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Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

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ZEITSCHRIFT 

FÜR 

BILDENDE  KUNST. 

Herausgegeben 

von 

PROF.  DR.  CARL  VON  LÜTZOW 

Bibliothekar  der  K.  K.  Akademie  der  Künste  zu  Wien. 


NEUE  FOLGE 


Fünfter  Jahrgang 


LEIPZIG 

Verlag  von  E.  A.  Seemann 
1894. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi29unse 


Inhalt  des  fünften  Jahrgangs. 


Seite 


Allgemeines. 

Neue  Bahnen  in  der  Kunst.  Von  C.  v.  LUixoio  ...  1 

Rechts  und  links  in  Natur  und  Kunst.  Von  Jos.  Langl  122 


Architektur. 

Brieg.  Von  A.  Jonetx .  25,  105,  181 

Zakynthos.  Zwei  venetianische  Renaissancepaläste.  Von 

J.  Sfrxi/goicski . 177 

Das  rumänische  Königsschloss  Pelesch . 241 

Die  Triangulatur  in  der  antiken  Baukunst.  Yon  G.Dehw  273 


Plastik. 

Epidauros.  Von  Dr.  F.  Winter . 40 

August  Wittig.  Von  Otto  Donner  von  Richter  ...  91 


Die  Reiterstatuette  Karl’s  des  Großen.  Von  O.  Wolfram  153 
Griechische  und  Römische  Porträts.  Von  J.  J.  Bernouilli  194 


Malerei. 


Seite 

Der  Untergang  der  nordischen  Götterwelt  und  das  Er¬ 
scheinen  des  Christentums.  Bildercyklus  von  Fr. 

Röber  in  Düsseldorf . 97 

Peter  Paul  Rubens.  Von  Dr.  A.  Rosenberg  .  .  129,  225 
Die  Kunst  in  den  Vereinigten  Staaten.  Eindrücke  von 
einem  Besuche  der  Weltausstellung  in  Chicago.  Von 

TF.  Bode.  1.  Malerei  und  Plastik  i) . 137,  102 

Die  Winterausstellungen  der  Royal  Academy  und  der 
New  Gallery  in  London.  Von  Jean  Paul  Richter  .  145 
Der  Meister  des  Todes  Mariä,  sein  Name  und  seine  Her¬ 
kunft.  Von  E.  Firmenich-Richartx . 187 

Studien  zur  Geschichte  der  Ulmer  Malerschule.  Von 
M.  Bach.  II.  Bartholomäus  Zeitblom  ....  201,  235 
Die  Galerie  Schuhart  in  München.  Von  Th.  v.  Frimmel  215 
Goethe’s  Bildnisse  und  die  Zarncke’sche  Sammlung.  Von 

E.  Lehmann .  249,  276 

Marienlegenden  von  österreichischen  Gnadenorten  .  .  294 

Graphische  Künste. 

Verein  für  Originalradirung  in  München . 103 


Ismael  und  Anton  Raphael  Mengs.  Von  K.  Woer)nann 

7,  82,  168,  208,  285 


Franz  Simm.  Von  C.  v.  Lnltxoie . 15 

Jörg  Breu  der  ältere  und  Jörg  Breu  der  jüngere.  Von 

Ä  A.  Schmid . 21 

Spanische  Miscellen.  Von  C.  Jiisti.  I.  Über  Bildnisse 

des  Don  Kariös . 34 

Max  KlingePs  Gemälde.  Von  H.  TF.  Singer  ....  49 

Die  Idee  der  Transfiguration  RaöäePs.  Von  Dr.  A.  Kir- 

stein . 54 

Die  Münchener  Kunstausstellungen.  Von  A.  O.  Meyer 


62,  111 

Lionardo  da  Vinci  und  die  berühmten  weiblichen  Bild¬ 
nisse  im  Louvre  und  in  der  Ambrosiana.  Von  Q. 
Erixzoni . . 


Bücherschau. 

Unsere  Kunst.  Mit  Beiträgen  deutscher  Dichter  heraus¬ 
gegeben  von  der  freien  Vereinigung  Düsseldorfer 

Künstler . ßg 

Secession.  Eine  Sammlung  von  Photogravüren  nach 
Bildern  und  Studien  von  Mitgliedern  des  Vereins 

bildender  Künstler  Münchens . 71 

Vatikanische  Miniaturen.  Von  Er.  Schneider  ....  101 

Richard  Muther’s  Geschichte  der  modernen  Malerei.  Von 
H.  A.  Lier . 219 


NB.  Die  kleinen  Mitteilungen  sind  in  das  Register  der 
„Kunstchronik“  aufgenommen. 


1)  II.  Architektur  und  Kunstgewerbe  s.  Kunstgewerbeblatt, 
N.  F.  V.  S.  113  u.  137. 


Illustrationen  und  Kunstbeilagen. 

(Die  mit  t  bezeicliueten  sind  Eiuzelblätter.  Die  Abbildungen  der  auf  mehrere  Hefte  verteilten  Aufsätze  folgen  hintereinander). 


Seite 

Kopfleiste.  Gezeichnet  von  A.  Lachicr .  1  / 

Handzeichnung  von  Franx  Stuck.  (Aus  dem  im  Ver¬ 
lage  von  Dr.  E.  Albert  und  Co.  in  München  erschiene¬ 
nen  Werke  über  Franz  Stuck) .  4/’ 

Programm,  entworfen  und  gezeichnet  von  0.  Greiner  5/ 

Rückseite  des  Programms  von  0.  Greiner .  6/ 

Selbstbildnis  von  Ismacl  iMencjs.  Holzschnitt  von  E. 

BcrthoM .  8/ 

Selb.^tbildnis  ton  A/)fon  EajAKtel  Mcngs.  Holzschnitt 

von  /.'.  Bcrthold .  91 

Ismael  Mengs.  Pastellbild  von  A.  E.  Mengs  ....  11^ 

Diogenes.  Emailminiatur  von  Ismael  Mengs.  Holz¬ 
schnitt  von  E.  BertJtohl . 12 

IMagdalena.  Emailminiatur  von  Ismael  Mengs.  Holz¬ 
schnitt  von  E.  Berthold . 13 

Faksimile  der  Unterschrift  von  Ismael  Mengs  ...  82  , 

.lugendliches  Selbstliildnis  in  Pastell  von  A.  E.  Mengs. 

Dres<len . 84 

.lugendliches  Selbstbildnis  nach  einem  Pastell  voir  A.E. 

Mengs.  Dresden.  Holzschnitt  von  E.  Berthold  .  .  85  , 

Pastellbild  des  Herrn  von  Hofmann.  Von  A.  E.  Mengs. 

Dresden . 86  ‘ 

Pa.'^tellbild  des  Sängers  Domenico  Annibali.  Von  M.  E. 

Mengs.  Dresden . 86, 

Piu-tellbild  .August  III.  Von  A.  E.  Mengs.  Dresden  .  87 

Pustellbild  rler  Sängerin  Mingotti.  Von  A.  E.  Mengs. 

Dresden . 88^ 

Pa.'-tellbild  der  Frau  A.  Thiele.  Von  A.  E.  Mengs. 

Di'--den . 88 

l'a.'-ti  llbild  Silvestre’s.  Von  A.  E.  Mengs.  Dresden  .  89  . 

vHirnnielfabrt  <'liristi.  Von  .1.  E.  Mengs.  Katholische 

Hofk  irelie  in  Dre.‘.den.  Heliogravüre  ...  Zu  S.  84/ 
l’.i-t<dlrelb^f bildnis  von  Th.  ('.  Maron,  g(A).  Mengs.  Kgl. 

Galeri*'  in  Dresden . 169. 

.Inhr  M'ng:-.  Pastell bildnis  vrm  Th.  Maron  geh. 

M<ng^.  Kgl.  (lalerie  in  Dresden  . 169 

Madonna  mit  d<in  Kinde  und  dem  kleinen  .lohannes. 
.\lini..fni-  von  .1.  E.  .Mmgs  in  der  Gemäldegalerie  in 
Dre-deii.  I lol/'-ebnitt  von  Kaeseherg  und  ()ertel  .  .  171', 

KurfiirHt  fliristian.  I'n.i-tellbild  von  .1.  E.  Mengs.  Königl. 

•  lalerie  in  Diesden . 172t 

Kni prin/e-i-in  .Maria  .\ntonia.  I’astellbild  von  A.  E. 

Ml  ng.i-  'K'ilnigl.  Galerie  in  Dresden) . 173^ 

Friedrich  ,\ngoi-t  der  (ierechte  als  Kind.  Pastellbild 
ton  .1  /.'.  .M'iigs  CK'inigl.  Galerie  in  Dresden).  .  .  174 

r.Aiig.istu^  und  Kleoiiatra.  (Rgemälde  von  A.  E.  Mengs 
in  der  Galerie  Czernin  in  Wien.  Heliogravüre  von 
Mr-isenbach.  liitl.vrth  und  Co.  in  Perlin  .  .  Zu  S.  17(1  ^ 

Fak.simile  der  Unterschrift  von  A.  R.  Mengs  ....  298 

t.Airior.  Pii-tellgemälde  von  ,1.  /■'.  .M'iigs  in  der  Dres-  '* 

dener  Galerie.  Holz-ehnitt  von  E.  I{er1hidd  Zu  S.  208 
.loseph’s  Traum.  (Rskiz/.e.  XonA.E.  Mengs.  Königl. Ge- 
m.äldegalerie  in  Dresden.  Holzschnitt  von  Kae.scherg 
und  fnrtel . '. . 2(^)9;  ^ 


Magdalena.  Ölgemälde.  Von  A.  E.  Mengs  (Königl. 
Gemäldegalerie  in  Dresden).  Holzschnitt  von  Brend’ - 

amour . . 

Ferdinand  IV.  Ölgemälde.  Von  M.  77.  im  Museo 

Nazionale  in  Neapel] . 

Der  Parnass.  Deckenfresko.  Von  A.  E.  Mengs  in  der 
Villa  Albani  in  Rom.  Nach  dem  Stich  von  Eaphael 

Morghen  . 

Madonna  mit  dem  Kinde.  Ölgemälde.  \on  A.  E.  Mengs 
in  der  kaiserlichen  Galerie  zu  Wien.  Holzschnitt  von 

Brend’ amonr . ' . _  . 

Die  Geburt  Christi.  Ölgemälde.  Von  A.  E.  Mengs  im 
Museum  zu  Madrid.  Stich  von  Eaphael  Morghen  . 
Deckenbild.  Von  A.  E.  Mengs  in  der  Stanza  de’  Papiri 
im  Vatikan  zu  Rom.  Stich  von  Ciinego  .  .  . 

Selbstbildnis.  Von  A.  E.  Mengs.  Ölgemälde  in  den 

Uffizien  in  Florenz.  Holzschnitt  von  E.  Berthold  . 
Das  Urteil  des  Paris.  Ölgemälde.  Von  H.  E.  Mengs  in 

der  Ermitage  zu  St.  Petersburg . 

fDie  Verkündigung.  Ölgemälde.  Von  A.  E.  Mengs  in 
der  Kaiserlichen  Galerie  in  Wien.  Heliogravüre  Zu  S. 

Franx  Simm.  Selbstporträt . 

Im  Mai.  Ölgemälde  von  Fr.  Simm.  Holzschnitt  von 

Th.  Knesing . 

Mephisto.  Handzeichnung  voir  Fr.  Simm . 

Kindergruppe.  Handzeichnung  von  Fr.  Simm  .  .  . 

Porträtstudie.  Handzeichnung  von  Fr.  Simm  .  .  . 

Tanzendes  Mädchen.  Harrdzeichnung  von  Fr.  Simm 
f Erwartung.  Gemälde  von  Fr.  Simm.  Heliogravüre 
von  Meisenbach,  Riffarth  und  Co.  in  Berlin  Zu  S. 
fHeidelandschaft.  Originalradirung  von  Th.  Alphons 

Zu  S. 

Blick  auf  Brieg  von  der  Oderseite  . 

Standbild  Friedrich’s  des  Großen  in  Brieg . 

Inneres  Portal  des  Piastenschlosses  in  Brieg  .  .  . 

Portal  des  Piastenschlosses  in  Brieg . 

Hof  des  Piastenschlosses  in  Brieg . 

Das  Oderthor  in  Brieg . 

Das  Rathaus  mit  Nebenhaus  in  Brieg . 

i'Das  Rathaus  in  Brieg.  Originalradirung  von  H. 
Ulhrich . Zu  S. 


Seite 


211  / 


214/ 


286, 

287^ 

289  ■ 

290^ 

291fe 

292 '' 
15f 

16/' 

17/ 

18,- 

19 

20  V 

15  p- 

241 

25/ 

25/ 

27, 

28' 

29  y 

30 
32 

105  t 


Hauptportal  am  Piastenschlosse  in  Brieg . 106  t 

Kleines  Portal  am  Piastenschlosse  zu  Brieg  ....  108/9  p 
Bogen  am  Hauptportal  des  Piastenschlosses  in  Brieg  .  182  / 

Ilairs  Eckersberg  irr  Brieg . 184  y 

Wohnhaus  am  Ringe  in  Brieg . 185  / 

Don  Kariös.  Medaille  von  Pompeo  Leoni . 35  •' 

fll  Principe  D.  Carlos,  Hijo  de  Felipe  11.  Gemälde 

von  Sanehex  Coello,  Lichtdruck . Zu  S.  37  ,4 

Relief  vom  Asklepiostempel  zu  Epidauros . 41  .  ' 

Amazone  vom  Giebelfelde  des  Asklepiostempels  in  Epi¬ 
dauros  .  43  F 

Nereide  von  den  Akroterien  des  Asklepiostempels  in 

Epidauros . / 


INHALTSVERZEICHNIS. 


V 


Seite 

Sima  von  der  Tholos  in  Epidauros . 45 

fVon  Oben.  Originalradirung  von  L.  Th.  Meyer-Basel 

Zu  S.  48  , 

f Pieta.  Ölgemälde  von  M.  Klinger,  Radirung  von  A. 

Krüger . Zu  S.  49 

Kopfleiste  von  -4.  Laekner . 49 

Studien  zur  Kreuzigung.  Von  M.  Klinger  ....  52.  53 
jDie  Transfiguration  von  Faffael.  Lichtdruck  nach 
einer  Photographie  von  Alinari  in  Florenz  .  Zu  S.  54 

Eingang  zum  Glaspalast  in  München  . 62 

Italienerin.  Gemälde  von  T"  Müller . 64 

Die  Sünde.  Gemälde  von  Fr.  Stuck.  (Nach  einer  Photo¬ 
graphie  von  F.  Hanfstängl) . 65 

Der  Halskragen.  Gemälde  von  A.  Gandara  ....  67 

Pallas.  Von  F.  Stuck . 68 

Schwerttänzerin  von  Ant.  Brütt  . 111 

In  der  Sonne.  Gemälde  von  Fr.  Fchr . 113 

Weibliches  Bildnis.  Gemälde  von  ili.  Bumsfrey  .  .  115 

Abend.  Gemälde  von  Ch.  Landenhcrger . 116 

Grabmal  der  Herzogin  Max  in  Bayern  von  W.  v.  Bü- 
mann . 120 


jAltweibersommer.  Gemälde  von  J.  v.  Oietl 
*Herbst.  Zeichnung  von  Q.  v.  Bochmann  . 
*Im  Winter.  Gemälde  von  L.  Munthe.  .  . 

(*  Aus:  „Unsere  Kunst“,  Düsseldorf,  Michels.) 


Zu  S. 


120 

69 

70 


**tDer  Angler.  Von  Th.  Heine.  Heliogravüre.  Zu  S.  72 
(**  Aus  „Secession“,  Berlin,  Photographische  Gesellschaft.) 

Kopfleiste  von  A.  Laekner . 73 

Bildnis  der  Mona  Lisa  von  Lionarclo  da  Vinci  im 

Louvre . 75 

Bildnis  der  sogenannten  Belle  Ferroniere  im  Louvre  .  77 

Profilbildnis  der  sogenannten  Herzogin  in  der  Ambro- 

siana  in  Mailand . 80 

A.  Wittig.  Nach  einer  Photographie . 92 

Hagar  und  Ismael.  Marmorgruppe  von  A.  Wittig  .  .  93 

Pieta  von  A.  Wittig . 96 

Walhalls  Sturz;  Erscheinung  Christi.  Gemälde  von 

Fr.  Höher . 97 

Odin  befragt  die  allwissende  Wala.  Gemälde  von  Fr. 

Höher . 99 

Naglfar,  das  Totenschiff.  Gemälde  von  Fr.  Höher  .  .  99 

Loki  bricht  seine  Fesseln.  Gemälde  von  Fr.  Höher  .  100 

•|■*Biblia  Pinturicchio  adscripta  Saec.  XV.  Cod.  Vat.  Urb. 


lat.  1 . Zu  S.  101 

(*  Aus  Vatikanische  Miniaturen  von  St.  Beißel.  Freihurg, 
Herder.) 

f**/!  Halm.  Der  Netzflicker.  Originalradirung  Zu  S.  103 


(**  Aus  den  Veröffentlichungen  des  Vereins  für  Original- 


radirung  in  München.  Heft  2). 

Ägyptischer  Schreiber  im  Louvre  zu  Paris . 122 

Schreiber.  Relief  aus  Sakkara . 124 

Ägyptische  Grabfigur  . 124 

Apollo  von  Tenea . 124 

Ägyptischer  Bogenschütze . 124 

Assyrische  Bogenschützen . 124 

Ein  die  Geige  spielender  Teufel  in  Amiens  ....  124 

Der  Tod  als  Geiger . 124 

Die  Anghiarischlacht  . 124 

Eirene  und  Demeter . 124 

Hermes  von  Praxiteles . 126 

Verschiedene  Mäander-Motive . 126 

Aortabogen . 126 

Faksimile  einer  Handzeichnung  von  Lionardo  .  .  .  127 

Spiegelschrift  von  Lionardo . 127 


Seite 

Schlussstück  gez.  von  J.  Langl . 128  C" 

Kopfleiste  von  Qillc-Paul  Caievet . 129  ^ 

f Helene  Fourment.  Von  P.  P.  Hubens,  radirt  von  H. 

Haudner.  Ermitage,  St.  Petersburg  ...  Zu  S.  129 
Mariä  Verkündigung.  Gemälde  von  P.  P.  Huhens  in 
der  kaiserl.  Gemäldegalerie  in  Wien.  Nach  einer 

Photographie  von  J.  Löwy . 133  i 

Maria’s  Besuch  bei  Elisabeth.  Gemälde  von  P.  P. 

Hubens  in  der  Galerie  Borghese  zu  Rom.  Nach  einer 

Photogiaphie  von  A.  Braun  und  Co . 228 

Rubens’  Vater.  Gemälde  von  P.  P.  Huhens  in  der  Pina¬ 
kothek  in  München . 229 

Rubens’  Mutter.  Gemälde  von  P.  P.  Hubens  in  der 

Pinakothek  in  München . 229 

Die  vier  Philosophen.  Gemälde  von  F.  P.  Huhens  im  * 


Palazzo  Pitti  in  Florenz.  Nach  einer  Photographie 
von  Ad.  Braun  und  Co.  Holzschnitt  von  H.  Bcrthold  232 
Römische  Landschaft  mit  Ruinen  von  P.  P.  Huhens. 

Nach  einem  Stich  von  Schelte  a  Boiswert  ....  233 
Mutterliebe.  Gemälde  von  O.  Hitchcock  (Aus  Scribner’s 

Magazine) . 136 

Kopfleiste  von  Schiveinfurth.  (Aus  der  American  Art 

Review) . 137 

Herbstmorgen.  Gemälde  von  Oco.  Jnness.  (Aus  dem 

Century  Magazine) . 139 

Rast  unter  Ruinen.  Gemälde  von  Th.  Hohinson.  (Aus 

Scribner’s  Magazine) . 140 

Sommer.  Gemälde  von  A.  Harrison.  Gemäldegalerie 

in  Dresden . 142 

Dartmouth  Moors,  Mass.  Gemälde  von  H.  Sivain-Oifford. 

(Aus  der  American  Art  Review.  Bd.  1) . 144 

Jagd  auf  Elen.  Gemälde  von  G.  de  Forest  Brush.  (Cen¬ 
tury  Magazine.  Bd.  43.  1892) .  163 

Die  Verkündigung.  Gemälde  von  ilZ.  L.  Maconiber. 

(Century  Magazine.  Bd.  45.  1893) .  164 

Lilith.  Gemälde  von  Kenyon  Cox.  (Aus  Scribner’s 

Magazine) . 165 

Die  Töchter  des  Phorkys.  Gemälde  von  Flihu  Vedders. 

(Aus  American  Art  Review.  Bd.  1.  1880) .  167 

Madonna.  Gemälde  von  Giovanni  Bellini . 147 

Die  Wunder  des  heil.  Zenobius.  Gemälde  von  Sandro 

Botficelli . 148 

Madonna.  Gemälde  von  Fra  Bartolommeo  ....  149  ^ 

Salome.  Marmorstatue  von  Max  Klinger . 151 

Kopf  der  Salome.  Von  Max  Klinger . 151 

Im  Sturm.  Gemälde  von  F.  Beraton . 152 

fAuf  dem  Heimwege.  Gemälde  von  F.  Beraton.  Helio¬ 
gravüre  . Zu  S.  152 

tDie  Reiterstatuette  Karl’s  des  Großen.  Lichtdruck  Zu  S.  153 

Die  Reiterstatuette  KarPs  des  Großen . 156 

fCypressenallee.  Originalradirung  von  F.  Völlmy  Zu  S.  176 

Palast  in  Zante  . 178 

Palast  in  Zante  . 180 

Salvator,  Kopie  nach  Qu.  Massys.  Louvre  zu  Paris  .  189 

Bildnis  des  Kardinals  Bernardus  Clesius.  Galerie  Cor- 

sini  zu  Rom . 192 

*Seneca . 194 

*Sophokles . 197 

*Antiochus  von  Syrien . 197 

(*■  Aus  dem  Werke:  Griechische  und  römische  Porträts.) 
f  Hohe  Politik.  Originalradirung  von  J.  Neumann  Zu  S.  200 


jA.  Krüger.  Am  Strand  von  Göhren.  Originalradirung 

Zu  S.  200 


YI 


INHALTSVERZEICHNIS. 


Seite 

Angebliches  Monogramm  Zeitbloni’s  auf  dem  Gemälde 

von  Berlin  in  Nördlingen . 202 

Inschrift  vom  Altar  in  der  Schlosskapelle  zu  Kilchberg 

bei  Tübingen . 203 

Johannes  der  Täufer.  Von  B.  Zcitblom.  (Vom  Kilch- 

berger  Altar) . 204 

Johannes  der  Täufer.  Von  B.  Zeithlom.  (Vom  Eschacher 

Altar) . 205 

tDie  Taufe  Christi.  Von  B.  Zeitblom  vom  Blaubeurener 

Hochaltar.  Lichtdruck . Zu  S.  207 

Monogramm  vom  Blaubeurener  Altar . 207 

Wappen  des  Abtes  Heinrich  Faber . 207 

Bildnis  des  Bartholomäus  Zeitblom.  (Vom  Heerberger 

Altar) . 235 

Der  Tod  Mariä.  Gemälde  von  B.  Zeitblom,  im  fürst¬ 
lichen  Museum  zu  Sigmaringen . 236 

Heilung  eines  epileptischen  Knaben  durch  den  heil. 
Valentin.  Gemälde  von  B.  Zeitblom  in  der  Augs¬ 
burger  Galerie . 237 

tSt.  Margaretha  und  Ursula.  Gemälde  von  B.  Zeitblom 
in  der  Pinakothek  in  München;  radirt  von  M.  Back 

Zu  S.  235 

““Männliches  Bildnis.  Von  Chr.  Amberger . 216 

♦Weibliches  Bildnis.  Von  dir.  Amberger . 216 

♦Christus.  Gemälde  von  P  P.  Rubens . 217 

(*  Die  Abbildungen  sind  Verkleinerungen  der  Heliogravüren 
aus  dem  Werke:  Die  Sammlung  Sebubart.  München,  Ver¬ 
laganstalt.) 

♦♦Die  Tränke.  Von  Gainsborough . 220 

♦♦La  Maja  vetue.  Von  Goga . 221 

■*Aus  Sehnorr's  Bilderbibel . 222 

(**  Aus  dem  Werke  von  R.  Muther:  Geschickte  der  modernen 
Malerei.) 

tini  Sonnenscliein.  Ölgemälde  von  L.  Noster-,  radirt 

von  /•’/•.  KrosteirUx, . Zu  S.  224 

’  1  ilasfen^ter  im  Schloss  Pelesch.  Lagerscene  aus  dem 

17.  .lahrhundert . 242 

'Brunnen  im  inneren  Hofe  von  Schloss  Pelesch  .  .  .  244 

t'Südliche  An.sicht  des  Schlosses  Pelesch.  Original¬ 
radirung  . Zu  S.  241 

*  Aus  dem  Werke:  Das  rumänische  Königsscbloss  Pelesch. 

Von  .1.  v  Falke.  Wien,  L.  Gerold’s  Sohn  1893. 

Goctlic.  Silhouette  aus  dem  Jahre  1762  .  249 

Goethe.  Bü.ute  von  Pr.  iieeh.  (1820) .  250 

Goethe.  Bü.ste  von  dir.  Rtiiieh.  (1820) .  251 

Go<-the.  Porträt  von  K.  W.  Kolbe.  (1825).  Holzschnitt 

vfui  llri-ml'itiiioitr . 252 

Goethe.  .MarmorrelifT  von  •/.  P.  Mi  hhior  im  Schlosse 
zu  Tiefurt.  G77.5  .  253 


Seite 


Goethe.  Porträt  von  Jens  Jiiel.  (1779).  Holzschnitt  von 

Kaeseberg  und  Oertel .  254  >/ 

Goethe.  Büste  von  M.  0.  Klemer  im  Schlosse  zu  Tiefurt. 

(1779) .  2.54' 

'  Goethe.  Porträt  von  J.  A.  Darbes.  (1785) .  255, 

,  Goethe.  Porträt  von  J.  H.  Lips.  (1791) .  255  ^ 

Goethe.  Marmorbüste  von  Al.  Trippei.  (1796)  .  .  .  257 

Goethe.  Porträt  von  J.  F.  Tischbein.  (1787).  Holzschnitt 

von  Brend’ amour .  277  ' 

Goethe.  Kreidezeichnung  von  Burg.  (1800)  ....  278 

Goethe.  Kreidezeichnung  von  F.  .Jagemann.  (1817)  .  279  ' 

Goethe.  Porträt  von  J.  J.  Schmeller.  (1829)  ....  279  ■ 

Goethe.  Skizze  auf  Schloss  Arklitten  bei  Gerdauen. 

Holzschnitt  von  R.  Berthold . 281 

Goethe.  Porträt  von  Q.  von  Kügelgen.  (1810).  Holz¬ 
schnitt  von  Kaeseberg  und  Oertel . 281- 

Goethe.  Porträt  von  0.  Kiprinski.  (1823)  ....  282  > 

Goethe.  Porträt  von  L.  Sebbers.  (1826).  Gestochen  von 

L.  Sichling .  282  » 

Goethe.  Porträt  von  J.  K.  Stieler.  (1828).  Holzschnitt 

von  Kaeseberg  und  Oertel .  283  : 

Goethe.  Skizze  auf  Schloss  Arklitten  bei  Gerdauen. 

Holzschnitt  von  R.  Berthold . 283 

Studien  von  H.  Baisch .  258,  260,  261 

fSommer.  Originalradirung  von  H.  Baisch.  (Aus  dem 
Werke:  Lieder  und  Sinnsprüche.  Von  Otto  Baisch. 

Stuttgart,  Verlagsanstalt) . Zu  S.  261  f 

Hermann  Baisch . 259 

Regentenbild  von  Allart  von  Löninga . 264 

♦Triforium .  266  , 

♦Portal  der  Kirche  zu  Hemsedal  in  Hallingdal,  Stift 

Christiania .  267 

♦Rolstad . 268 

♦Kaiserliche  Kirche  zu  Rominten  in  Ostpreußen  .  .  .  269 

(*  Aus  dem  Werke:  Die  Holzbaukunst  Norwegens.  Von 
Dietrichson  und  Munthe.  Berlin,  Schuster  und  Bufleb  1893  ) 

Am  häuslichen  Herd.  Originalradirung  von  ,Tos.  Bam¬ 
berg  er  . Zu  S.  272  ; 

Die  Sophienkirche  in  Konstantinopel .  273  . 

Das  Pantheon  in  Rom .  274  , 

Der  Jupitertempel  in  Spalato .  275  , 

I  Columbarium  der  Freigelassenen  des  Augustus  .  .  .  275 

Grabmal  des  Tantalus . 275 

♦Maria- Plain  und  Csik-Somlyö.  Von  .7.  M.  Trenk- 
ivald . 295 

(*Aus  dem  Werke:  Marien-Legenden  von  österreichischen 
Gnadenorten.  Wien,  ,,St.  Norbertus“.) 

Die  Windmühle.  Gemälde  von  A.  Holmberg ,  radirt 


von  W.  Wörnle  . Zu  S. 


296 


y  1 

Kopfleiste.  Gezeichuet  von  A.  Lackxeu. 


NEUE  BAHNEN  IN  DER  KUNST. 


NSER  alter  Erdball  hat  es 
leicht:  er  dreht  und  wälzt 
sich  fort  nach  ewigen  Ge¬ 
setzen;  wollt’  er  sich  ein¬ 
fallen  lassen,  eine  neue  Bahn 
einzuschlagen,  dann  wäre  es 
bald  aus  mit  ihm,  —  so  bleibt 
er  lieber  geduldig  in  der  alten. 

Anders  der  Mensch,  dieses  Urbild  unaufhörlicher 
Beweglichkeit  und  Veränderlichkeit:  wollte  er  stehen 
bleiben  oder  auch  nur  durch  eine  längere  Zeit  die 
nämliche  Bahn  einhalten,  so  wäre  das  sein  Tod. 
Für  ihn  gilt  bloß  das  eine  Leitwort:  nunquam  re- 
trorsum! 

Die  Geschichte  ist  die  Chronik  dieser  fortwäh¬ 
renden  Wandlungen  und  Steigerungen.  Einst  mach¬ 
ten  ganze  Völker  oder  Völkergemeinschaften  die 
Umwälzungen  solidarisch  durch.  Der  dabei  sich  er¬ 
gebende  Niederschlag  bildete  den  Grundstoff  zu 
einer  neuen  Weltanschauung,  einer  neuen  Kultur¬ 
form,  einem  neuen  Baustil.  So  wurde  aus  dem 
Schliemannischen  das  Hellenische,  aus  dem  Roma¬ 
nischen  das  Gotische,  aus  dem  Mittelalter  die  Re¬ 
naissance. 

In  den  früheren  Zeiten  spürt  man  in  dem  Ge¬ 
triebe  dieser  Umgestaltungen  und  Neuschöpfungen 
kaum  etwas  Persönliches.  Alles  wächst  wie  der 
Wald  aus  innerer  Naturtriebkraft.  Und  doch  muss 
irgendwo  einmal,  vielleicht  von  einem  delphischen 
Priesterkopf,  der  erste  dorische  Tempel  in  Stein 
ausgedacht  und  ausgerechnet  sein;  ebenso  in  einem 
französischen  das  erste  Strebe.system  eines  gotischen 
Domes.  Niemand  wird  jemals  ihre  Namen  nennen. 

Zeitschrift  für  bildemle  Kunst.  N.  F.  V.  H.  i. 


Von  der  Renaissance  an  wird  es  immer  persönlich 
interessanter  in  der  Geschichte  der  Kunst:  Brunel¬ 
leschi,  Donatello,  Mantegna,  vollends  Dürer,  Michel¬ 
angelo,  Raphael  und  Lionardo  leben  unter  uns  fort 
als  festumrissene  Gestalten,  umringt  von  iliren 
Schöpfungen,  wie  die  Väter  von  ihren  Kindern. 

Und  nun  erst  die  Kunst  von  heute!  Sie  ist 
ganz  auf  die  Persönlichkeit  gestellt.  Schon  bei 
Carstens  tritt  der  nach  Freiheit  ringende  Mensch 
energisch  in  den  Vordergrund,  wenn  auch  nicht 
ganz  ohne  den  weichen  Grundzug  seiner  Zeit.  Cor¬ 
nelius  war  ein  Heros  der  künstlerischen  Überzeu¬ 
gung,  rücksichtslos  und  herrisch  wie  alle  Bahn¬ 
brecher.  Auch  in  Moriz  von  Schwind  lebte  eine 
derbe,  schonungslose  Kraftnatur,  in  seltsamem  Wider¬ 
spruch  mit  seiner  zarten,  duftigen,  märchenhaften 
Kunst.  Sarkasmus  und  Urgemütlichkeit,  das  Erb¬ 
teil  des  Wienertums,  waren  die  Ellenbogen,  mit 
denen  er  selbst  im  Gedränge  der  feindlichsten  Kunst¬ 
bestrebungen  sich  kräftig  durchdrückte. 

Auf  die  Epoche  dieser  ersten  Kunsterneuerer 
unseres  Jahrhunderts  folgte  bekanntlich  die  Durch¬ 
gangsepoche  der  „Malen -Könner“,  mit  Schorn  und 
Piloty  an  der  Spitze  und  Hans  Makart  als  rauschen¬ 
dem  Ausklang.  Neben  ihm  kamen  Lenbach,  Gabriel 
Max,  Böcklin  empor.  Damit  stehen  wir  an  der 
Pforte  der  eigentlichen  Gegenwart. 

Was  will  diese?  Vielleicht  ist  es  gut,  zunächst 
einen  kurzen  Blick  auf  die  beiden  Schwesterkünste 
der  Malerei  zu  werfen  und  dann  erst  zu  dem  Scho߬ 
kinde  der  Modernen  zurückzukehren,  um  eine  klare 
Antwort  auf  die  Frage  zu  gewinnen.  —  Die  Bau¬ 
kunst,  das  wissen  wir,  hat  endlich  den  großen  Re- 


1 


0 


NEUE  BAHNEN  IN  DER  KUNST. 


petirkurs  der  Stile  durchgemaclit  und  kommt  nun 
—  zu  sich  selber.  Denn  Kunst  wird  auch  sie  erst, 
nachdem  die  Schule  absolvirt  ist  und  das  eigene 
Schaffen  beginnt.  Dadurch  soll  selbstverständlich 
dem  Studium  der  alten  Baustile  nicht  das  Grab  ge¬ 
graben  sein:  im  Gegenteil!  Das  bewährte  Alte  bleibt 
das  Rüstzeug  der  Schule.  Aber  das  Leben  erfordert 
Neues;  Künstler  wird  der  moderne  Architekt  erst 
dann  sein,  wenn  ihm  das  in  der  Schule  Gelernte 
zum  frei  gehandhabten  Ausdrucksmittel  des  Ge¬ 
dankens  geworden  ist.  Diese  Trennung  von  Kunst 
und  Schule,  von  Freiheit  und  Nachahmung  beginnt 
endlich  auch  in  der  heutigen  Baukunst  zum  allge- 
meiueu  Bewusstsein  durchzudringen.  An  die  Stelle 
der  Stile  tritt  eine  Reihe  künstlerischer  Individua¬ 
litäten.  Die  moderne  französische  Architektur  ist 
reich  au  solchen  wahrhaft  schöpferischen  Talenten. 
Unter  den  jüngeren  Wienern  gebührt  Karl  König 
in  diesem  Betracht  eine  der  ersten  Stellen:  einem 
el)enso  gediegen  und  klassisch  gebildeten  wie  durch¬ 
aus  originell  schaffenden  Meister,  in  dessen  besten 
Schöpfungen  das  einst  von  Eduard  van  der  Nüll  ange- 
str<d)te  Ziel  höher  und  vollkommener  erreicht  erscheint, 
als  von  irgend  einem  der  unmittelbaren  Schüler  des 
vielverkannten  Erbauers  der  Wiener  Hofoper.  Wie 
ilieser,  so  entwickelt  auch  König  ein  jedes  seiner 
Werke  rein  aus  den  Eigentümlichkeiten  der  ge¬ 
gebenen  Aufgabe  heraus,  frei  von  schablonenhafter 
Nachahmung  üljerkommener  Typen,  und  bildet  das 
Detail  vollkommen  originell  in  moderner,  aber 
höchst  gewählter,  technisch  fein  ausgefeilter  Formen- 
■  prache.  -  -  Der  höhere  Grad  küustlerischer  Freiheit 
und  riiabhängigkeit  von  dem  historischen  Ideal,  in 
dem  wir  den  Forts(  hritt  der  heutigen  Baukunst  er¬ 
blicken,  keii)i7.ei(dinet  in  gleicher  Weise  die  Bahn  der 
modernen  1’la.slik.  Nicht  mehrAntike  oder  Michelangelo, 
ondern  die  Natur  bildet  ihre  bevorzugte  Grundlage. 

o  o 

hoch  nur  die  tirundlag(!,  nicht  das  geistige  Ziel, 
hiesc's  ist  weit  über  die  Sphäre  des  Naturalismus 
hinaus  auf  Ausdruck  innereji  seelischen  Lebens  in 
Form  und  Bewegung  cler  jdastischeji  Gestalt  ge¬ 
richtet.  Es  existirt  wieder  eiTi  ]da.stisches  Forträt 
im  .'^inne  geistiger  Charakteristik;  es  erfreut  uns 
wieder  ein  fein  rlurchgearbeitetc-r  Akt,  der  Ausgang.s- 
piinkt  alb-r  jdastischen  \b)llkominenheit.  Wer  sich 
iiber/.eugen  will,  wie  man  in  'I’ypik  und  Bcdiandlung 
vollk.  tinmen  unhelleni.sc  h  vorgcdien  und  doch  den 
innersten  Kern  einer  idealen  Götterbildung  scharf 
und  bestimmt  erfas.sen  kajin,  der  betrachte  z.  B.  die 
lierrlic-he,  schlanke  Bogenschützin  Diana  von  Fal- 
auf  der  die.sjäbrigcm  Ausstellung  im  Mün¬ 


chener  Glaspalast.  Der  Meister  dieser  edlen  Gestalt 
wandelt  völlig  auf  moderner  Bahn.  Er  besitzt  die 
Einfalt,  die  Unschuld  in  der  Anschauung  der  Natur, 
welche  die  Antike  so  groß  macht,  und  er  ist  doch 
ganz  das  Kind  seiner  eigenen  Zeit,  seines  Volkes, 
seiner  Schule.  —  Ihm  ebenbürtig  durch  Schlichtheit, 
Ernst  und  Tiefe  der  Empfindung  steht  W.  v.  Eümann’s 
Marmordenkmal  der  Herzogin  Max  in  Bayern  da.  Auch 
das  ist  ein  ganz  auf  sich  selbst  gestelltes  Werk, 
und  dabei  durchaus  im  Einklang  mit  dem  Geiste  der 
Alten,  mit  den  unwandelbaren  Gesetzen  der  Kunst. 

Am  deutlichsten  aber  zeigt  uns  die  Malerei  den 
Werdeprozess  der  neuen  Zeit.  Wir  treten  damit 
nun  der  obigen  Frage  näher.  Die  Münchener  „Se¬ 
zession“,  so  viel  man  sie  auch  schmähen  mag,  hat 
das  unleugbare  Verdienst,  die  Beantwortung  der¬ 
selben  dadurch  erleichtert  zu  haben,  dass  sie  eine 
bedeutende  Zahl  der  Neueren  und  Neuesten  zu  einem 
harmonischen  Ganzen  vereinigte.  Es  ist  wahr,  man 
findet  noch  viel  Unausgegorenes,  viele  Lehrlings¬ 
arbeiten  unter  den  Meisterstücken.  Auch  das  ist 
nicht  zu  leugnen:  manche  Vertreter  der  neuen  Ideen 
sind  noch  bei  den  „ewig  Gestrigen“  im  Glaspalast 
zurückgeblieben.  Aber  diese  Unklarheiten  waren 
stets  die  natürlichen  Begleiterinnen  derartiger  vScheide- 
und  Werdeprozesse.  Und  so  viel  ist  sicher:  den  Mün¬ 
chener  Sezessionisten  gehört  die  Zukunft;  wer  .sich 
ihnen  nicht  anschließt,  wird  unrettbar  dem  Scha¬ 
blonentode  verfallen. 

Den  Charakter  der  „Sezession“,  die  „Psyche“ 
der  Modernen  hat  Otto  Julius  Bierhaum  in  einem 
kürzlicli  erschienenen  Büchlein  über  die  beiden  dies¬ 
jährigen  Münchener  Ausstellungen')  in  ihrer  eigen¬ 
tümlichen  Unbestimmtheit  mit  fein  empfundenen 
Strichen  gekennzeichnet.  „Wir  haben  heute  —  sagt 
er  —  in  der  Kunst  sowohl  Decadence  wie  über- 
schwenglichen  Zukunftsglauben,  und  die  künstlerische 
Sehnsucht  wendet  heute  ihre  Augen  sowohl  rück¬ 
wärts  wie  znkuuftsgeradeaus.  Man  kann  diese  Kunst 
weniger  denn  je  in  eine  bestimmte  Formel  bringen, 
aber  das  ist  sicher:  wir  halten  wieder  eine  Kunst, 
die  mehr  sein  will  und  mehr  ist  als  bloße,  träge 
Erbnießerin  der  Vergangenheit.  Gerade  in  ihrem 
we.sensuneinen  Gespaltensein,  in  ihrer  auseinander- 
llügelnden  Seelenrcichhaltigkeit,  in  ihrer  Spannweite 
vom  Realistischen  zum  Phantastischen,  vom  Naiven 
zum  Raffinirten  zeigt  sie  sich  als  wahre  Kunst,  die 


1)  Ans  beiden  Lagern.  Bctraclitungen,  Charakteristiken 
und  iStinnnnngen  ans  dom  ersten  Doppelansstellnngsja.hre  in 
Mi'medien  189.'{.  iVIiinclien,  Verlag  von  Karl  Schüler.  75  S.  8. 


NEUE  BAHNEN  IN  DER  KUNST. 


3 


eiu  starker  und  reicher  Ausdruck  ihrer  Zeit  ist.  Man 
kann  es  jetzt  schon  klarlich  sehen,  wie  sie  sich  eng 
dem  geistigen  Entwickelungsgange  der  Zeit  an¬ 
schließt.  Wie  sich  aus  dem  Materialismus  ein  neuer 
Idealismus  zu  erheben  beginnt,  nicht  unangefochten 
durch  rückläufige  Neigungen,  so  steigt  aus  dem  als 
Reaktion  notwendig  und  heilsam  gewesenen  puren 
Naturalismus  eine  neue  gläubige  Seelenkunst,  gleich¬ 
falls  nicht  ohne  die  Begleiterscheinung  von  Neigun¬ 
gen  ins  Mystische.  Und  diese  Entwickelung  ist  in 
der  Kunst  nuancenreich  wie  im  Leben.  Wir  haben 
hier  wie  dort  Sondertendenzen  nach  allen  möglichen 
Richtungen  hin,  nur  dass  in  der  Kunst  alles  ver¬ 
feinert  und  dennoch  verschäi'ft  auftritt.“ 

Auf  ihre  Sinnenfälligkeit  angesehen,  ist  die 
moderne  Malerei  vor  allem  eine  helle  Kunst  ge¬ 
worden,  sie  hat  uns  das  Reich  der  Farben  erst  recht 
erschlossen.  „Heute  entfaltet  sich  in  der  Kunst  eine 
Farbenlust,  die  nicht  ohne  Einflu.ss  auf  das  allgemeine 
Farbenempfinden  bleiben  kann.  Allerdings  macht 
sich  daneben  hei  den  Allermodernsten  wieder  ein 
Zug  zum  abgetönt  Dunkeln  bemerkbar.“  Bierbaum 
erwähnt  speziell  die  „feinen  Koketterieen  in  Schwarz“ 
des  Freiherrn  v.  Ilabermcam.  „Aber  dies  Spielen 
mit  dem  Dunkel,  das  künstlerisch  seine  begreiflichen 
Reize  hat,  ist  keinesfalls  eine  Erscheinung  von  tie¬ 
ferer  allgemeiner  Bedeutung.“  —  „Andererseits  hat 
man  gefürchtet  und  fürchtet  wohl  noch,  die  Farben¬ 
freude  sei  auf  dem  Wege,  in  Farbenmissbrauch  aus¬ 
zuarten,  zu  einer  Art  Farbennarrheit  zu  werden,  die 
sich  an  keine  Wirklichkeit  mehr  kehrt  und  exakte 
Beobachtung  durch  symbolistische,  farbensympho- 
nische  Exzesse  ersetzen  wolle.  Aber  es  ist  nicht 
einzusehen,  warum  eine  Phantastik  der  Farbe  weniger 
„erlaubt“  sein  sollte,  als  eine  Phanta.stik  der  Form, 
die  man  sich  in  der  Gestaltung  von  allen  möglichen 
Fabelwesen  gerne  gefallen  lässt.  Man  geht  da  in 
der  realistischen  Forderung,  die  man  früher  so  ent¬ 
schieden  ablehnte,  jetzt  entschieden  zu  weit.  Es 
lassen  sich  hier,  wie  sonstwo  in  der  Kunst,  keine 
Gesetze  aufstellen,  und  es  gilt  nur,  Fall  für  Fall 
nachzusehen,  ob  das  innere  und  äußere  Können  des 
Malers  zu  so  souveränem  Umspringen  mit  der  Farbe 
berechtigt  oder  nicht.“ 

Man  mag  nun  mit  diesen  Anschauungen  einver¬ 
standen  sein  oder  davon  ab  weichen:  jedenfalls  hat 
der  Autor  vollkommen  recht,  wenn  er  vor  dem  De- 
kretiren  in  Kunstdingen  warnt,  wenn  er  sich  be¬ 
scheiden  will,  ruhig  dem  Werden  zuzuschauen  und 
der  echten  Meister,  gleichviel  ob  junger  oder  alter, 
sich  zu  freuen,  eingedenk  des  hübschen  Spruches 


von  Richard  Demel,  den  er  an  die  Spitze  seines  Büch¬ 
leins  setzte: 

Nicht  zum  Guten,  nicht  vom  Bösen 

Wollen  wir  die  Welt  erlösen, 

Nur  zum  Willen,  der  da  schafft; 

Dichterkraft  ist  Gotteskraft. 

In  Wahrheit  reicht  ja  die  Kette  der  Modernen  bis 
zu  einem  der  ältesten  lebenden  Meister  zurück,  der 
als  eiu  unverwüstlich  Junger  unter  uns  lebt  und 
wirkt:  zu  Adolf  Menzel!  Wenn  irgend  einer,  ist  er 
Naturalist  und  Poet  zugleich,  ein  Charakterkopf 
vom  Anbeginn  und  doch  ewig  wandelbar,  eiu  treuer 
Spiegel  der  ungeheuren  Peripetieen  der  Zeit.  Unter 
den  halbvergessenen  Begründern  des  Modernen  muss 
dann  Vildor  Müller’s  in  Ehren  gedacht  werden,  von 
dem  der  Münchener  Glaspalast  uns  diesmal  eine 
wertvolle  Kollektivausstellung  bringt,  sprühend  von 
Geist  und  visionärer  Farbenphantastik,  wie  in  Vor¬ 
ahnung  Böcklm’s.  Dass  dieser  geniale  Schweizer 
wie  ein  glühender  Berggipfel  emporragt  aus  den 
Höhenzügeu  der  heutigen  Küustlerwelt,  hat  die 
heurige  Ausstellung  wieder  neu  bewahrheitet.  Seine 
rotblonde,  träumerische  Teufelin  Venus  Anadyomeue, 
sein  ahnungsvolles  Paradiesesbild  und  die  blumige 
Frühlingslandschaft  „Sieh,  es  lacht  die  Au“  zeigen 
den  phantasiegewaltigen  Poeten  wie  den  wunder¬ 
samen  Musiker  der  Farbe  in  alter  Kraft  und  Herr¬ 
lichkeit.  Gabriel  Max,  der  erste  und  feinste  der 
modernen  Seelenmaler,  glänzt  wie  der  milde  Mond 
neben  der  feurigen  Sonne  Böcklin’s.  An  letzteren 
gemahnt  in  einzelnen  Zügen  der  kernige  Franz 
Stuck,  mit  Anspruch  auf  eine  bedeutende  Zukunft, 
ein  Talent  von  bohrender  Gewalt,  zeichnerisch  wie 
malerisch  gleich  virtuos  und  ein  Herrscher  im  weiten 
Bereiche  der  Kunst  vom  Historisch -Monumentalen 
bis  herab  zum  Stillleben,  mit  dem  Modellirholz  wie 
mit  dem  Pinsel,  dem  Zeichenstift  und  der  Radir- 
nadel.  Selbst  Meister  wie  Uhde,  Firle,  Liebermann 
in  ihrer  ernsten,  sinnigen  Schlichtheit  haben  Mühe, 
sich  neben  dem  kühn  Aufstrebenden  zu  behaupten. 
Hier  soll  nicht  der  ganze  Generalstab  der  Modernen 
aufgezählt  und  vom  Auslande  ganz  abgesehen  wer¬ 
den.  Wenn  wir  noch  Lenbach  nennen,  ferner  Bartels 
und  Zügel,  Piglhein  und  Thoma,  Trübner  und  Weis- 
haugd,  Paul  Höcker  und  Marr,  Ilertcrich  und  Lang¬ 
hammer,  Gotthardt  luichl  und  Dettmann,  so  sind 
damit  aus  den  verschiedenen  Gebieten  der  Malerei 
von  den  deutschen  Führern  die  bewährtesten  heraus¬ 
gehoben,  welche  die  neuen  Bahnen  beschreiten. 

Max  Klinger  zählt  dazu  mehr  noch  in  seiner 
Eigenschaft  als  Radirer  denn  als  Maler.  Er  ist  — 

1* 


Ilaiiilzeichiiiiuf;  von  Füanz  Stuck 


Programm.  Entvvorfeu  nud  gezeichnet  von  0.  Greiner. 


NEUE  BAHNEN  IN  DEK  KUNST. 


(i 

nach  Menzel  —  einer  der  begabtesten  Verkündiger 
des  i\Iodernen  für  die  graphischen  Künste.  Hatte 
scdion  der  Holzschnitt  Jahrzehnte  früher  sein  altes 
Kleid  gewechselt,  nm  den  gesteigerten  Ansprüchen 
der  Gegenwart  auf  Tonwirkung  und  Glanz  gerecht 
werden  zu  können,  so  folgt  jetzt  auch  die  Grab- 
stichelknnst  auf  diesem  malerischen  Wege  nach. 
Die  „Stichradiruug“  entstand.  Der  alte,  plastisch 
modellirende  Stich  verschwindet  mehr  und  mehr. 
Ebenso  die  vornehmlich  auf  Tiefe  und  Farbe  hin¬ 
arbeitende  Nadelradirung.  Ein  zartes,  verschwimmen- 
des  Gran  ist  der  Modeton  der  graphischen  Kunst, 
ein  Zwitterding  zwischen  Natur  und  Phantastik  die 
Lieblingssphäre  der  von  Klinger  beeinflussten  Ori- 
ginalradirer.  —  Auch  die  Lithographie  wird  in 
gleichem  Geiste  wieder  gepflegt:  ein  an  und  für 
sich  mit  Freude  zu  begrüßendes  Symptom  gerechter 


Rückerinnerung  an  diese  viel  zu  schnell  über  Bord 
geworfene  Kunst.  Von  Paris  signalisirt  man  be¬ 
reits  eine  neue  Blüte  der  künstlerischen  Original¬ 
lithographie.  Treffliche  Blätter  in  dieser  Technik 
zeigt  die  Ausstellung  der  Münchener  „Sezession“ 
z.  B.  von  dem  Schüler  Klinger’s  Otto  Ordner  und 
dem  Holländer  Jan  Veth.  Auch  die  Franzosen  haben 
sich  dort  mit  einigen  schönen  Beiträgen  eingestellt. 

Man  sieht,  die  Bahnen  der  Modernen  führen 
aufwärts!  Dankbar  der  guten  Alten  eingedenk, 
freuen  wir  uns  dieses  allgemeinen  Vordringens  zu 
höheren  Zielen  und  folgen  den  Bahnbrechern  mit 
Begeisterung.  Nur  vergesse  keiner  von  den  Rufern 
im  Streit,  dass  jedes  Heute  morgen  Gestern  ist,  und 
bewahre  Bescheidenheit  im  Glück  gegenüber  den 
B  eSiegten  !  yg^r  ^  y  . 


Uiicksoile  Uc.s  I’iogiamms.  Von  0.  Okeiner. 


C-, 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 

VON  KARL  WOERMAKX. 

MIT  ABBH.DUNGEN. 


ÄTER.  und  Söhne!  Eine  Reihe 
von  Künstlerpaaren  der  deut¬ 
schen  Kunstgeschichte  sind 
Väter  und  Sühne  gewesen. 
Bei  den  beiden  Burgkinairs 
und  den  beiden  Lukas  Cra- 
nachs  überragte  der  Vater  den 
Sohn.  Von  den  beiden  Hans 
Holbeins  aber  wurde  nur  der  jüngere  eine  wirkliche 
W eltgröße.  Ähnlich  ging  es  zweiliundert  Jahre  später 
mit  Ismael  und  Anton  Raphael  Mengs.  Isinael 
Mengs  wurde  nur  als  der  Vater  Anton  Raphael’s 
berühmt.  Anton  Raphael  Mengs  aber  wurde,  weup 
auch  nicht  ohne  Widerspruch,  im  dritten  Viertel 
des  vorigen  Jahrhunderts  von  den  weitesten  Kreisen 
Europa’s  als  der  größte  aller  lebenden  Meister  ge¬ 
feiert.  Winckelmann,  der  ihm  seine  „Geschichte  der 
Kunst  des  Alterthums“  widmete,  bezeichnete  ihn  1701 
in  deren  erster  Auflage  sogar  als  den  größten 
Künstler  seiner  und  vielleicht  der  folgenden  Zeit, 
der  als  ein  Phönix  gleichsam  aus  der  Asche  dos 
ersten  Raphael  erweckt  worden  sei,  um  der  Welt 
in  der  Kunst  die  Schönheit  zu  lehren  und  den 
höchsten  Flug  menschlicher  Kräfte  in  derselben  zu 
erreichen.  Und  dass  nicht  etwa  nur  sein  Freund 
und  Landsmann  so  über  ihn  urteilte,  zeigen  die 
Ehren  und  Aufträge,  mit  denen  die  Herrscher  und 
Völker  Europa’s  ihn  überschütteten,  zeigen  die  bio¬ 
graphischen  „Lobschriften“,  die  gleich  nach  seinem 
Tode  in  verschiedenen  Sprachen  über  ihn  erschienen. 
Kein  deutscher  Künstler  vor  ihm  und  nach  ihm 
kann  sich  rühmen,  ehe  ihm  noch  ein  Nachruf  in 
deutscher  Sprache  gewidmet  worden,  von  zwei  Ita¬ 
lienern,  einem  Spanier  und  einem  Franzosen  in  be¬ 
sonderen  Schriften  gefeiert  worden  zu  sein.  Die 


I. 

Italiener  waren  sein  Schüler  Carlo  Giuseppe  Ratti  ^), 
der  das  Genueser  Kunstlehen  seiner  Zeit  beherrschte, 
und  Giovanni  Ludovico  Bianconi  2),  der  unter  Augustlll. 
Leibarzt  in  Dresden  gewesen,  nach  dessen  und  seines 
Nachfolgers  Tode  aber  zum  kursächsischen  Geschäfts¬ 
träger  in  Rom  befördert  worden  war.  Der  Franzose 
war  sein  Freund  und  Schüler  Nicolas  Guibal '*),  der 
als  Galeriedirektor  und  Akadeniieprofessor  in  Stutt¬ 
gart  wirkte.  Der  Spanier  aber  war  Don  Jose  Nicolas 
de  AzaraL,  der  spanische  Gesandte  in  Rom,  der  in 
seiner  Verehrung  für  den  deutschen  Meister  noch 
weiter  ging  als  Winckelmann,  indem  er  ihn  ohne 
Bedenken  über  Raphael  Santi  stellte,  weil  dieser 
sich  niemals  über  die  Natur  emporgeschwungen  (!) 
habe.  Die  Lobschriften  dieser  ersten  Verkünder  iles 
Nachruhmes  Anton  Raphael’s  wurden  wiederholt 
aufgelegt,  nachgedruckt,  kommentirt  und  übersetzt''). 
Aber  auch  andere  italienische,  sjainische  und  fran- 


])  Epiloge  clella  vita  del  fu  Cavaliere  Antonio  Ratläelo 
Mengs  etc.  Genova  1779. 

2)  Elogio  storico  tlel  cavaliere  Ratläele  Mcng.s  etc.  Mi¬ 
lano  1780.  Vorher  zerstüchelt  in  der  Antologia  Roinana 
1779-1780. 

3)  Eiloge  historique  de  Mengs.  Baris  1781.  Verwertet 
in  der  Piinleitung  zu  den  Oeuvres  de  M.  Mengs,  ed.  Doray 
de  Longrais,  1782. 

4)  Memorie  concernenti  la  vita  di  Antonio  Ratläello 
Mengs.  Einleitung  zu  Azara’s  Ausgabe  der  litterarischeu 
Werke  des  Mengs:  Opere  di  A.  R.  Mengs,  Parma  1780. 

5)  Eine  deutsche  Übersetzung  der  Schriftwerke  des  A.  R. 
Mengs,  der  die  Übersetzungen  von  Azara’s  und  von  Bian- 
coni’s  Lebensbeschreibungen  des  Meisters  vorangestellt  sind, 
gab  C.  F.  Prange  1780  in  3  Bänden  in  Halle  heraus.  Die 
Übersetzung  als  solche  ist  herzlich  schlecht.  Doch  fügte 
Prange  teils  aus  Guibal’s  Aufzeichnungen,  teils  aus  eigenen 
Nachforschungen  eine  Reihe  nicht  unwichtiger  Anmerkungen 
in  Bezug  auf  das  Leben  und  die  Charakterzeiclinung  beider 
Mengs  hinzu. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


zösische  Kunstscbriftstellev  schlossen  sich  bis  in  unser 
Jahrhundert  herein  ihrer  Auffassung  der  Bedeutung 
des  Meisters  an.  Lanzi,  der  Verfasser  der  berühmten 
Storia  pittorica  della  Italia,  deren  erste  Auflage  1789 
erschien,  meinte  noch,  die  Nachwelt  würde  mit  Men gs 
ein  neues,  glücklicheres  Zeitalter  der  Malerei  be¬ 
ginnen  lassen;  Ceau-Bermudez,  der  bekannte  Ver¬ 
fasser  des  1800  erschienenen  spanischen  Künstler¬ 
lexikons,  stellte  als  selbstverständlich  den  Satz  hin: 


wissen  wollten,  weil  seine  Malerei,  mit  dem  höchsten 
Maßstabe  gemessen,  keine  ursprüngliche,  unmittelbare, 
naturwüchsige,  sondern  eine  absichtliche,  abgeleitete, 
verstandesmäßige  Kunst  sei.  In  Deutschland  ver¬ 
breitete  sich  diese  Auffassung  besonders  seit  man 
anfing,  Jacob  Asmus  Carstens  als  den  Begründer  der 
neuen  Kunst  auf  den  Schild  zu  heben.  Schon  Fernow 
ging  in  seinem  Leben  des  Carstens  (1806)  so  weit, 
Mengs  als  Beispiel  dafür  anzuführen,  was  geistloser 


IsMAi-u,  Mengs.  Selbsthililnis. 


..Dun  .\ntonio  l>a|ihael  Mengs  war  der  verdienstvollste 
und  bfriiliniteste  moderne  .Maler  Enropa’s“,  und  Louis 
X’iardot,  der  .'■einer  Zeit  angesehene  französische 
Kritiker  glaubte  .'^ogar  noch  iS'O.t  nicht  viele  Gegner 
zu  find--n,  wenn  er  liaj)ha(d  .Mengs  als  den  größten 
Maler  des  IS.  .lalirhnndf-rts  bezeichnete.  Daneben 
hatten  eh  freilich  .^clion  friih  in  Italien,  S])anien, 
1  rankreieh  '.Mariette;  und  vor  allem  in  Englaiid,  wo 
'  lain:  borough  und  Peynohls  andere  Wege  wiesen, 
Stimmen  erludien,  die  vfjr  einer  I  berschätzung  des 
.Mei.sfei's  warnten,  ja,  lil)erhanpt  nicht  viel  von  ihm 


Fleiß,  von  einem  denkenden  Verstände  geleitet  und 
einer  gründlichen  Technik  unterstützt  (gründliche  Tech¬ 
nik  galt  den  einseitigen  Verehrern  des  Carstens  als  das 
sicherste  Zeichen  des  Verfalls)  und  von  den  Um¬ 
ständen  begünstigt,  durch  eifriges  Studium  nach  Voll¬ 
kommenheit  zu  erreichen  vermöge;  und  ähnlich 
schrieb  der  treffliche  Waagen  noch  1870:  „Mengs 
ist  ein  merkwürdiges  Beispiel,  dass  die  erste  und 
unerlässlichste  Bedingung  in  der  Kunst  der  göttliche 
Funke  des  Genies  i.st  und  dass  ohne  diesen  auch 
der  volle  Besitz  aller  Eigenschaften,  welche  sich 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENUS. 


9 


lehren  lassen,  nicht  ausreichen,  um  einen  tiefen  und 
erwärmenden  Eindruck  auf  den  Beschauer  hervorzu¬ 
bringen.“  Nur  als  natürliche  Folge  dieser  Umwand¬ 
lung  der  Anschauungen  erscheint  es  daher,  dass  die 
Berliner  Galerie  ihre  beiden  Bilder  des  Mengs  —  sie 
gehörten  freilich  nicht  zu  seinen  reifsten  Werken  — 
vor  kurzem  dem  „Vorrat“,  mit  anderen  Worten  der 
Rumpelkammer,  überwiesen  hat.  Der  Berliner  Kata- 


Besten  seiner  Zeit  genügt,  der  hat  gelebt  für  alle 
Zeiten“  doch  nicht  verleugnet  werden.  Ein  tüchtiges, 
allseitiges  Können  und  Wollen  wirkt  auch,  wenn  es 
durch  eine  falsche  Zeitrichtung  missleitet  worden, 
noch  überzeugend  und  anziehend;  und  wenn  es  lehr¬ 
reich  ist,  sich  das  Leben  und  Wirken  von  Meistern 
zu  vergegenwärtigen,  denen  erst  die  Nachwelt  zu 
ihrem  Weltruhm  verhelfen  hat,  so  muss  es  doppelt 


Anton  Raphael  Mengs,  Selbstbildnis. 


log  von  1891  hat  sie,  dementsprechend,  auch  ge¬ 
strichen,  während  derjenige  von  1883  sie  noch  be¬ 
schrieb. 

Trotz  alledem  bleibt  Anton  Bajyhael  Mengs  ein 
Künstler,  mit  dem  es  der  Mühe  Wert  ist,  sich  ein¬ 
gehend  zu  beschäftigen.  Dass  der  Verfasser  dieser 
Seiten  den  eklektischen  Klassizismus  des  Meisters 
nicht  verteidigen  wird,  weiß  man  im  voraus.  Aber 
ganz  darf  das  Wort  des  Dichters  „denn  wer  den 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  II.  1. 


lehrreich  sein,  sich  auch  einmal  in  das  Wirken  und 
Wesen  eines  Künstlers  zu  versetzen,  dem  es  umge¬ 
kehrt  ergangen  ist.  Eine  kunstgeschichtliche  Per¬ 
sönlichkeit  von  eindringlicher  Bedeutsamkeit  bleibt 
Mengs  unter  allen  Umständen.  Die  deutsche  Kunst¬ 
geschichte  wird  ihn,  wenn  sie  ihm  seine  Sünden 
wider  den  Geist  des  Deutschtums  auch  noch  so 
scharf  vorhält,  niemals  als  Stiefkind  behandeln  dürfen. 
Dass  sie  es  bisher  nicht  gethan,  beweisen  auch  die 


10 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


neueren  Abhandlungen,  die  deutsche  Kunstforscher 
über  ihn  veröffentlicht  haben  ^).  V on  diesen  fühlt 
mau  es  nur  derjenigen  Justi’s  an,  dass  ihr,  außer 
den  bekannten  Biographieen  von  Azara  und  Bian- 
coni,  noch  anderes  Quellenstudium  zu  Grunde 
liegt ;  in  derjenigen  Reber’s  fesseln  besonders  einige 
auf  eigener  Anschauung  beruhende  Beschreibungen 
römischer  Fresken  des  Meisters;  diejenige  Pecht’s 
abei',  den  auch  niemand  im  Verdachte  des  Klassizis¬ 
mus  haben  wird,  zeichnet  sich  durch  die  unbefangenste 
NN’urdigung  des  Meisters  aus,  vor  dessen  Unter¬ 
schätzung  sie  wieder  warnen  zu  müssen  meint. 

Stiefmütterlicher  ist  Ismael  Mengs,  der  Vater 
Anton  Raphael’s,  in  jenen  Quellenschriften  und  in 
diesen  Abhandlungen  bedacht  worden,  wenngleich 
aus  ihnen  allen  hervorgeht,  dass  seine  Lebens¬ 
geschichte  aufs  engste  mit  derjenigen  seines  Sohnes 
verflochten  ist  und  dass  kaum  jemals  ein  Meister  in 
dem  Maße  von  seinem  Vater  beeinflusst  worden  ist, 
wie  Anton  Raphael  Mengs  von  dem  seinen.  Die 
Kigenart  Ismael’s  schärfer  hervorzuheben  als  es  bisher 
geschehen,  ist  daher  eine  Hauptaufgabe,  die  wir  uns 
gestellt  haben;  und  es  ist  eine  um  so  lohnendere 
Aufgabe,  da  es  möglich  sein  wird,  die  Lücken,  die 
jene  älteren  Schriftsteller  in  seiner  Lebensbeschrei- 
Imng  und  .seiner  Charakterzeichnung  gelassen  haben, 
aus  Dresdener  Urkunden  und  anderen  Quellen  aus¬ 
zufüllen. 

1  )agegen  kann  es  nicht  die  Aufgabe  einer  neuen 
Arbeit  über  Anton  Raphael  Mengs  sein,  dessen 
hebensgescliichte  auf  eine  ganz  neue  Grundlage  zu 
stellen.  .lene  vier  Quellenschriften,  die  man  als  die 
Kvangelien  der  Geschichte  seines  Lebens  und  seiner 
hflire  bezeichnen  könnte,  rühren  von  Männern  her, 
die  dem  Meister  im  lieben  als  Freunde  oder  Schüler 
iiabege.standen  bähen.  Flinzelne  Widersprüche  in 
ihren  Angaben  lassen  sich  leicht  ausgleichen.  Wenn 
die  Sehiek.-^ale  aller  K  ün.stler  in  gleicherweise  durch 
zeitgen;'.>si.‘;ehe  Zeugen  beglaubigt  wären,  so  wäre  es 
leirdd,  Knnstgescbiehfc  zu  schreiben.  Wohl  aber 
lä  t  .^ieb  denken,  dass  einzelne  bedeutsame,  zumal 
i  ulturgesebiclitlich  bedeutsame  Abschnitte  seines 
heljcn.s  durch  neuen  (Juellenstotf  schärfer  zu  be¬ 
leuchten  und  jdastiseber  auszugestalten  wären;  und 
diese  Aufgabe  i.st  es  in  der  Tliat,  der  wir  uns  an 

1;  (’arl  .lu.'-ti :  Haphael  Mengs  in  den  „I’reufiischen  Jahr- 
tiiiehem“  t'and  XXVIII,  1S71 ;  —  Franz  ]{ef>er:  Anton  Ra- 
I  ji  .i ;  Meng“  in  Dohme' ;  ,, Kunst  und  Künstler“  I3d.  II,  1878;  — 
t ,  ü'dr.  I’eeht:  IJafael  Xlengs  in  der  Allg.  Deutschen  Biogra- 
;  e  und  in  '■“inem  Werke  „Deut.schc  Künstler  des  XIX.  Jahr- 
lu^  ‘  IM.  1R,1. 


der  Hand  einiger  wenig  oder  gar  nicht  benutzter  Ur¬ 
kunden  und  litterarischer  Quellen  unterziehen  wollen 

Ein  vollständiges  Verzeichnis  und  eine  kritische 
Würdigung  aller  einzelnen  Werke  beider  Meister  zu 
geben,  würde  den  Rahmen  eines  Aufsatzes  überschrei¬ 
ten.  Auch  hier  handelt  es  sich  nur  darum,  Irriges  zu 
berichtigen.  Vergessenes  nachzuholen  und  Entschei¬ 
dendes  womöglich  in  ein  helleres  Licht  zu  rücken. 
Vor  allen  Dingen  hoffen  wir,  in  größerem  Umfange 
als  es  bisher  geschehen  feststellen  zu  können,  welche 
erhaltenen  Werke  Anton  RaphaeFs  den  durch  die  litte- 
rarische  Überlieferung  bekannten  entsprechen. 

In  jedem  P'alle  soll  das  in  den  früheren  Schriften 
über  ihn  ausreichend  Begründete  und  weitläufig  Aus¬ 
geführte  nur  so  kurz  berührt  werden,  wie  es  möglich 
ist,  ohne  die  Charakteristik  des  Meisters  zu  beein¬ 
trächtigen.  Nur  wo  neues  Material  zur  Verfügung 
steht,  soll  etwas  länger  verweilt  werden.  Kurz :  es  soll 
weniger  eine  Verschmelzung  als  eine  Ergänzung 
der  früheren  Arbeiten  über  Anton  Raphael  Mengs 
und  seinen  Vater  Ismael  versucht  werden. 

* 

* 

H. 

Ismael  Mengs  entstammte  einer  Lausitzer  Familie, 
die  erst  nach  Hamburg ,  dann  nach  Kopenhagen 
verschlagen  worden  war.  Hier  wurde  er  1688  ge¬ 
boren.  Alle  bisher  benutzten  Quellen  versetzen  seine 
Geburt  freilich  ins  Jahr  1690.  Aber  gleich  hier 
sind  uns  berichtigende  Urkunden  zur  Hand.  Seine 
Witwe  berichtet  der  Behörde  am  28.  Dezember 
1764,  dass  Ismael  am  26.  desselben  Monats,  im  77. 
Jahre  seines  Lebens  (das  er  also  noch  nicht  vollendet 
hatte)  gestorben  sei;  und  aus  anderen  Urkunden  er¬ 
fahren  wir,  dass  er  1714  sächsischer  Hofmaler  ge¬ 
worden,  während  Fea ')  anmerkt,  dass  er,  25  Jahre 
alt,  in  den  Dienst  August  des  Starken  getreten  sei. 
Alle  diese  Angaben  stimmen  überein,  wenn  wir  an¬ 
nehmen,  dass  Ismael  etwa  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Jahres  1688  geboren  sei  und  in  der  ersten  Hälfte 
des  Jahres  1714  sich  in  Dresden  niedergelassen  habe. 
Er  soll  21  Brüder  gehabt  haben.  Sein  Gevatter, 
ein  gewöhnlicher  Schmierer,  gab  ihm  den  ersten 
Unterricht  in  der  Malerei.  Später  ging  er  in  die 
Schule  Benoit  Coffre’s  über,  der  kein  schlechter 

1)  Carlo  Fea’s  neue  Ausgabe  von  Azara’s  „Opere  di 
Mengs“  Roma  1787,  p.  XIV  Anm.  a  und  b.  Diese  in  der  Re¬ 
gel  übersehenen  Anmerkungen  sind  wichtig,  weil  Fea,  wie  er 
sagt,  seine  Nachrichten  von  Theresia  Concordia  Maron,  geh. 
Mengs,  der  Tochter  IsmaeFs,  hatte.  Sie  spiegeln  also  die 
Familienüberlieferungen  wieder. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENG«. 


11 


Künstler  gewesen  sein  kann,  da  er  1692  (Archives 
de  l’Art  Fran9ais  V,  p.  281)  mit  seinem  Gemälde  der 
Verstoßung  der  Hagar  den  ersten  Schülerpreis  der 
Pariser  Kunstakademie  davontrug.  Außerdem  hören 
wir  nur,  dass  Coffre  bis  1717  in  Kopenhagen  thätig 
gewesen,  Bildnisse  für  den  dänischen  Hof,  Decken¬ 
gemälde  für  seeländische  Schlösser  gemalt  und  für 
den  besten  Maler  Kopenhagens  gegolten  habe.  Die 
akademisch-französische  Grundlage  seines  Unterrichts 
kommt  in  allen 
kleinen  Bildern 
des  Ismael  Mengs 
zum  Vorschein; 
und  wenn  daneben 
manchmal  ein  lei¬ 
ser  Hauch  vlämi- 
scher  Wahrheits¬ 
liebe  und  Farben - 
frische  über  ihnen 
zu  liegen  scheint, 
so  erklärt  sich  das 
daraus ,  dass  es 
dem  jungen 
Mengs  schon  in 
Kopenhagen  ge¬ 
lang,  einige  Bil¬ 
der  Van  Dyck’s 
zu  kopiren ,  die 
sich  dort  im  Pri¬ 
vatbesitze  befan¬ 
den.  „Anno  1709“ 
aber  begab  Ismael 
sich  nach  Lübeck, 
wo  er,  wie  Carl 
Heinrich  v.  Hein¬ 
ecken  erzählt  ’), 
bei  dessen  Vater 
Paul  Heinecken 
sich  in  der  Öl¬ 
malerei  vervoll- 
kommnete ,  vor 
allen  Dingen  aber  die  Miniaturmalerei  in  Email 
erlernte,  durch  die  er  sich  seinen  guten  Namen  als 
erster  Meister  dieses  Faches  erwerben  sollte.  Bei 


1)  Nachrichten  von  Künstlern  und  Kunstsachen,  Leipzig 
1768  I  S.  52.  —  Neue  Nachrichten,  Dresden  und  Leipzig  1786 
S.  28 — 32.  Auch  diese  Anmerkungen  Heinecken’s,  der  aus¬ 
drücklich  erklärt,  beide  Mengs  „besonders  gut“  gekannt  zu 
haben  und  daher  in  der  Lage  zu  sein,  „einiges  zu  berich¬ 
tigen“,  sind  in  der  Regel  nicht  genügend  oder  gar  nicht  be¬ 
rücksichtigt  worden. 


Paul  Heinecken  fand  er  Gelegenheit,  —  so  lautet 
der  Bericht  von  dessen  gelehrtem  Sohne  —  „sich 
im  Miniaturmahlen  zu  üben,  sonderlich  aber  die 
Art  der  Emaillemahlerey  desto  besser  herauszu¬ 
künsteln,  da  in  diesem  Hause  die  Chimie  sehr 
stark  getrieben  ward.  Zu  der  Zeit  konnte  man  die 
Emaille-Farben  noch  nicht  so,  wie  jetzt  zu  Kauf  be¬ 
kommen;  folglich  mussten  die  Künstler  solche  selber 
zubereiten.“  Von  Lübeck,  wo  er  drei  Jahre  zu¬ 
brachte,  wandte 
Ismael  Mengs  sich 
1712  nach  Ham¬ 
burg,  um  hier  seine 
neu  erlernte  Kunst 
im  Dienste  der 
reichen  Kauf¬ 
mannschaft  zu  ver¬ 
werten.  Doch  zog 
ihn,  wie  Fea  be¬ 
richtet,  der  kunst¬ 
sinnige  Herzog  des 
benachharten 
Mecklenburg  bald 
an  seinen  Hof. 
Um  1713  würden 
wir  ihn  demnach 
in  Schwerin  zu 
suchen  haben;  und 
erst  vom  meck¬ 
lenburgischen 
Hofe  hätte  der 
sächsische  im  fol¬ 
genden  Jahre  sei¬ 
nen  jungen  Hof¬ 
maler  empfangen. 
Der  alte  Dresdener 
Oberhofmaler  Sa¬ 
muel  Bottschild 
war  seit  sieben 
Jahren  tot;  der 
Hofmaler  Hein¬ 
rich  Christoph  Fehling,  der  damals  die  Decken  in 
den  Dresdener  Palästen  malte,  war  schon  ein 
Sechziger.  August  der  Starke,  der  bereits  eitrigst 
für  die  Galerie  sammelte,  sah  offenbar  die  Not¬ 
wendigkeit  ein,  jüngere  künstlerische  Kräfte  nach 
Dresden  zu  ziehen.  Ein  Jahr  vor  Ismael  Mengs  war 
der  ungarische  Bildnismaler  Adam  Manyoki  als  Hof¬ 
maler  nach  Dresden  berufen  worden,  ein  Jahr  nach 
ihm  kam  Louis  de  Silvestre,  der  berühmte  Franzose, 
der  über  ein  Menschenalter  lang  an  der  Spitze  des 

2* 


Ismael  Mengs.  Pastellbild  von  A.  R.  Mengs. 


12 


ISaiAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


Dresdener  Kunstlebens  stehen  sollte.  Von  Dietrich, 
Thiele,  Riedel  und  Oeser  war  damals  noch  nicht  die 
Rede.  Noch  später  erst  traten  Chiaveri,  Torelli, 
Guarienti  und  Hutin  in  den  Dresdener  Kunstkreis  ein. 
Ismael  Mengs  sah  sie  alle  nach  einander  kommen 
und  überlebte  manche  von  ihnen.  Er  gehörte  zu 
dem  ältesten  Stamme  der  Dresdener  Künstlerkolonie 
des  Augusteischen  Zeitalters,  ging  aber,  ohne  viel 
rechts  oder  links  zu  schauen,  als  Mensch  und  Künstler 
seine  eigenen  Wege. 

An  Eigenart  und 
Willenskraft  überragte 
der  Mensch  in  ihm  bei 
weitem  den  Künstler. 

Ein  schlechter  Künst¬ 
ler  war  er  in  seiner 
Art  gewiss  nicht.  Sein 
berühmterer  Sohn 
ptlegte  zu  sagen,  er 
habe  es  niemals  dahin 
bringen  können,  einen 
Kopf  zu  malen,  der 
dem  in  Ol  gemalten 
Koj)fe  seines  Vaters 
in  der  Dresdener  Ga¬ 
lerie  gleich  käme;  und 
ein  tüchtiges  (ilge- 
mälde  ist  dieses  Selbst¬ 
bildnis  Ismaels  in  der 
'lliat:  etwas  konven¬ 
tionell  in  der  damals 
iiblielieii,  beim  Selbst¬ 
bildnis  doch  eiuiger- 
malM-n  erklärlichen  Ge- 
oärdc  der  rechten  Hand, 

,iber  individuell  in  den 
/■■'iiren.  in  der  gediege- 
■  '  I  ,  kräfti<_ren,rris( dien 
l’o  =  Hübning  ond  in 
i  - ■  vollen,  tivlen,  lei- 
d- I  .  oaehgediinkudten,  von  ausgeprägtem 

11  i  !  o  kel  Lo  tragen -n  Parbi  rigebung.  Dass  Ismael 
ie  .i-i  in  b.  ien  gewesen,  als  er  dieses  Hild  malte, 
:  e  eil.  " '  ine  erste  italienische  Reise  aber 

:l*  •  '  i-  aben  nnd  neuen  Biographen  über- 

^  \  }•  bemerkt  kurz,  dass  er,  um  seine 

■i  iU  II  'O-r  '  )liT;,.i-  i  ei  /I;  vollenden,  1718  und 
7  M  -r  ni  svf  i-i  -  t-i.  hoa'.s  Nachricht  ist  glaub- 
r,d‘g.  ■  on  rteil  de  auf  ibe  'fochter  des  Meisters 
/.'  V  N  ,r  durch  d:  ■sc  Leise  erklärt  sich  auch 

k  '  .  •  ■■■  i  ei*.  Mi  t  der  Ismael  sich  später  ent¬ 


schloss,  die  künstlerische  Erziehung  seiner  Kinder 
in  Italien  zu  vollenden. 

Ölgemälde  Ismael’s  sind  übrigens  von  der  grö߬ 
ten  Seltenheit.  Die  Schriftquellen  nennen  außer  dem 
erwähnten,  von  B.  Polin  gestochenen  Selbstbildnis 
nur  noch  das  nach  dem  Tode  der  Dargestellten  ge¬ 
malte,  von  Bernigeroth  in  Leipzig  gestochene  Bild¬ 
nis  der  Maria  Rosina  Trierin,  geb.  Sinnerin,  ein 
Knabenbildnis  des  Kurprinzen  Christian,  sowie  Bild¬ 
nisse  des  Malers  Hausmann,  des  Kammerrats  Richter 

und  des  Kaufmanns 
Rabe,  die  sich  im  vor¬ 
igen  Jahrhundert  alle 
im  Leipziger  Privat¬ 
besitze  befanden 
(PrangeI,S.  185  Anm.). 
V on  den  öffentlichen 
Sammlungen  aber  be¬ 
wahrt,  außer  der  Dres¬ 
dener,  nur  noch  die 
Leipziger  ein  Ölbild 
des  Meisters.  Es  ist 
dies  das  zuletzt  ge¬ 
nannte,  also  ebenfalls 
litterarisch  beglaubigte 
Bildnis  des  Leipziger 
Tuchkaufmanns  Rabe, 
der,  nach  rechts  ge¬ 
wandt,  in  braunemRock 
und  grauer  Allonge¬ 
perücke  neben  einem 
Tische  steht,  auf  dem 
sehr  stofflich  behan¬ 
delte  rote  und  weiße 
Tuche  liegen.  Es  ist 
ein  lebensgroßes  Knie¬ 
stück.  Trotz  seiner 
Bauschigkeit  und  Ge¬ 
spreiztheit  fesselt  es 
durch  eine  gewisse 
Strammheit  seiner  Auffasung  und  PVstigkeit  seiner 
Durchführung. 

Zahlreicher  sind  die  Emailminiaturen  von  Is- 
mael’s  Hand,  die  sich  unter  seinem  Namen  erhalten 
haben.  Bezeichnet  hat  er  weder  sie,  noch  seine  Öl¬ 
gemälde;  einen  einheitlichen,  ausgeprägten  Stil  zeigen 
weder  die  einen  noch  die  anderen;  von  diesen  wie 
von  jenen  werden  sich  daher  noch  manche  unerkannt 
im  Privatbesitze  befinden;  ihnen  allen  nachzuspüren 
aber  würde  schwierig  und  undankbar  sein.  Von 
seiner  Kunst,  kleine  Bilder  in  Email  'zu  malen,  geben 


Diogenes.  Kmail-Mini.itur  von  Ismael  Mengs. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


13 


auch  seine  Miniaturen  in  den  öffentlichen  Samm¬ 
lungen  Dresdens,  an  die  wir  uns  halten  müssen, 
eine  genügende  Vorstellung.  Am  vorteilhaftesten 
tritt  er  uns  in  der  Dresdener  Galerie  in  einzelnen, 
bald  als  Brustbild,  bald  als  Kniestück  dargestellten 
Gestalten  entgegen,  wie  in  den  dreizehn  Bildchen,  die 
Christus  und  die  zwölf  Apostel  darstellen,  dem  Dio¬ 
genes  im  grünen  Gewände  mit  der  Laterne  in  der 
Linken,  dem  Bildnis  August  des  Starken  und  dem 
Bildnis  einer  Dame,  die  ihr  Söhnchen  auf  dem 
Schoße  hält.  Sü߬ 
licher  erscheint 
er  in  dem  1741 
erworbenen  Dor¬ 
nengekrönten  im 
violetten  Mantel 
und  der  angeb¬ 
lich  auf  ein  Vor¬ 
bild  Manyoki’s 
zurückgehenden 
Muttergottes  mit 
gefalteten  Hän¬ 
den  im  „Grünen 
Gewölbe“,  denen 
wieder  die  Mag¬ 
dalena  '  und  die 
Schmerzensmut¬ 
ter  in  der  Galerie 
sich  anschließen. 

Zu  seinen  fri¬ 
schesten  Schöpf¬ 
ungen  dieser  Art 
aber  gehören  die 
beiden  Verkün¬ 
digungsbildchen 
der  Galerie,  auf 
deren  einem  er 
die  Jungfrau,  auf 
deren  anderem  er 
den  Engel  ge¬ 
schildert  hat. 

Scheint  es  fast,  als  ob  er  hier  der  Aufgabe,  beide 
Gestalten  zu  einer  einheitlichen  Darstellung  zu  ver¬ 
binden,  absichtlich  ausgewichen  sei,  so  zeigt  sein 
einziges  figurenreiches  Bildchen,  die  Darstellung  des 
Diogenes  vor  Alexander  im  „Grünen  Gewölbe“,  voll¬ 
ends  seine  Ungeschicklichkeit  in  der  Zusammen¬ 
stellung  verschiedener  Gestalten.  Es  ist  hölzern 
in  der  Anordnung,  kalt  und  bunt  in  der  Färbung. 

Wie  gesagt,  ein  unbedeutender  Künstler  war  Ismael 
Mengs  in  seiner  Art  nicht;  aber  bedeutender  war  er 


Magdalena.  Email-Miniatur  von  Ismael  Mengs. 


doch  unzweifelhaft  als  Mensch.  Dass  er  eine  eigen¬ 
artige  und  auffallende  Erscheinung  war,  sieht  man 
schon  seinen  Bildnissen  an,  mehr  noch  dem  von  seinem 
Sohn,  als  dem  von  ihm  selbst  gemalten  (vgl.  S.  1 1 ).  Seine 
Züge  waren  groß  und  regelmäßig  geschnitten.  Seiner 
dunklen  Hautfarbe  entsprach  ein  dunkles,  Willens¬ 
kraft  und  Leidenschaft  sprühendes  Auge.  Die  Sinn¬ 
lichkeit  seiner  Lippen  tritt  besonders  auf  seinem 
Selbstbildnis  hervor.  Bianconi ,  der  ihn  gekannt, 
schildert  ihn  als  hoch  gewachsen,  ernst,  schweigsam, 

„obwohl  er,  wenn 
er  wollte,  besser 
zu  reden  ver¬ 
stand,  als  man¬ 
cher  andere“.  Er 
versäumte  keine 
Opernvorstellung 
und  blies  selbst 
leidenschaftlich 
die  Flöte.  Da¬ 
gegen  sah  ihn 
nie  jemand  in  der 
Kirche.  C.  H.  v. 
Heinecken,  der 
schon  erwähnte 
gelehrte  Lübeck¬ 
er,  der  während 
der  ganzen  Re¬ 
gierungszeit  x4u- 
gust’s  HL  des 
Grafen  Brühl 
rechte  Hand  in 
Dresdener  Kunst¬ 
angelegenheiten 


und  vielen  an¬ 
deren  Dingen 
war,  fügt  hinzu: 
„Ismael  hatte 
nicht  nur  beson¬ 
dere  Principia  in 
der  Religion,  son¬ 
dern  seine  Lebensart  war  ebenfalls  ganz  besonders. 
Er  hielt  viel  von  Jean  Jacques  Rousseau,  und  ich  habe 
ihn  oft  sagen  hören,  dass  er  nur  so  lange  glücklich 
und  vergnügt  gewesen,  als  er  noch  keinen  Koffer 
gehabt  hätte.“  V on  Rousseau  selbst,  dessen  erste  bahn¬ 
brechende  Schrift  1750  erschien,  konnte  er  freilich 
erst  im  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens  beeinflusst 
werden ,  aber  eine  gewisse  Geistesverwandtschaft 
mit  ihm,  die  in  der  Zeit  lag,  mochte  er  besessen 


haben. 


Jedenfalls  war  er  Freigeist  im  Sinne  der 


1-1 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENOS. 


Aufklärung  des  vorigen  Jahrhunderts  und  lebte  dem¬ 
entsprechend.  Bald  nach  seiner  Rückkehr  von  Rom, 
im  Jahre  1720,  „verband“  er  sich  mit  seiner  Haus¬ 
hälterin  Charlotte  Bormann  aus  Zittau.  Dass  dieses 
Band  nicht  von  Anfang  an  ein  eheliches  gewesen, 
verschweigen  seine  alten  und  neuen  Biographen. 
Seine  Kinder  wussten  es  vielleicht  selbst  nicht  oder 
hüteten  sich  doch,  das  Geheimnis  Azara,  Bianconi, 
Ratti  oder  Guibal  zu  verraten.  Heinecken  und  Prange 
aber  bezeugen  es  so  ausdrücklich,  dass  es  unmög¬ 
lich  ist,  daran  zu  zweifeln.  Sein  ältester  Sohn  hieß 
Karl  Moritz;  seine  ältere  Tochter  Theresia  Concordia 
wurde  1723  geboren.  Gerade  ihrer  unehelichen  Ge- 
hurt  wegen  sprach  er  nicht  gern  von  seinen  Kindern, 
und  gerade  um  Unannehmlichkeiten  zu  entgehen, 
sandte  er  Charlotte  Bormann,  als  sie  ihr  drittes 
Kind  erwartete,  nach  Aussig  in  Böhmen.  Hier  wurde 
Anton  Raphael  am  12.  März  1728  geboren.  Es  ist 
bezeichnend,  dass  alle  Schriftsteller,  die  über  Raphael 
.Mengs  schrieben,  solange  erlebte,  Hagedorn,  Meusel, 
Püssli,  Mariette,  nicht  anders  wussten,  als  dass  er 
in  Dresden  geboren  sei,  ja  dass  selbst  Heinecken  in 
der  ersten  Fassung  seines  im  Manuskript  im  Dres¬ 
dener  Kupferstichkabinett  erhaltenen  vielbändigen 
großen  ..Dictionaire  des  artistes“  noch  Dresden  als 
seinen  Geburtsort  angab,  diese  Angabe  aber  später 
durclistricli,  um  sie  am  Rande  durch  die.  Worte 
, Aussig  en  Boheme“  und  „eleve  ä  Dresde“  zu  er¬ 
setzen;  und  es  ist  verständlich,  dass  man,  als  die 
nach  seinem  Tode  erschienenen  Biographieen  das  Ge- 
lieimiiis,  dass  er  in  Aussig  geboren  sei,  enthüllten, 
zur  Deutung  dieses  Umstandes  zu  so  unwahrschein- 
lielien  Erklärungen  seine  Zuflucht  nahm,  Avie  dass 
Ismai-I  sich  am  12.  März  (an  dem  es  noch  Winter 
zu  sein  pfl''gt)  mit  seiner  Gattin  auf  einer  Lustreise 
in  Aussig  hed'unden  habe. 

Einige  Wochen  nach  der  Gehurt  ihres  Söhn- 
'•lu'iis  kehrte  Cliarlotte  Bormann  mit  ihm  ins  Mengs- 
f-he  Hau:,  nach  Dresden  zurück;  und  jetzt  ließ 
I  nuiul  .sieh  mit  ilir  trauen.  Hatte  er  doch  mit 
die" 'in  .'■ohne  ..vom  Mutterleib  an“  (Heinecken)  so 
he.sondere  und  große  Absichten,  dass  er  ihn  und 
damit  zugleich  seine  ülirigen  Kinder  durch  die  nach- 
'räglieh  eing»-gangene  Ehe  legitirniren  musste!  Ismael 
.Meng«  mochte  sclion  um  diese  Zeit  zu  der  Einsicht 
eekommen  sein,  dass  seine  eigene  Künstlerkraft  nicht 


ausreichte,  seinem  Ehrgeiz  zu  genügen;  längst  hatte 
er  aber  auch  die  Überzeugung  gewonnen,  dass  es 
mit  der  Kunst  in  den  alten  ausgefahrenen  Gleisen 
nicht  weiter  gehe,  dass  sie  von  Grund  aus  umge¬ 
staltet  und  neugeschaffen  werden  müsse.  Konnte 
er  selbst  der  bahnbrechende  Neuerer  nicht  sein,  so 
sollte  es  einer  seiner  Söhne  werden.  Gerade  den 
kleinen  Anton  Raphael  hatte  er  hierzu  ausersehen; 
und  eben  deshalb  hatte  er  ihm  mit  voller  Über¬ 
legung  die  Namen  Anton  und  Raphael  gegeben; 
denn  dass  Raphael  Santi  von  Urbino  und  Antonio 
Allegri  von  Correggio  die  Vorbilder  seien,  denen 
ein  Erneuerer  der  Kunst  nachstreben  müsse,  war 
ihm  auf  seiner  italienischen  Reise  zur  festen  Über¬ 
zeugung  geworden.  Als  er  einem  Leipziger  Freunde 
bald  darauf  sein  Vorhaben  erzählte  und  dieser  ein 
ungläubiges  Gesicht  dazu  machte,  dass  der  kleine 
Wickelknabe  in  Dresden  Raphael  und  Correggio  in 
einer  Person  werden  sollte,  antwortete  er:  „Er  soll 
und  muss!“ 

„Er  soll  und  muss!“  Wohl  niemals  vorher  oder 
nachher  ist  ein  Knabe  unter  dem  Banne  dieses  Aus¬ 
spruchs  gewissermaßen  mit  Gewalt  zum  berühmten 
Manne  gemacht  worden.  Das  Wort,  dass  Anton 
Raphael  zur  Kunst  geprügelt  worden  sei,  war  schon 
zu  seinen  Lebzeiten  verbreitet. 

An  Geldmitteln,  seinen  ehelichen  Haushalt  be¬ 
scheiden,  aber  ordentlich  zu  führen  und  seine  Kinder 
zu  erziehen,  fehlte  es  Ismael  übrigens  nicht.  Das 
Gehalt  von  600  Thalern,  das  er  als  Hofmaler  be¬ 
zog,  konnte  bei  dem  damaligen  Kaufwerte  des  Geldes 
einem  bürgerlichen  Hauswesen  beinahe  schon  ge¬ 
nügen,  Außerdem  erhielt  er  alle  seine  Arbeiten  be¬ 
sonders  bezahlt;  und  dass  sie  anständig  bezahlt 
wurden,  erhellt  aus  seiner  erhaltenen  Immediatein¬ 
gabe  an  den  König  vom  März  1729,  in  der  er  um 
Zahlung  eines  „kleinen  Restes“  von  273  Dukaten 
für  verschiedene,  vor  einiger  Zeit  auf  höchsten  Be¬ 
fehl  ,,en  miniature“  verfertigte  Porträts  bat. 

Frau  Charlotte  Mengs  geb.  Bormann  starb  übri¬ 
gens  bald  nach  der  Geburt  ihres  vierten  Kindes, 
eines  Töchterchens,  das  außer  auf  den  Namen  Julia 
auch  auf  den  ihren  getauft  wurde;  denn  in  Ur¬ 
kunden  wird  sie  Juliane  Charlotte  genannt. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Franz  Simm.  Selbstporträt. 


FRANZ  SIMM. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


EDES  Jahr  wandern  von 
Wien  und  ans  anderen  Orten 
des  österreichischen  Kaiser¬ 
staates  Künstler  und  Kunst¬ 
handwerker  aller  Arten  ins 
Ausland,  um  dort  weitere 
Fortbildung  und  dauernden 

_ Erwerb  zu  suchen.  Die  Maler 

wenden  sich  seit  neuerer  Zeit  mit  Vorliebe  nach 
Paris  und  München.  Dort,  in  der  Seinestadt,  haben 
seit  längerer  Zeit  Eugen  Jettei,  Eduard  Charlemont, 
Freih.  v.  Myrbach  u.  a.  ihre  Werkstätten  aufgeschla¬ 
gen,  von  Munkacsy  und  den  übrigen  Ungarn  abzu¬ 
sehen.  Die  Übersiedelung  nach  München  ist  viel 
älteren  Datums:  Moriz  von  Schwind  fand  hier  seine 
zweite  Heimat,  ebenso  der  Prager  Gabriel  Max,  dann 


Defregger,  Matthias  Schmid,  und  unter  den  zahl¬ 
reichen  Jüngeren  auch  der  liebenswürdige  und  fein 
begabte  Meister,  welchem  diese  Zeilen  gelten,  der 
Historien-  und  Genremaler  Franz  Simm. 

Simm  ist  ein  Wiener  Kind,  und  der  ihn  aus¬ 
zeichnende  Geschmack,  der  Sinn  für  Eleganz  und 
edle  Formenschönheit,  die  Stoffwahl  und  die  Deli¬ 
katesse  der  Ausführung  seiner  Bilder  lassen  leicht 
die  heitere  Gemütsart  und  das  künstlerische  Naturell 
seiner  Landsleute  wieder  erkennen.  Er  wurde  1853 
als  der  Sohn  des  Malers  Josef  Simm  geboren,  der 
hauptsächlich  in  der  Herstellung  von  Kirchen-  und 
Fahnenbildern  seine  Kunst  übte  und  dessen  Samm¬ 
lung  von  alten  Stichen  und  anderen  derartigen 
Gegenständen  dem  Knaben  die  ersten  künstlerischen 
Anregungen  bot.  Nach  dem  Besuch  der  Oberreal- 

O  O 


hu  Mai.  Ölgemälde  von  Fu.  Simm. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst  N,  P  V 


H  1. 


3 


Mephisto.  Handzeichmmg  von  Fr.  Simm. 


IS 


FRANZ  SIMM. 


schule,  welcher  jedoch  durch  den  Tod  des  Vaters 
frühzeitig  unterbrochen  wurde,  kam  Franz  auf  die 
Wiener  Akademie  und  schloss  sich  hier  zunächst 
mit  jugendlicher  Begeisterung  an  den  damals  eben 
dorthin  berufenen  Anselm  Feuerbach  an,  dessen 
Werke  er  auf  einer  Reise  nach  München  in  der 
Schack -Galerie  kennen  gelernt  hatte.  Aber  es  ge¬ 
lang  ihm  nicht,  zu  dem  Lehrer  in  ein  näheres  Ver- 


Im  Jahre  IS 76  errang  Simm,  der  an  der  Wiener 
Akademie  mehrfache  Auszeichnungen  erhielt,  das 
römische  Reisestipendium  und  gewann  dadurch  Muße, 
sich  dem  Studium  Italiens  und  seiner  Kunstschätze 
mit  Eifer  hinzugeben.  Nach  Ablauf  der  zweijähri¬ 
gen  Stipendienzeit  blieb  er  noch  weitere  drei  Jahre 
in  Rom  und  erhielt  dort  ISSl  seinen  ersten  größe¬ 
ren  Auftrag,  nämlich  den,  das  Stiegenhaus  des  kau- 


Kindergruppe  HanJzeichnung  von  Fr.  Simm. 


hältnis  zu  kommen.  So  verließ  er  denn  bald  die 
Schule  I’euerbachs  und  trat  in  das  Meisteratelier 
Ed.  V.  Engerth's  ein,  wo  er  die  vollste  Berücksich¬ 
tigung  seiner  Individualität  und  namentlich  in  Bezug 
auf  Komposition  die  fördersam.ste  Unterweisung 
fand.  Gleichzeitig  wurde  Simm  A.ssistent  des  ver¬ 
storbenen  Prof.  Ferd.  Laufberger  an  der  Kunst¬ 
gewerbeschule  des  Österreichischen  Museums  und 
verdankt  auch  diesem  trefflichen  Künstler  mannig¬ 
fache  Anregungen. 


basischen  Museums  in  Tiflis  mit  umfangreichen 
Wandgemälden  zu  schmücken.  Auch  noch  in  an¬ 
derer  Hinsicht  wurde  diese  römische  Zeit  entschei¬ 
dend  für  des  Künstlers  Leben.  Er  machte  damals 
die  Bekanntschaft  einer  jungen  Malerin,  einer 
Schülerin  von  Löfftz,  die  sich  gleichfalls  zu  Studien¬ 
zwecken  in  Rom  auf  hielt.  Sie  wurde  Simm’s  Frau, 
machte  mit  ihm  die  Hochzeitsreise  nach  Tiflis  und 
half  ihm  dort  wacker  bei  der  Ausführung  der  Ge¬ 
mälde,  wie  sie  auch  später  ihm  bei  seinen  größeren 


FRANZ  SIMM. 


19 


künstlerisclien  Arbeiten  vielfacli  praktisch  zur  Hand 
gegangen  ist.  Nach  Vollendung  der  Wandbilder 
machte  Simm  noch  durch  zwei  Monate  hindurch 
emsig  Studien  und  Skizzen  in  der  entzückend  schön 
gelegenen  kaukasischen  Stadt,  um  dann  über  seine 
Heimat  Wien  nach  München  zurückzukehren,  wo  er 
von  nun  an  seinen  bleibenden  Wohnsitz  nahm. 

In  München  war  es  zunächst  die  Illustration 
deutscher  Klassiker,  die  den  Künstler  lange  Zeit 
eifrig  beschäftigte  und  für  die  er  als  gründlich  ge¬ 
bildeter  und  geschmackvoller  Zeichner  sich  inner- 


Häuschens  in  Schwabing  entstand,  und  kurz  darauf 
erhielt  Simm  den  Auftrag,  ein  12  m  breites  und 
8  m  hohes  Diorama  mit  der  Darstellung  eines  Harem 
zu  malen,  welche  kolossale  Bildfläche  ihm  wieder 
mit  Hilfe  seiner  kunstgeübten  Gattin  zum  großen 
Ergötzen  beider  in  kurzer  Zeit  zu  bewältigen  gelang. 

Dann  aber  betrat  Simm  dasjenige  Gebiet,  auf 
dem  ihm  seine  schönsten  Lorbeern  blühen  sollten, 
die  Genremalerei.  Namentlich  die  Wertherepoche, 
das  Empire  und  alles,  was  zeitlich  und  kostümlich 
daran  grenzt,  wurde  seine  mit  Meisterschaft  gepflegte 


Porti’ätstudie.  Handzeichnung  von  Fr.  Simm. 


lieh  berufen  fühlen  durfte.  Namentlich  für  die  Hall- 
berger’sche  Goethe- Ausgabe  hat  Simm  zum  West- 
Ostlichen  Divan,  zum  Faust  und  zu  anderen  Werken 
eine  Reihe  der  gelungensten  Blätter  geliefert.  Die 
Gestalt  des  Mephisto,  welche  die  Leser  diesem  Auf¬ 
sätze  beigegeben  finden,  ist  eine  Studie  zu  der  Scene 
mit  dem  Schüler.  Die  „Fliegenden  Blätter“  und 
viele  andere  deutsche  Journale  zählen  Simm  zu 
ihren  Mitarbeitern. 

Gleichzeitig  fuhr  der  Künstler  aber  auch  fort, 
seine  Kunst  im  großen  auszuüben.  Die  in  Fresko 
ausgeführte  Madonna  an  der  Giebelwand  seines 


Domäne.  In  dieses  Zeitgewand  kleidet  er  jene  an¬ 
mutigen  kleinen  Bilder  aus  dem  Liebes-  und  Fami¬ 
lienleben,  welche  unsere  Ausstellungen  der  letzten 
Jahre  zierten,  und  von  denen  der  hier  vorgeführte 
Holzschnitt  „Im  Mai“  eine  Probe  giebt.  Auch  die 
Studie  mit  der  auf  dem  Balkon  sitzenden  Dame  im 
Empirekostüm,  die  in  der  beiliegenden  Heliogravüre 
reproduzirt  ist,  fällt  in  dasselbe  Stoffgebiet.  Es 
sind  meistens  helltönige  Darstellungen  von  der  höch¬ 
sten  Vollendung  der  Detailmalerei,  bewundernswert 
schon  wegen  der  enormen  Kenntnis  aller  Äußerlich¬ 
keiten  des  Lebens,  welche  die  geschichtliche  Sphäre 

3* 


20 


FRANZ  SIMM. 


cliarakterisireu,  aus  der  die  Gegenstände  entnommen 
sind.  Aber  damit  ist  ihr  eigentlicher  Reiz  nicht  er¬ 
schöpft.  Dieser  besteht  in  dem  nie  sich  verleugnen¬ 
den  Schönheitsgefühl  und  in  der 
Zartheit  der  Empfindung  für  den 
menschlichen  Gehalt  der  Bilder, 
für  das  Bleibende  und  immer 
sich  Erneuernde  im  Leben  und 
Treiben  der  Welt.  Das  erst  ver¬ 
leiht  Simm’s  kleinen  Meister¬ 
stücken  ihren  geistigen,  echt 
künstlerischen  Wert,  und  er¬ 
klärt  zur  Genüge  die  hohe 
Schätzung,  deren  sie  sich  in 
der  Kunstwelt  zu  erfreuen  haben. 

Eines  der  durchgeführtesten  Bil¬ 
der  dieser  Art  ist  „Der  Stolz 
der  Familie“  im  Kostüm  des 
Empire.  Der  Künstler  erhielt 
dafür  1SS9  in  Wien  die  goldene 
Medaille.  Ein  anderes,  „Das 
Duett“,  wurde  1891  in  Berlin 
prämiirt  und  für  die  National¬ 
galerie  angekauft.  Eine  sehr 
figurenreiche  Darstellung  von 
minutiöser  Ausführung,  „Das 
Liebhaberkonzert“,  erwarb  1892 
der  Großherzog  von  Weimar  für 
da.s  dortige  Museum.  In  der 
diesjälirigen  Ausstellung  im 
Müncliener  Glaspalast  ist  Simm 
gleichfalls  durch  ein  vollendet 
ansgefübrtes  Bildchen  „Vor  der  Zahnoperation“ 
t  reif  lieb  vertreten.  In  Chicago  wurde  er  durch 
Verleilmng  von  Medaillen,  sowohl  in  der  Öster¬ 
reich  iseben  als  auch  in  der  deutschen  Abteilung, 


ausgezeichnet.  —  Aus  den  letzten  Jahren  haben 
wir  schließlich  auch  noch  zwei  Werke  größeren  Stils 
hervorzuheben.  Für  das  kunsthistorische  Hofmuseum 
in  Wien  (SaalX)  malte  Simm  sechs 
medaillonförmige  Deckenbilder 
mit  allegorischen  Figuren.  Als 
Diorama  entstand  „Der  Tod  Kai¬ 
ser  Wilhelm’s“^)  auf  Bestellung 
desselben  Unternehmers,  der  auch 
Miteigentümer  des  unlängst  in 
Wien  verbrannten  Diorama’s  von 
Piglhein  war. 

So  sehen  wir  den  Meister 
in  treuer  Bewahrung  und  Pflege 
der  ihm  verliehenen  reichen  Kräfte 
rüstig  wirken  und  schaffen,  und 
begrüßen  in  ihm  einen  der  be¬ 
rufensten  Vertreter  jener  nie 
veraltenden  Richtung  der  Malerei, 
welche  Gefälligkeit  der  Erschei¬ 
nung,  höchste  Feinheit  der  Aus¬ 
führung  und  zartsinnigen  Gehalt 
harmonisch  miteinander  zu  ver¬ 
binden  weiß.  ^  „ 

G.  V.  L. 


1)  Das  Staffeleibild  gleichen  Ge¬ 
genstandes,  welches  neuerdings  in  ver¬ 
schiedenen  Städten  gezeigt  wurde,  ist 
nicht  diese  für  künstliche  Beleuchtung 
und  entsprechende  Umgebung  aus¬ 
geführte  Originalkomposition  Simm’s, 
sondern  eine  durch  verschiedene  Über¬ 
malungen  hergestellte  Umarbeitung 
von  der  Hand  des  Malers  G.  Goldberg  in  München.  Man 
sehe  darüber  die  Erklärung  Simm’s  in  der  „Kunst  für  Alle“ 
vom  15.  April  1892  und  den  nach  dem  Dioramabilde  ge¬ 
fertigten  Holzschnitt  in  dem  bei  Bruckmann  erschienenen 
Werke:  ,,Die  Hohenzollern.“ 


Tanzendes  Mädchen, 
llandzeiclmung  von  Fr.  Simm. 


JÖRG  BREU  DER  ÄLTERE  UND  JÖRG  BREU 

DER  JÜNGERE. 

VON  HEINRICH  ALFRED  SGHMID. 


AST  überall  herrscht  über 
die  Malerfamilie  Breu  bis 
jetzt  noch  Unklarheit.  Der 
einzige,  der  sich  etwas  ein¬ 
gehender  mit  ihr  beschäftigt 
hat,  Rosenberg  in  der  Ivunst- 
chronik  Bd.  X  (1875),  S.  388 
(nicht  382)  bis  392,  stellt 
die  unrichtige  Hypothese  auf,  dass  die  bisher  be¬ 
kannt  gewordenen  Werke  der  Familie  von  drei  ver¬ 
schiedenen  Künstlern  stammen;  auch  diejenigen, 
welche  sich  zuletzt  über  die  Frage  ausgesprochen, 
bringen  keine  Lösung;  Janitschek,  Geschichte  der 
deutschen  Malerei,  ist  nicht  einmal  in  den  Daten 
genau,  und  auch  Muther  im  Generalregister  der 
„Meisterholzschnitte  aus  vier  Jahrhunderten“  von 
1893  geht  meines  Erachtens  von  unrichtigen  Vor¬ 
aussetzungen  aus.  Nur  die  Ansichten,  welche  die 
kurzen  Notizen  des  Berliner  Katalogs  verraten, 
scheinen  mir  das  Richtige  zu  treffen. 

Im  Folgenden  füge  ich  den  Werken  der  Familie, 
die  schon  früher  sich  erwähnt  finden,  noch  eine  An¬ 
zahl  von  mir  entdeckter  bei  und  stelle  das  gesamte 
Material  so  zusammen,  wie  es  nach  meiner  Ansicht 
sich  auf  zwei  verschiedene  Künstler  verteilt.  Die 
Beweise  für  meine  Behauptungen  bei  anderer  Ge¬ 
legenheit. 

Laut  den  von  Vischer,  Studien  zur  Kunst¬ 
geschichte,  S.  478  ff.,  publizirten  Augsburger  Hand¬ 
werksbüchern  steht  fest,  dass  im  Beginn  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  zwei  Künstler  namens  Jörg  Breu,  Vater 
und  Sohn,  in  Augsburg  existirten.  Von  dem  älteren 
findet  sich  die  Aufnahme  in  die  Zunft  nirgends  ver¬ 
zeichnet,  obwohl  die  Eintragungen  in  dem  in  Be¬ 
tracht  kommenden  Handwerksbuch  bis  ins  Jahr  1487 


hinaufreichen.  Seit  dem  Jahre  1502  aber  ist  ziem¬ 
lich  regelmäßig  bis  1520  alle  zwei  bis  drei  Jahre 
die  Aufnahme  eines  Lernknaben  bei  diesem  Künstler 
verzeichnet;  gestorben  ist  derselbe  1536.  Der  jün¬ 
gere  Künstler  hat  erst  1534  das  Zunftrecht  seines 
Vaters  erhalten,  hat  in  den  Jahren  1539,  1540,  1543 
Lernknaben  vorgestellt  und  ist  1547  gestorben. 

Übersieht  man  nun  die  ganze  Reihe  der  sieben 
verschiedenen  Werke  auf  dem  Gebiete  der  Malerei 
und  die  Holzschnitte,  welche  durch  vollen  Namen 
oder  durch  Monogramm  bezeichnet  und  datirt  sind, 
so  ergiebt  sich,  dass  diese  Werke  entschieden  zwei 
grundverschieden  beanlagten  Künstlernaturen  ange¬ 
hören  müssen,  und  dass  allerdings  nicht  erst  das 
Jahr  1534  oder  1536  die  Grenzlinie  zwischen  den 
Werken  des  Vaters  und  Sohnes  bildet,  aber  auch 
nicht  etwa  das  Jahr  1510  oder  1512,  sondern  dass 
unter  den  bezeichneten  Arbeiten,  die  nach  1519  oder 
1520  entstandenen  alle  dem  Sohne,  die  früheren  aber 
höchstens  mit  einer  Ausnahme  dem  Vater  angehören 
müssen. 

Nach  den  wenigen  erhaltenen  Werken  zu  schlie¬ 
ßen,  war  der  ältere  Breu  ein  hochbeanlagter,  leiden¬ 
schaftlicher  Künstler,  der  sich  namentlich  durch  seinen 
Sinn  für  schlanke  zierliche  Formen,  durch  feines 
Gefühl  und  einen  eminenten  Farbensinn  vor  seinem 
Sohne  auszeichnete,  nach  seiner  Entwickelung  zu 
schließen  ein  Altersgenosse  Burgkmair’s  und  dessen 
Mitschüler  bei  Schongauer. 

Der  jüngere  Künstler  war  als  Zeichner  in  seinen 
besten  Werken  vielleicht  korrekter  als  der  Vater, 
aber  derb ,  sogar  roh  veranlagt,  ohne  koloristisches 
Talent,  trocken  und  nüchtern,  genießbar  fast  nur  in 
der  Schilderung  von  Volkstypen,  ganz  ähnlich  wie 
die  Beham,  Feselen  etc.  und  kaum  zu  seinem  Vor- 


J(3RG  BREÜ  DER  ALTERE  UND  JÖRG  BREU  DER  JÜNGERE. 


22 

teil  in  späteren  Jahren  (etwa  von  1528  an)  von  Ita¬ 
lien  beeinflusst.  Auffällig  ist  die  Verwandtschaft 
vieler  seiner  Bilder  mit  späten  Werken  Baldung’s. 

Hiernach  gehören  dem  älteren  Breu  an: 

A.  Gemälde. 

1)  In  der  Sammlung  des  Chorherrenstiftes  von 
Herzogenburg  (nicht  Herzogenbusch)  bei  St.  Pölten 
vier  beiderseits  bemalte  Holztafeln,  Br.  c.  120,  H.  c. 
80  cm,  ursprünglich  Teile  von  Altarflügeln.  Auf 
den  früheren  Innenseiten  vier  Scenen  aus  dem  Marien¬ 
leben,  auf  den  Außenseiten  vier  Passionsscenen: 

a)  Begegnimg  der  Frauen,  Rückseite  Christus 
vor  dem  Hohenpriester; 

b)  Beschneidung,  Rückseite  Geißelung; 

c)  Anbetung  des  Neugeborenen,  Rückseite  Dor¬ 
nenkrönung; 

d)  Anbetung  der  Könige,  Rückseite  Kreuztragung, 
bezeichnet  auf  dem  Gewandsaum  der  Maria  in  der 
Anbetung  des  Neugeborenen.  lORG-  PREW  v.  AV 
und  an  anderer  Stelle:  15 — 1.  Die  dritte  Zahl  ist 
abgeblättert;  doch  gehören  die  Bilder  sicher  in  den 
Beginn  des  IG.  Jahrhunderts  und  nach  Tschischka, 
Kunst  und  Altertum  in  dem  österreichischen  Kaiser¬ 
staate,  Wien  183G,  S.  81,  scheint  am  Beginne  des 
Jahrhunderts  die  Jahreszahl  1501  noch  ganz  erhal¬ 
ten  gewesen  zu  sein;  da.sselbe  Datum  ist  auch  in 
einer  Ecke  der  Bildtafel  später  aufgemalt. 

2.  Das  Madonnenbildchen  der  Berliner  Galerie 
(Nr.  507  A)  bez.  mit  Monogramm  und  Datum  1512 
(vergl.  die  Aufnahme  der  Photogr.  Gesellschaft). 

3.  Die  Tafel  mit  der  Anbetung  der  Könige  in 
Koblenz,  innen  über  dem  Eingang  des  Bürgerspitals, 
bez.  mit  .Monogramm  und  Datum  1518;  ursprüng¬ 
lich  Innenseite  eines  linken  Altarflügels;  auf  Holz 
H.  c.  I,ti0,  Br.  0,0.5.  In  Figuren  und  Hintergrund 
Mehr  .‘•tarke  Ifeminiscenzen  an  Venedig,  namentlich 
aber  da.^  Kolorit  an  die  Venezianer  erinnernd.  Der 
Kojd’  des  alten  Königs,  Porträt  desselben  Patriziers, 
den  Holbein  der  ältere  iiu  Jahre  1513  durch  das 
bei  tiraf  Lanckormiski  in  Wien  befindliche  Porträt 
verewigt  bat.  Der  Abgebildete  war  damals  52 
•Iah re  alt. 

In  den  genannten  Gemälden  wird  von  Stufe 
zu  Stufe  die  .Modellirung  immer  weicher  und  breiter 
und  djus  lärbentalent  des  Urhebers  kommt  zugleich 
ganz  im  Gegensatz  zu  den  Bildern  nach  1520  immer 
prächtiger  zur  Geltung. 

Ifolxschniite. 

1.  Pass.  2  Kreuzigung  Christi,  zuerst  vorkom¬ 
mend  in  dem  Mi.ssale  .sjieciale  Augustense  bei  Erhardt 


Radold  15050;  dann  1507  im  Missale  Salzburgense, 
gedruckt  von  Petrus  Lichtenstein  in  Venedig.  Die 
spätesten  Abdrücke  tragen  die  Bezeichnung:  Antony 
Formschneider  zue  Franckfurdt;  danach  die  Repro¬ 
duktion  in  den  „Meisterholzschnitten“  Nr.  91. 

2.  Drei  Illustrationen  in  Wolfgang  Mäu’s  Leiden 
Christi,  Augsburg  bei  Schönsperger  1515,  nämlich: 
1.  Pass.  1  Verspottung  Christi  mit  Monogramm,  2. 
Christus  vor  Pilatus,  beide  H.  92,  Br.  G2  mm  in 
Passepartouts  von  H.  Burgkmair,  3.  (wahrscheinlich) 
Der  Schmerzensmann  mit  Maria  und  Johannes, 

H.  1,40,  Br.  44  mm.  Pass.  1  abgebildet  in  Muther: 
Geschichte  der  Bücherillustration  Bd.  II,  S.  175.  Der 
zweite  Holzschnitt  schon  von  Muther  a.  a.  0.  Bd.  I, 
S.  135  für  Breu  in  Anspruch  genommen.  Der  letzte 
aber  ebenda  (auf  alle  Fälle  unrichtigerweise)  dem 
Hans  Burgkmair  zugeschrieben. 

3.  Die  4G  Holzschnitte,  ein  Widraungsblatt  (H. 

I, 30,  Br.  97  mm)  und  45  Illustrationen  (H.  70,  Br. 
97  mm),  nicht  aber  die  Titeleinfassung,  eines  kleinen 
Quartbändchens:  Die  ritterlich  und  lobwirdig  raiß 
des  gestrengen  ....  ritters  und  landtfarers  Ludovico 
Vartomaus  (sic)  von  Bolonia.  Das  mir  bekannte 
Exemplar  der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek 
Panzer  I,  S.  420,  Nr.  97  ist  in  Augsburg  1518  ohne 
Angabe  des  Druckers  erschienen.  Muther  a.  a.  0. 
S.  167  führt  dieselben  Illustrationen  unter  den  un¬ 
bekannten  Meistern  als  Nr.  1020  an,  und  zwar  schon 
in  der  Ausgabe,  die  1515  bei  Miller  in  Augsburg  er¬ 
schienen,  Panzer  I,  Nr.  820. 

Jörg  Breu  dem  jüngeren  gehören  an: 

1.  Ein  Gemälde  bei  Herrn  Prof.  R.  von  Kauf¬ 
mann  in  Berlin,  früher  bei  Pickert  in  Nürnberg: 
Madonna  mit  Kind,  sitzend,  bis  zum  Knie  sichtbar 
hinter  einer  Brüstung,  auf  der  Vase  und  Buch  liegt. 
Hinter-^er  Madonna  eine  Thronlehne  in  etwas  phan¬ 
tastischen  Renaissancetormen.  Den  Hintergrund  bildet 
eine  Rosenhecke  vor  freier  Luft,  bezeichnet  mit 
Monogramm  und  Jahreszahl  1521.  H.  0,70,  Br.  0,56; 
auf  Tannenholz. 

2.  Studie  in  Kreide  mit  Rötel  gehöht,  im  Ber¬ 
liner  Kupferstichkabinett,  wie  es  scheint,  zu  dem 
Kopfe  der  erwähnten  Madonna  benützt,  bez.  1519 
und  mit  Monogramm.  Das  Gemälde  glaube  ich  mit 
voller  Bestimmtheit,  die  Zeichnung  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  dem  jüngeren  Künstler  zuweisen 
zu  können  nach  zwei  Photographieen  und  Notizen, 


1)  Vergl.  nach  meiner  Mitteilung  die  Angabe  im  Ge- 
neralregiöter  der  von  Hirth  und  Muther  herausgegebenen 
„  Meister  holzschnitte“. 


JÖRG  BREU  DER  ÄLTERE  UND  JÖRG  BREÜ  DER  JÜNGERE. 


23 


die  ich  der  Güte  von  Herrn  Direktorialassistent  Dr. 
V.  Tschudi  in  Berlin  verdanke. 

3.  Das  Madonnenbild  im  Wiener  Neuen  Museum, 
früher  im  Depot  der  Belvederegalerie,  bez.  mit  Mono¬ 
gramm  und  Jahreszahl  1523. 

4.  Nach  Notizen  und  Photographie,  die  ich 
Herrn  0.  Granberg  in  Stockholm  verdanke:  ein 
großes  Gemälde  auf  Holz  (H.  1,02,  Br.  1,49)  in  der 
Sammlung  des  Herrn  Carl  Ekman  in  Finspong 
(Schweden):  Die  Geschichte  der  Lucretia.  Vorder¬ 
grund  eine  Renaissancehalle  (ganz  ähnliche  Archi¬ 
tekturformen,  wie  in  Burgkmair’s  Esther  vor  Ahas¬ 
ver,  Nr.  225  der  Münchener  Pinakothek).  Links 
Lucretia,  umgeben  von  einigen  Römern,  sich  den 
Dolch  in  die  Brust  stoßend,  rechts  mit  denselben 
fünf  Figuren  versinnlicht  der  Racheschwur  an  der 
Leiche  der  Lucretia.  Durch  zwei  Fenster  sieht  man 
nach  dem  Hintergrund  auf  einen  Platz  mit  dem 
Pantheon,  der  Trajanssäule  etc.,  wo  Brutus  das  Volk 
aufwiegelt.  Bezeichnet  mit  Monogramm  und  Datum 
1528  und  der  Inschrift: 

HOC  •  OPVS  •  FECIT  •  lEÖGRlVS  •  PREW  • 
DE  •  AVG. 

ln  den  Bögen,  welche  den  Ausblick  nach  dem 
Hintergrund  gewähren,  hängen  die  Wappen  von 
Bayern  und  Baden  (Wilhelm  IV.  und  Jacobaea  von 
Baden). 

5.  Die  Schlacht  bei  Zama,  Nr.  228  der  Münche¬ 
ner  Pinakothek.  Wie  das  vorhergehende  Bild  zu  der 
Reihe  von  Darstellungen  aus  der  römischen  Ge¬ 
schichte  gehörig,  welche  von  bayerischen  und  schwä¬ 
bischen  Künstlern  im  Aufträge  Wilhelms  IV.  gemalt 
wurden. 

Auf  Grund  dieser  Gemälde  lassen  sich  dem  jün¬ 
geren  Breu  noch  folgende  unbezeichnete  zuteilen: 

6.  Der  Ursulaaltar,  Nr.  1888  der  Dresdener  Ga¬ 
lerie.  Auf  Mittelbild  und  Innenseiten  der  Flügel  das 
Martyrium,  auf  den  Außenseiten  Grau  in  Grau  der 
hl.  Georg  und  die  hl.  Ursula  in  einer  spätgotischen 
Halle.  Vermutungsweise  schon  früher  von  Scheibler 
(Repertorium  Bd.  X,  S.  27)  und  von  mir  (in  meiner 
Doktordissertation:  Forschungen  über  Hans  Burgk- 
mair,  München  1888,  S.  18)  zugleich  mit  dem  fol¬ 
genden  Gemälde  für  Breu  in  Anspruch  genommen. 
Derselben  Ansicht  folgt  Janitschek,  Geschichte  der 
deutschen  Kunst,  S.  431.  Neuerdings  photographirt 
von  F.  &  0.  Brockmann’s  Nachfolger,  R.  Tamme  in 
Dresden. 

7.  Das  Gemälde  Christus  in  der  Vorhölle,  zu 
einem  Epitaph  der  Familie  Meiding  im  Ostchor  der 
St.  Annakirche  zu  Augsburg  gehörig.  Die  Todes¬ 


daten,  welche  sich  am  Sockel  des  alten  Bildrahmens 
befinden,  sind  1498,  1534  und  1533.  Da  das  Todes¬ 
datum  des  Mannes,  der  zuletzt  gestorben,  vor  dem 
seiner  früher  gestorbenen  Gemahlin  steht,  ist  die 
Tafel  offenbar  erst  nach  beider  Tod,  also  1534  oder 
später  entstanden. 

Dass  dies  Bild  dem  jüngeren  Burgkmair  an¬ 
gehört,  wie  noch  Janitschek  a.  a.  0.  S.  439  vermutet, 
ist  vollkommen  ausgeschlossen,  da  dieser  Sohn  des 
berühmten  Malers  überall,  wo  er  seinen  Vater  nicht 
kopirt,  wie  im  letzten  Teil  des  Sigmaringer  Turnier¬ 
buches,  sich  als  vollkommen  unfähig  erweist.  Der 
Kopf  des  Moses  aber  auf  dem  Vorhöllenbild  zeigt 
dasselbe  Gesicht  in  derselben  Stellung,  wie  ein  Mann 
auf  dem  Mittelbild  des  Ursulaaltars  beim  Steuer  des 
großen  Schiffes. 

8 — 10.  Die  kleinen  Orgelfiügel  mit  der  Dar¬ 
stellung  der  Verkündigung  und  der  Erfindung  der 
Musik  in  der  Fuggerkapelle  der  Augsburger  St.  Anna¬ 
kirche,  der  Entwurf  zu  der  zweiten  Darstellung  in 
den  Uffizien  und  die  großen  Orgelflügel  der  Fugger¬ 
kapelle  mit  der  Himmelfahrt  Christi  und  der  Him¬ 
melfahrt  Mariae. 

Bayersdorfer  hielt  schon  längst  die  kleinen 
Orgelflügel  für  ein  Jugendwerk  des  jüngeren  Breu. 
Zwischen  dem  Gemälde  in  Finspong  und  dem  Ent¬ 
wurf  in  Florenz  ist  aber  die  Übereinstimmung  so 
groß,  besonders  in  Faltenwurf,  Aufstellung  der  Fi¬ 
guren  und  Architekturformen,  dass  mir  nicht  bloß 
die  Annahme  desselben  Urhebers,  sondern  auch  der¬ 
selben  Entstehungszeit  unumgänglich  scheint.  Von 
den  Gemälden  aber  sind  die  kleinen  Flügel,  wie  ich 
vermute,  in  früher  Zeit  schon  stark  übermalt  worden, 
die  großen  aber  so  ruinirt,  dass  ein  sicheres  Urteil 
beiderseits  schwer  wird. 

11.  Zwei  Glasgemälde  bei  Herrn  Konservator 
V.  Huber  in  Augsburg.  Schwarzlotzeichnungen  mit 
gelben  Tönen;  das  Bild  selbst  von  rundem  Format. 
Durchmesser  0,23  cm.  Auf  der  einen  besser  erhaltenen 
Scheibe  ein  Augsburger  Patrizier  mit  seiner  Frau 
in  einer  Stube  Nahrungsmittel  in  Empfang  nehmend; 
bezeichnet  mit  Monogramm.  Auf  der  anderen  Scheibe 
ein  Turnier,  ohne  Bezeichnung ,  aber  unverkennbar 
von  demselben  Künstler. 

12.  Federzeichnung  im  Berliner  Kupferstich¬ 
kabinett:  Bittgang  römischer  Frauen  zu  Coriolan, 
nach  Rosenberg  a.  a.  0.,  wahrscheinlich  Entwurf  zu 
einer  nicht  mehr  erhaltenen  Scheibe  derselben  Folge 
wie  Nr.  11.  Durchmesser  ebenfalls  0,23  cm. 

13.  Die  18  Federzeichnungen  ebenfalls  von  run¬ 
dem  Format  (Durchmesser  34  cm),  die  sich  unter 


24 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Burgkmair’s  Namen  im  Münchener  Kupferstichkabi¬ 
nett  befinden  und  kriegerische  Thaten  und  Jagden 
etc.  des  Kaisers  Maximilian  darsteUen.  Die  Zeich¬ 
nungen  stimmen  nicht  genau  mit  Burgkmair’s  Strich- 
fühmng  überein  und  die  Augsburger  Glasgemälde 
und  die  Schlacht  bei  Zama  beweisen,  dass  sie  von 
Breu  stammen.  Vergleiche  die  Abbildungen  von 
sieben  dieser  Zeichnungen  in  Hirth’s  Kulturgeschicht¬ 
lichem  Bilderbuch  Bd.  I,  Nr.  80 — 86. 

14.  Elf  Blätter  aus  einer  Holzschnittfolge  von 
fünfzig  Landsknechtfiguren,  laut  Vorrede  heraus¬ 
gegeben  von  David  de  Negker,  sechzig  Jahre  nachdem 
sie  von  Burgkmair,  Breu  und  Amberger  gezeichnet 
worden.  Das  einzige  mir  bekannte  Exemplar  dieser 
h’olge  im  Stuttgarter  Knpferstichkabinett  (vergl.  zehn 
Abbildungen  in  Hirth’s  Kulturgeschichtlichem  Bilder¬ 
buch  Bd.  I,  Nr.  441,  447,  449—456). 

15.  Der  große  Holzsclmitt  von  1540  mit  der 


Geschichte  der  Susanna,  Pass.  3  im  Berliner  Kupfer¬ 
stichkabinett. 

Endlich  wissen  wir  durch  von  Stetten,  dass  im 
Jahre  1538  unser  Künstler  auch  die  Gemälde  an 
der  Holzdecke  der  Zunftstube  des  Weberhauses  re- 
novirt  hat.  Die  Arbeit  befindet  sich  heute  im  Na¬ 
tionalmuseum  in  München,  ist  aber  zu  sehr  ver¬ 
dorben,  um  als  Zeugnis  von  des  Künstlers  Thätigkeit 
in  Betracht  zu  kommen. 

Wie  man  sieht,  war  der  jüngere  Breu  im  drit¬ 
ten  und  vierten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  einer 
der  hervorragendsten  Künstler  des  damaligen  Augs¬ 
burg,  beschäftigt  von  Zünften,  von  reichen  Patri¬ 
ziern  und  auswärtigen  Fürsten.  Uns  ist  er  bloß  noch 
interessant  als  Repräsentant  einer  Epoche,  in  der  sich 
überall  in  Oberdeutschland  der  Verfall  der  Malerei 
an  kündigt.  Sein  Vater  aber  muss  einer  der  talent¬ 
vollsten  Maler  seiner  großen  Zeit  gewesen  sein. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


*  7jU  der  Orif/inalraduiimi  „Haidclandschaft“'  von 
Throdf)!-  A1])hons  in  Wien  schreibt  uns  der  Künstler:  „Die 
Umgegend  des  niederösterreichischen  Städtchens  Wiener- 
Neustadt  (das  ,, Steinfeld“),  ein  von  fernen  Hügelzügen  um- 
säuintes  und  wenig  behautes  Flachland,  war  mir  ein  lieber 
Studienplatz  geworden.  Ks  war  der  letzte  Abend  vor  der 
Rückkehr  nach  Wien,  als  ich  bei  stürmischem  Regenwetter 
über  die  Haide  eilte,  um  nochmals  von  manchem  lieben 
l’lätzchen  ,\bschied  zu  nehmen,  da  traf  ich  das  der  Radi- 
ning  zu  Grunde  liegende  Motiv  —  ein  Spiegelbild  der  augen¬ 
blicklichen  Stimmung  meines  Inneren.  Aus  der  dürftigen 
Skizze,  welche  ich  damals  machen  konnte,  entstand  die  vor¬ 
liegende  Radirung,  bei  deren  Herstellung  außer  der  Radir- 
nadel  verschiedene  andere  Werkzeuge  und  technische  Mittel 
zur  Anwendung  kamen.  In  der  Absicht,  die  Stimmung  des 
trüben  Herbsbibendes  besser  zu  veranschaulichen,  wurde  die 
Anwendung  kalterund  warmer  Farbttine beim  Druck  versucht.“ 
Iterlin.  Im  Kunstauktionshause  von  /f.  JjCjtkr.  kommen 
am  12.  ttktober  und  den  folgenden  Tagen  mehrere  Samm¬ 


lungen  von  Kupferstichen,  Radirungen,  Farbendrucken  und 
Holzschnitten,  ferner  von  älteren  und  neueren  Handzeich¬ 
nungen  und  Aquarellen  zur  Versteigerung.  Der  Katalog  ist 
soeben  erschienen. 

Köln.  Am  16.  Oktober  und  den  folgenden  Tagen  ge¬ 
langt  durch  J.  M.  Heberle  (H.  Lempertz'  Söhne)  wiederum 
ein  Teil  des  Museums  Hammer  zur  Versteigerung.  Derselbe 
enthält  die  schwedische  Porträtsammlung,  bestehend  aus 
schwedischen  Regenten,  berühmten  Persönlichkeiten  und 
Privatpersonen,  ferner  fremde  Regenten  und  berühmte  Per¬ 
sönlichkeiten  von  schwedischen  Meistern  gemalt.  Außerdem 
kommen  unter  den  Hammer  Töpfereien,  Majoliken,  Fayencen, 
dai'unter  namentlich  schwedische;  europäische  und  orien¬ 
talische  Porzellane,  Arbeiten  in  Glas,  Elfenbein  und  Email, 
Arbeiten  in  Gold  und  Silber,  Arbeiten  in  Bronze  und  Kupfer, 
Eisen  und  Zinn,  Arbeiten  in  Stein,  Schildpatt,  Perlmutter, 
Bernstein  etc.;  Textilarbeiten,  Arbeiten  in  Holz,  Möbel  und 
Einrichtungsgegenstände,  Miniaturen.  Der  mit  zahlreichen 
Abbildungen  versehene  Katalog  ist  soeben  erschienen. 


Herausgeber:  Carl  von  Ijitjoow  in  Wien,  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  Auguat  Pries  in  Leipzig. 


F.  Simm 


Meisenbach  Riffarlh  &  Co,  Berlin  heliogr. 


ERWARTUNG 


VcrU^  vE-A-Seemajm,  Leipzig 


DtucIc-v:  F,  A.Brockliaus,  Leipzig, 


r 


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*  I 


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BRIEG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


Die  Kultur 
der  östlichen 
Landstriche 
und  heson- 

Stanrlbiltl  Friedrichs  des  Großen  in  Brieg. 

ders  ihre  Lei¬ 
stungen  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  pflegt  man  im 
übrigen  Deutschland  nicht  hoch  anzuschlagen.  Ohne 
Zweifel  sind  auch  Süd  und  West  durch  ihren  Reichtum 
an  Denkmälern  aller  Art  dem  Osten  weitaus  über¬ 
legen.  Daher  könnte  es  freilich  gewagt  erscheinen, 
die  Teilnahme  eines  weiteren  Leserkreises  für  die 
kunsthistorische  Entwickelung  einer  Stadt  in  An¬ 
spruch  zu  nehmen,  welche,  nicht  weit  von  der  öst¬ 
lichen  Grenze  des  Reiches  gelegen,  eher  den  über¬ 
wiegenden  Einfluss  kulturlosen  Barbarentums  als 
veredelnder  Kunst  erwarten  lasst. 

Allein  wenn  Brieg  schon  darauf  stolz  sein  darf, 
dass  es  von  altersher  einer  der  Vorposten  des 
Deutschtums  in  Schlesien  gewesen  ist,  so  muss  es 
sich  erst  recht  den  Umstand  zum  Ruhme  anrechnen, 
dass  es,  weit  ab  von  den  Centren  der  Knnst,  doch 
derselben  eine  Stätte  in  seinen  Mauern  bereitet  hat. 
Brieg  ist  zwar  heute  nur  eine  bescheidene  Provin¬ 
zialstadt  von  20  000  Einwohnern,  aber  es  besitzt 
als  ehemalige  Hauptstadt  eines  der  bedeutendsten 
schlesischen  Fürstentümer  eine  eigene,  durch  zahl¬ 
reiche  Originalurkunden  beglaubigte  Geschichte ; 
auch  haben  sich  wiederholt  die  Wogen  der  ganz 
Deutschland  bewegenden  Kämpfe  an  seinen  Manern 
gebrochen.  Zudem  vermag  es  fast  aus  jeder  Epoche 
der  deutschen  Kunst  monumentale  Denkmäler  auf- 


znweisen.  Schon  ein  Blick  auf  das  Titelbild  lehrt, 
dass  wir  eine  alte  Stadt  vor  uns  haben,  in  der  reich- 
gegiebelte  und  hochdachige  Häuser  mit  modernen 
eintönigen  Gebäuden  wechseln.  Die  Türme,  welche 
über  den  Häusern  aufragen,  sind  zwar  zum  Teil  erst 
in  unserem  Jahrhundert  ausgebant  worden;  aber  die 
Bauwerke,  zu  denen  sie  gehören,  liegen  in  ihrer 
Entstehung  Jahrhunderte  auseinander.  Die  schlan¬ 
ken  Türme  im  Osten  (links)  schmücken  die  etwa 
500  Jahre  alte  gotische  Nikolaikirche;  der  Turm  in 
der  Mitte  der  Stadt  erhebt  sich  am  östlichen  Ende 
des  vor  etwa  300  Jahren  im  Renaissancestil  errich¬ 
teten  Rathauses,  und  das  Turmpaar  im  Westen 
(rechts)  steht  an  der  Stirnseite  der  vor  noch  nicht 
160  Jahren  im  Jesnitenstil  erbauten  katholischen 
Pfarrkirche. 

Der  Standpunkt,  welchen  der  Zeichner  unserer 
trefflichen  Abbildungen  zur  Aufnahme  des  Stadt¬ 
bildes  gewählt  hat,  liegt  im  Osten  von  Brieg  auf 
dem  rechten  Ufer  der  Oder  und  ist  insofern  ein 
sehr  günstiger,  als  man  von  dieser  Seite  aus  am 
ehesten  einen  Überblick  über  die  Stadt  gewinnt. 
Zugleich  aber  wird  von  hier  aus  dem  Beobachter 
auch  der  Grund  klar,  warum  gerade  an  der  Stelle, 
wo  die  Stadt  steht,  die  Anlage  derselben  in  alter 
Zeit  erfolgt  ist. 

Man  bemerkt  nämlich  sehr  deutlich,  dass  die 
Gebäude  der  Stadt  nur  darum  so  stark  hervortreten, 
weil  das  linke  Ufer,  worauf  sie  stehen,  unmittelbar 
vom  Flusse  an  sanft  aufsteigt.  Diese  leichte,  längs 
der  Oder  hinstreichende  und  aus  der  sonst  flachen 


Blick  auf  Brieg 
vou  der  Oderseite. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  2 


4 


26 


BRIEG. 


Landschaft  sich  scharf  heraiishebende,  gegen  Über¬ 
schwemmungen  gesicherte  Uferbank  hat  offenbar 
die  älteste  Besiedelung  veranlasst.  Dies  geht  auch 
aus  dem  Namen  hervor,  den  die  ersten  Ansiedler 
dem  Orte  gegeben  haben.  Die  älteste  Urkunde,  in 
welcher  Brieg  genannt  wird,  stammt  aus  der  Zeit 
Herzog  Heinrich's  1.  (1202 — 1238).  Dieser  Fürst 
verfügt  im  Jahre  1235,  dass  die  Wallonen  in  Würben 
für  die  Verleihung  des  deutschen  Rechtes  ein  jähr¬ 
liches  Deputat  von  Weizen  und  Hafer  an  den  herzog¬ 
lichen  claviger  (Rentmeister)  in  Visokebreg  abliefern 
sollen. ')  Visokebreg  bedeutet  nichts  anderes  als 
hohes  Ufer  (slav.  wyssoki  hoch,  brzeg  Ufer);  und 
andere  Urkunden  geben  hierzu  die  lateinische  Über¬ 
setzung  in  alta  ripa.^  Allmählich  beschränkte  man 
sich  auf  den  zweiten  Bestandteil  des  Namens  Visoke¬ 
breg,  schrieb  in  den  Urkunden  „gegeben  zum  Briege“ 
und  sagte  schließlich  Brieg,  lat.  Brega. 

Wie  weit  das  Dasein  des  polnischen  Visokebreg 
hinaufreicht,  ist  unbekannt.  Hingegen  vermögen  wir 
das  Geburtsjahr  der  deutschen  Stadt  Brieg  mit  Be¬ 
stimmtheit  anzugeben.  Denn  in  derselben  Zeit,  wo 
in  dem  durch  die  Raubzüge  der  Tartaren  verheerten 
Sclilesien  viele  Städte  von  den  damals  bereits  hier 
angesessenen  und  durch  Reichtum,  Bildung  und 
Kriegstüchtigkeit  ausgezeichneten  Deutschen  neu  ge¬ 
gründet  wurden'^),  verlieh  Herzog  Heinrich  IH.  auch 
seiner  civitas  in  alta  ripa  deutsches  Recht  •)  ( W eih- 
nachten  1250).  Seit  langem  schon  hatte  das  alte 
llerrscliergesclileclit  des  Landes,  die  Piasten,  sich  an 
das  deutsclie  Nachl)arreicli  angelehnt  und  den  Zu¬ 
zug  deutscher  Einwanderer  begünstigt;  besonders 
aber  gescliali  dies  seit  dem  Einfall  der  Mongolen 
in  der  Absiclit,  dem  Lande  neue  Welir-  und  Finanz¬ 
kraft  zuzuführen.  Auch  der  Kern  der  neuen  An- 
iedler  in  Brieg  war  deutscli;  die  Polen  der  Ort- 
.schaft  mussten  sich  dem  deiitsclien  Recht  unter¬ 
werfen.  Damit  war  die  Grundlage  zum  Aufblühen 
der  Stadt  gescliaifen  und  deutscher,  Geist  und  deut- 
'cher  Fleiß  nützten  nunmehr  die  günstige  Lage  des 
Ortes  aus.  Denn  nicht  bloß  die  Nähe  des  Flusses 
und  zugleich  die  Sicherlieit  vor  Hochwassergefahr 
begünstigten  die  Entwickelung  der  Stadt,  sondern 
a\ich  der  Umstand,  dass  das  „hohe  Ufer“  der  geo- 

fjiünhiigf'ii ,  Urkiindtai  der  Stadt  briej'.  Itreslaii, 
1  70.  Nr 

a.  a.  0.  Nr.  .5. 

firänhii^en,  flescliichtc  Schlenions.  fJottia,  1SR4.  S.  88. 

!  l)ie  Urkunde  ist  al)('cdruckt  bei  (triinhaffen,  Urkunden 
liriepf .  S.  Jl'i.  Kin  Kaknimile  dcrHoHien  ist  in  %  der  Ori- 
pin  Igiöße  dem  Werke  (irünhagcn’s  beigegeben. 


graphisch  bedingte  Kreuzungspunkt  der  beiden 
gewiss  uralten  meridional  und  westöstlich  ziehenden 
Hauptstraßen  ist. 

Mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  war  über  der 
deutschen  Stadt  dahingegangen,  als  sie  unter  Boles- 
laus  111.  (1311 — ^1352)  infolge  einer  von  den  Ur¬ 
enkeln  Heinrich’s  des  Frommen,  des  Helden  von 
Wahlstatt,  vorgenommenen  Erbteilung  Residenz  eines 
Fürsten  wurde.  Vom  Breslau’schen  abgetrennt,  trat 
Brieg  fortan  durch  seine  Dynastie  in  engere  Ver¬ 
bindung  mit  Liegnitz,  das  Boleslaus  um  1318  seinem 
Bruder  Wladislaus  halb  abpfändete,  halb  raubte.') 
Es  kam  dabei  zu  einem  der  traurigen  Bruderkämpfe, 
wie  sie  in  dem  piastischen  Fürstengeschlecht,  ver¬ 
anlasst  durch  das  Erbrecht  der  Söhne  zu  gleichen 
Teilen,  so  häufig  waren.  Gewöhnlich  führten  die 
Herzöge  die  verhängnisvolle  Erbfolgebestimmung 
ohne  Rücksicht  auf  die  Interessen  ihres  Landes  und 
auf  die  eigene  politische  Bedeutung  durch,  zersplit¬ 
terten  mit  den  ewigen  Teilungen  ihre  Lande  und 
zertrümmerten  auf  solche  Weise  schließlich  ihre 
fürstliche  Machtstellung.  Aus  den  Beherrschern  des 
weiten,  mächtigen  Polenreiches  wurden  sie  zu  Her¬ 
zögen  von  Schlesien,  aus  diesen  zu  Herren  einzelner 
Fürstentümer  und  endlich  gar  einzelner  Städte.  In 
ihrem  Gebiet  und  ihrer  Macht  beschränkt,  waren 
sie  dann  im  Falle  der  Not  gezwungen,  sich  einem 
mächtigen  Nachbar  zu  beugen.  So  wurde  auch 
Boleslaus  um  1330  aus  einem  unabhängigen  Fürsten 
zu  einem  Lehnsmann  der  Krone  Böhmen  2)  Mit 
Böhmen  fiel  Schlesien  später  an  die  Habsburger, 
die  nach  dem  Aussterben  der  Piasten  (21.  Nov.  1675) 
aus  dem  mittelbaren  in  den  unmittelbaren  Be.sitz 
traten.  Durch  die  Kriege  Eriedrich’s  des  Großen 
endlich  kam  es  unter  die  bergenden  Flügel  des 
preußischen  Adlers. 

Bis  1675  also  standen  die  Herzogtümer  Brieg 
und  Liegnitz,  bald  vereint,  bald  getrennt,  noch  unter 
den  direkten  Nachkommen  Boleslaus’  HL  Von  der 
Mehrzahl  derselben  ist  nicht  viel  Rühmliches  zu  be¬ 
richten.  Denn  abgesehen  von  den  ewigen  Fehden, 
welche  sie  von  der  Fürsorge  für  ihr  Land  ablenk- 
teii,  hatten  die  meisten  einen  leidenschaftlichen  Hang 
zum  fröhlichsteu  Lebensgenuss.  Mit  Ritterspiel  und 
Jagd,  mit  Schmausen  und  Zechen,  mit  Bewirtung 
fremder  Gäste  und  abenteuerlichen  Reisen  brachten 
sie  ihre  Zeit  hin.") 

])  Schönwillcler,  Die  Piasten  zumBriege.  Brieg,  1855. 1,110  ff. 

2)  Schön  wähl  er,  a.  a.  0.  124ff'.  Grünhagen,  Urkunden 
Nr.  78,  79. 

.3)  Von  diesem  leichtsinnigen  Treiben  hat  Hans  von 


BRIEG. 


27 


Inneres  Portal  des  PiastenscMosses  in  Brieg. 

Allein  gerade  die  Verseil wendungssuclit  der 
Fürsten  wurde  für  die  ünterthanen,  besonders  für 
die  Bauern  und  Bürger,  eine  Quelle  größerer  Frei¬ 
heit  und  Beweglichkeit;  denn  um  die  stete  Geldnot 
zu  lindern,  verzichteten  die  Fürsten  auf  Privilegien 


und  veräußerten  viele  ihrer  Hoheits¬ 
rechte. ')  Aber  es  gab  doch  auch 
in  der  langen  Reihe  dieser  Herzoge 
solche,  welche  in  gewissenhafter  Ar¬ 
beit  für  das  Wohl  des  Landes  thätisf 
waren.  Brieg  im  besonderen  hat 
eine  Anzahl  guter  Regenten  gehabt,  welche  durch 
edle  deutsche  Fürstentöchter  in  ihrer  landesväter¬ 
lichen  Fürsorge  treulich  unterstützt  wurden.  Unter 
ihnen  entwickelten  sich  Handel  und  Gewerbe, 
Wissenschaft  und  Kunst.  Das  künstlerische  Leben, 
welches  sie  erweckten,  hat  der  Stadt  bis  in  die 
Gegenwart  hinein  ihren  in  architektonischer  Be- 
ziehuno;  eigenartigen  Charakter  verliehen.  Die  Bau- 

c5  O  C? 

denkmäler  jener  Zeit  aber  sind  andererseits  wieder 
Marksteine  der  geschichtlichen  Entwickelung,  und 
so  mag  denn  die  weitere  Darstellung  sich  in  ein¬ 
facher  historischer  Gliederung  zugleich  an  die  durch 
schöne  und  naturwahre  Abbildungen  veranschau¬ 
lichten  Bauten  anschließen. 

Aus  der  polnischen  Zeit  ist  uns  natürlich  kein 
Baudenkmal  erhalten;  denn  die  Häuser  der  unbe¬ 
deutenden  Ortschaft  dürften  wohl  nur  aus  den  auf 
dem  einfachsten  Wege  zu  beschatfenden  Materialien, 
aus  Holz  und  Lehm,  bestanden  haben.  Auch  die 
Bürger  der  deutschen  Stadt  werden  zunächst  meist 
Holzbauten  aufgeführt  haben,  wie  sich  wenigstens 
aus  der  Stiftungsurkunde  schließen  lässt,  in  welcher 
Herzog  Heinrich  HI.  die  ausdrückliche  Genehmigung 
erteilt,  dass  sich  die  Bürger  Holz  zum  Häuserbau 
nehmen  sollen,  wo  sie  es  finden.  Selbst  das  herzog¬ 
liche  Schloss  wurde,  nachdem  es  bereits  über  100 
Jahre  bestanden  hatte,  erst  von  Herzog  Ludwig  1. 
aus  Stein  gebaut.  Unter  der  langen  Regierung  dieses 
Fürsten  (1358  —  1398)  entfaltete  sich  eine  regere 


1)  Vgl.  z.  B.  die  Verleihungen  des  durch  stete  Geldnot 
Schweinichen,  der  Hofmarschall  Heinrich’s  XL  von  Liegnitz  hart  bedrängten  Herzogs  Boleslaus  HT.  an  die  Stadt  Brieg 
war,  eine  köstliche  Schilderung  in  seinem  Tagebuche  gegeben.  in  den  Urkunden  Nr.  57,  02,  88,  lOG,  116,  126. 

4* 


Portal  des  Piastensclilosses  in  Brieg, 


BRIEG, 


29 


Bauthätigkeit.  So  begann  die  Bürgerschaft  1370  Bau  begann,  ein  Mann  gleichen  Namens  in  Brieg 
mit  dem  Um-  und  Neubau  der  Pfarrkirche  ad  san-  Pfarrer  war')  (um  1388).  Merkwürdig  ist  auch,  dass 
ctum  Nicolaum,  der  mit  vielen  Unterbrechungen  bis  der  Teil  der  Kirche,  der  zuletzt  vollendet  wurde, 
zum  Jahre  1416  dauerte.  Die  Türme  blieben  damals  am  ältesten  ist.  1370  waren  die  Turmstümpfe  bereits 


Hof  des  Piastenschlosses  in  Brieg. 


noch  unvollendet.  Erst  im  Jahre  1885  wurden  auch 
sie  ausgebaut.  Die  Vollendung  seines  größten  go¬ 
tischen  Bauwerkes  verdankt  Brieg  zum  größten  Teil 
der  energischen  Thätigkeit  seines  gegenwärtigen 
Pastor  prim.  Lorenz,  und  es  ist  gewiss  ein  merk¬ 
würdiges  Zusammentreffen,  dass  um  die  Zeit,  als  der 


vorhanden.  Was  den  Stil  anlangt,  so  zeigt  das 
Bauwerk  spätgotisches  Gepräge.  Es  ist  eine  drei- 
schiffige  Pfeilerbasilika  mit  mächtigem,  übermäßig 
hochgezogenem  Mittelschiff,  das  die  Wirkung  der 


1)  Grünhagen,  Urkunden  Nr.  499. 


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n«ii>""-Civini^ 


]Jas  O'lurtlio)’  in  Krieg. 


BRIEG 


31 


beiden  neuen  schlanken  Turmpyramideu  und  der 
acht  Ecktürmchen  erheblich  beeinträchtigt.  Unter 
den  zahlreichen  Denkmälern,  welche  die  Kirche 
schmücken,  haben  besonders  zwei  ein  allgemeineres 
historisches  Interesse:  zunächst  ein  in  Leimfarben 
auf  Holz  gemaltes  Bild,  welches,  Personen  und 
Gegenstände  aus  der  Leidensgeschichte  Christi  dar¬ 
stellend,  mit  mehreren  Inschriften  versehen  ist,  die 
sich  auf  die  Plünderung  der  Stadt  durch  die  Hussi- 
ten  im  Jahre  1428  beziehen.  Da  heißt  es  z.  B.  in 
nicht  gerade  eleganten  Reimen: 

Tausend  Vierhundert  Zwanzig  Acht 
nach  Christi  Geburt  die  Jahrzahl  macht, 
ward  in  gemeiner  Landesnoth 
Durch  die  eifrig  Hussitisch  Rott 
Die  Stadt  sammt  diesem  Gotteshaus 
verwüstet  und  gebrennet  aus')  u.  s.  w. 

Künstlerisch  bedeutend  ist  das  Denkmal  des  Grafen 
von  Gessler,  welches  den  Vorüberschreitendeii  an 
den  ruhmvollen  Tag  bei  Hohenfriedberg  erinnert. 
Namentlich  ist  das  über  dem  dunklen  Sarkophag 
angebrachte,  aus  weißem  Marmor  bestehende  Brust¬ 
bild  des  Helden,  der  einst  als  Führer  des  Bayreuther 
Dragonerregiments  durch  seinen  kühnen  Angriff  den 
Sieg  der  preußischen  Waffen  entschied,  ganz  vor¬ 
trefflich. 

An  dem  Bau  dieser  seit  dem  1.  Januar  1525  '^) 
evangelischen  Pfarrkirche  hat  auch  Herzog  Ludwig  1. 
durch  Errichtung  des  Chores  (1383)  thätigen  Anteil 
genommen.  Daneben  aber  führte  dieser  „Gönner 
der  Geistlichkeit  und  Beförderer  der  Kirche“  einen 
lauge  und  sorgsam  vorbereiteten  Plan  aus  und  grün¬ 
dete  bereits  ein  halbes  Jahr  früher,  ehe  der  Umbau 
der  Pfarrkirche  begann,  am  29.  September  1369,  das 
Kollegiatstift  zu  Ehren  seiner  Ahnfrau,  der  heiligen 
Hedwig.  Die  alte  Schlosskapelle  erweiterte  er  zur 
Hedwigskirche  und  schmückte  diese  mit  schöner 
Bildhauerarbeit.  Von  diesem  alten  Bauwei'k  ist  nur 
noch  der  östliche  Teil,  der  auf  unserm  Bilde  links 
sichtbar  ist,  erhalten,  der  westliche  ist  1784  erneuert. 
Wo  sich  heute  der  Eingang  befindet,  stand  früher 
der  Altar.  Uber  der  Pforte  unter  dem  Dache  steht 
ein  aus  dem  14.  Jahrhundert  stammendes,  gutes 
Steinbild  der  heiligen  Hedwig;  rechts  und  links  sind 
an  den  Strebepfeilern  je  zwei  Wappen  aus  derselben 
Zeit  eingelassen.  Die  ursprünglich  spitzbogigen 
Fenster  sind,  wie  man  deutlich  an  dem  sich  jetzt 


1)  Die  Inschrift  ist  vollständig  abgedruckt  bei  Lorenz, 
Aus  der  Vergangenheit  der  evangel.  Kirchengemeinde.  Brieg, 
188.5.  S.  99. 

2)  Nach  Lorenz,  a.  a.  0.  S.  183. 


loslösenden  Abputz  sehen  kann,  von  ungeschickter 
Hand  in  rundbogige  verwandelt  worden.  Das  Haupt¬ 
schiff  ebenso  wie  das  auf  der  Nordseite  befindliche 
Seitenschiff,  dessen  Obergeschoss  die  herzogliche 
Loge  enthielt,  zeigt  Kreuzgewölbe  auf  spätgotischen 
Rippen.  Von  der  inneren  Ausstattung  ist  besonders 
ein  schmiedeeisernes  Geländer  von  schöner  Erfindung 
und  das  Bruchstück  eines  jetzt  neben  der  Kanzel 
angebrachten,  dem  16.  Jahrhundert  angehörenden 
Sandsteinepitaphiums  bemerkenswert.  Das  Relief 
des  Mittelfeldes,  die  Schlangenerhöhung  darstellend, 
enthält  eine  große  Anzahl  Figuren  mit  schönen, 
ausdrucksvollen  Köpfen.  Sonst  sieht  man  nichts 
mehr  von  der  fürstlichen  Pracht,  die  einst  hier 
herrschte.  Die  von  Georg  H.  J567  angelegte  Fürsten¬ 
gruft,  wo  viele  Mitglieder  der  Piastenlämilie  in 
kunstvoll  gearbeiteten  Metallsärgeu  beigesetzt  sind, 
liegt  unter  dem  Pflaster  der  Kirche  verborgen  und 
ist  fest  geschlossen.  Alle  anderen  historischen  Denk¬ 
mäler  sind  bei  den  wechselvollen  Schicksalen  der 
Kirche  zu  Grunde  gegangen. 

Sie  selbst  aber  ist  wie  kein  anderes  Gebäude 
der  Stadt  ein  Denkmal  für  die  religiösen  Gegen¬ 
sätze,  welche  auch  in  Briegs  Geschichte  eine  große 
Rolle  spielen.  In  ihren  Räumen  geboten  zuerst 
katholische  Priester;  ihnen  folgten  1534  strenge 
Lutheraner.  Statt  mit  Heiligenbildern  ließ  Gregor  11. 
seit  1567  den  Chor  der  von  ihm  glänzend  erneuerten, 
nunmehr  evangelischen  Hauptkirche  des  Fürstentums 
mit  den  aus  feinem  Sandstein  gemeißelten  Statuen  der 
Herzöge,  ihrer  Gemahlinnen  und  Kinder  schmücken. 
1614  traten  die  Reformirten  in  den  Besitz  der 
Kirche,  1675  kam  sie  in  die  Hände  des  Kaisers 
und  wurde  katholische  Pfarrkirche.  Die  Belagerung 
im  Jahre  1741  legte  sie  zum  großen  Teil  in  Trüm¬ 
mer,  und  erst  1784  erhielt  sie  durch  einen  Jesuiten 
ihre  heutige  Gestalt.  Bei  diesem  Umbau  wurden, 
wie  das  Diarium  der  Stadt  erzählt,  die  steinernen 
Ketzer  und  Ketzerinnen,  die  noch  im  Chor  standen, 
herabgestürzt,  zerstoßen,  zerschlagen  und  zum  Teil 
vermauert.  Seit  Errichtung  der  größeren  katholischen 
Pfarrkirche  durch  die  Jesuiten  (1735)  steht  die 
Hedwigskirche  fast  unbenutzt. 

Doch  Herzog  Ludwig  stattete  nicht  bloß  das 
Äußere  seiner  Kirche  glänzend  aus,  er  berief  auch, 
um  den  Dienst  an  ihr  würdig  versehen  zu  lassen, 
nicht  weniger  als  26  Geistliche:  1  Dekan,  12  Dom¬ 
herren  und  13  Vikarieu.  Allerdings  scheint  er  diese 
Geistlichen  neben  ihrem  Amt  auch  zu  wissenschaft¬ 
licher  Thätigkeit  heran  gezogen  zu  haben.  Er  selbst 
besaß  ein  für  seine  Zeit  weitgehendes  historisches 


32 


BRIEG. 


Poloniae^),  und  seiner  Bibliothek  schenkte  er  die 
vielleicht  auf  seine  Anregung  entstandene,  sehr  wert¬ 
volle  älteste  bildliche  Darstellung  des  Lehens  der 
heiligen  Hedwig  nait  deutschem  TexL  von  einem 
gewissen  Nikolaus  aus  Preußen  um  1353  verfasst  2). 

Schließlich  verdankt  Brieg  dem  Herzoge,  frei¬ 
lich  gegen  seine  Absicht,  das  grundlegende  Kapital 
zur  Errichtung  eines  Institutes,  das  für  das  wissen- 


1)  Schönwälder,  Geschichtliche  Ortsnachrichten  von 
Brieg.  1847.  II,  S.  222. 

2;  Grünhagen,  Geschichte  Schlesiens,  I,  413. 


Das  Rathaus  in  Brieg. 


Interesse;  denn  er  ist  auf  schlesisclieni  Boden 
fler  erste  Forsclier,  der  mit  dem  Spaten  nach 
Schätzen  der  Vorzeit  gesucht  liat.  Auf  ihn  ist  so¬ 
dann  möglicherweise  die  Anlage  des  ersten  Brieger 
Stadthuches  zurlickzuführen  (135S).  Bei  seiner 
Kirche  errichtete  er  die  erste  Bücherei.  Auf  sein 
Stift  weisen  die  wichtigsten  schlesischen  Geschichts- 
r|uellen  für  das  Bl.  und  14.  Jahrhundert,  das  Chroni- 
con  Polouo-Silesiacum  und  die  Chronica  principum 


33 


miEa 


scliaftliche  Leben  der  Stadt  in  alter  und  neuer  Zeit 
von  Bedeutung  gewesen  ist,  nämlich  des  Gymnasiums. 
Mit  denselben  Mitteln,  welche  der  sparsame  Fürst 
für  die  Ausstattung  seines  katholischen  Stiftes  zu¬ 
sammengebracht  hatte  und  die  sich  im  Laufe  der 
Zeit  erheblich  vergrößert  hatten,  gründete  Georg  11. 
das  evangelische  Gymnasium  (1564). 

Allein  damit  sind  wir  bereits  ins  16.  Jahr¬ 
hundert  gelangt.  Aus  dem  15.  bleibt  nur  wenig 
nachzutragen;  denn  während  desselben  war  Brieg 
lange  an  die  Herzoge  von  Oppeln  verpfändet  und 
hatte  außerdem  unter  den  Angriffen  der  Hussiten 
zu  leiden,  so  dass  es  zu  keiner  ruhigen  und  erfolg¬ 
reichen  Bauthätigkeit  gelangen  konnte.  Der  einzige 
Best  jener  Zeit  ist  die  ehemalige  Minoritenkirche,  deren 
Räume  jetzt  wie  schon  unter  Georg  11.  zu  einem 
Militärdepot  umgewandelt  sind.  Auf  der  Titel¬ 
vignette  erblickt  man  dies  kunstlose  Bauwerk  mit 
seinem  hochragenden  Dachstuhl  und  dem  viereckigen 
Turmstumpf  rechts  vom  Bathausturm. 

Im  16.  Jahrhundert  begann  für  Brieg  unter  der 
Regierung  Georg’s  11.  (1547 — 86)  ein  neues,  durch 
die  Kunst  veredeltes  Leben.  In  der  Inschrift  auf 
seinem  Sarge  wird  dieser  Herzog  „die  Zierde  des 
ganzen  Geschlechts“,  „des  Landes  Schlesien  Aug¬ 
apfel“  genannt.  Er  war  unstreitig  der  bedeutendste 
Fürst  unter  den  Brieger  Piasten.  Eine  Fülle  trefflicher 
Eigenschaften  zeichnete  ihn  aus  und  machte  ihn  zum 
Regenten  geschickt.  Durchdrungen  von  wahrer 
Frömmigkeit,  gütig  und  gerecht  gegen  jedermann, 
erfüllte  er  die  Pflichten  gegen  seinen  Lehnsherrn 
mit  gleicher  Treue  wie  gegen  seine  Unterthanen; 
und  welch’  hohe  Auffassung  er  von  seinem  Fürsten¬ 
beruf  hatte,  lässt  die  Inschrift  erkennen,  die  auf 
seinen  Münzen  stand:  aliis  inserviendo  consumor. 
In  der  That  war  er  unermüdlich  darin,  durch  neue 
Verordnungen  der  verschiedensten  Art  den  Wohl¬ 
stand  des  Landes  zu  heben  und  die  V erwaltung  der  Stadt 
aufs  beste  zu  regeln.  Unter  ihm  blühte  Brieg,  wenn 
es  auch  durch  Pest  und  Feuer  genug  zu  leiden  hatte. 


Dem  Fürsten  aber  gaben  die  geordneten  Zu¬ 
stände  seines  Landes  die  Mittel  an  die  Hand,  Wissen¬ 
schaft  und  Kunst  zu  pflegen,  deren  begeisterter 
Verehrer  er  war. 

Leider  sind  von  den  großartigen  monumentalen 
Bauten,  die  er  in  Brieg  errichtet  hat,  nur  Ruinen 
auf  uns  gekommen. 

Das  stolze  Schloss,  welches  an  derselben  Stelle, 
wo  die  früheren  Schlossbauten  in  Holz  und  Stein 
sich  erhoben,  in  30  arbeitsvollen  Jahren  (1544 — 74) 
mit  Fleiß  und  Kunst  geschaffen  worden  war,  wurde 
bei  der  Belagerung  1741  binnen  24  Stunden  ein 
Raub  der  Flammen.  Am  1.  Mai  traf  eine  Bombe 
die  Reitbahn,  wo  Stroh  und  Heu  angesammelt  war. 
Die  Flammen  verbreiteten  sich  über  das  Schloss, 
und  obwohl  Friedrich  der  Große  mit  dem  Bom¬ 
bardement  etwas  innehalten  ließ,  um  Zeit  zum 
Löschen  zu  gestatten,  flelen  doch  die  Dächer,  Giebel 
und  kleineren  Türme  vollständig,  die  ganze  innere 
Ausstattung  und  die  Säulengänge  des  Hofes  bis  auf 
wenige  Reste  der  Zerstörung  anheim.  Der  „starke 
hohe,  viereckige  und  un  gespitzte  Löwen  türm“,  mit 
den  riesenhaften  steinernen  Rittern  und  wappen¬ 
haltenden  Löwen  auf  seinen  Zinnen,  wurde  stark 
beschädigt  und  später  abgetragen.  Schon  1743 
richtete  man  die  weiten,  noch  von  den  Umfassungs¬ 
mauern  eingeschlossenen  Räume  nach  Aufführung 
von  Dächern  und  einer  Reihe  von  Böden  zum 
Getreidemagazin  ein. 

Alrer  selbst  die  Trümmer  des  Piastenschlosses 
fordern  noch  die  Bewunderung  der  Nachwelt  heraus, 
und  der  Bau  bleibt  trotz  seiner  verstümmelten  Ge¬ 
stalt  „ohne  Frage  das  Hauptwerk  der  Renaissance 
in  Schlesien  und  eine  der  edelsten  und  großartigsten 
Schöpfungen  dieser  Epoche  in  Deutschland“.  *) 
(Schluss  folgt.) 


1)  Lübke,  Geschichte  der  deutschen  Renaissance.  Stutt¬ 
gart,  1873.  II,  674. 


5 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  II.  2. 


SPANISCHE  MISCELLEN. 

VON  CABL  JUSTI. 

I. 

Über  Bildnisse  des  Don  Carlos. 


EN  ältesten  Ruhm,  den  Nach¬ 
ruhm  vernimmt  sein  Gegen¬ 
stand  nie,  und  doch  schätzt 
man  ihn  glücklich.  Also  be¬ 
stand  sein  Glück  in  den 
großen  Eigenschaften,  die 
ihm  den  Ruhm  erwarben,  — 
in  seinem  großen  Herzen“. 
Wenn  dies  Wort  des  Weisen  auch  nach  seiner 
Kehrseite  Geltung  hätte,  so  wäre  Don  Carlos  einer 
der  unglücklichsten  Menschen  gewesen.  Seine  un¬ 
schöne,  unregelmäßige  Figur,  das  Gepräge  eines  an 
Körper  und  Geist  nicht  Normalen,  konnte  in  gesunden 
Menschen  nur  Abneigung  oder  Mitleid  wecken,  das 
wirre  Gewebe  seiner  Geschichte  aber  den  Wunsch, 
über  das  kurze,  thatenlose,  von  heftigen  und  verkehrten 
Antrieben  zerrissene  Leben,  versetzt  in  eine  ümse- 
billig,  der  es  sich  nicht  anzupassen  vermochte,  mög¬ 
lichst  rasch  liinwegzugehen.  Aber  dies  Opfer  erblicher 
Relastiing  war  eben  keine  Privatperson,  diese  küm- 
merliclie  Gestalt  war  auf  ein  Postament  gesetzt,  das 
nur  Ib-rsonen  von  außergewöhnlichen  Größenver- 
liält  ni.ssen  und  Verdiensten  ohne  Nachteil  vertragen. 
Seine  peinlichen  Erlebnisse  mussten  ihn  damals 
wie  .lahrhunderte  später  zum  Zielpunkt  der  schärfsten 
Schgläser  maclien.  Die  Trübung  der  Kunde  von  ihm 
hat  es  möglich  gemacht,  dass  eine  Zeitlang  ein  glän¬ 
zendes  Trugbild  sich  an  die  Stelle  der  Wirklichkeit 
.setzte,  und  so  ist  ihm  auch  der  Hohn  nicht  erspart 
geblieben,  dass  er  zum  Helden  erhabener  Dichtungen 
gemacht  wurde: 

sublime  in^'egno,  c  in  avvenenti  sjioglie 
beltissima  alma  —  (Alfieri) 

Dann  ist  jener  Prozess,  dessen  Akten  man  vergeblich 
gesucht  hat,  von  den  Gelehrten  späterer  Zeiten 
wiederholt  oder  nachgeholt  worden,  wie  man  die 
Leiche  des  Vergifteten  aus  der  Erde  gräbt;  und  der 


Endschluss  aller  Revisionen  war  fast  immer  zum 
Nachteil  des  Angeklagten.  Von  diesem  Spruch 
wird  ihm  auch  kein  Retter  erstehen ;  selbst  die  neuer¬ 
dings  in  Scene  gesetzte  Generalrettung  aller  Böse- 
wichter  der  Geschichte,  durch  „Umwertung“  der 
moralischen  Begriffe,  wird  dem  armen  Minderwertigen 
kaum  zu  gute  kommen. 

Die  ansehnliche  Litteratur,  die  sich  an  den 
spanischen  Thronerben  geknüpft  hat,  verdankt  er 
also  nicht  dem  Wert  oder  Reiz  seiner  Person.  Aber 
die  Katastrophe,  von  jenem  großen  königlichen 
Geheimniskrämer  planmäßig  mit  Dunkel  umhüllt, 
ihre  Missdeutung  durch  den  Parteigeist  und  die 
romanhafte  Halbgeschichte,  die  Jahrhunderte  wäh¬ 
rende  Unzugänglichkeit  der  noch  erhaltenen  Auf¬ 
schlüsse,  dies  und  anderes  macht  ihn  für  den 
Geschichtsforscher  zu  dem,  was  die  Chirurgen  (auch 
sie  meist  zum  Grauen  empfindlicher  Seelen)  einen 
„schönen  Fall“  nennen.  Das  wäre  er  auch  für  die 
Arzte  geworden,  wenn  es  zu  seiner  Zeit  schon  eine 
Psychiatrie  gegeben  hätte.  Ja,  das  furchtbare  Wort 
des  Schiller’schen  Großinquisitors:  Gehen  Sie  ihn 
mir,  scheint  den  fachmäßig -technischen  Reiz  auch 
für  den  Juristen  —  und  Theologen  auszudrücken. 
Soll  nun  der  arme  Prinz,  wie  für  die  vier  Fakultäten, 
auch  für  den  Kunstgelehrten  ein  schöner  Fall  werden? 
Man  könnte  es  meinen,  wenn  man  die  neueste  ge¬ 
lehrte  Monographie  aufschlägt,  und  gegenüber  dem 
Titel  das  bildliche  Requisitorium  in  Gestalt  einer 
Heliogravüre  nicht  ohne  Staunen  betrachtet.  ’) 

Die  leibliche  Person  gehört  ja  auch  gewisser¬ 
maßen  zu  den  Thatsachen  und  Dokumenten  eines 
historischen  Objekts.  Besonders  in  diesem  Fall,  wo 


1)  Don  Carlos’  Haft  und  Tod,  insbesondere  nach  den 
Auffassungen  seiner  Familie  von  Max  Büdinger.  Wien  nnd 
Leipzig  1881.  Das  Titelbild  ist  nach  einem  Gemälde  im 
Laxenburger  Schlosse  angefertigt. 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


psycliopathifche  Fragen  so  oft  in  die  Beurteilung 
hinein  spielen.  Sonst  freilich  hieß  es  solchen  graphi¬ 
schen  Quisc[nilien  gegenüber  hei  den  Gelehrten  De  mini- 
mis  non  curat  praetor.  Sie  verschmähten,  papieren 
bis  ans  Herz  hinan,  diese  Nachgiebigkeit  gegen  die 
allgemein  menschliche  Sehnsucht  oder  Schwachheit, 
von  Personen,  die  das  Nachdenken  lange  in  Anspruch 
genommen,  sich  auch  einmal  den  Schatten  citiren 
zu  lassen.  Indes  wenn  Bildnisse  durch  PTugleichheit 
und  Widerspruch  zum  Gebrauch  kritischer  Werk¬ 
zeuge,  z.  B.  zu  Rangunterscheidungen  der  Quellen¬ 
mäßigkeit  Anlass  geben,  so  erheben  auch  sie  sich  ja 
in  die  Zone  selbst  der  Gelehrten  strenger  Observanz. 

In  den  Räumen  desselben  Königsschlosses,  dessen 
Mauern  im  Jahre  1568  Zeugen  des  unheimlichen 
Schlussakts  dieses  fürstlichen  Lebens  gewesen  waren, 
sah  man  damals  zahlreiche 
Bildnisse  des  Prinzen,  in  ver¬ 
schiedenem  Alter,  in  wech¬ 
selnden,  reichen  Kostümen, 
zum  Teil  von  Meisterhand. 

Noch  andre  gab  es  in  den  J  agd- 
schlössern  und  im  Schloss  zu 
Valladolid.  Nach  Beschrei¬ 
bungen  ihres  Inneren  aus  dem 
XVI.  Jahrhundert,  besonders 
aber  nach  den  Inventaren 
lässt  sich  vermuten,  dass 
jene  Gemälde  nach  der  Ka¬ 
tastrophe  nicht  von  ihrer 
Stelle  gerückt  worden  waren 

Der  Hauptschatz  Phi- 
lipp’s  11.  an  Bildern  war 
nicht  in  den  Wohnräumen 
oder  in  einer  Gemäldegalerie  zu  finden,  er  wurde  noch 
nach  mittelalterlicher  Weise  in  den  großen  Reposi- 
torien  der  Juwelenkammer,  der  Rechnungskammer 
und  des  Schatzhauses  auf  bewahrt.  Nur  diese  Räume, 
nicht  die  Privatzimmer  des  Königs  im  Westflügel  und 
in  dem  goldnen  Turm,  ebensowenig  die  großen 
Galerien  des  Süd-  und  Nordflügels,  des  „Furiensaals“ 
u.  a.  sind  in  dem  nach  des  Königs  Tode  von  dem 
Maler  Pantoja  de  la  Cruz  aufgestellten  Inventar  ver¬ 
zeichnet.  Für  die  anderen  ist  man  auf  dürftige 
Mitteilungen  von  Reisenden  und  auf  Rückschlüsse 
aus  dem  Gemäldebefund  späterer  Zeiten  ange¬ 
wiesen. 

Die  älteste  uns  interessirende  Nachricht  findet 
sich  in  Argote  de  Molina’s  Beschreibung  des  Jagd¬ 
schlosses  im  Prado  (1582).  In  dem  großen  Saal,  wo 
der  König  47  Bildnisse  von  Mitgliedern  des  Hauses 


und  Verwandten  vereinigt  hatte'),  hing  das  Porträt 
des  Prinzen  Don  Carlos  '-)  von  der  Hand  des  Alonso 
Sanchez  Coello  unter  Nr.  24,  zwischen  dem  seines 
Oheims  D.  Johann  von  Österreich,  von  demselben, 
und  seiner  Stiefmutter  Isabella  von  Valois  von  So- 
fonisbe  Auguisciola,  der  Cremoneserin.  Diese  Seda 
real  de  los  rctratos  wurde  durch  den  Brand  des 
]3.  März  1608  verwüstet.  Zwar  verzeichnen  auch 
spätere  Inventare  des  17.  Jahrhunderts  hier  eine  Bild¬ 
nisgalerie,  in  der  zum  Teil  dieselben  Personen  Vor¬ 
kommen;  aber  dies  waren  Kopieen  und  Ersatzstücke, 
die  auf  Geheiß  Philipp’s  111.  jener  Maler  Pantoja  sofort 
nach  dem  Brande  hergestellt  hatte.  38  waren  schon 
im  Jalme  1614  aufgestellt.  Hier  erscheint  Don  Carlos 
zwischen  seinen  später  geborenen  Stiefbrüdern  D. 
Fernando,  D.  Diego  und  D.  Philipp,  den  Söhnen  der 
vierten  Gemahlin  Philipp’s  II., 
Anna  von  Österreich. 

Im  Alcazar  von  Madrid 
fanden  sich  beim  Tode  Phi¬ 
lipp’s  folgende  Stücke.  Im 
Guardajoyas  ein  Ideiues  Bild¬ 
nis  ('Vj  varas  Höhe,  die  vara 
oder  Elle  =  3  castilische 
Fuß,  taxirt  zu  100  Realen); 
in  der  Contaduria  ein  grö¬ 
ßeres  (P'hxl  V.);  in  der 
Casa  de  Tesoro  der  Prinz 
mit  seinem  Liebliugszwerg 
XpovalCornelio  in  scharlach¬ 
rotem  Anzug  (2  X  1  '/,  V., 
100  Realen).  In  späteren 
Jahren  mochte  er  (nach 
Tiepolo,  1567)  die  Buffonen 
nicht  leiden.  Aus  dem  Nachlass  der  Kaiserin 
Maria,  Witwe  Maximilian’s  11.,  waren  hierhergebracht 
worden  zwei  Gruppen  von  Familienbildnissen  in  ver¬ 
goldeten  Holzrahmen.  In  der  ersten  waren  vereinigt 
der  Kaiser  und  die  Kaiserin,  Philipp  H.  und  Isabella, 
Don  Juan  und  Don  Carlos.  In  der  Nordgalerie 
(Galeria  del  cierzo)  sah  im  Jahre  1599  ein  deutscher 
Reisender  nebeneinander  Philipp  IL,  Don  Carlos,  Kaiser 
Ferdinand  I ,  D.  Sebastian  von  Portugal,  Don  Juan. 
Diese  Galerie  stieß  an  den  nordwestlichen  Turm, 
wo  der  Prinz  gefangen  gehalten  wurde  und  starb. 


1)  Darunter  waren  15  von  Anton  Mor,  11  von  Tizian, 
9  von  Sanchez  Coello,  2  von  Maestre  Luca  (Lucas  de  Heere), 
1  von  Sofonisbe  und  7  von  einem  ungenannten  Deutschen. 
Argote  de  Melina,  Libro  de  la  Monteria,  Sevilla  15S2. 

2)  Der  erstgeborene  Thronfolger  wurde  schon  damals 
nicht  mehr  Infant,  sondern  Prinz  genannt. 


Don  Carlos.  Medaille  von  Pompeo  Leoni. 


5 


36 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


Weit  das  merkwürdigste  aller  auf  den  Prinzen 
Bezug  enthaltenden  Stücke  aber  war  ein  Ölgemälde 
auf  Leinwand,  Katharina  von  Medici  mit  dreien  ihrer 
Söhne  und  ihrer  ältesten  Tochter  Elisabeth,  lebens¬ 
große  Figuren  (Contaduria,  2^4  x  3%  v.).  Die 
Königin  hielt  in  der  Hand  ein  Miniaturbild  ihres  Ge¬ 
mahls  Henri  IL,  die  Prinzessin  ein  solches  des  Don 
Carlos.')  Das  große  Gemälde  muss  also  in  der  Zeit 
entstanden  sein,  als  die  Verbindung  des  letzteren  mit 
der  französischen  Prinzessin  beschlossene  Sache  war. 

Nun  aber  war  dieses  schon  im  Jahre  1555  aufs 
Tapet  gebrachte  Ehebündnis  auf  dem  Kongress  zu 
Sercamp  Ende  1558  vereinbart  worden,  zugleich  mit 
dem  Margarethens,  der  Schwester  Henri’s  II.,  mit  dem 
Prinzen  Philibert  Emanuel  von  Savoyen.  Der  Tod 
der  zweiten  Gemahlin  Philipp’s  IL,  Maria  Tudor 
(17.  November  1558),  veränderte  des  Königs  Pläne. 
Als  er  sah,  dass  auf  die  Hand  der  Elisabeth  von 
England  keine  Aussicht  sei,  entschloss  er  sich  rasch, 
an  die  Stelle  seines  Sohnes  zu  treten,  und  ließ  auf 
dem  Kongress  zu  Cateau  -  Cambresis  erklären,  er 
wolle  aus  Liebe  zum  allerchristlichsten  König  und 
im  Interesse  der  Befestigung  des  Friedens  sein 
\Viderstreben  gegen  Wiedervermählung  aufgeben  und 
unter  denselben  Bedingungen  wie  sein  Sohn  sich  zu 
einer  Verbindung  mit  der  Prinzessin  Isabella  gern 
verstehen  (d’;j  condescendre  fraachement)  ;  am  1.  April 
15.59.  — 

Wenige  Jahre  später  wurde  in  Madrid  das 
scliöne  Bildnis  der  jungen  Königin  in  ganzer  Figur 
und  in  prachtvollem  Anzug  gemalt,  das  noch  jetzt 
in  cler  Galerie  des  Prado  (925)  zu  sehen  ist.  Sie 
liält  hier  wieder  ein  Miniaturmedaillon  in  der  Hand: 
da.s  Bildnis  Pliilipp’s  II. 

Nun  ist  ja  das  Märchen  von  der  strafbaren 
Liebe  zwischen  Don  Carlos  und  der  Königin  längst 
anfgegeben.  .lener  für  unser  Empfinden  freilich  ver¬ 
letzende  Tausch  hat  den  Prinzen  seiner  Zeit  wahr¬ 
scheinlich  wenig  augefochten.  Der  vierzehnjährige 
Knabe  hatte  die  Prinzessin  nie  gesehen  und  seine 
Wünsche  erhielten  durch  das  lebhaft  ergrilfene  Pro¬ 
jekt  einer  Verbindung  mit  der  österreichischen  Anna 
eine  bestimmte  liichtnng.  Das  Verhältnis  zu  seiner 
jungen  Stiefmutter  wurde  ein  freundschaftliches,  das 

L  Otro  Hetrato  ötero  ö  lir.Mi/.o  al  ollio  de  la  Reyna  de 
Francia  niuger  del  Rey  Knrrico  de  Francia  con  quatro  retra- 
t«-.- ,  lo.‘  trei-  de  tres  hijo.9  y  d  otro  de  una  liija  la  madre 
tiene  el  retrato  de  .su  marido  e  la  mano  derecha  y  la  fiija  el 
letrato  del  Principe  don  Carlos  nro  Sr  e  las  iiianos.  RXJ  Du- 
cjiten.  Pintunis  que  estan  colgad.is  en  la  pieza  de  la  Con¬ 
taduria.  Inventario  general  Philipp’s  11.  von  101/).  Palastarchiv. 


einzig  reine  und  erfreuliche  Herzensverhältnis  viel¬ 
leicht  in  dem  dunklen  Leben  des  Unglücklichen.  Er 
durfte  so  frei  und  so  oft,  wie  es  die  Etikette  irgend 
zuließ,  mit  Isabella  verkehren,  der  der  König  unbe¬ 
dingtes  Vertrauen  schenkte.  Sie  war  stets  gütig 
gegen  ihn;  vielleicht  betrachtete  sie  seine  vom  Fieber 
entkräfteten  Züge  nicht  ohne  Mitleid,  ergötzte  sich 
auch  wohl  an  seiner  grotesken  Lebhaftigkeit.  Sie 
verstand  es,  seine  finsteren  Geister  durch  mancherlei 
aus  Paris  mitgebrachte,  ihr  gern  gestattete  Unter¬ 
haltungen,  z.  B.  Tänze  und  Musik  zu  verscheuchen.  Sie 
bemühte  sich,  ein  versöhnliches  Verhältnis  zwischen 
Vater  und  Sohn  zuwege  zu  bringen,  und  hegte  den 
Plan,  ihn  mit  ihrer  Schwester  zu  verbinden.  So 
werden  die  Empfindungen  selbst  einer  so  zerrütteten 
Natur  der  liebenswürdigen  Dame  gegenüber  schwer¬ 
lich  die  Grenzlinie  zwischen  dankbarer  Freundschaft 
und  Leidenschaft  überschritten  haben.  Mag  auch 
die  Hofdame  Claude,  welche  der  Katharina  von  Me¬ 
dici  über  ihre  Tochter  zu  berichten  hatte,  einmal 
geschrieben  haben:  Je  croys  qu’il  voudroit  estre  davantage 
son  qoarent.  Und  wenn  er  auch  den  Eindruck  jener 
heiteren  glücklichen  Stunden,  die  er,  der  nie  seine 
Mutter  gekannt,  in  den  Gemächern  Isabella’s  genoss, 
mit  der  Erinnei'ung  in  Verbindung  bringen  musste, 
dass  er  ohne  den  Mann,  den  er  hasste,  diese  Frau 
von  seltenem  Liebreiz  jetzt  hätte  sein  nennen  können, 
so  mag  er  freilich  oft  mit  finsteren  Gedanken  vor 
jenem  bildlichen  Dokument  verweilt  haben. 

Als  die  verbrecherischen  Anschläge  des  Prinzen 
und  seine  geistige  Gestörtheit  offenbar  geworden 
waren,  hatte  Philipp  IL  zugleich  mit  der  im  Geheimen 
entschiedenen  Verurteilung  zu  ewiger  Gefangenschaft 
und  Ausschluss  von  der  Thronfolge,  zum  Wohl  des 
Reiches  beschlossen,  seine  Verirrungen  vor  der  Welt 
mit  dichtem  Schleier  zu  bedecken.  Eine  Konsequenz 
dieser  Maßregel  scheint  nun  auch  der  Vorsatz  gewesen 
zu  sein,  die  zahlreichen  Bildnisse  des  Verstorbenen 
an  ihrer  Stelle  zu  belassen.  Allen,  die  die  königlichen 
Schlösser  bewohnten  oder  besuchten,  sollte  er  hier  nur 
als  der  rechtmäßige,  einst  von  den  Cortes  in  feier¬ 
licher  Huldigung  anerkannte  Erbe  des  Thrones  er¬ 
scheinen.  Noch  eine  andere  Empfindung  als  die  der 
lühre  ist  Philipp  zuzutrauen.  Seine  Rolle  als  Richter 
und  Rächer  war  zu  Ende  mit  der  furchtbaren  Sühne 
des  Todes.  Nach  dem  Sprichwort  unserer  Vor¬ 
fahren  — 

swen  der  wolf  riebet, 

der  ist  errochen  also  wol, 

daz  mans  niht  fürbaz  rechen  sol. 

An  die  Erinnerungen  und  Bilder  des  von  Gott 


LL  PRINCIPE  :  EARlCN 


-1  I  .  0  Dt  ■■  .i  I  P,  !! 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


37 


Gerichteten  sollte  nicht  gerührt  werden.  So  hat  der 
alte  König  noch  im  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens 
die  Statue  des  D.  Carlos  in  sein  Familiendenkmal 
in  der  Kirche  des  Escorial  aufnehmen  lassen.  Als 
in  den  Jahren  1592  bis  1598  Pompeo  Leoni  für  die 
Capilla  mayor  die  Gruppe  Philipp’s  und  der  Seinen 
in  fünf  knieendf'n  Bronzefiguren  schuf,  erhielt  Hon 
Carlos  den  Platz  hinter  dem  Vater,  zur  Linken 
seiner  Mutter  Maria  von  Portugal.  Zu  seiner  Rechten, 
mehr  nach  vorn,  kniet  Isabella  von  Valois.  — 

Die  oben  mitgeteilte  Liste  der  Bildnisse  wird 
vervollständigt  durch  die  Inventare  aus  der  Regie¬ 
rungszeit  Philipp’s  IV.,  in  denen  nun  auch  die  in  den 
königlichen  Wohnräumen  aufgehängten  Gemälde  an¬ 
geführt  werden.  Dieser  König  hatte  sich  für  seinen 
Sommeraufenthalt  in  der  Hauptstadt  die  unter  dem 
Hauptstockwerk  des  Schlosses  gelegenen  Räumlich¬ 
keiten  (cuarto  bajo)  gewählt. 

In  dem  Schlafzimmer  S.  M.,  wo  besonders  inter¬ 
essante  Bilder  zusammen  gebracht  waren  (wie  Rubens’ 
Graf  Rudolf  von  Habsburg  mit  dem  Priester,  der 
Bacchus  des  Velazquez,  die  Venus  mit  dem  Spiegel  von 
Tizian),  hing  1636  neben  Philipp  H.  als  Jüngling 
(mancebo)  sein  Sohn  in  Halbfigur,  violettem  Anzug 
mit  Goldstickereien  und  dem  Studentenkräglein 
(cuellecillo  ä  modo  de  estudiante ,  '^  4  x  ',2  Elle).  Im 
Geschäftszimmer  taucht  jenes  Bildchen  der  Conta- 
duria  wieder  auf,  jetzt  genauer  beschrieben:  „ein 
Täfelchen  in  schwarzem  Rahmen:  Kniestück,  in 
schwarzer  Jacke  (ropilla)  mit  weißen  Ärmeln  und 
Strümpfen,  Goldknöpfen;  daneben  das  Närrchen 
(truancillo)  in  rotem  Anzug.“ 

Zwei  andere  Bildnisse  waren  im  ojiosento  de 
las  furias,  jenem  quadratischen,  gewölbten  Saal,  so 
geheißen  von  den  nach  dem  Tode  der  Königin  Maria 
aus  dem  Schlosse  Binz  nach  Spanien  gebrachten 
vier  Tartarusbüßern  Tizian’s.  Das  eine,  Kniestück  in 
Rüstung  mit  weißen  Strümpfen,  die  Linke  am  Degen, 
hing  wieder  neben  dem  Porträt  des  Vaters.  Das  andere, 
ebenfalls  neben  Philipp  und  Karl  V.  aufgestellt, 
zeigte  den  Prinzen  in  ganzer  Figur,  in  gelbem  An¬ 
zug  mit  violettem  Mäntelchen  von  Hermelinpelz.  ^) 

Diese  Beschreibung  passt,  wenn  man  von  dem 
retrato  entero  absieht,  auf  das  Kniestück  in  der  Ga¬ 
lerie  des  Prado  (1032),  von  der  Hand  des  Sanchez 
Coello.  Letzteres  giebt  eine  sehr  lebendige  Vorstellung 

1)  Don  Carlos  vestido  de  amarillo  con  boemio  morado 
forrado  en  arminas.  Es  retrato  entero.  Aposento  que 
llauian  de  las  furias.  Inventar  Philipp’s  IV.  von  16.S6.  Vor¬ 
trefflich  radirt  von  B.  Maura,  Madrid  1875,  erschienen  in  der 
Publikation  El  grahador  al  agua  fuerte. 


von  dem  zwölfjährigen  Prinzen.  Mit  dem  Schimmer 
der  kostbaren  Modetracht  kontrastirt  die  kränklich¬ 
schwächliche  Gestalt.  Das  Gesicht  stimmt  ganz  zu 
den  Beschreibungen  der  Gesandten.  Unverkennbar 
ist  die  Ähnlichkeit  mit  dem  Vater:  die  kalten  grauen 
Augen,  die  weiße  Gesichtsfarbe,  nach  Soranzo  (1565) 
mehr  verlebt  (consmnato) ,  d.  h.  vom  Quartanfieber 
verzehrt,  als  blass.  Ferner  der  matte,  missvergnügte, 
argwöhnische  Blick,  der  Unterkiefer  des  „Vorkauers“, 
die  „eingebogene  Brust“,  der  schmächtige  Rumpf. 
Nur  den  „stets  offenen  Mund“  (Dietriclnstein)  hat  der 
Maler  uns  erspart. 

Das  schwarze  Barettchen  mit  gelb  und  weißen 
Federn,  schräg  sitzend,  lässt  die  Wucht  der  Stirn  er¬ 
kennen.  Die  Missbildung  des  Kopfes  trat  noch  auf¬ 
fallender  hervor  in  seiner  Kindheit.  Die  damals  von 
Pompeo  Leoni  modellirte  Medaille  veranschaulicht 
Profil  und  Schädelform  besser  als  die  Gemälde  ver¬ 
mögen.  Q  Um  das  Barett  liegt  eine  mit  Edelsteinen 
besetzte  Schnur  (centülo).  Eine  eng  an  den  Hals 
schließende  schmale  Krause  (lechufjuüh)  rahmt  das  Ge¬ 
sicht  ein.  Das  Wams,  wie  die  Kniehosen  citrougelb,  mit 
wagrechten  Goldlitzen,  umgürtet  ein  reichverziertes 
Degeugeheuk.  Die  violettseidene  Schaube  (bohemio) 
weit  auseinanderstarrend,  breit  umgeschlageu,  lässt 
ein  kostbares  Futter  von  Schvvanenpelz  sehen. 

Diese  Tracht  bestätigt  die  von  dem  Prinzen 
berichtete  Neigung  zum  Luxus.  „Er  ist  sehr  erpicht 
(cajjriccdoso)  auf  Raritäten,  Kleider  und  Juwelen,  die 
er  auch  gern  schneiden  sieht,  ohne  sie  jedoch  ab¬ 
schätzen  zu  können.  Sein  Bild  ließ  er  einst  in  Rubinen 
und  Diamanten  fassen.  Aber  acht  Tage  später 
mochte  er  es  nicht  mehr  sehen.“ 

Jene  Ähnlichkeit  von  Vater  und  Sohn  kou- 
trastirte  wunderlich  mit  dem  schroffen,  typischen 
Gegensatz  ihres  Naturells,  —  einer  Nebenursache 
des  unheilvollen  Verlaufs  dieses  Lebensgangs.  Man 
könnte  ihren  Gegensatz  psychologisch  als  Über¬ 
spannung  und  Lähmung  der  Hemmungsvorstellungen 
bezeichnen.  Dort  ein  Mensch  des  Systems,  der  Regel, 
der  Konsequenz  und  Vorbedachtheit;  verschlossen 
und  zögernd,  einsilbig  und  kalt;  pedantisch  ordent¬ 
lich  und  gewissenhaft  in  Geschäften,  Religions¬ 
pflichten  und  Zerstreuungen.  Hier  sein  Sohn,  ma߬ 
los  reizbar  und  heftig  in  seinen  Empfindungen,  wild 
und  explosiv  in  den  Antrieben,  launisch  und  zer- 


1)  Sie  liegt  einem  gleichzeitigen  italienischen  Stich  zu 
Grunde,  wo  die  Büste  des  Prinzen  von  allegorischen  Figuren 
umgeben  ist.  Die  Knabenfigur  der  Kasseler  Galerie  kann  ich 
nicht  für  D.  Carlos  halten. 


3S 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


rissen  in  den  Gedankenverbindungen,  aufrichtig, 
schwatzhaft  und  wüst  im  Gespräch.  — 

Ein  AVort  noch  über  den  Maler! 

Alonso  Sanehez  Coello  (f  1590)  kam  in  eine  Zeit, 
■wo  auch  in  der  Malerei  das  eigentümlich  spanische 
Wesen  vor  fremden  Einflüssen  verschiedener  Art 
zurückgewichen  war.  Sein  Leben  hat  ein  fast  inter¬ 
nationales  Gepräge.  Von  portugiesischer  Abstammung, 
aber  in  Spanien  geboren,  in  Madrid  verheiratet 
(1541),  bildet  er  sich  zuerst  als  Porträtist  unter 
Leitung  eines  Holländers,  um  sich  später  in  Historien- 
und  Kirchenbildern  in  einen  wenig  anziehenden 
Nachahmer  italienischer  Cinquecentisten  umzuwan¬ 
deln.  Er  erscheint  da  unter  der  Malerkolonie  des 
Escorial. 

