ZEITSCHRIFT
FÜR
BILDENDE KUNST.
Herausgegeben
von
PROF. DR. CARL VON LÜTZOW
Bibliothekar der K. K. Akademie der Künste zu Wien.
NEUE FOLGE
Fünfter Jahrgang
LEIPZIG
Verlag von E. A. Seemann
1894.
Digitized by the Internet Archive
in 2018 with funding from
Getty Research Institute
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi29unse
Inhalt des fünften Jahrgangs.
Seite
Allgemeines.
Neue Bahnen in der Kunst. Von C. v. LUixoio ... 1
Rechts und links in Natur und Kunst. Von Jos. Langl 122
Architektur.
Brieg. Von A. Jonetx . 25, 105, 181
Zakynthos. Zwei venetianische Renaissancepaläste. Von
J. Sfrxi/goicski . 177
Das rumänische Königsschloss Pelesch . 241
Die Triangulatur in der antiken Baukunst. Yon G.Dehw 273
Plastik.
Epidauros. Von Dr. F. Winter . 40
August Wittig. Von Otto Donner von Richter ... 91
Die Reiterstatuette Karl’s des Großen. Von O. Wolfram 153
Griechische und Römische Porträts. Von J. J. Bernouilli 194
Malerei.
Seite
Der Untergang der nordischen Götterwelt und das Er¬
scheinen des Christentums. Bildercyklus von Fr.
Röber in Düsseldorf . 97
Peter Paul Rubens. Von Dr. A. Rosenberg . . 129, 225
Die Kunst in den Vereinigten Staaten. Eindrücke von
einem Besuche der Weltausstellung in Chicago. Von
TF. Bode. 1. Malerei und Plastik i) . 137, 102
Die Winterausstellungen der Royal Academy und der
New Gallery in London. Von Jean Paul Richter . 145
Der Meister des Todes Mariä, sein Name und seine Her¬
kunft. Von E. Firmenich-Richartx . 187
Studien zur Geschichte der Ulmer Malerschule. Von
M. Bach. II. Bartholomäus Zeitblom .... 201, 235
Die Galerie Schuhart in München. Von Th. v. Frimmel 215
Goethe’s Bildnisse und die Zarncke’sche Sammlung. Von
E. Lehmann . 249, 276
Marienlegenden von österreichischen Gnadenorten . . 294
Graphische Künste.
Verein für Originalradirung in München . 103
Ismael und Anton Raphael Mengs. Von K. Woer)nann
7, 82, 168, 208, 285
Franz Simm. Von C. v. Lnltxoie . 15
Jörg Breu der ältere und Jörg Breu der jüngere. Von
Ä A. Schmid . 21
Spanische Miscellen. Von C. Jiisti. I. Über Bildnisse
des Don Kariös . 34
Max KlingePs Gemälde. Von H. TF. Singer .... 49
Die Idee der Transfiguration RaöäePs. Von Dr. A. Kir-
stein . 54
Die Münchener Kunstausstellungen. Von A. O. Meyer
62, 111
Lionardo da Vinci und die berühmten weiblichen Bild¬
nisse im Louvre und in der Ambrosiana. Von Q.
Erixzoni . .
Bücherschau.
Unsere Kunst. Mit Beiträgen deutscher Dichter heraus¬
gegeben von der freien Vereinigung Düsseldorfer
Künstler . ßg
Secession. Eine Sammlung von Photogravüren nach
Bildern und Studien von Mitgliedern des Vereins
bildender Künstler Münchens . 71
Vatikanische Miniaturen. Von Er. Schneider .... 101
Richard Muther’s Geschichte der modernen Malerei. Von
H. A. Lier . 219
NB. Die kleinen Mitteilungen sind in das Register der
„Kunstchronik“ aufgenommen.
1) II. Architektur und Kunstgewerbe s. Kunstgewerbeblatt,
N. F. V. S. 113 u. 137.
Illustrationen und Kunstbeilagen.
(Die mit t bezeicliueten sind Eiuzelblätter. Die Abbildungen der auf mehrere Hefte verteilten Aufsätze folgen hintereinander).
Seite
Kopfleiste. Gezeichnet von A. Lachicr . 1 /
Handzeichnung von Franx Stuck. (Aus dem im Ver¬
lage von Dr. E. Albert und Co. in München erschiene¬
nen Werke über Franz Stuck) . 4/’
Programm, entworfen und gezeichnet von 0. Greiner 5/
Rückseite des Programms von 0. Greiner . 6/
Selbstbildnis von Ismacl iMencjs. Holzschnitt von E.
BcrthoM . 8/
Selb.^tbildnis ton A/)fon EajAKtel Mcngs. Holzschnitt
von /.'. Bcrthold . 91
Ismael Mengs. Pastellbild von A. E. Mengs .... 11^
Diogenes. Emailminiatur von Ismael Mengs. Holz¬
schnitt von E. BertJtohl . 12
IMagdalena. Emailminiatur von Ismael Mengs. Holz¬
schnitt von E. Berthold . 13
Faksimile der Unterschrift von Ismael Mengs ... 82 ,
.lugendliches Selbstliildnis in Pastell von A. E. Mengs.
Dres<len . 84
.lugendliches Selbstbildnis nach einem Pastell voir A.E.
Mengs. Dresden. Holzschnitt von E. Berthold . . 85 ,
Pastellbild des Herrn von Hofmann. Von A. E. Mengs.
Dresden . 86 ‘
Pa.'^tellbild des Sängers Domenico Annibali. Von M. E.
Mengs. Dresden . 86,
Piu-tellbild .August III. Von A. E. Mengs. Dresden . 87
Pustellbild rler Sängerin Mingotti. Von A. E. Mengs.
Dresden . 88^
Pa.'-tellbild der Frau A. Thiele. Von A. E. Mengs.
Di'--den . 88
l'a.'-ti llbild Silvestre’s. Von A. E. Mengs. Dresden . 89 .
vHirnnielfabrt <'liristi. Von .1. E. Mengs. Katholische
Hofk irelie in Dre.‘.den. Heliogravüre ... Zu S. 84/
l’.i-t<dlrelb^f bildnis von Th. ('. Maron, g(A). Mengs. Kgl.
Galeri*' in Dresden . 169.
.Inhr M'ng:-. Pastell bildnis vrm Th. Maron geh.
M<ng^. Kgl. (lalerie in Dresden . 169
Madonna mit d<in Kinde und dem kleinen .lohannes.
.\lini..fni- von .1. E. .Mmgs in der Gemäldegalerie in
Dre-deii. I lol/'-ebnitt von Kaeseherg und ()ertel . . 171',
KurfiirHt fliristian. I'n.i-tellbild von .1. E. Mengs. Königl.
• lalerie in Diesden . 172t
Kni prin/e-i-in .Maria .\ntonia. I’astellbild von A. E.
Ml ng.i- 'K'ilnigl. Galerie in Dresden) . 173^
Friedrich ,\ngoi-t der (ierechte als Kind. Pastellbild
ton .1 /.'. .M'iigs CK'inigl. Galerie in Dresden). . . 174
r.Aiig.istu^ und Kleoiiatra. (Rgemälde von A. E. Mengs
in der Galerie Czernin in Wien. Heliogravüre von
Mr-isenbach. liitl.vrth und Co. in Perlin . . Zu S. 17(1 ^
Fak.simile der Unterschrift von A. R. Mengs .... 298
t.Airior. Pii-tellgemälde von ,1. /■'. .M'iigs in der Dres- '*
dener Galerie. Holz-ehnitt von E. I{er1hidd Zu S. 208
.loseph’s Traum. (Rskiz/.e. XonA.E. Mengs. Königl. Ge-
m.äldegalerie in Dresden. Holzschnitt von Kae.scherg
und fnrtel . '. . 2(^)9; ^
Magdalena. Ölgemälde. Von A. E. Mengs (Königl.
Gemäldegalerie in Dresden). Holzschnitt von Brend’ -
amour . .
Ferdinand IV. Ölgemälde. Von M. 77. im Museo
Nazionale in Neapel] .
Der Parnass. Deckenfresko. Von A. E. Mengs in der
Villa Albani in Rom. Nach dem Stich von Eaphael
Morghen .
Madonna mit dem Kinde. Ölgemälde. \on A. E. Mengs
in der kaiserlichen Galerie zu Wien. Holzschnitt von
Brend’ amonr . ' . _ .
Die Geburt Christi. Ölgemälde. Von A. E. Mengs im
Museum zu Madrid. Stich von Eaphael Morghen .
Deckenbild. Von A. E. Mengs in der Stanza de’ Papiri
im Vatikan zu Rom. Stich von Ciinego . . .
Selbstbildnis. Von A. E. Mengs. Ölgemälde in den
Uffizien in Florenz. Holzschnitt von E. Berthold .
Das Urteil des Paris. Ölgemälde. Von H. E. Mengs in
der Ermitage zu St. Petersburg .
fDie Verkündigung. Ölgemälde. Von A. E. Mengs in
der Kaiserlichen Galerie in Wien. Heliogravüre Zu S.
Franx Simm. Selbstporträt .
Im Mai. Ölgemälde von Fr. Simm. Holzschnitt von
Th. Knesing .
Mephisto. Handzeichnung voir Fr. Simm .
Kindergruppe. Handzeichnung von Fr. Simm . . .
Porträtstudie. Handzeichnung von Fr. Simm . . .
Tanzendes Mädchen. Harrdzeichnung von Fr. Simm
f Erwartung. Gemälde von Fr. Simm. Heliogravüre
von Meisenbach, Riffarth und Co. in Berlin Zu S.
fHeidelandschaft. Originalradirung von Th. Alphons
Zu S.
Blick auf Brieg von der Oderseite .
Standbild Friedrich’s des Großen in Brieg .
Inneres Portal des Piastenschlosses in Brieg . . .
Portal des Piastenschlosses in Brieg .
Hof des Piastenschlosses in Brieg .
Das Oderthor in Brieg .
Das Rathaus mit Nebenhaus in Brieg .
i'Das Rathaus in Brieg. Originalradirung von H.
Ulhrich . Zu S.
Seite
211 /
214/
286,
287^
289 ■
290^
291fe
292 ''
15f
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17/
18,-
19
20 V
15 p-
241
25/
25/
27,
28'
29 y
30
32
105 t
Hauptportal am Piastenschlosse in Brieg . 106 t
Kleines Portal am Piastenschlosse zu Brieg .... 108/9 p
Bogen am Hauptportal des Piastenschlosses in Brieg . 182 /
Ilairs Eckersberg irr Brieg . 184 y
Wohnhaus am Ringe in Brieg . 185 /
Don Kariös. Medaille von Pompeo Leoni . 35 •'
fll Principe D. Carlos, Hijo de Felipe 11. Gemälde
von Sanehex Coello, Lichtdruck . Zu S. 37 ,4
Relief vom Asklepiostempel zu Epidauros . 41 . '
Amazone vom Giebelfelde des Asklepiostempels in Epi¬
dauros . 43 F
Nereide von den Akroterien des Asklepiostempels in
Epidauros . /
INHALTSVERZEICHNIS.
V
Seite
Sima von der Tholos in Epidauros . 45
fVon Oben. Originalradirung von L. Th. Meyer-Basel
Zu S. 48 ,
f Pieta. Ölgemälde von M. Klinger, Radirung von A.
Krüger . Zu S. 49
Kopfleiste von -4. Laekner . 49
Studien zur Kreuzigung. Von M. Klinger .... 52. 53
jDie Transfiguration von Faffael. Lichtdruck nach
einer Photographie von Alinari in Florenz . Zu S. 54
Eingang zum Glaspalast in München . 62
Italienerin. Gemälde von T" Müller . 64
Die Sünde. Gemälde von Fr. Stuck. (Nach einer Photo¬
graphie von F. Hanfstängl) . 65
Der Halskragen. Gemälde von A. Gandara .... 67
Pallas. Von F. Stuck . 68
Schwerttänzerin von Ant. Brütt . 111
In der Sonne. Gemälde von Fr. Fchr . 113
Weibliches Bildnis. Gemälde von ili. Bumsfrey . . 115
Abend. Gemälde von Ch. Landenhcrger . 116
Grabmal der Herzogin Max in Bayern von W. v. Bü-
mann . 120
jAltweibersommer. Gemälde von J. v. Oietl
*Herbst. Zeichnung von Q. v. Bochmann .
*Im Winter. Gemälde von L. Munthe. . .
(* Aus: „Unsere Kunst“, Düsseldorf, Michels.)
Zu S.
120
69
70
**tDer Angler. Von Th. Heine. Heliogravüre. Zu S. 72
(** Aus „Secession“, Berlin, Photographische Gesellschaft.)
Kopfleiste von A. Laekner . 73
Bildnis der Mona Lisa von Lionarclo da Vinci im
Louvre . 75
Bildnis der sogenannten Belle Ferroniere im Louvre . 77
Profilbildnis der sogenannten Herzogin in der Ambro-
siana in Mailand . 80
A. Wittig. Nach einer Photographie . 92
Hagar und Ismael. Marmorgruppe von A. Wittig . . 93
Pieta von A. Wittig . 96
Walhalls Sturz; Erscheinung Christi. Gemälde von
Fr. Höher . 97
Odin befragt die allwissende Wala. Gemälde von Fr.
Höher . 99
Naglfar, das Totenschiff. Gemälde von Fr. Höher . . 99
Loki bricht seine Fesseln. Gemälde von Fr. Höher . 100
•|■*Biblia Pinturicchio adscripta Saec. XV. Cod. Vat. Urb.
lat. 1 . Zu S. 101
(* Aus Vatikanische Miniaturen von St. Beißel. Freihurg,
Herder.)
f**/! Halm. Der Netzflicker. Originalradirung Zu S. 103
(** Aus den Veröffentlichungen des Vereins für Original-
radirung in München. Heft 2).
Ägyptischer Schreiber im Louvre zu Paris . 122
Schreiber. Relief aus Sakkara . 124
Ägyptische Grabfigur . 124
Apollo von Tenea . 124
Ägyptischer Bogenschütze . 124
Assyrische Bogenschützen . 124
Ein die Geige spielender Teufel in Amiens .... 124
Der Tod als Geiger . 124
Die Anghiarischlacht . 124
Eirene und Demeter . 124
Hermes von Praxiteles . 126
Verschiedene Mäander-Motive . 126
Aortabogen . 126
Faksimile einer Handzeichnung von Lionardo . . . 127
Spiegelschrift von Lionardo . 127
Seite
Schlussstück gez. von J. Langl . 128 C"
Kopfleiste von Qillc-Paul Caievet . 129 ^
f Helene Fourment. Von P. P. Hubens, radirt von H.
Haudner. Ermitage, St. Petersburg ... Zu S. 129
Mariä Verkündigung. Gemälde von P. P. Huhens in
der kaiserl. Gemäldegalerie in Wien. Nach einer
Photographie von J. Löwy . 133 i
Maria’s Besuch bei Elisabeth. Gemälde von P. P.
Hubens in der Galerie Borghese zu Rom. Nach einer
Photogiaphie von A. Braun und Co . 228
Rubens’ Vater. Gemälde von P. P. Huhens in der Pina¬
kothek in München . 229
Rubens’ Mutter. Gemälde von P. P. Hubens in der
Pinakothek in München . 229
Die vier Philosophen. Gemälde von F. P. Huhens im *
Palazzo Pitti in Florenz. Nach einer Photographie
von Ad. Braun und Co. Holzschnitt von H. Bcrthold 232
Römische Landschaft mit Ruinen von P. P. Huhens.
Nach einem Stich von Schelte a Boiswert .... 233
Mutterliebe. Gemälde von O. Hitchcock (Aus Scribner’s
Magazine) . 136
Kopfleiste von Schiveinfurth. (Aus der American Art
Review) . 137
Herbstmorgen. Gemälde von Oco. Jnness. (Aus dem
Century Magazine) . 139
Rast unter Ruinen. Gemälde von Th. Hohinson. (Aus
Scribner’s Magazine) . 140
Sommer. Gemälde von A. Harrison. Gemäldegalerie
in Dresden . 142
Dartmouth Moors, Mass. Gemälde von H. Sivain-Oifford.
(Aus der American Art Review. Bd. 1) . 144
Jagd auf Elen. Gemälde von G. de Forest Brush. (Cen¬
tury Magazine. Bd. 43. 1892) . 163
Die Verkündigung. Gemälde von ilZ. L. Maconiber.
(Century Magazine. Bd. 45. 1893) . 164
Lilith. Gemälde von Kenyon Cox. (Aus Scribner’s
Magazine) . 165
Die Töchter des Phorkys. Gemälde von Flihu Vedders.
(Aus American Art Review. Bd. 1. 1880) . 167
Madonna. Gemälde von Giovanni Bellini . 147
Die Wunder des heil. Zenobius. Gemälde von Sandro
Botficelli . 148
Madonna. Gemälde von Fra Bartolommeo .... 149 ^
Salome. Marmorstatue von Max Klinger . 151
Kopf der Salome. Von Max Klinger . 151
Im Sturm. Gemälde von F. Beraton . 152
fAuf dem Heimwege. Gemälde von F. Beraton. Helio¬
gravüre . Zu S. 152
tDie Reiterstatuette Karl’s des Großen. Lichtdruck Zu S. 153
Die Reiterstatuette KarPs des Großen . 156
fCypressenallee. Originalradirung von F. Völlmy Zu S. 176
Palast in Zante . 178
Palast in Zante . 180
Salvator, Kopie nach Qu. Massys. Louvre zu Paris . 189
Bildnis des Kardinals Bernardus Clesius. Galerie Cor-
sini zu Rom . 192
*Seneca . 194
*Sophokles . 197
*Antiochus von Syrien . 197
(*■ Aus dem Werke: Griechische und römische Porträts.)
f Hohe Politik. Originalradirung von J. Neumann Zu S. 200
jA. Krüger. Am Strand von Göhren. Originalradirung
Zu S. 200
YI
INHALTSVERZEICHNIS.
Seite
Angebliches Monogramm Zeitbloni’s auf dem Gemälde
von Berlin in Nördlingen . 202
Inschrift vom Altar in der Schlosskapelle zu Kilchberg
bei Tübingen . 203
Johannes der Täufer. Von B. Zcitblom. (Vom Kilch-
berger Altar) . 204
Johannes der Täufer. Von B. Zeithlom. (Vom Eschacher
Altar) . 205
tDie Taufe Christi. Von B. Zeitblom vom Blaubeurener
Hochaltar. Lichtdruck . Zu S. 207
Monogramm vom Blaubeurener Altar . 207
Wappen des Abtes Heinrich Faber . 207
Bildnis des Bartholomäus Zeitblom. (Vom Heerberger
Altar) . 235
Der Tod Mariä. Gemälde von B. Zeitblom, im fürst¬
lichen Museum zu Sigmaringen . 236
Heilung eines epileptischen Knaben durch den heil.
Valentin. Gemälde von B. Zeitblom in der Augs¬
burger Galerie . 237
tSt. Margaretha und Ursula. Gemälde von B. Zeitblom
in der Pinakothek in München; radirt von M. Back
Zu S. 235
““Männliches Bildnis. Von Chr. Amberger . 216
♦Weibliches Bildnis. Von dir. Amberger . 216
♦Christus. Gemälde von P P. Rubens . 217
(* Die Abbildungen sind Verkleinerungen der Heliogravüren
aus dem Werke: Die Sammlung Sebubart. München, Ver¬
laganstalt.)
♦♦Die Tränke. Von Gainsborough . 220
♦♦La Maja vetue. Von Goga . 221
■*Aus Sehnorr's Bilderbibel . 222
(** Aus dem Werke von R. Muther: Geschickte der modernen
Malerei.)
tini Sonnenscliein. Ölgemälde von L. Noster-, radirt
von /•’/•. KrosteirUx, . Zu S. 224
’ 1 ilasfen^ter im Schloss Pelesch. Lagerscene aus dem
17. .lahrhundert . 242
'Brunnen im inneren Hofe von Schloss Pelesch . . . 244
t'Südliche An.sicht des Schlosses Pelesch. Original¬
radirung . Zu S. 241
* Aus dem Werke: Das rumänische Königsscbloss Pelesch.
Von .1. v Falke. Wien, L. Gerold’s Sohn 1893.
Goctlic. Silhouette aus dem Jahre 1762 . 249
Goethe. Bü.ute von Pr. iieeh. (1820) . 250
Goethe. Bü.ste von dir. Rtiiieh. (1820) . 251
Go<-the. Porträt von K. W. Kolbe. (1825). Holzschnitt
vfui llri-ml'itiiioitr . 252
Goethe. .MarmorrelifT von •/. P. Mi hhior im Schlosse
zu Tiefurt. G77.5 . 253
Seite
Goethe. Porträt von Jens Jiiel. (1779). Holzschnitt von
Kaeseberg und Oertel . 254 >/
Goethe. Büste von M. 0. Klemer im Schlosse zu Tiefurt.
(1779) . 2.54'
' Goethe. Porträt von J. A. Darbes. (1785) . 255,
, Goethe. Porträt von J. H. Lips. (1791) . 255 ^
Goethe. Marmorbüste von Al. Trippei. (1796) . . . 257
Goethe. Porträt von J. F. Tischbein. (1787). Holzschnitt
von Brend’ amour . 277 '
Goethe. Kreidezeichnung von Burg. (1800) .... 278
Goethe. Kreidezeichnung von F. .Jagemann. (1817) . 279 '
Goethe. Porträt von J. J. Schmeller. (1829) .... 279 ■
Goethe. Skizze auf Schloss Arklitten bei Gerdauen.
Holzschnitt von R. Berthold . 281
Goethe. Porträt von Q. von Kügelgen. (1810). Holz¬
schnitt von Kaeseberg und Oertel . 281-
Goethe. Porträt von 0. Kiprinski. (1823) .... 282 >
Goethe. Porträt von L. Sebbers. (1826). Gestochen von
L. Sichling . 282 »
Goethe. Porträt von J. K. Stieler. (1828). Holzschnitt
von Kaeseberg und Oertel . 283 :
Goethe. Skizze auf Schloss Arklitten bei Gerdauen.
Holzschnitt von R. Berthold . 283
Studien von H. Baisch . 258, 260, 261
fSommer. Originalradirung von H. Baisch. (Aus dem
Werke: Lieder und Sinnsprüche. Von Otto Baisch.
Stuttgart, Verlagsanstalt) . Zu S. 261 f
Hermann Baisch . 259
Regentenbild von Allart von Löninga . 264
♦Triforium . 266 ,
♦Portal der Kirche zu Hemsedal in Hallingdal, Stift
Christiania . 267
♦Rolstad . 268
♦Kaiserliche Kirche zu Rominten in Ostpreußen . . . 269
(* Aus dem Werke: Die Holzbaukunst Norwegens. Von
Dietrichson und Munthe. Berlin, Schuster und Bufleb 1893 )
Am häuslichen Herd. Originalradirung von ,Tos. Bam¬
berg er . Zu S. 272 ;
Die Sophienkirche in Konstantinopel . 273 .
Das Pantheon in Rom . 274 ,
Der Jupitertempel in Spalato . 275 ,
I Columbarium der Freigelassenen des Augustus . . . 275
Grabmal des Tantalus . 275
♦Maria- Plain und Csik-Somlyö. Von .7. M. Trenk-
ivald . 295
(*Aus dem Werke: Marien-Legenden von österreichischen
Gnadenorten. Wien, ,,St. Norbertus“.)
Die Windmühle. Gemälde von A. Holmberg , radirt
von W. Wörnle . Zu S.
296
y 1
Kopfleiste. Gezeichuet von A. Lackxeu.
NEUE BAHNEN IN DER KUNST.
NSER alter Erdball hat es
leicht: er dreht und wälzt
sich fort nach ewigen Ge¬
setzen; wollt’ er sich ein¬
fallen lassen, eine neue Bahn
einzuschlagen, dann wäre es
bald aus mit ihm, — so bleibt
er lieber geduldig in der alten.
Anders der Mensch, dieses Urbild unaufhörlicher
Beweglichkeit und Veränderlichkeit: wollte er stehen
bleiben oder auch nur durch eine längere Zeit die
nämliche Bahn einhalten, so wäre das sein Tod.
Für ihn gilt bloß das eine Leitwort: nunquam re-
trorsum!
Die Geschichte ist die Chronik dieser fortwäh¬
renden Wandlungen und Steigerungen. Einst mach¬
ten ganze Völker oder Völkergemeinschaften die
Umwälzungen solidarisch durch. Der dabei sich er¬
gebende Niederschlag bildete den Grundstoff zu
einer neuen Weltanschauung, einer neuen Kultur¬
form, einem neuen Baustil. So wurde aus dem
Schliemannischen das Hellenische, aus dem Roma¬
nischen das Gotische, aus dem Mittelalter die Re¬
naissance.
In den früheren Zeiten spürt man in dem Ge¬
triebe dieser Umgestaltungen und Neuschöpfungen
kaum etwas Persönliches. Alles wächst wie der
Wald aus innerer Naturtriebkraft. Und doch muss
irgendwo einmal, vielleicht von einem delphischen
Priesterkopf, der erste dorische Tempel in Stein
ausgedacht und ausgerechnet sein; ebenso in einem
französischen das erste Strebe.system eines gotischen
Domes. Niemand wird jemals ihre Namen nennen.
Zeitschrift für bildemle Kunst. N. F. V. H. i.
Von der Renaissance an wird es immer persönlich
interessanter in der Geschichte der Kunst: Brunel¬
leschi, Donatello, Mantegna, vollends Dürer, Michel¬
angelo, Raphael und Lionardo leben unter uns fort
als festumrissene Gestalten, umringt von iliren
Schöpfungen, wie die Väter von ihren Kindern.
Und nun erst die Kunst von heute! Sie ist
ganz auf die Persönlichkeit gestellt. Schon bei
Carstens tritt der nach Freiheit ringende Mensch
energisch in den Vordergrund, wenn auch nicht
ganz ohne den weichen Grundzug seiner Zeit. Cor¬
nelius war ein Heros der künstlerischen Überzeu¬
gung, rücksichtslos und herrisch wie alle Bahn¬
brecher. Auch in Moriz von Schwind lebte eine
derbe, schonungslose Kraftnatur, in seltsamem Wider¬
spruch mit seiner zarten, duftigen, märchenhaften
Kunst. Sarkasmus und Urgemütlichkeit, das Erb¬
teil des Wienertums, waren die Ellenbogen, mit
denen er selbst im Gedränge der feindlichsten Kunst¬
bestrebungen sich kräftig durchdrückte.
Auf die Epoche dieser ersten Kunsterneuerer
unseres Jahrhunderts folgte bekanntlich die Durch¬
gangsepoche der „Malen -Könner“, mit Schorn und
Piloty an der Spitze und Hans Makart als rauschen¬
dem Ausklang. Neben ihm kamen Lenbach, Gabriel
Max, Böcklin empor. Damit stehen wir an der
Pforte der eigentlichen Gegenwart.
Was will diese? Vielleicht ist es gut, zunächst
einen kurzen Blick auf die beiden Schwesterkünste
der Malerei zu werfen und dann erst zu dem Scho߬
kinde der Modernen zurückzukehren, um eine klare
Antwort auf die Frage zu gewinnen. — Die Bau¬
kunst, das wissen wir, hat endlich den großen Re-
1
0
NEUE BAHNEN IN DER KUNST.
petirkurs der Stile durchgemaclit und kommt nun
— zu sich selber. Denn Kunst wird auch sie erst,
nachdem die Schule absolvirt ist und das eigene
Schaffen beginnt. Dadurch soll selbstverständlich
dem Studium der alten Baustile nicht das Grab ge¬
graben sein: im Gegenteil! Das bewährte Alte bleibt
das Rüstzeug der Schule. Aber das Leben erfordert
Neues; Künstler wird der moderne Architekt erst
dann sein, wenn ihm das in der Schule Gelernte
zum frei gehandhabten Ausdrucksmittel des Ge¬
dankens geworden ist. Diese Trennung von Kunst
und Schule, von Freiheit und Nachahmung beginnt
endlich auch in der heutigen Baukunst zum allge-
meiueu Bewusstsein durchzudringen. An die Stelle
der Stile tritt eine Reihe künstlerischer Individua¬
litäten. Die moderne französische Architektur ist
reich au solchen wahrhaft schöpferischen Talenten.
Unter den jüngeren Wienern gebührt Karl König
in diesem Betracht eine der ersten Stellen: einem
el)enso gediegen und klassisch gebildeten wie durch¬
aus originell schaffenden Meister, in dessen besten
Schöpfungen das einst von Eduard van der Nüll ange-
str<d)te Ziel höher und vollkommener erreicht erscheint,
als von irgend einem der unmittelbaren Schüler des
vielverkannten Erbauers der Wiener Hofoper. Wie
ilieser, so entwickelt auch König ein jedes seiner
Werke rein aus den Eigentümlichkeiten der ge¬
gebenen Aufgabe heraus, frei von schablonenhafter
Nachahmung üljerkommener Typen, und bildet das
Detail vollkommen originell in moderner, aber
höchst gewählter, technisch fein ausgefeilter Formen-
■ prache. - - Der höhere Grad küustlerischer Freiheit
und riiabhängigkeit von dem historischen Ideal, in
dem wir den Forts( hritt der heutigen Baukunst er¬
blicken, keii)i7.ei(dinet in gleicher Weise die Bahn der
modernen 1’la.slik. Nicht mehrAntike oder Michelangelo,
ondern die Natur bildet ihre bevorzugte Grundlage.
o o
hoch nur die tirundlag(!, nicht das geistige Ziel,
hiesc's ist weit über die Sphäre des Naturalismus
hinaus auf Ausdruck innereji seelischen Lebens in
Form und Bewegung cler jdastischeji Gestalt ge¬
richtet. Es existirt wieder eiTi ]da.stisches Forträt
im .'^inne geistiger Charakteristik; es erfreut uns
wieder ein fein rlurchgearbeitetc-r Akt, der Ausgang.s-
piinkt alb-r jdastischen \b)llkominenheit. Wer sich
iiber/.eugen will, wie man in 'I’ypik und Bcdiandlung
vollk. tinmen unhelleni.sc h vorgcdien und doch den
innersten Kern einer idealen Götterbildung scharf
und bestimmt erfas.sen kajin, der betrachte z. B. die
lierrlic-he, schlanke Bogenschützin Diana von Fal-
auf der die.sjäbrigcm Ausstellung im Mün¬
chener Glaspalast. Der Meister dieser edlen Gestalt
wandelt völlig auf moderner Bahn. Er besitzt die
Einfalt, die Unschuld in der Anschauung der Natur,
welche die Antike so groß macht, und er ist doch
ganz das Kind seiner eigenen Zeit, seines Volkes,
seiner Schule. — Ihm ebenbürtig durch Schlichtheit,
Ernst und Tiefe der Empfindung steht W. v. Eümann’s
Marmordenkmal der Herzogin Max in Bayern da. Auch
das ist ein ganz auf sich selbst gestelltes Werk,
und dabei durchaus im Einklang mit dem Geiste der
Alten, mit den unwandelbaren Gesetzen der Kunst.
Am deutlichsten aber zeigt uns die Malerei den
Werdeprozess der neuen Zeit. Wir treten damit
nun der obigen Frage näher. Die Münchener „Se¬
zession“, so viel man sie auch schmähen mag, hat
das unleugbare Verdienst, die Beantwortung der¬
selben dadurch erleichtert zu haben, dass sie eine
bedeutende Zahl der Neueren und Neuesten zu einem
harmonischen Ganzen vereinigte. Es ist wahr, man
findet noch viel Unausgegorenes, viele Lehrlings¬
arbeiten unter den Meisterstücken. Auch das ist
nicht zu leugnen: manche Vertreter der neuen Ideen
sind noch bei den „ewig Gestrigen“ im Glaspalast
zurückgeblieben. Aber diese Unklarheiten waren
stets die natürlichen Begleiterinnen derartiger vScheide-
und Werdeprozesse. Und so viel ist sicher: den Mün¬
chener Sezessionisten gehört die Zukunft; wer .sich
ihnen nicht anschließt, wird unrettbar dem Scha¬
blonentode verfallen.
Den Charakter der „Sezession“, die „Psyche“
der Modernen hat Otto Julius Bierhaum in einem
kürzlicli erschienenen Büchlein über die beiden dies¬
jährigen Münchener Ausstellungen') in ihrer eigen¬
tümlichen Unbestimmtheit mit fein empfundenen
Strichen gekennzeichnet. „Wir haben heute — sagt
er — in der Kunst sowohl Decadence wie über-
schwenglichen Zukunftsglauben, und die künstlerische
Sehnsucht wendet heute ihre Augen sowohl rück¬
wärts wie znkuuftsgeradeaus. Man kann diese Kunst
weniger denn je in eine bestimmte Formel bringen,
aber das ist sicher: wir halten wieder eine Kunst,
die mehr sein will und mehr ist als bloße, träge
Erbnießerin der Vergangenheit. Gerade in ihrem
we.sensuneinen Gespaltensein, in ihrer auseinander-
llügelnden Seelenrcichhaltigkeit, in ihrer Spannweite
vom Realistischen zum Phantastischen, vom Naiven
zum Raffinirten zeigt sie sich als wahre Kunst, die
1) Ans beiden Lagern. Bctraclitungen, Charakteristiken
und iStinnnnngen ans dom ersten Doppelansstellnngsja.hre in
Mi'medien 189.'{. iVIiinclien, Verlag von Karl Schüler. 75 S. 8.
NEUE BAHNEN IN DER KUNST.
3
eiu starker und reicher Ausdruck ihrer Zeit ist. Man
kann es jetzt schon klarlich sehen, wie sie sich eng
dem geistigen Entwickelungsgange der Zeit an¬
schließt. Wie sich aus dem Materialismus ein neuer
Idealismus zu erheben beginnt, nicht unangefochten
durch rückläufige Neigungen, so steigt aus dem als
Reaktion notwendig und heilsam gewesenen puren
Naturalismus eine neue gläubige Seelenkunst, gleich¬
falls nicht ohne die Begleiterscheinung von Neigun¬
gen ins Mystische. Und diese Entwickelung ist in
der Kunst nuancenreich wie im Leben. Wir haben
hier wie dort Sondertendenzen nach allen möglichen
Richtungen hin, nur dass in der Kunst alles ver¬
feinert und dennoch verschäi'ft auftritt.“
Auf ihre Sinnenfälligkeit angesehen, ist die
moderne Malerei vor allem eine helle Kunst ge¬
worden, sie hat uns das Reich der Farben erst recht
erschlossen. „Heute entfaltet sich in der Kunst eine
Farbenlust, die nicht ohne Einflu.ss auf das allgemeine
Farbenempfinden bleiben kann. Allerdings macht
sich daneben hei den Allermodernsten wieder ein
Zug zum abgetönt Dunkeln bemerkbar.“ Bierbaum
erwähnt speziell die „feinen Koketterieen in Schwarz“
des Freiherrn v. Ilabermcam. „Aber dies Spielen
mit dem Dunkel, das künstlerisch seine begreiflichen
Reize hat, ist keinesfalls eine Erscheinung von tie¬
ferer allgemeiner Bedeutung.“ — „Andererseits hat
man gefürchtet und fürchtet wohl noch, die Farben¬
freude sei auf dem Wege, in Farbenmissbrauch aus¬
zuarten, zu einer Art Farbennarrheit zu werden, die
sich an keine Wirklichkeit mehr kehrt und exakte
Beobachtung durch symbolistische, farbensympho-
nische Exzesse ersetzen wolle. Aber es ist nicht
einzusehen, warum eine Phantastik der Farbe weniger
„erlaubt“ sein sollte, als eine Phanta.stik der Form,
die man sich in der Gestaltung von allen möglichen
Fabelwesen gerne gefallen lässt. Man geht da in
der realistischen Forderung, die man früher so ent¬
schieden ablehnte, jetzt entschieden zu weit. Es
lassen sich hier, wie sonstwo in der Kunst, keine
Gesetze aufstellen, und es gilt nur, Fall für Fall
nachzusehen, ob das innere und äußere Können des
Malers zu so souveränem Umspringen mit der Farbe
berechtigt oder nicht.“
Man mag nun mit diesen Anschauungen einver¬
standen sein oder davon ab weichen: jedenfalls hat
der Autor vollkommen recht, wenn er vor dem De-
kretiren in Kunstdingen warnt, wenn er sich be¬
scheiden will, ruhig dem Werden zuzuschauen und
der echten Meister, gleichviel ob junger oder alter,
sich zu freuen, eingedenk des hübschen Spruches
von Richard Demel, den er an die Spitze seines Büch¬
leins setzte:
Nicht zum Guten, nicht vom Bösen
Wollen wir die Welt erlösen,
Nur zum Willen, der da schafft;
Dichterkraft ist Gotteskraft.
In Wahrheit reicht ja die Kette der Modernen bis
zu einem der ältesten lebenden Meister zurück, der
als eiu unverwüstlich Junger unter uns lebt und
wirkt: zu Adolf Menzel! Wenn irgend einer, ist er
Naturalist und Poet zugleich, ein Charakterkopf
vom Anbeginn und doch ewig wandelbar, eiu treuer
Spiegel der ungeheuren Peripetieen der Zeit. Unter
den halbvergessenen Begründern des Modernen muss
dann Vildor Müller’s in Ehren gedacht werden, von
dem der Münchener Glaspalast uns diesmal eine
wertvolle Kollektivausstellung bringt, sprühend von
Geist und visionärer Farbenphantastik, wie in Vor¬
ahnung Böcklm’s. Dass dieser geniale Schweizer
wie ein glühender Berggipfel emporragt aus den
Höhenzügeu der heutigen Küustlerwelt, hat die
heurige Ausstellung wieder neu bewahrheitet. Seine
rotblonde, träumerische Teufelin Venus Anadyomeue,
sein ahnungsvolles Paradiesesbild und die blumige
Frühlingslandschaft „Sieh, es lacht die Au“ zeigen
den phantasiegewaltigen Poeten wie den wunder¬
samen Musiker der Farbe in alter Kraft und Herr¬
lichkeit. Gabriel Max, der erste und feinste der
modernen Seelenmaler, glänzt wie der milde Mond
neben der feurigen Sonne Böcklin’s. An letzteren
gemahnt in einzelnen Zügen der kernige Franz
Stuck, mit Anspruch auf eine bedeutende Zukunft,
ein Talent von bohrender Gewalt, zeichnerisch wie
malerisch gleich virtuos und ein Herrscher im weiten
Bereiche der Kunst vom Historisch -Monumentalen
bis herab zum Stillleben, mit dem Modellirholz wie
mit dem Pinsel, dem Zeichenstift und der Radir-
nadel. Selbst Meister wie Uhde, Firle, Liebermann
in ihrer ernsten, sinnigen Schlichtheit haben Mühe,
sich neben dem kühn Aufstrebenden zu behaupten.
Hier soll nicht der ganze Generalstab der Modernen
aufgezählt und vom Auslande ganz abgesehen wer¬
den. Wenn wir noch Lenbach nennen, ferner Bartels
und Zügel, Piglhein und Thoma, Trübner und Weis-
haugd, Paul Höcker und Marr, Ilertcrich und Lang¬
hammer, Gotthardt luichl und Dettmann, so sind
damit aus den verschiedenen Gebieten der Malerei
von den deutschen Führern die bewährtesten heraus¬
gehoben, welche die neuen Bahnen beschreiten.
Max Klinger zählt dazu mehr noch in seiner
Eigenschaft als Radirer denn als Maler. Er ist —
1*
Ilaiiilzeichiiiiuf; von Füanz Stuck
Programm. Entvvorfeu nud gezeichnet von 0. Greiner.
NEUE BAHNEN IN DEK KUNST.
(i
nach Menzel — einer der begabtesten Verkündiger
des i\Iodernen für die graphischen Künste. Hatte
scdion der Holzschnitt Jahrzehnte früher sein altes
Kleid gewechselt, nm den gesteigerten Ansprüchen
der Gegenwart auf Tonwirkung und Glanz gerecht
werden zu können, so folgt jetzt auch die Grab-
stichelknnst auf diesem malerischen Wege nach.
Die „Stichradiruug“ entstand. Der alte, plastisch
modellirende Stich verschwindet mehr und mehr.
Ebenso die vornehmlich auf Tiefe und Farbe hin¬
arbeitende Nadelradirung. Ein zartes, verschwimmen-
des Gran ist der Modeton der graphischen Kunst,
ein Zwitterding zwischen Natur und Phantastik die
Lieblingssphäre der von Klinger beeinflussten Ori-
ginalradirer. — Auch die Lithographie wird in
gleichem Geiste wieder gepflegt: ein an und für
sich mit Freude zu begrüßendes Symptom gerechter
Rückerinnerung an diese viel zu schnell über Bord
geworfene Kunst. Von Paris signalisirt man be¬
reits eine neue Blüte der künstlerischen Original¬
lithographie. Treffliche Blätter in dieser Technik
zeigt die Ausstellung der Münchener „Sezession“
z. B. von dem Schüler Klinger’s Otto Ordner und
dem Holländer Jan Veth. Auch die Franzosen haben
sich dort mit einigen schönen Beiträgen eingestellt.
Man sieht, die Bahnen der Modernen führen
aufwärts! Dankbar der guten Alten eingedenk,
freuen wir uns dieses allgemeinen Vordringens zu
höheren Zielen und folgen den Bahnbrechern mit
Begeisterung. Nur vergesse keiner von den Rufern
im Streit, dass jedes Heute morgen Gestern ist, und
bewahre Bescheidenheit im Glück gegenüber den
B eSiegten ! yg^r ^ y .
Uiicksoile Uc.s I’iogiamms. Von 0. Okeiner.
C-,
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
VON KARL WOERMAKX.
MIT ABBH.DUNGEN.
ÄTER. und Söhne! Eine Reihe
von Künstlerpaaren der deut¬
schen Kunstgeschichte sind
Väter und Sühne gewesen.
Bei den beiden Burgkinairs
und den beiden Lukas Cra-
nachs überragte der Vater den
Sohn. Von den beiden Hans
Holbeins aber wurde nur der jüngere eine wirkliche
W eltgröße. Ähnlich ging es zweiliundert Jahre später
mit Ismael und Anton Raphael Mengs. Isinael
Mengs wurde nur als der Vater Anton Raphael’s
berühmt. Anton Raphael Mengs aber wurde, weup
auch nicht ohne Widerspruch, im dritten Viertel
des vorigen Jahrhunderts von den weitesten Kreisen
Europa’s als der größte aller lebenden Meister ge¬
feiert. Winckelmann, der ihm seine „Geschichte der
Kunst des Alterthums“ widmete, bezeichnete ihn 1701
in deren erster Auflage sogar als den größten
Künstler seiner und vielleicht der folgenden Zeit,
der als ein Phönix gleichsam aus der Asche dos
ersten Raphael erweckt worden sei, um der Welt
in der Kunst die Schönheit zu lehren und den
höchsten Flug menschlicher Kräfte in derselben zu
erreichen. Und dass nicht etwa nur sein Freund
und Landsmann so über ihn urteilte, zeigen die
Ehren und Aufträge, mit denen die Herrscher und
Völker Europa’s ihn überschütteten, zeigen die bio¬
graphischen „Lobschriften“, die gleich nach seinem
Tode in verschiedenen Sprachen über ihn erschienen.
Kein deutscher Künstler vor ihm und nach ihm
kann sich rühmen, ehe ihm noch ein Nachruf in
deutscher Sprache gewidmet worden, von zwei Ita¬
lienern, einem Spanier und einem Franzosen in be¬
sonderen Schriften gefeiert worden zu sein. Die
I.
Italiener waren sein Schüler Carlo Giuseppe Ratti ^),
der das Genueser Kunstlehen seiner Zeit beherrschte,
und Giovanni Ludovico Bianconi 2), der unter Augustlll.
Leibarzt in Dresden gewesen, nach dessen und seines
Nachfolgers Tode aber zum kursächsischen Geschäfts¬
träger in Rom befördert worden war. Der Franzose
war sein Freund und Schüler Nicolas Guibal '*), der
als Galeriedirektor und Akadeniieprofessor in Stutt¬
gart wirkte. Der Spanier aber war Don Jose Nicolas
de AzaraL, der spanische Gesandte in Rom, der in
seiner Verehrung für den deutschen Meister noch
weiter ging als Winckelmann, indem er ihn ohne
Bedenken über Raphael Santi stellte, weil dieser
sich niemals über die Natur emporgeschwungen (!)
habe. Die Lobschriften dieser ersten Verkünder iles
Nachruhmes Anton Raphael’s wurden wiederholt
aufgelegt, nachgedruckt, kommentirt und übersetzt'').
Aber auch andere italienische, sjainische und fran-
]) Epiloge clella vita del fu Cavaliere Antonio Ratläelo
Mengs etc. Genova 1779.
2) Elogio storico tlel cavaliere Ratläele Mcng.s etc. Mi¬
lano 1780. Vorher zerstüchelt in der Antologia Roinana
1779-1780.
3) Eiloge historique de Mengs. Baris 1781. Verwertet
in der Piinleitung zu den Oeuvres de M. Mengs, ed. Doray
de Longrais, 1782.
4) Memorie concernenti la vita di Antonio Ratläello
Mengs. Einleitung zu Azara’s Ausgabe der litterarischeu
Werke des Mengs: Opere di A. R. Mengs, Parma 1780.
5) Eine deutsche Übersetzung der Schriftwerke des A. R.
Mengs, der die Übersetzungen von Azara’s und von Bian-
coni’s Lebensbeschreibungen des Meisters vorangestellt sind,
gab C. F. Prange 1780 in 3 Bänden in Halle heraus. Die
Übersetzung als solche ist herzlich schlecht. Doch fügte
Prange teils aus Guibal’s Aufzeichnungen, teils aus eigenen
Nachforschungen eine Reihe nicht unwichtiger Anmerkungen
in Bezug auf das Leben und die Charakterzeiclinung beider
Mengs hinzu.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
zösische Kunstscbriftstellev schlossen sich bis in unser
Jahrhundert herein ihrer Auffassung der Bedeutung
des Meisters an. Lanzi, der Verfasser der berühmten
Storia pittorica della Italia, deren erste Auflage 1789
erschien, meinte noch, die Nachwelt würde mit Men gs
ein neues, glücklicheres Zeitalter der Malerei be¬
ginnen lassen; Ceau-Bermudez, der bekannte Ver¬
fasser des 1800 erschienenen spanischen Künstler¬
lexikons, stellte als selbstverständlich den Satz hin:
wissen wollten, weil seine Malerei, mit dem höchsten
Maßstabe gemessen, keine ursprüngliche, unmittelbare,
naturwüchsige, sondern eine absichtliche, abgeleitete,
verstandesmäßige Kunst sei. In Deutschland ver¬
breitete sich diese Auffassung besonders seit man
anfing, Jacob Asmus Carstens als den Begründer der
neuen Kunst auf den Schild zu heben. Schon Fernow
ging in seinem Leben des Carstens (1806) so weit,
Mengs als Beispiel dafür anzuführen, was geistloser
IsMAi-u, Mengs. Selbsthililnis.
..Dun .\ntonio l>a|ihael Mengs war der verdienstvollste
und bfriiliniteste moderne .Maler Enropa’s“, und Louis
X’iardot, der .'■einer Zeit angesehene französische
Kritiker glaubte .'^ogar noch iS'O.t nicht viele Gegner
zu find--n, wenn er liaj)ha(d .Mengs als den größten
Maler des IS. .lalirhnndf-rts bezeichnete. Daneben
hatten eh freilich .^clion friih in Italien, S])anien,
1 rankreieh '.Mariette; und vor allem in Englaiid, wo
' lain: borough und Peynohls andere Wege wiesen,
Stimmen erludien, die vfjr einer I berschätzung des
.Mei.sfei's warnten, ja, lil)erhanpt nicht viel von ihm
Fleiß, von einem denkenden Verstände geleitet und
einer gründlichen Technik unterstützt (gründliche Tech¬
nik galt den einseitigen Verehrern des Carstens als das
sicherste Zeichen des Verfalls) und von den Um¬
ständen begünstigt, durch eifriges Studium nach Voll¬
kommenheit zu erreichen vermöge; und ähnlich
schrieb der treffliche Waagen noch 1870: „Mengs
ist ein merkwürdiges Beispiel, dass die erste und
unerlässlichste Bedingung in der Kunst der göttliche
Funke des Genies i.st und dass ohne diesen auch
der volle Besitz aller Eigenschaften, welche sich
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENUS.
9
lehren lassen, nicht ausreichen, um einen tiefen und
erwärmenden Eindruck auf den Beschauer hervorzu¬
bringen.“ Nur als natürliche Folge dieser Umwand¬
lung der Anschauungen erscheint es daher, dass die
Berliner Galerie ihre beiden Bilder des Mengs — sie
gehörten freilich nicht zu seinen reifsten Werken —
vor kurzem dem „Vorrat“, mit anderen Worten der
Rumpelkammer, überwiesen hat. Der Berliner Kata-
Besten seiner Zeit genügt, der hat gelebt für alle
Zeiten“ doch nicht verleugnet werden. Ein tüchtiges,
allseitiges Können und Wollen wirkt auch, wenn es
durch eine falsche Zeitrichtung missleitet worden,
noch überzeugend und anziehend; und wenn es lehr¬
reich ist, sich das Leben und Wirken von Meistern
zu vergegenwärtigen, denen erst die Nachwelt zu
ihrem Weltruhm verhelfen hat, so muss es doppelt
Anton Raphael Mengs, Selbstbildnis.
log von 1891 hat sie, dementsprechend, auch ge¬
strichen, während derjenige von 1883 sie noch be¬
schrieb.
Trotz alledem bleibt Anton Bajyhael Mengs ein
Künstler, mit dem es der Mühe Wert ist, sich ein¬
gehend zu beschäftigen. Dass der Verfasser dieser
Seiten den eklektischen Klassizismus des Meisters
nicht verteidigen wird, weiß man im voraus. Aber
ganz darf das Wort des Dichters „denn wer den
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. II. 1.
lehrreich sein, sich auch einmal in das Wirken und
Wesen eines Künstlers zu versetzen, dem es umge¬
kehrt ergangen ist. Eine kunstgeschichtliche Per¬
sönlichkeit von eindringlicher Bedeutsamkeit bleibt
Mengs unter allen Umständen. Die deutsche Kunst¬
geschichte wird ihn, wenn sie ihm seine Sünden
wider den Geist des Deutschtums auch noch so
scharf vorhält, niemals als Stiefkind behandeln dürfen.
Dass sie es bisher nicht gethan, beweisen auch die
10
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
neueren Abhandlungen, die deutsche Kunstforscher
über ihn veröffentlicht haben ^). V on diesen fühlt
mau es nur derjenigen Justi’s an, dass ihr, außer
den bekannten Biographieen von Azara und Bian-
coni, noch anderes Quellenstudium zu Grunde
liegt ; in derjenigen Reber’s fesseln besonders einige
auf eigener Anschauung beruhende Beschreibungen
römischer Fresken des Meisters; diejenige Pecht’s
abei', den auch niemand im Verdachte des Klassizis¬
mus haben wird, zeichnet sich durch die unbefangenste
NN’urdigung des Meisters aus, vor dessen Unter¬
schätzung sie wieder warnen zu müssen meint.
Stiefmütterlicher ist Ismael Mengs, der Vater
Anton Raphael’s, in jenen Quellenschriften und in
diesen Abhandlungen bedacht worden, wenngleich
aus ihnen allen hervorgeht, dass seine Lebens¬
geschichte aufs engste mit derjenigen seines Sohnes
verflochten ist und dass kaum jemals ein Meister in
dem Maße von seinem Vater beeinflusst worden ist,
wie Anton Raphael Mengs von dem seinen. Die
Kigenart Ismael’s schärfer hervorzuheben als es bisher
geschehen, ist daher eine Hauptaufgabe, die wir uns
gestellt haben; und es ist eine um so lohnendere
Aufgabe, da es möglich sein wird, die Lücken, die
jene älteren Schriftsteller in seiner Lebensbeschrei-
Imng und .seiner Charakterzeichnung gelassen haben,
aus Dresdener Urkunden und anderen Quellen aus¬
zufüllen.
1 )agegen kann es nicht die Aufgabe einer neuen
Arbeit über Anton Raphael Mengs sein, dessen
hebensgescliichte auf eine ganz neue Grundlage zu
stellen. .lene vier Quellenschriften, die man als die
Kvangelien der Geschichte seines Lebens und seiner
hflire bezeichnen könnte, rühren von Männern her,
die dem Meister im lieben als Freunde oder Schüler
iiabege.standen bähen. Flinzelne Widersprüche in
ihren Angaben lassen sich leicht ausgleichen. Wenn
die Sehiek.-^ale aller K ün.stler in gleicherweise durch
zeitgen;'.>si.‘;ehe Zeugen beglaubigt wären, so wäre es
leirdd, Knnstgescbiehfc zu schreiben. Wohl aber
lä t .^ieb denken, dass einzelne bedeutsame, zumal
i ulturgesebiclitlich bedeutsame Abschnitte seines
heljcn.s durch neuen (Juellenstotf schärfer zu be¬
leuchten und jdastiseber auszugestalten wären; und
diese Aufgabe i.st es in der Tliat, der wir uns an
1; (’arl .lu.'-ti : Haphael Mengs in den „I’reufiischen Jahr-
tiiiehem“ t'and XXVIII, 1S71 ; — Franz ]{ef>er: Anton Ra-
I ji .i ; Meng“ in Dohme' ; ,, Kunst und Künstler“ I3d. II, 1878; —
t , ü'dr. I’eeht: IJafael Xlengs in der Allg. Deutschen Biogra-
; e und in '■“inem Werke „Deut.schc Künstler des XIX. Jahr-
lu^ ‘ IM. 1R,1.
der Hand einiger wenig oder gar nicht benutzter Ur¬
kunden und litterarischer Quellen unterziehen wollen
Ein vollständiges Verzeichnis und eine kritische
Würdigung aller einzelnen Werke beider Meister zu
geben, würde den Rahmen eines Aufsatzes überschrei¬
ten. Auch hier handelt es sich nur darum, Irriges zu
berichtigen. Vergessenes nachzuholen und Entschei¬
dendes womöglich in ein helleres Licht zu rücken.
Vor allen Dingen hoffen wir, in größerem Umfange
als es bisher geschehen feststellen zu können, welche
erhaltenen Werke Anton RaphaeFs den durch die litte-
rarische Überlieferung bekannten entsprechen.
In jedem P'alle soll das in den früheren Schriften
über ihn ausreichend Begründete und weitläufig Aus¬
geführte nur so kurz berührt werden, wie es möglich
ist, ohne die Charakteristik des Meisters zu beein¬
trächtigen. Nur wo neues Material zur Verfügung
steht, soll etwas länger verweilt werden. Kurz : es soll
weniger eine Verschmelzung als eine Ergänzung
der früheren Arbeiten über Anton Raphael Mengs
und seinen Vater Ismael versucht werden.
*
*
H.
Ismael Mengs entstammte einer Lausitzer Familie,
die erst nach Hamburg , dann nach Kopenhagen
verschlagen worden war. Hier wurde er 1688 ge¬
boren. Alle bisher benutzten Quellen versetzen seine
Geburt freilich ins Jahr 1690. Aber gleich hier
sind uns berichtigende Urkunden zur Hand. Seine
Witwe berichtet der Behörde am 28. Dezember
1764, dass Ismael am 26. desselben Monats, im 77.
Jahre seines Lebens (das er also noch nicht vollendet
hatte) gestorben sei; und aus anderen Urkunden er¬
fahren wir, dass er 1714 sächsischer Hofmaler ge¬
worden, während Fea ') anmerkt, dass er, 25 Jahre
alt, in den Dienst August des Starken getreten sei.
Alle diese Angaben stimmen überein, wenn wir an¬
nehmen, dass Ismael etwa in der zweiten Hälfte des
Jahres 1688 geboren sei und in der ersten Hälfte
des Jahres 1714 sich in Dresden niedergelassen habe.
Er soll 21 Brüder gehabt haben. Sein Gevatter,
ein gewöhnlicher Schmierer, gab ihm den ersten
Unterricht in der Malerei. Später ging er in die
Schule Benoit Coffre’s über, der kein schlechter
1) Carlo Fea’s neue Ausgabe von Azara’s „Opere di
Mengs“ Roma 1787, p. XIV Anm. a und b. Diese in der Re¬
gel übersehenen Anmerkungen sind wichtig, weil Fea, wie er
sagt, seine Nachrichten von Theresia Concordia Maron, geh.
Mengs, der Tochter IsmaeFs, hatte. Sie spiegeln also die
Familienüberlieferungen wieder.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENG«.
11
Künstler gewesen sein kann, da er 1692 (Archives
de l’Art Fran9ais V, p. 281) mit seinem Gemälde der
Verstoßung der Hagar den ersten Schülerpreis der
Pariser Kunstakademie davontrug. Außerdem hören
wir nur, dass Coffre bis 1717 in Kopenhagen thätig
gewesen, Bildnisse für den dänischen Hof, Decken¬
gemälde für seeländische Schlösser gemalt und für
den besten Maler Kopenhagens gegolten habe. Die
akademisch-französische Grundlage seines Unterrichts
kommt in allen
kleinen Bildern
des Ismael Mengs
zum Vorschein;
und wenn daneben
manchmal ein lei¬
ser Hauch vlämi-
scher Wahrheits¬
liebe und Farben -
frische über ihnen
zu liegen scheint,
so erklärt sich das
daraus , dass es
dem jungen
Mengs schon in
Kopenhagen ge¬
lang, einige Bil¬
der Van Dyck’s
zu kopiren , die
sich dort im Pri¬
vatbesitze befan¬
den. „Anno 1709“
aber begab Ismael
sich nach Lübeck,
wo er, wie Carl
Heinrich v. Hein¬
ecken erzählt ’),
bei dessen Vater
Paul Heinecken
sich in der Öl¬
malerei vervoll-
kommnete , vor
allen Dingen aber die Miniaturmalerei in Email
erlernte, durch die er sich seinen guten Namen als
erster Meister dieses Faches erwerben sollte. Bei
1) Nachrichten von Künstlern und Kunstsachen, Leipzig
1768 I S. 52. — Neue Nachrichten, Dresden und Leipzig 1786
S. 28 — 32. Auch diese Anmerkungen Heinecken’s, der aus¬
drücklich erklärt, beide Mengs „besonders gut“ gekannt zu
haben und daher in der Lage zu sein, „einiges zu berich¬
tigen“, sind in der Regel nicht genügend oder gar nicht be¬
rücksichtigt worden.
Paul Heinecken fand er Gelegenheit, — so lautet
der Bericht von dessen gelehrtem Sohne — „sich
im Miniaturmahlen zu üben, sonderlich aber die
Art der Emaillemahlerey desto besser herauszu¬
künsteln, da in diesem Hause die Chimie sehr
stark getrieben ward. Zu der Zeit konnte man die
Emaille-Farben noch nicht so, wie jetzt zu Kauf be¬
kommen; folglich mussten die Künstler solche selber
zubereiten.“ Von Lübeck, wo er drei Jahre zu¬
brachte, wandte
Ismael Mengs sich
1712 nach Ham¬
burg, um hier seine
neu erlernte Kunst
im Dienste der
reichen Kauf¬
mannschaft zu ver¬
werten. Doch zog
ihn, wie Fea be¬
richtet, der kunst¬
sinnige Herzog des
benachharten
Mecklenburg bald
an seinen Hof.
Um 1713 würden
wir ihn demnach
in Schwerin zu
suchen haben; und
erst vom meck¬
lenburgischen
Hofe hätte der
sächsische im fol¬
genden Jahre sei¬
nen jungen Hof¬
maler empfangen.
Der alte Dresdener
Oberhofmaler Sa¬
muel Bottschild
war seit sieben
Jahren tot; der
Hofmaler Hein¬
rich Christoph Fehling, der damals die Decken in
den Dresdener Palästen malte, war schon ein
Sechziger. August der Starke, der bereits eitrigst
für die Galerie sammelte, sah offenbar die Not¬
wendigkeit ein, jüngere künstlerische Kräfte nach
Dresden zu ziehen. Ein Jahr vor Ismael Mengs war
der ungarische Bildnismaler Adam Manyoki als Hof¬
maler nach Dresden berufen worden, ein Jahr nach
ihm kam Louis de Silvestre, der berühmte Franzose,
der über ein Menschenalter lang an der Spitze des
2*
Ismael Mengs. Pastellbild von A. R. Mengs.
12
ISaiAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
Dresdener Kunstlebens stehen sollte. Von Dietrich,
Thiele, Riedel und Oeser war damals noch nicht die
Rede. Noch später erst traten Chiaveri, Torelli,
Guarienti und Hutin in den Dresdener Kunstkreis ein.
Ismael Mengs sah sie alle nach einander kommen
und überlebte manche von ihnen. Er gehörte zu
dem ältesten Stamme der Dresdener Künstlerkolonie
des Augusteischen Zeitalters, ging aber, ohne viel
rechts oder links zu schauen, als Mensch und Künstler
seine eigenen Wege.
An Eigenart und
Willenskraft überragte
der Mensch in ihm bei
weitem den Künstler.
