, 
und  neuerdings  wieder,  nach 
seiner  Enthüllung  in  der  Aula, 
die  Bemerkung  gemacht,  dass 
die  Komposition  in  der  Per- 
spck-Hvc  nicht  ohne  Mängel  sei,  dass  der  obere  Teil 
des  Bildes  dem  Beschauer  auf  den  Kopf  zu  stürzen 
drohe.  Die  Beobachtung  ist  nicht  ganz  unbegründet. 
Sie  erklärt  sich  aber  wohl  zum  grössten  Teil  aus 
dem  nicht  durchaus  fertigen  Zustande  der  Malerei. 
Hätte  der  Meister  sein  Werk  bei  der  letzten  Retouche 
im  Ganzen  übersehen  und  malerisch  bis  ins  Einzelne 
durchbilden  können,  so  würde  er  sicher  auch  in 
diesem  Pvinkte  zur  vollen  Herrschaft  über  den 
Riesenstotf  gelangt  sein  und  zugleich  alle  störenden 
Fehler  in  der  Bewegung  und  Zeichnung  einzelner 
Figuren,  wie  z.  B.  in  dem  stehenden  Titanenweibe 
links  und  in  der  daneben  sitzenden,  sich  stark  zurück¬ 
beugenden  Frau  mit  dem  Kinde,  glücklich  beseitigt 
haben.  Indessen  freuen  wir  uns  an  dem,  was  endlich 
vor  uns  steht  und  was  in  jedem  Zuge  den  wahr¬ 
haft  großen  Meister  verrät,  dem  Gedanke  und  Natur 
die  Pforten  weit  geöffnet  hatten.  Auf  die  Natur 
und  ihr  unausgesetztes  Studium  war  Feuerbach 
gerade  während  der  letzten  Zeit  seines  Schaffens, 
seit  der  Rückkehr  nach  Italien,  aufs  eifrigste  ge¬ 
richtet.  Wir  fügen  zwei  Naturstudien  zu  dem 
„Titanensturz“  hier  bei,  die  sich  in  der  Sammlung 
der  Akademie  befinden:  die  eine  zu  der  sitzenden 
Rückenfigur  unter  den  Titanenweibern,  die  andere 
zu  einem  der  Eroten,  welche  die  Liebesgöttin  um¬ 
schweben  (s.  die  Abb.).  Sie  sind  mit  einem  so 
feinen  und  respektvollen  Sinn  für  das  Leben  gemacht, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


und  dabei  so  quellend  und  großzügig,  wie  wenn  ein 
Zeitgenosse  RaffaePs  sie  gezeichnet  hätte.  „Ich  freue 
mich,  dass  alle  meine  Gestalten  Naturlaut  haben“, 
schrieb  der  Künstler  aus  Rom,  während  er  an 
dem  Werke  malte.  Außer  der  Natur  hat  aber  auch 
die  große  Malerei  des  Cinquecento  unverkennbar 
stetig  auf  ihn  eingewirkt. 

Einen  neuen  Beweis  dafür  erhielten  wir  erst  in 
diesen  Tagen  durch  die  Bekanntschaft  mit  einer 
Stiftzeichnung  in  der  Sammlung  des  Herrn  Arnold 
Otto  Meyer  in  Hamburg,  die  uns  der  kunstsinnige 
Besitzer  für  die  beigefügte  Reproduktion  freundlichst 
zur  Verfügung  stellte.  Es  ist  der  größere  Entwurf 
zu  dem  „Prometheus  als  Herdgründer“,  von  dessen 
kleiner,  in  der  Sammlung  der  Wiener  Akademie  be¬ 
findlicher  Skizze  bereits  oben  (S.  44)  die  Rede  war 
An  Stelle  der  drei  Gestalten  links  ist  hier  eine  fünf- 
figurige  Gruppe  getreten;  sonst  blieb  das  Grundmotiv 
das  nämliche:  Prometheus,  wie  er  den  sich  um  ihn 
drängenden  Menschen  den  Segen  des  häuslichen 
Herdes  bringt.  Die  Gestalt  des  Prometheus  bekundet 
deutlich  den  Einfluss  der  Sixtinischen  Decke.  Das 
Blatt  ist  in  der  weichen  und  doch  markigen  Be¬ 
handlung,  in  dem  Verein  von  Lebensgefühl  und 
Größe  des  Stils  ein  höchst  charakteristischer  Bele<f 
für  die  Eigentümlichkeit  des  Meisters. 

In  dem  Gegenbilde  des  Herdgründers,  dem  „Ge¬ 
fesselten  Prometheus“,  besitzt  die  Akademie  das  un¬ 
streitig  wertvollste,  ganz  vollendete,  malerisch  durch - 
gebildetste  Werk  des  ganzen  Cyklus.  Die  Radirung 
von  W.  Woernle  bietet  den  Lesern  davon  eine  stil¬ 
gerechte  Reproduktion.  Nur  den  tragisch  ernsten 
Ton  der  Malerei,  den  wunderbaren  Zusammenklang 
von  Meergrün,  Violett  und  kühler  Fleischfarbe,  in 
den  die  klagenden  Okeaniden  getaucht  sind,  kann 
keine  noch  so  stimmungstreue  Übersetzung  in 

10 


Studie  zu  einem  schwebenden  Eroten.  Titaneiiweib. 

Rütelzeielinung  von  A.  Feuer]!.\ch.  Rölelzeicltnung  von  A.  Ff.ueru.\vh. 


DEE  GEEESSELTE  PEOMETHEU 


FEUERBACH’S  DECKENGEMÄLDE  FÜR  DIE  AULA  DER  WIENER  AKADEMIE. 


75 


Schwarz  und  Weiß  vollkommen  wiedergeben.  — 
Das  Bild  hat  im  Laufe  seiner  Entstehung  einen 
wichtigen  Umgestaltungsprozess  durchgemacht:  die 
Hauptfigur  lag  in  der  ersten  Skizze  mit  dem  Kopf 
nach  oben;  erst  die  größere,  in  der  Berliner  National¬ 
galerie  befindliche  Stiftzeichnung  (Fr.  Hanfstaengl, 
A.  Feuerbach’s  Handz.  Bl.  29)  bringt  sie  bereits  in 
der  kühnen  Verkürzung  mit  dem  Kopf  nach  unten, 
wie  wir  sie  auf  dem  ausgeführten  Bilde  sehen.  Der 
Gewinn  für  den  Ausdruck  der  Situation,  der  mit 
dieser  Wendung  erzielt  ward,  liegt  so  klar  auf  der 


„Das  Meer  im  wilden  Wogensturz 
Schreit  empor,  die  Tiefe  seufzt, 

Dazu  rauscht  des  Schattenreichs  dunkler  Abgrund, 

Klar  hiii'wogender  Ströme  Gewässer  klagen  voll  Mitleid.“ 
Alles  ist  urgewaltig,  düster  und  feierlich  an 
der  geschilderten  Scene;  kein  Zug  verstößt  gegen 
den  Geist  jener  erhabenen  Poesie.  Und  dabei  ist 
alles  eigenartig,  modern,  voll  Natur  und  Leben;  das 
Ganze  ein  würdiges  Seitenstück  zu  des  Meisters 
„Pieta“,  die  Klage  um  den  Erlöser  in  die  hellenische 
Sagenwelt  übertragen. 

Von  gleicher  Originalität  in  Erfindung  und 


Prometheus  als  Ilenlgrüuder.  Stiftzeichmuig  vou  A.  Feuertsach. 


Hand,  dass  man  kein  Wort  darüber  zu  verlieren 
braucht.  —  Ungerufen  tönen  uns  im  Anblick  des 
Bildes  die  Worte  des  Aeschylos  im  Ohr: 

„Er  stahl  und  gab  den  Menschen  des  Hephästos  Schmuck, 
Das  schöpferische  Feuer;  deshalb  muss  er  nun 
Der  Götter  Strafe  leiden  für  so  schwer  Vergehn, 

Damit  er  Zeus’  erhabnes  Scepter  ehren  lehrt, 

Und  seiner  Menschenliebe  Ziel  und  Schranken  setzt.“ 
Den  weichen  erlösenden  Klang  in  dieser 
heroischen  Scene  des  Duldens  für  die  Menschheit 
bilden  die  klagenden  Töchter  des  Okeanos,  die  unter 
Führung  des  Nereus  herbeigekommen  sind,  den 
Prometheus  zu  trösten. 


Durchbildung  sind  die  drei  Einzelfiguren,  welche  den 
„Gefesselten  Prometheus“  umgeben.  Zu  den  Seiten 
schweben  „Gaa“  und  „Uranos“,  die  Eltern  der  Titanen, 
Gestalten  von  gewaltiger  Kraftfülle  und  Bewegung,  in 
dunklen  und  fahlen  Gewändern,  Repräsentanten  der 
übermenschlichen,  noch  ungebändigten  Natur.  Den 
Schluss  bildet  „Aphrodite  im  Musch  eiwagen“  (s.  die 
Abb.  auf  S.  47),  die  Krönung  der  Schöpfung,  die 
Göttin  der  Schönheit,  der  Triumph  der  Kunst.  Sie 
erscheint  hier  nicht  als  die  mächtige  kosmogonische 
Göttin  der  Urzeit  von  matronalen  Formen,  wie  auf 
dem  „Titanensturz“,  sondern  als  das  eben  dem 


10 


76 


EIN  GEMÄLDE  VON  LEONHARD  BECK  IM  WIENER  HOFMUSEUM. 


Schaum  des  Meeres  entstiegene  Bild  höchster  Voll¬ 
kommenheit,  das,  vom  sanften  Hauch  ans  Land  ge¬ 
tragen,  überall  Frühling  und  Sonnenschein  ver¬ 
breitet.  Dem  düstern  Klang  der  drei  anderen  Bilder 
tritt  hier  ein  lichter,  hellfarbiger  Ton  von  reizvoller 
Frische  gegenüber.  Die  lässig  auf  einem  roten  Ge¬ 
wände  hingelagerte  Göttin  schaut  mit  behaglichem 
Lächeln  dem  heitern  Spiel  der  Eroten  zu.  Ihr 
Typus  ist  dem  von  des  Meisters  Iphigenia  verwandt, 
nur  ins  Blonde  übersetzt  und  üppiger,  sinnlicher,  die 
Bewegung  in  einzelnen  Zügen  eigentümlich  spröde 
und  doch  voll  Hoheit  und  Grazie.  — 

Wir  sind  den  Lesern  jetzt  auch  die  näheren 
Angaben  über  die  räumliche  Größe  der  einzelnen 
Bilder  und  über  ihre  technische  Ausführung  schuldig. 
Der  „Titanensturz ist  das  umfangreichste  voiiFeuer- 
bach’s  Gemälden:  er  misst  8,30  m  Höhe  und  6,40  m 
Breite;  der  „Gefesselte  Prometheus“  hat  "2,20  m 
Höhe  bei  3,77)  m  Breite;  „Gäa“  und  „Uranos“  haben 
2,26  m  Höhe  und  1,40  m  Breite;  „Aphrodite  im 
Muschelwagen“  endlich  misst  in  der  Höhe  1,20  m 
bei  2,26  m  Breite.  Sämtliche  Bilder  sind  in  Ol  auf 
Leinwand  gemalt  und  nach  der  vortrefilich  bewähr¬ 
ten  iMinard’schen  Methode,  die  auch  im  Wiener 
Burtftheater  und  in  den  Hofmuseen  mit  bestem  Er- 


folge  zur  Anwendung  gekommen  ist,  an  der  Decke 
befestigt.  Sie  machen  die  Wirkung  technisch  höchst 
vollendeter  Freskomalerei.  —  • 

So  hätte  denn  Wien  seine  Ehrenschuld  an  den 
dahingeschiedenen  Meister,  der  einst  krank  und 
grollend  ihm  den  Rücken  kehrte,  in  würdigster  Form 
abgetragen.  Der  Dank  dafür  gebührt  in  erster 
Linie  der  hohen  Unterrichtsbehörde,  welche  das 
Werk  bei  dem  Künstler  bestellte,  dann  die  nach¬ 
gelassenen  Stücke  für  die  Vollendung  des  Cyklus 
erwarb  und  endlich  auch  die  Mittel  herbeischaffte, 
um  alle  dazu  gehörigen  Teile  der  Dekoration  des 
Raumes,  dessen  höchste  Zier  die  Gemälde  bilden, 
gediegen  und  prächtig  ausführen  zu  können.  Drei 
Ministerien  (Stremayr,  Conrad  und  Gautsch)  teilen 
sich  in  den  Ruhm.  Nahezu  zwei  Decennien  sind 
seit  dem  Beginn  der  Arbeiten  dahingegangen. 

„Glaube  mir“  —  schreibt  Feuerbach  im  Novem¬ 
ber  1879  —  „nach  fünfzig  Jahren  werden  meine 
Bilder  Zungen  bekommen  und  sagen,  was  ich  war 
und  was  ich  wollte.“  Wer  die  tiefe,  sensationelle 
Wirkung  beobachtet  hat,  welche  die  Enthüllung  der 
Titanenbilder  auf  das  Publikum  übte,  der  musste  sich 
sagen:  das  prophetische  Wort  ist  heute  schon  in 
Erfüllung  gegangen!  C.  i\  LÜlZOW. 


EIN  GEMÄLDE 

VON  LEONHARD  BECK  IM  WIENER  HOFMUSEUM. 

MIT  ABBILDUNG. 


N  den  Einleitungen  zu  den 
Neuausgaben  der  österrei¬ 
chischen  Heiligen  und  des 
J’lieuerdank ,  Jahrbuch  der 
kunsthistori, scheu  Samm¬ 
lungen  des  allerhöchsten 
Kaiserhauses  Pd.  1  V,  V  und 
\  II,  haf  S.  Laschitzer  bei 
zalilreichen  Hol/.sclniitfen  aus  den  Werken  Kaiser 
.Maximilian  s  einen  bisher  unbekannten  Künstler  Na¬ 
mens  Lroiilianl  JJrr/,-  nachgc-wiesen,  dessen  Werke 
bisher  nufer  Hans  Burgkinair’s  Namen  gingen,  aber 

bloß  einen  minder  beanlagten  Zeichner  verraten, 

welcher  von  seinem  Augsburger  Kollegen  stark  be- 

|■in^lussf  war.  Heute  bin  ich  in  der  Lage,  auch  auf 


ein  Gemälde  dieses  Künstlers  aufmerksam  zu  machen, 
und  glaube  mit  meinen  Ausführungen  Zustimmung 
bei  den  Fachgenossen  zu  finden,  obwohl  meine  An¬ 
sicht  sich  lediglich  auf  die  stilistische  Übereinstim¬ 
mung  dieses  Bildes  mit  zahlreichen  Holzschnitten 
gründet  und  die  Taufe  eines  Gemäldes  auf  Grund 
von  Holzschnitten  immer  mit  anfänglichem  Miss¬ 
trauen  wird  aufgenommen  werden.  Ein  Prachtbild 
der  kaiserlichen  Gemäldegalerie  in  Wien  erhält  da¬ 
durch  seine  Bestimmung.  Es  stellt  den  Kamjif  des 
Ritters  Georg  mit  dem  Drachen  in  schöner  Land¬ 
schaft  dar,  ist  ein  Hochbild  von  beträchtlichen  Di¬ 
mensionen,  H.  1,36,  Br.  1,17,  und  befindet  sich  im 
deutschen  Saal  des  neuen  Museums  unter  Nr.  1596 
(Katalog  von  Ed.  v.  Eugerth,  Nr.  1507);  früher  be- 


EIN  GEMÄLDE  VON  LEONHARD  BECK  IM  V^IENER  HOFMÜSEUM. 


fand  es  sieh  in  der  Ambraser  Sammlung;  es  wurde 
von  Loewy  pliotographirt  und  iiacb  dieser  Photo¬ 
graphie  der  beistehende  Zinkdruck  augefertigt. 

Th.  V.  Frimmel,  welcher  im  Repertorium,  Bd.  14, 
S.  86  auf  das  Gemälde  gelegentlich  zu  sprechen 


77 

kommen  im  ungewissen  war.  An  die  Nieder¬ 
deutschen  nnd  Niederländer  hat  in  diesem  Bilde 
offenbar  die  Vereinigung  von  feingestimmtem  Kolorit 
und  ungemein  sorgfältiger  Zeichnung  in  der  Land¬ 
schaft  erinnert;  es  sind  dies  aber  Vorzüge,  welche 


Kaniiif  des  Kitters  Georg  mit  dem  Dracbeu.  Gemälde  von  Leonharh  Beck.  (Kais.  Galerie  in  Wien.) 


kommt,  bezeichnet  dasselbe  richtig  als  „oherdeuisch''’^ 
stellt  aber  verschiedene  anders  lautende  frühere  Be¬ 
zeichnungen  zusammen,  wie  „altniederländisch“, 
„niederdeutsch“,  aus  denen  hervorgeht,  dass  man  bis 
vor  kurzem  ülter  den  Urs])rung  des  Bildes  voll- 


bei  mehreren  Oberdeutschen  sich  auch  iiuden,  z.  B. 
dem  frühen  Cranach  nnd  einigen  Bildern  von  Alt¬ 
dorfer,  auch  wurden  schon  einmal  die  Werke  eines 
Augsburgers  um  der  Landschaft  willen  für  nieder¬ 
ländisch  angesehen,  nämlich  die  des  Ulrich  Apt. 


TS 


EIN  GEMÄLDE  VON  LEONHARD  BECK  IM  WIENER  HOFMUSEUM. 


Nach  meiner  Ansicht  ist  das  Kolorit  zu  frisch 
und  feurig  für  einen  Künstler  aus  dem  Nordwesten 
Deutschlands,  es  fehlen  die  violetten  Halhtöne,  die 
Farbenstimmung  hat  im  Gegenteil  mit  solchen  Ge¬ 
mälden  Hans  Burgkmair’s  aus  dem  zweiten  Jahrzehnt 
des  16.  Jahrhunderts,  welche  nicht  durch  Über¬ 
malung  oder  Firnis  entstellt  sind,  die  größte  Ver¬ 
wandtschaft  z.  B.  mit  dem  Kreuzigungsaltar  in 
Augsburg,  dem  Gemälde  in  Hannover,  auch  schon 
der  Madonna  von  1510  in  Nürnberg;  die  Zeichnung 
aber  hat  mich  auf  Schritt  und  Tritt  an  Burgkmair 
erinnert,  nur  dass  alles  etwas  flauer,  weniger  schwung¬ 
voll  und  charaktervoll  ist.  Dies  spricht  für  einen 
Kün.stler  wie  Leonhard  Beck  und  eine  eingehende 
Vergleichung  des  Gemäldes  mit  dessen  bekannten 
Holzschnitten  scheint  mir  bis  zur  Evidenz  zu  be¬ 
weisen,  dass  dieser  der  Schöpfer  des  Bildes  ist. 

Das  Gesicht  des  Ritters  Georg  ist  übermalt  ^), 
kommt  also  für  eine  stilkritische  Vergleichung  nicht 
in  Betracht  und  seine  Rüstung  gleicht  nur  im  all¬ 
gemeinen  denjenigen  auf  Augsburger  Holzschnitten 
um  1510;  hingegen  ist  von  Bedeutung,  dass  die 
Stellung  des  anspringenden  Pferdes,  welche  für 
Burgkmair  zu  ungeschickt  und  lahm  wäre,  auf 
mehreren  Holzschnitten  des  Leonhard  Beck  genau 
so  wiederkehrt  ;  man  vergleiche  z.  B.  im  Theuerdank 
Jahrb.  VIII,  Holzschnitt  Nr.  11  und  53,  auch  bei 
C.  v.  Lützow,  Geschichte  der  deutschen  Kunst,  Bd.  IV, 
S.  1 30.  Auffallender  noch  ist  die  Übereinstimmung 
in  den  Mädchentypen.  Die  Königstochter  Aja  kommt 
auf  den]  Gemälde  zweimal  vor,  das  eine  Mal  von  vorn 
gesellen,  dem  Kampfe  zuschauend,  das  andere  Mal 
im  Profil  nach  dem  Siege  mit  dem  Drachen  ab- 
zieliend,  nun  kehrt  sowohl  dasselbe  Profil  als  auch 
dieselbe  Vorderansicht  bei  den  Prinzessinnen  auf  den 
Holzschnitten  des  L.  Beck  öfters  wieder,  und  das 
wenige,  was  man  auf  dem  Gemälde  von  Faltenwurf 
sieht,  sowie  auch  die  Haltung  und  Bewegung  des 
Mädchens  stimmt  ebenfalls  mit  den  analogen  Figuren 
auf  den  Holzscbnitten  überein;  man  vergleiche  im 
J’lienerdank,  Jahrb.  Bd.  VlJl,  Holzschnitt  Nr.  4,  5 
lind  10b,  VN'eisskunig,  .lahrb.  Bd.  VI,  S.  0,  130,  auch 
122  und  131,  endlich  noch  unter  den  österreichischen 
Heiligen,  .lahrb.  I\’,  Holzschnitt  Nr.  86 

Sehen  wir  uns  nun  noch  nach  den  Landschaften 
des  Leonhard  Beck  um,  so  ist  zunächst  zu  bemerken, 
dass  sowohl  in  den  frühe.sten  als  auch  den  spätesten 
Holzschnitten  des  Künstlers  öfters  Hintergründe  vor- 

1  ■  KOenso  die  fjroße  Burg,  d(!r  P’els  reclits  oben  u.  a.  Der 
.1111  niiinnel  .‘telnvclieiide  Engel  ivf  uiii  IGOf)  liiii/.ugeiuiilt. 


kommen,  die  mit  sichtlicher  Freude  an  der  Sache 
gezeichnet  sind;  insbesondere  finden  sich  dann  unter 
denjenigen  Illustrationen  des  Theuerdank,  welche 
Laschitzer  als  die  frühesten  bezeichnet,  ähnlich  an¬ 
geordnete  Hintergründe  wie  auf  dem  Gemälde,  wenn¬ 
gleich  die  ungeschickte  Art  zu  schraffiren  in  den 
früheren  Holzschnitten  keinen  guten  Gesamteindruck 
aufkommen  lässt  und  man  natürlich  auch  keine  der 
reizvollen  Stimmung  des  Gemäldes  entsprechende 
Tonwirkung  in  einem  Holzschnitt  vom  Beginn  des 
16.  Jahrhunderts  erwarten  kann.  Auch  die  Einzel- 
formen,  die  dem  Gemälde  eigentümlichen  Pflanzen 
und  Bäume  erweisen  sich  als  Lieblingsmotive  des 
L.  Beck,  ganz  analoge  Bildungen  kehren  auf  den 
Holzschnitten  wieder.  Bäume  wie  der  in  der  Mitte, 
des  Gemäldes  über  dem  Kopfe  des  Ritters  sieht  man 
auf  den  Theuerdankholzschnitten  (Jahrb.  Bd.  VHl) 
Nr.  28,  33,  41,  51  (ebenda  auch  ein  ansteigender 
Berg  ganz  ähnlich  wie  auf  dem  Gemälde  rechts  unter¬ 
halb  des  Felsens) ,  ferner  96  und  106 ,  sowie  etwa 
noch  in  Nr.  64  und  68;  dagegen  vergleiche  man  eben¬ 
da  in  Holzschnitt  Nr.  44,  wie  Hans  Burgkmair  den¬ 
selben  Baum  stilisirt. 

Auch  der  kahle  Baumstamm,  welcher  im  Ge¬ 
mälde  vor  der  Baumgruppe  steht,  scheint  einer  Ge¬ 
wohnheit  des  L.  Beck  zu  entsprechen,  vergl.  a.  a.  0. 
z.  B.  Holzschnitt  Nr.  33,  und  auch  der  Baum, 
welcher  am  Rande  des  Bildes  eine  Aussicht  ein¬ 
zurahmen  hat,  findet  sich  wieder  in  Holzschnitt 
Nr.  74.  Grasbüschel  mit  größeren  Pflanzen  in  der  Mitte, 
wie  vorn  am  Rande  und  links  im  Hintergrund  des 
Gemäldes,  ferner  die  vielen  über  den  Boden  zer¬ 
streuten  Steinchen  und  anderes  mehr  sind  lauter 
Eigentümlichkeiten,  auf  die  bei  den  Holzschnitten 
schon  Laschitzer  aufmerksam  gemacht  hat. 

Zu  dem  allen  kommt  noch  die  Identität  der 
künstlerischen  Handschrift,  welche  sich  allerdings 
fast  nur  vor  dem  Original  feststellen  lässt,  hier  aber 
um  so  sicherer,  da  man  z.  Th.  noch  die  Schraffirung 
der  Vorzeichnung  durch  die  Ölfarbe  durchsieht. 

Auch  die  Entstehungszeit  des  Ritters  Georg 
lässt  sich  ziemlich  genau  bestimmen;  da  das  Bild 
in  jeder  Hinsicht  mit  den  frühsten  Holzschnitten 
Beck’s  die  größte  Verwandtschaft  hat,  so  dürfte 
es  etwa  in  den  Jahren  1510 — 12  entstanden  sein, 
kurz  bevor  die  umfangreichen  Aufträge  des  Kaisers 
die  Ausführung  größerer  Altargemälde  für  einige 
Zeit  unmöglich  machten.  Für  diese  Jahre  stimmt 
auch  die  Entwicklungsstufe  des  Kolorits,  wie  sich 
aus  den  gleichzeitigen  Bildern  Burgkmair  s  und  Breu’s 
(Madonna  in  Berlin)  ergiebt. 


EIN  GEMÄLDE  VON  LEONHARD  BECK  IM  WIENER  HOEMÜSEUM. 


19 


Leonhard  Beck  lernen  wir  nun  von  einer  ganz 
nugealinten  Seite  kennen;  sein  Gemälde  ist  nämlich 
von  hohem  Reiz  in  der  Farbe;  prachtvoll  stimmt 
das  leuchtende  Rot  und  Gelb  und  das  warme 
Braun  der  Gestalten  zu  dem  Grün  und  Blau  der 
Landschaft,  und  während  bei  Dürer  die  landschaft¬ 
lichen  Untergründe  seiner  Altarbilder  uns  nicht  viel 
mehr  bieten  als  die  seiner  Holzschnitte,  so  begreifen 
wir  bei  L.  Beck  erst  angesichts  seiner  Farben,  welch 
reizende  Bilder  er  sich  bei  den  Hintergründen  seiner 
recht  ungeschickt  gezeichneten  Holzschnitte  gedacht 
hat.  So  zahm  und  spießbürgerlich  sich  auch  seine 
Figiu’en  neben  denen  Burgkmair’s  ausnehmen,  so  war 
er  doch  ein  poesievoller  Künstler,  der  wenigstens 
in  hohem  Grade  dazu  veranlagt  war,  die  koloristischen 
Reize  der  umgebenden  Natur  zu  verherrlichen. 

Dies  ist  nun  nicht  ohne  allgemeines  Interesse; 
halten  wir  dieses  Bild  mit  dem  zusammen,  was  wir 
von  Breu  d.  Alt.,  Burgkmair,  Apt,  selbst  Holbein 
d.  Alt.  aus  demselben  Jahrzehnt  kennen,  so  ergiebt  sich, 
dass  bei  den  vorzugSAveise  koloristisch  veranlagten 
Augsburgern  sich  damals  bereits  ein  Gefühl  gerade 
für  die  intimeren  Reize  der  deutschen  Landschaft  aus¬ 
gebildet  hatte,  das  sie  sehr  von  Dürer  unterscheidet, 
der  im  allgemeinen  doch  mehr  großartige,  durch 
Formen  und  Konturen  wirkende  architektonische 
Prospekte  und  Fernsichten  bevorzugt.  Die  Augs¬ 
burger  lernt  man  da  auf  einem  Gebiete  schätzen, 
welches  man  nur  den  Niederländern  zuzutrauen  ge¬ 
wohnt  ist. 

Es  wäre  merkwürdig,  Avenn  keine  anderen 
Ölbilder  von  einem  Maler  Avie  Leonhard  Beck  auf 
uns  gekommen  Avären,  und  in  der  That  sind  mir 
noch  drei  Bilder  bei  meinen  Forschungen  nach 
Augsburgern  Künstleim  aufgefallen,  welche  von  Beck 
herzurühren  scheinen; doch  während  ich  bei  dem  Wie¬ 
ner  Bilde  mit  Sicherheit  glaube  die  Bestimmung  aus¬ 
sprechen  zu  dürfen,  sei  auf  die  andern  nur  kurz  als 


hier  in  Betracht  kommend  hingeAviesen.  Das  eine 
dieser  Bilder  befindet  sich  in  der  Augsbm-ger  Ga¬ 
lerie  (Nr.  59),  stellt  die  Anbetung  der  Könige  dar, 
trägt  noch  heute  die  früher  geltende  Bezeichnung 
Amberger,  Avährend  man  es  jetzt  allgemein  und 
jedenfalls  mit  mehr  Recht  dem  Giltlinger  ziiteilt. 
Hier  stimmen  Faltenwurf,  Architektur,  Fußboden, 
namentlich  aber  die  Gesichtstypen  mit  zahlreichen 
Holzschnitten  unter  den  österreichischen  Heiligen 
ganz  frappant  überein,  vergl.  in  Jahrb.  Bd.  IV, 
Nr.  10,  25,  31,  35,  78,  bes.  aber  8  und  84,  das  Ko¬ 
lorit  allerdings  hat  mit  dem  Wiener  Bilde  Aveniger 
Gemeinsames,  als  ein  später  Burgkmair  mit  einem 
frühen.  Ob  wir  es  nun  hier  wirklich  mit  einem 
späten  L.  Beck  zu  thun  haben,  oder  ob  die  Ver- 
AAmndtschaft  des  Bildes  mit  dessen  Holzschnitten  aus 
engen  Beziehungen  Giltlinger’s  zu  unserem  Künstler 
erklärt  werden  muss,  das  wage  ich  erst  zu  ent¬ 
scheiden,  Avenn  ich  Giltlinger’s  Bilder  in  Florenz  und 
Paris  genauer  studirt  und  auch  den  Zustand  des 
Augsburger  Bildes  nochmals  untersucht  habe. 

Die  beiden  andern  Gemälde,  welche  noch  für 
Beck  in  Betracht  kommen,  befinden  sich  als  Nr.  108 
und  116  im  fürstlich  Hohenzollerschen  Museum  zu 
Sigmaringen  und  sind  dort  als  „oberdeutsch  (an¬ 
geblich  von  Tobias  Stimmer)“  bezeichnet.  Es  sind 
Pendants,  auf  dem  einen  St.  Nikolaus,  auf  dem  an¬ 
dern  Sta.  Barbara,  beides  Halbfiguren  vor  Renaissance¬ 
architektur.  Ich  habe  diese  Bilder  früher,  beim 
ersten  Besuche  der  Galerie,  für  Burgkmair  gehalten; 
die  Farbenstimmung  ist  sehr  fein,  das  Karnat  warm¬ 
braun,  in  der  That  ganz  ähnlich  wie  bei  manchen 
Gemälden  dieses  Künstlers,  hingegen  ist  die  Zeichnung 
für  ihn  zu  schwach  und  sowohl  die  Gesichtstypen  als 
auch  der  FalteuAvurf  zeigen  Eigentümlichkeiten,  welche 
speziell  für  Leonhard  Beck  charakteristisch  sind. 


ALFRED  SCH  MID. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 

VON  ALFRED  GOTTHOLD  MEYER. 

(Fortsetzung.) 


M  vorigen  Jahre  hatte  in  der 
englisclien  Abteilung  J.  E.  Eeid 
die  Führung,  die.smal  nahm 
ein  Vertreter  der  klassischen 
Richtung,  Frederik  Leighton, 
seine  Stelle  ein.  Er  sandte 
neben  einer  Skizze  und  ei¬ 
nem  Porträt  ein  Hauptwerk: 
„Perseus  und  Andromeda“,  eigenartig  komponirt, 
mit  warmem,  an  lebhaften  Kontrasten  reichem 
Kolorit,  fein  und  sorgsam  durchgearbeitet,  ein  Bild, 
das  trefflich  geeignet  wäre,  den  schon  historisch  ge¬ 
wordenen  Namen  seines  Schöpfers  in  einer  moder¬ 
nen  rialerie  zu  repräsentiren.  Ein  Anschluss  an 
klassisclie  Muster,  eine  gewisse  Abneigung  gegen 
die  extremen  Ziele  der  neuen  Schule  blieb  auch  in 
den  meisten  üln-igen  englischen  Gemälden  jüngerer 
.Meister  fühlbar.  Arthur  Tfacdccr  hatte  hei  seiner 
Scene  aus  Kingsley’s  „Hypatia“  offenbar  weniger 
den  geistigen  als  den  malerischen  Gehalt  des  Stoffes 
ini  .Auge,  das  Problem,  einen  nackten  Frauenleib  im 
Wüstensand  und  unter  glühenden  Sonnenstrahlen 
darzustellen.  Er  hat  dassell^e  virtuos  gelöst  —  man 
lu-aucide,  um  di(!s  recht  zu  schätzeJi,  nur  das  Nackte 
aul'  den  Bildern  eines  Rauher,  'Thoaqiscn ,  Solomoji 
Oller  vollends  der  IIrnriellr  Rai  zn  vergleichen  — 
aber  eine  gar  zu  salonfähige  Glätte  hattet  hier  dem 
impressionistischen  Farbenauftrag  an.  Um  so  kraft¬ 
voller  wirkte  der  Realismus,  mit  dem  RtoU  of  Old¬ 
ham  seine  badenden  Knaben  --  ein  Gegenstück  zu 
flem  Flei.scher’schen  Hilde  -  und  die  Mädchen 
beim  lieigentanz.  schilderte;  die.se  beiden  umfang¬ 
reichen  Gemälde  zählten  zu  den  besten  Freilicht- 
^ludien  fler  Ausstellung.  Ini  übrigen  ist  von  der 
englischen  Abteilung  neben  den  feinen  Stimmungs¬ 
landschaften  von  hndley  Ilardg  und  Alfred.  East  nur 
noch  die  schon  durch  ihre  Komposition  autfallige 
„N’erkündigung“  von  Marianne  Stokes  zu  erwähnen. 


Die  Polen,  Enssen  und  Ungarn  darf  man  hier 
zu  einer  Gruppe  vereinen.  Die  nationalen  Ele¬ 
mente,  welche  ihrer  Kunst  zu  eigen  sind,  haben 
etwas  Gemeinsames,  das  auch  in  München  diesmal 
fühlbar  wurde:  vor  allem  die  Verve  und  Energie 
des  malerischen  Vortrags.  Tiefe,  warme  Farbentöne, 
welche  die  moderne  Schule  so  lange  verbannte,  sind 
bei  den  Hauptmalern  des  Ostens  dauernd  in  Kraft 
geblieben,  und  die  koloristischen  Probleme,  in  wel¬ 
chen  auch  sie  der  neuen  Richtung  zu  genügen 
.suchen,  sind  anders  geartet,  als  im  Westen.  Man 
liebt  es  weniger,  die  Licht-  und  Schattenwirkung 
als  solche  zu  studiren,  man  geht  vielmehr  von  der 
Farbenharmonie  selbst  aus  und  stimmt  das  ganze 
Bild  auf  einen  durch  eine  Lokalfarbe  bezeichneten 
Grundton.  Dazu  kommt  ferner  eine  Neigung  zum 
Effekt,  zu  wirkungsvoller  Stoffmalerei,  eine  beredte, 
drastische  Charakteristik  des  Figürlichen  und  eine 
leise  Schwermut  in  der  Auffassung  der  Landschaft. 
Für  das  letztere  boten  besonders  die  Polen  Koivalski- 
Wiernsx  und  Chclnionski  charakteristische  Beispiele. 
Das  Spezialgebiet  Josejdi.  von  Brandt’s  hatte  diesmal 
auch  Franz  Eonhand  mit  seinem  Tscherkessenbild 
„Verwundet“  erfolgreich  betreten,  und  seinen  Ein¬ 
fluss  verriet  auch  Jan  Posen' s  „Schlacht  bei 
Stoczek“.  Polens  größter  Historienmaler,  Matejko, 
bewährt  in  seinem  figurenreichen  Gemälde  „Erklä¬ 
rung  der  polnischen  Konstitution  am  3.  Mai  1791“ 
bei  der  Wiedergabe  der  einzelnen  Persönlichkeiten 
die  alte  Kraft  und  Sicherheit  der  Charakteristik, 
aber  er  lässt  in  ihm  gerade  diejenigen  Vorzüge  ver¬ 
missen,  welche  in  der  neuen  Schule  am  meisten 
gelten,  vor  allem  die  richtige  Luftperspektive.  Die 
Gestalten  des  Vorder-,  des  Mittel-  und  des  Hinter¬ 
grundes  sind  mit  völlig  gleicher  Exaktheit  gemalt, 
das  Beiwerk,  welches  vom  Auge  des  Beschauers  am 
weitesten  entfernt  ist,  wird  mit  derselben  miniatur¬ 
artigen  Feinheit  geschildert,  wie  die  in  nächster 


Das  Ende  Babylon’s.  (Zu  Seite  54/55.) 

Ölgemälde  von  Georg  Rochegrosse.  Nach  einer  Photographie  von  Ad.  Br.\dn  &  Co.,  Dörnach. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


81 


Nähe  befindlichen  Gegenstände,  als  spiele  die  ganze 
Scene  in  einem  luftleeren  Raume.  Dieser  Mangel 
ist,  wie  verlautet,  der  Kurzsichtigkeit  des  Malers  zur 
Last  zu  legen.  —  Anna  Bilinska  hatte  die  gleichen 
trefflichen  Porträts  gesandt,  die  ihrem  Namen  auf 
der  Berliner  Jubiläumsausstellung  neuen  Glanz  ver¬ 
liehen,  und  neben  ihr  standen  KoivalsJd-lVierusx, 
(Porträt  des  f  Freiherrn  von  Lutz),  Badowski  und 
BodkoivinskL.  Schulung  durch  die  Münchener  Frei¬ 
lichtmalerei  sprach  aus  dem  gar  zu  säubern  Bilde 
von  Seymanowski,  „Idylle“,  und  eine  ähnliche  Auf- 
fassunojsweise  bekundete  die  tüchtige  Arbeit  von 
OJya  von  Boxnanska.  Zwei  Polen  endlich  haben  den 
etwas  zweifelhaften  Ruhm,  der  Ausstellung  einer¬ 
seits  das  drolligste,  andererseits  das  abstossendste 
Bild  geschenkt  zu  haben:  Wodzinski  in  seiner 
„Gigerldeputation“  und  Malcze,wski  in  seiner  „Letzte 
Etappe“  genannten  Scene  aus  einem  Armenlazarette ; 
beide  aber  bewiesen  ein  achtunggebietendes  Können. 

Ungewöhnlich  ansprechend  war  der  Gesamt¬ 
eindruck  des  ungarischen  Saales.  Oeza  Beske's 
Knabenbildnis  ist  sowmhl  in  der  malerischen  Haltung 
als  auch  in  der  Charakteristik  von  hoher  Feinheit;  ihm 
gesellten  sich  die  Porträts  von  Benczur,  Basch  und 
Horoivitz,  eine  treffliche  Landschaft  von  Beda  von 
Spanyi  und  zwei  mit  gutem  Humor  durchgeführte 
Sittenschilderungen  von  Alexander  Bihari  („Pro¬ 
grammrede“)  und  Stefan  Csok  („Dienstbotenbüreau“). 

W enn  auch  nicht  so  glänzend,  wie  an  der  Ber¬ 
liner  Jubiläumsausstellung,  hatte  sich  Österreich  in 
München  diesmal  doch  stattlicher  beteiligt,  als 
früher.  In  seinen  Sälen  war  zwar  keines  der  Haupt¬ 
werke  des  diesjährigen  Salons  zu  suchen,  wohl  aber 
eine  große  Reihe  von  Bildern,  deren  Reiz  ein  ein¬ 
gehendes  Studium  lohnte,  nur  durfte  man  dabei 
weder  eine  ausgeprägt  nationale  Stilweise,  noch 
einen  eigenartigen  Einfluss  der  neuen  Schule  er¬ 
warten.  Die  letztere  hat  in  Österreich  nur  unter  ge¬ 
mäßigter  Form  Eingang  gefunden,  deren  Art  in 
München  beispielsweise  durch  die  trefflichen  Arbei¬ 
ten  von  Leo  Lerch  und  Hans  Temj)le,  sowie  durch 
das  an  Lieblingsmotive  Skarbina’s  erinnernde  Bild 
von  A.  Seliymann  gekennzeichnet  wurde.  Das  ein¬ 
zige  Gemeinsame,  was  sich  an  diesen  österreichischen 
Werken  entdecken  ließ,  war  eine  leichte,  effektvolle 
Auffassungsweise,  die  weder  besonders  tiefe  seelische, 
noch  besonders  kecke  technische  Probleme  aufstellt, 
die  bei  einem  mehr  äußerlichen  Erfassen  der  Auf¬ 
gaben  stehen  bleibt,  aber  fast  stets  einen  gefälligen, 
salonfähigen  Ton  wahrt  und  nicht  selten  auch  echte 
Vornehmheit  erreicht.  —  Unter  den  Einzelnamen 
Zeitschiift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


fehlten  einige  der  klangvollsten  nicht.  Ich  erwähne 
nur  von  den  Porträtisten  H.  v.  Anycli  und  L’ Alle¬ 
in  and ,  von  den  Landschaftsmalern  neben  Emil 
Schindler,  dessen  köstliche  Arbeiten  auch  hier  be¬ 
zeugten,  welchen  Verlust  der  Tod  ihres  Schöpfers 
für  unsere  Kunst  bedeutet,  Bobert  Buß  und  Eduard 
Bitter  von  Lichtenfels.  Aus  kaiserlichem  Besitz  war 
unter  anderem  das  groß  gehaltene  Bild  der  rö¬ 
mischen  Ruine  in  Schönbrunn  von  Carl  Moll  gesandt 
worden.  Eduard  Veith's  Skizzen  für  die  malerische 
Ausschmückung  des  Kunsthofes  im  Prager  Rudol- 
finum  vergegenwärtigten  die  dekorative  Malerei 
historischer  Gattung,  Benito  Kniqifers  Meeresidyllen 
und  Adolf  Hirschl's  „Prometheus“  die  ideale  Rich¬ 
tung  einer  von  Gestalten  der  antiken  Welt  erfüllten 
Phantasie.  Alois  Hans  Schramm  hatte  sieb  in  seinem 
umfangreichen  Bild  „Gloria“  ein  äußerlich  ähnliches 
Thema  gestellt,  wie  Gotthard  Kuehl,  aber  er  verlegte 
die  Scene  in  das  achtzehnte  Jahrhundert  und  in 
eine  überreiche  Barockkirche,  wählte  einen  fast 
monumentalen  Maßstab  und  verlieh  dem  Ganzen  den 
Charakter  eines  effektvollen  Schaustückes ,  an 
Avelchem  künstlerisch  vor  allem  die  meisterhafte  Be¬ 
handlung  der  Architektur  und  die  treffliche  Licht- 
Avirkung  zu  rühmen  sind.  Die  Miniaturen  eines 
Alax  Schödl  und  der  Marie  Mhllcr,  sowie  die  Blumen¬ 
stücke  der  Wisinger -Florian  gaben  der  mit  sicht¬ 
licher  Liebe  und  Sorgfalt  zusammengesetzten 
Abteilung  der  österreichischen  Malerei  ihren  in¬ 
timsten  Reiz. 

Überblickt  man  zum  Schluss  die  ausländischen 
Arbeiten  in  ihrer  Gesamtheit,  so  erscheint  die  so 
häufig  ausgesprochene  Befürchtung,  Münchens  Aus¬ 
stellungen  gefährdeten  die  ruhige  nationale  Ent¬ 
wickelung  deutscher  Kunst,  diesmal  am  wenigsten 
berechtigt.  Der  Bestand  an  fremden  Werken  bot 
zwar  auch  in  diesem  Jahre  einen  für  die  Schätzung 
der  heimischen  Leistungen  zuverlässigen  Maßstab, 
aber  der  letztere  war  minder  eigenartig,  und  für 
einzelne  Gesichtspunkte  auch  minder  hoch,  als 
früher.  Der  nivellirende  Zug,  Avelcher  sich  in  der 
deutschen  Abteilung  bemerkbar  machte,  hatte  auch 
zwischen  dieser  und  dem  Auslande  vermittelt  und 
das  Gesamtbild  einheitlicher  gestaltet.  So  zahlreiche 
Anregungen,  wie  im  vorigen  Jahre,  dürften  die 
Münchener  Künstler  diesmal  kaum  geerntet  haben. 
Überhaupt  konnte  man  sich  des  Gefühles  nicht  ganz 
erwehren,  dass  —  trotz  aller  Kampfbereitschaft  der 
Parteien  —  eine  gewisse  Ausstellungsmüdigkeit  ein¬ 
zutreten  beginnt.  Von  Jahr  zu  Jahr  muss  es  natur¬ 
gemäß  schwieriger  werden,  die  kunsthi.storische  Be¬ 
ll 


S2 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


cleutung  dieser  Veranstaltungen  auf  gleicher  Höhe 
zu  halten,  und  selbst  das  im  höchsten  Grade  aner¬ 
kennenswerte  Streben,  einzelne  neue  Anziehungs¬ 
punkte  zu  schatfen,  vermag  hier  auf  die  Dauer  nicht 
genügend  zu  würken.  Im  vorigen  Jahre  boten  die 
Sonderausstellungen  einzelner  Meister  und  die  köst¬ 
liche  Sammlung  der  dem  Prinzregenten  von  der 
Münchener  Künstler  -  Genossenschaft  gewidmeten 
Ehrengaben  eine  willkommene  Abwechselung  des 
Programms;  diesmal  hatte  man  dieselbe  in  zwei 
Veranstaltungen  gefunden,  welche  schon  völlig  ab¬ 
seits  der  bisherigen  Wege  und  Ziele  des  Münchener 
, Salons“  lagen:  sowohl  Lenhacli’ sehe  Kahitieit  m\i 

seinem  reichen  Inhalt  an  wertvollen  Gemälden, 
Skulpturen  und  kunstgewerblichen  Arbeiten  der  Ver¬ 
gangenheit,  als  vollends  der  kleine  Saal  der  Japaner 
waren  Sonderausstellungen,  die  für  sich  allein  ge¬ 
würdigt  werden  müssen  und  sich  dem  bisherigen 
Rahmen  der  jährlichen  Kunstausstellungen  nur  ge¬ 
zwungen  fügten.  Dem  Künstler  selbst  wie  dem 
Laien  boten  sie  je  eine  Welt  für  sich,  losgelöst  von 
dem  übrigen.  Der  „Lenhach-Saal“  freilich  diente 
noch  einem  aktuellen  Zweck.  In  mannigfacher  Hin¬ 
sicht  mutete  er  wie  eine  ernste  Mahnung  an:  ein 
Gegensatz  sowohl  gegen  die  äußere  Form  unserer 
Ausstellungen  als  auch  gegen  ihren  Inhalt.  Den  Tau¬ 
senden  nacli  äußeren  Gesichtspunkten  nebeneinander 
gehängten  Bildern  stellte  er  ein  von  individuellem 
Geschmack  geschaffenes  Kunstkabinett  gegenüber 
und  rief  gegen  das  noch  vielfach  ziellose  Treiben 
der  modernen  Kunstwelt  vereinzelte  Zeugen  abge¬ 
schlossener  Epochen  der  Kunstgeschichte  in  die 
Schranken.  Was  hierin  berechtigt  ist,  wird  kein 
Kinsiebtiger  verkennen.  Ist  man  lieute  doch  mit 
glänzendem  Erfolg  bestrel)t,  sogar  in  den  Museums¬ 
sälen  A})wecbselung  zu  schaffen,  die  Bilderreihen  an 
den  Wänden  durch  Skulpturen  und  mannigfache 
Möbel,  Geräte  und  Erzeugnisse  der  Kleinkunst  zu 
beleben,  an  Stelle  d(!r  Gemälde- Magazine  wieder 
Kunstkammern  nach  Art  früherer  Jahrhunderte,  je- 
dofdi  nacli  .Maßgabe  historischer  Einheitlichkeit  zu 
setzen!  Bin  ähnliches  Vorgehen  hei  unseren  mo¬ 
dernen  Au.sstellungen  kann  nur  freudig  begrüßt 
werilen,  aber  es  sind  ihm  dort  sclion  äußerlicli  nur 
enge  Schranken  gezogen.  Wesentlicher  war  die 
innere  Bedeutung,  welche  dieser  Lenbach-Saal  irn 
Hinblick  auf  seine  Umgehung  gewann.  An  Nicht¬ 
achtung  grenzt  die  Teilnahinlosigkeit,  mit  welcher 


zahlreiche  jüngere  Künstler  den  Werken  der  Ver¬ 
gangenheit  gegenüberstehen.  Die  Zeit,  in  welcher 
der  Maler  die  Pinakotheken  als  „Kunsttempel“  an¬ 
sah,  wo  man  „das  Hochamt  an  keinem  Sonn-  und 
Feiertag  versäumen  dürfe“,  sind  längst  vorüber. 
Viele  jüngere  Maler  sind  in  unseren  Museen  nur 
anzutrefifen,  wenn  sie  etwa  den  Auftrag  erhalten 
haben,  ein  altes  Bild  zu  kopiren.  Diese  Er¬ 
scheinung  ist  nicht  unbegreiflich  und  nicht  unver¬ 
zeihlich.  Es  steht  ihr  vielfach  ein  von  neuer  Be¬ 
geisterung  getragenes  Naturstudium  gegenüber,  und 
jede  Revolution  pflegt  mit  der  Nichtachtung  des  Be¬ 
stehenden  zu  beginnen.  Aber  die  höhere  Ent¬ 
wickelungsstufe  ist  diejenige,  auf  welcher  der  durch 
neue  Offenbarungen  geschärfte  Blick  auch  die  Rück¬ 
schau  nicht  mehr  vermeidet  und  die  unsterblichen 
Lehren  der  Vergangenheit  für  die  Gegenwart  nutz¬ 
bar  macht.  Kein  lebender  Maler  ist  berufener, 
dies  zu  lehren,  als  der,  dessen  Name  in  der  Kunst¬ 
geschichte  unserer  Tage  in  unvergänglichem  Glanze 
strahlen  wird,  und  dessen  Wei’ke  dennoch  zugleich 
auch  neben  denen  eines  Rembrandt,  Velazquez  und 
Rubens  bestehen.  Mit  Lenbach’s  Namen  am  Ein¬ 
gang  erschien  jener  Saal  mit  seinen  Meisterwerken 
der  Vergangenheit  wie  eine  Illustration  zu  dem  Aus¬ 
spruch  Anselm  Feuerbach’s:  „Studirt  die  alten 
Meister,  legt  zu  rechter  Zeit  eure  eigene  Indivi¬ 
dualität  in  die  Wagschale,  dann  werdet  ihr  ziemlich 
genau  erkennen,  was  ihr  vermögt.“  Das  sollten 
selbst  diejenigen  beherzigen,  die  den  Schlusssatz 
Feuerhach’s:  „Andere  Wege  giebt  es  heutzutage 
nicht“  für  antiquirt  ansehen. 

Aber  noch  durch  ein  anderes  Mittel  hat  die 
diesjährige  Ausstellung  sich  neue  Reize  verschafft: 
neben  der  spärlich  beschickten  Abteilung  der  „Ver¬ 
vielfältigenden  Kunst“  und  der  noch  spärlicheren 
Grup])e  „Architektur“  war  diesmal  die  Plastik  weit 
reicher  vertreten  als  sonst.  In  meinem  vorjährigen 
Bericht  habe  ich  an  gleicher  Stelle  dies  als  beson¬ 
ders  erwünscht  bezeichnet,  und  der  Erfolg  hat  die 
Berechtigung  dieses  Wunsches  bestätigt.  Vor  allem 
wird  die  Kunstgeschichte  der  Zukunft  dieser 
Münchener  Ausstellung  gedenken  müssen,  denn  was 
diesmal  an  Skulpturen  im  Glaspalast  vereinigt  war, 
bot  in  ungewöhnlicher  Reichhaltigkeit  eine  Über¬ 
sicht  über  einzelne  Hauptströmungen  innerhalb  des 
bildnerischen  Schaffens  der  Gegenwart. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Puszteuliirclie  zu  Szeut-Kiralj'. 


UNGARN  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


VON  JOSEF  DERNJAC. 
MIT  ABBILDUNGEN. 


AST  gleich  weitab  vom  eisi¬ 
gen  Nordpol  wie  vom  heißen 
Äquator,  beinahe  im  Centrum 
des  östlichen  Teiles  von 
Mitteleuropa  liegt  ein  Erd¬ 
strich  von  scharf  markirter 
geographischer  Individuali¬ 
tät.  Der  mächtige  Wall  der 
Karpathen  umspannt  ihn  in  einem  ungeheuren  Bogen 
von  1400  km  Länge  von  Presshurg  und  Theben  bis 
an  das  äußerste  Ende  Siebenbürgens  sich  erstreckend 
im  Norden  und  Osten;  nach  Westen  liegt  er  offen 
da;  im  Süden  bilden  die  Gelände  der  Donau  und 
Save,  der  Kulpa  und  Una,  der  Zug  des  Velebich  und 
die  Küsten  des  Golfes  von  Quarnero  seine  Grenzen. 
Das  ist  das  Ländergebiet  der  Krone  des  heil.  Stephan, 
auch  in  seinen  politischen  Formen  von  den  Staaten 
des  Occidents  vielfach  verschieden,  in  kulturhisto¬ 
rischer,  wie  in  ethnographischer  Beziehung  in  hohem 
Grade  interessant.  Dem  Königreich  Ungarn  haben 
nach  einander  das  schon  von  König  Stephan  eroberte 
und  bis  zu  den  Türkenkriegen  durch  Statthalter 
(Woiwodenj,  während  derselben  von  eigenen  Dynasten 


, Niemand  aber  erbebe  sich 
über  dich,  du  grüne  Ebene, 
du  Zierde  Ungarns.“ 

Eötvös,  Der  Dorfnotar. 

regirte  Siebenbürgen,  im  elften  und  zwölften  Jahr¬ 
hunderte  die  Königreiche  Kroatien  und  Slavonien,  im 
vorigen  Fiume  und  das  Küstenland  sich  angegliedert. 
Als  Reste  zertrümmerter  Reiche,  vorgeschobene  Posten 
auswärtiger  Nationen  und  Zeugen  einer  mit  bewusster 
Absicht  durchgeführten  Kolonisation  bewohnt  eine 
nicht  unbedeutende  Anzahl  verschiedenartiger  Völker 
die  Berge  und  Thäler,  den  fruchtbaren  und  den  wenig 
ergiebigen  Boden  ringsum  an  seiner  weiten,  kräftig 
ausgestalteten  Peripherie.  Aber  alle  verbindet  ein 
energisches,  kerntüchtiges  Element  zu  einem  großen, 
achtunggebietenden  Ganzen.  Es  gehört  hinsichtlich 
seines  Äußern  und  seiner  Sprache  weder  ihnen,  noch 
ihren  Brüdern  Nord-,  West-  und  Südeuropa’s  an.  Das 
Idiom  der  Magyaren  rechnet  die  Wissenschaft  zu  den 
sogenannten  agglutinirenden  Sprachen.  Aber  es  kann 
mit  seinen  vierzig  rein  artikulirten  Lauten,  die,  in 
regelmäßige  Akkorde  zusammengefügt,  sich  zu  den 
einzelnen  Worten  gruppiren,  mit  seinem  Wohlklang, 
vollkommenem  Satzbau  und  mit  seiner  klaren,  präzisen 
Ausdrucksweise  den  feinsten  Geistesinstrumenten  der 
civilisirten  Menschheit  sich  an  die  Seite  stellen.  Im 
Typus  sind  die  Söhne  von  Ärpäds  Scharen,  trotz 

11* 


S4 


UNGARN  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


zahlreiclier  Blondköpfe,  den  Tscherkessen  und  Persern 
iihnliclier,  als  den  Romanen,  Germanen  und  Slaven. 
Dass  sie  aber  in  ilirer  seelischen  Anlage  eine  große 
Anzahl  eben  jener  Eigenschaften  in  sich  vereinigen,  die 
gerade  bei  den  westeuropäischen  Nationen  von  jeher 
und  allerorten  als  das  unterscheidende  Kennzeichen 
der  „echten  Göttersöhne“  unter  den  Sterblichen  be¬ 
trachtet  worden  sind,  beweisen  sie  uns  täglich  und 
stündlich  und  beweist  in  dem  Buche  ihrer  Vergangen¬ 
heit  jede  Seite  und  jedes  Blatt.  In  der  weiten  Tief¬ 
ebene,  woliin  von  dort  aus,  wo  der  Kranz  der  Berge 


Mnpfi  LI  0  ' 

riißarischf!  Fund»!  aus  dar  Tiron/.ezcit. 

die  geringste  Preite  hat,  die  Windungen  der  Thäler 
sie  lierabgel'ülirt,  fanden  die  Magyaren  deTi  ilu’en  an¬ 
geborenen  Neigungen  und  ererl)ten  Lebensgewohn¬ 


heiten  am  meisten  entsprechenden  Boden.  Dort 
haben  sie  in  dichter  Masse  sich  angesiedelt;  von 


dort  aus  in  Gruppen  mitten  unter 
den  schon  Vorgefundenen  oder  im 
Laufe  der  Zeit  herbeigeströmten 
Völkersplittern  festen  Fuß  gefasst 
und  haben  als  das  relativ  stärkste 
unter  allen  und  in  höherem  Grade 
wie  irgend  eines  unter  ihnen  mit 
staatenbildender  Kraft  begabt,  den 
Slowaken  im  Nord  westen  und  den  Ruthenen  im 
Nordosten,  den  Slowenen,  Kroaten  und  Serben  im 
Mur-,  Save-  und  Draugebiet,  den  Rumänen  Sieben¬ 
bürgens  und  den  Deutschen  im  Westen,  Süden  und 
Osten,  von  den  nomadisirenden  Zigeunern  und  den 
iinvermeidlichen  Juden  ganz  abgesehen,  das  einheit¬ 
liche  Gepräge  des  Ungarn  aufzudrücken  nicht  ver¬ 
geblich  sich  bemüht.  Wir  können  die  charakteristische 
Eigenart,  das  Denken  und  Empfinden,  die  Dichtung 
und  Sage,  Sitte  und  Tracht,  vor  allem  aber  die 
tausendjährige,  wechselvolle  Geschichte  der  Magyaren 
gegenwärtig  mit  wenigen  Blicken  und  ohne  sonder¬ 
liche  Mühe  überschauen.  Von  der  großen,  unter  den 
Auspizien  S.  k.  k.  Hoheit  des  verewigten  Kronprinzen 
Rudolf  unternommenen  Publikation  sind  von  den 
Ungarn  gewidmeten  Bänden  zwei,  von  denen  der 
eine  Ungarn  und  seine  Bevölkerung  im  allgemeinen, 
der  andere  die  Tiefebene  des  Alföld  im  besonderen 
behandelt,  unlängst  zum  Abschlüsse  gelangt.  Sie 
bieten  eine  interessante,  von  einer  auserlesenen  Schar 
der  gediegensten  ungarischen  Schriftsteller  mit 
Maurus  Jökai  an  der  Spitze  gearbeitete  Artikelfolge. 
Große  Gesichtspunkte  und  eine  vollständige  Be¬ 
herrschung  der  Stiltechnik  finden  sich  in  letzterer 
selbst  bei  den  nur  bestimmte  Kreise  oder  einen  ein- 


UNGA1^,N  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


85 


zeluen  Facliiuanu  interessirenclen  Essays.  Auf  illu¬ 
strativem  Gebiete  bat  das  „Kronpriiizenwerk“  des 
Vortreffliclien  schon  genug  geboten.  Die  unter  der 
tüchtigen  Leitung  Professor  G.  Morelli’s  in  Holz  ge¬ 
schnittenen  Zeichnungen  ungarischer  Künstler  ge¬ 
hören  —  die  diesseitigen  Leistungen  in  allen  Ehren! 
—  unter  seinen  Bildern  zu  den  allervorzüglichsten  ’). 
Ein  scharfer  Blick  für  die  markanten  Charakterzüge, 
aber  auch  das  tiefe,  mit  aufrichtiger  Liebe  gepaarte 
Verständnis  der  Seele  nicht  bloß  des  eigenen,  herr¬ 
schenden  Volksstammes  sind  der  Illustration  wie  dem 
Texte  gleichermaßen  eigen.  Dass  es  in  letzterem 
an  jenem  echt  magyarischen  Humor  nicht  gebricht, 
der  seine  Mitbürger  gerne  stichelt,  dass  er  von 


der  Familien  aus  A'rpäds  Gefolge  gestanden  haben,  in 
deren  Gebiete  heute  noch  rein  und  voll,  wie  nirgends 
anders  im  Lande,  die  magyarische  Sprache  ertönt, 
der  Typus  des  Orientalen  in  Physiognomie  und  Ge¬ 
stalt  am  vollkommensten  sich  erhalten  hat.  Wir 
geben  im  nachfolgenden  unseren  Lesern  einige  Züge 
des  modernen  Ungarn  und  des  alten  ini  modernen. 
Die  Geschichte  des  Landes  gehört  in  den  Rahmen 
unserer  Darstellung  nicht  hinein.  Wir  führen  aber 
gelegentlich  einige  ihrer  Hauptmomente  an;  sie  sind 
zum  Verständnisse  der  Gegenwart  und  ihrer  Zustände 
unerlässlich. 

Neben  Pfahlbauten  sind  die  gewissen  Tumuli, 
denen  der  Reisende  in  Ungarn  auf  Schritt  und  Tritt 


Die  fünf  Hügel  (Öthalom)  bei  Glogoväcz.  (Arader  Comitat  ) 


echtem  Patriotismus  getragen  und  durchwärmt  wird, 
braucht  wohl  nicht  erst  besonders  gesagt  zu  werden. 

jFlusswelt“,  dies  ist  vom  kulturgeschichtlichen 
Gesichtspunkte  aus  die  richtige  Bezeichnung  der  vom 
breiten  Gürtel  der  Donau  im  Westen  und  Süden  be¬ 
grenzten  ungarischen  Tiefebene.  Ihren  eigenartigen, 
zerstörenden  und  Leben  erzeugenden  Genius  bildet 
die  Theiß,  an  deren  Ufern  die  ältesten  Ansiedlungen 
der  Urbewohner  und  die  ersten  Hütten  und  Zelte 


1)  Die  österreichisch-ungarische  Monarchie  in  Wort 
und  Bild.  Wien  1888  und  1891.  Ungarn.  Bd.  I  und  11. 
Bd.  in.  Liefg.  1.  Bis  zu  welchem  Grade  die  Übersetzung 
Ij.  Hevesi’s  das  magyarische  Original  prägnant  wiedergiebt, 
kann  ich,  des  Magyarischen  unkundig,  nicht  beurteilen.  Ich 
weiß  nur  so  viel,  dass  sie  nicht  den  Eindruck  einer  Über¬ 
setzung,  sondern  eines  trefllich  geschriebenen  Originals  macht. 


begegnet,  die  wichtigsten  Reste  aus  dessen  prähisto¬ 
rischer  Zeit.  Ihre  Höhe  variirt  zwischen  50 — 100 
Metern  bei  entsprechender  Basis;  gelegentlich  finden 
sich  deren  mehrere  zu  Gruppen  zusammengeordnet, 
wie  z.  B.  die  Fünfhügel  (Öthalom)  bei  Glogoväcz 
(Arad).  Von  den  Namen,  die  sie  führen,  deuten  so 
manche  auf  ihre  ehemalige  Bestimmung  oder  auf 
ihre  wirklichen  oder  vermeintlichen  Urheber  hin, 
z.  B.  die  Leshalom,  Spähhügel,  Testhalom,  Leichen¬ 
hügel,  Cziganyhalom,  Zigeunerhügel,  vor  allem  aber 
die  Kvinhalom,  Kumanenhügel.  Wie  die  zuletzt  an¬ 
geführte  Bezeichnung  besagt,  sind  viele  dieser  Hügel 
verhältnismäßig  jung.  So  manche  lassen  sich  that- 
sächlich  kanm  bis  zu  den  Anfängen  der  Xrpäden- 
epoche  zurückdatiren.  Werkzeuge  und  Waffen  des 
Neolith-Zeitalters,  Bronzegegenstände  mit  außerhalb 


UNGARN  TM  WERKE  DES  KRONl’RTNZEN  RUDOLF. 


bG 

(le.s  Alf'öld  höchst  sporadisch  vorkommeiideia  Ver¬ 
zierungen  ,  eiserne,  keltische  Ivetten,  Dolche  und 
Schwerter,  dies  sind  die  wichtigsten  Gegenstände, 
die  man  aus  diesen  Tumulis  zu  Tage  fördert;  daneben 
aber  gelegentlich  auch  Geräte,  die  auf  eine  frühe 
Verbindung  mit  Griechenland  hinweisen,  Gegenstände, 
bei  denen  der  Einfluss  der  römischen  Provinzial¬ 
kunst  unverkennbar  ist,  goldene  oder  stark  vergol¬ 
dete  und  edelst cingeschmückte  Verzierungen  aus  der 
Völkerwanderungsepoche,  welche  die  Einwirkung 
von  Byzanz,  al)er  auch  das  Walten  des  heimischen 
Volksgeistes  deutlich  verraten,  bis  zu  den  Geflechten 
aus  Silherdraht,  welche  für  den  Beginn  der  Magyaren¬ 
geschichte,  da  die  Goldschätze  der  Avaren  nicht 
mehr  vorhanden  waren,  charakteristisch  sind. 

Der  Römer  hat  Pannonien,  Syrmien,  Dacien  seinem 
Schwerte  unterworfen,  an  den  Grenzen  des  Theißge- 
tjietes  machten  seine  Legionen  Halt.  Von  den  Städten 
keltischen  Ursprungs  am  Rande  des  Alföld,  die  sich 
ziemlich  rasch  romanisirt  hatten,  ist  bis  auf  Siscia  und 
Sirmium,  Sziszek  (Sisek)  und  Szerem  (Srem)  selbst 
der  Name  untergegangen.  Das  Gewitter,  welches 
sie  zerstörte,  kam  aus  dem  Alföld,  dem  Wetterwinkel 
des  sinkenden  Imperiums.  Zwischen  die  Zerstörer 
Carnuntums,  die  l)is  in  die  Karpathen  hinein  sich 
ansdehnenden  (Juaden  und  die  ostwärts  sitzenden 
l)acier  scliohen  die  Hunnen,  Ostgoten  und  Lango¬ 
barden,  die  Gepiden  und  Avaren  im  Verlaufe  der 
\b’>lkerwanderung  sich  in  das  Theißgebiet  hinein. 
\'on  den  Ostgoten,  Gepiden  und  Langobarden  ist 
nur  melir  der  Name  und  vielleicht  noch  ein  oder 
<ler  andere  Schmuckgegenstand  erhalten;  an  die 
Avaren  erinnern  jene  mächtigen,  als  Csörsz-Graben, 
'I'eu felsgraben  etc.  bekannten  Erdwälle,  die  im  Alföld 
meilenweit  der  Länge  und  der  teuere  nach  verlaufen,  noch 
imachtundvierziger  Kriegein  ihrem  südlichsten  Zweige, 
den  „ Römerschanzen“  eine  Rolle  gespielt  haben,  und 
teilweise  wohl  mit  den  von  Karl  dem  Großen  ge¬ 
stürmten  „Ringen“  identisch  sind.  Am  lebendigsten 
i-rbält  sich  bei  den  Magyaren  das  Andenken  an  die 
Hunnen  und  ihren  großeii  KöJiig  Attila,  der  zu  Etel- 
laka  (Etzrds  Wohnsitz)  auf  der  Puszta  von  Balmäz- 
l^jväros  und  zu  .läszhereny  seine  Paläste  hatte,  in 
tler  Nähe  des  heutigen  Szegedin  den  staunenden  by¬ 
zantinischen  Gesandten  era[)ting,  vielleicht  aus  den 
am  Pontusgestade  angefertigten  Goldgefäßen  von 
Nagy-Szent-Miklös  (gegenw.  im  k.  k.  Antikenkabinett 
zu  Wien)  tafelte  und  in  der  Theiß,  oder,  wie  die 
•  lazygier  behaupten,  in  der  Zagyva  begraben  ward. 
Und  kein  Wunder,  dass  dem  Magyaren  der  große 
König  un«l  seine  Scharen  teuer  sind.  Hält  er  sich 


doch  desselben  Stammes  mit  ihnen;  hat  ihm  doch 
seine  Volkssage  so  manchen  ihm  selbst  eigentüm¬ 
lichen  Charakterzug  von  ihnen  bewahrt.  Die  direkten 
Abkömmlinge  der  Hunnen  sollen  die  heutigen 
Szekler  Siebenbürgens  sein.  So  will  es  wenigstens 
die  Legende  von  Csaba,  dem  Sohne  Attila’s  und 
seinem  immer  noch  wiederkehrenden  Geisterheer. 

Der  Adler  war  das  Feldzeichen  der  Hunnen 
und  bis  auf  Herzog  Geza  auch  der  Fahnenschmuck 
der  Magyaren,  ln  der  Bekeser  Gegend  (Bekes-Friede) 
begegneten  die  Scharen  Arpäds  zum  ersten- 
male  den  Plunnenszeklern.  Möglich,  dass  sie  auch 
in  den  Resten  der  Avaren  und  in  den  Nachkommen 
der  schon  in  der  Römerzeit  zwischen  der  Donau 
und  Theiß  ansässig  gewesenen  Jazyges  Metanastae 
verwandte  Elemente  vorfanden.  Inschriften,  Mithras- 
reliefs  und  Votivaltäre  mit  absonderlichen  asiatischen 
Götternamen,  sowie  Reste  des  Limes  Dacicus  im 
Gebiete  der  schwarzen  und  weißen  Körös,  dies  .sind 
die  wichtigsten  Denkmälergattungen,  welche  das 
Römertum  von  seiner  Herrschaft  an  den  Grenzen 
des  Alföld  zurückgelassen  hat.  Weitaus  jünger  als 
diese  sind  die  ältesten  monumentalen  Überreste  des 
Christentums,  das  Goldkreuz  aus  dem  Avarengrabe 
von  Ozora,  die  Fresken  in  der  Krypte  des  Domes 
von  Fünfkirchen  und  der  im  Fester  Nationalmuseum 
befindliche  Szegzsardar  Sarkophag.  Die  Christiani- 
sirung  der  Magyaren  kostete  schwere  Mühe.  Sie 
konnte  erst  erfolgen,  als  nach  der  blutigen  Lektion 
in  der  „Hunnen tränke“  von  Dortmund,  bei  Merse¬ 
burg  und  Augsburg  die  abenteuernden  Söhne  der 
Steppe  sesshaft  geworden,  und  das  berühmte  Leb  el’sche 
Horn,  ein  Meisterwerk  byzantinischer  Elfenbein¬ 
schnitzerei  nnd  nachmaliges  Abzeichen  der  Oberkapi¬ 
täne  von  Jazygo-Kumanien,  in  Jaszbereny  definitiv 
zur  Ruhe  gebracht  worden  war.  Was  der  Orient 
vergebens  unternommen  und  Wolfgang  von  Ein¬ 
siedeln,  sowie  die  Bischöfe  Pilgrim  von  Passau  und 
Adalbert  von  Prag  ohne  Erfolge  zu  ernten  versucht, 
das  führte  Stephan  der  Heilige,  überzeugt,  dass  der 
Magyar  nur  als  Christ  sich  im  christlichen  Abendland 
behaupten  könne,  mit  schonungsloser  Niederwerfung 
jeglichen  Widerstandes  durch.  Es  war  im  Jahre  1000, 
dass  die  civilisatorische  Thätigkeit  des  üngaruherzogs 
von  dem  Träger  der  höchsten  gei.stigen  Autorität  auf 
Erden  ihre  wohlverdiente  Anerkennung  erhielt,  dass 
derGemahl  der  aus  kaiserlichem Geblüte  entsprossenen 
Prinzessin  Gisela  sich  als  erster  apostolischer  König 
von  Ungarn  (Rex  apostolicus)  die  vom  Papst  Sylvesterll. 
geschickte  Krone  auf  seine  Stirn  drückte.  Aber  das 
Christentum  machte  nur  langsame  Fortschritte  im 


UNGARN  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


heidnischen  Lande  und  war,  wie  die  an  den  heil. 
Gerhard  erinnernde  Legende  vom  Blocksberg  (St.  Ger¬ 
hardsberg,  Szent-Gellerthegy)  bei  Pest  beweist,  von 
den  Gefahren  der  Ausrottnng  häufig  bedroht.  Das 
Mätra-  und  das  Bükkgebiet  beherbergen  in  den 
„HexenstühleA“  Opfersteiuen,  „Bienenkörben“  (heid¬ 
nischen  Mausoleen)  etc.  noch  heute  zahlreiche,  kaum 
berührte  Heiligtümer  der  Urreligion,  und  auch  in  so 
manchem  Volksgebrauch  hat  sich  ein  oder  das 
andere  aus  ihrem  Kultus  erhalten,  mit  dem  wohl 
auch  der  „Sonnenhieb“  des  Königs  zusammenhängt, 
den  er,  die  berühmte,  mit  dem  Diadem  des  Kaisers 
Manuel  Dukas  zusammengeschmiedete  und  mit  dem 
„sinkenden  Kreuze“  verzierte  Corona  Sancti  Stephani 
auf  dem  Haupte,  nach  allen  vier  Weltgegenden  auf 
dem  „Krönnngshügel“  führt. 

Mit  Andreas  Hl.  erlosch  im  Jahre  1301  die 
Arpadendynastie,  ausgezeichnet  durch  Regenten  wie 
Ladislaus  der  Heilige,  der  Gründer  der  Groß-War- 
deiner  Kathedrale,  wie  der  wissenschaftlich  gebildete 
„Bücher-Koloman“,  wie  Bela  11.  „der  Blinde“,  La¬ 
dislaus  IV.  der  Kumane,  Emerich,  Andreas  II.,  Bela  IV. 
Es  kam  die  glorreiche  Zeit  eines  Karl  Robert  und 
Ludwig’s  von  Anjou,  genannt  der  Große,  die  traurige 
Epoche  des  mit  der  deutschen  Kaiserkrone  ge¬ 
schmückten  Sigmund,  Wladislaw’s  I.  und  des  La¬ 
dislaus  Posthumus,  bis  dann  endlich  das  Reich,  nach¬ 
dem  es  unter  Mathias  Corvinus’  zweiuuddreißigjähriger 
Regierung  nochmals  eine  Glanzperiode  gehabt,  unter 
Wladislaw  11.  traurigen  , Angedenkens  immer  tiefer 
sinkt  und  unter  Ludwig  11.  vollends  in  den  Staub 
getreten  wird.  Es  ist  sehr  die  Frage,  ob  die  Durch¬ 
züge  der  Kreuzfahrer,  die  in  Ungarn  eine  so  große 
Menge  von  Salzburger  und  Friesach  er  Münzen  ver¬ 
streuten,  dass  das  Pester  Nationalmuseum  mehr  als 
jedes  andere  Kabinett  davon  besitzt,  demselben  zum 
Vorteil  gereichten.  Der  Einfall  der  Mongolen  unter 
Bela  IV.,  die  es  ein  Jahr  hindurch  plünderten  und 
verheerten,  machte  es  zu  einer  menschenleeren  Wüste. 
Auf  der  Flucht  vor  den  Mongolen  war  der  letzte 
Schwarm  der  Jazygen  und  Kumanen  in  das  Land 
gekommen,  eines  Avilden  von  den  Magyaren  bitter 
gehassten  Volkes,  das  stets  Klinge  an  Klinge  mit 
ihnen  geblieben  war  und  ihre  Sitze  zu  wiederholten 
Malen  und  zwar  so  lange  verheert  hatte,  bis  es  selbst 
zwischen  Zemplen  und  der  Drau,  der  Theiß  und 
Komoru  welche  bekam,  in  denen  die  unstäten  No¬ 
maden  von  einst,  die  in  den  Schlachten  bei  Wiener- 
Neustadt  und  am  Marchfelde  neben  dem  schwerge¬ 
rüsteten  Ritter  die  leichte  Kavallerie  zu  Ehren  ge¬ 
bracht,  in  den  sesshaften  Ackerbauern  und  reichen 


Grundbesitzern  von  jetzt,  die  das  allerechteste  Ma¬ 
gyarisch  sprechen ,  kaum  noch  zu  erkennen  sind. 
Die  Wunden,  av eiche  diese  „letzte  Welle  der  Völ¬ 
kerwanderung“  und  die  Mongolen  der  ungarischen 
Ebene  geschlagen,  begannen  kaum  erst  zu  heilen, 
da  brach,  alles  verwüstend,  der  Bauernaufstand 
Georg  Dosza’s  aus,  da  zog  vom  Ostende  Europas 
über  Adrianopel,  Widdin,  Nikopolis,  Varna,  die 
Türkenfiut  immer  näher  und  näher,  bis  ihr  durch 
den  heldenmütigen  Johann  Hunyadi  und  Johann 
Kapistran  bei  Belgrad  noch  einmal,  freilich  nur  für 
eine  kurze  Weile,  Halt  geboten  wurde.  Die  Ver¬ 
bindung  mit  dem  Orient  brachte  es  mit  sich,  dass  auch 
am  ungarischen  Hofe  im  frühen  Mittelalter  byzan¬ 
tinische  Tracht  und  Sitte  herrschte.  Einen  BeAveis 
dafür  liefert  die  berühmte  Reiterstatuette  des  Pester 
Nationalmuseums,  da  die  ehernen  Bildsäulen  der  un¬ 
garischen  Könige  seit  1660  nicht  mehr  existiren, 
die  den  Platz  vor  dem  Dome  von  Großwardein  ge¬ 
ziert,  das  interessanteste  Denkmal  mittelalterlicher 
Plastik  in  Ungarn.  Die  ursprüngliche  Anlage  der 
Großwardeiner  Kathedrale  war,  wie  die  der  Dome  von 
Fünfkirchen,  Agram  und  Stuhl weißenburg,  romanisch. 
Dass  auf  die  Entwickelung  der  kraftvollen,  ge¬ 
drungenen  Erscheinung  des  romanischen  Stiles  in 
Ungarn  und  seiner  nationalen  Eigentümlichkeiten 
(vgl.  darüber  Schuaase  VH,  S.  629  ff.)  ebensogut 
die  französischen  Avie  die  deutschen  Bauschulen  ihren 
Einfluss  geübt  haben,  ist  bekannt.  Nur  ein  geringer 
Bruchteil  von  den  zahlreichen  gotischen  Kirchen 
des  Landes  gehört,  Avie  der  Dom  von  Kaschau,  in 
dem  sich  die  daselbst  typisch  gewordene  roma¬ 
nische  Kirchenform  mit  dem  centralen  Schema  der 
Trierer  Liebfrauenkirche  kreuzt,  noch  in  das  vier¬ 
zehnte  Jahrhundert;  die  meisten  zeigen  die  konstruk¬ 
tive  Nüchternheit  und  das  überladene,  ausgeartete 
Detail  des  sechzehnten.  Von  den  glänzenden  Profan¬ 
bauten  der  Gotik  in  Ungarn  ist  das  Ofener 
Schloss  des  Königs  Sigmund  ebensoAvenig  erhalten 
geblieben,  wie  das  einst  vielgerühmte  „irdische  Pa¬ 
radies“  auf  dem  Visegrad,  Aber  noch  steht  mit  ihren 
Zinnen  und  Mauern  die  Burg  des  großen  Guber¬ 
nators,  Väjda-Hunyäd.  Sie  bietet,  neuererzeit  wieder¬ 
hergestellt,  noch  eine  kleine  Vorstellung  von  der 
damals  an  Fürstensitzen  herrschenden  Pracht. 

Mit  der  Thronbesteigung  Karl  Robert’s  von 
Anjou  wurde  Italien  für  den  Geschmack  der  Großen 
und  des  Hofes  tonangebend;  die  Feldzüge  Ludwig’s 
des  Großen  in  Neapel  erschlossen  den  Söhnen  der 
Tiefebene  eine  neue  Welt.  Es  ist  bekannt,  dass  am 
Hofe  des  Mathias  Corvinus,  unter  dessen  Führung 


SS 


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die  Ungarn  zum  erstenmale  vor  den  Mauern  Wiens  Andrea  Sansovino’s  nach  Portugal  und  hundert  Jahre 

erschienen,  der  Humanismus  und  die  Renaissance  eine  vor  der  Thätigkeit  eines  Andrea  del  Sarto  und  Ben- 

Pflegestätte  gefunden  haben.  Leider  ist  seine  hochbe-  venuto  Cellini  am  Hofe  Franz’  L  Um  dieselbe 

rühmte  Ofener  Burg  zusamt  ihrem  Gemälde-  und  Sta-  Zeit,  da  der  Florentiner  den  ungarischen  Boden 

tu enschmuck  von  der  Hand  eines  Benedetto  da  Majano,  betrat,  zog  der  Goldschmied  aus  der  edlen  Familie 

Filippino  Lippi  und  Leonardo  da  Vinci  (?)  in  den  Ajtössy  aus  der  Heimat  in  die  Fremde.  Es  war  der 

Stürmen  der  Folgezeit  zu  Grunde  gegangen.  Die  Vater  Albrecht  Dürer’s,  bei  dem,  sein  deutsches, 

Reste  seiner  an  10000  Codices  zählenden  Hand-  mütterlicherseits  ererbtes  Gemüt  in  allen  Ehren,  an 

bibliothek,  der  Corvina,  hat  nach  der  Wieder-  seinem  Äußern  der  Magyarentypus,  je  älter  er  wurde, 

eroberung  Ofens  Graf  Marsigli  in  seine  Heimat,  nach  immer  mehr  zu  Tage  trat.  Verrät  nicht  auch  die 

Bologna  entführt.  Die  Büste  Ladislaus  des  Heiligen,  intime  Kenntnis  des  Pferdes  den  Abkömmling  des 

einst  im  Domschatze  von  Großwardein,  gegenwärtig  Reitervolkes?  Erinnern  seine  gespenstigen  apokalyp- 

in  Raab,  die  Cliorstühle,  die  Grabdenkmale  und  das  tischen  Reiter  nicht  an  Kumanen  und  Tataren,  an 

Tabernakel  in  der  Kirche  zu  Nyir-Bätor,  dem  Stamm-  das  von  der  Heimat  seines  Vaters  schon  erduldete 


Uoldgefäße  aus  dem  Schatze  vou  Nagy-Szent-Miklös. 


sitz  der  Bäthoris ,  sowie  die  auf  der  Puszta  von 
0-Kigyös  gefundenen  Gegenstände  vou  italienischer 
Niello-Arbeit.  dies  sind  die  spärlichen  im  Alf'öld  vor¬ 
handenen  rijerreste  der  Renaissance.  Wäre  nicht 
neuerdings  eine  \’ölkerwanderung  über  das  unglück- 
liclie  Jjand  daliingebraust,  wir  hätten  vielleicht  neben 
df*r  |)ortugiesischen  ,  spanischen,  französischen  und 
deutschen  auch  eine  ungarische  Renaissance  zu  ver¬ 
zeichnen.  Der  Einmarsch  Ludvvig’s  des  Großen  in 
Neapel  erfolgte  anderthalbhundert  Jahre  vor  dem 
Zuge  Karl’s  VI II.  nach  Italien,  die  Erhebung  Filippo 
Scolaris  auf  den  Sitz  der  reichen  und  mächtigen 
Temeser  tlesjiane  und  die  Verknüpfung  Ungarns 
init  der  (Jeschichte  der  florentinischen  Malerei  ira 
Namen  Masolino’s  siebzitr  Jahre  vor  der  Berufumr 


und  Avieder  geAvärtigte  Elend?  Im  Jahre  1498  war 
die  Apokalypse  erschienen.  Am  29.  August  152G 
hielten  die  von  Dürer  im  Geiste  geschauten  Dämonen 
auf  der  Wahlstatt  von  Mohäcs  ihre  grausige  Ernte. 

Mit  der  Eroberung  von  Temesvär  hatte  der 
Osmaue  den  Höhepunkt  seiner  kriegerischen  Erfolge 
in  Ungarn  erreicht.  Was  er  besaß  von  Ungarn, 
bildete  mit  dem  adriatischen  Meere  und  Temesvär 
als  Endpunkten  der  Basis  und  Fülek  als  Spitze  die 
vorgeschobene  Bastion  des  Orients,  Avas  von  Ungarn 
noch  übrig  geblieben,  Avar  nur  ein  schmales,  den 
Westen  vor  den  Einbrüchen  der  Türkenhorden  not¬ 
dürftig  schützendes,  von  letzteren  stets  verwüstetes 
Glacis.  Unglückseligerweise  musste  gerade  in  seiner 
kritischsten  Stunde  auch  noch  der  innere  Unfriede, 


U^’GARN  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


89 


der  Bürgerkrieg  die  Kräfte  des  Ltandes  zersplittern. 
Wie  gewisse  eigenartig  geformte  hölzerne  Grabdenk¬ 
male  der  ungarischen  Protestanten  beweisen,  haben 
sich  die  Reformationsideen  auf  dem  ungarischen 
Boden  mit  den  islamitischen  gekreuzt.  Der  Hoch- 
imd  Kleinadel,  die  Städte  und  das  Volk  wurden  erst 
lutherisch,  dann  calvinisch.  Aber  bald  traten  die 
Magnaten  unter  dem  Einflüsse  der  Gegenreformation 
in  großer  Anzahl  zur  alten  Kirche  zurück,  während 
ein  großer  Teil  des  niederen 
Adels,  die  Bürger  und  Bauern 
bei  der  neuen  Lehre  beharrten. 

Die  Beschützer  der  letzteren 
blieben  die,  mit  Ausnahme  der 
katholischen  Bäthory’s,  sämt¬ 
lich  protestantischen  Fürsten 
Siebenbürgens,  Bocskay,  Beth- 
len,  Rakoczy,  die,  um  sich  zu 
behaupten,  dem  Türken  die 
Huldigung  leisteten.  Nach  den 
Erbverträgen  waren  die  Habs¬ 
burger  die  Herren  im  Lande 
und  im  Interesse  seiner  Ver¬ 
teidigung  die  Förderer  der 
Glaubenseinheit,  der  Kräfti¬ 
gung  der  könighchen  Macht. 

Die  Not  der  Zeit  hatte  viele 
Menschen  elend  und  heimatlos 
gemacht.  Aus  ihnen  rekrutir- 
ten  sich  die  Hayducken  Bocs- 
kay’s,  die  Kurutzen  Emeich 
Tökölyi’s  undFranz  Raköczy’sll. 

Der  Name  und  die  Erschein¬ 
ung  der  Hajducken  hatten  kein 
so  glücklich  Los,  wie  der  Hus- 
zar,  der  im  siebzehnten  Jahr¬ 
hundert  und  in  seinen  Kriegen 
auftritt,  gleichzeitig  mit  der 
vermutlich  aus  türkischen  und 
tartarischen  Elementen  hervor¬ 
gegangenen  ungarischen  Na¬ 
tionaltracht,  die,  kaum  entstanden,  in  gewissen 
Kleidungsstücken,  z.  B.  in  der  „Hongreline“,  schon 
auf  die  europäische  Mode  und  auf  das  Aussehen  so 
mancher  Figur,  deren  Habitus  uns  Jacques  Callot 
überliefert,  ihre  Wirkung  äußert.  Während  der 
Huszar  in  den  großen  europäischen  Heeren  seine 
Nachahmungen  und  in  letzteren  auch  in  Bälde 
ebenbürtige  Gegner  findet,  gerät  der  Hajduck,  einst 
ein  tapferer  Krieger,  oft  eine  Geißel  des  Türken, 
aber  gelegentlich  auch  der  Heimat  selbst,  allgemach 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


in  die  Domestikenkarriere,  obwohl  er  den  Adel  erhalten 
von  Stephan  Bocskay,  der  ihn  in  seinem  heutigen 
Wohnsitze,  dem  sogenannten  Hajducken  -  Comitat 
(Hajdu-megye),  dessen  Hauptstadt  gegenwärtig  De- 
breczin  ist,  angesiedelt.  Die  grünseidene  Fahne  Bocs¬ 
kay ’s  wird  in  der  Stadt  Szoboszlö  noch  pietätvoll 
verwahrt;  die  Befestigungen  der  Hajducken  sind  in 
Trümmer  zerfallen  bis  auf  die  Citadelle  der  genannten 
Stadt  und  bis  auf  den  gewaltigen  stumpfen  Turm 
von  Nagy-Szalonta.  Türme, 
weit  ausblickende  Warten  bil¬ 
den  überhaupt  schier  die  ein¬ 
zigen  architektonischen  Denk¬ 
male  aus  Ungarns  Türken-  und 
Reformationsepoche.  Kirchen 
bauten  die  Protestanten  nicht, 
sie  übernahmen  sie  von  den 
Katholiken.  Die  Friedens¬ 
schlüsse  von  Karlowitz  und  von 
Passarowitz  besiegelten  die  Be¬ 
freiung  Ungarns  von  den  Tür¬ 
ken,  der  Szatmarer  Friede  von 
1711  das  Ende  des  Kurntzen- 
krieges.  Die  hervorragendsten 
Helden  des  letzteren,  die  Tö- 
kölyi,  Helene  Zrinyi,  Bercse 
und  Franz  Räköczy  H.  be¬ 
schlossen  ihr  Dasein  in  der 
Fremde.  Zahlreich  sind  in  Un¬ 
garn  die  Denkmale,  an  die  sich 
der  Name  des  mächtigen  Rä- 
koczy 'sehen  Fürstenhauses 
knüpft,  am  wichtigsten  dar¬ 
unter  vielleicht  die  Befesti¬ 
gungen  am  Südende  des  Zem- 
plener  Komitats,  das  von  den 
Glocken  (Harang),  die  auf  höl¬ 
zernen  Türmen  innerhalb  der 
letzteren  hingen,  den  Namen 
des  Harangod  erhalten  hat. 
Bekanntlich  läuft  auch  auf 
österreichischem  Boden  ein  Schanzenzug  von  Petronell 
Inder  Richtung  aufParendorf  und  den  Neusiedlersee. 
Man  weiß  nicht,  ward  er  gegen  die  Türken  oder 
ffeffen  die  Kurutzen  erbaut.  Der  Angst  vor  den 
letzteren  verdankt  aber  der  vielverlästerte  Wiener 
Linienwall  seine  Entstehung.  Verschwindet  er  und 
mit  ihm  eine  Fülle  von  Reminiscenzen  an  den 
zweiten  und  an  den  dritten  Anmarsch  der  Magyaren, 
an  die  Schlacht  bei  Trencsin  und  an  die  Schlacht 
bei  Schwechat  von  der  Erde,  dann  wird  auf  dem 

12 


Motiv  vom  Friedhöfe  zu  Nagy-Körös. 


90 


UNGARN  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


Wiener  Boden  nur  noch  das  Nengebäude,  die  Kanzel 
des  Kajiristan  und  die  Ruine  des  Kahlenberger 
Schlosses  die  Erinnerung  an  das  aus  der  ungarischen 
Tiefebene  über  die  Kaiserstadt  emporgestiegene  Ge¬ 
witter,  an  die  Türken-  und  Kurutzenzeit  bewahren. 

Von  den  Burgen  des  Landes  sind  die  meisten, 
wie  die  alte  Ofener  Feste,  erst  nach  dem  Einfalle 
der  Tartaren  erbaut  worden.  Die  Kanköburg  bei 
Nagj-Szöllös,  die  Burgen  von  Onod,  Erdöd,  Nyalab, 
Sarviir,  Adorjan,  Szent-Jobb,  Pankota,  Torontal-Sziget, 
Gyula,  Biics  sind,  wie  die  Katharinenburg  von 
Körösszeg,  nur  mehr  Ruinen,  die  Kastelle  der 
Telegdis,  Pazmans,  Toldys,  Csakys  in  der  Umgegend 
von  Großwardein,  deren  Große  und  Schönheit  der 
Italiener  Gromo  noch  im  16.  Jahrhundert  hervorhebt, 
Schutt,  oder  nicht  mehr  vorhanden.  Szinyer  ist, 
wie  die  Inselburg  Köly,  spurlos  verschwunden, 
Szekelyhid  demolirt,  Roszaly  und  Ecsed  verödet, 
Aran3ms-]\Iedgyed  gebrochen  und  nur  mehr  halb 
bewohnt,  Boros-.lenö,  noch  im  siebzehnten  Jahr¬ 
hundert  der  vielurastrittene  Schlüssel  Siebenbürgens, 
jetzt  zum  Teil  zu  einer  Honvedkaserne,  wenn  auch 
nicht  ganz  stilgerecht  wiederhergestellt.  Das  roma¬ 
nische  Kloster  zu  Szazd  (Borsod),  woran  sich  Erin¬ 
nerungen  an  die  Feldherren  Geza  und  Ladislaus 
knüpften,  haben  die  Wogen  der  Theiß  hinweg¬ 
gespült;  das  von  König  Aba  gegründete  Kloster  zu 
Saar  dient  als  landwirtschaftliches  Gebäude  und  die 
Gruft  des  Königs  als  Keller;  die  Niederlassungen 
der  , weißen  Mönche“,  i.  e.  der  Tempelherren  von 
Ersek-Apäti,  Püspöki,  Nagy-Kereki,  Dösza,  Darvas 
(Papok-hegye  =  Pfaffenberg)  und  Fekete-Bätor  hat 
die  Ungunst  der  Zeit,  bis  auf  wenige  Spuren,  hin¬ 
weggetilgt.  I)ie  Tempelherrenkirche,  jetzt  Franzis¬ 
kanerkirche  zu  Biics  wurde  im  vorigen  .lahrhundert 
neu  erriclitet;  die  romanische  Kirche  von  Poroszlö 
und  die  demselben  Stile  angehörige  Abtei  von  Debrö 
haben  den  Stürmen  der  Geschichte  getrotzt.  Wie 
den  letzteren,  so  ist  es  auch  einigen  gotischen  Denk¬ 
mälern  verhältnismäßig  gut  ergangen,  so  den  Kir¬ 
chen  von  Szekelyhid  und  Földerek,  der  alten  Mathias- 
kirehe  zu  Szegedin,  welche  noch  ein  prächtiges,  von 
fliesem  König  geschetd<les  und  gelegentlich  auf 
60  9(10  Thaler  ge.schätztes  Messgewand  bewahrt,  wie 
die  Kirchen  von  Szerencs  und  von  Nytr-Bätor,  die 
wir  oben  bei  dem  Räkciczy-  und  dem  Renaissance¬ 
kapitel  bereits  erwähnt  haben ,  und  wie  die  Kirche 
von  Szalärd,  die  .samt  den  beiden  zuletzt  genannten 
und  der  wegen  ihres  Querschitfes  intere.ssanten 
romanischen  Kirche  zu  (jcsa  gegenwärtig  dem  Kultus 
des  reformirten  Bekenntnisses  dient.  Aber  auch 


von  den  Monumenten  der  Gotik  ist  so  manches, 
und  nicht  eben  Unbedeutendes  der  Zerstörung  zum 
Opfer  gefallen.  Von  der  gotischen  Erzdechantei  zu 
Pankota  sind  erst  neuererzeit  Reste  aufgefunden 
worden,  ebenso  vom  uralten  romanischen  Dom  von 
Kalocsa,  und  von  der  romanischen,  durch  die  Tarta¬ 
ren  zerstörten  Kathedrale  von  Großwardein ,  an 
deren  Stelle  später  der  gotische  Prachtbau  sich  erhob, 
der  in  der  Reformationszeit  geplündert  und  entweiht, 
erst  unter  Gabriel  Bethlen,  um  für  dessen  Festung 
das  Material  und  den  Platz  zu  liefern,  abgebrochen 
wurde.  Trümmer,  mächtige  und  imposante  Trümmer 
sind  die  gotische  Kirche  zu  Nagylak,  die  gotischen 
Abteien  zu  Szer  und  zu  Aracs.  Ihr  Verschwinden 
ist  nichtsdestoweniger  nur  eine  Frage  der  Zeit  und 
auch  was  von  romanischen  Monumenten,  wie  ihre 
moosüberwachsenen  Wände,  als  Grabmal  einer  bar¬ 
barisch  vernichteten  Kultur  da  und  dort  noch  in  die 
Höhe  ragt,  hat,  wie  die  Taufkirche  zu  Csanad,  die 
berühmten  Propsteien  zu  Titel  und  zu  Bäcs,  die  als 
Ziegelrohbau  sehenswerte  Kirche  zu  Tamäsda,  und 
der  Turm  auf  der  Puszta  von  Herpäly  keine  lange 
Lebensdauer  noch  vor  sich.  Allenthalben,  wohin  man 
nur  blicken  mochte,  nichts  als  brandgeschwärzte 
Mauern,  unkrautüberwucherte  Schutthügel  und  ein 
entvölkertes,  ödes  Gebiet,  das  war  die  ungarische 
Tiefebene  nach  den  durch  zwei  Jahrhunderte  auf 
ihr  vor  sich  gegangenen  Kämpfen.  In  der  Puszta, 
d.  h.  Steppe,  sehen  wir  noch  heute  das  gewaltigste 
und  erschütterndste  Denkmal  aus  der  Tartaren-, 
Türken-  und  Kurutzenzeit.  Ihre  wildbewegte  Staffage : 
riesige,  von  der  wohlgegliederten  Hierarchie  der 
Gulyäs  (Rinderhirten),  Csiko’s  (Pferdehirten),  Kondäs 
(Schweinehirten)  und  Juhäsz  (Schafhirten)  gehütete 
Herden,  Brunneuschwengel,  zum  Schutze  vor  dem 
Sturme  errichtete  Windfänge,  nebst  der  Csärda 
(Puszten Wirtshaus),  deren  fiedelnden  Zigeunern  und 
gelegentlich  einsprechenden  „armen  Burschen“  ist  oft 
gemalt  und  geschildert  worden.  Wenn  die  himmel¬ 
hohe  Sandsäule,  von  der  Windsbraut  emporgewirbelt, 
unter  dunklen  Gewitterwolken  über  ihren  Plan  da¬ 
hinfährt  und  sich  in  weiter  Ferne  an  einem  gebor¬ 
stenen  Mauerrest  oder  an  einem  einsamen  „Kumauen- 
bügel“  bricht;  wenn  das  tausendstimmige  Gebrüll 
der  Herden  der  aufgehenden  Sonne  ihren  Salut 
entgegendonnert,  oder  wenn  als  immer  wiederkeh¬ 
render  „Traum  von  dem  Meere,  der  es  einst  bedeckte“ 
im  Zauberspuk  des  „Delibäb“,  der  Fata  Morgana, 
das  Spiegelbild  entlegener  Gewässer,  Bäume,  Städte 
und  Dörfer  in  glühender  Mittagshitze  sich  über  ihre 
schattenlose  Fläche  breitet:  da  übt  die  ringsum  nur 


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91 


vom  Himmelsgewölbe  begrenzte  Pusztaebene  auf  den 
Beschauer  einen  Eindruck,  der  an  zwingender  Ge¬ 
walt  nur  mit  dem  der  unendlichen  Welt  des  Ozeans, 
der  schneebedeckten  Alpen-  und  Himalayagipfel  und 
der  grenzenlosen  Wüsten  Asiens  und  Afrikas  sich 
vergleichen  lässt.  Dass  zu  den  charakteristischen 
Merkmalen  der  Puszta  eine  hochragende  Kirchenruine 
oder  ein  Hügel  gehört,  auf  dem  noch  vor  kurzem 
eine  solche  zu  sehen  war,  dass  auf  derselben  uralte 
Gemarkungen  von  ehemals  blühenden  Dörfern,  Kir¬ 
chen  und  Abteien  sich  finden,  deren  Bevölkerung 
auf  der  Flucht  sich  verloren  oder  in  den  Schlachten 
und  in  der  Sklaverei  ihren  Untergang  gefunden  hat 
und  deren  Namen  nur  noch  der  Historiker  aus  alten 
Urkunden  zu  Tage  fördern  kann,  dies  wird  weniger 
häufig  betont,  muss  aber  an  dieser  Stelle  unsererseits 
besonders  hervorgehoben  werden.  Die  Puszta  bleibt 
als  ein  ergreifendes  Gebilde  der  Phantasie  für  immer¬ 
dar  in  die  ideale  Welt  entrückt.  Sie  wird  vor 
unseren  Augen  immer  wieder,  wie  sie  war,  erstehen, 
so  lange  Eötvös’  Schilderung  im  „Dorfnotar“  nichts 
von  ihrem  Reiz  verliert  und  so  lange  nur  eines  von 
Nikolaus  Leuau’s  „Haidebildern“  uns  noch  zu  begei¬ 
stern  vermag.  Indessen  verwandelt  das  kräftig  pul- 
sirende  moderne  Leben  sie  mit  Fug  und  Recht  und 
im  Interesse  der  fortschreitenden  Kultur  wieder  in 
gut  bebautes,  dicht  bevölkertes  Ackerland  und  wird 
binnen  kurzem  noch  das  Wenige,  was  von  ihrer 
historischen  Erscheinung  sich  bis  in  die  Gegenwart 
gerettet  hat,  aus  dem  realen  Dasein  gestrichen  haben 
Wo  auf  einer  mageren  Hutweide  ehemals  dreißig 
Wagenspuren  neben  einander  zu  sehen  waren  und 
die  „armen  Bursche“  (szegeny  legenyek),  d.  h.  Räuber 
auf  ihren  flinken  Rennern  mit  Windeseile  dahin¬ 
brausten,  da  schießen  jetzt  Eisenbahnzüge  dahin 
ziehen  schnurgerade,  regelrecht  chaussirte  und  zum 
Schutze  vor  dem  Sande  mit  Gräben  und  Akazien¬ 
alleen  eingefasste  Straßen  sich  durch  das  Feld  und 
grüßen  den  Wanderer  aus  dichtumfriedeten,  wohl¬ 
gepflegten  Gärten  heraus  die  weißgetünchten  Wände 
schmucker  Tanyas  (Wirtschaftshöfe).  So  manches 
Pusztafeld  ist,  rationell  bewirtschaftet,  in  Bezug  auf 
Erträgnis  dem  altbebauten  Boden  schon  heute  be¬ 
deutend  überlegen.  Die  verborgene  Kraft  der  unga¬ 
rischen  Erde,  die  Jahrhunderte  hindurch  in  tiefem 
Schlummer  gelegen,  ist  wieder  erwacht.  Die  Ahnung 
des  großen  magyarischen  Staatsmanns  und  Schrift¬ 
stellers,  dessen  Ausspruch  wir  oben  unserer  Arbeit  als 
Motto  vorangestellt,  erfüllt  sich  in  großartiger  Weise. 

Obwohl  vielfach  verändert  im  Laufe  der  Zeit  ist 
die  protestantische  Kirche  zu  Nagy-Körös  doch 


immer  noch  eines  der  interessantesten  Baudenkmale 
aus  der  Türkenzeit.  Viel  einfacher,  schmuckloser 
und  bescheidener  noch  als  sie  und  eben  deshalb  ein 
rührendes  Bild  der  tiefen,  beim  Beginne  seiner 
neuen  Kulturarbeit  in  Ungarn  herrschenden  Armut 
ist  die  kleine,  nach  der  Türkenzeit  errichtete  „alte“ 
Domkirche  von  Großwardein.  Was  seither  auf  dem 
Gebiete  des  Kirchen-  und  Profonbaues  in  Ungarn 
entstanden  ist,  zeigt  die  bekannten  Formen  des 
Barock,  Rokoko  und  Klassizismus,  so  von  den 
Kirchen  die  zu  Bekes-Csaba,  Groß-Kikinda,  Nagy- 
Käroly,  Jäszbereny;  so  die  Marienkirche  und  der 
Dom  von  Temesvär  und  die  als  eine  der  schönsten 
Schöpfungen  des  calvinistischen  Stiles  in  Ungarn 
bekannte  Kirche  der  Reformirten  in  Feherto;  so  vor 
allem  samt  den  Episkopalpalästen,  die  zu  ihnen  ge¬ 
hören,  die  zweitürmigen  Barockkathedralen  von 
Kalocsa  und  von  Großwardein.  Die  Schlösser  und 
Edelsitze  sind  meist  weitläufige,  mit  Rücksicht  auf 
möglicherweise  wiederkehrende  Kriegszeiten,  gele¬ 
gentlich  auch  für  eine  eventuelle  Verteidigung  be¬ 
rechnete  Anlagen.  Bemerkenswert  diesbezüglich  sind 
die  Magnatenkastelle  von  Acsa  und  von  Pilis.  Ein¬ 
facher  wie  diese  erweist  sich  das  an  Stelle  der  ehe¬ 
maligen  Räköczyburg  errichtete  Schloss  von  Nagy- 
Käroly;  das  Schloss  der  Tisza’s  zu  Geszt  zeigt  die 
dreiflügelige  französische  Form.  Sehr  reich  an  statt¬ 
lichen  Sitzen  des  Kleinadels,  die  am  Ende  des 
vorigen  oder  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  ent¬ 
standen  sind,  ist  die  Fester  Ebene  in  der  Gegend 
des  Galga  und  Täpiö.  Allen  Profananlagen  voran 
müssen  die  seit  1749  erbaute  neue  Ofener  Königsburff 
und  das  jetzt  königliche  Schloss  von  Gödöllö  her¬ 
vorgehoben  werden.  Der  Name  des  Grafen  Anton 
Grassalkowich,  der  das  letztere  erbaut,  ist  auch  von 
ersterem  nicht  zu  trennen.  Von  den  einschlägigen 
Bauten  neuesten  Datums  stehen  Tisza-Dob,  Csfto 
und  U-Kigyös,  die  Schöpfungen  der  Andrässy- 
Csekonics  und  Wenkheim  obenan.  In  dem  mit 
Kaiser  Mathias  abgeschlossenen  Wiener  Frieden, 
der  mit  der  goldenen  Bulle  und  mit  1867  in  Bezug 
auf  staatsrechtliche  Wichtigkeit  in  einer  Linie  ge¬ 
nannt  zu  werden  verdient,  war  aus  den  nördlichen 
und  westlichen  Resten  des  alten  Ungarns  wieder 
ein  Reich  geschaffen  worden.  Mit  dem  Tode  Michael 
Apäffy’s  hatte  die  Sonderstellung  Siebenbürgens  ihr 
Ende  erreicht.  Zwei  Jahre  nach  der  Wiedereroberung 
Ofens  machten  die  Stände  auf  dem  Pressburger 
Reichstage  die  Krone  im  Hause  der  Wiedereroberer 
Grans,  Neuhäusels  und  Ofens  erblich.  1712  erkannten 
die  kroatischen  Stände  das  Erbfolgerecht  der  weib- 


12* 


Iliiuptiihitz  vuu  l'ebre^'/.in. 


UNGARN  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


93 


liehen  Linie  der  Habsburger  an.  1713  erließ  Karl  Yl. 
die  pragmatische  Sanktion;  1722  ward  ihm  die  An¬ 
erkennung  derselben  durch  den  Reichstag  durch 
eine  glänzende  Magnatendepntation  in  der  Wiener 
„neuen  Favorita“^  dem  heutigen  Theresianum,  kund- 
gethan.  Die  mit  Karl  VI.  beginnende  Periode  der 
politischen  Reformation  und  Regeneration  ward 
durch  die  Kriege  mit  Friedrich  dem  Großen,  mit 
den  Türken  und  mit  Napoleon  wieder  nnterbrocheu. 
Sie  haben  den  Fortschritt  des  Landes  wohl  zu 
stören,  aber  nicht  gänzlich  zu  hemmen  vermocht. 
Unter  Maria  Theresia  wij’d  der  Sinn  für  das  eigene 
Volkstum,  der  in  der  kosmopolitischen  Strömung 
der  Zeit  schier  gänzlich  abgestorben  schien,  wieder 
wach.  In  der  Periode  zwischen  1820  und  1840  tritt 
das  inzwischen  schon  in  der  Dichtkunst  zu  Ehren 
gelangte  magyarische  Idiom  in  Staat  und  Gesell¬ 
schaft  an  Stelle  des  lateinischen  und  fremden.  Die 
Zeit  bis  zum  Jahre  1848  führt  die  Nation  von  Stufe 
zu  Stufe  immer  höher  empor.  Sie  legt  mit  der 
Theißregulirung  und  dem  Eiseubahngesetz  wichtige 
Grundlagen  für  ihren  heutigen  Wohlstand  und  eilt 
auf  dem  Gebiete  der  Rechtsentwickelung  der  dies¬ 
seitigen  Reichshälfte  vielfach  voran. 

Nur  ein  Volk  wie  das  magyarische  kann  sich 
auf  der  weiten  Fläche  des  Alföld  behaupten.  Beweis 
dessen  die  Thatsache,  dass,  wie  Amerika  dem  einge- 
wanderteu  Weißen  binnen  kurz  oder  lang  den  Typus 
der  Rothäute  aufprägt,  in  dem  Klima  der  Theiß- 
und  Donauebene  jeder  ethnisch  fremde  Bestandteil 
der  Bevölkerung,  wenn  er  auch  den  Namen  und  die 
Sprache  der  Heimat  noch  eine  Weile  beibehält,  in 
Tracht  und  Sitte,  Gesicht  und  Gestalt,  Denken  und 
Empfinden  kernmagyarisch  wird.  Will  man  von 
der  Tüchtigkeit  und  Rührigkeit  der  magyarischen 
Rasse  sich  eine  Vorstellung  machen,  so  braucht 
man  nur  auf  den  zunehmenden  Flor  der  Städte  des 
ungarischen  Tieflands  einen  Blick  zu  werfen.  Zehn¬ 
mal  wurden  dieselben  von  Türken  und  Tartaren, 
Kurutzen  und  „Labanczen“  (Leopoldern),  von  Freund 
und  Feind  verheert  und  ausgeplündert;  Feuersbrünste 
haben  sie  vernichtet,  Seuchen  ihre  Bewohner  dezi- 
mirt  und  ausgetilgt.  Aber  jede  von  ihnen  erhob 
sich  immer  und  immer  wieder  zur  neuen  Blüte  und 
ist  heute  schöner,  wohlhabender  und  bevölkerter  als 
je  vorher.  Manche  von  ihnen,  wie  Pancsova(Panuca), 
Török-Beese  und  Temesvar  (Mansio  Tibiscum)  führen 
ihren  Ursprung  auf  Römerkastelle,  andere,  wie 
Jäszbereny,  auf  Attila,  und  wie  Csongräd  (Crni 
grad  =  Schwarzburg),  auf  die  Slaven,  wieder  andere, 
wie  Csanäd  und  Szatmär  -  Nemeti  auf  König 


Stephan  und  die  Königin  Gisela  und,  wie  Groß- 
beeskerek,  auf  Karl  Robert  von  Anjou  zurück. 
Hatvan  in  der  Mätraehene  hat  sich  durch  den  be¬ 
rühmten  Reichstag  von  1525,  Szolnok  durch  Lorenz 
Nyäry’s  heldenmütige  Verteidigung  gegen  die  Türken, 
Nyiregyhäza  als  trotzige  Filialhajduckenstadt  einen 
wohlbegründeten  Ruf  erworben.  Großkikinda  Ideibt 
durch  die  in  der  Nähe  gelegenen  Stammsitze  der 
Hunyadi’s  und  Szilägyi’s,  Nagy-Källo  als  Heimat 
des  Hauses  Kallay,  Nagy-Käroly  als  Resultat  der 
rastlosen  kolonisatorischen  Thätigkeit  des  gräflichen 
Hauses  Kärolyi  für  den  Historiker  und  Politiker 
bemerkenswert.  Ein  höheres  Interesse,  wie  diese 
Provinzialstädte  zweiten,  dritten  und  vierten  Ranges, 
das  dichtbevölkerte  Höd-Mezö-Väsärhely ,  das  alt- 
väterische  Szeiites,  das  oben  schon  angeführte  Haj- 
duckennest  Szobozlö  und  das  ehemals  handelsgewal¬ 
tige  Baja  mitinbegrilfen,  erwecken  die  in  Ungarns 
Geschichte  vielgenannten  „drei  Städte“  Czegled, 
Keeskemet  und  Nagy-Körös,  das  ernste,  energische 
und  reiche  Debreczin,  das  blutbefleckte  Arad  und 
das  erinnerungsreiche,  vielgeprüfte  Großwardeiu. 
Frühzeitig  haben  in  Keeskemet  Protestanten  und 
Katholiken  einander  gegenüber  Duldung  und  Ge¬ 
rechtigkeit  geübt.  Dieselbe  wird  eliensowenig  jemals 
vergessen  werden,  wie  die  für  den  intellektuellen  Auf¬ 
schwung  des  Landes  im  sechzehnten  Jahrhundert 
von  der  Hochschule  zu  Czegled,  in  der  Gegenwart 
vom  Gymnasium  zu  Nagy-Körös  erworbenen  Ver¬ 
dienste.  Aber  eine  Aveitans  höhere  Bedeutung  als 
alle  ihre  Schulen  besitzt  für  die  Geistesgeschichte 
der  Magyaren  „die  feste  Burg  der  vaterländischen 
Wissenschaft,  die  erleuchtende  Lampe  Ungarns  und 
Siebenbürgens“,  das  berühmte  protestantische  „Kol¬ 
legium“  Debreczins,  des  „calvinistischen  Roms“. 
Und  besitzt  man  einigen  Sinn  für  historische  Größe 
und  Tragik,  so  bleibt  es  fraglich,  Avas  einen  tiefer 
ergreifen  und  erschüttern  kann,  der  gewisse  Obelisk 
mit  den  dreizehn  Namen  auf  einem  Hügel  bei  Arad 
oder  die  Trümmer  der  Gabriel  Bethlen’schen  Festung 
in  GroßAvardein,  an  deren  Stelle  einst  über  der  Asche 
der  hl.  Ladislaus  „das  Pantheon,  die  Westmiuster- 
abtei  der  Könige,  Helden,  Bischöfe  und  Staats¬ 
männer  des  Reiches“  sich  erhoben. 

Die  Umgebung  der  Alföldstädte  bietet  mit  ihren 
Ahrenfeldern,  Puszten,  Tanyas,  Brunnenstangen  und 
Windmühlen  mehr  oder  weniger  überall  das  gleiche 
Bild.  Sie  ähneln  einander  aber  auch  im  Innern,  in 
der  Anlage  ihrer  Gassen  und  Plätze,  und  selbst  in 
dem  Typus  gewisser  öffentlicher  Gebäude.  Die  Dome 
von  Szartmär-Nemeti  und  von  Debreczin  z.  B.  zeigen 

O 


91 


UNGAh’N  IM  WERKE  DES  KRONPRINZEN  RUDOLF. 


beide  dasselbe  klassizistische  Schema  iu  der  Fassade, 
einen  giebelbekrönten  Portikus  zwischen  zwei  mit 
Kuppeln  ahgeschlosseueii  Türmen.  Diese  Art  von 
Kirchen  und  auf  dem  Gebiete  des  Profanbaues  etwa 
die  der  Überlieferung  nach  sämtlich  vom  „Palatin 
Joseph“  und  zwar  allüberall  in  gleicher  Form  er¬ 
bauten  Rathäuser  der  Jazygier  und  Kumanier  werden 
wohl  unter  denjenigen  zu  verstehen  sein,  wofür  in 
dem  uns  vorliegenden  Werke  da  und  dort  der  Name 
des  „Alföldstils“  gebraucht  wird.  In  scharfer  Weise 
trennt  die  von  Nord  nach  Süd  gezogene,  vielfach 
gewundene  Linie  der  Theiß  die  ungarische  Tiefebene 
und  deren  an  Rasse  gleiche  Bewohner  in  Bezug  auf 
Besitz  und  Erwerb,  Geschichte  und  Glauben  in  zwei 
von  einander  wesentlich  verschiedene  Hälften.  An 
ihrem  linken  Ufer  sehen  wir  das  bekannte  „Paradies 
der  Calviner“,  die  Sitze  der  reichen  und  intelligen¬ 
ten  Ackerbauer,  Viehzüchter  und  Fischer,  an  ihrem 
rechten  die  überwiegend  katholischen  Bezirke  der 
Industriellen,  Gärtner,  Fuhrleute  und  Schiffer.  Dort 
hat  die  Natur  in  ausgedehnten,  mit  hohem  Röhricht 
bedeckten  Sümpfen  und  Morästen  für  sichere  Zu¬ 
fluchtstätten  vor  Türken  und  Tataren,  Missionären 
und  Protestantenverfolgern  gesorgt,  hier  der  Mensch 
die  schon  oben  erwähnten  uralten  Schanzenzüge  und 
die  Reihe  jener  Städte  geschaffen,  die  in  den  Kriegen 
des  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhunderts 
als  Festungen  fast  ausnahmslos  zu  irgend  einer 
größeren  oder  geringeren  Bedeutung  gelangt  sind. 
Die  wichtigste  unter  den  letzteren  ist  Szegedin,  die 
zweitgrößte  Stadt  des  Reiches,  auch  „das  katholische 
Debreczin“  genannt.  In  dem  Neubau  dieser  Stadt, 
deren  jüngste  furchtbare  Heimsuchung  wir  alle  noch 
miterlebt,  ward  das  Ring.straßensystem  zur  An¬ 
wendung  gebracht.  Es  hieß,  dass  die  Stadt  ihre 
Größe  vor  den  Türkenkriegen  nicht  wieder  erreichen 
werde,  bevor  die  Vorfahren  in  ihre  alten  Wohnsitze 
iiicbt  zurückgekehrt.  Sie  kamen  allesamt  wieder 
vom  l'J-ieflliofe  der  Oberstadt  als  Leichen  in  ihren 
von  der  stürmenden  'l’beiß  aus  den  Gräbern  heraus¬ 
gerissenen  Särgen.  Die  vom  Schicksal  diktirte  Vor¬ 
bedingung  für  die  gegenwärtige  Blüte  Szegedins 
ward  in  der  Unglücksnacbt  vom  12.  März  1879  in 
grmieuerregender  Weise  erfüllt. 

Wer  noch  vor  vierzig  Jahren  von  der  Höhe 
des  Blocksberges  bei  Budapest  das  entzückende 
Panorama  des  Alföld  überschaute,  dem  bot  sich  rings 
um  den  am  linken  Douauufer  gelegenen  Stadtteil 
eine  öde,  wüste,  unbepflanzte  Gegend.  Das  war  das 
historisch  berühmte  Räkosfeld,  auf  welchem  nach 
dem  Gesetze  Wadislaw  II.  am  St.  Georgstage  jedes 


dritten  Jahres,  während  der  König  mit  den  Magnaten 
in  der  Ofener  Johanneskirche  tagte,  die  Kirchen¬ 
fürsten  und  Bannerherren,  die  Barone  des  Reiches 
und  der  landbesitzende  Adel  zum  Reichstag  sich 
versammelte,  um  ohne  Vorsitzende  und  ohne  Proto¬ 
koll  seine  Beschlüsse  zu  fassen,  mitunter  gegen  den 
König  zu  revoltiren,  oftmals  vom  Schauplatze  seiner 
etwas  wilden  parlamentarischen  Thätigkeit  direkt  in 
das  Feldlager  aufzubrechen.  In  noch  höherem  Grade 
als  auf  der  Puszta  hat  die  neueste  Zeit  auf  diesem 
Gefilde,  das  in  vergangenen  Tagen  dem  Magnaten 
selbst  zum  Gegenstand  von  allerunterthänigsten 
Bitten  um  eine  königliche  „Donation“  für  viel  zu 
schlecht  erschien,  das  von  altersher  ererbte  Gepräge 
verwischt.  An  der  Stelle  der  Sandhügel  erheben 
sich  gegenwärtig  Fabriken,  Villen,  kleine  Gemeinden, 
Arbeiterwohnungen,  Haine  und  Gärten.  Wo  es  vor 
etlichen  Dezennien  kaum  halbwegs  praktikable  Straßen 
gab,  schießen  jetzt  Eisenbahnzüge  nach  allen  Rich¬ 
tungen  der  Windrose  dahin.  Die  Entwickelung  der 
Hauptstadt  des  Reiches  von  dem  'Momente  an,  da 
die  Kelten  an  der  Stelle  des  heutigen  Alt-Ofen 
(Ö-Buda)  die  Niederlassung  Ak-ink  (reiches  Wasser, 
römisch  Aquincum)  gegründet,  bis  auf  unsere  Tage, 
in  denen  sie  das  „Herz  des  Landes“  geworden,  zu 
schildern  hat  der  dritte  Band  des  Ungarn  gewid¬ 
meten  Teiles  im  Werke  des  Kronprinzen  Rudolf 
sich  zur  Aufgabe  gestellt.  Wir  zweifeln  nicht,  dass 
er  uns  ebenso  viel  des  Anregenden  und  Interessan¬ 
ten,  wie  die  beiden  bereits  abgeschlossenen  bieten 
wird.  Rüstig  ist  Budapest  seit  dreißig  Jahren 
zur  modernen  Großstadt  vorgeschritten.  Die  völlige 
Verwirklichung  jenes  prächtigen  Bildes,  „das  aus 
dem  Nebel  der  Träume  schon  hervorgetreten,  in 
immer  bestimmterer  Gestaltung  denen  entgegen¬ 
wächst,  die,  während  es  sich  verjüngte,  in  ihm  ge¬ 
altert  sind“,  ist  nicht  mehr  allzufern.  Aber  wieder 
steht,  wie  schon  zu  öfteren  Malen,  „eine  lange, 
kriegerisch  gescharte  Fronte  am  Ostrande  von 
Europa“  und  Ungarn  im  Vordertreffen  der  reich¬ 
gegliederten  Welt  des  abendländischen  Christentums. 
Dass  der  Brennpunkt  seines  nationalen  Lebens,  wie 
bisher,  in  stetiger  Entwickelung  blühe  und  gedeihe, 
dass,  kömmt  es  zur  Entscheidung  zwischen  Völker¬ 
freiheit  und  ertötendem  Despotismus,  zwischen  Rom 
und  Byzanz,  zwischen  „den  Legionen  des  Westens 
und  des  Ostens“,  was  es  gepflanzt  und  geschaffen, 
nicht  wieder,  wie  vor  Zeiten,  vernichtet  und  nieder¬ 
getreten  werde:  dies  ist  etwas,  das  mit  den  Ungarn 
jeder  aufrichtige  Freund  des  Fortschritts  der  Mensch¬ 
heit  wünschen  mus.s. 


Photogravure  Meisenbach,Riffarth&Co.,Ber'lin. 


C.v  GROSZHFJM 


Druck  von  li.Angofr  in  P  ‘rlii. 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


KUNSTGESCHICIITLICHE  FINDLINGE  AUS  DEM 
K.  S.  HAUPTSTAATSARCHIVE. 

JIITaETEILT  VON  THEODOR  DISTEL  IN  DRESDEN. 

(Schluss.) 

Raphael  und  Therese  *)  Mengs  waren,  wie  schon  N.  F.  II, 
(1S91)  S.  279  ff.  angefügt  werden  sollte,  Kinder  Ismaels  (nicht 
Israels,  wie  oft  angegeben  wird),  der  aber  früher,  als  ge¬ 
wöhnlich  behauptet  wird,  (1690)  geboren  worden  ist.  Denn 
zwei  Tage  nach  seinem  Tode  (26.  Dezember  1764)  schi-eibt 
seine  Witwe,  die  zweite  Frau,  die  eine  geborene  NHzscher 
war  und  Anna  Katharina  hieß  (Bianconi-Müller  a.  angef.  0. 
S.  40  nennt  sie  nur  Katharina),  ihr  Mann  sei  im  77.  Lebens¬ 
jahre  gestorben.  Sie  bittet  gleichzeitig  um  die  „gewöhnlichen 
Gnadenmonate  nebst  einer  gnädigst  zu  bestimmenden  Pexision 
auf  ihre  vielleicht  noch  wenige  Lebenszeit“,  wird  aber 
damit,  auf  Vortrag  Christian  Ludwig  von  Hagedorns  hin, 
abgewiesen.  Ich  nehme  hier  gleich  noch  die  Gelegenheit 
wahr,  nach  den  Akten  zu  bemerken,  dass  der  aus  der  strengen 
Zucht  des  Vaters  entlaufene  Karl  Moritx  M.  nach  Linz  in  Ober- 
Österreich  ging,  dort  Hofmeister  bei  dem  Sohne  des  Gra  fen  von 
Seean  und  dem  des  Baron  von  Grünthal  wurde  und  später 
über  20  Jahre  lang  französischer  und  italienischer  Sprach¬ 
lehrer  an  der  adligen  Ritterakademie  in  Kremsmünster  war. 
Seine  Frau  hieß  Maria  Klara  und  überlebte  ihren  Mann. 
Die  Tochter  Ismaels,  Juliane  Charlotte,  war  auch  Hofmalerin, 
ging  aber  unter  dem  Namen  Maria  Spcra)tda  ins  Kloster 
Belvedere  in  der  Marca  d’  Ancona.  Wegen  der  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  in  Kopenhagen  an  der  Pest  gestorbenen 
22  Kinder  Ismaels  u.  s.  w.  habe  ich  bereits  vor  über  Jahres¬ 
frist  um  Nachrichten  nach  dort  geschrieben,  eine  Antwort 
jedoch  nicht  erhalten. 

Zur  Geschichte  des  K.  Grünen  Gewölbes  in  Dresden  2).  Zu 
Anfang  des  Jahres  1817  kam  der,  seit  Elnde  1801  (verpflichtet 
am  5.  Januar  1802)  angestellte  Inspektor  am  K.  Grünen  Ge¬ 
wölbe  zu  Dresden,  Hofrat  (Freiherr)  Peter  Ludwig  Heinrich 
7-on  Bloch,  wegen  seiner  enormen  Unterschleife  2),  welche  er 
an  ihm  anvertrauten  Pretiosen  begangen  hatte,  in  Unter¬ 
suchung;  in  seinem  Bette  wurde  er  am  7.  Januar  genannten 
.lahres  verhaftet.  Der  mir  im  Originale  vorliegende  Leipziger 
Schöffenspruch  ^)  welcher  im  September  darnach  erging  und 
nicht  weniger  als  4.3  Thlr.  12  Gr.  kostete,  enthält  die  Worte: 
,,Dass  [er]  nach  vorgängiger  Ausstellung  am  Pranger  mit 


1)  Sie  kopirte  auch  Correggio's  Heilige  Nacht  in  der  Dresdener 
Galerie  (Katalog  S.  797,  Nr.  63)  für  die  Kurfürstin  zu  Sachsen,  Maria 
.Josepha  von  Österreich.  Ihr  Selbstbildnis  und  das  ihrer  Schwester, 
der  Klosterfrau,  befinden  sich  ebendaselbst  (Katalog  S.  784/5,  Nr.  178/9)| 
desgleichen  das  Ismaels  und  von  ihm  zwei  seines  bedeutendsten  Sohnes 
(Katalog  S.  782,  Nr.  165  ff.). 

2)  Nach  den  Akten  des  K.  S.  Ilauptstaatsarchivs :  IV.  V.,  20 
fol.  27  (von  vorn)  Nr.  Uc  (Voll.  I.-III.  und  Protokoll),  19  fol.  2b 
(Lebensbeschr.)  Nr.  7  d.  Lokate  1097*,  2414*,  2935*,  Vol.  I.  II.  12354* 
31124*,  14112*,  896*  und  0.  Der  Verbrecher  war  um  1764  als  Sohn 
des  Generalmajors  d.  I.  pp.  Hans  Karl  (f  1777)  geboren.  Seine 
Mutter  nannte  ihn  1777  einen  ,, hoffnungsvollen“  Sohn. 

3)  Der  Hofjuwelier  Globig  fand  um  jene  Zeit  einen  Defekt  an 
der  Epaulette  der  grossen  Rauten garnitur  (ein  Stein  darin  war  gegen 
einen  geringeren  und  untergewichtigen  vertauscht  worden  und  671/5 
Grän  gegen  50  Grän,  anders  der  Katalog). 

4)  Man  vgl.  über  das  daran  befindliche  Siegel  (Nr.  5)  meinen 
Aufsatz  in  der  Zeitschrift  der  Savignystiftung  für  Rechtsgeschichte, 
germanistische  Abteilung  Bd.  X.  (1889)  S.  96. 


vierjähriger  Zuchthausstrafe  zu  belegen,  auch  [seine]  längere ') 
Enthaltung  im  Zuchthause  nach  beendeter  Strafzeit  höchstem 
Ermessen  anheimzustellen“  sei.  Auch  die  Leipziger  Juristen¬ 
fakultät  2)  sprach  im  Februar  1818  noch  in  der  Sache  und 
ließ  die  Prangerstrafe  fallen.  Bitten  seines  einzigen,  noch 
minderjährigen  Kindes  —  seine  Frau  war  todt  —  der 
später  verehelichten  D.,  halfen  nichts,  am  8.  April  1818  kam 
er  in  die  Strafanstalt  zu  Zwickau,  am  5.  März  1820  in  die 
zu  Waldheim  und  sollte  hier,  da  man  kein  sicheres  Unter¬ 
kommen  für  ihn  hatte,  noch  ein  fünftes  Jahr  bleiben,  welches 
jedoch  ein  Gesuch  seines  Schwiegersohnes,  eines  bekannten 
Malers  2),  verkürzen  half,  so  dass  er  am  10.  Januar  1823  auf 
freien  Fuß  kam  und  sich  nach  Meißen  gewendet  zu  haben 
scheint.  Der  Katalog  des  K.  Grünen  Gewölbes  zu  Dresden  der 
Gebrüder  Erbstein  (1884)  dürfte  manchen  schätzenswerten  Zu¬ 
satz  erfahren,  wenn  vor  einer  Neubearbeitung  derselben  die 
angezogeneu  Akten  durchgesehen  werden.  Ich  will  hier  nicht 
vorgreifen,  bemerke  nur  noch,  dass  das  Gesamtobjekt 
einen  Wert  von  fast  500ÜÜ  Thalern  ausmachte,  welches 
durch  das  Vermögen  v.  Blocks  (hauptsächlich  hatte  er 
große  Privatsammlungen  ^) ,  soweit  einzelnes  nicht  wieder 
erlangt  wurde,  nicht  zur  Hälfte  gedeckt,  auch  seine  Helfers¬ 
helfer  (Abnehmer)  zum  Teil  bestraft  wurden.  Manches  im 
K.  Grünen  Gewölbe  aus  jener  Zeit  vermisste  Stück  (man  vgl. 
z.  B.  Katalog  S.  201,  Anm.  la  E.)  dürfte  v.  BL  ebenfalls 
veruntreut  haben.  Als  Kuriosum  sei  noch  angefügt,  dass 
V.  Bl.  den  König  Friedrich  August  1.  durch  Übersendung 
einer  Silhouette  desselben  aus  zusammengeklebten  —  Wanzen 
von  dem  Gefängnisse  aus  zu  rühren  versucht  haben  soll.  — 
Porträts  der  Frau,  von  Keitschütx ,  geh.  von  Haugwitx, 
lind  des  Hofnarren  Fröhlich  —  letzteres  von  Anton  Kern  — 
und  ein  solches  Joseph  Grassi's  ini  Privatbesitzer).  Die 
beiden,  hier  zu  erwähnenden,  mir  gehörigen  Brustbilder 
(in  Öl.  auf  Holz)  sind  gute  und  seltene  Stücke.  Das 
der  Ursula  Margaretha  von  Heilschütz ,  geb.  von  Haugwitz, 
der  Mutter  der  Geliebten  des  Kurfürsten  Johann  Georg 
IV.  zu  Sachsen,  Magdalena  Sibylla,  Gräfin  von  Rochlitz, 
ist  16  cm  hoch  und  hat  ovale  Form.  Sicherlich  hat  das 
Original  dem  leider  nicht  zu  ermittelu  gewesenen  Maler  ge¬ 
sessen.  Das  wohl  getroffene  des  kursächsischen  und  könig¬ 
lich  polnischen  (unter  den  beiden  Augusten)  Hofnainen  Jo¬ 
seph  Fröhlich,  mit  dem  Spitznamen  „Graf  Saumagen“^)  zeigte 


1)  Dieser  Zusatz  beruhte  auf  dem  Generale  vom  30.  April  1783 
§  16,  auf  die  const.  IV.,  41  (qualiüzirte  Unterschlagung)  war  von 
Block  nicht  mit  verpflichtet  worden. 

2)  Das  Original  liegt  mir  ebenfalls  vor,  dasselbe  hat  zwar  kein 
Datum,  doch  datirt  das  Konzept  der  Rechtsfrage  vom  16.  Eebr.  1818. 

3)  Auch  dessen  Sohn  ist  ein  noch  lebender  (daher  verschweige 
ich  hier  alle  Namen  der  h'amilienglieder),  angesehener  Maler. 

4)  Goethe  gedenkt  in  seinem  Tagebuche  unter  d.  25  September 
1810  derselben,  wenn  er  auch  ihren  Besitzer  ,, Bloch“  schreibt. 

5)  Ein  vortreffliches  Porträt  (mit  demSchuurrbärtchen)  auf  Perga¬ 
ment,  (Brustbild  23  cm  hoch  und  17  cm  breit)  des  Malers  Jo.ieph  Grassi 
(1758—1838),  welches  älter  ist,  als  sein,  in  den  üfficien  zu  Florenz 
befindliches  .Selbstporträt,  habe  ich  kürzlich  ebenfalls  von  einem 
Händler  erworben.  Die  meisten  Arbeiten  von  ihm  besitzt  bekannt¬ 
lich  die  Gemäldesammlung  zu  Gotha. 

6)  Man  vergl.  meine  Mitteilungen  in  von  Webers  Archiv 
für  die  Sächsische  Geschichte,  N.  F.  V.  (1879),  87  ff.  Einen  weiteren 
Aufsatz  über  den  Narren  werde  ich  demnächst  im  Neuen  Archive  für 
Sächsische  Geschichte  und  Altertumskunde  erscheinen  lassen. 


96 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


bei  der  Renovation  auf  der  Rückseite  seinen,  schon  längst 
aufgeschrieben  gewesenen  Namen,  sowie  den  des  damals 
schon  angesehenen  ]\Ialers  Anton  Kerns  (1710 — 1747),  und  die 
Jahreszahl  1737.  Sonstige,  auch  phantastische  Abbildungen 
des  Narren  sind  erwähnt  im  „Sachsengrün“  I.  (1861),  62  ff., 
in  der  „Zeitschrift  für  Museologie  und  Antiquitätenkunde  I. 
(1878),  Nr.  1  und  4  (1883),  Nr.  9  und  20,  den  nachher  anzu¬ 
ziehenden  Katalog  des  k.  Grünen  Gewölbes  8.  116  unter 
Nr.  8  und  den  angezogenen  der  k.  Gemäldegalerie  Nr.  602. 
Auf  einem  Bilde  Louis’  de  Silvester  (1675 — 1750)  im  Billard¬ 
zimmer  des  k.  Jagdschlosses  zu  Moritzburg  bei  Dresden  ist 
auch  Fröhlich  zu  sehen,  als  Fischer  dargestellt. 

Nachtrag.  Das  Seite  70  mitgeteilte  Malerzeichen  dürfte 
vielleicht  früher,  anstatt  des  Ovals  in  der  Mitte,  ein  G.  ge- 
liabt  haben,  also  rechts  offen  gewesen  sein,  mithin  J.  G.  L. 
lauten.  Dann  käme  der  spätere  Cranachschüler,  von  welchem 
z.  B.  die  Gothaer  Galerie  unter  Nr.  354  ein  Bildnis  Friedrichs 
des  Weisen  vom  Jahre  1566  (auf  hellblauem  Grunde:  Eichen¬ 
holz  0,54  cm  hoch  und  0,59  cm  breit)  besitzt,  in  Frage. 
(Nach  freundlicher  Mitteilung  des  Herrn  Oberregierungsrates 
Dr.  W.  von  8eidlitz  in  Dresden.) 


O  JKe  Vorstand sicahl  im  Verein  Berliner  Künstler  und 
die  Ansstellnngsfragc.  Nachdem  Prof.  A.  v.  Werner  bei  der 
vorjährigen  Vorstandswahl  nur  mit  einer  8timme  Majorität 
zum  Vorsitzenden  gewählt  worden  war  und  sich  auch  im 
Laufe  des  Jahres  eine  gewisse  Gegenbewegung  gegen  ihn 
geltend  gemacht,  hatte  er  die  Erklärung  abgegeben,  bei 
einer  _ etwaigen  Wiederwahl  auf  das  Amt  des  Vorsitzenden 
verzichten  zu  wollen.  Man  legte  diese  Erklärung  dahin 
aus,  dass  er  die  Majorität  des  Vereins  nicht  mehr  hinter 
sich  zu  haben  glaube.  Als  Gegenkandidaten  wurden  Prof 
Carl  Becker,  der  Präsident  der  Akademie  der  Künste,  und 
der  Architekt  Prof.  Fritr.,  Wolff  genannt.  Bei  der  am 
3.  Januar  vorgenommenen  Vorstandswahl  hat  sich  jedoch 
die  Mehrheit  der  sehr  zahlreich  besuchten  Versammlung 
wiederum  zu  Gunsten  A.  v.  Werner’s  entschieden,  dem  nur 
ein  Gegenkandidat  in  der  Person  des  Prof.  Becker  gegen- 
übcrgestellt  worden  war.  A.  v.  Werner  erhielt  155  8timmen, 
während  auf  J’rof  Becker  nur  115  fielen.  Zum  ersten  Schrift¬ 
führer  wurde  Prof.  Fritz  Wolff  gewählt,  der  die  Wahl 
jedoch  ablehnte.  An  seine  8telle  trat  der  Kupferstecher 
Prof  Ihnis  Meyer.  Zum  zweiten  Schriftführer  wurde  der 
Bildhauer  Max  Unger,  zum  ersten  Säckelmeister  der  Maler 
F.  Körner,  zum  zweiten  der  Baumeister  und  zum 

Archivar  der  Maler  II.  Hep.gcr  gewählt.  —  Nach  dem  Berichte 
des  Säckelineisters  beläuft  sich  das  Vermögen  des  Vereins 
auf  rund  2S70(Xl  M.  —  Vor  der  Wahl  machte  A.  v.  Werner 
Mitteilungeii  über  den  jetzigen  Stand  der  Ausstellungs¬ 
angelegenheit,  die  jetzt  in  ihren  Grundzügen  entschieden 
worden  ist.  Danach  hat  der  Kaiser  bestimmt,  dass  die 
grollen  Kunstausstellungen  in  Zukunft  von  der  Akademie 
der  Künste  und  dem  Verein  gemeinschaftlich  zu  ver- 
ansLilten  und  anzuordnen  seien,  und  zwar  bei  gleicher 
finanzieller  Verplliehtiing  und  gleicher  Berechtigung.  Da¬ 
neben  soll  aber  auch  den  Düsseldorfer  Künstlern  eine  Mit¬ 
wirkung  an  der  Leitung  der  Ausstellung  und  an  den  ver¬ 
schiedenen  Kommissionen  eingeräumt  werden.  Der  Uber- 
huss  s(dl  zu  gleichen  'I’eilen  an  die  Akademie  und  den 
Kün.^tlcrverein  übergehen.  Die  Akademie  will  ihren  Teil 
zum  Ankauf  von  Kunstwerken  verwenden.  Ursprünglich 
■soll  an  entscheidender  Stelle  die  Neigung  bestanden  haben, 


dem  Verein  die  ausschließliche  Leitung  der  Ausstellungen  zu 
überlassen.  Dass  jetzt  eine  andere  Entscheidung  getroffen 
worden  ist,  wird  in  einigen  Zeitungen  mit  dem  Fall  Munch 
in  Verbindung  gebracht.  Dem  gegenüber  muss  daran 
erinnert  werden,  dass  sich  bisher  die  Jury  der  von  der 
Akademie  geleiteten  Ausstellungen  ebenso  ablehnend  gegen 
die  Auswüchse  des  Naturalismus  verhalten  hat  wie  die 
Mehrheit  der  Mitglieder  des  Künstlervereins  im  Falle  Munch. 

H.  A.  L.  Dresden.  Am  3.  Januar  starb  der  außerordent¬ 
liche  Professor  am  Kgl.  Polytechnikum  Dr.  Richard  Steche. 

Ein  Gemälde  von  J.  F.  Millet,  „Die  Schäferin“,  ist 
aus  der  8ammlung  des  verstorbenen  belgischen  Ministers 
van  Praet  in  Brüssel,  angeblich  für  den  beispiellos  hohen 
Preis  von  1200000  Frank  in  den  Besitz  des  Herrn  Chauchard 
in  Paris,  eines  bekannten  Millet- Enthusiasten,  übergegangen. 
Nach  anderen  Nachrichten  hätte  Herr  Chauchard  für  dieses 
Bild  und  Meissonier’s  „Mann  mit  dem  Degen“  zusammen 
nur  700000  Frank  gegeben.  Vermutlich  sind  beide  Nach¬ 
richten  fälsch  und  nur  darauf  berechnet,  8timmung  für  den 
nordamerikanischen  Kunstmarkt  zu  machen. 

ZU  DEN  TAFELN. 

A.  R.  Bildnis  des  Architekten  C.  von  Großheim.  Photo¬ 
gravüre  von  Meisenbach,  Riffarth  &  Co.  in  Berlin  nach  dem 
Gemälde  von  Gurt  Stoeving.  Das  Porträt  des  bekannten  Ber¬ 
liner  Baukünstlers,  das  unsere  Photogravüre  mit  einer  in 
allen  Teilen  gleichmäßigen  Klarheit,  unter  treuer  Wahrung 
der  künstlerischen  Handschrift  wiedergiebt,  hat  seinen 
8chöpfer  auf  der  vorjährigen  Ausstellung  der  Berliner  Aka¬ 
demie  zuerst  weiteren  Kreisen  bekannt  gemacht.  Curt 
8toeving  ist  erst  nach  mannigfachen  Wandlungen  seiner 
künstlerischen  Absichten  zur  Malerei  gelangt.  1863  in  Leipzig 
geboren,  bereitete  er  sich  auf  der  dortigen  Baugewerkschule 
für  den  Architektenberuf  vor  und  setzte  seine  8tudien  dann 
auf  dem  Polytechnikum  in  8tuttgart,  besonders  unter  der 
Leitung  von  v.  Leins,  fort.  Hier  bot  sich  ihm  die  Gelegen¬ 
heit,  sich  auch  im  Aquarellmalen  nach  der  Natur  auszu¬ 
bilden,  und  8tudienausflüge  in  die  Umgegend  8tuttgarts,  nach 
Maulbronn,  Hirsau,  Heidelberg  u.  s.  w.  trugen  dazu  bei,  seinen 
8inn  für  das  Malerische  zu  wecken.  1884  nach  Leipzig  zurück¬ 
gekehrt,  bildete  er  sich  anderthalb  Jahre  lang  unter  der 
Leitung  des  Professors  Caid  Werner  weiter  in  der  Aquarell¬ 
technik  aus.  Den  Entschluss,  sich  gänzlich  der  Malerei  zu 
widmen,  fasste  er  aber  erst  während  eines  vierjährigen  Auf¬ 
enthalts  in  Berlin,  wo  er  noch  als  Architekt  im  Atelier  von 
Kayser  und  v.  Großheim  thätig  war,  daneben  aber  auch 
fleißig  Figurenstudien  machte.  Ein  einjähriger  Aufenthalt 
in  Italien  führte  vollends  den  Umschwung  zur  Malerei  herbei. 
Zwar  malte  er  vorzugsweise  architektonisch  interessante 
Interieurs;  doch  machte  er  auch  landschaftliche  und  figür¬ 
liche  8tudien  und  die  ersten  Versuche  in  der  Ölmalerei. 
Nach  seiner  Rückkehr  nach  Berlin  setzte  er  diese  Versuche 
auf  eigene  Hand,  ohne  Lehrer,  fort,  und  es  gelang  ihm  bald, 
sich  eine  solche  Gewandtheit  im  koloristischen  Ausdruck  an¬ 
zueignen,  dass  dem  Bildnis  von  Großheim’s  niemand  mehr 
den  Autodidakten  anmerkte.  Vorher  und  nachher  hat  er 
noch  eine  Reihe  anderer  Bildnisse  gemalt,  von  denen  noch 
das  des  Professors  Carl  Werner  in  seinem  84.  Lebensjahre 
(Aquarell)  besonders  hervorzuheben  ist,  weil  es  das  städtische 
Museum  in  Leipzig  angekauft  hat.  8eit  dem  Herbst  v.  J. 
ist  8tocviiig  an  Stelle  des  verstorbenen  Prof.  Paul  Graeb 
als  Dozent  für  Architekturmalerei  an  der  technischen  Hoch¬ 
schule  in  Berlin-Charlottenburg  thätig. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxotv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


ZWEI  RADIRUNGEN  GOETHES. 

VON  G.  WUSTMANN. 


N  einem  Leipziger  Naclilass 
sind  or  kurzem  zwei  [viipfer- 
platten  zum  Vurscliein  ge¬ 
kommen,  die  der  junge  Goethe 
in  seiner  Leipziger  Studenten¬ 
zeit  radirt  hat,  und  die  Erben 
haben  sie  auf  meine  Bitte 
der  Leipziger  Stadtbibliothek 
überlassen.  Es  sind  ein  paar  Gegenstücke,  beide 
nach  Landschaften  von  Alexander  Thiele;  die  eine 
hat  Goethe  seinem  Vater  gewidmet,  die  andre  seinem 
Freund  und  Studiengenossen,  dem  Dr.  Christian  Gott¬ 
fried  Hermann,  dem  er  noch  im  Mai  1767  bei  seiner 
juristischen  Doktordisputation  den  Liebesdienst  eines 
Opponenten  erwiesen  hatte,  und  der  nun,  ein  Jahr 
später,  schon  in  eine  der  untersten  Leipziger  Rats¬ 
herrenstellen  geschlüpft  war.  Es  ging  das  damals 
schnell,  wenn  man  gute  Verbindungen  hatte. 

In  der  Zeit  ihrer  Entstehung  sind  von  den 
Platten  wohl  nur  eine  kleine  Anzahl  Abdrücke  zur 
Verteilung  an  Freunde  gemacht  worden.  Goethe 
selbst  hatte  später  in  seinen  reichen  Sammlungen 
nur  noch  von  der  zweiten  einen  Abdruck.  ’)  Auf  der 
Leipziger  Goetheausstellung  1849  waren  Abdrücke 
von  beiden  zu  sehen.  Sonst  sind  sie  mir  nirgends 
begegnet.  Wenn  daher  Löper  in  seinen  Erläuterungen 
zu  Dichtung  und  Wahrheit  (2.  Teil,  S.  330)  sagt, 
diese  beiden  Radirungen  dürften  „in  keiner  Goethe¬ 
sammlung  fehlen“,  so  möchte  diese  Forderung 
wohl  bis  jetzt  leichter  auszusprechen  als  zu  erfüllen 
gewesen  sein.  Alte  Abdrücke  der  Platten  gehören 
offenbar  zu  den  größten  Seltenheiten,  und  ich  denke, 
es  wird  den  Freunden  Goethes  (und  nicht  bloß  ihnen) 


1)  Vgl.  Chr.  Schuchardt,  Goethes  Kunstsammlungen, 
Bd.  1.  S.  142. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


Vieles  I/ab’  ich  ver sacht,  geacicl/nct,  i/i  Kupfer  gestochen. 

willkommen  sein,  tvenn  ihnen  hiermit  von  den  vor¬ 
trefflich  erhaltenen  Platten  gute  neue  Abdrücke  vor¬ 
gelegt  werden. 

Man  kann  diese  frühen  Zeugnisse  eines  künst¬ 
lerischen  Ringens,  das  so  ehrlich,  so  leidenschaftlich, 
und  doch,  wie  der  Ringende  später  unter  Schmerzen 
inne  wurde,  so  vergeblich  war,  nicht  ohne  Rührung 
betrachten.  Wie  alt  war  Goethe,  als  er  diese  Platten 
schuf?  Noch  nicht  neunzehn  Jahre.  Aus  Dichtung 
und  Wahrheit  wissen  wir,  dass  er  als  Leipziger 
Student  (1765 — 1768)  auch  mit  dem  Kupferstecher 
Stock  bekannt  wurde,  der  in  jener  Zeit  von  Nürn¬ 
berg  nach  Leipzig  gekommen  und  in  das  neu  erbaute 
Breitkopfsche  Haus,  den  silbernen  Bär,  gezogen 
war,  dass  er  ihm  oft  bei  der  Arbeit  zusah  und 
schließlich  sein  Schüler  wurde.  „Mich  reizte  —  er¬ 
zählt  er  —  die  reinliche  Technik  dieser  Kunstart, 
und  ich  gesellte  mich  zu  ihm,  um  auch  etwas  der¬ 
gleichen  zu  verfertigen.  Meine  Neigung  hatte  sich 
wieder  auf  die  Landschaft  gelenkt,  die  mir  bei 
einsamen  Spaziergängen  unterhaltend,  an  sich  erreich¬ 
bar  und  in  den  Kunstwerken  fasslicher  erschien 
als  die  menschliche  Figur,  die  mich  abschreckte. 
Ich  radirte  daher  unter  seiner  Anleitung  verschiedene 
Landschaften  nach  Thiele  und  andern,  die,  obgleich 
von  einer  ungeübten  Hand  verfertigt,  doch  einigen 
Effekt  machten  und  gut  aufgenommen  wurden.“  Das 
„wieder“  (meine  Neigung  hatte  sich  wieder  auf  die 
Landschaft  gelenkt)  bezieht  sich  darauf,  dass  er 
kurz  zuvor,  wo  er  von  seinem  Besuche  Dresdens  und 
der  Dresdener  Galerie  spricht,  bei  der  Erwähnung 
eines  Bildes  von  Swanevelt  sagt;  „Gerade  Land¬ 
schaften,  die  mich  an  den  schönen,  heiteren  Himmel, 
unter  welchem  ich  herangewachsen,  wieder  erinnerten, 
rührten  mich  in  der  Nachbildung  am  meisten,  indem 
sie  eine  sehnsüchtige  Erinnerung  in  mir  aufregten.“ 

13 


9S 


ZWEI  RADIRUNGEN  GOETHES. 


lUe  Zeit,  wo  Goethe  den  Unterricht  Stocks  genoss, 
lässt  sich  genau  bestimmen:  es  war  im  letzten  Jahre 
seines  Leipziger  Aufenthalts,  17G8.  Am  26.  April 
dieses  Jahres  schreibt  er  an  seinen  Freund  Behriscli: 
„Da  hast  du  eine  Landschaft,  das  erste  Denkmal 
meines  Namens  und  der  erste  Yersucli  in  dieser 
Kunst.  Bessere  nachfolgende  werden  es  rechtfertigen, 
ich  hotte  weiter  zu  kommen.“  Das  kann  nur  eins 
von  unsern  beiden  Blättern  gewesen  sein,  denn  nur 
diese  hat  er  mit  seinem  Namen  bezeichnet. 

Beide  Blätter  sind  schon  zu  Goethes  Lebzeiten 
von  einem  Kenner  eingehend  gewürdigt  worden, 
ln  dem  „Kunstblatt“,  das  als  Beilage  zum  „Morgen¬ 
blatt“  erschien,  findet  sich  im  Jahrgang  1828  in  den 
Numuiern  3,  5  undli  ein  Aufsatz:  „Goethe  als  Kupfer-' 
Stecher"  von  einem  gewissen  Carl  Bücher.  Der 
Aufsatz  liandelt  nach  einer  langen  Einleitung  that- 
sächlich  nur  von  unsern  beiden  Landschaften.  Der 
Verfasser  beschreibt  sie  zunächst  äußerlich;  über  die 
künstlerische  Behandlung,  sagt  er,  habe  er  einen  be¬ 
freundeten  Kupferstecher  zu  Rate  gezogen,  und 
dessen  Urteil  ’)  lautete:  „Die  Zeichnung  in  Masse  ist 
in  beiden  Blättern  sehr  gut  gewahrt  und  die  ver¬ 
schiedenen  Gründe  auf  echt  künstlerische  Weise  in 
gegenseitige  Harmonie  gebracht  und  anseinander¬ 
gesetzt.  Was  die  technische  Behandlung  des  Ein¬ 
zelnen  betrifft,  so  möchte  das  eine  Blatt  (Goethes 
\’ater  dedizirt)  mit  größerer  Fertigkeit  und  Gewissheit 
ausgeführt  sein.  Das  Wassei',  welches  sich  im  Vorder¬ 
gründe  sammelte  und  leise  fortbewegt,  hat  wirklich 
Spiegel,  weit  weniger  gut  ist  das  Wasser  des  eigent¬ 
lichen  asserfalls;  Schatten-  und  Lichttöne  der 
Felsen  sijid  in  ein  gutes  Verhältnis  gebracht;  der 
gegen  die  sonnige  Luft  sich  dunkel  abhebende  Baum 
im  Vordergründe  zeugt  namentlich  von  großer  Fertig¬ 
keit;  die  Bartieen  liehen  sich  von  einander  los,  und 
das  besonnte  Blätzchen  ist  so  einladend  und  wohl 
gefertigt,  dass  man  dem  rastenden  Spaziergänger 
tiesellschaft  leisten  möchte.  Uherall  in  diesem  Blatte 
scheinen  Strichlage  und  Wendungen  überlegter,  plan¬ 
mäßiger  zu  sein,  während  das  andere  hierin  weniger 
lobenswert  ist.  Dagegen  hat  diese  Landschaft  (Her¬ 
mann  dedizirt)  einen  andern  Vorzug.  Die  Licht- 
und  Luftperspektive  i.st  be.sser  behandelt;  auch  lässt 
sich  mit  die.ser  Landschaft  hauptsächlich  belegen, 
dass  Goethe  für  die  Schönheit  der  Form,  der  Be¬ 
leuchtung  und  der  ß’arbe  in  gleich  hohem  Grade, 

1  Ui-i  I<Of]icr  a.  a.  0.  voller  Felilor  und  willkürlicher 
Änderungen  ahgedruckt. 


aber  noch  mehr  in  Hauptma.ssen  als  im  Einzelnen 
gefühlt  habe,  und  dass  dieses  Fühlen  in  Masse 
namentlich  von  Baumpartieen  gilt,  während  Felsen 
und  Erdreich  einer  größeren  Detaillirung  sich  er¬ 
freuen.  Nicht  allein  mit  Schönheit  der  Form  sich 
begnügend,  wusste  er  auch  die  beiden  letzten  mit¬ 
wirkend  hineinzuziehen.  Die  Behandlung  der  Form 
in  diesem  Blatte  ist  wirklich  meisterhaft  zu  nennen. 
Beide  Blätter  —  um  durch  Beispiele  zu  erläutern  — 
erinnern  in  artistischer  Hinsicht  an  Swanevelt.  Goethe 
mag  in  seiner  Art  die  Gegenstände  aufgefasst  und 
gefühlt  haben.  In  technischer  Hinsicht  wären  sie 
den  besseren  radirten  Blättern  des  Landschaft¬ 
malers  Schönberger  zu  vergleichen.  Wo  die  An¬ 
wendung  des  Grabstichels  nötig  schien,  verrät  diese 
Anwendung  eine  höchst  geringe  Kenntnis  seiner 
Technik;  gerade  diese  Stellen  —  die  dunkleren 
Bartieen  —  sind  deshalb  zu  den  wenigst  gelungenen 
zu  zählen.“  Es  wird  sich  zu  diesem  Urteil  kaum 
etwas  Wesentliches  hinzufügen  lassen.  Zu  dem  Be¬ 
kenntnis  Goethes,  dass  ihn  „die  menschliche  Figur 
ahgeschreckt“  habe,  geben  die  sitzenden  Gestalten 
auf  beiden  Bildern  wohl  die  beste  Erklärung. 

Wo  Goethe  die  Thielischen  Gemälde  gesehen 
hat,  lässt  sich  mit  ziemlicher  Sicherheit  sagen.  Dass 
sie  sich  in  einer  der  damaligen  Leipziger  Privat- 
sammlunffen  befunden  haben  müssen,  kann  keinem 
Zweifel  unterliegen.  Nun  Avaren  sie  in  der  Winckler- 
schen  nicht.  Winckler  hatte,  wie  der  (von  Kreuchaulf 
verfasste)  prächtige  Katalog  seiner  Sammlung  zeigt 
(Leipzig,  1768),  dreizehn  Bilder  von  Thieles  Hand 
(fünf  Originale  nnd  acht  Kopien),  darunter  fünf 
Paare  von  Gegenstücken.  Die  Goethischen  sind 
nicht  dabei.  Von  der  Richterschen  Sammlung  fehlt 
leider  ein  vollständiges  Verzeichnis.  Ein  paar  kurze 
Mitteilungen  über  sie  finden  sich  im  Vorwort  zum 
Wincklerschen  Katalog,  ein  ausführlicher  Aufsatz, 
offenbar  auch  aus  Kreuchauffs  Feder  (Nachricht  von 
Richters  Porträt,  Leben  und  Kunstsammlung)  steht 
in  der  Neuen  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften 
(Lei])zig,  1776.  18.  Bd.,  2.  Stück,  S.  303 — 322).  Aus 
diesem  Aufsatze  geht  hervor,  dass  auch  Richter 
Originale  nnd  Kopien  von  Thieles  Hand  besaß ;  erstens 
wird  Thiele  mit  unter  den  Meistern  genannt,  die  in 
Richters  Sammlung  „den  studirenden  Landschafter 
zu  ihren  schönen  Waldungen,  rauschenden  Bächen, 
reizenden  Dorfschaften  rufen“,  und  später  heißt  es: 
„Einige  kleine  Landschaften  in  der  Manier  des 
Poussin,  van  der  Goyen  und  van  der  Neer  werden 
des  freien  Nachahmers  Wunsch  erregen,  Thielens 
uneingeschränkte  Nachahmungskunst  erreichen  zu 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


09 


küiinen/'  Außer  bei  Wiuckler  und  Richter  befanden 
sich  allerdings  auch  noch  in  den  kleineren  Sammlungen 
von  Zehmisch  und  Regis  Bilder  von  Thiele.  Aber 
das  wahrscheinlichste  ist  es  doch,  dass  wir  uns  den 
jungen  Goethe  unter  den  „studireuden  Landschaftern“ 


in  Richters  Sammlung  zu  denken  haben,  umsomehr, 
als  nicht  Wincklers,  sondern  Richters  Haus  für  die 
Kunstfreunde  Leipzigs,  die  einheimischen  wie  die 
fremden,  die  alten  wie  die  jungen,  der  eigentliche 
Mittelpunkt  und  die  immer  offene  gastliche  Stätte  war. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG 

VON  ALFRED  GOTTHOLD  MEYER. 

(Schluss.) 


HL  Die  Plastik. 

OR  Jahresfrist  besaß  die 
Skulpturenabteilung  ihr  Cen¬ 
trum  in  der  Sonderausstel¬ 
lung  eines  deutschen  Meisters, 
welcher  auf  dem  klassischen 
Boden  Italiens  schalft:  Adolf 
Tlildchrandt’s  —  diesmal  hatte 
ein  in  Paris  lebender  Russe 
ilie  Führung:  ]\Iark  MaUvrjeivilsch  Antokolskii.  Zwei 
große  Kün.stler,  deren  Weisen  sich  kaum  minder 
schrofi'  gegenüljerstehen,  als  die  eines  Lenbach  und 
Uhde,  aber  in  den  Reihen  der  Bildhauer  schwieg 
l)is  vor  kurzem  noch  der  Kampfruf  der  Parteien!  — 
Hildebrandt  kann  in  gewissem  Sinne  als  ein 
Eklektiker  gelten.  Die  Antike  und  die  italienische 
Renaissanceplastik  haben  ihn  geschult,  von  jedem 
seiner  Hauptwerke  führt  ein  deutlich  erkennbarer 
Pfad  zu  diesen  zurück.  Antokolsky’s  Kunst  hat  einen 
entgegengesetzten  Weg  eingeschlagen,  obschon  gerade 
die  russische  Plastik  zum  Teil  völlig  im  Zeichen 
des  Klassizismus  steht.  Kleine  Geurefiguren  —  der 
„Schneider“  (1864)  und  der  „Geizhals“  (1865)  —  in 
Holz  und  Elfenbein  geschnitzt,  völlig  naturalistisch 
gehalten,  eröffneten  dem  1842  in  Wilna  geborenen 
jüdischen  Kunsthandwerker  die  Bahn  zu  seinem 
heutio-en  Ruhm,  der  antikisirendeu  Richtung  blieb 
er  von  Anbeginn  fern,  und  selbst  die  Werke  Rauch’s 
gewannen  ihm  bei  einem  zeitweiligen  Aufenthalt  in 
Berlin  (1868)  nur  beschränkte  Anerkennung  ab. 
Dennoch  erscheint  sein  frühestes  gefeiertes  Werk,  die 
Statue  Iwan’s  des  Schrecklichen,  welche  Alexander  11. 
für  die  Ermitage  in  Petersburg  in  Erz  gießen  ließ, 
heute  weniger  naturalistisch  und  selbst  weniger  ori¬ 
ginell  als  die  Reihe  der  ihr  folgenden  Arbeiten. 
Drastisch  und  mit  einer  in  jenen  Zeiten  für  einen 
Bildhauer  ungewöhnlichen  Kühnheit  hat  Antokolsky 
freilich  schon  hier  den  Stoö  erfasst,  so  packend^ 


dass  er  sellist  den  historisch  iiii geschulten  Beschauer 
ergreifen  muss.  Aus  dem  Kopf  und  vor  allem  aus 
den  mageren  Händen  dieser  zusammengesunken 
sitzenden  Gestalt  spricht  die  Sinnesart  des  Darge¬ 
stellten,  abschreckend  und  bemitleidenswert  zugleich, 
Fieber  scheint  den  Körper  zu  schütteln  und  das 
geneigte  Haupt  durch  furchtbare  Visionen  zu  ängsti¬ 
gen,  zitternd  greift  die  Rechte  an  die  Sessellehne. 
Aber  das  ist  eine  Art  der  Charakteristik,  wie  sie 
Kaulbach  liebte:  der  geistige  Gehalt  steht  in  ihr 
noch  höher  als  die  plastisch-monumentale  Wirkung, 
und  man  kann  bei  aller  Bewunderung  des  eminen¬ 
ten  künstlerischen  Könnens  nicht  vergessen,  dass 
dieser  Stoff  der  Plastik  im  Grunde  eine  wenig 
günstige  Aufgabe  stellte. 