Man  liest  zwar  jetzt  allgemein,  dass  er  ein  Spanier 
gewesen.  Cean  Bermudez  entdeckte  in  den  Papieren 
einer  Adelsprobe  seinen  Taufschein,  ausgestellt  in 
einer  valencianischen  Ortschaft;  man  führt  auch  an, 
dass  die  älteren  Schriftsteller,  Sigüenza,  Pacheco  nichts 
von  seiner  portugiesischen  Herkunft  zu  wissen  schei¬ 
nen.  Sie  ist  jedoch  unzweifelhaft  bezeugt  durch 
keinen  Geringeren  als  Antonio  Grauvella,  in  einem 
Briefe  von  15S3  an  den  Kaplan  Vazquez,  geschrieben 
zur  Üiiterstütznng  der  Bewerbung  des  Sanehez  um 
die  Stelle  eines  Zeugwarts  oder  Ärmero,  für  die  ein 
Standesnachweis  erforderlich  schien.')  Hier  nun  be¬ 
ruft  sich  der  Kardinal  darauf,  dass  der  Maler  ihm 
,. authentische  Instrumente  seiner  Geburt  und  seines 
Adels  in  Portugal  vorgelegt  habe,  in  Gestalt  von 
Privilegien,  welche  der  Leistungen  seiner  Elteim  und 
GrotOdtern  rühmend  gedenken,  die  Grade  im  Dienste 
der  dortigoi  Könige  besessen  liätten  und  sich  tapfer 
bewiesen“. 

Nun  ist  es  aber  ebenso  begreiflich,  dass  jene 
spanischen  Autoren  seine  portugiesische  Herkunft 
übergangen  hal)en ,  wie  es  unerhört  wäre,  dass  der 
Sjianier  Sanehez  sich  für  einen  Portugiesen  aus- 
gegeben  liaben  sollte.  Der  Maler  Vincencio  Car- 
dnclio,  der  als  gelairem.T  Italiener  hierin  unbefangen 
war,  nennt  ihn  l.vsihmo  [(unosoA) 

Auch  üljcr  seine  Anfänge  als  Künstler  giebt 
jener  Brief  Granvella’s  einen  sicheren  Anhaltspunkt. 
Danach  hatte  er  einst  zu  seiner  Hausklientel  gehört, 
ninl  der  Kardinal  ihn  von  seinem  Schützling  Mor  in 
der  .Malerei  unterweisen  lassen. ")  Plr  war  seinem 

1)  Coleccion  de  documentos  ineditos  para  la  Historia 
de  K‘<panii,  T.  LV,  p.  4.51.  Madrid  18.55. 

2)  V.  Carducho,  Diiilof^os,  p  549. 

.'{)  Kr  hake  sich  jetzt  an  ihn  gewandt,  por  haberse  criado 
algunos  anos  cn  lui  cassa  con  el  pintor  Antonio  Mor.  a.  a.O. 


Lehrer  an  den  Hof  von  Portugal  gefolgt,  wo  jener 
einen  Gehilfen  wohl  brauchen  konnte,  war  dann  in 
Lissabon  geblieben  und  später  mit  seiner  Gönnerin 
Dona  Juana,  der  Witwe  des  Prinzen  Juan  von  Bra¬ 
silien,  nach  Madrid  zurückgekehrt.  Sie  empfahl  ihn 
ihrem  Bruder,  dem  König,  der  ihm,  ob  als  Probe 
seiner  Geschicklichkeit,  oder  zur  Abschleifung  seiner 
trocknen  Manier,  den  Tantalus  des  Tizian  zu  kopiren 
auftrug  (1554).  Sein  Glück  machte  dann  der  Fort¬ 
gang  Mor’s,  als  Philipp  11.  sich,  sehr  verdrossen  über 
den  Ausfall  der  ihm  zur  Gewohnheit  gewordenen 
Unterhaltung,  nach  einem  Ersatz  umsab.  Alonso 
erhielt  die  Wohnung  der  Kammermaler  im  Schatz¬ 
hause.  Der  König  hatte  einen  geheimen  Durchgang 
dorthin  und  kam  gern,  oft  zu  ungewöhnlicher  Stunde, 
im  Morgenanzug.  Wenn  jener  etwa  mit  seiner  Familie 
bei  Tische  saß  und  Miene  machte  aufzuspringen, 
hieß  ihn  der  König  ruhig  sitzen  bleiben  und  begab 
sich  ins  Atelier.  Stand  er  an  der  Staffelei,  so  schlich 
er  sich  heran  und  legte  ihm  die  Hand  auf  die 
Schulter,  was  ebenfalls  bedeutete:  keine  Umstände 
machen !  Er  stand  bei  seinen  Töchtern  Maria  und 
Antonia  Pate  und  ließ  sie  zu  Alcalä  im  Kloster  er¬ 
ziehen;  auch  wurden  sie  den  Infantinnen  Isabel  und 
Catalina  als  Gespielinnen  angewiesen.  Im  Bucking¬ 
ham  Palast  sieht  man  beide  Schwestern  in  einem 
Bilde  vereinigt,  aus  dem  Jahre  1571;  es  stammt 
aus  der  Sammlung  Karl’s  L,  dem  es  Lord  Ankrom 
verehrte;  ferner  die  Bildnisse  der  Erzherzöge  Rudolf, 
sechzehnjährig  (1567),  Ernst  und  Wenzel  (1578), 
damals  Gäste  des  dortigen  Hofes.  Kein  Wunder, 
dass  die  Großen  des  Hofes  und  die  Gesandten  dem 
Atelier  zuströmten.  Dabei  stimmt  es  ganz  zu 
den  Gepflogenheiten  Philipp’s,  dass  des  beneideten 
Künstlers  finanzielle  Stellung  keineswegs  glänzender 
wurde  als  die  seiner  Kollegen.  Jene  Töchter 
finden  wir  später  in  großer  Dürftigkeit.  Er  musste 
sein  Einkommen  zu  verbessern  suchen  durch  An¬ 
fertigung  von  Repliken  der  besonders  an  italie¬ 
nischen  Höfen  begehrten  Bildnisse  spanischer  Per¬ 
sönlichkeiten.  Eine  hierauf  bezügliche  Korrespondenz 
mit  dem  Kardinal  Alexander  Farnese  sah  der  Ver¬ 
fasser  im  Archiv  zu  Parma.  Im  Jahre  1571  lieferte 
er  dem  Argote  de  Molina  für  sein  Museum  von 
Büchern,  Münzen  und  Waffen  in  der  Cal  de  Francos 
zu  Sevilla  vierzehn  Bildnisse  des  königlichen  Hauses 
und  der  Großen  des  Hofes,  darunter  Don  Carlos,  denen 
noch  dreißig  folgen  sollten.  Der  Preis  für  die 
nach  dem  Leben  gemalten  betrug  15,  für  Kopien 
12  Dukaten. 

Einen  guten  Begriff  seiner  Weise  giebt  das 


V 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


39 


Bildnis  der  vierten  Gemahlin  Philipp’s  IL,  Anna,  der 
Tochter  Maximilian  s  II.,  in  der  kaiserlichen  Galerie 
zu  Wien  (603).  Wogegen  die  ihm  von  Otto  Mündler 
zugeschriebene  Madonna  mit  einem  Verehrer  in  der 
Galerie  Harrach  von  dem  Verfasser  (1876)  als  Werk 
des  Neapolitaners  Fabrizio  Santafede  erkannt  wurde. 

Obwohl  die  Bildnisse  Sanchez  Coello’s  zuweilen 
mit  denen  Mor’s  verwechselt  worden  sind  (wie  denn 
obiges  Prinzessinnenpaar  noch  auf  der  Akademie- 
aussteUung  von  1881  in  London  unter  dessen  Namen 
aufgeführt  wurde),  so  ist  doch  gewiss,  dass  er  seinen 
Lehrer  nie  erreicht  hat.  Seine  Arbeiten  sind  ein¬ 
förmiger  und  kälter  im  Ausdruck,  schwächer  indivi- 
dualisirt  in  Haltung  und  Bewegung,  und  besonders 
in  den  Händen,  an  denen  man  sie  gleich  erkennt. 
Er  stellte  nur  die  Zeichnung  nach  dem  Leben  fest. 

Im  Falle  des  Don  Carlos  trafen  jedoch  viele  Be¬ 
dingungen  für  ein  zuverlässiges  Porträt  zusammen: 
die  Gelegenheit,  ihn  öfters  zu  sehen  und  zu  sprechen, 
die  Bestimmung  für  einen  so  genauen  und  nüchternen 
Beurteiler,  wie  der  König  war,  die  exakte  Art  des 
Mor,  dessen  Schule  und  Einfluss  ihn  damals  noch 
ganz  beherrschten.  Denn  später  hat  er  auch  im 
Porträt  nach  Tizian’s  Vorbild  einen  breiteren  und 
wärmeren  Vortrag  anzunehmen  versucht,  mit  nicht 
viel  Glück. 

Er  ist  übrigens  nicht  der  einzige  gewesen,  dem 
Carlos  gesessen  hat.  Es  giebt  noch  ein  zweites 
Originalporträt,  das  ihn  etwa  ein  Jahrzehnt  älter 
darstellt,  im  22.  Lebensjahre.  Früher  im  Besitz  der 
Grafen  Ouate,  ist  es  von  V alentin  Carderera  in  seiner 
Ikonographie  (Nr.  77)  in  einer  freilich  etwas  lang¬ 
weiligen  Lithographie  mitgeteilt  worden;  auch  in 
Prescotf  s  Geschichte  Philipp’s  11.  findet  sich  ein  Stahl¬ 
stich;  hier  glaubt  man  dem  Gesicht  die  Mattigkeit 
des  Fiebers  anzusehen.  Sonst  macht  er  einen  ro¬ 
busteren  Eindruck,  als  in  jenem  Knabenbild.  Der 
Mund  hat  einen  grobsiunlichen  Zug.  Die  Tracht 
ist  noch  reicher.  Ein  Wams  von  weißem  gesteppten 
Sammet  mit  großen  weiß  auf  blau  emaillirten  Gold¬ 
knöpfen,  Ärmel  von  damascirtem  Silberstoff;  der 
breit  zurückgeschlagene  Mantel  zeigt  ein  Futter  von 
kostbarem  Marderpelz.  ^) 

Unter  dieser  Gestalt  kann  man  ihn  sich  ver¬ 
gegenwärtigen  in  jenen  Scenen  der  letzten  Jahre, 
die  sein  gestörtes  Gleichgewicht  oft  in  rohen  Aus- 


1)  Mit  diesem  Gemälde  hat  das  von  Fr.  Kenner  im 
Jahrbuch  der  Kunstsammlungen  des  Allerhöchsten  Kaiser¬ 
hauses,  XIV,  148,  mitgeteilte,  übrigens  sehr  sekundäre 
Bildchen  entfernte  Ähnlichkeit. 


brüchen  zu  Tage  brachten.  Der  Mantuaner  Orator 
Emilio  Roberti  erzählt  in  einem  Schreiben  vom 
19.  Januar  1568,  dem  Tage  also  nach  der  Gefangen¬ 
setzung  des  Prinzen,  eine  Geschichte,  die  das  Gegen¬ 
stück  ist  zu  dem  bekannten  Anfall  auf  den  Herzog 
Alba.  Eines  Tages  traf  er  die  ihm  feindselige  Frau  des 
Ruy  Gomez  im  Zimmer  der  Königin.  Die  Prinzessin 
von  Eboli,  bekannt  wegen  ihres  leidenschaftlichen 
W esens,  hatte  nun  die  Bosheit  und  Keckheit,  in  Gegen¬ 
wart  des  legitimen  Thronerben  die  damals  schwangere 
Königin  mit  den  Worten  zu  beglückwünschen,  „sie 
hoffe,  dass  Gott  ihr  einen  Knaben  schenken  werde 
zur  Rettung  und  Befestigung  dieser  Reiche.“  Don 
Carlos  schrie  sie  an:  „So  sei  es;  Sie  Teufelsweib 
mit  einem  Auge!“  Doüa  Ana  erwiderte:  „Ich  bin 
eine  ehrbare  Frau,  und  wennschon  es  Gott  gefallen 
hat,  dass  ich  seit  einigen  wenigen  Jahren  einäugig 
bin,  so  sage  ich  doch  Seiner  Göttlichen  Majestät 
großen  Dank,  dass  er  nicht  gestattete,  dass  ich  ver¬ 
rückt  (nientecato)  zur  Welt  gekommen  bin.“  Der 
Prinz  griff  hierauf  zum  Dolch  und  ging  auf  sie  zu. 
Die  Königin  warf  sich  zwischen  beide.*) 

Vergleicht  man  nun  diese  beiden  authentischen 
Bildnisse  mit  dem  Laxenburger,  so  kann  man  sich 
des  Verdachts  nicht  erwehren,  dass  hier  vielleicht 
eine  ganz  andre  Person  dargestellt  ist,  die  nur  durch 
Missverständnis  oder  Täuschung  einst  zu  diesem  Namen 
gekommen  ist.  Die  charakteristischen  Züge  —  der 
vortretende  Unterkiefer,  der  stehende  kränklich¬ 
verstimmte  Ausdruck  —  fehlen  gänzlich  in  diesem 
fast  mädchenhaften,  gesunden  und  zufriedenen  Ge¬ 
sicht.  Nur  ein  Punkt  könnte  zu  passen  scheinen: 
die  Asymmetrie  der  Gesichtshälften,  ein  Stigma  der 
Degenerirten.  Aber  D.  Carlos  hatte  zwar  eine 
hohe  Schulter  und  ein  langes  linkes  Bein,  er  war 
überhaupt  „  übel  proportionirt  “  und  auch  nach 
Dietrichstein  „die  rechte  Seite  übler  als  die  linke“ ;  aber 
von  einem  Missverhältnis  des  Gesichts  wird  nichts  er¬ 
zählt  und  unsere  Bildnisse  zeigen  davon  nichts.  Diese 
Asymmetrie  ist  sicher  dem  mittelmäßigen  Maler  auf 
Rechnung  zu  setzen;  in  verkürzten  Gesichtshälften 


1)  Per  rimedio  e  stahilimento  di  questi  Regni,  sagte 
die  Eboli.  Der  Prinz  drauf:  Assi  DognaVallaca  tuerta.  Bellaco 
ist  einer  der  schlimmsten  Ausdrücke,  die  von  einer  Frau  ge¬ 
braucht  werden  können.  Dicc.  de  la  R.  Academia:  El  hombre 
de  ruines  y  malos  procederes,  y  de  viles  respetos,  y  condiciön 
perversa  y  dnnada.  Die  Geschichte  scheint  in  die  ersten  Mo¬ 
nate  des  Jahres  1567  zu  fallen,  die  zweite  Tochter  Isabella’s, 
D“^  Catalina,  wurde  am  10.  Oktober  15(37  geboren.  —  Hierbei 
will  ich  bemerken,  dass  das  einzige  Bildnis  der  Prinzessin 
von  Eboli  (das  V.  Carderera  mitteilt)  lange  nach  ihrem  Tode 
gemalt  sein  muss. 


40 


EPIDAUROS. 


finden  sich  solche  Verzeichnungen  häufig.  Aber 
der  hier  unschuldig  auf  die  Anklagebank  gekommene 
Jüngling  kann  auch  sein  Alibi  beweisen.  Aus  dem 
Kostüm  zu  schließen,  wird  er  wohl  kaum  geboren 
gewesen  sein,  als  die  Katastrophe  des  Prinzen  von 
Spanien  sich  abspielte.  Der  breite  steifgestärkte  Mühl¬ 
steinkragen  ist  in  Spanien  erst  zur  Zeit  Philipps  111. 
bei  Männern  und  Frauen  in  Aufnahme  gekommen, 
zu  seines  Vaters  Zeit  gab  es  nur  die  lockere  Hals¬ 
krause  mit  Spitzensaum,  und  noch  in  jenen  Statuen 


des  Escorial  findet  sich  nur  diese  gorguera.  Ebenso 
wenig  passen  die  über  der  Stirn  aufgetürmten  Haare 
zur  damaligen  kurzgeschnittenen  Haartracht,  in  der 
D.  Carlos  stets  erscheint,  i)  Vielleicht  versteckt  sich 
unter  diesem  anonymen  Knaben  einer  der  späteren 
Prinzen  des  Hauses  Medici. 


1)  Tiene  el  cabello  corto,  como  lo  llevö  siempre  este 
principe.  P.  de  Madrazo,  Catälogo  del  museo  del  Prado. 
I,  p.  5G8. 


EPIDAUROS. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ENN  die  Ausgrabungen  von 
Epidauros,  welche  die  grie¬ 
chische  archäologische  Ge¬ 
sellschaft  vor  nunmehr  zwölf 
Jahren  ins  Werk  gesetzt 
hat,  in  ihren  Ergebnissen 
nicht  so  allgemein  bekannt 
geworden  sind,  wie  man  es 
wohl  nach  dem  Interesse  hätte  erwarten  dürfen,  das 
die  Erforscliung  der  berühmtesten  Heilanstalt  des 
Altertums  erwecken  musste,  so  liegt  der  Grund 
liauptsäclilich  darin,  dass  die  Funde  nur  durch  Be¬ 
richte  in  griechischen  Zeitschriften  mitgeteilt  worden 
sind,  die  außer  liei  den  Fachgelehrten  nicht  auf  Be- 
rücksiclitigung  reclinen  konnten.  Die  liumanistischen 
Wissenschaften  —  und  die  Stellung  einer  selbstän¬ 
digen  Wissenschaft,  nicht  einer  bloßen  Amateur- 
discipliri,  wie  sie  einer  der  bekanntesten  philolo¬ 
gischen  l’rofessoren  unlängst  genannt  hat,  darf  ja 
aucli  die  Archäologie  allmählich  beanspruchen  — 
die  humanistischen  Wissenschaften  haben  es  aber 
gerade  heute  sehr  nötig,  das  Interesse  in  weiteren 
Kreisen  wachzuhalten  und  das  können  sie  nur  durch 
leicht  verständliche  und  leicht  zugängliche  Bekannt- 
niachnng  ihrer  Errungenschaften.  Das  Verdienst,  für 
Kjtidauros  nach  dieser  Richtung  hin  gesorgt  zu 
haben,  hat  sich  jetzt  der  Leiter  der  dortigen  Aus¬ 
grabungen,  Herr  Gcneralephoros  Kavvadias,  durch 
eine  kürzlich  erschienene  große  Publikation’)  er- 

])  E’ouilIe.s  (PBpidaure,  par  C.  Cavvadias,  Volume  I, 
accompagne  de  10  planches.  Athenes,  Ituprimerie  S.  C.  Vla- 
■itos.  ]_’2  S.  75  Frank. 


worben,  die  in  französischer  Sprache  abgefasst,  in 
kurzer  und  klarer  Beschreibung  die  Funde  behandelt 
und  mit  ihren  reichen  Beigaben  von  Plänen  und 
Abbildungen  ein  anschauliches  Gesamtbild  der  Aus¬ 
beute  dieser  sehr  erfolgreichen  Ausgrabung  bietet. 

Wie  fast  alle  Ausgrabungen  in  Griechenland, 
so  hatte  auch  die  von  Epidauros  von  vornherein 
ihren  festen  Rückhalt  in  der  Periegese  des  Pau- 
sanias,  der  im  zweiten  Jahrhundert  n.  Chr.  die  Stätte 
besucht  und  ziemlich  ausführlich  beschrieben  hat. 
Man  konnte  danach  ungefähr  wissen,  was  für  Re¬ 
sultate  zu  erwarten  waren.  Es  ließ  sich  aber  auch 
darüber  hinaus  noch  auf  weitere  Ergebnisse  hoffen, 
auf  Spuren  von  älteren  Werken,  die  schon  zu  den 
Zeiten,  aus  denen  die  antike  Überlieferung  stammt, 
nicht  mehr  sichtbar  und  bereits  unter  der  Erde 
waren.  Eine  solche  Erwartung  hat  sich  nur  in  sehr 
geringem  Maße  erfüllt,  nur  in  den  Funden  einer 
kleinen  Anzahl  von  archaischen  Weihinschriften, 
den  einzigen  erhaltenen  Resten,  die  von  der  Bedeu¬ 
tung  der  Kultstätte  schon  in  älterer  Zeit  Zeugnis 
ablegen.  Um  so  vollständiger  aber  ist  das  Bild, 
wie  es  Pausanias  von  dem  heiligen  Bezirk  und  seinen 
Bauten  beschrieben  hat,  aus  dem  Schutte  der  Jahr¬ 
hunderte  wieder  erstanden.  Die  Bauten  sind  bis 
auf  die  in  ihrer  Gesamtheit  noch  nicht  wieder  auf¬ 
gedeckten  Anlagen  aus  römischer  Zeit,  die  Epidauros 
zum  größten  Teil  der  Munificenz  des  Kaisers  An- 
toninus  verdankte,  aus  einer  eng  umgrenzten  Epoche, 
aus  dem  Anfang  und  der  Mitte  des  vierten  Jahr¬ 
hunderts  V.  Chr.  Der  große  Tempel  des  Asklepios 
bildete  den  Mittelpunkt  des  ganzen  Bezirks.  Dicht 
neben  ihm  dehnte  sich  eine  lange,  in  der  westlichen 


EPIDAUROS. 


41 


Hälfte  zweigeschossige,  ionische  Säulenhalle  aus,  die 
Stätte  der  Wunderkuren,  die  der  Gott  nachts  an 
den  schlafenden  Kranken  vornahm  und  von  denen 
wir  durch  die  großen,  in  eben  dieser  Halle  gefun- 


während  außerlialb  des  Bezirks  an  einem  Vorsprung 
des  Kynortionberges  das  Theater  lag,  schon  im 
Altertum  wegen  seiner  Pracht  und  Größe  berühmt, 
und  heute  in  seinen  im  ganzen  wohlerhaltenen 


Fig.  2.  Relief  vom  Asklepiostempel  zu  Epidauros. 


denen  Heilinschriften  sehr  ausführliche  Kunde  haben. 
Etwas  weiter  ab  lag  die  Tholos,  ein  zierlicher  Rund¬ 
bau  mit  doppelter  Säulenstellung,  dessen  Inneres 
mit  berühmten  Gemälden  des  Pausias  geschmückt 
war,  und  nach  der  entgegengesetzten  —  östlichen 
—  Richtung  hin  der  kleine  Tempel  der  Artemis, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  II.  2 


Ruinen  von  unschätzbarem  Werte,  weil  in  ihm  allein 
eine  reine  Überlieferung  echt  griechischer  Theater¬ 
anlage  auf  uns  gekommen  ist,  die  auf  unsere  Vor¬ 
stellungen  vom  antiken  Bühnenwesen  von  Grund 
aus  reformirend  gewirkt  hat. 

Die  Bedeutung  'dieser  Überreste  für  die  Ge- 

G 


42 


EPIDAUROS. 


scliicbte  der  antiken  Architektur  wird  dadurch  er¬ 
höht,  dass  für  einige  der  Anlagen  und  gerade  für 
einige  der  wichtigsten,  nämlich  für  den  Asklepios¬ 
tempel  und  die  Tholos,  die  Banakten  noch  vorliegen, 
die  zu  den  wenigen  übrigen  bisher  bekannten  Ur¬ 
kunden  dieser  Art,  wie  denen  von  Athen  und  Delos, 
als  wichtige  Ergänzung  hinzutreten.  Die  Inschrift 
des  Asklepiostempels  giebt  über  die  Ausführung  des 
Baues  so  genaue  Auskunft,  dass  wir  über  die  Kosten¬ 
rechnung  selbst  bis  in  so  geringe  Details,  wie 
die  Ausgaben  für  kleinere  Materiallieferungen,  für 
Botenlohn,  Reisediäten  und  derartiges  fast  voll¬ 
ständig  orientirt  sind. 

Nach  der  Berechnung,  die  Kavvadias  auf  Grund 
der  Inschrift  angestellt  hat,  beliefen  sich  die  Gesamt¬ 
kosten  für  den  Bau  auf  etwa  125  000  Drachmen. 
Davon  fiel  für  den  leitenden  Architekten  Theodotos 
für  die  ganze  Arbeit  während  der  4^2  jährigen  Bau¬ 
zeit  nur  ein  Honorar  von  1590  Drachmen  —  näm¬ 
lich  eine  Drachme  pro  Tag  —  ab,  während  z.  B. 
für  das  an  den  Flügeln  der  Hauptthür  verwendete 
Elfenbein  allein  3070  Drachmen  und  für  die  Ent¬ 
würfe  und  Ausführung  der  marmornen  Akroterien 
und  Giel)elfiguren  nahe  au  14  000  Drachmen  ver¬ 
ausgabt  wurden. 

Mit  Hilfe  der  Detailangaben  der  Inschrift  und 
der  erhaltenen  Bauglieder  ist  eine  ziemlich  voll¬ 
ständige  Rekonstruktion  des  Tempels  ermöglicht;  es 
war  ein  dorischer  Peripteraltempel  von  13,04  m 
Breite  und  21,35  m  Länge  (also  ungefähr  ebenso 
l)reit  und  etwas  kürzer  als  das  sog.  Theseion  in 
.Vthenj,  mit  sechs  Säulen  an  den  Schmal-  und  elf 
Säulen  an  den  Langseiten,  ganz  aus  Kalkstein  gebaut 
liis  a>if  das  hölzerne  Dacbgerüst  und  die  marmornen 
Gesimse  und  Ziegel,  sowie  das  auf  Akroterien  und 
tiicbelskuljdiiren  beschränkte  marmorne  Bildwerk. 
Die  Cella  hat  nach  vorn  eine  Vorhalle,  schließt  aber 
nach  \V(!.sten  ohne  Dpisthodom  ab;  wahrscheinlich 
vor  der  Rückwand  stand  das  große  Goldelfenbeinbild 
<les  Asklepios,  das  Thntsipiicdcs ,  ein  Schüler  des 
Pbidias,  gemacht  hatte,  unter  deutlicher  Einwirkung 
von  dessen  Bilde  des  olympischen  Zeus,  wie  die 
Nachbildungen  auf  Münzen  und  namentlich  auf 
einem  in  Ej»idauros  gefundenen  vorzüglichen  Relief, 
das  vorstehend  i  Fig.  2)  abgebildet  ist,  zeigen. 

Einige  Jahrzehnte  jünger  als  der  Asklepios- 
terapel  ist  die  Tiiolos,  auf  die  Kavvadias  mit  über¬ 
zeugenden  Gründen  die  zweite  große  Bauurkunde, 
die  leider  weniger  gut  erhalten  ist,  bezogen  hat. 
Nach  ihr  zog  sich  die  Arbeit  am  Bau  nicht  weniger 
als  21  Jahre  hin,  infolge  von  Einschränkungen  und 


zeitweiligen  Unterbrechungen,  die  vermutlich  durch 
vorübergehenden  Geldmangel  hervorgerufen  wurden. 
Denn  die  Kosten  müssen  sehr  beträchtlich  gewesen 
sein,  da  z.  B.  allein  für  den  Fußboden  der  Cella, 
der  aus  weißen  und  schwarzen  Marmorplatten  be¬ 
stand,  nahe  an  7000  Drachmen  aufgewendet  wurden. 

Nach  den  in  der  Inschrift  enthaltenen  Angaben 
über  Material  und  Bauart  und  übereinstimmend 
damit  nach  den  erhaltenen  Fundamenten  und  Archi¬ 
tekturgliedern  bestand  der  Bau  aus  einer  kreis¬ 
runden  Cella,  die  im  Innern  eine  Stellung  von  14 
korinthischen  Säulen  aus  pentelischem  Marmor  ein¬ 
schloss  und  außen  von  einem  Kranz  von  Säulen 
aus  sehr  feinem  Poros  umgeben  war.  Die  Wand 
der  Cella,  gleichfalls  aus  Poros,  stand  auf  einem 
nach  außen  weißen,  nach  innen  schwarzen  Marmor¬ 
sockel  und  schloss  nach  oben  mit  einem  Fries  von 
pentelischem  Marmor  ab.  Wenn  der  Asklepios¬ 
tempel  durch  die  ruhige  Größe  seiner  strengen  For¬ 
men  imponirte,  so  wirkte  die  Tholos  mehr  durch 
die  leichte,  gefällige  Gliederung  und  stand  wohl 
neben  jenem  schwereren  Bau  ähnlich  im  Eindruck, 
wie  das  Erechtheion  neben  dem  Parthenon.  Ein¬ 
zelne  Architekturglieder,  wie  die  korinthischen  Kapi¬ 
telle  der  inneren  Säulenstellung  und  die  Sima  mit 
Ranken  und  Löwenköpfen  über  dem  äußeren  Tri- 
glyphenfries  gehören  durch  die  Schönheit  ihrer 
Zeichnung  und  die  schwungvolle  kräftige  und  dabei 
bis  in  die  feinsten  Details  sorgfältige  Ausführung 
zu  dem  besten,  was  von  antiker  Architektur  er¬ 
halten  ist  (s.  die  Abbildung  der  Sima  auf  Seite  45 
Fig.  1).  Den  Architekten  des  Gebäudes  kennen  wir 
aus  der  litterarischen  Überlieferung.  Es  ist  derselbe 
Künstler,  der  sich  durch  den  Bau  des  Theaters  von 
Epidauros  berühmt  gemacht  hat,  Pohjklet  von  Argos, 
aber  nicht,  wie  bisher  vielfach  angenommen  wurde 
der  bekannte  Bildhauer  des  fünften  Jahrhunderts,  son¬ 
dern  der  um  zwei  Generationen  jüngere  Künstler,  der 
bei  Pausanias  Schüler  des  Naukydes  genannt  wird. 

Hinter  den  Architekturfunden  steht  der  Gewinn 
an  Skulpturen  etwas  zurück.  Hervorragende  Meister¬ 
werke  hat  die  Ausgrabung  nicht  geliefert  und  solche 
waren  wohl  außer  dem  Kultbild  des  Asklepios  über¬ 
haupt  schwerlich  jemals  in  größerer  Anzahl  in  Epi¬ 
dauros  vorhanden.  Dafür  sind  aber  neben  einer  be¬ 
trächtlichen  Menge  kleinerer,  meist  aus  späterer  Zeit 
stammender  Weihfiguren  zahlreiche  Fragmente  vom 
bildlichen  Schmuck  des  Asklepiostempels  wieder¬ 
gefunden  und  der  wissenschaftliche  Wert  dieser 
Stücke  wiegt  vieles  auf,  was  die  Gesamtheit  der 
Skulpturenfunde  an  künstlerischem  Wert  vermissen 


ü 


Amazone  vom  Giebelfelile  des  Asklepiostempels  iu  Epidauros.  Fig.  XereYde  vou  den  Akroterieii  des  Asklepiostempels  iu  Epidauros. 


EPIDAURÖS. 


44 

lassen  mag.  Im  westlichen  Giebel  des  Tempels 
waren  Amazonenkämpfe,  im  östlichen  Giebel  der 
Kampf  der  Kentauren  und  Lapithen  dargestellt; 
Nereiden,  die  auf  ihren  Rossen  aus  den  Wogen  auf¬ 
steigen  ,  zierten  —  nach  Kavvadias’  Annahme  — 
als  Akroterien  die  Firste  der  Giebel.  Die  ßau- 
inschrift  des  Tempels  hat  uns  auch  die  Namen  der 
ausführenden  Künstler  erhalten.  Der  eigentliche 
Schöpfer  des  Ganzen  war  Timotheos  von  Athen,  der 
die  Modelle  zu  sämtlichen  Figuren  lieferte  und  für 
die  Akroterien  der  einen  Giebelseite  auch  die 
Fertigstellung  in  Marmor  selbst  übernahm,  während 
die  Ausführung  der  Akroterien  der  anderen  Seite 
einem  Künstler  Namens  Theotimos,  die  der  Giebel- 
hguren  verschiedenen  Bildhauern  überlassen  wurde, 
von  denen  IleJdoridas,  Agathiiios ,  Lysion  genannt 
werden.  Das  Verhältnis  von  Meister  und  Gehilfen 
tritt  hier  zum  erstenmal  in  voller  Klarheit  hervor. 
Die  einzelnen  Figuren  der  Giebelkompositionen 
(s.  Fig.  .3)  sind  nicht  alle  ganz  gleichartig.  Bei  ge¬ 
nauerem  Betrachten  kann  man  Unterschiede  finden, 
aljer  nur  Unterschiede  in  den  Äußerlichkeiten  der 
Ausführung.  Die  Entwürfe  sind  einheitlich  und  wie 
die  Akroterienfiguren  der  Nereiden  (Fig.  4),  deren 
erhaltene  Stücke  auch  in  ihrer  Ausführung  in  Mar- 
mor  möglicherweise  von  der  Hand  des  Timotheos 
selbst  sind,  in  Stil  und  Charakter  mit  den  Giebeln 
übereinstiramen,  so  zeigt  sich  der  gesamte  Bild- 
schmuck  als  geschlossenes  Werk,  in  dem  wir  die 
Kunst  des  einen  Meisters,  der  das  Ganze  leitete,  zu 
erkennen  halien.  Die  Figuren  erinnern  lebhaft  an 
die  Reliefs  vom  Tempel  der  Athena  Nike  in  Athen. 


Sie  sind  in  den  Formen  entwickelter  als  diese  und 
haben  längst  nicht  den  Reichtum  an  Motiven  und 
die  unerreichbar  feine  und  graziöse  Behandlung,  wie 
die  Balustradenreliefs,  die  ja  freilich  auf  Nahansicht 
berechnet  sind.  Aber  man  erkennt  den  Charakter 
der  attischen  Kunst,  wie  er  in  den  Nikeskulpturen 
ausgeprägt  ist,  in  der  reizvollen  leichten  Zeichnung, 
in  der  bei  aller  Lebhaftigkeit  maßvollen  Zurück¬ 
haltung  der  Bewegungen,  in  allem  Einzelnen  der 
Arbeit,  wie  namentlich  an  der  Behandlung  der  wie 
durchsichtig  auf  dem  Körper  anliegenden  Gewan¬ 
dung  leicht  wieder.  Man  könnte  sich  denken,  dass 
der  Künstler  in  jungen  Jahren  noch  selbst  an  der 
Herstellung  der  plastischen  Werke  des  Niketempels 
beteiligt  gewesen  wäre:  sicher  ist  er  in  den  Tradi¬ 
tionen  dieser  Schule  groß  geworden.  Andererseits 
wissen  wir,  dass  Timotheos  im  Alter  zusammen  mit 
Skopas,  Bryaxis  und  Leochares  noch  am  Mausoleum 
von  Halikarnass  mitbeschäftigt  war,  und  es  fehlt 
unter  den  erhaltenen  Skulpturen  dieses  Grabmals 
nicht  an  Stücken,  die,  den  epidaurischen  Bildwerken 
nahe  verwandt,  wie  eine  unmittelbare  Fortbildung 
dieser  Kunst  erscheinen. 

So  werfen  die  epidaurischen  Funde,  indem  sie 
uns  ein  einzelnes  Werk  eines  bisher  fast  unbekann¬ 
ten  Meisters  wiedergegeben  haben,  zugleich  ein 
Licht  auf  die  ganze  Entwickelung  dieses  Künstlers 
und  lassen  uns  namentlich  deutlicher  erkennen,  in 
wie  fest  umgrenzten  Bahnen  sich  die  attische  Kunst 
auf  den  im  fünften  Jahrhundert  gewonnenen  Grund¬ 
lagen  bis  zu  dem  Ende  der  vorhellenistischen  Epoche 
fortbewegte.  FR.  WINTER. 


iiiijjijTnDipijjif 


Fig.  1.  Sima  vou  der  Tholos  in  Epidauros. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Fritz  von  Uhde.  Von  0.  J.  Blcrbaum.  München,  Albert 
u.  Co.  1893. 

Fritz  von  Uhde  hat  den  Weg  von  der  ecclesia  militans 
zur  ecclesia  triumphans  über  Erwarten  rasch  zurückgelegt. 
1884  erschien  die  erste  Strophe  seines  christlichen  Epos. 
Bereits  nach  zwei  Jahren  brachte  die  „Zeitschrift  für  bil¬ 
dende  Kunst“  seine  ausführliche  Biographie;  das  Art  Journal 
stellte  ihn  den  Engländern  vor;  Frankreich  schätzt  und 
Amerika  kauft  ihn.  Zu  den  Stößen  von  längeren  und  kür¬ 
zeren  Aufsätzen,  zu  denen  seine  Malerei  schon  Anlass  gab, 
ist  nun  auch  ein  eigenes  Buch  getreten.  Otto  Julius  Bier¬ 
baum,  der  in  München  die  Entwickelung  des  Meisters  mit 
ansah  und  als  der  ersten  einer  in  der  Presse  für  ihn  eintrat, 
war  der  Berufenste,  es  zu  verfassen.  Mit  der  Beschreibung 
von  Bildern  ist  es,  wie  man  weiß,  ein  eigen  Ding.  Von 
trocken  philologischen  Augen  betrachtet,  bekommen  sie  selbst 
eine  Kruste  von  Trockenheit,  unter  der  dann  die  jüngsten 
lebendigen  Meister  gleich  langweilig  wirken  wie  die  ältesten 
toten.  Bierbaum  hatte  schon  in  seinen  geistreichen,  im 
Magazin  für  Litteratur  veröffentlichten  Nachdichtungen 
Böcklin’scher  Gemälde  gezeigt,  was  er  gerade  in  nach¬ 
fühlendem  Verständnis  von  Kunstwerken  leiste,  und  so 
bilden  denn  auch  im  vorliegenden  Bande  die  zarten  Um¬ 
schreibungen  Uhde’scher  Werke  das  Glanzstück.  Doch  auch 
der  geschichtliche  Teil  des  Buches  ist  sehr  gut.  Die  Thätig- 
keit  des  Meisters  giebt  Bierbaum  Gelegenheit,  das  Wesen 
dieser  modernen  Kunst,  aus  der  Uhde  als  einer  der  ersten 
Gipfel  emporragt,  feinsinnig  zu  erörtern:  den  langen  Kampf, 
der  nötig  war,  um  von  eklektischem  Nachemptinden  zu 
selbständiger  Beobachtung,  dann  in  weiterer  Folge  von 
platter  Abschilderung  des  Wirklichen  zu  seelischer  Ver¬ 
tiefung  zu  gelangen.  Der  junge  Anfänger  legt,  von  seinem 
Vater  begleitet,  seine  ersten  Zeichnungen  dem  alten  Kaul- 
bach  vor,  schwelgt  in  koloristischen  Orgien  ä  la  Makart,  malt 
in  Paris  Asphalt  mit  Munkacsy,  folgt  Liebermann  auf  der 
Reiseroute  zu  Israels  und  wird  seit  1884  Uhde  —  ein  Stück 
Menschenleben,  das  in  nuce  auch  ein  Stück  Kunstgeschichte 
enthält.  R-  44. 


Georg  Nordens  van,  Svoisk  Konst  och  Sceiisha  Konsf- 
nürcr  i  iW«  Arhundradet.  Stockholm,  Bonnier  1893. 

Wer  gezwungen  ist,  über  moderne  Kunst  zu  schreiben, 
kommt  oft  in  recht  hilflose  Lage.  Das  Zeitalter  der  inter¬ 
nationalen  Ausstellungen  hat  alle  Länder  so  nahe  gerückt, 
dass  man  wie  mit  einem  Riesen fernrohr  die  Produktion  der 
ganzen  Welt  überschaut.  Aber  dies  Fernrohr  giebt  wie  der 
Momentphotograph  doch  immer  nur  ein  Augenblicks¬ 
bild  wieder  —  was  vorher  war,  bleibt  verschlossen. 
Man  kann  nicht  aus  einer  zufälligen  Leistung  heraus 
einen  Künstler  beurteilen;  man  muss  sein  Gesamtwerk 
kennen,  die  Stellung,  die  er  in  seiner  Heimat  einnimmt,  den 
Schulzusammenhang,  der  ihn  mit  der  Vergangenheit  ver¬ 
knüpft.  Und  darüber  sucht  man  in  der  Regel  vergeblich 
Belehrung.  Eline  sjjanische,  italienische,  dänische, norwegische, 
russische,  selbst  eine  englische  Kunstgeschichte  ist  noch  nicht 
geschrieben,  und  das  Riesenmaterial,  das  in  Zeitschriften 
aufgespeichert  liegt,  jst  trotz  seiner  Fülle  teils  lückenhaft, 
teils  schwer  erreichbar.  Nur  für  Schweden  liegt  seit  einigen 
Monaten  eine  erschöpfende  Arbeit  vor,  auf  die  deshalb  hier 
besondere  Aufmerksamkeit  gelenkt  sei.  Noch  bis  vor  kurzem 
galt  dieses  Land,  da  man  nichts  von  ihm  wusste,  für  ziem¬ 
lich  barbarisch.  Erst  das  epochemachende  Auftreten  der 
jungen  schwedischen  Schule  —  Zorn,  Prinz  Eugen,  Richard 
Bergh,  Karl  Larsson  u.  a.  —  belehrte,  dass  innerhalb  der 
Grenzen  des  nordischen  Königreichs  ein  frisches  Künstlerleben 
sich  rühre.  Und  Nordensvan's  Buch  zeigt  nun,  dass  Schweden 
schon  seit  dem  18.  Jahrhundert  eine  Kunst  besaß,  die  den 
Vergleich  mit  keiner  Schule  des  Kontinents  scheut.  Alle 
Welt  kennt  Lavreince  als  einen  der  elegantesten  Meister 
des  französischen  Rokoko,  und  wenige  wissen,  dass  schon 
um  diesen  Nicolas  Lafrensen  eine  ganze  Gruppe  gleich  reiz¬ 
voller  schwedischer  Rokokomaler  sich  scharte.  Jeder  kennt 
Thorwaldsen,  und  nicht  vielen  ist  bekannt,  dass  der  um 
30  Jahre  ältere  Joh.  Tob.  Sergel  nicht  nur  der  Begründer 
dieser  klassicistischen  Plastik,  sondern  auch  ein  viel  ur¬ 
sprünglicherer  Meister  als  der  Däne  war.  Schweden  hatte 
seinen  Overbeck  in  Karl  Plageman,  seinen  Schwind  in 
Blommer,  seinen  Lessing  in  Fahlcrantz,  seinen  Fromentin 


46 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


in  Egron  Lunclgren,  seinen  Eduard  Hildebrandt  in  Marcus 
Larsson.  Was  bei  uns  Bürkel  und  Albrecht  Adam  heißt, 
nennt  sich  dort  Soedermark,  Hahlström  und  Wickenberg. 
Delacroix  hat  seine  Parallele  in  Hoeckert,  Piloty  in  Boklund, 
^lakart  in  Kronberg.  Das  große  Drama  der  modernen  Kunst 
teilte  sich  wie  anderwärts  in  die  gleichen  Akte,  und  wie 
die  Schweden  als  Künstler  oft  die  Franzosen  des  Nordens 
genannt  werden,  so  ist  auch  Nordensvan’s  Buch  trotz  seiner 
wissenschaftlichen  Gediegenheit  mit  so  leichter  Eleganz  ge¬ 
schrieben,  dass  man  seinen  Erörterungen  wie  einem  spannen¬ 
den  Drama  folgt.  Seine  Perspektive  ist  weit,  sein  Verständ¬ 
nis  eindringend;  er  kennt  das  Gesamtbild  der  modernen 
Kunst  und  weiß  die  schwedische  im  Rahmen  der  Weltkunst 
zu  verstehen.  Eine  geistreiche  Charakteristik  der  allgemeinen 
europäischen  Kunstlage  bildet  die  Einleitung  jedes  Ab¬ 
schnittes,  worin  dann  die  schwedischen  Meister,  zu  über¬ 
sichtlichen  Gru})pen  vereint,  feinsinnig  gekennzeichnet  wer¬ 
den.  Über  300  vorzügliche  Abbildungen  unterstützen  die 
Darstellung,  und  w^enn  die  Verlagshandlung  sich  zu  einer 
deutschen  oder  französischen  Ausgabe  entschlösse,  wäre  dem 
Buche  gewiss  auch  ausserhalb  Schwedens  eine  größere  Ver¬ 
breitung  gesichert.  -R.  M. 

London.  Der  Jahreshcriclit  der  englischen  „National 
dallerg“  Ins  %uni  1.  April  1S03.  Die  bedeutendsten  dies¬ 
jährigen  Erwei’bungen  auch  dieses  Kunstinstituts  sind  im 
Laufe  des  Jahres  bereits  eingehender  von  der  „Kunstchronik“ 
besprochen  worden,  so  dass  nur  an  die  Ankäufe  aus  den 
Londoner  Auktionen  u.  s.  w.  zu  erinnern  nötig  erscheint. 
Der  größte  Glücksumstand  für  das  Institut  bestand  in  Mr. 
II.  Tate’s  Schenkung,  welche  eine  der  ersten  modernen  Bilder¬ 
sammlungen  Englands  umfasst  und  deren  Wert  auf  zwei 
Millionen  Mark  veranschlagt  wird.  Die  besten  englischen 
Namen  sind  darin  vertreten:  Landseer,  John  Linnell, 
Orchardson,  Hook,  Gregory,  Millais,  Burne  Jones,  Faed,  Alma- 
Tadema,  Woods,  Leader,  Bonghton,  Leighton ,  Waterhouse, 
Watts  und  viele  andere.  Der  großmütige  Kunstmäcen, 
welcher  ferner  noch  eine  Volksbibliothek  errichtete,  ent¬ 
schloss  sich  außerdem,  eine  Million  sechsmalhunderttausend 
Mark  zur  Unterbringung  der  Bilderschätze  zu  bewilligen. 
Hierdurch  ist  es  möglich  geworden,  zur  Vergrößerung  der 
,. National  Gallery“  angrenzenden  Grund  und  Boden  zu  er- 
werbcT).  Die  Pläne  und  Einteilung  der  Räume  unterliegen 
der  Beratung.  Es  stehen  sich  in  Bezug  hierauf  zwei  Parteien 
entgegen,  deren  eine  zur  Unterbringung  der  Bilder  ähnliche 
Einrichtungen  schaffen  möchte,  wie  sie  in  der  Berliner  Na¬ 
tionalgalerie  bestehen,  während  die  wahrscheinlich  sieg¬ 
reichen  Gegner  die  Form  der  alten  Konstruktionen  angewandt 
wi.i.-en  wollen.  Schon  jetzt  werden  wegen  Raummangels 
in  der  Galerie  3<i  größere  WaTidschirme  benutzt,  um  Kabi- 
nelf.^l(ilder  auf/.uhängen ,  die  an  den  Wänden  nicht  mehr 
untergebraeht  werden  können.  Aber  die  Hemmung  in  der 
Bewegung  des  Publikums  und  sonstige  hierdurch  verursachte 
Unlicquendichkeiten  machen  sich  so  (ühlljar,  dass  es  un¬ 
möglich  ist,  die  Zahl  der  Wandschirme  noch  zu  vermehren. 
Der  tägliche  Besuch  der  „National  Gallery“  beträgt  im 
Durchschnitt  2.ÖL0  Personen,  und  diese  Zahl  steigt  bei  be¬ 
sonderen  Gelegenlieiten  bis  auf  SÜOP.  An  den  sogenannten 
„.Studententagen“  Donnerstags  und  Freitags),  an  welchen 
eine  Einlassgebühr  von  .öO  Pfg.  erlegt  werden  muss,  beläuft 
sich  der  Besuch  durchschnittlich  auf  ü<JL  Personen.  Die  Zahl 
der  Kopisten  und  den  Kunststudien  sich  widmenden  Schüler, 
welche  selbstverständlich  kein  Entree  zu  zahlen  haben,  be¬ 
trägt  außerdem  etwa  .'kXl,  unter  denen  wiederum  neun  Zehntel 
Damen  sind.  Diese  setzen  sich  aus  allen  Ständen  zusammen, 
aus  der  professionellen  Kopistin,  die  gute  Preise  für  ihre 


Bilder  verlangt,  und  der  eleganten  Amateurdame,  der  es 
mehr  auf  eine  gewisse  Auszeichnung  ankommt,  Künstle¬ 
rinnen,  welche  eine  Begleiterin  haben,  erhalten  auch  für 
letztere  Freikarten.  Die  Erhebung  des  kleinen  Eintritts¬ 
geldes  wurde  aber  nötig,  um  die  Arbeit  der  Künstler  nicht 
zu  sehr  gestört  zu  sehen.  Dank  der  Aufmerksamkeit  des 
Abteilungdirektors,  Mr,  Charles  Eastlake,  ist  viel  für  die 
Bequemlichkeit  und  Zeitersparnis  der  Studirenden  geschehen. 
Es  dürfte  wohl  am  Platze  sein,  einige  Worte  über  die  Art 
der  Konservirung  der  Bilder  zu  sagen.  Um  diese  vor  dem 
verderbenden  Einfluss  der  Londoner  Atmosphäre,  namentlich 
vor  dem  Nebel  zu  schützen,  sind  mit  Ausnahme  von  drei 
abnorm  großen  Objekten  sämtliche  Gemälde  unter  Glas  ge¬ 
bracht.  Diese  Maßregel  hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  gut  be¬ 
währt.  Die  Gläser  werden  in  einem  bestimmten  Turnus 
abgenommen  und  sowohl  diese  wie  die  Bilder  selbst  alsdann 
gründlich  durch  besonders  angestellte  Aufseher  gereinigt. 
Der  Ankauf  der  Bilder  für  die  Galerie  ist  vollständig  der 
Diskretion  des  Direktors  überlassen,  jedoch  befragt  er 
meistens  den  Verwaltungsrat  um  seine  Ansicht.  Mitunter 
werden  zwar  Käufe  auf  dem  Kontinent  bewirkt,  in  der 
Hauptsache  aber  geschehen  die  Erwerbungen  in  den  hiesigen 
Auktionen,  bei  Händlern  in  London  und  oft  auch  aus  dem 
Besitz  von  Privatpersonen.  —  Die  Erfahrung  hat  gelehrt, 
dass  für  das  große  englische  Publikum  sich  das  Interesse 
bei  dem  Besuche  der  Bildersammlungen  so  ziemlich  unver¬ 
ändert  auf  dieselben  Gemälde  konzentrirt  und  hierbei  in 
der  Hauptsache  das  Sujet  entscheidend  wirkt.  Selbtsverständ- 
lich  gilt  dies  nicht  von  Fremden,  Kunstfreunden,  Studiren¬ 
den  oder  Kennern  im  engeren  und  eigentlichen  Sinne.  Aus 
diesem  Grunde  bilden  sich  täglich  die  stereotypen  lebhaften 
Gruppen  annähernd  vor  denselben  Bildern.  Danach  wird 
am  meisten  beachtet:  alles,  was  auf  das  Meer  Bezug  hat, 
Scenen,  in  denen  Wellington  hervortritt,  Porträts  bedeuten¬ 
der  englischer  Staatsmänner,  Parlamentarier  und  schöne 
Frauen,  Landschaften  bekannter  Gegenden  und  das  mög¬ 
lichst  mit  Sport  verbundene  Genrebild,  sowie  alles,  was  mit 
dem  Tierleben  in  Verbindung  steht.  Der  Zusammenhang 
des  Instituts  mit  dem  Publikum  äußert  sich  ferner  durch 
unausgesetzte  reiche  Schenkungen.  —  Der  bisherige  erste 
Direktor  der  „National  Gallery“,  Sir  Frederick  Burton,  ge¬ 
denkt  sich  demnächst  in  den  Ruhestand  zu  begeben, 

Für  die  Errichtimcj  des  Naiionaldcnkmals  Kaiser 
Wilhchn's  I.  a^lf  dem  Platxe  der  Schlossfreiheit  in  Berlin 
wird,  wie  die  „Vossische  Zeitung“  erfahren  hat,  im  Reichs¬ 
haushaltsetat  des  nächsten  Jahres  die  erste  Rate  im  Betrage 
von  1  100  ÜOO  M.  gefordert  werden.  Das  Denkmal  wird  auf 
dem  Platz  gegenüber  dem  Königsschlosse  aufgestellt  werden, 
der  durch  Niederlegung  der  Schlossfreiheit  entstanden  ist. 
Es  liegt  jetzt  ein  Entwurf  vor,  der  vom  Kaiser  genehmigt 
worden  ist.  Danach  bleibt  die  Denkmalsanlage  auf  das  öst¬ 
liche  Ufer  des  Spreekanals  beschränkt  und  wird  in  letzteren 
nur  so  viel  hineinragen,  als  es  mit  den  Bedürfnissen  der 
Schiffahrt  vereinbar  ist;  die  Anlage  soll  außer  dem  Reiter¬ 
standbild  selbst  aus  einer,  den  Denkmalsplatz  nach  dem 
Schitfahrtskanal  zu  abschließenden  Halle  bestehen.  Die  Aus¬ 
arbeitung  der  Modelle  für  das  Reiterstandbild  ist  dem  Bild¬ 
hauer  Professor  Bcinhold  Begas  zu  Berlin  übertragen  worden. 
Uber  die  Vergebung  der  sonstigen  Bildhauerarbeiten,  nament¬ 
lich  des  ornamentalen  und  figürlichen  Schmuckes  der  Halle, 
sind  Entschließungen  noch  nicht  gefasst.  Die  Bildhauer¬ 
arbeiten  sollen  zusammen  einen  Kostenaufwand  von  acht 
Millionen  M.  erfordern.  Dafür  kommen  auf  Standbild  nebst 
Sockel  (Modelle  und  Ausführung  in  Bronze)  1880  000  M.; 
auf  die  zur  Architektur  gehörigen  Bildwerke,  die  gleichfalls 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


47 


in  Bronze  ausgeführt  werden ,  2  500  000  M.  Die  Arbeiten 
sollen  so  gefördert  werden,  dass  die  Enthüllung  des  Denk¬ 
mals  am  22.  März  1897,  am  hundertjährigen  Geburtstage 
Kaiser  Wilhelm’s  L,  erfolgen  kann. 

Ankäufe  auf  der  Jahres-AussteUimg  im  Glaspalast 
in  München. 

A.  Ölgemälde,  Aquarelle,  Zeichnungen.  Eugen  An- 
kelen,  München,  „Ein  Gruß“.  D.  A.  Artz ,  Haag,  „Mutter 
mit  Kind“.  Fanny  Assenbaum ,  München,  „Abend“.  H. 
Baisch,  Karlsruhe,  „Mittag  auf  der  Hochalm“.  A.  Barbason, 
Rom,  „Trödelladen  in  Subiaco“.  G.  Barlösius,  Charlotten¬ 
burg,  „Im  Frühling“.  C.  von  Bergen,  München,  „Ein 
kritischer  Moment“;  „Kleine  Gehilfen“.  M.  Beroldingen, 
Ratzenried,  „Vogelbeute“.  M.  Bilders  van  Bosse,  Haag, 
„Sonnenschein  im  Walde“.  F.  Birkmeyer,  München,  ,,In 
der  Beauce  1870“.  Hch.  Böhmer,  Düsseldorf,  „Buchenwald 
im  November“.  N.  Bordignon,  Venedig,  „La  Dottrina“.  G. 
Bottero,  Turin,  „Am  Molo“.  Jos.  von  Brandt,  München, 
„Nach  der  Jagd“.  A.  K.  Brown,  Glasgow,  „Der  Gareloch“. 
Georg  Burmester,  Kiel,  „Bunte  Blätter  fallen“.  Gilbert  von 
Canal,  Düsseldorf,  „Motiv  aus  dem  Ahrthal“;  Abendstim¬ 
mung“.  V.  Caprile,  Neapel,  „Ruhe“.  J.  V.  Carstens,  München, 
„Stillleben“.  Gaetano  Chierici,  Reggio  Emilia,  „Die  Lieblinge“; 
,.Häusliche  Scene“.  Edw.  J.  Compton,  Feldafing,  „Roccia  Viva 
in  den  Grajischen  Alpen“.  Tito  Conti,  Florenz,  ,,Das  Blumen¬ 
mädchen“.  Helene  Cramer,  Hamburg,  „Mohn“.  Angelo 
Dali  ’Occa,  Bianca- Verona,  „Der  Spaziergang“.  Frz.  Defreg¬ 
ger,  München,  „Die  neue  Pfeife“.  Herrn.  Dischler,  Karls¬ 
ruhe,  „Abendstimmung“.  Carla  von  Dreifus,  Grüneck  (Ober¬ 
bayern),  „Im  Atelier“.  L.  Douzette,  Berlin,  „Waldinneres 
von  Prerow“.  Jose  Echena,  Rom,  „Zeitvertreib“.  Conr. 
Eilers,  München,  ,,Am  Waldsee“;  ,, Parklandschaft“.  Jahn 
Ekenaes,  München,  „Sonntagsfischer  in  Norwegen“.  Jean 
Endogouroff,  St.  Petersburg,  „Romsdalsfiord“.  Fabio  Fabbi, 
Florenz,  „Verkauf  einer  Sklavin“.  Antonio  Fabres  y  Costa, 
Barcelona.  „Ein  Hellebardier  aus  dem  16.  Jahrhundert“. 
Arnold  Ferragutti,  Pallanza,  „In  Venedig“.  Aug.  Fink, 
München,  „Mondaufgang  im  Winter“.  Walther  Firle,  Mün¬ 
chen,  „Vaterunser“  (Triptychon).  L.  v.  Flesch-Brunningen, 
München,  ,,Entre  nous“.  Roberto  Fontana,  Mailand,  „De- 
kameron“.  Alb.  J.  Franke,  München,  „Tric-Trac-Spieler“. 
Charles  W.  Furse,  London,  ,, Kiefer“.  Max  Gaisser,  Mün¬ 

chen,  „Stillleben“.  Jose  Gallegos,  Rom,  „Venezia“.  M. 
Garcia  y  Rodriguez,  Sevilla,  „Märzmorgen“;  „Eine  Straße 
in  Granada“.  Lud.  Gebhardt,  München,  „Aus  dem  Hoch¬ 
gebirge“.  Otto  Gebier,  München,  „Heimkehr“;  ,,Im  Stall“. 
Charles  Giron,  Cannes,  „In  Trauer“.  Louis  Grauer  y 
Arrufi,  Barcelona,  „Kapitalisten“.  Theo  Grast,  München, 
„Naschmäulchen“.  Rudolf  Haak,  Nieuwen- Amatel,  „Am 
Kanalufer“.  Gabriel  Hackl,  hier,  „Das  erste  Quartier  1812“. 
Elise  Hedinger,  Berlin,  „Mohn  und  Nelken“.  Rud.  Hellwag, 
Karlsruhe,  ,,Bei  den  Ruinen  von  Wisby“.  Herrn,  Hendrich, 
Berlin,  ,, Nordische  Landschaft“.  Carl  Gust.  Herrmann,  Mün¬ 
chen,  „Landschaft  aus  Oberbayern“.  H.  Jansen,  Amsterdam, 
,,Hafen  zu  Hoorn“.  Ol.  Jernberg,  Düsseldorf,  „In  den  Feldern“. 
Friedr.  Kallmorgen,  Grötzingen,  ,, Zwischen  blühenden  Bäu¬ 
men“.  Emil  Keck,  München,  „Kaffeeplausch“.  E.  Khnopff, 
Brüssel,  ,,I  lock  my  door  upon  myself“.  Th.  Kleehaas,  Mün¬ 
chen,  „Kasperltheater“.  J.  Kleinschmidt,  Kassel,  „Belohnte 
Neugierde“.  Eugen  Klimsch,  Frankfurt  a.  M.,  ,, Minne“.  A. 
L.  Koster,  Haarlem,  „Die  Tulpen-  und  Hyazinthen-Cultur  in 
Haarlem“.  P.  Kraemer,  München,  „Musikant“.  W.  Kreling, 
München,  „Menuett“.  E.  Kubierschky,  München,  „Mondauf¬ 
gang“;  „Flusslandschaft  ‘.  Franz  v.Lenbach, München,  „Frauen¬ 


porträt“.  Wilh.  Lindenschmit,  München,  ,, Dürer  malt  seine 
Frau“.  Leo  Littrow,  Abbazia,  „Strand  bei  Abbazi a“.  Wilh. 
Löwith,  München,  „Recitation“.  Maria  Lübbes,  München, 
„Nähendes  Mädchen“.  E.  Lutteroth,  München,  „Brandung“. 

R.  de  Madrazo,  Paris,  ,,Die  Romanze“.  E.  Maudlik,  Mün¬ 
chen,  „Junge  Männer  von  heute“.  Carl  Marr,  München, 
„Kinderporträt“.  L.  E.  Meissonier,  Paris,  „Der  Maler“.  S. 
Mesdag  van  Honten,  Haag,  „Stillleben“.  B.  E.  Mestres, 
Barcelona,  ,, Morgen  wieder“.  A.  Milesi,  Venedig,  „Zur 
Dämmerstunde“.  0.  da  Molin,  Venedig,  „San  Giovannie  Paolo“ 
Adr.  Mols,  Antwerpen,  „Früchte“.  H.  Mühlig,  Düsseldorf, 
„Erntezeit  in  Düsseldorf“;  „Kartoffelernte  am  Niederrhein“. 
Helene  Mühlthaler,  München,  „Kind  mit  Schlüsselblumen“. 
Max  Nonnenbruch,  München,  „In  Gedanken“.  A.  Normann, 
Berlin,  ,, Sognefjord“.  Marie  Nyl,  München,  „Rosen“; 

, .Blumen“.  Georg  Oeder,  Düsseldorf,  „Blühende  Bäume“; 
,, Winterstimmung“.  Ferd.  Pacher,  München,  ,,,Dingolfing“. 
G.  Pennasilico,  Genua,  ,, Tauben“.  George  Pirie,  Glasgow, 
,, Spielende  Terriers“.  Ernst  Platz,  München,  „Memento 
mori“.  R.  von  Poschinger,  Schleißheim,  „Abend“.  KarlRaupp, 
München, ,, Spiegelbild“ ;  „Heimwärts“.  M.Roebbeke, München, 
„Feldmohn“.  Rossi,  Paris,  „Farniente“.  F.  Roubaud,  Mün¬ 
chen,  „Im  Kaukasus“.  C.  Le  Roux,  Paris,  „Mädchen  aus 
der  Normandie“.  F.  Rüben,  Venedig,  „Stimmungsbild“. 

S.  Sabbides,  München,  „Aus  Bagdad“.  P.  Salinas,  Rom,  ,,In 
der  Küche“;  „Hochzeitsmahl“.  S.  Sanchez-Barbudo ,  Ptom, 
„Lago  Trassimeno“.  Alfonso  Savini,  Bologna,  „Unter  Blüten“. 
Emil  Jak.  Schindler  (f),  Wien,  „Heustadelwasser  im  Prater“; 
,,J’hal  des  Friedens“;  „Sägemühle  in  Oberösterreich“.  Ro¬ 
bert  Schleich,  München,  „Heuerntein  Oberbayern“.  H.  Schütt, 
München,  „Gnomen“.  E.  Schmitz,  München,  „Gsund  san 
ma“;  „Prosit“;  „D’sollstleb’n“;. ,  Auf’s  Wohl“.  Th.  Schmuz-Bau- 
dis,  München, ,, Dankbares  Publikum“.  Otto  Scholderer,  Lon¬ 
don,  ,, Trauben“.  A.  H.  Schramm,  Wien,  „Floralia“. 
R.  Schuster-Woldan, München,  „Herbstlandschaft“.  W.  Schwär, 
München,  ,, Lautenspielerin“.  Scipione  Simoni,  Rom,  ,,Strada 
in  Ceccano“;  Geflügelhändler“;  ,, Straße  in  Ceccano“.  Gustav 
Simoni,  Rom,  „Serenade“.  F.  Sindici,  Rom,  „Flitterwochen“. 
Louis  Spangenbergt,  Berlin,  „Motiv  aus  dem  bayrischen  Ober¬ 
land“.  Ph.  Sporrer,  München,  ,,Der  Marterkasten“.  Gertrud 
Staats,  Breslau,  „Gartenthor“.  W.  Steinhausen,  Frankfurt  a/M. 
,, Kreuzigung“;  ,, Abendmahl“.  F.  Steinmetz,  München,  „Im 
geheimen  Kabinett“.  Stefanie  von  Strechine,  München, 
„Bruck“.  Ludw.  Stürtz,  Würzburg,  ,,In  der  Klosterzelle“ 
J.  M.  M.  Ten  Kate,  Haag,  „Scheveningen.  Cesare  Tiratelli, 
Rom,  „Festtag  in  Ceccano“.  Joseph  Vanderoye,  Antwerpen 
„Orangen“.  Federico  Verly,  Rom,  „Die  Faraglioni  bei  Capri“. 
Rud.  Voigtländer,  Berlin,  „Aktstudium“.  H.  v.  Volkmann, 
Karlsruhe,  „Haferfeld“;  „Waldeinsamkeit“.  Jan  Vrolyk, 
Im  Haag,  „Auf  dem  Wege“.  Nie.  van  der  Waag,  Amster¬ 
dam,  „Schmutzige  Straße“.  Alex,  von  Wahl,  München, 
„Heimkehrende  Tscherkessen“.  Charlotte  Wahlström,  Stock¬ 
holm,  „Der  Abend“.  Cl.Walther, München,  „Madonna“.  M.  Wil¬ 
berg,  Berlin,  ,,Ave  Maria“.  Marie  Wünsch,  Gries  b.  Bozen, 
„Die  Schaukel“.  M.  Wywiörski,  München,  „Nach  dem  Elch¬ 
trieb“.  Clara  Zschille,  Großenhain  (Sachsen),  „Veilchen“. 

B.  Plastische  Werke.  J.  C.  Chaplain,  Paris,  Vier 
Medaillen.  Syrius  Eberle,  München,  „Der  Heilige  Georg“ 
(Gipsstatue).  Gust.  Eberlein,  Berlin,  „Gefesselte  Venus“ 
(Bronzegruppe).  Emanuel  Fremiet,  Paris,  „Ritter  aus 
dem  14.  Jahrhundert“  (Bronze).  Fritz  Gerth,  Rom,  „Psyche“ 
(Bronzebüste).  Franz  Lange,  Berlin,  ,,Die  Jugend“  (Mar¬ 
morbüste).  Fritz  von  Miller,  „Violinspieler“  (Bronze); 
„Lautenspieler“  (Bronze).  E.  Onslow  Ford,  London,  „Shelley- 
Monument“  (Gipsstatue).  F,  Rosse,  Berlin,  ,, Psyche“  (Gips- 


48 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


statue).  Franz  Rosse,  Berlin,  „Psyche“  (imit.  Bronze), 
Statuette.  .T.  Ringel  dlllzach,  Paris,  „Rakoczy- Marsch“ 
(Gipsstatue).  W.  v.  Rümann,  München,  „Denkmal  der  Her¬ 
zogin  Max“  (Marmor).  Alois  Stehle,  München,  „Pierette“ 
(Statuette).  Heinr.  M.  Wadere,  München,  ,, Herzog  Christof 
der  Kämpfer  (Bronze). 

C.  Badirungen  etc.  Max  Dasio,  München,  6  Radirungen 
und  6  Lithographieen.  Lud.  Michalek,  Wien,  ,,Porträ.t  des 
Tondichters  J.  Brahms“  (Radirung).  Em.  J.  Schindlerf,  Wien, 
..Landschaft“  (Original-Radirung).  Karl  Staufter,  Bern,  „Die 
Zwanglosen“  (Original  Radirung) ;  3  Original -Radirungen; 
„Gottfr.  Keller“  (Original-Radirung);  „Gottfided  Keller“  (Ori¬ 
ginal-Radirung,  unvollendet);  „Frau  Welti“  (Original-Ra- 
dirung,  unvollendet);  Dr.  Ad.  Menzel  mit  Hut  (Original-Ra¬ 
dirung,  unvollendet);  „Landschaft“  (Original-Radirung). 

*  Mit  der  Originalradirung,,  Von  Oben“  von  L.  Th.  Meger- 
Basel  beginnen  wir  heute  den  Abdruck  der  von  unserer 
Jury  mit  dem  xirciten  Preise  gekrönten  Radirungen.  (Der 
erste  Preis  kam  nicht  zur  Verteilung.)  Der  Autor  des  vor¬ 
liegenden  Blattes  kam  unserem  Wunsche,  uns  etwas  über 
seine  künstlerische  Entwickelung  mitzuteilen,  in  folgenden 
Worten  freundlich  nach,  „so  gerne  eben  ein  Maler  zur  Feder 
greift!“  Wir  glauben  den  Lesern  keinen  besseren  Begleittext 
zu  dem  Blatte  bieten  zu  können.  —  ,,Tn  Ihrer  Zeitschrift 
haben  Sie,“  schreibt  der  Künstler,  „bei  einer  früheren  Arbeit 
von  mir  schon  den  l.ö.  Mai  1860  als  meinen  Geburtstag  an¬ 
gegeben  ,  ebenso ,  dass  ich  bei  Herrn  Prof.  Raab  das  Zeich¬ 
nen  und  Radiren  erlernte.  Von  der  Raabschule,  welche  ich 
fünf  Semester  besuchte,  kam  ich  zu  Prof.  Alexander  Wagner, 
bei  dem  ich  das  Malen  zu  erlernen  hotl’te.  Da  es  mich 
schon  von  früh  an  zur  Landschaft  hinzog,  kehrte  ich  nach 
zwei  bei  Wagner  verbrachten  Semestern  der  Akademie  den 
Rücken,  um  bei  Herrn  Pi’of.  J.  Wenglein  freundliche  Auf¬ 
nahme  und  den  Weg  zur  Landschaftsmalerei,  den  Hinweis 
auf  die  Natur,  zu  finden.  Im  Jahre  1888  versuchte  ich  auf 
eigene  Füße  zu  kommen,  manches  Erlernte  streifte  ich  mit 
<lcr  Zeit  ab,  den  beiden  Lehrern  Raab  und  Wenglein  stets 
Dank  schuldend  für  ihr  Bemühen,  mich  auf  den  rechten 
Weg  zu  weisen.  Bei  dem  Besuch  der  Raabschule  schon 
machte  ich  mit  der  Nadel  die  ersten  Gehversuche,  die  Platten 
jiahm  ich  meistens  ins  Freie  mit,  um  sie  gleich  vor  der 
Natur  mutig  zu  verkratzen.  Von  der  Raabschule  her 
waren  es  die  Freunde  Peter  Halm  und  L.  Kühn,  die  mein 
Interesse  an  der  Schwarzkunst  stets  wachhielten  und  mich 
zu  Versuchen  anfeuerten.  Ebenso  verfolgte  ich  mit  lebhafter 
Freude  die  hohen  künstlerischen  Erfolge  meines  verstorbe¬ 
nen  Freundes  und  Landsmannes  Sta,utfer-Bern.  Auf  der 
Studienreise,  welche  entweder  in  der  nächsten  Umgebung 


Münchens  oder  am  Bodensee  endete,  begleiteten  mich  stets 
einige  Kupferplatten.  Es  giebt  ja  so  viel  in  der  Natur,  das 
einen  mehr  zeichnerisch  anspricht;  dies  suche  ich  mir  mit 
der  Nadel  festzuhalten.  Es  sind  auf  diese  Weise  mehrere 
Blätter  aus  der  Umgebung  Münchens  entstanden,  so 
auch  die  Radirung  „Von  Oben“.  Sie  stammt  aus  Haim¬ 
hausen,  einem  malerischen  Dorf  in  der  Nähe  von  Schlei߬ 
heim,  an  der  Amper  gelegen.  Es  hat  schon  vielen 
Malern  als  Studienplatz  gedient.  Ende  Oktober  1891  zog 
ich  für  einige  Tage  dorthin,  um  noch  vor  Winters  Anfang 
etwas  heimzuholen  und  so  einen  letzten,  frischen  Natur¬ 
eindruck  mit  ins  Atelier  zu  nehmen.  Der  Blick  auf  die 
alten  Häuser  mit  der  vorbeiziehenden  Amper,  welche  in 
heller  Sonne  glänzte,  reizte  mich  zu  dem  Versuch,  die 
blitzende  Sonne  möglichst  treu  zur  Anschauung  zu  bringen. 
Nach  einer  tonigen,  malerischen  Zeichnung  habe  ich  die 
Platte  zu  Hause  geätzt,  erst  letztes  Jahr  am  Bodensee  be¬ 
nützte  ich  das  schlechte  Wetter,  um  die  Platten  auch  auf 
dem  Lande  zu  ätzen,  um  womöglich  den  ersten  Abdruck, 
nach  dem  allerdings  meistens  wenig  geschieht,  nochmals 
vor  die  Natur  zu  nehmen.  Um  recht  viel  Frische  zu  be¬ 
wahren  ,  ändere  ich  so  wenig  wie  möglich  und  lasse  mir 
lieber  den  Vorwurf  des  flüchtigen  Arbeitens  nachsagen,  da 
das  rasche,  malerische  Auffassen  für  meine  Empfindung  bei 
der  Originalradirung  die  erste  Bedingung  sein  sollte.  Manches 
wird  wohl  beim  ruhigen  Überlegen  im  Atelier  solider,  durch 
das  unruhigere  Arbeiten  vor  der  Natur  aber  wird  die  künst¬ 
lerische  Auffassung  jedenfalls  lebendiger  und  frischer.  Es 
war  mir  vergönnt,  schon  verschiedenen  meiner  Kollegen  bei 
ihren  Radir versuchen  behilflich  zu  sein,  auch  Schüler  haben 
sich  bei  mir  eingefunden,  und  ich  werde  stets  bestrebt 
sein,  sie  auf  das  künstlerische  und  rein  malerische  Ele¬ 
ment  in  dem  mir  so  interessanten  Kunstzweige  hinzuweisen. 
Wie  kein  anderes  Material,  eignet  sich  die  Nadel  dazu,  eine 
rein  künstlerische  Auffassung  festzuhalten  und  so  als  Er¬ 
gänzung  des  Pinsels  zu  dienen.  Darauf  brauche  ich  wohl 
kaum  hinzuweisen,  dass  ich  eifriges  Mitglied  des  Münchener 
Radirvereins  bin,  den  ich  mitgründen  half  und  in  dessen 
Vorstand  ich  gewählt  wurde ;  das  von  der  Dresdener  Aquarell¬ 
ausstellung  erhaltene  Ehrendiplom  für  Zeichnungen  und  Ra¬ 
dirungen  ermutigt  mich,  auf  dem  angefangenen  Wege  fort¬ 
zuschreiten.“  —  Aus  dem  Urteil  der  Jury  über  das  vor¬ 
liegende  Blatt  sei  hervorgehoben,  dass  diese  sowohl  die  Bild¬ 
wirkung  desselben  als  auch  die  treflFliche  Naturbeobachtung 
rühmend  anerkannte,  und  die  Technik  der  Radirung  freier 
und  lebendiger  fand  als  bei  den  übrigen  Blättern.  Beson¬ 
deres  Lob  erhielten  die  Ferne  und  das  Sonnige  des  Vorder¬ 
grundes. 


Herausgeber;  Carl  von  Lüttow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


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Kopfleiste  von  A.  Lackner. 


MAX  KLINGER’S  GEMÄLDE. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


U  den  neuen  Erwerbungen  der 
Dresdener  Galerie,  welche  den 
Wänden  im  Oberstock  dieses 
Museums  im  Laufe  der  letzten 
Jahre  allmählich  ein  frischeres 
Aussehen  verliehen  haben, 
sind  vier  Gemälde  hinzu¬ 
gekommen,  die  beweisen,  dass 
die  Direktion  es  als  ihre  Pflicht  erkennt,  das 
gute  Neue  aufzufinden.  Sie  bestrebt  sich  somit, 
das  Publikum  zu  leiten;  es  genügt  ihr  nicht,  das 
Lob  der  laienhaften  Mehrzahl  zu  erringen,  indem  sie 
nur  allgemein  gefällige  Kunstware  vorführt. 

Als  großes  Staatsinstitut  giebt  die  Galerie  hier¬ 
durch  den  Talenten  außerordentliche  Ermutigung. 
Diesmal  kommt  das  unter  anderen  einem  Künstler 
zu  gute,  der  .sich  auf  einem  Gebiete  schon  allgemeine 
Achtung  erworben  hat,  dessen  Malerei  aber  noch 
meist  verworfen  wird.  Max  Klinger  wird  als  Ra- 
direr  in  Deutschland  heute  allgemein  unter  die  ersten 
gerechnet.  Das  deutsche  Volk,  von  dessen  Kunst¬ 
trieb  die  Phantasie  immer  den  hervorragendsten  Be¬ 
standteil  bildete,  kann  sich  verhältnismäßig  schnell 
in  ein  Kunstschaffen  hineinfinden,  welches  von  einer 
so  mannigfaltigen  und  kühnen  Phantasie  geleitet 
wird,  wie  die  Klinger’sche  Zeichnung.  Jedoch  über 
das  Bestreben,  sich  in  die  Gedankenwelt  des  Künst¬ 
lers  hineinzuleben  und  seine  Schöpfungen  zu  deuten, 
sind  wohl  wenige  gelangt.  Selten  hört  man  ein 
Urteil,  aus  welchem  man  erkennt,  dass  dem  Betref¬ 
fenden  die  Schönheit  Klinger’scher  Kunst,  sein  gro߬ 
artiger  Formensinn,  seine  Meisterschaft  in  der  Be¬ 
handlung  des  Widerspiels  von  Licht  und  Schatten, 
aufgegangen  seien.  Daher  finden  seine  Gemälde,  bei 
denen  es  nichts  zu  deuten  giebt,  die  im  wesentlichen 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  3. 


Schöpfungen  seines  Auges,  nicht  seines  Denkens 
sind,  weniger  Anklang. 

Das  erste  große  Bild,  mit  dem  Klinger  in  die 
Öffentlichkeit  trat,  ist  meines  Wissens  das  „Paris¬ 
urteil“.  Klinger  hat  zu  verschiedenen  Zeiten  sym¬ 
pathische  Saiten  in  der  Antike  gefunden.  Einmal 
sprießt  in  ihm  wieder  die  Würdigung  des  Sinnlichen 
auf.  Zu  Zeiten  nur,  als  Reaktion,  als  Aufbäumung 
gegen  ungerechte  Unterdrückung  und  lügenhafte 
Askese  äußert  sich  dieses  künstlerische  Element 
satirisch  bitter  und  schroff.  Sodann  bildet  in  spä¬ 
teren  Werken  die  griechische  Lebens-  und  Religions¬ 
philosophie  den  Anknüpfung,spunkt,  während  in 
früheren  Werken  die  Gemeinschaft  nur  in  einem 
ruhigen  fröhlichen  Ebenmaß  der  Kunstauffassung 
liegt.  Auch  hier  ist  die  Kunst  ein  friedlicher  Ge¬ 
nuss;  sie  schwächt  selbst  den  Schmerz  durch-  eine 
Verallgemeinerung  der  Form  ab;  sie  verlegt  statt 
in  den  Ausdruck  des  Charakteristischen  das  Haupt¬ 
gewicht  der  Kunstübung  in  die  Darstellung  des  Ein¬ 
fachen  und  Reizenden. 

Die  helle  freundliche  Farbe,  von  der  Pompeji’s 
Reste  und  die  Überlieferung  uns  sprechen,  finden 
wir  bei  Klinger  wieder;  ebenso  das  reiche  Spiel 
dekorativer  Formgebung.  Es  ist  erstaunlich,  wie 
unerschöpflich  Klinger’s  Phantasie  sich  gerade  im 
dekorativen  Beiwerk  zeigt;  in  den  Umrahmungen 
zu  „Amor  und  Psyche“,  zu  den  „Rettungen  Ovi- 
discher  Opfer“.  In  diesen  Schöpfungen  ist  das 
Ornament  rein  seiner  selbst  willen  da  und  steht 
nicht  in  so  bedeutungsvoller  Beziehung  zu  dem  Haupt¬ 
bilde,  wie  in  den  späteren  Werken  „Vom  Tode“  u.  s.  w. 
Eben  dieses  Ornament,  das  nur  der  Fülle  von  Formen¬ 
phantasie  einen  Spielraum  verleihen  will,  treffen  wir 
im  „Urteil  des  Paris“  an,  und  zwar  im  Rahmen. 


7 


50 


MAX  KLINGER’S  GEMÄLDE. 


Der  Vorgang  spielt  sich  auf  einer  bis  an  den 
Vorderrand  des  Bildes  laufenden  Terrasse  ab,  von 
welcher  hinab  man  auf  eine  der  entzückenden  klas¬ 
sischen  Landschaften  blickt,  wie  sie  uns  so  oft  hei 
Klinger  erfreuen.  (Titel  zu  den  „Ovidischen  Rettun¬ 
gen“,  Intermezzo  aus  „Eine  Liehe“  u.  s.  w.) 

Den  Hermes,  der  hinter  dem  links  sitzenden 
Paris  steht,  sowie  die  Göttinnen,  welche  diesem  vor 
die  Augen  treten ,  hat  der  Künstler  nicht  mit  den 
üblichen  Attributen  versehen.  Sie  stehen  mit  ge¬ 
messenen  Gebärden  und  ruhigem  Ausdruck  da, 
dennoch  ist  es  dem  Künstler  treflFlich  gelungen,  die 
Personen  ohne  Zuhilfenahme  der  Attribute  und  ohne 
sie  im  Affekt  zu  zeigen,  zu  charakterisiren.  Ein 
plastischer  Rahmen  teilt  die  Leinwand  in  sechs  Felder 
ein  und  verbindet  sich  organisch  mit  dem  Bilde. 
Oben  schmücken  ihn  kleine  Köpfe  neben  rein  deko¬ 
rativen  Zuthaten.  Unten  zeigt  er  große  plastische 
Arbeiten,  antike  Köpfe  und  Figuren.  Der  Rahmen 
ist  im  Einklang  mit  dem  Bilde  geschaffen  und  von 
Klinger’s  eigener  Hand  modellirt.  —  — 

Im  .Jahre  1888  ließen  aber  Klinger’s  gemalte 
Leinwand  und  modellirter  Rahmen  das  Publikum 
kalt.  Er  hatte  es  wohl  zunächst  kaum  anders  er¬ 
wartet,  und  ich  bezweifle,  dass  ihm  damit  eine 
lierhe  Enttäuschung  widerfahren. 

Wer  uns  das  Elend  vorführen  will,  der  muss 
eigenes  erlitten  haben.  Wunderbar  lernt  die  Seele 
am  eigenen  Leiden  ein  Verständnis  für  fremden 
Schmerz.  So  möchte  man  fast  jedem  Künstler,  von 
dem  wir  ergriffen  werden  wollen,  ein  volles  Maß 
von  Unglück  wünschen.  Und  in  der  That,  wer  geht 
liier  leer  aus?  Wem  sind  Jiittere  Verkennung  und 
Erittäuscliung  erspart  worden?  Wie  wenige  große 
Künstler  haben  nicht  die  lähmendste  Sorge,  die  Angst 
um  das  tägliche  Brot  empfunden!  Wer  nun  wie  unser 
K  ünst  1er  nach  solch  cliarakterbildender  Erfalirung  sich 
in  der  glücklichen  l^age  befindet,  das,  was  schwere 
Lehrjahre  in  ihm  herangeVhldet  haben,  in  künstler¬ 
ische  l•'orm  umzusetzen ,  ohne  Furcht  vor  weiterer 
Not,  der  ist  zu  Vieneiden.  Kr  kann  seinen  festen  Weg 
.schreiten  und  warten,  bis  das  Publikum  ihm  folgt. 

Gleich  in  dem  nächsten  großen  Bilde,  welches 
zur  Ausstellung  gelangte,  zeigte  Klinger,  dass  er 
auf  nichts  Rücksicht  nimmt,  als  auf  sein  künstle¬ 
risches  Ziel,  dass  er  dem  Ihihlikum  keine  thörichten 
Zugeständni.sse  zu  maclien  gesonnen  ist. 

Die  große  „Kreuzigung“  ')  wurde  drei  Tage  lang 

1)  Über  ein  Dutzend  Studienblätter  dazu  besitzt  das 
Dresdener  Kupferstiebkabinett,  diejenige  Sannnlung,  welche 


in  München  auf  persönliche  Einladung  gezeigt: 
öffentlich  durfte  sie  nur  einen  Tag  ausgestellt  bleiben. 
Was  in  jeder  Skulpturensammlung  geduldet  wird, 
ward  gemalt  —  verboten;  und  obwohl  alle  geschicht¬ 
liche  Forschung  Klinger’s  Auffassung  der  Begeben¬ 
heit  rechtfertigt,  so  musste  das  Bild  doch  mit  einem 
Vorhang  halb  verdeckt  werden! 

In  den  Werken  ühde’s  haben  wir  den  überaus 
gelungenen  Versuch  einer  modernen  Auffassung  der 
religiösen  Kunst  kennen  lernen.  Die  ewigen  Wahr¬ 
heiten  sowie  die  einmaligen  Begebenheiten  hat  uns 
dieser  Künstler  näher  zu  bringen  gesucht,  indem 
er  sie  uns  in  Umgebungen  und  in  Trachten  vor¬ 
führt,  die  uns  allgemein  verständlich  sind.  Es  ist 
eine  echte  Kunst  für  das  Volk,  die  gewissermaßen 
den  Kommentar,  den  geschichtlichen  Apparat  für 
überflüssig  hält,  die  der  Bibel  das  zufällige  Gewand 
abstreift  und  ihr  dafür  das  entsprechende  von  heute 
verleiht.  Der  geringste  Mann  kann  deshalb  die 
Wahrheiten,  das  Dauernde  ohne  weiteres  daraus 
nachempfinden. 

Neben  dieser  volkstümlichen  Erneuerung  der 
christlichen  Kunst  möchte  ich  die  Klinger’s  bezeichnen 
als  eine  Erneuerung  für  die  oberen  Zehntausend  der 
gebildeten  Kreise.  Sie  will  uns  die  christliche  Ge¬ 
schichte  nicht  vergegenwärtigen  durch  Anpassung 
der  äußerlichen  Merkmale,  sondern  setzt  die  seeli¬ 
schen  Leiden  der  biblischen  Personen  um  in  die 
seelischen  Leiden  des  modernen  Menschen,  wie  sie 
mittels  Gebärden,  Gesichtsform  und  Gesichtsausdruck 
gekennzeichnet  werden  können.  Wer  sich  seihst 
einmal  in  die  biblischen  Gestalten  vertieft  hat,  wem 
es  gelungen  ist,  sich  mittels  der  schriftlichen  Über¬ 
lieferung  in  das  Seelenleben  dieser  oder  jener  Person 
zu  versenken,  der  allein  kann  Klinger  folgen.  Er 
versucht  nicht,  uns  in  die  alte  Geschichte  zu  ver¬ 
setzen,  er  versetzt  die  alte  Geschichte  in  uns.  Seine 
Menschen  sind  Kinder  der  Gegenwart,  so  wie  sie 
sich  verhalten  würden,  wären  ihnen  —  an  denen  zwei 
.Jahrtausende  gearbeitet  haben  —  jetzt  plötzlich  die 
Begebenheiten  des  neuen  Testamentes  widerfahren. 
Die  Magdalena  jammerte  um  den  Tod  des  Retters: 
heute  schreit  in  ihr  der  Schmerz  des  Sinnesmenschen 
um  den  Tod  der  Schönheit.  Die  Maria  erstickte  im 
Schluclizen  über  den  Untergang  all  ihres  Höffens: 


das  radii'te  Werk  Klinger’s  am  vollständigsten  aufzuweisen 
hat.  Wir  reproduziren  zwei  davon.  Der  Fleiß  und  das 
Können,  welche  in  diesen  Studien  stecken,  haben  manchem 
die  Augen  geöffnet,  der  auf  Grund  einer  oder  der  anderen 
willkürlichen  Verzeichnung  in  Klinger’s  Radirungen  an  des 
Künstlers  Fähigkeiten  zweifelte. 


MAX  KLINGER’S  GEMÄLDE. 


51 


heute  verzweifelt  sie  stumm  vom  Alp  der  ungelösten 
Zukunft  bedrückt.  Christus  blickte  zum  Himmel 
empor,  zum  Ende  seiner  Leiden.  Heute  blickt  er 
auf  sie  zurück  und  aus  seinen  Augen  leuchtet  der 
frohe  Trotz  des  sterbenden  Siegers,  in  seinem  Blick 
birgt  sich  das  Mitleid  für  die  wenigen,  die  trotz 
des  guten  Willens  nicht  mit  ihm  ziehen  können. 

Das  Bild  ist,  was  die  rein  äußerliche  Mal¬ 
technik  anbelangt,  vielleicht  weniger  vollkommen 
als  die  anderen  des  Meisters:  eine  teilweise  Verände¬ 
rung  der  Farbenskala  wird  auch  jetzt  von  ihm  be¬ 
absichtigt.  In  der  Komposition  begegnet  uns  die 
nämliche  Anordnung  auf  einer  Terrasse  im  Vorder¬ 
gründe,  wie  in  dem  Urteil  des  Paris.  Die  Haupt¬ 
sache  bleibt  dabei,  dass  der  Künstler  versucht  hat, 
das  große  Thema  endlich  wieder  einmal  groß  zu 
behandeln,  ohne  Rücksicht  auf  das,  was  in  sämt- 
hchen  geschriebenen  und  ungeschriebenen  Sitten¬ 
codices  der  Welt  steht,  ohne  Beachtung  theoretischer 
Überlieferung,  rein  und  allein  mit  dem  Zweck,  eines 
Künstlers  Empfinden  ganz  zu  Tage  zu  bringen. 

Eine  Beschreibung  der  figurenreichen  „Kreu¬ 
zigung“  unterlasse  ich,  um  noch  ein  Wort  über  den 
Johannes  zu  sagen,  der  auch  in  der  „Pieta“  wieder¬ 
kehrt.  Oben  betonte  ich,  dass  Klinger  in  drei  sonst 
geschiedenen  Künsten  heimisch  ist,  in  der  Malerei, 
der  Bildhauer-  und  Radirkunst.  Doch  dringt  sein 
künstlerisches  Empfinden  selbst  über  das  weite  Be¬ 
reich  dieser  drei  Künste  hinaus.  Für  ihn  redet  auch 
die  Musik  eine  anregende  Sprache.  Wie  Farbe  und 
Form  ihm  ihre  Geheimnisse  gleich  einem  Wort¬ 
gedicht  erschließen,  so  erweckt  auch  die  Verbindung 
von  Tönen  in  ihm  Empfindungen  und  Gedanken, 
so  stark  wie  das  Wort.  Und  wie  bei  allen  musika¬ 
lischen  Menschen  die  Phantasie  immer  von  einer 
Kunst  in  die  andere  spielt,  sich  die  Legende  einer 
Kunst  in  der  anderen  fertig  erzählt,  so  setzt  sich 
bei  ihm  oft  die  Einwirkung  einer  Kunst  in  das 
Schaffen  einer  anderen  um.  Schon  äußere  Zeichen 
bekunden  seine  Beziehungen  zur  Musik.  Dem  An¬ 
denken  Schumann’s  sind  die  Rettungen  gewidmet. 
Seiner  Verehrimg  für  Brahms  verlieh  er  Ausdruck 
durch  die  Widmung  der  Folge  „Amor  und  Psyche“, 
und  dadurch,  dass  er  Titelblätter  zu  Brahms’  Liedern 
verfertigte.  Im  Atelier  neben  dem  Klavier  liegen 
Wagner’s  Musikdramen.  Endlich  wird  sein  neuestes 
Werk  eine  Folge  von  radirten  Stimmungsbildern 
zu  Brahms’  „Schicksalslied“  sein.  Doch  noch  weit 
tiefere  Beziehungen  weist  seine  Kunst  auf.  Als 
Klinger  sich  das  Leben  und  das  Werk  einer  der 
Hauptfiguren  der  Bibel  vorführte,  um  sich  zu  ver¬ 


gegenwärtigen,  wie  der  Mann,  der  solches  leistete, 
wohl  ausgesehen  haben  möchte,  da  klang  es  ihm 
von  der  Musik  herüber.  Ein  Beethoven,  so  schien 
es  ihm,  hätte  er  in  Worten  statt  in  Tönen  ge¬ 
schrieben,  würde  die  Offenbarung  Johannis  haben 
schreiben  können,  ünd  so  wurde  des  Musikers 
Totenmaske  Modell  für  den  Evangelisten.  —  — 

Klinger’s  „Pieta“  war  auf  der  großen  Berliner 
Ausstellung  eigentlich  das  einzig  monumentale.  Nur 
bei  diesem  Bilde  hatte  man  die  Empfindung,  dass 
es  in  der  Darstellung  eines  einzelnen  Ereignisses 
ein  Stück  immer  wiederkehrender  Erfahrung  des 
menschlichen  Seelenlebens  symbolisirt.  Ohne  stören¬ 
des  Beiwerk  treten  uns  die  drei  Faktoren  einer  jeden 
großen  historischen  Krise  entgegen,  der  Tod,  das 
Mitleid  und  die  Hoffnung,  die  Anknüpfung  an  das 
neue  Leben.  Christi  Leichnam  hat  der  Künstler 
kräftig  und  schön  gebildet,  ohne  herbe  Spuren  der 
Marter,  das  neue  Prinzip  ist  stolz  und  in  Schönheit 
untergegangen.  Maria,  der  leidende  Teil,  der  im 
Handeln  so  ohnmächtig  ist  und  trotzdem  den 
Schmerz  so  stark  empfindet,  ist  bis  zu  dem  Grade 
des  Kummers  gelangt,  wo  die  Thränen  versiegen 
und  ein  trockenes  Schluchzen  keine  Erleichterung 
mehr  verleiht.  Johannes  endlich,  der  ihr  Trost  zu 
spenden  sucht,  ist  der  Phönix,  der  aus  dieser  Asche 
steigt.  Sein  ist  die  Aufgabe,  das  aufzunehmen,  was  der 
große  Held  vor  ihm  so  weit  geführt  hat.  In  seinem 
Blicke  liegt  das  Sinnen,  die  Arbeit  der  Zukunft. 

Vornehmheit  und  erhabene  Ruhe  kennzeichnen 
das  Bild.  Es  wirkt  einzig  durch  die  Situation,  ihm 
fehlt  alle  erzählende  und  ablenkende  Beigabe.  Ruhe 
und  Einfachheit  kennzeichnen  auch  die  malerische 
Behandlung.  Es  ist  im  freien  Licht  gemalt;  kein 
kräftiger  Schlagschatten  lenkt  die  Aufmerksamkeit 
auf  die  etwaige  Virtuosität  der  Technik  ab.  Die 
Farbengebung  ist  hell,  und  alle  einzelnen  Partieen 
sind  sorgfältig  abgetönt  zu  einer  ruhig-matten  Har¬ 
monie,  die  der  Einfachheit  in  der  Auffassung  des 
Bildes  gleichkommt. 

In  dieser  monumentalen  Größe  empfinden  wir 
eine  Übereinstimmung  mit  der  Frühkunst  des  Landes, 
in  dem  die  „Pieta“  entstanden  ist.  Die  Komposition 
ist  aus  derselben  Stimmung  hervorgegangen  wie 
die  der  italienischen  Quattrocentisten.  Malen  die 
Künstler  heute  meist  erst  den  Raum,  die  Landschaft 
und  setzen  hierein  ihre  Figuren,  so  malt  Klinger 
in  der  „Pieta“  gleich  den  alten  Italienern  erst  die 
Hauptfiguren.  Diese  sind  ganz  im  Vordergründe, 
nur  bis  zu  den  Knieen  zu  sehen.  Die  Landschaft 
hat  an  und  für  sich  kein  selbständiges  Leben,  son- 

7* 


Max  Klinoer:  Studien  zur  Kreuzigung. 


^^AX  Klinger;  Studien  zur  Kreuzigung-. 


54 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S 


dem  dient  nur  dazu,  die  Figuren  sich  abheben  zu 
lassen,  und  spiegelt  deren  Stimmung  wieder.  Ein 
verwandtes  Stilgefühl  lässt  Klinger  den  eigentlichen 
Mittelgrund  durch  eine  niedrige  weiße  Mauer  er¬ 
setzen,  wie  die  Alten  es  oft  durch  Teppiche  und 
Mauern  thaten.  Von  der  nun  ganz  in  die  Ferne  ge¬ 


rückten  Landschaft  heben  sich  die  Figuren  klar  ab. 
Dieser  Hintergrund  lässt  vermöge  seiner  Entfernung 
keine  ablenkende  Behandlung  der  Einzelheiten  zu, 
sondern  bildet  in  der  Farbe  und  in  den  Linien  nur 
die  Ergänzung  zu  dem  dargestellten  Vorgänge. 

HANS  W.  SINOER. 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S. 

VON  DR.  ALFRED  KIRSTETN. 

MIT  LICHTDRÜCKBILD. 


lE  von  Raffael  in  seiner  letzten 
Schöpfung,  der  „Transfigu¬ 
ration  (Verklärung)  Christi“, 
dargestellte  Idee  ist  in  einem 
der  wesentlichsten  Punkte 
ihres  Gehaltes  bisher  von 
sämtlichen  Autoren,  die  sich 
mit  ihr  beschäftigt  haben, 
verkannt  worden.  Goethe  giebt  in  der  Italienischen 
Reise  (Bericht  vom  Dezember  1787)  folgende  Er¬ 
klärung  des  Inhaltes:  „ln  Abwesenheit  des  Herrn 
stellen  trostlose  Eltern  einen  besessenen  Knaben  den 
.Jüngern  des  Heiligen  dar;  sie  mögen  schon  Ver¬ 
suche  gemacht  haben,  den  Geist  zu  bannen;  mau 
liat  sogar  ein  Buch  aufgeschlagen,  um  zu  forschen, 
ob  nicht  etwa  eine  überlieferte  Formel  gegen  dieses 
Übel  wirksam  könne  gefunden  werden;  aber  ver- 
geliens.  In  diesem  Augenblicke  erscheint  der  einzig 
Kräftige  und  zwar  verklärt,  anerkannt  von  seinen 
großen  V'orfahren,  eilig  deutet  mau  hinauf  nach 
solclier  Vision,  als  der  einzigen  Quelle  des  Heils.“ 
Goethe  jiimmt  also  an,  dass  die  vor  dem  besessenen 
Knaljen  stehenden  Apostel  in  dem  dargestellten  Mo¬ 
mente  von  der  mit  Moses  und  Elias  in  der  Luft 
.schwebenden  Gestalt  des  verklärten  Heilandes  Kennt¬ 
nis  haben,  sich  aber  nicht  bewogen  fühlen,  von 
diesem  den  Lauf  der  Natur  durchbrechenden  Phä¬ 
nomen  selbst  irgendwie  Notiz  zu  nehmen  (kehren 
sie  ilim  doch  fast  alle  achtlos  den  Rücken  zu!),  son¬ 
dern  das  beinahe  über  ihren  Häupten  sich  ereig¬ 
nende  Wunder  nur  als  ein  zur  rechten  Zeit  sich 
einstellendes  Mittel  zur  Heilung  des  Besessenen 


Motto : 

,,Er  hat,  wie  die  Natur,  jederzeit  Recht.  ‘ 
(Goethe  über  Raffael.) 

gerne  in  Benutzung  ziehen.  Die  Unrichtigkeit  dieser 
Annahme  liegt  auf  der  Hand:  wenn  den  vor  dem 
Knaben  versammelten  neun  Jüngern,  ja  wenn  nur 
einem  einzigen  derselben  etwas  von  dem  Transfigu¬ 
rationswunder  zur  Wahrnehmung  gelangt  wäre,  so 
müsste  von  solcher  Wahrnehmung  eine  psychische 
Erschütterung  von  noch  nie  gefühlter  Gewalt  blitz¬ 
artig  in  die  untere  Gruppe  einschlagen;  den  von  der 
Verklärung  des  Meisters  (gleich  ihren  drei  Genossen 
auf  dem  Hügel)  überwältigten  Jüngern  verginge 
unter  dem  Banne  der  Heilandserscheinung  sofort 
die  Fähigkeit,  dem  besessenen  Knaben  noch  irgend 
welche  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  —  während 
doch  auf  dem  Bilde  sich  gerade  ihr  ganzes  Interesse 
auf  den  Kranken  konzentrirt. 

Goethe  ist  hier  von  der  richtigen  Erkenntnis 
abgeirrt;  von  der  soeben  vollzogenen  Verklärung 
Christi,  als  einer  Thatsache,  ist  den  unten  stehenden 
Jüngern  nicht  das  mindeste  bewusst,  —  das  lehrt 
der  erste  Blick  auf  das  Bild,  und  mehrere  neuere 
Autoren  erkennen  dies  auch  an.  Dass  aber  die 
wunderbare  Lufterscheinung  den  Jüngern  nicht  zur 
Wahrnehmung  gelangt,  obwohl  die  räumliche  Dis¬ 
position  des  Bildes  offenbar  mit  allem  Fleiße  danach 
eingerichtet  ist,  dass  sie  dieselbe  von  ihrem  Stand¬ 
punkte  aus  bequem  erblicken  könnten  und  bei  der 
Auffälligkeit  des  Phänomens  erblicken  müssten,  — 
das  ist  das  eigentlich  Frappante,  das  in  hohem  Grade 
Erstaunliche  an  der  im  Transfigurationsbilde  von 
Raffael  fixirten  Situation.  Unsere  Verwunderung 
über  dieses  Nichtsehen  der  Jünger  muss  vollends 
die  höchste  Stufe  erreichen,  wenn  wir  mit  Veit 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S. 


55 


Valentin^)  erkennen,  dass  sie  sogar  ganz  nachdrück- 
licli  und  in  lebendigster  Weise  mit  Gebärden  und 
Geschrei  auf  die  Heilandserscheinung  hingewiesen 
werden,  nämlich  durch  den  besessenen  Knaben, 
welcher  vermöge  der  Kraft  des  ihm  innewohnenden 
Teufels  die  Verklärung  sieht  und  in  der  eben  an¬ 
gedeuteten  Weise  kundgiebt.  Man  denke  sich  in 
den  Vorgang  hinein:  die  allererste  Wirkung  dieser 
Kundgebung  muss  bei  den  Jüngern,  nach  der  Be¬ 
schaffenheit  der  menschlichen  Natur,  doch  unbedingt 
die  gewesen  sein,  dass  sie  instinktiv  mit  den  Augen 
der  aufwärts  weisenden  Handbewegung  des  Knaben 
zu  der  Erscheinung  hin  gefolgt  sind. 2)  Wenn  dessen¬ 
ungeachtet  aus  dem  leidenschaftlich  erstaunten  Ge¬ 
baren  der  Jünger  keine  weitere  Beziehung  zu  der 
oberen  Aktion  zu  entnehmen  ist  als  die  durch  die 
ausgestreckte  Linke  des  hochaufgerichteten  Mannes 
charakterisirte  Frage:  „Dort  oben,  wohin  du  zeigst, 
sollen  Dinge  vor  sich  gehen,  deren  Kraft  dich  plötz- 
hch  so  wunderbar  beeinflusst?“  bei  völliger  Ignori- 
rung  dessen,  was  dort  oben  wirldich  vor  sich  geht, 
so  müssen  zweifellos  die  Jünger  sich  bereits  davon 
überzeugt  haben,  dass  es  dort  oben  für  sie  nichts 
zu  sehen  giebt!  Dieser  für  das  zu  erstrebende  Ver¬ 
ständnis  des  Bildes  grundlegende  Schluss  ist  kein 
erklügelter  oder  auf  weiten  Wegen  abgeleiteter,  son¬ 
dern  einem  jeden,  der  einmal  an  das  Bild  ganz  un¬ 
befangen  mit  offenen  Augen  herangetreten  wäre, 
hätte  bei  dem  ersten  Versuch,  das  Ganze  einheitlich 
zu  erfassen,  die  von  Raffael  zu  drastischer  Dar¬ 
stellung  gebrachte  Blindheit  der  unten  stehenden 
Jünger  für  den  Verklärungsvorgang  als  derjenige 
Zug  imponiren  müssen,  der  sogleich  die  tiefste 
menschliche  Teilnahme  für  diese  offenbar  mit  einem 
eigentümlichen  Defekt  behafteten  Personen  wach¬ 
ruft.  Indessen  scheint  es,  dass  diese  thatsächliche 
Beobachtung  zu  einfach  und  zu  naheliegend  ist,  als 
dass  schon  jemand  auf  dieselbe  hätte  verfallen  sollen. 


Das  Verständnis  des  Raffaerschen  Bildes  musste 
sämtlichen  älteren  Autoren  versperrt  bleiben,  weil  sie 


1)  Über  Kunst,  Künstler  und  Kunstwerke.  Frankfurt 
a.  M.  1889,  S.  248fi. :  Raffael’s  Transfiguration. 

2)  Goethe’s  unrichtige  Erklärung  setzt  übrigens  ebenfalls 
ein  dem  abgebildeten  Momente  vorhergehendes  Um-  und 
Aufschauen  der  Jünger  voraus. 

3)  Streng  genommen  braucht  die  obige  Darstellung  weder 
für  den  einen  Apostel  zu  gelten ,  der  soeben  erst  durch  das 
Geschrei  aus  der  Lektüre  aufgeschreckt  zu  sein  scheint,  noch 
für  die  beiden  am  fernsten  stehenden,  die  das  Gebaren  des 
Knaben  vielleicht  nicht  genau  beobachten  konnten  und  jetzt 


1)  das  Verhältnis  des  Besessenen  zu  der  schweben¬ 
den  Christusgruppe, 

2)  das  Verhältnis  des  Besessenen  zu  den  vor  ihm 
versammelten  Aposteln  und  umgekehrt, 

3)  das  Verhältnis  dieser  unten  stehenden  neun 
Apostel  zu  Christo,  dem  Verklärten, 

gründlich  verkannt  haben.  Die  erste  dieser  drei 
Fundamentalfragen  hat  Valentin  (a.  a.  0.)  glänzend  ge¬ 
löst,  für  die  Lösung  der  zweiten  Frage  hat  er  eben¬ 
falls  den  wesentlichsten  Schritt  gethan,  die  Lösung 
der  dritten  und  schwierigsten  Frage  gedenke  ich  in 
der  vorliegenden  Arbeit  zu  liefeim,  indem  ich  über 
den  von  mir  in  der  Einleitung  aufgedeckten,  den 
neun  Aposteln  anhaftenden  sonderbaren  Defekt  volle 
Klarheit  verbreiten  werde. 

Valentin’s  Aufsatz  gebührt  der  Ruhm,  in  den 
Wall  von  Missverständnissen  Bresche  gelegt  zu  haben, 
die  durch  die  ästhetische  Arbeit  vieler  Geschlechter 
sich  zwischen  dem  Werke  und  dem  schlichten  Men¬ 
schenverstand  aufgehäuft  hatten,  von  Buch  zu  Buch 
(„wie  eine  alte  Krankheit“)  sich  forterbend.  Erst 
durch  die  von  Valentin  gewonnene  Einsicht  in  die 
Rolle  des  Besessenen  als  derjenigen  Person  der 
unteren  Gruppe,  welche  die  Verkläruiig  wahrnimmt 
und  (durch  körperliche  und  psychische  Symptome) 
kundgiebt,  ist  die  in  den  lebhaftesten  Gestikulationen 
sich  Luft  machende  Erregung  der  Jünger  begreif¬ 
lich  geworden,  da  sie  eben  durch  jene  im  höchsten 
Grade  überraschende  Kundgebung  erzeugt  worden 
ist.  Mit  Recht  weist  Valentin  darauf  hin,  dass  die 
Besessenheit  als  solche,  als  Krankheit,  keinen  so 
starken  Eindruck  auf  die  Jünger  machen  konnte, 
da  sie  ihnen  ein  ziemlich  alltägliches  Vorkommnis 
war;  sie  hatten  sogar  schon  die  Approbation  zur 


erst  durch  einen  nacb  oben  deutenden  (dem  Beschauer  die 
Hinterseite  des  Kopfes  zukehrenden)  Genossen  die  Neuigkeit 
erfahren.  Aber  wir  dürfen  getrost  voraussetzen,  dass  diese 
drei,  falls  sie  noch  aufschauen  sollten,  nicht  mehr  sehen 
werden  als  die  sechs  anderen  gesehen  haben,  sonst  wäre  ja 
im  nächsten  Momente  eine  totale  Umwälzung  der  im  Bilde 
dargestellten  Verhältnisse  unvermeidlich,  —  eine  Eventua¬ 
lität,  für  welche  doch  das  Bild  selbst  nicht  den  mindesten 
Anhalt  darbietet. 

1)  Der  mit  dem  rechten  Arm  direkt  auf  den  Kranken 
weisende  Apostel  macht  seinen  Nachbarn  zur  Rechten  (den  Alten 
mit  dem  durchfurchten  Antlitz)  speziell  auf  die  plötzliche 
Veränderung  der  objektiven  Krankheitssymptome  aufmerk¬ 
sam  (vgl.  weiter  unten  die  Analyse  der  krankhaften  Erschei¬ 
nungen)  ;  die  beiden  Mittelfiguren  (der  sich  vorbeugende 
Jüngling  und  der  zu  seiner  Linken  am  Boden  hockende 
ältere  Mann)  drücken  ein  mit  Grauen  gemischtes  Erstaunen 
aus,  welches  wohl  in  gleichem  Maße  den  körperlichen  Ver¬ 
änderungen  wie  der  (scheinbar  gegenstandslosen,  hallucina- 
torischen)  Bekundung  einer  Einwirkung  von  oben  gilt. 


56 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL'S. 


Teufelsaustreibung  erlangt  (Ev.  Matth.  10,  1  und  8), 
wenn  auch  die  beständige  Anwesenheit  des  Meisters 
ihnen  zu  selbständigen  Kuren  vielleicht  noch  keine 
Gelegenheit  gegeben  hatte,  Valentin  hätte  hinzu¬ 
fügen  können,  dass  gerade  die  auffällige  Erregung 
der  Jünger  den  greifbaren  Gegenbeweis  gegen  die 
allgemein  verbreitete  Annahme  liefert,  sie  seien  in 
dem  dargestellten  Momente  noch  in  Versuchen  und 
Überlegungen  zur  Heilung  des  Kranken  begriffen: 
weder  einem  Arzte  noch  einem,  der  sich  als  Arzt 
aufspielt ,  entlockt  der  Anblick  nervöser  Anfälle 
jemals  Äußerungen  eines  so  unverhüllten  Erstaunens, 
welche  das  Vertrauen  des  anwesenden  Laienpubli¬ 
kums  auf  eine  allzu  gefährliche  Probe  stellen  müssten. 
Man  kann  den  Aposteln  ruhig  nachsagen,  dass  sie 
aus  ihrer  Heilkünstlerrolle  jäh  herausgefallen  sind, 
und  zwar  aus  Schreck  über  die  unheimliche  Über¬ 
raschung,  die  sie  soeben  an  ihrem  Patienten  erlebt 
haben  (vgl.  weiter  unten  die  Analyse  des  Besessenen). 

Hinsichtlich  der  zwischen  den  Aposteln  und 
dem  Besessenen  herrschenden  gegenseitigen  Bezie¬ 
hungen  bedarf  die  im  allgemeinen  richtige  Dar¬ 
stellung  Valentin’s  doch  noch  einiger  nicht  ganz 
gleichgültiger  Korrekturen.  Er  stellt  sich  vor,  dass 
die  Kundgebung  des  Knaben  in  einer  ausdrücklichen, 
den  Apo.steln  voll  verständlichen  Verkündigung  der 
Verklärung  Christi  bestünde.  Hiermit  schießt  unser 
Autor  wohl  über  sein  Ziel  hinaus,  wenigstens  giebt 
das  Bild  in  diesem  Punkte  keinen  weitergehenden 
Anhalt,  als  dass  der  Knabe  durch  lautes  Geschrei 
und  Hindeuten  mit  dem  rechten  Arm  anzeigt,  dass 
dort  oben  in  der  Luft  etwas  sehr  Merkwürdiges  und 
Aufregendes  sich  ereignet.  Indessen  will  ich  mich 
einmal  absichtlich  für  einen  Moment  der  Ansicht 
\'alentin’.s  anbequemen,  will  also  den  Fall  setzen, 
da.ss  der  Knabe  den  Aposteln  deutlich  zuschreit: 
..Dort  oben  schwebt  Christus  in  verklärtem  Zustande!“ 
—  dann  bleibt  es  doch  noch  sehr  verwunderlich, 
wie  sich  Valentin  die  Wirkung  dieser  Offenbarung 
des  Knaben  auf  die  Apo.stel  vorstellt.  Er  meint 
nämlich,  die  letzteren  seien  wenig  geneigt,  der  er¬ 
staunlichen  .Mitteilung  des  Krampfkranken  Glauben 
zu  schenken!  Aber  wer  sollte  den  ernsten  Männern 
aucli  eine  solche  kindische  Leichtgläubigkeit  Zu¬ 
trauen?  Wie  kann  denn  ül)erhaupt  nur  die  Mög¬ 
lichkeit  diskutirt  Averden,  dass  vernünftige  Menschen 
einem,  nervös  zerrütteten  Individuum  eine  so  weit 
außer  aller  Erfahrung  liegende  Behauptung  einfach 
„glauben“  sollten,  noch  dazu,  wenn  den  Betreffenden 
die  Gelegenheit  zur  Kontrolle  so  bequem  geboten 
ist  Avie  hier?  N’ollends  undenkbar  ist  Valentin’s  Aus¬ 


spruch:  zwei  der  Apostel  (einer  davon  „ruhig  prü¬ 
fend“)  „überlegen,  ob  das“  (was  der  Besessene  ver¬ 
kündet,  also  die  Verklärung  Christi)  „wohl  wahr 
sei.“  Darüber,  ob  oben  in  der  Luft  der  verklärte 
Christus  schwebt  oder  nicht,  stellt  man  in  der  Lage 
der  Jünger  keine  ruhig  prüfende  Überlegung  an, 
sondern  man  dreht  sich  um  und  sieht  nach;  das 
haben  die  Jünger  selbstverständlich  gethan  und  haben 
sich  (unter  dem  Banne  des  ihnen  anhaftenden  eigen¬ 
artigen  Defektes)  davon  überzeugt,  dass  an  der  Ver¬ 
kündigung  des  Knaben  kein  wahres  Wort  ist,  und 
nunmehr  stehen  sie  hocherstaunt  und  ratlos  vor 
dem  beunruhigenden  Phänomen  einer  Wirkung  ohne 
Ursache,  — 

Aber  weshalb  sehen  denn  die  Apostel  den  Trans¬ 
figurationsvorgang  nicht?  Was  ist  denn  das  für  ein 
sonderbarer  Defekt,  der  ihren  Gesichtssinn  stumpf 
macht  gegen  die  Überfülle  himmlischen  Lichtes,  vor 
dessen  Glanze  ihre  drei  Genossen  auf  dem  Hügel 
geblendet  zusammengesunken  sind?  —  Das  ist  die 
Frage ,  mit  deren  Beantwortung  ich  den  so  lange 
gesuchten  Schlüssel  zum  vollen  Verständnis  der 
Transfiguration  Raffael’s  darzubieten  gedenke.  Be¬ 
vor  ich  mich  jedoch  diesem  Hauptteil  meiner  Unter¬ 
suchung  zuwende,  halte  ich  es  für  geboten,  dem 
Meister  Raffael  den  Lehrbeitrag  zur  Ästhetik  des 
Hässlichen  abzulauschen,  welchen  er  uns,  praktisch 
angewandt,  in  der  Gestalt  des  besessenen  Knaben 
hinterlassen  hat,  —  ein  Unternehmen,  welches  Herr 
Professor  Dr.  Leichtenstern ,  Oberarzt  des  Bürger- 
hospitales  in  Köln,  durch  seinen  Beirat  zu  fördern 
die  Güte  hatte,  wofür  ich  dem  hochverehrten  Manne 
an  dieser  Stelle  meinen  ergebensten  Dank  abstatte. 


Unter  „Besessenheit“  (von  einem  bösen  Geist) 
mögen  die  Autoren  des  neuen  Testamentes  die  ge¬ 
wöhnliche  Epilepsie  (Fallsucht,  morbus  sacer)  ver¬ 
standen  haben,  deren  Symptome  sich  Ev.  Marci  9, 
17 — 27  recht  anschaulich  geschildert  finden.  Dem 
gegenüber  bedarf  es  der  ausdrücklichen  Feststellung, 
dass  der  Besessene  bei  Raffael  mit  aller  Sicherheit 
kein  Epileptiker  ist,  dass  derselbe  vielmehr  die 
typischen  Merkmale  des  epileptischen  Anfalles 
durchaus  vermissen  lässt.  Wollte  man  dieser  Ge¬ 
stalt  einen  Platz  in  dem  System  der  nervösen  Er¬ 
krankungen  an  weisen,  so  ließe  sie  sich  nur  bei  der 
Hvsteria  major  unterbringen,  deren  wechselvolle  Er¬ 
scheinungen  namentlich  durch  Cliarcot’s ')  Schilde- 

1)  Charcot,  Lecjons  sur  les  maladies  du  systerae  nerveux. 
Tome  I.  Paris  1886.  —  Den  Namen  „Hysteria  major"  setzt 


Die  Transfiguration  von  Raffael. 

Nach  einer  Photographie  von  Aionari  in  Florenz. 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S. 


57 


rungen  jetzt  genauer  bekannt  geworden  sind.  Man 
könnte  das  ganze  Gebaren  des  Knaben  sehr  wohl 
als  hysterisch  (speziell  in  der  forme  demoniaque) ') 
bezeichnen,  und  der  für  Hysterie  charakteristische 
isolirte  Krampf  einer  Extremität  (der  linken  oberen) 
würde  diese  Diagnose  unterstützen.  Allerdings 
dürfte  ein  so  extrem  starkes  Auseinandertreten  der 
Augenachsen  (Strabismus  divergens)  im  hysterischen 
Anfalle  für  gewöhnlich  nicht  zur  Beobachtung  ge¬ 
langen,  oder  doch  nur  als  momentanes  Durchgangs¬ 
stadium  stürmisch  rollender  Augenbewegungen,  wäh¬ 
rend  die  ganze  Attitüde  bei  Raffael  mehr  an  ein 
Feststehen  im  Krampfe  (für  einen  gewissen  kurzen 
Zeitabschnitt)  denken  lässt.  Immerhin  wird  sich, 
bei  Berücksichtigung  der  außerordentlichen  Mannig¬ 
faltigkeit  des  hysterischen  Symptomenkomplexes, 
gegen  die  Glaubwürdigkeit  eines  Körperzustandes 
wie  des  hier  im  Bilde  dargestellten  im  hysterischen 
Anfalle  kein  stichhaltiger  Einwand  erheben  lassen, 
und  somit  wäre  die  Frage  vom  kritischen  Stand¬ 
punkte  der  klinischen  Medizin  erledigt. 

Indessen  sind  wir  mit  dieser  einseitigen  Be¬ 
trachtung  unserem  Ziele,  die  dichterische  Idee 
zu  ergründen,  noch  nicht  sichtlich  näher  ge¬ 
rückt;  gerade  Raffael  ist  wohl  der  letzte  dazu, 
sich  an  einer  bloßen  virtuosen  Kopie  eines  (etwa  in 
einem  Hospitale  beobachteten)  interessanten  Krank¬ 
heitsfalles  gütlich  zu  thun.  Wenn  er  sich  dazu  ent¬ 
schließt,  der  Nachtseite  des  natürlichen  Lebens  eine 
solche  Schreckensgestalt  zu  entlehnen,  so  geschieht 
das  nicht  um  ihrer  selbst  willen,  sondern  sie  dient 
ihm,  dem  Meister,  als  ein  höchst  eigenartige.s,  sich 
organisch  in  das  Ganze  einfügendes  Mittel,  um  die 
ihm  bei  der  Komposition  seines  letzten  Bildes  vor¬ 
schwebende  erhabene  Idee  verwirklichen  zu  helfen. 
Deswegen  (nicht,  wie  man  wohl  in  Geltendmachung 
eines  willkürlichen  Geschmacksurteiles  gemeint  hat, 
wegen  abstoßenderer  Grässlichkeit  des  Anblickes  an 
sich)  konnte  er  keinen  gewöhnlichen  Epileptiker 
brauchen,  denn  der  typische  epileptische  Anfall 
kann  zwar  gelegentlich  durch  von  außen  kommende 
Einwirkungen  ausgelöst  werden,  in  dem  Ablaufe 
seiner  Symptome  jedoch  ist  er  einzig  und  allein  be¬ 
dingt  durch  den  Zustand  des  Nervensystemes  des 
Patienten:  der  zureichende  Grund  für  die  bekannten 


Charcot  an  die  Stelle  der  vielfach  gebräuchlichen,  aber 
leicht  misszuverstehenden  Bezeichnung  „Hystero-Epilepsie“ 
—  „pour  eviter  toute  confusion“  (S.  435). 

1)  Vgl.  Charcot  a.  a.  0.  S.  446;  ferner  S.  .842  die  Geschichte 
einer  demoniaque  (possedee)  mit  drei  höchst  interessanten 
Abbildungen  (Fig.  19 — 21). 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  N.  P.  V.  IT.  3. 


krampfhaften  Erscheinungen  am  Körper  des  Epilep¬ 
tikers  liegt  ganz  und  gar  in  dem  Kranken  selbst, 
in  seinem  abnorm  beschaffenen  Gehirn.  Ein  Epilep¬ 
tiker  an  der  Stelle  des  Hysterikers  würde  demnach 
jeder  notwendigen  Beziehung  zu  der  Gesamtheit  des 
dargestellten  Vorganges  bar  sein,  die  Verzerrungen 
seines  Körpers  wären,  vom  Standpunkte  der  beson¬ 
deren  Idee  des  Bildes,  zwecklos,  sinnlos,  bedeutungs¬ 
los,  gewissermaßen  zufällig,  und  eben  um  ihrer 
Sinnlosigkeit  willen  abscheulich  und  an  diesem 
Platze  (zu  Füßen  des  verklärten  Christus)  schlechter¬ 
dings  unwürdig.  Hier  bewährt  nun  Raffael  in  der 
Bewältigung  des  sprödesten  Stoffes  seine  unvergleich¬ 
liche  kompositorische  Meisterschaft.  Er  versteht  die 
Besessenheit,  dem  von  der  Natur  gegebenen  Vor¬ 
bilde  der  Hysterie  (bewusst  oder  unbewusst,  jeden¬ 
falls  mit  der  Treffsicherheit  des  Genies!)  folgend, 
einfach  als  Disposition  zu  allerhand  krampfhaften 
Zusammenziehungen  der  Muskulatur.  Welche  Mus¬ 
keln  dem  Krampfe  anheimfallen  —  das  bestimmt 
sich,  auf  der  Basis  dieser  Disposition,  mit  logischer 
Konsequenz  ganz  und  gar  durch  die  den  Kranken 
treffenden  genau  definirbareu  Eindrücke.  Der  dämo¬ 
nisch  begabte  ^)  Knabe ,  welcher  (im  Gegensätze  zu 
den  Opfern  epileptischer  Anfälle)  seines  ungetrübten 
(oder  nur  leicht  getrübten)  Bewusstseins  mächtig 
ist,  erblickt  den  verklärten  Christus;  naturgemäß  er¬ 
hebt  er  über  solchen  unerhört  wunderbaren  Anblick 
ein  furchtbares  Geschrei  und  weist  mit  dem  frei 
und  willkürlich  erhobenen  rechten  Arm,  unter  allen 
Zeichen  der  äußersten  Aufregung,  auf  die  in  der 
Luft  schwebende  Erscheinung.  Der  in  dem  Knaben 
sitzende  Teufel  aber,  entsetzt  über  die  Verklärung 
seines  Überwinders  Christus,  flüchtet  sich  eiligst  in 
der  dem  Heiland  abgewandten  Richtung^);  schon 
hat  er  nur  noch  in  dem  nach  abwärts  gerichteten 
linken  Arm  eine  Stätte  (die  Muskeln  desselben  sind 
krampfhaft  gespannt!),  um  auch  diese  alsbald  zu 
verlassen  und  aus  den  Spitzen  der  stark  gespreizten 
Finger,  wie  ein  entströmendes  Fluidum,  auszufahren 
(die  geballte  Faust  des  Epileptikers  wäre  dieser  Vor¬ 
stellung  des  „Ausfahrens“  ganz  ungünstig).  Der 
Knabe  drängt,  im  richtigen  Gefühle  der  sich  an  ihm 

1)  Der  volkstümlichen  Bezeichnung  von  Krämpfen  als 
„Begabung“  bin  ich  am  Rheine  begegnet. 

2)  Faustfreuncle  werden  sich  hier  gern  des  altbekannten, 
auf  die  gloriose  Erscheinung  Christi  bezüglichen  Mephisto- 
pheles-Paralipomenons  erinnern : 

Nein!  diesmal  gilt  kein  Weilen  und  kein  Bleiben: 

Der  Reichsverweser  herrscht  vom  Thron; 

Ihn  und  die  Seinen  kenn’  ich  schon, 

Sie  wissen  mich,  wie  ich  die  Ratten,  zu  vertreiben. 

8 


5S 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S. 


Tollziehendeu  Heilung,  mit  aller  Gewalt  dem  vollen 
Anblicke  seines  Erlösers  zu,  der  Satan  aber,  der 
noch  am  linken  Arme  eine  Handhabe  hat,  sucht  mit 
letztem  Kraftaufwande  sein  Opfer  festzuhalten  und 
dem  himmlischen  Einflüsse  zu  entwinden.  Aus 
diesem  zwiespältigen  Impulse  erklärt  sich  die  ver¬ 
zerrte  Körperhaltung  des  Knaben  bis  in  alle  Einzel¬ 
heiten  ohne  Rest:  die  spiralige  Drehung  des  Ober¬ 
körpers  nach  links,  der  Schrägstand  des  Schulter¬ 
gürtels,  die  Zurückwerfung  der  Brust  und  des  Kopfes, 
welche  ihn  in  Gefahr  bringt,  seinen  Schwerpunkt 
zu  verlieren,  und  den  stützenden  Vater  arg  bedrängt 
(ein  Epileptiker  könnte  in  dieser  Weise,  fest  auf 
seinen  Füßen  stehend,  überhaupt  nicht  aufrecht  er¬ 
halten  werden).  Über  das  rechte  Auge  hat  der  wie 
mit  gleichnamig  magnetischer  Kraft  von  Christus 
abcrestoßene  Teufel  die  Macht  bereits  verloren,  es 

o 

ist  gänzlich  dem  Heilande  zugewandt,  das  linke 
Auge  reißt  der  böse  Geist  in  grässlicher  Verzerrung 
soweit  als  möglich  auf  seine  Seite  herüber.  So  ist 
der  Strabismus  divergens  (das  Auswärtsschielen)  das 
wirkuugsvollste,  dabei  streng  logische  Ausdrucks- 
mittel  für  den  an  dem  Körper  des  Knaben  sich  voll¬ 
ziehenden  Kampf  der  himmlischen  mit  der  höllischen 
Macht,  dessen  Ausgang  aus  der  soeben  gewürdigten 
Haltung  der  linken  oberen  Extremität  mit  zweifei- 
loser  Sicherheit  vorherzusehen  ist. 

Nunmehr  begreifen  wir  in  klarster  Erfassung 
aller  Einzelheiten  das,  was  Valentin  in  allgemeine¬ 
ren  Zügen  bereits  richtig  erkannt  hat,  nämlich  die 
mit  allerhand  Scheingründen  so  oft  bestrittene  Ein¬ 
heit  der  Handlung  des  Bildes  (die  etwas  durchaus 
anderes  ist,  als  die  seit  Goethe  ziemlich  allgemein 
anerkannte  Einheit  der  Wirkung):  die  gesamte  Be¬ 
wegung,  oben  und  unten,  geht  ganz  ausschließlich 
von  einem  einzigen  Anstoße  aus,  nämlich  von  der 
Erscheinung  des  verklärten  Christus;  diese  ist  es, 
welche  den  besessenen  Knaben  zu  seinen  jetzt  ganz 
verständlich  gewordenen  und  als  notwendig  ')  begrif¬ 
fenen  Verzerrungen  sowie  zum  lauten  Schreien  ver- 
anla.sst,  und  dieses  Gebaren  des  Knaben  bringt 
wiederum  (als  Reflex  der  J  leilandserscheinung)  die 
Bewegung  der  ilin  umstehenden  Personen  mit  Not¬ 
wendigkeit  hervor.  Die  Eigenart  des  um  den  Kna¬ 
ben  herum  sich  entwickelnden  reich  bewegten 

1)  Für  (len,  der  die  Notwendif^keit  durchschaut,  verliert 
die  Frage,  „oh  schön?  oh  hässlich?“,  ihr  (jewicht;  das  Not¬ 
wendige  steht  gleichsam  ,jienseits  von  Schön  und  Hässlich“; 
gerade  die  erhahen.sten  Kunstzwecke  konnten,  wie  hier  so 
anderwärts  häutig,  nur  durch  die  verwegensten  Knnstinittel 
verwirklicht  werden,  —  „so  ist’snach  Meister- Weis’  und  Art.“ 


Lebens  beruht  nun  darin,  dass  das  ihn  begleitende 
Volk,  seine  Aufmerksamkeit  den  Aposteln  zuwen¬ 
dend,  wohl  einen  neuen  Ausbruch  der  Krankheit  be¬ 
merkt,  nicht  aber  den  exceptioneUen  Charakter  dieses 
Anfalles,  während  die  um  Hilfe  angegangenen 
Jünger  wohl  erkennen,  dass  der  Knabe  durch  irgend 
ein  Phänomen,  welches  er  oben,  in  der  Luft,  zu 
schauen  vermeint,  seelisch  und  leiblich  aufs  heftigste 
beeinflusst  wird,  dieses  Phänomen  nun  aber  auch  ihrer¬ 
seits  wirklich  wahrzunehmen  gänzlich  unvermögend 
sind.  Somit  sind  wir  definitiv  zu  dem  Hauptgegen- 
stande  unserer  Untersuchung  zurückgekehrt,  näm¬ 
lich  zu  der  psychischen  Unfähigkeit  der  neun  Jünger, 
die  schwebende  Gruppe  des  verklärten  Christus  und 
der  Propheten  (auch  bei  direktem  Hinschauen  auf 
dieselbe)  optisch  zu  perzipiren. 


Die  Thatsache,  dass  eine  Erscheinung  von 
einzelnen  Personen  gesehen  wird,  von  anderen,  die 
sich  ebenfalls  in  Sehweite  befinden,  nicht,  steht  im 
Bereiche  der  Kunst  nicht  ohne  Beispiel  da.  Der 
Geist  des  alten  Hamlet  erscheint  im  Schlafzimmer, 
der  Sohn  sieht  ihn,  entsetzt  sich  über  ihn,  hält 
Zwiesprache  mit  ihm ;  für  alles  dieses  ist  die  daneben 
stehende  Königin  blind  und  taub. 

Die  von  der  Königin  geäußerte  Vermutung 
,dies  ist  bloß  Eures  Hirnes  Ausgeburt“  ist  irrtüm¬ 
lich,  der  Geist  ist  keine  bloße  Vision,  sondern  eine 
objektiv  wahrnehmbare  Person;  Horatio,  Bernardo 
und  Marcellus  haben  ihn  ja  ebenfalls  gesehen.  Der 
Geist  unterscheidet  sich  von  einer  lebendigen,  ma¬ 
teriellen  Person  dadurch,  dass  letztere  von  einem 
jeden  Menschen,  der  gesunde  Sehwerkzeuge  hat  und 
aus  der  Nähe  aufmerksam  den  Blick  auf  sie  richtet, 
gesehen  werden  muss,  während  der  Geist  unter  den 
gedachten  Umständen  gesehen  werden  kann,  aber 
nicht  gesehen  zu  werden  braucht.  Ob  einer,  der 
nach  dem  Geiste  hinschaut,  ihn  erblickt  oder  nicht, 
hängt  von  der  Beschaffenheit  des  Schauenden  ab; 
es  gehört  anscheinend  zum  Geistersehen  mehr  als 
die  Funktionstüchtigkeit  der  Sehwerkzeuge,  es  muss 
wohl  noch  eine  gewisse  über  natürliches  Bedürfnis 
hinausreichende,  irgendwie  geartete  innere  Bereit¬ 
schaft  dazukommen,  welche  im  Falle  Hamlet  der 
liebende  Sohn  und  die  getreuen  Vasallen  besitzen, 
die  verräterische,  von  schnödem  Ehebrüche  befleckte 
eliemalige  Gattin  nicht  besitzt.  ’) 


1)  Es  wäre  müßig,  den  hier  behandelten,  auf  das  Über¬ 
sinnliche  gerächteteu ,  in  das  Bereich  der  Poesie  fallenden 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S. 


59 


Übertragen  wir  die  hier  gewonnene  Erfahrung 
auf  die  Transfiguratiou,  so  erkennen  wir,  dass  die 
wunderbare  Lufterscheinung  hinsichtlich  ihrer  op¬ 
tischen  Wahrnehmbarkeit  dem  Geiste  des  alten 
Hamlet  gleich  geartet  ist;  sie  ist  keine  bloße  Vision, 
denn  sie  wird  nicht  nur  von  den  beiden  sogenannten 
„Diakonen“  und  von  dem  Knaben  (bezAv.  dem  in 
ihm  sitzenden  Teufel),  sondern  auch  von  den  drei 
Jüngern  wahrgenommen,  welche  von  dem  Glanze  des 
Verklärten  geblendet  auf  dem  Hügel  kauern.  Aber  die 
Erscheinung  ist,  ganz  Avie  die  im  Hamlet,  keine 
grob  materielle,  Avelche,  sowie  nur  die  natürlichen 
Voraussetzungen  des  Sehens  erfüllt  sind,  gesehen 
Averden  muss;  denn  den  unten  befindlichen  Jüngern 
(teilweise  auch  den  Angehörigen  des  Knaben)  sind 
alle  physikalischen  nnd  physiologischen  Bedingungen 
des  Sehens  gegeben  und  sie  sehen  doch  nicht:  sie 
haben  Augen  und  sehen  nicht!  (mit  diesen  Worten 
kennzeichnet  Jesus  ausdrücklich  seine  Jünger!  Ev. 
Marci  8,  18).  Es  fehlt  diesen  Personen  also  offenbar 
die  innere  Bereitschaft,  welche  dazu  erforderlich  ist, 
um  den  verklärten  Zustand  Christi  sehen  zu  können; 
diese  Disposition  kann  aber  gegenüber  der  Person 
Christi  unmöglich  etwas  anderes  sein  als  der  Glaube 
(im  Sinne  der  christlichen  Religion).  Wer  da  glaubet, 
der  siehet  den  Verklärten:  die  Stufenleiter  der 
optischen  Perception  ist  auf  unserem  Bilde  der 
adäquate  künstlerische  Ausdruck  für  die  Stufenleiter 
des  Christo  willig  oder  (beim  Teufel)  erzwungen 
geweihten  Glaubens;  die  drei  Lieblingsjünger,  die  von 
dem  ihnen  erstrahlenden  Glanze  der  Erscheinung 
überwältigt  werden,  stehen  auch  auf  dieser  Doppel¬ 
skala  (ebenso  wie  in  der  räumlichen  Anordnung  des 
Bildes)  zwischen  den  den  Anblick  der  Herrlichkeit 
ertragenden  himmlischen  Gestalten  und  den  im 
Stumpfsinn  des  Unglaubens  befangenen  niederen 
Erdensöhnen.  *) 


„Defekt  der  Gesichtswahrnehmung“  dabin  diskutiren  zuAvollen, 
ob  das  Bild  gar  nicht  erst  auf  die  Netzbaut  des  Auges  ein- 
Avirkt,  oder  ob  bloß  das  Gebirn  unfähig  ist,  den  vom  Auge 
zugefübrten  Eindruck  Avahrzunebmen.  Nur  so  viel  sei  be¬ 
merkt,  dass  der  Zustand  des  Nichtsehenkönnens,  um  den  es 
sich  hier  handelt,  nichts  zu  thun  hat  mit  der  „Seelenblind¬ 
heit“  der  Physiologie;  denn  bei  dieser  letzteren  Affektion 
wird  das  Bild  mehr  oder  weniger  deutlich  wahrgenommen, 
nur  nicht  seinem  Wesen,  seiner  Bedeutung  nach  erkannt. 
Eher  könnten  gewisse  hypnotische  (bezw.  suggestive)  Phäno¬ 
mene  zum  Vergleiche  (nicht  zur  Erklärung!)  herangezogen 
werden. 

1)  Die  von  Raffael  benutzte  dichterische  Auffassung 
des  Unglaubens  als  eines  optischen  (bezw.  auch  akustischen) 
Defektes  ist  uralt  und  echt  biblisch;  sie  geht  zurück  auf 
5.  Buch  Mosis  20,  4,  wird  dann  mit  allem  Nachdruck  von 


Der  scharfe  Kontrast  in  der  dem  Göttlichen 
entgegengebrachten  Sehkraft  bei  Gläubigen  und 
Ungläubigen  findet  schon  in  dem  300  Jahre  vor 
RaffaeFs  Lebzeiten  gedichteten  Parcival  Wolfram’s 
von  Eschenbach  Verwendung  als  poetisches  Motiv; 
die  Erweckung  zum  Glauben  wird  hier  durch  den 
Empfang  der  Taufe,  Christus  durch  den  heiligen  Gral 
symbolisirt.  Von  allen  in  der  Gralsburg  Anwesenden 
ist  der  Heide  Feirefiss  (Parcival’s  Halbbruder)  der 
einzige,  der,  zum  allgemeinen  Erstaunen,  den  von 
Urepanse  de  Joie  getragenen  heiligen  Gral  nicht 
sieht.  *) 

Amfovtas  sprach  zu  Parcival: 

,,Herr,  Euer  Bruder  hat  den  Gral, 

So  glaub’  ich,  gar  noch  nicht  gesehn.“ 

Und  Feirefiss  gestand  ihm  frei, 

Dass  nichts  vom  Gral  ihm  sichtbar  sei. 

Das  schien  den  Rittern  wundersam, 

Bis  auch  es  Titurel  vernahm. 

Der  lahme  Greis  im  Krankenbette. 

Und  dieser  sprach;  „Ist  an, der  Stätte 
Ein  Heide,  darf  er  sicher  trauen,. 

Dass  nie  den  Gral  er  werde  schauen, 

Eh’  aus  der  Tauf  er  nicht  gehoben. 

Da  ist  ein  Riegel  vorgeschoben.  — 

Sein  Aug’  war  für  den  Gral  noch  blind. 

Bis  er  der  Taufe  Heil  genossen: 

Nun  strahlte  plötzlich  lichtumflossen 
Vor  seinem  Angesicht  der  Gral. 


„Unten  das  Leidende,  Bedürftige,  oben  das  Wirk¬ 
same,  Hilfreiche,  beides  auf  einander  sich  beziehend,  in 
einander  einwirkend“,  —  so  lautet  die  Formel,  in 
Avelche  Goethe  die  „große  Einheit“  der  Konzeption 
Raffael’s  zusammenzu  fassen  versucht  hat.  Aber 
weder  Goethe  selbst  noch  irgend  ein  anderer  Kunst¬ 
forscher  hat  den  Kernpunkt  der  zwischen  dem  oberen 
und  dem  unteren  Bildteile  herrschenden  Beziehungen 
erfassen  können ,  da  ihnen  als  das  „Leidende,  Be¬ 
dürftige“  immer  nur  der  vom  Teufel  besessene 
(d.  h.  hysterische)  Knabe  imponirt  hat.  An  den  neun 
Jüngern  hat  bis  heute  noch  niemand  eine  Hilfsbedürftig¬ 
keit  bemerkt,  es  sei  denn  in  Bezug  auf  deren  unzu¬ 
reichende  ärztliche  Kunst,  also  in  ihrem  Verhältnis 


Jesaias  (6,  9—10)  aufgenommen  und  sowohl  von  Jesus  (Ev. 
Matth.  13,  13 — 16)  wie  von  Paulus  (Apostelgeschichte  28, 
26 — 27)  aus  Jesaias  citirt;  vgl.  ferner  Ev.  Marc.  4, 12  und 
Ev.  Luc.  8,  10;  schließlich  Ev.  Job.  12,  39 — 40:  „Darum 
konnten  sie  nicht  glauben;  denn  Jesaias  sagt  abermal:  ,Er 
hat  ihre  Augen  verblendet  und  ihr  Herz  verstockt,  dass  sie 
mit  den  Augen  nicht  sehen,  noch  mit  dem  Herzen  vernehmen, 
und  sich  bekehren,  und  ich  ihnen  hülfe'.“ 

1)  Parcival,  übersetzt  von  San  Marte.  3.  Aufl.  Halle, 
1887.  S.  420  und  425. 


DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S. 


6it 

za  dem  Kranken;  aber  gerade  in  dem  Verhältnis 
der  neun  Jünger  zu  Christo  dem  Verklärten  liegt  das 
eigentliche  Ilauptleiden,  dem  Hülfe  Not  thäte.  Das 
leibliche  und  das  geistliche  Elend,  Krankheit  und 
Unglaube,  sind  uns  hier  unten  mit  greifbarer  Deut¬ 
lichkeit  neben  einander  vor  die  Augen  gestellt. 
Aber  während  dem  krampfkranken  Knaben  trotz 
der  Ratlosigkeit  der  konsultirten  Arzte  die  schleunige 
Genesung  durch  den  „einzig  Kräftigen“  sicher  isG 
während  also  unser  Mitgefühl  für  das  unglückliche 
Kind  und  die  geängstigten  Seinen  durch  die  im 
Bilde  angedeutete  Aussicht  der  nahen  Heilung  eine 
wesentliche  Milderung  erfährt,  lastet  die  volle 
Wucht  der  Tragik  dieses  erschütternden  Weltbildes 
auf  den  neun  Jüngern  Christi!!  Das  sind  die  Berufenen, 
zum  hohen  Dienste  Erkorenen,  das  sind  die  Weisen, 
die  Gelehrten,  die  klugen  Arzte,  zu  denen  das  arme 
\  olk  aufblickt  wie  zu  Göttern.  Die  haben  gar 
vieles  studirt  und  erforscht  aus  Büchern  und  aus 
eigener  Beobachtung;  dem  Meister  haben  sie  bei 
der  Heilung  wohl  noch  schwierigerer  Fälle  oft 
assistirt,  alle  Künste  haben  sie  ihm  abgesehen,  und 
so  dachten  sie  denn,  die  Gelegenheit  seiner  Ab¬ 
wesenheit  benutzend,  es  ihm  einmal  im  Heilen  nach- 
zuthun  —  zum  Wohle  der  leidenden  Menschheit. 
Aber  siehe  da,  ihren  Beschwörungen  fehlte  die 
Kraft,  der  Teufel  der  Krankheit  wollte  ihrem  Spruche 
nicht  weichen,  und  alle  ihre  Weisheit  drohte  zu 
Schanden  zu  werden  vor  dem  Volke,  —  da  kommt 
ihnen  der  Himmel  mit  einem  Wunder  zu  Hilfe,  die 
„Quelle  des  Heiles“  eröffnet  sich  ihnen,  unmittelbar 
vor  ihren  Augen,  —  aber  ihre  Augen  sind  blöde; 
die  Herrlichkeit  des  Herrn  thut  sich  über  ihnen  auf, 
aber  sie  seben  sie  nicht,  sie,  des  Herren  eigene  Jünger! 
(was  soll  man  da  von  dem  profanum  volgus  er- 
wart<Mi‘Q  und  da  man  sie  mit  Hand  und  Mund  auf 
die  W  under  der  Höhe  hinweist  —  da  hören  sie  wohl 
rlie  Botschaft,  allein  es  fehlt  der  Glaube,  der  hier 
allein  die  Binde  von  den  Augen  lösen  könnte:  der 
Glaiilje,  der  Berge  versetzt  (Ev.  Matth.  17,  20),  und 
so  bleibt  ihnen  denn  die  Botschaft  ein  leerer  Wahn. 
Den  von  der  Schuld  des  Unglaubens  belasteten 
.lüngern  giebt  RaffaePs  Bild  keine  Hoffnung.  Sie, 
die  sich  so  gesund  dünken,  sind  die  mit  schwer 
heilbarem  Siechtum  Geschlagenen. 

Die  Transfiguration  RafFaePs  ist  die  Welttragödie 
des  Unglaubens  oder  die  Weltapotheose  des  Glaubens. 

Die  bibli.sche  Erzählung,  welcher  Raffael  den 
Stoff  zu  seinem  ^Veltbilde  entnommen  hat,  trägt  die 


Tendenz,  den  Glauben  als  die  weltbezwingende  All¬ 
kraft  zu  verherrlichen  und  den  Unglauben  gerade 
an  den  Jüngern  als  das  Erzübel  zu  brandmarken,  in 
der  auffälligsten  Weise  zur  Schau.  Vgl.  Ev.  Matth. 
17,  14 — 20:  Da  Jesus  auf  dem  Berge  vor  Petrus, 
Jacobus  und  Johannes  verklärt  worden  war,  kam 
er  hernieder  zum  Volke;  da  „trat  zu  ihm  ein  Mensch, 
und  fiel  ihm  zu  Füßen,  und  sprach:  Herr,  erbarme 
dich  über  meinen  Sohn;  denn  er  ist  mondsüchtig,  und 
hat  ein  schweres  Leiden;  er  fällt  oft  ins  Feuer  und 
oft  ins  Wasser;  und  ich  habe  ihn  zu  deinen  Jüngern 
gebracht,  und  sie  konnten  ihm  nicht  helfen.  Jesus 
aber  antwortete,  und  sprach:  0,  du  ungläubige  und 
verkehrte  Art,  wie  lange  soll  ich  bei  euch  sein!  Wie 
lange  soll  ich  euch  dulden !  Bringet  mir  ihn  hier¬ 
her.  Und  Jesus  bedrohete  ihn;  und  der  Teufel  fuhr 
aus  von  ihm,  und  der  Knabe  ward  gesund  zu  der- 
selbigen  Stunde.  Da  traten  zu  ihm  seine  Jünger 
besonders,  und  sprachen:  Warum  konnten  wir  denn 
ihn  nicht  austreiben?  Jesus  aber  antwortete,  und 
sprach  zu  ihnen:  Um  eures  Unglaubens  willen. 
Denn  ich  sage  euch:  Wahrlich,  so  ihr  Glauben  habt 
als  ein  Senfkorn,  so  möget  ihr  sagen  zu  diesem 
Berge:  hebe  dich  von  hinnen  dorthin;  so  wird  er 
sich  heben,  und  euch  wird  nichts  unmöglich  sein.“ 
(Vergl.  hierzu  Ev.  Marc.  Kapitel  9  und  Ev.  Luc. 
Kapitel  9.)  Die  völlige  Identität  der  in  der  bibli¬ 
schen  Erzählung  so  nachdrücklich  betonten  Tendenz 
mit  der  in  dieser  Arbeit  für  RaffaePs  Bild  ent¬ 
wickelten  Deutung  muss  der  letzteren  eine  starke  Be¬ 
kräftigung  verleihen,  soll  aber  keinesweges  von  mir 
als  Beweismittel  in  Anspruch  genommen  werden, 
denn  es  hätte  Raffael  ja  freigestanden,  von  der 
biblischen  Idee  nach  seinem  künstlerischen  Ermessen 
sich  beliebig  weit  zu  entfernen;  auch  habe  ich  meine 
Deutung  aus  keiner  anderen  Quelle  abgeleitet  als 
aus  dem  Bilde  selbst.  Indessen  ist  es  der  höchsten 
Bewunderung  würdig,  wie  Raffael  seiner  epischen 
Vorlage  bis  in  Einzelheiten  hinein  treu  geblieben 
ist  und  durch  die  denkbar  geringsten  Änderungen 
es  ermöglicht  hat,  die  weit  ausgesponnene  und  in 
drei  auf  zwei  Orte  und  zwei  Zeiten  verteilte  Hand¬ 
lungen’)  zerfallende  Erzählung  zu  einem  Momentbilde 
zu  verdichten,  welches  das  Universum  (vom  Himmel 
durch  die  Welt  zur  Hölle)  in  einen  engen  Rahmen 
einspannt  und  die  in  der  Bibel  in  Jesu  scheltenden 


1) 

erste  Zeit 

zweite  Zeit 

auf  der  Anhöhe 

Verklärung  Christi 

in  der  Ebene 

Heilungsversuch 

Heilung  durch 

der  Jünger 

Christus 

DIE  IDEE  DER  TRANSFIGURATION  RAFFAEL’S. 


61 


Worten  sich  offenbarende  Idee  durch  die  bloße  Si¬ 
tuation  zu  machtvoll  ergreifendem  Ausdrucke  bringt. 
Die  erste  Änderung,  die  Raffael  zu  diesem  Behufe 
vornahm ,  ist  die  Ersetzung  des  „hohen  Berges“  i) 
(Ev.  Matth.  17,  1)  durch  einen  flachen  Hügel;  die 
zweite  Änderung  ist  die  über  die  biblische  Schil¬ 
derung  hinausgehende  Darstellung  des  Verklärungs¬ 
zustandes  durch  Erhebung  Christi  in  die  Luft  und 
Vergrößerung  seiner  lichtumflosseneu  Gestalt  über 
menschliches  Maß  hinaus.  Durch  diese  beiden  über¬ 
aus  einfachen  Mittel  ist  (von  allen  malerischen  Ge¬ 
sichtspunkten  völlig  abgesehen)  erreicht  worden, 
dass  die  obere  Gruppe  der  unteren  zu  bequemster 
Sichtbarkeit  dicht  vor  die  Augen  gerückt  worden 
ist,  womit  sofort  die  Möglichkeit  gleichzeitiger  Ein¬ 
wirkung  Christi  auf  den  Besessenen  und  sinnfälliger 
Bloßstellung  der  neun  Jünger  geschaffen  ist.  Unten 
haben  wir  die  Schar  der  Kranken,  oben  die  Medizin, 
die  in  diesem  Falle  wirklich  als  Allheilmittel  ge¬ 
dacht  ist;  wenn  sie  dem  einen  hilft  und  den  an¬ 
deren  nicht,  so  liegt  die  Schuld  ausschließlich  an 
den  letzteren  selbst,  die  noch  nicht  einmal  zum  Be¬ 
wusstsein  ihres  Krankseins  gekommen  sind. 


Hinsichtlich  der  beiden  traditionell  so  genannten 
„Diakonen“  dürfte  das  letzte  Wort  auch  noch  nicht 
gesprochen  sein;  die  Identifizirung  solcher  frommen 
Beter  mit  den  Porträts  irgend  welcher  Personen  der 
profanen  oder  heiligen  Geschichte  (Stiftern,  Schutz¬ 
patronen  etc.)  mag  anderen  religiösen  Bildern  Ge¬ 
nüge  thun,  aber  nicht  diesem  Bilde,  dessen  fast  bei¬ 
spiellose  dramatische  Gewalt  jede  von  außen  auf¬ 
erlegte  Nötigung  in  eine  von  innen  her  bedingte 
Notwendigkeit  verwandelt. Ich  bin  geneigt,  nach 
Situation  und  Ausdruck,  an  Repräsentanten  des  Pur- 
gatoriums,  aus  den  höchsten  Regionen  des  Läuterungs- 


1)  Nirgends  steht  in  der  Bibel,  dass  die  Verklärung  auf 
dem  Berge  „Tabor“  stattgefunden  habe;  die  vielfach  üb¬ 
liche  Bezeichnung  des  Raöäel’schen  Bildes  als  „Transfiguration 
auf  dem  Berge  Tabor“  ist  also  nicht  bloß  sachlich  ungerecht¬ 
fertigt  (wegen  Mangels  eines  Berges),  sondern  nebenbei  auch 
noch  unbiblisch. 

2)  Der  Faustkenner  mache  sich  dieses  Verhältnis  an  dem  . 
„Genius  ohne  Flügel“  klar  (Faust,  11.  Teil,  III.  Aufzug), 
dessen  Bedeutung,  als  Lord  Byron,  den  Eingeweihten  ver¬ 
ständlich  bezeichnet  ist,  der  aber  für  das  Drama,  als  lebendige 
Aktion,  niemand  anders  ist  als  Euphorien,  der  in  Arkadien 
erzeugte  Sohn  des  Faust  und  der  aus  der  Unterwelt  beur¬ 
laubten  Helena. 


berges,  zu  denken;  dadurch  würde  das  katholische 
Weltbild  zu  einem  lückenlos  vollständigen;  vgl. 
Dante,  Divina  commedia,  vor  allem  aber  die  heiligen 
Väter  im  Faust,  Schlussscene  des  zweiten  Teils,  ganz 
besonders  den  Doktor  Marianus,  dessen  Seele  aus  der 
schwärmerisch  hingebungsvollen  Handgebärde  und 
dem  inbrünstig  entzückten  Angesichte  des  einen,  dem 
Beschauer  näheren  Beters  zu  sprechen  scheint: 

Lasse  mich  im  blauen 
Ausgespannten  Himmelszelt 
Dein  Geheimnis  schauen! 

Billige,  was  des  Mannes  Brust 
Ernst  und  zart  beweget 
Und  mit  heil’ger  Liebeslust 
Dir  entgegen  trüget! 

Er  „blicket  auf  zum  Retterblick“,  gleich  als  harrete 
er  des  Erlösungswortes: 

Komm !  hebe  dich  zu  hohem  Sphären !  — 

Ob  diese  beiden  knieenden  Gestalten  in  Bezug 
auf  ihre  Sichtbarkeit  für  Menschenaugen  unter  die¬ 
selbe  Kategorie  fallen  wie  die  in  der  Luft  schwebende 
dreipersönliche  Erscheinung,  ist  eine  praktisch  be¬ 
langlose  Frage,  da  ihr  Anblick  selbst  in  dem  un¬ 
wahrscheinlichen  Falle  grob  materieller  Sichtbarkeit 
den  Untenstehenden  durch  die  vordere  Wand  des 
Hügels  doch  verdeckt  bleiben  würde,  —  ebenso  wie 
der  Anblick  der  oberen  drei  Jünger,  von  denen 
höchstens  Fragmente  des  einen  (etwa  der  weit  aus¬ 
gestreckte  linke  Arm)  von  unten  aus  gesehen  wer¬ 
den  können,  so  dass  das  erschrockene  Gebaren  der 
oberen  Genossen  keinen  Eindruck  auf  die  unteren 
zu  machen  vermag. 

Indem  ich  hoffe,  die  Wolken  des  Unverständ¬ 
nisses  und  des  Halbverständnisses  verjagt  zu  haben, 
welche  sich  nur  allzulange  um  die  hocherhabene 
Meisterschöpfung  zusammenballen  durften,  und  deren 
Dunkel  zu  lichten  schon  Altmeister  Goethe  sich  be¬ 
müht  hat,  weiß  ich  mit  keinem  besseren  Worte  zu 
schließen ,  als  mit  dem  an  die  Spitze  dieser  Arbeit 
gestellten  Kernspruch,  in  welchem  sich  das  grenzen¬ 
lose  Vertrauen  des  deutschen  Dichterfürsten  zu  dem 
dichterischen  Genius  des  Urbinaten  in  einer  alle 
Zweifler  und  Krittler  tief  beschämenden  Weise  aus¬ 
spricht,  und  in  dem  das  innerste  Wesen  einer  jeden 
genial  schöpferischen  Thätigkeit  seine  unübertrefflich 
klare  Deutung  findet: 

„Er  hat,  wie  die  Natur,  jederzeit  Recht.“ 


Eingang  zum  Glaspalast  in  Münclien. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 

VON  ALFRED  GOTTHOLD  MEYER. 


IE  „neue  Schule“  hat  in  diesem  Jahr  an 
gleicher  Stätte  ihren  Historiker  und  ihr 
eigenes  Heim  gefunden.  Beide  Thatsachen, 
das  Erscheinen  von  lang  vorbereiteter 

„Geschichte  der  Malerei  im  neunzehnten  Jahrhundert“ 
und  die  „Sezession“  der  „bildenden  Künstler“  Münchens, 
an  sich  von  ungleicher  Bedeutung  und  von  einander 
gänzlich  unabhängig,  bezeichnen  in  der  äußeren  Ge- 
schiclite  der  modernen  Malerei  vielleicht  den  Beginn 
einer  neuen  Epoche.  Möglich,  dass  nunmehr  das  Uber- 
gangsstadiuni ,  in  welchem  sich  unsere  Malerei  be¬ 
findet,  seinem  Ende  naht;  jedenfalls  ist  der  jetzige 
Zeitjiunkt  beachtenswert.  —  Was  sich  in  einem 
.Jahrhundert  in  heißem,  mit  materiellem  Elend  und 
Tod  besiegeltem  Bingen  zahlloser  kraftvoller  Per¬ 
sönlichkeiten  schrittweise  vorbereitet  hat,  kann  nicht 
mehr  als  ein  vorühergehender  Irrtum  gelten,  auf 
den  man  vom  Standpunkte  traditioneller  Anschau¬ 
ungen  nur  mitleidig  herabljlickt  oder  strafend  den 
Bannstrahl  schleudert,  und  eine  Bewegung,  welche 


sich,  allen  Hindernissen  und  Anfeindungen  zum 
Trotz,  in  unserem  Kunstleben  während  eines  Jahr¬ 
zehntes  so  siegreich  Bahn  gebrochen  hat,  dass  sie 
jetzt  auf  dem  ersten  Haltepunkt  ihres  Eroberungs¬ 
zuges  ein  so  treffliches  Zeugnis  von  ihrer  Kraft  ab¬ 
zulegen  vermag,  wie  es  die  Sezessionistenausstellung 
in  der  Prinzregentenstraße  bot,  ist  nicht  mehr  ein¬ 
zudämmen  und  noch  weniger  totzuschweigen.  Sie 
verlangt  mit  dem  Rechte  jeder  historischen  That- 
sache  vor  allem  Gehör  und  objektive  Würdigung. 
Auch  der  unerbittlichste  Feind  muss  nunmehr  zuge¬ 
stehen,  dass  die  Sezession isten  wissen,  was  sie  wollen, 
und  Achtung  gebietend  zur  Geltung  bringen,  was  sie 
können.  Über  Grad  und  Wert  dieses  Könnens  selbst 
darf  das  Urteil  verschieden  lauten:  über  seine  Be¬ 
deutung  als  treibende  Kraft  in  der  Entwickelungs- 
geschicbte  unserer  Kunst  ist  ein  Zweifel  fortan  un¬ 
möglich.  Das  ist  das  bleibende  Ergebnis  der  Se¬ 
zession  als  einer  künstlerischen  und  daher  kunst- 
historisch  beachtenswerten  That. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


63 


Bei  diesem  Ruhm  klingen  jedoch  noch  andere 
und  keineswegs  stets  wohlthuende  Töne  mit.  Wenn 
sich  im  Kunstleben  eine  äußere  Spaltung  vollzieht, 
so  pflegt  dies  keineswegs  lediglich  zu  Gunsten  der 
Gesundheit  seines  Organismus  zu  geschehen.  Neben 
der  lebenspendenden  Kraft,  welche  sich  vom  alternden 
Körper  zu  selbständigem  Dasein  loslöst,  drängen  sich 
auch  zahlreiche  schmarotzende  Teile  hervor,  denn 
der  neue  Boden  verspricht  ihnen  besser  beachtete 
Entfaltung.  Die  Sezession  ist  nicht  nur  eine  künst- 

o 

lerische  That,  sie  ist  in  mancher  Hinsicht  auch  das 
Ergebnis  persönlicher,  dem  reinen  Kampfplatz  der 
Kunst  selbst  fernliegender  Gegensätze,  und  der 
Deckmantel  für  unbefriedigten  Ehrgeiz.  Darin  liegt 
die  eine  große  Gefahr,  welche  für  unser  Kunstleben 
und  vor  allem  für  die  „neue  Schule“  selbst  aus  dem 
in  München  vollzogenen  Schritt  erwachsen  kann. 
Weniger  folgenschwer  erscheint  zunächst  ein  anderes 
Bedenken,  das  sich  dem  unbeteiligten  Beobachter 
des  jetzt  zu  hellen  Flammen  entbrannten  Kampfes 
schon  lange  aufdrängen  musste.  Niemals  ist  es  gut, 
die  Kräfte  kontinuirlich  bis  zum  äußersten  anzu¬ 
spannen.  Als  1889  der  Plan  der  „Münchener  Jahres¬ 
ausstellungen“  ins  Werk  gesetzt  wurde,  mochte  man 
sich  wohl  fragen,  ob  es  möglich  bleiben  würde,  die 
alljährlichen  Veranstaltungen  dauernd  auf  gleicher 
Höhe  zu  halten.  Bisher  ist  diese  Aufgabe  quanti¬ 
tativ  wie  qualitativ  glänzend  gelöst  worden,  aber  es 
bedurfte  doch  stets  neuer  Reizmittel,  um  das  Pubhkum 
in  gleicher  Weise  zu  fesseln.  Man  bot  in  Sonder¬ 
ausstellungen  die  besten  älteren  Meister  auf,  man 
entsandte  die  Einladungen  bis  zu  den  Japanern, 
man  gewährte  manchem  Sonderling  Aufnahme,  weil 
seine  Arbeiten  im  guten  oder  auch  im  schlechten 
Sinne  Aufsehen  erregen  mussten.  In  diesem  Jahre 
ist  diese  Taktik  durch  die  Scheidung  in  zwei  Heer¬ 
lager  zum  äußersten  gelangt.  Schon  in  der  Zahl 
der  ausgestellten  Werke!  1890  beherbergte  der 
Glaspalast  rund  1430,  1891  1790,  im  vorigen  Jahre 
schon  2390  Gemälde  und  diesmal  erreichen  die  in 
beiden  Ausstellungen  vorhandenen  Ölbilder  etwa  die 
gleiche  Zahl.  Eine  quantitative  Steigerung  ist  kaum 
noch  möglich,  sicherlich  nicht  wünschenswert,  aber 
auch  die  qualitative  Sichtung  könnte  durch  taktische 
Bedenken,  bei  dem  an  sich  begreiflichen  Wunsch 
beider  Unternehmungen,  schon  äußerlich  in  im¬ 
posanter  Weise  vor  die  Öffentlichkeit  zu  treten, 
Gefahr  laufen.  Und  auch  für  das  Walten  der  Jury 
.sind  die  jetzigen  Verhältnisse  nicht  gerade  günstig. 
Diesmal  ist  von  den  Sezessionisten  manche  Arbeit 
zugelassen  worden,  welche  das  einheitliche  Gesamt¬ 


bild  ihrer  Ausstellung  stört,  und  im  Glaspalast  fand 
sich  eine  sehr  stattliche  Anzahl  von  Werken,  die 
innerlich  und  knnsthistorisch  zu  denjenigen  Prinzi¬ 
pien,  von  welchen  sich  die  „bildenden  Künstler“ 
lossagten,  im  schärfsten  Gegensätze  stehen,  Schö¬ 
pfungen,  welche  —  wenn  anders  die  „Sezession“ 
innere  und  äußere  Berechtigung  besitzt  —  in  die 
Prinzregentenstraße  gehörten.  Beide  Thatsachen 
können  die  gute  Wirkung  der  Sezession  nur  schä¬ 
digen.  Bedient  man  sich  im  Glaspalast  auch  ferner¬ 
hin  so  unbedenklich  der  gleichen  Waffen,  mit 
denen  die  Sezessionisten  kämpfen,  so  ist  die  Sezes¬ 
sion  als  solche  unnötig.  Sie  hat  dann  eine  ihrer 
besten  Aufgaben,  aus  unseren  Ausstellungen  das 
Verkaufsgut  möglichst  zu  verdrängen,  erreicht, 
könnte  sich  schon  mit  dieser  einen  befreienden  That 
begnügen  und  sich  auflösen.  Das  wäre  aus  manchen 
Gründen  zu  bedauern,  aber  an  sich  kein  allzu¬ 
schwer  wiegender  Nachteil  im  höheren  Sinne.  Bei 
der  jetzigen  Lage  der  Dinge,  die  sich  naturgemäß 
immer  persönlicher  zugespitzt  haben,  ist  jedoch  ein 
anderer  Ausgang  weit  eher  zu  fürchten.  Je  mehr 
sich  die  Jahresausstellung  der  Sezession  künstlerisch 
zu  nähern  sucht,  um  so  mehr  wird  die  letztere  dem 
Radikalismus  in  die  Arme  getrieben,  um  so  häufiger 
wird  sie  genötigt  werden,  nicht  mehr  nur  nach 
dem  Neuen  und  Guten,  sondern  nur  nach  dem 
,, Neuen“  auszuschauen.  —  Das  ist  zweifellos  die 
größte  Gefahr,  welche  die  jetzigen  Verhältnisse  der 
Münchener  Ausstellungen  für  unser  Kunstleben  be¬ 
sitzen,  eine  Gefahr,  welche  man  keiner  der  beiden 
streitenden  Parteien  zur  Last  legen  kann,  sondern 
welche  sich  aus  der  Situation  selbst  mit  Notwendig- 
keit  ergab.  Wird  der  angreifende  Teil,  die  Sezes¬ 
sion,  Kraft  und  Charakter  genug  haben,  ihr  erfolg¬ 
reich  zu  begegnen  ?  —  Die  Antwort  auf  diese  Frage 
muss  der  Zukunft  überlassen  bleiben ,  denn  jede 
Prophezeiung  wäre  jetzt  müssig.  Für  diesmal  ist 
die  Sezession  zu  ihrem  Erfolge  rückhaltslos  zu  be¬ 
glückwünschen,  und  es  gebührt  ihr  allseitiger  Dank, 
denn  sie  hat  es  an  sich,  und  nicht  zum  wenigsten 
durch  ihre  Rückwirkung  auf  ihre  Gegnerin  erreicht, 
dass  das  Gesamtbild  der  modernen  Kunst  in  Mün¬ 
chen  diesmal  eine  selbst  dort  ungewöhnliche  Voll¬ 
ständigkeit  zeigte,  ja  dass,  wer  die  letzte  Entwicke¬ 
lungsphase  unserer  Malerei  mit  allen  ihren  Gegen¬ 
sätzen  zur  älteren  Art  studieren  wollte,  diesmal 
in  München  besseren  Boden  fand,  als  selbst  in 
Paris.  — 


B4 


DIE  MÜNCHENER  KÜNSTAUSSTELLUNGEN. 


Der  Standpunkt  dieses  Berichtes  ist,  soweit  dies 
möglich,  derjenige  der  Kunstgeschichte.  Er  ver¬ 
sucht  ein  Bild  von  dem  zu  geben ,  was  diese  Aus¬ 
stellungen  für  den  künftigen  Historiker  der  modernen 
Malerei  Beachtenswertes  enthielten.  Er  darf  die 
örtliche  Trennung  der  Werke  füglich  ganz  unbe¬ 
achtet  lassen,  und  die  Anzahl  der  Künstlernamen, 
soweit  dieselben  nicht  eine  Bedeutung  im  Sinne  der 
Kunstgeschichte  besitzen,  möglichst  beschränken. 
Bei  der  thatsächlich  unübersehbaren  Fülle  des  Ge¬ 
botenen  muss  eine  Charakteristik  der  Ausstellung 
von  vornherein  darauf  verzichten,  hier  auch  nur  an¬ 


punkt  der  ausländischen  Abteilung  blieben  die  Säle 
Englands,  und  um  so  unbestrittener,  als  hier  jed¬ 
wedem  Anspruch  an  künstlerisches  Schaffen  genügt 
wurde.  —  Die  letzten  Jahre  haben  die  Kenntnis  der 
englischen  Kunst  durch  Bild  und  Schrift  auch  bei 
uns  in  weitere  Kreise  verbreitet,  und  nicht  ohne  ein 
gewisses  Erstaunen  mag  man  stärker  und  stärker 
empfunden  haben,  dass  in  der  zukünftigen  Kunstge¬ 
schichte  unserer  Tage  die  englische  Kunst  vielleicht 
eine  nicht  minder  große  Bedeutung  gewinnen  wird, 
als  die  französische.  Mit  historischem  Recht  sieht 
Muther  die  Anfänge  der  modernen  Kunst  im  Eng- 


Italieiiciin.  (Jc.mälilo  von  Victor  Müm.er. 


näliiTiiil  aller  Hiebt igen  Lei.stungen  einzeln  zu  ge¬ 
denken.  Der  einzelne  Künstlername  möge  im  fol- 
L'enden  daher  vielfach  eine  ganze  Reihe  gleich¬ 
wertiger  Leistmigen  decken!  —  Vorausgeschickt  sei 
imcli,  div-;  die  Beteiligung  des  Auslandes  in  beiden 
Ansitellnngen  eine  rege,  eine  hervorragende  aber 
nur  »  iien^i  Englands  war.  Die  franzö.sischen  Arbeiten 
ai;  den  Pariser  Salons  sind  an  dieser  Stelle  schon 
von  anderer  Seite  gew'ürdigt  worden.  S])anien  und 
Italien  batten  —  abgesehen  von  den  Werken  einzelner 
llaijptineisti*r ,  wie  Villrf/as  —  zur  Verkaufsware 
dark  beigesteuert.  Holland  und  Belgien  viel  Vor¬ 
treffliches,  aber  wenig  Neues  gebracht.  Der  Glanz- 


laud  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  mit  künst¬ 
lerischem  Recht  sind  die  englischen  Präraffaeliten 
jetzt  mehr  und  mehr  in  den  Vordergrund  des  all¬ 
gemeinen  Interesses  getreten.  Ihre  Bahn  läuft  ab¬ 
seits  von  den  breiten  Wegen  der  „neuen  Schule“, 
und  ist  mit  dieser  dennoch  durch  geheime  Pfade 
verbunden.  Die  Sonderausstellung  von  O.  F.  Watts 
ließ  dies  vor  ihren  Porträts,  vor  ihren  Landschaften, 
selbst  auch  vor  ihren  gedankenreichen  Allegorieen 
wohl  ahnen.  Von  den  Farben  eines  Tintoretto  aus¬ 
gehend,  ist  er  zuweilen  —  besonders  in  den  Land¬ 
schaften  —  zu  der  Art  der  modernsten  Schotten  ge¬ 
langt,  und  die  bald  an  Hymnen  und  Orgelklang, 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLÜNCtEN. 


65 


bald  an  zarte  Kanzonen  gemahnende  Sprache  seiner 
Bilder  aus  idealem  Reich  hat  nicht  selten  leise  Ähn¬ 
lichkeit  mit  dem  geheimnisvollen  Losungsruf,  den 
einige  der  modernsten  Farbensymbolisteu  in  sich  zu 
vernehmen  glauben.  Bei  diesen  aber  klingt  der¬ 
selbe  noch  undeutlich.  VVas  sie  bieten,  sind  meist 
noch  verschwommene 
Traumbilder,  deren 
Wirkung’  auf  Auge  und 

O  O 

Sinn  am  ehesten  der¬ 
jenigen  des  musikali¬ 
schen  Tones  an  sich  zu 
vergleichen  ist.  Watts 
führt  eine  klare  Sprache, 
kunstvoll  und  wohlbe¬ 
dacht,  selbst  da,  wo  er 
an  die  Pforte  des  üu- 
erforschlichen  pocht.  Er 
ist  mehr  Denker  als 
Dichter,  mehr  Denker 
und  Dichter  als  Maler. 

Darum  kann  er  auch 
nicht  volkstümlich  wer¬ 
den.  —  Es  gab  in  dieser 
Ausstellung  noch  einen 
Raum,  in  welchem  die 
Kunst  sich  in  ähnlicher 
Weise  zu  überirdischen 
Sphären  erhob  und  alle 
Gegenwart  vergessen 
ließ :  der  Boecklin  -  Saal, 
aber  wie  ganz  anders 
wussten  die  Bilder  dort 
von  einer  überirdischen 
AYelt  zu  erzählen!  Das 
Gemälde  „Die  Heim¬ 
kehr“  mutet  an  wie  ein 
Volkslied,  das  köstliche 
Bild:  „Gottvater  zeigt 
Adam  das  Paradies“  wie 
ein  echtes  Märchen. 

W atts  verleiht  den  W elt- 
kräften,  der  Zeit,  dem 
Tode,  der  Liebe,  dem 
Gericht,  die  Gestalt  gottähnlicher  Menschen,  zu 
denen  eine  persönliche  Beziehung  unmöglich  ist: 
von  Wesen  höherer  Gattung,  ernst  und  hehr 
oder  voll  Anmut  und  Lieblichkeit,  aber  stets  un¬ 
nahbar,  wie  die  Gesichte  der  alten  Seher.  Boeck- 
lin’s  Herr  der  Heerscharen  ist  ein  Greis  voll  un¬ 
endlicher  Güte,  in  einen  strahlenden  Zaubermantel 
Zeitschrift  für  bildende  Kup.st.  N,  F.  V.  H. 


Die  Sünde.  Von  Fr.  Stuck.  Mach  einer  Photograpiiie  von  F.  Hanfstängl 


gehüllt;  sein  Adam  ein  hilflos  befangener  Knabe;  sein 
Paradies  ein  Paradies  der  Kinder,  und  neben  seiner 
„Pieta“  erblassen  selbst  die  Gestalten  des  englischen 
Präratfaeliten.  Doppelt  wird  man  sich  bei  solchem 
Vergleich  bewusst,  wieviel  Gesundheit  und  echt 
deutsche  Kraft  in  der  Kunst  des  großen  Baselers 

steckt.  Wer,  wie  dies¬ 
mal  Sandreuter,  seinen 
Pfaden  ohne  dieses 
Lebenselemeut,  nur 
äußerlich  folgt,  geht 
trotz  aller  Mühe  einer 
tiefer  greifenden  AA^ir- 
kung  verlustig.  — Wenn 
Watts  einem  Boecklin 
gegenüber  als  Grübler 
erscheint,  so  kennzeich¬ 
net  er  jedoch  im  Hin¬ 
blick  auf  eine  in  Deutsch¬ 
land  vor  allem  durch 
Gabriel  Max  vertretene 
Kunstrichtung,  welcher 
neuerdings  auch  Paal 
Höcker  („Die  Wund¬ 
male“)  Zugeständnisse 
macht, noch  einkerniges 
und  gesundes  Schaffen. 
Das  konnte  man  in 
München  besonders  vor 
den  beiden  malerisch 
wie  inhaltlich  besonders 
eigenartigenWerkendes 
Belgiers  Kknopif  em¬ 
pfinden.  Dessen  „I  lock 
my  door  upon  inyself’' 
betiteltes  Gemälde,  auf 
welchem  ein  Mädchen¬ 
kopf  in  seltsamer  Um- 
ffebunff,  zwischen  rebus- 
artig  verteiltem  Beiwerk, 
weltabgeschieden  träu¬ 
merisch  vor  sich  hin¬ 
blickt,  hat  viel  von  der 


englischen  Malerei,  aber 
zu  wenig  von  deren  selbst  im  Rätselhaften  noch 
gewahrter  Klarheit.  Auch  seine  ,, Sphinx“  ein 

nacktes  Weib,  dessen  Glieder  wie  von  einem  ge¬ 
heimnisvollen  Schleiervorhang  leicht  verhüllt  sind  — 
ist  eine  technisch  vollendete,  der  Auftassungsweise 
nach  jedoch  krankhafte  Leistung.  —  Des  Krank¬ 
haften  gab  es  auch  sonst  noch  in  diesen  beiden 


66 


DIE  MÜNCHENER  KÜNSTAUSSTELLUNGEN. 


Ausstellungen  genug,  und  dass  dies  zugelassen  wurde, 
war  bei  der  Lage  der  Dinge  ein  arger  taktischer 
Missgritf,  sowohl  für  die  „Sezession“,  in  der  die 
W  erke  von  Munlhe  und  Strathmann  eine  gar  zu  komi¬ 
sche  Rolle  spielten,  als  auch  für  die  Jahresausstellung, 
welche  durch  die  Arbeiten  des  Malayschen  „Linien¬ 
symbolisten“  Jan  Toorop  die  Gegnerin  noch  über¬ 
trumpfte.  —  Es  wirkte  wie  eine  Ironie  des  Schick¬ 
sals,  dass  die  Sendungen  dieser  drei  Aussteller, 
welche  den  Widerspruch  am  schärfsten  imd  allge¬ 
meinsten  herausforderten,  zu  den  umstrittenen  Zielen 
der  „neuen  Schule“  in  keinem  oder  vielmehr  in  einem 
gegensätzlichen  Verhältnisse  standen :  sie  sind  anti- 
naturalistisch,  ohne  farbige  Wirkung,  und  entstam¬ 
men  mehr  einem  reflektirenden  als  einem  künst¬ 
lerischen  Schaffen.  Allerdings  ist  zuzugestehen, 
dass  Toorop  sich  in  seinen  Gemälden  völlig  zum 
Impressionismus  bekennt.  — 

Wenn  der  Gegensatz  zur  „modernen  Schule“ 
in  der  Gedankenmalerei  eines  Watts  und  der  male¬ 
rischen  Poesie  eines  Boecklin  mit  der  königlichen 
Machtvollkommenheit  großer,  nur  als  Einzelpersön- 
lichkeiten  aufzufässender  Künstler  auftrat,  so  waren 
auch  auf  dem  Gebiete  der  Porträts,  der  Geschichts- 
und  Genrebilder  und  der  Landschaft  die  Vorkämpfer 
der  Tradition  in  Aclitung  erheischender  Vereinigung 
repräsentirt,  an  ihrer  Spitze:  I^enhach.,  Arthur 
Krni/j>f,  iJcfrcfjfjcr,  E.  v.  Gebhardt,  de  Vriendt,  Leibi 
und,  von  Toten,  Mcissonkr  und  der  Österreicher  Emil 
Jfil.ob  Schindler.  Das  Kabinett  des  letzteren  —  es 
zählte  nicht  weniger  als  45  Bilder  —  ließ  seine 
Bedeutung  in  ilirer  Größe  und  in  ihren  Grenzen 
vortrefflich  ermessen.  Mühsam  ist  er  zum  Ziel  ge¬ 
langt.  auf  einer  Bahn,  die  in  eigenartiger  Weise  den 
Entwickelungsgang  der  deutschen  Landschaftsmalerei 
ini  ganzen  schildert.  An  ihrem  Beginn:  ein  Bild 
voll  künstlicher  Koinaidik,  ein  Märchenwald  mit 
Kiesenbäunien  und  jdiantastischem  Gestrüpp,  mit 
Sonnenstrahleffekt  und  einer  leibhaftigen  Fee,  und 
dennoch  von  kalter,  jjoesieloser  Wirkung,  —  am 
Ende:  das  bis  auf  die  kleinsten  Pfützen  naturwahre 
AUhld  einer  ganz  schlichten,  von  Pappeln  um¬ 
säumten  t.'haussee,  aber  im  Schimmer  des  um¬ 
wölkten  Abendhimmels  von  wunderbarer  Stimmung. 
—  Einen  in  sieh  abgeschlossenen  Beitrag  zur  Kunst¬ 
geschichte  bot  auch  der  Saal  des  genialen  Victor 
Midier,  der,  bei  Lebzeiten  noch  Aveit  weniger  richtig 
geschätzt  als  sein  Genosse  im  Atelier  Couture’s, 
Anselm  Feuerbach,  Avohl  unmittelbar  neben  diesem 
zu  nennen  Aväre,  hätte  ihn  nicht  allzufrüh  der  Tod 
ereilt.  —  Hans  Thoma  hatte  bei  den  Sezessionisten 


ausgestellt  —  gewiss  ein  Beweis  dafür,  dass  man 
unter  denen,  die  mit  den  Verhältnissen  unseres 
Kunsttreibens  unzufrieden  sind,  nicht  nur  Anhänger 
des  Pleinair  und  des  Impressionismus  suchen  darf. 
Thoma  ist  unter  diesen  ein  Vertreter  des  Klassicismus. 
Er  sieht  plastisch.  Seine  Menschen  stehen  uns  in  voller 
Körperlichkeit,  greifbar  vor  Augen,  die  Wolken  über 
seinen  Landschaften  haben  ein  bestimmtes,  fühlbares 
Volumen.  Mit  diesem  Zug  zum  Plastischen  hängt 
es  auch  zusammen ,  dass  Thoma  dem  modernen 
Naturalismus  im  Grunde  abhold  ist.  Er  stilisirt 
seine  Gestalten,  er  stilisirt  selbst  die  Landschaft. 
Schon  seine  Technik  weist  darauf  hin.'  Thoma 
wirkt  nicht  durch  Farben,  sondern  durch  farbige 
Formen  und  nicht  zum  wenigsten  durch  Linien. 
Seine  Aquarelle  gleichen  häufig  den  alten  Farben¬ 
holzschnitten;  in  einzelnen  seiner  Werke  zeichnet 
er  mit  einem  älinlichen  Stilgefühl,  wie  Franz  Stuck. 
Den  letzteren  dürfte  man  überhaupt  viel  eher  im 
Zusammenhang  mit  Thoma  nennen,  als,  wie  meist 
üblich ,  mit  Boecklin.  Das  bezeugt  bereits  sein 
Minervakopf,  welcher  zum  Plakat  der  Sezession  ge¬ 
worden  ist,  das  beweist  seine  nackte  Frauengestalt 
auf  dem  Becher  („In  vino  veritas“),  ja  selbst  sein 
„Sieger“  und  die  neue  Variation  seiner  „Sünde“, 
welche  freilich  auch  durch  fascinirende  Farben¬ 
wirkung  überrascht.  Im  Vergleich  mit  der  neuer¬ 
dings  durch  den  „Modernen  Musenalmanach“  bekannt 
gewordenen  Behandlung  des  gleichen  Themas  (dort 
„Sinnlichkeit“  genannt),  ist  der  Gesamteffekt  hier 
schärfer  konzentrirt.  Dort  Avirken  Hintergrund  und 
Umgebung  mit  —  hier  spricht  die  Gestalt  allein. 
Die  Schlange  hat  ihre  Lage  gewechselt:  sie  schlingt 
sich  nicht  mehr  zwischen  den  Beinen  und  Armen 
hindurch,  sondern  sie  umkreist  den  Oberkörper, 
dessen  wie  von  goldigem  Licht  gestreiftes  Fleisch 
aus  diesem  buntschillernden,  glitzernden  Rahmen 
um  so  berückender  hervorleuchtet.  Trotz  der  äußer¬ 
lich  zahmeren  Auffassung  hat  das  Bild  an  Sinnlich¬ 
keit  nichts  eingebüßt,  an  künstlerischem  Reiz  und 
an  Feinheit  jedoch  gewonnen,  und  die  völlig  ruhige 
Haltung  giebt,  im  Verein  mit  dem  fascinirenden 
Blick  der  Rätselaugen,  der  ganzen  Gestalt  etwas 
Visionäres,  das  in  diesem  Sinne  an  die  „Sphinx“ 
des  Belgiers  Khnopff  gemahnt,  zugleich  aber  in  der 
günstigsten  Weise  den  plastischer  schaffenden  Sti¬ 
listen  der  Form  schätzen  lehrt.  Noch  ist  es  allerdings 
kaum  zu  sagen,  auf  welchem  Gebiet  Stuck’s  vielseitige, 
völlig  individuell  entfaltete  Begabung  ihre  größten, 
bleibenden  Erfolge  erzielen  wird.  Er  ist  seinem 
Endziel  noch  fern  und  arbeitet  rastlos  an  sich  selbst. 


DIE  MÜNCHENER  KÜNSTAUSSTELLUNGEN. 


67 


Neben  den  unaasgereifteu  Versuclieu,  welche  er, 
kraft  seiner  Potenz,  dem  Publikum  bisweilen  zu 
bieten  wagt,  legt  er  von  dieser  Arbeit  allerorten 
Zeugnis  ab.  So  batte  er  in  München  ein  winziges 
Muschelstillleben,  das  an  koloristischem  Reiz  in  seiner 
Art  kaum  übertroffen  werden  kann.  Stuck  verfügt 
eben  auch  über 
einen  ungemein  fei¬ 
nen,  wenn  auch  zu¬ 
weilen  etwas  gar  zu 
seltsamen  Farben¬ 
sinn.  Seinen  Haiipt- 
ruhm  aber  dürfte  er 
doch  weniger  seinem 
Farben-  als  seinem 
Stil  gefühl  danken.  — 

Jedenfalls  wird  die 
Folgezeit  Künstler 
wie  Thoma  und 
Stuck  von  der  Haupt¬ 
schar  der  modernen 
Maler  scharf  sondern . 

Sie  sind  Meister  der 
Form,  —  diese  Mei¬ 
ster  der  farbigen  Er¬ 
scheinung  als  sol¬ 
cher.  Das  absolute 
Ideal  läge  in  der 
Vereinigung  beider 
Richtungen,  und  ein 
gewisses  Stilgefühl, 
ein  undefinirbarer 
künstlerischer  Takt 
könnte  hier  die  Brü¬ 
cke  bilden. 

Mehr  und  mehr 
ist  innerhalb  der  ver¬ 
schiedenen  Kräfte, 
welche  das  heutige 
Entwickelungsstadi¬ 
um  unserer  Malerei 
bestimmen,  ein  Eie¬ 
rn  ent  hervorgetreten, 
welches  dem  Ur¬ 
sprung  der  neuen  Schule  im  Grunde  völlig  fern¬ 
liegt:  die  Neigung,  die  gegebene  Form  auf  einen 
künstlerisch  wirksamen  Grundtypus  zu  reduziren, 
sie  zu  stilisiren;  und  dem  entspricht  auf  dem  Gebiete 
der  Farbe  die  jüngste  Entwickelungsphase  des 
„Symbolismus“,  bei  welcher  die  natürliche  Farbig¬ 
keit  der  Dinge  lediglich  zu  einem  Ton  werte  wird. 


Es  ist  schwer,  für  diesen  künstlerischen  Vorgang 
die  rechten  Worte  zu  finden:  am  ehesten  lässt  er 
sich  wohl  an  der  in  Antonio  Gandaras  farblosen 
Zeichnungen  herrschenden  Auffassungsweise  erläu¬ 
tern.  Dieselben  geben  fast  durchgängig  moderne 
Frauengestalten  wieder:  eine  Dame  bei  der  Toi¬ 
lette  („die  Haarfri¬ 
sur“,  „der  Halskra¬ 
gen“)  oder  als  Mutter 
und  kunstfertige 
Stickerin.  Das  sind 
scheinbar  banale 
Momentbilder,  aber 
sie  wirken  wahrhaft 
klassisch.  Wie  hier 
die  technischen  Mit¬ 
tel  auf  das  denkbar 
geringste  Maß  redu- 
zirt  sind  —  einfache 
Konturzeichnung 
mit  scheinbar  gleich¬ 
mäßigem  Estampe- 
grund  —  so  auch 
die  künstlerischen  im 
höheren  Sinne:  man 
möchte  sagen,  dass 
hier  die  Bewegung 
jedes  Gliedes,  der 
Kontur  jedes  Gesich¬ 
tes,  ja  selbst  jedes 
Gewandstückes,  zu 
seinem  künstle¬ 
rischen  Grundtypus 
stilisirt  ist.  Das  ist, 
wenn  man  nur  die 
Wirkung  im  Auge 
behält,  ein  Zurück¬ 
greifen  auf  die  Tra¬ 
dition.  Diese  Zeich¬ 
nungen  erinnern  an 
die  Quattrocentisten, 
sie  können  kunst¬ 
historisch  mit  den 
Werken  der  engli¬ 
schen  Präratfaeliten  verbunden  werden.  Und  ähnliches 
findet  sich  auch  in  Bezug  auf  die  Farbe.  Am  be¬ 
zeichnendsten  war  hierfür  in  München,  neben  Gan- 
dara’s  Porträts  im  Glaspalast,  Aman  Jean  in  seinem 
dekorativen  Gemälde  „Venezia“.  Traumverloren  er¬ 
scheint  hier  nicht  nur  die  Jungfrauengestalt  selbst, 
sondern  das  ganze  Gemälde  gleicht  in  seinen  zarten 


Der  Ilalslvragen.  Gemälde  von  A.  Gandara. 


9* 


68 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


duftigen,  verschleierten  Farbentönen  einer  Vision.  Das 
dürfte  raan  wohl  ein  Stilisiren  der  Farbe  nennen. 
Eigenartig  ist,  dass  diese  Richtung  ihre  glücklichsten 
Erfolge  in  München  gerade  auf  demjenigen  Gebiete 
erzielte,  welches  einer  solchen  Stilisirung  zunächst 
am  wenigsten  günstig  ist:  im  Porträt.  Ich  habe 
hierbei  besonders  die  Bildnisse  des  Engländers 
Mouat  Loudan  im  Sinn.  Die  Art,  wie  er  seine  Ge¬ 
stalten  —  es  waren  meist  Kinder  —  in  den  Raum 
stellt,  wie  er  denselben  ahgrenzt,  so  dass  der  in¬ 
differente  Hintergrund  farbig  als  ein  ungemein  fein 
gewähltes  Milieu  das  ganze  Kolorit  beherrscht  und 
ihm  die  Stimmung  giebt,  ist  das  Ergebnis  eines 
eigenartigen  Stilgefühles.  —  Gandara,  Aman  Jean 
und  Mouat  Londan  sind  als  Maler  Vertreter  des  mo¬ 
dernsten  Impressionismus,  als  Künstler  aber  sind  sie 
jedem  Naturalismus,  ja  seihst  dem  Realismus  durch¬ 
aus  abhold:  das  Bild  der  Wirklichkeit  wird  bei 
ihnen  stilisirt.  Man  wird  diese  Erscheinung  scharf 
im  Auge  behalten  müssen.  Möglicherweise  ent¬ 
hält  sie  den  Keim  zn  einer  neuen  Eutwickelungs- 
phase  der  modernen  Malerei,  auf  welcher  dieselbe 
nach  dem  langen  Übergangsstadium  der  naturalisti¬ 
schen  und  symbolistischen  Proben  sich  wieder  mit  neu 
geschulter  Kralt  den  höchsten  traditionellen  Zielen 
aller  Kunst  zu  wendet  und,  zunächst  nur  die  Er¬ 
scheinung  als  solche  künstlerisch  zu  ihrem  Typus 
erhebend,  allmählich  den  rechten  Ausdruck  auch  für 
Geist  und  Seele  der  Dinge  findet.  Spuren  dieses 
Strehens  fand  man  in  dieser  Ausstellung  allerorten, 
hc.voiiders  auch  in  der  Landschaftsmalerei. 

Den  llaujdtou  gab  unter  den  Modernen  freilich 


noch  der  Impressionismus  mit  seiner  neueren  Nu- 
ancirung  an.  Ich  darf  diese  an  sich  wenig  glück¬ 
lichen  Schlagwörter  hier  wohl  gebrauchen,  ohne 
missverstanden  zu  werden.  Es  ist  eine  bereits 
historisch  gewordene  Thatsache,  dass  dem  modernen 
Maler  das  malerische,  beziehungsweise  das  tech¬ 
nische  Problem  als  solches  im  Vordergründe  steht, 
dass  er  vor  allem  danach  strebt,  die  „Impression“, 
den  momentanen  Eindruck  einer  Erscheinung ,  im 
Bilde  festzuhalten  und  um  so  eifriger,  je  eigen¬ 
artiger  das  Momentbild  und  je  schwieriger  seine 
Wiedergabe  ist;  dass  auf  dieser  Grundlage  ferner 
eine  Art  Stimmungsmalerei  erstanden  ist,  welche  die 
Sprache  der  Musik  auf  die  Farben  zu  übertragen 
sucht.  Je  mehr  das  letztere  gelingt,  um  so  mehr 
wird  das  Bild  zu  einem  Kunstwerk  im  höheren 
Sinne,  aber  auch  da,  wo  lediglich  das  technische 
Problem  gelöst  wird,  muss  man  die  Arbeitsleistung 
anerkennen.  Unsere  Maler  haben  wohl  allgemach 
gelernt,  dass  sie  —  wenn  anders  sie  nicht  auf  jeden 
materiellen  Nutzen  verzichten  wollen  —  dem  Be¬ 
schauer  Konzessionen  machen  müssen.  Unter  den 
Pleinair-  und  Interieurstudien  fanden  sich  diesmal 
ungewöhnlich  viel  anziehende  Bilder,  die  jedem  Ge¬ 
schmack  willkommen  sein  dürfen,  auch  in  der  Se¬ 
zession,  wo  beispielsweise  Ootthardt  Kuehl’s  „Chor¬ 
knaben“  und  das  „Interieur“  und  Edelfeldt’s  „Bügel¬ 
zimmer“  als  vorzüglich  gemalte  und  gut  verkäufliche 
Genrestücke  eine  große  Reihe  in  diesem  doppelten 
Sinne  verwandter  Arbeiten,  wie  die  Interieurs  von 
Höcker,  V.  Schrötter,  v.  Schmädel,  Opplcr  und  Engel,  er- 
ötfneten.  (Schluss  folgt.) 


I’iillas.  Von  F.  Stuck. 


NEUE  PRACHTWERKE. 


Unsere  Kunst.  Mit  Beiträgen  deutscher  Dichter  heransgegehen  von 
der  Freien  Vereinigung  Düsseldorfer  Künstler.  Düsseldorf,  Verlag 
von  Hermann  Michels.  Fol. 

Der  Sturm,  der  seit  Jahren  die  Künstlers chaft  Europas  erschüttert, 
zerzaust  und  zum  unterschiedslosen  Ängrilf  auf  verrottete  Zustände 
und  geheiligten  Besitz  spornt,  ist  auch  der  alten  Kunststadt  am  Rhein 
nicht  fern  gebliehen.  Wie  sie  selbst  aus  ihrer  alten  Haut  geschlüpft 
ist  und  trotz  ihrer  künstlerisch -litterarischen  Vergangenheit,  trotz  der 
noch  in  ihrem  Herzen  erhaltenen  Naturidyllen  die  Physiognomie  einer 
banausischen  modernen  Fabrik-  und  Industriestadt  angenommen  hat,  so  hat 
auch  ein  Teil  der  bildenden  Künstler  den  Drang  empfunden,  sich  von  gewissen 
Fesseln  zu  befreien  und  die  große  Bewegung  mitzumachen.  Die  einzelnen 
Phasen  dieser  „Sezession“  haben  nur  ein  lokales  Interesse.  Nur  soviel  sei 
bemerkt,  dass  sich  die  Ultras  der  mit  Akademie,  Kunstgenossenschaft,  Mal¬ 
kasten  u.  s.  w.  Unzufriedenen  zunächst  in  einem  Lucas-Klub  zusammenfanden, 
der  im  vorigen  Jahre  mit  einer  Mappe  von  Radirungen  vor  die  Öffentlichkeit 
getreten  ist,  und  dass  diesen  ersten  Klubisten,  die  einen  etwas 
exklusiven  Charakter  trugen,  eine  „Freie  Vereinigung“  gefolgt  ist, 
die  zunächst  den  Vorzug  hat,  dass  sie  nicht  mit  hohlen  Phrasen 
und  revolutionären  Beschlüssen,  sondern  mit  einer  That  die  Berech¬ 
tigung  ihres  Daseins  begründet,  mit  einem  Buch  in  Folioformat, 
das  wir  nicht  „Album“  —  in  Rückblick  auf  alte  Düsseldorfer  Er¬ 
innerungen  —  nennen  wollen.  Es  ist  nicht  aus  der  Spekulation 
eines  Kunsthändlers  hervorgegangen,  sondern  in  allen  Einzelheiten 

das  Werk  einer  Jury,  die 


Herbst.  Zeichnung  von  G.  v.  Bochmann. 