Ein schlechter Künst¬
ler war er in seiner
Art gewiss nicht. Sein
berühmterer Sohn
ptlegte zu sagen, er
habe es niemals dahin
bringen können, einen
Kopf zu malen, der
dem in Ol gemalten
Koj)fe seines Vaters
in der Dresdener Ga¬
lerie gleich käme; und
ein tüchtiges (ilge-
mälde ist dieses Selbst¬
bildnis Ismaels in der
'lliat: etwas konven¬
tionell in der damals
iiblielieii, beim Selbst¬
bildnis doch eiuiger-
malM-n erklärlichen Ge-
oärdc der rechten Hand,
,iber individuell in den
/■■'iiren. in der gediege-
■ ' I , kräfti<_ren,rris( dien
l’o = Hübning ond in
i - ■ vollen, tivlen, lei-
d- I . oaehgediinkudten, von ausgeprägtem
11 i ! o kel Lo tragen -n Parbi rigebung. Dass Ismael
ie .i-i in b. ien gewesen, als er dieses Hild malte,
: e eil. " ' ine erste italienische Reise aber
:l* • ' i- aben nnd neuen Biographen über-
^ \ }• bemerkt kurz, dass er, um seine
■i iU II 'O-r ' )liT;,.i- i ei /I; vollenden, 1718 und
7 M -r ni svf i-i - t-i. hoa'.s Nachricht ist glaub-
r,d‘g. ■ on rteil de auf ibe 'fochter des Meisters
/.' V N ,r durch d: ■sc Leise erklärt sich auch
k ' . • ■■■ i ei*. Mi t der Ismael sich später ent¬
schloss, die künstlerische Erziehung seiner Kinder
in Italien zu vollenden.
Ölgemälde Ismael’s sind übrigens von der grö߬
ten Seltenheit. Die Schriftquellen nennen außer dem
erwähnten, von B. Polin gestochenen Selbstbildnis
nur noch das nach dem Tode der Dargestellten ge¬
malte, von Bernigeroth in Leipzig gestochene Bild¬
nis der Maria Rosina Trierin, geb. Sinnerin, ein
Knabenbildnis des Kurprinzen Christian, sowie Bild¬
nisse des Malers Hausmann, des Kammerrats Richter
und des Kaufmanns
Rabe, die sich im vor¬
igen Jahrhundert alle
im Leipziger Privat¬
besitze befanden
(PrangeI,S. 185 Anm.).
V on den öffentlichen
Sammlungen aber be¬
wahrt, außer der Dres¬
dener, nur noch die
Leipziger ein Ölbild
des Meisters. Es ist
dies das zuletzt ge¬
nannte, also ebenfalls
litterarisch beglaubigte
Bildnis des Leipziger
Tuchkaufmanns Rabe,
der, nach rechts ge¬
wandt, in braunemRock
und grauer Allonge¬
perücke neben einem
Tische steht, auf dem
sehr stofflich behan¬
delte rote und weiße
Tuche liegen. Es ist
ein lebensgroßes Knie¬
stück. Trotz seiner
Bauschigkeit und Ge¬
spreiztheit fesselt es
durch eine gewisse
Strammheit seiner Auffasung und PVstigkeit seiner
Durchführung.
Zahlreicher sind die Emailminiaturen von Is-
mael’s Hand, die sich unter seinem Namen erhalten
haben. Bezeichnet hat er weder sie, noch seine Öl¬
gemälde; einen einheitlichen, ausgeprägten Stil zeigen
weder die einen noch die anderen; von diesen wie
von jenen werden sich daher noch manche unerkannt
im Privatbesitze befinden; ihnen allen nachzuspüren
aber würde schwierig und undankbar sein. Von
seiner Kunst, kleine Bilder in Email 'zu malen, geben
Diogenes. Kmail-Mini.itur von Ismael Mengs.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
13
auch seine Miniaturen in den öffentlichen Samm¬
lungen Dresdens, an die wir uns halten müssen,
eine genügende Vorstellung. Am vorteilhaftesten
tritt er uns in der Dresdener Galerie in einzelnen,
bald als Brustbild, bald als Kniestück dargestellten
Gestalten entgegen, wie in den dreizehn Bildchen, die
Christus und die zwölf Apostel darstellen, dem Dio¬
genes im grünen Gewände mit der Laterne in der
Linken, dem Bildnis August des Starken und dem
Bildnis einer Dame, die ihr Söhnchen auf dem
Schoße hält. Sü߬
licher erscheint
er in dem 1741
erworbenen Dor¬
nengekrönten im
violetten Mantel
und der angeb¬
lich auf ein Vor¬
bild Manyoki’s
zurückgehenden
Muttergottes mit
gefalteten Hän¬
den im „Grünen
Gewölbe“, denen
wieder die Mag¬
dalena ' und die
Schmerzensmut¬
ter in der Galerie
sich anschließen.
Zu seinen fri¬
schesten Schöpf¬
ungen dieser Art
aber gehören die
beiden Verkün¬
digungsbildchen
der Galerie, auf
deren einem er
die Jungfrau, auf
deren anderem er
den Engel ge¬
schildert hat.
Scheint es fast, als ob er hier der Aufgabe, beide
Gestalten zu einer einheitlichen Darstellung zu ver¬
binden, absichtlich ausgewichen sei, so zeigt sein
einziges figurenreiches Bildchen, die Darstellung des
Diogenes vor Alexander im „Grünen Gewölbe“, voll¬
ends seine Ungeschicklichkeit in der Zusammen¬
stellung verschiedener Gestalten. Es ist hölzern
in der Anordnung, kalt und bunt in der Färbung.
Wie gesagt, ein unbedeutender Künstler war Ismael
Mengs in seiner Art nicht; aber bedeutender war er
Magdalena. Email-Miniatur von Ismael Mengs.
doch unzweifelhaft als Mensch. Dass er eine eigen¬
artige und auffallende Erscheinung war, sieht man
schon seinen Bildnissen an, mehr noch dem von seinem
Sohn, als dem von ihm selbst gemalten (vgl. S. 1 1 ). Seine
Züge waren groß und regelmäßig geschnitten. Seiner
dunklen Hautfarbe entsprach ein dunkles, Willens¬
kraft und Leidenschaft sprühendes Auge. Die Sinn¬
lichkeit seiner Lippen tritt besonders auf seinem
Selbstbildnis hervor. Bianconi , der ihn gekannt,
schildert ihn als hoch gewachsen, ernst, schweigsam,
„obwohl er, wenn
er wollte, besser
zu reden ver¬
stand, als man¬
cher andere“. Er
versäumte keine
Opernvorstellung
und blies selbst
leidenschaftlich
die Flöte. Da¬
gegen sah ihn
nie jemand in der
Kirche. C. H. v.
Heinecken, der
schon erwähnte
gelehrte Lübeck¬
er, der während
der ganzen Re¬
gierungszeit x4u-
gust’s HL des
Grafen Brühl
rechte Hand in
Dresdener Kunst¬
angelegenheiten
und vielen an¬
deren Dingen
war, fügt hinzu:
„Ismael hatte
nicht nur beson¬
dere Principia in
der Religion, son¬
dern seine Lebensart war ebenfalls ganz besonders.
Er hielt viel von Jean Jacques Rousseau, und ich habe
ihn oft sagen hören, dass er nur so lange glücklich
und vergnügt gewesen, als er noch keinen Koffer
gehabt hätte.“ V on Rousseau selbst, dessen erste bahn¬
brechende Schrift 1750 erschien, konnte er freilich
erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens beeinflusst
werden , aber eine gewisse Geistesverwandtschaft
mit ihm, die in der Zeit lag, mochte er besessen
haben.
Jedenfalls war er Freigeist im Sinne der
1-1
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENOS.
Aufklärung des vorigen Jahrhunderts und lebte dem¬
entsprechend. Bald nach seiner Rückkehr von Rom,
im Jahre 1720, „verband“ er sich mit seiner Haus¬
hälterin Charlotte Bormann aus Zittau. Dass dieses
Band nicht von Anfang an ein eheliches gewesen,
verschweigen seine alten und neuen Biographen.
Seine Kinder wussten es vielleicht selbst nicht oder
hüteten sich doch, das Geheimnis Azara, Bianconi,
Ratti oder Guibal zu verraten. Heinecken und Prange
aber bezeugen es so ausdrücklich, dass es unmög¬
lich ist, daran zu zweifeln. Sein ältester Sohn hieß
Karl Moritz; seine ältere Tochter Theresia Concordia
wurde 1723 geboren. Gerade ihrer unehelichen Ge-
hurt wegen sprach er nicht gern von seinen Kindern,
und gerade um Unannehmlichkeiten zu entgehen,
sandte er Charlotte Bormann, als sie ihr drittes
Kind erwartete, nach Aussig in Böhmen. Hier wurde
Anton Raphael am 12. März 1728 geboren. Es ist
bezeichnend, dass alle Schriftsteller, die über Raphael
.Mengs schrieben, solange erlebte, Hagedorn, Meusel,
Püssli, Mariette, nicht anders wussten, als dass er
in Dresden geboren sei, ja dass selbst Heinecken in
der ersten Fassung seines im Manuskript im Dres¬
dener Kupferstichkabinett erhaltenen vielbändigen
großen ..Dictionaire des artistes“ noch Dresden als
seinen Geburtsort angab, diese Angabe aber später
durclistricli, um sie am Rande durch die. Worte
, Aussig en Boheme“ und „eleve ä Dresde“ zu er¬
setzen; und es ist verständlich, dass man, als die
nach seinem Tode erschienenen Biographieen das Ge-
lieimiiis, dass er in Aussig geboren sei, enthüllten,
zur Deutung dieses Umstandes zu so unwahrschein-
lielien Erklärungen seine Zuflucht nahm, Avie dass
Ismai-I sich am 12. März (an dem es noch Winter
zu sein pfl''gt) mit seiner Gattin auf einer Lustreise
in Aussig hed'unden habe.
Einige Wochen nach der Gehurt ihres Söhn-
'•lu'iis kehrte Cliarlotte Bormann mit ihm ins Mengs-
f-he Hau:, nach Dresden zurück; und jetzt ließ
I nuiul .sieh mit ilir trauen. Hatte er doch mit
die" 'in .'■ohne ..vom Mutterleib an“ (Heinecken) so
he.sondere und große Absichten, dass er ihn und
damit zugleich seine ülirigen Kinder durch die nach-
'räglieh eing»-gangene Ehe legitirniren musste! Ismael
.Meng« mochte sclion um diese Zeit zu der Einsicht
eekommen sein, dass seine eigene Künstlerkraft nicht
ausreichte, seinem Ehrgeiz zu genügen; längst hatte
er aber auch die Überzeugung gewonnen, dass es
mit der Kunst in den alten ausgefahrenen Gleisen
nicht weiter gehe, dass sie von Grund aus umge¬
staltet und neugeschaffen werden müsse. Konnte
er selbst der bahnbrechende Neuerer nicht sein, so
sollte es einer seiner Söhne werden. Gerade den
kleinen Anton Raphael hatte er hierzu ausersehen;
und eben deshalb hatte er ihm mit voller Über¬
legung die Namen Anton und Raphael gegeben;
denn dass Raphael Santi von Urbino und Antonio
Allegri von Correggio die Vorbilder seien, denen
ein Erneuerer der Kunst nachstreben müsse, war
ihm auf seiner italienischen Reise zur festen Über¬
zeugung geworden. Als er einem Leipziger Freunde
bald darauf sein Vorhaben erzählte und dieser ein
ungläubiges Gesicht dazu machte, dass der kleine
Wickelknabe in Dresden Raphael und Correggio in
einer Person werden sollte, antwortete er: „Er soll
und muss!“
„Er soll und muss!“ Wohl niemals vorher oder
nachher ist ein Knabe unter dem Banne dieses Aus¬
spruchs gewissermaßen mit Gewalt zum berühmten
Manne gemacht worden. Das Wort, dass Anton
Raphael zur Kunst geprügelt worden sei, war schon
zu seinen Lebzeiten verbreitet.
An Geldmitteln, seinen ehelichen Haushalt be¬
scheiden, aber ordentlich zu führen und seine Kinder
zu erziehen, fehlte es Ismael übrigens nicht. Das
Gehalt von 600 Thalern, das er als Hofmaler be¬
zog, konnte bei dem damaligen Kaufwerte des Geldes
einem bürgerlichen Hauswesen beinahe schon ge¬
nügen, Außerdem erhielt er alle seine Arbeiten be¬
sonders bezahlt; und dass sie anständig bezahlt
wurden, erhellt aus seiner erhaltenen Immediatein¬
gabe an den König vom März 1729, in der er um
Zahlung eines „kleinen Restes“ von 273 Dukaten
für verschiedene, vor einiger Zeit auf höchsten Be¬
fehl ,,en miniature“ verfertigte Porträts bat.
Frau Charlotte Mengs geb. Bormann starb übri¬
gens bald nach der Geburt ihres vierten Kindes,
eines Töchterchens, das außer auf den Namen Julia
auch auf den ihren getauft wurde; denn in Ur¬
kunden wird sie Juliane Charlotte genannt.
(Fortsetzung folgt.)
Franz Simm. Selbstporträt.
FRANZ SIMM.
MIT ABBILDUNGEN.
EDES Jahr wandern von
Wien und ans anderen Orten
des österreichischen Kaiser¬
staates Künstler und Kunst¬
handwerker aller Arten ins
Ausland, um dort weitere
Fortbildung und dauernden
_ Erwerb zu suchen. Die Maler
wenden sich seit neuerer Zeit mit Vorliebe nach
Paris und München. Dort, in der Seinestadt, haben
seit längerer Zeit Eugen Jettei, Eduard Charlemont,
Freih. v. Myrbach u. a. ihre Werkstätten aufgeschla¬
gen, von Munkacsy und den übrigen Ungarn abzu¬
sehen. Die Übersiedelung nach München ist viel
älteren Datums: Moriz von Schwind fand hier seine
zweite Heimat, ebenso der Prager Gabriel Max, dann
Defregger, Matthias Schmid, und unter den zahl¬
reichen Jüngeren auch der liebenswürdige und fein
begabte Meister, welchem diese Zeilen gelten, der
Historien- und Genremaler Franz Simm.
Simm ist ein Wiener Kind, und der ihn aus¬
zeichnende Geschmack, der Sinn für Eleganz und
edle Formenschönheit, die Stoffwahl und die Deli¬
katesse der Ausführung seiner Bilder lassen leicht
die heitere Gemütsart und das künstlerische Naturell
seiner Landsleute wieder erkennen. Er wurde 1853
als der Sohn des Malers Josef Simm geboren, der
hauptsächlich in der Herstellung von Kirchen- und
Fahnenbildern seine Kunst übte und dessen Samm¬
lung von alten Stichen und anderen derartigen
Gegenständen dem Knaben die ersten künstlerischen
Anregungen bot. Nach dem Besuch der Oberreal-
O O
hu Mai. Ölgemälde von Fu. Simm.
Zeitschrift für bildende Kunst N, P V
H 1.
3
Mephisto. Handzeichmmg von Fr. Simm.
IS
FRANZ SIMM.
schule, welcher jedoch durch den Tod des Vaters
frühzeitig unterbrochen wurde, kam Franz auf die
Wiener Akademie und schloss sich hier zunächst
mit jugendlicher Begeisterung an den damals eben
dorthin berufenen Anselm Feuerbach an, dessen
Werke er auf einer Reise nach München in der
Schack -Galerie kennen gelernt hatte. Aber es ge¬
lang ihm nicht, zu dem Lehrer in ein näheres Ver-
Im Jahre IS 76 errang Simm, der an der Wiener
Akademie mehrfache Auszeichnungen erhielt, das
römische Reisestipendium und gewann dadurch Muße,
sich dem Studium Italiens und seiner Kunstschätze
mit Eifer hinzugeben. Nach Ablauf der zweijähri¬
gen Stipendienzeit blieb er noch weitere drei Jahre
in Rom und erhielt dort ISSl seinen ersten größe¬
ren Auftrag, nämlich den, das Stiegenhaus des kau-
Kindergruppe HanJzeichnung von Fr. Simm.
hältnis zu kommen. So verließ er denn bald die
Schule I’euerbachs und trat in das Meisteratelier
Ed. V. Engerth's ein, wo er die vollste Berücksich¬
tigung seiner Individualität und namentlich in Bezug
auf Komposition die fördersam.ste Unterweisung
fand. Gleichzeitig wurde Simm A.ssistent des ver¬
storbenen Prof. Ferd. Laufberger an der Kunst¬
gewerbeschule des Österreichischen Museums und
verdankt auch diesem trefflichen Künstler mannig¬
fache Anregungen.
basischen Museums in Tiflis mit umfangreichen
Wandgemälden zu schmücken. Auch noch in an¬
derer Hinsicht wurde diese römische Zeit entschei¬
dend für des Künstlers Leben. Er machte damals
die Bekanntschaft einer jungen Malerin, einer
Schülerin von Löfftz, die sich gleichfalls zu Studien¬
zwecken in Rom auf hielt. Sie wurde Simm’s Frau,
machte mit ihm die Hochzeitsreise nach Tiflis und
half ihm dort wacker bei der Ausführung der Ge¬
mälde, wie sie auch später ihm bei seinen größeren
FRANZ SIMM.
19
künstlerisclien Arbeiten vielfacli praktisch zur Hand
gegangen ist. Nach Vollendung der Wandbilder
machte Simm noch durch zwei Monate hindurch
emsig Studien und Skizzen in der entzückend schön
gelegenen kaukasischen Stadt, um dann über seine
Heimat Wien nach München zurückzukehren, wo er
von nun an seinen bleibenden Wohnsitz nahm.
In München war es zunächst die Illustration
deutscher Klassiker, die den Künstler lange Zeit
eifrig beschäftigte und für die er als gründlich ge¬
bildeter und geschmackvoller Zeichner sich inner-
Häuschens in Schwabing entstand, und kurz darauf
erhielt Simm den Auftrag, ein 12 m breites und
8 m hohes Diorama mit der Darstellung eines Harem
zu malen, welche kolossale Bildfläche ihm wieder
mit Hilfe seiner kunstgeübten Gattin zum großen
Ergötzen beider in kurzer Zeit zu bewältigen gelang.
Dann aber betrat Simm dasjenige Gebiet, auf
dem ihm seine schönsten Lorbeern blühen sollten,
die Genremalerei. Namentlich die Wertherepoche,
das Empire und alles, was zeitlich und kostümlich
daran grenzt, wurde seine mit Meisterschaft gepflegte
Porti’ätstudie. Handzeichnung von Fr. Simm.
lieh berufen fühlen durfte. Namentlich für die Hall-
berger’sche Goethe- Ausgabe hat Simm zum West-
Ostlichen Divan, zum Faust und zu anderen Werken
eine Reihe der gelungensten Blätter geliefert. Die
Gestalt des Mephisto, welche die Leser diesem Auf¬
sätze beigegeben finden, ist eine Studie zu der Scene
mit dem Schüler. Die „Fliegenden Blätter“ und
viele andere deutsche Journale zählen Simm zu
ihren Mitarbeitern.
Gleichzeitig fuhr der Künstler aber auch fort,
seine Kunst im großen auszuüben. Die in Fresko
ausgeführte Madonna an der Giebelwand seines
Domäne. In dieses Zeitgewand kleidet er jene an¬
mutigen kleinen Bilder aus dem Liebes- und Fami¬
lienleben, welche unsere Ausstellungen der letzten
Jahre zierten, und von denen der hier vorgeführte
Holzschnitt „Im Mai“ eine Probe giebt. Auch die
Studie mit der auf dem Balkon sitzenden Dame im
Empirekostüm, die in der beiliegenden Heliogravüre
reproduzirt ist, fällt in dasselbe Stoffgebiet. Es
sind meistens helltönige Darstellungen von der höch¬
sten Vollendung der Detailmalerei, bewundernswert
schon wegen der enormen Kenntnis aller Äußerlich¬
keiten des Lebens, welche die geschichtliche Sphäre
3*
20
FRANZ SIMM.
cliarakterisireu, aus der die Gegenstände entnommen
sind. Aber damit ist ihr eigentlicher Reiz nicht er¬
schöpft. Dieser besteht in dem nie sich verleugnen¬
den Schönheitsgefühl und in der
Zartheit der Empfindung für den
menschlichen Gehalt der Bilder,
für das Bleibende und immer
sich Erneuernde im Leben und
Treiben der Welt. Das erst ver¬
leiht Simm’s kleinen Meister¬
stücken ihren geistigen, echt
künstlerischen Wert, und er¬
klärt zur Genüge die hohe
Schätzung, deren sie sich in
der Kunstwelt zu erfreuen haben.
Eines der durchgeführtesten Bil¬
der dieser Art ist „Der Stolz
der Familie“ im Kostüm des
Empire. Der Künstler erhielt
dafür 1SS9 in Wien die goldene
Medaille. Ein anderes, „Das
Duett“, wurde 1891 in Berlin
prämiirt und für die National¬
galerie angekauft. Eine sehr
figurenreiche Darstellung von
minutiöser Ausführung, „Das
Liebhaberkonzert“, erwarb 1892
der Großherzog von Weimar für
da.s dortige Museum. In der
diesjälirigen Ausstellung im
Müncliener Glaspalast ist Simm
gleichfalls durch ein vollendet
ansgefübrtes Bildchen „Vor der Zahnoperation“
t reif lieb vertreten. In Chicago wurde er durch
Verleilmng von Medaillen, sowohl in der Öster¬
reich iseben als auch in der deutschen Abteilung,
ausgezeichnet. — Aus den letzten Jahren haben
wir schließlich auch noch zwei Werke größeren Stils
hervorzuheben. Für das kunsthistorische Hofmuseum
in Wien (SaalX) malte Simm sechs
medaillonförmige Deckenbilder
mit allegorischen Figuren. Als
Diorama entstand „Der Tod Kai¬
ser Wilhelm’s“^) auf Bestellung
desselben Unternehmers, der auch
Miteigentümer des unlängst in
Wien verbrannten Diorama’s von
Piglhein war.
So sehen wir den Meister
in treuer Bewahrung und Pflege
der ihm verliehenen reichen Kräfte
rüstig wirken und schaffen, und
begrüßen in ihm einen der be¬
rufensten Vertreter jener nie
veraltenden Richtung der Malerei,
welche Gefälligkeit der Erschei¬
nung, höchste Feinheit der Aus¬
führung und zartsinnigen Gehalt
harmonisch miteinander zu ver¬
binden weiß. ^ „
G. V. L.
1) Das Staffeleibild gleichen Ge¬
genstandes, welches neuerdings in ver¬
schiedenen Städten gezeigt wurde, ist
nicht diese für künstliche Beleuchtung
und entsprechende Umgebung aus¬
geführte Originalkomposition Simm’s,
sondern eine durch verschiedene Über¬
malungen hergestellte Umarbeitung
von der Hand des Malers G. Goldberg in München. Man
sehe darüber die Erklärung Simm’s in der „Kunst für Alle“
vom 15. April 1892 und den nach dem Dioramabilde ge¬
fertigten Holzschnitt in dem bei Bruckmann erschienenen
Werke: ,,Die Hohenzollern.“
Tanzendes Mädchen,
llandzeiclmung von Fr. Simm.
JÖRG BREU DER ÄLTERE UND JÖRG BREU
DER JÜNGERE.
VON HEINRICH ALFRED SGHMID.
AST überall herrscht über
die Malerfamilie Breu bis
jetzt noch Unklarheit. Der
einzige, der sich etwas ein¬
gehender mit ihr beschäftigt
hat, Rosenberg in der Ivunst-
chronik Bd. X (1875), S. 388
(nicht 382) bis 392, stellt
die unrichtige Hypothese auf, dass die bisher be¬
kannt gewordenen Werke der Familie von drei ver¬
schiedenen Künstlern stammen; auch diejenigen,
welche sich zuletzt über die Frage ausgesprochen,
bringen keine Lösung; Janitschek, Geschichte der
deutschen Malerei, ist nicht einmal in den Daten
genau, und auch Muther im Generalregister der
„Meisterholzschnitte aus vier Jahrhunderten“ von
1893 geht meines Erachtens von unrichtigen Vor¬
aussetzungen aus. Nur die Ansichten, welche die
kurzen Notizen des Berliner Katalogs verraten,
scheinen mir das Richtige zu treffen.
Im Folgenden füge ich den Werken der Familie,
die schon früher sich erwähnt finden, noch eine An¬
zahl von mir entdeckter bei und stelle das gesamte
Material so zusammen, wie es nach meiner Ansicht
sich auf zwei verschiedene Künstler verteilt. Die
Beweise für meine Behauptungen bei anderer Ge¬
legenheit.
Laut den von Vischer, Studien zur Kunst¬
geschichte, S. 478 ff., publizirten Augsburger Hand¬
werksbüchern steht fest, dass im Beginn des 16. Jahr¬
hunderts zwei Künstler namens Jörg Breu, Vater
und Sohn, in Augsburg existirten. Von dem älteren
findet sich die Aufnahme in die Zunft nirgends ver¬
zeichnet, obwohl die Eintragungen in dem in Be¬
tracht kommenden Handwerksbuch bis ins Jahr 1487
hinaufreichen. Seit dem Jahre 1502 aber ist ziem¬
lich regelmäßig bis 1520 alle zwei bis drei Jahre
die Aufnahme eines Lernknaben bei diesem Künstler
verzeichnet; gestorben ist derselbe 1536. Der jün¬
gere Künstler hat erst 1534 das Zunftrecht seines
Vaters erhalten, hat in den Jahren 1539, 1540, 1543
Lernknaben vorgestellt und ist 1547 gestorben.
Übersieht man nun die ganze Reihe der sieben
verschiedenen Werke auf dem Gebiete der Malerei
und die Holzschnitte, welche durch vollen Namen
oder durch Monogramm bezeichnet und datirt sind,
so ergiebt sich, dass diese Werke entschieden zwei
grundverschieden beanlagten Künstlernaturen ange¬
hören müssen, und dass allerdings nicht erst das
Jahr 1534 oder 1536 die Grenzlinie zwischen den
Werken des Vaters und Sohnes bildet, aber auch
nicht etwa das Jahr 1510 oder 1512, sondern dass
unter den bezeichneten Arbeiten, die nach 1519 oder
1520 entstandenen alle dem Sohne, die früheren aber
höchstens mit einer Ausnahme dem Vater angehören
müssen.
Nach den wenigen erhaltenen Werken zu schlie¬
ßen, war der ältere Breu ein hochbeanlagter, leiden¬
schaftlicher Künstler, der sich namentlich durch seinen
Sinn für schlanke zierliche Formen, durch feines
Gefühl und einen eminenten Farbensinn vor seinem
Sohne auszeichnete, nach seiner Entwickelung zu
schließen ein Altersgenosse Burgkmair’s und dessen
Mitschüler bei Schongauer.
Der jüngere Künstler war als Zeichner in seinen
besten Werken vielleicht korrekter als der Vater,
aber derb , sogar roh veranlagt, ohne koloristisches
Talent, trocken und nüchtern, genießbar fast nur in
der Schilderung von Volkstypen, ganz ähnlich wie
die Beham, Feselen etc. und kaum zu seinem Vor-
J(3RG BREÜ DER ALTERE UND JÖRG BREU DER JÜNGERE.
22
teil in späteren Jahren (etwa von 1528 an) von Ita¬
lien beeinflusst. Auffällig ist die Verwandtschaft
vieler seiner Bilder mit späten Werken Baldung’s.
Hiernach gehören dem älteren Breu an:
A. Gemälde.
1) In der Sammlung des Chorherrenstiftes von
Herzogenburg (nicht Herzogenbusch) bei St. Pölten
vier beiderseits bemalte Holztafeln, Br. c. 120, H. c.
80 cm, ursprünglich Teile von Altarflügeln. Auf
den früheren Innenseiten vier Scenen aus dem Marien¬
leben, auf den Außenseiten vier Passionsscenen:
a) Begegnimg der Frauen, Rückseite Christus
vor dem Hohenpriester;
b) Beschneidung, Rückseite Geißelung;
c) Anbetung des Neugeborenen, Rückseite Dor¬
nenkrönung;
d) Anbetung der Könige, Rückseite Kreuztragung,
bezeichnet auf dem Gewandsaum der Maria in der
Anbetung des Neugeborenen. lORG- PREW v. AV
und an anderer Stelle: 15 — 1. Die dritte Zahl ist
abgeblättert; doch gehören die Bilder sicher in den
Beginn des IG. Jahrhunderts und nach Tschischka,
Kunst und Altertum in dem österreichischen Kaiser¬
staate, Wien 183G, S. 81, scheint am Beginne des
Jahrhunderts die Jahreszahl 1501 noch ganz erhal¬
ten gewesen zu sein; da.sselbe Datum ist auch in
einer Ecke der Bildtafel später aufgemalt.
2. Das Madonnenbildchen der Berliner Galerie
(Nr. 507 A) bez. mit Monogramm und Datum 1512
(vergl. die Aufnahme der Photogr. Gesellschaft).
3. Die Tafel mit der Anbetung der Könige in
Koblenz, innen über dem Eingang des Bürgerspitals,
bez. mit .Monogramm und Datum 1518; ursprüng¬
lich Innenseite eines linken Altarflügels; auf Holz
H. c. I,ti0, Br. 0,0.5. In Figuren und Hintergrund
Mehr .‘•tarke Ifeminiscenzen an Venedig, namentlich
aber da.^ Kolorit an die Venezianer erinnernd. Der
Kojd’ des alten Königs, Porträt desselben Patriziers,
den Holbein der ältere iiu Jahre 1513 durch das
bei tiraf Lanckormiski in Wien befindliche Porträt
verewigt bat. Der Abgebildete war damals 52
•Iah re alt.
In den genannten Gemälden wird von Stufe
zu Stufe die .Modellirung immer weicher und breiter
und djus lärbentalent des Urhebers kommt zugleich
ganz im Gegensatz zu den Bildern nach 1520 immer
prächtiger zur Geltung.
Ifolxschniite.
1. Pass. 2 Kreuzigung Christi, zuerst vorkom¬
mend in dem Mi.ssale .sjieciale Augustense bei Erhardt
Radold 15050; dann 1507 im Missale Salzburgense,
gedruckt von Petrus Lichtenstein in Venedig. Die
spätesten Abdrücke tragen die Bezeichnung: Antony
Formschneider zue Franckfurdt; danach die Repro¬
duktion in den „Meisterholzschnitten“ Nr. 91.
2. Drei Illustrationen in Wolfgang Mäu’s Leiden
Christi, Augsburg bei Schönsperger 1515, nämlich:
1. Pass. 1 Verspottung Christi mit Monogramm, 2.
Christus vor Pilatus, beide H. 92, Br. G2 mm in
Passepartouts von H. Burgkmair, 3. (wahrscheinlich)
Der Schmerzensmann mit Maria und Johannes,
H. 1,40, Br. 44 mm. Pass. 1 abgebildet in Muther:
Geschichte der Bücherillustration Bd. II, S. 175. Der
zweite Holzschnitt schon von Muther a. a. 0. Bd. I,
S. 135 für Breu in Anspruch genommen. Der letzte
aber ebenda (auf alle Fälle unrichtigerweise) dem
Hans Burgkmair zugeschrieben.
3. Die 4G Holzschnitte, ein Widraungsblatt (H.
I, 30, Br. 97 mm) und 45 Illustrationen (H. 70, Br.
97 mm), nicht aber die Titeleinfassung, eines kleinen
Quartbändchens: Die ritterlich und lobwirdig raiß
des gestrengen .... ritters und landtfarers Ludovico
Vartomaus (sic) von Bolonia. Das mir bekannte
Exemplar der Münchener Hof- und Staatsbibliothek
Panzer I, S. 420, Nr. 97 ist in Augsburg 1518 ohne
Angabe des Druckers erschienen. Muther a. a. 0.
S. 167 führt dieselben Illustrationen unter den un¬
bekannten Meistern als Nr. 1020 an, und zwar schon
in der Ausgabe, die 1515 bei Miller in Augsburg er¬
schienen, Panzer I, Nr. 820.
Jörg Breu dem jüngeren gehören an:
1. Ein Gemälde bei Herrn Prof. R. von Kauf¬
mann in Berlin, früher bei Pickert in Nürnberg:
Madonna mit Kind, sitzend, bis zum Knie sichtbar
hinter einer Brüstung, auf der Vase und Buch liegt.
Hinter-^er Madonna eine Thronlehne in etwas phan¬
tastischen Renaissancetormen. Den Hintergrund bildet
eine Rosenhecke vor freier Luft, bezeichnet mit
Monogramm und Jahreszahl 1521. H. 0,70, Br. 0,56;
auf Tannenholz.
2. Studie in Kreide mit Rötel gehöht, im Ber¬
liner Kupferstichkabinett, wie es scheint, zu dem
Kopfe der erwähnten Madonna benützt, bez. 1519
und mit Monogramm. Das Gemälde glaube ich mit
voller Bestimmtheit, die Zeichnung mit großer
Wahrscheinlichkeit dem jüngeren Künstler zuweisen
zu können nach zwei Photographieen und Notizen,
1) Vergl. nach meiner Mitteilung die Angabe im Ge-
neralregiöter der von Hirth und Muther herausgegebenen
„ Meister holzschnitte“.
JÖRG BREU DER ÄLTERE UND JÖRG BREÜ DER JÜNGERE.
23
die ich der Güte von Herrn Direktorialassistent Dr.
V. Tschudi in Berlin verdanke.
3. Das Madonnenbild im Wiener Neuen Museum,
früher im Depot der Belvederegalerie, bez. mit Mono¬
gramm und Jahreszahl 1523.
4. Nach Notizen und Photographie, die ich
Herrn 0. Granberg in Stockholm verdanke: ein
großes Gemälde auf Holz (H. 1,02, Br. 1,49) in der
Sammlung des Herrn Carl Ekman in Finspong
(Schweden): Die Geschichte der Lucretia. Vorder¬
grund eine Renaissancehalle (ganz ähnliche Archi¬
tekturformen, wie in Burgkmair’s Esther vor Ahas¬
ver, Nr. 225 der Münchener Pinakothek). Links
Lucretia, umgeben von einigen Römern, sich den
Dolch in die Brust stoßend, rechts mit denselben
fünf Figuren versinnlicht der Racheschwur an der
Leiche der Lucretia. Durch zwei Fenster sieht man
nach dem Hintergrund auf einen Platz mit dem
Pantheon, der Trajanssäule etc., wo Brutus das Volk
aufwiegelt. Bezeichnet mit Monogramm und Datum
1528 und der Inschrift:
HOC • OPVS • FECIT • lEÖGRlVS • PREW •
DE • AVG.
ln den Bögen, welche den Ausblick nach dem
Hintergrund gewähren, hängen die Wappen von
Bayern und Baden (Wilhelm IV. und Jacobaea von
Baden).
5. Die Schlacht bei Zama, Nr. 228 der Münche¬
ner Pinakothek. Wie das vorhergehende Bild zu der
Reihe von Darstellungen aus der römischen Ge¬
schichte gehörig, welche von bayerischen und schwä¬
bischen Künstlern im Aufträge Wilhelms IV. gemalt
wurden.
Auf Grund dieser Gemälde lassen sich dem jün¬
geren Breu noch folgende unbezeichnete zuteilen:
6. Der Ursulaaltar, Nr. 1888 der Dresdener Ga¬
lerie. Auf Mittelbild und Innenseiten der Flügel das
Martyrium, auf den Außenseiten Grau in Grau der
hl. Georg und die hl. Ursula in einer spätgotischen
Halle. Vermutungsweise schon früher von Scheibler
(Repertorium Bd. X, S. 27) und von mir (in meiner
Doktordissertation: Forschungen über Hans Burgk-
mair, München 1888, S. 18) zugleich mit dem fol¬
genden Gemälde für Breu in Anspruch genommen.
Derselben Ansicht folgt Janitschek, Geschichte der
deutschen Kunst, S. 431. Neuerdings photographirt
von F. & 0. Brockmann’s Nachfolger, R. Tamme in
Dresden.
7. Das Gemälde Christus in der Vorhölle, zu
einem Epitaph der Familie Meiding im Ostchor der
St. Annakirche zu Augsburg gehörig. Die Todes¬
daten, welche sich am Sockel des alten Bildrahmens
befinden, sind 1498, 1534 und 1533. Da das Todes¬
datum des Mannes, der zuletzt gestorben, vor dem
seiner früher gestorbenen Gemahlin steht, ist die
Tafel offenbar erst nach beider Tod, also 1534 oder
später entstanden.
Dass dies Bild dem jüngeren Burgkmair an¬
gehört, wie noch Janitschek a. a. 0. S. 439 vermutet,
ist vollkommen ausgeschlossen, da dieser Sohn des
berühmten Malers überall, wo er seinen Vater nicht
kopirt, wie im letzten Teil des Sigmaringer Turnier¬
buches, sich als vollkommen unfähig erweist. Der
Kopf des Moses aber auf dem Vorhöllenbild zeigt
dasselbe Gesicht in derselben Stellung, wie ein Mann
auf dem Mittelbild des Ursulaaltars beim Steuer des
großen Schiffes.
8 — 10. Die kleinen Orgelfiügel mit der Dar¬
stellung der Verkündigung und der Erfindung der
Musik in der Fuggerkapelle der Augsburger St. Anna¬
kirche, der Entwurf zu der zweiten Darstellung in
den Uffizien und die großen Orgelflügel der Fugger¬
kapelle mit der Himmelfahrt Christi und der Him¬
melfahrt Mariae.
Bayersdorfer hielt schon längst die kleinen
Orgelflügel für ein Jugendwerk des jüngeren Breu.
Zwischen dem Gemälde in Finspong und dem Ent¬
wurf in Florenz ist aber die Übereinstimmung so
groß, besonders in Faltenwurf, Aufstellung der Fi¬
guren und Architekturformen, dass mir nicht bloß
die Annahme desselben Urhebers, sondern auch der¬
selben Entstehungszeit unumgänglich scheint. Von
den Gemälden aber sind die kleinen Flügel, wie ich
vermute, in früher Zeit schon stark übermalt worden,
die großen aber so ruinirt, dass ein sicheres Urteil
beiderseits schwer wird.
11. Zwei Glasgemälde bei Herrn Konservator
V. Huber in Augsburg. Schwarzlotzeichnungen mit
gelben Tönen; das Bild selbst von rundem Format.
Durchmesser 0,23 cm. Auf der einen besser erhaltenen
Scheibe ein Augsburger Patrizier mit seiner Frau
in einer Stube Nahrungsmittel in Empfang nehmend;
bezeichnet mit Monogramm. Auf der anderen Scheibe
ein Turnier, ohne Bezeichnung , aber unverkennbar
von demselben Künstler.
12. Federzeichnung im Berliner Kupferstich¬
kabinett: Bittgang römischer Frauen zu Coriolan,
nach Rosenberg a. a. 0., wahrscheinlich Entwurf zu
einer nicht mehr erhaltenen Scheibe derselben Folge
wie Nr. 11. Durchmesser ebenfalls 0,23 cm.
13. Die 18 Federzeichnungen ebenfalls von run¬
dem Format (Durchmesser 34 cm), die sich unter
24
KLEINE MITTEILUNGEN.
Burgkmair’s Namen im Münchener Kupferstichkabi¬
nett befinden und kriegerische Thaten und Jagden
etc. des Kaisers Maximilian darsteUen. Die Zeich¬
nungen stimmen nicht genau mit Burgkmair’s Strich-
fühmng überein und die Augsburger Glasgemälde
und die Schlacht bei Zama beweisen, dass sie von
Breu stammen. Vergleiche die Abbildungen von
sieben dieser Zeichnungen in Hirth’s Kulturgeschicht¬
lichem Bilderbuch Bd. I, Nr. 80 — 86.
14. Elf Blätter aus einer Holzschnittfolge von
fünfzig Landsknechtfiguren, laut Vorrede heraus¬
gegeben von David de Negker, sechzig Jahre nachdem
sie von Burgkmair, Breu und Amberger gezeichnet
worden. Das einzige mir bekannte Exemplar dieser
h’olge im Stuttgarter Knpferstichkabinett (vergl. zehn
Abbildungen in Hirth’s Kulturgeschichtlichem Bilder¬
buch Bd. I, Nr. 441, 447, 449—456).
15. Der große Holzsclmitt von 1540 mit der
Geschichte der Susanna, Pass. 3 im Berliner Kupfer¬
stichkabinett.
Endlich wissen wir durch von Stetten, dass im
Jahre 1538 unser Künstler auch die Gemälde an
der Holzdecke der Zunftstube des Weberhauses re-
novirt hat. Die Arbeit befindet sich heute im Na¬
tionalmuseum in München, ist aber zu sehr ver¬
dorben, um als Zeugnis von des Künstlers Thätigkeit
in Betracht zu kommen.
Wie man sieht, war der jüngere Breu im drit¬
ten und vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts einer
der hervorragendsten Künstler des damaligen Augs¬
burg, beschäftigt von Zünften, von reichen Patri¬
ziern und auswärtigen Fürsten. Uns ist er bloß noch
interessant als Repräsentant einer Epoche, in der sich
überall in Oberdeutschland der Verfall der Malerei
an kündigt. Sein Vater aber muss einer der talent¬
vollsten Maler seiner großen Zeit gewesen sein.
KLEINE MITTEILUNGEN.
* 7jU der Orif/inalraduiimi „Haidclandschaft“' von
Throdf)!- A1])hons in Wien schreibt uns der Künstler: „Die
Umgegend des niederösterreichischen Städtchens Wiener-
Neustadt (das ,, Steinfeld“), ein von fernen Hügelzügen um-
säuintes und wenig behautes Flachland, war mir ein lieber
Studienplatz geworden. Ks war der letzte Abend vor der
Rückkehr nach Wien, als ich bei stürmischem Regenwetter
über die Haide eilte, um nochmals von manchem lieben
l’lätzchen ,\bschied zu nehmen, da traf ich das der Radi-
ning zu Grunde liegende Motiv — ein Spiegelbild der augen¬
blicklichen Stimmung meines Inneren. Aus der dürftigen
Skizze, welche ich damals machen konnte, entstand die vor¬
liegende Radirung, bei deren Herstellung außer der Radir-
nadel verschiedene andere Werkzeuge und technische Mittel
zur Anwendung kamen. In der Absicht, die Stimmung des
trüben Herbsbibendes besser zu veranschaulichen, wurde die
Anwendung kalterund warmer Farbttine beim Druck versucht.“
Iterlin. Im Kunstauktionshause von /f. JjCjtkr. kommen
am 12. ttktober und den folgenden Tagen mehrere Samm¬
lungen von Kupferstichen, Radirungen, Farbendrucken und
Holzschnitten, ferner von älteren und neueren Handzeich¬
nungen und Aquarellen zur Versteigerung. Der Katalog ist
soeben erschienen.
Köln. Am 16. Oktober und den folgenden Tagen ge¬
langt durch J. M. Heberle (H. Lempertz' Söhne) wiederum
ein Teil des Museums Hammer zur Versteigerung. Derselbe
enthält die schwedische Porträtsammlung, bestehend aus
schwedischen Regenten, berühmten Persönlichkeiten und
Privatpersonen, ferner fremde Regenten und berühmte Per¬
sönlichkeiten von schwedischen Meistern gemalt. Außerdem
kommen unter den Hammer Töpfereien, Majoliken, Fayencen,
dai'unter namentlich schwedische; europäische und orien¬
talische Porzellane, Arbeiten in Glas, Elfenbein und Email,
Arbeiten in Gold und Silber, Arbeiten in Bronze und Kupfer,
Eisen und Zinn, Arbeiten in Stein, Schildpatt, Perlmutter,
Bernstein etc.; Textilarbeiten, Arbeiten in Holz, Möbel und
Einrichtungsgegenstände, Miniaturen. Der mit zahlreichen
Abbildungen versehene Katalog ist soeben erschienen.
Herausgeber: Carl von Ijitjoow in Wien, — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von Auguat Pries in Leipzig.
F. Simm
Meisenbach Riffarlh & Co, Berlin heliogr.
ERWARTUNG
VcrU^ vE-A-Seemajm, Leipzig
DtucIc-v: F, A.Brockliaus, Leipzig,
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* I
t,
BRIEG.
MIT ABBILDUNGEN.
Die Kultur
der östlichen
Landstriche
und heson-
Stanrlbiltl Friedrichs des Großen in Brieg.
ders ihre Lei¬
stungen auf dem Gebiete der Kunst pflegt man im
übrigen Deutschland nicht hoch anzuschlagen. Ohne
Zweifel sind auch Süd und West durch ihren Reichtum
an Denkmälern aller Art dem Osten weitaus über¬
legen. Daher könnte es freilich gewagt erscheinen,
die Teilnahme eines weiteren Leserkreises für die
kunsthistorische Entwickelung einer Stadt in An¬
spruch zu nehmen, welche, nicht weit von der öst¬
lichen Grenze des Reiches gelegen, eher den über¬
wiegenden Einfluss kulturlosen Barbarentums als
veredelnder Kunst erwarten lasst.
Allein wenn Brieg schon darauf stolz sein darf,
dass es von altersher einer der Vorposten des
Deutschtums in Schlesien gewesen ist, so muss es
sich erst recht den Umstand zum Ruhme anrechnen,
dass es, weit ab von den Centren der Knnst, doch
derselben eine Stätte in seinen Mauern bereitet hat.
Brieg ist zwar heute nur eine bescheidene Provin¬
zialstadt von 20 000 Einwohnern, aber es besitzt
als ehemalige Hauptstadt eines der bedeutendsten
schlesischen Fürstentümer eine eigene, durch zahl¬
reiche Originalurkunden beglaubigte Geschichte ;
auch haben sich wiederholt die Wogen der ganz
Deutschland bewegenden Kämpfe an seinen Manern
gebrochen. Zudem vermag es fast aus jeder Epoche
der deutschen Kunst monumentale Denkmäler auf-
znweisen. Schon ein Blick auf das Titelbild lehrt,
dass wir eine alte Stadt vor uns haben, in der reich-
gegiebelte und hochdachige Häuser mit modernen
eintönigen Gebäuden wechseln. Die Türme, welche
über den Häusern aufragen, sind zwar zum Teil erst
in unserem Jahrhundert ausgebant worden; aber die
Bauwerke, zu denen sie gehören, liegen in ihrer
Entstehung Jahrhunderte auseinander. Die schlan¬
ken Türme im Osten (links) schmücken die etwa
500 Jahre alte gotische Nikolaikirche; der Turm in
der Mitte der Stadt erhebt sich am östlichen Ende
des vor etwa 300 Jahren im Renaissancestil errich¬
teten Rathauses, und das Turmpaar im Westen
(rechts) steht an der Stirnseite der vor noch nicht
160 Jahren im Jesnitenstil erbauten katholischen
Pfarrkirche.
Der Standpunkt, welchen der Zeichner unserer
trefflichen Abbildungen zur Aufnahme des Stadt¬
bildes gewählt hat, liegt im Osten von Brieg auf
dem rechten Ufer der Oder und ist insofern ein
sehr günstiger, als man von dieser Seite aus am
ehesten einen Überblick über die Stadt gewinnt.
Zugleich aber wird von hier aus dem Beobachter
auch der Grund klar, warum gerade an der Stelle,
wo die Stadt steht, die Anlage derselben in alter
Zeit erfolgt ist.
Man bemerkt nämlich sehr deutlich, dass die
Gebäude der Stadt nur darum so stark hervortreten,
weil das linke Ufer, worauf sie stehen, unmittelbar
vom Flusse an sanft aufsteigt. Diese leichte, längs
der Oder hinstreichende und aus der sonst flachen
Blick auf Brieg
vou der Oderseite.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 2
4
26
BRIEG.
Landschaft sich scharf heraiishebende, gegen Über¬
schwemmungen gesicherte Uferbank hat offenbar
die älteste Besiedelung veranlasst. Dies geht auch
aus dem Namen hervor, den die ersten Ansiedler
dem Orte gegeben haben. Die älteste Urkunde, in
welcher Brieg genannt wird, stammt aus der Zeit
Herzog Heinrich's 1. (1202 — 1238). Dieser Fürst
verfügt im Jahre 1235, dass die Wallonen in Würben
für die Verleihung des deutschen Rechtes ein jähr¬
liches Deputat von Weizen und Hafer an den herzog¬
lichen claviger (Rentmeister) in Visokebreg abliefern
sollen. ') Visokebreg bedeutet nichts anderes als
hohes Ufer (slav. wyssoki hoch, brzeg Ufer); und
andere Urkunden geben hierzu die lateinische Über¬
setzung in alta ripa.^ Allmählich beschränkte man
sich auf den zweiten Bestandteil des Namens Visoke¬
breg, schrieb in den Urkunden „gegeben zum Briege“
und sagte schließlich Brieg, lat. Brega.
Wie weit das Dasein des polnischen Visokebreg
hinaufreicht, ist unbekannt. Hingegen vermögen wir
das Geburtsjahr der deutschen Stadt Brieg mit Be¬
stimmtheit anzugeben. Denn in derselben Zeit, wo
in dem durch die Raubzüge der Tartaren verheerten
Sclilesien viele Städte von den damals bereits hier
angesessenen und durch Reichtum, Bildung und
Kriegstüchtigkeit ausgezeichneten Deutschen neu ge¬
gründet wurden'^), verlieh Herzog Heinrich IH. auch
seiner civitas in alta ripa deutsches Recht •) ( W eih-
nachten 1250). Seit langem schon hatte das alte
llerrscliergesclileclit des Landes, die Piasten, sich an
das deutsclie Nachl)arreicli angelehnt und den Zu¬
zug deutscher Einwanderer begünstigt; besonders
aber gescliali dies seit dem Einfall der Mongolen
in der Absiclit, dem Lande neue Welir- und Finanz¬
kraft zuzuführen. Auch der Kern der neuen An-
iedler in Brieg war deutscli; die Polen der Ort-
.schaft mussten sich dem deiitsclien Recht unter¬
werfen. Damit war die Grundlage zum Aufblühen
der Stadt gescliaifen und deutscher, Geist und deut-
'cher Fleiß nützten nunmehr die günstige Lage des
Ortes aus. Denn nicht bloß die Nähe des Flusses
und zugleich die Sicherlieit vor Hochwassergefahr
begünstigten die Entwickelung der Stadt, sondern
a\ich der Umstand, dass das „hohe Ufer“ der geo-
fjiünhiigf'ii , Urkiindtai der Stadt briej'. Itreslaii,
1 70. Nr
a. a. 0. Nr. .5.
firänhii^en, flescliichtc Schlenions. fJottia, 1SR4. S. 88.
! l)ie Urkunde ist al)('cdruckt bei (triinhaffen, Urkunden
liriepf . S. Jl'i. Kin Kaknimile dcrHoHien ist in % der Ori-
pin Igiöße dem Werke (irünhagcn’s beigegeben.
graphisch bedingte Kreuzungspunkt der beiden
gewiss uralten meridional und westöstlich ziehenden
Hauptstraßen ist.
Mehr als ein halbes Jahrhundert war über der
deutschen Stadt dahingegangen, als sie unter Boles-
laus 111. (1311 — ^1352) infolge einer von den Ur¬
enkeln Heinrich’s des Frommen, des Helden von
Wahlstatt, vorgenommenen Erbteilung Residenz eines
Fürsten wurde. Vom Breslau’schen abgetrennt, trat
Brieg fortan durch seine Dynastie in engere Ver¬
bindung mit Liegnitz, das Boleslaus um 1318 seinem
Bruder Wladislaus halb abpfändete, halb raubte.')
Es kam dabei zu einem der traurigen Bruderkämpfe,
wie sie in dem piastischen Fürstengeschlecht, ver¬
anlasst durch das Erbrecht der Söhne zu gleichen
Teilen, so häufig waren. Gewöhnlich führten die
Herzöge die verhängnisvolle Erbfolgebestimmung
ohne Rücksicht auf die Interessen ihres Landes und
auf die eigene politische Bedeutung durch, zersplit¬
terten mit den ewigen Teilungen ihre Lande und
zertrümmerten auf solche Weise schließlich ihre
fürstliche Machtstellung. Aus den Beherrschern des
weiten, mächtigen Polenreiches wurden sie zu Her¬
zögen von Schlesien, aus diesen zu Herren einzelner
Fürstentümer und endlich gar einzelner Städte. In
ihrem Gebiet und ihrer Macht beschränkt, waren
sie dann im Falle der Not gezwungen, sich einem
mächtigen Nachbar zu beugen. So wurde auch
Boleslaus um 1330 aus einem unabhängigen Fürsten
zu einem Lehnsmann der Krone Böhmen 2) Mit
Böhmen fiel Schlesien später an die Habsburger,
die nach dem Aussterben der Piasten (21. Nov. 1675)
aus dem mittelbaren in den unmittelbaren Be.sitz
traten. Durch die Kriege Eriedrich’s des Großen
endlich kam es unter die bergenden Flügel des
preußischen Adlers.
Bis 1675 also standen die Herzogtümer Brieg
und Liegnitz, bald vereint, bald getrennt, noch unter
den direkten Nachkommen Boleslaus’ HL Von der
Mehrzahl derselben ist nicht viel Rühmliches zu be¬
richten. Denn abgesehen von den ewigen Fehden,
welche sie von der Fürsorge für ihr Land ablenk-
teii, hatten die meisten einen leidenschaftlichen Hang
zum fröhlichsteu Lebensgenuss. Mit Ritterspiel und
Jagd, mit Schmausen und Zechen, mit Bewirtung
fremder Gäste und abenteuerlichen Reisen brachten
sie ihre Zeit hin.")
]) Schönwillcler, Die Piasten zumBriege. Brieg, 1855. 1,110 ff.
2) Schön wähl er, a. a. 0. 124ff'. Grünhagen, Urkunden
Nr. 78, 79.
.3) Von diesem leichtsinnigen Treiben hat Hans von
BRIEG.
27
Inneres Portal des PiastenscMosses in Brieg.
Allein gerade die Verseil wendungssuclit der
Fürsten wurde für die ünterthanen, besonders für
die Bauern und Bürger, eine Quelle größerer Frei¬
heit und Beweglichkeit; denn um die stete Geldnot
zu lindern, verzichteten die Fürsten auf Privilegien
und veräußerten viele ihrer Hoheits¬
rechte. ') Aber es gab doch auch
in der langen Reihe dieser Herzoge
solche, welche in gewissenhafter Ar¬
beit für das Wohl des Landes thätisf
waren. Brieg im besonderen hat
eine Anzahl guter Regenten gehabt, welche durch
edle deutsche Fürstentöchter in ihrer landesväter¬
lichen Fürsorge treulich unterstützt wurden. Unter
ihnen entwickelten sich Handel und Gewerbe,
Wissenschaft und Kunst. Das künstlerische Leben,
welches sie erweckten, hat der Stadt bis in die
Gegenwart hinein ihren in architektonischer Be-
ziehuno; eigenartigen Charakter verliehen. Die Bau-
c5 O C?
denkmäler jener Zeit aber sind andererseits wieder
Marksteine der geschichtlichen Entwickelung, und
so mag denn die weitere Darstellung sich in ein¬
facher historischer Gliederung zugleich an die durch
schöne und naturwahre Abbildungen veranschau¬
lichten Bauten anschließen.
Aus der polnischen Zeit ist uns natürlich kein
Baudenkmal erhalten; denn die Häuser der unbe¬
deutenden Ortschaft dürften wohl nur aus den auf
dem einfachsten Wege zu beschatfenden Materialien,
aus Holz und Lehm, bestanden haben. Auch die
Bürger der deutschen Stadt werden zunächst meist
Holzbauten aufgeführt haben, wie sich wenigstens
aus der Stiftungsurkunde schließen lässt, in welcher
Herzog Heinrich HI. die ausdrückliche Genehmigung
erteilt, dass sich die Bürger Holz zum Häuserbau
nehmen sollen, wo sie es finden. Selbst das herzog¬
liche Schloss wurde, nachdem es bereits über 100
Jahre bestanden hatte, erst von Herzog Ludwig 1.
aus Stein gebaut. Unter der langen Regierung dieses
Fürsten (1358 — 1398) entfaltete sich eine regere
1) Vgl. z. B. die Verleihungen des durch stete Geldnot
Schweinichen, der Hofmarschall Heinrich’s XL von Liegnitz hart bedrängten Herzogs Boleslaus HT. an die Stadt Brieg
war, eine köstliche Schilderung in seinem Tagebuche gegeben. in den Urkunden Nr. 57, 02, 88, lOG, 116, 126.
4*
Portal des Piastensclilosses in Brieg,
BRIEG,
29
Bauthätigkeit. So begann die Bürgerschaft 1370 Bau begann, ein Mann gleichen Namens in Brieg
mit dem Um- und Neubau der Pfarrkirche ad san- Pfarrer war') (um 1388). Merkwürdig ist auch, dass
ctum Nicolaum, der mit vielen Unterbrechungen bis der Teil der Kirche, der zuletzt vollendet wurde,
zum Jahre 1416 dauerte. Die Türme blieben damals am ältesten ist. 1370 waren die Turmstümpfe bereits
Hof des Piastenschlosses in Brieg.
noch unvollendet. Erst im Jahre 1885 wurden auch
sie ausgebaut. Die Vollendung seines größten go¬
tischen Bauwerkes verdankt Brieg zum größten Teil
der energischen Thätigkeit seines gegenwärtigen
Pastor prim. Lorenz, und es ist gewiss ein merk¬
würdiges Zusammentreffen, dass um die Zeit, als der
vorhanden. Was den Stil anlangt, so zeigt das
Bauwerk spätgotisches Gepräge. Es ist eine drei-
schiffige Pfeilerbasilika mit mächtigem, übermäßig
hochgezogenem Mittelschiff, das die Wirkung der
1) Grünhagen, Urkunden Nr. 499.
«i«'
i-JMm
fmwm
IIIHL^
'ijW»
n«ii>""-Civini^
]Jas O'lurtlio)’ in Krieg.
BRIEG
31
beiden neuen schlanken Turmpyramideu und der
acht Ecktürmchen erheblich beeinträchtigt. Unter
den zahlreichen Denkmälern, welche die Kirche
schmücken, haben besonders zwei ein allgemeineres
historisches Interesse: zunächst ein in Leimfarben
auf Holz gemaltes Bild, welches, Personen und
Gegenstände aus der Leidensgeschichte Christi dar¬
stellend, mit mehreren Inschriften versehen ist, die
sich auf die Plünderung der Stadt durch die Hussi-
ten im Jahre 1428 beziehen. Da heißt es z. B. in
nicht gerade eleganten Reimen:
Tausend Vierhundert Zwanzig Acht
nach Christi Geburt die Jahrzahl macht,
ward in gemeiner Landesnoth
Durch die eifrig Hussitisch Rott
Die Stadt sammt diesem Gotteshaus
verwüstet und gebrennet aus') u. s. w.
Künstlerisch bedeutend ist das Denkmal des Grafen
von Gessler, welches den Vorüberschreitendeii an
den ruhmvollen Tag bei Hohenfriedberg erinnert.
Namentlich ist das über dem dunklen Sarkophag
angebrachte, aus weißem Marmor bestehende Brust¬
bild des Helden, der einst als Führer des Bayreuther
Dragonerregiments durch seinen kühnen Angriff den
Sieg der preußischen Waffen entschied, ganz vor¬
trefflich.
An dem Bau dieser seit dem 1. Januar 1525 '^)
evangelischen Pfarrkirche hat auch Herzog Ludwig 1.
durch Errichtung des Chores (1383) thätigen Anteil
genommen. Daneben aber führte dieser „Gönner
der Geistlichkeit und Beförderer der Kirche“ einen
lauge und sorgsam vorbereiteten Plan aus und grün¬
dete bereits ein halbes Jahr früher, ehe der Umbau
der Pfarrkirche begann, am 29. September 1369, das
Kollegiatstift zu Ehren seiner Ahnfrau, der heiligen
Hedwig. Die alte Schlosskapelle erweiterte er zur
Hedwigskirche und schmückte diese mit schöner
Bildhauerarbeit. Von diesem alten Bauwei'k ist nur
noch der östliche Teil, der auf unserm Bilde links
sichtbar ist, erhalten, der westliche ist 1784 erneuert.
Wo sich heute der Eingang befindet, stand früher
der Altar. Uber der Pforte unter dem Dache steht
ein aus dem 14. Jahrhundert stammendes, gutes
Steinbild der heiligen Hedwig; rechts und links sind
an den Strebepfeilern je zwei Wappen aus derselben
Zeit eingelassen. Die ursprünglich spitzbogigen
Fenster sind, wie man deutlich an dem sich jetzt
1) Die Inschrift ist vollständig abgedruckt bei Lorenz,
Aus der Vergangenheit der evangel. Kirchengemeinde. Brieg,
188.5. S. 99.
2) Nach Lorenz, a. a. 0. S. 183.
loslösenden Abputz sehen kann, von ungeschickter
Hand in rundbogige verwandelt worden. Das Haupt¬
schiff ebenso wie das auf der Nordseite befindliche
Seitenschiff, dessen Obergeschoss die herzogliche
Loge enthielt, zeigt Kreuzgewölbe auf spätgotischen
Rippen. Von der inneren Ausstattung ist besonders
ein schmiedeeisernes Geländer von schöner Erfindung
und das Bruchstück eines jetzt neben der Kanzel
angebrachten, dem 16. Jahrhundert angehörenden
Sandsteinepitaphiums bemerkenswert. Das Relief
des Mittelfeldes, die Schlangenerhöhung darstellend,
enthält eine große Anzahl Figuren mit schönen,
ausdrucksvollen Köpfen. Sonst sieht man nichts
mehr von der fürstlichen Pracht, die einst hier
herrschte. Die von Georg H. J567 angelegte Fürsten¬
gruft, wo viele Mitglieder der Piastenlämilie in
kunstvoll gearbeiteten Metallsärgeu beigesetzt sind,
liegt unter dem Pflaster der Kirche verborgen und
ist fest geschlossen. Alle anderen historischen Denk¬
mäler sind bei den wechselvollen Schicksalen der
Kirche zu Grunde gegangen.
Sie selbst aber ist wie kein anderes Gebäude
der Stadt ein Denkmal für die religiösen Gegen¬
sätze, welche auch in Briegs Geschichte eine große
Rolle spielen. In ihren Räumen geboten zuerst
katholische Priester; ihnen folgten 1534 strenge
Lutheraner. Statt mit Heiligenbildern ließ Gregor 11.
seit 1567 den Chor der von ihm glänzend erneuerten,
nunmehr evangelischen Hauptkirche des Fürstentums
mit den aus feinem Sandstein gemeißelten Statuen der
Herzöge, ihrer Gemahlinnen und Kinder schmücken.