Das  nächste  Hauptwerk,  die  Kolossalstatue 
Peter’s  des  Großen,  ist  in  Italien  gearbeitet,  wohin 
den  Künstler  jedoch  weniger  die  Sehnsucht  nach 
dem  klassischen  Lande  der  Kunst,  als  die  Rücksicht 
auf  seine  geschwächte  Gesundheit  geführt  hatte.  Es 
ist  bezeichnend,  dass  er  —  wie  seine  Autobiographie 
bezeugt  • —  inmitten  der  südlichen  Natur  von  den 
Reizen  des  nordischen  Winters  träumt,  —  Dennoch 
mag  die  Bekanntschaft  mit  den  Denkmälern  Italiens 
auf  Antokolsky’s  zweite  Hauptschöpfung  nicht  ohne 
Einfluss  geblieben  sein.  Historisch  ist  hier  nur  etwa 
das  Kostüm,  aber  der  Charakter,  das  Wesen  einer 
zum  Erobern  und  Herrschen  berufenen  Persönlich¬ 
keit,  ist  so  machtvoll  geschildert,  dass  das  Ganze  in 
ähnlicher  Weise  als  ein  mustergültiger  Denkmäler¬ 
typus  wirkt,  wie  etwa  die  Colleouistatue.  In  der 
That  lebt  etwas  von  deren  Geist  in  dieser  Gestalt, 
die  geschaffen  scheint,  über  den  Boden  zu  herrschen, 
den  sie  betritt.  Die  Bewegung  des  stolz  erhobenen 
Hauptes  und  vor  allem  die  Haltung  des  rechten 
Armes  mit  dem  Krückstock,  der  sich  unter  dem 
Druck  der  Herrscherfaust  in  die  Erde  zu  bohren 
scheint,  verleihen  dieser  Erscheinung  eine  gewaltige 

13* 


100 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


Energie,  die  feine  Grenze  jedoch,  welche  eine  so  ge¬ 
wagte  Antfassung  von  theatralischem  Effekte  scheidet, 
ist  mit  erstaunlichem  Takt  gewahrt.  Das  Ganze  zeigt 
echt  monumentales  Empfinden,  aber  die  fliegenden 
Haare,  sowie  die  Art,  wie  der  Waffenrock  vorn  sich 
öffnet  und  die  Schärpe  leicht  bewegt  erscheint. 


lands  nationaler  Plastik  fand  er  für  dasselbe  keine 
Muster  vor,  und  von  dem,  was  hier  die  antikisirende 
Weise  bot,  hielt  ihn  seine  künstlerische  Eigenart  fern. 
So  bleibt  er  auch  hier  von  Anbeginn  völlig  selb¬ 
ständig.  Seine  1874  vollendete  Christusstatue,  die 
ihm  nachmals  einen  Weltruf  eintrug,  erschien  zuerst 


.Stiiiljumlcr  i'hristiis.  iMarmorreliel' vou  M.  AntüKOLSKV. 


Lo-bf-n  ihm  malerisciu-n  Reiz:  eine  vollendetere  und 
gei.'dig  bezeichnendere  Wiedergabe  von  llewegung 
in  monumentaler  Ruhe  ist  kaum  denkbar.  Diese 
>tatue  i:  f  ein  Meisterwerk,  welches  allein  genügen 
würde,  einen  Sehö])fer  unsterblich  zu  machen. 

Kurze  Zeit  darauf  wandte  sich  Antokoksky  zum 
••rs‘enmal  dem  religiösen  Stfjfi’gebiete  zu.  ln  Rnss- 


so  seltsam,  dass  es  an  tadelnden  Stimmen  nicht 
fehlte.  Auch  in  der  Kunstchronik  dieses  Blattes  hat 
sie  1874  eine  nicht  durchgängig  anerkennende  Kri¬ 
tik  gefunden.  Der  Berichterstatter  rühmt  ihre  „frap¬ 
pante  Lebendigkeit“,  aber  er  fügt  hinzu,  dieser 
Christus  sei  „kein  Vertreter  hingehender  Liebe,  kein 
Prophet  der  Ergebung,  sondern  ein  gedankentiefer 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLÜNG. 


lui 


Schwärmer,  dem  seine  idealen  Träume  auf  immer 
vernichtet  sind“,  „der  resignirt  in  die  Zukunft  schaut“, 
und  ,  diese  Kälte  müsse  auch  den  Beschauer  kalt 
lassen,  ja,  ihn  entsetzen“.  —  Wohl  verraten  die  edelen 
Züge  dieses  Hauptes  leidvolle  Resignation,  aber 
dieselbe  ist  sicherlich  nicht  die  einzige  Empfindung, 
die  aus  diesem  Werke  redet  und  die  es  im  Be¬ 
schauer  erweckt!  In  München  war  der  Titel  dieser 
Statue:  „Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser  Welt“, 


sie  vor  uns,  aber  etwas  Königliches  lebt  in  ihr,  das 
seine  Macht  selbst  beim  Unterliegen  fühlen  lässt. 
Dieser  ganz  schlicht  geschilderte  Gegensatz  zwischen 
Seelengröße  und  irdischer  Ohnmacht  übt  einen  eigen- 
artigen  Zauber  aus.  Von  hoher  Schönheit  ist  beson¬ 
ders  das  Antlitz.  Man  spürt,  dass  die  Gedanken 
unter  dieser  wundervollen  Stirn  mit  der  momen¬ 
tanen  Situation  nichts  gemein  haben,  und  dass  der 
Blick  über  die  Gegenwart  hinaus  auf  das  Ewige 


Mephisto.  Bronze  von  M.  Antokülsky. 


eigentlich  aber  lautet  er:  „Christus  vor  dem  Volks¬ 
gericht“.  Beide  Bezeichnungen  ergänzen  einander, 
die  eine  deutet  auf  den  geistigen  Gehalt,  die  andere 
auf  die  äußere  Situation.  Man  könnte  sich  zu 
diesem  Christus  Pilatus  oder  Kaiphas  und  ihre 
Scharen,  oder  aber  den  bethörten  Volkshaufen  und 
die  Schergen  hinzudenken,  jedoch  auch  selbständig, 
als  Verkörperung  eines  individuellen  Geistes-  und 
Empfindungslebens,  übt  diese  Gestalt  ihre  Wirkung 
aus.  Physisch  wehrlos,  mit  gefesselten  Armen,  steht 


gerichtet  ist,  den  Worten  gemäß:  „Mein  Reich  ist 
nicht  von  dieser  Welt!“  —  Die  technische  Behand¬ 
lung  zeigt  schon  hier  Antokolsky’s  spätere  Art  völ¬ 
lig  ausgeprägt.  Sie  bevorzugt  breite,  große  Formen, 
mit  einer  Neigung  zum  Malerischen,  welche  scharf 
begrenzte  F'lächen  möglichst  vermeidet.  Vor  allem 
ist  die  Stirn  dieses  Christuskopfes  für  diese  dem 
modernen  Impressionismus  verwandte  Auffassungs¬ 
weise  bezeichnend,  und  zeigt,  welche  prächtige  Wir¬ 
kung  sich  trotz  des  Mangels  bestimmter  Konturen 


102 


DIE  MÜNCHENEU  KUNSTAUSSTELLUNG. 


lediglich  durch  die  zarten  Nuancen  in  Licht  und 
Schatten  erreichen  lässt. 

Die  zweite  Christusstatue,  welche  der  Münchener 
Sonderausstellung  in  einem  von  Thiehaut  in  Paris 
gegossenen  Brouzeexemplar  einverleibt  war,  ist 
traditioneller  und  nationaler  gehalten.  Sie  zeigt  den 
thronenden  Heiland  als  gütigen  Vater  der  Gemeinde. 
Sprechend  breitet  er  hier  die  Arme  zum  Empfang 
des  Gläubigen  aus.  Auch  hier  ein  fein  abgewogenes 
Wrhältnis  zwischen  Ruhe  und  Bewegung,  auch  hier 
die  geistige  Vornehmheit  in  Kopf  und  Haltung,  auch 
hier  jene  malerische  Behandlung,  die  —  besonders 
an  den  Händen  —  eher  zu  wenig  als  zu  viel  giebt. 
iMalerisch  ist  auch  das  Relief  gehalten,  welches  das 
Haupt  des  leidenden  Erlösers  vor  dem  Kreuze  zeigt. 
Antokolskj  ist  seiner  realistischen  Neigung  hier  nicht 
untreu  geworden.  Er  versteinert  den  letzten  Seufzer 
eines  Sterbenden,  er  zeigt  die  dünnen,  schweißge¬ 
tränkten  Haarsträhnen,  von  denen  eine  über  die 
Backe  bis  zum  Mund  herabfällt.  Aber  er  wahrt  auch 
liier  den  Adel  eines  echten  Kunstwerks  und  breitet 
über  das  leidvolle  Antlitz  die  Hoheit  des  Erlösers 
und  den  Frieden  des  von  irdischer  Qual  Erlösten. 
Dieses  Relief  ist  1S7S  gearbeitet,  wohl  etwa  gleich¬ 
zeitig  mit  dem  weniger  ausdrucksvollen  „Haupt 
.loliannes  des  Täufers  auf  einer  Schüssel“.  Zwei 
.lalire  zuvor  war  die  Statue:  „Der  Tod  des  Sokrates“ 
entstanden,  in  welcher  die  realistische  Auffassung 
einen  fast  brutalen  Ausdruck  fand.  Im  schärfsten 
Gegensatz  zum  Christusrelief  wird  die  Befreiung 
des  Körjjers  und  der  Seele  im  Augenblick  des  Todes 
liier  iin  Sinne  des  Cynisnius  geschildert.  Breitbeinig 
sinkt  der  Körper  vom  Sessel  herab,  schwerfällig 
neigt  sich  das  llaujA  zur  Brust,  aber  trotz  dieser 
künstlerisch  rücksichtslosen  Darstellung  schwebt 
.auch  über  diesem  Sterbenden  der  .letzte  Seufzer  wie 
ein  Hauch  aus  einer  glücklicheren  Welt.  Kraftvollen 
L’ealismus  hat  Antokolsky  bei  den  in  München 
vereinten  Werken  ferner  nur  noch  in  der  Statue 
.lerniak’s,  des  Eroberers  von  Sibirien,  entfaltet.  Als 
\  erkörperung  zweckbewussbu’  Energit;  bildet  dieselbe 
ein  tjiegenstück  zu  dem  Standliild  Peter’s  des  Großen, 
aber  lierechtigterweise  ist  hier  die  ])hysische  Kraft 
stärker  betont.  Der  Hoden  scheint  unter  dem  Schritt 
diesf'S  mit  iler  Axt  bewalfneten  Riesen  zu  zittern, 
auch  hier  hat  die  Art  der  Bewegung  neben  der 
.Monumentalität  etwas  Unentrinnbares.  — 

Es  ist  .\ntokolsky’s  größte  Eigenschaft,  dass  er 
in  seiner  Kunst  neben  den  stärkste))  auch  die  zai*- 
testen  Saite))  erklinge))  zu  lasse))  weiß,  den))  derselbe 
Meister,  der  die  Statuen  Iwa)i’s,  Pete)’’.s  des  Großen 


und  Jermak’s  schuf,  hat  in  einer  Reihe  von  Werken 
fast  weiblich  empfundene  Seelenstimmungen,  melan¬ 
cholische  Träume  und  mystische  Visionen  verkör¬ 
pert,  ja  er  ist  im  Grunde  mehr  noch  Lyriker  als 
Dramatiker,  ein  idealistischer  Dichter  in  Stein  und  Erz. 

Am  schönsten  bezeugt  dies  seine  Statue  einer 
christlichen  Märtyrerin,  ein  Werk,  welches  in  Mün¬ 
chen  ebenso  betitelt  war,  wie  der  gefesselte  Christus. 
Es  zeigt  ein  gar  zartes  Geschöpf,  mehr  Kind  als 
Jungfrau,  auf  einer  Steinbank,  von  Tauben  umspielt, 
das  Haupt  leicht  emporgewandt.  Die  Linke  ruht 
auf  einer  Tafel  mit  dem  Monogramm  Christi,  und 
dies  ist  das  einzige,  was  die  Beziehung  dieses  Wesens 
zum  Christentum  äußerlich  kennzeichnet.  Ohne  diese 
Tafel  könnte  man  an  eine  Jungfrau  aus  dem  Volks¬ 
märchen  de))keu.  Die  mageren  Glieder,  die  schlichte 
Haltung,  die  kindlichen  Züge  haben  etwas  unendlich 
Rührendes,  sie  geben  ein  Bild  der  Unschuld,  aber  ein 
leiser  Zug  zur  Mystik  fließt  mit  ein:  überirdische 
Stimmen  scheint  diese  Gestalt  zu  vernehmen.  In  Anto¬ 
kolsky  lebt  neben  der  realistischen  Kraft  ein  weicher, 
sentimentaler,  träumerischer  Sinn,  der  zuweilen  an 
Gabriel  Max  erinnert.  — Dem  gleichen  Geschlecht,  wie 
diese  Märtyrerin,  entstammt  die  „Ophelia“,  ein  edler 
Mädchenkopf  in  Hochrelief,  dessen  Hintergrund  durch 
Schilf  belebt  ist.  Traumhaft  blicken  die  weit  geöff¬ 
neten  Augen,  als  werde  vor  ihnen  zum  Bild,  was 
das  rauschende  Schilf  der  Lauschenden  zuflüstert. 
Endlich  kann  auch  der  halb  liegend,  halb  sitzend 
auf  einem  Kindergrabe  wachende  Engel  diesem  Ge¬ 
staltenkreis  zugezählt  werden.  —  Aber  nicht  nur  in 
jugendlichen  Gebilden  trifft  Antokolsky  diesen  Mär¬ 
chenton:  auch  auf  seiner  Statue  Nestor’s,  des  Ge¬ 
schichtsschreibers  Russlands,  ruht  diese  weltfremde 
Stimmung.  Er  fas-ste  ihn  ähnlich  auf,  wie  man  den 
S.  Hieronymus  zu  schildern  pflegt,  als  einen  greisen 
Mönch,  am  Schreibpult,  in  das  Studium  eines  Foli- 
.auten  vertieft.  Malerisch  ist  auch  hier  das  Gesamt¬ 
bild,  das  Beiwerk  und  die  technische  Behandlung. 
Wie  weit  Antokolsky’s  malerische  Neigung  zuweilen 
geht,  bekundet  jedoch  neben  einem  Porträtrelief  mit 
landschaftlichem  Hintergrund  vor  allem  die  kleine 
Grabtafel  eines  Kindes,  auf  welcher  über  dem  Lager 
Wolken  und  Sterne  angedeutet  sind.  Die  lyrische 
Sti)umung  in  Antokolsky’s  Kunst  erklärt  dies  zur 
Genüge.  —  Am  freiesten  von  der  malerischen  Art 
hat  er  sich  vielleicht  in  seiner  Mephistostatue  ge¬ 
halten.  Wie  bei  der  Figur  Iwau’s,  lag  hier  die  Ge¬ 
fahr  Kaiilbach’scher  Hypercharakteristik  nahe,  aber 
Antokolsky  ist  ihr  dies)nal  erfolgreich  begegnet. 
Nichts  Cbertriehenes  in  der  mimischen  und|  physio- 


103 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNG. 


gnomischen  Schilderung,  nichts  Gezwungenes  in  der 
Haltung  dieses  schlanken,  sehnigen  Körpers!  Das 
früher  als  der  letztere  modellirte  Haupt  bietet  den 
InbegritF  von  List  und  verschlagener  Klugheit,  ohne 
abznstoßen;  die  Stellung  ist  ungemein  bezeichnend, 
aber  durch  die  Kontraste  ihrer  Linien  zugleich  von 
ungewöhnlichem  plastischen  Reiz:  die  „Spottgeburt 
aus  Dreck  und  Feuer“  lässt  den  gefallenen  Gott 
nicht  vergessen!  —  In  einzelnen  Büsten  (Großfürst 
Nikolaus,  Turgenietf)  und  Porträtstatuetten  klingt 
die  realistische  Auffassung  der  Peterstatne  weiter, 
die  harmonischste  Vereinigung  der  in  Antokolsky’s 
Kunst  bestehenden  Gegensätze  verkörpert  dagegen 
wohl  seine  Statue  Spinoza’s.  Antokolsky  hat  sich 
auf  dem  Gebiet  der  christlichen  Plastik  bleibenden 
Ruhm  erworben,  jedoch  nicht  das  Dogmatische,  spezi¬ 
fisch  Kirchliche  spiegeln  seine  Christusfiguren  und 
seine  Märtyrer,  sondern  das  allgemein  Menschliche, 
Avie  es  aus  einer  eigenartig  poetischen  Verbindung 
von  Geschichte  und  Legende  zurückstrahlt.  So  hat 
der  Jude  Antokolsky  auch  den  jüdischen  Denker 
und  Märtyrer  Spinoza  aufgefasst.  Ein  reiner  Sinn, 
Gedaukenschärfe,  vereint  mit  dichterischem  Empfin¬ 
den  und  gottergebenes  Entsagen  leuchten  aus  diesem 
jugendlichen  Antlitz.  Der  tote  Buchstabe  des  auf 
dem  Schoße  ruhenden  Folianten  hat  vor  dem  gei¬ 
stigen  Auge  des  Gelehrten  Leben  gewonnen,  und 
über  die  real  gegebene  Situation  hinaus  wächst  auch 
diese  Gestalt  zum  ewiggültigen  Vertreter  einer  der 
edelsten  Menschengattungen  empor.  — 

Antokolsky  ist  eine  Künstlerpersönlichkeit,  der 
man  in  wenigen  Zeilen  nicht  gerecht  werden  kann. 
Ein  reiches,  tiefes  Seelenleben  spricht  aus  seinen 
Schöpfungen,  und  nur  im  Zusammenhang  mit  seinem 
ganzen  Denken  und  Empfinden,  Avie  dasselbe  zum 
Teil  in  seinen  autobiographischen  Notizen  zu  Tage 
tritt,  lässt  sich  seine  Kunst  richtig  würdigen.  Dieser 
individuelle  Maßstab  wird  um  so  notwendiger,  als 
der  knnsthistorische  hier  unzulänglich  bleibt:  in  der 
Geschichte  der  russischen  Plastik  nimmt  Antokolsky, 
soweit  die  Ausführungen  Wilhelm  Heiiekel’s^)  ergeben, 
eine  Sonderstellung  ein,  man  müsste  denn  gerade 
in  der  realistischen  Richtung  des  jetzt  in  Amerika 
tbätigen  Fjodor  Kamensky  eine  Parallele  zu  der  einen 
Seite  seiner  Kunst  erblicken.  —  Durchaus  individuell 
ist  aber  auch  der  Charakter  seiner  Werke  selbst. 
Henckel  macht  darauf  aufmerksam,  dass  Antokolsky 
die  meisten  Aufgaben  sich  selbst  gestellt,  und  sagt, 

1)  „Neuere  russische  Bildhauer“  S.  45  tf.  in  „Die  Kunst 
unserer  Zeit“,  III,  9.  München  1892, 


er  könne  sich  nicht  erinnern,  von  ihm  „jemals  eine 
nackte  weibliche  Figur,  das  beliebteste  Objekt  der 
meisten  Bildhauer“,  gesehen  zu  haben.  In  der  Tliat 
bekundeten  schon  die  in  München  vereinten  Skulp¬ 
turen  zur  Genüge,  dass  nicht  das  Formale,  nicht 
der  Sinnenreiz  der  Erscheinung  ihren  Schöpfer 
lockte,  sondern  der  psychische  und  geistige  Gehalt. 
Das  ist  in  der  modernen  Plastik  fürwahr  besonders 
beachtensAvert!  —  Innerhalb  dieser  auf  Seelenschil¬ 
derung  bedachten  Kumst  jedoch  herrscht  ein  tief¬ 
ernster,  oft  schwermütiger  Grundton  vor.  Leiden, 
Entsagen,  in  rauher  Wirklichkeit  von  einer  über¬ 
irdischen  Welt  träumen  —  das  ist  die  Seelenthätig- 
keit,  die  in  den  meisten  dieser  Gestalten  verkörpert 
erscheint.  Die  auf  realem  Boden  erwachsene  Kraft¬ 
fülle  hat  Antokolsky  verhältnismäßig  doch  nur  selten 
zum  Thema  erAvählt.  —  Ich  habe  schon  oben  bei 
einem  speziellen  Beispiel  darauf  hingcAviesen,  wie 
unmittelbar  dieses  lyrische  Element  auch  äußerlich 
zum  Ausdruck  gelangt.  Antokolsky’s  ganze  Behand¬ 
lungsweise  des  Marmors  ist  davon  beeinflusst.  Sie 
ist  durchaus  malerisch ,  sie  kennt  keine  scharf  um- 
rissenen  Konturen,  sondern  nur  ein  Aveiches,  Avechsel- 
volles  Spiel  von  Licht  und  Schatten,  dessen  künst¬ 
lerischer  Effekt  an  die  stimmungsvolle  Sprache  einer 
Radirung  gemahnt.  Die  Beziehung  zur  Pariser 
Schule  —  seit  1880  lebt  Antokolsky  in  der  franzö¬ 
sischen  Hauptstadt  —  mag  auf  diese  Technik  nicht 
ohne  Einfluss  geAvesen  sein,  ungünstig  aber  kann 
man  den  letzteren  jedenfalls  nicht  nennen,  da  er 
weder  die  individuelle  Grundlage  verdeckte,  noch 
einen  störenden  Grad  erreicht  hat. 

Weit  über  die  Grenzen  seiner  Heimat  hinaus 
ist  Antokolsky  seit  vielen  Jahren  berühmt,  in  Deutsch¬ 
land  aber  hat  ihn  erst  diese  Münchener  Ausstellung 
populär  gemacht  —  so  populär,  wie  eine  so  vor¬ 
nehme,  rein  persönliche  Kunstweise,  wie  die  seine, 
überhaupt  Averden  kann.  Schon  dies  allein  genügte, 
um  der  plastischen  Abteilung  des  diesjährigen  „Salon“ 
dauernden  Wert  zu  geben. 

Innerhalb  derselben  bezeichneten  die  Arbeiten 
des  russischen  Bildhauers  auch  kunsthistorisch 
eine  Sondergruppe.  Seelenschilderung,  wie  er  sie 
erstrebt  und  erreicht,  fand  sich  in  den  übrigen 
Skulpturen  nur  bedingt  und  vereinzelt.  Das  For¬ 
male,  die  Aktfigur  als  solche,  ohne  geistigen  Gehalt, 
bildete  das  Hauptthema.  Das  ist  eine  ähnliche  Ent- 
Avicklungsphase,  Avie  sie  die  moderne  Malerei  durch¬ 
machen  musste,  bevor  sie  ihre  heutige  Leistungs¬ 
fähigkeit  erreichte.  Diese  Richtung  ist  einseitig, 
aber  nicht  ungünstig.  Stets  erneutes,  liebevolles 


UM 


DIE  MÜNCHENER  KÜNSTAUSSTELLUNG. 


Studium  des  menschlichen  Körpers  ist  für  jeden  Auf¬ 
schwung  der  Plastik  die  Voraussetzung  gewesen, 
ln  diesem  Sinne  erscheinen  besonders  die  Arbeiten 
einer  großen  Reihe  jüngerer  Münchoicr  Bildhauer 
zukunftsvoll.  Ich  erwähne  nur  Alfred  Marxolff's 
.Bogenspanner“,  Emil  Dittkrs  „AVaffenschmied“ 
und  Ludirir/  Gamp's  Hirtenfigur.  Alex.  Oppler’s  „Sau¬ 
hirt“  und  Joli.  Baptist  Sehrcmcr’s  „Grille“  gehen 
jedoch  über  die  Bedeutung  nackter  Akte  bereits 
hinaus,  liesonders  hat  Schreiner  in  der  Gestalt  des 
kauernden  Mädchens,  welches  auf  einem  Halme  bläst 
und  den  Beschauer  dabei  so  schelmisch-listig  an¬ 
blinzelt,  einen  ungemein  glücklichen  Griff  gethan. 
Überraschend  erschien  vielen  die  kleine  Athleten¬ 
statuette  von  Franz  Stuck,  obgleich  man  dieselbe 
schon  längere  Zeit  in  seinem  Atelier  bewundern 
konnte.  Es  ist  sicherlich  höchst  beachtenswert,  dass 
gerade  unsere  eigenartigsten  Maler  und  Radirer, 
ein  Stau  ff  er- Bern,  ein  Stuck,  ein  Klinger  sich  zeit¬ 
weilig  der  Plastik  zuwenden.  Das  bietet  ein  ge¬ 
sundes  Gegengewicht  gegen  gar  zu  vages  Träumen. 
Eine  Rückwirkung  auf  die  AViedergabe  der  mensch¬ 
lichen  Gestalt  durch  malerische  Mittel  ließ  sich  bei 
Stuck  freilich  bisher  noch  nicht  erkennen.  —  Dieser 
Gin]ipe  der  „Akte“  standen  etliche  vortreffliche  Por- 
t  räts ,  vor  allem  die  Arbeiten  von  Ernst  Hischen, 
Friedrich  Kühn  und  Alexander  Opplcr,  ebenbürtig  zur 
Seite.  Auch  in  ihnen  zeigt  sich  ein  Aufschwung 
im  Sinne  des  modernen  Realismus.  AVeitaus  das 
Bedeutendste  aber  bot  unter  diesen  jüngeren  Mün¬ 
chener  Arljeiten  die  Gruppe  der  „Steinbrecher“  von 
denn  jM)n})eL  Zweifellos  hat  hier  die  Kunst  eines 
Ba.stien-Le])age  und  Millet  eingewirkt,  vielleicht  un- 
mittelltar  vermittelt  durch  die  ihr  in  der  Plastik 
am  scliärfsten  entsprechende  AVeise  des  Belgiers 
Meuuier.  Der  Arheiterwelt  hat  Lampel  beide  Ge¬ 
staltet!  entlehnt,  zwei  Männer  in  Werkel tracht,  be¬ 
müht,  einen  hier  zugleich  als  Sockel  dienenden 
Steinhlock  mit  Stemm-  und  Precheisen  zu  s})alten. 
Es  ist  ein  alltägliches  Momentbild,  alter  zugleich 
eine  allgemeingültige  Darstellung  zweckbewusster 
physischer  Kraft,  und  ein  monumentaler  Zug  ver¬ 
leiht  auch  diesen  Figuren  eine  au  Millet  erinnernde 
Größe.  —  Auf  älinlichen  Wegen  scheint  Josejdi  Floss- 
vnmn  zu  schreiten,  dessen  Gruppe  einer  Mutter  mit 
ihren  dicht  an  sie  geschmiegten  Kindern  ein  tüch¬ 
tiges,  freilich  etwas  befangenes  Können  verrät.  — 
AVie  in  der  Malerei,  so  trat  der  Gegensatz  zwischen 
Neuem  und  Traditionellem  auch  in  der  Plastik  zu 
Tage,  aber  weit  minder  schroff.  Neben  f'hrislof  Bolh 
war  die  ältere  Weise  vor  allem  durch  treffliche 


Arbeiten  Wilhelm  von  Bümann's  repräsentirt,  unter 
denen  die  große  Reiterstatue  des  Prinzregenten  für 
Landau  in  der  Pfalz  hervorragte.  Sie  geht  freilich 
auf  den  Typus  des  Marc  Aurel  zurück,  aber  der¬ 
selbe  ist  in  der  That  ewig  gültig,  und  seine  selb¬ 
ständige  Verwertung  lässt  sich  durchaus  nicht  als 
Anachronismus  bezeichnen,  am  wenigsten  bei  diesem 
Rümann’schen  Werk,  welches  —  besonders  in  der 
Bewegung  des  ausgestreckten  Armes  —  ungewöhn¬ 
liche  Feinheiten  aufweist.  Die  Denkmälerplastik  war 
in  München  im  übrigen  nur  sehr  spärlich.  Von  deut¬ 
schen  Arbeiten  wäre  hier  nur  August  Brumm' s  wir¬ 
kungsvolles  Modell  für  das  Kriegerdenkmal  in  Ingol¬ 
stadt  und  Galandrelli’s  Statue  des  Kurfürsten  Fried¬ 
rich  1.  zu  nennen.  Ohnehin  wird  es  noch  lange 
währen,  bis  unsere  Plastik  auf  der  neuen  Basis  für 
Monumentalbildnerei  großen  Stils  befähigt  ist.  Auch 
dies  ist  eine  Parallelerscheinung  zum  Verhältnis  der 
modernen  Malerei,  dem  Geschichtsbild  gegenüber. 
Der  Hauptvertreter  der  heutigen  Berliner  Monumen¬ 
talplastik,  Begas,  fehlte  ganz,  und  sein  Genosse  Eber¬ 
lein  hatte  nur  Zeugen  für  die  Auakreontische  Rich¬ 
tung  seiner  Kunst  gesandt,  freilich  einige  der  köst¬ 
lichsten,  die  sie  aufzuweisen  vermag.  Gleich  diesen 
waren  auch  die  meisten  übrigen  Berliner  Bildwerke 
schon  wohlbekannt. 

Wie  billig,  hatte  in  der  deutschen  Abteilung 
München  unbedingt  die  Suprematie.  Unter  seinen 
Skulpturen  waren  solche,  welche  das  Auge  des  Be¬ 
schauers  besonders  auf  sich  zögen,  freilich  nicht  gar 
zu  häutig.  Nur  wenige  Arbeiten,  vor  allem  die  in 
ihrem  gesunden  Humor  ganz  außerordentlich  glück¬ 
liche  „Brunnengruppe“  von  Matthias  Gasteiger  und 
Matthias  Streicher' s  „um  einen  Kuss“  streitendes  Cen¬ 
taurenpärchen,  Avaren  geeignet,  das  große  Publikum 
zu  fesseln.  Gerade  diese  Abkehr  von  effektvollen 
Stoffen  und  effektvoller  Mache  jedoch  stellt  der  Mün¬ 
chener  Bildnerschule  ein  günstiges  Zeugnis  aus.  Die 
Nachwehen  der  berüchtigten  „Münchener  Eilkunst“ 
können  nur  durch  ein  ruhiges,  besonnenes  Arbeiten 
überwunden  werden,  und  von  einem  solchen  gaben 
fast  sämtliche  der  hier  vereinten  Werke  erfreuliche 
Kunde. 

AVeniger  noch  als  Berlin  hatte  sich  Wien  be¬ 
teiligt,  aber  in  der  geringen  Zahl  der  österreichischen 
Arbeiten  fand  sich  Vortreffliches,  wie  Tilgner’s  Brun¬ 
nenmodell,  Ludivig  Dürnbauer’s  „Kämpfergruppe“ 
und  Hans  Scherpe’s  „Bacchant“,  und  besonders  Gutes 
unter  den  Schöpfungen  der  Kleinplastik.  — 

Einen  Hauptteil  des  plastischen  Besitzstandes 
pflegt  unseren  internationalen  Ausstellungen  Italien  zu 


Spinoza.  Marmorstatue  von  M.  A-NTOKOLsky. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


14 


106 


DIE  MÜNCHENER  KUNST  AUSSTELLUNG. 


liefern,  ohne  jedocL  das  Durchschnittsmaß  der  Gesamt¬ 
leistung  wesentlich  zu  erhöhen.  Meist  sind  es  nur  die 
kleineren,  gefälligen  Arbeiten  des  üblichen  Kunst¬ 
marktes,  welche  über  die  Alpen  Avandern  und  bei  uns 
besonders  durch  die  virtuose  Technik  die  Aufmerksam¬ 
keit  auf  sich  lenken.  ’  Solcher  Art  Avaren  auch  dies¬ 
mal  besonders  die  Figürchen  Benini’s  und  FrancJd’s, 
etliche  süßliche  oder  grob-sinnliche  Werke,  —  unter 
den  letzteren  zeichnete  sich  besonders  ’s  frei¬ 

lich  vorzüglich  gearbeitete  „Messalina“  aus  —  und 
technische  Kunststücke,  Avie  der  Frauenkopf  mit  mo¬ 
dischem,  völlig  „impressionistisch“  wiedergegebeuem 
Hut  von  Paolo  Troubetzkoi.  Auf  einem  Irrweg  zum 
Malerischen  befindet  sich  auch  AclnlJe  Alherti  mit 
seinem  versteinerten  Gemälde;  „Pindar  besingt  die 
Sieger“,  und  selbst  in  Urhano  No'no’s  edler  Christus- 
statue  tritt  dieser  Zug  zum  malerischen  Effekt  her¬ 
vor.  Leider  war  auch  einer  der  Hauptmeister  Italiens 
diesmal  schon  in  der  Wahl  seines  Stofies  meines 
Erachtens  recht  unglücklich:  Glulio  Monteverde  ver¬ 
körpert  „das  Ende“  in  einer  Totentanzgrnppe,  in 
Avelcher  ein  lebensgroßes  Gerippe  ein  nacktes  Weib 
ergreift.  Seit  der  beginnenden  Barockkunst  versucht 
die  italienische  Sepulkralplastik  stets  von  neuem, 
den  Knochenmann  zu  schildern,  und  stets  leidet 
dabei  die  monumentale,  ja  die  künstlerische  Wir¬ 
kung.  Auch  Monteverde  hat  mit  diesem  von  einem 
Laken  umhüllten  Skelett  keinen  besseren  Erfolg  ge¬ 
habt,  und  der  ab.stoßende  Kontrast  zwischen  den 
beiden  Gestalten  Avird  hier  durch  unschöne  Linien 
noch  ge.steigert.  —  Wenig  bezeichnend  Avaren  auch 
die  französisrhea  Arbeiten.  Für  die  geringe  Be¬ 
deutung  der  italienischen  und  franzö.sischen  Skulp¬ 
turen  entschädigte  dagegen  zunächst  die  ungeAvöhu- 
lich  stattliche  Reihe  guter  nonlisckcr  BildAverke, 
unter  denen  bei  den  Dänen  ]Vlllidiii  Bisscib  s  „Jägerin“, 
l)ei  den  Srlncrden  Jfas.sr/her;/s  knieendeni  Mädchen 
(„Der  kleine  Frosch“)  die  Palme  gebührte,  ihre  Sig¬ 
natur  aber  emj)fing  die  plastische  Abteilung  vor 
allfiii  durcli  die  Werke  der  JSehjler.  —  ln  der  durch 
Mr  ii/iirrs  Namen  gekennzeichneten  Richtung  der 
belgisehen  Plastik  ringt  eine  Knn.stAveise  um  den 
Sieg,  welche  zum  Realismus  und  Impressionismus 
der  modernen  Malerei  in  unmittelbarer  Wechselbe- 
zieliung  steht.  Schon  rein  äußerlich!  Jene  impres¬ 
sionistische  Darstellurigsart,  der  —  freilich  maßvoll 
—  auch  Antokolsky  huldigt,  jene  Berechnung  auf 
den  Gesamteindruck,  jene  Betonung  der  Licht-  und 
Schattenma.ssen  auf  Kosten  scharfer  Konturlinien, 
hat  in  Belgien  die  zahlreichsten  und  begabte.sten 
Vertreter  gefunden.  Neben  Mmnier,  Heroin  und 


Weggers  repräsentirte  sie  in  München  vor  allem 
Joseph  Lanihemix.  Ein  Zug  zum  Großen  geht  durch 
seine  Gruppe  „Kampf  mit  dem  Adler“  und  seine 
Kolossalbüste  des  Dr.  Gaillard,  so  unbestimmt  und 
abozzirt  die  Einzelformen  auch  erscheinen.  Dass 
diese  Technik  gleichwohl  gefährlich  ist,  dass  sie  ge¬ 
eignet  erscheint,  jedes  Gefühl  für  die  richtigen  Auf¬ 
gaben  der  Plastik  zu  ertöten,  darf  freilich  nicht  ver- 
schAviegen  werden.  Die  Neigung  zum  Malerischen 
hatte  selbst  schon  bei  diesen  Münchener  Arbeiten 
der  Belgier  zuweilen  das  zulässige  Maß  weitaus  über¬ 
schritten,  so  beispielsweise  an  Giiülaume  Charlier’s 
originellem  Fischerdenkmal,  dessen  Sockelrelief  einen 
leeren  Kahn  auf  Wellen  unter  Wolkenhimmel  zeigt, 
und  in  Herain’s  Gruppe  „Mutterliebe“,  bei  welcher 
die  Hauptfigur  auf  einem  nur  auf  den  hinteren 
Füßen  stehenden  Sessel  ruht!  —  Bezeichnenderweise 
hat  diese  Richtung  ferner,  Avie  in  der  Malerei,  so 
auch  in  der  Plastik  einer  sensationellen  Auffassungs- 
weise  den  Weg  gebahnt,  welche  bisweilen  zur  Ge¬ 
schmacklosigkeit  wird.  Selbst  ein  so  tüchtiger 
Meister,  wie  De  Rodder,  Aveiß  sich  davon  nicht  ganz 
frei  zu  halten.  Trotzdem  birgt  diese  extreme  Rich¬ 
tung  der  heutigen,  von  Frankreich  stark  beeinfluss¬ 
ten  belgischen  Plastik  einen  zukunftsvollen  Keim, 
der  sich  unter  dem  Walten  eines  Genies  zu  herr¬ 
licher  Blüte  entfalten  kann.  Wie  gesund  die  bel¬ 
gische  Skulptur  ist,  bezeugten  am  besten  die  treff¬ 
lichen  Aktfiguren  eines  De  Haen  („  Anfgegeben“), 
van  Bcnrden  („De  Redder“)  und  Van  den  Kerckhovc 
(„Vlämischer  Fischer“),  und  die  Arbeiten  eines  Fnn 
der  Stoppen,  Paul  Duhois,  Braeckc,  Desenfons  und 
Dillcns  bürgen  dafür,  dass  auch  die  strengere  Weise 
in  Belgien  nicht  vernachlässigt  wird.  Einem  Meu- 
nier  geistesverwandt  erscheint  der  Ungar  Georg  Zola 
in  seiner  nämlichen  Kolossalfigur  der  „Kampf¬ 
bereitschaft“. 


Es  fehlt  nicht  an  Anzeichen  dafür,  dass  auch 
in  den  Reihen  der  Bildhauer  ein  ähnlicher  Streit 
bald  in  hellen  Flammen  auf  lodern  Avird,  Avie  er  jetzt 
die  Reihen  der  Maler  in  erbitterte  Parteien  ge¬ 
schieden  hat.  Hoffentlich  führt  er  nicht  zu  ähnlichen 
verhängnisvollen  Konsequenzen  wie  dort.  Gerade 
die  deutsche  Pla.stik  steht  im  Hinblick  auf  die  großen 
Ereignisse  der  letzten  Jahrzehnte  vor  gewaltigen, 
monumentalen  Aufgaben,  welche  ihre  ganze,  geeinte 
Kraft  erfordern.  Wer  freilich  die  Geschichte  der 
größten  Kunstschöpfungen  aller  Zeiten  verfolgt,  weiß, 
dass  ihre  Geburt  fast  stets  von  schlimmen,  klein- 


™RENT1NISCHE  MADONNENRELIEES. 


107 


liehen  Kämpfen  und  Intriguen  begleitet  war,  in  denen 
noch  vieles  Andere  mitsprach  als  das  lediglich  künst¬ 
lerische  Prinzip.  Dies  darf  vorerst  über  die  trau¬ 
rigen  Folgen  trösten,  welche  der  Münchener  Künstler- 
streit  zu  bringen  droht.  Vielleicht  würde  es  sich 
empfehlen,  die  nächste  Münchener  Ausstellung  ganz 
zu  suspendireu,  beziehungsweise  sie  durch  eine  Skulp¬ 
turen-  oder  eine  kunstgewerbliche  Ausstellung  abzu¬ 
lösen.  Vom  kunsthistorischeu  Standpunkte  aus  ist 
es  doppelt  beklagenswert,  dass  das  Alünchener  Unter¬ 
nehmen  jetzt  vor  einer  Zersplitterung  der  Kräfte 


steht.  Wie  immer  aber  der  endgültige  Ausgang  der 
Dinge  sein  mag,  das  Echte  und  Große,  was  sich 
bisher  in  den  Räumen  des  Münchener  Glaspalastes 
zusammenfand,  kann  seine  fortwirkende  Kraft  nicht 
mehr  einbüßen.  Über  die  Ereignisse  des  Tages  hin¬ 
weg  schreitet  die  wahre  Kunst  ihren  hohen  Zielen 
entgegen,  und  die  Wege  derer,  denen  diese  Ziele 
heilig  sind,  werden  sich  wieder  vereinen,  gleichviel, 
oh  sie  jetzt  zu  rückläufig  oder  zu  steil  aufwärts  zu 
führen  scheinen,  um  eine  momentane  Verbindung 
zu  ermöglichen. 


FLORENTINISCHE  MADONNENRELIEFS. 

VON  HEINRICH  WOELFFLIN. 

MIT  AßBILDUNGKN. 


ICliELANGELO’S  Erstlings¬ 
werk,  seine  „Madonna  an 
der  Treppe“,  ist  in  der  Ent¬ 
wicklung  der  florentinischen 
Plastik  eine  dermaßen  be¬ 
fremdende  Erscheinung,  dass 
man  dem  Versuch,  einige 
erklärende  Vorstufen  nach¬ 
zuweisen,  von  vornherein  ein  williges  Ohr  entgegen- 
hringen  muss.  Was  zu  einer  solchen  Vorgeschichte 
beigeschafit  wurde,  ist  folgendes.  Die  Sammlung 
von  Gustav  Dreyfus  in  Paris  besitzt  ein  Marmor¬ 
relief:  die  Madonna  in  ganzer  Figur,  sitzend  auf 
einem  Steinwürfel,  im  Profil,  das  Relief  von  geringer 
Erhebung,  lauter  Züge  also,  die  wohl  die  Erinnerung 
an  Michelangelo’s  Arbeit  wachrufen  können.  Das 
Stück  soll  auf  Desiderio  da  Settignano  zurückgehen: 
Michelangelo  könnte  es  also  gekannt  haben.  Die 
Vermutung  scheint  eine  Bestätigung  zu  erhalten 
durch  eine  Zeichnung  bei  John  Heseltine  in  London, 
die  michelangelesk  aussieht  und  eine  Kopie  des  Drey- 
fus-Reliefs  ist,  nicht  eine  genaue,  sondern  frei  ver¬ 
bessernd  und  herausgestaltend,  was  bei  dem  noch 
ungeschickten  Marmorarbeiter  bloße  Absicht  und  An¬ 
deutung  geblieben  war.  Was  lag  näher,  als  zu  sagen: 
Hier  hat  der  junge  Künstler  seine  Löwenklaue  ge¬ 
zeigt;  Michelangelo  hat  als  Meister  den  Desiderio 
(oder  wer  nun  immer  jenes  Relief  gemacht  haben 
mag)  kopirt,  um  nachher  das  Motiv  in  der  „Madonna 
an  der  Treppe“  auf  seine  Weise  umzubilden. 

Das  sind  die  Bemerkungen,  die  Bode  in  den 


„Italienischen  Bildhauern  der  Renaissance“  gelegent¬ 
lich  hingeworfen  hat  (S.  57).  Strzygowski  griff  dann 
die  Sache  auf  und  brachte  im  „Jahrbuch  der  preu¬ 
ßischen  Kunstsammlungen“  eine  ausführliche  Be¬ 
sprechung,  wobei  er  die  fraglichen  Stücke,  das 
Dreyfus- Relief  und  die  Heseltine-Zeichnung  in  Ab¬ 
bildung  mitteilte  (Oktoberheft  1891).  Da  ich  nun 
selbst  vor  zwei  Jahren  über  Michelangelo  geschrieben 
habe  und  in  dem  letztgenannten  Aufsatz  mit  ange¬ 
zogen  werde,  so  sei  es  mir  erlaubt,  meine  Meinung 
auch  zu  äußern.  Es  handelt  sich  nicht  um  lang¬ 
weilige  Rechthaberei:  mit  Vergnügen  würde  ich  die 
ganze  Angelegenheit  auf  sich  beruhen  lassen,  wenn 
mir  nicht  damit  der  gute  Anlass  entginge,  neues 
Material  und  neue  Fragen  den  Kunstfreunden  vor¬ 
zulegen. 

Wen  die  „Madonna  an  der  Treppe“  mit  ihrer 
grandiosen  Eigenart  einmal  ergriffen  hat,  der  wird 
sich  wohl  zunächst  wie  gegen  eine  ganz  ungehörige 
Zumutung  auflehnen,  wenn  er  den  jungen  Michel¬ 
angelo  hier  von  einem  fremden  Vorbild  'bedingt 
glauben  soll.  Es  ist  auch  mir  so  ergangen.  Noch 
bevor  ich  die  angezogenen  Stücke  gesehen,  wagte  ich 
die  Behauptung,  von  einem  Abhängigkeitsverhältnis 
könne  unmöglich  die  Rede  sein.  Kein  Künstler  vor 
Michelangelo  hätte  dieses  Kind  mit  dem  abgewen¬ 
deten  Gesicht  zu  bilden  gewagt.  ’)  Das  ist  nun  frei¬ 
lich  richtig;  allein  es  giebt  doch  einige  andere  — 
mehr  äußere  —  Bezüge  zwischen  dem  Dreyfus- 


1)  Die  .Tugendwerke  des  Michelangelo.  München,  1891. 

14* 


108 


FLORENTINISCHE  MADONNENRELIEPS. 


Relief  und  Michelangelo’s  Madonna,  die  es  rechtfer¬ 
tigen  können,  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der 
beiden  Arbeiten  aufzuwerfen,  zumal  wenn  die  That- 
sache  sich  erweisen  lässt,  dass  Michelangelo  eine 
Kopie  des  verwandten  Werkes  angefertigt  habe.  Hier 
muss  ich  nun  aber  mit  meinem  Widerspruch  ein- 
setzen.  Das  Blatt  bei  Heseltine  scheint  mir  nicht 
von  Michelangelo  gezeichnet  zu  sein,  sondern  nur 
von  einem  Werkstattgenossen  des  Baccio  Bandin elli, 
und  was  das  Dreyfus-Relief  betrifft,  so  möchte  ich 
glauben,  dass  es  weder 
auf  den  Namen  des  De- 
siderio  noch  überhaupt 
auf  den  Ruhm  einer 
Originalarbeit  Anspruch 
machen  kann ,  sondern 
Kopie  ist  nach  einer 
Vorlage,  die  erst  einige 
.Jahrzehnte  nach  Desi- 
derio’s  Tod  (1464)  ent¬ 
standen  sein  dürfte.  Das 
behauptete  Abhängig- 
keitsverhältuis  könnte 
dann  das  umgekehrte 
sein. 

Dass  eine  Zeich¬ 
nung  Bandinelli’s  unter 
dem  Namen  Michelange- 
lo’s  geht,  kommt  in 
ölfentlicben  und  priva¬ 
ten  Sammlungen  nicht 
selten  vor.  Es  ist  aber 
leicht,  den  Unterschied 
namejitlich  zwischen 
friilifa  Blättern  Michel- 
angelo’s  und  solchen 
Bamlinelli’s  nachzuwei- 
sen.  Ich  will  zunächst 
auf  einige  Einzel  punkte 
hindeuten,  welche  bei 
der  lleseltine-Zeichnung 
die  Autorschaft  Michelangelo’s  nach  meinem  Urteil 
ausscbließen.  Der  Kopf  «1er  Madonna  ist  ganz 
flach  rnodellirt  mit  bloßen  horizontalen  Strichen; 
beim  Kinde  sind  einzelne  weiche  weiße  Haarbüschel 
ausgespart:  wiederholt  kommen  in  den  Schattenpar¬ 
tien  breite  1  lelldunkellagen  zur  Wirkung;  die  ganze 
Zeichnung  erscheint  neben  Michelangelo’s  Arbeiten 
von  einer  ungewohnten  malerischen  Haltung  und 
dabei  doch  von  einer  fast  leeren  Einfachheit.  Trotz 
der  starken  Verkleinerung,  die  sich  das  Blatt  in  der 


Reproduktion  des  „Jahrbuches“  hat  gefallen  lassen 
müssen  und  die  ihm  viel  von  seinem  Charakter  nimmt, 
wird  man  doch  auch  hier  noch  erkennen  können, 
dass  in  dieser  Zeichnung  eine  Technik  angewendet 
ist,  die  mit  ganz  andern  Mitteln  arbeitet,  als  die 
des  15.  Jahrhunderts. 

Es  ist  vor  allem  eine  Vereinfachung  in  dem 
Gebrauch  der  Linien  und  Strichlagen  eingetreten. 
Die  früheren,  etwa  Dom.  Ghirlandajo,  stricheln  so 
lange  durch-  und  übereinander,  bis  sie  den  nötigen 

Schattengrad  erreicht 
haben.  Auch  der  junge 
Michelangelo  zeichnet 
in  den  außerordentlich 
sorgfältigen  frühen 
Blättern  im  wesentlichen 
noch  so:  er  setzt  Lage 
über  Lage,  nur  fasst  er 
die  Feder  fester  und 
macht  die  Striche  breit 
und  kräftig.  Jetzt  wird 
der  Linienaufwand  über¬ 
all  beschränkt.  Die 
Zeichnungen  werden 
durchsichtig.  Jeder 
Strich  wirkt  für  sich 
und  man  sieht  genau, 
wo  der  erste  und  wo 
der  letzte  sitzt.  Ganze 
große  Partien  werden 
mit  einer  gleich¬ 
mäßigen  Linienschicht 
überzogen  und  dann 
nur  an  den  tiefer  be¬ 
schatteten  Orten  mit 
einer  Kreuzlage  über¬ 
gangen.  Für  das  größte 
Dunkel  reicht  eine  ein¬ 
fache  Kreuzlage  aus,  in¬ 
dem  dann  die  einzel¬ 
nen  Striche  von  vorn¬ 
herein  stärker  hingesetzt  werden. 

Was  jener  Zeichnung  weiterhin  einen  eigenen 
Charakter  giebt,  ist  die  Anlage  nach  malerischen 
Rücksichten.  Während  der  junge  Michelangelo  sich 
ausschließlich  bemüht,  die  Formen  plastisch  und  deut¬ 
lich  zu  modelliren,  geht  hier  die  Hauptabsicht  des 
Künstlers  auf  Gewinnung  großer  Licht-  und  Schatten¬ 
massen,  die  einen  wirksamen  Kontrast  abzugeben  im 
stände  sind.  Nicht  umsonst  ist  die  ganze  Partie  des 
linken  Unterschenkels  der  Madonna  mit  dem  Knie 


FLORENTINISCBE  MADONNENRELIEPS. 


100 


in  Dunkel  gesetzt.  Wenn  sogar  ausgesprochene 
Helldunkeletfekte  Vorkommen  —  die  verkleinerte  Re¬ 
produktion  giebt  davon  allerdings  kaum  eine  Vor¬ 
stellung  —  so  ist  das  etwas,  was  sich  auch  nicht 
reimt  mit  Michelangelo’s  Gewohnheiten. 

Ich  habe  gesagt,  dass  ich  in  der  Heseltine- 
Zeichnung  die  Art  des  ßaccio  Bandinelli  erkenne. 
Freilich  kann  es 
sich  nur  um  eine 
W  erkstattleistung 
handeln.  Es  man¬ 
gelt  dem  Strich 
die  Sicherheit  und 
Entschlossenheit. 

An  einigen  Stellen, 
wie  am  Arm,  wird 
dieser  Mangel 
selbst  noch  in  der 
kleinen  Nachbil¬ 
dung  fühlbar  wer¬ 
den.  Charakteris¬ 
tisch  für  den  ge¬ 
dankenlosen  Ko¬ 
pisten  ist  außer¬ 
dem  das  Fehlen 
der  Saumlinie  des 
Ärmels  am  Unter¬ 
arm. 

Mit  diesen  ge¬ 
ringen  Qualitäten 
der  Zeichnung 
steht  nun  in  auf¬ 
fallendem  Gegen¬ 
satz,  dass  sie  — 
die  Kopie  —  vor 
ihrem  V orbild, 
dem  Relief  hei 
G.  Dreyfus,  ganz 
bedeutende  Vor¬ 
züge  voraus  hat 
in  der  Richtigkeit 
der  Korperverhält- 
nisse,  in  der  schö¬ 
nen  Neigung  und 
natürlichen  Bewegung,  in  dem  vollkommenen  Zu¬ 
sammenschließen  der  Gruppe.  Wie  ist  das  zu  er¬ 
klären?  Es  ist  nicht  zu  erklären,  solange  man  an¬ 
nimmt,  die  Zeichnung  sei  nach  dem  Dreyfus’schen 
Relief  gemacht  worden.  Es  muss  eine  andere  Vor¬ 
lage  vorhanden  gewesen  sein ,  die  die  erwähnten 
Vorzüge  alle  besaß  und  an  die  der  immerhin  nur 


schülerhaft  zeichnende  Kopist  genau  sich  anschließen 
konnte. 

Und  diese  Annahme  wird  noch  zwingender, 
wenn  wir  in  dem  Dreyfus-Relief  nun  ebenfalls  Spuren 
entdecken,  die  einen  Kopisten  verraten,  und  zwar 
keinen  guten.  Was  vielleicht  einen  altertümlichen 
Eindruck  macht,  die  steifere  Haltung,  das  beschränk¬ 
tere  Ausgreifen 
der  Arme ,  die 
spitze  und  eckige 
Art  der  Linien¬ 
führung  ist  ledig¬ 
lich  dem  Unge¬ 
schick  der  aus¬ 
führenden  Hand 
zuzuschreiben. 
Von  Anfang  an 
hatte  der  Mann 
sich  im  Raum  ver¬ 
rechnet.  Die  Mar¬ 
mortafel  reichte  in 
der  Breite  nicht 
aus  und  so  zog 
er  die  Figur  oben 
etwas  in  die  Länge, 
wobei  die  untern 
Teile  völlig  ver¬ 
kümmern  mussten. 
Dann  sehe  man, 
was  er  aus  dem 
Kopftuch  gemacht 
hat:  in  der  Zeich¬ 
nung,  die  das 
Original  besser 
wiedergiel)t ,  hat 
es  einen  schönen 
und  natürlichen 
Fluss,  hier  wird 
ein  unförmlich  ge¬ 
drehter  Wulst  da¬ 
raus  ,  weil  der 
Kopist  trotz  man¬ 
gelnden  Raumes 
die  Silhouette  der 
Endigung  mit  anbringen  wollte,  wie  sie  das  Vor¬ 
bild  aufwies.  Weiter:  Die  Falten  des  am  Sitz  her¬ 
unterfallenden  Gewandes  erscheinen  hier  im  untern 
Teil  als  unverständliche  rohe  Ritze  im  Stein  —  zu 
genauerer  Durchbildung  fehlte  der  Platz  — ,  sicher¬ 
lich  wäre  ein  Künstler  nicht  auf  den  Gedanken  ge¬ 
kommen,  bei  dieser  Enge  überhaupt  noch  etwas  an- 


Madonuenrelief.  Nach  einem  Gipsabguss. 


FLORENTINISCHE  MADONNEN  RELIEFS. 


1 10 


zubriugeu,  wenn  er  eben  nicht  unter  dem  Eindruck  von  der  Luft  des  Cinquecento.  Wer  von  Antonio 

einer  bestimmten  Vorlage  gestanden  hätte.  Rossellino  oder  Benedetto  da  Majano  herkommt, 

Diese  Vorlage  mm  glaube  ich  aufweisen  zu  wird  überrascht  sein  von  der  Einfachheit  und  Größe 

können  in  dem  Relief,  das  ich  hier  den  Lesern  der  dieser  Madonnendarstellung.  Und  wenn  Donatello 

Zeitschrift  vorlege  (vgl.  Abbildung.  Originalgröße  zeitweise  ähnliche  Ideale  verfolgt  hat  —  ich  denke 

27  X  19  cm).  Es  ist  in  der  Litteratnr  bisher  nicht  an  das  Marmorrelief  aus  Casa  Pazzi  in  Berlin  — 

erwähnt.  Ich  fand  es  als  Gipsabguss  in  Italien')  so  wird  man  doch  zugestehen  müssen,  dass  hier  der 


und  bemerke 
gleich,  dass  es  mir 
nicht  gelungen  ist, 
die  Urform  vor 
Augen  zu  bekom¬ 
men,  ja,  dass  ich 
auch  nicht  mit 
Sicherheit  sagen 
kann,  wo  sie  sich 
befindet.  Allem 
Anschein  nach  ist 
dieser  Abguss 
nach  einem  Thon¬ 
relief  gemacht 
worden,  womit  na¬ 
türlich  nicht  ge¬ 
sagt  sein  soll,  dass 
das  eigentliche  Ori- 
ginal  nicht  eine 
Marmorarbeit  ge¬ 
wesen  sei.  Für 
unsere  Zwecke  ist 
das  einstweilen 
gleichgültig.  Es 
liandelt  sich  jetzt 
nur  darvim,  zu 
konstatiren,  dass 
in  der  d'hat  die 
1  leseltine  -  Zeich¬ 
nung  wie  dasDrey- 
fus-Relief  Kopien 
sind  nach  einer 
N’orhige,  die  in  der 
Zeiclinungfast  ge¬ 
nau,  in  (h-r  Mar- 
inortafel  mit  Ije,- 

Irächllicher  Eiidjuße  nacligehihlet  worden  ist. 

Wer  diese  Komposition  erfunden  hat?  ich  weiß 
auf  di*-  Frage  keine  bestimmte  Antwort.  An  Desi- 
d*.*rio  da  St-ttignano  Avird  kaum  mehr  jemand  denken. 
Es  weht  aus  die, sein  schönen  Helief  schon  etwas 


1)  Vor  kur/.oui  erst  ist  ein  Aliguss  iiiich  in  das  Soulli 
Keiisingtoii  .Mu'euiii  eiiigezogeii. 


Aus  einer  lieiligen  Familie.  Federzeichuung  von  Bacciü  Bandinelli 


Schwung  im  Kon¬ 
tur  und  die  ge¬ 
ballte  Fülle  der 
Gruppe  über  den 
Stil  des  Quattro¬ 
cento  hinausgreift. 
Wie  diese  Ma¬ 
donna  mit  dem 
Kopf  sich  neigt 
und  den  Ober¬ 
körper  vorbeugt, 
um  mit  dem  Kinde 
Fühlung  zu  neh¬ 
men,  ohne  es  doch 
an  sich  zu  drücken, 
das  scheint  mir  in 
einer  Weise  ge¬ 
geben,  wie  es  bei 
keinem  Frühem 
zu  finden  ist,  auch 
bei  Luca  della 
Robbia  nicht.  Und 
wie  sehr  im  Ge¬ 
schmack  des  Cin¬ 
quecento  ist  das 
Motiv  des  hoch 
gesetzten  Fußes 
bei  der  Madonna! 
Das  Motiv  mag 
früher  schon  da 
und  dort  sich  nach- 
weisen  lassen,  ist 
es  aber  je  in  dem 
Sinne  verwendet 
wie  hier,  um  die 
Gruppe  zu  runden 

und  eine  völlig  geballte  Masse  zu  schaffen?  Charak¬ 
teristisch  ist  auch  die  Kugel,  die  dem  tuße  als 
Untersatz  gegeben  ist:  das  ist  so  recht  eine 
Äußerung  des  Geistes,  der  von  aller  Andeutung  eines 
bürgerlich-häuslichen  Wesens  sich  lossagt  und  ge¬ 
flissentlich  die  größten  Allgemeinheiten  aufsucht. ') 


])  Wenn  es  scheinen  sollte,  dass  auf  dem  Dreyfus-Relief 
eher  ein  Kissen  gemeint  wäre,  so  muss  ich  bemerken,  dass 


FLORENTINISCHE  MADONNENRELIEFS. 


111 


Im  gleichen  Sinne  ist  der  gewohnte  Sessel  mit  reich 
verzierter  Lehne  hier  ersetzt  durch  einen  einfachen 
Steinwürfel,  wie  bei  Michelangelo’s  Treppenmadonna, 
wo  L.  Courajod  die  stilistische  Wichtigkeit  der 
Neuerung  gebührend  hervorgehoben  hat  (Gazette 
des  Beaux-Arts  1881).  Das  Kostüm  giebt  ältere 
und  neuere  Motive  in  interessanter  Mischung.  Im 
Vorbeigehen  sei  auch  noch  hingewiesen  auf  die 
seltene  Form  des  Heiligenscheines  der  Madonna, 
gerade  bei  einer  so  flachen  Profilfigur  ist  die  ganz 
verkürzte  Darstellung  der  Scheibe  im  15.  Jahrhundert 
nicht  die  übliche.') 

Wenn  eine  runde  Zahl  verlangt  würde,  auf  die 
man  das  Relief  datiren  könnte,  so  würde  ich  sagen 
1500.  Wir  befinden  uns  damit  nicht  weit  weg  von 
Michelangelo’s  „Madonna  an  der  Treppe“.  Immer¬ 
hin  würde  diese  zeitlich  noch  vorangehen  und  Aver 
es  darauf  abgesehen  hat,  Entlehnungen  zu  konsta- 
tiren,  müsste  die  Priorität  für  die  den  beiden  Arbeiten 
gemeinsamen  Momente  dem  Michelangelo  zuerkenneu. 
Sicher  macht  unser  anonymes  Relief  einen  reiferen 


es  sich  auch  hier  um  eine  Kugel  handelt,  die  nur  wie  alles 
andere  in  der  Nähe  unter  der  Knappheit  des  Raumes  etwas 
hat  leiden  müssen. 

1)  Ich  kann  nicht  unterlassen,  auch  die  andere  Seite 
hervorzuheben,  die  entschiedene  Verwandtschaft  unseres 
Reliefs  mit  älteren  Arbeiten.  Namentlich  die  linke  Hand  der 
Madonna  und  die  Behandlung  der  Beine  des  Knaben  führen 
auf  frühere  Beispiele  zurück.  Insbesondere  empfiehlt  sich 
die  Vergleichung  mit  dem  Madonnenrelief  am  Pal.  Pancia- 
tichi  in  Florenz  (Via  Cavour),  das  gerade  in  den  berührten 
Partien  eine  auffallende  Übereinstimmung  zeigt. 


Eindruck.  Mit  wie  viel  Sicherheit  ist  hier  das  Steife 
und  Rechtwinklige  gebeugt  und  gerundet  und  das 
Ganze  zu  massiger  Geschlosseuheitziisammengebunden 
worden. 

Durch  die  .Jahreszahl  1500  möchte  ich  aus- 
drücken,  dass  mir  das  Relief  gerade  auf  der  Scheide 
von  Quattrocento  und  Cinquecento  zu  stehen  scheint. 
Das  Alte  ist  aber  Avohl  mehr  in  Einzelheiten  als  im 
Wurf  des  Ganzen  zu  suchen.  Dessen  zum  Beweis 
teile  ich  noch  das  Fragment  einer  Federskizze  Bandi- 
nelli’s  mit,  eine  heilige  Familie,  wo  die  Mutter  mit 
dem  Kind  fast  Avörtlich  unsere  Komposition  Avieder- 
holt.  (Das  Blatt  befindet  sich  in  der  Sammlung  von 
Handzeichnungeii  in  den  Uffizien,  unter  Nr.  1527.) 
Nur  die  untere  Partie  ist  etAvas  geändert:  das  linke 
Bein  ist  übergeschlagen  und  die  Hand  greift  nicht 
ins  Kleid,  sondern  legt  sich  zwischen  die  Füßchen 
des  Knaben.  Mit  dieser  Zeichnung  fällt  nun  auch 
noch  ein  unerwartetes  Licht  auf  die  Heseltine-Kopie, 
die  Avir  in  die  Werkstatt  Bandinelli’s  verwiesen. 
Vermutlich  hing  das  Relief  dort  (in  irgend  einer 
Wiederholung)')  an  der  Wand:  ein  Schüler  hat  die 
Tafel  einmal  ängstlich  und  ohne  Geist  nachgezeichnet, 
der  Herr  der  Werkstatt  aber  hat  sich  gelegentlich 
der  Komposition,  die  ihm  stilistisch  noch  gar  nicht 
veraltet  vorkam,  zu  eigenem  Gebrauche  bedient. 

1)  Ein  gutes  Exemplar  kann  es  nicht  gewesen  sein ,  da 
der  Ko[iist  an  einigen  Stellen  nicht  richtig  verstanden  hat. 
Die  Haare  an  der  Stirn  z.  B.  giebt  er  als  Binde.  Ebenso 
irrt  er  ab,  wo  er  die  am  Sitz  herunterfallenden  Gewandenden 
wiedergeben  soll. 


H43.  Komischer  Sarkophag  aus  augusteischer  Zeit,  früher  im  Garten  des  deutschen  Botschaftspalastes  in  Rom. 


EIN  NEUER  KATALOG 
DER  ANTIKEN  SKULPTUREN  IN  BERLIN. 


rill  einbetfi'itten 


Die  Geiieralverwaltuiig  der  König¬ 
lichen  Museen  zu  Berlin  hat  der 
im  .lahre  1888  erschienenen  „Be¬ 
schreibung  der  Bildwerke  der  christ¬ 
lichen  Epoche“  von  Bode  und 
Tschndi  kürzlich  einen  ausführ¬ 
lichen  Katalog  der  antiken  Skulp¬ 
turen  des  Berliner  Museums  folgen 
lassen').  Dass  der  wertvollste  Be¬ 
standteil  dieser  Abteilung,  die 
pergamenischen  Funde,  nicht  da¬ 
ist,  liegt  in  allbekannten  Übel- 


ständen  begründet,  die  erst  mit  dem  Neubau  des 
.Museums  werden  beseitigt  werden  können.  Der 
neue  Katalog  unterscheidet  sich  hinsichtlich  des  Be¬ 
standes  bis  auf  wenige  neuerworbene  Stücke,  unter 
rlenen  ein  sehr  wohlerhaltener  Medeasarkophag  und 
einige  Douhletten  aus  den  Funden  von  Olympia 
hervorragen,  nicht  von  dem  im  .lahre  1885  heraus- 
gegebenen  .Verzeichnis“;  letzteres  war  vielmehr  ein 
kurzer,  für  das  größere  Fuhlikum  gemachter  Aus¬ 
zug  aus  dem  schon  damals  iin  wesentlichen  fertigen 


1)  Könif^l.  .Museon  y.n  Berlin.  Besclireibutif'  der  antiken 
Skulpturen  mit  Ansschlusa  der  Pergamenischen  Rundstücke. 
Mit  1266  Abbildungen  im  Text.  Berlin,  W.  Spemann,  1891. 


ausführlicheren  Katalog.  Wenn  dieser  nun  durch 
nichts  anderes  von  jenem  Auszuge  sich  unterschiede, 
als  durch  die  genauere  Beschreibung  und  den  rei¬ 
cheren  gelehrten  Apparat,  wie  sie  die  Rücksicht  auf 
wissenschaftliche  Benutzung  verlangen,  so  würde 
diese  Zeitschrift  kaum  der  Ort  sein,  länger  bei  der 
neuen  Veröffentlichung  zu  verweilen.  In  der  That 
bietet  diese  aber  etAvas  wenigstens  bei  Antikenver¬ 
zeichnissen  ganz  Neues,  was  auch  für  av eitere  Kreise 
von  Interesse  ist. 

Jeder,  der  darauf  angeAviesen  ist,  sei  es  ge¬ 
legentlich,  sei  es  berufsmäßig,  Kataloge  von  Kunst- 
Averken,  Gemälden  oder  Skulpturen  zu  benutzen, 
empfindet  sicherlich  als  schwere  Übelstände  einmal 
die  Unübersichtlichkeit  des  Ganzen,  der  auch  genaue 
Überschriften  nur  mangelhaft  abhelfen,  und  zweitens 
die  ScliAvierigkeit,  selbst  nach  der  genauesten  Einzel- 
besebreibung  sich  ein  ganz  entsprechendes  Bild 
des  einzelnen  Kunstwerks  zu  machen  —  ganz  ab¬ 
gesehen  von  dessen  stilistischer  Beschaffenheit,  die 
keine  Beschreibung  präzis  wiedergeben  kann.  Es 
ist  eben  die  Unzulänglichkeit  des  Wortes,  wo  es 
gilt  eine  Anschauung  zu  gewinnen,  was  solche  Stu¬ 
dien  nach  bloßen  Katalogen  so  überaus  zeitraubend, 
ermüdend  und  unerquicklich  macht  und  überdies 
fast  immer  ein  gewisses  Gefühl  der  Unsicherheit 


EIN  NEUER  KATALOG  DER  ANTIKEN  SKULPTUREN  JN  BERLIN. 


113 


3.  Erzstatue  aus 
Kyzikos. 


hinsichtlich  der  gewonnenen  Ergebnisse  zurücklässt. 
Schon  längst  ist  es  erkannt  worden,  dass  nur  eine 
konsequent  durchgeführte  Illustration  der  Kataloge 
diesem  Übelstande  abhelfen  kann,  und  es  ist  ein  hohes 
Verdienst  der  preußischen  Generalverwaltung,  durch 
die  beiden  bisher  veröffentlichten  Skulpturkataloge  mit 
dieser  Abhilfe  Ernst  gemacht  zu  haben.  Dabei  ist 
die  Art  der  Illustration  etwas  verschieden.  Während 
in  dem  früher  erschienenen  Bande 
der  Hauptteil  der  Illustration  in 
die  phototypischen  Tafeln  verlegt 
und  der  Zinkätzung  nur  eine  Ne¬ 
benrolle  zugewiesen  ward,  herrscht 
in  der  Beschreibung  der  antiken 
Skulpturen  die  Zinkätzung  allein. 
Ausgenommen  Doubletten  oder 
ganz  unbedeutende  Stücke,  ist  jede 
einzelne  Nummer  des  Katalogs 
mit  einer,  nötigenfalls  auch  mit 
ein  paar  Abbildungen  versehen: 
im  ganzen  sind  es  1266  Abbil¬ 
dungen,  die  so  die  Beschreibungen 
begleiten.  Der  Maßstab  der  Ab¬ 
bildungen  ist  sehr  verschieden ;  mit 
Recht,  da  es  ja  nur  darauf  an¬ 
kommen  kann,  ein  genügend  deutliches  Bild  des 
Kunstwerks  zu  geben.  Köpfe  also  beispielsweise 
einen  etwas  größeren  Maßstab  verlangen,  als  ganze 
Statuen;  auch  sind  die  Maße  überall  aus  dem 
Texte  zu  entnehmen.  Die  Vorlagen  sind  unter  Auf¬ 
sicht  Jacoby’s  von  verschiedenen 
Händen  hergestellt  worden.  Wenn 
nicht  alle  in  ganz  gleichem  Maße, 
sei  es  dem  Charakter  der  Kunst¬ 
werke,  sei  es  den  Bedingungen 
der  Technik,  gerecht  geworden 
sind  (hie  und  da  stören  nament¬ 
lich  allzu  dunkle  Schatten),  so 
wird  man  dies  einem  ersten  Ver¬ 
such  und  der  erst  allmählich  zu 
erreichenden  Schulung  der  Zeich¬ 
ner  zu  gute  halten;  im  ganzen 
wird  man  mit  der  Ausführung 
sehr  zufrieden  sein  dürfen,  und 
selbst  den  stilistischen  Charakter 
des  Bildwerks  wird  der  Kundige  aus  den  leichten 
Umrissen  meistens  herauslesen  können.  Misslungene 
Abbildungen  sind  selten  (z.  B.  Nr.  126,  210);  eher 
stört  gelegentlich  der  zu  tief  gewählte  Gesichts¬ 
punkt  (z.  B.  Nr.  4,  215)  oder  eine  falsche  Stellung 
des  Kopfes,  so  namentlich  bei  dem  schönen  archai- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


502.  Sklave. 

Von  einer  Grabgruppe 
aus  Tarent. 


sehen  Kopf  einer  sog.  Penelope  (Nr.  603,  vgl.  Nr.  77). 
Einige  Proben,  deren  Mitteilung  wir  der  Güte  der 
Verlagshandlung  verdanken,  werden  dem  Gesagten 
zum  Beleg  dienen. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  mit  dieser  Illustra¬ 
tion  keine  allen  Ansprüchen 
genügende  Publikation  des 
Museums  beabsichtigt  ist  — 
obgleich  des  Neuen,  bisher 
nicht  Veröffentlichten  so  viel 
ist,  dass  das  Buch  auch 
nach  dieser  Seite  hin  leb¬ 
haften  Dank  verdient.  Die 
Hauptsache  ist  jedenfalls, 
dass  den  oben  bezeichneten 
Mängeln  der  bisherigen  Ka¬ 
taloge  thunlichst  abgeholfen 
ist.  Schon  die  Zeitersparnis 
ist  nicht  hoch  genug  zu 
schätzen,  denn  ein  rasches 
Durchblättern,  ein  ttüchtiger 
Blick  genügt,  um  das  Ge¬ 
suchte  zu  finden  oder  fest- 
zustellen,  dass  Gesuchtes 
nicht  vorhanden  ist.  Nach 
dieser  Seite  hätte  sich  sogar 
noch  mehr  thun  lassen,  wenn 
ausführlichere  Inhaltsübersicht , 


Mühe 
eine  etwas 


sie  S.  XH  ge- 


mit  leichter 
durch 
als 

geben  ist,  und  durch  geeignete  Überschriften  der 
einzelnen  Seiten  für  eine  raschere  Orientirung  über 
die  Anordnung  ge¬ 
sorgt  wäre.  Ferner 
tritt  an  die  Stelle  der 
Ermüdung ,  wie  sie 
beim  Gebrauch  bloß 
beschreibender  Kata¬ 
loge  unausbleiblich 
ist,  durch  die  Be¬ 
trachtung  der  Bilder 
immer  neue  Anre¬ 
gung  ,  und  es  kann 
nicht  fehlen,  dass  der 
Benutzer  auf  der  Jagd 
nach  irgend  einem 
Gegenstände  seiner 

Forschung  unwillkürlich  noch  auf  mancherlei  an¬ 
dere  Gesichtspunkte  geführt  wird.  Sodann  sichern 
ihn  die  Abbildungen ,  ergänzt  durch  die  sehr  ein¬ 
gehenden  und  genauen  Beschreibungen,  vor  trüge¬ 
rischen  Folgerungen  und  falschen  Anwendungen, 
denen  man  bei  bloß  gedruckten  Katalogen  so  leicht 

15 


091.  Weihrelief  an  die  Göttermutter. 
Aus  dem  Piräeiis. 


114 


EIN  NEUER  KATALOG  DER  ANTIKEN  SKULPTUREN  IN  BERLIN. 


ausgesetzt  ist.  Endlich  bieten  ihm  die  Abbildungen 
genügenden  Anhalt,  die  Kunstwerke  stilistisch  und 
kun.sthistorisch  zu  beurteilen,  den  Charakter  eines 
Porträtkopfes  zu  erkennen  u.  s.  w.  Genug,  ein 
eigentliches  Arbeiten  ist  erst  mit  einem  solchen 
illustrirten  Katalog  möglich,  und  man  bedauert 
fast,  es  nicht  mit  einem  bedeutenderen  Antiken¬ 
museum  zu  thuu  zu  haben  als 
dem  Berliner,  in  dem,  von 
den  pergamenischen  Stücken 
abgesehen,  neben  der  ehemals 
Salmrotfschen  Saminlung  doch 
nur  verhältnismäßig  wenige 
Stücke  einen  bedeutenden  selb¬ 
ständigen  Wert  besitzen.  Aber 
es  kann  gar  nicht  ausbleiben, 
dass  andere  Museen,  wollen  sie 
nicht  ganz  Zurückbleiben,  dem  Beispiel  des  Berliner 
folgen  werden;  ja  es  verlavitet  bereits,  dass  hie  und 
da  Ähnliches  im  Werke  sei.  Liegen  erst  einmal  bei¬ 
spielsweise  das  Britische  Museum  (von  dem  aller¬ 
dings  soeben  der  Beginn  eines  neuen  Katalogs  mit 
nur  spärlichen  Abbildungen  erschienen  i.st),  das 
Museum  des  Louvre,  der  Vatikan,  die  Münchener 


3(33.  Autiuous. 


Glyptothek  in  solcher  Bearbeitung  vor,  ließe  sich  gar 
dergleichen  von  den  nur  erst  so  bruchstückweise 
bekannten  athenischen  Museen  erhoffen  —  welch 
ein  sicherer  Boden  Avürde  da  der  Forschung  bereitet 
sein,  welch  eine  Lust  würde  es  sein,  mit  solchem 
Material  zu  arbeiten! 

Wie  der  Herausgeber,  der  jetzige  Direktor  der 
Skulpturenabteilung,  R.Kekule, 
im  Vorworte  bemerkt,  gehen 
Plan  und  Durchführung  des 
Katalogs  auf  seinen  Vorgänger 
A.  Conze  zurück.  Schon  im 
Jahre  1879  begannen  die  Vor¬ 
arbeiten.  Die  Beschreibung  ist 
der  Hauptsache  nach  von  A. 
F urtwängler  entworfen  und  von 
Conze  revidirt;  die  etruskischen 
Denkmäler  sind  von  G.  Körte  bearbeitet.  0.  Puch¬ 
stein  hat  die  ganzen  Akten  des  Museums  durch¬ 
gearbeitet  und  die  Inschriften  behandelt,  auch  die 
Druckbogen  einer  erneuten  Vergleichung  mit  den 
Originalen  unterzogen.  So  ist  in  gemeinsamer  Arbeit 
ein  Werk  entstanden,  dem  wir  recht  viele  Genossen 
wünschen.  AD.  MICHAELIS. 


479.  .Jünglingskopf. 


K14:.  Seimlcrale.s  Weilirelief ; 

Der  lieroisirte  Verstorbene  wird  von  Familiengeuossen  verehrt. 


DIE  PIETA  IM  MAGDEBURGER  DOM. 

MIT  ABBILDUNG. 


NTER  dem  reichen  figür¬ 
lichen  Schmncke  unseres 
ehrwürdigen  Gotteshauses, 
welcher  ans  all  den  Wir¬ 
ren  und  Zerstörungen  der 
vergangenen  Jahrhunderte 
glücklich  gerettet  worden 
ist,  sind  besonders  bemer¬ 
kenswert  mehrere  Madonnendarstellungen,  zunächst 
dicht  an  der  Paradiesespforte,  lebensgroß  und  in 
reichem  Farbenschmuck  prangend,  auf  einem  Drachen 
stehend  eine  Mutter  Gottes  von  großer  Lieblichkeit; 
dann  im  südlichen  Kreuzgang  die  Maria  miraculosa; 
am  Kanzelpfeiler  die  Maria  auf  dem  Monde,  welche 
die  „natürliche  Größe,  Gestalt,  Länge  und  Gleichheit 
des  Leibes  gar  künstlich  vorstellet“,  und  von  welcher 
Meinecke  in  seiner  Beschreibung  der  Merkwürdig¬ 
keiten  Magdeburgs  1786  begeistert  sagt,  „sie  habe 
eine  unbeschreiblich  sanft  lächelnde  Miene,  die  immer 


holder  und  freundlicher  werde,  je  länger  man  sie 
l)etrachte,  so  dass  man  gleichsam  gefesselt  werde, 
bei  ihr  länger  zu  verweilen,  als  man  anfänglich 
wollte  und  glaubte“. 

Besonders  bemerkenswert  ist  die  kleine,  aus 
Sandstein  gemeißelte  schmerzensreiche  Mutter  Gottes, 
die  mit  thränenüberströmtem  Blick  herunterblickt 
auf  den  toten  Körper  Christi,  welcher  auf  ihrem 
Schoße  ruht,  und  von  welcher  Meinecke  sagt,  „es 
scheine  bei  einer  stillen  und  ernsthaften  Betrachtung, 
als  wenn  man  ihre  heißen  mütterlichen  Thränen 
sichtbar  auf  die  geliebte  Leiche  ihres  göttlichen 
Sohnes  niederträufeln  sähe“. 

Viele  mögen  achtlos  an  dem  Kunstwerk  vorüber¬ 
gehen,  welches  auf  einem  der  42  in  Ruhestand  ver¬ 
setzten  kahlen  und  schmucklosen  Altäre  im  Dämmer¬ 
licht  einer  Chorkapelle  des  Domes  seinen  unschein¬ 
baren  Standpunkt  hat  und  das  durch  einen  häss¬ 
lichen  dicken  grauen  Olanstrich,  aus  welchem  die 

15* 


DIE  MALEREIEN  DES  HULDIGUNDSSAALES  IM  RATHAUSE  ZU  GOSLAR. 


1  Iß 


Spuren  der  früheren  reichen  Bemalung  noch  hier 
und  da  sichtbar  hervortreten,  noch  unansehnlicher 
gemacht  wird. 

Früher  stand  die  Gruppe  auf  dem  Altar  der  im 
18.  Jahrhundert  abgerissenen  Pilatuskapelle  am  Ost¬ 
ende  des  nördlichen  Seitenschiffes;  von  dort  ist  sie 
in  die  sog.  Tilly-Karnmer,  zuletzt  an  ihre  jetzige 
Stelle  versetzt  worden. 

Die  Gestalt  der  Madonna,  vrelche  in  Haltung 
und  I’altenwurf  viel  Verwandtes  mit  der  bemalten 
Thonstatue  des  Benedetto  da  Majano  im  kgl.  Mu¬ 
seum  in  Berlin  zeigt  und  deren  Züge  an  den  Frauen¬ 
typus  des  Leonardo  da  Vinci  erinnern,  ist  von  großer 
Schönheit  der  Komposition  und  liebevollster  Fein¬ 
heit  dertechnischenDurchführung.  Der  tiefe  Kummer, 
die  thränenüberströmten  Augen  sind  in  vollendeter 
Weise  ergreifend  zur  Darstellung  gebracht.  Unter 
dem  das  Haupt  verhüllenden  Tuch  wird  jede  Be¬ 
wegung  des  Haares  sichtbar,  ein  breit  angelegter, 
edler  Faltenwurf  ohne  alles  knitterige  Beiwerk  ver¬ 
hüllt,  in  Licht  und  Schatten  machtvoll  Avirkend,  den 
Unterkörper.  Auf  ihren  Knieen,  von  denen  das  rechte 
leicht  in  die  Höhe  gezogen  ist,  ruht  die  todesstarre 
tiestalt  des  Gekreuzigten,  welche  leider  einen  Miss¬ 
klang  in  die  Kompo.sition  bringt.  Die  hageren,  steif 
herabhangenden  Beine,  deren  Zehen  abgebrochen 
sind,  und  der  dürftige  Unterkörper  stehen  nicht  im 


Verhältnis  zu  dem  schwerlastenden  Kopf  und  Ober¬ 
körper,  welche  unschön  aus  der  Gruppe  heraustreten 
und  die  Befürchtung  hervorrufen,  dass  der  Körper 
demnächst  rückwärts  von  dem  Schoß  der  Madonna, 
deren  zarte  Hand  die  wuchtige  Last  nicht  länger 
stützen  kann,  herunterstürzen  werde. 

Im  ergreifenden  Gegensatz  zu  diesem  Ungeschick 
steht  wieder  die  große  Schönheit  des  leidenden  Er¬ 
lösergesichtes  mit  seinem  herrlichen  Gelock  und  dem 
schmerzverzogenen  Munde,  dessen  einzelne  Zähne 
unter  dem  jugendlichen  Bart  sichtbar  hervortreten. 

Welcher  Künstler  das  Werk  gemacht,  ist  gänz¬ 
lich  unbekannt.  Keine  Urkunde,  keine  Rechnung 
oder  sonstige  Aufzeichnung  des  Domarchivs  enthält 
ein  Wort  darüber,  kein  Kunstschriftsteller  hat  sich 
bis  jetzt  darüber  schlüssig  machen  wollen.  Viel¬ 
leicht  gelingt  es,  wenn  erst  der  entstellende  Ölfarben¬ 
überzug  entfernt  sein  wird,  ein  Künstlerzeichen  an 
dem  interessanten  Werke  zu  entdecken.  Bis  jetzt 
kann  nur  aus  einem  sorgfältig  gemeißelten  spät¬ 
gotischen  Ornament  am  Sitz  der  Madonna  im  allge¬ 
meinen  auf  die  Zeit  geschlossen  werden,  in  welchem 
das  Kunstwerk  seine  Entstehung  gefunden  haben 
mag.  Mögen  diese  Zeilen  für  weitere  Forschungen 
als  Anregung  dienen! 

Magdeburg. 


DIE  MALEREIEN  DES  HULDIGUNGSSAALES 
IM  RATHAUSE  ZU  GOSLAR. 


URZ  nachdem  Januar  1891 
aus  dem  Krätz’schen  Nach¬ 
lasse  in  der  Bibliotheca  Be- 
vcrina  zu  llildesheim  die 
schon  von  Vischer  und 
schließlich  von  d'hode  nach- 
drücklicli  ausgesprochenen 
Zweifel  betreffs  der  Autor¬ 
schaft  Wolgemut’s  an  den  Malereien  des  Goslarer 
li'afhauses  schlagend  ihre  Bestätigung  gefunden 
hatbm  '),  erschien  März  1891  eine  Dissertation  der  Ber- 

1)  Vergl.  1!.  Hiigelliiinl ;  Heiträffe  ziir  Kunstgeschichte 
.Nifileryiicliscns.  Döttingen  1S!ll.  S.  21  tt.  Dariiher  üejieitorinni 


liner  Universität  von  Müller-Grote:  Die  Malereien  des 
Huldigungssaales  im  Rathause  zu  Go.slar,  Berlin  1891, 
G.  Grote’sche  Verlagsbuchhandlung.  8.  S.  87,  die  auf 
Grund  stilkritischer  und  archivalischer  Forschung 
ebenfalls  zu  dem  .sichern  Resultate  gelangte,  dass 
Wolgemut  nicht  der  Maler  der  Goslarer  Rathaus¬ 
gemälde  sei.  Nach  etwas  über  Jahresfrist  erscheint 
in  demselben  Verlage  soeben  dieselbe  Dissertation  mit 
Illustrationen  und  Lichtdrucktafeln  und  besonders 
im  Entwürfe  über  die  Sibyllendarstellungen  er- 

für  Kunstwissenschaft  XIV,  S.  261  ff.  und  XV,  S.  439.  Christ¬ 
liches  Kunstblatt  Jahrg.  1891,  S.  63.  Kunstchronik  N.  F. 
1890/91  Nr.  31,  S.  544.  Müller-Grote;  a.  a..  0.  2.  Aufl.  1892, 
S.  111. 


DIE  MALEREIEN  DES  HULDIGUNGSSAALES  IM  RÄTIIAUSE  ZU  GOSLAR. 


117 


weitert.  Die  Arbeit  zerfällt  iu  vier  Teile.  Der  erste 
S.  1 — 16  enthält  einen  kurzen  Überblick  über  die 
deutschen,  speziell  uiedersächsischen  Rathäuser  im 
14.  und  15.  Jahrhundert  mit  besonderer  Rücksicht 
auf  ihre  innere  Anlage  und  künstlerische  Ausstattung. 
Der  zweite  Teil  S.  17 — 29  bildet  die  Beschreibung  der 
Malereien  im  Huldigungssaale  mit  Berichtigung  einiger 
kleinerer  Versehen  der  Beschreibung  Thode’s:  Maler¬ 
schule  in  Nürnberg,  Frankfurt  1891,  S.  201  tf.  —  Der 
dritte  Teil  beseitigt  unter  Beifügung  eines  Faksimiles 
aus  dem  Goslarer  Kämmereiregister  vom  Jahre  1501 
die  Krätz’sche  unglückliche  Konjektur  über  die 
Autorschaft  Wolgemut’s  an  den  Goslarer  Rathaus¬ 
malereien  und  bringt  in  einem  Nachtrage  S.  111  die 
früheren  Ergebnisse  aus  dem  Krätz^schen  Nachlasse. 
—  Der  vierte  Teil  S.  36 — 70  umfasst  die  stilkritische 
Untersuchung  der  betreffenden  Gemälde,  ob  nämlich 
Wolgemut,  da  seine  Autorschaft  iirhtndlich  nicht 
nachweisbar  ist,  in  rein  künstlerischer  Beziehung 
mit  den  Gemälden  in  Beziehung  gebracht  v/erden 
könne.  Zu  dem  Zwecke  sichtet  der  Verfasser 
kritisch  die  Werke  Wolgemut’s  und  kommt  im 
Gegensatz  zu  Thode  wesentlich  zu  denselben  Re¬ 
sultaten  über  die  Thätigkeit  Wolgemut’s  wie  ATscher, 
bezüglich  der  Goslarer  Malereien  insbesondere  zu  dem 
Schluss,  dass  hier  weder  eine  direkte  Beteiligung 
Wolgemut’s,  noch  eine  Arbeit  von  Schülern  nach 
den  Entwürfen  des  Meisters  anzunehnien  sei.  Der 
Verfasser  erblickt  dagegen  in  dem  Northeimer 
Maler  Hans  Piaplion  den  Meister  der  Goslarer  Ge¬ 
mälde.  Prüfen  wir  das  Resultat! 

Der  Verfasser  zählt  auch  hier  die  Werke  Rap- 
hons  auf,  zunächst  die  zwei  durch  vollständigen 
Namen  inschriftlich  beglaubigten  Werke  (Hannover 
und  Halberstadt),  abgesehen  von  dem  verschollenen 
Walkenrieder.  Über  das  vierte,  wenn  auch  nicht  voll 
inschriftlich,  so  doch  mit  Anfangsbuchstaben  H.  R. 
des  Meisters  Hans  Raphon  bezeichnete  Werk  im 
Provinzialmuseum  zu  Hannover  hält  der  Verfasser 
bei  seinem  jetzigen  Zustande  ein  Urteil  für  gewagt 
und  bemerkt,  dass  die  beiden  Buchstaben  H.  R., 
welche  an  der  Mütze  je  eines  Henkers  angebracht 
sind,  durchaus  nichts  bewiesen,  da  derartige  Buch¬ 
staben  ab.sichtslos  als  Zierde  besonders  an  Kopf¬ 
bedeckungen  angebracht  würden.  Ich  muss  dieser 


1)  Für  die  Lichtdrucktafeln  und  Illustrationen  sind  wir 
dem  Verfasser  zu  Danke  verpflichtet,  zumal  die  ungünstige 
Beleuchtung  des  Saales  der  Aufnahme  nicht  unerhebliche 
Schwierigkeiten  bietet. 

2)  Müller-Grote  a,  a.  0.  S.  b4,  Anm.  1. 


Ansicht  entschieden  entgegentreten.  Erstens  linden 
sich  auf  diesem  Altargemälde  überhaupt  weiter  keine 
Buchstaben  als  dies  H  an  der  Mütze  einer  Haupt¬ 
figur  des  linken  Altarflügels  und  das  R  entsprechend 
auf  dem  rechten  Flügel  ');  dazu  kommt,  dass  auf 
denselben  Flügeln  in  offenbar  beabsichtigtem  Paral¬ 
lelismus  zu  den  oben  angebrachten  Buchstaben  H.  R. 
unten  auf  dem  linken  Flügel  die  Inschrift  Anno  dhi 
und  auf  dem  rechten  die  Jahreszahl  1500  angebracht 
ist.  Sollten  also  diese  beiden  einzigen  Buchstaben, 
die  nun  zugleich  Anfangsbuchstaben  unseres  Meisters 
Hans  Raphon  sind,  ohne  jede  Beziehung  zu  der 
darunter  befindlichen  Zeitbestimmung  des  AVerkes 
sein?  Eine  streng  methodische  Forschung  darf  doch 
über  solche  Inschriften  „als  absichtslose  Zierde“  nicht 
gleichgültig  hinweggehen.  Nun  stammt  außerdem 
dieser  Altar  aus  Einbeck  (Marktkirche  St.  Jacobi), 
wo  Raphon  hauptsächlich  seine  Thätigkeit  entfaltete. 
Schließlich  ergiebt  aber  vor  allem  eine  stil kritische 
A^ergleichung  mit  den  übrigen  in  der  Cuniberland- 
galerie  befindlichen  Werken  Raphon’s  zweifellos  die 
Autorschaft  desselben  für  die  Innenseite  des  äußeren 
und  die  Außenseite  des  2.  Flügelpaares,  während  die 
Außenseite  des  1.  Flügelpaares  von  Schülerhand 
herrührt.  Dass  Müller-Grote  ein  Urteil  über  den 
Altar  bei  seinem  jetzigen  Zustande  für  gewagt  hält, 
kann  doch  nicht  maßgebend  sein.  Ich  habe  1888 
den  Altar  auf  das  eingehendste,  zugleich  aber  auch 
auf  das  unbefangenste  untersucht.  Damals  war 
nämlich  jener  Altar  durch  einen  Zettel  fälschlich  aus 
der  Marienkirche  zu  Ülzeii  stammend  bezeichnet. 
Bei  näherer  Untersuchung  fand  ich  aber  eine  Ver¬ 
wandtschaft  mit  Raphon  in  den  kräftigen  Gestalten 
mit  markigen  Zügen.  Die  Buchstaben  H.  R.  und 
Inschrift  Anno  dni  bestärkten  mich  in  meiner  Ansicht, 
und  Herr  Hofmaler  Prof.  Osterley  bestätigte  mir  an 
Ort  und  Stelle  im  Provinzialmuseum,  dass  die  Be¬ 
zeichnung  aus  Ülzen  falsch  und  es  derjenige  Altar 
sei,  welchen  er  persönlich  aus  der  Jacobikirche  zu 
Einbeck  erworben  und  später  dem  Provinzialmuseum 
zu  Hannover  überlassen  habe ;  damals  sei  auch  noch 
die  Jahreszahl  1500  vorhanden  gewesen,  später  aber 
abgeblättert.  ■ —  Übrigens  sehe  ich  meine  Ansicht 
nachträglich  von  Janitschek  bestätigt  2),  welcher  das 
Werk  als  ein  „ganz  charakteristisches“  Werk 
Raphon’s  bezeichnet. 

So  wenig  ich  die  Ausschließung  dieses  Raphon’- 


1)  Die  beiden  Buchstaben  sind  abgebildet  bei  Mithott: 
Kunstdenkm.  und  Altert,  im  Hannover.  II,  Taf.  11, 

2)  Bepertor.  für  Kun.stwissenscliaft  XV,  440. 


118 


DIE  MALEREIEN  DES  HULDIGUNGSSAALES  TM  RATHAUSE  ZU  GOSLAR. 


scheu  Werkes  zugebeii  kauii,  so  wenig  kann 
ich  die  beiden  Altarflügel  im  städtischen  Museum 
zu  Hildesheim  als  Raphon’sche  Arbeiten  anerkennen, 
welche  Müller-Grote  ihm  zuweist.  Diese  ge¬ 
hören  demselben  Meister  an,  welcher  die  beiden 
Altarflügel  der  früheren  St.  Paulikirche  zu  Hildes¬ 
heim  (jetzige  Ptnionshalle)  zum  Teil  nach  Dürer’s 
.Marienleben  malte,  die  sich  jetzt  in  der  Cumberland- 
galerie  zu  Hannover  befinden.  -)  Jene  beiden  Flügel 
im  städtischen  Museum  zu  Hildesheim  gehörten  ur¬ 
sprünglich  zu  dem  jetzt  in  der  St.  Michaeliskirche 
befindlichen  Flügelaltar,  welcher  wiederum  anderer¬ 
seits  ur.sprünglich  der  früheren  St.  Martinikirche 
angehörte,  später  aber  bei  deren  Umgestaltung  zum 
städtischen  Museum  in  die  St.  Michaeliskirche  über¬ 
führt  wurde,  während  die  beiden  schon  früher  ab- 
getrennten  oben  erwähnten  Flügel  von  dem  hoch¬ 
verdienten  Herrn  Senator  Römer  vor  dem  Unter¬ 
gänge  gerettet  und  kürzlich  auf  dessen  Veranlassung 
von  Hauser  in  Berlin  restaurirt  sind.  Bei  einer 
Vergleichung  im  letzten  Sommer  nach  der  Restau- 
rirung  fand  ich  die  Übereinstimmung  der  Malereien 
dieses  geteilten  Altars  unter  sich  und  mit  den  Flügeln 
aus  St.  Pauli  jetzt  in  der  Cumberlandgalerie.  Dagegen 
möchte  ich  hier  gleich  auf  ein  neues  Raphon’sches 
Schulbild  hinweisen,  welches  ich  im  vorigen  Sommer 
in  llildesheim  im  Betsaale  des  Arnekenstiftes  fand. 
Es  ist  ein  kleines  gemaltes  Triptychon  mit  Gold¬ 
grund,  etwas  gröber  als  die  beiden  kleinen  der  Cum¬ 
berlandgalerie.  Das  Mittelbild  stellt  die  hl.  Sippe 
dar,  S.  Maria  mit  Kind;  S.  Emerentia,  die  Milch¬ 
soll  wester  der  hl.  Anna,  in  einem  Buche  lesend,  über 
ihrem  Haupte  ein  Baum,  in  welchem  das  Christkind 
mit  Weltkugel  erscheint;  S.  Anna  mit  Rosenkranz 
und  Buch.  Hinter  Anna  und  Maria  steht  Joachim 
und  Joseph.  Auf  dem  rechten  Flügel  ist  St.  Jo¬ 
hannes  mit  Kelch,  auf  dem  linken  Flügel  St.  An¬ 
dreas  mit  Kreuz,  in  einem  Buche  lesend  dargestellt. 
Auf  der  Außenseite  des  Flügels  St.  Katharina  mit 
Schwert,  auf  dem  linken  Flügel  St.  Barbara.  Die 
l'onnen  und  Farben  sind  ganz  die  von  Raphon; 
von  den  ß'ruuen  der  hl.  Sippe  erinnert  die  hl.  Anna 
besonders  an  die  gleiche  Figur  der  hl.  Sippe  des 
rechten  Flügels  vom  großen  Triptychon  in  der 
Cninberlandgalerie. 

1'  .Miiller-Orote  a.  a.  0.  S.  04,  Anui.  1. 

2)  Kngelliard,  Heitriige  zur  Kiiiistgeschichte  Niedei'- 
saclisi'iis,  S.  24. 

!!)  Kngelhanl,  a.  a.  0.  8.  20  L'brigeus  ist  niclit  der 
ganze  .41tar  von  Hauser  restaurirt,  sondern  nur  dit;  lieiden 
im  -tiidt isclnm  .Mu.'-enm  Ixdindlichen  J'liigel. 


Die  beiden  kleineren  Altarwerke  der  Cumber¬ 
landgalerie  *)  weist  der  Verfasser  ebenfalls  Raphon 
zu,  doch  mit  dem  Unterschiede,  dass  er  bei  dem 
1503  vom  Canonicus  Mentzen  dem  Stift  B.  Mariae 
Virg.  zu  Einbeck  geschenktenTriptychon  einen  größeren 
persönlichen  Anteil  des  Meisters  erkennt  als  selbst 
bei  den  inschriftlich  beglaubigten.  2)  Das  aus  der 
Alexanderkirche  zu  Einbeck  jetzt  in  der  Cumberland¬ 
galerie  (nicht  wie  Müller- Grote  irrtümlich  angiebt 
im  Provinzialmuseum)  befindliche  Triptychon  hält 
er  für  ein  geschäftsmäßiges  Produkt  der  Raphon'schen 
Werkstatt  (a.  a.  0.  S.  64).  Auch  diesem  Urteile 
kann  ich  mich  nicht  anschließen.  Die  kurzen  Pro¬ 
portionen,  die  sehr  derben  Gesichtszüge  auf  dem  Cauo- 
nicus  Mentzen’schen  Bilde  könnten  mich  eher  bewegen, 
es  für  ein  Werkstattbild  zu  halten,  Janitschek®) 
schließt  es  deswegen  sogar  ganz  von  den  Raphon’schen 
Werken  aus;  doch  geht  er  nach  meiner  Ansicht  zu 
weit;  die  Figur  des  Jakobus  d.  A.  erinnert  sehr  lebhaft 
an  eine  Gestalt  des  Altares  im  Provinzialmuseum. 
Jedenfalls  stelle  ich  das  Bild  aus  der  Stiftskirche 
St.  Alexander  über  das  Cononicus  Mentzen’sche  Bild. 
—  Das  Mittelbild  des  Triptychons  aus  Kloster 
Teistungenburg  im  Provinzialmuseum  zu  Hannover^) 
hat  mit  Raphon  nichts  zu  thuu,  auch  kann  ich  in 
den  strengen  Zügen  keine  Anklänge  an  die  lieblichen 
älteren  Marienbilder  der  Kölnischen  Schule  finden. 
Die  Flügel  dieses  Triptychons  indes  erinnern  an 
Raphon. 

Wir  kommen  schließlich  zu  dem  Braunschweiger 
Bilde  und  den  Goslarer  Gemälden.  Die  frappante 
Ähnlichkeit  zwischen  beiden  ist  schon  von  Vischer 
bekanntlich  nachgewiesen  und  von  Thode  entschieden 
bestätigt  worden,  so  dass  kein  Zweifel  über  die  Iden¬ 
tität  ihres  Meisters  herrscht,  aber  um  so  allgemeiner 
ist  der  Protest  gegen  die  Bezeichnung  des  Braun¬ 
schweiger  Bildes  als  Raphon’sches  Werk.  Thode 
meint  „mit  Bestimmtheit,  dass  der  Name  Raphon’s 
unter  dem  Braunschweiger  Bilde  zu  streichen  sei“.^) 
Janitschek  ist  „zu  der  rückhaltlosen  Überzeugung 
gelangt,  dass  das  Braun  Schweiger  Bild  nichts  mit 
Raphon  zu  thun  hat“;  Eisenmann  desgleichen.^ 
Auch  Vischer  hat  sich  nur  hedingnnrjsi reise  für  Raphon 

1)  Abgebiklet  bei  Münzenberger:  Zur  Kenntnis  und 
Würdigung  mittelalt.  Altäre.  I.  Bd. 

2)  Müller-Grote  a.  a.  0.  S.  (jü. 

;3)  Janitschek:  Repertor.  für  Kunstwissenschaft  XV, 
S.  440. 

4)  Kngelhard  a.  a.  0.  S.  28.  Müller-Grote  a.  a.  0.  S-  03. 

5)  Thode:  Malerschule  von  Nürnberg,  S.  201. 

0)  Repertor.  f.  K.  XIV,  S.  203  und  XV,  8.  440. 


DIE  MALEREIEN  DES  HÜLDIGUNGSSAALES  IM  RATIIAÜ8E  ZU  GOSLAR. 


119 


entschieden,  „iccnn  nämlich  dies  Triptychon  in  der 
Galerie  zu  Braunschweig  wirklich  mit  den  bezeich- 
neteu  Werken  dieses  Malers  in  Göttingeu,  Halber¬ 
stadt,  Herrenhausen  und  Hannover  so  sehr  überein¬ 
stimmt,  dass  man  es  zweifellos  als  eine  Arbeit  des¬ 
selben  betrachten  darf,  so  ist  es  gleichfalls  Hans 
Raphon,  welcher  einen  großen  ße.standteil  des  Bilder¬ 
schmucks  im  Rathause  zu  Goslar  ausgeführt  hat“^) 
Nach  dem  Erscheinen  der  bezeichneten  Dissertation 
habe  auch  ichnochmalssämtlicheRaphon’schen  Werke 
mit  dem  Brannschweiger  Bilde  verglichen  und  muss 
bei  meinem  schon  1888,  also  ehe  mir  die  Urteile 
anderer  bekannt  waren,  gewonnenen  Resultate  stehen 
bleiben.  Folgendes  sind  die  Gründe:  Erstens  ist  das 
Bild  weder  inschriftlich  noch  urkundlich  als  von 
Raphon  stammend  bezeichnet.  Ob  die  falsche  Deu¬ 
tung  des  verschlungenen  Stifterinonogramms  auf  dem 
linken  Altarflügel  auf  einem  Schilde  zwischen  den 
knieenden  Stiftern  die  Veranlassung  gewesen  ist,  es 
Raphon  zuzuschreiben,  entzieht  sich  meiner  Beur¬ 
teilung,  Janitschek  (Repertor.  XV,  S.  440)  macht  es 
sehr  wahrscheinlich.  Zweitens  lenkt  die  stilkritische 
Untersuchung  ganz  von  Raphon  ab.  Wenn  ich  in 
den  Beiträgen  zur  Kunstgeschichte  Niedersachsens 
S.  24  schrieb,  dass  ich  auf  dem  Braunschweiger 
Bilde  die  rundlichen  Köpfe  und  den  gesetzten  Körper¬ 
bau  Raphon’s  vermisste,  so  hatte  ich  dabei  haupt¬ 
sächlich  im  Mittelbilde  die  drei  Gefangenen  am 
Pranger  Gisinas,  Resinas  und  Barrabas^)  in  der  Er¬ 
innerung.  Solch  schmale  Gesichter,  scharf  geschnit¬ 
tene  Profile  sind  auf  keinem  Raphon’schen  Werke 
zu  finden.  Dagegen  hat  der  Meister  besonderes  Ver¬ 
gnügen  an  diesen  Gestalten,  dass  er  sie  an  der  Decke 
des  Goslarer  Huldigungssaales  wiederholt,  z.  B.  Pro¬ 
phet  Habakuk  (vergl.  Abbildung  bei  Müller-Grote). 
Dazu  kommen  die  eigenartigen  Proportionen  auf  dem 
Braunschweiger  Bilde,  der  kurze  Oberkörper  und 
die  überlangen  Beine,  welche  besonders  auf  dem 
Mittelbilde  „die  Verspottung“  auffallen.  Dieselben 
Proportionen  treten  auch  bei  den  Goslarer  Bildern, 
besonders  bei  der  Madonna  auf  der  Mondsichel  der 
erythräischen  und  phrygischen  Sibylle  (abgebildet  bei 
Müller-Grote)  zu  Tage.  Solche  auffallend  schlanke 
Gestalten  sind  Raphon  ganz  unbekannt.  Ebenso 
fremd  sind  ihm  auch  die  beleibten  Figuren,  wie  wir 
sie  unter  den  Goslarer  Kaiserfiguren,  besonders  bei 
dem  an  der  Eingangsthür  des  Huldigungszimmers 
finden,  ferner  jene  schwülstigen,  schwammigen  Ge¬ 
ll  Vischer:  Stucl.  zur  Kunstgesch.  Stuttg.  188G,  S.  837  ff. 
2)  Vergl.  fl.  photogr.  Reprodukt.  Berlin,  photogr.  Be- 
sellsch.  Quartformat. 


siebter  mehrerer  Pharisäer  aus  dem  Volkshaufen  im 
Braunschweiger  Mittelbilde,  sowie  mehrere  Personen 
in  der  Messe  des  heil.  Gregor.  Auch  weicht  die 
Gesichtsbildung  der  weiblichen  Figuren  bei  dem 
Braunschweiger  und  Goslarer  Meister  erheblich  von 
Raphon  ab;  bei  der  Braunschweiger  und  Goslarer 
Madonna,  sowie  bei  den  Sibyllen  finden  wir  ein 
längliches  Oval,  bei  Raphon  dagegen  rundliche 
Köpfe  mit  ganz  charakteristischen  rundlichen  Wangen. 

Auffallend  ist  sodann,  dass  auf  dem  Braun¬ 
schweiger  Bilde  eine  vollendete  Linienperspektive 
zu  Tage  tritt,  von  der  Janitschek  (Repert.  XIV,  S.  269) 
sagt,  „dass  er  keinen  deutschen  Maler  jener  Zeit 
kenne,  der  die  Perspektive  so  meisterhaft  beherrscht 
und  so  sehr  mit  ihr  Staat  macht,  wie  jener“,  während, 
wie  Müller- Grote,  S.  60  selbst  schreibt,  bei  Raphon 
fast  durchgehend  sich  die  Scenen  und  Gestalten  auf 
Goldgrund  abheben.  Nun  stammt  aber  sowohl  das 
Braunschweiger  als  auch  das  Hannoversche  Bild 
(früher  St.  Jürgenkapelle  in  Göttingen)  aus  dem  Jahre 
1506.  Ich  kann  mir  nicht  erklären,  dass  zwei  so 
wesentlich  verschiedene  Bilder  aus  ein  und  dem¬ 
selben  Jahre,  von  ein  und  demselben  Meister  stam¬ 
men  sollen.  Ja,  Müller-Grote  geht  noch  einen  Schritt 
weiter  und  behauptet  S.  59,  das  Hannoversche  Bild 
von  1506  und  das  Halberstädter  von  1508  und  1509 
gehörten  Raphon’s  letzten  Lebensjahren  an  und 
wären  nur  Produkte  handwerksmäßiger  Ausnutzung 
seiner  Kunst,  und  gleich  darauf,  S.  61  stellt  Müller- 
Grote  die  Behauptung  auf,  dass  das  Brannschweiger 
Bild,  welches,  wie  bemerkt,  aus  demselben  Jahre, 
1506,  stammt,  den  künstlerischen  Höhepunkt  des 
Meisters  bezeichne.  Künstlerischer  Höhepunkt  und 
handwerksmäßige  Ausnutzung  seiner  Kunst  aber  in 
ein  und  demselben  Jahre,  1506,  ist  doch  uninöglich. 
Müller-Grote  fühlt  entschieden  den  bedeutenden  Ab¬ 
stand  zwischen  dem  Hannoverschen  und  Halberstädter 
Bilde  einerseits  und  dem  Braunschweiger  Bilde  und 
den  Goslarer  Gemälden  andererseits  und  drückt  da¬ 
her  die  inschriftlich  beglaubigten  Bilder  Raphoii’s 
zu  Handwerksarbeiten  herab,  um  sich  den  Abstand 
gegen  das  gleichzeitige  Braunschweiger  Bild  zu  er¬ 
klären.  Es  ist  doch  auch  ferner  nicht  glaubwürdig, 
dass  Raphon  die  letzten,  angeblich  handwerksmäßigen 
Bilder  (Hannover  und  Halberstadt)  inschriftlich  be¬ 
glaubigt  hätte  und  andererseits  sein  Hauptwerk  in 
Braunschweig  aus  demselben  Jahre  ohne  Inschrift 
hätte  wandern  lassen,  um  dann  1508  das  Halber¬ 
städter  Bild,  fast  eine  genaue  Wiederholung  des 
Hannoverschen,  nochmals  mit  seinem  Namen  zu  be¬ 
glaubigen. 


12ü 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


Ich  halte  also  an  den  Hannoverschen  und  Halber¬ 
städter  Krenzigungsbildern,  weil  inschriftlich  be¬ 
glaubigt,  als  den  Hauptwerken  Raphon's  fest  und 
kann  auf  Grund  stilkritischer  Untersuchung  das 
Braunschweiger  Bild  und  mithin  auch  die  Goslarer 


Gemälde  als  Raphon’sche  Werke  nicht  anerkennen. 
Der  Meister  von  Goslar  und  Braunschweig  steht  in 
Zeichnung  und  Komposition  beträchtlich  über  Raphon. 

R.  ENGELHARD. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Der  Kü/isflcrl-lab  St.  Lncas  in  Düsseldorf  hat  vor  einiger 
Zeit  das  erste  Heft  seiner  Malerradirungen  veröftentlicht, 
das  wir  schon  vor  ein  paar  Monaten  signalisirten.  Es  sind 
zehn  Blatt  in  Folioformat,  die  das  Heft  ausmachen;  acht 
Künstler  sind  dabei  beteiligt  gewesen.  Auch  ein  Textbogen 
liegt  bei,  unterzeichnet  von  der  Kupferdruckerei  von  Hart¬ 
mann  &  Beck  in  Düsseldorf.  An  diesem  Blatte  ist  nichts 
auszusetzen,  als  das  etwas  zu  kleine  Format;  der  Text  weist 
mit  ernsten  Worten  auf  die  Vorzüge  der  Malerradirungen 
hin,  in  ähnlicher  Weise,  wie  es  den  Lesern  dieser  Zeitschrift 
schon  zu  wiederholten  Malen  eindringlich  zu  Gemüt  geführt 
worden  ist.  Blättert  man  nun  die  Mappe  durch,  so  wird 
man  ein  über  das  andere  Mal  erstaunt  sein,  zu  sehen,  auf 
welcher  künstlerischen  Höhe  die  Leistungen  der  Mitglieder 
des  Vereins  stehen.  Zunächst  sind  es  technisch  vorzügliche 
Blätter;  alles  ist  voll  Kraft  und  Gegensätze,  voll  Stimmung, 
voll  Charakter.  Aber  dann  —  und  das  ist  viel  mehr  — 
sind  es  echte  Kunstwerke.  Wie  im  TAede  des  Dichters  der 
Herzschlag  zu  fühlen  ist,  der  ihm  dauernde  Wirkung  ver¬ 
leiht,  so  geht  auch  von  dem  aus  der  Seele  des  bildenden 
Künstlers  entsiirossenen  Werke  ein  warmer  Hauch  inten¬ 
siven  Ijebens  aus,  der  sich  sofort  beim  ersten  Blick  in  die 
Seele  des  empfindungsfähigen  Beschauers  schleicht  und  sein 
Herz  wohlthuend  umfängt.  ,,E]s  weckt  der  dunklen  Gefühle 
Gewalt,  die  im  Herzen  wunderbar  schliefen. ■“  Dieser  geheim¬ 
nisvolle  Kontakt  verschwindet  auch  nicht,  wenn  die  kurze 
Zeit  des  Genusses  vorüber  ist:  ein  leiser  Nachklaug  lockt 
und  mahnt  sanft  zur  Wiederholung  des  Eindrucks,  und  wenn 
er  erneut  v'ird,  thun  sich  nach  und  nach  neue  Reize  des 
W'erkes  auf.  Diese  Frohe,  das  Kennzeichen  echter  Kunst¬ 
werke,  bestehen  die  vorliegenden  Blätter  fast  alle.  Es  ist 
schwer  und  fast  überflüssig  zu  sagen,  auf  Grund  welcher 
Eigenschaften  diese  Wirkung  erreicht  wird.  Der  Elemente 
sind  ja  so  viele,  wie  der  Organe  eines  Küri)ers:  und  dann 
genügt  ja  das  Dasein  der  Elemente  nicht,  sondern  ihre  rechte 
ZuHammenwirkung  maclit  das  Leben  des  Werkes  aus.  Woll¬ 
ten  wir  die  einzelnen  Blätter  kritisch  untei’suchen  und  zu 
bestimmen  wagen,  wie  es  kommt,  dass  diese  Leistungen  als 
reife  .Meisterstücke  erscheinen,  so  würde  der  Betrachtung 
Hchliel’dich  doch  immer  das  Beste  fehlen:  das  geistige  Band 
der  einzelnen  Teile.  Enehriresin  nnlnrae  nennt’s  die  Chemie  . .  . 
Ah'xnndrr  Frnix.  hat  anller  einem  höchst  charakteristischen 
'l'itelblatt  ein  Einsieilleridyll  beigesteuert,  in  dem  leider  ein 
paar  störende  ,\tzllecken  auffallen.  Die  Druckerei  hat  ver- 
-prochen,  diesmi  .Mangel  zu  beseitigen,  und  wir  hoffen,  bis 
Zinn  Erscheinen  des  Heftes  dieses  stimmungsvolle  Blatt  eines 


frommen  Schlangenbändigers,  dem  eine  luftige  Dryas  zuhört, 
ohne  jenen  kleinen  Mangel  zeigen  zu  können.  Dann  folgen 
Interieurs,  Landschaftsbilder  mit  wundersamer  Stimmung, 
eine  Kriegerbestattung  im  18.  Jahrhundert  u.  s.  w.  Die 
Künstler  sind  GerJi.  Janssm,  Arthur  und  Eugen  Kampf, 
11.  Liesegang,  0.  Jernberg,  Heinr.  Herrmanns,  G.  Wendling. 
Bei  allen  hat  Vater  Rembrandt  Pate  gestanden.  Endlich 
soll  noch  der  Druckerei,  die  das  Ihre  dazu  beigetragen  hat, 
dem  Album  zur  rechten  Wirkung  zu  verhelfen,  das  verdiente 
Lob  gespendet  werden^).  NAUTILUS. 

Die  Bildnisse  W ieland’ s.  Binnen  kurzem  wird  im  Ver¬ 
lag  von  W.  Kohlhammer  in  Stuttgart  als  Sonderausgabe  aus 
dem  ersten  Heft  des  zweiten  Jahrgangs  der  Württember- 
gischen  Vierteljahrshefte  für  Landesgeschichte,  Neue  Folge, 
ein  Schriftchen  über  die  Bildnisse  Chr.  M.  Wieland’s  von 
Dr.  Paid  Weixsäcker  erscheinen.  Demselben  werden  zwei 
Lichtdrucktafeln  und  elf  Textabbildungen,  teils  mehrere 
Inedita,  teils  Abbildungen  nach  Originalaufnahmen  oder  nach 
den  zuverlässigsten  Stichen  beigegeben  sein.  Da  große  und 
kleine  Künstler  des  vorigen  und  unseres  Jahrhunderts  Wie¬ 
land’s  Bild  aufgenommen  haben,  so  bietet  die  kleine  Schrift 
dem  Kunstfreunde  nicht  weniger  Interesse  als  dem  Litterai'- 
historiker  und  den  speziellen  Verehrern  Wieland’s,  und  es 
wird  daher  nicht  unwillkommen  sein,  wenn  sie  auch  außer¬ 
halb  des  Rahmens  einer  Spezialzeitschrift  für  Landesgeschichte 
einzeln  käuflich  ist.  Den  Abbildungen  ist  nicht  geringere 
Sorgfalt  gewidmet  worden  als  der  Zuverlässigkeit  des  Textes. 

Der  Kunstlagerkatalog,  den  der  Kunsthändler  Fr.  Aleyer 
in  Dresden  am  Beginn  dieses  Jahres  für  die  Kunstfreunde 
veröffentlicht  hat,  enthält  eine  reiche,  vom  Kunsthändler  mit 
großem  Verständnis  erworbene  Sammlung  von  Kunstblättern, 
die  selbst  ausgezeichneten  Sammlungen  erwünschte  Zusätze 
vorführen.  Eine  Anzahl  trefflicher,  oft  auch  kostbarer  und 
seltener  Werke  finden  wir  unter  den  Werken  von  A.  Dürer 
und  der  Kleinmeister,  von  Schongauer  und  Israel  v.  Mecken, 
Lucas  v.  Leyden,  Rembrandt,  Marc- Anton  verzeichnet,  und 
neben  den  genannten  Meistern  enthält  der  Katalog  auch 
verschiedene  einzelne  Blätter  solcher  Meister,  deren  hier 
vorkommende  Blätter  zu  großen  Seltenheiten  gehören,  die 
nicht  wenig  die  Kunstgeschichte  fördern.  Wir  erlauben  uns 
beispielsweise  auf  L.  Backhuysen,  J.  de  Baen,  C.  Bega, 
J.  Lievens,  G.  Neyts  u.  a  hinzuweisen.  W. 


1)  Die  Flecke  waren  wohl  wegen  der  tiefen  .Itzung  nicht  zu 
beseitigen.  Der  Druck  des  Blattes  für  diese  Zeitschrift  ist  nicht 
durchweg  gleichmäßig. 


Herausgeber:  Gnrl  von  LüDoiv  in  Wien.  —  E'ür  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


STUDIEN 

ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 

VON  MAX  BACH. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


NTER  den  oberdeutschen 
Malerschulen  des  fünfzehn¬ 
ten  Jahrhunderts  nimmt  un¬ 
streitig  die  Schule  von  Ulm 
den  ersten  Rang  ein;  denn 
abgesehen  von  der  Augs¬ 
burger  Schule,  die  ihre 
Blütezeit  erst  im  sechzehn¬ 
ten  Jahrhundert  erreichte,  kommt  hier  nur  noch  die 
Oberrheinische  in  Betracht,  deren  Haupt,  Martin 
Schongauer,  als  Maler,  urkundlich  sich  nicht  nach- 
weisen  lässt;  wenigstens  ist  keines  der  ihm  bis  jetzt 
zugeschriebenen  Gemälde  monogrammistisch  oder 
sonst  inschriftlich  als  ein  Werk  seiner  Hand  kon- 
statirt. 

Schon  frühe  haben  sich  schwäbische  Forscher, 
vor  allen  die  Pfarrer  Albrecht  W eyermann  (gestorben 
1832)  und  Karl  Jäger  (gestorben  1842)  bemüht,  aus 
Ulmischen  Urkunden  und  andern  Dokumenten  No¬ 
tizen  zu  sammeln,  welche  dann  spätere  Forscher: 
Grüneisen,  Manch,  Passavant  und  Hassler  fortgesetzt 
und  weiter  verarbeitet  haben.  Auf  diesen  Studien 
fußen  alle  Mitteilungen,  welche  die  verschiedenen 
kunstgeschichtlichen  Handbücher  bis  in  die  neueste 
Zeit  an  historischen  Daten,  Lebensumständen  u.  dergl. 
über  einzelne  Meister  der  Ulmer  Schule  beibringen. 
Gewiss  nur  in  seltenen  Fällen  hatten  die  neueren 
Kunsthistoriker  sich  angelegen  sein  lassen,  diese 
Quellen  zu  prüfen  oder  gar  Neues  hinzuzufügen. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  dadurch  im  Laufe  der 
Zeit  eine  Menge  Ungenauigkeiten,  falsche  Schlüsse 
und  Hypothesen  in  die  Kunstlitteratur  sich  einge¬ 
schlichen  haben;  nnr  ein  Beispiel  sei  hier  genannt, 
es  ist  der  Aufsatz  von  Harzen  in  Naumann’s  Archiv 
für  die  zeichnenden  Künste,  186Ü,  S.  27  ff.  Dieser 
Künstlerroman  ist  bis  heute  noch  nicht  ganz  über¬ 
wunden  und  spnkt  da  und  dort  noch  in  den  Köpfen 
solcher,  welche  aus  den  wenigen  überlieferten  That- 
sachen  absolut  noch  eine  anziehende  Biographie  zu¬ 
sammenlesen  wollen. 

Der  Verfasser  hat  sich  nun  die  Aufgabe 
gestellt,  unterstützt  durch  einen  mehrjährigen  Auf¬ 
enthalt  in  Ulm,  das  vorhandene  Quellenmaterial  zu 
sichten  und  einer  eingehenden  Prüfung  zu  untei’- 
ziehen, 

1. 

Hans  Schühlem  (Schuchlin,  Schüchlin,  Schuoch- 
lin,  Schühlin,  Schielin,  Schiele).  Der  Name  ist  Ul¬ 
misch.  Schon  1409  erscheint  in  einer  Urkunde  der 
Pfarrkirchenbaupflege  eine  Witwe  „Adelheit  Schuch- 
lerin,  Bürgerin  von  Ulm“;  ferner  wird  1413  das  Haus 
der  „Schuchlerin“  erwähnt’);  dann  kommt  in  einer 
Hüttenrechnung  von  1417  ein  „schöchlin“,  1427  ein 
Steinmetzgeselle  „Schuochlin“  vor.  2) 


1)  Bazing  u.  Veesenmeyer,  Urkunden  zur  Geschichte  der 
Pfarrkirche  in  Ulm.  1890. 

2)  Klemm,  Münsterhlätter,  111.  u.  IV.  Heft,  S.  93. 

16 


122 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


Unser  Künstler  tritt  plötzlich  durch  sein  Tiefen- 
bronner  Altarwerk  im  Jahre  1469  in  die  Geschichte 
ein;  dort  nennt  er  sich  auf  der  Rückseite  der  Pre¬ 
della:  Hans  Schüchlin  Maler.  Dieses  einzig  da¬ 
stehende  Werk,  welches  zuerst  von  Grüneisen  im 


die  Inschrift  am  Altäre  selbst,  welche  lautet;  „Anno 
dommi  MCCCC  LXVHIj  Jare  —  Ward  dißi  daffel 
vff  gesetz  un-  gantz  uß  gemacht  vff  sant  steffas  tag 
des  bapst.  un-  ist  gemacht  ze  Ulm  vo-  hannße- 
Schüchlin  malern,“ 


nie  Kreuztraguug  i'brisü.  Vom  Tiefenbronner  Altar,  von  Hans  SchÜhlein. 


Kunstblatt  1840  kunstgeschichtlicli  gewürdigt  wurde, 
scheint  übrigens  auch  schon  Weyermann  gekannt 
zu  haben;  denn  in  seinen  neuen  Nachrichten  (1829, 
S.  012)  sagt  er:  „1  168  hat  er  daselbst  (nämlich  in 
Ulm)  eine  Tafel  gesetzt  und  ganz  aufgemacht  auf 
St.  Lucastag  des  Pobsts.“  Vergleichen  wir  damit 


Offenbar  ist  hier  nur  eine  Verwechslung  zwischen 
St.  Lukas  und  St,  Steffan  eingetreten.  Eine  nähere 
Beschreibung  des  Altars  ist  überflüssig,  nur  sei 
noch  bemerkt,  dass  am  Altarschrein  oben  die  Wappen 
von  Württemberg  und  Baden,  unten  das  Wappen 
der  Herren  von  Gemmingen  und  ein  geisthches 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE 


123 


(Mitra  mit  Bischofsstäben)  sich  befinden,  außerdem 
liest  man  dabei  noch  die  Zahl  1469. 

Was  nun  die  künstlerische  Würdigung  des 
Werkes  anbelangt,  so  hat  man  nach  dem  Vorgang 
Harzen’s  allgemein  das  Schulverbältnis  zu  Rogier 
van  der  Weyden  betont,  doch  sind  dafür  zu  wenig 
Anhaltspunkte  vorhanden,  und  richtig  bemerkt  Lübke 
in  seiner  Geschichte  der  deutschen  Kunst:  der  Meister 
weiß  die  neue  realistische  Richtung  mit  dem  der 
schwäbischen  Schule  eigenen  idealen  Schönheitssinn 
zu  verschmelzen  —  wohl  merkt  man  den  Einfluss 
flandrischer  Kunst  —  aber  Schühlein  bringt  doch 
viel  von  eigener  Empfindung  hinzu.-)  Ein  ganz  neues 
Moment  in  der  Beurteilung  des  Meisters  ist  aber  dazu¬ 
gekommen,  nachdem  Klemm  in  den  Münsterblättern 
IV,  S.  174  auf  eine  Stelle  hingewiesen  hat,  welche 
Strauch  in  seinem  1S83  erschienenen  Buche  über 
die  Pfalzgräfin  Mechtild'’’)  mitteilt.  Dort  ist  die  Rede 
von  einer  Altartafel,  welche  1474  dem  Albrecht  Reb¬ 
mann,  Maler  von  Nürnberg,  und  seinem  Schwager 
Hans  Schühlein  für  den  Chor  der  Martinskirche  in 
Rottenburg  a/N.  zu  fassen  um  425  Gulden  verdingt 
wurde.  R.  Vischer^)  schließt  daraus,  dass  Wohlgemuth 
sowohl  bei  Rebmann  als  auch  in  Ulm  bei  Schüh¬ 
lein  in  die  Lehre  gegangen  sein  könnte,  oder  dass 
alle  drei  bei  einem  noch  festzustellenden  Meister  ge¬ 
lernt  haben.  Thode  dagegen  in  seinem  neuesten 
Werke  über  die  Malerschule  Nürnbergs  steckt  noch 
engere  Grenzen;  nach  ihm  sollen  Schühlein  und 
Wohlgemuth  Schüler  des  Hans  Pleydenwurf  gewesen 
sein.  In  der  That  zeigen  auch  die  Tiefenl)ronner 
Gemälde  viel  Übereinstimmung  mit  der  Wohlgemuth- 
Pleyden  Wurf 'sehen  Schule;  man  beachte  nur  die  heil. 
Magdalena  anf  der  Kreuzigung  des  Hofer  Altarwerks 
in  der  Pinakothek  zu  München  (s.  unsere  Abbildung), 
und  die  Magdalena  bei  der  Grablegung  in  Tiefenbrouu. 
Nur  ist  Schühlein  noch  weicher  und  milder  als  der 
Nürnberger  Meister,  ein  Streben  nach  idealer  Schönheit 
bricht  sichBahn,  in  seinen  Köpfen  erinnert  er  an  Dierick 
Bouts  und  in  der  Gewandbehandlnng  ist  derselbe 


1)  Urkundliche  Nachrichten  über  die  Stifter  des  Altars 
sind  zu  erwarten  in  dem  im  Erscheinen  begi’iffenen  Werke: 
,, Kunstdenkmäler  im  Gr-oßherzogtum  Baden“.  Vergl.  übrigens 
auch  Weber,  Die  Kirche  zu  Tiefenbronn  mit  ihren  Merk¬ 
würdigkeiten.  1845. 

2)  Neuerdings  sucht  A.  Schmid  im  Rep.  f.  Kunstw.  15. 
einen  Zusammenhang  der  Schühlein’schen  Kreuzschleppung 
mit  derjenigen  Martin  Schön's  nachzuweisen ,  und  schließt 
auf  ein  gemeinschaftliches  flandrisches  Vorbild. 

.3)  Mechtilde  war  die  Gemahlin  des  Grafen  Ludwig  1. 
von  Württemberg  und  Mutter  Herzog  Eberhard’s  im  Bart. 

4)  Studien  zur  Kunstgeschichte.  Stuttgart  188U. 


aU  seinen  oberdeutschen  Zeitgenossen  entschieden  über¬ 
legen.  Interessant  ist  eine  Vergleichung  seiner  Grab¬ 
legung  mit  derjenigen  M.  Schongauer’s  in  Kolmar; 
wie  steif  und  hölzern  ist  hier  die  ganze  Komposi¬ 
tion,  bei  aller  Empfindung  der  einzelnen  Charaktere ! 
Schühlein  ist  hier  Schon gauer  weit  überlegen  und 
wir  können  dem  Urteil  Harzen’s  vollkommen  zu¬ 
stimmen,  wenn  er  Schühlein  den  ersten  Maler  seiner 
Zeit  und  seines  Stammes  nennt. 

Ein  Zusammenhang  mit  der  Nürnberger  Schule 
scheint  nach  dem  Vorstehenden  gewiss;  hat  doch 
schon  Jäger-)  diese  Vermutung  ausgesprochen,  aller¬ 
dings  ohne  bestimmte  Anhaltspunkte. 

Erst  im  Jahre  1480  tritt  Schühlein  in  Ulmischen 
Urkunden  auf  und  zwar  als  Bürge  für  andere 
Ulmische  Bürger.^)  Dann  sieben  Jahre  später,  in 
den  Zinsbüchern  der  Frauenpflege,  d.  h.  des  Pfarr¬ 
kirchenhaupflegamts  ^) ;  dort  wird  sein  Haus  genannt, 
„im  alten  Graben  beim  Kornhaus  hinab“.  Er  zahlt 
1  Gulden  8  Pfennig  uff  Frytag  vor  Georg  dafür 
Zins,  ferner  giebt  er  1  Gulden  uff  Fritag  vor  Na- 
tivitatis  Mariä  „dem  unslin  uff  der  hütten  von 
vines  —  (?)  wegen,  den  er  gemaulet  hatt“.^) 

1491  malt  er  12  Bottenbüchsen  mit  St.  Jörgeu- 
kreuz  für  den  schwäbischen  Bund  und  ei'hält  dafür 
1  Pfund  8  Schilling. 

1492  Montag  nach  Bartholomäus  erscheint  der¬ 
selbe  in  einem  Prozess  vor  dem  Hofgericht  zu  Rott¬ 
weil,  wohin  ihn  Albert  Räm  (Rehm)  vorgeladen, 
V^on  1495  bis  1503  war  dann  Schühlein  einer  der 
drei  Pfleger  der  Pfarrkirche  (Frauenpflege),  als  solcher 
erscheint  sein  Name  auch  auf  den  Überschriften  der 
Zinsbücher  und  in  den  Urkunden;  hier  wird  er  regel¬ 
mäßig  „Hanns  Schühlin  oder  Schuchlin“,  1502  aus¬ 
drücklich  „Meister  Hanns  Schühlin  Maler“  genannt, 
ein  andermal  ist  beigesetzt  „des  Raths  und  Zunft¬ 
meister“.  Dieses  Amt  des  Pflegers  der  Pfarrkirche 
war  ein  sehr  angesehenes;  es  waren  seit  Beginn  des 
Baues  immer  drei,  teils  aus  den  Geschlechtern,  teils 
aus  den  Zünften  gewählte  Herren,  welche  alljähr¬ 
lich  vom  Rat  neu  gewählt  werden  mussten.  Diese 
Herren  hatten  nicht  allein  die  Gelder  für  den 


1)  Unsere  Abbildungen  nach  Photographieen  von  Wahl 
in  Stuttgart  wurden  an  Ort  und  Stelle  retouchirt.  Sie  stellen 
die  beiden  unteren  Bilder  der  inneren  Flügelseiten  dar. 

2)  Kunstblatt  1833. 

3)  Wey  ermann.  Neue  Nachrichten,  S.  476. 

4)  Näheres  über  diese  Quellen  giebt  Klemm  in  den 
Münsterblättern,  111.  u.  IV.  Heft,  S.  76. 

5)  Klemm,  a.  a.  0.  S.  93. 

6)  Weyerma,nn,  li,  S.  476. 


16^ 


124 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


Münsterbau  zu  verwalten,  sondern  führten  auch  die 
unmittelbare  Aufsicht  über  den  Bau,  d,  b.  sie  bil¬ 
deten  die  administrative  Behörde.  Es  liegt  auf  der 
Hand,  dass  man  den  gegen  Ende  des  Baues  immer 
mehr  sich  steigernden  Luxus  in  Ausstattungsgegen- 

o  O  o 


Schühlein  um  die  Wende  des  15.  Jahrhunderts  be¬ 
kleidete,  haben  wir  Kenntnis;  es  ist  das  Amt  eines 
Zunftmeisters  der  St.  Lu cas -Verbrüderung  in  dem 
„Gottshauß  Wengen“.  Das  betreffende  Dokument: 
„Instrumentum  Confraternitatis  etc.“  befindet  sich  auf 


l»ie  GrableguiigiCliiisti.  Vom  Tiefeiibrouuer  Altar,  von  Hans  Schühlein. 


'landen,  J'lj»ita})liien  u.  dergl.  doch  auch  insofern 
überwaclien  wollte,  dass  man  in  das  Kollegium  der 
Flieger  auch  einen  Künstler  setzte,  der  als  solcher  in 
dem  damaligen  Ulm  jedenfalls  die  erste  Stelle  einnahm. 

Aber  auch  noch  von  einem  weiteren  Amt,  welches 


der  Ulmer  Stadtbibliothek  und  wurde  schon  durch 
Weyermann  im  Kunstblatt  1830  publizirt;  einen 
Wiederabdruck  veranstaltete  Manch  im  Jahrgang 
1870  der  Verhandlungen  des  Vereins  für  Kunst  und 
Altertum  in  Ulm,  S.  25  ff.  Dort  ist  unter  den  Ur- 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


125 


kundspersonen ,  welche  am  „Affter  Montag  nechst 
unser  lieben  Frauentag  Wurzweyhen“  1499  ihre 
Statuten  erneuerten,  in  erster  Linie  genannt:  „Meister 
Hanß  Schüchlin  Alten  Zunft  Maister“.  Diese  Zunft 
der  Maler,  Bildhauer,  Glaser  und  Briefdrucker  hatte 
schon  im  Jahre  1473  eine  Übereinkunft  mit  dem 
damaligen  Propst  des  Wengenklosters  Ulrich  Kraft  11. 
(1468 — 1480)  abgeschlossen,  Seelenmessen  betreffend. 
Das  Übei’einkommen  wurde  im  Jahre  1499  mit 
Propst  Johann  11.  (1498 
bis  1509)  erneuert.  Der 
etwas  verworrene  und 
unklare  Inhalt  dieses 
Schriftstücks  gab  viel¬ 
fach  zu  Missverständ¬ 
nissen  Anlass,  indem 
die  dort  genannten 
Künstler,  worunter 
auch  Zeitblom ,  als 
schon  im  Jahre  1473 
an  der  Spitze  der  Zunft, 
bezeichnet  werden. 

Es  heißt  dort:  nach¬ 
dem  die  erbaren  und 
weisen  Meister ,  die 
Maler,  Bildhauer  etc., 

Gott  zu  Lob  den  Tag 
des  heil.  Evang.  Lucas 
zu  Würden  mit  einem 
gesungenen  Amt  vil 
Jahr  her  in  dem  ehr¬ 
würdigen  Gotteshaus 
hei  den  Wengen  löhl. 
begangen ,  auch  her¬ 
nach  eine  Bruderschaft 
unter  sich  angefangen, 
die  sich  gemehrt  und 
demnach  Gott  zu  Lob 
—  etwie  viel  Jahr  her, 
alljährlich  auf  den 
nächsten  Sonntag  nach 
St.  Lukas  Tag  auf  St. 

Lukas  Altar  eine  gesungene  Seelmeß  gehabt,  —  sei 
ein  Übereinkommen  zwischen  dem  seeligen  Propst 
Ulrich  und  seinem  Convent  und  den  obgenannten 
Meistern  (d.  h.  den  nicht  mit  Namen  genannten) 
beschehen,  laut  zweier  Zettel  mit  dem  Datum  aut 
Donnerstag  nach  St.  Gallentag  1473.  Jetzt  kommt 
die  etwas  schwer  verständliche  Stelle:  „Dass  sich 
die  gemelt  gemein  Bruderschaft  der  Brueder,  der 
Vier  Rotten,  auf  die  Zyt  in  der  Bruderschaft  schrift¬ 


lich  begriffen,  Inhalt  des  Zettels  in  der  Bichs 
ligende  durch  ihre  zu  Verwante  Brueder  dazue  ver¬ 
ordnet  mit  Namen  Maister  Hans  Schüchlin  u.  s.  w. 
sich  mit  dem  ehrwürdigen  Herrn  Johann  Probst  und 
seinem  Convent  zu  den  Wengen  obgenandt  dass  wie 
hernach  volgt  auf  ein  neues  geaint  und  betragen 
haben.“ 

Daraus  folgt  doch  wohl,  dass  die  genannten 
Künstler  nicht  schon  1473,  sondern  erst  zur  Zeit  der 

Abfassung  des  Schrei¬ 
bens  im  Jahre  1499 
aus  der  Mitte  der 
Zunft  erwählt  wurden 
—  „dazu  verordnet“^  — 
mit  Propst  und  Kon¬ 
vent  zu  verhandeln. 

Die  weiter  genann¬ 
ten  Meister  sind  fol¬ 
gende:  Maister  Nickmß 
Wühhmann  Bildhauer 
zwölf  maister,  Jkirihol- 
me  Ziithlajii  Mahler, 
rcter  Liiidenfrost  Glas- 
ser,  l)aiddiser  Zit  Büch - 
sen-Maister,  Jacob  Si(jl  in 
Brief-drukher ,  Conrad 
Schorendorff'  und  Qeor;/ 
Böringcr  Bildhauer.  Der 
Titel  Büchsenmeister, 
welcher  hier  dem  Barth. 
Zeitblom  und  Peter 
Lindenfrost  beigelegt 
ist,  wurde  von  Harzen 
fälsch  gedeutet  und 
gab  V eranlassung  zu 
der  lächerlichen  Sage, 
Zeitblom  habe  als 
Kriegsmann  (Artille¬ 
rist)  im  Heere  Karl’s 
des  Kühnen  zu  Burgund 
gedient.  Hier  ist  aber 
Büchsenmeister  nichts 
anderes  als  der  Verwalter  der  Büchse  d.  h.  der 
Schatulle  der  Zunft,  ihr  Schatz-  und  Vermögens¬ 
verwalter.  Das  geht  schon  aus  dem  Schriftstück 
selbst  hervor,  wo  die  Rede  ist  von  dem  Zettel, 
der  in  der  „Bichs“  liegt;  an  einen  militärischen 
Büchsenmeister  oder  Artilleristen  ist  nicht  entfernt 
zu  denken. 

V’^on  einer  weiteren  Kunstthätigkeit  Schühlein’s 
haben  wir  nur  noch  ein  Zeugnis  in  den  Annalen  des 


Frauen  gruppe  auf  der  Kreuzigung  des  Hofer  Altarwerkes. 
Von  Michael  Wohi.gemüth. 


126 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MÄ.LERSCHULE. 


Klosters  Lorch.  Für  dieses  Kloster  oder  speziell 
für  die  Wöllwarth’sclie  Grabkapelle  in  der  dortigen 
Klosterkirche  fertigte  er  im  Jahre  1495  einen  Altar. 
Die  jetzt  noch  vorhandene  Kapelle  war  dem  heil, 
Mauritius  geweiht  und  zeichnet  sich  besonders  durch 
die  interessanten  Grabdenkmale  der  Familie  Wöll- 
warth  aus.  Der  da¬ 
malige  Abt  Georg 
Kerler  (1480  bis  1510) 
war  gebürtig  aus  dem 
Ulmischen  Gebiet, 
unter  ihm  erhielt  das 
Kloster  manche  Ver¬ 
schönerungen,  auch 
wird  berichtet,  dass 
die  Herren  von  Sche- 
chingen,  welche  dort 
gleichfalls  eine  Grab¬ 
lage  hatten,  im  Jahre 
1483  eine  Tafel  auf 
St.  Uartholomäus-Al- 
tar  gestiftet  haben; 
im  darauffolgenden 
Jalire  wird  die  Tafel 
auf  dem  Hau[italtar 
von  Ji'inj  Siirliu.  ge¬ 
nannt  und  1496  stiftet 
Lorenz  Dogen,  Amt¬ 
mann  und  zuletzt 
IhVündner  im  Kloster, 
die  'l’ai'el  auf  den 
A  llerlieiligenaltar.-^j 
Noch  hal)en  wir 
aber  ein  Werk  zu  be¬ 
sprechen,  welches  mit 
dein  Nannui  Schüli- 
lein  in  Verl)indnng 
gehraclit  wird,  näin- 
licli  den  angebliclien 
Altar  von  Münster  hei 
Augsburg.  Meines 
Wissens  wird  dieser 
Altar  er.stmal.s  von 
Harzen  in  der  schon 
genannten  Abhand¬ 
lung  erwähnt  und  dort  dem  Schühlein  zugeschrie- 
hen.  Alle  späteren  Autoreu  fußen  auf  dieser  ersten 


Notiz  und  teilen  die  Inschrift  mit,  die  besagt, 
Hans  Schühlein  habe  die  Tafel  mit  B.  Zeitblom  zu 
Ulm  gemacht  im  Jahre  14  .  .  (die  beiden  letzten 
Zilfern  der  Jahreszahl  fehlen).  Nun  ist  zunächst 
festzustellen,  wie  es  mit  der  Provenienz  dieses  Werkes 
steht.  Es  giebt  nämlich  zwei  Orte  mit  dem  Namen 

Münster  in  bayerisch 
Schwaben,  eines  bei 
Donauwörth  gelegen, 
das  andere  südwest¬ 
lich  von  Augsburg 
an  der  Schmutter, 
Landgericht  Schwab- 
münchen.  Doch  kei¬ 
ner  dieser  Orte  ist  die 
Heimat  dieses  Altars, 
sondern ,  wie  schon 
Woltmann  in  seiner 
Geschichte  derMalerei 
bemerkt,  Mickhausen 
(nicht  Mückenhausen, 
wie  es  dort  heißt)  und 
auch  der  Katalog  der 
Fester  Galerie  angiebt, 
in  welcher  sich  jetzt 
dieser  Altar  befindet. 

Miclhaiiscn  ist  ein 
Pfarrdorf  an  der 
Schmutter,  die  Lehen¬ 
schaft  der  dem  heil. 
Wolfgang  geweihten 
Kirche  gehörte  samt 
der  Herrschaft  den 
Edlen  von  Argon, 
dann  denen  von  Frei¬ 
berg,  welche  dieselbe 
im  Jahre  1528  dem 
König  Ferdinand  ver¬ 
kauften,  und  dieser 
als  Reichslehen  dem 
Freiherrn  Raymund 
Fugger  überließ.  In 
dem  Schloss  ist  die 
Lorettokapelle,  bei 
der  die  Fugger  einen 
Priester  unterhielten.  ’)  Es  ist  also  unrichtig,  wie  es 


.SS.  Florian  .Johannes  u.  Sebastian.  Vom  Mickhauser  Altar,  von  Barth.  Zeitblom. 


1)  Das  rote  tJuch  von  Lorch,  eine  Urkundensammlnng 
von  1102 — 1.010  iin  K.  Staatsarchiv  zu  Stuttgart. 

2)  Lorent,  Denkinale  des  Mittelalters  im  Königreich 
Württemberg,  II,  S.  .03.  Übevamtsbeschreibung  von  Welzheim. 


1)  Vergl.  Bavaria,  Schwaben  und  Neuburg.  Dass  Mick¬ 
hausen  kein  unbedeutender  Ort  war,  beweist  auch,  dass  es 
eine  eigene  Gerichtsordnung  besaß,  wovon  zwei  Manuskripte 
von  1.025  und  1532  in  der  fürstl.  Bibliothek  zu  Sigmaringen 
sich  befinden. 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


127 


Harzen  sich  von  seinem  Gewährsmann  Eigner  in 
Aucfshnra:  erzählen  lässt:  das  Dorf  sei  schon  im  Jahre 
1460  durch  Kauf  an  Jakob  Fugger  ühergegangen,  von 
dem  gemeinschaftlich  mit  Wolfgang  von  Freiberg  der 
Altar  gestiftet  worden  sein  soll.  Münster  ist  eine 
Filiale  von  Mickhausen,  dort  befindet  sich  die  St.  Vitus¬ 
kapelle,  in  der  das  Patrocinium  gehalten  und  mehrere 
Messen  gelesen  werden;  aus  dieser  kleinen  Kapelle 
wird  unser  Altar  wohl  schwerlich  stammen.  Das 
Werk,  wie  schon  erwähnt,  befindet  sich  jetzt  in  der 
Landesgalerie  zu  Pest,  wohin  es  aus  der  Samm¬ 
lung  Arnold  Ipolyi’s  gekommen  ist  (Nr.  185  a — c)- 
Es  sind  zwei  zersägte  Flügel,  deren  Außenseiten 
jetzt  zu  einer  Tafel  vereinigt  sind.  Auf  letzteren 
sieht  man  eine  Versammlung  der  zwölf  Jünger 
Jesu  im  Gemach  der  heil.  Maria,  welche  an  einem 
Betpult  kniet  und  ohne  Zweifel  ihren  Tod  er¬ 
wartet.  An  der  Seite  der  Maria  hinter  dem  Pult  steht 
Johannes  in  weißem  Mantel,  mit  der  linken  Hand  den 
Arm  der  Maria  berührend,  ein  schöner,  edler  Kopf 
ganz  im  Geiste  Zeitblom’s,  rechts  und  links  gruppiren 
sich,  teils  sitzend,  teils  stehend,  in  Andacht  versunken, 
teilweise  lesend,  die  übrigen  Apostel.  Rechts  ist  das 
Bett  der  Maria  neben  einem  geöffneten  Fenster,  links 
sieht  man  ein  Wandschränkchen  mit  allerlei  Gerät 
und  nach  außen  ein  schönes  gotisches  Bogenfenster 
mit  Aussicht  auf  eine  felsige  Landschaft.  Auf  den 
inneren  Seiten  der  Flügel  sind  je  drei  Heilige  ge¬ 
malt  und  zwar  rechts  die  Heiligen  Papst  Gregor, 
Johannes  der  Evangelist  und  Augustinus,  links 
St.  Florian,  Johannes  der  Täufer  und  St.  Sebastian. 
Unter  dem  rechten  Flügel  liest  man  folgende  In¬ 
schrift:  „und .  von  Hans .  Schülein  .  B.  Zeitblom  zu  .  .  . 
mit  gemacht  14  .  .“,  unter  dem  linken  Flügel  steht 
mit  lateinischen  Buchstaben:  „S.  Florian  Joann. 
Pap.  S.  Sebast.“,  darunter  schimmern  deutlich  noch 
Reste  einer  älteren  Schrift  in  Minuskelbuchstaben 
durch,  die  Hintergründe  der  Gemälde  haben  einen 
schönen  damascirten  Goldgrund,  welcher  halbkreis¬ 
förmig  abschließt.  (S.  die  Abbildungen.) 

Wer  einigermaßen  mit  Zeitblom'schen  Werken 
vertraut  ist,  wird  auf  den  ersten  Blick  den  Meister 
in  den  schönen  Heiligengestalten  erkennen;  die  beiden 
Johannes  erinnern  lebhaft  an  die  analogen  Figuren 
vom  Eschacher  Altar,  der  Kopf  des  heil.  Gregor  an 
denselben  Heiligen  auf  der  Predella  des  nämlichen 
Altars.  Auch  an  den  sichtlich  stark  übermalten 
Vorderseiten  erkennt  man  noch  einzelne  Köpfe,  die 
des  Meisters  würdig  sind. 

V ergleicht  man  damit  die  Tiefenbronner  Gemälde 
Schühlein’s,  so  wird  es  schwer,  irgend  welche  Be¬ 


ziehungen  herauszufinden.  Der  Typus  der  Köpfe 
und  der  Stil  der  Gewandung  sind  doch  ganz  andere. 
Aber  wie  steht  es  nun  mit  der  Inschrift,  die  ja  be¬ 
sagt,  Schühlein  habe  das  Werk  mit  Zeitblom  ge¬ 
malt?  Dieselbe  ist  offenbar  gefälscht!  Schon  der 
Ort,  wo  die  Schrift  angebracht  ist,  erregt  Bedenken, 
noch  mehr  thun  dies  aber  die  Schriftformen  und  die 
Fassung  der  Inschrift. 

Bei  Altarwerken  dieser  Zeit  war  es  üblich,  den 
Namen  des  Autors,  wenn  derselbe  genannt  sein 
wollte,  entweder  auf  der  Predella  oder,  was  noch 
häufiger  geschah,  auf  der  Rück-  oder  Nebenseite  des 
Altarschreins  anzubringen,  jedenfalls  an  einem  Platz, 
der  nicht  sofort  in  die  Augen  sprang,  niemals  aber 
auf  den  Gemälden  selbst.  Man  hat  dafür  an  den 
Altären  zu  Tiefenbronn,  dann  für  Zeitblom  auf  dem 
Kilchberger  und  Heerherger  Altar  Beispiele.  Jetzt 
aber  die  Schrift  selbst;  es  ist  ganz  undenkbar,  dass 
im  15.  Jahrhundert  solche  Initialen  angewendet 
worden,  wie  sie  hier  gemalt  sind,  auch  entsprechen 
die  Formen  der  Minuskeln  durchaus  nicht  denjenigen 
ihrer  Zeit,  noch  mehr  aber  ist  die  Schreibweise 
Schülein  auffallend;  urkundlich  ist  solche  nicht  nach¬ 
weisbar,  es  müsste  entweder  Schühlin  oder  Schüchlin 
heißen;  die  Form  Schülein  ist  modern.  Wenn  nun 
Harzen  behauptet,  die  Inschrift  auf  dem  anderen 
Flügel  sei  zu  ergänzen:  „Dieses  Werk  wurde  von 
Jacob  Fugger  u.  W.  von  Freiberg  gestiftet“,  so  ist 
auch  das  lediglich  aus  der  Luft  gegriffen.  Die  Reste 
von  Schrift,  welche  unter  der  jetzigen  lateinischen 
Inschrift  durchschimmern,  scheinen  gleichfalls  nur 
die  Heiligen  zu  bezeichnen,  und  so  wird  es  auch 
auf  dem  anderen  Flügel  gewesen  sein.  Beispiele 
hierfür  lassen  sich  leicht  anführen,  z.  B.  auf  den 
Zeitblom’schen  Flügeln  in  der  Pinakothek  in 
München  mit  den  Heiligen  Cyprian  und  Cornelius; 
dort  sind  die  Namen  der  Heiligen  unmittelbar  unter 
den  Bildern  jedesmal  in  schöner  Minuskelschrift  an¬ 
gegeben. 

Aus  den  Zin.sbüchern  der  Frauenpflege  hat  schon 
Hassler  im  Jahrg.  1855,  9.  u.  10.  Bericht,  S.  74,  der 
Verhandlungen  des  Vereins  für  Kunst  und  Altertum 
in  Ulm  den  Nachweis  geliefert,  dass  Schühlein  der 
Schwiegervater  Barth.  Zeitblom’s  war.  Aber  erst 
Klemm  a.  a.  0.  verdanken  wir  bestimmtere  urkund¬ 
liche  Belege  dafür.  Darnach  erscheint  Schühlein 
zum  erstenmal  im  Jahre  1499  als  Inhaber  eines 
Kirchenstuhls  gemeinschaftlich  mit  Zeitblom  „seim 


1)  Zu  derselben  Ansicht  gelangte  Frimmel  in  seinen 
Kleinen  Galeriestudien,  S.  247  ff.  Bamberg  1892. 


128 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHÜLE. 


Tochtermanne“.  Sie  zinsen  mit  einander  zwei  Ort, 
1503  aber  erscheint  bei  diesem  Stuhl  Daniel  Schüh- 
lin,  der  nach  einer  Bemerkung  zu  1501  von  da  an  für 
Hans  Schühlin  eintrat,  und  Zeitblom.  Hans  Schühlein 
hatte  1503  einen  eigenen  Stuhl  besessen  bei  dem 
Kaiben  Altar  und  zahlt  dafür  1  Gulden  Zins.  Im 
Laufe  des  Jahres 
1505  und  zwar  an¬ 
fangs  desselben 
muss  Schühlein  ge¬ 
storben  sein.  Es 
ist  zwar  bei  seinem 
Hause  die  Zahlung 
des  Zinses  als  am 
Montag  nach  Petri 
und  Pauli  1505  er¬ 
folgt  bezeichnet,  da¬ 
gegen  schon  bei 
dem  Stuhl  der  Na¬ 
me  durchstrichen 
und  dafür  der  des 
Jung  Burlin  ge¬ 
setzt,  der  nun  1507 
fF.  an  dieser  Stelle 
vorkommt.  Schüh- 
lein’s  Witwe  wird 
auf  S.  84  der  Zins¬ 
bücher  gleichfalls 
erwähnt  als  Zin- 
serin  von  4  ll  auf 
f)stern,  „der  alten 
1 1  ütteuknechtin 
1  laus.“ 

Von  den  Söh¬ 
nen  Schühlein’s 
werden  genannt: 

Erasmus,  Laux  und 
])anie].  Von  letz¬ 
terem  wird  berich- 
1(4,  dass  er  im  .lahr 
1  107  das  Gewölbe 
der  Stadtkirche  zu 
Blaubeuren  ausge¬ 
malt  habe;  er  war 
zu  jener  Zeit  sess- 
bafl  zu  Urach  und  wird  nach  Weyermann  erst  1510 
als  Bürger  in  Ulm  aufgenommen.  Nach  den  Hütten¬ 
büchern  zahlt  übrigens  Daniel  schon  im  Jahre  1505 
Zins  für  seinen  Stuhl,  den  er  gemeinschaftlich  mit 
Zeitblom  hatte,  1507  auch  den  für  sein  Haus,  1508 
muss  derselbe  schon  wieder  auswärts  gewesen  sein, 


l’abst  (iregor,  St.  Johannes,  St.  Augustinus. 
Vom  Mickhausei’  Altar,  von  Barth.  Zeitblom. 


denn  von  da  an  bis  1512  erscheint  Zeitblom  als 
der  alleinige  Inhaber  des  Stuhls.  Das  schon  er¬ 
wähnte  Haus  beim  Kornhaus  ist  1512  im  Besitz  des 
Martin  Schaffner,  woraus  man  schon  früher  auf  enge 
verwandtschaftliche  Beziehungen  zu  Schühlein  ge¬ 
schlossen  hat. 

Nach  Hassler 
a.  a.  0.  kommt 
auch  Lukas  oder 
Lux  Schühlein  in 
den  Hüttenrech¬ 
nungen  von  1509 
und  1510  vor,  Eras¬ 
mus  Schülein  da¬ 
gegen  als  Maler  und 
Bürger  in  einem 
N  otariatsinstru- 
ment  von  1497. 

Ein  Leonhard 
Schielin  erscheint 
1498  als  der  Ver¬ 
fertiger  eines  deut¬ 
schen  Gebetbuches 
in  der  fürstlichen 
Bibliothek  zu  Sig¬ 
maringen.  Auf  dem 
letzten  Blatt  ist  rot 
geschrieben:  „diss 
Büchlin  ist  geschri- 
ben  und  vollendet 
durch  Leonhartten 
Schielin ,  der  zeit 
burger  zuAugspurg 
auff  mittwüch  nach 
Dorothee.  In  dem 
jar  alls  mann  zalt 
MO  CCCCO  unnd 
LXXXXVHj“.2) 
Außer  dem  Tie- 
fenbronner  Altar¬ 
werk  lassen  sich 
keine  sonstigen  Ge¬ 
mälde  Schühlein’s 
auch  nur  mit  eini¬ 
ger  Sicherheit  nach- 
weisen.  Die  Bilder  mit  der  heiligen  Sippe  in 
München  und  Nürnberg,  desgleichen  die  sieben 


1)  Vergl.  auch  Wintterlin  in  der  deutschen  Biographie. 

2)  S.  Lehner,  Verzeichnis  der  Handschriften  des  fürst¬ 
lichen  Museums  zu  Sigmaringen.  1872. 


DER  TIEFSTICH  AUF  HOLZ. 


129 


Darstellungen  aus  dem  Leben  der  Maria  im  Mu¬ 
seum  zu  Sigmaringen  gehören  ihm  nicht  an. 
Da  es  bis  jetzt  an  allem  Vergleichungsmaterial  ge¬ 
fehlt  hat,  so  ist  eine  Zuweisung  anderweitiger  Bilder 


ungemein  erschwert.  Das  urkundlich  Gesicherte  über 
den  Meister  glaube  ich  in  Vorstehendem  vollständig 
beigebracht  zu  haben. 


DER  TIEFSTICH  AUF  HOLZ. 

MIT  ABBILDUNG. 


NTER  den  neuesten  Ver¬ 
suchen  zur  Weiterentwicke¬ 
lung  der  vervielfältigenden 
Künste  gehört  der  Tiefstich 
auf  Holz  zu  den  interessan¬ 
testen.  Ähnliche  Versuche 
müssen  freilich  schon  früher 
gemacht  worden  sein,  denn 
ich  erinnere  mich,  vor  längerer  Zeit  irgendwo  gelesen 
zu  haben,  dass  Holz  zu  diesem  Zwecke  sich  nicht 
eigne,  indem  es  sich  beim  Druck  nicht  gut  rein 
wischen  lasse.  Das  entspricht  der  Thatsache,  scheint 
also  auf  Erfahrung  zu  beruhen.  Einige  gute  Ab¬ 
drücke  lassen  sich  wohl  von  Holz  machen,  aber  es 
tont  doch  mehr,  als  angenehm  ist.  Zudem  würde 
wohl  auch  die  Dicke  des  Stockes,  die  Notwendigkeit, 
für  gute  Drucke  die  Schwärze  warm  einzuwalzen, 
und  endlich  das  fortgesetzte  Wischen,  welches  nicht 
nur  die  Schärfe  der  Linien,  sondern  auch  die  zwischen 
denselben  stehen  gelassenen  Stege  gefährden  würde, 
dem  Druck  einer  Auflage  vom  Holzstock  im  Wege 
stehen.  Alle  diese  Gegengi’ünde  werden  aber  hin¬ 
fällig,  sobald  die  Galvanoplastik  zu  Hilfe  genommen 
wird.  Der  Stich  wird  demnach  auf  Holz  ausgeführt, 
und  alsdann  wird  ein  Galvanotyp  davon  gemacht, 
welches  nicht  nur  zum  Druck  der  Auflage  benutzt 
wird,  sondern  auf  dem  auch  die  letzten  Retouchen 
gemacht  werden  können,  da  der  weiche  galvanische 
Niederschlag  sich  ebenso  leicht  mit  Stichel  und 
Nadel,  wie  mit  Schaber  und  Polirstahl  bearbeiten 
lässt.  Holz  kann  also  doch  zum  Tiefstich  angewandt 
werden,  und  der  oben  erwähnte  Ausspruch  ist  nichtig 
geworden.  Es  ist  immer  misslich,  vorher  sagen  zu 
wollen,  was  der  Mensch  nicht  kann.  Kaum  wissen 
wir,  was  wir  können.  Die  Möglichkeiten  aber,  die  in 
der  Zukunft  liegen,  sind  uns  verborgen,  bis  wir  ihnen 
gegenüber  stehen.  Wenn,  angesichts  der  großen 
Erfindungen,  welche  wir  jetzt,  als  selbstredend,  kaum 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


beachten,  die  absprechenden  Prophezeiungen  gelehrter 
Leute  zusammengefasst  würden,  so  würde  das  eine 
lustige  Blumenlese  ergeben. 

Dass  der  Tiefstich  auf  Holz  modernen  Holz¬ 
stechern  für  Hochdruck ,  nicht  aber  Kupferstechern 
für  Tiefdruck  seine  Erfindung  verdankt,  ist  leicht 
erklärlich.  Versuche,  dem  spröden  Metall  weichere 
Substanzen  zu  substituiren,  um  dadurch  die  Arbeit 
des  Stechers  zu  reduziren  und  zu  gleicher  Zeit  ihm 
freieres  Spiel  zu  gewähren,  sind  zwar  schon  häufig 
gemacht  worden,  wie  das  die  Geschichte  der  Surro¬ 
gatprozesse  seit  Anfang  dieses  Jahrhunderts  beweist. 
Aber  die  meisten  dieser  Prozesse  haben  einen  rein 
industriellen  Boden  und  sind  in  der  That  Produkte 
der  Entwickelung  der  Großindustrie  unseres  Jahr¬ 
hunderts.  Trotz  aller  Versicherung  des  Gegenteils 
sind  sie  nur  der  Ausdruck  der  Bestrebung,  etwas 
Billigeres  zu  erfinden,  das  den  Anschein  des  Teureren 
hat  und  sich  in  industriellen  Etablissements  zum 
Gewinn  des  Verlages  rein  industriell  ausbeuten  lässt. 
Manchmal  tritt  dieser  wahre  Animus  ganz  unver¬ 
hohlen  zu  Tage,  wie  z.  B.  in  der  1846  in  Leipzig  im 
Interesse  der  Ahner’schen  Glyphographie  erschienenen 
Broschüre  ,,Die  Buchdruckerzeichnung“,  in  der  auf 
S.  9  zwei  spindeldürre  Verleger  erscheinen,  mit  der 
Unterschrift:  „Ostermesse  1846.  Vor  Ausbreitung  der 
Glyphographie“,  und  gleich  daneben  dieselben  Herren 
mit  dicken  Bäuchen  und  der  Unterschrift:  „Oster¬ 
messe  1848.  Nach  Ausbreitung  der  Glyphographie.“ 
Der  Tiefstich  auf  Holz  dagegen  ist  die  Errungen¬ 
schaft  einiger  Holzstecher ,  welche  ganz  auf  der 
Höhe  der  malerischen  Entwickelung  ihrer  Kunst 
stehen,  und  deren  einziges  Bestreben  es  ist,  die  Freiheit 
und  Mannigfaltigkeit  der  Strichführung,  die  der  Wei߬ 
linien-  und  Tonstich  bietet,  auch  auf  den  Schwarz¬ 
linienstich  zu  übertragen.  Dass  das  weiche  Holz 
hier  von  großem  Vorteil  ist,  versteht  sich  von  selbst, 
und  dazu  kommt  noch  der  andere  Vorteil,  dass  die 

17 


130 


DER  TIEFSTICH  AUE  HOLZ. 


Photogra2)liie  aut  Holz  sich  uatürlich  für  den  Schwarz¬ 
linientiefstich  ebensogut  auwenden  lässt  wie  für  den 
Weißlinien-  oder  Tonhochstich.  Der  Tiefstich  auf 
Holz  bietet  also  eine  Freiheit,  die  fast  dem  der  Ra- 
diruug  gleichkommt,  verbunden  mit  der  Tiefe  und 
Kraft  des  Stichels,  wo  diese  erwünscht  ist.  Er 
scheint  dalier  wie  geschaffen,  die  Ansprüche  unserer 
rein  malerisch  angelegten  Zeit  zu  befriedigen.  Frei¬ 
lich  aber  bedarf  es  zur  Ausübung  des  geübten 
Stechers,  der  zugleich  das  Gefühl  des  Malers  hat! 
Ob  ihm  trotzdem  eine  Zukunft  bevorsteht,  —  wer 
möchte  das  sagen?  Dass  er  eine  solche  verdient,  geht 
aus  dem  schönen  Beispiel  hervor,  welchem  diese 
Notiz  als  Begleitschreiben  dient.  Der  Stich  ist  von 
William  Miller  in  New  York,  ausgeführt  nach  einer 
Photographie  des  bekannten  „Porträt  eines  Mannes“, 
von  Rubens,  welches  sich  in  der  Galerie  Liechtenstein 
zu  Wien  befindet.  Der  Originalstock  ist  im  Besitze 
des  Pratt  Institute,  Brooklyn,  N.  J.,  einer  Gewerbe¬ 
schule,  für  deren  Mustersammlung  er  speziell  ge¬ 
fertigt  wurde.  Dieses  Institut  beabsichtigt  nämlich 
auch  die  vervielfältigenden  Künste  in  den  Bereich 
seiner  Thätigkeit  zu  ziehen  und  hat  daher  die  Bil¬ 
dung  einer  technischen  Sammlung  in  Angriff  ge¬ 
nommen,  in  welcher,  nach  dem  Vorbilde  der  ähn¬ 
lichen  Sammlung  im  National  Museum  der  Vereinigten 
Staaten  zu  Washington,  sämtliche  Arten  der  ver¬ 
vielfältigenden  Kunst  vertreten  sein  sollen.  Der 
Stich  ist  bisher  noch  nicht  veröffentlicht  worden. 
Das  Galvanotyp,  von  welchem  die  beigegebenen 
Abdrücke  gemacht  wurden,  verdankt  die  „Zeitschrift“ 
Herrn  .1.  B.  Ihatt,  dem  Sekretär  des  genannten 
Instituts. 