Verkleinerung  einer  Abbildung  aus  dem  Werke 
„Unsere  Kunst“. 

(Michels,  Düsseldorf.) 


unabhängig  von 


Verleger¬ 


interessen,  den  künstlerischen 
und  litterarischen  Inhalt  einer 
strengen  Prüfung  unterzogen 
und  nur  das  Beste  durch¬ 
gelassen  hat,  was  die  Ver¬ 
einigung  zu  bieten  vermag. 
Auch  die  Zeichnung  der  Ein¬ 
banddecke  rührt  von  einem 
Mitgliede,  dem  Architekten 
W.  Schleicher,  her.  Die  Or¬ 
namentik  der  Umrahmung  ist 


lui  Winter,  tiemiililo  von  L.  Mi  nuik. 


NEUE  PRACHTWERKE. 


71 


meisterhaft  stilisirt;  aber  das  Gekräusel  der  dünnen 
Goldlinien  auf  dem  purpurroten  Grunde  macht  einen 
etwas  verwirrenden  Eindruck.  Er  ist  vielleicht  be¬ 
absichtigt,  um  auf  den  bunten  Inhalt  vorzubereiten. 

Naturalistische  Ausschreitungen  oder  Wagnisse 
hat  der  Beschauer  —  je  nach  seinem  ästhetischen 
Standpunkte  —  nicht  zu  befürchten  oder  zu  hoffen. 
Darauf  bereitet  schon  das  statt  der  Vorrede  geltende 
Leitgedicht  Ernst  Scherenherg’s  vor,  der  sich  noch 
niemals  naturalistischer  Regungen  verdächtig  ge¬ 
macht  hat.  Was  er  in  Verse  gegossen  hat,  ist  so 
vernünftig  und  zugleich  so  bezeichnend  für  den  In¬ 
halt  dieser  artistisch-litterarischen  Kundgebung,  dass 
wir  das  ganze  Unternehmen  nicht  besser  charakteri- 
siren  können  als  durch  die  Wiedergabe  der  folgen¬ 
den  Strophen: 

,, Nicht  Ritter  nur  von  einer  Art 
In  unsrem  Fähnlein  fechten  — 

Welch  Stih  in  Schnitt  und  Wams  und  Bart, 

Wer  möchte  darum  rechten? 

Ob  klassisch  —  oder  ganz  Natur  — 

Quillt’s  aus  dem  Born,  dem  vollen, 

Willkommen  sei’s!  Wir  fordern  nur 
Ein  kraftbewusstes  Wollen. 

Romanticismus  —  Impression  — 

Gleichwertig  ihre  Schätze; 

Ob  heller  —  dunkler  Farbenton, 

Wer  zwängt  es  in  Gesetze? 

So  abhold  sind  wir  altem  Zopf 
Wie  neusten  Modenarren; 

Und  nimmer  soll  Hand,  Herz  und  Kopf 
In  Formeln  uns  erstarren! 

Dies  „unsere  Kunst“’,  die  zu  euch  spricht 
Aus  neuerschloss’ner  Halle; 

Ihr  Schlachtruf  laute  nicht  „Freilicht“  — 

Doch:  „Freies  Licht  für  alle!“ 

Und  im  Einklang  mit  diesem  Programm  finden 
wir  im  friedlichen  Verein  Lehrer  der  Akademie  und 
junge,  frohgemute  Anfänger,  die  Vertreter  der  Düssel¬ 
dorfer  Genremalerei  alten  Stils,  der  gemalten  No¬ 
velle  und  des  Kostümstücks,  und  die  Wortführer 
der  neuen  Richtung,  denen  das  Was?  gleichgültig 
und  das  Wie?,  das  koloristische  Experiment,  die 
Hauptsache  ist,  die  Romantiker  der  Landschaft  und 
die  modernen  Realisten  der  Stimmung,  die,  jeder 
Detaillirung  fremd,  den  Naturausschnitt  nur  als  ein 
Ganzes  sehen.  Und  dazwischen  treiben  Phantasten 
alten  und  neuen  Stils,  die  bald  mit  Gnomen  und 
Nixen  verkehrten,  teils  durch  neue  Gebilde  ihres  Witzes 
dem  Beschauer  Rätsel  aufgehen,  ihr  munteres  Wesen. 
Von  Künstlern,  deren  Namen  allen  Kunstfreunden 
vertraut  sind,  begegnen  wir  in  dieser  bunten  Reihe 
den  Landschafts-  und  Marinemalern  E.  Dücker, 


G.  Oeder,  L.  Munthe  (s.  die  beigegebene  Abbildung), 
Hugo  Mühlig  und  G.  v.  Bochmann,  den  Geschichts- 
und  Genremalern  Max  Volkhart,  Carl  Sohn,  H.  Mücke, 
Ferd.  Brütt,  Arthur  Kampf  und  dem  humorvollen 
Zeichner  und  Illustrator  Carl  Gehrts.  Nicht  minder 
fleißig  hat  sich  der  junge  Nachwuchs  gezeigt,  von 
dem  uns  die  Kunstausstellungen  der  letzten  Jahre 
schon  manche  verheißungsvolle  Talentproben  vor¬ 
geführt  haben.  Auch  in  ihm  findet  sich  die  alte 
und  die  neue  Richtung  bei  einander,  so  dass  auch  bei 
der  jungen  Generation  nicht  von  einem  radikalen 
Bruch  mit  der  Vergangenheit  die  Rede  sein  kann. 
Was  uns  Heinrich  Hermanns,  Louis  Herzog,  H.  Liese¬ 
gang,  Otto  Heichert,  Fritz  von  Wille,  Ad.  Lins, 
Eugen  Kampf  und  E.  Kämpffer  hier  bieten,  sind 
Äußerungen  selbständiger,  eigenartig  sinnender,  be¬ 
obachtender  und  schaffender  Geister,  die  zusammen 
bezeugen,  dass  die  Frühlingsstürme,  die  das  Kunst¬ 
leben  Düsseldorfs  verjüngt,  manche  schlummernde 
Blüte  zur  Entfaltung  gebracht  haben. 

Um  eine  möglichst  gleichmäßige  Wirkung  zu 
erzielen,  sind  die  Gemälde,  Studien  und  Zeichnungen 
durch  Photogravüren  und  Lichtdruck  auf  Kupfer¬ 
druckpapier  und  durch  Zinkdruck  im  Text,  zumeist 
von  Meisenbach,  Riffartli  &  Co.,  zum  Teil  auch  von 
Römmler  und  Jonas,  Bruckmann,  Angerer  und  Göschl 
u.  a.  klar  und  sauber  reproduzirt  worden,  wovon  die 
hier  beigegebenen  Proben  eine  Vorstellung  geben. 

Auf  denselben  maßvollen  und  vermittelnden  Ton 
wie  die  Künstler  haben  auch  die  an  dem  Werke 
beteiligten  Dichter  und  Schriftsteller  ihre  Beiträge 
gestimmt.  Wenn  man  die  Namen  Rudolf  Baum¬ 
bach,  Julius  Wolff,  Felix  Dahn,  Julius  Lohmeyer 
und  Ernst  von  Wildenbruch  hört,  weiß  jedermann, 
was  er  zu  erwarten  hat.  Aber  auch  Karl  von  Per¬ 
fall,  dessen  dichterische  Neigungen  durch  viele 
Fäden  mit  dem  Naturalismus  verbunden  sind,  hat 
sich  in  einer  durch  bitteres  Herzeleid  zu  idyllischem 
Frieden  führenden  Novelle,  die  das  litterarische 
Hauptstück  des  Werkes  bildet,  zu  einer  rein  und 
edel  ausklingenden,  poetischen  Stimmung  aufge¬ 
schwungen.  ADOLF  EOSENBERG. 


Sezession.  Eine  Sammlung  von  Photogravüren  nach 
Bildern  und  Studien  von  Mitgliedern  des  „Vereins 
bildender  Künstler  Münchens“.  Berlin,  Kunstver¬ 
lag  der  Photographischen  Gesellschaft.  1893.  Fol. 
Ein  Frauenbild  von  rätselvoller  Schönheit,  die 
Rechte  hoch  erhoben,  ins  Unbekannte  weisend,  doch 
in  sich  gefestigt,  ernst,  heroinenhaft;  so  steht  die 


72 


NEUE  PRACHT  WERKE. 


Kunst  der  Münchener  „Sezession“  auf  dem  von 
Klinger  entworfenen  Titelblatte  des  Werkes  vor  uns, 
das  die  Berliner  Photographische  Gesellschaft  soeben 
herausgiebt.  München  und  Berlin  also  in  erneutem 
Bunde!  Wie  die  nordische  Hauptstadt  bereitwillig 
ihre  Thore  öffnete,  als  man  den  Sezessionisten  an 
der  Isar  das  Asyl  verweigerte,  so  bietet  sie  jetzt 
i  hre  vollendete  Meisterschaft  photographisch  er  Kupfer¬ 
drucktechnik  auf,  um  den  Münchenern  in  der  weiten 
Welt  Bahn  brechen  zu  helfen.  Und  sie  bedürfen 
solcher  Beihilfe!  Denn  Ausstellungen  vergehen, 
Druckwerke  bestehen.  Zu  den  Ausstellungen  muss 
man  pilgern,  kann  sie  oft  nur  allzu  flüchtig  be¬ 
trachten;  Druckwerke  reisen  uns  nach,  suchen  den 
Kunstfreund  auf,  schmücken  seinen  Tisch,  dienen 
ihm  im  stillen  Stübchen  als  immer  gern  gesehene 
A  ugenweide. 

Es  geschah  zum  erstenmal,  dass  die  „Sezession“ 
vergangenes  Jahr  in  getrennter  Ausstellung  sich 
dem  Publikum  zeigte.  Hier  tritt  die  neue  Kunst 
nun  auch  als  geschlossene  Phalanx  in  einem  photo¬ 
graphischen  Prachtwerke  hervor.  Und  zwar  in 
glänzender  Weise.  Ulgemälde,  Aquarelle,  Pastelle 
sind  in  den  vorliegenden  Photogravüren  gleichmäßig 
stilgetreu  und  technisch  tadellos  wiedergegeben. 
Whr  gewinnen  in  diesen  Blättern  von  der  „Sezes¬ 
sion"  und  ihren  Zielen  ein  vollkommen  klares  und 
harmonisches  Bild. 

In  der  ersten  Lieferung  —  es  solleir  deren  vier 
werden  —  sind  es  ausschließlich  Bilder  aus  dem 
Natur-  und  Menschenleben,  welche  reproduzirt  er- 
scheineu:  sämtlich  von  großer  Schlichtheit  der  Mo¬ 
tive  und  der  Auffassung.  Und  doch  drängt  sich 
nirgends  ein  geistloser  Naturalismus  vor.  Es  sind 
nicht  .Moment pliotographieen,  sondern  Stimmungs¬ 
bilder,  die  den  .\usschlag  geben.  Dass  in  den  fol¬ 
genden  Lieferungen  auch  der  geistigen  Welt,  der 
l’oesie,  der  Symbolik  ihr  Anteil  zufallen  wird,  lässt 
sieh  denken:  außer  Skarbina  und  Liebermann  stehen 


ja  u.  a.  Dettmann  und  Höcker,  Klinger  und  Pigl- 
hein  auf  dem  Programm! 

Man  hat  es  der  jungen  Schule  vielfach  vor¬ 
geworfen,  dass  sie  mit  allzu  viel  Unfertigem,  Halb¬ 
reifem,  flüchtig  Aufgegriffenem  vor  das  Publikum 
trete.  Auch  in  dem  vorliegenden  Werke  der  „Se¬ 
zession“  finden  sich  einige  nur  als  „Studien“  be- 
zeichnete  Beiträge.  Aber  sie  verschwinden  vor  den 
fertigen  Bildern,  und  unter  diesen  ist  kaum  eines, 
das  nicht  einen  persönlichen  Stempel  trüge,  nicht 
einen  durchaus  künstlerischen  Reiz  und  Wert  be¬ 
säße.  Von  den  Bildnissen  seien  z.  B.  Josef  Block’ s 
Porträt  des  Violinspielers  Volnhals  und  Friedrich 
Fehr’s  Damenbildnis ,  von  den  landschaftlichen  Bil¬ 
dern  und  Genrescenen  vor  allem  der  diesem  Auf¬ 
sätze  beigegebene  köstliche  „Angler“  von  Thomas 
Theodor  Heine,  dann  die  herrliche  Landschaftstudie 
von  Otto  Strütxel,  ferner  die  einem  Breton  und 
Millais  nachempfundene  „Kartoffelernte“  von  Max 
Liebermann,  sowie  die  „Holzschläger  an  der  Isar“ 
von  Wilhelm  Trübner  hervorgehoben.  Unter  den  Tier¬ 
stücken  sprechen  vor  allen  der  komisch  würdevoll 
dastehende  „Marabu“  von  Hubert  von  Heydeti  und 
die  Beiträge  von  Zügel  und  Victor  Weishaiqh  für 
die  Meisterschaft  ihrer  Urheber.  Ein  bäuerliches 
Genrebild  von  intimem  Reiz  giebt  Fritz  von  ühde 
in  seiner  ganz  vorzüglich  reproduzirten  „Heiligen 
Familie“,  in  der  nur  der  Schimmer  des  verklären¬ 
den  Sonnenlichts,  das  durch  die  Bäume  bricht  und 
über  der  Wiege  des  schlafenden  Kindchens  aus- 
ffebreitet  liegt,  die  Beziehungen  zu  den  biblischen 
Gestalten  andeutet. 

Was  die  Künstler  der  „Sezession“  hier  bieten, 
will  wie  alle  Bemühungen  der  neuen  Generation 
mit  liebevoller  Prüfung  hingenommen  sein;  wer  es 
aufmerksam  betrachtet  und  nicht  um  seiner  Neu¬ 
heit  willen  schlechtweg  verwirft,  wird  eine  Menge 
feiner  Schönheit  und  hoffnungerweckenden  Lebens 
darin  finden.  C.  v.  L. 


llerau.‘igeber:  Carl  von  Lnlxow  in  Wien.  —  Für  <lie  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig.. 


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HIMMFiIiFAHR-T  CHRISTI. 

tefmärt  sich  in  der  Katholischen  Hofkirrie  lu  Dresden. 


*■  Men^s  pmx. 


Kopfleiste.  Yon  A.  Lacknek. 


LIONARDO  DA  VINCI 

UND  DIE  BERÜHMTEN  WEIBLICHEN  BILDNISSE 
IM  LOUVRE  UND  IN  DER  AMBROSIANA. 


ELCHE  lohneudere  AiifgaLe 
kann  es  heutzutage  für  den 
wahren,  lebendig  empfinden¬ 
den  Kunstfreund  geben  als 
die,  der  Natur  und  dem 
Geiste  der  erhabensten  Mei¬ 
ster  der  Kunst  immer  näher 
zu  treten,  ihren  Eigenschaf¬ 
ten  möglichst  gerecht  zu  werden  und  zu  einem 
klaren  Begriff  ihres  inneren  Wesens  zu  gelangen? 
Mag  unter  den  Kunstgelehrten  noch  lange  Streit 
herrschen  über  dies  oder  jenes  Problem  der  Kunst¬ 
geschichte,  mögen  diese  einander  schelten  und  be¬ 
kämpfen  über  die  Satelliten  der  großen  Planeten: 
vergebens  würde  man  sich  der  Hoffnung  hiugeben, 
die  Gemüter  eines  größeren  Kreises  von  Menschen 
dafür  zu  interessiren  und  zu  erwärmen.  Erfreulich 
hingegen  muss  jedem  human  Gesinnten  die  Wahr¬ 
nehmung  sein,  dass  die  großen  Gestalten  der  Mensch¬ 
heit,  dank  den  Ergebnissen  der  modernen  Forschnng, 
sich  nach  und  nach  in  den  Denkmälern  ihrer  Thätig- 
keit  immer  klarer,  von  den  Nebeln  befreit,  die  sie 
früher  verschleiert  hatten,  unseren  Blicken  darstellen. 
Allgemein  sollte  anerkannt  werden,  dass  unter  den 
großen  Fortschritten,  auf  welche  die  zweite  Hälfte 
unseres  Jahrhunderts  stolz  sein  darf,  die  wachsende 
Einsicht  in  Sachen  der  Kunst  keineswegs  die  ge¬ 
ringste  Errungenschaft  ist. 

.Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  4. 


Ist  tnan  nicht  erst  seit  ganz  kurzer  Zeit  zu  der 
Einsicht  gekommen,  wie  sehr  der  Inbegriff  der  Kunst 
Raffaers  im  Laufe  der  Jahrhunderte  arg  entstellt 
worden  war?  Wobei  zugleich  anerkannt  Averden 
musste,  dass  angesichts  der  unermessliclien  Zahl  von 
Werken,  die  ihm  früher  allenthalben  zugeschriehen 
wurden,  seine  in  der  That  beschränkte  Lehensfrist 
von  37  Jahren  Avohl  auf  ein  ganzes  Jahrhundert 
hätte  ausgedehnt  Averden  müssen!  Man  sehe  nur, 
Avie  es  noch  heutzutage  in  einem  Aveniger  vorgeschritte¬ 
nen  Lande,  wie  Spanien,  mit  diesen  Dingen  beschaffen 
ist,  wo  in  dem  herrlichen  Museum  des  Prado  nicht 
weniger  als  zehn  Gemälde,  und  darunter  mehrere 
weltberühmte,  unter  dem  Namen  des  Urbinaten  auff 
gehängt  sind,  während  doch  bei  näherer  Betrachtung 
nur  zwei  davon  auf  eine  eigenhändige  Ausführung 
von  ihm  Anspruch  machen  können. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Missbrauch, 
der  mit  dem  Namen  Lionardo’s  getrieben  worden 
ist.  Er  müsste  ein  ganz  anderer  gewesen  sein,  als 
er  wirklich  war,  Avenn  er  alles  das  hätte  malen 
sollen,  was  man  ihm  zumutete.  Darüber  sind  wir 
durch  die  Veröffentlichungen  seiner  Manuskripte  hin¬ 
länglich  unterrichtet;  wir  kennen  jetzt  das  ungeheure 
Maß  seiner  Vielseitigkeit,  durch  die  ihm  die  Zeit 
und  die  Lust  zur  Ausführung  eigentlicher  vollendeter 
Werke  der  bildenden  Kunst  erheblich  beschränkt 
werden  musste.  Zwar  trägt  das  wenige,  was  auf 

10 


74 


LIONÄRDO  DA  VINCI. 


diesem  Gebiete  ihm  tliatsächlich  angehört,  ein  so 
bestimmtes  Gepräge  seiner  außerordentlichen  Natur, 
dass  mau  schon  durch  eine  eingehendere  Prüfung 
desselben  zu  dem  Resultate  gelangen  kann,  sein 
Eigentum  von  dem  seiner  zahlreichen  Schüler  und 
Nachahmer  zu  unterscheiden.  Die  herrlichste  Er¬ 
gänzung  seiner  künstlerischen  Anlagen  aber  thut 
sich  uns  in  einem  anderen  reichen  Schatze  auf,  der 
glücklicherweise  wmhl  zum  großen  Teil  noch  erhalten 
ist,  nämlich  in  seinen  Handzeichnungen.  Freilich 
ist  auch  für  diese  erst  in  neuerer  Zeit  ein  sicheres 
Kriterium  gewonnen  worden.’)  Wer  Augen  hat  zu 
sehen  und  Ohren  zu  hören,  der  mag  sich  davon  be¬ 
lehren  lassen  und  wird  schließlich  den  innigen  Ge¬ 
nuss  haben,  der  aus  der  Überwindung  von  alther¬ 
gebrachten  Vorurteilen  erwächst. 

Das  Verdienst,  über  die  künstlerische  Natur 
Lionardo’s  ganz  neues  Licht  verbreitet  zu  haben, 
namenthch  durch  seine  praktische  Kritik  der  echten 
llandzeichnungen,  gebührt  vor  allem  dem  unvergess¬ 
lichen  Giovanni  Morelli,  sodann  Herrn  Dr.  Jean 
Paul  Richter,  dessen  bekanntes,  in  englischer  Sprache 
veröffentlichtes  Werk  uns  eine  Fülle  von  Anschau¬ 
ungen  zur  Erhärtung  der  Lehren  Morelli’s  gewährt. 
In  den  echten  Zeichnungen  Lionardo’s,  oft  nur  leichten, 
flüchtig  hingewoi’fenen  Skizzen,  bisweilen  aber  auch 
ganz  fein  ausgeführten  Studien,  lebt  der  Genius  des 
Künstlers  wieder  vor  unseren  Augen  auf.  Abgesehen 
von  den  materiellen  Kennzeichen  seiner  Zeichen¬ 
weise,  welche  aus  dem  Umstande  zu  erklären  ist, 
da.ss  er  sich  auch  beim  Schreiben  der  linken  Hand 
zu  bedienen  pflegte,  sind  denselben,  ihrem  geistigen 
fiehalte  nach,  ganz  besondere  Züge  eigen.  Wir 
halben  uns  bereits  in  einem  anderen  Artikel  dieser 
Zeitschrift  bei  Gelegenheit  eines  Vergleiches  zwischen 
Lionardo  und  ilolbein  in  dem  Sinne  ausgesprochen, 
da.ss  ersterer  von  keinem  anderen  Meister  an  Leben¬ 
digkeit,  an  Grazie,  an  Gew'andtheit  der  Hand  über¬ 
troffen  worden  ist.-)  War  dieser  Aus.sj)ruch  dort  in 
llezug  auf  die  Handzeichnungen  gethan,  so  dürfen 
wir  ihn  hier  wohl  auch  auf  Lionardo’s  Gemälde  aus¬ 
dehnen  und  dadurch,  sowie  durch  die  dem  Meister 
ganz  eigene  Tiefe  in  der  Behandlung  des  Ilell- 

1  Eine  IJeatätigung  dieses  Kriteriiiins  iin  Widerspruche 
7,11  den  von  andeier  Seite  erhobenen  Einwendunf'cn  glaulie 
ich  in  einem  AutVat/-  gegeben  7U  haben,  welcher  in  der 
florentinischen  Zeit.«chrift  Arte  n  Storin  vom  2.7.  März  1S88 
erschienen  ist. 

2)  „Lionardo  da  Vinci’s  und  Hans  Ilolbein’s  d.j.  Hand¬ 
zeichnungen  in  Windsor“,  Neue  Folge  I,  24.7. 


dunkeis,  sein  Werk  von  denjenigen  der  Schüler 
und  Nachfolger  unterscheiden. 

1. 

Es  liegen  uns  drei  Bildnisse  vor,  die  von  den 
Nachkommen  des  Meisters  (gewiss  nicht  von  seinen 
Zeitgenossen)  bis  auf  den  heutigen  Tag  insgemein 
ihm  zugeschrieben  wurden.  Was  aber  dem  Auge 
einer  harmlos  unkritischen  Zeit  nicht  aufgefallen  ist, 
darf  demjenigen  nicht  mehr  entgehen,  dem  es  ge¬ 
geben  ist,  mit  aufgeschlossenem  Sinn  der  Wahrheit 
nachzuforschen.  Betrachtet  und  vergleicht  man  ohne 
vorgefasste  Meinung  diese  berühmten  Bildnisse,  so 
kann  es  dem  geübten  Auge  nicht  verschlossen  bleiben, 
wie  sehr  dasjenige  der  Mona  Lisa  den  anderen  bei¬ 
den  an  geistigem  Gehalt  überlegen  ist.  Der  erste 
deutlich  erkennbare  Unterschied  wäre,  wie  uns  dünkt, 
der,  dass  die  anderen  beiden  offenbar  als  Porträts 
im  eigentlichen  und  bestimmten  Sinne  des  Wortes 
sich  uns  darstellen,  während  dagegen  die  zauberhaft 
schöne  Gioconda  eine  Erscheinung  ist,  welche  zu¬ 
gleich  auf  ganz  besondere  Weise  an  die  Lösung 
eines  psychologischen  Problems  denken  lässt.  Wo 
könnte  man  in  der  That  ein  anderes  Bildnis  finden, 
in  welchem  die  Seele  der  dargestellten  Persönlichkeit 
so  innig  und  so  fein  sich  ausspräche,  wie  in  diesem? 
Ein  Umstand,  der  uns  von  Vasari  mitgeteilt  wird, 
scheint  zu  bestätigen,  dass  es  dem  Künstler  vor 
diesem  Modell  darum  zu  thun  war,  dasselbe  in  einer 
besonderen  Gemütsstimmung  aufzunehmen;  wir  mei¬ 
nen  die  Erzählung,  dass  Lionardo,  wenn  er  an  dem 
Porträt  malte,  dafür  gesorgt  hatte,  dass  jedesmal 
eine  Gesellschaft  von  Sängern,  Musikern  und  Possen¬ 
reißern  zugegen  war,  damit  die  anmutige  Frau  durch 
deren  Spiel  erheitert  imd  ihr  das  melancholische  Aus¬ 
sehen  heuoonmen  würde,  welches  gar  oft  von  der  Maler¬ 
kunst  den  Bildnissen  auf  geprägt  ivird.  Die  Landschaft 
des  Hintergrundes  offenbart  ein  bisher  nie  dagewese- 
nes,  großartig  unbestimmtes,  phantastisches  Element, 
an  dem  der  Künstler  in  ähnlicher  Weise  in  seinen 
größeren  Gemälden,  der  Jungfrau  in  der  Felsengrotte 
und  der  hl.  Anna  (ebenfalls  im  Louvre),  sein  Ge¬ 
fallen  geäußert  hat.  —  Dass  übrigens  die  mensch¬ 
liche  Erscheinung  von  keinem  anderen  Künstler  so 
wie  von  Lionardo  erforscht  worden  ist,  das  bezeugt 
—  von  den  zahlreichen  Zeichnungen,  in  denen  er 
den  Menschen  nach  allen  möglichen  Seiten  dargestellt 
hat  —  gerade  dieses  einzig  dastehende  Porträt  der 
Mona  Lisa.  Man  betrachte  nur  die  Modellirung  des 
Gesichts  in  all  seinen  einzelnen  Teilen,  die  unüber¬ 
treffliche  Feinheit  der  Hände  sowohl  in  der  Form 


Bilduis  der  I\[uua  Lisa  von  Lionakuo  da  Vinci  im  Louvre. 


LIONARDO  DA  VINCI. 


7() 

als  in  der  Bewegung,  die  ungezwungene  Beliaglich- 
keit  der  ganzen  Erscheinung,  mit  ihrem  herabrieseln¬ 
den  Lockenhaar,  dem  leichten  Schleier  und  den 
merkwürdig  faltenreichen  Gewändern  und  man  sage 
uns,  wo  man  im  Ernst  ein  gleich  ausgeführtes  Bild¬ 
nis  aufzutreiben  wüsste,  das  diesem  an  die  Seite 
zu  stellen  wäre.  Wir  stehen  nicht  an  zu  behaupten, 
dass  es  ein  Unicuni  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes  ist,  als  eigenhändiges,  von  Lionardo  aus¬ 
geführtes  Porträt;  wohlverstanden  unter  den  Werken, 
die  von  ihm  noch  erhalten  sind,  zu  denen  wir  kaum 
noch  die  fast  gänzlich  zu  Grunde  gegangenen  Bild¬ 
nisse  des  Lodovico  il  Moro  und  seiner  Gemahlin 
auf  der  großen  Freskowand  der  Kreuzigung  von 
iMontorfano  im  Refektorium  von  S.  Maria  delle 
Grazie  in  Mailand  rechnen  können. 

Da  die  junge  Mona  oder  Madonna  Lisa,  Tochter 
des  Ant.  Maria  di  Noldo  Gherardini,  sich  bekannt¬ 
lich  mit  dem  14CÜ  geborenen  Francesco  di  Barto- 
lomeo  di  Zanobi  del  Giocondo  (weswegen  sie  auch 
mit  dem  Namen  la  Gioconda  bezeichnet  wurde)  im 
Jahre  1495  als  seine  dritte  Frau  in  Florenz  verehe¬ 
lichte,  so  kann  kein  Zweifel  über  die  Zeit  obwalten, 
in  welcher  sie  Lionardo  gemalt  hat.  Es  muss  näm¬ 
lich  in  den  ersten  Jahren  nach  1500  geschehen  sein, 
nachdem  der  Meister  Mailand  verlassen  und  sich 
wieder  nach  der  Heimat  begeben  hatte.  Wie  es 
dann  kam,  dass  das  Gemälde  nicht  lange  Zeit  nach 
seiner  Entstehung  nach  Frankreich  in  Besitz  des 
Königs  Franz  I.  gelangte,  ist  uns  nicht  überliefert. 
Genug,  dass  es  heutzutage  eine  der  Hauptzierden 
der  Louvre- Galerie  bildet. 

Alte  Kopieen  davon  giebt  es  verschiedene;  die 
dem  Original  am  nächsten  stehende  ist  wohl  die¬ 
jenige,  die  wir  selbst  vor  kurzem  in  der  Prado-Galerie 
in  Madrid  gesehen.’)  Die  strenge,  wenn  aucli  ziem¬ 
lich  harte  Zeiclinung,  die  treffliche  solide  Maltechnik 
haben  mich  zu  der  1  berzeugung  gebracht,  dass  der 
Ursprung  des  Gemäldes  sehr  früh,  d.  h.  höchstens 
einige  Jahrzehnte  nach  der  Entstehung  des  Originals 
anznsetzen  ist.  Lange  wurde  das  Bild  in  Madrid 
als  ein  echtes  Werk  von  Lionardo  angesehen;  Don 
Pedro  de  .Madrazo  aber,  der  es  als  Kopie  bezeichnet, 
drückt  .>ich  in  seinem  letzten  beschreibenden  Katalog 
mit  l)esserer  Einsicht  folgendermaßen  darüber  aus: 
„El  ritrato  de  .Mona  Lisa  original  del  Vinci  es  sin 
(Inda  alguua  el  de  la  galeria  del  Louvre,  y  no  hay 

1)  Sie  träfet  (hwelV>>t  die  Nr.  550,  ist  gleichfalls  auf  liol/- 
gemalt  und  soll  in  0,70  hoch  und  0,57  breit  sein.  Das 
houvrebild  wird  als  in  0,77  hoch  und  0,50  breit  angegeben. 


mas  que  recordar  la  manera  como  estan  ejecutadas 
las  sombras  y  la  parte  luminosa  de  las  carnes  del 
ritrato  de  Paris,  verdadero  miraglo  del  arte,  compa- 
rada  con  les  tintas  un  tanto  pesadas  del  nuestro 
para  convencerse  de  aquella  verdad.“  —  Wenn  der¬ 
selbe  Autor  aber  weiterhin  zwischen  zwei  verschie¬ 
denen  Urteilen  schwankt,  nämlich  zwischen  den  von 
verschiedenen  „sehr  kompetenten  Professoren“ ,  wie  er 
sie  nennt,  welche  in  dem  Madrider  Bilde  den  Pinsel 
des  Carlo  Dolce  zu  erkennen  glauben  und  denjeni¬ 
gen  von  anderen  Kritikern,  „non  meno  respetables“, 
welche  es  einem  vlämischen  Maler  zuschreiben  möch¬ 
ten,  so  muss  man  daraus  schließen,  dass  der  Herr 
Verfasser  des  Katalogs  sich  mit  den  fremden  Schulen 
nicht  sehr  vertraut  gemacht  hat.  Es  dürfte  denn 
doch  keine  so  schwere  Sache  sein,  einen  Carlo  Dolce 
von  einem  Vlamänder  zu  unterscheiden.  Ein  solcher 
aber  war  es  gewiss,  einer  nämlich  aus  der  großen 
Schar  der  Verehrer  und  Nachahmer  Lionardo’s  und 
der  lombardischen  Schule,  welcher  dieses  Werk  zu 
stände  gebracht  hat;  denn  die  Glätte  der  Farbe,  die 
bestimmte,  harte  Zeichnung,  die  sowohl  in  den  Um¬ 
rissen  der  Hände  als  auch  in  denen  der  Falten  und 
der  Haarlocken  hervortritt,  sind  hinreichende  Zeug¬ 
nisse  für  eine  solche  Abstammung.  Wir  müssen  ge¬ 
stehen,  vor  dem  Bilde  konnten  wir  uns  nicht  des 
Gedankens  erwehren,  dass  es  möglicherweise  von 
demselben  Maler  herstammen  könnte,  der  den  auf¬ 
erstandenen  Christus  in  der  Galerie  zu  Berlin  ge¬ 
malt  hat.  Vielleicht  war  es  hauptsächlich  die  steife 
rechte  Hand  der  Dargestellten,  mit  ihren  scharfbe- 
grenzten  Nägeln,  die  uns  an  die  S.  Lucia  des  Ber¬ 
liner  Gemäldes  gemahnte.  Wie  dem  nun  sei,  wenn 
wir  auch  die  Identität  des  Urhebers  der  erwähnten 
Bilder  in  Madrid  und  in  Berlin  nicht  bestimmt  zu 
behaupten  wagen,  so  tragen  wir  dennoch  kein  Be¬ 
denken,  in  den  beiden  die  Hand  eines  flandrischen 
Nachahmers  zu  konstatiren. 

Den  Kunstfreunden,  die  sich  für  dergleichen 
Fragen  interessiren,  möchten  wir  raten,  wenn  es 
ihnen  nicht  möglich  ist,  die  besprochenen  Gemälde 
in  Paris  und  Madrid  zu  sehen,  sich  zu  ihrer  Be¬ 
lehrung  die  zwei  großen  Braun’schen  Photographieen 
nach  denselben  zu  verschaffen.  Sie  werden  schon 
in  diesen  vortrefflichen  Aufnahmen  manchen  bezeich¬ 
nenden  Unterschied  zwischen  dem  italienischen  und 
dem  niederländischen  Maler  wahrnehmen  können. 
Zwar  sind  uns  die  Stimmen  bekannt,  welche  behaup¬ 
ten,  dass  die  Zurückführung  von  italienischen  Kunst¬ 
werken  auf  deutsche  oder  vlämische  Kopisten  gar 
zu  oft  unbegründeterweise  versucht  worden  sei.  Eine 


Bildnis  der  sogenannten  Belle  Ferrouiere  im  Louvre. 


TS 


LIONARDO  DA  VINCI. 


solche  Warnung  soll  ge'nüss  nicht  unberücksichtigt 
bleiben.  Wenn  aber  weiter  bemerkt  wird,  dass  die 
meisten  Kopieen  und  Nachbildungen  von  Nordlän¬ 
dern  nach  italienischen  Originalen  von  letzteren  weit 
entfernt  seien,  so  möchten  wir  dagegen  einwenden, 
dass  diese  Verschiedenheit  geringer  oder  größer  sein 
kann,  je  nachdem  die  Kopisten  oder  Nachahmer 
selbständige  oder  abhängige  Künstler  gewesen  sind 
und  dass  diese  Unterschiede  noch  der  gehörigen 
Untersuchung  und  Bestimmung  harren. 

11. 

Das  andere  weltbekannte  Bildnis  im  Louvre, 
welches  noch  immer  als  ein  Originalwerk  Lionardo’s 
angesehen  zu  werden  pflegt^  ist  dasjenige  der  ver¬ 
meintlichen  Belle  Ferroniere.  Dass  dasselbe  gleich¬ 
falls  ein  edles  charakteristisches  Werk  aus  der  Blüte¬ 
zeit  der  italienischen  Kunst  ist,  Avird  niemand  in 
Abrede  stellen;  ob  es  aber  auf  die  Höhe  einer 
Schöpfung  des  allervollendetsten  Künstlers  gestellt 
Averden  kann,  das  muss  erst  erwogen  Averden. 

Da  es  keine  quellenmäßigen  Nachrichten  giebt, 
Avelche  dieses  zweite  Bildnis  als  ein  Werk  Lionardo’s 
bezeichnen,  so  sind  Avir  umsomehr  berechtigt,  das¬ 
selbe  vorurteilsfrei  mit  den  sicherstehenden  Werken 
desselben  in  Vergleichung  zu  ziehen.  Betrachten 
wir  nun  einerseits  den  kostbaren  Vorrat  an  echten 
Handzeichnungen  Lionardo’s,  welche  namentlich  in 
den  Sammlungen  von  Windsor,  Paris,  Florenz  und 
Venedig  aufbewahrt  Averden,  und  andererseits  seine 
an  den  Fingerspitzen  abzuzählenden  Werke  der 
Malerei,  die  sich  noch  erhalten  haben,  so  ist  es 
schwer  möglich,  zu  verkennen,  d.ass  in  der  Erschei¬ 
nung  der  sog.  Belle  Ferroniere,  trotz  ihrer  bestechen¬ 
den  Eigenschaften,  etwas  Befangenes  und  Steifes 
liegt,  was  mit  der  freien,  über  aUe  Maßen  gewan¬ 
dten  Hand  Lionardo's  nicht  übereinstimmt  noch  über¬ 
einstimmen  kann.  Vor  allem  die  Behandlung  des 
Haares!  Diese  harte  und  kompakte  Masse,  die  einer 
Perücke  ähnlich  sieht,  Avann  hat  sie  der  Meister  je 
so  gemacht?  Ist  sie  nicht  gerade  das  Gegenteil  von 
dem,  was  uns  in  seinen  Köpfen,  auch  avo  es  sich 
um  Porträts  handelt,  begegnet,  da  er  immer  an  den 
geschwungenen  leichten  Linien  sich  gefiel?  Gut  ge¬ 
zeichnet  sind  zwar  die  Gesichtszüge  des  Pariser  Por¬ 
träts,  aber  im  ganzen  doch  etwas  plump  für  Lio- 
nardo;  Avobei  noch  zu  bemerken  ist,  dass  auch  die 
bestimmte  Angabe  der  Augenbrauen  gegen  die  Ur¬ 
heberschaft  des  Meisters  zeugt,  da  er  durchgehends, 
Avie  MoreUi  richtig  beobachtet  hat,  an  seinen  weib¬ 


lichen  Figuren  dieselben  gar  nicht  zu  betonen 
pflegte.^)  Vergleicht  man  endlich  die  Behandlung 
aller  zur  Kleidung  gehörigen  Details,  so  dürfte  man 
vollends  einsehen,  dass  der  fast  ängstliche  Fleiß,  der 
darauf  verwendet  worden,  dem  über  das  Kleinliche 
durchwegs  erhabenen  Geiste  Lionardo’s  nicht  ent¬ 
sprechen  kann.  Ja,  wir  möchten  fast  so  weit  gehen, 
zu  behaupten,  dass  das  Motiv  des  Ornaments,  welches 
im  Saum  des  Halsausschnittes  am  Kleide  durch¬ 
läuft,  kein  spezifisch  Lionardisches,  wohl  aber  ein 
der  gleichzeitigen  lombardischen  Schule  eigentüm¬ 
liches  ist.  2) 

Ob  Lionardo  je  dergleichen  vollendete  Porträts 
auf  geschlossenem  dunklen  Hintergründe  gemalt  habe, 
wollen  Avir  dahingestellt  lassen,  da  uns  die  nötigen 
Vergleichungspunkte  dafür  fehlen.  Wenn  wir  außer¬ 
dem  nicht  unbedingt  darauf  bestehen  wollen,  dass 
der  große  Meister  in  einer  ähnlichen  Darstellung 
gerne  beide  Hände  oder  doch  eine  Hand  auf  die 
Brüstung,  womit  die  Figur  begrenzt  ist,  gelegt  haben 
würde,  so  können  wir  uns  doch  nicht  der  Überzeu¬ 
gung  verschließen,  dass,  wenn  hier  auch  nur  eine 
Hand  vorkäme,  dieselbe  wieder  ein  sprechendes 
Zeugnis  gegen  die  Urheberschaft  Lionardo’s  abgelegt 
haben  würde. 

Nun  hieße  es  aber,  den  wahren  Autor  anzu¬ 
geben!  Das  ist  freilich  um  ein  gut  Teil  schwieriger, 
besonders  bei  dem  keineswegs  untadelhaften  Zu¬ 
stande  des  Gemäldes,  welches  hauptsächlich  in  der  Kar- 
nation,  durch  eine  in  früheren  Jahren  vorgenommene 
Reinigung,  verrieben  worden  sein  muss.  Immerhin 
muss  sich  gewiss  mit  der  Zeit  die  Überzeugung  aus¬ 
breiten,  dass  dieses  Bildnis  doch  um  eine  Stufe 
niederer  steht  als  die  authentischen  Werke  Lionardo’s, 
wiewohl  es  unter  seinem  künstlerischen  Einfluss 
entstanden  ist.  Hat  die  moderne  Forschung  bereits 
nachgeAviesen,  dass  das  Lünettenbild  im  Kloster  von 
Sant  Onofrio  in  Rom  vielmehr  dem  Schüler  Bel- 
traffio  als  dem  Meister  angehört  ^),  dass  die  gro߬ 
artige,  aber  Avilde  Madonna  (il  Madonnone  gen.)  in 
Vaprio,  unweit  von  Mailand,  sich  als  nichts  anderes 


1)  In  Bezug  auf  die  Mona  Lisa  mag  hier  noch  darauf  hin- 
gewiesen  werden,  dass  sie  im  Originale  völlig  ohne  Augen¬ 
brauen  ist,  wohingegen  in  der  Madrider  Kopie  dieselben 
mit  einem  scharfen  Strich  angegeben  sind. 

2)  Dasselbe  Motiv  kommt  besonders  in  alten  Rahmen 
öfters  vor.  Ein  Beispiel  davon  hat  man  u.  a.  in  dem  ur¬ 
sprünglichen  Teile  des  später  vergrößerten  Rahmens  des  Ma¬ 
donnenbildes  von  Boltraffio  im  Museo  Poldi  Pezzoli  vor  Augen. 

3)  S.  die  vergleichenden  Abbildungen  und  Besprechun¬ 
gen  in  meinem  Aufsatz  über  das  Museo  Poldi  Pezzoli  in  der 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst  vom  Jahre  1881. 


LIONARDO  DA  VINCI. 


79 


als  ein  Werk  des  geistvollen  Sodoma  lierausstellt^), 
dass  ferner  das  bekannte  weibliche  Profilporträt  in 
der  Anibrosiana,  wie  wir  es  im  Nachfolgenden  be¬ 
stätigen  werden,  unbedingt  dem  Lionardo  entzogen 
und  einem  untergeordneten  Mailändischen  Maler  zu¬ 
erkannt  werden  muss,  dass  endlich  die  nicht  weniger 
bekannte  Madonna,  welche  aus  dem  Hause  Litta  vor 
Jahren  in  die  Petersburger  Gialerie  übergegangen 
ist,  jedenfalls  auch  von  einem  lombardischen  Meister 
herrührt,  der  sich  höchstens  einer  Vorlage  von 
Lionardo  bediente  2),  so  hat  wohl  auch  die  Stunde 
geschlagen,  in  der  man  sich  in  Bezug  der  sogenann¬ 
ten  Belle  Ferrouiere  eines  Besseren  belehren  lassen 
mag.  Wiewohl  die  edle  Auffassung  des  Antlitzes, 
die  wohl  abgerundeten,  durch  eine  einfache  Verteilung 
von  Licht  und  Schatten  angegebenen  Formen,  die 
großen  sinnigen  Augen  und  der  regelmäßige,  wellen¬ 
förmige  Mund  uns  zu  der  Ansicht  unseres  jungen 
Freundes  Carl  Löser  hinneigen  lassen,  dass  als  Ur¬ 
heber  dieses  Gemäldes  der  Mailänder  Edelmann 
Giov.  Aut.  Beltraffio  angesehen  werden  dürfte-’),  so 
glauben  wir  doch,  dass  es  angesichts  der  beschränk¬ 
ten  Anhaltspunkte  schwer  halten  wird,  zu  einer  ganz 
genauen  und  überzeugenden  Bestimmung  des  rätsel¬ 
haften  Bildes  zu  ffelan2en. 

III. 

Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Profilbildnis 
in  der  Ambrosiana  zu  Mailand.  Hier  können  wir 
schon  sicheren  Schrittes  Vorgehen.  Unsere  Freude 
an  diesen  reinen  Zügen  ist  eine  volle  und  aufrich¬ 
tige;  der  Duft  eines  jungfräulichen  Gemüts  umweht 
dieses  edle  Geschöpf. 

Wenn  wir  trotzdem  erklären  müssen,  dass  wir 
es  für  unmöglich  halten,  das  Werk  für  einen  un¬ 
mittelbaren  Ausfluss  des  Genius  unseres  Lionardo  zu 
halten,  so  soll  damit  nur  betont  werden,  dass  die 
italienische  Kunst  in  jenen  glücklichen  Zeiten  selbst 
durch  ihre  Meister  zweiten  Ranges  so  große  Wirkun¬ 
gen  zu  erzielen  vermochte,  dass  die  späten  Nach¬ 
kommen  den  Zauber  derselben  .sich  nur  durch  das 
Walten  der  höchsten  Genien  erklären  konnten. 

Soviel  ist  aber  gewiss,  dass  nach  alledem,  was 
von  Morelli  zum  erstenmal  über  das  Bildnis  der 


1)  S.  die  Abbildung  davon  auf  der  Tafel  unseres  Buches 
„Arte  Italiana  dcl  IHnaschnento'\  Milano,  Fratelli  Dumolard 
editori,  1891. 

2)  S.  die  Handzeichnung  im  Louvre,  photogr.  von  Braun. 

3)  Man  vergleiche  dieses  Bildnis  namentlich  mit  einem 
anderen,  sicheren  Frauenporträt  von  Beltraffio  im  Besitze 
des  Grafen  General  del  Maino  in  Mailand. 


Ambrosiana  im  Zusammenhang  mit  manchen  anderen 
ähnlicher  Art  auseinandergesetzt  worden  ist,  niemand 
sich  mehr  für  einen  Kenner  der  Kunst  Lionardo’s 
ausgeben  dürfte,  der  noch  mit  unerschütterlicher  Zu¬ 
versicht  an  dessen  Urheberschaft  bei  diesem  Profil¬ 
bildnisse  festhielte.  Die  Merkmale,  die  in  Lermo- 
lieff’s  „Kunstkritischen  Studien“,  Bd.  I,  S.  231  If.  an¬ 
gegeben  sind,  um  den  Maler,  dem  es  in  der  That 
angehört,  nämlich  den  Mailänder  Ambrogio  de  Predis 
darin  zu  erkennen,  sind  so  bestimmt  und  so  zwin¬ 
gend,  dass  es  kairm  noch  nötig  erscheint,  weiteres 
zu  sagen.  Ich  möchte  nur  hinzufügen,  dass  die 
ganze  Auffassung  und  Darstellungsweise  trotz  ihrer 
Reize  doch  etwas  so  Beschränktes,  so  Steifes  an 
sich  hat,  namentlich  in  der  Behandlung  der  Neben¬ 
sachen,  dass  man  dadurch  zunächst  an  einen  Miniatur¬ 
maler  erinnert  wird. 

Was  nun  die  Frage  nach  der  dargestellten  Per- 

o  r5 

sönlichkeit  betrifft,  so  ist  bereits  viel  darüber  ver¬ 
handelt  worden.  Dass  sie,  wie  bis  vor  wenigen 
Jahren  angenommen  worden,  für  die  Gemahlin  des 
Lodovico  il  Moro,  d.  h.  Beatrice  d’Este  anzusehen 
sei,  ist  schon  längst  durch  Vergleiche  widerlegt 
worden.  Auch  der  später  von  Morelli  vorgeschla¬ 
gene  Name  der  Bianca  Maria  Sforza,  der  Gemahlin 
des  Kaisers  Maximilian,  musste  aufgegeben  werden, 
nachdem  Fr.  Lippmann  in  Berlin  in  den  Besitz  eines 
sicheren  Porträts  derselben  Person  gelangt  war '), 
eines  Porträts,  dessen  Urheber,  dank  den  Unter¬ 
suchungen  Morelli’s,  sofort  als  der  von  ihm  ent¬ 
deckte  Ambrogio  de  Predis  bezeichnet  werden  konnte. 

Wir  können  also  vor  der  Hand  nur  die  Ver¬ 
mutung  aussprechen,  dass  die  in  dem  Bildnisse  der 
Ambrosiana  dargestellte  junge  Frau  auf  eine  Person 
aus  der  Umgebung  der  Sforza  zu  beziehen  sei,  da 
sie  in  ihren  Zügen  mit  keinem  der  bekannten  Glieder 
jener  herrschenden  Familie  übereinzustimmen  scheint, 
in  deren  Diensten  der  Maler  bekanntlich  stand. 

Das,  was  wir  hier  besonders  betonen  möchten, 
ist  der  innerliche  Unterschied  zwischen  dem  Wesen 
Lionardo’s  und  demjenigen  der  gleichzeitigen  lom¬ 
bardischen  Kunst.  Dass  die  Erkenntnis  eines  solchen 
Unterschiedes  noch  immer  nicht  allgemein  durchge¬ 
drungen  ist,  lässt  sich  begreifen. 

Den  Verteidigern  der  Meinung,  dass  unser  Por¬ 
trät  ein  eigenhändiges  Werk  Lionardo’s  sei,  möchten 
wir  die  Frage  stellen,  in  welche  Periode  seiner  Kunst- 


1)  S.  den  Aufsatz  von  W.  Bode  im  Jahrbuch  der  kgl. 
preuß.  Kunstsammlungen  v.  J.  1889,  Heft  2,  mit  trefllicher 
Abbildung. 


I’rolilbildnis  der  sogenannten  Herzogin  in  der  Arabrosiana  zu  Mailand. 


LIONARDO  DA  VINCI. 


81 


entwickelung  sie  es  dann  setzen  wollten.  SoUte 
jemand  dasselbe  als  ein  Jugendwerk  des  Meisters 
bezeichnen  wollen,  d.  h.  als  vor  seiner  Übersiedelung 
nach  Mailand  entstanden,  so  wäre  dagegen  einzu¬ 
wenden,  dass  nicht  nur  die  Tracht,  sondern  auch 
die  Maltechnik  durchaus  einen  lombardisch  mailän¬ 
dischen  Stempel  an  sich  tragen,  verschieden  von 
demjenigen,  der  den  gleichzeitigen  Werken  der  Malerei 
in  Toskana  aufgeprägt  ist.  Zu  Lionardo’s  reiferen 
Jahren  aber,  in  die  so  tief  durchdachte  Werke  wie 
sein  Abendmahl  und  seine  Mona  Lisa  gehören,  passt 
das  schlichte  und  befangene  Mädchenprofil  noch 
weniger.  Sieht  man  es  sich  näher  an,  so  wird  man 
bekennen,  dass  der  Gebrechen  darin  gar  zu  viele 
Vorkommen.  Die  äußerst  scharfe  Angabe  der  Ge¬ 
sichtszüge,  die  unschöne,  geradezu  abnorme  Form 
des  oben  zugespitzten  Schädels,  die,  wie  sie  Lermo- 
lieff  richtig  bezeichnet,  jäh  herabfallende  Linie  vom 
Nacken  auf  den  Rücken  (Kunstkritische  Studien  I, 
239),  ja  das  Kleinliche  in  der  ganzen  Ausführung 
überhaupt  hätte  sich  Lionardo  nie,  am  wenigsten 
aber  in  den  besten  Jahren,  zu  Schulden  kommen 
lassen. 

Alle  diese  Einzelheiten  lassen  sich  um  so  be¬ 
stimmter  in  diesem  Bilde  nachweisen,  als  es  glück¬ 
licherweise  in  gutem  Zustande  der  Erhaltung  auf 
uns  gekommen,  was  leider  mit  dem  der  sogenannten 
Belle  Ferroniere  nicht  der  Fall  ist.  Sie  dürfen  in¬ 
sofern  mit  guter  Zuversicht  als  bestimmte  Merkmale 
des  Ambrogio  de  Predis  angesehen  werden,  dessen 
Existenz  seit  der  Zeit  feststeht,  da  es  dem  genann¬ 
ten  Kritiker  gelang,  seine  abgekürzte  Namensbezeich¬ 
nung  in  dem  Ambraser  Profilbildnis  des  Kaisers 
Maximilian  richtig  zu  lesen,  während  sie  früher  irr¬ 
tümlicherweise  auf  Ambr.  Borgognone  gedeutet 
worden  war. 

Ambrosius  de  Predis  ist  uns  bis  zum  heutigen 
Tage  nur  durch  eine  beschränkte  Zahl  von  Porträts 
bekannt.  Dass  aber  seine  Schöpfungen  in  diesem 
Fache  wiederholt  für  Werke  Lionardo’s  angesehen 
worden,  ist  erwiesen;  hier  dafür  wenigstens  zwei 
Beispiele.  Das  eine  ist  das  anmutige  Jünglingsbild¬ 
nis  in  der  Sammlung  Morelli  ^),  das  andere  das  Bild¬ 
nis  im  Besitze  des  Herrn  Füller  Maitland  in  Eng¬ 
land,  welches  ein  authentisches  M^erk  des  Ambrosius 
de  Predis  oder  Preda  ist.  Letzteres  wurde  zwar  von 
dem  früheren  Besitzer,  dem  Grafen  Archinto  aus 
Mailand,  auf  den  Namen  eines  Vorfahren  bezogen, 


1)  S.  dessen  Abbildung  und  Besprechung  in  „La  Oalleria 
Morelli  in  Berfjamn'\  Fratelli  Bolis  editori,  Bergamo  1892. 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  4. 


während  ja  schon  aus  der  Deutung  der  zusammen¬ 
gestellten  Buchstaben  des  Monogramms,  womit  es 
versehen,  auf  A?nbrosius  Preda  ifediolanendis  zu 
schließen  ist. 

Merkwürdigerweise  ist  uns  in  Bezug  auf  letzteres 
Gemälde  ein  schriftliches  Dokument  erhalten,  aus 
dem  sich  ergiebt,  dass  der  Verfasser  der  „Kunst¬ 
kritischen  Studien“,  als  er  noch  kein  ausgemachter 
Kritiker,  sondern  ein  jugendlicher  Enthusiast  war, 
das  Bildnis  als  ein  echtes  Werk  Lionardo’s  bewun¬ 
dert  hatte.  Wir  entnehmen  dies  aus  einem  in  seiner 
lebendigen  Weise  geschriebenen  Briefe,  den  er  am 
3.  März  1847  an  einen  seiner  guten  Freunde  in 
Bergamo  gerichtet  hatte.  Er  giebt  ihm  darin  Be¬ 
richt  über  seinen  Besuch  im  Hause  Archinti  und 
hebt  dabei  folgendermaßen  an: 

„Durch  die  gütige  Vermittelung  meines  Tisch¬ 
genossen  Crivelli  wurde  ich  gestern  der  Gräfin  Ar¬ 
chinti  vorgestellt,  die  sodann  die  besondere  Gefällig¬ 
keit  hatte,  uns  eigenfüßig  in  ihren  Zimmern  und 
Sälen  herumzuführen  und  uns  zugleich  ihre  kost¬ 
baren  Bilder  zu  zeigen.  Und  darauf,  ja  einzig 
darauf  war  unsere  Visite  gemünzt.  —  Einen  solchen 
Luxus  habe  ich  nicht  leicht  gesehen,  —  es  ist  die 
Wohnung  einer  Königin.  —  Unter  den  vielen  Bil¬ 
dern  werde  ich  bloß  diese  vier  herausheben:  erstens 
und  vor  allem  den  Lionardo  da  Vinci.  Er  ist  ein 
junger  Mann  mit  blonden  Haaren,  lieblichen,  etwas 
melancholisch  träumerischen  blauen  Augen  und  einem 
zarten  und  höchst  feinen  Mund  und  Kinn.  Er  trägt 
einen  kleinen  Pelz  über  die  Schultern  und  hält  in 
der  linken  Hand  einen  Zettel,  worauf  geschrieben 
steht:  1494  —  ann.  20  und  /RX  —  (flüchtig  und 
nicht  richtig  angegebenes  Monogramm)  —  also  Ar¬ 
chinti.  Ein  reizenderes  Bild  lässt  sich  nicht  leicht 
sehen  —  es  sieht  so  naiv,  so  jugendlich  aus,  als 
ob  der  Tau  des  Genius  des  Künstlers  darauf  ruhte. 
Die  Hand  ganz  osteologisch  richtig  gezeichnet  und 
doch  vollkommen  verzeichnet;  auch  das  Pelzwerk 
noch  ganz  schülerhaft  gemacht,  aber  sonst  so  leben¬ 
dig  und  geistvoll  hingestellt,  dass  man  sich  kaum 
von  diesem  Juwel  zu  trennen  vermag.  —  Die  Gräfin 
hatte  selbst  ihre  Freude,  mich  so  begeistert  zu 
sehen.  “2) 

Was  soll  denn  aus  dem  Widerspruch  zwischen 

1)  S.  „Kunstkritische  Studien“  I,  239. 

2)  Das  zweitgenannte  Bild  war  ein  Porträt  eines  Kar¬ 
dinals  Archinti  von  Tizian,  das  dritte  und  vierte  zwei  Land¬ 
schaften  von  Salvator  Rosa.  Ferner  wird  einer  reichen 
Kupferstich-  und  Handzeichnungssamnilung  gedacht,  alles 
leider  seit  Jahren  in  der  weiten  Welt  zerstreut. 

11 


S2 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENUS. 


diesem  jugendliclien  Eindruck  und  dem  reiferen  Ur¬ 
teil  desselben  Mannes  gefolgert  werden?  Sollte  etwa 
jemand  Anstoß  daran  nehmen,  oder  nicht  eher  den 
Entwickelungsgang  des  menschlichen  Geistes  darin 


erkennen,  welcher  zuerst  nur  von  den  Anschauungen 
des  Gefühls  beherrscht  wird,  später  aber  den  Schlüssen 
der  vernünftigen  Überlegung  Raum  giebt? 

GUSTAV  FRIZZONL 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


VON  KARL  WOKRMANN. 
MIT  ABBILDUNGEN. 
(Fortsetzung.) 


UI. 


LS  Ismael  sich  nun  mit  seinen 
Kindern  allein  in  seinem 
Hause  sah,  hatte  er  keinen 
anderen  Gedanken  mehr  als 
deren  künstlerische  Erzie¬ 
hung.  Sie  vor  den  Augen 
der  Welt  verbergend,  sie 
nur  Nachts  spazieren  füh¬ 
rend,  sie  'den  ganzen  Tag  unablässig  zur  Arbeit 
anhaltend,  nur  seinem  eigensten  Lehrgänge  folgend, 
unterrichtete  er  sie  mit  der  äußersten  Strenge  im 
Zeichnen  und  Malen.  Sein  älterer  Sohn  Karl  Moritz 
hielt  die  Behandlung  nicht  aus.  Er  entfloh  dem 
Elternhause,  wurde  in  Prag  katholisch,  schloss 
sich  den  Jesuiten  an,  wurde  Hauslehrer  bei  den 
Söhnen  des  Grafen  von  Seeau  und  des  Baron  von 
Grünthal  und  erhielt  endlich  eine  Anstellung  als 
Lehrer  der  französischen  und  italienischen  Sprache 
an  der  Ritterakademie  zu  Kremsmünster  in  Öster¬ 
reich,  wo  er  starb,  ln  den  Akten  des  Dresdener 
Ilauptstaatsarchivs  erscheint  später  nur  seine  Witwe, 
die  nach  seinem  und  Ismael’s  Tode  die  größte  Mühe 
liatte,  ihren  Erbteil  nach  Österreich  ausgeliefert 
zu  erhalten.  Die  sächsische  Regierung  behauptete, 
dessen  Auszahlung  nicht  zugeben  zu  können,  da  Karl 
Moritz  Mengs  ohne  Erlaubnis  ausgewandert  sei;  erst 
als  die  österreichische  Regierung,  die  den  Rechts¬ 
grund  dieser  Weigerung  bestritt,  mit  Repressalien 
drohte,  erhielt  die  Witwe  Mengs  in  Kremsmünster 
(I7S2)  ihren  Erbteil.  Im  Mengs’schen  Hause  aber 
war  nach  der  Flucht  des  Karl  Moritz  nie  mehr  von 
ihm  die  Rede.  Ismael  tröstete  sich  damit,  dass 
.seine  strenge  Erziehung  bei  seinen 
beiden  Töchtern  und  besonders  bei 
seinem  jüngeren  Sohne  Anton  Ra¬ 
phael  um  so  besser  anschlug.  Ohne 
natürliche  Veranlagung  hätte  Anton  Faksimile  von 


Raphael  seines  Vaters  Willen  freilich  nicht  erfüllen 
können;  aber  ohne  die  eiserne  Zucht,  die  ihm  sein 
Leben  lang  nachging,  hätte  er  es  wahrscheinlich 
auch  nicht  gethan.  Er  „soUte  und  musste“  ja. 
Wozu  hieß  er  sonst  Anton  Raphael?  Es  sind  ihm 
auch  niemals  Zweifel  daran  aufgestiegen,  dass  An¬ 
tonio  da  Correggio  und  Raffaello  da  Urbino,  seine 
Paten,  neben  denen  er  als  dritten  im  Bunde  höch¬ 
stens  Tizian  gelten  ließ,  die  einzigen  wirklichen 
Maler  der  Welt  seien,  die  einzigen  Meister,  auf 
deren  in  eins  verschmolzener  Nachahmung  das  ganze 
Heil  der  Zukunftskunst  beruhe.  In  seinen  späteren 
Schriften  ist  dies  der  unzähligemal  wiederholte  und 
abgewandelte  Leitgedanke,  der  ursprünglich  offenbar 
von  seinem  Vater  Ismael  herrührte. 

Es  war  daher  nur  folgerichtig,  dass  Ismael  sich 
schon,  als  Anton  Raphael  sein  zwölftes  Lebensjahr 
erreicht  hatte,  entschloss,  mit  seinen  Kindern  nach 
Italien  überzusiedeln,  um  sie  dort  an  der  Quelle 
weiterstudiren  zu  lassen.  Vor  der  Abreise  aber  be¬ 
warb  er  sich  noch  in  einer  eigenhändigen  Eingabe 
an  den  König  um  die  Leitung  der  Gemäldegalerie, 
damit  er  nach  seiner  Heimkehr  einem  sorgenfreien 
Alter  entgegensehen  könne.  Er  hatte  wohl  voraus¬ 
gesehen,  dass  der  Galeriedirektor  Le  Plat  während 
seiner  Abwesenheit  sterben  würde,  und  gefürchtet, 
dass  der  vor  kurzem  (1739)  als  Hofmaler  nach  Dres¬ 
den  berufene  böhmische  Meister  Johann  Gottfried 
Riedel  die  Stelle  erhalten  würde,  wenn  er  sich  nicht 
beizeiten  meldete.  Wie  jene  Voraussicht,  ging  nun 
allerdings  auch  diese  Befürchtung  trotz  seines  Ge¬ 
suches  in  Erfüllung.  Le  Plat  starb  am  3.  Mai  1742, 
als  Ismael  Mengs  noch  in  Italien 
war,  und  an  seiner  Stelle  wurde 
Johann  Gottfried  Riedel  mit  der  Lei¬ 
tung  der  Galerie  betraut.  Ismael’s 
Ismael  Mengs,  Gesuch  aber  ist  so  charakteristisch, 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


83 


dass  es  der  Mühe  wert  ist,  es  zu  veröffentlichen. 
Es  lautet  wörtlich: 

Allerdurchlauchtigster,  großmächtigster  König 
und  Churfürst,  allergnädigster  Herr! 

Ew.  Kgl.  Maj.  und  Churfürstl.  Durchl.  wird  in 
allergnädigstem  Andenken  ruhen,  was  gestallt  dero 
Königl.  und  Churfürstl.  Hauße  ich  in  das  27^®  Jahr 
Dienste  geleistet  i)  und  solche  jederzeit  möglichster 
maßen  verrichtet  habe,  allermaßen  nun  meine  Jahre 
heranwachsen,  mithin  auch  gar  leichte  die  Augen 
blöder  werden  dürfften,  hinfolglich  ich  sodann  in 
meinem  Alter  eine  Retirade  zu  suchen  um  desto 
nöthiger  finde,  maßen  Ew.  Königl.  Majt.  sodann 
meine  allerunterthänigsten  Dien.ste  nicht  so  wie  sonst 
zu  leisten  im  Stande  wäre,  voritzo  aber  dahin  ledig¬ 
lich  mich  bestrebe,  dass  meine  Kinder  mein  Metie, 
wo  nicht  besser,  so  doch  ebenso  tüchtig  als  ich  er¬ 
lernen  und  zu  allerhöchst  derselben  Diensten  fähig 
werden,  ich  hingegen  ein  Soulagement  haben  möchte, 
So  verwendet  an  Ew.  Königl.  Majt.  mein  allerunter- 
thänigst  gehorsamstes  bitten,  Sie  wollen  die  aller¬ 
höchste  Gnade  vor  mich  zu  haben  und  insofern  bey 
dero  Gallerie  hierselbst  eine  V^acanz  sich  ereignen 
solte,  selbige  mir  conferiren  zu  lassen,  alleraequa- 
nimest  geruhen.  Ich  werde  dann  alles  obliegende 
auf  das  genaueste  zu  observiren  nicht  ermangeln 
und  biß  in  das  Grab  in  allertiefster  Erniedrigung 
beharren  Ew.  Königl.  Majt.  u.  Churfürstl.  Drchlt. 

allerunterthänigst  gehorsamster 
Neustadt  bei  Dresden  Ismael  Mengs. 
am  2.  Sept.  1740. 

Da  eine  Vakanz  damals  noch  nicht  vorhanden 
war,  reiste  er,  ohne  eine  Antwort  abzuwarten,  noch 
im  Herbst  1740  mit  seinem  Sohne,  seinen  beiden 
Töchtern  —  und  seiner  neuen  Haushälterin  Katharina 
Nützschnerin  nach  Rom  ab. 

Der  Vatikan,  in  dessen  Nähe  die  Familie  Mengs 
wohnte,  wurde  jetzt  der  tägliche  Aufenthalt  Anton 
Raphael’s.  Den  ganzen  Tag  über  wurde  er  hier  bei 
Brot  und  Früchten  sozusagen  eingesperrt.  Erst 
abends  gab  es  eine  reichliche  Mahlzeit.  Im  Vatikan 
musste  er  zuerst  die  Gemälde  Michelangelo’s  in  der 
Sixtinischen  Kapelle  und  die  Antiken  im  Belvedere 
kopiren.  Dann  erst  kamen  die  Stanzen  Raphael’s  an 
die  Reihe.  In  der  Stadt  aber  zeichnete  er  abends 
noch  in  Marco  Benefiale’s  Aktsaal  nach  dem  lebenden 
Modell.  Seine  beiden  Töchter  hingegen  förderte 


1)  Auch  hierdurch  wird  bestätigt,  dass  er  1714,  ver¬ 
mutlich  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1714,  zum  Hofmaler 
ernannt  worden. 


Ismael  zu  Hause  in  der  Pastell-  und  Miniaturmalerei. 
Bianconi  sagt:  „Für  die  Römer  war  es  ein  Wunder, 
diese  stillen  und  sittsamen  kleinen  drei  Deutschen 
(questi  taciti  e  modesti  tre  tedeschini)  in  so  zartem 
Alter  und  so  gut  arbeiten  zu  sehen.“ 

Nach  dreijährigem  Aufenthalte  in  der  ewigen 
Stadt  kehrte  Ismael  mit  seinen  Kindern  nach  Dresden 
ziu'ück.  Schon  am  19.  Febr.  1744  ist  die  Familie 
hier  urkundlich  wieder  nachzuweisen.  Am  20.  schrieb 
der  Graf  Wackerbarth  an  den  Pater  Guarini:  „Gestern 
hatte  ich  die  Ehre,  ihm  (d.  h.  dem  jungen  Prinzen 
Friedrich  Christian)  den  „Sieur  Menks“  vorzustellen, 
der  seit  kurzem  von  Rom  zurückgekehrt  ist.“  Nach 
dem  ganzen  Zusammenhang  kann  hier  natürlich  nur 
von  Ismael,  noch  nicht  von  dem  15jährigen  Anton 
Raphael  die  Rede  sein.  Doch  dies  nur  nebenbei. 
Am  besten  lassen  sich  die  urkundlichen  Nachrichten 
mit  den  unter  sich  verschiedenen  Überlieferungen 
der  Schriftquellen  vereinigen,  wenn  man  annimmt, 
dass  die  Familie  Mengs  sich  ungefähr  vom  Januar 
1741  bis  zum  Januar  1744  in  Rom  aufgehalten  habe. 

In  Dresden  wurde  der  noch  nicht  sechzehn¬ 
jährige  Anton  Raphael  jetzt  zunächst  zur  Pastell¬ 
malerei  angehalten,  die  damals,  wie  heute  wieder, 
Mode  war  und  einträglich  zu  werden  versprach.  Das 
köstliche  Bildnis  seines  Vaters  und  seine  beideir 
Selbstbildnisse  in  der  Dresdener  Galerie,  auf  denen 
er  sich,  der  Zeitmode  entgegen,  aber  seinem  Vor¬ 
bilde  Raphael  entsprechend,  mit  langem  natürlichen 
Haare  dargestellt  hatte,  waren  gewissermaßen  seine 
Probe-  und  Meisterstücke  in  dieser  Kumst.  Die 
Selbstbildnisse  zeigen  in  derThat  einen  15  —  16jährigen 
Knaben  von  dunklem  Typus,  hübscher,  offener  Ge¬ 
sichtsbildung  und  lebhaftem,  ansprechendem  Aus¬ 
druck.  Bianconi  erzählt  eine  lange  romantische  Ge¬ 
schichte  von  der  zufälligen  Entdeckung  dieser  Bilder 
und  der  drei  Künstlerkiuder,  von  denen  niemand  in 
Dresden  eine  Ahnung  gehabt  habe.  Der  berühmte 
Sänger  Annibali  soll  eines  Tages  in  Ismael  Mengs’ 
Wohnung  Zutritt  gefunden,  das  geheim  gehaltene 
Künstlernest  entdeckt  und  zunächst  dem  Pater 
Guarini,  dem  Beichtvater  Au gust’s  HL,  verraten  haben. 
Als  der  König  davon  erfahren,  soll  das  Geheimnis 
nicht  länger  zu  wahren  gewesen  sein.  Im  Triumphe 
sollen  die  Kleinen  hervorgeholt  worden  und  nun  soll 
Anton  Raphael  vom  König,  vom  Hofe,  von  allen 
Kunstkreisen  Dresdens  gedrängt  worden  sein,  Pastell¬ 
bildnisse  zu  malen.  Jeder  wollte  von  dem  Sechzehn¬ 
jährigen  gemalt  sein.  Dass  die  anekdotenhafte 
Zuspitzung  dieser  Geschichte  erfunden  ist,  geht  schon 
aus  der  mitgeteilten  Eingabe  IsmaeTs  an  den  König 

11* 


84 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


vom  Jahre  1740  hervor.  Schon  in  ihr  spricht  er  ja 
ausdrücklich  davon,  dass  er  zunächst  der  künstlerischen 
Erziehung  seiner  Kinder  lebe.  Wahr  aber  ist  es^ 
dass  der  junge  Anton  Raphael  in  den  Jahren  1744  bis 
1745  nicht  nur  den  König,  sondern  auch  den  Sänger 
Annibali,  nicht  nur  den  Oberhofmaler  Silvestre, 
sondern  auch  die  Sängerin  Mingotti,  nicht  nur  den 
Herrn  von  Hofmann,  der  der  Gatte  der  Malerin 
Felicitas  Sartori  war,  sondern  auch  die  Gattin  des 
Landschaftsmalers  Thiele,  der  zwei  Jahre  darauf  zum 
Hofmaler  ernannt  wurde,  in  Pastell  malte;  wahr  ist 
es,  dass  alle  diese  Pastellbildnisse,  die  noch  heute 
der  Technik  und  der 
geistigen  Erfassung  der 
Persönlichkeiten  nach  zu 
dem  Tüchtigsten  gehören, 
was  in  diesem  Fache  ge¬ 
leistet  woi'den,  im  kunst¬ 
sinnigen  und  kunstver¬ 
ständigen  Dresden  jener 
Tage  ein  um  so  größeres 
Aufsehen  erregten,  da  sie 
von  einem  so  blutjungen 
Fanten  gemalt  waren; 
wahr  ist  es,  dass  der 
König  alle  diese  Arbeiten, 
die  noch  heute  die  Dres¬ 
dener  Galerie  schmücken, 

, 'inkaufte,  und  dass  Anton 
Rajibael  infolgedessen 
durch  Dekret  vom  1.  Ok¬ 
tober  1715  „in  Hetracbt 
seiner  in  dieser  Kunst 
erlangten  und  Ijcy  ver- 
scbiedener  ihm  seither 
anvertrauter  Arbeit  er- 
w  i  esen  en  G  esc.l  i  i  ckl  i  ch  - 
keit“  zum  königlichen 
Hofmaler  ernanirt  wurde.  Fr  war  erst  Jahr  alt. 
So  etwas  war  noch  nicht  dagewesen.  Ismael  hatte 
also  allen  Grund,  mit  dem  Erfolg  seiner  Plrziehungs- 
methode  zufrieden  zu  sein. 

Alle  diese  Hildnisse  sind  in  der  That  so  lebendig 
tresehen  und  so  meisterhaft  wiedergegeben,  dass 
Anton  Raphael  Mengs,  in  dieser  Rahn  fortschreitend, 
seiliständige  Naturanschauung  mit  technischer  Voll¬ 
endung  verbindend,  vielleicht  wirklich  auch  für  die 
Nachwelt  der  Reformator  der  Kunst  hätte  werden 
können,  für  den  die  Mitwelt  ihn  ansah.  Aber  wozu 
hieß  er  Anton?  Wozu  hieß  er  Raphael?  Auf  den 
Gedanken,  dass  es  ein  Verdienst  sei,  die  Natur  mit 


eigenen  Augen  zu  sehen,  kamen  weder  er  noch 
sein  V ater. 

*  * 

* 

IV. 

Um  Correggio  und  Raphael  nachzuahmen,  musste 
Anton  Raphael  Mengs  nach  Italien  zurückgeführt 
werden.  Die  Dresdener  Galerie  besaß  ja  1745  noch 
keinen  echten  Raphael  und  noch  keinen  Correggio. 
Die  Sixtinische  Madonna  wurde  erst  1753  erworben; 
die  berühmten  Bilder  Correggio’s  aus  Modena  aber 
können  1746  erst  kurz  vor  der  Wiederabreise  der 

Mengs  in  Dresden  aufge¬ 
stellt  worden  sein.  Im¬ 
merhin  werden  sie  sie 
noch  gesehen  haben.  Vom 
6.  April  1746  ist  das 
königliche  Dekret  datirt, 
welches  dem  „Hofmaler 
Antonio  Raphael  Mengs 
ein  jährliches  Tractament 
von  Sechshundert  Tha- 
lern“  aus  der  königlichen 
„  Chatou  Ile  “  „  dergestalt 

in  höchsten  Gnaden“  be¬ 
stimmte,  „dass  ihm  sol¬ 
ches  von  Anfang  iezigen 
Jahres,  in  denen  gewöhn¬ 
lichen  Terminen,  auch 
währender  dessen  bevor¬ 
stehender  Reise  nach  Ita¬ 
lien,  wozu  Ibro  Königl. 
Majt.  ihm  die  allergnä¬ 
digste  Erlaubniss  erthei- 
let,  gegen  seine  Quittung, 
unverrückt  gereichet  wer¬ 
den  ,  er  aber  dagegen 
jederzeit  zu  dero  Dienst 
sieb  bereit  finden  lassen  soll“;  und  vom  11.  April 
ist  der  französisch  geschriebene  Brief  datirt,  durch 
den  der  allmächtige  Minister  Graf  Brühl  Ismael 
Mengs  und  seinen  Sohn  dem  Grafen  de  Lagnace, 
der  sächsischer  Gesandter  in  Rom  war,  empfiehlt. 
Dieser  Empfehlungsbrief  lautet: 

„Le  peintre  de  la  Cour,  Meng.s,  allant  ä  Rome 
y  conduire  son  fils  qui  est  aussi  au  Service  du  Roi, 
et  (pii  a  des  talents  tout  particuliers  pour  la  peinture, 
lesquels  il  tachera  de  perfectionner  encore  d’avantage 
dans  cette  grande  Academie,  je  dois  les  recommander 
ä  Votre  protection  et  assistance  pour  faciliter  leur 
(sic)  vues,  et  l’obtien  du  büt  que  le  Roi  s’est  propose 


A.  II.  Men(JS.  .JuKeiidlichPS  Selbstbildnis  in  Pastell.  Dresden. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


85 


en  leur  faisant  faire  ce  voyage.“  Wird  in  diesem 
Brief  der  Schwestern  Anton  Raphael’s  auch  nicht 
gedacht,  so  hatte  August  III.  Theresia  Concordia 
und  Juliane  Charlotte  doch  nicht  vergessen.  Eine 
wie  tüchtige  Malerin  wenigstens  die  erstere  war, 
zeigen  ja  auch  ihre  Bilder  in  der  Dresdener  Galerie: 
die  beiden  Pastelle,  von  denen  das  eine  ihr  Selbst¬ 
bildnis,  das  andere  das  Bildnis  ihrer  Schwester  dar¬ 
stellt,  und  die  bei¬ 
den  glänzenden 
Miniaturkopieen 
nach  Correggio’s 
„Nacht“  in  Dres¬ 
den  und  nach  Cor¬ 
reggio’s  „Tag¬ 
in  Parma.  Au¬ 
gust  III  hatte 
auch  jede  der 
beiden  Schwes¬ 
tern  vor  ihrer  Ab¬ 
reise  mit  einem 
Gehalte  von  300 
Thalern  ausge- 
.stattet.  Im  Gan¬ 
zen  reisten  die 
Mengs  also  mit 
einem  festen  Jah¬ 
reseinkommen 
von  1800  Thalern 
wieder  nach  Ita¬ 
lien  ab.  Dass 
sie  noch  im  April 
1746  ahgereist, 
lässt  das  Datura 
des  Empfeh¬ 
lungsbriefes  ver¬ 
muten.  Sie  rei¬ 
sten  dieses  Mal 
aber  langsam.  In 
Venedig,  in  Fer¬ 
rara,  in  Parma, 
in  Bologna  hiel¬ 
ten  sie  sich  auf.  Tizian,  Correggio  und  Raphael,  be¬ 
sonders  Correggio,  wurden  unterwegs  studirt.  Erst 
gegen  Ende  des  Jahres  kamen  sie  wieder  in  Rom 
an.  Hier  setzte  Anton  Raphael  seine  Studien  fort, 
malte  auch  seinem  Vater  zu  Gefallen  mitunter  einige 
sauber  ausgeführte  Miniaturen,  wie  sich  ihrer  fünf, 
die  teils  Kopieen  nach  Bildern  Raphael  Santi’s  sind, 
teils  auf  eigenen  Erfindungen  beruhen,  in  der  Dres¬ 
dener  Galerie  erhalten  haben,  ging  aber  nur  lang¬ 


sam  und  tastend  an  die  Ölmalerei  heran.  Sein  erster 
Versuch  auf  diesem  Gebiete  war  eine  Halbfigur  der 
Magdalena.  Eine  solche  von  der  Hand  des  Raphael 
Mengs  hat  sich  z.  B.  im  Madrider  Museum  erhalten. 
Sein  zweites  Ölbild  war  das  lebensgroße  Bildnis 
seines  Vaters.  Es  steht  nichts  im  Wege,  anzuneh¬ 
men,  dass  dieses  das  Brustbild  Ismael’s  im  roten 
Rock  im  Vorrat  der  Berliner  Galerie  ist.  Durch 

den  Erfolg  dieser 
Versuche  ermu¬ 
tigt,  wagte  er 
sich,  als  er  ein¬ 
undzwanzig 
Jahre  alt  gewor¬ 
den  war,  an  eine 
große  „Heilige 
Familie“.  Näher 
bescbrieben  wird 
sie  nicht.  Wir 
hören ,  dass  er 
sie  bald  darauf 
mitnachDeutsch- 
laud  nahm;  aber 
schon  Bianconi’s 
Ausdrucksweise, 
dass  er  sie  den 
Dresdener  Maje¬ 
stäten  vorge¬ 
stellt  habe  (pre- 
sentö  loro),  lässt 
nicht  darauf 
schließen,  dass 
sie  in  Dresden 
geblieben,  wie 
sich  hier  denn 
auch  in  der  That 
keine  Spuren  von 
ihr  finden.  Wo¬ 
hin  aber  ist  sie 
gekommen?  Von 
einigen  Seiten 
wird  ohne  wei¬ 
teres  die  Madonna  zwischen  zwei  Engeln  in  der  kais. 
Galerie  zu  Wien  für  dieses  erste,  tief  mit  seiner 
Lebensgeschichte  verflochtene  mehrfigurige  Ölgemälde 
seiner  Hand  erklärt.  Da  das  Wiener  Bild  aber  doch 
eben  keine  „Heilige  Familie“  darstellt,  auch  die 
spätere,  nicht  die  frühere  Malweise  des  Meisters 
zeigt,  so  ist  diese  Annahme  von  vornherein  unwahr¬ 
scheinlich.  Der  nicht  genug  beachtete  Ratti  sagt 
(p.  VI)  auch  ausdrücklich,  dass  Mengs  die  „tavola 


A.  R.  Mengs.  Jugendliclies  Selbstbildnis  nach  einem  Pastell.  Dresden. 


.  Mengs.  l’astellbilil  des  llerni  von  Hol'niiinn.  nresden.  A.  K  l’ast'dlldldni'  di  -;  Snn^ii''  1 'oiuvuivi’  Aunili.ili. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


87 


della  Vergine  col  suo  Divino  Figliuolo  in  grembo 
e  due  Angiolini“  1770  in  Monaco  gemalt  und  (p.  XI) 
1773  der  Großherzogin  von  Toscana  überlassen,  gleich¬ 
zeitig  aber  für  den  Herzog,  gewissermaßen  als  Gegen¬ 
stück,  einen  , Traum  Joseph’s“  gemalt  habe.  Nun, 
die  „Madonna  zwischen  Engeln“  und  „der  Traum 
Joseph’s“  kamen  beide  zu  gleicher  Zeit,  1796,  in  die 
Wiener  Galerie,  Ohne  Zweifel  sind  sie  die  beiden 
von  Ratti  be¬ 
sprochenen  Bil¬ 
der.  Sie  stammen 
also  aus  großher¬ 
zoglich  toskani¬ 
schem  Besitze. 

Jene  heilige  Fa¬ 
milie  aber ,  die 
der  junge  Mengs 
1749  in  Rom 
gemalt,  werden 
wir  wahrschein¬ 
lich  ebenfalls  im 
Vorrat  der  Ber¬ 
liner  Galerie  zu 
suchen  haben. 

Die  dort  auf¬ 
bewahrte  heili¬ 
ge  Familie  zeigt 
auf  dunklem 
Grunde  Joseph 
im  gelben  Man¬ 
tel  neben  Maria, 
die  über  blauem 
Kleide  einen  ro¬ 
ten  Mantel  trägt 
und  das  mit  wei¬ 
ßem  Hemdchen 
bekleidete  Kind¬ 
chen  auf  dem 
Schoße  hält.  Die¬ 
se  Arbeit  ent¬ 
spricht  in  ihrer 
ziemlich  indivi¬ 
duellen,  wenn  auch  nicht  einheitlich  durchem¬ 
pfundenen  Gestaltung  und  ihrer  glatten  Malweise 
wohl  unserer  Vorstellung  von  Raphael  Mengs’  Jugend- 
.stil.  Kugler  rühmte  diesem  Bilde  „derbe  frische 
Naturwahrheit“  nach.  Dazu  stimmt  einigermaßen, 
dass  Dresdener  Kunstfreunden  1750  an  Mengs’  „Heiliger 
Familie“  vor  allem  die  große  Ähnlichkeit  mit  seiner 
schönen  jungen  Frau  auffiel. 

Die  schöne  Margherita  Guazzi,  die  ihm  Modell 


zur  Madonna  gesessen,  war  nämlich  seine  Gattin 
geworden.  Etwa  gleichzeitig  war  er  mit  seinen 
Schwestern  zur  katholischen  Kirche  übergetreten. 
Ratti,  sein  erster  Biograph,  lässt  durchblicken,  dass 
von  einem  Konfessionswechsel  bei  ihnen  eigentlich 
kaum  die  Rede  sein  konnte,  weil  sie  sich  vorher 
überhaupt  zu  keiner  Konfession  bekannt  hätten;  und 
Heinecken  sagt  ausdrücklich,  Ismael  habe  seinen 

Kindern  von  An¬ 
fang  an  die  Wahl 
der  Religion 
überlassen.  Jetzt 
aber  folgte  er 
ihrem  Beispiel, 
weil  er,wie  er  sag¬ 
te,  „keine  Schis¬ 
men  im  Hause 
haben  wollte“. 
Nur  Katharina 
Nützschnerin, 
die  Haushälterin, 
ließ  sich  noch 
nicht  bewegen, 
mitzuthun. 

Der  roman¬ 
hafte  Anstrich, 
den  Bianconi  sei¬ 
ner  Erzählung 
dieser  Begeben¬ 
heiten  gegeben, 
veranlasste  sclion 
im  vorigen  Jabr- 
h  lindert  einige 
Berichterstatter 
(Heinecken  und 
Prange),  Zweifel 
an  ihnen  zu  äu¬ 
ßern  und  wenig¬ 
stens  Einzelhei¬ 
ten  in  anderer 
Fassung  vorzu¬ 
tragen.  Heine¬ 
cken  bestritt  besonders,  dass  die  Familie  Mengs  erst 
aus  Anlass  der  Heirat  Anton  Raphael’s  katholisch 
geworden  sei.  Doch  hat  Bianconi’s  Erzählung 
gerade  in  dieser  Beziehung  die  innere  Wahrschein¬ 
lichkeit  für  sich.  Er  sagt  auch  ganz  bestimmt,  dass 
der  Übertritt  am  19.  Juli  1749  in  Rom  erfolgt  sei 
und  dass  einige  Wochen  darauf  die  Hochzeit  statt¬ 
gefunden  habe. 

Gewiss  ist,  dass  die  Familie  Mengs,  katholisch 


A.  R.  Mengs.  Pastellbildnis  August’s  III.  Dresden. 


JlENGS.  l’astellbildiiis  (1er  Sängerin  Miiigotti.  Drosden.  A.  K  Mr.N(.s.  r;ist('llliilihiis  der  Frau  A.  TliioU-  i‘.e--d('n 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


S9 


geworden,  um  Weihnachten  1749  wieder  in  Dresden 
ankam,  Ismael  an  der  Seite  der  Katharina  Nützsch- 
nerin  und  seiner  Töchter,  Raphael  an  der  Seite  seiner 
jungen  Gattin,  deren  Schönheit  Aufsehen  in  Dres¬ 
den  erregte,  und  gewiss  ist,  dass  es  hier  bald  zu 
ärfferlichen  Auseinandersetzunofen  zwischen  dem  Alten 
und  dem  jungen  Paare  kam.  Ismael,  der  eine  aus¬ 
gezeichnete  Tafel  liebte,  beanspruchte,  alter  Gewohn¬ 
heit  entsprechend,  den  Haushalt  für  die  ganze 
Familie  zu  füh¬ 
ren,  dafür  aber 
auch  alle  Einnah¬ 
men  seiner  Kin¬ 
der  einzukassi- 
ren.  Ihn  deshalb 
mit  Anton  Ra- 
phael’s  Freun¬ 
den  der  Habsucht 
und  Herrsch¬ 
sucht  anzukla¬ 
gen,  ist  kaum 
nötig,  da  ein  sol¬ 
ches  Verhältnis 
bisher  in  der 
Natur  der  Sache 
gelegen  hatte. 

Vollkommen  er¬ 
klärlich  ist  es 
aber  auch ,  dass 
das  junge  Paar, 
besonders  nach¬ 
dem  ihm  1750 
hier  sein  Töch- 
terchen  Anna 
Maria  geboren 
wurde,  nach  Selb¬ 
ständigkeit  ver¬ 
langte.  Es  kam 
zu  einem  Ver¬ 
gleich,  nach  dem 
Ismael  und  sein 
Sohn  zwar  im  gleichen  Hause  wohnen  blieben,  aber 
verschiedene  Haushalte  führten.  Die  Reibereien, 
an  denen  hauptsächlich  die  Haushälterin  Katharina 
schuld  war,  dauerten  trotzdem  fort.  Dass  der  König 
ihnen  dadurch  ein  Ende  gemacht,  dass  er  Anton 
Raphael  und  seiner  Gattin  eine  besondere  Wohnung 
und  gar  Equipage  angewiesen,  wie  Azara  und  Guibal 
berichten,  ist  schon  aus  dem  Grunde  unwahrscheinlich, 
weil  Bianconi,  der  damals  bereits  Leibarzt  in  Dresden 
war  und  mitten  in  dessen  Getriebe  stand,  also  un¬ 


A.  R.  Mengs.  Pastellbikl  Silvestre’s.  Dresden 


zweifelhaft  davon  wissen  musste,  kein  Wort  davon  er¬ 
wähnt,  vielmehr  seinen  Bericht  über  diese  Familien¬ 
zwistigkeiten  ausdrücklich  mit  den  Worten  schließt: 
„Ecco  in  pochi  giorni  la  famiglia  dei  Mengs  divisa 
d’interessi  e  di  tavola,  ma  no}i  divisa  di  domicilio‘''. 
Anton  Raphael,  dessen  Herz  von  größter  Dankbar¬ 
keit  gegen  seinen  Vater  erfüllt  war,  litt  außer¬ 
ordentlich  unter  diesen  Verhältnissen,  erstickte  seinen 
Schmerz  aber  in  rastlosem  Arbeiten.  An  Aufträgen 

fehlte  es  ihm 
nicht.  In  Pastell 
malte  er  um 
diese  Zeit  den 
Prinzen  Fried¬ 
rich  Christian 
und  seine  Gemah¬ 
lin  Maria  Anto¬ 
nia,  1751  auch 
deren  am  23.  De¬ 
zember  1750  ge¬ 
borenes  Söhn- 
chen,  den  nach¬ 
maligen  König 
Friedrich  August 
den  Gerechten. 
Der  berühmte 
kleine  Amor,  der 
seinen  Pfeil 
schleift ,  muss 
ebenfalls  dieser 
Zeit  angehören, 
wenn  er  nicht 
später  aus  Rom 
geschickt  wor¬ 
denist.  Alle  diese 
Pastelle  gehören 
zu  den  Zierden 
der  Dresdener 
Galerie.  In  Öl 
malte  er  den 
Prinzen  Fried¬ 
rich  Christian  und  seine  Gemahlin  noch  einmal 
als  lebensgroße  Kniestücke.  Dasjenige  des  Prinzen 
befindet  sich  im  Schlosse  Weesenstein  im  Miiglitz- 
thal,  dasjenige  der  Prinzessin  ist  in  die  Dresdener 
Galerie  gekommen.  Es  sind  ungemein  frisch  und 
keck  aufgefasste,  farbig  und  kräftig  gemalte  Bilder, 
die  höchstens  eine  gewisse  Weichheit  des  malerischen 
Schmelzes  vermissen  lassen.  Vom  König  erhielt  er 
den  Auftrag,  ihn  und  die  Königin  lebensgroß,  in 
ganzer  Gestalt,  mit  königlichem  Schmuck  in  Öl  zu 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N,  F.  V  II.  4. 


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ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


malen.  Doch  sind  diese  Bilder  niemals  fertig  ge¬ 
worden.  Anton  Raphael  nahm  sie  1752  unvollendet 
mit  nach  Rom.  Unvollendet  nahm  er  damals  auch 
das  Ölbild  seines  Freundes,  des  Hofsänger  Annibalis, 
mit  auf  die  Reise,  vollendete  es  aber  unterwegs.  Mit 
des  Künstlers  Namenszeichnung  und  der  Jahreszahl 
1752  versehen,  schmückt  es  gegenwärtig  die  Brera 
in  Mailand. 

Die  Hauptaufgabe  aber,  die  dem  jungen  Hofmaler 
in  den  Jahren  1751)—  1751  in  Dresden  gestellt 
wurde,  war  die  Ausschmückung  des  Hochaltars  der 
neuen,  von  Chiaveri  erbauten,  1751  eingeweihten 
katholischen  Hofkirche  und  seiner  beiden  Neben¬ 
altäre  mit  großen  Andachtsbildern.  Dresden  war 
unter  August  ITl.  von  einer  französischen  zu  einer 
italienischen  Kolonie  geworden.  Den  italienischen 
Sängern,  Musikern,  Ärzten,  Bildhauern,  Malern  ge¬ 
sellte  sich  in  Chiaveri  auch  der  italienische  Bau¬ 
meister.  Schon  standen  die  in  den  vorhergehenden 
Jahrzehnten  errichteten  Prachtbauten,  wie  der 
Zwinger,  das  japanische  Palais,  das  Altstädter  Rat¬ 
haus,  das  1760  abgebrannte  Flemming’sche,  das 
Kurländer  Palais  und  andere  Gebäude,  in  denen  sich 
Deutsche  wie  Pöpjielmann,  Bähr,  Kuöffel,  Franzosen 
wie  Le  Plat,  de  Bodt,  Longuelune  verewigt  hatten; 
schon  wölbte  sich  als  Wahrzeichen  des  neuen  Dresdens 
Bäbr’s  großartige  Steinkuppel  der  Frauenkirche  über 
der  Stadt;  schon  ging  das  Brühl’sche  Palais  von  der 
Hand  Knöff'ers  seiner  Vollendung  entgegen.  Das 
1  lauptereignis  in  der  Baugeschichte  Dresdens  aber, 
das  die  Familie  Mengs  um  diese  Zeit  hier  erlebte, 
war  eben  die  \'ollendung  der  katholischen  Hofkirche, 
der  eigensten  Kirche  des  Königshauses,  zu  deren 
Erbauung  der  Börner  schon  17J7  nach  Dresden  be¬ 
rufen  worden  w'ar.  Anton  Raphael  Mengs  hatte 
einen  gewissen  Anteil  an  der  Vollendung  des  Ge- 
Ijäudes.  Der  Bau  war  eingestellt  worden,  weil  bös¬ 
will  ige  oder  ängstlicbe  Gemüter  das  Gerücht  ver¬ 
breiteten,  das  Gewölbe  sei  im  Begriffe  einznstürzen. 
.Anton  Baphael  untersuchte  den  Bau  auf  eigene  Ge¬ 
fahr,  gewann  die  l ’berzengung,  dass  nur  Ränke  den 
Weiterbau  hinderten,  öffnete  dem  König  die  Augen 
und  hatte  die  Genugthuung,  bald  der  Einweihung 
der  Kirche  beiwohnen  z\i  können.  Der  alte  Chiaveri 
umarmte  den  jungen  Mengs  und  nannte  ihn  „seinen 
\  ater“. 

Ein  nicht  minder  großer  Sieg  des  jungen  Hof¬ 
malers  war  es,  dass  bei  der  Verteilung  der  Gemälde, 
mit  denen  die  neue  Kirche  geschmückt  werden  sollte, 
Silvestre  und  Hutiu,  Torelli  und  Palko  sich  mit 
Altarbildern  imChorunigang  und  im  Schiffe  der  Kirche 


begnügen  mussten,  während  er  selbst  den  Auftrag 
erhielt,  die  drei  großen  Gemälde  für  den  Chor  zu 
malen.  Die  Gemälde  der  beiden  Seitenaltäre  des 
Chors  führte  er  sofort  1750  in  Dresden  aus.  Sie  be¬ 
finden  sich  noch  an  ihrem  Platze.  Dasjenige  zur 
Linken  stellt  den  Traum  Josefs  dar.  Der  Entwurf 
dazu,  sowie  der  Entwurf  eines  zweiten  Bildes  des¬ 
selben  Gegenstandes  werden  in  der  Dresdener  Galerie 
aufbewahrt.  Das  Altarbild  zur  Rechten  aber  stellt 
nach  alten  und  neuen  Angaben  eine  „immaculata 
conceptio“,  eine  „Empfängnis  Maria’s“  dar.  Doch 
kann  man  sich  leicht  überzeugen,  dass  diese  Angaben 
unrichtig  sind.  In  Wirklichkeit  ist  es  eine  der 
keineswegs  selten  vorkommenden  symbolischen  Dar¬ 
stellungen  des  Sieges  der  christlichen  Religion :  Maria 
erscheint  im  Goldlicht  auf  der  Erdkugel;  aber  sie 
hält  ihren  Knaben  neben  sich;  und  der  Jesusknabe 
zertritt  die  Schlange,  die  sich  um  den  Erdball  windet. 
Beide  Gemälde  sind  nicht  besonders  reizvoll  in  der 
Anordnung,  aber  auch  nicht  besonders  reizlos  in  der 
lieh tdurchg] übten  Färbung.  Doch  tritt  die  Absicht, 
zugleich  Raphael  und  Correggio  nachzuahmen,  in 
ihnen  etvras  trocken  zu  Tage.  Mit  des  Meisters 
gleichzeitigen  Bildnissen  können  sie  sich  nicht  im 
entferntesten  messen.  Das  Hauptbild  der  katholischen 
Kirche  aber  ist  die  Himmelfahrt  Christi  auf  dem 
Hochaltäre.  Es  ist  ein  Riesenhöhenbild  mit  drei  ver¬ 
schiedenen  Augenpunkten:  einem  für  die  lebhaft  be¬ 
wegten  Apostelgruppen  auf  der  Erde,  aus  denen  links 
die  hohe  Gestalt  der  Schmerzensmutter  aufragt,  einem 
zweiten  für  den  in  der  Mitte  zwischen  erwachsenen, 
langbekleideten  Engeln  ruhig  emporschwebenden 
Heiland,  einem  dritten  für  den  ewigen  Vater,  der 
im  Goldlicht  der  Höhe,  weißhaarig,  weißbärtig,  ganz 
in  W eiß  gekleidet,  von  Engeln  umringt  und  getragen, 
seinem  göttlichen  Sohne  entgegenschwebt.  Pecht 
sagt,  es  sei  „ein  hochschätzbares  Werk  und  zugleich 
ein  Beweis,  wie  ungerecht  ganze  Zeiten  sein  können, 
da  man  es  heute  kaum  mehr  beachte“.  Andere 
urteilen  anders.  Die  Himmelfahrt  Christi  wurde 
übriijeus  1750  in  Dresden  nur  entworfen.  Nachdem 
Augu.st  111.  den  Entwmrf  genehmigt,  erklärte  Anton 
Raphael  sofort,  das  Gemälde  nur  in  Rom  ausführen 
zu  können.  Doch  ließ  er  es  unvollendet  in  Rom 
zurück,  als  er  1761  nach  Madrid  übersiedefte. 
Hierher  wurde  es  ihm  auf  Befehl  des  sächsischen 
Hofes  1  765  nach  geschickt.  Da  er  von  dem  festgesetzten 
Preise  von  6000  Thalern  4000  Thaler  bereits  im 
voraus  in  Dresden  ausbezahlt  erhalten  hatte,  beeilte 
man  sich,  ihm  nunmehr  den  Rest  von  2000  Thalern 
in  Madrid  zukommen  zu  lassen.  Man  traute  dem 


AUGUST  WITTIG. 


91 


Meister,  wie  aus  dem  amtlichen  Briefwechsel  über 
die  Angelegenheit  hervorgeht,  zu,  dass  er  sonst  das 
noch  nicht  völlig  bezahlte  Bild  als  unverkauft  dem 
Madrider  Hof  anbieten  könne.  Am  13.  März  1766 
endlich  berichtete  der  Legationsrat  Saul,  der  säch¬ 
sischer  Gesandter  in  Madrid  war,  seinem  Hofe,  dass 
das  Bild  vollendet  in  Madrid  ausgestellt  sei  und  dort 
ungeheures  Aufsehen  errege.  Die  Verpackung  in 


eine  große  Kiste  werde  Saul  selbst  überwachen.  Am 
10.  April  desselben  Jahres  fügt  Saul  hinzu,  dass  es, 
nachdem  die  Farbe  getrocknet,  wohlverpackt  nach 
Cadiz  abgegangen  sei.  Uber  Amsterdam  und  Hamburg 
langte  es  erst  gegen  Ende  des  Jahres  1766  ganz  zu 
Wasser  in  Dresden  an,  wo  seine  endliche  Aufstellung 
natürlich  als  ein  Ereignis  gefeiert  wurde. 

* 


AUGUST  WITTIG. 

VON  OTTO  BONNER  VOS  lUCHTEB. 
MIT  ABBILDUNGEN. 


lE  deutsche  Bildhauerkunst 
hat  am  20.  Februar  1893 
einen  hervorragenden,  hoch- 
begabten  Vertreter  verloren. 
An  diesem  Tage  beschloss 
August  Wütig,  königlicher 
Professor  der  Bildhauerei 
an  der  Düsseldorfer  Aka¬ 
demie,  ein  Leben,  welches  ganz  ausgefüllt  war 
von  dem  ernstesten,  heißesten  Be.streben,  nur  das 
nach  seiner  Auffassung  und  Erkenntnis  Be.ste  und 
Würdigste  zu  leisten,  und  niemals  um  materieller 
Vorteile  willen  auch  nur  einen  halben  Schritt  von 
seiner  Bahn  abzuweichen.  Dabei  erwies  sich  ihm  das 
Geschick  insofern  freundlich  gesinnt,  als  es  ihm  in 
seinen  Bestrebungen  die  Anerkennung  der  Besten  zu 
teil  werden  ließ  und  ihm  gewährte,  was  er  bedurfte, 
so  dass  er  sich  seinem  Ringen  nach  Vollendung, 
wenigstens  von  seinem  Mannesalter  an,  ohne  Sorgen 
hingeben  konnte. 

Doch  war  seine  Kindes-  und  Knabenzeit  keine 
leichte  und  bequeme.  Wittig  wurde  am  23.  März  1823 
in  dem  freundlichen  Meißen  durchaus  mittellosen 
Eltern  geboren,  welche  für  seine  Erziehung  nicht 
mehr  thun  konnten,  als  den  Knaben  der  dortigen 
guten  Volksschule  zu  übergeben.  Aber  die  Natur 
hatte  ihn  mit  lebhafter  Auffassungsgabe  ausgerüstet, 
so  dass  er  mit  rastlos  nach  Vervollkommnung  stre¬ 
bendem  Geist  im  Laufe  späterer  Jahre  vieles  nach¬ 
zuholen  vermochte,  was  ihm  der  erste  Unterricht 
nicht  hatte  gewähren  können.  Zudem  waren  seine 
dunklen,  leuchtenden  Augen,  welche  sein  angeregtes 
Innere  spiegelten ,  zur  Beobachtung  der  Natur  und 


der  Menschen  mit  der  nötigen  Schärfe  ausgestattet, 
die  ihn  früh  das  Schöne  erkennen  ließ,  dessen  Kultus 
sein  ganzes  Leben  ausfüllte.  Seine  Begabung  für 
die  bildende  Kunst  wurde  auch  bald  erkannt  und 
ihm  durch  Gönner  die  Aufnahme  in  die  Dresdener 
Akademie  ermöglicht,  nachdem  er  zuvor  in  Meißen 
nur  als  Steinmetz  gearbeitet  hatte. 

Hier  war  es  der  als  Künstler  wie  als  Mensch 
gleich  treffliche  Rietschel,  in  dessen  Atelier  Wittig 
im  .Jahre  1843  eintrat,  der  sich  seiner  besonders 
annahm  und  mit  wahrhaft  väterlicher  Sorgfalt  nicht 
nur  seinen  Studiengang  als  Bildhauer  leitete,  sondern 
ihm  auch  zur  Vervollständiffung  seiner  allgemeinen 
Bildung  stets  hilfreich  zur  Seite  stand  und  ihn  in 
seine  Familie  wie  einen  Sohn  aufnahm,  ln  dieser 
Stellung  lernte  ich  im  Jahre  1846  zuerst  den  Drej- 
undzwanzigjährigen  kennen,  der  sich  damals  schon 
die  Schätzung  aller  der  in  Dresden  lebenden  hervor¬ 
ragenden  Künstler  erworben  hatte,  von  welchen  Ben- 
dcmann  und  Hühner  an  der  Akademie  als  Lehrer 
wirkten,  Ilähnel  jedoch  außerhalb  derselben  eine 
selbständige,  ja  bis  zu  einem  gewissen  Grade  oppo¬ 
sitionelle  Stellung  einnahm.  Dies  war  teils  in  der 
Verschieden artigkeit  des  Studienganges  begründet, 
welchen  die  Genannten  durchgemacht  hatten,  lag 
zum  Teil  auch  in  den  Charakteren  selbst,  Bende- 
mann  und  Hübner  hatten  die  Anschauungsweise  der 
Düsseldorfer  Schule  nach  Dresden  verpflanzt;  Hähnel 
dagegen  hatte  sein  Talent  in  München  unter  dem 
Einfluss  der  Cornelianischen  Schule  und  namentlich 
in  inniger  Anlehnung  an  Genelli  entwickelt  und  als 
eine  Persönlichkeit  von  ungewöhnlicher  Kraft  und 
Energie  vertrat  er  seine  Anschanungen  auch  dem 

12* 


92 


AUGUST  WITTTG. 


entsprecliend.  Eine  gewisse  Mittelstellung  aber  nahm 
Rietschel  ein.  Als  Schüler  Rau  ob’s  zu  stilvoller 
Auffassung  der  Kunst  erzogen,  hatte  er  sich  all¬ 
mählich  mehr  und  mehr  einem  feinen  Realismus  zu¬ 
gewendet,  den  die  damalige  Münchener  Cornelianische 
Richtung  noch  verschmähte,  welcher  den  Werken 
Rietschel’s  aber  gerade  einen  ganz  ungemeinen  Zauber 
verlieh.  Das  Reliefporträt  von  Moritz  von  Schwind 
ist  eine  seiner  schönsten  Arbeiten  in  dieser  Richtung. 

Es  ist  nun  bei  Wittig’s  Bildungsgang  von  In¬ 
teresse,  zu  sehen,  wie  er  trotz  seiner  durch  Rietschel 
geleiteten  Studien  früh  schon  eine  stärkere  Hin¬ 
neigung  zu  der  Hähnel’schen  Richtung  zeigte,  und 
wie  sich  diese  Richtung  bei 
zunehmender  Selbständigkeit  in 
ihm  immer  mehr  und  mehr  ent¬ 
wickelte.  Ein  gewisser  Zug  von 
Herbigkeit  in  seinem  eignen 
Wesen  mag  ihn  unbewusst  da¬ 
hin  gezogen  haben.  Ein  Zeug- 
nis  für  sein  richtiges  und  edles 
Gefühl  ist  es  aber,  dass  dies 
niemals  zu  einer  Verschiebung 
seiner  Stellung  zu  Rietschel 
führte,  dem  er  bis  an  dessen 
Lebensende  in  treuester  Dank¬ 
barkeit  ergeben  war. 

Die  erste  Arbeit,  mit  wel¬ 
cher  der  junge  Künstler  ver¬ 
diente  Aufmerksamkeit  auf  sich 
lenkte,  war  ein  Belief,  der  Raub 
des  ll}'l:us,  im  .Jahre  ISJb.  Es 
trug  ihm  die  aufmunternde  Be- 
Stellung  zweier  Reliefs,  die  Land¬ 
wirtschaft  und  den  Gartenbau  dar¬ 
stellend,  seitens  des  kunstlieben¬ 
den  Herrn  Dr.  Crusiusin  lieipzig 
für  dessen  Landhaus  ein,  Arbeiten,  welche  ganz  im 
Sinne  der  Rietsclierschen  Unterweisung  ausgeführt 
wurtlen. 

Aber  neue  Eiritlüsse  wirkten  nun  auf  die  Ge- 
scbmacksrichtimg  des  jungen  Bildhauers  bestimmend 
•du,  und  zwar  von  malerischer  Seite  ausgehende. 
Im  Frühjahr  1810  batte  Moritz  von  Schwind  von 
Frankfurt  aus  einen  Besuch  in  Dresden  gemacht 
und  war  mit  Fnthusiasmus  dorten  von  den  jungen 
Künstlern  empfangen  worden;  auch  .hdiUH  Schnorr 
von  f'nrotsfchl,  der  in  jenem  .Jahre  zum  Galeriedirek¬ 
tor  und  Professor  an  der  Akademie  berufen  worden 
war,  begann  in  Dresden  Eiuflu.ss  zu  gewinnen,  und 
seine  talentvollen  Schüler  Widicenus  und  (Jlcichauf 


wurden  nahe  Freunde  Wittig’s.  Unter  solchen  Ein¬ 
flüssen  entstand  Wittig’s  Gruppe  „Siegfried’s  Abschied 
von  Chriemhilde“,  welche  als  Bronze  in  den  Besitz 
des  Professors  Gönne  überging,  und  mit  welcher 
er  sich  seitens  der  Akademie  das  Stipendium  für 
Rom  eroberte. 

Die  ihm  damit  gebotenen  Mittel  zu  sorgenloser 
Weiterbildung  benutzte  Wittig,  um  auf  dem  Wege 
nach  Rom  zuerst  in  München  einen  längeren  Auf¬ 
enthalt  zu  nehmen.  Er  traf  dort  im  Frühjahr 
1849  in  glückseliger,  hoffnungsvollster  Stimmung  ein. 
Gerne  gedenke  ich  der  dort  mit  ihm  und  anderen 
Freunden  in  nahem  Umgänge  mit  Moritz  von  Schwind 
und  Genelli  verbrachten  Monate 
voll  ernster  Arbeit  und  heiterer 
Erholungsstunden.  N  am  entlieh 
waren  es  die  monumentalen 
Malereien  von  Cornelius,  die  wir 
gemeinschaftlich  studirten.  Da¬ 
zwischen  modellirte  Wittig  die 
Skizze  zu  einer  Gruppe  der  Ca¬ 
ritas,  die  er  später  in  Rom  aus¬ 
führte. 

Im  Herbst  trat  er  die  Reise 
nach  Rom  an,  nahm  jedoch  in 
Florenz  Avieder  einen  längeren 
Aufenthalt.  Dort  fand  er  in  den 
Werken  Donatello’s  gerade  das 
ausgesprochen,  was  ihm  konge¬ 
nial  war,  was  er  selbst  in  der 
Kunst  suchte  und  was  er  in 
der  erwähnten  Gruppe  der  Cari¬ 
tas,  mit  deren  Ausführung  er 
nach  seiner  Ankunft  in  Rom  im 
Winter  seine  dortige  Thätigkeit 
begann,  zu  verkörpern  strebte. 
Doch  lassen  Avir  ihn  über  diese 
Zeit  selbst  reden.  Er  schrieb  mir  unter  dem  Datum 
des  27.  Juli  1851:  „Diese  Arbeit  (die  Caritas), 
^/4  Lebensgröße,  beschäftigte  mich  bis  August 
vorigen  .Jahres.  Dann  reiste  ich  nach  Neapel,  wo 
mir  eine  ganz  neue  Welt  offenbart  wurde,  so¬ 
wohl  in  Bezug  auf  Naturschönheiten  als  in  Be¬ 
ziehung  auf  alte  Kunst,  welche  dorten  im  Museum 
besonders  durch  die  Bronzen  und  Gemälde  herrlich 
vertreten  ist.  Nach  zwei  Monaten,  deren  Erinnerung 
mir  fürs  ganze  Leben  bleiben  wird,  kehrte  ich  wieder 
nach  meinem  lieben  Rom  zurück  und  fing  ein  Relief, 
Ganymed,  den  Adler  speisend,  an,  in  dem  Glauben,  es 
würde  hier  meine  letzte  Arbeit  sein.  Doch  als  ich 
es  ziemlich  vollendet  hatte,  kam  die  Nachricht  aus 


A.  Wittig.  Nacli  einer  Photographie. 


AUGUST  WITTIG. 


93 


Dresden,  dass  meine,  von  mir  eingesandte,  Gruppe 
(die  Caritas)  so  gut  aufgenommen  worden  sei,  wie 
ich  es  nie  vermutet  hätte,  und  dass  infolge  dieser 
Arbeit  der  akademische  Rat  ungewöhnlicherweise 
mein  Stipendium  noch  um  ein  Jahr  verlängert  habe. 


tropfen  vergieße.  Sie  stellt  einen  Mann  vor,  der, 
noch  alle  Jugendkraft  in  seinen  Muskeln  spürend, 
hinaus  auf  die  Jagd  geeilt  ist,  und  in  dem  Moment 
dargestellt  ist,  in  welchem  er  seine  Beute  erblickt, 
die  er  zu  erlegen  im  Begriff  ist,  indem  er  den  Pfeil 


Hagar  und  Ismael.  Marmorgruppe  von  A.  Wittig. 


So  fing  ich  bald  ein  Pendant  zu  jenem  Relief,  Hebe, 
den  Pfau  der  Juno  futternd,  an.  Nach  Beendigung 
dieser  Arbeiten,  welche  viele  Anerkennung  gefunden 
haben,  fing  ich  eine  große  Figur  an,  an  welcher  ich 
jetzt  in  der  furchtbaren  Hitze  manchen  Schweiß- 


aus  dem  Köcher  und  den  Bogen  zur  Hand  nimmt. 
Es  wird  mir  diese  Figur  ein  reiches  Feld  zum 
Studium  des  menschlichen  Körpers  bieten,  wozu 
hier  herrliche  Hilfsmittel,  d.  h,  Modelle  vorhanden 
sind .  Leider  habe  ich  einen  Verlust  erlitten, 


94 


AUGUST  WITTIG. 


den  ich  fürs  ganze  Leben  bitter  fühlen  werde;  es 
ist  der  Tod  meines  edlen  Freundes  Hermcmn  Kersting 
(ein  Schüler  Bendemann’s).“ 

Die  beiden  angeführten  Marinorreliefs  sind  an¬ 
mutig  poetische,  ungemein  durchgebildete  Arbeiten; 
die  Figur  des  Jägers  in  der  That,  wie  er  es  selbst 
auffasste,  eine  vorzügliche  Studie  nach  dem  Leben, 
zu  welcher  ein  damals  berühmtes  Modell,  Carlo,  das 
Vorbild  gab.  Sie  ist  nie  in  Marmor  ausgeführt  wor¬ 
den  und  befindet  .sich  in  Gips  im  Krystallpalaste  zu 
London  unter  den  Werken  moderner  Skulptur.  Die 
Caritas  jedoch  ist  ein  Werk  voll  frischer,  poetischer 
Erfindung  und  eigenster,  natürlichster  Ausdrucks¬ 
weise.  Eine  junge  Mutter,  am  Oberkörper  unbekleidet, 
dreht  sich  mit  freundlichem  Blick  rechts  nach  einem 
Töchterchen  um,  das  sich  kosend  an  sie  anschmiegt, 
während  der  jüngste  Knabe  sich  an  ihre  linke  Brust 
herandrängt  und  ein  älterer  Junge,  übermütig  zwischen 
ihren  Knieen  liegend,  ihren  Arm  fest  an  sich  presst. 
Auch  für  diese  Gruppe  fand  sich  zur  Ausführung 
in  Marmor  leider  keine  Gelegenheit,  doch  wird  sie 
jetzt  in  Bronze  für  Meißen  gegossen. 

Der  im  Frühjahr  1853  erfolgende  Besuch  des 
l^rofessors  Frege  aus  Leipzig  mit  seiner  künstlerisch 
durchgebildeten  Gattin  wurde  Veranlassung,  dass 
Wittig  ein  Beliefporträt  derselben  in  Medaillonform 
ainsführte  und  zugleich  die  Be.stelluug  auf  ein  Medail¬ 
lonrelief  in  der  Größe  der  beiden  schon  erwähnten 
erhielt,  eine  Loreley,  welche  auf  der  Harfe  ihre  ver¬ 
lockenden  Lieder  begleitet.  Das  Werk  wurde  in 
Marmor  erst  l&GO  vollendet  und  zeichnet  sich  durch 
schönste  Harmonie  der  Linien  und  anmutige  Durch¬ 
bildung  aus,  welche  jedoch  einer  gewissen  Herbigkeit 
nicht  entbehrt  und  darin  an  Cornelius  erinnert, 
welcher  seit  dem  Frühjahr  1853  Korn  wieder  zu 
seinem  Wohnsitz  gemacht  hatte.  Mit  ihm  war 
Wittig  sehr  bald  in  die  nächsten  Beziehungen  ge¬ 
treten  und  hatte  sich  von  ihm  der  lebhaftesten  Auf¬ 
munterung  bei  seiner  ungefähr  seit  einem  Jahre 
schon  begonnenen  Gruppe  —  ich  sah  dieselbe  bei  ihm 
im  II erlist  1852  schon  ganz  aufgebaut  —  der  Hagar 
mit  dem  verschmachtenden  Ismael  im  Schoße,  s. 
Abb.  S.  93,  zu  erfreuen.  Wie  mir  ein  Ohrenzeuge,  der 
Maler  Karl  Moßdorf,  damals  schrieb,  sagte  ihm  Cor¬ 
nelius:  .Machen  Sie  nur  so  fort,  es  wird  sehr  gut.  Sie 
sind  so  jung,  und  es  dürfte  mancher  Alte  froh  sein, 
wenn  er  so  etwas  zu  .stände  brächte.  Ich  glaube 
dies  sagen  zu  dürfen,  ohne  Sie  eingebildet  zu  machen, 
denn  wer  so  etwas  hinstellt,  ist  darüber  hinaus.“ 

In  der  That  spornte  dieses  Lob  Wittig  zu  der 
äußersten  Ansi)annung  seiner  Kräfte  an.  In  dem 


Wunsche,  das  Beste  zu  leisten,  konnte  er  sich  nur 
schwer  zu  einem  Abschluss  der  Arbeit  entschließen, 
an  welcher  er  immer  und  immer  wieder  zu  ver¬ 
bessern  suchte,  an  sich  selbst  die  höchsten  Ansprüche 
stellend,  die  stets  wuchsen,  jemehr  er  sich  dem 
Studium  der  alten  Meister,  namentlich  Michelangelo’s 
in  der  Sixtinischen  Kapelle,  hingab.  Die  Antike 
stand  Wittig  stets  ferner  als  die  mittelalterliche  und 
die  moderne  Kunst,  und  niemals  ist  er  der  Versuchung 
erlegen,  sich  der  ersteren  gegenüber  nachahmend 
zu  verhalten.  Wohl  aber  darf  man  sagen,  dass  er 
in  der  Hagargruppe  sich  eine  durchaus  eigene,  aus 
seinem  angeborenen  Talente  und  seinem  besonderen 
Bildungsgänge  entsprungene  künstlerische  Ausdrucks¬ 
weise  geschaffen  hat,  die,  verbunden  mit  dem  glück¬ 
lichen  Kompositionsgedanken,  dieses  Werk  unter  die 
hervorragendsten  Bildhauereien  unserer  Neuzeit  ein¬ 
reiht.  Die  beigegebene  Illustration  enthebt  mich  jeder 
weiteren  Beschreibung  derselben.  Erst  Ende  Januar 
1854  konnte  er  sich  entschließen,  das  Modell  in 
Gips  zu  gießen. 

Wie  sehr  er  einen  Auftrag  auf  Ausführung 
der  Gruppe  in  Marmor  ersehnte,  können  wir  einem 
vom  19.  August  1854  datirten,  an  mich  gerichteten 
Briefe  entnehmen:  „Mein  Atelier  befindet  sich  jetzt 
in  dem  neuen  Eckhause  Via  San  Isidoro,  Nr.  15. 
Es  ist  sowohl  durch  seine  Lage,  als  durch  seine 
Räumlichkeiten  und  den  dazu  gehörigen  kleinen 
Garten  so  vorzüglich,  dass  nichts  zu  wünschen  übrig 
bleibt  als  die  Kleinigkeit  einiger  Bestellungen,  die 
sich  gewiss  vorzüglich  darin  ausführen  ließen.  Und 
wirklich  bin  ich  auch  beschäftigt,  drei  Reliefs,  welche 
mir  bestellt  sind,  wenn  auch  nicht  vorzüglich,  doch 
so  gut  als  ich  kann,  in  Marmor  auszuführen.  Das 
eine  stellt  die  Loreley  dar,  die  für  ein  Musikzimmer 
bestimmt  ist;  die  beiden  anderen  sind  die  Dir  viel¬ 
leicht  erinnerlichen  Reliefs  von  Ganymed  und  Hebe, 
welche  letztere  ich  ganz  von  neuem  modellirt  habe. 
Es  freut  mich  sehr,  dass  diese  beiden  Reliefs  in 
einem  Speisezimmer  eingelassen  werden,  wofür  ich 
sie  mir  gedacht  hatte.  Da  ich  sie  mit  Ausnahme 
der  ersten  Vorarbeiten  ganz  allein  in  Marmor  aus¬ 
führe,  so  machen  sie  mir  viel  Freude,  haben  aber 
auch  den  Wunsch  l)ei  mir  um  so  viel  reger  ge¬ 
macht,  eine  größere  Arbeit  in  Marmor  ausführen 
zu  können,  denn  die  Bildhauerei  feiert  eben  doch 
nur  ihren  eigentlichen  Triumph  durch  die  höchste 
Vollendung,  und  diese  ist  in  keinem  anderen  Material 
so  möglich,  als  in  Marmor.  Wie  glücklich  würde 
es  mich  gemacht  haben,  hätte  ich  meine  Hagar  aus- 
führeu  können!  Ich  hatte  mehrfach  Aussicht  dazu, 


AUGUST  WITTIG, 


95 


doch  hat  sich  bis  jetzt  noch  keine  erfüllt,  so  dass 
mir  der  Gedanke  an  die  Möglichkeit  allmählich 
schwindet.“ 

Dieser  Wunsch  wurde  ihm  jedoch  in  seinen 
späteren  Lebensjahren  noch  erfüllt!  Im  Jahre  1874 
war  die  Ausführung  in  Marmor  für  die  National- 
ffalerie  in  Berlin  vollendet  und  zwar  wiederum  mit 

O 

sehr  bedeutenden  Verbesserungen  des  ersten  Modelles. 

Aber  schon  früher  ward  ihm  Gelegenheit,  eine 
Arbeit  in  Marmor  bis  ins  Letzte  durchzuführen, 
nämlich  ein  Relief  der  Grablegung  Christi  im  Auf¬ 
träge  der  Gräfin  Dohna-Dönhofstädt  für  die  Vorder¬ 
seite  eines  Altars  in  ihrer  Schlosskapelle  bestimmt, 
1,40  m  laug  und  0,70  m  hoch.  Es  war  im  Jahre 
1857  vollendet  und  darf  wohl  als  eine  der  vorzüg¬ 
lichsten  Leistungen  des  Künstlers  bezeichnet  werden. 
Hier  feiert  er  wirklich  seinen  „eigentlichsten  Tri¬ 
umph  durch  die  höchste  Vollendung“  in  dem  Mar¬ 
mor,  wie  durch  die  ergreifende  Ausdrucksweise  des 
Vorganges  und  die  würdevolle,  rhythmisch  vollendete 
Anordnung  der  Komposition.  Hier  hat  er  auch  in 
der  Behandlung  des  Gewandes  sowohl  in  Feinheit  der 
Durchbildung  aller  Einzelheiten,  als  auch  in  der  ge¬ 
schmackvollen  Gestaltung  der  Hauptmassen  ein  ihm 
ganz  Eigentümliches  erreicht,  seine  eigenen  Ideale 
in  der  That  ganz  verwirklicht. 

Bald  darauf  begann  Wittig  eine  Arbeit,  welche 
er  erst  kurz  vor  seinem  Tode  zum  Abschluss  brachte. 
Es  ist  die  Gruppe  der  Pieta,  die  ihm  Herr  von  BctJi- 
mann-Hollweg  bei  seinem  Aufenthalt  in  Rom  in  Lebens¬ 
größe  bestellt  hatte.  Der  großen  Schätzung  seines 
Talentes  durch  letzteren  verdankte  Wittig  die  im 
Jahre  1862  erfolgte  Ernennung  zum  Professor  der 
Bildhauerkunst  an  der  Düsseldorfer  Akademie,  welche 
bis  dahin  keine  Bildhauerschule  besessen  hatte.  Da 
er  aber  seine  Pieta  noch  in  Rom  zu  vollenden 
wünschte,  so  konnte  er  erst  1864  dorthin  übersiedeln. 
Sein  Modell  der  Pieta  fand  er  aber  sehr  bald  seinen 
Ansprüchen  nicht  mehr  genügend  und  zerschlug  es, 
um  ein  neues  zu  beginnen. 

Nun  aber  trat  sein  Lehrberuf,  dem  er  auf  das 
gewissenhafteste  oblag,  seiner  schöpferischen  Thätig- 
keit  hemmend  entgegen  und  nicht  minder  seine  Be¬ 
mühungen,  zum  Zwecke  seiner  Schule  ein  Museum 
von  Gipsabgüssen  zu  gründen,  in  welchem  nach  und 
nach  die  Hauptwerke  der  antiken  Kunst  und  der 
Renaissance  zur  Aufstellung  gelangten.  Dennoch 
entstanden  neben  seinem  beständigen  Arbeiten  an 
der  Pietägruppe  eine  Anzahl  von  Werken,  welche 
jedoch  kaum  der  künstlerischen  Individualität  Wit- 
tig’s,  wie  sie  sich  in  den  bis  hierher  geschilderten 


Werken  ausgeprägt  gezeigt  hat,  einen  neuen  Zug 
hinzufügen,  es  seien  denn  die  beiden  Kolossalbüsten 
des  Direktors  Wilhelm  von  Schadmv,  1869  auf  dem 
Schadowplatze  in  Düsseldorf  aufgestellt,  und  jene 
von  Cornclms,  welche  Wittig  anlässlich  der  Toten¬ 
feier  in  Düsseldorf  modellirte  und  welche  später  in 
Bronze  ihre  Aufstellung  in  der  Nationalgalerie  fand. 
Diese  Büste  bringt  den  Giganten  unserer  modernen 
Kunst  in  der  ganzen  Wucht  seiner  geistigen  Be¬ 
deutung  auf  das  eindringlichste  zur  Anschauung  und 
kaum  konnte  ein  anderer  als  Wittig,  da  er  dem 
Meister  Jahre  hindurch  so  nahe  gestanden  hatte, 
eine  solche  Büste  nach  seinem  Tode  schaffen. 

Nicht  zur  Ausführung  gelangte  das  im  Jahre 
1870  im  Aufträge  der  Gräfin  Dohna-Dönhofstädt 
entworfene  Modell  für  ein  Grabmal  ihres  in  den  Frei¬ 
heitskriegen  gefallenen  Bruders,  des  Grafen  Dohna, 
der,  in  den  Soldatenmantel  gehüllt,  auf  einem  Sarko¬ 
phage  ruht.  Gleiches  Schicksal  hatte  der  1871  ent¬ 
standene  Entwurf  zu  einem  Siegesdenkmal,  einer  Vik¬ 
toria,  welche  einem  dahingesunkenen  sterbenden 
Krieger  den  Lorbeerkranz  aufs  Haupt  drückt.  Es 
ist  bemerkenswert,  dass  Wittig  sich  hier  nicht  ent¬ 
schließen  konnte,  realistisch  zu  verfahren,  sondern 
den  Krieger  idealistisch  in  antikes  Kostüm  kleidete, 
dadurch  allerdings  auch  jene  ungemein  edle  Gestalt 
eines  Sterbenden  schaffen  konnte.  Dem  entsprechend 
wich  er  auch  in  der  Gewandung  der  Viktoria  von 
der  von  ihm  für  christliche  Gegenstände  gewählten 
Form  ab  und  näherte  sich  etwas  mehr  antiker  Ge¬ 
wandbehandlung. 

Nicht  minder  unausgeführt  blieben  aus  hier 
nicht  näher  zu  erörternden  Ursachen  die  im  Jahre 
1878  für  die  Basilika  in  Trier  modellirten  Statuen 
der  Apostel  Petrus  und  Paulus  und  zwei  als  Karya¬ 
tiden  für  das  Portal  der  neuen  Akademie  1882  ent¬ 
worfene  weibliche  Figuren,  von  welchen  die  eine 
den  Ölzweig,  die  andere  ein  Füllborn  in  der  Hand 
hält,  beide  von  ganz  besonderer  Schönheit  der  Ver¬ 
hältnisse  und  großartiger,  einfacher  Anordnung. 

Alle  diese  unerfreulichen  Erlebnisse,  welche  den 
leidenschaftlich  empfindenden  Künstler  tief  ergriffen, 
hatten  auf  seine  Gesundheit  den  nachteiligsten  Ein¬ 
fluss.  Aber  diese  Missgeschicke  waren  nicht  die 
einzigen.  Vier  Porträtmedaillons  ,  welche  die  Aka¬ 
demie  zieren  sollten  und  am  Tage  vor  dem  Brande 
der  Akademie  im  Jahre  1872  fertig  geworden  waren, 
gingen  bei  demselben  zu  Grunde  und  die  Modelle 
derselben,  welche  in  einem  Schuppen  aufbewahrt 
waren,  wurden  nach  dem  Brande  von  roher  Hand 
zerschlagen.  Die  für  die  Vorhalle  des  alten  Mu- 


96 


AUGUST  WITTIG. 


seuins  in  Berlin  bestimmte  Statue  von  Carstens,  vrelche 
in  Marmor  bestellt  war,  war  bei  dem  Brande  der 
alten  Akademie  schon  fast  vollendet;  aber  die  sieb 
nie  genügende  Selbstkritik  Wittig’s  konnte  sieb  zum 
Abschluss  der  Arbeit  nicht  entschließen,  seine  ge¬ 
schwächten  Körperkräfte  reichten  später  zur  Vollen¬ 
dung  der  gestellten  Aufgabe  nicht  aus,  und  so  blieb 
dieses  Werk  für  ihn  ein  quälendes  Zeichen  unbe¬ 
friedigenden  Strebens. 

Aber  neben  allen  hier  zuletzt  aufgezählten  Ar¬ 
beiten  ging  ein  stetes 
Weiterschaften  und  Bil¬ 
den  an  der  Pietägruppe 
ununterljrochen  seinen 
Gang.  Kie  konnte  sich  der 
Meister  an  dieser  Arbeit 
genügen,  und  zum  zwei¬ 
tenmal  zerschlug  er  zum 
Schmerz  seiner  Freunde, 
die  von  dem  Werke  ent¬ 
zückt  Avaren,  das  seinem 
Ideale  nicht  entsprechen¬ 
de  Modell.  Zum  dritten¬ 
mal  begann  der  Unermüd¬ 
liche  seine  Arbeit  mit 
einem  Modell  geringerer 
Größe  und  brachte  das- 
selhe  endlich  im  Jahre 
1S92  zum  Abschluss.  Und 
wahrlicli, dieser  Abschluss 
seiner  künstlerisclien 
I>aut’hahn  ist  auch  die 
lÄrönung  seines  ganzen 
I.etteuswerkes.  Alle  die 
Figenschaften ,  Avelche 
Willig  in  seinen  verscliie- 
deiieii  .\rheiten  bethätigt 
hat:  seine  Fähigkeit,  tie¬ 
fen  Seelenausdruck  dar- 
ziistellen,  seine  Kenntnis  und  edle  Auffassung  des 
Nackten,  die  geschmackvolle  und  originelle  Anord¬ 
nung  und  Unrchbildung  der  Gewandung  kommen  in 
dieser  Gruppe  in  edelster  Vereinigung  zur  Erschei¬ 
nung.  Tief  ergreifend  ist  der  Plindruck  der  stillen 
und  doch  so  leliendig  zu  uns  redenden  Grup])e. 
Ewig  zu  bedauern  i.st  es,  d:is3  die  Durchbildung  in 
Marmor  dem  Künstler  versagt  blieb.  In  Bronzeguss 
.loll  sie  aber  nach  dem  Entwurf  des  Herrn  Archi¬ 
tekten  W.  Schleicher  das  Grabdenkmal  des  Meisters 
als  edel.'^ter  Schmuck  zieren. 


Die  letzten  Lebensjahre  Wittig’s  waren  durch 
mancherlei  körperliche  Leiden,  wie  durch  innere 
Aufregungen  getrübt.  Seit  1882  traten  asthmatische 
Beschwerden  immer  stärker  hervor  und  nötigten  ihn 
zu  größter  Vorsicht  in  allem  Thun  und  Lassen.  Bei 
der  positiven  Art  und  Weise,  mit  welcher  er  sich 
bei  seinem  lebhaften  Charakter,  namentlich  in 
jüngeren  Jahren,  zu  äußern  pflegte,  bei  den  strengen 
Anforderungen,  welche  er  an  andere  gerade  so  wie 
an  sich  selbst  stellte,  konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass 

er  mancherlei  Interessen 
verletzte,  sich  mancher¬ 
lei  Gegnerschaften  zuzog. 
Dafür  hatte  er  aber  auch, 
wie  alle  hervorragenden 
N aturen,  die  treuesten  und 
anhänglichsten  Verehrer 
und  Freunde. 

Unter  seinen  Schü¬ 
lern  haben  sich  Carl  Hil- 
gers,  Carl  Müller,  Alex. 
Zick,  Heinrich  Hoff¬ 
meister,  Joseph  Tüshaus 
und  Carl  Jansen  bekannt 
gemacht.  Sein  letzter 
Schüler,  dessen  Eifer  und 
Anhänglichkeit  dem  Mei¬ 
ster  viel  Freude  machte, 
ist  Joseph  Wolf. 

Zum  V  ollstrecker 
seines  letzten  Willens 
hatte  er  einen  jüngeren 
treuen  P’reund,  Herrn 
Regierungsbaumeister 
Wilhelm  Schleicher,  er¬ 
nannt,  welchem  ich  nebst 
anderen  mir  wertvollen 
Notizen  auch  die  Mit¬ 
teilung  einer  testamenta¬ 
rischen  Verfügung  verdanke,  welche  uns  einen  rühren¬ 
den  Rückblick  auf  die  Jugendeindrücke  des  siebzig¬ 
jährigen  Meisters  gestattet:  er  hat  der  protestantischen 
Stadtkirche  seiner  Vaterstadt  Meißen  die  Summe  von 
20000  M.  vermacht  mit  der  Bestimmung,  aus  den 
Zinsen  derselben  mittellose  Konfirmanden  zu  kleiden, 
die  in  der  Kirche  koiifirmirt  werden  sollten,  in  welcher 
er  selbst  als  armer  Knabe  vor  dem  Altar  stand  und 
woselbst  er  die  religiösen  Grundsätze  und  Anschau¬ 
ungen  aufgenommen  hatte,  denen  er  in  Kunst  und 
Leben  ein  treuer  Bekenner  geblieben  ist. 


l’itta  vuu  A.  Wj  lTKi. 


Walhall’s  Sturz;  Erscheinung  Christi.  Gemälde  von  Fr.  Höber. 


DER  UNTERGANG  DER  NORDISGHEN  GÖTTERWELT 
UND  DAS  ERSCHEINEN  DES  CHRISTENTUMS. 

BILDER-CYKLÜS  VON  FRITZ  RÖBER  IN  DÜSSELDORF. 


EITDEM  Kichard  Wagner 
versucht  hat,  den  Geist 
des  neuerstandenen  deutschen 
Volksbewusstseins  auf  die 
einfachste  und  natürlichste 
Weise  durch  die  Wieder¬ 
belebung  und  Rückkehr  zu 
der  altgermanischen  Helden¬ 
sage  zum  dramatisch -musikalischen  Ausdruck  zu 
bringen,  giebt  es  kaum  eine  Kunstform,  welche 
in  der  Verwertung  von  Ideen  und  Darstellungen  aus 
der  nordischen  Mythologie  ein  so  weites  und  frucht¬ 
bares  Feld  für  ihre  Bethätigung  gefunden  hat,  wie 
die  Malerei. 

Die  nordischen  Sagen  sind  für  die  malerische 
Darstellung  gerade  so  geschaffen,  wie  die  griechischen 
für  die  reine  Form  und  weisen  so  direkt  auf  die 
Farbe  hin,  wie  die  hellenischen  auf  die  Plastik.  Die 
Fähigkeit  der  Malerei,  das  zu  erzeugen,  was  wir 
unter  dem  Begriff  „Stimmung“  verstehen,  ist  es,  was 
sie  prädestinirt  zur  Wiedergabe  nordischer  Motive. 
Eingehendere  Betrachtungen  über  diesen  Gegenstand, 
welche  hier  zu  weit  führen  würden,  liefert  Oscar  Bie 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  II.  d. 


in  seinem  vortrefflichen  Aufsatz  über  „Hermann 
Hendrich  und  die  mythologische  Malerei“  (Wester- 
mann’s  Monatshefte,  Aprilnummer  v.  J.) 

Wir  stehen  bei  den  Werken  Fritz  Röber’s  vor 
einer  Schöpfung,  welche  der  Welt  des  Gedankens 
und  der  Symbolik  entsprungen  ist.  Der  Geist,  der 
diese  Malerei  durchweht,  hat  gar  keine  Berührungs¬ 
punkte  mit  dem  Ziel  der  neuesten  Richtung,  so  dass 
es  im  ersten  Augenblick  Mühe  kostet,  sich  in  den 
notwendig  gänzlich  verschiedenen  Gesichtspunkt  der 
Beurteilung  hineinzuversetzen.  Dieser  Geist  ist 
nordisch,  heldenhaft,  monumental.  Die  Farbe  dem¬ 
entsprechend.  An  Stelle  der  Naturfarbe  tritt  die 
Farbe  der  dichterischen  Symbolik.  Eine  solche  Kunst 
ist  keineswegs,  wie  heute  irrtümlich  oft  behauptet  wird, 
konventionell.  Wenn  sie  sich  in  dem  Rahmen  histo¬ 
rischer  Überlieferung  bewegt,  d.  h.  in  diesem  Fall  dem 
Charakter  der  Sage  angepasst  ist,  so  ist  sie  darum 
noch  lange  nicht  im  schlimmen  Sinne  konventionell. 
Sobald  einem  alten  Stoffe  individuelles  und  lebendiges 
Gepräge  verliehen  wird,  hat  dieses  seine  Berechtigung. 
Es  braucht  darum  ebenso  wenig  akademisch-konven¬ 
tionell,  wie  schein-originell  oder  bizarr  zu  sein.  Über- 

13 


9S 


DER  UNTERGANG  DER  NORDISCHEN  GÖTTERWELT. 


all  da,  wo  tiefes,  großes  Empfinden  ist,  wird  auch  wahre 
Kunst  sein.  Der  Stoff,  aus  dem  sie  schafft,  unterliegt 
keiner  Zeit  und  keiner  Beschränkung.  Beschränkung 
und  Beschränktheit  sind  nur  dort  zu  suchen,  wo  die 
Horizontweite  fehlt,  um  das  in  sich  aufzunehmen, 
was  nicht  auf  gleichem  Wege  zu  gleichen  Zielen 
strebt.  Bei  Roher  merkt  man  in  jedem  Strich  den 
Denker,  den  Philosophen.  Wenn  man  das  konven¬ 
tionell  nennen  will,  so  kann  ein  Künstler  auf  solche 
„Konventionalität“  sich  etwas  einhilden! 

Im  Aufbau,  in  der  Einheit  der  Gedanken,  Licht- 
wirkuug  und  Stimmung  lässt  das  neue  Werk  Röber’s 
alle  seine  früheren  Arbeiten  weit  hinter  sich;  her¬ 
vorragend  geradezu  ist  es  hinsichtlich  Formenschön¬ 
heit  und  Bewegung  und  jenes  geheimnisvollen  Aus¬ 
drucks  der  seelischen  Affekte.  Die  wuchtige  Energie 
der  Komposition  erzeugt  einen  überwältigenden  und 
nachhaltigen  Eindruck. 

Die  Reihenfolge  der  Gemälde,  die  ein  zusammen¬ 
hängendes  Ganzes  bilden,  von  dem  zehn  Abschnitte  den 
Untergang  des  Heidentums,  das  elfte  als  Abschluss 
die  Verklärung  durch  das  Christentum  versinnbild¬ 
licht,  ist  folgende: 

Das  erste  Bild  deutet  in  düsteren  schwermütigen 
Tönen  den  Untergang  der  alten  Welt  prophetisch 
an.  Allvater  Odin  (Wotan),  der  „Runenrater“, 
kommt  zum  letzten  mal  zur  allwissenden  Schicksals- 
Göttin  W'^ala.  Auf  öder  Felsklippe  über  einer  tiefen 
Schlucht  kniet  der  Gewaltige,  in  düsteres  Brüten 
versunken.  —  Er  ist  ohne  Speer  und  Helm,  selbst 
die  Waffen  hat  er  hergegehen,  um  die  letzte  Wahr¬ 
heit  zu  erfahren!  —  Ängstlich  umflattern  sein  Haupt 
Ilugin  (Gedanke)  und  Munin  (Erinnerung),  seine  beiden 
Rahen.  Die  Göttin,  in  deren  Antlitz  die  tiefe 
Schwermut  ülmr  das  unerbittliche  Schicksal  sich 
au.sdrückt,  deutet  mit  dem  S])eer,  den  er  geopfert 
auf  eine  Runenschrift,  die  in  den  Felsen  gegraben 
i.st.  Der  grübelnde  Gott  hat  alles  geraten,  nichts 
liegt  ihm  mehr  verschleiert,  denn  nur  Odin  kann 
Runenschrift  deuten.  Vor  diesen  letzten  Runen  aber 
hleiht  er  versunken  in  tiefem  Sinnen,  er  kann  sie 
nicht  fassen,  nicht  lösen.  —  —  Die  Runen  heißen^ 
Christos.  --  Dieses  für  ihn  unverständliche,  undurch¬ 
dringliche  Kunengeheimnis  hecleidet  den  nahenden 
l’ntergaug  des  Asengeschlechtes,  die  Götterdämme¬ 
rung!  —  Ein  Gedanke  voll  tiefer  Philo.so})hie  ist  hier 
(mit  wenigen  Mitteln)  meisterhaft  zum  künstlerischen 
Ausdruck  in  Form  und  Farbe  erhoben. 

Auf  dem  zweiten  Bilde  wirdNanna,  die  „blühende 
Erde“,  welche  von  Eisriesen  geraubt  worden,  durch 
Baldur  befreit.  Noch  einmal  ])ringt  der  Lichtgott, 


der  Gerechte  Baldur,  der  Welt  Sonne  und  Frühling, 
und  mit  Nanna  vereinigt,  ziehen  nun  beide  im  Braut¬ 
schleier  über  die  fruchtbaren  blühenden  Gefilde  der 
Erde.  Aber  es  ist  das  letzte  Mal.  Das  Verhängnis 
bricht  herein  über  die  Götter  Walhalls  und  Baldur 
muss  sterben.  Alle  Gegenstände  hatten  geschworen, 
den  Gerechten  Baldur  nicht  zu  verletzen,  nur  einer 
kleinen  Mistel  war  der  Eid  nicht  abgenommen  worden. 
Aus  ihr  nimmt  Loki,  der  auf  der  Äsen  Verderben 
sinnt,  einen  Zweig  und  schärft  ihn  zum  Pfeile.  Als 
nun  die  Äsen  sich  damit  belustigten,  auf  Baldur  zu 
schießen,  von  dem  alle  Gegenstände  abprallen,  da 
legt  Loki  den  Mistelzweig  auf  den  Bogen  Hödur’s, 
des  Winterfrostes,  lenkt  den  Pfeil  und  Baldur  fällt- 
Durch  den  Verrat  Loki’s  also,  der  seinen  Stiefbruder 
hasst  wie  die  Finsternis  das  Licht,  stirbt  der  jugend¬ 
liche  Gott  und  mit  ihm  geht  alles  Gerechte  und 
Gute  im  Asengeschlechte  zu  Grunde.  Loki  sucht 
sich  mit  seinem  Weibe  Signe  zu  retten,  wird  aber 
von  den  nachjagenden  Walküren  ergriffen  und  auf 
Odin’s  Geheiß  an  eine  Felswand  gefesselt.  Uber  ihm 
ist  eine  Schlange  angekettet,  welche  fortgesetzt  Gift 
in  sein  Antlitz  speien  muss.  Signe  fängt  dieses  Gift 
in  einer  Schale  auf;  wenn  sich  diese  aber  gefüllt 
hat,  muss  Signe  sie  ausleeren  und  die  Schlange  trifft 
mit  ihrem  Gift  das  Haupt  des  Gottes.  Loki  zuckt 
dann  so  gewaltig  vor  Qual  zusammen,  dass  die  Erde 
erbebt.  —  Die  ängstlich  vorgeheugte  Signe,  in  deren 
entsetztem  Gesichte  sich  die  Sorgfalt  und  gespann¬ 
teste  Aufmerksamkeit,  dass  kein  Gift  den  Gatten 
treffe,  widerspiegeln,  ist  packend  gemalt,  und  ergreifend 
ist  der  Ausdruck  des  Gefesselten,  dessen  Züge  halb 
Trotz,  halb  tiefen  Schmerz  verraten.  DieFigur  Loki’s  in 
ihren  verschiedenen  Phasen  darf  überhaupt  als  der 
Höhepunkt  des  Röber’schen  Werkes  bezeichnet  werden. 
Überall  ist  sein  göttlicher  Ursprung  fühlbar,  an  ihm 
ist  nichts  kleinlich,  denn  er  ist  ja  auch  —  wie  der 
Satans-Engel  —  ein  „Gefallener“.  Das  Blut  Wotan’s 
krei-st  in  seinen  Adern:  er  ist  das  Prinzip  des  Bewusst- 
Bösen,  aber  mit  Wotan  unlösbar  verknüpft  und  ver¬ 
schlungen,  wie  das  Gute  mit  dem  Bösen,  da  beides 
für  sich  allein  nicht  bestehen  kann.  Hier  liegt  wieder 
jener  tief  philosophische  Zug  der  nordischen  Mytho¬ 
logie.  — 

Nach  einer  anderen  Überlieferung,  —  die  u.  a. 
auch  Felix  Dahn  benutzt  hat  in  seinem  trefflichen 
Roman:  „Odin’s  Trost“,  —  hatte  Odin  den  Leib  des 
geliebten  Sohnes  mit  einer  Salbe  unverwundbar 
gemacht.  Nur  am  Nacken  war  eine  kleine  Stelle 
nicht  von  dem  schützenden  Öle  bedeckt.  Diese  Stelle 
hatte  nun  Loki  entdeckt  durch  die  kindliche  Offen- 


DER  UNTERGANG  DER  NORDISCHEN  GÖTTERWELT. 


heit  der  ihm  vertrauenden  Nanna,  welche,  ängstlich 
über  ihres  Gatten  verwundbaren  Nacken,  dem  „listi¬ 
gen  Loki“  ahnungslos  das  Geheimnis  verraten.  Loki 
trifft  alsbald  den  Bruder  und  schießt  von  hinten  den 
Pfeil  auf  die  ungeschützte  Stelle.  Baldur  fällt,  und 
indem  auch  Nanna  vor  Schreck  getötet  wird,  eilen 
die  Götter  WalhaU’s  zu  der  Unglücksstätte,  während 
Loki  hohnlachend  als  Feuerflamme  ver.sinkt.  Odin 
aber  eilt  mit  Thor  ihm  nach  bis  vor  die  Thore 
Hel's  und  bringt  ihn  gefesselt  zurück.  Diese  etwas 
veränderte  sehr  gebräuchliche  Version  wäre  aber  nicht 


99 

die  Äsen  in  Schwelgerei  und  Wollust  versinken. 
In  dieser  Gruppe  bemerkt  man  einige  herrliche  Akte, 
die  alle  von  Licht  überflutet  sind.  Alles  flimmert 
und  schimmert  hier;  man  meint,  dass  sich  das  Licht 
wirklich  spielend  und  tändelnd  auf  den  Körpern 
bewege.  Aus  diesem  trunkenen  Bacchanal  ruft  Odin 
die  Äsen  zur  letzten  großen  Schlacht.  Mit  Sturmes- 
weheu  und  Kampfesfreude  —  ein  wahrer  „furor 
teutonicus“  ist  auf  der  rechten  Hälfte  des  Bildes 
geschildert  —  eilt  der  Zug  der  Krieger  und  Wal¬ 
küren  durch  die  Lüfte,  Thor  greift  zum  Hammer, 


Odin  befragt  die  allwissende  Wala.  Gemälde  von  Fr.  Kober. 

für  eine  malerische  Behandlung  im  Sinne  Röber’s 
geeignet  gewesen,  und  so  hat  der  Künstler  wohl 
mit  Recht  der  anderen  Schilderung,  als  der  malerisch 
verwendbareren,  den  Vorzug  gegeben. 

Den  Leichnam  Baldurs  bringen  die  Götter  auf 
ein  Schiff  und  nehmen  von  ihm  Abschied.  Das 
Schiff  trägt  ihn  zu  Hel,  der  Göttin  der  Unterwelt. 

Das  siebente  Gemälde  aus  dem  Cyklus  wirkt 
durch  seine  gewaltigen  Kontraste.  Die  Götter  gehen 
ihrem  Schicksale  entgegen.  Links  steht  Freia,  die 
Schöne,  —  die  nordische  Aphrodite,  eine  leuchtende 
Frauengestalt  mit  langem  Goldhaar.  Sie  bethört  die 
Götter  mit  dem  unerschöpflichen  Methorn,  so  dass 


Naglfar,  Jas  Toteuscliift'.  Gemälde  von  Fr.  Röjier. 

die  Schlachtenjangfrauen  mit  halbentblößten  Leibern 
haben  sich  wieder  mit  Speeren  bewaffnet.  Aber  auch 
Loki  hat  inzwischen  seine  Fesseln  gebrochen,  und  auf 
dem  nächsten  Bilde  sieht  man  ihn,  von  der  furcht¬ 
baren  Midgardschlange  und  dem  Fenriswolf  begleitet, 
gegen  die  Äsen  ziehen.  Die  ganze  Unterwelt  hat 
sich  aufgethan  und  leistet  ihm  Hilfe.  Loki  ist  wieder¬ 
um  der  Situation  angemessen  charakterisirt;  der  Kopf 
ist  bleiern  und  die  Lippen  sind  blutleer  und  die 
langen  Qualen  an  der  Felswand  prägen  sich  deut¬ 
lich  aus.  Alles  hat  sich  bei  ihm  zu  einem  letzten 
wilden  Impuls  zusammengekrampft.  Und  doch  wie 
schön  ist  dieser  Loki!  Kraft  und  Ebenmaß  überall. 


13 


100 


DER  UNTERGANG  DER  NORDISCHEN  GÖTTERWELT. 


Der  Künstler  hat  den  Stojff  vollkommen  bewältigt 
und  seine  Gestalten  genau  so  dargestellt,  wie  sie 
seinem  künstlerischen  Auge  vorschwebten.  Dies  gilt 
auch  von  den  Gestalten  der  Unterwelt,  welche  so 
charakterisirt  sind,  dass  man  daran  glaubt.  Wir 
fühlen  in  dem  Augenblick,  dass  sie  so  und  nicht 
anders  sein  müssen,  und  wenn  ein  Künstler  diesen 
überzeugenden  Eindruck  hervorbringt,  kann  er  zu¬ 
frieden  sein.  Es  ist  der  höchste  Gipfel  des  Erreich¬ 
baren  in  der  Kunst. 

Nunmehr  ist  das  Schicksal  der  Äsen  besiegelt 
und  das  Totenschiff  Naglfar  treibt  führerlos  im 
Ozean  umher.  Auf  demselben  künden  die  sterben¬ 
den  Nomen  der 
Welt  Ende.  — 

Es  folgt  nun  die 
große  Vernicht¬ 
ungsschlacht  ,  die 
eigentliche  Götter- 
dämmerung.fSiehe 
S.  97.)  Der  durch 
Odin  zu  Tode  ver¬ 
wundete  Loki  hetzt 
den  Fenriswolf  auf 
den  Vater  und  zieht 
den  Speer  aus  sei¬ 
ner  Wunde.  In 
dem  Augenblick 
muss  auch  Odin 
sterben.  Um  ihn 
fallen  seine  Schild- 
juugfrauen,  seine 
herrlichen  Wal¬ 
küren,  und  auch 
er  weiß,  dass  er 
in  demselben  Augenblick  sterben  muss,  in  dem  Loki 
seinen  Geist  anshaucht.  Das  Gute  kann  ja  ohne  das 
Böse  nicht  bestehen.  Alles  ist  in  Auflösung  und 
Todeskampf  begriffen.  Loki  und  seine  Scharen 
stürzen  in  die  Tiefe,  die  Haare  flattern  wild  nach 
oben,  um  dadurch,  das  Stürzen  der  ganzen  zu  einem 
großen  Knäuel  zusammengeballten  Gruppe  anzu¬ 
deuten.  Midgard,  die  Schlange,  hat  sich  um  die 
Sterbenden  geringelt  und  presst  ihre  Leiber  im 
eigenen  Todeskrampfe  fest  an-  und  ineinander.  Einer 
der  gepeinigten  Unterweltsgötter  krallt  seine  Finger¬ 
nägel  in  den  Körj)er  der  Schlange  ein,  noch  in  der 
Agonie  seine  Wildheit  nicht  verlierend.  Die  Mauern 
Walhalls  brechen,  die  Säulen  lösen  sich,  und  vor  der 
in  strahlendem  Lichterscheinenden  Gestalt  Christi  und 
seiner  Heerscharen  stürzt  die  Götterburg  zusammen! 


Dieses  große  Gemälde  ist  von  wahrhaft  gran¬ 
dioser  Wirkung.  —  Im  letzten  Bilde,  welches  wieder 
friedliche  Ruhe  atmet,  ist  die  Erlösung  der  alten 
und  die  Auferstehung  in  einer  neuen  Welt  durch 
das  Christentum  angedeutet  durch  die  drei  unsterb¬ 
lichen  weiblichen  Symbole:  Glaube,  Liebe,  Hoffnung, 
das  Gegenstück  zu  den  Nomen. 

Eine  neue  Erde  steigt  empor.  Die  Liebe  ist  als 
mittlere  größte  Gestalt  gemalt,  es  ist  die  christliche 
Liebe  und  Demut,  nach  dem  Spruche: 

„Nun  aber  bleiben  Glaube,  Liebe,  Hoffnung,  diese 
drei,  aber  die  Liebe  ist  die  größte  unter  ihnen.“ 

Der  sanfte  Ton  und  die  ideale  Anschauung 

o 

kontrastiren  hier 
mit  der  Wildheit 
der  heidnischen 
Götterwelt ,  und 
der  Künstler  cha¬ 
rakterisirt  auch  da¬ 
durch  in  feiner 
Weise  und  beweist 
seine  Vielseitigkeit 
in  dem  Ausdruck 
des  Gegensatzes 
zwischen  den  bei¬ 
den  Weltanschau¬ 
ungen  und  Reli¬ 
gionen.  So  wirkt 
denn  der  Schluss¬ 
stein  in  dem  Ge- 
mälde-Cyklus  wie¬ 
der  versöhnlich. 

Der  Beschauer 
wendet  sich  tief  er¬ 
griffen  und  nach- 
denkeud,  aber  vollkommen  befriedigt  ab. 

Dies  ist  in  den  Hauptzügen  der  Inhalt  der 
Röber’schen  Werke,  deren  volle  Wirkung  natürlich 
erst  in  eigener  Anschauung  empfunden  werden  kann. 

Die  Kunst  kann  auf  solche  Arbeiten  wieder  mit 
Stolz  blicken.  Die  Gemälde  werden  überall,  wo  sie 
zur  Ausstellung  kommen  mögen,  den  alten  Ruhm 
der  Düsseldorfer  aufs  neue  nach  allen  Seiten  ver¬ 
breiten  helfen.  Sie  kommen  uns  in  diesem  Augenblick 
gerade  trefflich  zu  statten,  indem  sie  einmal  wieder  den 
Beweis  dafür  erbringen,  dass  man  in  Deutschland  noch 
im  stände  ist,  historische  Kunst  im  großen  Stil  zu 
betreiben.  Aus  dem  nie  versiegenden  Born  germani¬ 
scher  Götter-  und  Heldensage  lässt  sich,  ohne  veraltet 
und  abgelebt  zu  erscheinen,  immer  Großes  und  Schönes 
schöpfen.  Es  muss  nur  der  Rechte  kommen. 


Lüki  liricht  seine  Fesseln.  Gemälde  von  Fr.  Röber. 


VATIKANISCHE  MINIATUREN. 


101 


Der  ganze  Cyklus  ist  zur  Ausschmückung  der 
Prachtvilla  des  Herrn  von  der  Heydt  in  Godesberg 
bestimmt.  Es  ist  in  hohem  Grade  erfreulich,  dass 
aus  der  offenen  Hand  reicher  Privaten  der  Kunst 
eine  so  schöne  Unterstützung  zu  Teil  vrird  durch 


Bestellung  von  Werken,  welche  meist  nur  der  Staat 
in  dem  Umfange  zu  erwerben  im  stände  ist. 

Die  Bildung  und  Veredelung  des  Volkes  ver¬ 
dankt  solchen  Männern  viel. 

— nn. 


VATIKANISCHE  MINIATUREN.') 

MIT  EINER.  LICHTDRUCKTAFEL. 


BE  R  MALS  thun  sich  die 
Schätze  der  Vatikanischen 
Bibliothek  auf:  nunmehr 
zum  Nutzen  der  Kunst¬ 
wissenschaft.  Der  deutsche 
Jesuit,  Stephan  Beißel,  wel¬ 
cher  bereits  1886  die  Bilder 
der  Ottonischen  Evangelien¬ 
handschrift  des  Münsters  zu  Aachen  (vgl.  Ztschr. 
f.  bild.  Kunst  XXII,  S.  278  ff.)  und  der  Bernward- 
Evangelien  zu  Hildesheim  1891  in  eingehenden  Be¬ 
arbeitungen  veröffentlicht  hat,  bietet  uns  jetzt  eine 
Auswahl  aus  den  bedeutendsten  Bilderhandschriften 
der  Vatikanischen  Bibliothek,  die  Früchte  eines 
längeren  Studienaufenthaltes  in  Rom,  wobei  er  sich 
zur  Erreichung  seines  Zieles  von  besonders  günstigen 
Umständen  begleitet  sah.  Es  kann  nur  dankbar  be¬ 
grüßt  werden,  wenn  unter  diesen  Voraussetzungen 
an  eine  Sammlung  vorzüglicher  Miniaturen  in  einer 
mit  Lichtdrucken  von  wahrhaft  künstlerischer  Voll¬ 
endung  aus  dem  Atelier  Danesi  in  Rom  ausgestatte¬ 
ten  Veröffentlichung  geboten  wird,  die  dem  noch 
so  ungleich  ausgebauten  Gebiete  neues  und  so  wert¬ 
volles  Studienmaterial  zuführt.  Mögen  auch  die 
Meinungen  darüber  geteilt  sein,  oh,  wie  der  Heraus¬ 
geber  annimmt,  der  Malerei  des  Mittelalters  damit 
wesentliche  Aufhellung  erwächst,  so  ist  die  Sparte 
der  Miniaturmalerei  selbst  bedeutend  genug,  um  all¬ 
seitige  Durchforschung  zu  verdienen.  Lag  doch  zeit¬ 
weise  unter  der  Geschmacksrichtung  des  Schreibstiles 
die  Malkunst  gänzlich  in  der  Miniatur  beschlossen 
auf  klassischem  Boden  klingt  in  ihr  der  flüchtige 
dekorative  Stil  aus,  während  die  unbeholfenen  Hände 

1)  Vatikanische  Miniaturen.  Herausgegeben  und  erläu¬ 
tert  von  Stephan  Beißel  S.  J.  Quellen  zur  Geschichte  der 
Miniaturmalerei.  Mit  XXX  Tafeln  in  Lichtdruck.  Frei  bürg 
i.  B.  1893,  Herder.  Fol.  VHI  u.  51  S.  zweispalt.  Text.  Deutsch 
u.  französ.  Lwdbd.  Mk.  24.  — 


der  frühmittelalterlichen  Klosterzelle  dieÜberlieferung 
mühsam  weiter  pflegten,  bis  sie  von  den  unmittelbaren 
Eingebungen  einer  neuen  Zeit  ahgelöst  wurden,  ln 
der  Folge  entwickelte  sie  sich  mehr  und  mehr  zur 
Feinkunst,  eine  Gattung,  die  nun  bleibend  den  Namen 
der  Miniatur  übei'kommt  und  hei  größerer  oder  ge¬ 
ringerer  Geschicklichkeit  ein  Wiederschein  der  Ma¬ 
lerei  im  ganzen  ist,  ohne  auf  selbständige  Bedeutung 
einen  Anspruch  zu  haben.  Was  nun  zur  Beleuch¬ 
tung  des  Gebietes  Neues  geboten  wird,  hat  in  dem¬ 
selben  Maße  Anspruch  auf  Beachtung,  als  es  sich 
um  Zeiten  und  Erscheinungen  handelt,  wo  die  Kunst 
der  Miniatur  im  Vordergründe  stand.  Danach  he- 
misst  sich  überhaupt  der  Wert  solcher  Beiträge,  wie 
der  vorliegende.  Es  lässt  sich  nun  nicht  sicher  er¬ 
kennen,  dass  der  Herausgeber  diesen  oder  einen  ver¬ 
wandten  Gedanken  seiner  Auswahl  zu  Grunde  ge¬ 
legt  habe:  er  geht  im  ganzen  chronologisch  zu  Werk 
und  scheidet  danach  in  Gruppen  des  altklassischen 
Stiles,  in  Werke  des  Abendlandes  aus  dem  7.  bis 
11.  Jahrh.,  dann  Miniaturen  des  griechischen  Mittel¬ 
alters,  ferner  die  abendländischen  Werke  des  11.  bis 

14.  Jahrh.  und  schließlich  die  Buchmalereien  des 

15.  und  16.  Jahrh.  Bei  der  Fülle  des  Materials 
gieht  er  nur  Stichproben  aus  den  nach  seiner  Auf¬ 
fassung  bedeutendsten  Handschriften  und  hofft  dabei, 
„möglichst  vielen  Freunden  der  Kunstgeschichte  die 
Benutzung  und  Verwertung“  der  vatikanischen  Mi¬ 
niaturenschätze  vermitteln  zu  können.  Indes  steht 
zu  besorgen,  dass  dies  Bemühen,  jedem  etwas  zu 
bieten,  dem  höheren  Ziel  des  Werkes  Eintrag  thue: 
nicht  sowohl  ein  Inventar  des  vatikanischen  Mate¬ 
rials  ,  nicht  einmal  die  Auslese  des  schönsten  aus 
den  dortigen  Beständen  ist  das  Postulat  der  Kunst¬ 
forschung,  als  vielmehr  eine  kritisch  gesichtete  Über¬ 
schau,  wobei  den  obschwebenden  Fragen  in  ent¬ 
sprechender  Weise  Rechnung  zu  tragen  war.  Diese 
Erwägung  scheint  übrigens  dem  Herausgeber  nicht 


102 


VATIKANISCHE  MINIATUREN. 


gar  fein  zu  liegen,  indem  er  am  Schluss  der  Ein¬ 
leitung  den  Gedanken  ausspricht,  „nach  und  nach 
die  wichtigeren  Miniaturen  aller  größeren  Biblio¬ 
theken“  behandeln  zu  wollen,  um  eine  Quellensamm¬ 
lung  des  ganzen  Gebietes  zu  beschaffen.  Bei  so 
weitaussehenden  Plänen  erscheint  es  wirklich  an¬ 
gezeigt  ,  dass  der  so  rüstig  schaffende  Herausgeber 
Fühlung  nehme  mit  den  Desiderien  der  Kunstfor¬ 
schung,  um  im  engen  Anschluss  an  die  Fachkreise 
seine  Bestrebungen  und  Leistungen  auf  ein  Ziel  von 
durchschlagendem  Erfolge  zu  richten. 

Sehen  wir  übrigens,  was  der  Herausgeber  zur 
Zeit  uns  bietet. 

Der  Schwerpunkt  ist  mit  Recht  auf  die  Bild¬ 
tafeln  gelegt;  der  Text  giebt  nur  in  jedem  Fall  die 
Größenverhältnisse  der  Originalien  und  knappe  An¬ 
gaben  über  Inhalt  und  Herkunft  der  Handschrif¬ 
ten  neb.st  Verweisungen  auf  vorgängige  Veröffent¬ 
lichungen.  Dabei  war  sich  zu  begnügen;  denn  die 
Schilderung  der  hier  nicht  wiedergegebenen  Minia¬ 
turen  und  gar  die  Beschreibung  von  deren  farbiger 
Ausstattung  hat  keinerlei  Wert.  Jeder  Abteilung 
ist  eine  Übersicht  vorangestellt,  welche,  neben  den 
zur  Aldhldung  heraugezogenen  Codices,  andere  der 
gleichen  Gattung,  wenn  auch  nur  lückenhaft,  ver¬ 
zeichnet.  Hier  durften  berechtigterweise  kritische 
Ausführungen  erwartet  werden;  es  wird  indes  nur 
die  einschlägige  Litteratur  in  ausgiebiger  Weise  ver- 
zeichnet.  Auf  die  litterarische  Durcharbeitung  ist 
überhauj)t  bemerkenswerte  Sorgfalt  verwendet.  So 
.sind  am  Schlüsse  die  in  Text  und  Noten  angeführ¬ 
ten  illustrirten  Handschriften  der  Vaticana  nach  Be¬ 
ständen  in  10  Abteilungen  aufgeführt;  daneben  die 
I land.schriften  anderer  Bibliotheken.  Namen-  und 
Sachregister  sind  endlich  mit  ])einlicher  Berück¬ 
sichtigung  der  Ikonographie  und  der  geographischen 
Zugehörigkeit  des  Bildennaterials  ausgearbeitet. 

ln  der  Gruj)pe  1,  Miniaturen  des  altklassischen 
Std.s,  beansju-iicht  die  .losuarolle  (Cod.  Vat.  Pal. 
Graec.  4'D ,  Taf.  VI)  wohl  das  größte  Interesse. 
Wenn  der  Herausgeber  sich  auch  für  ein  verhält¬ 
nismäßig  hohes  Alter  (7.  Jahrh.V),  und  dies  mit 
Vorbehalt  ausgesprochen  hat,  so  wagt  er  doch  nicht 
KondakolFs  Annahme  zu  folgen,  der,  wohl  mit  gutem 
Grund,  für’s  ö.  oder  0.  dahrhundert  neuestens  eintritt. 

Die  II.  Grujipe,  abendländische  Miniaturen  des 
7.  bis  1 1.  dahrh.  Taf.  V,  VII 1,  eröffnet  eine  Evangelien- 
liandschrift,  die  nach  einem  bis  jetzt  übersehenen 
Eintrag  vom  dahre  1170  ehemals  dem  Kloster  Lorsch 
gehörte.  Die  nahe  Verwandtschaft  mit  der  berühm¬ 
ten  Ada-Hamlschrift  zugegeben,  erscheint  deswegen 


doch  die  Annahme  noch  nicht  gerechtfertigt,  dass 
beide  Handschriften  der  Schreibstube  des  Klosters 
Lorsch  entstammten.  Lorsch  stand  in  seiner  ganzen 
Entwickelung  und  auch  in  Behandlung  seiner  künst¬ 
lerischen  Angelegenheiten  (vgl.  Adamj,  Die  frank. 
Thorhalle  u.  Klosterkirche  zu  Lorsch,  1891,  S.  3 
u.  25)  so  ganz  in  Abhängigkeit  von  Metz,  dass  es 
viel  richtiger  sein  wird,  wie  die  Ada -Handschrift, 
so  auch  den  Lorscher  Codex  des  Vatikans  der  Schule 
von  Metz  zuzuerkennen.  Eine  höchst  beachtenswerte 
Ubergangsstellung  nehmen  die  Bilder  der  Sermones 
in  Monte  Cassinensi  scripti,  Cod.  Vat.  lat.  1202, 
Taf.  VIII  ein.  Die  dem  11.  Jahrh.  (?)  zugeteilte 
Handschrift  steht  der  byzantinischen  Kunst  jener 
Zeit  nahe,  zeigt  aber  dabei  eine  so  straffe  Behand¬ 
lung  der  Form  und  ein  so  klares  Verständnis  für  die 
Vorgänge  des  Lebens,  dass  damit  ein  wichtiges 
Zwischenglied  zum  Verständnis  der  normannischen 
und  englischen  Miniaturen  der  folgenden  Zeit  ge¬ 
geben  ist. 

Mit  besonderem  Interesse  tritt  man  an  den  IIL 
Abschnitt,  griechische  Miniaturen  des  Mittelalters, Taf. 
IX — XVI  heran.  Die  hier  gebotene  Auswahl,  von 
dem  „Kosmas“,  dem  wichtigsten  Buche,  das  nach 
Kondakoff  die  byzantinische  Kunst  bietet,  ange¬ 
fangen,  bis  zu  den  pathetischen  Darstellungen  eines 
Monologiums  des  11.  Jahrh.  (Taf.  XVI)  und  den 
minutiösen  Marterscenen  des  Climacus  (Taf.  XIV), 
zeigt,  wie  irrig  die  so  oft  wiederholte  Phrase  vom 
Stagniren  der  byzantinischen  Kunst  ist,  wie  vielmehr 
unter  dem  erneuten  Aufblühen  des  ganzen  Reiches 
seit  den  makedonischen  Herrschern  auch  die  Kunst 
von  einem  neuen  Zug  erfüllt  war  und  im  vielseitigen 
Verkehr  mit  dem  europäischen  Westen  dahin  die 
nachhaltigsten  Einwirkungen  abgah.  Das  byzanti¬ 
nische  Mittelalter  ist  in  dieser  Beziehung  noch  viel 
zu  wenig  gewürdigt,  und  Proben,  wie  die  vorliegen¬ 
den,  sind  recht  geeignet,  deren  Wichtigkeit  in’s 
Licht  zu  setzen  und  deren  Vermehrung  als  höchst 
wünschenswert  darzuthun.  Das  eigentliche  male¬ 
rische  Element  tritt  in  der  Auffassung  und  Behand¬ 
lung  des  Figürlichen  im  einzelnen  erfreulich  hervor 
und  empfängt  in  dem  Sinn  für  Gruppirung  und 
malerische  Ausgestaltung  der  Vorgänge  die  ent¬ 
sprechende  Ergänzung. 

Die  Beiträge  zum  11.  bis  14.  Jahrh.  (IV.  Teil, 
Taf.  XVH — XXIII)  sind  durch  die  Bibel  des  Klosters 
Farfa  gut  eingeleitet,  sofern  hier  Einwirkung  by¬ 
zantinischer  Vorbilder  und  ihre  Umsetzung  in  lon- 
gobardische  Vorstellungen  klargelegt  werden.  Die  son¬ 
stigen  Proben  sagen  nicht  gerade  viel.  Für  deutsche 


103 


VEREIN  FÜR  ORIGINAL -RADIRUNCt  IN  MÜNCHEN. 


Kreise  von  Wichtigkeit  ist  der  Ottobeurer  Codex  mit 
einer  allegorischen  Darstellung  Kaiser  Heinrich’s  IL, 
eine  Handschrift,  welche  dem  Bamberg-Regensburger 
Künstlerkreise  entstammen  dürfte. 

Mit  dem  15.  Jahrh.  (V.  Teil,  Taf.  XXIV-XXX) 
bewert  sich  die  Kunst  der  Miniaturmalerei  in  völliger 
Abhängigkeit  um  den  mittleren  Drehpunkt  der 
großen  Kunst.  Bei  aller  Schönheit  kommt  ihren 
Leistungen  eine  selbständige  Bedeutung  nicht  mehr 
zu:  man  ist  längst  davon  abgekommen,  wie  bei  dem 
Breviarium  Grimani  in  Venedig,  für  die  Mehrzahl 
dieser  Leistungen  überhaupt  noch  einen  Künstler¬ 
namen  vorznschlagen.  Wie  das  Pontificale  (Taf.  XXV) 
nicht  von  der  Hand  Perugino’s  illustrirt  ist,  so  auch 
nicht  die  Bibel  (Taf.  XXVI)  von  Pinturicchio  oder 
einem  der  sonst  genannten  Künstler,  Cosimo  Roselli 
oder  Piero  di  Cosimo;  vielleicht  könnte  man  an 
Nachbildungen  von  Stichen  denken,  die  Baccio  Bal- 
dini  zugeschrieben  werden.  P'ür  weitere  Kreise  haben 
solche  Einzeluntersuchungen  kaum  Wert.  Die  vlä- 
misch-burgundischen  „Livres  d’heures“  sind  trotz  ihrer 
niedlichen  Ausstattung  an  dieser  Stelle  von  keinem 
Belang.  Von  höchster  Schönheit  ist  eine  zum  Teil 
von  einem  Florentiner,  znm  Teil  von  Giulio  Clovio 
illustrirte  Dante-Handschrift  (vgl.  Taf.  XXVH).  ln 
der  weichen,  modischen  Formgebung  schlagen  die 
Bildchen  des  letzteren  einen  Ton  an,  der  sie  fast  mit 


dem  Geschmack  aus  der  späteren  Zeit  Ludwig’s  XVI. 
verwandt  erscheinen  lässt.  Eine  deutsche  Hand¬ 
schrift  (Taf.  XXX)  zeigt  einesteils  frischen  Natur¬ 
sinn  ,  andernteils  aber  auch  Bildungen  auf  kostüm- 
licher  Grundlage,  welche  beweisen,  wie  wenig  sich 
damals  noch  die  Kunst  nach  landschaftlichen  Gruppen 
geschieden  hatte. 

Zum  Schluss  sei  dem  Gedanken  Ausdruck  ge¬ 
geben,  dass  der  Herausgeber  in  den  „Vaticanischen 
Miniaturen“  gewiss  eine  in  mancher  Hinsicht  lehr¬ 
reiche  und  sicher  geschmackvolle  Bilderreihe  geboten 
und  damit  sich  den  Dank  verschiedener  Kreise  ver¬ 
dient  hat.  Sollten  jedoch,  nach  seinem  in  der  Ein¬ 
leitung  angedeuteten  Plane,  die  Schätze  anderer 
Bibliotheken  nach  und  nach  herangezogen  werden, 
so  bedürfte  ein  so  weitaussehendes  Unternehmen 
einer  festeren,  wissenschaftlichen  Grundlage:  nicht 
ein  bildliches  Inventar  der  Miniaturen  von  größerer 
oder  geringerer  Vollständigkeit  wird  dem  Verlangen 
der  Kunstforschung  dienen,  wohl  aber  eine  kritisch 
verarbeitete  Auslese,  welche  die  Bedeutung  der 
Miniaturenkunst  im  Zusammenhang  mit  der  Kunst¬ 
entwickelung  im  Ganzen  anstrebt.  Für  eine  solche 
Leistung  wird  die  Kunstforschung  ihren  weiteren 
Dank  nicht  schuldig  bleiben. 

Mainz.  FRIEDRICH  SCHNEIDER. 


VEREIN  FÜR  ORIGINAL- RADIRUNG  IN  MÜNCHEN. 

MIT  EINER  KUPFERTAFEL. 


AHREND  der  letzten  Zeit 
sind  bekanntlich  nach  dem 
Vorbilde  der  vor  dreißig 
Jahren  in  Paris  entstandenen 
„Societe  des  Aquafortistes“ 
in  Deutschland  und  England, 
in  Österreich  und  Amerika 
viele  derartige  Gesellschaften 
in’s  Leben  getreten,  deren  gemeinsamer  Zweck  in 
der  Pflege  der  Originalradirung  besteht.  Vor  zwei 
Jahren  folgte  auch  München  dem  guten  Beispiel 
und  die  Früchte  der  dort  1891  geschaffenen  Ver¬ 
einigung  seiner  Maler-Radirer  liegen  uns  jetzt  in 
zwei  Folioraappen  vor,  welche  zusammen  vierund¬ 
zwanzig  Drucke  fassen.  Jedes  Jahr  im  September 


erscheint  eine  solche  Folge  von  zwölf  Blättern,  in 
Remark-Drucken  auf  Japanpapier,  in  gewöhnlicher 
Ausgabe  auf  holländischem  Papier,  gedruckt  in  der 
Kunst-Kupferdruckerei  von  Aug.  Wetteroth  in  Mün¬ 
chen.  Die  ersteren  sind  von  der  Verlagshandlung 
E.  Stahl  in  München  zum  Preise  von  65  M.,  die 
Drucke  der  letzteren  gegen  den  jährlichen  Mit¬ 
gliedsbeitrag  von  25  M.  zu  beziehen. 

Die  Künstler,  welche  den  Münchener  Verein 
gegründet  haben,  fassen  ihre  Aufgabe  mit  dem 
vollen,  sachlichen  Ernst  auf,  der  die  dortige  Kunst- 
weit  so  vorteilhaft  kennzeichnet.  Namen,  wie  Ernst 
Zimmermann,  Peter  Halm,  Meyer-Basel  u.  a.,  die  wir 
in  dem  Verzeichnis  der  leitenden  Persönlichkeiten 
lesen,  bürgen  dafür,  dass  nichts  Dilettantisches,  bloß 


104 


VEREIN  FÜR  ORIGINAL-RADIRÜNG  IN  MÜNCHEN. 


Versuchsmäßiges  und  nur  äußerlich  Anlockendes  in 
die  Publikationen  aufgenonimen  werden  wird.  Das 
dem  Verein  gesteckte  Ziel,  „die  Schaffung  selbstän¬ 
diger,  nur  als  Radirung  vom  Künstler  empfundener 
einfarbiger  Blätter“ ,  ist  in  den  vorliegenden  beiden 
Jabresfolgen  durchgängig  erreicht.  Man  sieht  es 
allen  diesen  Bildchen  an,  dass  sie  wirklich  als  Ra¬ 
dirungen  gedacht,  nicht  erst  aus  einer  anderen  Technik 
mittels  der  Radirnadel  ins  Schwarz  und  Weiß  über¬ 
setzt  sind.  So  bieten  uns  die  Blätter  auch,  mit  der 
dieser  wunderbaren  Augenblickskunst  eigentümlichen 
Schlagkraft  und  Unmittelbarkeit,  den  Ausdruck  einer 
Anzahl  markanter  künstlerischer  Individualitäten. 
Es  sind  Improvisationen  geistvoller  Menschen,  hinge- 
worfeue  Gedanken,  rasche  Beobachtungen,  momen¬ 
tane  Eingebungen  ihrer  Empfindung  und  Phantasie. 

Dass  auch  letztere  mitspricht,  und  nicht  selten 
in  gehobenem,  weihevollem  Rhythmus,  halten  wir 
für  ein  besonders  willkommenes  Zeichen  der  Zeit. 
Das  groß  gedachte  Blatt  von  Ludwig  Baders  (II,  12) 
„Musik“  —  eine  die  Geige  spielende  weibliche  Ge¬ 
stalt,  in  deren  Schoß  ein  Genius  sich  schmiegt  — 
könnte  von  Feuerbach  komponirt  sein,  wenngleich 
Typus  und  Ausdruck  nicht  die  seinigen  sind.  Auch 
die  beiden  Radirungen  von  Hans  Änetsherger :  „St.  Hu¬ 
bertus“  und  „Idylle“,  mit  Reminiscenzen  an  Thoma, 
fällen  in  das  poetische  Gebiet.  G.  Schmidt- Helm- 
hrechfs  schweift  mit  seinem  „Gespenst“  vollends 
hiuü)>er  in  die  Sphäre  des  Barock- Phantastischen. 
—  Die  größere  Mehrzahl  der  Beiträge  sind  jedoch 


der  Wirklichkeit  entnommen,  teils  Einzelstudien, 
teils  geschlossene  Stimmungsbilder  von  oft  reizvoller 
Lebendigkeit.  Von  der  ersteren  Gattung  seien  Leibi’ s 
„Alte  Frau“  (Dachauerin),  Walter- Zie gier’ s  „Jugend¬ 
freunde“  und  die  beiden  Tierköpfe  von  Hubert  von 
Heyden  genannt;  von  der  letzteren  Georg  BuchneRs 
„Lesende  Mädchen“  und  der  „Netzflicker“  von  Prof. 
Peter  Halm,  der  diesem  Aufsatze  in  Drucken  der  oben 
genannten  Kunst- Kupferdruckerei  von  Aug.  Wette- 
roth  in  München  beigegeben  ist.  Das  von  uns 
ausgewählte  Blatt  darf  als  Muster  einer  Original¬ 
radirung  bezeichnet  werden.  Es  führt  uns  mit 
einem  Schlag  in  die  stille,  ärmliche  Existenz  des 
armen  Arbeiters  hinein:  jeder  Zug  spricht  zur 
Empfindung,  nichts  bleibt  unwirksam  und  über¬ 
flüssig.  Und  dabei  ist  alles  nur  für  die  gewählte 
Technik  und  Ausdrucksart  gedacht,  alles  am  rich¬ 
tigen  Platz,  in  der  passenden  Tonart  und  Stärke 
vorgetragen.  —  Auch  aus  dem  landschaftlichen  Fache 
finden  sich  in  den  beiden  Heften  eine  Anzahl  von 
trefflichen  Beiträgen.  Doch  hebt  sich  keiner  der¬ 
selben  in  so  prägnanter  Weise  von  den  anderen  ab, 
dass  wir  ihn  hier  besonders  betonen  möchten. 

Der  Verein  aber  und  sein  Werk  im  Ganzen 
seien  aufs  wärmste  willkommen  geheißen  und  der 
Beitritt  allen  ernsten  Kunstfreunden  bestens  em¬ 
pfohlen!  Denn  es  eröffnet  sich  uns  in  ihm  ein  neuer 
Mittelpunkt  echt  künstlerischen  Wollens  und  Stre- 
bens,  ein  neues  Bildungscentrum  für  die  künstlerische 
Erziehung  der  Nation.  Q.  v.  L. 


Herausgeber:  Carl  vtm  lA'dxnw  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


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Druck  v:  F.A.Brockhaus  in  l'jeipzi^. 


BRIEG. 

VON  GEORG  JONETZ. 
(Fortsetzung.) 


IE  Bauformen  der  Renais¬ 
sance  hatten  in  dem  blühen¬ 
den  und  geistig  entwickel¬ 
ten  Schlesien  hauptsächlich 
durch  die  rege  Verbindung, 
in  welcher  die  beweglichen 
und  unternehmenden  Kauf¬ 
leute  Breslaus  mit  Italien 
standen,  rasch  Aufnahme  gefunden.  Georg  berief 
schon  im  Jahre  seines  Regierungsantritts  (1547) 
welsche  Künstler  *)  an  seinen  Hof,  als  deren  Haupt 
Jakob  Baar  aus  Mailand  anzusehen  ist.  Neben 
und  nach  ihm  erlangte  sein  Schwiegersohn  Bernard 
Niuron  aus  Lugano  2)  Bedeutung.  Diese  Künstler 
haben  den  Bau  des  Schlosses,  des  Gymnasiums, 
des  Rathauses  und  des  Oderthores  in  Brieg  geleitet. 

Nähert  man  sich  vom  Ring  aus  dem  mächtigen, 
am  Nordwestrande  der  Stadt  sich  erhebenden 
Schlosse,  so  trifft  man  zunächst  auf  den  aus  schönem 
Sandstein  bestehenden,  kunstreichen  Portalbau  (Abb. 
S.  28),  der,  im  J.  1553  vollendet,  von  allen  Teilen  des 
Bauwerkes  am  besten  erhalten  und  das  berühmteste 
Denkmal  Briegs  aus  der  Piastenzeit  ist. 

Der  dreigeschossige  Aufbau  ist  wagerecht  durch 
Gesimse  und  senkrecht  durch  Pilaster  korinthischer 
Ordnung  übersichtlich  gegliedert.  3)  Nur  im  Erd¬ 
geschoss  hat  Baar  die  Symmetrie  nicht  wahren 


1)  Im  Ganzen  lassen  sich  15  aus  Urkunden  nachweisen. 
S.  Wernicke,  Topographische  Chronik  der  Stadt  Brieg. 
1879.  S.  10. 

2)  Der  Erbauer  des  Ohlauerthores  in  Breslau. 

3)  Lutsch,  Die  Kunstdenkmäler  der  Landkreise 
des  Reg.-Bez.  Breslau.  1889.  S.  327.  Diesem  tüchtigen,  grund¬ 
legenden  Werke  ist  der  Verf.,  was  die  Besprechung  der  Bauten 
anlangt,  im  Wesentlichen  gefolgt. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  5. 


können,  da  er  sich  durch  die  Sitte  des  Nordens  ge¬ 
nötigt  sah ,  neben  dem  großen  Thorweg  ein  kleineres 
Pförtchen  für  die  Fußgänger  anzulegen.  Den  Raum 
über  letzterem  füllte  er  mit  einem  kreisrunden 
Fenster  und  einer  Tafel  aus,  die  folgenden  Bibel¬ 
spruch  trägt;  Nisi  dominus  aedificaverit  domum, 
in  vanum  laborant,  cpii  aedificant  eam.  Nisi  dominus 
cu.stodierit  civitatem,  frustra  vigilat,  qui  custodit  eam. 
Psal.  127.  Auf  dem  das  Erdgeschoss  abschließenden, 
stark  hervortretenden  Gesims  gab  er  den  lebens¬ 
großen  und  offenbar  durchaus  lebenswahren  Statuen 
des  Herzogs  Georg  und  seiner  Gemahlin  Barbara 
von  Brandenburg  einen  hervorragenden  Platz.  Hoch- 
aufgerichtet  und  selbstbewusst  schauen  beide,  ange- 
than  mit  ihrem  fürstlichen  Schmuck,  in  die  vorüber¬ 
rauschenden  Zeiten  hinaus.  Ihnen  zu  Häupten  stehen 
die  Inschriften: 

GEORGIVS  D.  G.  DVX  SILESIAE 
LIGNICEN  .  BREGEN  .  DIVINA 
FAVENTE  CLEMENTIA  PRIM’ 

HANG  STRVCTVRAM  FIERI 
ET  AEDIFICARI  CVRAVIT  REG- 
NANTE  FERDINANDO  REGE 
RO.  SEMPER  AVGVSTO  MDLIIl  . 

und 

BARBARA  ILLVSTRIS  PRIN- 
CIPIS  lOACHlMI  MARCHIO- 
NIS  BRANDEBVRGEN .  SACRI 
ROMA.  IMPERII  ELECTORIS 
FILIA  ILLVSTRIS  PRINCIPIS 
GEORGII  DVCIS  SILESIAE 
ET  CAET.  CONIVNX  MDLlII . 

Beide  Figuren  umgab  der  Künstler  mit  den 
prachtvoll  ausgeführten,  von  reichem  Schmuck  um¬ 
rahmten  Emblemen  der  Fürstenhäuser  von  Liegnitz- 
Brieg  und  Brandenburg.  Aber  Baar  hatte  auch  dem 
Stolze  des  Herzogs  auf  die  historische  Vergangen- 

14 


llaii|iliiorta)  am  l’iastensrhlosse  in  Brieg,  von  der  Seite  gesehen. 


BRIEG. 


107 


heit  des  Piastengeschlechtes  Rechnung  zu  tragen. 
Er  that  dies,  indem  er  unterhalb  der  oberen  Fenster¬ 
reihe  in  höchst  origineller  Weise  eine  förmliche 
Ahnengalerie  anlegte.  24  Vorfahren  des  Fürsten, 
von  denen  derselbe  in  gerader  Linie  abstammte, 
vom  sagenhaften  Piast  bis  auf  Herzog  Friedrich  IL, 
sind  hier,  in  Gruppen  zu  je  vieren  vereinigt,  in 
charaktervoll  ausgeprägten,  die  plastische  Kunst 
jener  Zeit  nicht  wenig  ehrenden,  steinernen  Brust¬ 
bildern  dargestellt.  Die  obere  Reihe  enthält  die 
polnischen  Fürsten  und  Könige,  letztere  mit  Krone 
und  Scepter,  die  untere  die  schlesischen  Herzöge, 
meist  mit  dem  Herzogshut.  Allenthalben,  teils  an 
den  Pilastersockeln,  teils  über  teils  zwischen  den 
Köpfen,  sind  erläuternde,  recht  gute  historische 
Kenntnisse  verratende  Inschriften  angebracht.  End¬ 
lich  stehen  über  den  oberen  Fenstern  unmittelbar 
am  jetzigen  Mauerkranze  mehrere  für  die  Frömmig¬ 
keit  und  Gerechtigkeitsliebe  Georg ’s  bezeichnende 
Sprüche.  Sie  lauten:  Verbum  Domini  manet  in 
aeternum.  Si  Deus  pro  nobis,  quis  contra  nos? 
Justitia  stabit  thronus. 

Über  alle  Flächen  und  architektonischen  Glieder 
des  Portales  aber  hat  der  italienische  Künstler  eine 
Fülle  von  Ornamenten  ausgebreitet,  die  deutlich  das 
Gepräge  seiner  heimatlichen  Kunst  tragen.  In  die 
Verschlingungen  des  Akanthusblattwerkes  sind 
allegorische  und  mythologische  Figuren  neben  Vasen, 
Muscheln  und  Delphinen  eingewoben.  Geistreich 
wechselnde  Formen  halten  die  Eintönigkeit  fern 
und  sind  geschickt  über  die  Flächen  verteilt.  Leicht 
und  zierlich  fließen  die  Linien  hin.  Zwar  scheint 
die  Ausführung  von  verschiedenen  Händen  zu  sein. 
Denn  es  unterscheiden  sich  z.  B.  die  eleganten  Ver¬ 
zierungen  in  den  Bogenzwickeln  des  großen  Thores, 
die  schönen  Volutenranken  über  dem  Fenstergebälk 
des  ersten  Geschosses  wesentlich  von  dem  etwas 
schwerfälligen  Rankenwerk  über  der  kleineren  Thür. 
Am  meisten  hat  der  Künstler  seiner  Phantasie  bei 
der  Ausfüllung  der  Pilasterflächen  freien  Lauf  ge¬ 
lassen.  Hier  erscheinen  in  den  Laubgewinden 
zuweilen  höchst  wunderliche  Verbindungen  der 
Menschen-  und  Tiergestalt. 

Die  Wirkung  des  Portales  wurde  ehedem 
wesentlich  dadurch  gesteigert,  dass  Teile  desselben, 
wie  die  Statuen  und  Brustbilder,  die  Wappen,  der 
Grund  der  Inschriften  bemalt  oder  vergoldet  waren. 
Auch  die  Wirkung  des  Gegensatzes  kannte  der 
Künstler.  Denn  er  wusste  den  Eindruck  der  feinen 
und  edlen  Formen  des  Portales  durch  eine  dasselbe 
umschließende  Quadermauer  zu  verstärken. 


Über  dem  Hauptgesims  erhob  sich  früher  noch 
eine  Galerie.  Von  der  Brüstung  derselben  ist  jetzt 
nur  noch  ein  Wappenschild  mit  dem  schlesischen 
Adler  erhalten,  das  vielleicht  erst  bei  der  Renovation 
des  Portales  (1864/65)  wieder  über  demselben  ange¬ 
bracht  worden  ist.  ’) 

An  den  Außenwänden  des  Stadt-  und  Oder¬ 
flügels  ist  sonst  nichts  mehr  von  Bedeutung  er¬ 
halten.  Die  vielleicht  in  Sgraffltotechnik  ausge¬ 
führte  Verzierung  der  langen  Flächen  ist  ver¬ 
schwunden;  ebenso  der  von  der  Herzogin  Luise 
(1672 — 75)  um  das  Erdgeschoss  des  Stadtflügels  an¬ 
gelegte  Säulen  gang. 

Kommt  man  durch  das  mächtige  Tonnengewölbe 
des  Thorweges  in  den  1700  qm  großen  Hofraum, 
so  erhält  man  erst  den  rechten  Begriff  von  der 
Zerstörung,  welche  die  blindwütende  Macht  des 
Feuers  angerichtet  hat.  Denn  von  der  anmutsvollen 
und  vornehmen  Hofanlage,  von  den  durch  zwei 
Geschosse  führenden  ionischen  Säulengängen,  den 
schön  umrahmten  Fenstern  und  Thüren  sind  nur 
Bruchstücke  geblieben.  Der  nordwestliche,  ehemals 
einstöckige  Flügel  des  Schlosses  ist  vollkommen  ver¬ 
schwunden;  an  seiner  Stelle  steht  die  katholische 
Elementarschule;  der  Flügel  an  der  Hedwigskirche, 
in  welchem  „die  schöne  Tafelstube“  mit  den  „ge¬ 
wirkten  Bildnissen  der  Liegnitz -Brieger  Herzöge“ 
sich  befand,  ist  bis  auf  wenige  Teile  ganz  neu  für 
die  Zwecke  des  Magazins  aufgeführt.  An  den  ge¬ 
schwärzten  und  verwitterten  Mauern  des  Portal¬ 
und  Oderflügels  hingegen  lassen  sich  noch  einige 
Bogen  der  einstigen  Säulenhallen  verfolgen.  Eine 
Anzahl  Fenster-  und  Thürrahmen  aus  Sandstein, 
kunstvoll  gegliedert  und  verziert,  kleben  mit  ver¬ 
mauerten  Öffnungen  an  den  kahlen  Wänden;  sie 
führten  nicht  auf  die  Säulengänge  heraus.  Von 
den  Hallen  des  Erdgeschosses  sind  rechts  und  links 
vom  Hofportal  in  den  Ecken  des  Hofes  einige  Säulen 
mit  Bögen  und  Kreuzgewölben  erhalten;  unter  ihnen 
führen  die  alten  Treppen,  zum  Teil  noch  mit  Stufen 
aus  Prieborner  Marmor  belegt,  nach  dem  ersten 
Geschoss  hinauf.  Am  besten  erhalten  ist  das  1551 
vollendete,  die  Einfahrtshalle  nach  dem  Hofe  hin 
abschließende  Portal.  Dasselbe  unterscheidet  sich 
in  seiner  Ausführung  und  Ausschmückung  wesent¬ 
lich  vom  großen  Eingangsportal.  Der  breitgedrückte, 
etwas  zugespitzte  Thorbogen  überspannt  die  ganze 
Öffnung  der  Halle  und  erscheint  als  ein  von  Bändern 
umwundener,  gewaltiger  Eichenkranz.  Die  Flächen 


1)  Kunz,  Das  Schloss  der  Plasten  zum  Erlege.  1885.  S.  29. 

14* 


Kleines  Portal  am  Piastenschlosse  in  Brieg. 


BRIEG. 


HO 

der  als  Widerlager  dienenden  korinthischen  Pilaster 
tragen  sehr  derb  gezeichnete  und  verhältnismäßig 
zu  große  Embleme  und  Trophäen.  In  den  Zwickeln 
sind  die  Wappen  von  Liegnitz  -  Brieg  (links)  und 
Brandenburg  (rechts)  nebst  kleinen  Inschrifttafeln 
angehracht.  Rechts  von  diesem  Portal  befindet  sich 
noch  der  Eingang  zur  ehemaligen  Trahantenwache. 
Über  der  Thür  liest  man:  Vortrue  (Vertrauen)  darflf 
aufschauen.  Gut  erhalten  sind  auch  die  rundbogigen 
Eingänge  in  die  mächtigen  Kellergewölbe. 