1614 traten die Reformirten in den Besitz der
Kirche, 1675 kam sie in die Hände des Kaisers
und wurde katholische Pfarrkirche. Die Belagerung
im Jahre 1741 legte sie zum großen Teil in Trüm¬
mer, und erst 1784 erhielt sie durch einen Jesuiten
ihre heutige Gestalt. Bei diesem Umbau wurden,
wie das Diarium der Stadt erzählt, die steinernen
Ketzer und Ketzerinnen, die noch im Chor standen,
herabgestürzt, zerstoßen, zerschlagen und zum Teil
vermauert. Seit Errichtung der größeren katholischen
Pfarrkirche durch die Jesuiten (1735) steht die
Hedwigskirche fast unbenutzt.
Doch Herzog Ludwig stattete nicht bloß das
Äußere seiner Kirche glänzend aus, er berief auch,
um den Dienst an ihr würdig versehen zu lassen,
nicht weniger als 26 Geistliche: 1 Dekan, 12 Dom¬
herren und 13 Vikarieu. Allerdings scheint er diese
Geistlichen neben ihrem Amt auch zu wissenschaft¬
licher Thätigkeit heran gezogen zu haben. Er selbst
besaß ein für seine Zeit weitgehendes historisches
32
BRIEG.
Poloniae^), und seiner Bibliothek schenkte er die
vielleicht auf seine Anregung entstandene, sehr wert¬
volle älteste bildliche Darstellung des Lehens der
heiligen Hedwig nait deutschem TexL von einem
gewissen Nikolaus aus Preußen um 1353 verfasst 2).
Schließlich verdankt Brieg dem Herzoge, frei¬
lich gegen seine Absicht, das grundlegende Kapital
zur Errichtung eines Institutes, das für das wissen-
1) Schönwälder, Geschichtliche Ortsnachrichten von
Brieg. 1847. II, S. 222.
2; Grünhagen, Geschichte Schlesiens, I, 413.
Das Rathaus in Brieg.
Interesse; denn er ist auf schlesisclieni Boden
fler erste Forsclier, der mit dem Spaten nach
Schätzen der Vorzeit gesucht liat. Auf ihn ist so¬
dann möglicherweise die Anlage des ersten Brieger
Stadthuches zurlickzuführen (135S). Bei seiner
Kirche errichtete er die erste Bücherei. Auf sein
Stift weisen die wichtigsten schlesischen Geschichts-
r|uellen für das Bl. und 14. Jahrhundert, das Chroni-
con Polouo-Silesiacum und die Chronica principum
33
miEa
scliaftliche Leben der Stadt in alter und neuer Zeit
von Bedeutung gewesen ist, nämlich des Gymnasiums.
Mit denselben Mitteln, welche der sparsame Fürst
für die Ausstattung seines katholischen Stiftes zu¬
sammengebracht hatte und die sich im Laufe der
Zeit erheblich vergrößert hatten, gründete Georg 11.
das evangelische Gymnasium (1564).
Allein damit sind wir bereits ins 16. Jahr¬
hundert gelangt. Aus dem 15. bleibt nur wenig
nachzutragen; denn während desselben war Brieg
lange an die Herzoge von Oppeln verpfändet und
hatte außerdem unter den Angriffen der Hussiten
zu leiden, so dass es zu keiner ruhigen und erfolg¬
reichen Bauthätigkeit gelangen konnte. Der einzige
Best jener Zeit ist die ehemalige Minoritenkirche, deren
Räume jetzt wie schon unter Georg 11. zu einem
Militärdepot umgewandelt sind. Auf der Titel¬
vignette erblickt man dies kunstlose Bauwerk mit
seinem hochragenden Dachstuhl und dem viereckigen
Turmstumpf rechts vom Bathausturm.
Im 16. Jahrhundert begann für Brieg unter der
Regierung Georg’s 11. (1547 — 86) ein neues, durch
die Kunst veredeltes Leben. In der Inschrift auf
seinem Sarge wird dieser Herzog „die Zierde des
ganzen Geschlechts“, „des Landes Schlesien Aug¬
apfel“ genannt. Er war unstreitig der bedeutendste
Fürst unter den Brieger Piasten. Eine Fülle trefflicher
Eigenschaften zeichnete ihn aus und machte ihn zum
Regenten geschickt. Durchdrungen von wahrer
Frömmigkeit, gütig und gerecht gegen jedermann,
erfüllte er die Pflichten gegen seinen Lehnsherrn
mit gleicher Treue wie gegen seine Unterthanen;
und welch’ hohe Auffassung er von seinem Fürsten¬
beruf hatte, lässt die Inschrift erkennen, die auf
seinen Münzen stand: aliis inserviendo consumor.
In der That war er unermüdlich darin, durch neue
Verordnungen der verschiedensten Art den Wohl¬
stand des Landes zu heben und die V erwaltung der Stadt
aufs beste zu regeln. Unter ihm blühte Brieg, wenn
es auch durch Pest und Feuer genug zu leiden hatte.
Dem Fürsten aber gaben die geordneten Zu¬
stände seines Landes die Mittel an die Hand, Wissen¬
schaft und Kunst zu pflegen, deren begeisterter
Verehrer er war.
Leider sind von den großartigen monumentalen
Bauten, die er in Brieg errichtet hat, nur Ruinen
auf uns gekommen.
Das stolze Schloss, welches an derselben Stelle,
wo die früheren Schlossbauten in Holz und Stein
sich erhoben, in 30 arbeitsvollen Jahren (1544 — 74)
mit Fleiß und Kunst geschaffen worden war, wurde
bei der Belagerung 1741 binnen 24 Stunden ein
Raub der Flammen. Am 1. Mai traf eine Bombe
die Reitbahn, wo Stroh und Heu angesammelt war.
Die Flammen verbreiteten sich über das Schloss,
und obwohl Friedrich der Große mit dem Bom¬
bardement etwas innehalten ließ, um Zeit zum
Löschen zu gestatten, flelen doch die Dächer, Giebel
und kleineren Türme vollständig, die ganze innere
Ausstattung und die Säulengänge des Hofes bis auf
wenige Reste der Zerstörung anheim. Der „starke
hohe, viereckige und un gespitzte Löwen türm“, mit
den riesenhaften steinernen Rittern und wappen¬
haltenden Löwen auf seinen Zinnen, wurde stark
beschädigt und später abgetragen. Schon 1743
richtete man die weiten, noch von den Umfassungs¬
mauern eingeschlossenen Räume nach Aufführung
von Dächern und einer Reihe von Böden zum
Getreidemagazin ein.
Alrer selbst die Trümmer des Piastenschlosses
fordern noch die Bewunderung der Nachwelt heraus,
und der Bau bleibt trotz seiner verstümmelten Ge¬
stalt „ohne Frage das Hauptwerk der Renaissance
in Schlesien und eine der edelsten und großartigsten
Schöpfungen dieser Epoche in Deutschland“. *)
(Schluss folgt.)
1) Lübke, Geschichte der deutschen Renaissance. Stutt¬
gart, 1873. II, 674.
5
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. II. 2.
SPANISCHE MISCELLEN.
VON CABL JUSTI.
I.
Über Bildnisse des Don Carlos.
EN ältesten Ruhm, den Nach¬
ruhm vernimmt sein Gegen¬
stand nie, und doch schätzt
man ihn glücklich. Also be¬
stand sein Glück in den
großen Eigenschaften, die
ihm den Ruhm erwarben, —
in seinem großen Herzen“.
Wenn dies Wort des Weisen auch nach seiner
Kehrseite Geltung hätte, so wäre Don Carlos einer
der unglücklichsten Menschen gewesen. Seine un¬
schöne, unregelmäßige Figur, das Gepräge eines an
Körper und Geist nicht Normalen, konnte in gesunden
Menschen nur Abneigung oder Mitleid wecken, das
wirre Gewebe seiner Geschichte aber den Wunsch,
über das kurze, thatenlose, von heftigen und verkehrten
Antrieben zerrissene Leben, versetzt in eine ümse-
billig, der es sich nicht anzupassen vermochte, mög¬
lichst rasch liinwegzugehen. Aber dies Opfer erblicher
Relastiing war eben keine Privatperson, diese küm-
merliclie Gestalt war auf ein Postament gesetzt, das
nur Ib-rsonen von außergewöhnlichen Größenver-
liält ni.ssen und Verdiensten ohne Nachteil vertragen.
Seine peinlichen Erlebnisse mussten ihn damals
wie .lahrhunderte später zum Zielpunkt der schärfsten
Schgläser maclien. Die Trübung der Kunde von ihm
hat es möglich gemacht, dass eine Zeitlang ein glän¬
zendes Trugbild sich an die Stelle der Wirklichkeit
.setzte, und so ist ihm auch der Hohn nicht erspart
geblieben, dass er zum Helden erhabener Dichtungen
gemacht wurde:
sublime in^'egno, c in avvenenti sjioglie
beltissima alma — (Alfieri)
Dann ist jener Prozess, dessen Akten man vergeblich
gesucht hat, von den Gelehrten späterer Zeiten
wiederholt oder nachgeholt worden, wie man die
Leiche des Vergifteten aus der Erde gräbt; und der
Endschluss aller Revisionen war fast immer zum
Nachteil des Angeklagten. Von diesem Spruch
wird ihm auch kein Retter erstehen ; selbst die neuer¬
dings in Scene gesetzte Generalrettung aller Böse-
wichter der Geschichte, durch „Umwertung“ der
moralischen Begriffe, wird dem armen Minderwertigen
kaum zu gute kommen.
Die ansehnliche Litteratur, die sich an den
spanischen Thronerben geknüpft hat, verdankt er
also nicht dem Wert oder Reiz seiner Person. Aber
die Katastrophe, von jenem großen königlichen
Geheimniskrämer planmäßig mit Dunkel umhüllt,
ihre Missdeutung durch den Parteigeist und die
romanhafte Halbgeschichte, die Jahrhunderte wäh¬
rende Unzugänglichkeit der noch erhaltenen Auf¬
schlüsse, dies und anderes macht ihn für den
Geschichtsforscher zu dem, was die Chirurgen (auch
sie meist zum Grauen empfindlicher Seelen) einen
„schönen Fall“ nennen. Das wäre er auch für die
Arzte geworden, wenn es zu seiner Zeit schon eine
Psychiatrie gegeben hätte. Ja, das furchtbare Wort
des Schiller’schen Großinquisitors: Gehen Sie ihn
mir, scheint den fachmäßig -technischen Reiz auch
für den Juristen — und Theologen auszudrücken.
Soll nun der arme Prinz, wie für die vier Fakultäten,
auch für den Kunstgelehrten ein schöner Fall werden?
Man könnte es meinen, wenn man die neueste ge¬
lehrte Monographie aufschlägt, und gegenüber dem
Titel das bildliche Requisitorium in Gestalt einer
Heliogravüre nicht ohne Staunen betrachtet. ’)
Die leibliche Person gehört ja auch gewisser¬
maßen zu den Thatsachen und Dokumenten eines
historischen Objekts. Besonders in diesem Fall, wo
1) Don Carlos’ Haft und Tod, insbesondere nach den
Auffassungen seiner Familie von Max Büdinger. Wien nnd
Leipzig 1881. Das Titelbild ist nach einem Gemälde im
Laxenburger Schlosse angefertigt.
SPANISCHE MISCELLEN.
psycliopathifche Fragen so oft in die Beurteilung
hinein spielen. Sonst freilich hieß es solchen graphi¬
schen Quisc[nilien gegenüber hei den Gelehrten De mini-
mis non curat praetor. Sie verschmähten, papieren
bis ans Herz hinan, diese Nachgiebigkeit gegen die
allgemein menschliche Sehnsucht oder Schwachheit,
von Personen, die das Nachdenken lange in Anspruch
genommen, sich auch einmal den Schatten citiren
zu lassen. Indes wenn Bildnisse durch PTugleichheit
und Widerspruch zum Gebrauch kritischer Werk¬
zeuge, z. B. zu Rangunterscheidungen der Quellen¬
mäßigkeit Anlass geben, so erheben auch sie sich ja
in die Zone selbst der Gelehrten strenger Observanz.
In den Räumen desselben Königsschlosses, dessen
Mauern im Jahre 1568 Zeugen des unheimlichen
Schlussakts dieses fürstlichen Lebens gewesen waren,
sah man damals zahlreiche
Bildnisse des Prinzen, in ver¬
schiedenem Alter, in wech¬
selnden, reichen Kostümen,
zum Teil von Meisterhand.
Noch andre gab es in den J agd-
schlössern und im Schloss zu
Valladolid. Nach Beschrei¬
bungen ihres Inneren aus dem
XVI. Jahrhundert, besonders
aber nach den Inventaren
lässt sich vermuten, dass
jene Gemälde nach der Ka¬
tastrophe nicht von ihrer
Stelle gerückt worden waren
Der Hauptschatz Phi-
lipp’s 11. an Bildern war
nicht in den Wohnräumen
oder in einer Gemäldegalerie zu finden, er wurde noch
nach mittelalterlicher Weise in den großen Reposi-
torien der Juwelenkammer, der Rechnungskammer
und des Schatzhauses auf bewahrt. Nur diese Räume,
nicht die Privatzimmer des Königs im Westflügel und
in dem goldnen Turm, ebensowenig die großen
Galerien des Süd- und Nordflügels, des „Furiensaals“
u. a. sind in dem nach des Königs Tode von dem
Maler Pantoja de la Cruz aufgestellten Inventar ver¬
zeichnet. Für die anderen ist man auf dürftige
Mitteilungen von Reisenden und auf Rückschlüsse
aus dem Gemäldebefund späterer Zeiten ange¬
wiesen.
Die älteste uns interessirende Nachricht findet
sich in Argote de Molina’s Beschreibung des Jagd¬
schlosses im Prado (1582). In dem großen Saal, wo
der König 47 Bildnisse von Mitgliedern des Hauses
und Verwandten vereinigt hatte'), hing das Porträt
des Prinzen Don Carlos '-) von der Hand des Alonso
Sanchez Coello unter Nr. 24, zwischen dem seines
Oheims D. Johann von Österreich, von demselben,
und seiner Stiefmutter Isabella von Valois von So-
fonisbe Auguisciola, der Cremoneserin. Diese Seda
real de los rctratos wurde durch den Brand des
]3. März 1608 verwüstet. Zwar verzeichnen auch
spätere Inventare des 17. Jahrhunderts hier eine Bild¬
nisgalerie, in der zum Teil dieselben Personen Vor¬
kommen; aber dies waren Kopieen und Ersatzstücke,
die auf Geheiß Philipp’s 111. jener Maler Pantoja sofort
nach dem Brande hergestellt hatte. 38 waren schon
im Jalme 1614 aufgestellt. Hier erscheint Don Carlos
zwischen seinen später geborenen Stiefbrüdern D.
Fernando, D. Diego und D. Philipp, den Söhnen der
vierten Gemahlin Philipp’s II.,
Anna von Österreich.
Im Alcazar von Madrid
fanden sich beim Tode Phi¬
lipp’s folgende Stücke. Im
Guardajoyas ein Ideiues Bild¬
nis ('Vj varas Höhe, die vara
oder Elle = 3 castilische
Fuß, taxirt zu 100 Realen);
in der Contaduria ein grö¬
ßeres (P'hxl V.); in der
Casa de Tesoro der Prinz
mit seinem Liebliugszwerg
XpovalCornelio in scharlach¬
rotem Anzug (2 X 1 '/, V.,
100 Realen). In späteren
Jahren mochte er (nach
Tiepolo, 1567) die Buffonen
nicht leiden. Aus dem Nachlass der Kaiserin
Maria, Witwe Maximilian’s 11., waren hierhergebracht
worden zwei Gruppen von Familienbildnissen in ver¬
goldeten Holzrahmen. In der ersten waren vereinigt
der Kaiser und die Kaiserin, Philipp H. und Isabella,
Don Juan und Don Carlos. In der Nordgalerie
(Galeria del cierzo) sah im Jahre 1599 ein deutscher
Reisender nebeneinander Philipp IL, Don Carlos, Kaiser
Ferdinand I , D. Sebastian von Portugal, Don Juan.
Diese Galerie stieß an den nordwestlichen Turm,
wo der Prinz gefangen gehalten wurde und starb.
1) Darunter waren 15 von Anton Mor, 11 von Tizian,
9 von Sanchez Coello, 2 von Maestre Luca (Lucas de Heere),
1 von Sofonisbe und 7 von einem ungenannten Deutschen.
Argote de Melina, Libro de la Monteria, Sevilla 15S2.
2) Der erstgeborene Thronfolger wurde schon damals
nicht mehr Infant, sondern Prinz genannt.
Don Carlos. Medaille von Pompeo Leoni.
5
36
SPANISCHE MISCELLEN.
Weit das merkwürdigste aller auf den Prinzen
Bezug enthaltenden Stücke aber war ein Ölgemälde
auf Leinwand, Katharina von Medici mit dreien ihrer
Söhne und ihrer ältesten Tochter Elisabeth, lebens¬
große Figuren (Contaduria, 2^4 x 3% v.). Die
Königin hielt in der Hand ein Miniaturbild ihres Ge¬
mahls Henri IL, die Prinzessin ein solches des Don
Carlos.') Das große Gemälde muss also in der Zeit
entstanden sein, als die Verbindung des letzteren mit
der französischen Prinzessin beschlossene Sache war.
Nun aber war dieses schon im Jahre 1555 aufs
Tapet gebrachte Ehebündnis auf dem Kongress zu
Sercamp Ende 1558 vereinbart worden, zugleich mit
dem Margarethens, der Schwester Henri’s II., mit dem
Prinzen Philibert Emanuel von Savoyen. Der Tod
der zweiten Gemahlin Philipp’s IL, Maria Tudor
(17. November 1558), veränderte des Königs Pläne.
Als er sah, dass auf die Hand der Elisabeth von
England keine Aussicht sei, entschloss er sich rasch,
an die Stelle seines Sohnes zu treten, und ließ auf
dem Kongress zu Cateau - Cambresis erklären, er
wolle aus Liebe zum allerchristlichsten König und
im Interesse der Befestigung des Friedens sein
\Viderstreben gegen Wiedervermählung aufgeben und
unter denselben Bedingungen wie sein Sohn sich zu
einer Verbindung mit der Prinzessin Isabella gern
verstehen (d’;j condescendre fraachement) ; am 1. April
15.59. —
Wenige Jahre später wurde in Madrid das
scliöne Bildnis der jungen Königin in ganzer Figur
und in prachtvollem Anzug gemalt, das noch jetzt
in cler Galerie des Prado (925) zu sehen ist. Sie
liält hier wieder ein Miniaturmedaillon in der Hand:
da.s Bildnis Pliilipp’s II.
Nun ist ja das Märchen von der strafbaren
Liebe zwischen Don Carlos und der Königin längst
anfgegeben. .lener für unser Empfinden freilich ver¬
letzende Tausch hat den Prinzen seiner Zeit wahr¬
scheinlich wenig augefochten. Der vierzehnjährige
Knabe hatte die Prinzessin nie gesehen und seine
Wünsche erhielten durch das lebhaft ergrilfene Pro¬
jekt einer Verbindung mit der österreichischen Anna
eine bestimmte liichtnng. Das Verhältnis zu seiner
jungen Stiefmutter wurde ein freundschaftliches, das
L Otro Hetrato ötero ö lir.Mi/.o al ollio de la Reyna de
Francia niuger del Rey Knrrico de Francia con quatro retra-
t«-.- , lo.‘ trei- de tres hijo.9 y d otro de una liija la madre
tiene el retrato de .su marido e la mano derecha y la fiija el
letrato del Principe don Carlos nro Sr e las iiianos. RXJ Du-
cjiten. Pintunis que estan colgad.is en la pieza de la Con¬
taduria. Inventario general Philipp’s 11. von 101/). Palastarchiv.
einzig reine und erfreuliche Herzensverhältnis viel¬
leicht in dem dunklen Leben des Unglücklichen. Er
durfte so frei und so oft, wie es die Etikette irgend
zuließ, mit Isabella verkehren, der der König unbe¬
dingtes Vertrauen schenkte. Sie war stets gütig
gegen ihn; vielleicht betrachtete sie seine vom Fieber
entkräfteten Züge nicht ohne Mitleid, ergötzte sich
auch wohl an seiner grotesken Lebhaftigkeit. Sie
verstand es, seine finsteren Geister durch mancherlei
aus Paris mitgebrachte, ihr gern gestattete Unter¬
haltungen, z. B. Tänze und Musik zu verscheuchen. Sie
bemühte sich, ein versöhnliches Verhältnis zwischen
Vater und Sohn zuwege zu bringen, und hegte den
Plan, ihn mit ihrer Schwester zu verbinden. So
werden die Empfindungen selbst einer so zerrütteten
Natur der liebenswürdigen Dame gegenüber schwer¬
lich die Grenzlinie zwischen dankbarer Freundschaft
und Leidenschaft überschritten haben. Mag auch
die Hofdame Claude, welche der Katharina von Me¬
dici über ihre Tochter zu berichten hatte, einmal
geschrieben haben: Je croys qu’il voudroit estre davantage
son qoarent. Und wenn er auch den Eindruck jener
heiteren glücklichen Stunden, die er, der nie seine
Mutter gekannt, in den Gemächern Isabella’s genoss,
mit der Erinnei'ung in Verbindung bringen musste,
dass er ohne den Mann, den er hasste, diese Frau
von seltenem Liebreiz jetzt hätte sein nennen können,
so mag er freilich oft mit finsteren Gedanken vor
jenem bildlichen Dokument verweilt haben.
Als die verbrecherischen Anschläge des Prinzen
und seine geistige Gestörtheit offenbar geworden
waren, hatte Philipp IL zugleich mit der im Geheimen
entschiedenen Verurteilung zu ewiger Gefangenschaft
und Ausschluss von der Thronfolge, zum Wohl des
Reiches beschlossen, seine Verirrungen vor der Welt
mit dichtem Schleier zu bedecken. Eine Konsequenz
dieser Maßregel scheint nun auch der Vorsatz gewesen
zu sein, die zahlreichen Bildnisse des Verstorbenen
an ihrer Stelle zu belassen. Allen, die die königlichen
Schlösser bewohnten oder besuchten, sollte er hier nur
als der rechtmäßige, einst von den Cortes in feier¬
licher Huldigung anerkannte Erbe des Thrones er¬
scheinen. Noch eine andere Empfindung als die der
lühre ist Philipp zuzutrauen. Seine Rolle als Richter
und Rächer war zu Ende mit der furchtbaren Sühne
des Todes. Nach dem Sprichwort unserer Vor¬
fahren —
swen der wolf riebet,
der ist errochen also wol,
daz mans niht fürbaz rechen sol.
An die Erinnerungen und Bilder des von Gott
LL PRINCIPE : EARlCN
-1 I . 0 Dt ■■ .i I P, !!
SPANISCHE MISCELLEN.
37
Gerichteten sollte nicht gerührt werden. So hat der
alte König noch im letzten Jahrzehnt seines Lebens
die Statue des D. Carlos in sein Familiendenkmal
in der Kirche des Escorial aufnehmen lassen. Als
in den Jahren 1592 bis 1598 Pompeo Leoni für die
Capilla mayor die Gruppe Philipp’s und der Seinen
in fünf knieendf'n Bronzefiguren schuf, erhielt Hon
Carlos den Platz hinter dem Vater, zur Linken
seiner Mutter Maria von Portugal. Zu seiner Rechten,
mehr nach vorn, kniet Isabella von Valois. —
Die oben mitgeteilte Liste der Bildnisse wird
vervollständigt durch die Inventare aus der Regie¬
rungszeit Philipp’s IV., in denen nun auch die in den
königlichen Wohnräumen aufgehängten Gemälde an¬
geführt werden. Dieser König hatte sich für seinen
Sommeraufenthalt in der Hauptstadt die unter dem
Hauptstockwerk des Schlosses gelegenen Räumlich¬
keiten (cuarto bajo) gewählt.
In dem Schlafzimmer S. M., wo besonders inter¬
essante Bilder zusammen gebracht waren (wie Rubens’
Graf Rudolf von Habsburg mit dem Priester, der
Bacchus des Velazquez, die Venus mit dem Spiegel von
Tizian), hing 1636 neben Philipp H. als Jüngling
(mancebo) sein Sohn in Halbfigur, violettem Anzug
mit Goldstickereien und dem Studentenkräglein
(cuellecillo ä modo de estudiante , '^ 4 x ',2 Elle). Im
Geschäftszimmer taucht jenes Bildchen der Conta-
duria wieder auf, jetzt genauer beschrieben: „ein
Täfelchen in schwarzem Rahmen: Kniestück, in
schwarzer Jacke (ropilla) mit weißen Ärmeln und
Strümpfen, Goldknöpfen; daneben das Närrchen
(truancillo) in rotem Anzug.“
Zwei andere Bildnisse waren im ojiosento de
las furias, jenem quadratischen, gewölbten Saal, so
geheißen von den nach dem Tode der Königin Maria
aus dem Schlosse Binz nach Spanien gebrachten
vier Tartarusbüßern Tizian’s. Das eine, Kniestück in
Rüstung mit weißen Strümpfen, die Linke am Degen,
hing wieder neben dem Porträt des Vaters. Das andere,
ebenfalls neben Philipp und Karl V. aufgestellt,
zeigte den Prinzen in ganzer Figur, in gelbem An¬
zug mit violettem Mäntelchen von Hermelinpelz. ^)
Diese Beschreibung passt, wenn man von dem
retrato entero absieht, auf das Kniestück in der Ga¬
lerie des Prado (1032), von der Hand des Sanchez
Coello. Letzteres giebt eine sehr lebendige Vorstellung
1) Don Carlos vestido de amarillo con boemio morado
forrado en arminas. Es retrato entero. Aposento que
llauian de las furias. Inventar Philipp’s IV. von 16.S6. Vor¬
trefflich radirt von B. Maura, Madrid 1875, erschienen in der
Publikation El grahador al agua fuerte.
von dem zwölfjährigen Prinzen. Mit dem Schimmer
der kostbaren Modetracht kontrastirt die kränklich¬
schwächliche Gestalt. Das Gesicht stimmt ganz zu
den Beschreibungen der Gesandten. Unverkennbar
ist die Ähnlichkeit mit dem Vater: die kalten grauen
Augen, die weiße Gesichtsfarbe, nach Soranzo (1565)
mehr verlebt (consmnato) , d. h. vom Quartanfieber
verzehrt, als blass. Ferner der matte, missvergnügte,
argwöhnische Blick, der Unterkiefer des „Vorkauers“,
die „eingebogene Brust“, der schmächtige Rumpf.
Nur den „stets offenen Mund“ (Dietriclnstein) hat der
Maler uns erspart.
Das schwarze Barettchen mit gelb und weißen
Federn, schräg sitzend, lässt die Wucht der Stirn er¬
kennen. Die Missbildung des Kopfes trat noch auf¬
fallender hervor in seiner Kindheit. Die damals von
Pompeo Leoni modellirte Medaille veranschaulicht
Profil und Schädelform besser als die Gemälde ver¬
mögen. Q Um das Barett liegt eine mit Edelsteinen
besetzte Schnur (centülo). Eine eng an den Hals
schließende schmale Krause (lechufjuüh) rahmt das Ge¬
sicht ein. Das Wams, wie die Kniehosen citrougelb, mit
wagrechten Goldlitzen, umgürtet ein reichverziertes
Degeugeheuk. Die violettseidene Schaube (bohemio)
weit auseinanderstarrend, breit umgeschlageu, lässt
ein kostbares Futter von Schvvanenpelz sehen.
Diese Tracht bestätigt die von dem Prinzen
berichtete Neigung zum Luxus. „Er ist sehr erpicht
(cajjriccdoso) auf Raritäten, Kleider und Juwelen, die
er auch gern schneiden sieht, ohne sie jedoch ab¬
schätzen zu können. Sein Bild ließ er einst in Rubinen
und Diamanten fassen. Aber acht Tage später
mochte er es nicht mehr sehen.“
Jene Ähnlichkeit von Vater und Sohn kou-
trastirte wunderlich mit dem schroffen, typischen
Gegensatz ihres Naturells, — einer Nebenursache
des unheilvollen Verlaufs dieses Lebensgangs. Man
könnte ihren Gegensatz psychologisch als Über¬
spannung und Lähmung der Hemmungsvorstellungen
bezeichnen. Dort ein Mensch des Systems, der Regel,
der Konsequenz und Vorbedachtheit; verschlossen
und zögernd, einsilbig und kalt; pedantisch ordent¬
lich und gewissenhaft in Geschäften, Religions¬
pflichten und Zerstreuungen. Hier sein Sohn, ma߬
los reizbar und heftig in seinen Empfindungen, wild
und explosiv in den Antrieben, launisch und zer-
1) Sie liegt einem gleichzeitigen italienischen Stich zu
Grunde, wo die Büste des Prinzen von allegorischen Figuren
umgeben ist. Die Knabenfigur der Kasseler Galerie kann ich
nicht für D. Carlos halten.
3S
SPANISCHE MISCELLEN.
rissen in den Gedankenverbindungen, aufrichtig,
schwatzhaft und wüst im Gespräch. —
Ein AVort noch über den Maler!
Alonso Sanehez Coello (f 1590) kam in eine Zeit,
■wo auch in der Malerei das eigentümlich spanische
Wesen vor fremden Einflüssen verschiedener Art
zurückgewichen war. Sein Leben hat ein fast inter¬
nationales Gepräge. Von portugiesischer Abstammung,
aber in Spanien geboren, in Madrid verheiratet
(1541), bildet er sich zuerst als Porträtist unter
Leitung eines Holländers, um sich später in Historien-
und Kirchenbildern in einen wenig anziehenden
Nachahmer italienischer Cinquecentisten umzuwan¬
deln. Er erscheint da unter der Malerkolonie des
Escorial.
Man liest zwar jetzt allgemein, dass er ein Spanier
gewesen. Cean Bermudez entdeckte in den Papieren
einer Adelsprobe seinen Taufschein, ausgestellt in
einer valencianischen Ortschaft; man führt auch an,
dass die älteren Schriftsteller, Sigüenza, Pacheco nichts
von seiner portugiesischen Herkunft zu wissen schei¬
nen. Sie ist jedoch unzweifelhaft bezeugt durch
keinen Geringeren als Antonio Grauvella, in einem
Briefe von 15S3 an den Kaplan Vazquez, geschrieben
zur Üiiterstütznng der Bewerbung des Sanehez um
die Stelle eines Zeugwarts oder Ärmero, für die ein
Standesnachweis erforderlich schien.') Hier nun be¬
ruft sich der Kardinal darauf, dass der Maler ihm
,. authentische Instrumente seiner Geburt und seines
Adels in Portugal vorgelegt habe, in Gestalt von
Privilegien, welche der Leistungen seiner Elteim und
GrotOdtern rühmend gedenken, die Grade im Dienste
der dortigoi Könige besessen liätten und sich tapfer
bewiesen“.
Nun ist es aber ebenso begreiflich, dass jene
spanischen Autoren seine portugiesische Herkunft
übergangen hal)en , wie es unerhört wäre, dass der
Sjianier Sanehez sich für einen Portugiesen aus-
gegeben liaben sollte. Der Maler Vincencio Car-
dnclio, der als gelairem.T Italiener hierin unbefangen
war, nennt ihn l.vsihmo [(unosoA)
Auch üljcr seine Anfänge als Künstler giebt
jener Brief Granvella’s einen sicheren Anhaltspunkt.
Danach hatte er einst zu seiner Hausklientel gehört,
ninl der Kardinal ihn von seinem Schützling Mor in
der .Malerei unterweisen lassen. ") Plr war seinem
1) Coleccion de documentos ineditos para la Historia
de K‘<panii, T. LV, p. 4.51. Madrid 18.55.
2) V. Carducho, Diiilof^os, p 549.
.'{) Kr hake sich jetzt an ihn gewandt, por haberse criado
algunos anos cn lui cassa con el pintor Antonio Mor. a. a.O.
Lehrer an den Hof von Portugal gefolgt, wo jener
einen Gehilfen wohl brauchen konnte, war dann in
Lissabon geblieben und später mit seiner Gönnerin
Dona Juana, der Witwe des Prinzen Juan von Bra¬
silien, nach Madrid zurückgekehrt. Sie empfahl ihn
ihrem Bruder, dem König, der ihm, ob als Probe
seiner Geschicklichkeit, oder zur Abschleifung seiner
trocknen Manier, den Tantalus des Tizian zu kopiren
auftrug (1554). Sein Glück machte dann der Fort¬
gang Mor’s, als Philipp 11. sich, sehr verdrossen über
den Ausfall der ihm zur Gewohnheit gewordenen
Unterhaltung, nach einem Ersatz umsab. Alonso
erhielt die Wohnung der Kammermaler im Schatz¬
hause. Der König hatte einen geheimen Durchgang
dorthin und kam gern, oft zu ungewöhnlicher Stunde,
im Morgenanzug. Wenn jener etwa mit seiner Familie
bei Tische saß und Miene machte aufzuspringen,
hieß ihn der König ruhig sitzen bleiben und begab
sich ins Atelier. Stand er an der Staffelei, so schlich
er sich heran und legte ihm die Hand auf die
Schulter, was ebenfalls bedeutete: keine Umstände
machen ! Er stand bei seinen Töchtern Maria und
Antonia Pate und ließ sie zu Alcalä im Kloster er¬
ziehen; auch wurden sie den Infantinnen Isabel und
Catalina als Gespielinnen angewiesen. Im Bucking¬
ham Palast sieht man beide Schwestern in einem
Bilde vereinigt, aus dem Jahre 1571; es stammt
aus der Sammlung Karl’s L, dem es Lord Ankrom
verehrte; ferner die Bildnisse der Erzherzöge Rudolf,
sechzehnjährig (1567), Ernst und Wenzel (1578),
damals Gäste des dortigen Hofes. Kein Wunder,
dass die Großen des Hofes und die Gesandten dem
Atelier zuströmten. Dabei stimmt es ganz zu
den Gepflogenheiten Philipp’s, dass des beneideten
Künstlers finanzielle Stellung keineswegs glänzender
wurde als die seiner Kollegen. Jene Töchter
finden wir später in großer Dürftigkeit. Er musste
sein Einkommen zu verbessern suchen durch An¬
fertigung von Repliken der besonders an italie¬
nischen Höfen begehrten Bildnisse spanischer Per¬
sönlichkeiten. Eine hierauf bezügliche Korrespondenz
mit dem Kardinal Alexander Farnese sah der Ver¬
fasser im Archiv zu Parma. Im Jahre 1571 lieferte
er dem Argote de Molina für sein Museum von
Büchern, Münzen und Waffen in der Cal de Francos
zu Sevilla vierzehn Bildnisse des königlichen Hauses
und der Großen des Hofes, darunter Don Carlos, denen
noch dreißig folgen sollten. Der Preis für die
nach dem Leben gemalten betrug 15, für Kopien
12 Dukaten.
Einen guten Begriff seiner Weise giebt das
V
SPANISCHE MISCELLEN.
39
Bildnis der vierten Gemahlin Philipp’s IL, Anna, der
Tochter Maximilian s II., in der kaiserlichen Galerie
zu Wien (603). Wogegen die ihm von Otto Mündler
zugeschriebene Madonna mit einem Verehrer in der
Galerie Harrach von dem Verfasser (1876) als Werk
des Neapolitaners Fabrizio Santafede erkannt wurde.
Obwohl die Bildnisse Sanchez Coello’s zuweilen
mit denen Mor’s verwechselt worden sind (wie denn
obiges Prinzessinnenpaar noch auf der Akademie-
aussteUung von 1881 in London unter dessen Namen
aufgeführt wurde), so ist doch gewiss, dass er seinen
Lehrer nie erreicht hat. Seine Arbeiten sind ein¬
förmiger und kälter im Ausdruck, schwächer indivi-
dualisirt in Haltung und Bewegung, und besonders
in den Händen, an denen man sie gleich erkennt.
Er stellte nur die Zeichnung nach dem Leben fest.
Im Falle des Don Carlos trafen jedoch viele Be¬
dingungen für ein zuverlässiges Porträt zusammen:
die Gelegenheit, ihn öfters zu sehen und zu sprechen,
die Bestimmung für einen so genauen und nüchternen
Beurteiler, wie der König war, die exakte Art des
Mor, dessen Schule und Einfluss ihn damals noch
ganz beherrschten. Denn später hat er auch im
Porträt nach Tizian’s Vorbild einen breiteren und
wärmeren Vortrag anzunehmen versucht, mit nicht
viel Glück.
Er ist übrigens nicht der einzige gewesen, dem
Carlos gesessen hat. Es giebt noch ein zweites
Originalporträt, das ihn etwa ein Jahrzehnt älter
darstellt, im 22. Lebensjahre. Früher im Besitz der
Grafen Ouate, ist es von V alentin Carderera in seiner
Ikonographie (Nr. 77) in einer freilich etwas lang¬
weiligen Lithographie mitgeteilt worden; auch in
Prescotf s Geschichte Philipp’s 11. findet sich ein Stahl¬
stich; hier glaubt man dem Gesicht die Mattigkeit
des Fiebers anzusehen. Sonst macht er einen ro¬
busteren Eindruck, als in jenem Knabenbild. Der
Mund hat einen grobsiunlichen Zug. Die Tracht
ist noch reicher. Ein Wams von weißem gesteppten
Sammet mit großen weiß auf blau emaillirten Gold¬
knöpfen, Ärmel von damascirtem Silberstoff; der
breit zurückgeschlagene Mantel zeigt ein Futter von
kostbarem Marderpelz. ^)
Unter dieser Gestalt kann man ihn sich ver¬
gegenwärtigen in jenen Scenen der letzten Jahre,
die sein gestörtes Gleichgewicht oft in rohen Aus-
1) Mit diesem Gemälde hat das von Fr. Kenner im
Jahrbuch der Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiser¬
hauses, XIV, 148, mitgeteilte, übrigens sehr sekundäre
Bildchen entfernte Ähnlichkeit.
brüchen zu Tage brachten. Der Mantuaner Orator
Emilio Roberti erzählt in einem Schreiben vom
19. Januar 1568, dem Tage also nach der Gefangen¬
setzung des Prinzen, eine Geschichte, die das Gegen¬
stück ist zu dem bekannten Anfall auf den Herzog
Alba. Eines Tages traf er die ihm feindselige Frau des
Ruy Gomez im Zimmer der Königin. Die Prinzessin
von Eboli, bekannt wegen ihres leidenschaftlichen
W esens, hatte nun die Bosheit und Keckheit, in Gegen¬
wart des legitimen Thronerben die damals schwangere
Königin mit den Worten zu beglückwünschen, „sie
hoffe, dass Gott ihr einen Knaben schenken werde
zur Rettung und Befestigung dieser Reiche.“ Don
Carlos schrie sie an: „So sei es; Sie Teufelsweib
mit einem Auge!“ Doüa Ana erwiderte: „Ich bin
eine ehrbare Frau, und wennschon es Gott gefallen
hat, dass ich seit einigen wenigen Jahren einäugig
bin, so sage ich doch Seiner Göttlichen Majestät
großen Dank, dass er nicht gestattete, dass ich ver¬
rückt (nientecato) zur Welt gekommen bin.“ Der
Prinz griff hierauf zum Dolch und ging auf sie zu.
Die Königin warf sich zwischen beide.*)
Vergleicht man nun diese beiden authentischen
Bildnisse mit dem Laxenburger, so kann man sich
des Verdachts nicht erwehren, dass hier vielleicht
eine ganz andre Person dargestellt ist, die nur durch
Missverständnis oder Täuschung einst zu diesem Namen
gekommen ist. Die charakteristischen Züge — der
vortretende Unterkiefer, der stehende kränklich¬
verstimmte Ausdruck — fehlen gänzlich in diesem
fast mädchenhaften, gesunden und zufriedenen Ge¬
sicht. Nur ein Punkt könnte zu passen scheinen:
die Asymmetrie der Gesichtshälften, ein Stigma der
Degenerirten. Aber D. Carlos hatte zwar eine
hohe Schulter und ein langes linkes Bein, er war
überhaupt „ übel proportionirt “ und auch nach
Dietrichstein „die rechte Seite übler als die linke“ ; aber
von einem Missverhältnis des Gesichts wird nichts er¬
zählt und unsere Bildnisse zeigen davon nichts. Diese
Asymmetrie ist sicher dem mittelmäßigen Maler auf
Rechnung zu setzen; in verkürzten Gesichtshälften
1) Per rimedio e stahilimento di questi Regni, sagte
die Eboli. Der Prinz drauf: Assi DognaVallaca tuerta. Bellaco
ist einer der schlimmsten Ausdrücke, die von einer Frau ge¬
braucht werden können. Dicc. de la R. Academia: El hombre
de ruines y malos procederes, y de viles respetos, y condiciön
perversa y dnnada. Die Geschichte scheint in die ersten Mo¬
nate des Jahres 1567 zu fallen, die zweite Tochter Isabella’s,
D“^ Catalina, wurde am 10. Oktober 15(37 geboren. — Hierbei
will ich bemerken, dass das einzige Bildnis der Prinzessin
von Eboli (das V. Carderera mitteilt) lange nach ihrem Tode
gemalt sein muss.
40
EPIDAUROS.
finden sich solche Verzeichnungen häufig. Aber
der hier unschuldig auf die Anklagebank gekommene
Jüngling kann auch sein Alibi beweisen. Aus dem
Kostüm zu schließen, wird er wohl kaum geboren
gewesen sein, als die Katastrophe des Prinzen von
Spanien sich abspielte. Der breite steifgestärkte Mühl¬
steinkragen ist in Spanien erst zur Zeit Philipps 111.
bei Männern und Frauen in Aufnahme gekommen,
zu seines Vaters Zeit gab es nur die lockere Hals¬
krause mit Spitzensaum, und noch in jenen Statuen
des Escorial findet sich nur diese gorguera. Ebenso
wenig passen die über der Stirn aufgetürmten Haare
zur damaligen kurzgeschnittenen Haartracht, in der
D. Carlos stets erscheint, i) Vielleicht versteckt sich
unter diesem anonymen Knaben einer der späteren
Prinzen des Hauses Medici.
1) Tiene el cabello corto, como lo llevö siempre este
principe. P. de Madrazo, Catälogo del museo del Prado.
I, p. 5G8.
EPIDAUROS.
MIT ABBILDUNGEN.
ENN die Ausgrabungen von
Epidauros, welche die grie¬
chische archäologische Ge¬
sellschaft vor nunmehr zwölf
Jahren ins Werk gesetzt
hat, in ihren Ergebnissen
nicht so allgemein bekannt
geworden sind, wie man es
wohl nach dem Interesse hätte erwarten dürfen, das
die Erforscliung der berühmtesten Heilanstalt des
Altertums erwecken musste, so liegt der Grund
liauptsäclilich darin, dass die Funde nur durch Be¬
richte in griechischen Zeitschriften mitgeteilt worden
sind, die außer liei den Fachgelehrten nicht auf Be-
rücksiclitigung reclinen konnten. Die liumanistischen
Wissenschaften — und die Stellung einer selbstän¬
digen Wissenschaft, nicht einer bloßen Amateur-
discipliri, wie sie einer der bekanntesten philolo¬
gischen l’rofessoren unlängst genannt hat, darf ja
aucli die Archäologie allmählich beanspruchen —
die humanistischen Wissenschaften haben es aber
gerade heute sehr nötig, das Interesse in weiteren
Kreisen wachzuhalten und das können sie nur durch
leicht verständliche und leicht zugängliche Bekannt-
niachnng ihrer Errungenschaften. Das Verdienst, für
Kjtidauros nach dieser Richtung hin gesorgt zu
haben, hat sich jetzt der Leiter der dortigen Aus¬
grabungen, Herr Gcneralephoros Kavvadias, durch
eine kürzlich erschienene große Publikation’) er-
]) E’ouilIe.s (PBpidaure, par C. Cavvadias, Volume I,
accompagne de 10 planches. Athenes, Ituprimerie S. C. Vla-
■itos. ]_’2 S. 75 Frank.
worben, die in französischer Sprache abgefasst, in
kurzer und klarer Beschreibung die Funde behandelt
und mit ihren reichen Beigaben von Plänen und
Abbildungen ein anschauliches Gesamtbild der Aus¬
beute dieser sehr erfolgreichen Ausgrabung bietet.
Wie fast alle Ausgrabungen in Griechenland,
so hatte auch die von Epidauros von vornherein
ihren festen Rückhalt in der Periegese des Pau-
sanias, der im zweiten Jahrhundert n. Chr. die Stätte
besucht und ziemlich ausführlich beschrieben hat.
Man konnte danach ungefähr wissen, was für Re¬
sultate zu erwarten waren. Es ließ sich aber auch
darüber hinaus noch auf weitere Ergebnisse hoffen,
auf Spuren von älteren Werken, die schon zu den
Zeiten, aus denen die antike Überlieferung stammt,
nicht mehr sichtbar und bereits unter der Erde
waren. Eine solche Erwartung hat sich nur in sehr
geringem Maße erfüllt, nur in den Funden einer
kleinen Anzahl von archaischen Weihinschriften,
den einzigen erhaltenen Resten, die von der Bedeu¬
tung der Kultstätte schon in älterer Zeit Zeugnis
ablegen. Um so vollständiger aber ist das Bild,
wie es Pausanias von dem heiligen Bezirk und seinen
Bauten beschrieben hat, aus dem Schutte der Jahr¬
hunderte wieder erstanden. Die Bauten sind bis
auf die in ihrer Gesamtheit noch nicht wieder auf¬
gedeckten Anlagen aus römischer Zeit, die Epidauros
zum größten Teil der Munificenz des Kaisers An-
toninus verdankte, aus einer eng umgrenzten Epoche,
aus dem Anfang und der Mitte des vierten Jahr¬
hunderts V. Chr. Der große Tempel des Asklepios
bildete den Mittelpunkt des ganzen Bezirks. Dicht
neben ihm dehnte sich eine lange, in der westlichen
EPIDAUROS.
41
Hälfte zweigeschossige, ionische Säulenhalle aus, die
Stätte der Wunderkuren, die der Gott nachts an
den schlafenden Kranken vornahm und von denen
wir durch die großen, in eben dieser Halle gefun-
während außerlialb des Bezirks an einem Vorsprung
des Kynortionberges das Theater lag, schon im
Altertum wegen seiner Pracht und Größe berühmt,
und heute in seinen im ganzen wohlerhaltenen
Fig. 2. Relief vom Asklepiostempel zu Epidauros.
denen Heilinschriften sehr ausführliche Kunde haben.
Etwas weiter ab lag die Tholos, ein zierlicher Rund¬
bau mit doppelter Säulenstellung, dessen Inneres
mit berühmten Gemälden des Pausias geschmückt
war, und nach der entgegengesetzten — östlichen
— Richtung hin der kleine Tempel der Artemis,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. II. 2
Ruinen von unschätzbarem Werte, weil in ihm allein
eine reine Überlieferung echt griechischer Theater¬
anlage auf uns gekommen ist, die auf unsere Vor¬
stellungen vom antiken Bühnenwesen von Grund
aus reformirend gewirkt hat.
Die Bedeutung 'dieser Überreste für die Ge-
G
42
EPIDAUROS.
scliicbte der antiken Architektur wird dadurch er¬
höht, dass für einige der Anlagen und gerade für
einige der wichtigsten, nämlich für den Asklepios¬
tempel und die Tholos, die Banakten noch vorliegen,
die zu den wenigen übrigen bisher bekannten Ur¬
kunden dieser Art, wie denen von Athen und Delos,
als wichtige Ergänzung hinzutreten. Die Inschrift
des Asklepiostempels giebt über die Ausführung des
Baues so genaue Auskunft, dass wir über die Kosten¬
rechnung selbst bis in so geringe Details, wie
die Ausgaben für kleinere Materiallieferungen, für
Botenlohn, Reisediäten und derartiges fast voll¬
ständig orientirt sind.
Nach der Berechnung, die Kavvadias auf Grund
der Inschrift angestellt hat, beliefen sich die Gesamt¬
kosten für den Bau auf etwa 125 000 Drachmen.
Davon fiel für den leitenden Architekten Theodotos
für die ganze Arbeit während der 4^2 jährigen Bau¬
zeit nur ein Honorar von 1590 Drachmen — näm¬
lich eine Drachme pro Tag — ab, während z. B.
für das an den Flügeln der Hauptthür verwendete
Elfenbein allein 3070 Drachmen und für die Ent¬
würfe und Ausführung der marmornen Akroterien
und Giel)elfiguren nahe au 14 000 Drachmen ver¬
ausgabt wurden.
Mit Hilfe der Detailangaben der Inschrift und
der erhaltenen Bauglieder ist eine ziemlich voll¬
ständige Rekonstruktion des Tempels ermöglicht; es
war ein dorischer Peripteraltempel von 13,04 m
Breite und 21,35 m Länge (also ungefähr ebenso
l)reit und etwas kürzer als das sog. Theseion in
.Vthenj, mit sechs Säulen an den Schmal- und elf
Säulen an den Langseiten, ganz aus Kalkstein gebaut
liis a>if das hölzerne Dacbgerüst und die marmornen
Gesimse und Ziegel, sowie das auf Akroterien und
tiicbelskuljdiiren beschränkte marmorne Bildwerk.
Die Cella hat nach vorn eine Vorhalle, schließt aber
nach \V(!.sten ohne Dpisthodom ab; wahrscheinlich
vor der Rückwand stand das große Goldelfenbeinbild
<les Asklepios, das Thntsipiicdcs , ein Schüler des
Pbidias, gemacht hatte, unter deutlicher Einwirkung
von dessen Bilde des olympischen Zeus, wie die
Nachbildungen auf Münzen und namentlich auf
einem in Ej»idauros gefundenen vorzüglichen Relief,
das vorstehend i Fig. 2) abgebildet ist, zeigen.
Einige Jahrzehnte jünger als der Asklepios-
terapel ist die Tiiolos, auf die Kavvadias mit über¬
zeugenden Gründen die zweite große Bauurkunde,
die leider weniger gut erhalten ist, bezogen hat.
Nach ihr zog sich die Arbeit am Bau nicht weniger
als 21 Jahre hin, infolge von Einschränkungen und
zeitweiligen Unterbrechungen, die vermutlich durch
vorübergehenden Geldmangel hervorgerufen wurden.
Denn die Kosten müssen sehr beträchtlich gewesen
sein, da z. B. allein für den Fußboden der Cella,
der aus weißen und schwarzen Marmorplatten be¬
stand, nahe an 7000 Drachmen aufgewendet wurden.
Nach den in der Inschrift enthaltenen Angaben
über Material und Bauart und übereinstimmend
damit nach den erhaltenen Fundamenten und Archi¬
tekturgliedern bestand der Bau aus einer kreis¬
runden Cella, die im Innern eine Stellung von 14
korinthischen Säulen aus pentelischem Marmor ein¬
schloss und außen von einem Kranz von Säulen
aus sehr feinem Poros umgeben war. Die Wand
der Cella, gleichfalls aus Poros, stand auf einem
nach außen weißen, nach innen schwarzen Marmor¬
sockel und schloss nach oben mit einem Fries von
pentelischem Marmor ab. Wenn der Asklepios¬
tempel durch die ruhige Größe seiner strengen For¬
men imponirte, so wirkte die Tholos mehr durch
die leichte, gefällige Gliederung und stand wohl
neben jenem schwereren Bau ähnlich im Eindruck,
wie das Erechtheion neben dem Parthenon. Ein¬
zelne Architekturglieder, wie die korinthischen Kapi¬
telle der inneren Säulenstellung und die Sima mit
Ranken und Löwenköpfen über dem äußeren Tri-
glyphenfries gehören durch die Schönheit ihrer
Zeichnung und die schwungvolle kräftige und dabei
bis in die feinsten Details sorgfältige Ausführung
zu dem besten, was von antiker Architektur er¬
halten ist (s. die Abbildung der Sima auf Seite 45
Fig. 1). Den Architekten des Gebäudes kennen wir
aus der litterarischen Überlieferung. Es ist derselbe
Künstler, der sich durch den Bau des Theaters von
Epidauros berühmt gemacht hat, Pohjklet von Argos,
aber nicht, wie bisher vielfach angenommen wurde
der bekannte Bildhauer des fünften Jahrhunderts, son¬
dern der um zwei Generationen jüngere Künstler, der
bei Pausanias Schüler des Naukydes genannt wird.
Hinter den Architekturfunden steht der Gewinn
an Skulpturen etwas zurück. Hervorragende Meister¬
werke hat die Ausgrabung nicht geliefert und solche
waren wohl außer dem Kultbild des Asklepios über¬
haupt schwerlich jemals in größerer Anzahl in Epi¬
dauros vorhanden. Dafür sind aber neben einer be¬
trächtlichen Menge kleinerer, meist aus späterer Zeit
stammender Weihfiguren zahlreiche Fragmente vom
bildlichen Schmuck des Asklepiostempels wieder¬
gefunden und der wissenschaftliche Wert dieser
Stücke wiegt vieles auf, was die Gesamtheit der
Skulpturenfunde an künstlerischem Wert vermissen
ü
Amazone vom Giebelfelile des Asklepiostempels iu Epidauros. Fig. XereYde vou den Akroterieii des Asklepiostempels iu Epidauros.
EPIDAURÖS.
44
lassen mag. Im westlichen Giebel des Tempels
waren Amazonenkämpfe, im östlichen Giebel der
Kampf der Kentauren und Lapithen dargestellt;
Nereiden, die auf ihren Rossen aus den Wogen auf¬
steigen , zierten — nach Kavvadias’ Annahme —
als Akroterien die Firste der Giebel. Die ßau-
inschrift des Tempels hat uns auch die Namen der
ausführenden Künstler erhalten. Der eigentliche
Schöpfer des Ganzen war Timotheos von Athen, der
die Modelle zu sämtlichen Figuren lieferte und für
die Akroterien der einen Giebelseite auch die
Fertigstellung in Marmor selbst übernahm, während
die Ausführung der Akroterien der anderen Seite
einem Künstler Namens Theotimos, die der Giebel-
hguren verschiedenen Bildhauern überlassen wurde,
von denen IleJdoridas, Agathiiios , Lysion genannt
werden. Das Verhältnis von Meister und Gehilfen
tritt hier zum erstenmal in voller Klarheit hervor.
Die einzelnen Figuren der Giebelkompositionen
(s. Fig. .3) sind nicht alle ganz gleichartig. Bei ge¬
nauerem Betrachten kann man Unterschiede finden,
aljer nur Unterschiede in den Äußerlichkeiten der
Ausführung. Die Entwürfe sind einheitlich und wie
die Akroterienfiguren der Nereiden (Fig. 4), deren
erhaltene Stücke auch in ihrer Ausführung in Mar-
mor möglicherweise von der Hand des Timotheos
selbst sind, in Stil und Charakter mit den Giebeln
übereinstiramen, so zeigt sich der gesamte Bild-
schmuck als geschlossenes Werk, in dem wir die
Kunst des einen Meisters, der das Ganze leitete, zu
erkennen halien. Die Figuren erinnern lebhaft an
die Reliefs vom Tempel der Athena Nike in Athen.
Sie sind in den Formen entwickelter als diese und
haben längst nicht den Reichtum an Motiven und
die unerreichbar feine und graziöse Behandlung, wie
die Balustradenreliefs, die ja freilich auf Nahansicht
berechnet sind. Aber man erkennt den Charakter
der attischen Kunst, wie er in den Nikeskulpturen
ausgeprägt ist, in der reizvollen leichten Zeichnung,
in der bei aller Lebhaftigkeit maßvollen Zurück¬
haltung der Bewegungen, in allem Einzelnen der
Arbeit, wie namentlich an der Behandlung der wie
durchsichtig auf dem Körper anliegenden Gewan¬
dung leicht wieder. Man könnte sich denken, dass
der Künstler in jungen Jahren noch selbst an der
Herstellung der plastischen Werke des Niketempels
beteiligt gewesen wäre: sicher ist er in den Tradi¬
tionen dieser Schule groß geworden. Andererseits
wissen wir, dass Timotheos im Alter zusammen mit
Skopas, Bryaxis und Leochares noch am Mausoleum
von Halikarnass mitbeschäftigt war, und es fehlt
unter den erhaltenen Skulpturen dieses Grabmals
nicht an Stücken, die, den epidaurischen Bildwerken
nahe verwandt, wie eine unmittelbare Fortbildung
dieser Kunst erscheinen.
So werfen die epidaurischen Funde, indem sie
uns ein einzelnes Werk eines bisher fast unbekann¬
ten Meisters wiedergegeben haben, zugleich ein
Licht auf die ganze Entwickelung dieses Künstlers
und lassen uns namentlich deutlicher erkennen, in
wie fest umgrenzten Bahnen sich die attische Kunst
auf den im fünften Jahrhundert gewonnenen Grund¬
lagen bis zu dem Ende der vorhellenistischen Epoche
fortbewegte. FR. WINTER.
iiiijjijTnDipijjif
Fig. 1. Sima vou der Tholos in Epidauros.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Fritz von Uhde. Von 0. J. Blcrbaum. München, Albert
u. Co. 1893.
Fritz von Uhde hat den Weg von der ecclesia militans
zur ecclesia triumphans über Erwarten rasch zurückgelegt.
1884 erschien die erste Strophe seines christlichen Epos.
Bereits nach zwei Jahren brachte die „Zeitschrift für bil¬
dende Kunst“ seine ausführliche Biographie; das Art Journal
stellte ihn den Engländern vor; Frankreich schätzt und
Amerika kauft ihn. Zu den Stößen von längeren und kür¬
zeren Aufsätzen, zu denen seine Malerei schon Anlass gab,
ist nun auch ein eigenes Buch getreten. Otto Julius Bier¬
baum, der in München die Entwickelung des Meisters mit
ansah und als der ersten einer in der Presse für ihn eintrat,
war der Berufenste, es zu verfassen. Mit der Beschreibung
von Bildern ist es, wie man weiß, ein eigen Ding. Von
trocken philologischen Augen betrachtet, bekommen sie selbst
eine Kruste von Trockenheit, unter der dann die jüngsten
lebendigen Meister gleich langweilig wirken wie die ältesten
toten. Bierbaum hatte schon in seinen geistreichen, im
Magazin für Litteratur veröffentlichten Nachdichtungen
Böcklin’scher Gemälde gezeigt, was er gerade in nach¬
fühlendem Verständnis von Kunstwerken leiste, und so
bilden denn auch im vorliegenden Bande die zarten Um¬
schreibungen Uhde’scher Werke das Glanzstück. Doch auch
der geschichtliche Teil des Buches ist sehr gut. Die Thätig-
keit des Meisters giebt Bierbaum Gelegenheit, das Wesen
dieser modernen Kunst, aus der Uhde als einer der ersten
Gipfel emporragt, feinsinnig zu erörtern: den langen Kampf,
der nötig war, um von eklektischem Nachemptinden zu
selbständiger Beobachtung, dann in weiterer Folge von
platter Abschilderung des Wirklichen zu seelischer Ver¬
tiefung zu gelangen. Der junge Anfänger legt, von seinem
Vater begleitet, seine ersten Zeichnungen dem alten Kaul-
bach vor, schwelgt in koloristischen Orgien ä la Makart, malt
in Paris Asphalt mit Munkacsy, folgt Liebermann auf der
Reiseroute zu Israels und wird seit 1884 Uhde — ein Stück
Menschenleben, das in nuce auch ein Stück Kunstgeschichte
enthält. R- 44.
Georg Nordens van, Svoisk Konst och Sceiisha Konsf-
nürcr i iW« Arhundradet. Stockholm, Bonnier 1893.
Wer gezwungen ist, über moderne Kunst zu schreiben,
kommt oft in recht hilflose Lage. Das Zeitalter der inter¬
nationalen Ausstellungen hat alle Länder so nahe gerückt,
dass man wie mit einem Riesen fernrohr die Produktion der
ganzen Welt überschaut. Aber dies Fernrohr giebt wie der
Momentphotograph doch immer nur ein Augenblicks¬
bild wieder — was vorher war, bleibt verschlossen.
Man kann nicht aus einer zufälligen Leistung heraus
einen Künstler beurteilen; man muss sein Gesamtwerk
kennen, die Stellung, die er in seiner Heimat einnimmt, den
Schulzusammenhang, der ihn mit der Vergangenheit ver¬
knüpft. Und darüber sucht man in der Regel vergeblich
Belehrung. Eline sjjanische, italienische, dänische, norwegische,
russische, selbst eine englische Kunstgeschichte ist noch nicht
geschrieben, und das Riesenmaterial, das in Zeitschriften
aufgespeichert liegt, jst trotz seiner Fülle teils lückenhaft,
teils schwer erreichbar. Nur für Schweden liegt seit einigen
Monaten eine erschöpfende Arbeit vor, auf die deshalb hier
besondere Aufmerksamkeit gelenkt sei. Noch bis vor kurzem
galt dieses Land, da man nichts von ihm wusste, für ziem¬
lich barbarisch. Erst das epochemachende Auftreten der
jungen schwedischen Schule — Zorn, Prinz Eugen, Richard
Bergh, Karl Larsson u. a. — belehrte, dass innerhalb der
Grenzen des nordischen Königreichs ein frisches Künstlerleben
sich rühre. Und Nordensvan's Buch zeigt nun, dass Schweden
schon seit dem 18. Jahrhundert eine Kunst besaß, die den
Vergleich mit keiner Schule des Kontinents scheut. Alle
Welt kennt Lavreince als einen der elegantesten Meister
des französischen Rokoko, und wenige wissen, dass schon
um diesen Nicolas Lafrensen eine ganze Gruppe gleich reiz¬
voller schwedischer Rokokomaler sich scharte. Jeder kennt
Thorwaldsen, und nicht vielen ist bekannt, dass der um
30 Jahre ältere Joh. Tob. Sergel nicht nur der Begründer
dieser klassicistischen Plastik, sondern auch ein viel ur¬
sprünglicherer Meister als der Däne war. Schweden hatte
seinen Overbeck in Karl Plageman, seinen Schwind in
Blommer, seinen Lessing in Fahlcrantz, seinen Fromentin
46
KLEINE MITTEILUNGEN.
in Egron Lunclgren, seinen Eduard Hildebrandt in Marcus
Larsson. Was bei uns Bürkel und Albrecht Adam heißt,
nennt sich dort Soedermark, Hahlström und Wickenberg.