Soviel  ich  weiß,  haben  sich  bis  jetzt  nur  drei 
amerikaiiisclie  Holzstecher  mit  derartigen  Arbeiten 
beschäftigt,  —  der  leider  schon  verstorbene  Friedrich 
.luengling,  Timothy  Cole,  seit  Jahren  in  Florenz  an¬ 
sässig,  und  William  Miller,  Juengling’s  Freund  und 
eliemaliger  Geschäftsteillniber  in  New  York.  Wie 


das  so  oft  der  Fall  ist,  so  auch  hier,  scheint  die  Idee 
quasi  in  der  Luft  gelegen  zu  haben,  und  es  ist  deshalb 
die  Frage  der  Priorität  zwischen  Juengling  und  Cole 
angeregt  worden.  Nach  Juengling’s  eigenen  Aus¬ 
sagen,  wie  sie  in  der  „Art  Union“,  New  York, 
Dezember  1885,  S.  116,  mitgeteilt  sind,  kam  ihm 
die  Idee  im  Sommer  1884,  und  im  Herbst  dieses 
Jahres  stach  er  eine  kleine  Skizze  auf  diese  Art 
direkt  nach  der  Natur  auf  das  Holz.  Einen  Abdruck 
davon  schickte  er  mir  zu  Weihnachten  1884  mit  der 
leicht  gestochenen  Inschrift:  „Happy  Christmas  and 
Merry  NewYear.  F.  J.  ’84.  To  S.  R.  Koehler.“  Als¬ 
bald  stach  er  auf  dieselbe  Weise  ein  Aquarell  von 
H.  Muhrman,  „Der  Raucher“,  frei  bis  zur  Wildheit 
in  der  Linienführung,  aber  genial,  von  welcher 
Arbeit  Abdrücke  der  oben  angezogenen  Nummer  der 
„Art  Union“,  vom  Dezember  1885,  beigegeben  waren. 
Den  Originalstock  nebst  Galvanotyp,  sowie  Abdrücke 
von  beiden,  schenkte  er  später  dem  National  Museum 
der  Vereinigten  Staaten  zu  Washington,  wo  sie 
öffentlich  ausgestellt  sind.  Bei  seinem  Tode  hinter¬ 
ließ  er  unvollendet  einen  größeren  Stich  gleicher 
Art,  ein  Katzenstück,  nach  Dolph.  Cole  schreibt  mir 
von  Florenz  aus,  unter  Datum  vom  28.  November  1890 : 
„In  einem  meiner  alten  Tagebücher  finde  ich,  dass 
mir  die  erste  Idee  am  21.  April  1884  kam.  Am  1.  No¬ 
vember  desselben  Jahres  polirte  ich  einen  Holzstock 
mit  Schellack  in  der  Absicht,  meine  Idee  des 
Schwarzlinienstiches  zur  Ausführung  zu  bringen.“ 
Den  12.  April  1885  fing  ich  an,  Botticellfs  „Frühling“ 
auf  meine  neue  Art  des  Schwarzlinienstiches  zu 
stechen.  Am  1.  Sept.  desselben  Jahres  erhielt  ich 
Abdrücke  durch  Herrn  Wyatt  Eaton,  der  dieselben 
für  mich  besorgt  hatte.  Alsdann  schrieb  ich  darüber 
an  Juengling  (sowie  an  einige  andere  Stecher),  der 
mir  viele  Monate  später  mitteilte,  dass  ihm  dieselbe 
Idee  gekommen  sei.“  Das  sind  die  Daten,  nach  denen 
die  Frage  der  Priorität,  resp.  der  Simultaueität,  be¬ 
urteilt  werden  muss.  S.  R.  KOEHLER 


EINIGE  BEMERKUNGEN 
ZU  KARL  STAUFFER-BERN’S  WERK. 


\S  tragische  Geschick,  das 
Karl  Stauffer  und  Lydia 
Welti-Escher  in  den  Tod 
trieb,  hat  im  allgemeinen 
weit  mehr  Teilnahme  ge¬ 
funden  als  die  künstlerische 
Thätigkeit  Stautier’s.  Als 
Künstler  genoss  er  nur  ein¬ 
mal  in  vollen  Zügen  die  Freuden  der  Popularität 
—  damals,  als  ihn  der  Erfolg  seiner  Ausstellung  in 
Berlin  vom  Jahre  1881  zu  einem  Liebling  der  Ber¬ 
liner  Gesellschaft  machte.  Aber  während  er  als  einer 
der  bevorzugten  Porträtmaler  Aufträge  Uber  Aufträge 
erhielt,  erwachte  in  ihm  der  Kampf  seiner  künst¬ 
lerischen  Überzeugung  mit  den  Anforderungen,  die 
die  Gesellschaft  an  ihre  Künstler  stellt.  Er  sollte 
liebenswürdig  schmeicheln,  wo  er  sich  vorsetzte,  ein¬ 
fach  ehrlich  die  Wahrheit  zu  sagen.  Bald  ward 
ihm  auch  diese  Thätigkeit  als  Porträtist  verleidet. 
Und  als  Maler  that  er  sich  schwer.  Er,  dessen  se- 
zeichnete  Studien  einen  außerordentlich  kräftig  ent¬ 
wickelten  Formsinn  bezeugen,  gestand,  dass  er  sich 
zum  Malen  immer  „zwingen“  musste.  Und  nicht 
nur  die  Technik  machte  ihm  Schwierigkeiten,  auch 
sein  Auge  verhielt  sich  ziemlich  spröde  gegen  die 
farbigen  Reize  der  Natur.  Als  er  dann  mehr  und 
mehr  der  vervielfältigenden  Kunst  sich  zuwandte, 
verflüchtigte  sich  das  Interesse  der  großen  Menge 
an  seinem  Wirken.  Nur  wenige  Freunde  folgten 
seiner  Thätigkeit  als  Originalradirer  —  für  die  große 
öffentliche  Meinung  war  der  Originalradirer  verloren, 
bis  die  Katastrophen  einer  unseligen  Leidenschaft 
seinen  Namen  wieder  in  das  Gedächtnis  aller  zurück¬ 
riefen. 

Seitdem  hat  Stauffer  nicht  nur  Lobspender  seiner 
Kunst  gefunden,  er  fand  auch  als  Mensch  in  Otto 
Brahm  seinen  Anwalt.  Otto  Brahm,  der  den  Künstler 
in  Berlin  flüchtig  kennen  gelernt  hatte,  hat  das 


Leben  und  den  Tod  Stauffer’s  in  pikanter  Weise 
geschildert.  1)  Für  ihn  war  Stauffer  ein  psycholo- 
ffisches  Problem.  Er  hat  sich  gewiss  ehrlich  darum 
bemüht,  einen  möglichst  tiefen  Einblick  in  das 
Wesen  des  Künstlers  zu  gewinnen.  Aus  den  mannig¬ 
fachen  Korrespondenzen  Stauffer’s,  die  ihm  auszu¬ 
wählen  ermöglicht  war,  hat  er  versucht,  Stauffer 
zum  Helden  einer  Künstlertragödie  zu  machen,  in  der 
der  Frau  Lydia  die  Rolle  eines  Dämons  zufällt.  Viel 
Scharfblick  und  auch  Feinheit  der  Nachempfindung 
hat  Brahm  in  seiner  psychologischen  Studie  be¬ 
wiesen,  aber  dennoch  sträube  ich  mich,  das  Ergebnis 
seines  Plaidoyers  für  einwandfrei  zu  erklären.  Auf 
mich  macht  seine  Schilderung  einen  mehr  legenda¬ 
rischen  als  geschichtlichen  Eindruck.  Und  so  lange 
dem  verstorbenen  Künstler  weit  näherstehende  Freunde, 
als  Brahm  einer  gewesen  ist,  aus  ihrer  Reserve  nicht 
hervortreten,  so  lange  wird  dem  Charakterbilde 
Stauffer’s  das  legendarische  Gepräge  bleiben,  das  es 
nun  durch  Brahm’s  dramatische  Schilderung  er¬ 
halten  hat. 

Wertvoller  als  die  an  sich  interessanten  psycho¬ 
logischen  Analysen  und  Deduktionen  Brahni’s  sind 
die  ausgewählten  Briefe  Stauffer’s,  die  Brahm  in 
seinem  Staufferbuche  in  chronologischer  Folge  ver¬ 
öffentlicht  hat.  Sie  sind  wahrhaftige  Denkmale  eines 
künstlerischen  Strebens,  das  unverwandt  den  höch¬ 
sten  Zielen  nacheiferte.  Sie  sind  reich  an  feinen 
Bemerkungen  über  das  Wesen  des  künstlerischen 
Schaffens  und  sie  sind  in  einer  Form  dargeboten, 
deren  Reiz  nicht  zum  mindesten  in  der  Unmittel¬ 
barkeit  des  Ausdruckes  liegt. 

Diese  Bekenntnisse  und  Reflexionen  werfen 

1)  Stauffer -Bern.  Sein  Leben.  Seine  Briefe.  Seine 
Gedichte,  dargestellt  von  Otto  BraJtni.  Nebst  einem  Selbst¬ 
porträt  des  Künstlers  und  einem  Brief  von  Gustav  Freytag. 
Stuttgart,  G.  J.  Goescben’sche  Verlagslmndlung,  1892.  8. 

17* 


i 


Heliogr  d  Reichs  drackeiei 


KARL  Sll'AUFFEB  =  BERN 

SELBSTBILDNIS, 


Verlag  von  K.A.oe.emann  in  Leipzig, 


Druck  von  IiAngerer  in  Berlin, 


•i 

j 

'•} 


EINIGE  BEMERKUNGEN  ZU  KARL  STAÜFFER-BERN’S  WERK. 


133 


helles  Licht  auf  die  künstlerische  Wirksamkeit 
Stauffer’s.  Sie  bestätigen,  was  das  Studium  seines 
Werkes  selbst  lehren  kann.  Er  war  kein  Phantasie¬ 
mensch  im  scliöpferischen  Sinne,  —  verriete  es  nicht 
sein  Werk,  seine  Definition  der  malerischen  Phan¬ 
tasie  allein  könnte  es  bestätigen  (in  einem  Briefe 
vom  15.  April  1889).  Er  war  auch  nicht  im  ge¬ 
meinen  Wortverstande  ein  geschmackvoller  Künstler. 
Das  Kräuseln  der  Natur,  die  Eleganz  der  Pose,  der 
Effekt  im  Vortrage,  das  Virtuosenhafte,  das  alles 
war  ihm  im  Innersten  zuwider.  „Das  ruhige  Schaffen 
stiller,  schöner  Werke,  dem  Ausdruck  zu  geben,  was 
einem  den  Sinn  und  Geist  bewegt,  unbekümmert  um 
Beifall,  Anerkennung  oder  Ruhm  und  wie  die  Sachen 
alle  heißen,  deren  man  leider  nicht  in  jeder  Lebens¬ 
lage  ohne  weiteres  entraten  kann,  das  ist  die  wahr¬ 
haft  ideale  Existenz.  Der  Natur  einen  schönen 
Spiegel  vorzuhalten,  daraus  sie  abgeklärt  und  stim¬ 
mungsvoll  zurückstrahlt,  keinem  anderen  Triebe 
folgen  zu  dürfen  als  seinem  instinktiven  Schönheits¬ 
gefühl,  das  ist  für  den  Menschen,  der  wirklich 
künstlerisch  begabt  ist,  das  Ziel  seiner  Wünsche.“ 

In  diesen  Worten  (aus  einem  Briefe  vom  23.  De¬ 
zember  1887)  spricht  er  das  Ziel  seiner  Bestrebungen 
deutlich  aus.  Noch  klarer  aber  redet  für  seine  Kunst¬ 
anschauung  folgende  Briefstelle  (29.  Juni  1887): 
„Ich  verlange  von  einem  Kunstwerk,  dass  es  zum 
Beschauer  spricht,  es  muss  irgend  etwas  sagen.  Sagt 
es,  sieh,  der  mich  gemacht  hat,  ist  durch  Fleiß  und 
Anstrengung  dazu  gekommen,  ein  Stück  Natur,  das 
ihn  interessirt,  mit  Pietät  und  Empfindung  wieder¬ 
zugeben,  so  ist  es  schon  etwas  Gutes,  Respektables. 
Nicht  alle  Leute  werden  sechs  Fuß  hoch,  ein  solches 
Kunstwerk  versetzt  mich  auch  schon  in  Stimmung.“ 
Und  von  dieser  Art  sind  Stauffer’s  Werke,  sind  vor 
allem  seine  Radirungen  und  Stiche,  über  die  ich 
einiges  wenige  anmerken  möchte.') 

In  einem  von  Brahm  nicht  publizirten  Brief  an 
Halm  sagt  Stauffer  von  der  Radirung:  „Radirung 
nenne  ich  eine  Leistung,  die  die  Vorzüge  und  Eigen¬ 
heiten  des  Materials  zum  Ausdruck  bringt  und  als 
Radirung  gedacht  ist,  und  wo  mit  Bewusstsein  alle 
zu  Gebote  stehenden  Mittel  angewandt  sind.“  Das 


1)  Mehr  darüber  in  Bode’s  Berliner  Malerradirern  (Son- 
derahdruck  aus  den  Graphischen  Künsten,  2.  Aufl.  1891),  in 
meinem  Aufsatz  über  die  deutsche  Radirung  der  Gegenwart 
in  der  „Vervielfältigenden  Kunst  der  Gegenwart“  III.  Bd. 
S.  94  ff.  und  in  Weizsäcker ’s  Staufferstudie  in  der  ,, Kunst  un¬ 
serer  Zeit“  1892,  S.  53  ff’.  —  Ein  erläuternder  Katalog  der 
Radirungen  und  Stiche  von  Staufter  wird  demnächst 
erscheinen. 


Festhalten  an  diesem  Glaubenssatz  verraten  gleich 
seine  ersten  Radirversuche,  die  er,  angeregt  durch 
Klinger  und  angeleitet  von  Peter  Halm,  1884  be¬ 
gann.  Ein  Selbstbildnis  und  ein  Bildnisse  Halm’s, 
dann  der  Torso  eines  stehenden  weiblichen  Aktes 
waren  seine  ersten  Vorwürfe.  Die  glückliche  Schärfe 
seiner  Formanschauung  kommt  bei  diesen  ersten 
Blättern  in  einer  noch  etwas  unausgeglichenen  Technik 
zum  Ausdruck.  Mit  sicherer  Hand  zeichnet  er  den 
Kontur  und  ist  bemüht,  in  der  Modellirung  auf  der 
Platte  dieselbe  originelle  „Rassigkeit“  der  Strich¬ 
führung  auszudrücken,  die  in  seinen  gezeichneten 
Studien  so  charakteristisch  angewandt  ist.  Noch 
experimentirt  er  in  jenen  Blättern  mit  locker  ver¬ 
streuten  Punktirungen,  um  die  feineren  Übergänge 
in  den  Formen  anzudeuten. 

Eine  immer  reifere  technische  Einsicht  zeigen 
die  folgenden  Porträtradirungen,  bei  denen  er  mehr 
und  mehr  zum  Stichel  und  zur  Schneidnadel  greift. 
Uber  die  Art,  wie  er  diese  Instrumente  handhabt, 
hat  er  sich  Halm  gegenüber  (in  einem  nicht  publizirten 
Brief)  folgendermaßen  ausgesprochen:  „Merkwürdiger¬ 
weise  habe  ich  den  Stichel,  vor  dem  ich  einen  solchen 
Heidenrespekt  hatte,  als  ein  Material  kennen  gelernt, 
wie  ich  außer  dem  Pinsel  bis  dato  keines  gefunden. 
Eine  herrliche  Sache!  Mein  Prinzip  in  Zukunft  bei 
meinen  Köpfen:  strenge,  zweckmäßige  Zeichnung 
der  Form,  einfache  Atzung  mit  Salpetersäure,  die 
man  wirklich  so  in  der  Hand  hat,  dass,  wenn  man 
gut  mit  der  Nadel  zeichnet,  in  der  gleichen  Zeit 
Striche  bis  zur  größten  Tiefe  und  andere  wie  ein 
Haar  ätzen  kann.  Ist  geätzt,  so  komme  ich  mit 
dem  Stichel  und  schneide  die  Form  in  das  butter¬ 
weiche  Kupfer.“ 

Und  um  die  „Form“  zu  raodelliren,  greift  er 
keineswegs  zu  dem  akademischen  Schematismus  der 
Linienstecher,  auf  deren  mühevolles  Herausgraben 
parallel  gezogener  oder  übers  Kreuz  gelegter  Striche 
er  spöttisch  herabsah,  sondern  zu  einer  freien  Manier, 
die  auf  das  engste  den  zarten  Formbewegungen  sich 
anschmiegt.  Seine  Manier  ist  im  Grunde  nichts 
anderes  als  die  malerische  Taillenführung  eines  Lucas 
van  Leyden,  als  die  um  Regelmäßigkeit  der  Lagen 
unbekümmerte  Stechweise  Schongauer’s  und  Dürer’s. 
Das  Porträt,  das  in  Zinkätzung  diesem  Aufsatze  bei¬ 
gegeben  ist,  das  Bildnis  Konrad  Ferdinand  Meyer’s 
mit  dem  Schlapphut,  ein  Drittel  lebensgroß  (drei 
Zustände,  1887)  ist  im  letzten  Zustand  mit  dem 
Stichel  vollendet.  Kommt  es  auch  dem  Profilkopfe 
Peter  Halm’s  nach  links  in  Zweidrittellebenssrröße 

o 

(19. — 21.  Mai  1887)  oder  dem  etwas  größeren  Porträt 


134 


EINIGE  BEMERKUNGEN  ZU  KARL  STAUFFER-BERN’S  WERK. 


Gustav  Freytag’s  nicht  gleich  in  der  Sicherheit  der 
technischen  Durchführung,  die  wie  aus  einem  Gusse 
nach  einem  klar  erkannten  Prinzipe  geschaffen  er¬ 
scheinen,  so  ist  es  doch  hervorragendes  Beispiel  von 
Stautfer’s  charaktervoller  Porträtirkunst.' 

Ganz  reine  Sticharbeiten  sind  der  nur  in  einem 
Zustand  bekannte  kleine  liegende  weibliche  Akt  (die 
Wally,  1886)  und  der  stupende  große  männliche 
Akt  (1886),  der  in  drei  Etats  vorliegt.  Beide  Werke 
sind  frisch  und  frei  behandelt  und  von  einer  Deli¬ 
katesse  und  Feinheit  im  Studium  der  lebendigen 
Form,  der  nur  Ernst  Moritz  Geyger  unter  unseren 
zeitgenössischen  Stechern  ähnliches  an  die  Seite  zu 
stellen  wüsste.  Ubertrolfen  hat  Stauffer  diese  Blätter 
Tnit  dem  Stichlein  „so  ä  la  Lucas  van  Leyden“,  das 
uns  das  sympathische  Antlitz  seiner  Mutter  zeigt, 
denn  hier  steht  die  technische  Vollendung  ganz  auf 
der  Höhe  einer  in  ihrer  Intimität  wahrhaft  vor¬ 
nehmen  und  großen  Kunstanschauung.  An  diesem 
Blatte  sind  nur  geringfügige  Teile  der  Krause  und 
der  Haube  radirt,  was  indessen  nur  in  dem  1.  Zu¬ 
stand  bemerkt  wird,  denn  im  zweiten  und  letzten 
Zustand  hat  Stauffer  diese  Teile  ganz  zugestochen. 

Der  letzte  Stich  Stauffer’s  —  das  29.  Blatt 
seines  „Oenvre“  —  ist  ein  Porträt  der  Frau  Lydia 
gewesen  (1887).  Er  hat  sich  damit  geplagt,  weil  er 
aus  dem  Gedächtnis  nach  einer  Photographie  arbei¬ 
tete.  Er  wurde  auch  seinem  bisher  streng  an  der  zeich¬ 
nerischen  Modellirung  festhaltenden  Prinzipe  untreu, 
indem  er  sich  bemühte,  „die  Form  durch  ganz  feine 
Fleischbehandlung,  die  wie  Ton  wirkt,  hervorzu¬ 
bringen“  (  Brief  vom  8.  Juli  1887).  Er  bewegte  sich 
mithin  in  der  Manier,  die  Ferdinand  Gaillard  in 
seinen  s})äten  Blättern  anwandte  und  die  Stauffer  ange¬ 
sichts  des  Leo  XIII.  in  einem  Briefe  an  Halm  Glicht 
bei  Brahm)  als  „kimststückmäßig“  getadelt  hatte. 


Er  sagt  da  mit  Recht,  dass  „die  ganze  Mordsarbeit 
den  Effekt  einer  überexponirten  Photographie  macht“, 
und  nennt  den  Leo  XHI.  „ein  ausgezeichnetes  Por¬ 
trät  nach  einer  schlechten  Photographie!“  Dasselbe 
lässt  sich  aber  nicht  einmal  von  Stauffer’s  Stich  der  Frau 
Lydia  sagen,  denn  seine  Tomnanier  verrät  sich  hier 
sofort  als  etwas  ihm  durchaus  Fremdes.  Frau  Lydia 
war  auch  wenig  erbaut  von  diesem  ungefälligen 
Bildnis  mit  dem  chiclosen  Hut,  und  sie  scheint  sich 
erst  getröstet  zu  haben,  als  Stauffer  ihr  mitteilte, 
dass  die  „Platte  und  Drucke  nicht  mehr  unter  den 
Lebenden  weilen“  (Brief  vom  18.  Juli  1887)^). 

Als  besondere  Zierde  schmückt  diese  wenigen 
Bemerkungen  eine  von  der  deutschen  Reichsdruckerei 

o 

in  Berlin  vortrefflich  ausgeführte  Heliogravüre  nach 
einem  gezeichneten  Selbstbildnis  Stauffer’s,  dessen 
Reproduktion  sein  Besitzer,  Geheimer  Regierungsrat 
Bode,  gütigst  gestattete.  Dieses  bisher  unbekannte 
Bildnis  ist  das  letzte,  das  der  Künstler  von  sich  ent¬ 
worfen  hat.  Es  zeigt  ihn  im  Vollbesitze  seiner  un¬ 
gestümen  strebenden  Natur,  energisch,  wenn  auch 
etwas  unruhig  dreinblickend  und  voller  Kraft  des 
Willens  —  wie  damals,  da  er,  nach  neuen  hohen 
Zielen  strebend,  über  die  Alpen  zog,  um  Bildhauer 
zu  werden,  und  er  jubelnd  seiner  Freundin  kündete: 
„Meine  Vergangenheit  liegt  hinter  mir  wie  ein 

Traum - ich  fange  ein  ganz  neues  Leben  an, 

oder  wenn  Sie  wollen:  das  ,Leben‘  erst  an!“  Das 
schrieb  er  im  Februar  1888.  Zwei  Jahre  später  saß 
der  Bedauernswerte  ira  Florentiner  Irrenhaus,  nach¬ 
dem  er  bitterstes  Leid  erfahren  hatte  und  um  alle 
Schaffensfreude  gekommen  war,  und  noch  ein  Jahr 
beinahe  verging,  ehe  der  Tod  sich  seiner  erbarmte. 

BICH  ARD  OB  AUL. 

1)  Die  Platte  fand  sich  im  Nachlass.  Einige  Exemplare 
dieses  Blattes  sind  in  ötlentliche  Kabinette  gelangt. 


Vom  Ilasenliaus  in  Wien. 


Vom  Ilaseiiliaus  in  Wien. 


DAS  HASENHAUS  IN  WIEN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


AS  historische  Museum  der 
Stadt  Wien  befindet  sich 
seit  vier  Jahren  irn  Besitz 
einer  Handzeichnung  Salo- 
mon  Kleiner’s,  des  berühm¬ 
ten  Kupferstechers,  die  nicht 
nur  durch  das  Signum  des 
Meisters,  sondern  auch  durch 
den  Gegenstand  der  Darstellung  von  hohem  künst¬ 
lerischen  und  kulturhistorischen  Reiz  ist.  Wir  er¬ 
kennen  nämlich  in  dem  seit  Jahren  verschollen  ge¬ 
wesenen  und  erst  1887  vom  Bankier  Ludwig  Tachauer 
in  Wien  wieder  entdeckten  und  dem  Museum  gewid¬ 
meten  Bilde  das  im  Jahre  1749  abgebrochene  „Hasen¬ 
haus“,  das  sich  einst  an  der  Stelle  der  heutigen 
Nummer  14  in  der  Kärnthnerstraße  (C.  Nr.  1073) 
befand  und  im  Jahre  1509  „Fridrichen  Jäger,  haspl- 
meister  zu  Wien“  von  Kaiser  Maximilian  I.  verliehen 
wurde.  Dieses  Gebäude,  einstmals  eines  der  her¬ 
vorragendsten  der  Stadt,  wurde  damit  neuerlich 
Gegenstand  vielseitiger  Beachtung;  man  kannte  ja 
nun  nicht  mehr  bloß  seine  historische  Bedeutung, 
(auf  die  wir  hier  nicht  neuerlich  eingehen  wollen), 
sondern  auch  seine  künstlerische  Gestalt,  und  so 
reihten  sich  den  zahlreichen  Erwähnungen  und  Be¬ 
sprechungen  der  Aeneas  Sylvius,  Bonfiu,  Ranzanus, 
L.  Fischer,  Weiskern,  Hormayr,  Megerle  von  Mühl¬ 
feld,  Schimmer  und  Schlager  in  neuerer  Zeit  die 
Mitteilungen  von  C.  Weiß  in  der  „Wiener  Zeitung“ 
am  10.  April,  von  Grasberger  daselbst  am  14.  April 
1889  und  die  eingehende  Würdigung  seitens  des 
Herrn  Regierungsrates  Direktor  Hg  im  Maiheft 
des  „Monatsblatt  des  Altertumsvereines“  selbigen 
Jahres  an. 


Nachdem  wir  in  einem,  im  März  vorigen  Jahres 
im  „Wissenschaftlichen  Klub“  gehaltenen  Vortrage 
Gelegenheit  gehabt,  auch  die  Aufmerksamkeit  wei¬ 
terer  Kreise  auf  dieses  Denkmal  zu  lenken,  sind  wir 
nunmehr  dank  dem  Entgegenkommen  des  Direktors 
der  städtischen  Sammlungen,  Herrn  Dr.  Glossy,  unter 
Genehmigung  seitens  des  Herrn  Bürgermeisters  in  der 
Lage,  die  hervorragendsten  Bilder  der  einst  ganz  be¬ 
malten  Fassade  hier  zum  erstenmal  zu  veröffentlichen. 

Das  „Haseuhaus“  bestand  nach  der  Zeichnung 
Kleiner’s  aus  einem  Erdgeschoss  und  zwei  oberen 
Stockwerken  mit  einem  niederen  Dachgeschoss.  Drei 
Giebel  mit  Schopfdächern  schließen  den  Bau  ab; 
jedem  von  ihnen  entspricht  ein  durch  beide  Stock¬ 
werke  gehender  Erker  und  zwar  auf  jeder  Seite  des 
Hauses  je  ein  viereckiger  auf  drei  Konsolen,  der 
dritte  über  dem  Portal,  doch  aus  der  Mittellinie 
gerückt.  Seine  Konsole  mit  Hnndskopf  und  Hasen 
in  zierlicher  Bildhauerarbeit  dient  der  reichen  Thor¬ 
umrahmung  zugleich  als  Schlussstein;  sie  besteht 
aus  Pilastern  mit  Kompositkapitälen ,  durch  luftiges 
Rankenwerk  und  Medaillons  hier  und  in  den  Zwickeln 
des  Thorbogens  belebt.  An  den  zurücktretenden 
Flächen  der  Fassade  sind  wie  an  den  Erkern  die 
schmalen,  rundbogigen  Fenster  in  Gruppen  zu  dreien 
und  vieren  zusammengefasst,  von  ionischen  Pilastern 
auf  hohen  Sockeln  geteilt.  Auch  diese,  die  Bogeu- 
z Wickel  und  der  Fries  zwischen  den  beiden  Geschossen 
sind  mit  zart  gemeißelten  Zieraten,  Masken,  Medail¬ 
lons,  stilisirten  Hasen,  Füllhörnern  u.  s.  f.  belebt. 
Wappen  an  der  Brustwand  des  Mittelerkers  bilden 
den  Beschluss  des  reichen  plastischen  Schmuckes, 
der  aber  alles  in  allem  nur  die  Umrahmung  für 
die  eigentliche,  schon  von  vornherein  bedachte 


136 


DAS  HASENHAUS  IN  WIEN. 


malerische  Ausstattung  abgiebt.  Diese  beginnt  gleich 
über  dem  glatten,  schlichten  Erdgeschoss,  das  in 
Würdigung  seines  rein  geschäftlichen,  nur  dem  Handel 
dienenden  Charakters  aller  Ornamentik  ledig  bleibt 
und  nach  mittelalterlicher  Sitte  Thor  und  Fenster 
und  Gewölbauslage,  nach  Größe  und  Form  verschieden, 
nur  eben  dort  anbringt,  wo  es  dessen  bedarf.  Ein 
Blick  auf  diese  Architektur  lehrt,  dass  wir  es  mit 
einem  vortrefflichen  Beispiel  der  in  Wien  ohnehin 
so  seltenen  deutschen  Renaissance  zu  thun  haben, 
vielleicht  auf  noch  gotischer  Anlage  des  im  Jahre 
1525  abgebrannten  älteren  Hauses  dem  neuen,  an- 
tikisirenden  Geschmacke  entsprechend  äußerlich  um¬ 
gestaltet,  als  es  1553  durch  Margarethe  Pernhußin 
ihrem  Gatten  Hans  Brock  von  Dornau  zufiel. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  einer  eingehenderen 
Besichtigung  der  in  32  Felder  verteilten  bildlichen 
Darstellungen  zu,  so  lacht  uns  zunächst  in  der  Mitte 
des  Ganzen  vom  Oberbau  des  Portalerkers  das  fröh¬ 
liche  Gesicht  des  Schalksnarren  entgegen,  um  uns 
darauf  vorzubereiten,  dass  wir  es  hier  mit  den  Kindern 
seiner  Phantasie  zu  thun  haben.  Mit  der  Schellen¬ 
kappe  auf  dem  Haupt,  schwingt  er  seinen  Stab,  an 
dem  ein  Hasenköpfchen  die  Spitze  bildet,  und  schon 
lugt  an  seiner  Seite  ein  wirklicher  Hase  auf,  dem 
Winke  seines  Scepters  Folge  zu  leisten.  Darüber 
beginnt  mit  Nr.  1  die  Reihenfolge  der  fortlaufenden 
Geschichten,  worüber  eine  alte,  seinerzeit  durch 
Freih.  von  Hess,  böhm.  Appell-Präsidenten  und  da¬ 
maligen  Besitzer  des  Hasenhauses  dem  Hormayr’schen 
Archive  mitgeteilte  alte  Beschreibung  folgendermaßen 
anhebt:  1.  „Ein  Hase  sitzet  als  ein  König  mit  Krön  und 
Sce])ter,  ertheilet  einen  schriftlichen  Befehl  mit  ob¬ 
hangendem  Insiegel  seinen  Untergebenen,  vermuth- 
liclien:  dass  solche  die  Jäger  und  Hunde,  wie  ihre 
abgesagte  Feinde  verfolgen  sollten.“  Schon  im  näch¬ 
sten  Bild,  das  wir  oben  bringen,  reiten  die  Hasen- 
lierolde.  aus,  unter  Trompetengeschmetter  das  reisige 
Volk  zum  Krieg  zu  laden.  Unter  einem  Baum,  wie 
einst  in  germanischer  Vorzeit,  sammeln  sich  die  von 
allen  Seiten  herbeiströmenden  Kämpen,  lauter  Hasen, 
mit  langen  Spießen  und  Hellebarden  bewaffnet.  Da¬ 
mit  l)eginnt  die  Schlacht,  nach  allen  Regeln  der  Jagd 
als  Krieg.skunst  in  die  „Verkehrte  Welt“  übertragen. 
Nicht  lange  dauert  der  Widerstand,  denn  der  König 
in  höchst  eigener  Person  führt  mit  schrecklich  ge¬ 
zücktem  Schwert  seine  Getreuen  in  den  wildesten 
Kamjtf.  Schon  sieht  man  einen  Jäger  zu  Boden 
.stürzen,  zwar  bellt  noch  ein  Hund,  die  anderen  aber 
entfliehen,  denn  die  Rache  der  Sieger  ist  —  unmensch¬ 
lich.  \  on  allen  Seiten  treiben  sie  Gefangene  heim. 


Wir  zeigen  in  Nr.  7:  „Nach  erfochtenem  Sieg  führen 
die  Heldenhasen  einige  gefangene  Jäger  fest-geschlos¬ 
sener  auf  einem  Wagen  mit  sich  fort,  darunter  einer 
mit  Füßen  an  dem  Wagen  gebundener,  geschleift 
Avird,  deme  ein  gewaffneter  Hase  mit  dem  Prügel 
zu  fortgehen  aufmuntert.“  Dann  schildert  das  fol¬ 
gende  Bild  die  Demütigung  der  stolzen  Menschen 
und  ihrer  hündischen  Knappen;  händeringend  sind 
sie  dem  kleinen  Haseukönig  zu  Füßen  gefallen  und 
flehen  um  ihr  Leben,  der  aber,  auf  seinem  Throne 
stolzirend,  von  Wachen  umgeben,  scheint  mit  er¬ 
hobener  Hand  sagen  zu  wollen:  Wie  du  mir,  so  ich 
dir!“  Man  führt  sie  in  das  Gefängnis,  welches  „ein 
rothbekleideter  Hase  als  Hutstock  mit  einem  Schlüssel 
eröffnet.  Durch  das  eiserne  Gatter  siehet  man  bereits 
einige  Eingesperrte,  so  wunderliche  Kalender  machen.“ 

Die  folgenden  Darstellungen  sehen  sich  fast 
wie  ein  bitterer  Hohn  auf  die  Schrecken  mittelalter¬ 
licher  Justiz  an;  keines  ihrer  Strafmittel  bleibt  den 
Jägern  und  ihren  Hunden  erspart.  Man  schleppt 
sie  in  die  Folterkammer  (Nr.  11),  macht  ihnen  förm¬ 
lich  den  Prozess,  nimmt  ein  Protokoll  auf  und  führt 
sie  dann  unter  Begleitung  der  Schergen  mit  dem 
großen  Richtschwert  auf  den  Anger  vor  die  Stadt. 
Hasen  in  Kapuzinertracht  spenden  den  letzten  Trost, 
dann  geht’s  ans  Spießen,  Schlachten,  Rädern,  Hängen 
und  Braten.  Einer  wird  zerstückelt  und  regelrecht 
ausgeweidet,  und  wie  man  heute  wohl  einen  Kalbs¬ 
oder  Schweinskopf  ins  Auslagfenster  legt,  so  tragen 
sie  hier  Menschenköpfe  und  Gliedmaßen  zur  könig¬ 
lichen  Küche,  wo  Hasenköche  den  trefflichen  Jäger- 
und  Hundsbraten  zubereiten.  Nun  erst  bricht  der 
Humor  völlig  durch. 

Die  Scenen  der  Festfreude,  des  Siegesmahles 
und  der  sich  daran  schließenden  Faschingsscherze 
sind  in  Gedanke  und  Ausführung,  in  der  Gruppirung 
der  zahlreichen  Mitspielenden  voll  Lebenswahrheit 
und  köstlicher  Schalkhaftigkeit. 

Wir  gewinnen  einen  Einblick  in  die  Küche,  an 
deren  Anrichtetisch  eifrige  Hände  unter  Aufsicht  des 
Oberküchenmeisters  beschäftigt  sind,  die  andrängen¬ 
den  Lakaien  zu  beladen;  dann  erhebt  sich  (Nr.  18) 
ein  stattlicher  Festzug  unter  Vorantritt  von  Traban¬ 
ten,  die  allerhöchste  Tafel  zu  bedienen,  an  der  bereits 
„der  Hasen-König  mit  einer  Krone  ob  dem  Kopf,  in 
alter  Tracht  bekleidet,  und  mit  goldenen  Ketten  be¬ 
hängt,  sitzet  rechter  Hand  bey  der  Tafel  unter  einem 
rothen  Baldachin,  neben  ihm  erscheint  seine  Ge- 
mahlinn  in  Gestalt  eines  weissen  Häsens  und  spa¬ 
nischem  Hofkleid,  ebenfalls  mit  goldenen  Ketten 
geziert,  erlustiget  sich  mit  dem  Hof-Narren,  welcher 


Vom  Haseuliaus  in  Wieu. 


138 


DAS  HASENHAUS  IN  WIEN. 


an  seinem,  in  der  Hand  habenden  Narrheits-Zeichen 
erkennet  wird.  Einige  Hasen  tragen  auf  die  Tafel 
annoch  Speisen  hey.  Ein  Mundschenk  bringt  auch 
in  einem  goldenen  Becher  dem  König  einen  Trunkl 
ingleichen  macht  ein  Oberst -Stabeimeister  nebst 
einigen  Trabanten  ihre  Aufwartungen.  Auf  der  an¬ 
deren  Seite  ergötzen  die  Hasen  ihr  hohes  Oberhaupt 
mit  einer  vollen  Vocal-  und  Instrumental-Musik.  Ja 
es  schlägt  ein  anderer  Hase  zu  mehreren  Vergnügen 
eine  Orgel  dazu.“  (Nr.  19.) 

Die  nächsten  Felder  sind  wiederum  mit  den  Groß- 
thaten  dieses  mutigen  Völkchens  belebt.  Zunächst 
ein  etwas  unklares  Bild:  ein  Mann  in  einem  Schlitten, 
von  dem  citirten  Bericht  für  die  „Landesverweisung 
eines  vermuthlichen  Oberjägers  nach  Sibirien“  ge¬ 
halten.  Dann  geraten  Falken,  Habichte,  Geier  und 
Baben  in  die  Fallstricke  der  Hasen,  Eulen  werden 
die  Hälse  gebrochen,  junge  Vögel  im  Nest  ermordet, 
„einen  großen  Bären,  so  einen  Hasen  aus  Liebe  zu 
Todt  gedruckt,  noch  im  Arm  haltend,  wird  von  dessen 
hinterlassenen  Kameraden  erstochen;  dergleichen  Ehre 
auch  einem  wilden  Schwein  im  Nachjagen  geschieht“ 
—  kurz:  alles,  was  ein  Menschenherz  erfreut,  ist 
hier  dem  schnellbeinigen  Hasen  vergönnt,  und  es 
fehlt  nach  bewährten  Mustern  auch  die  Treibjagd 
im  AVildpark  nicht,  denn  der  Hasenkönig  selbst,  hoch 
zu  Ross,  reitet  die  Jäger,  darunter  einen  „in  kaiser¬ 
licher  Lieberey“,  der  durch  aufgestellte  Netze  in 
seiner  Flucht  aufgehalten  wird,  zu  Boden. 

Damit  ist  aber  das  Vergnügen  noch  lange  nicht 
zu  Ende.  Hatte  sich  in  jenen  Gerichtsscenen  eine 
derbe,  das  Grauenhafte  selbst  nicht  scheuende  Satire 
geäußert  und  dann  in  den  Genrescenen  einem  liebens¬ 
würdigen,  fast  poetischen  Humor  Platz  gemacht, 
der  uns  wohlthuend  berührt  mit  seinen  musiziren- 
den,  singenden,  blasenden,  orgelspielenden  Herren 
und  Damen  Hasen,  so  bildet  den  Höhepunkt  —  wie 
in  dieser  seit  alter  Zeit  stets  fröhlichen  Stadt  nicht 
anders  zu  erwarten  —  der  Fasching  mit  aller  Lustbar¬ 
keit,  die  auch  ein  Hasenherz  mit  Schelmerei  und 
Behagen  erfüllt.  Dazu  gehört,  dass  man  einen  wehr¬ 
losen  Jäger,  Avie  einst  die  Füchse  im  Prater,  prellt; 
acht  Bursche  unterziehen  sich  mit  vieler  Kraft  dieser 
lustigen  Strafung.  Ein  Maskirter  schlägt  die  große 
Trommel  dazu,  indes  ein  anderer  den  Dudelsack  be¬ 
arbeitet  (Nr.  29).  Von  der  Tanzscene  ist  nur  mehr 
ein  schAvacher  Rest  zu  erkennen,  dagegen  sieht  man 
noch  bestätigt,  Avas  unser  alter  Gewährsmann  schreibt: 
„Ein  anderer  Hase,  so  auch  vermummt  ist,  reitet 
auf  einem  Ross  mit  Schellen  behängt,  dem  ein  Hase 
mit  einer  Laterne  vorleuchtet,  dem  folget  ein  anderer 


mit  einer  kleinen  Pauke  nach.  In  der  Ferne  ersiehe! 
man  Hasen,  so  ihres  Gleichen  gleichsam  auf  den 
Achseln  tragen.  Nicht  weit  davon  lauft  ein  be- 
gleidter  Hase  (mit  einem  spitzen  Federhut)  voller 
Freude  mit  einem  Bratspieß  sammt  daran  hangen¬ 
den  Leckerbissen.  Weiters  tragen  zwey  Hasen  einen 
Hasen  auf  Stangen  in  Weibskleidern,  diesem  wird 
auch  auf  Stangen  einer  in  Männlicher  Gestalt  ent¬ 
gegengebracht,  und  scheinet,  ob  diese  beyde  gleich¬ 
sam  ein  Turnier  hielten,  wo  der  Verspielende  von 
dem  Wasser  in  denen  abhangenden  Scheffeln  gespritzt 
wurde.  Nahe  dabey  reitet  ein  Hase  auf  einer  Geiß 

—  (ein  unzweideutiger  Hinweis  auf  den  Blocksberg) 

—  und  hält  eine  große  Larven  mit  aufhabender 
Brille  in  den  Pfoten.  Andere  ergötzen  sich  mit  einer 
Jausen,  kurzum  —  so  schließt  der  Berichterstatter 

—  dieses  alles  wird  der  Hasen  Fasching  bedeuten.“ 

Darüber  herrscht  kein  Zweifel,  so  wenig  wie 
über  die  Voraussetzung,  dass  der  Maler  alles  in  allem 
keine  politische,  wie  auch  vermutet  worden,  sondern 
eine  rein  menschliche  Satire  seinen  Zeitgenossen  im 
Spiegelbilde  vorführen  wollte,  und  dies  zwar  auf  aus¬ 
drücklichen  Wunsch  Kaiser  Maximilian’s  L,  dessen 
eifrige  Mitarbeiterschaft  bei  künstlerischen  Entwürfen 
ja  allgemein  bekannt  ist.  Wir  wissen  nunmehr  durch 
die  im  HL  Jahrbuche  des  kunsthistorischen  Hof¬ 
museums  veröffentlichten  Urkunden  auch,  dass  Kaiser 
Maximilian  I.  selbst  es  war,  der  1509  die  Bemalung 
der  Fassade  anordnete.  Aber  es  sind  nicht  die  ur¬ 
sprünglichen  Bilder  mehr,  die  wir  hier  in  der  Kopie 
vor  uns  sehen,  da  doch  das  Gebäude  1525  abgebrannt 
war.  In  der  That  erinnern  alle  Einzelheiten  —  wie 
Reg.-Rat  Ilg  schon  dargethan  —  an  Holzschnitte 
der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts,  die  landschaft¬ 
liche  Umgebung,  der  Pilaster  im  Speisesaal,  die  Orgel 
und  mancher  kleine  Zug  gemahnen  an  den  Geist 
der  Renaissance,  wie  er  uns  in  dem  architektonischen 
Gepräge  des  Gebäudes  selbst  vor  Augen  tritt.  Wir 
dürfen  daher  die  fortlaufenden  Darstellungen  des 
Hasenkrieges  in  dieselbe  Zeit  wie  den  Umbau  des 
Hauses  (also  etwa  um  1553)  versetzen,  mit  Ausnahme 
der  an  den  Giebelflächen  abgebildeten  Allegorieen 
von  Glaube,  Liebe  und  Hoffnung,  die  offenbar  viel 
später  entstanden  und  in  Form  wie  Gedanken  ganz 
außer  Verbindung  blieben  mit  den  lustigen  Scenen 
der  unteren  Wandflächen. 

Aber  der  geistige  Zusammenhang  dieser  „ver¬ 
kehrten  Welt“  reicht  viel  weiter  hinauf.  Er  knüpft 
an  die  Satire  der  frühen  epischen  Poesie  an,  als 
deren  Helden  schon  um  1100  in  Flandern  Isengrimm 
und  Reinhart  der  Fuchs  auftreten.  Mit  Wilh.  Scherer 


LORENZO  DI  CREDI. 


139 


zu  reden:  „Geistliche  sind  die  Urheber  des  Tier¬ 
epos;  in  der  Fabel  von  dem  Mönchtum  des  Wolfes 
setzen  sie  ihrem  eigenen  Stande  ein  Denkmal;  die 
(äsopische)  Fabel  von  der  Krankheit  des  Löwen 
ward  als  eine  Satire  auf  das  Hof  leben  ausgebeutet.“ 
ln  jenen  Tagen  verwandelte  der  französische  Fuchs 
für  immer  seinen  Namen  in  den  deutschen  Reinhard 
—  renard.  Vor  allem  aber  behagte  diese  Richtung 
beziehungs voller  Vergleiche  zwischen  dem  Tier-  und 
Menschenleben  dem  deutschen  Gemüte,  das  ja  von 
jeher  an  Tieren  eine  große  Freude  gefunden  und 
ihre  Gewohnheiten  genau  beobachtet  hatte.  Es  hat 
dann  auch  unser  größter  Dichter  in  dem  unsterb¬ 
lichen  Reinecke  Fuchs  seiner  Stammesart  den  Tribut 
gezollt.  Alle  Narrheiten,  aber  auch  alles  Liebens¬ 
würdige,  das  Menschengeist  je  ausgeheckt,  spiegelt 
sich  im  Treiben  nützlicher  und  schädlicher  Tiere 
wider.  Es  ist  derselbe  lehrhaft  gemütvolle  Grund¬ 
ton  des  Mittelalters,  der  auch  an  geweihter  Stätte, 
an  den  drachenartigen  Wasserspeiern  gotischer  Kir¬ 
chen,  an  den  Teppichwebereien  und  Messgewändern, 
an  Säulenkapitälen  und  Friesen  einen  aus  Asien 


nach  Europa  mitgebrachten  reichen  Schatz  von  Fabel¬ 
tieren  in  die  kleinere,  geläufigere  Münze  deutscher 
Eigenart  und  heimischer  Natur  umwechselte.  Als 
die  Baukunst  säkularisirt  wurde,  hat  sie  dann  auch 
ihre  bürgerlichen  Bauten  in  Haus-  und  Wahrzeichen 
mit  allerhand  Tierbildern  geschmückt. 

Wien  selbst  besaß  deren  eine  größere  Zahl, 
deren  bekanntestes:  „Wo  der  Wolf  den  Gänsen  pre¬ 
digt“  ohne  Grund  als  Satire  auf  die  Reformatious- 
bewegung  bezogen  wurde.  Wir  erwähnen  ferner 
nur  noch:  „Wo  die  Hannen  beißen“,  „Wo  der  Hahn 
in  Spiegel  schaut“,  „Wo  der  Hahn  den  Hühnern 
predigt“,  „Wo  die  Kuh  am  Brett  spielt“.  Sie  alle 
werden  oder  wurden  von  dem  „Hasenhaus“  an  Größe 
und  Bedeutung  überragt.  Die  Zeit,  da  hier  einst  der 
Majestät  Haspelmeister,  der  Hüter  des  Hasengeheges, 
seinen  Sitz  hatte,  ist  mit  ihrem  Ernst  und  Humor, 
mit  ihrer  Freude  an  ziervoller,  beziehungsreicher 
Ausschmückung  der  Fassaden  längst  vorbei  —  nun 
mässen  wir  froh  sein,  wenn  wir  wenigstens  in 
Museen,  unter  Glas  und  Rahmen,  ihrer  ansichtig 
werden.  JULIUS  LEISCHING. 


LORENZO  DI  CREDI. 

VON  W.  SGRMIDl. 


ERKWÜRDIGES  Schicksal 
eines  Bildes!  Ursprünglich 
um  22  Mark  verkauft,  dann 
für  einen  Dürer  gehalten, 
gelangt  es  um  800  Mark  in 
eine  der  ersten  Sammlungen. 
Es  findet  enthusiastische  Be¬ 
wunderer,  und  man  geht  so 
weit,  ihm  den  Namen  des  größten  „Finders“  der 
Kunstgeschichte  beizulegen.  Da  suchen  kühne  An¬ 
greifer  es  vom  Throne  zu  stoßen,  erklären  es  für 
das  Machwerk  eines  niederländischen  Plagiators, 
heischen  seine  Verbannung  aus  der  Pinakothek. 
Und  auf  beiden  Seiten  stehen  Namen  vom  besten 
Klange  in  der  Kunstgeschichte,  Namen,  die  ihre 
Kennerschaft  durch  die  That  bewiesen  haben. 

Das  vergötterte  und  verlästerte  Bild  ist  die  Ma¬ 
donna  mit  der  Blumenvase  oder  Nelke  in  der  Mün¬ 
chener  Pinakothek.  In  der  Gazette  des  Beaux-Arts 
1890,  IV,  S.  97  findet  sich  eine  Nachbildung  und 
eine  liebevolle  Beschreibung  von  H.  von  Geymüller; 
auch  in  Lermolieflf’s  „Galerieen  von  München  und 


Dresden“,  Leipzig  1891,  findet  man  eine  Nachbil¬ 
dung  und  eine  Besprechung.  W.  Koopmann  schrieb 
im  Repertorium  für  Kunstwissenschaft  XIII,  118  ff., 
und  Fr.  Rieffel  ebendaselbst  XIV,  217  ff.,  über  das 
Bild. 

Die  Wahrheit  liegt  diesmal  nicht  ganz  in  der 
Mitte.  Das  Gemälde  ist  allerdings  nicht  das  Werk 
des  einzigen  Leonardo,  aber  noch  weniger  das  eines 
niederländischen  Nachahmers,  es  ist  das  liebens¬ 
würdig  empfundene  Werk  eines  fiorentiner  Künst¬ 
lers,  der  durch  das  Beispiel  Leonardo’s  angeregt 
und  gehoben  worden  war.  Von  Leonardo’s  Geist 
spüren  wir  allerdings  einen  Hauch  in  dem  Bilde. 

Es  muss  vor  allem  bestritten  werden,  dass  eine 
niederländische  Hand  anzunehmen  ist.  Die  Tafel 
fällt  allem  Anschein  nach  etwa  um  1485  (genauer 
kann  das  Jahr  vorläufig  noch  nicht  bestimmt  wer¬ 
den,  man  muss  hier  einen  weiteren  Spielraum  lassen), 
und  da  ist  doch  von  einer  Nachahmung  durch  Nieder¬ 
länder  gar  nicht  die  Rede.  Wann  jemals  haben  diese 
eine  derartige  Farbe,  eine  solche  Formanschauung 
gehabt?  Was  an  der  Meinung  von  einem  „Fiam- 

18* 


140 


LORENZO  DI  CREDI. 


ruingo“  richtig  ist,  beruht  darauf,  dass  das  Bild  in 
der  That  einen  gewissen  niederländischen  Einfluss 
zeigt.  Dieser  Einfluss  ist  aber  in  der  zweiten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  ein  sehr  weitreichender  in  Ita¬ 
lien:  wenn  wir  mit  unbefangenen  Augen  um  uns 
sehen,  entdeckt  man  zahlreiche  Spuren,  und  besonders 
auch  ist  die  Gruppe  davon  tangirt,  die  sich  an 
unser  Bild  anschließt;  Verrocchio’s  Taufe  Christi, 
das  Verkündigungsbild  (als  „Leonardo“)  in  den  Uffi¬ 
zien,  die  kleine  Dresdener  Madonna,  das  Altarbild 
des  L.  di  Credi  in  Pistoia  etc.  Dass  diese  unzwei¬ 
felhafte  Einwirkung  übrigens  nicht  dem  gleichkam, 
den  die  Italiener  im  16.  Jahrhundert  auf  die  Nieder¬ 
länder  ausübten,  versteht  sich  von  selbst. 

Unser  Bild  kann  aber  auch  nicht  von  Leonardo 
herrühren,  ebenso  wenig,  wie  die  Verkündigung  in 
den  Uffizien.  Dass  beide  Bilder  von  einer  Hand 
sind  und  sich  zeitlich  nahestehen,  ist  unverkennbar. 
Eine  so  enge  Verwandtschaft  in  der  malerischen 
Behandlung,  im  Gefältel,  in  der  Landschaft,  ja  selbst 
in  den  Blumen,  ist  nur  bei  einem  Künstler  denkbar. 
Aber  der  große  Leonardo  ist  es  nicht.  Wir  haben 
ja  genügendes  Vergleichsmaterial  an  der  Hand.  Den 
linken  Engel  auf  Verrocchio’s  Taufe  Christi  kann 
man  getrost  als  das  Werk  Leonardo’s  anseh en.  Gey¬ 
müller  meint  nun  freilich,  wenn  der  Engelskopf  der 
Taufe  von  Leonardo  ist,  so  müsse  auch  die  Verkün¬ 
digung  von  ihm  herrühren.  Mir  scheint  das  Um¬ 
gekehrte  daraus  zu  folgen.  Man  vergleiche  den 
seelenvollen,  lieblichen  Kopf  des  Engels,  in  dem  ein 
deutliches  Bestreben  liegt,  über  den  gewöhnlichen 
Horentinischen  Typus  hinauszugreifen,  mit  den  scha¬ 
blonenhaften  leeren  Typen  des  Verkündigungsbildes! 
I  )ie  Maria  des  letzteren  mit  ihrem  lächerlich  kleinen 
Ko])fe  ist  gesucht  kindlich.  Wie  bestrebte  sich  Leo¬ 
nardo,  auch  in  den  Locken  des  Engels  den  orga¬ 
nischen  Bau  der  Haare  in  seinen  feinsten  Beziehun¬ 
gen  wiederzugeben!  Und  daneben  die  konventionellere 
llaarbildung  der  Verkündigung!  Auch  ist  in  dem 
Gewände  des  Leonardesken  Engels  eine  Kenntnis  der 
l'’orm  und  der  Licht-  und  Schattenwirkung  ausge¬ 
sprochen  (offenbar  unter  Einwirkung  der  Nieder¬ 
länder),  die  dem  Verkündigungsbilde  trotz  aller  engen 
Verwandtschaft  abgeht.  Die  Verkündigung  scheint 
doch  eiimr  etwas  späteren  Zeit  anzugehören,  da 
müsste  man  aber  sagen,  wenn  Leonardo  zuerst  den 
Enge]  und  dann  die  Verkündigung  gemalt  hätte: 
zum  Teufel  ist  der  Spiritus,  das  Phlegma  ist  ge¬ 
blieben.  Ganz  das  gleiche  B,esu]tat  ergiebt  sich, 
wenn  wir  den  Vergleich  mit  der  Anbetung  der  heil, 
drei  Könige  (Uffizien)  ziehen.  Was  herrscht  da  ein  an¬ 


deres  Leben,  von  dem  der  Meister  des  Verkündigungs¬ 
bildes  gar  keine  Ahnung  gehabt  hat! 

Wer  ist  nun  dieser  Meister?  Darauf  antworte 
ich:  kein  anderer  als  Lorenzo  di  Credi,  der  Mit¬ 
schüler  Leonardo’s  bei  Verrocchio.  Diese  Verbin¬ 
dung  der  beiden  so  ungleich  gearteten  Geister  er¬ 
klärt  zur  Genüge  die  unstreitig  enge  Verwandtschaft 
der  beiderseitigen  Jugendbilder.  Aber  diese  Ver¬ 
wandtschaft  geht  doch  nicht  weiter,  als  es  unter 
ähnlichen  Verhältnissen  der  Fall  zu  sein  pflegt,  und 
gestattet  keine  Übertragung  der  Jugendbilder  Credi’s 
an  Leonardo.  Nehmen  wir  z.  B.  das  durch  Vasari 
beglaubigte  Altarbild  des  Lorenzo  im  Dome  zu 
Pistoia,  so  sehen  wir,  wie  der  Künstler,  von  dem 
strengen  Formstudium  des  Verrocchio  und  der  Fülle 
und  Lieblichkeit  des  Leonardo  befruchtet,  höchst 
Gediegenes  schaffen  konnte.  Bei  einem  einfachen, 
statuarischen  Altarbild  wird  kein  Phantasiereichtum 
verlangt,  den  Credi  nun  einmal  nicht  besaß,  und 
den  auch  selbstverständlich  weder  Unterweisung  noch 
Beispiel  ihm  geben  konnten.  In  Dresden  befindet 
sich  die  Zeichnung  einer  Madonna  (von  Geymüller 
und  Lermolieff  reproduzirt),  welche  die  deutlichsten 
Beziehungen  zur  Madonna  von  Pistoia  aufweist. 
Ob  nun  diese  Zeichnung  gerade  ein  Studium  zu 
letzterem  Bilde  ist,  lässt  sich  nicht  bestimmt  be¬ 
haupten,  aber  sie  deutet  mit  Entschiedenheit  auf  die 
gleiche  Künstlerhand.  Es  ist  dasselbe  „Sehen“,  die¬ 
selbe  Empfindung  darin,  und  es  kann  meiner  An¬ 
sicht  nach  auch  nicht  einen  Augenblick  zweifelhaft 
sein,  dass  die  Zeichnung  dem  Stifte  Lorenzo’s  ent¬ 
stammt.  Nun  ist  aber  die  Münchener  Madonna  zwei¬ 
fellos  von  der  Hand  desjenigen,  der  das  Altarbild 
von  Pistoia  gemalt  hat.  Es  erstreckt  sich  diese 
Gleichheit  bis  in  die  feinsten  Verzweigungen  und 
ist  so  schlagend,  dass  z.  B.  sogar  eine  bloße  Neben¬ 
einanderstellung  der  bezüglichen  Photographieen  zu 
diesem  Resultate  führen  muss.  Dasselbe  Verhältnis 
gilt  auch  von  dem  V erkündigungsbilde  der  Uffizien, 
das  schon  Mündler  als  einen  Credi  erkannt  hatte. 
Ein  Stückchen  Landschaft  z.  B.,  die  Baumausladun¬ 
genwürden  genügen,  dieselbe  Künstlerhand  zu  zeigen, 
und  es  ist  interessant,  dass  die  Felsgebilde  an  allen 
dreien  ganz  identisch  sind.  Selbstverständlich  ist  es 
nicht  erlaubt,  die  Kunstweise  des  Credi  einseitig 
nach  den  von  ihm  in  späterer  Zeit  gemalten  Bildern 
zu  konstruiren,  das  wäre  keine  historische  Betrach¬ 
tungsweise.  Abgesehen  davon  fand  ich  das  genaue 
Studium  des  Credi  zu  dem  Christusknahen  des  Mün¬ 
chener  Bildes  unter  Nr.  1197  in  den  Uffizien  aus¬ 
gestellt,  ich  ließ  es  Mai  1891  von  Alinari  photo- 


LORENZO  DT  CREDT. 


141 


graphireii.  Dass  auch  diese  feine  Zeiclinung  (Silber¬ 
stift  auf  hellbraunem  Grunde)  von  Credi  herrührt, 
als  welcher  sie  auch  ausgestellt  ist,  leidet  keinen 
Zweifel.  Überhaupt  besitzen  die  Uffizien  Material 
genug,  um  Lorenzo’s  Zeichnungsweise  gründlich 
kennen  zu  lernen.  Als  Credi  möchte  ich  noch  nach¬ 
tragen  die  schöne  Studie  eines  sitzenden,  nackten 
Kindes,  das  beide  Arme  erhebt,  als  „unbekannt“ 
unter  Nr.  247  ausgestellt. 

Als  ein  frühes  Bild  dieser  Entwickelungsperiode 
Credi’s  darf  wohl  die  äußerst  liebevoll,  aber  noch 
mit  sehr  schüchterner,  suchender  Hand  ausgeführte 
Maria  mit  dem  Kind  in  der  Galerie  Colonna  zu 
Rom  (als  „Lippo“)  betrachtet  werden.  Mündler  hatte 
ganz  recht,  in  ihr  einen  Credi  zu  erkennen.  Von 
einer  niederländischen  Hand  kann  doch  nicht  die 
Rede  sein;  wann  hat  z.  B.  jemals  ein  Niederländer 
diese  Wolken  gemalt?  Ebenfalls  sehr  unfrei  ist  die 
vielbesprochene  Madonna  in  Dresden,  die  auch  ein¬ 
mal  das  Schicksal  hatte,  als  Leonardo  zu  gelten, 
aber  von  Wörmann  mit  Recht  als  Credi  katalogisirt 
ist.  Die  Münchener  Madonna  mit  der  Blumenvase 
scheint  mir  später  als  letztere  gemalt,  da  sie  weichere 
Formen  und  breitere  Behandlungsweise  zeigt.  Den 
Gipfelpunkt  erreicht  aber  diese  Jugendentwickelung 
in  dem  bedeutenden  Altarbild  im  Dome  zu  Pistoia. 
Das  Altarblatt  im  Chor  von  Sto.  Spirito  zu  Florenz, 
das  wie  ein  Pendant  dazu  aussieht,  ist  leider  schreck¬ 
lich  verschmutzt.  (In  Sto.  Spirito  befindet  sich  noch 
eine  Verkündigung,  als  S.  Botticelli,  welche  eben¬ 
falls  den  Stil  des  Credi  zeigt,  doch  hängt  sie  so 
dunkel  und  ist  so  vergilbt,  dass  ich  mir  ein  be¬ 
stimmtes  Urteil,  von  wem  sie  gemalt  ist,  nicht  ge¬ 
traue.)  Auch  das  vorzügliche  Porträt  Nr.  1163  der 
Uffiziengalerie  gehört  noch  in  diese  Periode.  Ol)  es 
gerade  den  Lehrer  Credi’s,  den  trefflichen  Verrocchio, 
darstellt,  weiß  ich  nicht,  jedenfalls  halte  ich  die  Be¬ 
zeichnung  Credi  für  unzweifelhaft.  Allein  das  Stück¬ 
chen  Landschaft  im  Grunde  links  würde  es  beweisen 
im  Zusammenhang  mit  der  landschaftlichen  Behand¬ 
lung  auf  dem  Verkündigungsbilde  der  Uffizien.  Dieses 
Stückchen  sieht  geradezu  aus,  als  ob  es  der  Ver¬ 
kündigung  herausgeschnitten  wäre,  nur  dass  es  besser 
erhalten  ist. 

Die  übrigen  Zeiten  Lorenzo’s  gehören  nicht  hier¬ 
her,  doch  ist  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  auch 
noch  in  seinen  späteren  und  spätesten  Bildern  die 
Tradition  seiner  Jugendzeit  nicht  völlig  ausgelöscht 
ist.  Das  unruhige  Gefältel  und  die  Härten,  aber 
auch  das  gewissenhafte  Naturstudium  verschwinden 


zwar,  doch  bleibt  immer  noch  ein  Rest  des  ursprüng¬ 
lichen  Empfindens.  So  z.  B.  zeigt  auf  der  Taufe 
Christi  in  S.  Domenico  bei  Fiesoie  der  erste  Engel 
rechts  von  den  drei  zur  Linken  knieenden  im  Ge¬ 
sichtstypus  deutlich  seine  Herkunft  von  der  Maria 
der  Verkündigung,  das  Profil  des  Engels  links  am 
Rande  leitet  direkt  seine  Herkunft  von  dem  Ver¬ 
kündigungsengel  ab  u.  s.  w. 

Das  feine  Bildnis  des  Goldschmiedes,  das  im 
Palazzo  Pitti  als  Leonardo  gilt,  wurde  von  Mündler 
für  Credi  gehalten.  Davon  ist  man  allerdings  ab¬ 
gekommen.  Lermolieff’  und  Bode  bezeichnen  es  über¬ 
einstimmend  als  ein  Werk  des  Ridolfo  Ghirlandajo. 
Ich  hatte  ursprünglich  allerdings  an  ein  frühes  Werk 
des  Franciabigio  gedacht,  gegenüber  dem  Zusammen- 
klansce  der  beiden  genannten  Kenner  lialte  ich  jedoch 
an  dieser  Taufe  nicht  fest,  nm  so  weniger,  als  die 
Übereinstimmung  mit  der  Madonna  del  Pozzo  oder 
dem  Porträt  von  1514  in  der  Galerie  Pitti  keines¬ 
wegs  schlagend  ist;  freilich  muss  ich  gestehen,  dass 
dasselbe  auch  von  den  beiden  Bildnissen  der  Galerie 
Pitti  (Frauenporträt  von  1509  Nr.  224  und  die  so¬ 
genannte  Monaca  des  Leonardo  Nr.  140)  gilt,  die 
ich  doch  als  Rid.  Ghirlandajo’s  anerkennen  möchte. 

Vielleicht  ist  es  noch  erlaubt,  hier  einige  Worte 
über  Verrocchio,  den  Ausgangspunkt  des  Lorenzo, 
zu  sagen.  Bode  hält  den  Tobias  mit  den  beiden 
Engeln  Nr.  24  in  der  Akademie  zu  Florenz  für  ein 
Werk  des  Verrocchio.  Hier  kann  ich  ihm  jedoch 
unmöglich  folgen.  Meiner  Ansicht  nach  ist  es  ein 
ganz  guter  früher  Botticelli,  als  der  es  auch  aufgestellt 
ist.  Wer  sonst  hat  denn  diese  nervösen  Hände,  diesen 
Gesichtstypus,  diese  Behandlung  der  Gewänder  und 
die  Formen  der  Landschaft?  Besonders  nahe  steht 
es  den  Bildern  der  Uffizien,  Tod  des  Holofernes  Nr. 
1158  und  Judith  Nr.  1161.  Auch  das  Rundbild  in 
der  Ambrosiana  zu  Mailand  Nr.  72  ist  hier  anzu¬ 
ziehen.  Eine  genaue  Analyse  jeder  Einzelheit  und 
ein  entsprechender  Vergleich  mit  anderen  Botticelli’s 
wird  diese  Ansicht  sicher  bestätigen.  Darin  hat  Bode 
allerdings  recht,  dass  er  dies  Werk  als  vorzüglich 
preist,  und  gern  gebe  ich  auch  zu,  dass  ein  unleug¬ 
barer  Einfluss  des  Verrocchio  darin  zu  erkennen  ist. 
Ich  halte  übrigens  sämtliche  Gemälde,  die  in  den 
Uffizien  den  Namen  Botticelli  führen,  für  richtig 
bestimmt  und  möchte  noch  den  heil.  Augustinus 
Nr.  1179,  „Fra  Filippo  Lippi“  und  wohl  auch  das 
Porträt  des  Pico  della  Mirandola  Nr.  1154  „unbe¬ 
kannt“  als  Botticelli’s  nachtragen. 


EINE  NAPOLEONSTATUE  VON  CHAUDET. 


Treppeubause  des  Museum 
Fridericianum  zu  Kassel 
liegt  staubbedeckt  ein  Mar¬ 
morbildwerk,  das  durch  sei¬ 
nen  geschichtlichen  wie 
kunstgeschichtlichen  Wert 
in  gleicher  Weise  von  In¬ 
teresse  ist  und  wohl  verdient, 
dem  Schicksal  der  Vergessenheit,  dem  es  anheimzu¬ 
fallen  droht,  entrissen  zu  Averden. 

Es  ist  eine  ülAerlebensgroße,  aus  karrarischem 
Marmor  gefertigte  Statue  Kapoleon’s  L,  welche  lange 
Zeit  hindurch  für  eine  Arbeit  Antonio  Canova’s  galt^), 
nunmehr  aber  als  ein  Werk  Yon  Antoine  Denis  Chaudet 
festgestellt  Avorden  ist. 2) 

Die  Erhaltung  derselben  ist,  soweit  sich  bei 
ihrem  jetzigen  ungünstigen  Aufbewahrungsort  er¬ 
kennen  lässt,  eine  verhältnismäßig  gute;  denn  abge¬ 
sehen  von  den  gleich  zu  erwähnenden  Beschädigun¬ 
gen  bezw.  Ergänzungen  scheint  die  Oberfläche  des 
Marmors  nur  wenig  gelitten  zu  haben,  was  wohl 
allein  dem  Umstande  zu  verdanken  ist,  dass  die 
Statue  nur  eine  kurze  Zeit  an  dem  für  sie  bestimm¬ 
ten  Orte  unter  freiem  Himmel  gestanden  hat.  Sie 
Avurde,  nachdem  sie  kaum  ein  Jahr  lang  als  Denk¬ 
mal  französischer  Gewaltherrschaft  dem  öffentlichen 
Platz  eines  deutschen  Fürstensitzes  zum  Schmucke 
gedient  hatte,  von  ihrem  Platze  entfernt  und  hat 
seitdem  ein  rühmloses,  nur  wenigen  bekanntes  Da¬ 
sein  geführt. 

Die  Statue  ist  unterhalb  des  linken  Kniees  und 
oberhalb  des  Knöchels  des  rechten  Ikißes  gebrochen; 
die  Basis  mitsamt  diesem  Fuße  und  einem  an  ihr 

1)  Diese  Ansiclit  l^estand  noch  18;>7.  Vgl.  Lobe,  Wan- 
ilerung  durch  Kassel  und  Umgegend,  S.  82. 

2)  Siehe  Zeitschrift  des  Vereins  für  hessische  Geschichte 
und  Jjandeskunde,  N.  EL  IX,  S.  298,  Anmerk.,  und  J.  Hoff¬ 
meister  in  der  von  ihm  he.sorgten  zweiten  Auflage  von  Piderit’s 
Geschichte  der  Haupt-  und  Residenzstadt  Kassel,  S.  3.36. 


haftenden  Stück  des  Mantels  ist  noch  vorhanden, 
dagegen  fehlt  das  ganze  linke  untere  Bein.  Der  in 
Gips  ergänzte  rechte  Unterarm  liegt  neben  der 
Statue;  die  einst  weggebrochene,  später  aber  wieder 
in  Gips  ergänzte  Nase  ist  heute  nicht  mehr  vor¬ 
handen.  Schließlich  sind  die  Blätter  des  Kranzes 
noch  hier  und  da  leicht  beschädigt  und  abgestoßen. 
Alle  diese  Beschädigungen  sind  aber  nicht  derart, 
dass  sie  das  Werk  erheblich  entstellten  oder  seinen 
Gesamteindruck  irgendwie  schädigten. 

Der  Kaiser  ist  dargestellt  als  römischer  Impe¬ 
rator.  Ein  weiter,  am  Rande  mit  Blätterornament 
besetzter  Mantel,  der  auf  der  linken  Schulter  durch 
eine  Spange  zusammengehalten  wird,  umhüllt  in 
schwerem,  aber  vornehm  geordnetem  Faltenwurf  die 
mächtige  Gestalt,  so  dass  nur  der  linke  Unterschenkel, 
der  rechte  Arm  und  ein  Teil  der  Brust  unbedeckt 
bleiben.  Die  in  die  Seite  gesetzte  Linke  ist  ganz 
im  Gewand  verborgen,  die  Rechte  hält  eine  Perga¬ 
mentrolle  als  Hinweis  auf  die  von  ihm  verliehene 
Konstitution  des  Königreichs  Westfalen.  Im  Haar 
trägt  er  einen  Lorbeerkranz  mit  herabfallenden  Bän¬ 
dern,  über  der  Schulter  ein  Bandelier,  an  welchem 
das  Schwert  hängt,  dessen  unterer  Teil  unter  dem 
Mantel  sichtbar  wird;  die  Füße  sind  mit  Sandalen 
bekleidet. 

Idealisirt  wie  Gestalt  und  Tracht  sind  auch  die 
Züge  des  Kopfes.  Von  einer  getreuen  Wiedergabe 
derselben  und  einer  scharfen  Porträtähnlichkeit  hat 
der  Künstler  abgesehen,  dagegen  die  charakteristischen 
Züge  des  Kaisers,  jedoch  verallgemeinert  und  bis 
zum  Großartigen,  ja  Heroischen  gesteigert,  beibehalten. 
Die  Gestalt  des  Kaisers  atmet  würdevolle  Ruhe  und 
selbstbewusste,  in  sich  geschlossene  Kraft  und  kenn¬ 
zeichnet  ihren  Schöpfer  als  würdigen  Schüler  jener 
im  Geiste  des  römischen  Altertums  schaffenden  Meister, 
mit  denen  er  auch  eine  gewisse  Strenge  und  Herb¬ 
heit  des  Stiles  teilt,  welche  fast  allen  seinen  Werken 
aus  späterer  Zeit  anhaften  und  dieselben  für  unser 


EINE  NAPOLEONSTATUE  VON  CHAUDET. 


143 


modernes  Gefühl  wenigstens  etwas  kalt  und  frostig 
erscheinen  lassen. 

Es  ist  bekannt,  wie  hoch  Napoleon  die  Kunst 
Chaudet’s  schätzte  und  wie  dieser  Künstler  den  Vor¬ 
zug  genoss,  das  Bild  des  Kaisers  zu  verschiedenen 
Malen  in  Erz  und  Marmor  ausführen  zu  dürfen.') 
Neben  einigen  Büsten  ist  am  bekanntesten  unter 
diesen  Bildwerken  die  eherne  Statue,  welche  von  1810 
bis  1814  auf  der  Vendomesäule  zu  Paris  stand  und 
Napoleon  als  einen  durch  Schwertes  Gewalt  die 
Völker  beherrschenden  Cäsar  mit  Lorbeerkranz,  Har¬ 
nisch  und  Feldherrnmantel,  sich  mit  der  Rechten 
auf  das  Schwert  stützend,  in  der  Linken  die  Welt¬ 
kugel  haltend,  darstellte.  Eine  andere  Seite  seiner 
Herrscherthätigkeit,  seine  Eigenschaft  als  Gesetz¬ 
geber,  kam  dagegen  in  jener  Bildsäule  zum  Aus¬ 
druck,  welche  der  Künstler  für  den  Saal  des  gesetz¬ 
gebenden  Körpers  in  Paris  anfertigte.  2)  Es  ist  das¬ 
selbe  Werk,  welches  sich  jetzt  im  Berliner  Museum 
befindet und  von  dem  das  unserige  eine  getreue 
Kopie  ist,  die  vermutlich  von  Chaudet  selbst  an  ge¬ 
fertigt  wurde,  nachdem  die  Errichtung  dieser  Statue 
durch  ein  königliches  Dekret  vom  25.  Februar  1810 
beschlossen  und  der  ursprüngliche  Plan,  sie  in  Bronze 
ausführen  zu  lassen,  fallen  gelassen  worden  war.^) 

Die  Statue  kam  fertig  aus  Paris  nach  Kassel, 
wurde  hier  auf  dem  in  der  Mitte  des  kreisrunden 
Königsplatzes  von  Grandjean  de  Montigny,  einem 
der  ersten  Baumeister  Jeröme’s,  errichteten  Brunnen 
aufgestellt^)  und  am  12.  November  1812  unter  gro߬ 
artigen  Feierlichkeiten  enthüllt.  •')  Auf  diesem  Platze 


1)  Siehe  über  Chaudet  (1763 — 1810)  und  seine  Kunst 
A.  Rosenberg,  Gesch.  d.  modern.  Kunst,  I,  S.  406;  ferner 
A.  Jal,  Dictionnaire  critique  de  biographie  et  d’histoire, 
S.  373  ff.,  und  De  la  Chavignerie  et  Auvray,  Dictionnaire 
generale  des  artistes  de  l’ecole  fran^aise,  S.  242. 

2)  Abgebild.  in  den  Annales  du  Musee  et  de  l’Ecole 
Moderne  des  Beaux-Arts.  Salon  de  1808.  Tome  I,  pl.  23. 

3)  Siehe  Gerhard,  Verzeichnis  der  Bildhauerwerke  der 
Königl.  Museen,  1861,  S.  92,  Nr.  414;  vgl.  auch  Seubert,  Allgem. 
Künstlerlexikon,  S.  362,  der  merkwürdigerweise  den  Kopf 
für  „das  ähnlichste  plastische  Bild  Napoleon’s“  hält.  Die 
Berliner  Statue  gelangte,  wie  Schadow  in  seinen  Kunstwerken 
und  Ansichten,  S.  154  berichtet,  im  März  1816,  geleitet  von 
dem  preußischen  Lieutenant  Georg  Spener,  als  Kriegsbeute 
nach  Berlin;  nach  Gerhard  hingegen  war  sie  ein  Geschenk 
Ludwig’s  XVlIl. 

4)  Siehe  Gesetz -Bulletin  des  Königreichs  Westfalen, 
1,  1810,  Nr.  1—16,  S.  237  f. 

5)  Siehe  die  französische  Garküche  an  der  Fulda;  1.  Ge¬ 
richt,  S.  35;  Petersburg  1814,  Über  Montigny  vergl.  Zeit¬ 
schrift  des  Vereins  a.  a.  0.,  S.  276. 

6)  Siehe  R.  Göcke,  Das  Königreich  Westfalen,  S.  241. 
Jhn  im  Volke  verbreitetes  Spottlied: 


stand  dieselbe  unversehrt  bis  zum  30.  September  1813, 
wo  nach  dem  Einrücken  der  Russen  und  dem  vor¬ 
läufigen  Abzüge  der  Franzosen  das  Volk  in  seiner 
Erbitterung  gegen  die  bisherigen  Machthaber  auch 
an  die  Statue  Hand  anlegte.  Da  der  Versuch,  sie 
mit  Gewalt  von  ihrem  Sockel  zu  stürzen,  misslang, 
begnügte  man  sich  damit,  ihr  die  Nase  und  den 
rechten  Arm  abzuschlagen.')  Ein  Student,  nach 
anderer  Version  Kosaken,  sollen  die  Urheber  dieses 
Vandalismus  gewesen  sein. 

Freilich  blieb  die  Statue  nicht  lange  in  ihrem 
verstümmelten  Zustand.  Denn  bald  nachdem  Czer- 
nitschelf  mit  seinen  Russen  Kassel  plötzlich  wieder 
(am  3.  Oktober)  verlassen  hatte,  ließ  Heinr.  Chr 
Jussow,  der  damalige  „Directeur  des  bätiments  de  la 
Couronne“,  unverzüglich  durch  den  Bildhauer  Joh. 
Chr.  Ruhl  Arm  und  Nase  in  Gips  ergänzen.  Zu 
dieser  schleunigen  Ausbesserung  mochte  ihn  wohl 
die  Drohung  Jeröme’s  veranlasst  haben,  der  an  den 
Gouverneur  der  Stadt,  den  Divisionsgeneral  Allix, 
geschrieben  hatte  „malheur  ä  la  ville,  si  je  ne  trouve 
pas  la  statue  de  mon  auguste  frere“.  So  fand  denn 
Jeröme,  als  er  am  16.  Oktober  zu  kurzem  Aufent¬ 
halte  nach  Kassel  zurückgekehrt  war,  dank  dem 
Eifer  seines  Bautenministers  die  Statue  seines  kaiser¬ 
lichen  Bruders  noch  an  ihrem  Platze  vor,  und  erst 
nach  dem  endgültigen  Abzug  der  Franzosen  und 
der  Rückkehr  des  angestammten  Herrscherhauses 
wurde  dieselbe  auf  immer  davon  entfernt.  Ihr  oberer 
Teil  bis  etwa  zu  den  Knieen  lag  lange  Zeit  hin¬ 
durch  im  sog.  Materialienhause  in  der  Schäfergasse, 
der  untere  Teil,  die  Platte  mit  den  Füßen,  noch  bis 
zum  Jahre  1882  im  Hause  des  verstorbenen  Geheimen 
Hofrats  Ruhl  zu  Kassel.  Jetzt  befinden  sich  die 
sämtlichen  vorhandenen  Stücke,  wie  schon  oben  er¬ 
wähnt,  im  Treppenhause  des  Museum  Fridericianum, 
harrend  auf  den  Tag  ihrer  Auferstehung. 

Es  wäre  zu  wünschen,  dass  derselbe  nicht  mehr 
allzu  ferne  läge.  Denn  wenn  sich  auch  für  Kassel 
mit  diesem  Denkmal  die  Erinnerung  an  eine  schwere, 
trübe  Zeit  verknüpft  und  manches  patriotische  Gemüt 
in  gerechter  Erbitterung  sich  gegen  die  Wiederauf¬ 


in  Kassel  auf  dem  Zaitenstock 
Ohne^^Hemd  und  ohne  Rock 
Ohne  Schuh’  und  ohne  Hosen 
Steht  der  Kaiser  der  Franzosen, 
spielte  auf  den  Aufstellungsort  und  die  für  Laienaugeu 
höchst  dürftige  Bekleidung  des  Marmorbildes  an.  Vgl. 
F.  Müller,  Kassel  seit  70  Jahren,  S.  43. 

1)  Vgl.  Zeitschrift  des  Vereins  a.  a.  0.,  S.  298,  nach 
den  Aufzeichnungen  des  Oberhofrats  Dr.  Völkel. 


144 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


richtung  desselben  sträuben  möchte,  so  verdient  es 
doch  als  ein  Kunstwerk  von  nicht  geringem  Wert 
eine  würdigere  Behandlung,  als  ihm  bis  jetzt  zu  teil 
geworden  ist.  Eine  geeignete  Ergänzung  und  Auf¬ 
stellung  im  Vestibül  des  Kasseler  Museums  inmitten 
der  dort  bereits  vorhandenen  Büsten  von  Mitgliedern 
des  Napoleonischen  Hanses  würde  unseres  Erachtens 


als  ein  Akt  der  Pietät  gegen  das  Werk  und  seinen 
Schöpfer  gewiss  von  allen  Seiten  mit  lauter,  unge¬ 
teilter  Freude  begrüßt  werden.  Diesen  Gedanken 
anzuregen  und  zu  seiner  Verwirklichung  aufzu¬ 
muntern,  sollte  der  Hauptzweck  des  vorstehenden 
Aufsatzes  sein.  Dr.  CHR.  SCHERER. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Q  Die  Kunst  und  die  Soxicddemokratie.  Dass  auch  ein¬ 
mal  ein  Sozialdemokrat  öttentlicli  für  eine  regere  Fliege  und 
Förderung  der  Kunst  durch  das  Deutsche  Reich  eintritt,  ist 
eine  so  ungewöhnliche  Erscheinung,  dass  wir  an  dieser  Stelle 
Notiz  davon  nehmen  wollen.  Es  geschah  in  der  Sitzung  des 
Deutschen  Reichstages  vom  18.  Februar,  wo  der  sozialdemo¬ 
kratische  Abgeordnete  Kunert  bei  Kapitel  8,  Allgemeine  EMnds, 
Titel  1  (Unterstützung  für  das  Germanische  Museum  in  Nürn¬ 
berg  48000  M.)  bedauerte,  dass  für  die  deutsche  Kunst  von 
Reichswegen  viel  zu  wenig  gethan  werde.  Wenn  man  ver¬ 
gleiche,  was  an  Zöllen  aufkomme  und  was  für  Militärzwecke 
aufgewendet  werde,  so  sei  der  Gesamtbetrag  von  80000  M. 
geradezu  verschwindend.  Der  Einwand,  dass  die  Einzel¬ 
staaten  Aufwendungen  machten,  träfe  nicht  zu;  das  Deutsche 
Reich  habe  für  die  deutsche  Kunst  auch  eine  Aufgabe  zu  er¬ 
füllen.  Wenn  man  etwa  gegen  seinen  Standpunkt  einwenden 
wollte,  dass  die  Sozialdemokratie  dem  Kapitalismus  und 
also  auch  der  heutigen  Kunstpflege  feindlich  gegenüberstehe, 
so  sei  das  eine  ganz  philiströse  Ansicht.  Redner  wies  auch 
auf  den  eminenten  Wert  der  Kunst  für  die  geistige  Hebung 
der  arbeitenden  Klassen,  für  den  EMrtschritt  der  Kulturarbeit 
am  Menschengeschlechte  hin.  „Sie  müsse  dann  aber  allen, 


nicht  wie  im  heutigen  Klassenstaate  nur  einzelnen  zugäng¬ 
lich  gemacht  werden.“  Der  übliche  Beitrag  für  das  Germa¬ 
nische  Museum  wurde  bewilligt,  ohne  dass  in  den  Verhand¬ 
lungen  die  gegenwärtige,  unsichere  Lage  des  Museums  be¬ 
rührt  wurde. 

Vor  uns  liegen  Lieferung  1  und  2  eines  Werkes  aus  dem 
Verlage  von  Hermann  Oestencitx  zu  Dessau,  betitelt:  „An¬ 
halts  Bau-  und  Kunstdenkmäler.  Mit  Illustrationen  in  Licht¬ 
druck,  Phototypieen  und  Zinkographieen.  Herausgegeben 
und  bearbeitet  von  Dr.  Büttner  Pfänner  %u  Thal.“'  —  Nach 
einer  kurzen,  von  Th.  Stenxel  klar  und  übersichtlich  ent¬ 
worfenen  Skizze  der  staatlichen  Entwickelung  des  Anhalter 
Landes  seit  frühem  Mittelalter  entrollt  sich  vor  dem  Blick 
des  Lesers  in  Wort  und  Bild  die  stattliche  Fülle  geschicht¬ 
licher  Denkmale  von  Bauten  und  Kunstwerken  verschieden¬ 
ster  Art,  an  denen  Anhalt  reicher  ist,  als  manches  weit 
größere  Staatsgebiet.  In  der  vorliegenden  Lieferung  werden 
wir  zunächst  in  den  Denkmälerreichtum  des  Ballenstedter 
Kreises  eingeführt.  Der  Text  ist  knapp  gehalten,  unterrichtet 
aber  stets  verlässlich  an  der  Hand  der  genau  angeführten 
Quellenlitteratur  über  das  Geschichtliche  und  mit  Hilfe  ein¬ 
gedruckter  Grundrisse  über  das  Bauliche. 


Blick  auf  Tiefenbroun. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxoiv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Maximilian  I.  und  sein  Kreis.  Mittelgrupije  in  Berger’s  Deckenbild. 


DIE  MÄCENE  DER  BILDENDEN  KÜNSTE  IM  HAUSE 

HABSBURG. 

Deckengemälde  von  Julius  Berger  im  kunsthistorisehen  Hofmuseum  zu  Wien. 


DEALE  Vereinigungen  zeit¬ 
lich  getrennter  PeASÖnlich- 
keiten  zu  malerisch  ge¬ 
schlossener  Komposition,  wie 
sie  das  Berger’sche  Bild 
uns  darhietet,  kennt  die 
Kunstgeschichte  seit  Jahr¬ 
hunderten.  Raphaers  „Par¬ 
nass“  und  „8chule  von  Athen“,  Paul  Delaroche’s 
^Hemicycle“,  Overbeck’s  , Triumph  der  Religion  in 
den  Künsten“  sind  die  geläufigsten  Beispiele  der 
weitverbreiteten  Gattung. 

Aber  die  genannten  Vorbilder  und  die  große 
Mehrzahl  der  Werke  verwandten  Inhalts  sind  Wand¬ 
gemälde.  Und  man  nahm  auch  die  vorliegende 
Schöpfung  des  hochbegabten  Wiener  Meisters  -an¬ 
fangs  ganz  einfach  als  Wandbild  hin,  als  dieselbe 
vorigen  Sommer  im  Künstlerhause  zuerst  vor  die 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


Öffentlichkeit  trat.  ‘Ungezwungen  fügt'  sich  die 
architektonische  Behandlung  des  Raumes  auf  dem 
Bilde  dieser  Voraussetzung,  ohne  Schwierigkeit 
entspricht  ihr  auch  der  figürliche  Teil  der  Kom¬ 
position. 

Um  so  größer  —  und,  setzen  wir  gleich  hin¬ 
zu  —  auch  freudiger  war  die  Überraschung,  als  wir 
dann  plötzlich  das  Berger’sche  Bild  am  Orte  seiner 
endgültigen  Bestimmung  als  Dee/fcubild  wiedersahen! 
Und  zwar  in  der  Mitte  des  Plafonds  jenes  glanz¬ 
erfüllten  Saales  im  Hochparterre  des  kaiserlichen 
Hofmuseum.s,  welcher  die  Werke  der  Goldschmiede¬ 
kunst  der  Renaissance  und  der  neueren  Zeit  ent¬ 
hält.  Hier,  wo  die  Kunstliebe  des  habsburgischen 
Herrscherhauses  ihre  höchsten  Triumphe  feiert,  war 
die  richtige  Stelle  zur  Verherrlichung  dieses  edlen 
Mäcenatentums.  Hier  bot  sich ,  am  Mittelfelde  der 
langgestreckten  Decke,  auch  der  genügende  Elächen- 

19 


Die  Miii'eiie  der  bildenden  Künste  im  Hanse  llabsliiuft.  Deckcnbild  von  dui.ii’s  Hv.Ui'.eu  im  knusibistorisi  limi  Hofmu'enin  /n  Wim. 


146  DIE  MÄCENE  DER  BILDENDEN  KÜNSTE  IM  HAUSE  HABSBURG. 


raum  dar,  um  der  Menge  fürstlicher  und  künstle¬ 
rischer  Persönlichkeiten  gerecht  werden  zu  können, 
welche  darauf  Anspruch  haben,  in  diesem  erlauchten 
Kreise  zu  erscheinen.^) 

Allerdings  ist  es  ein  ganz  ebenes,  regelmäßig 
ein  gerahmtes  Deckenfeld,  nur  an  den  schmalen 
Enden  durch  zwei  halbkreisförmige  Ausbuchtungen 
erweitert  (s.  die  Abbildg.).  Sowohl  die  Gestalt  der 
Fläche  als  auch  ihre  Umgebung  schlossen  den  Ge¬ 
danken  aus,  hier  eine  perspektivische  Deckenmalerei 
mit  naturalistischer  Illusion  anzubringen,  wie  sie 
den  Barockmalern  geläufig  war,  wie  sie  Correggio 
schuf,  und  wie  sie  schon  Mantegna  und  Melozzo 
meisterhaft  zu  liefern  verstanden.  Die  Aufgabe,  die 
sich  in  unserem  Falle  dem  Künstler  aufdrängte, 
war  die:  für  den  idealen  Zeitgedanken  auch 
einen  idealen  Raumgedanken  zu  schallen  und 
zugleich  dem  Ganzen  wie  den  Details  diejenige 
volle  Realität  aufzuprägen,  welche  uns  das  Gedachte 
als  Wirkliches ,  das  niemals  in  der  Geschichte  so 
Dagewesene  als  historisch  erscheinen  lässt.  Und 
diese  schwierige  Aufgabe  hat  Berger  gelöst!  Auch 
nach  seiner  Übertragung  an  die  Decke  macht  sein 
Bild  geistig  wie  malerisch  den  Eindruck  überzeu¬ 
gender  Wahrheit  und  Lebendigkeit.  Von  dem  für 
die  Ansicht  des  Bildes  günstigsten  Standpunkt  an 
der  Fensterseite  des  Saales  aus  betrachtet,  über¬ 
blicken  wir  die  Scene  mit  voller  Klarheit  und 
glauben  alle  Vorgänge  wie  auf  einer  Bühne  mit 
einem  Blick  umspannen  zu  können.  Die  Wahl  des 
Augenpunktes  im  Bilde  ist  eine  so  glückliche,  die 
Verteilung  der  Gruppen  auf  der  Fläche  eine  so 
wohlgelungene,  dass  alle  Momente  des  geschicht¬ 
lichen  Lebens,  die  uns  da  vorgeführt  werden,  in 
ihrer  besonderen  Bedeutung  hervortreten,  alle  Haupt¬ 
figuren  scharf  sich  loslösen,  ohne  dass  dadurch  der 
geistige  Zusammenhang  zerrissen  und  die  male¬ 
rische  |  Einheit  zerstört  würde.  In  koloristischer 
Beziehung  wirkt  das  Bild  an  der  Decke  günstiger, 
als  l)ei  seiner  ersten  Ausstellung  im  Künstlerhause, 
weil  es  jetzt  gedämpftes  Licht  hat,  welches  den 
silberklaren  Grundton  der  Malerei  mildert,  ohne  die 
plastische  Rundung  der  Gestalten  aufzuheben.  Diese 
stehen  in  voller  Tageshelle  vor  uns,  nur  kurze, 
transparente  Schatten  werfend;  die  einzige  Partie, 
welche  ein  kräftigeres  Dunkel  zeigt,  ist  die  äußerste 


1)  Die  Länge  der  Bildfläche  beträgt  genau  15  V2  ni. 
Die  Figuren  sind  durchschnittlich  lebensgroß.  Das  Bild  ist 
in  Öl  auf  Leinwand  gemalt  und  nach  dem  Minard’schen 
Verfahren  an  der  Decke  befestigt. 


jä 


DIE  MACENE  DER  BILDENDEN  KÜNSTE  IM  HAUSE  HABSBURG. 


147 


Gruppe  zur  Linken  unter  der  mit  Teppichen  be¬ 
kleideten  Säulenhalle. 

Die  Architektur  des  Bildes,  auf  die  wir  damit 
geführt  werden,  stellt  einen  von  Säulenhallen  fian- 
kirten  Terrassenbau  dar,  welcher  gegen  rückwärts 
durch  Wandungen  von  mäßiger  Höhe  abgeschlossen 
ist.  Geflügelte  weibliche  Gestalten  und  wappen¬ 
haltende  Löwen  dienen  als  plastischer  Schmuck  der 
vorspringenden  Pfeiler  des  Wandbaues.  Der  Stil 
der  Architektur  ist  im  Charakter  der  Gegenwart 
gehalten,  „um  anzudeuten,  dass  die  Gegenwart 
durch  ihre  Pietät  für  das  Alte  und  ihren  fortleben¬ 
den  Kunstsinn  im  neuen  Museum  den  mannigfachen 
Schätzen  der  Vergangenheit  hier  einen  einheitlichen 
Rahmen  geschaffen  hat.“ 

Der  Verfasser  des  historischen  Programms 
der  Berger’schen  Komposition,  Dr.  A.  llg,  wel¬ 
chem  wir  diese  Worte  entlehnen,  soll  uns  nun 
auch  als  Führer  dienen  bei  der  Einzelbetrach¬ 
tung  der  in  dem  Bilde  dargestellten  Persönlichkeiten, 
von  denen  einige  nach  Zeichnungen  von  Berger’s 
trefflichem  Schüler  0.  Kempf  diesem  Aufsatze  in 
getreuen  Nachbildungen  beigegeben  sind. 

Wir  beginnen  mit  der  Mittelgruppe,  die  unser 
Zinko  nach  einer  Löwy’schen  Photographie  repro- 
duzirt.  Hier  ist  mit  Fug  und  Recht  Kaiser  Maxi¬ 
milian  I.  (1459 — 1519)  als  Kern-  und  Ausgangs¬ 
punkt  des  Ganzen  dargestellt.  Er  thront  unter 
einem  Baldachin,  dessen  Behang  mit  dem  Relief¬ 
bilde  des  jetzigen  Kaisers,  als  des  Erbauers  der 
beiden  Hofmuseen  und  des  kunstbegeisterten  Nach¬ 
folgers  seiner  großen  Ahnen,  geschmückt  ist,  und 
an  dessen  Rückwand  der  mächtige  Doppeladler  auf 
goldenem  Hintergründe  prangt.  An  der  Thronstufe 
zu  Füßen  Maximilian’s  lesen  wir  die  Devise  von 
de.ssen  Vater  Friedrich  IIL:  A.  E.  I.  0.  V.  (Aller 
Ehren  ist  Österreich  voll).  Zu  beiden  Seiten  des 
Kaisers,  wie  auch  im  Umkreise  der  übrigen  fürst¬ 
lichen  Mäcene  sind  die  Künstler  und  Gelehrten 
gruppirt,  welche  die  Ideen  Maximilian’s  verwirk¬ 
lichen  halfen.  Da  steht  links  (von  ihm)  Albrecht 
Dürer,  mit  ehrerbietiger  Geberde  dem  Kaiser  eine 
Zeichnung  erklärend,  welche  dieser  prüfend  in  Hän¬ 
den  hält,  rechts  der  gelehrte  Dichter  und  Mathe¬ 
matiker  Johann  Stabius,  der  den  historischen  Plan 
zu  Dürer’s  „Ehrenpforte“  entwarf;  weiter  nach 
rechts,  in  braunem  Gewände,  sehen  wir  den  Erz¬ 
gießer  Gilg  Sesslschreiber,  mit  dem  Modell  der 
Bronzestatue  Rudolfs  1.  für  das  Grabdenkmal  in 
der  Innsbrucker  Hofkirche;  unter  Sesslschreiber 
kniet,  in  grünem  Gewände,  der  Augsburger  Maler 


und  Zeichner  Hans  Springinklee,  mit  der  Rechten 
eine  große  Holzschnitttafel  aufstützend;  diese,  sowie 
die  auf  der  untersten  Stufe  liegenden  Bücher,  deuten 
auf  des  Kaisers  litterarisch-artistische  Publikationen 
hin,  auf  den  Freydal,  den  Theuerdank,  den  Weis- 
kunig  u.  s.  w.  Die  über  den  Büchern  liegende 
Pfauenfeder  ist  dem  uralten  Helmschmuck  des  kai¬ 
serlichen  Geschlechts  entnommen ;  das  Kanonenrohr 
auf  der  zweithöheren  Stufe  erinnert  an  des  Kaisers 
Wirken  für  das  Heer-  und  Geschützwesen.  Auf  der 
andern  Seite  der  Mittelgruppe,  neben  Dürer,  nur 
einige  Stufen  tiefer,  steht  ein  anderer  Hauptmit¬ 
arbeiter  an  den  Publikationen  des  Kaisers ,  der 
Augsburger  Meister  Hans  Burgkmair,  und  zu  seiner 
Rechten  der  Bildhauer  Alexander  Collin,  der  aller¬ 
dings  erst  lange  nach  dem  Tode  Maximilian’s  dessen 
Grabmal  in  der  Hofkirche  zu  Innsbruck  den  letzten 
künstlerischen  Schmuck  verlieh.  Die  Rüstungsstticke 
am  Boden  erinnern  an  das  Turnierwesen  des 
„Letzten  Ritters“. 

Von  der  Mittelgruppe  wenden  wir  zunächst 
der  links  im  Vordergründe  befindlichen  Hauptgruppe 
unsere  Aufmerksamkeit  zu,  deren  zwei  hervor¬ 
ragendste  Figuren,  Karl  V.  (1500  — 1558)  und  Tizian, 
in  unserer  Detailzeichnung  erscheinen.  Der  Mon¬ 
arch  steht,  in  dunkler  spanischer  Tracht ,  ernsten, 
weltverachtenden  Blickes  neben  dem  greisen  vene- 
tianischen  Meister,  der  wie  fragend  nach  ihm  hin¬ 
schaut.  Auf  ihre  künstlerischen  Beziehungen  deutet 
kein  bestimmtes  Moment  hin.  Nur  das  glühende 
Rot  von  Tizian’s  Tracht  erinnert  an  die  Farben¬ 
pracht  der  Schule  Venedigs.  In  lebendige  An¬ 
schauung  vertieft  zeigen  sich  dagegen  die  beiden 
fürstlichen  Damen  etwas  rückwärts  zur  Seite  des 
Kaisers:  seine  Gemahlin  Isabella  von  Portugal  und 
die  ihr  über  die  Schulter  schauende  Schwester  des 
Kaisers,  Königin  Maria  von  Ungarn;  beide  betrach¬ 
ten  aufmerksam  eine  Zeichnung,  welche  die  Kaiserin 
vor  sich  mit  der  Rechten  hält.  Zu  Füßen  der  hohen 
Dame,  ganz  vorn  auf  den  untersten  Stufen  der  Ter¬ 
rasse,  sind  eine  Anzahl  von  Waffen  und  Pracht¬ 
stücken  der  Kunstindustrie  zusammengruppirt,  die 
sich  noch  heute  in  den  Sammlungen  des  kaiserlichen 
Hauses  befinden.  In  ihrer  höchst  sorgfältigen  und 
virtuosen  Darstellung  bekundet  Berger  eine  beson¬ 
ders  starke  Seite  seines  malerischen  Könnens.  — 
Im  Rücken  Tizian’s,  in  mäßigem  Abstande,  sieht 
man  eine  Gruppe  seiner  künstlerischen  Zeitgenossen: 
da  sitzt  Benvenuto  Cellini,  auf  dem  Schoße  das 
gefeierte  Salzfass,  den  Stolz  der  kaiserlichen  Samm¬ 
lung,  tragend,  und  neben  ihm  der  berühmte  Mecha- 


MS 


DIE  MACENE  DER  BILDENDEN  KÜNSTE  IM  HAUSE  HABSBÜRG. 


uiker  und  Uhrmacher  Janello  Torriani  aus  Cremona, 
die  Rückenfigur  in  Weiß,  welche  neben  Benvenuto 
steht,  ist  der  Bildhauer  Leone  Leoni,  von  dem  wir 
mehrere  Porträts  Karl’s  V.  besitzen.  —  Hinter  der 
Balustrade  im  Rücken  Torriani’s  werden  zwei  an¬ 
dere  Künstler  jener  Zeit  als  Halbfiguren  sichtbar: 


gründer  der  Ambraser  Sammlung  selbst  ist  erkenn¬ 
bar  an  der  Sturmhaube,  einem  Stück  der  sogenann¬ 
ten  Herkulesrüstung,  das  er  in  den  Händen  trägt. 
Die  hinter  ihm  stehenden  beiden  Männer  sind  die 
Mailänder  Waft'en  schmiede  Lucio  Piccinino  und 
Giov.  Batt.  Serabaglio;  der  Erstgenannte  bringt 


Kail  \  .  mul  'l'iziaii.  Aus  Berger’s  Detkenhild. 


(1er  Bärtige  im  grauen  Gewände  ist  der  Bildhauer 
Giovanni  da  Bologna;  neben  ihm,  auf  der  Brüstung, 
.stehen  mehrere  seiner  in  der  kaiserlichen  Sammlung 
Ijefindlichen  Werke.  —  Weiter  nach  rechts,  eben¬ 
falls  als  llalbtiguren  hinter  der  Balustrade,  werden 
die  den  Erzherzog  Ferdinand  von  Tirol  (ir)29  bis 
irdlü)  umgebenden  Künstler  sichtbar.  Der  hohe  Be¬ 


den  zu  der  Herkulesrüstung  gehörigen  Schild  mit 
dem  Medusenhaupt  herbei.  Dazu  kommt  der 
Maler  Franc.  Terzio  Bergamasco,  der  Zeichner  der 
„Imagines  domus  Austriacae“  und  Urheber  ver¬ 
schiedener  anderer  für  den  Erzherzog  geschaffener 
Werke. 

Volle  Bedeutung  ist  der  am  linken  Ende  des 


DIE  MÄCENE  DER  BILDENDEN  KÜNSTE  IM  HAUSE  HABSBURG. 


149 


Bildes  befindlichen  Gruppe  zugewiesen,  als  deren 
Hauptperson  Kaiser  Rudolf  11.  (1552—1612)  da¬ 
steht.  Er  ist  ja  der  eigentliche  Gründer  der  großen 
Kunst-  und  Schatzkammern  des  Kaiserhauses.  Wir 
sehen  ihn  umgeben  von  seinen  kunsterfahrenen  Rat¬ 
gebern,  einem  Strada,  Miseroni  und  Attemstetter, 
und  gewahren  am  Boden  um  ihn  herum,  sowie  auf 


Eugenia,  der  Tochter  Philipps  11.  von  Spanien.  Sie 
beide  zieren  bekanntlich  in  Meisterwerken  der  Por¬ 
trätmalerei  von  der  Hand  des  Rubens  dessen  welt¬ 
bekanntes  Ildefonsobild  in  der  kaiserlichen  Galerie. 
Einige  hervorragende  Zeitgenossen,  Jordaens  (dem 
Rembrandt  auffallend  ähnlich,  nur  mit  anderem 
Bart),  Daniel  Seghers,  Callot  u.  a.  schließen  sich 


Joh.  Bernh,  Fischers  von  Erlach  und  Daniel  Gran.  Aus  Berger's  Deckenbild. 


dem  Pfeiler  im  Vordergründe  mehrere  der  unter 
ihm  erworbenen  Antiken,  den  Fugger  sehen  Ama¬ 
zonensarkophag  u.  a. 

Der  äußerste  Endpunkt  des  Bildes  rechts  bietet 
uns  die  chronologische  Fortsetzung  zu  der  eben  be¬ 
trachteten  Gruppe.  Hier  werden  wir  in  die  glanz¬ 
volle  Periode  des  Rubens  und  van  Dyck  versetzt, 
ln  ihrer  Mitte  erscheint  der  damalige  Statthalter  der 
Niederlande,  Erzherzog  Albrecht  Vll.  (1559  —  1621) 
mit  seiner  Gemahlin,  der  Infantin  Isabella  Clara 


der  Gruppe  an.  —  Auf  der  Terrasse  links  von  der¬ 
selben,  gegen  die  Mitte  zu,  bemerken  wir  die  in 
blankem  Harnisch  erscheinende  Gestalt  des  Erz¬ 
herzogs  Leopold  Wilhelm  (1614—1662),  des  Haupt¬ 
begründers  der  kaiserlichen  Gemäldegalerie.  Er 
unterhält  sich  mit  seinem  Galeriedirektor  und  Hof¬ 
maler  David  Teniers  d.  J.,  welchem  Adriaen  Brou wer 
beigesellt  ist,  der  glänzendste  Vertreter  des  von  Leo¬ 
pold  Wilhelm  besonders  protegirten  Bauerngenres. 

Den  Schluss  der  historischen  Reihe  und  einen 


150 


DIE  MÄCENE  DER  BILDENDEN  KÜNSTE  IM  HAUSE  HABSBURG. 


mit  sichtlicher  Vorliebe  behandelten  Teil  der  Kom¬ 
position  bilden  die  rechts  im  Vordergründe  versam¬ 
melten  Meister  aus  der  Periode  Kaiser  KaiTs  VL 
(^1685 — 1740).  Der  Monarch,  im  goldenen  spani¬ 
schen  Hofkleide,  das  Federbarett  auf  der  Allonge¬ 
perücke,  steht  inmitten  der  Plattform,  und  vor 
ihm  auf  den  Stufen  kniet,  nur  als  Rückenfigur 
sichtbar  (s.  die  Abbildg.),  der  Baumeister  Jakob 


Den  edlen  Meister  selbst  gewahren  wir  im  Hinter¬ 
gründe  unter  den  Halbfiguren  über  der  mit  einem 
gestickten  Teppich  bekleideten  Balustrade:  er  hat 
das  Modell  der  Bekrönung  seines  Brunnens  mit  der 
sitzenden  Gestalt  der  Hygieia  vor  sich.  Heben  ihm 
erscheint,  in  blauem  Rock,  der  größte  Kunstmäcen 
der  Epoche,  Prinz  Eugen  von  Savoyen.  —  Rechts 
gegen  den  Vordergrund  hin  sind  noch  drei  be- 


Jakob  I'randauftr,  der  Erbauer  von  Molk.  Aus  Berger’S  Deckenbild. 


Prandauer,  iler  Erbauer  des  grandiosen  Klosters 
.Mölk  an  der  Donau,  einen  Plan  dem  Kaiser  zeigend. 
Hinter  dem  .Monarchen  rechts  hält  ein  Page  dessen 
„Nuinmotheca“  in  Buchform,  wie  sie  Karl  selbst 
auf  Reisen  mit  sich  zu  führen  liebte,  um  den  Schatz 
der  kostbaren  griechischen  Goldmünzen  immer  be¬ 
trachten  zu  können.  Links  von  ihm  gewahren  wir 
die  Modellfigur  des  fJnsses  Yblis  von  G.  R.  Donner’s 
schönem  Brunnen  auf  dem  Neuen  Markt  in  Wien. 


rühmte  Persönlichkeiten  zusammengruppirt.  Zur 
Seite  des  gelehrten  Archäologen  und  Numismatikers 
C.  G.  Heraeus,  sitzt  in  braunrotem  Sammetkleide,  der 
liedeutendste  Architekt  des  Barockstils  in  Öster¬ 
reich,  Johann  Bernhard  Fischers  von  Erlach,  ein 
Gemälde  betrachtend,  welches  der  hervorragendste 
österreichische  Maler  jener  Zeit,  Daniel  Gran, 
vor  ihm  auf  den  Boden  stellt  (s.  die  Abbildg.) 
Eine  Gruppe  von  Büchern,  Globen  u.  dergl.  kenn- 


DIE  SAMMLUNG  ITALIENISCHER  BILDWERKE  IM  BERLINER  MUSEUM. 


151 


zeichnet  den  wissenschaftlichen  Charakter  der  Epoche, 
in  der  u.  a.  zu  der  weltberühmten  Wiener  Hofbiblio- 
thek  der  Grund  gelegt  wurde. 

Wir  machen  ungesucht  einen  kleinen  Kursus  der 
Kultur-  und  Kunstgeschichte  durch,  wenn  wir  die  auf 
Berger’s  Bild  versammelten  Personen  nach  ihren 
Namen  fragen.  Ungesucht  und  unbelästigt.  Denn 
der  Ballast  des  geschichtlichen  Stoffes  drängt  sich 
nirgends  erstickend  auf,  alles  bleibt  leicht  verständ¬ 
lich,  klar  und  erfreuend;  unter  dem  blauen,  duftig 
bewölkten  Himmel,  in  den  die  Gestalten  aufragen, 
weht  eine  frische,  echt  künstlerische  Luft. 


Der  Meister  hat  mit  diesem  Werke  seine  volle 
Kraft  für  Aufgaben  echt  historischen  Stils  erprobt. 
Möge  es  ihm  bald  vergönnt  sein,  sie  von  neuem  zu 
bewähren!  Am  nächsten  dafür  läge  wohl  der  Ge¬ 
danke,  ihm  die  schönen  Skizzen  zur  Ausführung  zu 
übertragen,  die  er  vor  Jahren  bereits  für  den  Wiener 
Justizpalast  entworfen  hat.  Besäßen  wir,  was  jüngst 
im  Abgeordneteuhause  verlangt  wurde,  einen  „Mi¬ 
nister  für  die  schönen  Künste“,  so  wäre  das  eine  der 
Aufgaben,  die  er  durchzuführen  hätte! 

C.  A’.  L. 


DIE  SAMMLUNG 

ITALIENISCHER  BILDWERKE  IM  BERLINER  MUSEUM. 


Berliner  Sammlung  ita¬ 
lienischer  Bildwerke  im  alten 
Museum  ist  eine  der  bedeu¬ 
tendsten  ihrer  Art  und  wird 
an  Mannigfaltigkeit  und 
künstlerischem  W erte  weder 
vom  Museo  Nazionale  in 
Florenz  noch  vom  South 
Kensington  Museum  in  London  übertroffen;  der  Re¬ 
naissancesammlung  des  Louvre  in  Paris  hat  sie  be¬ 
reits  den  Rang  abgelaufen. 

Als  1830  Schinkers  Museumsbau  seiner  Bestim¬ 
mung  übergeben  wurde,  war  eine  Abteilung  für 
plastische  Bildwerke  des  Mittelalters  und  der  Re¬ 
naissance  wohl  vorgesehen,  allein  was  an  dahin¬ 
gehörigen  Werken  vorlag,  war  wenig  und  bot  mehr 
ein  kunstgewerbliches  als  ein  rein  künstlerisches 
und  kunstgeschichtliches  Interesse.  Es  waren  gla- 
sirte  Thonarbeiten  der  della  Robbia,  Majoliken,  Glas¬ 
malereien  und  andere  Werke,  die  großenteils  aus 
dem  Nachlasse  der  Sammlung  Bartholdy  in  Rom 
herrührten.  Der  Zuwachs,  den  die  Abteilung  durch 
den  Ankauf  der  Sammlung  Nagler  1835  und  1839 
durch  die  Zuweisung  einiger  plastischer  Bildwerke 
aus  der  alten  Kunstkammer  erhielt,  verstärkte  noch 
den  kunstgewerblichen  Charakter  der  Sammlung, 
erst  die  Erwerbungen  in  Venedig  und  Florenz,  die 
der  Galeriedirektor  Waagen  in  den  Jahren  1841  und 
1842  machte,  haben  den  Grund  zu  der  gegenwärtig 


so  hervorragenden  Sammlung  italienischer  Bildwerke 
gelegt.  Neben  einer  Anzahl  altchristlicher  und  by¬ 
zantinischer  Arbeiten  aus  Venedig  und  seiner  Um¬ 
gebung  brachte  Waagen  als  Beispiele  der  venezia¬ 
nischen  Plastik  eine  sehr  lehrreiche  Gruppe  von 
Denkmälern  zusammen,  Werke  des  15.  Jahrhunderts, 
wie  das  große  Hochrelief  des  heiligen  Hieronymus 
in  der  Art  des  Bartolommeo  Buon  und  die  beiden 
Schildhalter  des  Alessandro  Leopard!  vom  Grabmal 
Vendramin,  dann  Werke  des  Cinquecento,  darunter 
namentlich  Arbeiten  von  Jacopo  Sansovino  und  Ales¬ 
sandro  Vittoria.  Aus  Florenz  wurden  erworben  eine 
Anzahl  zum  Teil  hervorragender  Büsten  in  Marmor, 
Kalkstein  und  Terracotta,  darunter  das  schönste 
weibliche  Bildnis  der  Berliner  Sammlung  (s.  S.  152), 
die  Büste  einer  urbinatischen  Prinzessin  von  Desi- 
derio  da  Settignano. 

Nach  diesen  Erwerbungen  Waagen’s  im  großen 
Stil  erhielt  die  Sammlung  auf  mehrere  Jahrzehnte 
hinaus  nur  durch  einzelne  Zuweisungen,  Geschenke 
und  gelegentliche  Käufe  eine  Mehrung  ihres  Be¬ 
standes.  Erst  nach  dem  französischen  Kriege  kam 
neues  Leben  in  die  Verwaltung  der  königlichen  Mu¬ 
seen,  deren  Protektorat  der  damalige  Kronprinz 
Friedrich  übernahm.  Die  Leitung  der  einzelnen  Ab¬ 
teilungen  des  Museums  wurde  bewährten  Fachmän¬ 
nern  übertragen  und  zur  Vermehrung  der  Samm¬ 
lungen  wurden  erheblich  größere  Geldmittel  auf¬ 
gewandt.  Im  Jahre  1872  wurde  Wilhelm  Bode  die 


152 


DIE  SAMMLUNG  ITALIENISCHER  BILDWERKE  IM  BERLINER  MUSEUM. 


Sorge  für  die  Renaissanceabteilung  des  Museums 
übertragen,  und  seitdem  hat  diese  Sammlung  in 
schnellem  Wachstum  den  hohen  Wert  erlangt,  den 
ihr  heute  die  Kenner  und  Forscher  italienischer  Re¬ 
naissancekunst  zusprechen. 

Mit  unermüdlichem  Eifer  verfolgte  Bode  das 
Ziel  einer  systematischen  Erweiterung  der  plasti¬ 
schen  Sammlung  nach  ihren  hauptsächlichen  Rich¬ 
tungen,  doch  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Renaissanceplastik  Toskanas  im  Quattrocento.  Und 
nicht  nur  sorgte  er  für  die  große  Plastik,  auch  der 
Kleinkunst  wandte  er  eine  Aufmerksamkeit  zu,  die 
in  den  betreffenden  Abteilungen,  den  Bronzen  und 
Plaketten  in  kurzer  Zeit 
Sammlungen  bildete,  die 
den  berühmtesten  ähn¬ 
lichen  des  Auslandes  den 
Rang  streitig  machen. 

Der  Ankauf  einer  grö¬ 
ßeren  Anzahl  von  Original¬ 
skulpturen  bereicherte  1877 
das  Museum  mit  hervor¬ 
ragenden  Marmor  büsten 
aus  dem  Palazzo  Strozzi, 
mit  charakteristischen 
Hauptwerken  des  Deside- 
rio  da  Settignano,  des  Mino 
da  Fiesoie  und  des  Bene- 
detto  da  Majano.  Kurz 
vorher  war  die  bemalte 
Stuckbüste  des  Giovatini 
Bucellai  erworben  worden; 

1878  folgte  die  Bronze¬ 
statuette  .lohannes  des 
Täufers  von  Donatello 
(s.  S.  155),  dann  die  dem 
Donatello  nahestehende 
unci.selirte  Büste  des  Lu- 
dovico  Gonzaga  HL;  1879  ein  anmutiges  Jugendwerk 
Miclielangelo’s,  der  jugendliche  Johannes  der  Täufer. 
Waren  so  eine  Anzalil  ausgezeichneter  Meisterwerke 
vereinigt  wtjrden,  so  riclitete  sich  das  Ziel  der  Er¬ 
werbungen  in  den  folgenden  Jahren  besonders  auf 
die  Anlegung  einer  Sammlung  altberaalter  Stuck¬ 
reliefs  und  Thonabdrücke  von  meist  verloren  gegan¬ 
genen  Marmor-  oder  Bronzeoriginalen.  Gegenwärtig 
ist  diese  Berliner  Sammlung  die  reichste  der  Art. 

Zur  gleichen  Zeit  brachte  die  Plrwerbung  einer  um¬ 
fangreichen  Sammlung  von  Plaketten,  die  der  Floren¬ 
tiner  Händler  Bardini  vereinigt  hatte,  neuen  Zu¬ 
wachs;  und  neben  den  Vermehrungen  der  anderen 


Bestände,  der  Marmor-,  Bronze-  und  Thonwerke, 
wurde  noch  in  den  letzten  Jahren  der  Grund  zu 
einer  höchst  wertvollen  Sammlung  von  Werken  der 
italienischen  Kleinplastik  in  Bronze  gelegt. 

Bei  diesem  stetigen  Wachsen  der  Sammlung 
machte  sich  mehr  und  mehr  das  Bedürfnis  nach 
Licht  und  Raum  für  die  in  gedrängter  Häufung 
aufgestapelten  Kunstschätze  geltend.  Schon  hatten 
die  Werke  deutscher  Skulptur,  die  anfänglich  mit 
den  italienischen  Arbeiten  zusammen  aufgestellt 
waren,  dem  Platzmangel  weichen  müssen,  um  im 
Souterrain  des  Museums  einen  Ehren winkel  zu  finden. 
Es  genügte  der  rasch  sich  mehrenden  Sammlung 

auch  nicht,  dass  ihr  einige 
Kabinette  der  Antiken¬ 
abteilung  eingeräumt  wur¬ 
den.  Erst  durch  die  An¬ 
lage  eines  langgestreckten 
Anbaues  mit  Oberlicht,  der 
auf  eisernen  Trägern  in 
einem  der  beiden  Licht¬ 
höfe  des  alten  Museums 
eingebaut  worden  ist,  ge¬ 
lang  es,  wenigstens  einen 
Teil  der  plastischen  Werke 
in  einer  Weise  aufzustellen 
die  ihre  Qualitäten  zu 
besserer  Wirkung  kommen 
lässt. 

Die  Folge  dieses  Er¬ 
weiterungsbaues  ist  eine 
durchgehende  Neuaufstell¬ 
ung  der  ganzen  Sammlung 
gewesen,  die  indes  ihren 
provisorischen  Charakter 
offen  bekennt.  Denn  weder 
ermöglichte  die  Disposition 
der  einzelnen  Räume  die 
Einhaltung  einer  streng  systematischen  Ordnung,  noch 
waren  hinreichende  Mittel  zur  Hand,  um  die  Werke  in 
einer  ihrem  hohen  künstlerischen  Werte  entsprechen¬ 
den  Ausstattung  des  Raumes  aufzustellen.  War  man 
also  gezwungen,  in  der  historischen  Anordnung  der 
Skulpturen  auf  eine  chronologisch  fortschreitende 
Entwickelung  zu  verzichten,  so  war  man  dagegen 
bestrebt,  die  Hauptwerke  wenigstens  so  zur  Geltung 
zu  bringen,  dass  sie  in  möglichst  guter  und  ent¬ 
sprechender  Beleuchtung  wirken.  Und  das  ist  doch 
eine  wichtigere  Rücksicht,  als  die  Beachtung  des 
„organischen  Entwickelungsganges“,  dessen  einseitige 
Befolgung  mehr  das  Talent  eines  datenfesten  Maga- 


Kalksteinbüste  einer  nrbinatischen  Prinzessin. 
Von  Desiderio  da  Settignano. 


DIE  SAMMLUNG  ITALIENISCHER  BILDWERKE  IM  BERLINER  MUSEUM.  153 


ziniers  erfordert,  als  eines  Kenners  und  Beamten,  der 
nicht  aufhören  soll,  ein  Kunstfreund  zu  sein. 

Die  Eröffnung  der  Kaiserlichen  Kunstsammlun¬ 
gen  in  Wien  hat  die  Fragen  nach  der  wünschens¬ 
werten  Beschaffenheit  eines  Museums  und  nach  der 
Art  und  Weise  der  Aufstellung  von  Kunstgegen¬ 
ständen  neu  belebt  und ,  Gott  sei  Dank ,  jetzt  dahin 
gekommen,  dass  der  ärgste  Fehler  jener  Sammlung,  die 
Aufstellung  der  Gemäldegalerie,  berichtigt  werden 


italienischen  Skulpturen  im  Berliner  Museum  ist 
keine  Antwort  auf  die  Wiener  Vorgänge;  mit 
sehr  bescheidenen  Mitteln  schuf  man  einen  den 
Raum  erweiternden  Notbau  und  hatte  in  der  Aus¬ 
stattung  dieses  neuen  Saales  nicht  die  Absicht,  eine 
mustergültige  Probe  dessen  zu  bieten ,  was  in  dem 
seit  langem  geplanten  Neubau  des  Berliner  Museums 
seinerzeit  soll  geleistet  werden.  Aber  so  bescheiden 
sich  der  neue  Raum  auch  darbietet,  so  wird  der 


Die  Stäupung  Gliristi.  Marmorrelief  vou  Donatello. 


soll.  Man  wird  die  Bilder  umhängen,  man  wird 
sie  besser  zur  Wirkung  bringen  und  verständiger 
taufen ,  aber  man  wird  die  vorlaute  Dekoration  der 
Bildersäle  des  Hofmuseums  nicht  los  werden,  so 
wenig  man  sich  des  Prunkes  im  Erdgeschoss 
erwehren  konnte,  wo  die  plastischen  und  kunst¬ 
gewerblichen  Sammlungen  des  Allerhöchsten  Kaiser¬ 
hauses  zum  Teil  in  wahrhaft  mustergültiger  Weise 
gruppirt  worden  sind.  Die  Neuaufstellung  der 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


vorurteilsfreie  Betrachter  doch  gestehen,  dass  hier 
mit  wenigem  etwas  geschaffen  worden  ist,  das  in 
der  That  Achtung  verdient,  und  das,  so  viele  am 
einzelnen  mäkelnde  Stimmen  sich  auch  äußern  mögen, 
doch  im  allgemeinen  nicht  nur  die  Zustimmung  der 
Fachgenossen,  sondern  auch  der  Künstler  und  Kunst¬ 
freunde  gefunden  hat. 

Man  kann  sagen,  dass  die  Skulpturen  nach  den 
Bedingungen  der  Beleuchtung  in  drei  verschiedene 

20 


154 


DIE  SAMMLUNG  ITALIENISCHER  BILDWERKE  IM  BERLINER  MUSEUM. 


Gruppen  sind  verteilt  worden.  In  denvier  AaimeWe^ides 
Westsaales,  die  von  der  antiken  Abteilung  abgetrennt 
worden  sind,  haben  in  gutem  Seitenlicht  die  Ar¬ 
beiten  in  Marmor,  die  bell  bemalten  Stückarbeiten 
und  die  Robbiawerke  Platz  gefunden.  Auf  matt¬ 
blauem  Stoffgrund  beben  sieb  die  Büsten,  Reliefs 
und  Statuen  vortrefflicb  ab;  so  viel  wie  möglich, 
suchte  man  der  Uberfüllung  zu  entgehen  und  suchte 
Zusammengehöriges  möglichst  zusammen  zu  halten. 
Die  Rückwand  des  vierten  Kabinetts,  auf  das  der 
Mittelgang  führt,  zeigt  in  wirkungsvoller  Gruppirung 
als  point  de  vue, 
entsprechend  der 
mächtigen  Athe- 
na  aus  Pergamon 
in  der  Abteilung 
der  Antiken,  die 
zwei  schlanken 
Schildh alter  vom 
Gral)mal  Vendra- 
min,  dazwischen 
die  herrliche 
Büste  des  Otta- 
vio  Grimani  von 
AlessandroVitto- 
riaund  darüber  in 
prächtigem  Ba¬ 
rockrahmen  ein 
Hochrelief  in  ge¬ 
branntem  Thon, 

Maria  mit  dem 
Kinde,  von  San- 
sovino. 

Die  daran- 
sl  obende  Halle 
(Zwiscbensaal) 
hat  die  ungün¬ 
stigste  Beleuch¬ 
tung,  denn  nur 
vom  Hofaus  erhält  sie  rellektirtes  Licht.  Hier  haben 
all(!rdings  in  starker  Häufung  die  mittelalterlichen 
Werke,  altchrkstliche,  byzantinische,  venezianische, 
.Aufstellung  gefunden  und  dazu  eine  Menge  solcher 
Wf-rke  verschiedener  Gattung,  deren  künstlerischer 
Wert  nicht  derart  ist,  dass  ilinen  unter  allen  Um¬ 
ständen  günstigere  Plätze  müssten  angewiesen  werden, 
liier  vor  allem  galt  der  Satz:  Das  Bessere  ist  der 
^'eind  des  Guten! 

An  diesen  verhältnismäbig  ungünstigen  Aus- 
.stellungsraum  schliebt  sich  der  neue  Anbau  mit 
hellem  Oberlicht  an.  Die  Wände  sind  matt  grau¬ 


grün  getönt,  ein  aufschablonirtes  Muster,  das  Me¬ 
diceerwappen  in  bleichem  Gold,  belebt  diesen  neu¬ 
tralen  Grund  der  Wände,  die  unten  von  einem  oliv¬ 
grünen  Sockel  umzogen  sind  und  auf  beiden  Seiten 
von  zwei  vertikalen  Streifen  desselben  Stoffes  wie 
von  Pilastern  in  Felder  geteilt  werden.  Die  Ab¬ 
schlusswand  hat  einen  eigenartigen  Wandschmuck 
erhalten  von  höchstem  dekorativen  Reiz  und  gröbtem 
künstlerischen  W ert.  Hier  entfaltet  ein  altpersischer 
Teppich  vom  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  das  bunte 
Spiel  einer  im  roten  Mittelfeld  chinesischen,  im 

übrigen  persi¬ 
schen  Formen¬ 
sprache.  Es  ist 
ein  mächtiger 
Seidenteppich, 
matt  und  vor¬ 
nehm  in  der 
Farbe,  er  dient 
einem  der  ent¬ 
zückendsten 
W erke  farbiger 
Thonplastik  zum 
Hintergrund,  der 
lebensgroßen 
Statue  der  Maria 
mit  dem  Kinde 
von  Benedetto  da 
Majano,  die  auf 
hohem  Posta¬ 
ment  königlich 
thront.  Rechts 
und  links  von 
diesem  Werke 
stehen  auf  hohen 
Pfeilern  zwei 
feine  Marmor¬ 
büsten  ,  das  rei¬ 
zende  Bildnis 
einer  Prinzessin  von  Neapel  von  Francesco  Laurana  und 
die  Büste  eines  florentinischen  Edelmannes  von  An¬ 
tonio  Rossellino.  Die  übrigen  Werke  dieser  Schluss¬ 
wand  sind  bemalte  Stuckreliefs  von  Michelozzo, 
Luca  della  Robbia  u.  a. 

Die  beiden  Längswände  des  Oberlichtsaales  haben 
je  einen  mächtigen  Kamin,  links  aus  istrischem  Kalk¬ 
stein  in  der  Art  des  Jacopo  Sansovino,  rechts  in 
grünem  Sandstein  von  Francesco  di  Simone  als 
dekorative  Mittelstücke.  Über  diesen  Kaminen  haben 
zumeist  gröbere  Bronzestatuetten  und  Gruppen  ihren 
Platz  erhalten,  und  darüber  ziehen  sich  zwei  italienische 


DIE  SAMMLUNG  ITALIENISCHER  BILDWERKE  IM  BERLINER  MUSEUM. 


155 


Verduren  hin.  In  geschlossenen  Gruppen  haben  an 
den  so  gegliederten  Wänden  die  mannigfaltigen 
Werke  der  Thonplastik,  bemalt  und  unbemalt,  in 
guter  Beleuchtung  Aufstellung  gefunden.  Dazu,  auf 
Pfeilern  emporgehoben,  eine  Anzahl  von  Büsten  und 
einstweilen  auf  Bortbrettern,  in  Kästen  und  einem 
Schrank  eine  Auswahl  von  Plaketten,  sowie  die  große 
Sammlung  von  kleinen  Bronzewerken,  an  denen  das 
Berliner  Museum  jetzt  so  reich  ist. 

Ist  auch  in  dem  neuen  Saal  noch  nicht  alles 
an  seinem  rechten  Platz  —  die  Bronzen  werden  in 
neuen  Schränken  aufgestellt  werden  —  und  der 
Schmuck  des  Raumes,  besonders  des  Bodenbelags, 
noch  nicht  vollendet,  so  giebt  er  doch  ein  fertiges 
Bild,  ladet  in  freundlichem  Licht  zur  Betrachtung 


und  zum  Studium  einer  Reihe  von  Werken  ein,  wie 
sie  in  edlerem  Verein  nicht  können  vorgestellt  werden. 
Indem  wir  den  Versuch  machen,  einen  Überblick  über 
den  Reichtum  der  Berliner  Sammlung  an  Werken 
hervorragender  Meister  der  Renaissance  in  diesen 
Blättern  zu  geben,  haben  wir  nicht  die  Absicht,  das 
namentlich  aus  Bode’s  grundlegenden  Studien  zui 
Geschichte  der  italienischen  Plastik  bekannt  Gewor¬ 
dene  von  neuem  darzulegen,  sondern  wir  werden 
uns  namentlich  bei  denjenigen  Werken  aufhalten, 
die  entweder  in  jüngster  Zeit  Gegenstand  gelehrter 
Diskussion  gewesen  sind  oder  die  erst  unlängst  als 
neue  Erwerbungen  zur  Aufstellung  gelangt  sind. 

RICHARD  GRAUL. 


Johannes  der  Täufer.  Bronzestatiiette  von  Donatello. 


20* 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


EIT  dem  Berichte,  den  H. 
Heydemann  über  neugefun- 
deue  Antiken  in  dieser  Zeit¬ 
schrift  gegeben  hat  (N.  F. 
I  S.  117),  ist  nicht  bloß  in 
dem  griechischen  Mutter¬ 
lande,  sondern  auch  in  Sici- 

lien  eine  Reihe  höchst  inter¬ 
essanter  Denkmäler  an  das  Tageslicht  gefördert 

worden,  die  sachlich  und  kun.stgeschichtlich  von 
hervorragender  Bedeutung  sind.  In  erster  Linie  sind 
wegen  ihres  hohen  Altertums  die  in  Vaphio,  dicht 
bei  dem  alten  Amyklae,  gemachten  Funde  hervor- 
zulieben.  Sie  stammen  aus  einem  von  Tzuntas  im 
Aufträge  der  Griechischen  Archäologischen  Gesell¬ 
schaft  1889  untersuchten  Kuppelgrabe,  dessen  Wände 
aus  kleinen,  wie  es  scheint,  nur  wenig  bearbeiteten 
und  mit  Lehm  verbundenen  Steinen  aufgemauert 

.sind.  Da  wo  man  vom  Dromos,  dem  langen  zum 
Grabe  führenden  Gang,  aus  in  das  Grab  eintrat, 
fäud  sich  eine  tiefe  Grube  ausgehoben,  deren  Be¬ 
stimmung  (loch  wahrscheinlich  die  gewesen  ist  den 
dargehrachteii  Totenopfern  einen  schnellen  Eingang 
zur  Unterwelt  zu  verschaffen.  Innerhalb  des  Kuppel- 
grahes  waren  verschiedene  Lagen  mit  Kohlen  durch¬ 
setzter  Erde  zu  unt(;rscheiden,  auch  fanden  sich  ver¬ 
schiedene  Kostbarkeiten,  z.  B.  mehrfache  geschnit¬ 
tene  Steine,  über  den  ganzen  Raum  hin  verstreut, 
doch  die  1  lau])tbeut,e  stammt  aus  einer  innerhalb 
d(!.s  Kujipelgrabes  angebrachten  Vertiefung,  in  der 
man  die  dem  Totmi  mitgegebenen  Gegenstände  in 
größter  Vollständigkeit  und  ziemlich  guter  Erhaltung 
vorfand.  V  or  allem  verdienen  daraus  zwei  goldene 
Becher  mit  getriebener  Arbeit  hervorgehoben  zu 
werden  (Fig.  1),  auf  denen  das  Einfangen  und  die 
Zähmung  wilder  Stiere  dargestellt  ist.  Zwischen  zwei 
Bäumen  ist  ein  Netz  aufgespannt,  in  dem  sich  ein 
Stier  gefangen  hat;  während  dieser  kläglich  brüllend 
sein  Haupt  erhebt,  entflieht  ein  anderer,  durch  sein 


Beispiel  gewarnt,  in  wilden  Sätzen  nach  rechts; 
links  vom  Netz  weiß  ein  dritter  Stier  .sich  seiner 
Gegner,  die  für  einen  Augenblick  sich  seiner  be¬ 
mächtigt  hatten,  zu  entledigen,  indem  er  den  einen 
zu  Boden  wirft,  den  andern  auf  die  Hörner  nimmt. 
Friedlicher  gestaltet  sich  die  Scene  auf  dem  zweiten 
Becher;  dort  sind  vier  Stiere  dargestellt,  von  denen 
einer  von  einem  Mann  am  linken  Hinterfuß  gefesselt 
wird,  während  die  andern  ruhig  weiter  weiden.  Über¬ 
raschend  ist  die  frische  Auffassung  und  treue  Wieder¬ 
gabe  der  natürlichen  Erscheinung,  die  in  der  Dar¬ 
stellung  des  Terrains  und  der  Verkürzung  des  ge¬ 
fangenen  Stieres  namentlich  hervortritt.  Die  Männer 
sind  sämtlich  mit  lang  in  den  Rücken  hinabfallen¬ 
den  Haaren  dargestellt,  als  Bekleidung  dient  ihnen 
ein  Schurz  in  der  Lendengegend  und  Sandalen,  deren 
Riemen  hoch  hinauf  um  die  Beine  gewickelt  sind; 
Haartracht  und  Kleidung  ist  also  genau  die.selbe, 
wie  die,  welche  der  über  dem  Stier  schwebende 
Mann  auf  dem  Tirynther  Wandgemälde  zeigt.  Aber 
an  Vorzüglichkeit  der  Darstellung,  an  Lebendigkeit 
der  Wiedergabe  sind  die  Becher  aus  Vaphio  dem 
Wandgemälde  weit  überlegen.  Auch  mit  den  Dar¬ 
stellungen  auf  den  bekannten  Dolchklingen  von 
Mykenae  sind  viele  Anknüpfungspunkte  vorhanden. 

Uber  die  Frage,  von  welchem  Volke  diese  Denk¬ 
mäler  herrühren,  gehen  die  Meinungen  vielfach  aus¬ 
einander.  Während  die  einen  die  Anfänge  griechi¬ 
scher  Kunst  in  ihnen  sehen  wollen,  weisen  andere 
auf  Asien  mit  seiner  hittitischen  Kunst  hin,  indem 
sie  die  Bäume,  die  zwischen  die  Darstellung  verteilt 
sind  (Palmen  und  Ölbäume,  die  nach  v.  Helm  zu 
Homers  Zeit  noch  Griechenland  gefehlt  haben), 
gegen  griechischen  Ursprung  ins  Feld  führen.  Für 
die  Zeit,  in  der  man  sich  diese  Becher  entstanden 
denken  kann,  ist  die  Hinweisung  auf  Teil  el  Amarna 
in  Ägypten,  die  Rezidenz  des  Ketzerkönigs  Amen- 
hotej)  IV.,  wo  in  Erfindung  und  Ausführung  ähn¬ 
liche  Denkmäler  zum  Vorschein  gekommen  sind. 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


157 


nicht  ohne  Bedeutung  (14.  Jahrh.  v.  Ohr.),  allein 
damit  ist  die  andere  Frage,  ob  griechischer  oder 
nicht  griechischer  Ursprung  für  diese  Denkmäler 
anzunehmen  ist,  immer  noch  nichts  entschieden,  denn 
die  in  Teil  el  Amarna  auftretenden  Kunstwerke  sind 
von  allen  vorher  und  nachher  in  Ägypten  üblichen 
Kunstweisen  so  sehr  abweichend,  dass  wir  für  sie 
gleichfalls  Anregung  von  außen  und  auswärtigen 
Einfluss  annehmen  müssen.  Warum  soll  man  aber 
den  Griechen,  d.  h.  den  zu  jener  Zeit  in  Griechen¬ 
land  lebenden  Stämmen,  die  Möglichkeit  abstreiten, 


gefundenen  Gerätschaften  befand  sich  das  Fragment 
eines  silbernen  Gefäßes,  dessen  Außenseite,  wie  erst 
jetzt  bei  der  Reinigung  erkannt  ist,  mit  höchst  in¬ 
teressanten  Reliefs  verziert  ist.  Dargestellt  ist  die 
Belagerung  einer  Stadt.  W  ährend  oben  die  Frauen 
der  Furcht  und  dem  Entsetzen,  das  sie  über  das 
Herannahen  der  Feinde  empfinden,  durch  Jammer 
und  Wehklagen  deutlichen  Ausdruck  geben,  sind 
ihre  Männer  unten  vor  der  Mauer  versammelt,  um 
durch  Schleudern  von  Steinen  und  Pfeilschüsse  die 
Angreifer  zurückzutreiben.  Sowohl  Schleuderer  als 


Kig.  1.  Die  beiden  Beeüer  von  Vapliio. 


diese  Kunstwerke  hervorgebracht  zu  haben?  Es 
scheint,  dass  um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrtausends 
V.  Chr.  die  ganze  Küste  der  östlichen  Hälfte  des 
Mittelmeeres  einer  gleichartigen  Kultur  sich  erfreute, 
die  demnach  in  Amyklae  wie  in  Mykenae,  Tiryns, 
Troja  u.  s.  w.  gleiche  Erzeugnisse  hervorrufen  konnte. 
Dieser  Kultur  wurde  durch  die  sogenannte  dorische 
Wanderung  ein  jähes  Ende  bereitet. 

Den  Bechern  von  Vaphio  gesellt  sich  noch  ein 
anderes  Denkmal  ungefähr  gleicher  Zeit  hinzu,  das 
schon  längst  gefunden,  aber  erst  neuerdings  in  seiner 
Bedeutung  erkannt  worden  ist.  Unter  den  in  Mykenae 


auch  Pfeilschützen  sind  ganz  nackt  dargestellt,  während 
zwei  dahinterstehende  Männer,  die,  wie  es  scheint, 
Speere  iii  der  rechten  Hand  halten,  mit  einer  Art 
Chiton  bekleidet  scheinen,  falls  nicht  etwa  Schilde 
gemeint  sind,  mit  denen  sie  ihre  Körper  schützen. 
Ein  nur  zum  Teil  erhaltener  Krieger  am  unteren 
Rande  trägt  auf  dem  Haupte  einen  merkwürdigen, 
in  Etagen  sich  aufbauenden  und  oben,  scheint  es, 
mit  wehender  Feder  verzierten  Helm.  Auch  bei 
diesem  Stück  ist  das  Terrain  sorgfältig  angegeben, 
man  gewahrt  deutlich  das  nach  der  Stadt  hin  an¬ 
steigende  Gelände,  das  mit  Gräsern  und  Bäumen 


158 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


(offenbar  sind  wieder  Olbäume  gemeint)  bewachsen 
ist.  Von  den  andringenden  Feinden  ist  leider  durch 
den  Bruch  des  Gefäßes  keine  Spur  erhalten. 

Gegen  die  Meinung,  dass  derartige  Gefäße  auch 
in  Griechenland  gefertigt  sein  könnten,  wird  häufig 
mit  scheinbarem  Recht  der  Umstand  angeführt,  dass 
bei  Homer  alle  kostbareren,  durch  Kunstwert  hervor¬ 
ragenden  Stücke  ausdrücklich  als  eingeführt,  von 
den  Phöniziern  erworben  bezeichnet  werden.  Aber 
was  für  Homer  gilt,  braucht  nicht  für  die  voraus¬ 
gehende  Zeit  richtig  zu  sein.  Die  durch  die  Aus- 
grabungen  von  Mykenae,  Tiryns  und  Vaphio  ans 
Licht  gezogenen  Denkmäler  hängen  derartig  iinter- 
einander  zusammen 
und  sind  so  sehr 
aus  gemeinsamem 
Boden  erwachsen, 
dass  es  nicht  an¬ 
geht,  das  eine  oder 
andere  Stück  daraus 
für  eingeführt  zu 
halten ,  während 
man  für  andere, 
z.  B.  die  Thon¬ 
waren,  die  Wand¬ 
malerei  und  dergl., 

Wrfertigung  an 
Ort  und  Stelle  an- 
nehnien  muss. 

Einer  sehr  frü¬ 
hen  Zeit  griechi¬ 
scher  Skulptur  ge¬ 
hören  auch  die'  in 
Selinunt  zum  Vor¬ 
schein  gekomme¬ 
nen  .Metopen  an, 
die  in  den  Monum. 
ant.  piibbl.  per  ciira 
dci  Lincei  Bd.  I,  S.  2-15  und  ‘.157  veröffentlicht  und 
hesproclien  sind.  Am  10.  ß’ebruar  1801  fand  man 
in  Selinimt  nicht  weit  von  dem  halbkreisförmigen 
'rnnne,  der  lälsclilich  für  ein  The.ater  angesehen 
wird,  drei  Metopen.  1.  h,  0,81  m,  br.  0,G9  m 
Euroj)a  auf  dem  Stier.  2.  h.  0,81  m,  br.  0,64  m 
geflügelte  Spbin.x.  b.  0,81  m,  l)r.  0,70  m  Herakles 
mit  ilem  Stier.  Letztere  ist,  um  den  Stein  für 
dia  Neu  Verwendung  ])assend  zu  machen,  im  Alter¬ 
tum  ab.sicbtlicb  zerschlagen  worden,  so  dass  man 
nur  noch  dürftige  Spuren  des ,  wie  es  scheint, 
auf  der  Erde  knieenden  Helden,  der  den  Stier  zu 
Roden  gezwungen  hat,  erkennen  kann.  Um  so 


besser  sind  die  beiden  anderen  Metopen  erhalten. 
Die  Sphinx  mit  Menschenkopf,  von  dem  das  Haar 
in  langen  Locken  über  Rücken  und  Schultern  herab¬ 
fällt,  steht  ruhig  e.  pr.  nach  rechts,  nach  rechts 
schwimmt  auch  der  Stier,  der  die  Europa  trägt,  aber 
er  wendet  den  Kopf  herum  dem  Beschauer  zu; 
dass  er  schwimmt,  hat  der  Bildhauer  nicht  bloß 
durch  zwei  unter  dem  Leibe  des  Stieres  sichtbare 
Fische,  sondern  auch  dadurch,  dass  der  Stier  nur 
mit  dem  Rande  seiner  Füße  den  Boden  berührt, 
auszudrücken  gewusst.  Auf  seinem  Rücken  sitzt 
in  gewöhnlicher  Stellung,  d.  h.  eine  Hand  auf  den 
Rücken  des  Stieres  stützend,  während  sie  mit  der 

anderen  sich  an 
einem  Horn  fest¬ 
hält,  Europa,  mit 
Chiton  und  darüber 
mit  einer  Art  Um¬ 
hang  bekleidet,  der 
nach  Art  eines  rad¬ 
förmigen  Kragens 
über  Brust  und 
Schulter  fällt;  ihr 
dichtes  Haar  ist 
gleich  hinter  dem 
Hinterkopf  durch 
ein  Band  zusam¬ 
mengenommen  und 
fällt  dann  in  dicken 
Strähnen  in  den 
Rücken  und  über  die 
Schultern  hinab. 

Äußerst  wich¬ 
tig  sind  die  Farbe¬ 
spuren,  die  bei  der 
Auffindung  noch 
deutlich  vorhanden 
waren.  Der  Grund 
war  rot  gemalt,  ebenso  das  Innere  der  Stierobren, 
auch  die  Augen  desselben  waren  bemalt,  sowie 
auch  ira  Schwänze  Farbenreste  noch  sichtbar  sind. 
Dass  auch  das  andere  bemalt  war,  darüber  kann 
bei  dem  ganzen  Charakter  der  Zeichnung  gar 
kein  Zweifel  sein ,  wenngleich  der  Berichterstatter 
über  die  Auffindung  der  Metopen  in  den  Monum. 
ant.  ])ubbl.  ])ercura  dei  Lincei  I,  S.  957  die  am  Fuße 
des  Herakles  sichtbaren  Farbespuren  auf  ein  Ver¬ 
sehen  des  Malers  beim  Färben  des  Grundes  zurück¬ 
führt. 

Die  gleichen  Höhenmaße  lassen  erkennen,  dass 
alle  drei  Metopen  einst  ein  und  demselben  Bau- 


Fig.  2.  Der  Kanipl'  iiiii  die  Stadt..  Oefällfragmeiit  ans  Mykeuae. 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


159 


werke  angeliörten;  die  Breitenmaße  konnten  und 
mussten  verschieden  sein,  da  ja  auch  die  Inter- 
kolumnien  immer  verschieden  sind;  während  nämlich 
in  der  Mitte  die  Säulen  weiter  auseinanderstehen, 
pflegen  sie  nach  den  Enden  hin  mehr  an  einander 
gedrängt  zu  werden.  Was  für  ein  Tempel  das  war, 
vermögen  wir  nicht  anzugeben,  immerhin  lässt  sich 
vermuten,  auf  Grund  der  jetzt  vorliegenden  Skul¬ 
pturen,  dass  er  im  6.  Jahrh.  v.  Chr.  entstanden  ist, 


sich  die  Größe  desselben  auf  0,25  m  berechnen,  so 
dass  die  Metope  eine  ursprüngliche  Höhe  von 
0,850  m  gehabt  haben  muss.  Von  welchem  Tempel 
sie  stammt,  ist  ebensowenig  wie  bei  den  drei  anderen 
zu  bestimmen,  aber  jedenfalls  muss  er  in  der  Nähe 
gelegen  haben,  da  Hermokrates  zur  Herstellung 
seiner  Befestigungen  vor  allem  das  Material  nahe 
gelegener  Ruinen  benutzt  haben  wird.  Der  Stein 
ist  Porosstein,  aus  den  Steinbrüchen  von  Menfi,  die 


denn  in  diese  Zeit,  und  wohl  mehr  nach  dem  Anfang 
des  6.  Jahrhunderts  hin,  scheinen  die  Vorgefundenen 
Metopen  zu  gehören. 

Einer  etwas  jüngeren  Zeit  gehört  die  am  25.  Mai 
1890  bei  der  Bloßlegung  der  nach  409  von  Hermo¬ 
krates  wiederhergestellten  Ringmauern  und  Türme 
gefundene  Tempelmetope  an,  0,745  m  breit  und 
0,625  m  hoch;  das  untere  Stück  ist  abgebrochen 
und  bis  jetzt  nicht  wieder  aufgefunden,  doch  lässt 


auch  zu  den  anderen  Metopen  das  Material  geliefert 
haben;  es  lässt  sich  noch  erkennen,  dass  man  die 
verschiedenen  in  dem  Steine  vorhandenen  Löcher 
durch  Einflickung  von  rundlichen  Brocken  auszu¬ 
füllen  bemüht  gewesen  ist  (vgl.  die  rechte  Schulter 
und  den  scheinbaren  Nabel),  ein  Verfahren,  das  man 
ohne  jede  Gefahr  anwenden  konnte,  da  die  darauf 
angebrachte  Bemalung  die  Spuren  des  Flickens 
völlig  verbarg.  Auf  der  Metope  sind  zwei  Gestalten 


160 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


erhalten,  eine  Frau,  die  mit  fein  gefälteltem  Chiton 
nnd  darüber  mit  einem  Peplos  bekleidet  ist,  der 
schleierartig  über  das  Hinterhaupt  gezogen  ist  und 
von  da  über  Rücken  und  Schultern  shawlartig 
herabfällt,  und  ein  Jüngling,  der  mit  einem  fein¬ 
gefältelten  Chiton  und  darüber  mit  einer  auf  der 
rechten  Schulter  zusammengehaltenen  Chlamys  be¬ 
kleidet  ist;  sein  Haar,  das  in  kurzen  Locken  rings 
um  den  Kopf  angeordiiet  ist,  ist  mit  einem  Petasos 
bedeckt.  Die  Göttin,  denn  um  eine  solche  handelt 
es  sich  offenbar,  erinnert  wegen  der  Stephane  auf 
dem  Haupte  und  des  schlicht  nach  hinten  ge- 


Hand  hielt  er  wohl  das  Kerykeion,  den  Herolds¬ 
stab.  Trotz  aller  Zerstörung,  die  der  Oberfläche 
widerfahren  ist,  lässt  sich  noch  die  Schönheit  der 
Zeichnung  und  die  Lebendigkeit  und  Natürlichkeit 
der  Bewegung  herausfühlen,  so  dass  man  trotz  des  in 
den  Falten  der  Gewänder  und  in  den  Haaren  zu 
Tage  tretenden  Archaismus  das  Bildwerk  nicht  zu 
hoch  hinaufsetzen  darf.  Es  scheint  mir,  dass  die 
Metope  etwas  vor  450  v.  Chr.  anzusetzen  ist. 

Gleichfalls  ein  Werk  der  strengen  Kunst,  das 
erst  neuerdings  bekannt  geworden  ist,  tritt  uns  in 
Fig.  5  (nach  Bull,  de  Corr.  Hell.  1891,  T.  9)  ent- 


Fig.  4.  Hera  mul  Hermes.  Metope  ans  Seli)iunt. 


strichenen  Haares  am  meisten  an  Hera,  doch  spricht 
gegen  die  Deutung  auf  diese  Göttin  die  Lebhaftig¬ 
keit  der  Haltung  (sie  hat  den  linken  Ful.i  offenbar 
auf  eine  Erhöhung  gesetzt,  nnd  während  sie  die 
rechte  Hand  au  die  Hüfte  legt,  streckt  sie  den 
linken  Arm  befehlend  oder  anweisend  nach  dem 
Jüngling  aus),  so  dass  die  Benennung  bis  auf  weiteres 
fraglich  bleiben  muss.  Sicherer  lässt  sich  der  Jüng¬ 
ling  benennen,  es  ist  Hermes,  der  den  Kopf  der 
Höttin  noch  zuwendet,  um  ihre  Weisungen  zu 
empfangen,  während  er  sich  schon  zum  Weggehen 
rü.stet.  Her  rechte  Arm  lag  vor  dem  Leibe,  in  der 


gegen;  es  ist  eine  Bronze  der  Sammlung  Carapanos  in 
Athen,  sie  stellt  eine  auf  niederer  Basis  stehende 
Frau  dar,  die  mit  einem  leinenen  ionischen  und 
darüber  einem  wollenen  dorischen  Chiton  mit  Über¬ 
schlag  bekleidet  ist;  während  die  Falten  des  leinenen 
Chitons  in  einem  Bündchen  am  Halse  zusammen¬ 
genommen  sind,  ist  der  dorische  Chiton  auf  den 
Schultern  zusammengeheftet  nnd  umgiebtden  Körper, 
indem  er,  ohne  durch  einen  Gürtel  zusammengehalten 
zu  sein,  in  breiten  regelmäßigen  Falten  bis  zu  den 
Füßen  herabfällt,  so  dass  man  fast  den  Eindruck  von 
Kannelüren  einer  ionischen  Säule  gewinnt.  Das 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


161 


Haar  ist  durch  einen  Scheitel  in  der  Mitte  geteilt 
und  von  da  in  schlichten  Wellen  nach  hinten  ge¬ 
strichen  und  durch  ein  Band,  das  hinten  um  den 
Schopf  herumgewunden  ist,  über  der  Stirn  zusammen¬ 
gehalten.  Beide  Oberarme  sind  fast  gleichmäßig 
an  den  Körper  angelegt  und  die  Unterarme  halb 
seitwärts  nach  vorn 
ausgestreckt ;  wahr¬ 
scheinlich  hielt  die 
rechte ,  etwas  zer¬ 
störte  Hand ,  eine 
Blume  Die  Füße 
sind  ohne  Sanda¬ 
len.  Das  Gresicht 
zeigt  in  der  Bil¬ 
dung  der  vorquel¬ 
lenden  Augen  noch 
archaische  Formen, 
es  fehlt  selbst  nicht 
das  leise,  den  ar¬ 
chaischen  Statuen 
eigentümliche 
Lächeln;  die  For¬ 
men  des  Gesichtes 
erinnern  etwas  an 
Polykletischen  Ty¬ 
pus,  woraus  wohl 
nur  geschlossen 
werden  kann,  dass 
unser  W  erk  der 
peloponnesischen 
Schule  angehört. 

Ich  glaube,  mau 
wird  es  wohl  dem 
Anfang  des  fünften 
Jahrhunderts  zu¬ 
schreiben  müssen. 

Eine  techni¬ 
sche  Eigentümlich¬ 
keit  verdient  noch 
eine  besondere  Er¬ 
wähnung.  Die  Sta¬ 
tuebesteht  aus  zwei 
Teilen,  dem  Ober¬ 
körper  mit  dem 

Überschlag  des  Chiton,  und  dem  Unterkörper  mit 
den  steilen  Falten;  beide  wurden  ursprünglich  durch 
vier  Niete  zusammengehalten,  deren  Köpfe  unter 
viereckigen,  sorgsam  eingefügten  Blechstückchen  ver¬ 
borgen  waren.  Auch  die  Basis  ist  besonders  ge¬ 
arbeitet,  so  dass  die  Figur  vermöge  der  unter  den 

Zeitschrift  für  bilcleuJe  Kirnst.  N.  F.  IV. 


Füßen  vorhandenen  Vorsprünge  darin  eingesetzt 
werden  musste.  Die  Feinheit  der  Arbeit  und  die 
Sorgsamkeit,  mit  der  alle  Schäden  des  Gusses  durch 
Einfügung  von  dünnen  Bronzestreifen  ausgeglichen 
sind,  verdient  Bewunderung.  Auch  die  Patina  der 
Bronze,  oder  besser  gesagt,  die  ihr  schon  im 

Altertum  gegebene 
künstliche  Färbung 
(grün  -  blau )  lassen 
das  W  erk  trotz 
seiner  Kleinheit  als 
ein  beachtenswer¬ 
tes  Kunstwerk  er¬ 
scheinen.  Dass  es 
aus  Epirus  stammt, 
ist  wohl  sicher,  ge¬ 
nauere  Nachrichten 
fehlen. 

Gleichfalls  dem 
Peloponnes  und 
wahrscheinlich  so¬ 
gar  der  Polykleti¬ 
schen  Schule  gehört 


ein  bei  dem  argi- 
vischen  Heraion  ge¬ 
fundener  Kopf  an, 
den  wir  mit  gütiger 
Erlau  bnis  des  Herrn 
Ch.  Waldstein,  des 
Direktors  der  Ame¬ 
rikanischen  Schule 
in  Athen,  nach  „Ex- 
cavations  of  the 
American  School  of 
Athens  at  the  He¬ 
raion  of  Argos 
1892,  Nr.  1“  Taf.  4 
hier  unter  Seite  162 
veröffentlichen.  Die 
amerikanische 
„  School  of  Athens  “ 
hat,  trotzdem  sie 
erst  seit  wenigen 
Jahren  in  Athen 
besteht,  der  Alter¬ 
tumswissenschaft  schon  manche  wertvollen  Dienste 
zu  erweisen,  Gelegenheit  gehabt:  so  verdanken  wir 
ihr  z.  B.  die  Ausgrabungen  der  Theater  in  Eretria 
und  Sikyon,  um  anderer  früherer  Unternehmungen 
hier  nicht  zu  gedenken.  Beinahe  wäre  ihr  das  große 
Los,  Delphi  auszugraben,  zugefallen,  wenn  nicht  im 

21 


Fig.  5.  Venus  mit  Taube.  Aus  der  Sammlung  Carapanos. 


162 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


letzten  Augenblick  noch  das  französische  Parlament 
ein  Einsehen  gehabt  und  für  die  Ecole  d’Athenes 
die  Mittel  für  Delphi  flüssig  gemacht  hätte.  An  Stelle 
der  Ausgrabung  in  Delphi  ist  nun  der  Amerika¬ 
nischen  Schule  die  Erlaubnis  zu  Ausgrabungen 
im  Heraion  von  Argos  und  in  Sparta  verliehen 
worden;  während  die  letzteren  bis  jetzt  noch  wenig 
Erfolge  gezeitigt  haben  (es  sind  dazu  weitere  in 
größerem  Maßstabe 
unternommene  Nach¬ 
forschungen  nötig), 
hat  das  Heraion  schon 
jetzt  zahlreiche  Funde 
gespendet,  die  sowohl 
über  die  älteste  Peri¬ 
ode  der  griechischen 
Kunst,  die  Heroenzeit, 

Licht  zu  verbreiten 
im  stände  sind,  als 
auch  für  die  Erkennt¬ 
nis  der  Schule  des 
Polyklet  wichtige  Bei¬ 
träge  liefern.  W  äh¬ 
rend  aber  die  der 
Heroenzeit  angehö¬ 
renden  Funde  bis  zu 
weiterer  Durcharbeit¬ 
ung  beiseite  gelegt 
sind,  hat  Dr.  Wald¬ 
stein  initanerkennens- 
wertem  Eifer  die 
zweite  Serie  sofort 
nach  Abschluss  der 
Campagne  in  dem 
o))en  erwähnten  Be¬ 
richte  veröffentlicht. 

Das  Hauptstück  dar¬ 
unter  ist  ohne  Zwei¬ 
fel  der  hier  abgebildete  Kopf,  der  ziemlich  genau 
vor  der  Mitte  der  Westseite  des  Tempels  zum  Vor¬ 
schein  gekommen  ist  und  sicherlich  nicht  zu  den 
Metopen,  sondern  zu  den  Giebelskulpturen  gehört 
hat;  denn  dass  Giebelskulpturen  vorlianden  gewesen 
sind  (l’ausanias  redet  im  allgemeinen  von  den  Skul¬ 
pturen  oberhalb  der  Säulen),  geht  aus  den  Funden 
unzweifelliaft  hervor.  Der  Kopf  zeigt  reichlich  Lebens¬ 
größe,  er  muss  genau  gerade  nach  vorn  gestellt  gewesen 


sein,  so  dass  eine  von  der  Stirnhöhe  über  die  Nase 
gezogene  Linie  senkrecht  zu  der  durch  die  beiden 
Schultern  gezogenen  stehen  würde,  eine  Stellung, 
die  fast  mit  Sicherheit  auf  den  Mittelpunkt  des 
Giebels  hinweist,  sobald  dieser  einmal  in  Frage 
kommt.  Leider  ist  die  rechte  Hälfte  des  Kopfes 
durch  Berührung  mit  Säuren  in  der  Erdschicht  an¬ 
gefressen,  um  so  besser  ist  aber  die  linke  erhalten. 

Das  Haar  ist  auf  der 
Mitte  des  Hauptes 
durch  einen  Scheitel 
geteilt  und  wellig  nach 
unten  gestrichen,  so 
dass  es  ursprünglich  in 
reichenFlechtenin  den 
Nacken  hinabhing; 
eine  schmale  Stephane 
dient  dazu,  das  Haar 
zusammenzuhalten. 
Die  Ohrläppchen,  die 
unter  den  Haaren  her¬ 
vortreten,  sind  durch¬ 
bohrt  ,  um  Ohrringe 
zu  tragen;  der  Mund 
ist  leise  geöffnet.  Dass 
die  Augen  ehemals 
farbig  bemalt  waren, 
erkennt  man  noch 
deutlich  aus  der  ver¬ 
schiedenen  Erhaltung 
der  Oberfläche.  Eine 
Ähnlichkeit  mit  der 
Hera  Farnese,  aber 
auch  mit  der  Hera 
Ludovisi,  ist  entschie¬ 
den  vorhanden.  Man 
kann  Herrn  Wald¬ 
stein  nur  recht  geben, 
wenn  er  den  Kopf  auf  die  Schule  des  Polyklet 
zurückführt  und  ihn  Hera  benennt.  —  Von  an¬ 
deren  Resten  verdienen  noch  Metopenreste ,  Köpfe 
und  der  lebhaft  bewegte  Torso  eines  Jünglings 
(Taf.  6  und  7)  erwähnt  zu  werden,  sowie  eine  Reihe 
von  eigentümlich  gestalteten  Terrakotten,  die  unter¬ 
halb  der  Fundamente  des  zweiten  Tempels  zu  Tage 
gekommen  sind.  (Schluss  folgt.) 


Fig.  G.  Kopf  iler  Hera.  Aus  dem  Heraion  in  Argos. 


KUNSTDENKMÄLER  IM  KREIS  ERBACH. 