Von  der  fürstlichen  Ausstattung  des  inneren 
Schlosses  sind  nur  noch  ein  paar  mit  Rahmen, 
Rosetten  und  Rankenwerk  verzierte  Spiegelgewölbe 
und  einige  deutsches  Gepräge  tragende  Thürein¬ 
fassungen  im  Erdgeschoss  des  Oderflügels  vorhanden. 
Ein  kleines  Gemach  enthält  den  einzigen  Re.st  der 
Malereien  des  Schlosses;  nämlich  an  der  einen  Wand 
vier  Wappen  und  an  der  andern  einen  mehr  originell 
als  kunstvoll  ausgeführten,  leider  etwas  zerstörten 
Stammbaum,  dessen  untere  Aste  von  der  Brust 
Georgs  und  Barbara’s  ausgehen,  und  auf  dessen 
Zweigen  eine  Reihe  von  Brustbildern  ruhen,  welche 
die  Söhne  des  herzoglichen  Paares  nebst  ihren  Ge¬ 
mahlinnen  und  Kindern  darstellen. 

Wie  verlautet,  geht  das  K.  Kultusministerium 
mit  der  Absicht  um ,  diese  schönen  und  hohen  Räume 
wiederherstellen  zu  lassen,  um  darin  ein  kleines 
Museum  einzurichten. 

Aber  neben  der  Kunst  vernachlässigte  Herzog 
Georg  die  Wissenschaft  nicht.  Er  ließ  zu  derselben 
Zeit,  wo  man  am  Schlosse  baute,  in  den  Jahren 
15(51 — 69,  200  Jahre  nach  Errichtung  des  Domstiftes 
durcli  Ludwig  1.,  von  seinem  Baumeister  das 
Gymnasium  als  einen  Wohnsitz  für  den  wahren 
Glauben,  für  eine  erleuchtete  Philosophie  und  alle 
Tugenden  in  unmittelbarer  Nähe  seines  Fünsten- 
sitzes  auffübren.  ’)  Für  Bau  und  Fundirung  dieser 
Schule  verwandte  der  Herzog,  wie  schon  erwähnt, 
besonders  die  Einkünfte  des  Hedwigsstiftes,  welche 
allinälilich  nacli  Durchführung  der  Reformation  im 

1 ,  DieHen  Zweck  ('ieOt  die  Hauinschrift  über  dem  kleineren 
Portal  des  (Jehäiides  an.  Dieselbe  ist  ahgedruckt  bei  Schön- 
■wiilder-Diitttnann,  (Jeschichte  des  K.  (Jyranasiums  zu  Brieg 
iSbO.  S.  10. 


Brieger  Fürstentume  durch  Herzog  Friedrich  II. 
(1554)  frei  geworden  waren.  Seither  hat  sich  das 
Gymnasium  an  der  Erziehung  und  Bildung  vor¬ 
nehmlich  des  schlesischen  Adels  und  Bürgertumes 
in  hervorragender  Weise  beteiligt.  Welchen  Ruf 
es  genoss,  erhellt  aus  der  Angabe  des  Chronisten 
Lucä,  wonach  zwischen  1625  —  33  dem  Rektor 
seitens  der  Brieger  Universität  die  Vollmacht  er¬ 
teilt  worden  ist,  die  philosophischen  Würden  zu 
erteilen^).  Tüchtige  Männer  in  großer  Zahl,  be¬ 
rühmt  als  Dichter  und  Gelehrte,  bewährt  im  Rat 
der  Fürsten  und  der  Städte,  sind  aus  ihm  hervor¬ 
gegangen.  Über  die  Grenzen  der  engeren  Heimat 
hinaus  wurden  namentlich  bekannt  Johann  Herrmann, 
der  Dichter  evangelischer  Kirchenlieder  (f  1647),  der 
Epigrammatist  Friedrich^  von  Logau  (fl655),  aus 
der  neueren  .Zeit  der  Altertumsforscher  Karl  Ottfried 
Müller  (f  1840),  der  Dombaumeister  Zwirner  (f  1861) 
und  der  Politiker  August  Heinrich  Simon  (f  1860). 
Glücklich  hat  sich  die  Brieger  Fürstenschule  in  den 
Stürmen  der  Jahrhunderte,  welche  ihr  religiöses 
Fundament,  ihren  wissenschaftlichen  Geist,  ja  ihre 
Existenz  bedrohten,  behauptet.  Allerdings  wurde 
sie  durch  dasselbe  Ereignis,  welches  ihren  evange¬ 
lischen  Charakter  sicherte,  durch  die  Eroberung 
Briegs  1741,  zugleich  ihrer  äußeren  Schönheit  für 
immer  beraubt;  denn  die  preußischen  Kugeln  zer¬ 
trümmerten  das  Dach  samt  den  mit  den  Bildnissen 
der  Musen  geschmückten  Giebeln,  samt  dem  oberen 
Stockwerk  und  dem  „durchsichtigen“,  mit  dem  Bilde 
Apoll’s  gezierten  Turme.^)  Die  ehedem  im  Hofe  am 
Gebäude  entlang  führenden  offenen  Gänge  wurden 
1747  vermauert  und  mit  Fenstern  versehen.  1765 
ließ  Friedrich  der  Große  noch  einmal  das  Bauwerk 
in  Stand  setzen.  ^)  Seitdem  trägt  es  einen  mehr 
als  schlichten  Charakter.  Von  der  ursprünglichen 
Ausstattung  ist  nur  das  Portal  mit  dem  kleinen 
Pförtchen  daneben  erhalten;  aber  auch  diese  Reste 
haben  keinen  besonderen  künstlerischen  Wert. 
_  (Schluss  folgt.) 


1)  Schönwälder-Guttmann  a.  a.  0.  S.  113. 

2)  Den  gleichen  Schmuck  besaß  das  alte  1562  ge¬ 
gründete  Elisabetan  in  Breslau. 

3)  S.  Die  Inschrift  links  vom  Thorbogen;  bei  Schön¬ 
wälder-Guttmann  a.  a.  0.  S.  24. 


MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


Eine  besondere 
und  wohl  auch  be¬ 
absichtigte  Über¬ 
raschung  bot  die  neue 
Schule  im  Vorsaal 
der  Sezessionisten- 
ausstellung  durch 
vier  schon  im  Ma߬ 
stab  und  im  Inhalt 
ganz  ungewöhnliche  Leistungen,  denen  sich  auch  im 
Glaspalast  einiges  Verwandte  gesellte.  —  Programm¬ 
und  Historienmalerei  liegt  abseits  der  bisherigen  neuen 
Ziele.  Man  hat  der  modernen  Schule  daraus  einen 
Vorwurf  gemacht,  der  an  sich  völlig  berechtigt  ist, 
aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  diese  Einseitig¬ 
keit,  die  sich  nur  an  das  in  der  Natur  unmittelbar 
Gegebene  hält  und  in  demselben  auch  das  Un¬ 
scheinbarste  der  sorgsamsten  Nachbildung  wert  er¬ 
achtet,  erziehlich  sehr  günstig  wirkt.  Besser,  die 
Kräfte  an  zu  kleinen  Aufgaben  stählen,  als  sie 
vorzeitig  an  zu  großen  versuchen!  Falsch  und  be¬ 
dauerlich  ist  nur,  diese  der  Schulung  dienende 
Thätigkeit  als  das  letzte  Endziel  aller  Kunst  hin¬ 
zustellen,  und  jede  Programmmalerei  von  vornherein 
zu  verpönen,  weil  sie  nicht  lediglich  durch  künst¬ 
lerische  Mittel  wirkt.  Jedenfalls  ist  es  mit  Freuden 
zu  begrüßen,  dass  nunmehr  auch  dieser  Irrtum  zu 
schwinden  beginnt,  und  auch  hierfür  bezeichnet  die 
Münchener  Ausstellung  vielleicht  einen  Markstein 
in  der  Entwickelung,  vor  allem  durch  das  Vestibül 
bei  den  Sezessionisten.  Vier  mächtige  Bilder  be¬ 
grüßten  dort  den  Beschauer,  viele  Quadratmeter 
Leinwand  mit  lebensgroßen  Gestalten,  und  zwar  keine 
Alltags- ,  sondern  Kultur-  und  Historienbilder  im 
Dienst  der  Monumentalmalerei.  Am  wenigsten 
vielleicht  gilt  dies  von  dem  Gemälde  des  Villegas, 
„Der  Tod  des  Stierkämpfers“.  Dasselbe  ist  thatsächlich 
eine  Vergrößerung  eines  schon  wohlbekannten  Bildes 


VON  ALFRED  GOTTHOLD  MEYER. 

II. 

und  hat  den  Charakter  dieser  äußerlichen  Über¬ 
tragung  in  größeren  Maßstab  auch  künstlerisch 
bewahrt,  so  virtuos  immer  die  malerische  Leistung 
als  solche  sein  mag.  Das  Bild  ist  mustergültig  für 
eine  flotte,  sichere  Malerei,  aber  es  packt  nicht  so, 
wie  es  dem  Stoffe  und  dem  materiellen  Aufwande 
nach  packen  könnte  und  müsste.  Bis  zu  einem  ge¬ 
wissen  Grade  trifft  dies  auch  bei  dem  zweiten  großen 
Bilde  desselben  Meisters,  „Der  Triumph  der  Dogin 
Foscari“  zu,  aber  hier  .sind  Stoff'  und  Arbeit  denn 
doch  zu  ungewöhnlich  bedeutend,  um  diesen  Mangel 
in  seiner  vollen  Schwere  fühlbar  werden  zu  lassen. 
Der  Glanzzeit  Venedigs  ist  der  Gegenstand  des  Bil¬ 
des  entlehnt.  Das  Interesse  am  Namen  Foscari  mag 
mitgespielt  haben,  —  oder  ist  das  Gemälde  im  Auf¬ 
träge  gemalt  ?  —  den  Hauptreiz  aber  bot  es  für  den 
Maler,  das  Venedig  des  Quattrocento,  das  Venedig 
der  Bellini  und  Carpaccio,  im  Festgewand  zu  schil¬ 
dern,  und  darin  musste  auch  die  Wirkung  des  Bildes 
auf  den  Beschauer  gipfeln.  Er  nimmt  als  unmittel¬ 
barer  Zeuge  an  der  Scene  selbst  teil.  Eine  Schar 
weißgekleideter  Venezianerinnen  schreitet  ihm,  der 
Dogaressa  voraus,  entgegen;  vor  zahlreichem  glän¬ 
zendem  Gefolge,  hart  am  Ufer  des  Canale,  stehen, 
groß  wie  der  Beschauer,  rechts  der  Doge,  links 
die  Vertreterin  der  huldigenden  „Venezia“.  Treff¬ 
lich  berechnet,  ist  diese  Komposition  ungemein 
geschickt,  —  freilich  auch  sehr  gewagt,  denn  sie 
erfordert  die  glänzendste  Beherrschung  der  Per¬ 
spektive,  und  schon  hier  hat  selbst  das  außer¬ 
ordentliche  Können  des  Villegas  wenigstens  die 
Luftperspektive  nicht  völlig  zu  bewältigen  vermocht. 
Er  hat  sich  außerdem  diese  an  sich  schon  so  schwie¬ 
rige  Aufgabe  noch  selbständig  erschwert,  besonders 
durch  das  seltsam  helle,  grelle  Kot  des  unten  aus¬ 
gebreiteten  Teppichs  und  das  kalte  Weiß  in  der 
Tracht  der  Ehrenjungfrauen.  Diese  beiden  Haupt¬ 
töne  bleiben  trotz  aller  Nüancirung  harte  Gegen- 


112 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


Sätze,  Widersprüche,  wie  sie  gerade  die  Lagunenstadt 
bei  warmem  Sonnenlicht  nicht  duldet.  Sie  ist  das 
Paradies  der  Farben,  weil  sie  durch  ihre  feuchte 
Luft  selbst  deren  schärfste  Kontraste  mildernd  ver¬ 
mittelt,  weil  sie  jede  Lokalfarbe  in  goldigen  Schimmer 
und  Duft  hüllt.  Das  haben  schon  die  Quattrocen¬ 
tisten  empfunden.  Dass  sie  es  mit  ihren  malerischen 
Mitteln  noch  nicht  wiederzugeben  vermochten,  durfte 
Villegas  nicht  veranlassen,  ihnen  —  wie  in  so  voll¬ 
endeter  Weise  in  den  Einzelgestalten,  vor  allem  in 
dem  Geleit  des  Dogen  —  auch  hierin  zu  folgen. 
Er  stellt  sich  auf  den  Boden  Gentile  Bellini's  und 
Carpaccio’s,  und  für  die  Zeichnung  seiner  Figuren 
war  das  vollauf  berechtigt,  für  die  malerische  Hal¬ 
tung  aber  reichte  es  nicht  aus.  Besitzt  doch  Ve¬ 
nedig  selbst  —  auch  abgesehen  von  Tizian  und 
Giorgione  —  noch  das  Werk  eines  Meisters,  das, 
uuübertrofien  durch  die  Kunst  aller  Zeiten,  ein  Bild 
Venedigs  und  seiner  Menschen  in  wundersamem  Ein¬ 
klang  uns  vor  Augen  stellt:  i?ordo??6’sÜberreichung  des 
S.  Marco-Ringes  an  den  Dogen.  Burckhardt  nennt 
es  „die  reifste,  goldenste  Frucht  der  mit  Carpaccio’s 
Historien  beginnenden  Darstellungsweise“  und  spricht 
ihm  hierdurch  das  hehre  Ziel  zu,  welches  Villegas  vor¬ 
geschwebt  hat,  das  er  jedoch  noch  nicht  erreichte, 
denn  noch  immer  bleibt  dieses  Gemälde  Bordone’s 
„das  am  schönsten  gemalte  Ceremonieenbild,  das 
überhaupt  vorhanden  sein  mag“  und  zeigt  am  besten, 
was  dem  Werk  des  Spaniers  zur  Vollendung  fehlt. 

An  Natürlichkeit  der  Raumwirkung  und  Har¬ 
monie  des  Kolorits  wird  dasselbe  auch  von  Hu¬ 
bert  Herkomer’s  ebenfalls  mit  lebensgroßen  Figuren 
ausgestattetem  Kolossalbild  einer  „Magistratssitzung 
in  Landsberg“  übertroffen.  Auch  hier  nimmt  der 
Beschauer  unmittelbar  an  der  Scene  teil.  So  na¬ 
türlich  wirkt  hier  der  Innenraum  mit  seinen  zur 
Straße  geöffneten  Fenstern,  dass  man  ihn  zu  betreten 
glaubt.  Auch  die  Gestalten  .sind  meisterhafte  Por¬ 
träts,  leider  nur  zuweilen  etwas  zu  sichtlich  „komponirt“. 

Im  ganzen  repräsentiren  diese  drei  Gemälde  einen 
so  hohen  Grad  künstlerischen  Könnens,  dass,  an  ihnen 
gemessen,  ein  großer  Teil  der  beiden  Ausstellungen  an 
Wert  wesentlich  einbüßt.  Reife  Meister  geben  hier 
ihr  Bestes  —  und  dies  i.st  in  dieser  Umgebung  auch 
(las  Beste.  —  Nicht  völlig  schien  dies  beim  ersten 
Eindruck  von  dem  vierten  Kolossalgemälde  dieses 
Vestibüls  zu  gelten.  Der  erste  Anblick  frappirte, 
aber  nicht  sogleich  im  günstigen  Sinn.  Ein  Tripty¬ 
chon  mit  Gestalten  von  nahezu  doppelter  Lebens- 
trröße,  Gestalten  aus  dem  Volke,  Männer  und  Weiber, 
alt  und  jung,  sämtlich  nach  rechts  hin  gewandt. 


knieend,  flehend,  singend!  Ihrer  aller  Ziel  dort  ist 
ein  den  rechten  Flügel  des  Triptychons  füllender 
Altar ;  im  linken  schwingt  eine  mächtige  Glocke,  — 
das  Ganze  nennt  der  Maler,  Waclaw  Szymanowski:  „  Ge¬ 
bet“.  Ein  solches  Werk  ist  ein  Wagnis  und  zugleich 
ein  Selbstbekenntnis.  Gewagt  ist  es,  die  Komposition 
in  dieser  Art  ohne  Mittelpunkt  zu  lassen,  gewagt, 
Bauernköpfe  ins  Riesenhafte  zu  steigern,  und  wer 
ein  solches  Bild  in  diesen  Dimensionen  malt,  be¬ 
kennt  sich  zur  winzigen  Schar  derer,  die  Kunst  um 
ihrer  selbst  willen  treiben,  unbekümmert  um  ma¬ 
teriellen  Nutzen.  So  fordert  diese  Arbeit  auch  von 
der  Kritik  einen  eigenen  Maßstab.  Im  Können  ver¬ 
mag  sich  Szymanowski  mit  seinen  Genossen  in  die¬ 
sem  Vestibül  nicht  zu  messen,  im  Wollen  aber 
übertrifft  er  sie  beide.  Aus  diesem  Bild  tönt  hehre 
Begeisterung.  Den  ergreifenden  Klang  der  Kirchen¬ 
glocken  will  es  versinnbildlichen,  wie  eine  Gemeinde 
vor  der  mächtigen  Stimme  der  Kirche  in  die  Kniee 
sinkt,  wie  all’  ihr  Sorgen  und  Mühen  sich  auflöst 
in  ein  inbrünstiges  Flehen,  und  der  Choral  anschwillt 
zu  gewaltigen  Accorden.  In  jeder  Dorfkirche  kann 
man  ein  ähnliches  Bild  schauen,  und  hundertfach 
ist  es  schon  dargestellt  worden.  Aber  es  bleibt  meist 
ein  mehr  oder  minder  gutes  Genrebild.  Hier  ist  es 
ein  Stimmungsbild  geworden  von  ergreifender  Kraft. 
Die  zeitlichen  und  örtlichen  Schranken  schwinden, 
ins  Riesenhafte  steigern  sich  die  Gestalten,  und  aus 
dem  Momentanen  wird  ein  Ewiges.  Man  begreift, 
dass  der  Maler  sein  Werk  nicht  anders  nennen  konnte 
als:  „Das  Gebet.“  — 

Bezeichnet  das  Bild  dieses  jungen  Polen  den 
Weg,  auf  welchem  die  „neue“  Schule  in  Zukunft 
die  „alten“  Aufgaben  zu  behandeln  gedenkt?  —  Das 
wäre  freudig  zu  begrüßen,  denn  sein  Ziel  ist  Seelen¬ 
schilderung,  eine  Stimmungsmalerei,  an  welcher  nicht 
nur  die  Hand  beteiligt  ist,  sondern  das  Gemüt,  und  die 
daher  auch  nicht  nur  zum  Auge  spricht,  sondern  zum 
Herzen.  —  Den  eigenartigen  Prozess,  in  welchem  sich 
der  Impressionismus  als  Verewigung  des  momentanen 
Eindrucks  und  der  Symbolismus  als  eine  extreme 
Gattung  der  Stimmungsmalerei  langsam  zu  den 
traditionellen  Zielen  zurückwenden,  habe  ich  hier 
schon  wiederholt  verfolgt  und  zu  schildern  versucht. 
Auch  die  diesjährigen  Ausstellungen  gewährten  für 
diesen  Gesichtspunkt  stattliche  Ausbeute.  Farben¬ 
probleme  schweben  den  Künstlern  vor,  fast  unbe¬ 
wusst  aber  schaffen  sie  Stimmungsbilder,  aus  denen 
die  Poesie  des  Erdendaseins  tönt.  In  diesen  Werken 
flutet  das  Sonnenlicht  durch  schlichte  Räume,  ihren 
dürftigen  Hausrat  vergoldend,  breitet  über  alltägliche 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


113 


Gestalten  sonntäglichen  Glanz  und  spiegelt  sich  in 
an  sich  wenig  beachtenswerten  Dingen,  ein  Sonnen¬ 
licht,  das  nicht  mehr  als  kalte  Helle  wirkt,  sondern 
aus  köstlicher  Farbenpracht  lebhaft  zurückstrahlt. 
Von  dieser  Poesie  vermag  neben  der  inhaltreichen 


in  ähnlichem  Sinn  eine  ganze  Reihe  trefflicher  Studien 
nach  Licht  und  Farbeneftekten  unter  freiem  Himmel, 
wie  sie  nur  die  Gunst  des  flüchtigen  Augenblicks 
schafft,  wenn  ein  völlig  momentanes  Verhältnis 
zwischen  Lokalfarben,  Sonnenlicht  und  Schatten 


lu  der  Sonne.  Cxemälde  von  Fr.  Fehr. 


Darstellung  großen  Maßstabes  auch  das  winzigste 
Bildchen  zu  melden,  und  in  der  That  waren  die 
Münchener  Ausstellungen  an  Werken  dieser  Gattung 
reich.  Den  schon  genannten  Interieurs  —  an  der 
Spitze  die  Arbeiten  Kühl's  und  Edelfeldt’s  —  gesellte  sich 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  5. 


obwaltet,  Bilder,  die  mit  der  Schnelligkeit  des  von 
Blatt  zu  Blatt  hüpfenden  Sonnenstrahles  wechseln. 
Nur  eine  flinke  Hand  vermag  solchen  Vorwurf  auf 
die  Leinwand  zu  bannen:  die  Durchführung  bleibt 
eine  Gedächtnis-  und  nicht  zum  wenigsten  eine 

15 


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DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


Phantasiearbeit.  Nicht  selten  büßt  dabei  die  ur¬ 
sprüngliche  Skizze  ihre  Frische  und  Wahrheit  ein. 
Das  gilt  sogar  zuAveilen  auch  für  so  hervorragende 
^  ertreter  des  besten  „Impressionismus“,  wie  Max 
Liehermann,  auf  dessen  Gemälde  „Mädchen  mitKühen“ 
die  helle  M  iese  vor  dem  Wald  des  Hintergrundes 
wohl  durch  gar  zu  häufiges  Übergehen  mit  dem 
Pinsel  eine  schwere  und  nicht  mehr  überzeugende 
Färbung  erhalten  hat.  Vielleicht  empfiehlt  es  sich 
bei  solchen  Aufgaben  denn  doch  noch  eher,  dem 
M  erk  das  Skizzenhafte  zu  lassen,  wie  es  der  Schwede 
Änlcarcrona  liebt.  Vielfach  will  unseren  jüngeren 
Landschaftern  die  Farbenstimmung  der  Natur  selbst 
jedoch  überhaupt  nicht  mehr  genügen.  Die  dort 
wahrgenommenen  Farbenwerte  an  sich  locken  zu 
selbständigem  Schaffen,  man  sucht  zu  ihnen  Kon¬ 
traste  und  Nuancen,  welche  in  der  Landschaft  selbst 
nicht  zu  finden  sind,  nur  der  Staffage  oder  der  künst¬ 
lichen  Beleuchtung  entnommen  werden  können.  Da 
liegt  die  Gefahr  nahe,  dass  man  dem  Auge  gar  zu 
ungewöhnliche  Farbenzusammenstellungen  bietet,  und 
nur  der  angeborene  künstlerische  Takt  kann  dieselben 
vermeiden.  Über  einen  solchen  scheint  auch  als 
Maler  —  bisher  war  er  nur  als  Zeichner  berühmt  — 
Jleriiifinn  ScJtlitffjen  zu  verfügen,  der  in  seinem  „Wind¬ 
stoß“  betitelten  Gemälde  helles  Waldesgrün  mit  dem 
Blau  und  Violett  der  Frauengewänder  zu  einem 
reizvollen  Farbenaccord  vereint  hat.  Franz  Slcarhina, 
dessen  im  abendlichen  Sprühregen  verschleiertes 
Berliner  Straßenbild  auch  in  München  unübertroffen 
bliel),  hat  dagegen  in  seinem  übrigens  in  der  Zeich¬ 
nung  etwas  steif  wirkenden  Pastell  „Pariser  Blumen- 
corso“  dies  Nebeneinander  eigenartiger  Farben¬ 
nuancen  bereits  siuf  Kosten  der  dem  Auge  wohl- 
tbuenden  Wirkung  verewigt.  Diese  Vorkämpfer  um 
die  Lösung  koloristischer  Probleme  sind  über  das 
Studium  des  natürlicben  Tages-  und  Sonnenlichtes 
hinaus  sclion  längst  zum  Gebiete  der  künstlichen 
P>eleuclitung  übergegangen.  Lampenlicbt  und  Gas¬ 
licht  und  der  Strald  elektrischer  Beleuchtung  wett¬ 
eifern  in  diesen  Bildern  mit  der  Wirkung  der  Tages¬ 
helle,  und  die  Sonne  selb.st  zaubert  vor  dem  farben¬ 
freudigen  Blick  unserer  Koloristen  zuweilen  Effekte 
hervor,  die  bei  allem  Reiz  etwas  Künstlicbes  haben. 
I)ies  emjifand  man  selbst  auch  vor  einigen  Arbeiten 
Fricflricli  Frhrs,  dem  jedoch  unter  den  Koloristen  in 
München  diesmal  zweifellos  ein  Ehrenplatz  gebührte. 
Etwas  ungemein  Temperamentvolles  liegt  in  seiner 
Farbengebung  mag  er  nun  in  tiefen,  satten 
Tönen  ein  reich  ausgestattetes  Interieur,  oder  in 
zartem  Pastell  die  vom  Sonnenlicht  umspielte  graziöse 


Gestalt  einer  Balleteuse  schildern.  Besonders  effekt¬ 
voll,  allerdings  vielleicht  etwas  zu  wuchtig,  wirkt 
Georg  Hendrik  Breitners  große  Schilderung  des 
„Dams“  in  Amsterdam  bei  Abendbeleuchtung.  — 
Für  die  neue  Farbenfreude  bezeichnend  ist  auch 
die  Vorliebe  für  bunte  Lampenschirme,  Lampions 
und  erleuchtete  Glaskugeln ,  welche  in  den  Bildern 
dieser  Ausstellungen  auffallend  häufig  waren  und 
dann  naturgemäß  das  ganze  Kolorit  beherrschten. 
Zu  einem  besonders  bunten,  aber  fein  durchgeführten 
Bild  dieser  Art  hat  Egger-Ldenz  seltsamerweise  ein 
Charfreitagthema  verarbeitet:  die  Grabfigur  Christi 
unter  erleuchteten  Glaskugeln,  deren  märchenhaftes 
Licht  zwei  betende  Kinder  mit  staunender  Bewun¬ 
derung  erfüllt.  —  Wenn  die  Bilder  selbst  die  Quelle 
der  Beleuchtung  vor  Augen  stellen,  bleibt  dieselbe, 
auch  wo  sie  ungewöhnlich  ist,  verständlich,  vielfach 
aber  sieht  der  Beschauer  lediglich  die  Wirkung, 
ohne  die  —  außerhalb  der  Bildfläcbe  befindliche  — 
Ursache.  In  diesem  Falle  werden  die  schon  an  sich 
ungewöhnlichen  Farbeneffekte  nicht  selten  gänzlich 
rätselhaft.  Am  störendsten  wirkt  dies  bei  Porträts, 
vor  denen  man  sich  bisweilen  schlechterdings  nicht 
zu  erklären  vermochte,  warum  die  ganze  Gestalt  als 
Versuch  in  Blau  oder  Versuch  in  Rot  vor  Augen 
stand,  oder  warum  sich  alle  Regenbogenfarben  auf 
ihr  vereinten.  Zum  Teil  traf  dies  selbst  noch  für 
die  Bildnisse  von  Exter  und  von  Schlittgen  zu,  so 
interessant  dieselben  auch  als  koloristische  Expe¬ 
rimente  sein  mochten.  Seit  Jahren  sehen  zahlreiche 
unserer  Porträtisten  bei  ihren  Bildnissen  mehr  auf 
die  Farbengebung  als  auf  die  Schilderung  der  indi¬ 
viduellen  Persönlichkeit.  Kein  Zweifel,  dass  bei  der 
Charakteristik  der  letzteren  auch  die  koloristische 
Stimmung  als  solche  sehr  wesentlich  mitklingt.  Sie 
rückt  die  Gestalt  für  den  Beschauer  in  eine  mehr 
oder  minder  bestimmte  Empfindungssphäre,  und  es 
ist  Sache  des  künstlerischen  Taktes,  dieselbe  so  zu 
wählen,  dass  sie  dem  Wesen  des  Dargestellten  ent¬ 
spricht.  Ob  das  gelang,  oder  nicbt,  pflegt  man 
unwillkürlich  richtig  zu  beurteilen,  auch  ohne  die  ge¬ 
schilderte  Persönlichkeit  selbst  zu  kennen.  Dies  Ge¬ 
fühl  hatte  man  vor  dem  köstlichen,  freilich  schon 
mehr  genrehaft  aufgefassten  Bildnis  einer  jungen 
Dame  von  Charles  Eurse,  die  in  ihrem  Gemach  ein¬ 
sam  über  einemBucbe  träumt  und  vor  Julius Rolshovens’ 
vornehm-zarter  Frauengestalt  [Jane  Hading].  Die  vir¬ 
tuose  Technik,  die  künstlerisch-jara/biisc/ie  Arbeit  tritt 
liier  zurück;  das  Kolorit  spiegelt  den  Zauber  eines  in¬ 
dividuellen  Seelenlebens.  Abnliches  bat  wohl  auch 
Ernst  Oppler  bei  seiner  „Dame  am  Klavier“  erstrebt, 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


115 


aber  nur  teilweise  erreicht.  Am  häufigsten  war  es 
noch  in  den  englischen  Sälen  der  Jahresausstellung 
zu  finden,  wo  das  Porträt  neben  Fnrse  durch  Mouat 
Louclan,  Wilson,  Greiffenhagen  u.  a.  besonders  inter¬ 
essant  vertreten  war.  Bei  Antonio  Gandara,  Aman 
Jean  und  John  Alexandre  herrscht  hier  vielleicht  schon 


Abendhimmel  schaut,  zu  einem  koloristischen  Meister¬ 
werke  gestaltete,  —  das  cremefarbene  Gewand  ist  hier 
mit  dem  Stahlblau  des  Hintergrundes  unübertrefflich 
in  Einklang  gebracht  —  nnd  der  in  diesen  Farben- 
zanber  dennoch  zugleich  auch  den  vollen  Reiz  der 
Persönlichkeit  zu  bannen  wusste.  Ein  eigenartiger 


Weibliches  Bildnis.  Gemälde  von  M.  Bümstrey. 


ZU  sehr  die  oben  geschilderte  Stilistik,  bei  einer 
ganzen  Reihe  deutscher  Meister,  unter  denen  in  diesem 
Zusammenhang  das  größte  Lob  diesmal  wohl  WartJi- 
miiller,  v.  Ilahermann  und  Block  gebührte,  die  Kolo- 
ristik  an  sich.  Einen  Ehrenplatz  nahm  Peter  Severin 
Croyer  ein,  welcher  das  Bildnis  seiner  Gattin,  wie 
sie  träumerisch  am  Strand  über  das  Meer  in  den 


Zauber  ruht  auf  diesem  Bilde.  —  An  guten  Porträts 
jeglicher  Gattung  war  auch  sonst  kein  Mangel. 
Eine  Kunstrichtung,  welche  in  der  Verewigung  des 
momentanen  Eindrucks  eines  ihrer  Hauptziele  erkennt, 
muss  auch  im  Bildnis  vor  allem  anf  sprühende 
Lebendigkeit  ausgehen.  Dieselbe  wird  ihre  Wirkung 
in  der  That  niemals  verfehlen.  Selbst  wenn  Jose 


15 


DIE  MÜNCHENER  KÜNSTAUSSTELLUNGEN. 


1 16 

Sal^jado’s  Porträt  Adrient  Demont’s  nicht  so  vor¬ 
züglich  gemalt  wäre,  wie  es  ist,  müsste  man  den 
Künstler  schon  wegen  der  Auffässungweise  an  sich 
bewundern.  Dieser  Mann,  der,  die  Hände  in  den 
Hosentaschen,  mit  seinem  echten  Künstlerkopf  so 
ruhig  sicher  aus  der  Bildfläche  herausblickt,  posirt 
niclit  und  weiß  doch,  dass  die  Blicke  anderer  auf  ihn 
gerichtet  sind.  Am  schwersten  ist  diese  Grenzlinie 
sicherlich  bei  den  „offiziellen“  Porträts  zu  wahren,  die 
schon  durch  ihren  Gegenstand  eine  gewisse  Monu- 


Landschaft  war  das  Porträt  wie  stets  am  reichsten 
und  relativ  besten  vertreten,  doch  ist  es  unmöglich, 
hier  alles  Namhafte  einzeln  aufzuführen.  Auffällig 
war  diesmal  die  Zahl  guter  Bildnisse  von  Frauenhand, 
an  deren  Spitze  die  Arbeiten  von  Therese  Schwarze, 
C.  von  Dreyfxiß,  Bertha  Wegmann  und  Marie  Dumstrey 
zu  nennen  sind.  In  der  Fähigkeit,  die  Errungen¬ 
schaften  der  neuen  Schule  den  traditionellen  An¬ 
sprüchen  an  ein  gutes  Familienbildnis  vermittelnd 
anzupassen,  scheint  sich  das  weibliche  Taktgefühl 


,,Aboii(l“.  (Jemälde  von  Chr.  Landenberger. 


mentalität  der  Auffassung  erfordern.  Koner' s  Bildnisse 
Kai-'^'T  Willielni’s  II.  und  des  Finanzministers  Miquel, 
.sowie  I h rinirh’s  läu'trät  des  Prinzregenten  Luitpold 
verdienen  in  diesem  Sinne  uneingescliränkteres  Lob, 
;il.  in  ihren  malerischen  Qualitäten.  Wie  iin  vorigen 
•labre,  -o  beansprucht  audi  diesmal  Leo  Saji/hrrger 
einen  eigenen  Platz.  Er  ist  wohl  noch  im  Stadium 
des  Sueben.s  l>egriffen,  aljcr  es  erscheint  völlig  ver- 
•ebli,  ihn  so  .scbleclitbin  nur  als  einen  talentvollen 
Nacbahnier  Lenltacli's  zu  bezeichnen.  Ein  indivi- 
iiueller  Geist  Ijeseelt  seine  Hand  und  erhebt  deren 
Werk  weit  über  das  Niveau  einer  durch  berühmte 
M'isier  nur  äußerlich  bestimmten  .Madie.  Neben  der 


auch  auf  künstlerischem  Gebiete  gut  zu  bewähren. 
Ähnliches  zeigte  sich  im  Stillleben,  wo  Natalie  Schult¬ 
heiß  und  Frieda  Bitter  mit  Eugen  Joors  und  Fouace 
wetteiferten. 

Genre  und  Landschaft  boten  im  ganzen  das 
gleiche  Gesamtbild  wie  im  Vorjahre.  Auch  hier  ist 
die  koloristische  Richtung  dem  Stimmungsbild  zu¬ 
gewandt.  Interessant  und  kunsthistorisch  beachtens¬ 
wert  war  auch  in  diesem  Jahre  der  Einfluss  der 
Schotten,  von  denen  einige  übrigens  auch  persönlich 
gut  repräsentirt  waren.  Es  ist  ein  gutes  Zeichen, 
dass  nicht  die  extremen  Auswüchse,  sondern  der 
besie  Gehalt  dieser  eigenartigen  schottischen  Malerei 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


117 


bei  uns  imcliwirkt.  Die  goldigeD,  tiefen  Töne  dieser 
Hocblandspoeten  klingen  bei  Otto  Eckmann,  Keller- 
lientlingen ,  Bernhard  Butter  sack  u.  a.,  von  persön¬ 
licher  Auffassung  getragen,  reizvoll  nach.  Im  Geist 
der  Schotten  hat  auch  Landenhcrgcr  sein  liebens¬ 
würdiges  Bildchen  entworfen,  welches  in  seinen 
nackten  Gestalten  auf  abendlich  warm  beleuchteter 
Wiese  ein  ungewöhnliches  koloristisches  Talent  ver¬ 
rät.  Er  malt  hier  das  Nackte  breit,  leuchtend, 
kräftig,  in  der  Art  des  Rubens.  Das  stand  zu  den 
meisten  übrigen  Darstellungen  nackter  Körper  in 
einem  gewissen  Gegensatz.  Die  Anffassungsweise 
eines  Carolus  Duran  erscheint  jetzt  schon  klassisch 
nüchtern,  diejenige  Auhlct’s,  Dubufs  und  CoUins  zu 
süßlich;  selbst  J.  Doucefs  virtuos  gemalter  weiblicher 
Akt  mag  vielen  der  „Modernsten“  zu  körperlich 
dünken.  Am  meisten  liebt  man,  auch  den  Menschen¬ 
leib  nur  malerisch  als  Tonwert  einer  koloristischen 
Symphonie  zu  behandeln.  Duftig  und  zart,  fast 
visionär,  ruhen  die  Gestalten  Julius  Steu-art’s,  Mcnard’s, 
Friedrich  Stahl' s  im  Grünen,  baden  sie  sich  bei 
Älphons  Dinet  im  zitternden  Mondschein.  Plastischer 
stehen  sie  bei  Albert  Fourie  vor  Augen.  Der  „Lumi- 
nismus“  Besnard’s  giebt  hier  die  Richtung  an,  welche 
er  selbst  und  Harrison  in  München  vertreten.  Dort 
sind  ihr  am  glücklichsten  L.  von  Ilofmann,  reali¬ 
stischer  Langhammer  gefolgt.  Am  vollendetsten  blieb 
die  Lichtwirkung  aber  doch  in  Zorns  „Venus  von 
la  Villette“.  — 

Auf  dem  Gebiete  der  Landschaftsmalerei  zeigten 
sich  die  Gegensätze,  an  denen  diese  beiden  Aus¬ 
stellungen  so  reich  waren,  am  stärksten,  zugleich 
aber  entfaltete  sich  hier  auch  am  willkommensten 
das  neue  malerische  Können.  In  der  Landschaft 
.hat  die  moderne  Schule  begonnen,  der  Landschafts¬ 
malerei  scheint  sie  am  dauerndsten  förderlich  zu  sein, 
in  ihr  am  ehesten  abgeklärte  Vollendung  ihres 
Strebens  zu  finden.  Nirgends  war  die  Fülle  der 
verschiedenartigsten  und  dabei  vorzüglichen  Werke 
so  groß,  wie  hier.  Die  deutschen  Arbeiten  zeich¬ 
neten  sich,  wie  meist,  durch  sorgsamstes  Studium, 
individuelles  Eiuleben  in  die  erwählte  Aufgabe,  zu¬ 
gleich  aber  auch  vielfach  durch  großes  Können  aus. 
Dabei  die  denkbar  größte  Mannigfaltigkeit!  Eine 
Winterlandschaft  machte  Hans  Olde  zu  einem  in 
leuchtendem  Blau  und  Weiß  glitzernden  koloristischen 
EfFektstück,  und  ein  winterliches  Städtebild  gab  Hugo 
König  Gelegenheit,  sich  als  Meister  des  feinen,  matten 
Lufttones  zu  bewähren.  Keller-Reutlingen  brachte  ein 
Kornfeld,  auf  dem  der  lichte  Schimmer  der  Luft  au 
den  Goldton  der  Altvenezianer  gemahnte.  Neben 


den  tiefsten  satten  Farben,  wie  sie  die  Schotten 
lieben,  strahlte  aus  etlichen  dieser  Gemälde  eine 
Fülle  grellen  Lichtes,  das  selbst  ein  mosaikartiges 
Nebeneinander  von  tausendfältigen  Lokalfarben,  wie 
es  Adalbert  Niemeger  in  seinem  von  Blumen  erfüllten 
„Hof  in  Capri“  vortrefflich  schildert,  noch  zu  be¬ 
herrschen  weiß,  ohne  es  im  einzelnen  zu  dämpfen. 
Auf  großer  Leinwand,  breit  und  effektvoll,  mit  einer 
an  die  Panoramenmalerei  erinnernden  Virtuosität, 
giebt  Eugen  Bracht  das  Bild  eines  majestätischen 
Gletschergipfels  in  klarer  Mondnacht,  und  nicht 
fern  davon  bannt  Erich  Kubierschki  in  die  kleinste 
Fläche  den  zarten  Zauber,  welchen  der  Vorfrühling 
über  an  sich  ganz  unscheinbare  Felder  breitet.  Die 
Münchener  Landschafter  haben  die  durch  Schleich, 
Lier  und  sodann  durch  das  Kleeblatt  Schönleber, 
Baisch  und  Wenglein  vertretene  Richtung  zum  Glück 
noch  nicht  gänzlich  verlassen.  Der  malerisch-poe¬ 
tischen  Auffassung  eint  sich  selbst  bei  dürftigen 
Sujets  eine  gewisse  Größe.  An  der  Spitze  der  zahl¬ 
reichen  Münchener  Arbeiten  dieser  Gattung  standen 
wohl  diejenigen  Beter  Paul  Müller's.  Auch  etliche 
bisher  weniger  bekannte  Namen  wären  hier  zu  er¬ 
wähnen,  wie  Max  Beierlein,  August  Fink,  Otto  Gam- 
pert,  Alexander^  Mareks  u.  a.  Josua  v.  Gietl's  „Alt¬ 
weibersommer“  steht,  breit  und  kräftig  gemalt,  an 
koloristischem  Reiz  selbst  den  inhaltlich  verwandten 
Arbeiten  eines  Courtens  nicht  nach.  Durch  besondere 
Energie  in  Auffassung  und  Kolorit  zeichneten  sich 
die  Arbeiten  von  Tina  Blau  aus.  Hans  von  Bartels  be¬ 
hauptete  unter  den  Aquarellisten  wie  stets,  den 
Ehrenplatz.  Von  den  übrigen  deutschen  Land¬ 
schaftern  seien  nur  H.  von  Volkmann  und  Josef  Tho- 
mann  (Karlsruhe),  Olof  Jernberg  und  Eugen  Kampf 
(Düsseldorf),  Max  Pietschmann  (Dresden),  sowie  die 
Berliner  Wilhelm  Feldmann  und  L.  Dettniann  (Pastell¬ 
skizzen)  genannt,  lediglich,  um  auch  durch  Namen 
eine  Vorstellung  von  dem  hier  Gebotenen  zu  geben. 
Das  Ausland  blieb  nicht  zurück.  Bei  den  Sezessio- 
nisten  war  Älberts  Baerfsons’  großes  Bild  einer 
vlämischen  Stadt  mit  der  wundervollen  Spiegelung 
der  Abendsonne  im  Flusse  von  fast  monumentaler 
Wirkung.  Ihm  gesellten  sich  die  Arbeiten  von 
Cemrtens  und  drei  köstliche  Stücke  von  Harrison. 
In  der  Jahresausstellung:  bot  wohl  das  Eigenartigste 
der  Belgier  Victor  Gilsoid:  „die  Kurve“  eines  zwi¬ 
schen  Hügeln  hindurchgeführten  Schienenstranges, 
im  nächtlichen  Dunkel  geheimnisvoll  leuchtend,  im 
Hintergrund  der  Feuerschein  und  Rauch  des  um  die 
Ecke  biegenden  Zuges,  ein  Bild  von  echt  moderner 
Farbenromantik.  Ein  interessantes,  aber  nicht  un- 


US 


DIE  MÜNCHENER  KÜNSTAUSSTELLUNGEN. 


gefährliclies  Experiment  hat  Charles  Pahnie  vortreif- 
lich  gelöst,  indem  er  ein  und  dieselbe  Dorflandschaft 
in  drei  verschiedenen  Beleuchtungseffekten  vor  Augen 
stellt.  Die  besten  Seestücke  brachten,  neben  Har- 
rison,  A.  Xormann,  der  Schwede  Ekström  und,  von 
Deutschen ,  Hans  Petersen  und  Willi  Hamacher. 
Andersen  Lnndbji  hat  seinen  Ruhm  als  virtuoser 
Schneemaler  auch  diesmal  glänzend  bewährt.  Unter 
den  vielen  tüchtigen  holländischen  Bildern  nahm 
2Iesdag  die  erste  Stelle  ein.  —  Schon  im  Vorjahr 
fiel  der  Aufschwung  des  Tierbildes  auf.  Auch  dies¬ 
mal  zählten  die  Arbeiten  von  Zügel,  WeishaiqA,  li. 
■V.  Hegden,  von  Brendel,  Thiele  und  Braith  zu  den 
besten  Leistungen.  Es  herrscht  in  ihnen  eine  schlichte 
Naturauffassung,  ohne  die  geistvolle  Pointe,  wie  sie 
beispielsweise  aus  dem  Affenpärchen  von  Gabriel 
Max  [„Schlechtgelaunt“]  etwas  zu  absichtlich  spricht; 
das  Tier  erscheint  nur  als  ein  Stück  Natur,  und  ge¬ 
rade  der  objektive  Ausdruck  dieser  Zusammen¬ 
gehörigkeit  mit  der  Allmutter  verleiht  diesen  Schil¬ 
derungen  Reiz  und  Frische.  — 

Der  internationale  Zug,  welcher  durch  die  mo¬ 
derne  Kunst  geht,  wird  in  der  Landschaftsmalerei 
schon  fast  störend  fühlbar.  Von  den  weltbekannten 
Hauptmeistern  abgesehen,  dürfte  es  kaum  möglich 
sein,  die  Nationalität  dieser  Maler  aus  ihren  Werken 
selbst  zu  erraten.  Ja,  nicht  selten  scheinen  die 
naturgemäßen  Verhältnisse  geflissentlich  vertauscht: 
der  Italiener  sucht  seiner  Heimat  den  schwermütigen 
Reiz  eines  nordischen  Nebeltages  abzulauschen,  der 
Deutsche  s])ürt  auf  der  dürren  Heide  des  nordischen 
Flachlandes  nach  italienischen  Farbenkontrasten,  die 
er  gern  erst  auf  künstlichem  Wege  hervorruft.  Die 
Gefahren  dieses  Weges  mögen  hier  unerörtert  bleiben, 
solange  unsere  Landschafter  hierbei,  wie  bi-sher,  so 
tretflich  Blick  und  Hand  zu  schulen  wissen,  über¬ 
wiegt  bei  dieser  Lichtung  der  günstige  Einfluss. 

J'önte  doch  auf  diesen  Ausstellungen  aller  Orten 
••in  Wiederhall  jenes  stolzen  Wortes,  mit  welchem 
Emil  Zf)la  dem  Natui-alisinus  die  Bahn  gewiesen: 
..Wir  verlangen  für  uns  die  ganze  Welt!“  Auch 
das,  was  man  gemeinhin  in  dem  Worte  „Genre¬ 
malerei“  zusammenzufassen  pflegt,  rief  diesen  Aus- 
s])rnch  ins  Gedächtnis  zurück.  Auf  die  Genre¬ 
malerei  alten  Stiles,  auf  das  berüchtigte  „Anekdoteu- 
bild‘,  auf  die  „Dorfnovelle“  sind  i]i  Richard  Muther’s 
Geschichte  »ler  modernen  Malerei  die  spitzesten 
Pfeile  gerichtet,  über  Knaus,  Vantier,  Defregger  er¬ 
geht  die  schärfste  Kritik.  Das  ist  der  Gegensatz 
der  modernen  Malend  des  Zufälligen,  des  Momen¬ 
tanen,  gegen  die  pointirte  Erzählungsweise  der 


älteren  Generation,  die  den  Inhalt  über  die  Form, 
das  „Was“  über  das  „Wie“  stellt.  Aber  Muther 
ist  ein  künstlerisch  und  historisch  zu  fein  geschulter 
Kritiker,  um  die  Ungerechtigkeit  und  Unhaltbarkeit 
dieses  Tadels  für  den  geschichtlichen  Standpunkt 
nicht  einzugestehen,  und  so  scheidet  er  denn  von 
dieser  „Verurteilung“  der  inhaltlichen  „aufdring¬ 
lichen“  Charakteristik  die  Beurteilung  der  mora¬ 
lischen  Qualität,  und  giebt  dem  Altmeister  Knaus 
in  diesem  zweiten  Abschnitt  seiner  Kritik  wenigstens 
einen  Teil  seines  Ruhmestitels  zurück.  In  Wahrheit 
liegen  die  Dinge  heut  wohl  so,  dass  auch  der  ein¬ 
gefleischte  Anhänger  der  modernen  Richtung  dem, 
der  gut  malen  kann ,  zu  malen  erlaubt,  was  ihm 
eben  beliebt,  und  dass  das  letztere  doppelt  schätzens¬ 
wert  bleibt,  wenn  es  sich'  nicht  nur  an  Auge  und 
Gefühl,  sondern  auch  an  den  Geist  wendet.  Um 
sehen  und  malen  zu  können,  braucht  man  nicht  un¬ 
bedingt  das  „Erzählen“  zu  verlernen.  Es  ist  frei¬ 
lich  eine  Thatsache,  dass  bei  den  meisten  Genre-  und 
auch  bei  den  Historienbildern,  welche  mhaltlich  zur 
traditionellen  Gattung  zählen,  die  malerische  Qua¬ 
lität  unter  dem  Niveau  der  neuen,  guten  kolo¬ 
ristischen  Schulung  steht,  aus  dieser  Thatsache  darf 
jedoch  kein  allgemeingültig  bindendes  Gesetz,  sondern 
nur  die  ja  ohnehin  wohl  zweifellose  Überzeugung 
abgeleitet  werden,  dass  unsere  Malerei  sich  in  einem 
noch  nicht  abgeschlossenen  Übergangsstadium  be¬ 
findet.  —  Vielleicht  nähert  sich  dasselbe  jedoch  auch 
hier  bereits  seinem  Ende.  Einige  unter  den  guten 
„Genrebildern“  dieser  Ausstellungen  zählten  auch  zu 
ihren  besten  male7-ischen  Leistungen.  In  erster  Reihe 
ist  hier  Hermann  Pichirs  „Misere“  zu  nennen,  ein 
packendes  Charakterbild  aus  unserem  Gesellschafts¬ 
leben,  ganz  vorzüglich  gemalt,  zugleich  aber  auch 
mit  einer  an  Daudet  erinnernden  Feinheit  vorge¬ 
tragen;  dann  Wladimir  Schereschewsky  s  „Heimats¬ 
lied“  russischer  Verbannter  in  Sibirien,  voll  warmer, 
echt  nationaler  Empfindung,  vortrefflich  komponirt 
und  auch  koloristisch  fein  durchgearbeitet.  Einen 
eigenartigen  Stoff  hatte  Richard Falkenbcrg  (München) 
gewählt:  die  Darstellung  einer  Hypnose,  völlig 
realistisch,  nur  den  äußeren  Vorgang  mit  fast  photo¬ 
graphischer  Treue  schildernd,  in  lebensgroßen  Fi¬ 
guren,  von  denen  einzelne  außerordentlich  gut  be¬ 
obachtet  und  wiedergegeben  sind,  das  Ganze  aber 
entbehrt  im  Sinne  seines  inhaltlichen  Themas  noch 
der  rechten  Wirkung  und  trägt  noch  zu  sehr  den 
Charakter  von  Porträtgruppen.  Auch  ist  wohl  der 
Maßstab  zu  groß  gewählt.  Das  letztere  gilt  auch 
von  dem  mit  sichtlich  großem  Fleiß  gearbeiteten 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


119 


Gemälde  von  Ernst  Leuenherger :  „Die  Samariter  des 
großen  S.  Bernhard“.  Im  ganzen  war  nicht  zu 
verkennen,  wie  gute  Früchte  die  neue  koloristische 
Schulung  auch  auf  dem  den  Gefahren  des  Kunst¬ 
marktes  naturgemäß  am  meisten  ausgesetzten  Ge¬ 
biete  der  Genremalerei  zu  tragen  beginnt.  Als  Folie 
hierfür  durften  die  beiden  Genrebilder  älteren  Stiles 
von  Munlcacsg  dienen.  Völlig  im  Geiste  von  Louis 
Knmis,  nur  weit  weniger  malerisch,  schatft  der  Däne 
Axel  Helstedt.  Seine  im  Vorzimmer  des  Königs 
harrende  „Deputation“  ist  unter  seinen  bisher  in 
München  ausgestellten  Arbeiten  sicherlich  die  beste. 
Man  könnte  an  eine  Scene  von  Björnson  denken. 
Jede  einzelne  dieser  sieben  befrackten  Herrengestalten 
wirkt  als  eine  bis  ins  kleinste  durchciselirte  Cha¬ 
rakterfigur,  bei  deren  Schilderung  Humor  und  Sar¬ 
kasmus  trefflich  mitsprechen,  allerdings  ist  auch 
hier  „zuviel  unterstrichen“,  und  die  pointirende  Cha¬ 
rakteristik  macht  sich  auf  Kosten  der  künstlerischen 
Unbefangenheit  geltend.  —  Wie  in  der  Landschaft, 
so  ist  auch  in  der  Genremalerei  das  spezifisch  na¬ 
tionale  Element  leider  noch  immer  im  Schwinden 
begriffen,  beziehungsweise  auf  rein  Äußerliches,  auf 
Tracht  und  Züge  beschränkt.  Gerade  da,  wo  das 
letztere  am  deutlichsten  hervortritt,  bei  den  Italienern 
und  den  Spaniern,  fehlt  die  künstlerische  Nationalität, 
das  nationale  Temperament,  vielleicht  am  meisten. 
Weit  günstiger  eint  sich  beides  bei  den  Norwegern 
und  Schweden,  den  Niederländern  und  den  Dänen, 
auch  bei  den  Russen  und  Polen.  Eine  anerkennens¬ 
werte  Zwischenstufe  bezeichneten  hier  die  Gemälde 
von  Josef  von  Brandt^  Rouhaud  und  A.  v.  Kowalski- 
Wierusx. 

Von  dem  spezifischen  Historienbild  verlangte 
die  Tradition  ein  Einleben  in  die  Vergangenheit, 
welches  die  Gegenwart  völlig  vergessen  lässt.  Man 
übersah  dabei,  dass  dies  ohne  eine  gewisse  archai¬ 
stische  Auffassungsweise  unmöglich  ist.  Die  moderne 
Schule,  die  dies  erkannt  hat,  stellt  sich,  auch  hier 
ihrer  Neigung  zum  Extremen  folgend,  sogleich  auf 
den  völlig  entgegengesetzten  Standpunkt  und  fordert 
mit  den  Worten  des  Bastien-Lepage:  „Wenn  man 
Vergangenes  malt,  soll  man  es  dem  entsprechend 
darstellen,  was  man  um  sich  sieht,  als  hätte  sich 
das  alte  Drama  gestern  Abend  ereignet.“  In  diesem 
Postulat  ist  die  rein  künstlerische  Forderung  ent¬ 
halten,  das  Geschehnis  so  wahr  zu  schildern,  wie 
möglich;  es  erheischt  auch  für  die  historische  Schil¬ 
derung  alle  Errungenschaften  der  modernen  Malerei. 
Vor  solchem  Standpunkt  konnten  von  den  diesmal 
in  München  vereinten  Historienbildern  nur  wenisre 


bestehen,  am  sichersten  jedenfalls  Robert  Ilaug’s  Ge¬ 
mälde  aus  den  Freiheitskriegen:  „Am  Rhein.“  Die 
Vorhut  der  Truppen  zieht  auf  breiter  staubiger 
Chaussee  dahin.  Die  strenge  Ordnung  in  den  Reihen 
hat  sich  beim  anstrengenden  Marsch  ein  wenig  ge¬ 
löst;  mechanisch  schreitet  man  vorwärts.  Da  hemmt 
der  vorderste  Reiter  plötzlich  sein  Pferd,  wendet 
sich  zurück  und  ruft  den  Nachfolgenden  die  frohe 
Botschaft  zu:  der  Rhein!  Wie  ein  Blitz  fährt  es  in 
die  Leute,  die  Schritte  beschleunigen  sich,  die  Mützen 
fliegen  in  die  Luft,  jauchzend  eilen  die  ersten  vor¬ 
wärts.  Das  ist  so  wahr  geschildert,  dass  der  Be¬ 
schauer  an  dem  Vorgang  selbst  teilnimmt,  so  schlicht, 
dass  man  vergisst,  welch  großes  Studium  dieser  Dar¬ 
stellung  vorausgehen  musste,  ein  Studium,  das  hier 
nicht  nur  aus  jeder  einzelnen  Gestalt  spricht,  son¬ 
dern  auch  aus  der  malerisch -feinen  Haltung  des 
Ganzen.  Recht  fein  beobachtet  und  trefflich  gemalt 
ist  auch  das  Bild  von  Jan  Rosen:  „Halt!“  Überhaupt 
war  das  moderne  Soldatenbikl  zwar  nicht  reich,  aber 
gut  vertreten,  so  durch  Tli,  Rocholl,  R.  von  Ottenfeld 
und  Fritz  Birlcemeyer.  —  Von  anderen  Gattungen 
der  Historienmalerei  kann  das  nur  unter  Einschrän¬ 
kung  gelten.  Das  nach  Maßstab  und  Aufwand  größte 
Werk  unter  den  Geschichtsbildern,  Ferdinand  Rogbefs 
Kolossalgemälde:  „Karl  der  Kühne  in  Nesles“  be¬ 
deutet  sogar  sicherlich  einen  Misserfolg,  und  das 
ist  um  so  seltsamer,  als  Roybet  in  einer  zweiten 
Arbeit,  dem  „Liebesantrag“,  in  welchem  ein  wüster 
Reitertrompeter  um  die  Gunst  einer  üppigen  Geflügel¬ 
händlerin  wirbt,  an  drastischer  Charakteristik  und 
malerischer  Verve  selbst  einem  Jordaens  kaum  zu 
weichen  brauchte.  Litis  Alvarez'  in  einzelnen  Par- 
tieen  vorzügliches  Kolossalbild  „Philipp  11.  auf  seinem 
Felsensitz“  (im  Besitz  der  Berliner  Nationalgalerie) 
ist  schon  aus  der  vorletzten  Berliner  Ausstellung 
bekannt.  Eduard  IRinipffer,  dessen  im  vorigen  Jahr 
ausgestellter  „Luthercyklus“  noch  so  wenig  reif  er¬ 
schien,  hat  diesmal  in  seiner  ebenfalls  für  das  Er¬ 
furter  Rathaus  bestimmten  Suite  von  Scenen  aus 
der  Faustsage  einen  weit  besseren  Erfolg  erzielt. 
Besonders  „Doktor  Faust’s  Ende“  ist  sowohl  in  der 
Charakteristik  der  Figuren,  wie  in  der  Wiedergabe 
des  Schauplatzes  vortrefflich.  Auch  die  Studien  und 
Zeichnungen  des  Künstlers  bezeugen,  wie  ernst  er 
es  nimmt. 

Die  oben  angeführten  Worte  des  Bastien-Lepage 
haben  die  konsequenteste  Anwendung  bekanntlich 
in  unserer  religiösen  Malerei  gefunden.  Ihr  Vor¬ 
kämpfer  in  diesem  Sinne  ist  Fritz  von  Wide,  der  im 
vorigen  Jahr  in  seiner  „Verkündigung  an  die  Hirten“ 


120 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


der  traditionellen  Auffassungsweise  des  Kirclienbildes 
gewisse  Zugeständnisse  machte,  die.smal  aber  durch 
die  Verlegung  der  Legende  vom  jungen  Tobias  in 
die  Biedermeierzeit  seinen  bekannten  Standpunkt 
wiederum  fast  schroff  vertrat.  Von  dem  in  der  That 
etwas  gar  zu  banal  dreinscbauenden  Engel  abgesehen, 
ist  auch  dieses  Werk  in  der  Charakteristik  der  ein¬ 
zelnen  Gestalten  und  des  Milieu’s,  wie  auch  in  der 
Malweise  —  gleich  den  drei  übrigen  von  ihm  hier 
ausgestellten  Studien  —  des  Ruhmes  seines  Meisters 


leidet  an  allzu  absichtlicher  Seltsamkeit.  Daneben 
trat  auch  auf  diesem  Stoffgebiet  die  Neigung  zum 
Mysticismus  stärker  als  früher  hervor,  beispielsweise 
in  Hierl-Deronco’ s  „Heiligen“.  Erwähnt  sei  endlich 
noch  Albert  Keller' s  eigenartiges  Gemälde  „Die  glück¬ 
liche  Schwester“.  Bei  Keller  ist  schwer  zu  entschei¬ 
den,  ob  ihn  das  malerische  oder  das  seelische  Problem 
geleitet  habe,  jedenfalls  gelangt  hier  das  erstere 
—  trefflich  studirtes  Kerzenlicht  — packender  zum  Aus¬ 
druck,  als  die  Charakteristik  der  einzelnen  Figuren. 


ürabmal  der  Herzogin  Max  in  Bayern.  Von  W.  v.  Rümann. 


würdig.  I )rl hilft niis  Legende  vom  „Verlorenen  Sohn“ 
und  .seine  „Heilige  Nacht“  bewährten  auch  in  Mün¬ 
chen  den  Ernst  der  Auffässungsweise  und  den  male- 
riselieu  Reiz,  die  sie  in  Berlin  über  so  viele  ver¬ 
wandte  Arbeiten  erhoben,  und  Waller  Firle’s  Tripty¬ 
chon  „Das  Vaterunser“  stand  völlig  auf  der  Stufe 
seines  im  vorigen  .fahre  ausgezeichneten  Gemäldes: 
..In  der  Genesung“.  Diesen  Arbeiten  gegenüber  re- 
jiräsentirten  Werke  wie  Lron  liotthicr's  „Erziehung 
t'hristi"  eine  völlig  romantische  Art,  und  Ernst  Zhn- 
mnmann's  ..Ruhe  auf  der  Flucht“  einen  Kompromiss 
mit  der  kirchlichen  Tradition.  1  laherinann’ s  „Pieta“ 


Hiermit  möge  der  Rückblick  auf  diese  Ausstel¬ 
lungen  schließen.  Dass  er  auf  Vollständigkeit  keinen 
Anspruch  erheben  kann,  ist  schon  eingangs  unum¬ 
wunden  eingestanden  worden.  Das  liegt  in  der  Natur 
des  Thema’s  selbst.  Nur  eine  Übersicht  über  das 
Gesamtbild  konnte  und  sollte  hier  gegeben  werden, 
das  Gesamtbild,  welches  jedoch  nur  durch  rein  äußer¬ 
liche,  zufällig- lokale  Verbindung  der  Werke  ent¬ 
standen  ist  und  sich  daher  auch  einer  zusammen¬ 
fassenden  kritischen  Rückschau  kaum  fügen  avüI. 
Übergangsepochen,  wie  die  heutige,  stellen  zudem  an 
die  Kritik  die  schwerste  Aufgabe.  Der  historische 


,,Alt\vei’1'C‘rs<oiinnor“.  (icmüldi'  vmi  .Tosta  vox  Gjki'l. 


DIE  MÜNCHENER  KUNSTAUSSTELLUNGEN. 


121 


Blick,  welcher  hier  nach  dem  Bleibenden  im  Wechsel 
ausspäht,  stößt  auf  schroffe  Kontraste  und  auf  Kom¬ 
promisse,  auf  die  tüchtige  Leistung  traditioneller  Art 
und  auf  das  von  neuem  Streben  beseelte  Schaffen, 
welches  selbst  da,  wo  es  unzulänglich  ist,  den  zu¬ 
künftigen  Erfolg  verspricht,  und  diese  Gegensätze 
spiegeln  sich  sowohl  in  der  rein  künstlerischen,  ma¬ 
lerischen  und  technischen  Qualität  der  Werke,  als 
auch  in  ihrer  geistigen  und  inhaltlichen  Bedeutung. 
Es  ist  wohl  möglich,  in  diesem  doppelten  Sinne  auch 
dem  zufällig  entstandenen  Gesamtbild  einige  allgemein 
gültige  Antworten  zu  entlocken,  aber  dieselben  können 
leicht  irre  führen  und  werden  der  Einzelarbeit  als 
solcher  nicht  genügend  gerecht.  Denn  in  Wahrheit 
hat  man  es  in  Ausstellungen  dieser  Gattung  denn 
doch  zunächst  mit  den  Leistungpn  der  künstlerischen 
Individualität  zu  thun,  und  tausendfältig  wie  diese 
müsste  auch  das  Urteil  selbst  lauten.  Die  kunst¬ 
historische  Sichtung  vermag  endgültig  erst  die  Zu¬ 
kunft  zu  vollführen. 

Zum  Schluss  nur  noch  wenige  Worte  über  die 
Sladptiiren,  welche  diesmal  quantitativ  ebenso  reich 
waren,  wie  im  Vorjahr,  jedoch  ohne  das  damalige 
Gesamtniveau  zu  verändern,  und  ohne  so  umfassende 
Bilder  in  sich  abgeschlossener  Künstlerpersönlich¬ 
keiten  zu  enthalten,  wie  im  vorigen  Jahre  die  Sonder¬ 
ausstellung  Antokolsky’s.  Da  ein  näheres  Eingehen 
auf  den  Bestand  dieser  Abteilung  diesmal  aus  äuße¬ 
ren  Gründen  unmöglich  ist,  so  seien  auch  hier 
nur  zwei  für  die  beiden  Hauptrichtungen  bezeich¬ 
nende  Hauptwerke  erwähnt.  Das  eine  ist  in  offi¬ 
ziellem  Auftrag  entstanden,  in  traditioneller  Weise 
aufgefasst,  sorgsam  durchgearbeitet,  von  vornehm¬ 
schlichter  Wirkung,  ein  „Denkmal“,  das  seine  Auf¬ 
gabe  tadellos  löst.  Wilhelm  von  Rümann  hat  kein 
schöneres  Werk  geschaffen,  als  dieses  Grabmonument 


der  greisen  Fürstin,  die  so  friedlich-still  im  ewigen 
Schlafe  ruht.  Wie  der  Kopf  vom  hohen  Kissen  ein 
wenig  zur  Seite  herabgesunken  ist,  wie  in  den  Zügen 
die  Starrheit  und  die  physische  Erlösung  des  Todes 
gekennzeichnet  wird  —  das  ist  ganz  wundervoll  ge¬ 
geben,  aber  es  bleibt  —  sicherlich  kein  Tadel!  — 
nur  eine  Variante  dessen,  was  bei  zahlreichen  gleichen 
Aufgaben  in  ähnlicher  Vollendung  geleistet  wurde. 
Anders  das  zweite  Werk,  Ja)i.  Äntoin  Injalbert’s 
„Eva“.  Lebensgroß  kauert  ein  nacktes  Weib  am 
Boden.  Der  Kopf  ruht  zwischen  den  verschränkten 
Armen,  die  auf  dem  rechten  Knie  aufliegen,  wobei 
sich  der-  ganze  Oberkörper  leicht  nach  rechts  neigt. 
Es  ist  die  Eva  nach  dem  Sündenfall.  Sie  verbirgt 
ihr  Antlitz,  die  ganze  Gestalt  zieht  sich  gleichsam 
in  sich  selbst  zusammen,  ein  Schauder  von  Schmerz, 
aber  zugleich  auch  von  Wonne  scheint  sie  zu  durch- 
beben.  Und  wie  herrlich  ist  dieser  Körper  durch¬ 
gearbeitet,  vor  allem  an  diesem  gekrümmten  Rücken ! 
Wahrheit  und  Schönheit,  malerischer  und  plastischer 
Reiz  können  nicht  vollendeter  vereint  werden.  Leider 
war  das  Wei'k  wohl  aus  —  Schicklichkeitsgründen 
so  schlecht  aufgestellt,  dass  es  den  Meisten  entgangen 
sein  dürfte,  doch  war  es  bei  den  Sezessionisten  in 
einer  kleinen  Bronzenachbildung  gut  sichtbar.  Hier 
ist  in  der  That  in  der  Plastik  etwas  versucht  wor¬ 
den,  wofür  die  Vergangenheit  keine  bedeutungsvollen 
Analogieen  bietet:  wieder  ein  Beweis  dafür,  dass  die 
jetzige,  von  neuen  Zielen  geleitete  Entwickelungs¬ 
phase  unserer  Malerei  auch  in  der  Schwesterkuust 
anzuklingen  beginnt,  dass  sie  historisch  zwar  eine 
Übergangszeit  ist,  nicht  aber  eine  wirkungslose  Epi¬ 
sode,  sondern  ein  integrirender  Teil  der  großen,  vor- 
wärtsstrehenden  Bewegung,  in  welcher  unser  ge¬ 
samtes  Kultur-  und  Geistesleben  nach  den  ihm  ur¬ 
eigenen  Ausdrucksformen  ringt. 


Zeitschrift  fiir  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  5. 


16 


RECHTS  UND  LINKS  IN  NATUR  UND  KUNST. 

VON  JOSEF  LANGE. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


Kif;.  1.  Sc-lirftihev  iiii  Louvre  y.n  Paris. 

.■\lfU.M  denn  doch  Ijei  den  Meusclien  die 
Iieclite  gegenüber  der  Linken  in  Betreff 
der  Gel)nuicli.sf;ihigkeit  die  bevorzugtere 
ist,  ja  reelit.s  überliaujit  auf  dein  ganzen  Erdball, 
und  der  Bibel  nach  sogar  auch  iin  Iliinniel,  stets 
die  wichtigere  und  bedeutungsvollere  Rolle  spielt? 
Di  esc  b'rage  mag  l'iir  unsere  Exi.stenz  wohl  eine 
gleichgültige  sein,  bat  aber  bei  näherem  Betracht 
ihre  ganz  interessanten  Seiten.  Wie  alle  höheren 
fu'ganiscben  Wesen,  ist  der  Mensch  in  seiner  Gestal¬ 
tung  in  strenger  Syinmetrie  aufgebauf ;  er  findet  auch 
Gefällen  an  der  Symmetrie,  da,  wie  die  Physiologen 
sagen,  .sein  tieliirn  von  symmetrischer  Bildung  ist, 
und  er  die  gleiche  Verfassung  in  einer  vorliegenden 
Erscheinung  als  w'ohlthuend  em])findct.“  Durch 
nichts  ist  seine  rechte  Hälfte  von  der  linken  unter¬ 
schieden,  und  wie  der  Bau  von  innen  heraus  sich 


gleichmäßig  entfaltet,  so  sind  auch  die  äußeren  Ein¬ 
flüsse  vollkommen  gleichartig.  Gleichmäßig  durchflutet 
der  Äther  den  weiten  Weltraum  und  gleichmäßig 
vibriren  der  Sonne  alles  belebende  Strahlen  —  und 
doch  welch  gewaltiges  Vorrecht  hat  allenthalben 
rechts  gegen  links!  Zur  Rechten  des  Vaters  sitzet 
der  göttliche  Sohn  im  Himmel,  und  wenn  am  Ende 
der  Zeiten  Cherub’s  Posaunen  die  Menschen  aus  den 
Gräbern  rufen  werden,  da  wird  der  Richter  „die 
Schafe  zu  seiner  Rechten  stellen,  die  Böcke  aber 
zur  Linken,“  Der  Begriff'  „Recht“  ist  sprachlich 
überall  aus  rechts  hervorgegangen;  links,  linkisch 
bedeutet  das  Unrechte,  Unvollkommene,  ja  in  vielen 
Bedeutungen  das  Schlechte,  Verderbliche,  Vernei¬ 
nende.  Wer  mit  dem  linken  Fuß  aufgestanden,  hat 
den  Tag  über  Verdruss  und  Ärger;  Ehen  auf  die 
linke  Hand  geschlossen  sind  nicht  rechtsgültig; 
gaucherie  heißt  auch  bei  den  Franzosen  so  viel  wie 
ungeschickt  u.  s.  f.  Soll  es  wirklich  nur  die  leidige 
Gewohnheit  von  Adamszeiten  her  sein,  also  ein  Erb¬ 
stück  von  unseren  Ahnen,  dass  die  Rechte  die  ge¬ 
lehrsamere  geworden  ist,  oder  dürfen  wir  nach  Ur¬ 
sachen,  nach  positiven  Gründen  suchen?  Hat  Eva 
mit  der  Linken  nach  dem  verhängnisvollen  Apfel 
gegriffen,  so  dass  diese  Hand  zur  ewigen  Strafe  die 
untergeordnete  bleiben  muss?  Oder  hat  Adam’s 
linke  Seite  gerade  durch  die  Schöpfung  seiner  Ge¬ 
sponsin  eine  Schwächung  erfahren,  da  der  Herr  von 
dieser  Seite  die  bedeutungsvolle  Rippe  nahm?  Und 
die  Linke  muss  es  gewesen  sein,  denn  die  Dichter 
behaupten:  „weil  dieser  Seite  das  Herz  am  nächsten 
liegt!“  —  Die  Rechte  ist  aber  auch  bei  den  Damen 
die  bevorzugte  geworden  und  besorgt  sogar  bei  der 
Toilette  das  Auf-  und  Zuknöpfeln,  was  die  Männer 
mit  der  Linken  zu  thun  gezwungen  sind,  da  seit 


RECHTS  UND  LINKS  IN  NATUR  UND  KUNST. 


123 


undenklichen  Zeiten  die  Schneider  in  eigensinniger 
Weise  die  Knöpfe  rechts  an  die  Röcke  nähen,  wäh¬ 
rend  die  Damen  dieselben  an  der  linken  Seite  haben. 

Wenn  aber  die  Rechthändigkeit  ererbte  Gewohn¬ 
heit  ist,  dann  muss  es  denn  doch  auffallen,  dass 
diese  Gewohnheit  zu  allen  Zeiten  und  bei  den  ver¬ 
schiedensten  Völkerschaften  unwandelbar  festgehal¬ 
ten  wurde,  und  Ausnahmen  nur  sporadisch,  bei  ein¬ 
zelnen  Vorkommen  und  nicht  bei  ganzen  Stämmen, 
Geschlechtern  oder  selbst  Familien.  Besondere  Auf¬ 
zeichnungen  oder  Beobachtungen  über  dieses  Fak¬ 
tum  sind  freilich  nirgends  gemacht  woi’den,  aber 
immerhin  haben  wir  seihst  aus  grauer  Vorzeit  hin¬ 
reichend  bildliche  und  auch  schriftliche  Zeugnisse, 
welche  die  Rechthändigkeit  der  Menschen  von  der 
ältesten  Zeit  her  bestätigen.  Schon  im  1.  Buch 
Mose  48  wird  von  der  Bedeutung  der  rechten  Hand 
bei  Segnungen  gesprochen.  Als  nämlich  der  alte 
Israel  die  Rechte  nicht  auf  das  Haupt  des  Erst¬ 
geborenen  (Manasse’s),  sondern  auf  jenes  des  jüngeren 
Sohnes  Joseph’s  (Ephraim’s)  legt,  erhebt  dieser  Ein¬ 
sprache.  Israel  aber  erwidert  bedeutungsvoll:  „Ich 
weiß  wohl,  dieser  soll  auch  ein  Volk  werden  und 
wird  groß  sein;  aber  sein  jüngster  Bruder  wird 
größer  denn  er  werden  u.  s.  f.“  Rechts  ist  dann 
namentlich,  bei  den  Vorschriften  für  die  Opfer  der 
Priester  ausgezeichnet.  So  heißt  es  im  2.  Buch  Mose 
29:  „Und  du  sollst  ihn  schlachten  (den  Widder)  und 
seines  Bluts  nehmen  und  Aaron  seinen  Söhnen  auf 
den  rechten  Ohrknöchel  thun  und  auf  den  Daumen 
ihrer  rechten  Hand  und  der  großen  Zehe  ihres  rechten 
Fußes  etc.“;  und  weiter  im  3.  Buch  Mose  9  wird 
vom  ersten  Opfer  Aarons  erzählt:  „Aber  die  Brust 
und  die  rechte  Schulter  webete  Aaron  zur  Webe 
vor  dem  Herrn,  wie  der  Herr  Mose  geboten  hatte.“ 
Ganz  ähnlich  wie  bei  den  Priesteropfern  ist  dann 
die  Prozedur  bei  der  Reinigung  vom  Aussatze  (3.  Buch 
Mose  14),  wo  gleichfalls  am  rechten  Ohr,  an  dem 
rechten  Daumen  und  an  der  rechten  großen  Zehe 
die  Salbung  vollzogen  wird. 

Mosaischen  Ursprungs  ist  übrigens  auch  der  Ge¬ 
brauch  des  Betriemens  bei  den  Juden  (5.  B.  Mos.). 
Die  „Rechte“  hat  denselben  um  den  linken  Arm  zu 
winden,  offenbar  deshalb,  weil  sie  die  praktischere 
und  geübtere  ist,  und  nicht,  wie  die  Talmudisten 
meinen,  weil  diese  die  gemeinen  und  auch  sündhaf¬ 
ten  Arbeiten  verrichte,  die  Linke  aber  die  „geheiligte“ 
sei!  Denn  für  die  Linkhändigen  besteht  wieder  das  aus¬ 
drückliche  Gebot,  dass  sie  den  Gebetriemen  um  den 
rechten  Arm  zu  winden  haben,  also  den  vom  Herzen 
entfernten.  Und  dass  es  thatsächlich  auch  schon 


im  alten  Testament  Linkhändige  gegeben  hat,  wird 
uns  im  Buch  der  Richter  (3.  Kap.  21)  erzählt.  Als 
nämlich  Echud  dem  fünften  Moabiterkönig  Eglon 
in  der  Sommerlaube  seinen  Besuch  abstattet,  heißt 
es:  „Echud  aber  reckte  seine  linke  Hand  aus  und 
nahm  das  Schwert  von  seiner  rechten  Hüfte  und 
stieß  es  ihm  (Eglon)  in  den  Bauch  u.  s.  f.“  Die 
Kelten  und  die  Römer  hatten  auch  das  Schwert  an 
der  rechten  Seite,  zogen  es  aber  mit  der  Rechten. 

In  den  erhaltenen  Ninivitischen  Bildwerken  und 
auch  in  jenen  vom  alten  Babylon  behält  in  den 
Kampf-  und  Jagddarstellungen  stets  die  Rechte  die 
Führung.  Nur  bei  den  Bogenschützen  ist  oft  der 
Symmetrie  wegen  oder  vielmehr  infolge  der  Unbe- 
holfenheit  in  der  Reliefbildung  ein  Wechsel  in  der 
Haltung  des  Bogens  und  des  Pfeiles  wahrzunehmen. 
Dagegen  halten  die  Schreiber  stets  den  Stift  in  der 
Rechten,  desgleichen  die  Hirten  den  Stab  und  die 
Kämpfer  den  Speer.  Bezeichnend  für  die  schema¬ 
tische  Gebundenheit  in  den  assyrischen  Reliefs  ist 
auch  die  Fußstellung  bei  den  schreitenden  Personen: 
bei  den  nach  links  gestellten  ist  der  rechte  Fuß  vor¬ 
gesetzt,  während  die  nach  rechts  situirten  den  linken 
vortreten  lassen.  Auf  den  Reliefs  von  Kujundschik 
ist  es  auch  nicht  selten,  dass  linke  Hände  an  rechten 
Armen  und  umgekehrt  Vorkommen:  eine  bildnerische 
Unbeholfenheit,  die  auch  bei  den  ältesten  ägyptischen 
Reliefs  (so  bei  Sakkara  am  Grabe He.si’s  aus  der  Zeit  des 
Cheops)  wahrzunehmen  ist.  Und  doch  lesen  wir  in 
der  noch  unfreien  Kunst  am  Nil,  dass  auch  bei  den 
Ägyptern  die  Rechte  durchweg  die  bevorzugtere  war. 
Schon  bei  den  ältesten  Idolen  ist  die  Rechte  gehoben, 
die  Rechte  hält  die  Attribute  und  in  der  Rechten 
führen  die  Kämpfer  den  Speer  und  das  Schwert. 
Nur  bei  den  Bogenschützen  tritt  in  Gegenstellungen 
wieder  aus  plastischen  Rücksichten  ein  Wechsel  in 
der  Bogenhaltung  ein.  Von  Interesse  ist  es  in 
Bezug  auf  den  Gebrauch  der  Rechten,  die  Ägypter 
auch  in  ihren  häuslichen  und  Feldbeschäftigungen 
auf  den  Reliefs  von  El  Kab,  Beni- Hassan  etc. 
zu  beobachten.  Die  Figuren  säen,  mähen,  schnei¬ 
den  das  Getreide,  führen  den  Stock  beim  Prügeln, 
den  Hammer  beim  Schlagen  stets  in  der  Rechten. 
Auch  beim  Harfenspielen  ist  die  rechte  Hand  (die 
Prim  spielend)  oben,  während  die  Linke  die  tieferen 
Bässe  greift;  desgleichen  greifen  die  Lautenschläge¬ 
rinnen  (in  einer  Malerei  zu  Theben)  mit  der  Linken 
die  Saiten  und  schlagen  die  Töne  mit  der  Rechten. 
In  einem  Relief  zu  Siut,  in  welchem  das  Schlachten 
von  Ochsen  dargestellt  ist,  halten  die  Schlächter 
durchgehends  das  Messer  in  der  Rechten,  nur  ein 

16* 


124 


RECHTS  UND  LINKS  IN  NATUR  UND  KUNST. 


Fig.  9.  Die  Anghiarischlacht. 


Fig.  :i.  Agyptisclie  Gi  al)figtir.  Fig.  1.  A]io)lo  v.Tciiea 


P'ig  b.  .\g.vptischer  Tfogenscliiitze. 


Fig.  6.  Assyrische  Bogenschützen. 


Fig.  Kl.  Eirene  und  Demeter. 


RECHTS  UND  LINKS  IN  NATÜR  UND  KUNST. 


125 


Linker  ist  darunter.  Die  Schreiber  sind  in  der  ägyp¬ 
tischen  Bildnerei,  von  der  berühmten  Holzfigur  im 
Louvre  (Fig.  1)  angefangen  bis  in  die  späteste  Zeit,  durch- 
wesr  Rechte.  Besonders  interessant  sind  hierin  die  he- 
züslichen  Gestalten  auf  den  Grabhildern  von  Sakkara, 
wie  sie  die  einlanfenden  Waren,  die  Feldfrüchte 
bei  der  Ernte  u.  a.  sorgfältig  verbuchen  (Fig.  2). 
So  streng  sich  die  ägyptische  Freiskulptur  infolge 
des  Kanons  an  die  Symmetrie  in  der  Bildung  der 
Gestalten  hielt,  so  tritt  in  Bezug  auf  rechts  und  links 
schon  hei  der  ältesten  uns  bekannten  Statue,  der  des 
Sepa  aus  der  dritten  Dynastie  (Louvre),  die  Eigen¬ 
tümlichkeit  auf,  dass  der  linke  Fuß  dem  rechten  vor¬ 
gesetzt  erscheint.  Dasselbe  finden  wir  auch  bei  den 
alten  Grabstatuen  der  Griechen,  den  sogenannten 
Apollobildern  (von  Tenea,  Thera  u.  a.,  Fig.  3,  4).  Die 
Bildner  wollten  aber  damit  gewiss  kein  Vorschreiteu 
markiren,  sondern  einfach  den  Stand-  und  Spielfuß  be¬ 
zeichnen,  wobei  also  wieder  dem  rechten,  als  dem 
stärkeren,  die  Funktion  des  Tragens  oder  Stutzens 
zufällt.  Das  Ausschreiten  mit  dem  linken  Fuß  von 
der  stehenden  Position  zum  Marsch  ist  ja  noch  bis 
heute  bei  den  Soldaten  und  Turnern  gewiss  aus 
diesem  Grunde  beihehalten. 

Welch  langen  Weg  hatte  die  griechische  Bild¬ 
nerei  durchzumachen,  bis  sie  beim  Apollo  vom  Bel¬ 
vedere  ankam!  Erst  hölzerne  steife  Götterbilder, 
dann  ebenso  gebundene  Marmorbilder  mit  dem  linken 
Fuß  vor;  allmählich  aber  kommt  ein  zackiges  Be¬ 
wegen  in  die  Puppen,  wie  dieses  sich  in  so  naiver 
Weise  bei  den  Agineten  zeigt,  und  endlich  die  volle 
Freiheit  in  der  Aktion.  Die  Menschen  wandeln  in 
Marmor  und  agiren  und  hantiren  durchweg  als 
Rechte.  Es  ist  nicht  erwiesen,  ob  die  Schreiber 
jener  Kulturvölker  des  Altertums,  welche  ihre  Schrift¬ 
zeichen  von  rechts  nach  links  setzten,  Linkhänder 
waren;  wohl  aber  dürfen  wir  mit  voller  Bestimmt¬ 
heit  annehmen,  dass  von  den  Griechen  an  die  Schreib¬ 
weise  von  links  nach  rechts  nur  der  Rechthändig- 
keit  der  Schreiber  zuzuschreiben  ist,  da  die  Schreiber 
die  Zeile  im  Schreiben  nicht  mit  der  Hand  bedecken 
wollten,  was  im  umgekehrten  Fall  eintreten  würde. 
Herodot,  der  die  Rechtsschreibung  bei  den  Griechen 
notirt  ( B.  H,  36),  ist  ganz  aufgebracht  darüber,  dass 
die  Ägypter,  die  von  der  Rechten  zur  Linken  schrei¬ 
ben  (was  übrigens  nicht  immer  der  Fall  war),  noch 
behaupten,  „bei  ihnen  geschähe  es  nach  der  Rechten 
und  bei  den  Hellenen  nach  der  Linken.“  Wie  die  Grifiel- 
führung,  so  lag  selbstverständlich  auch  die  Waffen¬ 
führung  bei  den  Griechen  in  der  Rechten,  und  die 
Bogenschützen  halten,  wie  schon  auf  dem  von  Schlie- 


mann  zu  Mykenae  gefundenen  Stück  eines  Silber¬ 
gefäßes  und  wie  Paris  hei  den  Agineten,  den  Bogen 
in  der  Linken  und  den  Pfeil  in  der  Rechten,  und 
gewiss  ist  unser  vorhin  erwähnter  Apoll  vom  Bel¬ 
vedere  als  Bogenschütze  gedacht  und  als  solcher 
korrekt  ergänzt.  Der  Lärm  mit  der  kleinen  Stro- 
ganoff’schen  Bronze,  nach  welcher  die  Statue  zum 
Agis  schüttelnden  Schlachtgott  hätte  verwandelt 
werden  sollen,  hat  sich  bereits  gelegt.  Apollo  hätte 
gewiss  das  dämonische  Schreckbild  in  der  Rechten 
gehalten,  denn  er  war,  wie  alle  anderen  Mitglieder 
der  olympischen  Gesellschaft,  ein  Rechter.  Lassen 
wir  ihm  daher  lieber  den  Bogen  in  der  Linken! 

Wir  haben  oben  erwähnt,  dass  die  freistehende 
menschliche  Gestalt  nicht  mit  beiden  Füßen,  sondern 
vorwiegend  auf  einem,  dem  Standfuß  steht,  und  der 
andere  (Spielfuß)  nur  zur  Unterstützung  (Balance) 
verwendet  wird.  Durch  dieses  Verlegen  des  Schwer¬ 
punktes  nach  rechts  oder  links  von  der  Mitte  kommt 
Bewegung  in  die  Figur;  die  Alechanik  des  Knochen¬ 
gerüstes  tritt  damit  in  Funktion.  Die  Griechen  haben 
hei  ihren  stehenden  Götter-  und  Heroenbildern,  um 
dem  Eindruck  der  Ermüdung  vorzuheugen,  der  Hand 
an  der  Spielfußseite  in  der  Regel  eine  Stütze  in  der 
Form  eines  Stahes,  Scepters,  Thyrsos  etc.  gegeben: 
also  statisch  richtig  nur  an  der  Spielfußseite!  (Fig.  10.) 
Es  ist  dieses  oft  für  fragliche  Ergänzungen,  wie  z.  B. 
beim  Hermes  von  Praxiteles,  von  Wichtigkeit,  da 
damit  ein  stützender  Thyrsos  in  der  Rechten,  wie 
er  nach  der  zu  Carnuntum  gefundenen  Scherbe  vorge¬ 
schlagen  wurde,  von  vorneweg  unmöglich  i.st  (Fig.  11). 

Doch  verlassen  wir  die  Rechts-  und  Linksexkur¬ 
sionen  im  Reiche  der  Kunst  und  ziehen,  um  der 
Ursache  der  Rechthändigkeit  näher  zu  treten,  zu¬ 
nächst  die  Ausnahmsfälle,  die  sporadisch  Linkhän¬ 
digen  in  Betracht.  Dass  von  unseren  Händen,  ob  rechts 
oder  links,  gar  vieles  Außergewöhnliche  durch  Übung 
gelernt  werden  kann,  —  wer  wollte  dieses  schon  im 
Angesichte  unserer  modernen  Klavierakrobaten  in 
Frage  stellen!  Gieht  es  ja  sogar  Maler  —  wie  Adam 
Siepen  in  Düsseldorf  und  Charles  Felu  in  Brügge 
—  ohne  Hände.  Die  Füße  ersetzen  ihnen,  selbst  für 
die  subtile  künstlerische  Arbeit,  vollständig  die  fehlen¬ 
den  oberen  Extremitäten.  Um  wie  viel  leichter  wird 
daher  auch  die  Linke  die  Fertigkeiten  lernen,  welche 
gewohnheitsgemäß  der  Rechten  zukommen,  wenn  sie 
dazu  .sy.stematisch  erzogen  wird!  Nun  tritt  aber  diese 
Fähigkeitsanlage  bei  der  Linken,  ohne  besondere 
Veranlassung,  oft  schon  von  Kindheit  an  auf;  der 
Linkhändige  wird  also  schon  geboren.  Lionardo 
schrieb  sein  „Libro  originale  della  natura“  und  den 


120 


RECHTS  UND  LINKS  IN  NATUR  UND  KUNST. 


Fig.  11.  Hermes  von  Praxiteles. 


..Traktat“  mit  der  Linken,  —  jedoch  als  Spiegel¬ 
schrift.  Dies  könnte  fast  zu  der  Annahme  verleiten, 
dass  der  große  Toskaner  ursprünglich  dennoch  mit 

der  Rechten  (u.  z.  nach 
rechts)  habe  schreiben 
gelernt,  aber  da  die 
Linke  hei  ihm  die  von 
Natur  aus  bevorzug¬ 
tere  war,  das  mit  der 
Rechten  Gelernte  (nach 
der  Symmetrie  der  Ner- 
venfunktionen)  fortan 
mit  der  Linken  ausführte. 
Geben  wir  einem  im 
Fieber  liegenden  Halb¬ 
bewusstlosen  in  die 
Linke  einen  Stift ,  so 
schreibt  der  Kranke 
Spiegelschrift,  ohne  dass 
er  es  weiß.  Dass  aber 
Lionardo  auch  als  Zeich¬ 
ner  ein  Linkhänder  war, 
bezeugen  deutlich  die 
von  links  oben  nach 
rechts  unten  geführten 
bei  seinen 
(Fig. 

14  ;  zugleich  ein  sicheres 
Kennzeichen  der  echten 
von  den  unechten).  Für 
die  Bevorzugung  von 
links  ist  es  übrigens 
auch  bezeichnend,  dass 
auf  dem  Karton  der 
Anghiarischlacht  meh¬ 
rere  der  Kämpfer  Link¬ 
händer  sind;  sie  halten 
i  n  der  Rechten  den  Schild 
und  führen  in  der  Linken 
das  Schwert  (Fig.  9). 
Linkhändige  Maler  sind 
übrigens  auch  in  der 
Gegenwart  nicht  gar  so 
Sfdten;  zählt  ja  zu  ihnen 
auch  unser  gefeierter  Ad. 
Menzel,  der  ebenso  wie 
der  geniale  Wiener  De¬ 
korationsmaler  J.  Leh¬ 
mann,  der  Landschafter 
Darnaut  und  gewiss 
noch  mancher  andere 


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Strichlagen 
Handzeichnungen 


Fig.  12  Verschied.  Häamler-Motivc. 


die  Palette  in  der  Rechten  und  den  Pinsel  in  der 
Linken  hält. 

Linke  Musiker  kann  es  freilich  nicht  gehen,  da 
unsere  Instrumente  durchweg  für  Rechthändige  ein¬ 
gerichtet  sind  ’),  und  für  Mephisto,  hei  dem  ja  alles 
von  Hause  oder  richtiger  von  der  Hölle  aus  links 
ist,  müsste  die  Violine  eigens  umgespannt  werden, 
wenn  nicht  eine  Höllenmusik  nach  unseren  Begriffen 
daraus  zum  Vorschein  kommen  sollte.  An  dem 
Dome  zu  Amiens  befindet  sich  übrigens  (aus  dem 
13.  Jahrhundert)  das  Bild  eines  die  ovale  Vielle 
spielenden  Teufels,  der  ganz  höllenkorrekt  den  Bogen 
in  der  Linken  führt.  Zu  dem  Teufel  gesellt  sich 
im  späteren  Mittelalter  dann  auch  der  „Tod“  als 
grausiger  Geselle  mit  eigentümlich  tragischem  Humor 
in  künstlerischen  Darstellungen,  und  auch  den  Klap¬ 
permann  finden  wir  auf  einem  Totentanzbilde  als 
linken  Fidelspieler. 


Fig.  13.  Aortabogen. 

Dass  nun  die  Linkhändigen  thatsächlich  mit  dem 
Schwarzen  und  seinem  hageren  Freund  in  irgend 
einer  Beziehung  stehen,  wollen  wir  beileibe  nicht 
behaupten,  wohl  aber  dürfte  sich  mit  Gambrinus  ein 
metaphysischer  Kontakt  nachweisen  lassen;  denn 
unter  allen  rankenden  Gewächsen  ist  allein  der  Hopfen 
linkswendig.  Der  Wein,  die  Bohne,  die  Winde  etc. 
folgen  dem  allgemeinen  Naturgesetze  und  drehen 
sich  von  links  nach  rechts. 

Schon  vor  Jahren  hat,  wenn  ich  nicht  irre,  ein 
italienischer  Anatom,  später  dann  v.  Mertens,  die 
Vermutung  ausgesprochen,  dass  die  Rechthändigkeit 
bei  den  Menschen  von  der  asymmetrischen  Lagerung 
der  inneren  Organe  des  Körpers  herrühren  könnte 
und  vor  allem  die  Abzweigungen  von  der  Aorta  für 
die  Arbeitsfälligkeit  des  rechten  und  linken  Arms 
maßgebend  seien.  Die  erste  Abzweigung  von  dem 
großen  Aortabogen  ist  nämlich  die  Art.  subclavia 


1)  Amu.  d.  Red.  PjS  kommen  wohl  Fälle  vor,  wo  Geifer, 
die  an  der  Linken  einen  Finger  verloren  haben  „umlernen“, 
d.  h.  mit  der  Rechten  die  Geige  halten  und  mit  der  Linken 
den  Rogen  führen.  Die  Geige  ist  dann  entsprechend  zu 
ändern,  was  durch  Verlegung  des  Bassbalkens,  des  Stimm¬ 
stockes  und  entsprechende  Besaitung  unschwer  geschehen  kann. 


RECHTS  UND  LINKS  IN  NATUR  UND  KUNST. 


127 


dextra,  also  die  den  rechten  Arm  speisende  Pulsader; 
es  folgen  die  beiden  Carotis  (Halsschlagadern)  und  dann 
erst  die  Art.  subclavia  siuistra,  die  linke  Armpuls- 
der.  (Fig.  13.)  Es  ist  somit  wohl  einleuchtend,  dass  der 


rechte  Arm  in  Bezug  auf  die  Blutzuführung  der  be¬ 
vorzugtere  ist  und  dass  dieses  einen  Einfluss  auf  die 
Thätigkeit  desselben  haben  kann.  Die  genannte  An¬ 
ordnung  ist  Regel;  da  aber  auch  in  der  Natur  die 
Regeln  ihre  Ausnahmen  haben, 
so  trifft  es  sich  in  unserem  Fall, 
wenngleich  selten,  dass  die  Art. 
subclavia  dextra  mit  der  sinistra 
ihren  Ursprung  wechselt.  Die 
Blutzuleitung  für  die  linke  Seite 
kehrt  hinter  der  Luftröhre  zum 
rechten  Arm  zurück,  während  die 
rechte,  die  zuerst  der  Aorta  ent¬ 
sprungene  Abteilung  sich  nach 
links  wendet.  Hyrtl  will  in  diesem 
Naturspiel  die  Ursache  der  Link- 
händigkeit  ersehen;  er  sagt  in  der 
letzten  Ausgabe  seiner  Anatomie; 
„Ich  halte  es  für  ausgemacht, 
dass  die  Versetzung  des  Ur¬ 
sprungs  der  Art.  subclavia  dextra 
hinter  jener  der  sinistra  infolge 
der  durch  sie  gegebenen  Ab¬ 
schwächung  des  Kreislaufes  in 
die  rechte  Extremität  den  Ge¬ 
brauchsvorzug  der  Linken  bedingt. 
Hiermit  wäre  die  causa  auato- 
mica  der  bisher  unerklärt  geblie¬ 
benen  Linkhändigkeit  aufzufin¬ 
den.“  Diese  Behauptung  des 
großen  Anatomen  ist  ebenso  geist¬ 
reich  wie  einleuchtend ,  bleibt 
aber  denn  doch  noch  so  lange 
hypothetisch,  bis  nicht  eine  An¬ 
zahl  Linkhändiger  uns  die  Ge¬ 
fälligkeit  erweisen,  sich  seciren 
zu  lassen,  und  den  thatsächlichen 
Beweis  erbringen,  dass  sie  verwechselte 
Armpulsadern  in  sich  führen.  Die 
Fälle  dieser  Ausnahmen  sind  aber  am 
Secirtisch  weit  seltener,  als  Link¬ 
händige  im  Leben  an  getroffen  werden, 
daher  diese  Angelegenheit  von  anato¬ 
mischer  Seite  her  noch  ihrer  endgül¬ 
tigen  Lösung  harrt.  Aber  nehmen 
wir  an,  die  Anatomen  hätten  recht,  die 
Linkhändigkeit  datire  vom  Aorta¬ 
bogen  hei',  so  bleibt  dann  noch  immer 
die  weitere  Frage  offen:  „Warum  hat 
die  Natur  in  ihrer  Konstruktion  gerade 
diese  Seite  bevorzugt?  Beugte  sie  sich 


Fig.  14.  Faksimile  einer  Handzeiclnuiiig  von  Lionardo. 


Fig.  15.  Spiegelschrift  von  Lionardo. 


12S 


RECHTS  UND  LINKS  IN  NATUR  UND  KUNST. 


darin  nicht  vielleicht  einer  anderen  höheren  Ge¬ 
walt?“  —  Im  Aveiten  Weltall  giebt  es  allerdings 
kein  Rechts  nnd  kein  Links,  kein  Oben  und  kein 
Unten;  aber  mit  dem  Fundamentalgesetz  der  Orga¬ 
nisation,  der  Attraktion,  sind  in  den  einzelnen 
S3'stemen  durch  die  Rotation  der  Körper  Ebenen 
und  Pole,  mithin  Richtungen  gegeben,  nach  denen 
Kräfte  Avirken.  Die  Idee  mag  paradox  erscheinen, 
den  kleinen  beAveglicheu  Körpern  auf  der  Erde, 
also  auch  uns  Menschen,  die  Eigentümliclikeiten 
des  ganzen  Kolosses  zu  vindiciren.  Da  Avir  aber 
einmal  samt  und  sonders  mit  unserem  geliebten 
Planeten  zur  Sonne  fallen,  ohne  es  zu  Avissen, 
Avarum  sollen  Avir  nicht  auch  die  Keime  der  Dreh¬ 
krankheit  und  zwar  auf  der  nördlichen  Hemis¬ 
phäre  von  links  nach  rechts  in  uns  tragen?  Nach 
dieser  Richtung  —  also  nach  rechts  hin  in  der 
Ebene  der  Ekliptik,  wenn  wir  uns  der  Erdachse 
konform  stellen,  Avirkt  die  ewige  Kraft,  nach  rechts 
hin  tanzen  die  Planeten  um  die  Sonne  und  wir 
folgen  derselben  Richtung  im  Ballsaal,  in  der 
Reitschule,  auf  dem  Eisplatz  etc.,  nach  rechts  liin 
wirkt  die  geheimnisvolle  Kraft  allüberall  und  die 


Organisation  in  der  Natur  hat  sich  in  der  allmäh¬ 
lichen  EntAvickelung  darnach  eingerichtet.  —  Doch 
halt!  Dann  müssten  wir  wohl,  wenn  sich  die  Ent¬ 
wickelungsgeschichte  der  Menschen  auf  der  südlichen 
Halbkugel  vollzogen  hätte,  Linkhänder  geworden 
sein!  Oder  sind  die  Eingeborenen  jenseits  des  Äqua¬ 
tors  linkhändig  ? 

Vielleicht  ließen  sich  aus  der  primitiven  Orna¬ 
mentik  der  Urvölker  jenseits  der  „Linie“  auf  die 
Link-  und  Rech thändigk eit  derselben  Schlüsse  ziehen. 
Ist  doch  die  Mäanderlinie,  Avelche  beinahe  bei  allen 
kunstübenden  Völkern  als  primitive  Zierweise  vor¬ 
kommt  (Fig.  12),  lediglich  aus  der  Konstruktion  des 
Handgelenkes  hervorgegangen ,  und  zwar  im  Zuge 
nach  rechts  entschieden  von  Rechthänderu.  Wenn  nun 
beispielsweise  bei  den  Dayaks  auf  Borneo  der  Zug 
der  Saumornamente  vorwiegend  umgekehrt,  nach 
links  hin  gestellt  erscheint,  haben  wir  es  in  diesem 
Falle  mit  Linkhändern  zu  thun  ?  Da  hierauf  bezügliche 
Beobachtungen  überhaupt  meines  Wissens  von  Seite 
der  Ethnographen  nicht  vorliegen,  so  hängt  Avohl 
unsere  Angelegenheit  vorläufig  noch  mit  dem  Erd¬ 
ball  —  in  der  Luft. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


t 


i^oükment 

]‘'i'e  nii  l.a^p,  Petersburg, 


Dru.'k  V,  b'  A  Brockhaiis,  Lei’ 


PETER  PAUL  RUBENS. 

VON  ADOLF  ROSENBEEO. 

MIT  ABBILDUNGE]N. 


ON  den  weitausblickendeu 
litterarischen  Plänen,  die  im 
August  1877  von  dem  Ru¬ 
benskongress  in  Antwerpen 
bei  Gelegenheit  der  von  der 
Stadt  veranstalteten  B^est- 
lichkeiteu  zu  Ehren  des  drei- 
hundertstenGeburtstages  des 
Meisters  gefasst  worden  sind  und  deren  Ausführung 
einer  Reihe  von  Kommissionen  übertragen  Avurde, 
ist  bisher  nur  einer  verwirklicht  worden.  Außer 
dem  stattlichen  Folianten  des  „Compte-rendu“  über 
die  Verhandlungen  des  Kongresses  und  dem  sehr 
unregelmäßig  und  in  langen  Zwischenräumen  er¬ 
scheinenden  „Bulletin  Rubens“  ist  das  fünfbändige 
Sammelwerk  des  gelehrten,  vielseitig  gebildeten  und 
scharfblickenden  Konservators  des  Museum  Plantin- 
Moretus  in  Antwerpen,  Max  Äoo.scV  Werk :  „L’oeuvre  de 
P.  P.  Rubens“  5  Bde  (Antwerpen  1886 — 1892),  das  ein¬ 
zige  litterarische  Denkmal  großen  Stils,  das  an  jenen 
Beschluss  erinnert,  und  selbst  dieses  kennzeichnet  sich 
nicht  im  Titel  als  ein  offizielles  Unternehmen  der 
Kommission,  wenn  es  auch  ursprünglich  als  ein  sol¬ 
ches  beabsichtigt  war.  Wohl  hat  Rooses  sich  einer 
Unterstützung  der  Antwerpener  Stadtverwaltung  zur 
Bestreitung  seiner  Reisekosten  zu  erfreuen  gehabt, 
und  er  durfte  sich  auch  des  reichen  Apparates  von 
Stichen  und  Photographieen  nach  Rubens  bedienen, 
welchen  eine  Kommission  im  Aufträge  des  Antwer¬ 
pener  Magistrats  und  zum  Teil  auch  auf  Kosten  der 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Y.  H.  6. 


belgischen  Staatsregierung  zusammengebracht  hat. 
Aber  im  wesentlichen  ist  sein  Werk  ein  Privatunter¬ 
nehmen,  das  durch  seine  eigene  Kraft  und  den  Opfer¬ 
mut  seines  Verlegers  vollendet  worden  ist,  ein  Muster 
von  sorg.samem  B’leiß,  von  größter  Zuverlässigkeit 
im  einzelnen  und  von  vorsichtiger  Stilkritik,  die  in 
jedem  Fall  ihre  Ergebnisse  eingehend  und  feinsinnig 
begründet.  Erst  durch  diese  grundlegende  Arbeit, 
auf  die  sich  auch  der  nachfolgende  Versuch,  den 
künstlerischen  Entwickelungsgang  des  Meisters  von 
neuem  zu  skizziren,  stützt,  ist  es  möglich  geworden, 
das  Gespinnst  von  Wahrheit  und  Dichtung,  mit  dem 
zweihundertundfünfzig  Jahre  Rubens’  wirkliches  Bild 
verschleiert  haben,  zu  entfernen. 

Ein  anderes,  auf  dem  Antwerpener  Kongresse 
beschlossenes  Unternehmen,  ein  ebenfalls  ira  größten 
Stile  angelegter  ,, Codex  diplomaticus  Rubenianus“,  ist 
bisher  noch  nicht  über  den  ersten  Band  hinausgediehen. 
Er  enthält  den  Anfang  der  Korrespondenz  von  Ru¬ 
bens  '),  umfasst  aber  nur  trotz  seines  Umfangs  von 
440  Folioseiten  die  Zeit  von  1600 — 1608,  also  die 
Zeit  von  Rubens’  Aufenthalt  in  Italien.  Der  Heraus¬ 
geber,  Charles  Buelens,  ist  vor  zwei  Jahren  gestorben. 
Dadurch  ist  die  Fortsetzung  des  Unternehmens  wohl 
unterbrochen,  aber  nicht  aufgegeben  worden.  Als 
Nachfolger  von  Ruelens  ist  Max  Rooses  bestimmt 

1)  Covrespondance  de  Rubens  et  documents  epistolaires 
concernant  sa  vie  et  ses  ceuvres.  Tome  premier.  Antwerpen 
1887.  Dieses  Werk  erscheint  unter  dem  Patronat  der  Kom¬ 
munalverwaltung  der  Stadt  Antwerpen. 


17 


130 


PETER  PAUL  RUBENS. 


worden,  der  sich  als  der  würdigste  dazu  legitiniirt 
hat,  und  von  seiner  Arbeitskraft  darf  man  erwarten, 
dass  er  auch  dieses  Riesenwerk  in  absehbarer  Zeit 
vollenden  wird.  Bis  dahin  kann  die  vom  Verfasser 
dieses  Artikels  ISSl  herausgegebene  Sammlung  von 
Rubensbriefen  (Leipzig,  E.  A.  Seemann),  die  das 
weit  zerstreute  Material  vereinigt  hat,  noch  als  hand¬ 
liches  Hilfsmittel  dienen. 

I. 

Riihens  Lehrjahre  und  erste  Thiitigkcit  in  Anhverpen. 

Das  älteste  und  zuverlässigste  Dokument,  das 
uns  über  Rubens’  Lebensgang  unterrichtet,  ist  die 
von  seinem  Neffen  Philipp  Rubens  auf  Grund  der 
in  seinem  Besitze  befindlichen  Familienpapiere  ver¬ 
fasste  lateinische  Lebensbeschreibung.  Sie  wurde 
auf  Wunsch  des  französischen  Malers  Roger  de  Piles 
(1035 — ITOS),  der  sich  eifrig  mit  Rubens  beschäf¬ 
tigte  und  eine  größere  Arbeit  über  ihn  vorhatte, 
im  Anfang  des  Jahres  1076  niedergeschrieben  und 
zwar,  wie  Philipp  Rubens  in  dem  Begleitschreiben 
ausdrücklich  hervorhebt,  „als  Auszug  aus  den  Denk¬ 
würdigkeiten,  die  sein  (P.  P.  Rubens’)  ältester  Sohn 
hinterlasseii  hat’“. 'i  Da  diese  Denkwürdigkeiten  mit 
den  ülu’igen  ßMmilienpapieren  und  dem  ge.samten 
Nachlass  an  Briefen  u.  s.  w.  l)ei  einem  Brande  ijn 
vorigen  .lahrhimdert  zu  Grunde  gegangen  sind,  wird 
jeiler,  der  von  neuem  den  Versuch  unternimmt,  das 
Lfben  des  universellsten  Meisters  der  niederlän¬ 
dischen  und,  wie  wir  wohl  hiiizusetzen  dürfen,  der 
niederdcufschen  Malerei  des  siebzehnten  Jahrhun- 
dfi’ts  und  die  Entwickelung  seines  Kunstschaffens 
in  äußeren  Umrissen  festzustellen,  von  der  latei- 
ni.'ichen  .,  \’ita"  seines  Neffen,  wie  Avir  sie  kurz  nennen 
wollen,  im  Ausdruck  wie  in  der  knappen,  hier  und 
da  fast  l•pigralnlnatischen  Fassung  einer  Nachahmung 
(h-r  unter  dem  Namen  des  Cornelius  Nepos  gehenden 
.. \'itae’‘  berühnder  Männer,  seinen  Ausgang  nehmen 
müssen.  Um  so  melir,  als  eine  Leihe  von  Angaben 
dor  ..Vita“  durch  Urkunden  belegt  werden  kann, 
liß-ieh  am  Anfang  treffen  wir  freilich  auf  einen 
Sti-in  des  .Anstoßes,  des.sen  Beseitigung  und  Erklärung 
eine  ganze  Litteratur  und,  was  noch  schlimmer  ist, 

1)  Der  üricf’wer.li.sel  /.wi.wchen  l’hilipi)  Rulieiis  inid  Ro- 
('»•r  ile  l’iloH,  der  noedi  nianclu'ilei  wertvolle  Mitteihni^cai  eiit- 
hiilt,  die  sich  in  der  vorher  f'e.Hchrieheneii  ,,Vita“  nicht 
finden,  ist  von  fineleiiB  ini  Ihdlfd.in-ltuhens  II,  S.  1.07—  175 
Tcröftentlicht  worden.  Dadurch  sind  alle  Zweifel  an  der 
Ziiverlii.s.si^keit  und  Echtheit  iler  Ihographie  hinfällif'  ge¬ 
worden. 


eine  patriotische  Aufwallung  hervorgerufen  hat, 
die  bei  den  Antwerpener  Säkularfesten  sogar  einen 
chauvinistischen  Charakter  annahm,  seitdem  aber 
bei  den  belgischen  Kunstschriftstellern  einer  ruhigeren 
Auffassung  gewichen  ist.  Wenn  die  „Vita“  angiebt, 
dass  Peter  Paul  Rubens  im  Jahre  1577  in  Köln  ge¬ 
boren  worden  ist,  wohin  sich  sein  Vater  Johannes 
(Jan)  „wegen  der  bürgerlichen  Unruhen“  in  Belgien 
aus  „Ruhebedürfnis“  zurückgezogen  hatte,  so  wird 
darum  niemand  den  Vlamen  das  Anrecht  auf  den 
autochthonen  Ursprung  eines  ihrer  edelsten  und  grö߬ 
ten  Geister  streitig  machen.  Vielleicht  werden  sich 
sogar  die  Chauvinisten  auf  der  einen  wie  auf  der 
anderen  Seite,  Avenn  es  deren  noch  giebt,  zu  dem 
Zugeständnis  becjuemen  müssen,  dass  Rubens  in  seiner 
Kunst  und  in  seinem  Leben  weder  Vlame  noch  Deut¬ 
scher  war,  dass  er  sich  vielmehr  als  die  feinste  und 
vollkommenste  Blüte  einer  internationalen  Kultur, 
soweit  man  sie  damals  kannte,  darstellt.  Danach 
ist  auch  jede  weitere  Erörterung  der  Frage  müßig, 
ob  Rubens,  wie  die  „Vita“  angiebt,  in  Köln  oder, 
wie  die  archivalischeu  Forschungen  über  die  unglück¬ 
lichen  Verkettungen  seines  Vaters  mit  der  Gattin 
des  Prinzen  Wilhelm  von  Oranien,  mit  diesem  selbst 
und  dem  Grafen  von  Dillenburg  wahrscheinlich  ge¬ 
macht  haben,  in  Siegen  geboren  worden  ist,  wo  da¬ 
mals  Jan  Rul)ens  Avegen  seiner  sträflichen  Be¬ 
ziehungen  zu  der  Prinzessin  von  Oranien  gefangen 
gehalten  Avurde.  Maria  Pypelincx,  seine  helden¬ 
mütige  Gattin,  die  den  Fehltritt  ihres  Gatten  mit 
echt  vlämischer  Gelassenheit  hingenommen  zu  haben 
scheint,  war  um  die  Zeit,  avo  Peter  Paul  geboren 
wurde,  fast  immer  unterweg.s,  immer  auf  der  Reise 
zwischen  Siegen  und  Köln  und  AntAverpen,  immer 
l)estrel)t,  das  Schicksal  ihres  Gatten  zu  erleichtern 
und  Unheil  von  ihren  Kindern  abzuAvenden.  Die 
meisten  Gründe  sprechen  allerdings  für  Siegen  als 
für  Rubens’  Geburtsort.  Seine  ersten  Jugenderinner¬ 
ungen  waren  jedoch  mit  Köln  verknüpft,  dessen  er 
noch  in  einem  Briefe  von  1637  gedachte,  als  der 
Stadt,  „in  der  er  bis  zum  zehnten  Jahre  seines  Lebens 
erzogen  Avorden  sei.“  Wenn  er  aber  wirklich  in 
Köln  geboren  worden  wäre,  würde  er  sich  sicher¬ 
lich  in  jenem  Briefe,  der  einen  Auftrag  für  Köln 
betrifft,  ohne  Umwege  als  Sohn  der  Stadt  bekannt 
hal)en.  Denn  damals  gab  es  zwischen  dem  jetzigen 
Belgien  und  der  jetzigen  preußischen  Rheinprovinz 
keine  nationalen  Unterschiede,  keine  anderen  Schran¬ 
ken,  als  sie  die  Zollgelüste  und  die  Gerichtsherrlich¬ 
keit  kleiner  Dynasten  gezogen  hatten. 

Den  Tag  der  Geburt  giebt  die  „Vita“  nicht  an 


PETER  PAUL  RUBENS. 


131 


aber  mau  hat  sich  allgemeiu  auf  den  29.  Juni  ge¬ 
einigt,  den  Tag  der  Apostelfürsten,  von  denen  Rubens 
seine  beiden  Vornamen  erhalten  hat,  die  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  mit  seinem  Zunamen  unzertrenn¬ 
lich  verwachsen  sind.  P  Außer  jenem  oben  erwtähn- 
ten  Briefe  hat  Rubens  kein  Zeugnis  hinterlassen, 
das  über  seine  in  Köln  empfangenen  Jugeudeindrücke 
einen  Aufschluss  geben  könnte.  Aber  nach  dem, 
wie  damals  die  Erziehung  von  Kindern  aus  Familien 
besserer  Stände  geübt  wurde,  ist  wahrscheinlich,  dass 
dem  jungen  Peter  Paul  keine  andere  geistige  Nahrung 
geboten  wurde  als  die  Anfangsgründe  der  humani¬ 
stischen  Wissenschaft,  die  damals  den  Söhnen  vor¬ 
nehmer  katholischer  Familien  durch  die  Jesuiten  als 
die  berufensten  Erzieher  des  unter  der  Herrschaft 
der  Gegenreformation  heranwachsenden  Menschen¬ 
geschlechts  vermittelt  wurden.  Die  Vita  hebt  denn 
auch  hervor,  dass  der  erste  Unterricht,  den  der 
junge  Rubens  in  Köln  empfing,  auf  so  fruchtbaren 
Boden  fiel,  „dass  er  mit  Leichtigkeit  die  Alters¬ 
genossen  übertraf.“  Ob  die  Bau-  und  Kunstdenk¬ 
mäler  Kölns,  ob  die  rege  Thätigkeit  von  Malern, 
Steinmetzen,  Goldschmieden  u.  a.,  die  damals  noch 
edle  Blüten  zeitigte,  irgend  welchen  Einfluss  auf  die 
Phantasie  des  Knaben  gemacht  hat,  erfahren  wir 
nicht,  und  auch  in  den  Werken  des  Mannes  ist  keine 
Spur  zu  entdecken,  die  darauf  hiuwiese,  dass  Rubens 
schon  in  Köln  mit  irgend  einer  Kunstübung  in  nähere 
Berührung  gekommen  wäi*e. 

Erst  in  Antwerpen,  wohin  seine  Mutter  nach 
dem  1587  erfolgten  Tode  des  Gatten  mit  den  Kindern 
zurückkehrte,  scheint  der  Kunsttrieb  in  dem  Knaben 
erwacht  zu  sein.  Ehe  er  aber  zu  so  starkem  Durch¬ 
bruch  kam,  dass  die  Entscheidung  für  den  Beruf 
erfolgte,  hatte  er  noch  seine  Schulstudien  zu  voll¬ 
enden.  Es  liegt  nahe  anzunehmen,  dass  er  sie  bei 
den  Jesuiten  fortsetzte,  die  in  Antwerpen  noch  mehr 
als  in  den  Rheinlanden  die  Jugendlehre  in  den  Händen 
hielten.  Die  Aveltgewandten  Väter  waren  klug  genug, 
der  lebensfrohen  Jugend  die  Zügel  so  weit  schießen 
zu  lassen,  dass  keiner  etwas  von  weltfeindlicher 
Askese  oder  von  einer  „Knechtung  der  Geister“ 
.spürte.  Um  den  Geist  der  Zöglinge  zu  beschäftigen, 
ihre  Phantasie  anzuregen,  um  ein  Ventil  für  die 


1)  Den  Tag  der  Geburt  giebt  zuerst  Bellori  in  den 
Vite  de’  piü  celebri  pittori  etc.  in  folgenden  Worten  an:  „H 
sno  natale  segu'i  il  giorno  28  di  Gingno  nelT  anno  MDLXXVIT.“ 
Die  Angabe  ist  wegen  ihrer  gesuchten  Form  auffällig,  viel¬ 
leicht  aber  nur  eine  rhetorische  Blume,  die  bei  Malern,  die 
gern  ihr  schriftstellerisches  Licht  leuchten  lassen,  nicht  selten 
ist.  Sandrart  nennt  den  28.  Juni. 


anderwärts  zurückgedrängte  Forscherlust  zu  schaffen, 
eröffneten  sie  den  Knaben  und  Jünglingen  die  un¬ 
gefährliche  Welt  des  griechisch-römischen  Altertums. 
In  dieser  Welt  zu  schwelgen,  war  jedem  erlavibt, 
und  in  dieser  Schule  scheint  Rubens  nicht  nur  den 
Grund  zu  seiner  humanistischen  Bildung,  die  ihn 
bis  an  sein  Lebensende  begleitet  hat  und  ihn  be¬ 
fähigte,  die  Werke  der  römischen  Schriftsteller  in 
ihrer  Sprache  zu  lesen  und  sich  sogar  in  dieser 
Sprache  mit  einer  gewissen  Leichtigkeit  auszu¬ 
drücken,  sondern  auch  die  Keime  zu  jener  Seite 
seiner  Kunst  gelegt  zu  haben,  die  ihn  Motive  aus 
dem  klassischen  Altertum  mit  derselben  Unbefangen¬ 
heit,  daneben  aber  auch  mit  derselben  Leidenschaft- 
lichkeitund  Inbrunst  behandeln  ließ,  wie  die  frommsten 
Devotionsbilder  und  die  mit  allen  Berauschungsmitteln 
des  Mystizismus  ausgestatteten  Versinnlich ungen  je¬ 
suitischer  Dogmen. 

üb  Rubens  nun  wirklich,  wie  die  Biographen 
bisher  nach  alter  Überlieferung  angegeben  haben, 
das  Jesuitenkollegium  in  Antwerpen  besucht  hat, 
konnte  bisher  nicht  dokumentarisch  belegt  werden. 
Es  liegt  sogar  ein  indirektes  Zeugnis  vor,  das  es 
wahrscheinlich  macht,  dass  Rubens  eine  von  einem 
weltlichen  Lehrer  geleitete  Schule  besucht  habe.  Am 
3.  Nov.  1600  schrieb  nämlich  der  Antwerpener 
Buchdrucker  Balthasar  Moretus  au  den  damals  in 
Rom  lebenden  Philipp  Rubens,  den  älteren  Bruder 
von  Peter  Paul,  einen  Brief,  worin  er  ihm  in  Erinne¬ 
rung  bringt,  dass  er  seinen  Bruder  schon  als  Knaben 
auf  der  Schule  kennen  gelernt  und  lieb  gewonnen 
habe.  Den  Nachforschungen  von  Rooses,  der  diesen 
Brief  zuerst  veröffentlicht  hat'),  ist  es  gelungen,  zu 
ermitteln,  dass  Moretus  die  Schule  eines  gewissen 
Rombaut  Verdonck  besucht  hat,  die  auf  dem  Lieb¬ 
frauenkirchhof,  hinter  dem  Chore,  lag.  Sein  noch 
in  der  St.  Jakobskirche  vorhandener  Grabstein  rühmt 
diesen  Verdonck  als  einen  „durch  Frömmigkeit  und 
Gelehrsamkeit  ausgezeichneten  Lateinlehrer“,  und 
wenn  Rubens  wirklich  sein  Schüler  geAvesen  ist, 
wissen  wir,  wem  er  seine  Kenntnis  der  lateinischen 
und  griechischen  Sprache  zu  verdanken  hat.  Dass  aber 
auch  diese  weltliche  Lateinschule  unter  jesuitischem 
Einfluss  oder  vielleicht  sogar  unter  jesuitischer  Auf¬ 
sicht  stand,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Schon 
drei  .Jahre  nach  ihrer  Ankunft  in  Antwerpen,  1575, 
hatten  die  Jesuiten  einen  Teil  des  Jugendunterrichts 
in  die  Hände  bekommen,  und  seit  1585,  nachdem 


1 )  Petrus  Paulus  Rubens  en  Balthasar  Moretus.  Ant¬ 
werpen  1884. 


17 


132 


PETER  PAUL  RUBENS. 


Rulie  und  Friede  wieder  in  Antwerpen  eingekehrt 
waren,  nahmen  sie  ihr  Werk  mit  verdoppelten  Kräften 
und  mit  noch  glücklicheren  Erfolgen  in  Angriff,  die 
schließlich  dazu  führten,  dass  ihnen  der  Magistrat, 
weil  die  Schulen  zu  eng  geworden,  ein  geräumiges 
Haus,  das  Jesuitenkollegium  (1608),  bauen  ließ. 

Immerhin  kann  Rubens  nur  kurze  Zeit  die  La¬ 
teinschule  des  Magisters  Verdonck  besucht  haben. 
Denn  in  ihrem  Testament  giebt  seine  Mutter  Maria 
Pypelincx  au ,  dass  zu  der  Zeit,  als  sich  ihre  Toch¬ 
ter  Blandine  vermählte  —  die  Hochzeit  fand  am 
25.  August  1590  statt  —  ihre  beiden  Söhne  Philipp 
und  Peter  Paul  ihren  Lebensunterhalt  bereits  selbst 
erwarben.  Peter  Paul  kann  demnach  den  Unterricht 
Verdonck’s  höchstens  drei  Jahre  genossen  haben, 
vermutlich  weil  seine  Mutter  danach  trachten 
musste,  die  Kosten  ihres  Hausstandes  möglichst  zu 
verringern.  Da  die  „Vita“  angiebt,  dass  der  junge 
Rubens  bald  nach  Vollendung  seiner  Studien  als 
Page  in  den  Hofhalt  der  Margarethe  von  Ligne,  der 
Witwe  des  Grafen  Philipp  von  Lalaing,  eintrat,  ist 
dieser  Zeitpunkt  spätestens  um  das  Jahr  1590  anzu¬ 
setzen.  Ruelens  hat  zu  ermitteln  versucht,  wo  die 
Gräfin  von  Lalaing  sich  damals  aufhielt,  und  nach 
seinen  Forschungen  ist  es  wahrscheinlich,  dass  die 
Gräfin  nach  dem  Tode  des  Gatten  ihren  Wohnsitz  in 
Audenarde  genommen  hat,  wo  also  auch  Rubens 
eine  Zeitlang  ihr  Hausgenosse  gewesen  ist. 

„Aber  bald“,  so  heißt  es  in  der  „Vita“,  „wurde er 
des  liofletjens  überdrüssig,  und  da  ihn  sein  Geist 
zuin  Studium  der  Malerei  trieb,  setzte  er  es  bei  seiner 
Mutter,  zumal  da  die  Mittel  seiner  Eltern  durch  die 
Kriege  bereits  erschöpft  waren,  durch,  dass  er  dem 
Antwerpener  Maler  Adam  van  Noort  zum  Unter¬ 
richt  übergeben  wurde.  Unter  diesem  Lehrer  legte 
er  vier  .lalire  lang  die  ersten  Grundlagen  zu  seiner 
Kunst.“  Kechnet  man  zu  diesen  vier  Jahren  die 
gleiclie  Zahl  hinzu,  die  Rubens  -nach  dem  Zeugnis 
der  ,\'ita“  bru  seinem  zweiten  lichrer  Otto  van 
\  een  zugebracht  hat,  und  stellt  man  damit  das 
I)atuni  seiner  Abnüse  nach  Rom  (9.  Mai  1600)  zu¬ 
sammen,  so  würde,  Rubens  danach  etwas  mehr  als 
zwei  .lalire  bei  der  Gräfin  ausgehalten  haben.  Es 
scheint  aber,  dass  sein  Aufenthalt  am  Hofe  der 
Gräfin  nicht  so  lange  gedauert  hat;  denn  nach  einer 
alten  I  berlieferung,  als  deren  erster  Träger  unser 
Sainlrart  in  seiner  „J’eutschen  Akademie“  erscheint-^), 

1  Diese  Angaben  siml  dem  I’iiclie  des  Jesuiten|jators 
Carola^  .Seriüaniiis  „Orif'ines  Aiitverpieiisiiuu“,  Antwerpen 
DjlO,  üei  .I«jlianne.s  Moretiis,  8.  105  entnommen. 

li)  Nac'li  Hooses,  (Jescliiclite  der  Malerscliule  Antwerpens 


hat  Rubens  noch  einen  dritten  Lehrer  gehabt,  dessen 
Unterweisung  der  von  Adam  van  Noort  und  Otto 
van  Veen  vorangegangen  sein  muss.  Wenn  die 
„Vita“  von  diesem  dritten  Lehrmeister  auch  nichts 
weiß,  so  darf  Sandrart’s  Angabe  doch  volle  Glaub¬ 
würdigkeit  beanspruchen.  Wie  er  mit  Stolz  erzählt, 
hat  er  Rubens  bei  einem  Besuche,  den  der  berühmte 
Meister  während  einer  nach  dem  Tode  seiner  ersten 
Gattin  nach  Holland  unternommenen  Reise  der 
Malerstadt  Utrecht  abstattete,  wo  Bandrart  damals 
bei  Honthorst  als  Schüler  arbeitete,  persönlich  kennen 
gelernt  und  ihm  sogar  wegen  Unpässlichkeit  seines 
Lehrers  als  Führer  gedient.  Er  führte  ihn  u.  a.  zu  Abra¬ 
ham  Bloemaert  und  Cornelis  Poelenburgh,  und  da  das 
Gespräch  sich  dabei  viel  um  die  Landschaftsmalerei 
drehte,  mag  Rubens  auch  erwähnt  haben,  dass  sein 
erster  Lehrer  ein  Landschaftsmaler  gewesen  sei  und 
dass  er  seitdem  sein  Leben  lang  immer  gern  Land¬ 
schaften  gemalt  habe.  Dafür,  dass  Sandrart  aus 
mündlicher  Überlieferung  schöpfte,  spricht  auch  die 
Art,  wie  er  diesen  Landschaftsmaler  nennt:  „  Tobias 
Ver  Hoch“.  So  mag  in  damaliger  Aussprache  der 
Name  des  Tobias  Verhaeght  oder  van  Haecht 
(1561 — 1631)  dem  jungen  Deutschen  ins  Ohr  ge¬ 
klungen  haben. 

Noch  andere  Gründe  machen  es  glaublich,  dass 
der  junge  Rubens  von  Verhaeght  in  die  Elemente 
der  Kunst  eingeführt  worden  ist.  Im  Jahre  1590 
aus  Italien  zurückgekehrt,  wurde  Verhaeght  noch  in 
demselben  Jahre  als  Meister  in  die  Lukasgilde  auf¬ 
genommen,  und  bald  darauf  heiratete  er  eine  Base 
von  Rubens.^)  Es  lag  also  nahe,  dass  man  sich  in 
der  Verwandtschaft  umsah,  als  der  etwa  vierzehn¬ 
jährige  Knabe  seinen  Entschluss,  Maler  zu  werden, 
kundgab.  Dann  aber  spricht  dafür,  dass  Rubens 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  seiner  künstlei'ischen 
Thätigkeit  die  Landschaftsmalerei  mit  großem  Eifer 
betrieben  und  dass  er  sogar  in  Rom,  wo  er  doch  so 
unendlich  viele  künstlerische  Eindrücke  zu  verar¬ 
beiten  hatte  und  daneben  selbst  schöpferisch  thätig 
war,  eine  große  Zahl  von  landschaftlichen  Natur- 
Studien  gemacht  hat,  die  zu  den  kostbarsten 
Schätzen  seines  heimgebrachten  Studienmaterials 
gehörten.  Diese  auffallende  Neigung  zur  Land- 

S.  1()8,  giebt  es  auch  ein  gestochenes  Bildnis,  dessen  Unter- 
sebrift  darauf  hinweist,  dass  Verhaeght  Rubens’  erster  Leh¬ 
rer  gewesen  ist.  Ks  ist  vermutlich  der  Stich  von  C.  van 
Caukerken  nach  Otto  van  Veen’s  Zeichnung. 

1)  Urkundliche  Nachrichten  über  Verhaeght  hat  zuerst 
F.  J.  van  den  Branden  in  seiner  ,,üeschiedenis  der  Ant- 
werpsche  Schilderschool“  (Antwerpen  1883)  S.  384 — 389  bei¬ 
gebracht. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


133 


Schaftsmalerei  findet  eine  ungezwungene  Erklärung 
durch  die  Eindrücke,  die  Rubens  von  seinem  ersten 
Lehrer  empfangen  hat.  Was  Rubens  vou  ihm  ge¬ 
lernt  und  in  sein  späteres  künstlerisches  Besitztum 


de  Bles  begründet,  von  F.  und  G.  Mostaert,  C.  Mole- 
naer,  Gillis  van  Coninxloo,  den  Brüdern  Matthäus 
und  Paul  Bril  u.  a.  fortgeführt  wurde,  ln  Rom 
hatte  Verhaeght  gleich  den  Brüdern  Bril  auch  land- 


Mariä  Verkündigung.  Gemälde  von  Jk  P.  Kuisens  in  der  kaiserlichen  Galerie  zu  Wien.  Nach  einer  Photographie  vou  J.  Löwy. 


mit  übernommen  hat,  kann  freilich  nur  von  sehr 
geringem  Werte  gewesen  sein.  Denn  aus  dem 
wenigen,  was  wir  von  Verhaeght  wissen,  war  er 
ein  Abkömmling  jener  Richtung  der  vlämischen 
Landschaftsmalerei,  die  vou  Patiuier  und  Herri  met 


schaftliche  Wandgemälde  in  Fresko  gemalt.  Ob  er 
sich  dabei  auch  einen  großen  Stil  angeeignet  hatte, 
ist  fraglich.  Die  Urkunden,  auf  die  wir  zur  Fest¬ 
stellung  der  künstlerischen  Eigenart  Verhaeght’s  an¬ 
gewiesen  sind,  deuten  vielmehr  darauf  hin,  dass  er 


134 


PETER  PAUL  RUBENS. 


nach  seiner  Rückkehr  in  die  Heimat  in  der  Art  der 
vaterländischen  Überlieferung  weiter  arbeitete.  Außer 
acht  Kupferstichen  von  Egbert  van  Panderen  und 
Hendrik  de  Hondt,  die  die  vier  Tageszeiten  und 
vier  Seestücke  darstellen,  kommt  nur  ein  einziges 
Gemälde*)  in  Betracht,  das  uns  von  dem  gesamten, 
ziemlich  umfangreichen  Schaffen  Verhaeght’s  übrig 
geblieben  ist:  eine  mit  eine)n  aus  den  Buchstaben 
V  T  H  zusammengesetzten  Monogramm  und  der 
Jahreszahl  1613  (oder  1615)  bezeichnete  Gebirgs¬ 
landschaft  mit  Staffage,  die  das  bekannte  Abenteuer 
Kaiser  Maximiliau’s  1.  auf  der  Martiuswand  darstellen 
soll  (im  Museum  zu  Brüssel).  Das  Bild  ist  nach 
dem  alten  Rezepte  gemalt:  ein  blauer  Hintergrund 
mit  blauer  Fernsicht  und  blauen  Bergen,  in  unver¬ 
mitteltem  Gegensatz  dazu  das  kalte  Grün  des  Vorder¬ 
grunds,  eine  kleinliche,  pedantische  Behandlung  des 
Baumschlags  und  im  Einklang  damit  steif  gezeich¬ 
nete,  wie  aus  Holz  geschnitzte  Figuren,  die  vermutlich 
auf  die  eigene  Rechnung  des  Malers  kommen,  der 
sich  sonst  fremder  Beihilfe  für  die  Staffage  bediente. 

Wie  wenig  oder  wie  viel  Rubens  bei  Verhaeght 
auch  gelernt  haben  mag,  außer  der  Liebe  zur  Land¬ 
schaft,  insbesondere  zur  italienischen  Landschaft  mit 
Ruinen  wird  er  schon  bei  ihm  die  Sehnsucht  nach 
Italien  eingesogen  haben.  Ein  Figurenmaler,  ein 
Kirchen-  und  Historienmaler  hat  aber  damals  in 
höherem  Ansehen  gestanden  als  ein  Landschafts¬ 
maler;  darum  hat  vielleicht  auch  die  „Vita“  keine 
Notiz  von  Verhaeght  genommen,  sondern  Rubens’ 
künstlerische  Studien  erst  beginnen  lassen,  als  er  in 
die  ^Verkstatt  Adam  van  Noort’s  trat  und  von  die¬ 
sem  als  wirklicher  Lehrling  für  die  Register  der 
Lukasgilde  angemeldet  wurde.  Bei  der  Frage,  was 
nun  fler  junge  Rubens  vier  Jahre  lang  von  Adam 
van  Noort  gelernt  haben  kann,  muss  die  Antwort 
wiederum  ausbleiben.  Denn  mit  dem  künstlerischen 
Nachl  a.s.s  van  Noort’s  (1562 — 1641)  ist  es  noch  miss¬ 
licher  bestellt  als  mit  dem  Verhaeght’s.  Von  den 
Gemälden,  die  ihm  zugeschrieben  werden,  ist  nicht 
ein  einziges  durch  ein  Monogramm  oder  eine  Urkunde 
bezeugt.  Aus  mehr  oder  weniger  zuverlässigen 
1 ’bcriiefernngen ,  aus  Anekdoten,  die  dem  Künstler 
eine  Hoheit  des  Wesens  audichteten,  die  natür- 
lich  aiicli  seine  Werke  widersjäegeln  mu.ssten,  und 
l)esonders  aus  dem  Umstande,  dass  außer  Rubens 

1  Nacl)  einer  Angabe  von  A.  .1.  Wauters  in  seiner 
flescbichte  der  „ Vläini.scben  Malerei“  (Deutsche  Ausgabe, 
I/cipzig  lSb.3,  S.  17.5)  soll  cs  noch  ein  /weites  Gemälde  von 
Verhaeght  und  zwar  in  Deul.schland  gehen.  Wo  sich  dieses 
tteniiilde  befindet,  ist  mir  unbekannt. 


auch  Jordaens  sein  Schüler  gewesen,  hat  man  ein 
Bild  seiner  Kunst  erdacht,  dem  jede  sichere  Grund¬ 
lage  fehlt,  und  wo  sie  wenigstens  den  Schein  der 
Sicherheit  gewinnt,  handelt  es  sich  um  Bilder,  Zeich¬ 
nungen  und  Stiche  nach  seinen  Kompositionen,  die 
nach  Rubens’  Abreise  nach  Italien  oder  gar  erst  nach 
seiner  Rückkehr  entstanden  sind.  Nur  so  viel  scheint 
sicher  zu  sein ,  dass  Adam  van  Noort  ein  tüchtiger 
und  deshalb  gesuchter  Lehrer  war,  dass  er  aber  als 
Künstler  mehr  empfangend  als  schöpferisch  thätig 
war.  Solange  die  scharfsinnigen  Untersuchungen, 
die  Max  Rooses  auf  die  am  meisten  beglaubigten 
Gemälde  van  Noort’s  gegründet  hat*),  nicht  durch 
Urkunden  widerlegt  werden,  muss  man  die  Annahme 
gelten  lassen,  dass  Adam  van  Noort  erst  unter  dem 
Einflüsse  der  Meisterwerke  seiner  Schüler  Rubens 
und  Jordaens  zu  einem  Maler  von  einiger  Bedeutung 
geworden  ist. 

O  I 

Immerhin  muss  Rubens  unter  Adam  van  Noort 
soweit  vorwärts  gekommen  sein,  dass  er  schon  nach 
zweijähriger  Arbeit  in  der  Werkstatt  des  Otto  van 
Veen,  in  die  er  um  1596  ein  trat,  als  Freimeister  in 
die  Lukasgilde  aufgenommen  wurde.  Otto  van  Veen 
(1556 — 1623)  oder  Otto  Vaenius,  wie  er  sich  gern 
nannte  und  nennen  ließ,  weil  er  mit  dem  Ruhme 
des  Malers  auch  den  des  gelehrten  Dichters,  des 
Meisters  der  lateinischen  Sprache,  des  sinnigen  Er¬ 
finders  von  Symbolen  und  Allegorieen  zu  verbinden 
suchte,  bezeichnet  die  letzte  Höhenschwingung  in 
dem  unselbständigen  Italienertum  derniederländischen 
Malerei.  Alles  an  und  von  ihm  war  abgeschliffen 
und  weltgewandt,  er  wusste  und  kannte  alles,  was 
andere  vor  ihm  gewusst  und  gekannt  hatten,  aber 
er  hatte  keine  Individualität,  selbst  in  den  Bildnissen 
nicht,  die  seine  äußerliche  Persönlichkeit  mit  den¬ 
selben  Mitteln  kühler  Besonnenheit  wiedergeben,  die 
er  in  seiner  eigenen  Kunstübung  niemals  verleugnet 
hat.  Es  ist  ein  seltsames  Verhängnis,  dass  auch  an 
den  Gemälden,  die  seinen  Namen  tragen,  der  Geist 
der  zweifelnden  Kritik  nagt,  die  erst  schriftliche 
Urkunden  haben  muss,  ehe  sie  sich  mit  Überliefe¬ 
rungen  von  Mund  zu  Mund  beschäftigt.  Immerhin 
giebt  es  eine  Anzahl  von  den  Otto  van  Veen  zuge¬ 
schriebenen  Gemälden,  die  so  gut  beglaubigt  sind, 
dass  man  .sich  danach  ein  Bild  von  dem  Umfange 
seiner  künstlerischen  Kraft  machen  kann.  Wenn 
man  aber  die  Frage  schärfer  fasst:  was  konnte  Otto 
van  Veen  damals,  als  Rubens  in  seine  Werkstatt 

1)  Geschichte  der  Malerschide  Antwerpens,  deutsch  von 
F.  lieber,  München  1881,  S.  145-148. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


135 


trat?  —  so  bleiben  nur  zwei  Bilder  übrig,  die  uns 
als  Anhaltspunkte  dienen  können:  die  mystische  Ver¬ 
mählung  der  heiligen  Katharina  mit  dem  Jesuskinde 
im  Museum  zu  Brüssel,  die  mit  seinem  vollen  Namen 
(Otho  Venius)  und  der  Jahreszahl  1589  bezeichnet 
ist,  und  das  Martyrium  des  heiligen  Andreas  in  der 
Andreaskirche  zu  Antwerpen,  das  bei  ihm  1594  be¬ 
stellt  wurde,  vermutlich  also  bald  darauf  ausgeführt 
worden  ist.  Danach  erscheint  uns  Otto  van  Veen 
als  ein  noch  etwas  unbeholfener  Eklektiker,  der  die 
Schwerfälligkeit  seines  Temperaments,  die  Mitgabe 
seiner  holländischen  Heimat  —  er  stammte  aus 
Leiden  —  noch  nicht  völlig  nnter  dem  Emflnsse 
seiner  besonders  unter  der  Anleitung  des  Manieristen 
Federigo  Zucchero  gemachten  italienischen  Studien 
überwunden  hatte.  Noch  fehlte  es  ihm  an  der  ge¬ 
fälligen,  wenn  auch  oberflächlichen  nnd  empfindnngs- 
leeren  Anmut,  die  seine  reifsten,  nach  1600  ent¬ 
standenen  Gemälde  kennzeichnet.  Auch  mit  seinem 
malerischen  Können  war  es  noch  nicht  sehr  gut  be¬ 
stellt:  seine  Lokalfarben  sind  kalt  und  trocken,  die 
grünlichen  Schatten  im  Fleisch  machen  einen  un¬ 
angenehmen  Eindruck,  und  der  Gesamtton  ist  flau, 
ohne  Glanz  und  Kraft. 

Aber  was  nützt  es  uns,  mit  dem  Aufgebot  aller 
kritischen  Mittel  festznstellen,  welch  einen  künst¬ 
lerischen  Rang  Rubens’  Meister  in  seinen  Lehrjahren 
von  1590 — 1600  eingenommen  haben,  wenn  wir  nicht 
wissen,  was  Rubens  selbst  gekonnt  liat,  bevor  er 
nach  Italien  ging,  nm  dort  ein  neuer  Mensch  und 
ein  anderer,  ganzer  Künstler  zu  werden?  Es  hat 
nicht  an  Bemühungen  gefehlt,  Gemälde  ausfindig 
zu  machen,  die  Rubens  vor  seiner  Abreise  nach 
Italien  gemalt  haben  soll,  und  darauf  Hypothesen 
aufzurichten.  Rooses  führt  in  seinem  chronolo¬ 
gischen  Verzeichnis  der  Werke  *)  noch  sechs  solcher 
Bilder  an,  von  denen  er  jedoch  schon  selbst  zwei 
als  im  höchsten  Grade  verdächtig  durch  den  Zusatz 
eines  Fragezeichens  ausscheidet.  2)  Aber  auch  von 
den  übrigen  vier  sind  drei,  das  Bildnis  eines  Mannes 
mit  breiter  Halskrause  mit  der  Jahreszahl  1599  in 
der  Galerie  Leuchtenberg  in  Petersburg,  Christus 
und  Nikodemus  bei  Madame  van  Parys  in  Brüssel 
und  Pausias  und  Glycera  in  Grosvenor  House  in 
London,  so  zweifelhaft,  dass  wir  sie  aus  dem  Spiele 
lassen  müssen,  bevor  nicht  stärkere  Beweise  für  ihre 


1)  L’oeuvre  de  P.  P.  Rubens,  Bd.  V,  S.  423. 

2j  Ein  angebliches  Selbstporträt  von  1599,  das  sich  in 
der  1867  in  Köln  versteigerten  Sammlung  A.  G.  Thiermann 
befand,  aber  seitdem  verschollen  ist,  und  eine  Krönung 
Mariä  in  der  Ermitage  zu  St.  Petersburg. 


Echtheit  beigebracht  sind,  als  sie  die  eifrigen  Be¬ 
mühungen  von  Rooses  herbeizuschaffen  vermocht 
haben.  Das  vierte  dagegen,  die  Verkündiguug  Mariä 
in  der  kaiserlichen  Galerie  zu  Wien  (im  Kataloge 
von  Engerth  Bd.  11,  Nr.  1160,  s.  die  Abbildung  auf 
S.  133),  ist  zunächst  durch  unanfechtbare  Zeugnisse 
als  ein  Jugendbild  von  Rnbens  beglaubigt,  und 
da  es  außerdem  noch  keine  Spur  der  unter  italie¬ 
nischem  Himmel  und  unter  dem  Einflüsse  von  Tizian 
nnd  Paola  Veronese  gewonnenen  Sättigung  und  Tiefe 
des  Kolorits,  wohl  aber  in  der  Färbung  die  für  die 
niederländischen  Italianisten  bezeichnenden  Eigen¬ 
tümlichkeiten  eines  bläulich-grauen  Tons  und  eines 
stechenden  kalten  Glanzes  zeigt,  so  kann  es  keinem 
Zweifel  mehr  unterliegen,  dass  wir  in  dem  Wiener 
Bilde  das  einzige  Werk  besitzen,  das  nns  über  das 
Maß  des  Könnens,  das  Rubens  nach  Italien  mitnahm, 
unterrichten  kann.  Dass  wir  es  mit  einem  Jugend¬ 
bilde  des  Meisters  zu  thun  haben,  geht  aus  der  von 
dem  Kunstverleger  Martin  van  den  Enden  verfassten 
Widmung  des  Stichs  hervor,  den  Schelte  a  Bols- 
Avert  nach  dem  Gemälde  ausgeführt  hat.  Als  der 
Stich  in  den  Handel  kam,  Avar  Rubens’  Kunst  so 
völlig  eine  andere  geAvorden,  dass  das  Bild  einer 
ausdrücklichen  Bekräftigung  bedurfte,  ln  der  Wid¬ 
mung  heißt  es  denn  auch,  dass  die  Gelehrtengesell¬ 
schaft  (Sodalitas  Parthenia  niajor),  der  das  Blatt  zu¬ 
geeignet  Avird,  das  Bild  „einst“  (quondam)  von 
„Rubens’  Hand  hat  malen  lassen.“  Bei  den  engen 
Bezieliungen  ZAvischen  Rubens  und  dem  großen  Inter¬ 
preten  seiner  Werke  ist  anzunehmen,  dass  Rubens 
selbst  einen  Hinweis  auf  den  frühen  Ursprung  des 
Bildes  gefordert  haben  Avird.  Überdies  liegt  uns 
noch  ein  älteres  Zeugnis  als  der  Bolswert’sche  Stich 
vor.  Dieselbe  Komposition,  vermutlich  auf  Grund 
einer  von  dem  Original  mehrfach  abweichenden  Zeich¬ 
nung  von  Rubens,  hat  Theodor  Galle  für  ein  1614 
von  der  Druckerei  Plantiu-Moretus  herausgegebenes 
„Breviarium  Romanum“  gestochen. 

Die  Wiener  „Verkündigung“  ist  die  Quintessenz 
jener  fast  kalligraphischen  Eleganz,  die  die  nieder¬ 
ländischen  Italienfahrer  als  höchstes  Kunstideal  in 
die  Heimat  gebracht  hatten.  Alle  Manierirtheiten, 
alle  schwülstigen  Übertreibungen  der  Nachahmer 
Michelangelo’s  sind  hier  in  die  Malerei  übertragen 
worden:  die  bauschigen,  wie  vom  Winde  aufgebläh¬ 
ten  GeAvänder  mit  ihrer  Fülle  nnd  ihrem  Wirrwarr 
von  Falten,  die  korrekte  Eleganz  der  Köpfe  und 
der  nackten  Körperteile,  die  gezierten  Bewegungen 
der  Hände,  Arme  und  Füße,  das  kalte,  nur  wenig 
durch  Anmut  gemilderte  Ceremoniell  im  Ausdruck 


136 


PETER  PAUL  RUBENS. 


der  Gefühle.  Damit  harmonirt  denn  auch  die  kühle 
Färbung,  die  Gegenüberstellung  von  weißen  und 
blauen  Dominanten  ohne  die  Vermittelung  von  war¬ 
men  Halbschatten,  so  dass  die  Gruppe  wie  aus  Metall 
gebildet  erscheint.  Aber  in  die  erkältende  Grund¬ 
stimmung  bricht  doch  schon  ein  Stück  von  dem 
eigenen  Temperamente  des  jungen  Künstlers  hinein: 
die  beiden  Hauptfiguren  sind  die  Reflexe  der  ange¬ 
lernten  Kunst,  von  der  sich  ihr  Schöpfer  fortan  ab¬ 
wendet;  was  aber  über  ihnen  schwebt,  die  blond- 
und  braunlockigen  Engelsbübchen  mit  den  naiv  und 
doch  so  klug  blickenden  Augen  und  den  schwellenden 
Gliedern,  —  das  ist  ein  Vorbote  der  echt  Rubens’schen 
Kunst,  die  schnell  ihre  erste  Blüte  entfalten  sollte. 

Lehrling  van  Veen’s  im  Sinne  der  Satzungen 


])  Nach  der  Charakteristik,  die  Rooses,  L’oeuvre  II,  S.  7 
von  dem  Bilde  „Christus  und  Nikodemus“  entwirft,  ist  dieses 


der  Lukasgilde  ist  Rubens,  wie  schon  erwähnt,  nur 
zwei  Jahre  gewesen.  Schon  1598  wurde  er  als  Prei- 
meister  in  die  Lukasgilde  aufgenommen;  es  scheint 
jedoch,  dass  er,  ebenso  wie  es  zwei  Dezennien  später 
sein  eigener  berühmtester  Schüler  van  Dyck  that, 
noch  fernere  zwei  Jahre  in  der  Werkstatt  seines 
Lehrmeisters  gearbeitet  hat.  „Aber  da  er  schon  in 
dem  Rufe  stand,“  erzählt  die  „Vita“,  „dass  er  seinem 
Meister  die  Palme  des  Vorrangs  streitig  machte,  er¬ 
griff  ihn  der  Drang,  Italien  zu  sehen,  damit  er  dort 
die  berühmtesten  Werke  der  alten  und  neuen  Künstler 
näher  betrachten  und  nach  diesen  Vorbildern  seinen 
Pinsel  bilden  könnte.  Er  reiste  am  9.  Mai  1600  ab.“ 
Sein  Reisepass,  von  dem  noch  eine  Abschrift  er¬ 
halten  ist,  trägt  das  Datum  des  8.  Mai. 

_  (Fortsetzung  folgt.) 

von  den  angeblichen  Jugendwerken  am  nächsten  mit  dem 
Wiener  Gemälde  verwandt. 


Mutterliebe.  Gemälde  von  G.  IIitchcock.  (Aus  Scribner’s  Magazine.) 


Kopfleiste  von  Schweinfurth.  (Aus  der  American  x\rt  Review,  Bd.  I.) 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 

EINDRÜCKE  VON  EINEM  BESUCHE  DER  WELTAUSSTELLUNG  IN  CHICAGO. 

VON  TU.  BODE. 


IE  Ausstellung  in  Chicago, 
so  verschieden  sie  von  den 
europäischen  Besuchern  be¬ 
urteilt  worden  ist,  hat  in  einer 
Richtung  alle  überrascht 
und  einstimmigste  Bewun¬ 
derungerregt:  in  ihren  künst¬ 
lerischen  Leistungen.  Die 
Disposition  und  die  Architektur  der  Ausstellungs¬ 
bauten  war  das  Großartigste,  was  überhaupt  auf 

einer  Ausstellung  versucht  worden  ist;  die  xAusstattung 
der  Bauten  und  Plätze  durch  bildnerischen  Schmuck 
aller  Art  war  eine  überraschend  wirkungsvolle,  und 
die  amerikanische  Abteilung  im  Kunstpalast  war 
nicht  nur  die  umfangreichste,  sondern  im  Durch¬ 
schnitt  auch  die  beste.  Wie  wenig  man  bei  uns 
auf  einen  solchen  Erfolg  vorbereitet  war,  bewies  das 
Urteil  eines  deutschen  Künstlers,  der  ein  offenes 
Auge  für  die  Vorzüge  fremder  Kunst  hat  und  die 
Schwächen  unserer  eigenen  Kunst  nicht  zu  verheim¬ 
lichen  sucht:  er  sprach  den  Amerikanern,  ohne  alle 
Einschränkung,  jede  Kunst  und  sogar  die  Möglich¬ 
keit  einer  künstlerischen  Entwickelung  ab,  weil  ihnen 
die  Basis,  die  künstlerische  Tradition,  dafür  fehle. 
Die  Ausstellung  zeigte  dagegen,  dass  Amerika  schon 
eine  nach  allen  Richtungen  entwickelte  Kunst  auf- 
Zeitschrift  fdr  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  6. 


zuweisen  hat,  die  alle  Vorzüge  der  Jugend  besitzt: 
Frische,  Naivetät  und  Selbstvertrauen;  Vorzüge,  die 
leider  unserer  eigenen  Kunst  keineswegs  in  gleichem 
Maße  nachgerühmt  werden  können. 

Die  missachtende  Behandlung  der  amerika¬ 
nischen  Kunsthestrebungen  und  künstlerischen  Lei¬ 
stungen  hat  zum  größten  Teil  ihren  Grund  in 
dem  Mangel  an  Kenntnis  derselben.  Leider  wird 
auch  die  Ausstellung  darin  nicht  sehr  viel  ändern, 
da  der  Besuch  derselben  von  Künstlern  und  Kunst¬ 
freunden  Europas  ein  sehr  schwacher  war.  Die 
Unterschätzung  hat  aber  noch  einen  tiefer  liegen¬ 
den  Grund:  sie  beruht  zugleich  auf  einer  in  Europa 
und  ganz  besonders  bei  uns  in  Deutschland  weit 
verbreiteten  Verkennung  der  amerikanischen  Ver¬ 
hältnisse  überhaupt.  Man  sieht  die  starken  Schatten 
und  über, sieht  die  Lichtseiten  des  amerikanischen 
Charakters;  man  urteilt  nach  der  oberflächlichen, 
oft  unvorteilhaften  Erscheinung,  die  jedes  fremde 
Land  bei  flüchtigem  Besuche  bietet,  und  man 
beurteilt  nach  dem  politischen  Leben  das  soziale 
und  Familienleben  des  Amerikaners  und  kommt  da¬ 
durch  zu  einem  völlig  schiefen  Urteil.  Denn  öffent¬ 
liches  und  Privatleben  sind  drüben  zwei  ganz  ver¬ 
schiedene  Dinge:  die  Politik,  die  kleine  wie  die 
große,  ist  in  Amerika  ein  Geschäft,  und  zwar  ein 

18 


138 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


zum  Teil  recht  schmutziges  Geschäft,  mit  dem  ein 
anständiger  Amerikaner,  falls  er  nicht  nach  hohen 
Staatsämtern  strebt,  nichts  zu  thuu  haben  mag.  Das 
Privatleben  beruht  dagegen  auf  einer  sehr  ernsten 
Basis,  und  das  Familienleben  ist,  trotz  der  selbstän¬ 
digen  Entwickelung,  die  man  den  Kindern  ange¬ 
deihen  lässt,  ein  strenges  und  inniges.  Von  diesem 
sittlichen  Ernst  ist  auch  das  wissenschaftliche  wie 
das  künstlerische  Streben  der  Amerikaner  durch¬ 
drungen;  sie  verdanken  demselben  die  raschen  Er¬ 
folge  und  die  Bürgschaft  für  eine  gesunde  Weiter¬ 
entwickelung. 

Wie  schon  die  Entstehung  der  Kunst  in  den  Ver¬ 
einigten  Staaten  für  uns  Europäer  etwas  Rätsel¬ 
haftes,  Absonderliches  hat,  so  bietet  auch  die  Art 
der  Entwickelung,  manches  Überraschende.  Nicht 
die  Architektur  oder  die  Plastik  hat  hier  den  An¬ 
fang  gemacht,  sondern  die  Malerei,  die  bei  uns  die 
jüngste  der  Schwesterkünste  i.st.  Ihre  rasche  und 
reiche  Entfaltung  hat  auf  eine  künstlerische  Gestal¬ 
tung  der  Architektur  und  Plastik  wie  auf  das  Kunst¬ 
handwerk  einen  wesentlichen  Einfluss  geübt.  Mit 
einer  Betrachtung  der  amerikanischen  Malerei  be¬ 
ginne  ich  daher  die  Aufzeichnungen  über  die  Ein¬ 
drücke,  welche  die  Kunst  der  Vereinigten  Staaten 
bei  einem  Aufenthalt  gelegentlich  der  Ausstellung 
auf  mich  gemacht  haben.  Da  dieser  Aufenthalt 
leider  nur  ein  sehr  kurzer  war,  so  können  diese 
Aufzeichnungen  den  Anspruch  auf  eine  nur  einiger¬ 
maßen  vollständige  oder  zusammenhängende  Dar¬ 
stellung  der  amerikanischen  Kunstverhältnisse  nicht 
machen.  Da  letztere  aber  bisher  von  europäischer  Seite 
fast  ganz  unberücksichtigt  geblieben  sind,  so  bietet 
die  Veröffentlichung  dieser  Eindrücke  auch  so  viel¬ 
leicht  ein  gewisses  Interesse. 


Di(}  Ausstellung  in  Chicago  hatte  eine  Sonder- 
ausstelliing  älterer  Werke  amerikanischer  Kunst 
aufzuweisen.  Ein  kleiner  Saal  war  mit  Gemälden 
aus  den  letzten  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahrhunderts 
und  aus  der  Zeit  vor  dem  Bürgerkrieg  angefüllt; 
es  waren  nicht  mehr  als  etwa  hundert  Bilder,  unter 
denen  verschiedene  von  eben  verstorbenen  Künstlern 
(wie  George  Füller  und  Jervis  Mc  Entee)  noch  der 
neuesten  Kunst  zuzurechnen  sind.  Die  älteren  Maler 
—  von  einer  Schule  kann  man  bei  ihnen  noch  nicht 
reden  —  sind  wenig  bedeutende  oder  schwache  Nach¬ 
folger  der  englischen  Schule  vom  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts;  die  Maler  der  Neuzeit,  bis  zur  Mitte 
unseres  Jahrhunderts,  stehen  diesen  Künstlern  aber 


fast  ausnahmslos  noch  nach.  Ohne  ausgesprochene 
Originalität,  ohne  wahren  künstlerischen  Sinn  er¬ 
scheinen  sie  bald  von  der  gleichzeitigen  deutschen, 
bald  von  der  französischen  oder  englischen  Schule 
abhängig,  je  nach  den  Beziehungen,  in  die  sie  zu¬ 
fällig  zu  der  einen  oder  anderen  traten.  Die  Arbeiten 
dieser  Zeit  haben  ein  historisches  Interesse  für 
Amerika,  der  allgemeinen  Kunstgeschichte  gehören 
sie  aber  nicht  an;  sind  sie  doch  nicht  einmal  als 
Vorbereitung  der  neuesten  Phase  der  amerikanischen 
Kunst  von  einschneidender  Bedeutung. 

Von  wirklicher  Kunst  kann  man  in  der  Malerei 
der  Vereinigten  Staaten  höchstens  seit  zwei  Men¬ 
schenaltern  sprechen;  eine  reichere  Entwickelung 
datirt  sogar  erst  aus  den  letzten  fünfzehn  Jahren, 
und  eine  selbständige  namhafte  Plastik  ist  drüben 
eben  erst  im  Entstehen.  Aber  die  Ausstellung  be¬ 
wies  sowohl  durch  die  Zahl  der  Bilder  (etwa  drei¬ 
zehnhundert),  zu  denen  die  Zeichnungen  und  Maler¬ 
radirungen  in  ähnlichem  Verhältnisse  stehen,  als  auch 
durch  die  Zahl  der  darin  vertretenen  Künstler,  wel¬ 
chen  Umfang  in  dieser  kurzen  Zeit  die  malerische 
Produktion  in  den  wenigen  bisher  in  Betracht  kom¬ 
menden  Städten  gewonnen  hat.  Dabei  muss  der 
Jury  die  Anerkennung  gezollt  werden,  dass  sie  in 
der  Auswahl  keineswegs  zu  milde  gewesen  ist;  die 
amerikanische  Abteilung  machte,  obgleich  weitaus 
die  umfangreichste,  einen  gewählteren,  einheitliche¬ 
ren  Eindruck  als  die  Ausstellungen  der  meisten  an¬ 
deren  Nationen,  ganz  besonders  als  die  Gemälde¬ 
abteilung  der  Franzosen,  deren  Kritiker  mit  sehr 
ungerechtfertigter  Missachtung  von  den  Leistungen 
der  amerikanischen  Künstler  in  Chicago  gesprochen 
haben. 

Dieses  ungünstige,  wohl  zum  Teil  missgünstige 
Urteil  der  Franzosen  über  die  Ausstellung  im  all¬ 
gemeinen  und  insbesondere  über  die  amerikanischen 
Künstler  ist  diesen  besonders  empflndlich;  sind  sie 
doch  heute  der  großen  Mehrzahl  nach  Schüler  der 
Franzosen  oder  wenigstens  von  ihnen  beeinflusst. 
Wer  die  Ausstellungen  im  Salon  und  auf  dem  Champ 
de  Mars  während  der  letzten  zehn  Jahre  genauer 
verfolgt  hat,  wird  in  Chicago  in  der  amerikanischen 
Abteilung  zahlreichen  Bekannten  von  Paris  her  be¬ 
gegnet  sein.  Die  namhaftesten  Künstler  sind  fast  alle 
in  Paris  erzogen  worden  und  sind  hier  Schüler  von 
Gerome,  von  Bonnat  oder  anderen  als  Künstler  und 
Lehrer  berühmten  Malern  gewesen.  Dasselbe  gilt 
von  den  Bildhauern.  Nur  eine  kleine  Zahl  hat  ihre 
Ausbildung  in  Deutschland,  namentlich  in  München, 
in  England  oder  in  Italien  erhalten;  aber  auch  diese 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


139 


haben  meist  nebenbei  eine  Zeitlang  in  Paris  gear¬ 
beitet.  Dieses  Schnlverbältnis  kommt  natürlich  in 
den  Arbeiten  der  amerikanischen  Künstler  zum  Aus¬ 
druck.  Wir  erkennen  schon  im  Durchgehen  durch 
die  Räume  der  Ausstellung  hier  einen  Schüler  von 
Gerome,  dort  von  Carolus  Duran  oder  Bönnat,  hier 
einen  Nachfolger  von  Bastien  Lepage,  dort  von  Bes- 
nard  oder  anderen  Führern  der  französischen  Malerei 
und  Plastik.  Dennoch  machen  ihre  Werke  keines¬ 
wegs  den  Eindruck  französischer  Kunst;  auch  die 
ganz  im  Ausland  lebenden  amerikanischen  Künstler 
bewahren  regelmäßig  mehr  oder  weniger  ihren  eige¬ 
nen  nationalen  Charakter.  Freilich  ist  derselbe  keines- 


selbst  der  Gegensatz  zwischen  den  Jungen  und  den 
Alten  (bei  uns  oft  so  stark,  dass  ein  Jahrhundert 
zwischen  ihnen  zu  liegen  scheint)  ist  vielfach  nur 
ein  geringer,  da  der  frische  moderne  Geist  auch  die 
älteren  erfasst  und  bestimmt  hat.  Charakteristisch 
und  ein  Ausfluss  dieses  ganz  modernen  Sinnes  ist 
auch  das  Fehlen  jeder  Historienmalerei.  Von  dem 
Einfluss  eines  Leutze  oder  seiner  Nachfolger  ist 
nichts  mehr  zu  merken;  selbst  die  Columbische  Aus¬ 
stellung  hat  die  amerikanischen  Künstler  zu  histo¬ 
rischen  Darstellungen  nicht  verleiten  können,  obgleich 
solche  zweifellos  patriotische  Ahnehmer  in  Menge  ge¬ 
funden  hätten.  Die  amerikanische  Kunst  von  heute 


Herbstmorgen.  Gemälde  von  Geo.  Inness.  (Aus  dem  Century  Magazine.) 


wegs  SO  stark  ausgeprägt  wie  im  amerikanischen  Hand¬ 
werk  und  teilweise  selbst  in  der  amerikanischen 
Architektur.  Dazu  sind  Malerei  und  Plastik  hier 
noch  gar  zu  jung;  auch  haben  dieselben  ja  heutzutage 
überall  einen  stärkeren  internationalen  Zug  als  das 
Handwerk,  in  dem  nationale  Gewohnheiten  sich  leich¬ 
ter  und  schärfer  ausprägen  können. 

Ganz  augenfällig  ist,  schon  bei  einem  flüchtigen 
Blick  in  die  Säle,  der  einheitliche,  durchgehend  mo¬ 
derne  Charakter  fast  aller  Bilder.  Da  ist  nichts  zu 
bemerken  von  der  Verschiedenheit  der  Schulen,  wie 
sie  sich  besonders  in  Deutschland,  selbst  unter  den 
gleichalterigen  jüngeren  Malern  geltend  macht;  ja 


geht  völlig  auf  in  der  Wiedergabe  des  Individuellen: 
das  Bildnis,  das  Sittenbild  und  die  Landschaft  sind 
daher  die  Motive,  die  fast  allein  dargestellt  werden  und 
die  sich  immer  wiederholen.  Viele  namentlich  unter 
den  jungen  Künstlern  bethätigen  sich  in  allen  Gattun¬ 
gen  und  sind  in  allen  gleich  gevvandt. 

Gemeinsam  ist  den  modernen  amerikanischen 
Künstlern  auch  die  Abneigung  gegen  jede  Art  von 
Übertreibung.  Während  unsere  Künstler,  voran  die 
Franzosen,  im  Haschen  nach  dem  Originellen  nur 
zu  häufig  die  abenteuerlichsten  und  oft  abgeschmack¬ 
testen  Motive  wählen  und  bestimmte  neue  Richtun¬ 
gen  bis  zur  Karikatur  übertreiben,  halten  sich  die 

18* 


Hast  unter  Ruinen.  Gemälde  von  Th.  Robinson.  (.\us  Scribner's  Jlagazine. 


•1 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


141 


amerikanischen  Künstler  fast  ausnahmslos  von  sol¬ 
chen  Extravaganzen  fern.  Die  „Spanish  Women“ 
von  Dannat  standen  darin  fast  allein  und  wurden 
deshalb,  so  sehr  das  Talent  des  jungen  Künstlers 
anerkannt  wird,  allgemein  abfällig  beurteilt. 

Ein  anderer  Grundzug  der  amerikanischen  Bilder 
ist  die  malerische  Erscheinung  derselben:  breite,  nicht 
selten  skizzenhafte  Behandlung  und  reiche  farbige 
Wirkung.  Auch  darin  stehen  die  alten  Künstler 
zum  Teil  nicht  hinter  den  jüngsten  zurück. 

Am  eigenartigsten  und  daher  am  anziehendsten 
für  uns  Nichtamerikaner  erscheint  die  amerikanische 
Landschaftsmalerei ,  die  Hunderte  von  Künstlern  zu 
den  ihrigen  zählt,  darunter  eine  ganze  Reihe  nahezu 
gleich  trefflicher  Maler.  Was  uns  hier  schon  fremd- 
artig  anmutet,  sind  die  Motive,  die  der  großen  Mehr¬ 
zahl  nach  amerikanische  sind.  Freilich  ihre  berühm¬ 
ten  Naturschönheiten:  die  Niagara-Fälle,  den  Yellow¬ 
stone  Park,  die  Thousand  Islands,  wird  kaum  noch 
ein  moderner  Künstler  malen;  die  Motive  sind  ein¬ 
facher  Art,  oft  das  bescheidenste  Stück  Terrain, 
ein  Stückchen  Wald,  ein  Blick  in  die  Ferne,  die 
sich  weder  durch  die  Formen  noch  durch  die  Ve¬ 
getation  wesentlich  von  unserer  deutschen  oder 
von  der  englischen  Landschaft  unterscheiden.  Aber 
echt  amerikanisch  sind  die  Farben  dieser  Landschaft. 
Nicht  nur  die  starken  Lichteffekte,  namentlich  bei 
abendlicher  Beleuchtung,  vor  allem  die  starken  Lokal¬ 
farben  des  Laubes  im  Herbst,  der  sich  ja  im  Norden 
der  Vereinigten  Staaten  durch  mehrere  Monate  bis 
in  unsere  Winterszeit  ausdehnt  und  dem  Amerikaner 
als  die  schönste  Zeit  des  Jahres,  dem  Maler  als  die 
beste  Zeit  für  seine  Studien  gilt.  Nach  dem  ersten 
leichten  Nachtfrost,  meist  schon  Ende  September, 
nehmen  die  Blätter  des  Ahorn  und  der  Vogelbeere 
die  reichsten  und  kräftigsten  Farben  an,  vom  war¬ 
men  Goldgelb  bis  zum  tiefen  Karminrot,  während 
die  verschiedenartigen  Eichen ,  die  Ulmen,  Tannen, 
Lorbeer-  und  andere  immergrüne  Bäume  ihr  sattes 
Grün  noch  in  voller  Frische  bewahren. 

Am  stärksten  kommt  diese  reiche  kräftige  Fär¬ 
bung  der  Landschaft  bei  George  Inness  zum  Aus¬ 
druck,  der  als  der  eigentliche  Begründer  der  ameri¬ 
kanischen  Landschaftsmalerei  gilt  und  als  ihr  größter 
Meister  gefeiert  wird.  Obgleich  den  Siebzigen  nahe, 
ist  er  in  Auffassung  und  Behandlung  noch  so  mo¬ 
dern  wie  der  jüngste  unter  seinen  Landsleuten.  Wer 
würde  in  dem  Meister  dieser  ganz  breiten,  malerisch 
unbestimmten  Farbensymphonieen  den  früheren  Stahl¬ 
stecher  vermuten,  der  mühsam  seinen  eigenen  Weg 
in  der  Malerei  sich  zu  bahnen  gezwungen  war,  bis 


ein  Besuch  in  Europa  im  Jahre  1850,  namentlich 
ein  Aufenthalt  in  Paris  ihm  die  Anregung  gab,  die 
für  seine  spätere  Entwickelung  maßgebend  wurde. 
Inness’  Landschaften  zeigen  ausschließlich  amerika¬ 
nische  Motive,  meist  aus  dem  Staate  New  York  oder 
der  Nachbarschaft,  die  durch  ihre  reichen  bunten  Wäl¬ 
der  und  ihr  schön  bewegtes  hügeliges  oder  bergiges 
Terrain  ausgezeichnet  ist.  Schon  die  Titel  seiner 
Bilder,  deren  die  Ausstellung  in  Chicago  achtzehn 
aufzuweisen  hatte,  darunter  verschiedene,  die  als  seine 
Meisterwerke  bekannt  sind,  bekunden  die  Mannig¬ 
faltigkeit  seiner  Motive  und  seine  Vorliebe  für  far¬ 
bige  Wirkung:  Sundown  in  the  Lane,  End  of  the 
Shower  (der  Regenbogen),  Nine  O’clock,  Sunny  Au- 
tumn  Day,  Winter  Moruing,  September  Afternoon, 
Sunburst  u.  s.  f. 

Wenn  Inness  auch  in  Frankreich  die  bestim¬ 
menden  Eindrücke  empfangen  hat,  wenn  namentlicli 
die  farbigen  stimmungsvollen  Landschaften  von 
J.  Fr.  Millet  sich  tief  in  ihm  eingeprägt  haben,  so 
ist  er  trotzdem  seinen  eigenen  Weg  gegangen  und 
ist  von  den  verschiedenen  Phasen  der  späteren  fran¬ 
zösischen  Malerei  so  gut  wie  unberührt  gebheben. 
Dass  seine  Landschaften  den  überfarbigen  Bildern 
der  jüngsten  Pariser  Impressionisten  gelegentlich 
nahe  stehen,  ist  ein  Zeichen  der  Wandlung  in  der 
französischen  Kunst,  nicht  eine  Änderung  in  seiner 
eigenen  Art.  Ein  leicht  bewegtes  waldiges  Terrain 
mit  mehr  oder  weniger  Fernsicht  in  den  verschie¬ 
densten  Stimmungen  der  Jahres-  und  Tageszeit,  mit 
den  mannigfaltigsten  Effekten,  die  Sonnenschein  oder 
bedeckter  Himmel, Dämmerung  oder  Mondlicht,  Sturm 
oder  Regen  darin  hervorbringen,  bildet  regelmäßig 
den  Vorwurf  von  Inness’  Bildern;  und  zwar  sieht 
und  giebt  der  Künstler  die  Landschaft  vor  allem  in 
ihrer  farbigen  Erscheinung.  Seine  Behandlung  ent¬ 
spricht  dieser  Auffassung ,  sie  ist  durchaus  male¬ 
risch;  der  Farbenauftrag  ist  pastös  und  trocken,  die 
Ausführung  breit  und  in  neuester  Zeit  oft  geradezu 
skizzenhaft. 

Im  Saal  der  „alten  Meister“  waren  zwei  Land¬ 
schaften  des  1884  in  Boston  verstorbenen  George  Fidler 
ausgestellt;  sie  hätten  ebenso  gut  als  die  Arbeiten 
eines  Jünglings  unter  den  modernsten  Bildern  ihren 
Platz  finden  können;  so  frisch  hat  sich  auch  dieser 
Künstler  bis  in  sein  Alter  erhalten,  oder  richtiger 
gesagt,  er  hat  noch  im  Alter  eine  solche  Frische 
der  Anschauung  und  Kraft  der  Färbung  und  Be¬ 
handlung  sich  angeeignet.  Füller  hatte  länger  und 
schwerer  noch  als  Inness  zu  kämpfen,  bis  er  seinen 
Beruf  erkannte  und  bis  er  dann  die  Mittel  zum  Aus- 


142 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


druck  seiner  künstlerischen  Anschauung  gefunden 
hatte.  Erst  als  ein  Mann  in  den  fünfzigern  trat  er 
als  Landschafter  auf;  in  den  acht  oder  neun  Jahren,  die 
ihm  noch  vergönnt  waren,  erwarb  er  sich  den  Bei¬ 
namen  des  amerikanischen  Millet.  Die  wenigen  Land¬ 
schaften,  die  ich  von  dem  Künstler  gesehen,  stehen 


barer  von  der  Schule  von  Barbizon  ergriffen  und  be¬ 
einflusst  worden  und  durch  sein  lebhaftes  mitteil¬ 
sames  Wesen  hat  er  auf  die  heran  wachsende  Gene¬ 
ration  noch  stärker  eingewirkt  als  jene. 

Zn  dieser  Gruppe  gehören  auch  ein  paar  jüngere, 
bereits  verstorbene  Maler,  J.  H.  Wyant  und  Jervis 


' 

■pj 

, 

Somuier.  Gemälde  von  A.  Harrison.  (üemäldegaleiie  in  Dresden.) 


denen  de.s  Inness  in  Motiv  und  Auffassung,  in  Kraft 
und  koloristisclier  Wirkung  ganz  nahe.  Ein  dritter 
gleiclialteriger  Künstler,  der  schon  1879  verstorben 
ist ,  scliliel.it  sich  den  Genannten  aufs  engste  an, 
WlUi'im  M.  Ifiinl  aus  Bo.ston.  Durch  einen  längeren 
.Auffiitlialt  in  l’aris  ist  er  noch  tiefer  und  unmittel- 


Mc.  Entee,  beide  tüchtige  Farbenimpressionisten  in  der 
Art  des  Inness. 

Die  jüngeren  Maler,  die  in  den  siebziger  und 
achtziger  Jahren  hervortraten,  sind  von  jenen  älteren 
Meistern  keineswegs  so  verschieden,  wie  bei  uns  die 
ältere  und  neuere  Landschaftei’schnle  oder  selbst 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


143 


nur  wie  in  Frankreich  ein  J.  F.  Millet  und  Bastien 
Lepage  oder  Cazin.  Wie  die  älteren  die  malerische 
Auffassung  und  Behandlung  der  jüngeren  angenom¬ 
men  haben,  so  haben  diese  die  kräftige  Färbung  als 
Erbteil  von  jenen  übernommen,  obgleich  sie  fast 
ausnahmslos  in  Frankreich  ihre  Schule  durchgemacht 
haben.  In  diesen  kräftigen  Lokalfarben,  welche  ein 
charakteristisches  Merkmal  der  amerikanischen  Land¬ 
schaft  ausmachen,  stehen  die  amerikanischen  Land¬ 
schafter  zuweilen  sogar  den  Engländern  näher  als  ihren 
Lehrmeistern  und  Vorbildern.  Unter  den  jüngeren  ist 
auch  bei  uns  in  Deutschland  D.  TT'.  Tryon  bekannt; 
erhielt  er  doch  in  der  Münchener  Ausstellung  1892 
die  große  goldene  Medaille.  Tryon  war  sehr  reich 
und  vorzüglich  vertreten  in  Chicago;  nach  meinem 
Geschmack  waren  seine  Bilder  dort  unter  allen  Land¬ 
schaften  die  hervorragendsten.  Vor  Inness  hat  er 
eine  mehr  geschlossene,  ruhigere  Wirkung  der  Farben, 
eine  schlichtere  Auffassung  der  Natur  voraus.  Sein 
Fai'benauftrag  ist  trocken,  aber  ohne  dass  dadurch 
die  Farben  an  Leuchtkraft  verlieren.  Seine  Motive 
wählt  er,  wie  Inness,  meist  aus  New  England ;  seine 
Vorliebe  für  Winterlandschaften,  für  Mondschein¬ 
effekte  erklärt  sich  aus  seinem  Bestreben,  tonig  und 
duftig  zu  wirken. 

Charles  Davis,  Theodor  Robinson,  Mark  Fischer, 
T.  C.  Steele,  Robert  Vonnoh  u.  a.,  fast  sämtlich  noch 
in  den  dreißigern,  verfolgen  eine  ähnliche  Richtung 
wie  Tryon.  Ihre  Landschaften,  beinahe  ausnahmslos 
amerikanische  Motive,  sind  farbig  und  sonnig,  von 
ganz  breiter  malerischer  Behandlung.  Eine  andere 
Gruppe  junger  amerikanischer  Landschaftsmaler,  die 
sich  meist  von  Paris  noch  nicht  haben  trennen  können, 
steht  der  französischen  Landschaftsmalerei  noch  näher. 
Sie  sind  heller  und  matter  in  der  Färbung;  ein  duf¬ 
tiger  weißgrauer  Ton,  die  Wirkung  des  gedämpften 
Sonnenlichtes,  ist  über  ihre  schlichten  landschaftlichen 
Schilderungen  ausgebreitet,  die  vielfach  aus  der  Um¬ 
gebung  von  Paris  genommen  sind.  Die  Behandlung 
ist  flüssiger  und  weicher,  aber  nur  ausnahmsweise 
so  skizzenhaft,  dass  die  Ansichten  wie  helle  Nebel¬ 
bilder  erscheinen.  Fast  alle  diese  Künstler  sind 
keine  einseitigen  Landschafter;  ihre  landschaftlichen 
Bilder  sind  regelmäßig  mit  Figuren  belebt,  die  von 
Licht  umflossen  ganz  duftig  in  der  Luft  stehen;  ja  die 
Figuren  bilden  nicht  selten  den  Hauptteil  der  Land¬ 
schaften;  daneben  malen  sie  reine  Genrebilder  und 
Porträts.  Das  Kennzeichen  eines  gesunden  Realis¬ 
mus  in  alter  Zeit  wie  heutzutage  treffen  wir  auch  bei 
den  modernen  Amerikanern;  das  Bedürfnis,  die  Natur 
nicht  stückweise,  sondern  möglichst  in  ihrer  ganzen 


Erscheinung  zu  studiren.  Die  meisten  dieser  Künstler 
sind  uns  von  den  Ausstellungen  in  Paris  und  Mün¬ 
chen,  einige  auch  von  den  letzten  Berliner  Ausstellun¬ 
gen  bekannt.  Wie  Tryon  in  München,  so  hat 
Alexander  llarrison  jetzt  in  Berlin  die  goldene  Medaille 
erhalten;  sein  für  die  Dresdener  Galerie  erworbenes 
Bild  galt  vielen  als  die  hervorragendste  Leistung 
der  ganzen  Ausstellung.  Die  malerische  Wirkung 
des  Sonnenlichts  weiß  der  junge  amerikanische  Künstler 
ebenso  wahr  wie  anziehend  wiederzugeben.  Wie  so 
viele  unter  den  Helllichtmalern,  wie  mit  besonderem 
Glück  namentlich  der  Schwede  Zorn,  liebt  auch 
Harrison  die  nackte  menschliche  Figur  in  die  Land¬ 
schaft  einzuführen,  um  das  Spiel  des  Lichts,  die 
mancherlei  Reflexe  auf  der  zarten  Haut  zum  Aus¬ 
druck  zu  bringen  und  der  Landschaft  einen  Mittel¬ 
punkt  des  Lichts  zu  geben.  Seine  großen  Badenden 
im  Walde  („In  Arcadia“)  sind  ein  Meisterwerk  dieser 
Art.  Den  eigentümlichen  Reiz  dieser  Staffage  haben 
übrigens  nicht  erst  die  modernen  Maler  des  Pleinair 
entdeckt;  schon  die  großen  italienischen  Meister  des 
Quattrocento  kannten  ihn  und  haben  in  Bildern,  wie 
in  Sandro’s  „Frühling“,  in  Bellini’s  „Loth“,  „Baccha¬ 
nal“  u.  s.  f.  schon  eine  große  Wirkung  dadurch  er¬ 
zielt.  Ja,  Piero  della  Francesca  hat  dadurch  in  seinem 
„Begräbnis  Adams“  in  San  Francesco  zu  Arezzo 
ein  Meisterwerk  der  Helllichtmalerei  geschaffen,  das 
kein  moderner  Maler  erreicht  hat.  Was  diese  alten 
Meister  dabei  vor  den  jungen  voraus  haben,  ist  die 
Naivetät  der  Auffassung,  die  mit  dem  Motiv  völlig 
im  Einklang  steht:  ihre  nackten  Gestalten  bewegen 
sich  in  der  Natur,  als  wären  sie  immer  nur  unbe¬ 
kleidet  gewesen,  während  man  den  „Badenden“,  den 
„Bacchantinnen“  oder  ähnlichen  Gestalten  in  den 
Bildern  der  modernen  Schule  nur  zu  sehr  ansieht, 
dass  sie  Modelle  sind,  die  sich  je  eher  je  lieber 
wieder  bekleiden  möchten. 

Unbestimmter  und  farbloser  noch  als  Harrisoii’s 
Landschaften  sind  die  von  T.  W.  Dewing  und  Gh.  Deivey. 
Bei  Louis  Dessar  kommt  der  violette  Ton  der  Luft, 
den  manche  junge  französische  uud  deutsche  Maler 
so  übertrieben  stark  betonen,  stärker  zur  Geltung, 
als  sonst  bei  den  Amerikanern  dieser  Richtung. 
Twachtman  verrät  in  einzelnen  seiner  Bilder  in  der 
Art,  wie  die  Farbe  wie  Mauerputz  aufgetragen  ist, 
und  in  der  unruhigen  hellen  Färbung  das  Vorbild 
von  Monet.  William  Chase  kommt  in  den  landschaft¬ 
lichen  Motiven,  die  er  der  Umgebung  seines  Land¬ 
hauses  entlehnt,  den  Bildern  eines  Cazin  nahe. 
Eugene  Vail  steht  in  seinen  Kompositionen  wie  in  der 
Färbung  manchen  Engländern,  besonders  John  Reid 


144 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


nahe,  wenn  er  auch  zu  demselben  wohl  keinerlei 
nähere  Beziehungen  hat  als  den  beiden  gemeinsamen 
französischen  Einfluss. 

Den  genannten  Künstlern  ließen  sich  noch  eine 
größere  Zahl  von  Landschaftern  anreihen,  die  kaum 
hinter  ihnen  zurückstehen,  sämtlich  jüngerer  Künst¬ 
ler  von  ausgesprochen  malerischer  Richtung.  Unter 
ihnen  waren  Leonard  Oclitman,  Robert  van  Boslerck, 
C.  y.  Turner,  Thomas  3Ianley ,  Ben.  Foster ,  Jules 
Guerin,  Frank  Holman,  Th.  Clarke,  A.  Schilling, 
Smillie,  Enneking  u.  a.  mit  guten  und  selbst  vor- 
trefilichen  Leistungen  auf  der  Ausstellung  von  Chi¬ 
cago  vertreten.  Schon  die  große  Zahl  dieser  tüch- 


wiedergeben  und  nicht  Novellen  oder  Humoresken 
daraus  machen.  Nur  ausnahmsweise  begegnen  wir 
solchen  Bildern,  die  —  wie  bei  uns  noch  die  Mehr¬ 
zahl  aller  Genrebilder  —  als  Illustrationen  und 
nicht  als  Gemälde  gedacht  sind.  Die  Künstler 
solcher  vereinzelten  Bilder  sind  meist  auf  deutschen 
Akademieen  ausgebildet.  So  der  durch  seine  Lehrgabe 
und  persönlichen  Einfluss  in  New-York  bekannte 
Walter  Shirlaw,  der  in  dem  tiefen  bräunlichen  Ton 
und  der  Motivhascherei  die  ältere  Münchener  Schule 
verrät;  Carl  Gutherz,  dessen  Bilder  durch  einen  un¬ 
angenehmen  matten  grauen  Ton  auffallen;  Tohg 
Rosenthal,  ganz  in  München  angesiedelt,  dessen  viel- 


Dartmouth  Moor«,  JIa.ss.  Gemälde  von  R,  Swain-Giffoed.  (Aus  der  American  Art  Review,  Bd.  I.) 


tigen  Maler,  die  alle  in  eigener,  ganz  moderner  Art  die 
.Stimmung  und  malerische  Erscheinung  der  Landschaft 
zumeist  in  der  Heimat  zum  Ausdruck  zu  bringen 
trachten,  ist  ein  charakteristisches  Zeichen  für  die 
frische  und  Kraft  des  künstlerischen  Aufschwungs 
in  den  Vereinigten  Staaten. 

Charakteristisch  für  diese  moderne  Richtung 
ist  auch  die  Vitdseitigkeit  der  Künstler:  einer  be¬ 
trächtlichen  Zahl  der  Meister,  die  ich  eben  als  Land- 
scliafter  aufgeführt  habe,  begegnen  wir  auch  als 
Genremalern  und  verschiedenen  als  Bildnismalern. 
Ihren  modernen  Charakter  verraten  die  amerikanischen 
iMaler  ferner  dadurch,  dass  sie  ihre  sittenbildlichen 
\'orwürfe  einfach  malerisch  und  charakteristisch 


bewunderte  „Tanzstunde“,  „Mädchenschule“  u.  s.  f. 
eine  greisenhafte  Sinnlichkeit  verbergen.  Andere 
behandeln  in  ähnlicher  Weise  amerikanische  Motive 
wie  F.  L.  Henry,  Ilowla^icl  und  der  jüngere  F.  D. 
Milkt. 

Eigentlich  amerikanischen  Motiven  begegnen  wir 
sonst  nur  selten  in  den  Sittenbildern  der  amerika¬ 
nischen  Maler.  Winslow  Homer  stellt  mit  Vorliebe 
Scenen  aus  dem  Negerleben  dar,  die  mit  ebenso 
viel  Humor  wie  malerischem  Sinn  wiedergegeben 
sind.  Anderer  Art  sind  die  Indianerbilder  von  George 
de  Forest  Brush.  Darstellungen  wie  „Der  Bildhauer 
und  der  König“,  „Vor  dem  Kampfe“  u.  s.  f.  haben 
einen  großen  Zug.  Der  wilde  Stolz  und  die  würde- 


DIE  WINTERAUSSTELLUNGEN  DER  ROYAL  ACADEMY. 


145 


volle  Erscheinung  des  Indianers  ist  darin  meisterhaft 
zum  Ausdruck  gebracht;  jedoch  mit  einem  novellen- 
haften  Aufputz,  den  der  Künstler  von  den  antiken 
Motiven  seines  Lehrers  Gerome  entlehnt  hat,  mit 
dem  er  auch  die  glatte,  etwas  unmalerische  Durch¬ 
führung  gemein  hat.  Durch  Gerome  siud  zwei  andere, 
begabte  Künstler,  die  ganz  in  Paris  angesiedelt  sind, 


Frederic  Bridgman  und  Edurird  Lord  Weeks,  nach  an¬ 
derer  Richtung  bestimmt  worden.  Beide  wählen 
ihre  Motive  vorzugsweise  aus  dem  orientalischen 
Leben;  Bridgman  aus  Algier,  Weeks  aus  Indien. 
Beide  geben  ihre  Motive  mit  groisem  malerischen 
Geschick  und  sclilichter  Wahrheit. 

(Fortsetzung  folgt.) 


DIE  WINTERAUSSTELLUNGEN  DER  ROYAL  ACADEMY 
UND  DER  NEW  GALLERY  IN  LONDON. 


0  zahlreiche  und  so  vortreff¬ 
liche  Werke  italienischer  Mei¬ 
ster  sind  noch  nie  zu  einer 
Ausstellung  in  London  ver¬ 
einigt  gewesen,  wie  es  in 
dieser  Wintersaison  der  Fall 
ist.  Auch  die,  welche  sich 
rühmen  durften,  von  den 
hier  im  Privathesitz  verstreuten  Werken  eine  mehr 
als  oberflächliche  Kenntnis  sich  erworben  zu  haben, 
werden  beim  Besuch  dieser  Sammlungen  gestehen 
müssen,  dass  sich  da  nicht  wenig  Bilder  von  un¬ 
gewöhnlicher  kunstgeschichtlicher  Bedeutung  vor¬ 
finden,  über  die  sie  früher  nichts  zu  lesen  und  zu 
hören  bekommen  haben.  In  dieser  Beziehung  liegen 
die  Verhältnisse  in  England  sehr  anders  als  in  dem 
Italien  von  heute.  Wenn  auch  einzelne  der  großen 
Sammlungen,  die  Waagen  vor  einem  halben  Jahr¬ 
hundert  registrirt  hat,  seither  aufgelöst  worden  sind, 
so  sind  doch  an  deren  Stelle  zahlreiche  andere  ge¬ 
treten,  auch  sind  im  allgemeinen  die  leitenden  Kri¬ 
terien  der  Sammler  gegen  früher  vernünftiger  ge¬ 
worden. 

Die  Ausstellung  der  New  Gallery  umfasst  ita¬ 
lienische  Kunstwerke  aus  der  Zeit  von  1300  bis 
1550  mit  Ausschluss  der  Schulen  von  Venedig  und 
des  venezianischen  Festlandes  bis  Brescia  und  Ber¬ 
gamo,  der  Bologneser  und  Ferrareser  Malerschulen; 
denn  um  diese  Malerschulen  in  einer  Londoner  Aus¬ 
stellung  würdig  zu  repräsentiren ,  ist  ül)erreiches 
Material  vorhanden.  Daher  sollen  diese  im  nächsten 
Jahre  an  die  Reihe  kommen.  Von  den  übrigen 
Lokalschulen  sind  die  von  Mailand,  von  Florenz  und 

Zeitschrift  für  biMende  Kunst.  N.  P.  V.  II.  6. 


von  Siena  am  reichsten  und  glänzendsten  vertreten. 
Selbst  in  dem  reichen  Mailand,  der  einzigen  Stadt 
Italiens,  in  welcher  Privatsammlungen  noch  blühen, 
dürften  schwerlich  so  zahlreiche  lombardische  Werke 
aufzufinden  sein,  wie  sie  in  der  New  Gallery  sich 
vereinigt  finden,  wobei  nicht  zu  vergessen  ist,  dass 
die  meisten  der  wohlbekannten  historischen  Privat¬ 
sammlungen  Englands  die  New  Gallery  nicht  be¬ 
schickt  haben. 

Was  zunächst  Luini  anlangt,  so  darf  man  wohl 
behaupten,  dass  allein  von  diesem  Meister  mehr  Werke 
(mit  Ausnahme  der  Fresken)  in  England  vorhanden 
sind,  als  im  übrigen  Europa,  wenn  auch  viele  dieser 
Bilder  unter  dem  Namen  Leonardo’s  gehen,  ein  häu¬ 
figer  Irrtum,  den  zu  rügen  hier  ausnahmsweise  keine 
Veranlassung  ist.  Von  besonderem  Reiz  ist  eine 
Serie  kleiner  Tafelbilder  Luini’s  mit  Darstellungen 
stehender  Heiligenfiguren  aus  der  Mailänder  Passa- 
lacquasammlung,  jetzt  im  Besitz  der  Herren  J.  Ruston 
und  W.  F''lower,  Nr.  183,  184,  195,  196,  sowie  drei 
Predellenstücke  Nr.  188,  die  zu  einem  Altar  werke 
mit  der  Anbetung  des  Christkindes  (Nr.  212)  ur¬ 
sprünglich  gehörten.  Dies  letztere  macht  leider  nicht 
den  Eindruck  guter  Erhaltung. 

Zu  den  Perlen  der  Ausstellung  zählt  die  dem 
Capt.  G.  L.  Holford  gehörende  heilige  Familie  von 
Oaudenrdo  Ferrari  (Nr.  216),  dem  Raffael  der  lom¬ 
bardischen  Schule.  Die  das  Christkind  umgebenden 
kleinen  Engel  sind  ebenso  originell,  wüe  sie  das 
moderne  Gefühl  unmittelbar  berühren.  Dabei  dürfen 
sie  als  die  glücklichste  Interpretation  Leonardischer 
Motive  gelten,  die  je  von  einem  Schüler  des  großen 
Florentiners  zu  Tage  gefördert  worden  ist.  Es  findet 


19 


146 


DIE  WINTEK AUSSTELLUNGEN  DER  ROYAL  ACADEMY 


sich  wohl  sonst  nirgends  außerhalb  Varallo’s  ein 
Werk  Gaudenzio’s,  das  sich  diesem  Meisterwerke  an 
die  Seite  stellen  ließe.  Daneben  möge  hier  noch 
das  Jugendwerk  genannt  werden,  aus  der  Sammlung 
von  H.  Willett  Nr.  235,  eine  Madonna  mit  Kind. 

Ein  Hauptwerk  des  Leonardoschülers  Amhrogio 
de  Predis  ist  das  Porträt  eines  jungen  Mannes  Nr. 
1S5,  aus  der  Sammlung  Füller  Maitland.  Die  Form¬ 
gebung  ist  eine  höchst  energische,  das  Kolorit  email¬ 
artig.  Sehr  charakteristisch  ist  die  Zeichnung  der 
verkürzten  Hand,  welche  einen  zusammengerollten 
Papierstreifen  hält  mit  den  monogrammatisch  ver¬ 
schlungenen  Buchstaben  AMBPR  und  der  Jahres¬ 
zahl  1494.  Eine  große  Ähnlichkeit  mit  gewissen 
Bildern  Boltraffio’s  ist  unverkennbar  und  oft  sind 
beide  Meister  in  der  Bestimmung  der  Bilder  ver¬ 
wechselt  worden.  Beide  dürften  gleichzeitig  im 
Atelier  Leonardo’s  ihre  Lehrjahre  verbracht  haben. 
Nach  Morelli-Lermolieff  (Kunstkritische  Studien; 
die  Galerieen  Borghese  und  Doria,  1890,  S.  239)  ist 
der  hier  Dargestellte  der  im  Jahre  1474  geborene 
Francesco  di  Bartolommeo  Archinto. 