Delacroix hat seine Parallele in Hoeckert, Piloty in Boklund,
^lakart in Kronberg. Das große Drama der modernen Kunst
teilte sich wie anderwärts in die gleichen Akte, und wie
die Schweden als Künstler oft die Franzosen des Nordens
genannt werden, so ist auch Nordensvan’s Buch trotz seiner
wissenschaftlichen Gediegenheit mit so leichter Eleganz ge¬
schrieben, dass man seinen Erörterungen wie einem spannen¬
den Drama folgt. Seine Perspektive ist weit, sein Verständ¬
nis eindringend; er kennt das Gesamtbild der modernen
Kunst und weiß die schwedische im Rahmen der Weltkunst
zu verstehen. Eine geistreiche Charakteristik der allgemeinen
europäischen Kunstlage bildet die Einleitung jedes Ab¬
schnittes, worin dann die schwedischen Meister, zu über¬
sichtlichen Gru})pen vereint, feinsinnig gekennzeichnet wer¬
den. Über 300 vorzügliche Abbildungen unterstützen die
Darstellung, und w^enn die Verlagshandlung sich zu einer
deutschen oder französischen Ausgabe entschlösse, wäre dem
Buche gewiss auch ausserhalb Schwedens eine größere Ver¬
breitung gesichert. -R. M.
London. Der Jahreshcriclit der englischen „National
dallerg“ Ins %uni 1. April 1S03. Die bedeutendsten dies¬
jährigen Erwei’bungen auch dieses Kunstinstituts sind im
Laufe des Jahres bereits eingehender von der „Kunstchronik“
besprochen worden, so dass nur an die Ankäufe aus den
Londoner Auktionen u. s. w. zu erinnern nötig erscheint.
Der größte Glücksumstand für das Institut bestand in Mr.
II. Tate’s Schenkung, welche eine der ersten modernen Bilder¬
sammlungen Englands umfasst und deren Wert auf zwei
Millionen Mark veranschlagt wird. Die besten englischen
Namen sind darin vertreten: Landseer, John Linnell,
Orchardson, Hook, Gregory, Millais, Burne Jones, Faed, Alma-
Tadema, Woods, Leader, Bonghton, Leighton , Waterhouse,
Watts und viele andere. Der großmütige Kunstmäcen,
welcher ferner noch eine Volksbibliothek errichtete, ent¬
schloss sich außerdem, eine Million sechsmalhunderttausend
Mark zur Unterbringung der Bilderschätze zu bewilligen.
Hierdurch ist es möglich geworden, zur Vergrößerung der
,. National Gallery“ angrenzenden Grund und Boden zu er-
werbcT). Die Pläne und Einteilung der Räume unterliegen
der Beratung. Es stehen sich in Bezug hierauf zwei Parteien
entgegen, deren eine zur Unterbringung der Bilder ähnliche
Einrichtungen schaffen möchte, wie sie in der Berliner Na¬
tionalgalerie bestehen, während die wahrscheinlich sieg¬
reichen Gegner die Form der alten Konstruktionen angewandt
wi.i.-en wollen. Schon jetzt werden wegen Raummangels
in der Galerie 3<i größere WaTidschirme benutzt, um Kabi-
nelf.^l(ilder auf/.uhängen , die an den Wänden nicht mehr
untergebraeht werden können. Aber die Hemmung in der
Bewegung des Publikums und sonstige hierdurch verursachte
Unlicquendichkeiten machen sich so (ühlljar, dass es un¬
möglich ist, die Zahl der Wandschirme noch zu vermehren.
Der tägliche Besuch der „National Gallery“ beträgt im
Durchschnitt 2.ÖL0 Personen, und diese Zahl steigt bei be¬
sonderen Gelegenlieiten bis auf SÜOP. An den sogenannten
„.Studententagen“ Donnerstags und Freitags), an welchen
eine Einlassgebühr von .öO Pfg. erlegt werden muss, beläuft
sich der Besuch durchschnittlich auf ü<JL Personen. Die Zahl
der Kopisten und den Kunststudien sich widmenden Schüler,
welche selbstverständlich kein Entree zu zahlen haben, be¬
trägt außerdem etwa .'kXl, unter denen wiederum neun Zehntel
Damen sind. Diese setzen sich aus allen Ständen zusammen,
aus der professionellen Kopistin, die gute Preise für ihre
Bilder verlangt, und der eleganten Amateurdame, der es
mehr auf eine gewisse Auszeichnung ankommt, Künstle¬
rinnen, welche eine Begleiterin haben, erhalten auch für
letztere Freikarten. Die Erhebung des kleinen Eintritts¬
geldes wurde aber nötig, um die Arbeit der Künstler nicht
zu sehr gestört zu sehen. Dank der Aufmerksamkeit des
Abteilungdirektors, Mr, Charles Eastlake, ist viel für die
Bequemlichkeit und Zeitersparnis der Studirenden geschehen.
Es dürfte wohl am Platze sein, einige Worte über die Art
der Konservirung der Bilder zu sagen. Um diese vor dem
verderbenden Einfluss der Londoner Atmosphäre, namentlich
vor dem Nebel zu schützen, sind mit Ausnahme von drei
abnorm großen Objekten sämtliche Gemälde unter Glas ge¬
bracht. Diese Maßregel hat sich im Laufe der Zeit gut be¬
währt. Die Gläser werden in einem bestimmten Turnus
abgenommen und sowohl diese wie die Bilder selbst alsdann
gründlich durch besonders angestellte Aufseher gereinigt.
Der Ankauf der Bilder für die Galerie ist vollständig der
Diskretion des Direktors überlassen, jedoch befragt er
meistens den Verwaltungsrat um seine Ansicht. Mitunter
werden zwar Käufe auf dem Kontinent bewirkt, in der
Hauptsache aber geschehen die Erwerbungen in den hiesigen
Auktionen, bei Händlern in London und oft auch aus dem
Besitz von Privatpersonen. — Die Erfahrung hat gelehrt,
dass für das große englische Publikum sich das Interesse
bei dem Besuche der Bildersammlungen so ziemlich unver¬
ändert auf dieselben Gemälde konzentrirt und hierbei in
der Hauptsache das Sujet entscheidend wirkt. Selbtsverständ-
lich gilt dies nicht von Fremden, Kunstfreunden, Studiren¬
den oder Kennern im engeren und eigentlichen Sinne. Aus
diesem Grunde bilden sich täglich die stereotypen lebhaften
Gruppen annähernd vor denselben Bildern. Danach wird
am meisten beachtet: alles, was auf das Meer Bezug hat,
Scenen, in denen Wellington hervortritt, Porträts bedeuten¬
der englischer Staatsmänner, Parlamentarier und schöne
Frauen, Landschaften bekannter Gegenden und das mög¬
lichst mit Sport verbundene Genrebild, sowie alles, was mit
dem Tierleben in Verbindung steht. Der Zusammenhang
des Instituts mit dem Publikum äußert sich ferner durch
unausgesetzte reiche Schenkungen. — Der bisherige erste
Direktor der „National Gallery“, Sir Frederick Burton, ge¬
denkt sich demnächst in den Ruhestand zu begeben,
Für die Errichtimcj des Naiionaldcnkmals Kaiser
Wilhchn's I. a^lf dem Platxe der Schlossfreiheit in Berlin
wird, wie die „Vossische Zeitung“ erfahren hat, im Reichs¬
haushaltsetat des nächsten Jahres die erste Rate im Betrage
von 1 100 ÜOO M. gefordert werden. Das Denkmal wird auf
dem Platz gegenüber dem Königsschlosse aufgestellt werden,
der durch Niederlegung der Schlossfreiheit entstanden ist.
Es liegt jetzt ein Entwurf vor, der vom Kaiser genehmigt
worden ist. Danach bleibt die Denkmalsanlage auf das öst¬
liche Ufer des Spreekanals beschränkt und wird in letzteren
nur so viel hineinragen, als es mit den Bedürfnissen der
Schiffahrt vereinbar ist; die Anlage soll außer dem Reiter¬
standbild selbst aus einer, den Denkmalsplatz nach dem
Schitfahrtskanal zu abschließenden Halle bestehen. Die Aus¬
arbeitung der Modelle für das Reiterstandbild ist dem Bild¬
hauer Professor Bcinhold Begas zu Berlin übertragen worden.
Uber die Vergebung der sonstigen Bildhauerarbeiten, nament¬
lich des ornamentalen und figürlichen Schmuckes der Halle,
sind Entschließungen noch nicht gefasst. Die Bildhauer¬
arbeiten sollen zusammen einen Kostenaufwand von acht
Millionen M. erfordern. Dafür kommen auf Standbild nebst
Sockel (Modelle und Ausführung in Bronze) 1880 000 M.;
auf die zur Architektur gehörigen Bildwerke, die gleichfalls
KLEINE MITTEILUNGEN.
47
in Bronze ausgeführt werden , 2 500 000 M. Die Arbeiten
sollen so gefördert werden, dass die Enthüllung des Denk¬
mals am 22. März 1897, am hundertjährigen Geburtstage
Kaiser Wilhelm’s L, erfolgen kann.
Ankäufe auf der Jahres-AussteUimg im Glaspalast
in München.
A. Ölgemälde, Aquarelle, Zeichnungen. Eugen An-
kelen, München, „Ein Gruß“. D. A. Artz , Haag, „Mutter
mit Kind“. Fanny Assenbaum , München, „Abend“. H.
Baisch, Karlsruhe, „Mittag auf der Hochalm“. A. Barbason,
Rom, „Trödelladen in Subiaco“. G. Barlösius, Charlotten¬
burg, „Im Frühling“. C. von Bergen, München, „Ein
kritischer Moment“; „Kleine Gehilfen“. M. Beroldingen,
Ratzenried, „Vogelbeute“. M. Bilders van Bosse, Haag,
„Sonnenschein im Walde“. F. Birkmeyer, München, ,,In
der Beauce 1870“. Hch. Böhmer, Düsseldorf, „Buchenwald
im November“. N. Bordignon, Venedig, „La Dottrina“. G.
Bottero, Turin, „Am Molo“. Jos. von Brandt, München,
„Nach der Jagd“. A. K. Brown, Glasgow, „Der Gareloch“.
Georg Burmester, Kiel, „Bunte Blätter fallen“. Gilbert von
Canal, Düsseldorf, „Motiv aus dem Ahrthal“; Abendstim¬
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in den Grajischen Alpen“. Tito Conti, Florenz, ,,Das Blumen¬
mädchen“. Helene Cramer, Hamburg, „Mohn“. Angelo
Dali ’Occa, Bianca- Verona, „Der Spaziergang“. Frz. Defreg¬
ger, München, „Die neue Pfeife“. Herrn. Dischler, Karls¬
ruhe, „Abendstimmung“. Carla von Dreifus, Grüneck (Ober¬
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Eilers, München, ,,Am Waldsee“; ,, Parklandschaft“. Jahn
Ekenaes, München, „Sonntagsfischer in Norwegen“. Jean
Endogouroff, St. Petersburg, „Romsdalsfiord“. Fabio Fabbi,
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in Granada“. Lud. Gebhardt, München, „Aus dem Hoch¬
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„Naschmäulchen“. Rudolf Haak, Nieuwen- Amatel, „Am
Kanalufer“. Gabriel Hackl, hier, „Das erste Quartier 1812“.
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Karlsruhe, ,,Bei den Ruinen von Wisby“. Herrn, Hendrich,
Berlin, ,, Nordische Landschaft“. Carl Gust. Herrmann, Mün¬
chen, „Landschaft aus Oberbayern“. H. Jansen, Amsterdam,
,,Hafen zu Hoorn“. Ol. Jernberg, Düsseldorf, „In den Feldern“.
Friedr. Kallmorgen, Grötzingen, ,, Zwischen blühenden Bäu¬
men“. Emil Keck, München, „Kaffeeplausch“. E. Khnopff,
Brüssel, ,,I lock my door upon myself“. Th. Kleehaas, Mün¬
chen, „Kasperltheater“. J. Kleinschmidt, Kassel, „Belohnte
Neugierde“. Eugen Klimsch, Frankfurt a. M., ,, Minne“. A.
L. Koster, Haarlem, „Die Tulpen- und Hyazinthen-Cultur in
Haarlem“. P. Kraemer, München, „Musikant“. W. Kreling,
München, „Menuett“. E. Kubierschky, München, „Mondauf¬
gang“; „Flusslandschaft ‘. Franz v.Lenbach, München, „Frauen¬
porträt“. Wilh. Lindenschmit, München, ,, Dürer malt seine
Frau“. Leo Littrow, Abbazia, „Strand bei Abbazi a“. Wilh.
Löwith, München, „Recitation“. Maria Lübbes, München,
„Nähendes Mädchen“. E. Lutteroth, München, „Brandung“.
R. de Madrazo, Paris, ,,Die Romanze“. E. Maudlik, Mün¬
chen, „Junge Männer von heute“. Carl Marr, München,
„Kinderporträt“. L. E. Meissonier, Paris, „Der Maler“. S.
Mesdag van Honten, Haag, „Stillleben“. B. E. Mestres,
Barcelona, ,, Morgen wieder“. A. Milesi, Venedig, „Zur
Dämmerstunde“. 0. da Molin, Venedig, „San Giovannie Paolo“
Adr. Mols, Antwerpen, „Früchte“. H. Mühlig, Düsseldorf,
„Erntezeit in Düsseldorf“; „Kartoffelernte am Niederrhein“.
Helene Mühlthaler, München, „Kind mit Schlüsselblumen“.
Max Nonnenbruch, München, „In Gedanken“. A. Normann,
Berlin, ,, Sognefjord“. Marie Nyl, München, „Rosen“;
, .Blumen“. Georg Oeder, Düsseldorf, „Blühende Bäume“;
,, Winterstimmung“. Ferd. Pacher, München, ,,,Dingolfing“.
G. Pennasilico, Genua, ,, Tauben“. George Pirie, Glasgow,
,, Spielende Terriers“. Ernst Platz, München, „Memento
mori“. R. von Poschinger, Schleißheim, „Abend“. KarlRaupp,
München, ,, Spiegelbild“ ; „Heimwärts“. M.Roebbeke, München,
„Feldmohn“. Rossi, Paris, „Farniente“. F. Roubaud, Mün¬
chen, „Im Kaukasus“. C. Le Roux, Paris, „Mädchen aus
der Normandie“. F. Rüben, Venedig, „Stimmungsbild“.
S. Sabbides, München, „Aus Bagdad“. P. Salinas, Rom, ,,In
der Küche“; „Hochzeitsmahl“. S. Sanchez-Barbudo , Ptom,
„Lago Trassimeno“. Alfonso Savini, Bologna, „Unter Blüten“.
Emil Jak. Schindler (f), Wien, „Heustadelwasser im Prater“;
,,J’hal des Friedens“; „Sägemühle in Oberösterreich“. Ro¬
bert Schleich, München, „Heuerntein Oberbayern“. H. Schütt,
München, „Gnomen“. E. Schmitz, München, „Gsund san
ma“; „Prosit“; „D’sollstleb’n“;. , Auf’s Wohl“. Th. Schmuz-Bau-
dis, München, ,, Dankbares Publikum“. Otto Scholderer, Lon¬
don, ,, Trauben“. A. H. Schramm, Wien, „Floralia“.
R. Schuster-Woldan, München, „Herbstlandschaft“. W. Schwär,
München, ,, Lautenspielerin“. Scipione Simoni, Rom, ,,Strada
in Ceccano“; Geflügelhändler“; ,, Straße in Ceccano“. Gustav
Simoni, Rom, „Serenade“. F. Sindici, Rom, „Flitterwochen“.
Louis Spangenbergt, Berlin, „Motiv aus dem bayrischen Ober¬
land“. Ph. Sporrer, München, ,,Der Marterkasten“. Gertrud
Staats, Breslau, „Gartenthor“. W. Steinhausen, Frankfurt a/M.
,, Kreuzigung“; ,, Abendmahl“. F. Steinmetz, München, „Im
geheimen Kabinett“. Stefanie von Strechine, München,
„Bruck“. Ludw. Stürtz, Würzburg, ,,In der Klosterzelle“
J. M. M. Ten Kate, Haag, „Scheveningen. Cesare Tiratelli,
Rom, „Festtag in Ceccano“. Joseph Vanderoye, Antwerpen
„Orangen“. Federico Verly, Rom, „Die Faraglioni bei Capri“.
Rud. Voigtländer, Berlin, „Aktstudium“. H. v. Volkmann,
Karlsruhe, „Haferfeld“; „Waldeinsamkeit“. Jan Vrolyk,
Im Haag, „Auf dem Wege“. Nie. van der Waag, Amster¬
dam, „Schmutzige Straße“. Alex, von Wahl, München,
„Heimkehrende Tscherkessen“. Charlotte Wahlström, Stock¬
holm, „Der Abend“. Cl.Walther, München, „Madonna“. M. Wil¬
berg, Berlin, ,,Ave Maria“. Marie Wünsch, Gries b. Bozen,
„Die Schaukel“. M. Wywiörski, München, „Nach dem Elch¬
trieb“. Clara Zschille, Großenhain (Sachsen), „Veilchen“.
B. Plastische Werke. J. C. Chaplain, Paris, Vier
Medaillen. Syrius Eberle, München, „Der Heilige Georg“
(Gipsstatue). Gust. Eberlein, Berlin, „Gefesselte Venus“
(Bronzegruppe). Emanuel Fremiet, Paris, „Ritter aus
dem 14. Jahrhundert“ (Bronze). Fritz Gerth, Rom, „Psyche“
(Bronzebüste). Franz Lange, Berlin, ,,Die Jugend“ (Mar¬
morbüste). Fritz von Miller, „Violinspieler“ (Bronze);
„Lautenspieler“ (Bronze). E. Onslow Ford, London, „Shelley-
Monument“ (Gipsstatue). F, Rosse, Berlin, ,, Psyche“ (Gips-
48
KLEINE MITTEILUNGEN.
statue). Franz Rosse, Berlin, „Psyche“ (imit. Bronze),
Statuette. .T. Ringel dlllzach, Paris, „Rakoczy- Marsch“
(Gipsstatue). W. v. Rümann, München, „Denkmal der Her¬
zogin Max“ (Marmor). Alois Stehle, München, „Pierette“
(Statuette). Heinr. M. Wadere, München, ,, Herzog Christof
der Kämpfer (Bronze).
C. Badirungen etc. Max Dasio, München, 6 Radirungen
und 6 Lithographieen. Lud. Michalek, Wien, ,,Porträ.t des
Tondichters J. Brahms“ (Radirung). Em. J. Schindlerf, Wien,
..Landschaft“ (Original-Radirung). Karl Staufter, Bern, „Die
Zwanglosen“ (Original Radirung) ; 3 Original -Radirungen;
„Gottfr. Keller“ (Original-Radirung); „Gottfided Keller“ (Ori¬
ginal-Radirung, unvollendet); „Frau Welti“ (Original-Ra-
dirung, unvollendet); Dr. Ad. Menzel mit Hut (Original-Ra¬
dirung, unvollendet); „Landschaft“ (Original-Radirung).
* Mit der Originalradirung,, Von Oben“ von L. Th. Meger-
Basel beginnen wir heute den Abdruck der von unserer
Jury mit dem xirciten Preise gekrönten Radirungen. (Der
erste Preis kam nicht zur Verteilung.) Der Autor des vor¬
liegenden Blattes kam unserem Wunsche, uns etwas über
seine künstlerische Entwickelung mitzuteilen, in folgenden
Worten freundlich nach, „so gerne eben ein Maler zur Feder
greift!“ Wir glauben den Lesern keinen besseren Begleittext
zu dem Blatte bieten zu können. — ,,Tn Ihrer Zeitschrift
haben Sie,“ schreibt der Künstler, „bei einer früheren Arbeit
von mir schon den l.ö. Mai 1860 als meinen Geburtstag an¬
gegeben , ebenso , dass ich bei Herrn Prof. Raab das Zeich¬
nen und Radiren erlernte. Von der Raabschule, welche ich
fünf Semester besuchte, kam ich zu Prof. Alexander Wagner,
bei dem ich das Malen zu erlernen hotl’te. Da es mich
schon von früh an zur Landschaft hinzog, kehrte ich nach
zwei bei Wagner verbrachten Semestern der Akademie den
Rücken, um bei Herrn Pi’of. J. Wenglein freundliche Auf¬
nahme und den Weg zur Landschaftsmalerei, den Hinweis
auf die Natur, zu finden. Im Jahre 1888 versuchte ich auf
eigene Füße zu kommen, manches Erlernte streifte ich mit
<lcr Zeit ab, den beiden Lehrern Raab und Wenglein stets
Dank schuldend für ihr Bemühen, mich auf den rechten
Weg zu weisen. Bei dem Besuch der Raabschule schon
machte ich mit der Nadel die ersten Gehversuche, die Platten
jiahm ich meistens ins Freie mit, um sie gleich vor der
Natur mutig zu verkratzen. Von der Raabschule her
waren es die Freunde Peter Halm und L. Kühn, die mein
Interesse an der Schwarzkunst stets wachhielten und mich
zu Versuchen anfeuerten. Ebenso verfolgte ich mit lebhafter
Freude die hohen künstlerischen Erfolge meines verstorbe¬
nen Freundes und Landsmannes Sta,utfer-Bern. Auf der
Studienreise, welche entweder in der nächsten Umgebung
Münchens oder am Bodensee endete, begleiteten mich stets
einige Kupferplatten. Es giebt ja so viel in der Natur, das
einen mehr zeichnerisch anspricht; dies suche ich mir mit
der Nadel festzuhalten. Es sind auf diese Weise mehrere
Blätter aus der Umgebung Münchens entstanden, so
auch die Radirung „Von Oben“. Sie stammt aus Haim¬
hausen, einem malerischen Dorf in der Nähe von Schlei߬
heim, an der Amper gelegen. Es hat schon vielen
Malern als Studienplatz gedient. Ende Oktober 1891 zog
ich für einige Tage dorthin, um noch vor Winters Anfang
etwas heimzuholen und so einen letzten, frischen Natur¬
eindruck mit ins Atelier zu nehmen. Der Blick auf die
alten Häuser mit der vorbeiziehenden Amper, welche in
heller Sonne glänzte, reizte mich zu dem Versuch, die
blitzende Sonne möglichst treu zur Anschauung zu bringen.
Nach einer tonigen, malerischen Zeichnung habe ich die
Platte zu Hause geätzt, erst letztes Jahr am Bodensee be¬
nützte ich das schlechte Wetter, um die Platten auch auf
dem Lande zu ätzen, um womöglich den ersten Abdruck,
nach dem allerdings meistens wenig geschieht, nochmals
vor die Natur zu nehmen. Um recht viel Frische zu be¬
wahren , ändere ich so wenig wie möglich und lasse mir
lieber den Vorwurf des flüchtigen Arbeitens nachsagen, da
das rasche, malerische Auffassen für meine Empfindung bei
der Originalradirung die erste Bedingung sein sollte. Manches
wird wohl beim ruhigen Überlegen im Atelier solider, durch
das unruhigere Arbeiten vor der Natur aber wird die künst¬
lerische Auffassung jedenfalls lebendiger und frischer. Es
war mir vergönnt, schon verschiedenen meiner Kollegen bei
ihren Radir versuchen behilflich zu sein, auch Schüler haben
sich bei mir eingefunden, und ich werde stets bestrebt
sein, sie auf das künstlerische und rein malerische Ele¬
ment in dem mir so interessanten Kunstzweige hinzuweisen.
Wie kein anderes Material, eignet sich die Nadel dazu, eine
rein künstlerische Auffassung festzuhalten und so als Er¬
gänzung des Pinsels zu dienen. Darauf brauche ich wohl
kaum hinzuweisen, dass ich eifriges Mitglied des Münchener
Radirvereins bin, den ich mitgründen half und in dessen
Vorstand ich gewählt wurde ; das von der Dresdener Aquarell¬
ausstellung erhaltene Ehrendiplom für Zeichnungen und Ra¬
dirungen ermutigt mich, auf dem angefangenen Wege fort¬
zuschreiten.“ — Aus dem Urteil der Jury über das vor¬
liegende Blatt sei hervorgehoben, dass diese sowohl die Bild¬
wirkung desselben als auch die treflFliche Naturbeobachtung
rühmend anerkannte, und die Technik der Radirung freier
und lebendiger fand als bei den übrigen Blättern. Beson¬
deres Lob erhielten die Ferne und das Sonnige des Vorder¬
grundes.
Herausgeber; Carl von Lüttow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
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f- ,
i.-
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Kopfleiste von A. Lackner.
MAX KLINGER’S GEMÄLDE.
MIT ABBILDUNGEN.
U den neuen Erwerbungen der
Dresdener Galerie, welche den
Wänden im Oberstock dieses
Museums im Laufe der letzten
Jahre allmählich ein frischeres
Aussehen verliehen haben,
sind vier Gemälde hinzu¬
gekommen, die beweisen, dass
die Direktion es als ihre Pflicht erkennt, das
gute Neue aufzufinden. Sie bestrebt sich somit,
das Publikum zu leiten; es genügt ihr nicht, das
Lob der laienhaften Mehrzahl zu erringen, indem sie
nur allgemein gefällige Kunstware vorführt.
Als großes Staatsinstitut giebt die Galerie hier¬
durch den Talenten außerordentliche Ermutigung.
Diesmal kommt das unter anderen einem Künstler
zu gute, der .sich auf einem Gebiete schon allgemeine
Achtung erworben hat, dessen Malerei aber noch
meist verworfen wird. Max Klinger wird als Ra-
direr in Deutschland heute allgemein unter die ersten
gerechnet. Das deutsche Volk, von dessen Kunst¬
trieb die Phantasie immer den hervorragendsten Be¬
standteil bildete, kann sich verhältnismäßig schnell
in ein Kunstschaffen hineinfinden, welches von einer
so mannigfaltigen und kühnen Phantasie geleitet
wird, wie die Klinger’sche Zeichnung. Jedoch über
das Bestreben, sich in die Gedankenwelt des Künst¬
lers hineinzuleben und seine Schöpfungen zu deuten,
sind wohl wenige gelangt. Selten hört man ein
Urteil, aus welchem man erkennt, dass dem Betref¬
fenden die Schönheit Klinger’scher Kunst, sein gro߬
artiger Formensinn, seine Meisterschaft in der Be¬
handlung des Widerspiels von Licht und Schatten,
aufgegangen seien. Daher finden seine Gemälde, bei
denen es nichts zu deuten giebt, die im wesentlichen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 3.
Schöpfungen seines Auges, nicht seines Denkens
sind, weniger Anklang.
Das erste große Bild, mit dem Klinger in die
Öffentlichkeit trat, ist meines Wissens das „Paris¬
urteil“. Klinger hat zu verschiedenen Zeiten sym¬
pathische Saiten in der Antike gefunden. Einmal
sprießt in ihm wieder die Würdigung des Sinnlichen
auf. Zu Zeiten nur, als Reaktion, als Aufbäumung
gegen ungerechte Unterdrückung und lügenhafte
Askese äußert sich dieses künstlerische Element
satirisch bitter und schroff. Sodann bildet in spä¬
teren Werken die griechische Lebens- und Religions¬
philosophie den Anknüpfung,spunkt, während in
früheren Werken die Gemeinschaft nur in einem
ruhigen fröhlichen Ebenmaß der Kunstauffassung
liegt. Auch hier ist die Kunst ein friedlicher Ge¬
nuss; sie schwächt selbst den Schmerz durch- eine
Verallgemeinerung der Form ab; sie verlegt statt
in den Ausdruck des Charakteristischen das Haupt¬
gewicht der Kunstübung in die Darstellung des Ein¬
fachen und Reizenden.
Die helle freundliche Farbe, von der Pompeji’s
Reste und die Überlieferung uns sprechen, finden
wir bei Klinger wieder; ebenso das reiche Spiel
dekorativer Formgebung. Es ist erstaunlich, wie
unerschöpflich Klinger’s Phantasie sich gerade im
dekorativen Beiwerk zeigt; in den Umrahmungen
zu „Amor und Psyche“, zu den „Rettungen Ovi-
discher Opfer“. In diesen Schöpfungen ist das
Ornament rein seiner selbst willen da und steht
nicht in so bedeutungsvoller Beziehung zu dem Haupt¬
bilde, wie in den späteren Werken „Vom Tode“ u. s. w.
Eben dieses Ornament, das nur der Fülle von Formen¬
phantasie einen Spielraum verleihen will, treffen wir
im „Urteil des Paris“ an, und zwar im Rahmen.
7
50
MAX KLINGER’S GEMÄLDE.
Der Vorgang spielt sich auf einer bis an den
Vorderrand des Bildes laufenden Terrasse ab, von
welcher hinab man auf eine der entzückenden klas¬
sischen Landschaften blickt, wie sie uns so oft hei
Klinger erfreuen. (Titel zu den „Ovidischen Rettun¬
gen“, Intermezzo aus „Eine Liehe“ u. s. w.)
Den Hermes, der hinter dem links sitzenden
Paris steht, sowie die Göttinnen, welche diesem vor
die Augen treten , hat der Künstler nicht mit den
üblichen Attributen versehen. Sie stehen mit ge¬
messenen Gebärden und ruhigem Ausdruck da,
dennoch ist es dem Künstler treflFlich gelungen, die
Personen ohne Zuhilfenahme der Attribute und ohne
sie im Affekt zu zeigen, zu charakterisiren. Ein
plastischer Rahmen teilt die Leinwand in sechs Felder
ein und verbindet sich organisch mit dem Bilde.
Oben schmücken ihn kleine Köpfe neben rein deko¬
rativen Zuthaten. Unten zeigt er große plastische
Arbeiten, antike Köpfe und Figuren. Der Rahmen
ist im Einklang mit dem Bilde geschaffen und von
Klinger’s eigener Hand modellirt. — —
Im .Jahre 1888 ließen aber Klinger’s gemalte
Leinwand und modellirter Rahmen das Publikum
kalt. Er hatte es wohl zunächst kaum anders er¬
wartet, und ich bezweifle, dass ihm damit eine
lierhe Enttäuschung widerfahren.
Wer uns das Elend vorführen will, der muss
eigenes erlitten haben. Wunderbar lernt die Seele
am eigenen Leiden ein Verständnis für fremden
Schmerz. So möchte man fast jedem Künstler, von
dem wir ergriffen werden wollen, ein volles Maß
von Unglück wünschen. Und in der That, wer geht
liier leer aus? Wem sind Jiittere Verkennung und
Erittäuscliung erspart worden? Wie wenige große
Künstler haben nicht die lähmendste Sorge, die Angst
um das tägliche Brot empfunden! Wer nun wie unser
K ünst 1er nach solch cliarakterbildender Erfalirung sich
in der glücklichen l^age befindet, das, was schwere
Lehrjahre in ihm herangeVhldet haben, in künstler¬
ische l•'orm umzusetzen , ohne Furcht vor weiterer
Not, der ist zu Vieneiden. Kr kann seinen festen Weg
.schreiten und warten, bis das Publikum ihm folgt.
Gleich in dem nächsten großen Bilde, welches
zur Ausstellung gelangte, zeigte Klinger, dass er
auf nichts Rücksicht nimmt, als auf sein künstle¬
risches Ziel, dass er dem Ihihlikum keine thörichten
Zugeständni.sse zu maclien gesonnen ist.
Die große „Kreuzigung“ ') wurde drei Tage lang
1) Über ein Dutzend Studienblätter dazu besitzt das
Dresdener Kupferstiebkabinett, diejenige Sannnlung, welche
in München auf persönliche Einladung gezeigt:
öffentlich durfte sie nur einen Tag ausgestellt bleiben.
Was in jeder Skulpturensammlung geduldet wird,
ward gemalt — verboten; und obwohl alle geschicht¬
liche Forschung Klinger’s Auffassung der Begeben¬
heit rechtfertigt, so musste das Bild doch mit einem
Vorhang halb verdeckt werden!
In den Werken ühde’s haben wir den überaus
gelungenen Versuch einer modernen Auffassung der
religiösen Kunst kennen lernen. Die ewigen Wahr¬
heiten sowie die einmaligen Begebenheiten hat uns
dieser Künstler näher zu bringen gesucht, indem
er sie uns in Umgebungen und in Trachten vor¬
führt, die uns allgemein verständlich sind. Es ist
eine echte Kunst für das Volk, die gewissermaßen
den Kommentar, den geschichtlichen Apparat für
überflüssig hält, die der Bibel das zufällige Gewand
abstreift und ihr dafür das entsprechende von heute
verleiht. Der geringste Mann kann deshalb die
Wahrheiten, das Dauernde ohne weiteres daraus
nachempfinden.
Neben dieser volkstümlichen Erneuerung der
christlichen Kunst möchte ich die Klinger’s bezeichnen
als eine Erneuerung für die oberen Zehntausend der
gebildeten Kreise. Sie will uns die christliche Ge¬
schichte nicht vergegenwärtigen durch Anpassung
der äußerlichen Merkmale, sondern setzt die seeli¬
schen Leiden der biblischen Personen um in die
seelischen Leiden des modernen Menschen, wie sie
mittels Gebärden, Gesichtsform und Gesichtsausdruck
gekennzeichnet werden können. Wer sich seihst
einmal in die biblischen Gestalten vertieft hat, wem
es gelungen ist, sich mittels der schriftlichen Über¬
lieferung in das Seelenleben dieser oder jener Person
zu versenken, der allein kann Klinger folgen. Er
versucht nicht, uns in die alte Geschichte zu ver¬
setzen, er versetzt die alte Geschichte in uns. Seine
Menschen sind Kinder der Gegenwart, so wie sie
sich verhalten würden, wären ihnen — an denen zwei
.Jahrtausende gearbeitet haben — jetzt plötzlich die
Begebenheiten des neuen Testamentes widerfahren.
Die Magdalena jammerte um den Tod des Retters:
heute schreit in ihr der Schmerz des Sinnesmenschen
um den Tod der Schönheit. Die Maria erstickte im
Schluclizen über den Untergang all ihres Höffens:
das radii'te Werk Klinger’s am vollständigsten aufzuweisen
hat. Wir reproduziren zwei davon. Der Fleiß und das
Können, welche in diesen Studien stecken, haben manchem
die Augen geöffnet, der auf Grund einer oder der anderen
willkürlichen Verzeichnung in Klinger’s Radirungen an des
Künstlers Fähigkeiten zweifelte.
MAX KLINGER’S GEMÄLDE.
51
heute verzweifelt sie stumm vom Alp der ungelösten
Zukunft bedrückt. Christus blickte zum Himmel
empor, zum Ende seiner Leiden. Heute blickt er
auf sie zurück und aus seinen Augen leuchtet der
frohe Trotz des sterbenden Siegers, in seinem Blick
birgt sich das Mitleid für die wenigen, die trotz
des guten Willens nicht mit ihm ziehen können.
Das Bild ist, was die rein äußerliche Mal¬
technik anbelangt, vielleicht weniger vollkommen
als die anderen des Meisters: eine teilweise Verände¬
rung der Farbenskala wird auch jetzt von ihm be¬
absichtigt. In der Komposition begegnet uns die
nämliche Anordnung auf einer Terrasse im Vorder¬
gründe, wie in dem Urteil des Paris. Die Haupt¬
sache bleibt dabei, dass der Künstler versucht hat,
das große Thema endlich wieder einmal groß zu
behandeln, ohne Rücksicht auf das, was in sämt-
hchen geschriebenen und ungeschriebenen Sitten¬
codices der Welt steht, ohne Beachtung theoretischer
Überlieferung, rein und allein mit dem Zweck, eines
Künstlers Empfinden ganz zu Tage zu bringen.
Eine Beschreibung der figurenreichen „Kreu¬
zigung“ unterlasse ich, um noch ein Wort über den
Johannes zu sagen, der auch in der „Pieta“ wieder¬
kehrt. Oben betonte ich, dass Klinger in drei sonst
geschiedenen Künsten heimisch ist, in der Malerei,
der Bildhauer- und Radirkunst. Doch dringt sein
künstlerisches Empfinden selbst über das weite Be¬
reich dieser drei Künste hinaus. Für ihn redet auch
die Musik eine anregende Sprache. Wie Farbe und
Form ihm ihre Geheimnisse gleich einem Wort¬
gedicht erschließen, so erweckt auch die Verbindung
von Tönen in ihm Empfindungen und Gedanken,
so stark wie das Wort. Und wie bei allen musika¬
lischen Menschen die Phantasie immer von einer
Kunst in die andere spielt, sich die Legende einer
Kunst in der anderen fertig erzählt, so setzt sich
bei ihm oft die Einwirkung einer Kunst in das
Schaffen einer anderen um. Schon äußere Zeichen
bekunden seine Beziehungen zur Musik. Dem An¬
denken Schumann’s sind die Rettungen gewidmet.
Seiner Verehrimg für Brahms verlieh er Ausdruck
durch die Widmung der Folge „Amor und Psyche“,
und dadurch, dass er Titelblätter zu Brahms’ Liedern
verfertigte. Im Atelier neben dem Klavier liegen
Wagner’s Musikdramen. Endlich wird sein neuestes
Werk eine Folge von radirten Stimmungsbildern
zu Brahms’ „Schicksalslied“ sein. Doch noch weit
tiefere Beziehungen weist seine Kunst auf. Als
Klinger sich das Leben und das Werk einer der
Hauptfiguren der Bibel vorführte, um sich zu ver¬
gegenwärtigen, wie der Mann, der solches leistete,
wohl ausgesehen haben möchte, da klang es ihm
von der Musik herüber. Ein Beethoven, so schien
es ihm, hätte er in Worten statt in Tönen ge¬
schrieben, würde die Offenbarung Johannis haben
schreiben können, ünd so wurde des Musikers
Totenmaske Modell für den Evangelisten. — —
Klinger’s „Pieta“ war auf der großen Berliner
Ausstellung eigentlich das einzig monumentale. Nur
bei diesem Bilde hatte man die Empfindung, dass
es in der Darstellung eines einzelnen Ereignisses
ein Stück immer wiederkehrender Erfahrung des
menschlichen Seelenlebens symbolisirt. Ohne stören¬
des Beiwerk treten uns die drei Faktoren einer jeden
großen historischen Krise entgegen, der Tod, das
Mitleid und die Hoffnung, die Anknüpfung an das
neue Leben. Christi Leichnam hat der Künstler
kräftig und schön gebildet, ohne herbe Spuren der
Marter, das neue Prinzip ist stolz und in Schönheit
untergegangen. Maria, der leidende Teil, der im
Handeln so ohnmächtig ist und trotzdem den
Schmerz so stark empfindet, ist bis zu dem Grade
des Kummers gelangt, wo die Thränen versiegen
und ein trockenes Schluchzen keine Erleichterung
mehr verleiht. Johannes endlich, der ihr Trost zu
spenden sucht, ist der Phönix, der aus dieser Asche
steigt. Sein ist die Aufgabe, das aufzunehmen, was der
große Held vor ihm so weit geführt hat. In seinem
Blicke liegt das Sinnen, die Arbeit der Zukunft.
Vornehmheit und erhabene Ruhe kennzeichnen
das Bild. Es wirkt einzig durch die Situation, ihm
fehlt alle erzählende und ablenkende Beigabe. Ruhe
und Einfachheit kennzeichnen auch die malerische
Behandlung. Es ist im freien Licht gemalt; kein
kräftiger Schlagschatten lenkt die Aufmerksamkeit
auf die etwaige Virtuosität der Technik ab. Die
Farbengebung ist hell, und alle einzelnen Partieen
sind sorgfältig abgetönt zu einer ruhig-matten Har¬
monie, die der Einfachheit in der Auffassung des
Bildes gleichkommt.
In dieser monumentalen Größe empfinden wir
eine Übereinstimmung mit der Frühkunst des Landes,
in dem die „Pieta“ entstanden ist. Die Komposition
ist aus derselben Stimmung hervorgegangen wie
die der italienischen Quattrocentisten. Malen die
Künstler heute meist erst den Raum, die Landschaft
und setzen hierein ihre Figuren, so malt Klinger
in der „Pieta“ gleich den alten Italienern erst die
Hauptfiguren. Diese sind ganz im Vordergründe,
nur bis zu den Knieen zu sehen. Die Landschaft
hat an und für sich kein selbständiges Leben, son-
7*
Max Klinoer: Studien zur Kreuzigung.
^^AX Klinger; Studien zur Kreuzigung-.
54
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S
dem dient nur dazu, die Figuren sich abheben zu
lassen, und spiegelt deren Stimmung wieder. Ein
verwandtes Stilgefühl lässt Klinger den eigentlichen
Mittelgrund durch eine niedrige weiße Mauer er¬
setzen, wie die Alten es oft durch Teppiche und
Mauern thaten. Von der nun ganz in die Ferne ge¬
rückten Landschaft heben sich die Figuren klar ab.
Dieser Hintergrund lässt vermöge seiner Entfernung
keine ablenkende Behandlung der Einzelheiten zu,
sondern bildet in der Farbe und in den Linien nur
die Ergänzung zu dem dargestellten Vorgänge.
HANS W. SINOER.
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S.
VON DR. ALFRED KIRSTETN.
MIT LICHTDRÜCKBILD.
lE von Raffael in seiner letzten
Schöpfung, der „Transfigu¬
ration (Verklärung) Christi“,
dargestellte Idee ist in einem
der wesentlichsten Punkte
ihres Gehaltes bisher von
sämtlichen Autoren, die sich
mit ihr beschäftigt haben,
verkannt worden. Goethe giebt in der Italienischen
Reise (Bericht vom Dezember 1787) folgende Er¬
klärung des Inhaltes: „ln Abwesenheit des Herrn
stellen trostlose Eltern einen besessenen Knaben den
.Jüngern des Heiligen dar; sie mögen schon Ver¬
suche gemacht haben, den Geist zu bannen; mau
liat sogar ein Buch aufgeschlagen, um zu forschen,
ob nicht etwa eine überlieferte Formel gegen dieses
Übel wirksam könne gefunden werden; aber ver-
geliens. In diesem Augenblicke erscheint der einzig
Kräftige und zwar verklärt, anerkannt von seinen
großen V'orfahren, eilig deutet mau hinauf nach
solclier Vision, als der einzigen Quelle des Heils.“
Goethe jiimmt also an, dass die vor dem besessenen
Knaljen stehenden Apostel in dem dargestellten Mo¬
mente von der mit Moses und Elias in der Luft
.schwebenden Gestalt des verklärten Heilandes Kennt¬
nis haben, sich aber nicht bewogen fühlen, von
diesem den Lauf der Natur durchbrechenden Phä¬
nomen selbst irgendwie Notiz zu nehmen (kehren
sie ilim doch fast alle achtlos den Rücken zu!), son¬
dern das beinahe über ihren Häupten sich ereig¬
nende Wunder nur als ein zur rechten Zeit sich
einstellendes Mittel zur Heilung des Besessenen
Motto :
,,Er hat, wie die Natur, jederzeit Recht. ‘
(Goethe über Raffael.)
gerne in Benutzung ziehen. Die Unrichtigkeit dieser
Annahme liegt auf der Hand: wenn den vor dem
Knaben versammelten neun Jüngern, ja wenn nur
einem einzigen derselben etwas von dem Transfigu¬
rationswunder zur Wahrnehmung gelangt wäre, so
müsste von solcher Wahrnehmung eine psychische
Erschütterung von noch nie gefühlter Gewalt blitz¬
artig in die untere Gruppe einschlagen; den von der
Verklärung des Meisters (gleich ihren drei Genossen
auf dem Hügel) überwältigten Jüngern verginge
unter dem Banne der Heilandserscheinung sofort
die Fähigkeit, dem besessenen Knaben noch irgend
welche Aufmerksamkeit zu schenken, — während
doch auf dem Bilde sich gerade ihr ganzes Interesse
auf den Kranken konzentrirt.
Goethe ist hier von der richtigen Erkenntnis
abgeirrt; von der soeben vollzogenen Verklärung
Christi, als einer Thatsache, ist den unten stehenden
Jüngern nicht das mindeste bewusst, — das lehrt
der erste Blick auf das Bild, und mehrere neuere
Autoren erkennen dies auch an. Dass aber die
wunderbare Lufterscheinung den Jüngern nicht zur
Wahrnehmung gelangt, obwohl die räumliche Dis¬
position des Bildes offenbar mit allem Fleiße danach
eingerichtet ist, dass sie dieselbe von ihrem Stand¬
punkte aus bequem erblicken könnten und bei der
Auffälligkeit des Phänomens erblicken müssten, —
das ist das eigentlich Frappante, das in hohem Grade
Erstaunliche an der im Transfigurationsbilde von
Raffael fixirten Situation. Unsere Verwunderung
über dieses Nichtsehen der Jünger muss vollends
die höchste Stufe erreichen, wenn wir mit Veit
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S.
55
Valentin^) erkennen, dass sie sogar ganz nachdrück-
licli und in lebendigster Weise mit Gebärden und
Geschrei auf die Heilandserscheinung hingewiesen
werden, nämlich durch den besessenen Knaben,
welcher vermöge der Kraft des ihm innewohnenden
Teufels die Verklärung sieht und in der eben an¬
gedeuteten Weise kundgiebt. Man denke sich in
den Vorgang hinein: die allererste Wirkung dieser
Kundgebung muss bei den Jüngern, nach der Be¬
schaffenheit der menschlichen Natur, doch unbedingt
die gewesen sein, dass sie instinktiv mit den Augen
der aufwärts weisenden Handbewegung des Knaben
zu der Erscheinung hin gefolgt sind. 2) Wenn dessen¬
ungeachtet aus dem leidenschaftlich erstaunten Ge¬
baren der Jünger keine weitere Beziehung zu der
oberen Aktion zu entnehmen ist als die durch die
ausgestreckte Linke des hochaufgerichteten Mannes
charakterisirte Frage: „Dort oben, wohin du zeigst,
sollen Dinge vor sich gehen, deren Kraft dich plötz-
hch so wunderbar beeinflusst?“ bei völliger Ignori-
rung dessen, was dort oben wirldich vor sich geht,
so müssen zweifellos die Jünger sich bereits davon
überzeugt haben, dass es dort oben für sie nichts
zu sehen giebt! Dieser für das zu erstrebende Ver¬
ständnis des Bildes grundlegende Schluss ist kein
erklügelter oder auf weiten Wegen abgeleiteter, son¬
dern einem jeden, der einmal an das Bild ganz un¬
befangen mit offenen Augen herangetreten wäre,
hätte bei dem ersten Versuch, das Ganze einheitlich
zu erfassen, die von Raffael zu drastischer Dar¬
stellung gebrachte Blindheit der unten stehenden
Jünger für den Verklärungsvorgang als derjenige
Zug imponiren müssen, der sogleich die tiefste
menschliche Teilnahme für diese offenbar mit einem
eigentümlichen Defekt behafteten Personen wach¬
ruft. Indessen scheint es, dass diese thatsächliche
Beobachtung zu einfach und zu naheliegend ist, als
dass schon jemand auf dieselbe hätte verfallen sollen.
Das Verständnis des Raffaerschen Bildes musste
sämtlichen älteren Autoren versperrt bleiben, weil sie
1) Über Kunst, Künstler und Kunstwerke. Frankfurt
a. M. 1889, S. 248fi. : Raffael’s Transfiguration.
2) Goethe’s unrichtige Erklärung setzt übrigens ebenfalls
ein dem abgebildeten Momente vorhergehendes Um- und
Aufschauen der Jünger voraus.
3) Streng genommen braucht die obige Darstellung weder
für den einen Apostel zu gelten , der soeben erst durch das
Geschrei aus der Lektüre aufgeschreckt zu sein scheint, noch
für die beiden am fernsten stehenden, die das Gebaren des
Knaben vielleicht nicht genau beobachten konnten und jetzt
1) das Verhältnis des Besessenen zu der schweben¬
den Christusgruppe,
2) das Verhältnis des Besessenen zu den vor ihm
versammelten Aposteln und umgekehrt,
3) das Verhältnis dieser unten stehenden neun
Apostel zu Christo, dem Verklärten,
gründlich verkannt haben. Die erste dieser drei
Fundamentalfragen hat Valentin (a. a. 0.) glänzend ge¬
löst, für die Lösung der zweiten Frage hat er eben¬
falls den wesentlichsten Schritt gethan, die Lösung
der dritten und schwierigsten Frage gedenke ich in
der vorliegenden Arbeit zu liefeim, indem ich über
den von mir in der Einleitung aufgedeckten, den
neun Aposteln anhaftenden sonderbaren Defekt volle
Klarheit verbreiten werde.
Valentin’s Aufsatz gebührt der Ruhm, in den
Wall von Missverständnissen Bresche gelegt zu haben,
die durch die ästhetische Arbeit vieler Geschlechter
sich zwischen dem Werke und dem schlichten Men¬
schenverstand aufgehäuft hatten, von Buch zu Buch
(„wie eine alte Krankheit“) sich forterbend. Erst
durch die von Valentin gewonnene Einsicht in die
Rolle des Besessenen als derjenigen Person der
unteren Gruppe, welche die Verkläruiig wahrnimmt
und (durch körperliche und psychische Symptome)
kundgiebt, ist die in den lebhaftesten Gestikulationen
sich Luft machende Erregung der Jünger begreif¬
lich geworden, da sie eben durch jene im höchsten
Grade überraschende Kundgebung erzeugt worden
ist. Mit Recht weist Valentin darauf hin, dass die
Besessenheit als solche, als Krankheit, keinen so
starken Eindruck auf die Jünger machen konnte,
da sie ihnen ein ziemlich alltägliches Vorkommnis
war; sie hatten sogar schon die Approbation zur
erst durch einen nacb oben deutenden (dem Beschauer die
Hinterseite des Kopfes zukehrenden) Genossen die Neuigkeit
erfahren. Aber wir dürfen getrost voraussetzen, dass diese
drei, falls sie noch aufschauen sollten, nicht mehr sehen
werden als die sechs anderen gesehen haben, sonst wäre ja
im nächsten Momente eine totale Umwälzung der im Bilde
dargestellten Verhältnisse unvermeidlich, — eine Eventua¬
lität, für welche doch das Bild selbst nicht den mindesten
Anhalt darbietet.
1) Der mit dem rechten Arm direkt auf den Kranken
weisende Apostel macht seinen Nachbarn zur Rechten (den Alten
mit dem durchfurchten Antlitz) speziell auf die plötzliche
Veränderung der objektiven Krankheitssymptome aufmerk¬
sam (vgl. weiter unten die Analyse der krankhaften Erschei¬
nungen) ; die beiden Mittelfiguren (der sich vorbeugende
Jüngling und der zu seiner Linken am Boden hockende
ältere Mann) drücken ein mit Grauen gemischtes Erstaunen
aus, welches wohl in gleichem Maße den körperlichen Ver¬
änderungen wie der (scheinbar gegenstandslosen, hallucina-
torischen) Bekundung einer Einwirkung von oben gilt.
56
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL'S.
Teufelsaustreibung erlangt (Ev. Matth. 10, 1 und 8),
wenn auch die beständige Anwesenheit des Meisters
ihnen zu selbständigen Kuren vielleicht noch keine
Gelegenheit gegeben hatte, Valentin hätte hinzu¬
fügen können, dass gerade die auffällige Erregung
der Jünger den greifbaren Gegenbeweis gegen die
allgemein verbreitete Annahme liefert, sie seien in
dem dargestellten Momente noch in Versuchen und
Überlegungen zur Heilung des Kranken begriffen:
weder einem Arzte noch einem, der sich als Arzt
aufspielt , entlockt der Anblick nervöser Anfälle
jemals Äußerungen eines so unverhüllten Erstaunens,
welche das Vertrauen des anwesenden Laienpubli¬
kums auf eine allzu gefährliche Probe stellen müssten.
Man kann den Aposteln ruhig nachsagen, dass sie
aus ihrer Heilkünstlerrolle jäh herausgefallen sind,
und zwar aus Schreck über die unheimliche Über¬
raschung, die sie soeben an ihrem Patienten erlebt
haben (vgl. weiter unten die Analyse des Besessenen).
Hinsichtlich der zwischen den Aposteln und
dem Besessenen herrschenden gegenseitigen Bezie¬
hungen bedarf die im allgemeinen richtige Dar¬
stellung Valentin’s doch noch einiger nicht ganz
gleichgültiger Korrekturen. Er stellt sich vor, dass
die Kundgebung des Knaben in einer ausdrücklichen,
den Apo.steln voll verständlichen Verkündigung der
Verklärung Christi bestünde. Hiermit schießt unser
Autor wohl über sein Ziel hinaus, wenigstens giebt
das Bild in diesem Punkte keinen weitergehenden
Anhalt, als dass der Knabe durch lautes Geschrei
und Hindeuten mit dem rechten Arm anzeigt, dass
dort oben in der Luft etwas sehr Merkwürdiges und
Aufregendes sich ereignet. Indessen will ich mich
einmal absichtlich für einen Moment der Ansicht
\'alentin’.s anbequemen, will also den Fall setzen,
da.ss der Knabe den Aposteln deutlich zuschreit:
..Dort oben schwebt Christus in verklärtem Zustande!“
— dann bleibt es doch noch sehr verwunderlich,
wie sich Valentin die Wirkung dieser Offenbarung
des Knaben auf die Apo.stel vorstellt. Er meint
nämlich, die letzteren seien wenig geneigt, der er¬
staunlichen .Mitteilung des Krampfkranken Glauben
zu schenken! Aber wer sollte den ernsten Männern
aucli eine solche kindische Leichtgläubigkeit Zu¬
trauen? Wie kann denn ül)erhaupt nur die Mög¬
lichkeit diskutirt Averden, dass vernünftige Menschen
einem, nervös zerrütteten Individuum eine so weit
außer aller Erfahrung liegende Behauptung einfach
„glauben“ sollten, noch dazu, wenn den Betreffenden
die Gelegenheit zur Kontrolle so bequem geboten
ist Avie hier? N’ollends undenkbar ist Valentin’s Aus¬
spruch: zwei der Apostel (einer davon „ruhig prü¬
fend“) „überlegen, ob das“ (was der Besessene ver¬
kündet, also die Verklärung Christi) „wohl wahr
sei.“ Darüber, ob oben in der Luft der verklärte
Christus schwebt oder nicht, stellt man in der Lage
der Jünger keine ruhig prüfende Überlegung an,
sondern man dreht sich um und sieht nach; das
haben die Jünger selbstverständlich gethan und haben
sich (unter dem Banne des ihnen anhaftenden eigen¬
artigen Defektes) davon überzeugt, dass an der Ver¬
kündigung des Knaben kein wahres Wort ist, und
nunmehr stehen sie hocherstaunt und ratlos vor
dem beunruhigenden Phänomen einer Wirkung ohne
Ursache, —
Aber weshalb sehen denn die Apostel den Trans¬
figurationsvorgang nicht? Was ist denn das für ein
sonderbarer Defekt, der ihren Gesichtssinn stumpf
macht gegen die Überfülle himmlischen Lichtes, vor
dessen Glanze ihre drei Genossen auf dem Hügel
geblendet zusammengesunken sind? — Das ist die
Frage , mit deren Beantwortung ich den so lange
gesuchten Schlüssel zum vollen Verständnis der
Transfiguration Raffael’s darzubieten gedenke. Be¬
vor ich mich jedoch diesem Hauptteil meiner Unter¬
suchung zuwende, halte ich es für geboten, dem
Meister Raffael den Lehrbeitrag zur Ästhetik des
Hässlichen abzulauschen, welchen er uns, praktisch
angewandt, in der Gestalt des besessenen Knaben
hinterlassen hat, — ein Unternehmen, welches Herr
Professor Dr. Leichtenstern , Oberarzt des Bürger-
hospitales in Köln, durch seinen Beirat zu fördern
die Güte hatte, wofür ich dem hochverehrten Manne
an dieser Stelle meinen ergebensten Dank abstatte.
Unter „Besessenheit“ (von einem bösen Geist)
mögen die Autoren des neuen Testamentes die ge¬
wöhnliche Epilepsie (Fallsucht, morbus sacer) ver¬
standen haben, deren Symptome sich Ev. Marci 9,
17 — 27 recht anschaulich geschildert finden. Dem
gegenüber bedarf es der ausdrücklichen Feststellung,
dass der Besessene bei Raffael mit aller Sicherheit
kein Epileptiker ist, dass derselbe vielmehr die
typischen Merkmale des epileptischen Anfalles
durchaus vermissen lässt. Wollte man dieser Ge¬
stalt einen Platz in dem System der nervösen Er¬
krankungen an weisen, so ließe sie sich nur bei der
Hvsteria major unterbringen, deren wechselvolle Er¬
scheinungen namentlich durch Cliarcot’s ') Schilde-
1) Charcot, Lecjons sur les maladies du systerae nerveux.
Tome I. Paris 1886. — Den Namen „Hysteria major" setzt
Die Transfiguration von Raffael.
Nach einer Photographie von Aionari in Florenz.
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S.
57
rungen jetzt genauer bekannt geworden sind. Man
könnte das ganze Gebaren des Knaben sehr wohl
als hysterisch (speziell in der forme demoniaque) ')
bezeichnen, und der für Hysterie charakteristische
isolirte Krampf einer Extremität (der linken oberen)
würde diese Diagnose unterstützen. Allerdings
dürfte ein so extrem starkes Auseinandertreten der
Augenachsen (Strabismus divergens) im hysterischen
Anfalle für gewöhnlich nicht zur Beobachtung ge¬
langen, oder doch nur als momentanes Durchgangs¬
stadium stürmisch rollender Augenbewegungen, wäh¬
rend die ganze Attitüde bei Raffael mehr an ein
Feststehen im Krampfe (für einen gewissen kurzen
Zeitabschnitt) denken lässt. Immerhin wird sich,
bei Berücksichtigung der außerordentlichen Mannig¬
faltigkeit des hysterischen Symptomenkomplexes,
gegen die Glaubwürdigkeit eines Körperzustandes
wie des hier im Bilde dargestellten im hysterischen
Anfalle kein stichhaltiger Einwand erheben lassen,
und somit wäre die Frage vom kritischen Stand¬
punkte der klinischen Medizin erledigt.
Indessen sind wir mit dieser einseitigen Be¬
trachtung unserem Ziele, die dichterische Idee
zu ergründen, noch nicht sichtlich näher ge¬
rückt; gerade Raffael ist wohl der letzte dazu,
sich an einer bloßen virtuosen Kopie eines (etwa in
einem Hospitale beobachteten) interessanten Krank¬
heitsfalles gütlich zu thun. Wenn er sich dazu ent¬
schließt, der Nachtseite des natürlichen Lebens eine
solche Schreckensgestalt zu entlehnen, so geschieht
das nicht um ihrer selbst willen, sondern sie dient
ihm, dem Meister, als ein höchst eigenartige.s, sich
organisch in das Ganze einfügendes Mittel, um die
ihm bei der Komposition seines letzten Bildes vor¬
schwebende erhabene Idee verwirklichen zu helfen.
Deswegen (nicht, wie man wohl in Geltendmachung
eines willkürlichen Geschmacksurteiles gemeint hat,
wegen abstoßenderer Grässlichkeit des Anblickes an
sich) konnte er keinen gewöhnlichen Epileptiker
brauchen, denn der typische epileptische Anfall
kann zwar gelegentlich durch von außen kommende
Einwirkungen ausgelöst werden, in dem Ablaufe
seiner Symptome jedoch ist er einzig und allein be¬
dingt durch den Zustand des Nervensystemes des
Patienten: der zureichende Grund für die bekannten
Charcot an die Stelle der vielfach gebräuchlichen, aber
leicht misszuverstehenden Bezeichnung „Hystero-Epilepsie“
— „pour eviter toute confusion“ (S. 435).
1) Vgl. Charcot a. a. 0. S. 446; ferner S. .842 die Geschichte
einer demoniaque (possedee) mit drei höchst interessanten
Abbildungen (Fig. 19 — 21).
Zeitschrift für bildende Kunst, N. P. V. IT. 3.
krampfhaften Erscheinungen am Körper des Epilep¬
tikers liegt ganz und gar in dem Kranken selbst,
in seinem abnorm beschaffenen Gehirn. Ein Epilep¬
tiker an der Stelle des Hysterikers würde demnach
jeder notwendigen Beziehung zu der Gesamtheit des
dargestellten Vorganges bar sein, die Verzerrungen
seines Körpers wären, vom Standpunkte der beson¬
deren Idee des Bildes, zwecklos, sinnlos, bedeutungs¬
los, gewissermaßen zufällig, und eben um ihrer
Sinnlosigkeit willen abscheulich und an diesem
Platze (zu Füßen des verklärten Christus) schlechter¬
dings unwürdig. Hier bewährt nun Raffael in der
Bewältigung des sprödesten Stoffes seine unvergleich¬
liche kompositorische Meisterschaft. Er versteht die
Besessenheit, dem von der Natur gegebenen Vor¬
bilde der Hysterie (bewusst oder unbewusst, jeden¬
falls mit der Treffsicherheit des Genies!) folgend,
einfach als Disposition zu allerhand krampfhaften
Zusammenziehungen der Muskulatur. Welche Mus¬
keln dem Krampfe anheimfallen — das bestimmt
sich, auf der Basis dieser Disposition, mit logischer
Konsequenz ganz und gar durch die den Kranken
treffenden genau definirbareu Eindrücke. Der dämo¬
nisch begabte ^) Knabe , welcher (im Gegensätze zu
den Opfern epileptischer Anfälle) seines ungetrübten
(oder nur leicht getrübten) Bewusstseins mächtig
ist, erblickt den verklärten Christus; naturgemäß er¬
hebt er über solchen unerhört wunderbaren Anblick
ein furchtbares Geschrei und weist mit dem frei
und willkürlich erhobenen rechten Arm, unter allen
Zeichen der äußersten Aufregung, auf die in der
Luft schwebende Erscheinung. Der in dem Knaben
sitzende Teufel aber, entsetzt über die Verklärung
seines Überwinders Christus, flüchtet sich eiligst in
der dem Heiland abgewandten Richtung^); schon
hat er nur noch in dem nach abwärts gerichteten
linken Arm eine Stätte (die Muskeln desselben sind
krampfhaft gespannt!), um auch diese alsbald zu
verlassen und aus den Spitzen der stark gespreizten
Finger, wie ein entströmendes Fluidum, auszufahren
(die geballte Faust des Epileptikers wäre dieser Vor¬
stellung des „Ausfahrens“ ganz ungünstig). Der
Knabe drängt, im richtigen Gefühle der sich an ihm
1) Der volkstümlichen Bezeichnung von Krämpfen als
„Begabung“ bin ich am Rheine begegnet.