AS  Verdienst,  die  Inventari¬ 
sation  der  Kirnst  de  nJanü  kr 
im  Großherzogtum  Hessen 
angeregt  und  dafür  ein  vor- 
bildliclies  Werk  geschaffen 
zu  haben,  gebührt  Herrn 
Hofrat  Prof.  Dr.  Schäfer  in 
Darmstadt,  der  im  Jahre  1878 
eine  darauf  bezügliche  Denkschrift  dem  Großherzog¬ 
lichen  Staatsminister  einreichte  und  alsdann  dem 
weiteren  Inventarisationswerk  durch  den  muster¬ 
gültigen  Eröffnungsband  über  den  Kreis  Offenbach 
die  Wege  wies.  Seitdem  sind  erschienen  Kreis  Worms 
von  Ernst  Wörner  (1887),  Kreis  Büdingen  von  Prof. 
Heinrich  Wagner  (1890)  und  soeben  als  vierter  Band 
der  „Kreis  Erbach''''  von  Prof.  Dr.  Georg  Schäfer.*) 
Der  stattliche  und  glänzend  ausgestattete  Band  be¬ 
ansprucht  wegen  der  Fülle  schöner  und  kunst- 
geschichtlich  wichtiger  Kunstaltertümer  aus  fast 
allen  Perioden  der  Kunstgeschichte,  die  der  Kreis 
birgt,  ganz  besonderes  Interesse.  Neben  den  Resten 
römischer  Ansiedelungen  und  neben  kostbaren  an¬ 
tiken  Museumsstücken  finden  wir  ein  höchst  wert¬ 
volles  Denkmal  der  Karolingerzeit,  ferner  sind  die 
romanische  Zeit,  die  Gotik,  die  Renaissance  mit 
ihren  Ausläufern  durch  eine  Anzahl  hervorragender 
Werke  der  hohen  Kunst  wie  des  Kunsthandwerks 
vertreten,  von  denen  eine  Fülle  ausgezeichneter  Ab¬ 
bildungen,  z.  T.  in  Lichtdruck,  die  Anschauung 
übermitteln.  Der  Text  des  Herrn  Verfassers  ist 
ein  Muster  von  klarer  und  geschmackvoller,  oft 
dichterisch  schöner  Darstellung,  so  dass  es  ein  wahres 


1)  Kunstdenkmäler  im  Großherzogtum  Hessen,  heraus¬ 
gegeben  durch  eine  im  Auftrag  Seiner  Königlichen  Hoheit 
des  Großherzogs  zu  diesem  Zwecke  bestellte  Kommission. 
Provinz  Starkenhurg,  Kreis  Erbach  von  Dr.  Georg  Schäfer. 
Darmstadt  1891.  Verlag  von  Arnold  Bergsträßer.  284  S.  Gr.  8. 


Vergnügen  ist,  seiner  zugleich  durchaus  sachkundigen 
Führung  sich  anzuvertrauen. 

Wollen  wir  einen  kurzen  Überblick  über  die 
Kunstwerke  des  Kreises  Erbach  geben,  so  stoßen 
wir  zunächst  auf  die  Reste  der  unter  dem  Namen 
Limes  Romanus  bekannten  römischen  Grenzwehv 
gegen  Deutschland,  und  zwar  handelt  es  sich  hier 
im  besonderen  um  die  sogenannte  Mümlinglinie. 
Der  Limes  hatte  wohl  im  wesentlichen  den  Zweck, 
den  freien  Germanen  ein  sichtbares  Zeichen  der 
Reichsgrenze  vor  Augen  zu  stellen,  die  nicht  un¬ 
gestraft  überschritten  werden  dürfte;  durch  seinen 
Signaldienst  war  es  möglich,  bei  räuberischen  Ein¬ 
fällen  alsbald  die  Besatzung  des  nächsten  Kastells 
herbeizurufen;  zugleich  diente  er  als  Heerstraße  in¬ 
mitten  des  Urwaldes.  Während  von  der  Nordsee 
bis  Bonn  der  Rhein  als  nasse  Wehr  diente,  erstreckt 
sich  der  römische  Grenzwall  von  Bonn  bis  Regens¬ 
burg  in  einer  Länge  von  542  Kilometern.  Die 
sogenannte  Mümlinglinie  schließt  sich  an  den  mitt- 
leren  Abschnitt,  der  vom  Main  bei  Hanau  bis  Milten¬ 
berg  sich  genau  südlich  bis  zur  Rems  bei  Lorch  in 
Württemberg  erstreckt.  Sie  zieht  sich  als  eine 
zweite  Kette  von  Kastellen  und  Wachttürmen 
20  Kilometer  von  der  Hauptlinie  entfernt  von  Wörth 
am  Main  aus  über  den  Odenwald  bis  zum  Neckar 
bei  Gundelsheim  unterhalb  Wimpfen.  Die  Mümling¬ 
linie,  die  nicht,  wie  der  Limes  selbst,  Wälle  und 
Gräben  hat,  ist  50  km  lang  und  berührt  nach 
Schäfer’s  Nachweisen,  die  durch  eine  Karte  unter¬ 
stützt  werden,  auf  hessischem  Gebiete  die  Orte 
Hesselbach,  Würzberg,  Eulbach,  Hainhaus  (Heunhaus) 
bei  Vielbrunn  und  die  Gemarkung  von  Lützel- 
Wiebelsbach.  Die  Mümlinglinie  mag  als  befestigte 
Straße  zur  Überwachung  der  Straßen  und  vielleicht 
als  Rückzugslinie  beim  Verlust  der  Neckargrenze 
gedient  haben.  Schäfer  giebt  einen  wichtigen  rö¬ 
mischen  Inschriftstein  wieder,  der  bei  Hesselbach 

21* 


164 


KUNSTDENKMÄLER  IM  KREIS  ERBACH. 


gefunden  worden  ist  und  aus  dem  Jahre  146  n.  Chr. 
stammt.  In  die  Nähe  dieses  Jahres  darf  man  die 
Entstehung  der  Mümlinglinie  setzen.  An  einer 
anderen  Stelle  macht  Schäfer  darauf  aufmerksam, 
dass  das  alte  Röinerkastell  bei  Lützel- Wiebelsbach 
dem  gegenwärtigen  Besitzer  als  bequemer  Steinbruch 
dient. 

Die  römische  Kunst  vertreten  die  bekannten 
römischen  Zimmer  des  Schlosses  Erbach  in  überaus 
stattlicher  Weise.  In  trefflichen  Abbildungen  nnd 
wohl  beschrieben  finden  wir  in  dem  Buche  den 
rnhig-ernsten  Kopf  eines  jugendlichen  Athleten 
mit  der  Siegerbinde,  dann  den  vorzüglich  erhal¬ 
tenen  1791  zu  Tivoli  ausgegrabenen  Alexanderkopf, 
den  Kopf  des  schmerzvoll  bewegten  Perseus  und 
den  1787  zn  Albano  gefundenen  Kopf  des  Sertorius 
mit  dem  eingefallenen  linken  Auge.  Ein  reizvolles 
(lenrebild  ist  der  im  kindlichen  Alter  dargestellte 
schalkhafte  Merkur  mit  dem  Geldbeutel  als  Be¬ 
schützer  des  Handels.  Zu  dem  überlebensgroßen, 
bildnisgetreuen  Standbilde  des  Kaisers  Hadrian  tritt 
die  große  Amphora  aus  Bari  mit  der  klagenden 
Frau,  endlich  der  berühmte  Helm  von  Cannä,  der 
einst  auf  dem  Schlachtfelde  ausgegraben  und  von 
den  Mönchen  eines  apulischen  Klosters  dem  Papste 
Clemens  XIV.  als  Geschenk  verehrt  wurde,  am 
Schlüsse  des  vorigen  Jahrhunderts  aber  aus  dem 
vatikanischen  Museum  verschwand,  um  später  in 
der  Erbacher  Sammlung  wieder  aufzutauchen. 

PMr  die  mittelalterliche  Kunst  kommt  vor  allem 
ein  höchst  wichtiges  Werk  aus  karolingischer  Zeit 
in  Betracht:  die  Ruine  der  Einhard-Basilika  zu 
Steinbach  bei  Michelstadt.  In  ihrer  wahren  Be¬ 
deutung  ist  sie  erst  von  Dr.  Schäfer  erkannt  und  in 
diesem  Blatte  (Bd.  IX,  1874  S.  129 — 145)  als  eines 
der  beachtenswertesten  Architekturdenkmäler  für 
die  Entwickelung  der  ältesten  deutschen  Kirchen- 
l>aukunst  in  rnittelrheinischen  Landen  nachgewiesen 
worden,  während  man  früher  wähnte,  von  diesem 
Bauwerk  sei  keine  Spur  mehr  vorhanden.  Alle 
seitdem  erschienenen  Schriften  über  die  Einhard- 
Basilika  fußten  auf  den  Ergebnissen  der  Schäfer’schen 
F()rschungen.  In  dem  hier  vorliegenden  Inventari¬ 
sationswerke  erhalten  wir  eine  zweite  umfassende 
und  ab.schließende  Itarstellung  des  Bauwerks  und 
seiner  Gescliichte  mit  12  trefflichen  klaren  Abbil¬ 
dungen  des  gesamten  Baues  und  der  maßgebenden 
Einzelheiten.  Wir  geben  ein  paar  davon  wieder. 
Die  Steinbacher  Basilika  ist  bekanntlich  eine  Grün¬ 
dung  Einhard’s,  der  bei  Karl  dem  Großen  das  Amt 
eines  Intendanten  der  künstlerischen  Unternehmungen 


einnahm  und  sich  815  mit  seiner  Frau  Imma  auf 
die  Domäne  zu  Michelstadt  im  Odenwalde  zurückzog, 
die  ihm  Ludwig  der  Fromme  geschenkt  hatte.  Die 
Basilika,  durch  die  Einhard  der  Schenkung  die  reli¬ 
giöse  Weihe  gab,  war  im  Jahre  821  vollendet  (nicht, 
wie  Dohme  fälschlich  angiebt,  erst  828  begonnen). 
Das  in  seinem  Kern  wohlerhaltene  Bauwerk  schließt 
sich  in  seiner  Anlage  streng  der  frühchristlich¬ 
römischen  Basilika  an.  Die  Anordnung  ist  drei- 
schiffig:  erhöhtes  Mittelschiff,  niedrige  Seitenschiffe, 
alle  drei  Schiffe  in  halbrunde  Apsiden  auslaufend. 
Nur  das  Mittelschiff  indes  mit  seinen  sieben  Pfeilern, 
Arkaden,  die  Hauptapsis  und  die  Apsis  des  nörd¬ 
lichen  Seitenschiffes  stehen  von  dem  eigentlichen 
karolingischen  Bau  Einhard’s  noch  aufrecht.  Neuer¬ 
dings  ausgegrabenes  Mauerwerk  deutet  auf  eine 
ehemals  vorhandene  Vorhalle  und  einen  Hofraum. 
Das  erhaltene  Mittelschiff  ist  21  m  10  cm  lang, 
7  m  10  cm  breit.  Ein  Notdach  überspannt  gegen¬ 
wärtig  an  Stelle  des  ursprünglichen  das  Hauptschiff. 
Zur  Charakteristik  des  Baus  gehört  auch  die  römische 
Ziegelbautechnik.  Uber  der  mächtigen  Schicht  von 
Bruchsteinen,  die  die  Fundamentirung  abschließt 
erheben  sich  die  schlanken  Pfeiler  aus  tiefroten 
Ziegelschichten  aufgemauert,  die  durch  breite  Mörtel¬ 
lagen  geschieden  sind,  während  alsdann  Kämpfer 
aus  buntem  Sandstein  und  Archivolten  in  Haustein 
folgen.  Die  Technik  der  Holzwände  verbirgt  leider 
der  Bewurf.  Das  Ganze  mag  einst  einen  farbig 
prächtigen  Anblick  geboten  haben.  Überaus  merk¬ 
würdig  und  am  besten  erhalten  von  dem  Bau  ist  die 
Krypta  in  Ge.stalt  eines  lateinischen  Kreuzes  mit  ganz 
ungewöhnlicher  Behandlung  und  Ausgestaltung  der 
vier  Enden  der  Kreuzarme.  Die  beiden  sich  durch¬ 
schneidenden  Korridore  laufen  nämlich  in  kapellen¬ 
artig  erweiterte  Räume  aus,  die  teils  an  Oratorien, 
teils  an  Arkosolien  in  den  römischen  Katakomben 
gemahnen.  (Die  Abbildung  in  Dohme’s  Geschichte 
der  deutschen  Baukunst  ist  für  den  Westarm  ungenau.) 
Vor  Schäfer’s  Forschungen  galt  die  Basilika  zu  Stein¬ 
bach  als  ein  romanisches  Bauwerk.  Wirklich  ro¬ 
manisch  sind  indes,  wie  Schäfer  nachweist,  an  der 
Steinbacher  Klosterruine  nur  einige  Veränderungen 
und  Erweiterungen:  der  Flügelbau  an  der  Nordseite, 
der  Winterchor  (mit  Ausnahme  des  in  der  Renaissance- 
Epoche  aufgesetzten  Obergeschosses)  nnd  ein  nur  in 
Abbildungen  erhaltenes  Portal.  Der  Kern  des  Baus 
aber,  den  vor  Schäfer  noch  niemand  auf  seine 
charakteristische  Struktur  und  seine  eigentümlichen 
Bildungsverhältnisse  wissenschaftlich  geprüft  hat, 
der  Kern  ist  echt  karolingisch.  Dies  für  alle  Zeiten 


KUNSTDENKMÄLER  IM  KREIS  ERBACH. 


165 


endgültig  festgestellt  zu  liaben,  ist  Schäfer’s  unbestreit¬ 
bares  Verdienst. 

Ans  der  romanischen  Zeit  ist  weiter  noch  der 
riesenhaft  gewaltige  Bergfried  zu  erwähnen,  der  sich 
im  inneren  Burghof  der  Burg  Breuberg  trotzig  er¬ 
hebt.  Schäfer  setzt  ihn  mit  guten  Gründen  in  die 
zweite  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts.  Leider  krönt 
ihn  in  wenig  harmonischer  Weise  ein  quadratischer 
Pavillon  aus  der  Spätrenaissancezeit.  Die  Frühgotih 
bietet  wenig  Erhebliches.  Dagegen  ist  die  spätere 
Gotik  nach  allen  Seiten  hin  reich  vertreten.  Hier 
haben  wir  zunächst  die  Pfarrkirche  zu  Michelstadt, 
deren  erste  Gründung  in  die  ältesten  Zeiten  der 
Christianisirung  zurückführt  (um  700);  der  älteste 
Holzbau  wich  zunächst  wohl  einem  Steinbau,  doch 
hat  der  gotische  Umbau  im  15.  Jahrhundert  keine 
Spuren  von  den  früheren  Stilstadien  gelassen.  Leider 
haben  aber  die  Umbauten  des  17.  und  18.  Jahr¬ 
hunderts  dem  Gotteshause  namentlich  durch  das 
Einzwängen  eines  massigen,  plumpen  Orgelgehäuses 
zwischen  Mittelschiff  und  Chor  und  durch  die  Em¬ 
porenanlagen  seine  künstlerische  Wirkung  geraubt. 
Dr.  Schäfer  äußert  sich  darüber  in  gerechter  Ent¬ 
rüstung:  „Alle  Ruhe,  alle  Harmonie  und  Stimmung 
des  Raumes  ist  durch  solche  Geschmacklosigkeit  in 
widerwärtiger  Weise  vernichtet.  Diese  brutalen 
Massen,  mit  denen  eine  verständige  Erneuerung 
hoffentlich  bald  aufräumen  wird,  sind  das  non  plus 
ultra  der  Emporenmanie,  die  sich  schlechterdings 
das  Innere  evangelischer  Kirchen  nicht  ohne  solche 
hässlichen  Einbauten  vorstellen  kann,  mitunter  sogar 
bei  neuen  Gotteshäusern  davon  nicht  lassen  will, 
ohne  zu  bedenken,  dass  die  Entstehung  dieser  un¬ 
förmlichen  Gerüste  der  Not  des  Raummangels  ge¬ 
horchte,  nicht  dem  künstlerischen  Triebe.“ 

Ganz  besonders  bemerkenswert  wird  die  Michel¬ 
städter  Kirche  durch  die  zahlreichen  prächtigen 
Grabdenkmäler,  die  sie  birgt.  Die  lange  Reihe 
beginnt  mit  dem  Plattengrabe  des  Schenken  Hein¬ 
rich  von  Erbach  aus  dem  Jahre  1387.  Unter  den 
Grabmonumenten  gotischen  Stils  ist  das  Kenotaph 
der  beiden  Schenken  Philipp  von  Erbach  f  1456 
und  Georg  von  Erbach  f  1481  die  hervorragendste 
künstlerische  Leistung.  Es  besteht  aus  buntem 
Sandstein  und  umschließt  einen  .4rkadenpfeiler  des 
Hochschiffes  fast  zur  Hälfte.  Die  beiden  gewapp¬ 
neten  Schenken  stehen  unter  gotischem  Baldachin 
auf  den  bekannten  symbolischen  Tierfiguren,  Löwe 
und  Bracke.  Ungeachtet  der  Schwere  der  Kampf¬ 
rüstungen  zeigt  das  stattliche  Schenkenpaar  den 
Ausdruck  leichter,  ritterlicher  Bewegtheit.  In  der 


Auffassung  wie  in  der  sorgfältigen  Ausführung 
gehört  die  Gruppe  zu  den  tüchtigsten  Schöpfungen 
der  Figurenplastik  ihrer  Zeit.  Der  Name  des  von 
der  fränkischen  Schule  berührten  Meisters  ist  leider 
unbekannt. 

Sehr  merkwürdig  ist  die  Grabkapelle  des  Grafen 
Eberhard  L,  die  in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts 
der  Michelstädter  Kirche  angefügt  wurde.  Der  Raum 
ist  von  rechteckiger  Planform  und  mit  einem  Rauten¬ 
gewölbe  überspannt,  dessen  geschwungene  Rippen 
nach  spät-gotischer  Weise  ohne  Kapitellvermittelung 
den  vier  Winkeln  des  kleinen  Heiligtums  entsteigen. 
Das  Merkwürdige  ist,  dass  das  hier  befindliche, 
gleichzeitig  hergestellte  Wandgrabmal  des  Grafen 
Eberhard  1.  (f  1539)  und  seiner  Gemahlin  Maria 
von  Werthheim  (f  1558)  im  Stile  der  deutschen 
Renaissance  gehalten  ist.  Im  Umfang  der  Odenwald¬ 
zone  ist  dies  Denkmal  nicht  nur  als  eine  frühe, 
sondern  in  stilistischer  Beziehung  geradezu  als  eine 
hervorragende  Leistung  zu  bezeichnen.  Das  Neben- 
einandergehen  einer  entschieden  gotischen  Formen¬ 
sprache  in  der  Architektur  und  einer  ausgebildeten 
Renaissanceplastik  ist  für  die  gleichzeitige  Pflege 
der  beiden  Stilarten  in  der  Odenwaldzone  um  die 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts  entscheidend  und  eine 
nicht  unwichtige  kunstgeschichtliche  Erscheinung. 

Von  der  spätgotischen  Wallfahrtskirche  zu 
Schöllenbach  (begründet  1465)  steht  nur  noch  der 
jetzt  als  selbständiger  Kapellenraum  eingerichtete 
Chor.  Ein  kostbarer  Kunstschatz  aus  ihr  ist  in 
gutem  Zustande  erhalten  geblieben:  der  großartige 
Flügelaltar,  der  in  reichster  plastischer,  malerischer 
und  farbenprächtiger  Ausstattung  jetzt  in  der 
St.  Hubertus-Schlosskapelle  zu  Erbach  prangt.  Er 
ist  von  stilkundigen  Händen  aufs  trefflichste  erneuert 
worden.  Das  Werk,  das  bei  geöffneten  Flügeln 
5,25  m  breit  und  3,75  m  hoch  ist,  zeigt  in  der  Pre¬ 
della  und  der  Mittelnische  die  Wurzel  Jesse  und 
den  Stammbaum  Christi  in  holzgeschnitzten  freien 
Gestalten,  auf  den  Innenseiten  der  Flügel  acht  Dar¬ 
stellungen  aus  dem  Leben  der  Maria  in  malerischen 
Hochreliefgruppen.  Der  würdige  Greis  Jesse,  neben 
ihm  Moses  und  Aaron,  dann  die  12  Könige  in  den 
Zweigen  des  Stammbaums  und  die  gekrönte  Mutter 
Gottes  mit  dem  Chri.stuskinde  sind  wohlindividualisirt; 
die  sieben  Darstellungen  aus  dem  Leben  Mariä 
spiegeln  das  bürgerliche  Leben  um  die  Wende  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  in  treuem  Abbilde  mit 
einer  realistischen  Anschaulichkeit  wider,  welche 
zeigt,  wie  damals  das  Volksgemüt  auch  in  der  künst¬ 
lerischen  Wiedergabe  biblischer  Thatsachen  immer 


166 


KUNSTDENKMALER  IM  KREIS  ERBACH. 


in  der  unmittelbaren  Gegenwart  sich  bewegen  und 
bei  sich  selbst  zu  Hause  sein  wollte.  Die  gotische 
Kunst  hat  hier  an  der  Wende  des  Mittelalters  in 
einem  großartigen  Werke  gewissermaßen  noch  einmal 
die  Vollkraft  ihres  Könnens  zusammengefasst. 

Bedeutsam  ist  im  Kreise  Erbach  der  Buxgenbau 
vertreten:  und  zwar  durch  die  Hochburgen  Breuberg 
und  Freienstein,  die  Wasserburg  Fürstenau  und  das 
Schloss  Reichenberg.  Namentlich  ist  der  Breuberg 
eine  Hochburg  ersten  Ranges,  ebensowohl  durch  die 
Ausdehnung  und  Großartigkeit  der  Anlage,  wie  durch 
den  Umstand,  dass  an  den  einzelnen  Architektur¬ 
gruppen  und  fortifikatorischen  Bestandteilen  die 
Entwickelung  des  deutschen  Burgenbaus  von  Ende 
des  12.  bis  17.  Jahrhunderts  hinein  klar  und  be¬ 
stimmt,  wie  nicht  leicht  an  einem  anderen  Beispiel 
des  Großherzogtums  Hessen  sich  verfolgen  lässt. 
Unsere  Abbildung  giebt  die  Gebäudegruppe  am 
Burgthor  wieder.  Wir  blicken  in  den  tiefen  Wehr¬ 
graben  mit  seinen  starken  Futtermauern,  der  das 
Vorwerk  vom  Inneren  trennt.  Die  im  Jahre  1739 
erbaute  Steinbrücke  vermittelt  jetzt  den  Zugang  zum 
inneren  Thorbau  mit  seinem  stattlichen  Giebel,  an 
den  sich  die  ehemalige  Wachtstube  und  die  Burg¬ 
küche  anschließen.  Weiter  sehen  wir  das  schmuck¬ 
lose  Herrenhaus  oder  Palas  der  alten  Burg,  dahinter 
aber  den  aus  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts 
stammenden  trotzigen  Bergfried.  Er  erhebt  sich  auf 
viereckigem  Grundriss  bis  zu  einer  Höhe  von  rund 
25  m  hinan.  Die  Breite  der  Seitenflächen  beträgt 
am  Fuße  je  9  m,  die  Mauerdicke  2,60  m.  Das 
riesenhaft  gewaltige  Bauwerk  stammt  wohl  aus  der 
zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts,  die  Spät¬ 
renaissance  hat  leider  auf  der  Plattform  einen  mit 
dem  tiefernsten  Gepräge  des  Bergfrieds  wenig 
liarmonirenden  Pavillon  aufgesetzt.  Zur  Linken 
von  dem  Portalbau  sehen  wir  den  sogenannten 
Kasimirbau  (aus  dem  Jahre  IfilS)  neb.st  seinem 
runden  Treppenturm  aufsteigen.  Von  der  in  der 
Kunstgeschichte  schon  bekannten  überaus  reichen 


Stukkodecke  im  Rittersaale  dieses  Renaissancebaus 
bringt  das  Schäfer’sche  Werk  vier  vortreffliche  Ab¬ 
bildungen  und  eine  ausführliche  sachgemäße  Be¬ 
schreibung. 

Aus  der  Renaissancezeit  sind  weiter  noch  vier 
Grabdenkmäler  im  Chor  der  Michelstädter  Kirche  zu 
erwähnen:  die  in  deutscher  Frührenaissance  ge¬ 
haltene  Tumba  des  Grafen  Georg  1.  von  Erbach  und 
seiner  Gemahlin  Elisabeth,  ein  Werk  des  Bildhauers 
Johann  von  Trarbach  (um  1569);  dann  das  prunk¬ 
volle,  fast  überreich  mit  Bildwerk  ausgestattete  Hoch¬ 
wandmonument  des  Grafen  Georg  II.  von  Erbach 
(t  1605)  und  das  Hochwanddenkmal  mit  davor¬ 
stehendem  Sarkophag  des  Grafen  Friedrich  Magnus 
von  Erbach  (f  1618).  Das  künstlerisch  bedeutsamste 
dieser  Grabdenkmäler  aber,  das  schon  dem  Barockstil 
angehört,  ist  das  des  Grafen  Johann  Kasimir  (f  1627), 
dessen  Schöpfer  sich  wohl  bezüglich  der  Hauptfigur 
an  der  Gestalt  des  Lorenzo  de’  Medici  in  der  Medi¬ 
ceer-Kapelle  zu  Florenz  inspirirt  haben  mag.  Der 
Raum  erlaubt  nicht,  hierauf  näher  einzugehen.  Um 
auch  endlich  noch  dem  Barock-  und  Rokokostil  ein 
Wort  zu  widmen,  sei  auf  das  markgräfliche  Zimmer 
nebst  dem  Boudoir  im  Schlosse  Fürstenau  hingewiesen, 
in  welchem  diese  Stilreformen  in  reizvoller  Weise 
zur  Erscheinung  kommen. 

Unser  Urteil  über  das  Schäfer’sche  Werk  können 
wir  dahin  zusammenfassen,  dass  es  mit  ebenso  großer 
Sachkenntnis  wie  Sorgfalt  gearbeitet  ist  und  sich 
durch  seine  fesselnde,  geschmackvolle  Darstellung 
über  viele  andere  derartige  Werke  erhebt.  Zu  der 
formvollendeten  Darstellung  tritt  die  reiche  Aus¬ 
stattung  des  Werks,  dessen  116  Abbildungen  im 
Texte  und  23  Tafeln  im  Lichtdruck  unter  Leitung 
von  Prof.  E.  Marx  in  Darmstadt  ausgeführt  sind. 
Die  Kunstforschung  erfährt  durch  das  Schäfer’sche 
Werk,  von  dessen  reichem  Inhalte  wir  einige  Haupt¬ 
sachen  erwähnt  haben,  eine  nicht  unbedeutende  Be¬ 
reicherung.  P.  SCH. 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


BÜCHERSCHAU. 

Handbuch  der  Kunstpdege  in  Österreich.  Auf  Grund 
amtlicher  Quellen  herausgegeben  im  Aufträge  des  Ministe¬ 
riums  für  Kultus  und  LTnterricht.  Zweite  Auflage.  Wien, 
k.  k.  Schulbücheiwerlag.  1893.  XXIII  u.  484  S.  8. 

*  Diese  soeben  erschienene  zweite  Auflage  des  von  uns 
früher  eingehend  gewürdigten  österreichischen  Kunsthand¬ 
buchs  kündigt  sich  gleich  beim  äußeren  Anblick  als  eine 
beträchtlich  erweiterte  Ausgabe  an:  der  Umfang  hat  um 
ca.  150  Druckseiten  zugenommen,  5ö  Artikel  des  Buches 
sind  wesentlich  erweitert,  182  ganz  neu  hinzugefügt.  Die 
Darstellung  bietet  ein  überraschend  reiches  Bild  von  dem 
regen  und  weitverzweigten  Kunstleben  des  Kaiserstaates, 
von  der  EMlle  seiner  Kunstinstitute,  Schulen,  Vereine,  Mu¬ 
seen,  Privatsammlungen  u.  s.  w.  Die  Abschnitte  über  die 
Museen  und  Galerieen  sind  der  Redaktion  des  Handbuchs 
vielfach  von  den  Vorständen  der  Sammlungen  selbst  in 
dankenswerter  Weise  zugeflossen.  Außerdem  hat,  von  an¬ 
deren  fachlichen  Organen  abgesehen,  besonders  die  Central¬ 
kommission  für  Kunst-  und  historische  Denkmale  zahlreiche 
Ergänzungen  und  Bereicherungen  beigesteuert.  Ein  Ver¬ 
zeichnis  der  Konservatoren  der  Centralkommission  ist  als 
erwünschte  Beigabe  der  Einleitung  angefügt.  Wer  in  irgend 
einer  Lokalfrage  zuverlässige  Auskunft  wünscht,  wird  sie 
am  besten  durch  diese  kundigen  Männer  erhalten.  Als  Zeug¬ 
nis  für  die  bedeutende  Erweiterung  des  museographischen 
Teiles  der  neuen  Auflage  sei  hier  nur  der  Abschnitt  über 
den  Wiener  Privatbesitz  hervorgehoben.  Er  zählt  über  70 
größere  Sammlungen  auf  (etwa  das  Dreifache  von  der  ersten 
Auflage)  und  wir  erhalten  von  den  wichtigeren  dieser  zu¬ 
meist  dem  Publikum  unzugänglichen  Kunstkammern  wenig¬ 
stens  summarische  Übersichten,  so  z.  B.  von  den  unver¬ 
gleichlich  kostbaren  und  reichen  Sammlungen  der  Gebrüder 
Bar.  Rothschild.  Der  Schlusssatz  über  die  Sammlung  des 
Freiherrn  Nathaniel  v.  Rothschild  (Theresianumgasse)  lautet: 
,,Für  die  französische  Kunst  des  18.  Jahrhunderts  steht  diese 
Sammlung,  wenigstens  in  Österreich,  einzig  da  und  dürfte 
auch  durch  wenige  ausländische  Sammlungen  erreicht  oder 
übertroffen  werden.“  —  Auf  S.  149  des  Buches  findet  sich 
die  Notiz,  dass  in  Wien  ein  „Diöcesan -Museum“  im  Ent¬ 
stehen  begriffen  sei.  Dies  wäre  der  erwünschte  Sammel¬ 
punkt  für  manche  in  der  Stadt  und  deren  nächster  Um¬ 
gebung  zerstreute,  schwer  zugängliche  Kunstwerke.  Wir 
nennen  darunter  beispielsweise  das  Dürer’sche  Werkstattbild 
der  ,,  Kreuzigung“  in  der  erzbischöflichen  Landwohnung  zu 
Ober -St.  Veit.  —  Zu  den  sorgfältig  verzeichneten  Publika¬ 
tionen  über  die  Museen  und  Sammlungen  haben  wir  nur 
wenige  heliographische  und  photographische  Erscheinungen 
der  letzten  Zeit  nachzutragen.  So  fehlt  z.  B.  das  Heck- 
Löwy’sche  Heliogravürenwerk  über  die  Wiener  Privatgale- 
rieen  mit  Text  von  Bodenstein,  Chmelarz,  Frimmel,  Wick- 
hoff  u.  a.  Auch  die  große  photographische  Publikation  von 
Ad.  Braun  in  Dörnach  über  die  Galerie  Liechtenstein  (in  4 
Bänden  Fol.)  wäre  zu  verzeichnen  gewesen.  —  Doch  das 
sind  Kleinigkeiten  gegenüber  der  großen  Menge  dankens¬ 
werter  Angaben,  welche  das  Handbuch  bietet  das  wir  hier 


mit  nochmals ,  als  den  verlässlichsten  Führer  durch  die 
Kunstwelt  Österreichs,  den  Lesern  bestens  empfehlen  wollen. 

Rückblick  auf  die  Entwickelung  der  deutschen 
Architektur  in  den  letzten  SO  Jahren.  Vortrag 
gehalten  auf  der  X.  Wanderversammlung  des  Verbandes 
deutscher  Architekten-  und  Ingenieurvereine  zu  Leipzig 
am  28.  August  1892  von  Hubert  Stier.  Sonderabdruck 
aus  der  Deutschen  Bauzeitung.  Berlin  1892,  Kommissions¬ 
verlag  von  Ernst  Toeche. 

Alle  Besonderheiten  und  Details  beiseite  lassend,  weiß 
Stier  in  großen  allgemeinen  Zügen  ein  so  vollendetes  Bild 
der  Architekturentwickelung  des  letzten  halben  Jahrhunderts 
zu  geben,  wie  es  nur  einem  objektiven  Augenzeugen  möglich 
ist;  denn  er  hat  all  das  Charakterisirte  mit  Bewusstsein 
miterlebt  und  werden  sehen.  Bei  all  dem  Unfertigen,  das 
der  geschilderten  Epoche  nochthatsächlich  anhaftet,  ist  es  dem 
Redner  doch  am  Ende  gelungen,  fast  ein  typisches  Bild  zu 
Schäften  ,  das  für  die  Zukunft  seine  Richtigkeit  behält.  Der 
Weg,  den  er  zur  Erreichung  dieses  Ziels,  in  einem  so  engen 
Rahmen,  einschlägt,  ist  ebenso  originell  wie  sicher:  er 
schildert  vorzugsweise  den  Beginn  des  in  Rede  stehenden 
Zeitraums  in  den  vierziger  Jahren  mit  all  den  Anläufen 
sowohl  zum  Studium  als  auch  zur  Praxis,  oder  besser  zum 
Wiederauffinden  der  verlorenen  Technik,  und  fasst  dann 
den  Schluss  der  Epoche  in  der  heutigen  Zeit  ins  Auge  und 
berührt  für  die  Zwischenzeit  nur  diejenigen  Momente,  welche 
zum  Verständnis  der  gegenseitigen  Erscheinungen  unbedingt 
notwendig  sind.  Ein  Vergleich  zwischen  beiden  Zeiten  er- 
giebt  sich  bei  der  trefflichen  Charakteristik  derselben  von 
selbst.  Der  Autor  betont  ganz  richtig,  dass  uns  eine  kurz 
hinter  uns  liegende  Zeit  oft  weniger  vertraut  ist  als  eine 
langvergangene  und  dass  wir  zweifellos  mit  1740  und  seinen 
Leistungen  vertrauter  sind  als  mit  1890.  Gründe  dafür  bringt 
er  eine  Menge  vor.  Die  kurze  Schrift  birgt  überhaupt  eine 
Fülle  interessanter  historischer  Reflexionen,  namentlich  über 
die  lokalen  Architekturerscheinungen  Deutschlands  und 
Deutsch-Österreichs,  und  die  mannigfachen  Schulrichtungen, 
so  dass  nicht  nur  der  Fachmann  ander  Arbeit  des  Fachmanns, 
sondern  auch  der  Kunstkritiker  daran  Freude  haben  kann. 

BK. 

Schuster,  Dr.  Richard,  Zappcrt^s  ältester  Plan  von  Wien. 
(Sitzungsber.  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften, 
philos.-hist.  Klasse,  CXXVII.  Bd.,  Ahhandl.  VI.)  1892.  8. 

Im  Jahre  1856  veröffentlichte  Georg  Zappert  in  den 
Sitzungsberichten  der  Wiener  Akademie  das  Faksimile  eines 
angeblich  von  dem  Buchdeckel  eines  Codex,  über  dessen 
Verbleib  er  sich  weiter  nicht  aussprach,  abgelösten  Perga¬ 
mentes  mit  einem  dem  11.  oder  12.  Jahrhundert  angehörigen 
Stadtplan  von  Wien;  zwei  Jahre  später  die  Reproduktion 
eines  anderen  von  einem  gegenwärtig  in  der  Wiener  Hof¬ 
bibliothek  befindlichen  Codex  ahgelösten  Pergamentblattes 
mit  einem  althochdeutschen  „Schlummerlied“.  Dieses  wurde 
u.  a.  von  Jacob  Grimm  für  viel  höher  erachtet,  als  die 
Merseburger  Sprüche  und  der  „Wiener  Hundesegen“;  durch 
jenen,  den  Zappert  in  das  11.  bis  12.  Jahrhundert  versetzte. 


I6S 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


die  soeben  erst  von  Camesina  publizirte  ächte  allerälteste 
Ansicht  Wiens  „um  rund  400  Jahre  überboten“.  Das  Schlum¬ 
merlied  wurde  jedoch  alsbald  aus  inneren  Gründen  ange- 
fochten,  schließlich  nach  einer  genauen  Prüfung  des  Origi¬ 
nals  von  C.  Hofmann,  Ph.  Jaffe  und  W.  Müller  als  eine 
dreiste  Fälschung  erklärt.  Auch  gegen  den  „Zappert’schen 
Stadtplan“,  der  zur  Erläuterung  von  passauischen  Gülten 
auf  Wiener  Häusern  und  Weinbergen  dienen  sollte,  wurden 
gleich  nach  seinem  Erscheinen  gewichtige  Bedenken  laut, 

и.  a.  von  Ottokar  Lorenz  und  Karl  Weiß,  der  z.  B.  eine 
darin  vorkommende  Straßenbezeichnung  auf  einen  Schreib¬ 
fehler  des  HirschvogePschen  Planes  zurückführte.  Der  Be¬ 
weis  dafür,  dass  man  es  mit  einem  Falsifikate  zu  thun  habe, 
konnte  aber  bisher  mit  Sicherheit  nicht  erbracht  werden,  da 
das  Original  unsichtbar  blieb.  Es  kam  neuerdings  in  der 

к.  k.  Hofbibliothek  zu  tage,  dank  den  Bemühungen  Herrn 
Dr.  Richard  Schuster’s,  den  die  Bezeichnung  der  Weinberge 
in  der  linken  Ecke  unten  „durch  Reihen  von  Doppelkreuz- 
chen“  sehr  an  die  moderne  kartographische  Praxis,  die  Be¬ 
zeichnung  einer  ganzen  Gasse  als  „unter  den  Badern“  (inter 
balneatores)  bedenklich  an  Zappert’s  ,,Badewesen  im  Mittel- 
alter“  und  die  „Goldschmiedgasse“  an  der  Stelle  des  heu¬ 
tigen  Judenquartiers  nicht  minder  bedenklich  an  desselben 
Autors  im  Kommentar  zu  dem  Plane  niedergelegten  „Lieb- 
lingsphantasieen“  über  das  Goldschniiedehandwerk  und  an 
das  ebendort  „für  die  mittelalterlichen  Bankierviertel  be¬ 
kundete  Interesse“  erinnerte.  Herr  Schuster  unterzog  nun  das 
Pergament  einer  eingehenden,  mit  einem  großen  Aufwande 
von  paläographischer,  litterar-  und  kulturhistorischer  Gelehr¬ 
samkeit  geführten  Untersuchung,  die  bis  zur  Evidenz  erweist, 
dass  auch  der  Stadtplan  eine  freche  Fülsclmng  und  dass  der 
Fälscher  niemand  anders  ist  als  derjenige,  hei  dem  schon 
Zappert  selbst  eine  jüdische  Schreiberhand  vermutet  und  der 
sich  obendrein  das  Vergnügen  gemacht  hat,  sich,  wie  schon 
Jaffe  nachgewiesen,  im  Schlummerlied  als  „Zprt“  zu  unter¬ 


zeichnen  und,  wie  nun  Dr.  Schuster  nachweist,  im  „scatet 
erroribus“  des  Stadtplans  nicht  nur  die  Vokale,  sondern  auch 
die  Anfangsbuchstaben  seines  Namens  „Zappert  Georgius“ 
der  Nachwelt  als  Rätsel  zu  hinterlassen.  Damit  ist  dieses 
Machwerk  aus  den  „Geschichtsquellen  der  Stadt  Wien“  defi¬ 
nitiv  entfernt,  aber  auch  über  einen  „Gelehrten“  der  Stab 
gebrochen,  dessen  stilles  Vergnügen  über  die  Geschicklich¬ 
keit,  mit  der  er  seine  Leute  hinter  das  Licht  geführt  hat, 
und  über  die  verdutzten  Gesichter  beim  dereinstigen  Bekannt¬ 
werden  des  wahren  Sachverhaltes  sich  jedermann  im  Geiste 
vorstellen  mag.  Traurig  bleibt  es  nur,  dass  eine  so  hoch¬ 
bedeutsame  Körperschaft,  wie  die  Wiener  Akademie  der 
Wissenschaften,  von  dem  Schwindler  dazu  ausersehen  war, 
mit  seinen  Machwerken  getäuscht  zu  werden.  /,  B. 

ZU  DER  TAFEL. 

*  Die  „Herbstlandschaft“  von  Theodor  Rousseau  aus 
der  Sammlung  Behrens  in  Hamburg,  welche  wir  den  Lesern 
in  der  beiliegenden  trefflichen  Photogravüre  von  Hanfstaengl 
vorführen,  behandelt  eines  jener  einfachen  Themen,  auf 
welche  der  Meister  seine  volle  Kraft  zu  verwenden  liebte, 
um  die  Größe  seiner  Kunst  zu  zeigen.  Bewaldetes  Terrain, 
rechtshin  ansteigend,  lässt  im  Mittelgründe  einen  Durchblick 
offen,  aus  dem  uns  ein  gelbes  Kornfeld  hell  entgegenleuchtet. 
Dahinter  der  Dorfkirchturm.  Über  den  Wipfeln,  die  zum 
Teil  schon  herbstlich  gefärbt  sind,  spannt  sich  ein  in  metal¬ 
lischem  Ton  gehaltener,  leicht  bewölkter  Himmel  aus.  Er 
ist  mit  einer  Meisterschaft  gemalt,  die  seit  den  Zeiten  des 
Ruisdael  und  Hobbema  verloren  gegangen  war,  bis  Rousseau, 
der  auch  als  Waldmaler  ihnen  nahe  kam,  sie  wieder  er¬ 
reichte.  Auf  der  Anhöhe  rechts  verstreut  weidet  buntes 
Vieh,  von  einem  Hirtenjungen  gehütet;  weiter  vorn  im  Halb¬ 
schatten  sitzt  eine  Frau.  Die  Durchführung  des  Gemäldes 
ist  bis  ins  kleinste  Blättchen  von  der  größten  Sorgfalt.  Das 
Bild  trägt  die  Namensbezeichnung. 


Herau.sgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Ee]iogr.v;FraBzHajiista£n^ ,  Munclieii. 


WM  TER  AM  SEE 


DIE  NEUE 

STÄDTISCHE  GEMÄLDEGALERIE  ZU  STRÄSSBURG. 

MIT  ABBILDONÖEN. 


UBENS  Lat  im  Aufträge  des 
Großherzogs  von  Toskana 
eine  geistreiche,  lebensvoll 
sinnbildliche  Darstellung  ge¬ 
malt,  welche  gleichzeitig  zu 
den  farbenprächtigsten  und 
-reichsten  Bildern  gehört 
—  die  Allegorie  auf  den 
Krieg.  Meisterhaft  hat  der  nordische  Tizian,  indem 
er  das  Vermächtnis  des  dreißigjährigen  Krieges  schil¬ 
derte,  diesen  Stoff  behandelt.  Alles  flieht,  alles 
flüchtet  sich,  unendlich  ist  der  Jammer,  schrecklich 
die  Feuersglut,  wie  sie  verheerend  und  vernichtend 
wirkt.  Und  so  war  es  auch  im  letzten  deutsch-fran- 
zö.sischen  Krieg.  Die  Nacht  vom  24.  auf  den  25. 
August  1870  hat  infolge  des  Eigensinnes  ihrer  Hüter 
die  Zerstörung  der  Straßburger  Bildergalerie  bewirkt. 
Der  Krieg  ist  nun  glücklich  beendet,  die  Wunden 
sind  zugeheilt,  man  restaurirt,  baut  und  verschönert 
die  Stadt,  man  will  den  verursachten  Schaden  her- 
stellen,  und  so  ist  auch  aus  Reichsmitteln  nach 
vollen  zwanzig  Jahren  die  neue  städtische  Gemälde¬ 
galerie  zu  Straßburg  hervorgegangen.  Mit  verhält¬ 
nismäßig  wenig  Mitteln  ist  durch  die  altbewährten 
und  rastlosen  Bemühungen  Wilhelm  Bode’s  eine 
stattliche  und  ausgewählte  Sammlung  von  Bildern 
zu  stände  gekommen.  Mit  Recht  darf  die  Stadt 
Straßburg  auf  die  neue  Galerie  stolz  und  befriedigt 
hinblicken,  denn  diese  besitzt  bereits  Perlen,  um  die 
sie  manche  Schwestersammlung  beneiden  kann. 

Der  provisorische,  von  Hubert  Janitschek  ver¬ 
fasste  Katalog  von  1890  weist  bereits  67  Nummern 
auf.  Seither  ist  die  Sammlung  durch  einen  Rubens, 
zwei  Skizzen  von  Tiepolo  und  ein  Bild  aus  der 
Schule  des  Giorgione  bereichert  worden.  Auch  haben 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


zehn  italienische  Terrakotten  aus  dem  1 5.  und  16.  Jahr¬ 
hundert  hier  Aufstellung  gefunden.  Ferner  muss 
bemerkt  werden,  dass  die  Galerie  dadurch  bedeutend 
an  Wert  gewonnen  hat,  dass  der  Photograph  Matthias 
Gerschel  in  Straßburg  die  Bilder  in  wohlgelungenen 
Photographieen  veröffentlichte. 

/.  Italien. 

V on  jenem  gotterfüllten  altflorentinischen Meister, 
den  wir  an  die  Spitze  einer  neuen  Bewegung  zu 
stellen  haben,  besitzt  die  Galerie  noch  kein  Werk. 
Wohl  ist  aber  in  der  Art  des  Giotto  eine  kleine, 
auf  Goldgrund  gemalte  Darstellung  der  Kreuzigung 
(Nr.  1)  als  das  älteste  Bild  in  der  Sammlung  hervor¬ 
zuheben.  Daran  schließt  sich  (Nr.  2)  ein  fragmen¬ 
tarisches  Stück  einer  Altartafel  mit  den  Brustbildern 
von  fünf  Aposteln,  von  denen  Petrus  und  Bartho¬ 
lomäus  die  üblichen  Attribute  führen.  Es  sind  gut 
gemalte  und  sorgfältig  ausgeführte  Halbfiguren,  deren 
Entstehungszeit  ungefähr  die  Mitte  des  14.  Jahr¬ 
hunderts  ist.  Das  fürstlich  Hohenzollern’sche  Mu¬ 
seum  in  Sigmaringen  besitzt  einen  dazu  gehörigen 
Teil.  Neben  diesen  zwei  genannten  Bildern  hängt 
die  dem  Don  Lorenzo  Monaco  zugewiesene  Dornen¬ 
krönung  (Nr.  3),  ein  handwerksmäßiges  und  uncha¬ 
rakteristisches  Bild,  welches  ebenso  gut  das  Werk 
eines  anderen  sein  könnte.  Noch  ungünstiger  muss 
das  Urteil  über  das  folgende  Bildchen  ausfallen  (Nr.  4). 
Ein  auferstandener  Christus,  umgeben  von  einer 
großen  Strahlenmandorla  auf  hellblauem  Hintergrund, 
ist  hier  dargestellt.  Der  Katalog  sagt  „Art  des 
Masolino*.  Bei  genauer  Prüfung  fallen  besonders 
die  verzeichneten  Füße  auf,  ferner  das  ungeschickte 
Anordnen  des  dünnen  weißen  flatternden  Tuches, 
das  von  der  linken  Schulter  ausgeht,  die  Lenden 

22 


170 


DIE  NEUE  STÄDTISCHE  CEMALDEUALERIE  ZU  STRASSBÜRH. 


uinscliliiigt  und  das  linke  Bein  völlig  eiuwiekelt. 
^'el•fasser  hat  in  den  letzten  Wochen  Gelegenheit 
geliabt,  an  Ort  und  Stelle  die  Werke  des  Masolino 
zu  prüfen  und  sich  zu  überzeugen,  dass  das  kleine 
Straßburger  Bild  nicht  der  Richtung  des  Meisters 
der  Fresken  von  Castiglione  d’Olona  angehört;  viel¬ 
mehr  ist  es  der  umbrischen  Schule  der  zweiten 
Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  zuzuweisen. 

Wenn  die  bis  jetzt  besprochenen  Bilder  Werke 
mittleren  Ranges  repräsentiren,  so  steht  es  ganz 
anders  mit  der  Anbetung  der  Hirten  (Nr.  5)  des 
Carlo  Crivelli,  in  der  eine  wahre  Perle  der  früh¬ 
venezianischen  Malerschule  zu  erblicken  ist.  Hier 
steht  der  Beschauer  nicht  vor  einem  konventionellen 
und  steifen  Madonnenbild,  wie  Crivelli  sie  so  häufig 
zu  malen  pflegte  (Mailand,  Accademia  di  belle  arti; 
Rom,  Galerie  des  Laterans;  London,  Kollektion  Lord 
Nurthbrook  etc.),  noch  vor  einem  riesigen  Altar¬ 
werke,  wie  das  der  Londoner  Nationalgalerie  (Nr.  788), 
wo  drei  Reihen  von  Heiligen  schematisch  über¬ 
einandergesetzt  sind,  noch  vor  einer  affektirten  und 
die  Hände  verrenkenden  weiblichen  Heiligen  (London. 
Nat.  Mus.  Nr.  907;  Berlin,  Nr.  1156),  sondern  vor 
einem  Bilde,  das  mit  des  Meisters  reifster  Schöpfung, 
der  Verkündigung  der  Londoner  Nationalgalerie 
(Nr.  7.39),  die  Dürer  gewiss  auch  gekannt  hat,  wett¬ 
eifern  darf.  Die  unten  reproduzirte  Abbildung  legt 
deutliclies  Zeugnis  von  der  so  glücklichen  Komposi¬ 
tion  ab.  Aber  es  treten  noch  zwei  ebenso  wichtige 
l''aktoren  hinzu.  Erstens  die  sorgfältige  und  ge¬ 
wissenhafte  Ausführung  und  zweitens  die  Harmonie 
der  Farben,  die  vielleicht  auf  keinem  anderen  Bilde 
des  Meisters  so  deutlich  wahrzunehmen  ist.  Es  sei 
liier  gestattet,  auf  eine  Kleinigkeit  hinzuweisen.  Links 
von  der  Hütte  im  Hintergründe  steht  ein  Mann,  der 
dem  himmlischen  Chor  der  Engel  zuhört.  Er  stützt 
seinen  Wanderstab,  von  dem  ein  Hase  herabhängt, 
auf  die  rechte  Schulter.  Pis  ist  dies  ein  altbeliebtes, 
schon  sehr  früh  auftretendes  Motiv,  das  unter  an¬ 
derem  z.  B.  auch  bei  Taddeo  Gaddi  auf  dem  PVesko 
mit  der  Darstellung  des  „.loachirn  und  der  Anna  an 
dt-r  goldenen  Pforte“  in  S.  Croce  zu  PJorenz  vor- 
koinmt;  dort  ist  es  statt  des  Hasen  ein  Schäflein, 
auch  fehlen  die  musizirenden  Engel,  —  das  Motiv 
aber  bleibt  dasselbe.  Plin  ungefährer  Zeitgenosse 
I'rivelli’s  ist  Bartolommeo  Montagna,  der  durch  ein 
tüchtiges  und  in  der  I^euchtkraft  der  Parbe  an  Gio¬ 
vanni  Bellini  grenzendes,  leider  jetzt  allzu  stark  re- 
staurirtes  Amlachtswerk  (Nr.  6),  die  Maria  mit  dem 
Kind  und  dem  heiligen  .Iose])h,  Vertretung  gefunden 
hat.  Besonders  muss  der  ß’altenAvurf  des  Mantels 


der  Madonna  hervorgehoben  werden,  wogegen  die 
Hände  etwas  steif  ausgefallen  sind.  Bleiben  wir 
noch  eine  Weile  bei  den  Venezianern,  die  unter  den 
Italienern  sowohl  an  Zahl  als  auch  der  Güte  nach 
hier  überwiegen.  Marco  Basaiti’s  büßender  heiliger 
Hieronymus  (Nr.  7)  verrät  deutlich  den  Einfluss  Gio¬ 
vanni  Bellini’s.  Es  ist  ein  für  den  Meister  recht 
bezeichnendes  Werk,  das  mit  Nr.  281  der  Londoner 
Nationalgalerie  nicht  nur  in  der  Wahl  des  Stoffes, 
sondern  in  der  ganzen  Auffassung  und  Farbengebung 
sehr  nahe  verwandt  ist.  Auf  beiden  Bildern  Ist  der 
heil.  Hieronymus  dargestellt;  auf  dem  Londoner 
Exemplar  hält  er  einen  offenen  Folioband  auf  den 
Knieen,  auf  dem  Straßburger  dagegen  hat  er  mit 
der  rechten  Hand  einen  Stein  erfasst,  mit  der  Linken 
das  Kreuz  und  das  Gewand.  Ein  Löwe  ruht  neben 
ihm.  Beiden  Bildern  ist  eigen,  dass  die  Berge  der 
Hügellandschaft  in  einem  wahren  Zauber  von  leuch¬ 
tend  blauer  Farbe  ausgeführt  sind.  Als  Inkarnat  liebt 
Basaiti  einen  dunkelbraunen  Ton,  den  weißen  Bart 
bildet  er  in  feinen  dünnen  Fäden,  die  Modellirung 
des  Körpers  ist  eine  Avohlstudirte ,  der  Faltenwurf 
ist  majestätisch,  und  in  der  Farbe  der  Gewandung 
erblickt  man  die  Vorboten  für  das  in  der  Zukunft 
so  bedeutsam  gewordene  warme  venezianische  Ko¬ 
lorit.  Auch  von  einem  unmittelbaren  und  begabten 
Schüler  Giovanni  Bellini’s,  von  Rocco  Marconi  her¬ 
rührend,  ist  die  unten  reproduzirte  und  mit  echter 
Signatur  „rocus.  de.  marconib.“  versehene  Madonna 
mit  dem  Christuskind  (Nr.  8)  zu  der  glücklichsten 
Erwerbungen  der  Sammlung  zu  rechnen.  Der  Schüler 
schloss  sich  eng  an  das  Madonnenideal  seines  Lehrers 
an.  Aus  dem  fein  geformten  spitzovalen  Gesicht 
der  Gottesmutter  leuchtet  tiefer  Ernst,  aber  gleich¬ 
zeitig  Milde  und  Barmherzigkeit  hervor.  Leise  hat 
sie  ihren  rechten  Arm  um  das  göttliche  Kind  ge¬ 
schlungen,  während  sie  mit  der  anderen  Hand  seinen 
linken  Fuß  stützt.  Ein  feiner  Ausblick  in  die  Land¬ 
schaft  trägt  nicht  unerheblich  zu  dem  Reize  bei,  den 
das  Bild  auf  den  Betrachter  ausübt.  Das  Ganze 
zeigt  eine  bewunderungswürdige  Durchführung, 
welche  bei  dem  jungen  Künstler  eine  sichere  Pinsel¬ 
führung  voraussetzt.  Wie  köstlich  ist  die  Haar- 
behandlung  bei  der  Madonna,  wie  harmonisch  wirken 
alle  Farben,  wie  fein  und  woblüberdacbt  hebt  sich 
der  nach  außen  blaue,  nach  innen  olivengrüne  Mantel 
von  dem  roten  GeAvande  ab!  Nichts  Störendes  ist 
in  dem  Bilde,  alles  passt  zur  Stimmung  und  fordert 
den  Menschen  zur  Bewunderung  auf. 

Wenn  die  letztgenannten  Bilder  den  Einfluss 
Giovanni  Bellini’s  bekunden,  so  bringen  uns  die  drei 


DIE  NEDE  STÄDTISCHE  CEMÄLDEGALEKIE  ZU  STilASSBUKG. 


folgenden  in  die  Nähe  des  gewaltigsten  Koloristen 
Venedigs,  ln  der  heiligen  Familie  (Nr.  10)  des  Paris 
Bordone  erblickt  man  den  unmittelbaren  Schüler 
Tizian’s.  Weder  Komposition  noch  Farbe  lassen 
etwas  zu  wünschen  übrig.  Die  Gruppe  der  spielen¬ 
den  Kinder  (Christus  und  Johannes)  und  des  Joseph, 
der  in  Gedanken  vertieft  sie  beobachtet,  ferner  die 
imposante  Erscheinung  der  Elisabeth  verdienen  Be¬ 
achtung.  Nicht  weniger  ist  auch  der  durch  Boni- 
fazio  Veronese  und  Tizian  beeinflusste  Giacomo  da 
Ponte  durch  ein  gutes  Werk  vertreten.  Als  Thema 
ist  die  Verkündigung  an  die  Hirten  (Nr.  12)  gewählt. 
Der  Hauptreiz  liegt  in  der  wundervollen  Beleuch¬ 
tung  der  Landschaft  durch  den  teilweise  von  Wolken 
verdeckten  Mond,  auch  sind  die  Tiere  mit  Sorgfalt 
ausgeführt.  Ein  anderes  Bild,  das  wegen  der  Auf¬ 
fassung  des  Stoffes  fesselt,  ist  Tiutoretto's  Werbung 
des  Bacchus  um  Ariadne  (Nr.  11).  Die  Sonne  taucht 
gerade  im  Meer  unter.  Ariadne  liegt  auf  einem 
gelben  Vorhang  hingebreitet;  der  bekränzte  Bacchus, 
von  ihrer  Schönheit  hingerissen,  hält  in  den  Händen 
Trauben,  bunte  Vögel  auf  Rebgewinden  umringen 
ihn.  Herab  zu  der  Verlassenen  schwebt  die  Göttin 
der  Liebe  und  drückt  ihr  die  Krone  auf  das  Haupt. 
Unter  den  übrigen  Venezianern  sei  hier  ein  in  letzter 
Zeit  der  Galerie  einverleibtes  Bild  ganz  besonders 
hervorgehoben.  Es  ist  das  Brustbild  eines  laute¬ 
spielenden  Jünglings  (Nr.  69)  aus  der  Schule  des 
Giorgione.  Er  hat  soeben  eine  düstere  Melodie  an¬ 
gestimmt,  aus  dem  etwas  kantigen  und  braunen 
Antlitz  leuchtet  ein  Paar  schwarzer  Augen  hervor; 
wehmütig  blicken  sie  uns  an.  Ebenfalls  zu  den 
neuen  Erwerbungen  gehören  zwei  farbenreiche  Skizzen 
von  Tiepolo:  Die  Hochzeit  zu  Kana  und  die  Ehe¬ 
brecherin  vor  Christus.  Um  die  Aufzählung  der 
Venezianer  zum  Abschluss  zu  bringen,  sei  hier  eine 
fein  empfundene  Ansicht  des  Canale  Grande  mit 
dem  Ponte  Rialto  (Nr.  18)  von  F.  Guardi,  einem 
Schüler  Canaletto’s,  und  Leandro  da  Ponte’s  Nacht¬ 
stück  „Die  Vorbereitung  zu  einem  nächtlichen  Mahle“ 
(Nr.  13)  angeführt.  Diese  letzte  Bezeichnung  dürfte 
wohl  korrekter  sein  als  „Bauerngelage“. 

Der  nicht  bedeutende  Fra  Vittore  Ghislando 
von  Bergamo,  den  der  Katalog  zu  der  „venezianischen 
Schule“  zählt,  ist  durch  ein  in  der  Farbenstimmung 
wenig  günstig  wirkendes  männliches  Porträt  (Nr.  17) 
vertreten. 

Werfen  wir  noch  einen  Blick  auf  das  übrige 
Italien !  Das  Brustbild  eines  jungen  Mädchens  (Nr.  9) 
von  dem  Florentiner  Giovanfrancesco  Penni  bildet 
einen  weiteren  Schatz  der  Sammlung.  Dieses  in 


171 

London  erworbene  Bild  blieb  dem  vielseitigen  Mo- 
relli  unbekannt.  Sein  Urteil  über  die  Barberiui’sche 
Foruarina  ist  daher  umsomehr  als  eine  Frucht  lang¬ 
jähriger  Beobachtung  und  eindringenden  Studiums 
anzusehen.  Wenn  man  diese  beiden  Bilder  mit¬ 
einander  vergleicht,  muss  man  Morelli  durchaus  bei- 
püichten.  Beide  stellen  die  sogen.  Geliebte  Raphael’s 
dar,  das  Barberini’sche  Exemplar  ist  das  Werk  des 
Giulio  Pippi  genannt  Romano  —  das  Straßburger 
das  des  Penni;  nur  ist  in  dem  Straßburger  Bilde 
„diese  hässliche,  wie  eine  liederliche  Dirne  drein¬ 
schauende  Fornarina“  —  wie  Morelli  mit  Recht  die 
Barberini'sche  bezeichnet  —  ein  für  uns  nicht  ganz 
so  unsympathisches  Wesen.  Das  Gesicht  der  Buh¬ 
lerin  hat  sie  auch  hier,  nur  macht  sie  einen  etwas 
bescheidenen  Eindruck.  Verfasser  möchte  auch  glau¬ 
ben,  dass  das  Bild  sehr  gelitten  hat  und  von  einem 
anderen  Künstler  nicht  nur  restaurirt,  sondern  auch 
ganz  verändert  wurde.  Dafür  spricht  der  Umstand, 
dass  eine  starke  Querliuie  über  die  Brust  bemerk¬ 
bar  ist,  sie  gehört  zu  der  ursprünglichen  Komposi¬ 
tion;  ferner  ist  in  dem  purpurroten  Sammet  und 
dem  dunkelgelben  Damaststoff'  eine  solche  Leucht¬ 
kraft  in  der  Farbe,  wie  sie  nur  eigentlich  bei  den 
Venezianern  angetroffen  wird.  Von  dieser  Restau¬ 
ration  rührt  auch  der  dunkle  und  nun  erhöhte 
Hintergrund  her,  wodurch  der  Kopf  und  Oberkörper 
eine  leise  Vertiefung  erfahren  hat.  Aber  das  Werk 
des  Penni  bleibt  der  Kopf,  der  Hals  und  der  noch 
wenig  sichtbare  Teil  der  Brust.  Das  in  Dreiviertel¬ 
profil  gesetzte  platte  Gesicht  ist  fein  modellirt,  das 
Inkarnat  wie  bei  seiner  Madonna  mit  Kind  in  der 
Cappella  dei  Cannonici  in  St.  Peter  zu  Rom;  die 
Haarbehandlung  ist  meisterhaft  durchgeführt.  Im 
Vergleich  mit  der  Barberini’schen  ist  das  Gesicht 
länglicher  und  die  Formen  zarter,  der  Hals  ist  kürzer 
und  dünner.  Verfasser  kann  Hubert  Janitschek  nicht 
beipffichten,  wenn  dieser  wegen  des  rechts  im  Hinter¬ 
gründe  des  Bildes  angebrachten  Rades  —  das  Marter¬ 
werkzeug  der  heiligen  Katharina  —  glauben  möchte, 
dass  die  Fornarina  Katharina,  und  nicht  Margareta 
geheißen  hat.  Den  ganz  gleichen  Typus  weist  auch 
die  das  Salbgefäß  haltende  heilige  Magdalena  auf 
dem  St.  Cäcilienbilde  zu  Bologna  auf;  die  Folgerung 
aber  daraus  zu  ziehen,  dass  sie  Magdalena  hieß, 
wäre  gewiss  recht  gewagt! 

Der  Begründer  der  neuen  römischen  Schule  des 
17.  Jahrhunderts,  Andrea  Sacchi,  ist  durch  das 
mächtig  aufgefasste  Kniestück  eines  leider  für  uns 
noch  unbekannten  Camaldulensers  vorzüglich  ver¬ 
treten.  Er  malte  ja  diese  Mönche  mit  Vorliebe,  mul 

22* 


172 


DIE  NEUE  STÄDTISCBE  GEMÄLDEGALERIE  ZU  STRASSBURG. 


wer  einmal  seine  Werke  in  der  Pinakothek  des  Vati¬ 
kans  gesehen  hat,  wird  den  Eindruck,  den  sie  auf 
den  Betrachter  machen,  nicht  leicht  vergessen. 

Gehen  wir  einen  Schritt  südlicher  —  nach  Neapel ! 
Seine  Bedeutung  in  der  Geschichte  der  Malerei  hat 
es  ohne  Zweifel  dem  aus  Spanien  eingewanderten 
Jusepe  de  Ribera  zu  verdanken,  der  nicht  nur  die 
Malweise  seines  eigenen  Landes,  sondern  auch  die 
Norditaliens,  besonders  Correggio’s,  gründlich  kannte. 
Von  diesem  Meister  besitzt  die  neue  städtische  Ge¬ 
mäldegalerie  in  Nr.  14  in  dem  Kniestück  mit  der 
Darstellung  der  Apostel  Petrus  und  Paulus  ein  vor¬ 


achtete  eine  bewunderungswürdig  korrekte  Perspek¬ 
tive,  er  hat  es  so  trefflich  verstanden,  Licht  und 
Schatten  sorgfältig  gegeneinander  abzuwägen  und 
mit  wenig  Mitteln,  mit  nur  einigen  zarten  Tönen 
das  Ganze  in  Duft  und  Zauber  einzuhüllen.  Diese 
Worte  mögen  für  seine  heroische  Berg-  und  Fluss¬ 
landschaft  (Nr.  15)  gelten. 

11.  Die  Niederlande,  DeniscJdand  und  Franh'eich. 

Die  neuere  Kunstgeschichte  hat  ihre  Studien 
in  den  letzten  elahren  mit  berechtigter  Vorliebe  den 
Einzelforschungen  zugewandt.  Dank  der  streng 


Aiiljetimg  iler  Hirten.  Von  Caui.o  Crivei.li. 


zügliclies,  durch  Namensinschrift:  Joseph  Ribera 
llispanns  valentinos  civitatissetabis  academicos  ro- 
nianos  l)eglaul)igte.s  Werk.  Es  sind  großartig  und 
naturalistisch  ausgearbeitete  Gestalten  in  ernster 
Auffa.ssung  und  tadelloser  Durchführung  in  der 
'rcchnik.  Dieses  Bild  steht  den  zwei  echten  und 
bezcichnctcn  Ribera’s  in  der  Galleria  des  Principe 
t.b'ietauo  Filangieri  in  Neajiel  nur  an  Ausführung 
•  •twa  nach.  Hieran  reiht  sich,  um  damit  den  ersten 
.M  e.hluss  zu  Ende  zu  führen,  das  große  Bild  Sal¬ 
vator  Rci-.a’.s,  des  Fürsten  der  iieajiolitanischen  Maler¬ 
schule.  Dieses  allseitig  starke  Talent  war  mit  den 
‘ iehi-iumisa-ii  di-r  Malerei  wohl  vertraut,  er  beob- 


historischen  Methode  und  stilkritischen  Untersuchun¬ 
gen  ist  es  gelungen,  in  dem  bis  daher  unbekannten, 
der  van  Eyck’schen  Richtung  angehörigen  Künstler, 
dessen  Werke  man  dem  Hans  Memelinc  zuzuweisen 
pflegte,  den  zu  Valeuciennes  thätigen  und  im  Jahre 
1489  verstorbenen  Simon  Marmion  zu  erkennen. 
Am  höch, steil  geschätzt  zu  werden  verdient  —  ob¬ 
gleich  er  auch  daneben  als  Illuminator  angesehen 
war  —  sein  kleines,  ans  sechs  Täfelchen  bestehen¬ 
des  Reisealtarwerk  (Nr.  19).  Die  auf  Eichenholz  ge¬ 
malten  Bildchen  (22  x  14  cm)  haben  nebeneinander 
in  einem  Rahmen  mit  Glasverschluss  Aufstellung 
gefunden.  Auf  der  Außenseite  ist  dargestellt,  wenn 


DIE  NEUE  STÄDTISCHE  CtEMÄLDEGALERIE  ZU  STRASS UURG. 


man  das  Altar  werkchen  sich  rekonstruirt  denkt, 
links  das  Wappen  mit  dem  Wahlspruch  „nul  bien 
Sans  paine“,  rechts  ein  Totenkopf.  Die  vier  übrigen 
Darstellungen,  welche  sichtbar  waren,  wenn  das 
Reisealtärchen  geöffnet  ward,  zeigten  Gott  Vater, 
umgeben  von  musizirenden  Engeln;  die  Gestalt  des 
Todes;  den.  triumphirenden  Satan  mit  der  unter  ihm 
ano-ebrachten  Hölle;  endlich  die  Eitelkeit.  Jedes 


der  Modellirung  des  Körpers  so  fein  durchgeführteu, 
aber  keineswegs  schönen  Weibes  (siehe  die  Abbil¬ 
dung),  nicht  minder  trefflich  sind  auch  die  sie  um¬ 
gebenden  Hunde.  Die  Landschaft  entspricht  dem 
damaligen  Zeitgeist.  Und  noch  eines!  Die  mikro¬ 
skopische  Durchführung  und  koloristische  Behand¬ 
lung  streifen  an  die  feinst  ausgeführten  Miniaturen. 

Aus  der  Zeit  der  Wende  des  15.  oder  vom  An- 


Madonna  mit  dem  Christuskiud.  Vou  Rocco  Marconi, 


Bildchen  ist  mit  gleicher  Liebe  und  Freude  aus¬ 
geführt.  Aus  dem  individuellen  Antlitz  Gott  Vaters 
leuchtet  strenger  Ernst;  der  Teufel  in  seiner  Bunt¬ 
farbigkeit  und  halb  tierischen  Auffassung  ist  ein 
Schrecken  einflößendes  Ungeheuer;  in  der  stehenden 
Gestalt  des  Todes  steckt  ein  entsetzlicher  Realismus, 
eine  Öffnung  hat  sich  an  seinem  Leibe  gebildet, 
Würmer  treten  daraus  hervor,  die  Stelle  der  Ge¬ 
schlechtsteile  nimmt  eine  Kröte  ein;  nicht  minder 
realistisch  ist  die  Darstellung  der  Vanitas,  jenes  in 


fang  des  nächsten  Jahrhunderts  stammt,  gleichfalls 
der  vlämischen  Schule  angehörend,  ein  Werkstatts¬ 
bild  des  Rogier  de  la  Pasture,  die  tüchtig  komponirte 
und  durchgeführte  Kreuzabnahme  (Nr.  21).  Der 
dramatische  Pathos  ist  hier  gemäßigter,  der  Aus¬ 
druck  des  Schmerzes  geringer,  als  auf  des  Meisters 
eigenhändiger  Darstellung  im  Escurial.  Die  etwas 
spätere  Zeit  der  Vlämen  ist  durch  ein  kräftiges  männ¬ 
liches  Bildnis  (Nr.  23),  das  mit  Fragezeichen  dem  Joost 
van  Cleef,  von  dem  wir  recht  wenig  wissen,  ferner 


DIE  NEUE  STÄDTISHCE  GEMÄLDEUALEEIE  ZU  STRASSBURG. 


(Inrcli  das  in  Zeichnung  und  in  Leuchtkraft  der  Farbe 
vorzügliche  Brustbild  der  händeringenden  Magdalena 
des  Quinten  Massys  (Nr.  22)  vertreten.  Nicht  un¬ 
interessant  sind  zwei  in  den  frühesten  Anfang  des 
IG.  Jahrhunderts  zu  setzende  Brustbilder:  der  dorn- 
gekrünte  Heiland  (Nr.  20)  und  die  betende  Maria 
(Nr.  20  a);  beiden  Bildern  ist  ein  stark  braunes  In¬ 
karnat  eigen;  sie  führen  uns  vielleicht  in  die  Nähe 
des  Niederrheines.  Dagegen  trägt  die  heilige  Familie 
(Nr.  28),  die  der  Katalog,  ob  mit  Recht,  als  Art 
des  Meisters  von  Frankfurt  bezeichnet,  einen  aus¬ 
geprägten  niederrheinischen  Charakter.  Das  beste 
daran  ist  freilich  der  reiche  architektonische  Hinter¬ 
grund,  wogegen  die  ganze  Faltengebung  der  Ge¬ 
wänder  der  so  steif  sitzenden  heiligen  Frauen,  ferner 
das  gar  hölzern  aussehende  Christuskind  nur  einen 
untergeordneten,  Avenig  bedeutenden  Meister  verraten. 
Das  gleiche  muss  auch  von  dem  oberdeutschen  Bild¬ 
chen  vom  Ende  des  15.  Jahrhunderts:  Christus  am 
Kreuze  (Nr.  25)  bemerkt  werden.  Die  gar  zu  lang 
geratenen  Gestalten  mit  den  kleinen  runden  Augen 
repräsentiren  einen  Maler  von  mittlerem  Können. 

Schlimm  steht  die  Sache  mit  den  deutschen 
Meistern.  Die  Galerie  besitzt  aus  der  Blütezeit  nur 
wenige  Werke.  An  der  Spitze  steht  das  Brustbild 
eines  gelehrten  Mannes  von  mittleren  Jahren  von 
Hans  Baidung  (Nr.  24),  ein  Geschenk  des  deutschen 
Kaisers  (s.  Abb.).  Dasselbe,  bezeichnet  durch  das  ver¬ 
schlungene  Monogramm  H.  und  B.  und  die  Jahreszahl 
1538,  ist  in  jener  flotten  und  breiten  Weise,  wie  er 
in  seinen  letzten  Lebensjahren  zu  malen  pflegte,  aus¬ 
geführt.  ln  der  Lichtbehandlung  ist  der  Einfluss 
des  deutschen  Correggio  deutlich  sichtbar.  Sein 
Skizzenbuch  in  Karlsruhe  enthält  Skizzen  von  Reb- 
gewinden  (42  Stirn-  und  Rückseiten;  vor  Rosenberg 
nicht  veröffentlicht),  welche  auf  unserem  Bilde 
\'erwendung  fanden.  Lucas  Cranach’s  mit  der 
geflügelten  Schlange  und  aufrecht  stehenden  Flügeln 
bezeichneter  „Sündenfall“  (Nr.  26)  hat  etwas  ge¬ 
litten,  bewahrt  jedoch  die  dem  Haupte  der  sächsi¬ 
schen  Malerschule  eigene  Glätte.  Die  Kreuzigung 
(Nr.  27)  ist  dagegen  als  ein  fleißiges  Werkstattbild 
zu  betrachten;  lehrreich  ist  die  Vergleichung  mit 
derselben  Darstellung,  von  des  Meisters  eigener 
Hand  ausgeführt,  im  Städel’schen  Institut  (Nr.  87). 
Endlich  müssen  noch  die  zwei  Bilder  des  Barthel 
Bruyn  angeführt  werden.  Nr.  20  ist  das  Brustbild 
eines  Mannes,  Nr.  30  das  seiner  Ehegattin.  Beide 
tragen  die  Jahreszahl  1532.  Es  sind  fleißige  Ar¬ 
beiten  des  in  Köln  thätig  gewesenen  Meisters.  Die 
größte  Sorgfalt  hat  er  der  .Ausführung  dos  Pelzes 


und  des  landschaftlichen  Hintergrundes  gewandt, 
weniger  aber  ist  ihm  der  feine,  den  Kopf  der  Frau 
bedeckende  Schleier  gelungen.  Auf  der  Rückseite 
von  Nr.  30  ist  das  Bild  des  Heilands  dargestellt. 
Bruyn  hielt  entschieden  an  dem  niederländischen 
Christustypus  des  15.  Jahrhunderts  fest. 

Das  rasche  Aufblühen  der  von  Künstlern  und 
Privatbestellern  getragenen  vlämischen  und  hollän¬ 
dischen  Malerei  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  ist 
im  wesentlichen  dem  vollkommenen  Lossagen  von 
der  römischen  Schule,  ganz  besonders  aber  von  dem 
durch  Michelangelo’s  jüngstes  Gericht  hervorgeru¬ 
fenen  Manierismus  zuzuschreiben.  Von  diesen  zwei 
Schulen  besitzt '  die  neue  städtische  Gemäldegalerie 
zu  Straßburg  nicht  weniger  als  33,  und  zwar  12 
vlämische  und  21  holländische  Bilder.  Rubens’  thro¬ 
nender  Christus  (Ni*.  68)  ist  zwar  ein  durch  die  Ge¬ 
heimnisse  der  Farbenstimraung  wirkendes  Bild,  aber 
keineswegs  vollständig  vom  Amsterdamer  Altmeister 
eigenhändig  durchgeführt.  Es  ist  dem  Münchener 
Dreifaltigkeitsbild  (Nr.  749)  in  der  Komposition  nahe 
verwandt,  auch  hat  Rubens  auf  beiden  Bildern  mit 
gewohnter  Genialität  die  den  Erdenball  stützenden 
Engel  ausgeführt;  in  beiden  Bildern  kehrt  der 
gleiche,  etwas  morose  Typus  Christi  wieder.  Durch 
glückliche  Anordnung  und  besonders  dm-ch  die 
Frische  der  Farben  zeichnet  sich  seine  Skizze,  die 
heilige  Familie  (Nr.  32)  aus.  Dieselbe  ist  wohl  nur 
für  den  Kupferstich  bestimmt  gewesen.  Sein  größter 
und  bedeutendster  Schüler  van  Dyck  ist  durch  das 
Porträt  einer  vornehmen  alten  Dame  (Nr.  33)  ver¬ 
treten.  Dasselbe  stammt  aus  dem  Palazzo  Durazzo 
in  Genua  und  ist  in  der  Manier  der  in  den  genue¬ 
sischen  Aufenthalt  gehörenden  Bilder  des  Meisters 
ausgeführt.  Das  Gesicht  ist  meisterhaft  aufgefasst, 
wogegen  die  allzu  langen,  wie  Krallen  aussehenden 
Finger  Gehilfenhand  verraten.  Ihm  gehört  auch 
eine  dem  Rubens  zugewiesene  Skizze:  die  Heim¬ 
suchung  (Nr.  31)  an.  Es  ist  eine  im  Geiste  des 
Rubens  entstandene  herrliche,  aber  etwas  farben¬ 
kühle  Skizze,  welche  von  jener  Zeit,  in  der  sich  bei 
van  Dyck  gerade  die  stärksten  Eindrücke  von  des 
Lehrers  Manier  befestigt  hatten,  Zeugnis  ablegt. 
Jacob  Jordaens’  sogenannter  Breiesser  (Nr.  34)  ist 
mit  „J.  Jordaens  1652“  bezeichnet.  Die  Kasseler 
Galerie  besitzt  dasselbe  Bild  in  derselben  Größe;  es 
ist  aber  eine  Kopie  des  Straßburger  Exemplars  und 
unterscheidet  sich  von  diesem  durch  den  blond¬ 
gelockten  Knaben  am  Boden,  der  auf  dem  Kasseler 
Bilde  „kindlich  seine  natürlichen  Wasserkünste 
spielen  lässt“.  Am  Straßburger  ist  der  „Rebenzweig, 


DIE  NEUE  STADTISCFIE  GEMÄLDEGALERIE  ZU  STRASSBURG. 


welcher  das  Feigenblatt  ersetzt“,  eine  Zuthat  des 
vorigen  Jahrhunderts.  David  Teniers  d,  j.  ist  glän¬ 
zend  durch  eine  prächtig  erhaltene  und  mit  D.  Teniers 
F.  bezeichnete  Bauernschenke  vertreten  (Nr.  35). 
Das  schlichte  Interieur  wird  durch  die  trefflich  cha- 
rakterisirten  Figuren,  welche  mit  einer  bewunde¬ 
rungswürdigen  Technik  ausgeführt  sind,  belebt. 
Nicht  minder  bemerkenswert  in  seiner  Art  ist  Jan 
van  Kessel’s  Stillleben  (Nr.  42).  Das  Bild  ist  auf 
Kupfer  gemalt  und  mit  J.  V.  Kessel  F.  bezeichnet. 
Mit  erstaunlicher  Sicherheit  und  Genauigkeit  um¬ 
rahmen  eine  graue  Steinnische  Tiere  und  Pflanzen 
aller  Art;  hervorzuheben  ist  besonders  die  Eule, 
welche  ihre  im  Nest  zwitschernden  Jungen  vor  einer 
anstürmenden  Ente  schützt  —  alles  dies  in  peinlich 
sorgfältiger  Durchführung.  Gleichfalls  auf  Kupfer 
sind  die  Innenansichten  zweier  gotischer  Kirchen 
(Nr.  40  u.  41)  anzuführen.  Sie  rühren  von  der  Hand 
Peter  Neefs  d.  ä.  her.  Nr.  40  trägt  die  Meistersig¬ 
natur:  Peter  Neef  1654.  —  Von  den  übrigen  Meistern, 
Avomit  wir  die  vlämische  Schule  verlassen,  sind  noch 
die  Landschafter  zu  nennen.  Robrecht  van  den 
Hoecke  lernt  man  durch  eine  bezeichnete  und  statt¬ 
liche  Winterlandschaft  mit  Schlittschuhläufern  (Nr.  39) 
kennen.  Er  hat  nicht  nur  die  Landschaft,  sondern 
auch  die  Figuren  mit  fast  gleicher  Sorgfalt,  wie 
auf  dem  Wiener  Bilde  „Schlittschuhlaufen  im  Brüs¬ 
seler  Stadtgraben“  ausgeführt.  Es  sei  hier  gestattet 
uachzuholen,  was  der  Katalog  nicht  angiebt,  dass 
das  Bild  ein  Geschenk  des  Herrn  L.  Lachmann  zu 
Uhlenhorst  bei  Hamburg  ist.  Auf  Lucas  van  Uden’s 
.Erntelandschaft  (Nr.  38)  pa.sst  Woermann’s  treff¬ 
liches  Wort  „natürlich  heimische  Gegend“.  Er 
schildert  auch  in  dem  Straßburger  Bild  eine  schlichte, 
aber  höchst  anmutige  Landschaft  in  hochsommer¬ 
licher  Stimmung  mit  Erntefeldern.  Von  der  Arbeit 
kehren  Schnitter  heim.  Über  die  Hügellandschaft 
(Nr.  36)  in  der  Art  des  Cornelius  Huysmans  ist 
nichts  Besonderes  zu  bemerken. 

Wie  steht  es  mit  den  Holländern?  Die  wich¬ 
tige  Stellung,  welche  Thomas  de  Keyser  als  eigent¬ 
licher  Vorgänger  Rembrandt’s  in  der  Geschichte 
der  holländischen  Bildnismaler  einnimmt,  braucht 
an  dieser  Stelle  nicht  noch  besonders  hervorgehoben 
zu  werden,  wohl  aber  sein  Regentenstück  (Nr.  45),  das 
in  der  That  zu  des  Meisters  herrlichsten  Schöpfun¬ 
gen  gehört.  Sechs  Regenten  sind  um  einen  kleinen 
Tisch  gruppirt,  sie  bilden  den  Vorstand  der  Gold¬ 
schmiedegilde  und  halten  dementsprechende  Kunst¬ 
gegenstände  in  den  Händen.  Mit  ergreifender  Treue 
und  packender  Wahrheit  ist  ein  jeder  von  ihnen 


geschildert;  sie  scheinen  mit  uns  sprechen  zu  wmllen, 
ein  jeder  Kopf  ist  individuell  und  ausdrucksvoll 
und  tritt  plastisch  aus  dem  Gemälde  hervor.  Inter- 
e.ssant  ist  folgende  Erscheinung.  Einer  der  Regen¬ 
ten  ist  ausgeschlossen  worden  und  ein  anderer  nimmt 
seine  Stelle  ein.  Er  ist  im  Verhältnis  zu  den  an¬ 
deren  noch  recht  jung  und  trägt  einen  schwarzen 
Schnurrbart.  Auch  in  der  Malweise  unterscheidet 
sich  dieser  von  den  übrigen  Kameraden.  Sein  Kopf 
verrät  eine  breitere  Behandlung  mit  dem  Pinsel, 
auch  weicht  das  Inkarnat  (es  ist  rötlicher)  von  dem 
der  übrigen  ab.  Man  möchte  gerne  glauben,  dass 
dieser  Kopf  nicht  von  de  Keyser  gemalt  ist;  jeden¬ 
falls  bew^eist  derselbe,  dass  er  der  Rembran dt  sehen 
Richtung  nahe  steht,  oder  darf  hier  der  Einfluss 
Rembrandt’s  auf  de  Keyser,  von  dem  ja  ersterer  in 
seiner  Jugend  starke  Eindrücke  aufnahm,  konstatirt 
werden?  Das  Bild  ist  TDK  1627  bezeichnet;  ferner 
weist  eine  der  mittleren  Figuren  die  Jahreszahl  1636 
und  Aet.  26  auf.  Jan  van  Ravensteyn  ist  durch 
zwei  Brustbilder,  Mann  (Nr.  43)  und  Frau  (Nr.  44), 
die  Pendants  zu  einander  bilden,  gut  repräsentirt. 
Es  sind  keineswegs  hübsche  Menschen,  die  er  zu 
malen  gewohnt  Avar,  und  er  hat  sie  auch  keiues- 
Avegs  verschönert  —  darin  liegt  eben  seine  Kraft. 
Auch  sein  Frauenporträt  Nr.  395  im  Brüsseler  Mu¬ 
seum  (vgl.  Formenschatz  1889,  Nr.  152)  stellt,  Avie 
das  Straßburger  Bild  Nr.  44,  eine  biedere,  brave 
Frau  dar  —  beide  aber  sind  ein  wenig  hässlich. 
Nach  diesen  Werken  seien  zwei  Gesellschaftsbilder 
erwähnt.  Eine  musizirende  Gesellschaft  (Nr.  48),  die 
der  Katalog  dem  Leonard  Bramer  mit  Recht  mit 
Fragezeichen  zuweist,  ist  in  der  Art  des  Antoiii 
Palamedesz  gehalten.  Der  Künstler  betrachtet  das 
Objekt  als  Nebensache,  Hauptsache  für  ihn  sind 
Licht  und  Schatten.  In  dieser  Beziehung  ist  er  dem 
Rembrandt  verwandt.  Christoffel  Jacobsz  van  der 
Laenen’s  Gesellschaftsbild  (Nr.  37 )  verrät  feine  Be¬ 
obachtung  und  gediegene  Technik.  Auch  die  hollän¬ 
dische  Feinmalerei  hat  einen  würdigen  Vertreter  in 
Gabriel  Metsu’s  Parabel  vom  reichen  Mann  und  dem 
armen  Lazarus  (Nr.  47)  gefunden.  Er  unterscheidet 
sich  von  seinem  Meister  Gerard  Dou  durch  den  flüch¬ 
tigen  Auftrag  der  Farbe,  so  auch  auf  dem  Stra߬ 
burger  Bilde.  An  einer  reichbesetzten  Prunktafel 
in  einem  hohen  Saale,  zu  dem  eine  breite  Treppe 
hinaufführt,  sitzt  die  üppige  Tischgesellschaft.  Der 
arme  Lazarus  liegt  am  Fuße  der  Treppe  mit  ent¬ 
blößtem  Oberkörper,  ein  Hund  beleckt  sein  linkes 
Bein.  Ursprünglich  hat  einer  der  trunkenen  Gäste 
sein  Bedürfnis  gegen  ihn  befriedigt.  Neuerdings 


176 


DIE  NEUE  STÄDTISCHE  GEMÄLDEGALERIE  ZU  STRASSBURG. 


hat  der  Restaurator  eine  Veränderung  getroffen  — 
der  unerfreuliche  Gast  hält  jetzt  unmotivirt  eine 
kleine  Bretterwand.  Vorzüglich  ist  die  im  gelben 
Atlaskleid  die  Treppe  hinaufschreitende  graziöse 
Dienerin,  sie  trägt  eine  Schüssel  und  blickt  auf  den 
armen  Lazarus  herab.  Rechts  wird  ein  Tischtuch 
mit  Mahlzeitsüberresten  von  der  Höhe  herabgeschüt¬ 
telt,  auch  fehlt  dabei  der  hungrige  Hund  nicht.  An 
der  Balustrade  findet  sich  des  Meisters  Bezeichnung: 
G.  Metsu.  Ein  Bild,  das  ebenfalls  ein  Interieur 
schildert,  aber  von  ganz  anderem  Inhalt,  ist  das  des 
Pieter  de  Hooch  (Nr.  46).  Wir  sehen  das  Vor¬ 
zimmer  eines  vornehmen 
Hauses.  Ein  junges  Ehepaar 
ist  gerade  im  Begriff,  einen 
Spaziergang  anzutreten  und 
schreitet,  begleitet  von  einem 
Hund,  durch  das  von  Pilastern 
umgebene  Vorzimmer;  eine 
Dienerin  mit  dem  jungen 
Kinde  am  Arm  folgt  ihnen. 

Die  Thüre  eines  auf  das  Vor¬ 
zimmer  sich  öffnenden  kleinen 
Gemaches  steht  offen  und 
gewährt  durch  das  geschlos¬ 
sene  Fenster  einen  Ausblick 
in  den  Garten.  Besonders  leb¬ 
haft  wirken  die  Kostüme  des 
Ehepaares,  Avobei  auf  das 
Gewand  des  Mannes  volles 
Licht  fällt.  Das  durch  das 
verschlungene  Monogramm 
P.  11.  bezeichnete  Bild  stammt 
aus  der  Blütezeit  des  Künstlers. 

Die  Stillleben-  und  Blu¬ 
menmaler  fehlen  auch  nicht. 

Willem  Kalffs  Stillleben  (Nr.  Vanitas.  Von 

62)  kann  bestenfalls  durch 

den  Hintergrund  wirken,  aber  keineswegs  durch 
die  auf  den  Boden  hingeworfenen  Gemüse,  die  in 
keiner  Prctjxjrtion  zum  Bilde  stehen.  Dagegen 
ist  Jan  David  de  Heern’s  Stillleben  (Nr.  61)  ein 
anmutiges  Bild,  das  vielfach  an  die  Werke  Heda’s 
erinnert.  Es  trägt  die  Bezeichnung  J.  D.  heem. 
W'^enn  das  holländische  Stillleben  in  der  Galerie 
noch  kein  hervorragendes  Exemplar  aufweist,  so  ist 
durch  die  Plrwerbitng  des  Blunien.stückes  (Nr.  63) 
von  .hin  van  lluysnn  (bez.  Jan  van  Huysum  fecit) 
ein  Kapitalstück  gewonnen,  das  sowohl  in  Bezug 
auf  die  natürliche  Zusammenstellung  der  Blumen, 
als  auch  in  Bezug  auf  tadellose  Au.sführung  und 


harmonische  Farbenstimmung  seinesgleichen  wenig 
findet. 

An  Zahl  excelliren  die  Holländer  durch  die  Land¬ 
schaftsbilder.  In  Italien  oder  wenigstens  in  Er¬ 
innerung  daran  ist  Willem  de  Heusch’s  stimmungs¬ 
volle  italienische  Berg-  und  Seelandschaft  (Nr.  58) 
entstanden.  Gleichfalls  zu  der  Utrechter  Schule  ge- 
hört  Gillis  d’Hondecoeter,  dessen  Gebirg.slandschaft 
(Nr.  52)  durch  die  treue  Wiedergabe  der  Natur 
wirkt;  der  Baumschlag  ist  äußerst  sorgfältig  aus¬ 
geführt.  Alloert  van  Everdingen  verewigte  einen 
seiner  in  1640  in  Norwegen  gewonnenen  Eindrücke 
in  einer  Gebirgslandschaft  mit 
Wasserfall  (Nr.  55).  Leider 
verrät  das  Bild  noch  eine 
ziemlich  große  Befangenheit, 
besonders  in  der  Wiedergabe 
des  Wassers,  und  wirkt  auf 
den  Beschauer  etwas  kühl, 
doch  darf  nicht  vergessen 
werden,  dass  der  Künstler 
erst  ungefähr  20  Jahre  alt 
war.  In  der  Auffassung  und 
Ausführung  des  Baumschlages 
ist  mit  Willem  de  Heusch 
Friederick  de  Moucheron  ver¬ 
wandt.  Er  ist  in  der  Galerie 
durch  eine  Hügellandschaft 
mit  Wald  (Nr.  57)  vertreten. 
Letztere  hat  er  mit  Adrian 
van  de  Velde  zusammen  ge¬ 
arbeitet.  Besonders  fein  führte 
er  in  duftigen  blauen  Tönen 
die  in  der  Ferne  gelegenen 
Albanerberge  aus;  im  Vorder¬ 
grund  erblickt  man  einen  Teil 
Simon  Marmion.  von  S.  Stefano  Rotondo  in 

Rom.  Mit  besonderer  Genug- 
thuung  muss  hier  verzeichnet  werden,  dass  es 
gelungen  ist,  für  die  Galerie  zwei  prächtige  Jan 
van  Goyen  zu  erwerben.  Beide  sind  in  einem 
bräunlichen  Gesamttone  gehalten.  Sein  Dünenbild 
(Nr.  53)  mit  Strohhütten  und  einigen  Figuren, 
die  als  Stafiage  dienen,  dürfte  in  die  1630er  Jahre 
fällen,  wogegen  die  Gracht  mit  den  Schiffen  (Nr.  54) 
ein  durch  V G  und  1 643  (fehlt  im  Katalog)  be- 
zeichnetes  Werk  ist.  Letzteres  ist  eine  Mondland¬ 
schaft.  Der  Himmel  ist  mit  schweren  Wolken  be¬ 
deckt,  der  Mond  kann  nur  mit  Mühe  und  Not  das 
ruhige  Wasser  beleuchten,  es  herrscht  vollkommene 
Windstille.  Mit  wenig  Mitteln  —  denn  es  sind  nur 


DIE  NEUE  STÄDTISCHE  GEMÄLDEGALERIE  ZU  STRASSBURG. 


177 


braune  und  weiße  Farbe  zur  Verwendung  gekom¬ 
men  —  ist  hier  ein  Meisterstück  an  Stimmung  und 
Harmonie  geschaffen.  Unter  italienischem  Einfluss 
ist  eine  Flusslandschaft  beim  Hereinbrechen  des 
Abends  (Nr.  60).  Besonders  die  Art  und  Weise,  wie  das 
Gebirge  —  ähnlich  wie  bei  manchen  Venezianern 
—  durchgeführt  ist,  beweist,  dass  der  Künstler  Ita¬ 
lien  gekannt  hat.  In  Philips  Wouyerman’s  Zoll¬ 
schranke  (!)  (Nr.  49) 
erblickt  man  des 
Meisters  größte 
Eigens  chaften :  das 
Pferde-  und  Land¬ 
schaftsmalen.  Ihm 
steht  fern  Gerrit  An- 
driaensz  Berck  Hey- 
de.  Seine  zwei  Bil¬ 
der,  die  das  gleiche 
Thema  mit  wenig 
Veränderungen  be¬ 
handeln  _,  stellen 
einen  Jagdausflug 
(Nr.  50  und  51)  dar, 
stehen  aber  den 
Werken  des  Har- 
lemer  Meisters  be¬ 
deutend  nach.  Dies 
gilt  nicht  nur  für 
die  etwas  monotone 
Landschaft,  sondern 
auch  für  die  Auf¬ 
fassung  und  Behand¬ 
lung  seiner  Pferde. 

A.  van  Borssom  ist 
durch  eine  bren  nende 
Stadt  (Nr.  59)  gut 
vertreten.  Noch  sei 
nachgeholt,  dass  Nr. 

51  die  Meistersigna- 
tur  führt. 

DenVlämen  und 
Holländern  mögen  die  Franzosen  angereiht  werden. 
Sie  erweisen  der  Galerie  alle  Ehre.  Das  merk¬ 
würdigste,  und  eben  deswegen  interessanteste  Bild  ist 
ohne  Zweifel  die  Geschirrputzerin  (Nr.  66)  des 
Antoine  Watteau.  Es  ist  ein  Jugendwerk  des 
Künstlers  und  mit  dem  Kesselflicker  des  Frans  van 
Mieris  d.  ä.  (Dresden,  Nr.  1749)  in  mancher  Be¬ 
ziehung  verwandt.  Die  Jugend  werke  Watteau’s  sind 
äußerst  selten,  sie  stehen  unter  dem  Einfluss  der 
Vlämen,  besonders  Teniers,  was’  auch  auf  dem  Stra߬ 


burger  Bilde  deutlich  zu  erkennen  ist.  Wohl  atmet 
aber  Nicolas  Lancret’s  etwas  ausgelassene  Garten¬ 
gesellschaft  (Nr.  67)  den  Geist  der  damaligen  Zeit. 
Es  ist  ein  in  der  Art  des  Antoine  Watteau  auf¬ 
gefasstes  Sittenbild,  ungemein  zart  und  duftig  in 
der  Farbe.  Ein  vortreffliches  Werk  des  Gaspard 
Poussin  ist  die  Waldlandschaft  (Nr.  64)  mit  einem 
See  und  einer  Basilika,  mit  antiker  Tempelfront  an  der 

Langseite.  Ein  herr¬ 
liches  Stück  Erde  1 
Fern  von  dem  Welt¬ 
treiben,  haben  sich 
die  Hirten  mit  ihren 
Herden  um  den  See 
niedergelassen ; 
glückselige  Ruhe 
breitet  sich  über  das 
Ganze  aus.  Endlich 
sei  die  Flucht  nach 
Ägypten  (Nr.  65), 
ein  Werk  des  Jean 
Francois  Millet,  eines 
Schülers  des  vorigen, 
erwähnt.  Das  Bild 
wirkt  durch  die 
leuchtend  blauen 
Farben  desGewandes 
der  Maria  und  durch 
die  glücklich  auf- 
gefasste  Landschaft. 
Der  Auftrag  ist  da¬ 
gegen  recht  dünn. 

Nachtrag. 

Die  neue  städti¬ 
sche  Gemäldegalerie 
in  Straßburg  hat 
im  Juli  1892  eine 
Bereicherung  von 
fünfBildern,  die  teil¬ 
weise  anfangs  ohne 
Rahmen  im  Bürgermeisteramte  lagen  und  bald  der 
Galerie  einverleibt  wurden,  erfahren.  Tintoretto’s 
Kreuzabnahme  ist  ein  durch  die  Komposition  und  die 
wundervolle  Leuchtkraft  derFarben  mächtig  wirkendes 
Bild.  Dasselbe  ist  für  die  verhältnismäßig  kleine 
Summe  von  £  120  in  London  erworben  worden. 
Francesco  Torbido,  genannt  il  Moro,  hat  in  einem 
auf  Schiefer  gemalten  Bild,  die  Grablegung,  Ver¬ 
tretung  gefunden.  Er  erweist  sich  auf  demselben 
als  unter  venezianischem  Einfluss  stehend.  Die  Mai- 


Männliches  Porträt.  Von  Hans  Baldung. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  lY- 


23 


178 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


länder  Schule  repräsentirt  eine  kleine  Madonna  mit 
Kind  und  eine  Pieta  —  in  der  Richtung  des  Lionardo 
—  die  Ferraresische  eine  Anbetung  der  Hirten  von 
Garofalo  oder  Ortolano.  Zum  Schlüsse,  last  but  not 
least,  sei  die  herrliche  Landschaft  des  Claude  Lor- 
rain  angeführt. 

An  dieser  Stelle  sei  auch  der  Wunsch,  den 
schon  Hubert  Janitschek  in  der  Vorrede  zum  pro¬ 


visorischen  Katalog  aussprach,  wiederholt,  dass  die 
deutsche  Malerei  der  Blütezeit,  besonders  die  ober¬ 
rheinische  und  schwäbische,  Vertretung  finden 
möchte.  Auch  thut  ein  wissenschaftlicher  Katalog 
mit  Faksimile -Reproduktionen  der  Meistersignatu- 
ren  not. 

Straßhurg  i/E.  Dr.  GABBIEL  v.  TEREY. 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 

VON  C.  HASSE. 


IE  Annahme,  dass  Michel¬ 
angelo  eine  Statue  des  ju¬ 
gendlichen  Johannes  des 
Täufers  (Giovannino)  schuf, 
beruht  auf  einer  Notiz  bei 
Condivi^),  welcher  dersel¬ 
ben  mit  folgenden  Wor¬ 
ten  erwähnt;  „Rimpatriato 
Michelagnolo,  si  poie  a  far  di  marmo  un  Dio  d’amore 
d’eta  de  sei  anni  in  sette,  a  gracere  in  guisa  d’uom  che 
derrna:  il  quäl  vedendo  Lorenzo  di  Pier  Francesco  de’ 
Medici  (al  quäle  in  quel  mezzo  Michelagnolo  aveva 
fatto  nn  San  Giovannino)  e  giudicandolo  bellissimo“ 
etc.  Es  geht  daraus  hervor,  dass  derselbe  eine 
Jugendarbeit  des  großen  Florentiner  Meisters  war. 

Die  Notiz  wird  dann  von  Vasari  1568  in  der 
zweiten  Ausgabe  seines  Werkes  folgendermaßen 
wiederholt:  , volontier!  se  ne  tornä  a  Firenze,  e  fe 
per  Lorenzo  di  Pierfrancesco  de’  Medici  di  marmo 
un  San  Giovannino“. 

ln  R.  Valdek’s  Übersetzung  des  Condivi  (Wien, 
Brauinüller  1874),  Anmerkung  zum  Abschnitt  XVIII 
heißt  es  noch,  dass  dieser  Johannes  verschollen  sei; 
allein  in  Italien  beginnt  um  diese  Zeit  die  Ansicht 
sich  Bahn  zu  brechen,  dass  dm’  jetzt  in  Berlin  be¬ 
findliche  jugendliche  Johannes  der  Täufer  das  von 
Condivi  erwähnte  Werk  Michelangelo’s  darstelle,  und 
diese  Ansicht  wird  jetzt  von  anerkannten  deutschen 
Forschern  auf  das  lebhafteste  verfochten. 

Ein  Werk  Michelangelo’s  nimmt  das  Interesse 
der  ganzen  gebildeten  Welt  gefangen,  und  die  Frage, 
ob  ein  solches  vorliegt  oder  nicht,  erregt  die  Ge- 

1)  Vita  di  Michelagnolo  Buonarotti.  Roma.  1,553.  Quarto; 
seconda  edizione.  Firenze  1746.  Abschnitt  XVIII. 


müter  in  weiten  Kreisen.  Wird  eine  solche  Frage 
aufgeworfen,  so  muss  dieselbe  sorgfältig  und  leiden¬ 
schaftslos  geprüft  werden.  Ehe  ein  maßgebendes 
Urteil  abgegeben  werden  kann  und  bevor  man  an 
die  ästhetische  Würdigung  herantritt,  muss  das  That- 
sächliche  streng  wissenschaftlich,  naturwissenschaft¬ 
lich  möchte  ich  sagen,  durchgearbeitet  werden,  um 
so  mehr,  wenn,  wie  es  hier  der  Fall,  urkundliche 
Beweise  für  die  Urheberschaft  des  Bildwerkes  fehlen. 

Diese  streng  sachliche  Prüfung  habe  ich  meh¬ 
rere  Tage  hindurch  vor  dem  Original  und  den  Ab¬ 
güssen  der  echten  Werke  Michelangelo’s  sowohl, 
als  der  Meister  des  Quattrocento,  welche  das  Ber¬ 
liner  Museum  in  großer  Zahl  enthält,  angestellt; 
allein  bevor  ich  das  Resultat  aller  dieser  Unter¬ 
suchungen  vorbringe,  möge  es  mir  gestattet  sein, 
die  Geschichte  der  Statue  und  die  Geschichte  der 
Meinungen  über  dieselbe  vorzuführen. 

Die  Statue  wurde  1817  von  dem  Cavaliere  Ra- 
nieri  Pesciolini  für  tausend  toskanische  Frauken  in 
einer  Trödlerbude  in  Florenz  gekauft  und  in  seinen. 
Palast  nach  Pisa  gebracht.  Nach  einigen  Jahren 
ging  sie  mit  dem  Palast  in  den  Besitz  des  Grafen 
Rosselmini- Gualandi  über.  Der  Professor  Salvino 
Salvini  erklärte  dieselbe  für  eine  Jugendarbeit  des 
Buonarroti,  und  sein  Urteil  wurde  von  einer  Kom¬ 
mission  von  auserwählten  Bildhauern  bestätigt.  Bei 
Gelegenheit  der  Jahrhundertfeier  des  Michelangelo 
in  Florenz  1875  wurde  die  Statue  mit  den  Werken 
Michelangelo’s  in  der  Galerie  der  Akademie  der 
schönen  Künste  verglichen.  Der  kleinere  Teil  der 
Künstler  und  der  Aufseher  der  Museen  war  einig 
in  der  Anerkennung  als  eines  Werkes  von  Buonar¬ 
roti,  aber  der  Meinung  wurde  von  anderen  mit 
guten  Gründen  widersprochen,  weil  in  dieser  Figur 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


179 


weder  die  Form,  noch  der  besondere  Stil  des  Michel¬ 
angelo,  welcher  in  entschiedener  Form,  in  Energie 
und  StrafQieit  beruht,  zu  finden  sei.  Bei  diesem  Wider¬ 
streit  der  Meinungen  über  den  Wert  der  Statue  und 
ihre  Bedeutung  gelang  es,  sie  1880  für  das  Berliner 
Museum  zu  erwerben. 

Von  Nichtitalienern  schließt  sich  zuerst  Charles 
Heath  Wilson  i)  dem  Urteil  des  Professors  Salvini 
an  und  erklärt  die  in  Rosselmini 'sehen  Besitz  über¬ 
gegangene  Johannesstatue  für  den  Giovannino  Michel- 
angelo’s.  Das  Wesentliche  in  seinen  Ausführungen 
ist  folgendes:  «Er  hat  gerade  den  Kopf  einer  Heu¬ 
schrecke,  oder  eine  Wurzel,  welche  er  in  der  rech¬ 
ten  Hand  hält,  abgebissen  und  strebt  mit  einem  ge¬ 
wissen  Ausdruck  des  Ekels  rückwärts.  Er  macht 
den  Eindruck,  als  sei  er  im  Begriff,  vorwärts  zu 
gehen.  Die  plötzliche  Bewegung  rückwärts  wirft 
ihn  aus  seinem  Schwerpunkt,  und  er  befindet  sich 
für  den  Augenblick  in  einer  Lage,  wobei  es  mög¬ 
lich  sein  würde,  das  Gleichgewicht  aufrecht  zu  er¬ 
halten,  ohne  zu  schwanken.  Dieses  Auswählen  einer 
plötzlichen  Aktion  ist  sehr  charakteristisch  für 
Michelangelo.  Es  ist  eine  Statue  wie  die  des  Engels 
von  Bologna.  Das  Gesicht  hat  einen  ähnlichen  Typus 
jugendlicher  Schönheit,  nur  das  Haar  ist  nicht  so 
vollendet  wiedergegehen.  Die  Hände  und  Füße  sind 
hervorragend  charakteristisch  für  Michelangelo.  Er 
steht  mitten  inne  zwischen  dem  Engel  von  Bologna 
und  dem  Cupido  und  Bacchus  und  die  Abwesenheit 
des  Ausgeprägtseins  anatomischer  Kenntnis,  welches 
die  späteren  Werke  Michelangelo’s  auszeichnet,  ist 
eine  angenehme  Zugabe  dieser  schönen  Schöpfung.“ 

Einige  Jahre  später  äußert  Milanesi^)  in  einer 
Anmerkung,  dass  die  landläufige  Meinung,  wonach 
die  dem  Grafen  Rosselmini-Gualandi  gehörige  Statue 
demDonatello  zugeschrieben  werden  müsse,  unrichtig 
sei,  dass  sie  aber  eine  gewisse  Abnlicbkeit  mit  dem 
Sebastian  des  Matteo  Civitale  habe,  und  vielleicht  von 
ihm  selbst  oder  von  einem  seiner  Nacbabmer  berrübre. 
Zum  Schluss  spricht  er  sieb  bestimmter  dahin  aus, 
dass  diese  Figur  den  Stil  und  die  Hand  Civitale’s 
zeige. 

Von  allen  späteren  Forschern  ist  W.  Bode^)  der 
erste,  welcher  wiederholt  in  ausführlicher  Weise  diese 


1)  Life  and  works  of  Michelangelo  Buonarotti.  Lon¬ 
don  1876. 

2)  Vasari:  Le  vite  de  piu  excellenti  pittori,  scultori  et 
architettori  etc.  ed.  Milanesi  Tom.  11,  S.  119.  Firenze  1878. 

3)  Handbuch  der  königlich  preußischen  Kunstsammlun¬ 
gen,  Bd.  II,  S.  72.  Berlin  1881.  Italienische  Bildhauer  der 
Renaissance.  Berlin  1887,  S.  272. 


Statue  behandelt.  Das  Wesentliche  seiner  Ausfüh¬ 
rungen  besteht  in  folgendem:  «Die  Statue  stellt  Jo¬ 
hannes  den  Täufer  im  Alter  von  etwa  16  Jahren 
dar.  Die  Figur  ist  lebensgroß  und  misst  ohne  Sockel 
1,375  m.  Der  Marmor  ist  die  schöne,  unter  dem 
Namen  Crestola  bekannte  Gattung  des  carrarischen 
Marmors,  welcher  zu  Micbelangelo’s  Zeit  noch  ge¬ 
brochen  und  von  ihm  mit  Vorliebe  benutzt  wurde.“ 

Bode  nimmt  dabei  an,  dass  weder  Condivi  noch 
Vasari  die  Statue  gesehen  haben,  nicht  einmal  von 
ihrem  Aufbewahrungsorte  wussten,  und  er  weist  die 
Annahme  zurück,  dass  der  Ausdruck  Giovannino  eine 
Kindergestalt  fordere.  Derselbe  sei  recht  wohl  auf 
eine  Jünglingsgestalt  anwendbar.  „Am  anstößigsten 
für  die  meisten  Beschauer  und  von  allen  Zweiflern 
an  der  Originalität  am  stärksten  als  Grund  gegen 
die  Echtheit  hervorgehoben  ist  der  Ausdruck  des 
Kopfes.  Dass  der  stark  geöffnete  Mund  und  der  starre 
Blick  keineswegs  schön  ist,  dass  er  vielmehr  die 
anmutigen  Formen  des  Kopfes  entstellt,  wird  man 
zugeben  müssen,  ebenso  sicher  lässt  sich  aber  dieser 
Ausdruck  in  seiner  naturalistischen  Wahrheit  gerade 
als  durchaus  charakteristisch  für  Michelangelo  be¬ 
zeichnen,  sobald  man  sich  nur  das  Motiv  der  Statue 
klar  macht.  Der  Künstler  bat  sich  den  jungen  Pro¬ 
pheten  vorgestellt,  wie  er  sich  in  der  Wüste  hei  der 
Nahrung,  die  sich  ihm  darbot,  dem  Honig  von 
wilden  Bienen,  auf  seine  Laufbahn  vorbereitete.  Teils 
den  Stilanforderungen  einer  Statue  entsprechend, 
allerdings  auch  im  «naturalistischen  Streben  noch 
darüber  hinausgehend,  ist  Johannes  im  Begriff,  den 
Honig  zu  sich  zu  nehmen,  dargestellt“. 

In  dem  abgestoßenen  Gegenstände  erkennt  dann 
Bode  ein  Horn.  „Johannes  ist  im  Begriff,  den  flüs¬ 
sigen  Honig  im  Horn  zum  Munde  zu  führen,  um 
ihn  auszuschlürfen.  Daraus  ergiebt  sich  der  Aus¬ 
druck  sowohl  wie  die  Stellung,  und  beide  werden 
uns  gerade  unter  diesem  Gesichtspunkte  als  außer¬ 
ordentlich  wahr  beobachtet  erscheinen.  In  gerader 
Stellung  ließ  der  Jüngling  aus  den  Waben  in  der 
erhobenen  Linken  den  Honig  in  das  kleine  Horn  in 
seiner  Rechten  hineinträufeln,  nun  hat  er  die  Linke 
mit  der  Honigwabe  sinken  lassen,  und  indem  er  mit 
der  Rechten  das  gefüllte  Horn  nach  dem  Munde 
führt,  macht  er  mit  der  rechten  Seite  seines  Körpers 
die  Bewegung  nach  links  mit.  Die  vorgestreckte 
Zunge,  die  in  dem  offenen  Munde  sichtbar  wird, 
wird  im  nächsten  Augenblicke  den  ganzen  Inhalt 
aufnehmen,  um  denselben  —  da  er  für  den  Gaumen, 
nicht  für  den  Mund  angenehm  ist  —  sofort  dem 
Gaumen  zuzuführen.  So  ist  das  Vor  und  Nach  in 


23 


180 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


der  Bewegung  wie  im  Ausdruck  der  Statue  mit  dem 
Momente,  in  dem  sie  dargesteUt  ist,  in  glücklichster 
Weise  vereinigt  und  dem  Ganzen  gerade  dadurch 
jene  außerordentliche  Mannigfaltigkeit  gegeben,  welche 
Michelangelo’s  Gestalten  eigentümlich  ist.“ 

„Die  Vorderansicht  der  Statue  zeigt  dieses  Heraus¬ 
treten  aus  einer  Thätigkeit  in  die  andere  in  ihrer 
schärfsten  Weise,  und  zwar  in  einer  für  Michelangelo 
charakteristischen,  dem  schönen  Fluss  in  der  Be¬ 
wegung  antiker  Statuen  gerade  entgegengesetzten 
Weise.  Die  Stellung  vom  Kopf  zum  Hals,  vom  Hals 
zum  Oberkörper,  von  diesem  zu  den  Schenkeln  und 
von  den  Schenkeln  zu  den  Beinen  bildet  beinahe 
eine  Zickzacklinie.“ 

„Dagegen  bieten  die  Profilansichten,  jede  in  ihrer 
Art,  ein  höchst  anmutiges  Bild,  indem  die  eine  die 
aus  der  Thätigkeit  zur  Ruhe  gekommene  Seite  des 
Körpers,  die  andere  die  volle  ebenmäßige  Bewegung 
der  anderen  Seite  zur  Ansicht  bringt.  Auch  der 
Kopf,  dessen  Ausdruck  in  der  Vorderansicht  durch 
den  geöffneten  Mund  entstellt  wird,  zeigt  in  diesen 
Seitenansichten  ein  gefälliges  Profil  und  seine  feinen 
Verhältnisse.“ 

„Im  Gegensätze  gegen  die  vorangegangenen 
Meister  der  Frührenaissance,  mit  denen  er  die  ent¬ 
schiedene  Richtung  auf  die  Natur  gemein  hat,  ist 
er  völlig  bewusst  und  absichtlich.  Was  diesem  Jüng¬ 
ling  abgeht  an  geistigem  Inhalt,  was  ihn  der  Meister 
dem  gewählten  Motiv  zu  Liebe  an  Sicherheit  und 
Ernst  des  Ausdruckes  einbüßen  ließ,  hat  er  aufzu¬ 
wiegen  gesucht  durch  jene  eben  besprochenen  wir¬ 
kungsvollen  Kontraste  in  der  Bewegung,  wie  durch 
eine  Vollendung  in  der  Formen gebung,  welche  wir 
bei  den  Darstellungen  seiner  Vorgänger  sowohl,  wie 
bei  dem  Johannes  Raphael’s  vergeblich  sehen  wer¬ 
den,  die  aber  auch  in  den  besten  Werken  der  Grie¬ 
chen  nicht  übertroffen  wird.“ 

„Der  Giovannino  trägt  den  Stempel  Michel¬ 
angelo’s  in  Motiv  und  Bewegung,  jedoch  den  seiner 
Jugend.“ 

„Die  Jugend  werke  zeigen  die  schlichte,  treue 
Anschauung  des  Körpers  in  seiner  Oberfläche,  gegen¬ 
über  der  bewussten  anatomischen  Anschauung  seiner 
.späteren  Zeit.“ 

„Der  Bacchus  im  Bargello  ist  in  der  Form¬ 
gebung  sowohl,  als  in  der  Bewegung  auffallend  ver¬ 
wandt  mit  dem  Giovannino.  Noch  näher  steht  na¬ 
mentlich  im  Kopfe  Bacchus,  der  sich  nach  einem 
Satyr  umschaut.  Letztere  Statue  ist  aber  im  Torso 
bis  zu  den  Knieen  antik.“ 

Das  über  den  Körper  geschlungene  Baud  be¬ 


trachtet  Bode  als  ein  wesentliches  Hilfsmittel  für 
Michelangelo,  um  die  Formen  der  Brust  und  der 
Schulter  schärfer  zu  betonen.  Die  Technik  entspricht 
nach  ihm  der  Weise  Michelangelo’s.  „Die  Statue  be¬ 
sitzt  außer  der  Politur  noch  den  goldenen,  lebens¬ 
warmen  Ton,  der  durch  eine  Art  Tränkung  der  Ober¬ 
fläche  hervorgerufen  sein  muss.  Diese  findet  sich 
bei  Michelangelo  nur  bei  wenigen  seiner  früheren 
Werke.“  Er  lässt  dabei  die  Statue  kurz  vor  dem 
Bacchus  entstehen,  „welcher  dem  Giovannino  auf¬ 
fallend  verwandt  ist,  aber  in  seiner  breiteren  eigen¬ 
artigen  Auffassungs-  und  Behandlungsweise  schon 
einen  weiteren  Fortschritt  in  der  Entwickelung  des 
Künstlers  kennzeichnet“. 

„Wie  derselbe  dem  harten  knochigen  Bau  von 
Donatello’s  Charakterfiguren  —  so  sehr  der  Meister 
von  diesem  gelernt  haben  mag  —  ebenso  fern  steht, 
als  der  oberflächlichen  Anmut  der  Gestalten  Civi- 
tale’s,  welchem  das  tiefere  Verständnis  des  mensch¬ 
lichen  Körpers  überhaupt  abgeht,  so  zeigt  die  Statue 
andererseits  zugleich  noch  viel  zu  sehr  den  Einfluss 
der  naiven  Naturanschauung  des  Quattrocento,  um 
den  Gedanken  an  einen  der  Nachahmer  Michel¬ 
angelo’s,  die  gerade  die  Eigentümlichkeit  der  spä¬ 
teren  Zeit  desselben  in  karikirter,  unverstandener 
Weise  nachäfften,  gerechtfertigt  erscheinen  zu  lassen.“ 
Wie  Lippmann, ’)  so  schreibt  auch  Springer  2) 
die  Statue  dem  Michelangelo  zu.  Letzterer  äußert 
sich  aber  folgendermaßen:  „Es  lässt  sich  nicht  leug¬ 
nen,  dass  der  Giovannino  für  den  ersten  Anblick 
etwas  Befremdendes  hat  Das  Werk  offenbart  einer¬ 
seits  eine  merkwürdig  sichere,  fast  raffinirte  Technik, 
welche  für  eine  gereifte  Erfahrung  spricht,  und  be¬ 
kundet  außerdem  ein  eingehendes  Studium  der  An¬ 
tike,  geht  aber  andererseits  im  naturalistisch  behan¬ 
delten  Munde  stark  in  die  Geleise  des  Quattrocento 
zurück.  Der  Kopf  ist  nebenbei  gesagt  der  häss¬ 
lichste  Teil  der  Statue.  Hat  Michelangelo  dieselbe 
geschaffen,  so  kann  das  Disparate  und  Widerspruchs¬ 
volle  nur  aus  der  autodidaktischen  Richtung  Michel¬ 
angelo’s  geschlossen  werden.“ 

Diesen  letzten  Forschern  gegenüber  kann  sich 
H.  Grimm nicht  veranlasst  fühlen,  den  Giovannino 
dem  Michelangelo  zuzuschreiben,  doch  vermag  er 
weder  in  seinem  Buche,  noch  in  seiner  Anzeige'^) 


1)  Jahrbuch  der  königlich  preußischen  Kunstsammlun¬ 
gen  Bd.  IV,  S.  71. 

2)  Raffael  und  Michelangelo  1.  Band.  Leipzig  1883. 

3)  Leben  Michelangelo’s,  6.  Auflage. 

4)  Deutsche  Rundschau,  I.  Quartal  1891.  S.  148. 


Giovannino.  Marmorstatue  des  Berliner  Museums. 


182 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


des  Buches  von  Wölfflin  zu  sagen,  wer  sonst  die 
liebenswürdige,  zarte  Gestalt  hätte  arbeiten  können. 

Einen  sehr  entschiedenen  Standpunkt  nimmt 
Wölfflin^)  ein  und  erklärt  es  am  Schlüsse  seines  Auf¬ 
satzes  über  die  Statue,  wenn  auch  nur  in  einer  An¬ 
merkung,  als  seine  feste  Überzeugung,  dass  die  Ar¬ 
beit  in  das  16.  Jahrhundert  gehört.  Er  wendet  sich 
ganz  besonders  gegen  die  Ausführungen  Bode’s  und 
zwar  in  folgender  Weise:  „In  der  Art  der  Bewegung 
findet  Bode  das  erste  Merkmal  von  Michelangelo’s 
Stil,  allein  es  handelt  sich  hier  nicht  um  eine  ge¬ 
brochene  Bewegung,  sondern  um  eine  vielfache  Wen¬ 
dung  des  Körpers  im  Sinne  einer  gesteigerten  Zier¬ 
lichkeit.  Das  Band  findet  er  ein  kleinliches  Bra¬ 
vourstückchen,  indem  es  zweimal  um  den  Körper 
herumgeführt  ist,  ebenso  der  umgeschlagene  Rand, 
sowie  das  Hinüberführen  über  das  Schurzfell.  Der 
Baumstamm  ist  ebensowenig  wie  der  Felsboden  der 
gleiche  wie  beim  Bacchus,  der  Pieta  und  dem  David. 
Hier  ist  allerbestimmteste  Arbeit,  zähes  Gewächs, 
Ring  an  Ring,  dort  blöde,  allgemein  gehaltene  Rinde. 
Die  Wurzeln  des  Stockes  zeigen  im  Bacchus  etc. 
zähe  Kraft,  mit  der  sie  sich  in  den  Boden  einsenken. 
Beim  Giovannino  dagegen  weichlicher  Anlauf  des 
Stammes.  Der  Boden  Michelangelo’s  ist  scharfrissig 
und  schroff.  Hier  ist  die  Platte  blöde.  Wann  hat 
Michelangelo  ein  Händchen  gebildet  wie  dasjenige, 
das  hier  das  Ziegenhörnchen  fasst,  mit  niedlich  aus¬ 
gespreiztem  fünften  Fingerchen?  Bei  Buonarroti  ist 
es  ein  breites  Zugreifen  selbst  da,  wo  es  nicht  passend 
erscheint.  Bei  Arbeiten  der  älteren  Periode  kommt 
wohl  Spreizung  vor,  allein  das  Kindliche  ist  immer 
au.sgeschlossen.  Ganz  leicht  steht  der  schlanke 
Knabe  da  und  mit  der  Spitze  berührt  der  spielend 
nachgezogene  Fuß  den  Boden.  Das  Hochheben  eines 
ganz  kleinen  Hörncliens  ist  die  eigentliche  Aktion. 
Dieses  Hörnchen  aber,  dem  das  leckere  Mäulchen 
sicli  entgegensjjitzt,  ist  so  winzig  und  kommt  zudem 
zwischen  den  Fingern  so  wenig  zum  Vorschein,  dass 
man  sagen  kann,  die  ganze  Komposition  stehe  auf 
einem  Stecknadelknopf.  Dieses  reizend  erfundene 
Figürcheu  setzt  einen  Sinn  für  das  Leichtbewegte, 
Zierliclie  voraus,  der  mit  Michelaugelo’s  Art  von  An¬ 
fang  an  völlig  iin  Widerspruch  steht.“ 

Diesen  Ausführungen  Wölfflin’s  trat  alsbald 
Henkc'^)  in  einem  ausführlichen  Aufsatze  entgegen. 
Der  Kern  seiner  Ausführungen  ist  in  folgendem  ent- 

1)  Die  .Jugendwerke  ]\Iiclie]angelo’s.  München  1891.  S.  09. 

2j  Der  Giovannino  von  Michelangelo  im  Museum  zu 
Herlin.  Preußische  .lahrhücher,  .luli  bis  Dezember  1891, 
S.  44  u.  folg. 


halten:  „Wie  Michelangelo  zuweilen  gewaltige,  zu¬ 
weilen  blöde  Menschen  gebildet  habe,  so  kann  er 
auch  eine  verschiedene  Behandlungsweise  des  stei¬ 
nigen  Grundes  und  des  Baumstammes  gehabt  haben 
und  erst  von  dem  weniger  Scharfen  zu  dem  Scharf¬ 
rissigen  und  Schroffen  übergegangen  sein.  Das  Wölff- 
lin’sche  Bravourstückchen  des  Bandes  bildet  für  ihn 
kein  Hindernis,  es  Michelangelo  zuzutrauen,  denn 
„warum  soll  sich  so  ein  junger  Mann,  der  sich  durch 
eines  seiner  ersten,  frei  komponirten  Werke  bei  Lieb¬ 
habern  einführen  will,  nicht  auch  einmal  ein  kleines 
Bravourstückchen  erlauben?“  Die  Art  des  Anfassens 
des  Hörnchens  erklärt  sich  nach  ihm  durch  die  Klein¬ 
heit  desselben  und  er  sagt:  „Wie  soll  er  das  anders 
als  mit  spitzen  Fingern  anfassen?“  und  bei  seiner 
Kleinheit  heißt  es  „mit  den  verschiedenen  Fingern, 
die  es  halten  sollen,  richtig  ausgreifen,  um  es  sicher 
in  der  Schwebe  zu  halten.  Die  Hand  passt  zu  dieser 
Bestimmung,  die  sie  zu  erfüllen  hat“.  Das  Gleiche 
gilt  von  dem  rechten  Fuße.  Er  kann  nicht  anders, 
als  mit  der  Spitze  den  Boden  berühren,  da  er  von 
dem  nachschleppenden  Spielbeine  nachgeschleift  wird, 
während  der  Oberkörper  sich  auf  dem  Standbein 
vorwärts  neigt  und  wendet.“ 

„Sehen  wir  uns  nun  die  Gestalt  darauf  an, 
welche  Art  von  Haltung  ihr  der  Künstler  zum  Zwecke 
der  dargestellten  Handlung  gegeben  hat,  so  fäUt 
zunächst  rein  äußerlich  die  eckig  gebrochene  Füh¬ 
rung  der  Linien  oder  kontrastirende  Biegung  der 
Glieder  gegen  einander  auf.  Die  Hauptfrage  wird 
aber  sein,  wie  diese  Art  von  Zug  der  Umrisse,  der 
Kontrast  in  ihren  Bewegungen  von  Glied  zu  Glied 
auch  innerlich  durch  die  Bewegungen  derselben  mo- 
tivirt  ist.  Es  handelt  sich  um  eine  gebrochene  Be¬ 
wegung,  um  die  Darstellung  „zweier  aufeinander  fol¬ 
gender,  zusammenhängender  Bewegungen,  wie  sie 
nach  ihm  für  den  Michelangelo  so  recht  eigentüm¬ 
lich  ist.“  Er  steht  auf  dem  linken  Fuße  und  blickt 
nicht  nur  mit  dem  Kopfe,  sondern  wendet  auch  den 
Rumpf  nach  links,  oder  mit  anderen  Worten:  die 
Spitze  des  linken  Fußes  ist  einwärts,  wie  man  sagt, 
d.  h.  nach  links  gerichtet  im  Verhältnis  zum  Ober¬ 
körper,  weil  dieser  sich  über  ihn  nach  rechts  hin 
gewendet  hat.  Das  Spielbein  oder  hier  das  rechte, 
welches  zuvor  rechts  zur  Seite  des  Standbeines  auf¬ 
gestanden  hat,  wird  nun  vom  Oberkörper  an  der 
Hüfte  herabhängend  nachgeschleift,  und  daher  kommt 
es,  dass  es  einwärts  im  Knie  einlcnickend  mit  der 
Fußspitze  den  Boden  anstreift.  Dieses  ungewöhn¬ 
liche  Verhältnis  macht  einen  so  eigentümlich  eckig 
eingeknickten  Eindruck.“ 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


183 


Durch  die  Biegung  der  Körperteile  sucht  der 
Johannes  nach  seiner  Meinung  das  Beträufeln  des 
Körpers  mit  Honig  zu  vermeiden,  da  er  beide  Hände 
über  die  Hüfte  des  Standbeines  hinaus  hält,  und 
diese  zweckmäßige  Bewegung  gesellt  sich  dann  nach 
ihm  zu  der  anderen,  welche  das  Austrinken  des 
Hörnchens  vorbereitet. 

„Der  Eindruck  dieser  etwas  künstlerisch  ver¬ 
drehten  Bewegungskombination  ist  aber  durchaus 
nicht  etwa  ein  Bild  kraftvoller  Aktion.  Die  Drehung 
des  Oberkörpers  auf  dem  rechten  Beine  nach  rechts 
ist  ungewöhnlich,  sie  resultirt  aus  einem  schlaffen 
Sichhängenlassen.  Dazu  kommt  ferner,  dass  auch 
die  gewöhnliche  Einknickung  der  Hüfte  des  Stand¬ 
beines  hier  besonders  ausgesprochen  ist,  die  darin 
besteht,  dass  die  andere  etwas  von  ihr  hinabhängt, 
sie  selbst  aber  stark  heraustritt,  und  dies  ist  auch 
nicht  die  Folge  einer  kräftigen,  sondern  einer 
schwachen  Muskelleistung.  Also  macht  diese  Hal¬ 
tung  des  Johannes  einen  weichlich  schlaffen  Ein¬ 
druck,  und  mit  diesem  harmonirt  denn  auch  die 
schmächtig  halbwüchsige  Bildung  seines  ganzen 
Körpers.  Es  bricht  hier  eben  wie  in  keinem  frü¬ 
heren  uns  erhaltenen  Werke  von  Michelangelo  seine 
Eigenart  durch,  die  darin  besteht,  dass  die  Glieder 
in  zerstreuten  Bewegungen  durch  vereinzelte  Be¬ 
wegungsmotive  eingestellt  und  durch  eine  lässige 
oder  wenig  frische  und  kraftvolle  Muskelanstrengung 
erhalten  werden.“ 

„Die  Art  der  Bewegungen  des  Johannes  ist  der 
des  Bacchus  verwandt.  Das  Spielbein  des  Johannes 
schleppt  lässig  nach,  das  des  Bacch^is  fällt  taumelnd 
vor,  aber  beide  knicken  sie  kraftlos  ein,  und  infolge¬ 
dessen  schleift  die  Fußspitze  am  Boden.  Der  Gegen¬ 
satz  der  Zartheit  und  Plumpheit  in  beiden  Gestalten  ist 
nebensächlich  neben  dieserVerwandtschaft  der  Motive“. 

„Ferner  ist  das  Motiv  des  kolossalen  Knaben 
David  in  Florenz  eine  veränderte  Bearbeitung  des 
Motives  der  Johannesstatue.  Es  ist  ein  halbwüch¬ 
siger  Jüngling  wie  der  Johannes.  Sie  verhalten  sich 
zu  einander  wie  Spiegelbilder.  An  beiden  der  Arm 
auf  der  Seite  des  Standbeines  abwärts,  mit  der  Hand 
neben  der  Hüfte  ausgestreckt,  der  nach  der  Seite 
des  Spielbeines  dagegen  spitzwinkelig  nach  oben  mit 
der  Hand  bis  zur  Höhe  der  Schulter  gebeugt.  Das 
Spielbein  selbst  zwar  beim  Johannes  etwas  nach¬ 
schleppend,  beim  David  etwas  vorgesetzt,  aber  bei 
beiden  lässig  mit  dem  Knie  einwärts  einknickend, 
und  nur  eines  total  verschieden,  der  Blick,  die  Drehung 
des  Kopfes  beim  Johannes  über  das  Standbein,  beim 
David  über  das  Spielbein  hinaus.“ 


In  seiner  jüngsten  Schrift  kommt  Henke  dann 
noch  einmal  auf  den  Giovannino  mit  folgenden 
Worten  zu  sprechen;  „Der  Johannes  steht  schlaff 
einffeknickt  linkswärts  gewendet  auf  dem  linken  Fuß 
mit  der  Fußspitze  einwärts,  eine  sehr  ungewöhnliche 
Haltung,  da  man  sich  sonst  immer  auf  dem  einen 
Fuße  nach  der  anderen  Seite  wendet.  Warum  steht 
der  Johannes  so  nach  links  (man  könnte  sagen 
linkisch)  hin  gewendet?  Er  hat  sich  offenbar  mit 
dem  Honig  selber  die  Beine  nicht  beträufeln  wollen 
und  hat  beide,  Wabe  und  Hörnchen,  deswegen  mög¬ 
lichst  weit  über  seine  Füße  hinaus  neben  der  linken 
Hüfte  von  sich  weg  gehalten.  Und  so  hält  er  die 
Wabe  noch  und  bleibt  auch  so  stehen,  während  er 
jetzt  dazu  übergeht,  das  Hörnchen  auszutrinken. 
Also  eine  Stellungskombination  aus  einem  früheren 
und  jetzigen  Motiv.“ 

Wie  die  Dinge  nun  liegen,  glaube  ich,  wird  es 
notwendig  sein,  von  der  Frage  nach  dem  Urheber 
des  Werkes  einstweilen  gänzlich  abzusehen  und  das¬ 
selbe  lediglich  von  anatomischen  Gesichtspunkten 
aus  zu  betrachten.  Schwerlich  wird  wohl  der  fol¬ 
gende  Satz  irgend  einen  Widerspruch  erfahren: 
Jedes  wahre  Kunstiverk  muss  anatomisch  und  statisch 
richtig  at(,fgehaut  sein. 

Es  fragt  sich  nun;  entspricht  der  Giovannino 
diesen  Anforderungen?  Diese  Frage  lässt  sich  im 
allgemeinen  mit  Ja!  beantworten.  Somit  ist  der 
Statue  ein  besonderes  Lob  zu  erteilen,  wenn  auch 
dieses  Lob  nicht  uneingeschränkt  ist.  Fehler 
finden  sich,  wenn  ihrer  auch  nur  wenige  sind. 

Fehlerhaft  ist  zunächst  die  große  Breite  des 
rechten  Handrückens.  Misst  man  denselben  über 
die  Knöchel  der  vier  letzten  Finger,  so  beträgt  die 
Breite  rechts  über  1  cm  mehr  als  links,  während 
der  Unterschied  bei  halbwüchsigen  Personen  und 
Erwachsenen  höchstens  0,5  cm  zu  Gunsten  der 
rechten  Hand  betragen  soll.  Infolgedessen  er¬ 
scheint,  namentlich  von  vorne  gesehen,  die  rechte 
Hand  plump.  Unrichtig  ist  auch  das  übermäßig 
starke  Vortreten  des  äußeren  Kopfes  des  Oberarm¬ 
streckers  rechts,  wie  es  bei  der  Betrachtung  der 
Figur  von  hinten  zu  Tage  tritt. 

Merkwürdig  ist  nun  aber,  wie  trotz  des  ana¬ 
tomisch  richtigen  Aufbaues  der  Statue  dieselbe  bei 
dem  ersten  Betrachten  den  Eindruck  einer  nicht 
vollkommen  richtig  gearbeiteten  macht.  Das  rechte 
Bein,  welches  thatsächlich  und  wie  es  innerhalb  der 

1)  Vorträge  über  Plastik,  Mimik  und  Drama.  Rostock 
1892.  S.  118. 


184 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


Norm  liegt,  L5  cm  länger  ist  als  das  linke,  er¬ 
scheint  beträchtlich  kürzer  als  dieses.  Der  Grund 
liegt  meines  Erachtens  darin,  dass  das  Fell  fast 
horizontal  über  den  Körper  gelegt  ist  und  rechts 
die  Hüfte  tiefer  überschneidet  als  links. 

Im  übrigen  ist  der  Körper  so  fein  modellirt, 
lässt  den  Charakter  der  Haut,  lässt  die  unvoll¬ 
kommenen,  unausgebildeten ,  eckigen  Formen  des 
Körpers  so  ausgezeichnet  hervortreten,  dass  man, 
wenn  man  sich  auf  den  rein  anatomischen  Stand¬ 
punkt  stellt,  erklären  muss:  die  Statue  ist  schwer¬ 
lich  das  Werk  eines  ganz  jungen  Künstlers,  sondern 
lässt  in  der  Technik  und  in  der  Wiedergabe  der 
Formen  einen  erfahrenen  und  vielgewandten  Meister 
erkennen.  Statisch  lässt  sich  der  Statue  auch  nichts 
außerhalb  des  Bereiches  des  Möglichen  Gelegenes 
vorwerfen,  anders  aber  stellt  sich  die  Sache  in  dem 
Augenblicke,  wo  man  sie  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  zweiten  Forderung  betrachtet: 

Jedes  wahre  Kunstwerk  soll  das  Motiv  oder  die 
Motive  klar  und  deutlich  zeigen. 

Ist  dies  bei  dem  Giovannino  der  Fall?  Diese 
Frage  lässt  sich  nur  zum  Teil  mit  Ja!  beantworten. 

Das  Motiv  des  Honiggenusses  lässt  sich  wohl 
aus  dem  Vorhandensein  der  Honigwabe,  sowie  aus 
der  Haltung  des  Kopfes  und  des  Mundes  ahnen, 
allein  auf  welchem  Wege,  oder  besser  gesagt  mit 
welchen  Mitteln  der  Johannes  zu  diesem  Genuss 
gelangen  wird,  das  tritt  nicht  klar  hervor.  Daraus 
erklärt  es  sich  auch,  dass  Wilson  sogar  annahm,  er 
habe  einer  Heuschrecke  den  Kopf  ahgebissen,  oder 
er  sei  im  Begriff,  eine  Wurzel  zu  verspeisen,  beides 
ja  nach  der  Legende  Nahrungsmittel,  von  denen 
er  lebte.  Das  kommt  daher,  dass  das  Ziegenhörn¬ 
chen  größtenteils  durch  die  dasselbe  haltenden 
Finger  verdeckt  ist,  und  dass  das  Stück,  welches 
über  die  Hand  hinausragt,  namentlich  bei  der  Be¬ 
trachtung  von  vorne  so  nndeutlich,  unbestimmt  und 
klein  ist,  dass  es  erst  einer  ganz  genauen  Besich¬ 
tigung  bedarf,  um  über  dasselbe  zur  Klarheit  zu 
kommen.  Ich  weiß  dabei  recht  gut,  dass  oben  ein 
Stück  abgebrochen  ist,  ich  habe  aber  diesen  Umstand 
recht  wohl  in  Rechnung  gezogen,  komme  aber  doch 
dabei  zu  keinem  anderen  Resultate.  Dieser  Umstand 
in  Verbindung  mit  der  ungeschickten  Anordnung 


des  Felles,  dessen  plumper,  auf  den  Baumstamm 
niederhängender  Zipfel  auch  nicht  gerade  rühmend 
zu  erwähnen  ist,  sowie  das  in  seiner  Beziehung 
zum  Felle  durchaus  unmotivirte  Band,  welches  nur 
als  ein  Hilfsmittel  dient,  die  darunter  liegenden 
Körperformen  besser  hervorzuhehen ,  lassen  schon 
eher  auf  die  Hand  eines  jugendlichen  Künstlers 
schließen.  Diese  Erscheinungen  gestatten  aber 
auch  den  Schluss ,  dass  die  Statue  von  einem 
Künstler  geschaffen  wurde,  der  wohl  einen  ausge¬ 
bildeten  anatomischen  Sinn  nebst  tüchtigem  Wissen 
und  hoher  technischer  Fertigkeit  besaß,  dem  aber 
der  Funke  des  Genius  und  somit  auch  der  Sinn  für 
das  vollendet  Schöne  fehlte,  und  der  im  Bewusstsein 
seiner  Ohnmacht  zu  künstlichen  Mitteln  greift,  die 
wohl  zuerst  die  Aufmerksamkeit  erregen  und  ver¬ 
blüffen,  die  aber  kaum  von  wahrhaft  großen 
Künstlern  angewandt  werden  und  angewandt  zu 
werden  brauchen. 

Weiter  meine  ich: 

Jedes  wahre  Kunstwerk  muss  in  Bewegung  und 
Haltung  einfach  xmd  ebenmäßig  sein,  d.  h.  jede  im 
Motiv  nicht  liegende  und  jede  über  die  Grenze  des 
Natürlichen  hinaus  oder  bis  an  dieselbe  gehende  Be¬ 
wegung  und  Halhing  muss  vermieden  werden.  Werden 
solche  Beivegungen  und  Haltungen  dargestellt  und  zwar 
über  die  natürliche  Grenze  hinaus,  so  erscheinen  sie 
bei  dramatischen  Darstellungen  oder  bei  Darstellungen 
erhöhter  Muskelthätigkeit  als  Verzerrungen ,  gehen,  sie 
dagegen  bis  an  die  Grenze  des  Natürlichen,  so  zeigen 
sie  sich  bei  schwacher  Muskelthätigkeit  oder  in  der 
Ruhe  als  Geziertheiten. 

Wie  erscheint  nun  aber  der  Giovannino  unter 
diesen  Gesichtspunkten,  welche  man  wohl  ebenfalls 
als  zutreffend  anerkennen  wird?  An  "diesem  Ma߬ 
stabe  gemessen,  ist  die  Figur  in  jeder  Beziehung 
geziert. 

Der  Beweis  ist  leicht  zu  führen,  doch  bevor  ich 
darauf  eingehe,  möchte  ich  zuvor  noch  einiges 
über  das  Motiv,  welches  der  Statue  zu  Grunde 
liegt  und  zu  Grunde  liegen  soU,  sagen,  und  ich 
glaube  auf  diese  Weise  am  besten  zu  der  Be¬ 
antwortung  der  vorhin  aufgesteUten  Frage  überzu¬ 
leiten. 

(Schluss  folgt) 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 

(Schluss.) 


INE  wichtige  Erwerbung 
des  Berliner  Museums  ist  der 
unter  Figur  7  abgebildete 
Kopf  des  Anakreon.  Be¬ 
kanntlich  besaß  die  Samm¬ 
lung  Borghese  in  Rom  zwei 
Bildnisstatuen,  eine  stehende 
und  eine  sitzende,  von  denen 
jene  für  Tyrtaeus,  diese  für  Anakreon  erklärt 
wurde.  Durch  die  Auffindung  einer  mit  Inschrift 
versehenen  Büste  in  Rom  wurde  diese  Annahme 
als  falsch  erwiesen,  da  der  als  Anakreon  bezeich- 
nete  Kopf  offenbar  eine  Kopie  der  stehenden,  nicht 
der  sitzenden  Figur  war,  so  dass  für  diese  letz¬ 
tere  noch  der  Name  zu  suchen  bleibt.  Die  neue 
Berliner  Büste,  die  offenbar  zum  Einsetzen  in  eine 
Herme  bestimmt  war,  kommt  ohne  Zweifel  dem  Ori¬ 
ginal  von  allen  Kopien  am  nächsten,  man  darf  ver¬ 
muten,  dass  dies  eine  Bronzestatue  war,  und  zwar  die 
von  Pausanias  als  auf  der  Akropolis  befindlich  be- 
zeichnete,  die  demnach  um  die  Mitte  des  fünften 
Jahrhunderts  entstanden  sein  muss.  Der  leise  geöff¬ 
nete  Mund  und  die  Neigung  des  Kopfes,  die  auch 
in  der  kapitolinischen  Büste  erhalten  und  für  das 
Berliner  Exemplar  gleichfalls  anzunehmen  ist,  passt 
recht  wohl  zu  der  Schilderung  des  Pausanias,  nach 
der  Anakreon  singend,  und  zwar  in  Weinlaune  vor 
sich  hinsingend,  dargestellt  war.  (Fig.  7.) 

Eine  andere  bedeutsame  Erweiterung  unserer 
Kenntnis  griechischer  Denkmäler  ist  uns  durch 
die  in  Sa'ida,  dem  alten  Sidon,  gemachten  Aus¬ 
grabungen  vermittelt  worden.  Während  bei  den 
griechischen  und  römischen  Städten  gewöhnlich  die 
aus  der  Stadt  führenden  Straßen  rechts  und  links 
mit  Grabdenkmälern  besetzt  sind,  hat  man  in  Sidon 
die  Toten  bald  hier  bald  dort  in  der  ümgebuno; 

n  o 

bestattet,  indem  man  überall  da,  wo  der  leicht  zu 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


bearbeitende  Kalkstein  gefunden  wurde,  in  die  Tiefe 
ging,  um  dort  die  in  Sidon  üblichen  Grabkammern 
anzulegen.  Derartige  Grabkammern  sind  schon  seit 
langer  Zeit  bekannt  und  durchforscht  worden,  leider 
meist  so,  dass  die  Ausgrabung  nur  im  Geheimen 
vorgenommen  und  die  gewonnene  Ausbeute  unter 
Verschweigung  des  Fundortes  in  den  Handel  ge¬ 
bracht  und  in  alle  Welt  zerstreut  wurde. 

Von  hervorragender  Bedeutung  war  der  1855 
entdeckte  Sarkophag  des  Eschmunazar,  der  sich  als 
Sohn  des  Tabnit  bezeichnete,  ein  die  menschliche 
Gestalt  nachahmender  Sarkophag,  der  durch  den 
Herzog  von  Luynes  in  den  Louvre  gelangt  ist.  Um 
die  Fragen,  die  durch  seine  Auffindung  sich  auf¬ 
drängten,  zu  lösen,  wurde  1860  die  bekannte  Expe¬ 
dition  de  Syrie  unter  Renan  ausgeschickt,  doch  trotz 
aller  Nachforschungen  und  Ausgrabungen,  die 
Renan  damals  angestellt  hat,  ist  es  nicht  gelungen, 
das  Rätsel  zu  lösen.  Heute  hat  der  Zufall  darauf 
eine  Antwort  in  einer  Deutlichkeit  gegeben,  wie  man 
nie  hätte  erwarten  können,  und  zugleich  sind  eine 
Reihe  von  Denkmälern  an  das  Licht  gezogen  worden, 
die  für  die  Kunstgeschichte  von  einschneidender 
Bedeutung  sind. 

Im  Jahre  1887  grub  Mehmed  Scherif,  Eigen¬ 
tümer  eines  unfruchtbaren  Feldes,  Ayaa  genannt, 
östlich  von  Saida,  ungefähr  1550  m  vom  Meer  ent¬ 
fernt,  auf  seinem  Eigentum  nach,  um  Bausteine  zu 
gewinnen.  Am  2.  März  meldete  er  dem  Kaimakam 
von  Saida,  dass  er  auf  einen  Brunnen  von  13  m  Tiefe 
gestoßen  sei,  der  allem  Anschein  nach  zu  einer  an¬ 
tiken  Begräbnisstätte  führe.  Der  Kaimakam  sendete 
sofort  einen  Ingenieur,  Bechara,  zur  Berichterstattung 
ab,  und  dieser  gewahrte  bald,  dass  von  dem  Brunnen, 
dessen  Höhlung  gleichsam  als  centraler  Eingangs¬ 
raum  diente,  sieben,  teilweise  in  verschiedener  Höhe 
liegende  Grabkammern  zugänglich  waren,  die  sieb- 

24 


186 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


zehn  wolileFhaltene,  wenngleicli  ihres  Inhaltes  schon 
im  Altertum  beraubte  Sarkophage  aus  Kalkstein 
oder  aus  schwarzem  oder  weißem  Marmor  ent¬ 
hielten,  die  zum  Teil  mit  gut  erhaltenen  und  poly¬ 
chrom  bemalten  Skulpturen  geschmückt  waren. 
Auf  die  Nachricht  von  dieser  Entdeckung  eilte  der 
Generaldirektor  der  türkischen  Museen,  Hamdy  Bey, 
sofort  nach  Sai'da,  und  durch  seine  Bemühungen 
gelang  es,  nachdem  ein  schräg  nach  oben  geführter 
Tunnel  angelegt  war,  die  sämtlichen  Sarkophage 
innerhalb  von  25  Tagen  wohlbehalten  aus  der  Tiefe 
herauszuziehen,  nach  dem  Meere  zu  führen,  auf 
Flößen  nach  dem  Schiffe  hinzubringen,  sie  dort  zu 
verfrachten  und  glücklich  ohne  jeden  Unfall  nach 
Konstantinopel  überzuführen.  Was 
für  Schwierigkeiten  bei  diesem  Trans¬ 
port  zu  überwinden  waren,  kann 
man  ermessen,  wenn  man  hört,  dass 
der  eine  Sarkophag  3,30  m  lang  ist 
uni  ein  Gewicht  von  15  Tonnen 
besaß.  Nach  der  Ankunft  in  Kon- 
stantiuopel  sind  die  Sarkophage  bis 
zur  Fertigstellung  des  für  sie  beson¬ 
ders  bestimmten  Museums  in  einem 
Verschlage  vorläufig  aufbewahrt 
worden,  wo  der  Bildhauer  Osgan 
Effendi  die  Anfügung  aller  der  seit 
alter  Zeit  oder  neuerdings^)  abge¬ 
brochenen  Bruchstücke  unternahm; 
seit  1891  ist  der  Pavillon  vollendet 
und  künstlerisch  verziert,  so  dass  die 
Aufstellung  der  Sarkophage  darin 
hat  erfolgen  können.  Das  Gebäude, 

6-1  m  lang,  enthält  zwei  Säle,  in 
denen  die  Sarkophage  aufgestellt 
und  der  Besichtigung  durch  das  Publikum  zugängig 
gemacht  sind.  Ihre  Zahl  ist  ühiägens  inzwisclien 
nocli  gewachsen. 

Gleich  hei  dem  llerausziehen  der  Sarkophage 
hatf(!  Hamdy  Bey  das  Glück,  geleitet  durch  ein  von 
antiken  Schatzgräbern  geschlagenes  Loch,  noch  ein 
neues  unterirdisches  Grabgeniach  zu  entdecken,  in 
dem  man  unter  einer  vierfachen  Reihe  von  kolos¬ 
salen  Flatten  einen  Sarkoj)hag  von  menschlicher 

1 1  Die  Sarkophage  hatten  flurch  die  antiken  Leiclien- 
dieht;  nur  geringen  Schaden  erlitten,  viel  größeren  aber 
dtirch  die  bifl  zur  Ankunft  Hamdy  Dey’s  in  die  Gräber  ein¬ 
gedrungenen  Deaucher,  von  denen  viele  sich  nicht  gescheut 
haben,  Bruchstücke  zur  Erinnerung  sich  herabzuschlagen. 
Eines  großen  'l’cils  derselben  ist  man  glücklicherweise 
wieder  habhaft  geworden. 


Gestalt  fand,  der  außer  einer  phönizischen  Inschrift 
noch  ägyptische  Hieroglyphen  trug.  Dadurch  ist 
die  von  Renan  vergebens  angestrebte  Lösung  mit 
einemmal  gefunden:  der  in  dem  Sarkophag  Be¬ 
stattete  war  Tabnit,  der  Vater  des*  Eschmunazar, 
König  von  Sidon,  und  durch  die  ägyptischen  Hiero¬ 
glyphen  ergab  sich,  dass  der  Sarkophag  nicht  in 
Sidon  etwa  angefertigt  war,  sondern,  nachdem  er 
mehrere  Male  in  Ägypten  selbst  zur  Bestattung  ge¬ 
dient  hatte,  als  Handelsware  nach  Sidon  gelangt 
und  dort  für  das  Begräbnis  des  Königs  verwendet 
worden  war.  Dasselbe  gilt  nun  auch  für  Eschmu- 
nazar’s  Sarkophag,  bei  dem  man  die  Vorsicht  ge¬ 
braucht  hatte,  die  hieroglyphische  Inschrift  wegzu¬ 
meißeln,  und  während  man  früher 
geneigt  war,  für  den  Sarkophag  des 
Louvre  ungefähr  das  achte  vorchrist¬ 
liche  Jahrhundert  als  Entstehungs¬ 
zeit  anzunehmen,  stellt  sich  nun 
heraus,  dass  beide  Könige,  Tabnit 
sowohl  wie  Eschmunazar,  in  die 
Zeit  der  Ptolemäer  gehören. 

Was  von  den  aus  Ägypten  ein¬ 
geführten  Sarkophagen  gilt,  muss 
auch  für  die  anderen  in  den  Grab¬ 
kammern  gefundenen  Sarkophage 
gelten,  sie  sind  nicht  etwa  in  Sidon 
angefertigt  worden ,  sondern  als 
fertige,  ja  meist  wohl  schon  ander¬ 
weitig  gebrauchte  Ware  dorthin 
gelangt.  Dadurch  sind  eine  Zahl 
von  Sarkophagen  in  den  Grab¬ 
kammern  vereinigt  worden,  die  ganz 
verschiedene  Epochen  der  griechi¬ 
schen  Kunst,  von  Phidias  bis  zu 
Lysippos  hinab,  vertreten. 

Die  griechischen  Sarkophage  brauchten,  um  wert¬ 
voll  zu  erscheinen,  gar  nicht  erst  mit  Skulpturen  ver¬ 
ziert  zu  sein,  sie  sind  architektonische  Kunstwerke 
in  sich,  die  gewöhnlich  die  Form  des  Tempels  nach¬ 
ahmen,  während  bei  den  römischen  Sarkophagen  der 
Kunstwert  nur  in  der  Ausschmückung  durch  das 
Relief  liegt  und,  sobald  man  sich  dies  wegdenkt, 
ein  nacktes  Gebrauchsgefäß  übrig  bleibt.  Aber 
auch  bei  den  griechischen  Sarkophagen  wird  man 
die  mit  Skulpturen  ausgeschmückten  natürlich  in 
erste  Reihe  stellen,  besonders  wenn  die  Skulpturen 
solche  kunstgeschichtlich  wichtige  Denkmäler  sind, 
wie  in  unserem  Falle. 

Nur  vier  Sarkophage  sind  mit  Skulpturen  ver¬ 
sehen,  die  hier  kurz  erwähnt  werden  dürfen. 


Fig.  7.  Kopf  des  Anakreou. 
Nach  Jahrb.  d.  Inst.  VII,  T.  3. 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


187 


Der  erste,  offenbar  an  Zeit  älteste,  dessen  Bild¬ 
werke  man  als  den  Partbenonskulpturen  gleichzeitig 
bezeichnen  muss,  trägt  die  bekannte  Form  des 
lykischen  Sarkophags,  d.  h.  über  dem  eigentlichen 
Körper  des  Sarkophags  erhebt  sich  ein  hoher ,  mit 
einer  Art  Spitzbogen  gewölbter  Deckel.  Das  hohe 
Piedestal,  auf  dem  diese  Sarkophage  regelmäßig  zu 
stehen  pflegen,  hat  der  Händler  nicht  mit  nach 
Sidon  gebracht,  sondern  nur  den  oberen  Teil,  den 
eigentlichen  Sarkophag;  er  ist  mit  einem  Kentauren- 


phag  achtzehn  Frauengestalten  in  klagender  Hal¬ 
tung.  Alle  sind  mit  Chiton  und  darüber  mit 
Himation  bekleidet ,  das  sie  gewöhnlich  schleier¬ 
artig  über  den  Hinterkopf  gezogen  haben.  Auch 
um  die  Basis  des  Tempels  herum  zieht  sich  eine 
figurenreiche  Darstellung;  dort  sieht  man  gegen 
hundert  Personen,  die  Hirsche,  Bären  und  andere 
Tiere  jagen.  Der  Umstand,  dass  man  innerhalb 
des  Sarkophags  neben  den  Gebeinen  des  Besitzers 
die  Reste  von  vier  Jagdhunden  fand,  lässt  darauf 


Fig.  8.  Sarkophag  aus  Saida  in  Konstantinopel.  Nach  Gazette  des  Beaux-Arts,  1892,  1.  Hälfte.  S.  95. 


und  Amazonenkampf,  einer  Löwen-  und  einer  Eber¬ 
jagd  verziert. 

Während  dieser  in  dem  Stil  seiner  Skulpturen 
Anklänge  an  Phidias  zeigt,  wird  man  geneigt  sein, 
den  zweiten  Sarkophag  (vgl.  unsere  Abbildung 
Fig.  8),  der  gewöhnlich  le  sarcophage  des  pleureuses 
genannt  wird,  dem  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts 
zuzuschreiben. 

Der  Sarkophag  ist  als  ionischer  Peripteros 
gedacht,  mit  Pfeilern  statt  Ecksäulen  an  den  vier 
Ecken  und  mit  einer  zwischen  den  Säulen  sich 
hinziehenden  Balustrade.  An  diese  gelehnt  oder 
auf  ihr  sitzend  erblickt  man  rings  um  den  Sarko- 


schließen,  dass  der  Bestattete  ein  großer  Freund  der 
Jagd  war  und  dass  man  deshalb  für  ihn  den  so 
ansgeschmückten  Sarkophag  ausgewählt  hat. 

Das  Dach  des  Sarkophags  zeigt  an  den  vier 
Ecken  je  eine  gelagerte  Sphinx  und  in  den  Giebeln 
trauernde,  um  den  Leichenhügel  gelagerte  Figuren. 
Auf  die  Bestattung  bezieht  sich  auch  die  Darstel¬ 
lung  einer  Art  von  Balustrade,  die  rings  um  das 
Dach  gelegt  ist;  man  sieht  dort  den  Trauerzug, 
voraus  gehen  zwei  Pferde  des  Verstorbenen,  von 
Männern,  die  neben  ihnen  gehen,  geleitet;  darauf 
folgt  der  Kriegswagen,  darauf  ein  Viergespann,  das 
nach  der  gewöhnlichen  Deutung  den  Sarkophag  des 

24* 


188 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


Verstorbenen  zieht,  von  einem  vorausgehenden 
Manne  an  den  Zügeln  geleitet.  Gegen  die  Deutung 
auf  einen  Sarkophag  lassen  sich  aber  viele  Gründe 
Vorbringen;  erstens  würde  man  natürlich  erwarten, 
den  Sarg  in  derselben  Form  dargestellt  zu  sehen, 
wie  der  ist,  in  dem  der  zu  Ehrende  bestattet  wor¬ 
den  ist,  d.  h.  als  ionischen  Tempel;  zweitens 
müsste  der  Sarg  nicht  quer,  sondern  der  Länge 
nach,  und  zwar  auf  einen  vierrädrigen  Wagen  ge¬ 
stellt  sein;  ferner  aber  ist  es  ganz  ungewöhnlich, 
auf  einem  griechischen  Sarkophag  den  Transport 
eines  geschlossenen  Sarges  dargestellt  zu  finden,  da 
in  Griechenland,  im  Altertum  wie  noch  heute,  die 
Särge  überall  da,  wo  Bestattung  herrschte,  offen 
zum  Grabe  getragen  und  dort  erst  geschlossen  zu 
werden  pflegten.  Sind  doch  deshalb  die  Sarko- 


des  Mausoleums  in  Halikarnass;  leider  sind  hier  die 
Einzelheiten  ziemlich  zerstört.  Um  so  besser 'ist 
dafür  der  vierte,  der  sogenannte  „Alexandersarko¬ 
phag“,  erhalten;  während  nämlich  bei  den  anderen 
die  ursprünglich  alle  Flächen  deckende  Polychromie 
bis  auf  mehr  oder  weniger  geringe  Spuren  ver¬ 
schwunden  ist,  sind  hier  die  Farben  in  einer  ganz 
erstaunlichen  Frische  erhalten.  Auch  die  archi¬ 
tektonische  Form  verdient  eine  genaue  Betrachtung. 
Der  Fuß  ist  nach  Art  der  ionischen  Säulen  aus 
Hohlkehlen  und  Polstern  zusammengesetzt,']  die 
mehrfach  mit  dem  Flechtornament  überzogen  sind; 
darauf  erhebt  sich  der  viereckige  Körper  des  Sarko¬ 
phags,  der  zur  Aufnahme  des  Leichnams  dient,  auf 
allen  sechs  Seiten  mit  Darstellungen  geschmückt, 
die  uns  weiter  unten  noch  beschäftigen  werden. 


Fig.  9.  Relief  des  sog.  Alexandersarkophags  aus  Saida  in  Konstantinopel. 
Nach  Gazette  des  Beaux-Arts,  1892,  2.  Hälfte.  S.  190. 


pliage  von  Klazomenae  an  der  Oberseite  des  Unter¬ 
teils  kostbar  verziert,  während  als  Deckel  nachher 
ein  beliebiger  flacher  Stein  verwendet  wird.  Viel 
natürlicher  scheint  es  mir,  in  dem  fraglichen  Gestell 
den  gedeckten  Reisewagen  des  Verstorbenen,  der  in 
älinlicber  Form  mehrfach  vorkommt,  zu  sehen. 
Nebenbei  sei  übrigens  bemerkt,  dass  die  Art,  wie  die 
nur  in  Malerei  ausgedrückten  Zügel  von  dem  vor- 
ausgebenden  Manne  gehalten  werden,  für  die  Er¬ 
gänzung  des  Ostgiebels  in  Olympia  im  Curtius’schen 
Sinn  nicht  unwichtig  ist.  Ein  Mann,  der  das  Leib- 
ro.ss  des  Verstorbenen  führt,  und  eine  in  klagender 
Haltung  dargestellte  Figur  machen  den  Schluss. 

Der  dritte  Sarkophag,  mit  Darstellungen  aus 
dem  Leben  eines  orientalischen  Dynasten,  erinnert 
lebhaft  an  ähnliche  Sceneu  aus  dem  Reliefschmuck 


Darüber  folgt  ein  mit  kunstreichem  Mäander  ver¬ 
zierter  Architrav,  über  diesem  ein  Fries,  den  eine 
Ranke  wilden  Weins  ziert  (gelb  auf  Purpurgrund). 
Das  darüber  folgende  Dach  ist  scheinbar  mit  Mar¬ 
morziegeln  gedeckt;  Köpfe  von  Steinböcken  mit 
drei  Hörnern  dienen  als  Regenspeier,  Masken,  die 
strahlenförmig  mit  Blättern  ausgeschmückt  sind, 
als  Stirnziegel  und  Firstziegel.  Auch  die  vier 
Picken  des  Daches  sind  geschmückt,  je  mit  einem 
gelagerten  Löwen,  und  als  Giebelakroterien  dienen 
endlich  Doppelpalmetten  zwischen  zwei  geflügelten 
Greifen. 

Die  Darstellungen,  mit  denen  der  Körper  des 
Sarkophags  geschmückt  ist,  beziehen  sich  auf 
Kämpfe  zwischen  Griechen  und  Persern,  oder 
.Jagden,  bei  denen  beide  Völker  vereint  thätig  sind. 


Fig.  10  und  11.  Aphrodite,  Bronze  der  Sammlung  Tyszhiewicz  zu  Paris.  Nach  Mon.  aut.  pubbl.  per  cura  dei  Line.  I,  S.  905. 


190 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


Da  der  eine  der  Griechen  unzweifelhaft  eine  große 
Ähnlichkeit  mit  Alexander  dem  Großen  zeigt,  so 
hat  man  gleich  nach  der  Auffindung  den  Sarkophag 
mit  dem  Namen  Alexander’s  bezeichnet,  ja  unge¬ 
achtet  der  bestimmten  Nachrichten,  die  uns  über 
die  Bestattung  des  jugendlichen  Königs  in  Alex¬ 
andria  hinterlassen  sind  (so  wissen  wir  z.  B.,  dass 
dem  Augustus  der  Leichnam  Alexander's  in  Alex¬ 
andria  gezeigt  worden  ist),  hat  man  ganz  ernsthaft 
den  Versuch  gemacht,  zu  beweisen,  dass  Alexander 
in  Sidon  habe  begraben  werden  können-  Andere, 
für  welche  die  Bestattung  Alexanders 
in  Alexandria  feststand,  haben  wenig¬ 
stens  annehmen  zu  können  geglaubt, 
dass  in  dem  Sarkophag  einer  der  Gene¬ 
räle  des  Welteroberers  bestattet  worden 
sei,  zu  dessen  Ehren  die  Ausschmück¬ 
ung  des  Sarkophags  mit  der  Figur 
Alexander’s  ja  wohl  erklärlich  wäre. 

Aber  alle  diese  Deutungen  verschwin¬ 
den  vor  der  einen  Thatsache,  dass  nicht 
die  Person  Alexander’s,  sondern  die  eines 
persischen  Fürsten  in  den  Vordergrund 
als  Hauptperson  gerückt  ist;  er  ist  es, 
der  alle  Aufmerksamkeit  auf  sich  zieht, 
während  die  Figur  Alexander's  nur  als 
Nebenfigur  erscheint.  Er  ist  dargestellt, 
wie  er  mit  Hilfe  seiner  Diener  einen 
Panther  jagt,  ferner  wie  er  einen 
Griechen  nieder  wirft,  ferner  im  Kampf 
mit  einem  Löwen,  der  ein  Pferd  au  der 
Brust  gepackt  hat,  und  schließlich  im 
Kampf  mit  Alexander  selbst.  Th.Reinach, 
der  in  der  Gaz.  d.  b.  a.  1892,  I,  S.  89 
und  H,  S.  177  eine  vorläufige  Besprech- 
>mg  der  Sarkophage  giebt  (er  ist  Mit¬ 
arbeiter  an  dem  Prachtwerk  „Une 
necropole  royale  ä  Sidon,  par  Hamdy 
Bey  et  Tlieodore  Reinach,  Paris,  Leroux“),  schließt 
liieraus,  dass  der  ursprüngliche  Besitzer  des  Sarko¬ 
phags,  ein  persisclier  Dynast,  ursprünglich  Gegner 
des  Alexander  gewesen  sei,  dann  aber,  nach  der 
Besiegung  des  Königs  und  der  Übernahme  der  Herr¬ 
schaft  durch  Alexander,  als  h’reund  und  Genosse  des 
Macedoniers  aufgetreten  sei,  was  an  sich  ja  möglich 
ist.  .Jedenfalls  Averden  die  Skulpturen  dadurch  an 
das  Ende  des  vierten  .Jahrhunderts  gerückt,  eine 
Be.stimrnung,  die  mit  dem,  was  durch  stilistische 
Würdigung  derselben  sich  ergiebt,  völlig  in  Ein¬ 
klang  steht.  (Pig.  9.) 