Ein  würdiges  Seitenstück  zu  diesem  Juwel  lom¬ 
bardischer  Porträtmalerei  ist  der  Profilkopf  einer 
Dame  von  der  Hand  des  Bernardino  de’  Conti  (Nr. 
260,  Besitzer  A.  Morrison),  hier  dem  Boltraffio  und, 
wie  Morelli  angiebt  (ebenda  S.  249),  früher  im  Hause 
Castelbarco  dem  Leonardo  zugeschrieben.  Dem 
Leonardo  ist  hier  auch  eine  Zeichnung  Bernardino’s, 
einen  männlichen  Kopf  im  Profil  darstellend  (Nr.  1563), 
aus  der  Sammlung  W.  H.  Wayne  zugeschrieben.  — 
Von  dem  großen  Führer  der  Mailänder  Porträtmaler, 
Vincenzo  Foppa,  finden  wir  hier  ein  ausdrucksvolles 
männliches  Porträt,  im  Profil  gesehen  (Nr.  238,  Be¬ 
sitzer  A.  Morrison),  das  von  der  außerordentlichen 
künstlerischen  Begabung  dieses  geborenen  Bres- 
cianers  Zeugnis  ablegt.  —  Auch  Giampedrini  ist  in 
mehreren  Werken  gut  vertreten,  die  zum  Teil  unter 
anderen  Namen  gehen,  Aveniger  Marco  d’Ügionno. 
Auch  Salaino,  jener  Haushälter  und  Diener  Leonardo’s, 
rler  von  seinem  Herrn  als  Zahlung  Malstunden  sich 
geben  ließ,  ist  hier  in  einigen  Bildern  anzutreffen, 
die  selbstverständlich  Leonardo  selbst  gemalt  haben 
soll.  Und  gCAviss  hat  er  dem  ebenso  braven  wie 
beschränkten  Manne  nicht  nur  seine  Zeichnungen 
als  Vorlagen  geliehen,  sondern  ihm  auch  hier  und 
da  naclmeholfen.  Nachdem  einmal  dem  Salaino  eine 
Johannesfigur,  lächelnd  und  mit  erhobenem  Arm, 
gelungen  war,  hat  er  diese  Figur,  so  oft  er  nur 
konnte,  mit  leichten  Abänderungen  Aviedergemalt: 
eine  davon  ist  ein  bekanntes  Leonardobihl  im  Louvre, 


zwei  andere  hängen  hier  nebeneinander,  Nr.  187  und 
198,  natürlich  auch  als  Leonardo’s. 

Bedeutender  sind  die  Bilder  des  Solario,  eines 
Meisters,  dessen  künstlerische  Entwickelung  zur  Zeit 
noch  ein  Problem  ist.  Die  verschiedenen  bedeuten¬ 
den  Bilder  seiner  Hand  in  den  Galerieen  von  Mai¬ 
land,  Paris,  London  und  Wien,  deren  Echtheit  un¬ 
anfechtbar  ist,  zeigen  ungewöhnlich  große  stilistische 
Wandlungen.  Der  vlämische  Charakter,  den  schon 
die  „Vierge  au  cousin  vert“  im  Louvre  aufweist,  ist 
noch  gesteigert  in  dem  kreuztragenden  Christus 
der  Borghese-Galerie.  Er  erreicht  wohl  seinen  Höhe¬ 
punkt  in  dem  Madonnenbild  Nr.  118  der  Ausstellung 
in  Burlington  House  (Besitzer  A.  McKay).  Es  ist 
meines  Wissens  noch  nicht  beachtet  worden,  dass 
Solario’s  Kreuziguugsbild  im  Louvre  vom  Jahre  1503 
in  vielen  Einzelheiten  an  gewisse  Bilder  Carpaccio ’s 
gemahnt.  Denselben  Charakter  hat  auch  das  unbe- 
zeichuete  Tafelbild  der  vor  dem  Christkind  knieen¬ 
den  Madonna  mit  zwei  musizirenden  Engeln  zur 
Seite,  Nr.  203  in  der  New'  Gallery.  Die  Färbung  ist 
dieselbe  wie  in  dem  für  eine  Kirche  in  Murano  ge¬ 
malten  Altarbildchen  der  Brera,  und  der  Madonnen¬ 
typus  entspricht  dem  der  Madonna  auf  dem  kleinen 
Jugendbild  der  Sammlung  Poldi  in  Mailand. 

Ein  Hauptbild  des  Sodoma  ist  der  knieende  heil. 
Hieronymus  aus  der  Sammlung  L.  Mond  (Nr.  201). 
Von  kleineren  Bildern  sind  die  Pieta  (Nr.  167)  und 
die  übermalte  Jungfrau  mit  dem  Kinde  (Nr.  194, 
Besitzer  Lord  Battersea),  sowie  das  Frühbild  einer 
Madonna  (Nr.  225,  Besitzer  L.  Mond)  zu  nennen. 

Von  Werken  umbrischer  Meister  ist  nur  wenig 
vorhanden.  Von  den  älteren  Meistern  sei  hier  nur 
der  seltene  Francesco  di  Gentile  da  Fabriano  genannt, 
dessen  bezeichneter  Ecce  homo  (Nr.  82,  aus  der 
Sammlung  L.  Mond)  an  Lorenzo  di  San  Severino 
und  an  Crivelli  erinnert,  ferner  das  Heiligenpaar 
Laurentius  und  Philippus  (Nr.  86)  von  Bernardino 
di  Mariotlo,  wozu  das  Gegenstück  in  der  Abteilung 
Morelli  der  Galerie  von  Bergamo  sich  befindet. 

Von  dem  Urbinaten  Genga  ist  zunächst  ein 
Jugendbild  aufzuführen,  eine  heil.  Familie  (Nr.  220, 
Besitzer  W,  H.  Wayne).  Aus  der  besten  Zeit  des 
Meisters  stammt  die  heil.  Familie  mit  dem  Johannes¬ 
knaben  (Nr.  229),  dem  Herzog  von  Westminster  ge¬ 
hörend  und  fälschlich  dem  Fra  Bartolommeo  zuge¬ 
schrieben.  Die  Kennzeichen  einer  noch  späteren 
Phase  seines  Stiles  zeigt  das  Bild  der  Jungfrau  mit 
dem  Kinde  und  den  Heiligen  Elisabeth  und  Fran- 
ciscus  (Nr.  125,  Besitzer  Earl  of  Leicester),  auffäl¬ 
ligerweise  dem  Ghirlandajo  zugeschrieben.  Die  grau 


DIE  WINTERAUSSTELLUNGEN  DER  ROYAL  ACADEMY. 


147 


in  grau  ausgeführten  Reliefs  im  Vordergründe  der 
Komposition  bekunden  den  Einfluss  des  Siguorelli. 

Dem  Namen  des  Timoteo  Viti  begegnet  man  in 
einem  großen  Altarwerke  mit  der  Beweinung  Christi 
(Nr.  226,  Sammlung  Drax),  doch  diese  Bezeichnung 
ist  durchaus  willkürlich.  Vielmehr  darf  das  Ma¬ 
donnenbild  aus  der  Sammlung  Northbrook  (Nr.  248) 
unter  die  Spät  werke  dieses  väterlichen  Freundes 
RafFael’s  gerechnet  werden.  Ich  hatte  diese  Bezeich¬ 
nung  schon  in  dem  1889  erschienenen  Katalog  der 
Northbrook’schen  Gale¬ 
rie  (S.  154),  wo  auch  eine 
gute  Abbildung  des  Bil¬ 
des  sich  findet,  vorge¬ 
schlagen.  Neuerdings  ist 
nun  die  Sammlung  der 
Handzeichnungen  im  Bri¬ 
tish  Museum  durch  ein 
Blatt  vonTimoteo’s  Hand 
bereichert  worden ,  wel¬ 
ches  die  Studie  zu  diesem 
Madonnenkopf  enthält. 

V on  den  fünf  echten 
Bildern  Ratfaels,  welche 
in  England  im  Privat¬ 
besitz  sich  befinden,  ist 
leider  keines  in  der  New 
Gallery  ausgestellt.  Zwar 
begegnet  man  dem  Na¬ 
men  des  Meisters  nicht 
selten  im  Katalog,  aber 
nicht  wenige  dieser  Bilder 
dürften  ihren  Anspruch 
auf  Berühmtheit  vielmehr 
von  ihren  Besitzern  —  es 
sind  zumeist  Herzoge  — 
als  von  dem  Maler  her¬ 
leiten.  Es  sei  hier  nur 
das  vortreffliche  Porträt 
des  Carondelet  mit  seinem 
Sekretär  genannt  ( Nr.  243;  Besitzer  Duke  of  Grafton), 
ln  diesem  hervorragenden  Meisterwerke  deutet  schon 
die  ganz  Giorgionesk  behandelte  Landschaft  auf  vene¬ 
zianischen  Ursprung;  Färbung  und  Faltenwurf,  be¬ 
sonders  am  Ärmel  der  Hauptperson,  die  Zeichnung 
der  Hand  und  zumal  die  Behandlung  des  Pelzwerkes 
erlauben  nicht,  daran  zu  zweifeln,  dass  hier  SehasHano 
del  Piomho  mit  Raffael  verwechselt  worden  ist,  ähn¬ 
lich  wie  bei  der  sogenannten  Fornarina  in  der  Tri- 
buna  der  Uffiziengalerie  und  wie  bei  der  jungen 
Römerin  der  Berliner  Galerie,  welche  früher  in 


Bienheim  auch  für  Raffael  galt.  Ein  anderes  Haupt¬ 
werk  des  Sebastiane  del  Piombo  ist  die  heil.  Familie 
aus  der  Sammlung  Northbrook  in  der  Ausstellung 
diQx:  Roiial  Academy  (Nr.  113).  Mehr  noch  als  in  der 
berühmten  Auferw’eckung  des  Lazarus  in  der  Natio¬ 
nal  Gallery  ist  es  hier  dem  Sebastiane  gelungen, 
seine  Komposition  mit  einem  Hauche  echt  Michel- 
angelo’schen  Geistes  zu  verklären.  Die  Formen  sind 
hier  viel  studirter,  und,  w'enn  man  so  sagen  darf, 
wissenschaftlicher  behandelt,  als  in  den  Fi-ühwerken 

dieses  hochbegabten  Ve¬ 
nezianers,  die  Komposi¬ 
tionbewegt  sich  in  großen 
Linien  bei  gedämpfter 
Stimmung  des  Kolorits. 
Es  lässt  sich«  nicht  leug¬ 
nen,  hier  und  da  ist  es 
dem  Venezianer  ebenso 
gelungen,  im  Geiste  Mi- 
chelangelo’s  Originelles  zu 
schaffen,  wie  er  in  seiner 
.Jugend  Hervorragendes 
als  Nachfolger  Giorgio- 
ne's  geleistet  hat. 

Man  hat  bei  dem  in 
der  Nähe  hängenden  Por¬ 
trät  eines  Senators  (Nr. 
1 1 5,  Besitzer  Herzog  von 
Abercorn),  das  dem  Raf¬ 
fael  zugeschrieben  ist, 
auch  den  Namen  des  Se¬ 
bastiane  del  Piombo  in 
Vorschlag  gebracht,  aber, 
wie  mir  scheint,  sehr 
mit  Unrecht,  denn  dieses 
herrliche  farbige  Bild 
trägt  durchaus  die  Stil¬ 
eigentümlichkeiten  des 
rarmeyyianino.  —  Um 
noch  einige  Werke  der 
venezianischen  Schule  zu  nennen,  welche  in  der 
Royal  Academy  ausgestellt  sind,  mögen  hier  zwei 
Gemälde  des  Catena  genannt  werden:  ein  bezeich- 
netes  Madonnenbild  mit  Heiligen  und  Stiftern  (Nr. 
149,  Besitzerin  Miss  H.  Hertz),  wohl  das  früheste 
Bild  seiner  Hand,  das  den  beiden  Früh  werken  der 
Budapester  Landesgemäldegalerie  ziemlich  nahe  steht, 
besonders  in  den  Typen.  Ferner  die  originelle  Kom¬ 
position  des  Christus,  welcher  dem  Petrus  die 
Schlüssel  übergiebt  im  Beisein  der  drei  allegorischen 
Figuren  Glaube,  Liebe  und  Hoffnung  (Nr.  151).  Die 

19* 


Madonna.  Gemälde  von  Giovanni  Bellini. 


148 


DIE  WINTERAUSSTELLUNGEN  DER  ROYAL  ACADEMY. 


alte  Kopie  nacli  diesem  Bilde  im  Museum  von  Madrid 
ist  besonders  hart  im  Faltenwurf  und  trübe  in  der 
Färbung.  Eine  Abbildung  der  letzteren  hat  jüngst 
G.  Frizzoni  im  ..Arcbivio  delF  Arte“  publizirt. 

Giovanni  Bellini  ist  in  zwei  Werken  vertreten, 
in  einem  Madonnenbilde  der  Northbrook- Sammlung 
(Nr.  143),  einem  Atelierbilde,  das  wahrscheinlich 
von  Bissolo  ausgeführt  worden  ist,  und  einem  Jugend¬ 
bilde  (Nr,  142),  einer  Madonna,  welche  das  auf  einem 
Kissen  schlafende  Christkind  anbetet  (s.  Abb.  1).  Das 
Motiv  kommt  ähnlich  bei  Bartolommeo  und  auch  bei 
Alvise  Vivarini  vor.  Stilistisch  am  nächsten  stehen  die 


Savoldis  de  Brisia  faciebat“  eingetragen  ist.  Die 
Haltung  des  jungen  Mannes  ist  eine  Wiederholung 
des  Aktes,  welcher  der  ebenso  bezeichneten  Vene¬ 
zianerin  in  Berlin  und  in  der  National  Gallery  zu 
Grunde  gelegt  ist.  Das  Erfinden  und  Komponiren 
war  eben  Savoldo's  starke  Seite  nicht.  —  Das  bezeich- 
nete  Bild  „Der  zwölfjährige  Christus  im  Tempel  dis- 
putirend“  von  Pans  Bordone  (Nr.  114),  früher  im 
Palazzo  Tiepolo  in  Venedig,  erinnert  in  Komposition, 
Kolorit  und  Typen  noch  sehr  an  Tizian,  insbeson¬ 
dere  an  dessen  Verkündigungsbild  im  Dom  von 
Treviso. 


Die  Wunder  des  heiligen  Zenobius.  Gemälde  von  Sandro  Botticelli. 


Madomieubilder  der  Sammlung  G.  Frizzoni  und  in 
der  erstem  Seitenka])elle  links  in  S.  Maria  dell’  Orto 
in  Venedig.  Das  in  späterer  Zeit  nie  melir  vor¬ 
kommende  blasse  Blau  des  Madonnenmantels  findet 
sich  ebenso,  wie  hier,  in  der  Kreuzigung  des  Museo 
Correr  und  in  dem  Getlisemamjbilde  der  National 
Giillcry.  Di(!  Beliandbing  der  flachen  Landscliaft  mit 
langgewiindenen  Wegen  ist  ein  weiterer  Beweis 
Bellini’schen  Urs])rimgs.  Das  vortrefflich  erhaltene 
P>ild  mag  um  das  .Jahr  1470  ausgefübrt  worden  sein. 

l)as  ansprecliende  Porträt  eines  Flötenbläsers 
iNr.  117,  Besitzer  Earl  Amlierstj,  das  auf  dem  Rah¬ 
men  „Giorgione“  genannt  wird,  zeigt  im  Hintergrund 
ein  an  der  Wand  befestigtes  Notenblatt,  wozu  als 
begleitender  Text  die  Signatur  „Joanes  Geronimus 


In  der  New  Gallery  ist  den  Trecentisten  ein  be¬ 
sonderer  Saal  angewiesen,  der  nicht  weniger  als  achtzig 
Bilder  enthält.  Dass  unter  diesen,  sofern  die  Schule 
Giotto' s  in  Betracht  kommt,  nur  die  wenigsten  einen 
individuellen  Stil  aufweisen  und  somit  benannt  wer¬ 
den  können,  versteht  sich  von  selbst.  Der  Name  des 
Gründers  der  Schule  kann  nur  bei  einem  kleinen 
Bilde  in  Betracht  kommen,  das  leider  nicht  einmal 
girt  erhalten  ist,  nämlich  bei  der  Darstellung  Christi 
im  Tempel  (Nr.  24,  Sammlung  H.  Willett).  Es  ist 
hier  Gelegenheit  zu  interessanten  Vergleichen  zwi¬ 
schen  der  Richtung  der  Florentiner  und  Sienesen  ge¬ 
boten.  Besonders  letztere  sind  in  ansehnlicher  Zahl 
vertreten.  Von  Duceio  di  Bnoninsegna  sind  hier 
nicht  weniger  als  fünf  echte  Tafelbilder,  unter  denen 


DIE  WINTERAUSSTELLUNGEN  DER  ROYAL  ACADEMY. 


149 


die  Kreuzigung  Christi  (Nr.  21,  Besitzer  Earl 
of  Crawford),  eiu  figurenreiches  Bild  von  vortreff¬ 
licher  Erhaltung,  besondere  Beachtung  verdient. 
Die  Komposition  ist  durchaus  verschieden  von  der 
des  Mittelbildes  in  der  „Majestas“  in  Siena  und 
steht  jener  berühmten  Darstellung  keineswegs  nach. 
Von  UgoUno,  dem  treuesten  Nachfolger  Duccio’s, 
dessen  Werke  in  England  nicht  selten,  dagegen 
in  Siena  gar  nicht  mehr  anzutreffen  sind,  ist 
hier  eine  vortreffliche  Kreuzabnahme  (Nr.  25,  Be¬ 
sitzer  H.  Wagner).  Da¬ 
gegen  sucht  man  ver- 
geblich  nach  echten 
Werken  des  großen 
Dramatikers  Ambrogio 
Lorenzetti  und  nach 
denen  des  entzücken¬ 
den  Novellisten  Simone 
Martini.  Um  so  reicher 
sind  die  Sieneser  Quat¬ 
trocentisten  vertreten. 

Diese  ebenso  liebens¬ 
würdigen,  fleißigen  und 
ehrlichen  wie  unge¬ 
lenken  Malermeister, 
die  mehr  Handwerker¬ 
naturen  als  Malgenies 
waren,  sind  hier  bei¬ 
nahe  vollzählig  ver¬ 
treten.  Wohl  nirgends 
sonst  außer  in  der 
Stadtgalerie  von  Siena 
findet  man  sie  alle,  so 
wie  hier,  zusammen. 

F  reilich  sind  nicht 

wenige  von  ihnen  falsch 
benannt,  aber  wer  sich 
mit  ihren  Werken  in 
ihrer  Heimatstadt  vertraut  gemacht  hat,  wird  sie 
unschwer  herauskennen,  den  Taddeo  di  Bartolo  und 
den  Sano  di  Bktro,  CozzarelH  und  Neroccio,  Benvenuto 
di  Giovanni  und  Giovanyii  di  Baolo,  sowie  Matteo  di 
Giovanni,  den  man  den  Ghirlandajo  der  Schule 
nennen  darf,  und  Francesco  di  Giorgio,  endlich  die 
Zeitgenossen  Sodoma’s,  Fungai,  Facchiarotto  und  Giro- 
lamo  del  Facchia,  so  dass  von  den  bekanntesten  nur 
Beccafumi  fehlt.  Die  letzteren  muss  man  sich 
unter  den  Bezeichnungen  Matteo  da  Siena  (Nr.  .55), 
Florentiner  Schule  (Nr.  210)  und  Cesare  da  Sesto 
(Nr.  206)  zusammensuchen. 

Es  erübrigt  uns  noch,  einige  Bemerkungen  über 


die  Florentiner  Meister  hier  anzufügen.  Die  Zahl 
bedeutender  Werke  von  Künstlern  zweiten  Ranges 
aus  dem  Quattrocento  und  dem  Cinquecento  ist  groß, 
viel  schwächer  sind  die  tonangebenden  Meister  ver¬ 
treten.  Masaccio  und  Masolino,  Paolo  Uccello  und 
Andrea  del  Castagno  fehlen  ganz,  ebenso  Fra  Ange- 
lico.  Das  darf  nicht  überraschen.  Von  Fiero  della 
Francesca  ist  das  herrliche  Mädchenbildnis  aus  der 
Sammlung  Ashburnham  (Nr.  116),  während  die  Jung¬ 
frau  mit  dem  Kinde,  von  Engeln  umgeben  aus  Christ 

Church,  Oxford  (Nr. 
106),  demselben  Mei¬ 
ster  zugeschrieben,viel- 
mehr  als  Werk  des  Fra 
Carnevale  zu  gelten  hat. 

Von  Fesellino,  dem 
hochbegabten  Schüler 
des  Filippo  Lippi,  führt 
Morelli  -  LermoliefP  in 
seiner  fleißigen  Studie 
über  diesen  Novellen¬ 
maler  zwölf  Bilder  auf. 
Drei  davon,  die  beiden 
Bildchen  in  der  Casa 
Alessandri  in  Florenz, 
glaube  ich  ihm  ab- 
sprechen  zu  müssen. 
Ich  muss  mir  vorl)ehal- 
ten,  bei  einer  anderen 
Gelegenheit  den  Be¬ 
weis  beizubringen,  dass 
dies  Jugend  werke  des 
Benozzo  Gozzoli  sind. 
Von  derselben  Hand 
ist  auch  das  herrliche, 
früher  Fra  Angelico, 
jetzt Pesellino  genannte 
Bildchen  der  Jung¬ 
frau  mit  dem  Kinde,  zwei  Engeln  und  vier  Hei¬ 
ligen  (Nr.  107,  aus  Dorchester  House).  Dagegen 
sind  echte  Bilder  des  Pesellino  die  beiden  großartig 
komponirten  Predellenbilder  Nr.  139:  Der  Triumph 
der  Liebe,  der  Keuschheit  und  des  Todes  und  Nr. 
129:  Der  Triumph  des  Ruhmes,  der  Zeit  und 
des  Glaubens,  beide  aus  der  Sammlung  J.  F. 
Austen,  ganz  willkürlich  dem  Pier  di  Cosimo  zuge¬ 
schrieben. 

Bei  den  unter  Botticellis  Namen  gehenden  Bil¬ 
dern  stehen  Qualität  und  Quantität  in  umgekehrtem 
Verhältnis.  Wohl  noch  nie  sind  so  viel  Bilder  aus 
Botticelli’s  Atelier  zusammengebracht  worden,  wie 


Madonna.  Gemälde  von  Fea  Bartolommeo. 


150 


DIE  WINTERAUSSTELLUNGEN  DER  ROYAL  ACADEMY. 


hier  in  der  New  Gallery.  An  erster  Stelle  ist  der 
Tod  der  Lucretia  ans  der  Sammlung  Ashburnham 
zu  nennen  (Nr.  160),  nur  schade,  dass  alle  Köpfe 
durch  eine  arge  Restauration  entstellt  sind.  Übrigens 
ist  die  Komposition  durchaus  verschieden  von  der 
gleichfalls  echten  Darstellung  des  Gegenstandes  in 
der  Sammlung  Morelli  in  Bergamo.  Zwei  herrliche 
Predellenstücke  Bofticelli’s  aus  seiner  Jugendzeit  mit 
Scenen  aus  dem  Leben  des  heil.  Zenobius  sind  in 
der  Royal  Academy  ausgestellt,  Nr.  158  und  Nr.  164 
(aus  der  Sammlung  L.  Mond).  Die  Komposition  ist 
auch  hier  völlig  verschieden  von  der  Darstellung 
desselben  Gegeu.staiides  durch  Botticelli  in  der  Dres¬ 
dener  Galerie.  In  dem  letzteren  Bilde  ist  die  Aus¬ 
führung  weniger  sorgfältig,  die  Zeichnung  der  Köpfe 
nicht  so  präzis.  Auf  der  beigegebenen  Abbildung, 
welche  die  Mittelgruppe  des  einen  Bildes  darstellt, 
ist  eine  Legende  illustrirt,  nach  welcher  der  Heilige 
im  Borgo  Albizzi  den  aus  dem  Fenster  gestürzten 
Knaben  einer  französischen  Dame  ins  Leben  zurück¬ 
ruft  (s.  Abb.  2).  Der  Gegenstand  bringt  es  mit  sich,  dass 
Botticelli  in  diesen  Bildern  sein  künstlerisches  Ver¬ 
mögen  im  glänzendsten  Lichte  zeigt.  Niemand 
hat  es  so  wie  er  verstanden,  die  ganze  Aufgeregt- 
heit  der  Nachkommen  der  alten  Römer  so  drama¬ 
tisch  und  so  wahr  darzustellen.  Es  ist  das  innere 
voll  pulsirende  Lebeii  des  Renaissancemenschen,  das 
in  Mienen  und  Gesten  seinen  adüq^ialcn  Ausdruck 
findet,  was  diesen  Schöpfungen  Botticelli’s  einen 
klassischen  Wert  giebt,  hoch  erhaben  über  dem 
fratzenhaften  Zerrl)ild  des  am  Corso  herumlungern¬ 
den  modernen  Bramarbas. 

Den  Ehrenplatz  unter  den  Cinquecentisten  hat 
eine  königlich  thronende  Jungfrau  mit  dem  Christ¬ 
kind  und  dem  Johannesknaben  (Nr.  216,  Besitzer 
L.  de  Rothscliildj  von  Andrea  dcl  Sario,  ein  Bild, 
das  alle  vortrelflichen  Eigenschaften  des  „pittore 
senza  falli“  besitzt,  und  dem  nur  das  Beste,  das 
sfumato, fehlt.  Manche moderneRestauratoren scheinen 
sich  mit  der  Beseitigung  d(!sselben  einen  Ruf  er¬ 
werben  zu  wollen.  Wir  brauchen  nur  an  den 


St.  Sebastian  der  Pittigalerie  zu  erinnern.  Doch  der 
Pall  Rothschild  ist  nicht  ganz  so  schlimm. 

Zu  den  Seiten  dieses  Madonnenbildes  hängen 
zwei  andere  aus  der  Northbrook  Gallery  (Nr.  211 
und  Nr.  217),  von  denen  das  eine  dem  Giulio  Romano, 
das  andere  dem  Fra  Bartolommeo  zugeschrieben  ist. 
Unrichtig  sind  beide  Benennungen  und  merkwürdig 
ist  dabei  nur,  dass  beide  so  verschieden  benannte 
Bilder  von  der  Hand  eines  und  desselben  Malers  sind, 
eines  Dritten,  des  bekannten  Florentiners  Perin  del 
Vaga,  der  zu  den  hervorragendsten  unter  den  Schülern 
Raffael’s  gehörte.  In  jeder  Beziehung  stimmen  diese 
Bilder  stilistisch  und  koloristisch  überein  mit  dem 
großen  bezeichneten  Altarwerk  Perino’s,  das  unlängst 
aus  der  Dudley  Gallery  in  die  des  Sir  Francis  Cook 
in  Richmond  gelangte. 

Wenn  Bilder  von  Schülern  Raffael’s  und  selbst 
von  Genga,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  dem  Fra 
Bartolommeo  zugeschrieben  werden,  so  ist  das  ein  Be¬ 
weis  dafür,  dass  dieser  große  Florentiner  in  England 
sehr  ungenügend  bekannt  ist.  In  der  That  finden 
sich  nur  drei  Bilder  seiner  Hand  im  Lande,  zwei 
davon  in  der  New  Gallery:  eine  große  heil.  Familie 
(Nr.  239)  und  ein  Jugendbild  in  kleinem  Format  mit 
demselben  Gegenstand  (Nr.  250),  beide  aus  der  Samm¬ 
lung  L.  Mond.  Das  erstgenannte  Bild  stammt  offen¬ 
bar  aus  der  Zeit  seiner  persönlichen  Beziehungen 
zu  Raffael  Avährend  dessen  Aufenthaltes  in  Florenz. 
Es  wäre  ein  Irrtum,  anzunehmen,  dass  in  dieser 
Wechselbeziehung  der  jüngere  nur  der  gebende,  der 
ältere  nur  der  empfangende  Teil  gewesen  sei.  Ich 
möchte  jenes  Madonnenbild,  das  Fra  Bartolommeo’s 
Kunstvermögen  auf  seiner  Höhe  zeigt  und  von 
dessen  Hauptfigur  die  beigegebene  Abbildung  eine 
A^orstellung  giebt  (s.  Abb.  3),  zu  jenen  Werken  rechnen, 
aus  denen  sich  das  Gegenteil  obiger  Behauptung  ab¬ 
leiten  lässt.  Beiläufig  sei  noch  bemerkt,  dass  im 
Hintergrund  der  Maler  sich  selbst  dargestellt  hat, 
im  Rücken  gesehen,  wie  er  mit  zwei  Gehilfen  ein 
Fresko  über  einem  Thorwege  ausführt. 

JBJAN  PAUL  RICHTER. 


Salome.  Mavmorstatue  von  Max  Klixgee.  Kopf  der  Salome.  Von  Max  Klinger. 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


*  Der  aus  einer  Trientiner  Familie  stammende  Wiener 
.Maler  Ferrij  Berat on  (eigentlich  Peratoner),  von  dem  wil¬ 
den  Lesern  heute  zwei  Bilder  in  getreuen  Nachbildungen 
vorfuhren,  war  kurze  Zeit  Schüler  der  Wiener  Akademie 
und  Hans  Canon’s,  lebte  dann  zwei  Jahre  hindurch  in 
Venedig  im  steten  Ver¬ 
kehre  mit  Zezzos,  Tito, 

Fragiacomo,  F  avretto  und 
anderen  ausgezeichne¬ 
ten  italienischen  Künst¬ 
lern,  verdankt  aber  seine 
höhere  Ausbildung  vor¬ 
zugsweise  einem  längeren 
Aufenthalte  in  Paris,  wo 
er  bei  Carolus  Duran  für- 
dersame  Unterweisung, 
in  Manet,  de  Nittis  u.  a. 
die  ihm  sympathischen 
Vorbilder  fand.  „Natur, 

Natur  und  das  Sehen  mit 
eigenen  Augen“:  das 
wurden  nun  auch  für  ihn 
die  Wegweiser  zu  seinen 
künstlerischen  Zielen.  Im 
„Salon“  machte  das  Bild¬ 
nis  einer  amerikani¬ 
schen  Sängerin  entschie¬ 
denes  Glück;  in  einer 
internationalen  Ausstel¬ 
lung  zu  Nizza  errang  Be- 
raton  mit  seinem  Bilde: 

„Der  Krankenbesuch“ 
eine  zweite  Medaille. 

Porträt-  und  Genrebil¬ 
der  sind  seitdem  die  bei¬ 
den  bevorzugten  Darstel¬ 
lungsgebiete  des  Künst¬ 
lers.  Die  Theaterwelt 
schilderte  er  in  seinem 
Bilde:  „Hinter  den  Cou- 
lissen“,  das  intime  Leben 

des  Volks  in  den  beiden  von  uns  mitgeleilten ,  schlicht  und 
ansprechend  erzählten  Scenen,  das  lustige  Treiben  im  Prater 
und  in  den  Wiener  Vorstadtschenken  in  den  Gemälden:  „Bei  den 
Grinzingern“,  „Alt-Wien  auf  der  Theater-  und  Musikausstel¬ 
lung“  u.  a.  Zu  den  neueren  Porträts  von  Beraton  zählen 
/.  B.  d:is  des  verstorbenen  Kantors  Siilzer,  des  Herrn  Ad. 


Im  Sturm.  Gemälde  von  F.  Beeaton. 


V.  Goldschmidt,  des  Sängers  Blauwaert,  des  Herrn  Erzherzogs 
Ferdinand  und  der  Sängerin  Bellincioni.  Die  einfachste, 
treffendste  Übersetzung  der  Natur  ohne  die  Kleinlichkeiten 
der  sogenannten  realistischen  Detailmalerei:  das  ist  es,  was 
der  Künstler  anstrebt.  Er  verschmäht  jede  Pinsel  Virtuosität; 

das  Wesen  der  Dinge, 
das  Innere  des  Menschen 
sucht  er  mit  aller  Hin¬ 
gebung  zu  erfassen. 

=  Leipzig.  Auf  Seite 
151  bringen  wir  zwei  Ab¬ 
bildungen  des  von  der 
Stadt  für  das  Museum 
angekauften  Marmorwer¬ 
kes  Salome  von  Alax 
Kiinger,  über  welches  in 
der  „Kunstchronik“  be¬ 
reits  mehrfach  berichtet 
worden  ist  (Nr.  8,  S.  125; 
Nr.  13,  S.  206  u.  208). 

Moderne  Bilderpreise. 
Aus  dem  Bericht ,  der 
der  sächsischen  2.  Kam¬ 
mer  über  die  Erwerbun¬ 
gen  der  Dresdener  Ga¬ 
lerie  in  den  letzten  beiden 
Jahren  vorgelegt  worden 
ist,  entnehmen  wir  fol¬ 
gendes  über  die  gezahl¬ 
ten  Preise ;  es  wurden  ge¬ 
kauft:  „Predigt  in  einer 
Berliner  Kirche“  von 
Adolf  Menzel  für  14500 
Mk.,  „ImMorgenrat“  von 
Robert  Haug  für  17000 
Mk.,  „An  der  Heerstraße“ 
von  Wilhelm  Diez  in 
München  für  7000  Mk., 
„Die  heilige  Nacht“  von 
Fritz  Uhde  für  16500  Mk., 
„Der  Hüter  des  Thaies“ 
von  H.  Thoma  in  Frankfurt  a.  M.  für  5000  Mk.,  „Pieta“  von 
M.  Kiinger  für  5000  Mk.,  impressionistische  Flusslandschaft  von 
Harrison  für  3000  Mk.,  „Der  Lootse“  von  Krohg  für  3000  Mk., 
„Fuchs  im  Schnee“  von  Liljefors  für  .3300  Mk.,  ferner  „Sommer“ 
von  Makart  für  50000  Mk.,  der  „Christus  am  Kreuz“  von  Mun- 
kaczy  für  45000Mk.,  die,,Cirkusscene“  vonKnaus  für  35000Mk. 


Herausgeber:  Curl  von  I/iUzoiv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Iieii)zig. 


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7err7  BeratOD  p.  Beliogr.7  J.I.öw 


AÜF  DEM  HEIMWEGE. 


■■  ^ .  A.RoeTiianri.,  Leip 


Druck  V  F.  A.Br  o  cldiau  s .  1  eip  i  ; 


aiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiHiiiHiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiliiiiiiiiiiiiiiiiHiimiiiuiiiiuiiiiiiiiiiiiiiii»iiiiiiiiiiiniiiiiiiaiiiiiiuiiiiiiiiHiiiiiiiuiiiiiuiiiiHiiiiii.iiMiiMHiiiuiliiiitHfl^  I 


DIE  REITERSTATUETTE  KARL’S  DES  GROSSEN. 

VON  G.  WOLFRAM. 

MIT  ABBILDUNG. 


IE  Frage,  ob  die  Reiter¬ 
statuette  Karl’s  des  Großen 
ein  Bildwerk  der  karolin¬ 
gischen  Zeit  sei  oder  nicht, 
hat  nach  ihrer  geschicht¬ 
lichen  wie  kunstgeschicht¬ 
lichen  Seite  hin  eine  hervor¬ 
ragende  Bedeutung.  Für  den 
Historiker  handelt  es  sich  darum  zu  wissen,  ob  die 
markanten  Züge  dieses  Bildes  zur  Charakteristik 
des  großen  Karolingers  benützt  werden  dürfen,  für 
den  Kunsthistoriker  wird  je  nach  der  Bejahung  oder 
Verneinung  der  Frage  die  Beurteilung  der  karolin¬ 
gischen  Renaissance  wesentlich  zu  modifiziren  sein; 
überragt  doch  das  kleine  Werk  in  Auffassung  und 
Ausführung  derart  alle  Denkmäler  des  9.  Jahrhun¬ 
derts,  dass  auch  die  Verteidiger  der  karolingischen 
Provenienz  zugeben  müssen,  es  stehe  unter  den 
Kunstwerken  jener  Zeit  einzig  da. 

Die  Statuette  war  bis  zur  französischen  Revo¬ 
lution  in  der  Kathedrale  zu  Metz,  wo  sie  nebst  einer 
zweiten  gleichen  Figur  in  Silber  seit  1634  nach¬ 
weisbar  ist.  Mit  der  Revolution  verschwinden  beide 
Figuren  und  die  bronzene  taucht  dann,  nachdem  sie 
in  der  Zwischenzeit  durch  verschiedene  Hände  ge¬ 
gangen  ist,  als  Eigentum  einer  Mad.  Evans  Lomb 
auf  der  Pariser  Weltausstellung  von  1867  wieder 
auf.  In  seiner  illustrirten  Geschichte  brachte  Stacke 
eine  Abbildung  des  W^erkes  und  hierdurch  angeregt 

1)  Stacke,  Deutsche  Geschichte,  I,  142. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  7. 


versuchte  als  erster  Dombaumeister  Tornow  mit  aller¬ 
dings  unhaltbaren  Gründen  in  einem  Vortrage  zur 
Winckelmannsfeier  in  Bonn  den  Reiter  der  karolin¬ 
gischen  Zeit  wissenschaftlich  zuzuweiseu.  Die  eisass¬ 
lothringische  Regierung  ließ  auf  seine  Autorität 
gestützt  zwei  metallene  Nachgüsse  der  Figur  für 
die  Kathedrale  und  Kaiser  Wilhelm  I.  anfertiffen. 
Als  aber  Essenwein  in  einer  Eingabe  das  Werk  für 
eineFälschung  des  19.  Jahrhunderts  erklärte suchte 
Tornow  bei  Professor  Aus’m  Weerth  wissenschaft¬ 
liche  Unterstützung  und  letzterer  bringt  thatsächlich 
in  gelehrter  Ausführung  den  Nachweis,  dass  die 
Figur  karolingisch  sei.  3)  In  weiten  Kreisen  sind  Aus’m 
WeertlTs  Argumente  angenommen  worden  und  fast 
keine  der  zahlreichen  illustrirten  Geschichten  hat  sich 
seitdem  das  kleine  Bildnis  als  „gleichzeitiges  Porträt 
Karl’s  des  Großen“  entgehen  lassen. ‘‘)  Die  stimm¬ 
führenden  Vertreter  der  deutschen  Kunstwissenschaft 
blieben  freilich  auch  jetzt  noch  in  vorsichtiger  Zurück¬ 
haltung  oder  widersprachen  sogar  direkt  der  Mög¬ 
lichkeit  einer  karolingischen  Provenienz.^)  Da  nahm 


1)  Vgl.  Aus’m  Weerth,  Jahrbücher  des  Vereins  für  Alter¬ 
tumsfreunde  im  Rheinlande,  Heft  78.  Bonn  1884. 

2)  Bericht  vom  15.  November  1882  an  d.  Staatssekretär 
V.  Hoffmann. 

3)  S.  oben. 

4)  Eine  Aufzählung  dieser  Besprechungen  und  Abbildun¬ 
gen  bei  Wolfram,  Die  Reiterstatuette  Karl’s  des  Großen  aus 
der  Kathedrale  zu  Metz,  Straßburg  1890,  S.  3  (künftig  citirt 
als  „Reiterstatuette“). 

5)  Schnaase,  Kunstgesch.,  2.  Aufl.,  Band  III,  624,  Anm.  4 
(schon  vor  Erscheinen  von  Aus’m  Weerth’s  Arbeit);  Lübke, 

20 


154 


DIE  HEITERST ATUETTE  KARL’S  DES  GROSSEN. 


von  neuem  Paul  Clemen  Aus’m  Weerth’s  Beweis¬ 
führung  auf  und  vertiefte  dessen  Argumente  nicht 
unwesentlich.’)  Freilich  kam  auch  er  nicht  um  das 
Eingeständnis  herum,  dass  kunsttechnisch  das  Werk 
im  9.  Jahrhundert  keine  Parallele  habe  und  wusste 
wie  Aus'm  Weerth  dieses  kunstkritisch  schwere  Be¬ 
denken  nur  durch  die  Erwägung  zu  bekämpfen,  dass 
die  Figur  ob  ihrer  Zeittreue  in  Kostüm  und  Beigaben 
keiner  anderen  Epoche  zugeschrieben  werden  könne. 

Ich  habe  diesen  kunsthistorischen  Erwägungen 
gegenüber  untersucht,  ob  sich  vom  rein  geschichtlichen 
Standpunkte  aus  die  Zeitstellung  Clemen’s  rechtfer¬ 
tigen  lasse,  und  bin  zu  einem  verneinenden  Resultate 
gekommen.  2)  Auf  die  Einwendungen  Clemen’s  3) 
hiergegen  habe  ich  wiederholt  geantwortet^)  und 
da  die  Behandlung  der  Frage  nach  diesen  Gesichts¬ 
punkten  allgemeineres  Interesse  hervorgerufen  hat  ^), 
so  wird  es  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn  heute 
das  Für  und  Wider  in  berufenem  Organ  zusammen¬ 
gestellt  und  dem  Urteil  der  maßgebenden  Kreise 
unterbreitet  wird. 

Die  Untersuchung  hat  zwei  scharf  gesonderte 
Fragen  zu  beantworten:  1.  Ist  die  Statuette  karo¬ 
lingisch?  2.  Wenn  das  nicht  der  Fall  ist,  in  welche 
Zeit  gehört  sie  dann? 


(Jesch.  der  deutschen  Kunst,  S.  4.5,  Anm.  2;  Essenwein,  Hand- 
schriftl.  Gutachten;  Bode,  Gesch.  der  deutschen  Plastik,  er¬ 
wähnt  das  Werk  nicht  unter  den  karol.  Denkmälern,  eben- 
sowenif'  v.  Falke,  Gesch.  des  deutschen  Kunstgewerhes. 

1)  P.  Clemen,  Die  Porträtdarstellungen  Karl’s  des  Großen. 
Zeitschrift  des  Aachener  Geschichtsvereins  XI,  185  tf. 

2)  S.  oben  Pieiterstatuette. 

'■})  Zeitschrift  des  Aachener  Geschichts Vereins  XII,  230 ff. 
Kejiertorium  für  Kunstwissenschaft  XITI,  6.  Studien  über 
merowingische  und  karolingische  Plastik. 

4)  .lahrbuch  der  Gesellsch.  für  lothr.  Gesch.  und  Alter¬ 
tumskunde  III,  321  tf.  Ebenda  IV,  233 ff. 

.5)  Ich  fand  Zustimmung  bei  Lübke,  Beilage  der  Mün- 
cliencr  Allg.  Zeitung,  1891;  Kraus,  Rei)ertoi'ium  111,  G  und 
Iteutsclie  Litteraturzeitung  vom  17.  Oktober  1891;  Schlosser, 
Zcitschr.  des  Instituts  für  österr.  Geschichtsforschung,  1890, 
S.  3 1.3 ff. ;  Riegel,  Mitteil,  des  k.  k.  österr.  Museums  für  Kunst 
und  Industrie,  1890,  S.  244;  Bourgeois,  Ann.  de  l’Est,  1890, 
Heft  3.  Wenn  ich  schriftliche  Äußerungen  erwähnen  darf; 
Scheffor-Boichorst,  Lorenz,  D.  Schäfer,  A.  Schulte,  W.  Wie¬ 
gand,  A.  Schricker.  In  weiteren  Kreisen  wird  es  auch  inter- 
e.‘.siren,  dass  Fürst  Bismarck,  der  seiner  Zeit  von  der  eisass¬ 
lothringischen  Regierung  einen  Abguss  der  Statue  erhielt, 
sich  mit  der  Frage  beschäft'gt  hat.  Se.  Durchlaucht  schreibt 
mir  am  19.  Dezember  1890:  Euer  hochwohlgeb.  Schrift  über 
die  .Metzer  Statuette  habe  ich  mit  Interesse  gelesen,  um  so 
mehr,  als  ich  die  Kopie  jenes  Werkes  hier  in  Friedrichsruhe 
besitze.  Ich  bin  ganz  Ihrer  Meinung,  dass  das  Bildwerk 
einer  späten  Zeit  angehöif  und  bitte  Sie,  für  Ihre  freund¬ 
lichen  Mitteilungen  meinen  verbindlichsten  Dank  entgegen¬ 
zunehmen.  V.  Bismarck. 


Als  wichtigstes  positives  Argument  für  die  karo¬ 
lingische  Herkunft  der  Figur  tritt  bei  Aus’m  Weerth 
und  Clemen  in  den  Vordergrund:  die  Figur  stimmt 
durchaus  mit  der  Schilderung  Einhard’s  von  Karl 
dem  Großen  überein  und  weiter:  Tracht  und  Bei¬ 
gaben  sind  karolingisch. 

Bevor  ich  auf  diese  Beweisführung  im  einzelnen 
eingehe,  schicke  ich  einige  Erwägungen  allgemeinerer 
Art  voraus.  Aus’m  Weerth  ist  der  Ansicht,  dass 
die  Figur  nur  in  der  bald  nach  Karl’s  Tode  einge¬ 
gangenen  Aachener  Gießhütte  entstanden  sein  könne, 
Clemen  will  sich  zeitlich  nicht  so  eng  binden  und 
giebt  eine  weitere  Frist  bis  etwa  840.  Er  will  auch 
(obgleich  er  damit  einen  Teil  seiner  Argumente  selbst 
hinfällig  macht)  nicht  darauf  bestehen,  dass  das  Karl 
sein  müsse,  sondern  sieht  nur  einen  der  älteren  Karo¬ 
linger  in  der  Figur.  Welcher  sollte  das  sein? 

Ludwig  der  Fromme  keinesfalls.  Sagt  doch  von 
ihm  sein  Biograph  Thegan  ’),  er  sei  nur  von  mäßiger 
Gestalt  gewesen,  die  Reiterfigur  zeigt  aber  eine  Per¬ 
sönlichkeit,  von  der  Clemen  selbst  erwiesen  hat,  dass 
sie  über  das  gewöhnliche  Maß  hinausragt.  Also  viel¬ 
leicht  Karl  der  Kahle?  Der  wurde  825  geboren  und 
war  840  erst  15  Jahre  alt.  Nach  Clemen’s  Ansicht, 
der  ich  beipflichte,  ist  aber  der  Reiter  mindestens 
ein  Vierziger.  2) 

Oder  Pipin?  Der  ist  nie  Kaiser  gewesen.  Einem 
Teilkönige  aber  —  diese  Auffassung  wird  nicht 
bestritten  werden  —  hat  die  Anschauung  jener  Zeiten 
niemals  das  Symbol  der  Weltherrschaft,  den  Reichs¬ 
apfel,  zuerkannt. 

Es  bleibt  sonach  nur  Lothar  übrig.  Der  war 
thatsächlich  817  Mitkaiser  geworden  und  um  840 
hatte  er  wohl  das  Alter,  das  der  Bildner  seiner 
Reiterfigur  gegeben  hat.  Sollte  er  aber  zu  Lebzeiten 
des  Kaisers  die  vollen  Symbole  der  kaiserlichen  Herr¬ 
schaft  geführt  haben?  Das  ist  doch  kaum  anzu¬ 
nehmen;  es  müsste  denn  in  jenem  traurigen  Jahre 
gewesen  sein,  als  er  den  Vater  zur  Abdankung  ge¬ 
zwungen  hatte.  Diese  Zeit  passt  aber  wieder  nicht 
zu  dem  Alter,  das  in  den  markanten  Zügen  und  der 
Haltung  der  Figur  ausgeprägt  ist. 

Was  aber  die  Möglichkeit  all  dieser  Annahmen 
wesentlich  beschränkt,  das  ist,  dass  der  ganze  Be¬ 
weis,  der  für  die  karolingische  Herkunft  der  Figur 
auch  von  Clemen  geführt  wird,  in  einem  wesent¬ 
lichen  Teile  ausschließlich  auf  die  Person  Kari’s  des 
Großen  zugespitzt  ist.  Seine  Figur,  sein  Kopf,  sein 


1)  Vita  Ludov.  cap.  19. 

2)  Karol.  und  merow.  Plastik,  57  u.  140. 


DIE  REITERSTATÜETTE  KARL’S  DES  GROSSEN. 


155 


Nacken,  seine  Angen  sollen  in  der  Figur  porträtirt 
sein,  und  wenn  deinen  auch  nur  schließt,  „das  kann 
Karl  sein“,  so  hat  er  doch  das  Argument  der  Iden¬ 
tität  zwischen  litterarischer  Schilderung  und  Bronze¬ 
porträt  bei  seiner  Beweisführung  nicht  verschmäht. 
Ich  meine,  wenn  man  überhaupt  von  karolingischer 
Provenienz  sprechen  will,  so  kann  nur  Aus’m  Weerth’s 
bestimmt  geäußerte  Ansicht  in  Betracht  kommen: 
das  ist  Karl  der  Große  selbst. 

Wie  aber  weiter?  Waren  die  Künstler  jener 
Zeit  fähig,  ein  Porträt  nach  dem  Tode  eines  Mannes 
lediglich  aus  der  Erinnerung  herzustellen,  ein  Por¬ 
trät  noch  dazu  in  retrospektiver  Darstellung,  das 
einen  Mann  in  den  besten  Jahren  giebt,  der  ihnen 
nur  als  72 jähriger  Greis  vor  der  Seele  stand?  Das 
darf  wohl  ohne  weiteres  verneint  werden.  Dieses 
Porträt  kann  nur  zu  Karl’s  Lebzeiten  gefertigt  sein 
und  zwar  in  einer  Zeit,  in  der  der  König  ca.  40  bis 
50  Jahre  zählte.  Das  ist  zwischen  782  und  792. 

Die  karolingische  Renaissance  ist  durch  Karl 
persönlich  geschaffen,  sie  hat  unter  ihm  erst  ihre 
Anfänge  genommen  und  zwar  wird  sich  das  Jahr 
781  als  Geburtsjahr  bezeichnen  lassen.  Soll  nun 
bei  diesen  ersten  tastenden  Versuchen  das  bedeu¬ 
tendste  Werk  der  Zeit,  das  den  Höhepunkt  der  ganzen 
Entwickelung  bezeichnet,  entstanden  sein  ?  Und  weiter: 
Karl  führt  den  Reichsapfel,  das  Symbol  der  Welt¬ 
herrschaft,  des  Kaisertums.  Erst  800  aber  ist  Karl 
Kaiser  geworden! 

Und  noch  eine  Erwägung  muss  hier  Platz 
finden.  Einhard,  der  Schützling  und  Freund  des 
großen  Königs,  hat  versucht,  ein  lebenswahres  Bild 
seines  eben  verschiedenen  Herrn  zu  zeichnen  und 
nichts  erscheint  ihm  für  diesen  seinen  Zweck  zu 
geringfügig:  bis  auf  die  Binden  der  Schuhe  erstreckt 
sich  seine  eingehende  Schilderung.  Und  bei  diesem 
heißen  Bemühen,  eine  Gestalt  nach  dem  Leben  zu 
schaffen,  sollte  Einhard  das  Kunstwerk  vergessen 
haben,  das  besser  als  aUe  Federn  der  Welt  das  Bild¬ 
nis  des  großen  Kaisers  überlieferte,  derselbe  Einhard, 
der  nach  seinem  Beinamen  Beseleel,  —  d.  i.  der  Mei¬ 
ster,  den  der  Herr  erfüllt  hat,  künstlich  zu  arbeiten  in 
Gold,  Silber  und  Erz  —  zu  urteilen,  ein  doppeltes 
Interesse  für  jenes  Wunderwerk  der  Metalltechnik 
haben  musste! 

Wenn  ich  jetzt  auf  die  Argumente  eingehe, 
die  Aus’m  Weerth  und  Giemen  für  ihre  Ansicht  bei- 
bringen,  so  ist  das  erste,  die  Übereinstimmung  der 
ligur  mit  den  zeitgenössischen  Schilderungen  von 
Karls  Persönlichkeit,  durch  Giemen  selbst,  wie  ge¬ 
sagt,  schon  erheblich  erschüttert.  Das  zweite: 


Tracht  und  Beigaben  der  Figur  sind  karolingisch, 
hat  gleichfalls  so  allgemein  der  Kritik  nicht  stand¬ 
halten  können.  Ich  habe  gezeigt,  dass  die  kurzen 
Stirnlocken,  die  Krone,  der  Mantel,  die  Heftung  des 
letzteren  auf  der  rechten  Schulter,  die  Schuhe  an 
den  Füßen  in  derselben  Art  auch  zur  Zeit  der  Otto- 
nen,  teilweise  sogar  der  salischen  Kaiser  sich  er¬ 
halten  haben.*)  Nur  in  einem  musste  ich  Giemen 
bisher  recht  geben :  die  kurze  Tunika  und  die  Bein¬ 
binden  sind  zu  keiner  anderen  Zeit  nachweisbar,  ja 
sie  finden  sich  sogar  nur  bis  840.  Heute  kann  icli 
auch  diesen  Halt,  auf  dem  der  Glemen’sche  Beweis 
noch  einigen  Untergrund  fand,  beseitigen.  Linden- 
schmit  zeigt  in  seinem  Handbuch  der  deutschen 
Altertumskunde  2) ,  dass  die  Beinbinden  sich  bis  in 
das  11.  Jahrhundert  hinein  behauptet  haben,  und 
dieselben  Bilder,  mit  denen  dieser  Satz  illustrirt  wird, 
bringen  die  kurze  Tunika. 

Damit  ist  der  gesamte  Beweis  Aus’m  Weerth’s 
und  Glemen’s  haltlos  geworden.  Die  Übereinstimmung 
der  Figur  mit  der  Schilderung  der  Zeitgenossen  be¬ 
rechtigte  lediglich  zu  dem  Schlüsse:  das  kann  Karl 
sein;  das  Kostüm  beweist  ebenso  nichts  weiter  als: 
das  kann  karolingisch  sein.  Wenn  dem  nun  gegen¬ 
übersteht,  dass  bezüglich  der  Technik  die  Figur  im 
9.  Jahrhundert  keine  Parallele  hat,  mit  anderen  Wor¬ 
ten,  dass  der  Stand  der  Technik  des  9.  Jahrhunderts 
einem  derartigen  Guss  nicht  gewachsen  war,  so  ist 
die  einzig  mögliche  Folgerung:  in  das  9.  Jahrhundert 
gehört  diese  Figur  nicht. 

Nach  Beseitigung  der  Gründe,  die  die  Figur  in 
das  9.  Jahrhundert  wiesen,  werden  diejenigen  um 
so  wirksamer  sein,  die  eine  derartige  Möglichkeit 
geradezu  ausschließen. 

Unter  den  Beigaben  haben  Aus’m  Weerth  und 
Giemen  keine  Rücksicht  auf  den  Reichsapfel  und  das 
Schwert,  das  der  Reiter  führt,  genommen.  Gerade 
diese  beiden  Stücke  aber  sind  für  die  Zeitstellung 
der  Figur  von  entscheidender  Bedeutung. 

Wir  haben  aus  dem  9.  Jahrhundert  verschiedene 
Berichte,  die  die  Reichsinsignien  gelegentlich  des 
Thronwechsels  aufzählen.  **)  Da  ist  ausschließlich 
von  Krone,  Scepter  und  Stab,  vielleicht  auch  vom 
Schwerte  die  Rede,  nie  aber  vom  Reichsapfel.  Giemen 
hat  dieser  Bemerkung  nichts  weiter  entgegenzusetzen 
gewusst,  als  dass  der  Reichsapfel  auch  späterhin  bei 
Kaiserkrönungen  nur  selten  Erwähnung  finde,  ob- 

1)  „Reiterstatuette“  S.  6  ff. 

2)  S.  342—343. 

3)  S.  die  Zusammenstellung  derselben  in  „Reiterstatuette“ 
S.  9  ff'. 

2U* 


156 


DIE  REITERSTÄTUETTE  KARL’S  DES  GROSSEN. 


«rleich  er  dann  anderweit  sicher  nachweisbar  sei. 
Das  Pomum  sei  eben  nur  eine  Beigabe,  nicht  Insignie 
gewesen.  Der  Einwand  ist  hinfällig.  Einmal  wird 
das  Pomum  später  doch  überhaupt  erwähnt,  wenn 
das  auch  nach  Clemen’s  Ansicht  „nur  selten“  ge¬ 
schieht.  Sodann  aber  sind  aus  früherer  Zeit  nicht 
nur  Berichte  über  die  feierliche  Übergabe  der  In¬ 
signien,  sondern  auch  verschiedene  gleichzeitige  Schil¬ 
derungen  von  Königen 
im  Ornat,  wie  es  hei 
feierlichen  Gelegenhei¬ 
ten  getragen  wurde, über¬ 
liefert.  W enn  da  auch  der 
Reichsapfel  nur  Beigabe 
gewesen  wäre,  so  hätte 
hier  der  Berichterstat¬ 
ter  doch  keinen  Grund, 
ihn  zu  verschweigen; 
auch  der  Mantel  gehört 
nicht  zu  den  Insignien 
und  wird  doch  erwähnt. 

So  malt  uns  Einhard 
Karl  den  Großen,  The- 
gan  Ludwig  den  From¬ 
men  '),  der  Fuldaer  An¬ 
nalist  Karl  den  Kahlen  2), 
fast  jedes  Stück  der 
Kleidung,  jede  Beigabe 
wird  geschildert,  vom 
Ajtfel  ist  nirgends  die 
Rede.  Meines  Wissens 
hat  in  litterarischen 
Quellen  das  Pomum  znm 
ersGinmal  zur  Zeit  Hein- 
rich’s  11.  Erwähnung  ge¬ 
funden. -'j  I’apst  Bene¬ 
dikt  VIII.  überreicht 
ihn  im  Jahre  1014  dem 
Könige  hei  der  Kaiser¬ 
krönung  als  Symbol  der 
belierrschten  Welt.  Aber 
bezeichnend  genug  für 
die  Bedeutung,  die  Heinrich  der  Gabe  beilegt:  er 
ül>ersendet  sie  dem  Kloster  Glugny.  Das  spricht 
nicht  dafür,  dass  eine  alte  Tradition  dem  deut- 

1)  V.  llludovici  imp.  c.  19  M.  (i.  SS.  II,  54.5. 

2)  Ann.  Fuld.  M.  (1.  SS.  I,  380. 

3)  Kodulf.  Glahr.  1,  5,  p.  59.  Adeinar  III,  37,  p.  1.33  (nach 
Waitz,  Verfa.ssun"sgeHch.  VI,  220  n.  5.  Unter  den  Kleinodien 
zuerst  erwähnt  von  Ekkehard  1100,  S.  231  (Waitz  ebenda,  n.  0). 


sehen  Könige  das  Pomum  auch  nur  als  Beigabe  be¬ 
sonders  wertvoll  gemacht  hätte. 

Von  vielleicht  noch  größerer  Beweiskraft  als  die 
litterarischen  Quellen  sind  die  künstlerischen  Dar¬ 
stellungen  der  karolingischen  und  nachfolgenden  Zeit. 

In  erster  Linie  kommen  unter  ihnen  die  Abbil¬ 
dungen  Karl’s  des  Großen  selbst  in  Betracht  und 
da  ergieht  sich,  dass  weder  die  im  9.  Jahrhundert 

entstandenen  und  die  auf 
diese  zurückgehenden 
Bilder  noch  Darstel¬ 
lungen  einer  späteren 
Zeit,  die  nach  der  Schil¬ 
derung  Turpin’s  arbei¬ 
tete,  den  Kaiser  mit  dem 
Reichsapfel  wiederge¬ 
ben.')  Das  Resultat  ist 
um  so  charakteristischer, 
als  anderen  Herrschern 
seit  der  KaiserzeitOtto’sI. 
das  Pomum  stets  von 
den  Künstlern  beige¬ 
geben  wird;  dieser  Ge¬ 
gensatz  lässt  sich  nur 
so  erklären,  da.ss  der 
Einfluss  der  alten  Tra¬ 
dition  bezüglich  dieser 
augenfälligenAußerlich- 
keit  mächtig  genug  war, 
um  im  Gegensatz  zur 
Sitte  der  Zeit  das  Fehlen 
des  Pomums  geradezu 
als  Charakteristicum  des 
großen  Karolingers  er¬ 
scheinen  zu  lassen. 

Die  Darstellungen 
anderer  Herrscher  aus 
karolingischer  Zeit  be¬ 
stätigen  das  bisherige 
Resultat:  bis  zur  Kaiser¬ 
krönung  Otto’s  1.  tritt 
uns  kein  Herrscherbild¬ 
nis  mit  Reichsapfel  entgegen,  Besonders  bewei¬ 
send  ist  hier  das  gewissermaßen  offlzielle  Material 
der  Siegelbilder:  Arnulf,  Ludwig  das  Kind,  Konrad  L, 
Heinrich  L,  Otto  1.  in  seiner  Königszeit  tragen  statt 
des  Pomums  einen  Schild.  Die  Bücherminiaturen  stim¬ 
men  hiermit  durchaus  überein.  Nur  eine  Ausnahme 


1)  Zusammenstellung  in  Jahrb.  III,  327  ff. 

2)  Ebenda. 


DIE  REITERSTATUETTE  KÄRL’S  DES  GROSSEN. 


157 


findet  sich  auf  letzterem  Gebiete ;  Karl  der  Kable 
erscbeint  auf  dem  Widmiingsbilde  eines  Psalters  ’) 
mit  dem  Reicbsapfel.  Das  lässt  sieb  jedoeb  recht 
wohl  historisch  erklären:  der  Reicbsapfel  ist  ursprüng¬ 
lich  Attribut  der  byzantinischen  Kaiser.  Nun  ist 
gerade  Karl  der  Kable  derjenige,  der  im  scharfen 
Gegensatz  zu  seinen  Vorgängern,  insbesondere  zu 
Karl  dem  Großen,  welch  letzterer  nur  zweimal  in 
seinem  Leben  auf  ausdrückliche  Bitte  des  Papstes 
nach  Ablegung  der  fränkischen  Tracht  in  römischer 
erschien,  dem  byzantinischen  Kleiderpomp  im  Abend¬ 
lande  Eingang  verschaffte.  Novos  et  incolitos  mores! 
sagt  der  Fuldaer  Annalist“)  und  fährt  dann  fort: 
omnem  enim  consuetudinem  regum  Francorum  con- 
tempnens  Graecas  glorias  optimas  arbitrabatur  et  ut 
majorem  suae  mentis  elationem  ostenderet  ablato 
regis  nomine  se  imperatorem  et  augustum  omnium 
regum  cis  mare  cousistentium  appellare  praecepit. 
Der  symbolische  Ausdruck  dieser  überspannten  An¬ 
sprüche  war  für  den  Maler  das  byzantinische  Ponmm; 
damit  ist  noch  nicht  einmal  gesagt,  dass  der  Kaiser 
selbst  es  jemals  geführt  hat. 

Clemen  glaubt  gegen  die  Bedeutung  dieses  Be¬ 
weises  für  die  Zeitstellung  der  Statuette  drei  Fälle 
„herausgreifen“  zu  können,  die  das  lästige  Argument 
widerlegen. 

Nach  seiner  Angabe  findet  sich  das  Pomum 

1.  auf  einer  Elfenheinpyxis  des  7.  Jahrhunderts; 

2.  im  Utrechtpsalter,  Fol.  114; 

3.  im  Cod.  384  der  Bibi.  comm.  zu  Camhray,  „der 
in  den  letzten  Jahren  des  8.  und  den  ersten  des 
9.*  Jahrhunderts  in  Tours,  also  mitten  im  Herzen 
des  Karolingerreichs  geschrieben  ist.“ 

Der  erste  Fall  kommt  hier  überhaupt  nicht  in 
Betracht.  Eine  Elfenheinpyxis  des  7.  Jahrhunderts, 
deren  Herkunft  noch  dazu  unbekannt  ist,  beweist 
nichts  gegen  die  karolingische  Sitte  des  9.  Jahr¬ 
hunderts. 

Der  zweite  Fall  beruht  auf  einem  sonderbaren 
Irrtum.  Was  Clemen  für  ein  Pomum  ansieht,  ist  ein 
perspektivisch  verzeichneter  Rockärmel.  Das  ist  keine 
subjektive  Interpretation  der  Linien:  wie  ich  mich 
überzeugte,  malt  der  Illustrator  des  öfteren  seine 
Rockärmel  mit  genau  demselben  Ungeschick,  auch 
wenn  es  nicht  Könige  sind,  die  er  darstellt. '^) 


1)  Pariser  Nationalbibi  Nr.  152.  Abbildung  bei  Louandre, 
les  arts  somptuaires. 

2)  Ann.  Fuld.  M.  G.  SS.  I,  389. 

3)  Ich  verglich  die  vorzüglichen  Photographieen  des 
Codex  im  Brit.  Museum.  Eine  Durchzeichnung  des  Originals 
zu  Utrecht  konnte  leider  nicht  gestattet  werden. 


Das  dritte  Beispiel  widerlegt  Janitschek:  Durieux 
hatte  das  Bild  in  das  10.  Jahrhundert  gesetzt.  Da- 
ffesen  wendet  er  sich  und  sagt:  schon  nach  den 
ornamentalen  Motiven  der  Bildumrahmuug  —  falls 
dieselbe  mit  annähernder  Treue  wiedergegebeu  — 
muss  auf  die  zweite  Hälfte  des  9.  Jahrhunderts  als 
Entstehungszeit  geschlossen  werden.  Wie  ich  ge¬ 
zeigt  habe,  sind  dies  —  und  zwar  dies  allein  — 
die  Jahre,  in  denen  sich  das  Vorkommen  des  Po- 
mums  aus  den  politischen  Verhältnissen  erklären 
lässt.  Für  diese  Zeit  aber  ist  das  Entstehen  der 
Statuette  selbst  nach  Clemen’s  Ansicht  völlig  aus¬ 
geschlossen. 

Schließlich  hat  Clemen  in  seiner  letzten  Er¬ 
widerung  auch  ein  Beispiel  für  die  Existenz  des 
Pomums  in  frühkarolingischer  Zeit  (vor  840!)  beige- 
bracht:  das  Widmungsbild  des  karolingischen  Evan¬ 
geliars  von  S.  Vaast  soll  den  Reichsapfel  tragen  und 
für  die  Datiruug  des  Werkes  beruft  er  sich  auf 
Delisle. ')  Da  ich  weder  das  Original  einsehen  noch 
der  Arbeit  Delisle’s  habhaft  werden  konnte,  wandte 
ich  mich,  um  Clemen’s  Angabe  zu  kontrolliren,  an 
Delisle  selbst  und  der  berühmte  Paläograph  gab  mir 
in  Lebens würdig.ster  Weise  folgende  Auskunft:  La 
date  de  l’evangeliaire  de  S.  Vast  ne  peut  etre  deter- 
minee  qu’approximativement.  C’est  un  des  plus 
beaux  monuments  calligraphiques  du  IX®  siede.  Je 
le  crois  du  tcnips  de  Charles  le  Ghauve. 

Damit  ist  die  letzte  Stütze,  die  Clemen  seinem 
Gegenbeweis  untergeschoben  hatte,  beseitigt.  Ja  noch 
mehr:  das  Beispiel  ist  ein  weiteres  Argument  für 
meine  Annahme  geworden,  dass  lediglich  der  persön¬ 
liche  und  politische  Größenwahn  Karl’s  des  Kahlen 
die  Beigabe  des  Reichsapfels  auf  Königsbildern  einige 
Male  veranlasst  hat.  Weder  vorher  noch  nachher, 
bis  zur  Kaiserkrönung  Otto’s  1.  ist  die  Insignie  auf 
Herrscherbildern  verwendet  worden.  Doch  der  Reichs¬ 
apfel  ist  nicht  der  einzige  Anachronismus,  der  sich 
an  der  „karolingischen“  Statuette  nach  weisen  lässt, 
so  sonderbar  es  zunächst  auch  scheinen  mag  —  das 
in  der  Hand  aufrecht  gehaltene  Schwert  steht  dem 
Pomum  in  dieser  Beziehung  gleich. 

Selbstverständlich  haben  die  Könige  jederzeit 
das  Schwert  geführt  und  auch  an  Darstellungen  — 
litterarischen  wie  bildlichen  —  fehlt  es  nicht,  die 
dem  Herrscher  eine  derartige  Waffe  in  die  Hand 
geben.  Aber  es  ist  doch  zweierlei,  ob  Schriftsteller 
und  Künstler  den  König  mit  den  Abzeichen  seiner 
Würde  darstellen  oder  als  kämpfenden  Kriegsmann 


1)  Merow.  u.  karol.  Plastik  144. 


158 


DIE  REITERSTATUETTE  KARL’S  DES  GROSSEN 


vorführen.  Als  Herrsch ersymbol  aber  begegnet  das 
Schwert  in  der  Hand  des  Herrschers  auf  den  bild¬ 
lichen  Darstellungen  der  Karolingerzeit  nie.  Auf 
Miniaturen  habe  ich  es  sogar  bis  in  die  Zeit  Lud- 
wig’s  des  Bayern  nicht  finden  können,  auf  Münzen 
ist  es  mir  unter  Konrad  HL  zum  erstenmal  begegnet 
und  die  offiziellen  Siegelbilder  lassen  es  den  Minia¬ 
turen  entsprechend  erst  seit  der  Mitte  des  14.  Jahr¬ 
hunderts  aufkommen. 

Bezüglich  der  litterarischen  Quellen  liegt  die 
Sache  allerdings  etwas  anders.  In  den  Berichten 
über  Königsinvestituren  wird  schon  zu  karolingischer 
Zeit  das  Schwert  erwähnt,  aber  dieser  scheinbare 
Widerspruch  im  Vergleich  zu  den  Darstellungen 
findet  seine  Erklärung  darin,  dass  das  Schwert  ge¬ 
wissermaßen  nur  Insignie  zweiten  Ranges  gewesen 
ist.’)  Das  beweist  die  Schilderung  Ludwig’s  des 
Frommen  durch  Thegan:  das  Schwert  trägt  der  König 
an  der  Seite,  das  Scepter  in  der  Hand.  Auch  die 
Darstellungen  der  Vivianusbibel  rechtfertigen  diese 
Auffassung:  Karl  der  Kahle  selbst  hält  das  Scepter, 
als  Schwertträger  sind  besondere  Figuren  ein¬ 
gezeichnet,  die  hinter  dem  König  stehen. 

Die  Beseitigung  dieses  Argumentes  hat  sich  nun 
Clemen  recht  leicht  gemacht:  einen  Kampf  gegen 
Windmühlenflügel  nennt  er  die  Ausführung,  denn 
er  glaubt  den  urkundlichen  Beweis  gefunden  zu 
haben,  dass  das  Schwert  der  Statuette  eine  moderne 
Ergänzung  von  Alexander  Lenoir  sei.  „Die  Öff¬ 
nung  in  der  geballten  Hand  weist  vielmehr  auf 
ein  langes  Schwert.“  Die  „urkundliche“  Bestätig¬ 
ung  liefert  ihm  ein  Schreiben  des  Herrn  Jules  Cou¬ 
sin  vom  25.  März  1892,  in  dem  der  Franzose  sagt: 
Fepee  a  ete  ajoutee  du  temps  d’Alexandre  Lenoir 
vers  1819—1820. 

Dass  dieser  Brief  ein  „urkundlicher“  Beweis  sei, 
ist  eine  etwas  sonderbare  Auffassung.  Woher  weiß 
diis  .Iiiles  Cousin?  Und  zudem:  Wenn  A.  Lenoir 
wirklich  das  Schwert  ersetzt  hat,  wer  sagt  Clemen, 
dass  vorher  ein  Scepter  in  der  Hand  gewesen  ist? 
Das  aus  dem  Loch  sehen  zu  wollen,  ist  doch  mehr 
als  kühn.  Ich  habe  oben  ausgeführt,  dass  zwei 
Statuetten  in  der  Kathedrale  waren,  eine  silberne 
und  eine  bronzene;  von  ihnen  war  die  eine  Nach¬ 
guss  der  andern. Die  silberne  nun  hat  nach  dem 
Gericht  von  Mcurisse  schon  im  Jahre  1G34  —  200 
Jahre  vor  Lenoir  —  das  Schwert  gehalten;  ist  es 

1)  Auch  Wait/. ,  Verfiissungsgesch.  VI,  227,  nennt  als 
„wiclitigste  Insignien“  Krone  und  Scepter. 

2)  Den  Beweis  habe  ich  „Keiterstatuette“  S.  2.‘j  erbracht. 


nicht  wahrscheinlich,  dass  das  Ebenbild  mit  dem¬ 
selben  Symbole  dargestellt  war?  Doch  es  tritt  noch 
ein  weiteres  und  zwar  ausschlaggebendes  Zeugnis 
hinzu:  Calmet,  der  beide  Figuren  c.  1750  gesehen 
hat,  beschreibt  sie  folgendermaßen’):  La  figure  de 
Charlemagne  ä  cheval  et  armee,  le  tout  en  vermeil; 
on  expose  cette  figure  sur  le  grand  autel  au  jour 
de  Lanniversaire  de  cet  empereur,  car  on  ne  le  re- 
connalt  pas  pour  saint  ä  Metz.  Item:  une  autre  figure 
du  meme  prince  aussi  ä  cheval  et  armee.  Clemen 
selbst  wird  kaum  einwenden,  dass  die  Bezeichnung 
armee,  die  Calmet  der  Figur  als  Charakteristicum 
geben  zu  können  glaubt,  auf  die  Schwertscheide,  die 
nur  zum  Teil  unter  dem  Mantel  hervor  sichtbar  wird 
und  in  keiner  Weise  auffällt,  bezogen  werden  soll. 

Sonach  ist  das  Schwert  für  den  Beweis  von 
derselben  Bedeutung  wie  der  Reichsapfel.  Wichtiger 
aber  noch  als  Reichsapfel  und  Schwert  für  sich  ist 
die  Nebeneinander  Stellung  der  beiden  Symbole. 

Es  ist  oben  ausgeführt,  dass  der  Reichsapfel 
in  der  ersten  Zeit  nur  Beigabe,  nicht  Insignie  war; 
ich  habe  weiter  gezeigt,  dass  das  Schwert  als  In¬ 
signie  erst  hinter  Scepter  und  Krone  stand,  gewis¬ 
sermaßen  also  als  Symbol  zweiten  Ranges  aufgefasst 
werden  muss.  Nunwohl!  Niemals  bis  zum  14.  Jahr¬ 
hundert  begegnet  auf  bildlichen  Darstellungen 
Schwert  und  Apfel.  Als  mit  Otto’s  1.  Kaiserkrönung 
das  Pomum  auftritt,  wird  es  nicht  ohne  Scepter  ge¬ 
zeichnet,  und  als  das  Schwert  auf  Kaiserbildern  zu¬ 
nächst  vereinzelt  vorkommt,  da  wird  die  Herrscher¬ 
würde  durch  gleichzeitige  Beigabe  eines  Scepters  zum 
unzweideutigen  Ausdruck  gebracht.  Ein  König  mit 
Apfel  und  Schwert  ist  sonach  für  die  karolingische 
Zeit  ein  Anachronismus. 

Welcher  Zeit  aber  kann  die  Statuette  dann  zu¬ 
gewiesen  werden? 

Um  diese  Frage  zu  beantworten  ist  es  wesent¬ 
lich,  festzustellen,  seit  wann  eine  Verehrung  des 
großen  Karl,  wie  sie  die  Beschaffung  zweier  Figuren 
voraussetzt,  in  der  Kathedrale  existirte. 

Tornow  und  Aus’m  Weerth  haben  diesen  Kultus 
bis  in  die  karolingische  Zeit  hinaufzusetzen  ver¬ 
sucht,  um  daraus  gleichzeitig  einen  Beweis  für  das 
Alter  der  Statuetten  zu  gewinnen.  Das  Argument 
freilich,  das  sie  hierfür  beibringen  —  die  Figur  habe 
im  vorigen  Jahrhundert  auf  einer  karolingischen 
Altarmensa  gestanden  —  ist  durchaus  hinfällig. 
Einmal  ist  noch  nicht  gesagt,  dass  Figur  und  Platte 
zusammengehören:  im  Gegenteil  die  Figur  passt 


1)  Calmet  Not.  sur  la  Lorraine  ed.  1765  S.  834. 


DIE  REITERSTATUETTE  KARL’S  DES  GROSSEN. 


159 


absolut  nicht  zu  der  runden  Vertiefung  die  in  der 
Platte  existirt  (wahrscheinlicli  fand  hier  ursprüng¬ 
lich  ein  Leuchter  Aufstellung).  Sodann  aber  ist  nach 
dem  Urteil  von  Kraus  und  v.  Schlosser  die  Mar¬ 
mortafel  nicht  einmal  sicher  karolingisch,  sie  kann 
auch  einer  späteren  Zeit  angehören. 

Um  1166  wurde  Karl  auf  Veranlassung  Fried¬ 
richs  I.  durch  Paschalis, den  Gegenpapst  Alexander’sIII. 
heilig  gesprochen.  War  das  vielleicht  die  Veran¬ 
lassung  einer  besonderen  V erehrung  ?  Sicher  nicht. 
Metz  war  alexandrinisch  wie  kaum  eine  zweite  Stadt 
und  ging  in  seinem  Fanatismus  sogar  so  weit,  die 
Kardinale  des  Gegenpapstes  aus  den  Mauern  zu 
treiben.  Da  mochte  eine  Kanonisirung  durch  den  Schis¬ 
matiker  viel  eher  angethan  sein,  sich  der  Verehrung 
des  neuen  Heiligen  starr  zu  widersetzen,  als  dem 
frommen  Brauche  in  der  Kirche  Einlass  zu  gestatten. 

Im  13.  Jahrhundert  existirte  jedenfalls  noch 
keine  Spur  irgend  welchen  Kultus.  Wir  besitzen 
aus  jener  Zeit  ein  ganz  ausführliches  Ceremoniale  ^): 
mit  keiner  Silbe  erwähnt  dasselbe  das  Andenken  des 
Karolingers.  Das  Werk  giebt  gleichzeitig  Auskunft 
über  den  Schatz  der  Kathedrale:  die  Statuette  ist 
völlig  unbekannt. 

Aus  späterer  Zeit  wissen  wir  nun  allerdings  von 
mehreren  Kleinoden,  deren  Besitz  die  Tradition  auf 
Karl  zurückführte.  So  existirte  la  Chape  de  Charle- 
magne,  le  bäton  de  Charlemagne,  la  canne  de  Charle- 
magne,  eine  aus  kostbarem  Stein  geschnitzte  Schale, 
die  vom  König  geschenkt  sein  sollte;  endlich  führten 
zwei  Türme  der  Kathedrale  den  Namen  Tours  de 
Charlemagne. 

Wie  alt  ist  diese  Tradition?  Über  die  Schale, 
die  1507  zerbrochen  ist,  konnte  ich  nichts  ausfindig 
machen. 

Die  Chape  de  Charlemagne  stammt  aus  dem 
12.  Jahrhundert^),  ist  aber  dem  Ceremoniale  noch 
unbekannt,  also  zur  Zeit  der  Niederschrift  noch  nicht 
in  der  Kathedrale  gewesen.  Der  bäton  de  Charle¬ 
magne  führt  im  Ceremoniale  noch  die  Bezeichnung 
baculum  cantoris^),  la  canne  de  Charlemagne  ist 
sogar  noch  1628  als  solche  unbekannt  und  figurirt 
erst  seit  1750  unter  dem  historischen  Namen  im 


1)  Kunst  und  Altertum  in  Elsass-Lothringen  III  566. 

2)  In  seiner  Anzeige,  Zeitschr.  d.  Instituts  für  österr.  Ge- 
schichtsforscliung  s.  oben. 

3)  Metzer  Stadtbibliothek.  Ursprünglich  angelegt  im 
12.  Jahrhundert,  überarbeitet  im  13. 

4)  Kraus  a.  a.  0. 

5)  S.  den  Nachweis  der  Identität  in  „Reiterstatuette“ 
S.  14  ff. 


Schatzverzeichnis  ^),  von  den  tours  de  Charlemagne 
weiß  keine  ältere  Chronik  zu  erzählen,  nicht  einmal 
die  französische  chronique  des  eveques  des  15.  Jahr¬ 
hunderts;  erst  c.  1520  erscheinen  sie  bei  Philipp  v. 
Vigneulles  unter  des  Kaisers  Namen.  Vor  das  14.  bis 
15.  Jahrhundert  wird  nach  alledem  eine  Ausbildung 
des  Kultus  Karls  in  der  Kathedrale  nicht  gesetzt 
werden  können.  Da  liegt  es  denn  nahe,  die  Ver¬ 
ehrung  Karl’s  mit  denjenigen  Maßregeln  in  Ver¬ 
bindung  zu  bringen,  die  Ludwig  XL  in  Frankreich 
für  den  Kultus  seines  „Ahnen“  befohlen  hatte. 

Ein  zwingender  Beweis  für  das  Alter  der  Sta¬ 
tuette  ist  mit  diesem  Resultat  selbstverständlich 
nicht  erbracht,  aber  in  der  Kette  der  übrigen  Argu¬ 
mente  ist  es  doch  von  Belang.  Unter  ihnen  kommt 
wiederum  die  Untersuchung  über  den  Reichsapfel 
in  Betracht.  Wir  sahen  oben,  dass  das  Pomum  auf 
Darstellungen  seit  der  Kaiserkrönung  Otto’s  1.  be¬ 
gegnet.  Das  ist  sonach  der  terminus  a  quo  für  die 
Entstehung  des  Standbildes.  Wie  ich  schon  in 
meinem  ersten  Aufsätze  andeutete  2),  liegt  es  nahe, 
das  Werk  mit  der  Blütezeit  der  ottonischen  Metall¬ 
technik  in  Verbindung  zu  bringen.  Tunika  und 
Beinbinden  passen,  wie  oben  ausgeführt  ist,  auch  in 
diese  Jahre,  und  ein  Siegel  Otto’s  III.  3)  zeigt  eine  so 
auffallende  Ähnlichkeit  mit  der  Statuette,  dass  dies 
für  mich  der  erste  Anlass  war,  der  Prüfung  der 
ganzen  Frage  näher  zu  treten.  Dem  stellt  sich  aber 
einmal  entgegen,  dass  die  mächtige  gedrungene 
Reiterfigur  auch  nicht  entfernt  mit  der  zarten  knaben¬ 
haften  Gestalt  Otto’s  III.  zu  identifiziren  ist,  weiter 
rechtfertigen  die  sonstigen  Leistungen  ottonischer 
Kunst,  so  hoch  sie  auch  auf  dem  Gebiete  der  Metall¬ 
technik  über  der  karolingischen  steht,  in  keiner 
Weise  ein  derart  vollkommenes  Werk,  wie  wir  es 
in  der  Statuette  sehen.  Und  endlich  schließt  die 
zweite  Insignie  des  Königs,  das  aufrecht  getragene 
Schwert,  eine  derartige  Datirung  aus. 

Wenn  ich  wieder  in  erster  Linie  die  Bilder  Karls 
des  Großen  selbst  heranziehe,  so  ergiebt  sich,  dass 
der  Kaiser  nicht  vor  1346  mit  aufgerichtetem  Schwerte 
dargestellt  wird.'*)  Öfter  begegnet  der  Kaiser  mit 
diesem  Attribut  im  15.  Jahrhundert  und  im  16-  Jahr¬ 
hundert  wird  das  Scepter  fast  ganz  verdrängt.  Ö 


1)  S.  ebenda. 

2)  „Reiterstatuette“  S.  14. 

3)  Metzer  Bez.  A.  G.  431.  Abbildung  eines  gleichen  bei 
Hetfner,  Die  deutschen  Kaiser-  u.  Königssiegel  II,  16. 

4)  Am  Frankfurter  Münsterportal.  Clemen,  Porträtdar¬ 
stellungen,  S.  72. 

5)  Vgl.  meine  Ausführungen:  Neue  Untersuchungen,  S.332. 


16(» 


DIE  REITE R.STATÜETTE  KARL’8  DES  GROSSEN. 


W  as  die  Darstellungen  anderer  Herrsclier  an¬ 
geht,  so  tritt  das  Schwert  auf  Miniaturen  und  Skul¬ 
pturen  bis  zur  Zeit  Ludwig’s  des  Baiern  neben  dem 
Poinum  nicht  auf.  Heinrich  II.  wird  allerdings  ein¬ 
mal  mit  Schwert  und  Lanze  abgehildet  ')  und  eine 
Brüsseler  Handschrift  giebt  ein  namenloses  Konigs- 
bild  mit  Scepter  und  Schwert'^),  aber  wie  man  sieht, 
giebt  die  erste  Darstellung  keinen  König  mit  In¬ 
signien  und  die  zweite  dokumentirt  durch  das  wich¬ 
tigste  Königssymbol,  das  Scepter,  die  Würde  seines 
Trägers. 

Ähnlich  ist  es  mit  den  Münzen:  Wo  der  König 
das  Pomum  trägt,  führt  er  als  Gegenstück  das 
Scepter:  erst  Rudolf  von  Hahsburg  begegnet  mit 
Apfel  und  Schwert.^)  Das  wesentlichste  Beweis¬ 
material  bieten  auch  hier  wiederum  die  Siegel  und 
auf  ihnen  wird  die  alte  Darstellung  mit  Pomum  und 
Scepter  bis  zur  Zeit  Karl’s  IV.  streng  beibehalten. 
Erst  der  Genannte  führt  auf  einem  Stempel  das 
Schwert,  jedoch  nicht  wie  der  Reiter  der  Statuette 
aufrecht,  sondern  horizontal  in  Oberschenkelhöhe. 
Entsprechend  ist  Wenzel  öfter  dargestellt  worden, 
einmal  trägt  er  auch  das  Schwert  über  die  Schulter. 
Ruprecht  hält  die  Insignie  stets  horizontal  und  erst 
Sigismund  wird  mit  aufrecht  getragenem  Schwerte, 
dem  Reiter  der  Statuette  entsprechend,  im  Bilde 
wiedergegehen.  Friedrich’s  III.  Stempelschneider  hul¬ 
digen  wieder  der  alten  Gewohnheit,  durch  Scepter 
und  Pomum  die  Königswürde  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  erst  unter  Maximilian  und  Karl  V.  über¬ 
wiegen  die  Darstellungen  mit  Apfel  und  aufrecht 
getragenem  Schwerte,  verschwinden  jedoch  nach 
dieser  Zeit  vollständig  wieder  gegen  das  Bild  mit 
dem  Scepter.  ’) 

Das  Plrgehnis  weist  sonach  die  Statuette  in  das  15. 
bis  I  t)..Iahrhuridert  und  dieser  Schluss  findet  noch  durch 
ein  \vciteres  Argument  seine  Bestätigung.  Der  Kaiser 
sitzt  zu  Pferde.  Eine  Vergleichung  mit  der  Reiter- 
statue  Marc  Aurel’s  zeigt  deutlich,  dass  diese  für 
Ross  und  Reiter  unseres  Werkes  Vorbild  gewesen 
ist.')  Die  Anlelinung  an  dieses  klassische  Werk 
strdit  aber  nun  für  das  Reuaissancezeitalter  durch¬ 
aus  nicht  einzig  da.  Verrocchio  hat  zu  seinem  Col- 
leoni,  Donatello  zu  seinem  Gattamelata  den  Marc 
Aurel  als  Vorbild  genommen.  Ebenso  sind,  wie 

])  Rainhcrger  Missale,  idif'eb.  bei  Stacke,  2S5. 

2)  Aldtildung  bei  riutz,  Staatengescbichte  des  Abend¬ 
landes  .•32.'J. 

3)  Vgl.  Neue  Untersuchungen,  S.  333. 

4)  Neue  Untersuchungen  S.  .334. 

.5)  Die  genauere  Ausführung  ebenda,  S.  342 


mir  Herr  Direktor  Bode  gütigst  mitteilte,  „der  Reiter 
auf  der  Piazza  de  la  Signoria  von  Giovanni  di  Bo¬ 
logna  und  andere  Reiterin onumente  aus  dieser  Zeit 
offenbar  von  Marc  Aurel  beeinflusst.“  In  Dresden 
findet  sich  eine  kleine  Kopie  des  römischen  Denkmals, 
die  Filareti  (c.  1450)  gegossen  hat;  doch  sie  ist  nicht 
die  einzige:  nach  Bode’s  Angabe  sind  diese  Nach¬ 
güsse  im  15.  und  16.  Jahrhundert  „häufig.“  Wenn 
sonach .  die  Marc  Aurel-Statue  den  Künstlern  der  Re¬ 
naissancezeit  ein  typisches  Vorbild  für  Reiterfiguren 
gewesen  ist,  so  ergiebt  sich  daraus  ein  Grund  mehr, 
auch  die  Metzer  Bronze  der  Wende  des  15.  zum  16. 
Jahrhundert  zuzuweisen. 

Wir  sehen  also:  in  die  Zeit,  für  welche  das  Auf¬ 
kommen  des  Kultus  Karl’s  des  Großen  die  Beschaffung 
seines  Bildes  für  die  Kathedrale  wahrscheinlich  macht, 
passt  auch  die  Art  der  Darstellung.  Ja  mehr  noch, 
die  Beigaben  der  Figur  schließen  eine  frühere  Zeit 
geradezu  aus.  Wir  werden  sonach  zu  der  Annahme 
genötigt,  dass  mit  dem  Aufkommen  des  Kultus  Karl’s 
des  Großen  sein  Reiterbild  nicht  nur  beschafft,  son¬ 
dern  auch  entstanden  ist.') 

Und  zu  diesem  Resultate  kommt  nun  eine  Notiz 
der  handschriftlich  erhaltenen  Conclusiones  capituli, 
dass  das  Domkapitel  in  Metz  im  Jahre  1507  bei 
dem  Goldschmied  Francois  eine  fa^on  de  Charle- 
magne  bestellt,  und  die  weitere  Bemerkung,  dass 
Francois  seinen  Auftrag  thatsächlich  ausgeführt 
hat. 2)  Ja  die  Notiz  sagt  noch  mehr:  da  das  Dom¬ 
kapitel  bei  einem  Goldschmied  arbeiten  ließ,  so  war 
es  ein  Werk  von  Metall,  das  geliefert  wurde.  Ist 
es  zu  kühn,  diesen  Eintrag  der  Kapitelprotokolle 
mit  unserer  Statuette  in  Verbindung  zu  bringen? 
Ich  meine  nicht.  Von  anderen  Figuren  Karl’s  des 
Großen  in  der  Kathedrale  außer  der  unseren  und 
dem  silbernen  Nachguss  derselben  findet  sich  nir¬ 
gends  eine  Spur.  Der  Schatz  einer  Kirche  wird 
nicht  veräußert,  wie  der  Besitz  von  Privatleuten,  und 
die  natürliche  Annahme  ist  sonach,  dass  wir  in  einer 
der  beiden  1634  erwähnten  Statuetten  das  Werk  sehen, 
von  dessen  Anfertigung  die  Protokolle  zu  1507  be- 

1)  Clemen  erklärt  hiergegen:  Ein  reitendes  Heiligenbild 
sei  mit  wenigen  Ausnahmen  unerhört.  Ganz  recht.  Aber 
er  weiß  nicht,  dass  Karl’s  Heiligsprechung  von  der  Kathe¬ 
drale  nicht  anerkannt  wurde.  S.  oben  die  Beschreibung  von 
Calmet. 

2)  Item  Ion  a  ordonne  a  ceux  qui  par  eydevant  ont  eu 
Commission  de  faire  faire  Charlemagne  quilz  concordent  avec 
Francoy  lorfevre  pour  la  facon  et  quil  soy  paye.  Ein  Blatt 
weiter:  Die  Martis  septima  decima  ipsius  mensis  Novem- 
bris:  on  a  conclu  de  payer  a  Francois  lorfevre  pour  la 
facon  de  Charlemagne  et  que  Ion  prengue  largent  en  la  volte. 


DIE  REITERSTATUETTE  KARL’S  DES  GRÜSSEN. 


lt)I 


rioliten.  Wenn  dauu  von  der  silbernen  Figur  er¬ 
wiesen  Averden  kann,  —  und  das  ist  geschehen  i)  — 
dass  sie  erst  nach  1567  gefertigt  wurde,  so  bleibt 
für  1507  nur  das  Werk  des  Goldschmied  Francois 
übrig.  So  weit  der  Historiker. 

Lässt  sich  nun  die  Zuteilung  des  Werkes  in  das 
Reuaissaucezeitalter  auch  von  kuustgeschichtlicheni 
Standpunkte  aus  rechtfertigen? 

Mit  dem  Brustton  der  Überzeugung,  wie  ihn 
Clemen  anschlägt^),  ist  diese  Frage  nicht  zu  ent¬ 
scheiden.  Denn  seinem  Nein  steht  ein  ebenso  ent¬ 
schiedenes  Ja  von  Lübke,  Riegel,  v.  Schlosser  und 
Kraus  gegenüber.  Auch  hier  wird  also  mit  Gründen 
gefochten  werden  müssen,  Avie  um  das  für  und  Avider 
des  9.  Jahrhunderts. 

In  erster  Linie  Avird  die  Frage  zu  beantworten 
sein:  Wie  war  es  im  16.  Jahrhundert  möglich,  karo¬ 
lingisches  Kostüm  zeitgetreu  darzustellen,  und  wie 
ist  es  zu  erklären,  dass  der  Künstler  im  Gegensatz 
zur  Auffassung  der  Zeit  ein  Bild  von  Karl  dem 
Großen  schuf,  das  der  historischen  Figur  jedenfalls 
nahe  kommt? 

Man  würde  der  Beseitigung  dieser  Einwürfe  rat¬ 
los  gegenüber  stehen,  wenn  die  Statuette  nicht  gerade 
in  Metz  entstanden  wäre.  Ich  habe  oben  schon  jene 
kostbare  karolingische  Handschrift  mit  dem  Porträt 
Karl’s  des  Kahlen,  die  in  der  Kathedrale  aufbewahrt 
wurde,  erwähnt;  in  derselben  Schatzkammer  besaß 
man  die  sogenannte  Virianusbibel  mit  einer  Darstel¬ 
lung  desselben  Herrschers.  Dem  frommen  Kultus  ent¬ 
sprechend,  der  seit  dem  15.  Jahrhundert  alle  mög¬ 
lichen  Gegenstände  mit  Karl’s  des  Großen  Namen  in 
Verbindung  brachte,  hielt  man  nun  auch  jene  Manu¬ 
skripte  für  Geschenke  der  kaiserlichen  Huld.  Als 
,Jjible  de  Charlemagne“  wird  der  eine  Band  in  einem 
Inventar  des  17.  Jahrhunderts  aufgeführt.  Das  Titel¬ 
bild  stellte  also  nach  der  Auffassung  des  Kapitels 
Karl  den  Großen  dar,  und  Avas  lag  näher,  als  dass 

1)  Seit  dem  Jahre  15(jl  wurden  die  Schätze  der  Kathe¬ 
drale  veräußert,  um  die  Interessen  der  Liga  zu  unterstützen. 
Am  24.  Dez.  1567  verkaufte  man  für  10  000  Frank  Klei¬ 
nodien  und  Reliquiarien ;  selbst  das  berühmte  goldene 
Kruzifix  fiel  der  Politik  zum  Opfer.  „Nichts  blieb  zurück“ 
sagtMeurisse,  „als  Kreuze  und  einige  andere  zum  Gottesdienst 
notwendige  Reliquien.“  Wäre  die  silberne  Figur  schon  vor¬ 
handen  gewesen,  so  hätte  sie  bei  ihrem  hohen  Wert  — 15% 
Silber  —  sicherlich  nicht  diese  Krisis  überdauert,  umso  weni¬ 
ger,  als  ja  der  Bronzeguss,  den  man  als  gleichfalls  vorhanden 
annehmen  musste,  die  silberne  Figur  entbehrlich  machte. 

2)  In  allen  drei  Erwiderungen:  „Wenn  etwas  in  Betreff 
der  Statuette  auf  den  ersten  Blick  unumstößlich  feststeht, 
so  ist  es  dies,  dass  sie  kein  Werk  der  beginnenden  deutsch¬ 
französischen  Renaissance  sein  kann.“ 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  7. 


die  Kommissiou,  die  mit  Fraiiyois  die  fayon  de  Cliarle- 
magne  vereinbaren  sollte,  auf  jenes  ehrwürdige  Porträt 
zurückgrifF,  in  dem  es  mit  gerechtem  Stolz  entgegen 
der  Vorstellung  der  übrigen  Welt  allein  das  Avahre 
Bildnis  des  großen  Kaisers  zu  besitzen  meinte. 

Auf  Grund  der  beiden  Miniaturen  war  nun  aber 
der  Künstler  ganz  und  voll  in  der  Lage,  die  Figur 
zu  schatten,  die  wir  heute  besitzen.  Auf  beiden 
Bildern  hat  Karl  der  Kahle  das  Gesicht  mit  den 
großen  Augen,  den  hoch  geschwungenen  Brauen,  der 
edel  geformten  Nase,  dem  starken  Schnurrbarte,  die 
Vivianusbibel  zeigt  die  kurzen  Stirnlocken.  Auf 
beiden  Darstellungen  zeigt  sich  der  auf  der  Schulter 
mit  einer  Spange  zusammengehaltene  Mantel.  Dem 
Psalter  entnahm  der  Künstler  Aveiter  Kronreif,  Reichs¬ 
apfel  und  edelsteingeschmückte  Schuhe.  Aber  der 
Kaiser  sollte  wie  Marc  Aurel  zu  Pferde  sitzen  und 
damit  treten  die  Unterkleidung  und  die  BeiugeAvän- 
der  hervor,  die  bei  den  Königsfiguren  durch  den 
Mantel  verhüllt  sind.  Auch  hier  boten  die  Bibel¬ 
malereien  Aufschluss.  Die  Begleiter  des  Königs  tragen 
das  kurze  Wams,  die  unter  dem  Knie  durch  Bänder  zu¬ 
sammengehaltene  Hose  und  die  fränkische  Beinbinde. 

Clemen  hat  der  vorstehenden  Ausführung  ent¬ 
gegengehalten,  eine  derartige  retrospektive  Konstruk¬ 
tion  nach  Gestalt  und  Kostüm  habe  im  16.  Jahr¬ 
hundert  keine  Parallele. 

Das  ist  ein  Irrtum,  Seit  der  Wiedererweckung 
des  klassischen  Altertums  wussten  Gelehrte  und 
Künstler  recht  Avohl,  dass  Römer  und  Griechen  nicht 
im  Kostüm  des  16.  Jahrhunderts  gegangen  sind,  und 
die  Künstler  gaben  diesem  Wissen  auch  lebendigen 
Ausdruck.  Ich  erinnere  nur  an  ein  Beispiel:  den 
Triumphzug  Cäsar’s  von  Mantegna.  Wenn  diese  Er¬ 
kenntnis  aber  einmal  lebendig  geworden  war,  dann 
lag  es  nahe,  sie  überall  zur  Geltung  zu  bringen,  wo 
durch  Denkmäler  die  Sitte  vergangener  Zeiten  der 
Gegenwart  überliefert  wurde.  Solche  Vorbilder  waren 
für  mittelalterliche  Gestalten  selbstverständlich  un¬ 
gleich  schwerer  zu  erreichen  als  für  die  Figuren  des 
Altertums:  die  Plastik  bot  hier  wenig  Nachahmens¬ 
wertes  und  Zeichnungen  wie  Malereien  waren  in 
Klosterbibliotheken  vergraben.  Doch  auch  das  Be¬ 
dürfnis  war  auf  diesem  Gebiete  weniger  lebendig: 
außer  Karl  dem  Großen  weiß  ich  kaum  eine  Person 
des  Laienstandes,  der  sich  die  Künstler  jener  Zeit  in 
ihren  Schöpfungen  bemächtigt  hätten.  Da  liegt  es 
nun  besonders  günstig  für  unseren  Nachweis,  dass 
gerade  das  berühmteste  Bildnis,  was  je  von  Karl  ge¬ 
schaffen  wurde,  die  Malerei  Albrecht  Dürer’s,  gleich¬ 
falls  retrospektiv  gehalten  ist.  Dürer  hat  das  Ornat 

21 


102 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


nicht  gewählt  als  blosse  Charakteristik  der  Kaiser¬ 
würde  —  daun  hätte  er  dasselbe  nehmen  können,  in 
dem  er  Kaiser  Sigismund  dargestellt  hat  —  nein  er 
war  des  Glaubens,  dass  er  in  Ornat  und  Beigaben  die 
Kleider  und  die  Insignien,  wie  sie  Karl  persönlich 
getragen  hat,  wiedergab.  Unter  die  Ornatstudien, 
die  er  zum  Bilde  gemacht  hat,  schreibt  er:  „Das  ist 
des  heiligen  großen  Kaisers  Karls  Habitus.“  Das 
Bild  selbst  aber  trägt  die  Unterschrift: 

Das  ist  der  gestalt  und  biltnus  gleich 
Kaiser  Karlus,  der  das  Remisch  reich 
Den  Teutschen  untertänig  macht. 

Sein  krön  und  kleidung  hoch  geacht 
Zeigt  mnn  zu  Nurenberg  alle  jar 
Mit  andern  haltum  offenbar. 


Die  retrospektive  Darstellung  der  Metzer  8ta- 
tuette  steht  sonach  nicht  ohne  Parallele  da.  Dass 
das  Metzer  Porträt  durchaus  anders  ausfiel  als  das 
Nürnberger,  lag  in  der  Natur  der  Verhältnisse.  Wie 
Dürers  Bildnis  nirgends  anders  als  in  Nürnberg,  dem 
Aufbewahrungsort  des  Krönungsornats,  entstehen 
konnte,  so  war  auch  einzig  ein  Metzer  Künstler  in 
der  Lage,  die  Statuette  zu  schaffen.  Nur  hier  in 
Metz  gab  es  Porträts  karolingischer  Zeit,  die  nach 
der  irrtümlichen  Annahme  des  Kapitels  Karl  den 
Großen  selbst  darstellteu.  Dürer  wie  Francois  sind 
bei  ihrem  Schaffen  von  durchaus  derselben  Idee  ge¬ 
leitet  gewesen. 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN 

EINDRÜCKE  VON  EINEM  BESUCHE  DER  WELTAUSSTELLUNG  IN  CHICAGO. 

VON  W.  BODE. 

(Fortsetzung.) 


IE  große  Mehrzahl  der  ameri¬ 
kanischen  Sittenbilder  schil¬ 
dern  einfache  Motive  des  all¬ 
täglichen  Lebens,  bald  aus 
der  höheren,  bald  aus  der 
unterstehGesellschaftsklasse. 
Die  ersteren  sind  mit  Vor¬ 
liebe  dem  amerikanischen 
Kreise  in  Paris  entlehnt,  die  letzteren  führen  uns 
meist  in  das  französische  Volksleben, 

Ein  Schüler  Geronie’s,  Jules  L.  Stewart,  hat  sich 
durch  seinen  „Ball  des  .Jagdklubs“,  die  „Taufe“,  „Auf 
der  Yacht  Namouna“  und  ähnliche  Bilder  auf  den 
Pariser  Au.sstellungen  bekannt  gemacht.  Doch  haben 
diese  Bilder  meist  einen  empfindlichen  Mangel  au 
Konij)osition  und  malerischem  Sinn,  Eigenschaften, 
die  sich  doppelt  fühlbar  machen  bei  dem  großen 
rmfange  derselben.  Orslii,  S.  Parsoi/s,  Edwund  C. 
’l'arhell ,  Fmnl;  S.  Ilohnnu,  T.  W.  Deiring,  Robert 
Drill,  gelegentlich  auch  (Jarl  Marr  u.  a.  m.  behandeln 
ähnliche  Motive  in  verwandter  Art,  aber  mit  mehr 
malerischem  Ge.schick.  Heller  Sonnenschein  breitet 
sich  über  die  Scene  und  giebt  den  Darstellungen 
eine  eigentümlich  freundliche,  einschmeichelnde 
Stimmung. 

Einzelne  dieser  Künstler  verirren  sich  zuweilen, 
in  Nachahmung  ihrer  französischen  Vorbilder,  in  eine 
gar  zu  flaue  Unbestimmtheit  der  Form,  so  dass  wir 
die  Sonne  wie  durch  eine  helle  Nebelschicht  zu 


sehen  glauben;  dies  gilt  namentlich  für  Reid  und 
Dewing.  Neben  solchen  Bildern  erscheint  August 
Koojmian  fast  zu  plastisch  und  zu  kräftig  in  den 
Schatten;  er  ist  darin  Bonnat  und  L’Her mitte  ver¬ 
wandt,  von  denen  letzterer  auch  in  seinen  Motiven 
ihm  als  Vorbild  gedient  haben  könnte.  Eugene  Vail, 
ein  Schüler  von  Cabanel  und  Dagnan-Bouveret,  ist 
in  seiner  „Marine“  tiefer  und  kräftiger  in  der  Farbe 
als  seine  Lehrer,  denen  er  in  guter  Modellirung  und 
Feinheit  des  Tones  nahe  kommt. 

Wie  Koopman  und  Vail,  so  malen  eine  Reihe 
junger  amerikanischer  Künstler,  die  meist  in  Paris 
ihre  Schule  durchgemacht  haben  und  zum  Teil 
dort  noch  leben,  Motive  aus  dem  Leben  der  unteren 
Klasse  in  Frankreich  oder  Holland.  Meister  wie 
Dagnan-Bouveret  und  Bastien  Lepage  sind  ihre  Vor¬ 
bilder  ;  aber  auch  Israels  und  selbst  Max  Liebermann 
und  Uhde  haben  Einfluss  auf  ihre  Richtung  gehabt. 
Die  helle  Färbung,  die  duftige  Wirkung  des  Sonnen¬ 
lichts,  gute  Zeichnung  und  Modellirung,  eine  ernste 
stimmungsvolle  Auffassung  ist  fast  allen  gemeinsam. 
Nur  selten  folgen  sie  ihren  Vorbildern  bis  zu  der 
unbarmherzigen  nackten  Wiedergabe  der  Natur  und 
der  derben  Ausdrucksweise.  Qa^ü  Melchers,  Walter 
Gag,  Walter  Nettleton,  George  Ilitchcoclc,  Ch.  S2}rag2ie 
Pearce,  Walter  Mc.  Ewen  sind  sämtlich  von  der 
Pariser  Ausstellung,  zum  Teil  auch  von  München  und 
Berlin  her  bekannt.  Sie  berühren  sympathisch  durch 
ihre  schlichte,  aber  fast  ideale  Auffassung;  der  fort- 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


163 


geschrittenen  und  fortschrittlichen  Richtung  unserer 
Künstler  gilt  dieselbe  freilich  als  „gar  zu  anständig“, 
sie  ziehen  die  derbe  malerische  Auffassung  eines  William 
Dannat  vor,  der  auf  der  Ausstellung  in  seinen  „Spa¬ 
nischen  Sängerinnen“  in  der  schattenhaften  Erschei¬ 
nung  und  in  der  Widerwärtigkeit  des  Motives  seine 
französischen  Vorbilder  fast  noch  überbot.  Als  ein 
Nachahmer  Besnard’s  in  seinem  neuesten  unnatürlichen 
lilafarbenen  Ton  ist  mir  in  der  Ausstellung  Roswell, 
S.  Hill  aufgefallen.  Auch  Caliga  hat  sich  denselben 
Künstler,  den  talentvollsten,  aber  aucli  den  extra¬ 


in  Chicago  Bilder  dieser  Art  ausgestellt,  die  sich 
mehr  oder  weniger  durch  ähnliche  Vorzüge  wie  ihre 
gewöhnlichen  Genrebilder  auszeichnen.  Freilich  die 
Frische  und  Tiefe  der  Empfindung,  jene  ungewollte 
und  gerade  deshalb  so  ergreifende  religiöse  Stimmung 
welche  den  einfachen  Bauernscenen  Millet’s  inue- 
wohnt,  fehlt  diesen  bewussten  religiösen  Motiven; 
er  fehlt  ja  auch  den  meisten  ähnlichen  Bildern,  die 
in  Frankreich  oder  bei  uns  gemalt  werden.  Nur 
ausnahmsweise  erreicht  ein  Basti eu  Lepage,  ein  Fritz 
von  Uhde  mit  aller  Mühe  und  allen  Mitteln,  was 


.Jagd  auf  Elen.  Gemälde  von  G.  de  Forest  BrUsh.  (Aus  dem  Century  Magazine,  Bd.  XLIIT,  18‘)2.) 


vagantesten  der  lelienden  Franzosen,  zum  Vorbilde 
genommen.  Aber  diese  Bilder  sind  doch  sehr  ver¬ 
einzelte  Ausnahmen;  im  allgemeinen  halten  sich  die 
Amerikaner  in  ihren  sittenbildlichen  Darstellungen 
ebenso  sehr  von  Übertreibungen  und  Absonderlich¬ 
keiten  fern  wie  in  ihren  Landschaften. 

Wie  in  Frankreich  und  bei  uns  hat  sich  auch 
in  den  Vereinigten  Staaten  aus  dieser  Richtung  des 
Itäuerlichen  Sittenbildes  eine  genreartige  religiöse 
Malerei  herausgebildet,  die  auch  hier  mei.st  von  den¬ 
selben  Künstlern  ausgeübt  wird.  M.  L.  Macomher, 
R.  Reid,  F.  M.  Du  Monel,  Ch.  Sprarjue  Pearee  hatten 


Millet  voll  und  naiv  zum  Ausdruck  bringt:  jene 
Religiosität  der  Natur,  die  nur  der  fühlt,  der  sie 
so  allseitig  und  tief  zu  erfassen  vermag  wie  Jean 
Fran9ois  Millet  es  that. 

Ein  Künstler  eigner  Art,  weil  von  ganz  ab¬ 
weichender  Erziehung,  ist  Karl  Marr-,  heute  noch  in 
München  ansässig,  verrät  er  die  Münchener  Schule 
auch  in  der  Auffassung  seiner  religiösen  Motive,  die 
nicht  stimmungsvolle  Darstellungen,  sondern  dra¬ 
matisch  bewegte  Zeitlnlder  zu  geben  trachten.  Seine 
„Flagellanten“,  die  auch  in  Chicago  ausgestellt  waren, 
sind  das  bekannteste  Beispiel  dafür. 

t- 


164 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


Der  realistiscbeu  Auffassung  der  modernsten 
Malerei  müsste,  so  sollte  man  glauben,  eine  Aufgabe 
ganz  fern  liegen:  die  Darstellung  des  nackten  menscb- 
licben  Körpers.  Dies  ist  aber  keineswegs  der  Fall; 
nur  ist  die  Auscbauung,  von  der  die  Künstler  dabei 
ausgeben,  eine  andere  als  sie  bei  Raffael  oder  Tizian, 
bei  Baudry  oder  Feuerbacb  war.  Nicht  die  Scbön- 
beit  der  Linien,  nicht  die  Schönheit  der  Fleiscb- 
farbe  wollen  sie  zur  Anschauung  bringen,  sondern 
den  eigentümlichen  Reiz  des  nackten  Körpers  im 


jungen  Künstlern  ausgestellt,  die  ganz  der  fran¬ 
zösischen  Richtung  folgen.  In  anderer  Art,  mit 
mehr  Anspruch  auf  stilvolle  dekorative  Wirkung, 
streben  B.  R.  Fitz  und  Kenyon  Cox  Verwandtes  an. 
Diese  Künstler  leiten  zu  der  eigentlichen  dekorativen 
Malerei,  die  in  Amerika  namentlich  unter  dem  Ein¬ 
flüsse  von  Puvis  de  Chavannes  steht.  Die  Hallen  des 
Liberal  Arts  Building  hatten  gerade  von  Kenyon  Cox 
wirkungsvolle  Dekorationen  der  Art  aufzuweisen.  Die 
„Thronende  Jungfrau  Maria“  von  Äbhot  H.  TJ/nyrr  hat 


l)ie  Vi'rUiiiiiligiin".  ficrniilile  von  M.  L.  Macomhek.  (Ans  dem  Century  Magazine,  Bd.  SLV,  1893.) 


Spi<4  des  Lichts,  unter  den  mannigfachen  Reflexen 
der  Umgebung,  im  geschlossenen  Zimmer  wie  im 
|•'reieM,  im  Sonnenlicht  wie  beim  Schein  des  Feuers. 
Einer  der  amerikanischen  Maler  ist  darin  einer  der 
modernsten  und  tüchtigsten,  Alr.raiidcr  Ilurrison.  Ich 
liranche  nur  an  die  schon  erwähnten  „Badenden“ 
zu  erinnern,  welche  die  Dresdener  Galerie  in  der 
letzten  Berliner  Ausstellung  erworben  hat,  um  das 
Bild  des  Künstlers  in  d(‘r  Erinnerung  des  Lesers 
wach  zu  rufen. 

Ahidiche  Bilder  waren  von  ./.  Alflni  W'rir  u.  a. 


etwas  eigentümlich  Feierliches  in  Komposition  nnd 
Ausdruck;  dabei  eine  malerisch  breite  Behandlungs¬ 
weise  und  pikante  düstere  Färbung.  Eine  phantastisch 
stilvolle  Auffassung  ganz  für  sich  hat  der  in  Rom 
angesiedelte  Eliliu  Veddrr.  Vedder  ist  augenschein¬ 
lich  angeregt  durch  die  Präratfaeliten,  und  einzelne, 
namentlich  frühere  Kompositionen  des  Künstlers,  der 
im  Jahre  1836  geboren  ist,  sind  ganz  in  der  Rich¬ 
tung  dieser  Künstler;  in  seinen  meisten  Darstellungen 
ist  er  aber  ganz  phantastisch  auf  seine  eigene  Art. 
Doch  fehlt  ihm  der  malerische  Sinn,  der  seine 


Lilitli.  Gemälde  von  Kenvon  Cox.  (Aus  Scriliner’s  Magazine.) 


1G6 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN. 


meisten  Landsleute  auszeichnet;  seine  Illustrationen 
scheinen  mir  daher  vor  seinen  Bildern,  von  denen 
eine  größere  Zahl  in  Chicago  vereinigt  war,  ent¬ 
schieden  den  Vorzug  zu  haben.  Bei  John  Lafarge 
ist  dagegen  in  seinen  biblischen  und  allegorischen 
Darstellungen  die  malerische  Begabung  so  stark 
ausgesprochen,  dass  die  Komposition  darunter  nicht 
selten  leidet;  erst  in  der  eigenartigen  Glasmosaik 
hat  dieser  Künstler  das  Material  gefunden,  in  dem 
Farbe  und  Zeichnung  zu  gleicher,  harmonischer 
Geltung  kommen.  Die  Glasbilder  Lafarge’s  ge- 
liören  zum  Wirkungsvollsten  und  Stilvollsten,  was 
die  amerikanische  Kunst  bisher  geschatfen  hat. 

Über  die  amerikanischen  Porträtmaler  genügen 
wenige  Worte;  sind  sie  doch  zum  guten  Teil  die¬ 
selben  Künstler,  die  wir  als  Genremaler  und  einzelne 
auch  als  Landschafter  kennen  gelernt  haben.  Vor 
allen  müsste  J.  McNell  Whistler  genannt  werden,  von 
allen  amerikanischen  Malern  wohl  der  begabteste. 
Dadurch,  dass  er  .sich  Europa,  zuerst  London  und 
dann  Baris  zu  seinem  Aufenthalt  gewählt  hat,  ist 
er  hier  wohl  in  verschiedener  Weise  bestimmt,  aber 
er  hat  seinerseits  noch  stärkeren  Einfluss  auf  die 
englische  und  selbst  auf  die  französische  Malerei 
geübt.  Die  Ausstellung,  die  Bilder  aus  einem  Zeit¬ 
raum  von  nahezu  drei  Jahrzehnten  von  Whistler’s 
Thätigkeit  aufzuweisen  hatte,  zeigte,  wie  er  all- 
mählich  aus  einer  kräftigen  farbigen  Auffas.sung  zu 
seiner  jetzigen  nebelhaften  Tonmalerei  gekommen  ist. 
Aber  auch  schon  in  seinen  früheren  farbigen  Por¬ 
träts  ist  ihm  die  malerische  Unbestimmtheit  der 
Konturen,  die  Breite  und  Sicherheit  in  der  Mo- 
dellirung,  die  feine  Art,  wie  die  Figur  in  der  Luft 
wiedergegeben  ist,  eigentümlich.  Allen  Jüngeren 
unter  seinen  Landsleuten  ist  Whistler  im  malerischen 
Sinn  mindestens  gewachsen,  in  seinem  rücksichts¬ 
losen  Plrnst,  seiner  trotzigen  Eigenart,  seiner  Größe 
in  der  Wiederga})e  der  Form  und  der  Individualität 
ist  er  ilmen  entscliieden  überlegen.  Neben  ihm  er- 
sclieinen  fast  alle  amerikanischen  Porträtmaler  etwas 
zalim  und  sahudiaft;  mehr  oder  weniger  macht  sich 
bei  ihnen  auch  eine  sittenbildliche  Auffassung  des 
Porträts  geltend.  Dies  gilt  für  Charles  Sprague 
pro  ree ,  dessen  Farbe  leicht  etwas  hell  und  matt, 
(hfssen  Behandlung  etwas  glatt  und  nüchtern  ist;  es 
gilt  auch  für  Julien  Story  in  Paris,  Frank  FovÄer, 
Jules  L.  Stewart,  Ferd.  C.  Vinton  und  teilweise 
sjdbst  für  John  S.  Sargent  in  London,  der  in  dem 
„Mutter  und  Kind“  betitelten  Bilde  eines  der  an¬ 
ziehendsten  Bildnisse  der  Ausstellung  geliefert  hatte. 
Für  den  Laien  wie  den  Künstler  gleich  ansprechend 


sind  die  Porträts  von  William  M.  Chase.  Ähnlich 
sind  die  kleinen,  sehr  geistreich  und  malerisch  be¬ 
handelten  Frauenbildnisse  von  T.  W.  Dewing.  Tiefer 
im  Ton,  aber  sehr  verwandt  in  Auffassung  und  Be¬ 
handlung  sind  auch  O.  de  Forest  Brush  und  Albert 
Thayer.  Die  großen  Anatomiebilder  von  Thomas 
Enkins  in  Philadelphia  lassen  ähnliche  französische 
Porträtstücke  als  Vorbilder  erkennen;  der  Künstler 
hat  eine  energische,  fast  derbe  Auffassung  und 
kräftige  Lichtgebung,  die  jedoch  seine  Schatten 
leicht  zu  schwarz  erscheinen  lässt.  Als  tüchtigster 
Porträtmaler  der  älteren  Schule  gilt  Eastman  Johnson. 
Sein  großes  Doppelporträt  „Two  Men“  ist  von  ernster, 
schlichter  Charakteristik;  aber  auch  dieses  Bild  ist 
zu  branstig  im  Ton  und  unmalerisch  in  der  Fär¬ 
bung. 

Den  Genannten  steht  eine  ebenso  große  Zahl 
anderer  Künstler  als  Porträtmaler  kaum  nach:  Carl 
Marr,  Gar.  Melchers,  E.  Cameron,  C.  D.  Wade,  Fr. 
W.  Frees,  F.  W.  Beaison,  C.  11.  Beck,  Ch.  N.  Flagg, 
R.  Reid,  Franz  Dnveneck  u.  a.  haben  tüchtige  Bildnisse 
in  Chicago  ausgestellt.  Allen  i.st  ernste  Vertiefung 
in  die  dargestellte  Persönlichkeit,  schlichte  Auf¬ 
fassung  und  malerische  Behandlung  mehr  oder 
weniger  eigentümlich;  aber  frische  Eigenart,  die  den 
wahren  Meister  macht,  fehlt  ihnen  doch  in  höherem 
oder  geringerem  Maße. 


Um  ein  auch  nur  annähernd  richtiges  oder  ab¬ 
schließendes  Urteil  über  die  Blastik  in  den  Vereinig¬ 
ten  Staaten  zu  erlangen,  war  die  Ausstellung  in 
Chicago  nicht  angethan.  Wer  nur  die  im  Art 
Building  meist  ungünstig  und  verzettelt  aufgestellten 
Figuren  und  Reliefs  im  Auge  gehabt  hat,  musste 
ein  sehr  ungünstiges  Bild  der  plastischen  Begabung 
der  amerikanischen  Künstler  mit  sich  nehmen:  einige 
wenige  Porträtbüsten  und  Figuren  ausgenommen, 
traf  die  etwa  einhundertfünfzig  ausgestellten  Arbeiten, 
die  sich  auf  ungefähr  fünfzig  Künstler  verteilten, 
in  höherem  oder  geringerem  Maße  der  schwere  Vor¬ 
wurf,  dass  sie  die  Natur  nur  in  einer  befangenen, 
akademischen  Weise  Wiedergaben.  Sie  sind  sämt¬ 
lich  nüchtern  und  phantasielos.  Eine  vorteilhafte 
Ausnahme  machen  einige  Köpfe,  wie  das  bronzene 
Kinderköpfchen  mit  der  Mütze  von  Olin  L.  Warner, 
eine  Frauenbüste  von  Paul  Burtlett,  eine  männliche 
Büste  von  Alfred  White  und  namentlich  ein  paar 
Frauenbüsten  des  jungen  Herbert  Adams  in  Brooklyn. 
Sie  sind  in  vorteilhafter  Weise  vom  Studium  der 
italienischen  Büsten  des  Quattrocento  beeinflusst. 


DIE  KUNST  IN  DEN  VEREINIGTEN  STAATEN, 


167 


auf  das  diese  Künstler  in  der  Scliule  ihrer  Pariser 
Lehrer  hingewiesen  wurden.  Diese  treffliche  Schule 
bekunden  sonst  nur  einige  wenige  nackte  Figuren, 
wie  der  „Abend“  von  F.  TVeUington  Etickstuhl  oder 
das  „Böse  Omen“  von  Charles  Graflg. 

Es  wai’en  dies  nur  einige  wenige  Oasen  in  der 


dies  in  überraschend  günstiger  Weise  gethan.  Nur 
selten  standen  die  Gruppen  oder  Figuren ,  mit 
welchen  die  kolossalen  Bauten  geschmückt  waren, 
in  entschiedener  Disharmonie,  wie  z.  B.  die  Gruppen 
an  den  Seiteneingängen  des  Transportation  Buil¬ 
ding,  die  bei  der  gebundenen,  halb  byzantinischen 


Die  Töchter  des  Phorkys.  Gemälde  von  Elihu  Vedders.  (Aus  American  Art  Review,  Bd.  I,  1880). 


einförmigen  Wüstenei  des  akademischen  Machwerkes, 
welche  das  Art  Building  aufwies.  Aber  die  ameri¬ 
kanischen  Bildhauer  hatten  außerhalb  desselben  durch 
die  Dekoration  der  Bauten  und  Plätze  der  Ausstel¬ 
lung  in  reichem  Maße  Gelegenheit  gefunden,  sich  in 
monumentalen  Arbeiten  zu  bethätigen,  und  hatten 


Architektur  dieses  Baues  eine  strenge  Stilisirung 
verlangt  hätten.  Die  meisten  verdienten  das  Lob, 
dass  sie  am  richtigen  Platze  standen  und  dass  sie 
in  Maß  und  Bewegung  in  glücklicher  Übereinstim¬ 
mung  mit  dem  Bau  waren.  Dies  gilt  ganz  beson¬ 
ders  von  den  Gruppen  auf  dem  Agricultural  Buil- 


1(58 


ISMAEL  UND  ANTON  lUPHAEL  MENGS. 


ding,  von  den  Tieren  und  Gruppen  am  Gort  of  honor 
und  auf  den  Brücken,  die  zu  demselben  führen,  und 
von  den  Gruppen  des  Cowboy  und  des  Indianers 
am  Landungsplatz  vor  dem  Transportation  Building. 
Die  jneisten  dieser  Schöpfungen  vereinigen  monu¬ 
mentalen  Sinn  und  Geschmack  mit  feinem  Natura¬ 
lismus;  ganz  besonders  in  den  Tierdarstelhmgen 
zeigen  sich  die  jungen  amerikanischen  Künstler  als 
die  tüchtigen  Nachfolger  von  Barye,  einem  Künstler, 
der  drüben  in  höchster,  wohlverdienter  Achtung  steht. 
Solche  Arbeiten  und  die  neuesten  Statuen,  die  aus 
St.  Gaudens’  Atelier  hervorgegangen  sind,  nament¬ 
lich  der  Lincoln  im  Lincoln-Park  zu  Chicago,  lassen 
für  die  weitere  Entwickelung  der  Plastik  in  Amerika 
das  Günstigste  erhoffen. 


Nach  einer  Richtung  sind  uns  die  amerikani¬ 
schen  Künstler  schon  seit  mehr  als  einem  Jahr¬ 
zehnt  bekannt  und  selbst  in  Europa  unbestritten 


als  Meister  in  ihrem  Fach  anerkannt,  als  Illus¬ 
tratoren.  Ihre  Zeichner  wie  ihre  Holzschneider 
haben  durch  die  illustrirten  Zeitschriften,  wie  das 
Century  Magazine,  Harper’s  Monthly  u.  a.,  die  ihre 
Verbreitung  durch  die  ganze  Welt  finden,  die  Auf¬ 
merksamkeit  von  vornherein  auf  sich  gezogen.  Hier 
ist  zuerst  die  malerische  Richtung  der  neueren  Kunst 
auch  in  der  Illustration  voll  und  ausschließlich  zur 
Geltung  gekommen;  Künstler  wie  Jüngling,  Frencli, 
Kruell,  Johnson,  Aikman,  Bernstron,  King,  Wolf,  Davis 
u.  a.  behandeln  den  Holzschnitt  in  derselben  freien 
malerischen  Weise,  welche  die  Form  in  der  unbe¬ 
stimmten  Wirkung  des  Lichts  aufgelöst  erscheinen 
lässt,  wie  die  modernen  französischen  Radirer  seit 
Jacquemart.  Ihre  Eigenart  weiter  zu  verfolgen  und 
näher  auf  die  Bedeutung  einzugehen,  welche  diese 
großen  Zeitschriften  auf  die  künstlerische  Erziehung 
und  auf  die  Geschmacksbildung  in  Amerika  gehabt 
haben,  verdient  gelegentlich  hier  eine  besondere 
und  eingehende  Betrachtung. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 

VON  KARL  WO  ER  MANN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 

(Fortsetzung.) 


IR  kehren  zur  Familie  Mengs 
nach  Dresden  und  ins  Jahr 
1751  zurück.  Da.ss  der  bis¬ 
lang  allmächtige  Oberhof¬ 
maler  Louis  deSilvestre  durch 
die  Erfolge  des  jungen  Mengs 
den  Boden  unter  seinen  Füßen 
weichen  fühlte,  ist  erklärlich. 
Von  „gefälligen  Ärzten“,  vielleicht  von  Bianconi,  der 
es  erzählt,  selbst  ließ  er  sich  bezeugen,  dass  das  Klima 
I  )resdens  sich  nicht  mehr  mit  seiner  Gesundheit  ver- 
Irüge,  und  kehrte  nach  Paris  zurück,  wo  er  mit  offenen 
Armen  aufgenommen,  ja,  ani  29.  Juli  1752  zum  Aka¬ 
demiedirektorernannt  wurde.  Dass  der  dreiundzwanzig- 
jälirige  Mengs  an  seiner  Stelle  Oberhofmaler  in  Dres¬ 
den  werden  würde,  erschien  von  vornherein  ausge¬ 
macht.  Silvestre  selbst  hatte  ihn,  wie  Guibal  erzählt, 
dem  Könige  hierzu  empfohlen  und  hinzugefügt:  „Sire, 
voici  un  jeune  homme  dont  je  serais  bien  jaloux  si  je 
n’ehiis  pas  si  vieux.“  Das  königliche  Dekret,  nach  dem 


V. 

„besagter  Hofmahler  Mengs  nunmehr  als  unser  Ober¬ 
hofmahler  von  jedermänniglich  angesehen  und  ge¬ 
achtet,  auch  bei  aller  vorkommenden  Gelegenheit  also 
tractiret  und  geschrieben  werden  möge“,  ist  vom  23. 
März  1751  datirt.  Dass  sein  Gehalt  bei  dieser  Ge¬ 
legenheit  auf  1000  Thaler,  oder,  wie  andere  melden, 
gar  um  1000  Thaler  erhöht  worden,  steht  in  dem 
Erlass  nicht,  ja  es  ist  später,  da  man  nichts  davon 
in  den  Akten  zu  finden  meinte,  einmal  amtlich  in 
Zweifel  gezogen  worden.  Gleichwohl  aber  geht  aus 
anderen  erhaltenen  Urkunden  unzweifelhaft  hervor, 
dass  sein  Gehalt  1751  in  der  That  von  600  auf  1000 
Thaler  erhöht  worden.  Verpflichtet  war  er  dabei 
zu  nichts.  Alle  Arbeiten  erhielt  er  besonders  bezahlt. 
Ja,  sein  königlicher  Wohlthäter  gestattete  ihm  sogar, 
seine  „Pension“  im  Auslande  zu  verzehren. 

Je  unerquicklicher  sich  das  Zusammenleben 
des  jungen  Paares  mit  dem  alten  Mengs  und  seiner 
Freundin  in  Dresden  gestaltet  hatte,  desto  lebhafter 
sehnte  es  sich  nach  Rom  zurück.  Die  beiden 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  7. 


22 


Pastellselbstbildnis  von  Th.  C.  Maron,  geb.  Mexgs.  .Julie  Mengs.  Pastellbildnis  von  Th.  C.  Maron,  geb.  Mengs.] 

(Kgl.  Galerie  in  Dresden.)  (Kgl.  Galerie  in  Dresden.) 


170 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


Schwestern  Anton  Raphael’s  schlossen  sich  ihm  an. 
Ismael  blieb  mit  seiner  Haushälterin  in  Dresden 
zurück.  Als  Anton  Raphael  im  September  1751 
Dresden  verlieh,  ahnte  er  wohl  nicht,  dass  er  niemals 
in  die  Stadt,  die  doch  eigentlich  seine  Vaterstadt 
war,  zurückkehren  werde.  In  der  That  aber  sah  er 
sie  nicht  wieder. 

Fünf  Monate  blieb  er  dieses  Mal  mit  den  Seinen 
in  Venedig,  wo  er  bereits  den  sechs  Jahre  älteren 
Giovanni  Battista  Casanova,  der  später  Akademie- 
jirofessor  in  Dresden  wurde,  als  Schüler  annahm.  Im 
Frühling  1752  kamen  alle  in  Rom  an;  und  hier  trat 
nun  auch  Nikolaus  Guibal,  sein  französischer  Biograph, 
gleich  in  sein  Atelier  und  sein  Haus  ein,  in  dem  er 
täglicher  Mittagsgast  wurde.  In  demselben  Jahre 
noch  erwählte  die  Accademia  di  San  Luca,  die  be¬ 
rühmte  alte  römische  Akademie,  Meugs  zu  ihrem  Mit- 
gliede,  und  1754  wurde  er  zum  Professor  der  von 
Papst  Benedikt  XIV.  neu  gegründeten  kapitolinischen 
Akademie  ernannt.  Ehren  folgten  jetzt  auf  Ehren, 
Bestellungen  auf  Bestellungen.  Zunächst  malte  er 
für  den  Duke  of  N orthumberland  eine  große  Copie 
nach  Raphael  Santi’s  berühmter  „Schule  von  Athen“. 
Das  Gemälde  schmückt  noch  das  Northumberland 
House  zu  Charing  Cross  in  London.  Waagen  nannte 
es  „die  beste  Kopie,  welche  von  diesem  gepriesenen 
Bilde  gemacht  worden“.  Dann  schuf  er  für  seinen 
König  eine  mittelkleine  Darstellung  der  in  der  Ein¬ 
samkeit  büßenden,  lesenden  Magdalena.  In  der  Be¬ 
herrschung  der  Technik  der  Ölmalerei  verrät  dieses 
Bild,  das  jetzt  der  Dresdener  Galerie  gehört,  einen 
großen  Fortschritt  des  Meisters.  Auf  correggesker 
Grundlage  zeigt  es  doch  ziemlich  viel  selbständiges, 
wenn  auch  etwas  äußerliches  Empfinden,  atmet  aber 
auch  gerade  in  der  Verschmelzung  des  Landschaft¬ 
lichen  mit  dem  Figürlichen  und  der  dadurch  bedingten 
Licht-  und  Farbenstimmung  ein  gewisses  warmes 
Eigenleben,  dessen  man  .sich  bei  unbefangener  Be¬ 
trachtung  leicht  bewusst  werden  wird.  Als  er  darauf 
gerade  ernstlich  an  die  Ausführung  der  großen  Himmel¬ 
fahrt  Christi  gegangen  war,  tauchte  plötzlich  uner¬ 
wartet  sein  Vater  Ismael  mit  .seiner  Katharina  wieder 
in  Horn  auf.  Da  sie  eine  besondere  Wohnung  be¬ 
zogen,  kamen  die  Kinder  leidlich  mit  ihnen  aus, 
waren  aber  doch  unangenehm  berührt,  als  ihr  sieben- 
uud.sechzigjähriger  Vater,  wie  es  heißt,  durch  die 
Geistlichkeit  gedrängt,  sich  1755  entschloss,  sich  mit 
Katharina  Nützschnerin,  die  sich  endlich  auch  be- 
fpiemt  hatte,  katholisch  zu  werden,  ehelich  zu  ver¬ 
binden.  Doch  mochte  es  ihnen,  da  er  im  nächsten 
Jahre  von  einem  leichten  Schlaganfall  betroffen  wurde. 


ein  Trost  sein,  ihn  in  guter  Pflege  1756  die  Heim¬ 
reise  nach  Dresden  antreten  zu  sehen,  wo  der  alte 
Hofmaler  wohl  schon  jetztnach  seiner  eigenen  späteren 
Aussage  „durch  die  Gnade  des  Königs  in  denenKaser- 
nen  zu  Neustadt  ein  freies  Quartier  assigniret“  erhielt. 

Inzwischen  war  (1755)  auch  Winckelmann,  der 
große  Archäologe,  der  Vater  der  Kunstgeschichte  im 
neueren  Sinne  des  Wortes,  in  Rom  angekommen. 
Auch  Winckelmann  kam  von  Dresden  und  brachte 
Empfehlungen  an  den  sächsischen  Oberhofmaler  mit. 
Mengs  nahm  den  über  zehn  Jahre  älteren  Gelehrten, 
der  sich  bald  einen  Weltruf  gründete,  mit  offenen 
Armen  auf.  Winckelmann  wurde  täglicher  Gast  im 
Mengs’schen  Hause,  sei  es  zur  Tafel,  sei  es  zum 
Kaffee.  „Diese  Bekanntschaft  ist  mein  größtes  Glück 
in  Rom“  schrieb  der  freundschaftsdurstige  Gelehrte 
1756  nach  Hause.  Es  ist  merkwürdig,  dass  die 
Männer,  die  sich  jetzt  um  den  jungen  Mengs  drängten, 
um  von  ihm  zu  lernen  oder  seine  Gastfreiheit  aus¬ 
zunützen,  meist  bedeutend  älter  waren  als  er.  Er 
aber  bildete  jugendfrisch,  schmuck,  arbeitsam,  an  der 
Seite  seiner  bildschönen  und  liebenswürdigen  Gattin 
mit  vollem  Bewusstsein  den  Mittelpunkt  eines  Kreises, 
in  dem  man  nichts  Geringeres  beabsichtigte,  als  den 
Umsturz  der  ganzen  Barock-  und  Rokoko-Kunst  und 
den  Wiederaufbau  eines  neuen,  reineren,  edleren 
Kunsttempels.  Winckelmann  und  Mengs,  die  innige 
Freundschaft  schlossen,  ergänzten  sich  gegenseitig 
in  diesem  Streben  und  arbeiteten  einander  in  die 
Hand.  Die  übrigen  Freunde  Anton  Raphael’s  be¬ 
haupteten,  alles  was  Winckelmann  von  Kunst  ver¬ 
stehe,  habe  er  von  Mengs  gelernt;  die  Anhänger 
Winckelmann’s  meinten,  nur  an  seiner  Hand  sei  der 
berühmte  Praktiker  auch  zum  Forscher,  Gelehrten, 
ja,  später  zum  Schriftsteller  geworden.  Die  Aus¬ 
grabungen  antiker  Wandgemälde  in  Rom  und  nicht 
lange  darauf  in  Herculaneum  und  Pompeji  erweiterten 
jetzt  auch  die  Kenntnis  der  antiken  Malerei.  Durch 
sie  und  durch  Winckelmann  beeinflusst,  der  das 
einzige  Heil  der  Welt  in  der  Nachahmung  der  alten 
Griechen  sah,  fing  Anton  Raphael  Mengs  bald  an, 
neben  der  Nachahmung  Raphael’s,  Correggio’s  und 
Tizian’s  auch  noch  die  Nachahmung  „der  Antike“  auf 
sein  Banner  zu  schreiben;  und  was  er  einmal  auf  sein 
Banner  geschrieben,  das  führte  er  mit  der  eisernen 
Willenskraft,  zu  der  er  erzogen  war,  auch  aus.  Doch 
kam  dieser  neue  Stil  des  Meisters  erst  um  1760  zum 
Durchbruch.  Zunächst  sehnte  er  sich  vor  allen  Dingen 
darnach,  sich  in  der  großen  Freskomalerei  zu  ver¬ 
suchen.  Als  sich  daher  die  Mönche  von  S.  Eusebio 
mit  der  Bitte  an  ihn  wandten,  er  möge  ihnen  ihre 


ISMÄEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


171 


Heiligen  in  der  himmlischen  Herrlichkeit  an  die 
Decke  ihrer  Kirche  malen,  nahm  er  diesen  Auftrag 
mit  der  größten  Bereitwilligkeit  an,  obgleich  die 
guten  Cölestinermönche  ihm  außer  freiem  Gerüste 
nicht  mehr  als  200  Scudi  dafür  anzubieten  hatten. 
Bianconi  erzählt  zwar,  Mengs  habe  dies  Decken¬ 
gemälde  ganz  umsonst  gemalt.  Aber  Bianconi  war 
damals  noch  nicht  in  Rom.  Das  Zeugnis  Azara’s, 
dass  er  es  für  200  Scudi  gemalt,  ist  daher  in  diesem 
Falle  vorzuziehen. 

Bahnbrechend  er¬ 
schien  diese  Ar¬ 
beit  den  Zeitge¬ 
nossen,  insofern 
sie  zum  ersten¬ 
mal  mit  dem  seit 
zwei  Jahrhunder¬ 
ten  siegreichen 
Grundsatz  brach, 
ein  Deckengemäl¬ 
de  in  der  „Unter¬ 
sicht“  für  die  Per¬ 
spektive  des  unten 
in  der  Mitte  steh¬ 
enden  Beschauers 
anzuordnen ,  viel¬ 
mehr,  wenn  auch 
noch  nicht  ganz 
streng,  zu  der  äl¬ 
teren  Gewohnheit 
zurückkehrte,  es 
so  zu  konstruiren, 
dass  der  am  Ein¬ 
gänge  stehende 
Beschauer  es  auf¬ 
recht  vor  sich  zu 
haben  meint.  Die 
That  war  um  so 
kühner ,  als  das 
„di  Sotto  in  Sü“ 
ja  gerade  von  Correggio,  dem  Abgott  Anton  Raphael’s, 
ausgebildet  worden  war.  Das  ungewöhnlich  lange, 
schmale  Deckenfeld  veranlasste  ihn,  sein  Bild  drei¬ 
teilig  zu  gliedern.  Unten  ist  der  berühmte  Engel¬ 
chor  dargestellt,  in  der  Mitte  schwebt  der  Heilige 
im  Messgewand,  oben  leuchtet  das  Auge  Gottes  in 
der  Himmelsglorie.  Antikisirend  ist  die  Haltung 
dieses  Gemäldes  noch  durchaus  nicht;  es  zeigt  sogar 
noch  Anklänge  an  die  alte  Überlieferung,  aber  damals, 
sagt  Justi,  habe  man  nur  das  Neue  in  dem  Bilde 
gesehen,  „das  kräftige  in  Fresko  unerhörte  Kolorit, 


die  Mäßigung  in  den  Verkürzungen,  die  Beruhigung 
des  himmlischen  Tumults,  die  schönen  jugendfrischen 
Engelköpfe,  die  einmal  von  der  Schminke  und  den 
Grimassen  des  Balletts  noch  unverdorben  waren, 
überhaupt  die  gehaltvolle,  solide  Behandlung,  nach¬ 
dem  der  Manierismus  zuletzt  zu  einer  ganz  ge¬ 
spenstischen  Unwirklichkeit  ausgehöhlt  war“.  Jakob 
Burckhardt  meint  sogar,  das  Bild  sei  „nach  so  vielen 
Ekstasen  eines  verwilderten  Affektes  wieder  die  erste 

ganz  feierliche 
und  würdige  Dar¬ 
stellung“.  Was 
will  man  mehr? 
Wenn  der  Ver¬ 
fasser  dieses  Auf¬ 
satzes,  anstatt  sein 
eigenesUrteilüber 
alle  einzelnen  Bil¬ 
der  Mengs’  in  den 
V  Ordergrund  zu 
rücken,  öfter,  als 
es  sonst  seine  Art 
ist,  anderen  leben¬ 
den  Fachgenossen 
das  Wort  zu  ihrer 
künstlerischen 
Würdigung  lässt, 
so  thut  er  das 
lediglich  in  der 
Absicht,  den  Hel¬ 
den  seiner  Erzäh¬ 
lung  nicht  zu  kurz 
kommen  zu  lassen. 
Die  Befürchtuno- 

o 

übrigens,  die  Re- 
ber  1 877aussprach, 
das  Bild  werde 
mit  der  Kirche, 
die  es  schmückt, 
der  neuen  collini- 
schen  Stadtanlage  weichen  müssen,  ist  bis  jetzt 
glücklicherweise  noch  nicht  eingetroffen.  Kirche 
und  Bild  sind  noch  unversehrt. 

Bei  der  Arbeit  in  S.  Eusebio  wurde  Mengs  von 
seinem  Lieblingsschüler  Anton  Maron  unterstützt, 
der  1733  in  Wien  geboren,  später  ein  berühmter 
Bildnismaler  wurde,  als  „Pittor  primario  e  direttore 
in  Roma  dei  pensonarj  Germani“  jedoch  seinen  Wohn¬ 
sitz  hauptsächlich  in  Rom  behielt.  Um  die  Zeit,  da 
sie  zusammen  an  dem  Deckenbilde  des  heiligen 
Eusebius  malten,  gab  Anton  Raphael  ihm  seine 

22* 


Madonua  mit  dem  Kinde  und  dem  kleinen  Johannes. 
Miniatur  von  A.  R.  Mengs  in  der  Gemäldegalerie  in  Dresden. 


172 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MEN  GS. 


Schwester  Theresia  Concordia  zur  Frau,  die  ihm, 
obgleich  sie  acht  Jahre  älter  war  als  er,  nur  zwei 
Jahre  im  Tode  vorausging.  Anton  von  Maron  starb 
ISüS,  Theresia  Concordia  starb  1806  in  Rom.  Juliane 
Charlotte  Mengs  aber  zog  sich,  als  ihre  Schwester 
sich  verheiratete,  ins  Kloster  Belvedere  bei  Jesi  in 
der  Marca  d’Ancona  zurück,  wo  sie,  wie  aus  Urkunden, 
die  in  Dresden  verwahrt  werden,  hervorgeht,  als 
Klosterfrau  den  Namen  Maria  Sperandia  führte  und 
1 780  noch  am 
Leben  war. 

Gleich  nach 
ilem  Deckenhilde 
in  S.  Eusehio 
fülirte  Anton  Ra¬ 
phael  i\lengs,  den 
der  Abt  dieser 
Kirche  seinen  Or¬ 
densverwandten 
empfohlen  hatte, 
noch  ein  Altarbild 
für  die  Benedik¬ 
tinerkirche  zu  Sul- 
mona,  der  abge¬ 
legenen  Geburts¬ 
stadt  Ovid’s  in  den 
Abruzzen,  aus. 

Di  eses  Gemälde, 
das  von  den  Zeitge¬ 
nossen,  die  es  ent¬ 
stehen  salien,  zu 
den  Hauptwerken 
des  Meisters  ge- 
reehnetAvird,  stellt 
den  lieiligen  Bene¬ 
dikt  in  der  Einöde 
ilar.  Vermutlich 
befindet  es  sich 
noch  an  dem  Pla¬ 
tze,  für  den  es  ge¬ 
malt  worden  Kei¬ 
ner  der  neueren  Schriftsteller  bat  es  beschriehen 
Oller  ge''elien;  auch  der  Verfasser  dieses  Aufsatzes 
nicht. 


VI. 

Während  Anton  Raphael  Mengs  um  die  Mitte 
der  fünfziger  Jahre  in  Rom  von  den  Kunstfreunden 
aller  händer  umdrängt  wurde,  lieb  der  sächsische 
Hof  ihn  keineswegs  aus  den  Augen.  Maria  Amalia, 


Kiiif'iirsI  i'liiisliiiii.  I’astcllliild  von  A.  I!.  Mknüs.  (Kgl.  Galerie  in  Dresden.) 


die  Tochter  August’s  II 1.,  die  an  den  König  Karl  IV. 
von  Neapel  verheiratet  war,  wünschte  den  berühmten 
jungen  Oberhofmaler  ihres  Vaters  in  ihrer  schönen 
vom  Vesuv  überragten  Residenzstadt  zu  begrüßen. 
August  III.  ließ  es  dem  Meister  daher  nahe  legen, 
dass  er  sich  an  den  neapolitanischen  Hof  begebe 
und  sich  demselben  zur  Verfügung  stelle.  Der 
Briefwechsel,  den  der  sächsische  Premierminister 
Graf  Brühl  hierüber  mit  Mengs  führte,  zog  sich  jedoch 

jahrelang  hin.  Die 
in  französischer 
Sprache  geschrie¬ 
benen  Briefe  aus 
den  Jahren  1755 
und  1756  befinden 
sich  im  sächsi- 
schenHauptstaats- 
archiv.  Sie  geben 
uns  ein  anschau¬ 
licheres  Bild  von 
Mengs’  Gesinnun¬ 
gen  und  Empfind¬ 
ungen,  als  die  Ge¬ 
schichten,  die  seine 
Biographen  von 
den  angeblichen 
Ränken  der  nea¬ 
politanischen 
Künstler  erzählen, 
die  seine  Reise 
nach  Neapel  zu 
hintertreiben  und 
ihn  durch  falsche 
V  orspiegelungen 
jahrelangabgehal- 
ten  haben  sollen, 
den  Wünschen  des 
sächsischen  und 
des  neapolitani¬ 
schen  Hofes  nach¬ 
zukommen.  Nach¬ 
dem  Brühl  dem  Meister  am  5.  Mai  1755  zuerst  mit¬ 
geteilt,  dass  der  König,  „pour  complaire  aux  instances 
de  Son  Auguste  fille“,  ihm  die  Erlaubnis  gebe,  nach 
Neapel  zu  gehen,  sobald  er  das  große  Gemälde  für  die 
katholische  Kirche  in  Dresden  vollendet  habe,  antwor¬ 
tete  er  am  30.  Mai  aus  Rom  zuerst  sehr  erstaunt  dar¬ 
über,  dass  er  eine  Erlaubnis  erhalte,  um  die  er  gar  nicht 
nachgesucht  habe  („que  je  re^ois  une  permission 
d’aller  ä  Naples  laquelle  je  n’avais  pas  demandee“) 
und  bittet  sich  dann  Weisungen  aus,  ob  er  auf 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENOS. 


173 


sächsische  Staatskosten  als  ein  von  Seiner  Majestät 
gesandter  Maler  nach  Neapel  gehen,  oder  mit  dem 
neapolitanischen  Hofe  wegen  seiner  Schadloshaltung 
unterhandeln  solle.  Brühl  antwortete  am  16.  Juni 
„par  ordre  expres  du  Roi“,  es  sei  des  Königs  Wille, 
dass  er  sich  an  den  Hof  von  Neapel  begebe,  der 
übrigens  bei  seiner  anerkannten  „generosite“  nicht 
verfehlen  werde,  ihn  für  die  Werke,  die  er  dort 


In  einem  Briefe  vom  5.  Mai  1756  bittet  Mengs  den 
Grafen  Brühl  um  Zahlung  der  Rückstände,  bietet 
sich  zum  Vermittler  bei  Gemäldeankäufen  an  und 
berichtet  dann,  der  Fürst  von  Francavilla  habe  ihn 
gefragt,  ob  er  einen  Vorschuss  für  seine  bevorstehende 
Reise  nach  Neapel  verlange,  „sur  quoi  je  lui  ai 
repondu  que  je  me  reraet  ä  la  Generosite  et  que 
je  ne  demandai  rien  en  avance“  (sic).  Am  31.  Mai  ant- 


Kurprinzessin  Maria  Antonia.  Pastellbild  von  A.  R.  Mengs.  (Kgl.  Galerie  in  Dresden.) 


malen  werde,  zu  entschädigen,  ohne  dass  er  nötig 
habe,  vorher  darüber  zu  unterhandeln.  Am  5.  Juli 
antwortete  Mengs  kurz,  er  werde  nicht  verfehlen 
zu  gehorchen,  sobald  er  das  große  Altarbild  vollendet 
haben  werde.  Ein  Jahr  später  aber  war  er  immer 
noch  nicht  abgereist.  Der  siebenjährige  Krieg  warf 
bereits  seine  Schatten  voraus.  Seit  dem  September 
1755  waren  die  sächsischen  Ehrengehalte  an  Mengs 
und  seine  Schwestern  nicht  mehr  bezahlt  worden. 


wertet  Brühl  darauf:  „Pour  ce  qui  regarde  les  offres 
de  la  Cour  de  Naples,  vous  avez  tres  bien  fait  de 
n’avoir  rien  demande,  aussi  ne  convient-il  pas  ä  une 
personne  engagee  au  Service  du  Roi  de  faire  des 
conventions,  mais  de  laisser  le  tout  ä  la  generosite 
de  LL.  MM.  Siciliennes.“  —  Nun  aber  wurde  Mengs 
ungeduldig.  Am  25.  Juni  1756  schrieb  er  an  Brühl: 
Ich  fühle  vollkommen  die  Richtigkeit  der  Bemerkungen 
Euerer  Excellenz  in  Bezug  auf  die  Anfragen  von 


J74 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


Neapel,  erwarte  nun  aber  von  der  Gnade  Euerer 
Excellenz  auch  die  Mittel,  ihnen  folgen  zu  können, 
(,les  moyens  de  pouvoir  les  executer“).  Mengs  scheint 
fast  der  größere  Diplomat  von  beiden  gewesen  zu 
sein  Als  Brühl,  der  alle  Hände  voll  mit  dem  Abschluss 
der  Bündnisse  und  den  Kriegsvorbereitungen  gegen 
Preußen  zu  thun  hatte,  nicht  gleich  antwortete,  schrieb 
er  am  3.  Juli  noch  einmal:  Der  Herzog  von  Gerizano 
liabe  ihm  nochmals  Geld  und  Reisekosten  angeboten, 
er  aber  habe,  seinen  Weisungen  entsprechend,  aber¬ 
mals  abgelehnt;  nun  müsse  Brühl  aber  auch  Ernst 
machen  und  Geld  schicken;  100  Zechinen  monatlich 


er  in  Rom  aus;  zweilmndert  Zechinen  monatlich 
werde  er  auf  der  Reise  gebrauclien;  Brühl  möge 
sofort  1000  Zechinen  scliicken,  auf  die  er  übrigens 
bereit  sei,  sich  sein  rückständiges  Gehalt  anrechnen 
zu  lassen,"sonst  könne  er  die  Reise  nicht  unternehmen 
.comnie  un  ])eintre  envoye  par  un  Roy  ä  un  autre 
Roy“,  .fetzt  war  an  Brühl  die  Reihe  ungeduldig  zu 
werden.  Er  beschwert  sich  in  einem  Briefe  vom 
20.  Juli  17Ö0,  dass  Mengs  ihn  immer  missverstehe. 
«Vous  avez  mal  fait  de  refuser  l’olfre  de  Mr.  le  Duc 
de  Gerizano;  et  vous  ne  deviez  rien  demander,  pour 
ne  pas  faire  uue  marchaudise,  mais  accepter  ce 
qu’on  vous  offre.“  Seine  Geldforderung  aber  sei 


viel  zu  hoch,  sie  sei  „au  delä  de  la  depense  d’un 
ministre“.  —  Vierzehn  Tage  darauf  wurde  Sachsen 
vom  Heere  Friedrich's  des  Großen  überschwemmt. 
Brühl  schickte  natürlich  kein  Geld,  und  Mengs’  Reise 
nach  Neapel  zog  sich  noch  fernere  zwei  Jahre 
hinaus. 

In  Rom  hatte  er,  wie  wir  gesehen  haben,  auch 
noch  genug  zu  thun.  In  Rom  beschäftigte  ihn,  nach 
der  Vollendung  des  Deckenbildes  in  S.  Eusebio,  die 
Ausführung  des  Altarbildes  für  Sulmona.  In  Rom 
wollte  gleich  nach  seinem  Regierungsantritt  1758 
Papst  Clemens  XIII  aus  dem  venezianischen  Hause 


Rezzonico  von  ihm  gemalt  sein;  und  Mengs  malte 
ihn  zweimal;  das  eine  der  Bildnisse  befindet  sich  jetzt 
in  der  Pinakothek  zu  Bologna.  In  Rom  führte  er 
nun  aber  doch  auch  schon  für  den  König  von  Neapel 
das  Altargemälde  der  Darstellung  Mariae  im  Tempel 
aus,  das  noch  heute  die  mit  Marmor,  Gold  und 
Lapislazuli  verschwenderisch  ausgestattete  Kapelle  des 
Lustschlosses  Caserta  schmückt. 

Dieses  Bild  selbst  zu  überbringen  und  seine 
ferneren  Dienste  anzubieten,  reiste  er  endlich  um 
die  Jahreswende  1758  auf  1759  nach  Neapel.  Mit 
dem  dortigen  Hofe  sich  zu  einigen,  hatte  er  in¬ 
zwischen  ja  Zeit  genug  gehabt.  In  Neapel  fand  er 


Friedrich  August  der  Gerechte  als  Kind. 
Pastellhild  von  A.  R.  Mengs.  (Kgl.  Galerie  in  Dresden.) 


ISMAEL  END  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


175 


alles  iii  Aufregung  und  Umwälzung  begriffen.  Der 
König  von  Spanien  war  gerade  gestorben.  Karl  IV. 
von  Neapel  bestieg  als  Karl  III.  den  spanischen 
Königsthron.  Sein  Sohn,  der  blutjunge  Ferdinand  IV., 
blieb  als  König  beider  Sizilien  zurüch.  Obgleich  das 
kunstsinnige  Herrscherpaar  im  Begriffe  war,  nach  Ma¬ 
drid  abzureisen,  nahm  es  sich  doch  die  Zeit,  Mengs  aufs 
liebenswürdigste  zu  empfangen.  Der  König  und  die 
Königin  waren  so  entzückt  von  dem  jungen  deutschen 
Maler,  dass  sie  sofort  beschlossen,  sich  nicht  mehr 
von  ihm  zu  trennen.  In  Neapel  sollte  er  nur  einige 
Hofdamen  und  den  jungen  König  Ferdinand  IV. 
malen,  dessen  geschmackvoll  angeordnetes  und  liebe¬ 
voll  durchgeführtes  jugendliches  Bildnis  sich  im 
Madrider  Museum  (ein  anderes  im  Neapler  Museum) 
erhalten  hat.  Dann  sollte  er  nach  Madrid  nach- 
kommen.  Unter  Bedingungen,  wie  sie  noch  niemals 
einem  Künstler  gestellt  worden  waren,  sollte  er  erster 
Maler  des  Königs  von  Spanien  werden;  6000  Scudi  = 
24  000  Mark  (man  vergegenwärtige  sich  dazu  den 
damaligen  Geldwert!)  Jahresgehalt,  freie  Wohnung, 
Wagen,  Pferde  und  Bedienung  wurden  ihm  angeboten. 
Mengs  nahm  um  so  unbedenklicher  an^  da  die  Ge¬ 
haltzahlung  von  Sachsen  längst  ganz  ausgeblieben 
war  und  er  sich  daher  nicht  mehr  an  den  dortigen 
Hof  für  gebunden  hielt.  Auch  blieb  er  ja  in  der 
Familie  August’s  HL,  und  diesem  mochte  es  bei  der 
großen  Geldnot,  in  die  er  durch  die  Drangsale  des 
siebenjährigen  Krieges  geraten  war,  nicht  unlieb 
sein,  seinen  berühmten  Oberhofmaler  an  seine  Tochter 
abzutreten. 

Sofort  konnte  Mengs  aber  noch  nicht  nach 
Spanien  abreisen.  ln  Rom  hatte  er  dem  Kardinal 
Albani  versprochen,  seine  Villa  mit  einem  Decken¬ 
gemälde  zu  schmücken.  Auch  zahlreiche  andere 
Aufträge  hatte  er  dort  noch  zu  erledigen.  Er  vei*- 
brachte  zunächst  noch  zwei  arbeitsreiche  Jahre  in 
der  ewigen  Stadt.  In  den  Arbeiten,  die  er  um  1760 
dort  ausführte,  kam  in  Stil  und  Stoffen  seine  durch 
Winckelmann  veranlasste  antikisirende  Richtung  nun 
erst  voll  zum  Durchbruch :  hatte  er  in  Neapel  doch 
auch  schon  Gelegenheit  gehabt,  einen  Einblick  in 
die  herculanischen  Entdeckungen  zu  thun! 

Das  Deckengemälde  in  der  Villa  Albani  zu  Rom 
ist  Mengs’  bedeutendstes  Werk  außerhalb  Spaniens. 
Raphael  Morghen  stach  es.  Alle  Welt  bewunderte 
es.  Es  ist  noch  heute  in  voller  Farbenfrische  er¬ 
halten.  Dargestellt  ist  Apollon,  auf  dem  Parnass 
von  den  neun  Musen  umringt,  im  Begriff,  einer 
neben  ihm  thronenden  Dichterin  den  Lorbeerkranz 
aufs  Haupt  zu  setzen.  Hier  sind  die  letzten  Reste 


der  „Untersicht“  verschwunden.  Das  Bild  ist  nur 
von  einer  Seite  zu  sehen,  als  sei  es  ein  an  die  Decke 
geheftetes  Wand-  oder  Tafelgemälde.  Um  aber  zu 
zeigen,  dass  er,  wenn  er  wollte,  auch  „di  sotto  in  sü“ 
malen  konnte,  stellte  Mengs  in  den  beiden  kleineren 
Seitenfeldern  der  Decke  zwei  Genien  in  der  alten, 
für  die  Untersicht  verkürzten  Art  dar.  Es  ist  nicht 
nötig,  hier  auf  das  bekannte  Hauptbild  näher  ein¬ 
zugehen.  Friedrich  Pecht  sagt  nach  einigen  Ein¬ 
schränkungen,  er  wisse  auch  heute  noch  niemand 
in  ganz  Europa,  der  ein  Bild  in  Fresko  so  zu 
malen  im  stände  wäre  und  auch  nur  halbwegs  in  so 
dringende  Gefahr  dabei  geraten  könnte,  wie  Mengs, 
mit  Raphael  selbst  verwechselt  zu  werden.  Dass 
freilich,  von  anderen  Vorzügen  abgesehen,  die  Ge¬ 
stalten  auf  Raphael’s  Parnass  im  Vatikan  in  viel 
innerlichere  und  lebendigere  Beziehung  zu  einander 
gesetzt  sind,  als  dies  auf  Mengs’  Bilde  geschehen,  ist 
schon  oft  bemerkt  worden;  und  dass  der  antikisirende 
Zug,  der  hier  in  des  Meisters  Linienführung  hinein 
gekommen  ist,  nicht  eben  erwärmend  wirkt,  ist 
selbstverständlich.  Die  Stilwandlung,  die  Mengs 
durchgemacht,  wird  besonders  deutlich,  wenn  man 
seine  Dresdener  Magdalena  mit  diesem  Bilde  vergleicht. 

Einen  aus  Azara’s  Besitze  stammenden  Entwurf 
zum  Parnasse  bewahrt  die  Ermitage  zu  St.  Peters¬ 
burg.  Dies  ist  eins  der  wenigen  Bilder,  auf  die  der 
Meister  seinen  Namen  gesetzt.  Die  Inschrift  lautet: 
ANT:  RAPH:  —  MENGS  —  SAXO  —  MDCCLXI.  — 
Es  ist  beachtenswert,  dass  er  sich  hier  noch  aus¬ 
drücklich  als  Sachsen  bezeichnet. 

Ein  anderes  antikisirendes  Bild,  das  Anton 
Raphael  um  diese  Zeit  malte,  war  „Kleopatra  zu 
Füßen  des  Augustus“.  Er  malte  es  für  einen  gewissen 
Mr.  Hör  in  England.  Ein  lehrreicher  Brief  des 
Meisters  an  Mr.  Hör,  in  dem  er  sich  eingehend  über 
dieses  Bild  auslässt,  hat  sich  erhalten  (Fea  p.  370). 
Er  schrieb  ihn  am  27.  Juni  1761  in  Rom,  nicht 
lange  vor  seiner  Abreise  nach  Spanien.  Vielleicht 
ist  dies  Mengs’  Bild  „Antonius  und  Kleopatra“,  das 
sich  nach  Waagen  (Treasures  of  Art  I  p.  394),  der 
es  jedoch  nicht  selbst  gesehen,  im  Stourhead  House 
in  Wiltshire  befand.  Jedenfalls  ist  es  nicht  das  von 
R.  Earlom  1784  in  Schwarzkunst  vervielfältigte  Ge¬ 
mälde  des  Meisters,  das  ebenfalls  eine  Zusammen¬ 
kunft  zwischen  Augustus  und  Kleopatra  darstellt. 
Denn  einerseits  passt  die  Beschreibung  jenes  Bildes 
nicht  zu  diesem,  auf  dem  Cäsar  am  Lager  der  Kleo¬ 
patra  sitzt,  andererseits  befand  sich  das  Original  des 
Earlom’schen  Blattes  1784  im  Besitze  des  Generals 
von  Callenberg  in  Dresden  und  Earlom  stach  es 


176  KLEINE  MITTEILUNGEN. 

nach  einer  Seydelmann’schen  Zeichnung.  Jetzt  aber  klang  der  Kunst  N.  Poussin’s  oder  wie  ein  Vorklang 
befindet  es  sich  in  der  Galerie  Czernin  zu  Wien.  der  Art  J.  L.  David’s. 

Seiner  Formensprache  nach  Avirkt  es  wie  ein  Nach-  *  * 

(Fortsetzung  folgt.) 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


KUNSTGESCIIICHTLICHE  FINDLINGE. 

Eine  liadirmuj  des  Prvnxen,  jetzigen  Königs  Albert  von 
Sachsen  (1841).  Es  dürfte  wenigen  bekannt  sein,  dass  Se. 
Majestät  der  König  Albert  von  Sachsen  einst,  als  das  sieg¬ 
reiche  Schwert  noch  in  der  Scheide  ruhte,  auch  den  Griffel 
geführt  hat.  (Eine  Bleistiftzeichnung  —  bärtiger  Kopf  — 
aus  dem  Jahre  1841  und  an  den  Erzieher  von  Lengenn  ge¬ 
schenkt,  befindet  sich  schon  lange  im  K.  S.  Hauptstaats¬ 
archive.)  In  einer  Berliner  Autographenauktion,  die  ich 
188(1  dienstlich  besuchte,  kam  mir  nun  ein  Exemplar  der 
seltenen  Radii’ung  des  dreizehnjährigen  Prinzen  aus  dem 
vorgenannten  Jahre  vor,  die  sich  jetzt  ebenfalls  in  der  er¬ 
wähnten  Aktensammlung  befindet.  Dargestellt  ist  angeblich 
Herzog  Athrecht  der  Beherzte,  der  Stammvater  des  Königs¬ 
hauses  Sachsen.  Auch  sonst  ist  dieser  erlauchte  Ahnherr- 
früher  nach  dem  Porträt  Kurfürst  Friedrich  des  Weisen  (!) 
dargestellt  worden.  Vielleicht  können  diese  prinzlichen  Ar¬ 
beiten  einmal  wiedergegeben  werden.  Heute  genüge  der 
Hinweis  auf  das  denkwürdige  Stück  und  dessen  hohen 
Schöpfer,  dessen  Name  auch  daruntersteht. 

Blasewitz-Dresden.  THEODOR  DISTEL. 

Ein  Hagdn- Porträt  von  Posier  (179i)).  Im  Nachlasse 
des  am  16.  Dezember  1842  zu  Leipzig  verstorbenen  weimarischen 
Hofrats  Johann  Friedrich  Pochlitz,  befand  sich  u.  a.  auch 
ein  Porträt  Uaydn’s,  welches  Felix  Mendelssohn-Bartholdg 
nebst  einem  Schenkungsschreiben  erhielt.  ‘)  In  den  betref¬ 
fenden  Akten  des  Amtsgerichts  Leipzig  Ni-.  4  (K.  S.  Haupt¬ 
staatsarchiv  Nr.  512  von  1887)  wird  als  Maler  desselben 
Anton  flraff  genannt.  Verzeichnet  nun  auch  Muther  in 
seiner  Graff -Monographie  dieses  Bild  nicht,  so  forschte  ich 
ihm,  da  dort  z.  B.  auch  die  von  Brrtrand  der  K.  Ge¬ 
mäldegalerie  zu  Dresden  geschenkten  Stücke  desselben  Künst¬ 
lers  unerwähnt  geblieben  sind,  weiter  nach  und  fand  es 
endlich  im  Besitze  der  Tochter  Mendelssohn’s,  Frau  Marie 
Beneche,  Norfolk  Lodge,  London.  Die  von  Rochlitz  in  seinem 
bereits  gedruckten  Testamente  berührten  handschriftlichen 
Bemerkungen  eigener  Hand  befinden  sich  noch  darauf,  wie 
auch  genannte  Dame  das  angezogene  Rochlitz’sche  Schreiben 
bewahrt.  Danach  ist  das  Porträt  nun  nach  dem  Leben 
in  Sitzungen  und  zwar  von  Johann  Karl  Rösler  (geb.  zu 
Görlitz  am  18.  Mai  1775,  gest.  zu  Dresden  am  20.  Fe¬ 
bruar  184.5),  1700,  kurz  nach  des  Originales  zweitem  Lon¬ 
doner  Aufenthalte,  gemalt  und  ihm  sprechend  ähnlich.  Eine 
grolle  Sammlung  von  Stichen  u.  s.  w.  vermachte  übrigens 
Rochlitz  der  Großfürstin  Panloirna.  Die  Sammlung  ist  dem 
Großherzoglichen  Museum  zu  Weimar  einverleibt  worden. 

Dresden.  THEODOR  DISTEL. 

1)  .Seine  eigenhändig  vollzogene  (Juittung  darüber  liegt  bei  den 
angezogenen  Akten. 


Die  Frühjahrsausstellung  der  Sezession  in  München 
(Verein  bildender  Künstler  Münchens)  ist  am  15.  März  vor¬ 
mittags  10  Uhr  ohne  weitere  Feierlichkeiten  eröffnet  worden, 
eine  moderne  Elitebilderschau  von  so  eigenartigem  Gepräge, 
wie  es  kaum  je  eine  deutsche  Ausstellung  aufwies.  Ein 
eigentümlich  frischer,  freudiger  Zug  geht  durch  diese  Bilder, 
es  spricht  alles  so  unmittelbar,  so  persönlich  zum  Beschauer, 
und  wenn  auch  durchaus  skizzenhafte  und  flüchtige  Schö¬ 
pfungen  nicht  überwiegen,  so  berührt  andererseits  gerade  das 
Fehlen  mühsam  und  mit  großem  Apparat  geschaffener  Aus¬ 
stellungsbilder  angenehm  und  behaglich.  Zudem  hat  wohl 
noch  nicht  leicht  eine  Hängekommission  unter  so  günstigen 
Bedingungen  gearbeitet  wie  hier.  Die  relativ  geringe  Zahl 
von  Kunstwerken  —  315  Nummern  zählt  der  Katalog  — 
konnte  in  den  geräumigen  Sälen  unter  Aufwendung  jeder 
denkbaren  Rücksicht  auf  Licht,  Farbenklänge  der  Umgebung 
u.  s.  w.  untergebracht  werden,  so  dass  jedes  Bild  für  sich 
allein  in  Muße  und  ohne  jede  Störung  aus  der  Nachbarschaft 
betrachtet  werden  kann.  Wie  sehr  dies  den  Genuss  des  Be¬ 
schauers  erhöht,  wird  von  allen  Besuchern  dankend  aner¬ 
kannt.  Mit  wenigen  Ausnahmen  sind  die  bekanntesten  älte¬ 
ren  und  jüngeren  Mitglieder  der  Sezession  vertreten,  ferner- 
zahlreiche  andere  Münchener  Künstler,  auch  Mitglieder  der 
„Münchener  Künstlergenossenschaft“  und  Ausländer.  Die 
Ausstellung  dauert  bis  zum  1.  Mai.  Schon  am  ersten  Tage 
wurden  von  S.  K.  H.  dem  Prinzregenten,  sowie  von  Privaten 
Gemälde  gekauft. 

Berlin.  Im  Kunstauktionshause  von  R.  Lepke,  Koch¬ 
straße  28/29,  kommt  am  10.  April  und  den  folgenden  Tagen 
die  Aquarellsammlung  des  Herrn  Ferdinand  Schönemann 
zur  Versteigerung.  Dieselbe  umfasst  801  Nummern,  unter 
denen  die  Namen  unserer  bedeutendsten  Aquarellisten  ver¬ 
treten  sind.  Auch  die  sehr  praktischen  drei  Aufbewahrungs¬ 
schränke  kommen  mit  zur  Versteigerung.  Der  Katalog  ist 
soeben  erschienen  und  wird  von  der  genannten  Firma  auf 
Wunsch  kostenfrei  zugesandt. 

*  Die  landschaftliche  Radirung  von  F.  Völlmy  (München), 
welche  diesem  Hefte  beiliegt,  errang  bei  dem  von  uns  aus¬ 
geschriebenen  Wettbewerb  einen  zweiten  Preis.  Es  ist  ein 
ernstes  Motiv  italienischen  Charakters  von  eigentümlicher 
Poesie,  durch  die  groß  und  feierlich  wirkenden  Cypressen 
an  Böcklin’sche  Landschaften  erinnernd.  Auch  die  dunkle 
Gestalt,  die  zwischen  den  hohen  Gartenmauern  einsam  daher¬ 
schreitet,  klingt  an  den  Baseler  Meister  an.  Der  Radirer 
ist  in  der  Behandlung  der  Platte  jedem  Detailreiz  aus  dem 
Wege  gegangen;  an  einzelnen  Punkten  wünschte  mancher 
Betrachter  des  Blattes  daher  vielleicht  mehr  Vollendung. 
Aber  dafür  wirkt  die  Ätzkunst  hier  in  ihrer  vollen  Frische 
und  Schlichtheit;  es  mischte  sich  nichts  Äußerliches  ein  in 
den  bestimmt  und  gehalten  angeschlagenen  Ton. 


Herausgeber:  Carl  von  lÄitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


h’hotogravure  Meisenbach  Riffarth  &  Co, .Berlin. 


verlaß  v:E.A.  Seemann,  Leipzig. 


AU  GUS  TUS  UND  KLEOPATRA 

f  Galerie  Czernin  in  Wien] 


LruckvFABrockliaus  Leipzig. 


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ZAKYNTHOS. 

Zwei  venetianische  Renaissancepaläste. 
MIT  ABBILDUNGEN. 


ANTE  —  fiordel  Levante!  Man 
muss  wochenlang  unter  den 
Bauern  des  Peloponnes  gelebt 
haben  und,  von  Pyrgos  kom¬ 
mend  ,  in  den  Hafen  von 
Zante  einfahren,  um  diesen 
jauchzenden  Ruf  recht  aus 
vollem  Herzen  auszustoßen. 
Endlich  wieder  europäische  Kultur,  endhch  wieder 
ein  Stadtbild,  das  schon  in  der  Gesamtanlage  Ge¬ 
schmack,  beim  Näherkommen  sorgsame  Pflege  ver¬ 
rät.  Endlich  wieder  eine  Atmosphäre,  in  der  es 
nicht  ausschließlich  nach  Hammel  riecht  und  bäu¬ 
rische  Schlauheit  die  einzig  gangbare  Münze  ist, 
mit  der  man  zu  rechnen  hat.  Kurz,  endlich  wieder 
Menschen,  die  noch  etwas  anderes  kennen  als  die 
gemeinsten  Lebensinteressen  und  Erholung  suchen 
im  Genüsse  geistiger  Güter. 

Ein  halbkreisförmiger  Hafen  und  ein  dominiren- 
der  Bergrücken  im  Hintergründe,  die  Abhänge  und 
Quais  entlang  die  Häusermasse,  —  diesen  verbreite¬ 
ten  Typus  zeigt  auch  die  Hauptstadt  der  Insel 
Zante.  Zur  Rechten  des  Einfahrenden  die  Piazza 
mit  den  der  Öffentlichkeit  dienenden  Gebäuden,  die 
andere  Seite  zur  Linken  abschließend  mit  einem 
vorgeschobenen  Kirchenbau.  Der  Berggipfel  ge¬ 
krönt  von  einem  imposanten  Kastell,  um  das  herum 
Gärten,  in  südlicher  Üppigkeit  prangend,  sich  hin¬ 
ziehen  und  eine  Straße  verdecken,  die  rechts  über 
die  Passhöhe  nach  dem  Inneren  der  Insel  führt. 
Dort  oben  eröffnet  sich  dem  Blick  das  wunderbarste 
Panorama:  auf  der  einen  Seite  die  See  und  die 
Küsten  des  Peloponnes,  auf  der  anderen  eine  weite 
Ebene,  von  einzelnen  Häusern  belebt,  die,  zwischen 
die  Saatfelder  eingestreut,  bis  hoch  hinauf  an  die 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V  H.  8. 


Abhänge  der  umschließenden  Höhen  reichen.  Zu 
Füßen  malerisch  aufgebaut  der  Hafen,  die  Stadt,  das 
Kastell  selbst  und  die  herrliche  Vegetation.  Der 
des  öden  Peloponnes  müde  Wanderer  erlabt  sich 
an  dieser  Fernsicht  und  wird  durch  die  Natur  selbst, 
wie  durch  die  höhere  Kultur  auf  die  Nähe  Italiens 
hingewiesen. 

Diesen  Eindruck  verstärkt  ein  Gang  durch  die 
Stadt.  Dieselbe  gruppirt  sich  um  die  von  der  Piazza 
nach  dem  anderen  Ende,  dem  Hafendamm  parallel, 
zwischen  den  Häusern  sich  hinziehende  Mittelstraße, 
die  schon  darin  oberitalischen  bezw.  ursprünglich 
syro-byzantinischen  Ursprung  zeigt,  dass  die  Trot¬ 
toirs  beiderseits  von  Kolonnaden  überdeckt  werden. 
Ich  greife  aus  der  Masse  beachtenswerter  Bauten 
zwei  an  dieser  Hauptstraße  stehende  Paläste  heraus, 
von  denen  ich  weder  Namen  noch  Vorgeschichte 
kenne.  Vielleicht  existiren  sie  selbst  heute  nicht 
mehr  in  dem  Zustande,  den  meine  photographischen 
Aufnahmen  aus  dem  Jahre  1889  zeigen,  vielleicht 
haben  die  furchtbaren  Erdbeben  der  letzten  Zeit 
auch  sie  vernichtet. 

Der  eine  Palast,  ein  massiver  Quaderbau  von 
zwei  Stock  Höhe  und  fünf  Axen  Breite,  tritt  mit 
jener  ernsten  Würde  auf,  die  seine  florentino-römi- 
schen  Ahnen  offenbar  macht.  In  indirekter  Abfolge 
vom  Palazzo  Ruceflai  und  der  Cancellaria  abstam¬ 
mend,  zeigt  seine  Fassade  das  System  von  drei  über¬ 
einandergestellten  Pilasterordnungen,  doch  so,  dass 
ihm  durch  Verschärfung  aller  Ausdrucksmittel  deut¬ 
lich  der  Charakter  des  hohen  16.  Jahrhunderts  auf¬ 
gedrückt  wird.  Die  beiden  unteren  Stockwerke  hal¬ 
ten  sich  an  das,  seit  1500  etwa  durch  Bramante 
eingeführte  dorische  Schema  des  Marcellustheaters: 
schwere,  massive  Pfeilermassen  bilden  die  unteren 

23 


l'alast  in  Zante. 


ZAKYNTHOS. 


179 


Arkaden.  Der  durch  geränderte  Keilsteine  ge¬ 
gliederte  Bogen  reicht  bis  an  den  Fries  und  hat 
in  der  Mitte  nach  Art  der  antiken  Triumphbogen 
ein  Konsol.  Die  Pilaster  und  der  Triglyphenfries 
zeigen  jene  typischen  Formen,  wie  sie  durch  Serlio- 
Vignola  für  die  dorische  Form  fixirt  worden  waren. 
Die  beiden  oberen  Pilasterreihen  stehen  auf  hohen, 
den  Fensterbalustraden  entsprechenden  Postamenten 
und  sind  unten  ionisch,  oben  korinthisch  ')  durch¬ 
gebildet,  so  dass  der  Bau,  der  Vorschrift  der  Sti¬ 
listen  entsprechend,  oben  mit  dem  korinthischen 
Konsolengesims  abschließt. 

Das,  was  nun  der  Fassade  die  besondere  ernste 
Würde  giebt,  ist  außer  den  mächtigen  Arkaden¬ 
stützen,  auf  denen  sie  ruht,  noch  dreierlei.  Fürs 
erste  sind  auch  die  oberen  Stockwerke  in  Rustika 
behandelt  und  zwar  nicht  nur  die  Wandflächen  selbst, 
sondern  auch  die  vortretenden  Pilaster,  so  dass  also 
dieses  Motiv  hier,  nur  gemäßigter,  in  derselben  Art 
dominirend  hervortritt,  wie  etwa  an  Ammanati’s 
Hoftrakt  des  Palazzo  Pitti  in  Florenz  und  der  Zecca 
des  Jacopo  Sansovino  in  Venedig.  Diese  tragenden 
und  füllenden  Rustikamassen  werden  zum  zwei¬ 
ten  durchbrochen  von  großen  Fenstern,  die  nicht 
minder  scharf  acceutuirt  in  allen  ihren  Gliedern 
sind.  Zunächst  eine  Umrahmung,  deren  einfache 
Profilirung  den  Kontrast  zwischen  Mauer  und  Öff¬ 
nung  scharf  hervortreten  lässt.  Dann  nach  oben 
im  unteren,  ionischen  Stockwerke  Giebel,  im  oberen, 
korinthischen  Lünetten,  beide  Reihen  mit  kräftiger 
Schattenwirkung  vorspringend.  Ihnen  entsprechend 
am  unteren  Ende  der  Fenster  drittens  kompakte 
Balustraden,  die  in  ihrer  Aufeinanderfolge,  zusammen 
mit  den  Pilasterpostamenten,  zu  dem  überaus  domi- 
nirenden  Hervortreten  der  horizontalen  Gurtgesimse 
beitragen. 

Gehen  wir  über  zur  Frage  nach  der  Zeit  und 
Person  des  Schöpfers  dieser  wirkungsvollen  Archi¬ 
tektur,  so  lässt  sich  wohl  mit  Bestimmtheit  behaup¬ 
ten,  dass  derselbe  der  Zeit  nach  1550  angehören 
muss  und  dem  venetianischen  Geschmacke  huldigt. 
Denn  in  Rom  tritt  um  1540  ein  Rückschlag  von 
seiten  der  auftraggebenden  Kirche  in  der  Weise  ein, 
dass  sich  auch  auf  dem  Gebiete  der  Architektur  das 
Hervortreten  gewisser  oder  besser  eines  autorita¬ 
tiven  Dogma’s  geltend  macht,  welches  bei  der  Fas¬ 
sadenbildung  in  dem  dominirenden  Hervortreten  der 


1)  Vom  Zeichner  sind  leider  die  oberen  Pilastercapitelle 
ionisch  gemacht.  Auch  hat  er  die  Rusticirung  der  ganzen 
Fassade  ungenügend  angedeutet. 


vertikalen  Mitte  bei  Kirchen,  der  horizontalen  Mitte 
bei  Palästen  seinen  weitesten  Ausdruck  findet.  Eine 
Koordination  aller  Teile  untereinander,  wie  sie  die 
in  Rede  stehende  Fassade  von  Zakynthos  zeigt,  ver¬ 
bunden  mit  durchgehender  Verwendung  von  Quader¬ 
material,  ist  im  Zusammenhänge  mit  diesen,  unzwei¬ 
felhaft  der  Zeit  nach  1540  angehörenden  Detail¬ 
gliedern  in  Rom  unmöglich.  Ebenso  in  Florenz, 
wo  zwar  der  alte  republikanische  Geist  der  Renais¬ 
sance  auch  in  der  Architektur  länger  nach  wirkt, 
aber  die  charakteristischen  Merkmale  des  völligen 
Verfalles,  d.  h.  eine  Unruhe  annimmt,  die  in  deut¬ 
lichem  Kontrast  zu  der  vollendeten  Ruhe  steht,  die 
der  Palast  von  Zakynthos  atmet.  Dagegen  treffen 
an  ihm  alle  Merkmale  zusammen,  welche  berech¬ 
tigen,  ihn  der  durch  Jacopo  Sansovino  in  Venedig 
inaugurirten  Richtung  zuzuweisen. 

Im  geraden  Gegensatz  zu  dem  Ernst  der  erst¬ 
besprochenen  Fassade  steht  die  zweite:  die  auf  das 
Zierliche  gerichtete  Zuckerbäckerphantasie  eines 
Dilettanten  oder  Banausen  scheint  ihn  geschaffen 
zu  haben.  Nur  zwei  Axen  breit,  scheint  er  ur¬ 
sprünglich  auch  nur  ein  Stockwerk  gehabt  zu  haben; 
das  zweite  dürfte  vielleicht  erst  später  aufgebaut 
worden  sein.  Auch  diese  Fassade  ruht  auf  Quader¬ 
bogen.  Die  Pfeiler  sind  in  der  einfachsten  Art 
durch  Abfasung  aus  der  viereckigen  Deckplatte  in 
den  achteckigen  Stumpf  überführt,  etwa  so,  wie 
das  an  türkischen  Bauten  sehr  häufig  zu  beobachten 
ist.  Im  ersten  Stockwerke  nehmen  zwei  Fenster  eine 
Thür  mit  Balkon  in  die  Mitte.  Der  schmiedeeiserne, 
stark  ausgebauchte  Balkon  ruht  auf  drei  Konsolen, 
die  nach  vorn  in  Köpfe  ausgehen,  je  einen  weib¬ 
lichen  an  den  Seiten  und  einen  männlichen  in  der 
Mitte.  Die  Thür  wird  von  zwei  dünnen  Säulchen 
flankirt,  die  sich  nach  oben  zu  stark  verjüngen  und 
mit  kräftig  herausgearbeitetem  Weinlaub  umrankt 
sind.  Sie  tragen  schwere,  korbartig  ausladende 
korinthische  Kapitelle  und  Verkröpfungen,  die,  mit 
einer  Maske  geschmückt,  den  über  der  rundbogigen 
Thür  hinlaufenden  Architrav  stützen.  Dieser  Auf¬ 
bau,  welcher  ohnedies  nach  oben  hin  so  sehr  an 
Gewicht  zunimmt,  dass  man  jeden  Moment  das  Aus¬ 
weichen  der  Säulen  eintreten  zu  sehen  glaubt,  schließt 
mit  einer,  aus  zwei  zu  Seiten  einer  Blattknospe  ge¬ 
lagerten  weiblichen  Gestalten  bestehenden  Krönung, 
welche  das  alte  Kranzgesimse,  das  in  stark  ver¬ 
kümmerter  Ausladung  reichen  Ornamentschmuck  auf¬ 
weist,  durchbricht.  Die  zu  dicht  an  die  Maner- 
ecken  gerückten  Fenster  ruhen  auf  einer  im  Viertel¬ 
kreis  vorspringenden  Bank,  die  in  durchbrochenem 

23* 


180 


ZAKYNTHOS. 


Relief  eine  von  Ranken  durchsetzte  Wiederholung 
der  figürlichen  Thürkrönung  zeigt. 

Diese  Fassade  würde  eine  bescheiden  malerische 


zwischen  einem  Blumenparterre  und  einer  durch 
Wasserstürze  belebten  Baumterrasse  eingeschoben 
wäre.  Thatsächlich  lehnt  sie  sich  denn  auch  an 


l’alast  in  Zante. 


W  irkung  erzielen,  wfain  sie  statt  in  einer  Reihe  mit 
dfin  ersihesproclienen  Hau  an  einer  kolonnadenge- 
säumlen  Straße,  etw'a  in  einer  suhurhaueu  Villa 


den  ländlichen  Stil,  wie  er  sich  zwar  nicht  in  der 
römischen  Schule  eines  Raffael,  wohl  aber  unter  den 
Händen  der  Florentiner  und  Venetianer  Epigonen 


BRIEG. 


181 


entfaltete.  Auf  venetianischen  Einfluss  weist  mit 
aller  Entschiedenheit  die  Anwendung  des  Kielbogens 
zum  Abschluss  der  Fenster  und  die  gotisirende  Um¬ 
rahmung  desselben  mit  aufstrebenden  Blättern,  wo¬ 
für  das  bekannteste  Beispiel  die  Fassadeukrönungen 
von  S.  Marco  sind. 

Es  hat  denn  auch  gar  keine  Schwierigkeit,  für 
beide  Paläste  die  Möglichkeit  einer  Einwirkung  der 
venetianischen  Kunst  nachzuweisen.  Denn  die  Insel 
belangte,  nachdem  sie  aus  den  Händen  der  Griechen 


und  der  Normannen  von  Sicilien  im  Jahre  1479  in 
diejenigen  der  Türken  übergegangen  war,  schon 
zwei  Jahre  später  in  den  Besitz  der  Venetianer,  die 
sich  dort  bis  zum  Frieden  von  Campo  Formio  1797 
behaupteten,  ln  dieser  Zeit  sind  die  beiden  Paläste 
entstanden,  der  eine  vielleicht  unter  der  Leitung 
eines  Architekten  aus  dem  Kreise  des  Jacopo  San- 
sovino. 

Graz,  1893.  JOSEF  STRZYCiOW SKI. 


BRIEG. 

VON  .4.  JON  ETZ. 
(Schluss.) 


\LD  nach  Fertigstellung  des 
Gymnasiums  übernahm  Mei¬ 
ster  Baar  (1570)  im  Beisein 
des  auf  die  Verschönerung 
seiner  Stadt  bedachten  Für¬ 
sten  den  Neubau  des  1569 
durch  Brand  vernichteten 
Rathauses  und  führte  den¬ 
selben,  von  seinem  Schwiegersöhne  Niuron  unter¬ 
stützt,  bereits  1572  zu  Ende.  Die  Künstler  haben 
damit  der  Stadt  ein  Bauwerk  geschenkt,  das,  bis 
heute  gut  erhalten,  durch  seine  malerische  Schön¬ 
heit  weithin  bekannt  ist.  Aber  diese  Wirkung 
haben  sie  durch  weit  einfachere  Mittel  erreicht 
als  beim  Schlosse.  Von  schönen  Verzierungen  ist 
keine  Rede,  wenn  nicht  etwa  die  jetzt  kahlen 
Wände  einst  von  Sgrafflten  bedeckt  waren.  Die 
Schönheit  des  Baues  liegt  vielmehr  in  den  kräf¬ 
tig  gegliederten  und  wirksam  gruppirten  Bau¬ 
massen.  Wiederum  wird  der  Gegensatz  benützt. 
Die  leichte,  offene,  unten  von  fünf  dorischen  Pfei¬ 
lern,  oben  von  Holzsäulen  getragene  Halle  auf  der 
Westseite  wird  von  zwei  schweren,  bollwerkähn¬ 
lichen,  etwas  vorspringenden  Ecktürmen  begrenzt. 
Dieselben  sind  bis  zum  Hauptgesims  des  Hauses 
quadratisch,  nehmen  dann  achteckige  Form  an  und 
werden  schließlich  von  einer  durchsichtigen  Haube 
bekrönt.  Diese  Anlage  wird  in  ihrer  malerischen 
Wirkung  durch  das  mächtig  ansteigende,  in  der 
Front  mit  drei  Giebeln  geschmückte  und  nach  Nord 
und  Süd  ebenfalls  mit  hohen  Giebeln  abschließende 
Dach  gesteigert.  Und  das  Ganze  überragt  förmlich 


als  Höhepunkt  des  architektonischen  Aufbaues  der 
gleichfalls  erst  quadratische,  daun  achteckige  und 
von  einer  zweimal  durchsichtigen  Haube  bekrönte 
Hauptturm.  Die  beste  Vorstellung  von  diesem 
schönen  Bauwerk  erhält  der  Leser  durch  die  präch¬ 
tige  Origiualradiruug  Meister  Ulbrich ’s  (Heft  6). 

Doch  nicht  bloß  mit  öflentlichen  Bauten  schmückte 
sich  Brieg  damals,  sondern  das  Beispiel  des  kunst¬ 
liebenden  Fürsten  bestimmte  Adel  und  Bürgerschaft, 
auch  die  Privathäuser,  natürlich  in  bescheidenerer 
Weise,  künstlerisch  auszustatten.  So  mag  die  vom 
Schlosse  nach  dem  Ringe  führende  Burgstraße,  wo 
die  Adeligen  und  die  italienischen  Künstler  ihre  Woh¬ 
nung  aufgeschlagen  hatten ') ,  mit  vielen  schönen 
Bauten  geschmückt  gewesen  sein.  Noch  heute  über¬ 
rascht  das  Auge  die  im  Stile  der  Frührenaissance 
gehaltene  schöne,  leider  durch  Tünche  verunstaltete 
Fassade  des  Hauses  Nr.  6,  dessen  Portalbogen,  Pi¬ 
laster  und  Fries  mit  reichen,  in  Zeichnung  und  Aus¬ 
führung  ganz  vortreölichen  Ornamenten  geziert  sind, 
die  nach  dem  Urteil  eines  unserer  erfahrensten 
Kunstkenner 2)  zu  dem  Besten  gehören,  was  wir  in 
dieser  Art  in  Deutschland  überhaupt  haben.  Die 
übrigen  Bauten  aus  alter  Zeit  aber  —  über  das 
16.  Jahrhundert  dürfte  kein  Privathaus  hinausreichen 
—  gehören  der  späteren  Renaissance  au.  Bemer¬ 
kenswert  ist,  dass  die  Brieger  Künstler  vielfach 
ihren  eigenen  Weg  gegangen  sind  und  ganz  eigen- 

1)  Wernicke,  a.  a.  0.  S.  10. 

2)  Lübke,  Deutsche  Renaissance  11,  083. 

3)  Abgebiklet  bei  Oitwein-Bischof,  Deutsche  Renaissance. 
Abteilung  XI,  Blatt  18  u.  19. 


182 


BRIEG. 


Mit  ihm  verwandt,  aber  in  jeder  Be¬ 
ziehung  reicher  ausgestattet  ist  das  Haus 
Ring  29  (Süß).  Zunächst  zeigt  dieses  einen 
kleinen  Vollgiebel  in  der  Mitte,  den  zwei 
größere,  aber  nur  etwas  über  die  Hälfte  aus¬ 
geführte  Giebel'seitlich  umgeben.  Die  den  Auf¬ 
bau  gliedernden  Säulen  sind  gleichfalls  in 
Kasten  gestellt,  die  starken  Konsolen  bilden 
auch  hier  einen  Fries,  aber  geschickt  sind  über 
denselben  die  verschnörkelten  Zahlen  1-6-2-1 
und  die  Buchstaben  GVM  verteilt,  und  dar¬ 
unter  steht  die  Inschrift:  fidus  in  perpetuum 
benedicetur.  Die  Metallornamente  endlich  sind 
bei  diesem  Gebäude  in  überreicher  Fülle  zur 


artige,  anderwärts  nicht  vorkom- 
niende  Ausschmückungen  der  Fas¬ 
saden  geschaffen  liaben.  So  hat 
llrieg  den  Giel)elbau  in  charakte¬ 
ristischer  ^Veis(!  entwickelt.  Dafür 
ist  znnäehst  die  höchst  geschmack¬ 
voll  in  einen  zierlichen  Doppelgiebel  zerlegte 
front  ries  Ilairses  Wagnenstraße  4  (Burkert)  be- 
zr-irdmeml.  Auch  die  .schweren  Konsolgesimse, 
dir;  in  Kasten  gestellten  zwischen  Säulen  und  die 
inetallbeschlagartigen  Ornamente,  welche  einzelne 
Flächen  belelren,  sind  merkwürdig.  Das  Haus  ist 
1097  vf)llendet,  im  18.  dahrhundert  und  1889  teil- 
wrn.sr*  umgestaltet,  aber  erst  ganz  neuerdings  in 
M'iner  feinen  Symmetrie  durch  eine  ini  Erdge¬ 
schoss  gebrochene  zweite  Thür  gestört  worden. 


Bogen  vom  llauptpoi'tal  des  Piastenschlosses  in  Brieg. 


BRIEG. 


183 


Anwendung  gekommen;  sie  bedecken  die  ganze 
Fläche  der  Fassade. 

Zu  den  merkwürdigen  Gebäuden  Briegs  gehört 
sodann  das  im  18.  Jahrhundert  entstandene  Eckers- 
berg’sche  Haus  (Ecke  Ring  und  Wagnerstr.).  Es 
ist  wohl  möglich,  dass  die  ehemaligen  Sgraffiten 
des  Schlosses  oder  des  Rathauses  die  Anregung  zu 
der  malerischen  Ausschmückung  dieses  Hauses  ge¬ 
geben  haben.  Alle  Flächen  des  ersten  und  zweiten 
Stockwerkes  sind  mit  elegantem  Stuckrankenwerk 
geschmückt,  das  sich  ehemals  von  dunklerem  Grunde 
abhob,  heute  aber  denselben  Farbenton  zeigt,  wie 
die  Flächen  der  Wände.  Vom  Ringe  aus  sieht  man 
die  beiden  Giebel,  hinter  welchen  sich  zwei  parallel 
laufende  Dächer  verbergen.  Über  dem  Portal  steht 
eine  Gruppe,  welche  einen  mit  einer  Schlange  käm¬ 
pfenden  Adler  darstellt. 

Auch  sonst  bemerkt  man  am  Ringe  und  in  den 
anderen  alten  Straßen  Häuser  mit  schönen  Portalen 
und  mit  einfachen  oder  doppelten  Giebeln  ge¬ 
schmückt,  Die  Fassaden  sind  teils  durch  iouisi- 
rende,  teils  durch  korinthisirende  Pilaster  gegliedert, 
die  Flächen  mit  Ornamenten,  namentlich  mit  Frucht- 
schnüren,  verziert.  Die  meisten  dieser  Gebäude  ent¬ 
stammen  wohl  dem  18.  Jahrhundert. 