2) Faustfreuncle werden sich hier gern des altbekannten,
auf die gloriose Erscheinung Christi bezüglichen Mephisto-
pheles-Paralipomenons erinnern :
Nein! diesmal gilt kein Weilen und kein Bleiben:
Der Reichsverweser herrscht vom Thron;
Ihn und die Seinen kenn’ ich schon,
Sie wissen mich, wie ich die Ratten, zu vertreiben.
8
5S
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S.
Tollziehendeu Heilung, mit aller Gewalt dem vollen
Anblicke seines Erlösers zu, der Satan aber, der
noch am linken Arme eine Handhabe hat, sucht mit
letztem Kraftaufwande sein Opfer festzuhalten und
dem himmlischen Einflüsse zu entwinden. Aus
diesem zwiespältigen Impulse erklärt sich die ver¬
zerrte Körperhaltung des Knaben bis in alle Einzel¬
heiten ohne Rest: die spiralige Drehung des Ober¬
körpers nach links, der Schrägstand des Schulter¬
gürtels, die Zurückwerfung der Brust und des Kopfes,
welche ihn in Gefahr bringt, seinen Schwerpunkt
zu verlieren, und den stützenden Vater arg bedrängt
(ein Epileptiker könnte in dieser Weise, fest auf
seinen Füßen stehend, überhaupt nicht aufrecht er¬
halten werden). Über das rechte Auge hat der wie
mit gleichnamig magnetischer Kraft von Christus
abcrestoßene Teufel die Macht bereits verloren, es
o
ist gänzlich dem Heilande zugewandt, das linke
Auge reißt der böse Geist in grässlicher Verzerrung
soweit als möglich auf seine Seite herüber. So ist
der Strabismus divergens (das Auswärtsschielen) das
wirkuugsvollste, dabei streng logische Ausdrucks-
mittel für den an dem Körper des Knaben sich voll¬
ziehenden Kampf der himmlischen mit der höllischen
Macht, dessen Ausgang aus der soeben gewürdigten
Haltung der linken oberen Extremität mit zweifei-
loser Sicherheit vorherzusehen ist.
Nunmehr begreifen wir in klarster Erfassung
aller Einzelheiten das, was Valentin in allgemeine¬
ren Zügen bereits richtig erkannt hat, nämlich die
mit allerhand Scheingründen so oft bestrittene Ein¬
heit der Handlung des Bildes (die etwas durchaus
anderes ist, als die seit Goethe ziemlich allgemein
anerkannte Einheit der Wirkung): die gesamte Be¬
wegung, oben und unten, geht ganz ausschließlich
von einem einzigen Anstoße aus, nämlich von der
Erscheinung des verklärten Christus; diese ist es,
welche den besessenen Knaben zu seinen jetzt ganz
verständlich gewordenen und als notwendig ') begrif¬
fenen Verzerrungen sowie zum lauten Schreien ver-
anla.sst, und dieses Gebaren des Knaben bringt
wiederum (als Reflex der J leilandserscheinung) die
Bewegung der ilin umstehenden Personen mit Not¬
wendigkeit hervor. Die Eigenart des um den Kna¬
ben herum sich entwickelnden reich bewegten
1) Für (len, der die Notwendif^keit durchschaut, verliert
die Frage, „oh schön? oh hässlich?“, ihr (jewicht; das Not¬
wendige steht gleichsam ,jienseits von Schön und Hässlich“;
gerade die erhahen.sten Kunstzwecke konnten, wie hier so
anderwärts häutig, nur durch die verwegensten Knnstinittel
verwirklicht werden, — „so ist’snach Meister- Weis’ und Art.“
Lebens beruht nun darin, dass das ihn begleitende
Volk, seine Aufmerksamkeit den Aposteln zuwen¬
dend, wohl einen neuen Ausbruch der Krankheit be¬
merkt, nicht aber den exceptioneUen Charakter dieses
Anfalles, während die um Hilfe angegangenen
Jünger wohl erkennen, dass der Knabe durch irgend
ein Phänomen, welches er oben, in der Luft, zu
schauen vermeint, seelisch und leiblich aufs heftigste
beeinflusst wird, dieses Phänomen nun aber auch ihrer¬
seits wirklich wahrzunehmen gänzlich unvermögend
sind. Somit sind wir definitiv zu dem Hauptgegen-
stande unserer Untersuchung zurückgekehrt, näm¬
lich zu der psychischen Unfähigkeit der neun Jünger,
die schwebende Gruppe des verklärten Christus und
der Propheten (auch bei direktem Hinschauen auf
dieselbe) optisch zu perzipiren.
Die Thatsache, dass eine Erscheinung von
einzelnen Personen gesehen wird, von anderen, die
sich ebenfalls in Sehweite befinden, nicht, steht im
Bereiche der Kunst nicht ohne Beispiel da. Der
Geist des alten Hamlet erscheint im Schlafzimmer,
der Sohn sieht ihn, entsetzt sich über ihn, hält
Zwiesprache mit ihm ; für alles dieses ist die daneben
stehende Königin blind und taub.
Die von der Königin geäußerte Vermutung
,dies ist bloß Eures Hirnes Ausgeburt“ ist irrtüm¬
lich, der Geist ist keine bloße Vision, sondern eine
objektiv wahrnehmbare Person; Horatio, Bernardo
und Marcellus haben ihn ja ebenfalls gesehen. Der
Geist unterscheidet sich von einer lebendigen, ma¬
teriellen Person dadurch, dass letztere von einem
jeden Menschen, der gesunde Sehwerkzeuge hat und
aus der Nähe aufmerksam den Blick auf sie richtet,
gesehen werden muss, während der Geist unter den
gedachten Umständen gesehen werden kann, aber
nicht gesehen zu werden braucht. Ob einer, der
nach dem Geiste hinschaut, ihn erblickt oder nicht,
hängt von der Beschaffenheit des Schauenden ab;
es gehört anscheinend zum Geistersehen mehr als
die Funktionstüchtigkeit der Sehwerkzeuge, es muss
wohl noch eine gewisse über natürliches Bedürfnis
hinausreichende, irgendwie geartete innere Bereit¬
schaft dazukommen, welche im Falle Hamlet der
liebende Sohn und die getreuen Vasallen besitzen,
die verräterische, von schnödem Ehebrüche befleckte
eliemalige Gattin nicht besitzt. ’)
1) Es wäre müßig, den hier behandelten, auf das Über¬
sinnliche gerächteteu , in das Bereich der Poesie fallenden
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S.
59
Übertragen wir die hier gewonnene Erfahrung
auf die Transfiguratiou, so erkennen wir, dass die
wunderbare Lufterscheinung hinsichtlich ihrer op¬
tischen Wahrnehmbarkeit dem Geiste des alten
Hamlet gleich geartet ist; sie ist keine bloße Vision,
denn sie wird nicht nur von den beiden sogenannten
„Diakonen“ und von dem Knaben (bezAv. dem in
ihm sitzenden Teufel), sondern auch von den drei
Jüngern wahrgenommen, welche von dem Glanze des
Verklärten geblendet auf dem Hügel kauern. Aber die
Erscheinung ist, ganz Avie die im Hamlet, keine
grob materielle, Avelche, sowie nur die natürlichen
Voraussetzungen des Sehens erfüllt sind, gesehen
Averden muss; denn den unten befindlichen Jüngern
(teilweise auch den Angehörigen des Knaben) sind
alle physikalischen nnd physiologischen Bedingungen
des Sehens gegeben und sie sehen doch nicht: sie
haben Augen und sehen nicht! (mit diesen Worten
kennzeichnet Jesus ausdrücklich seine Jünger! Ev.
Marci 8, 18). Es fehlt diesen Personen also offenbar
die innere Bereitschaft, welche dazu erforderlich ist,
um den verklärten Zustand Christi sehen zu können;
diese Disposition kann aber gegenüber der Person
Christi unmöglich etwas anderes sein als der Glaube
(im Sinne der christlichen Religion). Wer da glaubet,
der siehet den Verklärten: die Stufenleiter der
optischen Perception ist auf unserem Bilde der
adäquate künstlerische Ausdruck für die Stufenleiter
des Christo willig oder (beim Teufel) erzwungen
geweihten Glaubens; die drei Lieblingsjünger, die von
dem ihnen erstrahlenden Glanze der Erscheinung
überwältigt werden, stehen auch auf dieser Doppel¬
skala (ebenso wie in der räumlichen Anordnung des
Bildes) zwischen den den Anblick der Herrlichkeit
ertragenden himmlischen Gestalten und den im
Stumpfsinn des Unglaubens befangenen niederen
Erdensöhnen. *)
„Defekt der Gesichtswahrnehmung“ dabin diskutiren zuAvollen,
ob das Bild gar nicht erst auf die Netzbaut des Auges ein-
Avirkt, oder ob bloß das Gebirn unfähig ist, den vom Auge
zugefübrten Eindruck Avahrzunebmen. Nur so viel sei be¬
merkt, dass der Zustand des Nichtsehenkönnens, um den es
sich hier handelt, nichts zu thun hat mit der „Seelenblind¬
heit“ der Physiologie; denn bei dieser letzteren Affektion
wird das Bild mehr oder weniger deutlich wahrgenommen,
nur nicht seinem Wesen, seiner Bedeutung nach erkannt.
Eher könnten gewisse hypnotische (bezw. suggestive) Phäno¬
mene zum Vergleiche (nicht zur Erklärung!) herangezogen
werden.
1) Die von Raffael benutzte dichterische Auffassung
des Unglaubens als eines optischen (bezw. auch akustischen)
Defektes ist uralt und echt biblisch; sie geht zurück auf
5. Buch Mosis 20, 4, wird dann mit allem Nachdruck von
Der scharfe Kontrast in der dem Göttlichen
entgegengebrachten Sehkraft bei Gläubigen und
Ungläubigen findet schon in dem 300 Jahre vor
RaffaeFs Lebzeiten gedichteten Parcival Wolfram’s
von Eschenbach Verwendung als poetisches Motiv;
die Erweckung zum Glauben wird hier durch den
Empfang der Taufe, Christus durch den heiligen Gral
symbolisirt. Von allen in der Gralsburg Anwesenden
ist der Heide Feirefiss (Parcival’s Halbbruder) der
einzige, der, zum allgemeinen Erstaunen, den von
Urepanse de Joie getragenen heiligen Gral nicht
sieht. *)
Amfovtas sprach zu Parcival:
,,Herr, Euer Bruder hat den Gral,
So glaub’ ich, gar noch nicht gesehn.“
Und Feirefiss gestand ihm frei,
Dass nichts vom Gral ihm sichtbar sei.
Das schien den Rittern wundersam,
Bis auch es Titurel vernahm.
Der lahme Greis im Krankenbette.
Und dieser sprach; „Ist an, der Stätte
Ein Heide, darf er sicher trauen,.
Dass nie den Gral er werde schauen,
Eh’ aus der Tauf er nicht gehoben.
Da ist ein Riegel vorgeschoben. —
Sein Aug’ war für den Gral noch blind.
Bis er der Taufe Heil genossen:
Nun strahlte plötzlich lichtumflossen
Vor seinem Angesicht der Gral.
„Unten das Leidende, Bedürftige, oben das Wirk¬
same, Hilfreiche, beides auf einander sich beziehend, in
einander einwirkend“, — so lautet die Formel, in
Avelche Goethe die „große Einheit“ der Konzeption
Raffael’s zusammenzu fassen versucht hat. Aber
weder Goethe selbst noch irgend ein anderer Kunst¬
forscher hat den Kernpunkt der zwischen dem oberen
und dem unteren Bildteile herrschenden Beziehungen
erfassen können , da ihnen als das „Leidende, Be¬
dürftige“ immer nur der vom Teufel besessene
(d. h. hysterische) Knabe imponirt hat. An den neun
Jüngern hat bis heute noch niemand eine Hilfsbedürftig¬
keit bemerkt, es sei denn in Bezug auf deren unzu¬
reichende ärztliche Kunst, also in ihrem Verhältnis
Jesaias (6, 9—10) aufgenommen und sowohl von Jesus (Ev.
Matth. 13, 13 — 16) wie von Paulus (Apostelgeschichte 28,
26 — 27) aus Jesaias citirt; vgl. ferner Ev. Marc. 4, 12 und
Ev. Luc. 8, 10; schließlich Ev. Job. 12, 39 — 40: „Darum
konnten sie nicht glauben; denn Jesaias sagt abermal: ,Er
hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt, dass sie
mit den Augen nicht sehen, noch mit dem Herzen vernehmen,
und sich bekehren, und ich ihnen hülfe'.“
1) Parcival, übersetzt von San Marte. 3. Aufl. Halle,
1887. S. 420 und 425.
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S.
6it
za dem Kranken; aber gerade in dem Verhältnis
der neun Jünger zu Christo dem Verklärten liegt das
eigentliche Ilauptleiden, dem Hülfe Not thäte. Das
leibliche und das geistliche Elend, Krankheit und
Unglaube, sind uns hier unten mit greifbarer Deut¬
lichkeit neben einander vor die Augen gestellt.
Aber während dem krampfkranken Knaben trotz
der Ratlosigkeit der konsultirten Arzte die schleunige
Genesung durch den „einzig Kräftigen“ sicher isG
während also unser Mitgefühl für das unglückliche
Kind und die geängstigten Seinen durch die im
Bilde angedeutete Aussicht der nahen Heilung eine
wesentliche Milderung erfährt, lastet die volle
Wucht der Tragik dieses erschütternden Weltbildes
auf den neun Jüngern Christi!! Das sind die Berufenen,
zum hohen Dienste Erkorenen, das sind die Weisen,
die Gelehrten, die klugen Arzte, zu denen das arme
\ olk aufblickt wie zu Göttern. Die haben gar
vieles studirt und erforscht aus Büchern und aus
eigener Beobachtung; dem Meister haben sie bei
der Heilung wohl noch schwierigerer Fälle oft
assistirt, alle Künste haben sie ihm abgesehen, und
so dachten sie denn, die Gelegenheit seiner Ab¬
wesenheit benutzend, es ihm einmal im Heilen nach-
zuthun — zum Wohle der leidenden Menschheit.
Aber siehe da, ihren Beschwörungen fehlte die
Kraft, der Teufel der Krankheit wollte ihrem Spruche
nicht weichen, und alle ihre Weisheit drohte zu
Schanden zu werden vor dem Volke, — da kommt
ihnen der Himmel mit einem Wunder zu Hilfe, die
„Quelle des Heiles“ eröffnet sich ihnen, unmittelbar
vor ihren Augen, — aber ihre Augen sind blöde;
die Herrlichkeit des Herrn thut sich über ihnen auf,
aber sie seben sie nicht, sie, des Herren eigene Jünger!
(was soll man da von dem profanum volgus er-
wart<Mi‘Q und da man sie mit Hand und Mund auf
die W under der Höhe hinweist — da hören sie wohl
rlie Botschaft, allein es fehlt der Glaube, der hier
allein die Binde von den Augen lösen könnte: der
Glaiilje, der Berge versetzt (Ev. Matth. 17, 20), und
so bleibt ihnen denn die Botschaft ein leerer Wahn.
Den von der Schuld des Unglaubens belasteten
.lüngern giebt RaffaePs Bild keine Hoffnung. Sie,
die sich so gesund dünken, sind die mit schwer
heilbarem Siechtum Geschlagenen.
Die Transfiguration RafFaePs ist die Welttragödie
des Unglaubens oder die Weltapotheose des Glaubens.
Die bibli.sche Erzählung, welcher Raffael den
Stoff zu seinem ^Veltbilde entnommen hat, trägt die
Tendenz, den Glauben als die weltbezwingende All¬
kraft zu verherrlichen und den Unglauben gerade
an den Jüngern als das Erzübel zu brandmarken, in
der auffälligsten Weise zur Schau. Vgl. Ev. Matth.
17, 14 — 20: Da Jesus auf dem Berge vor Petrus,
Jacobus und Johannes verklärt worden war, kam
er hernieder zum Volke; da „trat zu ihm ein Mensch,
und fiel ihm zu Füßen, und sprach: Herr, erbarme
dich über meinen Sohn; denn er ist mondsüchtig, und
hat ein schweres Leiden; er fällt oft ins Feuer und
oft ins Wasser; und ich habe ihn zu deinen Jüngern
gebracht, und sie konnten ihm nicht helfen. Jesus
aber antwortete, und sprach: 0, du ungläubige und
verkehrte Art, wie lange soll ich bei euch sein! Wie
lange soll ich euch dulden ! Bringet mir ihn hier¬
her. Und Jesus bedrohete ihn; und der Teufel fuhr
aus von ihm, und der Knabe ward gesund zu der-
selbigen Stunde. Da traten zu ihm seine Jünger
besonders, und sprachen: Warum konnten wir denn
ihn nicht austreiben? Jesus aber antwortete, und
sprach zu ihnen: Um eures Unglaubens willen.
Denn ich sage euch: Wahrlich, so ihr Glauben habt
als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem
Berge: hebe dich von hinnen dorthin; so wird er
sich heben, und euch wird nichts unmöglich sein.“
(Vergl. hierzu Ev. Marc. Kapitel 9 und Ev. Luc.
Kapitel 9.) Die völlige Identität der in der bibli¬
schen Erzählung so nachdrücklich betonten Tendenz
mit der in dieser Arbeit für RaffaePs Bild ent¬
wickelten Deutung muss der letzteren eine starke Be¬
kräftigung verleihen, soll aber keinesweges von mir
als Beweismittel in Anspruch genommen werden,
denn es hätte Raffael ja freigestanden, von der
biblischen Idee nach seinem künstlerischen Ermessen
sich beliebig weit zu entfernen; auch habe ich meine
Deutung aus keiner anderen Quelle abgeleitet als
aus dem Bilde selbst. Indessen ist es der höchsten
Bewunderung würdig, wie Raffael seiner epischen
Vorlage bis in Einzelheiten hinein treu geblieben
ist und durch die denkbar geringsten Änderungen
es ermöglicht hat, die weit ausgesponnene und in
drei auf zwei Orte und zwei Zeiten verteilte Hand¬
lungen’) zerfallende Erzählung zu einem Momentbilde
zu verdichten, welches das Universum (vom Himmel
durch die Welt zur Hölle) in einen engen Rahmen
einspannt und die in der Bibel in Jesu scheltenden
1)
erste Zeit
zweite Zeit
auf der Anhöhe
Verklärung Christi
in der Ebene
Heilungsversuch
Heilung durch
der Jünger
Christus
DIE IDEE DER TRANSFIGURATION RAFFAEL’S.
61
Worten sich offenbarende Idee durch die bloße Si¬
tuation zu machtvoll ergreifendem Ausdrucke bringt.
Die erste Änderung, die Raffael zu diesem Behufe
vornahm , ist die Ersetzung des „hohen Berges“ i)
(Ev. Matth. 17, 1) durch einen flachen Hügel; die
zweite Änderung ist die über die biblische Schil¬
derung hinausgehende Darstellung des Verklärungs¬
zustandes durch Erhebung Christi in die Luft und
Vergrößerung seiner lichtumflosseneu Gestalt über
menschliches Maß hinaus. Durch diese beiden über¬
aus einfachen Mittel ist (von allen malerischen Ge¬
sichtspunkten völlig abgesehen) erreicht worden,
dass die obere Gruppe der unteren zu bequemster
Sichtbarkeit dicht vor die Augen gerückt worden
ist, womit sofort die Möglichkeit gleichzeitiger Ein¬
wirkung Christi auf den Besessenen und sinnfälliger
Bloßstellung der neun Jünger geschaffen ist. Unten
haben wir die Schar der Kranken, oben die Medizin,
die in diesem Falle wirklich als Allheilmittel ge¬
dacht ist; wenn sie dem einen hilft und den an¬
deren nicht, so liegt die Schuld ausschließlich an
den letzteren selbst, die noch nicht einmal zum Be¬
wusstsein ihres Krankseins gekommen sind.
Hinsichtlich der beiden traditionell so genannten
„Diakonen“ dürfte das letzte Wort auch noch nicht
gesprochen sein; die Identifizirung solcher frommen
Beter mit den Porträts irgend welcher Personen der
profanen oder heiligen Geschichte (Stiftern, Schutz¬
patronen etc.) mag anderen religiösen Bildern Ge¬
nüge thun, aber nicht diesem Bilde, dessen fast bei¬
spiellose dramatische Gewalt jede von außen auf¬
erlegte Nötigung in eine von innen her bedingte
Notwendigkeit verwandelt. Ich bin geneigt, nach
Situation und Ausdruck, an Repräsentanten des Pur-
gatoriums, aus den höchsten Regionen des Läuterungs-
1) Nirgends steht in der Bibel, dass die Verklärung auf
dem Berge „Tabor“ stattgefunden habe; die vielfach üb¬
liche Bezeichnung des Raöäel’schen Bildes als „Transfiguration
auf dem Berge Tabor“ ist also nicht bloß sachlich ungerecht¬
fertigt (wegen Mangels eines Berges), sondern nebenbei auch
noch unbiblisch.
2) Der Faustkenner mache sich dieses Verhältnis an dem .
„Genius ohne Flügel“ klar (Faust, 11. Teil, III. Aufzug),
dessen Bedeutung, als Lord Byron, den Eingeweihten ver¬
ständlich bezeichnet ist, der aber für das Drama, als lebendige
Aktion, niemand anders ist als Euphorien, der in Arkadien
erzeugte Sohn des Faust und der aus der Unterwelt beur¬
laubten Helena.
berges, zu denken; dadurch würde das katholische
Weltbild zu einem lückenlos vollständigen; vgl.
Dante, Divina commedia, vor allem aber die heiligen
Väter im Faust, Schlussscene des zweiten Teils, ganz
besonders den Doktor Marianus, dessen Seele aus der
schwärmerisch hingebungsvollen Handgebärde und
dem inbrünstig entzückten Angesichte des einen, dem
Beschauer näheren Beters zu sprechen scheint:
Lasse mich im blauen
Ausgespannten Himmelszelt
Dein Geheimnis schauen!
Billige, was des Mannes Brust
Ernst und zart beweget
Und mit heil’ger Liebeslust
Dir entgegen trüget!
Er „blicket auf zum Retterblick“, gleich als harrete
er des Erlösungswortes:
Komm ! hebe dich zu hohem Sphären ! —
Ob diese beiden knieenden Gestalten in Bezug
auf ihre Sichtbarkeit für Menschenaugen unter die¬
selbe Kategorie fallen wie die in der Luft schwebende
dreipersönliche Erscheinung, ist eine praktisch be¬
langlose Frage, da ihr Anblick selbst in dem un¬
wahrscheinlichen Falle grob materieller Sichtbarkeit
den Untenstehenden durch die vordere Wand des
Hügels doch verdeckt bleiben würde, — ebenso wie
der Anblick der oberen drei Jünger, von denen
höchstens Fragmente des einen (etwa der weit aus¬
gestreckte linke Arm) von unten aus gesehen wer¬
den können, so dass das erschrockene Gebaren der
oberen Genossen keinen Eindruck auf die unteren
zu machen vermag.
Indem ich hoffe, die Wolken des Unverständ¬
nisses und des Halbverständnisses verjagt zu haben,
welche sich nur allzulange um die hocherhabene
Meisterschöpfung zusammenballen durften, und deren
Dunkel zu lichten schon Altmeister Goethe sich be¬
müht hat, weiß ich mit keinem besseren Worte zu
schließen , als mit dem an die Spitze dieser Arbeit
gestellten Kernspruch, in welchem sich das grenzen¬
lose Vertrauen des deutschen Dichterfürsten zu dem
dichterischen Genius des Urbinaten in einer alle
Zweifler und Krittler tief beschämenden Weise aus¬
spricht, und in dem das innerste Wesen einer jeden
genial schöpferischen Thätigkeit seine unübertrefflich
klare Deutung findet:
„Er hat, wie die Natur, jederzeit Recht.“
Eingang zum Glaspalast in Münclien.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
VON ALFRED GOTTHOLD MEYER.
IE „neue Schule“ hat in diesem Jahr an
gleicher Stätte ihren Historiker und ihr
eigenes Heim gefunden. Beide Thatsachen,
das Erscheinen von lang vorbereiteter
„Geschichte der Malerei im neunzehnten Jahrhundert“
und die „Sezession“ der „bildenden Künstler“ Münchens,
an sich von ungleicher Bedeutung und von einander
gänzlich unabhängig, bezeichnen in der äußeren Ge-
schiclite der modernen Malerei vielleicht den Beginn
einer neuen Epoche. Möglich, dass nunmehr das Uber-
gangsstadiuni , in welchem sich unsere Malerei be¬
findet, seinem Ende naht; jedenfalls ist der jetzige
Zeitjiunkt beachtenswert. — Was sich in einem
.Jahrhundert in heißem, mit materiellem Elend und
Tod besiegeltem Bingen zahlloser kraftvoller Per¬
sönlichkeiten schrittweise vorbereitet hat, kann nicht
mehr als ein vorühergehender Irrtum gelten, auf
den man vom Standpunkte traditioneller Anschau¬
ungen nur mitleidig herabljlickt oder strafend den
Bannstrahl schleudert, und eine Bewegung, welche
sich, allen Hindernissen und Anfeindungen zum
Trotz, in unserem Kunstleben während eines Jahr¬
zehntes so siegreich Bahn gebrochen hat, dass sie
jetzt auf dem ersten Haltepunkt ihres Eroberungs¬
zuges ein so treffliches Zeugnis von ihrer Kraft ab¬
zulegen vermag, wie es die Sezessionistenausstellung
in der Prinzregentenstraße bot, ist nicht mehr ein¬
zudämmen und noch weniger totzuschweigen. Sie
verlangt mit dem Rechte jeder historischen That-
sache vor allem Gehör und objektive Würdigung.
Auch der unerbittlichste Feind muss nunmehr zuge¬
stehen, dass die Sezession isten wissen, was sie wollen,
und Achtung gebietend zur Geltung bringen, was sie
können. Über Grad und Wert dieses Könnens selbst
darf das Urteil verschieden lauten: über seine Be¬
deutung als treibende Kraft in der Entwickelungs-
geschicbte unserer Kunst ist ein Zweifel fortan un¬
möglich. Das ist das bleibende Ergebnis der Se¬
zession als einer künstlerischen und daher kunst-
historisch beachtenswerten That.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
63
Bei diesem Ruhm klingen jedoch noch andere
und keineswegs stets wohlthuende Töne mit. Wenn
sich im Kunstleben eine äußere Spaltung vollzieht,
so pflegt dies keineswegs lediglich zu Gunsten der
Gesundheit seines Organismus zu geschehen. Neben
der lebenspendenden Kraft, welche sich vom alternden
Körper zu selbständigem Dasein loslöst, drängen sich
auch zahlreiche schmarotzende Teile hervor, denn
der neue Boden verspricht ihnen besser beachtete
Entfaltung. Die Sezession ist nicht nur eine künst-
o
lerische That, sie ist in mancher Hinsicht auch das
Ergebnis persönlicher, dem reinen Kampfplatz der
Kunst selbst fernliegender Gegensätze, und der
Deckmantel für unbefriedigten Ehrgeiz. Darin liegt
die eine große Gefahr, welche für unser Kunstleben
und vor allem für die „neue Schule“ selbst aus dem
in München vollzogenen Schritt erwachsen kann.
Weniger folgenschwer erscheint zunächst ein anderes
Bedenken, das sich dem unbeteiligten Beobachter
des jetzt zu hellen Flammen entbrannten Kampfes
schon lange aufdrängen musste. Niemals ist es gut,
die Kräfte kontinuirlich bis zum äußersten anzu¬
spannen. Als 1889 der Plan der „Münchener Jahres¬
ausstellungen“ ins Werk gesetzt wurde, mochte man
sich wohl fragen, ob es möglich bleiben würde, die
alljährlichen Veranstaltungen dauernd auf gleicher
Höhe zu halten. Bisher ist diese Aufgabe quanti¬
tativ wie qualitativ glänzend gelöst worden, aber es
bedurfte doch stets neuer Reizmittel, um das Pubhkum
in gleicher Weise zu fesseln. Man bot in Sonder¬
ausstellungen die besten älteren Meister auf, man
entsandte die Einladungen bis zu den Japanern,
man gewährte manchem Sonderling Aufnahme, weil
seine Arbeiten im guten oder auch im schlechten
Sinne Aufsehen erregen mussten. In diesem Jahre
ist diese Taktik durch die Scheidung in zwei Heer¬
lager zum äußersten gelangt. Schon in der Zahl
der ausgestellten Werke! 1890 beherbergte der
Glaspalast rund 1430, 1891 1790, im vorigen Jahre
schon 2390 Gemälde und diesmal erreichen die in
beiden Ausstellungen vorhandenen Ölbilder etwa die
gleiche Zahl. Eine quantitative Steigerung ist kaum
noch möglich, sicherlich nicht wünschenswert, aber
auch die qualitative Sichtung könnte durch taktische
Bedenken, bei dem an sich begreiflichen Wunsch
beider Unternehmungen, schon äußerlich in im¬
posanter Weise vor die Öffentlichkeit zu treten,
Gefahr laufen. Und auch für das Walten der Jury
.sind die jetzigen Verhältnisse nicht gerade günstig.
Diesmal ist von den Sezessionisten manche Arbeit
zugelassen worden, welche das einheitliche Gesamt¬
bild ihrer Ausstellung stört, und im Glaspalast fand
sich eine sehr stattliche Anzahl von Werken, die
innerlich und knnsthistorisch zu denjenigen Prinzi¬
pien, von welchen sich die „bildenden Künstler“
lossagten, im schärfsten Gegensätze stehen, Schö¬
pfungen, welche — wenn anders die „Sezession“
innere und äußere Berechtigung besitzt — in die
Prinzregentenstraße gehörten. Beide Thatsachen
können die gute Wirkung der Sezession nur schä¬
digen. Bedient man sich im Glaspalast auch ferner¬
hin so unbedenklich der gleichen Waffen, mit
denen die Sezessionisten kämpfen, so ist die Sezes¬
sion als solche unnötig. Sie hat dann eine ihrer
besten Aufgaben, aus unseren Ausstellungen das
Verkaufsgut möglichst zu verdrängen, erreicht,
könnte sich schon mit dieser einen befreienden That
begnügen und sich auflösen. Das wäre aus manchen
Gründen zu bedauern, aber an sich kein allzu¬
schwer wiegender Nachteil im höheren Sinne. Bei
der jetzigen Lage der Dinge, die sich naturgemäß
immer persönlicher zugespitzt haben, ist jedoch ein
anderer Ausgang weit eher zu fürchten. Je mehr
sich die Jahresausstellung der Sezession künstlerisch
zu nähern sucht, um so mehr wird die letztere dem
Radikalismus in die Arme getrieben, um so häufiger
wird sie genötigt werden, nicht mehr nur nach
dem Neuen und Guten, sondern nur nach dem
,, Neuen“ auszuschauen. — Das ist zweifellos die
größte Gefahr, welche die jetzigen Verhältnisse der
Münchener Ausstellungen für unser Kunstleben be¬
sitzen, eine Gefahr, welche man keiner der beiden
streitenden Parteien zur Last legen kann, sondern
welche sich aus der Situation selbst mit Notwendig-
keit ergab. Wird der angreifende Teil, die Sezes¬
sion, Kraft und Charakter genug haben, ihr erfolg¬
reich zu begegnen ? — Die Antwort auf diese Frage
muss der Zukunft überlassen bleiben , denn jede
Prophezeiung wäre jetzt müssig. Für diesmal ist
die Sezession zu ihrem Erfolge rückhaltslos zu be¬
glückwünschen, und es gebührt ihr allseitiger Dank,
denn sie hat es an sich, und nicht zum wenigsten
durch ihre Rückwirkung auf ihre Gegnerin erreicht,
dass das Gesamtbild der modernen Kunst in Mün¬
chen diesmal eine selbst dort ungewöhnliche Voll¬
ständigkeit zeigte, ja dass, wer die letzte Entwicke¬
lungsphase unserer Malerei mit allen ihren Gegen¬
sätzen zur älteren Art studieren wollte, diesmal
in München besseren Boden fand, als selbst in
Paris. —
B4
DIE MÜNCHENER KÜNSTAUSSTELLUNGEN.
Der Standpunkt dieses Berichtes ist, soweit dies
möglich, derjenige der Kunstgeschichte. Er ver¬
sucht ein Bild von dem zu geben , was diese Aus¬
stellungen für den künftigen Historiker der modernen
Malerei Beachtenswertes enthielten. Er darf die
örtliche Trennung der Werke füglich ganz unbe¬
achtet lassen, und die Anzahl der Künstlernamen,
soweit dieselben nicht eine Bedeutung im Sinne der
Kunstgeschichte besitzen, möglichst beschränken.
Bei der thatsächlich unübersehbaren Fülle des Ge¬
botenen muss eine Charakteristik der Ausstellung
von vornherein darauf verzichten, hier auch nur an¬
punkt der ausländischen Abteilung blieben die Säle
Englands, und um so unbestrittener, als hier jed¬
wedem Anspruch an künstlerisches Schaffen genügt
wurde. — Die letzten Jahre haben die Kenntnis der
englischen Kunst durch Bild und Schrift auch bei
uns in weitere Kreise verbreitet, und nicht ohne ein
gewisses Erstaunen mag man stärker und stärker
empfunden haben, dass in der zukünftigen Kunstge¬
schichte unserer Tage die englische Kunst vielleicht
eine nicht minder große Bedeutung gewinnen wird,
als die französische. Mit historischem Recht sieht
Muther die Anfänge der modernen Kunst im Eng-
Italieiiciin. (Jc.mälilo von Victor Müm.er.
näliiTiiil aller Hiebt igen Lei.stungen einzeln zu ge¬
denken. Der einzelne Künstlername möge im fol-
L'enden daher vielfach eine ganze Reihe gleich¬
wertiger Leistmigen decken! — Vorausgeschickt sei
imcli, div-; die Beteiligung des Auslandes in beiden
Ansitellnngen eine rege, eine hervorragende aber
nur » iien^i Englands war. Die franzö.sischen Arbeiten
ai; den Pariser Salons sind an dieser Stelle schon
von anderer Seite gew'ürdigt worden. S])anien und
Italien batten — abgesehen von den Werken einzelner
llaijptineisti*r , wie Villrf/as — zur Verkaufsware
dark beigesteuert. Holland und Belgien viel Vor¬
treffliches, aber wenig Neues gebracht. Der Glanz-
laud des achtzehnten Jahrhunderts, mit künst¬
lerischem Recht sind die englischen Präraffaeliten
jetzt mehr und mehr in den Vordergrund des all¬
gemeinen Interesses getreten. Ihre Bahn läuft ab¬
seits von den breiten Wegen der „neuen Schule“,
und ist mit dieser dennoch durch geheime Pfade
verbunden. Die Sonderausstellung von O. F. Watts
ließ dies vor ihren Porträts, vor ihren Landschaften,
selbst auch vor ihren gedankenreichen Allegorieen
wohl ahnen. Von den Farben eines Tintoretto aus¬
gehend, ist er zuweilen — besonders in den Land¬
schaften — zu der Art der modernsten Schotten ge¬
langt, und die bald an Hymnen und Orgelklang,
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLÜNCtEN.
65
bald an zarte Kanzonen gemahnende Sprache seiner
Bilder aus idealem Reich hat nicht selten leise Ähn¬
lichkeit mit dem geheimnisvollen Losungsruf, den
einige der modernsten Farbensymbolisteu in sich zu
vernehmen glauben. Bei diesen aber klingt der¬
selbe noch undeutlich. VVas sie bieten, sind meist
noch verschwommene
Traumbilder, deren
Wirkung’ auf Auge und
O O
Sinn am ehesten der¬
jenigen des musikali¬
schen Tones an sich zu
vergleichen ist. Watts
führt eine klare Sprache,
kunstvoll und wohlbe¬
dacht, selbst da, wo er
an die Pforte des üu-
erforschlichen pocht. Er
ist mehr Denker als
Dichter, mehr Denker
und Dichter als Maler.
Darum kann er auch
nicht volkstümlich wer¬
den. — Es gab in dieser
Ausstellung noch einen
Raum, in welchem die
Kunst sich in ähnlicher
Weise zu überirdischen
Sphären erhob und alle
Gegenwart vergessen
ließ : der Boecklin - Saal,
aber wie ganz anders
wussten die Bilder dort
von einer überirdischen
AYelt zu erzählen! Das
Gemälde „Die Heim¬
kehr“ mutet an wie ein
Volkslied, das köstliche
Bild: „Gottvater zeigt
Adam das Paradies“ wie
ein echtes Märchen.
W atts verleiht den W elt-
kräften, der Zeit, dem
Tode, der Liebe, dem
Gericht, die Gestalt gottähnlicher Menschen, zu
denen eine persönliche Beziehung unmöglich ist:
von Wesen höherer Gattung, ernst und hehr
oder voll Anmut und Lieblichkeit, aber stets un¬
nahbar, wie die Gesichte der alten Seher. Boeck-
lin’s Herr der Heerscharen ist ein Greis voll un¬
endlicher Güte, in einen strahlenden Zaubermantel
Zeitschrift für bildende Kup.st. N, F. V. H.
Die Sünde. Von Fr. Stuck. Mach einer Photograpiiie von F. Hanfstängl
gehüllt; sein Adam ein hilflos befangener Knabe; sein
Paradies ein Paradies der Kinder, und neben seiner
„Pieta“ erblassen selbst die Gestalten des englischen
Präratfaeliten. Doppelt wird man sich bei solchem
Vergleich bewusst, wieviel Gesundheit und echt
deutsche Kraft in der Kunst des großen Baselers
steckt. Wer, wie dies¬
mal Sandreuter, seinen
Pfaden ohne dieses
Lebenselemeut, nur
äußerlich folgt, geht
trotz aller Mühe einer
tiefer greifenden AA^ir-
kung verlustig. — Wenn
Watts einem Boecklin
gegenüber als Grübler
erscheint, so kennzeich¬
net er jedoch im Hin¬
blick auf eine in Deutsch¬
land vor allem durch
Gabriel Max vertretene
Kunstrichtung, welcher
neuerdings auch Paal
Höcker („Die Wund¬
male“) Zugeständnisse
macht, noch einkerniges
und gesundes Schaffen.
Das konnte man in
München besonders vor
den beiden malerisch
wie inhaltlich besonders
eigenartigenWerkendes
Belgiers Kknopif em¬
pfinden. Dessen „I lock
my door upon inyself’'
betiteltes Gemälde, auf
welchem ein Mädchen¬
kopf in seltsamer Um-
ffebunff, zwischen rebus-
artig verteiltem Beiwerk,
weltabgeschieden träu¬
merisch vor sich hin¬
blickt, hat viel von der
englischen Malerei, aber
zu wenig von deren selbst im Rätselhaften noch
gewahrter Klarheit. Auch seine ,, Sphinx“ ein
nacktes Weib, dessen Glieder wie von einem ge¬
heimnisvollen Schleiervorhang leicht verhüllt sind —
ist eine technisch vollendete, der Auftassungsweise
nach jedoch krankhafte Leistung. — Des Krank¬
haften gab es auch sonst noch in diesen beiden
66
DIE MÜNCHENER KÜNSTAUSSTELLUNGEN.
Ausstellungen genug, und dass dies zugelassen wurde,
war bei der Lage der Dinge ein arger taktischer
Missgritf, sowohl für die „Sezession“, in der die
W erke von Munlhe und Strathmann eine gar zu komi¬
sche Rolle spielten, als auch für die Jahresausstellung,
welche durch die Arbeiten des Malayschen „Linien¬
symbolisten“ Jan Toorop die Gegnerin noch über¬
trumpfte. — Es wirkte wie eine Ironie des Schick¬
sals, dass die Sendungen dieser drei Aussteller,
welche den Widerspruch am schärfsten imd allge¬
meinsten herausforderten, zu den umstrittenen Zielen
der „neuen Schule“ in keinem oder vielmehr in einem
gegensätzlichen Verhältnisse standen : sie sind anti-
naturalistisch, ohne farbige Wirkung, und entstam¬
men mehr einem reflektirenden als einem künst¬
lerischen Schaffen. Allerdings ist zuzugestehen,
dass Toorop sich in seinen Gemälden völlig zum
Impressionismus bekennt. —
Wenn der Gegensatz zur „modernen Schule“
in der Gedankenmalerei eines Watts und der male¬
rischen Poesie eines Boecklin mit der königlichen
Machtvollkommenheit großer, nur als Einzelpersön-
lichkeiten aufzufässender Künstler auftrat, so waren
auch auf dem Gebiete der Porträts, der Geschichts-
und Genrebilder und der Landschaft die Vorkämpfer
der Tradition in Aclitung erheischender Vereinigung
repräsentirt, an ihrer Spitze: I^enhach., Arthur
Krni/j>f, iJcfrcfjfjcr, E. v. Gebhardt, de Vriendt, Leibi
und, von Toten, Mcissonkr und der Österreicher Emil
Jfil.ob Schindler. Das Kabinett des letzteren — es
zählte nicht weniger als 45 Bilder — ließ seine
Bedeutung in ilirer Größe und in ihren Grenzen
vortrefflich ermessen. Mühsam ist er zum Ziel ge¬
langt. auf einer Bahn, die in eigenartiger Weise den
Entwickelungsgang der deutschen Landschaftsmalerei
ini ganzen schildert. An ihrem Beginn: ein Bild
voll künstlicher Koinaidik, ein Märchenwald mit
Kiesenbäunien und jdiantastischem Gestrüpp, mit
Sonnenstrahleffekt und einer leibhaftigen Fee, und
dennoch von kalter, jjoesieloser Wirkung, — am
Ende: das bis auf die kleinsten Pfützen naturwahre
AUhld einer ganz schlichten, von Pappeln um¬
säumten t.'haussee, aber im Schimmer des um¬
wölkten Abendhimmels von wunderbarer Stimmung.
— Einen in sieh abgeschlossenen Beitrag zur Kunst¬
geschichte bot auch der Saal des genialen Victor
Midier, der, bei Lebzeiten noch Aveit weniger richtig
geschätzt als sein Genosse im Atelier Couture’s,
Anselm Feuerbach, Avohl unmittelbar neben diesem
zu nennen Aväre, hätte ihn nicht allzufrüh der Tod
ereilt. — Hans Thoma hatte bei den Sezessionisten
ausgestellt — gewiss ein Beweis dafür, dass man
unter denen, die mit den Verhältnissen unseres
Kunsttreibens unzufrieden sind, nicht nur Anhänger
des Pleinair und des Impressionismus suchen darf.
Thoma ist unter diesen ein Vertreter des Klassicismus.
Er sieht plastisch. Seine Menschen stehen uns in voller
Körperlichkeit, greifbar vor Augen, die Wolken über
seinen Landschaften haben ein bestimmtes, fühlbares
Volumen. Mit diesem Zug zum Plastischen hängt
es auch zusammen , dass Thoma dem modernen
Naturalismus im Grunde abhold ist. Er stilisirt
seine Gestalten, er stilisirt selbst die Landschaft.
Schon seine Technik weist darauf hin.' Thoma
wirkt nicht durch Farben, sondern durch farbige
Formen und nicht zum wenigsten durch Linien.
Seine Aquarelle gleichen häufig den alten Farben¬
holzschnitten; in einzelnen seiner Werke zeichnet
er mit einem älinlichen Stilgefühl, wie Franz Stuck.
Den letzteren dürfte man überhaupt viel eher im
Zusammenhang mit Thoma nennen, als, wie meist
üblich , mit Boecklin. Das bezeugt bereits sein
Minervakopf, welcher zum Plakat der Sezession ge¬
worden ist, das beweist seine nackte Frauengestalt
auf dem Becher („In vino veritas“), ja selbst sein
„Sieger“ und die neue Variation seiner „Sünde“,
welche freilich auch durch fascinirende Farben¬
wirkung überrascht. Im Vergleich mit der neuer¬
dings durch den „Modernen Musenalmanach“ bekannt
gewordenen Behandlung des gleichen Themas (dort
„Sinnlichkeit“ genannt), ist der Gesamteffekt hier
schärfer konzentrirt. Dort Avirken Hintergrund und
Umgebung mit — hier spricht die Gestalt allein.
Die Schlange hat ihre Lage gewechselt: sie schlingt
sich nicht mehr zwischen den Beinen und Armen
hindurch, sondern sie umkreist den Oberkörper,
dessen wie von goldigem Licht gestreiftes Fleisch
aus diesem buntschillernden, glitzernden Rahmen
um so berückender hervorleuchtet. Trotz der äußer¬
lich zahmeren Auffassung hat das Bild an Sinnlich¬
keit nichts eingebüßt, an künstlerischem Reiz und
an Feinheit jedoch gewonnen, und die völlig ruhige
Haltung giebt, im Verein mit dem fascinirenden
Blick der Rätselaugen, der ganzen Gestalt etwas
Visionäres, das in diesem Sinne an die „Sphinx“
des Belgiers Khnopff gemahnt, zugleich aber in der
günstigsten Weise den plastischer schaffenden Sti¬
listen der Form schätzen lehrt. Noch ist es allerdings
kaum zu sagen, auf welchem Gebiet Stuck’s vielseitige,
völlig individuell entfaltete Begabung ihre größten,
bleibenden Erfolge erzielen wird. Er ist seinem
Endziel noch fern und arbeitet rastlos an sich selbst.
DIE MÜNCHENER KÜNSTAUSSTELLUNGEN.
67
Neben den unaasgereifteu Versuclieu, welche er,
kraft seiner Potenz, dem Publikum bisweilen zu
bieten wagt, legt er von dieser Arbeit allerorten
Zeugnis ab. So batte er in München ein winziges
Muschelstillleben, das an koloristischem Reiz in seiner
Art kaum übertroffen werden kann. Stuck verfügt
eben auch über
einen ungemein fei¬
nen, wenn auch zu¬
weilen etwas gar zu
seltsamen Farben¬
sinn. Seinen Haiipt-
ruhm aber dürfte er
doch weniger seinem
Farben- als seinem
Stil gefühl danken. —
Jedenfalls wird die
Folgezeit Künstler
wie Thoma und
Stuck von der Haupt¬
schar der modernen
Maler scharf sondern .
Sie sind Meister der
Form, — diese Mei¬
ster der farbigen Er¬
scheinung als sol¬
cher. Das absolute
Ideal läge in der
Vereinigung beider
Richtungen, und ein
gewisses Stilgefühl,
ein undefinirbarer
künstlerischer Takt
könnte hier die Brü¬
cke bilden.
Mehr und mehr
ist innerhalb der ver¬
schiedenen Kräfte,
welche das heutige
Entwickelungsstadi¬
um unserer Malerei
bestimmen, ein Eie¬
rn ent hervorgetreten,
welches dem Ur¬
sprung der neuen Schule im Grunde völlig fern¬
liegt: die Neigung, die gegebene Form auf einen
künstlerisch wirksamen Grundtypus zu reduziren,
sie zu stilisiren; und dem entspricht auf dem Gebiete
der Farbe die jüngste Entwickelungsphase des
„Symbolismus“, bei welcher die natürliche Farbig¬
keit der Dinge lediglich zu einem Ton werte wird.
Es ist schwer, für diesen künstlerischen Vorgang
die rechten Worte zu finden: am ehesten lässt er
sich wohl an der in Antonio Gandaras farblosen
Zeichnungen herrschenden Auffassungsweise erläu¬
tern. Dieselben geben fast durchgängig moderne
Frauengestalten wieder: eine Dame bei der Toi¬
lette („die Haarfri¬
sur“, „der Halskra¬
gen“) oder als Mutter
und kunstfertige
Stickerin. Das sind
scheinbar banale
Momentbilder, aber
sie wirken wahrhaft
klassisch. Wie hier
die technischen Mit¬
tel auf das denkbar
geringste Maß redu-
zirt sind — einfache
Konturzeichnung
mit scheinbar gleich¬
mäßigem Estampe-
grund — so auch
die künstlerischen im
höheren Sinne: man
möchte sagen, dass
hier die Bewegung
jedes Gliedes, der
Kontur jedes Gesich¬
tes, ja selbst jedes
Gewandstückes, zu
seinem künstle¬
rischen Grundtypus
stilisirt ist. Das ist,
wenn man nur die
Wirkung im Auge
behält, ein Zurück¬
greifen auf die Tra¬
dition. Diese Zeich¬
nungen erinnern an
die Quattrocentisten,
sie können kunst¬
historisch mit den
Werken der engli¬
schen Präratfaeliten verbunden werden. Und ähnliches
findet sich auch in Bezug auf die Farbe. Am be¬
zeichnendsten war hierfür in München, neben Gan-
dara’s Porträts im Glaspalast, Aman Jean in seinem
dekorativen Gemälde „Venezia“. Traumverloren er¬
scheint hier nicht nur die Jungfrauengestalt selbst,
sondern das ganze Gemälde gleicht in seinen zarten
Der Ilalslvragen. Gemälde von A. Gandara.
9*
68
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
duftigen, verschleierten Farbentönen einer Vision. Das
dürfte raan wohl ein Stilisiren der Farbe nennen.
Eigenartig ist, dass diese Richtung ihre glücklichsten
Erfolge in München gerade auf demjenigen Gebiete
erzielte, welches einer solchen Stilisirung zunächst
am wenigsten günstig ist: im Porträt. Ich habe
hierbei besonders die Bildnisse des Engländers
Mouat Loudan im Sinn. Die Art, wie er seine Ge¬
stalten — es waren meist Kinder — in den Raum
stellt, wie er denselben ahgrenzt, so dass der in¬
differente Hintergrund farbig als ein ungemein fein
gewähltes Milieu das ganze Kolorit beherrscht und
ihm die Stimmung giebt, ist das Ergebnis eines
eigenartigen Stilgefühles. — Gandara, Aman Jean
und Mouat Londan sind als Maler Vertreter des mo¬
dernsten Impressionismus, als Künstler aber sind sie
jedem Naturalismus, ja seihst dem Realismus durch¬
aus abhold: das Bild der Wirklichkeit wird bei
ihnen stilisirt. Man wird diese Erscheinung scharf
im Auge behalten müssen. Möglicherweise ent¬
hält sie den Keim zn einer neuen Eutwickelungs-
phase der modernen Malerei, auf welcher dieselbe
nach dem langen Übergangsstadium der naturalisti¬
schen und symbolistischen Proben sich wieder mit neu
geschulter Kralt den höchsten traditionellen Zielen
aller Kunst zu wendet und, zunächst nur die Er¬
scheinung als solche künstlerisch zu ihrem Typus
erhebend, allmählich den rechten Ausdruck auch für
Geist und Seele der Dinge findet. Spuren dieses
Strehens fand man in dieser Ausstellung allerorten,
hc.voiiders auch in der Landschaftsmalerei.
Den llaujdtou gab unter den Modernen freilich
noch der Impressionismus mit seiner neueren Nu-
ancirung an. Ich darf diese an sich wenig glück¬
lichen Schlagwörter hier wohl gebrauchen, ohne
missverstanden zu werden. Es ist eine bereits
historisch gewordene Thatsache, dass dem modernen
Maler das malerische, beziehungsweise das tech¬
nische Problem als solches im Vordergründe steht,
dass er vor allem danach strebt, die „Impression“,
den momentanen Eindruck einer Erscheinung , im
Bilde festzuhalten und um so eifriger, je eigen¬
artiger das Momentbild und je schwieriger seine
Wiedergabe ist; dass auf dieser Grundlage ferner
eine Art Stimmungsmalerei erstanden ist, welche die
Sprache der Musik auf die Farben zu übertragen
sucht. Je mehr das letztere gelingt, um so mehr
wird das Bild zu einem Kunstwerk im höheren
Sinne, aber auch da, wo lediglich das technische
Problem gelöst wird, muss man die Arbeitsleistung
anerkennen. Unsere Maler haben wohl allgemach
gelernt, dass sie — wenn anders sie nicht auf jeden
materiellen Nutzen verzichten wollen — dem Be¬
schauer Konzessionen machen müssen. Unter den
Pleinair- und Interieurstudien fanden sich diesmal
ungewöhnlich viel anziehende Bilder, die jedem Ge¬
schmack willkommen sein dürfen, auch in der Se¬
zession, wo beispielsweise Ootthardt Kuehl’s „Chor¬
knaben“ und das „Interieur“ und Edelfeldt’s „Bügel¬
zimmer“ als vorzüglich gemalte und gut verkäufliche
Genrestücke eine große Reihe in diesem doppelten
Sinne verwandter Arbeiten, wie die Interieurs von
Höcker, V. Schrötter, v. Schmädel, Opplcr und Engel, er-
ötfneten. (Schluss folgt.)
I’iillas. Von F. Stuck.
NEUE PRACHTWERKE.
Unsere Kunst. Mit Beiträgen deutscher Dichter heransgegehen von
der Freien Vereinigung Düsseldorfer Künstler. Düsseldorf, Verlag
von Hermann Michels. Fol.
Der Sturm, der seit Jahren die Künstlers chaft Europas erschüttert,
zerzaust und zum unterschiedslosen Ängrilf auf verrottete Zustände
und geheiligten Besitz spornt, ist auch der alten Kunststadt am Rhein
nicht fern gebliehen. Wie sie selbst aus ihrer alten Haut geschlüpft
ist und trotz ihrer künstlerisch -litterarischen Vergangenheit, trotz der
noch in ihrem Herzen erhaltenen Naturidyllen die Physiognomie einer
banausischen modernen Fabrik- und Industriestadt angenommen hat, so hat
auch ein Teil der bildenden Künstler den Drang empfunden, sich von gewissen
Fesseln zu befreien und die große Bewegung mitzumachen. Die einzelnen
Phasen dieser „Sezession“ haben nur ein lokales Interesse. Nur soviel sei
bemerkt, dass sich die Ultras der mit Akademie, Kunstgenossenschaft, Mal¬
kasten u. s. w. Unzufriedenen zunächst in einem Lucas-Klub zusammenfanden,
der im vorigen Jahre mit einer Mappe von Radirungen vor die Öffentlichkeit
getreten ist, und dass diesen ersten Klubisten, die einen etwas
exklusiven Charakter trugen, eine „Freie Vereinigung“ gefolgt ist,
die zunächst den Vorzug hat, dass sie nicht mit hohlen Phrasen
und revolutionären Beschlüssen, sondern mit einer That die Berech¬
tigung ihres Daseins begründet, mit einem Buch in Folioformat,
das wir nicht „Album“ — in Rückblick auf alte Düsseldorfer Er¬
innerungen — nennen wollen. Es ist nicht aus der Spekulation
eines Kunsthändlers hervorgegangen, sondern in allen Einzelheiten
das Werk einer Jury, die
Herbst. Zeichnung von G. v. Bochmann.
Verkleinerung einer Abbildung aus dem Werke
„Unsere Kunst“.
(Michels, Düsseldorf.)
unabhängig von
Verleger¬
interessen, den künstlerischen
und litterarischen Inhalt einer
strengen Prüfung unterzogen
und nur das Beste durch¬
gelassen hat, was die Ver¬
einigung zu bieten vermag.
Auch die Zeichnung der Ein¬
banddecke rührt von einem
Mitgliede, dem Architekten
W. Schleicher, her. Die Or¬
namentik der Umrahmung ist
lui Winter, tiemiililo von L. Mi nuik.
NEUE PRACHTWERKE.
71
meisterhaft stilisirt; aber das Gekräusel der dünnen
Goldlinien auf dem purpurroten Grunde macht einen
etwas verwirrenden Eindruck. Er ist vielleicht be¬
absichtigt, um auf den bunten Inhalt vorzubereiten.
Naturalistische Ausschreitungen oder Wagnisse
hat der Beschauer — je nach seinem ästhetischen
Standpunkte — nicht zu befürchten oder zu hoffen.
Darauf bereitet schon das statt der Vorrede geltende
Leitgedicht Ernst Scherenherg’s vor, der sich noch
niemals naturalistischer Regungen verdächtig ge¬
macht hat. Was er in Verse gegossen hat, ist so
vernünftig und zugleich so bezeichnend für den In¬
halt dieser artistisch-litterarischen Kundgebung, dass
wir das ganze Unternehmen nicht besser charakteri-
siren können als durch die Wiedergabe der folgen¬
den Strophen:
,, Nicht Ritter nur von einer Art
In unsrem Fähnlein fechten —
Welch Stih in Schnitt und Wams und Bart,
Wer möchte darum rechten?
Ob klassisch — oder ganz Natur —
Quillt’s aus dem Born, dem vollen,
Willkommen sei’s! Wir fordern nur
Ein kraftbewusstes Wollen.
Romanticismus — Impression —
Gleichwertig ihre Schätze;
Ob heller — dunkler Farbenton,
Wer zwängt es in Gesetze?
So abhold sind wir altem Zopf
Wie neusten Modenarren;
Und nimmer soll Hand, Herz und Kopf
In Formeln uns erstarren!
Dies „unsere Kunst“’, die zu euch spricht
Aus neuerschloss’ner Halle;
Ihr Schlachtruf laute nicht „Freilicht“ —
Doch: „Freies Licht für alle!“
Und im Einklang mit diesem Programm finden
wir im friedlichen Verein Lehrer der Akademie und
junge, frohgemute Anfänger, die Vertreter der Düssel¬
dorfer Genremalerei alten Stils, der gemalten No¬
velle und des Kostümstücks, und die Wortführer
der neuen Richtung, denen das Was? gleichgültig
und das Wie?, das koloristische Experiment, die
Hauptsache ist, die Romantiker der Landschaft und
die modernen Realisten der Stimmung, die, jeder
Detaillirung fremd, den Naturausschnitt nur als ein
Ganzes sehen. Und dazwischen treiben Phantasten
alten und neuen Stils, die bald mit Gnomen und
Nixen verkehrten, teils durch neue Gebilde ihres Witzes
dem Beschauer Rätsel aufgehen, ihr munteres Wesen.
Von Künstlern, deren Namen allen Kunstfreunden
vertraut sind, begegnen wir in dieser bunten Reihe
den Landschafts- und Marinemalern E. Dücker,
G. Oeder, L. Munthe (s. die beigegebene Abbildung),
Hugo Mühlig und G. v. Bochmann, den Geschichts-
und Genremalern Max Volkhart, Carl Sohn, H. Mücke,
Ferd. Brütt, Arthur Kampf und dem humorvollen
Zeichner und Illustrator Carl Gehrts. Nicht minder
fleißig hat sich der junge Nachwuchs gezeigt, von
dem uns die Kunstausstellungen der letzten Jahre
schon manche verheißungsvolle Talentproben vor¬
geführt haben. Auch in ihm findet sich die alte
und die neue Richtung bei einander, so dass auch bei
der jungen Generation nicht von einem radikalen
Bruch mit der Vergangenheit die Rede sein kann.
Was uns Heinrich Hermanns, Louis Herzog, H. Liese¬
gang, Otto Heichert, Fritz von Wille, Ad. Lins,
Eugen Kampf und E. Kämpffer hier bieten, sind
Äußerungen selbständiger, eigenartig sinnender, be¬
obachtender und schaffender Geister, die zusammen
bezeugen, dass die Frühlingsstürme, die das Kunst¬
leben Düsseldorfs verjüngt, manche schlummernde
Blüte zur Entfaltung gebracht haben.
Um eine möglichst gleichmäßige Wirkung zu
erzielen, sind die Gemälde, Studien und Zeichnungen
durch Photogravüren und Lichtdruck auf Kupfer¬
druckpapier und durch Zinkdruck im Text, zumeist
von Meisenbach, Riffartli & Co., zum Teil auch von
Römmler und Jonas, Bruckmann, Angerer und Göschl
u. a. klar und sauber reproduzirt worden, wovon die
hier beigegebenen Proben eine Vorstellung geben.
Auf denselben maßvollen und vermittelnden Ton
wie die Künstler haben auch die an dem Werke
beteiligten Dichter und Schriftsteller ihre Beiträge
gestimmt. Wenn man die Namen Rudolf Baum¬
bach, Julius Wolff, Felix Dahn, Julius Lohmeyer
und Ernst von Wildenbruch hört, weiß jedermann,
was er zu erwarten hat. Aber auch Karl von Per¬
fall, dessen dichterische Neigungen durch viele
Fäden mit dem Naturalismus verbunden sind, hat
sich in einer durch bitteres Herzeleid zu idyllischem
Frieden führenden Novelle, die das litterarische
Hauptstück des Werkes bildet, zu einer rein und
edel ausklingenden, poetischen Stimmung aufge¬
schwungen. ADOLF EOSENBERG.
Sezession. Eine Sammlung von Photogravüren nach
Bildern und Studien von Mitgliedern des „Vereins
bildender Künstler Münchens“. Berlin, Kunstver¬
lag der Photographischen Gesellschaft. 1893. Fol.
Ein Frauenbild von rätselvoller Schönheit, die
Rechte hoch erhoben, ins Unbekannte weisend, doch
in sich gefestigt, ernst, heroinenhaft; so steht die
72
NEUE PRACHT WERKE.