Bevor  wir  diesen  wunderbaren  Fund  von  Sidon 


verlassen,  verlohnt  es  sich,  noch  ein  paar  Worte 
über  die  polychrome  Behandlung,  besonders  des  zu¬ 
letzt  geschilderten  Sarkophags  zu  sagen.  Die  Farben, 
die  zur  Verwendung  gekommen  sind,  sind  folgende: 
Violett,  Purpurfarbe,  Blau,  Gelb,  Rot,  Rotbraun  und 
vielleicht  eine  Art  Rußbraun;  ob  alle  diese  Farben 
einfach  oder  zusammengesetzt  sind,  steht  noch  dahin 
und  wird  vielleicht  durch  weitere  Untersuchungen 
noch  geklärt  werden,  aber  jedenfalls  sind  die  ein¬ 
mal  für  die  Verwendung  bestimmten  Farben  einfach 
verwendet  worden,  es  sind  nur  einfache,  nicht  ge¬ 
brochene  Töne  angewandt  worden.  Mit 
Recht  hat  der  Künstler,  der  die  Be¬ 
malung  der  Skulptur  übernommen  hat, 
darauf  verzichtet,  von  seiner  Palette 
her  Licht  und  Schatten  über  die  Fläche 
zu  verteilen,  nein,  er  hat  einfach  der 
Sache  entsprechend  einheitliche  Farben 
über  die  Flächen  gelegt,  indem  er  es  der 
Skulptur  überließ,  durch  Höhen-  und 
Tiefenwirkung  Licht  und  Schatten  über 
das  Ganze  auszubreiten.  Wie  voraus¬ 
zusehen  war,  sind  nicht  etwa  bloß  die 
Gewänder  durch  Farbe  hervorgehoben, 
sondern  auch  die  nackten  Körperteile  sind 
farbig  gehalten,  die  Griechen  heller,  die 
Asiaten  dunkler,  und  auch  die  Augen 
sind  genau  bezeichnet,  sowohl  die  Iris 
als  auch  die  Pupille,  und  zwar  hat  der 
Maler  den  Griechen  braune,  den  Persern 
blaue  Aiigen  gegeben.  Sobald  die  far¬ 
bigen  Tafeln  vorliegen,  die  man  in 
dem  Werke  von  Hamdy  Bey  erwarten 
darf,  wird  es  sehr  erwünscht  sein,  dass 
auch  nach  dieser  Seite  hin  für  weitere 
Kreise  durch  Nachbildungen  der  far¬ 
bigen  Reste  eine  genauere  Kenntnis  von 
der  Polychromie  der  Alten  verbreitet 
wird;  ist  doch  zu  hoffen,  dass  auf  solche  Weise 
die  mannigfachen  Vorurteile,  die  noch  heute  in 
Künstlerkreisen  besonders  gegen  die  Polychromie 
herrschen,  allmählich  verschwinden,  wenn  sie  sehen, 
was  für  wunderbare  Erfolge  mit  dieser  Färbung  zu 
erreichen  sind. 

Für  die  spätere  Zeit  ist  der  Kunstwissenschaft 
ein  Zuwachs  durch  die  Veröffentlichung  einer  herr¬ 
lichen  Bronze  zu  teil  geworden,  die  sich  in  der  be¬ 
rühmten  Sammlung  Tyszkiewicz  zu  Paris  befindet 
(Mon.  ant.  pubbl.  per  cura  dei  Line.  I,  S.  965);  sie 
soll  aus  Griechenland  stammen.  Doch  i.st,  wie  ge¬ 
wöhnlich  in  solchen  Fällen  Genaueres,  über  die  Her- 


Fig.  12.  Der  betende  Knabe, 
neue  Ergänzung. 

Nach  Arch.  Anz.  1890,  S.  165. 


NEUE  ANTIKE  KUNSTWERKE. 


19] 


kimft  nicht  zu  ei'fahren.  Die  Statuette  ist  0,263  m 
hoch,  abgesehen  von  der  Basis,  die  0,048  misst.  Die 
Arme  sind  erhalten,  sie  waren  besonders  gegossen 
und  dann  angelötet;  bei  dem  Loslösen  der  Arme 
sind  einige  Teilchen  der  Oberarme  an  den  Unter¬ 
armen  mit  sitzen  geblieben.  Die  Statuette  ist  mit 
prachtvoller  Patina  überzogen,  außer  an  einigen 
Stellen,  wo  die  unmittelbare  Nähe  von  Eisen  ihr 
Flecke  von  Eisenoxyd  zugezogen  hat,  namentlich 
auf  den  Haaren  oberhalb  der  Stirn.  Sonst  ist  sie 
vorzüglich  erhalten,  ja  sie  genießt  den  ganz  beson¬ 
deren  Vorzug,  dass  bei  ihr  die  Ohrringe  in  den  Ohr¬ 
läppchen  erhalten  geblieben  sind;  diese  bestehen  aus 
feinem  Golddraht,  auf  den  eine  Perle  aufgezogen 
ist ;  darauf  ist  der  Draht  durch  die  Ohrlöcher  ge¬ 
zogen  und  spiralförmig  um  den  unteren  Teil  bis 
zur  Perle  hin  gewickelt.  Die  Bedeutung  und  Hal¬ 
tung  der  Figur  ist  keinem  Zweifel  unterworfen,  es 
ist  Aphrodite,  die  mit  der  rechten  Hand  ihre  Brust, 
mit  der  linken  die  Scham  deckt,  also  in  der  von 
der  Venus  des  Kapitols  und  der  Mediceischen  Venus 
her  bekannten  Haltung,  die  mehr  oder  weniger  auf 
die  Knidierin  des  Praxiteles  zurückgeht.  Wie  es 
scheint,  steht  die  Bronzestatuette  dem  Werk  des 
Praxiteles  näher  als  selbst  die  kapitolinische  Statue; 
vor  allem  im  Haar,  das  hier  bei  weitem  einfacher 
und  dem  der  Knidierin  ähnlicher  ist,  als  bei  der 
Venus  Capitolina,  aber  auch  der  Körper  scheint 
strengere  Formen  aufzuweisen,  als  bei  der  kapito¬ 
linischen  Marmorfigur.  Allerdings  fehlt  bei  der  Sta¬ 
tuette  das  danebenstehende  Gefäß,  durch  welches  das 
Bad  angedeutet  und  die  Nacktheit  der  Figur  moti- 
virt  wird,  es  scheint,  als  ob  der  Hersteller  der 
Bronze  diese  Zusätze  als  solche  angesehen  habe,  die 
erst  vom  Marmorarbeiter  als  Stütze  zugefügt  wurden, 
deren  er  bei  der  Bronze  entraten  konnte.  (Fig.  10  u.  11.) 

Als  eine  wenigstens  teilweise  neu  gefundene 
Antike  darf  sich  auch  der  bekannte  „Betende  Knabe“ 
des  Berliner  Museums  darstellen.  Seine  Geschichte, 
die  bis  dahin  in  völliges  Dunkel  gehüllt  war,  hat  in 
letzter  Zeit  vielfache  Aufklärungen  erfahren;  es  hat 
sich  herausgestellt  (Jahrb.  d.  Inst.  I,  S.  8 ff.),  dass 
die  Statue  wahrscheinlich  aus  der  Sammlung  Grimani 
in  Venedig  in  den  Besitz  des  Intendanten  Nicolas 


Foucquet,  und  von  da  nach  dem  Sturz  desselben  in 
die  Sammlung  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  über- 
Seffangen  ist,  aus  der  sie  nach  kurzem  Aufenthalt 
im  Palais  Liechtenstein  Friedrich  der  Große  für  5000 
Thaler  erworben  hat.  Zugleich  ist  festgestellt  wor¬ 
den,  dass  die  Arme  der  Figur  wahrscheinlich  für 
Foucquet  in  Paris  ergänzt  worden  sind.  Der  Wunsch 
des  Sammlers  van  Branteghem  in  Brüssel,  einen 
Bronzeabguss  der  Statue  mit  neu  ergänzten  Armen 
zu  besitzen,  brachte  die  erwünschte  Gelegenheit,  der 
Frage  nach  der  Ergänzung  der  Arme  näherzutreten, 
und  so  hat  sich  durch  die  Versuche  des  Bildhauers 
Herrn  Gomansky,  der  sich  der  Unterstützung  Sie- 
mering’s  erfreuen  konnte,  herausgestellt,  dass,  wie 
Rauch  schon  bei  einer  nach  dem  betenden  Knaben 
an  gefertigten  Figur  ausgeführt  hat,  die  Arme  mehr 
gehoben  werden  und  die  Finger  einfacher  empor¬ 
gestreckt  gebildet  werden  müssen,  um  die  ursprüng¬ 
liche  Haltung  herzustellen  (Fig.  12).  Ohne  dass  man 
behaupten  kann,  dass  jetzt  dem  betenden  Knaben 
die  ursprüngliche  Haltung  wirklich  wiedergegeben 
sei,  wird  jeder  doch  einräumen,  dass  bei  der  Ver¬ 
gleichung  der  neu  gefundenen  Haltung  mit  der 
alten  jener  der  Vorzug  einer  größeren  Einheitlich¬ 
keit  und  Natürlichkeit  nicht  abzusprechen  ist. 

Wie  der  „Betende  Knabe“  in  Berlin,  hat  auch 
der  Apollo  von  Belvedere  in  letzter  Zeit  vielfache 
Beachtung  gefunden.  Es  hat  sich  herausgestellt, 
dass  die  allgemeine  Angabe,  er  sei  in  Porto  d’Anzio 
gefunden,  nicht  auf  Wahrheit  beruht,  sondern  dass 
er  in  der  Commenda  von  Grotta  ferrata  zu  Tage 
gekommen  ist  (Jahrb.  d.  Inst.  1890,  S.  50).  Auch 
ist  jetzt  sicher  geworden,  dass  der  rechte  Unterarm 
ergänzt  ist;  ja  Winter  (Jahrb.  d.  Inst.  1892,  S.  164) 
zweifelt  schon  an  der  Zugehörigkeit  des  linken 
Arms.  Ebenso  ist  man  immer  mehr  geneigt,  die 
Bedeutung  des  sog.  Stroganoff’schen  Apollo  für  die 
Ergänzung  der  linken  Hand  (mit  der  Agis)  abzu¬ 
weisen  (Bull,  mun  1889,  S.  407,  l’Apollo  del  Belve¬ 
dere  e  la  critica  moderna,  von  Gherardo  Ghirardini, 
nach  den  Untersuchungen  von  Hoffmann  in  Stra߬ 
burg),  so  dass  schließlich  die  alte  Ergänzung  mit 
dem  Bogen  doch  als  die  richtige  erscheinen  muss. 

R.  ENGELMANN. 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


Yicior  Olgijaij-]\Iatirho,  der  Urheber  der  Originalradi- 
riing  „Winter  am  See“,  die  diesem  Hefte  beigegeben  ist, 
hat  sein  Motiv  dem  Neusiedler  See  (Ödenburger  Komitat) 
entnommen,  dessen  Ufer  ihm  bereits  Stoff  zu  einer  größeren 
Radirung  (bei  Stiefbold  &  Co.  in  Berlin)  geboten  haben. 
Der  Künstler  ist  ein  Schüler  Geza  von  Meszöly’s;  er  stellt 
mit  Vorliebe  Winterbilder  dar.  Die  Unterweisung  in  der 
Radirung  verdankt  er  dem  Radirer  Th.  Alphons. 

Das  Jalireslieft  des  Wcimarisc-hen  Badirvereins  darf 
seinen  Vorgängern  mit  Fug  und  Recht  zur  Seite  treten;  es 
enthält  wiederum  vierzehn  Blatt,  die  das  Bestreben  der 
Künstler,  echte  Malerradirungen  zu  schaffen,  deutlich  er¬ 
kennen  lassen.  Den  Anfang  macht  Konrad  Ahrendfs  mit 
einem  Waldinnern,  dem  eine  Rehfamilie  als  Staffage  dient. 
Das  Blatt  ist  solid  ausgeführt;  es  könnte  einen  sehr  hüb¬ 
schen  Wandschmuck  bilden,  da  es  groß  im  Format  und  sehr 
ansprechend  ist.  Die  darauf  folgenden  Landschaften  von 
Ar/)  und  Asperger  sind  trübe  und  arm  an  Gegensätzen, 
fallen  daher  nicht  so  sehr  ins  Auge.  VorUeff lieh  wie  immer 
sind  die  Studien  von  Brendel  „Zum  Stall“,  Schafe,  die  zu 
ihrer  Behausung  getrieben  werden,  und  „Stallruhe“,  eine 
Anzahl  Schafe,  die  ein  beschaulich-verdauliches  Dasein  führen. 
Ein  Mondaufgang  von  L.  v.  Cranach  ist  satt  im  Ton,  aber 
etwas  weichlich;  viel  Selbständigkeit  und  Wahrheit  zeigt 


die  Porträtstudie  von  0.  Froelich  -,  warum  hat  der  Künstler 
aber  diesem  Kopf  das  ,, Oberstübchen“,  beschnitten?  Zu 
loben  ist  an  dem  Blatt  die  freie,  voraussetzungslose  Technik. 
Kühn,  skizzenhaft,  aber  markig  erscheinen  die  Improvisa¬ 
tionen  von  Oleichen-Bußwurnd s,  der  auf  den  Spuren  Lieber- 
mann’s  wandelt  und  es  völlig  verschmäht,  seine  Platte  zu 
ciseliren.  Des  Beschauers  Auge  muss  ergänzen,  was  der 
Künstler  absichtlich  fehlen  ließ.  Th.  von  Hagen’s  Beitrag 
„Am  Niederrhein“  spricht  für  sich  selbst,  wir  legen  es  als 
Probe  vor.  Eine  Helldunkelstudie  von  0.  Basch  ist  mit 
Behutsamkeit  und  Fleiß  ausgeführt;  das  Blatt  stellt  ein  Pär¬ 
chen  im  eifrigen  Zwiegespräch  vor.  „Sie“  hat  bei  der  Er¬ 
zählung,  die  ihr  ganzes  Interesse  in  Anspruch  nimmt,  die 
Näherei  sinken  lassen;  „er“  scheint  ein  Haudegen  in  Civil 
zu  sein,  denn  in  seinem  Gesicht  glauben  wir  eine  Schmarre 
zu  sehen,  die  über  die  Nase  geht.  Die  Scene  ist  anspruchs¬ 
loser  Art,  doch  liegt  etwas  Stillvergnügtes  darin.  Eine  Dorf¬ 
prinzessin  von  0.  Schnhi  probirt  den  Kopfputz  ihrer  Gro߬ 
mutter,  ein  gut  gezeichnetes,  aber  etwas  hausbackenes  Bild¬ 
chen  ;  eine  sumpfige  W aldlandschaft  von  0.  Weichherger 
macht  den  Beschluss.  Die  obere  Partie  des  letzten  Bildes 
ist  gut  beobachtet,  bei  der  unteren  sind  die  Massen  nicht 
wohl  gegliedert,  daher  herrscht  hier  etwas  Unklarheit. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 
•  Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


ATTISCHE  GRABRELIEFS'). 

VON  AD.  MICHAELIS. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ON  dem  reichen  Antiken¬ 
schatze,  den  das  National¬ 
museum  an  derPatissiastraße 
zu  Athen  in  seinen  Räumen 
vereinigt,  fesselt  keine  Ab¬ 
teilung  den  empfänglichen 
Sinn  des  Besuchers  in  hö¬ 
herem  Maße  als  der  große 
Saal  der  Grabreliefs.  Hier  ist  eine  Welt  von  Schön¬ 
heit  und  Anmut  vereinigt,  von  welcher  auch  die 
bedeutendsten  europäischen  Museen  nur  vereinzelte 
Bruchstücke  aufzuweisen  haben.  Sind  auch  für  den 
Kunstforscher  die  ebendort  aufbewahrten  Überbleibsel 
archaischer  Kunst  von  mindestens  gleicher  Bedeutung, 
dem  Kunstfreunde  geht  nirgends  das  Herz  so  auf  wie 
angesichts  der  sinnig  schönen  Denkmale,  mit  denen 
einst  die  alten  Athener  die  Ruhestätten  ihrer  Toten 
schmückten.  Das  Andenken  an  die  stillen  weihevollen 
Stunden,  die  ihm  deren  Betrachtung  gewährt  hat, 
wird  zu  den  köstlichsten  Erinnerungen  gehören,  die 
er  in  die  Heimat  zurückbringt. 

Nicht  so  bequem  und  ungestört  war  ein  solcher 
Genuss  vor  einem  Menschenalter,  als  den  antiken 


l'l  Die  attischen  Grabreliefs,  herausgegeben  iin  Auf¬ 
träge  der  Kais.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien  von 
Alexander  Gonxe  unter  Mitwirkung  von  Ad.  Michaelis,  Ach. 
Postolakkas,  Roh.  von  Schneider,  Ein.  Löwy,  Alfr.  Brückner. 
Berlin,  Verlag  von  W.  Spemann.  Heft  1 — 3  (Taf.  1 — 75  nebst 
Text),  1890 — 92.  —  Durch  die  Güte  der  Verlagshandlung  sind 
wir  in  den  Stand  gesetzt,  zwei  Tafeln  als  Proben  und  außer¬ 
dem  eine  bedeutende  Anzahl  weiterer  Illustrationen  im  Texte 
nach  Vorlagen  zu  bringen,  die  zum  Teil  den  schon  aus¬ 
gegebenen  Heften,  zum  Teil  den  noch  nicht  publizirten  Ta¬ 
feln  des  Werkes  entnommen  sind.  Zur  Ergänzung  dienen 
einige  Skizzen  aus  dem  in  demselben  Verlage  erschienenen 
Verzeichnis  der  Berliner  Skulpturen,  dessen  Besprechung  sich 
oben  S.  112  tl  findet. 


Skulpturen  Athens  noch  kein  gemeinsames  Unter¬ 
kommen  bereitet  war.  Die  Hauptmasse  der  Grab¬ 
reliefs  befand  sich  damals  in  dem  sog.  Theseustempel, 
aber  nur  enge  Pfade  führten  durch  den  Wirrwarr 
der  dort  aufgespeicherten  Schätze,  und  es  war  schwer, 
in  dieser  Rumpelkammer  zu  der  ruhigen  Sammlung 
zu  gelangen,  die  grade  diese  Zeugnisse  inniger  Em¬ 
pfindung  vor  allen  verlangen.  Noch  übler  stand  es 
um  die  Stücke,  denen  der  schlecht  umzäunte  Platz 
an  der  sog.  Hadriansstoa  ein  unsicheres  Obdach 
bot.  Was  davon  an  den  Wänden  befestigt  oder  auf 
dem  Boden  aufgestellt  war,  das  war  allen  Unbilden 
des  Wetters  und  allem  Übermut  der  Gassenjugend 
ausgesetzt,  und  was  die  weise  Fürsorge  des  damaligen 
Generaldirektors  der  Altertümer  mit  der  Reliefseite 
auf  den  Boden  gelegt  oder  gegen  die  Mauer  gestellt 
hatte  (es  waren  nicht  grade  die  schlechtesten  Stücke), 
das  blieb  natürlich  den  Blicken  gewöhnlicher  Sterb¬ 
licher  ganz  entzogen. 

In  solche  Zeiten  gehen  die  bescheidenen  Anfänge 
des  Werkes  zurück,  dessen  erste  Lieferungen  nun¬ 
mehr  vorliegen.  Der  Herausgeber  Alexander  Conze 
und  der  Schreiber  dieser  Zeilen  brachten  im  Sommer 
1860  einige  Monate  in  enger  Studiengemeinschaft 
in  Athen  zu,  jeder  seine  eigenen  Ziele  verfolgend  und 
jeder  des  anderen  Interessen  teilend.  Während  Conze 
seine  Aufmerksamkeit  zumeist  den  Überresten  der 
frühesten  Kunstperioden  zuwandte,  begann  ich  alle 
Grabreliefs,  die  damals  erreichbar  waren,  genau  zu 
beschreiben  und  so  weit  wie  möglich  zu  skizziren; 
denn  Skulpturen  zu  photographiren  war  damals  außer¬ 
halb  Roms  noch  wenig  üblich.  Conze  nahm  an 
diesen  Studien  eifrig  teil,  und  was  er  fand  stellte 
er  mir  zur  A'erfügung  oder  wies  mich  darauf  hin. 
Die  Absicht  ging  auf  ein  möglichst  historisch  ge¬ 
ordnetes  Verzeichnis  sämtlicher  Grabreliefs  mit 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


25 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


19  4 


einigen  Abbildungen  cbarakteristisclier  Muster.  Ähn¬ 
liche  Studien  in  Oberitalien,  im  Britischen  Museum, 
in  Paris  ergänzten  das  in  Athen  und  sonst  in  Griechen¬ 
land  gesammelte  Material.  Im  ganzen  ergaben  sich 
5 — 600  Nummern. 

Ein  Antrag  an  die  Berliner  Akademie  um  eine 
Beihilfe  zur  Ausführung  des  Plans  blieb  infolge  von 
Ed.  Gerhard’s  Tod  liegen.  Schon  sehr  bald  aber 
mussten  jene  Vorarbeiten  als  ganz  unzulänglich  er¬ 
scheinen  gegenüber  den  rasch  sich  mehrenden  Funden 
neuer  wichtiger  Stücke  in  Griechenland  selbst.  Ebenso 
ward  es  immer  deutlicher,  dass  ein  bloßer  Katalog 
den  mannigfachen  Interessen,  die  diese  Gruppe  von 
Kunstwerken  bietet,  den  gegenständlichen,  stilisti¬ 
schen,  kunstgeschichtlichen,  nicht  gerecht  werden 
könne.  Hierzu  bedurfte  es  reicher  und  guter  bild¬ 
licher  Wiedergabe,  wie  sie  sich  mittlerweile  mit 
Hilfe  der  Photographie  leichter 
erzielen  ließ.  Der  Gedanke,  eine 
möglichst  vollständige  Sammlung 
griechischer  Grabreliefs  in  Abbil¬ 
dungen  zu  veranstalten,  lag  ganz 
in  derselben  Richtung,  in  der  schon 
Gerhard  und  Brunn  mit  ihren 
Sammlungen  etruskischer  Spiegel 


und  Urnenreliefs  vorgegangen  waren 
und  in  der  zu  Anfang  der  siebziger 
Jahre  von  verschiedenen  Seiten 
Pläne  zur  Sammlung  der  römischen 
Sarkophage,  der  griechischen  Ter- 
racotten,  der  antiken  Statuen  ent¬ 
worfen  wurden.  Was  sich  für  die 
griechischen  und  lateinischen  In¬ 
schriften  ])ewährt  hatte,  durch  voll¬ 
ständige  Sammlung  und  kritische  Herausgabe  des  ge¬ 
samten  Stotfes  eine  neue  feste  Grundlage  für  die 
wissenschaftliche  Bearbeitung  zu  schaffen,  das  ward 
mehr  und  mehr  als  ebenso  notwendig  für  die  antiken 
Kunstwerke  erkannt,  wenn  die  Archäologie  von 
der  mehr  oder  weniger  zufälligen  Behandlung  un¬ 
vollständigen  Materials  zur  sicheren  methodischen 
Bewältigung  der  gesamten  künstlerischen  Über¬ 
lieferung  Vordringen  sollte.  Hier  hieß  es  viribus 
unitis  Vorgehen;  denn  dass  dergleichen  umfassende 
L’ nternehinungen  die  Kräfte  eines  einzelnen  über¬ 
schreiten,  liegt  auf  der  Hand. 

Zu  rechter  Stunde  kam  Conze,  nachdem  er  seit 
kurzem  in  Wien  ansässig  geworden  war,  auf  die 
nie  ganz  verge.ssene,  aber  doch  beiseite  geschobene 
Aiitgabe  zurück.  Am  ,3.  März  1873  legte  er  in  vollem 
Einverständnis  mit  mir  der  Wiener  Akademie  den 


Fig.  1. 

Gemalter  .liinglingskopf.  Berlin,  Nr.  734. 


Plan  einer  möglichst  vollständigen  Sammlung  der 
griechischen  Grabreliefs  vor.  Die  Akademie  gab 
alsbald  ihre  Zustimmung  zur  Ausführung,  in  der 
richtigen  Einsicht,  dass  ein  volles  Eintreten  Öster¬ 
reichs  in  die  archäologische  Mitarbeit  sich  nicht 
etwa  auf  die  Erforschung  der  heimischen  Altertümer 
beschränken  dürfe,  sondern  auch  das  Angreifen  einer 
solchen  allgemeineren  Aufgabe  größeren  Stils  er¬ 
heische.  Eine  Kommission  ward  eingesetzt,  die  Mittel 
bewilligt.  Was  wir  beide  bisher  gesammelt  hatten, 
konnte  als  Grundstock  und  als  Wegweiser  für  wei¬ 
teres  Suchen  dienen,  aber  alles  war  von  neuem 
anzufassen.  Dass  die  Photographie  so  weit  wie  irgend 
möglich  heranzuziehen  sei,  konnte  nicht  zweifelhaft 
sein,  ebensowenig,  dass  der  Haupthebel  zunächst  in 
Athen  angesetzt  werden  müsse.  Da  erwiesen  sich 
denn  die  aufopfernde  Freundschaft  und  der  wissen¬ 
schaftliche  Eifer  des  aus  Triest  ge¬ 
bürtigen,  seit  lange  in  Athen  an¬ 
sässigen  Numismatikers  Achilleus 
Postolakkas  als  überaus  hilfreich. 
Treueren,  sorgfältigeren,  zuverlässi¬ 
geren  Händen  konnte  die  Aufgabe 
nicht  anvertraut  werden,  das  weit 
verzettelte  Material,  besonders  auch 
in  schwerer  zugänglichem  Privat - 
besitz,  aufzusuchen,  photographiren 
zu  lassen  und  mit  peinlichster  Ge¬ 
nauigkeit  zu  beschreiben.  Da  ich 
im  Herbst  1873  Gelegenheit  hatte, 
die  zerstreuten  Sammlungen  Eng¬ 
lands  und  das  Leidener  Museum 
in  ähnlichem  Sinne  zu  bearbeiten 
und  da  auch  ein  Besuch  Conze’s 
in  Konstantinopel  zur  Aufnahme  der  dortigen 
Grabreliefs  geführt  hatte,  so  lag  nach  Jahresfrist 
bereits  ein  photographischer  Apparat  von  etwa 
1300  Nummern  vor,  darunter  allein  über  tausend 
Stück  aus  Attika. 

Eben  dies  unerwartete  Anwachsen  des  Stoffes 
führte  zu  einer  Beschränkung  des  ursprünglichen 
Planes.  Schon  im  Jahre  1875  ward  der  Beschluss 
gefasst,  vorläufig  nur  die  attischen  Grabreliefs  zur 
Herausgabe  vorzubereiten;  war  doch  deren  Anzahl 
inzwischen  auf  1860  Stück  gestiegen!  Innerhalb 
dieser  neuen  Grenzen  ward  das  Unternehmen  in  den 
nächsten  Jahren  nach  Kräften  gefördert,  unter  man¬ 
nigfacher  Unterstützung  von  allen  Seiten.  Paris  und 
Berlin  wurden  von  Conze  selbst,  die  Museen  Süd¬ 
frankreichs  von  seinem  Schüler  Robert  von  Schneider 
bearbeitet;  die  Litteratur  ward,  wiederum  mit  Schnei- 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


195 


der’s  Hilfe,  ausgebeutet  und  alle  älteren  Angaben 
„verzettelt“;  in  W.  Spemann  ward  der  kunstsinnige 
Verleger  gewonnen,  der  in  einer  nicht  dankbar  genug 
anzuerkennenden  Weise  in  das  Unternehmen  eintrat; 
L.  Jacoby  nahm  sich  der  Leitung  und  Überwachung 
der  künstlerischen  Wiedergabe  an.  Alles  schien  einen 
baldigen  Beginn  der  Herausgabe  zu  versprechen. 

Die  von  Corize  geleitete  zweifache  Expedition 
nach  Samothrake,  seine  Übersiedelung  an  das  Berliner 
Museum  im  Jahre  1877,  undhald  darauf  die  wiederum 


Fig.  2.  Grabstele  der  Myrtia.  (Nach  Att.  Grabr.  Taf.  29.) 

unter  seiner  Leitung  unternommenen  Ausgrabungen 
in  Pergamon  brachten  eine  neue  Unterbrechung. 
Die  Grahreliefs  traten  mehr  in  den  Hintergrund, 
wenn  sie  auch  niemals  ganz  aus  den  Augen  gelassen 
wurden.  Einmal  z.  B.  konnte  Conze  sich  in  Athen 
eine  Zeitlang  der  Revision  des  bisher  gesammelten 
Apparates  widmen.  Dabei  erwiesen  sich  Fr.  Stud- 
niczka  und  P.  Wolters  als  hilfreich,  und  besonders 
förderlich  war  es,  dass  Em.  Löwy  sich  bereit  finden 
ließ,  die  von  Conze  nur  begonnene  mühselige  Ver¬ 
gleichung  aller  Materialien  mit  den  Originalen  wirk¬ 
lich  zu  Ende  zu  führen  und  durch  eigene  Skizzen 


der  noch  fehlenden  Stücke  zu  ergänzen.  Nichts 
fehlte  als  die  von  dem  Herausgeber  schmerzlich  ent¬ 
behrte  Muße,  die  ihm  erlaubt  hätte,  seine  Arbeits¬ 
kraft  vorzugsweise  für  dieses  Unternehmen  einzu¬ 
setzen.  Diese  fand  Conze  erst,  seit  er  im  Jahre 
1887  aus  der  Stellung  am  Berliner  Museum  aus¬ 
geschieden  war  und  als  Generalsekretär  des  kais. 
deutschen  archäologischen  Instituts  sich  ganz  dessen 
Aufgaben  widmen  konnte.  Zu  diesen  gehörte  nun¬ 
mehr  auch  die  Herausgabe  der  attischen  Grabreliefs. 


Fig.  3.  Mann  nud  Kind.  (Nach  Att.  Grabr.) 


Denn  nachdem  die  Wiener  Akademie  für  ihre  sehr 
liberalen  Aufwendungen  das  Jahr  1883  als  Grenze 
gesetzt  hatte,  war  das  archäologische  Institut  mit 
einem  jährlichen  Geldbeiträge  an  ihre  Stelle  getreten, 
da  es  durchaus  notwendig  erschien,  den  beständigen 
Zuwachs  an  neu  auftauchenden  Grabreliefs  der  Samm¬ 
lung  nicht  verloren  gehen  zu  lassen.  Mit  Hilfe  dieser 
Unterstützung  kamen  denn  auch  noch  reichlich  300 
Photographieen  aus  Athen  zu  dem  früheren  Bestände 
hinzu.  Den  Abschluss  fanden  diese  Vorbereitungen 
in  Reisen  Conze’s  nach  Paris  und  London,  wo  die 
Aufzeichnungen  und  Skizzen  älterer  Reisender,  na- 

25* 


196 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


meutlicli  des  französischen  Konsuls  Fauvel,  ausge¬ 
beutet  wurden. 

Die  Tafeln  waren  mittlerweile  zum  großen  Teil 
hergestellt  worden.  Bei  den  hervorragenden  oder 
wegen  ihrer  Technik  interessanten  Reliefs  ist,  soweit 
die  Aufstellung  eine  ganz  genügende  Aufnahme  ge¬ 
stattet  hat,  die  Heliogravüre  angewandt  worden; 
auserlesene  Stücke  sind  auch,  namentlich  wo  eine 
direkte  mechanische  Wiedergabe  sich  verbot,  in  Ra¬ 
dirung  ausgeführt  Avorden.  Diese  Haupttafeln  werden 
durch  andere  Blätter  ergänzt,  auf  denen  Wieder¬ 
holungen  und  geringe  Variationen,  fragmentirte  oder 
geringwertige  Stücke  in  bescheidener  Größe  und 
einfachen  Umrissen  zusammengestellt  werden.  Ein 
solches  Verfahren  ergiebt  sich  von  selbst  bei  der 
vielfach  handwerksmäßigen  Wiederholung  der  glei¬ 
chen  Typen  und  bei  der  Überfülle  des 
Stoffes ;  ist  doch  das  ganze  Werk  auf 
450  Tafeln  berechnet!  Für  ganz  unbedeu¬ 
tende,  unerreichbare  oder  verschollene 
Stücke  tritt  die  bloße  Beschreibung  an 
die  Stelle  bildlicher  Wiedergabe.  Der 
Text  giebt  zu  jedem  einzelnen  Stück  die 
notwendigen  thatsächlichen  Angaben,  wäh¬ 
rend  die  allgemeinen  Erörterungen  bis 
zum  Schluss  aufgespart  bleiben.  Um  aber 
allen  Angaben  die  größtmögliche  Zuver¬ 
lässigkeit  zu  sichern,  geht  jeder  Textbogen 
vor  dem  Druck  nach  Athen  zu  einer  noch¬ 
maligen  Revision  vor  den  Originalen,  der 
sich  die  Sekretäre  des  dortigen  deutschen 
archäologischen  Instituts,  zumal  der  zweite, 

Paul  Wolters,  in  hingehender  Weise  widmen,  mit 
ihnen,  so  lange  er  in  Athen  weilte,  Alfr.  Brückner, 
ferner  Erich  Pernice  und  andere  jüngere  Angehörige 
des  Instituts.  Brückner,  der  durch  seine  Schrift  über 
„Ornament  und  Form  der  attischen  Grabstelen“ 
(Weimar  1&S6)  und  durch  einige  weitere  Ai'beiten 
eine  Anzahl  wichtiger  einschlägiger  Punkte  aufgehellt 
hat,  ist  seitdem  nach  Berlin  übergesiedelt  und  geht 
Conze  bei  der  Herausgabe  zur  Hand. 

Diese  ])arlegungen  können  Fernerstehenden 
zeigen,  Avie  mülisam  und  kostsjiielig  die  Vorarbeiten 
dieses  Avie  eines  jeden  ähnlichen  Avissenschaftlichen 
Unternehmens  sich  gestalten;  wie  es  dazu  der  Ein¬ 
sicht  und  der  Opferbereitwilligkeit  einer  mit  großen 
Mitteln  ausgestatteten  Avissenschaftlichen  Körper¬ 
schaft,  wie  hier  der  Wiener  Akademie,  bedarf;  Avelche 
Geduld  und  Ausdauer  von  seiteji  des  Herausgebers, 
welch  opferbereites  und  nur  auf  die  Sache  schauendes 
Zusammenwirken  aller  Mitarbeiter  und  Mitforscher 


erforderlich  ist,  damit  ein  Werk  zustande  komme, 
welches  nicht  für  den  Augenblick  blenden,  sondern 
ein  bleibender  Besitz  der  Wissenschaft  sein  soll. 

Bei  umfassenden,  nach  Vollständigkeit  des  Stoffes 
strebenden  Sammelwerken,  wie  den  „Attischen  Grab¬ 
reliefs“,  kommt  sehr  viel  auf  eine  zweckmäßige  An¬ 
ordnung  an.  Auf  den  ersten  Blick  scheint  nichts 
einfacher,  und  in  der  Tat  liegt  nichts  mehr  im  Zuge 
der  heutigen  Forschung,  als  die  geschichtliche  Ent- 
Avickelung  dieser  Denkmälerklasse  zum  leitenden 
Faden  zu  machen.  Allein  so  leicht  es  ist,  die  großen 
Massen  der  Reliefs  nach  ihrer  historischen  Aufein¬ 
anderfolge  zu  scheiden,  so  schwierig  wird  die  Auf¬ 
gabe,  sobald  es  gilt,  jedem  einzelnen  Stücke  seinen 
Ijestimmten  Platz  anzuweisen.  Ohne  starke  Sub¬ 
jektivitäten  des  Urteils  Avürde  es  hierbei 
kaum  abgehen  können,  und  grade  gewisse 
Forschungen  der  letzten  Jahrzehnte  sind 
wohl  geeignet,  uns  zu  lehren,  wie  schritt¬ 
weise  erst  z.  B.  die  Grenzen  des  fünften 
und  des  vierten  Jahrhunderts  fester  haben 
bestimmt  werden  können,  wie  viel  Schwan¬ 
kendes  noch  übrig  bleibt,  wie  groß  die 
Gefahr  ist,  dass  Resultate,  die  heute  fest 
zu  stehen  scheinen  und  nach  denen  man 
ganz  sicher  glaubt  Vorgehen  zu  dürfen, 
binnen  kurzem  infolge  neuer  Entdeckungen 
und  Forschungen  besserer  Einsicht  Platz 
machen  müssen. 

Solche  Erwägungen  mögen  den  Her¬ 
ausgeber  bestimmt  haben,  wenn  auch  nicht 
ganz  auf  den  historischeii  Gesichtspunkt  zu  verzichten, 
so  doch  der  Einzelanordnung  ein  anderes  Einteilungs¬ 
prinzip  zu  Grunde  zu  legen.  Drei  Hauptklassen  um¬ 
fassen:  die  erste  die  vorpersischen  Grabmäler;  die  zweite 
die  schönen,  in  allmählichen  Übergängen  immer 
■prunkvoller  sich  entwickelnden  Denkmäler  des  fünften 
und  vierten  Jahrhunderts,  von  den  Perserkriegen 
bis  zur  neuen  Gräberordnung  des  Demetrios  von 
Phaleron,  deren  tief  einschneidende  Wirkung  erkannt 
zu  haben  Brückner’s  Verdienst  ist;  die  dritte  den 
ärmlichen,  einförmigen  Ausklang  aus  der  Zeit  des 
mehr  und  mehr  verkommenden  Athen.  Innerhalb 
dieses  geschichtlichen  Rahmens  aber  bestimmt  der 
Gegenstand  (Frauen,  Männer  u.  s.  av.)  und  das  künst¬ 
lerische  Hauptmotiv  (stehend,  sitzend,  liegend;  eine 
Person,  mehrere  gruppirt  u.  s.  w.)  die  Anordnung, 
dergestalt,  dass  innerhalb  der  einzelnen  DarsteUungs- 
typen  sich  wiederum  deren  allmähliche  Umwandlung 
verfolgen  lässt.  Bei  einer  solchen  Materialsammlung 


Fig.  4. 

Meneas  und  Menekrateia. 
Berlin,  Nr.  756. 


ATTISCHES  GRABRELIEF  IM  HAAG. 
280.  -  H.  0,  67 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


197 


ist  leichte  Benutzbarkeit,  die  das  rasche  Auffinden 
ermög'licht,  die  erste  Bedingung.  Die  lexikalische 
oder  typologische  Anordnung  entspricht  diesem  Be¬ 
dürfnis  am  besten;  die  kuustgeschichtliche  Aus¬ 
beutung  bleibt  der  Einleitung  und  den  zahlreichen 
Geschichten  der  griechischen  Skulptur  vorhehalteu, 
die  bisher  den  Grabreliefs  nur  eine  recht  stiefmütter¬ 
liche  Aufmerksamkeit  zu  schenken  pflegen. 

Ausgrabungen  in  Attika,  welche  in  den  letzten 
Jahren  auf  Veraulassuns;  des  überaus  thätigen  Ge- 

o  Cj 


Fig.  5.  Grabrelief  der  Hegeso.  (Nach  Att.  Grabr.) 

neraldirektors  der  Altertümer  Kabbadias  stattge¬ 
funden  haben,  lassen  uns  jetzt  die  Entwickelung  der 
attischen  Gräberanlagen  im  Zusammenhänge  bis  ins 
achte  Jahrhundert  hinauf  verfolgen.  Aber  Grab- 
reliefs  treten  erst  um  die  Mitte  des  sechsten  Jahr¬ 
hunderts,  etwa  in  der  Zeit  des  Peisistratos  auf,  und 
zwar  mehr  auf  dem  Lande,  als  in  Athen  selbst.  Es 
sind  schmale,  hochaufragende  Platten  („Stelen“), 
meistens  oben  in  eine  Palmette  oder  einen  ähnlichen 
Blätterschmuck  t Anthemion)  auslaufend,  die  am  einen 
Ende  des  Grabhügels  aut  niedriger  Basis  aufge¬ 


richtet  wurden;  vermutlich  nach  ionischer  Sitte,  wie 
ja  in  den  homerischen  Gedichten  Hügel  und  Stele 
zusammen  das  gewöhnliche  Grab  bezeichnen:  an  die 
ragende  Platte  des  Ilosgrabes  lehnt  sich  Paris,  um 
auf  'Diomedes  zu  schießen.  Von  den  erhaltenen 
attischen  Stelen  dieser  älteren  Art  (denen  die  ersten 
14  Tafeln  gewidmet  sind)  ist  keine  aus  dem  heimi¬ 
schen  Porosstein  gearbeitet,  der  in  Solonischer  Zeit 
noch  selbst  für  Giebelreliefs  üblich  war;  auch  der 
in  der  Plastik  zunächst  verwandte  bläuliche  hymet- 
tische  Marmor  begegnet  uns  nur  an  einem  auch  sonst 
abweichenden  und  auffälligen  Grabstein  (Taf.  11), 
der  im  unmittelbaren  Bereich  des  Hymettos  gefunden 
ist.  Das  regelmäßige  Material  bildet  der  weiße 
Marmor,  teils  der  auf  den  Inseln  des  ägäischen  Meeres 
gebrochene,  darunter  auch  der  kostbare  von  Paros, 


teils  der  einheimische  attische  vom  pentelischen 
Berge.  Dies  Material  führt  uns  in  die  Peisistratische 
Zeit,  wo  ionische  Künstler  von  den  Küsten  Klein¬ 
asiens  und  den  Inseln  nach  Athen  übersiedelten,  um 
dort  teils  ihre  Kunst  selbst  auszuüben,  teils  attischen 
Künstlern  als  Lehrmeister  zu  dienen.  So  nennt 
sich  auf  der  Basis  einer  verlorenen  Platte  der  Ionier 
Endoios,  einer  der  bedeutendsten  Bildhauer  jener 
Zeit,  der  sowohl  in  Kleinasien  als  auch  in  Athen 
thätig  war;  auf  anderen  verwandten  Werken  Aristion 
von  Paros.  Aber  auch  anscheinend  attische  Künstler- 


Fig.  ü.  Der  Schuster  Xaiithippos.  (Nach  Att.  Grahr.) 


198 


ATTISCHE  GRABRELTEFS. 


Fig.  7.  Mynno  mit 
iler  Spindel. 
(Berlin,  Nr.  737.) 


namen  fehlen  nicht,  wie  z.  B.  der  des  Aristokles  auf 
der  allgemein  bekannten  Stele  des  Kriegers  Aristion 
(Taf.  2).  Diese  kann  als  Beispiel  der  ganzen  Gattung 
dienen,  auch  in  der  noch  großenteils  erhaltenen  Be¬ 
malung,  die  für  diese  alten  Flachreliefs  ganz  un¬ 
entbehrlich  ist.  Das  Relief  bietet 
nur  die  Grundlage  und  scharfe 
Umrisse  mit  leiser  Schattenwir- 
kung;  die  Einzelausführung  und 
Belebung  giebt  erst  die  Farbe, 
ja  diese  ist  so  sehr  Haupt.sache, 
dass  die  Stele  wohl  des  Reliefs, 
aber  nicht  der  Malerei  entraten 
kann.  Die  Lyseasstele  (Taf.  1),  auf 
der  nach  langem  vergeblichen 
Suchen  anderer  Löschcke  und 
Thiersch  den  langbekleideten 
Mann  mit  Becher  und  Ahren- 
büschel  glücklich  wiederentdeckt 
haben,  und  der  fein  gemalte  Jüng¬ 
lingskopf  auf  Taf.  6,  2  (s.  Fig.  1), 
geben  bezeichnende  Beispiele  bloß  bemalter  Stelen; 
auch  kann  eine  Vergleichung  der  im  wesentlichen 
nach  dem  gleichen  Muster  ausgeführten  Krieger¬ 
darstellungen  mit  ihren  Nebenbildchen  auf  Taf.  2. 
o.  8.  9  deutlich  zeigen,  wie  bemaltes  Relief  und 
bloße  Malerei  als  völlig  gleich¬ 
wertig  gelten.  Der  ganzen  Gat¬ 
tung  eigen  ist  sodann  die  strenge 
Profilbildung  der  in  den  engen 
Raum  der  Platten  eingezwängten 
und  diesen  vollständig  ausfüllen¬ 
den  lebensgroßen  Gestalten;  un¬ 
willkürlich  stellen  sie  dem  Be¬ 
schauer  die  halbirten  Menschen 
vor  Augen,  von  denen  der  pla¬ 
tonische  Aristophanes  scherzt: 
.Wenn  wir  uns  nicht  anständig 
gegen  die  Götter  benehmen,  so 
werden  wir,  fürchte  ich,  noch¬ 
mals  entzweigeschnitten  werden 
und  herumlaufen  wie  die  Profil¬ 
gestalten  auf  den  Grabreliefs, 
längs  den  Nasen  durchgesägt, 
wie  knöcherne  Spielmarken.“ 

Die  erhaltenen  Reliefplatten  dieser  älteren  Art 
geben  nicht  über  die  Zeit  der  Perserkriege  hinab, 
und  nur  vereinzelte  Nachklänge  begegnen  uns  später, 
wälirend  die  hochstrebende  Form  der  Platte  selbst, 
sowohlaufden  bemalten  Vasen, namentlich  denschönen 
weißgrundigen  Lekytheu,  als  auch  auf  Reliefs  noch 


Fig.  8. 

■^tclc  aiiH  Karysfos. 
(Berlin,  Nr.  738.) 


längere  Zeit  die  typische 
bleibt.  Die  mächtige  Umgi 
aller  Verhältnisse,  die 
die  Folge  der  Riesen¬ 
anstrengungen  und  des 
Sieges  über  die  Bar¬ 
baren  war ,  hatte  mit 
der  alten  Weise  des 
Denkmals  aufgeräumt, 
ohne  doch  sogleich  eine 
feste  neue  Form  an  die 
Stelle  zu  setzen;  mög¬ 
lich,  dass  auch  eine 
sittenpolizeiliche  Ma߬ 
regel,  von  der  Cicero 
berichtet,  eben  damals 
den  Gräberluxus  be¬ 
schränkte.  Es  folgte, 
wie  uns  eine  klärende 
Untersuchung  Ulr.  Köh¬ 


Darstellung  des  Grabes 
istaltung  und  Neubildung 


, 


ler’s  gelehrt  hat,  eine 

im  wesentlichen  die  Perikleische  Zeit  umfassende 
Periode  des  Tastens  und  Suchens,  wie  im  Relief¬ 
stil  und  in  der  Schrift,  so  auch  in  der  Gesamt¬ 
form  des  Grabsteines.  Meistens  ist  es  eine  kleine 
Platte,  beiderseits  ohne  Einrahmung,  oben  durch 
eine  einfach  profilirte  Leiste,  seltener  durch  einen  ein¬ 
gezeichneten  Giebel  (Taf.  29,  s.  Fig.  2)  oder  gradezu 
giebelförmig  (Taf.  24)  abgeschlossen.  Dazu  kommt 
auch  schon  die  Form  eines 
einhenkeligen  Kruges  (Leky- 
thos,  früher  fälschlich  als 
Marathonische  Grabvase  be¬ 
zeichnet),  eine  massive  Nach¬ 
bildung  in  Marmor  der  wirk¬ 
lichen  Olkrüge,  die  frommer 
Brauch  auf  das  Grab  geschie¬ 
dener  Lieben  zu  stellen 

pflegte.  Wie  unbeholfen  an¬ 
fangs  die  Versuche  ausfielen, 
auf  der  kleineren  Fläche  ein 
Reliefbild  anzubringen,  zeigt 
gleich  der  ph’äische  Grabstein 
mit  einer  thronenden  Frau,  der 
auf  Taf.  15  die  Reihe  der  Reliefs 
„von  den  Perserkriegen  bis  zu  Demetrios  von  Pha- 
leron“  eröffnet.  Das  ist  nicht  bloß  altertümliche 
Befangenheit,  wie  in  der  archaischen  Frauenstele 
auf  Taf.  12,  sondern  individuelles  künstlerisches 
Ungeschick,  das  einen  gradezu  unattisch  anmutet. 
Wie  ganz  anders  wirkt  Taf.  24,  die  Handreichung 


(Berlin,  Nr,  760.) 


r 


ATTISCHE  GRÄBRELIEFS. 


199 


der  sitzenden  Rhodilla,  mit  der  vor  ihr  stehenden 
Tochter  Aristylla,  die  hier  die  Abgeschiedene 
ist;  die  Befangenheit  der  ganzen  Darstellung,  die 
Unsicherheit  in  der  Gewandbehandlung,  die  Fehler 
in  den  Proportionen  treten  ganz  zurück  hinter  der 
liebenswürdigen  Naivetät  und  Frische  der  künst¬ 
lerischen  Empfindung,  der  nichts  fehlt  als  die  volle 
Herrschaft  über  die  Form.  Noch  einen  Schritt  weiter 
führt  uns  die  schöne  Stele  der  Eutamia  (Taf.  28)  oder 
die  technisch  noch  reifere  der  Myrtia  (Taf.  29,  s.  Fig.  2) 
mit  der  seltsamen  Nebenfigur:  man  erkennt  den  Weg, 
den  diese  Kunst  im  Begriff  ist  einzuschlagen.  Be¬ 
sonders  charak¬ 
teristisch  für 
diese  Frühzeit 
sind  eine  Reihe 
von  Platten  und 
Lekythen ,  die 
uns  bärtige  Män¬ 
ner  im  Mantel 
vorführen,  bald 
einander  die 
Hand  reichend, 
bald  ein  Kind 
freundlich  an- 
sprechend(Fig.3), 
oder  in  ähnlichen 
Darstellungen; 
auch  Mädchen 
mit  ihrem  Vögel¬ 
chen,  Knaben  mit 
ihrem  Hunde 
kommen  vor.  Das 
Relief  setzt  gern 
in  scharfem  Um¬ 
riss  vom  Grunde 
ab,  nach  der  alt¬ 
hergebrachten 
Weise,  durchwei¬ 
che  die  attische  Kunst  den  Vorzug  fester  Profilzeich¬ 
nung  sich  erworben  und  bewahrt  hat.  Die  Männer 
haben  etwas  Ernstes,  Gehaltenes,  wie  es  der  älteren 
Zeit  ansteht;  die  Motive  der  einfachen  Gruppen  sind 
noch  neu  und  zeigen  daher  Züge  frischer  Erfindung, 
noch  nichts  Abgegriffenes,  Konventionelles.  Diese  an¬ 
spruchslosen  Reliefs  (denen  eine  erhebliche  Zahl  ähn¬ 
licher  ganz  glatter,  also  für  bloße  Malerei  bestimmter 
Platten  zur  Seite  geht)  sind  überaus  wirksam  durch 
den  Charakter  einfacher  Vornehmheit.  Die  bisherigen 
Lieferungen  bieten  noch  keine  Beispiele,  da  in  der 
Publikation  den  Frauen  der  Vortritt  gelassen  ist  und 


es  sich  zunächst  noch  um  die  Darstellungen  der 
sitzenden  Frau  —  allein,  mit  einer  zweiten  ligur 
(Kind,  Frau,  Mann),  in  größerer  Umgebung  — 
handelt. 

Diese  in  manchen  Dingen  ihrer  Mittel  noch  nicht 
sichere  Gruppe  von  Reliefs  hat  aus  der  älteren  Zeit 
die  überhaupt  in  Attika  herrschende  Grundauffassung 
bewahrt,  dass  das  Grabmal  den  Verstorbenen  so  dar¬ 
zustellen  habe,  wie  er  im  Lehen  erschienen  Avar, 
ohne  den  Versuch  einer  Idealisirung,  einer  Dar¬ 
stellung  des  Toten  als  zum  Heros  erhöhten  Fort- 
lebenden,  überhaupt  ohne  einen  deutlichen  Hinweis 

auf  den  Tod.  Wer 
zum  Grabe  ging, 
fand  dort  den 
Dahingeschiede¬ 
nen  in  der  ge¬ 
wohnten  liehen 
Gestalt ,  sei  es 
allein  oder  mit 
seinem  Liehlings- 
tiere,  sei  es  im 
engeren  oder 
weiteren  Kreise 
der  Nächsten, 
und  konnte  so 
den  Umgang  mit 
ihm  fortsetzen. 
Für  solchen  trau¬ 
ten  Verkehr  er¬ 
fand  diese  Früh¬ 
zeit  die  symbo¬ 
lische  Form  der 
Handreichung 
(„Dexiosis“),  die 
nicht  eben  bloß 
den  Abschied 
ausdrückt,  son¬ 
dern  jedes  Ver¬ 
hältnis  der  Zusammengehörigkeit,  jede  Bethätigung 
herzlichen  Anteils  in  sich  schließt.  Sie  stellte 
auch  das  Sitzen  fest,  oder  übernahm  es  wohl  schon 
aus  der  älteren  Kunst,  als  charakteristisch  für  die 
Frau  des  Hauses,  seltener  auch  für  den  Haus¬ 
herrn,  während  sonst  die  Männer  und  die  jün¬ 
geren  Mitglieder  der  Familie,  vollends  die  Diener 
und  Dienerinnen,  zu  stehen  pflegen.  Das  sind  ein 
paar  der  einfachen  Mittel,  die  fortan  festgehalten 
Avurden;  grade  in  ihrer  Einfachheit  enthielten  sie 
ebenso  die  Gewähr  leichten  Verständnisses,  wie  sie 
den  Keim  zu  überaus  reicher  Entfaltung  in  sich  trugen. 


200 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


Inzwischen  batte  die  attische  Bildhauerei  die 
hohe  Schule  der  Thätigkeit  am  Parthenon  durch - 
gemacht,  und  namentlich  der  Fries  jenes  Tempels 
hatte  nicht  nur  in  stilistischer  und  technischer 
Beziehung,  sondern  auch  hinsichtlich  der  künst¬ 
lerischen  Empfindung  der  nächsten  Generation  das 
Muster  gegeben.  Der  Einfluss  ist  denn  auch  alsbald 
mit  Händen  zu  greifen.  Tafel  69  bietet  eine  Scene 
dreier  Figuren,  durch 
Handreichung  geeint,  die 
dem  Stile  nach  unmittel¬ 
bar  aus  jenem  Friese  ent¬ 
nommen  sein  könnte; 
ebenso  das  palmettenbe¬ 
krönte  Relief  des  Meneas 
und  der  Menekrateia  (Taf. 

ÖO,  s.  Fig.  4).  Die  mit 
Recht  hochbewunderte 
Stele  der  sitzenden  He- 
geso,  der  die  Dienerin 
ihr  Schmuckkästchen  dar¬ 
reicht  (Taf.  30,  s.  Fig,  5, 
leider  an  Mund  und  Nase 
der  Dienerin  im  Stiche 
etwas  entstellt) ,  bietet 
das  herrlichste  Beispiel 
dieser  durch  und  durch 
vornehmen,  wahrhaft 
ethisclien  Darstellungs¬ 
weise.  Man  vergleiche  nur 
die  ähnliche  Komposition 
auf  Taf.  31,  um  alsbald 
innezuwerdeu ,  wie  eine 
bald  folgende  Zeit  so¬ 
wohl  die  äußeren  Mittel 
de.s  Reliefs  steigerte,  als 
auch  einen  stärkeren  Zu¬ 
satz  von  Empfindungnicht 
glaubte  entbehren  zu 
können:  man  sollte  nicht 
vergessen,  dass  man  sich 
am  tirabe  befinde.  I)a,- 


studirt  in  einer  Rolle;  der  in  Dekeleia  verstorbene 
peloponnesische  Krieger  Lisas  tritt  uns  in  der  Stel¬ 
lung  eines  Kämpfenden  entgegen;  die  jugendliche 
Mynno  ist  mit  Spindel  und  Wollkorb  dargestellt 
(Taf  17,  s.  Fig.  7);  Mika  legt  nicht  einmal  den 
Spiegel  beiseite,  während  Dion  ihr  die  Hand  reicht 
(Taf.  48).  Auf  einem  anderen  Steine  lässt  die  junge 
Frau  sich  von  der  Wärterin  ihr  Kindchen  bringen, 

das  die  Hände  verlangend 
nach  der  Mutter  aus¬ 
streckt  (Taf  65,  s.  die 
diesem  Hefte  beigegebene 
Tafel).  Überall  werden 
wir  unbefangen  mitten 
in  das  Leben  eingeführt; 
es  ist  eine  ganz  seltene 
Ausnahme,  wenn  ein¬ 
mal  auf  einer  großen 
Lekythos  Myrrine  in  tie¬ 
fer  Verschleierung  vom 
Seelengeleiter  Hermes  da¬ 
von  geführt  wird.  Andere 
Beispiele  mögen  in  den 
vorliegenden  Heften  die 
Tafeln  25.  26.  35.  36. 
38.39.42.  47.49.  57  bie¬ 
ten;  man  wird  leicht  des 
besonderen  Charakters 
dieser  Werke  aus  den 
letzten  Jahrzehnten  des 
fünften  Jahrhunderts,  wo 
Alkamenes  und  der  ältere 
Praxiteles  die  hohe  Kunst 
des  Phidias  fortführten, 
innewerden,  sowohl  ge¬ 
genüber  jener  älteren 
Gruppe,  als  auch  im 
Vergleich  mit  den  ent¬ 
wickelteren,  reicheren  der 
Folgezeit.  Noch  herrscht 
einereine  klare  Frühlings¬ 
stimmung,  und  was  Conze 


Fig.  11.  Naiskos  dor  Melitta.  (Nach  Att.  Giahr.  Taf.  32.) 


von  .sollen  die  schönsten  Grabsteine  der  Zeit  des 
peloponnesischen  Krieges  noch  ab.  Der  Erzgießer 
Sosino.s  aus  dem  arkadisclien  Gortys,  der  sich  im 
I’iräeuH  niedergelassen  hatte,  sitzt  einfach  mit  dem 
Stabe  des  Werkmeisters  da,  die  großen  Kupferplatten 
neben  sieb;  <ler  Schuster  Xanthipjios  hat  selbst  auf 
dem  (irabstein  seinen  Leisten  niclit  im  Stich  ge¬ 
lassen,  (s.  Fig.  t));  ein  tleißiger  Jüngling,  den  Bücher¬ 
kasten  neben  sich  und  den  Hund  unter  dem  Stuhle, 


von  Nr.  280  (Taf  65,  s.  die  Heliogravüre,  die  diesem 
Hefte  beigegeben  ist)  bemerkt,  lässt  sich  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  auf  die  ganze  Kla.sse  anwenden; 
im  Vergleiche  zu  den  Reliefs  des  vierten  Jahrhunderts 
wirken  sie  in  ihrer  fein  empfundenen,  noch  nicht 
auf  Wiederholung  eines  durchaus  geläufigen  Schema’s 
beruhenden,  sondern  mit  einiger  Freiheit  und  un- 
gemein  lebendig  erfundenen  Komposition  annähernd 
wie  ein  italienisches  Frührenaissancewerk  den  Hoch- 


ATTISCHE  GRÄBRELIEES. 


201 


renaissancewerken  gegenüber.  Dem  festeren,  auf 
geregelter  Schulung  beruhenden  stilistischen  Charak¬ 
ter  dieser  Gruppe,  in  dem  wir  den  bestimmenden 
Einfluss  Pheidias’scher  Kunstübung  auf  das  Kunst¬ 
handwerk  deutlich  erblicken,  entspricht  auch  die 
allmähliche  Entwickelung  der  äußeren  Grabmalform 
zu  größerer  Regelmäßigkeit.  Nur  selten  erscheint 
noch  die  schlanke  hohe,  palmettenbekrönte  Stele  mit 
der  sie  ganz  aus¬ 
füllenden  lebens¬ 
großen  Gestalt;  so 
z.  B.  auf  einem  herr¬ 
lichen  Bruchstück 
des  Berliner  Mu¬ 
seums,  das  aus  dem 
ganz  unter  atti¬ 
schem  Einfluss 
stehenden  Euböa 
stammt.  (Fig.  8.) 

Daneben  tritt  nicht 
selten  eine  auch  in 
alter  Zeit  nicht  un¬ 
bekannte  ungefähr 
quadrate  Platte  auf, 
die  oben  entweder, 
wie  bei  Xanthip- 
pos  (vgl.  auch  Taf. 

48),  mit  einem  in 
Relief  gezeichneten 
Giebel,  oder,  wie 
bei  Sosinos,  mit 
einem  geraden  Ar- 
chitrav  mit  Stini- 
ziegelu  darüber  ab¬ 
geschlossen  wird. 

Von  letzterer  Art 
bietet  die  Stele  des 
auf  der  See  ver¬ 
storbenen  Demo¬ 
kleides  (Fig.  9)  ein 
auch  nach  anderer 
Seite  bemerkens¬ 
wertes  Beispiel.  Wie  überhaupt  auch  in  dieser 
Zeit  bloß  gemalte  Stelen  neben  den  Reliefplatten 
hergehen,  so  zeigt  die  genannte  Stele  bloß  den 
trauernden  Demokleides,  von  seinen  Waffen  um¬ 
geben,  in  ausgeführtem  Relief,  während  das  Kriegs¬ 
schiff,  auf  dem  er  sitzt,  nur  in  scharfem  Umrisse 
sich  vom  Grunde  abhebt,  sonst  aber  in  Malerei  aus¬ 
geführt  war.  Da  die  Farben  natürlich  bei  der  Gestalt 
des  Demokleides  nicht  fehlen  konnten,  so  ist  deutlich, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV, 


dass  hier  wie  auf  den  altertümlichen  Stelen  das  Relief 
nur  als  hervorhebendes,  verstärkendes  Mittel  der 
Malerei  dient.  Andererseits  hatte  sich  aus  dem  in 
Relief  gezeichneten  Giebel  nach  Art  des  Xanthippos- 
denkmals  schon  in  Perikleischer  Zeit  als  ganz  natur¬ 
gemäßer  Abschluss  der  wirkliche  Giebel  entwickelt, 
bald  über  der  quadraten  Platte,  häufiger  auf  einem 
überhöhten  Rechteck,  wofür  Taf.  17  oder  die  schöne 

Stele  auf  Taf.  05 
ein  gutes  Beispiel 
giebt.  (Etwas  rei¬ 
cher  ist  der  obere 
Abschluss  in  der 
feinen  Sirenenstele 
Pourtales  im  Ber¬ 
liner  Museum,  Fig. 
10,  gestaltet.)  Von 
hier  aus  ist  es  aber 
nur  ein  geringer 
Schritt  weiter,  den 
über  der  Platte  frei 
vorspringenden 
Giebel  beiderseits 
durch  einen  Pila¬ 
sterzuunterstützen. 
Zuerst  heben  sich 
die  Pilaster  nur 
schwach,  dem  Gie¬ 
belvorsprung  noch 
nicht  entsprechend, 
überden  Grund  hin¬ 
aus  und  dienen  dem 
Reliefbilde  als 
leichter  Rahmen,  so 
leicht,  dass  die  Fi¬ 
guren  nicht  selten 
über  den  Rahmen 
übergreifen.  (S.  die 
der  zweiten  Hälfte 
dieses  Aufsatzes  bei¬ 
zugebende  Tafel, 
die  ein  besonders 
schönes  Grabrelief  vom  Friedhof  am  Dipylon  dar¬ 
stellt.)  Es  ließe  sich  wohl  denken,  dass  in  den  an¬ 
scheinend  pilasterlosen  Platten  die  Pilaster  gemalt  ge¬ 
wesen  seien;  sicher  ist,  dass  in  den  Reliefs  mit  flacher 
Andeutung  der  Pilaster  zuerst  die  Figuren  plastisch 
ausgearbeitet,  dann  erst,  bei  weiterer  Vertiefung  des 
Grundes,  die  flachen  Pilaster  ausgespart  w’urden. 
Auch  der  äußerst  flache  Giebel  liegt  mehr  auf  einer 
andeutenden  schmalen  Leiste  als  auf  einem  wirklichen 

26 


Fig.  lä.  GraFrelief  des  Dexileus.  (Nacdi  Att.  Grabr.) 


202 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


Architrav.  Aber  die  Neuerung  ist  folgenschwer; 
die  alte  einfache  Platte  tritt  mehr  und  mehr  hinter 
dem  architektonischen  Rahmen  zurück,  der  sich  zu 
einer  förmlichen  Tempelfassade  („Naiskos“)auswächst: 
die  flachen  Pilaster  verwandeln  sich  in  kräftige 
Anten,  die  langgestreckten  Giebel  in  entsprechend 
durchgebildete  Giebelfelder  mit  höherem  Architrav 
und  kräftigen  Akroterien.  Die  drei  Giebelstelen  der 
Asia  (Taf.  2G),  der  Hegeso  (Fig.  5,  vgl.  Taf.  31.  69), 


Fif?.  i;i.  (ihliilsias  und  Kulnilc,. 
(Na<li  Atl.  (iralir.  Tal'.  00) 


394  im  korinthischen  Kriege  gefallenen  jungen  Ritters 
Dexileos  (Fig.  12),  ist  wohl  das  letzte  datirbare  Beispiel 
dieser  Form.  Aber  daneben  giebt  es  auch  andere  an¬ 
spruchslosere  Formen.  Einmal  die  einfache  kleine  über¬ 
höhte  Platte  der  Perikleischen  Zeit,  die  den  Ansprüchen 


Fig.  M.  Hübe  Stele  der  Artemi.sia. 
(Nach  Att.  Grabr.  Taf.  19.) 


der  Melitta  (Fig.  11,  vgl.  Taf.  .69)  können  den  all-  ärmerer  Leute  entsprach.  Entweder  schmückte  sie 
mählichen  Fortschritt  anschaulich  machen.  ein  bloß  gemaltes  Bild,  oder  Umrisse  wurden  in  den 

Mit  dem  tempelförmigen  Grabstein  ist  der  Folge-  Grund  eingeschabt,  offenbar  als  Vorzeichnung  für 
zeit  die  Hauptgestaltung  für  größere  Denkmäler  Farbenausfüllung  bestimmt;  meistens  sind  es  zwei 
gegeben,  neben  der  z.  B.  die  bloßen  (puidraten  Platten  Figuren,  die  einander  die  Hand  reichen.  Die  Tafeln 
ganz  verschwinden;  das  berühmte  Monument  des  41  und  GO  (Fig.  13)  vertreten  diese  überaus  zahlreiche 


Figur  16. 

Grablekythos  und  Lutrophöros.  (Nach  Att.  Grabr.) 


2Ü* 


204 


FRIEDRICH  DER  GROSSE  ALS  KUNSTSAMMLER. 


Gattung.  Eine  andere  nicht  minder  häufige  Art  knüpft 
an  die  alte  schmale  und  hohe  Stele  an,  aber  nicht  mehr 
nimmt  eine  einzige  Gestalt  den  ganzen  Raum  ein,  son¬ 
dern  in  dem  oberen  Teile  der  Platte  wird  ein  ungefähr 
quadrates  Bildfeld  ausgespart  (vgl.  Fig.  14).  Bald  ge¬ 
nügt  ein  leichtes  Wegschaben  des  Grundes,  um  die 
Figuren  sichtbar  zu  machen  oder  für  die  Farbe  vor¬ 
zuzeichnen,  bald  heben  sie  sich  in  immer  höherem 
und  mehr  durchgearbeitetem  Relief  aus  dem  stärker 
eingetieften  Grunde  heraus;  denn  dass  das  griechische 
Marmorrelief  nicht  sowohl  auf  Herausarbeitung  der 
Figuren  aus  einer  gegebenen  Grundfläche,  als  auf 
Eintiefung  des  die  Figuren  umgebenden  Grundes  in 
die  ebene  Oberfläche  des  Marmorblockes  beruht,  ist 
nach  den  Darlegungen  Schoene’s  und  Conze’s  bekannt. 
Die  Tafeln  46,  21,  18,  19  können  wiederum  die  ver¬ 
schiedenen  Reliefabstufungen  deutlich  machen.  Dabei 
ist  die  Bild  Vertiefung  selten  ganz  viereckig,  sondern 
gewöhnlich  ragen  oben  von  den  Seiten  kleine  Vor¬ 
sprünge  in  die  Bildfläche  vor,  Andeutungen  bemalter 
Antenkapitelle.  Sehr  deutlich  sind  diese  z.  B.  in  der 
edlen  Stele  der  Artemisia  (Fig.  14);  dass  wirklich 
Antenkapitelle  gemeint  sind,  ergiebt  deren  plastische 
Durchführung  in  der  Stele  der  krank  auf  ihrem 
Bette  hinsinkenden  Malthake  (Taf.  46).  Das  Be¬ 
dürfnis  architektonischer  Umrahmung  ist  also  diesen 
schlichteren  Stelen  mit  den  „Naiskoi“  gemeinsam. 


Den  oberen  Abschluss  bildet  bald  ein  Giebel,  bald 
eine  einfachere  oder  künstlichere  Rundung,  die  nach 
alter  Weise  mit  einem  Anthemion,  sei  es  nur  ge¬ 
malt  (Taf.  52),  sei  es  in  Relief  (Taf.  51),  geschmückt 
zu  sein  pflegt  (vgl.  Fig.  15);  dies  Pflanzenornament 
ist  aber  im  fünften  Jahrhundert  noch  nicht  realistisch 
gebildet,  sondern  hält  sich  an  die  alten  streng  stili- 
sirten  Ornamentformen. 

Daneben  geht  auch  die  einhenkelige  Lekythos  fort, 
weniger  geradlinig  als  in  der  vorigen  Periode  (Taf.  70), 
bauchiger,  aber  mit  einem  langen  schlanken  Halse 
hoch  emporragend.  Ihr  zur  Seite  tritt  die  sehr 
schlanke  zweihenkelige  Grabaraphora,  ebenfalls  die 
Nachahmung  eines  thönernen  Gefäßes,  wie  man  es 
seit  dem  sechsten  Jahrhundert  auf  den  Gräbern 
Unvermählter  als  bezeichnendes  Merkmal  aufzustellen 
pflegte.  Es  ist,  wie  zuletzt  eine  Untersuchung  von 
Wolters  sichergestellt  hat,  das  prunkvolle  Wasser¬ 
gefäß,  Lutrophöros  (Wasserträgerin)  genannt,  in  dem 
man  namentlich  zum  Brautbade  das  Wasser  zu  holen 
pflegte.  Jetzt  steht  es  in  festem  Marmor  gebildet 
oder  im  Relief  auf  der  Stele  dargestellt  auf  dem 
Grabe  derer,  denen  solche  Ehre  im  Leben  nicht  be- 
schieden  war,  denen,  wie  die  Grabepigrarame  sich 
auszudrücken  lieben,  gleich  der  Antigone  das  dunkle 
Gemach  des  Hades  zum  Brautgemach  geworden  ist 
(s.  Fig.  16).  (Schluss  folgt.) 


FRIEDRICH  DER  GROSSE  ALS  KUNSTSAMMLER. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


UF  den  großen  Schatz  von 
Kunstwerken,  den  der  Sam¬ 
meleifer  Friedrich’s  11.  dem 
Besitze  des  preußischen 
Königshauses  zugefülirt  hat, 
ist  zuerst  in  dieser  Zeit¬ 
schrift  das  Licht  wissen¬ 
schaftlicher  Forschung  ge¬ 
worfen  worden  in  einem  Aufsatze,  den  Robert  Dohme 
unter  dem  bescheidenen  'l'itel  „Zur  Litteratur  über 
Antoine  W'atteau*  veröffentlicht  hat  (Bd.  XI,  S.  86 
bis  9.'»).  Es  geht  noch  ein  etwas  zaghafter  Zug 
durch  diesen  Aufsatz.  Im  Jahre  1875  war  Watteau 
—  in  Deutschland  wenigstens  —  noch  eine  etwas 
zweideutige  tiröße,  die  mati  beiläufig  hinnahm,  weil 
der  Name  Watteau  ein  bequemer  Sammelname  für 


eine  Periode  immerhin  pikanter  Decadence  war. 
Dohme  spricht  denn  auch  nur  gelegentlich  von  „einer 
Liebhaberei  Friedrich’s  des  Großen“,  der  „die  be¬ 
deutendste  Sammlung  von  Watteau’schen  Bildern, 
die  überhaupt  existirt“,  ihre  Entstehung  verdankf 
Über  die  Erwerbung  dieser  und  anderer  Kunst¬ 
schätze  war  damals  nur  wenig  bekannt,  weil  die 
Schatull-Rechnungen  des  Königs  noch  ungeordnet 
waren.  In  den  letzten  Jahren  hat  aber  der  Nach- 
fol<ier  Dohme’s  im  Amte  eines  Kustos  der  Kunst- 

o 

Sammlung  des  Königlichen  Hauses,  Dr.  Faul  Seidel, 
durch  umfassende  Nachforschungen  diesem  Miss¬ 
stande  abgeholfen,  und  je  mehr  die  ötfentlicheu 
Ausstellungen  von  Kunstschätzen  aus  königlichem 
Privatbesitz  seit  1883  den  Avirklichen  Bestand 
kritischer  Prüfung  zugänglich  machten,  desto  reich- 


FRIEDRICH  DER  GROSSE  ALS  KUNSTSAMMLER. 


205 


baitiger  wurden  auch  die  Ergebnisse  der  arcbiva- 
liscben  Ermittelungen,  weil  sie  auf  feste  Punkte  ge¬ 
richtet  werden  konnten.  In  gleicbem  Maße  wuchs 
aber  auch  die  Scbätzunfj  des  großen  Königs  als 
Kunstsammlers.  Es  ist  keine  bloße  Liebhaberei,  die 
einer  Laune  des  Augenblicks  folgt,  sondern  ein  seines 
Zieles  bewusstes,  systematisches  Streben,  in  den  Be¬ 


sinne  gewesen,  der  seine  Kapitalien  nur  anlegte, 
wo  er  gute  Zinsen  davon  erwartete.  Es  ist  richtig, 
dass  er  bei  seinen  Bilderkäufen  von  seinen  aus¬ 
wärtigen  Agenten  häufig  getäuscht,  bisweilen  auch 
betrogen  wurde.  Wir  vergessen  aber,  wenn  wir  die 
von  Friedrich  gezahlten  Preise  für  gewisse  Bilder 
mit  ihrem  wirklichen,  d.  h.  jetzt  gültigen  Werte 


Porträt  von  Cli.  Et.  Jordan.  Von  A.  Pesne. 


sitz  von  Kunstwerken  einer  bestimmten,  zusammen¬ 
gehörigen  Gruppe  zu  gelangen.  Wie  wir  jetzt 
wissen,  war  hriedrich  II.  einer  der  größten  Sammler 
des  sammelwütigen  18.  Jahrhunderts,  aber  keiner 
der  leidenschattlichen,  die  blindlings  große  Summen 
hergaben,  um  ihren  Ehrgeiz  zu  befriedigen.  Auch 
als  Kunstsammler  ist  Friedrich  II.  ein  Mann  von 
kluger  Sparsamkeit,  ein  Volkswirt  im  modernen 


vergleichen,  dass  unsere  Schätzung  eine  ebenso  sub¬ 
jektive  ist,  wie  die  damalige  der  Zwischenhändler, 
die  einmal  die  Betrüger,  ein  andermal  aber  auch  die 
Betrogenen  waren.  Was  Friedrich  der  Große  für 
seine  sämtlichen  Watteau’s,  die  echten  und  die 
Schülerarbeiten,  gezahlt  hat,  reicht  nicht  entfernt 
an  den  Preis  heran,  den  gegenwärtig  nur  das 
Hauptbild  der  Gruppe,  „die  Einschiffung  nach  der 


fiiiil'  (iiistiiv  Adolf  V.  liottei'  und  Hoiiic  Xiclite.  Clcitiiilde  von  A.  Pesne. 


FRIEDRICH  DER  GROSSE  ALS  KUNSTSAMMLER. 


207 


Insel  CytLere“,  auf  einer  öffentlichen  Versteigerung 
erreichen  würde. 

Besonders  geringschätzig  hat  man  über  die  von 
Friedrich  erworbenen  großen  Bilder  aus  der  Ant- 
werpener  Schule  geurteilt,  die  man,  solange  sie  in 
der  Gemäldegalerie  bei  Sanssouci,  im  Neuen  Palais 
und  im  Berliner  Schlosse  hingen,  schlechtweg  als 
Kopieen  und  Schülerarbeiten  abgethan  hat.  Nachdem 
sie  aber  durch  die  Ausstellungen  in  der  Kunst¬ 
akademie  erst  in  das  richtige  Licht  gebracht  worden 
waren,  nachdem  man  sich  die  Mühe  genommen  hat, 
ihrem  Ursprünge  nachzuspüren,  hat  sich  herausgestellt, 
dass  ein  großer  Teil  dieser  Bilder,  namentlich  einige 
Rubens  und  van  Dyck,  nicht  nur  unzweifelhafte 
Originale,  sondern  auch  von  hervorragendem  kunst¬ 
geschichtlichen  Interesse  sind.  Wir  erinnern  nur 
au  die  sterbende  Kleopatra  von  Rubens,  die  mit 
einem  im  Kataloge  seines  Nachlasses  fälschlich  als 
„sterbende  Dido“  bezeichneten  Bilde  identisch  ist. 
Dabei  darf  nicht  vergessen  werden,  dass  die  von 
Friedrich  dem  Großen  erworbenen  Hauptbilder  von 
Rubens  und  van  Dyck  bei  Begründung  der  könig¬ 
lichen  Museen  ihrer  Gemäldegalerie  überwiesen 
worden  sind.  Beiläufig  sei  bemerkt,  dass  ein  figuren¬ 
reiches,  Rubens  zugeschriebenes  Gemälde  im  Neuen 
Palais  bei  Potsdam,  eine  Anbetung  der  Könige,  die 
bisher  noch  auf  keiner  der  öffentlichen  Ausstellungen 
erschienen  ist,  sich  einer  sehr  vertrauenswürdigen  Her¬ 
kunft  erfreut.  Es  ist  dasselbe  Bild,  das  Rooses,  der 
seinen  gegenwärtigen  Aufbewahrungsort  nicht  an¬ 
gegeben  hat,  in  B.  I,  Nr.  177  seines  vortrefflichen 
Rubenswerkes  beschreibt.  Nach  seinen  Ermittelungen 
war  der  Antwerpener  Buchdrucker  Balthasar  Moretus, 
Rubens’  Freund,  der  erste  Besitzer  des  Bildes,  der 
es  doch  vermutlich  von  Rubens  selbst  gekauft  hat. 
ln  einem  Inventar  des  Moretus’schen  Geschäfts  von 
1658  wird  es  mit  600  Gulden  berechnet.  In  der 
ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  kaufte  es  ein 
Brüsseler  Goldschmied  für  12 — 1400  Gulden.  Um 
1750  verkaufte  es  dessen  Frau  für  8000  Frank  an 
den  Herzog  von  Tallard  in  Paris,  und  als  dessen 
Sammlung  am  22.  März  1756  versteigert  wurde, 
ging  es  für  7500  Frank  in  den  Besitz  Friedrich’s  H. 
über.  Danach  wäre  eine  gründliche  Untersuchung 
des  Bildes  wünschenswert. 

Eine  Sichtung  der  Ergebnisse  der  doppelten 
Thätigkeit  des  großen  Königs  für  die  Förderung  der 
Künste,  der  Thätigkeit  des  Sammlers  und  der  des 
Landesfürsten,  der  künstlerische  Kräfte  für  seine 
großen  Bauten  aus  dem  Auslande  heranzog  und  ein¬ 
heimische  nach  jenen  bilden  ließ,  kann  nur  all¬ 


mählich  erfolgen.  Dr.  Paul  Seidel  hat  darum  richtig 
gehandelt,  dass  er  aus  dem  umfangreichen  Material 
zuerst  nur  eine  Gruppe,  die  dem  Interesse  der  Kunst¬ 
sammler  und  Kunstfreunde  unserer  Zeit  am  nächsten 
liegt,  die  Kunst  der  Rokokozeit  herausgehoben  und 
zum  Gegenstände  eingehender  Studien  gemacht  hat. 
Nachdem  er  in  dieser  Zeitschrift,  in  dem  „Jahrbuch 
der  königlich  preußischen  Kunstsammlungen“,  in 
den  „Preußischen  Jahrbüchern“  und  in  der  „Gazette 
des  Beaux-Arts“  einige  Vorläufer  vorausgeschickt, 
hat  er  Ende  vorigen  Jahres  den  ersten  Teil  seiner 
Forschungen  in  einem  monumentalen  Prachtwerk 
„Friedrich  der  Große  und  die  französische  Malerei 
seiner  Zeit“  zusammengefasst  ^),  in  dem  er  sich  in 
litterarischer  Beziehung  eine  vielleicht  etwas  zu  große 
Beschränkung  auferlegt,  dafür  aber  für  eine  überaus 
reiche  Veranschaulichung  des  künstlerischen  Stoffes 
gesorgt  hat,  was  schließlich  bei  Publikationen  dieser 
Gattung  die  Hauptsache  ist. 

Das  Werk  fordert  ein  doppeltes  Interesse  heraus, 
einerseits  durch  den  in  einer  deutschen  Veröffent¬ 
lichung  bisher  beispiellosen  Reichtum  an  bildlichen 
Beigaben  im  Texte  und  auf  besonderen  Tafeln,  an¬ 
dererseits  durch  die  bei  der  Reproduktion  geübte 
Technik,  in  der  Albert  Frisch  das  von  ihm  erfun¬ 
dene  Verfahren  des  farbigen  Lichtdrucks  zum  ersten¬ 
mal  in  umfangreichem  Maßstabe  angewendet  hat. 
Darüber,  dass  die  Gemälde  eines  Watteau,  Laueret, 
Pater,  Antoine  Pesne  und  anderer  gleicher  Richtung 
nur  in  einer  farbigen  Reproduktion  zu  ihrem  Rechte 
gelangen  können,  wird  kaum  ein  Zweifel  bestehen. 
Nur  über  das  dabei  anzuwendende  Maß  der  farbigen 
Wirkungen  kann  mau  verschiedener  Meinung  sein. 
Frisch  hat  sich  bei  den  Reproduktionen  die  höch¬ 
sten  Ziele  gesteckt.  Er  strebt,  soweit  es  die  ver¬ 
schiedenartige  Technik  überhaupt  zulässt,  direkt  nach 
einer  Faksimilenachbildung,  freilich  bei  verkleiner¬ 
tem  Maßstabe,  und  es  muss  anerkannt  werden,  dass 
er  auf  mehreren  von  den  zwölf  Farbentafeln  des 
Bandes  dieses  Ziel  erreicht  hat  oder  ihm  doch  sehr 
nahe  gekommen  ist,  so  besonders  auf  dem  Bilde  der 
Tänzerin  Reggiani  von  A.  Pesne,  das  wir  in  ein¬ 
fachem  Lichtdruck  wiedergeben  (s.  die  Tafel),  in  der 


1)  Friedrich  der  Große,  und  die  französische  Malerei 
seiner  Zeit.  Mit  Genehmigung  Seiner  Majestät  des  Kaisers 
und  Königs  herausgegeben  von  Dr.  Pani  Seidel,  Kustos  der 
Kunstsammlungen  des  königlichen  Hauses.  GO  Tafeln  in 
Lichtdruck,  darunter  12  farbige,  nebst  zahlreichen  Textillu¬ 
strationen  nach  den  Gemälden  im  Besitz  Sr.  Majestät  des 
Kaisers  und  Königs  von  Albert  Frisch.  Berlin  (1892),  Verlag 
von  Albert  Frisch.  Fol. 


20S 


FRIEDRICH  DER  CROSSE  ALS  KUNSTSAMMLER. 


Gruppe  aus  dem  Bliudekuhspiel  von  Pater,  die  sogar 
die  eigentümliche  Pinselführung  des  Künstlers,  na¬ 
mentlich  in  den  spitzen,  vorsichtig  hingetupften  Lich¬ 
tern  erkennen  lässt,  und  in  der  Figur  der  anmutigen 
kleinen  Iris  aus  Watteau’s  Gemälde  „Der  Tanz“. 
Andere  Farbendrucke  sind  noch  minder  gleichmäßig 
geraten.  Auf  einigen  hat  der  Fleischton  einen  zu 
starken  Stich  ins  Gelbliche  erhalten,  auf  anderen 
fügen  sich  einige  Lokalfarben,  insbesondere  Blau 


in  einfachem  Lichtdrucke  ausgeführten  Tafeln  sowie 
die  dem  Texte  eingefügten  Lichtdrucke  sind  fast 
durchweg  von  höchster  Vollendung,  wovon  unsere 
danach  angefertigten  Holzschnitte  und  Zeichnungen, 
das  Bildnis  des  geistvollen  Charles  Etienne  Jordan, 
des  Freundes  des  großen  Königs,  vielleicht  die  voll¬ 
endetste  Bildnisschöpfung  Antoine  Pesne’s,  desselben 
Bildnis  des  Grafen  Götter  und  seiner  Tochter  in 
Pilgertracht  und  das  als  Sopraporte  dienende  Still- 


Die  Tiinzi'iiii  nailiariiia.  Geinälile  von  A.  Pksne. 


tmd  Rosa,  nicht  diskret  genug  in  die  koloristische 
Harmonie.  Immerliin  sind  die  hier  vorliegenden  Er¬ 
gebnisse  dieser  Reproduktionsmethode  so  erfreulich, 
ilfi.ss  man  von  ilirer  weiteren  Vervollkommnung,  an 
(h-r  A.  Frisch  unablässig  arbeitet,  das  Höchste  er¬ 
warten  darf.  Inzwischen  ist  ihm  schon  eine  wesent- 
liche  Vereinfachung  des  Druckverfalirens  gelungen, 
die  zunäclist  dessen  Kostspieligkeit  verringert,  ohne 
dabei  die  farbige  Wirkung  zu  beeinträchtigen.  Die 


leben  von  Augustin  Dubuisson  eine  Vorstellung 
bieten.  Noch  zarter  und  duftiger  im  Ton  sind  einige 
der  Lichtdrucke  im  Text,  von  denen  wir  das  Bild¬ 
nis  der  Tänzerin  Barbarina  mit  dem  phantasievoll 
erfundenen  Rokokorahmen  wiedergeben. 

Nicht  bloß  „Liebhaberei“,  nicht  ein  „müßiger 
Zeitvertreib“ ,  sondern  ein  „wirkliches  Herzens¬ 
bedürfnis“  zog  den  großen  König  zu  dem  täglichen 
Unmanffe  mit  den  Werken  der  Kunst.  Seidel  citirt 

O  O 


209 


FRIEDRICH  DER  GROSSE  ALS  KUNSTSAMMLER. 


zum  Beweise  dafür  eine  Stelle  aus  einem  an  Grimm 
gerichteten  Briefe  desKönigs  vom  26.  September  1770, 
aus  einer  Zeit  also,  wo  der  Held  des  siebenjährigen 
Krieges  die  Widersprüche  seines  Charakters,  die 
Wechselfälle  seiner  Neigungen  und  die  Stürme  seines 


zu  verbreiten,  so  widme  ich  mich  dieser  Aufgabe 
mit  der  ganzen  Glut,  der  ich  fähig  bin,  weil  es  in 
dieser  Welt  kein  wahres  Glück  ohne  sie  giebt.“  Man 
könnte  in  diesen  Worten  vielleicht  nur  den  Wider¬ 
hall  jener  von  den  französischen  Philosophen  und 


Temperaments  zu  der  ruhigen  Harmonie  des  Welt¬ 
weisen  von  Sanssouci  abgeklärt  und  ausgeglichen 
hatte.  „Ich  habe  seit  meiner  Kindheit  die  Künste, 
die  Litteratur  und  die  Wissenschaften  geliebt,  schreibt 
der  König,  und  wenn  ich  dazu  beitragen  kann,  sie 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F  IV. 


Schöngeistern  des  18.  Jahrhunderts  gepredigten 
Lehren  zu  hören  vermeinen,  die  das  letzte  Ziel  mensch¬ 
licher  Glückseligkeit  in  dem  mit  allen  Reizen  der 
Kunst  geschmückten,  raffinirtesten  Genüsse  des  Da¬ 
seins  erblickten,  wenn  nicht  die  zum  Teil  erst  von 

27 


•210 


FRIEDRICH  DER  GROSSE  ALS  KÜNSTSAMMLER 


Seidel  erschlossene  Korrespondenz  des  Königs  mit 
seinen  Agenten  im  Anslande  den  Beweis  lieferte, 
wie  ernst  es  ihm  mit  der  Kunst  war,  wie  er  bei 
jedem  Erwerbe,  bei  jeder  Bestellung  darauf  bedacht 
war,  den  Kunstgegenstand  in  Einklang  mit  seinen 
Wohnzimmern  zu  bringen,  wie  er  jedem  Ankauf 
selbst  seinen  Platz  anwies,  und  wie  streng  und  fein 
zugleich  er  Kritik  zu  üben  wusste,  wenn  einmal  eine 
Erwerbung  den  durch  briefliche  Berichte  rege 
gemachten  Hoffnungen  nicht  entsprach  oder  wenn  er 
sich  ühervorteilt  glaubte. 

Die  Liehe  für  Watteau,  Laueret,  Pater  und  andere 
französische  Künstler  der  Rokokozeit  scheint  ihm,  wie 
Seidel  wohl  mit  Recht  vermntet,  Antoine  Pesne,  der 
selbst  eine  kleine  Sammlung  solcher  Bilder  besaß, 
schon  in  der  Rheinsberger  Zeit  eingeflößt  zu  haben, 
und  dieser  Vorliebe  blieb  der  König  bis  gegen  die 
Mitte  der  fünfziger  Jahre  des  Jahrhunderts  treu. 
Sein  Hauptagent  in  dieser  ersten  Periode  seiner 
Sammlerschaft  war  der  preußische  Gesandte  in  Paris, 
Graf  Rothenburg,  aus  dessen  Briefen  Seidel  manche 
interessante  Mitteilungen  macht.  So  z.  B.  aus  einem 
Briefe  vom  30.  März  1744,  in  dem  Graf  Rothenburg 
dem  Könige  schreibt,  dass  er  zwei  Bilder  von  Laueret 
(es  sind  „  das  Moulinet  “  und  ,  die  Gesellschaft 
im  Gartenpavillon“,  jetzt  im  Stadtschlosse  zu  Pots¬ 
dam,  gemeint)  aus  dem  Nachlasse  des  verstorbenen 
Prinzen  von  Carignan  für  3000  Livre  (750  preußische 
'Phaler)  gekauft  habe,  während  der  Prinz  selbst  dem 
Maler  dafür  10  000  Livres  gezahlt  hätte.  Mehr  als 
nach  Laueret  drängte  der  König  nach  Bildern 
^^'atteau’s,  deren  Beschaffung  dem  Gesandten  die  größte 
Mühe  machte,  weil  sie  schon  damals  sehr  selten 
waren  und  in  England  hohe  Preise  erzielten.  Noch 
mehr  erschwert  wurde  die  Aufgabe  des  Agenten, 
weil  der  König  zur  Ausschmückung  seiner  Bauten 
in  Potsdam  und  Umgegend  gern  große  Bilder  von 
Watteau  haben  wollte,  deren  es  doch  nur  äußerst 
wenige  gab.  Als  der  Gesaiidte  einmal  schreibt,  dass 
ihm  zwei  Pendants  von  Watteau  für  8000  Livres  an- 
geljoton  worden  seien,  antwortet  ihm  Friedrich  sofort, 
dass  er  gut  daran  gethan  habe,  nicht  abzuschließen, 
da  er  den  l’reis  „exorbitant“  finde.  Er  wolle  einen 
„raisonnaheln  Preis“  haben.  Wie  hier,  ist  auch  in 
späteren  Jahren  eine  vernünftige  Sparsamkeit  der 
oberste  Grundsatz  des  königlichen  Sammlers  gewesen, 
der  nicht  einmal  geahnt  hat,  zu  welch  unschätz¬ 
barem  Werte  sich  das  von  ihm  in  Kunstwerken  an¬ 
gelegte  Kajdtal  im  Laufe  von  150  Jahren  .steigern 
würde. 

Die  französischen  oder  von  Frankreich  beein- 


flus.sten  Maler,  die  in  den  Kunstsammlungen  Friedrich’s 
des  Großen  vertreten  sind,  hat  Seidel  in  zwei  Gruppen 
gesondert,  deren  erste  die  in  Berlin  zeitweilig  oder 
bis  an  ihr  Lebensende  thätig  gewesenen  französischen 
Maler  umfasst:  Antoine  Pesne,  dessen  in  könig¬ 
lichem  Besitz  befindliche  Hauptwerke,  darunter  auch 
die  feinen,  ganz  in  der  Art  Watteau’s  erdachten  und 
ausgeführten  Schäferstücke  „der  Tanz  im  Freien“ 
und  „das  Konzert  im  Freien“  und  als  Probe  seiner 
dekorativen  Malereien  zwei  mythologische  Stücke 
„Pan  und  Syrinx“  und  ,,Vertumnus  und  Pomona“ 
reproduzirt  werden,  im  ganzen  33,  dann  der  schon 
erwähnte  Stilllebenmaler  Augustin  Dubuisson 
(1700  -  1771),  der  schon  in  Rheinsberg  für  den  Kron¬ 
prinzen  Friedrich  thätig  gewesen  war,  und  Charles 
Amede  Philipp  van  Loo,  der  1748  in  die  Dienste 
des  Königs  trat,  um  vornehmlich  an  Stelle  des  alt¬ 
gewordenen  Pesne  Decken-  und  Wandmalereien  in 
den  Schlössern  Friedrich’s  auszuführen.  Seine  Haupt- 
thätigkeit  begann  aber  erst  nach  Beendigung  des 
siebenjährigen  Krieges  und  dauerte  bis  1769,  wo  er 
wieder  nach  Paris  zurückkehrte,  weil  ihm  die  Arbeit 
unter  der  strengen  Kontrolle  des  Königs  von  Preußen 
nicht  mehr  hehagte. 

Die  zweite  Abteilung  des  Seidel’schen  Werkes 
beschäftigt  sich  mit  den  französischen  Malern,  deren 
Werke  in  der  Sammlung  Friedrich’s  vertreten  sind, 
mit  Watteau,  von  dem  zehn  seiner  besten  Bilder 
ganz  und  aus  ihnen  noch  mehrere  Gruppen  und 
Einzelfiguren  wiedergegeben  sind,  darunter  die .  Ein¬ 
schiffung  zur  Liebesinsel  mit  Gegenüberstellung  der 
im  Louvre  befindlichen  Skizze  zum  lehrreichen  Ver¬ 
gleich,  dann  mit  Laueret,  Pater,  Chardin,  Francois 
und  Jean  Francois  de  Troy,  F.  Boucher  und  Antoine 
und  Charles  Antoine  Coypel.  Trotz  des  knappen 
Rahmens,  den  Seidel  seinem  Texte  gezogen  hat,  hat 
er  doch  neben  den  notwendigen  geschichtlichen  An¬ 
gaben  noch  den  Raum  für  manche  feinsinnige  Be¬ 
obachtung,  für  manch  einen  neuen  Zug  scharf¬ 
blickender  Charakterisirungskunst  gefunden.  Der 
stattliche  Folioband,  der  auch  in  seinem  Einbande 
den  Kunstgeschmack  des  großen  Königs  wider¬ 
spiegelt,  giebt  uns  jedoch  nur  ein  Bild  von  der  einen 
Hälfte  seiner  der  französischen  Kunst  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  gewidmeten  Neigungen.  Voraussichtlich 
wird  uns  ein  zweiter  Band  in  gleich  opulenter  Weise 
einen  Überblick  über  die  von  Friedrich  11.  gesammelten 
Schätze  der  französischen  Plastik  und  des  französischen 
Kunstgewerbes  geben,  die  nicht  minder  nach 
Hunderttausenden  von  Frank  geschätzt  werden  als 
seine  Bilderschätze. 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


'211 


Ein  Drittes  bliebe  dann  noch  zn  tliun  übrig, 
um  das  Bild  des  königlichen  Knnstsammlers  so  völlig 
abzurunden,  wie  es  viele  andere  Geschieh tscbreiber 
mit  dem  Herrscher,  dem  Heerführer,  dem  Philo¬ 
sophen,  dem  Volkswirt,  dem  Landesvater  und  dem 
Schriftsteller  gethan  haben.  Nach  der  Mitte  der 
fünfziger  Jahre  wandte  sich  der  Geschmack  des 
königlichen  Sammlers,  wie  uns  durch  Briefe  seiner 
vertrauten  Freunde  und  durch  andere  Zeugnisse  aus 
Akten  und  Rechnungen  belegt  wird,  mehr  der  Ge¬ 
schichtsmalerei  großen  Stils  zu.  Es  werden  dabei 
nebeneinander  Rubens  und  Correggio  genannt;  aber 
wichtiger  als  der  Klatsch  geheimer  Korrespondenzen 
sind  die  vorhandenen  Denkmäler,  die  großen  Gemälde 
von  Rubens,  van  Dyck,  Snyders  u.  s.  w.  Der  äußere 
Vorwand  zur  Erwerbung  dieser  Gemälde  wird  in  den 
Korrespondenzen  in  dem  Wunsche  des  Königs  ge¬ 
funden,  für  die  Ausschmückung  seiner  großen  Räume 
große  Gemälde  zu  gewinnen.  Sollte  der  Grund  dieser 
Geschmackswandlung  nicht  tiefer  liegen?  Sollte  er 
nicht  im  Zusammenhang  mit  der  Wandlung  im  Cha¬ 


rakter  des  großen  Königs  stehen?  Der  Held  von 
Mollwitz  und  Hohenfriedberg  hatte  noch  etwas  von 
einem  Rokokokönig,  dem  der  Verkehr  mit  Watteau, 
Laueret  und  Pater  zu  den  „petits  plaisirs“  gehörte. 
Als  sich  aber  um  die  Mitte  der  fünfziger  Jahre  die 
Charaktergestalt  des  einsamen  Herrschers  herauszu¬ 
bilden  begann,  der  seinem  Zeitalter  seinen  Namen 
ffecreben  hat,  nahm  auch  seine  Kunstliebe  einen  heroi- 
sehen  Ton  an.  Als  er  sich  zu  dem  Kriege  rüstete, 
der  sieben  Jahre  dauern  sollte,  war  die  Neigung 
des  jugendlichen  Schwärmers  von  Rheinsberg  nur 
noch  eine  romantische  Erinnerung,  und  als  er  1763 
heimkehrte,  waren  die  großen  Historienmaler,  Rubens 
an  der  Spitze,  die  Ideale  seines  Kunstgeschmacks. 
Das  Bild  des  königlichen  Kunstsammlers  würde  also 
erst  vollständig  werden,  wenn  auch  dieser  Teil  seiner 
Bestrebungen,  in  der  Kunst  den  höchsten  Genuss 
seines  Daseins  zu  suchen,  eine  würdige  Darstellung 
in  Wort  und  Bild  fände. 

ADOLF  L’OSENBFFG. 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 

VON  G  HASSE. 

(Schluss.) 


ASS  die  Statue  einen  Jüng¬ 
ling  darstellen  soll,  welcher 
im  Begriff  steht  Honig  zu 
naschen,  darüber  sind  alle 
Forscher  bis  auf  Wilson 
einig,  welcher  meint,  er 
habe  bereits  von  dem  Ge¬ 
genstände,  den  er  in  der 
Hand  hält,  genossen,  dagegen  gehen  die  Ansichten 
über  die  begleitenden  und  die  vorangegangenen 
Vorgänge  weit  auseinander. 

Wilson  meint,  er  mache  den  Eindruck,  als 
wolle  er  sich  vorwärts  bewegen,  und  sagt  zugleich, 
dass  er  sich  mit  einem  Ausdruck  von  Ekel  zurück¬ 
werfe.  Bode  dagegen  betrachtet  den  Jüngling  als 
stehend  und  nur  insoweit  in  Bewegung,  als  er  die 
Erhebung  der  rechten  Hand  mit  dem  honiggefüll¬ 
ten  Hörnchen  durch  eine  Bewegung  seiner  rechten 
Körperseite  nach  links  hin  begleitet.  Damit  ist  für 
ihn  das  Vor  und  Nach  in  der  Bewegung  in  glück¬ 
lichster  Weise  vereinigt.  Henke  beschäftigt  sich 
nicht  ausdrücklich  mit  dieser  von  Bode  hervor¬ 


gehobenen  Bewegung,  die  doch  wohl  als  eine 
Drehung  der  rechten  Körperhälfte  nach  vorne  links 
hinüber  zu  bezeichnen  wäre,  sondern  macht  beson¬ 
ders  auf  die  ungewöhnliche  Art  der  Wendung  des 
Oberkörpers  über  die  Hüfte  des  Standbeines  hin 
aufmerksam  und  sucht  in  derselben  das  Bestreben, 
den  Körper  vor  dem  etwa  niederträufelnden  Honig 
zu  schützen.  Nach  ihm  ist  also  der  Giovannino 
nicht  bloß  der  Honig  naschende,  sondern  auch  der 
die  Reinlichkeit  anstrebende  Jüngling,  und  diese 
beiden  im  ganzen  recht  lobenswerten  Thätigkeiten 
gehen  nebeneinander  her.  Während  also  bei  Bode 
Ruhe  im  unteren  Teil  des  Körpers  herrscht  und 
der  obere  in  Bewegung  ist,  zeigt  letzterer  nach 
Henke,  welcher  auch  den  Johannes  als  stehend  an¬ 
nimmt,  zwei  Bewegungen. 

Wie  erklären  sich  nun  zunächst  die  Wider¬ 
sprüche  zwischen  Wilson  einer-  und  Bode,  Henke 
andererseits?  In  der  That  macht  die  Statue  auf  den 
ersten  Blick  den  Eindruck,  als  ob  eine  Vorwärts¬ 
bewegung  stattfände.  Das  Spielbein  ist  nicht  wie  bei 
dem  gewöhnlichen  Ruhen  auf  dem  Standbeine  leicht 

27* 


DER  GIOVANNTNO  DES  MICHELANGELO. 


•2 12 

im  Knie  gebogen  und  etwas  auswärts  gedreht,  mit 
entsprechend  gesenkter  und  auf  der  entgegen¬ 
gesetzten  Seite  gehobener  Hüfte,  sowie  leicht  Vor¬ 
gesetztem,  gelten  zurück  gesetztem,  nach  außen 
gedrehtem  und  abduzirtem  Fuße  und  platt  auf- 
sresetzter  Sohle  oder  leicht  erhobener  Ferse,  sondern 
dasselbe  ist  wie  beim  Gehen  stark  rückwärts 
gewandt.  Die  Fußspitze  berührt  bloß  den  Boden, 
während  die  Ferse  hoch  gehoben  ist,  gerade  wie 
beim  Gehen,  und  dies  mag  wohl  Wilson  zu  der 
Annahme  einer  Vorwärtsbewegung  gebracht  haben. 
Eine  nähere  Betrachtung  lehrt  nun  aber,  dass  diese 
Absicht  dem  Künstler  fern  liegen  musste.  Hätte  er 
eine  Vorwärtsbewegung  darstellen  wollen,  so  hätte 
er  den  Oberkörper  nicht  nach  rechts  und  hinten  hin 
übergebogen,  sondern  er  hätte  ihm  eine  Neigung 
nach  links  und  vorne  gegeben,  denn  beim  Gehen 
muss  sich  der  Körper  in  der  entgegengesetzten 
Riclitung  des  schwebenden  Beines  bewegen,  soll 
nicht  das  Gleichgewicht  verloren  gehen  oder  un¬ 
nötiger  Muskelaufwand  zur  Aufrechthaltung  einer 
unnatürlichen  Stellung  gemacht  werden.  Eine  be¬ 
sondere  Kraftentfaltung  zur  Aufrechthaltung  einer 
solchen  für  das  Gehen  unnatürlichen  Stellung  ist 
an  dem  Körper  der  Statue  nirgends  zu  entdecken, 
und  da  nun  außerdem  das  Bein  für  den  gewöhn¬ 
lichen  Gang  zu  weit  abducirt  und  nach  außen  ge- 
drelit  erscheint,  und  da  seine  Muskulatur  nicht 
gespannt,  sondern  schlaft  ist,  so  darf  man  auf  Grund 
seiner  sonstigen  genauen  anatomischen  Kenntnisse 
dem  Künstler  wohl  Zutrauen,  dass  er  die  Figur 
stehend  und  nicht  gehend  bilden  wollte.  Immerhin 
sielit  man  aber  aus  allen  diesem,  wie  wenig  klar 
und  ein  lach  die  Haltung  des  unteren  Teiles  der 
Statue  ist. 

Nun  die  dem  Künstler  zugeschriebenen  Be¬ 
wegungen  des  obereji  Körperteiles.  Von  vornherein 
muss  die  Wilson’sche  Ansicht,  als  drücke  sich  in  der 
Bewegung  des  Oberkör})ers  ein  Gefühl  des  Ekels 
vor  der  genossenen  Si)eise  aus,  von  der  Hand  ge¬ 
wiesen  werden.  Wäre  ein  solches  Ekelgefühl  vor¬ 
handen,  so  mü.sste  das  im  Mienenspiel  sich  aus- 
drücken,  und  in  diesem  Gesichte  sieht  man  davon 
gar  nichts,  im  Gegenteil.  Das  einzige,  was  zu 
Gunsten  die.ser  Annahme  angeführt  werden  könnte, 
wäre  die  Biegung  des  Oberkörpers  im  Kreuze  nach 
hinten,  allein  dieselbe  geschieht  ohne  besondere  Kraft, 
ohne  Mnskelanstrengung,  wie  man  leicht  bei  der  Be¬ 
trachtung  von  hinten  sieht.  Somit  kann  es  nicht 
Whiuder  nehmen,  wenn  keiner  der  s{)äteren  Autoren  auf 
diese  Wilson’sche  Annahme  zurückkommt.  Es  bleibt 


also  die  Bewegung  zum  Genüsse  des  Honigs  übrig, 
welche  in  der  erhobenen  rechten  Hand  und  in  der 
Drehung  des  Oberkörpers  mit  seiner  rechten  Seite 
nach  vorne,  und  in  der  Neigung  des  Kopfes  und 
Halses  nach  vorne  erkannt  werden  kann. 

Wie  steht  es  nun  aber  mit  der  von  Henke  an¬ 
genommenen  Bewegung,  welche  durch  den  lobens- 
werthen  Reinlichkeitssinn  des  Johannes  hervorge¬ 
rufen  ist?  Ich  gestehe,  es  ist  mir  unerfindlich,  wie 
zunächst  das  Betröpfeln  aus  dem  Hörnchen  durch 
die  an  der  Statue  sich  zeigende  Wendung  des  Körpers 
vermieden  werden  kann.  Es  ist  richtig,  durch  die 
Neigung  des  Oberkörpers  in  der  Hüfte  nach  rechts, 
durch  das  Nachlinksdrängen  desselben  bekommt 
das  Standbein  die  Richtung  von  oben  außen  nach 
unten  und  innen,  allein  dadurch  wird  die  Beschmutzung 
des  Beines  nicht  ohne  weiteres  vermieden.  Es  wäre 
das  nur  dann  der  Fall,  wenn  das  Hörnchen  nach 
außen  von  der  senkrechten  Ebene,  welche  man  durch 
die  am  weitesten  nach  außen  links  liegenden  Punkte 
des  Körpers  ziehen  kann,  stände,  oder  wenn  es  vor 
sämtliche  Punkte  desselben  gebracht  wäre.  Die' Mög¬ 
lichkeit  dazu  wäre  in  einer  starken  Drehung  des 
Körpers  von  rechts  nach  links,  oder  in  einer  starken 
Vorwärtsneigung  desselben  gegeben,  allein  von  allen 
diesen  Bewegungen  ist  entweder  gar  nichts  vorhanden 
oder  die  Bewegung  ist  wie  die  Drehung  nach  links 
nicht  so  ausgiebig,  dass  die  rechte  Hand  nach  außen 
vom  Körper  zu  liegen  kommt.  Im  Gegenteil,  sie 
steht  vor  der  linken  Brust,  und  dabei  ist  der  Ober¬ 
körper  noch  nach  rechts  und  seitwärts  gebeugt  und 
nicht  nach  vorne,  sondern  nach  hinten  übergeneigt. 
Man  könnte  somit  eher  an  eine  Beschmutzung  des 
Körpers  durch  den  Inhalt  des  Hörnchens  denken, 
als  an  das  Gegenteil.  Günstiger  liegen  schon  die 
Dinge  für  die  Henke’sche  Annahme,  was  das  Ab¬ 
tröpfeln  von  der  Honigwabe  betrifft.  Diese,  welche 
nicht  dicht  der  linken  Hüfte  anliegt,  sondern  ein 
klein  wenig  von  ihr  abgehalten  wird,  kann  bei  der 
vorhandenen  Stellung  und  Biegung  des  Körpers 
unmöglich  das  Bein  beschmutzen,  aber  war  damit 
diese  Stellung  nötig?  Ich  meine,  nein!  Selbst  beim 
geraden  aufrechten  Stehen  war  eine  Beschmutzung 
des  Beines  ausgeschlossen,  denn  die  Hüfte  bildet 
schon  an  und  für  sich  den  am  weitesten  nach  außen 
liegenden  Teil  der  unteren  Extremität,  und  zudem 
hält  Johannes  die  Wabe  etwas  vom  Körper  ab  und 
außerdem  fast  horizontal,  so  dass  der  Honig  aus  den 
Zellen,  soweit  sie  nicht  von  den  Fingern  berührt 
werden,  nicht  abfließen  kann. 

Somit  schließe  ich  mich  Bode  an,  indem  auch 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


ich  meine,  dass  der  Giovannino  im  Begriff  ist, 
stehend  das  Hörnchen  zum  Munde  zu  führen,  und 
dass  er  sich  in  jugendlicher  Naschhaftigkeit  des  be¬ 
vorstehenden  Genusses  des  fionigs  freut. 

Habe  ich  nun  so  aus  der  Haltung  der  Figur 
das  Motiv,  den  Grundgedanken,  abgeleitet,  so  fragt 
es  sich  jetzt,  wie  dieser  Grundgedanke  im  einzelnen 
durch  geführt  ist  und  inwieweit  die  Ausführung 
den  vorhin  aufgestellten  Forderungen  entspricht, 
und  da  lautet  die  Antwort;  ,,Die  Statue  ist  im  Ganzen 
und  im  Einzelnen  geziert“,  denn  es  finden  sich  un¬ 
nötige  und  über  das  Ebenmaß  hinausgehende  Be¬ 
wegungen  und  dem  entsprechend  Haltungen.  Damit 
trifft  die  ganze  Figur  von  meinen  im  Eingänge  scharf 
und  kurz  entwickelten  Gesichtspunkten  aus  ein 
schwerer  Tadel  und  das  Schönheitsgefühl  und  Schön- 
heitshedürfnis  wird  durch  sie  durchaus  nicht  voll  be¬ 
friedigt.  Springer,  Grimm  und  vor  allen  Wölfflin,  ja 
selbst  Bode  haben  bereits  früher  ihre  Nichtbefriedigung 
ausgedrückt,  wenn  dieselben  auch  zum  Teil  ihren 
Tadel  auf  einzelne  Abschnitte  des  Körpers,  nament¬ 
lich  auf  den  Kopf  beschränkten,  während  Wilson 
und  in  der  neuesten  Zeit  Henke  nur  Worte  zum 
Teil  überschwenglichen  Lohes  zu  finden  wissen, 
ersterer  ohne  Einschränkung,  letzterer  mit  dem  Be¬ 
merken,  dass  einzelne  Bewegungen  ungewöhnliche 
seien. 

Geziert  ist  vor  allen  Dingen  die  Stellung  des 
rechten  Beines,  des  sogenannten  Spielbeines,  und  aus 
dieser  erklärt  sich  am  besten  die  Haltung  des  größten 
Teiles  der  übrigen  Körperabschnitte. 

Das  rechte  Bein  ist  innerhalb  der  natürlichen 
Grenzen,  aber  zu  stark  abduzirt  und  nach  außen  ge¬ 
dreht,  und  der  Künstler  musste,  um  die  starke 
Beugung  des  Knies  zu  erreichen,  infolgedessen 
die  rechte  Hüfte  stark  senken  und  somit  den  Rumpf 
kräftig  nach  rechts  überneigen.  Er  erreichte  damit 
zu  gleicher  Zeit  den  Vorteil,  dass  die  seitlich  gestellte 
Masse  des  rechten  Beines  nicht  für  sich  allein  steht 
und  störend  in  die  Augen  fällt,  sondern  dass  das 
Auge  oben  rechts  noch  eine  weitere  Masse  findet. 

Wie  nun  aber  die  Stellung  des  rechten  Beines 
über  das  gewöhnliche  Maß  hinausgeht,  so  auch  die 
Neigung  des  Rumpfes  in  der  Hüfte  nach  rechts. 
Wie  schon  Henke  erwähnt,  ist  diese  Stellung  eine 
ungewöhnliche,  um  ohne  besondere  Muskelanstren¬ 
gung  das  Gleichgewicht  des  Körpers  aufrecht  zu  er¬ 
halten.  Wird  das  eine  Bein,  wie  das  Spielbein  der 
Statue,  seitwärts  rechts  von  dem  Körper  entfernt, 
so  muss  der  Rumpf  nach  statischen  Gesetzen  regel¬ 
recht  nach  links  hin  abweichen.  Hier  findet  sich 


nun  aber  in  den  unteren  Rumpfpartieen  eine  gleich¬ 
sinnige  Neigung,  und  die  Folge  ist,  dass  bei  dieser 
ungünstigen  Anordnung  des  Körpers  für  die  Auf¬ 
rechterhaltung  des  Gleichgewichtes  die  über  dem 
unteren  Rumpfabschnitte  liegenden  Körperpartieen 
nach  rechts  übergebogen  sein  müssen,  und  da  das 
nur  in  einem  ungenügenden  Maße  möglich,  so  musste 
das  ganze  Becken  nach  rechts  hinübergeschoben 
werden.  Daraus  resultirte  dann  einfach  die  Schräg¬ 
stellung,  die  Stellung  einwärts  (Henke)  des  rechten 
Beines.  Alle  diese  Gleichgewichtsbewegungen  be¬ 
dingen  die  gebrochenen,  die  Zickzacklinien,  welche 
ja  den  Forschern  bereits  aufgefallen  sind,  ohne  dass 
sie  den  Versuch  gemacht  haben,  den  Verlauf  der¬ 
selben  wissenschaftlich  zu  erklären. 

Infolge  dieser  ungewöhnlichen  Stellung,  welche 
allerdings  den  Eindruck  jugendlicher  Schlaffheit,  aber 
meiner  Ansicht  nach  nicht  gerade  zu  Gunsten  der 
Statue  erhöht,  ist  vor  allem  über  dieselbe  eine 
gewisse  Unruhe  gelagert,  ein  übermäßiges  Bewegt¬ 
sein  der  Linien,  und  das  ist  eben  das  Gezierte  in 
der  Figur. 

Weiter  aber  bedingt  die  weit  über  das  Maß 
der  Ruhe.stellung  hinausgeheude  Lage  des  linken 
Beines  nach  hinten  ein  Vorschieben  des  unteren 
Rumpfabschnittes  und  somit  des  Beckens,  und  da 
aus  statischen  Gründen  der  obere  Körperteil  sich 
nach  hinten  neigen  musste,  Kopf  und  Hals  dann 
wieder  nach  vorne,  so  entstand  dadurch  nicht  bloß 
die  starke  Einknickung  im  Kreuze,  sondern  es  er¬ 
scheint  damit  auch  in  der  Profilansicht  die  Zickzack¬ 
linie,  welche  von  vorne  so  in  die  Augen  fällt.  So¬ 
mit  i.st  auch  in  dieser  Ansicht  eine  über  das  Eben¬ 
maß  hinau.sgehende  Bewegung  und  Haltung,  Unruhe 
und  Geziertheit. 

Wie  man  sieht,  sind  alle  diese  Bewegungen  nur 
naturgemäße  Folgerungen  aus  einander,  die  eine 
musste  die  andere  bedingen,  wollte  der  Künstler 
nicht  die  statischen  Grundlagen  seines  Werkes  preis¬ 
geben,  und  somit  ein  Werk  schaffen,  welches  der 
richtigen  Körperstellung  Hohn  spricht.  Allein  es 
finden  sich  auch  unnötige  Bewegungen,  und  dazu 
gehört  einmal  die  starke  Drehung  des  Körpers  nach 
vorne  links  und  dann  die  starke  Beugung  der  rechten 
Hand  im  Gelenk.  Der  Eindruck  des  Gezierten 
wird  dadurch  meines  Erachtens  wesentlich  erhöht, 
und  derselbe  wird  gewiss  nicht  gemindert  durch 
die  Haltung  der  Finger  derselben  Hand.  Allerdings 
ist  das  Hörnchen  zu  klein,  um  mit  der  vollen  Hand 
gefasst  zu  werden,  unnötig  aber  ist  es  dasselbe  mit 
sämtlichen  Fingerspitzen  fassen  zu  lassen  oder  sämt- 


214 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


liehe  Fingerspitzen  an  dasselbe  zu  legen.  Es  hätte 
genügt,  wenn  der  Honigbeliälter  von  den  drei  ersten 
Fingern  mit  den  Spitzen  gefasst  wurde,  jedoch  will 
ich  auf  diesen  Punkt  kein  übermäßig  großes  Gewicht 
legen.  Immerhin  wäre  es  durch  Anwendung  eines 
anderen  Griffes  möglich  gewesen,  das  Hörnchen  dem 
Beschauer  besser  als  solches  vorzuführen,  und  ich 
kann  nicht  anders  als  die  besondere  Spreizung  des 
kleinen  Fingers  auch  als  geziert  zu  erklären. 

Und  nun  das  Gesicht!  W^enn  ich  auch  absehe 
von  dem  wuchtigen,  an  der  Schläfe  tief  ausgehöhlten, 
ja  durchbohrten,  sich  tief  auf  den  Nacken  nieder¬ 
senkenden  Gelock,  welches  dem  Kopfe  einen  ent¬ 
schieden  weibischen  Charakter  aufprägt,  so  entspricht 
dies  Mienenspiel  nicht  vollkommen  dem  Grundge¬ 
danken  der  Statue.  In  der  weiten,  viereckigen  Mund¬ 
öffnung  mit  der  sich  vorstreckenden  Zunge  ist  aller¬ 
dings  Begehrlichkeit  ausgedrückt,  jedoch  ebenfalls 
über  das  Ebenmaß  hinausgehend.  Die  Forderung 
wäre  aber  doch  wohl  gerechtfertigt  gewesen,  dass 
der  Künstler  der  Begehrlichkeit  dee  Mundes  einen 
jugendfrohen,  genussbegierigen  Blick  zugesellte, 
allein  das  ist  nicht  der  Fall.  Der  Blick  ist  aller¬ 
dings  auf  das  Hörnchen  gerichtet,  aber  er  ist  nicht 
offen  froh,  sondern  es  liegt  etwas  in  der  ganzen 
Lage  nicht  Begründetes,  Schläfriges  in  demselben. 
Das  rührt  daher,  dass  die  Lidspalten  schmal,  dass 
namentlich  die  oberen  Lider  stark  gesenkt  sind,  vor 
allen  Dingen  aber  liegt  der  Grund  darin,  dass 
namentlich  das  linke  Auge  wie  bei  eintretender 
Schläfrigkeit  etwas  nach  oben  gerollt  erscheint,  und 
dass  somit  das  untere  Lid  den  Augenstern  nicht 
übersclineidet.  Dieser  kommt  etwas  oberhalb  des 
Lidrandes  zum  Vorschein.  Dieses  Schläfrige,  oder 
wenn  man  lieber  will  Schwärmerische  im  Blick  ist 
nicht  bloß  geziert,  ich  meine,  es  ist  auch  unnatür¬ 
lich.  Dabei  zeigen  sich  im  Gesichte  besondere  auf¬ 
fallende  Scbönbeitsfehler.  Unschön  ist  meines  Er¬ 
achtens  die  große  Breite  des  Untergesichts,  besonders 
in  der  Gegend  der  Kieferwinkel.  Dadurch  bekommt 
das  ganze  Gesicht  ein  viereckiges  Aussehen.  Unschön 
ist  fernerliin  die  Modellirung  der  Lippen.  Die 
Lij)pen  sind  dünn,  in  ihren  Grenzen  schwach  aus¬ 
geprägt  und  besonders  die  Unterlippe  ist  mit  ihrer 
mittleren  V'ertiefung  ungenügend  ausgearbeitet. 

Dies  die  Tliatsachen  und  ihre  Begründung.  Ich 
bitte  die  Länge  und  vielleicht  auch  die  Langweiligkeit 
derselben  dem  Anatomen,  dessen  eigenstes  Gebiet 
notwendig  betreten  Averden  mmsste,  zu  Gute  zu  hal¬ 
ten  und  sie  mit  der  Notwendigkeit  zu  entschuldigen, 
der  ganzen  Angelegenheit  eine  streng  wissenschaft¬ 


liche  Behandlung  zu  Teil  werden  zu  lassen.  Ich 
komme  jetzt  zu  der  nächsten  Frage:  Kami  dieses 
Wet'lc  eine  Jugenda7'beit  Michelangelo’ s  sein?  Ich  meine 
mit  Milanesi,  H.  Grimm’  und  Wölfflin:  Nein! 

Für  dieses  Urteil  ist  an  erster  Stelle  die  Dar¬ 
stellungsweise  Michelangelo’s  maßgebend,  und  diese 
lässt  sich  ja  zum  Glück  an  Jugendwerken  desselben 
nachweisen. 

Der  Bacchus,  welcher  kurz  nach  dem  Giovannino 
entstanden  ist,  bietet  das  beste  Vergleichsobjekt, 
und  als  solches  benutzen  ihn  ja  auch  die  gegnerischen 
Autoren. 

An  der  Statue  des  Bacchus  findet  sich  keine 
einzige  überflüssige,  sich  nicht  aus  dem  Motiv  und 
aus  der  augenblicklichen  Lage  ergebende  Bewegung, 
ja,  es  ist  keine  einzige  vorhanden,  welche  das  Maß 
des  in  der  Situation  Liegenden,  das  Maßvolle  über¬ 
schritte.  Keinen  Augenblick  ist  man  zweifelhaft, 
welchen  Gedanken  der  Künstler  ausdrücken  wollte. 
Das  Motiv  wird  nicht  gestört,  vermindert  und  ver¬ 
dunkelt  durch  eine  über  die  Figur  ausgebreitete  Un¬ 
ruhe  in  der  Linienführung,  eine  Unruhe,  welche  sich 
auf  das  Denken  und  die  Betrachtung  des  Beschauers 
uuAvillkürlich  überträgt.  Nicht  mühsam  hat  man 
sich,  wie  beim  Giovannino,  zum  Gedanken  durchzu¬ 
winden,  sondern  derselbe  bietet  sich  von  vornherein 
als  feste  Stütze,  mittelst  der  man  allmählich  sicher 
zur  Würdigung  der  Einzelheiten  geführt  wird.  Ich 
will  die  Frage  nach  dem  ästhetischen  Wert  der 
Statue  nicht  weitläufig  erörtern.  Es  lässt  sich  ja 
darüber  streiten,  wie  sich  auch  darüber  streiten 
lässt,  ob  ein  schlafender,  wie  der  Barberini’sche  Faun 
in  München,  ästhetisch  wertvoller  ist,  als  ein  einher¬ 
taumelnder  Trunkener.  Auch  will  ich  bei  dieser 
Gelegenheit  die  Frage  nicht  eingehend  behandeln, 
ob  die  Ausbildung  der  einzelnen  Formen  den  An¬ 
sprüchen  an  Schönheit  genügt,  ich  möchte  diese 
Frage  bei  diesem  Jugendwerke  Michelangelo’s  nicht 
ohne  weiteres  bejahen,  aber  das  ist  sicher,  aus  oben 
genannten  Gründen  überragt  der  Bacchus  den  Gio¬ 
vannino  so  weit,  wie  z.  B.  der  Hermes  des  Praxiteles 
irgend  eine  spätrömische  Statue  überragt. 

Den  Blick  in  seliger  Vergessenheit  der  vollen 
Schale  zugekehrt,  hebt  er,  in  der  Trunkenheit  nicht 
mehr  die  Größe  des  Kraftaufwandes  seiner  Muskeln 
zur  Erreichung  des  bestimmten  Zweckes  ermessend, 
dieselbe  über  die  Höhe  des  Mundes  hinaus.  Dabei 
sind  Zweifel  und  Begierde  nach  dem  Trünke 
in  maßvollster  Weise  im  Gesichte  ausgedrückt. 
Er  taumelt  vorAvärts  und  vermag  auch  nicht  mehr 
die  Bewegung  seines  Spielbeines  in  den  natür- 


DER  GIOVANNINO  DES  MICHELANGELO. 


215 


liehen  Schranken  zu  halten.  Der  Oberkörper  fällt 
nach  hinten  über  und  wird  durch  Vornüberheugen 
des  oberen  Abschnittes  in  seinem  Falle  aufgehalten. 
Um  das  Gleichgewicht  dann  weiter  so  viel  wie  mög¬ 
lich  in  der  einfachsten,  natürlichsten  Weise  zu  sichern, 
ist  der  Körper  nach  der  Seite  des  Standbeines  über¬ 
geneigt  dargestellt,  während  das  Spielbein  in  trun¬ 
kener  Vergessenheit  stark  ahduzirt,  auswärts  gedreht 
und  etwas  erhoben  erscheint.  Das  Knie  ist  dabei  ge¬ 
beugt,  der  Fuß  auf  den  Zehenspitzen  erhoben.  Die 
schlatfe  Haltung  lässt  kaum  erwarten,  dass  er  im 
nächsten  Augenblick  das  Standbein  zu  wechseln  im 
stände  sein  wird  und  das  Gleichgewicht  aufrecht  zu 
erhalten  vermag.  Er  steht  da,  das  vollendete  Bild 
eines  Trunkenen,  aber  eines  Trunkenen  rieht  aus 
Gewohnheit,  sondern  aus  üherschäumendem  Jugend¬ 
mut,  in  einer  Haltung,  welche  den  Blick  wohl  fesselt, 
aber  nicht  beleidigt.  Er  versöhnt  mit  dem  unge¬ 
wöhnlichen  Zustand,  in  dem  er  sich  befindet,  und 
nötigt  dem  Beschauer  eher  ein  Lächeln,  als  einen 
Ausruf  des  Bedauerns  ah.  Jeder  Zug  ist  dem  Leben 
abgelauscht  und  verfeinert,  aber  nicht  geziert  dar¬ 
gestellt. 

Wie  ganz  anders  der  Giovannino,  und  wie  scharf 
würde  dieser  Gegensatz  hervortreten,  wenn  man  ihn, 
sei  es  unter  die  Originale  in  Florenz,  sei  es  unter 
die  Gipsabgüsse  der  echten  Werke  Michelangelo’s, 
wie  es  für  das  Berliner  Museum  naturgemäß  wäre, 
stellen  würde. 

Angesichts  eines  Werkes  wie  des  Bacchus  kann 
man  nicht  annehmen,  dass  Michelangelo  kurz  vorher 
den  durchaus  anders  gearteten  Giovannino  schuf, 
um  so  weniger,  weil  wir  bei  keiner  der  nachfolgen¬ 
den  Einzelstatuen  des  Michelangelo  und  selbst  bei 
den  früheren,  wie  dem  Cupido,  auch  nur  einen  leisen 
Anklang  an  die  Darstellungsweise  im  Giovannino 
finden.  Auch  bei  ihnen  ist  das  Ebenmaß,  das  Natür¬ 
liche  in  Haltung  und  Bewegung  durchaus  gewahrt. 

Ich  kann  nun  die  Bacchusstatue  nicht  verlassen, 
ohne  auf  die  Bildung  des  Gesichtes  und  vor  allem 
auch  des  Mundes  näher  einzugehen.  Das  Unter¬ 
gesicht  ist  schmal,  die  Haarfülle  gegenüber  dem 
Giovannino  gemäßigt,  das  Mienenspiel  und  der  Blick 
entspricht  der  Lage  und  ist  nicht  wie  bei  dem  Jo¬ 
hannes  mit  einem  anderen,  nicht  dem  Gedanken 
entsprechenden  Ausdruck  verbunden,  und  schließlich 
meine  ich,  wer  einen  solchen  Mund  wie  bei  dem 
Bacchus  schuf,  der  konnte  unmöglich  kurz  vorher 
einen  Mund  wie  den  des  Giovannino  bilden. 

Bei  dem  Bacchus  ist  die  Mundöffnung  in  den 
Winkeln  schmäler  wie  in  der  Mitte.  Die  obere 


Begrenzung  derselben  erscheint  nicht  parallel  der 
unteren,  sondern  gegenüber  der  mehr  horizontalen 
Unterlippe  erhebt  sich  die  obere  in  der  Mitte  und 
senkt  sich  nach  den  Seiten  abwärts,  und  dieser 
Wechsel  in  den  Linien,  welcher  durchaus  dem  beab¬ 
sichtigten  Eindruck  der  Begehrlichkeit  nach  Genuss 
entspricht,  wird  dann  weiter  gefördert  durch  das 
scharfe  Ausprägen  der  Plastik  der  hier  viel  mehr 
wie  bei  dem  Johannes  schwellenden  Lippen.  Niemals 
hat  Michelangelo  einen  solchen  Mund  wie  den  des 
Giovannino  gebildet.  Es  bleibt  also  nichts,  was  für 
diesen  Meister  spräche,  als  die  schildförmige  Brust¬ 
warze,  und  ich  muss  gestehen,  dass  ich  diese  eigen¬ 
tümliche  Form  nicht  in  der  Schärfe  ausgeprägt  finde, 
um  dieselbe  als  entscheidendes  Merkmal  für  die  Ur¬ 
heberschaft  des  Michelangelo  zu  verwerten. 

Auch  die  Kolossalstatue  des  David  ist  nament¬ 
lich  von  Henke  zum  Vergleich  mit  dem  Giovannino 
herangezogen  worden.  Allein,  was  für  den  Bacchus 
gilt,  das  gilt  auch  für  den  David,  welcher  meines 
Erachtens  durch  die  feinere  Modellirung  des  Körpers 
den  Bacchus  übertrifft  und  damit  das  Wachsen  der 
anatomischen  Kenntnisse  seines  Meisters  bekundet. 
Im  übrigen  ist  auch  bei  ihm  in  Haltung  und  Be¬ 
wegung  sowohl  das  Zuviel,  als  das  Zuwenig  durch¬ 
aus  vermieden,  und  klar  und  einfach  tritt  auch  bei 
ihm  der  Grundgedanke  dem  Beschauer  entgegen. 

Die  Schleuder  gleichsam  in  seinen  Händen  wie¬ 
gend,  das  linke  Bein  leicht  vorgestützt  und  demnach 
der  Körper  leicht  nach  rechts  und  hinten  übergebogen, 
die  Ferse  des  linken  Fußes  gehoben,  so  beobachtet  er 
mit  der  gespanntesten  Aufmerksamkeit  und  zugleich 
mit  Zorn  im  Blick  den  von  links  her  kommenden 
Feind  und  dreht  demselben  seine  schmale  Seite  zu. 
Damit  ist  zugleich  eine  Stellung  geschaffen,  um  in  der 
zweckmäßigsten  Weise  die  Kraft  abzumessen,  welche 
nötig  sein  wird,  damit  der  mit  der  Schleuder  ge¬ 
worfene  Stein  sein  Ziel  erreiche.  Es  ist  genau  die 
Stellung,  wie  man  sie  so  oft  beim  Schlagballspiel 
sehen  kann,  wenn  der  Spieler  den  Ball  an  das 
Schlagbrett  legt,  um  im  nächsten  Augenblicke  mit 
abgemessener  Kraft  den  Schlag  zu  führen. 

Ist  es  mir  nun  somit  nicht  möglich,  den  Gio¬ 
vannino  als  Werk  des  Michelangelo  anzuerkennen, 
so  fragt  es  sich,  welchem  Meister  dasselbe  zukommt, 
und  wenn  sich  das  nicht  bestimmen  lässt,  zu  welcher 
Zeit  dasselbe  geschaffen  wurde.  Milanesi  spricht  es 
klar  und  deutlich  aus,  dass  es  ein  Werk  des  Matteo 
Civitale  sei,  und  Bode  und  Henke  weisen  darauf 
hin,  dass,  wenn  man  die  Urheberschaft  des  Michel¬ 
angelo  nicht  anerkennen  wolle,  man  doch  wohl  ge- 


216 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


nötigt  sei,  denselben,  sei  es  dem  Donatello,  sei  es 
dem  Yerroccbio,  zuznschreiben,  eine  Notwendigkeit, 
'welche  Wülfflin  freilich  nicht  anerkennt,  sondern 
dieser  Forscher  spricht  seine  Überzeugung  dahin  aus, 
dass  es  sich  um  ein  Werk  des  16.  Jahrhunderts  handle. 

Meine  Kenntnisse  und  Erfahrungen  reichen  nicht 
so  weit,  dass  ich  Angaben  darüber  machen  könnte, 
ob  die  besondere  Marmorart,  welche  von  Michel¬ 
angelo  oft  verwandt  worden  sein  soll,  und  aus  welcher 
nach  Bode  der  Giovannino  verfertigt  ist,  noch  in 
späterer  Zeit  gebrochen  und  verwandt  wurde  oder  nicht. 
Demnach  bin  ich  zur  Zeit  außer  stände,  die  Urheber¬ 
schaft  irgend  eines  der  Vorgänger  des  großen  floren- 
tiner  Meisters,  am  wenigsten  die  des  Donatello 
wahrscheinlich  zu  machen.  Soweit  mein  Vergleichs¬ 
material  reichte,  vermochte  ich  nur  festzustellen,  dass 
ein  solcher  Grad  von  Geziertheit,  wie  er  dem  Gio¬ 
vannino  eigentümlich  ist,  bei  keinem  der  Quattro¬ 
centisten  vorkommt,  am  wenigsten  bei  Donatello, 
auch  nicht  bei  Civitale.  Am  ehesten  ließe  sich  noch 
an  Verrocchio  denken,  dessen  David  auf  den  ersten 
Blick  manche  dem  Giovannino  verwandte  Züge  zeigt. 
Das  gilt  namentlich  auch  für  die  Bildung  und  Aus¬ 
arbeitung  des  Haares,  welches  jedoch  dem  Gesichte 
keinen  weibischen  Charakter  verleiht,  ferner  für  die  gute 
Darstellung  der  jugendlichen,  eckigen  Formen  mit 
dem  langen,  schlanken  Halse,  allein  ich  bin  bei  ein¬ 


gehenderer  Betrachtung  immer  wieder  von  dem  Ge¬ 
danken  an  Verrocchio  zurückgekommen.  Klar  und 
ruhig  ist  das  Motiv  des  siegreichen  Knaben  durch - 
geführt.  Die  Haltung  des  Kopfes  und  des  Körpers 
zeigt  in  keiner  Weise  ein  Übermaß,  selbst  nicht  das 
an  der  einen  Darstellung  neben  dem  Haupte  des 
Goliath  stehende  Bein,  welches  an  der  Replik  im 
Bargello  in  derselben  Weise  frei  steht,  da  der  Kopf 
des  Goliath  bei  dieser  neben  dem  Standbeine  liegt. 
Die  Stellung  des  Spielbeines ,  die  bei  der  ersten 
Statue  allein  schon  durch  die  Lage  des  Hauptes  vor 
und  zwischen  den  Beinen  bedingt  ist,  erhöht  sogar 
den  Eindruck  des  Sieghaften,  Triumphirenden,  na¬ 
mentlich  da  die  statischen  Verhältnisse  (Überneigen 
des  Rumpfes  an  der  Seite  des  Standbeines)  außer¬ 
ordentlich  einfache  sind.  Man  könnte  mir  nun  frei¬ 
lich  entgegenhalten,  dass  es  sich  wohl  um  eine 
Jugendarbeit  dieses  Meisters  handle.  Dagegen  ist 
aber  wiederum  zu  sagen,  dass  der  Giovannino  eine 
so  tief  eingehende  Kenntnis  des  Baues  des  mensch¬ 
lichen  Körpers  und  ein  solches  Raffinement  in  der 
Technik  verrät,  dass  an  ein  Jugendwerk  irgend  eines 
Meisters  überhaupt  nicht  zu  denken  ist.  Man  hat  das 
Werk  als  die  Frucht  eines  sehr  gereiften  Könnens 
anzusehen,  und  da  bietet  sich  nur  die  einzige  Mög¬ 
lichkeit,  den  Giovannino  in  ein  späteres,  der  Geziert¬ 
heit  huldigendes  Jahrhundert  zu  setzen. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


—  Das  Blatt,  welches  wir  den  Lesern  heute  bieten,  stammt 
aus  dem  I’rachtwerke:  „Potsdam,  ein  deutscher  Fürstensitz“, 
das  im  Verlage  von  Amsler  &  Riithardt  in  Berlin  kürzlich  er¬ 
schienen  ist.  Dasselbe  enthält  auf  30  Blättern  eine  Aus¬ 
wahl  der  schönsten  und  malerischesten  Punkte,  welche  die  von 
der  Natur  und  der  Kunst  so  reich  bedachte  Residenzstadt 
der  1  lohenzollern  in  reicher  Fülle  bietet.  Die  photographi¬ 
schen  Aufnahmen  stammen  von  Otto  Rau,  die  einzelnen 
Punkte  sind  mit  künstlerischem  Verständnis  ausgewählt  wor¬ 
den;  die  Heliogravüren  sind  in  der  bekannten  Anstalt  von 
.Meisenhach,  lüllärtli  <&  Co.  in  Berlin  vortrefflich  ausgeführt. 
Potsdam,  das  Kleinod  im  märkischen  Sande,  bietet  des 
Schönen  so  viel,  dass  eine  Auswahl  schwer  wird,  und  wer 
den  Ort  genau  kennt,  wird  noch  viele  Punkte  finden,  die 
wohl  auch  wert  wären,  in  die  Sammlung  mit  aufgenommen 
zu  werden.  Doch  wenn  man  die  ganze  Folge  durchblättert, 
wird  man  <lem  Künstler  im  allgemeinen  zugeben  müssen, 
da.ss  er  die  richtige  Auswahl  gctrolfen  hat.  Er  führt  uns 
erst  in  die  Stadt,  wo  das  Schloss  und  die  Garnisonkirche 
als  hervorragendste  Vertreter  der  Kunst,  in  letzterer  die 
firuft  E’riedrich’s  des  Grollen,  als  weihevolle  Stätte  für  jedes 
PreuP.enherz,  uns  vor  Augen  geführt  werden.  Dann  wandern 


wir  nach  Sanssouci  hinaus,  besuchen  die  Friedenskirche,  die 
Gruft  Kaiser  Friedrich’s  III.  und  genießen  die  Schönheiten 
des  Parkes  in  allen  seinen  Teilen,  die  alten  Baumriesen  des 
eigentlichen  Saussouciparks  und  die  neuen  Anlagen  des 
Sicilianischen  Gartens  unterhalb  des  Orangeriegebäudes.  Von 
wahrhaft  bestrickendem  Reiz  ist  die  alte  holländische  Mühle 
beim  Mondenschein,  ein  wundervolles  Bild  die  Dresdener 
Vase.  Weiter  geht  es  nach  dem  Neuen  Palais,  dem  Sommer¬ 
sitz  unseres  Kaiserpaares,  auf  das  uns  ein  wundervoller  Blick 
durch  das  Kolonnadenportal  der  Communs  geboten  wird,  und 
nach  Charlottenhof,  der  idyllischen  Schöpfung  Friedrich  Wil- 
helm’s  IV.  Nun  wendet  sich  der  Künstler  dem  Osten  zu. 
Das  Marmorpalais,  das  verwunschene  Schloss  der  Zauber¬ 
märchen,  an  das  sich  allerhand  Spuk  und  Sage  knüpft,  bieten 
wir  unseren  Lesern  in  vortrefflichem  Abdruck.  Ein  feiner 
Dunst  steigt  aus  dem  Wasser  des  heiligen  Sees,  der  die  Fun¬ 
damente  des  Schlosses  bespült,  empor  und  hüllt  das  Ganze 
in  leichten  Nebel.  Dann  erblicken  wir  die  weiten  Flächen 
des  .Jungfernsees  und  wandern  nach  Glienicke  und  Babels¬ 
berg,  von  dessen  Schloss  uns  ein  vortreffliches  Bild  gegeben 
wird,  und  enden  unsern  Weg  bei  der  Heilandskirche  in 
Sakrow. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


OUo  Rau. phol. 1892. 


Meisenbach.Riffarth  &  Co.,Beplin.2rav. 


MARMORPALAIS, 


Verlag  von  Amsler  a.  Rulhardt  in  Berlin. 


Schlf)ss  zu  OfFenl)acli;  Detail  der  Südfront  1572. 
'Nafh  K.  fi.  0.  Fritsch;  Denkmäler  deutscher  Renaissance.) 


r 


Fig.  1.  Merian;  Offenbacli.  (Aus  der  Topogr.  Hassiae  1646.) 


DAS  SCHLOSS  ZU  OFFENBACH  AM  MAIN. 

VON  JOHANNES  RICHTER. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


U  DEN  schon, steu  Kunstschö- 
pfungen  clerRenaissance,  nicht 
nur  des  an  stilvollen  und 
wichtigen  Baudenkmälern  rei¬ 
chen  Groliherzogtums  Hes¬ 
sen,  sondern  wohl  ganz 
Deutschlands,  gehört  das 
prächtige  Schloss  des  Fürsten 
Isenburg-Birstein  zu  Offenbach  am  Main.  Neben  der 
ehedem  einzigen  Fährstelle  über  den  Main  gelegen 
und  somit  in  belebter  Gegend  erbaut,  hat  das  Schloss 
schon  in  diesem  Punkte  einen  Wandel  erfahren. 
Denn  seit  Anlage  der  Eisenbahn  und  insbesondere 
der  neuen  steinernen  Brücke  mainabwärts  ist  es 
recht  stille  um  den  Platz  geworden,  den  das 
Kleinod  eines  an  hervorragenden  Denkmälern  reichen 
Kunstabschnittes  ziert,  und  mit  der  Übersiedlung 
der  fürstlichen  Herrschaft  nach  Birstein  hat  der 
Sitz  seine  frühere  Bedeutung  völlig  eingebüßt.  Heute 
wohnen  Leute  geringeren  Standes  in  den  Räumen,  die 
weiland  Graf  Reinhard  von  Isenburg  als  „ein 
lustiges,  bequemes  Lager“  bezeichnete  und  trotz 
schweren,  in  diesen  Mauern  erfahrenen  Missgeschickes 
über  alles  liebte.  Ruhig  fließt  der  Main  daran  vorbei, 
jetzt  durch  ansehnliche  Dammbauten  von  dem  Schlosse 
auf  etwa  hundert  Meter  ferngehalten,  damals  noch 
ein  allernächster,  aber  nicht  sonderlich  friedsamer 
Nachbar,  denn  er  suchte  mit  seinen  trüben  Wogen 
gar  oft  das  Gebäude  heim,  wenn  er  aus  den  blauen 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


Spessarthöhen  in  jedem  Lenze  die  Schneeschmelze 
hinabtrug  ins  flache  Land,  wovon  aus  fünf  Jahr¬ 
hunderten  noch  heute  Gedenksteine  in  der  Mauer  des 
Bogenganges  eindringlich  zu  uns  sprechen.  Deshalb 
ist  auch  die  dem  Flusse  und  dem  rauhen  Nprd  zu¬ 
gekehrte  Seite  ein  fast  trutziger,  winterlicher  Bau, 
die  Südreihe  aber  eine  sommerliche  Halle  und 
reizende  Bildwerkfläche. 

Wenn  es  die  nachfolgenden  Zeilen  unternehmen, 
ein  Bild  von  der  vornehmen  Erscheinung  des  Schlos¬ 
ses  zu  entrollen,  so  ist  sich  der  Verfasser  wohl  be¬ 
wusst,  nur  in  den  Nebensachen  einzelnes  Neue 
bieten  zu  können.  Denn  die  Kunstgeschichte  und 
einige  tüchtige  Abhandlungen  in  Zeitschriften  und 
Sonderwerken  haben  uns  mit  dem  Gesamtbilde 
schon  bekannt  gemacht.  So  eingehend  Lübke  in 
seiner  Geschichte  der  Renaissance  in  Deutschland 
das  Oftenbacher  Schloss  behandelt,  gerechter  ist 
er  ihm  noch  in  einer  kleinen  Plauderei  in  der 
Augsburger  Allgemeinen  Zeitung  geworden,  von 
der  uns  ein  Nachdruck  der  Frankfurter  Süddeut¬ 
schen  Zeitung  vom  24.  Februar  1863  vorliegt.  Da 
spiegelt  sich  der  ihm  wohl  soeben  gewordene  Ein¬ 
druck  mit  voller  Wärme  wieder.  Er  berichtet  hier 
im  Ton  gerechtfertigter  Entdeckerfreude*)  u.  a.: 


1)  Das  Schloss  war  vorher  fast  nur  in  dem  wenig  ver¬ 
breiteten  Werke  „Städte  und  Gegenden  zwischen  Rhein,  Main 
und  Neckar“  von  J.  H.  Ludewig  1853  eingehend  gewürdigt 

28 


Ansicht  der  Südseite  des  Schlosses  zu  Otl'eiihach.  (Aus  Ortweiu;  l'eutsche  Iveiiaissance.) 


DAS  SCHLOSS  ZU  OFFENBACH  AM  MAIN. 


219 


„Dieses  Schloss  gehört  zu  den  zierlichsten 
Bauwerken  der  Renaissancezeit,  die  wir  in  Deutsch¬ 
land  besitzen.  Ja,  an  Grazie  und  Feinheit  der  Aus¬ 
führung  in  den  ornamentalen  Teilen  sucht  es  dies- 
seits  der  Alpen  seines  Gleichen.  In  der  Austeilung 
und  Anordnung  herrscht  der  klare  Sinn  eines 
Meisters  architektonischer  Komposition.  Die  Aus¬ 
führung  gehört  zum  Elegantesten,  Zierlichsten,  was 
bei  uns  der  Meißel  in  solchen  Dingen  je  hervorge¬ 
bracht.  Die  Zartheit  der  Ornamentik  übertriflft  iveit- 
aus  die  des  gleichzeitigen  Otto-Heinrich-Baues  zu 
Heidelberg,  dem  sonst  das  Offenbacher  Schloss  am 
nächsten  steht.  Das  Heidelberger  Schloss  hat  etwas 
Herrisches;  das  Offenbacher  Schloss  ist  eine  anziehende 
Idylle  in  Stein.  Es  ist  ein  kleines 
Meisterstück  von  Grazie.“ 

Was  nun  den  Schluss  der  er¬ 
wähnten  Schilderung,  sowie  des 
Aufsatzes  von  Manchot  und  An¬ 
deren  bildet,  ist  auch  der  End¬ 
zweck  der  vorliegenden  Mit¬ 
teilungen:  „Sie  wünschen  die 

Aufmerksamkeit  auf  das  zierliche 
Bauwerk  zu  lenken,  es  der  Scho¬ 
nung,  der  Sorgfalt,  dem  Respekt 
derer  zu  empfehlen,  die  ein 
nächstes  Interesse  an  seiner  wür¬ 
digen  Erhaltung  haben.“  Dieser 
nächste  Anspruch  liegt  in  der 
That  für  jeden  Kunstfreund  vor 
und  insbesondere  obliegt  die 
Wachsamkeit,  ja  die  thatkräftige 
Schutznahmeden  hessischen  Alter¬ 
tumsvereinen.  Möchten  sie  sich 
dieser  Pflicht  voll  bewusst  sein, 
um  das  zu  retten,  was  noch  vor¬ 
handen  ist! 

Von  den  Bahnhöfen  15 — 20  Minuten  entfernt, 
steht  das  herrliche  Schloss  verwahrlost  und  im  lang¬ 
samen  Verfalle  trauernd  da.  Auf  weitem,  freiem 


worden,  da  frühere  Schriftsteller  die  künstlerische  Bedeutung 
des  Schlosses  in  ihren  Berichten  nur  nebenher  erwähnten. 
Nach  Lübke  hat  Architekt  Manchot  1867  einen  schönen 
Aufsatz  mit  8  Tafeln  Abbildungen  in  Förster’s  Allgemeiner  Bau¬ 
zeitung,  Wien,  veröfi'entlicht  und  1884  Baumeister  C.  Braun 
in  der  Münchener  Zeitschrift  für  Baukunde  es  ihm  mit 
3  guten  Tafeln  und  kurzem  Texte  über  den  westlichen  Trep¬ 
penturm  und  die  untere  Halle  nachgethan.  In  dem  treff¬ 
lichen  Buche  „Kunstdenkmäler  im  Großherzogtum  Hessen, 
Provinz  Starkenburg,  Kreis  Offenbach“,  hat  1885  Dr.  Georg 
Schaefer  eine  längere,  gründliche  Arbeit  über  den  Bau  nieder¬ 
gelegt, 


Platze  eröffnet  sich  uns  der  wundervolle  Hallenbau, 
dessen  Pracht  früher  wohl  noch  gewaltiger  zum  Be¬ 
schauer  sprach,  als  der  engere  Schlosshof  das  Ge¬ 
samtbild  noch  begrenzte. 

Gehen  wir  auf  die  Geschichte  des  Baues  ein,  so 
erheischt  schon  die  Spärlichkeit  der  Nachrichten 
eine  bündige  Kürze.  Wir  entnehmen  das  Mit¬ 
zuteilende  der  „Geschichte  des  reichsständischen 
Hauses  Isenburg -Büdingen“  von  G.  Simon.  1865. 
Im  Jahre  1356  wird  Offenbach  erstmals  als  Besitz 
Derer  von  Falkenstein  erwähnt,  die  ihn  1372  der 
Stadt  Frankfurt  um  1000  Gulden  verpfändeten.  Da 
König  Wenzel  1398  dem  Schlosse  den  Mainzoll  be¬ 
willigte  und  die  Zollstraße  am  heutigen  Schloss¬ 
plätze  vorbeiführte,  so  werden 
wir  mit  Grund  um  diese  Zeit 
schon  eine  Herrenburg  hier  ver¬ 
muten  dürfen.  Von  1418  an  am 
Schlosse  als  Miteigentümer  be¬ 
teiligt,  trat  1486  daslsenburg’sche 
Geschlecht  in  den  Alleinbesitz 
ein.  Im  Jahre  1556  wird  das 
Schloss  als  alt  und  baufällig  be¬ 
zeichnet  und  sein  neuer  Besitzer, 
der  kunstsinnige  und  unterneh¬ 
mende  Graf  Reinhard  von  Isen¬ 
burg  —  ein  Mann,  dessen  ganzes 
Leben  ihn  als  Vorl)ild  fürstlicher 
Tugenden,  unermüdlicher  Arbeit¬ 
samkeit  und  einträchtiger  Liebe 
zu  seinen  Brüdern  erscheinen 
lässt  und  dessen  vornehme  Geistes¬ 
richtung  aus  seinem  Briefwechsel 
mit  Philipp  Melanchthon  erhellt 
—  veranlasste  einen  Neubau,  bei 
dem  wohl  die  Grundmauern  und 
das  Erdgeschoss  im  großen  und 
ganzen  geschont  blieben.  Denn  nur  so  erklärt 
sich  die  heutige  Gestalt  dieser  Räume  und  ferner 
der  Umstand,  dass  der  Graf  schon  in  kurzer  Zeit 
das  neue  Schloss  zu  bewohnen  vermochte.  Doch 
waltete  kein  günstiger  Stern  über  dem  Bau;  denn 
schon  1564  zerstörte  der  Blitz  den  Oberteil  der 
Anlage  bis  auf  die  Nordseite.  Graf  Reinhard  hatte 
zum  zweitenmal  seine  ßaulust  zu  erproben  und 
er  ging  ungesäumt  ans  Werk.  Das  Unglück  barg 
nun  auch  ein  Glück  für  ihn  im  Schoß,  denn  er 
fand  einen  Baumeister,  der  mit  so  warmem  Verständ¬ 
nis  und  solchem  Gedankenreichtum  begabt  war,  dass 
Fürst  und  Künstler  sich  hier  ein  bleibendes  Denk¬ 
mal  errichtet  haben.  Kennen  wir  den  Namen  des 


Fig.  4.  Käinpfei’steiu  am  Schlosse  in  Offeiibacli. 


28* 


220 


DAS  SCHLOSS  ZU  OFFENBACH  AM  MAIN. 


Bauroeistei's  auch  nicht,  so  stehen  wir  doch  begeistert 
vor  dem  herrlichen  Werke,  das  uns  noch  um  so 
größere  Ehrfurcht  abringt,  wenn  wir  die  hinder¬ 
liche  Mitverwen¬ 
dung  des  alten  Un¬ 
terbaues  und  der 
Nordseite  berück¬ 
sichtigen.  Dem 
Grafen  Reinhard 
war  es  nicht  mehr 
heschieden,  die 
Freude  seines  Le¬ 
bens,  den  Schloss¬ 
bau  ,  vollendet  zu 
sehen;  Ende  1568 
starb  er  im  fünfzig¬ 
sten  Lebensjahre. 

Es  war  seinem  Bru¬ 
der  Ludwiglll.  Vor¬ 
behalten,  die  letzte 
Hand  an  die  Aus¬ 
schmückung  zu 
legen  und  1570  die 
noch  jetzt  erhalte¬ 
nen  zweistöckigen 
offenen  Säulen¬ 
gänge  mit  den 
Wa[)pen  der  ihm 
verwandten  Häuser 
anzufügen. 

Die  am  Ge- 
wölheschlussstein 
des  westlichen  Er¬ 
kers  der  Maiuseite 
ersichtliche  Jahres¬ 
zahl  157S  kann  uns 
darüber  aufklären, 
wann  ungefähr  die 
letzten  Ihiuarheiten 
beendigt  waren.  J)ie 
Ausführung  und 
Vollendung  des 
Gaues  fielen  hier¬ 
nach  in  die  Blüte¬ 
zeit  der  deutschen 
Benaissauce. 

Der  Grundriss 
des  Schlosses  zeigt  uns  ein  langgestrecktes,  ziem¬ 
lich  schmales  Rechteck,  im  Süden  von  zwei  vor- 
.'])ringenden  achteckigen  Treppentürmen  während 
im  Norden  die  zwei  runden  Ecktürme,  welche  in 


I  I  I  |  .  d— t— |- 


Fif;  b.  I’ortal  am  östlic)icn  Treppenturm  im  Schlosse  zu  Offenbach. 

(Aus  Schaefcr:  Kunstdeukmälor  des  Kreises  Offeubach.  Darmstadt,  A.  Bergstraesser.) 


ihrer  Achsenrichtung  von  den  südlichen  Türmen  ab¬ 
weichen,  nur  halb  aus  der  Grundmauer  herausragen. 
Diese  beiden  Sonderbarkeiten  der  nördlichen  Türme 

lassen  vielleicht 
darauf  schließen, 
dass  ihr  Grund¬ 
bau  und  Unterteil 
aus  der  früheren 
Burg  unverändert 
in  das  neue  Schloss 
mit  herübergenom¬ 
men  wurden,  ob¬ 
wohl  letzteres  in 
der  Schmalseite 
eine  Verbreiterung 
erfuhr ,  die  Nord¬ 
seite  ziert  in  ihrer 
Mitte  ein  vomGrund 
bis  zum  Oberge¬ 
schoss  geführter 
rechtwinkeliger 
Erker.  Die  süd¬ 
lichen  Türme  ent¬ 
halten  die  Wendel¬ 
treppen  und  sind 
in  der  Breite  ihrer 
Vorlagerung  vor 
dem  Schlosskörper 
durch  herrliche 
offene  Säulengänge 
verbunden.  Das  ist 
es,  was  dem  Bau 
in  der  Kunstge¬ 
schichte  einen  der 
ersten  Plätze  unter 
den  Schlossanlagen 
sichert,  und  ihm 
wollen  wir  zu¬ 
nächst  uns  zuwen¬ 
den. 

Der  schöne  rote 
Sandstein ,  dessen 
warmer  Ton  dem 
Auge  so  wohlbe- 
hagt,  wurde  zum 
Bau  der  offenen 
Halle  verwendet. 


IM. 


Auf  sieben  mächtige,  rechtwinkeiige  Pfeiler  stützt 
sich  dieselbe.  Sie  gehen  in  stolzer  Höhe  in  Rund¬ 
bogen  über,  die  ihrerseits  die  Gänge  der  beiden  oberen 
Geschosse  tragen.  Der  Schmuck  der  uuteren  Pfeiler 


DAS  SCHLOSS  ZU  OFFENBACH  AM  MAIN. 


221 


besteht  in  dem  schönen,  hohen  Sockel,  dessen  Rahmen 
je  ein  Löwenhaupt,  abwechselnd  mit  und  ohne  Ring 
im  Rachen,  in  kräftiger  Ausmeißelung 
umschließt.  Die  zottige  Mähne  erhöht 
den  Eindruck.  Über  dem  Sockel  sind 
den  Pfeilern  anmutige  ionische,  sieben¬ 
fach  kannelirte  Pilaster  vorgelegt, 
deren  Fuß  in  attischer  Form  gebildet 
wird  und  deren  Knäufe  unter  den 
leichten,  auch  seitwärts  mit  Einker¬ 
bungen  verzierten  Schnecken  in  reicher 
Abwechselung  schöne,  flach  gearbeitete 
Akanthusblätter  oder  sonstiges  Blatt¬ 
werk  mit  Fratzenköpfen,  Putten  oder 
kleinen  Tiergestalten  zeigen.  In  den 
Bogenzwickeln  sind  zumeist  Metall- 
beschlägmuster  verwendet,  die  in  ihrer 
großen  Mannigfaltigkeit  eine  Muster¬ 
sammlung  für  den  Kunsthandwerker 
in  sich  bergen.  Kräftige  Blumen-  oder 
Fruchtgewinde,  von  Kindern  gehalten 
oder  um  seltsame  Fratzen  gerahmt, 
dienen  als  weiterer  Schmuck.  Aber 
selbst  die  Innenseite  der  Bögen  ward 
wenigstens  zum  Teil  für  die  Aus¬ 
schmückung  herangezogen,  denn  an 
vieren  derselben  gewahren  wir  im 
Scheitelpunkte  buntbemalte,  steinge¬ 
meißelte,  männliche  und  weibliche  Por¬ 
trätköpfe,  einzelne  derselben  von  einem 
Kränzchen  umfasst.  Es  ist  kein 
Zweifel,  dass  wir  es  bei  denselben 
mit  Schlusssteinen  aus  dem  gotischen 
Bau  zu  thun  haben;  sie  wurden  in 
der  neuen  Anlage  mitverwendet,  weil 
sie  vermutlich  Ahnenbildnisse  sind. 

An  der  westlichen  Abschlussstelle  der 
Halle  stützt  sich  der  Bogen  nur  auf 
einen  schmalen,  kurzen  Wandpfeiler 
mit  drei  Hohlkehlen.  Dieser  ruht  auf 
einem  Kragstein,  der  seither  noch 
nicht  in  genügender  Weise  abgebildet 
und  hervorgehoben  worden  ist.  Aus 
der  an  der  Seite  schneckenartig  ge¬ 
wundenen  Rolle,  welche  den  Kragstein 
bildet,  tritt  frei  eine  männliche  Büste 
heraus,  unbestreitbar  die  bedeutendste 
Kunstleistung  des  Bildhauers  am 
Schlosse.  Es  ist  ein  vorzüglicher 
Porträtkopf  mit  schön  gelocktem  Haare,  hoher,  fal¬ 
tiger  Stirne,  strengen,  klugen  Augen  und  einem 


Fig.  6.  Wendelstiege  im  Schlosse 
zu  Oifenhach. 

(Aus  Schaefer:  Kunstdenkmäler.) 


gewaltigen  Barte.  Ein  in  leichte  Falten  gelegtes 
Tuch  ist  über  seine  Brust  geschlungen  und  an  dem 
Kämpferstein  durch  Knotung  festge¬ 
halten.  So  weit  das  Tuch  die  Brust 
freilässt,  sehen  wir  eine  abwechselnd 
mit  dem  Dreiblatt  und  Vierblatt-Klee 
gemusterte  Bekleidung,  die  vermut¬ 
lich  die  Ciselirung  des  Panzers  aus¬ 
drückt.  Wäre  es  dies  nicht,  so  wür¬ 
den  wir  vielleicht  das  Bildnis  des 
Steinmetzen  vor  uns  haben,  so  aber 
liegt  der  Gedanke  an  das  Porträt  des 
Grafen  Reinhard  nahe.  Da  der  Bruder 
des  Grafen  erst  1569  die  Erbschaft 
des  Schlosses  antrat  und  bis  dahin 
im  geistlichen  Stande  gelebt  hatte, 
auch  dann  sich  wenig  um  die  Dinge 
außer  seinen  Mauern  sorgte,  wird  er 
für  diese  Büste  kaum  in  Anspruch 
genommen  werden  können.  Der  Kopf 
befindet  sich  neben  der  Pforte  zur 
Herrentreppe,  was  uns  die  Anbringung 
des  Bildnisses  des  Erbauers  gerade 
an  diesem  Orte  ebenfalls  erklärlich 
macht,  da  er  hierdurch  gewisser¬ 
maßen  seinen  Nachkommen  im  Ge¬ 
dächtnis  erhalten  werden  sollte.  Wir 
hätten  alsdann  ein  Zeichen  brüder¬ 
licher  Liebe  des  Grafen  Ludwigr 


vor 


uns. 


Ehe  wir  unsere  Aufmerksamkeit 
dem  ersten  Stockwerke  zuwenden, 
haben  wir  noch  das  Gewölbe  des 
unteren  Bogenganges  zu  betrachten. 
Wir  finden  uns  hier  aus  der  vollendet¬ 
sten  Renaissance  unvermittelt  in  die 
Spätgotik  versetzt:  ein  schönes  Kreuz¬ 
gewölbe  zeigt  sich  uns.  Verfolgen 
wir  den  Aufbau  der  Halle,  so  er¬ 
kennen  wir  die  Gleichzeitigkeit  der 
Arbeiten,  da  die  gotischen  wie  die 


1)  Wenn  es  statthaft  wäre —  was  ich 
mir  nicht  zu  entscheiden  getraue  —  die  Ver¬ 
zierung  des  Panzers  als  Lindenblätter  zu 
deuten,  so  hätten  wir  darin  das  Ehrenzeichen 
des  Hauses  Isenburg.  Denn  seit  dem  14.  Jahr¬ 
hundert  ist  dieses  Zeichen  dem  Isenburger 
W appen  beigefügt  worden ,  wir  ersehen  es 
zuerst  an  dem  schönen  Grabsteine  Lud- 
wig's  I.  aus  dem  Jahre  1302  (abgebildet 
in  Simon’s  oben  erwähnter  Hausgeschichte).  Seit  Heinrich  H. 
wird  das  Lindenblatt  auch  im  Siegel  geführt. 