Schließlich  besitzt  Brieg  noch  ein  anderes  ehr¬ 
würdiges  Denkmal  des  16.  Jahrhunderts,  nämlich 
das  Oderthor.  Dasselbe  ist  ein  Rest  der  Befesti¬ 
gungsanlagen  unter  Joachim  Friedrich  (1586 — 1602). 
Dieser  Für.st  ließ,  da  die  seit  dem  13.  Jahrhundert 
gegen  die  räuberischen  Angriffe  der  Tartaren  ange¬ 
legten  Werke  mangelhaft  waren,  den  hohen  Wall 
vom  Schlosse  an  der  Oder  entlang  nach  „altitalie¬ 
nischem  Muster“  aufschütten  und  das  schon  1581 
begonnene,  den  Wall  tunnelartig  durchbrechende 
Thor  unter  Leitung  Niuron’s  vollenden  (1596),  Erst 
1844  wurde  es  bei  Anlage  der  jetzt  ein  Stück  strom¬ 
aufwärts  führenden  Brücke  geschlossen.  Einst  das 
schönste  Thor  Briegs,  schaut  es  nunmehr,  beiseite 
gesetzt,  düster  in  seine  Umgebung  hinaus.  Der  aus 
starken,  etwas  verwitterten  Sandsteinquadern  gebil¬ 
dete  Thorbogen  trägt  am  Schlussstein  das  Wappen 
der  Stadt.  Dasselbe  zeigt  auf  dem  von  einem  Engel 
gehaltenen  Schilde  drei  Anker  oder  nach  der  gewiss 
richtigeren  Lösung  Grünhagen’s  i)  eine  W  olfssense 
(Wolfsfalle),  ein  Symbol,  welches  an  die  Kämpfe 
der  ersten  Ansiedler  mit  wilden  Tieren  erinnert. 
Aus  den  Zwickeln  lehnen  sich  bis  an  die  Brust  zwei 
bärtige  Krieger  heraus,  mit  dem  Helm  auf  dem 


Haupt  und  so  finsterem  und  drohendem  Gesichts¬ 
ausdruck,  als  wollten  sie  schon  dadurch  den  An¬ 
kömmling  zurückschrecken.  Der  über  dem  Portal 
sich  erhebende,  an  den  Seiten  durch  schlanke  Kon¬ 
solen  gestützte,  durch  kleine  jonische  Pilaster  ge¬ 
gliederte  Aufsatz  enthält  die  von  Greifen  und  Löwen 
gehaltenen  Wappen  des  Herzogs  und  seiner  Gemahlin 
Anna  Marie  von  Anhalt-Zerbst.  Auf  dem  Fries  des 
Hauptgesimses  stand  früher  derselbe  Spruch  wie  am 
Schlosse:  Verbum  domini  manet  in  aeternum. 

Diese  Befestigungen,  welche  unter  Johann  Chri¬ 
stian  (1609 — 39)  noch  erweitert  wurden,  sollten  bald 
im  dreißigjährigen  Kriege  ihre  Probe  bestehen.  Die 
letzten  Jahre  friedlicher  Ruhe  wurden  der  Stadt 
durch  das  Wirken  einer  ausgezeichneten  Fürstin  aus 
hohenzollernschem  Stamme  verschönt.  Dorothea 
Sibylla,  vom  Volke  die  „liebe  Dorel“  genannt,  war 
die  jüngste  Tochter  des  Kurfürsten  Johann  Georg 
von  Bi’andeuburg  und  seit  1610  mit  Johann  Christian 
von  Brieg  vermählt.  Sie  wurde  der  Liebling  des 
Volkes,  und  ihren  edlen  Sinn  feierte  man  in  Gedich¬ 
ten  und  Schriftwerken  bis  in  die  neuere  Zeit.  Am 
Hofe  Christian’s  begann  mau  überhaupt  die  deutsche 
Poesie  zu  schätzen,  und  der  Begründer  der  schlesi¬ 
schen  Dichterschule,  Martin  Opitz,  Avar  dort  gern 
gesehen. 

Kaum  war  die  Herzogin  1625  gestorben,  da 
begannen  für  Brieg  die  Unruhen  des  Krieges. 
Schon  1626/27  erschienen  Wallensteiner  und  „lagen 
in  Garnison  zu  Brieg“.  1633  musste  die  Stadt  eine 
sächsische  und  1635  wiederum  eine  kaiserliche  Be¬ 
satzung  für  lange  Jahre  aufnehmen  und  sich  schweren 
Leistungen  unterziehen.  1642  wurde  sie  von  den 
Schweden  unter  Torstenson  belagert.  Die  Bürger, 
treu  dem  Kaiser,  unterstützten  die  Besatzung  so 
tapfer,  dass  das  Sprichwort  aufkam:  Brieg,  Frei¬ 
burg,  Brünn  machen  die  Schweden  dünn.  Die  Stadt 
wurde  zwar  gehalten,  aber  das  Land  war  durch 
Plünderung  und  Brandschatzung  arg  mitgenommen. 
Auch  unter  dem  Hin-  und  Herziehen  anderer  Kriegs¬ 
scharen  hatte  es  schwer  gelitten.  Darum  vermochte 
es  sich  später  nur  langsam  zu  erholen,  obwohl  die 
Fürsten  mit  thätiger  Fürsorge  halfen  und  Erleich¬ 
terungen  aller  Art  gewährten.  ^) 

Am  meisten  aber  haben  sich  die  Piasten  in  jener 
Zeit  darum  verdient  gemacht,  dass  sie  gegenüber 
den  Bestrebungen  der  Gegenreformation  die  Reli¬ 
gionsfreiheit  beschützten.  Die  Lichtensteiner  hat 
Brieg  nicht  kennen  gelernt;  und  der  evangelische 


1)  Grünhagen,  Urkunden  Briegs,  S.  280 tf. 


1)  Schönwälder,  Piasten  III,  150. 


IS4 


BRIEG. 


Haus  Eckersberg  in  Brieg. 

Teil  der  Bevölkerung  muss  dem  Herzoge  Johann 
Cliristian  dafür  noch  heute  dankbar  sein.  Dieser 
Schutz  schwand  freilich  dahin,  als  ein  Vierteljahr¬ 
hundert  nach  dem  Kriege  der  Piastenstamm  mit 
Georg  Wilhelm  erlosch  (1675). 

Nunmelir  nahm  der  Kaiser  das  Land  in  Besitz. 
Er  änderte  zwar  an  der  Verwaltung  des  Fürsten¬ 
tums  nichts,  aber  er  suchte  die  Bevölkerung  wieder 
der  katholischen  Kirche  zuzuführen.  Es  bedurfte 
des  energischen  Einschreitens  Karl’s  XII.  von  Schwe¬ 
den,  um  die  56  allmählich  eingezogenen  Kirchen 
den  Evangelischen  wieder  zu  verschaffen.  1681 


I 


;1 

4 


J 


Wohnhaus  am  Ringe  in  Brieg. 


Zeitschrift  fiir  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  8. 


24 


186 


BRIEG. 


kamen  die  Jesuiten  nach  Brieg.  Sie  entfalteten  nach 
und  nach  eine  reiche  Thätigkeit  und  erbauten  1735 
bis  1745  ganz  in  der  Nähe  des  Schlosses  nach  den 
Zeichnungen  des  Paters  Frisch  die  katholische  Pfarr¬ 
kirche  ad  exaltationem  crucis.  Die  Kirche  ist  mit 
ihren  stattlichen  und  maßvollen  Formen  eine  Zierde 
der  Stadt.  Die  großen  und  hellen  Raumverhältnisse 
des  Inneren  in  Verbindung  mit  reichen  Verzierun¬ 
gen  und  vpirksamen,  vom  Pater  Kube  ausgeführ¬ 
ten  Malereien  an  den  Decken  und  über  dem  Hoch¬ 
altar  verfehlen  nicht  den  Zweck,  auf  Auge  und 
Gemüt  zu  wii'ken.  Die  Spitzen  der  Türme  sind  1856 
aufgeführt. 

Mit  der  preußischen  Besitznahme  begann  für 
Brieg  wiederum  ein  neues  Leben;  denn  nunmehr 
wurde  es  dem  lebendigen  Organismus  eines  großen 
Staats  Wesens  eingefügt,  dessen  kräftigen  Pulsschlag 
es  bald  wohlthätig  empfand.  Diese  Verschmelzung 
war  seitens  der  Fürsten  mit  Rücksicht  auf  die  natür¬ 
lichen  und  kirchlichen  Verhältnisse  des  Landes  schon 
lange  vorbereitet  worden.  Bereits  im  Jahre  1417 
begannen  die  Beziehungen  zwischen  den  Piasten 
und  Hohenzollern;  denn  als  Friedrich  von  Hohen- 
zollern  in  Kostnitz  mit  Brandenburg  belehnt  wurde, 
war  Ludwig  11.  von  Liegnitz-Brieg  (1399 — 1436)  zu¬ 
gegen,  und  der  Kaiser  vermittelte  die  Verlobung 
desselben  mit  der  Prinzessin  Elisabeth,  der  ältesten 
Tochter  des  Hohenzollern. 2)  Seitdem  wurde  die  ein¬ 
mal  angeknüpfte  Verbindung  im  Laufe  der  Jahr¬ 
hunderte  immer  wieder  erneuert,  und  wie  innig 
schließlich  die-Bande  zwischen  den  beiden  Herrscher¬ 
familien  wurden,  dafür  sind  die  Denkmäler  Briegs 
Zeugen.  Denn  Statuen,  Stammbäume  und  besonders 
die  wiederholt  an  den  Portalen  der  Gebäude  ver¬ 
einten  Wa])pen  von  Brandenburg  und  Brieg  deuten 
auf  die  Freundschaft  der  Herrscher  und  auf  die  be¬ 
absichtigte  einstige  Verschmelzung  ihrer  Länder. 
Schon  1537  hatte  der  Piast  Friedrich  H.  die  Erb- 

1)  Derselbe  war  aucli  beteiligt  an  den  Fresken  im  Mnsik- 
Hiuil  und  in  der  Aula  der  Dreslauer  Universität. 

2)  Scliönwillder,  Piasten  1,  233. 


Verbrüderung  mit  Brandenburg  geschlossen.  1675 
erlosch  das  Geschlecht.  Aber  erst  der  Hohenzoller 
Friedrich  11.  vermochte  die  Erfüllung  jenes  Vertrages 
mit  Gewalt  zu  erzwingen.  Freilich  musste  er,  der 
größte  seines  Stammes,  dabei  auch  die  besten  Werke 
des  größten  Piasten  vernichten.  Die  Statuen  beider 
Männer  stehen  heute  nicht  weit  von  einander,  die 
eine  am  Portal  des  Schlosses  in  Stein,  die  andere 
vor  der  Halle  des  Rathauses  in  Erz.  Nicht  vom 
Alter  gebeugt,  wie  die  meisten  Bildnisse  König 
Friedrich  darstellen,  sondern  in  feurigem  Jugendmut 
weist  er,  den  Degen  in  der  Rechten,  mit  der  Linken 
gebieterisch  nach  den  nicht  fernen  Feldern  von  Moll¬ 
witz,  wo  seine  Waffen  den  ersten  Schlag  zur  Ge¬ 
winnung  von  Schlesien  führten.  Dies  Denkmal  hat 
Brieg  dem  Andenken  des  Königs  in  voller  Erkennt¬ 
nis  seiner  besonderen  Verdienste  um  das  Wieder¬ 
aufblühen  der  Stadt  geweiht;  denn  abgesehen  von 
allem  anderen  wurde  erst  durch  seine  wiederholten 
reichen  Geldgeschenke  die  Errichtung  zahlreicher 
neuer,  massiver  Gebäude  möglich,  so  dass  die  Stadt 
ein  ganz  anderes  Aussehen  gewann.  Zu  den  schön¬ 
sten  Bauten  jener  Zeit  zählt  das  ehemalige  Kom¬ 
mandantenhaus  (die  jetzige  Mohrenapotheke)  mit 
seinem  von  Säulen  getragenen  und  von  einem 
schönen  Eisengitter  umschlossenen  Balkon  (s.  unsere 
Abb.).  In  diesem  Hause  pflegte  Friedrich  während 
seines  Aufenthalts  in  Brieg  zu  wohnen. 

Auch  die  Festungswerke  hat  Friedrich  sehr  ver¬ 
stärkt.  Aber  schon  1807  wurden  dieselben  auf  Be¬ 
fehl  Napoleon’s  geschleift.  Die  Schönheit  Briegs 
hat  darunter  sicherlich  nicht  gelitten,  denn  statt  der 
Werke  umziehen  die  Stadt  jetzt  viel  bewunderte 
Promenaden.  Auch  die  Vorstädte,  welche  bei  den 
Belagerungen  wiederholt  vernichtet  worden  waren, 
haben  sich  seitdem  mit  schönen  Villen  und  man¬ 
chem  Prachtbau  geschmückt,  und  in  neuester  Zeit 
beginnt  sich  auch  Brieg  an  dem  Wiederaufleben  der 
deutschen  Renaissance  zu  beteiligen,  wie  das  neue 
Postgebäude  und  das  noch  im  Bau  begriffene  Haus 
neben  demselben  beweisen. 


DER  MEISTER  DES  TODES  MARIAE,  SEIN  NAME  UND 

SEINE  HERKUNFT. 

VON  EDUARD  FIRMENICH- RICHARTZ. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


AS  Vorrecht,  eineu  der  inter¬ 
essantesten  Meister  der  vlä- 
mischen  Malerschule  des  16. 
Jahrhunderts  in  einer  Mono¬ 
graphie  eingehender  behan¬ 
deln  zu  dürfen,  ist  von  der 
Lösung  eines  Rätsels  abhän¬ 
gig,  das  uns  der  Meister  des 
Todes  Mariä  im  Ermitteln  seiner  Persönlichkeit  auf- 
giebt. 

Erst  dem  glücklichen  Entdecker  seines  Namens 
und  seiner  Herkunft  kann  es  gelingen,  uns  ein  un¬ 
trügliches  und  anschauliches  Bild  der  Kunst  des 
Meisters  darzubieten.  Seit  zwei  Jahrzehnten  ist  denn 
auch  die  allgemeine  Spannung  auf  diese  für  die 
deutsche  und  niederländische  Kunstgeschichte  epoche¬ 
machende  Entdeckung  intensiv  gerichtet,  ihr  stetes 
Ausbleiben  glaubte  man  unwillig  dem  „traurigen  Zu¬ 
stande  der  Urkundenforschung  in  Köln“  zur  Last 
legen  zu  müssen. 

Ein  solch’  glücklicher  Fund  im  Kölner  Stadt¬ 
archiv,  welcher  die  rheinische  Malerschule  mit  einem 
neuen  strahlenden  Namen  beschenken  soll,  erscheint 
mir  nun  aber  so  gut  wie  ausgeschlossen,  jedenfalls 
sehr  unwahrscheinlich.  Unter  den  wenigen  Gemälden 
des  Meisters  vom  Tode  Mariä,  welche  nachweislich 
in  Köln  entstanden  sind,  befindet  sich  nicht  ein  ein¬ 
ziges,  das  der  Rat  der  Stadt  oder  eine  dortige  Bru¬ 
derschaft  dem  Künstler  aufgetragen  hätte,  alle  ver¬ 
danken  Familienstiftungen  ihre  Entstehung.  Der 
Maler  hat  demnach  auch  niemals  einen  Vertrag  mit 
der  Stadt  abgeschlossen,  in  den  Ratsprotokollen  wird 


sein  Name  fehlen ,  in  den  Rechnuugsbüchern  der 
Rentkammern  sich  kein  Posten  über  Zahlungen  an 
ihn  vorfinden. 

Wäre  also  der  Meister  des  Todes  Mariä  auch 
wirklich  in  Köln  heimisch  und  ein  Mitglied  der 
dortigen  Malergilde  gewesen,  so  fehlte  doch  stets 
der  Zusammenhang  zwischen  dem  Bürger  und  dem 
Künstler,  so  lange  wir  keine  bestimmte  Nachricht 
von  seinen  Arbeiten  besitzen.  Gerade  die  Kunst  des 
Meisters  vom  Tode  Mariä  belehrt  uns  jedoch  im 
Gegenteil,  dass  sein  Aufenthalt  und  seine  Thätigkeit 
in  Köhl  nur  vorübergehend  und  zufällig  waren,  dass 
wir  sein  Domizil  in  Flandern  zu  suchen  haben  und 
er  jenen  niederländischen  Wandermalern  beizuzählen 
ist,  deren  Schöpfungen  fast  in  ganz  Europa  zerstreut 
sind.  Seinen  Namen  der  Nachwelt  zu  überliefern, 
dürften  die  Kölner  Behörden  nicht  die  mindeste  Ver¬ 
anlassung  gefunden  haben.  Als  Mitglied  der  Ant- 
werpener  Malergilde  wird  der  Meister  des  Todes 
Mariä  auf  die  Erlangung  des  Bürgerrechtes  in  Köln 
verzichtet  haben  und  war  somit  von  allen  Ämtern 
ausgeschlossen.  Ebenso  wird  derselbe  schwerlich  in 
Köln  Grundbesitz  erworben  oder  einer  Bruderschaft 
angehört  haben,  und  zuletzt  wollen  wir  zu  seiner 
Ehre  auch  noch  hoffen,  dass  sein  Name  in  den  Thurn- 
büchern  und  den  Protokollen  des  Amtsgerichtes  un¬ 
auffindbar  ist. 

Auch  von  anderen  auswärtigen  Malern  des  16. 
Jahrhunderts,  deren  vorübergehende  Thätigkeit  in 
Köln  verbürgt  ist,  war  bisher  keine  urkundliche  Er¬ 
wähnung  beizubringen,  und  so  lange  die  Pierre  de 
Mares,  Hans  von  Melem,  Scorel,  Heemskerck  u.  a.  in 

24* 


188 


DER  MEISTER  DES  TODES  MARIAE,  SEIN  NAME  UND  SEINE  HERKUNFT. 


den  Stadtbücliern  fehlen,  werden  wir  auch  nach  dem 
Namen  des  Meisters  vom  Tode  Mariä  die  verstaub¬ 
ten  Schriftstücke  umsonst  durchstöbern. 

Halten  wir  uns  also  lieber  an  seine  Werke,  um 
den  Schlüssel  zu  seinem  Geheimnis  zu  finden!  Wir 
dürfen  die  Überzeugung  hegen,  dass  ein  Meister, 
von  dessen  reger  Thätigkeit  und  bedeutendem  Ein¬ 
fluss  Kirchen  und  Sammlungen  nördlich  und  süd¬ 
lich  der  Alpen  vollwiegendes  Zeugnis  ablegen,  auch 
in  den  Kunstannalen  seiner  Zeit  nicht  ganz  mit  Still¬ 
schweigen  übergangen  wurde. 

Wir  unternehmen  es  im  folgenden,  die  zahl¬ 
reichen  äußeren  und  inneren  Beweisgründe  zu  ent¬ 
wickeln,  welche  uns  veranlassen,  den  Meister  des 
Todes  Mariä  in  einem  vlämischen  Maler  zu  suchen, 
der  den  Liggeren  der  Antwerpener  Malergilde,  dem 
Schilderboek  van  Mander’s  und  ebenso  auch  den  ita¬ 
lienischen  Kunstschriftstellern  Guicciardini  und  Va- 
sari  wohlbekannt  ist.  Sein  Name  ist  Joost  van  Cleve; 
die  Nachrichten  von  ihm  und  einem  gleichnamigen 
späteren  Maler,  die  uns  Karel  van  Mander  i)  über- 
liefeide,  sind  überaus  spärlich  und  verworren. 

Der  Bericht  des  holländischen  Künstlerbiogra¬ 
phen  ])eginnt  mit  der  Bemerkung,  dass  er  nicht 
wisse,  ob  jener  Joost  van  Cleve,  der  1511  in  die 
Malergilde  aufgenommen  wurde,  ein  Vorfahr  des 
Malers  Joost  van  Cleef  mit  dem  Beinamen  „de  Zotte“ 
gewesen  ist.  Als  den  Vater  dieses  Narren  Cleef  be¬ 
zeichnet  er  den  Maler  Willem,  der  1518  der  Gilde 
beitrat;  dessen  beide  Söhne  hießen  jedoch  Marten 
und  Hendrik.  Von  dem  närrischen  Cleef  erzählt  van 
Mander  ferner,  dass  er  zur  Zeit  der  Vermählung 
Pliilipp’s  II.  von  Spanien  mit  Maria  Tudor,  also  im 
Jahre  1554,  nach  England  gereist  sei  in  der  Hoff¬ 
nung,  dort  durch  Befürwortung  des  Hofmalers  Antonis 
Moor  seine  Gemälde  zu  verkaufen.  Damals  sei  aber 
eine  Sendung  köstlicher  Bilder  Tizian’s  und  anderer 
italieni.scher  Meister  in  London  eingetroffen  und  diese 
Kunstschöpfungen  wären  den  Arbeiten  des  Cleef  all¬ 
gemein  vorgezogen  worden.  Missachtung  und  ge¬ 
kränkte  Künstlereitelkeit  hätten  die  Verrücktheit  des 
Malers  zu  Raserei  und  Tobsucht  gesteigert,  in  der 
Pflege  seiner  Freunde  sei  er  dem  Wahnsinn  er¬ 
legen.  Im  Anhang  fügt  van  Mander  noch  hinzu, 
dass  Joost  van  Cleef  mit  Marten  und  Hendrik  ver¬ 
wandt  gevvesen  sei.  Er  konstatirt,  dass  es  zwei  be- 
rOlimte  Maler  des  Namens  Joost  van  Cleef  gegeben 
habe,  was  auch  Domenicus  Larapsonius in  seinen 

1;  Vergl.  II.  Ilymans,  Le  livre  des  peintres  de  Carel 
van  Mander  (PXJ4).  Paris  1884.  I,  S.  24311'. 

2)  Domenicus  Lampsonius  (1552 — 1509)  bezeichnet  in 


Distichen  zu  des  Malers  Porträtstich  von  Hierony¬ 
mus  Wierix  bekräftigt. 

Unter  den  Gemälden  des  Joost  van  Cleef  nennt 
er  dann  ein  Madonnenbild,  dessen  landschaftlicher 
Hintergrund  von  Joachim  Patinir  herrühren  soll,  der 
1524  bereits  verstorben  war,  während  der  Narr  Cleef 
seinen  Angaben  zufolge  erst  nach  1518  geboren 
sein  kann. 

Will  man  nun  im  Gegensatz  zu  Lampsonius  und 
van  Mander  nur  einen  einzigen  Maler  Joost  van  Cleef 
annehmen,  der  1511  in  die  Antwerpener  Gilde  ein¬ 
trat  und  1540  dort  starb,  so  muss  man  mit  H.  Hy- 
mans  für  die  englische  Reise  des  Künstlers  einen 
weit  früheren  Termin,  etwa  um  1536,  ansetzen,  in 
welchem  Jahre  der  Name  des  Joost  van  Cleef  zum 
letztenmal  in  den  Liggeren  erscheint.  Hiermit  würde 
man  dann  ohne  jeden  triftigen  Grund  die  ganze  Er¬ 
zählung  van  Mander’s  verwerfen,  da  das  Schilder¬ 
boek  ausdrücklich  berichtet,  dass  der  närrische  Cleef 
von  der  Gunst  und  Empfehlung  des  Antonis  Moor 
sein  Glück  erwartete.  Dieser  kam  aber  erst  1547 
in  die  Antwerpener  Gilde  und  war  als  Hofmaler 
Philipp’s  11.  thatsächlich  1553/54  in  London  anwesend. 

Auch  erzählt  van  Mander,  dass  die  Schöpfungen 
Tizian’s  die  Arbeiten  des  Cleef  in  London  in  den 
Hintergrund  drängten.  Gemälde  des  großen  Vene¬ 
zianers,  dessen  europäischer  Ruhm  etwa  seit  der 
Zeit  des  Augsburger  Reichstages  datirt,  dürften  sicher¬ 
lich  nicht  vor  dem  Todesjahr  des  älteren  Joost  van 
Cleef  nach  England  gelangt  sein.  Gerade  von  dem 
Selbstporträt  des  närrischen  Cleef  beim  Earl  Spen¬ 
cer,  das  dem  Stich  des  Wierix  zur  Vorlage  diente, 
rühmte  nun  Waagen  den  warmen,  den  Venezianern 
nahekommenden  Ton  der  Färbung. 

Auch  kann  es  doch  weit  weniger  auffallen,  wenn 
der  Name  des  Narren  in  den  Liggeren  fehlt,  als  es 
unwahrscheinlich  sein  würde,  dass  ein  Künstler,  dessen 
überreizte  Heftigkeit  und  maßloser  Hochmut  zur 
Geisteskrankheit  ausartete,  dreimal  zum  Dekan  ge¬ 
wählt  wurde  und  zwischen  1516 — 1536  eine  ganze 
Anzahl  Schüler  heranbildete. 

Einige  treffliche  Bildnisse,  welche  auf  Grund 
der  Vergleichung  mit  seinen  wohlbezeugten  Selbst¬ 
porträts  und  dem  Bilde  seiner  Gattin  (in  Windsor 


seinen  Versen  (1572)  allerdings  den  zweiten  namhaften  Maler 
Joost  van  Cleef  als  den  Sohn  des  Narren.  In  diesem  Falle 
müsste  aber  der  jüngei'e  Künstler  ein  Zeitgenosse  des  Dichters 
gewesen  sein,  was  dem  Sinn  der  Distiche  widerspricht;  über¬ 
dies  hieli  des  Narren  Sohn  Cornelius. 

1)  Waagen,  Treasures  of  art  II,  p.  433;  III,  p.  32,  41, 
42,  475. 


DER  MEISTER  DES  TODES  MARIAE,  SEIN  NAME  UND  SEINE  HERKUNFT. 


189 


Castle  und  beim  Earl  Spencer)  dem  närrischen  Cleef 
zugewiesen  werden,  stehen  nach  dem  übereinstim¬ 
menden  Votum  der  Kenner  in  Haltung  und  Form 
etwa  in  der  Mitte  zwischen  Holbein  und  Moro  und 
werden  also  nicht  vor  1536  entstanden  sein.  In  dem 


ist  uns  vielleicht  jenes  Porträt  erhalten,  das  ehemals 
unter  der  Benennung  Joost  van  Cleef  in  Rubens’ 
Besitz  war.  Es  trägt  auf  der  Rückseite  die  Be¬ 
zeichnung  W’E'P’L'C'  52.  Die  Schrift  stammt  aus 
dem  16.  Jahrhundert  und  so  dürfte  die  Vermutung 


Salvator,  Kopie  nach  Q.  Massys.  (Louvre  zu  Paris.) 


überaus  anziehenden  Bildnis  eines  Jünglings,  welches 
aus  Bienheim  in  das  Berliner  Museum  gelangte, 

1)  Berliner  Museum  Nr.  633  A.  Papier  auf  Eichenholz. 
Aus  Rubens’  Nachlass  Nr.  225,  der  das  Bild  eigenhändig 
kopirte  (Münchener  Pinakothek,  Nr.  786).  Vergl.  W.  Bode 
in  Thode’s  Kunstfreund  1885,  Nr.  17. 


nicht  ganz  ausgeschlossen  sein,  dass  die  Zahl  52  das 
Datum  der  Entstehung  anzeigt.  Die  weiche  Model- 
lirung  des  Fleisches,  die  Zeichnung  und  vor  allem 
der  Farbengeschmack  weisen  auf  eine  Beeinflussung 
des  Malers  durch  die  Werke  der  großen  Meister 
des  Cinquecento  deutlich  hin. 


190 


DER  MEISTER  DES  TODES  MARIAE,  SEIN  NAME  UND  SEINE  HERKUNFT. 


Vielleicht  können  wir  annehmen,  dass  Joost  van 
Cleef  de  Zotte  der  Sohn  jenes  Antwerpener  Malers 
ist,  den  wir  mit  dem  Meister  des  Todes  Mariä  identi- 
fiziren.  Sein  Familienname  war  nach  F.  J.  van  den 
Branden’s ')  Ermittelungen  wahrscheinlich  van  der 
Bcke.  Joost  der  ältere  ist  der  erste  Maler  „van  Cleef“ 
in  Antwerpen  und  war  offenbar  aus  seiner  Heimat¬ 
stadt  Cleve  dorthin  ausgewandert.  Im  Jahre  1511 
trat  er  in  die  Gilde  ein.  Der  betreffende  Passus  der 
Liggeren^)  lautet:  „Joos  van  Cleeve,  scildere  woo- 
nende  by  de  capelle  van  Gratien  betaelt  voor  syn 
incomst  j  X  sc.  Brab. 

1516,  1523,  1535  und  1536  werden  junge  Maler, 
die  Joost  van  Cleve  ausbildete,  zu  Freimeistern  er¬ 
nannt.  ln  den  Jahren  1519,  1520  und  1525  beklei¬ 
dete  der  Künstler  das  x4mt  eines  Dekans  der  Gilde. 
Joost  war  zweimal  verheiratet,  seine  zweite  Ver¬ 
mählung  fand  1528  statt.  1540  machte  er  sein  Testa¬ 
ment,  wobei  Peter  Coeck  als  Zeuge  fungirte.  Er 
starb  10.  November  1540  in  Antwerpen. 

Das  Schilderboek  erzählt  von  ihm,  dass  er  Ma¬ 
donnen  von  Engeln  umgeben  gemalt  habe,  und  ein 
solches  Bild  mag  es  auch  gewesen  sein,  das  van 
Mander  unter  der  Bezeichnung  Joost  van  Cleef  bei 
Melchior  Wijntgis  in  Middelburg  antraf;  den  Hinter¬ 
grund  bildete  hier  eine  Landschaft,  die  er  für  ein 
Werk  des  Joachim  Patinir  ansah. 

Auch  Guicciardini  3),  dessen  „descrittione“  Va- 
sari  in  seinem  Abschnitt  über  die  berühmtesten 
vlämischen  Meister  benutzte,  kennt  einen  Antwerpe¬ 
ner  Künstler  Gios  de  Cleves,  den  er  als  einen  aus¬ 
gezeichneten  Bildnismaler  und  vorzüglichen  Kolo¬ 
risten  preist.  Auf  ihn  soll  die  Wahl  Franz’  I.  von 
fVankreich  gefallen  sein,  als  er  einen  Hofmaler  suchte, 
und  Guicciardiiii  berichtet,  dass  Joost  van  Cleve  den 
König,  seine  Gemahlin,  auch  viele  Herren  und  Damen 
des  Hofes  zur  allgemeinen  Befriedigung  porträtirt 
habe. 

1)  Vergl.  F.  .1.  van  den  lü'andcn,  Geschiedenis  der  Ant- 
wer])Hclie  .Scliilderschool.  Antwerpen  1883.  S.  204  tf. 

2)  Vergl.  I’Ij.  Roinbouts  en  Tli.  van  Lerius,  De  Liggeren 
en  andere  Historische  Archieven  der  Antwerpsche  Sint  Lucas- 
gilde.  .\ntwerpen  en  s’Gravenhage  1804  f.  I,  S.  75  ff. 

3)  Lodovico  Guicciardini:  Descrittione  di  tiitti  i  paesi 
bassi  altriiuenti  detti  Germania  inferiore  Anversa  1507:  .  .  .  . 
„Gios  di  Cleves  cittadino  d’ Anversa  rarissimo  nel  colorire, 
et  tanto  eccellente  nel  ritrarre  dal  naturale,  che  hävendo 
il  Ile  Francesco  primo  inandati  qua  huomini  a  posta,  per 
condurre  alla  Corte  qualche  maestro  egi'egio,  costui  fu  l’eletto 
et  condotto  in  Francia  ritrasse  il  Ke  et  la  regina  et  altri 
I’rincipi  con  sonima  laude  et  premi  grandissimi  .  .  .  .“  Vergl. 
auch  Vasari,  11.  Ausg.  „di  diversi  artifici  fiammenghi.“  Mi- 
lanesi  VII,  8.  583- 


Aus  dem  Schilderboek  wissen  wir  nun,  dass 
Franz  1.  an  Jan  van  Scorel  nach  seiner  Rückkehr 
aus  Italien,  also  nach  1525,  mit  Anerbietungen  heran¬ 
trat,  der  berühmte  Utrechter  Meister  jedoch  das  Amt 
eines  Hofmalers  ablehnte.  Hierauf  wird  man  sich 
dann  wohl  an  Joost  van  Cleve  gewandt  haben,  doch 
der  urkundliche  Nachweis  seiner  Thätigkeit  in  Frank¬ 
reich  fehlt  uns.i) 

Betrachten  wir  nun  die  Gemälde  des  Meisters 
vom  Tode  Mariä,  die  uns  in  reichlicher  Anzahl  er¬ 
halten  sind.  Sie  könn'en  die  sicherste  Auskunft  über 
die  künstlerische  Herkunft  des  Malers  und  seine 
geistigen  Errungenschaften  bieten,  auch  mangelt  es 
da  nicht  an  äußeren  Kennzeichen,  Signaturen,  Wap¬ 
pen,  Aufschriften,  welche  mit  großer  Zuverlässigkeit 
auf  ihren  Meister  zurückdeuten  und  dessen  Identität 
mit  dem  älteren  Joost  van  Cleve  überzeugend  dar- 
thun. 

Bereits  Hotho^)  erkannte  eine  weitgehende  Ver¬ 
wandtschaft  der  Werke  des  Meisters  vom  Tode  Mariä 
mit  den  Gemälden  des  Hochaltares  in  der  Pfarr¬ 
kirche  zu  Calcar,  welche  Jan  Joest  von  Haarlem 
im  Jahre  1508  vollendete.  Die  Ähnlichkeit  zeigt  sich 
besonders  in  den  Typen,  der  Durchsichtigkeit  und 
dem  Schmelz  der  Karnation,  erstreckt  sich  aber  auch 
auf  bestimmte  Physiognomieen ,  Bewegungen  und 
sonstige  Motive.  Diese  Übereinstimmung  erschien 
dann  Eisenmann  so  frappant,  dass  er  den  Meister 
des  Todes  Mariä  direkt  mit  Jan  Joest  identifizirte, 
eine  Annahme,  deren  Unhaltbarkeit  durch  die  Auf¬ 
findung  des  Todesjahres  des  Jan  Joest  (1519)  hin¬ 
reichend  erwiesen  worden  ist. 

Sein  Schüler  war  es,  in  dem  die  Typen  und 
Gestalten  des  Jan  Joest  verjüngt  fortlebten.  Zur 
Zeit  der  Entstehung  des  Calcarer  Altarwerkes  weilte 
Joost  van  Cleve  noch  in  der  Heimat.  Die  umfassende 
Kunstschöpfung  in  dem  Nachbarort  musste  auf  seine 
jugendliche  Phantasie  den  nachhaltigsten  Eindruck 
ausüben,  wahrscheinlich  nahm  Jan  Joest  ihn  auch 
zum  Lehrknaben  an  und  während  die  noch  unge¬ 
lenke  Hand  die  Vorlagen  des  Meisters  nachbildete, 
jträgten  sich  diese  Formen,  Motive  und  Typen  un¬ 
vergänglich  seinem  Geiste  ein. 

Den  jugendlichen  Meister  des  Todes  Mariä  finden 
wir  zunächst  in  der  Kunstmetropole  an  der  Schelde 

1)  Sandrart  und  Descamps  lassen  „Joost  van  Cleef“  auch 
nach  Spanien  reisen. 

2)  Vergl.  Hotho,  Geschichte  der  deutsch,  und  niederl. 
Malerei,  1813.  II,  S.  188. 

3)  Vergl.  Eisenmann  in  der  Augsburger  Allg.  Z.  28.  Okt. 
1874.  —  Kunstchronik  X  (1874),  S.  74. 

4)  A.  V.  Willigen,  Des  artistes  de  Haarlem ,  1870,  p.  54, 


191 


DER  MEISTER  DES  TODES  MARIAE,  SEIN  NAME  UND  SEINE  HERKUNFT. 


unter  dem  Einfluss  des  Quinten  Massys  wieder. 
Eine  seiner  frühesten  dortigen  Arbeiten  ist  eine  Kopie 
des  Salvatorbildes  von  Quinten  Massys,  das  etwa 
um  1510  aus  dessen  Atelier  bervorging.  Die  er¬ 
habenen,  ernsten  Züge  seines  Vorbildes  bat  der  Meister 
des  Todes  Mariä  bei  seinem  Erlöser  in  das  Zierlich- 
Feine  übertragen.  Eine  gewisse  Unsicherheit  haftet 
noch  an  der  Bildung  dieser  Augenlider,  die  über¬ 
schmale,  segnende  Hand  ist  sogar  recht  unglücklich 
verzeichnet  (Louvre  zu  Paris,  Nr.  679). 

Im  Jahre  1511  trat  Joost  van  Cleve  in  die  Ant- 
werpener  Malergilde  ein.  —  Das  erste  größere  Werk 
des  Meisters  vom  Tode  Mariä,  welches  wir  mit  eini¬ 
ger  Sicherheit  zu  datiren  vermögen,  hat  seinen  Ur¬ 
sprung  ebenfalls  in  den  Niederlanden.  Den  Hoch¬ 
altar  in  der  Reinolduskapelle  der  Danziger  Ober¬ 
pfarrkirche  schmücken  außer  den  Gemälden  unseres 
Meisters  noch  einige  trefiFliche  Holzskulpturen,  die 
sich  als  vlämische  Arbeit  erweisen.  Das  Altarwerk 
entstand  um  1514/15,  wie  aus  einem  Posten  der  Rech¬ 
nungsbücher  hervorgeht.  Am  2.  Nov.  1516  wurde 
dasselbe  feierlich  eingeweiht.  Von  dem  Meister  des 
Todes  Mariä  rühren  die  Flügelbilder  her  mit  Scenen 
aus  dem  Leben  Christi  und  der  Passion.  Seine  Dar¬ 
stellung  des  Abendmahles  versah  der  Maler  mit  der 
perspektivisch  verkürzten  Signatur  welche  sich 
zwanglos  in  van  der  Beke  auflöst. 

Um  1515 — 1516  hielt  sich  der  Meister  des  Todes 
Mariä  in  Köln  auf,  wohin  ihn  die  Familie  Hakeney 
berufen  hatte,  ein  aus  den  Niederlanden  stammen¬ 
des  Patriziergeschlecht,  welches  durch  mehrere  Ge¬ 
nerationen  am  Rhein  zu  großem  Reichtum  und  be¬ 
deutendem  Ansehen  gelangt  war.  Ritter  Nicasius 
Hakeney  (f  1518)  gewann  als  Kaiser  Maximilian’s 
Rat  und  Rechenmeister  vielseitigen  Einfluss  und  er¬ 
scheint  auch  als  „maistre  d’hostel“  am  Hofe  der  Statt¬ 
halterin  Margaretha  von  Österreich  in  Mecheln.  Für 
die  Hauskapelle  seines  Rittersitzes  am  Neumarkt  zu 
Köln  führte  der  Meister  des  Todes  Mariä  ein  Tri- 


1)  Vergl.  L.  Kämmerer  im  Jahrb.  der  kgl.  Pr.  K.  XI, 

1890,  S.  150 — 160,  wo  auch  getreue  Nachbildungen  der  Signa¬ 
turen.  Das  Zeichen  bei  vlämischen  und  holländischen 

Malern  vielfach  üblich,  muss  hier  ähnlich,  wie  bei  dem 
Monogramme  des  Crispin  van  den  Broeck  u.  a.,  Präposition 
und  Artikel  vertreten. 

2)  Nicasius  Hakeney  1483 — 1518  nachweisbar.  Vergl. 
Zeitschr.  f.  ehr.  K.  VI,  1893,  Nr.  11;  vergl.  Le  Glay,  Corres- 
pondance  de  l’empereur  Maximilien  ler  et  de  Marguerite 
d’Autriche  de  1507  ä  1519.  Paris  1839.  II,  313,  341;  Briefe 
vom  21.  Dez.  1515  u.  18.  Jan.  1516. 


ptychon  aus,  dessen  Hauptdarstellung,  das  Hinscheiden 
der  Gottesmutter,  dem  Anonymus  einen  Namen  ver¬ 
schaffte.  An  einer  Fensterscheibe  im  Gemache  der  hl. 
Jungfrau  brachte  er  wiederum  seine  Signatur,  diesmal 

vollständig  an:  (b  undeutlich)  =  Joost  van  der 

Beke  und  bekannte  sich  in  der  Fremde  durch  das 
Wappen  mit  den  drei  silbernen  Schilden  im  blauen 
Feld ')  gleichzeitig  als  Mitglied  der  Antwerpener 
Malergilde  (Wallraf- Richartz  -  Museum  zu  Köln, 
Nr.  152). 

Im  Jahre  1516  malte  er  zum  zweitenmal  den 
Tod  Mariä  für  die  Familie  Hakeney  (Pinakothek  zu 
München,  Nr.  55  —  57).  Bald  darauf  muss  er  nach 
Antwerpen  zurückgekehrt  sein. 

Im  Jahre  1516  entließ  „Joes  van  Cleve“  seinen 
Lehrling  Claes  van  Brugghe,  1519  und  1520  beklei¬ 
dete  er  die  Würde  eines  Dekans  der  Gilde. 

Seitdem  Joachim  Patinir  im  Jahre  1515  der 
Antwerpener  Malergilde  angehörte,  zeigt  sich  eine 
wesentliche  Veränderung  in  den  Landschaften  des 
Meisters  des  Marientodes.  In  deii  Hintergründen 
seiner  früheren  Bilder  schloss  dieser  sich  noch 
an  das  Beispiel  des  Jan  Joest  und  dessen  hollän¬ 
dische  Landschaftskuuvst  an.  Nun  erweitert  sich  der 
Horizont  in  duftige  blau  grüne  Fernen.  Schroffe  zer¬ 
klüftete  Felspartieen,  deren  zackige  Gipfel  Ruinen 
krönen,  rahmen  die  Scenen  ein;  durch  Felsenthore 
schaut  man  auf  saftiggrüne  Abhänge,  über  die  Höhen 
in  enge  Felsthäler  hinab  mit  phantastischen  Burgen 
und  Städten. 

Wir  erinnern  uns,  dass  Karl  van  Mander  eine 
solche  Landschaft  im  Hintergründe  eines  Madonnen¬ 
bildes  von  Joost  van  Cleve  direkt  als  eine  Arbeit 
des  Joachim  Patinir  bezeichnete,  und  es  wäre  im¬ 
merhin  möglich,  dass  der  berühmte  Landschaftsmaler 
den  Freuud  gelegentlich  mit  seinem  Pinsel  unter¬ 
stützte. 

Von  dem  älteren  Joost  van  Cleef  kannte  van 
Mander  vornehmlich  Madonnen  von  Engeln  umgeben, 
und  einige  Bilder  der  heil.  Familie  von  einem  Kranz 
lieblicher  Engelsköpfe  umrahmt  oder,  wo  Engel  die 
Jungfrau  krönen,  dem  göttlichen  Kinde  Früchte  dar¬ 
bieten,  es  anbeten  und  mit  Musik  erfreuen,  gehören 
zu  den  beliebtesten  Schöpfungen  des  Meisters  vom 
Tode  Mariä,  welche  seine  Schüler  und  Gehilfen  nicht 
müde  werden  zu  wiederholen. 

Guicciardini  lobt  besonders  die  Bildnisse  des 


1)  Seit  1466  das  Abzeichen  der  Antwerpener  Malergilde. 
Vergl.  P.  Warnecke,  Das  Künstlerwappen.  Berlin  1887. 


Bildnis  des  Kardinals  Bernardus  Clesius.  (Galerie  Corsini  zu  Rom.) 


fliircli  eitif;  leljendige,  feine  Charakteri.stik,  die  ihnen 
mituntf-r  die  liezeichnnng  „Holbein“  eintrng. 

Von  datirten  Bildnissen  entstand  in  dieser  Periode 
das  I’orträtpaar  in  der  Malergalerie  der  Uffizien 
Nr.  237  bez.  1520. 

Um  das  Jahr  1523  24  unternahm  der  Meister 
des  Todes  .Mariä  seine  erste  Italienfabrt;  die  dort 
gesammelten  Eindrücke  verwertete  er  sogleich  in 
dem  großartigen  Triptychon,  welches  der  Ratsherr 


in  den  verhärmten  Köpfen  aus.  Die  Farben  sind  ge¬ 
dämpft,  auch  das  Karnat  erscheint  bleich,  graurosig. 
Die  Formen  des  Leichnams  sind  tadellos  gebildet.  In 
dem  edlen  Werke  paart  sich  die  Größe  italienischen 
Stils  mit  germanischem  Empfinden.  Die  ruhige,  reife 
Schönheit  beeinträchtigt  aber  den  innigen  Ausdruck, 
die  Eigenart  der  Formensprache  in  keiner  Weise.  Ein 
Werkwie  dieses  bezeugt,  zu  welcher  Läuterung  den  nor¬ 
dischen  Maler  die  klassische  Kunst  Italiens  leiten  konnte. 


192  DER  MEISTER  DES  TODES  MARIAE,  SEIN  NAME  UND  SEINE  HERKUNFT. 


Joost  van  Cleve  wegen  ihres  vorzüglichen  Kolorits 
und  eben  im  Porträtfach  behauptet  sich  der  Meister 
des  Todes  der  Maria  neben  den  ersten  nordischen 
Malern.  Seine  Bildnisse  sind  überaus  ansprechend 
durch  die  zarte,  flüssige  Behandlung  klarer,  leuch¬ 
tender  Farben,  das  weiche  ro.sige  Inkarnat;  sie  fesseln 


Jobelin  Schmitgen  ihm  bei  seiner  Rückkehr  in  Köln 
auftrug  und  1524  in  St.  Maria  Lyskirchen  stiftete 
(Städel-Institut  zu  Frankfurt,  Nr.  93).  In  geschlos¬ 
sener  Komposition  schildern  großgedachte  Gestalten 
ergreifend  die  Klage  am  Leichnam  des  Herrn.  Der 
Ausdruck  des  Schmerzes  spricht  sich  tief  und  gehalten 


DER  MEISTER  DES  TODES  MARIAE,  SEIN  NAME  UND  SEINE  HERKUNFT. 


193 


Im  Jahre  1525  war  Joost  van  Cleve  zum  dritten¬ 
mal  Regent  der  Antwerpener  Malergilde. 

Aus  dem  Jahre  1525  und  1526  rühren  auch  die 
Porträts  der  Kasseler  Galerie  Nr.  11,  12  her,  von 
denen  sich  namentlich  das  männliche  Bildnis  (bez. 
1526)  durch  eine  breitere,  pastose  Behandlung  vor 
den  übrigen  Werken  des  Meisters  des  Todes  Mariä 
auszeichnet.  Ein  Datum  trägt  auch  das  merkwür¬ 
dige  Jünglingsbildnis  in  der  Sammlung  Dormagen 
zu  Köln,  das  uns  durch  eine  Aufschrift  in  franzö¬ 
sischer  Sprache  besonders  aufföllt.  Über  dem  leb¬ 
haft  zur  Seite  gewandten  Kopfe  stehen  auf  einem 
Zettel  die  Worte:  Lan  mille  cincqcens  |vingthuyt| 
des  ans  eu  soy  vingt  ....  (unleserlich).  Die  beiden 
Wappen,  die  sich  zu  den  Seiten  von  dem  grünen 
Grunde  abheben,  gehören  keinem  niederländischen 
Adelsgeschlechte  an;  da  aber  nun  die  französische 
Sprache  damals  in  den  Niederlanden  nur  in  exklusiven 
H of  kreisen  herrschte,  so  ist  die  Annahme  gerechtfertigt, 
dass  das  Bildnis  einen  Franzosen  darstellt.  —  Wir 
vernahmen  bereits,  dass  Joost  van  Cleve  sich  als 
Hofmaler  Franz’  I.  einige  Zeit  in  Frankreich  auf  hielt. 

Mit  dem  Jahre  1530  pflegte  man  bisher  die 
Thätigkeit  des  Meisters  des  Todes  Mariä  abzuschlie¬ 
ßen;  ein  Bildnis  in  der  Galerie  Corsini  zu  Rom  er¬ 
möglicht  es,  diesen  Termin  etwas  weiter  hinauszu¬ 
rücken.  Das  prächtige  Porträt  eines  Kardinals  VI, 
43  gilt  als  das  Abbild  Albrecht’s  von  Brandenburg, 
mit  welchem  der  Dargestellte  aber  nur  eine  sehr 
oberflächliche  Ähnlichkeit,  das  breite,  bartlose  Prä¬ 
latenantlitz,  gemein  hat.  Das  Wappen  auf  der  Hand¬ 
glocke  und  dem  Siegelring  bestimmen  uns  die  Person 
weit  genauer.  Der  quadrirte  Schild  mit  dem  Adler 
im  ersten  und  vierten  Felde,  zwei  Löwen  im  zweiten 
und  dritten  Felde  stimmt  durchaus  nicht  mit  den 
wohlbekannten  Abzeichen  des  berühmten  Mainzer 
Erzbischofs  überein,  sondern  entspricht  völlig  dem 
Wappen  des  Kardinals  Bernardus  Clesius  ^)  (v.  Cles 
oder  Gloss),  einem  Deutschen,  der  am  13.  März  1530 
in  Bologna  den  Purpur  empflng  und  im  Jahre  1539 

1)  Vergl.  Bonifacius  Gams:  Series  episcoporum ,  S.  265. 

—  Ciaconius:  Vitae  et  res  gestae  Pontificvm  Tom.  III,  516 

—  517.  „Bemardvs  Clesius  natione  Germanus,  ex  Maximi- 
liani  Imp.  Consiliario  in  Triclentinum  Antistitem  fuit  delectus; 
at  mortuo  Maximiliano,  Ferdinande  Austriaco  se  addixit  cui 
Boemiae  &  Hungariae  Regi  supremus  Cancellarius  &  secretus 
Praeses  seruiuit.  Ad  magnos  Principes  ab  eodem  Legatus 
Bononiam  missus  Caroli  V  Coronationi  interfuit  (1530)  &  pur- 
puram  habuit  (13.  März  1530)  cum  titulo  S.  Stephani  in 

Coelio  monte .  Is  postolatus  in  Administra- 

torem  Brixiensis  Episcopatus  anno  1539  cum  illuc  possessionis 
capiendae  causa  venisset  (21.  Jan.)  inter  prandendum  apo- 
plexia  tactus  interijt  28.  Julij,  corpus  funebri  pompa  Triden- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  8. 


kurz  nachdem  ihm  die  Verwaltung  des  Erzbistums 
Brixen  übertragen  worden,  im  Alter  von  54  Jahren 
verstarb.  Sein  Porträt  muss  nach  1530  in  Bologna, 
Trient  oder  Rom  gemalt  sein.  Die  kühlere  plastische 
Modellirung  des  Fleisches  mit  graulichen  Schatten, 
die  härtere  Färbung  entsprechen  dem  späten  Stil  des 
Meisters  vom  Tode  Mariä,  in  welchem  er  sich  dem 
„ersten  Romanisten“  eng  anschließt.  Jan  Gossaert  gen. 
Mabuse  ist  aber  erst  seit  den  dreißiger  Jahren  wie¬ 
der  in  Antwerpen  ansässig,  wo  er  1541  verstarb. 

Die  Arbeiten  des  Meisters  des  Todes  Mariä  in 
dieser  letzten  Manier  stammen,  soweit  ihr  ursprüng¬ 
licher  Bestimmungsort  bekannt  wurde,  meist  aus 
den  Kirchen  Genuas  oder  seiner  Umgebung.  Wir 
nennen  hier  den  großen  Dreikönigenaltar  aus  S.  Luca 
d’Erba  fuori  di  Genova  (Dresdener  Galerie,  Nr.  1963). 
Das  Altarwerk  mit  der  Kreuzabnahme  aus  S.  Maria 
della  Pace  in  Genua  (Louvre,  Nr.  601)  und  das  Tri¬ 
ptychon  mit  der  Anbetung  der  Magier  im  Museo 
nazionale  zu  Neapel,  Nr.  6.  Das  letzte  Werk  iuter- 
essirt  uns  in  diesem  Falle  vornehmlich,  da  es  aufs 
neue  einen  evidenten  Beweis  für  die  Urheberschaft 
des  Joost  van  Cleve  liefert.  Auf  dem  rechten  Flügel¬ 
bilde  findet  sich  nämlich  neben  dem  Mohrenkönig 
Balthasar,  der  in  zierlichen  Schritten  mit  seinem 
Geschenke  herantritt,  ein  großer  Windhund,  an  dessen 
Halsbande  der  Maler  dekorativ  verschiedene  Schild¬ 
chen  anbrachte.  Das  mittlere  enthält  deutlich  das 
Wappen  von  Mark- Cleve.  Die  sorgfältige  Wiedergabe 
komplizirter  heraldischer  Figuren  kann  weder  als 
Zufall  noch  als  sinnloser  Zierat  gelten,  sie  vertreten 
an  dieser  Stelle  die  Namenshezeichnung  des  Meisters 
—  Joost  van  Cleve. 

Zum  Schluss  sei  noch  in  Kürze  der  fünf  Selbst¬ 
porträts  des  Künstlers  gedacht,  welche  vollkommen 
zu  den  Lebensdaten  des  Joost  van  Cleve  stimmen. 

Nach  dem  Gesagten  erscheint  es  überflüssig,  ül)er 
die  Scorel- Hypothese  noch  ein  Wort  zu  verlieren. 
Unsere  rheinischen  Kunstenthusiasten  und  Lokal¬ 
patrioten  aber  werden  tiefbewegt  ein  neues  wich¬ 
tiges  Glied  aus  der  Entwickelungskette  der  kölnischen 
Malerschule  schwinden  sehen.  Nachdem  ihnen  der 
„Meister  Wilhelm“  geraubt  wurde,  Barthel  Bruyn 
sich  als  Niederländer  entpuppte,  müssen  sich  die 
Herren  diesmal  mit  dem  Bewusstsein  trösten ,  dass 
der  Meister  des  Todes  Mariä  doch  immerhin  ein 
geborener  Rheinländer  gewesen  ist,  und  dass  seine 

tum  relatum  ibidem  in  Cathedrali  sepulchrum  habuit  .... 
Vergl.  auch  Aubert:  Histoire  generale  des  Cardinaux  III, 
p.  401.  —  Die  Bestimmung  des  Wappens  verdanke  ich  der 
Güte  des  Herrn  Dr.  J.  Kaufmann  am  Hist.  Institut  zu  Rom. 

25 


194 


GRIECHISCHE  UND  RÖMISCHE  PORTRATS. 


lieblichen  Gestalten  einen  Idealismus  und  eine  Innig¬ 
keit  der  Gefühlsweise  bekunden,  welche  man  bisher 
als  ein  Privilegium  und  Erbteil  der  altkölnischen 
Malerschule  ansah. 


Der  Verfasser  behält  es  sich  vor,  an  anderer 
Stelle  den  Kunstcharakter  und  stilistischen  Entwicke¬ 
lungsgang  des  Joost  van  Cleve  d.  ä.  ausführlicher 
zu  schildern. 


GRIECHISCHE  UND  RÖMISCHE  PORTRÄTS. 

VON  J.  J.  BERNOUILLI. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


NTER  den  archäologischen  Publikationen, 
welche  sich  die  Aufgabe  gestellt  haben, 
einzelne  Klassen  unseres  Denkmälervorrats 
(Sarkophage, Grabreliefs, Ter¬ 
rakotten  etc.)  in  planmäßi¬ 
ger  Weise  zu  sammeln  und 
zur  Anschauung  zu  bringen, 
ist  eine  der  jüngsten,  aber 
wohl  auch  eine  der  inter¬ 
essantesten  die  der  griech¬ 
ischen  und  römischen  Por¬ 
träts  nach  Auswahl  und  An¬ 
ordnung  von  H.  Brunn  und 
P.  Arndt,  herausgegeben  von 
Fr.  Bruckmann.  — ■  Refe¬ 
rent  hat  schon  unmittelbar 
beim  Erscheinen  der  ersten 
Lieferung  Anlass  genommen, 
auf  dieses  großartig  ange¬ 
legte,  viel  versprechende  und 
unter  bewährter  Leitung  ste¬ 
hende  Werk  hinzuweisen 
(s.  Allgeni.  Ztg.,  25.  April 
1S91).  Jetzt,  nachdem  die 
Fuldikation  durch  2 ',2  Jahre 
liindurch  ihren  regelmäßigen 
Fortgang  genommen  liat(nur 
einmal  durch  Krankheit  des 
zweiten  Herausgebers  für 
kurze  Zeit  unterbrochen)  und 
bereits  auf  l(j  Lieferungen 
mit  109  Tafeln  angewachsen 
ist,  dürfte  es  am  Platze  sein, 
einen  vorläufigen  Rückblick 
auf  das  Gebotene  zu  werfen 
und  zu  sehen,  in  Avelchem 
Sinne  das  Unternehmen  geführt  wird  und  was  für 
einen  Ertrag  Kunst-  und  Altertumswissenschaft  davon 
zu  erwarten  haben.  Das  Werk  ist  so  ausnehmend  reich¬ 


haltig  —  es  ist  auf  800  bis  1000  Tafeln  berechnet  — , 
dass,  wenn  man  für  diesen  Rückblick  die  voll¬ 
ständige  Beendigung  abwarten  wollte,  man  kaum 
mehr  auf  den  Inhalt  ein- 
treten  könnte,  ohne  ein 
förmliches  Buch  zu  schrei¬ 
ben.  Und  doch  wird  es 
manchem  Leser  dieser  Zeit¬ 
schrift  erwünscht  sein,  über 
den  Inhalt  etwas  Näheres 
zu  erfahren,  da  ja  gar  viele 
nicht  in  dem  Fall  sein  wer¬ 
den,  das  kostspielige  Werk 
selber  anzuschaffen. 

Für  diejenigen,  denen 
dasselbe  noch  völlig  unbe¬ 
kannt  ist,  mag  vorausge¬ 
schickt  werden,  dass  es  sich 
um  ein  Lichtdruckwerk  nach 
Photographieen  handelt,  in 
welchem  alle  beachtenswer¬ 
ten  griechischen  Bildnisse 
(Statuen,  Hermen  und  Büs¬ 
ten)  und  von  den  römischen 
eine  Auswahl  der  künstle¬ 
risch  vorzüglichsten  und  der 
am  meisten  charakteristi¬ 
schen  aufgenoramen  werden 
sollen,  meist  in  doppelter 
Ansicht,  Face  und  Profil,  und 
(bei  den  Köpfen)  in  einem 
dem  Original  nahekommen¬ 
den  Maßstabe.  Die  Heraus¬ 
gabe  erfolgt  wie  bei  den 
„Denkmälern  der  griechi¬ 
schen  und  römischen  Skul¬ 
ptur“  ohne  Rücksicht  auf  historische  oder  gegenständ¬ 
liche  Zusammengehörigkeit,  indem  eine  systematische 
Anordnung  der  Tafeln  und  deren  definitive  Numerirung 


Seneca.  Aus  dem  Werke:  Griechiscke  und  römische  Porträts. 


GRIECHISCHE  UND  RÖMISCHE  PORTRÄTS. 


195 


erst  für  den  Schluss  des  Wertes  in  Aussicht  genom¬ 
men  ist.  Nur  innerhalb  einer  und  derselben  Lieferung 
werden  öfter  jetzt  schon  gleichartige  oder  in  gegen¬ 
seitiger  Beziehung  zu  einander  stehende  Bildnisse 
gegeben.  Diese  Zufälligkeit  der  einstweiligen  Reihen¬ 
folge  und  das  hei  allem  Umfange  Bruchstückartige 
des  bis  dahin  Erschienenen  legen  es  auch  dem  Be¬ 
richterstatter  nahe,  zunächst  einfach  Lieferung  für 
Lieferung  mit  einigen  Worten  dem  Leser  vorzuführen. 

A  Jove  principium,  dachten  ohne  Zweifel  die 
Herausgeber,  indem  sie  die  schöne  Homerbüste  von 
Sanssouci  an  die  Spitze  ihres  Werkes  setzten,  jenes 
erlauchte  Beispiel  von  der  Gestaltungskraft  grie¬ 
chischer  Phantasie,  die  auch  das  Nichtvorhandene 
oder  das  aus  der  Erinnerung  Entschwundene  glaub¬ 
haft  darzustellen  wusste.  Man  möchte  beim  Anblick 
dieses  Kopfes  fast  wünschen,  die  großen  Künstler 
hätten  manchmal,  auch  bei  den  Geistesheroen  der 
späteren  Zeit,  die  individuellen  Züge  derselben  preis¬ 
gegeben  und  ihre  Physiognomie  wie  die  der 
Götter  aus  der  Idee,  d.  h.  nach  ihrem  geistigen 
Charakter  neu  geschaffen.  —  In  der  That  empfindet 
man  es  gleich  bei  dem  zweitnächsten  Bildnis,  der 
Berliner  Platoherme,  dass  hier  kein  schöpferischer 
Menschenbildner,  wie  dort,  sondern  nur  ein  Nach¬ 
bildner  menschlicher  Gesichtsformen  den  Meißel  ge¬ 
führt  hat.  Aber  freilich  müssen  wir  zufrieden  sein, 
auch  nur  diese  endlich  zu  kennen,  nachdem  wir  so 
lange  mit  den  Platobildnissen  im  Dunkeln  getappt. 

Die  2.  Lieferung  giebt  uns  von  berühmten  Grie¬ 
chen  eine  Berliner  Replik  des  aus  der  Neapeler 
Doppelherme  bekannten  Herodot  mit  der  hohen 
Stirn  und  dem  darüber  wie  gescheitelt  auseinander¬ 
gehenden  Haar,  und  dann  eine,  von  Wolters  auf 
Hermarch  bezogene  Berliner  Büste,  in  welcher  aber 
meiner  Ansicht  nach  nicht  sowohl  jener  Schüler  des 
Epikur,  als  vielmehr  der  treue  Begleiter  desselben, 
Metrodor  zu  erkennen  ist,  mit  dessen  inschriftlich  be¬ 
glaubigtem  kapitolinischen  Bildnis  (Doppelherme)  es 
bis  auf  die  Anlage  der  Haare  und  des  Bartes  stimmt. 
Auch  die  athenische  Büste  (Arch.  Ztg.  1884,  S.  153), 
und  der  kapitolinische  sog.  Epikur  Nr.  62  sind  dar¬ 
nach  umzutaufen.  —  Auf  den  weiteren  Tafeln  ist  ein 
jüngerer  Drusus  der  Sammlung  Jakobsen  und  ein 
aus  Athen  stammender  jugendlicher  Tiberius  in 
Berlin  zusammengestellt,  um  die  trotz  der  Gleich¬ 
zeitigkeit  so  verschiedene  Behandlungs weise  römi¬ 
scher  und  griechischer  Porträtkünstler  zu  veran¬ 
schaulichen.  Auch  in  dieser  späteren  Zeit  zeigt 
die  griechische  Kun.st  noch  ihr  überlegenes  Lebens¬ 
gefühl. 


Die  3.  Lieferung  führt  uns  zunächst  mit  zwei 
Köpfen  in  die  archaische  Zeit  des  Übergangs  vom  6.  bis 
ins  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  zurück,  einmal  mit  einem 
in  Aegina  gefundenen  Statuenkopf  der  Sammlung 
Sabouroff  (Berlin),  und  dann  mit  der  Hermenbüste 
eines  behelmten  Kriegers  in  München.  Jener  mit 
kurzgeschorenem  Haar  und  Bart,  was  der  damaligen 
Sitte  nicht  ganz  entspricht;  denn  die  Athener  der 
Pisistratidenzeit  pflegten  langes  Haar  zn  tragen. 
Dieser  zwar  unbekannten  Fundorts,  aber  mit  den 
Aegineten  fast  noch  näher  verwandt  als  der  vorige; 
seinen  porträthaften  Zügen  nach  vielleicht  ein  Held 
der  Perserkriege.  —  Daneben  drei  unbärtige  Charakter¬ 
köpfe  ersten  Ranges  ans  der  Glyptothek  zu  München, 
die  zu  identificiren  bisher  nicht  gelungen,  die  beiden 
leidenschaftlich  erregten  sogenannten  Sulla  und 
Cicero  und  der  mehr  kontemplative  sog.  Seneca. 
Keiner  dieser  Namen  lässt  sich  mit  Hilfe  äußerer 
Kriterien  aufrecht  erhalten,  und  mit  dem  historischen 
Charakterbild  ihrer  Träger  stehen  sie  zum  Teil 
geradezu  in  Widerspruch;  so  der  plebejische  Typus 
der  ersten  Büste  mit  dem  Aristokraten  Sulla,  oder 
der  energische  Ausdruck  der  zweiten  mit  dem  im 
Grunde  furchtsamen  Cicero.  Wolters  hat  die  erstere 
auf  Antiochos  Soter  deuten  wollen;  aber  die  Münzen, 
auf  die  er  es  gründet,  widerlegen  die  Deutung  eher, 
als  dass  sie  sie  beweisen,  davon  abgesehen,  dass  An¬ 
tiochos  schwerlich  ohne  Diadem  dargestellt  worden 
wäre.  Nur  so  viel  ist  richtig,  dass  man  noch  zwischen 
einem  Griechen  und  Römer  schwanken  kann.  — 
Außerordentlich  interessant  und  wie  gemacht  für 
psychologische  Analyse  ist  die  dritte  Büste,  ein 
greiser  Kahlkopf  von  edler,  schmaler  Bildung  mit 
kleinen,  fast  blinzelnden  Augen.  Seneca  kann  cs 
nach  der  Berliner  Doppelherme  nicht  sein,  doch 
scheint  allerdings  eine  litterarische  Größe  der  ersten 
Kaiserzeit  dargestellt  zu  sein.  Warum  diese  drei 
Köpfe  nach  Gipsabgüssen  aufgenommen  sind,  da 
es  doch  die  Herausgeber  vollkommen  in  ihrer  Macht 
hatten,  die  Originale  zur  Aufnahme  in  das  richtige 
Licht  zu  stellen,  ist  mir  unbekannt. 

Die  4.  Lieferung  enthält  lauter  Bildnisse  be¬ 
rühmter  Griechen,  zwei  angebliche  des  Sophokles, 
zwei  des  Euripides  und  zwei  des  Epikur.  Die  Ikono¬ 
graphie  des  Sophokles  beruht  bekanntlich  auf  einer 
kleinen,  mit  den  Endbuchstaben  seines  Namens  (okles) 
versehenen  Marmorhüste  des  Vatikan,  nach  welcher 
auch  die  lateranische  Statue,  die  uns  dann  in  der 
12.  Lieferung  begegnet,  sowie  zahlreiche  andere 
Köpfe  als  Darstellungen  desselben  erkannt  worden 
sind.  Man  begnügte  sich  aber  bald  nach  Visconti  nicht 


196 


GRIECHISCHE  UND  RÖMISCHE  PORTRÄTS. 


mehr  mit  diesem  einen  Typus,  sondern  glaubte,  noch 
zwei  andere,  wovon  der  hier  publizirte  Berliner 
Kopf  i^Taf.  31,  32)  und  derjenige  der  Sammlung 
.lakobsen  in  Kopenhagen  (Tat.  33,  34)  je  ein  Exem- 
})lar  repräsentiren,  auf  ihn  beziehen  zu  dürfen;  jenen 
als  den  früheren  naturwahren  Typus  im  Gegensatz 
zu  dem  idealisirten  der  lateranischen  Statue,  diesen 
als  Sophokles  in  höherem  Alter.  In  Wahrheit  ist 
die  Deutung  beidemal  sehr  problematisch,  gerade 
die  jetzt  ermöglichte  unmittelbare  Vergleichung  dürfte 
bald  zu  der  allgemeinen  Erkenntnis  führen,  dass  zu¬ 
nächst  wenigstens  der  Berliner  Kopf  mit  seinen 
Repliken  von  den  Sophoklesbildern  auszuscheiden  ist, 
indem  kein  einziger  charakteristischer  Zug  zu  nennen, 
der  ersichtlich  von  ihm  zii  dem  der  lateranischen 
Statue  herübergenommen  wäre.  Und  was  den  Kopen- 
hagener  Kopf  betrilft,  so  muss  die  Publikation  des 
mit  Namensaufschrift  bezeichneten  greisen  Sophokles 
in  den  vatikanischen  Gärten  abgewartet  werden, 
bevor  ein  sicheres  Urteil  über  seine  Bedeutung  mög¬ 
lich  ist.  Durch  den  Vergleich  mit  dem  Kopf  der 
lateranischen  Statue  wird  die  Benennung  keines¬ 
wegs  empfohlen,  wie  Brunn  und  Arndt  meinen. 
Ich  halte  alles,  was  von  erhaltenen  Darstellungen 
des  greisen  Sophokles  gesagt  worden  ist,  einstweilen 
für  sehr  diskutirbar.  Von  Eui'ipides  wird  hier  die 
schöne  Mantuaner  Herme  und  ein  stark  ergänzter 
Berliner  Kopf  gegeben.  Die  inschriftlich  bezeichnete 
Herme  in  Neapel  folgt  erst  in  Lieferung  13.  Welch 
ein  Gegensatz  in  diesem  nachdenklichen,  fast  trüben 
Blick  mit  den  kleinen,  eingesunkenen  Augen  und 
dem  sonnenklaren  Antlitz  des  Sophokles!  —  Epikur 
endlich  tritt  uns  in  zwei  bisher  noch  nicht  publi- 
zirten  Biistfui  entgegen,  einer  halblebensgroßen  Ber¬ 
liner  und  einer  im  Schädelbau  missratenen  der  Samm¬ 
lung  .lakobsen. 

In  der  .ö.  Lieferung  sind  einige  Porträts  von 
Barbaren  zusaminengestellt,  worauf  indes  in  der 
Portsetzung  des  Werkes  ohne  Zweifel  noch  bezeich- 
nenilere  Beispiele  folgen  werden  und  zum  Teil  schon 
gefolgt  sind;  denn  der  Kriegerkopf  von  Catajo  könnte 
der  Ilelniform  nach  wohl  auch  ein  Römer  sein  und 
der  Itzinger'sche  Kn;ibenko])f  in  Berlin  trotz  seiner 
aufgeworfenen  Lijipen  ebenfalls.  Nur  der  vortrefF- 
liehe  Bronzeko])f  von  Kyrene  im  Britischen  Museum 
und  fler  Kopf  mit  dem  langgelockten  Haar  in  Mantua, 
stcdlen  sicher  je  einen  jug<!ndlichen ,  die  Büste  des 
Kajijiadokiers  p]ul)ulu.s  einen  älteren  Barl)aren  dar, 
einen  Afrikaner,  einen  Germanen  und  einen  Asiaten. 
I)ie  Müncliener  Büste  des  A])ollodor  (Baumeisters 
des  Trajan?)  gerade  in  diesen  Zusammenhang  zu 


bringen,  war  meines  Erachtens  kein  Grund  vor¬ 
handen. 

Mehr  stilistisch  als  ikonographisch  interessant 
sind  die  Bildnisse  der  6.  Lieferung,  darunter  eine 
Anzahl  aus  der  beginnenden  byzantinischen  Zeit 
(Anfang  des  4.  Jahrh.),  zu  denen,  wenn  noch  weitere 
derselben  Art  veröffentlicht  sein  werden,  ein  aus- 
fühi'licher  Text  von  Strzygowski  in  Aussicht  gestellt 
wird.  Wir  sind  auf  das  Erscheinen  desselben  um 
so  gesjiannter,  als  wir  einstweilen  nicht  überall  mit  den 
gegebenen  Datirungen  einverstanden  sein  können.  — 
Warum  z.  B.  der  weibliche  Kopf  mit  dem  turban¬ 
artig  ausladenden  Flechtenkranz  (Taf.  56,  Sammlung 
Jakobsen),  dessen  Analoga  man  bisher  der  Traja- 
nischen  Zeit  zuzuschreiben  pflegte,  eher  dem  4.  Jahr¬ 
hundert  angehören  soll,  ist  mir  noch  dunkel.  Wenn 
auch  die  Haartracht  auf  den  Münzen  der  Plotina 
und  derMarciana  gerade  so  nicht  vorkommt,  so  hat 
doch  der  ganze  Charakter  der  künstlichen  Flechten 
und  des  darunter  hervorkommenden  Saumes  natür¬ 
licher  Haare  nirgends  so  genaue  Analogieen,  wie 
dort.  Und  der  Fundort  Konstantinopel  kann  gegen¬ 
über  der  Masse  von  ähnlichen  in  Italien  gefundenen 
Köpfen  nichts  beweisen.  —  Auch  der  bärtige  Dres¬ 
dener  Kopf,  den  man  bisher  wegen  seiner  Kopfzier 
als  König  und  wegen  seiner  gescheitelten  Perücke 
fälschlich  als  Arsaciden  gefasst,  zeigt  in  den  Augen 
ein  Leben  und  eine  Naturwahrheit,  die  aus  dem  4. 
Jahrhundert  kaum  irgendwo  noch  getroffen  werden. 
Sichere  Beispiele  dagegen  für  diese  Zeit  sind  die 
beiden  anderen  weiblichen  Köpfe  der  Sammlung  Ja¬ 
kobsen,  der  eine  (Taf.  57)  mit  Schleier,  der  andere 
(Taf.  58)  mit  haubenartiger  Verhüllung  des  Wirbels, 
letzterer  im  Lokalkatalog  nicht  gerade  ungeschickt 
als  h.  Helena  bezeichnet.  —  Außerdem  verdienen 
noch  Erwähnung  zwei  männliche  Kalksteinköpfe  aus 
Palmyra  (Taf.  59,  60)  von  sehr  eigentümlichem  Stil, 
l)ei  deren  einem  man  des  zierlichen  Diadems  wegen 
an  Odenath,  den  Gemahl  der  Zenobia,  denken  kann. 
—  Die  Kriegerstatuette  von  Dresden  mit  dem  auf¬ 
gesetzten  Kopf  hätte  in  einem  Porträtwerk,  wie  dieses, 
weggelassen  werden  können. 

Fast  ausschließlich  der  Sammlung  Jakobsen  und 
zwar  der  sog.  Familie  des  M.  Brutus  ist  die  7.  Liefe- 
runs:  gewidmet.  Uber  den  für  die  Geschichte  des 
römischen  Porträts  epochemachenden  Fund,  dem 
diese  und  zahlreiche  andere  Porträtköpfe  des  gleichen 
Besitzers  angehören,  ist  bis  jetzt  nichts  Genaueres 
in  die  Öffentlichkeit  gedrungen.  Ich  weiß  daher 
nicht,  wie  es  mit  den  Kriterien  für  jene  Benennung 
steht,  vermute  aber,  dass  nur  die  entfernte  Ähnlich- 


(Aus  dem  Werke:  Griechiseke  und  römische  Porträts.) 


198 


GRIECHISCHE  UND  RÖMISCHE  PORTRÄTS. 


keit  des  männliclien  Kopfes  (Taf.  67,  68)  mit  dem 
sogenannten  Brutus  in  Neapel  und  dann  die  noch 
halb  republikanische  Haartracht  der  mitgefundenen 
weiblichen  Köpfe  dazu  Anlass  gegeben  hat.  Innere 
Wahrscheinlichkeit  ist  schon  deswegen  keine  vor¬ 
handen,  weil  der  männliche  Kopf  einen  höchstens  zwan¬ 
zigjährigen  Jüngling  zeigt,  in  welchem  Alter  Brutus 
schwerlich  schon  statuarisch  dargestellt  wurde,  und 
weil  von  den  drei  weiblichen  Köpfen  die  zwei  jüngeren 
sich  zwar  wohl  als  Schwestern  geben,  aber  keines¬ 
wegs  als  Töchter  der  angeblichen  Servilia  (Taf.  61, 
62).  —  Auch  der  zur  Vergleichung  beigefügte  Mün¬ 
chener  Kopf  (Taf.  69)  ist  bloß  seines  herben  Aus¬ 
drucks  wegen  Brutus  genannt. 

Daran  schließen  sich  in  der  8.  Lieferung  fünf 
weitere  Köpfe  von  unbekannten  Römern  der  repu¬ 
blikanischen  Zeit,  die  beiden  ersten  aus  Kalkstein. 
Physiognomisch  besonders  interessant  der  alte,  ab¬ 
gemagerte  Dresdener  Kopf  (Taf.  75,  76)  mit  der 
hohen  Nasenlippe  und  dem  kleinen  Kinn,  das  Bild 
eines  in  altrömischer  Zucht  und  Einfachheit  ergrauten, 
vom  Luxus  und  von  der  Devotion  der  Kaiserzeit 
noch  nicht  beleckten  Staatsmannes,  aus  dessen  ruhigen 
Zügen  eine  seltene  Energie  hervorleuchtet.  Ohne 
das  Horazische  „intonsus“  könnte  man  sich  den  Cato 
Censorius  etwa  so  vorstellen. 

Höchst  bedeutende ,  allerdings  unter  sich  etwas 
lieterogene  römische  Porträts  bringt  die  folgende 
9.  Lieferung:  Neben  der  durch  ihre  Arbeit  ausge¬ 
zeichneten  Panzerstatue  eines  Claudiers  im  latera- 
nisclien  Museum  die  mehr  gegenständlich  merk¬ 
würdige  Konstantins  des  Großen  in  der  Vorhalle  der 
lateranischen  Basilica  und  den  ebenfalls  auf  letzteren 
Itezogenen  Kopf  der  Uffizien;  neben  dem  florenti- 
iiisclien  Arringatore  einen  weiblichen  Bronzekopf 
aus  Velleja  in  Parma.  Die  Zusammenstellung  der 
beiden  er.steren  sollte  wohl  den  verwandtschaftlichen 
Charakter  des  Konstantintypus  mit  dem  der  Claudier 
zur  Anschauung  bringen;  die  des  Imperators  der 
Basilica  mit  dem  bediademten  Florentiner  Kopf  sollte 
zeigen,  dass  nur  einer  von  beiden  Konstantin  sein 
kann,  den  Münzen  nach  nur  jener.  Brunn- Arndt 
glauben,  dass  nach  Ausweis  des  Lichtdrucks  an  der 
Echtheit  des  Ko])fe.s  der  Konstantinstatue  nicht  mehr 
gezweifelt  werden  könne,  und  wirklich  scheint  es  so. 
Aber  vollkommene  Sicherheit  Avird  eben  doch  nur 
eine  von  sachkundiger  Seite  geführte  Untersuchung 
mit  Leitern  gewähren  können.  —  Den  Konstantin- 
bildni.ssen,  die  für  uns  sozusagen  das  Ende  der  rö¬ 
mischen  I’orträtgeschichte  repräsentiren ,  steht  der 
.Arringatore  als  eines  der  frühesten  erhaltenen  ita¬ 


lischen  Monumentalwerke  gegenüber,  noch  etruskisch 
gebunden,  aber  gleichsam  nur  der  Erlösung  wartend 
durch  die  Berührung  mit  der  herüberwinkenden 
griechischen  Kunst.  Ob  freilich  Conestabile’s  Da- 
tirung  (300  —  250  v.  Chr.)  nicht  etwas  zu  früh  an¬ 
gesetzt  ist?  Die  über  der  Stirn  abgeschnittenen  und 
leicht  vorstehenden  Haare  sind  sonst  eher  für  das 
letzte  Jahrhundert  charakteristisch  und  auch  an  der 
sonstigen  Behandlung  glaubt  man  schon  einen  größeren 
Einfluss  von  Griechenland  her  zu  erkennen,  als  für 
das  3.  Jahrhundert  wahrscheinlich  ist. 

Die  10.  und  11.  Lieferung  enthalten  Bildnisse 
hellenistischer  Herrscher  der  Diadochenzeit.  Sechs 
davon  aus  der  Villa  der  Pisonen  in  Herculanum. 
Die  meisten  sind  mit  dem  Diadem  geschmückt  und 
dadurch  deutlich  als  Könige  bezeichnet.  Wo  dies 
nicht  der  Fall,  wie  bei  dem  sogenannten  Philetäros 
in  Neapel  (Taf.  107),  müssen  in  dieser  Beziehung 
noch  Zweifel  gestattet  sein,  obwohl  allerdings  Phile¬ 
täros  als  bloßer  Statthalter  wahrscheinlich  noch  ohne 
Diadem  dargestellt  wurde. 

Bei  den  Bildnissen  der  zehnten  Lieferung  ver¬ 
zichten  die  Herausgeber  auf  positive  Benennungen, 
und  mit  Recht,  da  die  Münzen  über  die  betreffen¬ 
den  Köpfe  keinen  hinreichenden  Aufschluss  geben. 
Auch  die  als  bloße  Vermutung  gegebene  Deutung 
eines  der  sog.  Ptolemäer  (Taf.  91)  auf  Philipp  von  Mace- 
donien  (Avegen  der  Ähnlichkeit  mit  Alexander)  muss 
als  unwahrscheinlich  fallen  gelassen  werden ,  weil 
das  Diadem  erst  mit  Alexander  aufkam,  und  weil,  wo 
wir  Alexander- artigen  Haarwurf  treffen,  eher  Nach¬ 
ahmung  als  Vorbildlichkeit  anzunehmen  ist.  Was 
die  Bronzebüste  des  sog.  Ptolemaeos  Apion  (Taf.  99, 
100)  betrifft,  über  deren  Geschlecht  bekanntlich  ge¬ 
stritten  wird,  so  entscheidet  sich  Arndt  mit  Compa- 
retti  für  einen  Mann.  Ich  kann  ihm  dabei,  wenn 
anders  die  unter  der  Binde  herabfallenden  Spiral¬ 
löckchen  richtig  ergänzt  sind,  nicht  folgen. 

In  der  elften  Lieferung  ist  der  Verfasser  der 
Inhaltsangabe  (Arndt)  schon  weniger  zurückhaltend 
und  adoptirt  sowohl  die  Wolters’sche  Deutung  eines 
herculanischen  Kopfes  (Taf.  101)  auf  Selcukos  Nikator, 
als  auch  die  Villefosse’sche  des  Pariser  sog.  Cäsar 
(103)  auf  Antiochos  III.,  beides  einstweilen  bloße 
Möglichkeiten.  —  Dass  auch  der  früher  sog.  alte 
Augustus  im  Vatikan  (Taf.  105)  jetzt  als  griechischer 
König  gefasst  wird,  ist  nur  zu  billigen. 

Und  nun  wieder  mit  den  nächsten  drei  Liefe¬ 
rungen  zu  den  Dichtern  und  Staatsmännern  Athens! 
Die  sog.  Ae.sc%/o.sherme  im  Kapitol  wird  es  schwer¬ 
lich  je  gelingen  zu  identificiren.  Ihr  Wei't  besteht  in 


GRIECHISCHE  UND  RÖMISCHE  PORTRÄTS. 


199 


ihrem  Stil  (Mitte  des  5.  Jahrh.  v.Chr.).  Um  so  wichtiger 
in  jeder  Beziehung  künstlerisch,  kunstgeschichtlich 
und  ikonographisch,  ist  die  herrliche  Statue  des  SojyJio- 
kles  im  Lateran,  nach  dem  oben  Gesagten  (Lief.  4), 
das  erste  authentische  Bildnis  des  Dichters  in  dieser 
Porträtsammlung.  Arndt  ist  mit  der  Mehrzahl  der 
Archäologen  geneigt,  die  Statue  auf  das  Erzbild  im 
Theater  von  Athen,  welches  der  Redner  Lykurg  be¬ 
antragt  hatte,  zurückzuführen,  trotz  des  Mangels 
aller  auf  Erztechnik  weisenden  Spuren.  Daneben 
spricht  er  auch  von  Praxitelischer  Kunstrichtung 
und  citirt  als  Analogon  die  Sardanapallosstatue  in 
der  Sala  della  biga  des  Vatikan.  Aber  warum  soll 
die  letztere  Praxitelisch  sein?  Und  wenn  sie  es 
wäre,  was  könnte  sie  beweisen?  Höchstens,  dass 
es  außerhalb  der  Schule  noch  bedeutendere  Künst¬ 
ler  gab  als  ihren  Verfertiger.  Denn  die  Statue  des 
Sophokles  ist  meines  Erachtens  bei  weitem  einfacher 
und  großartiger  als  die  des  Sardanapal.  —  Die  dar¬ 
auffolgende  des  Neapeler  Aeschines  hat  nur  das  Kör¬ 
per-  und  Gewandmotiv  und  die  Sicherheit  des  Na¬ 
mens  mit  der  vorigen  gemein.  Entwurf  und  Aus¬ 
führung  verraten  eine  bei  weitem  geringere  Hand. 

Die  13.  Lieferung  bringt  eine  Anzahl  von 
Doppelhermen  zur  Anschauung,  jene  der  grie¬ 
chischen  Porträtkunst  eigentümliche,  verschieden  be¬ 
urteilte,  aber  jedenfalls  in  ihrer  Art  originelle  Dar¬ 
stellungsform.  Sie  fordert,  wo  es  sich  nicht  um 
inschriftlich  beglaubigte  Köpfe  handelt,  wie  in  der 
Neapeler  Doppelherme  des  Herodot  und  Thukydides 
(Taf.  128  —  130)  wegen  der  vorauszusetzenden  gegen¬ 
seitigen  Beziehungen  förmlich  zu  Deutungen  heraus. 
Doch  hat  die  Ikonographie  auf  diesem  Felde  bis 
jetzt  keine  großen  Triumphe  aufzuweisen.  In  den 
zwei  kleinen  Bonner  Hermen  ist  nur  ein  einziges 
Bildnis  erkannt,  Euripides,  in  der  lebensgroßen  Nea¬ 
peler  keines  von  beiden.  Selbst  über  die  Nationalität 
der  unbärtigen  Köpfe  (Griechen  oder  Römer)  ist  man 
noch  völlig  im  Zweifel.  Aber  gerade  für  solche  Fälle 
bieten  die  Tafeln  dieses  Werkes  ein  unschätzbares 
Material. 

14.  Lieferung:  Lysias,  Isokrates,  Demosthenes. 
—  Die  beiden  A//.siflsbüsten  (Neapel  und  Kapitol) 
und  ebenso  zwei  von  denen  des  Demosthenes  (Mün¬ 
chen,  Berlin)  zeigen  in  einleuchtender  Weise,  wie 
weit  oft  die  einzelnen  Repliken  eines  Bildnisses  von 
einander  differiren,  und  wie  sehr  die  späteren  in  der 
Arbeit  hinter  den  früheren  zurückzustehen  pflegen. 
Trotz  zahlreicher  und  bedeutender  Unterschiede  kann 
doch  beidemal  an  der  Identität  der  Person  nicht 
gezweifelt  werden,  weil  die  charakteristischen  Haupt¬ 


züge,  die  Schädel-  und  die  Bartform,  dann  dort  die 
Glatze  und  die  Linie  des  Profils,  hier  der  verzogene 
Mund,  dieselben  sind.  Bei  dem  Campana’schen  Kopf 
des  Louvre  (Taf.  139,  140)  dagegen,  der  gewöhnlich 
auch  noch  als  Demosthenes  bezeichnet  wird,  fehlen 
diese  Züge  —  Kopfform,  Augen,  Mund,  Bart,  Kinn 
sind  total  verschieden  —  und  ich  wüsste  nicht,  auf 
welche  gleich  stark  dilferirenden  Sokratesköpfe  man 
sich  berufen  könnte,  um  hier  noch  den  Namen  zu 
rechtfertigen.  —  Inbetrelf  der  kleinen  albanischen 
lsokrates\\exme:  (Taf.  135)  kann  man  nur  seine  Freude 
ausdrücken  darüber,  dass  endlich  eine  authentische 
und  citirbare  Abbildung  derselben  vorhanden  ist. 

Wieder  in  einen  anderen  Kreis,  einen  ausschlie߬ 
lich  weiblichen,  mit  Wahrscheinlichkeit  in  den  von 
Dichterinnen,  führt  uns  die  15.  Lieferung,  in  der 
uns  ein  epheubekränzter  Kopf  von  Catajo,  eine  rei¬ 
zende  Statuette  des  Konservatorenpalastes  mit  bin¬ 
denumwundenem  Haar  und  drei  dieser  ähnliche  sog. 
Sapphoköpfe  aus  den  Uffizien,  aus  Villa  Albaui 
und  Pal.  Pitti  geboten  werden.  Wir  bewegen  uns 
hier,  was  die  sachliche  Erklärung  betrifft,  noch 
auf  einem  sehr  schwankenden  Boden.  —  Drei  oder 
vier  auf  die  lesbische  Dichterin  bezogene  Köpfe 
—  es  giebt  aber  deren  wenigstens  ein  Dutzend  — 
alle  das  Haar  mit  Binden  umwunden  oder  in  eine 
Haube  gehüllt,  wie  die  Sapphoköpfe  auf  den  Mün¬ 
zen  von  Mitylene,  und  doch  den  Gesichtszügen  nach 
jede  von  der  anderen  verschieden.  Sollte  der  Sappho- 
typus  wirklich  so  gewechselt  haben ,  oder  ist  es 
nicht  eher  ein  Beweis,  dass  dieselbe  Kopftracht 
auch  noch  anderen  Personen  gegeben  wurde  ?  Und 
wenn  nur  eine  von  ihnen  Sappho,  für  welche  sollen 
wir  uns  entscheiden?  Für  die,  welche  zufällig  einem 
der  selber  wechselnden  Münztypen  am  nächsten 
kommt?  —  Vollends  verfrüht  ist  es,  jetzt  schon 
eine  dieser  Kopistenarbeiten  (die  in  Villa  Albani) 
herauszugreifen  und  ohne  allen  Vorbehalt  dem 
uns  seinem  Stil  nach  ganz  unbekannten  Silanion 
zuzuschreiben,  wie  es  neuerdings  geschehen  ist. 
Warten  wir  die  Publikation  der  übrigen  sogenann¬ 
ten  Sapphoköpfe,  die  ja  früher  oder  später  in  dieser 
Sammlung  erfolgen  wird,  ab  und  gruppiren  wir  sie 
dann  nach  Typen  oder  Personen. 

Die  Bildnisse  der  16.  Lieferung  endlich  stellen 
fünf  unbekannte  Griechen  dar.  Denn  unbekannt 
der  Person  nach,  trotz  des  aufgeschriebenen  Namens, 
ist  für  uns  auch  die  kapitolinische  Büste  des  PytJio- 
doris  mit  dem  ausladenden  Lorbeerkranz.  —  An  die 
Identifikation  der  vier  übrigen  wird  nicht  zu  denken 
sein,  zumal  nicht  an  die  der  als  Gegenstücke  gefas^- 


200 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


ten  herculanischen  Bronzebüsten  (sog.  Heraklit  und 
Demokrit).  —  Die  beiden  anderen,  welche  das  Ge¬ 
meinsame  einer  turbanartigen  Kopfbedeckung  haben 
und  herkömmlicherweise  unter  dem  unbegründeten 
Namen  Ärchytas  gehen  (eine  Herme  des  Kapitols  und 
eine  weitere  herculanische  Bronze)  können  vielleicht 
mit  der  Zeit  eben  dieser  Tracht  wegen  ihrem  Cha¬ 
rakter  nach  noch  näher  bezeichnet  werden. 

Wir  sind  am  Schlüsse  des  bis  jetzt  Erschiene¬ 
nen  und  somit  auch  unserer  Berichterstattung  an¬ 
gelangt.  Was  für  eine  Fülle  teils  wirklich  neuen, 
teils  jetzt  erst  durch  würdige  Publikation  den  Stu¬ 
dien  zugänglich  gemachten  Materials  liegt  schon  in 
diesem  nur  schwachen  Bruchteil  des  Werkes  vor. 
Fast  drängt  sich  der  Gedanke  auf,  ob  es  nicht  des 
Guten  zu  viel  ist,  wenn  zu  dem  bereits  gebotenen  noch 
das  Fünf-  oder  Sechsfache  in  Auswahl  gestellt  wird, 
alles  in  diesem  monumentalen,  selbst  bei  Pracht¬ 
werken  ungewöhnlichen  Maßstab.  Wir  sind  keine 
besonderen  Verehrer  der  kostbaren  und  luxuriösen 


Publikationen,  die  nachgerade  auch  in  der  Wissen¬ 
schaft  Sitte  werden,  und  glauben  sogar,  dass  vielen 
mit  einem  kleineren  Format,  das  doch  wohl  auch 
den  Preis  verringert  hätte,  besser  gedient  gewesen 
wäre.  Aber  was  die  Zahl  der  Tafeln  betrifft,  so  ist 
dieselbe  von  den  Herausgebern  gewiss  wohl  über¬ 
legt  worden  und  jedes  Abmarkten  in  dieser  Bezie¬ 
hung  wäre  vom  Übel.  Neben  der  Vortrefflichkeit 
der  photographischen  Aufnahmen  ist  es  gerade  die 
relative  V ollständigkeit  des  Materials,  was  den  Haupt¬ 
vorzug  dieser  Porträtsammlung  ausmachen  wird. 
Es  soll  der  Atlas  sein,  auf  den  sich  künftig  alle  das 
Altertum  betreffenden  ikonographischen  Arbeiten 
und  die  Geschichte  der  antiken  Porträts  überhaupt 
berufen  können,  während  sie  selber  der  Beigaben 
kostspieliger  Tafeln  fortan  überhoben  sind.  So  wird 
schließlich  auch  für  die  Bibliotheken  die  jetzige  Aus¬ 
gabe,  die  sich  übrigens  auf  Jahre  verteilt,  durch 
die  zu  erhoffende  größere  Wohlfeilheit  der  ein¬ 
schlägigen  Bücher  einigermaßen  ausgeglichen  werden. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


*  JtiHus  Nciimami  in  München,  der  Radirer  des  dem 
heutigen  Hefte  der  Zeitschrift  beiliegenden  trefflichen  Blattes 
„Hohe  Pulitik“,  macht  uns  über  seinen  Lebensgang  und  seine 
künstlerische  Entwickelung  folgende  Mitteilungen:  „In  Essen 
an  der  Ruhr  geboren,  verlebte  ich  infolge  der  Berufsthätig- 
keit  meines  Vaters,  des  Redakteurs  J.  Neumann,  meine  Schul¬ 
zeit  in  Berlin.  Durch  den  Verkehr  eines  Freundes  fand  ich 
oft  (lelegenheit,  bei  dessen  Onkel  eine  Sammlung  von  Kupfer¬ 
stichen  und  Radirungen  einzusehen.  War  schon  damals  in 
mir  das  Interesse  lebendig,  kleine  Radirungen  mit  der  Feder 
nachzuzeichnen,  so  wuchs  dieselbe  mit  der  Zeit  so,  dass  der 
Wunsch  in  mir  rege  wurde,  mich  später  der  Kupferstecherei 
zu  widmen.  Als  ich  das  Reifezeugnis  für  die  Oberprima  er¬ 
langt  hatte,  besuchte  ich  auf  kurze  Zeit  die  Akademie  in 
Berlin  und  die  Kunstschule  in  Weimar  und  trat  dann  in 
■München  in  die  Kupferstecherschule  des  Prof.  J.  L.  Raab 
ein.  Mit  diesem  Momente,  muss  ich  wohl  sagen,  fing  erst 
das  ernste  Studium  an.  Unter  Raab’s  Leitung  habe  ich  zuerst 
in  der  Nn'urklasse  gezeichnet  und  dann  mehrere  Porträts  und 
Hadirungen  nach  der  Natur,  sowie  Stiche  angefertigt.  Meine 
letzte  große  Arbeit  auf  der  Akademie  war  die  Pieta  nach  van 
Dyck  in  der  alten  Pinakothek  (erschienen  bei  Stiefbold  in 
Berlin),  für  welche  Arbeit  ich  seiner  Zeit  mit  der  großen  sil¬ 
bernen  Medaille  von  dem  Professorenkollegium  ausgezeichnet 
wurde.  Seit  zwei  .Jahren  arbeite  ich  selbständig.  Porträtsund 
kleine  Radirversuche  wechseln  mit  meiner  jetzigen  Hauptar¬ 
beit,  einem  großen  Stich  nach  einem  Bilde  von  Böttcher,  ab. 
Eine  solche  Zwischen-  oder  Erholungsarbeit  war  auch  die  Radi¬ 
rung,  die  ich  zur  Leipziger  Konkurrenz  einschickte.  Wie 
sie  entstanden?  Das  kann  ich  kaum  sagen.  Scenen  dieser 


Art,  die  ich  selbst  auf  dem  Lande,  in  den  Dorfschenken 
erlebt,  haben  mich  zu  dem  Vorwurfe  angeregt.“ 

*  Am  Strande  von  Oöhren  (Rügen),  Originalradirung 
von  Albert  Krüger.  Aus  dem  Studium  der  alten  Meister,  das 
nach  dem  glänzenden  Vorgänge  William  Onger's  keiner  so 
ernst,  so  eindringlich,  vielseitig  und  erfolgreich  betrieben 
hat  wie  Albert  Krüger,  hat  dieser  Künstler,  der  jetzt  im  36.  Le¬ 
bensjahre  steht,  auch  die  Kraft  gezogen,  sich  gelegentlich 
auf  eigene  Füße  zu  stellen.  Es  ganz  und  gar  zu  thun,  dazu 
reicht  die  Armseligkeit  unseres  heimischen  Kunstmarktes 
immer  noch  nicht  aus.  Malerradirer  wie  in  England,  die  be¬ 
haglich  ihrer  künstlerischen  Muße  leben  können,  weil  die 
Kunstfreunde  ihre  seltenen  Einzeldrucke  mit  entsprechenden 
Preisen  bezahlen,  giebt  es  in  Deutschland  nicht,  obwohl  die 
geistigen  Grundlagen  und  die  künstlerischen  Potenzen  dazu 
vorhanden  sind.  Unsere  Radirer  müssen  in  erster  Linie  auf 
die  Aufträge  von  Kunst  Verlegern  blicken,  die  zumeist  nach 
Reproduktionen  berühmter  Werke  verlangen.  Die  diesem  Hefte 
beigegebene  Originalradirung  Albert  Krüger’s,  der  noch  zu 
den  Bevorzugten  seiner  Kunst  gehört,  lässt  uns  diese  traurige 
Lage  des  deutschen  Kunstmarktes  besonders  schwer  empfin¬ 
den.  Mit  wie  geringen  und  doch  den  gebotenen  Stim¬ 
mungsmoment  völlig  erschöpfenden  Mitteln  ist  hier  eine  volle 
Wirkung  erzielt  worden!  Nur  der  erste  Eindruck  wirkt  auf 
den  Beschauer,  dieser  aber  mit  einer  Frische,  die  durch 
keine  dem  Auge  erkennbare  spätere  Retouche  abgeschwächt 
wird.  Wir  wollen  hoffen,  dass  die  Zeitschrift  durch  Veröffent¬ 
lichung  solcher  Malerradirungen  dazu  helfen  wird,  unseren 
Kunstfreunden  über  das  Gute,  das  wir  im  eigenen  Lande 
besitzen,  die  Augen  zu  öffnen.  A.  R. 


Herausgeber:  Carl  von  lAitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig, 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Die  Taufe  Christi. 

Von  ItARTii.  Zkitblom.  (Vom  Blauheurener  Hochaltar.) 


STUDIEN 

ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 

VON  MAX  BACH. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


11.  Bartholomäus  Zeitblom. 


ER  Name  dieses  Künstlers 
war  zu  Anfang  unseres  Jahr¬ 
hunderts  vollständig  ver¬ 
gessen;  auch  die  ülmischen 
Chronisten  erwähnen  den¬ 
selben  nur  an  einer  Stelle 
und  zwar  bei  der  Beschrei¬ 
bung  der  zum  Ulmer  Gebiet 
gehörigen  Pfarrkirche  zu  Süssen,  In  dieser  Kirche 
befand  sich  nämlich  ein  Altarwerk  Zeitblom’s,  mit 
dessen  Namen  bezeichnet,  welches  leider  im  Jahre 
1707  durch  Brand  zu  Grunde  ging.  Wollaib  schreibt 
an  der  betreffenden  Stelle:  „Unter  St.  Ulrich  stehet: 
Bartolme  Zeitblom,  welches  Sculptoris  oder  Pictoris 
Namen  sein  wird.“  Diese  Notiz  hat  dann  Haid  in 
sein  Buch  über  Ulm  (1786)  aufgenommen,  ohne 
irgend  etwas  dazu  beifügen  zu  können,  ein  Beweis 
dafür,  dass  auch  schon  im  vorigen  Jahrhundert  eine 
Erinnerung  an  den  Meister  vollständig  erloschen 
war.  Erst  im  Morgenblatt  1816  findet  sich  wieder 
eine  Beschreibung  eines  Zeitblom’schen  Altars  und 
zwar  aus  der  Feder  Justinus  Kerner’s;  es  ist  das  der 
bekannte  Heerberger  Altar,  von  dem  später  noch  die 
Rede  sein  wird.  Auch  Weyermann  in  dem  1798 
erschienenen  ersten  Bande  seiner  Nachrichten  von 
Gelehrten  und  Künstlern  Ulms  führt  Zeitblom  noch 
nicht  an;  erst  im  zweiten,  1829  erschienenen  Bande 
zählt  er  einige  Werke  des  Meisters  auf  und  zwar 
den  fälschlich  ihm  zugeschriebenen  Ecce  Homo  in 
Nördlingen,  den  Heerberger  und  Eschacher  Altar. 
Jetzt  war  Zeitblom  in  die  Kunstgeschichte  einge- 


1)  Wollaib  Paradisus  Ulmensis  1710,  Manuskript  der 
Stadtbibliothek  Ulm. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  P.  V.  H.  9. 


führt  und  man  begann  auch  in  Ulm  selbst  Nach-_ 
forschungen  nach  ihm  in  den  Archiven  anzu¬ 
stellen.  So  veröffentlichte  schon  im  Jahre  1830 
Weyermann  im  Kunstblatt  eine  ganze  Reihe  von 
Notizen  über  Ulmer  Künstler,  welche  er  nach  seiner 
Angabe  den  alten  Steuer-  und  Bürgerbüchern  ent¬ 
nommen  hat;  weiter  brachte  Pfarrer  Jäger  im  Kunst¬ 
blatt  1833  Ergänzungen  dazu.  Obgleich  nun  Weyer¬ 
mann  versicherte,  seine  Aufzeichnungen  beruhten 
durchweg  auf  neuen  Forschungen,  so  hat  man  doch 
gerechte  Zweifel  daran.  Brulliot  berichtet  nämlich 
schon  in  einem  Aufsatz  über  M.  Schaffner  im  Kunst¬ 
blatt  von  1822:  Prälat  Schmid  in  Ulm  habe  ihm 
eine  Sammlung  höchst  erwünschter  Notizen  über 
ältere  Künstler  Ulms  übermittelt.  Diese  Notizen 
seien  vor  50  Jahren  von  einem  Sammler  Ulmischer 
Merkwürdigkeiten  Namens  Neubronner  fleißig  zu¬ 
sammengesucht,  von  Prälat  Schmid  gekauft,  von 
demselben  vermehrt  und  berichtigt  worden.  „Sie 
sind  aus  Bürgerregistern  und  Steuerbüchern,  aus 
Rechnungen,  Innungs-  und  Kirchenbüchern,  mit 
einem  Worte  aus  urkundlichen  und  glaubwürdigen 
Papieren  geschöpft.“  Diese  Quelle  hat  nun  Weyer¬ 
mann  in  ausgiebiger  Weise  benutzt.  Neuere  Nach¬ 
forschungen  im  Ulmer  Archiv,  welches  sich  jetzt 
wohl  geordnet  im  südlichen  Chorturm  des  Münsters 
befindet,  haben  jedoch  ergeben,  dass  ein  großer 
Teil  dieser  Archivalien  jetzt  fehlt,  was  bei  den 
wechselvollen  Schicksalen  dieses  Archivs  leicht  er¬ 
klärlich  ist.  So  fehlt  z.  B.  jetzt  das  Steuerbuch  von 
1484  und  aus  dem  von  den  genannten  Autoren  be¬ 
nutzten  Bürgerbuch  sind  die  Jahrgänge  1483 — 92 
herausgeschnitten. 

Die  Familie  Zeitblom  scheint  aus  Augsburg  zu 

26 


202 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


stammen,  dort  kommt  dieser  Name  in  den  Steuer- 
bückern  am  Ende  des  14.  und  Anfang  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  öfter  vor;  so  erscheint  ein  Fritz  Zeitblum 
(Zytblum,  Tzytblum)  von  1391—98,  und  es  ist  sehr 
wahrscheinlich,  dass  bei  dem  damals  sehr  lebhaften 
Verkehr  beider  Städte  diese  Familie  nach  Ulm  über¬ 
siedelte.  In  Ulm  selbst  finden  wir  vor  1484  den 
Namen  nicht,  in  diesem  Jahr  erscheint  derselbe  nach 
den  Angaben  Weyermann’s  im  Steuerbuch.  Alle  An¬ 
gaben,  welche  frühere  Autoren  über  eine  Thätigkeit 
des  Meisters  vor  dieser  Zeit  machen,  sind  falsch  und 
fußen  auf  der  Missdeutung  des  angeblichen  Mono¬ 
gramms  Zeitblom’s  auf  dem  Herlen’scheu  Ecce-homo- 
Bild  in  Nördlingen.  Schon  Waagen  hat  diesen  Irr¬ 
tum  im  Kunstblatt  1854  berichtigt,  und  er  wäre  da¬ 
mit  abgethan  gewesen,  wenn  nicht  Kassier  in  seinem 
Sendschreiben  an  Eduard  Mauch  die  Sache  wieder 


Angebliches  Monogramm  Zeitblom’s 
auf  dem  Gemälde  von  Herlin  in  Nördlingen. 


bezweifelt  hätte.  Die  Ulmer  Gemäldeausstellung  vom 
Jabre  1877,  in  der  das  Bild  mit  echten  Werken 
Zeitblom’s  verglichen  werden  konnte,  hat  diese  Zweifel 
wieder  zerstreut,  und  heute  denkt  kein  Mensch  mehr 
daran,  das  Bild  dem  Zeitblom  zu  vindiziren.  Zeit- 
blom  führte  überhaupt  gar  kein  Monogramm,  und 
das  ganze  Unheil  scheint  Weyermann  angerichtet  zu 
haben,  welcher  Brulliot  falsch  berichtete  und  ihm 
ein  Zeichen  mitteilte,  welches  allerdings  große  Ähn- 
liclikeit  mit  einem  Z  und  B  hat,  in  Wirklichkeit 
aber  ganz  anders  aussieht.  Man  hat  nun  weiter  an¬ 
genommen,  Zeitblom  habe  im  Jahre  1483  eine  Tochter 
Schühlein’s  geheiratet;  auch  dieses  Datum  ist  ur¬ 
kundlich  nicht  erweisbar;  man  weiß  nur  (s.  Artikel 
1,  Jahrg.  1893,  S.  127),  dass  Zeitl)lom  im  Jahre 
1  199  Inhaber  eines  Kirchenstuhls  gemeinschaftlich 
mit  Schühlein  war,  und  dass  bei  dem  betreffenden 


1)  AugHÜ.  Allgem.  Zeitung,  1872,  Beil.  IIG. 


Eintrag  im  Zinsbuch  der  Frauenpflege  beigefügt  ist: 
„Zeytpluom  seim  Tochtermann.“  i) 

Über  das  Schulverhältnis  des  Meisters,  seinen 
Bildungsgang  u.  s.  w.  herrschen  nur  Vermutungen. 
Man  hat  früher  einen  Einfluss  Herlin's  oder  Martin 
Schön’s  vermutet,  weil  man  beide  Künstler  als  in 
Ulm  ansässig  annehmen  zu  müssen  glaubte.  Aller¬ 
dings  kommt  in  den  Ulmer  Münsterrechnungen 
schon  in  den  Jahren  1449  und  1454  ein  Maler  „Här- 
lin“  vor,  welcher  in  der  „süzlins“  Gassen  beim 
butzenbrunnen  ein  Haus  besaß,  für  welches  er  15 
Schilling  Heller  Jahreszins  bezahlte;  ob  es  aber  der¬ 
selbe  Herlin  ist,  welcher  1462  den  Hochaltar  zu 
Nördlingen  malte  und  1467  als  Bürger  dort  auf¬ 
genommen  wird,  lassen  wir  dahin  gestellt.  2)  Thatsäch- 
lich  wird  ja  Herlin  in  dieser  Bürgerrechtsurkunde 
als  von  Rothenburg  a.  d.  T.  gebürtig  genannt. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  Mqßiin  Schongauer^ 
dessen  Aufenthalt  in  Ulm  durch  nichts  verbürgt  ist ; 
alles  was  man  ihm  dort  von  Gemälden  zuschreiben 
wollte,  sind  nur  Kopieen  von  anderer  Hand  nach 
seinen  Kupferstichen;  ebenso  verhält  es  sich  mit  dem 
angeblich  von  ihm  ausgeführten  Hochaltar  in  der 
Pfarrkirche  zu  Biberach.  Allerdings  scheint  Martin’s 
Bruder  Ludwig  1479  in  Uhn  das  Bürgerrecht  er¬ 
worben  und  dort  auch  geheiratet  zu  haben.  Im 
Jahre  1486  finden  wir  denselben  aber  wieder  in 
Augsburg  und  1493  in  Colmar.  Bilder  von  seiner 
Hand  sind  nicht  nachzuweisen. 

Am  wahrscheinlichsten  scheint  mir,  dass  Zeit¬ 
blom  sich  an  die  Wohlgemuth’sche  Schule  ange¬ 
schlossen  hat,  und  wir  dürfen  die  Aussage  Jäger’s 
(Kunstblatt  1833)  nicht  so  ganz  über  Bord  werfen, 
welcher  behauptet,  Zeitblom  habe  sich  sehr  lange 
in  Nürnberg  aufgehalten;  zumal  jetzt  sicher  ist, 
dass  sein  angeblicher  Lehrer  Schühlein  Beziehungen 
zu  Nürnberg  hatte. 

Als  Jugendwerke  Zeitblom’s  gelten  bei  den  meisten 
Autoren  die  sog.  Kilchberger  Tafeln.  Ich  habe  dar¬ 
über  im  Repertorium  für  Kunstwissenschaft,  XII.  Bd. 
ausführlich  gehandelt,  kann  mich  deshalb  hier  kurz 
fassen.  Nach  dem  dort  Ausgeführten  stammen  diese 
Tafeln  aus  der  Schlosskapelle  der  Herren  von  Ehingen 
zu  Kilchberg,  jetzt  dem  Freiherrn  von  Tessin  ge- 

1)  Münsterblätter  IV,  S.  93.  Kassier,  Sendschreiben,  1855. 

2)  Dieser  Härlin,  auch  Herlin  geschrieben,  „Mäuler“, 
kommt  ferner  in  den  Zinsbüchern  der  Frauenpflege  vor 
1485 — 91,  er  muss  1494  gestorben  sein,  da  von  da  an  ein 
Jacob  Frey  den  Zins  für  sein  Haus  bezahlt.  Damit  ist  durch¬ 
aus  ausgeschlossen,  an  den  Nördlinger  Maler  zu  denken. 
S.  Münsterbl.  III.  IV.  S.  95. 

3)  8.  meine  Abhandlung  im  Archiv  für  christl.  Kunst,  1893. 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


203 


hörend,  und  bildeten  einst  die  Flügel  des  noch  dort 
vorhandenen  Schreins,  welcher  auf  der  Predella  den 
Namen  „bartolome  Zeytblom  maler  zu  Ulm“  an¬ 
geschrieben  hat.  Einen  Flügel  erwarb  schon  in  den 
30er  Jahren  Obertribunalprokurator  Abel  in  Stutt¬ 
gart,  der  andere  kam  in  die  Hirscher’sche  Sammlung 
in  Freiburg,  wurde  aber  im  Jahre  1840  gleichfalls 
von  Abel  erworben.  Ein  zweiter  Altar,  welcher  mit 
dem  angeführten  häufig  verwechselt  und  in  der 
Dorfkirche  von  Kilchberg  sich  noch  befindet,  ist 
gleichfalls  seiner  Flügel  beraubt  und  trägt  die  Jahres¬ 
zahl  1478;  ein  Flügel  davon  ist  jetzt  im  Besitz  des 
Herrn  von  Tessin  und  stellt  einen  Ritter  von  Ehingen  als 
Donator  dar;  der  andere  Flügel  ist  längst  verschollen, 
befand  sich  aber  im  Jahre  1829  bei  Maler  Dörr  in 
Tübingen,  dem  er  von  dem  Schlossbesitzer  zur  Re¬ 
stauration  übergeben  war.  Aus  den  Resten  dieses 
Altars  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  schließen,  ob  der¬ 
selbe  von  Zeytblom  gemalt  ist;  doch  zweifelte  Maler 


Wir  sehen  daraus,  dass  mau  auch  mit  dieser 
Argumentation  bestimmte  Schlüsse  auf  den  Entwicke¬ 
lungsgang  des  Meisters  nicht  bauen  kann;  alle  be¬ 
glaubigten  Werke  bewegen  sich  in  dem  Zeitraum 
zwischen  1496  und  1511.  Nur  ein  Werk,  welches 
alle  kunstgeschichtlichen  Handbücher  anführen,  der 
Altar  von  Hausen,  geht  über  diese  Zeit  etwas  zu¬ 
rück,  nämlich  bis  1488.  Passavant,  welcher  diesen 
ehemals  im  Besitze  Prof.  Hassler’s  in  Ulm  und  jetzt 
in  der  Sammlung  vaterländischer  Altertümer  in  Stutt¬ 
gart  befindlichen  Altar  erstmals  auführt,  findet  darin 
schon  den  ausgebildeteu  Stil  Zeitbio  m’s;  ich  kann 
darin  nur  eine  Arbeit  seiner  Schule  erkennen.  Die 
Gesichtszüge  der  dargestellten  Heiligen,  Nikolaus 
und  Franziskus,  sind  hart,  das  Kolorit  nicht  von  der 
Frische  und  Leuchtkraft  wie  bei  den  beglaubigten 
Bildern  des  Meisters.  Die  stark  restaurirten  Außen¬ 
seiten  der  Flügel  geben  überdies  keine  Anhaltspunkte 
zur  Bestimmung  des  Meisters;  die  Darstellungen  sind 


I  bat tolötnf  |fylMoiti  malf r  i 

Inschrift  vom  Altar  in  der  Schlosskapelle  zu  Kilchberg  bei  Tübingen. 


Dirr  in  Ulm,  bei  dem  ich  den  Flügel  vor  12  Jahren 
sah,  nicht  daran.  Sei  dem  wie  ihm  wolle,  die  Jahres¬ 
zahl  1478  hat  keine  Beziehung  zu  den  Kilchberger 
Tafeln  der  Stuttgarter  Galerie.  Lübke  glaubt  in  diesen 
Bildern  sichere  Anhaltspunkte  zu  finden,  die  auf  flan¬ 
drischen  Einfluss  weisen:  eckige  Bewegungen,  magere 
spitzige  Formen  und  ein  tiefes  leuchtendes  Kolorit.  Das 
ist  nicht  zu  leugnen,  aber  anderseits  kann  darin  eben¬ 
sogut  ein  Einfluss  der  beginnenden  Renaissance  be¬ 
merkt  werden,  was  namentlich  die  bewegtere  Stellung 
der  Figuren,  die  reichere  Drapirung,  die  mehr  ge¬ 
ringelten  Haare  und  die  mehr  ins  Breite  gehende 
Kopfbildung  verraten.  Aber  abgesehen  davon  sind 
auch  urkundliche  Zeugnisse  vorhanden,  die  eine  Ent¬ 
stehung  der  Tafeln  nicht  vor  1494  möglich  machen; 
auch  hielt  der  frühere  Besitzer  Abel  fest  an  dem 
späteren  Ursprung  der  Bilder,  etwa  ums  Jahr  1504.  *) 

1)  Bei  einem  neuerlichen  Besuch  in  Kilchberg  habe  ich 
die  beiden  Altarschreine,  soweit  thunlich,  gemessen.  Der 
Schrein  in  der  Kirche  misst  178  cm  in  der  Breite,  dazu  ist  der 
einzelne  Flügel  86  cm  breit.  144  hoch  ohne  Rahmen.  Der 


derSchongauer’schen  Pas.sion  entlehnt.  WeunHassler 
in  dem  Kopfe  des  h.  Nikolaus  ein  Porträt  des  in  dieser 
Zeit  in  Augsburg  regierenden  Bischofs  Friedrich  von 
Zollern  erblicken  will,  so  ist  das  eine  bloße  Vermutung, 
noch  mehr  aber  das  Märchen,  der  genannte  Bischof 
habe  sich  von  dem  „Magister  Bartholomäus“  eine 
Visirung  dazu  machen  lassen.  Wie  Hassler  selbst  in 
seinem  Sendschreiben  an  Ed.  Manch  mitteilt,  malte 
Zeitblom  ein  und  denselben  Kopf  „z.  B.  als  h.  Va¬ 
lentin  in  Augsburg,  als  h.  Nikolaus  auf  meinem 
Altar,  als  Kirchenvater  auf  der  Rückwand  des  Blau- 
beurer  Altars“ ;  dann  kann  noch  hinzugefügt  werden. 


Altarkasten  in  der  Kapelle  ist  174  cm  breit  und  162  hoch. 
Die  Stuttgarter  Tafeln  haben  ohne  Rahmen  je  eine  Breite 
von  69  und  eine  Höhe  von  145  cm,  passen  somit,  wenn  man 
die  Rahmenbreite  dazu  rechnet,  ganz  gut  zur  Bedeckung 
des  Schreins.  Die  Predella  des  Schlosskapellenaltars  trägt 
eine  leider  verwischte  Inschrift,  von  welcher  nur  noch  der 
Anfang  des  Jahreszahl  MCCCC  in  Minuskelschrift  zu  lesen 
ist.  Der  Name  des  Meisters  steht  ganz  außen  am  linken, 
spitz  zulaufenden  Ende  der  Predella,  da  wo  der  geöffnete 
Flügel  sein  Auflager  hatte. 


26 


204 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


der  Kopf  des  h.  Virgilins  von  Salzburg  in  der 
Karlsruher  Galerie.  Es  ist  aber  der  allgemeine  Typus 
für  Bischöfe  der  Zeitblom’scben  Schule  und  der  Bi¬ 
schof  Friedrich  von  Zollern  hat  offenbar  damit  nichts 
zu  schaffen. 

Ein  weiteres  Märchen,  das  uns  Harzen  auftischt, 
kann  gleich  hier  eingereiht  werden.  Derselbe,  wel¬ 
cher  mit  Beiziehung  aller  möglichen,  da  und  dort 
gesammelten  Hypothesen  eine 
anziehende  Biographie  Zeit- 
hlom’s  geschrieben  hat '),  ver¬ 
wertet  nämlich  eine  Erzäh¬ 
lung  aus  einer  Kirchheimer 
Klosterchronik,  welche  der 
Ijekannte  Württembergische 
Historiograpli  Sattler  mit¬ 
teilt  -),  für  seine  Zwecke.  Dort 
ist  von  einem  „meyster  Bar¬ 
thlome  dem  maler“  die  Rede, 

Avelcher  mit  andern  Kirch¬ 
heimer  Bürgern  den  durch 
Herzog  Eberhard  d.  J.  von 
4Vürttemberg  hart  bedrängten 
Nonnen  des  Klosters  St.  Jo¬ 
hann  beigestanden  habe.  Nun 
ist  aber  dort  Aveder  der  Name 
Zeitblom  genannt,  noch  son¬ 
stige  Anlialtspunkte  vorhan¬ 
den,  AA'elche  auf  einen  Aufent¬ 
halt  des  Meisters  in  Kirch- 
lieiin  schließen  lassen.  Lei¬ 
der  haben  fast  alle  neueren 
hunsthistoriker  bis  auf  Janit- 
schek  herab  diesen  Angaben 
Glauben  gescJienkt;  offenbar 
kann  sich’s  hier  nur  um  eine 
ganz  gewagte  Kombination 
handeln. 

7\nsch]ießend  an  die 
Kilchberger  Tafeln  möchte 
ich  zunächst  noch  anführen 
die  Reste  eines  AltarAverks, 
von  Avelehern  zwei  Tafeln  mit  den  Heiligen  Vir- 
gilius  und  Laurentius,  Mauritius  und  Sebastian, 
unten  a}>geschnitten  in  der  Galerie  zu  Karlsruhe, 
zwei  andere,  wohl  die  Außenseiten  der  zersägten 
Flügel,  darstellend  die  Heimsuchung  Mariä  undElisa- 

1  Niiumann’s  Archiv  1800,  S.  27  ih 

2)  Ghronicon  Coenobii  Kirchheimense ,  Sattler  Grafen, 
'I’h.  .1,  180. 


beth,  Maria  Magdalena  und  Ursula  in  Donaueschiugen. 
Die  letzteren  Bilder  befanden  sich  früher  in  der  von 
Lassberg’schen  Sammlung  zu  Meersburg,  die  Pro¬ 
venienz  der  Karlsruher  Tafeln  ist  nicht  bekannt. 
Der  Stil  dieser  Bilder  erinnert  auf  den  ersten  Blick 
an  die  Kilchberger  Tafeln  und  man  hat  dieselben 
deshalb  auch  zu  den  frühesten  Werken  des  Meisters 
gezählt.  Inwieweit  das  zutrifft,  lassen  wir  dahinge¬ 
stellt.  Wie  schon  erwähnt, 
halten  wir  die  Kilchberger 
Tafeln  für  später  und  können 
auch  den  edlen  großartigen 
Stil  in  der  Gewandung,  wel¬ 
cher  den  Hauptwerken  des 
Meisters  eigen  ist,  nicht  als 
ein  Resultat  der  späteren  Ent- 
Avickelung,  sondern  lediglich 
als  ein  noch  mit  den  alten 
kirchlichen  Traditionen  in  Zu¬ 
sammenhang  stehendes  Motiv 
erkennen.  Die  Gewandbehand¬ 
lung  bei  den  schwäbischen 
Meistern  der  früheren  Zeit  bis 
etwas  nach  der  Mitte  des  15. 
Jahrhunderts  ist  eine  einfa¬ 
chere,  noch  nicht  so  zerknit¬ 
terte,  was  sich  auch  in  der 
Architektur  und  Plastik  be¬ 
sonders  geltend  macht.  Die¬ 
ser  Reichtum,  d.  h.  das  Be¬ 
streben,  möglichst  viele  eckige 
Falten  und  Brüche,  Über¬ 
schneidungen  und  Durch¬ 
dringungen  anzubringen,  stei¬ 
gert  sich  gegen  Ende  des 
Jahrhunderts  immer  mehr  und 
wird  im  Anfang  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  zur  Regel.  Zeitblom 
konnte  sich  dieser  Richtung 
auch  nicht  ganz  entziehen,  ob¬ 
gleich  er  im  allgemeinen  an 
einer  einfacheren  Drapirung 
festhält.  Vergleicht  man  z.  B.  die  Figur  des  h.  Niko¬ 
laus  vom  Hausener  Altar  (1488)  mit  dem  h.  Alexander 
datirt  von  1504  in  Augsburg,  so  bemerkt  man  in¬ 
sofern  einen  Fortschritt  in  der  Gewandung,  indem 
das  weiße  Untergewand  beider  Heiligen  bei  dem 
ersteren  mehr  geradlinig  eingezogene  Faltenbrüche 
aufweist,  während  das  bei  dem  letzteren  weniger 
der  Fall  ist,  dagegen  eine  reichere  Entfaltung  bau¬ 
schiger  Motive  angewendet  ist.  Das  einfachere  Ge- 


.Tolianiies  der  Täufer  von  B.  Zeitblom. 
(Vom  Kilclil)erger  Altar.) 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


205 


wandmotiv  sehen  wir  dann  wieder  beim  Mickhäuser 
Altar  (Papst  Gregor  und  St.  Augustinus)  ‘),  dieser 
Altar  gehört  deshalb  auch  ohne  Zweifel  zu  den 
früheren  Arbeiten  des  Meisters.  Vergleicht  man  noch 
die  beiden  Johannes  von  Eschach  und  Kilchberg, 
so  ist  doch  gewiss  einleuchtend,  dass  der  letztere 
jüngeren  Datums  ist.  Stellung,  Drapirung  und 
Kolorit  ist  bewegter,  reicher  und  feuriger  als  auf 
der  Eschacher  Tafel  (vergl. 
die  Abbildungen). 

Im  Anschluss  an  die  ge¬ 
nannten  Bilder  seien  noch 
angeführt  die  kleineren  Ta¬ 
feln  mit  den  Heiligen  Georg 2) 
und  Valentin,  aus  dem  Klos¬ 
ter  Urspring  stammend,  frü¬ 
herin  der  AbeTschen  Samm¬ 
lung  und  jetzt  in  der  Stutt¬ 
garter  Galerie;  zu  diesen  ge¬ 
hörten,  wie  Waagen  und 
Grün  eisen  angeben,  noch  die 
Heiligen  Katharina,  Nr.  485 
und  Barbara^)  (jetzt  ver¬ 
schollen?),  Janitschek  rech¬ 
net  dazu  noch  die  Bilder  in 
der  Pinakothek  zu  München, 

Nr.  180  und  181,  denh.  Georg 
und  h.  Antonius;  diese  Bilder 
stammen  aber,  wie  der  Kata¬ 
log  angiebt  aus  Schwäbisch 
Gmünd  und  kommen  1803 
in  die W allerstein’sche  Samm¬ 
lung,  können  demnach  nicht 
zu  dem  Urspringer  Altar  in 
Beziehung  stehen.  Die  bei¬ 
den  Ritterfiguren  erinnern 
auffallend  an  die  analosren 

o 

Figuren  des  Kilchberger  Al¬ 
tars,  doch  ist  der  Urspringer 
Georg  entschieden  altertüm¬ 
licher.  Lübke  findet  in  diesen 
Bildern  schon  weichere  For¬ 
men  und  eine  mildere  Farbenskala,  einen  Übergang 
zum  reiferen  Stil  des  Meisters,  was  richtig  ist;  übrigens 
bemerken  wir  eine  unverkennbare  Ähnlichkeit  zwi- 


1)  S.  die  Abbildung  auf  S.  128,  Jahrg.  1893. 

2)  Nach  Grüneisen  St.  Ulrich. 

3)  Die  analogen  Bilder  Nr.  499  und  504  der  Stuttgarter 
Galerie  sind  keinenfalls  vonZeitblom,  vielleicht  von  Strigel;  sie 
sollen,  wie  Grüneisen  (Kunstblatt  1840)  angiebt,  aus  Hürbel 
stammen. 


sehen  dem  Kopfe  des  h.  Valentin  und  dem  h.  Am¬ 
brosius  auf  der  Eschacher  Predella. 

Mit  Vorstehendem  haben  wir  alles  erschöpft, 
was  man  etwa  als  den  Entwickelungsgang  des  Mei¬ 
sters  bis  in  die  90er  Jahre  hinein  ansehen  kann,  und 
jetzt  betrachten  wir  das  Werk,  welches  bis  jetzt 
als  der  Höhepunkt  der  künstlerischen  Leistungen 
Zeitblom’s  angesehen  wurde,  ich  meine  den  Eschacher 
Altar. 

Das  Pfarrdorf  Eschach 
im  Königreich  Württemberg, 
Oberamt  Gaildorf  in  der  ehe¬ 
maligen  Grafschaft  Limpurg 
gelegen,  war  im  15.  Jahr¬ 
hundert  im  Besitz  der  Grafen 
von  Rechberg.  Die  Kirche 
wurde  in  den  Jahren  1493 
bis  1495  erbaut  und  ist  den 
beiden  Heiligen  Johannes  ge¬ 
weiht.  Das  Altarwerk,  datirt 
von  1496,  ist  ohne  Zweifel 
eine  Stiftung  der  Herren  von 
Rechberg.  Im  Schrein  sieht 
man  noch  die  lebensgroßen 
Schnitzfiguren  der  Maria  mit 
dem  Kinde  von  Engeln  ge¬ 
krönt  und  die  beiden  Johan¬ 
nes,  den  Täufer  und  den 
Evangelisten.  Die  gemalten 
Flügel  wurden  schon  im 
Jahre  1818  für  etliche  20  Ka- 
rolin  verkauft,  indem  die 
Mauer  um  die  Kirche  mit  dem 
Einsturz  drohte  und  das  Kir¬ 
chengut  kein  Geld  hatte. 
Später  kamen  die  Flügel  in 
die  Abel’sche  Sammlung  nach 
Stuttgart  und  von  da  1862 
in  die  Stuttgarter  Galerie. 
Kugler  hatdieseTafeln  schon 
im  Jahre  1843  eingehend  ge¬ 
würdigt  ^)  und  lobt  besonders 
die  Karnation;  „es  ist  ein  weicher  warmer  Schmelz 
auf  grünlichem  Grundton,  von  dem  Verblasenen  der 
Kölner  Schule  wesentlich  verschieden.  Bildung  und 
Ausdruck  der  Köpfe  durchaus  eigen  —  ein  treuer 
deutscher  Ernst,  der  aber  doch  schon  etwas  von 
ruhig  rationalistischer  Weise  in  sich  trägt.“ 

Die  Innenseiten,  Heimsuchung  und  Verkündi- 

1)  Kleine  Schriften,  II,  S.  422. 


20Ü 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


guiig,  aiißeii  die  beiden  Johannes,  anf  der  Predella 
die  vier  Kirchenväter,  Rückseite  das  veraicon;  das  letz¬ 
tere,  ehemals  in  der  Hirscher’schen  Sammlung  und 
jetzt  in  Berlin,  ist  ohne  Zweifel  das  am  besten  erhal¬ 
tene  und  vortrefflich  restanrirte  Stück  des  Altars, 
die  Aberschen  Tafeln  haben  durch  die  unglückliche 
Eigner’sche  Restauration,  welche  schon  in  den  40er 
Jahren  stattfand,  stark  gelitten,  besonders  störend 
wirkt  der  blaue  Grundton  und  das  aufgemalte  go¬ 
tische  Ornament  bei  den  Johannesbildern.  Eigner 
ist  auch  wohl  der  Erfinder  des  von  Brulliot,  Dic- 
tionnaire  11,  Nr.  308  mitgeteilten  Monogramms  B  Z 
1490,  mit  welchem  Zeitblom  dieses  Werk  bezeichnet 
haben  soll.  Im  allgemeinen  möchte  ich  den  Bildern 
keine  so  große  Bedeutung  beilegen,  wie  gewöhnlich 
geschieht.  Die  weiblichen  Gestalten  sind  geradezu 
hässlich,  dagegen  erblickt  man  in  dem  Engel  der 
Verkündigung  den  echten  Zeitblom’schen  Stil. 

In  dieselbe  Zeit  (1495 — 96)  wird  nun  allgemein 
die  Fertigung  jenes  großen  Altarwerks  gesetzt,  mit 
welchem  der  Name  Zeitblom  verbunden  wird,  näm¬ 
lich  der  Hochaltar  zu  Blaubeuren.  Aus  der  umfang¬ 
reichen  Litteratur  über  den  Altar  führen  wir  zu- 
näclist  an,  dass  das  Werk  lange  Zeit  ohne  Bedenken 
für  eine  Arbeit  Sürlin’s  galt  *),  der,  wie  eine  Inschrift 
am  Chorgestühl  meldete,  dasselbe  1493  gefertigt  hat. 
Aber  noch  eine  andere  Inschrift  am  Levitenstuhl 
hat  man  auf  den  Altar  selbst  bezogen.  Es  heißt  dort: 
Sürlin  artificis  nomen 
extolere  quia  velis 
Figuris  deificis  pinxit 
qui  dominum  de  celis. 

1496. 

Sei  dem  wie  ihm  wolle,  wir  haben  uns  hier  nicht 
mit  dem  Bildschnitzer,  sondern  dem  Maler  zu  be¬ 
schäftigen.  Weyern)ann  '-)  erwähnt,  wer  weiß  aus 
welcher  (Quelle:  „Der  Maler  des  Hochaltars  in  der 
Klosterkirche  zu  Dlaubeuren  beißt  Stöcker,  aber  sein 
'l’anfname  ist  unbekannt.“  Nun  hat  freilich  ein 
.Meister  Jfh'g  Stöcker  in  Ulm  existirt,  welcher  1491 
ein  Itild  in  die  Neidbard’sclie  Kapelle  des  Münsters 
malte  und  auch  seinen  Namen  „.lörg  Stöcker  Maler  zu 
Ulm  1520*  auf  einem  Altar  in  der  Kirche  zu  Obersta¬ 
dion  nennt.  Leider  wurde  dieses  Werk  schon  im 
Jahre  ISfil  durch  einen  gewöhnlichen  Kirchenmaler 

1)  Schon  in  der  handschriftlich  hinterlassenen  Kloster- 
heschreihung  von  Erf'enzinf^er  1747  heißt  es;  ,,das  berühmte 
Kunstwerk  des  unvergleichliclien  Malers  und  Bildsclmit'/.ers 
(iCOTfi  Sürlin  d.  .1.“ 

2)  Kunstblatt,  18.30,  tilfl. 


restaurirt,  so  dass  die  ursprüngliche  Patina  verloren 
ist.  Spätere  Autoren,  an  der  Spitze  Grün  eisen  und 
Manch  (1840),  haben  dann  die  Werkstätte  Zeitblom’s 
als  Geburtsstätte  des  Altars  eingeführt  und  man  be¬ 
gann  in  der  Folge  einzelne  Teile  des  Schreins  als 
von  seiner  Hand  ausgeführt  zu  bezeichnen.  Passa- 
vant  1846  glaubt  nur  die  Flügel  der  Predella  und 
die  Bischofsfiguren  der  Rückseite  von  Zeitblom  aus¬ 
geführt,  Waagen  geht  noch  weiter,  er  weist  ihm 
die  ganze  Johanneslegende  und  noch  zwei  Stücke 
von  den  Passionsscenen  auf  der  Vorderseite  zu. 
Hassler  erkennt  richtig  die  Thätigkeit  verschiedener 
Meister.  „Unter  diesen  Meistern  ist  einer  kenntlich, 
auch  wenn  er  unter  hundert  andern  stünde:  Zeit- 
hlom,  mag  man  ihm  bloß  die  Bilder  der  Predella 
und  auf  der  Rückwand  zuschreiben,  wie  jedermann 
thut,  der  ihn  kennt  oder  auch  einen  Teil  der  Dar¬ 
stellungen  aus  dem  Leben  Johannes  des  Täufers“. 
Schnaase-Eiseumann  spricht  sich  nicht  bestimmt  für 
Zeitblom  aus  und  sagt  ganz  richtig:  bei  näherer 
Betrachtung  erkenne  man  verschiedene  Hände,  von 
denen  keine  für  ihn  ganz  genügt.  Auch  Mauch 
äußert  sich  in  ähnlicher  Weise  über  die  Johannes¬ 
bilder,  besonders  abweichend  im  Stile  findet  er  die 
unteren  Gemälde  am  inneren  Flügel:  Johannes’  Ge- 
fangennehmung,  Enthauptung  und  Gastmahl  des 
Herodes.  Robert  Vischer  will  ganz  entschieden  auch 
die  Hand  B.  Strigel’s  erkennen,  besonders  die  oberen 
Bilder  auf  den  Innenseiten  der  äußeren  Flügel.  Ja- 
nitschek  giebt  sich  keine  weitere  Mühe,  einzelne 
Bilder  Zeitblom  selbst  zuzuschreiben,  doch  findet  er 
in  den  Heiligengestalten  der  Rückseite  die  Vorzüge 
des  Meisters  selbst  wieder. 

Das  sind  im  großen  Ganzen  die  Resultate  der 
bisherigen  Forschung,  die  dadurch  noch  erschwert 
waren,  weil  man  keine  photographischen  Aufnahmen 
der  einzelnen  Bilder  des  Altars  hatte.  Erst  vor 
zwei  Jahren  gelang  es  den  langjährigen  Bemühungen 
des  Hofrats  Baur  in  Blaubeuren,  gute  Aufnahmen 
von  allen  Teilen  des  Werkes  zu  erhalten,  die  teil¬ 
weise  auch  in  die  amtliche  Ausgabe  des  Werkes 
„Kunst-  und  Altertumsdenkmale  in  Württemberg* 
aufgenommen  sind. 

Mein  Urteil  über  den  Altar,  welches  ich  mir 
durch  oftmalige  Besichtigung  und  langjährige  Be¬ 
schäftigung  mit  der  Sache  ausgebildet  habe,  geht 
dabin,  dass  das  Werk  wohl  nicht  bei  Zeitblom  be¬ 
stellt,  sondern  einer  ganzen  Reihe  Ulmischer  Künstler 
in  Auftrag  gegeben  wurde.  Wäre  das  Werk  aus¬ 
schließlich  in  Zeitblom’s  Atelier  entstanden,  so  hätte 
er  sich  gewiss  an  irgend  einer  Stelle  des  Altars  mit 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


207 


seinem  Namen  bezeichnet,  so  aber  konnte  das  selbst¬ 
verständlich  nicht  geschehen;  auch  war  Zeitblom 
gerade  in  dieser  Zeit  mit  den  Altären  für  Eschach, 
Heerberg  und  Hürbel  i)  vollauf  beschäftigt  und  konnte 
nicht  zugleich  noch  dieses  großartige  Werk  in  Ar¬ 
beit  nehmen.  Aber  ganz  ausschließen  möchten  wir 
die  Mitarbeit  Zeitblom’s  doch  nicht  ganz,  wenn  auch 
nicht  durch  untergeordnete  Arbeiten,  wie  die  Hei¬ 
ligenfiguren  der  Rückseite  oder  die  Predellenflügel 
ihn  einführen;  so  doch  durch  zwei  Darstellungen 
aus  der  Johanneslegende  auf  dem  linken  äußeren 
Flügel  unten.  Diese  Bilder  sind  die  einzigen  des 
ganzen  Cyclus,  wo  Christus  selbst  dargestellt  ist; 
nämlich  die  Scene,  wo  Johannes  seinen  Freunden 
Petrus  und  Andreas  den  in  Begleitung  seiner  Jün¬ 
ger  nahenden  Christus  zeigt,  und  Christi  Taufe  im 
Jordan  (s.  den  Lichtdruck).  Das  sind  Darstellungen,  die 
sich  Zeitblom  ohne  Zweifel  selbst  ausgewählt  hat,  es 
sind  Hauptmomente  im  Leben  des  h.  Johannes  und 
tragen  irn verkennbare  Spuren  Zeitblom’scher  Kunst. 
Alle  anderen  Bilder  des  Altars  weichen  mehr  oder  weni¬ 
ger  von  dem  leicht  kenntlichen  Typus  des  Meisters  ab; 
die  Gestalten  auf  der  Rückseite  sind  etwas  hart  in 
der  Zeichnung,  die  Drapirung  nicht  so  edel  wie 
man’s  bei  Zeitblom  gewöhnt  ist.  Einige  Köpfe 
gleichen  sich  ganz.  Auch  die  Predellaflügel,  welche 
Robert  Vischer  unbedingt  für  eigenhändige  Arbeiten 
Zeitblom’s  in  Anspruch  nimmt,  möchte  ich  nicht 

1)  Die  hierher  gehörigen  Tafeln  keinen  aus  dem  Besitz 
des  Finanzrats  Esers  in  Stuttgart  nach  Bukarest. 


dem  Meister  zuweisen,  sondern  lieber  Jakob  Acker, 
dem  sie  auch,  auf  Grundlage  eingehender  Beschäf¬ 
tigung  mit  den  Altären  Acker’s  zu  Risstissen  und 
Ersingen,  Fr.  Dirr  zugeschrieben  hat. 

Ganz  abweichend  vom  Zeitblom’schen  Stil  sind 
die  Bilder  von  der  Innenseite  des  rechten  Flügels, 
sie  erinnern  an  Strigel,  einer  anderen  Hand  gehören 
an  die  vier  oberen  Bilder  der  inneren  Flügel,  wäh¬ 
rend  die  vier  unteren  wieder  mehr  an  Zeitblom 
erinnern,  man  hat  sie  schon  Herlin  oder  gar 
M.  Schongauer  zuschreiben  wollen.  Die  vier  Bilder 
des  linken  Flügels  zeichnen  sich,  wie  schon  Passa- 
vant  bemerkt,  durch  einen  weit  tieferen  Ton  der 
Karnation  aus.  Die  vier  Passionsscenen  der  Außenseite 
sind  rohe  Arbeiten  der  Wohlgemuth’schen  Schule. 
Man  hat  sich  früher  alle  Mühe  gegeben,  Inschriften, 
Monogramme  und  Jahrzahlen  und  anderes  an  dem 
Werke  zu  entdecken,  welche  über  den  Stifter  oder 
Künstler  des  Altars  Aufschluss  geben  könnten.  Doch 
findet  sich  nichts  daran  als  unter  der  Madonna  im 
Mittelschrein  das  Wappen  des  Abts  Heinrich  Faber 
(1475—95),  unter  dessen  Regierung  der  Altar  aus¬ 
geführt  wurde.  Die  beiden  als  Künstlermonogramme 
gedeuteten  Zeichen  am  Oberschenkel  des  Mohren¬ 
königs  und  an  demjenigen  eines  Dieners  beim  Gast¬ 
mahl  des  Herodes  sind  lediglich  als  Verzierungen, 
beziehungsweise  als  das  Livreezeichen  des  Herodes 
Antipater  anzusehen.  Ich  gebe  hier  beide  in  genauen 
Abbildungen,  da  solche  vielfach  falsch  abgezeichnet 
werden.  (Schluss  folgt.) 


Monogramm  vom  Blaiibeurener  Altar. 


Wappen  des  Abts  Heinrich  Faber. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 

VON  KARL  WO  ER  MANN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 

(Fortsetzung.) 


M  Herbst  1761  siedelte  Mengs 
mit  seiner  ganzen  Familie 
nach  Madrid  über.  Am  7. 
Oktober  dieses  Jahres  lan¬ 
dete  er  in  Alicante.  In  Ma¬ 
drid,  wo  er  die  sächsische 
Königin  von  Spanien  nicht 
mehr  am  Leben  fand,  vom 
König  aber  liebevoll  empfangen  wurde ,  begann 
er  eine  äußerst  angestrengte  Thätigkeit.  Vor  allen 
Dingen  sollte  er  im  Wettbewerb  mit  Tiepolo,  dem 
großen  Venezianer,  der  lieber  der  glänzendste  Ver¬ 
treter  als  der  Neugestalter  der  Kunst  seiner  Zeit  sein 
wollte,  das  königliche  Schloss  mit  großen  Decken¬ 
gemälden  schmücken;  dann  galt  es,  die  Madrider 


VIL 

Akademie,  die  berühmte  Academia  de  San  Fernando, 
auf  neue  Grundlagen  zu  stellen,  wobei  er  auf  den 
lebhaftesten  Widerstand  der  Spanier  und  Italiener 
der  alten  Schule  stieß  und  nur  Verdruss  erntete; 
auch  Bildnisse  und  Altargemälde  hatte  er  in  großer 
Anzahl  zu  malen;  und  endlich  drängte  es  ihn  selbst, 
wissenschaftlich  angelegt,  wie  er  war,  sich  in  die 
Reihen  der  Kunstschriftsteller  zu  begeben.  Sein 
erstes  Schriftwerk:  „Gedanken  über  die  Schönheit 
und  den  Geschmack  in  der  Malerei“  erschien  in  deut¬ 
scher  Sprache  1762  bei  Füssli  in  Zürich,  wurde  aber 
bald  in  alle  Kultursprachen  übersetzt  und  erzielte 
einen  ungeheueren  Erfolg.  Winckelmann  begrüßte 
das  Werkchen  in  einem  am  23.  Juni  1762  von  Castel 
Gandolfo  aus  an  Mengs  gerichteten  Brief  mit  dem 


J 


Faksimile  der  Unterschrift  von  A.  K.  Mengs. 


Amor. 

Pastellgemälde  von  A.  R.  Mengs  in  der  Dresdener  Galerie, 


A.  R.  Mengs:  Josephs  Traum.  Ölskizze.  (Kgl.  üemäldegalerie  in  Dresden.) 
Zeitschriit  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  9. 


210 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


überschwenglichsten  Entzücken.  „Hier  hat  es  mich 
erreicht,“  schreibt  er  (Fea,  p.  422),  „ich  verschlinge 
es;  alles  erscheint  mir  nen;  ich  wette,  dass  niemals 
eine  so  kleine  und  unscheinbare  Arbeit  zu  Tage  ge- 

ö  n 

fordert  worden,  die  so  reich  wie  dieses  Euer  Werk- 
chen  an  tiefen  Empfindungen,  gründlichen  Erörte¬ 
rungen,  thatsächlicher  Förderung  und  Belehrung 
gewesen.  Nicht  nur  mit  anderen  Werken  über  die 
Kunst,  sondern  —  ich  wage  es  zu  behaupten  —  mit 
anderen  Büchern  jeder  Art  verglichen,  erscheint  es 
so  gewichtig  wie  ein  Pfund  Blei  gegen  ein  Säck¬ 
chen  Wolle.“  Er  muss  also  doch  wohl  etwas  aus¬ 
gesprochen  haben ,  nach  dessen  Aussprache  die  Zeit 
sich  gesehnt  hatte.  Wir  kommen  darauf  zurück. 

Von  den  zahlreichen  Bildnissen,  die  Mengs 
während  seines  ersten,  acht  Jahre  dauernden  Aufent¬ 
halts  in  iMadrid  schuf,  sind  manche  im  Madrider 
Museum  erhalten,  ist  aber  doch  dasjenige  der  In¬ 
fantin  Maria  Ludovia  in  die  kais.  Galerie  zu  Wien 
gelaugt.  Auch  die  Altargemälde  sind  meist  in  Spa¬ 
nien  geblieben,  wie  sich  dies  in  Bezug  auf  die 
Deckengemälde  im  Schlosse  von  selbst  versteht.  Nur 
die  letzteren  können  hier  kurz  erwähnt  werden.  Zuerst 
schmückte  der  Meister  die  Decke  des  Wohnzimmers 
des  Königs  mit  einer  großen  Götterversammlung, 
die  die  Aufnahme  des  Herakles  in  den  Olymp  dar- 
stellte.  Sodann  malte  er  in  dem  Zimmer  der  Kö¬ 
nigin  die  gepriesene  „Aurora“  mit  den  „vier  Jahres¬ 
zeiten“  zu  ihren  Seiten.  Diese  Aurora  bekam  der 
Verfasser  dieses  Aufsatzes  nicht  zu  sehen,  weil  das 
Zimmer,  als  er  in  Madrid  war,  gerade  von  der  er¬ 
krankten  Prinze.ssin  von  Asturien  bewohnt  wurde. 
Jene  Götterversaminlung  aber  schien  ihm  in  der 
Geschio.ssenheit  ihrer  Anordnung  und  in  dem  klaren 
Gleichgewiclit  ihrer  Formen-  und  Farbenpracht  noch 
einen  l’ortschritt  über  den  Parnass  der  Villa  Albani 
hinaus  zu  l)edeuten. 

Besonders  wohl  aber  hat  sich  die  Familie  Mengs 
in  Madrid  von  Anfang  an  nicht  gefühlt.  Seine  schöne 
Frau  unil  seine  Kinder  scliickte  der  Meister  schon 
17b.‘{  nach  Rom  zurück.  Frau  Mengs  richtete  sich 
am  Tiberstrande  verschwenderisch  ein;  und  im  fol¬ 
genden  .Jahre  spielte  sicli  hier  das  merkwürdige, 
von  .lusti  (Winckelmann  11,  S.  340 — 334)  eingehend 
geschilderte  Abenteuer  zwischen  ilir  und  Winckel¬ 
mann  ab,  das  dank  der  Tugend  mul  Freundschafts- 
sehwärmerei  der  drei  Beteiligten  glücklich  verlief, 
ohne  dass  einer  von  ihnen  Schaden  an  Leib  und 
Seele  genommen  hätte.  Einen  Stoß  erhielt  Winckel- 
mann’s  Begeisterting  für  Mengs  erst,  als  er  den 
Streich  entdeckte,  den  der  Meister  ihm  wohl  nur 


aus  Künstlerübermut  gespielt,  indem  er  ihn  veran- 
lasste,  zwei  von  ihm  selbst  angefertigte  Nachahmun¬ 
gen  antiker  Wandgemälde  als  echt  zu  veröffent¬ 
lichen.  Auch  hierüber  lese  man  das  Nähere  bei 
Justi  (Winckelmann  II,  S.  213,  334,  348)  nach.  Es 
kam  zu  einem  Bruche,  den  leider  kein  Wiedersehen 
heilen  konnte,  da  Winckelmann  bekanntlich  1768 
in  Triest  ermordet  wurde.  Doch  betrachtete  Mengs 
seinen  gelehrten  Landsmann  bis  an  sein  Ende  als 
seinen  Freund,  wenngleich  er  sich,  nachdem  er  die 
Nachricht  von  seiner  Ermordung  erhalten,  in  einem 
italienischen  Briefe  an  Raimondo  Ghelli  vom  19.  Juli 
1768  ziemlich  kühl  philosophisch  darüber  aussprach. 
„Mit  dem  größten  Bedauern“,  schrieb  er,  „habe  ich 
von  dem  unglücklichen  Tode  Freund  Winckelmann’s 
gehört;  aber  da  sich  die  Thatsache  nicht  ändern 
lässt,  habe  ich  mich  mit  der  Hoffnung  zu  trösten 
gesucht,  dass  er  ein  gutes  Ende  gehabt  habe  (che 
abbia  fatto  una  buona  morte)  und  folglich  die  ewige 
Seligkeit  genieße,  auf  die  es  vor  allem  ankommt. 
Der  Mensch  fängt  ja  schon  an  zu  sterben,  noch  ehe 
er  geboren  wird  u.  s.  w.“ 

In  demselben  Jahre,  in  dem  Mengs  seine  Gattin 
nach  Rom  zurückschickte,  ging  der  siebenjährige 
Krieg  zu  Ende.  Gleich  darauf,  noch  im  gleichen 
Jahre  1763,  starben  kurz  nach  einander  August  HI. 
und  sein  erster  Ratgeber  Graf  Brühl.  Der  Lübecker 
Heinecken  musste  dem  Hamburger  Hagedorn  in  der 
Leitung  der  Dresdener  Kunstangelegenheiten  Platz 
machen.  Der  Leibarzt  Bianconi  wurde,  da  der  Kur¬ 
fürst  Christian  nach  nur  zweimonatlicher  Regie¬ 
rung  am  17.  Dezember  1763  unter  seiner  Behand¬ 
lung  ebenfalls  gestorben  war,  und  die  Kurfürstin 
Marie  Antonie  ihn  infolgedessen  mit  scheelen  Blicken 
ansah  (so  schrieb  wenigstens  Winckelmann  am  3.  Jan. 
1764  an  Mengs),  an  Lagnasco’s  Stelle  als  sächsischer 
Geschäftsträger  nach  Rom  versetzt,  wo  er  später 
Mengs’  Leben  schrieb.  In  Sachsen  wurden  die  Ver¬ 
hältnisse  umge.staltet  und  neugeregelt.  Vor  allen 
Dingen  wurde  an  Stelle  der  alten,  von  August  dem 
Starken  gegründeten  unentgeltlichen  Zeichenschule, 
deren  Direktor  ihr  einziger  Lehrer  zu  sein  pflegte, 
eine  wirkliche  Akademie  der  bildenden  Künste  in 
Dresden  errichtet.  Ihre  Errichtung  angeregt  zu  haben, 
war  ein  Hauptverdienst  des  so  früh  verstorbenen 
Kurfürsten  Friedrich  Christian.  Ausgeführt  wurde 
sie  1764  nach  Hagedorn’s  Vorschlägen  unter  der  „Ad¬ 
ministration“  des  Prinzen  Xaver.  Die  Geschichte  ihrer 
Gründung  kommt  hier  nur  in  .Betracht,  soweit  es 
sich  um  die  Familie  Mengs  handelte.  Natürlich  ver¬ 
gaß  man  dieselbe  nicht.  Doch  sah  man  von  vorn- 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


211 


herein  ein,  dass  au  einer  Akademie,  deren  Professo¬ 
ren  durchschnittlich  600  Thaler  Gehalt  hatten,  kein 
Platz  für  Anton  Raphael  sei,  der  in  Madrid  6000 
Scudi  Gehalt  bezog.  Man  machte  ihm  daher  nur 
eine  Anstandsverbeugung,  indem  man  in  dem  priuz- 
lichen  Erlass  vom  6.  Februar  1764  über  die  Künstler¬ 
gehalte,  nachdem  man  seine  Streichung  aus  der 
Liste  der  sächsischen  Pensionäre  ausgesprochen,  den 
Satz  eiufließen  ließ:  »Sollte  er  sich  allhier  anderweit 
uiederlassen  wollen,  so  werden  wir  uns  darüber,  in 


mahler,  zieht  600  Thaler  Pension,  die  er  im  Lande 
verzehren  oder  allem  Anschein  nach  entbehren  kann.“ 
Doch  beschloss  man  schließlich,  dem  alten  Herrn 
gegenüber  ein  Auge  zuzudrücken  und  ihn  in  Rück- 
sicht  auf  seine  vieljährigen  Dienste  zum  Professor 
honorarius  an  der  neuen  Akademie  zu  ernennen  mit 
der  Erlaubnis,  seine  Pension  von  600  Thaleru  in  Rom 
verzehren  zu  dürfen.  Wider  Vermuten  kehrte  er 
jedoch  zu  Anfang  des  Jahres  1764  nach  Dresden 
zurück  und  erteilte  noch  einigen  Schülern  Unterricht 


A.  ß.  Mengs:  Magdalena.  Ölgemälde.  (Kgl.  Gemäldegalerie  in  Dresden.) 


wie  weit  ihm  eine  seiner  ausnehmenden  Geschick¬ 
lichkeit  gemäße  Belohnung  zu  bestimmen  thuulich, 
entschließen.“  Durch  denselben  Erlass  wurden  die 
Gehalte  der  Theresia  Concordia  Marou  geb.  Mengs 
und  der  Klosterfrau  Juliane  Mengs,  die  beide  nicht 
nach  Dresden  zurückgekehrt  waren  und  keine  Ar¬ 
beiten  mehr  für  den  sächsischen  Hof  geliefert  hat¬ 
ten,  einfach  gestrichen.  Anders  stand  es  mit  Ismael 
Mengs.  Dieser  befand  sich,  alt  und  gebrochen,  1763 
wieder  in  Rom.  In  einer  schon  in  diesem  Jahre 
niedergeschriebenen,  vorbereitendenDenkschriftHage- 
dorn’s  heißt  es  daher:  „Ismael  Mengs,  Miniatur- 


im  Emailliren.  Sein  Wunsch,  dem  er  gleich  nach 
seiner  Rückkehr  in  einer  Eingabe  an  den  Regenten 
Ausdruck  gab,  ging  dahin,  in  der  Porzellanfabrik 
zu  Meißen  angestellt  zu  werden.  Die  Eingabe  zeigt, 
wie  schwach  inzwischen  sein  Deutsch  geworden  war. 
Es  heißt  in  ihr:  „und  ob  ich  gleich  zu  mahlen  alt 
und  schwach  bin,  so  verspreche,  dass  ich  noch  in 
stand  seye  einen  oder  zwei  porcilaner  (sic)  so  vill 
mit  meiner  Wissenschafft  zu  lehren  und  großen 
nutzen  zu  schaffen  als  andere  in  zwanzig  Jahre 
studirt  und  laborirt,  dass  exempel  ist  an  meinem 
Sohne  Mengs,  welcher  den  ersteren  mahlern  vorge- 


212 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


zogen  wird“  u.  s.  w.  Mündlich  wurde  ihm  bedeutet, 
er  müsse  sich  an  den  Geheimrat  Hagedorn  wenden. 
Im  Februar  des  Jahres  1764  richtete  er  eine  flehent¬ 
liche  Bittschrift  an  diesen,  in  der  er  hauptsächlich 
um  die  Freiwohnung  im  Schlosse  zu  Meißen  hat, 
die  Herr  Bergrat  Herold  innegehabt,  auch  um  das 
Freiholz,  das  dieser  bezogen,  „nemblich  die  abschnitz 
von  holtz,  die  sie  nicht  könen  in  den  Brennöfen 
gebrauchen“.  Er  hofft,  dass  Hagedorn  ihm  nicht 
.contrer  seyn“,  sondern  ihm  helfen  werde^  „posiren, 
zu  einem  glückseeligen  Alter  in  ruhe  zu  setzen“. 
Am  9.  April  erhielt  er  die  Antwort,  dass  sein  Wunsch, 
da  Herr  Bergrat  Herold  noch  am  Leben  sei,  bis 
auf  weiteres  nicht  erfüllt  werden  könne.  „Inmittelst“, 
schreibt  Hagedorn,  „sind  Ew.  Hochedl.  als  Professor 
honorarius  in  der  Classe  der  Mahlerey  bei  der  neu 
errichteten  churfürstlichen  Akademie  am  22.  Februar 
ernannt“.  Am  23.  Juli  desselben  Jahres  bat  Ismael 
nunmehr  um  ein  „freies  Logement“  in  Dresden,  da 
er  bereits  einige  Schüler  zu  unterrichten,  aber  kein 
Geld  habe,  selbst  „ein  hinlänglich  großes  und  lichtes 
(Juartier  zu  bezahlen“.  Als  ihm  auch  dieses  nicht 
gewährt,  ihm  vielmehr  die  Anwartschaft  auf  des 
Bergrats  Herold  Freiwohnung  in  Meißen  zuge¬ 
sprochen  wurde,  bat  er,  da  es  ihm  in  Dresden  zu 
teuer  sei,  inzwischen  auf  eigene  Kosten  mit  seinen 
Schülern  nach  Pirna  oder  Meißen  ziehen  zu  dürfen. 
Daraufhin  erhielt  er  im  August  die  Erlaubnis,  nicht 
zwar  nach  Pirna,  wohl  aber  nach  Meißen  zu  ziehen, 
„wo  man  ihm,  wegen  der  nicht  zu* verabsäumenden 
Schmelzarbeit  oder  Email  etwa  einen  Scholaren  durch 
den  Direktor  Dietrich  zuweisen  lassen  könnte“.  Er 
kam  aber  nicht  mehr  dazu,  Dresden  zu  verlassen. 
Am  23.  Juli  hatte  er  hier  auch  schon  sein  Testament 
gemacht.  Den  Herbst  über  war  er  leidend;  doch 
eröffnete  er  noch  am  3.  November  seine  Lehrstunden 
über  die  „Traktation  der  Farben“.  Am  24.  Dez., 
als  er  nocli  lebte,  schlug  Hagedorn  dem  Prinzen 
X^aver  bereits  vor,  da  Ismael  Mengs  ohne  Hoffnung 
darniederliege,  sein  Gehalt  nach  seinem  Tode  unter 
die  Professoren  Casanova,  Camerata  und  Coudray  zu 
verteilen.  Der  Prinz  entschied  dem  entsprechend; 
als  Ismael  am  26.  Dez.  1764  gestorl^en  war,  erhielt 
jeder  von  ihnen  200  Thaler  Zulage.  Frau  Katharina 
.Mengs,  geh.  Nützschner,  machte  am  28.  Dezember  die 
Anzeige  von  Ismaers  Hinscheiden,  zugleich  um  die 
drei  Guadennionate  und  ein  Witwengehalt  bittend. 
„Alle  Lehrer,  Mitglieder  und  Zöglinge  der  Akademie 
folgten  seiner  Leiche  bei  der  Beerdigung“.  (Bibi,  der 
schönen  Wissenschaften  XII,  S.  145). 

Da  ismael  in  seinem  Testamente,  dessen  Abschrift 


sich  im  K.  S.  Hauptstaatsarchiv  befindet,  seine  Kinder 
auf  ihren  Pflichtteil  gesetzt,  aber  auch  diesen  durch 
Forderungen  seiner  Frau  für  aufgezehrt  erklärt  hatte, 
so  dass  seine  Kinder  ganz  leer  ausgehen  sollten,  seiner 
Witwe  aber  sein  ganzer  Nachlass  zugedacht  war, 
so  fochten  die  Kinder  das  Testament  an.  Frau 
Katharina  reiste  im  nächsten  Jahre  sogar  nach 
Madrid,  um  sich  mit  ihrem  Stiefsohn  Anton  Raphael 
auseinanderzusetzen.  Befriedigt  von  seiner  Frei¬ 
gebigkeit  und  Güte,  kehrte  sie  nach  Dresden  zurück. 
Die  Erbansprüche  der  Witwe  und  der  Kinder  Ismael’s 
sollten  durch  gerichtlichen  Vergleich  geregelt  werden. 
Doch  kam  dieser  Vergleich  erst  ein  Jahr  nach  Anton 
Raphael’s  Tode,  erst  1780  zu  stände.  Nach  ihm 
hatte  Frau  Mengs  1200  Thaler  im  ganzen,  je  400 
für  jedes  ihrer  Stiefkinder  oder  deren  Erben  abzu¬ 
geben.  Da  aber  Theresia  Concordia  auf  ihren  Anteil 
zu  Gunsten  ihrer  Neffen  Alberich  und  Raphael,  der 
beiden  in  Rom  lebenden  Söhne  Anton  Raphael’s,  ver¬ 
zichtete  (deren  versorgte  Schwestern  auch  verzichtet 
zu  haben  scheinen),  so  erhielten  diese  je  300  Thaler; 
300  Thaler  erhielt  die  Klosterfrau  Julia  Mengs  (Maria 
Sperandia)  und  300  Thaler  die  Witwe  des  Karl 
Moritz  Mengs  in  Kremsmünster.  Den  Rest  der  Erb¬ 
schaft,  2150  Thaler,  behielt  Frau  Katharina.  Erst 
1789,  nachdem  sie  lange  vergeblich  um  Pension  ge¬ 
bettelt,  wurde  der  einundachtzigjährigen  auch  eine 
jährliche  Beihilfe  von  36  Thalern  aus  der  könig¬ 
lichen  Schatulle  zugesichert.  Lange  aber  kann  sie 
nach  dieser  Zeit  nicht  mehr  gelebt  haben. 

*  * 

* 

VIII. 

Ein  Jahr  nach  dem  Tode  seines  Vaters  trat 
übrigens  auch  Anton  Raphael  wieder  in  Beziehung 
zu  dem  sächsischen  Hofe.  Als  ihm  1765  sein  Bild 
der  Himmelfahrt  Christi  von  Rom  nach  Madrid  nach¬ 
geschickt  worden  war,  damit  er  es  hier  endlich 
vollende,  ließ  er  in  einem  der  Briefe,  die  er  in  dieser 
Angelegenheit  an  den  sächsischen  Gesandten  in 
Madrid,  den  Legationsrat  Saul  richtete,  die  liebens¬ 
würdige  Bemerkung  einfließen,  dass  er,  von  einem 
durch  Dankbarbeit  eingegebenen  patriotischen  Eifer 
beseelt  (imperato  da  un  zelo  patriotico  a  ragione  di  gra- 
titudine),  mit  dem  größten  Vergnügen  auf  einige  Zeit 
nach  Sachsen  gehen  würde,  wenn  es  seinem  Vater¬ 
lande  von  einigem  Nutzen  sein  könne,  und  er  bitte, 
Ihre  Königlichen  Hoheiten  dies  wissen  zu  lassen. 
Da  er  kurz  vorher  auf  sein  ungewöhnlich  hohes  Ge¬ 
halt  hingewiesen,  das  ihm  volle  Freiheit  der  Be- 


A.  R.  Mengs;  Ferdinand  IV.  Ölbild  im  Museo  Nazionale  in  Neapel. 


R.  Mengs:  Der  Daiuass.  Deekeul'resko  iu  der  Villa  Alliaui  iu  Küiii.  Naeh  dem  Studi  v.'ii  Kaidin.d  Moia 


DIE  GALERIE  SCHÜBART  IN  MÜNCHEN. 


215 


wegung  lasse,  so  konnte  dies  eigentlich  gar  nicht 
so  verstanden  werden,  als  trüge  er  Verlangen  nach 
sächsischem  Gelde.  Vielleicht  war  es  auch  nur  eine 
Höflichkeitswendung,  wie  die  spanische  Redensart 
,,  A  la  disposicion  de  Vd.“  Es  ist  aber  lehrreich  und 
spaßig,  urkundlich  zu  verfolgen,  welche  Aufregung 
des  Meisters  Anerbieten  in  Dresden  verursachte.  Die 
Akademieprofessoren  gerieten  in  helle  Angst '  und 
suchten  die  Rückkehr  des  kühnen  Neuerers  mit  allen 
Mitteln  zu  hintertreiben.  Zu  ihrem  Anwalt  machte 
sich  der  Geheimrat  Hagedorn  in  einer  längeren, 
gewundenen  Eingabe  an  den  Regenten  am  20. 
Februar  1766,  in  der  er  natürlich  zunächst  grund¬ 
sätzlich  anerkannte,  dass  der  berühmte  Mengs  dem 
Kunstleben  seiner  Vaterstadt  von  großem  Nutzen 
sein  könne,  dann  aber  dazu  überging,  zahlreiche  Ein¬ 
wendungen  zu  machen:  „Vielmehr  ist  es  allerdings 
zu  besorgen,  dass,  wenn  Mengs  die  Unzuverlässigkeit 
im  Zeichnen,  und  viele  andere  Dinge,  wo  der  Wett¬ 
eifer  in  Eifersucht  ausartet,  wabrnehraen  sollte,  er 
sie  nur  nach  seinen  Begriffen  zu  deutlich  bei  ihren 
Namen  nennen,  nicht  allemal  im  Gleise  bleiben,  auch 
wohl  andere  nützliche  Mitglieder  vor  den  Kopf 
stoßen  möchte.“  Auch  sei  es  nicht  nötig,  einen 
Künstler  aus  Madrid  zu  verschreiben,  da  man  Männer, 


wie  Hutin,  Casanova,  Canale  (lauter  Ausländer!)  in 
Dresden  habe.  Außerdem  werde  Mengs  Nebenab¬ 
sichten  haben,  sich  wegen  der  Rückstände  der  Stief¬ 
mutter,  der  Schwestern  „mehr  als  ein  Geschäft“ 
machen,  werde  mindestens  das  Deckengemälde  der 
katholischen  Hofkirche  malen  wollen,  ein  Porzellan¬ 
geschenk  erwarten  n.  s.  w.,  u.  s.  w.  Kurz,  der  Prinz¬ 
regent  möge  ihm  ausweichend  antworten  lassen,  jeden 
Schein  einer  Berufung  vermeiden  und  sich  vor  allen 
Dingen  nach  den  Bedingungen  erkundigen,  unter 
denen  Mengs  bereit  sei,  seiner  Vaterstadt  einen  Be¬ 
such  zu  machen.  Dies  geschah.  Mengs  erteilte 
dem  Legationsrat  Saul  in  Madrid  eine  mündliche 
Antwort.  Dieser  berichtete  am  10.  April  1766: 
„Mengs  hat  mir  geantwortet,  da  er  zur  Zeit  unter 
sehr  guten  Bedingungen  (avec  de  tres  bons  apointe- 
ments)  im  Dienste  Seiner  katholischen  Majestät  stehe, 
so  denke  er  gar  nicht  daran,  dem  sächsischen  Hofe 
auch  nur  im  allergeringsten  zur  Last  zu  fallen,  noch 
an  der  Akademie  angestellt  zu  werden,  noch  auf 
Kosten  des  Dresdener  Hofes  eine  Reise  von  Madrid 
nach  Sachsen  zu  unternehmen.  Er  habe  nur  als 
guter  Bürger  für  alle  Fälle  seine  schwachen  Dienste 
anbieten  wollen,  u.  s.  w.“ 

(Schluss  folgt.) 


DIE  GALERIE  SCHUBART  IN  MÜNCHEN.’) 

MIT  ABBILDUNGEN. 


IE  Flerstellung  großer  Galerie¬ 
werke  hat  bisher  vier  ver¬ 
schiedene  Phasen  durch¬ 
gemacht.  Für  die  wenigen 
Publikationen  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  war  als 
vermittelnde  Technik  der 
Kupferstich  oder  die  Radi¬ 
rung  gewählt  worden.  Im  19.  Jahrhundert  erschien 
der  Steindruck,  als  dritte  der  Stahlstich,  und  seit 
wenigen  Jahrzehnten  verzeichnen  wir  eine  vierte 
Entwickelungsstufe,  in  der  die  Nachbildungen  von 


1)  Sammlung  Schubart,  früher  Dresden,  jetzt  München. 
Eine  Auswahl  von  Werken  alter  Meister  aus  dieser  Samm¬ 
lung,  rcproduzirt  in  Heliogravüre  und  Phototypie.  Mit  einem 
Vorwort  des  Besitzers  und  mit  erläuterndem  Text  von  Cor- 
nelis  Hofstede  de  Groot.  München,  Verlag  f.  Kunst  und 
Wissenschaft,  vormals  Fr.  Bruckmann.  Fol. 


Gemälden  als  Lichtdrucke  der  verschiedensten  Art 
auftreten,  als  Chromgelatinglasdrucke,  Heliogravüren, 
Phototypieen,  Heliotypieen  oder  wie  sie  alle  an  ver¬ 
schiedenen  Orten  verschieden  getauft  und  hergestellt 
werden.  Der  Stich  und  die  Radirung  als  Mittel  zur 
Wiedergabe  alter  Gemälde  treten  mehr  nnd  mehr 
zurück.  Begreiflich  das!  So  sehr  es  uns  auch  in- 
teressirt,  wie  dieser  oder  jener  Meister  der  Radir- 
nadel  oder  des  Grabstichels  einem  Rembrandt,  einem 
Tizian  gerecht  wird,  so  liegt  doch  für  uns  bei  Nach¬ 
bildungen  alter  Gemälde  das  Hauptgewicht  auf  dem 
alten  erfindenden  Meister  nnd  nicht  auf  dem  moder¬ 
nen,  nachdichtenden  Künstler.  Wir  suchen  vor  allem 
höchste  Treue  der  Wiedergabe.  Diese  wird  sich 
aller  Voraussicht  nach  auf  dem  Wege  der  photo¬ 
chemischen  Verfahrungsarten  noch  bis  ins  heute  Un¬ 
geahnte  steigern.  Verfeinerungen  des  Farbendrnckes 
werden  alljährlich  erfunden,  nnd  in  absehbarer  Zeit 


Männliches  Bildnis  von  Chr.  Amüerüer  Weildidies  Bildnis  von  rnu.  AMi;i;r..  i;n. 

A\is  dem  Werke:  Die  .Sammlung  Scbiibart. 


DIE  GALERIE  SCHUBART  IN  MÜNCHEN. 


217 


wird  man  auf  die  Blätter  der  Arundel-Society  mit¬ 
leidig  oder  scLou  mit  liistoriscliem  Interesse  lierab- 
blicken  und  Farbendrucke  hersteilen,  die  wie  gemalte 
Kopieen  ausseben.  Die  Radirer  und  Stecher  werden 
sich  mittlerweile  vollkommen  mit  dem  Gedanken 
befreundet  haben,  dass  es  ganz  hübsch  ist,  selbst 
etwas  zu  erfinden  und  auf  Kupfer  auszubilden,  an¬ 
statt  ewig  und  immer  das  nachzusprechen,  was  die 


großen  Maler  der  Vergangenheit,  streng  genommen, 
doch  schon  viel  besser  gesagt  haben.  Mit  all 
dem  hat  es  aber  noch  Weile.  Noch  erfreuen  wir 
uns  an  guten  Blättern  nach  Raffael  und.  Holbein, 
noch  genügen  uns  die  trefflichen,  farblosen  Licht¬ 
bilder,  die  man  nach  alten  Gemälden  bis  heute  herzu¬ 
stellen  vermag.  Ganz  besonders  willkommen  sind 
uns  aber  solche  Reproduktionen,  wenn  uns  dadurch 
auserlesene  Gemälde  vorgeführt  werden,  die  ihrer 
Aufbewahrung  nach  für  wenige  nur  zugänglich  sind, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  9. 


wenn  uns  also  der  Anblick  von  Bildern  aus  privaten 
Sammlungen  dadurch  vermittelt  wird.  Wir  danken 
es  daher  dem  Eigentümer  einer  ungewöhnlich  wert¬ 
vollen  Privatsammlung,  Herrn  Dr.  Sclmhart  in  Mün¬ 
chen,  gewiss  aufrichtig,  dass  er  die  Hauptstücke 
seiner  Galerie  in  Nachbildungen  vorzüglicher  Art 
hat  veröffentlichen  lassen.  Ein  sorgfältig  gearbei¬ 
teter  Text  von  Dr.  CorncUs  Hofstede  de  Groot  macht 


auf  manches  aufmerksam,  das  auch  dem  Galeriekun¬ 
digen  zu  erfahren  erwünscht  sein  kann,  und  ein 
Vorwort  aus  der  Feder  des  Besitzers  hat  einen  ganz 
besonders  intimen  Reiz,  da  es  in  ebenso  bescheidener 
wie  geistvoller  Weise  die  Frage  erörtert,  ob  ein 
Sammler  seine  eigenen  Bilder  für  die  Öffentlichkeit 
besprechen  soll  oder  nicht.  Burtin’s  Bericht  über 
seine  eigene  Sammlung  hat  etwas  Prahlerisches  an 
sich.  Schubart  bemerkte  die  Klippe  und  überließ 
die  Aufgabe  der  kritischen  Beschreibung  einem  an- 

28 


Christus.  Gemälde  von  P.  P.  Rubens.  Aus  dem  Werke:  Die  Sammlung  Schubart. 


DIE  GALERIE  SCHUBART  IN  MÜNCHEN. 


2  IS 

deren.  Sein  Vorwort  wirkt  nur  wie  eine  liebens¬ 
würdige  Einladung,  die  Lesung  des  de  Groot’sclien 
Buckes  zu  beginnen,  und  vermeidet  jedes  Taxiren 
seiner  Bilder.  Einem  solchen  kann  er  ja  ruhig  ent¬ 
gegensehen.  Denn  so  viel  Anregendes  und  Wert¬ 
volles  bietet  gegenwärtig  seine  Sammlung,  dass  jeder 
Bilderfreund  dort  etwas  finden  wird,  das  ihn  fesselt, 
ja  entzückt. 

Als  Titelblatt  des  neuen  Foliobandes,  der  in 
jeder  Beziehung  reich  und  prächtig  ausgestattet  ist, 
wurde  das  Brustbild  eines  spanischen  Malers  ge- 
Avählt.  Mit  Vorbehalt  wird  bei  diesem  weich  be¬ 
handelten  Gemälde  von  einem  Eigenbildnis  desMurillo 
gesprochen,  dabei  aber  ganz  richtig  auf  die  Schwierig¬ 
keit  hingewiesen,  dieses  Porträt  mit  anderen  Bild¬ 
nissen  Murillo’s  in  Einklang  zu  bringen.  Ob  wir 
nicht  ein  Selbstporträt  des  Spaniers  Mazo  vor  uns 
haben?  Und  das  hauptsächlich  wegen  einer  gewissen 
Porträtähnlichkeit  mit  den  Zügen  des  Mazo  auf  dem 
bekannten  Familienbildnisse  in  Wien  (als  Velazquez 
katalogisirt),  das  entweder  von  Pareja  oder  gar  wahr¬ 
scheinlich  von  Mazo  gemalt  ist.  Den  letzteren 
Namen  hat  auch  Justi  vor  dem  Wiener  Bilde  ge¬ 
nannt,  der  wohl  auch  gelegentlich  die  Frage  nach 
dem  Meister  des  Münchener  Bildes  wird  beantworten 
können. 

Auf  sicherem  Boden  stehen  wir  bei  den  näch¬ 
sten  Abbildungen,  nämlich  den  beiden  Porträts  des 
Matthäus  Schwarz  und  seiner  Frau  von  Christoph 
Amtjerger.  (Siehe  unsere  verkleinerten  Abbildungen.) 
Bekanntlich  sind  beide  Gemälde  beglaubigte  Werke 
Amberge r’s  und  die  Ausgangspunkte  für  die  Bestim- 
mmm  seiner  Werke.  Man  sieht  einer  Einzelstudie 
über  diesen  Vertreter  der  Augsburger  Bildnismalerei 
aus  der  Mitte  des  16.  -Jahrhunderts  entgegen,  die 
gewiss  mehr  Neues  bringen  wird,  als  hier  in  weni¬ 
gen  Zeilen  gesagt  werden  könnte. 

Das  Schubart’sche  Galeriewerk  lässt  nun  die 
Nachbildung  und  Besprechung  von  mehreren  inter- 
e.ssauten  frühen  Werken  des  älteren  folgen: 

zunächst  des  Bildnisses  eines  vornehmen  Herrn  Jacob 
N.  N.  in  einfacher  Pilgertracht,  die  einen  auffallen¬ 
den  Ougensatz  zu  den  vielen  kostbaren  Ringen  an 
den  Fingern  des  Dargestellten  bildet.  Die  gekreuz¬ 
ten  Wanderstäbe  und  die  Pilgermuscheln  erteilen 
dem  Dargestellten  die  Nottaufe  auf  den  Namen 
-lacobus  major.  Weiterhin  wird  die  Quellnymphe 
von  1518  abgebildet,  die  früher  in  der  Baron 
Friesen’schen  Sammlung  war  und  mehrmals  von  der 
Kranachlitteratur  berührt  wurde.  Das  Bild  ist  schon 
deshalb  interessant,  weil  cs  fast  dieselbe  Körper¬ 


haltung  aufweist,  wie  einige  venezianische  Venus¬ 
figuren,  voran  wie  die  des  Giorgione,  die  Lermolieff 
in  Dresden  wieder  zu  Ehren  gebracht  hat.  Dürer’s 
Quellnyraphe  im  Ambraserbande  und  Kranach’s 
Quellnyraphe  (nicht  Diana)  der  Kasseler  Galerie  ge¬ 
hören  demselben  Kreise  von  Darstellungen  an,  die 
wohl  allesamt  ihre  Anregung  von  der  Antike  her¬ 
genommen  haben.  Bei  Gelegenheit  komme  ich  auf 
diese  Frage  zurück.  Die  Abbildung  der  anmutigen 
Madonna  Schubart  von  1529  beschließt  den  Abschnitt 
über  den  älteren  Kranach. 

Es  folgt  eine  Landschaft,  die  ich  nach  der  Ab¬ 
bildung  trotz  des  italienischen  Gegenstandes  (des 
Tiber  in  Rom)  für  eine  Arbeit  des  Josse  de  Momper 
halten  möchte,  und  eine  Tafel  mit  dem  büßenden 
Hieronymus  von  Memling,  einem  Bilde,  das  den 
Freunden  altniederländischer  Kunst  wohlbekannt 
ist;  weiterhin  eine  kleine  reizende  feine  Landschaft 
von  Adriaen  v.  Stalbent  (bez.  „A  V  Stalbent“,  A 
und  V  verschränkt),  die  man  als  Gegenstück  des 
netten  Bildchens  in  der  Mainzer  Galerie  ansehen 
kann. 

Das  Galeriewerk  geht  nunmehr  auf  die  zwei 
Werke  des  Bubens  über,  die  mit  zu  den  Haupt¬ 
zierden  der  Sammlung  gehören;  auf  das  wundersame 
Bruch-stück  aus  dem  Bade  der  Diana,  das  im  Nach¬ 
lass  des  Rubens  eine  ganz  besondere  Rolle  spielte 
und  später  bei  Kardinal  Richelieu  war,  und  auf  eine 
Skizze  mit  einem  Christus  in  Wolken.  Auf  S.  217  ist 
das  letztere  Werk  abgebildet.  Es  folgen  in  treff¬ 
licher  Wiedergabe  Werke  des  jüngeren  David  Teniers, 
der  beiden  Faw  der  Neer  und  des  M.  Withoos,  eines 
Künstlers,  der  zwar  in  seiner  Komposition  etwas 
schwach  ist,  aber  meist  einen  Farbenzauber  von  sel¬ 
tenen  Vorzügen  über  seine  Bilder  zu  verbreiten 
wusste. 

Ein  Greisenkopf  des  Rembrandt ,  der  sich  nun¬ 
mehr  anschließt,  gehört  zu  den  bezeichnenden  Wer¬ 
ken  des  mittleren,  fast  reifen  Stiles  und  wird  vom 
Text  in  ansprechender  Weise  als  eine  alttestament- 
liche  Person  gedeutet.  Sehr  hübsch  ist  auch  der 
Hinweis  de  Groot’s  auf  den  Widerspruch  zwischen 
dem  Prachtgewand  und  den  etwas  nach  Straßen¬ 
modellen  aussehenden  Zügen  des  Greises. 

Die  zahlreichen  herrlichen  und  ausgezeichneten 
Holländer,  die  noch  folgen,  sind  in  einzelnen  Proben 
den  Lesern  dieser  Zeitschrift  schon  bekannt:  der 
Bieter  de  Iloogh,  der  Hobbema,  Wouwerman,  Solomon 
van  Rwjsdael.  Zu  einer  Küstenlandschaft  des  großen 
Jacob  van  Ruisdael,  einem  frühen  Werk  von  großem 
Interesse,  macht  der  Text  die  Bemerkung,  dass  ihr 


RICHARD  MUTHER’S  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  MALEREI. 


219 


Motiv  vermutlich  vom  südöstlichen  Teile  der  Zuider- 
see,  von  der  Küste  des  Gooilandes  hergenommen  ist. 
Sehr  beachtenswert  sind  die  Erörterungen  über  die 
Maler  Jillis  und  Salomon  Rombouts ,  von  denen  je 
ein  Bild  in  getreuer  Wiedergabe  erscheiut.  Jan 
Steen’s  Sittenbild,  das  unter  den  folgenden  Holländern 
besonders  auffällt,  ist  ein  ganz  reizendes  Werk,  das 
ich  ziemlich  früh  ansetzen  möchte,  nahe  an  den 
Liebesantrag  im  Städehschen  Institut  und  an  die 
datirten  Bilder,  die  um  1660  fallen. 

Das  Schubart’sche  Galeriewerk  lässt  noch  Bilder 
von  Gabriel  Äfetzu ,  Niclaes  Bcrchem  und  Wijnants 
folgen,  ferner  Non  Adriaen  v.  de  Velde,  Gerrit  Don,  Dom. 


V.  Toi,  Alb.  Cuyp.  Die  altflandrische  Landschaft,  die 
auf  Seite  43  abgehildet  ist  und  die  ich  wohl  hei 
meinem  Besuche  der  Galerie  Schuhart  vor  etlichen 
Jahren  übersehen  habe,  wird  dem  Gülis  v.  Coninxloo 
zugeschrieben.  Nach  dem  Lichtdrucke  zu  urteilen, 
erscheint  mir  diese  Zuschreibung  etwas  befremdend. 
Ein  treffliches  Bild  von  Antoine  Watteau  beschließt 
das  Werk,  das  in  seiner  eleganten  äußeren  Erschei¬ 
nung  und  mit  seinen  gehaltvollen  Mitteilungen  sich 
in  seiner  Weise  würdig  an  die  großen  Galerie  werke 
der  jüngsten  Jahre,  etwa  an  die  beiden  von  Bredius 
über  die  Galerie  des  Maurizhuis  und  des  Rijks- 
museums  anreiht.  DR.  TU.  v.  FR  I  MM  EL. 


RICHARD  MUTHER’S 
GESCHICHTE  DER  MODERNEN  MALEREI. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


BENSO  wie  in  der  Religion 
giebt  es  auch  in  der  Kunst 
Dogmen,  deren  Zwang  jeden 
gesunden  Fortschritt  in  der 
Erkenntnis  hindert,  deren 
Beseitigung  aber  wie  ein  Akt 
der  Befreiung  und  Erlösung 
von  einem  schweren  Joche 
wahrhaft  wohlthuend  und  herzerquickend  wirkt.  Ein 
solches,  die  Entwickelung  hemmendes  Kunstdogma  be¬ 
stand  in  dem  Glauben,  dass  Cornelius,  den  bekanntlich 
Niebuhr  sehr  voreilig  als  denjenigen  bezeichnet  hatte, 
der  unter  den  deutschen  Malern  das  sei,  was  Goethe 
unter  den  Dichtern,  nächst  Dürer  als  der  größte 
deutsche  Künstler  angesehen  werden  müsse,  und 
dass  alles,  was  ein  Abweichen  von  seiner  Richtung 
bedeute,  auch  als  ein  Abfall  von  der  allein  wahren 
deutschen  Kunst  zu  gelten  habe.  Mit  dieser  Über¬ 
schätzung  des  Cornelius  hing  aber  auch  die  Über¬ 
schätzung  des  Inhalts  der  Kunstwerke  zusammen, 
deren  Folge  die  war,  dass  die  deutschen  Kunstfreunde 
in  ihrer  Beurteilung  lange  Zeit  nur  auf  den  Ge¬ 
danken  sahen  und  die  Frage  nach  der  formellen 
Vollendung  erst  in  zweiter  oder  dritter  Linie  ins 
Auge  fassten.  Unsere  Maler  ließen  sich  daher  in 
einen  thörichten  Wettstreit  mit  den  Dichtern  ein, 
aus  deren  Werken  sie  die  meiste  Anregung  für  ihr 


Schaffen  entnahmen,  und  seit  Kaulbach  trauten  sie 
sich  gar  die  Fähigkeit  zu,  die  schwierigsten  Pro¬ 
bleme  der  Philosophie  und  Geschichte  mit  Hilfe 
ihres  Pinsels  lösen  zu  können.  Kein  Wunder  also, 
dass  diese  hohe  Kunst  mehr  und  mehr  durch  die 
Abwendung  von  der  Wirklichkeit  den  Boden  unter 
den  Füßen  verlor  und  nur  einen  kleinen  Bruchteil 
der  Bevölkerung  befriedigen  konnte,  während  das 
eigentliche  Bürgertum  ihr  fremd  gegenüber  stand 
und  sich  schließlich  um  künstlerische  Dinge  so  gut 
wie  gar  nicht  mehr  bekümmerte.  Trotz  dieser 
Vereinsamung  setzten  die  Führer  der  Bewegung 
ihre  Geringschätzung  des  Publikums  fort,  unter¬ 
stützt  von  den  maßgebenden  Kritikern  und  Kunst¬ 
schriftstellern,  die  sich  im  Lobe  ihrer  Helden  nicht 
genug  thun  konnten,  und  sie  merkten  es  gar  nicht, 
dass  sich  bereits  von  England  und  Frankreich  her 
im  engsten  Anschluss  an  die  Wirklichkeit  eine 
Gegenrevolution  vorzubef eiten  begann,  die  ihrer 
Alleinherrlichkeit  ein  jähes  Ende  bereiten  sollte. 

Am  frühesten  aber  erlitt  natürlich  das  Ansehen 
des  Cornelius  und  seiner  Schule  unter  den  Künstlern 
Einbuße.  Noch  ehe  daran  zu  denken  war,  dass  sich 
in  der  Kritik  ein  ernstlicher  Zweifel  an  der  absoluten 
Größe  des  Meisters  geregt  hätte,  war  ihnen  bereits 
das  Auge  für  seine  Mängel  aufgegangen,  und  seit¬ 
dem  die  belgischen  Bilder  von  Gallait  und  Biefve 

28* 


22ü 


RICHARD  MUTHER’S  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  MALEREI. 


ihren  Siegeszug  durch  Deutschland  angetreten  hatten, 
noch  mehr  aber  seitdem  unsere  Maler  anfingen,  in 
Paris  die  genauere  Bekanntschaft  mit  den  Werken 
der  neueren  Franzosen  zu  machen,  wurde  es  den 
meisten  unter  ihnen  klar,  dass  es  doch  noch  andere 
Ideale  für  den  Künstler  gebe,  als  sie  von  der  Carton¬ 
schule  des  Cornelius  aufgestellt  worden  waren.  Das 
Dogma  von  der  uneingeschränkten  Meisterschaft  des 
Cornelius  geriet  also  ins  Wanken,  und  nun  ging  es, 
wie  es  immer  zu  gehen  pflegt,  wenn  der  Streit  über 
Glaubenssachen  angefacht  wird:  man  schüttete  das 
Kind  mit  dem  Bade  aus,  und  der  einst  hoch  ver¬ 
ehrte  oder  doch  wenigstens  gefürchtete  Führer  der 


schieden  in  dem  Kampfe  gegen  die  monumentale 
Richtung  zu  weit  und  kam  daher  auf  diesem  Wege 
schließlich  bei  allem  Fortschritt,  der  nach  der  tech¬ 
nischen  Seite  hin  gemacht  wurde,  im  Beginn  der 
fünfziger  Jahre  auf  einem  ziemlich  niederen  Stande 
der  Entwickelung  an,  der  erst  seitdem  wieder  durch 
die  Wiederaufnahme  neuer  großer  Probleme  verlassen 
worden  ist. 

Diesen  großen  geistigen  Prozess  hat  bis  vor 
kurzem  weder  die  Tageskritik,  von  der  man  es  nicht 
verlangen  konnte,  noch  auch  die  Geschichtschrei¬ 
bung  der  modernen  Kunst,  die  sich  auf  ihre  Ge¬ 
lehrsamkeit  und  ästhetische  Bildung  viel  zu  Gute 


üAiNsnoROUGH :  Die  Tränke.  (Aus  Muther:  Geschiclite  der  Malerei.) 


deutschen  Kunst  sah  sich  in  seinem  Alter  von  allen 
verlassen,  die  überhaupt  noch  als  schöpferische  Ta¬ 
lente  Anspruch  auf  Beachtung  machen  konnten. 
Allerdings  war  dieser  vollständige  Bruch  mit  den 
Grundsätzen  der  Cor ncUani sehen  Richtung  eine  histo¬ 
rische  Notwendigkeit  für  die  Künstler,  die  sich  von 
ihren  Überlieferungen  frei  machen  mussten,  wenn 
überhau])t  ein  Fortschritt  im  deutschen  Kunstleben 
möglich  sein  sollte.  Aber  es  wäre  nicht  nötig  ge¬ 
wesen,  wenn  es  auch  erklärlich  ist,  dass  vielfach 
von  den  Künstlern,  die  das  geringe  Maß  des  Kön¬ 
nens  in  der  alten  Schule  erkannt  hatten,  nun  auch 
die  Größe  ihres  Wollens  bezweifelt  und  der  ihr 
eigene  ideale  Zug  übersehen  wurde.  Man  ging  ent- 


that,  zu  begreifen  vermocht.  Denn  während  die 
Künstler  längst  mit  Cornelius  fertig  waren,  wurde 
uns  immer  noch  in  der  Kunstlitteratur  oder  vom 
Katheder  herab  das  Dogma  seiner  unbedingten 
Größe  verkündigt  und  heute,  wo  die  Wendung  zum 
Besseren,  freilich  in  anderer  Gestalt,  als  es  den  Ver¬ 
tretern  der  alten  Schule  vor  Augen  schwebte,  be¬ 
reits  vollzogen  ist,  stehen  die  Wortführer  in  der 
Presse,  wenige  Ausnahmen  abgerechnet,  den  neuen 
Erscheinungen  ratlos,  wenn  nicht  sogar  feindlich 
gegenüber, 

Um  so  wertvoller  muss  es  daher  erscheinen, 
dass  sich  ein  Mann  gefunden  hat,  der  mit  umfassen¬ 
dem  Wissen  und  auf  Grund  eines  ungewöhnlichen 


RICHARD  MUTHER’S  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  MALEREI. 


221 


reichen  Anschauungsmaterials  den  Versuch  gemacht 
hat,  die  ganze  Entwickelung  der  modernen  Malerei 
von  der  Wende  des  vorigen  Jahrhunderts  an  bis  in 
die  jüngste  Vergangenheit  geschichtlich  darzulegen 
und  damit  den  Weg  zum  Verständnis  dessen  anzu- 
bahneu,  was  wir  als  das  nächste  Ziel  der  rastlos  fort¬ 
schreitenden  Bewegung  anzusehen  haben.  Dieses 
Verdienst  gebührt  Muther,  der  durch  sein  drei  Bände 
umfassendes  Werk  über  die  Geschichte  der  neueren 
Malerei,  das  allen  denen,  die  sich  überhaupt  für 
kunstgeschichtliche  Studien  interessiren,  nicht  genug 
empfohlen  werden  kann,  alle  seine  Vorgänger  so 
entschieden  übertroffen  hat,  dass  sein  Buch  als 
ein  Werk  von  grundlegender  Bedeutung  angesehen 
werden  muss.  Dieses  Lob  wird  auch  durch  die 
Erwägung  nicht  eingeschränkt,  dass  sich  Muther’s 
Urteile  nicht  nur  im  wesentlichen  mit  denen  decken, 


feinfühliges  Verständnis  für  seinen  Gegenstand  zeigt, 
wie  es  wohl  die  Ooncourt  oder  Ruskin  bekunden,  wie 
es  aber  bei  unseren  deutschen  Kunsthistorikern  bis 
jetzt  nur  in  ganz  wenig  Fällen  an  den  Tag  getreten 
ist.  Der  bei  weitem  größte  Teil  des  Werkes  liest 
sich  so  spannend  wie  ein  Roman,  ein  Vorzug,  der 
im  wesentlichen  auf  die  Kunst  der  Darstellung  zu¬ 
rückzuführen  ist,  und  wenn  sich  auch  an  nicht  we¬ 
nigen  Stellen  im  Leser  lebhafter  Widerspruch  regen 
mag,  so  liegt  gerade  in  der  weitgehenden  Subjekti¬ 
vität  Muther’s  ein  Moment,  das  seinem  Werk  auch 
für  die  Zukunft  Wert  verleihen  wird,  weil  hier  in 
der  That  eine  Quelle  eröffnet  ist,  aus  der  sich  die 
Zukunft  über  das  Verhältnis  unserer  Zeit  zur  Kunst 
wird  Aufschluss  erholen  können. 

Der  Maßstab,  den  Muther  hauptsächlich  bei  der 
Würdigung  eines  Künstlers  und  seiner  Werke  an- 


Goya:  La  Maja  vetue.  (Aus  Muther:  Geschichte  der  Malerei.) 


die  Helfericli  in  seiner  überaus  anregenden  kleinen 
Schrift:  „Über  moderne  Kunst“  niedergelegt  hat,  son¬ 
dern  auch,  dass  sie  vielfach  nur  als  das  Echo  dessen 
erscheinen,  was  von  den  an  der  Spitze  der  modernen 
Bewegung  stehenden  Künstlern  als  ihr  Glaubensbe¬ 
kenntnis  ausgesprochen  wird. 

Indessen  würde  man  Muther’s  Arbeit  nicht  ge¬ 
nügend  würdigen,  wenn  man  sie  bloß  wegen  der  in 
ihr  aufgestellten  Grundanschauungen  rühmen  wollte. 
Ihr  Hauptreiz  besteht  vielmehr  darin,  dass  sie  eine 
schriftstellerische  Leistung  ersten  Ranges  ist,  ein 
Buch,  in  dem  das  Temperament  des  Verfassers  auf 
allen  Seiten  zum  Vorschein  kommt,  das  Liebe  oder 
Hass  erweckt,  zu  dem  man  sich  je  nach  der  eigenen 
Verfassung  hingezogen  oder  von  dem  man  sich  ab- 
gestossen  fühlt,  ein  Buch  endlich,  das  bei  aller 
Gründlichkeit  sich  doch  frei  hält  von  jedem  ge¬ 
lehrten  Dünkel,  das  vielmehr  erlebt  ist  und  ein  so 


legt,  ist  die  Frage  nach  dem  größeren  oder  geringe¬ 
ren  Grade  von  Originalität,  Tradition  oder  Freiheit; 
darin  gipfelt  seine  Kritik,  und  nur  diejenigen  be¬ 
stehen  vor  seinem  Urteil,  die  es  gewagt  haben,  den 
Bann  der  Überlieferung  zu  durchbrechen  und  sich  auf 
eigene  Füße  zu  stellen.  Unter  diesem  Gesichtspunkte 
betrachtet,  kommt  freilich  in  seiner  Darstellung  die 

o 

gesamte  ältere  deutsche  Malerei  aus  dem  Anfang 
unseres  Jahrhunderts,  die  ihre  Ideale  in  dem  An¬ 
schluss  und  in  der  Nachahmung  der  großen  Italiener 
suchte,  nicht  gerade  gut  weg.  Auch  die  unbedingten 
Anbeter  der  Antike,  wie  Winckelmann,  Carstens  und 
seine  Nachfolger  werden  als  Nachahmer  rasch  ab- 
gethan,  während  die  bescheidenen  Kleinmeister,  die 
von  den  Historienmalern  zu  ihrer  Zeit  in  den  Hin¬ 
tergrund  gedrängt  wurden,  die  Biirkel,  Peter  Hess, 
Morgenstern,  Kaufmann,  Runge  und  Spitzer  zum 
erstenmal  bei  ihm  zu  ihrem  Recht  gelangen.  Mit 


222 


RICHARD  MÜTHER’S  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  MALEREI. 