Kunst der Münchener „Sezession“ auf dem von
Klinger entworfenen Titelblatte des Werkes vor uns,
das die Berliner Photographische Gesellschaft soeben
herausgiebt. München und Berlin also in erneutem
Bunde! Wie die nordische Hauptstadt bereitwillig
ihre Thore öffnete, als man den Sezessionisten an
der Isar das Asyl verweigerte, so bietet sie jetzt
i hre vollendete Meisterschaft photographisch er Kupfer¬
drucktechnik auf, um den Münchenern in der weiten
Welt Bahn brechen zu helfen. Und sie bedürfen
solcher Beihilfe! Denn Ausstellungen vergehen,
Druckwerke bestehen. Zu den Ausstellungen muss
man pilgern, kann sie oft nur allzu flüchtig be¬
trachten; Druckwerke reisen uns nach, suchen den
Kunstfreund auf, schmücken seinen Tisch, dienen
ihm im stillen Stübchen als immer gern gesehene
A ugenweide.
Es geschah zum erstenmal, dass die „Sezession“
vergangenes Jahr in getrennter Ausstellung sich
dem Publikum zeigte. Hier tritt die neue Kunst
nun auch als geschlossene Phalanx in einem photo¬
graphischen Prachtwerke hervor. Und zwar in
glänzender Weise. Ulgemälde, Aquarelle, Pastelle
sind in den vorliegenden Photogravüren gleichmäßig
stilgetreu und technisch tadellos wiedergegeben.
Whr gewinnen in diesen Blättern von der „Sezes¬
sion" und ihren Zielen ein vollkommen klares und
harmonisches Bild.
In der ersten Lieferung — es solleir deren vier
werden — sind es ausschließlich Bilder aus dem
Natur- und Menschenleben, welche reproduzirt er-
scheineu: sämtlich von großer Schlichtheit der Mo¬
tive und der Auffassung. Und doch drängt sich
nirgends ein geistloser Naturalismus vor. Es sind
nicht .Moment pliotographieen, sondern Stimmungs¬
bilder, die den .\usschlag geben. Dass in den fol¬
genden Lieferungen auch der geistigen Welt, der
l’oesie, der Symbolik ihr Anteil zufallen wird, lässt
sieh denken: außer Skarbina und Liebermann stehen
ja u. a. Dettmann und Höcker, Klinger und Pigl-
hein auf dem Programm!
Man hat es der jungen Schule vielfach vor¬
geworfen, dass sie mit allzu viel Unfertigem, Halb¬
reifem, flüchtig Aufgegriffenem vor das Publikum
trete. Auch in dem vorliegenden Werke der „Se¬
zession“ finden sich einige nur als „Studien“ be-
zeichnete Beiträge. Aber sie verschwinden vor den
fertigen Bildern, und unter diesen ist kaum eines,
das nicht einen persönlichen Stempel trüge, nicht
einen durchaus künstlerischen Reiz und Wert be¬
säße. Von den Bildnissen seien z. B. Josef Block’ s
Porträt des Violinspielers Volnhals und Friedrich
Fehr’s Damenbildnis , von den landschaftlichen Bil¬
dern und Genrescenen vor allem der diesem Auf¬
sätze beigegebene köstliche „Angler“ von Thomas
Theodor Heine, dann die herrliche Landschaftstudie
von Otto Strütxel, ferner die einem Breton und
Millais nachempfundene „Kartoffelernte“ von Max
Liebermann, sowie die „Holzschläger an der Isar“
von Wilhelm Trübner hervorgehoben. Unter den Tier¬
stücken sprechen vor allen der komisch würdevoll
dastehende „Marabu“ von Hubert von Heydeti und
die Beiträge von Zügel und Victor Weishaiqh für
die Meisterschaft ihrer Urheber. Ein bäuerliches
Genrebild von intimem Reiz giebt Fritz von ühde
in seiner ganz vorzüglich reproduzirten „Heiligen
Familie“, in der nur der Schimmer des verklären¬
den Sonnenlichts, das durch die Bäume bricht und
über der Wiege des schlafenden Kindchens aus-
ffebreitet liegt, die Beziehungen zu den biblischen
Gestalten andeutet.
Was die Künstler der „Sezession“ hier bieten,
will wie alle Bemühungen der neuen Generation
mit liebevoller Prüfung hingenommen sein; wer es
aufmerksam betrachtet und nicht um seiner Neu¬
heit willen schlechtweg verwirft, wird eine Menge
feiner Schönheit und hoffnungerweckenden Lebens
darin finden. C. v. L.
llerau.‘igeber: Carl von Lnlxow in Wien. — Für <lie Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig..
'll
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f 1-
HIMMFiIiFAHR-T CHRISTI.
tefmärt sich in der Katholischen Hofkirrie lu Dresden.
*■ Men^s pmx.
Kopfleiste. Yon A. Lacknek.
LIONARDO DA VINCI
UND DIE BERÜHMTEN WEIBLICHEN BILDNISSE
IM LOUVRE UND IN DER AMBROSIANA.
ELCHE lohneudere AiifgaLe
kann es heutzutage für den
wahren, lebendig empfinden¬
den Kunstfreund geben als
die, der Natur und dem
Geiste der erhabensten Mei¬
ster der Kunst immer näher
zu treten, ihren Eigenschaf¬
ten möglichst gerecht zu werden und zu einem
klaren Begriff ihres inneren Wesens zu gelangen?
Mag unter den Kunstgelehrten noch lange Streit
herrschen über dies oder jenes Problem der Kunst¬
geschichte, mögen diese einander schelten und be¬
kämpfen über die Satelliten der großen Planeten:
vergebens würde man sich der Hoffnung hiugeben,
die Gemüter eines größeren Kreises von Menschen
dafür zu interessiren und zu erwärmen. Erfreulich
hingegen muss jedem human Gesinnten die Wahr¬
nehmung sein, dass die großen Gestalten der Mensch¬
heit, dank den Ergebnissen der modernen Forschnng,
sich nach und nach in den Denkmälern ihrer Thätig-
keit immer klarer, von den Nebeln befreit, die sie
früher verschleiert hatten, unseren Blicken darstellen.
Allgemein sollte anerkannt werden, dass unter den
großen Fortschritten, auf welche die zweite Hälfte
unseres Jahrhunderts stolz sein darf, die wachsende
Einsicht in Sachen der Kunst keineswegs die ge¬
ringste Errungenschaft ist.
.Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 4.
Ist tnan nicht erst seit ganz kurzer Zeit zu der
Einsicht gekommen, wie sehr der Inbegriff der Kunst
Raffaers im Laufe der Jahrhunderte arg entstellt
worden war? Wobei zugleich anerkannt Averden
musste, dass angesichts der unermessliclien Zahl von
Werken, die ihm früher allenthalben zugeschriehen
wurden, seine in der That beschränkte Lehensfrist
von 37 Jahren Avohl auf ein ganzes Jahrhundert
hätte ausgedehnt Averden müssen! Man sehe nur,
Avie es noch heutzutage in einem Aveniger vorgeschritte¬
nen Lande, wie Spanien, mit diesen Dingen beschaffen
ist, wo in dem herrlichen Museum des Prado nicht
weniger als zehn Gemälde, und darunter mehrere
weltberühmte, unter dem Namen des Urbinaten auff
gehängt sind, während doch bei näherer Betrachtung
nur zwei davon auf eine eigenhändige Ausführung
von ihm Anspruch machen können.
Ähnlich verhält es sich mit dem Missbrauch,
der mit dem Namen Lionardo’s getrieben worden
ist. Er müsste ein ganz anderer gewesen sein, als
er wirklich war, Avenn er alles das hätte malen
sollen, was man ihm zumutete. Darüber sind wir
durch die Veröffentlichungen seiner Manuskripte hin¬
länglich unterrichtet; wir kennen jetzt das ungeheure
Maß seiner Vielseitigkeit, durch die ihm die Zeit
und die Lust zur Ausführung eigentlicher vollendeter
Werke der bildenden Kunst erheblich beschränkt
werden musste. Zwar trägt das wenige, was auf
10
74
LIONÄRDO DA VINCI.
diesem Gebiete ihm tliatsächlich angehört, ein so
bestimmtes Gepräge seiner außerordentlichen Natur,
dass mau schon durch eine eingehendere Prüfung
desselben zu dem Resultate gelangen kann, sein
Eigentum von dem seiner zahlreichen Schüler und
Nachahmer zu unterscheiden. Die herrlichste Er¬
gänzung seiner künstlerischen Anlagen aber thut
sich uns in einem anderen reichen Schatze auf, der
glücklicherweise wmhl zum großen Teil noch erhalten
ist, nämlich in seinen Handzeichnungen. Freilich
ist auch für diese erst in neuerer Zeit ein sicheres
Kriterium gewonnen worden.’) Wer Augen hat zu
sehen und Ohren zu hören, der mag sich davon be¬
lehren lassen und wird schließlich den innigen Ge¬
nuss haben, der aus der Überwindung von alther¬
gebrachten Vorurteilen erwächst.
Das Verdienst, über die künstlerische Natur
Lionardo’s ganz neues Licht verbreitet zu haben,
namenthch durch seine praktische Kritik der echten
llandzeichnungen, gebührt vor allem dem unvergess¬
lichen Giovanni Morelli, sodann Herrn Dr. Jean
Paul Richter, dessen bekanntes, in englischer Sprache
veröffentlichtes Werk uns eine Fülle von Anschau¬
ungen zur Erhärtung der Lehren Morelli’s gewährt.
In den echten Zeichnungen Lionardo’s, oft nur leichten,
flüchtig hingewoi’fenen Skizzen, bisweilen aber auch
ganz fein ausgeführten Studien, lebt der Genius des
Künstlers wieder vor unseren Augen auf. Abgesehen
von den materiellen Kennzeichen seiner Zeichen¬
weise, welche aus dem Umstande zu erklären ist,
da.ss er sich auch beim Schreiben der linken Hand
zu bedienen pflegte, sind denselben, ihrem geistigen
fiehalte nach, ganz besondere Züge eigen. Wir
halben uns bereits in einem anderen Artikel dieser
Zeitschrift bei Gelegenheit eines Vergleiches zwischen
Lionardo und ilolbein in dem Sinne ausgesprochen,
da.ss ersterer von keinem anderen Meister an Leben¬
digkeit, an Grazie, an Gew'andtheit der Hand über¬
troffen worden ist.-) War dieser Aus.sj)ruch dort in
llezug auf die Handzeichnungen gethan, so dürfen
wir ihn hier wohl auch auf Lionardo’s Gemälde aus¬
dehnen und dadurch, sowie durch die dem Meister
ganz eigene Tiefe in der Behandlung des Ilell-
1 Eine IJeatätigung dieses Kriteriiiins iin Widerspruche
7,11 den von andeier Seite erhobenen Einwendunf'cn glaulie
ich in einem AutVat/- gegeben 7U haben, welcher in der
florentinischen Zeit.«chrift Arte n Storin vom 2.7. März 1S88
erschienen ist.
2) „Lionardo da Vinci’s und Hans Ilolbein’s d.j. Hand¬
zeichnungen in Windsor“, Neue Folge I, 24.7.
dunkeis, sein Werk von denjenigen der Schüler
und Nachfolger unterscheiden.
1.
Es liegen uns drei Bildnisse vor, die von den
Nachkommen des Meisters (gewiss nicht von seinen
Zeitgenossen) bis auf den heutigen Tag insgemein
ihm zugeschrieben wurden. Was aber dem Auge
einer harmlos unkritischen Zeit nicht aufgefallen ist,
darf demjenigen nicht mehr entgehen, dem es ge¬
geben ist, mit aufgeschlossenem Sinn der Wahrheit
nachzuforschen. Betrachtet und vergleicht man ohne
vorgefasste Meinung diese berühmten Bildnisse, so
kann es dem geübten Auge nicht verschlossen bleiben,
wie sehr dasjenige der Mona Lisa den anderen bei¬
den an geistigem Gehalt überlegen ist. Der erste
deutlich erkennbare Unterschied wäre, wie uns dünkt,
der, dass die anderen beiden offenbar als Porträts
im eigentlichen und bestimmten Sinne des Wortes
sich uns darstellen, während dagegen die zauberhaft
schöne Gioconda eine Erscheinung ist, welche zu¬
gleich auf ganz besondere Weise an die Lösung
eines psychologischen Problems denken lässt. Wo
könnte man in der That ein anderes Bildnis finden,
in welchem die Seele der dargestellten Persönlichkeit
so innig und so fein sich ausspräche, wie in diesem?
Ein Umstand, der uns von Vasari mitgeteilt wird,
scheint zu bestätigen, dass es dem Künstler vor
diesem Modell darum zu thun war, dasselbe in einer
besonderen Gemütsstimmung aufzunehmen; wir mei¬
nen die Erzählung, dass Lionardo, wenn er an dem
Porträt malte, dafür gesorgt hatte, dass jedesmal
eine Gesellschaft von Sängern, Musikern und Possen¬
reißern zugegen war, damit die anmutige Frau durch
deren Spiel erheitert imd ihr das melancholische Aus¬
sehen heuoonmen würde, welches gar oft von der Maler¬
kunst den Bildnissen auf geprägt ivird. Die Landschaft
des Hintergrundes offenbart ein bisher nie dagewese-
nes, großartig unbestimmtes, phantastisches Element,
an dem der Künstler in ähnlicher Weise in seinen
größeren Gemälden, der Jungfrau in der Felsengrotte
und der hl. Anna (ebenfalls im Louvre), sein Ge¬
fallen geäußert hat. — Dass übrigens die mensch¬
liche Erscheinung von keinem anderen Künstler so
wie von Lionardo erforscht worden ist, das bezeugt
— von den zahlreichen Zeichnungen, in denen er
den Menschen nach allen möglichen Seiten dargestellt
hat — gerade dieses einzig dastehende Porträt der
Mona Lisa. Man betrachte nur die Modellirung des
Gesichts in all seinen einzelnen Teilen, die unüber¬
treffliche Feinheit der Hände sowohl in der Form
Bilduis der I\[uua Lisa von Lionakuo da Vinci im Louvre.
LIONARDO DA VINCI.
7()
als in der Bewegung, die ungezwungene Beliaglich-
keit der ganzen Erscheinung, mit ihrem herabrieseln¬
den Lockenhaar, dem leichten Schleier und den
merkwürdig faltenreichen Gewändern und man sage
uns, wo man im Ernst ein gleich ausgeführtes Bild¬
nis aufzutreiben wüsste, das diesem an die Seite
zu stellen wäre. Wir stehen nicht an zu behaupten,
dass es ein Unicuni im eigentlichen Sinne des
Wortes ist, als eigenhändiges, von Lionardo aus¬
geführtes Porträt; wohlverstanden unter den Werken,
die von ihm noch erhalten sind, zu denen wir kaum
noch die fast gänzlich zu Grunde gegangenen Bild¬
nisse des Lodovico il Moro und seiner Gemahlin
auf der großen Freskowand der Kreuzigung von
iMontorfano im Refektorium von S. Maria delle
Grazie in Mailand rechnen können.
Da die junge Mona oder Madonna Lisa, Tochter
des Ant. Maria di Noldo Gherardini, sich bekannt¬
lich mit dem 14CÜ geborenen Francesco di Barto-
lomeo di Zanobi del Giocondo (weswegen sie auch
mit dem Namen la Gioconda bezeichnet wurde) im
Jahre 1495 als seine dritte Frau in Florenz verehe¬
lichte, so kann kein Zweifel über die Zeit obwalten,
in welcher sie Lionardo gemalt hat. Es muss näm¬
lich in den ersten Jahren nach 1500 geschehen sein,
nachdem der Meister Mailand verlassen und sich
wieder nach der Heimat begeben hatte. Wie es
dann kam, dass das Gemälde nicht lange Zeit nach
seiner Entstehung nach Frankreich in Besitz des
Königs Franz I. gelangte, ist uns nicht überliefert.
Genug, dass es heutzutage eine der Hauptzierden
der Louvre- Galerie bildet.
Alte Kopieen davon giebt es verschiedene; die
dem Original am nächsten stehende ist wohl die¬
jenige, die wir selbst vor kurzem in der Prado-Galerie
in Madrid gesehen.’) Die strenge, wenn aucli ziem¬
lich harte Zeiclinung, die treffliche solide Maltechnik
haben mich zu der 1 berzeugung gebracht, dass der
Ursprung des Gemäldes sehr früh, d. h. höchstens
einige Jahrzehnte nach der Entstehung des Originals
anznsetzen ist. Lange wurde das Bild in Madrid
als ein echtes Werk von Lionardo angesehen; Don
Pedro de .Madrazo aber, der es als Kopie bezeichnet,
drückt .>ich in seinem letzten beschreibenden Katalog
mit l)esserer Einsicht folgendermaßen darüber aus:
„El ritrato de .Mona Lisa original del Vinci es sin
(Inda alguua el de la galeria del Louvre, y no hay
1) Sie träfet (hwelV>>t die Nr. 550, ist gleichfalls auf liol/-
gemalt und soll in 0,70 hoch und 0,57 breit sein. Das
houvrebild wird als in 0,77 hoch und 0,50 breit angegeben.
mas que recordar la manera como estan ejecutadas
las sombras y la parte luminosa de las carnes del
ritrato de Paris, verdadero miraglo del arte, compa-
rada con les tintas un tanto pesadas del nuestro
para convencerse de aquella verdad.“ — Wenn der¬
selbe Autor aber weiterhin zwischen zwei verschie¬
denen Urteilen schwankt, nämlich zwischen den von
verschiedenen „sehr kompetenten Professoren“ , wie er
sie nennt, welche in dem Madrider Bilde den Pinsel
des Carlo Dolce zu erkennen glauben und denjeni¬
gen von anderen Kritikern, „non meno respetables“,
welche es einem vlämischen Maler zuschreiben möch¬
ten, so muss man daraus schließen, dass der Herr
Verfasser des Katalogs sich mit den fremden Schulen
nicht sehr vertraut gemacht hat. Es dürfte denn
doch keine so schwere Sache sein, einen Carlo Dolce
von einem Vlamänder zu unterscheiden. Ein solcher
aber war es gewiss, einer nämlich aus der großen
Schar der Verehrer und Nachahmer Lionardo’s und
der lombardischen Schule, welcher dieses Werk zu
stände gebracht hat; denn die Glätte der Farbe, die
bestimmte, harte Zeichnung, die sowohl in den Um¬
rissen der Hände als auch in denen der Falten und
der Haarlocken hervortritt, sind hinreichende Zeug¬
nisse für eine solche Abstammung. Wir müssen ge¬
stehen, vor dem Bilde konnten wir uns nicht des
Gedankens erwehren, dass es möglicherweise von
demselben Maler herstammen könnte, der den auf¬
erstandenen Christus in der Galerie zu Berlin ge¬
malt hat. Vielleicht war es hauptsächlich die steife
rechte Hand der Dargestellten, mit ihren scharfbe-
grenzten Nägeln, die uns an die S. Lucia des Ber¬
liner Gemäldes gemahnte. Wie dem nun sei, wenn
wir auch die Identität des Urhebers der erwähnten
Bilder in Madrid und in Berlin nicht bestimmt zu
behaupten wagen, so tragen wir dennoch kein Be¬
denken, in den beiden die Hand eines flandrischen
Nachahmers zu konstatiren.
Den Kunstfreunden, die sich für dergleichen
Fragen interessiren, möchten wir raten, wenn es
ihnen nicht möglich ist, die besprochenen Gemälde
in Paris und Madrid zu sehen, sich zu ihrer Be¬
lehrung die zwei großen Braun’schen Photographieen
nach denselben zu verschaffen. Sie werden schon
in diesen vortrefflichen Aufnahmen manchen bezeich¬
nenden Unterschied zwischen dem italienischen und
dem niederländischen Maler wahrnehmen können.
Zwar sind uns die Stimmen bekannt, welche behaup¬
ten, dass die Zurückführung von italienischen Kunst¬
werken auf deutsche oder vlämische Kopisten gar
zu oft unbegründeterweise versucht worden sei. Eine
Bildnis der sogenannten Belle Ferrouiere im Louvre.
TS
LIONARDO DA VINCI.
solche Warnung soll ge'nüss nicht unberücksichtigt
bleiben. Wenn aber weiter bemerkt wird, dass die
meisten Kopieen und Nachbildungen von Nordlän¬
dern nach italienischen Originalen von letzteren weit
entfernt seien, so möchten wir dagegen einwenden,
dass diese Verschiedenheit geringer oder größer sein
kann, je nachdem die Kopisten oder Nachahmer
selbständige oder abhängige Künstler gewesen sind
und dass diese Unterschiede noch der gehörigen
Untersuchung und Bestimmung harren.
11.
Das andere weltbekannte Bildnis im Louvre,
welches noch immer als ein Originalwerk Lionardo’s
angesehen zu werden pflegt^ ist dasjenige der ver¬
meintlichen Belle Ferroniere. Dass dasselbe gleich¬
falls ein edles charakteristisches Werk aus der Blüte¬
zeit der italienischen Kunst ist, Avird niemand in
Abrede stellen; ob es aber auf die Höhe einer
Schöpfung des allervollendetsten Künstlers gestellt
Averden kann, das muss erst erwogen Averden.
Da es keine quellenmäßigen Nachrichten giebt,
Avelche dieses zweite Bildnis als ein Werk Lionardo’s
bezeichnen, so sind Avir umsomehr berechtigt, das¬
selbe vorurteilsfrei mit den sicherstehenden Werken
desselben in Vergleichung zu ziehen. Betrachten
wir nun einerseits den kostbaren Vorrat an echten
Handzeichnungen Lionardo’s, welche namentlich in
den Sammlungen von Windsor, Paris, Florenz und
Venedig aufbewahrt Averden, und andererseits seine
an den Fingerspitzen abzuzählenden Werke der
Malerei, die sich noch erhalten haben, so ist es
schwer möglich, zu verkennen, d.ass in der Erschei¬
nung der sog. Belle Ferroniere, trotz ihrer bestechen¬
den Eigenschaften, etwas Befangenes und Steifes
liegt, was mit der freien, über aUe Maßen gewan¬
dten Hand Lionardo's nicht übereinstimmt noch über¬
einstimmen kann. Vor allem die Behandlung des
Haares! Diese harte und kompakte Masse, die einer
Perücke ähnlich sieht, Avann hat sie der Meister je
so gemacht? Ist sie nicht gerade das Gegenteil von
dem, was uns in seinen Köpfen, auch avo es sich
um Porträts handelt, begegnet, da er immer an den
geschwungenen leichten Linien sich gefiel? Gut ge¬
zeichnet sind zwar die Gesichtszüge des Pariser Por¬
träts, aber im ganzen doch etwas plump für Lio-
nardo; Avobei noch zu bemerken ist, dass auch die
bestimmte Angabe der Augenbrauen gegen die Ur¬
heberschaft des Meisters zeugt, da er durchgehends,
Avie MoreUi richtig beobachtet hat, an seinen weib¬
lichen Figuren dieselben gar nicht zu betonen
pflegte.^) Vergleicht man endlich die Behandlung
aller zur Kleidung gehörigen Details, so dürfte man
vollends einsehen, dass der fast ängstliche Fleiß, der
darauf verwendet worden, dem über das Kleinliche
durchwegs erhabenen Geiste Lionardo’s nicht ent¬
sprechen kann. Ja, wir möchten fast so weit gehen,
zu behaupten, dass das Motiv des Ornaments, welches
im Saum des Halsausschnittes am Kleide durch¬
läuft, kein spezifisch Lionardisches, wohl aber ein
der gleichzeitigen lombardischen Schule eigentüm¬
liches ist. 2)
Ob Lionardo je dergleichen vollendete Porträts
auf geschlossenem dunklen Hintergründe gemalt habe,
wollen Avir dahingestellt lassen, da uns die nötigen
Vergleichungspunkte dafür fehlen. Wenn wir außer¬
dem nicht unbedingt darauf bestehen wollen, dass
der große Meister in einer ähnlichen Darstellung
gerne beide Hände oder doch eine Hand auf die
Brüstung, womit die Figur begrenzt ist, gelegt haben
würde, so können wir uns doch nicht der Überzeu¬
gung verschließen, dass, wenn hier auch nur eine
Hand vorkäme, dieselbe wieder ein sprechendes
Zeugnis gegen die Urheberschaft Lionardo’s abgelegt
haben würde.
Nun hieße es aber, den wahren Autor anzu¬
geben! Das ist freilich um ein gut Teil schwieriger,
besonders bei dem keineswegs untadelhaften Zu¬
stande des Gemäldes, welches hauptsächlich in der Kar-
nation, durch eine in früheren Jahren vorgenommene
Reinigung, verrieben worden sein muss. Immerhin
muss sich gewiss mit der Zeit die Überzeugung aus¬
breiten, dass dieses Bildnis doch um eine Stufe
niederer steht als die authentischen Werke Lionardo’s,
wiewohl es unter seinem künstlerischen Einfluss
entstanden ist. Hat die moderne Forschung bereits
nachgeAviesen, dass das Lünettenbild im Kloster von
Sant Onofrio in Rom vielmehr dem Schüler Bel-
traffio als dem Meister angehört ^), dass die gro߬
artige, aber Avilde Madonna (il Madonnone gen.) in
Vaprio, unweit von Mailand, sich als nichts anderes
1) In Bezug auf die Mona Lisa mag hier noch darauf hin-
gewiesen werden, dass sie im Originale völlig ohne Augen¬
brauen ist, wohingegen in der Madrider Kopie dieselben
mit einem scharfen Strich angegeben sind.
2) Dasselbe Motiv kommt besonders in alten Rahmen
öfters vor. Ein Beispiel davon hat man u. a. in dem ur¬
sprünglichen Teile des später vergrößerten Rahmens des Ma¬
donnenbildes von Boltraffio im Museo Poldi Pezzoli vor Augen.
3) S. die vergleichenden Abbildungen und Besprechun¬
gen in meinem Aufsatz über das Museo Poldi Pezzoli in der
Zeitschrift für bildende Kunst vom Jahre 1881.
LIONARDO DA VINCI.
79
als ein Werk des geistvollen Sodoma lierausstellt^),
dass ferner das bekannte weibliche Profilporträt in
der Anibrosiana, wie wir es im Nachfolgenden be¬
stätigen werden, unbedingt dem Lionardo entzogen
und einem untergeordneten Mailändischen Maler zu¬
erkannt werden muss, dass endlich die nicht weniger
bekannte Madonna, welche aus dem Hause Litta vor
Jahren in die Petersburger Gialerie übergegangen
ist, jedenfalls auch von einem lombardischen Meister
herrührt, der sich höchstens einer Vorlage von
Lionardo bediente 2), so hat wohl auch die Stunde
geschlagen, in der man sich in Bezug der sogenann¬
ten Belle Ferrouiere eines Besseren belehren lassen
mag. Wiewohl die edle Auffassung des Antlitzes,
die wohl abgerundeten, durch eine einfache Verteilung
von Licht und Schatten angegebenen Formen, die
großen sinnigen Augen und der regelmäßige, wellen¬
förmige Mund uns zu der Ansicht unseres jungen
Freundes Carl Löser hinneigen lassen, dass als Ur¬
heber dieses Gemäldes der Mailänder Edelmann
Giov. Aut. Beltraffio angesehen werden dürfte-’), so
glauben wir doch, dass es angesichts der beschränk¬
ten Anhaltspunkte schwer halten wird, zu einer ganz
genauen und überzeugenden Bestimmung des rätsel¬
haften Bildes zu ffelan2en.
III.
Anders verhält es sich mit dem Profilbildnis
in der Ambrosiana zu Mailand. Hier können wir
schon sicheren Schrittes Vorgehen. Unsere Freude
an diesen reinen Zügen ist eine volle und aufrich¬
tige; der Duft eines jungfräulichen Gemüts umweht
dieses edle Geschöpf.
Wenn wir trotzdem erklären müssen, dass wir
es für unmöglich halten, das Werk für einen un¬
mittelbaren Ausfluss des Genius unseres Lionardo zu
halten, so soll damit nur betont werden, dass die
italienische Kunst in jenen glücklichen Zeiten selbst
durch ihre Meister zweiten Ranges so große Wirkun¬
gen zu erzielen vermochte, dass die späten Nach¬
kommen den Zauber derselben .sich nur durch das
Walten der höchsten Genien erklären konnten.
Soviel ist aber gewiss, dass nach alledem, was
von Morelli zum erstenmal über das Bildnis der
1) S. die Abbildung davon auf der Tafel unseres Buches
„Arte Italiana dcl IHnaschnento'\ Milano, Fratelli Dumolard
editori, 1891.
2) S. die Handzeichnung im Louvre, photogr. von Braun.
3) Man vergleiche dieses Bildnis namentlich mit einem
anderen, sicheren Frauenporträt von Beltraffio im Besitze
des Grafen General del Maino in Mailand.
Ambrosiana im Zusammenhang mit manchen anderen
ähnlicher Art auseinandergesetzt worden ist, niemand
sich mehr für einen Kenner der Kunst Lionardo’s
ausgeben dürfte, der noch mit unerschütterlicher Zu¬
versicht an dessen Urheberschaft bei diesem Profil¬
bildnisse festhielte. Die Merkmale, die in Lermo-
lieff’s „Kunstkritischen Studien“, Bd. I, S. 231 If. an¬
gegeben sind, um den Maler, dem es in der That
angehört, nämlich den Mailänder Ambrogio de Predis
darin zu erkennen, sind so bestimmt und so zwin¬
gend, dass es kairm noch nötig erscheint, weiteres
zu sagen. Ich möchte nur hinzufügen, dass die
ganze Auffassung und Darstellungsweise trotz ihrer
Reize doch etwas so Beschränktes, so Steifes an
sich hat, namentlich in der Behandlung der Neben¬
sachen, dass man dadurch zunächst an einen Miniatur¬
maler erinnert wird.
Was nun die Frage nach der dargestellten Per-
o r5
sönlichkeit betrifft, so ist bereits viel darüber ver¬
handelt worden. Dass sie, wie bis vor wenigen
Jahren angenommen worden, für die Gemahlin des
Lodovico il Moro, d. h. Beatrice d’Este anzusehen
sei, ist schon längst durch Vergleiche widerlegt
worden. Auch der später von Morelli vorgeschla¬
gene Name der Bianca Maria Sforza, der Gemahlin
des Kaisers Maximilian, musste aufgegeben werden,
nachdem Fr. Lippmann in Berlin in den Besitz eines
sicheren Porträts derselben Person gelangt war '),
eines Porträts, dessen Urheber, dank den Unter¬
suchungen Morelli’s, sofort als der von ihm ent¬
deckte Ambrogio de Predis bezeichnet werden konnte.
Wir können also vor der Hand nur die Ver¬
mutung aussprechen, dass die in dem Bildnisse der
Ambrosiana dargestellte junge Frau auf eine Person
aus der Umgebung der Sforza zu beziehen sei, da
sie in ihren Zügen mit keinem der bekannten Glieder
jener herrschenden Familie übereinzustimmen scheint,
in deren Diensten der Maler bekanntlich stand.
Das, was wir hier besonders betonen möchten,
ist der innerliche Unterschied zwischen dem Wesen
Lionardo’s und demjenigen der gleichzeitigen lom¬
bardischen Kunst. Dass die Erkenntnis eines solchen
Unterschiedes noch immer nicht allgemein durchge¬
drungen ist, lässt sich begreifen.
Den Verteidigern der Meinung, dass unser Por¬
trät ein eigenhändiges Werk Lionardo’s sei, möchten
wir die Frage stellen, in welche Periode seiner Kunst-
1) S. den Aufsatz von W. Bode im Jahrbuch der kgl.
preuß. Kunstsammlungen v. J. 1889, Heft 2, mit trefllicher
Abbildung.
I’rolilbildnis der sogenannten Herzogin in der Arabrosiana zu Mailand.
LIONARDO DA VINCI.
81
entwickelung sie es dann setzen wollten. SoUte
jemand dasselbe als ein Jugendwerk des Meisters
bezeichnen wollen, d. h. als vor seiner Übersiedelung
nach Mailand entstanden, so wäre dagegen einzu¬
wenden, dass nicht nur die Tracht, sondern auch
die Maltechnik durchaus einen lombardisch mailän¬
dischen Stempel an sich tragen, verschieden von
demjenigen, der den gleichzeitigen Werken der Malerei
in Toskana aufgeprägt ist. Zu Lionardo’s reiferen
Jahren aber, in die so tief durchdachte Werke wie
sein Abendmahl und seine Mona Lisa gehören, passt
das schlichte und befangene Mädchenprofil noch
weniger. Sieht man es sich näher an, so wird man
bekennen, dass der Gebrechen darin gar zu viele
Vorkommen. Die äußerst scharfe Angabe der Ge¬
sichtszüge, die unschöne, geradezu abnorme Form
des oben zugespitzten Schädels, die, wie sie Lermo-
lieff richtig bezeichnet, jäh herabfallende Linie vom
Nacken auf den Rücken (Kunstkritische Studien I,
239), ja das Kleinliche in der ganzen Ausführung
überhaupt hätte sich Lionardo nie, am wenigsten
aber in den besten Jahren, zu Schulden kommen
lassen.
Alle diese Einzelheiten lassen sich um so be¬
stimmter in diesem Bilde nachweisen, als es glück¬
licherweise in gutem Zustande der Erhaltung auf
uns gekommen, was leider mit dem der sogenannten
Belle Ferroniere nicht der Fall ist. Sie dürfen in¬
sofern mit guter Zuversicht als bestimmte Merkmale
des Ambrogio de Predis angesehen werden, dessen
Existenz seit der Zeit feststeht, da es dem genann¬
ten Kritiker gelang, seine abgekürzte Namensbezeich¬
nung in dem Ambraser Profilbildnis des Kaisers
Maximilian richtig zu lesen, während sie früher irr¬
tümlicherweise auf Ambr. Borgognone gedeutet
worden war.
Ambrosius de Predis ist uns bis zum heutigen
Tage nur durch eine beschränkte Zahl von Porträts
bekannt. Dass aber seine Schöpfungen in diesem
Fache wiederholt für Werke Lionardo’s angesehen
worden, ist erwiesen; hier dafür wenigstens zwei
Beispiele. Das eine ist das anmutige Jünglingsbild¬
nis in der Sammlung Morelli ^), das andere das Bild¬
nis im Besitze des Herrn Füller Maitland in Eng¬
land, welches ein authentisches M^erk des Ambrosius
de Predis oder Preda ist. Letzteres wurde zwar von
dem früheren Besitzer, dem Grafen Archinto aus
Mailand, auf den Namen eines Vorfahren bezogen,
1) S. dessen Abbildung und Besprechung in „La Oalleria
Morelli in Berfjamn'\ Fratelli Bolis editori, Bergamo 1892.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 4.
während ja schon aus der Deutung der zusammen¬
gestellten Buchstaben des Monogramms, womit es
versehen, auf A?nbrosius Preda ifediolanendis zu
schließen ist.
Merkwürdigerweise ist uns in Bezug auf letzteres
Gemälde ein schriftliches Dokument erhalten, aus
dem sich ergiebt, dass der Verfasser der „Kunst¬
kritischen Studien“, als er noch kein ausgemachter
Kritiker, sondern ein jugendlicher Enthusiast war,
das Bildnis als ein echtes Werk Lionardo’s bewun¬
dert hatte. Wir entnehmen dies aus einem in seiner
lebendigen Weise geschriebenen Briefe, den er am
3. März 1847 an einen seiner guten Freunde in
Bergamo gerichtet hatte. Er giebt ihm darin Be¬
richt über seinen Besuch im Hause Archinti und
hebt dabei folgendermaßen an:
„Durch die gütige Vermittelung meines Tisch¬
genossen Crivelli wurde ich gestern der Gräfin Ar¬
chinti vorgestellt, die sodann die besondere Gefällig¬
keit hatte, uns eigenfüßig in ihren Zimmern und
Sälen herumzuführen und uns zugleich ihre kost¬
baren Bilder zu zeigen. Und darauf, ja einzig
darauf war unsere Visite gemünzt. — Einen solchen
Luxus habe ich nicht leicht gesehen, — es ist die
Wohnung einer Königin. — Unter den vielen Bil¬
dern werde ich bloß diese vier herausheben: erstens
und vor allem den Lionardo da Vinci. Er ist ein
junger Mann mit blonden Haaren, lieblichen, etwas
melancholisch träumerischen blauen Augen und einem
zarten und höchst feinen Mund und Kinn. Er trägt
einen kleinen Pelz über die Schultern und hält in
der linken Hand einen Zettel, worauf geschrieben
steht: 1494 — ann. 20 und /RX — (flüchtig und
nicht richtig angegebenes Monogramm) — also Ar¬
chinti. Ein reizenderes Bild lässt sich nicht leicht
sehen — es sieht so naiv, so jugendlich aus, als
ob der Tau des Genius des Künstlers darauf ruhte.
Die Hand ganz osteologisch richtig gezeichnet und
doch vollkommen verzeichnet; auch das Pelzwerk
noch ganz schülerhaft gemacht, aber sonst so leben¬
dig und geistvoll hingestellt, dass man sich kaum
von diesem Juwel zu trennen vermag. — Die Gräfin
hatte selbst ihre Freude, mich so begeistert zu
sehen. “2)
Was soll denn aus dem Widerspruch zwischen
1) S. „Kunstkritische Studien“ I, 239.
2) Das zweitgenannte Bild war ein Porträt eines Kar¬
dinals Archinti von Tizian, das dritte und vierte zwei Land¬
schaften von Salvator Rosa. Ferner wird einer reichen
Kupferstich- und Handzeichnungssamnilung gedacht, alles
leider seit Jahren in der weiten Welt zerstreut.
11
S2
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENUS.
diesem jugendliclien Eindruck und dem reiferen Ur¬
teil desselben Mannes gefolgert werden? Sollte etwa
jemand Anstoß daran nehmen, oder nicht eher den
Entwickelungsgang des menschlichen Geistes darin
erkennen, welcher zuerst nur von den Anschauungen
des Gefühls beherrscht wird, später aber den Schlüssen
der vernünftigen Überlegung Raum giebt?
GUSTAV FRIZZONL
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
VON KARL WOKRMANN.
MIT ABBILDUNGEN.
(Fortsetzung.)
UI.
LS Ismael sich nun mit seinen
Kindern allein in seinem
Hause sah, hatte er keinen
anderen Gedanken mehr als
deren künstlerische Erzie¬
hung. Sie vor den Augen
der Welt verbergend, sie
nur Nachts spazieren füh¬
rend, sie 'den ganzen Tag unablässig zur Arbeit
anhaltend, nur seinem eigensten Lehrgänge folgend,
unterrichtete er sie mit der äußersten Strenge im
Zeichnen und Malen. Sein älterer Sohn Karl Moritz
hielt die Behandlung nicht aus. Er entfloh dem
Elternhause, wurde in Prag katholisch, schloss
sich den Jesuiten an, wurde Hauslehrer bei den
Söhnen des Grafen von Seeau und des Baron von
Grünthal und erhielt endlich eine Anstellung als
Lehrer der französischen und italienischen Sprache
an der Ritterakademie zu Kremsmünster in Öster¬
reich, wo er starb, ln den Akten des Dresdener
Ilauptstaatsarchivs erscheint später nur seine Witwe,
die nach seinem und Ismael’s Tode die größte Mühe
liatte, ihren Erbteil nach Österreich ausgeliefert
zu erhalten. Die sächsische Regierung behauptete,
dessen Auszahlung nicht zugeben zu können, da Karl
Moritz Mengs ohne Erlaubnis ausgewandert sei; erst
als die österreichische Regierung, die den Rechts¬
grund dieser Weigerung bestritt, mit Repressalien
drohte, erhielt die Witwe Mengs in Kremsmünster
(I7S2) ihren Erbteil. Im Mengs’schen Hause aber
war nach der Flucht des Karl Moritz nie mehr von
ihm die Rede. Ismael tröstete sich damit, dass
.seine strenge Erziehung bei seinen
beiden Töchtern und besonders bei
seinem jüngeren Sohne Anton Ra¬
phael um so besser anschlug. Ohne
natürliche Veranlagung hätte Anton Faksimile von
Raphael seines Vaters Willen freilich nicht erfüllen
können; aber ohne die eiserne Zucht, die ihm sein
Leben lang nachging, hätte er es wahrscheinlich
auch nicht gethan. Er „soUte und musste“ ja.
Wozu hieß er sonst Anton Raphael? Es sind ihm
auch niemals Zweifel daran aufgestiegen, dass An¬
tonio da Correggio und Raffaello da Urbino, seine
Paten, neben denen er als dritten im Bunde höch¬
stens Tizian gelten ließ, die einzigen wirklichen
Maler der Welt seien, die einzigen Meister, auf
deren in eins verschmolzener Nachahmung das ganze
Heil der Zukunftskunst beruhe. In seinen späteren
Schriften ist dies der unzähligemal wiederholte und
abgewandelte Leitgedanke, der ursprünglich offenbar
von seinem Vater Ismael herrührte.
Es war daher nur folgerichtig, dass Ismael sich
schon, als Anton Raphael sein zwölftes Lebensjahr
erreicht hatte, entschloss, mit seinen Kindern nach
Italien überzusiedeln, um sie dort an der Quelle
weiterstudiren zu lassen. Vor der Abreise aber be¬
warb er sich noch in einer eigenhändigen Eingabe
an den König um die Leitung der Gemäldegalerie,
damit er nach seiner Heimkehr einem sorgenfreien
Alter entgegensehen könne. Er hatte wohl voraus¬
gesehen, dass der Galeriedirektor Le Plat während
seiner Abwesenheit sterben würde, und gefürchtet,
dass der vor kurzem (1739) als Hofmaler nach Dres¬
den berufene böhmische Meister Johann Gottfried
Riedel die Stelle erhalten würde, wenn er sich nicht
beizeiten meldete. Wie jene Voraussicht, ging nun
allerdings auch diese Befürchtung trotz seines Ge¬
suches in Erfüllung. Le Plat starb am 3. Mai 1742,
als Ismael Mengs noch in Italien
war, und an seiner Stelle wurde
Johann Gottfried Riedel mit der Lei¬
tung der Galerie betraut. Ismael’s
Ismael Mengs, Gesuch aber ist so charakteristisch,
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
83
dass es der Mühe wert ist, es zu veröffentlichen.
Es lautet wörtlich:
Allerdurchlauchtigster, großmächtigster König
und Churfürst, allergnädigster Herr!
Ew. Kgl. Maj. und Churfürstl. Durchl. wird in
allergnädigstem Andenken ruhen, was gestallt dero
Königl. und Churfürstl. Hauße ich in das 27^® Jahr
Dienste geleistet i) und solche jederzeit möglichster
maßen verrichtet habe, allermaßen nun meine Jahre
heranwachsen, mithin auch gar leichte die Augen
blöder werden dürfften, hinfolglich ich sodann in
meinem Alter eine Retirade zu suchen um desto
nöthiger finde, maßen Ew. Königl. Majt. sodann
meine allerunterthänigsten Dien.ste nicht so wie sonst
zu leisten im Stande wäre, voritzo aber dahin ledig¬
lich mich bestrebe, dass meine Kinder mein Metie,
wo nicht besser, so doch ebenso tüchtig als ich er¬
lernen und zu allerhöchst derselben Diensten fähig
werden, ich hingegen ein Soulagement haben möchte,
So verwendet an Ew. Königl. Majt. mein allerunter-
thänigst gehorsamstes bitten, Sie wollen die aller¬
höchste Gnade vor mich zu haben und insofern bey
dero Gallerie hierselbst eine V^acanz sich ereignen
solte, selbige mir conferiren zu lassen, alleraequa-
nimest geruhen. Ich werde dann alles obliegende
auf das genaueste zu observiren nicht ermangeln
und biß in das Grab in allertiefster Erniedrigung
beharren Ew. Königl. Majt. u. Churfürstl. Drchlt.
allerunterthänigst gehorsamster
Neustadt bei Dresden Ismael Mengs.
am 2. Sept. 1740.
Da eine Vakanz damals noch nicht vorhanden
war, reiste er, ohne eine Antwort abzuwarten, noch
im Herbst 1740 mit seinem Sohne, seinen beiden
Töchtern — und seiner neuen Haushälterin Katharina
Nützschnerin nach Rom ab.
Der Vatikan, in dessen Nähe die Familie Mengs
wohnte, wurde jetzt der tägliche Aufenthalt Anton
Raphael’s. Den ganzen Tag über wurde er hier bei
Brot und Früchten sozusagen eingesperrt. Erst
abends gab es eine reichliche Mahlzeit. Im Vatikan
musste er zuerst die Gemälde Michelangelo’s in der
Sixtinischen Kapelle und die Antiken im Belvedere
kopiren. Dann erst kamen die Stanzen Raphael’s an
die Reihe. In der Stadt aber zeichnete er abends
noch in Marco Benefiale’s Aktsaal nach dem lebenden
Modell. Seine beiden Töchter hingegen förderte
1) Auch hierdurch wird bestätigt, dass er 1714, ver¬
mutlich in der ersten Hälfte des Jahres 1714, zum Hofmaler
ernannt worden.
Ismael zu Hause in der Pastell- und Miniaturmalerei.
Bianconi sagt: „Für die Römer war es ein Wunder,
diese stillen und sittsamen kleinen drei Deutschen
(questi taciti e modesti tre tedeschini) in so zartem
Alter und so gut arbeiten zu sehen.“
Nach dreijährigem Aufenthalte in der ewigen
Stadt kehrte Ismael mit seinen Kindern nach Dresden
ziu'ück. Schon am 19. Febr. 1744 ist die Familie
hier urkundlich wieder nachzuweisen. Am 20. schrieb
der Graf Wackerbarth an den Pater Guarini: „Gestern
hatte ich die Ehre, ihm (d. h. dem jungen Prinzen
Friedrich Christian) den „Sieur Menks“ vorzustellen,
der seit kurzem von Rom zurückgekehrt ist.“ Nach
dem ganzen Zusammenhang kann hier natürlich nur
von Ismael, noch nicht von dem 15jährigen Anton
Raphael die Rede sein. Doch dies nur nebenbei.
Am besten lassen sich die urkundlichen Nachrichten
mit den unter sich verschiedenen Überlieferungen
der Schriftquellen vereinigen, wenn man annimmt,
dass die Familie Mengs sich ungefähr vom Januar
1741 bis zum Januar 1744 in Rom aufgehalten habe.
In Dresden wurde der noch nicht sechzehn¬
jährige Anton Raphael jetzt zunächst zur Pastell¬
malerei angehalten, die damals, wie heute wieder,
Mode war und einträglich zu werden versprach. Das
köstliche Bildnis seines Vaters und seine beideir
Selbstbildnisse in der Dresdener Galerie, auf denen
er sich, der Zeitmode entgegen, aber seinem Vor¬
bilde Raphael entsprechend, mit langem natürlichen
Haare dargestellt hatte, waren gewissermaßen seine
Probe- und Meisterstücke in dieser Kumst. Die
Selbstbildnisse zeigen in derThat einen 15 — 16jährigen
Knaben von dunklem Typus, hübscher, offener Ge¬
sichtsbildung und lebhaftem, ansprechendem Aus¬
druck. Bianconi erzählt eine lange romantische Ge¬
schichte von der zufälligen Entdeckung dieser Bilder
und der drei Künstlerkiuder, von denen niemand in
Dresden eine Ahnung gehabt habe. Der berühmte
Sänger Annibali soll eines Tages in Ismael Mengs’
Wohnung Zutritt gefunden, das geheim gehaltene
Künstlernest entdeckt und zunächst dem Pater
Guarini, dem Beichtvater Au gust’s HL, verraten haben.
Als der König davon erfahren, soll das Geheimnis
nicht länger zu wahren gewesen sein. Im Triumphe
sollen die Kleinen hervorgeholt worden und nun soll
Anton Raphael vom König, vom Hofe, von allen
Kunstkreisen Dresdens gedrängt worden sein, Pastell¬
bildnisse zu malen. Jeder wollte von dem Sechzehn¬
jährigen gemalt sein. Dass die anekdotenhafte
Zuspitzung dieser Geschichte erfunden ist, geht schon
aus der mitgeteilten Eingabe IsmaeTs an den König
11*
84
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
vom Jahre 1740 hervor. Schon in ihr spricht er ja
ausdrücklich davon, dass er zunächst der künstlerischen
Erziehung seiner Kinder lebe. Wahr aber ist es^
dass der junge Anton Raphael in den Jahren 1744 bis
1745 nicht nur den König, sondern auch den Sänger
Annibali, nicht nur den Oberhofmaler Silvestre,
sondern auch die Sängerin Mingotti, nicht nur den
Herrn von Hofmann, der der Gatte der Malerin
Felicitas Sartori war, sondern auch die Gattin des
Landschaftsmalers Thiele, der zwei Jahre darauf zum
Hofmaler ernannt wurde, in Pastell malte; wahr ist
es, dass alle diese Pastellbildnisse, die noch heute
der Technik und der
geistigen Erfassung der
Persönlichkeiten nach zu
dem Tüchtigsten gehören,
was in diesem Fache ge¬
leistet woi'den, im kunst¬
sinnigen und kunstver¬
ständigen Dresden jener
Tage ein um so größeres
Aufsehen erregten, da sie
von einem so blutjungen
Fanten gemalt waren;
wahr ist es, dass der
König alle diese Arbeiten,
die noch heute die Dres¬
dener Galerie schmücken,
, 'inkaufte, und dass Anton
Rajibael infolgedessen
durch Dekret vom 1. Ok¬
tober 1715 „in Hetracbt
seiner in dieser Kunst
erlangten und Ijcy ver-
scbiedener ihm seither
anvertrauter Arbeit er-
w i esen en G esc.l i i ckl i ch -
keit“ zum königlichen
Hofmaler ernanirt wurde. Fr war erst Jahr alt.
So etwas war noch nicht dagewesen. Ismael hatte
also allen Grund, mit dem Erfolg seiner Plrziehungs-
methode zufrieden zu sein.
Alle diese Hildnisse sind in der That so lebendig
tresehen und so meisterhaft wiedergegeben, dass
Anton Raphael Mengs, in dieser Rahn fortschreitend,
seiliständige Naturanschauung mit technischer Voll¬
endung verbindend, vielleicht wirklich auch für die
Nachwelt der Reformator der Kunst hätte werden
können, für den die Mitwelt ihn ansah. Aber wozu
hieß er Anton? Wozu hieß er Raphael? Auf den
Gedanken, dass es ein Verdienst sei, die Natur mit
eigenen Augen zu sehen, kamen weder er noch
sein V ater.
* *
*
IV.
Um Correggio und Raphael nachzuahmen, musste
Anton Raphael Mengs nach Italien zurückgeführt
werden. Die Dresdener Galerie besaß ja 1745 noch
keinen echten Raphael und noch keinen Correggio.
Die Sixtinische Madonna wurde erst 1753 erworben;
die berühmten Bilder Correggio’s aus Modena aber
können 1746 erst kurz vor der Wiederabreise der
Mengs in Dresden aufge¬
stellt worden sein. Im¬
merhin werden sie sie
noch gesehen haben. Vom
6. April 1746 ist das
königliche Dekret datirt,
welches dem „Hofmaler
Antonio Raphael Mengs
ein jährliches Tractament
von Sechshundert Tha-
lern“ aus der königlichen
„ Chatou Ile “ „ dergestalt
in höchsten Gnaden“ be¬
stimmte, „dass ihm sol¬
ches von Anfang iezigen
Jahres, in denen gewöhn¬
lichen Terminen, auch
währender dessen bevor¬
stehender Reise nach Ita¬
lien, wozu Ibro Königl.
Majt. ihm die allergnä¬
digste Erlaubniss erthei-
let, gegen seine Quittung,
unverrückt gereichet wer¬
den , er aber dagegen
jederzeit zu dero Dienst
sieb bereit finden lassen soll“; und vom 11. April
ist der französisch geschriebene Brief datirt, durch
den der allmächtige Minister Graf Brühl Ismael
Mengs und seinen Sohn dem Grafen de Lagnace,
der sächsischer Gesandter in Rom war, empfiehlt.
Dieser Empfehlungsbrief lautet:
„Le peintre de la Cour, Meng.s, allant ä Rome
y conduire son fils qui est aussi au Service du Roi,
et (pii a des talents tout particuliers pour la peinture,
lesquels il tachera de perfectionner encore d’avantage
dans cette grande Academie, je dois les recommander
ä Votre protection et assistance pour faciliter leur
(sic) vues, et l’obtien du büt que le Roi s’est propose
A. II. Men(JS. .JuKeiidlichPS Selbstbildnis in Pastell. Dresden.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
85
en leur faisant faire ce voyage.“ Wird in diesem
Brief der Schwestern Anton Raphael’s auch nicht
gedacht, so hatte August III. Theresia Concordia
und Juliane Charlotte doch nicht vergessen. Eine
wie tüchtige Malerin wenigstens die erstere war,
zeigen ja auch ihre Bilder in der Dresdener Galerie:
die beiden Pastelle, von denen das eine ihr Selbst¬
bildnis, das andere das Bildnis ihrer Schwester dar¬
stellt, und die bei¬
den glänzenden
Miniaturkopieen
nach Correggio’s
„Nacht“ in Dres¬
den und nach Cor¬
reggio’s „Tag¬
in Parma. Au¬
gust III hatte
auch jede der
beiden Schwes¬
tern vor ihrer Ab¬
reise mit einem
Gehalte von 300
Thalern ausge-
.stattet. Im Gan¬
zen reisten die
Mengs also mit
einem festen Jah¬
reseinkommen
von 1800 Thalern
wieder nach Ita¬
lien ab. Dass
sie noch im April
1746 ahgereist,
lässt das Datura
des Empfeh¬
lungsbriefes ver¬
muten. Sie rei¬
sten dieses Mal
aber langsam. In
Venedig, in Fer¬
rara, in Parma,
in Bologna hiel¬
ten sie sich auf. Tizian, Correggio und Raphael, be¬
sonders Correggio, wurden unterwegs studirt. Erst
gegen Ende des Jahres kamen sie wieder in Rom
an. Hier setzte Anton Raphael seine Studien fort,
malte auch seinem Vater zu Gefallen mitunter einige
sauber ausgeführte Miniaturen, wie sich ihrer fünf,
die teils Kopieen nach Bildern Raphael Santi’s sind,
teils auf eigenen Erfindungen beruhen, in der Dres¬
dener Galerie erhalten haben, ging aber nur lang¬
sam und tastend an die Ölmalerei heran. Sein erster
Versuch auf diesem Gebiete war eine Halbfigur der
Magdalena. Eine solche von der Hand des Raphael
Mengs hat sich z. B. im Madrider Museum erhalten.
Sein zweites Ölbild war das lebensgroße Bildnis
seines Vaters. Es steht nichts im Wege, anzuneh¬
men, dass dieses das Brustbild Ismael’s im roten
Rock im Vorrat der Berliner Galerie ist. Durch
den Erfolg dieser
Versuche ermu¬
tigt, wagte er
sich, als er ein¬
undzwanzig
Jahre alt gewor¬
den war, an eine
große „Heilige
Familie“. Näher
bescbrieben wird
sie nicht. Wir
hören , dass er
sie bald darauf
mitnachDeutsch-
laud nahm; aber
schon Bianconi’s
Ausdrucksweise,
dass er sie den
Dresdener Maje¬
stäten vorge¬
stellt habe (pre-
sentö loro), lässt
nicht darauf
schließen, dass
sie in Dresden
geblieben, wie
sich hier denn
auch in der That
keine Spuren von
ihr finden. Wo¬
hin aber ist sie
gekommen? Von
einigen Seiten
wird ohne wei¬
teres die Madonna zwischen zwei Engeln in der kais.
Galerie zu Wien für dieses erste, tief mit seiner
Lebensgeschichte verflochtene mehrfigurige Ölgemälde
seiner Hand erklärt. Da das Wiener Bild aber doch
eben keine „Heilige Familie“ darstellt, auch die
spätere, nicht die frühere Malweise des Meisters
zeigt, so ist diese Annahme von vornherein unwahr¬
scheinlich. Der nicht genug beachtete Ratti sagt
(p. VI) auch ausdrücklich, dass Mengs die „tavola
A. R. Mengs. Jugendliclies Selbstbildnis nach einem Pastell. Dresden.
. Mengs. l’astellbilil des llerni von Hol'niiinn. nresden. A. K l’ast'dlldldni' di -; Snn^ii'' 1 'oiuvuivi’ Aunili.ili.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
87
della Vergine col suo Divino Figliuolo in grembo
e due Angiolini“ 1770 in Monaco gemalt und (p. XI)
1773 der Großherzogin von Toscana überlassen, gleich¬
zeitig aber für den Herzog, gewissermaßen als Gegen¬
stück, einen , Traum Joseph’s“ gemalt habe. Nun,
die „Madonna zwischen Engeln“ und „der Traum
Joseph’s“ kamen beide zu gleicher Zeit, 1796, in die
Wiener Galerie, Ohne Zweifel sind sie die beiden
von Ratti be¬
sprochenen Bil¬
der. Sie stammen
also aus großher¬
zoglich toskani¬
schem Besitze.
Jene heilige Fa¬
milie aber , die
der junge Mengs
1749 in Rom
gemalt, werden
wir wahrschein¬
lich ebenfalls im
Vorrat der Ber¬
liner Galerie zu
suchen haben.
Die dort auf¬
bewahrte heili¬
ge Familie zeigt
auf dunklem
Grunde Joseph
im gelben Man¬
tel neben Maria,
die über blauem
Kleide einen ro¬
ten Mantel trägt
und das mit wei¬
ßem Hemdchen
bekleidete Kind¬
chen auf dem
Schoße hält. Die¬
se Arbeit ent¬
spricht in ihrer
ziemlich indivi¬
duellen, wenn auch nicht einheitlich durchem¬
pfundenen Gestaltung und ihrer glatten Malweise
wohl unserer Vorstellung von Raphael Mengs’ Jugend-
.stil. Kugler rühmte diesem Bilde „derbe frische
Naturwahrheit“ nach. Dazu stimmt einigermaßen,
dass Dresdener Kunstfreunden 1750 an Mengs’ „Heiliger
Familie“ vor allem die große Ähnlichkeit mit seiner
schönen jungen Frau auffiel.
Die schöne Margherita Guazzi, die ihm Modell
zur Madonna gesessen, war nämlich seine Gattin
geworden. Etwa gleichzeitig war er mit seinen
Schwestern zur katholischen Kirche übergetreten.
Ratti, sein erster Biograph, lässt durchblicken, dass
von einem Konfessionswechsel bei ihnen eigentlich
kaum die Rede sein konnte, weil sie sich vorher
überhaupt zu keiner Konfession bekannt hätten; und
Heinecken sagt ausdrücklich, Ismael habe seinen
Kindern von An¬
fang an die Wahl
der Religion
überlassen. Jetzt
aber folgte er
ihrem Beispiel,
weil er,wie er sag¬
te, „keine Schis¬
men im Hause
haben wollte“.
Nur Katharina
Nützschnerin,
die Haushälterin,
ließ sich noch
nicht bewegen,
mitzuthun.
Der roman¬
hafte Anstrich,
den Bianconi sei¬
ner Erzählung
dieser Begeben¬
heiten gegeben,
veranlasste sclion
im vorigen Jabr-
h lindert einige
Berichterstatter
(Heinecken und
Prange), Zweifel
an ihnen zu äu¬
ßern und wenig¬
stens Einzelhei¬
ten in anderer
Fassung vorzu¬
tragen. Heine¬
cken bestritt besonders, dass die Familie Mengs erst
aus Anlass der Heirat Anton Raphael’s katholisch
geworden sei. Doch hat Bianconi’s Erzählung
gerade in dieser Beziehung die innere Wahrschein¬
lichkeit für sich. Er sagt auch ganz bestimmt, dass
der Übertritt am 19. Juli 1749 in Rom erfolgt sei
und dass einige Wochen darauf die Hochzeit statt¬
gefunden habe.
Gewiss ist, dass die Familie Mengs, katholisch
A. R. Mengs. Pastellbildnis August’s III. Dresden.
JlENGS. l’astellbildiiis (1er Sängerin Miiigotti. Drosden. A. K Mr.N(.s. r;ist('llliilihiis der Frau A. TliioU- i‘.e--d('n
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
S9
geworden, um Weihnachten 1749 wieder in Dresden
ankam, Ismael an der Seite der Katharina Nützsch-
nerin und seiner Töchter, Raphael an der Seite seiner
jungen Gattin, deren Schönheit Aufsehen in Dres¬
den erregte, und gewiss ist, dass es hier bald zu
ärfferlichen Auseinandersetzunofen zwischen dem Alten
und dem jungen Paare kam. Ismael, der eine aus¬
gezeichnete Tafel liebte, beanspruchte, alter Gewohn¬
heit entsprechend, den Haushalt für die ganze
Familie zu füh¬
ren, dafür aber
auch alle Einnah¬
men seiner Kin¬
der einzukassi-
ren. Ihn deshalb
mit Anton Ra-
phael’s Freun¬
den der Habsucht
und Herrsch¬
sucht anzukla¬
gen, ist kaum
nötig, da ein sol¬
ches Verhältnis
bisher in der
Natur der Sache
gelegen hatte.
Vollkommen er¬
klärlich ist es
aber auch , dass
das junge Paar,
besonders nach¬
dem ihm 1750
hier sein Töch-
terchen Anna
Maria geboren
wurde, nach Selb¬
ständigkeit ver¬
langte. Es kam
zu einem Ver¬
gleich, nach dem
Ismael und sein
Sohn zwar im gleichen Hause wohnen blieben, aber
verschiedene Haushalte führten. Die Reibereien,
an denen hauptsächlich die Haushälterin Katharina
schuld war, dauerten trotzdem fort. Dass der König
ihnen dadurch ein Ende gemacht, dass er Anton
Raphael und seiner Gattin eine besondere Wohnung
und gar Equipage angewiesen, wie Azara und Guibal
berichten, ist schon aus dem Grunde unwahrscheinlich,
weil Bianconi, der damals bereits Leibarzt in Dresden
war und mitten in dessen Getriebe stand, also un¬
A. R. Mengs. Pastellbikl Silvestre’s. Dresden
zweifelhaft davon wissen musste, kein Wort davon er¬
wähnt, vielmehr seinen Bericht über diese Familien¬
zwistigkeiten ausdrücklich mit den Worten schließt:
„Ecco in pochi giorni la famiglia dei Mengs divisa
d’interessi e di tavola, ma no}i divisa di domicilio‘''.