222 


DAS  SCHLOSS  ZU  OPFENBACH  AM  MAIN. 


Renaissaneelinien  des  öfteren  aus  dem  gleichen 
Steinblock  sich  emporschwingen.  Man  hatte  eben 
dem  alten  Stile  doch  nicht  ganz  entsagt,  eine  Er¬ 
scheinung,  die  sehr  erklärlich  und  ja  auch  viel¬ 
fach  anderwärts  bekundet  ist.  Die  einzelnen  Sockel 
sollen  früher  durch  Brüstungstafeln,  wie  noch  jetzt 
die  Pfeiler  der  beiden  oberen  Geschosse  verbunden 
gewesen  sein,  doch  ist  mit  ihnen  leider  gründlich 
aufgeräumt  worden.  Der  reiche 
Schmuck  der  oberen  Tafeln  lässt 
uns  einen  beklagenswerten  Verlust 
in  diesen  jedenfalls  nicht  minder 
vollendeten  Darstellungen  ahnen. 

Mit  Recht  wird  die  formenprächtige 
Ausladung  der  Gesimse,  Vordach¬ 
ungen,  Fenster-  und  Thürumrah¬ 
mungen  gerühmt. 

Eber  dem  Simse  des  Erdge- 
geschosses  hebt  ein  ungemein 
reicher  Arabeskenfries  an,  dessen 
unerschöpfliche  Abwechselung  die 
Beachtung  in  hohem  Maße  ver¬ 
dient.  Wo  die  Pfeilerstellung  ein 
Vorspringen  des  Simses  bedingt, 
ist  die  Fläche  zur  Aufnahme 
schöner  Gesichtsmasken,  meist  auf 
einem  Hintergründe  von  wirkungs¬ 
voll  fallendem  Tuche  über  den  be¬ 
kannten  Beschlägmustern  benützt. 

I  )ass  über  dem  Scheitelpunkte  der 
Bögen  auch  ein  entsprechendes, 
die  Gesimszeile  teilendes  Mittel¬ 
stück  der  Arabesken  erscheint, 
verleiht  dem  lustigen  Ranken¬ 
werke  eine  vornehme  Ruhe  und 
l ’bersichtlichkeit.  Ein  mit  Zah¬ 
nungen  versehener  Karnies  bekrönt 
das  Untergeschoss  und  trägt  die 
Pfeilerreihe  und  die  dazwischen 
befindlichen  Brüstungsjilatten  des 
ersten  Stockwerkes,  das,  wie  das 
zweite,  einen  backsteingej)fiasterten 
Boden  besitzt.  Die  Gedrücktheit  der  Pfeiler  beider 
Stockwerke  und  die  Abdeckung  ohne  Bögen,  nur 
mittelst  eines  Architravs,  ist  eine  Folge  der  gerin¬ 
gen  Stockwerkshöhe  des  alten  Baues,  auf  dessen 
Einteilung  wegen  der  mitverwendeten  Nordseite 
Bücksicht  genommen  werden  musste.  Auf  ent¬ 
sprechend  kleineren,  sonst  jenen  löwenkopfgezier¬ 
ten  Sockeln  des  Untergeschosses  gleichenden  Unter- 
sätzeu  erheben  sich  die  Säulen  des  ersten  Geschosses. 


Die  Postamente  haben  ihren  Figurenschmuck  aus 
der  römischen  Götterlehre  empfangen  und  wir  be¬ 
gegnen,  von  Ost  nach  West  beschaut,  folgenden 
Relief  bildern;  Luna  mit  der  Mondsichel  in  der  Hand; 
Mercurius  in  lebhafter  Bewegung,  den  Schlangenstab 
in  der  rechten  Hand  hochhaltend;  Venus  in  flatterndem 
Gewände  mit  Flammenherz  und  Speer;  Sol,  das  Son- 
nenscepter  schwingend,  dem  Beschauer  fast  den 
Rücken  kehrend;  Mars,  auf  die 
Streitaxt  gestemmt,  der  Widder  und 
eine  große  Geschosskugel  nebenan; 
Jupiter  als  Schütze  mit  dem  Bogen¬ 
spanner  im  Hintergründe;  Satur- 
nus  an  der  Krücke  mit  dem  über 
einer  Stelze  auf  das  Brett  ge¬ 
schnallten  rechten  Fuß,  ein  Kind 
auf  dem  Arme,  eines  zur  Seite,  die 
Sichel  in  der  Linken  und  den 
Steinbock  hinter  sich.  Es  sind 
meist  köstliche,  echt  mittelalter¬ 
lich-deutsche,  kernige  Gestalten, 
von  denen  Saturnus  und  Mars  allen 
anderen  voranstehen.  An  den  Re¬ 
liefs  ist  stets  die  Darstellung  meist 
auf  Tafeln  oder  Bändern  bezeich¬ 
net  und  obendrein  noch  die  Num¬ 
mer  in  den  Ecken  angebracht. 
An  der  Stelle,  wo  der  offene  Gang 
an  den  westlichen  Turm  sich  an¬ 
schließt,  ist  der  Pfeiler  etwa  nur 
zu  drei  Viertel  entwickelt,  wir 
haben  also  auch  einen  demgemäß 
verschmälerten  Sockel  vor  uns.  Auf 
ihm  ist  eine,  nur  um  die  Hüfte  be¬ 
kleidete  Knaben  gestalt  dargestellt, 
deren  rechter  Arm  in  gezwungener 
Haltung  herabhängt,  etwa  wie  hei 
einem  auf  einer  Krücke  Schreiten¬ 
den.  Dabei  tritt  der  Arm  über 
den  Rahmen  des  Sockels  heraus, 
was  sich  ebenfalls  sehr  ungünstig 
ansieht.  Da  nun  diese  linkische 
Gestalt  Aveder  in  den  Gedankenkreis,  noch  in  die 
Künstlerart  der  übrigen  Darstellungen  passt,  auch 
die  Numerirung  der  anderen  Tafeln  diese  außer 
Betracht  lässt,  so  ist  möglicherweise  anzunehmen, 
dass  der  Erfinder  des  Ganzen  sie  nicht  mit  in  seine 
Verantwortung  einschließen  wollte.  Eine  Erklärung 
der  Darstellung  kann  sich  nur  auf  Mutmaßung 
beschränken.  —  An  dem  Bilde  der  Venus  findet  sich 
das  auch  sonst  am  Bauwerke  wiederkehrende  Stein- 


Fig.  7.  Elker  an  der  Nordseite  des  Schlosses 
zu  Offenbach 

(Aus  Schaefer:  Kuiistdeukraäler.) 


223 


DAS  SCHLOSS  ZU  OFFENBACH  AM  MAIN. 


metzzeichen  des  unbekannten  Meisters.  Von 

anderen,  an  (W  der  Außenwand  sichtbaren  Mei- 
sterzeicben  erwähnen  wir  die  folgenden: 


wovon  das  letzte  auch  an  der  westlichen  Treppe 
vorkommt,  und  bemerken  hierzu,  dass  insbesondere 
die  genannte  Treppe  nahezu  auf  jeder  Stufe  solche 
Zeichen  aufweist. 

Auf  diesen  bildgeschmückten  Fußgestellen  erheben 
sich  kräftige  Pfeiler,  welchen  hermenartige  Gebilde 
vorgesetzt  sind.  Es  sind  abwechselnd  männliche  und 
weibliche  Halbgestalten  mit  strengen  Gesichtszügen  und 
leichter,  faltiger  Gewandung,  das  Hinterhaupt  von 
einem  auf  die  Schulter  fallenden  Tuche  bedeckt,  auf 
kannelirten,  sich  verjüngenden  Pilastern.  Sie  geben 
ihrer  Größe  wegen  dem  ganzen  Hallenbau  sein 
Gepräge.  Da  diese  Halbgestalten  nicht  das  Gebälke 
tragen,  das  allein  auf  dem  hinter  ihnen  liegenden 
Pfeiler  ruht,  so  ist  ihre  Karyatidenart  wenigstens 
zum  Scheine  durch  eine  schwache  ionische  Knauf¬ 
schnecke  auf  ihren  Häuptern  gewahrt. 

Das  zweite  Stockwerk  beginnt  mit  einem  ohne 
Unterbrechung  die  ganze  Breite  des  offenen  Ganges 
durchlaufenden  Architrav  mit  darüber  liegendem 
Friese,  dessen  sinnvoll  geschwungenes  Ranken-  und 
Blattwerk  die  anmutige  Leichtigkeit  des  Bauwerkes 
erhöht.  Auch  oberhalb  dieses  Frieses  folgen  Zahn¬ 
schnitte  und  das  uns  vom  ersten  Stockwerke  be¬ 
kannte  Gesimse,  welchem  stets  unter  dem  die  Brüstungs¬ 
tafeln  teilenden  Zwischenstücke  Wasserspeier  mit 
in  den  offenen  Rachen  mündenden  Rinnen  vor^ 
gelegt  sind.  Das  lässt  uns  vermuten,  dass  die  un¬ 
schönen,  auch  der  Farbe  nach  jüngeren  Pfeiler  dieser 
Altane  samt  dem  Dache  darüber  neueren  Ursprungs 
sind  und  Dr.  Schaefer  das  Richtige  trifft  in  der  An¬ 
nahme,  es  hätten  die  Sockel  dieser  Zeile  ursprüng¬ 
lich  Standbilder  oder  Prachtgefäße  geziert.  Denn 
wir  müssen  berücksichtigen,  dass  nach  der  Aufnahme 
Merian’s  das  Gebäude  mit  dem  zweiten  Geschosse  ab¬ 
schloss,  also  das  weitere  Stockwerk  mit  seinen  „nüch¬ 
ternen  Rahmenpilastern“  (Lübke)  und  plumpen  Knauf¬ 
ansätzen  am  vorspringenden  Schlussgebälke  des 
Hauses,  sowie  das  Mansardendach  neuerer  Abstam¬ 
mung  sind  und  dementsprechend  die  Türme  hoch 
über  die  Hausmauern  hinausragten.  Warum  einzelne 
Beschreiber  den  Wappen  des  zweiten  Umganges  ge¬ 
ringeren  Kunstwert  und  andere  Verfertigerhand  bei¬ 
messen,  ist  mir  nicht  klar;  ich  schätze  sie  und  die 
Reliefgestalten  der  Sockel  nicht  minder  hoch.  Die 


ffö-ürlichen  Darstellungen  sind  sinnbildlichen  Inhalts, 
ebenfalls  mit  Inschriften  und  Nummern  versehen  und 
stellen  von  Ost  nach  West  dar:  Temperantia,  die 
Schale  aus  einem  Gefäß  mit  Wasser  füllend;  Forti- 
tudo  mit  der  zerbrochenen  Säule;  Spes  mit  betend 
aufgehobenen  Händen;  Fides  mit  Kreuz  und  Kelch, 
gegen  Osten  blickend;  Justitia  mit  Schwert  und 
Wage;  Charitas,  eine  liebliche  Frauengestalt  mit 
einem  Kindchen  auf  dem  Arme;  Prudentia,  die  sich 
im  Spiegel  beschaut;  endlich,  ohne  Nuraerirung, 
ein  sehr  stiefmütterlich  behandeltes  Mädchen  mit  dem 
Widder,  dem  Bilde  der  Wissenschaft. 

Die  beiden  Türme  enthalten  die  Treppen,  eine 
Baueinteilung,  der  wir  nicht  gerade  selten  begegnen 
und  welche  Lübke  noch  am  Aschaffenburger  Schlosse 
1613  nach  weist.  Der  westliche  Turm  öffnet  sich  in 
einer  schönen,  von  zwei  kräftigen,  kannelirten  Pilas¬ 
tern  auf  löwenhauptgeziertem  Sockel  umrahmten, 
rundbogigen  Pforte.  Es  ist  dies  der  den  Bogen¬ 
gängen  entsprechende,  etwain  deren  halber  Pfeilerhöhe 
ausgeführte  Aulbau.  Eine  architravirte ,  wappen¬ 
geschmückte  und  dann  mit  dem  geschlossenen  Drei¬ 
eckgiebel  endigende  Bekrönung  schließt  die  reiche 
Pfortenzierde  ab.  Die  Bogenzwickel  schmücken 
Medaillons  mit  je  einem  Brustbilde  in  Relief.  Im 
Friese  darüber  lesen  wir  die  Jahreszahl  1570.  Die 
Pforte  des  westlichen  Turms  ist  von  gleicher  Aus¬ 
stattung,  nur  schweben  in  den  Medaillons  Genien, 
die  ihr  Füllhorn  blumenstreuend  dem  Eintretenden 
entö-egenschütten.  Über  dem  kräftigen  Simse  sind 
in  meisterhafter  Arbeit  die  Wappen  der  Isenburger 
und  Württemberger  angebracht  und  der  Fries  trägt 
die  Jahreszahl  1572.  Im  östlichen  Turme  winden 
sich  die  Stufen  um  einen  starken  Schaft,  im 
östlichen  treten  drei  schlanke  Säulen  an  dessen 
Stelle,  die  nach  C.  Braun  in  ihrer  Zierlichkeit 
der  berühmten  Stiege  im  Frauenhause  zu  Stra߬ 
burg  im  Eisass  ähneln.  In  der  Turmwandung 
sind  Nischen  für  das  Einstellen  der  Lampen.  Die 
Treppe  endigt  mit  einer  schönen  Brüstungsplatte 
(s.  die  Abbildg.  bei  Manchot,  Blatt  49,  Förster’s  allg. 
Bauzeitung,  Wien  1867),  deren  durchbrochene  Fül¬ 
lung  noch  Maßwerk  in  gotischen  Formen  zeigt. 
Ein  Sterngewölbe  deckt  den  Turm  im  Inneren  auf 
das  zierlichste  ab  und  der  Schlussstein  trägt  eine 
Maske,  vielleicht  den  Kopf  des  Wächters  versinn¬ 
bildlichend,  dessen  Auge  zwischen  den  drei  Säulen 
hinabschaut  bis  zum  Eingänge. 

Das  Untergeschoss  des  Hauses  ist  gewöhnlich 
nicht  geöffnet.  Nur  während  der  gottesdienstlichen 
Handlungen  der  katholischen  Gemeinde  ist  der  öst- 


224 


DAS  SCHLOSS  ZU  OFFENBACH  AM  MAIN. 


liebe  zur  Kapelle  bestimmte  Teil  dem  Zutritte  frei¬ 
gegeben.  Wir  seben  hier  ein  gotisches  Kreuzge¬ 
wölbe  von  bester  Arbeit  und  erkennen  in  dem  im 
Turm  eingebauten  kreisrunden  Raume  der  Sakristei 
—  wie  Dr.  Sebaefer  dargetban  bat  —  das  alte  Verließ. 
Der  westliebe  große  Saal  weist  ein  Netzgewölbe 
mit  sieb  kreuzenden  Rippen  und  einen  Erker  mit 
sebönem  gotischen  Rippendacbe  auf.  Wir  haben 
in  diesen  Räumen  jedenfalls  noch  die  Reste  der  go¬ 
tischen  Burg  vor  uns. 

Betrachten  wir  uns  nun  die  dem  Main  zuge¬ 
wendete  Nordseite,  so  fühlen  wir  deren  Armut 
und  Kälte  recht  eindringlich. 

Wir  werden  gutthun,  die  Ver¬ 
söhnung  auch  mit  dieser  Fläche 
in  einem  Bilde  aus  der  Ver¬ 
gangenheit  zu  suchen,  wie  es 
uns  Merian’s  Topographie  von 
1 046  darbietet.  Wir  gewahren 
hier  einen  weit  günstiger 
wirkenden  Anblick.  Vor  allem 
mutet  uns  die  läng.st  geop¬ 
ferte  stolze  Aufgiebelung  des 
Hauses  im  Bilde  wohlthuend 
an.  Von  kräftigen  Gesimsen 
abgestuft,  beben  sich  die  Giebel 
ffefälli"  in  die  Höbe.  Der 
damals  noch  über  dem  LTnter- 
gesebosse  nur  zwei  Stock¬ 
werke  tragende  Bau  besaß 
auf  den  Türmen  statt  des 
jetzigen  Balkon  -  Abschlusses 
den.selben  achteckigen  Turm¬ 
aufsatz  mit  Helm  und  Laterne, 
wie  ihn  die  Südseite  sich  be¬ 
wahrt  bat;  nur  einen  kleinen 
Gieljel  am  Helmdacbe  bat  die 
Nordseite  vorausgebabt.  Der 
Erker  in  der  Mitte  der  Fläche 
scheint  die  besclieidenste  Bekrönung  erhalten  zu 
haben,  wälirend  die  Aufsätze  auf  dem  Dache 
zwischen  den  Türmen  und  dem  Erker  zierlicher 
sind.  Selbst  die  über  den  Umfang  des  östlichen 
'J’urmes  vors})ringende  Mauer  hatte  nicht  des  Giebel- 
aufsatzes  zu  entraten.  Auch  die  Dach  wände  sind 
stilgemäß  behandelt  und  durch  volutenartige  Schnör¬ 
kel  in  Stockwerke  abgetreppt,  was  bei  dem  späteren 

Dachbau  fallen  musste.  Am  anziehendsten  aber  er¬ 

scheint  der  hohe,  runde  Turm,  von  welchem  heute 
auch  nicht  die  Stätte  mehr  ersichtlich  ist ;  er  dürfte 
der  Wartturm  des  damals  befestigten  Schlosses 


gewesen  sein.  Der  seitwärts  kammähnlich  oder 
wie  eine  Mauerstütze  aufsteigende  Turm  ist  eben¬ 
falls  längst  gesunken.  Neben  dem  Schlosse,  main- 
aufwärts,  steht  das  jetzt  gleichfalls  völlig  veränderte 
Gesindehaus  und  abwärts  die  turmlose  Schloss¬ 
kapelle,  wie  es  scheint,  aus  gotischer  Zeit.  In 
ihr  lag  neben  vielen  seiner  Ahnen  Graf  Reinhard, 
bis  auch  er  dem  neuen  Schlosskirchenbau  weichen 
musste. 

Das  heute  wesentlich  veränderte  Bild  entbehrt 
dennoch  nicht  einiger  interessanter  Einzelheiten. 
Die  halb  in  das  Gebäude  eingemauerten  runden 
Türme  an  den  Flanken,  wie 
der  rechtwinkelige  Erker  in 
der  Mitte  der  Mauerfläche 
tragen  jetzt  an  dem  über  dem 
alten  Schlussgesimse  des  zwei¬ 
ten  Geschosses  errichteten 
dritten  Stockwerke  mit  seinen 
kasernenmäßigen  20  Fenstern 
an  Stelle  der  alten  Brüstungen 
Giebel.  Der  rechteckige  Erker 
zeigt  schöne,  spätgotische 
Steinmetzarbeiten,  deren  Zier¬ 
lichkeit  das  Auge  gefangen 
nimmt.  Wir  begegnen  hier 
unter  dem  durch  Steinpfosten 
dreigeteilten  Fenster  des  Un¬ 
tergeschosses,  sowie  unter  dem 
zweiteiligen  des  zweiten  Stock¬ 
werks  gotischen  Fischblasen¬ 
ornamenten,  die  sich  an  den 
Seiten  des  Erkers  wiederholen. 
Besonders  sorgfältig  ist  das 
Zierwerk  des  Untergeschosses 
behandelt,  welches  in  schöner 
Kreisumfassung  eine  in  Um¬ 
drehung  gestellte  Dreieckform 
enthält.  Auch  unter  der 
Fensterbrüstung  des  ersten  Stockwerkes  beflnden 
sich  reiche  Verzierungen.  Hier  umschließen  die 
im  Bogenscheitel  zusammenstoßenden  Dreipässe 
zwei  kleine,  reizend  gemeißelte  Wappenschilde.  In 
Fußbodenhöhe  des  ersten  Stockes  läuft  ein  derber 
Rundbogenfries  vom  Erker  zu  den  Türmen  und 
setzt  sich  auch  an  den  Schmalseiten  des  Hauses  fort. 
Die  plumpe  und  un ebenmäßige  Ausführung  desselben 
steht  im  Widerspruch  zu  aller  sonstigen  Zierlichkeit 
des  Bauwerkes  und  scheint  seine  Erklärung  wohl  nur 
in  dem  Umstande  zu  finden,  dass  er  samt  dem 
Untergeschosse  noch  von  der  alten  Anlage  stammt. 


Fig.  8.  Erker  am  Schlosse  in  Offenbach. 


PHOTOGRAPHISCHE  GESELLSCHAFT  KUNST  VERLAG  BERLIN 


Dürer  püur. 


MADONNA  MIT  DEM  ZEISIG. 


Zfitsrlii'ift  für 'bildende  Kunst  R’P.IV 


Druck  vF.  A.'Brockhaus,  Leiurk. 


m  DER  BERLINER  GEMÄLDEBALERTE.  225 


DÜRER’S  MADONNA  MIT  DEM  ZEISIG 

die,  wie  wir  wissen,  in  das  15.  Jahrhundert  zurück¬ 
weist. 

An  dem  westlichen  Turme  baut  sich  auf  vier 
kräftigen,  verzierten  Tragsteinen  im  ersten  Stocke 
ein  reizender  Erker  mit  dreiteiligem  Fenster  und 
Giebelbedachung  heraus.  Das  Maßwerk,  welches  sich 
unter  seiner  Fensterhrüstung  ausbreitet,  steht  im 
Formenausdruck  weit  hinter  dem  Südbau  zurück, 
ist  aber  trotzdem  hübsch  genug,  um  eine  Ab¬ 
bildung  zu  rechtfertigen,  zumal  es  hier  den  Witte¬ 
rungseinflüssen  besonders  ausgesetzt  ist  und  kaum 
sehr  lange  mehr  ei’kennbar  sein  dürfte.  Die 


Ornamente  stehen  nach  Lübke  an  der  „Grenze  reiner 
gotisirender  Überlieferung“.  Das  Innere  des  Erkers 
ist  gewölbt  und  trägt  im  Schlusssteine  die  schon 
erwähnte  Jahreszahl  1578,  sowie  die  Majuskeln  A.  S. 

Wäre  es  nicht  ein  Jammer,  wenn  ein  so  wür¬ 
diges  Baudenkmal  dem  Untergang  anheiinfiele?  Da 
aber  seitens  des  Besitzers  zur  Erhaltung  des  Hauses 
nichts  geschieht,  geht  es  mehr  und  mehr  seinem 
Verfalle  entgegen.  Möchten  diese  Zeilen  das  Ihrige 
dazu  beitragen,  den  richtigen  Weg  zu  einer  sorg¬ 
fältigen  Ausbesserung  und  Erhaltung  anbahnen  zu 
helfen!  Dann  haben  sie  ihren  Zweck  erfüllt. 


DÜRER’S  MADONNA 

MIT  DEM  ZEISIG  IN  DER  BERLINER  GEMÄLDEGALERIE. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


EIT  der  Erwerbung  der 
Botticelli’schen  Illustratio¬ 
nen  zu  Dante’s  „Göttlicher 
Komödie“  für  das  Berliner 
Museum  ist  aus  dem  Dunkel 
des  englischen  Privatbesitzes, 
der  noch  manche  Überra¬ 
schungen  zu  bergen  scheint, 
kein  Werk  von  so  großer  kunstgeschichtlicher  Be¬ 
deutung  aufgetaucht  wie  Dürer’s  „Madonna  mit  dem 
Zeisig“.  Von  dem  Vorhandensein  der  Zeichnungen 
Botticelli’s  gab  es  wenigstens  eine  litterarische  Über¬ 
lieferung.  Die  „Madonna  mit  dem  Zeisig“  ist  aber 
bis  zum  Jahre  1871,  wo  sie  zum  ersten-  und  letzten¬ 
mal  in  London  öffentlich  ausgestellt  wurde,  völlig 
unbekannt  geblieben,  und  diese  erste  Ausstellung 
hat,  in  der  deutschen  Kunstlitteratur  wenigstens, 
nur  eine  geringe  Spur  hinterlassen.  Thausing  (Dürer 
I  2.  Aufl.  S.  366)  erwähnt  das  Bild,  das  er  selbst  nicht 
gesehen  hat,  beiläufig  mit  folgenden  Worten;  „Eine 
sitzende  Madonna  von  1506,  fast  lebensgroß,  von 
zwei  schwebenden  Engeln  gekrönt,  befindet  sich  im 
Besitze  des  Marquis  von  Lothian  in  Schottland  .  .  . 
sie  ist  stark  verrieben  und  übermalt,  soll  aber  die 
Spuren  der  Echtheit  noch  an  sich  tragen.“  Aus 
dem  Besitze  des  Marquis  von  Lothian  hat  es  Geheim¬ 
rat  Dr.  Bode  Ende  vorigen  Jahres  für  die  Berliner 
Gemäldegalerie  erworben,  wo  es,  wie  wir  seiner  Zeit 
in  der  „Kunstchronik“  berichtet  haben,  im  Januar 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV- 


dieses  Jahres  zur  öffentlichen  Ausstellung  gelangte, 
nachdem  es  zuvor  einer  Wiederherstellung  unter¬ 
zogen  worden  war.  Einzelne  Teile,  besonders  das 

CT 

Antlitz  und  der  Hals  der  Madonna,  waren  allerdings 
verrieben,  ihres  Schmelzes  beraubt,  aber  doch  nicht 
so  stark,  wie  sich  nach  der  Bemerkung  Thausing’s 
erwarten  ließ.  Der  bei  weitem  größte  Teil  des  Bildes, 
insbesondere  die  köstliche  Landschaft,  die  sich  zu 
beiden  Seiten  des  hinter  der  thronenden  Madonna 
aufgespannten  purpurnen  Teppichs  tief  in  das  Bild 
hinein  bis  zu  einer  Kette  bläulicher  Berge  einerseits 
und  bis  zur  Fläche  des  tiefblauen  Meeres  anderer¬ 
seits  erstreckt,  ist  wohl  erhalten  und  damit  das  ein¬ 
zige  Denkmal  der  Malweise  Dürer’s  während  seines 
Aufenthalts  in  Venedig,  da  weder  das  Rosenkranz¬ 
fest  aus  dem  Kloster  Strahow  in  Prag  noch  der 
Jesusknabe  unter  den  Schriftgelehrten  im  Palazzo 
Barberini  in  Rom  wegen  ihres  ruinenhaften  Zustan¬ 
des  zur  Beurteilung  des  Malwerks  hier  heran¬ 
gezogen  werden  können. 

Über  die  Herkunft  und  den  Stammbaum  des 
Bildes  ist  freilich  auch  jetzt  noch  nicht  mehr  er¬ 
mittelt  worden,  als  dass  es  in  den  sechziger  Jahren 
von  dem  Marquis  of  Lothian  bei  einem  Edinburger 
Antiquar  erworben  worden  ist.  Aber  für  seine  Echt¬ 
heit  bedarf  es  nicht  eines  Ursprungszeugnisses,  da 
es  nicht  bloß  „die  Spuren  der  Echtheit“,  sondern 
die  volle  Beglaubigung  von  Dürer’s  Hand  an  sich 
trägt.  Auf  dem  rechts  von  der  Madonna  stehenden 

29 


('liiistusknahe.  Zeichnung  von  A.  Dürer  in  der  Kunsthalle  zu  Bremen. 


DÜRER’S  MADONNA  MIT  DEM  ZEISIG  IN  DER  BERLINER  GEMÄLDEGALERIE.  ■  227 


niedrigen  Sclieniel,  von  dem  nur  die  obere,  rot¬ 
braun  gestrichene  Platte  sichtbar  ist,  liegt  ein  an 
der  Seite  aufwärts  gekniffter  Zettel  mit  der  Inschrift 
in  gotischen  Minuskeln:  Alberts  dürer  germanus 
faciebat  post  virginis  partum  1506,  und  dahinter  das 
Monogramm.  Wir  bemerken  also  dieselbe  stolze 
Betonung  der  Nationalität  inmitten  der  wälschen 
Umgebung  wie  auf  dem  Bilde  des  Rosenkranz¬ 
festes. 

Die  beigegebene  Photogravüre  nach  einer  Auf¬ 
nahme,  die  nach  der  Wiederherstellung  des  Bildes 
erfolgt  ist,  überhebt  uns  einer  eingehenderen  Be¬ 
schreibung.  Nur  so  viel  sei  bemerkt,  dass  es  in  der 
Natur  dieser  Reproduktionsart  liegt,  dass  sie  den 
hellen,  fast  goldig  strahlenden  Gesamtton  des  Bildes 
um  einige  Töne  tiefer  transponirt  hat,  dass  sich  ins¬ 
besondere  der  Kopf  der  Madonna  und  ihr  licht¬ 
blondes,  über  dem  Kopfe  glatt  gescheiteltes,  über 
Hals  und  Schultern  in  lockigen  Fluten  herabfallen¬ 
des  Haar  von  dem  purpurnen  Hintergründe  viel 
leuchtender  abhebt,  als  es  die  Photogravüre  erkennen 
lässt.  Der  blaue,  faltenreiche  Mantel  ist  von  den 
Schultern  der  Madonna  gesunken,  nachdem  das  jetzt 
von  der  linken  Schulter  herabhängende,  aus  bunten 
Schnüren  zusammengeflochtene  Nestelband  herab- 
geff litten  ist.  Dieselbe  Verschnürung  des  Mantels 

o  o  O 

ist,  beiläufig  bemerkt,  auf  dem  Selbstbildnis  des 
Meisters  von  1498  im  Museum  zu  Madrid  zu  sehen, 
wo  die  quer  über  den  Hals  gezogene  Doppelschnur 
den  Mantel  noch  straff  zusammenhält.  Von  ähn¬ 
licher  Farbe,  wie  der  Mantel,  ist  auch  das  Kleid 
der  Madonna  bis  auf  den  Brustlatz  des  Mieders, 
der  in  seiner  kräftigen  kirschroten  Farbe  wieder 
einen  warmen  Hintergrund  für  den  Körper  des 
Kindes  abgiebt,  das  über  einer  bläulichweißen  Windel 
auf  einem  Kissen  von  purpurrotem  Sammet  sitzt,  in 
der  erhobenen  Rechten  einen  Lutschbeutel  oder  Zulp 
haltend  und  das  linke  Ärmchen,  auf  dem  sich  der 
Zeisig  niedergelassen  hat,  an  sich  heranziehend. 
Das  Vöglein  ist  die  Gabe  des  kleinen  Johannes,  der 
sich  unter  dem  Geleite  eines  Engelsbuben,  der  ihm 
inzwischen  den  Kreuzesstab  abgenommen,  der  Ma¬ 
donna  genaht  hat  und  ihr  ein  Sträußchen  von  Mai¬ 
blumen  reicht.  Wie  dieser  Engelsknabe  sind  auch 
die  beiden  Cherubim,  die  über  dem  Haupt  der  Ma¬ 
donna  einen  Kranz  aus  Blumen  und  Früchten  halten, 
mit  buntem  Gefieder  ausgestattet.  Es  ist  eben  alles 
eitel  Farbe  und  Licht  auf  diesem  Bilde.  Man  glaubt, 
aus  jedem  Pinselstriche  die  Wonne  und  Glückselig¬ 
keit  herausleuchten  zu  sehen,  die  trotz  aller  sorgen¬ 
den  Gedanken  an  die  kalte,  armselige  Heimat  doch 


die  Grundstimmung  von  Dürer’s  Wesen  während 
seines  Aufenthalts  in  Venedig  bildeten. 

Seine  Briefe  an  Pirkheimer  enthalten  nicht  die 
geringste  Andeutung,  die  sich  ohne  Zwang  auf  unser 
Bild  beziehen  ließe.  Dass  er  aber  noch  mehr  Bilder 
in  Venedig  gemalt  hat,  als  das  Rosenkranzfest  und 
den  Christus  unter  den  Schriftgelehrten,  geht  aus 
dem  Briefe  vom  23.  September  1506  hervor,  worin 
er  nicht  nur  erwähnt,  dass  er  noch  „etliche  zu 
kunterfetten“,  sondern  auch  nach  Vollendung  des 
Rosenkranzfestes  für  2000  Dukaten  Arbeit  aus¬ 
geschlagen  hätte.  Wenn  das  die  Wahrheit  und  nicht, 
wie  Thausing  meint,  „starke  Übertreibung“  ist,  wird 
er  seine  Zeit  nicht  allein  mit  der  Ausführung  jener 
Bilder  ausgefüllt  haben,  um  so  weniger,  als  er  mit 
der  Absicht  nach  Venedig  kam,  dort  so  viel  Geld 
zu  verdienen,  dass  er  lästige  Schulden  abtrageu 
konnte.  Vielleicht  haben  gerade  beiläufige  Aufträge, 
die  er  wegen  des  Gelderwerbs  nicht  von  der  Hand 
weisen  wollte,  die  Vollendung  des  Rosenkranzfestes 
gegen  seine  Berechnung  verzögert,  worüber  er  in 
seinen  Briefen  oft  genug  Klage  führt,  und  dass 
unser  Bild  zu  diesen  Zwischenarbeiten  gehört  haben 
kann,  ist  eine  Vermutung,  die  durch  die  Thatsache 
unterstützt  wird,  dass  sich  die  Madonna  mit  dem 
Zeisig  deutlich  als  eine  Vorstufe  zu  der  gleichfalls 
von  zwei  Cherubim  gekrönten  Madonna  des  Rosen¬ 
kranzfestes  darstellt. 

Wenn  Dürer  in  seiner  Inschrift  auf  dem  Rosen- 
kranzfest  die  darauf  verwendete  Arbeitszeit  auf  fünf 
Monate  angiebt  und,  wohl  in  beabsichtigtem  Gegen¬ 
satz  dazu,  den  Christus  unter  den  Schriftgelehrten 
ein  „Werk  von  fünf  Tagen“  nennt,  so  mag  unser 
Bild  hinsichtlich  der  Dauer  der  Ausführung  zwischen 
jenen  beiden  Extremen  in  der  Mitte  liegen.  Allzu¬ 
lange  scheint  er  nicht  daran  gearbeitet  zu  haben, 
obwohl  er  in  der  feinen  Ausführung  der  Haare  der 
Madonna  und  des  landschaftlichen  Hintergrundes 
sichtlich  einen  ganz  besonderen  Fleiß  entfaltet  hat. 
Aber  gerade  die  Landschaft  scheint  ihn  nicht  zeit¬ 
raubende  Studien  gekostet  zu  haben.  Wenigstens 
besteht  sie  in  der  linken  Seite  (vom  Beschauer  aus) 
zum  Teil  aus  Erinnerungen.  Der  vereinzelte,  an 
eine  Ruine  sich  anlehnende  Rundbogen  ist  die 
Wiederholung  eines  gleichen  oder  doch  ähnlichen 
Bauwerks  im  landschaftlichen  Hintergründe  der  1504 
gemalten  Anbetung  der  Könige  in  den  Uffizien  zu 
Florenz,  und  die  hügelige,  reich  mit  Baumgruppen 
bestandene  Landschaft  auf  der  anderen  Seite  trägt 

O 

auch  einen  deutschen  Charakter,  mit  dem  das  sich 
hinten  ausdehnende  Meer  nicht  recht  harmoniren  will. 


29 


22S 


DURER’S  MADONNA  MIT  DEM  ZEISIG 

Auch  die  überaus  subtile  Durchführung  der 
Haare  —  man  glaubt  jedes  einzelne  zu  unterscheiden 
und  auf  jedem  einzelnen  das  Licht  blitzen  zu  sehen 
—  mag  Dürer  weit  leichter  und  schneller  von  der 
Hand,  gegangen  sein,  als  es  den  Anschein  hat. 


IN  DER  BERLINER  GEMÄLDEGALERIE. 

die  Haare  male.  Wie  aus  dem  Briefe  Dürer’s  vom 
7.  Februar  hervorgeht,  hat  ihn  Bellini  wirklich  kurz 
vorher  besucht,  und  es  lag  durchaus  in  Dürer  s  Art, 
wenn  er  einmal  den  Venezianern  nach  dieser  Rich¬ 
tung  hin  mit  einem  ganz  besonderen  Bravourstück, 


Wf-iblicher  Kopf.  Zeiohnung  von  A.  UÜRER  in  der  Albertina  zu  Wien. 


Immerliiii  ist  das  Bild  nach  dieser  Richtung  hin  ge¬ 
eignet ,  die  Wahrheit  jener  von  Camerarius  über- 
lieff-rteii  Anekdote  zu  unterstützen,  nach  der  der 
alte  tnovanni  Bellini  sich  von  Dürer  einen  jener 
wiiiiderljaren  Pinsel  au.sgebeten  habe,  mit  denen  er 


wie  es  das  Haargelock  der  Madonna  mit  dem  Zeisig 
darstellt,  imponiren  wollte. 

An  gründlichen  Vorstudien  hat  es  Dürer,  seiner 
Gewohnheit  gemäß,  auch  bei  diesem  Bilde  nicht 
fehlen  lassen.  Einige  dieser  Studien  haben  sich  er- 


DÜRER’S  MADONNA  MIT  DEM  ZEISIG  IN  DER  BERLINER  GEMÄLDEGALERIE. 


229 


halten.  Die  wichtigste  und  wertvollste  davon,  die 
wir  in  etwas  mehr  als  halber  Größe  des  Originals 
nach  Lippmann’s  Dürerwerk  reproduziren  (s.  die  Ab¬ 
bildung),  ist  eine  Naturstudie  zum  Christuskinde  (in 
der  Kunsthalle  zu  Bremen).  Das  nackte  Knäblein 
sitzt  auf  einem  niedrigen,  mit  einem  Kissen  bedeckten 
und  auch  unten  drapirten  Sitze,  in  der  Rechten  ein 
Kreuz  erhebend.  Der  Vergleich  mit  dem  Bilde  lehrt, 
wie  eng  sich  Dürer  in  der  Körperbildung  an  die 
Studie  angeschlossen  und  mit  welcher  Freiheit  er 
zugleich  die  Haltung  der  Studienfigur  für  das  Bild 
umgestaltet  hat.  Auf  der  Zeichnung  bildet  ein  auf¬ 
gehängter  Teppich,  in  dessen  Muster  das  Granat¬ 
apfelmotiv  zu  erkennen  ist,  den  Hintergrund.  Dürer 
hat  das  den  Andachtsbildern  der  venezianischen 
Maler  abgesehen;  aber  er  hatte  auch  Gelegenheit, 
orientalische  Teppiche  im  Original  zu  studiren.  Pirk- 
heimer  hatte  ihm  nämlich  den  Auftrag  gegeben,  für 
ihn  einen  Teppich  in  Venedig  zu  kaufen,  womit 
Dürer,  wie  er  zweimal  in  seinen  Briefen  erwähnt, 
weidliche  Plage  hatte,  denn  Pirkheimer  wollte  einen 
„viereckten“  d.  h.  cpiadratischen  haben,  während 
alle,  die  Dürer  zu  Gesicht  bekam,  ,,lang  und  schmal“ 
waren.  So  hat  er  .sie  auch  auf  seinen  beiden  Ma¬ 
donnenbildern  dargestellt. 

Die  Zeichnung  in  der  Kunsthalle  zu  Bremen 
ist  auf  hellblauem  Papier  in  brauner  Tusche  mit 
weißen  Lichtern  ausgeführt.  Schon  Thausing  hat 
darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  sich  Dürer  dieses 
„hellblauen  Naturpapiers  mit  dem  Wasserzeichen 
des  Ankers“  damals  in  Venedig  mit  Vorliebe  be¬ 
diente.  Auch  fast  alle  Studien  zu  dem  Rosenkranz¬ 
feste  sind  auf  diesem  Papier  ausgeführt.  Eine  mit 
der  Jahreszahl  1506  und  dem  Monogramm  be- 
zeichnete  Studie  nach  einem  Kinderkopfe  im  Louvre 
scheint  ebenfalls  für  die  Madonna  mit  dem  Zeisig 
gemacht  zu  sein,  da  sie  mit  dem  rechts  von  der 
Madonna  schwebenden  Cherubim  übereinstimmt,  und 
auf  einem  Studienblatte  mit  drei  in  Wolken 
schwebenden  Engelsköpfchen  in  der  Pariser  National¬ 
bibliothek  ist  der  äußerste  rechts  zu  dem  anderen 
Cherubim  benutzt  worden.  Zugleich  haben  aber  auch 
diese  Studien  zu  dem  Rosenkranzfeste  gedient,  ein 
Beweis  mehr  dafür,  dass  beide  Bilder  den  Meister  in 
derselben  Zeit  beschäftigt  haben.  Ebenso  steht  es 


mit  dem  stolzen,  etwas  nach  rechts  gewendeten 
Frauenkopfe  in  der  Albertina,  den  unsere  Abbildung, 
auf  die  Hälfte  verkleinert,  nach  der  Braun  sehen 
Photographie  wiedergiebt.  Thausing  hat  die  Zu¬ 
gehörigkeit  dieses  „Venezianischen  Frauenkopfes“  zu 
der  Reihe  von  Zeichnungen,  die  uns  hier  interessirt, 
ebenfalls  bereits  erkannt,  obwohl  er  nicht  mit  der 
Jahreszahl  1506,  sondern  nur  mit  dem  Monogramm 
bezeichnet  ist.  Er  ist  geneigt,  darin  die  Studie  zu 
dem  im  Bilde  völlig  zerstörten  Kopfe  der  Madonna 
des  Rosenkranzfestes  zu  erkennen.  Die  Studie  kann 
aber  auch  für  die  Madonna  mit  dem  Zeisig  benutzt 
worden  sein,  deren  Kopf  ebenfalls  manche  Schäden 
erlitten  hat.  Jedenfalls  ist  er  ein  wertvolles  Doku¬ 
ment  für  den  mächtigen  Eindruck,  den  Venedigs 
Frauengestalten  auf  Dürer,  leider  nur  für  kurze  Zeit, 
gemacht  haben.  Es  giebt  kein  zweites  Werk  seiner 
Hand,  worin  er  der  aufs  Große  gerichteten  Auf¬ 
fassung  eines  Giorgione,  Tizian  und  Palma  so  nahe 
oder  vielmehr  so  gleich  gekommen  ist,  wie  in  dieser 
Zeichnung.  Man  kann  sie  getrost  mit  Palma’s  Bar¬ 
bara  oder  mit  Tizian’s  himmlischer  Liebe  zusammen¬ 
bringen,  ohne  dass  sie  etwas  von  ihrer  Hoheit,  von 
ihrer  stolzen  Würde  einbüßte.  W'^enn  man  die  Studie 
mit  unserem  Bilde  vergleicht,  ergiebt  sich  freilich, 
dass  Dürer  die  Hoheit  und  Formenstrenge  des  Mo¬ 
dells  in  der  Ausführung  nach  seiner  Art  gemildert, 
dass  er  aus  der  stolzen  Heroine  die  anmutig  lächelnde, 
still  vor  sich  hin  sinnende  Hausmutter  gemacht  hat. 

Bei  diesem  immerhin  erheblichen  Aufwand  von 
Vorstudien  ist  es  auffallend,  dass  Dürer  die  Hände 
der  Madonna  so  ungleichmäßig  behandelt  hat.  Er 
scheint  sogar  dazu  Studien  nach  männlichen  Händen 
benutzt  zu  haben ,  vielleicht  nach  seinen  eigenen, 
was  besonders  die  rechte,  das  Buch  haltende  Hand 
der  Madonna  vermuten  lässt.  Nach  dieser  wie  nach 
anderen  Richtungen  wird  der  Dürerforschung  noch 
manches  zu  thun  übrig  bleiben,  damit  das  Bild  in 
seiner  vollen  Bedeutung  für  die  Entwickelung  Dürer’s 
richtig  gewürdigt  werden  kann.  Dass  es  zunächst 
dieser  Forschung  zugänglich  gemacht  worden  ist, 
ist  ein  neues  unter  den  zahlreichen  Verdiensten 
Bode’s,  dem  wir  im  Interesse  unserer  Wissenschaft 
noch  viele  solcher  Entdeckungen  wünschen. 

ADOLF  ROSENBERG. 


ATTISCHE  GRABRELIEFS'). 

VON  AD.  MICHAELIS. 

MIT  ABBILDUNGEN. 

(Schluss.) 


AS  vierte  Jahrliundert  hat 
als  reiches  Erbe  der  Periklei- 
schen  und  der  nächstfolgen¬ 
den  Zeit  die  Hauptformen  des 
Grabmals  —  das  tempel¬ 
förmige  Grab,  die  hohe  pal¬ 
mettengekrönte  Stele  mit 
dem  viereckigen  Bildfelde, 
die  kleine  Platte,  die  Lekythos  und  die  Lutro- 
phöros  —  überkommen.  Was  das  neue  Jahr¬ 
hundert,  die  Zeit  eines  Kephisodot  Skopas  Pra¬ 
xiteles,  hinzufügte,  war  ein  Zweifaches.  Einmal 
wurden  alle  Formen  ins  Größere,  Reichere,  Prunk- 
haftere  fortgebildet.  Je  mehr  der  athenische  Staat 
verarmte,  desto  reicher  wurden  viele  seine  Bürger. 
Aus  der  tempelförmig  umrahmten  Platte  mit  meist 
bescheidenem  Reliefbild  werden  förmliche  Kapellen. 
Aus  den  Pilastern  bilden  sich  oft  Seiten  wände  mit 
Anten  heraus,  aus  dem  Giebel  ein  Dach,  anstatt  der 
Reliefplatte  eine  tiefe  Nische,  in  der  die  Gestalten 
in  anspruchsvoller,  malerischer  Gestaltung,  kaum 
noch  in  Relief,  fast  volle  Rundfiguren,  stehen  und 
sitzen;  den  Hintergrund  scheint  der  tiefe  Schatten 

1)  Die  attischen  Grahreliefs,  herausgegeben  im  Auf¬ 
träge  fler  Kais.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien  von 
Alcrander  Conxe  wniex  Mitwirkung  von  Ad.  Michaelis,  Ach. 
l’ostolakkas,  Roh.  von  Schneider,  Em.  Löwy,  Alfr.  Brückner. 
Berlin,  Verlag  von  W.  Spemann.  Heft  1—3  (Taf.  1 — 75  nebst 
Text),  1800 — 02.  —  Durch  die  Güte  der  Verlagshandlung  sind 
wir  in  den  Stand  gesetzt,  zwei  'i’afeln  als  Proben  und  außer¬ 
dem  eine  bedeutende  Anzahl  weiterer  Illustrationen  im  Texte 
nach  Vorlagen  zu  bringen,  die  zum  Teil  den  schon  aus¬ 
gegebenen  Heften,  zürn  'J'eil  den  noch  nicht  publizirten  Ta¬ 
feln  des  Werkes  entnommen  sind.  Zur  Ergänzung  dienen 
einige  Skizzen  aus  dem  in  demselben  Verlage  erschienenen 
Verzeichnis  der  Berliner  Skulpturen,  dessen  Besprechung  sich 
oben  S.  112  tf.  findet. 


zu  ersetzen,  der  in  diesen  Kapellen  die  Gestalten 
umgiebt.  Die  Berliner  Hautreliefplatte  des  Thraseas 
und  der  Euandria  mit  dem  „Tempel“  als  Hintergrund 
(Fig.  17),  sodann  das  Leidener  Grabmal  der  Archestrate 
(Taf  71)  und  das  Berliner  der  Ly.sistrate  (Taf.  72) 
bezeichnen  diesen  Entwickelungsgang,  der  in  dem 
prunkvollen  Monument  der  Demetria  und  Pamphile 
(Fig.  18)  seine  Höhe  erreicht.  Die  schlanken  schmalen 
Stelen  erhalten  gern  den  Schmuck  von  ein  paar 
Rosetten  oben  am  Schaft,  vor  allem  aber  macht 
die  Palmettenbekrönung  eine  neue  reiche  Entwicke¬ 
lung  durch.  Die  alten  stilisirten  Muster  ziehen  sich 
auf  die  bloß  bemalten  glatten  Krönungen  der  kleinen 
Platten  für  geringere  Leute  zurück,  an  den  reicheren 
Stelen  herrscht  die  Skulptur.  Es  ist  die  Zeit,  da 
das  kürzlich  erfundene  korinthische  Kapitell  anfängt 
sich  zu  entwickeln.  Etwa  wie  in  der  Zeit  des  be¬ 
ginnenden  gotischen  Stils  tritt  man  den  Pflanzen¬ 
formen  mit  lebhafterem  Naturgefühl  gegenüber.  Der 
Akanthos  mit  seinen  krausen  und  steifen,  starkrip- 
pigen  und  scharfrandigen  Blättern  lagert  sich  breit 
oben  auf  der  Stele  und  aus  ihm  sprießen  in  gar 
mannigfaltiger,  aber  stets  organischer  Entwickelung 
gewundene  Blattstengel  und  breit  sich  öffnende,  oben 
sich  wieder  zusamraenschließende  Blattfächer  empor. 
Die  ganze  hohe  Stele  klingt  erst  so  in  einem  präch¬ 
tigen  rhythmischen  Abschluss  voll  aus.  An  den 
Grabvasen  endlich,  namentlich  an  der  zweihenkeligen 
Lutrophöros,  entschädigt  eine  überaus  feine,  üppige 
Ornamentik  dafür,  dass  die  Darstellungen  anstatt 
des  Reichtums  der  thönernen  Lutrophören  —  Scenen 
der  Brautschmückung,  der  Hochzeit,  des  Begräb¬ 
nisses,  des  Verkehrs  am  Grabe  —  sich  auf  die  ge¬ 
wöhnlichen  Gegenstände  der  Grabreliefs,  namentlich 
das  Motiv  der  Handreichung,  beschränken. 

Die  zweite  Neuerung  des  vierten  Jahrhunderts 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


231 


liegt  noch  tiefer  in  der  veränderten  Sinnesart  der 
neuen  Zeit  begründet.  Ebenso  wenig  wie  in  der 
strengen  Profilstellung  der  Figuren  und  der  ma߬ 
vollen  Erhebung  des  Reliefs  findet  die  junge  Gene¬ 
ration  in  dem  stillen  Ethos  der  älteren  Auffassung 
ihr  Genüge.  Die  Malerei  ist  inzwischen  zu  einer 
selbständigen,  mit  Farbe,  Licht  und  Schatten  wirken¬ 
den,  psychologisch  motivirenden  Kunst  geworden; 
die  Tragödie  des  Euripides  hat  die  Seelenkämpfe 
tragischer  Leidenschaft  zur  Herrschaft  auf  der  Bühne 
gebracht ;  die  Philosophie  hat  die  Menschen  gelehrt, 
ihr  eigenes  Innere  zu  erkennen,  die  Rhetorik  ihrer 
ganzen  Denk-  und  Ausdrucksweise  ein  kunst-  und 
anspruchsvolleres  Gepräge  verliehen.  Alle  diese  Ein¬ 
flüsse  machen  sich,  wie  in  der  gesamten  Plastik,  so 
auch  in  den  Grabreliefs  des  vierten 
Jahrhunderts  geltend.  Zunächst  er¬ 
höht  die  gesteigerte  Erhebung  des 
Reliefs  die  äußerliche  Wirkung:  es 
entsteht  „eine  wundervoll  in  der 
Schwebe  zwischen  Freiskulptur  und 
Flächendarstellung  sich  haltende  Re¬ 
liefweise,  in  der  sich  auf  das  voll¬ 
kommenste  plastisches  und  malerisches 
Prinzip  verschmilzt“.  Und  sollen  wir 
glauben,  dass  die  Farbe  selbst  auf  ihr 
altes  Anrecht  verzichtet  und  sich 
schüchtern  zurückgezogen  hätte  in 
jener  farbenfrohen  Zeit,  wo  große 
Kün.stler  wie  Apelles  die  Malerei  zu 
ungeahntem  Glanze  erhoben,  wo  ein 
Meister  wie  Praxiteles  der  Mitwirkung 
des  Malers  bei  seinen  Statuen  nicht 
entraten  mochte,  wo  sein  Gehilfe, 
der  geschmackvolle  Maler  Nikias, 
nach  sicherem  Zeugnis  ein  Grabmal  in  Arkadien 
mit  einer  farbigen  Darstellung  ganz  der  üblichen 
Art  schmückte?  Wer  zweifelt,  der  blicke  auf  den 
wundervollen  Sarkophag  von  Sidon  mit  Kampf-  und 
Jagdscenen,  der  seit  kurzem  im  Museum  zu  Kon¬ 
stantinopel  seine  ganze  alte  Pracht  farbiger  Reliefs 
enthüllt:  was  ein  besonders  günstiges  Geschick  uns 
hier  bewahrt  hat,  das  müssen  wir  den  minder  glück¬ 
lichen  Genossen,  den  attischen  Grabreliefs,  auf  denen 
sehr  häufig  vereinzelte,  aber  nur  selten  zusammen¬ 
hängende  Farbspuren  sich  erhalten  haben,  wenig¬ 
stens  in  unserer  Phantasie  zu  gute  kommen  lassen. 
Spuren  von  Metallzusätzen,  die  nicht  ganz  selten 
Vorkommen,  können  als  weiteres  Zeugnis  für  far¬ 
bige  Ausschmückung  dienen. 

Auf  den  älteren  Reliefs  pflegen  die  Gruppen  durch 


eine  gemeinsame  Handlung  miteinander  verbunden 
zu  sein:  Hegeso  (Fig.  5)  entnimmt  dem  Kästchen 
der  Dienerin  einen  Schmuck,  Ameinokleia  lässt  sich 
die  Sohlen  anlegen,  andere  lassen  sich  ihr  Kind 
bringen  oder  reichen  einander  freundlich  die  Hände, 
Dexileos  (Fig.  12)  durchbohrt  vom  Rosse  aus  den  Feind 
—  sie  alle  sind  ganz  sich  selbst  genug  und  denken 
gar  nicht  daran,  dass  man  ihnen  zuschauen  könnte. 
Die  strenge  Profilbildung  passt  vortrefflich  zu  dieser 
in  sich  geschlossenen  Darstellangsweise.  Allmählich 
ändert  sich  das.  Mit  dem  ganzen  reicheren  Auf¬ 
treten,  wie  es  die  gesteigerten  Kunstmittel  mit  sich 
bringen,  hebt  sich  auch  sozusagen  das  Selbstgefühl 
der  Dargestellten;  sie  blicken  gern  aus  dem  Bilde 
heraus  und  scheinen  sich  dem  Beschauer  zuzu¬ 
wenden,  in  erster  Linie  für  ihn  da 
zu  sein.  Bei  Einzelfiguren  ist  das 
nicht  so  störend,  aber  bei  Gruppen 
hebt  dies  Bestreben  leicht  den  Zu¬ 
sammenhang  einer  Handlung  auf.  In 
geringerem  Grade  gilt  das  für  die  sog. 
Stele  vom  llissos  (Zeitschr.,  N.  F.  II, 
293),  wo  der  Jüngling  freilich  ganz 
aus  dem  Bilde  herausschaut,  die  Auf¬ 
merksamkeit  des  Vaters  aber  so  völlig 
auf  ihn  gerichtet  ist,  dass  dadurch 
die  innerliche  Geschlossenheit  der 
Gruppe  hergestellt  wird.  Diese  fehlt 
schon  empfindlicher  auf  der  sehr  eigen¬ 
tümlichen  Darstellung  einer  Fischer¬ 
familie  (Schreiber,  Kulturhistor.  Atlas 
Taf.  63,  6);  freilich  sitzen  sie  beim 
Mahle  an  gemeinsamem  Tisch,  aber 
alle  sitzen  uns  voll  zugewandt  und  der 
Fischer  im  Boot  fällt  ganz  aus  dem 
Bilde  heraus.  Vollends  aberblicke  man  auf  das  vorhin 
schon  genannte  Grabmal  der  Demetria  und  Pamphile 
(Fig  18),  in  seiner  Art  ein  Prachtstück:  sitzt  nicht 
Pamphile  in  ihrer  „Junonischen  Fülle“  da,  als  ob  sie 
photographirt  werden  sollte,  und  die  ältere  Genossin 
leistet  ihr  dabei  mit  einer  zierlichen  Handbewegung 
Gesellschaft?  Dieses  Aufheben  des  Zusammenhanges 

O 

um  eines  reicheren  Effekts,  einer  gefälligen  Pose 
willen  ist  jedoch  hier  erst  in  seinen  Anfängen  ver¬ 
folgbar;  sein  Übermaß  erreicht  es  in  den  etwas  jün¬ 
geren  kleinasiatischen  Grabstelen,  in  welchen  jede 
Gestalt  statuenhaft  von  vorn  dem  Beschauer  gegen¬ 
übertritt  (s.  Fig.  19);  ja  wo  die  dergestalt  auftreten¬ 
den  Ehepaare  sich,  fast  als  ob  sie  schmollten,  ein¬ 
ander  den  Rücken,  wenigstens  die  Schulter  zuzu¬ 
wenden  pflegen  (s.  Fig.  20). 


Fig.  17.  Thraseas  und  Euandria. 
Bei'liu,  Nr.  738. 


232 


ATTISCHE  HRABRELIEFS. 


Wenn  wir  von  den  in  Attika  nicht  gerade  sel¬ 
tenen,  aber  doch  nur  eine  Sonderart  bildenden  „Toten- 
malilen“,  Weihreliefs  an  heroisirte  Abgeschiedene, 
und  von  wenigen  anderen  Ausnahmen  absehen,  so 
pflegt,  wie  schon  oben  bemerkt,  die  attische  Auf¬ 
fassung  die  Verstorbenen  ganz  wie  Lebende,  in  irgend 


halten,  sie  spricht  aus  den  Zügen  der  Gesichter,  aus 
bezeichnenden  Gebärden  wie  dem  Greifen  an  das 
Kinn  oder  in  den  Bart,  aus  der  ganzen  Handlung 
nicht  düster,  nicht  aufdringlich,  sondern  es  breitet 
sich  nur  ein  Zug  leiser  Trauer  wie  ein  leichter 
Schleier  über  das  Ganze.  Charakteristisch  ist,  dass 


Fig.  18.  Uemetria  und  Pamphile.  (Nach  Att.  Grabr.  Taf.  40.) 


einer  Situation  oder  Beschäftigung  des  wirklichen 
Lebens,  darzustellen.  Die  Stimmung  dieser  lieb- 
lielicn  Bilder  ist  einfach  und  natürlich,  wohl  ernst, 
aber  dure.baus  nicht  traurig.  Immer  deutlicher  aber 
nia'  ht  .sich  die  Friedbofsstimmung  geltend.  Die  Em- 
jifindung,  dass  es  Verstorliene  sind,  deren  Abbildern 
wir  uns  nahen,  lässt  sich  nicht  mehr  ganz  zurück- 


diese  traurige  Stimmung  sich  weniger  in  den  Haupt¬ 
personen  als  in  den  Nebenfiguren  ausspricht;  die 
maßvolle  Haltung  wirkt  überaus  vornehm.  Auch 
das  Motiv  der  Handreichung  scheint  in  dieser  mat¬ 
teren  Beleuchtung  leicht  die  Bedeutung  eines  Ab¬ 
schiedes  anzunehmen.  Keine  Frage,  dass  uns  Mo¬ 
dernen  diese  Bilder  mit  ihrer  etwas  lebhafteren  Em- 


GRABRELIEF  VOM  DIPYLON  IN  ATHEN. 


^22.  -  H,  1,45 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


233 


pfindung-sweise  gemäßer  sind;  das  ruhigere  Ethos 
der  älteren  Darstellungen  erinnert  mehr  an  die  hohe 
Grazie  Winckelmann’s,  die  „sich  seihst  genugsam 
scheinet  und  sich  nicht  anhietet,  sondern  will  ge- 
suchet  werden;  sie  verschließt 
in  sich  die  Bewegungen  der 
Seele  und  nähert  sich  der 
seligen  Stille  der  göttlichen 
Natur.  Die  zweite  Grazie  aber 
lässt  sich  herunter  von  ihrer 
Hoheit  und  macht  .sich  mit 
Müdigkeit,  ohne  Erniedrigung, 
denen ,  die  ein  Auge  auf  sie 
werfen,  teilhaftig;  sie  ist  nicht 
begierig  zu  gefallen,  sondern 
nicht  unbekannt  zu  bleiben.“ 
Mit  den  letzteren  Worten  hat 
der  Seher  die  Kunst  des  vierten 
Jahrhunderts  bezeichnet;  sie 
passen  vollkommen  auch  auf 
unsere  Reliefs,  von  denen 
Winckelmann  kein  einziges 
kannte.  Das  Hervorkehren  des  Seelenlebens  ist 
ja  die  Signatur  dieser  Kunst;  noch  nicht  die  stür¬ 
mische,  alles  mit  sich  reißende,  vernichtende  Leiden¬ 
schaft  der  Diadochenzeit,  sondern 
leisere  Erregungen  der  Seele  genügen 
noch  dem  Bedürfnis  des  Künstlers 
wie  des  Beschauers.  Es  liegt  ein 
eigentümlicher  Zaiiber  über  diesen 
Darstellungen  gehaltener  Empfin¬ 
dung;  man  glaubt  sachter  auftreten, 
leiser  reden  zu  müssen,  so  unmittel¬ 
bar  nahe  treten  einem  die  lieben 
Toten  und  ziehen  einen  zu  trautem 
stillen  Zwiegespräch  heran.  Welch 
ein  Unterschied  von  der  Stimmung 
eines  modernen  Kirchhofes  mit  seinem 
kalten  Monumentenprunk,  seinen  ver¬ 
hüllten  Krügen,  geborstenen  Eichen 
oder  Säulen,  aufgeschlagenen  Büchern 
und  ähnlichen  Werken  zopfiger  Ge¬ 
schmacklosigkeit;  vollends  von  dem 
Eindruck  eines  neuitalienischen  Cam- 
po  Santo  mit  seiner  virtuosen  Nach¬ 
bildung  alles  Stofflichen  und  seiner 
aufdringlich  realistischen  Schilde¬ 
rung' des  Schmerzes!  Ist  es  für  unsere  Bildhauer  so 
schwer  zu  lernen,  wo  die  Muster  so  reichlich  und 
so  anziehend  geboten  sind?  Möchte  doch  die  vor¬ 
liegende  Sammlung  nach  dieser  Seite  eine  Reform 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F  IV. 


bewirken.  Freilich  sind  es  ja  nur  Kunsthandwerker, 
von  denen  unsere  Grabmalfabrikanten  lernen  sollen, 
aber  diese  Handwerker  sind  eben  Athener;  auch 
fehlte  es  ihnen  nicht  an  bedeutenden  Vorbildern. 

Während  die  attischen  Grabreliefs  aus  der  Zeit 
des  peloponnesischen  Krieges  durchweg  ein  einheit¬ 
liches  Gepräge,  das  der  Pheidias’schen  Kunst,  tragen, 
zeigen  die  Denkmäler  des 
vierten  Jahrhunderts  eine 
größere  Mannigfaltigkeit. 

Derspezifisch  attische  Grund¬ 
charakter  freilich  bleibt  allen 
gemeinsam,  aber  sie  verhal¬ 
ten  sich  zu  den  älteren  ver¬ 
wandten  Darstellungen  etwa 
wie  die  Eirene  mit  dem  Plu- 
tosknahen  des  älteren  Kephi- 
sodotos,  die  „antike  Ma¬ 
donna“,  zur  Athena  des  Phei- 
dias,  zur  Hera  des  Alka- 
menes,  zu  den  Göttinnen  des 
Eleusinischen  Reliefs.  Dieser 
aus  der  älteren  attischen  Weise  unmittelbar  sich  ent¬ 
wickelnden,  nur  empfindungsvolleren  Richtung,  als 
deren  Hauptträger  uns  eben  Kephisodot  erschein!, 
gehört  die  große  Masse  der  Grab¬ 
reliefs,  wenigstens  aus  der  ersten 
Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts,  an. 
Daneben  glaubt  man  aber  auch  die 
Einflüsse  anderer  bedeutender  Künst¬ 
ler  zu  spüren,  so  z.  B.  den  von 
Kephisodot’s  großem  Sohne  Praxi¬ 
teles.  Eine  Stele  in  Leiden,  der  zahl¬ 
reiche  Genossinnen  zur  Seite  stehen 
—  ein  schöner  Jüngling,  mit  dem 
linken  Arm  auf  einen  Baumstamm 
gelehnt,  in  der  gesenkten  Rechten 
ein  Vögelchen  haltend  (Fig.  21)  — 
erinnert  in  dem  zarten  Epheben- 
körper,  in  dem  Lehnen  auf  den  Baum¬ 
stamm,  in  dem  weich  geschwungenen 
Rhythmus  der  ganzen  Haltung,  in  der 
lyrischen  Stimmung  des  geneigten 
Hauptes  durchaus  an  den  uns  wohl- 
bekannten  Charakter  jenes  Meisters, 
der  jedenfalls  der  echteste  Vertreter 
dieses  jüngeren  Atticismus  ist. 
Neben  ihm  steht  in  kräftigerer  Ausprägung  sein 
älterer,  aus  dem  Peloponnes  herübergekommener 
Nebenbuhler  Skopas,  dessen  Kunstart  wir  erst  neuer¬ 
dings  genauer  erkennen  lernen.  Kürzlich  hat  L.  von 

30 


Fig.  19.  Grabstele  aus 
Smyrua  Berlin,  Nr.  767. 


Fig.  21.  Stele  in  Leiden. 
(Mach  Att.  Grabr.) 


234 


ATTISCHE  GRAERELIEFS. 


Sybel  in  dieser  Zeitschrift  (II,  293),  gewiss  mit  Recht, 
das  „Grabrelief  vom  Ilissos“  in  diesen  Zusammen¬ 
hang  gestellt;  der  Kopf  des  Jünglings  mit  seinem 
tiefen  Pathos  zeigt  alle  Merkmale  einer  unter  Skopas’ 
Einfluss  stehenden  Kunstübung.  Dies  Relief  aber 
zieht  eine  ganze  Gruppe  ähnlich  aufgefasster  Reliefs 
nach  sich,  ja  es  fehlt  auch  nicht  an  Beispielen 


bekannt  ist,  in  einer  großen  Stele  des  Prokies  und 
Prokleides  (Fig.  22)  wiedergefunden.  Die  Köpfe  des 
alten  Prokleides  und  des  gerüsteten  Sohnes  Prokies,  der 
ihm  die  Hand  reicht,  auch  der  der  Mutter  Archippe 
im  Hintergründe,  zeigen  die  gleiche  unerbittliche 
Naturwahrheit  wie  der  Platonkopf,  so  dass  man  un¬ 
willkürlich  denkt:  so  müssen  die  Leute  wirklich  aus- 


Kig.  22.  l’ioliles  nnd  l’roklcjides.  (Nacli  Att.  Grabr.) 


prachtvoller  weiblicher  Köpfe  von  verwandter  Plm- 
pfindung  und  Kunstart.  Ob  wir  auch  den  hoch- 
fiiegendf'n  Idealismus  von  Skopas’  attischem  Genossen 
Leochares  auf  den  Grabreliefs  werden  suchen  düi’feii, 
mag  zweifelhaft  erscheinen.  Dagegen  hat  Franz 
Winter  den  schlichten  Realismus  eines  Silanion,  wie 
er  uns  am  authentischsten  aus  seiner  Platonbüste 


gesehen  haben;  ein  Eindruck,  der  den  Alten  gerade 
ebenso  an  den  Porträtbildungen  von  Silanion’s  Zeit- 
und  noch  etwas  naturalistischerem  Kunstgenossen 
Demetrios  entgegentrat.  So  ist  also  auch  der  at¬ 
tische  Realismus,  der  in  der  ersten  Hälfte  des  vier¬ 
ten  Jahrhunderts  aufkommt,  in  dieser  Denkmäler¬ 
gattung  vertreten. 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


235 


Von  demselben  Silanion  rührte  eine  bewunderte 
Erzstatue  der  sterbenden  lokaste  her,  wie  sie  matt 
und  bleich  —  den  Wangen  war  Silber  beigemisclit  — 
dabin  schwand.  Täuscht  mich  nicht 
alles,  so  finden  wir  eine  verwandte 
Stimmung  in  einer  packenden  Scene, 
dem  wohlerbaltenen  Hauptstück  eines 
einstigen  tempelförmigen  Grabmals,  das 
eben  jener  Zeit  angebört  (Fig.  23). 

Die  Gestalten,  fast  statuarisch  heraus¬ 
gearbeitet,  sind  lebensgroß.  Auf  einem 
polsterbedeckten  Sessel  sitzt  ein  voll¬ 
bekleidetes  Mädchen,  nicht  in  der  üb¬ 
lichen  freien  Haltung,  sondern  sie  hat 
die  Füße  zurückgezogen  und  die  Arme 
wie  hilfesuchend  vorgestreckt.  Den 
ganzen  Oberkörper  und  den  Hals  leicht 
vorgebeugt,  blickt  sie  mit  mattem, 
krankem  Ausdruck  zu  einer  älteren  verschleierten 
Frau,  wohl  ihrer  Mutter,  empor,  die  mit  lebhaftem 
Schritt  auf  sie  zu  eilt 
und  ihr  Antlitz  mit  dem 
ergreifenden  Ausdruck 
schmerzlicher  Beküm¬ 
mernis  auf  die  leidende 
Tochter  richtet.  Während 
die  leicht  gehobene  Rechte 
ihre  Rede  mit  einem  be¬ 
kannten  Gestus  begleitet, 
unterstützt  ihre  Linke 
den  matten  rechten  Arm 
der  Kranken.  Hinter  dieser 
blickt  eine  Dienerin  oder 
Gefährtin  mit  stiller  Teil¬ 
nahme  auf  die  heran¬ 
tretende  Frau;  nur  der 
Lieblingsvogel  unter  dem 
Stuhl  der  Tochter  lässt 
sich  im  Picken  auf  dem 
Boden  nicht  stören.  Das 
ist  kein  Wiedersehen  im 
Hades,  wie  man  geglaubt 
hat,  sondern  der  letzte 
Besuch  bei  der  sterbens¬ 
matten  Tochter,  ganz  in 
der  packenden,  der  Wirk¬ 
lichkeit  entlehnten  Weise 
geschildert,  wie  wir  es 
von  Silanion  voraussetzen  zu  dürfen  glauben.  Das 
Relief  steht  auch  nicht  allein  da.  In  Athen  selbst 
findet  sich  ein  ganz  verwandtes  Stück;  eine  ähnliche 


Scene,  nur  viel  weniger  lebendig  geschildert,  schmückt 
eine  Stele  im  Louvre  (Taf.  63,  n.  307);  hübsche 
Lekythen  (Taf.  74,  sehr  fein  und  lebhaft,  75)  und 
kleinere  Reliefs  (Taf.  46,  S.  70)  zeichnen 
drastischer,  aber  weit  weniger  poetisch 
das  Hinsinken  einer  auf  Stuhl  oder 
Bett  sitzenden  Frau,  die  von  einer 
Freundin  aufgefangen  wird,  gewöhnlich 
umgeben  von  trauernden  Angehörigen. 
Immerhin  ist  diese  Gruppe  von  Dar¬ 
stellungen  verschwindend  klein  gegen¬ 
über  der  Masse  der  den  Abschied 
ruhiger  andeutenden  Reliefs. 

Der  im  Laufe  des  vierten  Jahr¬ 
hunderts  bedeutend  gesteigerte  Luxus 
des  plastischen  Gräberschmuckes  — 
erzählt  uns  doch  Demosthenes  von 
einem  Grabmal,  das  zwei  Talente  (etwa  9500  Mark) 
gekostet  habe  —  stand  in  umgekehrtem  Verhältnis 

zu  der  rasch  abnehmen¬ 
den  Wohlhabenheit  der 
Athener.  Schon  Platon 
hatte  auf  die  Rückkehr 
zu  den  einfachen  Verhält¬ 
nissen  der  Solonischen 
Zeit  gedrungen.  So  mochte 
es  denn  wohl  als  Not¬ 
wendigkeit,  ja  als  Wohl- 
that  empfunden  werden, 
als  Demetrios  von  Pha- 
leron  gegen  Ende  jenes 
Jahrhunderts  (zwischen 
317  und  307)  diesem 
ganzen  Luxus  durch  eine 
neue  Begräbnisordnung 
ein  jähes  Ende  berei¬ 
tete.  Fortan  durften  auf 
den  Gräbern  nur  noch 
„Tische“,  d.  h.  längliche, 
dicht  über  dem  Boden 
liegende  Platten,  kleine 
„Becken“,  auf  einfachen 
Füßen  ruhend,  und  nied¬ 
rige  „Säulchen“  errichtet 
werden.  Letztere,  runde 
steinerne  Pflöcke ,  dicht 
unter  dem  oberen  flachen 
Ende  mit  einem  Wulst,  der  wohl  eine  Binde  vertritt, 
versehen,  meist  nur  mit  einer  Inschrift,  seltener  mit 
einem  bescheidenen  Relief  oder  einer  Umriss- 


Grabstein  aus  Rheneia. 
Berlin,  Nr.  801. 


Fig.  23.  Besuch  bei  der  kranken  Tochter. 

(Nach  einer  Photographie  aus  dem  Apparat  der  Att.  Grabreliefs.) 


30* 


236 


ATTISCHE  GRABRELIEFS. 


Zeichnung  geschmückt,  bilden  die  Masse  der  späteren 
attischen  Grabdenkmäler,  Die  Plastik  mit  allen 
ihren  reichen  Motiven  war  mit  einem  brutalen 
Schlage  vernichtet,  attische  Friedhöfe  sahen  fortan 
so  öde  aus  wie  heutzutage  türkische  Gräberplätze 
mit  ihren  einförmigen  Leichensteinen  oder  wie  ein 
abgelegener  Dorfkirchhof  mit  seinen  kahlen  Holz¬ 
kreuzen.  Die  unten  wiedergegebene  Zeichnung 
R.  Koldewey’s,  die  eine  Zusammenstellung  dieser 


Perseus  bis  zur  Zerstörung  durch  Mithradates  in  hoher 
Blüte  stand  (Fig.  24).  Neben  neuem  Inhalt  und  neuen 
Formen  führten  auch  die  alten  attischen  Motive  hier 
ein  bescheidenes  Nachleben,  immer  mehr  erstarrend 
und  verknöchernd.  Und  doch  besaßen  diese  kläg¬ 
lichen  Epigonen  attischer  Kunst  noch  genug  ererbte 
Anziehungskraft,  um  Goethe,  als  er  ihrer  in  Verona 
ansichtig  ward,  zu  der  oft  angeführten  Äußerung 
zu  begeistern:  »Der  Wind,  der  von  den  Gräbern 


Fig.  2.').  Attische  Gräljcrstätte  des  dritteu  Jahrhunderts.  Zeichnuug  von  R.  Koldewey. 


Späteren  Grabformen  giebt  iFig.  25),  kann  freilich 
zeigen,  dass  auch  solche  erzwungene  Nüchternheit 
in  südliclier  Umgebung  nicht  ganz  der  Poesie  bar 
zu  sein  Itrauchte.  Die  Gräberplastik  flüchtete  aus 
Attika  an  andere  Stätten,  nach  den  reicheren  Städten 
Kleinasiens  —  aus  Syrien  stammt  jener  farbige Pracht- 
sarkophag,  von  dem  oben  die  Rede  war  —  und  auf 
die  Inseln  des  ägäischen  Meeres,  namentlich  Rheneia, 
die  Gräberinsel  von  Delos,  das  als  von  Rom  privile- 
girter  Freihandelsplatz  von  der  Besiegung  des 


der  Alten  herweht,  kommt  mit  Wohlgerüchen  wie 
über  einen  Rosenhügel.  Hier  ist  kein  geharnischter 
Mann  auf  den  Knieen,  der  einer  fröhlichen  Aufer¬ 
stehung  wartet,  hier  hat  der  Künstler  mit  mehr  oder 
weniger  Geschick  immer  nur  die  einfache  Gegen¬ 
wart  der  Menschen  hingestellt,  ihre  Existenz  dadurch 
fortgesetzt  und  bleibend  gemacht.  Sie  falten  nicht 
die  Hände  zusammen,  schauen  nicht  gen  Himmel, 
sondern  sie  sind  was  sie  waren,  sie  stehen  beisammen, 
sie  nehmen  Anteil  an  einander,  sie  lieben  sich,  und 


EINE  ALTDORFER- BIOGRAPHIE. 


237 


das  ist  in  den  Steinen,  oft  mit  einer  gewissen  Hand¬ 
werks  Unfähigkeit,  allerliebst  ausgedrückt.“ 

Der  Zweck  dieses  Überblickes  ist  erreicht,  wenn 
er  recht  viele  Leser  dieser  Zeitschrift,  zumal  aus¬ 
übende  Künstler,  auf  die  reiche  Quelle  reinster  Schön¬ 
heit  hinweist,  die  diese  Sammlung  attischer  Grab¬ 
reliefs  erschließt.  Neben  den  schönsten  der  bemalten 
Vasen  giebt  es  keine  Klasse  griechischer  Kunstwerke, 
die  uns  so  tief  in  die  Reize  griechischer  Menschen¬ 
natur  und  griechischen  Familienlebens  einweihte. 


Grade  die  Grabmäler  der  Frauen,  die  zunächst  in 
Bearbeitung  sind,  geben  einen  überraschenden  Ein¬ 
blick  in  das  vornehme  Gehaben  attischer  Weiber, 
ein  erquickliches  Gegenbild  gegen  den  tollen  Spott 
eines  Aristophanes.  Diese  Reliefs  werden  auf  keinen 
kunstsinnigen  Beschauer  ihre  Wirkung  verfehlen, 
solange  moderner  Realismus  noch  nicht  alles  Gefühl 
für  den  hohen  Adel  einer  Kunst  abgestumpft  hat, 
welche  für  die  einfachsten,  innigsten  Empfindungen 
mit  instinktiver  Sicherheit  stets  die  ganz  entsprechende 
Ausdrucksform  zu  finden  weiß. 


EINE  ALTDORFER-BIOGRAPHIE. 

MIT  ABBILDUNG. 


EITDEM  die  Geschichte  der 
deutschen  Malerei  des  sech¬ 
zehnten  Jahrhunderts  das  be¬ 
vorzugte  Versuchsfeld  jünge¬ 
rer  Kunstgelehrter  geworden 
ist,  sind  auch  die  Meister 
zweiten  Ranges  in  ihrem 
kunsthistorischenSchätzungs- 
werte  gestiegen  und  werden  der  Reihe  nach  in 
mehr  oder  weniger  satten  Monographieen  behandelt. 
Der  wissenschaftliche  Gewinn  dieser  unscheinbaren 
„Beiträge  zur  Kunstgeschichte“,  von  den  bloßen 
„specimina  eruditionis“  unter  ihnen  abgesehen,  ist 
kaum  geringer  anzuschlagen  als  jener  einer  anderen 
Spezialforschung,  die  in  den  ausgetretenen  Spuren 
anerkannter  Kunstgrößen  oft  mehr  in  die  Breite  als 
in  die  Tiefe  geht.  Denn  dank  der  Beschäftigung 
mit  jenen  weniger  beachteten  Künstlern  vervoll¬ 
ständigt  sich  in  immer  weiterem  Umfange  das  Bild 
der  deutschen  Renaissance,  tritt  mehr  und  mehr  ihr 
ganzer  Reichtum  an  selbständigen  Talenten,  die 
Vielseitigkeit  ihrer  Richtungen  zu  Tage,  die  man 
früher  auf  wenige  Hauptraeister  zurückzuführen 
pflegte.  So  ist  uns  auch  Älhrecht  Altdorfer,  der 
Maler  von  Regensburg,  den  man  die  längste  Zeit  der 
Nachfolge  Dürer’s  zugezählt,  erst  durch  die  vor¬ 
liegende  Schrift  Max  Friedlmiders  als  eine  kunst¬ 
geschichtliche  Sondergestalt  näher  gerückt  worden. 


1)  Beiträge  zur  Kunstgeschichte,  Neue  Folge,  XIII. 
Leipzig,  E.  A.  Seemann,  1891. 


Mit  nicht  gewöhnlichem  Erfolge  —  und  dieser  Er¬ 
folg  rechtfertigt  unsere  verspätete  Anzeige  —  ist  es 
dem  Verfa.sser  gelungen,  den  Charakterkopf  des 
Regensburger  Meisters  zu  zeichnen,  seine  persönliche 
Eigenart  in  ihrer  geschichtlichen  Entfaltung  zu  er¬ 
fassen. 

Glücklich  führt  sich  die  Arbeit  mit  dem  Ver¬ 
suche  ein,  Altdorfer’s  Frühstil  aus  der  bayerischen 
Stammeskunst,  speziell  aus  der  zu  Ende  des  fünf¬ 
zehnten  Jahrhunderts  in  Regensburg  blühenden 
Miniaturmalerei,  herzuleiten.  In  der  That  zeigen 
die  Bilder  aus  den  Jahren  1506 —  1511,  denen 
sich  eine  aus  englischem  Privatbesitze  kürzlich 
für  die  Berliner  Galerie  erworbene  „Geburt  Christi“ 
anschließen  soll,  mehr  Berührungspunkte  mit  den 
Buchmalereien  Furtmayr’s  als  mit  der  Kunst  Dürer’s, 
an  welche  Friedländer  nur  eine  Annäherung  Alt¬ 
dorfer’s  im  zweiten  Jahrzehnt  des  sechzehnten  Jahr¬ 
hunderts  zugeben  will.  Nun  ist  es  gewiss  richtig, 
dass  die  gleiche  Zeitdisposition,  getrennt  von  ein¬ 
ander,  wesensverwandte  Erscheinungen  hervorge¬ 
trieben  hat,  und  im  Gegensatz  zur  üblichen  Reminis- 
cenzenjagd  und  Entlehnungswirtschaft  thut  es  recht 
eigentlich  wohl,  Altdorfer’s  Abhängigkeit  von  Dürer 
eingeschränkt,  jene  von  Grünewald,  die  Janitschek 
namentlich  ungebührlich  betont  hatte,  überzeugend 
abgewiesen  zu  sehen.  Andererseits  ist  nicht  zu  ver¬ 
kennen,  dass  der  Verfasser  in  dem  Bestreben,  Alt¬ 
dorfer  so  viel  als  möglich  aus  sich  selbst  heraus  zu 
konstruiren,  über  das  Ziel  hinausschießt.  Wenn  auch 
keinesfalls  in  Nürnberg,  so  hat  unser  Künstler  doch 


238 


EINE  ALTDORFER- BIOGRAPHIE. 


von  Nürnberg  gelernt,  —  besäßen  wir  auch  nicht  in 
dem  Madonnenstich  B.  16  aus  dem  Jahre  1509 
ein  unmittelbares  Zeugnis  seines  frühen  Studiums 
nach  Dürer. 

Daneben  hätten  aber  auch  seine  Beziehungen  zu 
einzelnen  bayerischen  Tafelmalern,  gerade  des  Dunkels 
wegen,  das  über  dieser  Künstlergruppe  noch  liegt, 
einer  genaueren  Erörterung  bedurft.  So  bekunden 
die  Gemälde  eines  1511  datirten  Altares  in  der  Kirche 
zu  Altenmühldorf  in  Niederbayern,  zumal  die  „Be¬ 
weinung“  auf  der  Staffel,  welche  die  „Kunstdenk¬ 
male  des  Königreichs  Bayern“  in  Abbildung  bringen 
werden,  eine  merkwürdige  Verwandtschaft  mit  spä¬ 
teren  Arbeiten  Altdorfers.  Haben  wir  in  dem  Meister 
I  S  B,  der  diesen  Altar  mit  seinem  Monogramm  ge¬ 
zeichnet  hat  (vgl.  Sighart,  Die  mittelalterliche  Kunst 
in  der  Erzdiöcese  Münch en-Freising,  S.  173),  einen 
Vorläufer  oder  einflussreichen  Jugendgenossen  des 
Künstlers  zu  erblicken?  Und  gehört  diesem  nicht 
auch  die  „1  1511  S“  signirte  Zeichnung  mit  der 
Kreuzigung  Christi  im  Berliner  Kabinette  an, 
von  welcher  sich  Wiederholungen  in  München, 
Prag  (Sammlung  Lanna),  Frankfurt  und  Erlangen 
finden?  Ebenso  wäre  über  Altdorfer’s  Verhältnis 
zu  Wolf  Huber  in  Passau,  dessen  Abstammung  aus 
h^eldkirch  in  Vorarlberg  W.  Schmidt  vor  kurzem  in 
der  Beilage  der  Allgemeinen  Zeitung  (1893,  Nr.  11) 
nachgewiesen  —  ein  Verhältnis,  das,  mag  es  nun 
Anregung  gebend  oder  empfangend,  jedenfalls  ein 
nahes  gewesen  sein  muss  —  ein  Wort  der  Auf¬ 
klärung  am  Platze  gewesen.^) 

Zutreffend  abgewogen  erscheint  hingegen  der 
italienische  Einfluss  auf  die  Entwickelung  des  Regens¬ 
burgers.  Am  nachdrücklichsten  macht  sich  der¬ 
selbe  in  einer  mit  Recht  um  1520  angesetzten 
Grujipe  von  Stichen  geltend,  in  welchen  Referent 
eine  Anzahl  von  Kopieen  italienischer  Niellen  und 
Plaquetten  zuerst  bemerkt  hat  (Chronik  für  ver¬ 
vielfältigende  Kunst,  111,  35).  Friedländer  hat  die 
Vorbilder  von  B.  28  und  37  selbständig  ermittelt, 
den  interessanten  Umstand  aber  übersehen,  dass  die 
in  dem  letzteren  Blättchen  (der  Centaur  mit  dem 
Fenerbecken)  benutzte  Plaquette  die  Komposition 
einer  antiken  Kamee  wiedergiebt,  die  schon  Dona- 

1)  Von  Bilflorn  ans  dem  zweiten  .lahrzehnt  des  sech¬ 
zehnten  .Tahrhnnderts  sind  Friedländer  die  beiden  Tafeln 
mit  je  zwei  Darstellungen  aus  der  Kindheitsgeschichte  Christi, 
vormals  in  der  Sammlung  Untres  in  München,  entgangen, 
von  welchen  eine  (Nr.  2560  des  Auktionskataloges  von  18G8) 
signirt  und  1514  datirt  gewesen;  ihr  derzeitiger  Verbleib  ist 
unbekannt. 


tello  in  einem  der  Reliefmedaillons  im  Hofe  des  Pal. 
Riccardi  nachgebildet  hatte  (Müntz,  Revue  archeo- 
logique  1879,  pag.  245  und  Les  precurseurs  de  la 
renaissance,  pag.  70).  Sonst  scheint  die  Plaquette 
vorwiegend  bei  norditalienischen  Renaissancebild¬ 
hauern  Anwert  gefunden  zu  haben,  wie  ihre  Kopieen 
unter  den  ornamentalen  Reliefs  am  Sarkophag  des 
h.  Brivio  von  Cazzanigo  in  St.  Eustorgio  zu  Mailand 
und  den  Skulpturen  der  Porta  della  Rana  der  Ge¬ 
brüder  Rodari  am  Dom  zu  Como  beweisen.  Alt¬ 
dorfer  hat  ferner  das  Hauptmotiv  des  Stiches  B.  31 
—  den  von  Seepferden  gezogenen  und  von  Tritonen 
geleiteten  Wagen  —  einem  Niello,  dem  von  Duchesne, 
Essai,  unter  Nr.  214  beschriebenen  Blättchen  im  ver¬ 
kehrten  und  die  Figur  des  Arion  B.  39  dem  Niello 
Pass.  V.  pag.  258,  Nr.  37  im  gleichen  Sinne  ent¬ 
nommen.  Die  Venus  B.  32  lehnt  sich  eng  an  das  dem 
Peregrini  da  Cesena  zugeteilte  Niello  Pass.  654  (Licht¬ 
druck  im  Auktionskatalog  Durazzo,  Nr.  2887)  an,  jene 
von  B.  35  geht  zweifellos  gleichfalls  auf  ein  italieni¬ 
sches  Original  zurück;  sie  erinnert  wenigstens  auffällig 
an  eine  Aktstudie Verrocchio’s  (Lippmann,  Zeichnungen 
alter  Meister,  Taf.  116).  Den  Stempel  italienischer 
Herkunft  tragen  noch  B.  30  und  B.  62,  —  letzteres 
Blatt,  ein  Porträtkopf,  ist  besonders  wichtig,  weil  es 
durch  sein  frühes  Datum  1507  die  von  Friedländer 
bestrittene  Thatsache  erhärtet,  dass  Altdorfer’s  An¬ 
fänge  bereits  eine  gewisse  Bekanntschaft  mit 
italienischer  Kunst  verraten.  Neuerdings  hat  Fried¬ 
länder  selbst  eine  erfreuliche  Bestätigung  dieser, 
schon  von  S.  Colvin,  The  Portfolio,  1877,  pag.  139 
vertretenen  Ansicht  beigebracht,  indem  er  den  Pru- 
dentia-Stich  Pass.  99  von  1506  sowie  ein  unbe¬ 
schriebenes  Blättchen  gleichen  Gegenstandes,  aber 
späterer  Entstehung  im  Berliner  Kabinett  den  Kopien 
italienischer  Niellen  hinzufügte  und  zugleich  eine 
ebenda  befindliche  Handzeichnung  aus  dem  nämlichen 
Jahre  1506  als  Übersetzung  einer  italienischen  Dar¬ 
stellung  ansprach  (Jahrbuch  der  preuß.  Kunst¬ 
sammlungen,  XIV,  22  ff.).  Ein  weiteres  Beispiel  der 
Verwertung  einer  Plaquette  liegt,  einer  Vermutung 
Friedländer’s  zufolge,  die  vieles  für  sich  hat,  in 
der  hl.  Familie  von  1515  in  der  Wiener  Galerie  vor.^) 
Endlich  wäre  in  diesem  Zusammenhänge  noch 
auf  die  polygonalen  Centralbauten  in  den  Hinter¬ 
gründen  einer  Reihe  von  Gemälden  Altdorfer’s, 

1)  Von  den  deutschen  Kleinmeistern  hat  sonst  nur  Bartel 
Beham  in  dem  Stiche  B.  33  ein  Niello  (Duchesne,  240)  re- 
produzirt  und  in  B.  39  anscheinend  das  Motiv  einer  Plaquette 
(Molinier,  Les  plaquettes,  Nr.  632)  verarbeitet  (Chronik  für 
vervielfältigende  Kunst,  III,  50). 


EINE  ALTDORFER- BIOGRAPHIE. 


"239 


der  Alexanderschlacht  und  des  Madonnenbildes  in 
München  sowie  der  Wiener  „Geburt“  zu  verweisen. 
Der  Grundtypus  dieser  phantastisch  dekorativen 
Bauten,  der  in  leichten  Variationen  in  jener  von 
dem  Bayernherzog  Wilhelm  IV.  bei  verschiedenen 
Malern  bestellten  Folge  von  Historienbildern  mehr¬ 
fach  wiederkehrt,  ist,  Friedländer’s  Einwendungen 
ungeachtet,  gewiss  nicht  auf  deutschem  Boden  ge¬ 
wachsen.  Mag  auch  Hans  Hieher’s,  übrigens  von 
Mailänder  Mustern  angeregtes  Modell  zur  Neupfarr¬ 
kirche  in  Regensburg  unserem  Künstler  die  ersten 
unklaren  Renaissancevorstellungen  vermittelt  haben, 
so  bleibt  doch  daneben  eine  Bereicherung  derselben 
durch  Einblick  in  die  architektonischen  Reiseaul¬ 
nahmen  anderer  Italienfahrer  —  man  denke  etwa 
an  Hermann  Vischer’s  Skizzenbuch  im  Louvre  mit 
seinen  zahlreichen  Studien  gerade  nach  Central¬ 
anlagen  (Jahrbuch  der  preuß.  Kunstsammlungen 
XII,  50  ff.)  —  sehr  wahrscheinlich. 

Nicht  im  gleichen  Maße  wie  die  übrigen  Klein¬ 
meister  ist  Altdorfer  von  der  wälschen  Invasion  er¬ 
griffen  worden.  Dennoch  hatte  sie  auch  in  seiner 
Kunstweise  seit  dem  Anfang  der  zwanziger  Jahre 
einen  entschiedenen  Stilwandel  zur  Folge,  der  sich 
in  der  strengeren  Symmetrie  der  Komposition, 
einer  größeren  Farbenfreude  und  der  Ausbildung 
einer  Art  Schönheitsideal  äußert.  Der  neuen  For¬ 
menwelt  sich  nachhaltiger  hinzugeben,  wurde  Alt¬ 
dorfer,  von  seiner  kerndeutschen  Individualität  ab¬ 
gesehen,  durch  ein  Regensburger  Lokalereignis  eben 
derselben  Zeit  verhindert,  das  den  Künstler  zu 
seinem  Segen  zur  Einkehr  in  sein  Volkstum  nötigte. 
Die  Judenvertreibung  von  1519  und  der  sich  an  sie 
knüpfende,  bis  zur  Extase  gesteigerte  Kultus 
der  „Schönen  Maria“  gab  bekanntlich  zu  einer 
reichen  graphischen  Thätigkeit  des  Meisters  Anlass. 
Neben  dem  Helldunkelschnitt  des  Wunderbildes 
(B.  51)  hätten  hier  die  überaus  stimmungsvollen 
Holzschnitte  „Rast  der  hl.  Familie  in  einer  Kapelle“ 
(B.  47)  und  die  Marienandacht  des  Mönches  (B.  49) 
sowie  die  radirten  Synagogenblätter,  schon  ihrer 
stofflichen  Originalität  wegen,  eine  eingehendere 
Würdigung  verdient.  Eine  solche  hätte  Friedländer 
auch  die  Frage  nahegelegt,  ob  der  Holzschnitt  B.  42 
(Abb.  Lützow,  Gesch.  d.  deutsch.  Kupferstiches  und 
Holzschnittes,  S.  177)-  thatsächlich  auf  die  Kund¬ 
schafter  aus  dem  gelobten  Lande,  oder,  bei  dem 
Fehlen  der  großen  Traube,  nicht  vielmehr  auf  einen 
antiken  Vorwurf,  die  Vorbereitung  zu  einem  Feste 
etwa,  zu  deuten  sei.  Von  Gemälden  setzt  Fried¬ 
länder  außer  dem  Sigmaringer  Dreikönigsbild  und 


den  Quirinustafeln  in  Nürnberg  und  Siena  noch  die 
hochbedeutsamen  Altarfragmente  in  der  Kloster¬ 
galerie  zu  St.  Florian  in  Oberösterreich,  die  Schreiber 

o 

dieses  in  der  „Zeitschriftfür  bildende  Kunst“  (N.  F.  II, 
S.  256  ff.  und  296  ff.)  ausführlich  besprochen,  in 
den  gleichen  Zeitraum  (1518 — 1521).  Die  Urheber¬ 
schaft  Altdorfer’s  bei  den  letztgenannten  sechzehn 
Bildern  lässt  sich  indes  leichter  behaupten  als  er¬ 
weisen  und  wie  schwierig  die  Beantwortung  der  noch 
offenen  Frage  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  ein  sonst 
so  taktfester  Kenner  der  Altdeutschen  wie  W.  Schmidt 
sie  nach  dem  ersten  Eindruck  für  ausgeschlossen, 
nach  wiederholter  Prüfung  der  Originale  aber  für 
—  unantastbar  erklärte  (Chronik  für  vervielfältigende 
Kunst  IV,  57), 

Die  Arbeiten  aus  Altdorfer’s  letzter  Periode 
haben  als  die  bekanntesten  die  Vorstellung  von 
seiner  Kunst  nur  zu  ausschließlich  bestimmt.  Gleich¬ 
wohl  fällt  von  den  Auseinandersetzungen  des  Ver¬ 
fassers  manch  neues  Licht  auf  diese  liebenswürdigen 
Schöpfungen  der  Spätzeit,  teils  romantische  Genre¬ 
stücke  wie  die  Susanna  und  das  Schlachtbild  der 
Pinakothek,  teils  gemütvolle,  von  der  Poesie  nordischen 
Kleinlebens  verklärte  Andachtsbilder  wie  die  „Maria 
in  W'^olken“  der  gleichen  Sammlung  und  die  „Geburt 
Mariä“  in  der  Augsburger  Galerie  (siehe  die  Abb.). 
Mit  der  Madonnendarstellung  in  München  hat  ein 
Marienbild  bei  Postrat  Breisch  in  Stuttgart  so 
viel  Abnlichkeit,  dass  man  es  nach  einem  ansprech¬ 
enden  Vorschläge  F.  Wickhoff’s  eher  Altdorfer  als 
Baidung  Grien,  unter  dessen  Namen  es  1886  auf 
der  Schwäbischen  Kreisausstellung  zu  Augsburg 
zu  sehen  war  (Nr.  72),  beimessen  möchte.  Ein  weiteres 
nachweisbares  Bild  unseres  Malers,  das  von  Fried¬ 
länder  und  der  gesamten  Altdorferforschung  irrtüm¬ 
lich  als  verschollen  bezeichnet  wird,  wurde  nach  Eng¬ 
land  verschlagen:  der  „Abschied  Christi  von  seiner 
Mutter“,  ehemals  bei  Abt  Steiglehner  in  Regeus- 
burg,  gegenwärtig  in  der  Sammlung  J.  F.  Rüssel 
in  Enfield  bei  London.  Nach  der  Charakteristik 
Waagen’s  sowohl,  der  es  in  den  Treasures  of 
art  in  Great  Britain  (11,  463)  als  Dürer  anführt,  als 
auch  S.  Colviu’s  (The  Portfolio,  pag.  140)  scheint  es  sich 
um  ein  Hauptwerk  zu  handeln;  falls  es  wirklich, 
wie  Colvin  erwähnt,  das  Datum  des  Sterbejahres  Alt¬ 
dorfer’s  1538  trägt,  würde  es  zugleich  den  Rang  seines 
letzten  Gemäldes  der  Münchener,  um  1532  entstan¬ 
denen  Landschaft  streitig  machen.  Künstlerisch  hat 
Altdorfer  indes  auf  alle  Fälle  in  dieser  köstlichen 
Vedute  sein  letztes  Wort  gesprochen.  Hier  und  in 
der  Folge  der  zehn  Landschaftsradirungen  erweist  er 


240 


EINE  ALTDORFER -BIOGRAPHIE. 


sich  als  der  Eröffuer  der  deutschen  Landschaftsmalerei, 
wie  man  an  die  Synagogenblätter  und  die  Binnen¬ 
raumdarstellung  eines  gotischen  Kirclrenchores  auf  der 
, Geburt  Mariä“  die  Emanzipation  der  Architektur¬ 


deutschen  nicht  nur  Studir-,  sondern  wahre  Genuss¬ 
bilder  zu  bieten  hat.  Doppelt  freut  es  uns  daher, 
dass  der  Historiograph  des  Malers  von  Regensburg 
neben  einem  methodisch  geschulten  Blick  ein  ent- 


I  '.i  '  I  I,-  lii'  f.i'biiil  Miiriii  ( Inniiililegalerie,  Augsburg.)  Narb  einer  l’botographie  des  Ilofpbotogi’aphen  Höfle  in  Augsburg. 


I  II!  (!!-r  (Iculscli'-n  Kunst  knüpfen  könnte.  Und 
M  ,i'  i.  .  Ine  T^iiinhcliaftcn  vor  allem,  in  denen  er  die 
iiiruli  11;-  Kiiipfindiing  für  die  ,natnre  vierge“  merk- 
s'»  iii-ii'j-  Irüiircif  vdiMiisnininit,  wendet  sich  Altdorfer 
,1)1  ii;is  iH  iillLc  Aiigi-,  di'in  er  ungleicli  anderen  Alt¬ 


schied  enes  Darstellungstalent  für  seine  Aufgabe  mit¬ 
gebracht  und  sich  ihr  dergestalt,  mag  sein  Erstlings¬ 
werk  auch  eine  tiefer  eindringende  Betrachtungs¬ 
weise  zuweilen  vermissen  lassen,  doch  litterarisch 
gewachsen  gezeigt  hat.  FOBERT  STTASSNY. 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


lE  schon  im  vorigen  Jahre 
auf  den  Ausstellungen  in 
Paris,  und  nicht  anders  in 
München,  Werke  fehlten, 
welche  die  Aufmerksamkeit 
derBesucher  in  besonders  her¬ 
vorragendem  Maße  zu  fesseln 
und  lebhafte  Meinungsver¬ 
schiedenheiten  hervorzurufen  geeignet  gewesen  wären, 
so  auch  in  diesem  Jahre.  Bei  dieser  Wiederholung 
ist  die  Pause  kaum  mehr  als  etwas  Zufälliges  an¬ 
zusehen.  Die  große  Spaltung,  welche  vor  drei 
Jahren  von  Paris  aus  sich  durch  die  ganze  Künstler¬ 
schaft  Europa’s  fortgepflanzt  hat,  war  nur  die  zufällig 
gerade  zu  dieser  Zeit  eintretende  Folge  lange  vor¬ 
handener  Gegensätze.  Dieselben  haben  sich  in 
großen,  allgemeines  Aufsehen  erregenden  Werken 
ausgesprochen,  und  es  ist  eine  Zeit  des  Ah  Wartens 
gekommen.  Der  Hauptreiz  der  diesjährigen  Pariser 
Ausstellungen  ist  der,  zu  sehen,  wie  sich  die  Mars¬ 
feldkünstler  in  den  neuen  Verhältnissen  ihrer  geson¬ 
derten  Ausstellung  heimisch  einrichten,  und  wie  auch 
im  alten  Salon  der  Champs  Elysees  die  neuen  Ideen 
sich  allmählich  Eingang  verschaffen.  Die  Trennung 
ist  in  Paris  ebensowenig  wie  bei  uns  in  Deutsch¬ 
land  eine  künstlerisch  haarscharf  durchgeführte; 
vielfach  haben  persönliche  Gründe  für  die  einzelnen 
Künstler  mitgesprochen,  sich  der  einen  oder  der 
anderen  Partei  anzuschließen.  Auch  fällt  es  dem 
von  Deutschland  Kommenden,  da  wir  zum  Teil  noch 
tief  im  Zeitalter  der  Romantik  stecken,  auf,  wie 
modern  im  allgemeinen  auch  der  alte  Salon  ist. 
Die  Franzosen  sind  das  erstgeborene  Volk  unseres 
Jahrhunderts,  welches  aus  dem  Blutbad  zu  Ende 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  P.  IV. 


des  vorigen  her  vor  gegangen  ist.  Ja  es  will  manchmal 
scheinen,  als  wenn  die  Franzosen  immer  modern  in 
dem  heutigen  Sinne  gewesen  wären,  selbst  schon 
im  Mittelalter.  Das  scheint  mir  daher  zu  kommen, 
dass  die  Kunstwerke  denselben  spezifisch  französi¬ 
schen  Geist  atmen,  der  schon  in  der  gotischen 
Epoche  vollständig  ausgebildet  war.  Der  französische 
Geist  hat  aber  seit  dem  Zeitalter  des  Rokoko  eine 
Herrschaft  über  ganz  Europa  gewonnen,  und  das, 
was  wir  heute  modern  nennen,  ist  wesentlich  von 
demselben  durchsetzt  und  bedingt.  —  Wir  werden  aber 
dennoch  nicht  umhin  können,  die  beiden  Ausstellun¬ 
gen  in  den  Champs  Elysees  und  auf  dem  Champ 
de  Mars  als  zwei  verschiedene  individuelle  Erschei¬ 
nungen  zu  betrachten,  von  denen  namentlich  die 
letztere  sehr  bestimmte,  scharf  begrenzte  Charakter¬ 
züge  an  sich  trägt.  Überall  werden  wir  darauf  hin- 
weisen  müssen,  wie  verschieden  dieselbe  Art  von 
Gegenständen  in  den  beiden  Ausstellungen  behan¬ 
delt  ist.  Ganze  Kategorieen  von  Bildern  sind  in  der 
einen  mehr,  in  der  anderen  wenig  oder  gar  nicht  ver¬ 
treten.  Alle  diese  Betrachtungen  werden  uns  immer 
mehr  in  der  Überzeugung  bestärken,  dass  der  Gegen¬ 
satz  in  der  Künstlerschaft  seine  Ursache  nicht  in 
persönlicher  Streitsucht  der  einzelnen  Künstler  hat, 
sondern  dass  er  ein  naturnotwendiger  ist,  dessen 
Hervortreten  gar  nicht  zu  vermeiden  war,  und  diese 
Erkenntnis  wird  es  rechtfertigen,  wenn  wir  denselben 
überall  betonen. 

Die  Marsfeldausstellung  macht  einen  vornehmeren 
Eindruck,  insofern  die  Auswahl  der  aufnahmefähigen 
Arbeiten  eine  sehr  viel  strengere  gewesen  ist;  auch 
verfolgen  diese  Künstler  ganz  bestimmte  Ziele  und 
wollen  mit  ihrer  Ausstellung  künstlerische  Behaup- 

31 


242 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


tungen  aufstellen,  während  der  alte  Salon  den  ge¬ 
wöhnlichen  Stempel  eines  Kunstmarktes  an  sich 
trägt.  Dafür  ist  die  Marsfeldausstellung  aber  auch 
sehr  viel  einseitiger  und  für  den  Laien  uninteressanter. 
Nur  der  alte  Salon  enthält  das,  was  die  eigentliche 
Aufgabe  der  Kunst  sein  soll,  eine  erschöpfende 
Schilderung  von  dem  kulturellen  Lehen  und  Empfin¬ 
den  des  Volkes  zu  sein,  welches  sie  hervorhringt. 

Schon  dem  nur  äußerlich  beobachtenden  Auge 
machen  beide  Ausstellungen  einen  ganz  verschiedenen 
Eindruck,  im  alten  Salon  ist  bunte,  prächtige  Farben¬ 
freude  und  liebevolles  Eingöhen  auf  den  dargestellten 
Gegenstand,  während  auf  dem  Marsfelde  alles  in 
wenigen  hellen  Farben  matt  und  flach  gehalten  ist 
und  der  Künstler  nicht  über  die  Wirkungen  des 
Lichtes  hinausgeht,  wobei  es  ihm  meistens  ziemlich 
gleichgültig  ist,  oh  er  ein  Bildnis  oder  eine  Land¬ 
schaft  malt.  Es  ist  ganz  richtig,  dass  bei  der  Malerei 
vor  allem  das  spezifisch  Malerische  betont  werden 
soll;  aber  wir  wollen  hoffen,  dass  die  Künstler  nicht 
bei  den  Wirkungen  des  Lichtes  allein  stehen  bleiben 
werden,  sondern  die  Ausbildung  in  der  Darstellung 
desselben  nur  als  eine  Vorstufe  betrachten,  welcher 
sie  die  malerisch  ebenso  notwendige  Farbe  hinzu¬ 
fügen  werden:  von  dem  Inhalt  der  Bilder,  ohne  den 
eine  Kunst,  die  auf  Größe  Anspruch  erhebt,  nicht 
bestehen  kann,  vorläufig  noch  ganz  abgesehen.  Wir 
fassen  die  Marsfeldkünstler  als  solche  auf,  die 
methodisch  zu  Werke  gehen  und  eins  nach  dem 
anderen  ausbilden  wollen.  Wie  viele  sich  des  not¬ 
wendigen  weiteren  Weges  schon  jetzt  bewusst  sind, 
das  mag  freilich  dahingestellt  sein. 

Die  meisten  nehmen  die  gedankenlose  Phrase 
vom  .lahrhundertende  ernst  und  denken,  wie  es  im 
vorigen  .Jahrhundert  war,  so  muss  es  auch  in  diesem 
sein,  „das  Alte  stürzt,  und  neues  Leben  blüht  aus 
den  Ruinen.“  Aber  während  die  einen  in  ernster 
Arbeit  danach  ringen,  eine  neue  Art  zu  sehen  für 
die  Kunst  zu  entdecken,  gefallen  sich  die  anderen  in 
einer  kunterbunten  Tollheit,  in  der  alles  durchein¬ 
ander  geht.  Auch  diese  kann  man  ganz  ernsthaft 
reden  hören  von  dem  Leichnam  der  Kunst,  an  dem 
sie  Wiederbelebungsversuche  anstellen,  ohne  zu 
nifrken,  dass  dieselben  galvanisch  sind  und  niemals 
wirkliches  Leben  erzeugen  können.  Da  giebt  La 
Tonthn  eine  Prozession  von  Konfirmandinnen,  bei 
welclier  man  nichts  wie  von  der  Sonne  beschienene 
weiße  Schleier  sieht,  und  den  Kopf  einer  sterbenden 
Frau  in  einem  Wust  von  weißem  Bettzeug  und 
Gardinen;  da  malt  Haffriclti  seine  Bilder  in  Öl,  als 
wären  sie  mit  schwarzer  Kohle  und  Pastell  gezeichnet; 


da  verschwendet  Berton  sein  bedeutendes  Talent, 
um  die  Köpfe  seiner  sehr  lebendigen  Bildnisse  nur 
eben  aus  einem  Rembrandtartigen  braunen  Dämmer 
auftauchen  zu  lassen.  Rusinol  porträtirt  einen  wei߬ 
gekleideten  Herrn  vor  einer  weißen  Mauer  im  hell¬ 
sten  Sonnenschein.  Der  Belgier  Leon  Frederie  will 
es  einmal  mit  einer  vergessenen  Manier  versuchen 
und  wärmt  uns  den  bronzeartigen  Vortrag  und  die 
Typen  Botticelli’s  auf.  Der  Tollste  ist  wie  immer  der 
Amerikaner  Dannat,  der  sich  mit  Gewalt  in  eine  Art 
von  japanischem  Sehen  und  magnesiumartiger  Be¬ 
leuchtung  hineinschraubt.  So  hellblaue  Schatten 
wie  auf  seinen  Bildern  kommen  in  der  That  in  der 
Wirklichkeit  vor,  aber  nur  an  einzelnen  Stellen  und 
unter  besonderen  Umständen;  das  verallgemeinert 
und  ins  Unendliche  übertrieben  ist  widersinnig.  Dass 
diese  Maler  ganz  gut  anders  schaffen  können,  ohne 
das  Lebendige  des  Dargestellten  aufzugeben,  beweist 
Louis  Picard,  der  sich  sonst  nicht  genug  thun  kann 
in  dem  flachen  braunen  Dämmer  seiner  Bildnisse, 
an  dem  fein  und  sauber  ausgeführten  kleinen  Bildnis 
eines  Kindes.  Das  Publikum  hat  nicht  Unrecht, 
wenn  es  diese  Bilder  nicht  fertig  gemalt  nennt. 
Solche  Sonderbarkeiten  finden  sich  auch  im  alten 
Salon,  wie  die  blauen  Cypressen  von  Lehoux  oder 
das  Gemälde  von  Princeteau  mit  lebensgroßen  Ochsen, 
welche  einen  in  ihren  Stall  fallenden  Sonnenstreifen 
ebenso  erstaunt  betrachten  wie  der  Beschauer  diese 
braunen  Farbenmassen,  in  denen  er  nur  mit  großer 
Mühe  die  beliebten,  das  Roastbeef  spendenden  Vier¬ 
füßler  erkennt. 

Wer  die  Marsfeldausstellung  von  ihrer  besten 
Seite  kennen  lernen  will,  der  muss  vor  das  Gemälde 
von  Albert  Fourie  treten:  A  travers  bois.  Aus  dem 
Waldesdickicht  bricht  ein  Zug  von  vier  nackten 
Gestalten  hervor,  ein  Knabe,  welcher  einen  Esel 
führt,  ein  Knäblein,  welches  auf  demselben  reitet, 
eine  junge  Frau,  die  das  Kind  haltend  daneben  läuft, 
und  ein  Mädchen,  welches  ihr  zur  Seite  folgt.  Die 
goldenen  Sonnenstrahlen  brechen  durch  das  Blätter- 
gewirr,  betupfen  die  üppigen  Leiber  und  ver¬ 
golden  funkelnd  das  blonde  Haar  des  Kindes  und 
des  Mädchens.  Frische  Landluft  weht  uns  aus  den 
derben  Gesichtern  entgegen.  Weit  hinter  diesen  Ge¬ 
stalten  liegt  alles  Übergebildete  und  Krankhafte,  aber 
fern  ist  auch  jede  Roheit.  In  einer  reich  spenden¬ 
den  Natur  .sind  diese  vollen  Leiber  erblüht  und 
tummeln  sich  in  frischer  naturwüchsiger  Ausgelassen- 
lieit.  Man  könnte  das  Bild  als  ein  Prototyp  der 
ganzen  Richtung  nehmen,  auch  sie  bricht  hellleuch¬ 
tend  und  jubelnd  aus  dem  dunkeln  Walde  der  Ver- 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


243 


gangenheit  hervor  und  Avirft  sich  mit  jugendlicher 
Frische  der  Zukunft  entgegen. 

Die  Lichtwirkungen  sind  es  vor  allem,  welche 
die  Marsfeldkünstler  aufsuchen,  sei  es,  dass  sie  das 
fleckige  Sonnenlicht  unter  Bäumen  darstellen,  wie 
Binet  und  Änthonissen,  oder  die  bekannte  große 
Wäsche,  wie  der  Schwede  Edelfeldt,  oder  das  Gesicht 
eines  Leuchtturmwächters  bei  seiner  grünen  Laterne 
wie  Eichon-Brun  et.  Auch  der  Mondschein  wird  nicht 
mehr  poetisch-träumerisch,  sondern  allein  auf  seine 
matte  Wirkung  hin  gemalt,  wie  auf  dem  Bilde  von 
Binet,  welches  in  einem  Flusse  badende  Mädchen 
darstellt,  deren  Schamgefühl  nicht  zu  leiden  braucht, 
da  man  von  ihnen  fast  gar  nichts  erkennt. 

Die  Beherrschung  der  Technik  verleiht  fast  allen 
Bildern  des  Marsfeldes  den  Eindruck  einer  großen 
Sicherheit  und  Freiheit  in  der  Mache.  Was  diese 
Künstler  mit  technischen  Mitteln  ausdrücken  wollen, 
ist  oft  bis  zu  verblüffender  Wahrheit  erreicht;  ich 
glaube  kaum,  dass  niederströmender  Regen  jemals 
so  naturgetreu  gemalt  ist,  wie  in  dem  kleinen  Bilde 
von  Checa. 

Im  Zusammenhang  mit  den  angeführten  Bestre¬ 
bungen  werden  auch  rein  technische  Experimente 
versucht.  Emile  Bastien  Lepage  malt  Tafelbilder 
al  fresco.  Sehr  beliebt  ist  es,  eine  Technik  in  die 
andere  hinüber  spielen  zu  lassen,  wie  ein  Musik¬ 
virtuose  wohl  versucht,  ein  Instrument  durch  ein 
anderes  nachzuahmen.  Man  will  zuweilen  mit  der 
Ölfarbe  eine  pastellartige  Wirkung  erzielen,  wozu 
fast  immer  eine  übergelegte  Glasplatte  zu  Hilfe 
genommen  wird;  so  auf  den  Bildern  von  Gandara. 
Das  mag  den  Reiz  des  Ungewöhnlichen  haben,  im 
übrigen  sei  daran  erinnert,  dass  es  gerade  eine  Höhe 
der  Kunst  bedeutet,  die  Mittel  jeder  Technik  aufs 
äußerste  auszunutzen,  aber  sich  auch  darauf  zu  be¬ 
schränken.  Wie  man  Aquarell  als  solches  malt  und 
dabei  alle  seine  Vorzüge  herausfindet,  das  kann  man 
gerade  jetzt  auf  der  Berliner  Ausstellung  an  den 
schönen  Studien  Kröner’s  sehen.  Das  Pastell  ist  auf 
beiden  Ausstellungen  nicht  so  stiefmütterlich  be¬ 
handelt  wie  gewöhnlich  auf  den  deutschen,  nicht  in 
einen  abgelegenen  Winkel  verbannt.  Der  Saal  des 
Pastells,  dessen  eigentliche  Schönheit  in  der  Farbe 
liegt,  ist  der  einzige  farbige  in  der  Marsfeldausstel¬ 
lung.  Der  berühmte  Pastellist  Carrier- Bellen se  hat 
einen  herrlichen  weiblichen  Akt  vor  einem  weißen 
Vorhang  in  dieser  Technik  gemalt.  Reizende  Herbst¬ 
landschaften  hat  Iwill  darin  geschaffen  mit  vielen 
harmonisch  gestimmten  Farbentupfen.  Das  Pastell 
hat  auch  noch  den  Vorzug,  selbst  die  Tollsten  in 


ihren  Ausschreitungen  zu  beschränken,  weil  es  über 
gewisse  Wirkungen  nicht  hinausgehen  kann. 

Auch  im  alten  Salon  befleißigt  man  sich  der 
Übung  im  Pastell  und  in  Gouache  oder  Gouache  mit 
Aquarell  kombinirt,  seltener  Aquarell  allein.  So  schön 
die  Farbe  des  Pastells  ist,  für  die  meisten  Gegenstände 
fehlt  ihm  die  Transparenz.  Es  gelingt  nur  selten, 
darin  einen  Akt  so  lebendig  zu  malen,  wie  es  Gilbert 
in  seinem  unter  einem  japanischen  goldgelben  Schirm 
liegenden  Mädchen  gelungen  ist.  Das  Bild  hat  noch 
außerdem  das  Verdienst,  die  Farbe  des  Körpers  nicht 
durch  die  ähnliche,  aber  brillantere,  des  Schirmes  ab¬ 
schwächen  zu  lassen,  vielmehr  erscheint  dieselbe 
gegen  diesen  Hintergrund  um  so  zarter  und  duftiger. 
Auch  für  Blumen  ist  das  Pastell  nicht  im  stände, 
die  letzten  Wirkungen  zu  erzielen,  da  die  moderne 
Kunst  mit  Recht  über  die  Anforderungen  der  be¬ 
rühmtesten  Blumenmaler,  der  Holländer  des  17.  Jahr¬ 
hunderts,  hinausgegangen  ist,  und  neben  der  schönen 
Zeichnung  und  Farbe  die  tauige,  duftige  und 
lebende  Naturfrische  verlangt. 

Das  Blumenstück  ist  die  Freude  des  alten  Salons, 
aber  nicht  als  Stillleben,  wie  meistens  bei  uns,  sondern 
als  blühender  Garten  oder  als  Verkaufstelle  für  Blu¬ 
men,  wie  es  Rozier  und  Tlnmier  gemalt  haben.  Be¬ 
sonders  beliebt  sind  noch  immer  Chrysanthemum  und 
Stockrosen,  de  Schräger  giebt  einen  Blumenkorso  im 
Bois  de  Boulogne,  Monginot  setzt  das  prächtige  Ge¬ 
fieder  eines  Pfaues  mit  Blumen  in  Einklang.  Die 
Farbenfreude  des  alten  Salon  macht  sich  auch  ira 
Kostümbild  geltend.  Das  Beste  hat  darin  Eoyhet  in 
seinen  Propos  galants  geleistet.  Ein  Trompeter  des 
30jährigen  Krieges  macht  dieselben  einer  dicken 
Küchenfee,  welche  mit  blutigen  Händen  und  in  über 
dem  fetten  Busen  offen  stehendem  Gewände  einen 
Hahn  rupft.  Es  ist  eine  Rubens’sche  Pracht  und 
Kraft  in  dem  Bilde,  derb  und  plebejisch  ist  das  Weib, 
wie  auf  einem  Bilde  von  Jordaens. 

Auch  zu  der  Lieblingsaufgabe  der  französischen 
Kunst,  dem  weiblichen  Akt,  verhalten  sich  beide 
Ausstellungen  sehr  verschieden.  Gemeinsam  ist  bei¬ 
den,  dass  sie  denselben  nur  sehr  selten  naturalistisch 
malen,  sie  bleiben  nicht  gern  bei  der  Wiedergabe 
des  Modells  stehen.  Als  Ausnahme  wären  unter  den 
Jungen  Moutte  zu  nennen  und  Rousseau,  der  eine 
sterbende  Nana  ihren  verbrauchten  Körper  auf  das 
ärmliche  Bett  hat  werfen  lassen,  unter  den  Alteren 
Gugon  mit  einem  gähnenden  Modell.  Es  hat  sich 
zu  tief  in  das  Bewusstsein  der  französischen  Künstler 
geprägt,  im  weiblichen  Akt  eine  Haupterscheinung 
der  Schönheit  zu  sehen.  Der  Hauptreiz  des  Aktes 

31* 


244 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


liegt,  außer  in  der  Farbe,  in  der  schönen  Modellirung 
und  Bewegung,  und  beidem  geben  die  Marsfeld¬ 
künstler  aus  dem  Wege.  Daher  verwenden  sie  den 
Akt  fast  nur  in  dekorativen  Gemälden  oder  malen 
ganz  junge  Mädchenkörper,  wozu  sie  häufig  die 
keusche  Diana  als  Vorwand  nehmen,  die  seit  alters- 
her  in  Frankreich  eine  beliebte  Figur  ist,  so  Duhufe 
fls  und  31.  B.  de  Llonvel.  Im  alten  Salon  dagegen 
wird  man  nicht  müde,  den  nackten  weiblichen  Körper 
zu  schildern.  Auch  hier  bevorzugt  man  kaum  ent¬ 
wickelte  jungfräuliche  Körper.  Bald  sind  es  badende 
Mädchen,  bald  Sirenenjungfrauen  am  Ufer  des  Meeres, 
bald  Nymphen  am  Teich.  Das  ergiebigste  Aktbild 
ist  von  Lc  Quesne.  Es  stellt  nach  einem  Gedicht 
von  Dubut  de  Laforest  die  Töchter  des  Menestho 
vor,  die  aus  einer  am  Ufer  des  Meeres  liegenden 
Riesenmuschel  hervorkommen.  Herrlich  stehen  die 
graziös  bewegten  blassgelben  Leiber  gegen  das  rosige 
Innere  der  Muschel  oder  gegen  die  transparenten 
grünen  Wellen,  in  schön  verschlungener  Gruppe 
laufen  die  vordersten  über  den  nassen  Strand.  Wie 
Blüten  erscheinen  die  nackten  Knaben  von  Salvador- 
31ege  und  das  Mädchen  von  Jacquessoyi  de  la  Chevreuse 
unter  oder  in  den  Zweigen  von  Blütenbäumen.  Auf 
Jam  ins  kleinem  Bilde  betrachtet  Brennus  lachend 
seinen  Teil  der  Beute  bei  der  Eroberung  Roms, 
eine  Gruppe  schöner  gefesselter  Sklavinnen.  3'Iartcns 
wollte  einen  nackten  Körper  auf  weiß  malen,  hätte 
aber  besser  gethan,  die  unwahrscheinliche  Situation 
eines  entkleideten  Mädchens  im  Walde  auf  Schnee 
liegend  zu  vermeiden  und  dieselbe  in  das  warme, 
ebenfalls  weiße  Bett  zu  legen.  Den  schönsten  Akt 
hat  Henri  Rcjyer  gemalt,  ein  Mädchen  im  Walde 
stehend  und  das  Haar  mit  Blüten  schmückend. 
Sie  befindet  sich  im  dämmerigen  Schatten  der  Bäume, 
durcli  welchen  nicht  die  häs.slichen,  im  neuen  Salon 
beliebten  Sonnenflecke  hindurchdringen  können;  in 
sanften  l’bergängen  ist  die  edle  Gestalt  modellirt. 
Weibliche  Körper  kräftig  bewegt  giebt  Luminais  in 
seinen  Amazonen,  die  sich  verzweifelt  zu  Pferde  in 
den  Abgrund  stürzen.  Wie  diese  energisch  gezeichnet 
und  kräftig  modellirt  sind,  kommen  aber  auch  flaue 
und  süßliche  Akte  vor,  z.  B.  von  Tony  Tollet,  Saint- 
jiierre,  Peiranlt  und  Piol.  Das  Gemälde  des  letzteren, 
ein  halb  entblößtes  Mädchen  in  einem  Lehn.stuhl, 
zeichnet  sich  jedoch  durch  eine  schöne  Farben¬ 
wirkung  aus  des  schwarzen  Samtkleides,  des  roten 
Tuches  und  des  goldig  leuchtenden  Fleisches.  In 
der  Far})e  dekorativ  verwertet  sind  ein  goldiger 
weiblicher  und  ein  brauner  männlicher  Akt  in  dem 
Bilde  von  Julian  Story,  welches  in  der  Wiedergabe 


eines  Fauns  und  einer  Nymphe  gerade  noch  den  rich¬ 
tigen  Augenblick  erwischt  hat,  ehe  die  Scene  undar¬ 
stellbar  wird. 

Freuen  wir  uns  der  reichen  Fülle  der  Akte, 
welche  in  Paris  gemalt  wird,  denn  sie  halten  den 
Idealismus  in  der  Malerei  aufrecht,  selbst  der  Mars¬ 
feldkünstler  kann  sich  dem  nicht  entziehen.  Der 
Franzose  durchdringt  seine  ganze  künstlerische  Her¬ 
vorbringung  fast  unwillkürlich  mit  einem  poetischen 
Empfinden,  und  poetische  Gegenstände  sind  in  der 
französischen  Kunst  sehr  beliebt.  Vielen  Bildern, 
vielen  Statuen  sind  zur  Erläuterung  Verse  beige¬ 
geben,  auch  wenn  das  Werk  nicht  eine  Illustration 
zu  denselben  ist.  Diese  Poesie  hat  auch  viele  Bilder 
des  Marsfeldes  übergoldet.  Darin  ist  vor  allem  der 
Meister  Dagnan-Bouveret  zu  nennen.  Am  Rande 
eines  Waldes  hat  er  auf  seinem  Bilde  Hirten  ver¬ 
sammelt,  deren  einer  sich  in  ihre  Mitte  gestellt  hat 
und  die  Geige  spielt.  Die  Köpfe  tragen  realistische 
Züge,  aber  sie  sind  flach  gemalt  und  der  dämme¬ 
rige  Vortrag  ist  sehr  geschickt  benutzt,  um  eine 
poetische  Stimmung  hervorzurufen.  Man  glaubt  die 
sanfte  Melodie  der  Geige  zu  hören,  man  glaubt  den 
verschönenden  Hauch  der  Musik  in  den  Seelen  dieser 
einfachen  Leute  zu  spüren.  Vortrefflich  eignet  sich 
die  Malweise  des  Marsfeldes,  das  Flache,  Körperlose, 
zu  'Gegenständen ,  wie  der  von  Sala  behandelte, 
welcher  den  Tau  als  halbdurchsichtige  weibliche 
Gestalten  auf  einer  Wiese  liegend  und  wandelnd 
oder  im  Nebel  dahinschwebend  darstellt.  Im  alten 
Salon  ist  die  größte  Zahl  der  Bilder  poetischen  Ge¬ 
haltes  zu  finden.  Mehrfach  ist  die  Sage  vom  Faden 
der  heiligen  Jungfrau  behandelt,  wie  sie  über  die 
Wiesen  geht,  die  vom  Fell  der  weidenden  Schafe 
an  den  Büschen  und  Kräutern  hängen  gebliebenen 
Wollflocken  sammelt  und  zu  einem  Faden  verspinnt, 
mit  dem  sie  das  Symbol  ihrer  Reinheit,  die  Lilien, 
zusammenbindet.  So  lässt  sie  Perrin  an  drei  Mäd¬ 
chen  vorübergehen,  die  erschreckt  und  erstaunt  über 
die  Erscheinung  aufgesprungen  sind;  erst  eine  hat 
Zeit  gefunden,  sich  betend  niederzuwerfen.  Laugee 
hat  diese  Legende  etwas  anders  gefasst.  Bei  ihm 
ist  es  Abend,  und  die  heilige  Jungfrau  wandelt  un¬ 
beobachtet;  der  Schäfer,  der  in  seiner  Hütte  betet, 
sieht  sie  nicht.  Eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem 
Bilde  von  Sala  hat  das  von  Fh-anc  Lamy.  Nackte 
weibliche  Gestalten  liegen  und  wandeln  auf  einer 
Wald  wiese,  die  in  blauem  Dämmer  daliegt:  es  sind 
die  Geister  der  Blumen.  Sehr  schön  ist  es  erdacht, 
dass  die  vorderen  sich  im  Schatten  befinden,  während 
die  Leiber  der  rückwärtigen  sonnenbeschienen  hervor- 


BÜCHERSCHAU. 


245 


leuchten.  Einen  antiken  Stoff  hat  Bouguereau  be¬ 
handelt;  junge  griechische  Mädchen  bringen  dem 
Gott  Amor,  der  auf  einem  Altar  steht,  Opfergaben 
dar.  Auch  in  diesem  Gemälde  Bouguereaii’s  ist  die 
glatte  und  süßliche  Form  wieder  wett  gemacht  durch 
einen  reichen  Gehalt  tiefer,  zarter  und  inniger  Poesie. 
Sonderbarkeiten  kommen  auch  unter  diesen  poeti¬ 
schen  Bildern  vor.  Sinihaldi  lässt  sieben  halb  ideal 
halb  nach  der  neuesten  Empiremode  gekleidete  Mäd¬ 
chen  in  einer  blühenden  Frühlingslandschaft  über 
einen  Hügel  gehen,  während  die  Tiefe  der  Land¬ 


schaft  in  rosigem,  nur  zu  rosigem  Nebel  liegt,  durch 
den  Soldaten  ziehen,  und  betitelt  dieses  Bild  Aurora. 

Der  französische  Künstler  hat  in  diesem  reichen 
Gehalt  von  poetischem  Empfinden  seines  Volkes 
eine  wohlthätige  Sonne.  Dieselbe  kann  wohl  für 
Zeiten  hinter  Wolken  verschwinden,  um  rein  tech¬ 
nischen  Versuchen  das  Feld  zu  lassen;  sie  beginnt 
aber  auch  auf  dem  Marsfelde  schon  wieder  hervor¬ 
zutreten  und  die  Gemälde  desselben  mit  ihrer  Schön¬ 
heit  zu  übergolden. 

MAX  GEORG  ZIMMERMANN. 


BÜCHERSCHAU. 


EIT  Vosmaer  im  Jahre  1868 
zum  erstenmal  eine  um¬ 
fassende  Biographie  Rem- 
brandt’s  herausgegeben  hat, 
ist  erst  in  unseren  Tagen 
wieder  der  Versuch  gemacht 
worden,  das  Leben  und  Wir¬ 
ken  des  holländischen  Mei¬ 
sters  in  großem  Stile  zu  schildern.  Der  bekannte  franzö¬ 
sische  Maler  und  Kunstschriftsteller  Emile  Michel  V  hat 
diesen  Versuch  gewagt  und  in  dem  unten  citirten  Buche, 
das  die  Verleger  mit  prächtigem  Bilderschmuck  aus¬ 
gestattet  haben,  bewiesen,  dass  er  mit  Urteil  und  Ge¬ 
schmack  den  mannigfachen  Ergebnissen  der  Rem- 
brandtstudien  während  fünfundzwanzig  Jahren  gefolgt 
ist.  Wiewohl  es  schon  Vosmaer  und  noch  vor  ihm  in 
einem  geistreichen  Essay  Kolloff  gelungen  war,  das  Bild 
Rembrandt’s  als  Künstler  in  den  wesentlichen  Zücken 
richtig  zu  zeichnen,  so  sind  doch  die  Ergebnisse  der 
archivalischen  und  stilkritischen  Bemühungen  jün¬ 
gerer  Forscher  so  belangreich  und  auf  klärend  o-e- 
wesen,  dass  die  Forderung  nach  einer  neuen  Rem- 
brandt- Biographie  auf  breiterer  Grundlage,  als 
Vosmaer  sie  schreiben  konnte,  immer  dringender  ge¬ 
worden  ist.  Unermüdlich  auf  seinen  Kreuz-  und 
Querzügen  durch  die  kontinentalen  Kunstsammlun¬ 
gen  hat  Wilhelm  Bode  das  Werk  Rembrandt’s  außer¬ 
ordentlich  vermehrt.  Ganze  Folgen  versteckter  oder 
verkannter  Bilder,  wie  zum  Beispiel  diejenigen  aus 
der  Jugendzeit  Rembrandt’s,  hat  er  ihrem  Urheber 
wiedergegeben  und  sie  rühmend  ans  Licht  gezogen. 
Abraham  Bredius  hingegen  danken  wir  die  Kenntnis 
zahlreicher  neuer  Urkunden,  die  uns  in  das  Leben 


1)  Rembrandfc ,  sa  vie,  son  oeuvre  et  son  temps.  Mit 
343  Illustrationen.  Paris,  1893.  Hachette  et  Cie. 


des  Künstlers  neue  überraschende  Blicke  thun  lassen 
und  uns  aufklären  über  Rembrandt’s  Beziehungen 
zu  zeitgenössischen  Malern.  Zahlreiche  Einzelunter¬ 
suchungen  sind  hinzugekommen.  Namentlich  das 
Radirwerk  hat  eine  gründliche  Revision  erfahren, 
seit  Middleton  und  Seymour-Haden  mit  ihren  Zwei¬ 
feln  zur  Kritik  des  alten  Bartsch  aufforderten,  und 
seit  Dmitri  Rovinski  in  seinem  Codex  von  Repro¬ 
duktionen  alter  Radirungen  mit  Berücksichtigung 
sämtlicher  Zustände  ein  jedem  Forscher  und  Sammler 
unentbehrliches  Corpus  herausgegeben  hat.  Von 
diesen  wichtigen  Vorarbeiten  ist  von  Seidlitzens 
feine  Analyse  der  Radirerthätigkeit  Rembrandt’s  aus¬ 
gegangen.  Nur  ein  Gebiet  der  künstlerischen  Hinter¬ 
lassenschaft  Rembrandt’s  harrt  noch  der  vorsichtigen 
Nachprüfung:  die  Menge  seiner  Zeichnungen.  Zu 
groß,  viel  zu  groß  ist  noch  die  Summe  dieser  Zeich¬ 
nungen.  Eigenes  und  Fremdes,  Echtes  und  Falsches 
liegen  in  den  meisten  Kabinetten  noch  friedlich 
nebeneinander.  Aber  auch  hier  wird  Rat  geschaffen 
werden;  bietet  doch  Lippmann’s  große  Publikation 
der  Zeichnungen  Rembrandt’s  durch  die  Vortrefflich¬ 
keit  ihrer  Faksimilereproduktionen  ein  Material,  mit 
dessen  Hilfe  das  vergleichende  Studium  der  Hand¬ 
zeichnungen  des  Meisters  sichere  Ergebnisse  er¬ 
hoffen  darf. 

Emile  Michel  hat  keine  Mühe  gescheut,  sich  die 
Fülle  dieses  weitverzweigten  Studienmaterials  zu 
Nutze  zu  machen.  Er  kennt  alles,  was  über  Rem- 
brandt  gedruckt  worden  ist,  hat  auf  vielfachen  Reisen 
den  Meister  in  seinen  Werken  studirt.  Die  eigene 
künstlerische  Vergangenheit  kam  ihm  bei  diesen 
Studien  hilfreich  zu  statten.  Das  eigene  Wissen  um 
die  malerischen  Dinge  —  als  Landschafter  im  Sinne 
der  Schule  von  Fontainebleau  hat  sich  Michel  aus¬ 
gezeichnet  —  stellte  ihn  in  engen  Rapport  zu  seinem 


246 


BUCHERSCHAU. 


Helden,  dessen  Studium  er  sich  mit  warmer  Be¬ 
geisterung  hin  gegeben  hat.  Michel  ist  frei  von  dem 
Wahne  eitler  Asthetisirerei,  die  in  dem  Künstler  eher 
einen  Poeten,  Philosophen,  Heiligen,  kurz  eine  Art 
Abgott  erblickt  als  einen  glücklichen  Menschen, 
dem  Katur  Empfindung  in  die  Seele  senkte  und  die 
wunderweckende  Kraft  lieh,  zu  gestalten,  was  er  als 
Künstler  empfand,  anschaulich  und  mitteilsam.  Eine 
seltene  Fähigkeit  feiner  Nachempfindung  zeichnet 
Michel  aus.  Daher  die  Wärme  seiner  Schilderung 
in  einem  Stile,  dessen  anschauliche  Kraft  und  Be¬ 
weglichkeit  des  Ausdrucks  den  geborenen  Schrift¬ 
steller  verrät  und  den  Künstler  nie  verleugnet.  Michel’s 
Rembrandt  ist  nicht  nur  gut  geschrieben  —  das  ist 
ja,  wenigstens  in  Frankreich,  für  den,  der  schreibt, 
selbstverständlich,  —  seine  Biographie  erhebt  selbst 
künstlei'ischen  Anspruch,  weil  sie  in  künstlerischer 
Empfindung  wurzelt  und  ihr  die  Kraft  innewohnt, 
diese  Empfindung  im  geschriebenen  Worte  durch¬ 
scheinen  zu  lassen. 

Dem  litterarischen  Werte  dieser  Veröffentlichung 
hält  der  wissenschaftliche  durchaus  die  Wage.  Denn 
—  ich  deutete  es  schon  an  —  Michel  schreibt  als 
ein  gut  Informirter.  In  seinem  kritischen  Urteil 
steht  er  im  allgemeinen  auf  dem  Standpunkte  Bode’s. 
Aber  in  allem  und  jedem  verrät  er  eigene  Nach¬ 
prüfung,  zeigt  überall  den  gewissenhaften,  selbständig 
wägenden  Verarbeiter  des  ungeheuren  Materials,  aus 
dem  sich  eine  großangelegte  Biographie  des  hol¬ 
ländischen  Meisters  aufbauen  muss.  Michel’s  alleiniges 
Eigentum  ist  die  geschickte  Gruppirung  des  Stoffes. 
Gleich  die  ersten  Kapitel,  die  von  dem  Milieu  handeln, 
aus  dem  Rembrandt  herauswächst,  und  die  Spuren 
seiner  ersten  Thätigkeit  verfolgen,  zeugen  fürMichel’s 
Stoffljeherrschung  und  gefällige  Kunst  einer  schlicht 
und  klar  sich  aufreibenden  Erzählung.  Nirgends 
überwuchern  kulturgeschichtliche  Betrachtungen  oder 
subtile  Detailuntersuchungen  den  ruhigen  Gang  der 
Schilderung,  stets  bleibt  Rembrandt  im  Mittelpunkt 
des  Interesses.  Findet  so  in  dieser  Biographie  der 
nach  guter  kunstgeschichtlicher  Arbeit  verlangende 
Gebildete  vollauf  seine  Rechnung,  so  geht  auch  der 
auf  kunstwissenschaftliche  Findlinge  auslugende  Fach¬ 
mann  nicht  leer  aus.  Im  Einzelnen  natürlich  wird 
er  manchen  Ausführungen  des  Verfassers  nicht  bei- 
stiimnen  und  vielleicbt  manche  Umwertung  der 
P»ilder  vornehmen,  auch  wohl  an  der  Chronologie 
inanclier  Werke  Anstoß  nehmen.  Aber  bei  einer 
im  Ganzen  so  vortrefflichen  Schilderung  überlasse 
ich  es  gern  anderen,  sich  mit  einzelnen  Bedenken 
ihr  kritisches  .Mütchen  zu  kühlen.  An  dieser  Bio¬ 


graphie,  die  unser  Wissen  von  Rembrandt  zusammen¬ 
fasst  und  erweitert,  kann  jeder  fernere  Biograph 
lernen,  keiner  wird  sie  ohne  Nutzen  und  Genuss 
aus  der  Hand  legen. 

Im  Anhänge  zu  seinem  Buche  hat  Michel  sorg¬ 
fältig  gearbeitete  Verzeichnisse  der  Werke  Rem- 
brandt’s  veröffentlicht,  die  gegenüber  den  früheren 
von  Vosmaer,  Bode  und  Dutuit  den  Vorzug  größerer 
Vollständigkeit  besitzen.  Etwa  450  Gemälde  führt 
Michel  an;  definitiv  ist  diese  Summe  freilich  nicht; 
in  der  großartigen  Publikation,  die  Bode  über  Rem¬ 
brandt  vorbereitet,  wird  sie  jedenfalls  nicht  un¬ 
erheblich  gesteigert  werden.  Das  Verzeichnis  der 
Zeichnungen,  obwohl  weit  kritischer  gearbeitet  als 
dasjenige  von  Dutuit,  enthält  doch  noch  zu  viel,  das 
auf  seine  Authenticität  hin  noch  nicht  untersucht 
worden  ist.  Das  Verzeichnis  der  Radirungen  berück¬ 
sichtigt  überall  die  Einwände,  welche  in  den  letzten 
Jahren  gegen  die  Urheberschaft  Rembrandt’s  in 
verschiedenen  Fällen  geltend  gemacht  worden  sind. 
Den  Beschluss  macht  ein  V erzeichnis  der  Rembrandt- 
litteratur  von  Orlers’  Beschryving  der  Stadt  Leiden 
(1641)  bis  auf  die  Erscheinungen  des  Jahres  1892, 
wobei  insofern  eine  Kritik  geübt  wird,  als  Avertlose 
Erzeugnisse  wie  Lautner’s  „Verbolhornirung“  Rem¬ 
brandt’s  ausgelassen  sind. 

Für  die  Illustration  des  Werkes  sind  durchaus 
die  Hilfsmittel  der  photomechanischen  Technik  heran¬ 
gezogen  worden.  Die  Heliogravüren,  wenigen  Licht¬ 
drucke  und  die  Zinkätzungen  sind  vorzüglich  ge¬ 
druckt.  Mit  besonderer  Freude  betrachten  wir  die  Korn¬ 
hochätzungen  neben  den  gewöhnlichen  Autotypieen. 
Obwohl  auch  bei  uns  die  Kornmanier  bei  zinkogra- 
phischen  Vervielfältigungen,  wie  einige  Publika¬ 
tionen  der  Reichsdruckerei  zeigen  können,  vortrefflich 
geübt  wird,  suchen  wir  vergeblich  in  unseren  illu- 
strirten  Werken  nach  Beispielen  ihrer  Anwendung  i). 
Freilich  macht  der  Druck  dieser  Cliches  nicht  ab¬ 
zuweisende  Ansprüche  auf  gutes  Papier  und  sorg¬ 
fältigste  Zurichtung.  BIGHAJRD  ORAUL. 

Iiiber  regum.  Nach  dem  in  der  k.  k.  Universitätsbiblio¬ 
thek  zu  Innsbruck  befindlichen  Exemplare  zum  erstenmal 
herausgegeben  von  Dr.  Riid.  Hochcgc/er.  Mit  20  Faksimile¬ 
tafeln.  Leipzig,  0.  Harrassowitz,  1892.  4. 

Die  vorliegende  Publikation  enthält  eine  technisch  vor¬ 
züglich  gelungene  Faksimilewiedergabe  des  auf  der  Inns¬ 
brucker  Bibliothek  befindlichen  Blockbucbs,  das  unter  dem 


1)  Anm.  d.  Red.  Soviel  uns  bekannt,  werden  diese 
Kornätzungen,  außer  in  der  Reicbsdruckerei  die  nur  für  den 
Staat  arbeitet,  in  Deutschland  nirgends  gut  bergestellt. 


BÜCHERSCHAU. 


247 


Namen  des  „Liber  regum“  den  Kunstfreunden  bekannt  ist. 
Es  ist  einer  der  merkwürdigsten  jener  Sammelbände  von 
Holztafeldrucken,  welche  sich  aus  den  ältesten  Zeiten  der 
Xylographie  bis  auf  unseren  Tag  erhalten  haben.  Schon  der 
Seltenheit  des  Originals  wegen  muss  eine  solche  Vervielfäl¬ 
tigung  des  alten  Buches  hochverdienstlich  genannt  werden. 
Umsomehr,  wenn  sie  unter  Beibringung  eines  reichen  kri¬ 
tischen  und  exegetischen  Materials  geschieht,  wie  wir  es  von 
Hochegger  seiner  Publikation  hinzugefügt  finden.  Von 
dem  „Liber  regum“,  welches  in  dem  vorliegenden  Exem¬ 
plar  zwanzig  Tafeln  mit  je  zwei  Bildern  und  kurzen  Texten 
zur  Geschichte  des  David  enthält,  haben  sich  im  ganzen 
(soweit  unsere  bisherige  Kenntnis  reicht)  nur  fünf  Exemplare 
noch  erhalten:  in  Innsbruck,  in  der  Hofbibliothek  zu  Wien, 
beim  Herzog  von  Aumale  in  Twickenham,  im  k.  Kupfer¬ 
stichkabinett  zu  Bei’lin  und  in  der  Bibliothek  des  Vatikans. 
Das  Innsbrucker  ist  neben  dem  Exemplar  des  Herzogs  von 
Aumale  das  an  Vollständigkeit  und  Erhaltung  beste  der 
Reihe.  Es  zeigt  uns  den  Holzschnitt  in  jener  derben,  aber 
ausdrucksvollen  Umrissmanier,  wie  sie  bis  über  die  Mitte 
des  15.  Jahrhunderts  in  Deutschland  die  allein  herrschende 
war.  Und  einem  deutschen  Meister  muss  ohne  Zweifel 
Zeichnung  wie  Schnitt  unseres  Blockbuches  zugeschrieben 
werden.  Fi’eilich  steht  derselbe  dem  Illustrator  der  „Biblia 
pauperuni“  nach,  jedoch  keineswegs  auf  ganz  niedriger  Stufe: 
die  Bilder  ,, verraten  viel  Eigenait  in  der  Komposition  und 
vor  allem  eine  gewisse  individuelle  Färbung“.  Charakter 
und  Gemütsverfassung  der  Personen  sind  scharf  und  fein 
unterschieden,  die  Situationen,  die  verschiedenen  Stände  vor¬ 
trefflich  und  nicht  ohne  Humor  gekennzeichnet;  bei  Wieder¬ 
holungen  ähnlicher  Motive  ist  eine  glückliche  Abwechselung 
erreicht.  Nur  in  den  Proportionen  zeigt  sich  ein  arges  Un¬ 
geschick,  auch  das  Landschaftliche  ist  noch  sehr  dürftig.  — 
Dass  der  „Liber  regum“  sich  mit  der  „Ars  memorandi“ 
mehrfach  in  einem  Sammelbande  vereinigt  findet  und  des¬ 
halb ,  sowie  auch  aus  anderen  Gründen,  wahrscheinlich  mit 
dieser  aus  einer  und  derselben  Werkstätte  herrührt,  hat 
Hochegger  bereits  in  seiner  früheren  Schrift  über  die  „Ent¬ 
stehung  und  Bedeutung  der  Blockbücher“,  wie  uns  dünkt, 
mit  Glück  dargelegt.  Hingegen  können  wir  unserem  Herrn 
Referenten  über  die  damalige  Schrift  Hochegger’s  nicht  bei¬ 
pflichten,  wenn  er  auch  die  Ansicht  des  Autors,  dass  die 
Blockbücher  von  Haus  aus  „Unterrichtsbehelfe“  gewesen  seien, 
für  erwiesen  hält.  Uns  scheint  damit  die  Bestimmung  dieser 
Bilderbücher  zu  eng  gefasst  zu  sein.  Sie  waren  —  das  geht 
aus  ihrem  fast  ausschließlich  religiösen  Inhalt  klar  hervor 
—  in  erster  Linie  zur  Erbauung  und  Belehrung  des  Volks, 
zur  Unterweisung  desselben  in  den  Heilswahrheiten  und  in 
den  Erzählungen  der  heiligen  Schrift  bestimmt.  Diesen  lehr¬ 
haften  Zweck  im  religiösen  Sinne  darf  man  aber  nicht  als 
einen  ausschließlich  didaktischen  in  der  heutigen  Bedeutung 
des  Wortes  auffassen  und  etwa  bloß  an  Lehrbücher  für  die 
Jugend  denken,  wozu  der  von  Hochegger  gebrauchte  Aus¬ 
druck  „Unterrichtsbehelfe“  leicht  verleiten  könnte.  Es  ist 
möglich,  dass  einige  der  Blockbücher,  z.  B.  die  „Ars  memo¬ 
randi  per  figuras  Evangelistarum“,  in  das  ausschließlich  di¬ 
daktische  Gebiet  fallen.  Aber  bei  anderen,  wie  der  „Ars 
moriendi“  oder  dem  „Speculum  humanae  salvationis“  ist  der 
spezielle  Unterrichtszweck,  wenn  nicht  ausgeschlossen,  so 
doch  sicher  nicht  die  Hauptsache  gewesen.  Sie  waren  viel¬ 
mehr  in  erster  Linie  Erbauungsbücher.  Der  „Liber  regum“ 
hält  offensichtlich  die  Mitte  zwischen  Erbauung  und  Beleh¬ 
rung.  Er  führt  uns  die  bedeutsamsten  Momente  aus  der 
Geschichte  David’s  nach  den  „Büchern  der  Könige“  des  Alten 
Testaments  in  Bildern  vor,  mit  unten  hinzugefügten  Texten, 


die  jedoch  von  den  Kapiteln  der  Bibel  nur  dürftige  Inhalts¬ 
angaben  bieten.  Die  religiöse  Bedeutung  des  Ganzen  beruht 
namentlich  auf  der  vorbildlichen  Beziehung  der  Königs¬ 
bücher  zu  der  Geschichte  Christi.  David  galt,  als  der  Be¬ 
sieger  Goliath’s,  für  das  Vorbild  des  Heilands,  als  des  Be- 
kämpfers  der  Irrlehren  und  des  Teufels.  „Der  widerspen¬ 
stige  Absalom  gleicht  den  Juden,  welche  sich  gegen  Christus 
auflehnten,  und  Salomo  versinnbildlicht  die  Weisheit  Christi.“ 
ln  diesem  Sinne  also,  als  Mittel  der  Unterweisung  des  Volkes 
in  der  Heilslehre,  als  Einführung  in  den  geistigen  Zusam¬ 
menhang  der  biblischen  Welt  durch  typologisch  geordnete 
Bildergruppen  und  Bilderreihen,  hat  man  den  didaktischen 
Zweck  der  alten  Blockbücher  aufzufassen.  Und  —  beiläufig 
bemerkt  —  in  dieser  Weise  könnten  sie  mit  ihrem  klar  ge¬ 
ordneten  Gedankeninhalt  und  Bilderschmuck  auch  für  unsere 
Zeit  wieder  vorbildlich  werden ,  wenn  man  sie  in  den  heu¬ 
tigen  Bilderbuchstil  mit  edlem  Geschmack  zu  übertragen 
verstünde.  c.  v  L. 

Wilhelm  Kaulbach  von  Hans  Müller.  1.  Band.  Mit 

Kaulbach’s  Selbstbildnis  vom  Jahre  1824.  Berlin  W. 

F.  Fontane  &  Co.  1893.  8'’.  (111.  572  S.) 

Bei  keinem  anderen  deutschen  Künstler  hat  sich  die 
allgemeine  Wertschätzung  seiner  Bedeutung  so  rasch  in  das 
Gegenteil  verkehrt,  wie  dies  bei  Wilhelm  von  Kaulbach  ge¬ 
schehen  ist.  Von  den  Zeitgenossen  als  der  erste  deutsche 
Maler  seiner  Zeit  gefeiert  und  populär  wie  kein  anderer  vor 
ihm  oder  irach  ihm,  wird  er  heute  nicht  nur  von  Künstlern, 
sondern  auch  von  den  Kunstkritikern  und  Laien  kaum  noch 
zu  den  Größen  zweiten  Ranges  gezählt  und  erst  weit  hinter 
Cornelius  genannt,  dessen  Ruhm  von  dem  seinigen  bei  seinen 
Lebzeiten  stark  verdunkelt  wurde.  Man  hat  sich  geeinigt, 
von  seinen  Schöpfungen  nur  noch  die  Zeichnung  zum  Narren¬ 
haus  und  zum  Verbrecher  aus  verlorener  Ehre,  die  Illustra¬ 
tionen  zum  Reineke  Fuchs  und  den  Karton  zur  Hunnen¬ 
schlacht  als  bedeutendere  Kunstwerke  gelten  zu  lassen  und 
alle  übrigen  Werke,  sogar  die  Zerstörung  Jerusalems  in  der 
Neuen  Pinakothek  in  München  und  die  Treppenhausbilder 
im  Neuen  Museum  zu  Berlin  als  mehr  oder  minder  bedenk¬ 
liche  Leistungen  anzusehen.  Dieses  Urteil  dürfte  auch  in 
der  Zukunft  kaum  als  zu  hart  empfunden  werden,  ja  es 
liegt  die  Möglichkeit  nahe,  dass  es  einst  noch  viel  schärfer 
ausfallen  könnte.  Trotzdem  wird  der  Name  Kaulbach  aus 
der  Kunstgeschichte  nicht  verschwinden,  vielmehr  wird  das 
Kapitel,  das  von  ihm  handelt,  stets  eines  der  wichtigsten 
bleiben,  weil  Kaulbach  wie  kein  anderer  Maler  zeitgemäß 
gewesen  ist  und  seine  Verirrungen  als  der  vollendetste  Aus¬ 
druck  der  damaligen  künstlerischen  Ideale  in  Deutschland 
erscheinen.  Aus  diesem  Grunde  muss  der  Gedanke,  Kaul¬ 
bach’s  Leben  und  Wirken  in  einer  umfassenden  Monographie 
därzustellen,  als  höchst  glücklich  bezeichnet  werden,  umso¬ 
mehr,  als  uns  eiir  solches  Werk  bis  jetzt  vollständig  gefehlt 
hat,  da  Karl  Stieler  die  geplante  Biographie  seines  Freundes 
nicht  geschrieben  hat  und  auch  sonst  nur  kürzere  Aufsätze 
über  den  Maler  veröffentlicht  worden  sind.  Leider  aber 
lässt  sich  nicht  behaupten,  dass  Hans  Müller  die  Aufgabe, 
die  er  sich  gestellt  hat,  geschickt  gelöst  habe.  An  gutem 
Willen  dazu,  das  muss  anerkannt  werden,  hat  es  ihm  aller¬ 
dings  nicht  gefehlt.  Er  hat,  soviel  wir  bemerken  konnten, 
aus  der  bisherigen  Litteratur  über  Kaulbach  nichts  Wesent¬ 
liches  übersehen  und  mit  großem  Fleiß  den  ganzen  schrift¬ 
lichen  Nachlass  des  Künstlers,  der  ihm  von  der  Familie  zur 
Verfügung  gestellt  wurde,  durchmustert.  Er  war  daher  in 
der  Lage,  eine  Menge  brieflicher  Mitteilungen  Kaulbach’s 
und  der  Seinen,  die  bis  jetzt  unbekannt  waren,  zu  veröffent- 


248 


BÜCHERSCHAU. 


liehen  und  uns  dadurch  intime  Einblicke  in  das  Seelenleben 
seines  Helden  zu  gewähren,  die  seine  Persönlichkeit  weit 
weniger  abstoßend  erscheinen  lassen,  als  sie  von  solchen, 
die  ihm  ferner  standen,  in  der  Regel  beurteilt  wurde.  Ein 
besonders  günstiges  Licht  fällt  nunmehr  auf  Kaulbach  als 
Sohn ,  Gatte  und  Familienvater ,  als  welcher  er  es  niemals 
an  liebevoller  Sorgfalt  und  werkthätiger  Teilnahme  hat 
fehlen  lassen.  Auch  verstehen  wir  jetzt,  nachdem  uns  Müller 
die  traurigen  Verhältnisse  in  seinem  elterlichen  Hause  und 
das  schwere,  zum  Teil  selbst  verschuldete  Schicksal  des 
Vaters  taktvoll  enthüllt  hat,  wie  Kaulbach  zu  seiner  Men¬ 
schenfeindlichkeit  und  zu  seinem  bitteren  Sarkasmus  kam, 
und  erkennen  ferner  den  inneren  Konflikt,  in  den  ihn  das 
Bewusstsein,  nicht  malen  zu  können,  und  doch  vor  die  Auf¬ 
gabe,  malen  zu  müssen,  gestellt  zu  sein,  versetzte.  Damit 
sind  wir  ein  gutes  Stück  in  dem  psychologischen  Verständ¬ 
nis  des  Künstlers  weiter  gekommen,  und  wir  wissen  uns  für 
diese  Förderung  Müller  zu  Danke  verpflichtet.  Dasselbe  gilt 
auch  von  den  auf  dem  Studium  der  Akten  in  der  geheimen 
Registratur  des  preußischen  Kultusministeriums  beruhenden 
i^litteilungen,  die  Müller  über  das  Wirken  und  die  Bestre¬ 
bungen  von  Cornelius  als  Direktor  der  Düsseldorfer  Aka¬ 
demie  gemacht  hat.  Das  betreffende  Kapitel  seines  Buches 
und  dasjenige,  in  welchem  von  den  von  dem  Maler  Kolbe  aus¬ 
gehenden  Gegenströmungen  gegen  die  Cornelius’sche  Karton¬ 
schule  die  Rede  ist,  können  als  entschiedene  Bereicherungen 
unseres  Wissens  rühmlich  her^orgehoben  werden.  Endlich 
darf  auch  auf  die  eingehende  Darstellung  des  freundschaft¬ 
lichen  Verhältnisses  hingewiesen  werden,  die  Müller  von  den 
Beziehungen  Kaulbach’s  zu  dem  Grafen  Raczynski  entworfen 
hat.  Die  Auszüge  aus  ihren  beiderseitigen  Briefen  wird 
jeder  mit  Interesse  lesen,  dabei  aber  auch  den  Eindruck 
gewinnen,  dass  Raczynski  Kaulbach  sehr  überschätzt  hat. 
Mit  diesen  Hinweisen  haben  wir  aber  auch  alles  erschöpft, 
Avas  wir  zur  Empfehlung  von  Müller’s  Arbeit  zu  sagen 
wüssten.  So  vielerlei  stofllich  interessante  Neuigkeiten  wir 
auch  aus  seinem  Buche  schöpfen  mögen,  so  wenig  ist  es  in 


formeller  Beziehung  befriedigend  ausgefallen.  Dem  Ver¬ 
fasser  fehlt  das  Vermögen,  die  Fülle  seines  Stoffes  künst¬ 
lerisch  zu  bewältigen,  und  die  Fähigkeit,  zu  beurteilen,  was 
wichtig  und  was  es  nicht  ist.  Man  merkt  es  beim  Lesen 
alle  Augenblicke,  dass  er  sich  reichliche  Auszüge  aus  dem 
handschriftlichen  Nachlass  gemacht  hat,  aber  man  bedauert 
es,  dass  er  der  Meinung  war,  alles,  was  er  sich  notirt  hatte, 
auch  in  sein  Werk  aufnehmen  zu  müssen.  Dazu  kommen 
die  vielen  Wiederholungen,  namentlich  da,  wo  Müller  von 
Kaulbach’s  Liebe  zu  seinen  Kindern  und  von  seinem  Fami¬ 
liensinn  spricht,  und  der  Mangel  einer  durchgeführten  Dis¬ 
position,  durch  die  die  übertriebene  Breite  des  Buches  hätte 
vermieden  werden  können.  Höchst  überflüssig  ist  das  sechste 
Kapitel,  in  dem  Müller  von  den  Kunstbestrebungen  König 
Ludwig’s  1.  in  München  handelt,  da  er  hier  längst  Bekanntes 
unnötig  ausführlich  aufs  neue  darlegt,  ohne  unser  Wissen 
in  irgend  einem  Punkte  zu  bereichern.  In  der  kritischen 
Würdigung  von  Kaulbach’s  Schöpfungen  steht  Müller  so 
ziemlich  auf  demselben  Standpunkt,  den  wir  oben  als  den 
allgemeinen  bezeichnet  haben.  Er  verschließt  sich  keines¬ 
wegs  vor  den  künstlerischen  Schwächen  seines  Helden,  aber 
wir  vermissen  den  Versuch,  die  Programm malerei  Kaul¬ 
bach’s  aus  der  Zeitströmung  zu  erklären.  Da  indessen  der 
noch  ausstehende  zweite  Band  der  Biographie  diesen  Mangel 
nachholen  kann,  wollen  wir  ihn  hier  bei  der  Würdigung 
des  ersten  Bandes  nur  angedeutet  haben.  Viel  zu  breit  er¬ 
scheinen  uns  die  Beschreibungen,  die  Müller  von  den  ein¬ 
zelnen  Werken  Kaulbach’s  giebt.  Zwanzig  Seiten  über  die 
Illustrationen  zum  Reineke  Fuchs,  das  dürfte  doch  des  Guten 
zu  viel  sein,  denn  wer  die  Bilder  nicht  kennt,  kann  sich 
von  ihnen  trotz  dieser  eingehenden  Schilderung  nur  einen 
unvollkommenen  Begriff  machen,  und  wer  sie  kennt,  der 
bedarf  ihrer  wiederum  nicht.  Eine  treffende,  knappe  Cha¬ 
rakteristik,  die  freilich  schwer  ist,  leistet  in  solchen  Fällen 
mehr,  als  derartige  langatmige  Erörterungen,  die  wenigstens 
für  uns  immer  etwas  Einschläferndes  haben. 

H.  A.  LIER. 


Horausgeber:  Carl  von  lAitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  Angust  Pries  in  Leipzig. 


MAX  LIEBERMANN. 

VON  LUDWIG  KAEMMERER. 


Der  realisfDcJ/e  Maler. 


„Treu  die  Natur  und  ganz!“  —  Wie  fängt  er’s  an: 
Wann  wäre  je  Natur  im  Bilde  alj(/efl/a)i? 

Unendlich  ist  das  kleinste  Stück  der  Welt!  — 

Er  malt  zuletzt  davon,  was  ihm  (jefüUt. 

Und  was  gefällt  ihm?  —  Was  er  malen  kann. 

(F.  Nietzsche,  Fröhliche  Wissenschaft,  S.  17.) 

1. 


AS  kann  Max  Liebermann?  Wenn  wir  uns 
bei  der  Würdigung  eines  Künstlers  stets  nur 
diese  einfache  und  doch  erschöpfende  Frage 
stellten,  um  sie  gründlich  zu  beantworten,  würde 
unsere  Kritik  zwar  wortärmer,  bliebe  aber  gerecht. 
Statt  dessen  liebt  man 
es,  zunächst  zu  erörtern, 
warum  ein  Künstler  so 
und  nicht  anders  die 
Natur  sehe,  spürt  den 
Einflüssen  nach ,  die 
seine  Auffassung  be¬ 
stimmten,  sucht  etwas 
zu  erklären,  bevor  man 
sich  von  dessen  Vor¬ 
handensein  und  Be¬ 
schaffenheit  deutlich 
Rechenschaft  gegeben. 

Gewiss  ist  das  künst¬ 
lerische  Schaffen  auch 
ein  geschichtliches 
Phänomen,  und  zu 
seiner  Erklärung  kann 
man  des  Handwerk¬ 
zeuges  historischer  Me¬ 
thode  nicht  entraten, 
die  Wirkung  von  In¬ 
dividuum  zu  Indivi¬ 
duum  wird  uns  aber 
niemals  geschichtlich, 
sondern  nur  psycholo¬ 
gisch  enthüllt  werden. 