Entschiedenheit  tritt  Muther  für  die  Bedeutung  der 
Technik  ein,  und  namentlich  betont  er  die  Wichtig-- 
keit  der  Farbe  für  die  moderne  Malerei.  Trotzdem 
wird  er  nicht  etwa  zum  Verherrlicher  Piloty’s  und 
seiner  Jünger,  im  Gegenteil  verwirft  er  ihr  am 
Äußerlichen  der  Kunst  haften  gebliebenes  Verfahren, 
wobei  er  jedoch  ihre  historische  Mission  für  die  Erwei¬ 
terung  des  Könnens  in  Deutschland  durchaus  aner¬ 
kennt.  Volle  Liebe  aber  bringt  er  den  poetisch  ver¬ 
anlagten  Künstlern  entgegen,  z.  B.  Schwind,  dem  er 
einen  der  herrlichsten  Abschnitte  seines  Werkes  ge¬ 
widmet  hat,  oder  BöcJdin  und  den  modernsten  Phan- 
tasieküustlern  KUnger,  Tlionia  und  Stuck,  über  deren 
Bedeutung  als  Wegweiser  in  ein  neues  Zauberland 
der  Kunst  er  treffende  Bemerkungen  macht.  In¬ 
dessen  ist  er  sich  auch  klar  genug  über  die  Gefahren, 
die  aus  dieser  phantastischen 
Richtung  entspringen  kön¬ 
nen,  und  seine  Verherrli¬ 
chung  und  mehr 

noch  sein  Hinweis  auf  Menzel, 
sowie  der  Wunsch,  dass  des¬ 
sen  gesunder  Realismus  ein 
fortdauerndes  Gegengewicht 
gegen  den  Icarusflug  dieser 
.Jüngsten  bilden  möge,  be¬ 
weisen  deutlich,  worin  er  das 
eigentliche  Heil  der  Kunst 
sieht. 

Die  Geschichte  der  deut¬ 
schen  Malerei  nimmt  jedoch 
nur  einen  verhältnismäßig 
kleinen  Raum  in  dem  Werke 
ein.  Denn  bei  allem  Patriotismus  hat  sich  Muther 
der  Einsicht  nicht  verschließen  können,  dass  wir 
keineswegs,  wie  wir  lange,  in  schlimmer  Selbstver- 
blendimg  befangen,  meinten,  das  erste  Kunstvolk 
der  neuen  Zeit  sind.  Vielmehr  hat  ihn  seine  um¬ 
fassende  Bekanntschaft  mit  allen  wichtigen  Er- 
sclieinungen  der  neueren  Kunst  die  Überzeugung 
gewinnen  la.ssen,  dass  wir  die  Hauptleistungen  auf 
dem  Gebiete  der  neueren  Malerei  bei  den  Franzosen 
zu  suchen  haben,  wie  sie  auch  die  Lehrmeister  in 
allem,  was  wir  als  einen  Fortschritt  über  die  alte 
Kunst  hinaus  anzusehen  bähen,  für  alle  Völker  ge¬ 
wesen  sind,  allerdings  mit  Ausnahme  der  Engländer, 
deren  durchaus  selbständige  Flntwickelung  sogar 
nicht  ohne  EinHu.ss  auf  die  französischen  Künstler 
geblieben  ist.  Es  war  daher  auch  höchst  bezeich¬ 
nend  für  Muther’s  Anschauung,  dass  gleich  der  Um¬ 
schlag  des  ersten  Heftes  seines  Werkes  mit  dem 


Doppelbildnis  von  Rousseau  und  Millet  nach  dem 
Denkmal  im  Walde  von  Barbizon  geschmückt  war, 
und  nicht  etwa  mit  der  bekannten  Zeichnung,  die 
uns  Overbeck  und  Cornelius  in  altdeutscher  Tracht  auf 
einem  Blatt  vereinigt  vorführt.  Dieser  Wertschätzung 
der  großen  Franzosen  entsprechend,  erscheinen  auch 
die  Abschnitte,  in  denen  die  Leistungen  der  Schule 
von  Fontainebleau  gewürdigt  und  die  Bedeutung  eines 
Millet  und  Courbet  abgewogen  werden,  als  die  ge¬ 
lungensten  des  Werkes,  da  Muther  ihren  Schöpfungen 
volles  Verständnis  entgegenbringt  und  gerade  hier 
über  ein  beneidenswertes  Anschauungsmaterial  ver¬ 
fügt.  Leidenschaftlich  aber  und  fast  erregt  wird  er, 
wenn  er  auf  Manet,  den  großen  Pfadfinder  der  HeU- 
malerei,  zu  sprechen  kommt  und  die  prickelnde 
Nervosität  und  Unruhe  zu  schildern  unternimmt, 

welche  die  Hauptmerkmale 
der  Kunst  eines  Degas,  Bes- 
nard  oder  Felicien  Rops 
bilden.  Er  macht  dabei 
gar  nicht  den  Versuch,  die 
Werke  dieser  Künstler,  von 
denen  einige  wenigstens  in 
den  Augen  des  deutschen 
Publikums  entschiedene 
Bedenken  wegen  ihres  Ge¬ 
genstandes  erwecken  kön¬ 
nen,  moralisch  zu  rechf- 
fertigen,  sondern  betrachtet, 
sie  als  notwendige  Erschei¬ 
nungen  ihrer  Zeit  mit  der¬ 
selben  Unbefangenheit,  mit 
der  die  Naturforscher  auch 
die  hässlichsten  Abnormitäten  zu  untersuchen  pflegen. 
Überhaupt  vermeidet  es  Muther  durchweg,  die  Kunst 
mit  dem  Auge  des  Sittenrichters  zu  durchmustern;  er 
nimmt  die  Menschen  und  Dinge,  wie  sie  sind,  und 
gerät  nur  dann  in  Aufregung,  wenn  er  den  Einfluss 
gedankenloser  Nachahmung  und  die  Anbetung  fal¬ 
scher,  d.  h.  bereits  verbrauchter  Ideale  bekämpft. 

Die  Bedeutung  der  neueren  französischen  Kunst 
für  die  Entwickelung  der  modernen  Malerei  ist  in¬ 
dessen  bereits  so  allgemein  anerkannt,  dass  das  ihr 
von  Muther  gespendete  Lob  kaum  auffallen  kann. 
Um  so  überraschender  wird  den  meisten  Lesern 
die  Begeisterung  sein,  mit  der  er  von  der  englischen 
Malerei  spricht.  Ihre  Bedeutung  im  Zusammenhang 
mit  der  festländischen  Entwickelung  erkannt  zu 
haben,  ist  eines  der  hauptsächlichsten  Verdienste, 
die  sich  Muther  mit  seinem  Werk  erworben  hat. 
Auch  wer  sich  einer  umfassenden  Bekanntschaft  mit 


Aus  Schnorr’s  Bilderbibel. 
(Muther;  Geschichte  der  Malerei.) 


RICHARD  MÜTHER’S  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  MALEREI. 


223 


der  Gescliiclite  der  modernen  Malerei  erfreut,  wird 
in  diesen  Teilen  des  Buches  auf  eine  Menge  ganz 
neuer  und  interessanter  Erscheinungen  stoßen  und 
so  manchem  Namen  und  manchem  Bilde  begegnen, 
die  ihm  bisher  entgangen  sind;  ja  für  die  meisten 
Leser  dürften  die  Ausführungen  über  englische 
Kunst  überhaupt  durchaus  neu  sein.  Muther’s  Buch 
ist  auf  diesem  Gebiete  für  uns  Deutsche  entschieden 
grundlegend,  mag  man  dabei  an  die  Anfänge  der 
englischen  Malerei  im  vorigen  Jahrhundert,  d.  h. 
an  die  Zeiten  Hogarth's,  Bcynolds'  und  Gainshoroiigli  s 
und  ihrer  Nachfolger  Turner^  Constable  und  Boning- 
ton,  oder  an  das  Auftreten  der  Präraffacliten  oder 
an  die  allermodernsten  Erscheinungen  Wlristkr's  und 
der  Glasgower  Landschaftsschule  denken.  Muther  er¬ 
weist  sich  gerade  hier  als  ein  überaus  zuverlässiger 
Führer,  dem  die  englische  Eigenart,  die  uns  viel¬ 
fach  erst  fremd  anmutet,  durch  längere  Bekannt¬ 
schaft  vertraut  und  lieb  geworden  ist,  was  seine  Dar¬ 
stellung  uns  so  seltsam  erscheinender  Künstler  wie 
Ford  Madox  Broivn,  Bosetti,  Burne-Joncs  und  Watts  am 
besten  beweist.  Am  wenigsten  hat  uns  Muther’s  Er¬ 
zählung  der  italienischen  und  spanischen  Kunstge¬ 
schichte  befriedigt,  in  der  zwar  der  Abschnitt  über 
Goga  hervorragt,  im  übrigen  aber  nur  das  Material  ver¬ 
arbeitet  sein  dürfte,  das  die  letzten  großen  Ausstel¬ 
lungen  in  Deutschland  seit  der  Münchener  von  1879  zu 
Tage  gefördert  haben.  Indessen  wäre  es  Unrecht,  aus 
diesem  Mangel  einen  Vorwurf  gegen  Muther  erheben 
zu  wollen,  einmal,  weil  das  Fehlen  eingehender  Vor¬ 
arbeiten,  auf  die  auch  er  angewiesen  war,  ihm  nicht 
zur  Last  gelegt  werden  kann,  und  dann,  weil  die 
in  neuerer  Zeit  entschieden  weniger  hervorragende 
künstlerische  Originalität  der  Italiener  und  Spanier 
ein  genaueres  Studium  ihrer  Werke  eher  entbehrlich 
erscheinen  lässt. 

Um  so  eingehender hatsichMuthermit  der  Malerei 
der  nordischen  Völker  beschäftigt  und  namentlich  für 
die  Würdigung  der  dänischen  Malerei  und  ihrer  Führer 
Viggo  Johansen  und  Peter  S.  Kröger  eine  Reihe  treff¬ 
licher  Fingerzeige  gegeben.  Vollständig  neue  Auf¬ 
schlüsse  erhält  man  endlich  aus  dem  Kapitel  über 
die  russische  Malerei.  Doch  war  es  auch  Muther 
nicht  möglich,  über  diese  sich  durch  persönliche 
Anschauung  ausreichend  zu  orientiren,  so  dass  er  sich 
genötigt  sah,  sich  für  diesen  Abschnitt  der  Mitwirkung 
einer  fremden  Ki'aft,  des  Herrn  Alexander  Benois  in 
St.-Petersburg,  zu  bedienen. 


So  hat  er  in  der  kurzen  Zeit  von  zwei  Jahren 
die  große,  umfassende  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt 
hatte,  ein  anschauliches  Bild  der  gesamten  modernen 
Kunstbewegung  auf  dem  Gebiete  der  Malerei  zu 
geben,  in  glänzender  Weise  gelöst  und  jedem  den¬ 
kenden  Kunstfreunde  eine  solche  Fülle  neuer  Ge¬ 
sichtspunkte  und  weitreichender  Ausblicke  eröffnet, 
dass  die  Beschäftigung  mit  seinem  Werke  als  über¬ 
aus  anregend  bezeichnet  werden  muss.  Selbstver¬ 
ständlich  wird  auch  der,  der  in  allen  Hauptsachen  das 
künstlerische  Glaubensbekenntnis  Muther’s  teilt,  nicht 
in  allen  Punkten  mit  ihm  übereinstimmen  können. 
Aber  Muther  ist  auch  weit  entfernt,  für  seine  Dar¬ 
legungen  eine  objektive  Giltigkeit  in  Anspruch  nehmen 
zu  wollen.  Wie  er  das  Kunstwerk  mit  Zola  als  „ein 
Stück  Natur,  gesehen  durch  ein  Temperament“  auf¬ 
fasst,  so  will  er  in  seinem  Buche  auch  nicht  mehr 
geben,  „als  ein  Stück  Kunstgeschichte,  gesehen  durch 
ein  Temperament“.  Diese  Bescheidenheit  sichert  ihn 
gegen  die  Angriffe  aller  Übelwollenden,  da  die  Sub¬ 
jektivität  seiner  Urteile  von  ihm  selbst  ausdrücklich 
betont  wird.  Wer  aber  Wert  darauf  legt,  die  Be¬ 
kanntschaft  eines  geistreichen  Mannes  zu  machen, 
und  .sich  nicht  daran  stößt,  unter  seinen  Ansichten 
auch  einigen  paradoxen  Meinungen  zu  begegnen, 
dem  können  wir  nur  empfehlen,  sich  eingehend  mit 
Muther’s  Werk  zu  befassen.  Wir  sind  überzeugt, 
dass  er  schon  deshalb  bei  der  Lektüre  seine  Rech¬ 
nung  finden  wird,  weil  der  Autor  in  der  That  in 
hohem  Grade  das  besitzt,  was  wir  unter  Temperament 
verstehen. 

Die  Würdigung  des  Buches  würde  aber  einsei¬ 
tig  sein,  wenn  wir  uns  nur  an  den  Text  halten  und 
nicht  wenigstens  mit  einem  Wort  auch  der  Abbil¬ 
dungen  gedenken  wollten.  In  dieser  Hinsicht  aber 
verdient  der  Verleger  Hirth  in  München  alles  Lob. 
Sind  auch  die  Zinkätzungen,  mit  denen  das  Werk 
geschmückt  ist,  und  von  denen  wir  einige  hier  bei¬ 
geben,  der  Verschiedenheit  der  Vorlagen  gemäß 
nicht  immer  gleich  scharf  ausgefallen,  und  ist  auch 
der  Maßstab  gelegentlich  etwas  zu  klein  gewählt, 
so  entschädigt  uns  doch  die  große  Zahl  und  vor 
allem  die  Neuheit  der  Abbildungen  für  diese  Mängel 
in  reichstem  Maße.  Dazu  kommt  noch  die  Billigkeit 
des  Werkes,  das  somit  in  jeder  Hinsicht  alles  über¬ 
trifft,  was  uns  bisher  auf  diesem  Gebiete  von  anderer 
Seite  geboten  worden  ist. 


H.  A.  LIEB. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Der  ]\Ieistcr  des  Todes  Mariä.  Im  letzten  Heft  dieser 
Zeitschrift  hat  der  Meister  des  Todes  Mariä  durch  Firmenich- 
Richartz  einen  Namen  gefunden.  Joos  van  der  Beke,  ge¬ 
nannt  Joos  van  Cleve,  Maler  zu  Antwerpen,  ist  durch  das 
Zusammenfügen  vieler  Wahrscheinlichkeiten  durchaus  glaub¬ 
würdig  als  Schöpfer  der  vielverbreiteten  Werke  des  bisher 
anonymen  Meisters  hingestellt  worden.  Da  aber  wirklich 
ausschlaggebende  Gründe  fehlen,  müssen  Bestätigungen  des 
Fundes  erwünscht  sein.  Der  Mann  auf  dem  Doppelporträt 
von  1520  in  den  Uffizien  (Nr.  237  unter  dem  Namen 
Q.  Massys)  gilt  bei  Vielen  als  das  Selbstbildnis  des  Meisters 
vom  Tode  Mariä.  Der  Dargestellte  macht  sich  mit  seinem 
Siegelring  zu  schaffen,  indem  er  ihn  demonstrativ 
auf  den  Finger  schiebt,  als  wollte  er  ihn  dem  Be¬ 
schauer  zeigen.  Der  Stein  zeigt  deutlich  neben¬ 
stehendes  Wappen;  die  Mitte  des  Feldes  durch¬ 
schneidet  horizontal  ein  sich  schlängelnder  Was¬ 
serlauf,  ein  Bach;  darüber  befindet  sich  in  der 
Ecke  rechts  ein  kleines  aufgerichtetes  Kleeblatt. 
Das  niederdeutsche  Wort  für  Bach  ist  ,,beke“  und  das  einfache 
Wappen  eines  solchen  wellenförmigen  Querstreifens  im  sonst 
leeren  Felde  ist  noch  in  Bremen  nachweisbar  als  das  der 
E^amilie  von  der  Becke,  die  in  Niederdeutschland  verbreitet 
war  (Siebmacher,  Wappenbuch  III  3,  Taf.  2).  In  Lübeck 
ließ  sich  das  Wappen  der  Familie  nicht  bestimmen,  doch 
sehen  wir  es  vermutlich  auf  einem  Gemälde  von  1490  (Nr.  14 
der  Sammlung  der  Katherinenkii-che),  wo  neben  dem  Wasser¬ 
lauf  die  Initialen  angebracht  sind,  deren  zweite  ein  h  ist. 
Das  Kleeblatt  aber  auf  dem  Wappen  des  Ringes  ist  das 
Zeichen  der  Stadt  Cleve,  wie  es  sich  am  Anfang  des  16.  Jahr- 
liunderts  als  Rücksiegel  des  eigentlichen  Stadtsiegels  mit 
den  Türmen  befand  und  seit  dem  17.  Jahrhundert  in  der 
Dreizahl  um  ein  Schildchen  gruppirt  das  gebräuchliche  Stadt¬ 
wappen  wurde  (Siebmacher,  Wappenbuch,  Städtewappen  II, 
'Laf.  218).  Somit  sagt  uns  das  Siegel  des  Ringes:  von  der 
Becke  oder  Beke  aus  der  Stadt  Cleve.  Eis  wäre  ein  zu 
merkwürdiger  Zufall,  wenn  danach  das  Florentiner  Porträt 
nicht  ein  Selbstbildnis  des  Meisters  des  Todes  Mariä  sein 
sollte,  nachdem  man  so  von  zwei  Seiten  zu  demselben 
Namen  gelangt.  Stellen  aber  die  Porträts  auf  den  Dresdener 
Bildern  des  Meisters  dieselbe  Person  dar?  Dies  scheint  mir 
niwih  einem  Vergleich  noch  zweifelhaft.  Das  als  Selbst¬ 
bildnis  gelternle  Porträt  in  der  Sammlung  von  Kaufmann 
in  Berlin  zeigt  auf  den  Ringen  kein  Wappen.  Auch  des 
Meisters  'J’hätigkeit  in  Antwerpen  wird  bestätigt  durch  den 
Danziger  Reinholdsaltar ,  denn  das  im  Innern  befindliche 
Schnitzwerk  trägt  auf  mehreren  Stellen  die  Antwerpener 
Markf;  der  Hand,  und  es  ist  sehr  unwahrscheinlich,  d.ass 
die  Holzskuljituren  und  die  Malerei  in  verschiedenen  Stäxlten 
hergestellt  sind.  ADOU'II  aOLDSCHMIDT. 

ItH  Sonnenschein.  Gemälde  von  Lndnng  Noslcr,  radirt 
von  Fnlx,  Krosicu  ltx.  Der  Maler  dieses  trotz  der  Fenster¬ 
vorhänge  von  warmem  Sonnenschein  durchfluteten  Innen¬ 
raums,  dessen  zwei  Insassen  den  Sonnenschein  von  draußen 
aus  ihren  Herzen  wieder  auf  die  hübschen  Gesichter  zurück¬ 


strahlen  lassen,  ist  ein  Sohn  der  überall  als  unheilbar  pro¬ 
saisch  verschrieenen  und  doch  so  viel  Poesie  im  Herzen 
tragenden  Mark  Brandenburg,  freilich  in  etwas  weiterem 
Sinne.  Aber  Friedeberg  in  der  Neumark,  wo  Ludwig  Noster 
am  9.  Oktober  1859  geboren  wurde,  ist  trotzdem  noch  pro¬ 
saischer,  als  die  eigentliche  Mark,  die  ihre  Seen  und  Flüsse, 
ihre  Schwermut  bei  Sonnenuntergang  und  ihr  Flimmern 
und  Blitzen  auf  breiten  Wasserflächen  bei  dem  Aufstieg  der 
mit  den  Nebeln  kämpfenden  Sonne  hat.  Wie  seit  Menschen¬ 
gedenken  ist  auch  heute  noch  in  den  großen  und  kleinen 
Städten  der  Mark  das  Malergewerbe  in  schlechtem  Rufe 
von  Leichtfertigkeit  und  schmalem  Verdienst,  und  so  hatte 
auch  Ludwig  Noster  den  üblichen  Kampf  mit  seiner  Familie 
zu  bestehen,  ehe  er  es  dazu  bringen  konnte,  den  früh  rege 
gewordenen  Kunsttrieb  an  der  Berliner  Kunstakademie  zu 
befriedigen.  Einem  echten  Sohne  der  Mark  entbindet  sich 
das  Talent,  wenn  es  überhaupt  vorhanden  ist,  immer  nur 
langsam,  dann  aber  sicher.  Auch  Noster  kam  in  Berlin 
lange  Zeit  nicht  dazu,  den  rechten  Weg  zu  finden,  obwohl 
er  sich  der  näheren  Unterweisung  von  so  verständigen  und 
aller  Farbenrezepte  vollen  Lehrern  wie  Knille,  Thumann 
und  Gussow  zu  erfreuen  hatte.  Auf  des  letzteren  Rat  ging 
Noster  nach  Düsseldorf,  wo  er  mit  W.  Sohn  und  E.  v.  Gebhardt 
bekannt  wurde,  ohne  jedoch,  wie  er  gewünscht  hatte,  in 
Sohn’s  Schule  einen  Platz  zu  finden.  Aber  Sohn  führte  ihn 
auf  den  richtigen  Weg  der  malerischen  Anschauung  und 
Ausbildung,  indem  er  ihm  eine  Studienreise  nach  Holland 
empfahl,  die  Noster  im  Frühjahr  ISST  antrat.  Dort  fand 
er  einen  festen  Studienplatz  in  dem  Fischerdorf  Volendam  bei 
Edam,  wo  er  sich  fast  ein  Jahr  lang  aufhielt,  vielfach  geför¬ 
dert  in  seinen  Studien  dortigen  Lebens  durch  einen  schlichten 
Kunstenthusiasten,  den  Bäckermeister  Anton  Beck  in  Edam, 
der  seit  jener  Zeit  unter  dem  Namen  ,, Kunstbäcker“  das  will- 
fähige  Orakel  aller  nach  malerischen  Innenräumen  und  Volks¬ 
trachten  begierigen  Maler,  die  nach  Edam  ziehen,  geworden 
ist.  Während  eines  kurzen  Aufenthalts  in  der  Heimat  malte 
Noster  außer  einem  Genrebilde  „Besuch  der  Großmutter  im 
Spittel“  nach  einem  Motiv  aus  Friedeberg,  das  ihm  einen 
Preis  der  Berliner  Kunstakademie  einbrachte,  ein  Bild  nach 
seinen  holländischen  Stadien  „Nachricht  von  ihm“.  Dann 
ging  Noster  nach  Berlin,  wo  er  seitdem,  zuerst  besonders 
durch  A.  v.  Werner  gefördert,  seinen  Wohnsitz  behalten 
hat.  Anfangs  musste  er  von  der  melkenden  Kuh  der  Bild¬ 
nismalerei  seines  Lebens  Notdurft  bestreiten,  und  erst  wieder 
im  Jahre  1890  gelang  es  ihm,  nach  Holland  zurückzukehren, 
von  wo  er  eine  Reihe  von  Studien  mitbrachte,  die  er  zu  einer 
Reihe  von  Bildern  gestaltet  hat,  in  denen  immer  Sonnenlicht 
eine  heitere  Farbigkeit  aus  den  Figuren,  den  Möbeln,  den 
Geräten  und  allem  übrigen  Beiwerk  herauslockt.  Seine 
Bilder  sind  ein  erfreuliches  Zeugnis  dafür,  dass  sich  alle 
neuen  Erfindungen  der  malerischen  Darstellung,  alle  Fein¬ 
heiten  der  Freilichtmalerei  und  alle  Forderungen  der  abso¬ 
luten  Wahrheitsliebe  mit  dem  Urgrund  aller  Kunst,  der  bil¬ 
denden  Phantasie  und  Poesie,  zu  einer  edlen  Harmonie  ver¬ 
schmelzen  lassen.  A.  R. 


Herausgeber:  Carl  von  IJitxow  in  Wien.  —  E'ür  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


IM  SONNENSCHEIN 


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in 


JrufM  vor,  Lj  . 


/.  ri  tl/.  UND  IJ'HSlJTiA. 


PETER  PAUL  RUBENS. 

VON  ADOLF  ROSEN  BERG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 

11. 

Rubens  in  Italien  1600  — 1608. 


EI  dem  völligen  Mangel  an 
Nacliricliten  Aväre  es  ein  mü¬ 
ßiges  Beginnen,  Vermutun¬ 
gen  über  den  Weg  anzu¬ 
stellen,  den  Rubens  von  Ant¬ 
werpen  nach  Italien  einge¬ 
schlagen  hat.  Ein  Mann,  der 
seinen  Reisepass  am  8.  Mai 
erhielt  und  am  Tage  darauf  gen  Süden  fuhr,  genau 
so,  wie  wir  es  in  unserem  Jahrhundert  thaten,  als 
wir  noch  eines  Passes  nach  Italien  bedurften,  —  der 
wird  sich  nicht  lange  unterwegs  aufgehalten  haben. 
Wie  damals  der  große,  allgemein  benutzte  Reiseweg 
vom  Norden  nach  dem  Süden  ging*),  wird  Rubens 
wahrscheinlich  Augsburg  berührt  haben,  Augsburg, 
den  Mittelpunkt  des  Grroß-  imd  Kleinhandels  zwischen 
Italien  und  den  Ländern  jenseits  der  Alpen,  eine 
Stadt,  die  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
einen  mehr  oberitalienischen  als  süddeutschen  Cha¬ 
rakter  angenommen  hatte.  Von  deutscher  Kunst,  d.  h. 
von  der  volkstümlichen  Art,  die  mit  Dürer  und  Burgk- 
mair  zusammenhängt,  ist  Rubens  sicherlich  nichts 
auf  seiner  schnellen  Reise  angeflogen,  und  auch  in 
seiner  späteren  Massenarbeit  ist  keine  Spur  von  der 
Einwirkung  irgend  eines  der  Künstler  zu  ent¬ 
decken,  in  denen  nach  unserer  jetzigen  Meinung  das 
deutsche  Kunstschaffen  im  16.  Jahrhundert  gipfelt. 


1)  Mit  Rücksicht  auf  die  unten  mitgeteilten  Angaben 
der  „Vita“  und  noch  andere  Beweisstücke  verdient  die  Notiz 
der  aus  Überlieferungen  und  Anekdoten  unkritisch  zusam¬ 
mengewobenen  „Histoire  de  la  vie  de  P.  P.  Rubens“  von 
.1.  F.  M.  Michel  (Brüssel  1771,  S.  26),  dass  Rubens  über  Frank¬ 
reich  nach  Italien  gereist  sei,  wenig  Glauben. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  II.  10. 


Mit  Dürer  hatte  der  junge  Rubens  nur  einen 
Zug  gemeinsam;  den  Drang  nach  Venedig.  Die  Cen¬ 
tralsonne  der  großen  Koloristen,  von  der  Dürer  in 
Giovanni  Bellini  nur  den  Aufgang  gesehen  nnd 
freudig  begrüßt  hatte,  war  auch  Rubens’  erste  Sta¬ 
tion.  Die  „Vita“,  die  auch  hier  wieder  unsere  erste 
Quelle  ist,  berichtet:  „Wie  er  nach  Venedig  kam, 
brachte  ihn  der  Zufall  in  einer  Herberge  mit  einem 
Edelmann  aus  Mantua,  einem,  der  zum  Hause  des 
Herzogs  Vincenzo  Gonzaga  von  Mantua  gehörte, 
zusammen.  Diesem  zeigte  er  einige  von  ihm  gezeich¬ 
nete  Bilder,  die  jener  dem  Herzog  vorwies,  der,  weil 
er  ein  sehr  wis.sbegieriger  Freund  der  Malerei  uyd 
aller  schönen  Künste  war,  ihn  (Rubens)  sofort  (statim) 
an  sich  fesselte  und  ihn  seinem  Hofstaate  einver¬ 
leibte,  bei  dem  er  sieben  volle  Jahre  znbrachte.“ 
Bei  der  präzisen  Fassung  der  „Vita“  hat  man 
das  Recht,  auf  jedes  Wort  Gewicht  zu  legen,  und 
es  fehlt  in  der  That  nicht  an  Zeugnissen,  die  es 
wahrscheinlich  machen,  dass  Rubens’  Aufenthalt  in 
Venedig  nicht  lange  gedauert  hat,  dass  er  wirklich 
„sofort“ ,  nachdem  ihm  das  Anerbieten  gemacht 
worden  war,  dem  Rufe  des  Herzogs  nach  Mantua 
gefolgt  ist.  Im  Monat  Juli  des  Jahres  1600  hielt 
sich  der  Herzog  einige  Tage  in  Venedig  auf,  und 
da  die  „Vita“  ausdrücklich  sagt,  dass  ihm  der  Edel¬ 
mann  seines  Gefolges  die  Bilder  von  Rubens  gezeigt 
habe,  kann  es  kaum  noch  einem  Zweifel  unterliegen, 
dass  die  Anwerbung  des  jungen  vlämischen  Malers, 
des  „Pittore  fiamingo“,  wie  er  fortan  in  den  Doku¬ 
menten  heißt,  in  Venedig  geschehen  ist.  Freilich 
wird  Rubens’  Name  in  den  von  Armand  Basche 
ans  Licht  gezogenen  Aktenstücken  des  Mantuanischen 


29 


•226 


PETER  PAUL  RUBENS. 


Archivs  zum  erstenmal  in  einem  Briefe  des  Herzogs 
vom  18.  Juli  1601  erwähnt.  Aber  es  liegt  noch  ein 
zweites  Zeugnis  dafür  vor,  dass  Rubens  schon  in 
der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1600  im  Dienste  des 
Herzogs  von  Mantua  stand.  Er  wohnte  nämlich, 
wie  aus  einem  von  Ruelens  angezogenen  Briefe  des 
französischen  Parlamentsrats  Fabri  de  Peiresc  her- 
vorgeht,  der  am  5.  Oktober  1600  in  Florenz  durch 
Proknration  vollzogenen  Vermählung  der  Prinzessin 
Maria  von  Medicis  mit  dem  Könige  Heinrich  IV. 
von  Frankreich  bei,  und  zwar  als  so  naher  Beob¬ 
achter  aller  Ceremonieen  und  Festlichkeiten,  dass 
er  eine  solche  Vergünstigung  nur  als  Mitglied  des 
Hofstaats  des  Herzogs  von  Mantua  genossen  haben 
kann,  der  mit  einem  glänzenden  Gefolge  am  2.  Ok¬ 
tober  in  Florenz  eingetroffen  war,  um  der  Hochzeit 
beizuwohnen. 

Welcher  Art  die  Gemälde  gewesen  sind,  die 
den  Herzog  von  Mantua,  einen  verwöhnten  Kunst¬ 
liebhaber,  bestimmt  haben,  Rubens  als  Hofmaler  an- 
zuuehmen,  darüber  lassen  sich  nur  Vermutungen 
anstellen.  Der  Umstand  aber,  dass  Rubens  in  seiner 
ersten  mantuanischen  Zeit  und  auch  noch  in  spä¬ 
teren  Jahren  wesentlich  mit  Kopieen  beschäftigt 
wurde,  die  der  Herzog  entweder  für  sich  zu  haben 
wünschte  oder  als  Geschenke  für  befreundete  Fürsten 
brauchte,  deutet  darauf  hin,  dass  jene  Bilder  Kopieen 
nach  venezianischen  Meistern,  in  erster  Linie  wohl 
nach  Tizian,  gewesen  seien.  Das  Ansehen,  das  sich 
Knltens  als  Kopist  venezianischer  Gemälde  in  Italien 
erworben  hat,  ist  noch  lange  Zeit  lebendig  geblie¬ 
ben.  Es  findet  einen  Nachhall  auch  in  einer  merk¬ 
würdigen  Stelle  der  unter  dem  Titel  „La  Carta  del 
Navegar  pitore.sco“  1660  in  Venedig  erschiene¬ 
nen  ]»oeti.schen  Verherrlichung  der  venezianischen 
Malerei  von  .Marco  Boschini.  Darin  erzählt  der  Dichter, 
dass  ein  .Maler,  Namens  Erman  Stroifi,  ein  Schüler 
des  Bernardo  Strozzi,  einst  den  vlämischen  Meister 
.Iiistus  Sustermans,  den  Hofmaler  des  Großherzogs, 

1  S.  KuclenH,  CorrcKjionilancc  de  Hubens  I,  S.  17 — 20, 
w()  alle  ZeufjaiHse  beijfela’aeht  und  ini  einzelnen  kritisch  er¬ 
örtert  .sirnl.  Wenif'er  (iewiehl  Icf'en  wir  auf  die  von  Ruelens 
ini  Üulletin  l!ubens  III,  S.  82— SO  eitirte  und  besjirochenc 
Stidle  in  dein  idiantiu-tischen  Lelirf'edicht  ,,Ija  Carta  del 
Navef^ar  jiitore^see“  von  Marco  Boschini,  dessen  'rendenz  dar- 
-tuf  hinausläuft,  allen  in-  und  ausländischen  Malerruhin  von 
Veiieilij'  aus'<trahlen  und  auf  Venedig  zurückstrahlen  zu 
la.  len.  —  Der  Vollständigkeit  halh(;r  citiren  wir  noch  die 
von  der  Brüsseler  Akademie  mit  einem  Preise  gekrönte 
.Schrift:  „Le  si'jour  de  Hubens  et  de  A.  van  Dyck  cn  Italic“ 
v-m  Kdgar  Baer  im  2S.  Bande  der  „Memoires“  der  Akademie. 
Sie  ist  bei  dem  heutigen  .Stande  der  Hubensforschung  völlig 
wertlos. 


in  Florenz  besucht  und  dass  dieser  ihm  Bilder  von 
seiner  und  fremder  Hand  gezeigt  habe.  Darunter 
befanden  sich  auch  einige,  die  Erman  Stroifi  für 
bedeutende  Werke  Tizian’s  hielt,  worauf  ihm  sein 
Gastfreund  erklärte,  dass  es  sich  in  Wirklichkeit 
um  Bilder  von  Rubens  handelte,  mit  dem  Suster¬ 
mans  in  persönlichem  und  brieflichem  Verkehr  ge¬ 
standen  hatte.  Dabei  kam  das  Gespräch  auf  Rubens’ 
Verehrung  für  Tizian,  den  der  vlämische  Meister 
„so  in  sein  Herz  geschlossen  hätte,  wie  eine  Dame 
ihren  wirklichen  Geliebten.“  Bei  häufigen  Besuchen 
Sustermans’  bei  Rubens  hätte  dieser  ihm  versichert, 
„dass  Tizian  erst  der  Malerei  ihre  Würze  gegeben 
hätte  und  dass  er  der  größte  Meister  wäre,  der  bis 
dahin  aufgetreten.“ 

Man  darf  aus  dieser  ersichtlich  tendenziösen 
Darstellung  des  Ruhmredners  der  venezianischen 
Malerei  aber  keineswegs  schließen,  dass  Rubens  außer 
Tizian  keine  anderen  Leitsterne  gehabt  habe.  Im 
Gegenteil  —  der  Einfluss  Tizian’s  zeigt  sich  in  den 
Bildern,  die  Rubens  in  Italien  gemalt  hat,  bei  weitem 
weniger,  als  in  den  Schöpfungen  aus  dem  letzten 
Jahrzehnt  seines  Lebens.  Sein  ungestümer  Thaten- 
drang  folgte  vielmehr  bald  anderen  Idealen.  In  Mantua 
waren  es  zunächst  die  Fresken  Giulio  Romano’s  und 
seiner  Schüler  in  den  dortigen  Palästen,  die  seine  Phan¬ 
tasie  mächtig  anregten  und  seine  Kraft  zu  gleichem 
Thun  anspornten.  Eine  so  umfangreiche,  so  planmäßig 
durchgeführte  Äußerung  der  monumentalen  Kunst 
hatte  er  selbst  in  Venedig  nicht  gesehen,  und  es  ist 
wahrscheinlich,  dass  der  tägliche  Umgang  mit  den  aus 
Raffael  und  Michelangelo  gemischten  Kompositionen 
Giulio’s,  der  persönlich  den  Übergang  von  Raffael 
zu  den  Michelangelesken  Eklektikern  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  vermittelt  hatte,  einen 
tieferen  Eindruck  auf  Rubens  gemacht  hat  als  die 
Bewältigung  großer  Massen,  die  er  in  Venedig  vor¬ 
nehmlich  durch  Tintoretto  kennen  gelernt  hatte. 
Aber  das  Eine  blieb  doch  aus  seinen  heimischen 
und  venezianischen  Erinnerungen  in  ihm  haften,  die 
Ablehnung  der  Freskomalerei,  sei  es,  dass  ihn  die 
vlämische  Gelassenheit  daran  hinderte,  sei  es,  dass 
er  an  die  Vergänglichkeit  des  Malgrundes  oder  an 
die  anders  geartete  Beschaffenheit  seines  heimat¬ 
lichen  Klimas  dachte.  Auch  in  Rom  und  in  anderen 
Städten  Italiens  hat  er  sich  nicht  zur  Freskomalerei 
bewegen  lassen,  obwohl  seine  Handfertigkeit  es  mit 
allen  Faprestos  seiner  Zeit  aufgenommen  hätte  und 
obwohl  er,  wo  es  anging,  fleißig  Fresken  von  Michel¬ 
angelo,  Raffael,  Leonardo,  Giulio  und  anderen  Meis¬ 
tern  mit  dem  Zeichenstift  kopirt  hat. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


227 


Es  muss  ihm  so  flink  von  der  Hand  gegangen 
sein,  dass  man  im  Angesichte  der  enormen  Fülle 
von  Studien,  Zeichnungen,  Kopieen  und  eigenen  Er¬ 
findungen  und  Ausführungen,  die  in  dem  Zeitraum 
von  1600 — 1608  entstanden  sein  müssen,  weil  sie 
schlechterdings  nicht  in  spätere  Jahre  unterzu¬ 
bringen  sind,  nur  bekennen  muss,  einem  früh  reif 
gewordenen  Geiste  von  universeller  Begabung  und 
von  unerschöpflicher  Aufnahmefähigkeit  gegenüber¬ 
zustehen.  Er  hat  sieben  Jahre  lang  einen  nicht 
leichten  Herren  dienst  geleistet,  daneben  noch  anderen 
Herren  gedient  und  persönlich  alle  Ziele  verfolgt, 
die  ihm  zur  Ausbildung  eines  das  Weltall  umfassen¬ 
den  Künstlergeistes  dienlich  sein  konnten. 

Im  einzelnen  freilich  lässt  sich  nur  ein  kleiner 
Teil  der  von  Rubens  in  Italien  gemalten  und  ge¬ 
zeichneten  Bilder  und  Studien  bestimmten  Jahren 
zuweisen,  und  überdies  haftet  noch  manchem  dieser 
Werke  ein  Zweifel  an,  ob  es  wirklich  noch  in  Ita¬ 
lien  oder  schon  in  den  ersten  Jahren  nach  Rubens’ 
Rückkehr  in  die  Heimat  entstanden  ist.  So  ist  es 
z.  B.  keineswegs  ausgemacht,  dass  die  durch  Edelinck’s 
schönen  Stich  berühmt  gewordene  Zeichnung  nach 
einer  Gruppe  aus  Leonardo  da  Vinci’s  Schlacht  bei 
Anghiari,  die  sich  im  Louvre  befindet,  in  Italien  an¬ 
gefertigt  worden  ist,  da  sich  eine  Kopie  des  schon 
zu  Rubens’  Zeit  zu  Grunde  gegangenen  Kartons 
auch  in  den  Tuilerieen  in  Paris  befunden  hat,  wäh¬ 
rend  eine  zweite  noch  jetzt  in  Florenz  vorhanden 
ist.  Ja  es  regen  sich  sogar  Zweifel,  ob  diese  Zeich¬ 
nung  überhaupt  von  Rubens  herrührt,  da  seiner 
Autorschaft  auf  dem  Stiche  Edelinck’s  keine  Er¬ 
wähnung  geschieht  und  auch  sonst  keine  andere 
Beglaubigung  vorliegt,  als  eine  anscheinend  nicht 
über  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  zurück¬ 
reichende  Überlieferung,  i)  Anders  verhält  es  sich 
mit  der  gleichfalls  im  Louvre  befindlichen  Studie 
nach  dem  Christus  und  einem  der  Apostel  aus  Leo¬ 
nardo  da  Vinci’s  Abendmahl,  die  Rubens  ebenso 
wie  die  nicht  mehr  vorhandene  Zeichnung,  die  Pieter 
Soutman  für  seinen  Stich  benutzt  hat,  sicher  nach 
dem  Originale  in  Mailand  ausgeführt  haben  wird, 
und  noch  besser,  durch  eine  eigenhändige,  in  latei¬ 
nischer  Sprache  abgefasste  Erläuterung  von  Rubens, 
ist  eine  dritte  Zeichnung  im  Louvre  beglaubigt,  die 
zwei  Figuren  aus  einer  der  Fresken  wiedergiebt, 
die  Pordenone  in  San  Pietro  in  Treviso  gemalt  hat.  2) 


1)  Vgl.  Reiset,  Notice  des  dessins  etc.  exposes  au  Louvre, 
Paris  186G,  S.  318—320. 

2)  Rooses,  L’ Oeuvre  de  P.  P.  Rubens  V,  Nr.  1383. 


Vermutlich  hat  Rubens  von  Venedig  einen  Abstecher 
nach  Treviso  gemacht,  vielleicht  auch  die  Stadt 
schon  vorher  auf  seiner  Hinreise  nach  Italien  berührt. 

Baglione,  Rubens’  ältester  Biograph,  berichtet 
uns  über  Rubens’  Thätigkeit  in  Mantua  nur  in  sehr 
unbestimmten  Worten:  er  habe  dort  verschiedene 
Arbeiten  ausgeführt  und  besonders  „einige  ziemlich 
schöne  Bildnisse“  gemalt. ')  Wenn  Bellori  noch 
weiter  angiebt,  dass  es  die  Bildnisse  der  Fürsten 
d.  h.  des  Fürstenpaares  gewesen  seien,  so  ist  damit 
auch  nicht  viel  mehr  gesagt,  da  uns  keines  dieser 
Bildnisse  erhalten  oder  doch  mit  unzweifelhafter 
Sicherheit  nachweisbar  ist.  •^)  Jedenfalls  wird  seine 
Thätigkeit  in  Mantua,  wie  es  damals  der  Hofdieust 
eines  Malers  verlangte,  als  Porträtmaler  und  als 
Kopist  für  die  Zwecke  seines  Herrn  und,  wo  es 
anging,  auch  für  seine  eigenen  Zwecke  begonnen 
haben.  Allzu  hart  kann  dieser  Hofdienst  aber  nicht 
gewesen  sein;  denn  schon  im  Sommer  des  Jahres 
1601  erhielt  Rubens  einen  längeren  Urlaub,  um  ein 
großes  Altarwerk  für  die  Kapelle  der  heil.  Helena 
in  der  Kirche  Sa.  Croce  in  Gerusalemme  in  Rom 
zu  beginnen,  mit  dessen  Ausführung  ihn  der  Ge¬ 
schäftsträger  der  spanischen  Niederlande  in  Rom, 
Jean  Richardot,  im  Namen  des  Statthalters  Erzher¬ 
zogs  Albert  beauftragt  hatte.  Rubens  blieb  bis 
nach  der  Mitte  des  Januar  1602  in  Rom.  Bis  dahin 
hatte  er  aber  nur  das  Mittelbild  des  Altarwerkes, 
die  Auffindung  des  wahren  Kreuzes  Christi  durch 
die  heil.  Helena,  vollendet.  Da  es  jedoch  dem  Erzher¬ 
zog  Albert  aus  triftigen  Gründen  darauf  ankam,  den 
Schmuck  der  Kirche,  deren  Titularherr  er  während 
der  Zeit  seines  Kardinalats  gewesen  war,  sehr  bald 


1)  Le  vite  de’  Pittori,  scultori  etc.  S.  24(3  der  Neapeler- 
Ausgabe  von  1733. 

2)  Die  Stelle  bei  Bellori  lautet:  „dove  (in  Mantua)  fece 
i  ritratti  di  que’  Principi,  essendo  nell’  etä  di  venti  anni.“ 
Rooses  (L’oeuvre  IV,  S.  187)  interpretii-t  die  Worte  so,  dass 
das  Fürstenpaar,  das  um  1600  dicht  vor  den  vierziger  Jahren 
stand,  im  Alter  von  20  Jahren  gemalt  worden  sei.  Bei  der 
etwas  krausen  Ausdrucksweise  Bellori’s  kann  es  aber  auch 
heißen,  dass  Rubens  in  den  zwanziger  Jahren  war,  als  er 
die  Bildnisse  malte.  Man  begreift  auch  nicht  recht,  zu  wel¬ 
chem  Zwecke  Rubens  Jugendbildnisse  seiner  Herren  rekon- 
struirt  haben  sollte.  Jedenfalls  kann  das  von  Rooses  (L’oeuvre 
IV,  S.  187)  citirte  Bildnis  Vincenzo’s  im  Besitze  des  Dr.  Ta- 
massia  in  Mantua  nicht  mit  einem  der  von  Bellori  genann¬ 
ten  Porträts  identisch  sein,  da  das  Bildnis  in  Mantua  den 
Herzog  in  mittleren  Jahren  darzustellen  scheint.  Auch  zwei 
mit  schwarzer  Kreide  und  Rotstift  gezeichnete  Knabenbild¬ 
nisse,  die  die  Söhne  des  Herzogs  Vincenzo,  Ferdinand  und 
Franz,  darstellen  sollen,  sind  hinsichtlich  der  Identität  der 
Personen  nur  durch  Inschriften  aus  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  beglaubigt. 


29 


Maria’a  I’.esucli  bei  Kliaa))etli. 

(Jemäble  von  I'.  P,  Puiiens  in  der  Oalerie  Porgliese  zu  Ilom,  Nacii  einer  Pliotographie  von  A.  Braun  &  Co. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


229 


■vollendet  m  sehen ,  suchte  sein  Geschäftsträgei’  in 
einem  vom  26.  Januar  1602  datirten  Briefe  au  den 
Herzog  einen  neuen  Urlaub  für  den  „jungen  vlärai- 
scheu  Maler  Namens  Peter  Paul“  nach,  und  vor  dem 
20.  April  1602,  wo  Rubens  wieder  in  Mantua  war, 
hatte  der  junge  Künstler  auch  die  beiden  Seiteu- 
bilder,  die  „Dornenkrönung“  und  die  „Aufrichtung 
des  Kreuzes  Christi“,  vollendet.  Wenn  bei  dieser 
Nachgiebigkeit  des  Herzogs,  der  gerade  damals 
große  künstlerische  Pläne  in  Mantua  vorhatte,  auch 
diplomatische  Rücksichten  mitgewirkt  haben  mögen, 
so  hatte  Rubens  doch  auch  in  anderen  Dingen  so 


vom  10.  August  1630  an  Peiresc  sagt  er,  dass  er 
sich  viele  Jahre  „der  höchst  entzückenden  Residenz 
dieses  Landes  (Mantua)  in  seiner  .Jugend  erfreut 
habe.“  Unter  diesem  Gesichtspunkte  ist  auch  Ru¬ 
bens’  Sendung  nach  Spanien  zu  beurteilen,  die  man 
bisher  immer  als  einen  des  Malers  unwürdigen 
Dienst  betrachtet  hatte,  der  hierbei  nur  die  Rolle 
des  Spediteurs  gespielt  haben  sollte.  Wer  die  Reise¬ 
lust  der  Jugend,  insbesondere  die  der  malenden 
.Jugend  kennt,  der  wird  begreifen,  mit  welcher 
Freude  Rubens  den  Befehl  zu  der  Reise  nach  Spa¬ 
nien  aufgenommen  hat! 


Rubens’  Vatei’  (?). 

Gemälde  von  P.  P.  Rubens  in  der  Pinakothek  in  München. 

freie  Hand,  dass  er  den  Herrendienst  gewiss  nicht 
als  eine  schwere  Last  empfunden  hat.  Wenigstens 
hat  er  in  seinen  späteren  Jahren  die  Zeit  seines  Dien¬ 
stes  in  Mantua  in  bester  Erinnerung  behalten,  wofür  er 
in  einem  vom  20.  April  1628  datirten  Briefe  an  Dupuy 
selbst  mit  den  Worten  Zeugnis  abgelegt  hat:  „Ich 
danke  Eurer  Herrlichkeit  für  die  interessante  Nach¬ 
richt,  die  Sie  mir  von  den  italienischen  Angelegen¬ 
heiten  gegeben  haben,  an  denen  ich  um  so  größeres 
Mitgefühl  habe,  als  ich  dem  Hause  Gonzaga  etwa 
sechs  Jahre  lang  (quäl che  sei  anni)  gedient  und 
von  seiten  des  erlauchtesten  Fürsten  jedwede  gute 
Behandlung  erfahren  habe.“  Und  in  einem  Briefe 


Rühens’  Mutter  (V). 

Gemälde  von  P  P.  Rubens  in  der  Pinakothek  in  München. 

Als  er  dahin  aufbrach,  hatte  er  bereits  etwas 
vollbracht,  das  sich  sehen  lassen  konnte  und  auch 
nach  Verdienst  in  Rom  geschätzt  wurde.  Erzherzog 
Albert  war  trotz  seiner  tadellosen  Rechtgläubigkeit, 
anscheinend  weil  er  gegen  die  Ketzer  in  den  Nieder¬ 
landen  nicht  streng  genug  verfuhr,  in  Rom  selbst 
der  Ketzerei  verdächtigt  worden,  und  um  sich  von 
diesem  Verdachte  zu  reinigen,  suchte  er  durch  ein 
frommes  Werk  sein  Ansehen  so  schnell  wie  mög¬ 
lich  wieder  herzustellen.')  Ein  unmittelbarer  Auftrag 
an  Rubens  ist  sicher  nicht  erfolgt.  Es  ist  eine 


1)  Die  Belege  bei  Ruelens,  Correspondance  I,  S.  21 — 27. 


230 


PETER  PAUL  RUBENS. 


spätere  Erfindung,  dass  der  Erzherzog  schon  vor 
Rubens’  Abreise  nach  Italien  auf  das  Talent  des 
Künstlers  aufmerksam  geworden  sei  und  ihn  seit¬ 
dem  im  Auge  behalten  habe.  Ein  so  weitblicken¬ 
der  Beschützer  der  Künste  war  Albert,  der  keine 
anderen  Leitsterne  als  die  Willfährigkeit  gegen 
Philipp  111.  von  Spanien  und  die  Devotion  gegen 
die  Kirche  kannte,  nicht.  Jean  Richardot  hat  den 
Maler  selbst  gewählt,  weil  Familienbeziehungen  ihn 
zu  dieser  Gunstbezeugung  bestimmten.  Der  Schnel¬ 
ligkeit,  mit  der  das  Altarwerk  für  Sa.  Croce  erdacht 
und  ausgeführt  werden  musste,  entspricht  auch  sein 
Gelingen,  ln  einem  Moment,  wo  Miclielaugelo’s 
Sibyllen  und  Propheten,  Ratfael’s  Stanzen,  Caravag- 
gio  und  die  Carracci  und  darüber  als  alles  beherr¬ 
schender  Stern  die  Antike  auf  eine  junge,  durstige 
Malei’iihantasie  einstürmten  und  alles  zugleich  ver¬ 
arbeitet  werden  musste  —  in  solchen  künstlerischen 
Gewissensdrangsalen  noch  den  Fa  presto  zu  spielen, 
das  war  nur  möglich,  wenn  ein  Charakter  vorher 
durch  gute  fremde  Zucht  und  starke  Selbstzucht  ge¬ 
stählt  war!  ln  unserem  Jahrhundert  haben  wir  oft  ge¬ 
nug  das  Schauspiel  erlebt,  dass  reich  begabte  Kunst¬ 
jünger  so  lange  vor  den  Wundern  Roms  ratlos  und 
des  Schaffens  unlustig  und  unfähig  dastanden,  bis 
sie  zuletzt  erschlafften  und  za  Grunde  gingen,  und 
wenn  sich  wirklich  einer  von  den  allzu  stark  Be¬ 
einflussten  losriss  und  in  der  Heimat  weiter  schuf, 
konnte  er  den  fremden  Tropfen  in  seinem  Blute 
auf  lange  Zeit  oder  überhaupt  nicht  los  werden. 

Der  junge  Rubens  war  anders  geartet.  Er 
malte  frisch  darauf  los  und  studirte  daneben  ebenso 
frisch  weiter.  Von  dem,  was  er  malte,  d.  h.  an  voll¬ 
endeten  Werken  zu  stände  brachte,  ist  freilich  weni¬ 
ger  Aufhebens  zu  machen  als  von  seinen  Studien, 
die  ihn  sein  Leben  lang  begleitet  haben,  ohne  dass 
er  ihnen  unterlag.  Allerdings  haben  widrige  Zu¬ 
fälle  und  niis.sliche  äufiere  Umstände  seinen  in  Ita¬ 
lien  entstiindenen  groben  Altar-  und  Andachtsbildern 
übel  nutgespielt.  Das  Mittelbild  des  Altarwerkes 
in  der  Kaj)elle  der  heiligen  Helena  hatte  schon  im 
.lahre  17f)3  so  stark  gelitten,  dass  es  nach  der 
Bibliothek  der  Kirche  gebracht  wurde.  1811  wur¬ 
den  alle  flrei  Bilder  nach  London  verkauft,  wo  sie 
durch  verschiedene  Hände  gingen,  bis  sie  schlie߬ 
lich  von  einem  Herrn  Perrolle  aus  Grasse  im  süd¬ 
lichen  Frankreich  erworl^en  wurden,  der  sie  durch 
letztwillige  Verfügung  in  die  Kapelle  des  Hospizes 
seiner  Vaterstadt  stiftete,  wo  sie  sich  noch  jetzt  be¬ 
finden.  1880  wurden  sie  einer  Restauration  unter¬ 
zogen.  Nach  solchen  Schicksalen  ist  wohl  von 


Rubens’  Hand  nicht  viel  übrig  geblieben.  Zudem 
scheint  das  eine  der  Bilder,  die  Aufrichtung  des 
Kreuzes,  eine  Kopie  zu  sein,  da  es  auf  Leinwand 
gemalt  ist,  während  die  beiden  anderen  auf  Holz 
gemalt  sind.  Es  ist  aber  auch  möglich,  dass  Rubens 
größerer  Beschleunigung  wegen  das  Bild  schon  selbst, 
vielleicht  in  Mantua,  auf  Leinwand  gemalt  hat.  In 
der  Komposition  der  drei  Bilder  wirkt  noch  der 
Einfluss  der  Venezianer  nach.  Die  Dornenkrönung 
lehnt  sich  sogar  sehr  eng  an  das  jetzt  im  Louvre 
befindliche  Gemälde  gleichen  Inhalts  von  Tizian  an, 
das  dorthin  aus  der  Kirche  Sa.  Maria  delle  Grazie 
in  Mailand  gekommen  ist.  Das  schwere  und  trübe 
Kolorit,  die  braunen,  undurchsichtigen  Schatten  und 
die  Vermeidung  leuchtender  Lokalfarben  deuten  da¬ 
gegen  schon  auf  den  Einfluss  Caravaggio’s  hin,  der 
im  Verein  mit  dem  der  Carracci  in  den  späteren 
Jahren  noch  wachsen  sollte.^)  Bei  der  Aufrichtung 
des  Kreuzes,  die  er  später  gewissermaßen  als  Vor¬ 
studie  für  das  berühmte,  jetzt  in  der  Kathedrale  zu 
Antwerpen  befindliche  Altarbild  für  die  St.  Wal¬ 
burgiskirche  benutzte,  bediente  er  sich  einer  so  un¬ 
gewöhnlichen  Freiheit  der  Komposition,  dass  San- 
drart,  der  das  Bild  selbst  gesehen  zu  haben  scheint, 
ganz  besonders  darauf  aufmerksam  gemacht  hat. 
„In  gleichen  verfärtigte  er,“  so  schreibt  Sandrart  in 
seiner  Biographie  des  Meisters,  „in  selbiger  Stadt 
(Rom)  die  Kreutzigung  Christi,  welcher  an  den  bey- 
den  Händen  fast  angenagelt  ist,  mit  den  Füßen  aber 
ledig  und  frey  henket,  auf  ungemein  Weiß,  sonsten 
mit  vielen  Bildern  sehr  herzhaft  und  Geistreich  aus¬ 
gebildet,  und  dienet  jetzo  für  ein  Altar-Blat  in  sel¬ 
biger  Stadt  kleinen  Kirchlein  A  santa  Croce  in  Geru- 
salem.“  In  der  That  ist  die  Anordnung  des  Körpers 
Christi  derartig,  dass  nur  die  Hände  am  Querholz 
befestigt  sind  und  infolgedessen  die  Füße,  während 
das  Kreuz  aufgerichtet  wird,  frei  in  der  Luft  hän¬ 
gen.  Es  ist  der  Einfall  eines  jungen  Künstlers,  der 
einmal  etwas  von  dem  Herkömmlichen  Abweichen¬ 
des  bieten  wollte,  um  wenigstens  in  einem  Punkte 
originell  zu  erscheinen. 

Ein  seltsamer  Zufall  hat  es  gefügt,  dass  Rom 
in  der  Galerie  Borghese  auch  eine  Vorarbeit  zu 
Rubens’  zweitem  Meisterwerke  in  der  Kathedrale 
zu  Antwerpen,  dem  die  Heimsuchung  Mariä  (Maria’s 
Besuch  bei  Elisabeth)  darstellenden  linken  Flügel¬ 
bilde  der  Kreuzabnahme  besitzt  (s.  die  Abbildung 
S.  228).  Rooses,  der  dem  Bilde  keinen  großen  künst¬ 
lerischen  Wert  beimisst,  ist  auf  Grund  der  unbe- 


1)  Rooses,  L’oeuvre  etc.  II,  Nr.  444 — 44G. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


231 


stimmten  koloristischen  Haltung,  aus  der  nur  zwei 
stärkere  Accente,  das  rote  Gewand  der  Maria  und 
das  grüne  Obergewand  der  sie  begleitenden  Magd, 
liervortreten,  zu  der  Ansicht  gekommen,  dass  es  ein 
Jugendbild  und  wahrscheinlich  in  Italien  gemalt  sei. 
Auch  mir  scheint  diese  Datirung  richtiger  zu  sein, 
als  die  Annahme  derer,  die  das  Bild  um  1610  an¬ 
setzen,  also  in  die  Zeit,  wo  Rubens  bereits  mit  der 
Ausführung  des  großen  Triptychons  begonnen  hatte. 
Damals  war  Rubens  schon  erheblich  reifer  und  sou¬ 
veräner,  während  auf  dem  Bilde  der  Galerie  Bor¬ 
ghese,  namentlich  in  der  prächtigen  Gestalt  der 
Magd,  der  noch  unverarbeitete  Einfluss  von  Tizian 
und  Veronese  übermächtig  wirksam  ist.  Diese  Magd 
erscheint  auf  dem  Flügelbilde  au  anderer  Stelle  und 
in  völlig  veränderter  Haltung  und  Dienstleistung. 
Auffallend  ist  ein  Umstand,  der  schon  hier  berührt 
werden  muss,  weil  er,  wenn  das  Gemälde  wirklich 
in  Italien  gemalt  worden  ist,  das  erste  Beispiel  eines 
der  durch  Rubens’  ganzes  Lebenswerk  hindurch¬ 
gehenden  Typen  ist.  Das  wohlwollende,  gemütvolle 
Greisenantlitz  der  heiligen  Elisabeth,  wie  es  uns  hier 
entgegentritt,  kehrt  auf  zahlreichen  Bildern  des 
Meisters  wieder,  und  es  ist  immer  so  liebevoll,  so 
aus  inniger  Verehrung  heraus  gemalt,  dass  es  sich 
jedem  Rubensfreunde  fest  eiugeprägt  hat.  Die  Mün¬ 
chener  Pinakothek  besitzt  eine  Studie  dieses  Kopfes, 
nach  links  geneigt,  mit  gesenkten  Augenlidern,  und 
nach  alter  Tradition  soll  er  die  Maria  Pypelincx, 
Rubens’  Mutter,  darstellen  (s.die  Abb.S.229).  Bildnisse 
seiner  Mutter  und  seines  Vaters  haben  sich  in  Rubens’ 
Nachlass  befunden,  und  da  Maria  Pypelincx  in  ihrem 
Testamente  erwähnt,  dass  sie  Bilder  ihres  Sohnes  be¬ 
sitze,  werden  auch  Porträts  darunter  gewesen  sein. 
Rooses  verwirft  die  Überlieferung  und  sieht  in  dem 
Münchener  Bilde,  das  er  um  1615  ansetzt,  nur  eine 
Vorstudie  nach  einem  zufälligen  Modell  zu  einer 
Nebenfigur  auf  einer  Vermählung  der  heil.  Jungfrau, 
die  nicht  mehr  im  Originale,  sondern  nur  in  zweifel¬ 
haften  Kopieen  und  in  einem  Stiche  von  Schelte 
a  Boiswert  erhalten  ist.  Nach  diesem  Stiche  hat 
die  Komposition  aber  ein  so  unselbständiges,  be¬ 
sonders  dem  Veronese  nachempfundenes  Gepräge, 
dass  wir  berechtigt  sind,  auch  dieses  Bild  in  Rubens’ 
italienische  Zeit  zu  versetzen.  Die  Wahrscheinlich¬ 
keit,  dass  wir  in  dieser  immer  wohlwollend  und 
heiter  gestimmten  Matrone  die  Züge  von  Rubens’ 

1)  Reymond  in  der  Schrift  „Opere  di  Rühens  in  Roma“. 
Seinem  Urteil  folgt  Venturi  in  der  ersten  Lieferung  des 
Textes  zu  den  Braun’schen  Photographieen  „Le  Gallerie  di 
Roma“,  S.  22. 


Mutter  vor  uns  haben,  ist  also  nicht  so  ohne  weitere 
Begründung  abzuweisen.  Warum  sollte  Rubens  auch 
in  der  Zeit  seiner  reifen  Meisterschaft  nicht  diesen 
Kopf  in  allen  Wendungen  und  Gefühlsstimmungen 
wiedergegeben  haben,  er,  der  alles  in  Italien  liegen 
ließ,  der  seine  ganze  künstlerische  Zukunft  aufs 
Spiel  setzte,  als  ihn  die  Kunde  von  der  tödliclien 
Erkrankung  seiner  Mutter  traf?  Wie  vermag  man 
sonst  die  Pietät  zu  erklären,  mit  der  Rubens  sein 
Leben  lang  an  dieser  Physiognomie  festhielt,  die  für 
ihn  das  Ideal  einer  edlen  Greisin  wurde? 

Wenn  mau  aber  auch  diese  Studie  preisgiebt, 
so  bietet  uns  ein  zweites  Bild  der  Münchener  Pina¬ 
kothek  noch  mehr  Rätsel,  weil  es  nach  alter  Über¬ 
lieferung,  die  auch  auf  der  Hanfstängrschen  Photo¬ 
graphie  wiederholt  wird  (nicht  im  Reber’schen  Ka¬ 
talog),  als  ein  Porträt  von  Rubens’  Vater  gilt  (s.  die 
Abb.S.  229).  Eine  andere  Deutung,  die  Reber  mit  einem 
Fragezeichen  begleitet,  weist  auf  Hugo  Grotius  hin, 
mit  dessen  Zügen  das  Münchener  Bildnis  nichts  ge¬ 
meinsam  hat.  Denn  dass  es  sich  um  ein  Bildnis  han¬ 
delt,  kann  nach  der  Tracht  des  im  Brustbild  Darge¬ 
stellten,  der  mit  einem  Pelzrocke  bekleidet  ist  und  auf 
dessen  Brust  eine  goldene  Kette  mit  Medaillon  herab¬ 
fällt,  keinem  Zweifel  unterliegen.  Wen  haben  wir  nun  in 
diesem  Bildnisse  vor  uns?  Diese  Frage  interessirt 
uns  ganz  besonders,  Aveil  dieselbe  Persönlichkeit 
etwa  im  Alter  von  48  bis  50  Jahren,  d.  h.  um  einige 
Jahre  jünger  als  auf  dem  Münchener  Bilde,  auf  dem 
berühmten  Bilde  der  sogenannten  vier  Philosophen 
im  Palazzo  Pitti  in  Florenz  (s.  die  Abbildung  S.  232), 
das  nach  Rooses’  Meinung  im  Jahre  1602  gemalt 
worden  ist,  im  Vordergründe  rechts  erscheint.’) 
Nach  alter  Überlieferung  wird  die  fragliche  Figur 
des  Florentiner  Bildes  ebenfalls  Hugo  Grotius  ge¬ 
nannt.  Während  über  die  Identität  der  übrigen  drei 
Personen  —  Justus  Lipsius,  sein  Schüler  Philipp 
Rubens  und  hinter  ihm,  in  bescheidener  Zurück¬ 
haltung  von  dem  Trifolium  gelehrter  Männer,  Peter 
Paul  —  kein  Zweifel  obwalten  kann,  hat  Rooses  hin¬ 
sichtlich  der  vierten  Person  die  Richtigkeit  der  Über¬ 
lieferung  bestritten  und  einen  anderen  Namen  in 
Vorschlag  gebracht,  den  Rechtsgelehrten  und  spä¬ 
teren  Schöffen  von  Antwerpen,  Jan  van  de  Wou- 
were,  gewöhulich  in  der  Latinisiruug  seines  Namens 
Woverius  genannt.  Dieser  Woverius  war  aber  im 
Jahre  1602,  wo  er  mit  den  Brüdern  Rubens  in  Ita¬ 
lien  weilte  und  mit  ihnen  in  häufigem  und  engem 


1)  Rooses,  L’oeuvre  IV,  Nr.  977.  —  Dagegen  setzt  Bode 
(im  Cicerone  0.  AuH.  III,  S.  813)  das  Bild  um  1616  an. 


Die  vier  Dhilosojiheu. 

Gemiilde  von  1’.  1’.  DUDENS  im  l'alazzo  l’iUi  zu  Florenz.  Naeli  einer  l'liotographie  von  A.  Braun  &  Co 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  P,  V.  H.  10. 


30 


Römische  Landschaft  mit  Ruinen  von  P.  P.  Rubens.  Nach  einem  Stich  von  Schelte  a  Boiswert. 


234 


PETER  PAUL  RUBENS. 


Verkehr  stand,  26  Jahre  alt,  also  ein  Altersgenosse 
der  beiden.  Damit  fällt  Rooses’  Annahme,  da  die 
fragliche  Persönlichkeit  auf  dem  Bilde  der  vier  Philo¬ 
sophen  hoch  in  den  Vierzigern  steht.  Aus  demselben 
Grunde  ist  natürlich  noch  viel  -weniger  an  den  1583 
geborenen  Hugo  Grotius  zu  denken.  Da  übrigens 
Rooses  selbst  zugiebt,  dass  sein  vermeintliches  Bild¬ 
nis  des  VVoverius  von  dem  einzigen  authentischen 
des  Gelehrten,  dem  von  P.  Pontius  gestochenen  in 
der  Ikonographie  van  Dyck’s,  verschieden  ist,  muss 
die  Frage  bis  auf  tiefere  ikonographische  Studien 
offen  bleiben.  Dafür  aber,  dass  das  Bild  der  vier 
Philosophen  wirklich  in  Italien  gemalt  ist  oder  doch 
eine  italienische  Erinnerung  festhalten  soll,  liegt 
außer  der  Büste  Seneca’s  in  der  Nische  über  dem 
Kopfe  seines  berühmten  Herausgebers  noch  ein  an¬ 
deres  Zeugnis  vor.  Der  hinter  Peter  Paul  aufgenom¬ 
mene  rote  Vorhang  gewährt  uns  einen  Blick  in  eine 
Landschaft  mit  Bauwerken  und  Ruinen,  von  denen 
ein  Rundbau  mit  flacher  Kuppel  besonders  charak¬ 
teristisch  ist.  Dieser  Rundbau  erscheint  auch  mit 
den  angrenzenden  Ruinen  auf  einer  von  Schelte  a 
Boiswert  gestochenen  Landschaft  wieder  (s.  die  Ab¬ 
bildung  auf  S.  233),  die  mit  der  Inschrift:  Pet.  Paul 
Rubens  pinxit  Romae  versehen  ist.  Das  Original 
dieses  Stiches,  eine  in  brauner  und  bläulicher  Tusche 
ausgeführte  Zeichnung,  die  sich  in  der  Albertina  in 
Wien  befindet  ^),  zeugt  bereits  von  einer  so  erstaun¬ 
lichen  Sicherheit  und  Freiheit  der  Hand,  dass  Ru¬ 
bens  etwa  dreißig  Jahre  später,  als  er  seinem  Stecher 
diese  Studie  zur  Nachbildung  überließ,  nur  ein  paar 
kräftige  Drucker  in  schwarzer  Tusche  hinzuzufügen 
brauchte,  um  sie  auf  die  Höhe  seines  damaligen 
U'ollens  und  Könnens  zu  erheben.  Der  Landschafts¬ 
maler  Rubens  scheint  in  Italien  überhaupt  dem  Histo¬ 
rien-  und  Bildnismaler  voraus  gewesen  zu  sein.  Die 
IGunpositiou  des  Bildes  der  vier  Philosophen  ist 
immer  noch  etwas  linkisch  und  leblos:  aber  in  der 
liarmonischen  Zusammenstimmung  des  Kolorits,  in 
der  Wärme  des  Tons,  vor  allem  aber  in  der  Würde 
der  Auffassung  und  in  der  Größe  des  Stils  zeigt 
sich  schon  tiefer  der  Einfluss  Tizian’s  als  in  dem 
Altai*werke  für  die  Kapelle  in  Sa.  Croce  in  Geru- 
salemme.  Phn  feiner  Zug  ist  die  kleine  Glasvase 
mit  den  vier  Tulpen  vor  der  Büste  Seneca’s.  Solche 
Iliddigungen  pflegten  die  Venezianer  aus  der  Schule 
des  Bellini  nur  ihren  Madonnen  und  dem  heiligen 

1  Kine  wolilgelnngene  Faksimilenachbildung  der  Zeich¬ 
nung  findet  sicli  in  dem  Werke  des  Verf.  „Der  Kupferstich 
in  der  .Schule  und  unter  dem  Einflüsse  des  Rühens“  (Wien 
18SH)  hei  S.  114, 


Bambino  darzubringen.  Der  Schutzpatron,  der  über 
dem  Konventikel  der  Gelehrten  waltet,  schien  dem 
blumenliebenden  Vlamen,  der  hier  mit  seinem  Ge¬ 
vatter  Jan  Brueghel  wetteifert,  einer  gleichen  Huldi¬ 
gung  würdig. 

Die  Frage,  die  sich  um  Jan  Woverius  dreht, 
wäre  bedeutungslos,  wenn  sich  nicht  an  dieselbe  Per¬ 
sönlichkeit  ein  zweites  Bild  aus  Rubens’  Frühzeit 
und  der  erste  nach  einem  seiner  Bilder  gefertigte 
Kupferstich  knüpfte.  Es  giebt  einen  von  Corne¬ 
lius  Galle  dem  älteren  ausgeführten,  die  Enthauptung 
des  Holofernes  durch  Judith  darstellenden  Stich,  der 
mit  folgender  Widmung  von  Rubens  versehen  ist: 
Clarissimo  et  amicissimo  viro  D.  Joanni  Woverio 
paginam  hanc  auspicalem  primumque  suorum  operum 
typis  aeneis  expressum  P.  P.  Rubenius  promissi  jam 
olim  Veronae  a  se  facti  memor  Dat  Dicat.’)  Daraus 
erhellt  also,  dass  Rubens  in  Verona  dem  Jan  Wove¬ 
rius  versprochen  hat,  ihm  den  ersten  Kupferstich 
nach  einem  seiner  Gemälde  zu  widmen.  Das  Zusam¬ 
mentreffen  der  beiden  Brüder  Rubens  mit  Woverius 
in  Verona  fand,  wie  durch  einen  Brief  Philipp’s  be¬ 
zeugt  wird,  im  Juli  1602  statt.  Damals  hat  sich 
Peter  Paul  demnach,  vermutlich  von  neuem  durch 
die  in  Mantua  noch  blühende  Kupferstecherschule 
angeregt,  bereits  mit  dem  Gedanken  an  eine  Ver¬ 
vielfältigung  seiner  Gemälde  durch  den  Kupferstich 
getragen.  Leider  ist  das  durch  den  Galle’schen  Stich 
reproduzirte  Bild  im  Original  nicht  mehr  vorhanden. 2) 
Dass  es  aber  ein  Jugendwerk  des  Meisters  gewesen 
ist,  wird  von  diesem  ausdrücklich  sowohl  in  der 
Widmung  des  Stiches  als  auch  in  einem  Briefe  vom 
13.  September  1621  betont,  wo  sich  das  Bild  im  Be¬ 
sitze  des  Prinzen  von  Wales,  späteren  Königs  Karl  1. 
von  England,  befand.^)  Darin  verpflichtet  sich  Rubens 
beim  Aufträge  eines  neuen  Bildes  für  den  Prinzen, 
dass  er  es  „an  Künstlichkeit  dem  des  Holofernes 
überlegen  machen  werde,  den  er  in  seiner  Jugend 
gemalt  habe.“  Soweit  sich  nach  dem  Stiche  Galle’s 
im  Verein  mit  den  Kopieen  des  Originals  beurteilen 

1)  „Dem  hochberühmten  und  ihm  innig  befreundeten 
Manne  Herrn  Jan  Woverius  -widmet  P.  P.  Rubens  dieses  An¬ 
fangsbild  und  zugleich  das  erste  seiner  durch  Kupferdruck 
wiedergegebenen  Werke,  eingedenk  des  einst  in  Verona  von 
ihm  gegebenen  Versprechens.“ 

2)  Eine  anscheinend  alte  Kopie,  die  jedoch  völlig  mit 
dem  Galle’schen  Stiche  übereinstimmt,  befindet  sich  im  Be¬ 
sitze  einer  Frau  Brun  in  Nizza  (Rooses  I,  Nr.  125),  eine  grö¬ 
ßere,  in  Einzelheiten  mehrfach  abweichende,  im  Besitze  des 
Professors  Dr.  Lohmeyer  in  Göttingen.  Eine  mir  von  diesem 
freundlichst  übersandte  Photographie  ist  leider  so  undeut¬ 
lich,  dass  wir  danach  kein  Gliche  anfertigen  lassen  konnten. 

3)  Rosenherg,  Rubensbriefe,  S.  61. 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


235 


lässt,  ist  diese  Judith,  die  dem  rücklings  von  seinem 
Lager  herabgestürzten  Holofernes  mit  robuster  Energie 
den  Kopf  abschneidet,  ein  Denkmal  jener  Zeit,  in 
der  Rubens  seine  venezianischen  Eindrücke  mit  den 
ersten  römischen  zu  verschmelzen  suchte.  Die  ver¬ 
ächtlich  auf  den  gefallenen  Riesen  herabblickende 
Judith  mutet  uns  wie  eine  der  ins  Heroinenhafte  ge¬ 
steigerten  blonden  Schönheiten  Paolo  Veronese’s  an, 
und  der  nackte  Körper  hat  bereits  das  Gepräge  der 
muskelkräftigenund fleischgewaltigen  Formenbildung, 
die  Caravaggio  von  Michelangelo  und  Rubens  von 


Caravaggio  gelernt  hat,  wobei  der  eine  den  anderen 
immer  überbot.  Die  vier  in  der  Luft  schwebenden 
Engelsbübchen,  die  das  gottgefällige  Werk  in  gar 
drolliger  Weise  zu  fördern  und  zu  verheimlichen 
suchen,  sind  dagegen  aus  Rubens’  eigener  Mitgift, 
aus  dem  Humor  seiner  vlämischen  Heimat  eut-sprossen. 

Einen  neuen  Aufschwung  nahm  Rubens’  Kunst 
in  Italien  nach  seiner  spanischen  Reise,  die  er  im 
Dienste  seines  Herzogs  im  März  1603  an  trat. 

(Fortsetzung  folgt.) 


STUDIEN 

ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 

VON  MAX  BACH. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


II.  Bartholomäus  Zeitblom. 


(Schluss.) 


Über  ein  sicheres  Werk  des  Meis¬ 
ters,  das  einzige,  welches  noch  intakt 
und  mit  seinem  Namen  bezeichnet  ist, 
können  wir  kürzer  hiuweggehen.  Es 
ist  zugleich  das  am  längsten  bekannte 
Werk  Zeitblom’s;  schon  im  Morgen¬ 
blatt  vom  Jahre  1816  ist  es,  wie  schon 
bemerkt,  aus  der  Feder  Justinus  Ker- 
ner’s  beschrieben;  später,  1845,  ver¬ 
öffentlichte  der  Ulmer  Altertumsver- 
eineinebesondere  Publikation  darüber; 
darnach  sind  auch  Abbildungen  in  ver¬ 
schiedene  kunstgeschichtliche  Hand¬ 
bücher  übergegangen.  (Wir  geben  hier 
das  eigenhändige  Porträt  Zeitblom’s 
welches  er  auf  der  Rückseite  des 
Schreins  aufgemalt  hat.)  ’)  Der  Altar¬ 
schrein  wurde  im  Jahre  1497  für 
die  Wallfahrtskirche  auf  dem  Heer¬ 
berg  O/A.  Gaildorf  von  dem  Schenken 
Albert  von  Limpurg  (f  1 506)  und  seiner 
Gemahlin  Elisabeth  Gräfin  von  Oet- 
tingen  (f  1509)  gestiftet,  wie  die  an¬ 
gebrachten  Wappen  aufs  bestimm- 

1)  Die  ganze  Rückseite  ist  ebenfalls 
durch  den  Ulmer  Verein  im  Jahre  1874  in 
EMrüendruck  vervielfältigt  worden. 

30* 


Bildnis  des  Bartholomäus  Zeitblom.  (Vom  Heerberger  Altar.) 


236 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


teste  ausweisen,  denn  außer  den  beiden  Wappen  der 
Stifter  sind  auch  noch  die  Wappen  ihrer  Ahnen,  des 
Grafen  Wilhelm  von  Oettingen  (•]■  1467),  seiner  Ge¬ 
mahlin  Beatrix  della  Scala  und  der  Eltern  des  Schenken 
Albert,  Konrad  (f  1482)  und  Clara  Gräfin  v.  Mont¬ 
fort  angebracht.  Der  Altar  befindet  sich  schon  seit 
ca.  25  Jahren  in  der  Sammlung  vaterländischen  Kunst- 
und  Altertumsdenkmale  in  Stuttgart;  die  ehemaligen 
Schnitzfiguren  des 
Schreins ,  darstel¬ 
lend  die  Heiligen: 

Maria  auf  der  Mond¬ 
sichel,  Katharina 
und  Barbara,  hat 
die  Gemeinde  zu¬ 
rückbehalten.  Lei¬ 
der  haben  die  Ge¬ 
mälde  durch  wie¬ 
derholte  Restaura¬ 
tionen  ihren  alter¬ 
tümlichen  Charak¬ 
ter  etwas  verloren, 
was  besonders  von 
den  Außenseiten  zu 
sagen  ist,  welche 
die  Verkündiffunsr 
Mariä  darstellen. 

Auf  der  Höhe 
seiner  Kunst  er¬ 
blicken  wir  nun 
Zeitblom  in  den 
herrlichen  Heili¬ 
gengestalten  Ursu¬ 
la  und  Margaretha 
der  Münchener  Pi¬ 
nakothek.  Ihre  ein¬ 
stige  Bestimmung 
ist  unbekannt ;  doch 
weiß  man,  dass  die 
Bilder  schon  im 
Jahre  1S16  vom 


die  Wallerstein’- 
schen  Sammlungen  und  von  dort  in  die  Nürnberger 
Moritzkapelle  kamen,  wo  sie  lange  Zeit  wenig  Be¬ 
achtung  fanden.  Ihre  einstige  Heimat  ist  demnach 
wohl  in  den  einstigen  Rechberg’schen  Besitzungen 
in  der  Nähe  von  Gmünd  zu  suchen;  vielleicht 
gehörte  zu  demselben  Altar  noch  die  h.  Brigitta, 
welche  ungefähr  in  gleichen  Dimensionen  ausge* 
führt  ist  und  gleichfalls  in  der  Pinakothek  sich 


befindet.  Wie  schon  ein  Bericht  anlässlich  der 
Eröffnung  der  Moritzkapelle  im  Jahre  1829  sagt, 
ist  „die  Zeichnung  ausgezeichnet,  besonders  die 
Hände  mit  seltener  Wahrheit  gezeichnet,  die  Köpfe 
scheinen  nach  der  Natur  und  sind  vortrefflich  aus¬ 
geführt,  die  Gewänder  schön  gelegt  und  alles  zeich¬ 
net  sich  durch  die  Pracht  der  Farben  und  Größe 
des  Stils  aus“  (s.  die  Abbildung). 

Zu  den  besten 
Werken  Zeitblom’s 
gehören  ferner  acht 
Gemälde,  Fragmen¬ 
te  von  Altarflü^eln, 
welche  früher  ein¬ 
zeln  in  der  Schloss¬ 
kapelle  zu  Krau¬ 
chenwies  bei  Sig¬ 
maringen,  wohin 
sie  von  Pfullendorf 
gekommen  sein  sol¬ 
len,  aufgehängt  wa¬ 
ren  und  jetzt  im 
fürstlichen  Museum 
zuSigmaringen  sich 
befinden.  Sie  für  Ju¬ 
gendarbeiten  Zeit¬ 
blom’s  zu  halten, 
wie  Wiegmann 
thut,  liegt  kein 
Grund  vor;  Köpfe 
und  Drapirung  zei¬ 
gen  den  ausgebil¬ 
deten  Zeitblom’- 
schen  Stil,  wie  er 
im  letzten  Jahr¬ 
zehnt  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  sich  ent¬ 
faltet  hatte.  Ergrei¬ 
fend  ist  besonders 
der  Tod  der  Maria, 
wie  sie,  von  einem 
Apostel  unterstützt, 
am  Betpult  nieder¬ 
kniet  und  ihr  Ende  erwartet  (s.  die  Abbildung).  Die 
Bilder  wurden  1857  von  Prof.  A.  Müller  in  Düssel¬ 
dorf  vortrefflich  restaurirt  und  zu  je  vieren  in  zwei 
großen  Rahmen  vereinigt. 

Vier  andere  Tafeln,  noch  an  ihrer  ursprüng¬ 
lichen  Stelle  befindlich,  müssen  hier  angereiht  werden : 
sie  finden  sich  in  der  Nähe  von  Sigmaringen  in 
dem  Dorfe  Bingen.  Es  sind  die  Reste  des  ehe- 


Grafen  Rechberf;  in 


Der  Tod  Mariä.  Gemälde  von  B.  Zeitblom,  im  fürstlichen  Museum  zu  Sigmaringen. 


STUDIEN  ZUR,  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


237 


maligen  Hochaltars,  welcher  schon  gegen  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  abgebrochen  wurde.  Jetzt 
bilden  die  beiden  Hauptstücke  Geburt  und  Anbetung, 
nebst  zwei  kleineren  oblongen  Tafeln,  Darstellung 
im  Tempel  und  Tod  Mariä,  den  Schmuck  der  beiden 
Seitenaltäre.  Wie  Lehner  berichtet,  machte  zuerst 
Herr  von  Maienfisch  1841  auf  die  Bilder  aufmerk¬ 
sam  und  veranlasste 
deren  Restauration. 

Eine  von  den  bei¬ 
den  Tafeln,  die,  wie 
vorauszusehen,  sich 
auch  auf  der  Rück¬ 
seite  mit  Darstel¬ 
lungen  versehen 
zeigte ,  war  hinten 
durch  die  Feuch¬ 
tigkeit  so  beschä¬ 
digt,  dass  an  eine 
W  ied  erherstellung 
nicht  zu  denken 
war,  um  so  weniger, 
als  die  am  erträg¬ 
lichsten  erhaltenen 
Köpfe  von  einem 
Liebhaber  ausge¬ 
schnitten  waren. 

Später  sollen  diese 
Köpfe  in  das  Eigen¬ 
tum  des  Oberstu¬ 
dienrats  Hassler 
übergegangen  sein_ 

Die  andere  Tafel 
war  auf  der  Rück¬ 
wand  gut  erhalten, 
daher  konnte  sie 
zersägt  werden, 
durch  welche  Ope¬ 
ration  die  beiden 
kleineren  Bilder  ge¬ 
wonnen  wurden. 

Ob  diese  An¬ 
gaben  dem  Thatbe- 
stand  entsprechen,  ist  fraglich,  denn  wie  konnten 
aus  der  Rückwand  eines  Flügels  Stücke  ausgeschnit¬ 
ten  werden,  ohne  die  ganze  Tafel  zu  zersägen? 
Dahlke  vermutet  daher,  die  beiden  kleineren  Stücke 
hätten  ehemals  Vor-  und  Rückseite  eines  Predella- 


1)  Kunstwerke  der  Pfarrkirche  zu  Bingen,  2.  Aufl.  1870. 
Fol.  A. 


flügels  gebildet,  was  wir  jedoch  nicht  acceptiren 
können.  Bezüglich  der  ausgeschnittenen  Köpfe  haben 
wir  eine  Spur  gefunden,  nach  welcher  acht  derartige 
Köpfe  schon  im  Jahre  1843  sich  im  Besitz  des  Anti¬ 
quitätenhändlers  Herrich  in  Ravensburg  befanden; 
zehn  Jahre  später  sind  diese  Köpfe  in  der  Hassler’- 
schen  Sammlung  in  Ulm,  wo  sie  von  Eigner  als  die 

schönsten  Bilder  er¬ 
klärt  werden.  Un¬ 
begreiflicherweise 
ffiebt  aber  Hassler 
diese  Propheten¬ 
köpfe,  welche  sich 
jetzt  in  der  Samm¬ 
lung  vaterländi¬ 
scher  Altertümer 
in  Stuttgart  befin¬ 
den,  in  seiner  Ul¬ 
mischen  Kunstge¬ 
schichte  für  Schüh- 
lein  aus;  dabei  be¬ 
merkt  derselbe,  die 
Köpfe  seien  heraus¬ 
geschnitten  aus 
größeren  Tafeln, 
welche  neutesta- 
mentliche  Begeben¬ 
heiten  darstellen 
und  nach  der  Weise 
der  Biblia  paupe- 
rum  auf  den  Zu¬ 
sammenhang  mit 
dem  alten  Testa¬ 
ment  zurückweisen, 
indem  je  oben  in 
der  Ecke  rechts 
oder  links  derjenige 
Prophet  angebracht 
war,  bei  welchem 
das  auf  die  darge- 
.  stellte  Begebenheit 
bezügliche  Vatici- 
nium  sich  findet. 
Auf  der  Tafel  zu  Bingen  aber  ist  Prophet  und  Be¬ 
gebenheit  noch  beisammen. 

In  der  That  ähneln  diese  Köpfe  ungemein,  be¬ 
sonders  in  Stellung  und  Anordnung  den  beiden  Bin- 
gener  Prophetenbrustbildern,  welche,  Schriftrollen 
in  den  Händen  haltend,  je  oben  in  der  rechten  Ecke 
der  beiden  kleineren  Tafeln  auf  die  dargestellten 
Begebenheiten  herabschauen.  Ich  habe  früher  in 


Heilung  eines  epileptischen  Knaben  durch  den  h.  Valentin.  Gemälde  von  B.  Zeitblom 
in  der  Augsburger  Galerie. 


238 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


meiner  Abhandlung  über  die  Ulmer  Ausstellung  im 
Jahre  1877  und  später  1881  in  einem  Aufsatz  über 
Zeitblom  auf  Grundlage  der  angeführten  Litteratur 
behauptet,  diese  Hassler’schen  Köpfe  stammten  aus 
dem  Ringer  Altarwerk.  Ich  möchte  das,  nachdem 
ich  nun  die  Bingener  Tafeln  selbst  gesehen,  nicht 
mehr  ohne  Bedenken  annehmen,  denn  wo  sollten 
diese  acht  Köpfe  auf  der  Rückseite  des  einen  Flü¬ 
gels  Platz  finden?  Vielleicht  gehören  dahin  die  beiden 
als  jüdische  Schriftgelehrte  bezeichneten  Köpfe  in 
der  Stuttgarter  Galerie  (Nr.  541,  543),  und  zwei  ähn¬ 
liche  in  Augsburg.  Uber  die  künstlerische  Bedeutung 
des  Werkes  hat  Dahlke  ausführlich  gehandelt  ^) ;  wir 
unterlassen  es  daher,  hier  weiteres  darüber  anzu¬ 
führen. 

Ein  weiteres  Werk  Zeitblom’s  welches  sich  in 
der  Augsburger  Galerie  befindet,  ist  durch  photo¬ 
graphische  Reproduktion  allgemein  bekannt,  nämlich 
die  Valentinsbilder.  Diese  Bilder  waren  aber  nicht, 
wie  Dahlke  angiebt,  be.stimmt  „zur  Ausfüllung  eines 
überwölbten  Wandfeldes“,  sondern  es  sind  zwei  zer¬ 
sägte  Altarflügel,  von  welchen  zwei  Darstellungen,  Va¬ 
lentin  im  Gefängnis  und  wie  derselbe  mit  Knütteln 
totgeschlagen  wird,  die  Vorderseiten,  die  Heilung 
eines  epileptischen  Knaben  und  Valentin’s  Gefangen¬ 
nahme  die  Rückseiten  bildeten  (s.  die  A  bbildung).  Durch 
die  aufgemalten  hässlichen  gotischen  Ornamente  wird 
der  Eindruck  der  Bilder  wesentlich  gestört;  ohne 
Zweifel  waren  hier  früher  geschnitzte  Ornamente  ange- 
l>racht.  Bezüglich  der  Provenienz  der  Bilder  sind 
alle  bisherigen  Angaben  falsch.  Die  schon  in  den 
dreißiger  Jahren  zersägten  Tafeln  stammen  nicht  aus 
dem  Carmeliter-,  sondern  aus  dem  Katharinen-  (Do- 
niinikaner-jKloster,  an  der  Stelle  der  jetzigen  Gemälde¬ 
galerie.  Die  ehemalige  Dominikanerkirche  wurde 
1512  restaurirt,  in  ihr  befanden  sich  viele  Patrizier- 
kaj)ellen  Jiiit  Grablegen,  und  ohne  Zweifel  gehörte 
das  Zeitblom’sche  Altarwerk  einer  solchen  Kapelle 
an.  Bei  den  nahen  Beziehungen  des  Augsburgischen 
Patriziats  mit  dem  Ulmer  ist  die  Beiziehung  eines 
auswärtigen  Meisters  leicht  erklärbar,  zumal  ja  auch 
die  Familie  Zeitblom’s,  wie  wir  oben  gesehen,  aus 
Augsburg  zu  stammen  scheint;  hierzu  ist  noch  nach¬ 
zutragen  ,  dass  auch  ein  Meister  Simon  Zeitplum  in 
den  Steuerbüchern  unter  der  Rubrik  „Uff  dem  Gra¬ 
ben  gen.  Wint})runnen“  von  1386—98  genannt  ist. 

Die  noch  bestehende  Kirche  des  Carmeliter- 
klosters  zu  St.  Anna  wurde  in  den  Jahren  1487 — 97 
unter  dem  Prior  Matthias  I’abri  fast  ganz  neu  er- 

1  Ilepertorium  IV,  a.  a.  0. 


baut;  derselbe  führte  auch  ein  genaues  Inventar  über 
alle  Gegenstände  im  Kloster,  worin  auch  unser  Al¬ 
tar,  wenn  er  sich  dort  befunden  haben  sollte,  gewiss 
angegeben  gewesen  wäre.  Der  Umstand,  dass  die 
Kirche  nach  Aufhebung  des  Klosters  nicht  einge¬ 
gangen,  sondern  zur  protestantischen  Pfarrkirche 
erhoben  worden  und  ihre  Kunstschätze  behalten  hat, 
spricht  auch  gegen  die  Annahme,  dass  die  V alentins- 
bilder  von  dort  herstammen. 

Zwei  schmale  Flügel  in  derselben  Galerie,  einer¬ 
seits  den  h.  Alexander,  anderseits  die  Heiligen  Even- 
tius  und  Theodolus  darstellend,  bezeichnet  1504,  und 
zwei  kleinere  Tafeln  mit  den  Heiligen  Benedikt  und 
Brigitta,  Barbara  und  Katharina  zeigen  den  Zeit- 
blom’schen  Stil;  doch  gehören  letztere  jedenfalls  einer 
früheren  Periode  des  Meisters  an.  Die  beiden  Hei¬ 
ligen  Cyprian  und  Cornelius  in  der  Münchener  Pina¬ 
kothek  (Nr.  178)  sind  in  Ausführung  und  Format 
den  erstgenannten  Augsburger  Tafeln  konform  und 
stammen  ohne  Zweifel  von  demselben  Altarwerk, 
welches  nach  Aufhebung  des  Ulmer  Wengenklosters 
1803  in  den  Besitz  des  bayerischen  Staates  kam. 

Ein  weiteres  Bild,  welches  von  den  älteren  Au¬ 
toren  nicht  erwähnt  wird,  weil  es  früher  dem  Martin 
Schön,  später  Schaffner  zugeschrieben  wurde,  befand 
sich  bis  1881  in  der  Münchener  Pinakothek  und  ist 
jetzt  im  Germanischen  Museum  aufgestellt.  Es  stellt 
die  Beweinung  Christi  dar  und  ist  augenscheinlich 
dem  Holzschnitt  Dürers  aus  der  großen  Passion 
(B.  13)  nachgebildet.  Das  Bild  gewinnt  dadurch  an 
Interesse,  weil  man  sieht,  dass  auch  Zeitblom  ein 
Werk  Dürer’s  als  Vorlage  benützt  hat;  es  war  das 
damals  nichts  Ungewöhnliches,  zu  derselben  Zeit 
wurden  die  Kupferstiche  Schongauer’s  unzähligemal 
kopirt.  Die  charakteristischen  Merkmale  für  Zeitblom 
fehlen  nicht:  die  lange  schmale  Nase,  die  kleinen 
mandelförmigen,  etwas  schielenden  Augen,  die  auf¬ 
fallend  kurzen  Hände  u.  dergl.  Man  hat  mit  diesem 
Bild  eine  Notiz  in  Verbindung  gebracht,  welche  in 
einer  von  dem  Prälaten  Michael  HI.  Kuen  verfassten 
Monographie  über  das  Ulmer  Wengenkloster  (Ulmae 
1766  fol.)  steht.  Nach  derselben  soll  das  Gemälde 
im  Jahre  1613  von  dem  Herzog  Wilhelm  von  Bayern 
begehrt  worden  sein  ’).  In  der  Beschreibung  des 
Bildes  heißt  es  aber  ausdrücklich,  es  sei  auf  Lein¬ 
wand  gemalt  gewesen,  wird  auch  dort  dem  Martin 
Schön  zugeschrieben.  Offenbar  war  es  also  wieder 
eine  der  vielen  Kopieen  Schongauer’scher  Stiche,  in 
moderner  Weise  gemalt.  Gewöhnlich  wird  damit  noch 


1)  Archiv  f.  Christi.  Kunst  1892,  S.  8. 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE 


239 


ein  anderes  Bild  verwechselt,  welches  sich  im  Ulmer 
Münster  befindet,  jedoch  mit  Zeitblom  nichts  zn 
schaffen  hat.  ’)  Die  Nürnberger  Beweinung  Christi 
kam  schon  im  Jahre  1803  ans  dem  Wengenkloster 
in  bayerischen  Staatsbesitz;  damals  wurden,  wie  Weyer¬ 
mann  ‘^)  angiebt,  ein  ganzer  Leiterwagen  voll  Bilder 
fortgeführt,  welche  ein  Ulmer  Bürger  mn  13  fl.  er¬ 
steigert  hatte. 

In  Ulm  seihst  und  zwar  in  der  dortigen  Mün¬ 
stersakristei  sind  gleichfalls  einige  Tafeln  aus  der 
Zeitblom’schen  Schule  erhalten,  die  einem  Altarwerke 
im  Wengenkloster  angehört  haben  sollen.  Diese 
Bilder  wurden  auf  Anregung  des  Zeichuuugslehrers 
Manch  im  Jahre  1838  von  der  Stadt  erworben.  Eine 
erstmalige  nähere  Würdigung  dieser  Bilder  gieht 
Eisenmann  in  Schnaase’s  Kunstgeschichte,  8.  Bd. 
Es  sind  sechs  Tafeln  von  je  1,20  m  Höhe  und  65  cm 
Breite  und  stellen  die  Verkündigung,  Beschneidung, 
Darstellung  und  Himmelfahrt  Mariä,  zwei  andere, 
die  offenbar  einst  zur  Außenseite  der  Flügel  gehörten, 
einerseits  männliche,  anderseits  weibliche  Heilige  dar. 
Zu  dieser  Folge  kommen  dann  noch  zwei  andere, 
die  Geburt  Christi  und  die  Messe  des  h.  Gregor,  in 
den  Galerieen  zu  Stuttgart  und  Karlsruhe.  Ob  die 
beiden  größeren  ebenfalls  in  Ulm  befindlichen,  im 
Format  unter  sich  aber  verschiedenen  Bilder,  die 
Apostel  Jakobus  und  Bartholomäus  und  ein  einzelner 
schlafender  Jünger  in  weißem  Mantel,  zu  demselben 
Altarwerk  gehörten,  lassen  wir  dahingestellt.  Eisen¬ 
mann  hält  diese  Bilder  für  ungleich  bedeutender: 
„in  der  Farbe  leicht  gehalten,  aber  von  festester 
großartiger  Zeichnung,  Köpfe  von  hohem  Ernst,  Ge¬ 
wandung  von  strenger  Schönheit,  Körper  von  edler 
Bildung.  Es  ist  etwas  Altertümliches  aber  Kräftigeres 
darin,  als  in  anderen  Werken  Zeitblom’s,  so  dass  man 
sie  für  Arbeiten  seiner  Frühzeit,  oder  eines  ihm  ver¬ 
wandten  älteren  Meisters  halten  müsste.“ 

Leider  hat  man  keine  Nachrichten  über  die  ehe¬ 
maligen  Altäre  in  der  Wengenkirche;  dass  aber  noch 
im  Jahre  1825  ein  Altar  von  Jörg  Syrlin  dort  ge¬ 
standen  hat,  geht  aus  der  Beschreibung  der  Stadt 
Ulm  von  Dietrich  hervor;  die  Kirche  wurde  im  17., 
18.  und  19.  Jahrhundert  öfters  erneuert  und  enthält 
jetzt  keine  alten  Kunstwerke  mehr. 

Das  sind  die  einzigen  Überreste  von  der  Thätig- 
keit  des  Meisters  in  seiner  Vaterstadt  selbst;  auch 
diese  Bilder  wären  wohl  verschleudert  worden,  wenn 
sie  nicht,  wie  schon  erwähnt,  ein  patriotischer  Bür- 


1)  Grüneisen  und  Mauch,  S.  35  ff. 

2)  Kunstblatt  1830,  Nr.  89. 


ffer  der  Stadt  erhalten  hätte.  Erst  in  neuerer  Zeit 
kamen  noch  zwei  Fragmente  Zeitblom’scher  Kunst 
in  die  Sammlung  des  Hauptmanns  Geiger  in  Neu- 
Ulm.  Das  eine,  Bruchstück  einer  Verkündigung,  das 
andere,  der  Kopf  eines  schlafenden  Johannes  auf 
Goldgrund,  beide  aus  der  Sammlung  des  Freiherru 
von  Holzschuher  aus  Augsburg  stammend. 

Rastlos  war  die  Thätigkeit  des  Meisters  noch  in 
den  ersten  Decennien  des  16.  Jahrhunderts,  und  jetzt 
erscheint  er  auch  öfters  in  öffentlichen  Urkunden. 
1499  ist  er  genannt  als  einer  der  beiden  Schatz¬ 
meister  der  Maler-Zunft  S.  Lucas  zu  den  Wengen 
und  in  demselben  Jahre  erscheint  er  erstmals  in  den 
Zinsbüchern  der  Pfarrkirchenbaupflege  und  zwar  als 
Inhaber  eines  Stuhls  gemeinschaftlich  mit  Schühlein, 
welchen  Stuhl  er  aber  seit  1508  allein  besitzt  und 
dafür  zwei  Ort  bezahlt  bis  zum  Jahre  1512.  In  den 
Ulmer  Bürgerbüchern  erscheint  der  Meister  nach 
Weyermaun  und  Jäger  1504  und  1508,  nach  Hassler 
ferner  im  Jahre  1516  als  Bürge  für  den  Maler  Jörg 
Bochsdorfer.  Für  diese  Stelle  sind  jedoch  die  Be¬ 
lege  nicht  mehr  aufzufinden;  dagegen  fand  sich  im 
Bürgerbuch  von  1501 — 1547  folgender  Eintrag  auf 
Blatt  68b:  „Eodem  die  (30.  Januar  1517)  ward  unser 
Burger  Hans  Schäfer  Messerschmid,  also  dass  er 
zehen  jar  unser  eingesessener  Burger  sein  und  uns 
derzwischen  jährlich  auf  Martini,  wir  nemen  gemeine 
Stewr  oder  nit,  zu  gedingter  Stewr  richten  und  geben 
soll  ain  guldi  wie  ander  hievor,  und  er  hat  uns  ver¬ 
bürgt  mit  Bortlome  Zeithlom,  Facius  Spul  seinem 
Schwehr  und  Jörgen  Bremakher  auf  unsere  Burger  un- 
verscheidentlich,  und  er  gab  auf  Martini  im  XVII  den 
jar  sein  Erstes.“  2) 

Zum  letzten  Mal  wird  der  Meister  genannt  in  einer 
Hüttenrechnung  von  1518  unter  den  Ausgaben  für 
den  Olberg,  welcher  nach  einem  schon  im  Jahre 
1474  von  Matth.  Böblinger  gezeichneten  Entwurf 
auf  dem  Münsterplatz  errichtet  wurde.  Dort  heißt 
es:  „Bartime  Zeytblum  und  Martin  Schaffner  von 
dem  Getter  rot  anzestreichen ,  von  den  Knöpfen  zu 
vergulden  und  von  den  Gilgen  und  Blumen  zu  malen 
28  Pf.  27  Sh.  6  hl.“  Doch  muss  Zeitblom  noch 
einige  Jahre  gelebt  haben,  denn  erst  1521  tritt  an 
dessen  Stelle  als  Bürge  für  den  genannten  Bochs¬ 
dorfer  ein  Notar  May  ein. 


1)  Sendschreiben  von  Ed.  Mauch  1855,  S.  74.  Dieser 
Bochsdorfer,  auch  Boxdorffer  geschrieben,  kommt  schon  in 
den  Hüttenrechnungen  im  Jahre  1508  vor;  s.  Münsterbl.  IIT 
und  IV,  S.  95. 

2)  Die  urkundlichen  Notizen  verdanke  ich  der  Güte  des 
Herrn  Landgerichtsrats  Bazing  in  Ulm. 


240 


STUDIEN  ZUR  GESCHICHTE  DER  ULMER  MALERSCHULE. 


Zu  den  späteren  Werken  Zeitblom’s,  welche  eine 
Datirung  tragen,  gehört  außer  dem  schon  genannten 
Altar  zu  Süßen  von  1507,  welcher  auf  den  Flügeln 
die  Legenden  dei  Heiligen  Nikolaus  und  Wolfgang 
gemalt  zeigt,  der  Altar  in  der  Klosterkirche  zu  Adel¬ 
berg  von  1511.  Dieser  Altar,  lange  Zeit  verwahr¬ 
lost,  wurde  in  den  letzten  zehn  Jahren  teilweise 
restaurirt;  im  Schrein  sieht  man  die  Schnitzfiguren 
der  Madonna,  St.  Katharina,  Liborius,  Ulrich  und 
Cutubilla,  letztere  eine  selten  genannte  Heilige,  welche 
den  Mäusen  heilig  war.  Auf  den  Flügeln  innen  die 
Verkündigung  und  Krönung  Mariens,  außen  Geburt 
Christi  und  Anbetung  der  Könige  (diese  noch  un- 
restaurirt).  Auf  der  Rückseite  das  jüngste  Gericht, 
sehr  abgeblasst.  Auf  der  Predella  Christus  mit  den 
zwölf  Aposteln.  Unverkennbar  tragen  diese  Bilder 
das  Gepräge  von  des  Künstlers  Hand,  besonders  in 
der  einfach  angelegten,  wenig  gebrochenen  Gewan¬ 
dung  und  der  mild  harmonischen,  gesättigten,  kraft¬ 
voll  wirkenden  Farbe.  Auch  bei  der  Madonna  sieht 
man  wieder  die  langen  goldgelben,  langsträhnig  über 
die  Schultern  herabfallenden  Haare,  doch  hier  schon 
mehr  bewegt  als  bei  Zeitblom’s  früheren  Werken, 
Über  zwei  weitere  früher  nicht  bekannte  AltarflügeF) 
in  der  Stadtkirche  zu  Blaubeuren  hat  Dahlke  im 
Repertorium  IV.  ausführlich  gehandelt;  ich  bin  mit 
ihm  der  Meinung,  dass  es  sich  hier  nur  um  Schul¬ 
arbeiten  handeln  kann.  Von  Interesse  ist,  dass  dieser 
Altar,  zu  welchem  als  Mittelstück  eine  Kreuzigung 
Christi  von  Altdorfer  verwendet  ist,  im  Jahre  1605 
von  dem  Ulmer  Patrizier  Martin  Neubronner  und 
seiner  Ehefrau,  einer  geb.  Glockengießerin  gestiftet 
worden  ist,  samt  einem  Kapital  von  1000  Gulden 
für  die  Armen  und  der  Bestimmung:  dass  die  „Herren 
zu  Blaubeuren  sollche  Tafel  von  diesem  unserem 
Allmuosenzinsgeldt  Jedesmahls,  so  offt  es  die  Noth- 
durfft  Erfordert,  wider  Erneuern,  machen  und  auß- 
})essern,  auch  selbige  Immer  und  bestendiglich  in 
Irem  Wesen  richtig  erhalldten  lassen  sollen.“ 

1)  l’hotographieen  im  Verlag  der  Mangold’schen  Buch¬ 
handlung  in  Blaubeuren. 


Einige  weitere  Zeitblom’sche  Werke,  die  bisher 
keine  Beachtung  fanden,  bergen  ferner  das  bayerische 
Nationalmuseum  und  das  Germanische  Museum  zu 
N ürnberg.  In  München,  zuerst  von  Janitschek  erkannt 
und  dort  als  oberbayrisch  bezeichnet,  ein  Flügelaltar.  Im 
Schrein  Maria  mit  dem  Kind  mit  den  Heiligen  Bruno 
und  Wolfgang,  auf  den  Flügeln  innen  die  Heiligen 
Sebastian  und  Rochus,  außen  Nikolaus  und  St.  Jo- 
docus.  Auf  der  Predella  die  heilige  Sippe  von  anderer 
Hand.  Auf  den  Flügeln  unten  sind  die  Stifterwappen 
angebracht;  rechts  in  Rot  ein  schwarzer  Schräg¬ 
balken  mit  drei  gelben  Pflaumen  belegt;  Kleinod: 
roter  Flug  mit  dem  Wappenbilde  belegt.  Links  in 
Gold  ein  rothes  steigendes  Lamm,  als  Kleinod  wach¬ 
send,  Andere  dort  dem  Zeitblom  zugeschriebene 
Tafeln  mit  Darstellungen  aus  der  Legende  des  h. 
Johannes  sind  wohl  nicht  des  Meisters  würdig.  In 
Nürnberg  ist  dann  noch  eine  Predella  aus  der 
ehemals  Wallerstein’schen ,  vormals  Rechberg’schen 
Sammlung,  mit  der  h.  Anna  selbdritt,  zu  beiden  Seiten 
die  hh.  Margaretha,  Barbara,  Dorothea  und  Magda¬ 
lena  in  Halbfiguren;  ferner  zwei  kleine  Brustbilder 
Maria  und  Johannes  auf  zwei  einzelnen  Tafeln. 

Ein  Sohn  Zeitblom’s  ist  offenbar  jener  „Barth- 
ieme  Zeitblom“,  welcher  im  Bürgerbuch  unter  1532 
genannt  ist,  als  Steuerpflichtiger  wie  andere  Bürger, 
„dieweil  er  in  ledigem  Stande  ist“.  Ein  Hans  Zeit¬ 
blom  war  Hofmaler  Kaiser  Karl’s  V.  In  einem  am 
18.  Januar  1550  ausgestellten  Privilegium  wird  der¬ 
selbe  genannt  „unser  Trabant  und  des  Reichs  lieber 
getreuer  Meister  Hans  Zeitbluem“.  Er  machte  eine 
Zeichnung  von  dem  Streit  Karl’s  V.  mit  dem  Herzog 
Johann  Friedrich  von  Sachsen  im  Jahre  1547,  wobei 
letzterer  eine  Niederlage  erlitt.  Die  Zeichnung  sollte 
auf  besonderen  Wunsch  des  Kaisers  in  Kupfer  ge¬ 
stochen  werden,  ein  Abdruck  davon  hat  sich  aber 
bis  jetzt  nicht  gefunden.^)  Noch  1575  lebt  ein  Hans 
Zeitblum  als  Weinzieher  in  Ulm. 


1)  Anz.  d.  German.  Museums,  188G. 


DAS  RUMÄNISCHE  KÖNIGSSCHLOSS  PELESCH. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


lE  transsylvaiiischen  Alpen 
galten  uns  immer  als  das 
Grenzland  der  europäischen 
Kultur  gegen  den  Byzanti¬ 
nismus.  Die  mittelalterlichen 
Bauwerke  Siebenbürgens  ra¬ 
gen  aus  jenen  Zeiten  als  die 
am  weitesten  gegen  den 
Orient  vorgeschobenen  Denkmäler  deutschen  Ur¬ 
sprungs  empor  und  zeugen  nicht  minder  deutlich 
als  die  ungebrochene  Natur  der  altsächsischen  Be¬ 
völkerung  der  Lande  für  den  herben  Ernst  und 
die  schlichte  Tüchtigkeit  der  äußersten  Vorposten 
deutschen  Volkstumes  im  Osten. 

Seit  aus  den  türkischen  Donaufürstentümern  ein 
wohlorganisirtes  Königreich  unter  der  Herrschaft 
eines  thatkräftigen  Hohenzollernfürsten  geworden 
ist,  dringen  westliche  Civilisation,  Industrie  und 
Kunst  unaufhaltsam  über  die  Abhänge  der  sieben- 
bürgischen  Berge  hinüber.  Namentlich  aber  ist  es  die 
österreichische  Kaiserstadt  an  der  Donau,  welche 
auf  den  ganzen  Südosten  des  Weltteils  und  dem¬ 
gemäß  auch  auf  Rumänien  und  die  angrenzenden 
Gebiete  durch  ihre  hochentwickelte  Baukunst  und 
Kunstindustrie  mächtigen  Einfluss  zu  nehmen  be¬ 
gonnen  hat. 

Ein  glänzendes  Zeugnis  für  diese  Thatsache 
liegt  uns  in  dem  Prachtwerke  vor,  welches  die 
Schilderung  des  rumänischen  Königsschlosses  Peleseh 
zum  Gegenstände  hat,  und  mit  dessen  in  mannig¬ 
facher  Hinsicht  fesselndem  Inhalte  wir  die  Leser  be¬ 
kannt  maclien  möchten,  i)  Der  Bau ,  den  das  Buch 

1)  Das  rumänisclie  Königsschloss  Pelesch.  Herausgegeben 
und  mit  erläuterndem  Text  begleitet  von  Jacob  von  Falke. 
Mit  25  Radirungen  und  38  Holzschnitten.  Wien,  Druck  und 
Verlag  von  C.  Gerold’s  Sohn.  1893.  4.  —  50  M. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst  N.  F.  V.  H.  lO, 


beschreibt,  wie  das  Buch  selbst  sind  vorwiegend 
durch  Wiener  Kräfte  hergestellt.  Beide  heimeln  uns 
an,  als  handele  es  sich  nicht  um  ein  rumänisches, 
sondern  um  eiu  deutsches  Königsschloss  in  unseren 
Alpen. 

Die  Königin  von  Rumänien,  als  Dichterin  unter 
dem  Namen  Carmen  Sylva  bekannt,  hat  über  ihren 
prächtigen  Landsitz  unter  dem  Titel  „Pelesch  im 
Dienst“  eine  Schrift  verfasst,  aus  der  uns  Falke  in 
seinem  Text  zu  dem  Werke  mehrere  interessante 
Mitteilungen  macht.  Die  Monarchin  giebt  da  zu¬ 
nächst  die  Namen  des  Planverfassers,  Prof.  TU.  v.  Do¬ 
derer  in  Wien,  und  des  Bauleiters,  Joh.  Schulz  aus 
Wien,  an,  und  verzeichnet  dann  genau  die  Mate¬ 
rialien,  aus  welchen  der  Bau  besteht,  und  die  bei 
demselben  in  Geltung  gewesenen  Arbeitslöhne.  Am 
22.  August  1875  wurde  die  feierliche  Grundstein¬ 
legung  begangen.  Im  Herbst  1883,  am  7.  Oktober, 
fand  die  AVeihe  des  Baues  und  zugleich  der  Einzug 
des  königlichen  Paares  und  des  Hofstaates  in  die 
wohnlich  und  reich  ausgestatteten  Räume  statt. 

Bevor  wir  uns  im  Geist  an  diese  Stätte  ver¬ 
setzen  und  die  Räume  durchwandern,  sei  erst  der 
Künstler  gedacht,  durch  deren  Zusammenwirken  das 
Falke’sche  Buch  seinen  Bilderschmuck  erhalten  hat. 
Es  sind  fast  sämtlich  Angehörige  der  Wiener  Kunst¬ 
gewerbeschule,  teils  Radirer,  teils  Holzschneider, 
ausgezeichnete  Schüler  der  Professoren  TJnger  und 
Hecht,  in  deren  Händen  Leitung  und  Aufsicht  über 
das  Ganze  lag.  Wir  nennen  die  Radirer  Älphons, 
Bayer,  Oroh,  Kayser,  Goldfeld,  Jiippe  und  Schul¬ 
meister.  Unter  vielen  der  Holzschnitte  lesen  wir 
den  Namen  des  als  Zeichner  von  Architekturen  und 
Ornamenten  mit  Recht  hochgeschätzten  Buä.  Bernt. 

Schloss  Pelesch  liegt  mitten  im  Hochlande 
der  Karpathen,  umgeben  von  stolzen  Tannen-  nnd 

31 


242 


DAS  RUMÄM ISCHE  KÖNIGSSCHLOSS  PELESCH. 


Buchenwäldern,  unfern  von  dem  altberühmten  grie¬ 
chischen  Kloster  Sina'ia,  neben  welchem  in  jüngster 
Zeit  ein  betriebsamer  Ort  gleichen  Namens  entstan¬ 
den  ist.  Seinen  Namen  führt  das  Schloss  nach  dem 
schäumenden  Gebirgsflüsschen  Pelesch,  einem  Neben¬ 
flüsse  der  Prahova,  durch  deren  Thal  die  Bahn  von 
der  siebenbürgischen  Grenzstadt  Predeal  zur  wala- 
chischen  Ebene  hinabführt.  Das  Kloster  Sinaia, 
eine  Gründung  vom  Ende  des  17.  Jahrhunderts,  lag 


gen  dienten  dazu,  den  Boden  zu  festigen.  Es  han¬ 
delte  sich  nicht  nur  um  den  Platz  für  den  Herrscher¬ 
sitz  allein:  eine  Menge  Nebengebäude  mussten  gleich¬ 
zeitig  mit  ihm  entstehen,  insbesondere  ein  Marstall, 
eine  Militärwache,  ein  Haus  für  die  zahlreiche  Diener¬ 
schaft,  ein  Waschhaus,  ein  Gebäude  für  die  elek¬ 
trische  Beleuchtung,  eine  Gärtnerswohnung,  ein 
Forsthaus,  nebst  Wasserleitungen,  Brunnen  und  an¬ 
deren  Anstalten.  Kein  Wunder,  dass  Jahre  darüber 


Glasfenster  im  Schloss  Pelesch.  —  Lagerscene  aus  dem  17.  Jahrhundert. 


in  wilder  Phnsamkeit  da,  „rückwärts  der  Urwald 
und  die  hininielliolien  Berge“.  Da  kam,  zu  Anfang 
der  siebziger  Jahre,  das  rumänische  P'ürstenpaar  für 
kurze  Zeit  zum  Sommeraufenthalt  in  diese  Abge- 
scliiedenheit,  und  bescliloss,  in  einem  nahen  abge¬ 
schlossenen  Thalraum  eine  Ansiedelung  im  großen 
Stil  zu  gründen.  Damit  zogen  Leben  und  Kultur 
in  die  bis  dahin  weltvergessene  Gegend  ein. 

Ein  ausgedehntes  Terrain  war  der  .steilen,  von 
Bächen  und  Quellen  durchiieselten  Bergwand  abzu¬ 
gewinnen.  Umfassende  Erdarbeiten  und  Kanalisirün- 


hingingen,  —  überdies  einige  zum  größten  Teil  für 
die  Bauthätigkeit  verlorene  Kriegsjahre  —  bevor 
alles  fertiggestellt  werden  konnte,  und  dass  die  Ge¬ 
samtkosten  für  das  Schloss  und  seine  Ausstattung 
samt  den  Nebengebäuden  sich  auf  nicht  weniger  als 
sechs  Millionen  Franken  beliefen. 

Der  Stil  des  Ganzen  ist  die  deutsche  Renais¬ 
sance,  in  jener  pittoresken  und  reichen  Ausgestal¬ 
tung,  wie  er  sie  im  Laufe  des  sechzehnten  Jahrhun¬ 
derts  in  den  nordischen  Ländern  erfahren  hat. 
Dieser  Stil  entspricht  am  vollkommensten  den  Be- 


243 


DAS  RUMÄNISCHE  KÖNIGSSCHLOSS  PELESCH. 


dürfnissen  einer  modernen,  bequemen  und  eleganten 
Wohnlichkeit  und  fügte  sich  zugleich  den  Bedingun¬ 
gen  der  Lage  des  Schlosses  vortrefflich  ein.  „Sein 
wechselvolles  Luftprofil“  sagt  Falke  —  „der  Reich¬ 
tum  seiner  Gestaltung,  mit  seinen  Baikonen  und 
Erkern,  seinen  Dachreitern,  Türmen,  Türmchen  und 
Spitzen,  mit  seinen  Gittern  und  Wetterfahnen  und 
sonstigem  krönenden  Eisenwerk  —  Kunstarbeiten, 
welche  mit  vielen  anderen  der  Art,  mit  Laternen 
und  Riegeln  und  Thürbeschlägen  aus  den  Ateliers 
des  Wieners  Gillar  hervorgegangen  sind,  —  das 
alles  bringt  ihn  in  Harmonie  mit  Berg  und  Wald 
und  macht  ihn  zum  passendsten  Stil  gerade  in  einer 
Gegend  wie  die  um  Prahowa  und  den  Pelesch, 
wo  hohe  Berge  noch  vom  Urwald  umgeben  sind, 
wo  Bergwässer  sich  aus  den  Schluchten  hervor¬ 
stürzen.  Andererseits  verbreiten  die  bunten  gemal¬ 
ten  Fenster,  die  Vertäfelung  der  Wände,  die  viele 
Holzschnitzerei  in  Verbindung  mit  Malerei,  die  vielen 
Ecken  und  Winkel,  sie  verbreiten  Behaglichkeit  und 
Wärme  und  schließen  die  vornehmste  Eleganz  so 
wenig  aus,  wie  alle  die  Erfindungen  und  Verbesse¬ 
rungen,  welche  die  neueste  Zeit  an  Beleuchtung, 
Ventilation  und  Erwärmung  für  unsere  Wohnung 
geschaffen  bat.  Dieser  Stil,  die  deutsche  Renais¬ 
sance,  entsprach  daher  völlig  der  Umgebung,  wie 
er  im  eigensten  Geschmack  der  Begründer  des 
Schlosses  begründet  lag.  Für  ihn  waren  auch  die 
künstlerischen  Kräfte  zur  Verfügung;  denn  zur  Zeit, 
da  der  Plan  des  Schlosses  Pelesch  gefasst  wurde, 
war  die  deutsche  Renaissance  in  Deutschland  selbst 
wieder  in  Mode  getreten  und  wurde  als  nationaler 
Stil  betrachtet  und  geübt.“ 

Eine  besondere  Schönheit  des  Schlosses  bilden 
seine  Gartenanlagen.  Der  nächstgelegene  Teil  des 
Waldes  wurde  in  einen  Park  verwandelt,  unter  mög¬ 
lichster  Schonung  der  wundervollen  Bäume.  „Aber 
für  den  Garten  fehlte  es  an  Platz;  fast  senkrecht 
schoss  die  Bergwand  herab.  Um  sie  in  eine  sanfte, 
dem  Äuge  wohlgefällige  Böschungslinie  zu  verwan¬ 
deln,  um  vor  dem  Schlosse  die  hinlängliche  Breite 
für  eine  Blumen terrasse  und  für  eine  Fontäne, 
welche  nunmehr  einen  armdicken  Wasserstrahl  22  m 
hoch  hinaufsendet,  samt  ihrem  Bassin  zu  gewinnen, 
mussten  gewaltige  Massen  von  Erde  angeschüttet 
werden,  und  diese  holte  man  von  der  Gegenseite  des 
Thaies  herüber.  Es  geschah  dies  mittelst  einer 
Drahtseilbahn,  welche,  hoch  über  dem  Thale  schwe¬ 
bend,  von  der  einen  Seite  auf  die  andere  an  20  000 
Kubikmeter  Erde  zur  Anschüttung  herüberftihrte.“ 
Die  ganze  Arbeit,  durch  welche  eine  Fläche  von 


über  55000  Quadratmeter  gewonnen  wurde,  geschah 
unter  der  Oberleitung  des  Gartendirektors  Knechtei. 
Der  für  die  Bekleidung  der  Fläche  erforderliche 
Rasen  wurde  von  einer  höher  gelegenen  Alpenwiese 
abgegraben.  Darnach  wurde  die  Straße  nach  Sinaia 
zu  einer  wirklichen  Kunststraße  mit  eisernem  Ge¬ 
länder  ausgebaut.  Über  den  Fluss  wölbte  sich  eine 
steinerne  Brücke.  Das  Schloss  und  die  Nebenbauten 
erhielten  ihre  Verbindungen  durch  Fahr-  und  Fu߬ 
wege,  die  größtenteils  durch  den  Wald  führen.  An¬ 
dere  Wege  ziehen  sich  hinauf  bis  nahe  an  das  Ende 
der  Waldregion,  bis  zu  1500  Meter  Meereshöhe. 
Wie  beträchtlich  die  Höhenlage  des  Schlosses  selber 
ist,  mag  aus  der  Thatsache  geschlossen  werden,  dass 
das  Plateau  vor  dem  Schlosse  bereits  1000  Meter 
über  der  Meeresfläche  liegt.  Dasselbe  kann  daher 
auch  nur  während  der  Monate  Juni  bis  September 
in  einen  Blumengarten  umgewandelt  werden.  Exo¬ 
tische  Coniferen  aus  dem  Himalaja  und  aus  Nord¬ 
amerika  zieren  die  daran  stoßenden  Anpflanzungen. 

Dem  Wesen  der  deutschen  Renaissance  gemäß 
bildet  die  Verbindung  von  Steinbau  und  Riegelbau, 
jener  im  Unter-,  dieser  im  Obergeschoss  die  Cha¬ 
rakteristik  der  äußeren  Erscheinung  des  rumänischen 
Königsschlosses.  Im  Inneren  ist  vornehmlich  Holz¬ 
werk  in  ausgedehntem  Maße  zur  Anwendung  ge¬ 
kommen:  so  in  der  gemütlichen  Trinkstube,  in  den 
Wandvertäfelungen  und  Plafonds  der  Bibliothek, 
in  den  Gemächern  des  Königs  und  der  Königin, 
bei  sämtlichen  Treppen  u.  s.  w.  Der  Hofbildhauer 
Stöhr  machte  sich  um  die  künstlerischen  Teile  dieser 
Holzarbeiten  besonders  verdient.  Den  ausgedehn¬ 
testen  Gebrauch  machte  man  ferner  von  der  Glas¬ 
malerei.  Mit  ihrer  Hilfe  „werden  Sonne  und  Mond 
zu  Künstlern,  welche  der  Dekoration  die  letzten 
und  wirkungsvollsten  Reize  geben“.  Alle  Fenster 
des  Schlosses  haben  diesen  Schmuck  erhalten,  sei 
es  durch  figürliche  Bilder,  sei  es  in  Form  von  orna¬ 
mentaler  Verglasung,  stets  aber  in  geschmackvoller 
und  maßhaltiger  Weise.  Die  Ausführung  der  sämt¬ 
lichen  Fenster  wurde  von  der  bekannten  Zettler’&cX^ew 
Anstalt  in  München  besorgt.  Die  Zeichnungen  lie¬ 
ferten  A.  Widmann,  Julius  Jürs  und  F.  X.  Barth. 
Der  Inhaber  der  genannten  Glasmalereianstalt  hat 
die  hervorragendsten  der  ira  Schlosse  Pelesch  aus¬ 
geführten  Glasgemälde  in  einer  besonderen  Publi¬ 
kation  (München  1887)  vereinigt,  auf  welche  wir 
hier  der  Kürze  wegen  verweisen  wollen.  Geschichte, 
Natur,  Menschenleben,  Poesie  und  Kunst  sind  in 
diesen  farbigen  Bildern  durch  eine  Fülle  reizvoller 
Darstellungen  vertreten. 


31* 


lininneu  iui  iiniereu  Hofe  von  Schloss  Pelesch. 


DAS  RUMÄNISCHE  KÖNIGSSCHLOSS  PELESCH. 


245 


Die  Haupträume  des  Schlosses  sind  auf  zwei 
Stockwerke  verteilt,  von  denen  das  untere  die  Ge¬ 
mächer  des  Königs,  das  obere  die  der  Königin  ent¬ 
hält.  Darüber  erhebt  sich  noch  ein  gleichfalls  zu 
Zimmern  ausgehautes  Dachgeschoss.  Auf  diese  W eise 
ist  hinlänglich  Raum  geschaffen,  nicht  nur  für  den 
Hof  und  die  Hofhaltung,  sondern  auch  für  zahl¬ 
reiche  Gäste.  Das  Ganze  wird  hoch  überragt  von 
einem  Hauptturm,  der  die  Fahne  des  Hauses  zu 
tragen  hat.  —  Die  Hauptmasse  der  Gemächer  lagert 
sich  um  einen  quadratischen  Hof,  an  den  gegen 
Südosten  eine  mit  offenen  Arkaden  umgebene,  schön 
mit  Grün  iimwachsene  Terrasse  angebaut  ist.  Den 
prächtigen  Ausblick  von  dieser  Terrasse  auf  das 
Waldgebiet  und  die  Berge  stellt  ein  Holzschnitt  des 
Buches  dar.  Gegen  Süden  öffnet  sich  ein  zweiter 
Hof,  der  bei  festlichen  Gelegenheiten  die  Wagen 
der  Gäste  aufzunehmen  hat.  Der  große  Festsaal 
uud  der  Speisesaal  sind  uach  diesem  Hof  hinaus 
gelegen.  Der  Zugang  von  dem  Hof  in  das  Innere 
führt  uns  zunächst  in  eine  reich  mit  farbigem  Mar¬ 
mor  getäfelte  Säulenhalle  und  sodann  in  den  mit 
den  Ahnenbildern  des  Königshauses  geschmückten 
Treppenraum.  Die  Bilder  sind  nach  alten  Stichen 
von  den  Wiener  Malern  Franz  Matsch  uud  Gustav 
Klimt  ausgeführt.  Auch  der  Korridor,  den  wir  von 
dem  Treppenraum  aus  betreten,  und  der  sich  um 
alle  vier  Seiten  des  inneren  Hofes  herumzieht,  trägt 
an  den  Wänden  reichen  Bilderschmuck,  darunter 
einige  treffliche  Werke  altspanischer,  italienischer 
und  niederländischer  Meister. 

Das  Gleiche  gilt  von  dem  Arbeits-  und  Em¬ 
pfangszimmer  des  Königs,  dem  im  Stile  vollkom¬ 
mensten  unter  den  Gemächern  des  ersten  Geschosses. 
Von  den  Gemälden,  welche  dieses  Gemach  zieren, 
hebt  Falke  außer  mehreren  Venetianern  und  einer 
Madonna  von  Botticelli  auch  den  Kopf  eines  alten 
Mannes  von  Remhrandt  hervor.  —  In  demselben  Ge¬ 
schoss  verdient  ferner  das  hübsche  kleine  Schloss¬ 
theater  noch  besondere  Erwähnung.  Den  dekora¬ 


tiven  Wandschmuck  desselben  besorgten  gleichfalls 
die  beiden  vorhin  genannten  Wiener  Maler. 

Nicht  minder  kostbar  und  reich  an  Werken 
alter  und  moderner  Kunst  sind  die  Gemächer  des 
zweiten  Geschosses,  vornehmlich  die  Wohnzimmer 
der  Königin  und  die  für  fürstliche  Gäste  bestimm¬ 
ten  Räume.  Unter  den  hier  befindlichen  Gemälden 
nennt  Falke  Werke  von  Bmjsdael,  Ilohhema,  den 
beiden  Teniers,  Breugliel  d.  ä.,  van  Dgck,  Domenichino , 
Bemhrandt,  David  u.  v.  a.  Herrlich  durch  seinen  mit 
dem  feinsten  Geschmack  auserlesenen  Schmuck  wie 
durch  die  Reize  seiner  Aussicht  ist  vor  allem  Carmen 
Sylva’s  Arbeitszimmer:  ,Da  ist  ein  großes  Fenster 
darin,  dass  man  glaubt,  es  ist  gar  keines  da  und 
die  Tannen  und  der  Rasen  von  der  Bergwand  wür¬ 
den  direkt  hineinspazieren,“  —  so  beschreibt  es  die 
Königin  selbst  in  einem  ihrer  „Märchen“. 

Das  rumänische  Königsschloss  war  das  erste 
Residenzschloss,  welches  vollständig  von  innen  und 
außen  mit  elektrischer  Beleuchtung  versehen  wurde 
(1883 — 84).  Inmitten  der  Waldeinsamkeit  wirken 
die  Zauberkünste  dieser  Einrichtung  mit  verdoppelter 
Gewalt.  „Um  so  schöner“  —  mit  diesen  Worten 
des  Textes  wollen  wir  schließen  • —  „wenn  das  sil¬ 
berne  Mondlicht  sich  hinzimesellt  und  über  Berge 
und  Wald  sich  verbreitet.  Das  Schloss  auf  der 
Bergwand  mit  seiner  bunten,  wechselvollen  Gestal¬ 
tung,  seinen  Erkern  und  Türmen  und  vorspringen- 
deu  und  zurücktrefenden  Teilen,  seinen  verschieden 
geformten,  mit  farbigem  Glas  geschlossenen  Fenstern, 
alles  von  außen  und  innen  beleuchtet;  hier  farbiger 
Glanz,  dort  tiefe  schwarze  Schatten,  dort  wieder 
helles  Licht,  Brunnen,  Bassins  und  Marmorsitze, 
leuchtend,  still  und  feierlich,  ein  dunkler  Wald,  auf 
dessen  Kuppen  das  silberne  dämmernde  Mondlicht 
lagert,  gewaltige  Berge,  die  sich  in  den  nächtlichen 
Himmel  verlieren,  —  das  zauberhafteste  Bild,  das 
Natur  und  Kunst  in  einer  Sommernacht  zusammen 
erschaffen  können.“  C.  v.  L. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Bildercyklus  aus  dem  Leben  des  Walter  von  der 
Vogelweide.  Von  Edmund  Wörmlle  von  Adelsfried. 
Innsbruck,  C.  Raucb’s  Buchhandlung  (Heinr.  Schwick), 
1893.  Fol. 

*  Sechs  von  kurzem  Text  begleitete  Lichtdrucktafeln 
nach  Zeichnungen,  welche  die  Hauptmomente  aus  dem  Leben 
des  edlen  deutschen  Minnesängers,  etwa  in  der  Weise  Jul. 
Schnorr’s,  zur  Veranschaulichung  bringen.  Wir  sehen  Walter 
am  sangesfrohen  Hofe  der  Babenberger  in  Wien,  wo  er  dem 
Durchzug  des  Kreuzheeres  unter  Friedrich  Barbarossa  zu¬ 
schaute,  begleiten  ihn  dann  ins  Thüringer  Land,  wo  er 
beim  Sängerkrieg  auf  der  Wartburg  den  Sieg  gewann,  und 
finden  ihn  endlich,  nachdem  er  das  Vaterhaus  noch  einmal 
begrüßt,  am  Gestade  des  heiligen  Landes,  den  geweihten 
Boden  in  Jubeltönen  feiernd.  Die  stilvoll  gezeichneten 
Kompositionen  erhalten  durch  das  glückliche  Mitwirken 
der  Landschaft  einen  besonderen  Reiz.  Als  Heimat  Walter’s 
ist,  der  jetzt  herrschenden  Anschauung  entsprechend,  der 
Vogelweider  Hof  in  Tirol  angenommen.  In  jüngster  Zeit 
wurden  für  das  deutsche  Böhmerland,  als  Geburtsland  des 
Dichters,  bekanntlich  wieder  gute  Gründe  vorgebracht. 

l>ie  jüngste  Vcr'üffc7itlic]iimg  der  Chalkorjraphischen 
(Jesellschnft.  Die  Internationale  Chalkographische  Gesell¬ 
schaft  hat  als  Jahrespublikation  für  1893  —  94,  wie  den 
Lesern  bereits  gemeldet  wurde,  das  vollständige  Werk 
des  ,. Meisters  des  Amsterdamer  Kabinetts“  herausgegeben 
und  damit  einen  ganz  besonders  glücklichen  Gedanken  ver¬ 
wirklicht.  War  es  von  der  Begründung  an  die  Absicht 
der  Gesellschaft,  Kupferstiche  des  15.  Jahrhunderts  von  her¬ 
vorragendem  Reiz  und  kunsthistorischer  Wichtigkeit  zu  re- 
produ/.iren,  mit  Bevorzugung  der  nur  in  wenigen  oder  gar 
nur  in  einem  Abdrucke  auf  uns  gekommenen  Blätter,  so 
gifbt  es  keinen  zweiten  Stecher,  dessen  gesamtes  „oeuvre“ 
ebensowohl  in  ihre  Veröffentlichungen  hineinpassen  würde. 
Der  ,, geniale  Unbekannte“  —  so  nannte  R.  Vischer  den 
Stecher  —  steht  an  künstlerischem  Vermögen  keinem  Zeit¬ 
genossen  nach;  und,  was  die  Seltenheit  seiner  Arbeiten  an¬ 
geht, ,  so  stehen  wir  vor  der  wohl  beispiellosen  Thatsache,  dass 
von  seinen  89  bekannten  Stichen  mehr  als  GO  nur  in  einem 
Abdrucke  vorliegen.  Der  Meister  ward  nach  dem  Orte  ge¬ 
tauft,  wo  sich  seine  Schöpfungen  fast  vollzählig  beisammen 
fanden.  Dass  er  in  Holland  gearbeitet  hätte,  glaubten  die 
Forscher,  die  zuerst  auf  ihn  aufmerksam  wurden.  Heute 
glaubt  man  das  nicht  mehr.  Selbst  wenn  die  Art  dieses 
freien  und  kühnen  Meisters  nicht  so  deutlich  oberdeutsches 


Gepräge  hätte,  würde  das  von  Harzen  ihm  mit  Recht  zuge¬ 
teilte  „Hausbuch“  in  Wolfegg  als  gewichtiges  Argument  für 
Oberdeutschland  in  die  Wage  fallen,  da  eben  dieses  Buch 
für  die  südschwäbische  Familie  Goldast  geschaffen  wurde.  Das 
Datum  1480,  nach  dem  Duchesne  den  Stecher  benannte,  fin¬ 
det  sich  auf  keiner  Arbeit  seiner  Hand.  Doch  fixirt  diese 
Zahl  die  Zeit  seiner  Thätigkeit  leidlich  richtig,  wie  der  Stil 
seiner  Zeichnung  und  die  Trachten  seiner  Figuren  darthun. 
Der  Meister  des  Amsterdamer  Kabinetts  erscheint  im  Gegen¬ 
sätze  zu  den  meisten  seiner  Genossen  als  eine  runde  Indi¬ 
vidualität.  Er  war  wohl  Maler  und  nicht  Goldschmied. 
Für  den  Forscher  ist  es  sehr  verlockend,  nach  dem  Namen, 
vielleicht  auch  nach  Gemälden  des  Anonymus  die  Angel 
auszuwerfen.  Die  Publikation  der  Chalkographischen  Ge¬ 
sellschaft  wird  durch  orientirende  Worte  von  Max  Lehrs 
eingeführt,  die  das  Ergebnis  der  bisherigen  Forschungen 
über  den  Anonymus  mitteilen,  sich  aber  mit  Recht  eigener 
Hypothesen  enthalten.  Versuche,  die  Persönlichkeit  zu 
eruiren,  sind  in  Zeitschriften  am  Platze,  nicht  aber  in  einer 
monumentalen  Veröffentlichung,  die  möglichst  rein  bleiben 
soll  von  allem,  was  noch  zur  Diskussion  steht.  Dem  refe- 
rirenden  und  charakterisirenden  Text  folgt  ein  ebenfalls  von 
Max  Lehrs  verfasstes  Verzeichnis,  das  mit  mustergültiger 
Genauigkeit  alle  bekannten  Abdrücke  der  Stiche  erwähnt. 
Hier  sind  auch  die  verlorenen  Originale  aufgeführt,  von 
denen  wir  durch  Kopieen  Kenntnis  haben.  Auf  dem  Titel¬ 
blatt  des  Werkes  ist  eine  Zeichnung  des  Meisters  aus  dem 
Berliner  Kupferstichkabinett  reproduzirt,  die  einzige  bekannte 
Zeichnung,  von  den  Blättern  des  „Hausbuches“  abgesehen. 
Die  Nachbildungen  der  89  Kupferstiche,  Heliogramme  der 
Reichsdruckerei  von  bekannter  Vortrefflichkeit,  sind  auf 
starke  üntersatzkartons  leicht  aufgeklebt,  eine  Montirung, 
die  ihren  Eindruck  dem  von  Originalen  noch  nähert.  Im 
Gegensatz  zu  den  früheren  Jahrespublikationen  der  Gesell¬ 
schaft  sind  die  Blätter  diesmal  in  Buchform  zusammenge¬ 
bunden.  Den  kleinen  Nachteil  des  schwereren  Vergleichens, 
der  daraus  erwächst,  nimmt  man  gern  in  Kauf  gegen  die 
größere  Handlichkeit  des  in  englische  Leinwand  gekleideten 
Bandes,  der  ein  überaus  vornehmes  Ansehen  hat.  Von 
Schongauer  haben  wir  Gemälde,  unseren  Anonymus  kennen 
wir  bisher  nur  als  Stecher  und  Zeichner,  und  doch  ist  der 
Meister  des  Amsterdamer  Kabinetts  mehr  Maler  als  Martin 
Schongauer,  der,  verglichen  mit  ihm,  wie  ein  Goldschmied 
das  Metall  bearbeitet,  wie  ein  Plastiker  komponirt.  Wie 
unser  Meister  ganz  unabhängig  von  der  im  15.  Jahrhundert 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


247 


üblichen  Grabsticheltechnik  das  Metall  in  ungleichmäßiger, 
regelloser,  schulfremder  Führung  des  Stichels  oder  der  Nadel 
ritzt,  so  sind  auch  seine  Kompositionsweise,  seine  Raumauf¬ 
fassung  und  seine  Formbehandlung  frei  von  schematischer 
Gebundenheit.  Er  zeichnet  nicht  immer  richtig,  stets  aber 
nach  eigener  Beobachtung,  anscheinend  mit  Leichtigkeit  und 
frischer  Lust,  zuweilen  überraschend  glücklich  in  der  Wieder¬ 
gabe  des  bewegten  Lebens.  Manches,  an  dem  die  Zeitgenossen 
achtlos  Vorbeigehen,  ist  ihm  der  Darstellung  wert,  manches, 
was  die  Kunst  des  15.  Jahrhunderts  ängstlich  in  die  Ränder 
der  Werke  gleichsam  einschmuggelt,  stellt  er  keck  in  den 
Mittelpunkt.  In  anspruchsvollen  Maßen  zeichnet  er  eine 
Bulldogge,  die  sich  mit  einer  Hinterpfote  am  Ohre  kratzt. 
Er  besitzt  eine  bei  den  Stechern  des  15.  Jahrhunderts  nicht 
eben  häufige  Eigenschaft:  Humor.  Vielleicht  haben  wir 
die  Jugendarbeiten  eines  früh  gestorbenen  Künstlers  vor  uns, 
der  das  16.  Jahrhundert  nicht  mehr  erlebte,  dem  er  seinem 
W esen  nach  bein ahe  schon  angehörte.  Die  Chalkographische  G  e- 
sellschaft  hat  sich  mit  dieser  vollständigen  und  vollkommenen 
Publikation  zu  Dank  verpflichtet  nicht  nur  die  kunsthisto¬ 
rische  Forschung,  sondern  alle  verständigen  Kunstfreunde. 
Renouvier  fand  den  Meister  mit  Recht  ,,en  possession  d'une 
maniere  qu’on  peut  decidement  goüter  sans  etre  archeologue“. 

f— 

*  Von  dem  „Führer  durch  die  k.  Sammlungen  xu 
Dresden'"  ist  eine  zweite  Auflage  erschienen,  welche  außer 
der  Übersicht  der  Kunstgegenstände  auch  geschichtliche  und 
technische  Bemerkungen  über  die  einzelnen  Sammlungen 
enthält  und  sich  dadurch  zur  Einführung  in  das  Studium 
derselben  besonders  empfiehlt.  Unvollständig  ist  bisher  nur 
noch  der  die  Skulpturensammlung  betreffende  Teil,  da  die 
neue  Aufstellung  derselben  im  Albertinum  erst  für  die  Ab¬ 
teilung  der  Gypsabgüsse  beendigt  ist,  während  an  der  Neu¬ 
ordnung  der  Originale  (im  1.  Stockwerk)  noch  gearbeitet 
wird. 

Joße  van  Cleve  und  der  Meister  vom  Tode  der  Maria. 
Im  Mai -Hefte  der  „Zeitschrift  für  bildende  Kunst“,  S.  187, 
versucht  Herr  Firmenich -Richartz  den  Nachweis  zu  liefern, 
dass  hinter  diesem  vielgesuchten  Meister  endgültig  kein  an¬ 
derer  verborgen  sei,  als  der  Maler  Joße  van  Cleve  der 
ältere,  der  im  Jahre  1511  in  die  Antwerpener  Gilde  trat. 
Es  sei  mir,  als  dem  Urheber  der  Ansicht,  dass  der  Meister 
vom  Tode  der  Maria  mit  Jan  Schorel  identisch  sei  (Zeit¬ 
schrift  1883,  S.  46),  gestattet,  zu  dem  Aufsatze  des  Herrn 
Dr.  Firmenich  -  Richartz  einige  Bemerkungen  zu  machen: 
1)  Es  existirt  überhaupt  kein  beglaubigtes  oder  vermutetes 
Bild  dieses  älteren  Joße  van  Cleve,  welches  zu  einem  Ver¬ 
gleiche  mit  den  Werken  des  Meisters  vom  Tode  der  Maria 
herangezogen  werden  könnte.  2)  Nach  van  den  Branden’s 
Ermittelung  wäre  der  Familienname  dieses  Malers  ursprüng¬ 
lich  van  der  Beke  gewesen,  und  da  man  auf  einem,  dem 
Meister  vom  Tode  der  Maria  zugewiesenen  Altarflügel  zu 
Danzig  ein  scheinbar  aus  den  Buchstaben  J.  V.  A.  B.  beste¬ 
hendes  Monogramm  fand,  welches  einer  undeutlichen  Be¬ 
zeichnung  auf  dem  Fenster  des  kleineren  Todes  der  Maria 
zu  Köln  ähnlich  ist,  so  glaubt  man  damit  das  Monogramm 
des  Meisters  vom  Tode  der  Maria  gefunden,  und  den  Maler 
in  dem  älteren  Joße  van  Cleve  alias  van  der  Beke  ermittelt 
zu  haben.  Abgesehen  davon,  dass  dieses  Monogramm  jede 
beliebige  Deutung  (bei  wohlwollender  Anschauung  sogar 
die  Leseart  J.  V.  A.  S.)  zulässt,  widerstreitet  doch  die  Auf¬ 
lösung  desselben  allen  Gepflogenheiten  der  Monogrammirung 
älterer  Meister  und  stellen  sich  der  Zuweisung  desselben 
an  Joße  van  Cleve  noch  ganz  besondere  Schwierigkeiten 
entgegen.  Der  Umstand,  dass  dieser  Maler  bereits  1511 


und  auch  fernerhin  wohl  zehnmal  nur  unter  dem  Namen 
Joße  van  Cleve  in  den  Liggeren  erscheint  und  niemals  Joße 
van  der  Beke  alias  Cleve  genannt  wird,  gestattet  gar  nicht 
die  Vermutung,  dass  er  noch  im  Jahre  1515  oder  später 
J.  V.  A.  B.  signirt  habe,  denn  er  hieß  Joße  van  Cleve,  nicht 
Joße  van  der  Beke;  seine  Söhne  hießen  alle  van  Cleve, 
nicht  van  der  Beke,  und  wenn  ich  auch  annehmen  will, 
dass  die  Konjunktur  van  den  Branden’s  ihre  Richtigkeit 
habe,  so  wäre  dieser  Maler  das  bisher  unerhörte  Beispiel 
eines  Künstlers,  der  gleich  fürstlichen  Personen,  die  —  in- 
cognito  —  unter  anderen  Namen  auf  Reisen  gehen,  unter- 
anderem  Namen,  somit  auch  incognito  dreißig  Jahre  lang 
Mitglied  der  Antwerpener  Gilde  gewesen  wäre,  seine  Werke 
aber  inzwischen  mit  seinem  Familiennamen  signir-t  hätte 
3)  Van  Mander  unterscheidet  genau  zwischen  diesem  älteren 
Joße  van  Cleve  und  dem  jüngeren,  sogenannten  Sötte  Cleve 
oder  Cleve  dem  Narren,  und  sagt  ausdrücklich,  dass  dieser 
ältere  Maler  Madonnen,  von  Engeln  umgeben,  gemalt  habe,  und 
nennt  hiermit  Darstellungen,  die  auf  eine  ideale  Auffassung  der 
Maria  hindeuten,  die,  wenn  sie  auch  für  die  Kunst  jener  Tage 
allgemeine  Giltigkeit  haben,  doch  gewiss  nicht  den  Gesamt¬ 
charakter  der  Werke  des  Meisters  vom  Tode  der  Maria  be¬ 
zeichnen.  In  dem  Vorstellungskreise  dieses  durch  und  durch 
realistischen  Malers  bilden  derartige  Kompositionen  die  sel¬ 
tene  Ausnahme  gegenüber  den  realistischen  Darstellungen 
der  sterbenden  Maria,  deren  Krankenstube  einer  der  Apostel 
vorsichtig  ausräuchert,  und  die  mit  der  peinlichsten  Sorgfalt 
eines  modernsten  Naturalisten  gemalt  ist;  gegenüber  den 
Madonnen,  die  als  schlicht  bürgerliche  Mütter  dargestellt 
werden,  die,  um  das  Kind  zu  entwöhnen,  ihre  Brust  mit 
Wermut  aus  dem  nebenstehenden  Glase  oder  mit  dem  Safte 
der  angeschnittenen  Citrone  befeuchtet  haben;  und  endlich 
gegenüber  den  zahlreichen  Porträts,  die  sich  durch  ihre 
schmucklose  Naturwahrheit  auszeichnen.  Der  Meister  vom 
Tode  der  Maria  hat  der  Frömmigkeit  und  der  Marieenver- 
ehrung  seiner  Zeit  auch  seinen  Zoll  gezahlt,  hat  auch  zu¬ 
weilen  einen  Engel  gemalt,  aber  er  ist  ein  Realist  und  kein 
Maler  von  Heiligenbildern  und  Andachtsmadonnen,  welchen 
van  Mander  mit  der  Charakteristik  seines  Joße  van  Cleve 
offenbar  im  Auge  hat.  4)  Die  Vermutung  des  Herrn  Dr. 
Firmenich -Richartz,  dass  Joße  van  Cleve  ein  Schüler  des 
Jan  Joest  van  Calcar  gewesen,  da  Cleve  und  Calcar  nahe 
beieinander  liegen,  und  dass  er  sogar  1508  bei  der  Ent¬ 
hüllung  des  Calcarer  Altarbildes  noch  zugegen  gewesen 
und  die  Eindrücke  dieses  Werkes  seines  Lehrers  und  Meis¬ 
ters  so  getreu  bewahrt  habe,  dass  diese  noch  in  seinen  um 
zehn  Jahre  später  gemalten  Werken  zur  Kenntnis  der  Kunst¬ 
forscher  des  19.  Jahrhunderts  gelangen,  ist  meiner  Ansicht 
nach  eine  These,  die  keiner  Wiederlegung  bedarf.  Der 
Meister  vom  Tode  der  Maria  muss  das  Altarbild  von  Calcar 
unmittelbar  zuvor  gesehen  haben,  ehe  er  jene  künstlerischen 
Eindrücke  in  seinen  eigenen  Werken  verarbeitete,  nicht 
aber  zehn  Jahre  vorher,  denn  bei  jedem  receptionsfähigen 
Talente  verwischt,  ein  Eindruck  den  anderen,  und  zehn 
Jahre  lang  trägt  sich  nur  ein  Stümper,  aber  kein  die  Natur 
und  die  Werke  anderer  studirender  Meister  mit  alten  Re- 
miniscenzen.  5)  Was  die  zahlreichen,  dem  Meister  vom  Tode 
der  Maria  zugeschriebenen  Bilder  betrifft,  welche  angeblich 
nach  dem  Jahre  1521  entstanden  oder  gar  datirt  sein  sollen, 
so  habe  ich  mich  hierüber  bereits  erschöpfend  ausgesprochen 
(Kunstchronik  1883,  S.  112)  und  kann  nur  wiederholen,  dass 
all  diese  Zuschreibungen  und  Datirungen  nur  in  der  Phan¬ 
tasie  desjenigen  Beschauers  ihre  Berechtigung  haben,  welcher 
beweisen  will,  was  aus  solchen  Dichtungen  nicht  zu  be¬ 
weisen  ist.  Die  Grablegung  des  Städel’schen  Instituts  von 


248 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


1524  rührt  von  einem  talentlosen  Manieristen  her,  nicht 
aber  von  dem  Meister  vom  Tode  der  Maria.  Für  die  An¬ 
betung  der  Könige  der  Dresdener  Galerie  ist  überhaupt  kein 
Entstehungsjahr  beizubringen,  ebenso  wenig  für  das  Bild 
in  Neapel  und  andere  mehr.  Die  beiden  Porträts  zu  Kassel 
erklärten  andere  Autoritäten  für  Arbeiten  des  de  Bruyn, 
und  was  endlich  das  von  Herrn  Firmenich -Richartz  mit  so 
viel  Sicherheit  ins  Trefl'en  geführte  Porträt  des  Kardinals 
Albrecht  von  Brandenburg,  recte  des  Kardinals  Bernardus 
Celsius,  der  Corsini-Galerie  betriät,  welches  der  Meister  vom 
Tode  der  Maria  gar  im  Jahre  1530  gemalt  haben  soll,  so 
bedauere  ich,  Herrn  Dr.  Firmenich-Richartz  darauf  aufmerk¬ 
sam  machen  zu  müssen,  dass  dieses  Bild  eine  Kopie  nach 
einem  in  dem  kunsthistorischen  Museum  in  Wien  befind¬ 
lichen  Porträt  (Nr.  996)  ist,  welches  Herr  Dr.  Firmenich- 
Richartz  gewiss  nicht  für  eine  Arbeit  des  Meisters  vom  Tode 
der  Maria  gehalten  haben  würde,  wenn  er  von  seiner  Exi¬ 
stenz  Kenntnis  gehabt  hätte.  G)  Da  mehrere  dieser  angeb¬ 
lich  späteren  Bilder  des  Meisters  vom  Tode  der  Maria  aus 
italienischen  Kirchen  herrühren,  muss  der  Meister,  resp.  Joße 
van  Cleve,  auch  mehrere  Reisen  nach  Italien  gemacht  haben, 
und  Herr  Dr.  Firmenich-Richartz  lässt  ihn  zu  diesem  Zwecke 
auch  wenigstens  zwei  solche  Reisen,  1523  und  1530,  unter¬ 
nehmen.  Dem  gegenüber  aber  ist  zu  bemerken,  dass  nicht 
der  leiseste  Umstand  uns  vermuten  lässt,  dass  Joße  van 
Cleve  in  Italien  war;  dass  er  seit  1511  in  der  Antwerpener 
Gilde  und  in  den  Jahren  1516,  1519,  1520,  1523,  1525,  1528, 
1535,  1536  und  1540  in  Antwerpen  nachgewiesen  ist;  dass 
er  zweimal,  das  zweitemal  im  Jahre  1528,  heiratete;  und 
dass  er  demnach  ein  sesshafter  Mann  gewesen  zu  sein  scheint. 
Ganz  unwahrscheinlich  aber  ist  es,  dass  er  noch  unmittel¬ 
bar  nach  seiner  zweiten  Ehe  im  Jahre  1528  die  damals  be¬ 
schwerliche  Reise  noch  einmal  gemacht  haben  soll.  Diese 
Italienfahrten  Joße’s  van  Cleve  sind  durch  nichts  zu  be¬ 
weisen,  ebenso  wenig  wie  die  Annahme,  dass  die  Familie 
Ilackenay  den  Maler  1515  nach  Köln  berufen  habe,  um  dort 
den  kleinen  Tod  der  Maria  zu  malen.  7)  Was  aber  der 
ganzen  Identitätshypothese  die  Krone  aufsetzt,  ist,  dass  Herr 
Dr.  Firmenich-Richartz  die  Stelle  des  Guicciardini  (1567) 
ernst  nimmt,  wo  derselbe  erzählt,  dass  ein  Gios  (Joße  ist 
.lodocus)  di  Cleves,  cittadino  d’Anversa,  ein  ausgezeichneter 
l’orträtmaler  gewesen  sei  und  vom  Könige  Franz  I.  nach 
Frankreich  berufen  woi’den  wäre,  wo  er  den  König,  die 
Königin  und  viele  Herren  und  Damen  des  Hofes  gemalt 
habe.  Davon  hätte  doch  van  Mander  auch  noch  etwas 
wissen  müssen;  aber  er  hütet  sich  wohl,  uns  eine  solche 
|)lumpe  Lüge  aufzufischen.  Auch  in  Frankreich  müsste  man 
davon  etwas  wissen,  und  ein  Maler,  der  an  den  Hof  des  Königs 
Franz  I.  berufen  wurde,  dort  den  König  und  so  viele  Per¬ 
sonen  seines  Hofstaates  porträtirt  hat,  ist  doch  keine  Person, 
die  aus  der  Geschichte  verschwindet,  ohne  nicht  wenigstens 
eine  Spur  zurückzulassen.  Guicciardini  hat  aber  etwas  ge¬ 
hört  von  einem  Antwerpener  Maler  van  Cleve,  der  Porträts 
maltf!,  und  von  einem  anderen  Niederländer  Maler  Clove  am 
Hofe  Franz’  1.,  der  auch  Porträts  malte,  und  vermischt  den 
.Sotte-Cleve  mit  den  Malern  .Imn  Clowt  oder  Claret,  die  in 
Brüssel  geboren,  am  Hofe  Franz’  1.  und  Franz’  11.  peintres 
du  roi  gewesen  und  den  König  und  zahlreiche  Vornehme 
seines  Hofes  wirklich  gemalt  haben.  Clovet  oder  Clouet 
hieß  der  Mann,  dessen  Name  für  den  Italiener  Guicciardini 
wie  Cleve  lauten  mochte,  und  diesem  ist  dieses  (^ui  pro 


quo  zu  verzeihen;  einem  Kunstgelehrten  des  19.  Jahrhun¬ 
derts  aber  darf  so  etwas  nicht  passiren.  Kurz  gesagt:  die 
ganze  Hypothese  ist  unhaltbar,  weil  sie  lediglich  auf  irrigen 
Voraussetzungen  beruht  und  weil  der  Meister  vom  Tode  der 
Maria  überhaupt  kein  Vläme  und  kein  Antwerpener  Maler, 
sondern  ein  Holländer,  ein  Maler  der  Harlemer  und  Amster¬ 
damer  Schule  ist,  ein  Schüler  des  Jacob  Cornelissz,  vielleicht 
sogar  wirklich  im  Geiste  ein  Schüler  des  Jan  Joest,  der  in 
Harlem  lebte,  als  Jan  Schoreel  seine  Lehrjahre  bei  Cornelis 
Willemsz  daselbst  durchmachte.  ALFRED  v.  WURZBACH. 

*  Zu  der  Radirwig  von  Fr.  Völhny  im  April -Hefte 
der  Zeitschrift  sind  wir  heute  in  der  Lage,  noch  folgende 
biographische  Daten  nachzutragen:  Fritz  Völlmy  wurde  am 
20.  März  1863  als  Sohn  eines  Kaufmanns  in  Basel  geboren. 
Nachdem  er  das  Gymnasium  seiner  Vaterstadt  besucht,  be¬ 
gann  er  seine  künstlerische  Laufbahn  auf  Veranlassung  seines 
Vetters  Prof.  Ferdinand  Keller  an  der  Kunstschule  in  Karls¬ 
ruhe.  Am  meisten  zogen  ihn  dort  bald  die  Arbeiten  von 
Gustav  Sch'önleber  an,  er  wurde  dessen  Schüler,  und  zwar 
einer  der  besten  derselben.  Im  Jahre  1886  begleitete  Völlmy 
seinen  Lehrer  auf  einer  Studienreise  nach  Nervi  bei  Genua 
und  siedelte  unmittelbar  darauf  nach  München  über.  Dort 
entstand,  außer  anderen  Bildern,  die  größere  Komposition: 
., Strand  bei  Nervi“  (im  Baseler  Privatbesitz)  und  eine  An¬ 
zahl  von  Landschaften  aus  der  Umgebung  Münchens.  Viel 
Anregung  und  Förderung  erfuhr  Völlmy  durch  den  regen 
Verkehr  mit  seinen  Freunden  Ludwig  Dill  und  Wilhelm 
Volz.  Mit  ersterem  bereiste  er  die  belgische  Küste  und  das 
Resultat  dieser  Reise  waren  u.  a.  die  Bilder:  „Dünen  bei 
Ostende“  (1889,  Jahresausstellung  in  München)  und  „Bel¬ 
gisches  Doif“  (Weltausstellung  in  Paris).  Das  Interesse  für 
die  Radirkunst  wurde  in  dem  Künstler  durch  Stauffer-Bern 
und  Meyer -Basel  erweckt;  doch  konnte  er  dasselbe  bisher 
nur  wenig  bethätigen.  Der  von  uns  mitgeteilten  Cypressen- 
radirung  liegt  eine  Aquarellstudie  aus  Südtirol  zu  Grunde. 
Völlmy  hat  gegenwärtig  seinen  Wohnsitz  in  Basel,  unter¬ 
hält  jedoch  stets  regen  Verkehr  mit  München.  Er  war  einer 
der  Gründer  der  dortigen  „Sezession“. 


BERICHTIGUNG.  (Verspätet.) 


In  meiner  Abhandlung  „Der  Meister  des  Todes  Mariä, 
sein  Name  und  seine  Herkunft“  (Zeitschrift  für  bild.  Kunst 
V,  8)  sind  die  Monogramme  des  Künstlers  an  unrichtiger 
Stelle  in  den  Text  eingesetzt  worden.  Die  perspektivisch 
verkürzte  Signatur  des  Danziger  Altarwerkes,  welche  S.  191 


erste  Spalte  besprochen  wird,  ist 


das  Monogramm  auf 


der  Kölner  Darstellung  des  Todes  Mariä  dagegen 


.  In 


der  ersteren  Bezeichnung  fehlt  demnach  der  Buchstabe  1, 
doch  ist  b  deutlicher  erkennbar. 


Bonn,  25.  Mai  1894.  EDUARD  FIRMENICH-RICHARTZ. 


NOTIZ. 

Die  beifolgende  Lichtdrucktafel:  Reiterstatuette  Karl’s 
des  Großen,  gehört  zu  dem  Aufsatze  von  G.  Wolfram  in 
Heft  7,  S.  153  u.  ff. 


Herausgeber:  Carl  von  lAitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Keiterstatuette  Karl’s  des  Großen. 


GOETHE’S  BILDNISSE 
UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 

VON  E.  LEHMANN. 


ENN  in  den  folgenden  Zeilen 
die  Gestalt  des  großen  deut¬ 
schen  Dichters  mehr  in  den 
Vordergrund  gerückt  er¬ 
scheint  als  die  ihn  ahbil- 
denden  Künstler,  wenn  hier 
mehr  auf  das  Dargestellte 
als  auf  die  Kunst  und  ihre 
Technik  Bezug  genommen  wird,  so  kann  uns  doch 
nicht  der  Vorwurf  treffen,  dass  wir  etwas  Fremdes 
in  diese  Blätter  trügen.  Denn  wo  Goethe  ist,  ist  auch 
die  Kunst.  Sie  begleitet  ihn  durch  sein  ganzes 
Leben.  Schon  als  Knabe  versenkte  er  sich  in  die 
vom  Vater  gesammelten  Bilder  und  sog  daraus  den 
ersten  Honigseim  für  seine  künst¬ 
lerischen  Anwandlungen.  Er  sollte 
sie  nie  wieder  los  werden,  ja  lange 
Zeit  hindurch  glaubte  er,  der  schon 
Gefeierte,  er  sei  von  der  Natur 
mehr  zum  Maler  und  Bildhauer  als 
zum  Dichter  berufen. 

Als  Adam  Friedrich  Oeser’s 
Lehre  und  künstlerische  Anregun¬ 
gen  Goethe’s  Seele  erfüllten,  griff 
dieser  mächtig  in  die  Kunstbewe¬ 
gung  ein.  Und  wer  anders  als 
Goethe  hat  uns  Dürer  wieder  er¬ 
schlossen?  Er  war  es,  der  vor 
nunmehr  hundert  Jahren  die  Dürer- 
litteratur  ins  Leben  rief  und  der 
an  Lavater  die  Worte  richtete:  „Ich 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H. 


„Mehr  Inhalt,  weniger  Kunst.“ 
SHAKESPEARE. 

verehre  täglich  mehr  die  mit  Silber  und  Gold  nicht 
zu  bezahlende  Arbeit  des  Menschen,  der,  wenn  man 
ihn  recht  im  Innern  erkennen  lernt,  an  Wahrheit, 
Erhabenheit  und  selbst  an  Grazie  nur  die  ersten  Ita¬ 
liener  zu  seines  Gleichen  hat.“ 

Es  scheint  daher  nur  ein  Zeichen  des  Dankes, 
den  die  Kunst  dem  Dichter  zollte,  wenn  sie  sich 
bemühte,  sein  Bildnis  zur  Freude  der  Mit-  und  Nach¬ 
welt  in  allen  Phasen  seines  Lebens  festzuhalten. 

Ehe  wir  die  wichtigsten  Bildnisse  aus  dem 
Jugend-  und  mittleren  Mannesalter  des  Dichters  einer 
kurzen  Betrachtung  unterziehen,  sei  auf  einen  Um¬ 
stand  hingewiesen,  der  leicht  von  schlimmerer  Be¬ 
deutung  werden  kann,  als  die  Überfülle  des  Stoffes. 

Es  ist  die  Befangenheit  oder  bes¬ 
ser  die  Voreingenommenheit,  unter 
deren  Einflüsse  wir  beim  Anblicke 
der  zeitgenössischen,  oft  technisch 
unvollkommenen  Bildnisse  eines 
Mannes  stehen,  der  nicht  mehr  den 
Lebenden  angehört  und  doch  geis¬ 
tig  in  uns  wirkt  und  unser  Denken 
und  Empfinden  mehr  oder  weniger 
beherrscht.  Jeder  von  uns  hat  sich, 
bewusst  oder  unbewusst,  ein  Bild 
geformt  von  ihm,  der  den  Ton¬ 
wechsel  unserer  Sprache,  des  Werk¬ 
zeuges  unseres  Geistes  und  Gemütes, 
so  meisterlich  zu  handhaben  ver¬ 
steht,  dass  er  uns  nie  im  Stiche  lässt, 
wenn  wir  zu  ihm  kommen.  Aber 


32 


250 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


dieses  Bild  ist  nicht  allein  unter  dem  Eindrücke 
seiner  Werke  in  uns  entstanden,  sondern  vor  allem 
durch  den  Einfluss  der  bekannteren  Bildnisse,  die 
ihn  in  späterem  Alter  darstellen:  die  wohlbekann¬ 
ten  Büsten  Trippel’s  und  Rauch’s,  die  Gemälde 
Kolhe’s  und  Stieler’s,  sowie  die  Schar  der  Nach¬ 
bildner  Herzig  und  Melcher,  Jäger,  Fr.  Pecht  und 
Woldemar  Friedrich,  im  Verein  mit  all  den  sü߬ 
lichen  Erzeugnissen,  wie  sie,  dem  Tagesgeschmacke 
liuldigeud,  in  sogenannten  Prachtausgaben  geboten 


sich  ein  Brief  aus  dem  Jahre  1822,  in  dem  ein 
Sechzehnjähriger  das  Glück  schildert,  den  Dichter 
im  Nachbar  garten  ungestört  beobachten  zu  können. 
Der  junge  Verehrer  schreibt  u.  a.:  „Sie  können  ver¬ 
sichert  sein,  in  Goethe’s  ganzem  Wesen  zeigt  sich 
seine  Größe.  Er  ist  noch  so  rüstig  wie  ein  Mann 
von  vierzig  Jahren.  Sein  majestätischer  Gang,  die 
gerade  und  aufrechtstehende  Stirn,  die  herrliche 
Form  seines  Kopfes,  das  feurige  Auge,  die  gebogene 
Nase,  alles  das  ruft:  Faust,  Margarethe,  Götz,  Iphi- 


Fig.  2.  Goethe.  Büste  von  Fr.  Tieck  (1820). 


werden,  —  sie  alle  haben  Anteil  an  dem  sich  in 
uns  formenden  Dichterhilde.  Unwillkürlich  bleibt 
unser  Blick  auf  ihnen  haften:  milssen  sie  uns  doch 
den  Aiddick  des  wirklichen  Menschen  ersetzen, 
sollen  sie  doch  das  Verlangen  stillen,  ihn  uns 
wahrhaftig  und  getreu  vorzu.stellen,  mögen  wir 
nun  den  jugendlichen  Dichter  nach  Italien  begleiten 
und  in  seinem  Schaffen  belauschen,  oder  bei  andachts¬ 
vollem  Verweilen  in  den  Räumen  seines  Hauses  die 
Gestalt  des  Altmeisters  an  uns  vorüberschreiten  lassen. 

In  dem  Nachlasse  von  Johannes  Falk  findet 


genie,  Tasso  und,  was  weiß  ich,  was  alles  sonst 
noch  mehr?  Nie  habe  ich  in  diesem  vorgerückten 
Alter  einen  so  rüstig  schönen  Mann  gesehen.  Ich 
sehe  ihn  jetzt,  wenn  es  schönes  Wetter  ist,  täglich 
in  seinem  Garten,  und  das  gewährt  mir  ebenso  viel 
Unterhaltung,  als  andere  darin  finden,  wenn  sie 
Büsten  betrachten  und  schöne  Bilder  und  Kupfer¬ 
stiche  ansehen.“ 

Wird  nun  die  Kunst  den  Dichter  auch  uns  so 
nahe  bringen?  Und  wenn  nicht,  welche  Grenzen 
sind  ihr  hier  gezogen?  Abgesehen  davon,  dass  das 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


251 


unbewegliche  Bild  den  Lebenden  in  der  Veränder¬ 
lichkeit  seiner  Züge,  deren  leiseste  Bewegung  den 
Wechsel  innerer  Empfindungen  wiederspiegelt,  nie 
vollkommen  darzustellen  vermag,  —  wie  die  Photo¬ 
graphie  uns  immer  von  neuem  bestätigt  —  erschwert 
die  persönliche  Auffassung  des  Künstlers  die  voll¬ 
ständig  genaue  Wiedergabe  des  Darzustellenden. 

Wenn  zwei  dasselbe  thun,  ist  es  nicht  dasselbe. 
Einen  schlagenden  Beweis  für  das  alte  Wort  liefer¬ 
ten  die  beiden  Künstler  Bauch  und  Tieck  (Fig.  1  u.  2), 
als  sie  in  Jena  am 
16.  August  1820 
die  Büsten  des 
Dichters  gleich¬ 
zeitig  modellirten. 

Während  Rauch’s 
Büste,  deren  herr¬ 
liches  Original  in 
Marmor  sich  im 
Leipziger  Museum 
befindet,  nicht  nur 
die  kühne  und  si¬ 
chere  Hand  ihres 
Schöpfers,  sondern 
auch ,  seiner  ver¬ 
wandten  N  atur  ent¬ 
sprechend,  das 
Thatkräftige  und 
Herrschergewalti¬ 
ge  im  Charakter 
des  Dichters  er¬ 
kennen  lässt,  bringt 
das  W  erk  von 
Tieck,  dem  Bruder 
des  Romantikers, 
die  andere  Seite  des 
Goethe’schen  We¬ 
sens,  die  sinnende 
Beschaulichkeit  zu 
überraschend  tref¬ 
fendem  Ausdruck.  Beide  ergänzen  einander.  Die 
Tieck’sche  Büste  hat  unverdientermaßen  keine  grö¬ 
ßere  Verbreitung  gefunden;  jedenfalls  sollte  sie 
aber  in  keinem  Museum  neben  der  Rauch’schen 
fehlen.  Zeitgenossen,  wie  Zelter  und  die  Verwan¬ 
dten  Goethe’s  selbst,  erklärten  die  Rauch’sche  Büste 
neben  der  Trippel’schen  für  die  beste  Wiedergabe 
des  Lebenden.  Johann  Heinrich  Meyer,  wie  später 
auch  Zarncke,  bemerkt  indes  in  den  Gesichtszügen 
etwas  Gespanntes.  Dieser  Eindruck  schwindet  aber, 
sobald  man  die  Büste  nicht  aus  zu  großer  Nähe 


betrachtet  und  dabei  im  Auge  behält,  dass  sich,  wie 
im  Ab/ic’schen  Bilde  von  1826  (Fig.  3),  Kopf  und 
Hals  nach  rechts  wenden,  wodurch  das  Werk 
an  Leben  gewinnt  und,  was  scheinbar  nebensäch¬ 
lich  ist,  die  linke  Seite  des  Kopfes  in  den  Vor¬ 
dergrund  gerückt  wird.  Goethe’s  Gesicht  war  nicht 
vollkommen  symmetrisch  gebaut,  was  jedoch  die 
natürliche  Anmut  nur  wenig  beeinträchtigte,  im  Alter 
aber  mehr  als  in  jüngeren  Jahren  hervortrat;  die 
linke  Gesichtshälfte  war  merklich  länger  als  die 

rechte,  und  durch 
jene  Wendung  des 
Kopfes  erscheint 
daher  die  entfern¬ 
tere  rechte  Seite 
wie  in  natürlicher 
Verkürzung.  Aus 
ähnlichem  Anlass 
ließ  Raffael  den 
geistvollen  Inghi- 
rami-Fedra  mit 
entsprechender 
Kopfwendung  den 
Blick  seitlich  nach 
oben  richten,  um 
das  Schielen  des 
Dargestellten  mög¬ 
lichst  zu  verdecken 
und  dabei  doch 
die  Porträtähnlich¬ 
keit  nicht  zu  schä¬ 
digen.  —  Wenn 
nun  schon  beim 
ersten  Vergleiche 
dieser  beiden 
gleichzeitig  ent¬ 
standenen  Büsten 
—  Zarncke  nennt 
sie  deshalb  Atem- 
pobüsten  —  das 
Ange  forschend  von  der  einen  zur  anderen  schweift 
und  von  der  Verschiedenheit  des  Eindruckes  über¬ 
rascht  und  fragend  blickt,  so  darf  es  Niemand 
Wunder  nehmen,  wenn  die  erste  Empfindung,  wel¬ 
che  die  in  verschiedenen  Zeiten  und  unter  Um¬ 
ständen  hervorgebrachten  Bildnisse  wachrufen,  — 
Enttäuschung  ist,  selbst  wenn  wir  von  den  wirklich 
misslungenen  Erzeugnissen  einer  Charlotte  von  Bauer 
oder  des  genialen  Architekten  Heideloff  ganz  absehen. 
„»So  soll  Goethe  ausgesehen  haben?  Unmöglich!“  hat 
schon  manche  und  mancher  ausgerufen  und  sich  mit 


Fig.  1.  Goethe.  Büste  von  Chr.  Rauch  (1820). 


32* 


252 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZABNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


schlecht  verhohlener  Entrüstung  abgewandt,  um  sich 
nicht  die  Illusion,  d.  h.  seine  Wahnvorstellung  zu 
zerstören.  Ihm  geht  es  wie  einem,  der  zum  ersten¬ 
mal  durch  ein  zusammengesetztes  Mikroskop  oder 
durch  ein  astronomisches  Fernrohr  blickt  und  der 
die  kleine  und  große  Welt  sich  so  ganz  anders  vor- 
gesteUt  hatte.  Wie  dort,  so  will  auch  hier  an  unseren 
Bildern  das  Sehen  gelernt  sein,  ehe  das  Auge  die 
feinen  Züge  entdeckt,  die  uns  nur  die  Natur,  nicht 
aber  unsere  Einbildungskraft  zeigen  kann;  nur  all¬ 
mählich  treten  die 
sprechenden  For¬ 
men  schärfer  zu 
Tage  und  das  Ge¬ 
samtbild  gewinnt 
an  Vertiefung  und 
Schönheit:  ein  ähn¬ 
licher  Prozess,  wie 
er  sich  in  uns  vor 
den  Bildnissen 
Rembrandt’s  oder 
manchem  Dürer’- 
schen  Bilde  ab¬ 
spielt. 

Freilich  wird 
das  rasche  Ver¬ 
ständnis  auch  da- 
(lurch  gehemmt, 
dass  sich  hier  ne¬ 
ben  einer  Künst¬ 
lerschar  von  der 
verschiedensten 
Begabung  auch 
eine  Reihe  von 
Nichtzünftigen 
einstellt,  deren 
Können  mit  der 
gestel  Uen  Aufgabe 
niclitiniEinklange 
.steld.  Während  l’erner  einige  die  Züge  mit  liebevoller 
Genauigkeit  ahzu.sclireiben  versuchen,  folgen  andere, 
und  zwar  die  Begalderen  unter  ihnen,  dem  Zuge 
der  Zeit  und  bringen  im  Bewusstsein  ihrer  reiferen 
Künstlerschaft  den  wahrgenommenen  Ausdruck  in 
freierer  Weise  zur  Geltung.  Die  Antike  hatte  da¬ 
mals  mit  Ausnahme  einiger  Zeichner  alle  in  Fesseln 
geschlagen.  Rousseau,  der  leidenschaftliche  Natu¬ 
ralist,  entlehnte  die  erläuternden  Beispiele  für  seinen 
auf  rein  naturalistischer  Grundlage  errichteten  Ge¬ 
sellschaftsbau  aus  der  Antike;  Diderot  sprach  sein 
vernichtendes  Urteil  über  Boucher  nicht  nur  als  Na¬ 


turenthusiast,  sondern  auch  als  warmherziger  Ver¬ 
ehrer  der  Einfachheit  antiker  Kunst  aus;  Winckel- 
mann’s  „Gedanken  über  die  Nachahmung  der  grie¬ 
chischen  Werke  in  der  Malerei  und  Bildhauerkunst“ 
griffen  unmittelbar  in  die  Kunstübung  ein,  und 
seine  „Kunst  des  Altertums“  riss  mit  ihrer  Begeiste¬ 
rung  die  Genießenden  im  Sturme  mit  sich  fort,  und 
endlich  hatte  sich  auch  Goethe  selbst  in  Lehre  und 
Praxis  leider  viel  zu  früh  zu  den  Alten  geschlagen. 
Damit  war  aber  eine  trennende  Schranke  zwischen 

dem  Volke  und 
der  Kunst  aufge¬ 
richtet.  Die  Ge¬ 
schichte  der  Re¬ 
naissance  zeigt, 
dass  die  Künstler 
der  Antike  nur 
dann  ihr  Bestes 
ablernen,  wenn  sie 
bereits  der  Natur 
nach  heißem  Be¬ 
mühen  das  For¬ 
mengeheimnis  ah- 
gelauscht  haben 
und  ihr  als  erster 
und  hauptsächlich¬ 
ster  Lehrmeisterin 
gehorchen ,  wie 
Raffael  und  Dürer 
es  verstanden.  Be¬ 
lege  aus  unserer 
Sammlung  sind  u. 
a.  das  zweite  Bild 
der  Caroline  Bar- 
dua,  das  erste  Bild 
Bury’s,  das  Tisch- 
hein’sche  Gemäl¬ 
de  ,  die  TrippeV- 
sche  Büste,  das  er¬ 
ste  Medaillon  von  Melchior  (Fig.  5),  die  Statuen 
Goethes  und  Schillers  von  Ranch  und  die  Statuen 
von  Thorwaldsen,  sowie  einige  Bilder  von  Angelika 
Kan  ffmami,  die  halb  Klassicismus,  halb  Rokoko  atmen. 

Auf  Winckelmann,  den  Heiden,  folgte  Wacken¬ 
roder,  der  Schwärmer  für  das  mittelalterliche  Chri¬ 
stentum  des  Quattrocento,  auf  Carstens  Overbeck, 
Vogel  und  Veit,  die  Brüder  von  Sant’  Isidoro,  auf 
die  Antike  die  Weltentfremdung.  Beide  Strömungen 
führten  zum  „corriger  la  nature“,  zur  Idealisirung, 
wie  man  es  nannte.  Durch  beide  ging  der  deutschen 
Malerei  der  Zusammenhang  mit  dem  Leben  der  Ge- 


GOETHE’S  B1L*DN1SSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG, 


253 


geuwart  verloren.  Während  in  den  Werken  Dürer’s, 
seiner  italienischen  Zeitgenossen  und  der  Nieder¬ 
länder  ihr  eigener  Geist,  ihre  Gefühlsweise,  ihre 
Sitten  und  Gebärden  und  Trachten  lebendig  geblie¬ 
ben  sind,  ist  es  nicht  anzunehmen,  dass  eine  spätere 


sie  haben  durch  theatralische  Stellungen,  erlogene 
Teints,  bunte  Kleider  die  Augen  der  Weiber  ge¬ 
fangen.  Männlicher  Albrecht  Dürer,  den  die  Neu¬ 
linge  ausspötteln,  deine  holzgeschnitzteste  Gestalt  ist 
mir  willkommener!  Nur  da,  wo  Vertraulichkeit  und 


Fig.  5.  Goethe.  Marmorrelief  von  J.  P.  Melchior  im  Schlosse  zu  Tiefurt  (1775). 


Zeit  aus  den  Bildern  eine  richtige  Vorstellung  von 
dem  Leben  des  18.  und  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr¬ 
hunderts  werde  gewinnen  können.  „Wie  sehr  unsere 
geschminkten  Puppenmaler  mir  verhasst  sind,“  rief 
einst  der  junge  Goethe  in  seinem  Aufsatz  über 
deutsche  Art  und  Kunst,  „mag  ich  nicht  deklamiren; 


Bedürfnislosigkeit  wohnen,  wohnt  alle  Künstler¬ 
schaft,  und  wehe  dem  Künstler,  der  seine  Hütte  ver¬ 
lässt,  um  in  den  akademischen  Prunkgebäuden  sich 
zu  verflattern.“  Ja,  wenn  die  deutschen  Künstler 
es  ihren  englischen  Genossen  Reynolds  und  Romney 
gleich  zu  thun  verstanden  hätten,  die  die  Porträts 


254 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


in  Allegorieen  einsetzten  und  verschönerten,  ohne 
sie  unähnlich  erscheinen  zu  lassen !  So  hat  Romney 
allein  die  berühmte  Lady  Hamilton  als  Magdalene, 
Jeanne  d’Arc,  als  Bacchantin  und  Odaliske  gemalt, 
und  doch  bleibt  sie  immer  Lady  Hamilton.  Wer 
wollte  Ähnliches  von  den  verschiedenen  Bildnissen 
Goethe’s  von  Maij,  Raabe  oder  von  Jagemann  behaup¬ 
ten?  Der  einzige  der  damaligen  Porträtmaler,  der 
ganz  auf  realem  Boden  stand,  war  Anton  Oraff. 
Seiner  markigen  Kunst  verdanken  wir  die  Bildnisse 
von  Lessing  und  Schiller,  Bodmer  und  Gessner, 
Wieland  und  Herder,  Bürger  und  Geliert,  Christian 
Gottfried  Körner  und  Lippert,  Moses  Mendelssohn 
und  Sulzer,  kurz  der  langen  Reihe  von  Dichtern 
und  Gelehrten,  die  die  Zeit  des  neuerwachenden 
deutschen  Geisteslebens  herheiriefen.  Leider  besitzen 
wir  von  seiner  Hand  kein  Bild  von  Goethe.  Und 
doch  verstand  es  keiner  wie  Graff,  die  Köpfe  so 
klar  und  plastisch  herauszuarbeiten,  keiner  besaß 
eine  solche  Gewandtheit  und  Unfehlbarkeit  der 
Technik.  Lange  Zeit  galt  der  vom  Kupferstecher 
Barth  auf  Grund  des  ÄiefeUschen  Ölbildes  umgear¬ 
beitete  Stich,  in  dem  namentlich  die  Kopf-  und 
Augenwendung  abgeändert  erscheint,  als  eine  Kopie 
nach  einem  Gemälde  von  Graff ;  hier  gebührt  Zarncke 
das  Verdienst,  die  absichtliche  Täuschung  nachge¬ 
wiesen  zu  haben. 

Es  ist  von  geringem  Belang  für  unsere  Absicht, 
ein  richtiges  Bild  des  Dichters  in  uns  lebendig  wer¬ 
den  zu  lassen,  wenn  wir  durch  Vergleichung  der 
besseren  Bildnisse  die  ihnen  gemeinschaftlichen  phy- 
siognomischen  Grundzüge  festzustellen  suchen.  Weil- 
bach  hat  folgende  herausgefunden:  ein  im  Verhält¬ 
nis  zum  Antlitz  kleiner  Hinterkopf,  eine  mächtige 
Stirn,  ein  großes  musikalisches  Ohr,  große  feurige, 
tiefliegende  Augen,  mittelstarke,  in  schönen  Bogen 
gezeichnete  Augenbrauen,  ein  ausgeprägt  kräftiger 
Übergang  zu  der  wohlgebildeten  Adlernase  mit  der 
fleischigen,  nicht  ganz  wenig  herabhängenden  Nasen¬ 
spitze,  ein  großer  lieblicher  Mund  mit  einer  fast  zu 
kurzen  Oberlippe,  ein  derbes  fleischiges  Kinn  mit 
kräftig  ausgebildeten  knochigen  Kinnbacken.  Das 
lässt  sich  bis  auf  die  Augen  und  den  Hinterkopf 
weit  sicherer  an  den  Gipsabgüssen  nach  dem  Leben 
ablesen,  die  Weißer  1807  und  Schadow  1816  abge¬ 
formt  haben.  Auf  Grund  jener  Zusammenstellung 
könnte  ebenso  gut  ein  anderer  Kopf,  etwa  der  Napo- 
leon’s  I.,  herausgebildet  werden.  Für  uns  handelt 
es  sich  um  mehr:  einmal  um  die  wichtige  Form  des 
Umrisses,  um  die  genaue  Modellirung,  die  nicht  be¬ 
schrieben,  sondern  nur  gezeichnet  und  gebildet  wer- 


Fig.  6.  Porträt  von  Jens  Juel  (1779). 


Fig.  7,  Büste  von  M.  G.  Ki.auek  im  Schlosse  zu  Tiefurt 
(1779). 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DTE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


255 


den  kann,  da.s  andere  Mal  um  den  geistigen  und 
seelisch  wahren,  den  ganzen  Menschen  erfassenden 
Ausdruck,  wie  ihm  etwa  ein  Lenbach  oder  Stautfer- 
Bern  auf  den  Grund  zu  kommen  im  stände  ist.  Im 
übrigen  tritft  die  Bezeichnung  „Adlernase“  bei  Goethe 
nicht  zu;  die  herahhängende  Nasenspitze  dürfte  sich 
nur  auf  den  Darstellungen  des  alternden  Dichters 
finden,  in  denen  des  jugendlichen  auf  keinen  Fall. 

Unserem  größten  Dichter  gegenüber  sind  wir 
darauf  angewiesen,  die  Originale  meist  mittelmäßiger 
Künstler  und  noch  öfter  die  späteren  Nachbildungen 
zu  studiren  und  durch  erneute  Vergleichung  die 
wahre  äußere  Erscheinung  des  Jünglings  und  des 
Mannes  wieder  in  uns  erstehen  zu  lassen.  Die  Mög¬ 
lichkeit  dazu  wurde  uns  neuerdings  durch  die  Zarn- 
cke’sche  Sammlung  geboten,  die  durch  den  kürz¬ 
lich  erfolgten  Ankauf  der  Stadt  Leipzig  erhalten 
geblieben  ist.  Sie  enthält  allein  an  1400  Bildnisse 
Goethe’s,  die  chronologisch  nach  den  Originalen  an¬ 
geordnet  sind,  deren  jedem  sich  sämtliche  zugehörige 
Nachbildungen  und  Abkömmlinge  —  oft  30  bis  40 
—  unmittelbar  anschließen,  einige  so  sehr  ver¬ 
schieden  von  ihren  Ahnen,  dass  nur  der  Kenner¬ 
blick  Zarncke’s  sie  -ihrer  Familie  sicher  zuweisen 
konnte.  Außer  diesen  Gemälden,  Stichen  und  Schatten¬ 
rissen  enthält  die  Sammlung  die  Abgüsse  der  Büsten, 
Statuetten  und  Medaillons  Goethe’s,  ferner  eine  An¬ 
zahl  Reliquien,  das  von  Rauch  genommene  Maß 
Goethe’s,  einen  Abguss  seiner  Hand  u.  a,,  Dinge,  die 
wiederum  ein  Goetherhuseum  für  sich  bilden.  Die 
Bildnisse  Goethe’s  sind  indes  nur  der  Grundstock 
der  Sammlung.  An  sie  schließt  sich  eine  schier  end¬ 
lose  Reihe  von  Bildern  der  Fürsten  und  Privatper¬ 
sonen,  die  mit  Goethe  in  Beziehung  gestanden 
haben.  Dazu  kommen  noch  Pläne  und  Ansichten 
der  Städte,  namentlich  Leipzigs,  und  Gegenden,  wo 
der  Dichter  gelebt  oder  die  er  auf  Reisen  berührt  hat. 

Der  große  Wert  der  Sammlung,  dieser  Arbeit 
eines  ganzen  Gelehrtenlebens,  liegt  mit  in  ihrer  Voll¬ 
ständigkeit.  Sie  enthält  nicht  nur  sämtliche  Bild¬ 
nisse  Goethe’s,  die  auf  uns  gekommen  sind,  auch 
die  Verwandten  des  Dichters  sind  vom  Ururgroß- 
vater  Johann  Wolfgang  Textor  bis  zu  Walter  Goethe, 
dem  letzten  Träger  des  Namens,  vollständig  bei¬ 
sammen.  Die  Bildnisse  der  Dichter  und  Gelehrten, 
der  Künstler  und  Schauspieler,  die  Goethe  irgend¬ 
wie  näher  getreten  waren  oder  in  irgend  einer  Be¬ 
ziehung  zu  seinen  Werken  stehen,  zählen  nach  Tau¬ 
senden;  für  sie  war  die  alphabetische  Anordnung 
die  einzig  mögliche.  So  leuchtet  zwischen  dem  Pro¬ 
pheten  Basedow  und  dem  lustigen  Beranger  das  lieb- 


Fig.  8.  Porträt  von  J.  A.  Dakbes  (1785). 


Fig.  9.  Porträt  von  J.  H.  LiPS  (1791), 


256 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


liehe  Köpfchen  Christiane  Becker’s,  Goethe’s  Euphro- 
syne,  die  Großmutter  des  jüngst  verstorbenen  Malers 
Karl  Werner,  uns  entgegen,  und  nach  Hamann’s, 
des  Magus  des  Nordens,  seltsamem  Antlitze  tauchen 
die  berückenden  Züge  der  Lady  Hamilton  auf.  Da 
sind  Bettina  das  Kind,  Charlotte  Buff  in  allen  Lebens¬ 
altern  —  unter  anderem  die  Silhouette  von  1774  mit 
den  Worten  Goethe’s:  „Lotte,  gute  Nacht!“  —  Car- 
lyle  und  Chodowiecki,  Eckermann  und  Eckhof, 
Fichte,  Geliert  und  Gottsched,  Herder  und  Klopstock, 
Minchen  Herzlieb,  Humboldt  und  Huyghens,  Ange¬ 
lika  Kauflfmann,  Sophie  und  Maxe  Laroche,  Lavater, 
Goethe’s  letzte  Liebe  Ulrike  von  Levetzow,  Adele, 
Arthur  und  Johanna  Schopenhauer,  Lili  Schönemann, 
Frau  von  Stein,  Marianne  von  Willemer  u.  s.  f.  bis 
hinab  zu  Zampieri  und  Zelter.  Der  große  Freund 
Goethe’s  aber,  Schiller  und  seine  Familie  sind  mit 
den  Verwandten  Goethe’s  in  einer  Mappe  vereinigt. 

Wie  man  leicht  erkennt,  stellt  sich  die  Samm¬ 
lung  —  ein  Goethelexikon  in  Bildern  —  nicht  nur 
in  den  Dienst  der  Goethephilologie,  der  Zarncke 
sein  abschließendes  Werk  über  die  Originalaufnah¬ 
men  von  Goethe’s  Bildnis  einreihte.  Die  Sammlung 
besitzt  auch  einen  hohen  kultur-  und  kunstgeschicht¬ 
lichen  Wert.  Sie  giebt  uns  eine  vollständige  Ge¬ 
schichte  der  Entwickelung  der  vervielfältigenden 
Künste  in  der  Zeit  von  1760  bis  1840.  So  gewähren 
schon  allein  die  Nachbildungen  des  il/u?y’schen  Ori¬ 
ginals  einen  fesselnden  Einblick  in  den  Fortschritt 
jener  Künste.  Die  Sammlung  birgt  neben  Holz- 
und  Helldunkelschnitten  auch  Kupferstiche  aller  Art: 
in  Linienmanier,  mit  der  kalten  Nadel,  in  der  punk- 
tirten  und  gepnnzten  Manier,  Stiche  in  Bleistift-, 
Kreide-,  Tusch-  und  Aquatintamanier,  sowie  eine 
Anzahl  von  Steindrucken,  in  denen  sich  die  Ent¬ 
wickelung  der  Lithographie  von  ihren  ersten  An¬ 
fängen  durcli  Senefelder  und  Strixner  bis  zu  den 
Versuchen  Weishaupt’s  und  Zahn’s,  das  Buntdruck- 
verfahren  des  Kupferstichs  auf  die  Lithographie  zu 
übertragen,  wiederspiegelt. 

Und  nun  zu  den  Bildnissen  Goethe’s  selber! 
Stella’s  Worte  mögen  uüs  zu  ihnen  hinführen:  „Ihr 
sollt  sein  Forträt  sehen!  —  Mich  dünkt  immer,  die 
Gestalt  des  Menschen  ist  der  beste  Text  zu  allem, 
w{is  sich  über  ilin  empfinden  und  .sagen  lässt!  — 
So!  und  doch  nicht  den  tausendsten  Teil,  wie  er 
war.  Diese  Stirn,  diese  braunen  Augen,  diese  schwar¬ 
zen  Locken,  dieser  Ernst!  —  Aber  ach,  er  hat  nicht 
ausdrücken  können  die  Liehe,  die  Freundlichkeit, 
wenn  seine  Seele  sich  ergoss!“  —  Schon  in  Dich¬ 
tung  und  Wahrheit  tritt  uns  der  lebhafte  Knabe 


so  deutlich  vor  Augen,  dass  wir  nicht  umhin  können, 
uns  ein  Bild  von  ihm  zu  machen.  „Ich  war  über 
eine  gewisse  Würde  berufen,“  erzählt  Goethe  von 
sich,  und  Bettina  berichtet  die  Äußerung  der  Mutter, 
sie  habe  ihm  schon  als  Knaben  vorgehalten,  dass 
er  zu  gravitätisch  einherschritte.  Im  Knabenmär¬ 
chen  sehen  wir  ihn,  neunjährig,  in  einem  Rock  von 
grünem  Berkan  mit  goldenen  Balletten  auftreten. 
„Ich  war  frisirt  und  gepudert,  und  die  Locken 
standen  mir  wie  Flügelchen  vom  Kopfe.“ 

Aus  seiner  Knabenzeit  erscheinen  nur  zwei 
Bilder  genügend  beglaubigt:  das  Bild  des  Malers 
Seekatz  aus  dem  Jahre  1761,  dessen  Veröffentlichung 
wir  Heinemann  verdanken  (siehe  Zeitschrift  für  bild. 
Kunst,  N.  F.  IH,  S.  62),  jetzt  im  Besitze  Hermann 
Grimm’s,  des  Schwiegersohnes  der  Bettina,  und  die 
Silhouette  der  Sammlung  EUscher  in  Budapest.  Auf 
jenem  sind  Goethe’s  Eltern  nebst  Wolfgang  und 
Cornelie  als  Schäfer  dargestellt,  Frau  Rat  sitzend, 
wie  sie  eben  „in  ganzer  Pracht“  eine  Geschichte 
erzählt,  der  der  neben  ihr  stehende  Gatte  andächtig 
lauscht.  Wolfgang  steht  mit  der  Schwester  in  der 
Nähe,  im  Schatten  einer  Tempelruine,  und  bindet 
ein  rotes  Band  um  den  Hals  eines  Lämmchens. 
Im  Hintergründe  spielen  die  verstorbenen  vier  Ge¬ 
schwister  als  Genien.  In  Elischer’s  Schattenriss, 
dessen  Echtheit  jetzt  durch  eine  im  Goethenational¬ 
museum  befindliche  Parallelsilhouette  gesichert  ist, 
blickt  das  hübsche  Gesicht  des  13jährigen  Knaben, 
dessen  sprechendes  Profil  durch  die  angedeuteten 
Augenwimpern  zierlich  unterbrochen  wird,  frei  vor 
sich  hin.  Das  Toupet,  die  Haartolle,  ist  mittelhoch, 
der  dicke  Zopf  ist  mit  einer  Masche  einfach  ge¬ 
bunden.  (Fig.  4.) 