Anton Raphael, dessen Herz von größter Dankbar¬
keit gegen seinen Vater erfüllt war, litt außer¬
ordentlich unter diesen Verhältnissen, erstickte seinen
Schmerz aber in rastlosem Arbeiten. An Aufträgen
fehlte es ihm
nicht. In Pastell
malte er um
diese Zeit den
Prinzen Fried¬
rich Christian
und seine Gemah¬
lin Maria Anto¬
nia, 1751 auch
deren am 23. De¬
zember 1750 ge¬
borenes Söhn-
chen, den nach¬
maligen König
Friedrich August
den Gerechten.
Der berühmte
kleine Amor, der
seinen Pfeil
schleift , muss
ebenfalls dieser
Zeit angehören,
wenn er nicht
später aus Rom
geschickt wor¬
denist. Alle diese
Pastelle gehören
zu den Zierden
der Dresdener
Galerie. In Öl
malte er den
Prinzen Fried¬
rich Christian und seine Gemahlin noch einmal
als lebensgroße Kniestücke. Dasjenige des Prinzen
befindet sich im Schlosse Weesenstein im Miiglitz-
thal, dasjenige der Prinzessin ist in die Dresdener
Galerie gekommen. Es sind ungemein frisch und
keck aufgefasste, farbig und kräftig gemalte Bilder,
die höchstens eine gewisse Weichheit des malerischen
Schmelzes vermissen lassen. Vom König erhielt er
den Auftrag, ihn und die Königin lebensgroß, in
ganzer Gestalt, mit königlichem Schmuck in Öl zu
Zeitschrift für bildende Kunst. N, F. V II. 4.
12
90
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
malen. Doch sind diese Bilder niemals fertig ge¬
worden. Anton Raphael nahm sie 1752 unvollendet
mit nach Rom. Unvollendet nahm er damals auch
das Ölbild seines Freundes, des Hofsänger Annibalis,
mit auf die Reise, vollendete es aber unterwegs. Mit
des Künstlers Namenszeichnung und der Jahreszahl
1752 versehen, schmückt es gegenwärtig die Brera
in Mailand.
Die Hauptaufgabe aber, die dem jungen Hofmaler
in den Jahren 1751)— 1751 in Dresden gestellt
wurde, war die Ausschmückung des Hochaltars der
neuen, von Chiaveri erbauten, 1751 eingeweihten
katholischen Hofkirche und seiner beiden Neben¬
altäre mit großen Andachtsbildern. Dresden war
unter August ITl. von einer französischen zu einer
italienischen Kolonie geworden. Den italienischen
Sängern, Musikern, Ärzten, Bildhauern, Malern ge¬
sellte sich in Chiaveri auch der italienische Bau¬
meister. Schon standen die in den vorhergehenden
Jahrzehnten errichteten Prachtbauten, wie der
Zwinger, das japanische Palais, das Altstädter Rat¬
haus, das 1760 abgebrannte Flemming’sche, das
Kurländer Palais und andere Gebäude, in denen sich
Deutsche wie Pöpjielmann, Bähr, Kuöffel, Franzosen
wie Le Plat, de Bodt, Longuelune verewigt hatten;
schon wölbte sich als Wahrzeichen des neuen Dresdens
Bäbr’s großartige Steinkuppel der Frauenkirche über
der Stadt; schon ging das Brühl’sche Palais von der
Hand Knöff'ers seiner Vollendung entgegen. Das
1 lauptereignis in der Baugeschichte Dresdens aber,
das die Familie Mengs um diese Zeit hier erlebte,
war eben die \'ollendung der katholischen Hofkirche,
der eigensten Kirche des Königshauses, zu deren
Erbauung der Börner schon 17J7 nach Dresden be¬
rufen worden w'ar. Anton Raphael Mengs hatte
einen gewissen Anteil an der Vollendung des Ge-
Ijäudes. Der Bau war eingestellt worden, weil bös¬
will ige oder ängstlicbe Gemüter das Gerücht ver¬
breiteten, das Gewölbe sei im Begriffe einznstürzen.
.Anton Baphael untersuchte den Bau auf eigene Ge¬
fahr, gewann die l ’berzengung, dass nur Ränke den
Weiterbau hinderten, öffnete dem König die Augen
und hatte die Genugthuung, bald der Einweihung
der Kirche beiwohnen z\i können. Der alte Chiaveri
umarmte den jungen Mengs und nannte ihn „seinen
\ ater“.
Ein nicht minder großer Sieg des jungen Hof¬
malers war es, dass bei der Verteilung der Gemälde,
mit denen die neue Kirche geschmückt werden sollte,
Silvestre und Hutiu, Torelli und Palko sich mit
Altarbildern imChorunigang und im Schiffe der Kirche
begnügen mussten, während er selbst den Auftrag
erhielt, die drei großen Gemälde für den Chor zu
malen. Die Gemälde der beiden Seitenaltäre des
Chors führte er sofort 1750 in Dresden aus. Sie be¬
finden sich noch an ihrem Platze. Dasjenige zur
Linken stellt den Traum Josefs dar. Der Entwurf
dazu, sowie der Entwurf eines zweiten Bildes des¬
selben Gegenstandes werden in der Dresdener Galerie
aufbewahrt. Das Altarbild zur Rechten aber stellt
nach alten und neuen Angaben eine „immaculata
conceptio“, eine „Empfängnis Maria’s“ dar. Doch
kann man sich leicht überzeugen, dass diese Angaben
unrichtig sind. In Wirklichkeit ist es eine der
keineswegs selten vorkommenden symbolischen Dar¬
stellungen des Sieges der christlichen Religion : Maria
erscheint im Goldlicht auf der Erdkugel; aber sie
hält ihren Knaben neben sich; und der Jesusknabe
zertritt die Schlange, die sich um den Erdball windet.
Beide Gemälde sind nicht besonders reizvoll in der
Anordnung, aber auch nicht besonders reizlos in der
lieh tdurchg] übten Färbung. Doch tritt die Absicht,
zugleich Raphael und Correggio nachzuahmen, in
ihnen etvras trocken zu Tage. Mit des Meisters
gleichzeitigen Bildnissen können sie sich nicht im
entferntesten messen. Das Hauptbild der katholischen
Kirche aber ist die Himmelfahrt Christi auf dem
Hochaltäre. Es ist ein Riesenhöhenbild mit drei ver¬
schiedenen Augenpunkten: einem für die lebhaft be¬
wegten Apostelgruppen auf der Erde, aus denen links
die hohe Gestalt der Schmerzensmutter aufragt, einem
zweiten für den in der Mitte zwischen erwachsenen,
langbekleideten Engeln ruhig emporschwebenden
Heiland, einem dritten für den ewigen Vater, der
im Goldlicht der Höhe, weißhaarig, weißbärtig, ganz
in W eiß gekleidet, von Engeln umringt und getragen,
seinem göttlichen Sohne entgegenschwebt. Pecht
sagt, es sei „ein hochschätzbares Werk und zugleich
ein Beweis, wie ungerecht ganze Zeiten sein können,
da man es heute kaum mehr beachte“. Andere
urteilen anders. Die Himmelfahrt Christi wurde
übriijeus 1750 in Dresden nur entworfen. Nachdem
Augu.st 111. den Entwmrf genehmigt, erklärte Anton
Raphael sofort, das Gemälde nur in Rom ausführen
zu können. Doch ließ er es unvollendet in Rom
zurück, als er 1761 nach Madrid übersiedefte.
Hierher wurde es ihm auf Befehl des sächsischen
Hofes 1 765 nach geschickt. Da er von dem festgesetzten
Preise von 6000 Thalern 4000 Thaler bereits im
voraus in Dresden ausbezahlt erhalten hatte, beeilte
man sich, ihm nunmehr den Rest von 2000 Thalern
in Madrid zukommen zu lassen. Man traute dem
AUGUST WITTIG.
91
Meister, wie aus dem amtlichen Briefwechsel über
die Angelegenheit hervorgeht, zu, dass er sonst das
noch nicht völlig bezahlte Bild als unverkauft dem
Madrider Hof anbieten könne. Am 13. März 1766
endlich berichtete der Legationsrat Saul, der säch¬
sischer Gesandter in Madrid war, seinem Hofe, dass
das Bild vollendet in Madrid ausgestellt sei und dort
ungeheures Aufsehen errege. Die Verpackung in
eine große Kiste werde Saul selbst überwachen. Am
10. April desselben Jahres fügt Saul hinzu, dass es,
nachdem die Farbe getrocknet, wohlverpackt nach
Cadiz abgegangen sei. Uber Amsterdam und Hamburg
langte es erst gegen Ende des Jahres 1766 ganz zu
Wasser in Dresden an, wo seine endliche Aufstellung
natürlich als ein Ereignis gefeiert wurde.
*
AUGUST WITTIG.
VON OTTO BONNER VOS lUCHTEB.
MIT ABBILDUNGEN.
lE deutsche Bildhauerkunst
hat am 20. Februar 1893
einen hervorragenden, hoch-
begabten Vertreter verloren.
An diesem Tage beschloss
August Wütig, königlicher
Professor der Bildhauerei
an der Düsseldorfer Aka¬
demie, ein Leben, welches ganz ausgefüllt war
von dem ernstesten, heißesten Be.streben, nur das
nach seiner Auffassung und Erkenntnis Be.ste und
Würdigste zu leisten, und niemals um materieller
Vorteile willen auch nur einen halben Schritt von
seiner Bahn abzuweichen. Dabei erwies sich ihm das
Geschick insofern freundlich gesinnt, als es ihm in
seinen Bestrebungen die Anerkennung der Besten zu
teil werden ließ und ihm gewährte, was er bedurfte,
so dass er sich seinem Ringen nach Vollendung,
wenigstens von seinem Mannesalter an, ohne Sorgen
hingeben konnte.
Doch war seine Kindes- und Knabenzeit keine
leichte und bequeme. Wittig wurde am 23. März 1823
in dem freundlichen Meißen durchaus mittellosen
Eltern geboren, welche für seine Erziehung nicht
mehr thun konnten, als den Knaben der dortigen
guten Volksschule zu übergeben. Aber die Natur
hatte ihn mit lebhafter Auffassungsgabe ausgerüstet,
so dass er mit rastlos nach Vervollkommnung stre¬
bendem Geist im Laufe späterer Jahre vieles nach¬
zuholen vermochte, was ihm der erste Unterricht
nicht hatte gewähren können. Zudem waren seine
dunklen, leuchtenden Augen, welche sein angeregtes
Innere spiegelten , zur Beobachtung der Natur und
der Menschen mit der nötigen Schärfe ausgestattet,
die ihn früh das Schöne erkennen ließ, dessen Kultus
sein ganzes Leben ausfüllte. Seine Begabung für
die bildende Kunst wurde auch bald erkannt und
ihm durch Gönner die Aufnahme in die Dresdener
Akademie ermöglicht, nachdem er zuvor in Meißen
nur als Steinmetz gearbeitet hatte.
Hier war es der als Künstler wie als Mensch
gleich treffliche Rietschel, in dessen Atelier Wittig
im .Jahre 1843 eintrat, der sich seiner besonders
annahm und mit wahrhaft väterlicher Sorgfalt nicht
nur seinen Studiengang als Bildhauer leitete, sondern
ihm auch zur Vervollständiffung seiner allgemeinen
Bildung stets hilfreich zur Seite stand und ihn in
seine Familie wie einen Sohn aufnahm, ln dieser
Stellung lernte ich im Jahre 1846 zuerst den Drej-
undzwanzigjährigen kennen, der sich damals schon
die Schätzung aller der in Dresden lebenden hervor¬
ragenden Künstler erworben hatte, von welchen Ben-
dcmann und Hühner an der Akademie als Lehrer
wirkten, Ilähnel jedoch außerhalb derselben eine
selbständige, ja bis zu einem gewissen Grade oppo¬
sitionelle Stellung einnahm. Dies war teils in der
Verschieden artigkeit des Studienganges begründet,
welchen die Genannten durchgemacht hatten, lag
zum Teil auch in den Charakteren selbst, Bende-
mann und Hübner hatten die Anschauungsweise der
Düsseldorfer Schule nach Dresden verpflanzt; Hähnel
dagegen hatte sein Talent in München unter dem
Einfluss der Cornelianischen Schule und namentlich
in inniger Anlehnung an Genelli entwickelt und als
eine Persönlichkeit von ungewöhnlicher Kraft und
Energie vertrat er seine Anschanungen auch dem
12*
92
AUGUST WITTTG.
entsprecliend. Eine gewisse Mittelstellung aber nahm
Rietschel ein. Als Schüler Rau ob’s zu stilvoller
Auffassung der Kunst erzogen, hatte er sich all¬
mählich mehr und mehr einem feinen Realismus zu¬
gewendet, den die damalige Münchener Cornelianische
Richtung noch verschmähte, welcher den Werken
Rietschel’s aber gerade einen ganz ungemeinen Zauber
verlieh. Das Reliefporträt von Moritz von Schwind
ist eine seiner schönsten Arbeiten in dieser Richtung.
Es ist nun bei Wittig’s Bildungsgang von In¬
teresse, zu sehen, wie er trotz seiner durch Rietschel
geleiteten Studien früh schon eine stärkere Hin¬
neigung zu der Hähnel’schen Richtung zeigte, und
wie sich diese Richtung bei
zunehmender Selbständigkeit in
ihm immer mehr und mehr ent¬
wickelte. Ein gewisser Zug von
Herbigkeit in seinem eignen
Wesen mag ihn unbewusst da¬
hin gezogen haben. Ein Zeug-
nis für sein richtiges und edles
Gefühl ist es aber, dass dies
niemals zu einer Verschiebung
seiner Stellung zu Rietschel
führte, dem er bis an dessen
Lebensende in treuester Dank¬
barkeit ergeben war.
Die erste Arbeit, mit wel¬
cher der junge Künstler ver¬
diente Aufmerksamkeit auf sich
lenkte, war ein Belief, der Raub
des ll}'l:us, im .Jahre ISJb. Es
trug ihm die aufmunternde Be-
Stellung zweier Reliefs, die Land¬
wirtschaft und den Gartenbau dar¬
stellend, seitens des kunstlieben¬
den Herrn Dr. Crusiusin lieipzig
für dessen Landhaus ein, Arbeiten, welche ganz im
Sinne der Rietsclierschen Unterweisung ausgeführt
wurtlen.
Aber neue Eiritlüsse wirkten nun auf die Ge-
scbmacksrichtimg des jungen Bildhauers bestimmend
•du, und zwar von malerischer Seite ausgehende.
Im Frühjahr 1810 batte Moritz von Schwind von
Frankfurt aus einen Besuch in Dresden gemacht
und war mit Fnthusiasmus dorten von den jungen
Künstlern empfangen worden; auch .hdiUH Schnorr
von f'nrotsfchl, der in jenem .Jahre zum Galeriedirek¬
tor und Professor an der Akademie berufen worden
war, begann in Dresden Eiuflu.ss zu gewinnen, und
seine talentvollen Schüler Widicenus und (Jlcichauf
wurden nahe Freunde Wittig’s. Unter solchen Ein¬
flüssen entstand Wittig’s Gruppe „Siegfried’s Abschied
von Chriemhilde“, welche als Bronze in den Besitz
des Professors Gönne überging, und mit welcher
er sich seitens der Akademie das Stipendium für
Rom eroberte.
Die ihm damit gebotenen Mittel zu sorgenloser
Weiterbildung benutzte Wittig, um auf dem Wege
nach Rom zuerst in München einen längeren Auf¬
enthalt zu nehmen. Er traf dort im Frühjahr
1849 in glückseliger, hoffnungsvollster Stimmung ein.
Gerne gedenke ich der dort mit ihm und anderen
Freunden in nahem Umgänge mit Moritz von Schwind
und Genelli verbrachten Monate
voll ernster Arbeit und heiterer
Erholungsstunden. N am entlieh
waren es die monumentalen
Malereien von Cornelius, die wir
gemeinschaftlich studirten. Da¬
zwischen modellirte Wittig die
Skizze zu einer Gruppe der Ca¬
ritas, die er später in Rom aus¬
führte.
Im Herbst trat er die Reise
nach Rom an, nahm jedoch in
Florenz Avieder einen längeren
Aufenthalt. Dort fand er in den
Werken Donatello’s gerade das
ausgesprochen, was ihm konge¬
nial war, was er selbst in der
Kunst suchte und was er in
der erwähnten Gruppe der Cari¬
tas, mit deren Ausführung er
nach seiner Ankunft in Rom im
Winter seine dortige Thätigkeit
begann, zu verkörpern strebte.
Doch lassen Avir ihn über diese
Zeit selbst reden. Er schrieb mir unter dem Datum
des 27. Juli 1851: „Diese Arbeit (die Caritas),
^/4 Lebensgröße, beschäftigte mich bis August
vorigen .Jahres. Dann reiste ich nach Neapel, wo
mir eine ganz neue Welt offenbart wurde, so¬
wohl in Bezug auf Naturschönheiten als in Be¬
ziehung auf alte Kunst, welche dorten im Museum
besonders durch die Bronzen und Gemälde herrlich
vertreten ist. Nach zwei Monaten, deren Erinnerung
mir fürs ganze Leben bleiben wird, kehrte ich wieder
nach meinem lieben Rom zurück und fing ein Relief,
Ganymed, den Adler speisend, an, in dem Glauben, es
würde hier meine letzte Arbeit sein. Doch als ich
es ziemlich vollendet hatte, kam die Nachricht aus
A. Wittig. Nacli einer Photographie.
AUGUST WITTIG.
93
Dresden, dass meine, von mir eingesandte, Gruppe
(die Caritas) so gut aufgenommen worden sei, wie
ich es nie vermutet hätte, und dass infolge dieser
Arbeit der akademische Rat ungewöhnlicherweise
mein Stipendium noch um ein Jahr verlängert habe.
tropfen vergieße. Sie stellt einen Mann vor, der,
noch alle Jugendkraft in seinen Muskeln spürend,
hinaus auf die Jagd geeilt ist, und in dem Moment
dargestellt ist, in welchem er seine Beute erblickt,
die er zu erlegen im Begriff ist, indem er den Pfeil
Hagar und Ismael. Marmorgruppe von A. Wittig.
So fing ich bald ein Pendant zu jenem Relief, Hebe,
den Pfau der Juno futternd, an. Nach Beendigung
dieser Arbeiten, welche viele Anerkennung gefunden
haben, fing ich eine große Figur an, an welcher ich
jetzt in der furchtbaren Hitze manchen Schweiß-
aus dem Köcher und den Bogen zur Hand nimmt.
Es wird mir diese Figur ein reiches Feld zum
Studium des menschlichen Körpers bieten, wozu
hier herrliche Hilfsmittel, d. h, Modelle vorhanden
sind . Leider habe ich einen Verlust erlitten,
94
AUGUST WITTIG.
den ich fürs ganze Leben bitter fühlen werde; es
ist der Tod meines edlen Freundes Hermcmn Kersting
(ein Schüler Bendemann’s).“
Die beiden angeführten Marinorreliefs sind an¬
mutig poetische, ungemein durchgebildete Arbeiten;
die Figur des Jägers in der That, wie er es selbst
auffasste, eine vorzügliche Studie nach dem Leben,
zu welcher ein damals berühmtes Modell, Carlo, das
Vorbild gab. Sie ist nie in Marmor ausgeführt wor¬
den und befindet .sich in Gips im Krystallpalaste zu
London unter den Werken moderner Skulptur. Die
Caritas jedoch ist ein Werk voll frischer, poetischer
Erfindung und eigenster, natürlichster Ausdrucks¬
weise. Eine junge Mutter, am Oberkörper unbekleidet,
dreht sich mit freundlichem Blick rechts nach einem
Töchterchen um, das sich kosend an sie anschmiegt,
während der jüngste Knabe sich an ihre linke Brust
herandrängt und ein älterer Junge, übermütig zwischen
ihren Knieen liegend, ihren Arm fest an sich presst.
Auch für diese Gruppe fand sich zur Ausführung
in Marmor leider keine Gelegenheit, doch wird sie
jetzt in Bronze für Meißen gegossen.
Der im Frühjahr 1853 erfolgende Besuch des
l^rofessors Frege aus Leipzig mit seiner künstlerisch
durchgebildeten Gattin wurde Veranlassung, dass
Wittig ein Beliefporträt derselben in Medaillonform
ainsführte und zugleich die Be.stelluug auf ein Medail¬
lonrelief in der Größe der beiden schon erwähnten
erhielt, eine Loreley, welche auf der Harfe ihre ver¬
lockenden Lieder begleitet. Das Werk wurde in
Marmor erst l&GO vollendet und zeichnet sich durch
schönste Harmonie der Linien und anmutige Durch¬
bildung aus, welche jedoch einer gewissen Herbigkeit
nicht entbehrt und darin an Cornelius erinnert,
welcher seit dem Frühjahr 1853 Korn wieder zu
seinem Wohnsitz gemacht hatte. Mit ihm war
Wittig sehr bald in die nächsten Beziehungen ge¬
treten und hatte sich von ihm der lebhaftesten Auf¬
munterung bei seiner ungefähr seit einem Jahre
schon begonnenen Gruppe — ich sah dieselbe bei ihm
im II erlist 1852 schon ganz aufgebaut — der Hagar
mit dem verschmachtenden Ismael im Schoße, s.
Abb. S. 93, zu erfreuen. Wie mir ein Ohrenzeuge, der
Maler Karl Moßdorf, damals schrieb, sagte ihm Cor¬
nelius: .Machen Sie nur so fort, es wird sehr gut. Sie
sind so jung, und es dürfte mancher Alte froh sein,
wenn er so etwas zu .stände brächte. Ich glaube
dies sagen zu dürfen, ohne Sie eingebildet zu machen,
denn wer so etwas hinstellt, ist darüber hinaus.“
In der That spornte dieses Lob Wittig zu der
äußersten Ansi)annung seiner Kräfte an. In dem
Wunsche, das Beste zu leisten, konnte er sich nur
schwer zu einem Abschluss der Arbeit entschließen,
an welcher er immer und immer wieder zu ver¬
bessern suchte, an sich selbst die höchsten Ansprüche
stellend, die stets wuchsen, jemehr er sich dem
Studium der alten Meister, namentlich Michelangelo’s
in der Sixtinischen Kapelle, hingab. Die Antike
stand Wittig stets ferner als die mittelalterliche und
die moderne Kunst, und niemals ist er der Versuchung
erlegen, sich der ersteren gegenüber nachahmend
zu verhalten. Wohl aber darf man sagen, dass er
in der Hagargruppe sich eine durchaus eigene, aus
seinem angeborenen Talente und seinem besonderen
Bildungsgänge entsprungene künstlerische Ausdrucks¬
weise geschaffen hat, die, verbunden mit dem glück¬
lichen Kompositionsgedanken, dieses Werk unter die
hervorragendsten Bildhauereien unserer Neuzeit ein¬
reiht. Die beigegebene Illustration enthebt mich jeder
weiteren Beschreibung derselben. Erst Ende Januar
1854 konnte er sich entschließen, das Modell in
Gips zu gießen.
Wie sehr er einen Auftrag auf Ausführung
der Gruppe in Marmor ersehnte, können wir einem
vom 19. August 1854 datirten, an mich gerichteten
Briefe entnehmen: „Mein Atelier befindet sich jetzt
in dem neuen Eckhause Via San Isidoro, Nr. 15.
Es ist sowohl durch seine Lage, als durch seine
Räumlichkeiten und den dazu gehörigen kleinen
Garten so vorzüglich, dass nichts zu wünschen übrig
bleibt als die Kleinigkeit einiger Bestellungen, die
sich gewiss vorzüglich darin ausführen ließen. Und
wirklich bin ich auch beschäftigt, drei Reliefs, welche
mir bestellt sind, wenn auch nicht vorzüglich, doch
so gut als ich kann, in Marmor auszuführen. Das
eine stellt die Loreley dar, die für ein Musikzimmer
bestimmt ist; die beiden anderen sind die Dir viel¬
leicht erinnerlichen Reliefs von Ganymed und Hebe,
welche letztere ich ganz von neuem modellirt habe.
Es freut mich sehr, dass diese beiden Reliefs in
einem Speisezimmer eingelassen werden, wofür ich
sie mir gedacht hatte. Da ich sie mit Ausnahme
der ersten Vorarbeiten ganz allein in Marmor aus¬
führe, so machen sie mir viel Freude, haben aber
auch den Wunsch l)ei mir um so viel reger ge¬
macht, eine größere Arbeit in Marmor ausführen
zu können, denn die Bildhauerei feiert eben doch
nur ihren eigentlichen Triumph durch die höchste
Vollendung, und diese ist in keinem anderen Material
so möglich, als in Marmor. Wie glücklich würde
es mich gemacht haben, hätte ich meine Hagar aus-
führeu können! Ich hatte mehrfach Aussicht dazu,
AUGUST WITTIG,
95
doch hat sich bis jetzt noch keine erfüllt, so dass
mir der Gedanke an die Möglichkeit allmählich
schwindet.“
Dieser Wunsch wurde ihm jedoch in seinen
späteren Lebensjahren noch erfüllt! Im Jahre 1874
war die Ausführung in Marmor für die National-
ffalerie in Berlin vollendet und zwar wiederum mit
O
sehr bedeutenden Verbesserungen des ersten Modelles.
Aber schon früher ward ihm Gelegenheit, eine
Arbeit in Marmor bis ins Letzte durchzuführen,
nämlich ein Relief der Grablegung Christi im Auf¬
träge der Gräfin Dohna-Dönhofstädt für die Vorder¬
seite eines Altars in ihrer Schlosskapelle bestimmt,
1,40 m laug und 0,70 m hoch. Es war im Jahre
1857 vollendet und darf wohl als eine der vorzüg¬
lichsten Leistungen des Künstlers bezeichnet werden.
Hier feiert er wirklich seinen „eigentlichsten Tri¬
umph durch die höchste Vollendung“ in dem Mar¬
mor, wie durch die ergreifende Ausdrucksweise des
Vorganges und die würdevolle, rhythmisch vollendete
Anordnung der Komposition. Hier hat er auch in
der Behandlung des Gewandes sowohl in Feinheit der
Durchbildung aller Einzelheiten, als auch in der ge¬
schmackvollen Gestaltung der Hauptmassen ein ihm
ganz Eigentümliches erreicht, seine eigenen Ideale
in der That ganz verwirklicht.
Bald darauf begann Wittig eine Arbeit, welche
er erst kurz vor seinem Tode zum Abschluss brachte.
Es ist die Gruppe der Pieta, die ihm Herr von BctJi-
mann-Hollweg bei seinem Aufenthalt in Rom in Lebens¬
größe bestellt hatte. Der großen Schätzung seines
Talentes durch letzteren verdankte Wittig die im
Jahre 1862 erfolgte Ernennung zum Professor der
Bildhauerkunst an der Düsseldorfer Akademie, welche
bis dahin keine Bildhauerschule besessen hatte. Da
er aber seine Pieta noch in Rom zu vollenden
wünschte, so konnte er erst 1864 dorthin übersiedeln.
Sein Modell der Pieta fand er aber sehr bald seinen
Ansprüchen nicht mehr genügend und zerschlug es,
um ein neues zu beginnen.
Nun aber trat sein Lehrberuf, dem er auf das
gewissenhafteste oblag, seiner schöpferischen Thätig-
keit hemmend entgegen und nicht minder seine Be¬
mühungen, zum Zwecke seiner Schule ein Museum
von Gipsabgüssen zu gründen, in welchem nach und
nach die Hauptwerke der antiken Kunst und der
Renaissance zur Aufstellung gelangten. Dennoch
entstanden neben seinem beständigen Arbeiten an
der Pietägruppe eine Anzahl von Werken, welche
jedoch kaum der künstlerischen Individualität Wit-
tig’s, wie sie sich in den bis hierher geschilderten
Werken ausgeprägt gezeigt hat, einen neuen Zug
hinzufügen, es seien denn die beiden Kolossalbüsten
des Direktors Wilhelm von Schadmv, 1869 auf dem
Schadowplatze in Düsseldorf aufgestellt, und jene
von Cornclms, welche Wittig anlässlich der Toten¬
feier in Düsseldorf modellirte und welche später in
Bronze ihre Aufstellung in der Nationalgalerie fand.
Diese Büste bringt den Giganten unserer modernen
Kunst in der ganzen Wucht seiner geistigen Be¬
deutung auf das eindringlichste zur Anschauung und
kaum konnte ein anderer als Wittig, da er dem
Meister Jahre hindurch so nahe gestanden hatte,
eine solche Büste nach seinem Tode schaffen.
Nicht zur Ausführung gelangte das im Jahre
1870 im Aufträge der Gräfin Dohna-Dönhofstädt
entworfene Modell für ein Grabmal ihres in den Frei¬
heitskriegen gefallenen Bruders, des Grafen Dohna,
der, in den Soldatenmantel gehüllt, auf einem Sarko¬
phage ruht. Gleiches Schicksal hatte der 1871 ent¬
standene Entwurf zu einem Siegesdenkmal, einer Vik¬
toria, welche einem dahingesunkenen sterbenden
Krieger den Lorbeerkranz aufs Haupt drückt. Es
ist bemerkenswert, dass Wittig sich hier nicht ent¬
schließen konnte, realistisch zu verfahren, sondern
den Krieger idealistisch in antikes Kostüm kleidete,
dadurch allerdings auch jene ungemein edle Gestalt
eines Sterbenden schaffen konnte. Dem entsprechend
wich er auch in der Gewandung der Viktoria von
der von ihm für christliche Gegenstände gewählten
Form ab und näherte sich etwas mehr antiker Ge¬
wandbehandlung.
Nicht minder unausgeführt blieben aus hier
nicht näher zu erörternden Ursachen die im Jahre
1878 für die Basilika in Trier modellirten Statuen
der Apostel Petrus und Paulus und zwei als Karya¬
tiden für das Portal der neuen Akademie 1882 ent¬
worfene weibliche Figuren, von welchen die eine
den Ölzweig, die andere ein Füllborn in der Hand
hält, beide von ganz besonderer Schönheit der Ver¬
hältnisse und großartiger, einfacher Anordnung.
Alle diese unerfreulichen Erlebnisse, welche den
leidenschaftlich empfindenden Künstler tief ergriffen,
hatten auf seine Gesundheit den nachteiligsten Ein¬
fluss. Aber diese Missgeschicke waren nicht die
einzigen. Vier Porträtmedaillons , welche die Aka¬
demie zieren sollten und am Tage vor dem Brande
der Akademie im Jahre 1872 fertig geworden waren,
gingen bei demselben zu Grunde und die Modelle
derselben, welche in einem Schuppen aufbewahrt
waren, wurden nach dem Brande von roher Hand
zerschlagen. Die für die Vorhalle des alten Mu-
96
AUGUST WITTIG.
seuins in Berlin bestimmte Statue von Carstens, vrelche
in Marmor bestellt war, war bei dem Brande der
alten Akademie schon fast vollendet; aber die sieb
nie genügende Selbstkritik Wittig’s konnte sieb zum
Abschluss der Arbeit nicht entschließen, seine ge¬
schwächten Körperkräfte reichten später zur Vollen¬
dung der gestellten Aufgabe nicht aus, und so blieb
dieses Werk für ihn ein quälendes Zeichen unbe¬
friedigenden Strebens.
Aber neben allen hier zuletzt aufgezählten Ar¬
beiten ging ein stetes
Weiterschaften und Bil¬
den an der Pietägruppe
ununterljrochen seinen
Gang. Kie konnte sich der
Meister an dieser Arbeit
genügen, und zum zwei¬
tenmal zerschlug er zum
Schmerz seiner Freunde,
die von dem Werke ent¬
zückt Avaren, das seinem
Ideale nicht entsprechen¬
de Modell. Zum dritten¬
mal begann der Unermüd¬
liche seine Arbeit mit
einem Modell geringerer
Größe und brachte das-
selhe endlich im Jahre
1S92 zum Abschluss. Und
wahrlicli, dieser Abschluss
seiner künstlerisclien
I>aut’hahn ist auch die
lÄrönung seines ganzen
I.etteuswerkes. Alle die
Figenschaften , Avelche
Willig in seinen verscliie-
deiieii .\rheiten bethätigt
hat: seine Fähigkeit, tie¬
fen Seelenausdruck dar-
ziistellen, seine Kenntnis und edle Auffassung des
Nackten, die geschmackvolle und originelle Anord¬
nung und Unrchbildung der Gewandung kommen in
dieser Gruppe in edelster Vereinigung zur Erschei¬
nung. Tief ergreifend ist der Plindruck der stillen
und doch so leliendig zu uns redenden Grup])e.
Ewig zu bedauern i.st es, d:is3 die Durchbildung in
Marmor dem Künstler versagt blieb. In Bronzeguss
.loll sie aber nach dem Entwurf des Herrn Archi¬
tekten W. Schleicher das Grabdenkmal des Meisters
als edel.'^ter Schmuck zieren.
Die letzten Lebensjahre Wittig’s waren durch
mancherlei körperliche Leiden, wie durch innere
Aufregungen getrübt. Seit 1882 traten asthmatische
Beschwerden immer stärker hervor und nötigten ihn
zu größter Vorsicht in allem Thun und Lassen. Bei
der positiven Art und Weise, mit welcher er sich
bei seinem lebhaften Charakter, namentlich in
jüngeren Jahren, zu äußern pflegte, bei den strengen
Anforderungen, welche er an andere gerade so wie
an sich selbst stellte, konnte es nicht ausbleiben, dass
er mancherlei Interessen
verletzte, sich mancher¬
lei Gegnerschaften zuzog.
Dafür hatte er aber auch,
wie alle hervorragenden
N aturen, die treuesten und
anhänglichsten Verehrer
und Freunde.
Unter seinen Schü¬
lern haben sich Carl Hil-
gers, Carl Müller, Alex.
Zick, Heinrich Hoff¬
meister, Joseph Tüshaus
und Carl Jansen bekannt
gemacht. Sein letzter
Schüler, dessen Eifer und
Anhänglichkeit dem Mei¬
ster viel Freude machte,
ist Joseph Wolf.
Zum V ollstrecker
seines letzten Willens
hatte er einen jüngeren
treuen P’reund, Herrn
Regierungsbaumeister
Wilhelm Schleicher, er¬
nannt, welchem ich nebst
anderen mir wertvollen
Notizen auch die Mit¬
teilung einer testamenta¬
rischen Verfügung verdanke, welche uns einen rühren¬
den Rückblick auf die Jugendeindrücke des siebzig¬
jährigen Meisters gestattet: er hat der protestantischen
Stadtkirche seiner Vaterstadt Meißen die Summe von
20000 M. vermacht mit der Bestimmung, aus den
Zinsen derselben mittellose Konfirmanden zu kleiden,
die in der Kirche koiifirmirt werden sollten, in welcher
er selbst als armer Knabe vor dem Altar stand und
woselbst er die religiösen Grundsätze und Anschau¬
ungen aufgenommen hatte, denen er in Kunst und
Leben ein treuer Bekenner geblieben ist.
l’itta vuu A. Wj lTKi.
Walhall’s Sturz; Erscheinung Christi. Gemälde von Fr. Höber.
DER UNTERGANG DER NORDISGHEN GÖTTERWELT
UND DAS ERSCHEINEN DES CHRISTENTUMS.
BILDER-CYKLÜS VON FRITZ RÖBER IN DÜSSELDORF.
EITDEM Kichard Wagner
versucht hat, den Geist
des neuerstandenen deutschen
Volksbewusstseins auf die
einfachste und natürlichste
Weise durch die Wieder¬
belebung und Rückkehr zu
der altgermanischen Helden¬
sage zum dramatisch -musikalischen Ausdruck zu
bringen, giebt es kaum eine Kunstform, welche
in der Verwertung von Ideen und Darstellungen aus
der nordischen Mythologie ein so weites und frucht¬
bares Feld für ihre Bethätigung gefunden hat, wie
die Malerei.
Die nordischen Sagen sind für die malerische
Darstellung gerade so geschaffen, wie die griechischen
für die reine Form und weisen so direkt auf die
Farbe hin, wie die hellenischen auf die Plastik. Die
Fähigkeit der Malerei, das zu erzeugen, was wir
unter dem Begriff „Stimmung“ verstehen, ist es, was
sie prädestinirt zur Wiedergabe nordischer Motive.
Eingehendere Betrachtungen über diesen Gegenstand,
welche hier zu weit führen würden, liefert Oscar Bie
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. II. d.
in seinem vortrefflichen Aufsatz über „Hermann
Hendrich und die mythologische Malerei“ (Wester-
mann’s Monatshefte, Aprilnummer v. J.)
Wir stehen bei den Werken Fritz Röber’s vor
einer Schöpfung, welche der Welt des Gedankens
und der Symbolik entsprungen ist. Der Geist, der
diese Malerei durchweht, hat gar keine Berührungs¬
punkte mit dem Ziel der neuesten Richtung, so dass
es im ersten Augenblick Mühe kostet, sich in den
notwendig gänzlich verschiedenen Gesichtspunkt der
Beurteilung hineinzuversetzen. Dieser Geist ist
nordisch, heldenhaft, monumental. Die Farbe dem¬
entsprechend. An Stelle der Naturfarbe tritt die
Farbe der dichterischen Symbolik. Eine solche Kunst
ist keineswegs, wie heute irrtümlich oft behauptet wird,
konventionell. Wenn sie sich in dem Rahmen histo¬
rischer Überlieferung bewegt, d. h. in diesem Fall dem
Charakter der Sage angepasst ist, so ist sie darum
noch lange nicht im schlimmen Sinne konventionell.
Sobald einem alten Stoffe individuelles und lebendiges
Gepräge verliehen wird, hat dieses seine Berechtigung.
Es braucht darum ebenso wenig akademisch-konven¬
tionell, wie schein-originell oder bizarr zu sein. Über-
13
9S
DER UNTERGANG DER NORDISCHEN GÖTTERWELT.
all da, wo tiefes, großes Empfinden ist, wird auch wahre
Kunst sein. Der Stoff, aus dem sie schafft, unterliegt
keiner Zeit und keiner Beschränkung. Beschränkung
und Beschränktheit sind nur dort zu suchen, wo die
Horizontweite fehlt, um das in sich aufzunehmen,
was nicht auf gleichem Wege zu gleichen Zielen
strebt. Bei Roher merkt man in jedem Strich den
Denker, den Philosophen. Wenn man das konven¬
tionell nennen will, so kann ein Künstler auf solche
„Konventionalität“ sich etwas einhilden!
Im Aufbau, in der Einheit der Gedanken, Licht-
wirkuug und Stimmung lässt das neue Werk Röber’s
alle seine früheren Arbeiten weit hinter sich; her¬
vorragend geradezu ist es hinsichtlich Formenschön¬
heit und Bewegung und jenes geheimnisvollen Aus¬
drucks der seelischen Affekte. Die wuchtige Energie
der Komposition erzeugt einen überwältigenden und
nachhaltigen Eindruck.
Die Reihenfolge der Gemälde, die ein zusammen¬
hängendes Ganzes bilden, von dem zehn Abschnitte den
Untergang des Heidentums, das elfte als Abschluss
die Verklärung durch das Christentum versinnbild¬
licht, ist folgende:
Das erste Bild deutet in düsteren schwermütigen
Tönen den Untergang der alten Welt prophetisch
an. Allvater Odin (Wotan), der „Runenrater“,
kommt zum letzten mal zur allwissenden Schicksals-
Göttin W'^ala. Auf öder Felsklippe über einer tiefen
Schlucht kniet der Gewaltige, in düsteres Brüten
versunken. — Er ist ohne Speer und Helm, selbst
die Waffen hat er hergegehen, um die letzte Wahr¬
heit zu erfahren! — Ängstlich umflattern sein Haupt
Ilugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung), seine beiden
Rahen. Die Göttin, in deren Antlitz die tiefe
Schwermut ülmr das unerbittliche Schicksal sich
au.sdrückt, deutet mit dem S])eer, den er geopfert
auf eine Runenschrift, die in den Felsen gegraben
i.st. Der grübelnde Gott hat alles geraten, nichts
liegt ihm mehr verschleiert, denn nur Odin kann
Runenschrift deuten. Vor diesen letzten Runen aber
hleiht er versunken in tiefem Sinnen, er kann sie
nicht fassen, nicht lösen. — — Die Runen heißen^
Christos. -- Dieses für ihn unverständliche, undurch¬
dringliche Kunengeheimnis hecleidet den nahenden
l’ntergaug des Asengeschlechtes, die Götterdämme¬
rung! — Ein Gedanke voll tiefer Philo.so})hie ist hier
(mit wenigen Mitteln) meisterhaft zum künstlerischen
Ausdruck in Form und Farbe erhoben.
Auf dem zweiten Bilde wirdNanna, die „blühende
Erde“, welche von Eisriesen geraubt worden, durch
Baldur befreit. Noch einmal ])ringt der Lichtgott,
der Gerechte Baldur, der Welt Sonne und Frühling,
und mit Nanna vereinigt, ziehen nun beide im Braut¬
schleier über die fruchtbaren blühenden Gefilde der
Erde. Aber es ist das letzte Mal. Das Verhängnis
bricht herein über die Götter Walhalls und Baldur
muss sterben. Alle Gegenstände hatten geschworen,
den Gerechten Baldur nicht zu verletzen, nur einer
kleinen Mistel war der Eid nicht abgenommen worden.
Aus ihr nimmt Loki, der auf der Äsen Verderben
sinnt, einen Zweig und schärft ihn zum Pfeile. Als
nun die Äsen sich damit belustigten, auf Baldur zu
schießen, von dem alle Gegenstände abprallen, da
legt Loki den Mistelzweig auf den Bogen Hödur’s,
des Winterfrostes, lenkt den Pfeil und Baldur fällt-
Durch den Verrat Loki’s also, der seinen Stiefbruder
hasst wie die Finsternis das Licht, stirbt der jugend¬
liche Gott und mit ihm geht alles Gerechte und
Gute im Asengeschlechte zu Grunde. Loki sucht
sich mit seinem Weibe Signe zu retten, wird aber
von den nachjagenden Walküren ergriffen und auf
Odin’s Geheiß an eine Felswand gefesselt. Uber ihm
ist eine Schlange angekettet, welche fortgesetzt Gift
in sein Antlitz speien muss. Signe fängt dieses Gift
in einer Schale auf; wenn sich diese aber gefüllt
hat, muss Signe sie ausleeren und die Schlange trifft
mit ihrem Gift das Haupt des Gottes. Loki zuckt
dann so gewaltig vor Qual zusammen, dass die Erde
erbebt. — Die ängstlich vorgeheugte Signe, in deren
entsetztem Gesichte sich die Sorgfalt und gespann¬
teste Aufmerksamkeit, dass kein Gift den Gatten
treffe, widerspiegeln, ist packend gemalt, und ergreifend
ist der Ausdruck des Gefesselten, dessen Züge halb
Trotz, halb tiefen Schmerz verraten. DieFigur Loki’s in
ihren verschiedenen Phasen darf überhaupt als der
Höhepunkt des Röber’schen Werkes bezeichnet werden.
Überall ist sein göttlicher Ursprung fühlbar, an ihm
ist nichts kleinlich, denn er ist ja auch — wie der
Satans-Engel — ein „Gefallener“. Das Blut Wotan’s
krei-st in seinen Adern: er ist das Prinzip des Bewusst-
Bösen, aber mit Wotan unlösbar verknüpft und ver¬
schlungen, wie das Gute mit dem Bösen, da beides
für sich allein nicht bestehen kann. Hier liegt wieder
jener tief philosophische Zug der nordischen Mytho¬
logie. —
Nach einer anderen Überlieferung, — die u. a.
auch Felix Dahn benutzt hat in seinem trefflichen
Roman: „Odin’s Trost“, — hatte Odin den Leib des
geliebten Sohnes mit einer Salbe unverwundbar
gemacht. Nur am Nacken war eine kleine Stelle
nicht von dem schützenden Öle bedeckt. Diese Stelle
hatte nun Loki entdeckt durch die kindliche Offen-
DER UNTERGANG DER NORDISCHEN GÖTTERWELT.
heit der ihm vertrauenden Nanna, welche, ängstlich
über ihres Gatten verwundbaren Nacken, dem „listi¬
gen Loki“ ahnungslos das Geheimnis verraten. Loki
trifft alsbald den Bruder und schießt von hinten den
Pfeil auf die ungeschützte Stelle. Baldur fällt, und
indem auch Nanna vor Schreck getötet wird, eilen
die Götter WalhaU’s zu der Unglücksstätte, während
Loki hohnlachend als Feuerflamme ver.sinkt. Odin
aber eilt mit Thor ihm nach bis vor die Thore
Hel's und bringt ihn gefesselt zurück. Diese etwas
veränderte sehr gebräuchliche Version wäre aber nicht
99
die Äsen in Schwelgerei und Wollust versinken.
In dieser Gruppe bemerkt man einige herrliche Akte,
die alle von Licht überflutet sind. Alles flimmert
und schimmert hier; man meint, dass sich das Licht
wirklich spielend und tändelnd auf den Körpern
bewege. Aus diesem trunkenen Bacchanal ruft Odin
die Äsen zur letzten großen Schlacht. Mit Sturmes-
weheu und Kampfesfreude — ein wahrer „furor
teutonicus“ ist auf der rechten Hälfte des Bildes
geschildert — eilt der Zug der Krieger und Wal¬
küren durch die Lüfte, Thor greift zum Hammer,
Odin befragt die allwissende Wala. Gemälde von Fr. Kober.
für eine malerische Behandlung im Sinne Röber’s
geeignet gewesen, und so hat der Künstler wohl
mit Recht der anderen Schilderung, als der malerisch
verwendbareren, den Vorzug gegeben.
Den Leichnam Baldurs bringen die Götter auf
ein Schiff und nehmen von ihm Abschied. Das
Schiff trägt ihn zu Hel, der Göttin der Unterwelt.
Das siebente Gemälde aus dem Cyklus wirkt
durch seine gewaltigen Kontraste. Die Götter gehen
ihrem Schicksale entgegen. Links steht Freia, die
Schöne, — die nordische Aphrodite, eine leuchtende
Frauengestalt mit langem Goldhaar. Sie bethört die
Götter mit dem unerschöpflichen Methorn, so dass
Naglfar, Jas Toteuscliift'. Gemälde von Fr. Röjier.
die Schlachtenjangfrauen mit halbentblößten Leibern
haben sich wieder mit Speeren bewaffnet. Aber auch
Loki hat inzwischen seine Fesseln gebrochen, und auf
dem nächsten Bilde sieht man ihn, von der furcht¬
baren Midgardschlange und dem Fenriswolf begleitet,
gegen die Äsen ziehen. Die ganze Unterwelt hat
sich aufgethan und leistet ihm Hilfe. Loki ist wieder¬
um der Situation angemessen charakterisirt; der Kopf
ist bleiern und die Lippen sind blutleer und die
langen Qualen an der Felswand prägen sich deut¬
lich aus. Alles hat sich bei ihm zu einem letzten
wilden Impuls zusammengekrampft. Und doch wie
schön ist dieser Loki! Kraft und Ebenmaß überall.
13
100
DER UNTERGANG DER NORDISCHEN GÖTTERWELT.
Der Künstler hat den Stojff vollkommen bewältigt
und seine Gestalten genau so dargestellt, wie sie
seinem künstlerischen Auge vorschwebten. Dies gilt
auch von den Gestalten der Unterwelt, welche so
charakterisirt sind, dass man daran glaubt. Wir
fühlen in dem Augenblick, dass sie so und nicht
anders sein müssen, und wenn ein Künstler diesen
überzeugenden Eindruck hervorbringt, kann er zu¬
frieden sein. Es ist der höchste Gipfel des Erreich¬
baren in der Kunst.
Nunmehr ist das Schicksal der Äsen besiegelt
und das Totenschiff Naglfar treibt führerlos im
Ozean umher. Auf demselben künden die sterben¬
den Nomen der
Welt Ende. —
Es folgt nun die
große Vernicht¬
ungsschlacht , die
eigentliche Götter-
dämmerung.fSiehe
S. 97.) Der durch
Odin zu Tode ver¬
wundete Loki hetzt
den Fenriswolf auf
den Vater und zieht
den Speer aus sei¬
ner Wunde. In
dem Augenblick
muss auch Odin
sterben. Um ihn
fallen seine Schild-
juugfrauen, seine
herrlichen Wal¬
küren, und auch
er weiß, dass er
in demselben Augenblick sterben muss, in dem Loki
seinen Geist anshaucht. Das Gute kann ja ohne das
Böse nicht bestehen. Alles ist in Auflösung und
Todeskampf begriffen. Loki und seine Scharen
stürzen in die Tiefe, die Haare flattern wild nach
oben, um dadurch, das Stürzen der ganzen zu einem
großen Knäuel zusammengeballten Gruppe anzu¬
deuten. Midgard, die Schlange, hat sich um die
Sterbenden geringelt und presst ihre Leiber im
eigenen Todeskrampfe fest an- und ineinander. Einer
der gepeinigten Unterweltsgötter krallt seine Finger¬
nägel in den Körj)er der Schlange ein, noch in der
Agonie seine Wildheit nicht verlierend. Die Mauern
Walhalls brechen, die Säulen lösen sich, und vor der
in strahlendem Lichterscheinenden Gestalt Christi und
seiner Heerscharen stürzt die Götterburg zusammen!
Dieses große Gemälde ist von wahrhaft gran¬
dioser Wirkung. — Im letzten Bilde, welches wieder
friedliche Ruhe atmet, ist die Erlösung der alten
und die Auferstehung in einer neuen Welt durch
das Christentum angedeutet durch die drei unsterb¬
lichen weiblichen Symbole: Glaube, Liebe, Hoffnung,
das Gegenstück zu den Nomen.
Eine neue Erde steigt empor. Die Liebe ist als
mittlere größte Gestalt gemalt, es ist die christliche
Liebe und Demut, nach dem Spruche:
„Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese
drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
Der sanfte Ton und die ideale Anschauung
o
kontrastiren hier
mit der Wildheit
der heidnischen
Götterwelt , und
der Künstler cha¬
rakterisirt auch da¬
durch in feiner
Weise und beweist
seine Vielseitigkeit
in dem Ausdruck
des Gegensatzes
zwischen den bei¬
den Weltanschau¬
ungen und Reli¬
gionen. So wirkt
denn der Schluss¬
stein in dem Ge-
mälde-Cyklus wie¬
der versöhnlich.
Der Beschauer
wendet sich tief er¬
griffen und nach-
denkeud, aber vollkommen befriedigt ab.
Dies ist in den Hauptzügen der Inhalt der
Röber’schen Werke, deren volle Wirkung natürlich
erst in eigener Anschauung empfunden werden kann.
Die Kunst kann auf solche Arbeiten wieder mit
Stolz blicken. Die Gemälde werden überall, wo sie
zur Ausstellung kommen mögen, den alten Ruhm
der Düsseldorfer aufs neue nach allen Seiten ver¬
breiten helfen. Sie kommen uns in diesem Augenblick
gerade trefflich zu statten, indem sie einmal wieder den
Beweis dafür erbringen, dass man in Deutschland noch
im stände ist, historische Kunst im großen Stil zu
betreiben. Aus dem nie versiegenden Born germani¬
scher Götter- und Heldensage lässt sich, ohne veraltet
und abgelebt zu erscheinen, immer Großes und Schönes
schöpfen. Es muss nur der Rechte kommen.
Lüki liricht seine Fesseln. Gemälde von Fr. Röber.
VATIKANISCHE MINIATUREN.
101
Der ganze Cyklus ist zur Ausschmückung der
Prachtvilla des Herrn von der Heydt in Godesberg
bestimmt. Es ist in hohem Grade erfreulich, dass
aus der offenen Hand reicher Privaten der Kunst
eine so schöne Unterstützung zu Teil vrird durch
Bestellung von Werken, welche meist nur der Staat
in dem Umfange zu erwerben im stände ist.
Die Bildung und Veredelung des Volkes ver¬
dankt solchen Männern viel.
— nn.
VATIKANISCHE MINIATUREN.')
MIT EINER. LICHTDRUCKTAFEL.
BE R MALS thun sich die
Schätze der Vatikanischen
Bibliothek auf: nunmehr
zum Nutzen der Kunst¬
wissenschaft. Der deutsche
Jesuit, Stephan Beißel, wel¬
cher bereits 1886 die Bilder
der Ottonischen Evangelien¬
handschrift des Münsters zu Aachen (vgl. Ztschr.
f. bild. Kunst XXII, S. 278 ff.) und der Bernward-
Evangelien zu Hildesheim 1891 in eingehenden Be¬
arbeitungen veröffentlicht hat, bietet uns jetzt eine
Auswahl aus den bedeutendsten Bilderhandschriften
der Vatikanischen Bibliothek, die Früchte eines
längeren Studienaufenthaltes in Rom, wobei er sich
zur Erreichung seines Zieles von besonders günstigen
Umständen begleitet sah. Es kann nur dankbar be¬
grüßt werden, wenn unter diesen Voraussetzungen
an eine Sammlung vorzüglicher Miniaturen in einer
mit Lichtdrucken von wahrhaft künstlerischer Voll¬
endung aus dem Atelier Danesi in Rom ausgestatte¬
ten Veröffentlichung geboten wird, die dem noch
so ungleich ausgebauten Gebiete neues und so wert¬
volles Studienmaterial zuführt. Mögen auch die
Meinungen darüber geteilt sein, oh, wie der Heraus¬
geber annimmt, der Malerei des Mittelalters damit
wesentliche Aufhellung erwächst, so ist die Sparte
der Miniaturmalerei selbst bedeutend genug, um all¬
seitige Durchforschung zu verdienen. Lag doch zeit¬
weise unter der Geschmacksrichtung des Schreibstiles
die Malkunst gänzlich in der Miniatur beschlossen
auf klassischem Boden klingt in ihr der flüchtige
dekorative Stil aus, während die unbeholfenen Hände
1) Vatikanische Miniaturen. Herausgegeben und erläu¬
tert von Stephan Beißel S. J. Quellen zur Geschichte der
Miniaturmalerei. Mit XXX Tafeln in Lichtdruck. Frei bürg
i. B. 1893, Herder. Fol. VHI u. 51 S. zweispalt. Text. Deutsch
u. französ. Lwdbd. Mk. 24. —
der frühmittelalterlichen Klosterzelle dieÜberlieferung
mühsam weiter pflegten, bis sie von den unmittelbaren
Eingebungen einer neuen Zeit ahgelöst wurden, ln
der Folge entwickelte sie sich mehr und mehr zur
Feinkunst, eine Gattung, die nun bleibend den Namen
der Miniatur übei'kommt und hei größerer oder ge¬
ringerer Geschicklichkeit ein Wiederschein der Ma¬
lerei im ganzen ist, ohne auf selbständige Bedeutung
einen Anspruch zu haben. Was nun zur Beleuch¬
tung des Gebietes Neues geboten wird, hat in dem¬
selben Maße Anspruch auf Beachtung, als es sich
um Zeiten und Erscheinungen handelt, wo die Kunst
der Miniatur im Vordergründe stand. Danach he-
misst sich überhaupt der Wert solcher Beiträge, wie
der vorliegende. Es lässt sich nun nicht sicher er¬
kennen, dass der Herausgeber diesen oder einen ver¬
wandten Gedanken seiner Auswahl zu Grunde ge¬
legt habe: er geht im ganzen chronologisch zu Werk
und scheidet danach in Gruppen des altklassischen
Stiles, in Werke des Abendlandes aus dem 7. bis
11. Jahrh., dann Miniaturen des griechischen Mittel¬
alters, ferner die abendländischen Werke des 11. bis
14. Jahrh. und schließlich die Buchmalereien des
15. und 16. Jahrh. Bei der Fülle des Materials
gieht er nur Stichproben aus den nach seiner Auf¬
fassung bedeutendsten Handschriften und hofft dabei,
„möglichst vielen Freunden der Kunstgeschichte die
Benutzung und Verwertung“ der vatikanischen Mi¬
niaturenschätze vermitteln zu können. Indes steht
zu besorgen, dass dies Bemühen, jedem etwas zu
bieten, dem höheren Ziel des Werkes Eintrag thue:
nicht sowohl ein Inventar des vatikanischen Mate¬
rials , nicht einmal die Auslese des schönsten aus
den dortigen Beständen ist das Postulat der Kunst¬
forschung, als vielmehr eine kritisch gesichtete Über¬
schau, wobei den obschwebenden Fragen in ent¬
sprechender Weise Rechnung zu tragen war. Diese
Erwägung scheint übrigens dem Herausgeber nicht
102
VATIKANISCHE MINIATUREN.
gar fein zu liegen, indem er am Schluss der Ein¬
leitung den Gedanken ausspricht, „nach und nach
die wichtigeren Miniaturen aller größeren Biblio¬
theken“ behandeln zu wollen, um eine Quellensamm¬
lung des ganzen Gebietes zu beschaffen. Bei so
weitaussehenden Plänen erscheint es wirklich an¬
gezeigt , dass der so rüstig schaffende Herausgeber
Fühlung nehme mit den Desiderien der Kunstfor¬
schung, um im engen Anschluss an die Fachkreise
seine Bestrebungen und Leistungen auf ein Ziel von
durchschlagendem Erfolge zu richten.
Sehen wir übrigens, was der Herausgeber zur
Zeit uns bietet.
Der Schwerpunkt ist mit Recht auf die Bild¬
tafeln gelegt; der Text giebt nur in jedem Fall die
Größenverhältnisse der Originalien und knappe An¬
gaben über Inhalt und Herkunft der Handschrif¬
ten neb.st Verweisungen auf vorgängige Veröffent¬
lichungen. Dabei war sich zu begnügen; denn die
Schilderung der hier nicht wiedergegebenen Minia¬
turen und gar die Beschreibung von deren farbiger
Ausstattung hat keinerlei Wert. Jeder Abteilung
ist eine Übersicht vorangestellt, welche, neben den
zur Aldhldung heraugezogenen Codices, andere der
gleichen Gattung, wenn auch nur lückenhaft, ver¬
zeichnet. Hier durften berechtigterweise kritische
Ausführungen erwartet werden; es wird indes nur
die einschlägige Litteratur in ausgiebiger Weise ver-
zeichnet. Auf die litterarische Durcharbeitung ist
überhauj)t bemerkenswerte Sorgfalt verwendet. So
.sind am Schlüsse die in Text und Noten angeführ¬
ten illustrirten Handschriften der Vaticana nach Be¬
ständen in 10 Abteilungen aufgeführt; daneben die
I land.schriften anderer Bibliotheken. Namen- und
Sachregister sind endlich mit ])einlicher Berück¬
sichtigung der Ikonographie und der geographischen
Zugehörigkeit des Bildennaterials ausgearbeitet.
ln der Gruj)pe 1, Miniaturen des altklassischen
Std.s, beansju-iicht die .losuarolle (Cod. Vat. Pal.
Graec. 4'D , Taf. VI) wohl das größte Interesse.
Wenn der Herausgeber sich auch für ein verhält¬
nismäßig hohes Alter (7. Jahrh.V), und dies mit
Vorbehalt ausgesprochen hat, so wagt er doch nicht
KondakolFs Annahme zu folgen, der, wohl mit gutem
Grund, für’s ö. oder 0. dahrhundert neuestens eintritt.
Die II. Grujipe, abendländische Miniaturen des
7. bis 1 1. dahrh. Taf. V, VII 1, eröffnet eine Evangelien-
liandschrift, die nach einem bis jetzt übersehenen
Eintrag vom dahre 1170 ehemals dem Kloster Lorsch
gehörte. Die nahe Verwandtschaft mit der berühm¬
ten Ada-Hamlschrift zugegeben, erscheint deswegen
doch die Annahme noch nicht gerechtfertigt, dass
beide Handschriften der Schreibstube des Klosters
Lorsch entstammten. Lorsch stand in seiner ganzen
Entwickelung und auch in Behandlung seiner künst¬
lerischen Angelegenheiten (vgl. Adamj, Die frank.
Thorhalle u. Klosterkirche zu Lorsch, 1891, S. 3
u. 25) so ganz in Abhängigkeit von Metz, dass es
viel richtiger sein wird, wie die Ada -Handschrift,
so auch den Lorscher Codex des Vatikans der Schule
von Metz zuzuerkennen. Eine höchst beachtenswerte
Ubergangsstellung nehmen die Bilder der Sermones
in Monte Cassinensi scripti, Cod. Vat. lat. 1202,
Taf. VIII ein. Die dem 11. Jahrh. (?) zugeteilte
Handschrift steht der byzantinischen Kunst jener
Zeit nahe, zeigt aber dabei eine so straffe Behand¬
lung der Form und ein so klares Verständnis für die
Vorgänge des Lebens, dass damit ein wichtiges
Zwischenglied zum Verständnis der normannischen
und englischen Miniaturen der folgenden Zeit ge¬
geben ist.
Mit besonderem Interesse tritt man an den IIL
Abschnitt, griechische Miniaturen des Mittelalters, Taf.