Die  moderne  Psycho¬ 


logie 


Max  Liebermann.  Pastellbild  von  Fß.  v.  Uhde. 


hat  mit  gutem  Grund  und  reichem  Er¬ 
folg  den  Weg  des  Experiments  lietreten.  Exakte 
Beobachtung  und  Feststellung  der  Erscheinungen 
und  Thatsachen  muss  jeder  Schlussfolgerung  voraus¬ 
gehen.  Wenige  nur  wählen  diesen  sicheren  Weg, 

auch  bei  der  Kunst¬ 
betrachtung.  Man  ver¬ 
langt  vom  Kunstwerk 
selbst  und  unmittelbar 
die  Erklärung,  die  doch 
nur  die  nachfühlende 
und  nachdenkende  Ar¬ 
beit  des  Beschauenden 
geben  kann.  Wer  an 
die  Selbstthätigkeit  der 
Einbildungskraft  die 
geringsten  Anforde¬ 
rungen  stellt,  die  über¬ 
kommene  Art  zu  sehen 
am  wenigsten  antastet, 
ist  der  Held  der  Tages¬ 
kunst.  Die  überwie¬ 
gende  Masse  unseres 
Kimstpublikums  setzt 
sich  aus  gewohnheits¬ 
trägen  Behaglichkeits¬ 
schwärmern  zusam¬ 
men,  die  dem  aus  tief¬ 
ernster  Überzeugung 
Schaffenden  das  Recht 
dieser  Überzeugung 
verschränken,sobald  sie 
den  Zugang  zu  dersel- 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


32 


250 


MAX  LTEBERMANN. 


ben  uiclit  auf  den  ersten  Blick  finden,  denen  Lust,  Kraft 
und  Begabung  zum  Umlernen  fehlen.  So  begegnete 
man  auch  Liebermann’s  Leistungen  mit  Gleichgültig¬ 
keit,  Unmut  und  Widerspruch,  bis  die  Beharrlich¬ 
keit  seines  Schaffens  ihm  wenigstens  zu  dem  Ruhm 
des  Eigenwillens  verhalf  Als  wunderlichen  Kauz 
wird  man  ihn  verspotten  und  vergessen,  bis  man 
ihn  eines  Tages  als  historisches  Phänomen  wieder 
ausgräbt  und  mit  hämischem  Seitenblick  auf  die 
Beschränktheit  seiner  Zeitgenossen  auf  eine  Ruhmes¬ 
staffel  stellt,  die  seiner  Bedeutung  vielleicht  ebenso 
wenig  entspricht,  wie  seine  gegenwärtige  Missach¬ 
tung.  Da  lohnt  es  doch  der  Mühe,  heute,  wo  wir 
den  Menschen  Liebermann  in  Fleisch  und  Blut  vor 
uns  haben,  der  Kunsthistorie  späterer  Geschlechter 
vorzugreifen  und  uns  Rechenschaft  zu  geben  über 
die  Frage:  was  kann  Max  Liebermann?  ehe  sie 
lautet:  was  konnte  der  Verkannte? 

L)ie  hohe  geistige  Spannung  und  Hast,  in  der 
sich  die  Kunstentwickelung  unserer  Tage  vollzieht, 
verlangt  von  dem  Schafi'enden  ein  bewegliches  Tem¬ 
perament,  nervösen  Spürsinn,  Elastizität  zugleich 
mit  fester  Energie  und  ausdauernder  Widerstands¬ 
kraft.  Liebermann  l)esitzt  diese  Eigenschaften  in 
hohem  Maße.  Dazu  kommt  ein  wahnsinniger  Ehr- 
(jeiz  —  nach  seinem  eigenen  Geständnis  —  und  eine 
stets  bereite  Arl)eitslust.  Wenn  man  zu  seinem  Ber¬ 
liner  Atelier  in  der  Kaiserin- Augustastraße,  einer 
geräumigen  Glasveranda  mit  dem  Ausblick  in  einen 
meist  wäschebehangenen,  von  hohen  Häusermassen 
umzirkten  Hof,  hinaufsteigt,  findet  man  unter  einem 
Gewirr  von  holländischen  Pantinen,  Netzen  und  un- 
säglicliem  Gerümpel  an  Wänden  und  in  Winkeln 
eine  Unzahl  Bilder  und  Studien  aufgestapelt,  und 
inmitten  dieses  naturalistischen  Durcheinander  stets 
den  Künstler  emsig  vor  seiner  Staffelei.  In  letzter 
Zeit  erst  ist  er  mit  Bildnissen  hervorgetreten,  bis 
daliin  verließen  seine  Werkstatt  fast  ausschließlich 
holländische  Landschaften  und  Volksschilderungen. 
Man  hat  sich  deshalb  daran  gewohnt,  Liebermann’s 
Eigenart  nach  seinen  Stoffen  zu  kennzeichnen.  Er  • 
ist  und  bleibt  für  viele  und  namentlich  Fernerstehende 
der  einseitige  .Maler  des  verrotteten  Proletariats  in 
Stadt  und  Land,  der  holländischen  Invaliden  und 
Waisen,  der  Nachahmer  Millet’s  und  Israels’.  Als 
solcher  hat  er  sein(!  Aktennummer  im  kunsthisto¬ 
rischen  Kepositorium  der  Gegenwart  und  mit  echter 
Registratorenpedanterie  weist  ihn  die  Kritik  immer 
wieder  in  dies  Fach  zurück.  Auf  meinem  Schreibtisch 
liegt  ein  Stoß  ihn  ])etreffendcr  biographischer  Abhand¬ 
lungen  und  Einzelbesprechungen  seiner  Werke,  die 


sich  fast  durchgehends  zum  Ziel  setzen,  seine  Stoff¬ 
wahl  zu  rechtfertigen,  die  Krüppel  und  Spittler 
dem  Publikum  mundgerecht  zu  machen,  und  die 
Geister  der  altholländischen  Meister  beschwören,  um 
Liebermann  wenigstens  in  anständiger  Gesellschaft 
zu  zeigen.  Diese  Ehrenrettungen  wenden  sich  aller¬ 
dings  zumeist  an  Kreise,  vor  denen  der  Naturalist 
noch  immer  einen  litterarischen  Anwalt  braucht. 
Der  engere  Gerichtshof,  der  dem  Prozess  moderner 
Kunstentwickelung  aufmerksamer  gefolgt  ist,  wird 
ihrer  kaum  bedürfen.  Indes  giebt  es  Fälle,  wo  nach 
Voltaire  das  Überflüssige  ein  höchst  wichtiges  Ding 
ist,  und  so  wollen  auch  wir  die  geschichtliche  Not¬ 
wendigkeit  des  modernen  Verismus,  dessen  kräftig¬ 
ster  Vertreter  Liebermann  in  Deutschland  ohne 
Zweifel  ist,  wenigstens  in  Kürze  zu  erklären  ver¬ 
suchen. 

Das  Bestreben,  der  gesehenen  Natur  ihre  un¬ 
mittelbare  Wirkung  abziüauschen  und  alle  Kräfte 
darauf  zu  konzentriren ,  ihr  gleichwertig  nachzu¬ 
schaffen,  begegnet  uns  in  allen  Epochen  der  Kunst¬ 
geschichte  als  wichtigster  Entwickelungstrieb.  Das 
Ergebnis  dieses  Strebens  ist  abhängig  von  den  künst¬ 
lerischen  Mitteln,  der  Organisation  und  Erziehung 
der  Sinne,  dem  Temperament  und  der  geistigen  Bil¬ 
dung  der  Künstler,  und  zwar  schafft  sich  stets  das 
lebhaftere  Naturgefühl  reichere  technische  Mittel. 
Unser  Verhalten  der  Natur  gegenüber  in  Betrach¬ 
tung  und  Genuss  ist  nun  durchaus  verschieden  von 
dem  unserer  Voreltern.  Naturwissenschaftliche  Er¬ 
kenntnis  hat  unsere  Sinne  zu  schärferer  Beobach¬ 
tung  geweckt,  die  weichherzige  und  verschwommene 
Naturschwärmerei,  ein  Erbteil  der  Aufklärungs¬ 
epoche,  ist  intimer  Einzelbetrachtung  gewichen. 
Eine  Wiederentdeckung  der  unscheinbaren  Reize  des 
Naturlebens,  wie  sie  namentlich  dem  modernen  Gro߬ 
städter  sich  bieten,  wenn  er  befreit  vom  „Druck 
von  Giebeln  und  Dächern,  aus  der  Straßen  quetschen¬ 
der  Enge“  hinausdrängt  ans  Licht,  hat  begonnen. 
Ernste  Innigkeit  bildet  den  Grundzug  die,ses  Natur¬ 
gefühls,  das  zugleich  versetzt  ist  mit  der  aus  stillem 
Neid  und  scheuem  Mitleid  gemischten  Teilnahme 
an  dem  Geschick,  dem  Leben  und  Treiben  der  Natur¬ 
menschen,  der  Mühseligen  und  Beladenen,  die  gleich¬ 
wohl  frei  sind  von  den  Lasten  des  entnervenden 
Kulturlebens.  Und  doch  ist  dies  Empfinden  ver¬ 
schieden  von  dem  anderer  blasirter  Epochen,  ver¬ 
schieden  von  dem  eines  Calpurnius,  Theokrit  und 
Virgil,  verschieden  von  dem  eines  Teniers  und  Ostade, 
grundverschieden  von  der  Schäfergalanterie  des  acht¬ 
zehnten  Jahrhunderts,  zumal  wo  es  künstlerische 


MAX  LTEBERMÄNN. 


251 


Form  annimmt.  Denn  hier  —  und  das  ist  der  be¬ 
sondere  moderne  Zug  —  passt  es  die  letztere  dem 
Gegenstände  durchaus  an.  Man  begnügt  sich  nicht 
mit  sentimentaler  Nachdenklichkeit,  sondern  analy- 
sirt  mit  fast  wissenschaftlicher  Gewissenhaftigkeit 
Wesen  und  Gefühle  dieses  Menschenschlages,  sucht 
einen  unmittelbar  überzeugenden  künstlerischen  Aus¬ 
druck  dafür.  Und  gerade  hier  liegt  Liebermann’s 


zu  seinem  ersten  Bauernbilde  inspirirt  wurde.  Als 
er  in  Weimar,  wohin  er  nach  absolvirter  Gymnasial¬ 
zeit  und  einem  kurzen  Unterricht  bei  Steffeck  in  Berlin 
gegangen  war  und  wo  er  unter  Thumann  und  Pauwels 
zu  allem  anderen  eher  als  zu  unbefangener  Natur¬ 
betrachtung  an  geleitet  wurde,  nach  einer  heftigen 
Krankheit  zum  erstenmal  wieder  hinaus  ins  Freie 
durfte,  fesselte  ihn  —  man  begreift  die  dankbare 


"'""Ui 


V-  --i.  'u _ _ _ ^ - - 

Handzeichmiiig  von  Max  Liebermann. 


Bedeutung.  Nicht,  dass  er  beschwert  von  tiefsinni¬ 
ger  Reflexion  an  sein  Werk  ginge,  rein  malerisch 
bleibt  seine  Analyse,  sein  Suchen  nach  treffendem 
Ausdruck,  in  dem  ebenfalls  durchaus  modernen  Em¬ 
pfinden,  dass  das  Wesen  der  Dinge  notwendigerweise 
in  ihrer  äußeren  Erscheinung  zum  reinen  Ausdruck 
gelange.  Es  braucht  nicht  gesagt  zu  werden,  dass 
dieser  Standpunkt  für  den  bildenden  Künstler  der 
fruchtbarste  ist.  Liebermann  erzählt  gern,  wie  er 


Stimmung  des  aus  dem  Krankenzimmer  Befreiten  — 
der  Anblick  eines  Landmanns,  der  sein  Feld  bebaute, 
ihm,  der  niemals  etwas  von  Courbet  oder  Millet 
bisher  gesehen,  drängte  sich  unabweisbar  das  Gefühl 
auf:  das  musst  du  malen,  so  wie  es  hier  vor  deinen 
Augen  steht.  „Und  wie  er  musst’,  so  könnt’  er’s.“ 
Das  spricht  so  deutlich  für  die  Innerlichkeit  und 
Unmittelbarkeit  seines  Kunsttriebes,  dass  die  fable 
conveuue  von  der  verstandesmäßigen  oder  gar  ge- 


32* 


•252 


MAX  LIEBERMANN. 


schäftsmäßigen  ßerecbnung  in  seinem  Schaffen  da¬ 
mit  von  vornherein  als  Fabel  abgethan  wird.  Wer 
es  hören  will,  kann  sogar  Liebermann,  den  unver¬ 
besserlichen  Naturalisten,  von  seinem  „Ideal“  reden 
hören,  und  wer  Augen  bat,  zu  sehen,  wird  erkennen, 
dass  das  keine  Phrase  in  seinem  Munde  ist.  Hier 
und  da  betrachtet  man  das  Wort  Idealismus  heute 
noch  immer  als  Monopol  der  konturseligen  Gedanken¬ 
maler  und  vergisst,  dass  gerade  bei  diesen  oft  An¬ 
passung  und  Berechnung  jedes  ursprüngliche,  warme 
Kunstgefühl  uiederhalten.  Glücklicherweise  beginnt 
sich  die  Kunstkritik  allmählich  aus  dieser  Befangen¬ 
heit  der  Schlagwörterästhetik  zu  befreien,  und  durch 
das  fadenscheinige  Mäntelchen  irgend  eines  ■ — ismus 
wird  heute  die  Künstlerpersönlichkeit,  die  darin 
steckt,  nicht  mehr  gedeckt  oder  vielmehr  dem  un¬ 
befangenen  Blick  verdeckt.  Und  eine  große  kraft¬ 
volle  Persönlichkeit  offenbart  sich  in  Liebermann’s 
Schaffen.  Man  streite  nicht  um  das  Prinzip,  welches 
er  verficht,  ohne  die  Kraftnatur  zu  würdigen,  die 
der  konsequenten  Lösung  ihrer  Aufgaben  sich  weiht! 
Der  Kampf  um  neue  Anschauung  wird  stets  nur 
durch  die  Fähigkeit  schöpferischer  Kämpen  ent¬ 
schieden,  ihre  Eigenart  den  Zeitgenossen  aufzudrän¬ 
gen,  sie  sehen  zu  lehren.  Liebermann  wird  aus 
solchem  Kampfe  —  das  müssen  auch  seine  Gegner 
zugestehen  —  mit  Ehren  hervorgehen.  Mag  man 
die  im])ressionistische  Bewegung  als  Episode  oder 
als  Epoche  in  der  Entwickelung  der  modernen  Ma¬ 
lerei  ansehen,  die  Stellung  Liebermann’s  in  dieser 
Bewegung  bleibt  ohne  Einwand  die  eines  Bahn¬ 
brechers  und  Führers  der  deutschen  Kunst,  wie  auch 
der  neueste  Geschichtschreiber  der  modernen  Ma¬ 
lerei,  Richard  Muther,  mit  Recht  betont. 

Als  im  .lahre  1S73  unser  Künstler  mit  seinen 
„Gän.serupferinnen“  zum  erstenmal  in  Berlin  auf 
dem  Kampfplatz  erschien,  begrüßte  den  „Rhyparo- 
graj)hen“,  den  ,A})Ostel  der  Hässlichkeit“  ein  Hagel 
kritisch-feindlicher  Geschosse.  Er  hielt  wacker  stand. 
Eine  Somnierreise  nach  Paris  führte  ihn  mit  Mun- 
kacsy,  der  seit  Anfang  des  .lalires  1S72  nach  Paris 
ühergesiedelt  war,  zusammen.  Der  damals  in  Rihot’s 
Bahnen  wandelnde  Ungar  bestärkte  den  vierund- 
zwanzigjährigen  Berliner  in  seiner  bedenklichen  Vor¬ 
liebe  für  Beinschwarz  nnd  jene  undurchdringlichen 
sehwerun  Schattentöne,  die  schon  in  den  Gänserupfe- 
rinnen  sich  geltend  machte  und  den  Vondel’s  der 
llerliner  Kritik  Veranlassung  hot,  über  den  „Sohn 
der  känsternis“  Wehe  zu  rufen,  kline  kleine  Skizze, 
den  finster.sten  Winkel  seines  Pariser  Ateliers  dar¬ 
stellend,  gicht  eine  gute  Vorstellung  von  diesem 


fanatischen  Missbrauch  Ribot’schen  Helldunkels.  Als 
er  an  einem  Abend  von  den  „Folies  Bergere“  heim¬ 
gekehrt,  die  Eindrücke  des  wilden  Treibens  im  Foyer 
dieses  Cafe-chantant  in  einer  ebenso  wilden  Farben¬ 
studie  festhielt,  hatte  er  die  Genugthuung,  dass 
Vater  Corot,  als  er  das  Atelier  in  seiner  Abwesen¬ 
heit  besuchte,  ein  aufmunterndes  „bravo,  bravissimo“ 
unter  diese  etwas  wüste  impressionistische  Kleckserei 
setzte.  Erst  später  erfuhr  Liebermann  von  dem 
Besuch  und  zeigt  noch  heute  mit  Stolz  jenes  Zeugnis 
seines  ersten  Pariser  Erfolgs. 

Die  „Konserveneinmacherinnen“,  die  in  dem¬ 
selben  Jahre  im  Antwerpener  Salon  und  1880 
in  Paris  die  Aufmerksamkeit  auf  den  jungen  deut¬ 
schen  Naturalisten  lenkten,  zeigen  bereits  eine  grö¬ 
ßere  Leichtigkeit  und  Klarheit  des  Vortrags.  Auf 
Holzhänken  und  Fässern  sitzen  die  Arbeiterinnen 
über  Kohlköpfe,  Spargel  und  Artischocken  gebückt 
die  sie  mit  kurzen  Messern  für  den  überjährigen 
Genuss  herrichten.  Stillzufriedene  Emsigkeit  lesen 
wir  in  den  Zügen  der  jüngeren,  unter  denen  uns 
zwei  allerliebste  Mädchenköpfe  links  im  Vorder¬ 
gründe  auffällen,  stumpfe  Resignation  blickt  aus 
den  Furchen  im  Antlitz  der  älteren.  Zwei  Klatsch¬ 
basen  haben  die  Arbeit  unterbrochen  und  diskutiren 
heftig  über  ein  teilnahmslos  vor  sich  hin  blickendes 
Mädchen  hinweg.  Trotz  des  unscheinbaren  Vorwurfs 
blüht  in  diesen  Gestalten  und  Gruppen  ein  so  reiches 
Lehen,  der  Ausdruck  der  Gesichter  unterhält  den 
Beschauer  von  so  vielen  Lebenserfahrungen  und  Schick¬ 
salen,  dass  das  beliebte  Schlagwort  von  Inhaltlosig¬ 
keit,  blöder  Naturnachahmung  ohne  feineres  künst¬ 
lerisches  Empfinden  vor  dieser  Leistung  verstummen 
muss.  Freilich  malt  Liebermann  Prosa,  die  pessi¬ 
mistische  Prosa  eines  Zola,  aber  mit  demselben  un¬ 
endlich  feinen  Gefühl  für  Stimmung  und  Seelenleben 
wie  dieser.  Insofern  hinkt  auch  der  so  oft  ange¬ 
zogene  Vergleich  mit  Millet,  als  dessen  dankbaren 
Schüler  sich  Liebermann  übrigens  selbst  bekennt: 
für  das  feinere  Ohr  klingt  selbst  in  Millet’s  weh¬ 
mütigen  Bauernschilderungen  und  Landschaftsdich¬ 
tungen  noch  immer  leise  der  Hexameterrhythmus 
eines  Poussin  und  Claude  nach,  eine  gewisse  Rühr¬ 
seligkeit,  vereint  mit  dem  Zug  ins  Große,  die  Nei¬ 
gung,  das  Geschaute  malerisch  zu  verdichten,  in 
große  Formen  zusammenzufassen,  'dieser  letzte  Rest 
von  Arrangement,  der  Millet’s  Werken  anhaftet,  fehlt 
Liebermann.  Er  durchdringt  seinen  Stoff,  kennt  den 
Unterschied  zwischen  Wesentlichem  und  Unwesent¬ 
lichem  nur,  soweit  er  sich  auf  die  Vereinfachung 
der  malerischen  Mittel  und  Verstärkung  der  sinn- 


Majr  Liebermann  pinx. 


^  ITn^er  rad. 


IN  DEN  DUNEN. 


Zf’H  .».clirift  für  Lildende  Kunst 


Druck wF.A.BrocJdiaii:  ,  Leipzig. 


MAX  LIEBERMANN. 


253 


liehen  Wirkung  bezieht,  darüber  hinaus  macht  er 
sich  keine  Gedanken  und  Sorgen.  In  dieser  Hin¬ 
sicht  ist  er  naiver  als  Millet,  als  ausführender  Künstler 
dagegen  überlegter,  scharfsichtiger  als  dieser.  Auf 
Millet  kann  man  vielleicht  Zola’s  treffenden  Aus¬ 
druck  anwenden:  „regarder  sans  voir“;  er  betrachtet 
die  Natur  mehr,  als  er  sie  fixirt.  Emgekehrt  Lieber- 
mauu:  er  geht  von  schärfster  Beobachtung  aus,  diese 


die  Unfertigkeit  ihrer  Mache  auffallen.  Nur  mit 
Widerwillen  nimmt  er  die  Arbeit  an  älteren  Ent¬ 
würfen  wieder  auf,  und  seine  Hauptklage  ist,  dass 
er  nicht  die  Fähigkeit  besitzt,  seine  Stimmung  zu 
verlängern,  bis  alles,  was  er  zu  leisten  vermag,  ge¬ 
leistet  ist.  Dieser  Kleinmut  schmeckt  allerdings  — 
nach  Liebermann’s  eigenem  treffenden  Ausdruck  — 
stark  nach  „versetzter  Eitelkeit“. 


llanflzeiclmung  von  Max  Lieüermaxn. 


reizt  ihn  an  sich,  seine  Arbeit  beginnt  und  endet 
mit  ihr.  Von  Millet  hören  wir,  dass  er  fast  stets 
die  Eindrücke,  die  er  von  der  Natur  in  sich  aufge¬ 
nommen,  erst  im  Atelier  auf  die  Leinwand  brachte. 
Das  würde  Liebermann  schwer  fallen.  Nicht,  dass 
er  durchaus  alles  vor  dem  Modell  fertig  malte  — 
das  thut  auch  der  enragirteste  Freilichtmaler  nicht 
—  aber  seine  Lust,  seine  Schaffensfreude  verglüht, 
sobald  die  vergleichende  Beobachtung  aufhört.  Das 
ist  auch  der  Grund,  dass  viele  seiner  Bilder  durch 


Im  Spätherbst  1873  übersiedelte  Liebermann 
nach  Paris;  in  Barbizon  sah  er  noch  kurz  vor  dessen 
Tode  Jean  Franc, -ois  Millet,  ohne  doch  in  nähere 
persönliche  Beziehung  zu  ihm  zu  treten.  Um  so 
tiefer  war  der  Eindruck,  den  Millet’s  Werke  auf 
den  gleichstrebenden  Künstler  machten.  Auch  er 
wollte  „festen  Schrittes,  warmen  Herzens,  treu  sich 
selbst,  den  Menschen  und  der  Natur“  auf  der  selbst¬ 
gewählten  Bahn  sein  Ziel  erreichen.  Ein  leuchten¬ 
deres  und  zugleich  sympathischeres  Vorbild  als 


•254 


MAX  LIEBERMANN. 


Millet  konnte  er  nicht  finden.  Diese  Zustandshilder, 
die  uns  den  normannischen  Bauer,  bald  in  stiller 
Beschaulichkeit,  bald  in  dumpfem  Hinbrüten  dar¬ 
stellen,  durchweg  schweigsam  in  stiller  Naturum¬ 
gebung,  ohne  die  anekdotische  Zuspitzung,  wie  sie 
die  Düsseldorfer  Bauernnovellisten  damals  noch  mit 
allgemeiner  Zustimmung  kultivirten,  ohne  den  Humor 
und  die  Ausgelassenheit  eines  Brouwer  und  Ostade, 
ohne  die  sentimentale  Verlogenheit  der  Schäfer¬ 
poesie  des  achtzehnten  Jahrhunderts  —  sie  waren 
in  der  That  die  Frucht  einer  neuen  ursprünglichen 
Naturauffassung,  die  jeden  aufstrebenden,  gleich¬ 
fühlenden  Künstler  widerstandslos  in  ihren  Bann 
ziehen  nnasste.  „Mettre  l’homme  vrai  dans  son 
milieu  vrai“,  das  war  die  Losung,  die  Liebermann 
mit  Begeisterung  zur  seinigen  machte.  Die  „Arbeiter 
in  einem  Rübenfelde“  verkünden  dieses  Programm 
im  feierlichen  Tone  MillePs.  Schärfer  konzentrirt 
klingt  es  uns  auch  aus  jener  Einzelschilderung  „Die 
Geschwister“  entgegen,  die  1876  gemalt,  durch  Karl 
Köpping’s  meisterhafte  Radirung  im  L’Art  bekannt 
ist.  Die  ältere  Schwester  hat  ihr  kleines  Brüder¬ 
chen  auf  den  Arm  genommen  und  stützt  die  offen¬ 
bar  unterschätzte  Last  mit  dem  erhobenen  linken 
Knie.  Die  Gruppe  hebt  sich  von  einem  durchaus 
neutralen  Hintergrund  ab,  nur  das  Motiv  und  die 
y)ikante  Beleuchtung  werben  um  unsere  Teilnahme. 
Das  dem  Säuglingsalter  kaum  entwachsene  Kleine 
mit  seinen  skrofulös  geschwollenen,  unentwickelten 
Zügen  blickt  voll  aus  dem  Bilde  heraus,  mit  jener 
ünbeholfenheit  in  den  Armen  der  Schwester  hän¬ 
gend,  die  den  Anblick  junger  Hundetölpel  so  ko¬ 
misch  wirken  lässt.  Das  Antlitz  des  älteren  Mädchens, 
mütterlich  ernst  und  besorgt  auf  die  etwas  unbe- 
<|ueme  Last  blickend,  wird  nur  von  einem  Streifen 
Licht  erhellt,  der  den  Kontur  des  Kopfes  scharf 
hervortreten  lässt.  Der  Reiz  des  Ganzen  beruht  ledig¬ 
lich  auf  der  glücklich  beobachteten,  wie  echtes  Leben 
uns  anrniitenden  Haltung  und  Bewegung  beider  Ge¬ 
stalten,  dem  intimen  Zug,  der  das  Motiv  belebt,  und 
jenem  delikaten  Lichtspiel,  das  die  Modellirung  des 
Koj)fes,  das  Zurücktreten  des  Unwesentlichen  be¬ 
wirkt.  Bis  auf  das  etwas  lebhaftere  Temperament 
zeuehnen  auch  Frans  Hals’  köstliche  Kindswärterin 
in  der  Berliner  Galerie;  keine  anderen  Vorzüge  aus. 
Frans  Hals  war  es  denn  auch,  der  Liebermann  bei 
seinem  ersten  Studienaufenthalt  in  Holland  187t) 
am  mächtigsten  von  allen  altholländischen  Meistern 
anzog  und  den  er  eifrig  kopirte;.  Die  naive  Frische 
.seiner  Auffassung,  die  Einfachheit  und  Keckh(;it 
seines  Vortrags,  die  Unterordnung  der  Lokalfarben 


unter  den  durch  die  Beleuchtung  bedingten  Gesamt¬ 
ton,  wie  sie  der  Haarlerner  Altmeister  verstand,  waren 
Eigenschaften,  die  selbst  dem  Milletschwärmer  als 
neue  Offenbarungen  erscheinen  mussten.  Schon  Fro- 
mentin  hatte  drei  Jahre  vorher  Holland  seine  Rolle 
als  gelobtes  Land  für  das  aufwachsende  Naturalisten¬ 
geschlecht  mit  richtigem  Seherblick  prophezeit.  „Ich 
würde  nicht  überrascht  sein,“  schreibt  er  in  seinen 
köstlichen  Essays  über  altniederländische  Kunst,' 
„wenn  Holland  uns  noch  einen  zweiten  Dienst  leistete 
und,  nachdem  es  uns  von  der  Litteratur  zur  Natur 
geführt,  eines  schönen  Tages,  vielleicht  auf  langen 
Umwegen,  uns  von  der  Natur  zur  Malerei  brächte.“ 
Glänzend  hat  sich  diese  Weissagung  erfüllt.  Unter  den 
Deutschen,  die  Holland  für  die  moderne  Malerei  ent¬ 
deckten  und  eroberten,  gebührt  Liebermann  ein  Ehren¬ 
platz.  Jeden  Sommer  zieht  er  seit  1879  für  mehrere 
Monate  mit  seiner  Familie  nach  einem  malerischen 
Dörfchen  bei  Hilversum,  einer  Station  der  Bahn 
von  Amsterdam  nach  Leeuwarden,  unweit  des  Hörster 
Binnenmeers;  hier  setzt  er  sich  vor  die  Natur,  um 
sie  in  ihrer  elementaren  Urwüchsigkeit  zu  studiren, 
ihren  Erdgeruch  in  Farben  umzuwerten.  Von  hier 
unternahm  er  seine  Ausflüge  nach  Amsterdam,  nach 
den  Poldern,  an  die  Küste  der  Zuydersee;  hier 
fühlte  er  sich  heimisch;  Land  und  Leute  boten  ihm 
die  glücklichsten  Motive,  Joseph  Israels’  Bekannt¬ 
schaft  bestärkte  ihn  im  Festhalten  an  seinen  Zielen. 
Die  „Kleinkinderschule  in  Amsterdam“  ist  die  früheste 
Frucht  seiner  holländischen  Studien.  Sie  führt  uns 
wieder  auf  das  Gebiet,  das  Liebermann  schon  in  den 
Geschwistern  betreten  und  das  vielleicht  am  ehe¬ 
sten  geeignet  ist,  seine  Gegner  mit  ihm  zu  versöhnen: 
die  naive  Schilderung  der  Kinderwelt;  ihre  Necke¬ 
reien,  ihre  Altklugheit,  ihre  Frische  und  Ungezwun¬ 
genheit,  alles  versteht  er  treffend  zu  charakterisiren. 
Die  runzlige  Alte  mit  ihrem  Strickstrumpf  ist  dies¬ 
mal  in  eine  Ecke  verbannt,  dem  lustigen  kleinen  Völk¬ 
chen  die  ganze  Breite  des  Bildes  gegönnt.  Dazu  eine 
klare,  lichtvolle  Farbenhaltung,  helle  Kleider,  freund¬ 
liche,  schelmisch  dreinblickende  Gesichter.  Wer  er¬ 
kennt  den  Rhyparographen  der  Gänserupferinnen 
in  diesem  sonnigen  Interienr  wieder?  Warme  Herzens¬ 
töne  werden  hier  angeschlagen,  die  Echtheit  der 
Empflndung  ist  ebenso  groß  wie  die  gegenständliche 
Wahrheit.  Im  Pariser  Salon  des  Jahres  1880  waren 
die  Konserveneinmacherinnen  mit  der  Kleinkinder¬ 
schule  zusammen  ausgestellt.  P.  de  Chennevieres 
feierte  in  der  „Gazette  des  Beaux-Arts“  den  talent¬ 
vollen  Impressionisten,  „dont  la  reputation  est  dejä 
faite  dans  son  pays  et  qui  a  obtenu  un  grand  succes 


255 


MAX  LIEBERMANN. 

LeitsdiirstigGn  Vorlfiiiier  der  venezianisclieii  Blüte¬ 
zeit,  die  Carpaccio  und  Bellini  in  der  Akademie  in- 
teressirt  hatten.  Lenbach  und  einige  andere  Mün¬ 
chener  Fachgenossen,  die  er  in  der  Lagunenstadt 


Handzeiclinung  von  Max  Lieisermann. 


ä  l’exposition  de  Munich  par  un  Jesus  parmi  les 
docteurs.“ 

Welcher  Art  war  nun  diese  reputation  und  dieser 
succes  in  der  Heimat?  Zu  seiner  Wiederherstellung 


nach  einem  längeren  Krankenlager  hatte  sich  Lieber¬ 
mann  1878  nach  Gastein  und  von  hier  nach  Venedig 
begeben ,  wo  ihn  bezeichnenderweise  weniger  die 
Farben  virtuosen  des  späten  Cinquecento  als  die  wahr¬ 


kennen  lernte,  überredeten  ihn,  sich  nacli  seiner 
Rückkehr  in  München  niederzulassen.  Im  Dezember 
des  Jahres  1878  langte  er  in  der  Kunststadt 
an  der  Isar  an  und  machte  sich  rüstig  an  die 


256 


MAX  LTEBERMANN. 


Arbeit.  Schon  auf  der  nächsten  Münchener  Kunst¬ 
ausstellung  debutirte  er  mit  seinem  „Christus  unter 
den  Schriftgelehrten“.  Einen  Sturm  der  Entrüstung 
entfesselte  diese  tendenziös-vulgäre  Darstellung,  die 


stand  in  derselben  derb  rationalistischen  Weise  auf¬ 
gefasst  und  in  derselben  Ausstellung  Robert  Zimmer¬ 
mann  —  nur  ein  wenig  zahmer  und  lahmer  —  das 
Gleiche  gewagt.  Das  große  Bild,  dessen  eindring- 


]Iaii(lz(;icliiiuiig  von  Max  Likiikrmann. 


'letn  Ijavoriscluai  Klerus  wie  ein  Angriff  auf  die  Reli- 
ffion  ersehien.  Sogar  der  Landtag  wurde  mit  der 
Angelegenlieit  belässt.  Und  doch  batte  vor  acbt- 
undzwaii/.ig .fahren  .Adolf  Menzel  den  gleichen  Gegen- 


liche  Kraft  der  Charakteristik  und  flotter  Vortrag 
einen  Lenbach  und  Gedon  entzückten,  sollte  das  erste 
und  —  bis  heute  —  letzte  biblische  Historienbild 
unseres  Künstlers  bleiben.  Tantum  religio  potuit 


ZUR  CHARAKTERISTIK  BOÜGUEREAÜ’S. 


257 


suadere  inaloruin.  Der  „Christus  bei  den  Schrift¬ 
gelehrten“  befindet  sich  heute  im  Besitz  —  Fritz 
von  Uhde’s,  des  dankbaren  Schülers  Lieber mann’s, 
dem  man  Irreligiosität  wohl  kaum  vorwerfen  wird: 
es  ist  eine  anspruchsvolle  Leinwand,  durchtränkt 
vom  Geiste  Renan’s  und  David  Strauß’,  aber,  was 
mehr  ist,  eine  malerische  Leistung  von  außerordent¬ 
licher  Kraft  und  von  einer  psychologischen  Dramatik, 


die  mit  der  etwas  karikirten  Figur  des  frühreifen, 
Judenknaben  versöhnt.  Es  ist  richtig,  die  letztere 
weckt  zunächst  mehr  Überraschung  als  Teilnahme, 
aber  die  Kunst,  mit  der  diese  unscheinbare,  ver¬ 
kümmerte  Gestalt  zum  Knotenpunkt  der  ganzen 
Handlung  gemacht  ist,  die  Ausdrucksfähigkeit  in 
Gebärde  und  Blick  zwingt  immer  wieder  zur  Be¬ 
wunderung.  (Schluss  folgt.) 


ZUR  CHARAKTERISTIK  BOUGUEREAU’S. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


Das  alte  Widerspiel  der  Eigenschaften,  welches 
den  französischen  Volkscharakter  kennzeichnet,  die 
keltische  Beweglichkeit  und  Neuerungssucht  einer¬ 
seits,  der  römische  Ruhmsinn  und  Schulgeist  anderer¬ 
seits,  bestimmt  auch  das 
Wesen  der  französischen 
Kunst,  erklärt  zum  gro¬ 
ßen  Teil  den  unzerstör¬ 
baren  Glanz  ihrer  Welt¬ 
stellung.  Für  fast  sämt¬ 
liche  moderne  Evolutio¬ 
nen  des  malerischen  und 
des  bildnerischen  Stils 
haben  wir  den  Ausgangs¬ 
punkt  in  Frankreich  zu 
suchen:  von  den  Klas¬ 
sikern  bis  zu  den  Rea¬ 
listen,  von  den  Intimen 
bis  zu  den  Impressio¬ 
nisten  und  Symbolisten. 

Aber  all  dies  von  jedem 
Windhauch  bewegte  Blät¬ 
terwerk  der  Tagesmoden 
und  Geschmacksrich- 
wird  dort  von 


tun  gen 


festgewurzelten 


einem 

Stamm  alter  Tradition  ge¬ 
tragen;  gleich  stark  mit 
dem  Drang  nach  Freiheit 
und  Natur  ist  der  fein 

ausgebildete  Sinn  der  Franzosen  für  Form  und  Gesetz. 
Und  es  ist  schwer  zu  sagen,  welchem  der  beiden 
zusammen  wirkenden  Charakterzüge  die  französische 
Kunst  den  größeren  Teil  ihres  Ruhmes  verdankt. 
William  Adolphe  Bouguereau  (geboren  1825  zu 


W.  A.  Bouguereau. 


La  Rochelle),  von  dem  wir  den  Lesern  eine  kleine 
Auswahl  seiner  Werke  vorführen,  gehört  zu  den 
anerkannten  Vertretern  der  formalen,  vornehmlich 
auf  Reinheit  und  Adel  der  Erscheinung  abzielenden 

Kunstrichtung.  Sei  es  im 
Bildnisfach,  sei  es  in  der 
kirchlichen  oder  in  der 
mythologischen  Malerei: 
immer  ist  er  in  erster 
Linie  der  Akademiker, 
der  gelehrte  Kenner  der 
Anatomie,  der  souveräne 
Beherrscher  derForm  und 
der  malerischen  Technik. 
Seelenglut,  Originalität 
der  Erfindung,  Witz  und 
Kühnheit  wird  man  bei 
ihm  vergebens  suchen. 
Aber  Eines  besitzt  er, 
eine  echt  französische 
Eigenschaft,  die  seinen 
Werken  ihren  unbestreit¬ 
baren  Wert  verleiht:  den 
Sinn  für  Grazie,  für  zart 
bewegte  und  vollendet 
durchgebildete  Form.  In 
seinen  religiösen  Bildern 
bildet  Flandrin,  in  den 
mythologischen  Ingres 
das  ihm  vorschwebende 
Muster.  Und  wenn  er  auch  hinter  beiden  an  Em¬ 
pfindungstiefe  und  an  Ernst  zurücksteht,  so  tritt 
er  ihnen  andererseits  durch  die  vollendete  Model- 
lirung  der  Form  und  die  Meisterschaft  des  Vortrags 
ebenbürtig  an  die  Seite. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


33 


258 


ZUR  CHARAKTERISTIK  BOÜGÜEREAU’S. 


Unter  Bouguereau’s  Gemälden  religiösen  Gegen¬ 
standes  verdienen  zunächst  die  Wandgemälde  in  den 
Kirchen  Ste.  Clotilde  (1859)  und  St.  Augustin  (18G6) 
zu  Paris  Erwähnung;  stilvolle  Schöpfungen  von 
edlem,  gemessenem  Ausdruck,  die  nur  den  starken 
Grundton  tiefer  Empfindung  vermissen  lassen.  Wer 
sie  deshalb  allzu  herb  tadeln  wollte,  den  möchten 
wir  an  die  schon  von  Julius  Meyer  (Gesch.  der 
mod.  französ.  Malerei,  S.  367)  betonte  Thatsache  er¬ 
innern,  dass  das  meiste,  was  bei  uns  zu  Lande  neuer¬ 
dings  an  kirchlicher 
Malerei  großen  Stils 
geleistet  wird,  hin¬ 
ter  diesen  Werken 
tles  Pariser  Mei¬ 
sters  immer  noch  ' 
zurückbleibt.  —  In 
zweiter  Linie  stehen 
Bouguereau’s  zahl¬ 
reiche  kleinere  Bil¬ 
der  christlichen  In¬ 
halts:  die  in  Rom 
noch  während  der 
Pensionärzeit  aus¬ 
geführte,  im  Lu- 
.\eiid>ourg  befind¬ 
liche  „Heil.  Cäcilia 
in  den  Katakomben“ 

(1^51),  die  „Heil, 

Ihiinilie“  (Sahm  von 
1863),  die  zuerst 
1S77  enschienetie, 
später  auch  hei  uns 
durch  Ausstellun¬ 
gen  in  weiten  Krei¬ 
sen  h<,‘kannt  g(;vvor- 
deiic  -\'ierge  C(ni- 
solatrice“,  endlich 
die  a\is  den  letzten 
.lahnui  staniniende 
„Not  re  - 1  )anie-des- 

.\ngc.K‘‘  II.  v.  a.  Sie  sind  uns  in  der  Empfindung 
nicht  iinnn-r  .syinjiathisch  und  leiden  auch  vielfach 
an  jener  jiorzellanartigen  Glätti;  der  Malerei,  welche 
die  trisclie  Lebendigkeit  der  Wirkung  beeinträch¬ 
tigt.  Aber  auch  sie  verdienen  deshalb  die  gering- 
'chätzige  Beurteilung  nicht,  welche  die  Kritik 
jüngeren  Datums  ihnen  bei  uns  hat  angedeihen 
lassen.  Die  religiöse  und  die  malerische  Empfin¬ 
dungsweise  der  \’ölker  sind  verschieden,  so  ver¬ 
schieden  wie  ihr  Gefühl  für  Metrik  und  Musik. 


!ii(!  Weintiaulie.  Uemälile  von  W.  A.  Bouguereau. 


Gleich  hoch  dagegen  bleibt  stets  das  Niveau  der 
künstlerischen  Meisterschaft,  der  Vollendung  in  der 
Handhabung  der  Kunstmittel.  Und  diese  ist  es, 
welche  die  vorurteilslose  Kritik  in  erster  Linie  zu 
beurteilen,  zu  bemessen  hat.  Ein  Künstler,  der  in 
seiner  Art  und  Sphäre  ein  solcher  Meister  ist,  wie 
Bouguereau,  darf  von  dem  Kritiker  nicht  herab¬ 
gewürdigt  werden,  —  sei  es  aus  übler  Laune,  sei  es 
aus  nationalem  Widerwillen,  sei  es  aus  anderen, 
nicht  rein  künstlerischen  Gründen  oder  Neigungen. 

Der  Weg,  den 
unsere  Kunst  viel¬ 
fach  neuerdings 
wieder  genommen 
hat,  wird  ihr  leider 
nicht  selten  geebnet 
durch  eine  dienst¬ 
gefällige  Kritik, 
welche  jeder  Laune 
des  Geschmacks, 
der  Stimmung  des 
Tages  eine  sym¬ 
ptomatische  Bedeu¬ 
tung  beimisst  und 
selbst  für  den  ver¬ 
rückten  Dilettantis¬ 
mus  noch  eine  geist¬ 
reiche  Erklärung 
bei  der  Hand  hat. 
Es  wird  gut  sein, 
diesem  Treiben  zu¬ 
weilen  ein  Halt  zu¬ 
zurufen  und  daran 
zu  erinnern,  dass 
Kunst  vor  allem 
eine  Summe  reellen 
Könnens  voraus¬ 
setzt  und  dass 
Meisterschaft  nicht 
denkbar  ist  ohne 


Vollendung  der 
Form.  Als  ein  unbestreitbar  hoher  Meister  in  der 
Beherrschung  der  Form  erweist  sich  Bouguereau  in 
seinen  weltbekannten  Bildern  mythologischen  und 
poetischen  Inhalts,  von  denen  wir  eines  der  lieb¬ 
lichsten  den  Lesern  in  Radirung  vorführen.  Das¬ 
selbe  gehört  dem  erotischen  Kreise  an,  aus  welchem 
der  Meister  die  Stoffe  zu  mehreren  seiner  form¬ 
vollendetsten  Werke  entnommen  hat,  wie  „La  Jeu¬ 
nesse  et  l’Amour“,  „L’Amour  blesse“,  „L’Amour  au 
papillon“,  „Le  guepier“  u.  s.  w.  Auf  dem  vorliegen- 


Die  trostreiche  Maria.  Gemälde  von  W.  A.  Bougüeeeaü.  Nach  einer  Photographie. 


33* 


260 


ZUR  CHARAKTERISTIK  BOUGUEREAU’S. 


den  Bilde:  „L’Amour  et  Psyclie  enfants“'  sind  es  die 
Gestalten  der  Märchenwelt  des  Apulejus,  die  er  uns 
in  kindlichem  Alter,  umkleidet  mit  dem  vollen 
frischen  Reiz  der  Unschuld  und  der  naiven  Zärtlich¬ 
keit  vor  Augen  führt.  Psyche,  auf  einer  Wolke 
knieend,  schmiegt  sich  schüchtern  an  den  neben  ihr 
stehenden  Amor  an,  der  sie  zart  umfängt  und  einen 
Kuss  ihr  auf  die 
Wange  drückt. 

Die  anmutig  be¬ 
wegten  Körjier, 
die  fein  beseelten 
Köpfchen  mit  dem 
duftigen  Locken¬ 
haar  sind  von 
tadelloser  Zeich¬ 
nung  und  Model- 
lirung,  vollendet 
bis  ins  letzte  De¬ 
tail;  alles  zeugt 
von  dem  edelsten 
Ges  eil  mack,  dem 
liöchst  entwickel¬ 
ten  Schönlieits- 
sinn.  Man  wird 
nicht  sagen  kön¬ 
nen,  dass  der 
Künstler  auch  nur 
dureb  einen  ein¬ 
zigen  Zug  moder- 
ner  Emi)findsam- 
keit  oder  Koket¬ 
terie  den  reinen 
Duell  der  Natur 
lind  Scböiiheit  ge¬ 
trübt  liätte,  der 
in  der  Dicht  ling  Allerseelen,  (leraäiae 

des  Altertums 

fliel.it.  Und  doch  verstand  er  diese  der  heutigen 
Welt  menschlich  ganz  nahe  zu  bringen  nnd  ver- 
leiignete  zugleich  keinen  Augenblick  die  Ansdrucks¬ 
weise  nnd  den  Gesclimack  seines  Volkes  und  seiner 
Sfdinle. 

Die  äußerst  fruchtbare  Natur  unseres  Meisters 
böte  noch  manche  Seite  der  Betrachtung  dar;  doch 
Avollen  wir  uns  damit  begnügen,  nur  eine  einzige 


hier  noch  mit  wenig  Worten  zu  berühren:  das  ist 
sein  Anteil  an  der  ideal  gestimmten  Genremalerei. 
Vorwiegend  sind  es  Figuren  aus  dem  italienischen 
Landleben,  Campagnolen,  Pifferari  und  ähnliches 
Volk,  die  er  in  der  Stil-  und  Empfindungsweise 
Leopold  Robert’s,  mit  regem  Sinn  für  den  stolzen 
Gliederbau  und  die  ausdrucksvollen  Typen  der  süd¬ 
lichen  Rasse  uns 
vor  Augen  führt. 
Bisweilen  wählt 
er  aber  auch  die 
Stoffe  dieser  (häu¬ 
fig  nur  einfigu- 
rigeu)  Bilder  aus 
der  nordfranzösi¬ 
schen  Bauernwelt 
und  streift  damit 
die  Sphären  eines 
Breton  und  Millet 
oder  der  ihnen 
stilverwandten 
Pariser  Bildhauer. 
Das  letztere  gilt 
z.  B.  von  der  im 
Salon  von  1874 
ausgestellten 
„Charite“,  einem 
würdigen,  nur  et¬ 
was  allzu  melan¬ 
cholisch  aufge¬ 
fassten  Seiten¬ 
stück  zu  der  herr¬ 
lichen  Gruppe  von 
Paul  Dubois  am 
Grabmal  des  Ge¬ 
nerals  Lamori- 
ciere.  Man  wird 
nicht  behaupten 
können,  dass  Bouguereau  das  Gebiet  der  idealen 
Genremalerei  mit  neuen  Motiven  bereichert  hätte, 
aber  er  bewährt  sich  auch  hier  als  ein  Mann  von 
feiner  Empfindung  für  die  Natur,  als  ein  Künstler, 
der  sich  allerwegen  an  die  eine,  höchste  Aufgabe 
liält,  in  schöne  Form  den  Ausdruck  einer  edlen 
Seele  zu  leffen, 

^  C.  r.  L. 


VOU  W.  A.  BOUGUF.HF.AU. 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 

VON  THEODOR  BALLIIORX,  GÖRLITZ. 


LS  ein  allgemein  gültiges 
ästhetisches  Dogma  konnte 
bis  m  die  neuere  Zeit  der 
Satz  gelten,  dass  die  Skul¬ 
ptur,  als  die  Kunst  der  reinen 
Form,  die  Anwendung  der 
Farbe  nicht  zulasse.  Waren 
unn  die  Alten  in  der  Skul¬ 
ptur,  welche  wiederum  für  die  eigentliche  Kunst  des 
Altertums  gilt,  als  die  unbestrittenen  Meister  aner¬ 
kannt,  wie  sollten  sie  an  dieser  Reinheit  der  Form 
nicht  festgehalten  haben!  Die  wunderbare  Schön¬ 
heit  des  Marmors,  die  Meisterschaft  in  der  Behand¬ 
lung  desselben,  welche  darauf  ausging,  eben  diese 
Schönheit  zur  vollen  Wirkung  zu  bringen,  musste, 
so  schloss  man,  fast  mit  Notwendigkeit  dahin 
führen,  dass  der  Bildhauer  dem  Marmor  seine  farb¬ 
lose  Reinheit  vindicirte.  „Jeder  bessere  Geschmack“, 
so  schreibt  noch  Hermann  Riegel  im  Jahre  1875, 
„lehnt  sich  gegen  eine  solche  Zuthat  (der  Farbe) 
auf;  denn  die  farbige  Lebendigkeit  scheint  der  pla¬ 
stischen  Ruhe  und  Idealität  entschieden  zu  wider¬ 
streben  und  lässt  sich  eines  gewissen  barbarischen 
Charakters  nicht  entkleiden.“  Er  beruft  sich  für 
diese  Ansicht  auch  auf  Welcher,  der,  wie  er  meint, 
sehr  treffend  sagt;  „Offenbar  hat  die  Kunst  in  ihrer 
Fortbildung  die  kleine,  in  Farben  gegebene  Nach¬ 
hilfe  des  Ausdrucks  als  eine  dem  höheren  Stil  und 
der  in  die  reine  Form  gelegten  Würde  nicht  ange¬ 
messene  Nebensache  abgestreift  und  nicht  in  einer 
entstellenden  Buntheit  eine  Illusion  gesucht,  die 
durch  den  Charakter  der  Gestalten,  Stellungen,  Ge¬ 
bärden,  durch  den  Gesichtsausdruck  zu  erreichen  die 
höhere  Aufgabe  selbständiger,  idealer,  erhabener 
Bildkunst  war.  Den  Sinn  der  südlichen  Völker  für 
lebhafte  Farben  ira  gemeinen  Leben  sollte  man  nicht 
übertragen  auf  die  Regionen  vollendeter  Bildhauerei, 
wo  das  Ideal  in  der  Auffassung  und  in  den  Weisen 


und  Mitteln  der  Darstellung  eine  so  große  und  so 
sichere  Herrschaft  ausübt.“ 

Unterstützt  wurde  diese  Ansicht  von  der  Farb¬ 
losigkeit  der  alten  Bildwerke  ja  auch  durch  eine 
ganze  Welt  von  weißen  Marmorstatuen,  wie  sie  die 
Museen  der  verschiedenen  Länder  aufweisen.  Man 
wusste  eben  noch  nicht,  wie  verderblich  die  Ein¬ 
wirkungen  der  Luft  und  noch  mehr  der  Erde  auf 
die  Oberfläche  des  Marmors  und  ganz  besonders  aiif 
die  Farbe  sind.  Denn  selbst,  wenn  Spuren  davon 
beim  Ausgraben  eines  Marmorwerkes  noch  deutlicli 

o 

erkennbar  sind,  so  verlieren  sie  sich  gewöhnlich  bald 
an  der  frischen  Luft.  Wer  in  eine  neu  geöffnete 
etruskische  Grabkammer  eintritt,  wird  überrascht 
durch  den  bunten  Farbenschmuck,  in  welchem  die 
Reliefs  der  Sarkophage  prangen;  nach  einigen  Jahren 
sind  meist  nur  noch  einzelne  Überbleibsel  desselben 
wahrzunehmen,  und  auch  sie  verschwinden  mehr  und 
mehr.  Wer  sieht  z.  B.  heute  noch,  dass  die  Medi- 
ceische  Venus  einst  goldene  Haare  hatte,  dass  die 
Pallas  von  Velletri  bemalt  war?  Häufig  sogar  wur¬ 
den  auch  solche  Farbenspuren,  die  den  Gesamtein¬ 
druck  störten  und  als  eine  Geschmacklosigkeit  an 
einem  antiken  Kunstwerk  unwillkommen  waren,  weg¬ 
getilgt.  Ja,  es  konnte  geschehen,  dass  man,  wenn  die 
alten  Schriftsteller  verschiedener  Zeiten  von  bemal¬ 
ten  Statuen  oder  bemalten  Bildern  in  den  Giebel¬ 
feldern  reden,  wenn  Vergolder  oder  Bemal  er  von  Sta¬ 
tuen  auf  Inschriften  erwähnt  werden,  wenn  ein  Dichter 
die  Locken  eines  Mädchens  mit  denen  einer  bemalten 
Statue  vergleicht,  lieber  irgend  welche  IJngenauig- 
keit  des  Ausdrucks  annahm,  als  bemalte  Skulptur. 

Bei  dieser  allgemein  verbreiteten  und  festge- 
wurzelten  Auffassung  war  es  denn  kein  Wunder, 
dass  nur  unwilliges  Erstaunen,  ja  ein  Schrei  des 
Entsetzens  bei  allen  Gebildeten  laut  wurde,  als  ein 
junger  Architekt,  Gottfried  Semper,  der  nach  seinen 
eigenen  Worten  „als  ein  obskurer  Arbeiter  im  Leinen- 


262 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


kittel  wocLenlaug  auf  dem  Theseustempel  herum- 
geklettert  und  mit  dem  Federmesser  her  umgekratzt“, 
in  seinen  „Bemerkungen  über  bemalte  Architektur 
und  Plastik  bei  den  Alten,  1834“  als  Ergebnis  seiner 
Untersuchungen  die  Ansicht  in  die  Welt  schickte, 
dass  die  Alten  auch  noch  in  der  Blütezeit  der  Kunst 
nicht  nur  bei  ihren  Bauwerken,  sondern  auch  hei 
ihren  Bildwerken  Farben  verwendet  hätten.  Doch 
so  sehr  man  sich  auch  dagegen  sträubte,  aus  Furcht, 
einen  Teil  der  Bewunderung,  welche  man  dem  Alter¬ 
tum  zu  zollen  gewohnt  war,  zurücknehmen  zu  müssen, 
die  Werke  des  Phidias  und  Praxiteles  mit  den  be¬ 
malten  Schnitz-  und  Steinbildern  der  gotischen  Dome 
auf  einer  Linie  zu  sehen,  neuere  Untersuchungen, 
besonders  auch  die  jüngsten  Akropolisfunde  haben 
jeden  Zweifel  darüber  gehoben.  In  jeder  künftigen 
Kunstgeschichte  wird  daher  der  farbigen  Skulptur 
ein  ])esonderer  Abschnitt  einzuräumen  sein.  Ist  doch 
hei  diesen  Erscheinungen  gar  nicht  die  Rede  von 
der  Verworrenheit  der  ersten  rohen  Kunstanfänge, 
noch  von  dem  barbarischen  Ungeschmack  einer  ent¬ 
arteten  Epoche;  ebenso  wenig  von  Ungeschick  und 
oder  Bizarrerie  einzelner  Künstler.  Es  handelt  sich 
vielmehr  um  eine  festgewurzelte  Sitte,  welche  mit 
den  Thongehilden  des  Dihutades  beginnt  und  erst 
mit  den  Büsten  und  Genien  der  römischen  Impera¬ 
toren  endet,  mit  einer  Sitte,  welcher  selbst  die  grö߬ 
ten  Künstler  huldigten.  Die  Proben  der  bunten 
IMastik,  welclie  wir  selbst  noch  besitzen,  tragen  den 
Stempel  der  verschiedensten  Epochen,  sind  bald  von 
höherem,  l^ald  von  geringerem  Kunstwert,  sind  Ge- 
hilde  jegliclier  Klasse,  Götter,  Menschen  und  Heroen, 
sowie  jedes  Maßstahs,  von  der  Anticaglie  bis  zum 
Koloss  hinauf  Nicht  vereinzelt,  nicht  wie  aus  den 
Wolken  gefallen  stehen  diese  Zwittergestalten  der 
Plastik  und  Malerei,  wie  ein  theoretischer  Eiferer 
sie  nennen  könnte,  vor  unseren  Augen;  sie  hängen 
aufs  genaueste  mit  anderen  verwandten  Erscheinun- 
gfii,  mit  einem  malerischen  Faltenwurf  und  mit 
ojitisehcn  n»*zieliungen  zusammen.  Da  ist  eine  wolil- 
g(!glied(;rle  Kette,  aus  welcher  kein  Ring  sich 
h'fsen  lässt. 

(  her  die  4'hatsache  der  Bejnahmg  der  Statuen 
köiimui  wir  also  nicht  mehr  in  Zweifel  sein;  doch 
sf  lifdiit  es,  als  s<‘i  di(!  volle  Bemalung,  als  notwen¬ 
dige  Folge  farhen])rä(;htiger  Behandlung  der  Wände, 
wie  in  As.syrien  und  Agyj)ten,  so  auch  im  alten 
Hellas,  wenn  auch  ursj)rünglich  allgemein  üblich, 
so  doeh  sjiäter  vorwiegend  auf  hieratische,  kirchliche 
Bildnisse  heschriuikt  gewesen.  Die  BildAverke  der 
.\  kn, pol  is  in  Athen,  von  denen  die  ältesten  aus 


einem  tuffartigen  Kalkstein,  die  späteren  aus  Marmor 
bestehen,  sind  sämtlich  polychrom,  farbig  behandelt, 
sämtlich  aber  auch  hieratischer  Natur,  denn  eine 
Akropolis  ist  ja  eine  Heimstätte  der  Götter  und 
Priester,  wo  das  Profane  nicht  geduldet  wurde.  Da 
nun  die  bisher  aufgefundenen  bemalten  Bildwerke 
regelmäßig  Tempel-  oder  Götterbilder,  also  hiera¬ 
tische  sind,  so  scheint  es  immer  sicherer  zu  werden, 
dass  die  Alten,  gerade  so  wie  wir,  vorzugsweise  in 
ihre  kirchlichen  Bauten  bemalte  Bildwerke  setzten, 
dagegen  für  die  in  das  Haus  und  den  Garten  be¬ 
stimmten,  namentlich  in  späterer  Zeit  die  Natur¬ 
farbe  des  Marmors,  soweit  für  die  Griechen  dies 
möglich  war,  aus  ästhetischen  Gründen  vorzogen. 
Die  bemalten  Bildwerke  fertigten  sie  gerade  des¬ 
halb,  weil  das  Material  doch  nicht  zur  Geltung  kam, 
vorwiegend  aus  geringwertigen  Steinen  oder  aus 
Terrakotten,  selten  aus  Marmor.  Aus  der  ältesten 
Zeit  haben  sich  nun  nur  die  Tempelbilder  erhalten, 
denn  diese  überdauerten  aus  natürlichen  Gründen 
überall  die  profanen. 

Aber  wenn  nun  auch  so  in  der  Antike  kirch¬ 
liche  einerseits  und  bürgerliche  oder  weltliche  Kunst 
andererseits  unterschieden  werden  muss,  so  wird 
vieles  auch  von  diesen  weltlichen  Kunstwerken  noch 
dem  hieratischen  Kanon  gefolgt  sein,  um  erst  all¬ 
mählich  die  das  künstlerische  Schaffen  hemmende 
kirchliche  Symbolik  nach  Möglichkeit  zurückzu¬ 
drängen.  So  erklärt  sich  z.  B.  die  rote,  blaue,  grüne 
Farbe  der  Haare.  Alles  ist  Symbolik.  So  finden 
wir  in  Hellas  Gleiches,  wie  überall  im  Orient  und 
Occident  bis  hinüber  zum  Lande  der  Azteken  und 
wie  noch  heute  auf  Ceylon  und  in  China. 

Sind  wir  somit  über  die  Thatsache  der  Bema¬ 
lung  der  Statuen  nicht  mehr  in  Zweifel,  dagegen 
darüber  noch  unsicher,  ob  und  wie  weit  neben  den 
bemalten  Bildwerken  auch  unhemalte,  farblose  vor¬ 
kamen,  so  ist  nun  wieder  durchaus  sicher  und 
leicht  zu  verstehen,  wie  die  Griechen  zu  dieser  Be¬ 
malung  der  Statuen  gekommen  sind,  und  wie  es  zu¬ 
ging  ,  dass  sie  von  ihr  sich  nie  ganz  losmachen 
konnten.  Ist  doch  diese  Färbung  der  Statue  schon 
eine  notwendige  Folge  der  Anwendung  der  Farbe 
in  der  Arcliitektur.  Denn  sicherlich  schon  früh 
haben  auch  die  Griechen,  wie  die  Assyrer  und 
Agyptei*,  die  Wände  ihrer  Tempel  mit  Farben  über¬ 
zogen,  zuerst  wohl,  um  ihnen,  wie  in  Assyrien  und 
Ägypten,  einen  glänzenden  Schmuck  zu  verleihen, 
bald  aber  auch,  um  dadurch  die  symbolische  Bedeu¬ 
tung  der  Ornamente  für  den  künstlerischen  Cha¬ 
rakter  des  Bauwerks  klar  hervortreten  zu  lassen. 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


263 


Das  Auge  folgt  ja  z.  B.  auch  an  sich  schon  mit 
Befriedigung  den  mächtig  geschwungenen  Umriss¬ 
linien  des  Echinus  am  dorischen  Kapitell,  die  ihn 
als  eine  höher  angespannte  Entfaltung  derselben 
Kraft  erkennen  lassen,  welche  der  kannelirte  Stamm 
der  Säule  zeigte.  Allein  ungleich  lebendiger  wird 
die  Vorstellung  des  Tragens,  in  welchem  der  Kon¬ 
flikt  der  frei  aufstrebenden  Kraft  mit  einem  auf 
dieselbe  von  oben  geübten  Druck  zu  Tage  tritt,  ver¬ 
sinnlicht,  wenn  auf  dem  Kapitell  mit  Farben  das 
Ornament  des  doppelten  Blätterkranzes  aufgetragen 
erscheint,  dessen  Spitzen  unter  dem  Druck  des  sich 
herabsenkenden  Gebälkes  sich  neigen  und  zwar  um 
so  tiefer,  je  schwerer  der  Druck  auf  ihnen  lastet, 
wodurch  das  verschiedene  Profil  des  Kapitells  ge¬ 
rechtfertigt  wird.  Ebenso  wird  der  Gedanke  des 
elastischen  Bandes,  das  mehrere  Glieder  miteinander 
verbindet,  durch  ein  in  Farben  aufgetragenes  Orna¬ 
ment  veranschaulicht,  welches  die  Textur  eines  aus 
verschiedenen  Fäden  mannigfacher  Art  zusammen¬ 
gesetzten  Geflechts  darstellt.  Und  überall,  wo  die¬ 
selbe  Funktion  eintritt,  kommt  auch  dasselbe  Orna¬ 
ment  zur  Anwendung,  ein  Beweis  dafür,  wie  be¬ 
stimmt  und  klar  diese  Vorstellungen  ausgebildet 
waren.  Noch  mehr  wird  der  Wert,  welchen  man 
auf  das  Hervorheben  durch  die  Farbe  legte,  daraus 
ersichtlich,  dass  man  auch  da,  wo  das  Ornament 
durch  Skulptur  ausgedrückt  war,  die  Farbe  zu  Hilfe 
nahm.  Nicht  selten  gehen  daher  bemalte  Skulptur 
und  Färbung  in  der  Ornamentik  nebeneinander  her. 
Wo  an  der  einen  Stelle  bemalte  Skulptur  ange¬ 
wendet  ist,  zeigt  sich  an  der  anderen  Stelle  Malerei; 
untergeordnete  Momente  bleiben  ganz  der  Malerei 
überlassen,  mitunter  wird  sogar  ein  in  Skulptur  be¬ 
gonnenes  Ornament  durch  ein  gemaltes  fortgesetzt. 
Man  sieht,  es  wurde  überall  auf  ein  Eingreifen  der 
Malerei  gerechnet,  und  die  Wirkung,  welche  unter 
allen  Umständen  hervorgebracht  werden  sollte,  war 
die  der  Polychromie.  — 

Hatte  so  die  Skulptur  da,  wo  sie  hervortretende 
Glieder  des  Baues  mit  Ornamenten  schmückte,  die 
Farbe  angenommen,  so  musste  sie  nun  auch  da,  wo 
sie  gewissermaßen  auf  neutralen  Flächen,  in  Giebel¬ 
feldern,  auf  Metopen  und  Friesen,  selbständig  mit¬ 
wirkte,  sich  dem  durchgeführten  System  der  Viel¬ 
farbigkeit  unterwerfen.  Auch  unser  Auge,  das  diu’ch 
Farbenpracht  sicherlich  nicht  verwöhnt  ist,  würde 
es  als  Disharmonie  empfinden,  wenn  es  aus  den 
leuchtenden  Farben,  mit  welchen  die  Griechen  die 
Wände  ihrer  Tempel  überzogen,  grelle,  weiße  Mar¬ 
morgestalten  heraustreten  sähe.  Dies  Postulat  der 


künstlerischen  Konsequenz  ist  denn  auch  durch  die 
Beobachtung  der  Thatsachen  vollständig  gerechtfer¬ 
tigt  worden.  Skulpturen  griechischer  Tempel,  ver¬ 
schiedenen  Arten  und  Zeiten  angehörig,  zeigen  über¬ 
einstimmend  die  noch  erkennbaren  Reste  der  Farbe 
selbst  oder  deutliche  Spuren,  dass  sie  einst  dage¬ 
wesen  ist.  Dahin  gehört  es  auch,  wenn  die  Bohr¬ 
löcher  sichtbar  sind,  mittelst  deren  einzelne  Stücke 
des  Schmucks,  der  Bewaffnung  und  Ähnliches  aus 
vergoldeter  Bronze  angesetzt  wurden;  ein  Verfahren, 
das  immer  auf  weitere  Anwendung  der  Farbe  schlie¬ 
ßen  lässt.  Alle  diese  Spuren  der  Polychromie,  immer 
im  Zusammenhänge  mit  der  buntfarbigen  Architek¬ 
tur,  sind  ausreichend,  um  den  Zufall  auszuschließen 
und  eine  allgemein  gültige  Gesetzmäßigkeit  festzu¬ 
stellen. 

Waren  so  die  bemalten  Statuen  am  Äußeren 
des  Tempels  eine  notwendige  Folge  der  Polychromie 
in  der  Architektur,  so  konnte  nun  auch  das  eigent¬ 
liche  Götterbild  in  der  Cella  des  Tempels  nicht 
ohne  farbigen  Schmuck  bleiben.  Ein  künstlerisch 
so  feinfühliges  und  gebildetes  Volk,  wie  das  grie¬ 
chische,  das  der  im  Bilde  vertretenen  Gottheit  den 
Tempel  zur  Wohnung  gab,  musste  auch  dieses 
Götterbild  als  das  wesentlichste  Glied  des  durch  die 
Kunst  geschmückten  Raumes  anseben  und  mit  dem 
Charakter  dieses  Schmuckes,  der  sich  ja  auf  dasselbe 
bezog  und  in  ihm  erst  seinen  Abschluss  fand,  in 
Einklang  setzen.  Und  dies  war  um  so  schwieriger, 
aber  auch  um  so  nötiger,  je  älter  diese  Kultusbilder 
waren.  Denn  die  ältesten  von  ihnen  waren  ja  nicht 
einmal  aus  Marmor,  wie  die  den  äußeren  Bau  des 
Tempels  schmückenden  plastischen  Gestalten,  son¬ 
dern  es  waren  unförmliche  Schnitzbilder  von  FIolz, 
die  vom  Himmel  gefallen  oder  sonst  unbekannten 
Ursprungs,  von  Götterhänden  oder  von  den  ältesten 
Künstlern  der  Sage  verfertigt  sein  sollten.  Dieser 
Stoff  verlangte  schon  an  sich  ein  Überziehen  mit 
Farbe;  die  Erneuerung  derselben  an  der  Statue  wurde 
bald  zu  einem  Kultusakt;  ja  so  sehr  verband  sich 
bei  Griechen  und  Römern  das  Bemaltsein  mit  dem 
Begriff  des  Göttlichen,  dass  nicht  nur  der  Priester 
des  Bacchus  in  Athen,  sondern  auch  der  triumphi- 
rende  Feldherr  in  Rom  bei  der  Prozession,  wo  beide 
in  vollem  Ornat  den  Gott  selbst  —  dieser  den  Ju¬ 
piter,  jener  den  Dionysos  —  darstellten,  sich  das 
Gesicht  rot  färben  mussten.  ■ — 

Doch  die  Farbe  konnte  hier  wohl  nur  in  den 
seltensten  Fällen  zum  Schmucke  des  Gottes  aus¬ 
reichen.  Die  rohe,  imkünstlerische  Schnitzarbeit  ver¬ 
langte,  dass  diese  Holzbilder  mit  wirklichen  Gewän- 


264 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


dem  bekleidet  imd  mit  mancherlei  Sclimuckgegen- 
ständen  geputzt  wurden,  wie  wir  dies  ja  noch  heut 
bei  den  Heiligenstatuen  in  den  katholischen  Kirchen 
finden.  Eine  reiche  Tempelgarderobe  bot  dafür  die 
Mittel;  die  Priesterschaft  leistete  die  Bedienung  und 
Avieder  Avurde  das  Neueinkleiden  der  Kultusbilder 
ein  Hauptteil  des  Ritus,  so  vor  allem  bei  den  Pana- 
thenäen  in  Athen,  wo  das  alte  Athenebild  im  Erech- 
theum  mit  einem  zu  diesem  ZAvecke  von  athenischen 
Jungfrauen  neugefertigten  Peplos  geschmückt  wurde. 

Und  diese  Kleider  der  Götter  waren  nun  nicht 
etAva  vollständig  weiß,  schon  darum  nicht,  weil  auch 
die  geAvöhuliche  Kleidung  der  Griechen,  wie  man 
Avohl  meist  denkt,  nicht  weiß,  sondern  verschieden¬ 
farbig  Avar.  Eine  ebenso  interessante,  Avie  zuverläs¬ 
sige  Bestätigung  der  sonstigen  Zeugnisse  der  Alten 
für  diese  Farbigkeit  der  griechischen  Kleidung  bieten 
noch  die  erst  vor  kurzem  aufgefundeneu  sogenann¬ 
ten  ägyptischen  Mumienbilder  von  Kerke.  Die  Farben 
aller  GeAAfiinder,  die  wir  auf  diesen  Bildern  sehen, 
sind,  Avie  man  es  von  den  feinsinnigen  Griechen  nur 
erwarten  kann,  nicht  schreiend  bunt,  wie  oft  heu¬ 
tige  südliche  Volkstrachten,  aber  auch  nicht  ein¬ 
förmig  Aveiß,  sondern  mild  und  gesättigt  und  häufig, 
besonders  bei  den  Frauenbildern,  mit  raffinirtem 
Farbensinn  der  individuellen  Erscheinung  angepasst. 
Besonders  beliebt  scheint  ein  mattes,  ins  Braunrote 
spielende  Violett  gewesen  zu  sein,  das  bald  als  Ein¬ 
fassung  der  Aveißen  Gewänder,  bald  als  Grundfarbe 
mit  meist  schwarzen  oder  goldenen  Streifen  geziert, 
v(jrkommt  und  durch  eine  ganze  Reihe  bald  röt¬ 
licher,  bald  bläulicher  ZAvischentöne  vom  zartesten 
Lila  bis  zum  dunkelsten  Blauschwarz  abgestuft  er- 
>chi‘int.  Höchst  Avahrscheinlich  stellt  dies  Violett 
diui  b<-rühmten  Pur[tur  der  Alten  dar.  Denn  die 
laridhiuHge  \  orstelluiig,  die  wir  heut  mit  dem  Aus¬ 
druck  Pur])ur  verbinden,  die  eines  mehr  oder  weniger 
Iid)|i;iften  Kots,  ist  sicher  nicht  festzuhalten,  sondern 
di<-  lorlgeschritteiien  Färbemethoden  s{)äterer  Zeiten 
'•rzicdbui  uiizälilige  Modifikationen  des  Pur])urs,  deren 
eine  l’iirlaing  derartig  gewesen  sein  muss,  dass 
dii“  Dirhter  so  verschiedene  Dinge,  wie  das  Meer, 
Iraulxui,  Klut,  diuikle  Haare  und  Rosen  damit  ver- 
ulfichen  komden.  Dass  der  Purjuir  der  Alten  aber 
l■r^  pri^lgli(  h  violett  gewesen  ist,  liat  Lacaze-Duthiers 
in  .riiiciu  Mfinoire  siir  la  p(nir[)re  dargethan. ') 

1)  Aie  (Ifii  Yfrsiidien ,  die  dieser  (ielelirte  mit  dem 
n  I’iir|iiirseliriec.ke  iiiif^estellt  hat,  winl  es  klar,  warum 
'  '■  iai!:  '  im  Altertum  mit  (leid  und  Silber  aufgeworfen 
wiii  -I'  und  ah  höchster  Khrenschmuck  iler  («roßen  galt.  Die 
''innen  liahlen,  unter  deren  Kinwirkung  der  ursprünglich 


So  also  dürfen  wir  uns  diese  ältesten  Kultus¬ 
bilder  nur  als  noch  sehr  rohe,  entweder  nur  bemalte 
oder  auch  überkleidete  Holzpuppen  denken.  Als 
dann  nun  die  Zahl  der  Tempel  sich  mehrte  und 
die  inzwischen  fortgeschrittene  Kunst  die  Aufgabe 
erhielt,  für  diese  neuen  Tempel  die  Kultusbilder  zu 
schaffen,  mussten  die  Künstler  selbstverständlich  an 
den  ihres  Alters  wegen  verehrten  Holzbildeni,  be¬ 
sonders  an  deren  Gewandung  die  ersten  Studien 
machen.  Dabei  stellte  sich  dann  wohl  zuerst  das 
Bedürfnis  heraus,  diese  Gewandung  selbst,  also  das 
Bekleiden  der  Statuen  mit  wirklichen  Kleidern  über¬ 
flüssig  zu  machen.  Um  dahin  zu  gelangen,  bediente 
man  sich  der  Zusammensetzung  mehrerer  nach  Art 
und  Farbe  verschiedener  Stoffe,  wobei  die  alte  Tra¬ 
dition  der  Technik,  wie  sie  an  kunstreichen  Geräten 
ausgebildet  war,  mitwirkte.  So  wurden  Ebenholz, 
Elfenbein,  Gold  und  Silber  für  einzelne  angesetzte 
oder  eingelegte  Teile  zu  Hilfe  genommen,  teils  zu 
größerer  Deutlichkeit  der  in  solcher  Weise  hervor- 
gehobeneu  Partieen,  teils  um  durch  die  Vielfarbigkeit 
zu  wirken;  also  auch  hier  bildete  sich,  wenn  auch 
mit  sparsamen  Mitteln,  ein  gewisses  System  der 
Polychromie  aus,  bei  welchem  der  Reiz  der  Farbe 
etAvas  Wesentliches  ausmachte. 

Hieraus  entwickelte  sich  ja  dann  die  Technik, 
in  Avelcher  die  vollendete  Kunst  der  größten  Meister 
die  höchsten  Ideale  der  Götterbilder  darstellte,  die 
Technik  der  Chryselephantine,  bei  der  nur  Elfenbein 
und  Gold  verwendet  wurden.  Bekanntlich  waren 
die  beiden  HauptAverke  des  Phidias,  die  Athene  Par- 
thenos  und  der  olympische  Zeus,  sodann  auch  das 
berühmteste  Werk  des  Polyklet:  die  argivische  Hera 
aus  Gold  und  Elfenbein,  und  geraume  Zeit  galt 
diese  das  edelste  und  kostbarste  Material  verwen¬ 
dende  Technik  für  die  eines  Tempelbildes  vorzugs¬ 
weise  würdige.  Oft  aber  reichten  die  Mittel  für 
diese  Herstellungsart  nicht  aus;  da  suchte  man  dann 
eine  ähnliche  Wirkung  dadurch  zu  erzielen,  dass 
man  z.  B.  Marmor  und  vergoldetes  Holz  an  die 
Stelle  setzte,  an  dem  Gegensatz  des  verschieden¬ 


farblose  Saft  der  Schnecken  so  schönes  Violett  entwickelt, 
vermögen  dem  einmal  gefärbten  Stoffe  nichts  mehr  anzu¬ 
haben;  wo  andere  Farben  ausbleichen  würden,  färbt  sich 
der  Purpur  nur  noch  satter.  Für  ein  im  Freien  und  unter 
südlicher  Sonne  lebendes  Volk  nun  ist  diese  Eigenschaft 
sicher  sehr  wertvoll.  Dies  aber  umsomehr,  als  es  kaum 
eine  Farbe  giebt,  die  harmonischer  und  feiner  zu  dem  war¬ 
men,  bräunlichen  Kolorit  der  Südländer  stünde,  als  diese. 
So  sind  denn  auch  heute  noch  mit  Purpur  gefärbte  Gewänder 
die  beliebteste  und  gewöhnlichste  Tracht  der  Fischer-  und 
Schiff'erbevölkerung  an  der  kleinasiatischen  Küste. 


DIE  FOLYCHUOMIE  IN  DEIl  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


265 


artigen  und  verschiedenfarbigen  Stoffes  also  festliielt. 
Als  dann  endlich  die  wundervoUe  Schönheit  des 
Marmors,  wie  die  Meisterschaft  in  der  Behandlung 
desselben  es  mit  sich  brachte,  dass  man  erkannte, 
wie  auch  die  Götterbilder  am  schönsten  nur  ans 
reinem  Marmor  hergestellt  werden  könnten,  hatte 
sich  die  vielfarbige  Skulptur  schon  so  fest  einge¬ 
bürgert  und  ihre  Wirkung  schon  in  solchem  Um¬ 
fange  geäußert,  dass  das  Auge  der  Griechen  durch¬ 
aus  an  dieselbe  gewöhnt  war,  dass  die  Unterstützung 
der  Plastik  durch  die  Farbe  für  ihre  Herstellung 
das  angemessene  Verfahren  mit  den  der  Kunst  zu 
Gebote  stehenden  Mitteln  war.  So  fuhr  man  auch 
jetzt  fort,  die  Marmorgestalten  zu  bemalen,  ja  gerade 
von  Meistern,  die  als  die  edelsten  Repräsentanten 
dieser  Marmorskulptur  gelten  müssen,  von  Skopas 
und  Praxiteles ,  sind  Nachrichten  erhalten ,  die  uns 
beweisen,  dass  auch  sie  die  Farbe  nicht  verschmäh¬ 
ten.  Und  unmöglich  kann  man  annehmen,  dass  uns 
in  diesen  Nachrichten  nur  vereinzelte  Erscheinungen 
vorliegen,  dei  denen  Zufall  und  Laune  ihr  Spiel 
trieben,  wir  müssen  sie  vielmehr  als  bezeichnende 
Beweise  für  die  Thatsache  ansehen,  dass  auch  die 
vollkommen  entwickelte  Marmorskulptur  die  Be¬ 
nutzung  der  Farbe  nicht  aufgab. 

Auch  in  der  folgenden  Zeit  der  Diadochen,  aus 
der  keine  mit  Bestimmtheit  redenden  Überlieferungen 
auf  uns  gekommen  sind,  wird  man  bei  der  vorherr¬ 
schenden  Richtung  der  damaligen  Kunst  auf  Pracht 
und  Luxus  nicht  zu  der  Annahme  geneigt  sein, 
dass  sie  auf  die  überkommenen  Mittel  einer  heiteren 
Farbenwirkung  zu  Gunsten  einer  reinen,  strengen 
Einfachheit  verzichtet  habe,  zumal  wenn  man  er¬ 
wägt,  dass  die  asiatische  und  ägyptische  Kunst,  in 
deren  Umgebung  sie  sich  nunmehr  befand,  durch¬ 
aus  polychrom  war.  Es  wäre  eine  durchaus  ano¬ 
male  Erscheinung,  wenn  die  griechische  Skulptur  unter 
solchen  Verhältnissen  und  Einflüssen  den  bis  dahin 
konsequent  verfolgten  Weg  verlassen  und  die  An¬ 
wendung  der  Farbe  aufgegeben  hätte. 

Doch  auch  eine  ausdrückliche  Bestätigung  da- 
für,  dass  weder  in  der  Blütezeit  der  Marmorskul¬ 
ptur,  noch  in  der  Zeit  der  Diadochen  die  Bemalung 
aufgehört  hat,  findet  sich  für  uns  noch  in  der  Be¬ 
handlung  der  Augen;  schließt  doch  die  polychrome 
Behandlung  der  Statuen  natürlich  auch  eine  ent¬ 
sprechende  Herstellung  der  Augen  ein.  Dazu  boten 
sich  nun  zwei  Herstellungsarten  dar;  sie  wurden  ent¬ 
weder  durch  Glas,  Schmelz  oder  kostbare  Steine 
oder  aber  mit  dem  Meißel  mittelst  der  Vertiefung 
der  Iris  und  Pupille  gebildet.  Denn  diese  letzte 
Zeitschrift  fiir  bildende  Kunst.  N.  F,  IV. 


Herstellung  mit  dem  Meißel  datirt  nicht  erst  aus 
der  Zeit  des  Niederganges  der  griechisch-römischen 
Kunst,  wie  man  bisher  annahm,  sondern  sie  findet 
sich  schon  an  einzelnen  der  archaischen  Bildwerke, 
die  man  bei  den  letzten  Ausgrabungen  auf  der  Akro¬ 
polis  von  Athen  gefunden  hat.  Diese  wirkungsvolle 
Behandlung  des  Auges,  die  die  Renaissance  wieder 
aufgeuommen  hat,  ist  mithin  uralt.  Sie  hebt  in  An¬ 
lehnung  an  den  Ban  und  die  Lichtstrahlung  des 
Auges  die  dunkle  Pupille  durch  einen  tiefen,  also 
stark  beschatteten  Kreis  von  dem  heller  beleuchteten 
Iriskreis  ab  oder  lässt  auch  wohl  umgekehrt,  um 
das  Funkeln  des  Auges  wiederzugeben,  die  Pupille 
wie  einen  Stift,  also  hell  beleuchtet,  in  der  vertief¬ 
ten,  dunkeln  Iris  stehen. 

Warum  wurde  nun  in  der  Blütezeit  der  Kunst 
dies  Hilfsmittel  aufgegeben,  sehen  uns  doch  die  herr¬ 
lichsten  Bildwerke  aus  dieser  Zeit  mit  ihren  leeren 
Augen  sehr  befremdlich  an?  Denn  von  dem  Aus¬ 
druck  dieser  Augen  zu  sprechen,  ist  doch  wohl  nur 
eitel  Phrase.  Den  „großen  Blick“  der  Juno  Ludo- 
visi  erkennen  wir  aus  ihren  weitgeöftheten  Augen. 
Wer  aber  von  dem  sterbenden  Gallier  sagt:  „Todes¬ 
schatten  umfloren  schon  seinen  Blick“,  oder  gar 
vom  Apoll  vom  Belvedere:  „Das  leuchtende  Auge 
scheint  die  Wirkung  des  eben  abgeschossenen  Pfeiles 
zu  verfolgen“,  dem  fehlt  aller  Blick  für  das  Wirk¬ 
liche;  und  ebenso  kann  man  auf  einen  Blick  der  Niobe, 
in  welchem  sich  „tiefer  Schmerz  und  hoher  Seelen¬ 
adel  wunderbar  mischen“,  nur  aus  dem  Gesichts¬ 
ausdruck  und  der  Blickrichtung  des  Auges  schließen. 

Diesen  jetzt  so  leeren  Augen  jener  Bildwerke 
gegenüber  müssen  wir  doch  sicherlich  annehmen, 
dass  sie  einst  gemalt  waren,  gemalt  mit  aller  Meister¬ 
schaft  tüchtiger  Porträtmaler,  wie  sie  die  alten 
Schriftsteller  so  überschwenglich  rühmen;  und  dies 
ist  dann  der  sehr  natürliche  Grund,  warum  man  in 
der  Blütezeit  hellenischer  Kunst  die  Vertiefung  der 
Iris  und  Pupille  aufgab  und  eine  glatte  Fläche  für 
die  Arbeit  des  Pinsels  vorzog.  Solchen  ausdrucks¬ 
voll  gemalten  Augen  gegenüber  konnten  dann  auch 
die  antiken  Schriftsteller  von  der  Aphrodite  von 
Knidos  schreiben,  dass  der  Blick  des  Auges  jenen 
feuchten,  schwimmenden  Ausdruck  zeigte,  der,  weit 
entfernt  von  sehnsüchtigem  Verlangen,  doch  die 
weiche  Empfindung  einer  Göttin  der  Liebe  ausspreche. 
Auch  diese  jetzt  so  leeren  Augen,  an  denen  die 
Farbe  dann  nach  und  nach  geschwunden  ist,  zeigen 
uns  also,  dass  auch  in  der  Zeit  der  Blüte  und  Nach¬ 
blüte  die  Bemalung  der  Bildwerke  nie  ganz  aufge¬ 
hört  hat.  — 


34 


26G 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


Der  AVeg’,  auf  dem  die  Griechen  zur  Bemalung 
ihrer  Bildwerke  kamen,  liegt  sonach  klar  vor  uns; 
verständlich  und  leicht  erklärlicli  ist  es  sodann, 
warum  sie  auch  in  der  reinen  Marmorskulptur  nie 
ganz  von  der  Farbe  sich  losmachen  konnten.  Doch 
die  Gewohnheit  war  es  nicht  einmal  allein,  die  dies 
bewirkte;  nicht  nur  der  Umstand,  dass  ihr  Auge 
eine  unbemalte  Statue  nie  erblickte,  ließ  die  Künstler 
an  der  Vielfarbigkeit  festhalten,  sondern  es  gab  für 
den  griechischen  Plastiker  auch  noch  einen  zwin¬ 
genderen  Grund  für  diese  uns  so  barbarisch  erschei¬ 
nende  Sitte. 

Auch  in  unserer  Gedankenwelt  führen  ja  die 
Götter  der  Griechen  noch  ein  lebendiges  Dasein; 
von  Jugend  auf  sprechen  wir  von  dem  wilden  En- 
gestüm  des  Ares,  von  der  Weisheit  der  Athene,  von 
der  Schönheit  einer  Aphrodite;  dabei  aber  sind  wir 
keineu  Augenblick  darüber  in  Zweifel,  dass  Athene 
und  Aphrodite  nur  Namen  von  Idealgestalten  sind, 
die,  in  der  Phantasie  geboren,  nirgends  in  Wirklich¬ 
keit  existiren.  Was  aber  waren  jene  Bewohner  des 
Olymps  für  die  Griechen?  Weder  moralisch-poli¬ 
tische  Allegorieen,  wie  die  Götter  der  Perser,  noch 
bloße  Symbole  von  Kräften  der  Natur,  wie  die  ägyp¬ 
tischen  ,  sondern  lebendige  Charaktere,  Individuen ; 
und  diese  nicht  etwa,  wie  der  Brahma  der  Indier, 
ins  Anschauen  ihrer  selbst  versunken,  sondern  in 
steter  willkürlicher  Thätigkeit  begriffen,  mit  dem 
menschlichen  Leben  aufs  engste  handelnd  und  selbst 
leidend  verknüpft.  So  konnte  dem  Griechen  auch 
das  Bihl  seines  Gottes,  die  Statue,  nicht  etwa  bloß 
das  Symbol  eines  abstrakten  Begriffs  bleiben,  gleich¬ 
sam  nur  ein  mnemonisches  Zeichen,  um  den  Ge¬ 
danken  an  höhere  Natur  zu  erwecken;  sie  war  ihm 
vielmehr  der  sichtbare  Olympier  selbst,  seine  körimr- 
liche  Hülle.  Götter  und  ihre  Statuen  sind  unzer- 
Irennliche  Pegrilfe,  und  alles,  was  jenen  zukam, 
wurde  auf  diese  übertragen. 

Immer  sind  daher  die  Götter  unverkennbar  nicht 
bloß  als  seiend,  sondern  als  erscheinend  dargestellt. 
Alle  Feierlichkeit  des  erhaljenen  Temj)elstils  ist  über 
die  Pallas  von  V'clletri  ausgegossen;  strenge  Größe 
und  hoher  Ernsl  ist  der  Charakter  dieser  bewunde¬ 
rungswürdigen  Gestalt.  Aber  das  Haupt  ist  sanft 
zur  Erde  geneigt.  Sie  winkt  dem  Flehenden  Ge¬ 
währung  zu.  I)iesen;e  Haliung  zeigt  die  herrliche 
.Miiicrvabüsfe  aus  der  Villa  All)ani;  und  ebenso  hat 
man  .sich  den  olympischen  .Iiipiier  des  l’hidias  zu 
denken,  wenn  anders  die  Sage  gegründet  ist,  dass 
seine  Idee  von  Homer  entlehnt  war  (II.  I  v.  .ö2S  ff.). 
.Vndere  Götterstatuen  hielten  die  Rechte  mit  einer 


Schale  ausgestreckt,  um  die  heilige  Spende  zu  em¬ 
pfangen,  oder  sie  reichten  den  Kranz,  die  Binde  des 
Sieges  oder  das  Bild  der  geflügelten  Nike  selb.st 
dar.i)  Hier  war  also  überall  Handlung,  freilich  die 
Handlung  von  Wesen,  deren  That  meist  nur  ein 
Wink  ist;  aber,  was  nicht  zu  übersehen,  von  künst¬ 
lerischer  Seite  betrachtet,  zugleich  eine  Handlung, 
welche  nicht  in  den  ideellen  Kreis  des  Kunstwerkes 
eingeengt  bleibt,  sondern  aus  diesem  heraus  sich  in 
die  Wirklichkeit  bewegt,  ja  erst  in  dieser  Sinn  und 
Bedeutung  erhält.  Nirgends  also  Beschränkung 
des  Kunstwerkes  auf  sich  selbst,  sondern  lebendige 
Beziehung  der  Statue  zu  ihrem  Beschauer. 

Auch  alle  Tempelgebräuche,  das  ganze  Ritual 
war  ja  recht  eigentlich  darauf  berechnet,  zwischen 
der  Statue  und  ihren  Verehrern  einen  möglichst  leb¬ 
haften  Verkehr  zu  unterhalten.  An  die  Statue  wur¬ 
den  die  Hymnen  und  Gebete  gerichtet,  ihre  Kniee 
wurden  im  Augenblick  der  Gefahr  umfas.st.  Zur 
Gesellschaft  sind  in  ihrem  Wohnsitz,  dem  Tempel, 
die  Statuen  der  nächstverwandten  Götter  und  ihrer 
Lieblinge  um  sie  versammelt;  selbst  für  den  nötigen 
Hausbedarf  ist  gesorgt.  In  festlichen  Aufzügen  wer¬ 
den  neue  Prunkgewänder  für  das  Tempelbild  ge¬ 
bracht,  und  im  Opisthodomos  häufen  sich  die  Schätze. 
Gerade  wie  lebende  Wesen  werden  die  Statuen  ge¬ 
hegt  und  gepflegt,  sie  werden  bekränzt,  gesalbt,  ge¬ 
badet,  sogar,  als  hätte  man  es  für  nötig  erachtet, 
ihrer  plastischen  Langeweile  vorzubeugen,  mit  Possen¬ 
spielen  erlustigt.-) 

So  wurde  alles  aufgeboten,  um  ihnen  ihren 
Wohnsitz  so  angenehm  wie  möglich  zu  machen. 
Denn  sie  konnten  ihn  verlassen,  mit  einem  glück¬ 
licheren  Boden  vertauschen.  Und  wie  viel  war  nicht 
an  die  persönliche  Gegenwart  der  Götter  in  ihren 
Statuen  geknüpft!  So  lange  das  Bild  des  Schutz¬ 
gottes  der  bedrängten  Stadt  noch  nicht  entrissen 
worden,  ist  nicht  alle  Hoffnung  gesunken;  erst  die 
von  ihm  verwaiste  Stadt  ist  dem  Verderben  sicher 
])reisgegeben.  Deshalb  legte  man  in  dem  von 
Alexander  belagerten  Tyrus  der  Statue  des  Apollo 
goldene  Ketten  an  und  knüpfte  diese  an  den  Altar 


])  Dass  die  Götterbilder  die  Victorien  und  Kränze  nicht 
l)loß  trupjen,  sondern  darreichten,  hat  niemand  besser  ver¬ 
standen,  als  der  Terapelräuber  Dionys.  „Ea  se  accipere,  non 
auferre  dicebat.“  Cicero:  de  natura  deorum.  III.  34.  p.  672. 
cd.  Cr.  — 

2)  Vgl.  Clemens  Alex.  Paedag.  II,  cd.  Sylb.  p.  181.  C. 
Paschal.  coronae  p.  201  ff.  —  Artemid.  Oneiror.  II  ,34.  p. 
122.  ed.  K.  Prudent.  in  Symmach.  I,  v.  204.  —  Spanh.  ad 
Callim.  p.  ,326.  —  Herodot  v.  .38.  p.  318.  ed.  Jungerm.  Vgl. 
Kannegießer,  Komische  Bühne  von  Athen  p.  28. 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


267 


des  Herkules.  Ja,  einzelne  Statuen  in  Griechenland 
trugen  von  jeher  Fesseln,  damit  man  ein  für  alle¬ 
mal  ihrer  Treue  versichert  sei.  Götterbilder,  der  er¬ 
stürmten  Stadt  entrissen,  sind  erst  das  Zeichen  des 
vollendeten  Sieges,  und  ihre  schirmende  Kraft  wird 
auf  fremden  Boden  verpflanzt,  um  dort  gleichsam 
neue  Wurzel  zu  schlagen.  Orakel  gebieten,  das 
Götterbild  eines  fremden  Volkes  dem  Vaterlande 
einzuverleiben,  und  Statuen  anerkannter  Segenskraft 
werden  in  entscheidenden  Momenten  von  ihren  Be¬ 
sitzern  als  Bundesgenossen  und  Mitkämpfer  erbeten 
und  eingeholt.  Eine  Sage  lässt  sogar  eine  Statue 
des  delphischen  Apollotempels  durch  göttliche  Kraft 
nach  Korcyra  wandern  und  die  Mauern  dieser  Stadt 
verteidigen. ') 

Doch  nicht  bloß  solche  in  Bedrängnis  und  Ge¬ 
fahr  schirmende  Kraft  schrieb  man  den  Götterbildern 
zu;  die  Gegenwart  der  Götter  in  ihren  Bildern 
hatte  diese  auch  mit  anderen  dämonischen  Kräften 
erfüllt,  die  zwar  in  der  Regel  schlummerten,  aber 
doch  von  außen  geweckt  werden  konnten  und  dann 
wunderthätig  ins  Leben  traten.  So  wurde  gewissen 
Götterstatuen  die  Kraft  der  Weissagung  zugeteilt, 
z.  B.  einem  Bilde  der  Hekate,  welches  Theagenes 
immer  mit  sich  führte  und  um  Rat  fragte.  Ja,  noch 
Pausanias  sah  auf  dem  Markte  von  Pharae  in  Achaja 
das  Bild  eines  weissagenden  Hermes.  Man  sagte 
der  Bildsäule  sein  Anliegen  ins  Ohr,  und  die  erste 
Stimme,  welche  sich  hören  ließ,  wenn  man  den  hei¬ 
ligen  Bezirk  verlassen  hatte,  galt  als  Orakel.  Ander¬ 
wärts  hörte  der  fromme  Wahn  von  den  Lippen  der 
Statue  selbst  das  Wort  des  Gottes;  auch  den  Klang 
der  Cither  wollte  man  zu  Daphne  von  der  Äpollo- 


1)  Vgl.  Paus.  VIII.  40,  1.  tf.  p.  551.  —  Liv.  XXIX,  10. 
Ovid.  fast.  IV,  2.75  ff.  —  Herocl.  V,  yü.  81.  p.  31T.  Vlll,  04. 
p.  482.  —  Servius  ad  Virg.  Aeneid.  I.  97. 


statue  des  Tempels  vernommen  haben.  (Wo  es  für 
nötig  erachtet  wurde,  kam  wohl  auch  Betrug  dem 
Wahn  zu  Hilfe  und  half  die  Zunge  der  Statue  lösen. 
So  wird  berichtet,  dass  der  Bischof  Theophilus  bei 
Zerstörung  der  Götzenbilder  in  Alexandrien  mehrere 
fand,  welche  hohl  und  so  an  die  Wand  gestellt 
waren,  dass  man  hinter  ihnen  durch  den  Mund  der 
Statue  reden  konnte. ') 

Kein  Wunder  dann,  wenn  nun  auch  den  Sta¬ 
tuen  geradezu  Empfindung  beigelegt  wurde,  wenn 
ihre  tote  Materie  von  Zeit  zu  Zeit  die  Natur  eines 
organischen  Körpers  annimmt,  wenn  hier  ein  Stand¬ 
bild  Thränen  vergießt,  dort  die  Angst  ihm  Schweiß 
oder  Blut  austreibt,  und  endlich  die  Statue  in 
ein  sympathisches  Verhältnis  mit  dem  mensch¬ 
lichen  Körper  tritt,  so  dass  z.  B.  Kraut,  auf  dem 
Kopfe  einer  Statue  gewachsen,  wie  Plinius  in  allem 
Ernst  versichert,  Kopfschmerzen  heilt.-) 

Nur  als  beseeltes  Werk  also  hatte  der  grie¬ 
chische  Künstler  das  Götterbild  von  der  Beligion 
überkommen.  Es  bewegte  sich,  es  schritt  einher, 
es  empfand  und  wirkte  mit  dämonischer  Kraft.  Sollte 
das  atmende  Werk  nun  unter  seinen  Händen  zur 
toten  Marmorbüste  erkalten?  Nein,  der  Glaube  des 
Volkes  verlangte  von  ihm,  dies  Prinzip  der  Besee¬ 
lung  vor  allen  anderen  festzuhalten,  der  ganzen 
Form  gleichsam  die  Beweglichkeit  eines  Gewandes 
zu  geben,  in  welchem  die  Seele,  die  es  umgeworfen, 
sich  ungehindert  und  frei  bewegen,  in  glücklich 
überraschenden  Momenten  sich  offenljaren  könne.  — 
(Schluss  folgt.) 


1)  Suid.  ecl.  Kust.  II,  p.  1G8.  Paus.  VII,  2.  3.  p.  457 
Pluti.  de  fort.  Rom.  Opp.  ed.  X,  II,  p.  319.  A.  Theodoret. 
bist.  eccl.  V,  22.  — 

2)  Liv.  XI,  10.  —  XXllI,  31.  -  XXVII,  4.  —  Plin.  h. 
n.  XXIV,  5.  lUü.  p.  352.  — 


34* 


DIE  VERVIELFÄLTIGENDEN  KÜNSTE 
AUF  DEN  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN  1893. 


IE  Kün.stler  graphischer  Ver¬ 
vielfältigung,  die  Schöpfer 
eigener  Erfindungen,  wie  die 
Reproduzenten  von  Anderer 
Werken,  haben  sich  im  neuen 
Salon  des  Champ  de  Mars 
kaum  minder  zahlreich  ein- 
gefunden  als  in  den  Sälen 
des  Inrlustriepalastes  auf  den  Champs  Elysees.  In 
der  Radirung  und  im  Holzschnitte  liegen  hervor¬ 
ragende  Leistungen  vor,  allein  ein  weit  größeres 
Interesse  knüpft  sich  an  eine  Anzahl  Steindrucke, 
die  eine  Art  von  Renaissance  der  künstlerischen 
Lithographie  rühmlich  bezeugen.  In  der  That  kann 
seit  einigen  Jahren  in  Frankreich  eine  unerwartet 
sich  steigernde  Vorliebe  der  Künstler  für  die  Ori- 
ginallithographie  beobachtet  werden,  für  eine  Kunst 
also,  die  im  allgemeinen  als  längst  begraben  ange¬ 
sehen  zu  werden  pflegt.  Freilich  bis  zu  der  Schät¬ 
zung  und  Verbreitung,  deren  die  Lithographie  sich 
vor  fünfzig  Jahren  erfreute,  ist  noch  ein  weiter 
Schritt.  Aber  die  Wiederbelebungsversuche,  die 
gegenwärtig  von  einer  Anzahl  eifriger  Künstler  er¬ 
folgreich  gemacht  werden,  verdienen  umsomehr 
unsere  'l’eilnahme,  als  unlängst  auch  bei  uns  einige 
.scliiuditerne  \’ersuche  derart  sich  hervorgewagt 
liaben.  Ich  erinnere  an  die  Lithographieen  von 
UnuTier  und  die  C(dorirten  Rlätter  von  Hans  Thoma. 

ln  l’rankreich  hat  die  Lithogra])hie  nie  ganz 
aiifgfdiört,  Künsller  zu  originalen  Erfindungen  an¬ 
zuregen.  Zu  laut  mahnte  die  stolze  Vergangenheit 
dieser  Kunst  und  jede  jiosfhume  Ausstellung,  wie 
diejenige  der  ^Verke  von  A.  M.  Hälfet  vor  zwei 
Jahren  und  die  diesjährige  der  Werke  von  N.  T. 
Gbarb't,  warb  der  lithographischen  Kunst  nicht 
nur  Hewnnderer,  sondern  auch  eine  tüchtige  Schar 
niMii-r  Irenmb*.  Hesonders  l’aiil  Maiirnu,  dem  im 


vorigen  Jahre  die  Medaille  d’honneur  des  Salons  zu¬ 
erkannt  worden  ist,  hat  sich  um  die  Sache  der  Litho¬ 
graphie  verdient  gemacht;  er  gründete  1884  die 
Societe  des  Artistes  lithographes  fran^ais.  Den 
ersten  großen  Erfolg  dieser  Bemühungen  brachte 
die  Exposition  de  Blanc  et  Noir  1890  und  seitdem 
ist  die  Anzahl  der  Künstler -Lithographen  so  ge¬ 
wachsen,  dass  ich  davon  ahstehe,  eine  Liste  auch 
nur  der  tüchtigsten  aufzustellen.  Nur  auf  einige 
wenige  will  ich  hinweisen,  indem  ich  mit  den  beiden 
Salons  zugleich  auch  diejenigen  Künstler  berück¬ 
sichtige,  die  bei  Durand-Ruel  sich  der  Charlet-Aus- 
stellung  angeschlossen  haben. 

Von  den  älteren  Künstlern  muss  Cheret  an  erster 
Stelle  genannt  werden,  —  Cheret,  von  dem  an  den 
Anschlagsäulen  in  Paris  die  phantastischesten  aller 
Affichen  herrühren,  der  aber  trotz  der  praktischen 
Absichten  seiner  Aufgaben  einer  der  originellsten 
Pariser  Zeichner  ist.  Cheret  ist  ein  Meister  für  sich, 
wie  Raffet,  Celestin  Nanteuil  oder  Dore,  die  vor 
ihm  Geschäftsanzeigen  in  monumentalen  Lithogra¬ 
phieen  illustrirten.  Cheret  wird  gesammelt,  katalo- 
gisirt  nicht  minder  eifrig  als  seine  Vorläufer,  die 
Buntdruck.stecher  des  18.  Jahrhunderts.  Nicht  selten 
kann  man  nächtlicherweile  begeisterte  Sammler 
überraschen,  wie  sie  bemüht  sind,  Cheret’sche  Pla¬ 
kate  von  der  Mauer  abzulösen;  und  haben  sie  glück¬ 
lich  ihre  Beute  erhascht,  daun  wird  wohl  der  neue 
Cheret  fein  säuberlich  aufgezogen  und  unter  Glas 
an  die  Wand  gehängt.  Und  gewiss  steckt  in  diesen 
scheinbar  flüchtig  entstandenen  Gebilden  mehr  Künst¬ 
lerschaft,  als  in  mancher  sorgfältig  durch  gefeilten 
Academie.  Eine  feine  Empfindung  für  das  Gefällige 
der  bewegten  weiblichen  Figur,  wenn  auch  mit  einem 
Zug  zur  Gauloiserie,  verbindet  sich  da  mit  unleug- 
licher  Meisterschaft  in  der  Formenbehandlung.  Der 
Reiz  der  Bewegung  ist  außerordentlich  wie  die 


DIE  VERVIELFÄLTIGENDEN  KÜNSTE  AUF  DEN  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN  1893.  269 


LlBRAlRIE 


kühne  fleckige  Ziisammenstellung  von  Rot,  Gelb  und 
Blau,  die  bei  einiger  Entfernung  höchst  harmonisch 
Zusammengehen. 

Cheret’s  Anfänge  reichen  weit  in  die  siebziger 
Jahre  zurück ,  schon  die  Aus¬ 
stellung  vom  Jahre  1878brachte 
ihm  den  großen  Erfolg  und 
seitdem  hat  seine  freizügige 
und  geistreiche  Kunst  immer 
an  Bedeutung  gewonnen,  so 
sehr,  dass  seine  Art,  den  be¬ 
wegten  Körper  zu  sehen,  nicht 
ohne  Eindruck  auf  seine  Kol¬ 
legen  von  der  Palette  geworden 
ist.  Das  nimmt  umsoweniger 
Wunder,  als  sein  Kolorit,  so 
roh  es  anfänglich  auch  scheint, 
doch  mit  den  lebhaften  Farben- 
eöekten  modernster  Malerei  im 
besten  Einklang  steht.  In 
Schlittgen’s  Tänzerinnen  auf 
der  Berliner  Ausstellung  steckt 
etwas,  das  sich  mit  Cheret’s 
zeichnerischer  Bravour  verglei¬ 


chen  lässt.  Neben  diesen  Ar¬ 
beiten  einer  ausgelassenen  Ori¬ 
ginalität  ist  es  schwer,  den 
romantischen  Lithographieeii 
Faniin- Latour' h;  völlige  Gerech¬ 
tigkeit  angedeihen  zu  lassen. 

Seine  Kompositionen  nach  W ag- 
ner’schen  Motiven  sind  in  einer 
etwas  nebelhaften  F’ormen- 
sprache  vorgetragen;  gegenüber 
den  Arbeiten  jüngerer  Künstler 
erscheint  Fantin’s  strichelnde 
Manier  fast  unfrei,  unlebendig. 

Von  den  Neueren  macht  Alexan¬ 
dre  Lunois  durch  seine  modula¬ 
tionsreichen  Originallithogra- 
phieen  Aufsehen,  worunter  sich 
auch  einige  farbige  Versuche 
befinden;  mit  ihm  wetteifern 
Henri  -  Patrice  Dillon,  Ernest- 
AngeDuez  (Landschaften),  Einet, 

Aman  Jean  und  andere,  deren 
Arbeiten  teils  in  dem  Journal 
dem  Album  des  Peintres  lithographes  erschienen  sind. 

Auf  gleicher  Höhe  wie  die  originale  Lithographie 
stehen  die  Reproduktionen.  Was  Etienne  Corpet, 
0.  Fuchs  (nach  Henner),  Lauget,  Siroug  und  besonders 


Plakat  von  Chferet 


,L'Artiste“,  teils  in 


Paul  Maurou  darhieten,  gehört  zu  dem  Besten,  was 
die  lithographische  Reproduktionskunst  hervorge¬ 
bracht  hat. 

Gegenüber  diesen  Lithographieen  behaupten  der 
Holzschnitt  und  die  Radirung 
den  hohen  Rang,  den  sie  seit 
langem  in  Frankreich  inne¬ 
haben,  während  der  Kupfer¬ 
stich  nur  noch  wenige  Ver¬ 
treter  mehr  gefunden  hat. 

Von  den  französischen  Ori- 
ginalradirern  zeichnen  sich  auf 
dem  Champ  de  Mars  einige 
Künstler  aus,  von  deren  Um¬ 
gang  mit  dem  Scheidewasser 
bisher  nur  dürftige  Kunde  in 
weitere  Kreise  gedrungen  ist. 
P.  G.  Hellen  ist  einer  dieser 
homines  novi,  und  seine  Ar¬ 
beiten  mit  der  kalten  Nadel, 
meist  weibliche  Porträtstudien, 
leicht  und  frei  hingeschrieben, 
gehören  zu  dem  Geistreichsten 
und  Anmutigsten,  was  man 
von  diesem  vielseitigen  Künstler 
sehen  kann,  ln  seinen  Blumen¬ 
studien  kommt  ihm  Ernest- 
Ange  Duez  sehr  nahe,  während 
Auguste  LejFre,  Paul  Penouard 
und  Henri  Guerard  selbstän¬ 
digere  Pfade  wandeln. 

Lepere  olfenhart  in  seinen 
originalen  Ätzungen  dieselbe 
künstlerische  Kraft  und  Selb¬ 
ständigkeit,  die  seine  Holz¬ 
schnitte  und  Ölbilder  aufweisen. 
Als  echter  Impressionist  im 
Sinne  von  Monet  und  Degas 
sucht  er  in  seinen  Naturvisio¬ 
nen  das  „Inedirte“,  dem  ge¬ 
wöhnlichen  Auge  Verborgene 
auf,  und  er  weiß,  was  sein 
Sinn  lebhaft  und  unmittelbar 
erfasste,  mit  überzeugender 
Kraft  vorzuführen.  Seine  Ton¬ 
schnitte  sind  allgemein  be¬ 
kannt.  Seine  feinen  Ätzungen,  in  denen  er  lebendige 
Bilder  des  Pariser  Lebens,  der  Pariser  Landschaft 
entwirft,  sind  der  Stolz  jedes  wohlorientirten  Samm¬ 
lers  von  modernen  Radirungen.  Interessant  sind  seine 
Versuche  im  Farbenholzschnitt,  bei  denen  ihm  die 


27U  DIE  VERVIELFÄLTIGENDEN  KÜNSTE  AUF  DEN  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN  1893. 


Vorbilder  japaniscber  Kunst  vorschweben.  Paul 
Renouard  erscheint  in  einigen  Blättern,  auf  denen 
er  die  Aquatinta  mit  der  kalten  Nadel  zu  sehr 
feinen  Wirkungen  vermählt,  im  Technischen  als  eine 
Art  Goya  auf  eigene  Hand.  Seine  Schilderungen 
vom  Tanzboden  der  Pariser  Oper  sind  ebenso  fein 
und  geistreich  wie  seine  Tierstudien  charakteristisch 
sind.  Henri  Guerard  nimmt  eine  Lieblingsbeschäf¬ 
tigung  Jacquemart’s  wieder  auf,  indem  er  kost¬ 
bare  Gefäße  mit  feinster  Charakteristik  ihrer  Mate¬ 
rialien  unter  Anwendung  oft  verwickelter  technischer 
Kniffe  so  wiedergiebt,  wie  sie  einem  impressionistisch 
schauenden  Auge  erscheinen:  als  Träger  subtiler 
malerischer  Wirkungen  —  nicht  im  Hinblick  auf 
das  Detail  der  Formengebung  und  Ornamentation. 

Euyiiir  Brjoi  benimmt 
sich  in  seinen  Atzungen  wie 
ein  etwas  harter  Nachahmer 
Le})ere’s.  Storni  rrurs  Urave- 
,sr//n/e  scheint  an  seinem  Ruhm 
zu  zehren,  vermag  mit  seinen 
Maasschilderungen  keinen 
starken  Eindruck  zu  erzielen. 

Bemerkenswert  ist  die  große 
Sammlung  höchst  sugges¬ 
tiver  Radirungen  von  3Ia.r 
Licli('nii(uin  und  die  große, 
in  derkoloristischen  Wirkung 
stnpende  Sommeridylle  von 
Kurl  Kojij)iii(j,  mit  der  der 
Künstler  sich  in  markanter 


W(~- 


W'eise  als  Originalradirer 

einfülirt.  Die  Gestalten  dieses  Sommeridylls,  zwei 
l‘'raucnßguren,  entsprechen  vielleicht  nicht  der  Idea¬ 
lität  klassischer  Formengebung,  allein  das  Blatt  ist 
so  ganz  auf  die  Wirkungen  der  Ätzkunst  hingear¬ 
beitet  und  erscliöptt  gewissermaßen  ihre  reichen 
inalerisclien  Befäliigimgen,  dass  es  allein  um  dieser 
teelinischen  d’ugend  willen  eingeliender  Betrachtung 
wert  ist,  und  je<lenfalls  die  Kün.stler  auf  das  leb- 
liafte.stf!  interessirt.  Erwähnt  seien  noch,  der 
Kuriosität  lialber,  der  Versuch  einer  vierfarbigen 
Kadirung  von  Uelalrr  und  die  Bemühungen 

von  Unui  I hidvalirr,  Atzung  und  Aquatinta  harmo- 
niscli  zu  verbinden.  Von  den  rei)ioduzirenden  Künst¬ 
lern  auf  dem  tdiamp  de  Mars  nenne  ich  Fdix  -hi- 
ungemein  einlässliclie,  aber  kraft-  und  salt- 
bjse  Wiedergabe  von  Botticelli’s  Primavera.  Sein 
großes  Blatt  wirkt  wie  eine  Heliogravüre,  so  ängst¬ 
lich  ist  jeder  .Strich“  vermieden;  zudem  macht  es 
nicht  den  Eindruck,  als  sei  die  Platte  vor  dem  Uri- 


Viguette  vou  Cli6ret. 


ginal  entstanden.  Etwas  unruhig,  aber  nicht  un¬ 
künstlerisch  ist  die  Kaltenadelarbeit,  mit  der  Andre- 
Henri  Proust  Botticelli’s  Fresken  aus  der  Villa  Lemmi 
im  Louvre  wiedergegeben  hat.  Andere  Werke  repro- 
duzirender  Kunst  stellten  die  bekannteren  Künstler 
wie  Waltncr ,  Lerat,  Riccmlo  de  los  Ilios  aus,  ohne 
damit  indessen  den  Wert  früherer  Arbeiten  zu  über¬ 
bieten. 

Wie  der  Salon  in  denChamps  Elysees  irn  Vergleich 
zu  dem  des  Marsfeldes  als  der  zahmere,  allgemein 
gefälligere ,  aber  künstlerisch  belanglosere  erscheint, 
so  trägt  auch  seine  graphische  Abteilung  einen  im 
allgemeinen  konservativeren  Charakter.  Aber  wie  sich 
in  der  Malerei  und  Skulptur  einzelne  fortschrittlich 
moderne  Strömungen  auch  im  Industriepalast  Ein¬ 
gang  verschafft  haben,  die 
den  Roybet,  Bouguereau  und 
Henner  gegenüber  kühn  und 
erfolgreich  die  Sache  einer 
frischeren  neuen  Kunst  ver¬ 
fechten,  so  finden  wir  auch 
unter  den  vervielfältigenden 
Künstlern  welche,  denen 
Selbständigkeit  im  Empfin¬ 
den  und  in  der  Formen¬ 
gebung  wichtiger  ist  als  die 
(jebenedeite  Routine  älterer 
Tüchtigkeit.  Namentlich  die 
reproduzirenden  Holzschnei¬ 
der  feiern  mit  ihrer  echt 
modernen,  malerisch  warm 
empfindenden  Virtuosität 
ebenso  einige  Lithographen, 
die  ich  schon  nannte.  Holzschnitte  von  Charles 
Dande,  Entile- Philippe  Lemaire,  Auguste- Hilaire  Le- 
rcillc,  Lron  Puffe,  Vintraut,  Gilardi  gehören  zu  den 
einrabmens würdigsten  Bildern.  Von  den  Radirern 
dieses  Salons  zeichneten  sich  aus  Chanvel,  Ileseltine, 
Sloromhe,  Ilügg  (Haigh),  Gourtrg,  Dainman,  Layuillcr- 
iule,  Lalauze,  Le  Gouteux,  Milius,  Turletti  und  last 
not  least  Albert  Krüger  aus  Berlin.  Im  reinen  Stich 
schuf  Jacqnct  das  Tüchtigste  und  hatte  Jacohy  seine 
Hochzeit  Alexander’s  mit  Roxane  nach  Giovan  An¬ 
tonio  de’  Bazzi  ausgestellt. 

So  zeiiit  sich  denn  auf  mehreren  Gebieten  ver- 
vielfältigender  Kunst  reges  Leben,  offenbart  sich  in 
den  Werken  der  Orginalradirer  und  Lithographen 
der  frische  künstlerische  Zug  der  Zeit  und  in  denen 
der  Reproduzenten  ein  ernstliches  Streben  nach 
l’reieren  künstlerischen  Ausdrucksformen. 

Paris,  Ende  Juni  1893.  PIVllARD  URAUL. 


schöne  Triumphe, 


Kopfleiste  von  A.  Lackner. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Auktion  der  Kupferstiche,  Badiriingcn  und  Zeichnungen 
aus  der  „Holford -  Sanunlung“.  Diese  berühmte  Sammlung, 
fast  die  letzte  ihrer  Art  in  Privatliänden  Englands,  kam 
am  11.  Juli  und  den  drei  folgenden  Tagen  bei  Christie  in 
London  zur  Auktion.  Die  hervorragendsten  Stücke  der  Kollek¬ 
tion  befanden  sich  längere  Zeit  zur  Ansicht  in  der  Kunst¬ 
handlung  von  Colnaghi  ausgestellt,  deren  Chef,  Mr.  Andrew 
McKay ,  einen  sehr  genauen  Katalog  der  Sammlung  ver¬ 
fasste.  Der  verstorbene  Mr.  Holford,  obwohl  ein  Mann  von 
Geschmack  und  Kenntnissen,  war  dennoch  kein  Sammler 
im  eigentlichen  Sinne,  und  so  blieb  denn  diese  Kollektion 
in  der  Hauptsache  in  demjenigen  Zustande,  in  welchem  sie 
als  „Woodburn“,  und  schon  früher  als  „Aylesford-Sammlung“ 
rühmlichst  bekannt  war.  Die  nunmehr  stattgehabte  Auktion 
hatte  aus  allen  Weltteilen  Liebhaber  und  Vertreter  von 
Museen  herbeigelockt.  Den  Hauptanziehungspunkt  bildeten; 
die  Radirungen  Rembrandt’s,  die  Stiche  Dürer’s,  Martin 
Schongauer’s,  viele  andere  seltene  deutsche  Meister  und  eine 
kleine,  aber  sehr  ausgewählte  Anzahl  von  Originalzeichnun¬ 
gen.  Vor  allem  gebührt  den  Radirungen  Rembrandt’s  der 
Preis.  Verglichen  mit  anderen  bedeutenden  Verkäufen  von 
„Rembrandt  -  Kollektionen“ ,  so  namentlich  der  des  Herzogs 
von  Buccleuch  und  des  Rev.  Dr.  Griffith,  finden  wir,  dass 
jene  eine  außergewöhnliche  Anzahl  „erster  Plattenzustände“ 
enthält,  und  dass  die  Blätter  hier  alle  in  guter  Verfassung 
sind.  Dies  ist  besonders  hervorzuheben  vom  „Hundertgulden- 
Blatt“,  „Rembrandt  mit  dem  Säbel“  und  von  „Ephraim 
Bonus  mit  dem  schwarzen  Ring“.  Von  dem  „Hundert¬ 
guldenblatt“  dieses  Plattenzustandes  sind  nur  sieben  Exem¬ 
plare  bekannt,  und  da  seit  100  Jahren  die  Blicke  aller  For¬ 
scher  vergebens  gesucht  haben,  so  mag  wohl  mit  einiger 
Sicherheit  behauptet  werden,  dass  deren  keine  weiteren  vor¬ 
handen  sind.  Von  diesen  sieben  Blättern  befindet  sich  je 
eins  im  British  Museum,  in  der  Nationalbibliothek  in  Paris, 
in  Amsterdam,  in  Wien,  Berlin  (aus  dem  Verkauf  der  Bnc- 
cleuch-Sammlung),  und  dasjenige  aus  dem  Besitz  von  M.  Du- 
tuit  kommt  an  die  Stadt  Rouen;  das  hier  in  der  Holford- 
Sammlung  befindliche  ist  das  siebente  Exemplar.  Vielleicht 
ist  dies  das  schönste  von  allen  Blättern,  und  ebenso  weich 
im  Ton  wie  zart  in  Licht  und  Schatten,  so  dass  es  jeden¬ 
falls  von  keinem  der  sechs  anderen  Exemplare  übertroffen 
wird.  Der  1867  verkaufte  Abdruck  in  der  Auktion  von  Sir 


Charles  Price  erzielte  1180  £,  und  ein  gleiches  Blatt  aus 
der  erwähnten  Auktion  des  Herzogs  von  Buccleuch  1300  £. 
Noch  seltener  ist  das  Blatt  , .Rembrandt  mit  dem  Säbel“, 
von  dem  im  ganzen  vier  existiren,  und  zwar  drei  Abdrücke 
in  öft’entlichen  Galerieen,  während  der  vierte  hier  zxim  Ver¬ 
kauf  kam.  „Ephraim  Bonus“,  erster  Plattenzustand  mit  dem 
schwarzen  Ring,  ist  nur  dreimal  vorhanden:  im  British  Mu¬ 
seum  aus  der  Verstolk -Sammlung,  dann  in  Paris  und  end¬ 
lich  hier  in  der  Holford-Auktion.  Dieses  Meisterwerk  voller 
Ausdruck  und  tiefster  innerer  Erfassung  zeigt  uns  die  cha¬ 
rakteristische  Individualität  des  Künstlers  in  gleicher  Weise 
wie  das  kleine  Ölbild  desselben  Sujets  in  der  „Six- Kollek¬ 
tion“  in  Amsterdam.  Für  italienische  Stiche,  mit  Ausnahme 
derjenigen  des  15.  Jahrhunderts,  ist  in  England  die  Lieb¬ 
haberei  nicht  mehr  so  groß,  wie  dies  vor  einer  Generation 
der  Fall  war,  und  die  Werke  von  Marcanton  Raimondi, 
obwohl  hier  sehr  gut  vertreten ,  würden  vor  40  Jahren  be¬ 
deutend  höhere  Preise  erreicht  haben.  Die  bemerkenswerte¬ 
sten  Preise  am  ersten  Tage  waren  folgende:  „St.  Georg  und 
der  Drachen“,  von  dem  unbekannten  Meister  von  1466,  165 
„Das  Urteil  Salomo’s“,  von  F.  v.  Bocholt,  100  £;  von  dem¬ 
selben,  „St.  Michael“,  aus  der  Esdaile-Sammlung,  135 
„Die  heilige  Familie“  von  G.  Antonio  von  Brescia,  aus  der 
Du  Bois-Sammlung,  140  £;  „St.  Georg“,  von  Hans  Burgkmair, 
auf  Pergament,  120  Albrecht  Dürer:  „Adam  und  Eva“, 
100  „Die  Passion“,  50  „Die  heilige  I’amilie“,  seltene 
Radirung,  110  ,,St.  Hubertus“,  150  30;  „Der  hl.  Hierony¬ 

mus  in  seiner  Zelle“,  130  30;  „Melancholie“,  62  30;  „Tod 
und  Teufel“,  145  30;  „Das  Wappen  mit  dem  Schädel“,  75^; 
—  Am  zweiten  Auktionstage  ist  nachstehendes  besonders 
erwähnenswert:  „Kampf  der  Meergötter“,  von  Andrea  Man- 
tegna,  50  30;  ,, Aurora“  nach  Guido  Reni,  von  Raphael  Mor- 
ghen,  52  30;  „Die  trauernde  Maria“,  von  M.  A.  Raimondi, 
55  30;  von  demselben  Meister:  ,,Adam  und  Eva“,  180  £; 
„Der  betblehemitiscbe  Kindermord“,  190  30.  Manche  alten 
Platten  von  Marc  Antonio  Raimondi  sind  von  Hand  zu  Hand 
gegangen,  wieder  aufgestochen  und  noch  in  neuerer  Zeit  in 
ganz  schwachen  Abdrücken  ein  Handelsartikel  der  päpst¬ 
lichen  Kupferdruckerei  in  Rom  gewesen.  Bei  dieser  Gelegen¬ 
heit  mag  daran  erinnert  werden,  dass  Lucas  van  Leyden 
auf  seinen  guten  Namen  so  eifersüchtig  gewesen  sein  soll, 
dass  er  alle  Fehldrucke  vernichtete;  „Der  Tanz  der  Magda- 


272 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


lena“  von  diesem  Meister  erzielte  88  £.  Von  Israel  van 
Mecken;  „Judith“,  78  £•,  „Zwei  Liebende“,  71  £■,  die  „Ma¬ 
donna  di  San  Sisto“  von  F.  Müller,  nach  Raphael,  80  £.  — 
Der  dritte  Tag  brachte  die  Badirungen  Bcinbrandt’s.  Die 
Preise  waren  außerordentlich  hoch.  Die  Abdrücke  der  ersten 
Plattenzustände  von  ,, Christus  heilt  die  Kranken“,  „Rem- 
hrandt  mit  dem  Säbel“  und  , .Ephraim  Bonus“  brachten  zu¬ 
sammen  5700  £.  Diese,  sowie  die  anderen  bedeutendsten 
Blätter  gingen  nach  Berlin,  Wien,  Paris  und  Stuttgart. 
..Rembrandt  mit  Hut  und  gesticktem  Mantel“,  1.  Platten¬ 
zustand,  420  £  (Käufer:  Bouillon).  Ein  anderer  Abdruck, 
5.  Plzst.,  66  £  (Gutekunst);  „Rembrandt  an  eine  Steinbrü. 
stung  angelehnt“,  2.  Plzst.,  82  £  (Gutekunst);  „Rembrandt 
zeichnend“,  3.  Plzst.,  280  £  (Meder);  ein  anderer  Abdruck, 
5.  Plzst.,  82  £  (Gutekunst) ;  „Rembrandt  auf  einen  Säbel  ge¬ 
stützt“,  1.  Plzst.,  aus  der  Aylesford-Sammlung,  2000  £  (De- 
prez  und  Gutekunst);  „Die  Flucht  nach  Ägypten“,  in  dem 
Stil  von  Elsheimer,  2.  Plzst.,  160  £  (Meder);  „Die  Aufer¬ 
weckung  des  Lazarus“,  3.  Plzst.,  125  £  (Meder);  „Christus 
heilt  die  Kranken“,  ..Hundertguldenblatt“,  1.  Plzst.  auf  chine¬ 
sischem  Papier,  aus  der  Hibbart-  und  Esdaile  -  Sammlung, 
17.50  €'  (Danlos);  dasselbe  Blatt  im  2.  Plzst.  290  £  (Deprez); 
, .Christus  vor  Pilatus“,  1.  Plzst.  auf  chinesischem  Papier, 
1250  £  (Bouillon);  ein  anderer  Abdruck  im  3.  Plzst.  57  £ 
(Meder);  „Christus  gekreuzigt  zwischen  den  beiden  Schächern“, 

1.  Plzst.,  200  £  (Meder);  ,,Der  gute  Samariter“,  1.  Plzst., 
39  £  (Dunthorne) ;  „Tod  der  Jungfrau  Maria“,  1.  Plzst., 
145  £  (Meder);  „Hieronymus  vor  einem  alten  Baume  sitzend“, 
1  Plzst.  auf  chinesischem  Papier,  61  £  (Gutekunst);  eine  auf 
Herzog  Alba  bezügliche  allegorische  Scene  41  £  (Colnaghi) ; 
„Der  Schlittschuhläufer“,  48  £  (Dunthoime) ;  „Ein  Maler,  ein 
Modell  zeichnend“,  125  £  (Meder);  „Ansicht  von  Omwal“, 
.320  £  (Bouillon);  „Ein  Bauer“,  145  £  (Colnaghi);  „Eine 
Landschaft“,  80  56  (Danlos);  „Landschaft  mit  einer  Kutsche“, 
130  £  (Bouillon);  „Die  drei  Landhäuser“,  1.  Plzst.,  275  £, 

2.  Plzst.  100  £  (Meder);  „Ein  Dorf  mit  viereckigem  Kirch¬ 
turm“,  1.  Plzst.,  210  £  (Meder);  „Der  Kanal“,  auf  chine¬ 
sischem  Papier,  260  £  (Bouillon);  „Landschaft  mit  verfalle¬ 


nem  Turm“,  1.  Plzst.,  145  £  (Colnaghi);  ..Eine  Landschaft 
mit  Schafherde“,  245  £  (Sabin);  „Eine  Landschaft  mit  Obe¬ 
lisken“,  1.  Plzst.,  185  £  (Meder);  ,, Ein  Obstgarten  mitScheune“, 
1.  Plzst.,  170  £\  „Landschaft  mit  großem  Boote“,  200  £■, 
„Der  junge  Haaring“,  145  £  (sämtlich  Meder) ;  „Renier  Ans- 
loo“,  120  £  (Colnaghi);  „Der  alte  Haaring“,  3.  Plzst.,  \%)  £ 
(Gutekunst),  „Johann  Lutma“,  1.  Plzst  ,  ISO  £  (Gutekunst); 
„Jan  Asselyn“,  1.  Plzst.,  140  ^  (Colnaghi) ;  „Ephraim  Bonus“, 
1.  Plzst.  mit  dem  schwarzen  Ring,  1950  .5^  (Danlos) ;  dasselbe 
Blatt,  2.  Plzst.,  135  £  (Meder);  „Johann  Cornelius  Sylvius“, 
als  bester  Abdruck  von  Wilson  bezeichnet,  450  £  (Bouillon); 
„Coppenol“,  große  Platte,  nach  Wilson  2.  Plzst.,  während 
nach  dem  Urteil  von  Middleton  1.  Plzst.,  1350  £  (Bouillon); 
ein  ähnliches  Exemplar  erzielte  in  der  „Buccleuch-Auktion“ 
1190  £•,  „Porträt  von  van  Tolling“,  2.  Plzst.,  530  £  (Meder); 
„Der  Bürgermeister  Six“,  2.  Plzst.,  380  £  (Colnaghi);  das¬ 
selbe  Blatt,  3.  Plzst.,  255  £  (Meder);  „Die  Judenbraut“, 
1.  Plzst.,  175  £  (Gutekunst).  —  Am  letzten  und  vierten  Auk¬ 
tionstage  waren  ebenfalls  gute  Preise  zu  verzeichnen:  Kupfer¬ 
stiche  von  Martin  Schongauer:  „Die  Gehurt  Christi“,  94  £\ 
„Die  Kreuzigung“,  66  £•,  „St.  Georg“,  50  £\  „St.  Georg“ 
von  Zwolle,  265  £  (Meder).  —  Zeichnungen  alter  Meister: 
„Studie“,  Drei  Kinder  von  Correggio,  82  Dürer;  „Ein  knie- 
ender  Mann“,  Bleistiftzeichnung  auf  blauem  Papier,  Mono¬ 
gramm,  1506,  kam  auf  60  £\  Federzeichnung  „Ein  Storch“, 
Monogramm  und  1517,  54  £\  ein  Blatt  aus  Dürer’s  Skizzen¬ 
buch,  Bleistiftzeichnung,  7V2  Zoll  X  5,  zwei  Köpfe,  Mono¬ 
gramm  und  1520,  635  £  (Meder);  „Ein  italienischer  See¬ 
hafen“,  von  Claude  Gelee,  96  £',  die  berühmte  Zeichnung 
„Der  Kelch“  von  Mantegna,  gestochen  von  Hollar,  185  £ 
(British  Museum);  A.  Ostade,  „Außerhalb  eines  Wirtshauses“, 
(das  Bild  in  der  Galerie  im  Haag),  225  £',  eine  ländliche 
Scene  von  Paul  Potter,  270  £\  „Porträt  von  Elisabeth  Brandt“, 
in  Schwarz  und  Rot  von  Rubens,  68  £\  A.  v.  d.  Neer,  „Fluss¬ 
scene“,  86  £•,  eine  Vase  mit  Blumen  von  van  Huysum, 
150  £.  —  Der  Gesamterlös  der  Auktion  betrug  27892  £. 


Herausgeber:  Barl  rnn  IJUxmv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Scemunii  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


"Wöernle  rad. 


AMOR  UND  PSYCHE^ 


Verlag  '■^^'I  -A.Seemaiin,  Leipzig, 


Druclc  v7.ABrocl5ih.aus  Leipzig. 


DAS  PANTHEON  IN  ROM. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


A  das  Interesse  für  das  sogenannte  Pantheon 
des  Agrippa  in  Rom  wieder  ein  aUgemeines 
geworden  ist,  soll  hier  ein  Auszug  aus  den 
Ergebnissen  der  Untersuchung  geboten  werden,  wel¬ 
che  bereits  im  Sommer  1890  in  Rom  von  dem  da¬ 


maligen  Reisestipendisteu  der  Wiener  k.  k.  Akademie 
der  bildenden  Künste,  Architekten  Josef  Dell  aus- 
ge.sprochen  und  seitdem  von  anderen  wiederholt 
worden  sind.  Diese  Ergebnisse  werden  demnächst 
in  einer  größeren  Publikation  erscheinen. 

Was  jetzt  „Pantheon“  benannt 
wird,  bildet  einen  antiken  Baukom¬ 
plex,  der  von  drei  Straßen  und  einem 
Platze  begrenzt  wird  und  sich  natur¬ 
gemäß  in  fünf  Teile  gliedert:  die 
Vorhalle,  den  Vorbau,  den  Rund¬ 
bau,  den  sogenannten  Thermensaal 
und  die  zwischen  beiden  liegenden 
Gemächer.  Mannigfache  Verände¬ 
rungen  sind  an  allen  diesen  Teilen 
bemerkbar.  Die  Renaissance,  das 
Mittelalter,  die  altchristliche  Zeit, 
ja  selbst  die  Römerzeit  nahm  schon 
Teil  an  der  Umgestaltung  des  ur¬ 
sprünglichen  Bauwerkes,  glück¬ 
licherweise  ohne  dassell>e  zu  sehr 
zu  verändern. 

Die  Rotunde  bildet  den  her¬ 
vorragendsten  und  mächtigsten  aller 
Teile.  Sie  besteht  aus  mehreren 
Geschossen.  Im  Äußeren  tragen  drei 
derselben  die  segmentförmige  Ku¬ 
gelcalo  tte;  die  beiden  unteren  Ge¬ 
schosse  des  Äußeren  entsprechen  den 
zwei  Stockwerken  des  Inneren,  mit 
denen  sie  im  innigen  konstruktiven 
Zusammenhänge  stehen.  Die  halb¬ 
kugelförmige  Kuppel  bildet  die 
Decke. 

Der  Grundriss  ist  kreisförmig 
angelegt.  Acht  mit  Hohlräumen 
versehene  Pfeiler  werden  im  zweiten 
Geschosse  mit  Tonnen  verbunden; 

35 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


274 


DAS  PANTHEON  IN  ROM. 


die  dadurcli  entstandenen  Laibungen  sind  nach  außen 
mit  Mauern  geschlossen  und  bilden  auf  diese  Weise 
Nischen,  die  mit  Ausnahme  der  Eingangstonne  in  den 
Hauptachsen  in  ^kreissegmentförmigem  Grundriss,  in 
den  vier  Nebenaclisen  aber  in  kreisringförmiger  Form 
ausgebildet  sind.  Die  Hauptnische  allein  lässt  den 
halbkujipelförmigen  Abschluss  sichtbar  erscheinen; 
jener  der  beiden  mittleren  zur  Seite  ist  durch  die  Ober- 
waudmauer  verdeckt,  aber  auch  vfie  die  Hauptnische 
in  der  Form  von  Halbkuppeln  ausgebildet. 

Die  Laibung  des  Einganges  sowie  die  vier 
Nischen  in  den  Nebenachsen  besitzen  tonnenförmige 
Uberdeckungen.  Nur  die  letzteren  vier  sind  unter 
sich  gleich.  Die  Eingangstonne  ist  schmäler,  ihr 
Scheitel  gleich  hoch  mit  dem  Schluss  der  Altar¬ 
nische  (Hauptnische).  Die  sechs  seitlichen  Nischen 
haben  im  unteren  Geschosse  eingestellte  Säulen 
mit  einem  darüber  befindlichen  Gebälke  korinthischer 
Ordnung.  Bekannt  ist,  dass  die  unteren  Geschosse 
zusammengenommen  gleiche  Dimensionen  haben  mit 
dem  Radius  des  Grnndrisskreises  und  der  Höhe 
der  Kujjpel  (Fig.  ].  Radius  MP  =  Höhe  PT.)  Die 
Architekturteile  des  Inneren  wurden  für  dieses 
Bauwerk  sicher  nicht  neu  hergestellt,  sondern  sie 
wai-en,  als  man  dasselbe  errichtete,  schon  vor¬ 
handen;  dies  beweisen  die  ungleich  breiten  Pila.ster- 
kapitäle  bei  vollkommen  gleich  breiten  Pilaster- 
scliäften.  Die  Pilasterkapitäle  der  Tabernakel  sind 
mit  l)earl)eiteten  Teilen  einverbaut,  deuten  somit 
auf  eine  ursprünglich  anders  beabsichtigte  oder 
ausgefübrt  gewesene  Verl>indung.sart  liin,  so  dass 
die  Annahme  gerechtfertigt  erscheint,  dass  dieselben 
von  einem  ander(!n  Bauwerke  stammen.  —  Alle  Werk¬ 
stücke  sind  aber  so  innig  mit  dem  Gebäude  ver- 
luimbm,  dass  die  Annabme  eines  späteren  Einbaues 
derselben  vollkommen  ausgeschlossen  ist,  wie  es 
Hirt  hei  seiner  Rekon.struktion  angenommen  hatte. 

1  )ie  Schäfte  der  Säulen  und  Pilaster  jedoch  dürften 
aus  neuen  Werkstücken  hergestellt  worden  sein. 

Die  \b.*ränderungen,  welchen  der  Rundbau  aus¬ 
gesetzt  war,  beziehen  sich  hauptsächlich  auf  die 
Kntfernung  der  alten  Oberwandincrustation  im  Jahre 
1771  durch  Paolo  Posi.  Wir  übergehen  alle  anderen 
und  erwähnen  nur  diejenigen  der  ersten  Tabernakel 
reclits  und  links  vom  Eingänge,  die  in  altchri.st- 
lieber  Zeit  schon  verdorben  wurden. 

\'on  den  vorhandenen  Aufnahmen  des  Denk¬ 
mals  sind  bloß  zwei  erwähnenswert:  vor  allem 
das  in  seinen  Messungen  zum  Teil  sehr  genaue  und 
vorzügliche  Werk  von  T)esi/odrtz,  welches  zumeist 
die  künstlerische  Seite  behandeln  sollte;  die  nur 


bis  zu  einem  gewissen  Grade  von  Genauigkeit  aus¬ 
geführte  Darstellungen  mancher  Dekorationen  und 
der  Konstruktion  sind  aber  gewiss  nicht  in  Rom  fertig 
gestellt  worden.  Das  größte  Verdienst  Desgodetz’s 
besteht  in  der  Rettung  der  Anordnung  der  alten,  dem 
Septimius  Severus  zugeschriebenen  Oberwandver¬ 
kleidung  durch  eine  sehr  genaue  Aufnahme,  beson¬ 
ders  mit  Berücksichtigung  des  dabei  verwendeten 
Materiales.  Die  Publikation  \oia.  Ledere  bei  Isabelle  — 
Edifices  circulaires  et  les  domes  —  weist  leider 
manchen  Fehler  auf.  —  Adler  stützt  sich  bei  seiner 
Rekonstruktion  auf  letzteres  Werk  und  konnte  des¬ 
halb  zu  keiner  richtigen  Lösung  gelangen,  obwohl 
er  dieselbe  ahnte. 

Um  diesem  Übelstande  abzuhelfen,  wurde  durch 
Herrn  Dell  durch  fünf  Monate  hindurch  eine  voll¬ 
kommene  Neuaufnahme  des  Pantheon  gemacht,  bei 
welcher  er  in  den  Nischen  aller  Stockwerke  auf 
viele  Stempel  stieß,  welche  ihm  von  Dr.  Dressei  als 
der  Hadrianischen  Zeit  angehörig  bezeichnet  wur¬ 
den.  Seine  präzise  Erklärung,  welche  er  Ende  Juni 
1890  in  Rom  Dr.  Dressei  gegenüber  aussprach,  dass 
dann  das  Pantheon  zum  mindesten  sicher  ein  voll¬ 
kommen  neuer  Hadrianischer  Wiederaufbau  sei,  stieß 
damals  auf  lebhaften  Widerspruch,  und  erst  als  von 
anderer  Seite  später  dasselbe  ausgesprochen  wurde, 
fand  die  Deutung  allgemeine  Zustimmung.  Auch 
der  Vorbau  und  die  Vorhalle  zeigen  Veränderungen. 
Als  die  für  uns  wichtigste  mag  die  der  drei  öst¬ 
lichen  Säulen  gelten.  Die  dritte  stand  einst  an  Stelle 
der  ersten  an  der  Ecke,  die  erste  und  zweite  jedoch 
stammen  von  einem  anderen  Denkmale,  wie  es  uns 
Hirt  berichtet,  her. 

Die  Vorhalle  wie  der  Vorbau  sind  aber  beide 
in  Hadrianischer  Zeit  zusammengefügt  und  erbaut 
worden,  nur  zeigen  sich  verschiedene  Stadien  der 
Ausführung.  Um  jene  großen  Gesimsstücke  in 
den  fertigen  Vorbau  einfügen  zu  können,  wären  be¬ 
deutende  Stützen  und  Abstrebungen  notwendig  ge¬ 
wesen  zum  Unterfangen  des  darüber  liegenden  Mauer¬ 
werkes,  welche  gewiss  Spuren  ihrer  Anwendung 
hinterlassen  hätten,  die  aber  nirgends  erkennbar 
sind.  Auch  an  der  Vorderseite  des  Vorbaues  bilden 
mehrere  Steine  die  Kämpfer  zweier  in  der  Mauer 
befindlichen  Entlastungsbögen,  welche  sicher  durch 
das  Einfügen  der  Architravstreifen  dortselbst  in 
Mitleidenschaft  gezogen  worden  wären. 

Es  spricht  sich  hier  somit  unverkennbar  eine 
Änderung  im  Bauprogramme  während  des  Baues  aus. 

Vielleicht  wollte  man  eine  Fassade  ohne  Vor¬ 
halle  ausführen;  die  angestellten  und  nicht  einver- 


DAS  PANTHEON  IN  ROM. 


275 


bauten  Pfeiler  weisen  darauf  hin,  aber  eine  fertig 
gestellte  Fassade  bis  in  die  jetzt  aufgeführte  Höhe 
bestand  nie.  Durch  das  Anfügen  der  Vorhalle  an 
den  Vorbau  wäre  das  Horizontalgesimse  des  oberen 
Giebels  überdies  zerstört  worden;  nun  ist  dasselbe 
in  seinen  mittleren  Teilen  von  Anbeginn  an  unfertig 
geblieben,  es  ist  das  Dach  der  Vorhalle  somit  älter 
als  diese  Teile  des  Vorbaues. 

Den  schlagendsten  Beweis  für  die  hier  ausge¬ 
sprochene  Behauptung  bildet  der  Vorbau  selbst.  Bis 
in  die  Höhe  der  Pilasterkapitäle  der  Vorhalle  ist 
derselbe  mit  dem  Rundbau  innig  verbunden ,  also 
gleichzeitig,  von  da  an  bis  hinauf  durch  eine  Sto߬ 
fuge  getrennt,  also  angebaut  und  später  als  der 
Rundbau.  Leicht  denkbar  ist  somit  eine  Aus¬ 
bildungsform,  bei  welcher  das  Dach  bis  an  den  Rund¬ 
bau  anschloss. 

Bedeutungsvoll  sind  auch  noch  die  zu  beiden  Seiten 
der  Schwelle  der  großen  Eingangsthüre  nach  innen 
zu  liegenden  Steine,  welche  in  ihrer  unfertigen  Gestalt 
und  in  Anbetracht  der  ursprünglichen  Lage  der 
obigen  Behauptung  zur  Bekräftigung  dienen. 

Gewiss  ist  die  jetzige  Form  des  Vorbaues  nur 
zu  dem  Zwecke  hergestellt  worden,  um  einen  Ver¬ 
bindungsweg  zu  schaffen  zu  dem  Dache  und  den 
von  außen  über  den  Platten  des  zweiten  Gesimses 
begehbaren  Nischen,  dessen  Thürverschlüsse  auf  eine 
frühere  Benutzung  hindeuten.  —  Ob  die  Vorhalle 
der  älteste  Teil  ist,  wie  geglaubt  wird,  muss  durch 
Untersuchungen  ihres  Fundaments  ermittelt  werden, 
was  Herrn  Dell  seiner  Zeit  in  Rom  nicht  gestattet 
wurde.  Wir  wissen  aber,  dass  die  Schäfte  der  Säu¬ 
len  aus  Granit  sind,  und  da  Richter  bewies,  dass  zur 
Zeit  Agrippa’s  Granit  bei  den  Säulen  nicht  zur  An¬ 
wendung  kam,  so  ist  damit  die  Frage  zu  Gunsten 
eines  späteren  Baues  gelöst,  bei  dem  aber  die  Werk¬ 
stücke,  welche  die  Friesinschrift  Agrippa’s  tragen 
und  die  von  Säule  zu  Säule  mit  dem  Architrave  der 
Höhe  nach  ein  Stück  bilden,  sicherlich  wieder  zur 
Verwendung  gelangten.  Das  Alter  des  Kranzgesimses 
bleibt  dabei  immer  noch  in  der  Schwebe.  Der 
wichtige  Umstand,  dass  über  den  Architraven  der 
vier  innerhalb  der  Vorhalle  stehenden  Säulen,  in 
den  Mauern,  welche  den  Dachstuhl  stützen,  ver¬ 
arbeitete  Werkstücke  zur  Wiederverwendung  kamen, 
deutet  ohnedies  mit  Sicherheit  auf  keinen  primä¬ 
ren  Bau. 

Im  Giebelfelde  des  Vorbaues  oberhalb  des  Daches 
der  Vorhalle  befinden  sich  noch  etliche  durchlochte 
Steine,  die  bei  näherer  Betrachtung  für  bestimmt 
später  eingefügt  erklärt  werden  müssen  und  die 


zweifelsohne  zur  Befestigung  von  Gerüsten  während 
des  Baues  dienten. 

Kehren  wir  nun  zum  Inneren  des  Rundbaues 
zurück,  wo  schönere  Resultate  zu  gewärtigen  sind, 
besonders  in  betrefl'  der  Ermittelung  der  ehemaligen 
Oberwandausbildung.  Von  der  alten  Oberwand-In¬ 
krustation  ist  jetzt  nur  mehr  die  Chambranle  der 
Bogen  der  Eingangstonne  und  Altarnische,  welche 
schon  in  der  Aufnahme  bei  Desgodetz  erscheinen, 
vorhanden.  Die  Eingangstonne  selbst  geht  auch 
durch  die  voUe  Mauerstärke  hindurch,  wie  die  sechs 
anderen  Mauerbögen,  welche  an  der  Außenseite  sicht¬ 
bar  sind.  Durch  eine  genaue  Aufnahme  gelangt 
man  zur  Kenntnis,  dass  die  letzteren  in  der  Form 
von  kegelförmigen  Tonnen  ausgeführt  sind,  deren 
Achsen  ansteigen,  deren  Scheitel  HS  (Fig.  1)  hori¬ 
zontal  liegen,  und  deren  Spitze  S  in  der  Achse  des 
Rundbaues  SM  sich  befindet.  Es  sind  somit  I,  II, 
HI,  IV,  die  Mittelpunkte  der  kreisförmigen  Lehr¬ 
bogengerüste,  auf  welche  zuerst  die  zweischuhigen 
Plattenreihen  gelegt  wurden,  die  zur  Fertigstellung  ' 
des  Bogens  dienten. 

Die  achtschuhige  Mauer,  welche  in  Fig.  1  weg¬ 
gelassen  ist,  wurde  sicher  vor  Beginn  der  Einwölbung 
ausgeführt  und  half  gleich  dem  Lehrgerüste  mit  zur 
Stütze  des  Bogens. 

Obige  fünf  Plattenreihen,  welche  in  der  Breite 
von  zehn  Fuß  den  Raum  überdecken,  mussten  ursprüng¬ 
lich  einverbaut  werden,  ihre  Stempel  sind  bestimmend 
für  das  Alter  des  Denkmals.  Dass  an  der  Kuppel 
dieselben  Stempel  vorhanden  sind,  deutet  auf  einen 
vollkommen  gleichzeitigen  Bau,  was  die  früher  aus¬ 
gesprochene  Behauptung  nur  bekräftigen  kann. 

Die  beiden  Rundnischen  rechts  und  links  von  der 
Mitte  haben  denselben  Radius  wie  die  Altarnische, 
nur  zeigt  letztere  eine  andere  architektonische  Aus¬ 
bildungsform  und  Verbindung  mit  der  Innenwand. 
Die  überdeckenden  Halbkuppeln  der  seitlichen  Rund¬ 
nischen  wurden  ebenfalls  auf  Holzgerüsten  und  mit 
Hilfe  der  zweischuhigen  Platten  hergestellt,  welche 
gleichfalls  Stempel  der  Zeit  Hadrian’s  tragen  wie  jene 
aller  übrigen  Nischen.  Dadurch,  dass  sie  sich  auch 
hier  an  ursprünglicher  Stelle  befinden,  wird  obige 
Behauptung  der  Erbauungszeit  bekräftigt.  Es  ist 
nahezu  gewiss,  dass  über  den  zwei  seitlichen  Rund¬ 
nischen  sich  ein  gleicher  Mauerbogen  befindet,  wie 
bei  den  anderen  vier  in  den  Nebenachsen  befindlichen 
Nischen,  indem  bei  den  ersteren  an  der  Außenseite 
des  Rundbaues  derselbe  Segmentbogen  erscheint, 
wie  bei  den  letzteren,  so  dass  die  Kuppel  sich  so¬ 
zusagen  an  die  Tonne  anschmiegt  und  einfügt.  Kleine 

35* 


•276 


DAS  PANTHEON  IN  ROM. 


Unregelmäßigkeiten  sollen  später  erwähnt  werden. 
Alle  sechs  Nischen  waren  aber  ehemals  an  der  in¬ 
neren  Oberwand  zum  Ausdrucke  gebracht  worden, 
da  die  innere  drei  Fuß  dicke  Mauer  ursprünglich  nicht 
vorhanden  war. 

Die  Konstruktion  derselben  ist  bekannt.  Auf 
dem  Gebälke  befinden  sich  übereinander  zwei  Reihen 


Verbindung  besonders  hei  den  Konsolen  deutlich 
zeigt.  Die  beiden  seitlichen  Nischen  besitzen  keine 
Verbindungsmauern,  aber  hier  wie  dort  ist  die  nischen¬ 
schließende  Innenmauer  viel  weniger  dicht  eingefügt 
als  die  äußere,  acht  Fuß  breite.  Sie  trägt  infolge 
ihrer  relativ  schwächeren  Dimension  und  der  losen 
Fuge  beim  Bogen  zur  Unterstützung  und  Entlastung 


•/OK  HADRIAN. 


OBERWAN  D  -AVSBILDVNG. 
VOM  PANTHEON  IN  ROM  . 

-1-'  I  I  --I - ^ - 1 - ^ - h 


YON  SEri.SEVERVS. 

,  METFR. 


VOM  je  drei  Eiitlasf uiigshögen ,  welche  den  Inter- 
koluiiiiiieii  fiits[)reclien.  Sie  tragen  die  Mauer,  welche 
III  der  Mitte  feiisterartig  durehhrochen  ist.  Die 
Mauer  wurde  durch  radialgestellte  (^uermauern  über 
Bogen  und  Konsfdeii  mit  der  äußeren  Mauer  ver¬ 
bunden.  gewiss  aber  erst  in  sjiäterer  Zeit,  wie  es 
bei  genauerer  Untersuchung  die  Art  und  Weise  der 


desselben  fast  nichts  bei.  Die  deutlichsten  Erken¬ 
nungszeichen  der  späteren  Einfügung  des  ganzen 
Systemes  bilden  die  bis  über  die  innere  Mauer  hinein¬ 
greifenden  zweischuhigen  Plattenreihen  und  die  in 
die  äußere  Mauer  später  eingefügten  Konsolen  paare 
im  Inneren  der  Nische;  auch  wurden  durch  das  Ein¬ 
fügen  der  kleinen  Entlastungsbögen  Teile  der  großen 


DAS  PANTHEON  IN  ROM. 


277 


Tonne  zerstört,  so  dass  man  die  vollkommene  Über¬ 
zeugung  gewinnen  muss,  dass  die  Innenmauer,  wie 
es  in  der  Zeichnung  Fig.  1  dargestellt  erscheint, 
nicht  gleichzeitig,  sondern  später  ist,  und  dass  man 
von  derselben  bei  der  Rekonstruktion  deshalb  ab- 
sehen  muss;  dies  um  so  mehr,  als  in  den  seitlichen 
Rundnischen,  wo  die  gleichen  Druckverhältnisse  be¬ 
stehen,  wie  in  den  kreisförmigen  Nischen,  den¬ 
noch  die  Radialmauern,  wahrscheinlich  technischer 
Schwierigkeiten  wegen,  nicht  eingefügt  worden 
sind.  Der  an  der  Innenwand  zu  Tage  tretende 
Bogen  hat  nun  folgende  Form  (Fig.  1  und  2):  er 
ist  halbkreisförmig,  sein  Mittelpunkt  in  IV  (resp.  C), 
und  besitzt  eine  um  ein  geringes  größere  Spannweite 
als  die  Entfernung  der  Mauerkerne  der  Nischen¬ 
pfeiler  (Radius  Ca  in  Fig.  2),  welchen  die  Pilaster 
in  der  Stärke  von  ca.  16  cm  im  Mittel  (c  d)  vor¬ 
liegen.  Durch  die  Ecken  derselben  ist  die  segment¬ 
förmige  Gestalt  vollkommen  genau  gegeben. 

Betrachten  wir  die  Oberwandkonstruktion  des 
Septimius  Severus,  10  GN  Fig.  2,  so  finden  wir,  dass 
das  mittlere  der  drei  Felder  zwischen  den  Fenstern 
ein  Verlegenheitsmotiv  enthält.  Dasselbe  ist  auf 
eine  Veränderung  dieser  Verkleidung,  welche  in 
jenem  Zustande  das  untere  Geschoss  mit  der  Kuppel 
gewiss  nicht  günstig  verbindet,  zurückzuführen. 

Lässt  man  den  segmentförmigen  Mauerbogen  in 
die  Oberwand  einschneiden,  so  ersehen  wir  sofort, 
welche  Teile  derselben  die  alten  sind  und  somit 
dem  Baue  des  Hadrian  angehören,  wenn  man  die 
Bogenumrahmung  gleich  breit  nimmt  mit  der  er¬ 
haltenen  der  Eingangstonne  und  Altarnische  (GHIK 
Fig.  2).  Wohl  könnte  man  mit  etwas  Gewalt  auch 
einen  halbkreisförmigen  Bogen  erzielen;  dann  wür¬ 
den  aber  die  Werkstücke  desselben  zu  groß  und 
schwer,  um  angeheftet  zu  werden,  zu  klein  aber,  um 
einen  selbständig  sich  stützenden  Mauerbogen  bilden 
zu  können. 

Es  ist  somit  von  dem  Hadrianischen  Pantheon 
viel  weniger  zerstört,  als  allgemein  angenommen 
wurde,  da  jetzt  bloß  die  Zwickel  durch  ein  passen¬ 
des  Motiv  zu  füllen  sind  (LMIG  Fig.  2). 

Dieses  Bogenfenster  konnte  aber  nicht  offen 
gewesen  sein,  indem  dabei  die  bloßen  Ziegel  der 
Gewölbe  zu  Tage  getreten  wären;  die  Annahme  einer 
Bronzeverkleidung  der  Nischenwände  ist  unthun- 
lich,  da  in  diesem  Falle  die  Bronzestifte  zur  Befesti¬ 
gung  derselben  an  die  Mauer  wenigstens  durch  die 
Spuren  einer  späteren  Entfernung  erkennbar  wären. 
Aus  diesem  Grunde  ist  die  Adler’sche  Rekonstruk¬ 
tion  unzulässig. 


Es  bleibt  somit  nur  mehr  die  Annahme  eines 
Gitters  in  nebenstehender  Ausbildungsform  übrig, 
durch  welches  der  Bogen  geschlossen  war.  Dasselbe 
kann  aus  Stein  oder  aus  Bronze  gedacht  werden; 
im  letzteren  Falle  sind  sowohl  die  häufigen  Blitz¬ 
schläge  leicht  erklärlich  als  auch  die  spätere  Ent¬ 
fernung  desselben  in  Anbetracht  des  großen  Wertes. 
Durch  die  jetzt  sich  ergebende  Ausbildung  wird 
auch  das  verschiedene  Material  der  Pilaster  der 
Nischen  motivirt,  indem  die  beiden  mittleren  Nischen 
die  Verwendung  von  Pavonazzetto,  jene  der  Neben¬ 
achsen  aber  von  Giallo  aufweisen,  ebenfalls  eine  Be¬ 
kräftigung  unserer  Rekonstruktion,  bei  der  die 
Nischen  dominiren.  Die  großen  Kassetten  der  Kuppel 
verbinden  sich  dabei  viel  leichter  mit  der  Oberwand, 
deren  Inkrustation  jetzt  gewiss  nur  als  Wandmalerei 
wirkt,  die  freilich  mit  kostbarem  Marmormaterial 
hergestellt  wurde.  Eine  architektonische  Wirkung 
jedoch  ließe  sich  mit  den  kleinen  Pilastern  allein 
nie  und  nimmer  erzielen. 

Es  liegen  genug  Anhaltspunkte  vor,  mit  deren 
Hilfe  der  Nachweis  erbracht  werden  kann,  dass  die 
am  Äußeren  erkennbare  Programmänderung  sich  auch 
im  Inneren  vorfindet.  Dieselbe  beginnt  am  oberen 
Ende  der  Oberwand  über  dem  zweiten  Gesimse  und 
erstreckt  sich  auf  die  Kuppel  und  auf  das  dritte 
Geschoss  des  Äußeren.  Sie  gab  sicherlich  Anlass 
dazu,  dass  nachher  die  Nischen  des  zweiten  Ge¬ 
schosses  geschlossen  wurden.  Im  ursprünglichen 
Projekte  war  gewiss  dasselbe  Halbkuppelprofil,  jedoch 
mit  zweiunddreißig  Kassetten  in  jeder  Zone  ange¬ 
nommen  worden,  welches  sich  dem  ganzen  Aufbau 
einheitlich  anpassen  würde,  und  von  welchem  man 
vielleicht  nur  der  Zahl  sieben  wegen  abging.  Ob 
eine  andere  Kuppel  thatsächlich  ausgeführt  war, 
lässt  sich  nicht  mehr  beweisen,  doch  würde  dieselbe 
ebenfalls  in  die  Hadrianische  Zeit  fallen  müssen. 

Die  Klammerlöcher  der  Tabernakelgiebel  deuten 
auf  Akroterien  aus  Bronze;  die  Sima  der  unteren 
Ordnung  war  sicher  mit  einem  Gittermotiv  ge¬ 
schmückt,  während  das  Gesimse  der  oberen  Ord¬ 
nung  eine  Bekrönung  gehabt  haben  mag.  Die  Kas¬ 
setten  zeigen  Spuren  einer  Profildekoration,  die  viel¬ 
leicht  aus  Bronze  hergestellt  worden  war. 

Über  die  Form  des  Pantheons  des  Agrippa 
wissen  wir  nichts.  Hirt  hat  zwar  schon  den  um 
ca.  zwei  Meter  tieferen  Boden  gekannt  und  erwähnt, 
welcher  jetzt  wieder  aufgedeckt  wurde;  er  hielt  ihn 
damals  für  den  Boden  des  Caldariums  der  Agrippa- 
Thermen,  eine  Ansicht,  die  seither  unhaltbar  ge¬ 
worden  ist. 


27S 


MAX  LIEBERMÄNN. 


Als  weiteres  Ergebnis  dieser  Studien  muss  be¬ 
tont  werden,  dass  es  Herrn  Dell  gelungen  ist,  das 
alte  Fußbodenmotiv  des  Saales  der  sogenannten 
Agrippa-Therraen  zu  ermitteln,  ebenso  wie  die  Ein¬ 
deckung  dieses  Saales  durch  Kreuzgewölbe  (vielleicht 
in  Verbindung  mit  Stichkappen)  zu  konstatiren. 

Dadurch  wird  die  Rekonstruktion  von  K  A.  Bla- 
vette  in  denMelanges  archeologiques  1885  I  zur  freien 
Phantasierekonstruktion  von  keinem  wissenschaft¬ 
lichen  Werte.  Der  obere  Teil  der  Agrippa-Thermen 
war  innig  mit  dem  Pantheon  verbunden  und  gleich¬ 
zeitig,  so  dass  dieselben  dadurch  ebenfalls  wenigstens 
in  den  oberen  Teilen,  die  leider  nicht  mehr  vorhanden 
sind,  in  eine  spätere  Zeit  gerückt  werden.  In  welche 
Zeit  die  unteren  Partieen  gehören,  das  muss  erst 
durch  Untersuchungen  an  diesem  Denkmal  ermittelt 
werden. 

Die  Einbauten  zwischen  den  Thermen  und  dem 
Rundbaue  sind  durch  das  Vorkommen  der  gleichen 
Stempel  wie  bei  letzteren  ebenfalls  aus  der  Zeit 


Hadrians.  Sie  weisen  auch  ein  geändertes  Baupro¬ 
gramm  auf,  was  zu  der  die  Vorhalle  betreffenden 
Behauptung  ganz  gut  passt,  und  welche  ebensowohl 
wie  alle  anderen  durch  genaueste  Untersuchungen 
keiner  Änderung  fähig  sind,  sobald  man  den  Sach¬ 
verhalt  an  Ort  und  Stelle  in  Augenschein  nimmt. 

Da  nun  Herr  Dell  schon  im  Jahre  1890  sowohl 
an  das  kaiserl.  deutsche  Institut  in  Rom  als  auch 
an  die  k.  k.  Akademie  der  bildenden  Künste  in  Wien 
über  seine  Entdeckungen  in  vollkommen  präziser 
Weise  berichtete,  so  gebührt  ihm  allein  die  jetzt 
von  anderen  ihm  streitig  gemachte  Priorität.  In  Wien 
wurden  seine  Arbeiten  seit  dem  Studienjahre  1891/92 
den  an  der  k.  k.  Technischen  Hochschule  gehaltenen 
Vorträgen  über  antike  Baukunst  eingefügt.  Bei 
dem  jüngsten  Philologentage  in  Wien  hielt  Dell 
über  seine  Ermittelungen  einen  beifällig  aufgenom¬ 
menen  Vortrag.  Sein  bestimmter  Ausspruch  in  Rom 
sichert  ihm  volles  Anrecht  auf  alle  seine  ihm  jetzt 
bestrittenen  Errungenschaften. 


MAX  LIEBERMANN. 

VON  LUDWIG  KAEMMERER. 


EN  Freilichtmaler  ohne 
Furcht  und  Tadel  lernen  wir 
dann  1881  in  dem  „Alt¬ 
männerhaus  in  Amsterdam“ 
(s  Zeitschr.  f.  b.  K.,  Bd.23,  S. 
288)  kennen.  Die  städtischen 
Armenanstalten,  Schöpfun¬ 
gen  echt  holländischer  Mild¬ 
herzigkeit,  zählen  mit  Recht  zu  den  Sehenswürdigkeiten 
der  Amstelstadt.  Das  Oude  Mannenhuis,  an  der  Nieuwe 
Ileerengracht  und  Binnenamstel  gelegen,  mit  seinen 
.schattigen  Laubgängen  und  friedlichen  Ruheplätzcben, 
hat  es  Lieberraann  besonders  angethan.  Da  sehen  wir 
die  von  Alter  und  Sorgen  gebeugten  Gestalten  in  der 
.Mittagssonne,  die  ihr  Licht  durch  die  Laubzweige 
spielen  lässt,  auf  langen  Bänken  ausruhen.  Stumm 
hängt  ein  jeder  seinen  Gedanken  nach,  die  Bilder 
einer  besseren  V'ergangenheit  ziehen  an  der  Erinne¬ 
rung  vorüber,  fast  alle  scheinen  von  dem  gleichen 
Empfinden  bewegt,  und  doch  —  welche  Fülle  in¬ 
dividuellen  Lebens  in  jedem  dieser  markanten  Köpfe! 