Aus  seiner  Studentenzeit  in  Leipzig,  d.  i.  aus 
den  Jahren  1765 — 68,  ist  kein  Bild  auf  uns  gekommen. 
Wohl  aber  ist  das  Bild  von  Ännchen,  wie  er  sie 
in  Dichtung  und  Wahrheit  nennt,  Anne  Cathar. 
Schönkopf,  wie  auf  ihrem  Grabsteine  auf  dem  alten 
Johannesfriedhofe  in  Leipzig  zu  lesen  ist,  erhalten. 
Es  entspricht  ganz  der  Goethe’schen  Schilderung: 
„Sie  war  jung,  bei  19  Jahren,  hübsch,  munter,  liebe¬ 
voll,  dass  sie  wohl  verdiente,  in  dem  Schrein  des 
Herzens  eine  Zeit  lang  als  eine  kleine  Heilige  auf¬ 
gestellt  zu  werden.“  Woldemar  Friedrich  hat  die 
Tischgesellschaft  beim  alten  Schönkopf  neben  dem 
Sonnenweiser  am  Brühl,  dort,  wo  jetzt  das  Haus 
Nr.  37  steht,  in  einer  Tuschzeichnung  verewigt  und 
die  Gestalten  Käthehens,  sowie  des  liederfrohen 
Zachariä  und  des  weit-  und  menschenkundigen  Beh- 
risch  nach  den  überlieferten  Bildnissen  getreu  kopirt. 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZAR,NCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


257 


Auch  für  Goethe  hat  der  Zeichner  ein  zeitgenös¬ 
sisches  Bild  verwertet,  das  lange  für  eine  Radirung 
von  der  Hand  Oeser’s  galt,  bis  Zarncke  den  vollen 
Beweis  erbrachte,  dass  es  nicht  Goethe,  sondern  den 
jungen  Grafen  Chr.  Friedr.  von  Stollberg  darstellt,  der 
das  Bild  selbst  radirt  hat.  Damit  wurden  alle  Folgerun¬ 
gen,  die  Schröer  an  das  Bild  knüpfte,  sowie  die  Ein¬ 
wände  Rollett’s  in 
seiner  Zusammenstel¬ 
lung  derGoethe’schen 
Bildnisse  hinfällig. 

Auch  aus  derStraßbur- 
ger  Zeit  hat  sich  keine 
authentische  bildliche 
Darstellung  der  äu¬ 
ßeren  Erscheinung  des 
Dichters  des  Götz  er¬ 
halten,  die  die  beiden 
Töchter  des  Tanz¬ 
meisters  berückte  und 
Friederiken  bezauber¬ 
te  und  die  sein  Tisch¬ 
genosse  Jung  mit  den 
Worten  schilderte: 

„Besonders  kam  einer 
mit  großen  hellen 
Augen,  prachtvoller 
Stirn  und  schönem 
Wixchs  mutig  ins  Zim¬ 
mer,  den  man  Herrn 
Goethe  nannte.“  Eine 
Ahnung  der  herr¬ 
lichen  Züge  über¬ 
kommt  uns  beim  An¬ 
blicke  der  Silhouette, 
die  er  am  31.  August 
1 7 74  an  Lotten  schick¬ 
te  und  mit  den  be¬ 
kannten  V ersen  be¬ 
gleitete,  in  denen  es 
am  Schlüsse  heißt: 

„Ich  schicke  meinen  Schatten  dir! 

Magst  wohl  die  lange  Nase  sehn, 

Der  Stirne  Drang,  der  Lippe  Fleh’n, 

’s  ist  ohngefähr  das  garst’ge  Gesicht, 

Aber  meine  Liebe  siehst  du  nicht.“ 

Eine  Zeichnung,  von  der  Zarncke  gegründete  Ver¬ 
mutung  hegt,  dass  sie  von  der  Hand  Lotten’ s  her¬ 
rühre,  nennen  wir  nur  dieses  Umstandes  wegen.  Die 
Züge  des  Bildes  sind  unbeholfen  und  grob  modellirt, 
und  die  Augen  liegen  zu  tief  in  den  Höhlen.  Die  Wer- 
therzeit  ist  durch  das  sprechend  ähnliche  Relief  JoIl 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  Y.  H.  11. 


Peter  Melchiors  vertreten.  Unterdessen  Eindruck  wird 
es  uns  nicht  schwer  fallen,  die  schlanke,  anmutig 
keck  bewegte  Gestalt  der  Silhouetten  in  ganzer  Figur 
—  Goethe  mit  dem  Degen  oder  vor  der  Büste  oder  mit 
Fritz  von  Stein  —  in  die  Werthertracht  zu  stecken: 

„Gelb  war  des  Toten  Weste 
Und  blau  sein  Rock  von  Tuch“, 

wie  es  im  Liede  heißt; 
dazu  noch  der  runde 
graue  Hut  und  die 
gelben  Hosen,  und 
dies  alles  mit  vier 
mnltiplizirt,  so  ha¬ 
ben  wir  das  Quartett 
der  vier  „Haimons- 
kinder“  Goethe,  Hau  g- 
witz  und  der  beiden 
Stollberg  leibhaftig 
vor  uns,  wie  sie  von 
Frau  Aja  Abschied 
nehmen  und  freiheits¬ 
trunken  Tell’s  Heimat 
zusteuern.  —  Die  kur¬ 
ze  Frankfurter  Zwi¬ 
schenzeit,  in  der  ihn 
Maximiliane  und  Lili 
fesselten,  hat  Wil¬ 
helm  von  Kaulbach’s 
und  Woldemar  Fried- 
rich’s  Bildern  zum 
Vorwurf  gedient,  in¬ 
des  haben  sich  beide 
Künstler  mehr  an  die 
1788  entstandene  Trip- 
juc/’sche  Büste  oder 
deren  von  Tiecl:  her¬ 
rührende  Umarbei¬ 
tung  gehalten,  als  an 
das  1775  gezeichnete 
Profil  SchmoU's,  nach 
dem  später  (1776) 
Chodowiecki  seinen  in  Mund  und  Auge  total  verzeich- 
neten  Stich  ausführte.  Während  sich  Kaulbach  wenig 
um  Porträtähnlichkeit  kümmerte  und  nur  den  Apollo¬ 
typus  in  Gestalt  und  Pose  nach  bekannter  Schablone 
zur  Darstellung  brachte,  hat  Friedrich  in  seinem 
anmutigen  Sitteribilde  sowohl  den  auf  blinkendem 
Stahle  dah erfahrenden  dunkeläugigen  Goethe  wie 
die  im  Stuhlschlitten  sitzende  Maxe,  die  Lotte  von 
Werther’s  zweitem  Teile,  sowie  die  Frau  Aja  den  zeit¬ 
genössischen  Bildern  getreu  abgelauscht. 

33 


Fig.  9.  Goethe;  Marmorhüste  von  Al.  Trippel  (1790). 


258 


GOETBE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


lu  den  ersten  zehn  Jahren  des  Weimarer  Auf¬ 
enthaltes  war  der  Dichter  dem  Angesichte  der  Welt 
gänzlich  entrückt;  es  war  die  schönste  Zeit  seines 
Lebens,  reich  an  innerer,  arm  an  äußerer  Hervor- 
brimruug.  Sein  Genius  bereitete  sich  zu  hohem 
Fluge  und  verbarg  sich  ganz  dem  Auge  der  Welt. 
Während  dessen  schufen  Meisterhände  bedeutende 
Werke  bildender  Kunst,  die  uns  sein  Antlitz  in 
jener  Zeit  überquellender  Jugendlust,  aber  auch  der 
beginnenden  Sänftigung  und  Klärung  zeigen,  in  jener 
Zeit,  der  Wanderers  Nachtlied  entstammt:  „Der  du 
von  dem  Himmel  bist“  und  sein  „Edel  sei  der  Mensch, 
hilfreich  und  gut.“  Das  erste  bedeutende  Bildnis 
jener  Zeit  ist  das  Ölgemälde  von  Melchior  Krauss 
aus  dem  Jahre  1776.  In  fast  ganzer  sitzender  Figur, 
leicht  nach  links  gewendet  in  den  Stuhl  gelehnt, 
den  linken  Arm  auf  einen  Tisch  gestützt,  hält  der 
Dichter  in  der  Rechten  ein  Blatt  mit  einer  Silhou¬ 


ette.  Wie  auf  den  übrigen  Krauss’schen  Bildern  er¬ 
scheint  der  Kopf  im  Profil  und  das  Haar  in  breiter 
Tolle  und  starker  Wulstlocke  über  dem  Ohre.  Das 
Urteil  Bertuch’s  in  einem  Briefe  an  Chodowiecki: 
„Es  ist  nur  ein  einziges  historisches  Porträt  von 
Goethe,  das  ganz  er  ist.  Die  Herzogin- Mutter  be¬ 
sitzt  es;  Herr  Krauss  aus  Frankfurt  hat  es  für  sie 
gemalt“,  sowie  die  Worte  der  Frau  Rat  in  dem 
Briefe  an  die  Herzogin  Amalie,  in  dem  sie  sich  für 
die  Kopie  des  Bildes  bedankt,  fordern  zu  eingehen¬ 
der  Betrachtung  der  Züge  auf. 

In  die  Zeit  von  1778  —  80  fällt  die  Modellirung 
der  ersten  fünf  trefflichen  Büsten  durch  Martin 
Klauer,  deren  Feststellung  Zarncke  erst  nach  mannig¬ 
fachen  Reisen,  wiederholter  Veranstaltung  von  photo¬ 
graphischen  Aufnahmen  und  einer  umfangreichen 
Korrespondenz  gelang. 

(Schluss  folgt.) 


•• 


r 


Studie  von  IIeemann  Baisch. 


Heimaiin  Baisch. 


HERMANN  UND  OTTO  BAISCH. 


lEDERUM  hat  die  Karls¬ 
ruher  Künstlerschaft  einen 
herben,  unersetzlichen  Ver¬ 
lust  zu  beklagen.  Wie  Karl 
Hoff,  ist  auch  Hermann  Baisch 
vor  der  Zeit,  aus  vollem 
Schaffen  heraus  plötzlich 
dahingerafft  worden ;  der 
Genialsten  und  Besten  einer  ist  mit  ihm  aus  un¬ 
serer  Mitte  geschieden.  Doch  nicht  uns  allein, 
Baisch  gehörte  dem  ganzen  deutschen  Volke  an, 
dessen  politische  und  künstlerische  Entwickelung  er 
mit  warmem  Herzen  verfolgte  und  in  dessen  Kunst¬ 
geschichte  er  stets  einen  ehrenvollen  Platz  behaup¬ 
ten  wird.  Die  in  den  Tagesblättern  erschienenen 
Nekrologe  geben  Zeugnis  von  der  hohen  Wert¬ 
schätzung,  die  der  Verewigte  sich  allseitig  zu  er¬ 
werben  gewusst,  von  der  allgemeinen  Teilnahme, 
die  sein  frühzeitiges  Ende  gefunden  hat.  In  der 
Schilderung  der  Lebensumstände  ist  man  dabei  meist 
von  den  Angaben  in  F.  Pecht’s  Geschichte  der 
Münchener  Kunst  im  19.  Jahrhundert  ausgegangen, 
worauf  auch  hier  verwiesen  sei  und  wo  auch  eine 
im  Ganzen  zutreffende  Würdigung  der  künstlerischen 


Eigenschaften  Baisch’s  gegeben  ist.  Wie  viel  er 
den  Meistern  des  französischen  paysage  intime  ver¬ 
dankt,  wie  bestimmend  der  Pariser  Aufenthalt  von 
1868  und  die  Bekanntschaft  mit  den  Werken  der 
sogen.  Schule  von  Fontainebleau  auf  ihn  gewirkt 
hat,  ist  von  Baisch  selbst  stets  dankbar  anerkannt 
worden.  Er  durfte  sich  rühmen,  einer  der  Ersten 
gewesen  zu  sein,  die  die  französische  Freilicht¬ 
malerei  auf  deutschen  Boden  verpflanzt  und  eigen¬ 
artig  verarbeitet  haben.  Ein  glückliches  Geschick 
ist  es  zu  nennen,  dass  er  in  München,  wohin  er 
zunächst  übergesiedelt  war,  in  die  Bahnen  Adolf 
Lier’s  geriet,  der  aus  derselben  Quelle  geschöpft 
und  neben  Baisch  eine  Anzahl  gleichstrebender 
Schüler,  Gustav  Schönleber  an  der  Spitze,  um  sich 
gesammelt  hatte. 

Den  zweiten  Hauptfaktor  in  der  Entwickelung 
des  jugendlichen  Künstlers  bildete  das  Studium  der 
holländischen  Meister  und  zugleich  die  Bekannt¬ 
schaft  mit  der  duftumflossenen ,  stimmungsvollen 
Landschaft  in  der  Heimat  eines  Cuyp  und  Potter. 
Wie  eine  Offenbarung  wirkte  auf  ihn  der  eigen¬ 
artige  und  anspruchslose  Reiz  jener  Gegenden,  deren 
natürliche  lebende  Staffage  in  seinen  Bildern  all- 


33 


260 


HERMANN  UND  OTTO  BAISCH. 


mählich  einen  immer  breiteren  Raum  einzunehmen 
begann,  so  dass  er  bald  zu  den  ersten  Tiermalern 
Deutschlands  gerechnet  werden  konnte.  Die  meisten 
kennen  in  Baisch  nur  den  Tiermaler,  und  auch 
R.  Muther  hat  geglaubt,  ihm  den  Vorwurf  einer 
gewissen  Eintönigkeit  in  dieser  Beziehung  nicht 
vorenthalten  zu  sollen.  Wie 
ungerechtfertigt  diese  Beur¬ 
teilung  ist,  zeigt  sich  gerade 
jetzt,  nachdem  die  treue 
Freundeshand  Schönleber’s 
hervorgesucht  und  übersicht¬ 
lich  vereinigt  hat,  was  sich 
an  Skizzen,  Entwürfen  und 
Studien  aller  Art  in  den 
Mappen  und  Schränken  des 
V  erewigten  vorfand.  Hier 
überblickt  man  so  reclit  alle 
Seiten  dieser  so  mannigfal¬ 
tig  veranlagten  Künstlernatur. 

Land  und  Meer,  Fleide  und 
Moor,  Wiese  und  Wald,  Feld 
und  Au,  alle  Gebiete  des  Na¬ 
turlebens  erfasste  sein  Auge 
mit  gleicher  Liebe,  wusste 
sein  Pinsel  mit  gleicher  Treue 
auf  die  Leinwand  zu  zaubern. 

Daneben  herrliche  Tierstücke 
voll  Leben  und  Beobachtung. 

Ein  Künstler,  der  Bilder  von 
so  verschiedenem  Charakter 
wie  „Die  Tauholer“  der  Ber¬ 
liner  Nationalgalerie  oder  die 
jüngst  auf  Befehl  des  Grol.h 
herzogs  aus  dem  Nachlasse  des 
Künstlers  für  die  Karlsruher 
Kunsthalle  erworbene  „Heim- 
kehreude  ILnderherde  im  Früh¬ 
ling“  hervorbringen  konnte, 
sollte  billigerweise  vom  Vor¬ 
wurfe  der  Einseitigkeit  ver¬ 
schont  bleiben.  Baisch  nur 
nach  seinen  Tierstücken  beur¬ 
teilen,  heißt  den  Jjandschafter  Baisch  verkennen, 
der  es  wie  wenige  unter  den  Zeitgenossen  verstan¬ 
den  hat,  beide  Elemente  seiner  Kunst  zu  ver¬ 
schmelzen.  dVeu  und  schlicht,  wie  das  Wesen  des 
.Mannes,  war  seine  Kunst.  Hierin  beruht  denn  auch 
seine  hohe  Bedeutung  als  Lehrer  der  heranwach- 
senden  akademischen  .lugend.  Gerade  in  jetziger 
Zeit,  wo  alles  in  Gährung  und  Umschwung  begriffen 


ist,  wo  unter  der  Flagge  des  Pleinairismus,  Impres¬ 
sionismus  etc.  so  manche  traurige  Ware  in  den 
Hafen  der  Kunst  eingeschmuggelt  wird,  gerade  heut¬ 
zutage  sind  Künstler  wie  Baisch  als  Leuchttürme 
im  akademischen  Leben  unentbehrlich  und  doppelt 
schwer  zu  ersetzen,  wenn  ihr  Licht  erloschen  ist. 

Den  berechtigten  Bestrebun¬ 
gen  der  Modernen  gegenüber 
hat  sich  Baisch  niemals  ab¬ 
lehnend  verhalten;  war  er 
doch  selbst,  wie  erwähnt,  einer 
der  Ersten,  der  Luft  und  Licht 
in  die  dumpfen  Atelierräume 
hineinließ  und  seine  Bilder 
im  Freien  gemalt  hat.  Sein 
feines  künstlerisches  Empfin¬ 
den,  seine  wahre  und  ofiFene 
Art  machten  ihn  aber  von 
vornherein  zu  einem  ausge¬ 
sprochenen  Gegner  aller  Über¬ 
treibungen  und  jenes  markt¬ 
schreierischen  Künstlertums, 
das  nur  eine  Parole  kennt: 
Aufsehenerregen  um  jeden 
Preis.  Seine  Werke  waren 
der  lebhafteste  Protest  da¬ 
gegen,  und  seine  Schüler  ha¬ 
ben  ihn  verstanden.  In  die¬ 
sem  Geiste  hat  er  während 
seiner  zwölfjährigen  Thätig- 
keit  an  der  Karlsruher  Kunst¬ 
akademie  segensreich  gewirkt, 
und  kein  Auge  blieb  thränen- 
leer,  als  Fritz  Kallmorgen  am 
offenen  Grabe  in  schlichten, 
tief  empfundenen  Worten  der 
unauslöschlichen  Dankbarkeit 
aller  derer  Ausdruck  gab,  die 
in  Baisch  den  Lehrer,  Freund 
und  Berater  verloren  haben. 
Und  doch,  was  uns  von  ihm 
geblieben,  ist  wahrlich  nicht 
wenig:  es  ist  die  Erinnerung 
an  einen  guten  Menschen  und  trefflichen  Künstler, 
es  ist  die  Freude  an  seinen  Werken,  die  ihren  Schöp¬ 
fer  überleben.  Oe. 

*  * 

* 

Über  den  Brüdern  Otto  und  Hermann  Baisch, 
deren  Kunst  so  sonnig  und  heiter  war,  hat  ein 
dunkles  Verhängnis  gewaltet.  Sie,  die  im  Leben 


.Stiiilie  von  Hermann  Baisch. 


HERMANN  UND  OTTO  BAISCH. 


261 


eng  lind  innig  mit  einander  verbunden  waren,  sind 
im  Tode  schneller  vereinigt  worden,  als  es  der  Über¬ 
lebende  der  Brüder  geahnt  haben  mochte.  Als 
man  das  Grabmal  des  älteren  in  Stuttgart  einweihte, 
traf  den  jüngeren  der  Hauch  des  Todes.  Er  wurde 
ein  Opfer  der  Pietät,  der  Dankbarkeit  gegen  den 
Bruder,  der  einst  in  schwierigen  Zeiten  durch  rüstige 
Thätigkeit  der  des  Ernährers  beraubten  Familie 
den  Kampf  nms  Dasein  erleichtert  hatte.  Das  Grab¬ 
denkmal  auf  dem  Friedhofe  in  Stuttgart  erhält  nur 
einem  kleinen  Kreise  teilnehmender  Freunde  und 
Bernfsgeno.ssen  des  dahiugeschiedenen  Dichters  und 
Journalisten,  der  zuletzt  in  Stuttgart  die  Zeitschrift 
„Über  Land  und  Meer“  leitete,  die  Erinnerung  an 
einen  ungemein  vielseitigen,  dichterisch  und  künst¬ 
lerisch  gleich  begab¬ 
ten.  aber  immer  auf 
Bescheidenheit  und 
Resignation  gestimm¬ 
ten  Mann.  Sein  Ge¬ 
dächtnis  aber  auch 
der  großen  Gemeinde 
aller  Freunde  ecliter 
Poesie  und  Kunst  be¬ 
wahrt  zu  haben,  ist 
eines  der  letzten  Ver¬ 
dienste  des  Malers 
Hermann  Baisch,  das 
uns  heute  bereits  im 
Lichte  eines  V ermächt- 
nisses  erscheint. 

Die  angestrengte 
Thätigkeit  eines  Re¬ 
dakteurs  zweier  großer  Wochenschriften,  die  derLitte- 
ratur  und  der  Kunst  zugleich  gewidmet  sind,  hatte 
Otto  Baisch  zwar  nicht  völlig  von  eigenem  poetischen 
Schaffen  ferngehalten,  ihn  aber  nicht  dazu  kommen 
lassen,  das  in  den  wenigen  Stunden  glücklicher 
Stimmung  und  fruchtbarer  Muße  Entstandene  zu 
sichten,  zu  ordnen  und  zu  einem  Strauße  zusammen¬ 
zubinden.  Erst  im  letzten  Sommer  seines  Lebens 
kam  er  dazu,  eine  Auswahl  aus  seinen  Gedichten 
und  Liedern  zu  treffen,  und  da  er  immer  bestrebt 
war,  eine  Kunst  durch  die  andere  zu  ergänzen,  bat 
er  seinen  Bruder  Hermann,  seine  dichterischen  Em¬ 
pfindungen,  die  zugleich  den  Reiz  des  Musikalischen 
hatten,  mit  Zeichnungen  zu  begleiten,  in  denen  sich 
gewissermaßen  die  dichterische  Stimmung  mit  dem 
Naturobjekt  zu  einer  vollkommenen  Einheit  ver¬ 
schmelzen  sollte.  Die  ersten  Proben  der  Zeichnungen 
seines  Bruders  gefielen  Otto  Baisch  so  gut,  dass  er 


sich  mit  dem  angeschlagenen  Ton  einverstanden  er¬ 
klärte.  Die  Vollendung  hat  er  nicht  mehr  erlebt,  da 
ihn  ein  plötzlich  aufgetretenes  Leiden  am  18.  Oktober 
1 892,  im  Alter  von  52  Jahren,  in  wenigen  Tagen  auf¬ 
rieb.  Mit  um  so  größerem  Eifer  widmete  sich  Her¬ 
mann  Baisch  der  Aufgabe,  dem  letzten  Vermächt¬ 
nis  des  Bruders  eine  künstlerische  Erscheinungsform 
zu  geben,  die  noch  über  die  Wünsche  des  Verstor¬ 
benen  hinausging.  Zu  Weihnachten  vorigen  Jahres 
gab  die  deutsche  Verlagsanstalt  in  Stuttgart,  der 
Otto  Baisch  die  letzten  .sieben  Jahre  seiner  Thätig¬ 
keit  gewidmet  hatte,  unter  dem  Titel:  „Lieder  und 
Sinnsprüche“  von  Otto  Baisch  ein  kleines  Pracht¬ 
werk  heraus,  dessen  vornehmster  Schmuck  die  Feder¬ 
zeichnungen  und  Radirungen  von  Hermann  Baisch 

bilden. 

Hermann  Baisch 
war  bis  dahin  als  Ra- 
direr  nur  wenig  her¬ 
vorgetreten.  Wie  wir 
aus  den  Blät  tern,  deren 
eines  wir  diesen  Zeilen 
beigeben,  ersehen, hält 
Baisch  sehr  glücklich 
die  Mitte  zwisclien 
der  älteren  Richtung, 
die  sich  in  der  De- 
taillirung  nicht  ge¬ 
nug  thun  kann,  und 
der  modernen  Origi- 
nalradirung,  die  mit 
wenigen  Nadelrissen 
nur  den  Gedanken  und 
die  Umrisse  der  Landschaftsformen  angiebt  und  die 
Ausfüllung  des  Gerippes  mit  Blut,  Fleisch  und 
Leben  dem  Atzwasser,  der  Farbe  und  dem  Geschick 
des  Druckers  überlässt.  Einige  der  Radirungen 
von  Hermann  Baisch  haben  sogar  etwas  von  der 
malerischen  Weichheit  der  Lithographie,  die  ihrer 
Wirkung  nur  zum  Vorteil  gereicht.  Die  Litho¬ 
graphie  war  die  Kunst  des  Vaters  gewesen,  und  ihr 
waren  auch  die  Söhne  nicht  fremd  geblieben.  Otto 
Baisch  hatte  Jahre  lang  als  Lithograph  gearbeitet, 
ehe  er  sich,  freilich  zu  spät,  um  darin  seinen  letzten 
Beruf  zu  finden,  der  Malerei  widmen  konnte,  und 
Hermann  Baisch  hat  von  Vater  und  Bruder  eben¬ 
falls  die  ersten  Handgriffe  und  Ausdrucksmittel  der 
Kunst  gelernt,  bevor  er  sich,  darin  der  Glück¬ 
lichere  der  beiden,  auf  der  Kunstschule  in  Stuttgart 
zum  Maler  ausbilden  konnte. 

Obwohl  sie  sich  beide  viel  in  der  Welt  herum- 


262 


EIN  HOLLÄNDISCHES  REGENTENBILD  VON  ALLART  VAN  LOENINGA. 


getrieben  haben,  ist  ihnen  das  Erbteil  der  Eltern, 
das  frohgemute  schwäbische  Temperament,  treu  ge¬ 
blieben:  dem  einen  in  der  nüchternen  Luft  eines 
Berliner  Redaktionsbureaus  und  auf  den  sonstigen 
steinigen  Pfaden  des  deutschen  Journalismus,  dem 
anderen  auf  seinen  häufigen  Studienreisen  nach  Hol¬ 
land,  aus  dessen  Viehtriften,  Kanälen,  Dünen  und 
Strandebenen  Hermann  Baisch  viel  goldig  und  silbern 
funkelnde  Poesie  herausgeschlagen  hat.  Wie  ein¬ 


mütig  sich  die  Brüder  in  ihrem  Naturempfinden  zu¬ 
sammengedacht  und  gelebt  hatten,  dafür  ist  ihr  ge¬ 
meinsames  Werk,  dessen  Hauptbestandteil  eine  lyrisch¬ 
malerische  Schilderung  der  vier  Jahreszeiten  „Im 
Kreislauf  des  Jahres“  bildet,  ein  psychologisch,  poe¬ 
tisch  und  künstlerisch  gleich  fesselndes  Denkmal, 
das  in  der  deutschen  Litteratur  bis  auf  weitere,  will¬ 
kommene  Nachahmung  vereinzelt  dasteht. 

Ä.  R. 


EIN  HOLLÄNDISCHES 

REGENTENBILD  VON  ALLART  VAN  LOENINGA.') 

MIT  ABBILDUNG. 


CHT  Personen  sind  es,  welche 
uns  der  Middelburger  Meis¬ 
ter  Allart  van  Loeninga  im 
Jahre  1635  n.  Chr.  in  feier¬ 
licher  Sitzung  vorführt.  Wir 
sehen  Männer  von  germa¬ 
nischem  Schrot  und  Korn, 
wettergebräunte  Seekapi¬ 
täne  aus  einem  der  am  weitesten  nach  Westen  vorge¬ 
schobenen  Plätze  Hollands,  die  unter  ihrem  Bürger¬ 
meister,  dem  dreiundsiebenzigjährigen  Marcus  de  la 
Pahna,  welcher  von  1607  bis  1640  nicht  weniger  als 
zwülfmal,  nämlich  1607  das  erste,  1610  das  zweite  und 
1640  das  letzte  Mal,  innerhalb  des  Ratskollegiums  den 
verantwortungsvollen  Posten  eines  dirigirenden  Stadt¬ 
oberhauptes  von  Middelburg  einnahm,  am  grünen 
Tisch  zusammengetreten  sind,  um  ihre  herkömm- 
liche  Gildensitzung  zu  halten.  Sie  haben  ihr  Fest¬ 
gewand  von  Sammet  und  Seide  angelegt,  und  breite 
Mülilsteinkragen  von  tadelloser  Fältelung  und  Sauber¬ 
keit  decken  den  Hals.  Der  Bürgermeister  sitzt  in 
einem  schon  geschnitzten  und  mit  einem  Purpur¬ 
kissen  belegten  Stuhl  links  im  Bilde,  ein  feiner 
durchgeistigter  Kopf,  ernst  und  milde  blickend,  von 
blasser  Hautfarbe,  ein  erfahrener  alter  Rechtsgelehr¬ 
ter,  vom  Jahre  1562  her  am  Leben  und  zuletzt  alt 
und  grau  geworden  in  den  Sturmzeiten  der  hollän¬ 
dischen  Geschichte.  Man  sieht  es  ihm  an,  dass  das. 


1)  Das  Bild  ist  auf  Eichenholz  gemalt,  1,02  hoch  und 
2,10  breit. 


was  er  erlebt  hat,  nicht  von  gewöhnlicher  Art  war. 
Hinter  seinem  Stuhl  steht  der  Knappe  oder  Diener 
der  Schiffergilde,  Gillis  Gysbrecht  Potter,  auch  er 
ein  Charakterkopf.  Wer  weiß,  ob  er  nicht  mit  seinen 
Herren,  den  Seekapitänen,  manchen  Strauß  zu  Wasser 
xind  zu  Lande  ehrlich  geteilt  hat;  denn  ebenso  fest 
und  tüchtig,  ebenso  welterfahren  und  wettergebräunt 
wie  diese,  schaut  auch  er  ins  Leben.  Und  nun  folgen 
nach  rechts  hin  seine  Herren,  sog.  privilegirte  Beurt- 
oder  Rangschiffer  von  Middelburg,  in  deren  Händen 
der  Seeverkehr  der  Vaterstadt  lag.  Was  für  präch¬ 
tige  vertrauenswürdige  Männer  voll  Kraft  und  Intel¬ 
ligenz,  dazu  gesegnet  mit  derben  Händen,  die  an¬ 
scheinend  auch  der  schwersten  Arbeit  nicht  aus  dem 
Wege  gingen!  Richtige  Helden  der  Nordsee!  Der 
erste  neben  dem  Bürgermeister  heißt  Dirk  Wouters, 
ein  Mann  mit  dunkelblondem  Haupt-  und  Barthaar, 
der  ungefähr  fünfzig  Jahre  zählen  mag.  Ihm  folgt 
der  ältere  Joost  Dircksen  mit  kurz  geschorenem, 
dicht  gewachsenem,  aber  längst  eisgrau  gewordenen 
Haupt-  und  Barthaar,  eine  ehrliche  Haut  mit  treuen 
blauen  Augen.  Und  was  für  Fäuste  sind  es,  über  die 
er  verfügt!  Neben  ihm  sitzt  ein  stattlicher  jüngerer 
Mann  mit  dunkelbraunem  Haupt-  und  Barthaar,  es 
ist  Tuenis  Pen.  Diesem  folgt  Jan  Stevens,  das  we¬ 
nigst  anziehende  und  doch  eines  begründeten  Selbst¬ 
gefühles  nicht  entbehrende  Gesicht.  Diese  bisher 
erwähnten  vier  Schiffer  sitzen  jenseits  des  mit  grüner 
Tuchdecke  versehenen  Tisches,  auf  dem  ein  rot  ge¬ 
schnittenes  aufgeschlagenes  Gildenbuch,  ein  zinnernes 
Tintefass,  ein  Stempel  oder  Siegel  und  einige  Gold- 


EIN  HOLLÄNDISCHES  REGENTENßILD  VON  ALLART  VAN  LOENINOA. 


263 


dukaten  liegen;  der  nun  folgende  fünfte  Kapitän, 
Rein  Tueniss,  sitzt  diesseits  des  Tisches  auf  einem 
ähnlichen  Stuhl,  wie  ihn  der  Bürgermeister  hat. 
Sein  Haupt  ist  kahl  geworden,  aber  sein  hellblonder 
Schnurr-  und  Backenbart  stehen  ihm  vortrefflich, 
und  aus  einem  wohlgebauten  Kopf  schauen  so  kluge 
Augen  heraus,  dass  man  ihm  wohl  eine  besondere 
Bedeutung  in  der  Gilde  Zutrauen  möchte.  Als  jüngstes 
Mitglied  der  letzteren  erscheint  endlich  Joost  Pen 
mit  braunem  Haupt-  und  Barthaar.  Er  wird  ein 
naher  Verwandter,  vielleicht  gar  ein  Bruder  des 
Tuenis  Pen  sein,  wenn  die  Ähnlichkeit  nicht  trügt. 

Die  Schütter-,  Regenten-  und  Regentessen-Bilder 
sind  und  bleiben  mit  Recht  der  Stolz  der  holländi¬ 
schen  Städte.  Diese  Bilder  sind  Zeugen  und  Zeugnisse 
jener  wichtigen  Zeit,  in  welcher  das  kleine  Land  an 
der  Entwickelung  der  Weltgeschichte  den  größten 
Anteil  hatte  und  der  neueren  Kunst  ihre  Bahnen 
anwies.  Kein  Wunder,  dass  diese  Schätze  heute  mit 
Argusaugen  gehütet  werden. 

Wie  ist  es  denn  aber  gekommen,  dass  Middel¬ 
burg  dieses  Bild,  welches  einstmals  in  seinen  Mauern 
war  und  das  einen  der  besten  und  stolzesten  Stände 
von  Hollands  Land  und  Leuten,  den  der  Seekapitäne 
repräsentirt,  aus  seinen  Fingern  ließ? 

Die  näheren  Umstände  können  hier  nicht  ange- 
geben  werden,  weil  sie  dem  Verfasser  dieser  Zeilen 
nicht  bekannt  sind.  Gewiss  aber  war  einer  der 
Gründe  der  Nichtbeachtung  des  Bildes  der,  dass  bis 
vor  kurzem  Niemand  wusste,  wer  die  Dargestellten 
seien  und  wer  das  Bild  gemalt  habe.  Als  ein  durch 
vielmaliges  Überfimissen  dunkel  und  schmutzig  ge¬ 
wordenes,  auf  seiner  rechten  Seite  hie  und  da  auch 
übermaltes  Bild  kaufte  es  der  Vorstand  des  Rotter¬ 
dam  er  Kunstklubs,  Herr  Joseph  de  Kuyper.  Dieser 
erzählte  mir  davon,  und  ich  empfahl  es  dem  Herrn 
Ferdinand  Meyer  anzuvertrauen,  einem  mit  der  Gro߬ 
herzoglichen  Museumsverwaltung  vielfach  in  Ver¬ 
bindung  stehenden,  tüchtigen  und  gewissenhaften 
Künstler,  der  sich  die  bei  uns  befolgten  Reinigungs¬ 
und  Restaurirmethoden  vollkommen  zu  eigen  ge¬ 
macht  hat.  Das  geschah  im  Sommer  vorigen  Jahres. 
Die  Reinigung  gelang  vorzüglich,  und  dabei  kam  alles 
nur  Wünschenswerte  zum  Vorschein.  Die  schwarze 
Hinterwand,  auf  welcher  die  Köpfe  wie  undeutliche 
Flecke  erschienen,  entpuppte  sich  als  ein  wohlerhalte¬ 
ner  hellgrauer  Hintergrund,  von  dem  sich  die  Köpfe 
leicht  und  in  kräftiger  plastischer  Wirkung  ablösen, 
und  der  koloristisch  zu  dem  Schwarz  von  Sammet 
und  Seide,  dem  Grün  des  Tisches,  dem  Goldbraun 
der  Stühle  und  dem  Rot  des  Kissens  und  des  Buch¬ 


schnittes  ganz  vortrefflich  stimmt.  An  den  Gewän¬ 
dern  kamen  die  Falten  und  Knöpfe  zum  Vorschein, 
von  denen  man  vorher  nichts  gesehen  hatte.  Rechts 
war  die  Stuhllehne  des  Rein  Tuenis  sowie  das  Ende 
des  Tisches  und  der  grünen  Decke  schwarz  übermalt 
worden,  sodass  man  Anfangs  nicht  wusste,  wie  Tisch 
und  Gestalten  zu  einander  ins  Verhältnis  gesetzt 
seien.  Auf  den  beiden  aufgeschlagenen  Seiten  des 
Gildenbuches  wurden  die  Namen  der  Dargestellten 
vollkommen  deutlich,  während  vorher  nur  die  Jahres¬ 
zahl  1635  sichtbar  war.  Das  beste  aber  war,  dass 
die  Köpfe  von  Gillis  Gysbrecht  Potter,  Marcus  de 
la  Palma,  Dirk  Wouters,  Joost  Dircksen,  Tuenis  Pen 
wohlerhalten  und  nie  von  einer  Retouchirung  be¬ 
rührt,  zum  Vorschein  kamen  und  dass  an  denen  von 
Jan  Stevens,  Rein  Tuenis  und  Joost  Pen  die  Be¬ 
schädigungen  so  geringfügiger  Art  waren,  dass  auch 
sie  in  der  Ursprünglichkeit  der  Wirkung  keine  Ein¬ 
buße  erlitten  haben.  Dazu  fand  sich  oben  links  der 
volle  Name  des  Malers  A.  v.  Loeninga  (das  A,  V,  L 
in  Ligaturk  Kurzum,  die  Restaurirung  des  Bildes 
hatte  einen  so  glücklichen  Erfolg  wie  er  selten  vor¬ 
kommt. 

Mit  dem  Namen  des  A.  van  Loeninga  aber  er¬ 
gab  sich  der  erste  Anhalt  zur  näheren  Bestimmung 
des  Bildes.  Freilich  wusste  man  bis  dahin  von  dem 
Meister  gar  nichts.  Die  zeitgenössischen  Kunst¬ 
schriftsteller  haben  ihn  übersehen,  und  infolge  da¬ 
von  existirt  er  bis  heute  in  keinem  unserer  Lexika. 
Aber  eine  Viertelstunde  nach  der  Auffindung  seines 
Namens  hatte  ich  ihn  bereits  im  Obreen  sehen  Archiv 
gefasst.  Dort  hat  er  in  dem  von  dem  fleissigen 
Bredius  veröffentlichten  Gildenbuch  von  Middelburg 
seinen  Platz.  Vgl.  Bd.  VI  (1884—1887),  S.  170,  172, 
174,  175,  178,  263.  Darnach  gehört  er  bereits  im 
Jahre  1639  zum  Vorstand  der  Lukasgilde,  ist  1640 
zum  erstenmal,  1647  zum  zweitenmal  Dekan,  und 
zählt  in  einer  Rechnung  der  Gilde,  welche  vom 
5.  Januar  1649  bis  zum  letzten  November  1650  läuft, 
bereits  zu  den  Toten. 

Ein  Regentenbild  von  einem  Middelburger  Meis¬ 
ter  ließ  denn  auch  sofort  vermuten ,  dass  das  dar¬ 
gestellte  Kollegium  der  Stadt  Middelburg  angehören 
müsse.  Ich  sprach  diese  Vermutung  in  der  Zeit¬ 
schrift  „Oud- Holland“  1892,  S.  131  aus,  und  die 
sofort  von  Herrn  Stadtarchivar  M.  H.  van  Visvliet 
angestellten  Nachforschungen  im  Middelburger  Ar¬ 
chiv  ergaben  alle  nur  wünschenswerte  Bestätigung. 
Vgl.  Middelburg’sche  Courant  1892,  N.  168  und  200; 
Nieuwe  Rotterdam’sche  Courant  1892,  N.  309.  Herr 
M.  H.  van  Visvliet  fand  die  Namen  des  Bürger- 


l’u'griiteiibilcl  von  Ai.i.Anr  van  Loeninv.. 


•264 


EIN  HOLLÄNDISCHES  REGENTEN  BILD  VON  ALLAKT  VAN  LOENINGA. 


meisters,  der  Schiffer  Wouters,  Ste¬ 
vens,  Tennis,  Pen  und  des  Dieners 
der  Schitfergilde  und  zwar  letzteren 
mit  dem  vollen  Namen  Gillis  Gys- 
brecht  Potter,  während  im  Bilde 
auf  der  aufgeschlagenen  Seite  des 
Buches  nur  Gillis  Gysbrecht  zu 
lesen  ist.  Er  fand  ferner,  dass  die 
Gilde  bis  zum  Jahre  1646  hin  jedes¬ 
mal  den  dirigirenden  Bürgermeister 
zu  ilirem  Dekan  machte,  während 
sie  vom  Jahre  1646  an  ihren  De¬ 
kan  aus  sich  selber  erwählte.  In 
der  That  alle  nur  wünschenswerte 
Aufklärung. 

Sehen  wir  die  Kunst  des  Loe- 
ninga  näher  an,  so  finden  wir, 
dass  sie  der  des  Miereveld  am  ver¬ 
wandtesten  ist  und  dass  er  in  die 
Gruppe  jener  Meister  der  ersten 
Hälfte  des  XVII.  Jhdts.  gehört,  als 
deren  Chorführer  der  letztgenannte 
gilt.  Jedoch  zeigt  er  sich  auch 
von  dem  Geiste  der  etwas  jüngeren 
Porträtistenschule  berührt,  deren 
hervorragendste  Führer  Frans  Hals 
und  Rembrandt  sind.  Gediegene 
Zeichnung  und  Modellirung  der 
Köpfe,  wie  Miereveld  sie  in  seinen 
besten  Werken  erstrebt,  ist  auch 
Loeninga’s  Eigenart,  dabei  eine  ein¬ 
dringende  Charakteristik  in  echt 
germanischem  Sinne.  In  Neben¬ 
sachen  — •  als  solche  sieht  er  auch 
die  Hände  an  —  ist  er  derbe.  Auch 
Miereveld  ist  oft  recht  derbe.  Dass 
aber  Loeninga  nach  Art  der  Jünge¬ 
ren  seiner  Zeit  auch  mit  leichter 
und  flotter  Hand  die  Formen  zu  be¬ 
herrschen  vermag,  beweist  er  be¬ 
sonders  in  den  drei  letzten  Köpfen 
rechts.  Weit  mehr  als  die  ersten 
fünf  Köpfe  erinnern  diese  an  die 
geschickte  Art  des  Frans  Hals,  man 
denkt  bei  ihnen  unwillkürlich  an 
das  erste  große  Bild  des  letzteren 
im  Museum  zu  Haarlem  vom  Jahre 
1616,  ja,  es  sieht  fast  aus,  als  ob 
der  Maler  mit  ihnen  im  Punkte  der 
Technik  etwas  Besonderes  habe  be¬ 
weisen  wollen.  Jedoch  ist  dieser 


DIE  HOLZBAUKUNST  NORWEGENS  IN  VERGANGENHEIT  UND  GEGENWART. 


265 


Unterschied  in  der  Behandlung  für  die  Gesaint- 
wirkung  durchaus  nicht  störend.  Die  koloristischen 
Vorzüge  des  Werkes  sind  oben  bereits  hervorge¬ 
hoben.  Loeninga  ist  ein  Meister,  über  dessen  kunst¬ 
geschichtliche  Auferstehung  man  sich  freuen  kann. 
Er  wird  ohne  Zweifel  noch  andere  tüchtige  Porträts 
in  großer  Zahl  geschaffen  haben,  die  zur  Zeit  ent¬ 
weder  ohne  oder  mit  falschem  Namen  in  den  Samm¬ 
lungen  hängen.  Hoffentlich  trägt  das  wieder  aufge¬ 
fundene  beglaubigte  und  datirte  Werk  des  Meisters 
dazu  bei,  mit  Irrtümern  aufzuräumen,  die  auch  dem 


Material  der  neueren  Kunstgeschichte  in  übergroßer 
Masse  anhaften.  Zu  diesem  Zwecke  wäre  es  gut, 
wenn  Holland  das  Werk  festhielte.  Denn  dort  giebt 
es  immer  noch  die  meisten  Porträts,  welche  „unbe¬ 
kannt“  sind  und  ihrer  Bestimmung  harren,  dort 
werden  auch  ohne  Zweifel  noch  Werke  des  Loeninga 
sein,  die  Niemand  kennt.  Sollte  Holland  seine  Middel- 
burger  Seekapitäne  samt  ihrem  feinen  und  klugen 
Bürgermeister  Marcus  de  la  Palma,  ohne  sich  zu 
rühren,  ins  Ausland  fahren  lassen  ?  Hoffentlich  nicht 
Schwerin.  FRIEDRICH  SCHEIE. 


DIE  HOLZBAUKUNST 

NORWEGENS  IN  VERGANGENHEIT  UND  GEGENWART.’) 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ÜR  Alles,  was  mit  dem  Holz¬ 
werk  und  Holzbau,  den  Kin¬ 
dern  des  Waldes,  irgendwie 
zusammenhängt,  lebt  in  uns 
Deutschen,  wie  in  den  stamm¬ 
verwandten  Skandinaviern, 
eine  durch  tausendjährige 
Überlieferung  bewahrte  Vor¬ 
liebe.  Der  Binnenländer,  der  aus  Balken  und  Bret¬ 
tern  sich  sein  Haus  zimmert,  und  der  Seefahrer,  der 
die  gebogenen  Balken  und  Bohlen  zum  Boote  zu¬ 
sammenfügt:  sie  beide  sind  Meister  einer  uralten, 
echt  volkstümlichen  Kunst,  die  in  phantastisch  ver¬ 
schlungenem  Schnitzwerk  und  Malerei  ihre  nicht 
minder  primitiven  und  eigenartigen  Verzierungen 
besitzt. 

Wiederholt  haben  deutsche  wie  skandinavische 
Forscher,  Gelehrte  und  Künstler,  den  Denkmälern 
dieser  Gattung  ihr  Studium  zugewendet.  Das  be¬ 
kannte  Werk  von  Dahl  (1837)  gab  den  ersten  An¬ 
stoß.  Unter  den  Nordländeim  hat  zunächst  Nico- 
laysen  grundlegende  Arbeiten  über  den  Gegenstand 
geliefert  (1854 — 80).  Es  folgten  die  gei.stvollen  Be¬ 
merkungen  Semper’s  im  „Stil“  (1863),  die  verdien.st- 
lichen  Vorträge  von  Lehfeldt  (1880)  und  eine  Reihe 

1)  Von  Prof.  Dr.  L.  Dietrichson  und  Architekt  H.  Munthe 
in  Christiania.  Mit  einer  Übersichtskarte  und  31  Tafeln, 
sowie  über  220  Textabbildungen.  Berlin,  Schuster  &  Bufleb, 
1893.  Fol.  M.  45.— 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  11. 


von  Spezialschriften  und  Abhandlungen,  zu  denen 
auch  diese  Zeitschrift  ihr  Kontingent  gestellt  hat. 

Aber  das  Hauptverdienst  um  die  wissenschaft¬ 
liche  Bearbeitung  aller  in  das  Gebiet  der  nordischen 
Holzarchitektur  einschlägigen  bautechnischen  und 
haugeschichtlichen  Fragen  erwarb  sich  der  erst¬ 
genannte  Herausgeber  des  vorliegenden  trefflichen 
Werkes,  der  Professor  der  Kunstgeschichte  an  der 
Universität  Christiania,  Dr.  L.  Dietrichsou.  Er  be¬ 
reicherte  vornehmlich  die  Litteratur  über  die  alten 
Holzkirchen  Skandinaviens  mit  einer  Anzahl  selb¬ 
ständiger  Forschungsergebnisse,  die  teils  in  beson¬ 
deren  Abhandlungen,  teils  in  schwedischen,  norwe¬ 
gischen  und  französischen  Zeitschriften  erschienen 
sind ,  und  dehnte  dann  seine  Studien  auch  auf  das 
Gebiet  der  profanen  Holzhaukunst  des  Nordens  und 
auf  deren  Fortleheu  in  der  Gegenwart  aus,  um  schlie߬ 
lich  das  Gesamtergebnis  dieser  Arbeiten  dem  Publi¬ 
kum  in  einer  deutschen  Ausgabe  vereinigt  vorzu¬ 
führen.  Als  Präludium  zu  derselben  darf  der  hoch¬ 
interessante  Vortrag  gelten,  den  uns  Dietrichson 
letzten  Herbst  auf  dem  kunsthistorischen  Kongress 
in  Nürnberg  hielt  und  der  in  der  Münchener  „All¬ 
gemeinen  Zeitung“  sowie  im  „Offiziellen  Bericht“ 
über  die  Verhandlungen  des  Nürnberger  Kongresses 
zum  Abdruck  gekommen  ist.  Was  dort  in  Kürze 
zusammengefasst  war,  erscheint  in  der  vorliegenden 
Publikation  ausführlich  begründet,  durch  einen  rei¬ 
chen  gelehrten  und  künstlerischen  Apparat  erläutert, 

34 


266 


DIE  HOLZBAUKUNST  NORWEGENS  IN  VERGANGENHEIT  UND  GEGENWART. 


in  ebenso  wisssenscbaftlicb  musterhafter  wie  schrift¬ 
stellerisch  ansprechender  Form. 

Das  Werk  zerfällt  in  drei  zu  einem  Bande  ver¬ 
einigte  Teile.  Der  erste  derselben  ist  eine  Über¬ 
setzung  und  teilweise  Neubearbeitung  des  Werkes 
über  die  nordischen  Holzkirchen,  welches  der  Ver¬ 
fasser  unter  dem  Titel  „De  norske  Stavkirker“  her¬ 
ausgegeben  hat.  Die  Bearbeitung  ist  durch  Beigabe 
von  fünf  Tafeln  mit  Portalbildungen  wesentlich  be¬ 
reichert,  dagegen  im  Text  nicht  unerheblich  gekürzt. 
Manche  nur  für  den  Norweger  interessante  bauge¬ 
schichtliche  Einzelheiten  sind  weggeblieben.  Es 
werden  uns  nicht  die  sämtlichen,  ohnedies  meist 
verschwundenen  Holzkirchen  des  Landes  im  Detail 
vorgeführt.  Für  den  Spezialforscher,  der  mehr  ver¬ 
langt,  als  die  deutsche, 
übersichtliche  Behand¬ 
lung  bieten  konnte,  bleibt 
daher  für  diesen  Teil  im¬ 
mer  noch  das  norwegi¬ 
sche  Originalwerk  Diet- 
richson’s  eine  wichtige 
Quelle.  —  Der  zweite  Teil 
der  deutschen  Publika¬ 
tion,  welcher  von  dem 
„])rofänen  Holzbau  der 
A'ergangenheit“  handelt, 
sowie  der  dritte,  über 
„Die  norwegische  Holz¬ 
baukunst  der  Gegenwart“, 
erscheinen  hier  zum  er¬ 
stenmal.  Für  diese  Teile 
darf  bei  unserem  deut¬ 
schen  Publikum  ein  be¬ 
sonderesinteresse  voraus¬ 
gesetzt  werden,  vornehm¬ 
lich  seitdem  Se.  Maj.  der  Kaiser  Wilhelm  II.  sein 
Augenmerk  der  altehrwürdigen  Bauweise  zugewendet 
und  dies  durch  die  in  seinem  Aufträge  von  dem 
norwegischen  Architekten  If.  Mmühe  in  Rominten 
und  bei  JMtsdam  ausgeführten  Holzbauteia  bethätigt 
hat.  Diese  gelungenen  Nachbildungen  altnordischer 
Muster  und  andere  Werke  verwandten  Stils  aus 
neuester  Zeit,  norwegische  und  deutsche,  werden 
uns  von  Dietrichson  in  Bild  und  Wort  vorgeführt, 
und  zu  ihrer  Erläuterung  und  geschichtlichen  Wür¬ 
digung  die  Studienergebni.sse  der  norwegischen  For¬ 
scher  über  den  nordischen  Holzbau  profaner  Gat¬ 
tung  in  klarer  Übersicht  beigefügt.  Namentlich  die 
hier  zum  erstenmal  erscheinende  Entwickelungsge- 
.schichte  des  norwegischen  Bauernhauses  ist  als  ein 


sehr  wertvoller  Abschnitt  dieses  Teiles  zu  begrüßen. 
Es  ist  nun  vor  allem  nötig,  sich  in  technischer 
Hinsicht  auf  dem  ausgedehnten  Gebiete  zu  orien- 
tiren,  und  streng  zu  scheiden,  was  in  früheren  deut¬ 
schen  Werken  über  den  Gegenstand  vielfach  mit 
einander  verwechselt  worden  ist:  Blockhau  und  Fach¬ 
werkbau.  Beide  Arten  waren  in  Norwegen  schon 
in  vorhistorischer  Zeit  heimisch,  aber  so,  dass  „der 
Fachwerkbau  hauptsächlich  düe.  kirchlichen,  der  Block¬ 
bau  aber  die  ivcltlichen  Gebäude  umfasste“. 

Von  den  im  Fachwerkbau  errichteten  alten  Holz¬ 
kirchen  des  Landes,  die  nach  Hunderten  zählten, 
sind  die  bekanntesten,  noch  heute  vorhandenen  die 
von  Urnes,  Borgund,  Hitterdal  und  Hopperstad, 
ferner  die  versetzten  von  Wang  (jetzt  in  Schlesien), 

Gol  (jetzt  bei  Christia- 
nia)  und  Fortun  (jetzt  bei 
Bergen).  Sie  stammen 
sämtlich  aus  dem  12.  und 
13.  Jahrhundert  und  zei¬ 
gen  im  wesentlichen  ge¬ 
nau  das  Schema  der  ro¬ 
manischen  Basilika,  aus 
dem  Stein  ins  Holz  über¬ 
setzt.  Nur  das  Querschiff 
fehlt,  und  die  Säulen  sind 
nicht  nur  der  Länge,  son¬ 
dern  auch  der  Breite  nach 
um  das  Mittelschiff  her¬ 
umgestellt,  um  der  Kon¬ 
struktion  nach  allen  Sei¬ 
ten  hin  eine  gleichmäßi¬ 
ge  Festigkeit  zu  geben. 
Als  Grundsätze  bei  der 
Konstruktion  dieser  Fach¬ 
werk-  oder  Stabkirchen 
—  wie  die  Norweger  sie  nennen  —  dürfen  fol¬ 
gende  gelten:  „1)  alle  Hauptverbindungen  sind 
durch  Einspunden  und  Ein%ax>fen  (nicht  durch  Nägel) 
hergestellt,  und  2)  alle  Teile  sind  durch  bald  lie¬ 
gende,  bald  stehende  rundbogige  Bugverbindungen 
(nicht  durch  Schrägstreben)  abgesteift.“  Auf  diese 
Weise  haben  die  Eigentümlichkeiten  und  Vorteile 
des  Holzmaterials  ihre  zweckentsprechende  Verwen¬ 
dung  gefunden;  der  ganze  Bau  bindet  sich  gleich¬ 
sam  selbst  und  wächst  wie  zu  einem  lebendigen 
Organismus  zusammen.  Ein  norwegischer  Architekt 
erzählte  dem  Verfasser  von  einem  Sturme,  den  er 
in  einer  solchen  Stabkirche  erlebte.  „Zuerst,“  sagte 
er,  „knisterte  es  so  gewaltig  in  den  Fugen,  dass 
ich  glaubte,  die  alte  Kirche  würde  über  meinem 


Aus  Dietrichson  unrl  Mimthe:  Die  Holzhaukunst  Norwegens. 
Berlin,  Schuster  &  Bufleh.  1893. 


DIE  HOLZBAUKUNST  NORWEGENS  IN  VERGANGENHEIT  UND  GEGENWART. 


267 


Kopfe  Zusammenstürzen;  nachdem  aber  der  Sturm 
einige  Zeit  getobt  batte,  wurde  es  in  den  Wänden 
ganz  stille,  während  der  Sturm  fortraste;  alle  Teile 
waren  in  der  richtigen  Lage 
zur  Ruhe  gekommen.“ 

Die  ganze  Konstruktion 
ist  im  Grunde  genommen  nichts 
anderes  als  eine  Schiffskon¬ 
struktion.  Der  über  die  Kirche 
gespannte  „Kielbogen“  mit  den 
Untersparren  und  dem  Quer¬ 
balken,  der  die  Sparren  und 
Wände  auseinanderhält,  ent¬ 
spricht  vollkommen  der  umge¬ 
kehrten  Form  des  Wickinger- 
schiffes.  „In  Nordland  legen 
arme  Leute  noch  heute  ein  altes 
Boot  als  Dach  über  ihre  Hüt¬ 
te.“  —  „Die  Leistenprofile  der 
Stabkirchen  kommen  noch  heu¬ 
te  in  den  Booten  der  norwe¬ 
gischen  Fischer  vor,  und  die 
Vorrichtung  unter  den  Säulen, 
um  dieselben  in  die  Schwellen 
einzuzapfen,  hat  ihre  F orm  der 
ähnlichen  Vorrichtung  des  im 
Schiffe  aufzurichtenden  Mastes 
entlehnt,“  —  „Darum  war  es 
auch  so  natürlich,  die  Stabkir¬ 
chendächer  mit  den  Drachen¬ 
köpfen,  die  man  den  Steven¬ 
figuren  der  Schiffe  entnahm, 
zu  schmücken.“ 

Dazu  kommt  dann  die 
namentlich  an  den  Portalen 
üppig  entwickelte  Flächenorna¬ 
mentik.  Es  sind  einesteils  die 
Bandverschlingungen  der  iri¬ 
schen  Miniaturen  und  die  Fa¬ 
beltiere,  „die  schon  die  heid¬ 
nische  Zeit  des  jüngeren  Eisen¬ 
alters  kannte“ ;  anderenteils 
kommt  dazu  „um  1150  das  be¬ 
kannte  anglo  -  normannische 
Blätter  werk,  worin  sich  ge¬ 
waltige  Flügeldrachen  verkrie¬ 
chen“;  drittens  grüßen  uns  von 
den  Portalen  herab  sogar  bis¬ 
weilen  „die  alten,  von  dem 
Volke  geliebten  heidnischen 
Recken,  Sigurd  der  Drachen¬ 


töter  und  die  übrigen  Nibelungen,  die  eine  kluge 
Toleranz  der  Geistlichkeit  dem  halbheidnischen  Volke 
gegenüber  duldete.“ 


Portal  der  Kirche  zu  Hemsedal  in  Hallingdal,  Stift  Christiania. 
(üuiversitätsmuseum  zu  Christiania.) 

Aus  Dietrichson  und  Munthe:  Die  Holzbaukunst  Norwegens.  Berlin,  Schuster  &  Bufleb.  1893. 

34* 


268 


DIE  HOLZBAUKÜNST  NORWEGENS  IN  VERGANGENHEIT  UND  GEGENWART. 


Damit  haben  wir  nun  auch  für  die  Beurteilung 
des  norwegischen  Holzkirchenbaues  in  geschichtlicher 
Hinsicht  den  richtigen  Standpunkt  gewonnen.  Es 
steckt  in  ihnen,  sowohl  was  das  Grundschema  als 
auch  was  die  Erscheinung  betrifft,  manch  fremd¬ 
ländischer  Zug,  der  mit  der  christlichen  Religion 
von  Westen  her  dem  Volke  zugekommen  war.  Aber 
die  Konstruktion  dieser  Kirchen  ist  grundnational, 
wie  der  Holzbau  überhaupt,  und  die  Norweger  haben 
es  verstanden,  alle  ihnen  von  außen  zugebrachten 
Elemente  dem  Holzbau  stilistisch  anzupassen,  sie 
ihrer  nationalen  Bauweise  einzufügen. 

Nicht  minder  national  als  der  Fachwerkbau  der 
norwegischen  Kirchen  ist  der  Blockverband  der  nor¬ 


dischen  Profanbauten, 
das  Baucrnhmis, 
wie  es  sich  seit 
der  Zeit  derChris- 
tianisirung  des 
Landes  ( ums  Jahr 
1000)  bis  in  die 
erste  Hälfte  un¬ 
seres  Jahrhun¬ 
derts  teils  in  der 
Litteratur,  teils 
in  erhaltenen  Bei- 
spielen  verfolgen  ^ 
lässt.  Der  Haupt¬ 
bestandteil  des¬ 
selben  ist  die 


Die  Urform  der  letzteren  ist 


ein  kleines  Giebelzimmer.  Das  Sparrendach  des  Hauses 
war  mit  Brettern,  Rinde  und  Torf,  bisweilen  auch 
mit  Schindeln  gedeckt.  An  den  mit  Moos  oder  mit 
wollenem  Zeug  gedichteten  Wänden  der  Halle  stan¬ 
den  feststehende  Bänke,  mit  Erde  gefüllt.  Hinter 
den  Bänken  öffneten  sich  bisweilen  feste  Schlaf¬ 
stellen  in  der  Wand  für  die  zechenden  und  wohl 
öfters  bezechten  Recken.  In  der  Mitte  der  langen 
Wände' standen  die  zwei  „Hochsitze“,  und  vor  dem 
vornehmsten  derselben  erhoben  sich  zwei  mit  Götter¬ 
bildern  geschmückte  Säulen.  Wenn  die  Mahlzeit 
oder  das  Trinkgelage  begann,  wurden  die  sonst  an 
der  Wand  hängenden  Tische  zuf  Gestellen  zwischen 
den  Bänken  und  dem  Herdfeuer  aufgestellt.  Reicher 
Wandschmuck  aus  Teppichen  und  Waffen  vollendete 

den  ernsten  Ein¬ 


große  Halle  mit 


druck  der  dun¬ 
keln,  gebräunten 
Halle. 

Eine  nicht 
unbedeutende 
V eränderung  in 
der  Beschaffen¬ 
heit  dieser  Bau¬ 
ten  ging  mit  der 
Einführung  ei¬ 
ner  neuen  Hei¬ 
zungsanlage  vor 
sich.  Im  11.  Jahr¬ 
hundert  trat  an 
Stelle  des  offe¬ 
nen  Herds  in  der 
J  Mitte  der  in  die 
Rolstad.  Ecke  der  Halle 

Aus DietriclisonundMunthe:  Die Ilolzbaukunst Norwegens.  Berlin, Schuster &Buflel).  1893. 

geschobene 


offenem  Dach¬ 
stuhl  und  Herd  in 
der  Mitte.  Die 
I lalle  heißt  „Stu¬ 
be“,  und  bei  ihrer  Bedeutung  für  das  Ganze  ist 
es  natürlich,  dass  „Stube“  und  „Haus“  oft  iden¬ 
tisch  erscheinen.  „Die  Hallen  des  Königs  und  die 
Stuben  des  Bauern  unterschieden  sich  nur  durch 
Anzahl,  Au.sstattung  und  Geräumigkeit,  nicht  aber 
in  der  Form  der  Anlage.  Somit  giebt  uns  die 
Schilderung  der  Bauernstube  zugleich  eine  lebendige 
Vorstellung  von  den  alten  hölzernen  Königshallen 
Norwegen.s.“ 

Der  Bau  derselben  ruht  nicht  auf  einer  zu¬ 
sammenhängenden  Grundmauer,  sondern  auf  ein¬ 
zelnen  großen  Steinen,  die  nur  da  gelegt  sind,  wo 
zwei  .Mauern  zusammenstoßen.  Außer  der  großen 
Halle  umfa.sste  der  Bau  minde.stens  ein  Nebenzimmer, 
einen  Flur  und  den  Laufgaug,  der  sich  an  zwei 
Seiten  des  Hauses  hinzog.  1  her  den  Nebenräumen  lag 


„Rauchofen“,  ein  viereckiger  Steinkasten,  der  die 
Wärme  länger  hielt  und  daher  namentlich  in  dem 
holzärmeren  westlichen  Norwegen  gebräuchlich 
wurde.  Bei  beiden  Anlagen,  dem  Herd  wie  dem 
Rauchofen,  entweicht  der  Rauch  durch  die  Öffnung 
im  Dache.  Einen  Rauchfang  zeigt  erst  die  dritte 
Form  der  Heizungsanlagen,  der  sog.  „Peis“,  ein  bis 
gegen  zwei  Drittel  der  Wandhöhe  nach  vorn  ge¬ 
öffneter,  oben  gewölbter  Kamin,  dessen  Feuer  die 
Stube  ausgiebig  beleuchtet  und  heizt.  Er  kam  nach 
dem  Jahre  1600  in  allgemeinere  Verbreitung.  Die 
Dachöffnung  der  Halle  konnte  jetzt  geschlossen 
werden,  die  Häuser  wurden  mehrstöckig,  auch  im 
Grundriss  bereichert;  die  Wände  bekamen  Fenster. 
In  Österdalen  erhebt  sich  über  dem  Fachwerkver¬ 
schlag  ein  kleiner  Turm,  der  den  Namen  „Barfrö“ 


269 


DIE  HOLZBAUKUNST  NORWEGENS  IN  VERGANGENHEIT  UND  GEGENWART. 


führt.  In  unserer  Zeit  endlich  gehen  die  im  18.  Jahr¬ 
hundert  mit  eisernen  Öfen  versehenen  Bauernstuben 
in  ganz  moderne  Gutsherrnwohnnngen  über. 

Außer  der  Mittelhalle  war  noch  das  „Loft“  ein 
sehr  charakteristischer  Teil  der  altnorwegischen 
Blockhausbauten.  Der  mit  „lüften“,  „in  die  Luft 
heben“  zusammenhängende  Name  bezeichnet  „eine 
zweistöckige  Anlage,  deren  Untergeschoss  als  Nieder¬ 
lage  für  Nahrungsmittel  diente,  während  der  obere 


„Stab-Bur“,  dessen  Oberbau  auf  freistehenden  Holz¬ 
blöcken  sich  erhob  und  dessen  ganzes  Obergescho.ss 
(nicht  bloß  der  Laufgang)  in  Blockverband  weit 
über  das  Untergeschoss  vorsprang;  nur  die  Vorder¬ 
seite  bewahrte  den  aus  Fachwerk  bestehenden  Lauf¬ 
gang:  „Diese  so  zu  sagen  freischwebenden,  höchst 
eigentümlichen  Bauten  haben  deutlich  den  Zweck, 
nicht  nur  die  Feuchtigkeit  des  Bodens,  sondern  auch 
nagende  Tiere,  wie  Ratten,  Marder  und  ähnliche. 


=r.r-- 


Kaiserliche  Kirche  zu  Rominten  in  Ostpreußen. 

Aus  Dietrichson  und  Munthe:  Die  Holzbaukunst  Norwegens.  Berlin,  Schuster  &  Bufleb.  1893. 


Stock  die  Kleidungsstücke  und  Kostbarkeiten  des 
Hauses,  sowie  auch  an  der  Wand  feststehende  Betten 
enthielt.“  Neben  der  an  der  Langseite  des  Gebäudes 
befindlichen  Thür  führte  eine  Freitreppe  zu  dem 
Laufgang  des  Obergeschosses  empor,  welcher  auf 
den  weit  vorspringenden  Balkenenden  des  Unter¬ 
geschosses  ruhte,  aus  Fachwerk  gebildet  und  in  der 
Mitte  gewöhnlich  mit  Balustrade  und  Arkadenbögen 
verziert  war.  Dem  „Loft“  verwandt  ist  das  sog. 


von  dem  Inhalte  des  Hauses  fern  zu  halten.“  Auch 
diese  Bauten  tragen  eine  reiche  und  charakteristische 
geschnitzte  Ornamentik,  besonders  an  den  Ecksäulen 
und  an  den  Planken  der  Thüren.  An  den  älteren 
Beispielen  der  letzteren  lässt  sich  der  Einfluss  der 
Portalornamente  an  den  Stabkirchen  verspüren;  die 
Ecksäulen  dagegen  und  die  späteren  Portale  zeigen 
die  Formen  der  norddeutschen  und  holländischen 
Renaissance. 


270 


FÜHRER  DURCH  RÖMISCHE  UEMÄLDESAMMLÜNGEN. 


Im  Gauzeu  betrachtet,  offenbart  die  norwegische 
Holzbaukmist,  in  ihrer  derben  und  kühnen  Kon¬ 
struktion  wie  in  ihrer  phantastischen  und  eigenarti¬ 
gen  Ornamentik,  einen  so  mächtigen,  selbstbewussten 
Geist,  sie  gemahnt  so  eindringlich  an  das  Helden¬ 
alter  des  Volkes  und  seine  von  Dichtung  und  Sage 
verklärten  Reckengestalten,  dass  es  niemanden 
Wunder  nehmen  wh*d,  die  alte  Bauweise  heute,  in 
der  Zeit  des  wiedererwachten  Natioualgefühls,  zu 
neuem  Leben  erblüht  zu  sehen.  Die  junge  Genera¬ 
tion  der  norwegischen  Architekten  wendet  mit  wach¬ 
sendem  Erfolg  ihr  Studium  dieser  Sache  zu.  Nament¬ 
lich  Christie  und  Hohn  Munthe  haben  in  Kirchen 
und  Villenanlagen  Vortreffliches  iii  der  geschilder¬ 
ten  Bauart  geleistet. 

Diesen  Werken  reihen  sich  nun  auch  die  Bau¬ 
ten  an,  welche  Kaiser  Wilhelm  durch  den  letzt¬ 
genannten  Architekten  zu  Rominten  und  am  Jung¬ 
fernsee  bei  Potsdam  errichten  ließ,  und  welche  in 
mustergültiger  Weise  darthun,  wie  die  alte,  gesunde 
Art,  sich  den  Forderungen  des  Materials  zu  fügen, 
mit  den  Ansprüchen  des  modernen  Lebens  wohl  zu 
vereinigen  ist.  In  dem  kaiserlichen  Jagdschloss  zu 


Rominten  ist  die  Halle  wie  der  Loft  zur  Anwendung 
gekommen.  Die  als  Speisesaal  dienende  Halle  zeigt 
in  der  Mitte  der  Schmalwand  den  wärmenden  Peis. 
Die  Loftgebäude  dienen  als  Kavalierhäuser,  Rauch¬ 
zimmer  u.  s.  w.  Offene  Balkons  und  Veranden  er¬ 
innern  an  die  alten  Laufgänge.  Die  Kapelle  ist 
eine  Nachbildung  der  altnorwegischen  Stabkirche. 
—  Das  Gebäude  am  Jungfernsee  bei  Potsdam  ist 
ein  in  Blockverband  hergestellter  Bootschuppen. 

Dietrichson  schließt  die  Betrachtungen  seines 
Werkes  mit  einem  Hinweis  auf  die  gewaltige  Wir¬ 
kung  der  altnordischen  Sagenwelt  und  Poesie  auf 
die  Dichtkunst  und  Musik  Deutschlands,  und  meint, 
dass  auch  das  edle  Reis  der  ehrwürdigen  Bauweise 
seines  Vaterlandes  unserer  heimischen  Architektur 
ein  „nicht  zu  unterschätzendes  Element  der  Frische 
und  Urwüchsigkeit  zuzuführen“  im  stände  sei.  Wir 
treten  seiner  Anschauung  bei,  und  empfehlen  das 
Studium  der  Publikation  des  nordischen  Freundes 
und  Kollegen  auch  in  diesem  Sinne  dem  gesamten 
deutschen  Publikum,  nicht  nur  den  Archäologen 
und  Historikern,  sondern  auch  den  Architekten  und 
Kunstfreunden,  aufs  angelegentlichste.  C.  v.  L. 


FÜHRER  DURCH  RÖMISCHE  GEMÄLDESAMMLUNGEN. 


ER  Katalog  der  Kunstschätze 
der  Villa  Borghese  von 
Adolfo  Venturi  bildet  den 
vierten  Band  in  der  von 
demselben  Verfasser  in  der 
Collrzione  Edeliveiß  publizir- 
ten  Serie  von  Führern  durch 
römische  Sammlungen,  von 
denen  die  Gemäldegalerie  des  Kapitols,  die  Villa 
Farnesina  und  die  Vatikanisclie  Bildersammlung  be¬ 
reits  ISffO  erschienen  sind.  Venturi  hat  im  Vorwort 
zu  dem  Katalog  der  Kapitolinischen  Galerie  den 
Zweck  dieser  Fülirer  daliin  bestimmt,  dass  sie  den 
Besucher  römischer  Sammlungen  über  die  einge¬ 
fleischten  Irrtümer  und  grundlosen  traditionellen  Zu¬ 
schreibungen  aufklären,  ihn  auf  die  Werke  von  un¬ 
bedingtem  Werte  aufmerksam  und  mit  den  neuesten 
Besultaten  der  wissenschaftlichen  Kritik  vertraut 
machen  sollen,  um  ihn  in  den  Stand  zu  setzen,  sich 
über  die  streitigen  Punkte  selbst  ein  Urteil  zu  bilden 
und  somit  einen  wirklichen  Gewinn  aus  dem  Studium 


der  Kunstschätze  zu  ziehen.  Und  jeder,  der  diese 
Führer  benutzt  hat,  wird  Venturi  Dank  und  Aner¬ 
kennung  zollen  für  die  treffliche  und  geschickte 
Lösung  dieser  Aufgabe,  umsomehr,  als  er  frei  von 
jedem  Autoritätsglauben  mit  scharfem  Blick  wesent¬ 
lich  zur  Klärung  wichtiger  stilkritischer  Probleme 
beigetragen  hat.  Da  die  wohlfeilen ,  gut  illustrirten 
Bändchen  leider  nicht  die  Verbreitung  gefunden 
haben,  die  sie  ihrem  Werte  nach  beanspruchen,  so 
möchte  es  nicht  überflüssig  sein,  gelegentlich  des 
Erscheinens  des  Kataloges  der  Borghese-Sammlung 
mit  wenigen  Worten  auch  der  wichtigsten  von  den 
von  anderer  Seite  ausgesprochenen  Attributionen 
abweichenden  Bestimmungen  Venturi’s  in  den  frühe¬ 
ren  Führern  zu  gedenken. 

Keine  der  römischen  Sammlungen  scheint  so 
reich  an  Erzeugnissen  der  ferraresischen  Schule  wie 
die  Kapitolinische;  Venturi  lässt  in  scharfer  Kritik 
nur  einen  verschwindend  kleinen  Teil  als  wirklich 
der  großen  Namen  würdige  Ware  gelten.  Dem 
Dosso  IJossi  lässt  er  nur  die  große  heilige  Familie 


FÜHRER  DURCH  RÖMISCHE  GEMÄLDESAMMLUNGEN. 


271 


(Nr.  145),  die  er  mit  Recht  als  eine  seiner  farben¬ 
prächtigsten,  grandiosesten  Schöpfungen  feiert,  ent¬ 
gegen  dem  absprechenden  Urteil  Morelli’s;  von  Garo- 
falo  erkennt  er  nur  das  kleine  Madonnenbild  (Nr.  44), 
eine  Jugendarbeit  unter  dem  Einflüsse  seines  Lehrers 
Boccaccino,  und  die  tiefgestimmte  kleine  hl.  Familie 
(Nr.  30)  als  eigenhändige  Werke  an.  Während  er 
die  Einzelgestalten  des  Nikolaus  von  Bari  (Nr.  87) 
und  des  Sebastian  (Nr.  79),  die  von  Morelli  für  frühe 
Arbeiten  Garofalo’s  erklärt  werden,  im  Katalog  nur 
einem  dem  Ortolano  nahestehenden  Künstler  znweist, 
giebt  er  sie  jetzt  diesem  großen  Zeitgenossen  Dosso’s 
und  Tisi’s  selbst.  In  dem  anziehenden  feinempfun¬ 
denen  Mädchenporträt  unter  Giambellino’s  Namen 
(Nr.  207)  erkennt  Venturi  eine  Arbeit  des  Ercole  Grandi, 
während  Morelli  an  Amico  Aspertini  gedacht  hatte. 
Für  das  männliche  Profllbildnis  (Nr.  146),  das  in  der 
Galerie  ganz  grundlos  auf  Petrarca  getauft  und  eben¬ 
falls  dem  Giovanni  Bellini  zugeschrieben  ist,  nennt 
auch  Venturi  keinen  anderen  Meister  als  dessen 
Bruder  Gentile,  den  schon  Morelli  in  Vorschlag  ge¬ 
bracht  hatte.  Und  doch  kann  ich  nichts  Venetia- 
nisches  darin  Anden ,  vielmehr  weisen  die  scharfe 
Profllzeichnung,  das  helle  Inkarnat  mit  den  rosa 
Lichtern,  der  blaue  Grund,  die  violette  Farbe  des 
Gewandes  auf  einen  Florentiner ,  nur  fern  auf 
Domenico  Veneziano  als  Verfertiger  hin.  Auch  Ven¬ 
turi  ist,  wie  ich  erfahre,  unterdessen  zu  der  gleichen 
Erkenntnis  gelangt.  Hingegen  nicht  einem  Floren¬ 
tiner  aus  der  Schule  Ghirlandajo’s,  wie  Venturi  nach 
dem  Vorgang  von  Crowe  und  Cavalcaselle  annahm, 
sondern  einem  Piemontesen  und  zwar  dem  Macrino 
d’Alba  gehört  die  früher  Botticelli  zugeschriebene 
Madonna  mit  Nikolaus  und  Martinus  (Nr.  36)  an.  ln 
Formengebung,  Gewandbehandlung  und  Landschaft 
stimmt  sie  durchaus  mit  den  bezeichneten  Bildern 
dieses  Meisters  in  der  Certosa  bei  Pavia  und  im 
Museum  zu  Turin  überein. 

ln  dem  in  knapper  Darstellung  alles  Wissens¬ 
werte  über  den  Erbauer  und  die  Baugeschichte  der 
Villa  bietenden  Führer  durch  die  Farnesina  stimmt 
Venturi  in  der  Scheidung  der  verschiedenen  Schüler¬ 
hände  bei  der  Ausschmückung  des  Psychesaales  im 
wesentlichen  mit  Crowe  und  Cavalcaselle  überein. 
Die  Frage,  ob  der  Kolossalkopf  im  anstoßenden 
Raume  von  Peruzzi  oder  Sebastiane  del  Piombo  her¬ 
rühre,  —  denn  an  Michelangelo  hat  man  doch  nie¬ 
mals  ernstlich  denken  können,  —  bleibt  hierbei  un¬ 
entschieden,  wiewohl  der  Kopf  in  der  That  genau 
dieselben  Züge  hat  wie  die  Putten  Penozzi’s  an  der 
Decke ,  nur  ins  Kolossale  vergrößert.  Diesem  letz¬ 


teren  weist  Venturi  den  Entwurf  und  zum  grö¬ 
ßeren  Teil  auch  die  Ausführung  der  gesamten 
Dekoration  des  großen  Saales  im  ersten  Stock  der 
Villa  zu,  in  der  man  verschiedentlich  die  Hand  des 
Giulio  Romano  hat  erkennen  wollen. 

In  dem  Führer  durch  die  Vatikanische  Galerie 
zieht  der  Verfasser  energisch  gegen  die  unsinnigen 
traditionellen  Benennungen  zu  Felde.  Die  Gozzoli 
zugewiesene  Predella  mit  den  Wundern  des  heiligen 
Hiacynthus  ist  für  ihn  ein  sicheres  Werk  des  Fran¬ 
cesco  Gossa,  zeitlich  den  Fresken  im  Palazzo  Schifa- 
noja  nahestehend,  die  Mantegna  zugeschriebene  Pieta 
gilt  ihm  hier  zwar  noch  für  eine  Arbeit  des  3Ion- 
tagna,  unterdessen  ist  er  jedoch  zu  der  Einsicht  ge¬ 
langt,  dass  es  sich  vielmehr  um  ein  Werk  des 
Buonconsiglio  handelt,  aber  nicht  um  eine  Kopie 
dieses  Meisters  nach  einem  verschollenen  Bilde  des 
Montagna,  wie  Morelli  annahm,  sondern  um  eine 
Originalarbeit  des  Marescalco  unter  dem  Einflüsse  des 
Giovani  Bellini.  Die  Francesco  Francia  genannte 
Madonna  mit  Hieronymus  wird  dem  Boateri,  von  dem 
ein  bezeichnetes  Bild  im  Palazzo  Pitti  sich  befindet, 
zugewiesen,  die  hl.  Familie  Garofalo’s  nur  als  alte 
Kopie  nach  diesem  aufgeführt.  In  der  Landschaft 
auf  Raffael’s  „Madonna  di  Foligno“  erkennt  auch 
Venturi  die  Mithilfe  des  Battista  Dosso,  leugnet 
dagegen  mit  Recht  des  Urbinaten  Mitarbeit  an  Peru- 
gino’s  „Auferstehung  Christi“.  Die  „Madonna  della 
Cintura“  ist  trotz  der  Bezeichnung  kein  Werk  des 
Cesare  da  Sesto,  sondern  eine  geleckte  unerfreuliche 
Arbeit  eines  späteren  Lombarden,  der  segnende  Chris¬ 
tus  eine  carraceske  Kopie  wahrscheinlich  nach  dem 
untergegangenen  Bilde  Correggio’s  in  S.  Maria  della 
Misericordia  in  Parma. 

Angaben  über  Bilder  und  Skulpturen  zugleich 
enthält  der  umfangreichere  Katalog  der  Sammlung 
Borghese.  Da  ich  an  anderem  Orte  ausführlicher 
darauf  einzugehen  gedenke,  so  seien  hier  nur  einige 
der  hauptsächlichsten  darin  ausgesprochenen,  mit 
Morelli’s  Urteil  in  Widerspruch  befindlichen  Bilder¬ 
bestimmungen  erwähnt.  Das  von  Lermolieff  für 
eine  Arbeit  aus  BotticeUi’s  Bottega  ausgegebene 
Rundbild  der  Madonna  mit  Engeln  und  dem  Jo¬ 
hannesknaben  (Nr.  348)  wird  richtig  dem  Meister 
selbst  zurückgestattet  ü ,  für  die  Verlobung  der  hl. 


1)  Bei  dieser  Gelegenheit  will  ich  zwei  bisher  unbe¬ 
kannte  echte  Bilder  dem  Werke  Botticelli' s  hinzufügen. 
Sie  befinden  sich  im  Besitz  des  Principe  Pallavicini  zu  Rom. 
Das  eine  ist  eine  kleine  Tafel  unter  dem  Namen  Masaccio 
und  stellt  die  büßende  Sünderin  an  der  Pforte  des  Tempels  (?) 
dar,  von  ergreifend  schwermütiger  Stimmung  in  vollendet 


272 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Katharina  (Nr.  177)  an  Stelle  Franciabigio’s  Bucjiar- 
dini  in  Vorschlag  gebracht,  die  große  hl.  Familie 
(Nr.  334)  und  die  Halbfigur  der  Magdalena  (Nr.  328) 
werden  Sarto  selbst  gelassen,  das  Kruzifix  zwischen 
Hieronymus  und  Cristoforus  (Nr.  377)  dem  Fiorenzo 
di  Lorenzo  an  Stelle  seines  Schülers  Pinturicchio  zu¬ 
gewiesen.  Nichts  mit  Raffael  hat  das  männliche  Bildnis 
(Nr.  397)  nach  Venturi’s  richtiger  Ansicht  zu  schaffen, 
es  ist  ein  treffliches  Werk  des  in  seinen  guten 
Arbeiten  so  oft  zu  Gunsten  seines  Schülers  ver- 


koloristischer  Behandlung,  Ende  der  achtziger  Jahre  etwa 
entstanden;  das  andere  ist  ein  größeres  Rundbild  mit  der 
Madonna  und  dem  Kinde,  von  zwei  Engeln  gekrönt  und 
mit  dem  Johannesknaben  rechts,  ebenfalls  der  späteren  Zeit 
angehörend.  Eine  in  der  Bottega  ausgeführte  Replik  danach 
befindet  sich  in  der  Nationalgaleide  in  London  (Nr.  226). 
Ein  treffliches  Jugendbild  Sandro’s  birgt  auch  die  Sammlung 
des  Principe  Chigi  in  Rom.  Maria  reicht  dem  auf  ihrem 
Schoße  sitzenden  Kinde  eine  Kornähre,  die  sie  der  von 
einem  Engel  dargebotenen  Fruchtschale  entnimmt.  In  der 
Mischung  Fra  Filippo’scher  und  Verrocchiesker  Einflüsse 
steht  das  Bild  den  beiden  Jugendwerken  Botticelli’s  in  den 
Uffizien  ganz  besondei's  nahe. 


kannten  Pe?‘ugino.  Nicht  nur  nicht  Sodoma,  sondern 
nicht  einmal  eine  direkte  Kopie  nach  diesem  kann 
die  Leda  mit  dem  Schwan  sein  (Nr.  434),  ebenso 
wenig  gehört  Francia  selbst  die  Halbfigur  des  hl. 
Antonius  (Nr.  57)  an,  ein  Werk  seines  Schülers  und 
Nachahmers  Marco  Meloni.  Überzeugend  wird  der 
grundverschiedene  Kunstcharakter  in  den  Bildern 
des  leeren  Garofalo  und  des  markigen  Ortolano,  welch’ 
letzterem  unzweifelhaft  die  großartige  Kreuzabnahme 
(Nr.  389)  angehört,  dargethan,  und  die  Unterschiede 
in  den  Arbeiten  der  beiden  Dossi  klargelegt.  Paolo 
Veronese’s  eigene  Weise  erkennt  der  Verfasser  in 
der  Predigt  Johannis  (Nr.  137)  und  der  Predigt  des 
hl.  Antonius  (Nr.  101),  spricht  dagegen  mit  vollem 
Recht  das  schwache  weibliche  Bildnis  (Nr.  143)  dem 
Giorgione  ab. 

Es  ist  nur  zu  wünschen,  dass  diese  nützlichen 
und  handlichen  Führer  auch  durch  die  übrigen 
Privatgalerieen  Roms  fortgesetzt  werden  und  über  die 
Sammlungen  und  Museen  anderer  italienischer  Kunst¬ 
stätten  sich  ausbreiten  mögen. 

HERMANN  ULMANN 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


At?i  häuMiclicn  Herd,  Originalradirung  von  Jos.  üam- 
henjer  in  München.  Das  vorliegende  Blatt  ist  eine  Wieder¬ 
holung  der  im  Jahre  1892  ausgeführten  Radirung,  die  neben 
den  bereits  veröffentlichten  Blättern  von  Th.  Meyer-Basel 
und  Fr.  ]Allniy  den  2.  Preis  in  der  Radirungskonkurrenz 
des  Verlegers  dieser  Zeitschrift  erlangte.  Die  Originalradi¬ 
rung  war  auf  einer  Zinkplatte  ausgeführt  und  daher  zum 
Druck  in  größerer  Auflage  nicht  geeignet;  der  Künstler  er¬ 
bot  sich  jedoch  aus  freien  Stücken,  den  Gegenstand  noch¬ 
mals  auf  Kupfer  herzustellen.  Im  großen  Ganzen  hat  auch 
ilie  zweite  Platte  die  gleichen  künstlerischen  Vorzüge  wie 
die  erste.  Die  Preisrichter  erkannten  dem  Werke  trotz 
einiger  Mängel  den  2.  Preis  zu,  weil  sich  darin  Talent, 
gute  Naturbeobachtung  und  strenge  selbständige  Art  der 
Wiedergabe  au.ssprach.  Jos.  Damberger  ist  im  Jahre  1867 
als  Sohn  wenig  bemittelter  Eltern  geboren  worden.  Er  ab- 
Holvirte  zum  Teil  die  Realschule  und  dort  schon  zeigte  sich 
bald  der  Hang  zur  bildenden  Kunst.  ,,lch  sollte  mich,“ 
teilt  der  Künstler  darüber  mit,  „auf  Anraten  meines  Vaters 
im  kunstgewerblichen  Zeichnen  ausbilden,  weil  ich  nämlich 


stets  meine  freie,  oft  auch  die  nicht  freie  Zeit  dazu  be¬ 
nutzte,  Bilder,  die  in  meinen  Lehrbüchern  mir  begegneten 
oder  die  der  Zufall  mir  in  die  Hand  gab,  nachzuzeichnen. 
Ungefähr  ein  Jahr  lang  versuchte  ich  diese  Thätigkeit,  die 
mich  aber  nicht  sonderlich  befriedigte.  Ich  bat  meine  Eltern, 
mich  vollständig  der  Malerei  widmen  zu  dürfen,  der  ich 
dann  mit  ganzer  Seele  anhing.  Im  Jahre  1886  trat  ich 
in  die  Akademie  der  bildenden  Künste  ein  und  die  Pro¬ 
fessoren  W.  Diez  und  Defregger  wurden  meine  Lehrer. 
Beide  ließen  mir  vollständige  Freiheit  der  Entwickelung 
und  für  die  mir  dadurch  gebliebene  Selbständigkeit  bin  ich 
ihnen  sehr  dankbar.  Vor  etwa  vier  Jahren  erlernte  ich 
durch  die  liebenswürdige  praktische  Unterstützung  eines 
Kollegen  die  Technik  der  Originalradirung,  in  der  ich  mich 
übte,  aber  vorerst  nichts  verööentlichte.  Infolge  der  Auf¬ 
forderung  zu  einem  Wettbewerbe  von  Originalradirungen 
sandte  ich  eine  Probe  ein  und  der  Erfolg,  den  das  Blatt 
erhielt,  hat  mich  gereizt,  in  dieser  Kunstart  mich  weiter 
auszubilden.“ 


Herausgeber:  Carl  ton  Lützoiv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  Auyust  Pries  in  Leipzig. 


AM  HÄUSLICHEN  HERD. 


Vi.-rlay  vcjn  1',  A  oecmatm  iji  Ijoipzicj 


r,>ruck  von  L.Angerer  in  Berlin. 


■y  , 


Fig.  5.  Die  Sophienkirche  in  Konstantinopel. 


DIE  TRIANGULATUR  IN  DER  ANTIKEN  BAUKUNST. 

VON  0.  DEHIO. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ON  der  Bedeutung  der  Pro¬ 
portionen  für  das  architek¬ 
tonische  Kunstwerk  hier  zu 
sprechen,  wäre  überflüssig. 
Weniger  überflüssig  ist  es, 
daran  zu  erinnern,  dass  die 
kunstgeschichtliche  For¬ 
schung  die  einschlägigen 
Fragen  unverhältnismäßig  wenig  erst  gefördert 
hat,  ohschon  Untersuchungen  wie  in  neuerer  Zeit 
die  ausgezeichneten  und  ergebnisreichen  August 
Thiersch’s  wohl  zur  Nacheiferung  reizen  müssen. 
Es  ist  aber  ein  offenbares  Interesse  der  Ästhetik, 
empirisch  zu  ergründen,  mit  welchen  Mitteln  ge¬ 
wisse  anerkannte  Meisterwerke  der  Proportionskunst 
ihre  Wirkung,  die  jedermann  empfindet,  vollbringen; 
und  ein  ebenso  offenbares  Interesse  der  Kunst¬ 
geschichte,  nach  etwaniger  Tradition  in  diesen  Dingen 
zu  forschen.  In  meinen  kürzlich  veröffentlichten 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  12. 


„Untersuchungen  über  das  gleichseitige  Dreieck  als 
Norm  gotischer  Bauproportionen“  (Stuttgart,  J.  G. 
Cotta’sche  Buchhandlung,  1894)  habe  ich  eine  wich¬ 
tige  Einzelregel  eine  Strecke  lang  zu  verfolgen  ver¬ 
mocht.  Ich  habe  dort  nicht  nur  an  den  Kirchen- 
hauten  der  klassischen  Gotik  das  gleichseitige  Drei¬ 
eck  als  Proportionseinheit  nachgewiesen,  sondern  auch 
Beispiele  für  die  Kenntnis  und  Anwendung  dieser 
Regel  in  der  romanischen  Epoche  bis  zum  Jahre  1000 
zurückverfolgt.  Wie  jeder  Kenner  der  inneren  Trieb¬ 
kräfte  des  mittelalterlichen  Bauwesens  zugeben  wird, 
ist  es  nun  aber  höchst  unwahrscheinlich,  dass  eine 
Bauregel  von  der  Art  der  in  Rede  stehenden  damals 
erfunden  sein  sollte.  So  wird  die  Vermutung  un¬ 
widerstehlich  darauf  hingedrängt,  nach  einer  viel 
älteren  Tradition  zu  suchen.  Wir  werden  die  byzan¬ 
tinische,  wir  werden  schließlich  die  antike  Baukunst 
in  die  Untersuchung  hineinziehen  müssen  und  eine 
einfache  psychologisch -ästhetische  Erwägung  sagt 

35 


274 


DIE  TRIANGULATÜR  IN  DER  ANTIKEN  BAUKUNST. 


iius,  dass  wir  zuerst  beim  Centralbau  einzusetzen 
haben. 

Äußere  Umstände  nötigten  mich,  meine  Unter¬ 
suchung  dort,  wo  ich  es  gethan  habe,  abzubrechen 
und  eine  Zeit  lang  ruhen  zu  lassen.  Inzwischen 
habe  ich  sie  wieder  aufgenommen.  Das  als  mög¬ 
lich  Vermutete  hat  sich  als  wirklich  erwiesen:  die 
Triangulatur  ist  ein  schon  der  Antike  geläufiges 
Prinzip.  Da  einige  Zeit  vergehen  wird,  bis  ich  in 
der  Lage  bin,  meine  Untersuchung  vollständig  zu 
veröffentlichen,  fühle  ich  die  Pflicht,  wenigstens 
durch  diese  vorläufige  Mitteilung  die  Lücke,  die  ich 
gelassen  habe,  auszufullen.  Ich  beschränke  mich 
dabei  auf  einige  wenige  Belege,  die  aber  so  gewählt 


das  Schema  des  gleichseitigen  Dreiecks  bestimmt 
ist.  Ja  noch  mehr  als  das:  auch  die  Fassade  der 
Vorhalle  ist  nach  dem  nämlichen  System  propor- 
tionirt.  An  unserer  Figur  lässt  sich  das  in  der 
Weise  demonstriren ,  dass  wir  die  Breite  der  Vor¬ 
halle  =  C  D  eintragen,  worauf  sich  zeigt,  dass  die 
Spitze  des  entsprechenden  Dreiecks  in  die  Höhen¬ 
lage  des  Kranzgesimses  fällt.  Die  letztere  Beobach¬ 
tung  ist  von  besonderer  Bedeutung  für  das  Ge¬ 
schichtliche  des  berühmten  Bauwerks.  Die  gelehrte 
Welt  hat  kürzlich  mit  Erstaunen  die  unwiderleg¬ 
lichen  Beweise  entgegengenommen,  dass  der  gegen¬ 
wärtige  Rundbau  eine  Schöpfung  Hadrian’s  und 
nur  die  Vorhalle  augusteisch  ist.  Aus  dem  Obigen 


A  c 

Fig.  1.  Das  Pantheon  in  Rom. 


sind,  dass  sie  an  der  Sache  keinen  Zweifel  lassen 
werden. 

Der  suchende  Blick  wendet  sich  naturgemäß 
zuerst  auf  den  größten,  berühmte, sten  und  besterhal¬ 
tenen  Uentralbau  des  Altertums,  das  ranthmn.  Die 
beistehende  Figur  giebt  den  Läugenschnitt.  Da  das 
centrale  System  des  Planes  durch  die  Eingangshalle 
unterbrochen  wird,  muss  aus  dem  Grundri.ss  die 
lichte  Weite  des  Innenraums  von  Nische  zu  Nische 
übertragen  werden,  was  dem  Abstand  A — B  gleich¬ 
kommt.  Das  auf  dieser  Basis  errichtete  gleichseitige 
Dreieck  trifft  mit  seiner  Spitze  genau  den  Scheitel 
des  aus  dem  Kuppelradius  entwickelten  Halbkreises. 
Addirt  man  zu  den  Maßen  des  Inneren  einerseits 
die  Höhe  des  Außensockels,  andererseits  die  Dicke 
des  das  Opeion  einschließenden  Kuppelringes  hinzu, 
so  ergiebt  sich,  dass  auch  der  äußere  Aufbau  durch 


ergiebt  sich  nun  aber  doch  das  Bestehen  eines  in¬ 
nigen  Bandes  zwischen  Vorhalle  und  Rotunde,  wel¬ 
ches  die  Vermutung  nahe  legt,  dass  Hadrian  sehr 
wesentliche  Bestimmungen  aus  dem  augusteischen 
Bau  in  den  seinigen  herübergenommen  haben  muss.^) 
In  derselben  Weise  proportionirt  sind  die  großen 
Rundsäle  der  Caracalla-  und  der  Diodetiansthermen, 
der  sog.  Minerva  Medica,  der  Torre  de’  Sdiiavi  u.  a.  m. 

Eine  zweite  Art  der  Verwendung  zeigt  der 
Jupitertempel  in  Spalato  (s.  die  Figur),  der  dem 
gleichen  Typus  zugehörende  Tempel  des  Portumnus 
in  Ostia,  der  Vestatempel  in  Tivoli. 

Eine  dritte  das  Columbarium  der  Freigelassenen 

1)  Während  der  Drucklegung  wird  mir  von  befreundeter 
Seite  mitgeteilt,  dass  neueste  Untersuchungen  auch  die  Vor¬ 
halle  als  hadrianisch  erweisen  sollen,  wonach  das  Schluss¬ 
glied  der  obigen  Erwägung  entsprechend  zu  ändern  ist. 


DIE  TRIANGÜLATUR  IN  DER  ANTIKEN  BAUKUNST. 


275 


des  Augustus.  Es  ist  ein  oblonger  Raum  mit  je 
drei  Nischen  an  den  Längsseiten  und  je  einer  an 
den  Kurzseiten.  Das  über  der  Längenacbse  des 
Rechtecks  aufgebaute  Dreieck  ABC  bestimmt  die 
Höhe  der  Nischen, 
das  Dreieck  PQR 
würde  der  mut¬ 
maßlichen  Höhe 
der  Decke  gleich¬ 
kommen. 

Sollen  wirdie 
Römer  als  die  Be¬ 
gründer  des  durch 
die  obigen  Bei¬ 
spiele  hinreichend 
klargestellten  Ka¬ 
nons  anseh  en? 

Sehr  vieles  deutet 
daraufhin,  dass  sie 
im  monumentalen 
Gewölbebau  Schü¬ 
ler  der  hellenisti¬ 
schen  Kunst  ge¬ 
wesen  sind.  Die 
hiermit  aufgewor¬ 
fene  Erweiterung 

unserer  Frage  weiter  zu  verfolgen,  ist  leider  un¬ 
möglich,  da  die  Denkmäler  uns  gänzlich  im  Stich 
lassen.  Aber  in  grauer  Vorzeit  taucht  die  Spur 
noch  einmal  auf.  Die  nebenstehende  Figur  zeigt 
das  sogenannte  Grabmal  des  Tantalus  in  Phrygien. 
Texier  hat  den  Neigungswinkel  des  Tumulus  noch 
messen  können:  die  daraus  resultirende  Höbe  des 


Fig.  2.  Der  Jupitertempel  in  Spalato.  (Nach  Dehio  und  v.  Bezoi.d.) 


angelangt.  Wie  der  Tumulus  die  Urform  alles  Cen¬ 
tralbaus  ist,  so  musste  auch  an  seiner  Silhouette 
zuerst  die  geometrische  Beziehung  zwischen  Kegel 
und  Dreieck  zum  Bewusstsein  kommen.  War  ein¬ 
mal  diese  Abstrak¬ 
tion  vollbracht, 
dann  war  der 
Schritt  zur  ab¬ 
sichtsvollen  Rege¬ 
lung  dieses  Ver¬ 
hältnisses  nicht 
mehr  weit.  Man 
kam  auf  das  gleich¬ 
seitige  Dreieck, 
weil  es  unter  allen 
seines  Geschlechts 
das  einfachste,  das 
am  meisten  typi¬ 
sche,  das  die 
Gleichgewichts¬ 
idee  am  vollkom¬ 
mensten  darstel¬ 
lendeist.  Der  Cen¬ 
tralbau  in  seiner 
weiteren  Entwik- 
kelung  führte  es 
als  einen  festen  Erbbe- 


dann  durch  alle  Stadien 
stand  mit  sich. 

Durch  alle  Stadien!  Ich  übergehe  die  altchrist¬ 
lichen  Denkmäler  dieser  Gattung,  da  sie  nur  wieder- 


Fig.  3. 


Columbarium  der  Freigelassenen  des  Augustus. 
(Nach  Canina.) 


Grabmals  verhält  sich  zum  Durchmesser  nahezu 
genau  wie  der  Perpendikel  des  gleichseitigen  Drei¬ 
ecks  zur  Basis.  Hiermit  sind  wir,  wo  nicht  chrono¬ 
logisch,  so  doch  logisch  beim  Ursprung  der  Methode 


Fig.  4.  Grabmal  des  Tantalus. 

(Nach  Perrot  und  Chipicz.) 

holen,  was  längst  feststand,  um  zum  Schluss  die 
Aufmerksamkeit  auf  jenes  gewaltige  Bauwerk  zu 
richten,  das  den  Markstein  zwischen  Altertum  und 
Mittelalter  bildet,  die  Sophienkirche  Justinian’s. 

35* 


276 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


Unsere  Figur  bietet  den  Längensclinitt.  Der  Grund¬ 
riss  ist  jedermann  geläufig.  Er  zeigt,  dass  die 
Wirkungseinheit  des  Raumes  in  dem  großen  mitt¬ 
leren  Quadrat  zusamt  den  in  der  Länge  sich  daraus 
entwickelnden  Halbkreisen  beschlossen  ist,  während 
die  Nebenräume  bloßer  Hintergrund  sind.  Die  Län¬ 
genachse  wird  durch  die  Schneidung  der  Halbkup¬ 
peln  mit  den  anstoßenden  Tonnengewölben  einer¬ 
seits  des  Chores,  andererseits  des  Eingangsraumes 
bestimmt.  Diesen  Abstand  tragen  wir  auf  der 
Grundlinie  bei  A  und  B  ein.  Das  darüber  errich¬ 
tete  gleichseitige  Dreieck  trifft  in  seiner  Spitze  C 
mit  dem  Scheitel  der  großen  Centralkuppel  mit  haar¬ 
scharfer  Genauigkeit  zusammen.  Der  zusammen¬ 
gesetzten  Natur  der  Komposition  entsprechend  sind 
aber  auch  zahlreiche  Unterabteilungen  analog  trian- 
gulirt.  Auf  den  Querschnitt  kann  ich  hei  der  vor¬ 
geschriebenen  engen  Begrenzung  meiner  Mitteilung 
nicht  eingehen;  nicht  unterlassen  möchte  ich  aber, 
auf  die  drei  wiederum  gleichseitigen  Dreiecke  hin¬ 
zuweisen,  durch  welche  die  Grundlinie  der  Emporen 


mit  den  Kämpferlinien  der  über  jedem  Raum  auf¬ 
steigenden  Kuppeln  verknüpft  wird;  endlich  auf  die 
der  Seite  des  großen  Dreiecks  parallel  laufende  Linie 
D  G  mit  ihren  bedeutsamen  Schnittpunkten  E  und  F. 

Die  altchristlichen  Basiliken  kennen  die  Trian- 
gulatur  ebensowenig  wie  die  griechischen  Tempel. 
Sie  gehört  im  Altertum  allein  dem  Centralbau.  Ihre 
Übertragung  auf  den  Longitudinalbau  ist  das  Werk 
des  Mittelalters.  Wie  und  wann  dieser  Vorgang  sich 
vollzogen  hat,  ist  eine  offene  Frage,  auf  die  ich 
noch  keine  Antwort  weiß.  Über  allem  Zweifel  steht 
mir  aber,  dass  die  Triangulatur  in  der  romanischen 
und  gotischen  Baukunst  nichts  anderes  ist  als  „Nach¬ 
leben  der  Antike“.  Eine  großartige  Continuität 
in  den  Grundsätzen  der  praktischen  Ästhetik  reicht 
von  den  frühen  Grabbauten  des  Orients  bis  zum 
Pantheon  der  Kaiser  Augustus  und  Hadrian,  von 
diesem  zur  Sophienkirche  und  von  hier  wieder  zum 
Straßburger  Münster:  —  sie  alle  haben  das  gleiche 
Grundschema  proportionaler  Schönheit  zur  Voraus¬ 
setzung. 


GOETHE'S  BILDNISSE 
UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 

VON  E.  LEHMANN. 


(Schluss.) 


IE  einst  Raftael’s  Madonna 
deir  Granduca  in  einem 
ärmlichen  Häuschen  erst 
von  Carlo  Dolci’s  Künstler¬ 
auge  erspäht  wurde,  so 
musste  eines  der  schönsten 
und  bekanntesten  Bildnisse 
unseres  Dichters,  das  Öl¬ 
gemälde  von  May  aus  dem  Jahre  1779,  lange 
Zeit  im  Dunkel  eines  Trödlerladens  harren,  be¬ 
vor  es  1^35  von  August  Lewald  entdeckt  wurde, 
von  dem  es  in  den  Besitz  von  Cotta  überging.  Wie 
es  den  Weg  aus  den  Gemächern  der  Herzogin  Eli¬ 
sabeth  von  Württemberg,  der  Nichte  Friedrich ’s 
des  Großen,  bis  zu  jenem  Trödler  gefunden  hat, 
bleibt  ein  Rätsel.  Genug,  es  ist  gerettet,  und  unser 
Blick  kann  sich  an  dem  offenen  Antlitz  und  den 
feinen  geistreichen  Zügen  weiden,  die  an  die  Sil- 


,,Mehv  Inhalt,  weniger  Kunst.“’ 
SHAKESPEARE. 

houette  von  1774  erinnern.  Die  Stirn  ist  weit  und 
hochgewölbt,  die  Nase  leicht  gebogen,  der  Mund 
mit  voller  Oberlippe  wie  zum  Kuss  geschwellt,  das 
braune  Auge  mit  herrlichem  Glanz  erfüllt,  und  aus 
dem  Ganzen  leuchtet  die  liebenswürdig  selbstbe¬ 
wusste  Anmut,  mit  der  „der  schöne  Hexenmeister“, 
wie  ihn  Wieland  nannte,  alle  Frauenherzen  und 
einen  großen  Teil  der  Männerwelt  eroberte. 

ln  demselben  Jahre  zeichnete  der  Däne  Jens 
Juel  den  Dichter.  Das  Blatt  enthält  mehr,  als  was 
man  auf  den  ersten  Blick  herausliest;  jedenfalls  ist 
es  unter  Hunderten  das  einzige,  das  den  Dichter 
hervorkehrt.  Der  Kopf  ist  leicht  gehoben,  fast  Profil, 
wie  es  Holbein  liebt,  das  andere  Auge  gerade  noch 
zu  sehen;  der  schwärmerische  Blick  kennzeichnet 
ein  strahlendes  Seherauge. 

Das  Jahr  1780  ist  durch  die  gewandt  geschnit¬ 
tenen  Anthing’schen  Silhouetten  vertreten,  die  einem 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


277 


Konewka  Ehre  machen  würden:  Goethe  mit  etwas 
zurückgebogenem  Oberkörper  in  edler  Haltung  als 
neuer  „Geheimbderat“.  Der  zierlich  gebundene  Zopf 
reicht  bis  zur  Mitte  des  Rückens,  die  Hände  sind 
über  der  Brust  verschränkt,  der  linke  Arm  hält  den 
Hut;  der  bis  an  das  Knie  reichende,  die  Gestalt  in 
schönen  Linien  zeigende  Rock  ist  offen;  an  der  Seite 
hängt  der  Degen  mit  gewundenem  Griffe.  Tn  der 
Haltung  ähnlich,  aber  nach  rechts  gewandt,  ist  der 
im  Besitze  des  Freiherrn  ron  Biedermann  befindliche 


land  nach  den  Proben,  die  in  der  Bibliothek  zu 
Weimar  und  auf  der  Ettersburg  stattfanden:  „Nie 
werde  icb  den  Eindruck  vergessen,  den  er  als  Orest 
auf  mich  machte.  Goethe  war  ein  Apoll,  hernieder- 
ffestiegen,  um  die  Schönheit  Griechenlands  zu  ver- 
körpern.  Noch  nie  erblickte  ich  eine  solche  Ver¬ 
einigung  physischer  und  geistiger  Vollkommenheit 
und  Schönheit  bei  einem  Manne.“ 

Weder  die  „Schiefgesichtigkeit“  Goethe’s  noch 
seine  Blatternarben  werden  von  den  Besuchern  be- 


Goethe  in  den  Ruinen  Roms.  Gemälde  von  J.  F.  Tischbein  (1787). 


Schattenriss.  In  allen  diesen  Bildern  spiegeln  sich 
die  Urteile  der  Mitwelt  wieder,  die  —  mit  Aus¬ 
nahme  von  Veit’s  Schilderung  —  sich  nicht  genug 
thun  können  und  in  wahre  Hymnen  über  die  strah¬ 
lende  Erscheinung  des  Dichters  ausbrechen.  Die 
nicht  so  ohne  weiteres  zu  beantwortende  Frage: 
„Ist  Goethe  schön  gewesen?“  ist  schon  oft  erörtert 
worden,  am  ausführlichsten  in  der  Wiener  „Deut¬ 
schen  Zeitung“  vom  1.  Juni  1878.  Als  „Iphigenie“ 
in  der  ersten  Gestalt  vollendet  war,  erklärte  Hufe- 


sonders  bemerkt.  Beides  scheint  durch  die  Leben¬ 
digkeit  des  Mienenspiels  und  das  Bedeutende  in 
den  Zügen  des  Ehrfurcht  und  Bewunderung  ein¬ 
flößenden  Dichterhauptes  vollständig  verdeckt  wor¬ 
den  zu  sein,  obschon  kein  Zweifel  an  dem  Vor¬ 
handensein  der  beiden  „Schönheitsfehler“  möglich 
ist.  Das  sprechendste  Zeugnis  dafür  findet  sich  in 
der  von  Weißer  abgenommenen  Gesichtsmaske,  nach 
der  er  ohne  jede  künstlerische  Zuthat  beinahe  me¬ 
chanisch  die  bekannte  Büste  arbeitete.  An  ihr  oder 


278 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


an  ihrer  Photographie  sieht  man  deutlich  die  Narben 
am  Kinn,  an  der  Seite  der  Mundwinkel  und  Nasen¬ 
flügel,  in  der  Nähe  der  Schläfen  und  über  der 
Nasenwurzel.  Nur  die  lebhafte  Tante  Melber,  wie 
sie  Goethe  nennt,  hatte  scharfe  Augen  für  die  Ver¬ 
unstaltung  des  Lieblings,  Bevor  der  kleine  Wolf- 


Harmonie  der  Erscheinung  —  haben  sicher  auch 
andere  äußere  Umstände,  sowie  persönliche  Neigung 
und  Stimmung  das  Ihrige  dazu  beigetragen  und 
eine  eingehende  Prüfung  des  Einzelnen  unterdrückt. 
Im  Grunde  kommt  auch  herzlich  wenig  darauf  an. 
Wurden  aber  diese  und  jene  Einzelheiten  bei  Leb- 


Goethe.  Kreidezeichnung  von  Büry  (1800). 


gang  von  den  Blattern  befallen  wurde,  hatte  sie  oft 
seine  Schönheit  ge])riesen;  nach  der  Krankheit  aber 
l)egrüßte  sie  den  Vater  Goethe  mit  den  Worten: 
..l’fni  Teufel,  Vetter,  wie  garstig  ist  er  geworden!“ 
Neben  dem  Ausdrucke  des  Erhabenen  und  An¬ 
mutigen  in  Goethe’s  Gestalt  und  Gesicht  —  nur 
seine  etwas  zu  kurzen  Beine  störten  im  Alter  die 


Zeiten  des  Dichters  beständig  übersehen,  so  hatten 
sie  auch  mit  dem  der  Nachwelt  zu  überliefernden 
Abbilde  nichts  zu  schaffen.  In  uns,  die  wir  Goethe 
nicht  von  Angesicht  zu  Angesicht  gesehen  haben, 
zerfließt  die  in  der  Phantasie  aufdämmernde  Ver¬ 
körperung  des  Dichters  unter  dem  rein  geistigen 
Eindrücke  seiner  Werke.  So  verstehen  wir  auch 


Goetlie.  Porträt  von  J.  J.  Schjieller  (1829).  Goethe.  Kreiilezeiclmimg  von  F.  Jagemann  (1817). 


280 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


die  Worte  öd()^  sjtvsxo  jivsvfia^^  auf  dem  von 
Bettina  entworfenen  Standbilde,  einer  Apotheose  des 
Dichters:  in  der  Linken  hält  er  die  Leyer,  die 
Psyche  zum  Tönen  bringt.  Oder,  wie  Holtei  treffend 
sagt:  „Wenn  wir  auf  dem  Titel  eines  gedruckten 
Buches  den  Namen  Goethe  lesen,  so  ist  es  uns  oft 
unmöglich,  ihn  in  unserer  Phantasie  mit  irgend  einer 
Persönlichkeit  in  Verbindung  zu  bringen;  gerade 
weil  er  das  rein  Menschliche  in  allen  Tiefen  und 
Höhen  durchdrungen,  scheint  er  uns  so  wenig  an  eine 
körperliche  Form  gebunden,  dass  unsere  Einbildungs¬ 
kraft  sich  kein  Individuum  dabei  vorstellt.  Uns  ist 
es  die  Dichtkunst  selbst,  die  zu  uns  redet  durch 
den  lebensreichsten  deutschen  Dichter.“ 

Die  meisten  der  in  Seitenansicht  aufgenommenen 
Bildnisse  der  jüngeren  Jahre  zeigen  eine  auffallende 
Ähnlichkeit  mit  dem  des  Vaters;  namentlich  tritt 
dies  bei  den  Krauss’schen  Bildern  zu  Tage,  sowie 
in  der  Silhouette  von  1774,  deren  Umriss  sich  wie¬ 
derum  fast  vollständig  mit  der  von  Goethe’s  Hand 
herrührenden  bekannten  Profilzeichnung  seiner 
Schwester  deckt.  Die  großen  braunen,  wunderbar 
glänzenden  und  tiefblickenden  Augen  • —  „sie  blick¬ 
ten  wie  Töne  eines  Violoncello“,  sagt  Bettina  — 
sowie  der  liebliche  Mund,  der  seine  Formen,  wie 
die  Weißer’sche  Maske  bezeugt,  bis  ins  hohe  Alter 
bewahrte,  sind  ein  Erbteil  der  Mutter.  Ihre  Züge 
sind  am  treuesten  in  dem  IIeuser’sch.en  Pastell¬ 
gemälde  erhalten,  das  jetzt  neben  den  Bildern  ihrer 
Großenkel  im  gelben  Zimmer  des  Goethehauses  in 
Weimar  hängt.  Jeden  Zweifel  an  jener  freundlichen 
Übereinstimmung  benimmt  uns  ein  Bildnis  aus  dem 
Jahre  1785,  das  Ölgemälde  von  Darhes,  das  eben¬ 
falls  in  Lebensgröße,  aber  mit  geringer  Wendung 
nach  links,  ein  treffliches  Gegenstück  zu  dem  Heuser- 
schen  der  Mutter  bildet. 

Das  Jahr  1786  ist  der  zweite  wichtige  Mark¬ 
stein  in  Goethe's  Leben.  Die  Sehnsucht  nach  dem 
Wunderland  der  Hesperiden,  dem  Traume  seiner 
Jugend,  lockte  ihn  „wie  Zaubersaiten  und  Gesang“; 
sie  riss  ihn  vom  Liebsten  hinweg,  was  er  in  Weimar 
besessen.  Selbst  Frau  von  Stein,  die  zehn  Jahre  als 
seine  Seelenführerin,  als  die  liebe  Begleiterin  all 
seiner  Gedanken,  als  der  unversiegliche  Quell  seines 
Glückes  in  seinem  Herzen  gewaltet  hatte,  konnte 
ihn  nicht  zurückhalten:  „Und  wieder  gingen  die 
Sonnenpferde  der  Zeit,  wie  von  unsichtbaren  Geistern 
gepeitscht,  mit  seines  Schicksals  leichtem  Wagen 
durch“,  und  diesmal  hoben  sie  ihn  zur  Sonnennähe, 
ln  Italien  rang  sich  sein  Genius  zur  geistigen  Klar¬ 
heit  empor;  losgelöst  von  allem  Kleinlichen  des 


Berufs  und  des  höfischen  Lebens  streifte  er  in  tief¬ 
innerer  Glückseligkeit  die  alten  Schlacken  ab.  Sein 
Abbild  dieser  Zeit  ist  das  Apollohaupt  der  Trippel- 
schen  Büste,  deren  Porträtähnlichkeit  größer  ist,  als 
gemeiniglich  zugestanden  wird.  Neben  der  Wei¬ 
marer  Büste  hat  der  jetzige  Großherzog  die  Maske 
nach  dem  Leben  aufstellen  lassen:  selbst  der  Mund, 
wie  Lavater  sagt,  „voll  genialischen  Reichtums“, 
den  man  als  besonders  idealisirt  hinstellte,  erscheint 
beim  Vergleiche  als  genaue  Kopie  des  Lebens,  und 
nur  die  zu  mächtigen  Stirnlocken  und  das  Wangen 
und  Hals  umspielende  Haargelock  leiht  der  Büste 
den  genienartigen  Ausdruck.  Trippei  hatte  aber 
den  Zopf  aus  der  Masche  gelöst  und  die  Haarfülle 
gelockert,  die  antike  Drapirung  that  das  übrige 
—  und  der  Apollo  war  fertig. 

In  dem  Briefe  vom  12.  September  1787  schreibt 
Goethe  aus  Rom:  „Meine  Büste  ist  sehr  gut  geraten, 
jedermann  ist  damit  zufrieden:  gewiss  ist  sie  in 
einem  schönen  und  edlen  Stile  gearbeitet,  und  ich 
habe  nichts  dagegen,  dass  die  Idee,  als  hätte  ich  so 
ausgesehen,  in  der  Welt  bleibt.“  Man  hat  aus  diesen 
Worten,  ohne  genauere  Prüfung  der  übrigen  Bild¬ 
nisse,  schließen  wollen,  Goethe  hätte  selbst  nicht  an 
die  volle  Ähnlichkeit  der  Büste  geglaubt,  ergo  sei 
sie  nur  ein  schöner  Schein  und  keine  Wahrheit. 
Dagegen  ist  einzuwenden,  dass  fast  niemand  im  stände 
ist,  sein  eigenes  Bildnis  so  nachzuprüfen,  —  es  sei 
denn,  dass  er  es  Zug  um  Zug  nachzufühlen  und  zu 
bilden  vermöchte,  —  namentlich  aber  dann  nicht, 
wenn  die  unmittelbare  Umgebung,  wie  die  Haar¬ 
tracht,  der  Faltenwurf,  der  Kragen  oder  Saumbesatz 
in  der  Nähe  des  Halses  sich  ändert,  wie  es  hier  ge¬ 
schehen  ist,  wo  die  gewohnte  Tracht  der  antiken 
gewichen  ist.  Der  Porträtmaler  weiß,  dass  sogar 
der  Blick  und  der  Gesichtsausdruck  nicht  allein 
vom  Auge  und  dessen  umgebenden  Partieen,  sondern 
auch,  so  wunderlich  es  erscheinen  mag,  von  der 
Zeichnung  des  Rockkragens  abhängen  kann;  eine 
einzige  neue  falsche  Richtung  vermag  dem  vorher 
noch  geistvoll  blickenden  Auge  einen  blöden  Aus¬ 
druck  zu  geben  und  die  freie  Haltung  in  eine  steife 
und  gezwungenene  umzu wandeln.  Verdeckt  man 
z.  B.  auf  der  Wiedergabe  der  auf  hohem  Postamente 
gedachten  David’schen  Kolossalbüste  nicht  nur  die 
in  die  Länge  und  Breite  gezogene  Stirne,  sondern 
auch  den  unförmlich  dicken  Hals,  so  giebt  sich  die 
Ähnlichkeit  mit  dem  Dargestellten  weit  eher  kund. 

Ähnlich  wie  Goethe’s  Verwandte  äußert  sich 
Schöll  über  das  Werk:  „Trippei ’s  Büste  ist  nicht  nur 
das  realste,  sondern  auch  das  wahrste  Bildnis,  was 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


281 


wir  haben.  Die  Schönheit,  den  Apolloausdruck,  der 
zu  ihrem  weitläufigen  Prädikat  geworden  ist,  haben 
von  jeher  alle  Laien  oft  in  der  Meinung  bewundert, 
sie  sei  mehr  Wirkung  der  künstlerischen  Idealisi- 
rung,  als  der  Treue,  wogegen  naturkundige  Kenner 
und  Künstler  dem  Bildner  auch  nach  der  Bildnis¬ 
individualität  und  atmenden  Wahrheit  seines  Werkes 
die  Palme  zuerkennen.“  Hierzu  ist  zu  bemerken, 
dass  Schöll  nicht  das  Arolsener,  sondern  das  Wei¬ 
marer  Exemplar  im  Sinne  hat,  das  zwar  dieselbe 


geist  greifbar  hinstellen  wollen,  dessen  Wesen  nicht 
nur  das  Erhabene  und  Ergreifende,  sondern  auch 
das  Kindliche  und  Übermütige  in  sich  vereinigte. 

Außer  dem  großen  7iroZ^)6’schen  Gemälde  aus  dem 
Jahre  1826,  von  dem  der  Meister  das  im  Leipziger 
Museum  befindliche  Brustbild  entnahm,  ist  das  Tisch- 
heiii’^che.  Gemälde  das  einzige  Bild,  das  den  Dichter 
in  ganzer  Gestalt  zeigt.  Vor  Rom  in  der  Campagna 
in  langem  faltigen  weißen  Mantel  auf  einem  um- 
gestürzten  Obelisken  hat  er  sich  hingelagert;  mit 


Goethe.  Skizze  auf  Schloss  Arklitten  bei  Gerdauen. 


Drapirung  der  Chlamys  aufweist  —  nur  die  Spange 
ist,  statt  durch  eine  tragische  Maske,  durch  eine  ver¬ 
zierte  Buckelagraffe  ersetzt,  —  aber  die  fast  klas¬ 
sisch  strengen  Züge  etwas  gemildert  erscheinen  lässt. 

Goethe  bezeichnet  seinen  Aufenthalt  in  Italien 
als  den  Höhepunkt  seines  Daseins,  —  kein  Kunst¬ 
werk  kann  die  glänzende  Zeit  dichterischen  Schattens 
besser  verkörpern  als  die  Trippel’sche  Büste  und 
allenfalls  noch  das  gleichzeitige  große  Tisclthein’sohe 
Ölgemälde  im  Städel’schen  Kunstinstitute  zu  Frank¬ 
furt  a.  M.  Diese  beiden  Kunstwerke  sind  es  vor 
allen  anderen,  denen  unsere  Künstler  die  Grund¬ 
züge  des  Gesichtes  und  der  Gestalt  zu  entnehmen 
haben,  wenn  sie  uns  den  allumfassenden  Dicbter- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst  N.  F.  V.  II.  12 


Goethe.  Porträt  von  G.  v.  KÜgelgen  (1810). 


dem  rechten  Arme  auf  das  Gestein  sich  lehnend, 
blickt  er  sinnend  und  beschaulich  in  die  Landschaft 
hinaus.  Im  Mittelgründe  erinnert  ein  antikes  Flach¬ 
bild  neben  einem  römischen  Säulenkopf  an  „Iphi¬ 
genie“,  und  von  da  erstreckt  sich  bis  in  die  duftige 
blaue  Ferne  die  wellige  Campagna  mit  ihren  Aquae- 
dukten  und  Rundtürmen  bis  zum  Monte  Cavo.  Der 
Künstler  hat  sich  weniger  Tizian  und  van  Dyck  als 
Holbein  zum  Vorbild  genommen;  die  Umrisse  sind 
deutlich  hervorgehoben,  um  auch  im  Kleinen  das 
Charakteristische  erkennen  zu  lassen.  In  der  Farbe 
herrscht  vollständig  ein  weißlich  grauer  Ton,  doch 
ist  dabei  die  Modellirung  plastisch,  der  weiße  Mantel 
auch  in  stofflicher  Beziehung  trefflich  behandelt. 


30 


Goethe.  Porträt  von  0.  Kiprix«ki  (1823)  Goetlie.  Porträt  von  L.  GEnr.F.its  (I8.’t 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


283 


Das  Gemälde  ist  sclion  dem  Entwürfe  nach  das  gro߬ 
artigste  aller  vorhandenen  Bildnisse  Goethes  und  zu¬ 
gleich  Tischbein’s  beste  klassicistische  Leistung,  ein 
Zeugnis  des  antiquarischen  Enthusiasmus  des  Dich¬ 
ters  und  des  Malers  zugleich.  Goethe  selbst,  der  in 
Rom  bei  Tischbein  wohnte,  schildert  ausführlich,  wie 
das  Bild  entstand  und  wie  sorgfältig  der  Künstler  zu 
Werke  ging.  Für  die  Drapirung  des  Mantels  hatte 
sich  Tischbein  von  einem  tüchtigen  Bildhauer  eigens 
ein  Modell  von  Thon  machen  lassen,  wie  es  im 
Museum  zu  Weimar  nachgebildet  erscheint.  Was 
den  Gesichtsausdruck  in  unserem  Bilde  anlangt,  der 
trotz  aller  Energie  nicht  des  Beschaulich-Heiteren 
entbehrt,  so  wissen  wir  von  Augenzeugen,  u.  a.  durch 
Angelika  Facius,  aus  deren  Händen  das  große  Relief¬ 
bild  Goethe’s  im  Museum  zu  Weimar  hervorging, 
sowie  aus  Marianne  von  Willemer’s  Briefen,  dass 
die  Außenseite  des  Dichters  häufig  den  Stempel  der 
Unnahbarkeit  trug,  ohne  dass  er  es  eigentlich  war. 
Die  ihm  von  Jugend  auf  anhaftende  Gravität  wich 
sogleich,  wo  sein  Anteil  im  Umgang  mit  anderen 
angeregt  wurde;  namentlich  war  er  stets  von  hin¬ 
reißender  und  bezaubernder  Güte  gegen  Kinder;  das 
heitere  Spiel  eines  liebevollen  Lächelns  verklärte  dann 


nocli  lange  seine  Züge,  dasselbe  rein  menschlich  zu¬ 
trauliche  Mieuenspiel,  das  uns  in  südlichen  Physio- 
gnomieen  mehr  als  hier  im  graulichen  Norden  be¬ 
gegnet  und  entzückt.  Goethe  selbst  schildert  es 
treffend  in  den  oft  angeführten  Versen: 

,,Hier  ist  das  Wohlbehagen  erblich. 

Die  Wange  heitert  wie  der  Mund. 

Ein  jeder  ist  an  seinem  Platz  unsterblich. 

Sie  sind  zufrieden  und  gesund.“ 

Auch  Angelika  Kauffinann.  versuchte  sich  zur 
Zeit  des  zweiten  römischen  Aufenthaltes  an  Goethe’s 
Porträt,  aber  mit  wenig  Glück.  Etwas  Süßliches, 
mädchenhaft  Zurückhaltendes  spricht  aus  dem  Bilde, 
was  dem  Goetlie’sehen  Wesen  durchaus  fremd  war. 
Es  ist  nie  im  Besitze  des  Dichters  gewesen,  hat 
aber  jetzt  seinen  Platz  wohl  für  immer  im  gelben 
Zimmer  des  Goethehauses  neben  dem  Bilde  der 
Marianne  von  Willemer  gefunden.  „Angelika  malt 
mich  auch,“  schreibt  Goethe,  „daraus  wird  aber 
nichts.  Es  verdrießt  sie  sehr,  dass  es  nicht  gleichen 
und  werden  will.  Es  ist  immer  ein  hübscher  Bursche, 
aber  keine  Spur  von  mir.“  Einen  Pseudo -Goethe 
von  Angelika  besitzt  das  Leipziger  Museum. 

Die  neunziger  Jahre,  die  epische  Zeit  in  Goethe’s 
Leben  und  Dichtung,  geben  sich  auch  in  einer  be¬ 
stimmten  Wandlung  im  Äußeren  kund:  der  Apollo¬ 
typus  beginnt  zu  weichen,  und  der  Zeustypus  tritt 


Goethe.  Skizze  auf  Schloss  Arklitteu  bei  Gerdauen. 

36* 


Goethe.  Porträt  von  J.  K.  Stielee  (1828). 


2S4 


GOETHE’S  BILDNISSE  UND  DIE  ZARNCKE’SCHE  SAMMLUNG. 


allmählich  au  seine  Stelle.  Das  einzige  Bildnis  von 
wirklich  künstlerischem  Werte,  das  den  Dichter  im 
mittleren  Maunesalter  darstellt,  rührt  von  der  Hand 
des  Zeichners  und  Kupferstechers  Lips  her.  Zeich¬ 
nung  wie  Stich  bekunden  eine  fast  großartige  Auf¬ 
fassung,  ganz  abweichend  von  seinen  Bildnissen 
Goethe’s  aus  früherer  Zeit.  Obwohl  im  Ganzen  die 
Ähnlichkeit  gewahrt  erscheint,  blickt  doch  eine  ge¬ 
wisse  absichtliche  Stilisirung  hindurch,  die  im  Ver¬ 
ein  mit  der  geometrisch  genauen  Vorderansicht  dem 
Antlitz  etwas  medusenhaft  Erstarrendes  giebt,  — 
eine  Eigentümlichkeit,  von  der  kein  Porträt  en  face 
ganz  frei  ist,  und  wenn  sein  Schöpfer  ein  Dürer  wäre. 

Einen  eigentümlichen,  fast  befremdenden  Ein¬ 
druck  machen  auf  uns  zwei  Bilder,  die  wenige  Jahre 
später  entstanden  sind:  die  Kreidezeichnung  der 
Charlotte  Bauer  und  das  Aquarell  von  Joli.  Hcinr. 
Meijcr,  dem  „Goethe -Meyer“  oder  „Kunschtmeyer“, 
wie  er  genannt  wurde,  der  auch  das  bekannte  Bild 
von  Christiane  mit  dem  kleinen  August  auf  dem 
Schoße  malte.  Die  genannten  Bilder  lassen  sich 
den  physiognomischen  Rätseln  an  die  Seite  stellen, 
die  vor  zwanzig  Jahren  die  Gartenlaube  in  zwei 
Bildern  Bismarck’s  aus  den  Jahren  1846  und  1856 
iliren  Lesern  auftischte  und  die  sofort  gelöst  waren, 
sobald  man  den  Backenbart  zudeckte.  Auch  Goethe 
ist  in  jenen  Bildern  mit  der  an  ihm  ganz  unge¬ 
wohnt  erscheinenden  Zierde  versehen.  Für  uns  kann 
nur  das  iMeyer’sche  Bild  in  Betracht  kommen,  das 
der  Bauer  besitzt  allzu  geringe  Ähnlichkeit.  Auf 
jenem  trägt  der  Dichter  außerdem  zum  erstenmal 
ziemlich  kurzes  Haar,  obwohl  er,  wie  einige  Goethe- 
forscher  behaupten,  dem  Zopfe  noch  bis  in  das  Jahr 
1810  gehuldigt  haben  soll;  —  doch  ist  der  Streit 
lim  des  Dichters  Zopf  bisher  nicht  mit  Bestimmtheit 
entschieden. 

Schließlich  gehört  zu  dieser  Gruppe  noch  die 
große  Kreidezeichnung  des  Schweizer  Malers  Friedr. 
Hury,  die  Goethe  ganz  besonders  hoch  schätzte;  sie 
hängt  noch  heute  neben  Christianen’s  Bild  an  der¬ 
selben  Stelle  des  Junozimmers  seiner  Wohnung,  wie 
ehemals  hei  seinen  Lebzeiten.  So  wenig  uns  das 
Bild  auf  den  ersten  Blick  anmutet,  so  muss  man 
doch  zugehen,  dass  es,  wie  sich  Kanzler  von  Müller 
ausdrückt,  neben  nicht  zu  leugnender  Ähnlichkeit 
auch  den  tiefen,  kraftvollen,  unerschütterlichen  Ernst 
und  klaren  Charakter  des  großen  Mannes  wieder¬ 
spiegelt. 

I  )ie  Bildnisse  des  alternden  Dichters  sind  zumeist 
allen  bekannt;  unter  ihnen  befinden  .sich  die  wohl- 
thuendsten  und  anheimelndsten  und  auch  die  an¬ 


ziehendsten,  sowohl  was  die  Persönlichkeit  des 
Dichters  als  der  Künstler  anlangt.  Die  Maler  rissen 
sich  förmlich  um  ihn,  Könige  und  Fürsten  sandten  ihre 
Künstler  nach  Ilm-Athen,  und  sein  Bildnis  machte, 
wie  seine  Lieder,  die  Reise  um  die  Erde.  Die  Reibe 
beginnt  mit  Caroline  Bardua,  Jagemann  und  Kügel- 
genViVidi  QwdigiimiKiprinslcijStieler,  Schmeller,  Schwerd- 
geburth  und  Preller.  Sie  alle  versuchten  zu  erreichen, 
was  Mademoiselle  Bardua’ s  Vater  von  dem  1805 
gemalten  Bilde  seiner  Tochter  behauptete:  „Mit 
diesem  Bilde  ist  Goethe  für  die  Nachsicht  zufrieden.“ 
Das  Ölgemälde,  auf  dem  der  Dichter  mehr  fromm¬ 
süßlich  als  geheimrätlich- steif  erscheint,  fand  der 
jetzige  Besitzer,  Herr  Universitätsrat  Dr.  Meitzer,  im 
Anfang  der  achtziger  Jahre  in  Legefeld,  einem  Dorfe 
zwischen  Weimar  und  Berka  a.  d.  Hm,  wo  es  eine 
Zeit  lang  auf  dem  Hühnerboden  gelegen  hatte.  Von 
derselben  Malerin,  einer  Schülerin  Heinrich  Meyer’s 
und  später  Franz  Gerhard  Kügelgen’s,  rührt  noch 
ein  Bildnis  Goethe’s  her,  das  ihn  in  römischem 
Kostüm  darstellt  und  bereits  von  größerer  Kunst¬ 
fertigkeit  zeugt;  auch  das  dilettantenhafte  Bildnis 
von  Christiane,  das  jetzt  im  gelben  Zimmer  des 
Goethe’schen  Hauses  hängt,  stammt  von  ihrer  Hand. 

Die  Bilder  Jagemann’ s ,  der  ebenso  an  Schiller 
wie  an  Goethe  mit  glühender  Verehrung  hing  — 
er  war  einer  von  denen,  die  in  der  stürmischen 
Nacht  des  11.  Mai  1805  die  Leiche  des  Dichters 
nach  dem  „Kassegewölhe“  trugen,  —  stammen  aus 
den  Jahren  1806,  1807  und  1817  und  sind  ebenfalls 
von  ganz  ungleichem  Werte.  Schon  1804  hatte 
Herzog  Karl  August  in  seiner  launigen  Art  an 
Goethe  den  Besuch  Jagemann’s  angekündigt:  „Da 
du  nunmehr  deine  Dachsmonate  angetreten  hast,  so 
kannst  du  auch  ruhig  deinen  Kopf  hinhalten,  und 
bitte  dich  ergebenst,  solchen  an  Jagemann  darzu¬ 
reichen,  der  schon  alle  Instrumente  zur  Operation 
bereit  hält.  Nur  eine  große  Praxis  in  der  Kopf- 
ahnehmerkunst  kann  aus  ihm  die  Wirkungen  seines 
Talentes  heraustreiben!“ 

Das  erste  von  Jagemann’s  Bildern,  ein  Pastell¬ 
bild  im  Goethehause,  ist  noch  geringwertiger  als 
das  der  Bardua,  —  wahrscheinlich  hat  ihm  der  Dichter 
dazu  gar  nicht  gesessen;  das  zweite,  ein  Ölbild  auf 
Holz,  jetzt  in  der  Bibliothek  in  Weimar,  zeigt  sicher 
große  Ähnlichkeit,  wenn  es  auch  in  dem  sinnend 
vor  sich  hinblickenden  Antlitz  die  geistige  Bedeu¬ 
tung  des  Dargestellten  kaum  ahnen  lässt.  Erst  das 
dritte  Bild,  die  bedeutende  lebensgroße  Profilzeich- 
nung  aus  dem  Jahre  1817,  hat  des  Künstlers  Namen 
verbreitet.  Der  Ausdruck  des  mächtigen  Kopfes 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


285 


hat  etwas  Gebietendes  und  Ernstes,  Ruhiges  und 
Vornehmes;  die  sichere  Strichführung  in  Umriss 
und  Schatten  gebung  erhöht  den  Eindruck  des  ener¬ 
gisch  Lebensvollen  und  bestärkt  unser  Zutrauen 
zur  Treffsicherheit  des  Zeichners.  Besondere  Beach¬ 
tung  verdienen  die  Schmeller’schen  Bildnisse  Goethe’s. 

cj 

Leider  lässt  sich  die  Zeit  der  Entstehung  des  besten 
unter  ihnen  nicht  genau  feststellen.  Zarncke  ent¬ 
schließt  sich  in  der  chronologischen  Übersicht  für 
1829;  die  Angaben  schwanken  zwischen  1825  und 
1831.  Jedenfalls  sitzt  der  Kopf  mit  dem  sicheren 
Blicke  viel  energischer  in  den  Schultern,  als  auf 
der  Zeichnung  von  1830.  Wer  die  130  Bildnisse 
von  der  Hand  Schmeller’s  im  Goethehause  gesehen 
hat,  wird  an  der  treuen  Wiedergabe  des  Dichter¬ 
antlitzes  kaum  zweifeln  können. 

Auch  jenes  Porzellanbild  auf  einer  Muiidtasse 
von  Sebbcrs  gemalt,  zu  dem  Goethe  über  zwanzig 
Sitzungen  bewilligte  und  dessen  minutiöse  Porträt¬ 
ähnlichkeit  von  3Icyer  besonders  hervorgehoben  Avird, 
stammt  aus  der  letzten  Lebenszeit  des  Dichters.  Der 
bekannte  Goethebiograph  Friedr.  Förster,  nicht 
Goethe,  schrieb  dem  Maler  die  bezeichnenden  Verse 
ins  Album: 


„Nun  ich  hier  als  Altmeister  sitz’, 

Rufen  sie  mich  aus  auf  Straßen  und  Gassen, 

Zu  haben  bin  ich  wie  der  alte  Fritz 
Auf  Pfeiti'enköpfen  und  Tassen; 

Doch  die  schönen  Kinder,  die  bleiben  fern. 

0  Traum  der  Jugend,  o  goldner  Stern!“ 

Der  erste  Versuch  zu  einer  Ikonographie 
Goethe’s  wurde  1877  von  Prof.  Scliröer  in  Wien 
gemacht.  Sie  ging  aus  dem  Bestreben  hervor,  zur 
Errichtung  eines  Denkmals  Goethe’s  die  Anregung 
zu  geben.  Auch  in  Leipzig  sind  hin  und  wieder 
Wünsche  laut  geworden  nach  einem  Staudbilde  des 
Studenten  oder  des  Faustdichters  Goethe.  Sollte 
es  dem  jungen  Dichter  gelten,  Avie  wir  ihn  uns 
gern  den  PoetenAveg  entlang  nach  dem  Gohliser 
Schlösschen  zu  Hofrat  Böhme’s  lustAvandeln  denken, 
so  fände  der  Künstler,  da  die  beiden  Bildnisse  der 
Leipziger  Studentenzeit  verschollen  sind,  an  den 
Kestner’schen  Silhouetten ,  an  den  Stichen  von 
Schmoll  und  Krauß ,  dem  Melchior’schen  Relief, 
namentlich  aber  au  den  Klauer’schen  Büsten  den 
physioguomischen  Anhalt  für  sein  Werk.  Und  will 
er  sie  alle  prüfenden  Auges  vergleichen,  so  muss  er 
die  Zarnckc’sche  Sammlung  zu  Rate  ziehen. 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 

VON  KARL  WO  KR  MANN. 

(Schluss.) 


IE  merkwürdige  Behandlung, 
die  man  der  Angelegenheit 
in  Dresden  hatte  angedeihen 
lassen,  erklärt  sich  zum  Teil 
allerdings  aus  einer  am  20. 
Jan.  1766,  also  einen  Monat 
vor  Hagedorn’s  Bericht,  eigen¬ 
händig  von  Anton  Raphael 
Mengs  in  Madrid  geschriebenen  Eingabe  an  den 
sächsischen  Minister,  die  in  der  Tbat  die  Gehalts¬ 
rückstände  seiner  Schwestern  betrifft.  Nach  der 
Beendigung  des  siebenjährigen  Krieges  wurden  näm¬ 
lich  die  rück-ständigen  sächsischen  Staats-  und  Hof¬ 
beamtengehalte  mit  einem  gesetzlichen  Abzug  nach¬ 
träglich  ausgezahlt.  Ismael  Mengs  hatte  damals  für 
acht  Jahre  und  acht  Monate  (vom  1.  Sept.  1755 
bis  1.  Mai  1764)  zu  600  Thalern  jährlich  5200 
Thaler  zu  fordern;  20  vom  Hundert  betrug  der  ge¬ 
setzliche  Abzug,  er  erhielt  daher  (1764)  thatsächlich, 


wie  sich  aus  den  Urkunden  der  „Cammer-Credit- 
Casse“  ergiebt,  4160  Thaler.  An  Anton  Raphael 
Mengs  und  seine  Schwestern  aber  hatte  man  bei  der 
Regelung  der  Rückstände  nicht  gedacht.  Eben 
deshalb  meldete  der  Meister  sich  in  jener  Eingabe 
vom  20.  Januar  1766.  Sie  ist  in  deutscher  Sprache 
geschrieben  und  in  manchen  Beziehungen  bedeutsam. 
Der  Meister  beruft  sich  zunächst  auf  Zeitungsnach¬ 
richten  über  die  Nachzahlung  der  Rückstände  in 
Sachsen.  Dann  betont  er,  dass  auch  er  und  die 
Seinigen  zu  den  Geschädigten  gehörten.  Für  sich 
bittet  er  aber  um  nichts,  er  bittet  nur  für  seine 
Schwestern.  Bezeichnend  für  sein  Selbstgefühl  ist 
der  folgende  Satz  dieses  Schriftstücks:  „Sollte  etwan 
vor  Verdienst  angesehen  werden  können,  seinem 
Vaterlande  Ehre  zu  machen,  so  bitte  Unterthänigst 
Ew.  hochgräffl.  Excellence  Ihre  Hoheiten  zu  erinnern, 
dass  ich  der  erste  Sachse  bin,  so  in  der  Wenigkeit 
meiner  Kunst  den  Waahn  der  Fremden  überwunden, 


2S6 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


und  wo  ich  biß  dato  geweesen,  auch  der  Erste  ge¬ 
blieben,  und  ich  vor  meine  Schwestern  bitte.“  Dass 
Mengs  diplomatische  Anlagen  hatte,  haben  wir  schon 
früher  gesehen.  Er  mochte  überzeugt  sein,  dass, 
wenn  zu  Gunsten  seiner  Schwestern  entschieden 
werde,  man  folgerichtig  auch  ihn  nicht  übergehen 
könne.  In  der  That  entschied  der  „Administrator  Xa- 
verius“  in  einem  Erlass  vom  6.  August  1766,  dass  nicht 
nur  Anton  Ra- 
phael’s  beiden 
Schwestern,  son¬ 
dern  auch  ihm 
selbst  die  rück¬ 
ständigen  Gehalte 
ausbezahlt  wer¬ 
den  sollten.  Seine 
Schwestern  erhiel¬ 
ten  ihre  Pensio¬ 
nen  vom  1.  Sept. 

1755  bis  zum  31. 

Dez.  1763,  dem 
Tage  ihrer  Er¬ 
löschung  durch 
das  oben  erwähn¬ 
te  Dekret,  nachbe¬ 
zahlt:  8  Jahre  und 
4  Monate  zu  300 
Tlialern  jährlich, 
machte  2500  Tha- 
1er.  Bei  dieser 
Summe  betrug  der 
„Abscho.ss“  nur  1 0 
vom  II  lindert.  Jede 
von  ilinen  erhielt 
dalier  nocli  2250 
Tlialer  ausgezablt. 

Bei  Anton  Ra- 
})hael  Mengs  hin¬ 
gegen  wurde  an¬ 
genommen,  dass 
sein  säcbsisclies 
Gelialt  Ende  1 760  mit  seinem  Übertritt  in  spani¬ 
sche  Dien.ste  erloschen  sei.  Er  bekam  die  Rück¬ 
stände  .seines  .lahresgehalts  von  1000  Thalern,  das 
liier  aktenmäßig  komstatirt  wird,  daher  nur  vom 
1.  Sept.  1755  bis  zum  31.  Dez.  1760,  also  für  fünf 
Jabre  und  vier  Monate  mit  20  vom  Hundert  „Abschoss“ 
nachbezahlt  und  erhielt  dementsprechend  4266  Thaler 
und  16  Groschen.  Etwas  war  also  für  ihn  bei  seiner 
Wiederanknüpfung  des  Briefwechsels  mit  Sachsen 
doch  heraus  gekommen.  Auch  sehen  wir  aus  einem 


ferneren  „unterthänigsten  Vortrag“  Hagedorn’s  vom 
31.  März  1769,  dass  man  damals,  als  Casanova  mit 
seinem  Abschied  drohte,  in  Dresden  erlistlich  die 
Möglichkeit  erwog,  Mengs  zurückzuberufen.  Doch 
kam  es  nicht  dazu  und  hätte,  da  man  auch  damals 
für  Mengs  nur  1200  Thaler  Gehalt  jährlich  aufzu¬ 
bringen  gedachte,  gar  nicht  dazu  kommen  können. 

Allerdings  aber  verließ  Mengs  Ende  1769,  von 

seinem  königli¬ 
chen  Gönner  be¬ 
urlaubt,  Madrid, 
um  Rom  und  die 
Seinen  wiederzu¬ 
sehen.  Er  reiste 
über  Barcelona 
und  die  Riviera. 
Hier  erkrankte  er. 
Lange  lag  er  1770 
in  Monaco,  wo  er 
u.  a.,  wie  schon 
bemerkt,  die  „Ma¬ 
donna  zwischen 
zwei  Engeln“  der 
Wiener  Galerie 
malte.  Dann  hielt 
er  sich  noch  län¬ 
gere  Zeit  in  Genua 
und  Florenz  auf. 
Überall  wurde  er 
glänzend  als  Stern 
erster  Größe  em¬ 
pfangen,  überall 
arbeitete  er  oder 
nahm  er  Aufträge 
entgegen.  In  Flo¬ 
renz  malte  er  die 
großherzogliche 
Familie  für  den 
König  Karl  HI. 
von  Spanien,  des¬ 
sen  Tochter  mit 
dem  Gros.sherzog  Leopold  von  Toskana,  dem  nach¬ 
maligen  Kaiser  Leopold  I.,  vermählt  war.  Diese 
Bilder  befinden  sich  im  Madrider  Museum.  Erst  im 
Februar  1771  kam  Mengs  in  Rom  an.  Die  Urkunde, 
durch  die  er  zum  Oberhaupt  (Principe)  der  Accademia 
di  San  Luca  ernannt  wurde,  kam  ihm  schon  nach 
Florenz  entgegen.  Sein  Wiedereinzug  in  Rom  glich 
in  der  That  demjenigen  eines  Fürsten.  Aber  rastlos 
begab  er  sich  auch  hier  wieder  an  die  Arbeit.  Zu¬ 
nächst  schuf  er  die  ihrer  Zeit  hoch  gefeierte,  durch 


Maelonua  mit  dem  Kind. 

Ölgemälde  von  A.  11.  Mengs  in  der  Kaiserlichen  Galerie  in  Wien. 


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Die  Geburt  Christi.  Ölgemälde  von  A.  R.  Mengs  im  Museum  zu  Madrid.  Stich  von  Rahpael  Morghex. 


288 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


J.  K.  Sliervin’s  Stich  bekannte  Darstellung  des 
^Christus  als  Gärtner“  für  All  Souls  College  in  Oxford. 
Er  soll  1000  Guineas  für  das  Bild  erhalten  haben, 
das  vor  kurzem  innerhalb  All  Souls  College  seinen 
Platz  gewechselt  hat,  übrigens  aber  wohl  erhalten 
ist.  Dann  malte  er,  seiner  Pflichten  gegen  den 
König  von  Spanien  eingedenk,  für  diesen,  außer 
einigen  kleineren  Bildern,  seine  berühmte  „heilige 
Nacht“,  eine  „Anbetung  der  Hirten“,  durch  die  er 
offenbar  in  unmittelbaren  W ettstreit  mit  Correggio’s 
„Heiliger  Nacht“  treten  wollte.  Es  ist  jetzt  neben 
vielen  Bildnissen  das  eigentliche  Hauptwerk  des 
Meisters  im  Madrider  Museum.  Durch  Raphael 
Morghen’s  seltenen  Stich  ist  das  Bild  nicht  so  be¬ 
kannt  geworden,  wie  es  verdiente.  Bekannter  ist 
J.  A.  Drda’s  Stich  nach  der  Wiederholung,  die  sich 
früher  in  der  Sammlung  des  Grafen  Colloredo  in 
Prag  befand.  Diese  ist,  da  A.  Hirt  (Kunstbemer¬ 
kungen  auf  einer  Reise  u.  s.  w.  Berlin  1830)  sie  noch 
1819  in  Prag  bewunderte,  jedenfalls  nicht  identisch 
mit  der  1817  von  einem  Antiquar  Braun  erworbenen 
(ob  eigenhändigen?)  Wiederholung  in  der  Galerie 
Liechtenstein  in  Wien.  Bianconi  erzählt,  dass  Mengs 
1771,  als  die  Kurfürstin  Witwe  von  Sachsen  in  Rom 
war,  dieser  eine  Wiederholung  des  Bildes  versprochen 
habe.  Dass  er  eine  solche  eigenhändig  ausgeführt, 
ist  aber  überhaupt  nicht  überliefert.  Eine  andere 
Darstellung  zeigt  die  kleine  „Geburt  Christi“  in  der 
Galerie  Harrach  zu  Wien.  Dass  Mengs  diese  für 
den  Grafen  Harrach  gemalt,  ist  litterarisch  überliefert. 

Da  Mengs  aber  einmal  in  Rom  war,  wollte 
Papst  Clemens  XIV.  aus  der  Familie  Ganganelli,  der 
1709  auf  Clemens  XHT.  gefolgt  war,  auch  nicht  leer 
ausgehen.  Er  übertrug  Mengs  die  Ausschmückung 
fler  Stanza  de’  Papiri  des  Vatikans  mit  großen  alle¬ 
gorischen  Fre.sken.  Der  Künstler  nahm  den  Auftrag 
an  und  arbeitete,  von  seinem  Schüler  Unterberger 
unterstützt,  mit  Unterbrechungen  während  der 
ganzen  beiden  Jahre  seines  jetzigen  römischen  Aufent¬ 
halts  an  diesem  utnfangreichen  Werke,  das  von  den 
Zeitgenossen  mit  dem  größten  Lobe  überschüttet 
wurde.  Die  durch  Cunego’s  Stich  bekannte  Alle¬ 
gorie  des  Deckenbildes  erscheint  uns  heute  freilich 
etwas  ungenießbar.  Die  schöne  junge  „Storia“ 
schreibt  auf  dem  Rücken  des  zu  ihren  Füßen 
gekrümmten  Flügelgreises  „Tempo“  und  lauscht 
den  Eingebungen  des  rechts  neben  ihr  stehenden 
zweiköpfigen  „.Tanus“,  der  Vergangenes  und  Zu¬ 
künftiges  schaut.  Links  kommt  die  „Fama“  herbei¬ 
geflogen  u.  s.  w.  Der  Hauptreiz  des  Zimmers  liegt 
in  der  dekorativen  Farbenfrische,  die  Mengs’  Fresken 


eigentümlich  ist.  Jacob  Burckhardt  meinte,  dass 
diese  Bilder  „wenigstens  wieder  eine  Vorahnung 
des  wahrhaft  monumentalen  Stiles“  gäben. 

Inzwischen  ließ  Mengs  sich,  wie  früher  vom 
sächsischen,  so  jetzt  vom  spanischen  Hofe  fortwährend 
drängen,  nach  Neapel  zu  gehen,  wo  er  für  Karl  HI 
die  dortige,  ihm  nahe  verwandte  Königsfamilie  malen 
sollte.  Zu  Anfang  des  Jahres  1773  finden  wir  ihn 
in  Neapel.  Die  Bilder  des  Königspaares  befinden 
sich  im  Madrider  Museum.  Im  Frühling  kehrte 
Mengs  nach  Rom  zurück,  wo  er  jetzt  noch  einige 
berühmt  gewordene  Bildnisse,  nämlich  diejenigen 
des  Kardinals  Zelada,  des  spanischen  Gesandten  Azara 
und  des  Barons  Edelsheim  malte  und  die  letzte  Hand 
an  die  Stanza  de’  Papiri  legte.  Dann  begab  er  sich, 
von  Azara  im  Auftrag  des  Königs  zur  Rückkehr 
nach  Spanien  gedrängt,  mit  seiner  Gattin  nach  Florenz, 
wo  er  nun,  noch  1773,  den  „Traum  Joseph’s“  der 
Wiener  Galerie  für  den  Großherzog  Leopold  und 
sein  Selbstbildnis  für  die  Uffizien  malte.  Bis  ins 
Jahr  1774  hinein  blieb  er  in  Florenz.  Der  Abschied 
wurde  ihm  doppelt  schwer,  da  seine  Gattin  sich  im 
entscheidenden  Augenblick  wieder  nicht  entschloss, 
ihm  nach  Madrid  zu  folgen,  sondern  nach  Rom  zu¬ 
rückkehrte.  Im  Mai  1774  finden  wir  ihn  in  Turin; 
erst  im  Juli  dieses  Jahres  können  wir  ihn  wieder  in 
Madrid  nachweisen. 

*  ^ 

* 

IX. 

Nach  Madrid  zurückgekehrt,  suchte  Anton 
Raphael  Mengs  seinen  Wohlthäter  für  sein  langes 
Ausbleiben  durch  eine  um  so  angestrengtere  Thätig- 
keit  im  königlichen  Dienste  zu  entschädigen.  Es 
ist  geradezu  erstaunlich,  was  er  hier  in  den  nächsten 
zwei  Jahren  noch  alles  schuf:  an  riesigen  Decken¬ 
fresken  vor  allen  Dingen  seine  Madrider  Haupt¬ 
leistung,  das  Deckengemälde  im  königlichen  Speise¬ 
saal,  das  die  Vergötterung  des  in  Spanien  geborenen 
römischen  Kaisers  Trajan  darstellt,  und  das  alle¬ 
gorische  Deckenbild  im  Theater  zu  Aranjuez,  das 
die  Vergänglichkeit  irdischer  Lust  versinnlicht;  dann 
noch  zahlreiche  Kirchenbilder,  weltliche  Staflfelei- 
gemälde  und  Bildnisse,  und  schließlich  eine  Reihe 
seiner  litterarischen  Werke  in  den  vier  Sprachen, 
die  er  so  beherrschte,  dass  er  sie  druckfertig,  wenn 
auch  nicht  immer  mustergültig  schrieb. 

Bald  aber  konnte  es  keinem  Zweifel  mehr  unter¬ 
liegen,  dass  Mengs  durch  sein  rastloses,  fast  möchte 
man  sagen  wahnsinniges  Arbeiten,  wobei  es  ihm,  da 
seine  Familie  außerordentlich  kostspielig  lebte,  auch 


Gemaldf  .  A-R  Menge. 


Verlag  y  E  A.Seerüann  Leipzig, 


DIB  VERKÜNDIGUNG 

(Kaiserliche  Gemäldegaierio  in  Wien.) 


Druck  vrüA.Brockhaus,  Leipzig 


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Zeitschrift  für  bililende  Kunst.  N.  F.  V.  H.  12. 


87 


DecUenbilil  von  A.  R.  Mengs  in  der  Stanza  de’  Papiri  im  Vatikan  zu  Pom.  Stich  von  Cenego. 


290 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


wesentlich  mit  um  den  Geldgewinn  zu  thun  war, 
seine  Gesundheit  vollständig  untergrub.  Ende  1776 
war  er  fertig.  Er  erbat  sieb  von  seinem  hochherzigen 
Könm  die  Erlaubnis,  da  er  das  Madrider  Klima  nicht 
vertragen  könne,  ganz  nach  Italien  zurückkehren  zu 
dürfen ;  und  er  erhielt  seinen  Abschied  unter  wahr¬ 
haft  königlichen  Bedingungen.  Ohne  irgend  eine 
Verpflichtung  zu  übernehmen,  behielt  er  die  Hälfte 
seiner  Bezüge  als 
Ruhegehalt;  dazu 
erhielt  jede  seiner 
fünf  Töchter  200 
Scudi  Pension ; 
und  der  König  ver¬ 
sprach  ihm ,  sich 
seiner  beiden  Söh¬ 
ne  annehmen  zu 
wollen. 

Am  11.  März 
1777,  einen  Tag 
vor  seinem  49. 

Geburtstage,  kam 
der  Meister  wieder 
Rom  an,  wo 


ihm  nun  nur  noch 
wenig  mehr  als 


zwei  .1  ahre  zu  leben 
heschieden  war. 

Aber  auch  diese 
zwei  .lahre  waren 
noch  reich  an  Ar- 
heiten  und  Ent¬ 
würfen.  Pa])stPius 
VI.  (1770-1795) 
beehrte  ihn  mit 
dem  von  den  grö߬ 
ten  Künstlern  frü¬ 
herer  .hihrhun- 
derte  als  höchste 
Auszeichnung  he- 
gelirten  Auftrag, 

ein  großes  Altarhlatt  für  die  Peterskirche  zu  malen. 
Doch  vollendete  er  nur  mehr  den  Karton  des  Werkes, 
d(-: sen  Gegenstand  das  „Weide  meine  Schafe!“  war. 
Dagegen  führte  er  gleich  1777  noch  eine  lebensgroße 
I)arstellung  der  Befreiung  der  Andromeda  durch  Per- 
eus  aus.  Für  den  l’erseus  benützte  er  den  Apoll  des 
Belvedere,  für  die  Andromeda  eine  weibliche  Gestalt 
eines  Peliefs  in  der  Villa  Pamfili.  Das  Bild  gelangte 
nach  mannigfaltigen  Schicksalen  in  die  Ermitage  zu 
St.  Petersburg,  die  in  ihrem  „Parisurteil“  noch 


zweites  großes  mythologisches  Werk  der  letzten(Jahre 
des  Meisters  besitzt.  Auch  war  er  archäologisch 
und  litterarisch  noch  eifrig  thätig.  Seinen  archäo¬ 
logischen  Scharfsinn  zeigte  er  z.  B.  in  seiner  Ab¬ 
handlung  über  die  Niobidengruppe  —  in  Gestalt 
eines  Briefes  an  Monsignor  Fabroni,  den  Rektor  der 
Universität  Pisa.  In  ihr  stellte  er  zuerst  die  heute 
allgemein  "als  richtig  anerkannte  Ansicht  auf,  dass 

die  zu  dieser  Grup¬ 
pe  gehörigen,  be¬ 
kannten  ,  zumeist 
in  Florenz  aufbe¬ 
wahrten  antiken 
Statuen  nicht  die 
im  Altertum  be¬ 
rühmten  Originale 
des  Skopas  oder 
des  Praxiteles,  son¬ 
dern  nur  spätere, 
von  verschiedenen 
Händen  ausge¬ 
führte  Kopien 
nach  diesen  seien. 
Auf  dem  Gebiete 
der  neueren  Kunst¬ 


geschichte 


dage¬ 


Sell).stl)il(lni8  von  A.  li.  Mengr.  Ölgemälde  in  den  Uflizien  in  Florenz. 


ein 


gen  sind  die  „Me- 
morie  concernenti 
la  vita  e  le  opere 
di  Antonio  Allegri 
denominato  Cor¬ 
reggio“  seinHaupt- 
werk,  durch  das 
er  in  der  That  un¬ 
sere  Kenntnis  der 
Lebensgeschichte 
Correggio’s  geför¬ 
dert  hat,  wenn 
auch  sein  Schüler 
Ratti  später  be¬ 
hauptete,  das  meis¬ 
te  Material  zu  diesem  Buche  herbeigeschafft  zu 
haben.  Doch  würde  es  hier  zu  weit  führen,  Mengs’ 
wissenschaftliche  Thätigkeit  eingehend  zu  erörtern. 

Immer  wieder  kehrte  er  von  ihr  zum  künst¬ 
lerischen  Schaffen  zurück.  Das  letzte  Werk,  das  er 
begann,  war  wieder  von  Karl  IH.  von  Spanien  be¬ 
stellt.  Es  war  eine  große  „Verkündigung  Mariae“, 
die  als  Altarblatt  für  die  königl.  Kapelle  in  Aran- 
juez  bestimmt  war,  aber,  da  der  Meister  sie  nicht 
ganz  vollendet  hinterließ,  nicht  an  ihren  Bestimmungs- 


3v  * 


Das  Urteil  des  Paris.  Ölgemälde  von  A.  R.  Mengs  in  der  Ermitage  zu  St.  Petersbiirj 


292 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


ort  abgeliefert  wurde.  Sie  blieb  in  Rom,  wo  sie  1816 
für  die  kaiserliche  Galerie  zu  Wien  erworben  wurde. 
Dass  das  Werk  unvollendet  ist,  sieht  man  ihm  kaum 
an.  Nächst  der  , Himmelfahrt  Christi“  in  der  katho¬ 
lischen  Kirche,  der  „Anbetung  der  Hirten“  im  Ma¬ 
drider  Museum  und  einer  vielgepriesenen  „Grablegung“, 
die  sich  wahrscheinlich  noch  im  Schlosse  zu  Madrid 
befindet,  ist  diese  „Verkündigung“,  deren  Entwurf 
sich  ebenfalls  in  der  Ermitage  zu  St.  Petersburg 
befindet,  als  Mengs’  bedeutendstes  Altarwerk  zu  be- 
zeichen.  Das  Bestreben,  Correggeske  und  Raphaelische 
Eigenart  zu  verschmelzen,  tritt  auch  in  diesem  letzten 
Gemälde  des  Meisters  noch  deutlich  hervor.  Seinen 
reizvollsten  Bestandteil  bildet  der  Engelreigen,  der 
zwischen  dem  liebend  in  weißem  Gewände  aus  den 
Wolken  herabschauenden  ewigen  Vater  und  der 
Gruppe  des  großen  Engels  mit  der  heil.  Jungfrau 
zu  vermitteln  scheint. 

Während  Mengs  noch  an  diesem  Bilde  malte,  erlag 
er  seinen  langjährigen  Leiden.  Seine  Gattin,  die  er 
über  alles  liebte,  war  ihm  in  den  Tod  vorangegangen. 
Sie  war  am  3.  April  1778  dem  römischen  Fieber 
erlegen.  Neunundzwanzig  Jahre  war  er  mit  ihr 
vermählt  gewesen;'  zwanzig  Kindern,  von  denen  sie 
jedoch  nur  sieben  überlebten,  hatte  sie  das  Leben 
geschenkt.  Seinem  alten  Schüler  und  Freunde  Ratti 
in  Genua  schrieb  Mengs  am  9.  Mai  1778:  „Kaum 
war  ich  wieder  aufgestanden,  so  erkrankte  meine 
liebe  Frau  an  einem  leichten  Wechselfieber  (una 
legger  terzana),  das  sich  jedoch  rasch  in  ein  akutes 
Fieber  (febre  acuta)  verwandelte,  an  dem  sie  (mit 
dem  Beistand  zweier  berühmter  Arzte)  zu  meinem 
großen  Schmerze  am  dritten  des  vergangenen  Monats 
April  gestorben  ist.  Seit  dieser  Zeit  habe  ich  schon 
wieder  Wechselfieberanfälle  gehabt,  auch  werde  ich 
sehr  von  einem  grausamen  Husten  und  von  Schmerzen 
in  der  Brust  und  im  ganzen  Körper  gequält,  die  mit 
großer  Schwäche  verbunden  sind.  Andere  Neuigkeiten 
von  hier  kann  ich  Ihnen  nicht  mitteilen.  Es  bleibt 
mir  daher  nur  das  Verlangen,  Sie  glücklicher  als 
mich  zu  wissen,  wie  ich  es  Ihnen  von  ganzem  Herzen 
wünsche.“  lin  nächsten  Jahre  erlebte  er  noch  die 
Verheiratung  zweier  seiner  Töchter.  Die  älteste, 
Anna  Maria,  die  1751  in  Dresden  geboren  war, 
heiratete  den  damals  berühmten  spanischen  Kupfer¬ 
stecher  Manuel  Salvador  Carinona,  der  freilich  einund¬ 
zwanzig  Jahre  älter  war  als  sie.  Die  zweite  heiratete 
„einen  gebildeten  und  wohlbemittelten  Menschen“  von 
Ancarona  im  Gebiete  von  Ascoli.  Aber  der  Meister 
selbst  hatte  keine  PVeude  mehr  am  Leben  und  war 
von  Todesahnungen  erfüllt.  Mehrfacher  Wohnungs¬ 


wechsel  half  ihm  nichts,  die  Zuziehung  eines  Quack¬ 
salbers  [natürlich  erst  recht  nichts.  Sein  Hausarzt 
behielt  recht.  Als  seine  Leiche  geöffnet  wurde, 
stellte  sich  heraus,  dass  seine  Lunge  ganz  gesund 
war  und  dass  auch  seine  anderen  Organe  nicht  tödlich 
verletzt  waren.  Die  Arzte  sagten  nun,  er  sei  an 
Überanstrengung,  schlechter  Ernährung  und  den 
Folgen  häufiger  Wechselfieber  gestorben.  Bianconi 
schildert  seinen  Tod  mit  folgenden  Worten:  „Anton 
Raphael  Mengs,  der  Ruhm  seines  Vaterlandes  Sachsen, 
Spaniens  und  Roms,  starb  51  Jahre  alt,  am  29.  Juni 
1779;  und  er  starb  so  voller  Frömmigkeit  und  Geistes¬ 
gegenwart,  als  hätten  die  Kräfte  seiner  schönen  Seele 
sich  nicht  verringern,  sondern  nur  alle  auf  einmal 
erlöschen  können.“ 

Nach  seinem  Tode  flammte  sein  Ruhm  eine 
Weile  heller  auf  als  je.  Azara,  der  spanische  Ge¬ 
sandte  in  Rom,  ließ  seine  Büste  im  Pantheon  neben 
derjenigen  Raphael’s  aufstellen.  Ratti,  Azara,  Bian¬ 
coni  und  Guibal  schrieben,  wie  erwähnt,  seine  Lebens¬ 
geschichte.  Azara  gab  gleichzeitig  seine  litterarischen 
Werke  heraus.  Die  Kaiserin  Katharina  von  Russland 
gab  Befehl,  wie  der  damalige  sächsische  Gesandte 
in  St.  Petersburg  am  7.  September  1779  nach  Dresden 
berichtete,  „alle  Gemälde  aus  der  Verlassenschaft 
des  berühmten  Mengs  zu  kaufen,  sie  mögen  kosten 
was  sie  wollen.“  Seine  zweite  Sammlung  antiker 
Gipsabgüsse  —  die  erste  hatte  er  dem  König  von 
Spanien  für  die  Madrider  Akademie  geschenkt  — 
wurde  1783  von  der  sächsischen  Regierung  für  Dresden 
angekauft.  —  Kunstwerke  waren  freilich  auch  das 
Einzige,  was  er  seinen  Erben  hinterließ,  da  seine 
großen  Einnahmen  stets  nur  eben  hingereicht  hatten, 
seine  großen  Ausgaben  zu  decken. 

* 

* 

X. 

Ein  Blick  in  die  Schriften  des  Meisters  wird 
unser  Schlussurteil  über  ihn  wesentlich  erleichtern. 
Dass  er  außerordentlich  viel  gekonnt,  mehr  gekonnt 
hat  als  die  meisten  seiner  Zeitgenossen,  hat  sich  uns 
freilich  schon  aus  dem  Verlaufe  unserer  Beobach¬ 
tungen  in  reichem  Maße  ergeben.  Pecht  sagt  mit 
Recht:  „Die  ganze  Cornelianische  Schule  hat  niemals 
auch  nur  eine  einzige  Hand  zu  malen  vermocht,  wie 
wir  sie  auf  seinen  Bildern  finden.“  Wie  es  aber 
mit  seinem  künstlerischen  Wollen,  seiner  Stellung  zur 
Natur,  seinem  künstlerischen  Geiste  bestellt  war, 
darüber  müssen  seine  Schriften,  deren  meiste  ja 
seinen  künstlerischen  Grundsätzen  gewidmet  sind, 
uns  die  beste  Auskunft  geben.  Wir  brauchen  in 


ISMAEL  UND  ANTON  RAPHAEL  MENGS. 


293 


ilinen  auch  nicht  lange  nach  seiner  Meinung  zu  suchen. 
Wiederholt  er  sie  doch  stets  und  überall  mit  etwas 
anderen  Worten! 

Mengs  geht  zunächst  von  allgemeinen  Ideal- 
und  Schönheitsbegriffen  aus;  »Die  Schönheit  ist  die 
Seele  der  Natur“,  sagt  er,  und  „die  Schönheit  erhebt 
unsere  Seele  über  die  Menschheit.“  »Die  Kunst 
kann  die  Natur  au  Schönheit  übertreffen.“  „Es  kann 
immer  noch  einen  größeren  als  den  größten  Künstler 
geben.“  „Kein  Maler  von  allen  denen,  deren  Werke 
wir  vor  Augen  haben,  hat  den  Weg  der  höchsten 
Vollkommenheit  gesucht.“  „Ich  will  unter  Ideal 
die  Wahl  verstanden  wissen,  womit  in  der  Natur 
eine  gute  Auswahl  zu  treffen  und  nicht  neue  Dinge 
zu  erfinden.“  Um  seine  Auswahl  treffen  zu  können, 
wendet  er  sich  den  kunstgeschichtlichen  V orbildern  zu. 
Alles  Gotische  ist  abscheulich  und  barbarisch.  Auch 
alle  Meister  des  15.  Jahrhunderts,  einschließlich 
Leonardo  da  Vinci’s,  haben  noch  nicht  sehen  ge¬ 
konnt.  Leonardo’s  Manier  sei  trocken,  er  habe  die 
bezaubernde  Kunst  des  Helldunkels  nicht  gekannt  (!). 
Sogar  Michelangelo  habe  fehlerhaft  gezeichnet.  Kurz, 
vor  Raphael,  Tizian  und  Correggio  —  und  nach  den 
alten  Griechen  —  habe  es  nur  Maler  gegeben,  deren 
Gemälde  „ein  wahres  Chaos“  sind,  „ungestalte  Werke 
solcher  Künstler,  die  die  Natur  nachahmen  wollten, 
aber  nicht  konnten“.  Dürer,  der  Barbar,  hätte  viel¬ 
leicht  ein  großer  Meister  werden  können,  wenn  er 
in  Italien  zur  Welt  gekommen  wäre.  So  kommt  er 
zu  dem  Schlusssatz:  „dass  der  Maler,  welcher  den 
guten  Geschmack,  nämlich  den  besten  Geschmack 
erlernen  will,  folgende  vier  Muster  studiren  muss 
nämlich  1)  in  den  Antiken  den  Geschmack  der 
Schönheit;  2)  an  dem  Raphael  den  Geschmack 
der  Bedeutung  und  des  Ausdrucks;  3)  an  dem 
Correggio  den  Geschmack  des  Reizes  und  der 
Harmonie  und  4)  an  dem  Tizian  den  Geschmack 
der  Wahrheit  und  des  Kolorits.“  Nachhinkt  dann 
das  halbe  Zugeständnis:  »Übrigens  muss  er  sich  in 
diesen  verschiedenen  Teilen  dadurch  vollkommen 
machen,  dass  er  die  Natur  beständig  studirt.“  Man 
sieht,  es  ist  das  sogenannte  „eklektische  Rezept“  in 
eindringlichster  Gestaltung. 

Dass  die  Kunst  erlernbar  sei,  was  er  ja  an  sich 
selbst  erfahren  zu  haben  meinte,  sagt  er  an  anderen 
Stellen;  „Ich  für  meine  Person  wiederhole  es  noch 
einmal  und  glaube  fest,  dass  alles  Schöne,  was  die 
Menschen  hervorgebracht  haben ,  nach  eben  den 
Grundsätzen  wieder  hervorgebracht  werden  kann“; 
und  „die  Geduld  überwindet  alle  Schwierigkeit“. 

Die  Gerechtigkeit  erheischt  allerdings,  hinzuzu¬ 


fügen,  dass  er  in  seinen  allerletzten  Schriften,  be¬ 
sonders  in  seinem  Schreiben  an  Herrn  Ponz  vom 
4.  März  1776  (in  spanischer  Sprache  geschrieben 
und  so  zuerst  abgedruckt  iin  sechsten  Bande  von 
Ponz’  Viaxe  de  Espaüa,  Madrid  1776,  p.  186—259) 
über  die  Gemäldeschätze  im  Schlosse  zu  Madrid, 
doch  eine  wesentlich  weitere  und  freiere  kunst¬ 
geschichtliche  Anschauung  verrät,  sich,  rückwärts¬ 
schauend,  wenigstens  noch  zu  einem  Lobe  Domenico 
Ghirlandajo’s  aufschwingt  und,  vorwärtsblickend,  wie 
das  freilich  in  Madrid  auch  nicht  anders  anging,  zu 
fast  unbedingter  Bewunderung  des  Velazcpiez  ver- 
steigt,  von  dessen  „Teppichwirkerinnen“  gerade  er  an 
dieser  Stelle  das  bekannte  geistvolle  Wort  gebraucht, 
„es  scheine,  als  hätte  an  der  Ausführung  dieses  Werkes 
die  Hand  keinen  Anteil  gehabt,  sondern  nur  der 
Wille  den  Pinsel  geführt“. 

Aber  diese  verspätete  kunstgeschichtliche  Ein¬ 
sicht  hat  weder  seine  eigene  künstlerische  Grund¬ 
anschauung  noch  sein  eigenes  Schaffen  beeinflusst. 
Jene  zuerst  angeführten  Stellen  aus  seinen  älteren 
Schriften  sind  vielmehr  der  geti'eue  Spiegel  der  ganzen 
Mengs’schen  Theorie  und  der  ganzen  Mengs’schen 
Praxis.  Nachahmung  mit  Auswahl!  Zusammensetzung 
des  Ideals  aus  den  besten  Eigenschaften  einiger  er¬ 
lesener  Meister!  Unsere  heutige  Kunstanschauung 
bewegt  sich  in  entgegengesetzten  Geleisen.  Die  Kunst, 
die  uns  erwärmen  soll,  muss  mit  dem  eigensten  Selbst 
des  Künstlers  durchgeistigt,  mit  seinem  innersten 
Herzblut  getränkt  sein. 

Für  uns  ist  Mengs,  so  sehr  wir  seine  technische 
Meisterschaft  bewundern  mögen,  daher  auch  nicht  der 
Bahnbrecher  einer  neuen  Kunstanschauung,  sondern 
nur  der  Nach  geborene,  der  die  Kunstentwickelung 
der  vorhergehenden  250  Jahre  noch  einmal  in  sich 
zusammenfasst  und  verkörpert,  indem  er  gewisser¬ 
maßen  den  Durchschnitt  aus  ihremKönnen  undKennen 
zieht.  Unser  Liebling,  ein  Liebling  unserer  Zeit  und 
unseres  Volkes,  dem  er  den  Rücken  gekehrt,  wird 
Anton  Raphael  Mengs  nie  wieder  werden  können. 
Aber  das  darf  uns  nicht  hindern,  seiner  kunstgeschicht¬ 
lichen  Größe  gerecht  zu  werden  und  ihn  zu  feiern 
—  ihn  zu  feiern  als  den  ersten  deutschen  Meister 
nach  jahrhundertelangem  Hinsiechen  deutscher  Kunst, 
der  es  verstanden,  die  Augen  der  ganzen  Welt  auf 
sich  zu  ziehen  und  den  Ruhm  deutscher  Künstler¬ 
schaft  wieder  in  den  fernsten  Ländern  zu  verbreiten ; 
und  wenn  wir  seiner  gedenken,  dürfen  wir  auch 
seines  Vaters  Ismael-  nicht  vergessen,  der  ihn  ab¬ 
sichtlich  und  zielbewusst  gerade  zu  dem  gemacht, 
was  er  geworden  ist, 


MARIEN-LEGENDEN 

VON  ÖSTERREICHISCHEN  CNADENORTEN'). 

MIT  ABBILDUNG. 


13  den  Küustlern,  welche  be¬ 
rufen  waren,  das  Juwel  der 
modernen  Wiener  Gotik,  Fers- 
tel’s  herrliche  Votivkirche, 
mit  Bildern  zu  schmücken, 
gehört  neben  Führich  und 
Lauf  berger  auch  Josef  Mathias 
Trciikwald,  der  gegenwärtige 
Rektor  der  Wiener  Akademie.  In  dem  Kapellen¬ 
kranze,  welcher  das  nach  französischer  Weise  ge¬ 
staltete  Chorhaupt  des  Gotteshauses  umgiebt,  finden 
wir  den  Meister  zunächst  durch  einen  Cyklus  farben¬ 
prächtiger  Glasgemälde  vertreten,  deren  Inhalt  das 
Marienleben  bildet.  Außerdem  ziert  die  sieben  Ka¬ 
pellen  eine  Reihe  von  in  Tempera  ausgeführten 
Wandbildern,  ebenfalls  von  Trenkwald’s  Hand,  in 
denen  uns  die  Legenden  der  Marianischen  Gnaden- 
II nd  Wallfahrtsorte  Österreich-Ungarns  veranschau¬ 
licht  werden.  Im  Januar  1880  im  Aufträge  des  k. 
k.  Ministeriums  für  Kultus  und  Unterricht  begonnen 
und  im  September  1889  vollendet,  steht  dieses  edle, 
gestalten  reiche  Werk  als  die  reifste,  abgeklärteste 
Schöpfung  des  tretflichen  Wiener  Meisters  da,  der 
nacli  dem  Tode  Führich’s  der  Hauptvertreter  der 
kirchlichen  Kunst  in  Österreich  ist.  Die  Heraus- 
geljer  des  Cyklus  in  dem  vorliegenden,  schön  aus¬ 
gestatteten  Werke  haben  sich  durch  seine  bildliche 
Wiedergabe  und  sachgemäße  Interpretation  ein  Ver¬ 
dienst  erworben,  das  in  unserer  Zeit  der  Überflutung 
mit  Erzeugnissen  stil-  und  würdeloser  Mas.senarbeit 
doppelt  hocli  anzuschlagen  ist. 

Die  langgezogenen  P'lächen  der  Kapellenwände 
sind  in  ihren  oberen  Teilen  mit  einzelnen  Propheten¬ 
gestalten,  hervorragenden  Marienverehrern  und  ent- 

1)  Zwanzig  Bilder  im  Chor  der  Votivkirche  in  Wien 
von./.  M.  Trenkiculd,  in  Holzschnitt  ausgeführt  von U  W. Bader- 
Einleitung  und  erklärender  Text  von  Dr.  Heinrich  Swoboda, 
Wien,  „St.  Norbertus“  Buch-  und  Kunstdruckerei.  Fol. 


sprechend  gewählten  typisclieu  Figuren  oder  Sym¬ 
bolen  ausgefüllt.  Aber  den  eigentlichen  Kern  des 
Wandschmuckes  bilden  die  legendarischen  Darstel¬ 
lungen,  in  welchen  jedes  Kronland  der  Monarchie 
wenigstens  mit  einem  seiner  Gnaden-  oder  Wallfahrts¬ 
orte  repräsentirt  erscheint.  Die  1  m  hohe  und  1,30 
breite  Fläche  enthält  entweder  eine  oder  zwei  neben¬ 
einander  dargestellte  Legenden.  Das  vorliegende 
Werk  führt  die  so  gestalteten  zwanzig  Bilder  auf 
sechs  Holzschnitttafelu  vor,  zu  denen  dann  als  Titel- 
und  Schlussvignette  noch  zwei  Einzelbilder  der 
Maria  hinzukommen,  welche  gleichfalls  dem  Ka- 
pellenkrauz  entnommen  sind. 

Die  Freundlichkeit  des  Künstlers  und  der  Heraus¬ 
geber  setzt  uns  in  den  Stand,  den  Lesern  eines  der 
Doppelbilder  vorzuführen,  in  welchem  ein  Salzburger 
und  ein  Siebenbürger  Gnadenort  vereinigt  sind.  Das 
Bild  zur  Linken  stellt  die  Legende  von  dem 
Muttergottesbilde  zu  Maria  Plain  bei  Salzburg  dar, 
das  bei  der  Erstürmung  und  Verwüstung  des  kur¬ 
bayerischen  Marktfleckens  Regen  durch  die  Schweden 
(1633)  unter  Schutt  und  Brand  sich  unversehrt  er¬ 
halten  haben  soll.  Die  Darstellung  zur  Rechten 
gilt  den  Glaubenskämpfen  der  Szekler  von  Csik 
Somlyö,  während  deren  blutigem  Ringen  die  Weiber 
und  Kinder  in  der  Franziskanerkirche  vor  dem  Bilde 
der  Gottesmutter  auf  den  Knieen  liegen,  den  Sieg 
erflehend. 

Das  gewählte  Beispiel  lässt  uns  Trenkwald’s 
Kompositions-  und  Behandlungsweise  deutlich  er¬ 
kennen.  Er  basirt  das  Ganze  auf  den  bestimmt  ge¬ 
zeichneten  Umriss;  in  der  Bündigkeit  und  Kürze 
des  Ausdrucks  —  sagt  der  Verfasser  des  Textes 
mit  Recht  —  erblickt  er  das  natürlichste  Mittel 
monumentaler  Klarheit.  „Der  Kern  der  Situation 
wird  herausgehoben,  diese  aber  voll  ausgesprochen.“ 
Allein  trotz  der  strengen,  bisweilen  herben  Formen- 
gebung  fehlt  den  Bildern  Trenkwald’s  keineswegs 


MARIEN -LEGENDEN  VON  ÖSTERREICHISCHEN  GNADENORTEN. 


295 


der  malerische  Reiz.  „Poetische  Wirkungen,  die 
nicht  nur  auf  dem  Inhalte  beruhen,“  erklingen  aus 
den  anmutigen  Linien  „wie  aus  einem  von  weicher 
Hand  ergriffenen  Saitenspiele.“  Dazu  kommt  die 
von  einem  romantischen  Hauch  umwehte  Landschaft, 
die  in  der  tadellosen  Rhythmik  ihrer  Linien  wie  in 
den  zarten  Abstufungen  ihres  Kolorits  einen  wesent- 


von  Trenkwald’s  Kunst  zu  getreuem  Ausdruck.  Dazu 
ist  zu  bemerken,  dass  die  Holzschnitte  nicht  etwa 
nach  Holzzeichnungen,  sondern  auf  Grundlage  von 
Photographieen  der  Originalkartons  gearbeitet  sind. 
Sie  geben  trotzdem  den  Charakter  der  Malereien 
trefflich  wieder.  Die  Umrisse  sind  bestimmt  mar- 
kirt,  jede  Einzelheit  ist  aufs  sorgfältigste  durchge- 


Gemälde  von  J.  M.  Trenkwald. 

(Aus  den  Marien-Legenden  von  österreichischen  Gnadenorten,  Wien,  St.  Norhertus.) 


liehen  Anteil  hat  an  der  schönen  Wirkung  des 
Ganzen.  Bei  aller  festen  Anlehnung  an  den  kirch¬ 
lichen  Stil  und  dessen  geistigen  Gehalt  spricht  aus 
den  Bildern  eine  fein  geartete  Individualität,  das 
Innere  einer  echten  Künstlerseele. 

In  Bader’s  mit  gewohnter  Meisterschaft  ausge¬ 
führten  Holzschnitten  kommt  die  Eigentümlichkeit 


bildet  und  dabei  der  weichen,  ruhigen  Flächenwir¬ 
kung  ihr  volles  Recht  gelassen. 

So  stellt  sich  das  Werk  nicht  nur  als  ein  edles 
Erbauungsbuch,  sondern  auch  als  ein  stilvolles 
Kunstbueb  dar,  das  allen  ernsten  Betrachtern  Freude 
machen  wird.  c.  r.  L. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


*  Bei  der  Versteigerung  der  gewählten  Sammlung  Adrian 
Hope  in  London  (durch  Christie,  Manson  und  Woods,  30.  Juni 
d.  J.)  wurden  hohe,  doch  nicht  exorbitante  Preise  erzielt. 
Wir  heben  hervor:  Jan  Both,  Landschaft,  580  Guineen  (Col- 
naghi),  A.  Canaletto,  Canal  grande  890  G.  (Agnew),  G.  Co- 
ques,  Fanlilienbildnis  mit  vier  Figuren,  170  G.  (Sedelmeyer), 
derselbe,  desgleichen  mit  drei  Figuren,  490  G.  (Murray), 

A.  Cuyp,  Große  Landschaft  mit  Reitern,  2000  G.  (C.  Wert¬ 
heimer),  derselbe.  Zwei  Reisende,  530  G.  (Davis),  Ger.  Dou, 
Der  Flötenspieler,  eines  der  feinsten  Bildchen  des  Meisters, 
von  trefflicher  Erhaltung  (Smith,  Suppl.  73),  3500  G.  (Davis), 
J.  B.  Grenze,  Junges  Mädchen  am  Fenster,  2900  G.  (Besser), 

B.  van  der  Heist,  Bildnis  eines  Offiziers,  780  G.  (Agnew), 
M.  Ilobbema,  Landschaft  mit  einem  Bauernhaus  im  Mittel¬ 
gründe  (Smith  Nr.  99),  sehr  schönes,  tadellos  erhaltenes  Bild 
3000  G.  (C.  Wertheimer),  P.  de  Hooch,  Interieur,  (Smith 
Nr.  29),  2150  G.  (C.  Wertheimer),  P.  Lely,  Bildnis  der  Mrs. 
Claypole,  Bild  ersten  Ranges,  klar  und  von  breiter  Pinsel¬ 
führung,  tadellos  erhalten,  450  G.  (Davis),  N.  Maes,  Frau 
am  Pumpbrunnen  in  einer  weiten  Halle,  Hauplbild  der  Samm¬ 
lung  (Smith  Nr.  12),  2860  G.,  G.  Metsu,  Frau  mit  Buch  auf 
dem  Schoß,  eine  kleine  Perle,  warm  und  weich  in  der  Farbe, 
1200  G.  (M.  Colnaghi),  Eglon  van  der  Neer,  Junge  Frau 
mit  Guitarre,  sehr  schön  und  gut  erhalten  (Smith  Nr.  27), 
290  G.  (Donaldson),  A.  Palamedesz  Stevaerts,  Junge  Dame 
am  Tisch  sitzend,  reizvoll  und  fein,  220  G.  (Colnaghi),  Rem- 
brandt,  Bildnis  der  Petronella  Buys,  bez.  und  datirt  1G35, 
ein  Werk  von  erster  Qualität  (Smith  Nr.  497),  1300  G.  (C. 
Wertheimer),  derselbe,  Bildnis  des  Nicholas  Ruts,  herrliches, 
lebensvolles  Bild  mit  besonders  fein  durchgebildeten  Händen, 
etwas  schwärzlich  im  Ton,  aus  der  Sammlung  des  Königs 
Wilhelm  11.  von  Holland,  4700  G.  (Agnew),  Rubens,  Bären¬ 
jagd  in  waldiger  Landschaft  (diese  wohl  von  van  Uden), 
sehr  schön  in  der  Farbe,  aus  derselben  Sammlung,  1660  G. 
(Lawrie),  Jac.  Ruisdael,  Wasserfall,  sehr  schönes,  tadellos 
erhaltenes  Bild  (Smith,  Suppl.  Nr.  114),  1660  G. ,  derselbe, 
Landschaft  mit  verfallenem  Befestigungsturm  (Smith,  Suppl. 
Nr.  10),  sehr  schön,  pikant  im  Ton,  610  G.  (M.  Colnaghi), 
Jan  Steen,  Musikalische  Unterhaltung,  ungewöhnliche  Kom- 
jiosition  von  italienischem  Charakter,  höchst  fein  und  treff¬ 
lich  erhalten,  78t)  G.  (Agnewj,  l^hil.  Wouverman,  Lagerscene, 

! Smith  Nr.  178),  700  G.  (Sedelmeyer). 

■  Bei  H.  O.  fJntckunst’s  Versteigerung  in  Stuttgart  am 
2.‘L  April  ff.  d.  .1.  kamen  eine  Anzahl  von  hervorragenden 
Stichen  alter  Meister  der  deutschen,  holländischen  und  ita¬ 
lienischen  Schulen  sowie  eine  reiche  Auswahl  von  Blättern 
der  englischen  und  französischen  Meister  des  18.  Jahrhun¬ 
derts  zum  Aufschlag.  Wir  notiren  einige  der  erzielten 
l’reise:  A.  Altdorfer,  Geflügelter  Knabe  (B.  46)  135  M.  (Lon¬ 
don),  ders.,  Bergige  Landschaft  (B.  70)  237  M.  (Dresdener 
Kabinett),  ders..  Der  Glaube  (mutmaßlich  Unikum)  460  M. 
(An)sler),  Jak.  Binck,  Christus  (B.  14)  515  M.  (Artaria),  Fr. 
V.  Bocholt,  Heil.  Georg  (B.  .33)  8.50  M.  (Gutekunst),  Dürer, 
Heil.  Familie  (B.  4.3)  3400  M.  (Gutekunst),  ders..  Die  große 
Fortuna  (B.  77)  690  M.  (London),  ders.  Holzschn.,  Heil.  Jung¬ 


frau  mit  vielen  Engeln  (B.  101)  137  M.  (Dresdener  Kabinett), 
ders,,  Dürer’s  Wappen  (B.  160)  421  M.  (Germanisches  Mu¬ 
seum),  Jacopo  Francia,  Bacchuszug  (B.  7)  266  M.  (Börner), 
Th.  C.  V.  Fürstenberg,  Haupt  Johannis  des  Täufers  (Smith  1) 
505  M.  (Börner),  H.  Goltzius,  Selbstbildnis  (B.  164)  355  M. 
(Bibliotheque  royale,  Bruxelles),  W.  de  Heusch,  Die  zwei 
Bäume  (Dutuit  13)  660  M.  (Amsler),  H.  Wechtlin,  Alkyon 
von  Kreta,  Clairobscur  (B.  9)  280  M.,  J.  le  Ducq,  Stehender 
und  liegender  Hund  (B.  10)  381  M.  (Amsler),  L,  v.  Leyden, 
Saul  vor  David  (B.  27)  780  M.  (Danlos),  ders..  Der  Eulen¬ 
spiegel  (B.  159)  1600  M.,  J.  v.  Meckenen,  Tod  der  Lucretia 
(B.  168)  870  M.  (Danlos),  ders.,  Großes  Rankenornament  mit 
Liebespaar  (B.  205)  1500  M.,  Meister  mit  dem.  Krebs,  Geburt 
Christi  (B,  3)  1571  M.  (Danlos),  Meister  mit  dem  Vogel,  Heil. 
Sebastian,  Clairobscur  (wohl  Unikum)  905  M.  (Amsler), 
Marcanton  Raimondi,  Heil.  Jungfrau  vor  Christi  Leichnam 
(B.  35)  1320  M.,  ders.,  Heil.  Cacilia  (B.  116)  1100  M. ,  ders., 
Orpheus  und  Eurydike  (B.  295)  790  M.  (Dresdener  Kabinett), 
Rembrandt,  Selbstbildnis  im  gestickten  Mantel  (B.  7)  1500  M.. 
ders.,  Selbstbildnis  (B.  21)  3460  M.  (Meyer,  Dresden),  ders., 
Landschaft  mit  dem  dicken  Turm  (B.  223)  1805  M.  (Amsler), 
ders. ,  Jan  Asselyn  (B.  277)  2860  M.  (Dresdener  Kabinett), 
Jac.  Ruisdael,  Das  Getreidefeld  (B.  5)  240  M.,  M.  Schongauer, 
Christi  Geburt  (B,  4)  1650  M.,  ders..  Das  große  Kreuz  (B.  25) 
1550  M.,  ders.,  Das  Rauchfass  (B.  107)  900  M.,  L.  von  Siegen, 
Eleonora  Gonzaga  (Smith  2)  1400  M.  (Dresdener  Kabinett), 
ders.,  Wilhelm  Prinz  von  Oranien  (Smith  3)  2500  M.  (Amsler), 
Augusta  Maria  von  England  (Smith  4)  2700  M.  (Amsler), 
Adr.  van  der  Velde,  Das  Thor  im  Dorfe  (B.  18)  400  M. 
(Amsler),  J.  B.  Weenix,  Der  stehende  Ochse  (Weigel  4) 
435  M.  (Amsler).  —  Debucourt,  La  promenade  du  Palais 
Royal,  351  M.  (Meyer,  Dresden),  Le  compliment  —  Les 
bouquets,  2  Bl.  460  M.  (London),  H.  Fragonard,  Les  hazards 
heureux  de  Tescärpolette,  235  M.  (London). 

S.  Die  Windmühle  von  August  Holmberg,  radirt  von 
W.  Woernle,  Der  Maler  dieses  Bildes  ist  den  Lesern  der 
Zeitschrift  kein  Unbekannter  mehr.  Es  war  oft  Gelegen¬ 
heit,  seine  technische  Fertigkeit,  seine  gediegene  Charak¬ 
teristik,  sein  warmes  Kolorit  zu  rühmen.  Im  18.  Jahrgang 
findet  sich  ein  kleines  Blättchen,  das  er  mit  eigener  Hand 
trefflich  radirte,  „Santa  Conversazione“  und  eine  unter 
Leitung  von  E.  Forberg  ausgeführte  Radirung  seines  „Nu¬ 
mismatikers“.  Das  vorliegende  Blatt  zeigt  den  vielseiti¬ 
gen  Künstler  als  Landschafter.  Holmberg  wurde  1851  in 
München  geboren,  begann  als  Bildhauer,  ging  1868  zur 
Malerei  über  und  war  Schüler  von  Wilh.  Diez.  Er  hat 
auch  Stillleben  gemalt,  ist  also,  wie  auch  das  vorliegende 
Blatt  zeigt,  nicht  nur  „Geschichtsschreiber  der  Kardinäle“, 
wie  ihn  Muther  in  der  Geschichte  der  Malerei  des  19.  Jahr¬ 
hunderts  nennt.  In  dem  dort  gefällten  Urteil  kommt  der 
Künstler  entschieden  zu  kurz.  Von.  einem  „reichen  Kleider¬ 
schrank“,  auf  den  Muther  mit  satirischer  Wendung  anspielt, 
ist  wenigstens  in  dem  vorliegenden  Blatte  nichts  zu  be¬ 
merken,  dessen  Original  den  späteren  Arbeiten  kaum  nach¬ 
steht. 


Herausgeber:  Carl  von  lAitxmv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  m  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


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