II. 

Eine  gewisse  Reputierlichkeit  zeichnet  die  meisten 
trotz  ihrer  uniformen  Tracht  aus,  einzelne  haben 
sich  aus  besseren  Zeiten  noch  ihre  Allüren  bewahrt, 
nur  wenige  fühlen  das  Bedürfnis,  sich  einander  mit¬ 
zuteilen.  Was  gebe  es  auch  viel  Mitteilenswertes 
in  dem  gleichförmigen  Dasein  des  Altmännerhauses? 
Freilich,  die  Politik  hat  ihren  Weg  auch  in  diese 
Abgeschiedenheit  gefunden:  ein  bärtiger  Greis  liest 
in  der  Zeitung  und  um  ihn  hat  sich  eine  neugierige 
Gruppe  gebildet,  andere  schmauchen  teilnahmlos  aus 
ihrer  mit  Kanaster  gestopften  Thonpfeife,  die  mit 
der  weißen  Binde  und  der  flachen  Schirmmütze  ge¬ 
wissermaßen  mit  zur  Uniform  gehört.  Das  Ganze 
ein  Bild  heiterer  Friedfertigkeit,  überstrahlt  von  der 
warmen  Mittagssonne,  die  ihre  Kreise  auf  den  sauber 
gepflegten  Kiesweg  malt.  —  Ein  andermal  schildert 
uns  Liebermann  die  Frauenabteilung  derselben  An¬ 
stalt  in  jenem  farbenleuchtenden  Bilde,  das  auf  der 
Berliner  internationalen  Ausstellung  von  1891  seine 
Kunst  vertrat.  Auch  hier  hat  die  Sonne  die 
Alten  mit  ihrem  Strickstrumpf  hinausgelockt;  an 


MAX  LIEBERMANN. 


279 


dem  schmalen  Rain,  der  das  Haus  von  den  in  voller 
Blütenpracht  prangenden  Einzelgärtchen  trennt, 
wärmen  sie  ihre  steifen  Glieder.  Man  glaubt  die 
stille  Wärme  des  Sommernachmittags  selbst  zu  ver¬ 
spüren,  die  alles  umfängt  und  die  stumpfe  Resigna¬ 
tion  der  Mütterchen  nur  als  behagliches  Selbst¬ 
genügen  erscheinen  lässt.  Muss  ein  Künstler,  der 
so  überzeugende  Töne  findet,  nicht  selbst  mit  diesen 
Geschöpfen  empfinden,  ist  es  denkbar,  dass  er  allein 
aus  kühler  Berechnung  der  malerischen  Wirkung 
heraus  zu  solchen  warmherzigen  Schilderungen  die 
Kraft  findet?  Oder  er  führt  uns  vor  das  katholische 
Waisenhaus,  wo  die  Mädchen  in  ihrer  kleidsam- 
sauberen  Tracht  über  ihre  Näherei  gebückt  dasitzen, 
während  andere  im  Schatten  der  Bäume  lustig  plau¬ 
dernd  umherwandeln.  Wunderbar  ist  auch  hier  die 
Tiefe  des  Raums,  das  Licht-  und  Luftleben  wieder¬ 
gegeben  und  jede  Bewegung  mit  erstaunlicher  Schärfe 
beobachtet.  Freilich  ist  nichts  beschönigt,  den  Köpfen 
kein  sentimentaler  Liebreiz  aufgeschminkt.  Diese 
Geschöpfe  scheinen  nicht  zu  ahnen,  dass  sie  gemalt 
werden,  so  unbefangen  und  frei  geben  sie  sich  in 
Wesen  und  Gebahren.  Erst  unlängst  hat  Lieber¬ 
mann  wieder  einen  verwandten  Vorwurf  behandelt: 
die  Mädchen  des  Bürgerwaisenhauses  in  ihren  schwarz¬ 
rot  —  aus  den  Wappenfarben  der  Stadt  —  zusam¬ 
mengesetzten  Jacken,  die  in  dem  schönen  Park  der 
Anstalt  sich  ergehen.  Das  Bild,  das  bei  Schulte  in 
der  diesjährigen  Elferausstellung  uns  begegnete,  ver¬ 
rät  jener  älteren  Arbeit  gegenüber  einen  weiteren 
Fortschritt  der  Freilichtmalerei.  Blendender  Sonnen¬ 
schein  umleuchtet  die  Gestalten,  tanzt  auf  dem  Kies¬ 
boden,  rieselt  über  das  Laub  der  Gesträuche;  der 
Hintergrund  ist  voll  belichtet  und  hat  trotzdem 
nichts  an  Tiefe  verloren,  die  Gruppen  des  Vorder¬ 
grundes  setzen  sich  scharf  und  kraftvoll  ab,  die  all¬ 
gemeine  Helle  vermeidet  jede  Eintönigkeit,  die  zar¬ 
testen  atmosphärischen  Tonwerte  behalten  vollständig 
ihre  Selbständigkeit  und  Klarheit,  die  Schatten  trotz 
der  pastosen  Malweise  ihre  Durchsichtigkeit.  Schon 
als  Licht-  und  Luftstudie  allein  betrachtet  bietet 
das  Bild  reichste  Anr-egung.  Die  hier  sich  bekun¬ 
dende  Feinfühligkeit  des  Auges  bedurfte  zu  ihrer 
Ausbildung  ebenso  unermüdlicher  Beobachtung  und 
rastloser  Experimente,  wie  die  Sicherheit  der  Hand. 
In  der  1882  in  München  gemalten  Schusterwerkstatt, 
die  durch  Halm^’s  geistreiche  Radirung  in  den  Gra¬ 
phischen  Künsten  bekannt  ist,  sehen  wir  ihn  noch 
mit  dem  Problem  der  Lichtverteilung  ringen;  eine 
gewisse  Unruhe  und  kleinliche  Zerrissenheit  von 
Licht  und  Schatten  beeinträchtigt  die  Wirkung  des 


Ganzen.  Auch  der  „Münchener  Biergarten“  (1884) 
und  die  in  demselben  Jahre  entstandene  „Weber¬ 
werkstatt“  lassen  die  Unrast  des  Experimentators 
deutlich  erkennen.  Bei  weitem  reifer  tritt  uns  seine 
Kunst  in  der  großen  „Bleiche“  entgegen,  die  zu  den 
hervorragendsten  Leistungen  seines  Pinsels  zu  zählen 
ist.  Farbensaftigkeit  und  ausgeglichene  Lichtführung 
vereinigen  sich  in  diesem  Werk  zu  harmonischem 
Gesamteindruck.  Im  allgemeinen  darf  man  sagen, 
dass  Liebermann  im  Interieur  weniger  glücklich  ist 
als  in  der  staffirten  Landschaft.  Es  macht  den  Ein¬ 
druck,  als  fühle  sich  seine  breite  Technik  beengt 
durch  den  geschlossenen  Raum,  wo  es  gilt,  unbestimmte 
Zwischentöne  subtil  herauszuarbeiten,  wo  die  Fein¬ 
heit  der  Durchführung  nicht  selten  Kraft  und  Un¬ 
mittelbarkeit  des  ersten  Entwurfs  zu  ersetzen  ver¬ 
mag.  Oft  haben  seine  Innenscenen  einen  etwas  leb¬ 
losen  kreidigen  Ton,  das  Bemühen,  die  gedeckten 
Tonwerte  richtig  zu  geben,  führt  ihn  nicht  selten 
zur  Missfarbigkeit.  Als  Ausnahmen  dieser  Regel 
seien  die  für  die  Berliner  Nationalgalerie  erworbe¬ 
nen  Hanfspinnerinnen  (Motiv  aus  Laren  bei  Hilver¬ 
sum,  1887)  und  die  „Strickende  Alte“  der  Galerie 
Maitre  in  Paris  (Stichradirung  von  A.  Krüger  in 
dem  XV.  Bande  der  Graphischen  Künste)  genannt. 
Frei  von  aller  Beklommenheit,  sicher  in  seinen 
Mitteln  dagegen  fühlt  sich  Liebermann  auf  den  Dünen 
der  Zuydersee,  in  den  weit  sich  dehnenden  Niede¬ 
rungen  und  Poldern  Nordhollands.  Das  Flachland, 
über  dem  sich  eine  warmfeuchte,  seedunstgeschwän¬ 
gerte  Atmosphäre  mit  grauen  Nebelwolken  lagert, 
wo  das  Auge  weit  und  breit  hinausschweift  bis  zu 
den  sanften  Hügellinien  des  Horizonts,  die  Land¬ 
schaft  Albert  Cuyp’s,  Jan  van  Goyen’s  und  Jacob  Ruys- 
dael’s  hat  es  ihm  angethan.  Nicht  weniger  das 
friedlich  harmlose,  bis  zur  plumpen  Schwerfälligkeit 
bedächtige  Leben  der  friesischen  Landbauern  und 
Fischer,  dieser  Vettern  der  normännischen  Bauern 
Millet’s;  ihr  Treiben,  ihre  Sorgen,  ihre  Erlebnisse 
bewegen  seine  künstlerische  Phantasie.  Da  trefien 
wir  die  weibliche  Jugend  beim  Netzeflicken,  die 
Kuhmagd  auf  dem  Wege  zur  Weide,  die  Ziegen¬ 
hirtin  mit  ihren  Schutzbefohlenen,  die  träumerische 
Schäferin  auf  der  Düne,  die  Schifferfrau  beim  Wäsche¬ 
trocknen,  lauter  schlichte,  belanglose,  scheinbar  un¬ 
interessante  Motive,  die  erst  Leben  und  Stimmung 
erhalten  für  das  Auge  des  Malers,  die  erst  durch 
die  packend  lebendige  Schilderung  in  Farben,  durch 
die  Vermittelung  einer  bedeutenden  Künstlerpersön¬ 
lichkeit  den  Beschauer  zu  fesseln  vermögen.  Denn 
jede  Kunst  bedeutet  der  Natur  gegenüber  Konven- 


280 


MAX  LIEBERMANN. 


tion  und  auch  die  wörtlichste  Wahrheit  kann  per¬ 
sönlicher  Vermittelung  nicht  entbehren.  Wie  erfüllt 
nun  Liebermann  diesen  Beruf  des  künstlerischen  Me¬ 
diums?  Wer  unsere  Rührung  und  Teilnahme  mit 
pathetischem  Schwünge  zu  gewinnen  sucht,  uns 
vom  Himmel  durch  die  Welt  zur  Hölle  führt,  den 
Sturm  der  Leidenschaften  wüten  lässt,  hat  leichtes 
Spiel.  Wer  dagegen  mit  naiver  Darstellung  des 
schlichten,  von  Not  und  Armut  eng  umzirkten  Da- 


der  Wind  streicht,  sehen  wir  die  Fischerfrauen  und 
Mädchen  bei  ihrer  mühseligen  Arbeit  hockend;  von 
dieser  scheinbar  unpersönlichen  Menge  löst  sich 
im  Vordergründe  stehend  eine  weibliche  Gestalt  ab, 
deren  Gewand  zerzaust  wird  vom  Sturme,  gegen 
den  sie  sich  mit  dem  ganzen  Gewicht  ihres  Körpers 
anstemmen  muss.  Eine  machtvolle  Figur,  blond¬ 
haarig,  den  träumerisch-traurigen  Blick  des  schönen 
Kopfes  ins  Unabsehbare  gerichtet  —  eine  Heldm 


S(:li\v(!iij('l'iU.ti;i’uiig.  lIaTi(l/,(3iohniiiig  von  Max  Liebermann. 


'■in::  df'ii  Cg  zu  unserem  Herzen  findet,  wie  Lieber- 
maim,  dessen  Können,  dessen  Kunst  sollten  wir 
liölier  feilen  lind  bewundern,  stuft  ihn  als  unfreien 
Sklaven  eini-r  naturalisfischen  Schrulle  zu  verklei¬ 
nern  und  zu  nii.ssHehfen.  Und  wer  wollte  sich  dem 
Kindruek  ej'nes  Bildes,  wit;  es  die  „Netzflickerinnen“ 
im  Besitz  der  Kunsthulle  zu  Hamburg  sind,  ent¬ 
ziehen?  .Auf  einer  weithin  sich  dehnenden  Heide 
mit  hohem,  in  sanften  Ilügellinien  abschneidendem 
llorizoni,  über  die  ein  heftiger,  Wolken  zerfetzen- 


im  Fischergewande.  Es  lebt  ein  sieghafter  Herois¬ 
mus,  ein  gewaltiger  kühner  Wille  in  dieser  selbst¬ 
gewissen  Gestalt,  die  damit  um  so  kräftiger  aus 
ihrer  ärmlichen  Umgebung  herausgehoben  wird. 
Weiter  im  Mittelgründe  verstärken  einzelne  auf¬ 
recht  stehende  netzspannende  Frauen  den  Eindruck 
der  unendlichen  Weite  des  Raumes.  Das  Ganze  um¬ 
rahmt  von  dem  trostlosen  Graugrün  des  bewölkten 
Himmels,  den  nur  am  Horizont  ein  schmaler  Licht¬ 
streif  aufhellt,  eingetaucht  in  jene  wehmütig- ernste 


;tez.  V,  Max  Liebekmann  Lithographie  dei  R.eichsdruckerei, 

Kühe  AUE  DEE  Weide 


MAX  LIEBERMANK 


281 


Stimmung,  iu  die  uns  der  Anblick  einförmiger  Natur 
zu  versetzen  pflegt,  und  doch  mächtig  bewegt  durch 
den  tobenden  Kampf  der  Elemente.  Man  meint  die 
scharfe  salzige  Seeluft  zu  verspüren,  die  hier  mit 
wunderbarer  Kunst  durch  das  Medium  der  Farbe 
uns  vorgezaubert  wird.  Und  mit  welcher  erstaun¬ 
lichen  Sicherheit  sind  die  einzelnen  Gestalten  iu  den 
Raum  gestellt,  wie  knapp  und  fest  ist  die  Mache  des 
Bildes!  Freundlicher  ist  der  Grundton  der  Stim- 


Dorfliütte.  Auch  iu  diesem  Bilde  übt  das  atmo¬ 
sphärische  Leben  einen  mächtigen  Reiz  auf  den  Be¬ 
schauer  aus.  Ein  fruchtbarer  Sommerregen  hat  das 
Land  erquickt,  die  Wasserlachen  des  Weges  spiegeln 
die  Gestalten  wieder,  auf  dem  Laub  der  Bäume 
liegt  der  feuchte  Glanz  der  letzten  Regentropfen, 
das  gackernde  Hühnervolk  hat  sich  wieder  hinaus¬ 
gewagt  und  pickt  im  Grase  Regenwürmer  und  an¬ 
dere  delikate  Kabrung  auf.  Auch  die  Kuh,  welche 


Feldjätendes  Baiierupaar.  Handzeichnuiig  von  JIax  Liebermann. 


mung  in  der  „Holländischen  Dorfstraße“  (1888  ge¬ 
malt),  im  Besitz  des  Herrn  W.  von  Seidlitz  in 
Dresden.  Auf  dem  Wege  zur  Weide  hat  eine  Kuh¬ 
magd  auf  der  Dorfstraße  Halt  gemacht,  um  mit 
einer  anderen  Dorfschönen,  die  auf  einem  Karren 
Viehfutter  heimführt,  zu  plaudern.  Weiter  links  im 
Mittelgründe  ein  Pferdekarren,  dem  eine  Kuh  nach¬ 
trottet,  rechts  eine  Baumgruppe  mit  dem  Durch¬ 
blick  in  den  wäschebehangenen  Vorgarten  einer 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


das  kräftige  Landmädchen  am  Stricke  führt,  kann 
sich  eine  kleine  Vorfreude  der  Weide  bereits  am 
Wege  nicht  versagen  und  zerrt  ihre  Führerin  un¬ 
geduldig  vorwärts.  Links  im  Hintergründe  aber 
öffnet  sich  der  Blick  auf  die  weiten  dunstigen  Wieseu- 
ffächen  und  Triften  der  Niederung.  Der  keusche 
Reiz  der  vom  Regen  erfrischten  Natur  tritt  uns  in 
voller  Ursprünglichkeit  entgegen,  kräftiger  Erdgeruch 
scheint  der  Schilderung  zu  entströmen.  Zola’sWort, 

36 


2S2 


MAX  LIEBERMANN. 


das  Kunstwerk  sei  nichts  anderes  als  ein  „coin  de 
la  nature  vu  a  travers  d’un  temperament“,  kann 
nicht  treffender  illustrirt  werden  als  durch  solche 
Schöpfungen.  Ihnen  reiht  sich  die  ganz  im  Geiste 
Millet’s  empfundene  Schafhirtin  in  den  Dünen  (vgl. 
Unger’s  Radirung  in  diesem  Heft),  die  grandios 
silhouettirte  Ziegenhüterin  in  der  Münchener  Pina¬ 
kothek  (in  einer  Radirung  Halm’s  in  den  Gra¬ 
phischen  Künsten  reproduzirt) ,  die  Kuhmagd  auf 
der  Wald  wiese  (in  der  Elferausstellung  bei  Schulte 
1892),  die  holländische  Seilerei  und  das  von  Lieber¬ 
mann  selbst  nach  einem  Pastell  radirte  Hirten¬ 
mädchen  auf  der  Weide  an.  Überall  dieselben  ern¬ 
sten  Grundtöne,  einfache  Größe  der  Auffassung,  die 
Absicht,  das  Ganze  in  seinen  wichtigsten  Zügen 
überzeugend  und  wirkungsvoll  festzuhalten,  überall 
die  gleiche  Nachlässigkeit  im  Beiwerk,  die  gleiche 
nervöse  Hast  der  Ausführung.  „Nicht  das  soge¬ 
nannte  Malerische,  sondern  die  Natur  malerisch  auf- 
zufassen,  ist’s,  was  ich  suche,  die  Natur  in  ihrer 
Einfachheit  und  Größe  ohne  Atelier-  und  Theater¬ 
kram  und  Hadern  —  das  Einfachste  und  das  — 
Schwerste!“  schrieb  der  Künstler  einmal.  Und  Millet, 
sein  großes  Vorbild,  gebraucht  gelegentlich  den 
drastischen  Vergleich:  „Wenn  ein  Schneider  einen 
Ikiletot  zu  machen  hat,  muss  er  zur  Beurteilung 
des  guten  Sitzens  auf  einen  gewissen  Abstand  von 
seinem  Objekt  zurücktreten.  Derjenige,  der  sich 
darauf  beschränkte,  einen  schlechtsitzendeii  Paletot 
durch  schöne  Knöpfe  zu  retten,  würde  sich  ver¬ 
gebene  Mühe  machen.“  Das  ist  auch  Liebermann’s 
Standpunkt  seinen  Vorwürfen  gegenüber,  nach  diesem 
Plane  schneidert  er  seine  Bilder  zusammen.  Frei¬ 
lich  giebt  es  ja  auch  unter  den  Kunstfreunden  Gi¬ 
gerln,  denen  die  schöne  „Boutonnerie“  höher  steht, 
als  Sclinitt  und  Sitz  der  Kunstkleider.  Sie  müssen 
sich  schon  an  die  zahlreichen  Boutonniers  unter  den 
Mal  ern  lialten.  Von  diesen  braucht  man  keineswegs 
gfring  zu  denken:  in  gewissem  Sinne  darf  man  so¬ 
gar  Adolf  Menzel  zu  ihnen  zählen.  Sein  malerisches 
Etupfinden,  seine  Art,  die  Dinge  unter  das  Mikro- 
ko))  geisi reichen  Verstandes  zu  nehmen,  setzt  aller¬ 
dings  eine  andere  künstlerische  Organisation  voraus, 
als  sie  Liebennann  besitzt.  Deshalb  hat  dieser  mit 
den  Werken,  die  ohne  Zweifel  unter  Menzel’s  Einfluss 
ste-hen,  wie  der  „Gedächtnisfeier  für  Kaiser  Friedrich 
im  Walde  bei  Kösen“,  der  Zeichnung  „  Kinderspiel- 
ydatz  im  Berliner  Tiergarten“,  dem  holländischen 
Marktbihle  der  Münchener  Ausstellung  von  1891  — 
das  Münchener  Bierkonzert  dürfen  wir  vielleicht 
auch  dazu  rechnen  —  nicht  eben  reüssirt.  Für  lie¬ 


benswürdige,  prickelnde  Causerie  fehlen  ihm  die 
malerischen  Ausdrucksmittel  ebenso  wie  für  harm¬ 
losen  Humor,  so  sehr  ihm  beide  Gaben  als  Mensch 
eigen  sind.  Die  Großzügigkeit  stört  hier  als  un¬ 
gefüge  Plumpheit,  man  fühlt  aus  diesen  Werken  das 
Gequälte,  Unfreie  heraus.  Man  möchte  ihm  mit 
Lionardo  Zurufen:  dico  alli  pittori,  che  mai  nessuno 
debbe  imitare  la  maniera  delF  altro,  perche  sara 
detto  nipote  e  non  figluolo  della  natura,  in  quanto 
air  arte. 

Die  Frage:  „Was  kann  Max  Liebermann?“  wäre 
nur  halb  beantwortet,  wenn  wir  die  Antwort  allein 
aus  seinen  vollendeten  Ölbildern  herauslesen  wollten. 
Der  Zeichner,  der  Pastellist,  der  Radirer  Liebermann 
enthüllt  uns  erst  ganz  die  Tiefen  seiner  künstleri¬ 
schen  Persönlichkeit.  Eine  so  nervöse,  so  beweg¬ 
liche  Natur  wird  in  der  Technik  am  glücklichsten 
und  unmittelbarsten  schaffen,  die  jeder  Regung  der 
Phantasie  am  willigsten  nachgiebt,  ja  zum  Festhal¬ 
ten  flüchtiger  Einfälle  geradezu  auffordert.  Selbst 
die  breiteste  Ölmalerei,  die  keckste  Pinselführung 
verlangt,  dass  das  Urteil  dem  Werke  vorauseilt. 
Die  intimste,  frischeste  Inspiration  lässt  sich  nur  in 
der  Skizze  festhalten.  Welche  Fülle  von  Aufschlüs¬ 
sen  gewähren  uns  Rembrandt’s  Zeichnungen  und 
Radirungen,  der  Maler  Rembrandt  wird  oft  erst 
durch  sie  verständlich.  Gleich  Rembrandt  bekennt 
sich  auch  Liebermann  zu  dem  Grundsatz,  dass  „een 
stuk  voldaan  is  als  de  meester  zyn  voornemen  daar 
in  bereikt  heeft“.  Und  von  seinem  Eigensinn  in 
dieser  Hinsicht,  seiner  „Koppigheid“,  wie  der  Hollän¬ 
der  sagt,  ließen  sich  zahlreiche  Anekdoten  erzählen. 
Für  die  Illustration  dieses  Aufsatzes  sind  besonders 
Zeichnungen  Liebermann’s  benutzt  worden,  und  man 
darf  getrost  behaupten,  dass  an  ihnen  sich  die  Ziele 
seines  Strebens  genau  so  gut,  wenn  nicht  besser  er¬ 
läutern  lassen,  als  an  den  Gemälden  seiner  Hand.  Be¬ 
trachten  wirz.  B.das  „Feldjätende Bauernpaar“  (S.  281)1 
Was  fehlt  ihm  zur  Bild  Wirkung?  Die  Tiefe  des 
Raums  hat  der  Künstler  mit  wunderbarem  Ge¬ 
schick  in  der  schlichten  Schwarzweißtechnik  zu  geben 
verstanden;  die  Gestalten  lösen  sich  körperhaft  los, 
die  flüchtige  Andeutung  der  Vegetation  mit  einigen 
rapiden  Kreidestrichen  bekundet  erstaunliche  Tretf- 
.sicherheit  für  Tonwerte.  Die  Luftperspektive,  das 
Verschwimmen  der  zurückliegenden  Landschafts¬ 
gründe,  das  einförmige  lichte  Grau  des  Himmels, 
alles  schließt  sich  zu  einer  einheitlichen  Wirkung 
zusammen.  In  dem  „Wirtshause  an  der  Landstraße“ 
wiederum  überrascht  uns  die  mit  wenigen  Wei߬ 
höhungen  erzielte  lebendige  Lichtführung,  die  Son- 


MAX  LIEBERMANN. 


283 


nigkeit  und  luftige  Tiefe.  Bei  aller  Flüchtigkeit 
und  Leichtigkeit  der  Strichführung  steht  alles  klar 
und  fest  im  Raum,  jeder  Lichtfleck  sitzt  an  der 
rechten  Stelle.  Dem  emsigen  Beobachter  momen¬ 
taner  Haltung  und  physiognomischen  Ausdrucks  be¬ 
gegnen  wir  in  den  drei  Figurenstudien,  die  in  ge¬ 
lungener  Reproduktion  diesen  Blättern  beigegehen 
sind.  Die  Frau  mit  dem  schlafenden  Kinde,  die 
uns  wie  dem  Skizzenbuch  eines  altholländischen 
Meisters  entnommen  anmutet,  ist  besonders  charak¬ 
teristisch  für  dieses  ruhelose  Nachspüren,  das  sich 
nicht  genügen  lässt  mit  dem  ersten  mühelosen  Ent¬ 
wurf,  das  die  verschiedenen  Stadien  des  erschlaffen¬ 
den  Gesichtsausdruckes  im  Kopf  des  schlummernden 
Kindes  festzuhalten  sucht,  überallhin  seine  Fühler 
ausstreckt  und  immer  wieder  von  neuem  ansetzt. 
So  skizzirte  auch  Rembrandt;  ich  erinnere  nur  an 
die  auch  gegenständlich  verwandten  Studien  des  Mei¬ 
sters  im  Besitz  des  britischen  Museums,  Heseltines 
Bounats  und  des  Stockholmer  Kabinets  (Lippmann 
114,  173a,  131  u.  45).  Die  Rinderweide  erscheint 
wie  eine  Spezialstudie  für  die  Bewegungsmotive 
weidenden  Viehes.  Es  kommt  dem  Künstler  nicht 
darauf  an,  den  Kontur  des  Tierleibes  zu  entstellen, 
wenn  nur  das  energische  Vorstrecken  des  Halses 
recht  scharf  und  charakteristisch  zum  Ausdruck 
gebracht  wird.  Auch  jene  köstliche  Kreideskizze, 
eine  Schafherde  auf  dem  Heimweg,  die  unser  Mit¬ 
arbeiter  Graul  seiner  Liebermann  -  Studie  in  den 
Graphischen  Künsten  in  gelungener  Photogravüre 
beigegeben  hat,  sei  hier  erwähnt.  So  ließen  sich 
unzählige  Beispiele  aus  seinen  Studienmappen  heran¬ 
ziehen,  die  uns  die  elementare  Vehemenz  im  Kunst¬ 
schaffen  Liebermann’s  belegen.  Neuerdings  hat  er 
sich  mit  großem  Eifer  auch  der  Pastellteehnik  zuge¬ 
wendet  und  an  dieser  merkwürdigerweise  seinen 
Farbensinn  neu  belebt.  Seine  pastellirten  Landschaf¬ 
ten  zeigen  eine  ungewöhnliche  Tiefe  und  Leucht¬ 
kraft  der  Töne,  eine  Freude  an  ungewöhnlichen  Be¬ 
leuchtungseffekten  und  Farbenzusammenstellungen, 
die  bei  dem  Vorkämpfer  der  Tonmalerei  überrascht. 
Saftige,  im  hellen  Licht  gesehene  Töne  überwiegen 
und  mit  großer  Meisterschaft  versteht  er  die  krei¬ 
dige  Stumpfheit  des  Malmittels  zu  überwinden.  Wir 
nennen  nur  eine  holländische  Abendstimmung  (im 
Pariser  Kunsthandel)  und  die  jüngst  bei  Gurlitt  aus¬ 
gestellte  Schweinefamilie  mit  zuschauenden  Kindern. 
Auch  seine  Fwträts,  die  seit  zwei  Jahren  die  Auf¬ 
merksamkeit  der  Besucher  unserer  Kunstausstellun¬ 
gen  lebhaft  beschäftigen,  sind  vielfach  in  Pastell 
ausgeführt.  Möglich,  dass  hier  die  Werke  der  jungen 


Schweden  und  Schotten,  ihre  schillernde  Strichel¬ 
manier  die  Anregung  geboten  haben.  Auch  im  Bild¬ 
nis  bewährt  sich  Liebermann  als  der  stürmisch  kecke 
Eroberer  der  Wahrheit,  als  scharf  und  tief  blickender 
Beobachter.  Die  erste  Leistung,  die  für  das  Familien¬ 
blatt  Schorer’s  entworfene  Kreidezeichnung  Wilhelm 
Bode’s  (vgl.  die  ausgezeichnete  Autotypie  von  Angerer 
und  Göschl  in  dem  schon  mehrmals  ano-ezogenen 
Heft  der  Graphischen  Künste),  bedeutete  einen  durch¬ 
schlagenden  Erfolg;  Haltung  und  Ausdruck  bis  in 
die  Fingerspitzen  hinein  sind  von  überzeugender 
Wahrheit.  Das  charakteristische  Profil  des  Schädels, 
die  scharfen  Gesichtszüge,  zu  nachdenklicher  Kunst¬ 
betrachtung  versteint,  der  Schnitt  des  Auges,  das 
energische  Kinn,  alles  spricht  unmittelbar  zu  dem¬ 
jenigen,  der  den  Leiter  der  Berliner  Galerie  zu 
kennen  oder  zu  beobachten  Gelegenheit  fand.  Ebenso 
gelungen  ist  das  Bildnis  seines  Freundes  Fritz  von 
Uhde  mit  dem  derben  Knochenbau  des  kurzhaarigen 
Kopfes,  aus  dem  unter  breiter  Stirn  ein  nachdenk¬ 
liches  Augeupaar  herausblickt,  der  straffen  militäri¬ 
schen  Haltung,  der  energisch  geballten  Hand.  Das 
Pastellporträt  des  Grafen  Kayserlinck  sowie  das  Brust¬ 
bild  des  Berliner  kunstsinnigen  Professors  Bernstein 
seien  als  weitere  Belege  für  die  Treffsicherheit  Lieber¬ 
mann’s  angeführt.  Im  Aufträge  der  Hamburger 
Kunsthalle  entstand  1892  das  lebensgroße  Porträt 
des  ersten  Bürgermeisters  der  Hansestadt,  Dr.  Peter- 
sen,  gemalt  in  der  breiten  Manier  von  Frans  Hals, 
voll  unbarmherziger,  aber  überzeugender  Lebenswahr¬ 
heit;  mit  wenigen  keck  hingesetzten  Pinselstrichen 
werden  die  großen  charakteristischen  Züge  des 
Kopfes  markirt,  die  altfränkische  schwarze  Amts¬ 
tracht  mit  ihrem  weißen  Mühlsteinkragen  giebt  will¬ 
kommenen  Anlass,  das  kräftig  modellirte,  von  Run¬ 
zeln  durchfurchte  und  von  buschigem  Weißhaar  um¬ 
rahmte  Antlitz  scharf  herauszuheben.  Gleich  seinem 
Haarlemer  Vorbild  löst  der  Maler  hier  die  etwas 
gebrechliche  und  jeden  Anflug  von  Pose  ängstlich 
vermeidende  Greisengestalt  von  einem  hellgrauen 
Hintergründe  ab,  und  doch  gewinnt  man  vor  dem 
Bilde  in  keiner  Weise  den  Eindruck  einer  schrullen¬ 
haften  Altertümelei,  da  jede  Steifheit,  jeder  Hauch 

« 

von  Langeweile  fehlt.  Das  Porträt  —  mag  man 
auch  über  die  Berechtigung  dieser  Auffassung  eines 
Repräsentationsbildes  streiten  —  ist  in  jedem  Pinsel¬ 
zuge  geistreich  und  verdiente  deshalb  nicht  die  kühl¬ 
ablehnende  Aufnahme,  die  es  in  Hamburg  fand.  Als 
Probe  echt  Liebermann’schen  Stils  gebührt  ihm 
sogar  eine  ganz  hervorragende  Stelle.  Auch  das 
diesen  Zeilen  in  einer  Photogravüre  der  Reichsdruckerei 


36* 


2S4 


MAX  LIEBERMANN. 


beigegebene  Bildnis,  das  die  Züge  Gerhard  Haupt- 
mann’s  verewigt,  zählen  wir  zu  den  besten  Leistun¬ 
gen  unseres  Künstlers.  Die  nachdenkliche  Haltung, 
der  charaktervolle  Schnitt  des  Mundes,  der  klare, 


gemalt,  das  sich  den  erwähnten  Porträts  vollwertig 
anreiht. 

Nur  noch  wenige  Zeilen  seien  dem  Radirer  Lieber¬ 
mann  gewidmet.  Erst  seit  wenigen  Jahren  versucht 


llanil/.eielinung  von  Max  Likhermann. 


ii'if  dfiii  llcscliancr  rulicndo  illick  gcdx'ii  die  Pcr- 
"ii  liclikcil  des  gideiertfii  jungen  Dichlers  mit  üher- 
i’.i  (■le  i  der  'I  rene  wieder.  I’nlängst  hat  Liehermann 
■len  Jyeiler  der  elialkograjilii.schen  Abteilung  der 
Ih  iclisdi  ie  l-cerei.  Pivdi  Uh.se,  in  einem  Pastellhilde 


sich  der  Künstler  auf  diesem  Gebiet  mit  der  Unruhe 
und  Unsicherheit,  aber  auch  mit  dem  Glück  eines 
genialen  Experimentators.  „All  etching  must  be 
uncertain“,  schreibt  Herkomer  in  seinen  fesselnden 
Sladevorlesungen  über  Radirung  und  Schabkunst, 


MAX  LIEBERMANN. 


285 


lind  bestätigt  damit  Ruskin’s  treffenden  Anssprucb, 
dass  die  Atzknnst  immer  ein  „blundering  art“,  eine 
Zufalls-  oder  Glückskunst  bleiben  wird.  Auch  Lieber¬ 
mann  hat  sich  mit  Passion  auf  die  Radirnng  ge¬ 
worfen,  in  unablässigen  Versuchen  sich  abgemüht, 
und  die  ganze  nervöse  Hast  seines  Wesens  spiegelt 
sich  in  diesen  Blättern,  die  nicht  wie  mit  der  Radir- 
nadel  gerissen,  sondern  wie  mit  dem  Kohlestift  hin- 
gestrichen  erscheinen.  Selbst  die  breite  Manier  Le 
Gros’  und  Whistler  s  muss  zart  genannt  werden  gegen 
seine  Nadeltührung.  Am  ehesten  lässt  sich  diese 
mit  den  Versuchen  Joseph  Israels’  vergleichen.  Eines 
seiner  ersten  und  größten  Blätter  ist  der  in  der 
Publikation  des  Berliner  Vereins  für  Originalradi- 
ruug  erschienene  „Kinderspielplatz  im  Tiergarten“. 
Noch  etwas  zaghaft  in  der  Betonung  der  Gegensätze 
von  Licht  und  Schatten,  giebt  sie  doch  eine  gute 
Vorstellung  von  den  Zielen,  die  sich  Liebermann  in 
der  Technik  Rembrandt’s  gesteckt  hat:  die  Sugge- 
stion  von  Farbe  und  Ton  durch  die  verschieden¬ 
artige  Verbindung  von  Linien  und  Strichen.  Die¬ 
selben  Probleme,  die  er  in  der  Kreidezeichnung  zu 
lösen  sich  vorsetzte,  beschäftigen  ihn  auch  hier.  Nur, 
dass  ihre  Lösung  in  der  unberechenbaren  Schwarz¬ 
kunst  wesentlich  größere  Schwierigkeiten  bietet. 
Aber  der  Reiz,  durch  kühne  Versuche  zu  neuen  un¬ 
vorhergesehenen  Wirkungen  zu  gelangen,  übt  auf 
ihn,  wie  auf  jeden  echten  Peiutre-graveur  eine  un¬ 
widerstehliche  Anziehungskraft.  Als  ihn  die  um¬ 
ständlichen  Manipulationen  der  gewöhnlichen  Radi¬ 
rung  in  der  Vehemenz  seiner  Schaffensart  hemmten, 
griff  er  unbedenklich  zu  jenem  becpiemen,  wenn  auch 
vom  Fachtechniker  als  dilettantisch  verachteten  Ver¬ 
fahren  der  Radirung  auf  weichem  Ätzgrund  (vernis 
mou  oder  soft-ground):  der  durch  Fettzusatz  erweichte 
Atzgrund  wird  mit  einem  dünnen  Papier  bedeckt 
und  auf  diesem  die  Zeichnung  mit  breitem  Stift  ent¬ 
worfen.  Beim  Ablösen  des  Papiers  bleibt  die  weiche 
Masse  an  den  eingedrückten  Stellen  am  Papier  haf¬ 
ten  und  lässt  den  Grund  nur  an  den  Stellen  unver¬ 
sehrt,  welche  im  Abdruck  weiß  bleiben  sollen.  Es 
lässt  sich  auf  diese  Art,  die  auch  beim  Drucken 
Erleichterungen  bietet,  eine  tonige  Wirkung  erzielen, 
die  der  Nadelradirung  versagt  sind,  ohne  dass  man 
die  schärfere  Hervorhebung  einzelner  Linien  völlig 
einbüßen  müsste,  da  man  bei  fortgeschrittener  Arbeit 
noch  immer  mit  der  Nadel  nachciseliren  kann.  Ein¬ 
zelne  von  Liebermann’s  gelungensten  Blättern,  wie 
das  Hirtenmädchen  auf  dem  Felde  und  der  Sensen- 
scliärfer,  sind  so  hergestellt.  Der  eigentliche  Cha¬ 
rakter  der  Radirung  geht  allerdings  dabei  verloren, 


diese  Vernis  mou -Arbeiten  wirken  eher  wie  Litho- 
graphieen  und  besitzen  in  den  Schattenpartieen  nicht 
jene  reizvolle  Durchsichtigkeit,  die  wir  an  der  Ra¬ 
dirung  besonders  zu  schätzen  gewohnt  sind. 

Den  Druck  seiner  graphischen  Arbeiten  überwacht 
Liebermann  mit  größtem  Eifer,  und  wenn  er  sich 
auch  noch  nicht  zu  Herkomer’s  Leidenschaft  darin  auf¬ 
geschwungen  hat,  der  in  Bushey  Park  sich  eine 
eigene  Presse  hält,  ja  die  Arbeit  vom  Zubereiten  des 
Firnisses  bis  zum  Trocknen  der  Blätter  durchgeliends 
eigenhändig  besorgt,  so  zeigt  er  doch  nngewölinlich 
viel  Verständnis  für  die  ihm  so  ganz  neue  und  des¬ 
halb  besonders  interessante  Art  künstlerischer  Arljeit. 
Sein  „Werk“  ist  bis  jetzt  auf  etwa  zwanzig  Blatt 
angewachsen  und  soll  demnächst  in  vollem  Umfange 
publizirt  werden. 

'I'  ^ 

* 

Unsere  Schilderung  Max  Liebermann’s  und  Dessen, 
„was  er  kann“,  hat  hier  und  da  den  Charakter  einer 
Apologie  angenommen.  Man  könnte  meinen,  es 
gelte  einer  Kunstrichtung  das  Wort  zu  reden,  die 
sich  erst  noch  zukünftige  Ehren  erringen  soll;  wer 
schärfer  auf  die  Entwickelung  unserer  zeitgenössi¬ 
schen  Kunst  hinblickt,  weiß  indes,  dass  jetzt  das 
rücksichtslose  Streben  nach  nnmittel))arer  Natürlich¬ 
keit  von  den  rastlos  Vorstürmendeu  bereits  wieder 
als  vieux  jeu  zur  Seite  geschoben  wird,  nachdem 
eben  erst  der  Sturm  der  Entrüstung  einer  gerech¬ 
teren  Würdigung  dieser  Strömung  gewichen.  Ein 
„chorus  mysticus“  ist  an  der  Arbeit,  der  das  so  lange 
zurückgedrängte  Bedürfnis  nach  Übersinnlichem  in 
der  Kunst  in  iiberschwäuglicher  hysterischer  Sensi- 
tivität  zu  Ijefriedigen  strebt.  Aber  diese  Verinner¬ 
lichung  und  Vertiefung  des  Empfindens,  die  uns 
zum  Teil  in  recht  dilettantischer  Kunstform  geboten 
wird  und  an  krankhaften  Auswüchsen  keinen  Mangel 
leidet  —  ich  erinnere  nur  an  die  Rosenkreuzerei 
eines  Sär  Peladan  in  Paris  mit  ihren  „gestes  esthe- 
tiones“  —  ist  im  letzten  Grunde  nicht  die  selbstän¬ 
dige  Äußerung  einer  positiven  Kraft,  sondern  nur 
die  Rückwirkung  einer  solchen,  nämlich  des  Natura¬ 
lismus.  Unter  denen  aber,  die  an  der  Befreiung 
ans  dem  Bann  überlieferter  Typen  in  unserer  Zeit 
mitgewirkt  haben,  indem  sie  sich  eine  eigene 
Kunstsprache  prägten,  wird  Max  Liebermann  in 
allen  Zeiten  als  einer  der  Tüchtigsten  mit  dank¬ 
barer  Bewunderung  zu  nennen  sein.  In  seinen 
Gestalten,  mögen  sie  noch  so  ärmlich  scheinen,  ist 
nichts  Morsches,  nichts  Verwaschenes,  volle  Mann¬ 
haftigkeit,  eine  durch  Selbstgewissheit  errungene 


286 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


Selbstlierrliclikeit  spriclit  aus  seinen  Werken.  Schon 
diese  Gemütskraft,  diese  Festigkeit  seines  künstleri¬ 
schen  Charakters  darf  man  als  vorbildlich  hinstellen 
für  all  die  Zahmen  und  Seichten  unter  den  Künst¬ 
lern,  die  sich  im  Streben  nach  Anpassung  an  die 
modernste  Kunstrichtung  notwendigerweise  aufreiben, 
sich  selbst  verlieren  müssen.  Ein  bekannter  Archäo¬ 


loge  hat  jüngst  den  Satz  niedergeschrieben:  ^Zum 
OlücJc  stehen  die  Kunsturteile  nicht  fest.“  Auch  das 
Urteil  über  Liebermann’s  Können  wird  sicherlich 
viele  Wandlungen  erfahren:  seine  Standhaftigkeit, 
die  Folgerichtigkeit  und  Ehrlichkeit  seines  Schaffens 
wird  es  niemals  antasten. 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 

VON  THEODOR  BALLIIORN,  GÖRLITZ. 

(Schluss.) 


ILT  nun  diese  Forderung 
der  Beseeltheit  aber  schon 
für  die  Idealgestalten  der 
Götter,  wie  viel  mehr  wurde 
sie  zur  notwendigen  For¬ 
derung  für  die  aus  dem 
wirklichen  Leben  genom¬ 
menen  plastischen  Werke? 
Seine  Studien  zu  diesen  machte  ja  der  Künstler 
bei  den  Übungen  in  den  Gymnasien,  bei  den 

heiligen  Kampfspielen  zu  Olympia.  Hier  war  es, 
wo  dem  Bildner  zuerst  die  Schönheit  des  Nackten 
in  ihrem  vollen  Glanze  aufging  und  zwar  eine 
Schönheit  im  freiesten,  kühnsten  Schwung  der  Be¬ 
wegung.  Hier  war  es,  wo  der  menschliche  Körper 
zu  einer  Reg.samkeit,  zu  einer  allseitigen  Ge¬ 

wandtheit  herangereift  war,  wie  er  sie  nur  einmal 
erreicht  hat  und  nur  in  Griechenland  erreichen 
konnte.  Da  musste  denn  auch  wohl  die  nachbildende 
Kunst  eine  ganz  andere  werden,  einer  ganz  anderen 
I'Veiheit  sich  erfreuen  dürfen,  als  sie  von  unseren  Aka- 
demiefiguren  und  Gliederpuj)pen  uns  vorgegaukelt  wird. 
Das  AuBerste  in  Bewegung  war  für  die  griechische 
Kutist  noch  immer  Natur,  und  nichts  kam  gewiss 
auf  dem  Kam])fplatz  von  Olympia  vor,  in  Sprung  und 
Lauf,  im  Ringkam})f  und  Faustschlag,  was  für  den 
griechischen  MeiBel  zu  gewagt  gewe.sen  wäre.  Nichts 
lag  auBerhalb  des  Bereichs  des  griechischen  Künst¬ 
lers,  als  der  Tod  der  ägyptischen  Ruhe;  und  nie  be¬ 
wunderten  die  Griechen  ein  Werk  mehr,  als  wenn 
das  Bild  zu  atmen,  zu  em})finden,  zu  leben  schien. 
War  doch  ihr  Kunstgenuss  ein  sympathisches  Mit¬ 
gefühl.  Sie  empfinden  den  Schmerz  in  der  Wunde 
d'  s  l’hilokfpf;  sie  forschen  am  sterbenden  Fechter, 


wie  lange  er  noch  zu  atmen  hat,  und  glauben  die 
Stimme  des  Betenden  zu  vernehmen.  Als  Paulus 
Aemilius  den  Tempel  zu  Olympia  betrat,  wurde  er, 
wie  Livius  berichtet,  von  dem  Anblick  der  Tempel¬ 
statue  erschüttert,  als  sehe  er  den  Jupiter  selbst 
von  Angesicht  zu  Angesicht.  Die  Statue  des  Läufers 
springt  von  der  Basis  nach  dem  Kranze  empor, 
und  selbst  der  Adler  des  Ganymed  scheint  zu  fühlen, 
was  er  in  den  Klauen  trägt.  Die  Bacchantin  des 
Skopas  ist  von  heiligem  Wahnsinn  erfüllt,  jene  Statue 
des  Pythagoras  würde  sprechen,  wenn  sie  nicht  den 
schweigsamen  Weisen  darstellte,  und  jene  Niobe 
leben,  wenn  es  nicht  die  auf  dem  Grabe  ihrer  Kinder 
zu  Stein  erstarrte  wäre. 

Zu  allen  Zeiten  also  suchte  und  verlangte  das 
Auge  des  Griechen  an  seinen  plastischen  Werken 
den  Schein  des  vollen  Lebens,  nicht  nur  das  Götter¬ 
bild  sieht  es  durch  und  durch  mit  wirklichem  Leben 
erfüllt.  Das  von  allen  Impulsen  des  wirklichen 
Lebens  absehende,  über  ihnen  stehende  Ideal  ist  erst 
im  Christentum  entstanden,  verdankt  erst  ihm  sein 
Dasein.  Die  griechische  Kunst  dagegen  hat  im 
Sinnenleben  ihren  Odem,  in  physischer  und  seelischer 
Harmonie  ihren  Inhalt.  Geistige  Überschüsse  und 
noch  weniger  einen  Geist,  der  im  Stoff  gleichsam 
zur  Miete  wohnt,  kannte  sie  nicht.  So  durften  und 
konnten  die  Meisterwerke  der  Plastik  auch  in  der 
Blütezeit  der  Marmortechnik  nicht  in  ihrer  vollen, 
durch  nichts  unterbrochenen  Marmorblässe  verbleiben; 
das  vom  Griechenauge  in  ihnen  gesuchte  Leben 

1)  Vgl.  Plinius  XXXIV,  s.  14,  p.  054.  -  Liv.  XLV,  28. 
—  Antbol.  ed.  Jac.  IV,  p.  185.  Nr.  313.  a.  —  Plin.  h.  n.  XXXIV, 
s.  19,  p.  050.  —  Antbol.  III,  p.  2ü2.  Nr.  34.  —  III,  p.  201. 
Nr.  28.  —  IV,  p.  181.  Nr.  298.  —  I,  p.  74.  Nr.  75.  — 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


287 


forderte  unbedingt  auch  äußerlich  das  Zeichen  des 
Lebens,  die  Farbe. 

Sicher  aber  durfte  hierbei  die  Farbe  nun  nicht 
in  der  Weise  zur  Anwendung  kommen,  wie  etwa 
bei  den  Wachsfiguren  unserer  Panoptiken;  schon 
deshalb  nicht,  weil  gerade  hier  der  Schein  des  wirk¬ 
lichen  Lebens  gar  nicht  erreicht  wird.  Denn  mag 
auch  auf  den  ersten  Blick  eine  solche  Wachsgestalt 
uns  durch  ihr  sprechendes  Leben  überraschen,  be¬ 
trachten  wir  sie  nur  eine  kurze  Zeit,  so  schwindet 
alles  Leben  und  die  unbewegliche  Todesstarre  blickt 
uns  aus  diesen  übertünchten  Gestalten  an.  Nein,  in 
ganz  anderer  Weise  nur  konnte  das  auch  ohne  die 
Farbe  in  den  griechischen  Statuen  schon  pulsirende 
Leben  durch  sie  verstärkt  werden;  und  dies  wird 
uns  denn  bestätigt,  wenn  wir  nun  zu  der  auch  sonst 
so  wichtigen  Frage  übergehen,  wie  die  Griechen  bei 
ihren  Bildwerken  die  Farbe  verwendeten,  wie  wir 
uns  also  hier  die  Bemalung  zu  denken  haben.  — 

So  mangelhaft  nun  auch  unsere  Anschauung 
hierüber  trotz  vieler  Entdeckungen  und  Beobach¬ 
tungen  noch  ist,  so  lässt  sich  doch  manches 
als  sicher  nachweisen.  Dazu  verhelfen  uns  nicht 
nur  ein  paar  Werke  der  älte.sten  Zeit;  wichtiger 
noch  ist  dazu  eine  Reihe  von  Skulpturen  aus  der 
römischen  Kaiserzeit,  die  durch  die  Gunst  der 
Umstände  besonders  gut  erhalten  geblieben  sind. 
Als  eines  der  ältesten  Werke  griechischer  Plastik 
ist  ja  das  Grabmal  des  Aristion  in  Athen  bekannt. 
In  voller  Rüstung  steht  der  alte  Marathonkämpfer, 
die  Lanze  in  der  Linken,  wie  zur  Parade  da.  Mit 
der  eingehenden  Sorgfalt,  welche  die  Werke  der 
alten  Kunst  charakterisirt,  ist  selbst  das  kleinste 
Detail  am  Panzer  angegeben,  Stern  und  Löwenkopf 
auf  der  Schulterklappe,  die  Streifen  und  Säume  mit 
ihren  verschiedenen  Ornamenten  und  Mustern  nicht 
bloß  sauber  eingeritzt,  sondern  mit  bunten  Farben 
aufs  zierlichste  ausgeführt.  Dem  entsprechend  waren 
auch  Haar  und  Bart,  Augen  und  Lippen  durch  Farben 
ausgezeichnet,  und  die  ganze  Figur  hob  sich  auf 
einem  kräftig  roten  Grunde  ab. 

In  noch  frühere  Zeit  führen  uns  zwei  kleinere 
und  zwei  größere  Giebelreliefs  aus  Porosstein,  welche 
erst  in  den  Jahren  1882,  1887  und  1888  auf  der 
Akropolis  in  Athen  ausgegraben  wurden.  In  ihnen 
besitzen  wir  die  ältesten  auf  uns  gekommenen,  viel¬ 
leicht  aus  der  Zeit  des  Solon  stammenden  Werke 
der  einheimischen,  attischen  bildenden  Kunst,  Skul¬ 
pturen,  noch  unbeeinflusst  von  der  Technik,  welche 
aus  dem  ionischen  Asien  über  die  Inseln  des  ägä- 
ischen  Meeres  in  Attika  eingeführt  wurde.  Beson¬ 


ders  wertvoll  werden  nun  diese  Funde  einmal  da¬ 
durch,  dass  sie  uns  den  älteren  Brauch  der  Giebel¬ 
verzierung  durch  Reliefs,  noch  nicht  durch  frei¬ 
stehende  Figuren  mit  neuen,  reichen  Beispielen  be¬ 
legen,  mehr  noch  für  unsere  Aufgabe  dadurch,  dass 
sie  uns  deutlich  die  Verbindung  der  Malerei  mit 
der  Bildhauerkunst  zeigen;  denn  noch  heute,  nach 
etwa  2500  Jahren,  sind  die  Farbenspuren  auf  der 
Gewandung  und  den  Körperteilen  der  Figuren  sicht¬ 
bar,  und  mit  aller  Sorgfalt  ist  man  bemüht,  die  so 
lange  dem  Licht  entzogenen  Farben,  die  zu  ver¬ 
bleichen  drohen,  zu  erhalten.  Das  eine  dieser  Re¬ 
liefs  nun  zeigt  uns  den  Kampf  des  Göttervaters 
Zeus  gegen  den  Typhon,  eine  Personifikation  der 
vulkanischen  Gewalt,  ein  geflügeltes,  in  Schlangen¬ 
leiber  ausgehendes  Ungeheuer  mit  drei  bärtigen 
Köpfen  und  drei  männlichen  Oberkörpern.  *)  Der  eine 
dieser  Köpfe  nun  hat  weißes  Haar;  an  dem  andern 
umrahmen  blaues,  über  der  Stirn  steil  emporstehen¬ 
des  Haar,  blauer  Kinn-,  Backen-  und  Schnauzbart 
—  daher  wurde  er  von  den  Arbeitern  Blaubart  ge¬ 
nannt  —  ein  rotes  Gesicht,  dessen  gelbes,  mit  grüner 
Iris  und  schwarzer  Pupille  bemaltes  Auge,  verbunden 
mit  einem  grinsenden  Lachen,  die  ganze  Erscheinung 
zu  einer  im  höchsten  Grade  grotesken  und  aben¬ 
teuerlichen  stempeln.  Am  Leibe  der  Schlange  wech¬ 
seln  Rot,  Weiß  und  Blau  miteinander  ab.  Der  Re¬ 
liefgrund  ist  farblos  gelassen  worden.  So  hat  der 
Künstler  hier  ein  farbenprangendes,  aber  durchaus 
kein  naturwahres  Bild  geschaffen.  Auch  die  bei 
denselben  Ausgrabungen  gefundenen  lebensgroßen, 
archaischen  Porträtstatuen,  wahrscheinlich  Prieste- 
rinnen  der  Stadtgöttin  darstellend  und  gekennzeich¬ 
net  durch  Unproportionalität  der  Glieder,  winklige 
Stellung  der  Augen,  lange,  ängstlich  stilisirte  Ge¬ 
wandung,  zeigen  grüne  und  rote  Farbenspuren. 

Diesen  alten  Werken  steht  dann  die  auch  erst 
in  neuerer  Zeit  in  der  Villa  der  Livia  gefundene 
Marmorstatue  des  Kaisers  Augustus  gegenüber, 
welche  die  Spuren  der  ursprünglichen  Bemalung 
noch  in  ungewöhnlicher  Ausdehnung  und  Deutlich¬ 
keit  zeigt.  Als  das  Werk  eines  angesehenen  Künst¬ 
lers,  als  ein  Bild  des  Kaisers,  mit  Meisterschaft  zum 
Schmuck  einer  kaiserlichen  Villa  ausgeführt,  wird 
gerade  sie  zu  einem  bedeutsamen  Zeugnis.  Dies  um¬ 
somehr,  da  die  Kunst  zur  Zeit  des  Augustus,  im 
Gefühl  der  fehlenden  Schöpferkraft,  sich  keine  neuen 


1)  Die  griechische  Zeitschrift  ^Ecprj^SQlq  dQxc<.ioXoy(xri 
bringt  auch  die  polychromen  Darstellungen  in  ganz  natur¬ 
getreuer  Weise  zur  Anschauung. 


2S8 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


uud  großen  Aufgaben  stellte,  auf  Originalität  der 
Auffassung  verziclitete  und  vor  allem  nach  Korrekt¬ 
heit  der  Formgebung,  Eleganz  der  Darstellung  und 
Meisterschaft  der  Technik  strebte.  Mit  Bewusstsein 
wandte  sie  sich  zu  der  vollendeten  Kunst  früherer 
Zeiten  zurück  und  entnahm  vorzugsweise  der  atti¬ 
schen  Kunst  ihre  Vorbilder,  welche  man  teils  mit 
mehr  oder  weniger  Freiheit  und  Geist  nachbildete, 
teils  zum  Gegenstände  des  Studiums  für  Formge¬ 
bung  und  Technik  machte.  Wenn  also  in  dieser 
Zeit  des  korrekten  Atticismus  uns  ein  bedeutendes 
Werk  der  Skulptur  in  vollem  Farbenschmuck  ent¬ 
gegentritt,  so  dürfen  wir  mit  Sicherheit  annehmen, 
dass  wir  es  nicht  mit  einer  vereinzelten  Kuriosität, 
nicht  mit  einer  Neuerung  zu  thun  haben,  sondern 
die  Tradition  der  früheren,  namentlich  auch  der  at¬ 
tischen  Kunst  anerkennen  müssen. 

Die  reicblicb  und  deutlich  erhaltenen  Farben¬ 
spuren  dieser  Statue  zeigen  nun  die  Tunika  des 
Augustus  karmesinrot,  den  Mantel  purpurrot,  die 
Fransen  des  Harnisches  gelb;  dagegen  sind  an  den 
nackten  Körperteilen  keine  Farbenspuren  bemerkbar 
mit  einziger  Ausnahme  der  Bezeichnung  der  Pupille 
durch  gelbliche  Farbe;  auch  das  Haar  lässt  keine 
Farbe  mehr  erkennen.  Mit  besonderer  Sorgfalt  sind 
aber  die  Reliefverzierungen  des  Harnisches,  dessen 
Grundfläche  farblos  geblieben  ist,  kolorirt.  Die 
Schulterblätter  sind  jedes  mit  einer  Sphinx  verziert, 
unter  welcher  an  einer  Rosette  ein  Ring  befestigt 
ist.  Von  den  Figuren  hält  der  aus  blauen  Wellen 
oder  Wolken  liervorragende  Himmelsgott  mit  beiden 
Händen  ein  purpurfarbiges  Gewand  gefasst;  der 
Wagen  des  Sonnengottes  ist  karmesinrot;  vor  ihm 
schwebt  eine  Frau  mit  ausgebreiteten  blauen  Flügeln; 
die  Erdgöttin  trägt  einen  Ährenkranz  im  blonden 
I  laar.  Apollo  im  karmesinroten  Mantel  reitet  auf  einem 
Greifen  mit  Idauen  Flügeln;  die  blondgelockte  Diana 
im  karmesinroten  Gewand  wird  von  einem  braun¬ 
roten  Hirsch  getragen,  ln  der  Mitte  steht  ein  rö- 
niisclier  Feldlierr  im  blau  und  rot  gefärbten  Harnisch, 
karjnesinfarbiger  Tunika  und  purpurnen  Mantel  mit 
blauem  Helm.  Ein  bärtiger  Krieger  in  karmesin¬ 
roter  Tunika  und  Idauen  Hosen  hält  ein  römisches 
Eeldzeicben  mit  blau  gemalten  Insignien  in  die 
lli'die.  Der  Barbar  rechts  mit  rotblonden  Locken  im 
purjuirnen  Mantel  hält  eine  Kriegstrompete;  die 
Figur  links  ist  ebenfalls  blond  gelockt  und  mit 
eitlem  blauen  iMantel  bekleidet. 

Audi  für  die  spätere  Kaiserzeit  fehlt  es  nicht 
an  Bi'i.'']uelen  polychromer  Skulptur.  Besonders  lelir- 
reich  sind  die  in  Herculanum  und  Pompeji  an 


Skulpturen  aller  Art  häufig  wahrgenommenen  Spuren 
der  Färbung,  weil  sie  einer  bestimmt  begrenzten  Zeit 
an  gehören.  Meistens  sind  sie  auch  hier  nur  noch 
an  einzelnen  Teilen  erkennbar,  wie  die  Vergoldung 
an  den  Haaren  der  Töchter  des  Baibus,  einer  Venus¬ 
statue  und  an  einer  im  Angriff  vorschreitenden 
Athene,  von  der  man  die  Goldblättchen  ablösen 
konnte;  in  Pompeji  wurde  die  Hand  einer  Ceres 
mit  vergoldeten  Ähren  und  rotgefärbten  Mohn¬ 
stengeln  gefunden.  Am  besten  erhalten  sind  die 
Farben  an  der  1760  in  Herculanum  ausgegrabenen 
Artemis,  einer  feinen  Nachbildung  einer  altertüm¬ 
lichen  Statue.  Ihre  Haare  sind  vergoldet,  wie  die 
auf  dem  Stirnband  aufgesetzten  Rosetten.  Das  Ober¬ 
gewand  ist  von  einem  roten,  mit  einem  weißen 
Ornament  verzierten,  durch  Goldstreifen  begrenzten 
Saum  eingefasst,  der  Chiton  hat  unten,  am  Hals 
und  an  den  Ärmeln  einen  rosenroten  Saum.  Die 
Riemen,  mit  denen  die  Sandalen  gebunden  sind,  das 
Band,  an  welchem  der  Köcher  hängt,  sind  durch 
verschiedenes  Rot  ausgezeichnet,  auf  dem  letzten 
durch  weiße  Punkte  auch  die  Buckeln  angegeben. 
Dass  auch  in  Griechenland  in  späterer  Zeit  dieselbe 
Sitte  beibehalten  wurde,  lehren  manche  Beispiele. 
So  wurde  in  Athen  im  Odeum  des  Herodes  Atticus 
ein  Kopf  gefunden,  dessen  Pupillen,  um  einen  eigen¬ 
tümlichen  Effekt  hervorzubringen,  von  Bernstein  ein¬ 
gesetzt  waren.  Ein  spätes  Epigramm  preist  eine 
Statue  der  Daphne,  in  welcher  die  Verwandlung  in 
einen  Lorbeerbaum  nicht  nur  durch  die  Verschmel¬ 
zung  der  Formen,  sondern  auch  durch  die  ent¬ 
sprechenden  Farben  meisterlich  ausgedrückt  ge¬ 
wesen  sei. 

Nach  diesen  Beispielen  und  der  damit  überein¬ 
stimmenden  Überlieferung  hat  sonach  die  Farbe 
sicher  nicht  die  Aufgabe,  der  Bildsäule  erst  zum 
Leben  zu  verhelfen.  Wenn  der  Lebensodem  nicht 
schon  in  dem  Marmorwerk  an  sich  pulsirt,  so 
kommt  er  auch  durch  die  Farbe  ebensowenig  in 
dasselbe  hinein,  wie  in  die  Wachsfigur.  Auch 
darauf  ist  es  nicht  abgesehen,  die  eigentümlichen 
Effekte  der  eigentlichen  Malerei  mit  denen  der 
Skulptur  in  Konkurrenz  zu  setzen,  sondern  sie  soll 
wie  in  der  Architektur  so  auch  bei  dem  Bildwerke 
nur  die  charakteristischen  Wirkungen  der  Plastik 
noch  erhöhen.  Soweit  es  nun  zu  diesen  Wirkungen 
nehört,  dass  die  Statue  dem  Beschauer  auch  mit 
innerem  Leben  entgegentritt,  hat  sie  auch  hierzu 
beizutragen.  Daher  ist  die  Malerei  nicht  schattirt, 
da  die  Skulptur  diese  Wirkung  schon  durch  ihre 
Formen  hervorbringt;  reine  Farben  in  beschränkter 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


289 


Auswahl  —  rot,  blau  und  gelb  oder  Vergoldung 
kamea,  wie  bei  der  Architektur,  vorzugsweise  zur  An¬ 
wendung  —  sind  nebeneinander  gesetzt,  und  offen¬ 
bar  war  eine  dem  Auge  wohlthuende,  harmonische 
Wirkung  solcher  luit  einer  gewissen  symmetrischen 
Abwechslung  verteilten  Farben  ein  Hauptaugen¬ 
merk  dieser  Technik.  Außerdem  sollte  aber  der 
Reiz,  welchen  die  durch  die  Farbe  ausgezeichneten 
Teile  übten,  auch  zu  einer  leichteren  und  präziseren 
Auffassung  führen;  bedeutende  Einzelheiten  wurden 
kräftig  hervorgehoben,  Merkmale  der  künstlerischen 
Anordnung  bezeichnet,  das  Auge  gewissermaßen  zur 
Gliederung  und  Übersicht  geleitet.  Besonders  wurde 
das  mit  Farbe  bedacht,  was  als  mehr  äußerliches 
Beiwerk  gilt:  Gewänder  und  Beschuhung,  an  den 
Kleidern  wieder  Einfassungen  und  Säume,  Waffen 
und  Stäbe,  Kranz  und  Binden,  Schmuck  und  Ge¬ 
schmeide.  Auch  am  menschlichen  Körper  sind  es 
gewisse  Teile:  Haupt-  und  Barthaar,  Augen  und 
Lippen.  Sicher  hat  bei  dieser  Behandlungsweise 
die  altüberkommene  Tradition  stark  mit  eingewirkt, 
die  nach  der  Weise  griechischer  Kunstentwickelung 
nicht  beseitigt,  sondern  immer  nur  umgebildet  und 
verfeinert  wurde.  Denn  auch  wo  die  Plastik  in 
Metall  durch  Verwendung  von  Gold,  Silber,  rotem 
Kupfer  neben  der  Bronze  eine  Polychromie  zur 
Geltung  bringt,  sind  es  dieselben  Teile,  welche  da¬ 
durch  hervorgehoben  werden.  Ja  dasselbe  System 
lässt  sich  noch  in  der  Art,  wie  auf  den  bemalten 
Thongefäßen  bunte  Farben  zur  Ausschmückung  ver¬ 
wandt  sind,  nachweisen.  Dieselben  Accessorien, 
dieselben  Teile  des  Körpers  werden  auch  hier  durch 
besondere  Farbe  ausgezeichnet. 

So  steht  uns,  so  mangelhaft  unsere  Anschauung 
von  der  Polychromie  der  antiken  Bildwerke  auch 
noch  ist,  doch  in  den  Hauptzügen  hiernach  ein  ziem¬ 
lich  deutliches  Bild  davon  vor  Augen.  Die  geschicht¬ 
liche  Forschung  hat  hier  nun  zwar  nur  die  Fest¬ 
stellung  des  Thatsächlichen  ins  Auge  zu  fassen;  sie 
darf  bei  ihren  Untersuchungen  nicht  darnach  fragen, 
ob  sie  dadurch  ästhetische  Empfindungen  und  An¬ 
schauungen  beleidigt.  Hat  die  geschichtliche  For¬ 
schung  aber  ihre  Arbeit  gethan,  so  dürfen  wir  denn 
doch  wohl  auch  fragen,  ob  solche  bemalte  Bild¬ 
werke  nun  noch  schön  genannt  werden  können, 
ob  sich  die  Griechen  hier  nicht  eine  Geschmacklosig¬ 
keit  zu  schulden  kommen  ließen. 

Doch  sind  nicht  die  Griechen  gerade  in  allem, 
was  schön  ist,  Muster  und  Lehrmeister  für  alle 
anderen  Völkern  gewesen  und  geworden,  finden  wir 
nicht  ihren  Schönheitssinn  überall  sonst  in  einer 


Weise  bethätigt,  wie  bei  keinem  anderen  Volke?  So 
kann  wohl  auch  die  Anwendung  der  Farbe  bei 
ihren  Marmorwerken  nicht  so  vernichtend  für  deren 
Schönheit  gewirkt  haben.  Sind  doch  gerade  von 
Meistern,  die  als  die  edelsten  Repräsentanten  schöner 
Marmorskulptur  gelten  müssen,  von  Skopas  und 
Praxiteles  Nachrichten  erhalten,  welche  beweisen, 
dass  auch  sie  die  Farbe  nicht  verschmähten.  Von 
einem  der  gepriesensten  Werke  des  Skopas,  der 
in  enthusiastischer  Aufregung  mit  flatterndem  Haar 
dahinstürmenden  Bacchantin,  welche  ein  in  der 
Raserei  zerrissenes  Böcklein  in  den  Händen  trug, 
wird  ausdrücklich  hervorgehobeu,  wie  die  Wirkung 
der  Skulptur  durch  die  Farbe  erhöht  werde.  Be¬ 
deutsamer  ist  hier  eine  Äußerung  des  Praxiteles. 
Auf  die  Frage,  welchen  seiner  Werke  er  den  Vor¬ 
zug  gebe,  erwiderte  er,  denjenigen,  an  welchen 
Nikias  die  Malerei  ausgeführt  habe.  Wenn  ein  Bild¬ 
hauer  wie  Praxiteles  solches  Gewicht  auf  die  Mit¬ 
wirkung  des  Malers  legte,  musste  ihm  doch  die 
Farbenwirkung  als  ein  wesentliches,  von  ihm  be¬ 
stimmt  berechnetes  Moment  der  Totalwirkung  er¬ 
scheinen;  und  wenn  ein  namhafter  Maler,  wie  Nikias, 
es  nicht  verschmähte,  Hand  an  die  Bemalung  von 
Statuen  zu  legen,  so  musste  dies  denn  doch  ebenso 
eine  Aufgabe  sein,  bei  welcher  ein  Künstler  seinen 
Geschmack  und  gebildeten  Sinn  für  Harmonie  der 
Farbe  und  ihr  Zusammenstimmen  mit  der  Skulptur 
bewähren  konnte.  Und  auch  alle  späteren  Bericht¬ 
erstatter,  welche  diese  Meisterwerke  noch  mit  eigenen 
Augen  sehen  durften,  kommen  ja  nur  in  begeistertem 
Lobe  für  dieselben  überein;  nirgends  begegnen  wir 
bei  ihnen  auch  nur  der  geringsten  Andeutung,  dass 
sie  an  der  Buntheit  derselben  Anstoß  genommen 
hätten. 

So  darf  uns  diese  Buntheit  ihrer  Bildwerke  an 
dem  Geschmack  der  Griechen  denn  doch  wohl  nicht 
irre  werden  lassen;  im  Gegenteil,  der  Umstand, 
dass  die  sonst  in  Geschmackssachen  so  feinfühlenden 
Griechen  uns  hier  als  Barbaren  erscheinen,  legt  uns 
die  Frage  nahe,  ob  wir  denn  wirklich  so  berechtigt 
sind,  dies  Bemalen  von  Marmorbildern  so  unästhe¬ 
tisch  zu  finden,  ob  es  nicht  an  uns  liegt,  wenn  wir 
hier  so  anders  als  die  Griechen  empfinden.  Und  da 
müssen  wir  dann  bei  einiger  Überlegung  wohl  so¬ 
fort  zugeben,  dass  uns  etwas  fehlt,  was  die  Griechen 
in  hohem  Maße  besaßen  imd  vor  uns  voraus  hatten, 
nämlich  einen  ausgebildeten  Farbensinn,  eine  immer 
rege  Farbenfreudigkeit.  Woher  sollten  wir  denn 
auch  einen  solchen  Farbensinn  gewinnen?  Unsere 
den  größten  Teil  des  Jahres  hindurch  in  Winter- 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N,  P.  IV. 


37 


290 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PLASTIK. 


schlaf  erstarrt  daliegende  Natur  lässt  uns  die  Farben¬ 
pracht  des  Orients  nicht  ahnen;  und  kommt  dann 
endlich  der  Frühling  mit  seinem  frischen  Grün  und 
seinem  Blütenkranz,  so  wird  uns  auch  sein  Genuss 
nur  zu  oft  durch  unsere  mit  Rauch  und  Nebel  er¬ 
füllte  Luft  verkümmert.  Und  dieser  unserer  Natur 
entspricht  ja  nun  auch  unsere  so  trostlos  farbenöde 
Kleidung.  Gerade  sie  zeigt  uns  unseren  Mangel  an 
Farbensinn  recht  deutlich;  wie  oft  verletzen  nicht 
schon  helle,  leuchtende  Frauengewänder  unser  Auge 
und  müssen  dies  thun,  weil  sie  in  unsere  trübe  At¬ 
mosphäre  und  farblose  Natur  nicht  hineinpassen. 
Nur  im  lichtdurchflossenen  Festsaal  und  in  sonnen¬ 
beschienener  Sommerlandschaft  ergötzt  sich  auch 
unser  Auge  an  Gestalten,  die  in  hellfarbigen  Ge¬ 
wändern  sich  leicht  und  heiter  bewegen. 

Aber  nicht  nur  unser  Mangel  an  Farbensinn 
lässt  uns  Anstoß  nehmen  an  bunten  Marmorgestalten, 
dazu  trägt  noch  bei,  dass  der  Marmor  bei  uns  eine 
ganz  andere  Rolle  spielt,  als  in  Griechenland.  Schon 
durch  ihre  Seltenheit  erhalten  Marmorwerke  für  uns 
einen  viel  höheren  Wert  als  für  den  Griechen.  In 
Griechenland  war  auch  der  Bewohner  einer  kleinen 
Stadt  von  Jugend  auf  an  den  Anblick  von  Marmor¬ 
gestalten  gewöhnt;  sie  gehörten  zu  der  Welt,  in 
der  er  aufwuchs.  Bei  uns  kennt,  abgesehen  von 
den  kleinen  Residenzen,  nur  der  Großstädter  den  An¬ 
blick  von  Marmorbildern  von  Kindheit  auf;  aber 
das  rastlose  Treiben  der  Großstadt  giebt  ihm  wieder 
weder  Zeit  noch  Muße  zu  ruhigem  Betrachten  und 
Genießen  derselben.  Daher  dann  auch  der  mächtige 
Eindruck,  wenn  einmal  in  einer  weniger  lebendigen, 
kleineren  Stadt  ein  Marmorwerk  aufgestellt  wird; 
auch  ein  an  wirklichem  Kunstwert  sehr  geringes 
Werk  ist  dann  schon  das  Entzücken  der  städtischen 
Bevölkerung;  die  fein  polirte,  lichteinsaugende  und 
•  lamm  auch  wieder  lichtausstrahlende  weiße  Marmor¬ 
fläche  i.st  schon  an  sich  ein  Genuss  für  unser  Auge, 
den  wir  uns  durch  farbige  Bemalung  nicht  ver- 
kinimi(!rn  hissen  wollen.  Dazu  verhilft  ja  auch  erst 
unser  Norden  mit  seinem  gedämpften  Licht  dem 
.Marmor  zu  seiner  ganzen  Macht.  Bescheint  auch 
bf'i  uns  einmal  die  Sonne  eine  Marmorgestalt  mit 
ganzer,  ungebrochener  Leuchtkraft,  so  bekommt  der 
.Marmor  auch  hier  schon  etwas  Stumpfes  und  Kalki¬ 
ges.  Viel  stärker  uinleuchtet  ja  nun  die  griechische 
Sonne  <lie  im  Freien  aufgestellten  Statuen,  so  dass 
.■<ie  die  feineren  Konturen  verwischt  und  das  Ganze 
mehr  oder  minder  nur  zu  einem  großen  Lichtfleck 
worden  lässt.  Sollte  da  <lie  volle  Schönheit  des 
.Marmors  zur  Geltung  gebracht  werden,  so  konnte 


dies,  wenn  die  Statuen  im  Freien  standen,  nur  durch 
die  Farbe  bewirkt  werden;  standen  sie  aber  in  der 
nur  schwach  erleuchteten  Tempelcella,  so  wurde  auch 
hier  die  Färbung  wieder  nötig,  um  eine  stärkere 
Schattirung  hervorzubringen  und  die  plastische 
Rundung  der  Gestalten  zu  verstärken.  In  dem  ge¬ 
dämpften  Licht  unserer  Atmosphäre  dagegen  ist  die 
Farbe  durchaus  nicht  nötig;  hier  reicht  das  Licht 
eben  nur  hin,  die  ganze  Schönheit  des  Marmors  zur 
Geltung  zu  bringen.  Auch  eine  Entdeckung,  welche 
die  Physik  vor  nicht  langer  Zeit  erst  gemacht  hat, 
ist  hier  noch  von  Wichtigkeit.  Bei  sehr  starker 
Beleuchtung  werden  nämlich  alle  Farben  immer 
mehr  weißlich,  so  dass  an  dem  unmittelbar  im  Fern¬ 
rohr  betrachteten  Sonnenspektrum  fast  jeder  Farben¬ 
eindruck  schwindet;  nur  am  roten  Ende  bleibt  noch 
ein  hellgelber  Schimmer  bestehen.  Indem  nun  die 
Farben  weißlich  werden,  mindert  sich  ihr  greller 
Gegensatz;  sie  fließen  mehr  harmonisch  ineinander. 
Daher  machen  denn  auch  die  feuerrote  Farbe,  wie 
das  leuchtende  Weiß  unter  freiem  Himmel  keinen 
verletzenden  Eindruck.  So  konnten  unter  dem  leuch,- 
tenden  griechischen  Himmel  die  mehr  oder  minder 
grell  bemalten  Bildsäulen  nur  einen  gefälligen  An¬ 
blick  gewähren;  im  grauen  nordischen  Licht,  vollends 
in  geschlossenen  Räumen  müssen  sie  dagegen  ganz 
anders  wirken. 

Dann  aber  kommt  ja  bei  unserer  Frage  sehr  in 
Betracht,  in  welcher  Umgebung  diese  Marmorwerke 
aufgestellt  sind.  Wo  sehen  wir  denn  unsere  Statuen? 
Erst  in  allerneuester  Zeit  hat  man  ja  bei  uns  an¬ 
gefangen  zu  fragen,  welche  Umgebung  ein  Bild¬ 
werk  haben  muss,  wenn  es  zu  voller  Wirkung  kom¬ 
men  soll.  So  hat  z.  B.  das  Goethedenkmal  von  Schaper 
in  Berlin  eine  solche  würdige  Aufstellung  gefunden, 
und  in  anderen  Städten  sind  andere  Künstler  diesem 
Beispiel  mit  Verständnis  gefolgt.  Bis  dahin  aber 
sahen  wir  unsere  Marmorbilder  nur  zwischen  oder 
vor  den  hellgetünchten  Häuserfronten  unserer  Städte, 
so  dass  von  einem  Sichabheben  der  Gestalt  von 
seinem  Hintergründe  nicht  die  Rede  sein  konnte. 
Ein  farbiges  Marmorbild  vor  einem  solchen  eintönig 
hellen  Hintergründe  wäre  ja  allerdings  nun  ein  un¬ 
erträglicher  Widerspruch. 

Und  nun  gar  erst  die  schönsten  Werke  unserer 
neusten  Marmorskulptur,  die  wir  unseres  Klima’s 
wegen  nicht  ins  Freie  zu  stellen  wagen!  Sie  teilen 
mit  dem,  was  uns  von  den  Alten  als  kostbarer  Schatz 
erhalten  ist,  das  gleiche  Los.  An  den  langen  Wän¬ 
den  unserer  Museen  reiht  sich  eins  an  das  andere 
und  steht  so  in  langweiligster  Paradeaufstellung  da. 


DIE  POLYCHROMIE  IN  DER  GRIECHISCHEN  PL4STIK. 


291 


Siclieiiich  würde  auch  ein  Grieche  aufs  höchste  er¬ 
schrocken  sein,  wenn  er  seine  farbigen  Marmor¬ 
gebilde  in  solcher  Umgebung  gesehen  hätte. 

Denn  in  seiner  Heimat  war  er  gewohnt,  sie  in 
ganz  anderer  Weise  aufgesteUt  zu  finden.  Hat  sich 
doch  die  antike  Plastik  nicht  nur  mit  und  an  der 
Architektur  herangebildet;  sie  blieb  auch  fortwäh¬ 
rend  mit  ihr  in  dem  engsten  Verbände.  Mochte  die 
Statue  für  die  Cella  des  Tempels  oder  zum  Schmucke 
einer  Säulenhalle  oder  des  Giebelfeldes  gefertigt  sein, 
immer  blieb  sie  der  integrirende  Teil  eines  größeren, 
harmonisch  geordneten  Ganzen;  nie  wurde  sie  eine 
abgeschlossene  Welt  für  sich.  So  wurden  die  Tem¬ 
pel  und  Heihgtümer  sogar  nach  und  nach  zu  Kunst¬ 
sammlungen,  von  deren  Zahl  und  Reichtum  wir  uns 
kaum  einen  Begriff  machen.  In  den  großen  Mittel¬ 
punkten  griechischen  Lebens  wurden  sie  zu  einem 
gedrängten  Ruhmesauszug  aus  der  Geschichte  des 
Staates^  so  auf  der  Akropolis  von  Athen;  eine  un¬ 
vergleichliche  Kunstgeschichte  stellten  sie  dar  zu 
Olympia  und  Delphi.  Aber  sie  ivurden  eben;  wie 
die  Bildwerke  mit  dem  Leben  verwachsen  waren,  so 
war  es  mit  dem  sinnvoll  gewählten  Orte  ihrer  Auf¬ 
stellung;  sie  aus  irgend  einer  Absicht  diesem  zu  ent¬ 
reißen,  das  hieß  ihnen  einen  wesentlichen  Teil  ihrer 
Bedeutung  nehmen:  über  dem  Marktplatze  von  Athen 
waren  die  Befreier  der  Stadt  Harmodios  und  Aristo- 
geiton  an  ihrer  rechten  Stelle;  in  einem  Apollo¬ 
heiligtum  die  Niobiden,  in  einem  dem  Dionysos  ge¬ 
weihten  Bezirke  die  froh  erregten  Aufzüge  der  Sa¬ 
tyrn  und  Maenaden. 

Aber  auch  dann,  wenn  sich  die  Statue  von  dem 
Tempelheiligtum  oder  jedem  anderen  Bauwerke  los¬ 
löste,  auch  dann  durfte  sie  nie  allein  und  abgesondert 
auf  sich  selbst  beruhen;  immer  zeigt  sich  bei  den 
Griechen  das  bewusste  Streben,  die  Statue  in  ein 
näheres  Verhältnis  zu  dem  Raume  außer  ihr  zu 
setzen.  Eine  Statue  des  Orpheus  würde  Orpheus 
bleiben,  ob  sie  in  der  Nähe  eines  Tempels  oder  in 
einer  Lesche  steht;  doch  war  sie  nach  griechischem 
Gefühle  erst  auf  der  Höhe  des  Helikon  ganz  an 
ihrer  Stelle.  Das  erste  Urbild  der  Venus,  aus  wel¬ 
chem  ihre  ganze  spätere  Idealschöpfung  hervorging 
stellte  Alkamenes  in  den  Gärten  auf.  Die  Merku- 
rius-,  Herkules-  und  Erosbilder  wohnten  auf  den  Turn¬ 
plätzen,  in  den  Gymnasien ;  Tritonen,  Nereiden  und  ihr 
Herrscher  Neptun  standen  am  Meer;  Diana  mit  ihren 
hochgeschürzten  Nymphen  in  schattigen  Hainen. 
Lebendiges  Wasser  entströmte  hier  dem  Delj)hin  des 
Neptun,  dort  sprudelte  neben  Bellerophon  ein  wirk¬ 
licher  Quell  unter  dem  Hufe  des  Pegasus  hervor. 


Manchmal  sogar  half  die  Natur  recht  eigentlich  da¬ 
zu,  in  einem  sinnreichen  Ineinanderspielen  von  Kunst 
und  Wirklichkeit  das  Kunstwerk  zu  ergänzen.  So 
stand  jene  Statue  des  Narcissus  an  einer  Quelle, 
welche  das  Bild  desselben  widerstrahlte.  Hier  und 
dort  waren  dann  auch  wohl  Szenen  der  Natur  künst¬ 
lich  nachgebildet,  um  der  Statue  den  ihrer  Bedeu¬ 
tung  entsprechenden  Hintergrund  zu  geben ;  so  stand 
auf  dem  Taenarischen  Vorgebirge  das  Bild  des  Nep¬ 
tun  vor  einem  Tempel,  der  in  Form  einer  Grotte 
aufgeführt  war. 

Das  natürliche  Band  zwischen  Bildwerk  und 
Natur,  für  die  sie  entstanden,  zu  zerreißen,  blieb 
den  Römern  Vorbehalten,  welche  aus  Griechenland 
die  strahlenden  Götter  und  Heroen,  Bilder  und  Ge¬ 
mälde  als  eine  wertvolle  Kriegsbeute  heimbrachten, 
um  so  willkommener,  als  sie,  öffentlich  aufgestellt, 
dem  Andenken  des  Sieges  Dauer  verleihen  half  für 
späte  Zeiten.  Aber  auch  die  Römer  hatten  denn 
doch  so  viel  von  den  Griechen  gelernt,  dass  auch 
sie  für  eine  würdige  Aufstellung  der  Statuen  sorg¬ 
ten;  ja  der  luxuriöse  Geschmack  späterer  Zeit  ge¬ 
fiel  sich  sogar  darin,  die  Statue  mit  wahrer  Deko¬ 
rationspracht  zu  umgeben.  Die  Schilderung,  welche 
Apulejus,  wenn  auch  mit  Übertreibung,  von  einer 
Statue  der  Diana  entwirft,  ist  recht  geeignet,  ein 
le1)endiges  Bild  von  solchen  Kompositionen  zu  er¬ 
wecken.  Die  Statue  war  aus  parischem  Marmor 
gebildet,  im  heftigen  Lauf  begriffen,  das  Gewand 
zurückgeweht;  auf  beiden  Seiten  Hunde  mit  drohen¬ 
den  Blicken,  gereckten  Ohren  und  schnaubenden 
Nüstern.  Hinter  der  Göttin  erhob  sich  ein  Felsen 
nach  Art  einer  Grotte  mit  Moosen  und  Kräutern, 
Blättern  und  blühendem  Gesträuch,  alles  aus  Stein, 
und  am  Rande  der  Höhle  hingen  Baumfrüchte  und 
Trauben,  aufs  kunstvollste  der  Natur  treu  nachge¬ 
bildet.  Nur  die  Farbe  der  Herbstreife  schien  ihnen 
zu  fehlen,  um  sie  zu  pflücken.  Quellen  zitterten  zu 
den  Füßen  der  Göttin  und  zwischen  dem  Blätter¬ 
werk  lauschte  —  Aktaeon.  Wie  so  manche  Scene 
der  Art,  welche  kühne  Verzweigung  der  Kunst  und 
Natur  mögen  die  Gärten  der  römischen  Großen,  ja 
die  einzige  Tiburtina  des  Hadrian  verschönert  haben ! 
Und  sollten  nun  in  solcher  Umgebung  die  Marmor¬ 
bilder  farblos  in  ihrer  Marmorblässe  dagestanden 
haben?  Wenn  einmal  den  Alten  solche  Vermischung: 
von  Kunst  und  Natur,  wenn  auch  erst  in  späterer 
Zeit,  möglich  war,  wie  sollten  sie  da  auch  in  ihrer 
besten  Zeit  vor  einer  immer  doch  mäßigen  Anwen¬ 
dung  der  Farbe  zurückgeschreckt  sein!  — 

Wir  stehen  am  Ende  unserer  Untersuchung. 


37* 


292 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


Wir  Laben  gesehen,  Avie  die  Alten  znr  Färbung 
ihrer  Marmorwerke  gekommen  sind ,  -  und  wie  sie 
dieselbe  ausfübrten;  uns  ist  klar  geworden,  warum 
uns  diese  Färbung  widerstrebt,  und  was  die  Alten 
tbaten,  um  sie  durch  richtige  Aufstellung  nicht  nur 
erträglich,  sondern  sogar  nötig  zu  machen.  Brau¬ 
chen  wir  nun  nach  diesem  allen  noch  die  Frage 
aufzuwerfen,  ob  auch  wir  hierin  den  Alten  zu  folgen 
haben?  Es  liegt  ja  auf  der  Hand,  dass  die  Antwort 
der  meisten  hierauf  nur  ein  entschiedenes  Nein  sein 
kann.  Uraltes  Herkommen,  festgewurzelte  Überlie¬ 
ferung  hielten  den  Griechen  bei  der  Farbe  seiner 
Bikhverke  fest;  nie  hat  ein  Griechenaiige  ein  völlig 
farbloses  Marmorwerk  gesehen.  Im  schroffsten  Gegen¬ 
satz  dazu  hat  sich  von  Jugend  auf  unser  Auge  an 
die  völlig  reine  Marmorschönheit  gewöhnt,  uns  ist 
diese  völlige  Reinheit  des  Marmors  zur  Bedingung 
der  Schönheit  geAVorden. 

Der  griechische  Plastiker  sodann  stand,  wie  der 
Maler  des  Mittelalters,  im  Dienste  der  Religion. 
Seine  höchste  Aufgabe  blieb  es  doch  immer,  Kultus- 
l)ilder  zu  schaffen,  und  diese  verlangte  der  Grieche 
voller  Leben;  zu  toten  Bildern  konnte  er  nicht  beten. 
Unser  Plastiker  dagegen  ist  nur  Künstler;  nichts 
beengt  ihn  in  seinem  künstlerischen  Schaffen;  er 
steht  nur  im  Dienste  der  Schönheit.  So  oft  aber 
der  griechische  Plastiker  auch  nicht  im  Dienste  der 
Religion  stand,  auch  daun  noch  trennte  ihn  ein  Be¬ 
deutsames  vom  modernen  Künstler.  Ist  doch  sein 


Menschenideal  ein  anderes,  als  das  unserige.  Für 
das  christliche  Bewusstsein  ist  der  Körper  immer 
nur  Träger  und  Diener  des  Geistes,  so  hat  unser 
Ideal  immer  etwas  abstrakt  Geisterhaftes  an  sich. 
Der  Grieche  dagegen,  dem  harmonische  Verbindung 
von  Geist  und  Körper  als  höchstes  Ziel  gilt,  ver¬ 
langt  Gestalten,  die  nicht  nur  geistig,  sondern  auch 
körperlich  leben.  Endlich  aber  leuchtet  dem  Grie¬ 
chen  eine  andere  Sonne  als  uns;  die  Farbenpracht 
seiner  Natur  zwingt  den  Plastiker,  auch  in  seinem 
Bildwerk  mit  ihr  zu  konkurriren. 

So  ist  es  als  ein  Wagnis  anzusehen,  wenn  mo¬ 
derne  Künstler  nach  einer  Erneuerung  der  Poly- 
chromie  streben.  Dies  umsomehr,  Avenn  sie  wie  bis¬ 
her  durch  leichte  Abtönung  der  ganzen  Figuren  die 
farbige  Skulptur  wiedergewinnen  wollen.  Sollten 
diese  Versuche  einen  Erfolg  haben,  so  müssten  die 
Künstler  jedenfalls  dabei  von  der  Gold-Elfenbein¬ 
kunst  ausgehen,  vor  allen  Dingen  dürften  die  Fleisch¬ 
teile  der  Statue  nie  gefärbt  werden.  Sollte  einmal 
in  einem  anderen  Jahrhundert  auch  für  den  Nord¬ 
länder  eine  Zeit  kommen,  in  der  seine  Ideale  ihre 
Blutlosigkeit  aufgegeben  und  sich  der  heiteren  Sinnen¬ 
freudigkeit  der  Griechen  wieder  zugewandt  haben, 
sollte  damit  in  Verbindung  ein  neuer  Farbensinn 
erwachen,  dann  werden  auch  die  Meister  schon  er¬ 
scheinen,  Avelche  die  Wege  finden,  auf  denen  ein 
Färben  der  Bildwerke  wieder  möglich  ist. 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


II. 

EUR  bezeichnend  für  den 
Unterschied  zwischen  dem 
Salon  der  Champs-Elysees 
und  der  Marsfeldausstellung 
ist  es,  dass  das  Historien¬ 
bild  in  der  letzteren  mit 
einer  Ausnahme  gar  nicht 
vertreten  ist.  Da  ist  alles 
GegeiiAvart  oder  Mystik  und  Zauberland.  Die  eine 
.\tisji!ilime  bestätigt  die  Regel,  denn  cs  ist  ein  Vor¬ 
gang  jüngsten  Datums,  Avelcher  in  dem  groben  Re- 
präsenlationsbild  von  JloU,  die  Feier  des  Jahrliundert- 
tfiges  der  Revolution  in  Versailles,  dargestellt  ist. 

In  diesem  Riesenbild  hatte  der  Künstler  Gelegenheit, 
seine  kühne  und  derbe  Vortragsweise  passend  zu 


verwerten.  Das  Gemälde  zeichnet  sich  durch  eine 
sehr  übersichtliche  Gruppirung  aus;  trotzdem  der 
Präsident  Carnot  mitten  im  Menschengewühl  steht, 
fällt  er  sofort  als  die  Hauptperson  auf;  das  ist  da¬ 
durch  erreicht,  dass  sein  Gefolge  hinter  ihm  auf  an¬ 
steigenden  Stufen  steht  und  die  vor  ihm  befindliche 
Volksmenge  ihm  zujubelt.  Solcher  Repräsentations¬ 
stücke  in  Riesenformat  giebt  es  im  alten  Salon  eine 
ganze  Reihe,  nur  mit  dem  Unterschied,  dass  sie  viel 
langweiliger  vorgetragen  und  dadurch  fast  unerträg¬ 
lich  sind,  so  der  Empfang  des  Präsidenten  der  Re¬ 
publik  in  Boulogne  sur  Mer  von  Schommcr ;  das 
gleichmäßig  helle  Sonnenlicht  lässt  die  große  Fläche 
noch  um  so  eintöniger  erscheinen.  Nicht  besser  ist 
der  offizielle  Akt  der  Gründung  der  Universität 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


293 


Müutpellier  vou  Lcmatte.  Auch  das  uuendlich  lange 
Bild  von  Munkacsy,  welches  Arpad,  den  Gründer 
Ungarns,  darstellt,  wie  ihm  die  unterworfenen  Völker 
Erde  und  Wasser  bringen,  ist  solch  ein  Repräsen¬ 
tationsstück;  selbst  die  Kraft  dieses  bedeutenden 
Künstlers  hat  nicht  vermocht,  den  Gegenstand  auch 
nur  einigermaßen  interessant  zu  machen.  Es  wird 
von  neuem  der  Satz  bestätigt,  dass  die  Zeit  der 
Historienmalerei  vorüber  ist.  Und,  möchte  ich  fragen, 
hat  diejenige  Kunstart,  welche  wir  heute  mit  diesem 
Namen  bezeichnen,  überhaupt  jemals  Werke  ersten 
Ranges  hervorgebracht?  Was  Avir  aus  vergangenen 
Jahrhunderten  Historienbilder  nennen,  ist  etAvas  ganz 
anderes.  Die  Historienbilder  eines  Raffael  Avie  die 
Schule  von  Athen  oder  auch  die  Konstantinschlacht 
sind  Idealgemälde.  Rubens  hat  seine  Geschichts¬ 
bilder  immer  mit  allegorischen  Gestalten  staffirt,  Aveil 
er  sehr  Avohl  fühlte,  dass  sich  das  Bedeutsame  eines 
geschichtlichen  Vorganges  in  rein  realistischer  Weise 
nicht  darstellen  lässt.  Von  den  Historienbildern  der 
Napoleonischen  Epoche  sind  die  wirklich  machtvollen 
und  guten  diejenigen  mit  Vorgängen  aus  der  sagen¬ 
haften  ältesten  römischen  Geschichte,  Aveil  hier  der 
Stoff  schon  durch  eine  andere  Kunst,  die  poetische 
Sage,  hindurchgegangen  und  vorbereitet  war.  Als 
die  jetzt  noch  nachlebende  Historienmalerei  in  der 
Mitte  dieses  Jahrhunderts  auf  das  Feld  trat,  Avar 
sie  wesentlich  Kostümmalerei,  und  das  ist  sie  auch 
geblieben.  Ein  Kostümbild  im  wahrsten  Sinne  ist 
das  große  Gemälde  von  Eoyhet:  Karl  der  Kühne 
ist  in  die  Kirche  zu  Nesle  geritten  und  leitet  das 
entsetzliche  Blutbad,  welches  seine  Ritter  unter  den 
in  die  Kirche  geflüchteten  Einwohnern  der  Stadt 
anrichten.  Die  Hauptfigur  mit  niedergeschlagenem 
Visir  ist  nur  ein  Rüstungsstillleben.  Herrlich  ist 
die  Farbenpracht  in  den  mittelalterlichen  GeAvändern 
der  Verfolgten,  dazwischen  hin  und  wieder  halb  ent¬ 
blößte  Frauenkörper,  Avenn  man  auch  nicht  gerade 
einsieht,  warum  die  Kleider  der  Frauen  soviel 
schlechter  genäht  sind  als  die  der  Männer,  dass  sie 
im  Handgemenge  eher  zerreißen.  Auf  den  Glanz 
eines  Farbenfeuerwerkes  ist  der  Tod  des  Roland, 
der  Engeln  seinen  Handschuh  übergiebt,  von  Biissicrc 
gemalt.  Eine  gewisse  historische  Größe  ist  in  dem 
Bilde  von  Jean  Paul  Laurens  erreicht,  Johannes 
Chrysostomos  bezichtigt  von  der  Kanzel  die  anwesende 
Kaiserin  schwerer  Verbrechen.  Die  Gestalt  des  Pre¬ 
digers  ist  von  fanatischer  Leidenschaft  durchglüht, 
und  man  merkt  ihm  an,  dass  es  ihn  unwidersteh¬ 
lich  treibt,  die  verhängnisvollen  Worte  auszustoßen. 
Die  große  Napoleonische  Epoche  hallt  in  der  Kunst 


noch  immer  nach,  Orange,  Eoussel,  Scrgcnt ,  Eogcr, 
Cain  haben  darauf  bezügliche  Bilder  meistens  mit 
wenig  Talent  gemalt.  (Auch  das  Revanchebild  tritt 
immer  Avieder  auf.  Die  Leute,  Avelche  mit  demselben 
in  Paris  ihre  blau- weiß -rot  geränderte  Visitenkarte 
abgeben,  haben  echt  französische  Namen,  Avie  Eiiders 
und  Ziviller!)  Halb  Historien-,  halb  Genrebild  ist 
das  beste  hierher  gehörige  Gemälde,  Eocltcgrosse’s 
Plünderung  einer  römischen  Villa  durch  die  Hunnen, 
in  kleinem  Format.  Packend  ist  der  Gegensatz  zwi¬ 
schen  den  mongolischen  Typen  der  asiatischen  Hor¬ 
den  und  der  weißen  edeln  Schönheit  der  gefesselten 
und  erschlagenen  Römer.  In  dem  schönen  Bilde 
drängt  sich  Aveder  die  Farbe  des  buntblüheuden 
Gartens,  der  Rüstungen  und  Gewänder,  noch  histo¬ 
rische  Pose  vor,  es  ist  die  einfache  und  geistreiche 
Erzählung  eines  erschütternden  Vorgangs. 

Auch  das  religiöse  Bild  ist  fast  ausschließlich 
im  alten  Salon  zu  finden.  Dasselbe  ist  Avesentlich 
besser  daran  als  das  Historienbild,  Aveil  der  Beschauer 
für  dasselbe  die  notwendigen  Voraussetzungen  mit¬ 
bringt,  die  Kenntnis  des  Gegenstandes  und  die  Mit¬ 
empfindung  für  denselben,  und  weil  dieser  Stoff 
während  vieler  Jahrhunderte  durch  die  Kunst  für 
dieselbe  verarbeitet  und  gestaltet  ist.  Eine  Anzahl 
religiöser  Gemälde  hat  die  alten  bis  zur  vollstän¬ 
digen  Kraftlosigkeit  verbrauchten  süßlichen  Ideal¬ 
formen,  wie  der  heilige  Franz  den  Vögeln  predigend 
von  Eiant,  die  Pieta  von  Eohert,  die  Ruhe  auf  der 
Flucht  nach  Ägypten  von  Meurisse-Francliomme, 
der  Besuch  der  heiligen  Frauen  am  Grabe  von  Älhcrt 
Laiirent  u.  s.  w.  Oder  es  werden  die  alten  Meister 
nachgeahmt,  Murillo  von  Ilenrg  Levg,  Holbein  von 
Doiceet.  Daneben  aber  zeigt  sich  auf  das  glänzendste 
die  Fähigkeit  der  Franzosen,  in  die  alten  Stoffe  neue, 
schöne  und  malerisch  verwertbare  Ideen  hineinzu¬ 
tragen.  Es  ist  eine  freie  und  schön  menschliche 
Religionsauffassung.  Brimet  stellt  das  Erdbeben  bei 
der  Kreuzigung  dar;  das  Volk  stiebt  aufgeschreckt 
auseinander,  die  Kreuze  der  Schächer  brechen  zu¬ 
sammen,  nur  die  Madonna  mit  ihren  Frauen  wirft 
sich  in  um  so  heftigerer  Liebe  dem  Sohn  entgegen. 
Buffet  giebt  die  Versuchung  Christi  auf  einem  öden 
Bergeshang;  der  Teufel  bietet  ihm  mit  scheuer  Ge¬ 
bärde  eine  Krone  dar,  Christus  aber  hat  sich  nieder¬ 
geworfen  und  ringt  in  brünstigem  Gebet,  in  weitem 
Kreise  um  ihn  knieen  einzelne  an  Fra  Giovanni  Ange- 
lico  erinnernde  Engel,  welche  ebenfalls  beten  oder 
sich  weinend  umschlungen  halten.  Brisson  schildert 
die  Trauer  der  heiligen  Jungfrau,  sie  sitzt  am  Waldes¬ 
rande,  ihr  gekreuzigter  Sohn  erscheint  ihr  in  den 


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DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


Wolken.  Auf  dem  Bilde  von  Fritel  liat  sich  ein 
Verfolgter  in  den  Schoß  Christi  geflüchtet  und  der¬ 
selbe  fleht  seinen  himmlischen  Vater  an,  mehr  Liebe 
und  Brüderlichkeit  in  das  Herz  des  Menschen  zu 
pflanzen.  Karl  Gutherz  stellt  den  letzten  Tag  der 
Schöpfung  dar;  Adam  und  Eva,  zwei  schön  gezeich¬ 
nete  Gestalten,  sind  am  Rande  eines  Berghanges 
niedergesunken,  der  Himmel  hat  sich  geöffnet  und 
Gottvater  erscheint  segnend  inmitten  unzähliger  Engel¬ 
scharen,  es  ist  ein  lichtes  Flimmern  und  Durch¬ 
einanderwogen,  in  dem  man  nichts  Deutliches  er¬ 
kennt,  in  den  Farben  eines  blassen  Regenbogens. 
Aber  auch  Sonderbarkeiten  kommen  auf  dem  reli¬ 
giösen  Gebiet  vor.  H.  Pinta  lässt  den  heiligen  Lukas 
die  Madonna  malen,  während  ihn  modern  gekleidete 
Mädchen  als  Engel  mit  Pinsel  und  Palette  bedienen ; 
Emile  Motte  stellt  zwei  der  thörichten  Jungfrauen 
dar  aus  der  Parabel,  nackt  mit  verzweifelten  Ge¬ 
bärden  an  einer  Mauer,  die  eine  hat  die  verwelkten 
Formen  einer  Greisin. 

Die  Vorliebe  für  die  Allegorie  ist  dem  Fran¬ 
zosen  so  tief  eingeprägt,  dass  beide  Ausstellungen 
daran  teilnehmen.  Der  Führer  der  Sezessionisten, 
Pucia  de  Chavannes,  ist  wie  gewöhnlich  auch  diesmal 
wieder  mit  einem  Bilde  dieser  Gattung  vertreten, 
aber  die  auffallende  Abnahme  in  der  künstlerischen 
Kraft  dieses  Künstlers,  welche  sich  schon  im  vorigen 
Jahre  zeigte,  macht  sich  auch  in  diesem  bemerkbar. 
Sein  diesmaliges  Bild  hat  einen  höchst  unglücklichen 
Gegenstand,  es  ist  die  Huldigung  Victor  Hugo’s, 
des  Nationalheiligen,  an  die  Stadt  Paris.  Der  Dichter, 
der  sich  in  seinem  antiken  Kostüm  sehr  unbehag¬ 
lich  iühlt,  lässt  einer  weiblichen  Gestalt,  welche  eine 
Inschrifttafel  mit  der  bekannten  geschmacklosen 
I’lirase  als  ville  lumiere  bezeichnet,  durch  einen 
Genius  seine  Leyer  überreichen.  Das  ist  so  lang¬ 
weilig  vorgetragen,  als  hätte  der  Künstler  das  Un¬ 
sinnige  solcher  Gegenstände  darthun  wollen.  Auch 
was  sonst  von  allegorischen  Gestalten  auf  dem  Mars¬ 
felde  vorhanden  ist,  von  Frappa,  Lerolle,  Gouriois, 
kennzeiclinet  sich  durch  fade  Flachlieit.  Dagegen 
gehört  in  diese  Gattung  ein  Hauptwerk  der  Aus¬ 
stellung,  das  Gemälde  L’herniittc’s.  Ein  greiser  Holz- 
sami7der  ist  am  L’ande  des  lierbstlichen  Waldes  unter 
der  Last  seines  schweren  Bündels  niedergesunken, 
leise  und  erlösend  tritt  mit  gesenkter  Sense  der  Tod 
aus  den  Büschen  liervor.  Das  ist  mit  so  tiefer  Em¬ 
pfindung  gegeben,  dass  inan  keinen  Zwiespalt  zwi¬ 
schen  dem,  diesem  Künstler  eigenen  naturalistischen 
N’ortrag  und  der  übernatürlichen  Erscheinung  em¬ 
pfindet.  —  in  ihrer  reichsten  Entfaltung  finden  wir 


die  Allegorie  im  alten  Salon,  es  sind  meistens  Ideen, 
die  sich  für  malerische  Darstellung  außerordentlich 
gut  eignen,  geistreich  und  feinfühlig  erfunden, 
Edouard  Duran  lässt  ein  junges  Mädchen  am  Tage 
der  Konfirmation  in  ihrem  Andachtbuch  lesend 
durch  den  Garten  gehen,  als  Verkörperung  ihres 
Gebetes  schwebt  ein  Engel  hinter  ihr.  Auf  dem 
Gemälde  von  Henri  Banger  wandelt  Christus  weinend 
durch  die  Leichen  im  Glaubenskriege  Gefallener, 
Calbert  schildert  die  Musik  durch  eine  Versammlung 
nackter  oder  mit  zartfarbigen  Schleiern  bekleideter 
weiblicher  Gestalten  auf  einer  Wiese.  Es  ist  ein 
musikalisches  Element  in  dem  Fluss  der  Bewegung, 
der  Grazie  der  Zeichnung  und  dem  Einklang  der 
gedämpften  Farbe.  Eine  gute  Allegorie  ist  auch 
der  Kampf  um  das  Leben  von  Henry  E.  Delacroix, 
eine  Menge  nackter  Männer  und  Weiber  ringen  um 
die  wenigen  Plätze  in  einem  mitten  auf  wildrollen¬ 
der  See  umhergeworfenen  Boot.  —  Es  kommen  aber 
auch  höchst  sonderbare  Ideen  dieser  Art  vor.  Um 
nur  ein  solches  Gemälde  zu  erwähnen,  weil  es  von 
einem  bedeutenden  Künstler  stammt:  Henri  Martin 
hat  drei  Troubadours  dargestellt,  wie  sie  in  einem 
Walde  herumstehen  und  Genien  über  ihnen  schweben. 
Das  Gemälde  ist  in  der  bekannten  gesuchten  Manier 
dieses  Künstlers  gemalt  und  wirkt  wie  eine,  auf 
rauhem  Mauerwerk  ausgeführte,  schwach  kolorirte 
und  verwischte  Umrisszeichnung. 

Das  Sitten(Genre-)bild  in  unserem  Sinne  kennt 
die  französische  Kunst  nicht,  selbst  im  alten  Salon 
sind  es  fast  immer  malerische  Probleme,  welche  in 
genreartigen  Bildern  gelöst  werden,  dabei  zeichnen 
sich  diejenigen  der  Marsfeldausstellung  durch  die 
größere  Frische  vorteilhaft  aus.  Von  großem  male¬ 
rischem  Reiz  ist  das  Bild  von  Älpli.  Moutte,  Feld¬ 
arbeiter  frühstücken  unter  herbstlichen  Weiden. 
L.  G.  Giradot  hat  einen  sensationellen  Stoff  behandelt, 
ein  nacktes  Mädchen,  das  tot  neben  seinem  Bett 
liegt,  während  die  Nachbarn  entsetzt  herbeigeeilt 
sind,  der  Arzt  den  Kopf  schüttelt  und  der  Kriminal¬ 
beamte  den  Thatbestand  aufnimmt.  Hagborg  bringt 
ein  Begräbnis  in  der  Normandie,  fast  ausschließlich 
auf  die  malerische  Wirkung  hin  gearbeitet.  Im  alten 
Salon  haben  einige.  Bilder  dieser  Art  eine  schöne 
Empfindung.  Ermüdet  von  der  Arbeit  geht  ein  junges 
Weib  über  das  dunkelnde  Feld,  auf  dem  sie  Ähren 
trelesen,  nach  Hause,  während  ihr  kleines  Schwester- 
chen  emsig  Blumen  pflückt.  Dem  Franzosen  fehlt 
auch  ganz  der  Humor,  der  zur  eigentlichen  Genre¬ 
malerei  notwendig  gehört;  das  einzige  humoristische 
Bild  beider  Ausstellungen  ist  von  einem  Spanier, 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


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Frappa:  ein  Mönch,  der  lachend  ein  Ferkel  nach 
Hanse  trägt. 

Im  Bildnisfach  sind  beide  Salons  ziemlich  gleich¬ 
wertig  vertreten.  Der  alte  Salon  hat  darin  die  be- 
rähmtereu  Namen  für  sich.  Das  kräftige  und  lebens¬ 
volle  Bildnis  einer  alten  Dame  von  Bonnat  ist  doch 
etwas  zu  hart;  der  Maler  hat  zu  viel  von  der  Zeich¬ 
nung  stehen  gelassen,  und  dagegen  sind  wir  jetzt 
etwas  empfindlich  geworden.  In  van  Dyck’scher 
Weise  hat  Be^ijamin  Constant  den  englischen  Bot- 
schaiter  Lord  Dulferin  in  seiner  feuerroten  Amts¬ 
tracht  sremalt;  von  überaus  feinem  Reiz  ist  auch 
das  Bildnis  der  Lady  Helene  Vincent,  thronend  wie 
eine  Juno  mit  einer  Nike  auf  der  Hand  als  dekora¬ 
tives  Gemälde.  Des  Gegenstandes  halber  interessant 
ist  das  Bildnis  der  Rosa  Bonheur  in  Männerkleidung 
vor  ihrer  StafPelei  sitzend  von  Fräulein  Ächille-Fould. 
Sprühende  Farbenstudien  sind  die  Bildnisse  der 
Sarah  Bernhard  als  Kleopatra  und  der  berühmten 
Sängerin  Caron  als  Salambo  von  Clairin.  Von  früher 
bekannt  ist  das  überaus  kräftige  Bildnis  des  Grafen 
Wladimir  Dzieduszychi  von  Pochwahhi,  das  aller¬ 
dings  etwas  brutal  wirkt.  Ein  sehr  gutes  Bildnis 
eines  Kardinals  hat  Vilma  Barlagliy  gesandt.  Sehr 
interessant  ist  ein  Vergleich  zwischen  dem  Selbst¬ 
bildnis  von  Van  Hove  und  dem  vortrefflichen  Bild¬ 
nis  Eugen  Bracht’s  von  Koner  in  der  Berliner  Aus¬ 
stellung.  Beide  zeichnen  und  sehen  mit  beobachten- 
dem  Blick  aus  dem  Bilde  heraus,  van  Hove  hat 
glücklicher  das  allzu  Scharfe  des  Blickes  vermieden, 
das  bei  Koner  das  ganze  Bild  unter  die  Herrschaft 
des  Auges  stellt  und  ihm  das  Bildnisartige  nimmt. 
Den  Malern  des  Marsfeldes  kommt  ihr  Streben  nach 
möglichster  Einfachheit  beim  Bildnis  vorzüglich  zu 
statten.  Die  beiden  Bildnisse  von  Rivey ,  ein  Mo¬ 
delleur  in  seinem  weißen  Arbeitshemd  und  ein  Knabe 
mit  roter  Mütze,  haben  in  ihrer  Weise  eine  ähnliche 
Größe  und  Einfachheit  wie  die  Florentiner  Quattro¬ 
centobüsten.  Auch  M.  B.  de  Mouvel  schafft  in  seinem 
Bildnis  eines  jungen  Mädchens  mit  Erfolg  in  ähn¬ 
licher  Weise.  Beide  Künstler  wenden  wenige  inten¬ 
sive  Farben  an.  Auch  den  Zauber  poetischer  Fein¬ 
heit  wissen  einige  Marsfeldkünstler  in  ihre  Bildnisse 
zu  legen;  so  Rondel  in  seinem  Bildnis  einer  alten 
Dame  in  Trauer  vor  einem  Stück  Landschaft,  das 
nur  angedeutet  als  grüner  Hintergrund  wirkt.  Das 
Schwarz  der  Kleidung,  der  mattgrüne  Hintergrund 
und  das  feine  Gelb  des  schön  gezeichneten  Gesichtes 
stehen  vorzüglich  zusammen.  Tofano  giebt  in  klei¬ 
nem  Format  das  Bildnis  einer  in  ihrem  Zimmer 
sitzenden  jungen  Dame  in  lockerem  hellfarbigem 


Vortrag  mit  der  ganzen  Poesie  einer  reichen  Rokoko¬ 
stimmung.  Der  beliebte  Bildnismaler  Carolus  Daran 
ist  wieder  mit  einer  ganzen  Reihe  von  Bildnissen 
vertreten,  die  aber  wenig  in  den  Rahmen  des  Mars¬ 
feldes  passen;  es  sind  vorwiegend  Kostümstücke  mit 
hässlichen  harten  Farben,  zudem  in  der  Charakte¬ 
ristik  des  Stofflichen  schwach  und  unwahr. 

Alle  diese  Bildnisse  sind  in  beiden  Ausstellun¬ 
gen  zwischen  eine  Fülle  schöner  Landschaften  ge¬ 
ordnet.  Die  Landschaft  der  Franzosen  ist  immer 
objektiver  aufgefasst  als  die  der  Deutschen.  Sie 
will  nicht  das  persönliche  Gefühl  des  Beschauers 
ergreifen,  sondern  l^esteht  mehr  außerhalb  desselben 
für  sich.  So  fallen  denn  auch  die  Landschaften  des 
seit  langen  Jahren  in  Paris  lebenden  (fsterreichers 
Jeitel  aus  allen  anderen  heraus  durch  ihre  deutschen 
Eigenschaften  der  Stimmung  und  einer  gewissen  Art 
des  Tons.  Zwischen  beiden  Ausstellungen  macht 
sich  in  der  Landschaft  ein  bedeutender  Unterschied 
geltend.  Die  Künstler  des  Marsfeldsalons  wandern 
zu  ihren  Studien  nach  dem  Süden  ihres  Landes,  wo 
alles  in  gleichmäßigem  hellem  Sonnenlicht  daliegt. 
Es  sind  immer  weite  Flächen,  welche  man  über¬ 
schaut;  mit  Vorliebe  wird  auch  der  ruhige  Glanz 
der  unbewegten  Meeresfläche  dargestellt,  wie  über¬ 
haupt  das  Wasser,  das  Auge  der  Landschaft,  bei 
den  französischen  Künstlern  selten  fehlt.  Schnee¬ 
landschaften  werden  aus  denselben  künstlerischen 
Gründen  ebenso  gern  gegeben  wie  die  Meeresfläche. 
Solche  südlichen  Landschaften  hat  Dauphin  z.  B. 
gemalt.  Trotz  der  hellen  Schatten  wirken  die  Bilder 
nicht  matt,  wie  so  oft  bei  Nordländern,  welche  süd¬ 
liche  Gegenden  schildern.  Der  nordische  Landschafter 
begeht  dabei  meistens  den  Fehler,  dass  er  von  den 
Schatten  ausgeht,  dieselben  so  hell  malt,  wie  sie 
wirklich  sind,  dann  bleibt  ihm  für  das  Licht  keine 
genügende  Helligkeit  mehr  übrig,  während  der  Süd¬ 
länder  in  seinen  Landschaften  die  Schatten  meist 
dunkler  malt  als  in  der  Natur,  um  die  Leuchtkraft 
des  Lichtes  durch  den  Gegensatz  herauszubekommen. 
Dauphin  wandte  dieses  Mittel  nicht  an  und  bringt 
das  Leuchten  der  südlichen  Sonne  durch  eine  große 
Vielheit  der  Nuancen  im  Licht  heraus,  welche  ein 
gewisses  Vibriren  erzeugen,  ohne  dass  er  dabei  in 
die  Ausschreitungen  der  sogenannten  Vibristen  ver¬ 
fällt.  Ähnliche  Landschaften  malt  Montenard.  Boudin 
hat  sich  seine  Motive  von  Antibes  geholt.  Die 
Landschaft  des  nördlichen  Frankreich  schildert  Da- 
moye.  Dasselbe  ist  landschaftlich  ziemlich  gleich¬ 
förmig  und  bietet  wenig  Bildmäßiges,  das  prägt  sich 
auch  in  diesen  Gemälden  aus.  Eine  vielfarbige  Bunt- 


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DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


heit  bringen  Firmiu  -  Girard  und  IiviU,  ersterer  in 
sommerlich  und  herbstlich  blühenden  Gärten  mit 
duftiger  Ferne,  letzterer  in  vieltupfigen  Herbstland¬ 
schaften.  Bei  beiden  ist  eine  liebenswürdige  Farben¬ 
freudigkeit;  sie  sprechen  aus,  wie  das  so  schön  ist, 
was  sie  vor  sich  sehen.  Vortreffliche  Landschaften 
hat  wieder  der  Belgier  Franz  Coxiriois  geschickt. 
Verschiedene  Jahreszeiten  sind  dargestellt,  und  überall 
sind  die  niemals  ruhende  Bewegung  der  Luft  und 
das  Zittern  des  Lichtes  schlagend  wiedergegeben. 
Die  schönsten  Sachen  hat  der  Amerikaner  Harrison 
gemalt,  in  seiner  bekannten  Weise  oft  Akte  mit  der 
Landschaft  verbindend.  Über  stillen  Waldwinkeln 
mit  einem  See  oder  Teich  liegt  träumerisch  dunkelnd 
der  Abend,  die  nackten  Figuren  und  die  Landschaft 
wecken  gegenseitig  Stimmung  für  einander,  sie 
drücken  weltferne  Einsamkeit  aus.  Herrlich  sind 
seine  Strandbilder  im  aufgehenden  Monde  und  in 
der  Glut  des  Sonnenuntergangs.  Das  ist  weit  und 
feierlich,  bescheiden  und  groß  mit  einfachen  Mitteln 
dargestellt.  —  Die  Landschaft  im  alten  Salon  ist  viel¬ 
seitiger;  sie  stellt  sich  zur  Aufgabe,  die  Natur  nach 
allen  Seiten  zu  schildern.  Hier  ist  auch  ein  See¬ 
stück  mit  wühlendem  Sturm  von  Emile  Maillard; 
iJirjmi  malt  eine  Heuernte  bei  aufsteigendem  Ge¬ 
witter,  BogUani  eine  Landstraße  mit  Viehherden 
und  einem  Omnibus  in  hellem  Sonnenglanz,  Armand 
Gurry  eine  schöne  Flachlandschaft  mit  einem  kar- 
moisinrot  hlühenden  Feld  im  Vordergründe,  Boudet 
eine  sumpfige  Wiese  in  grauem  Dunst,  Cachaud 
einen  Bergsee;  Tanzin  schildert  vedutenartig  die  reich¬ 
besiedelten  Höhen  von  Sevres;  Battcuse  lässt  bei 
einer  Heuernte  das  helle  Sonnenlicht  von  rückwärts 
auf  die  Halme  fallen  und  nur  die  Ränder  derselben 
leuchtend  vergolden;  das  ist  besser,  als  das  Getreide 
diircli  lielle  Heleuchtung  von  vorn  wie  ungeheure 
Goldklumpen  zu  geben.  E.  Bail  hat  ein  großes  Land- 
scliaftsbild  ausgestellt,  eine  in  geringer  Tiefe  von 
Weiden  begrenzte  Wiese  mit  Durchblick  in  die 
f’erne,  alles  in  hellblauem  Duft.  Das  ist  eine  Über¬ 
treibung  der  Natur;  so  gleichmäßig  über  eine  ganze 
weite  Fläche  hingegossen  kommen  die  blauen  Töne  in 
ilerselben  nicht  vor.  Diese  Art  erleichtert  dem  Maler 
seine  Aufgala;.  Es  ist  so,  als  wenn  man  auf  einer  Geige 
ein  ganzes  Musik.stück  mit  dem  Reiter  auf  den  Saiten 
i)i  gedäm])fter  Tonart  si)ielen  wollte;  dadurch  Avird 
allerdings  eine  größere  Einheitlichkeit  erzielt,  auch 
Stiininung,  aber  der  Reichtum  dessen,  was  aus- 
gedrückt  werden  kaiin,  ist  herabgeniindert. 

Bei  allen  Arten  von  Gemälden  haben  wir  einen 
durcligreifenden  Unterschied  zAvischen  den  beiden 


Ausstellungen  feststellen  können.  Je  mehr  wir  uns 
in  die  Betrachtung  derselben  versenken,  desto  mehr 
fühlen  wir,  dass  die  Gegensätze  aus  einer  geschicht¬ 
lichen  Notwendigkeit  herausgewachsen  sind.  Es  hat 
für  die  neuere  Richtung  Jahre  des  unsicheren  Suchens 
und  Tastens  gegeben,  und  diese  Zeit  ist  noch  lange 
nicht  abgeschlossen.  Aber  dennoch,  nicht  nur  die 
Auflösung  des  Alten,  sondern  auch  die  Ansätze  zum 
Neuen,  Positiven  treten  uns  entgegen.  Die  Künstler 
ringen  nach  der  größtmöglichen  Freiheit  im  Können, 
damit  sie  wagen  können,  alles  zu  sagen.  Das  sind 
Bestrebungen,  wie  sie  ähnlich  im  Quattrocento  sich 
zeigten;  und  wie  sie  dort  zu  der  Höhe  der  Kunst 
geführt  haben;  so  hoffen  wir,  dass  auch  hier  etwas 
Bedeutendes  dabei  herau.skommen  wird,  wenn  sich 
auch  noch  keineswegs  absehen  lässt,  welcher  Art 
dasselbe  sein  wird,  das  hängt  von  der  gesamten 
kulturellen  Entwickelung  ab.  Was  den  französischen 
Künstlern  schwerwiegend  mithilft,  empor  zu  kom¬ 
men,  ist,  dass  sie  durchaus  national  sind.  Paris  übt 
in  dieser  Beziehung  eine  zwingende  Macht,  was  von 
außen  hinzukommt,  muss  den  französischen  Geist  in 
sich  aufnehmen :  die  vielen  in  Paris  lebenden  ameri¬ 
kanischen  Künstler  sind  von  ihren  französischen 
Kollegen  kaum  zu  unterscheiden.  Das  Ausland  ist 
bezeichnenderweise  sehr  wenig  auf  den  Pariser  Aus¬ 
stellungen  vertreten.  Die  Gegensätze  zwischen  der 
alten  und  der  neuen  Richtung  werden  sich  vorläufig 
nicht  verwachsen,  und  das  ist  gut.  Die  neue  Rich¬ 
tung  muss  in  ihrer  Abgeschiedenheit  erst  den  ge¬ 
nügenden  Reifegrad  erreichen,  dann  wird  sie  einen 
wohlthätigen  Einfluss  auf  die  ganze  Künstlerschaft 
ausüben,  indem  sie  dieselbe  zwingt,  sich  an  ihr  zu 
erfrischen.  Auch  die  Ausstellung  im  alten  Salon 
ist  schon  vielfach  von  dem  modernen  Geiste  durch¬ 
setzt.  Die  Marsfeldkünstler  sind  die  voraneilende 
äußerste  Linke;  sie  werden  ihrerseits  Halt  machen 
müssen,  um  die  anderen  nachkommen  zu  lassen,  in 
der  Verschmelzung  beider  werden  die  alten  unab¬ 
änderlichen  Kunstgesetze  wieder  zur  Geltung  kom¬ 
men,  dann  wird  der  Pionierdienst  der  Marsfeld¬ 
künstler  seine  wahren  Früchte  tragen. 

Auch  die  Stärke  der  Plastik  besteht  in  diesem 
Jahre  weniger  in  bedeutenden  Hauptstücken  als  in 
einer  Reihe  tüchtiger  Leistungen.  Die  Vorzüge  der 
Pariser  Plastik  sind  so  vielseitig,  dass  es  unmöglich 
ist,  sie  in  einer  Ausstellungsbesprechung  genügend 
ins  Licht  zu  setzen,  deshalb  behalte  ich  mir  einen 
nicht  an  diese  eine  Ausstellung  gebundenen  zusam¬ 
menfassenden  Aufsatz  darüber  vor  und  gebe  hier 
nur  einige  Fingerzeige.  Die  Plastiker  sind  fast  alle 


DIE  PARISER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


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dem  alten  Salon  treu  geblieben;  das  ist  natürlich, 
denn  die  Plastik,  als  die  gebundenere  Kunst  kann 
sieb  nicht  mit  so  waghalsigen  Experimenten  abgeben 
wie  die  beweglichere  Malerei.  Auch  in  der  Mars- 
teldausstellung  sind  einige  vorzügliche  Kräfte,  aber 
ihre  Werke  stehen  zum  Teil  mit  den  plastischen 
Gesetzen  in  argem  Konflikt.  So  vortrefflich  die 
kauei'nde  junge  Mutter  mit  ihrem  Kinde  von  Cam. 
Leferre  gearbeitet  ist,  die  naturalistische  Üppigkeit 
dieses  Körpers  wirkt  abstoßend,  und  ihr  Reiz  ist 
nicht  auf  dein  Gebiete  der  Kunst  zu  suchen. 

Im  alten  Salon  finden  wir  eine  große  Zahl  von 
ßildnisbüsten.  Das  plastische  Porträt  liegt  dem  Fran¬ 
zosen  weniger  gut  als  dem  Deutschen,  wir  werden  es 
meistens  zu  äußerlich  finden.  Der  französische  Bild¬ 
hauer  entfaltet  seine  Größe  viel  mehr  im  Akt  und 
zwar  im  männlichen  wie  im  weiblichen,  während 
die  Pariser  Maler  fast  ausschließlich  den  weiblichen 
Akt  bevorzugen.  Der  männliche  Akt  ist  dem  Pariser 
vor  allem  ein  Bild  der  Kraft,  und  er  stellt  denselben 
daher  meistens  in  heftiger  und  angestrengter  Be¬ 
wegung  dar.  So  hat  Balloni  einen  Geizigen  gebildet, 
der  in  der  Unterwelt  einen  schweren  Geldsack  wälzen 
muss,  der  Amerikaner  Clarke  einen  muskulösen 
nackten  Arbeiter,  der  eine  Apfelpresse  dreht,  als 
Brunnenfigur.  Beim  weiblichen  Akt  ist  das  Schlanke, 
Elastische  beliebt,  und  der  nackte  Köi'per  wird  mög¬ 
lichst  entsinnlicht,  meistens  werden  ganz  junge  Mäd¬ 
chen  dargesteUt.  Die  zarte  unschuldige  Naivetät 
dieser  kaum  entwickelten  Körper  ist  wie  das  schöne 
Gegenbild  zu  dem  üppigen  Raffinement  des  „Jahr¬ 
hundertendes“.  Es  ist  eine  Bescheidenheit  und  doch 
Größe  in  der  Anwendung  der  künstlerischen  Mittel, 
welche  direkt  an  die  Antike  erinnert.  Wie  in  der 
Antike,  sind  die  Figuren  durchgehends  rein  plastisch 
gedacht  und  auf  einen  schönen  und  runden  Anblick 
von  allen  Seiten  berechnet;  die  Gestalten  sind  nicht 
nur  gut  gearbeitete  Akte,  sondern  durchdachte  und 
edel  empfundene  Kunstwerke.  Wie  schön  ist  die 
Susanne  you  Eugene  Aizelin  erfunden;  das  Badetuch, 
das  sie  erschreckt  quer  über  den  Körper  zieht,  deckt 
und  hebt  das  Nackte  desselben  in  geistreicher  Weise. 
Wie  künstlerisch  geschlossen  ist  die  Stellung  des 
jungen  Mädchens  von  Mäcltell,  das  träumend  auf 
einem  Felsblock  sitzt,  den  einen  Fuß  an  den  schrägen 


Abfall  desselben  gestützt,  auf  dem  Knie  eine  Vase 
und  darauf  die  übereinandergelegten  Hände,  auf 
denen  das  Kinn  ruht.  Auch  die  Darstellung  des 
nackten  Knabenkörpers  ist  sehr  beliebt,  da  er  einige 
Vorzüge  des  männlichen  und  des  weiblichen  Aktes 

o 

in  sich  vereinigt:  Kraft,  interessante  Fülle  des  De¬ 
tails  und  geschmeidige  Grazie.  In  seiner  Gruppe: 
die  Wiese,  welche  den  enteilenden  Bach  küsst,  hat 
Lärche  den  Körper  eines  eben  erwachsenen  Mädchens 
und  eines  Knaben  in  wundervollen  Kontrast  und 
Einklang  gesetzt.  Es  ist  herrlich  erfunden,  wie  der 
fein  gemuskelte,  jugendlich  männliche  Körper  gegen 
den  weichen  weiblichen  steht,  und  das  härtere,  nach 
That  verlangende  Männliche  sich  von  dem  ganz  der 
Empfindung  hingegebenen  Weiblichen  zu  lösen  strebt. 
Aber  auch  den  Reizen  üppiger  Weiblichkeit  ver¬ 
schließen  sich  die  Pariser  Künstler  nicht.  Fournier 
hat  eine  Salome  mit  dem  Haupt  Johannes  des 
Täufers  dargestellt.  Erregt  von  der  Hitze  des  Tanzes 
steht  sie  da,  das  Haupt  umwallt  von  der  ungebän- 
digten  Fülle  schwarzer  Locken;  der  üppige  Körper, 
der  schon  das  Gewand  über  der  Brust  gesprengt 
hat  und  auch  die  übrigen  Hüllen  von  sich  werfen 
möchte,  bringt  die  ganze  schwüle  Atmosphäre  des 
Mahles  mit  sich,  bei  welchem  um  solchen  Preis  ge¬ 
tanzt  werden  konnte.  Ein  anderes  Werk  dieses 
Künstlers  ist  trotz  seiner  kleinen  Dimensionen  viel¬ 
leicht  das  bedeutendste  der  ganzen  Ausstellung.  Es 
ist  eine  Versuchung  des  heiligen  Antonius:  Der 
Alte  mit  sehnigem  Körper  sitzt  auf  einigen  Büchern, 
vor  ihm  hat  sich  ein  junges,  nacktes  Weib  nieder¬ 
gelassen  mit  voller  Brust  und  üppigem  Bauch  und 
zupft  ihn  lachend  am  Bart.  Diese  Scene  ist  trotz 
allem  decent  gegeben;  sie  wird  gedämpft  durch  die 
Ausführung  in  Bronze  und  dadurch,  dass  der  Be¬ 
schauer  hauptsächlich  die  Rückseite  des  Weibes 
sieht. 

In  den  besten  Werken  der  französischen  Plastik 
findet  sich  das,  was  der  Malerei  noch  fehlt:  Be¬ 
scheidenheit  und  doch  Allseitigkeit  in  den  Mitteln, 
charakteristisches  Erfassen  der  Aufgabe,  durchdachte 
Geschlossenheit  und  Harmonie  aller  Teile,  mit  einem 
Wort:  Reife  der  Kunst. 

MAX  GEOFG  ZIMMERMANN. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  IV. 


3S 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


Clemeu,  Faul,  Die  Kimstdcnlunäler  der  Dlietnprovinx. 
Erster  Band.  Die  Kunstdenkmäler  der  Kreise  Kempen, 
Geldern,  Mors  und  Kleve.  Düsseldorf,  1892.  XIV  und 
904  Seiten.  Mit  zahlreichen  Abbildungen.  M.  20. 

Es  ist  eine  Freude,  über  ein  Werk,  wie  das  vorliegende, 
berichten  zu  können;  freilich  ist  es  auch  nicht  leicht,  ihm 
gerecht  zu  werden.  Als  das  Eirgebnis  größten  Heißes,  ein¬ 
dringendster  Stndien  und  gründlichster  Kenntnis  ist  es  zu 
einer  solchen  E'undgrube  und  zu  einem  so  zuverlässigen 
Quellenwerk  geworden,  dass  man  fast  in  die  Gefahr  gerät, 
im  Lobe  eher  zu  wenig  als  zu  viel  zu  thun.  Die  Vorge¬ 
schichte  des  Buches  ist  bekannt.  Es  gehört  zu  denjenigen 
Unternehmungen,  welche  nunmehr  glücklicherweise  in  allen 
deutschen  Landesteilen  im  Gange  sind,  um  den  Bestand  an 
älteren  Kunstdenkmälern  festzustellen  und  zu  würdigen. 
Jlit  Recht  ist  wiederholt,  und  auch  in  diesen  Blättern,  die 
Klage  erhoben  worden,  dass  die  einzelnen  Staaten  und  Pro¬ 
vinzen  hierbei  ohne  gegenseitige  wirksame  Fühlung  vorge¬ 
gangen  und  dass  daher  die  einzelnen  Inventarien  gar  zu 
verschieden  ausgefallen  sind.  Eine  größere  Mannigfaltigkeit 
in  Anordnung,  Umfang  und  Charakter  kann  man  sich  in  der 
That  nicht  denken,  als  sie  in  den  bisher  veröffentlichten 
Bänden  zu  Tage  getreten  ist.  Allerdings  darf  nicht  ver¬ 
gessen  werden,  dass  sich  die  Anschauungen  und  Begriffe 
über  Wesen  und  Zweck  der  Inventare  sowohl  in  der  öffent¬ 
lichen  Meinung  als  auch  in  den  Kreisen  der  Fachgenossen  im 
Verlaufe  der  Zeit  wesentlich  geändert  haben  und  dass  mit 
dem  gerade  in  diese  Zeit  fallenden  ungeahnten  Fort¬ 
schreiten  der  Wissenschaft  und  der  kunstgeschichtlichen  Er¬ 
kenntnis  immer  mehr  Gegenstände  und  Gesichtspunkte  be- 
achtfff  worden  sind.  ]\Ian  vergleiche  nur  einmal  den  ersten 
Band  von  Franz  Xaver  Kraus’  Werk  über  Ellsass-Lothringen 
iidt  seinetn  lelzterschienenen  lieft  über  Baden,  und  man 
will]  iiljcr  den  Unterschied  erstaunen,  der  sich  in  verhält- 
nismällig  kurzer  Frist  in  der  Arbeitsweise  eines  einzelnen 
Mannes  vollzogen  hat.  Mehr  aber  noch  wird  man  über- 
ra.schf  sein,  wenn  man  das  einst  viel  gepriesene  und  oft  als 
,\Iu-ler  hingestellte  Werk  von  Lotz  und  Dehn-Rothfelser 
über  IlesHen  mit  einem  der  neueren  besseren  Inventare  zu- 
ammen.  teilt.  Auch  wird  cs  heute  geradezu  unverständlich 
und  unbegreiflich  erscheinen,  dass  die  sächsische  ITovinzial- 
verwaltiing  grundsätzlich  und  hartnäckig  die  Elrzcugnisse 
de:-  ganzen  IS.  .lahrhunderts  von  der  Inventarisirung  aus- 
'  blot  .Man  wf;in,  dass  es  verfassungsrechtliche  Bedenken 
waren  ,  weh  lie  die  einheitliche  Inangriffnahme  des  Werkes 
von  Beielis  wegen  ausschlosscn ;  die  Aufgabe  ist  Sache  der 
EinzeUtaaten ,  und  in  l’reutlen  seit  dem  Gesetz  vom  Jahre 
H7.Ö  Sache  der  einzelnen  Provinzen.  Der  hierdurch  be¬ 
dingten  Gefahr  einer  gar  zu  willkürlichen  und  systemlosen 
\  erschiedenheit  liätte  immernoch  vorgebeugt  werden  können, 
wenn  man  eine  gegenseitige  Verständigung,  etwa  in  Ii'orm 
von  freien  jährlichen  Besjirechnngen ,  versucht  hätte.  Dies 


ist  leider  versäumt  worden,  und  so  traten  zu  jenen  inneren 
noch  die  vermeidbaren  äußeren  Gründe,  um  die  oben  ge¬ 
rügte  Bunts checkigkeit  hervorzurufen.  Es  ist  nicht  Pedan¬ 
terie,  weshalb  ich  eine  größere  Systematik  wünsche,  sondern 
die  einfache  Wahrnehmung,  dass  Auftraggeber  wie  Aus¬ 
führende  mitunter  ohne  die  nötige  Überlegung  an  die  Auf¬ 
gabe  herangegangen ,  dass  einzelne  Leistungen  recht  frag¬ 
würdig  ausgefallen,  ja  dass  an  einzelnen  Stellen  durch  Nicht¬ 
beachtung  der  anderwärts  gesammelten  Erfahrungen  ganz 
erhebliche  Summen  geradezu  nutzlos  vergeudet  sind.  Ich 
begrüße  es  daher  mit  großer  Freude,  dass  das,  was  von  der 
Gesamtheit  versäumt  ist,  jetzt  von  einem  Einzelnen  ver¬ 
sucht  wird;  Clemen  hat  in  der  Einleitung  zu  dem  vorlie¬ 
genden  Bande  durch  ausführliche  Darlegung  der  für  ihn 
maßgebenden  Gesichtspunkte  eine  Systematik  der  Inven¬ 
tarisirung  geschaffen,  und  er  hat  dies  in  einer  so  klaren 
und  in  einer  so  scharf  durchdachten  Weise  gethan,  dass  ich 
die  Aufmerksamkeit  aller  beteiligten  Kreise  recht  eindring¬ 
lich  auf  seine  Auseinandersetzungen  lenken  möchte.  Gewiss 
bedingt  die  verschiedenartige  geschichtliche  Entwickelung 
der  einzelnen  deutschen  Landesteile  auch  eine  verschiedene 
Behandlung  ihrer  Altertümer  und  Denkmäler;  zweifellos  hat 
man  altrömische  Funde  an  der  Mosel  unter  einem  anderen 
Gesichtswinkel  zu  beachten  als  an  der  Ostseeküste;  un¬ 
streitig  ist  es  ein  großer  Unterschied,  ob  man  eine  gotische 
Kirche  in  der  Rheinprovinz  oder  in  Ostpreußen  zu  verzeich¬ 
nen  hat.  Es  kann  also  die  innere  und  äußere  Anordnung, 
die  Clemen  seinem  Werke  gegeben  hat,  nicht  ohne  weiteres 
und  nicht  sklavisch  anderswohin  übertragen  werden.  Aber 
sicherlich  wird  man  bei  Clemen  lernen  können,  wie  man 
den  Stoff  anzufassen  und  wie  man  ihn  zu  gruppiren  hat, 
welches  Maß  man  bei  der  Beschreibung  der  einzelnen  Ge¬ 
genstände  zu  beobachten  hat,  wie  die  Inschriften  wiederzu¬ 
geben  sind  u.  dgl.  mehr.  Ganz  besonderen  Dank  aber 
hat  sich  Clemen  dadurch  erworben,  dass  er  mit  der  recht 
merkwürdigen  Art  gebrochen  hat,  mit  welcher  in  einzelnen 
Inventaren  bibliographische  Zusammenstellungen  (mitunter 
in  fast  schülerhafter  Weise)  geboten  sind.  Er  strebt  da¬ 
nach,  für  jeden  Ort  und  für  jede  Kirche  und  für  jedes 
sonstige  Denkmal  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  eine 
möglichst  vollständige  Zusammenstellung  alles  einschlägigen 
gedruckten  und  ungedruckten  Materials  zu  geben.  Beson¬ 
ders  zieht  er  die  Pfarrarchive  heran,  und  in  der  That  ist 
schwer  abzusehen,  warum  die  Inventarisatoren  eine  solche 
einfache  und  geringe  Mühe  nicht  mit  leisten  sollen.  Für 
kunstgeschichtliche  (und  auch  für  andere)  Forschungen  ist 
es  von  Wichtigkeit  zu  wissen,  ob  in  der  Pfarrei  Baurech¬ 
nungen,  ältere  Inventare  u.  dgl.  lagern;  eigens  aber  Ge¬ 
lehrte  von  Dorf  zu  Dorf  zu  senden,  lediglich  um  den  Be¬ 
stand  der  Pfarrarchive  zu  mustern  und  zu  verzeichnen,  ist 
zu  kostspielig;  wenn  man  aber  schon  jeden  Kelch  und  jedes 
Parament  vermerkt,  so  kann  man  dies  auch  für  die  wenigen 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


299 


handschriftlichen  Bände  thun,  welche  bei  den  Kirchen  auf- 
hewahrt  zu  werden  pflegen.  —  Übrigens  ist  das,  was  Clemen 
auf  diesem  Gebiet  geleistet  hat,  ganz  besonders  erstaunlich. 
Für  die  Stadt  Kempen  hat  er  z.  B.  eine  Bibliographie  von 
zwei  vollen  Druckseiten  zusammengestellt,  dazu  für  die 
Pfarrkirche  in  Kempen  noch  besonders  eine  ganze  Seite; 
für  die  Stadt  Geldern  beträgt  der  Quellennachweis  S'/a,  ^md 
für  die  Pfarrkirche  noch  besonders  eine  Seite,  und  die  all¬ 
gemeine  Litteratur  für  Kleve  umfasst  gar  fünf  Seiten.  Wenn 
man  nun  erwägt,  dass  Clemen  erst  seit  1890  bei  der  Arbeit 
ist,  und  dass  jetzt,  wo  diese  Besprechung  abgeschlossen 
wird,  bereits  der  zweite  Band  ausgegeben  wird,  so  tritt  die 
ungewöhnliche,  erstaunliche  Arbeitskraft  des  Verfassers  in 
das  rechte  Tageslicht.  Selbst  wenn  man  in  Rechnung  stellt, 
dass  ihm  wohl  mehr  Vorarbeiten  zu  Gebote  standen,  als 
all  seinen  Kollegen,  so  ist  doch  das  redaktionelle  Geschick 
allein  schon  bewundernswert,  und  auf  alle  Fälle  liegt  ein 
Fleiß  vor,  wie  er  fast  ohne  Gleichen  dasteht.  Der  vorlie¬ 
gende  erste  Band  umfasst  die  landrätlichen  Kreise  Kempen, 
Geldern,  Mörs  und  Kleve,  also  die  linksufrigen ,  untersten 
Teile  des  niederrheinischen  Gebiets.  Jeder  Kreis  ist  für 
sich  als  selbständiges  Ganze  behandelt,  die  Ortschaften  wer¬ 
den  innerhalb  desselben  in  alphabetischer  Folge  aufgeführt. 
Die  vier  Kreise  sind  zugleich  aber  auch  als  einheitlicher 
Band  mit  einer  zweiten,  durchgehenden  Seitenzählung  ge¬ 
dacht  und  durch  ein  genaues  und  sehr  willkommenes  Ge¬ 
samtregister  vereinigt.  Der  Reichtum  an  Kunstwerken,  die 
solchergestalt  uns  vorgeführt  werden,  ist  beträchtlich.  Unter 
den  Bauwerken  kirchlicher  Art  finden  wir  freilich  nicht 
viele,  welche  eine  weit  über  die  Grenzen  der  Provinz  hin¬ 
ausgehende  Bedeutung  besitzen;  dafür  ist  unter  ihnen  ein 
Denkmal  allerersten  Ranges:  die  herrliche  Viktorskirche  in 
Xanten,  der  dafür  auch  (einschließlich  der  Ausstattung)  nicht 
weniger  als  73  Seiten  gewidmet  sind.  Wichtiger  scheint 
mir  das  Buch  für  die  Kenntnis  der  Profanarchitektur  zu 
sein;  besonders  die  Geschichte  der  Burg  und  des  Schlosses 
erhält  hier  manchen  wertvollen  Beitrag.  Die  flache  Ebene 
erheischte  eine  besondere  Art  von  Verteidigung,  das  Wasser 
bildet  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Element.  Ich  nenne 
hier  u.  a.  die  Kempener  Burg,  ferner  Krieckenbeck,  Schloss 
Wissen,  Schloss  Moyland  und  Schloss  Kleve.  Beachtenswert 
ist  auch  die  Anlage  des  kleinen  geldrischen  Rittersitzes  des 
17.  Jahrhunderts  (S.  227).  Wir  finden  hier  weiter  stattliche 
Bauten  aus  dem  Mittelalter;  das  Rathaus  zu  Kalkar  ist  eine 
mächtige  und  stolze  Schöpfung,  gute  Privathäuser  aus  go¬ 
tischer  Zeit  begegnen  uns  in  Xanten,  Goch  und  Kalkar.  Wich¬ 
tig  sind  die  Stadtbefestigungen  von  Geldern  aus  dem  14.  und 
1.5.  Jahrhundert,  für  welche  auch  zum  Glück  die  Baurech¬ 
nungen  mit  einer  Fülle  der  interessantesten  Aufschlüsse 
erhalten  sind.  Den  Schwerpunkt  des  Bandes  möchte  ich 
aber  doch  suchen  in  dem  Material,  welches  er  zur  Ge¬ 
schichte  der  niederrheinisch-holländischen  Bildschnitzer-  und 
Malerkunst  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  bietet.  Kalkar, 
dessen  Schule  von  je  das  Augenmerk  der  Kunstfreunde  auf 
sich  gezogen  hat,  liegt  im  Gebiet  der  Veröffentlichung,  und 
hier  wie  in  Xanten  sind  schöne  Erzeugnisse  der  Schule  er¬ 
halten;  ich  nenne  nur  ihr  bedeutendstes  und  größtes  Werk, 
den  Hochaltar  des  Meisters  Loedewich  (S.  480  fl'.),  fernerden 
Altar  der  sieben  Schmerzen  von  Heinrich  Douvermann  und 
den  wundervollen  Johannes- Altar,  sämtlich  in  Kalkar,  dazu 
den  Xantener  Marienaltar,  gleichfalls  von  Heinrich  Dou¬ 
vermann.  —  Eine  bedeutende  Schöpfung  ist  ferner  der 
Straelener  Marienaltar  (S.  207  fl'.),  Antwerpener  Arbeit  von 
etwa  15.30;  ungefähr  gleichzeitig  ist  das  niederländische 
Altarbild  in  Haus  Caen  (214).  Mehrfach  vertreten  ist  Victor 


Dünwegge  (so  in  Xanten),  den  Clemen  mit  dem  Meister  von 
Kappenberg  identifizirt  (363  f.).  In  Gnadenthal  (S.  448) 
befindet  sich  ein  dem  bekannten  Werk  in  Palermo  ähnliches 
Tafelbild,  eine  Madonna,  die  Clemen  Mabuse  (im  Gegensatz 
zur  Anton  Springer  nicht  dem  Jakob  Cornelissen)  zuweist. 
Auch  die  Epitaphien  im  Xantener  Kreuzgang  sind  beach¬ 
tenswert  wegen  des  Überganges  von  der  Spätgotik  zur 
Frührenaissance  und  weil  sonst  viel  aus  dieser  Zeit  din-ch 
die  Bilderstürmerei  zerstört  ist.  —  Die  Kleinkunst  ist  durch 
gute  Schöpfungen  aller  Zeiten  und  Arten  vertreten.  Auf 
diese  kurze,  dürftige  Skizzirung  des  Inhalts  muss  ich  mich 
beschränken;  eine  erschöpfende  Widerspiegelung  dessen, 
was  Clemen  uns  bietet,  ist  unmöglich,  will  ich  anders  nicht 
den  üblichen  Rahmen  einer  Buchanzeige  überschreiten. 
Um  jedoch  noch  einige  Worte  zur  Charakterisirung  der 
Arbeitsweise  des  Verfassers  hinzuzufügen,  so  will  ich  er¬ 
wähnen,  dass  die  Beschreibung  der  Denkmäler  durchaus 
erschöpfend  und  trotz  aller  Knappheit  in  der  Regel  klar 
und  verständlich  ist.  Fremdwörter  und  seltene  Fachaus¬ 
drücke  sind  mit  Geschick  vermieden.  Sorgsam  ist  darauf 
Bedacht  genommen,  die  Entstehung  und  den  Verfertiger 
eines  jeden  Werkes  festzustellen.  Nur  bei  den  Goldschmiede¬ 
arbeiten  ist  auf  die  Stempel  nicht  genügend  geachtet  worden. 
Bei  dem  schönen  Pokal  in  Haus  Caen  (S.  215)  ist  zwar  die 
„Marke“  angegeben,  sie  besteht  indessen  sicherlich  aus  zwei 
besonderen  Stempeln,  von  denen  der  eine  auf  Nürnberg  als 
den  Herstellungsort  hindeutet,  der  andere  auf  den  Namen 
des  Meisters.  Der  Trinkbecher  in  Hüls  (S.  44)  und  andere 
Werke  sind  es  wohl  wert,  gleichfalls  auf  ihre  Marken  hin 
untersucht  zu  werden.  Nicht  unbedingt  einverstanden  bin 
ich  mit  den  Abbildungen.  Bei  den  reichen  Geldmitteln,  die 
in  der  Rheinprovinz  zur  Verfügung  stehen,  erwartet  man 
zunächst  mehr,  sodann  öfters  ein  besseres  Maß  der  Leistung. 
Die  Abbildungen  z.  B.  auf  S.  22,  215  und  525  können  wohl 
kaum  genügen,  und  ebenso  sind  die  Lichtdrucktafeln  Nr.  HI 
im  Heft  Geldern,  HI  im  Heft  Kempen  und  1  im  Heft  Kleve 
nicht  scharf  und  deutlich  genug.  Im  übrigen  aber  ist  die  Aus¬ 
stattung  eine  ungemein  vornehme,  in  jeder  Beziehung  ver¬ 
rät  sich  die  sorgfältige  und  liebevolle  Vorbereitung  des 
Werkes,  und  die  Provinzial  Verwaltung  der  Rheinprovinz, 
besonders  die  von  ihr  eingesetzte,  unter  dem  Vorsitz  von 
Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Lörsch  stehende  Denkmälerkommission 
hat  sich  mit  dem  Clemen’schen  Inventar  gegründeten  An¬ 
spruch  auf  Dankbarkeit  erworben.  HERMANN  EHRENDERO. 

„'Wienerstadt.“  Lebensbilder  aus  der  Gegenwart,  geschil¬ 
dert  von  Wiener  Schriftstellern,  gezeichnet  von  M/jrbac//. 
Wien,  Prag,  Leipzig,  F.  Tempsky,  G.  Freytag.  1893.  Lexi- 
'  konformat. 

Wenn  irgendwo  etwas  Gutes  geboten  wird,  so  ist  es 
immer,  als  ob  einem  in  dieser  Richtung  längst  gefühlten 
Bedürfnis  nunmehr  abgeholfen  worden  wäre.  So  geht  es  uns 
auch  mit  diesem  Werke,  von  dem  bisher  sechs  Lieferungen 
vorliegen,  die  uns  schon  deutlich  Plan,  Anlage  und  künst¬ 
lerische  Absichten  des  Ganzen  verraten.  Über  die  zum  grö߬ 
ten  Teil  bereits  seit  langem  gutklingenden  Autorennamen 
des  Textes  wie  Schlögl,  Chiavacci,  Pötzl  etc.  hinweg,  wollen 
wir  gleich  den  uns  hier  näh  erstehenden  Illustrator  Baron 
Mijrhach  mit  seinen  zahlreichen  Arbeiten  ins  Auge  fassen. 
Es  ist  erstaunlich,  in  welchen  Massen  dieser  Künstler  pro- 
duzirt,  ohne  deshalb  im  schlechten  Sinne  Massenprodukte  zu 
liefern.  Die  Textautoren  hätten  keinen  besseren  Interpreten 
ihrer  Worte  finden  können,  und  wir  sind  überzeugt,  dass  die 
Bilder  noch  populärer  werden  als  der  literarische  Teil;  sie 

.38* 


300 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


werden  dies  ihrer  oft  verblüffenden  Wahrheit  und  Unmittel¬ 
barkeit  verdanken.  Myrbach  hat  dabei  alle  ihm  zu  Gebote 
stehenden  Hilfsmittel  ebenso  benutzt,  wie  in  seinen  vortreff¬ 
lichen  Illustrationen  französischer  Bücher;  er  hat  gezeigt, 
was  ein  ]\Iann  von  Geschmack  und  poetischer  Kraft  mit  der 
so  oft  in  lächerlicher  Weise  verlästerten  Zugrundelegung 
photographischer  Momentaufnahmen  zu  leisten  vermag.  Dass 
bei  der  großen  IMenge  des  Gebotenen  nicht  alles  gleichwertig 
ist,  liegt  auf  der  Hand,  allein  gar  vieles  hat  auch  hier  und 
da  die  Reproduktion  verschuldet.  Den  geringsten  Beitrag 
hat  der  Holzschnitt  geliefert,  und  zwar  darin  als  Meister¬ 
leistung,  die  wir  erwähnen  müssen,  Oedan  in  Leipzig  mit 
einem  Faksimileschnitt  nach  der  einleitenden,  in  Feder  ge¬ 
zeichneten  Kopfleiste,  der  frappant  ist.  Wir  bedauern  nur, 
wie  dies  durchwegs  von  den  Illustrationen  gilt,  dass  die  Zn- 
richtiinrj  der  fein  abgestuften  Tonschnitte,  wie  auch  vieler 
Federzeichnungen,  von  allzu  geringer  Sorgfalt  zeugt,  was  für 
den  Künstler  ebenso  verdrießlich  ist,  wie  für  den  Kenner  des 
Besseren.  Neben  Gedan  haben  J/e«<er  und  Kirmse  einige  selbst 
in  dem  abgequetschten  Druck  noch  das  Gute  verratende,  vor¬ 
zügliche  'J'onschnitte  beigesellt,  wie  das  Vollbild:  „Beim 
Auslaufbrunnen“,  das  in  einer  Weise  flach  gedruckt  ist,  die 
genau  zeigt,  wie  man  es  nicht  machen  soll.  Angerer  und 
Göschl  haben  die  Mehrzahl  der  Illustrationen  teils  als  Zinko- 
graphieen,  teils  als  Photographieen  durchs  Netz,  teils  als  Chromo- 
phototypieen  hergestellt,  letztere  in  der  bekannten  Unüber- 
trelflichkeit  dieser  Firma;  die  Phototypie,  die  eo  ipso  schon 
jeder  Tuschirung  schadet  durch  Aufhebung  der  Kontraste, 
zeigt  dann  noch  am  deutlichsten  die  Mängel  der  typogra¬ 
phischen  Herstellung.  —  Wir  stimmen  zwar  nicht  damit 
überein,  klyibach  einen  Wiener  Künstler  zu  nennen,  wie 
dies  der  Prospekt  thut,  —  er  ist  denn  doch  ein  Pariser,  die 
Krziehung  macht  ja  den  Mann,  aber,  und  wir  glauben  ihm 
damit  kein  alltägliches,  doch  wohlverdientes  Lob  zu  spenden, 
er  hat  das  allgemein  Gültige  und  Typische  ebenso  vortreff¬ 
lich  wie  das  Besondere  sowohl  in  den  geschilderten  Figuren 
als  auch  in  den  Örtlichkeiten  zu  ergi'eifen  und  festzuhalten 
gewusst,  wie  kein  Zweiter.  Er  ist  eine  Proteusnatur,  wie  er  dies 
schon  in  seinen  Illustrationen  für  das  Kronprinzenwerk  und 
in  den  Bildern  aus  dem  österreichischen  und  französischen 
iMilitärleben  bewiesen  hat,  die  doch  etwas  von  seiner  gewohnten 
'l'liätigkcit  in  Paris  sehr  Verschiedenes  bieten.  Myrbach  ist 
einer  der  Marksteine  in  der  modernen  Buchillustration.  Man¬ 
ches  davon  würde,  recht  intim  in  derFarbe  gehalten,  ein  reizen¬ 
des  Wiener  Sittenbild  geben,  so  gleich  das  Farbendruckbild  „In 
der  Wäscherburg“,  das  in  seinen  durch  Mienen  und  Bewegung 
vorzüglich  charaktcrisirten 'I'ypen  das  beste  genannt  werden 
iiiu.‘-s.  So  zeigen  viele  oft  selbst  ganz  kleine  Bildchen,  was  für 
reizende  Dinge  sich  mit  Hilfe  der  Photographie,  die  wir  hier 
aufs  angenebmstc  verwertet  finden,  schaffen  lassen  —  wenn 
ein  M.mn  von  8chö])fcrischer  Kraft  kommt.  Uber  die  deli¬ 
kate  tee.hnischc  Ausführung  speziell  der  .Federzeichnungen 
brauchen  wir  wohl  kein  Wort  zu  verlieren.  So  haben  wir, 
außer  dem  oben  eindringlich  bct07iten  Wunsch  betreffs  des 
I5ui  bdruck<'rs,  nur  tJutes  von  dem  Buche  zu  sagen. 

UIU).  BÜCK. 

VOM  KUNSTMARKT. 

l.iiiidmi.  Am  20.  .luli  wur<len  die  Bilder  und  Kunst- 
gegenstände  aus  dem  Nacldass  des  Grafcm  von  Onslow  und 
in  den  darauffolgenden  'fagen  die  dcj.s  Grafen  von  Essex, 
■iwie  Kunstwerke  au?:  \ erHchie<lenem  Besitz  durch  (ihr ist ie 
vr-rsteigert.  I)ie  bemerkenswertesten  Preise  waren  folgende: 
zwei  Porträt-  von  Sir  .1.  Iteynolds,  je  30.')  L  (Sedelmeyer); 


ein  Zigeunerlager  von  J.  Stark,  304  £  (Wallis);  Napoleon’s 
Zug  über  die  Alpen  von  Paul  de  la  Roche,  1848  gemalt, 
785  £  (Besser);  Ansicht  von  Venedig,  der  Dogenpalast,  von 
Canaletto,  165  £  (Colnaghi);  der  Kopf  eines  alten  Mannes 
von  Denner,  273  £  (Davis);  eine  kleine  Landschaft  von  Hob- 
bema,  bez.  131  £  (Sedelmeyer).  Hierauf  folgten  vier  Werke 
von  Jacob  Ruysdael:  ein  Wasserfall,  39x33  Zoll,  1271  £ 
(Besser);  ein  Fluss  in  Kaskaden  über  Felsen  springend,  bez. 
39x55,  1365  (Besser) ;  eine  pittoreske  Waldlandschaft  mit 
Wasserfällen,  bez.  26x20,  462  £  (Colnaghi);  felsige  Land¬ 
schaft,  588  £  (Besser);  J.  Both,  eine  große  italienische  Land¬ 
schaft,  872  £  (Lord  Cheylesmore).  Im  ganzen  brachte  die 
kleine,  aber  gute  Sammlung  7729  £.  —  Die  an  demselben 
Tage  verauktionirten  Bilder  des  Grafen  von  Essex,  obgleich 
nur  9  Stück  an  der  Zahl,  haben  zusammen  16453  £  ge¬ 
bracht,  und  somit  den  höchsten  bis  jetzt  bekannten  Durch¬ 
schnittspreis  hierselbst,  d.  h.  1828  £.  „Rotterdam“  von  Cal- 
cott,  399  £  (Gooden);  „Küstenlandschaft“  von  Collins,  788  £ 
(Gibbs) ;  „Eine  musikalische  Abendgesellschaft“  von  Hogarth, 
Porträts  enthaltend  von  dem  Künstler  selbst  und  anderen 
berühmten  Zeitgenossen,  210  £  (Agnew);  ein  Tierstück  von 
E.  Landseer,  935  £  (Gooden);  „Eine  Kriegsscene  im  Hoch¬ 
lande“  von  Wilkie,  375  £  (Sedelmeyer).  Sehr  hohe  Preise 
erzielten  die  drei  nachstehenden  Bilder  von  Turner:  „Der 
Forellenbach“,  35  X  47 ,  5040  £  (Thomas  Johnson  in  Man¬ 
chester);  „Walton-Bridge“  und  „The  Nore“  wurden  beide 
von  Mr.  C.  White  für  den  Preis  von  je  4305  £  erstanden. 

—  Bilder  aus  verschiedenem  Besitz:  „Mademoiselle  Camargo“ 
von  N.  Lancret,  44  X  38,  gestochen  von  Cars,  262  £  (Edwards) ; 
David  Cox,  „Sammeln  der  Herde“,  bez.  1848,  eins  der 
größten  Bilder  des  Künstlers,  36x54,  1208  £  (Francis); 
Gainsborough,  eine  Landschaft,  299  £\  J.  Ruysdael,  Wald¬ 
landschaft,  455.^;  W.  Müller,  1837,  Winterlandschaft,  315 

—  Skulpturen:  „Venus  mit  dem  Apfel“  von  Gibson,  915  £', 

„Venus  und  Cupido“  von  E.  Spence,  368  £.  —  Kunstgegen¬ 
stände  aus  dem  Nachlass  des  Grafen  Onslow;  ein  Satz  von 
drei  Sevresvasen,  grosbleu,  weiß  und  gold,  Malerei  von  länd¬ 
lichen  Scenen,  Kränzen  und  Blumen  in  Medaillons,  346  £-, 
ein  Paar  Sevresvasen  mit  Deckeln,  grosbleu,  mit  einem  Fries 
von  klassischen  Figuren,  in  schöner  Goldbronze  montirt, 
525  £  (C.  Wertheimer);  ein  Satz  von  vier  Louis  XVl-Tisch- 
leuchtern,  Goldbronze,  getriebener  Griff  in  weiblicher  Figur 
endend,  315  £■,  ein  Paar  altenglische  Kamin vorsetzer,  Silber, 
in  Form  von  Hunden,  aus  der  Zeit  Karl’s  II.,  478  £‘,  ein 
Louis  XV-Parqueteriesekretär,  Einfassung  von  Goldbronze, 
331  £-,  ein  Paar  Louis  XVI-Kandelaber,  weibliche  Figuren, 
Goldbronze  mit  Marmoruntersatz,  672.^;  ein  Bücherschrank 
mit  Einlagen  von  Tulpen-  und  Rosenholz,  220  £',  ein  ob¬ 
longer  Louis  XVI-Schreibtisch  mit  Verzierungen  in  Goldlack, 
252  £-,  ein  Paar  Louis  XIV -Boulle- Kommoden  mit  Monti- 
rung  von  Goldbronzen,  rot  und  grün,  geaderten  Marmor¬ 
platten,  2415  £  (Philpot);  ein  Paar  altitalienische  Bronze¬ 
gruppen,  Hund  mit  einem  Wolf,  Drachen  mit  einem  Einhorn 
kämpfend,  9  Zoll  hoch,  263  £-,  ein  Paar  silberne  Wand- 
Icuchter,  1711,  aus  der  Zeit  der  Königin  Anna,  per  Unze  80 
Schilling.  DieAntiquitäten  erzielten  im  Ganzen  12310#.  $ 

Berlin,  Im  Kunstauktionshause  von  Rud.  Lepke  findet  am 
21 .  September  und  folgende  Tage  die  öffentliche  Versteigerung 
von  älteren  und  neueren  Kupferstichen,  Radirungen,  Holz¬ 
schnitten,  Schabkunstblättern,  Farbendrucken,  Lithographieen, 
Ülstudien,  Handzeichnungen  etc.  aus  Privatsammlungen  statt; 
darunter  befindet  sich  ein  Exemplar  der  Raj)hael’schen  Stan¬ 
zen  in  38  Blatt. 


lleniusgclicr;  (htrl  von  LiUx<nv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlicli:  Artur  Hecmann  in  Leipzig. 

Druck  von  Awjml  Pries  in  Loi])zig. 


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