IX — XVI heran. Die hier gebotene Auswahl, von
dem „Kosmas“, dem wichtigsten Buche, das nach
Kondakoff die byzantinische Kunst bietet, ange¬
fangen, bis zu den pathetischen Darstellungen eines
Monologiums des 11. Jahrh. (Taf. XVI) und den
minutiösen Marterscenen des Climacus (Taf. XIV),
zeigt, wie irrig die so oft wiederholte Phrase vom
Stagniren der byzantinischen Kunst ist, wie vielmehr
unter dem erneuten Aufblühen des ganzen Reiches
seit den makedonischen Herrschern auch die Kunst
von einem neuen Zug erfüllt war und im vielseitigen
Verkehr mit dem europäischen Westen dahin die
nachhaltigsten Einwirkungen abgah. Das byzanti¬
nische Mittelalter ist in dieser Beziehung noch viel
zu wenig gewürdigt, und Proben, wie die vorliegen¬
den, sind recht geeignet, deren Wichtigkeit in’s
Licht zu setzen und deren Vermehrung als höchst
wünschenswert darzuthun. Das eigentliche male¬
rische Element tritt in der Auffassung und Behand¬
lung des Figürlichen im einzelnen erfreulich hervor
und empfängt in dem Sinn für Gruppirung und
malerische Ausgestaltung der Vorgänge die ent¬
sprechende Ergänzung.
Die Beiträge zum 11. bis 14. Jahrh. (IV. Teil,
Taf. XVH — XXIII) sind durch die Bibel des Klosters
Farfa gut eingeleitet, sofern hier Einwirkung by¬
zantinischer Vorbilder und ihre Umsetzung in lon-
gobardische Vorstellungen klargelegt werden. Die son¬
stigen Proben sagen nicht gerade viel. Für deutsche
103
VEREIN FÜR ORIGINAL -RADIRUNCt IN MÜNCHEN.
Kreise von Wichtigkeit ist der Ottobeurer Codex mit
einer allegorischen Darstellung Kaiser Heinrich’s IL,
eine Handschrift, welche dem Bamberg-Regensburger
Künstlerkreise entstammen dürfte.
Mit dem 15. Jahrh. (V. Teil, Taf. XXIV-XXX)
bewert sich die Kunst der Miniaturmalerei in völliger
Abhängigkeit um den mittleren Drehpunkt der
großen Kunst. Bei aller Schönheit kommt ihren
Leistungen eine selbständige Bedeutung nicht mehr
zu: man ist längst davon abgekommen, wie bei dem
Breviarium Grimani in Venedig, für die Mehrzahl
dieser Leistungen überhaupt noch einen Künstler¬
namen vorznschlagen. Wie das Pontificale (Taf. XXV)
nicht von der Hand Perugino’s illustrirt ist, so auch
nicht die Bibel (Taf. XXVI) von Pinturicchio oder
einem der sonst genannten Künstler, Cosimo Roselli
oder Piero di Cosimo; vielleicht könnte man an
Nachbildungen von Stichen denken, die Baccio Bal-
dini zugeschrieben werden. P'ür weitere Kreise haben
solche Einzeluntersuchungen kaum Wert. Die vlä-
misch-burgundischen „Livres d’heures“ sind trotz ihrer
niedlichen Ausstattung an dieser Stelle von keinem
Belang. Von höchster Schönheit ist eine zum Teil
von einem Florentiner, znm Teil von Giulio Clovio
illustrirte Dante-Handschrift (vgl. Taf. XXVH). ln
der weichen, modischen Formgebung schlagen die
Bildchen des letzteren einen Ton an, der sie fast mit
dem Geschmack aus der späteren Zeit Ludwig’s XVI.
verwandt erscheinen lässt. Eine deutsche Hand¬
schrift (Taf. XXX) zeigt einesteils frischen Natur¬
sinn , andernteils aber auch Bildungen auf kostüm-
licher Grundlage, welche beweisen, wie wenig sich
damals noch die Kunst nach landschaftlichen Gruppen
geschieden hatte.
Zum Schluss sei dem Gedanken Ausdruck ge¬
geben, dass der Herausgeber in den „Vaticanischen
Miniaturen“ gewiss eine in mancher Hinsicht lehr¬
reiche und sicher geschmackvolle Bilderreihe geboten
und damit sich den Dank verschiedener Kreise ver¬
dient hat. Sollten jedoch, nach seinem in der Ein¬
leitung angedeuteten Plane, die Schätze anderer
Bibliotheken nach und nach herangezogen werden,
so bedürfte ein so weitaussehendes Unternehmen
einer festeren, wissenschaftlichen Grundlage: nicht
ein bildliches Inventar der Miniaturen von größerer
oder geringerer Vollständigkeit wird dem Verlangen
der Kunstforschung dienen, wohl aber eine kritisch
verarbeitete Auslese, welche die Bedeutung der
Miniaturenkunst im Zusammenhang mit der Kunst¬
entwickelung im Ganzen anstrebt. Für eine solche
Leistung wird die Kunstforschung ihren weiteren
Dank nicht schuldig bleiben.
Mainz. FRIEDRICH SCHNEIDER.
VEREIN FÜR ORIGINAL- RADIRUNG IN MÜNCHEN.
MIT EINER KUPFERTAFEL.
AHREND der letzten Zeit
sind bekanntlich nach dem
Vorbilde der vor dreißig
Jahren in Paris entstandenen
„Societe des Aquafortistes“
in Deutschland und England,
in Österreich und Amerika
viele derartige Gesellschaften
in’s Leben getreten, deren gemeinsamer Zweck in
der Pflege der Originalradirung besteht. Vor zwei
Jahren folgte auch München dem guten Beispiel
und die Früchte der dort 1891 geschaffenen Ver¬
einigung seiner Maler-Radirer liegen uns jetzt in
zwei Folioraappen vor, welche zusammen vierund¬
zwanzig Drucke fassen. Jedes Jahr im September
erscheint eine solche Folge von zwölf Blättern, in
Remark-Drucken auf Japanpapier, in gewöhnlicher
Ausgabe auf holländischem Papier, gedruckt in der
Kunst-Kupferdruckerei von Aug. Wetteroth in Mün¬
chen. Die ersteren sind von der Verlagshandlung
E. Stahl in München zum Preise von 65 M., die
Drucke der letzteren gegen den jährlichen Mit¬
gliedsbeitrag von 25 M. zu beziehen.
Die Künstler, welche den Münchener Verein
gegründet haben, fassen ihre Aufgabe mit dem
vollen, sachlichen Ernst auf, der die dortige Kunst-
weit so vorteilhaft kennzeichnet. Namen, wie Ernst
Zimmermann, Peter Halm, Meyer-Basel u. a., die wir
in dem Verzeichnis der leitenden Persönlichkeiten
lesen, bürgen dafür, dass nichts Dilettantisches, bloß
104
VEREIN FÜR ORIGINAL-RADIRÜNG IN MÜNCHEN.
Versuchsmäßiges und nur äußerlich Anlockendes in
die Publikationen aufgenonimen werden wird. Das
dem Verein gesteckte Ziel, „die Schaffung selbstän¬
diger, nur als Radirung vom Künstler empfundener
einfarbiger Blätter“ , ist in den vorliegenden beiden
Jabresfolgen durchgängig erreicht. Man sieht es
allen diesen Bildchen an, dass sie wirklich als Ra¬
dirungen gedacht, nicht erst aus einer anderen Technik
mittels der Radirnadel ins Schwarz und Weiß über¬
setzt sind. So bieten uns die Blätter auch, mit der
dieser wunderbaren Augenblickskunst eigentümlichen
Schlagkraft und Unmittelbarkeit, den Ausdruck einer
Anzahl markanter künstlerischer Individualitäten.
Es sind Improvisationen geistvoller Menschen, hinge-
worfeue Gedanken, rasche Beobachtungen, momen¬
tane Eingebungen ihrer Empfindung und Phantasie.
Dass auch letztere mitspricht, und nicht selten
in gehobenem, weihevollem Rhythmus, halten wir
für ein besonders willkommenes Zeichen der Zeit.
Das groß gedachte Blatt von Ludwig Baders (II, 12)
„Musik“ — eine die Geige spielende weibliche Ge¬
stalt, in deren Schoß ein Genius sich schmiegt —
könnte von Feuerbach komponirt sein, wenngleich
Typus und Ausdruck nicht die seinigen sind. Auch
die beiden Radirungen von Hans Änetsherger : „St. Hu¬
bertus“ und „Idylle“, mit Reminiscenzen an Thoma,
fällen in das poetische Gebiet. G. Schmidt- Helm-
hrechfs schweift mit seinem „Gespenst“ vollends
hiuü)>er in die Sphäre des Barock- Phantastischen.
— Die größere Mehrzahl der Beiträge sind jedoch
der Wirklichkeit entnommen, teils Einzelstudien,
teils geschlossene Stimmungsbilder von oft reizvoller
Lebendigkeit. Von der ersteren Gattung seien Leibi’ s
„Alte Frau“ (Dachauerin), Walter- Zie gier’ s „Jugend¬
freunde“ und die beiden Tierköpfe von Hubert von
Heyden genannt; von der letzteren Georg BuchneRs
„Lesende Mädchen“ und der „Netzflicker“ von Prof.
Peter Halm, der diesem Aufsatze in Drucken der oben
genannten Kunst- Kupferdruckerei von Aug. Wette-
roth in München beigegeben ist. Das von uns
ausgewählte Blatt darf als Muster einer Original¬
radirung bezeichnet werden. Es führt uns mit
einem Schlag in die stille, ärmliche Existenz des
armen Arbeiters hinein: jeder Zug spricht zur
Empfindung, nichts bleibt unwirksam und über¬
flüssig. Und dabei ist alles nur für die gewählte
Technik und Ausdrucksart gedacht, alles am rich¬
tigen Platz, in der passenden Tonart und Stärke
vorgetragen. — Auch aus dem landschaftlichen Fache
finden sich in den beiden Heften eine Anzahl von
trefflichen Beiträgen. Doch hebt sich keiner der¬
selben in so prägnanter Weise von den anderen ab,
dass wir ihn hier besonders betonen möchten.
Der Verein aber und sein Werk im Ganzen
seien aufs wärmste willkommen geheißen und der
Beitritt allen ernsten Kunstfreunden bestens em¬
pfohlen! Denn es eröffnet sich uns in ihm ein neuer
Mittelpunkt echt künstlerischen Wollens und Stre-
bens, ein neues Bildungscentrum für die künstlerische
Erziehung der Nation. Q. v. L.
Herausgeber: Carl vtm lA'dxnw in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
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Druck v: F.A.Brockhaus in l'jeipzi^.
BRIEG.
VON GEORG JONETZ.
(Fortsetzung.)
IE Bauformen der Renais¬
sance hatten in dem blühen¬
den und geistig entwickel¬
ten Schlesien hauptsächlich
durch die rege Verbindung,
in welcher die beweglichen
und unternehmenden Kauf¬
leute Breslaus mit Italien
standen, rasch Aufnahme gefunden. Georg berief
schon im Jahre seines Regierungsantritts (1547)
welsche Künstler *) an seinen Hof, als deren Haupt
Jakob Baar aus Mailand anzusehen ist. Neben
und nach ihm erlangte sein Schwiegersohn Bernard
Niuron aus Lugano 2) Bedeutung. Diese Künstler
haben den Bau des Schlosses, des Gymnasiums,
des Rathauses und des Oderthores in Brieg geleitet.
Nähert man sich vom Ring aus dem mächtigen,
am Nordwestrande der Stadt sich erhebenden
Schlosse, so trifft man zunächst auf den aus schönem
Sandstein bestehenden, kunstreichen Portalbau (Abb.
S. 28), der, im J. 1553 vollendet, von allen Teilen des
Bauwerkes am besten erhalten und das berühmteste
Denkmal Briegs aus der Piastenzeit ist.
Der dreigeschossige Aufbau ist wagerecht durch
Gesimse und senkrecht durch Pilaster korinthischer
Ordnung übersichtlich gegliedert. 3) Nur im Erd¬
geschoss hat Baar die Symmetrie nicht wahren
1) Im Ganzen lassen sich 15 aus Urkunden nachweisen.
S. Wernicke, Topographische Chronik der Stadt Brieg.
1879. S. 10.
2) Der Erbauer des Ohlauerthores in Breslau.
3) Lutsch, Die Kunstdenkmäler der Landkreise
des Reg.-Bez. Breslau. 1889. S. 327. Diesem tüchtigen, grund¬
legenden Werke ist der Verf., was die Besprechung der Bauten
anlangt, im Wesentlichen gefolgt.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 5.
können, da er sich durch die Sitte des Nordens ge¬
nötigt sah , neben dem großen Thorweg ein kleineres
Pförtchen für die Fußgänger anzulegen. Den Raum
über letzterem füllte er mit einem kreisrunden
Fenster und einer Tafel aus, die folgenden Bibel¬
spruch trägt; Nisi dominus aedificaverit domum,
in vanum laborant, cpii aedificant eam. Nisi dominus
cu.stodierit civitatem, frustra vigilat, qui custodit eam.
Psal. 127. Auf dem das Erdgeschoss abschließenden,
stark hervortretenden Gesims gab er den lebens¬
großen und offenbar durchaus lebenswahren Statuen
des Herzogs Georg und seiner Gemahlin Barbara
von Brandenburg einen hervorragenden Platz. Hoch-
aufgerichtet und selbstbewusst schauen beide, ange-
than mit ihrem fürstlichen Schmuck, in die vorüber¬
rauschenden Zeiten hinaus. Ihnen zu Häupten stehen
die Inschriften:
GEORGIVS D. G. DVX SILESIAE
LIGNICEN . BREGEN . DIVINA
FAVENTE CLEMENTIA PRIM’
HANG STRVCTVRAM FIERI
ET AEDIFICARI CVRAVIT REG-
NANTE FERDINANDO REGE
RO. SEMPER AVGVSTO MDLIIl .
und
BARBARA ILLVSTRIS PRIN-
CIPIS lOACHlMI MARCHIO-
NIS BRANDEBVRGEN . SACRI
ROMA. IMPERII ELECTORIS
FILIA ILLVSTRIS PRINCIPIS
GEORGII DVCIS SILESIAE
ET CAET. CONIVNX MDLlII .
Beide Figuren umgab der Künstler mit den
prachtvoll ausgeführten, von reichem Schmuck um¬
rahmten Emblemen der Fürstenhäuser von Liegnitz-
Brieg und Brandenburg. Aber Baar hatte auch dem
Stolze des Herzogs auf die historische Vergangen-
14
llaii|iliiorta) am l’iastensrhlosse in Brieg, von der Seite gesehen.
BRIEG.
107
heit des Piastengeschlechtes Rechnung zu tragen.
Er that dies, indem er unterhalb der oberen Fenster¬
reihe in höchst origineller Weise eine förmliche
Ahnengalerie anlegte. 24 Vorfahren des Fürsten,
von denen derselbe in gerader Linie abstammte,
vom sagenhaften Piast bis auf Herzog Friedrich IL,
sind hier, in Gruppen zu je vieren vereinigt, in
charaktervoll ausgeprägten, die plastische Kunst
jener Zeit nicht wenig ehrenden, steinernen Brust¬
bildern dargestellt. Die obere Reihe enthält die
polnischen Fürsten und Könige, letztere mit Krone
und Scepter, die untere die schlesischen Herzöge,
meist mit dem Herzogshut. Allenthalben, teils an
den Pilastersockeln, teils über teils zwischen den
Köpfen, sind erläuternde, recht gute historische
Kenntnisse verratende Inschriften angebracht. End¬
lich stehen über den oberen Fenstern unmittelbar
am jetzigen Mauerkranze mehrere für die Frömmig¬
keit und Gerechtigkeitsliebe Georg ’s bezeichnende
Sprüche. Sie lauten: Verbum Domini manet in
aeternum. Si Deus pro nobis, quis contra nos?
Justitia stabit thronus.
Über alle Flächen und architektonischen Glieder
des Portales aber hat der italienische Künstler eine
Fülle von Ornamenten ausgebreitet, die deutlich das
Gepräge seiner heimatlichen Kunst tragen. In die
Verschlingungen des Akanthusblattwerkes sind
allegorische und mythologische Figuren neben Vasen,
Muscheln und Delphinen eingewoben. Geistreich
wechselnde Formen halten die Eintönigkeit fern
und sind geschickt über die Flächen verteilt. Leicht
und zierlich fließen die Linien hin. Zwar scheint
die Ausführung von verschiedenen Händen zu sein.
Denn es unterscheiden sich z. B. die eleganten Ver¬
zierungen in den Bogenzwickeln des großen Thores,
die schönen Volutenranken über dem Fenstergebälk
des ersten Geschosses wesentlich von dem etwas
schwerfälligen Rankenwerk über der kleineren Thür.
Am meisten hat der Künstler seiner Phantasie bei
der Ausfüllung der Pilasterflächen freien Lauf ge¬
lassen. Hier erscheinen in den Laubgewinden
zuweilen höchst wunderliche Verbindungen der
Menschen- und Tiergestalt.
Die Wirkung des Portales wurde ehedem
wesentlich dadurch gesteigert, dass Teile desselben,
wie die Statuen und Brustbilder, die Wappen, der
Grund der Inschriften bemalt oder vergoldet waren.
Auch die Wirkung des Gegensatzes kannte der
Künstler. Denn er wusste den Eindruck der feinen
und edlen Formen des Portales durch eine dasselbe
umschließende Quadermauer zu verstärken.
Über dem Hauptgesims erhob sich früher noch
eine Galerie. Von der Brüstung derselben ist jetzt
nur noch ein Wappenschild mit dem schlesischen
Adler erhalten, das vielleicht erst bei der Renovation
des Portales (1864/65) wieder über demselben ange¬
bracht worden ist. ’)
An den Außenwänden des Stadt- und Oder¬
flügels ist sonst nichts mehr von Bedeutung er¬
halten. Die vielleicht in Sgraffltotechnik ausge¬
führte Verzierung der langen Flächen ist ver¬
schwunden; ebenso der von der Herzogin Luise
(1672 — 75) um das Erdgeschoss des Stadtflügels an¬
gelegte Säulen gang.
Kommt man durch das mächtige Tonnengewölbe
des Thorweges in den 1700 qm großen Hofraum,
so erhält man erst den rechten Begriff von der
Zerstörung, welche die blindwütende Macht des
Feuers angerichtet hat. Denn von der anmutsvollen
und vornehmen Hofanlage, von den durch zwei
Geschosse führenden ionischen Säulengängen, den
schön umrahmten Fenstern und Thüren sind nur
Bruchstücke geblieben. Der nordwestliche, ehemals
einstöckige Flügel des Schlosses ist vollkommen ver¬
schwunden; an seiner Stelle steht die katholische
Elementarschule; der Flügel an der Hedwigskirche,
in welchem „die schöne Tafelstube“ mit den „ge¬
wirkten Bildnissen der Liegnitz -Brieger Herzöge“
sich befand, ist bis auf wenige Teile ganz neu für
die Zwecke des Magazins aufgeführt. An den ge¬
schwärzten und verwitterten Mauern des Portal¬
und Oderflügels hingegen lassen sich noch einige
Bogen der einstigen Säulenhallen verfolgen. Eine
Anzahl Fenster- und Thürrahmen aus Sandstein,
kunstvoll gegliedert und verziert, kleben mit ver¬
mauerten Öffnungen an den kahlen Wänden; sie
führten nicht auf die Säulengänge heraus. Von
den Hallen des Erdgeschosses sind rechts und links
vom Hofportal in den Ecken des Hofes einige Säulen
mit Bögen und Kreuzgewölben erhalten; unter ihnen
führen die alten Treppen, zum Teil noch mit Stufen
aus Prieborner Marmor belegt, nach dem ersten
Geschoss hinauf. Am besten erhalten ist das 1551
vollendete, die Einfahrtshalle nach dem Hofe hin
abschließende Portal. Dasselbe unterscheidet sich
in seiner Ausführung und Ausschmückung wesent¬
lich vom großen Eingangsportal. Der breitgedrückte,
etwas zugespitzte Thorbogen überspannt die ganze
Öffnung der Halle und erscheint als ein von Bändern
umwundener, gewaltiger Eichenkranz. Die Flächen
1) Kunz, Das Schloss der Plasten zum Erlege. 1885. S. 29.
14*
Kleines Portal am Piastenschlosse in Brieg.
BRIEG.
HO
der als Widerlager dienenden korinthischen Pilaster
tragen sehr derb gezeichnete und verhältnismäßig
zu große Embleme und Trophäen. In den Zwickeln
sind die Wappen von Liegnitz - Brieg (links) und
Brandenburg (rechts) nebst kleinen Inschrifttafeln
angehracht. Rechts von diesem Portal befindet sich
noch der Eingang zur ehemaligen Trahantenwache.
Über der Thür liest man: Vortrue (Vertrauen) darflf
aufschauen. Gut erhalten sind auch die rundbogigen
Eingänge in die mächtigen Kellergewölbe.
Von der fürstlichen Ausstattung des inneren
Schlosses sind nur noch ein paar mit Rahmen,
Rosetten und Rankenwerk verzierte Spiegelgewölbe
und einige deutsches Gepräge tragende Thürein¬
fassungen im Erdgeschoss des Oderflügels vorhanden.
Ein kleines Gemach enthält den einzigen Re.st der
Malereien des Schlosses; nämlich an der einen Wand
vier Wappen und an der andern einen mehr originell
als kunstvoll ausgeführten, leider etwas zerstörten
Stammbaum, dessen untere Aste von der Brust
Georgs und Barbara’s ausgehen, und auf dessen
Zweigen eine Reihe von Brustbildern ruhen, welche
die Söhne des herzoglichen Paares nebst ihren Ge¬
mahlinnen und Kindern darstellen.
Wie verlautet, geht das K. Kultusministerium
mit der Absicht um , diese schönen und hohen Räume
wiederherstellen zu lassen, um darin ein kleines
Museum einzurichten.
Aber neben der Kunst vernachlässigte Herzog
Georg die Wissenschaft nicht. Er ließ zu derselben
Zeit, wo man am Schlosse baute, in den Jahren
15(51 — 69, 200 Jahre nach Errichtung des Domstiftes
durcli Ludwig 1., von seinem Baumeister das
Gymnasium als einen Wohnsitz für den wahren
Glauben, für eine erleuchtete Philosophie und alle
Tugenden in unmittelbarer Nähe seines Fünsten-
sitzes auffübren. ’) Für Bau und Fundirung dieser
Schule verwandte der Herzog, wie schon erwähnt,
besonders die Einkünfte des Hedwigsstiftes, welche
allinälilich nacli Durchführung der Reformation im
1 , DieHen Zweck ('ieOt die Hauinschrift über dem kleineren
Portal des (Jehäiides an. Dieselbe ist ahgedruckt bei Schön-
■wiilder-Diitttnann, (Jeschichte des K. (Jyranasiums zu Brieg
iSbO. S. 10.
Brieger Fürstentume durch Herzog Friedrich II.
(1554) frei geworden waren. Seither hat sich das
Gymnasium an der Erziehung und Bildung vor¬
nehmlich des schlesischen Adels und Bürgertumes
in hervorragender Weise beteiligt. Welchen Ruf
es genoss, erhellt aus der Angabe des Chronisten
Lucä, wonach zwischen 1625 — 33 dem Rektor
seitens der Brieger Universität die Vollmacht er¬
teilt worden ist, die philosophischen Würden zu
erteilen^). Tüchtige Männer in großer Zahl, be¬
rühmt als Dichter und Gelehrte, bewährt im Rat
der Fürsten und der Städte, sind aus ihm hervor¬
gegangen. Über die Grenzen der engeren Heimat
hinaus wurden namentlich bekannt Johann Herrmann,
der Dichter evangelischer Kirchenlieder (f 1647), der
Epigrammatist Friedrich^ von Logau (fl655), aus
der neueren .Zeit der Altertumsforscher Karl Ottfried
Müller (f 1840), der Dombaumeister Zwirner (f 1861)
und der Politiker August Heinrich Simon (f 1860).
Glücklich hat sich die Brieger Fürstenschule in den
Stürmen der Jahrhunderte, welche ihr religiöses
Fundament, ihren wissenschaftlichen Geist, ja ihre
Existenz bedrohten, behauptet. Allerdings wurde
sie durch dasselbe Ereignis, welches ihren evange¬
lischen Charakter sicherte, durch die Eroberung
Briegs 1741, zugleich ihrer äußeren Schönheit für
immer beraubt; denn die preußischen Kugeln zer¬
trümmerten das Dach samt den mit den Bildnissen
der Musen geschmückten Giebeln, samt dem oberen
Stockwerk und dem „durchsichtigen“, mit dem Bilde
Apoll’s gezierten Turme.^) Die ehedem im Hofe am
Gebäude entlang führenden offenen Gänge wurden
1747 vermauert und mit Fenstern versehen. 1765
ließ Friedrich der Große noch einmal das Bauwerk
in Stand setzen. ^) Seitdem trägt es einen mehr
als schlichten Charakter. Von der ursprünglichen
Ausstattung ist nur das Portal mit dem kleinen
Pförtchen daneben erhalten; aber auch diese Reste
haben keinen besonderen künstlerischen Wert.
_ (Schluss folgt.)
1) Schönwälder-Guttmann a. a. 0. S. 113.
2) Den gleichen Schmuck besaß das alte 1562 ge¬
gründete Elisabetan in Breslau.
3) S. Die Inschrift links vom Thorbogen; bei Schön¬
wälder-Guttmann a. a. 0. S. 24.
MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
Eine besondere
und wohl auch be¬
absichtigte Über¬
raschung bot die neue
Schule im Vorsaal
der Sezessionisten-
ausstellung durch
vier schon im Ma߬
stab und im Inhalt
ganz ungewöhnliche Leistungen, denen sich auch im
Glaspalast einiges Verwandte gesellte. — Programm¬
und Historienmalerei liegt abseits der bisherigen neuen
Ziele. Man hat der modernen Schule daraus einen
Vorwurf gemacht, der an sich völlig berechtigt ist,
aber man darf nicht vergessen, dass diese Einseitig¬
keit, die sich nur an das in der Natur unmittelbar
Gegebene hält und in demselben auch das Un¬
scheinbarste der sorgsamsten Nachbildung wert er¬
achtet, erziehlich sehr günstig wirkt. Besser, die
Kräfte an zu kleinen Aufgaben stählen, als sie
vorzeitig an zu großen versuchen! Falsch und be¬
dauerlich ist nur, diese der Schulung dienende
Thätigkeit als das letzte Endziel aller Kunst hin¬
zustellen, und jede Programmmalerei von vornherein
zu verpönen, weil sie nicht lediglich durch künst¬
lerische Mittel wirkt. Jedenfalls ist es mit Freuden
zu begrüßen, dass nunmehr auch dieser Irrtum zu
schwinden beginnt, und auch hierfür bezeichnet die
Münchener Ausstellung vielleicht einen Markstein
in der Entwickelung, vor allem durch das Vestibül
bei den Sezessionisten. Vier mächtige Bilder be¬
grüßten dort den Beschauer, viele Quadratmeter
Leinwand mit lebensgroßen Gestalten, und zwar keine
Alltags- , sondern Kultur- und Historienbilder im
Dienst der Monumentalmalerei. Am wenigsten
vielleicht gilt dies von dem Gemälde des Villegas,
„Der Tod des Stierkämpfers“. Dasselbe ist thatsächlich
eine Vergrößerung eines schon wohlbekannten Bildes
VON ALFRED GOTTHOLD MEYER.
II.
und hat den Charakter dieser äußerlichen Über¬
tragung in größeren Maßstab auch künstlerisch
bewahrt, so virtuos immer die malerische Leistung
als solche sein mag. Das Bild ist mustergültig für
eine flotte, sichere Malerei, aber es packt nicht so,
wie es dem Stoffe und dem materiellen Aufwande
nach packen könnte und müsste. Bis zu einem ge¬
wissen Grade trifft dies auch bei dem zweiten großen
Bilde desselben Meisters, „Der Triumph der Dogin
Foscari“ zu, aber hier .sind Stoff' und Arbeit denn
doch zu ungewöhnlich bedeutend, um diesen Mangel
in seiner vollen Schwere fühlbar werden zu lassen.
Der Glanzzeit Venedigs ist der Gegenstand des Bil¬
des entlehnt. Das Interesse am Namen Foscari mag
mitgespielt haben, — oder ist das Gemälde im Auf¬
träge gemalt ? — den Hauptreiz aber bot es für den
Maler, das Venedig des Quattrocento, das Venedig
der Bellini und Carpaccio, im Festgewand zu schil¬
dern, und darin musste auch die Wirkung des Bildes
auf den Beschauer gipfeln. Er nimmt als unmittel¬
barer Zeuge an der Scene selbst teil. Eine Schar
weißgekleideter Venezianerinnen schreitet ihm, der
Dogaressa voraus, entgegen; vor zahlreichem glän¬
zendem Gefolge, hart am Ufer des Canale, stehen,
groß wie der Beschauer, rechts der Doge, links
die Vertreterin der huldigenden „Venezia“. Treff¬
lich berechnet, ist diese Komposition ungemein
geschickt, — freilich auch sehr gewagt, denn sie
erfordert die glänzendste Beherrschung der Per¬
spektive, und schon hier hat selbst das außer¬
ordentliche Können des Villegas wenigstens die
Luftperspektive nicht völlig zu bewältigen vermocht.
Er hat sich außerdem diese an sich schon so schwie¬
rige Aufgabe noch selbständig erschwert, besonders
durch das seltsam helle, grelle Kot des unten aus¬
gebreiteten Teppichs und das kalte Weiß in der
Tracht der Ehrenjungfrauen. Diese beiden Haupt¬
töne bleiben trotz aller Nüancirung harte Gegen-
112
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
Sätze, Widersprüche, wie sie gerade die Lagunenstadt
bei warmem Sonnenlicht nicht duldet. Sie ist das
Paradies der Farben, weil sie durch ihre feuchte
Luft selbst deren schärfste Kontraste mildernd ver¬
mittelt, weil sie jede Lokalfarbe in goldigen Schimmer
und Duft hüllt. Das haben schon die Quattrocen¬
tisten empfunden. Dass sie es mit ihren malerischen
Mitteln noch nicht wiederzugeben vermochten, durfte
Villegas nicht veranlassen, ihnen — wie in so voll¬
endeter Weise in den Einzelgestalten, vor allem in
dem Geleit des Dogen — auch hierin zu folgen.
Er stellt sich auf den Boden Gentile Bellini's und
Carpaccio’s, und für die Zeichnung seiner Figuren
war das vollauf berechtigt, für die malerische Hal¬
tung aber reichte es nicht aus. Besitzt doch Ve¬
nedig selbst — auch abgesehen von Tizian und
Giorgione — noch das Werk eines Meisters, das,
uuübertrofien durch die Kunst aller Zeiten, ein Bild
Venedigs und seiner Menschen in wundersamem Ein¬
klang uns vor Augen stellt: i?ordo??6’sÜberreichung des
S. Marco-Ringes an den Dogen. Burckhardt nennt
es „die reifste, goldenste Frucht der mit Carpaccio’s
Historien beginnenden Darstellungsweise“ und spricht
ihm hierdurch das hehre Ziel zu, welches Villegas vor¬
geschwebt hat, das er jedoch noch nicht erreichte,
denn noch immer bleibt dieses Gemälde Bordone’s
„das am schönsten gemalte Ceremonieenbild, das
überhaupt vorhanden sein mag“ und zeigt am besten,
was dem Werk des Spaniers zur Vollendung fehlt.
An Natürlichkeit der Raumwirkung und Har¬
monie des Kolorits wird dasselbe auch von Hu¬
bert Herkomer’s ebenfalls mit lebensgroßen Figuren
ausgestattetem Kolossalbild einer „Magistratssitzung
in Landsberg“ übertroffen. Auch hier nimmt der
Beschauer unmittelbar an der Scene teil. So na¬
türlich wirkt hier der Innenraum mit seinen zur
Straße geöffneten Fenstern, dass man ihn zu betreten
glaubt. Auch die Gestalten .sind meisterhafte Por¬
träts, leider nur zuweilen etwas zu sichtlich „komponirt“.
Im ganzen repräsentiren diese drei Gemälde einen
so hohen Grad künstlerischen Könnens, dass, an ihnen
gemessen, ein großer Teil der beiden Ausstellungen an
Wert wesentlich einbüßt. Reife Meister geben hier
ihr Bestes — und dies i.st in dieser Umgebung auch
(las Beste. — Nicht völlig schien dies beim ersten
Eindruck von dem vierten Kolossalgemälde dieses
Vestibüls zu gelten. Der erste Anblick frappirte,
aber nicht sogleich im günstigen Sinn. Ein Tripty¬
chon mit Gestalten von nahezu doppelter Lebens-
trröße, Gestalten aus dem Volke, Männer und Weiber,
alt und jung, sämtlich nach rechts hin gewandt.
knieend, flehend, singend! Ihrer aller Ziel dort ist
ein den rechten Flügel des Triptychons füllender
Altar ; im linken schwingt eine mächtige Glocke, —
das Ganze nennt der Maler, Waclaw Szymanowski: „ Ge¬
bet“. Ein solches Werk ist ein Wagnis und zugleich
ein Selbstbekenntnis. Gewagt ist es, die Komposition
in dieser Art ohne Mittelpunkt zu lassen, gewagt,
Bauernköpfe ins Riesenhafte zu steigern, und wer
ein solches Bild in diesen Dimensionen malt, be¬
kennt sich zur winzigen Schar derer, die Kunst um
ihrer selbst willen treiben, unbekümmert um ma¬
teriellen Nutzen. So fordert diese Arbeit auch von
der Kritik einen eigenen Maßstab. Im Können ver¬
mag sich Szymanowski mit seinen Genossen in die¬
sem Vestibül nicht zu messen, im Wollen aber
übertrifft er sie beide. Aus diesem Bild tönt hehre
Begeisterung. Den ergreifenden Klang der Kirchen¬
glocken will es versinnbildlichen, wie eine Gemeinde
vor der mächtigen Stimme der Kirche in die Kniee
sinkt, wie all’ ihr Sorgen und Mühen sich auflöst
in ein inbrünstiges Flehen, und der Choral anschwillt
zu gewaltigen Accorden. In jeder Dorfkirche kann
man ein ähnliches Bild schauen, und hundertfach
ist es schon dargestellt worden. Aber es bleibt meist
ein mehr oder minder gutes Genrebild. Hier ist es
ein Stimmungsbild geworden von ergreifender Kraft.
Die zeitlichen und örtlichen Schranken schwinden,
ins Riesenhafte steigern sich die Gestalten, und aus
dem Momentanen wird ein Ewiges. Man begreift,
dass der Maler sein Werk nicht anders nennen konnte
als: „Das Gebet.“ —
Bezeichnet das Bild dieses jungen Polen den
Weg, auf welchem die „neue“ Schule in Zukunft
die „alten“ Aufgaben zu behandeln gedenkt? — Das
wäre freudig zu begrüßen, denn sein Ziel ist Seelen¬
schilderung, eine Stimmungsmalerei, an welcher nicht
nur die Hand beteiligt ist, sondern das Gemüt, und die
daher auch nicht nur zum Auge spricht, sondern zum
Herzen. — Den eigenartigen Prozess, in welchem sich
der Impressionismus als Verewigung des momentanen
Eindrucks und der Symbolismus als eine extreme
Gattung der Stimmungsmalerei langsam zu den
traditionellen Zielen zurückwenden, habe ich hier
schon wiederholt verfolgt und zu schildern versucht.
Auch die diesjährigen Ausstellungen gewährten für
diesen Gesichtspunkt stattliche Ausbeute. Farben¬
probleme schweben den Künstlern vor, fast unbe¬
wusst aber schaffen sie Stimmungsbilder, aus denen
die Poesie des Erdendaseins tönt. In diesen Werken
flutet das Sonnenlicht durch schlichte Räume, ihren
dürftigen Hausrat vergoldend, breitet über alltägliche
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
113
Gestalten sonntäglichen Glanz und spiegelt sich in
an sich wenig beachtenswerten Dingen, ein Sonnen¬
licht, das nicht mehr als kalte Helle wirkt, sondern
aus köstlicher Farbenpracht lebhaft zurückstrahlt.
Von dieser Poesie vermag neben der inhaltreichen
in ähnlichem Sinn eine ganze Reihe trefflicher Studien
nach Licht und Farbeneftekten unter freiem Himmel,
wie sie nur die Gunst des flüchtigen Augenblicks
schafft, wenn ein völlig momentanes Verhältnis
zwischen Lokalfarben, Sonnenlicht und Schatten
lu der Sonne. Cxemälde von Fr. Fehr.
Darstellung großen Maßstabes auch das winzigste
Bildchen zu melden, und in der That waren die
Münchener Ausstellungen an Werken dieser Gattung
reich. Den schon genannten Interieurs — an der
Spitze die Arbeiten Kühl's und Edelfeldt’s — gesellte sich
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 5.
obwaltet, Bilder, die mit der Schnelligkeit des von
Blatt zu Blatt hüpfenden Sonnenstrahles wechseln.
Nur eine flinke Hand vermag solchen Vorwurf auf
die Leinwand zu bannen: die Durchführung bleibt
eine Gedächtnis- und nicht zum wenigsten eine
15
114
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
Phantasiearbeit. Nicht selten büßt dabei die ur¬
sprüngliche Skizze ihre Frische und Wahrheit ein.
Das gilt sogar zuAveilen auch für so hervorragende
^ ertreter des besten „Impressionismus“, wie Max
Liehermann, auf dessen Gemälde „Mädchen mitKühen“
die helle M iese vor dem Wald des Hintergrundes
wohl durch gar zu häufiges Übergehen mit dem
Pinsel eine schwere und nicht mehr überzeugende
Färbung erhalten hat. Vielleicht empfiehlt es sich
bei solchen Aufgaben denn doch noch eher, dem
M erk das Skizzenhafte zu lassen, wie es der Schwede
Änlcarcrona liebt. Vielfach will unseren jüngeren
Landschaftern die Farbenstimmung der Natur selbst
jedoch überhaupt nicht mehr genügen. Die dort
wahrgenommenen Farbenwerte an sich locken zu
selbständigem Schaffen, man sucht zu ihnen Kon¬
traste und Nuancen, welche in der Landschaft selbst
nicht zu finden sind, nur der Staffage oder der künst¬
lichen Beleuchtung entnommen werden können. Da
liegt die Gefahr nahe, dass man dem Auge gar zu
ungewöhnliche Farbenzusammenstellungen bietet, und
nur der angeborene künstlerische Takt kann dieselben
vermeiden. Über einen solchen scheint auch als
Maler — bisher war er nur als Zeichner berühmt —
Jleriiifinn ScJtlitffjen zu verfügen, der in seinem „Wind¬
stoß“ betitelten Gemälde helles Waldesgrün mit dem
Blau und Violett der Frauengewänder zu einem
reizvollen Farbenaccord vereint hat. Franz Slcarhina,
dessen im abendlichen Sprühregen verschleiertes
Berliner Straßenbild auch in München unübertroffen
bliel), hat dagegen in seinem übrigens in der Zeich¬
nung etwas steif wirkenden Pastell „Pariser Blumen-
corso“ dies Nebeneinander eigenartiger Farben¬
nuancen bereits siuf Kosten der dem Auge wohl-
tbuenden Wirkung verewigt. Diese Vorkämpfer um
die Lösung koloristischer Probleme sind über das
Studium des natürlicben Tages- und Sonnenlichtes
hinaus sclion längst zum Gebiete der künstlichen
P>eleuclitung übergegangen. Lampenlicbt und Gas¬
licht und der Strald elektrischer Beleuchtung wett¬
eifern in diesen Bildern mit der Wirkung der Tages¬
helle, und die Sonne selb.st zaubert vor dem farben¬
freudigen Blick unserer Koloristen zuweilen Effekte
hervor, die bei allem Reiz etwas Künstlicbes haben.
I)ies emjifand man selbst auch vor einigen Arbeiten
Fricflricli Frhrs, dem jedoch unter den Koloristen in
München diesmal zweifellos ein Ehrenplatz gebührte.
Etwas ungemein Temperamentvolles liegt in seiner
Farbengebung mag er nun in tiefen, satten
Tönen ein reich ausgestattetes Interieur, oder in
zartem Pastell die vom Sonnenlicht umspielte graziöse
Gestalt einer Balleteuse schildern. Besonders effekt¬
voll, allerdings vielleicht etwas zu wuchtig, wirkt
Georg Hendrik Breitners große Schilderung des
„Dams“ in Amsterdam bei Abendbeleuchtung. —
Für die neue Farbenfreude bezeichnend ist auch
die Vorliebe für bunte Lampenschirme, Lampions
und erleuchtete Glaskugeln , welche in den Bildern
dieser Ausstellungen auffallend häufig waren und
dann naturgemäß das ganze Kolorit beherrschten.
Zu einem besonders bunten, aber fein durchgeführten
Bild dieser Art hat Egger-Ldenz seltsamerweise ein
Charfreitagthema verarbeitet: die Grabfigur Christi
unter erleuchteten Glaskugeln, deren märchenhaftes
Licht zwei betende Kinder mit staunender Bewun¬
derung erfüllt. — Wenn die Bilder selbst die Quelle
der Beleuchtung vor Augen stellen, bleibt dieselbe,
auch wo sie ungewöhnlich ist, verständlich, vielfach
aber sieht der Beschauer lediglich die Wirkung,
ohne die — außerhalb der Bildfläcbe befindliche —
Ursache. In diesem Falle werden die schon an sich
ungewöhnlichen Farbeneffekte nicht selten gänzlich
rätselhaft. Am störendsten wirkt dies bei Porträts,
vor denen man sich bisweilen schlechterdings nicht
zu erklären vermochte, warum die ganze Gestalt als
Versuch in Blau oder Versuch in Rot vor Augen
stand, oder warum sich alle Regenbogenfarben auf
ihr vereinten. Zum Teil traf dies selbst noch für
die Bildnisse von Exter und von Schlittgen zu, so
interessant dieselben auch als koloristische Expe¬
rimente sein mochten. Seit Jahren sehen zahlreiche
unserer Porträtisten bei ihren Bildnissen mehr auf
die Farbengebung als auf die Schilderung der indi¬
viduellen Persönlichkeit. Kein Zweifel, dass bei der
Charakteristik der letzteren auch die koloristische
Stimmung als solche sehr wesentlich mitklingt. Sie
rückt die Gestalt für den Beschauer in eine mehr
oder minder bestimmte Empfindungssphäre, und es
ist Sache des künstlerischen Taktes, dieselbe so zu
wählen, dass sie dem Wesen des Dargestellten ent¬
spricht. Ob das gelang, oder nicbt, pflegt man
unwillkürlich richtig zu beurteilen, auch ohne die ge¬
schilderte Persönlichkeit selbst zu kennen. Dies Ge¬
fühl hatte man vor dem köstlichen, freilich schon
mehr genrehaft aufgefassten Bildnis einer jungen
Dame von Charles Eurse, die in ihrem Gemach ein¬
sam über einemBucbe träumt und vor Julius Rolshovens’
vornehm-zarter Frauengestalt [Jane Hading]. Die vir¬
tuose Technik, die künstlerisch-jara/biisc/ie Arbeit tritt
liier zurück; das Kolorit spiegelt den Zauber eines in¬
dividuellen Seelenlebens. Abnliches bat wohl auch
Ernst Oppler bei seiner „Dame am Klavier“ erstrebt,
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
115
aber nur teilweise erreicht. Am häufigsten war es
noch in den englischen Sälen der Jahresausstellung
zu finden, wo das Porträt neben Fnrse durch Mouat
Louclan, Wilson, Greiffenhagen u. a. besonders inter¬
essant vertreten war. Bei Antonio Gandara, Aman
Jean und John Alexandre herrscht hier vielleicht schon
Abendhimmel schaut, zu einem koloristischen Meister¬
werke gestaltete, — das cremefarbene Gewand ist hier
mit dem Stahlblau des Hintergrundes unübertrefflich
in Einklang gebracht — nnd der in diesen Farben-
zanber dennoch zugleich auch den vollen Reiz der
Persönlichkeit zu bannen wusste. Ein eigenartiger
Weibliches Bildnis. Gemälde von M. Bümstrey.
ZU sehr die oben geschilderte Stilistik, bei einer
ganzen Reihe deutscher Meister, unter denen in diesem
Zusammenhang das größte Lob diesmal wohl WartJi-
miiller, v. Ilahermann und Block gebührte, die Kolo-
ristik an sich. Einen Ehrenplatz nahm Peter Severin
Croyer ein, welcher das Bildnis seiner Gattin, wie
sie träumerisch am Strand über das Meer in den
Zauber ruht auf diesem Bilde. — An guten Porträts
jeglicher Gattung war auch sonst kein Mangel.
Eine Kunstrichtung, welche in der Verewigung des
momentanen Eindrucks eines ihrer Hauptziele erkennt,
muss auch im Bildnis vor allem anf sprühende
Lebendigkeit ausgehen. Dieselbe wird ihre Wirkung
in der That niemals verfehlen. Selbst wenn Jose
15
DIE MÜNCHENER KÜNSTAUSSTELLUNGEN.
1 16
Sal^jado’s Porträt Adrient Demont’s nicht so vor¬
züglich gemalt wäre, wie es ist, müsste man den
Künstler schon wegen der Auffässungweise an sich
bewundern. Dieser Mann, der, die Hände in den
Hosentaschen, mit seinem echten Künstlerkopf so
ruhig sicher aus der Bildfläche herausblickt, posirt
niclit und weiß doch, dass die Blicke anderer auf ihn
gerichtet sind. Am schwersten ist diese Grenzlinie
sicherlich bei den „offiziellen“ Porträts zu wahren, die
schon durch ihren Gegenstand eine gewisse Monu-
Landschaft war das Porträt wie stets am reichsten
und relativ besten vertreten, doch ist es unmöglich,
hier alles Namhafte einzeln aufzuführen. Auffällig
war diesmal die Zahl guter Bildnisse von Frauenhand,
an deren Spitze die Arbeiten von Therese Schwarze,
C. von Dreyfxiß, Bertha Wegmann und Marie Dumstrey
zu nennen sind. In der Fähigkeit, die Errungen¬
schaften der neuen Schule den traditionellen An¬
sprüchen an ein gutes Familienbildnis vermittelnd
anzupassen, scheint sich das weibliche Taktgefühl
,,Aboii(l“. (Jemälde von Chr. Landenberger.
mentalität der Auffassung erfordern. Koner' s Bildnisse
Kai-'^'T Willielni’s II. und des Finanzministers Miquel,
.sowie I h rinirh’s läu'trät des Prinzregenten Luitpold
verdienen in diesem Sinne uneingescliränkteres Lob,
;il. in ihren malerischen Qualitäten. Wie iin vorigen
•labre, -o beansprucht audi diesmal Leo Saji/hrrger
einen eigenen Platz. Er ist wohl noch im Stadium
des Sueben.s l>egriffen, aljcr es erscheint völlig ver-
•ebli, ihn so .scbleclitbin nur als einen talentvollen
Nacbahnier Lenltacli's zu bezeichnen. Ein indivi-
iiueller Geist Ijeseelt seine Hand und erhebt deren
Werk weit über das Niveau einer durch berühmte
M'isier nur äußerlich bestimmten .Madie. Neben der
auch auf künstlerischem Gebiete gut zu bewähren.
Ähnliches zeigte sich im Stillleben, wo Natalie Schult¬
heiß und Frieda Bitter mit Eugen Joors und Fouace
wetteiferten.
Genre und Landschaft boten im ganzen das
gleiche Gesamtbild wie im Vorjahre. Auch hier ist
die koloristische Richtung dem Stimmungsbild zu¬
gewandt. Interessant und kunsthistorisch beachtens¬
wert war auch in diesem Jahre der Einfluss der
Schotten, von denen einige übrigens auch persönlich
gut repräsentirt waren. Es ist ein gutes Zeichen,
dass nicht die extremen Auswüchse, sondern der
besie Gehalt dieser eigenartigen schottischen Malerei
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
117
bei uns imcliwirkt. Die goldigeD, tiefen Töne dieser
Hocblandspoeten klingen bei Otto Eckmann, Keller-
lientlingen , Bernhard Butter sack u. a., von persön¬
licher Auffassung getragen, reizvoll nach. Im Geist
der Schotten hat auch Landenhcrgcr sein liebens¬
würdiges Bildchen entworfen, welches in seinen
nackten Gestalten auf abendlich warm beleuchteter
Wiese ein ungewöhnliches koloristisches Talent ver¬
rät. Er malt hier das Nackte breit, leuchtend,
kräftig, in der Art des Rubens. Das stand zu den
meisten übrigen Darstellungen nackter Körper in
einem gewissen Gegensatz. Die Anffassungsweise
eines Carolus Duran erscheint jetzt schon klassisch
nüchtern, diejenige Auhlct’s, Dubufs und CoUins zu
süßlich; selbst J. Doucefs virtuos gemalter weiblicher
Akt mag vielen der „Modernsten“ zu körperlich
dünken. Am meisten liebt man, auch den Menschen¬
leib nur malerisch als Tonwert einer koloristischen
Symphonie zu behandeln. Duftig und zart, fast
visionär, ruhen die Gestalten Julius Steu-art’s, Mcnard’s,
Friedrich Stahl' s im Grünen, baden sie sich bei
Älphons Dinet im zitternden Mondschein. Plastischer
stehen sie bei Albert Fourie vor Augen. Der „Lumi-
nismus“ Besnard’s giebt hier die Richtung an, welche
er selbst und Harrison in München vertreten. Dort
sind ihr am glücklichsten L. von Ilofmann, reali¬
stischer Langhammer gefolgt. Am vollendetsten blieb
die Lichtwirkung aber doch in Zorns „Venus von
la Villette“. —
Auf dem Gebiete der Landschaftsmalerei zeigten
sich die Gegensätze, an denen diese beiden Aus¬
stellungen so reich waren, am stärksten, zugleich
aber entfaltete sich hier auch am willkommensten
das neue malerische Können. In der Landschaft
.hat die moderne Schule begonnen, der Landschafts¬
malerei scheint sie am dauerndsten förderlich zu sein,
in ihr am ehesten abgeklärte Vollendung ihres
Strebens zu finden. Nirgends war die Fülle der
verschiedenartigsten und dabei vorzüglichen Werke
so groß, wie hier. Die deutschen Arbeiten zeich¬
neten sich, wie meist, durch sorgsamstes Studium,
individuelles Eiuleben in die erwählte Aufgabe, zu¬
gleich aber auch vielfach durch großes Können aus.
Dabei die denkbar größte Mannigfaltigkeit! Eine
Winterlandschaft machte Hans Olde zu einem in
leuchtendem Blau und Weiß glitzernden koloristischen
EfFektstück, und ein winterliches Städtebild gab Hugo
König Gelegenheit, sich als Meister des feinen, matten
Lufttones zu bewähren. Keller-Reutlingen brachte ein
Kornfeld, auf dem der lichte Schimmer der Luft au
den Goldton der Altvenezianer gemahnte. Neben
den tiefsten satten Farben, wie sie die Schotten
lieben, strahlte aus etlichen dieser Gemälde eine
Fülle grellen Lichtes, das selbst ein mosaikartiges
Nebeneinander von tausendfältigen Lokalfarben, wie
es Adalbert Niemeger in seinem von Blumen erfüllten
„Hof in Capri“ vortrefflich schildert, noch zu be¬
herrschen weiß, ohne es im einzelnen zu dämpfen.
Auf großer Leinwand, breit und effektvoll, mit einer
an die Panoramenmalerei erinnernden Virtuosität,
giebt Eugen Bracht das Bild eines majestätischen
Gletschergipfels in klarer Mondnacht, und nicht
fern davon bannt Erich Kubierschki in die kleinste
Fläche den zarten Zauber, welchen der Vorfrühling
über an sich ganz unscheinbare Felder breitet. Die
Münchener Landschafter haben die durch Schleich,
Lier und sodann durch das Kleeblatt Schönleber,
Baisch und Wenglein vertretene Richtung zum Glück
noch nicht gänzlich verlassen. Der malerisch-poe¬
tischen Auffassung eint sich selbst bei dürftigen
Sujets eine gewisse Größe. An der Spitze der zahl¬
reichen Münchener Arbeiten dieser Gattung standen
wohl diejenigen Beter Paul Müller's. Auch etliche
bisher weniger bekannte Namen wären hier zu er¬
wähnen, wie Max Beierlein, August Fink, Otto Gam-
pert, Alexander^ Mareks u. a. Josua v. Gietl's „Alt¬
weibersommer“ steht, breit und kräftig gemalt, an
koloristischem Reiz selbst den inhaltlich verwandten
Arbeiten eines Courtens nicht nach. Durch besondere
Energie in Auffassung und Kolorit zeichneten sich
die Arbeiten von Tina Blau aus. Hans von Bartels be¬
hauptete unter den Aquarellisten wie stets, den
Ehrenplatz. Von den übrigen deutschen Land¬
schaftern seien nur H. von Volkmann und Josef Tho-
mann (Karlsruhe), Olof Jernberg und Eugen Kampf
(Düsseldorf), Max Pietschmann (Dresden), sowie die
Berliner Wilhelm Feldmann und L. Dettniann (Pastell¬
skizzen) genannt, lediglich, um auch durch Namen
eine Vorstellung von dem hier Gebotenen zu geben.
Das Ausland blieb nicht zurück. Bei den Sezessio-
nisten war Älberts Baerfsons’ großes Bild einer
vlämischen Stadt mit der wundervollen Spiegelung
der Abendsonne im Flusse von fast monumentaler
Wirkung. Ihm gesellten sich die Arbeiten von
Cemrtens und drei köstliche Stücke von Harrison.
In der Jahresausstellung: bot wohl das Eigenartigste
der Belgier Victor Gilsoid: „die Kurve“ eines zwi¬
schen Hügeln hindurchgeführten Schienenstranges,
im nächtlichen Dunkel geheimnisvoll leuchtend, im
Hintergrund der Feuerschein und Rauch des um die
Ecke biegenden Zuges, ein Bild von echt moderner
Farbenromantik. Ein interessantes, aber nicht un-
US
DIE MÜNCHENER KÜNSTAUSSTELLUNGEN.
gefährliclies Experiment hat Charles Pahnie vortreif-
lich gelöst, indem er ein und dieselbe Dorflandschaft
in drei verschiedenen Beleuchtungseffekten vor Augen
stellt. Die besten Seestücke brachten, neben Har-
rison, A. Xormann, der Schwede Ekström und, von
Deutschen , Hans Petersen und Willi Hamacher.
Andersen Lnndbji hat seinen Ruhm als virtuoser
Schneemaler auch diesmal glänzend bewährt. Unter
den vielen tüchtigen holländischen Bildern nahm
2Iesdag die erste Stelle ein. — Schon im Vorjahr
fiel der Aufschwung des Tierbildes auf. Auch dies¬
mal zählten die Arbeiten von Zügel, WeishaiqA, li.
■V. Hegden, von Brendel, Thiele und Braith zu den
besten Leistungen. Es herrscht in ihnen eine schlichte
Naturauffassung, ohne die geistvolle Pointe, wie sie
beispielsweise aus dem Affenpärchen von Gabriel
Max [„Schlechtgelaunt“] etwas zu absichtlich spricht;
das Tier erscheint nur als ein Stück Natur, und ge¬
rade der objektive Ausdruck dieser Zusammen¬
gehörigkeit mit der Allmutter verleiht diesen Schil¬
derungen Reiz und Frische. —
Der internationale Zug, welcher durch die mo¬
derne Kunst geht, wird in der Landschaftsmalerei
schon fast störend fühlbar. Von den weltbekannten
Hauptmeistern abgesehen, dürfte es kaum möglich
sein, die Nationalität dieser Maler aus ihren Werken
selbst zu erraten. Ja, nicht selten scheinen die
naturgemäßen Verhältnisse geflissentlich vertauscht:
der Italiener sucht seiner Heimat den schwermütigen
Reiz eines nordischen Nebeltages abzulauschen, der
Deutsche s])ürt auf der dürren Heide des nordischen
Flachlandes nach italienischen Farbenkontrasten, die
er gern erst auf künstlichem Wege hervorruft. Die
Gefahren dieses Weges mögen hier unerörtert bleiben,
solange unsere Landschafter hierbei, wie bi-sher, so
tretflich Blick und Hand zu schulen wissen, über¬
wiegt bei dieser Lichtung der günstige Einfluss.
J'önte doch auf diesen Ausstellungen aller Orten
••in Wiederhall jenes stolzen Wortes, mit welchem
Emil Zf)la dem Natui-alisinus die Bahn gewiesen:
..Wir verlangen für uns die ganze Welt!“ Auch
das, was man gemeinhin in dem Worte „Genre¬
malerei“ zusammenzufassen pflegt, rief diesen Aus-
s])rnch ins Gedächtnis zurück. Auf die Genre¬
malerei alten Stiles, auf das berüchtigte „Anekdoteu-
bild‘, auf die „Dorfnovelle“ sind i]i Richard Muther’s
Geschichte »ler modernen Malerei die spitzesten
Pfeile gerichtet, über Knaus, Vantier, Defregger er¬
geht die schärfste Kritik. Das ist der Gegensatz
der modernen Malend des Zufälligen, des Momen¬
tanen, gegen die pointirte Erzählungsweise der
älteren Generation, die den Inhalt über die Form,
das „Was“ über das „Wie“ stellt. Aber Muther
ist ein künstlerisch und historisch zu fein geschulter
Kritiker, um die Ungerechtigkeit und Unhaltbarkeit
dieses Tadels für den geschichtlichen Standpunkt
nicht einzugestehen, und so scheidet er denn von
dieser „Verurteilung“ der inhaltlichen „aufdring¬
lichen“ Charakteristik die Beurteilung der mora¬
lischen Qualität, und giebt dem Altmeister Knaus
in diesem zweiten Abschnitt seiner Kritik wenigstens
einen Teil seines Ruhmestitels zurück. In Wahrheit
liegen die Dinge heut wohl so, dass auch der ein¬
gefleischte Anhänger der modernen Richtung dem,
der gut malen kann , zu malen erlaubt, was ihm
eben beliebt, und dass das letztere doppelt schätzens¬
wert bleibt, wenn es sich' nicht nur an Auge und
Gefühl, sondern auch an den Geist wendet. Um
sehen und malen zu können, braucht man nicht un¬
bedingt das „Erzählen“ zu verlernen. Es ist frei¬
lich eine Thatsache, dass bei den meisten Genre- und
auch bei den Historienbildern, welche mhaltlich zur
traditionellen Gattung zählen, die malerische Qua¬
lität unter dem Niveau der neuen, guten kolo¬
ristischen Schulung steht, aus dieser Thatsache darf
jedoch kein allgemeingültig bindendes Gesetz, sondern
nur die ja ohnehin wohl zweifellose Überzeugung
abgeleitet werden, dass unsere Malerei sich in einem
noch nicht abgeschlossenen Übergangsstadium be¬
findet. — Vielleicht nähert sich dasselbe jedoch auch
hier bereits seinem Ende. Einige unter den guten
„Genrebildern“ dieser Ausstellungen zählten auch zu
ihren besten male7-ischen Leistungen. In erster Reihe
ist hier Hermann Pichirs „Misere“ zu nennen, ein
packendes Charakterbild aus unserem Gesellschafts¬
leben, ganz vorzüglich gemalt, zugleich aber auch
mit einer an Daudet erinnernden Feinheit vorge¬
tragen; dann Wladimir Schereschewsky s „Heimats¬
lied“ russischer Verbannter in Sibirien, voll warmer,
echt nationaler Empfindung, vortrefflich komponirt
und auch koloristisch fein durchgearbeitet. Einen
eigenartigen Stoff hatte Richard Falkenbcrg (München)
gewählt: die Darstellung einer Hypnose, völlig
realistisch, nur den äußeren Vorgang mit fast photo¬
graphischer Treue schildernd, in lebensgroßen Fi¬
guren, von denen einzelne außerordentlich gut be¬
obachtet und wiedergegeben sind, das Ganze aber
entbehrt im Sinne seines inhaltlichen Themas noch
der rechten Wirkung und trägt noch zu sehr den
Charakter von Porträtgruppen. Auch ist wohl der
Maßstab zu groß gewählt. Das letztere gilt auch
von dem mit sichtlich großem Fleiß gearbeiteten
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
119
Gemälde von Ernst Leuenherger : „Die Samariter des
großen S. Bernhard“. Im ganzen war nicht zu
verkennen, wie gute Früchte die neue koloristische
Schulung auch auf dem den Gefahren des Kunst¬
marktes naturgemäß am meisten ausgesetzten Ge¬
biete der Genremalerei zu tragen beginnt. Als Folie
hierfür durften die beiden Genrebilder älteren Stiles
von Munlcacsg dienen. Völlig im Geiste von Louis
Knmis, nur weit weniger malerisch, schatft der Däne
Axel Helstedt. Seine im Vorzimmer des Königs
harrende „Deputation“ ist unter seinen bisher in
München ausgestellten Arbeiten sicherlich die beste.
Man könnte an eine Scene von Björnson denken.
Jede einzelne dieser sieben befrackten Herrengestalten
wirkt als eine bis ins kleinste durchciselirte Cha¬
rakterfigur, bei deren Schilderung Humor und Sar¬
kasmus trefflich mitsprechen, allerdings ist auch
hier „zuviel unterstrichen“, und die pointirende Cha¬
rakteristik macht sich auf Kosten der künstlerischen
Unbefangenheit geltend. — Wie in der Landschaft,
so ist auch in der Genremalerei das spezifisch na¬
tionale Element leider noch immer im Schwinden
begriffen, beziehungsweise auf rein Äußerliches, auf
Tracht und Züge beschränkt. Gerade da, wo das
letztere am deutlichsten hervortritt, bei den Italienern
und den Spaniern, fehlt die künstlerische Nationalität,
das nationale Temperament, vielleicht am meisten.
Weit günstiger eint sich beides bei den Norwegern
und Schweden, den Niederländern und den Dänen,
auch bei den Russen und Polen. Eine anerkennens¬
werte Zwischenstufe bezeichneten hier die Gemälde
von Josef von Brandt^ Rouhaud und A. v. Kowalski-
Wierusx.
Von dem spezifischen Historienbild verlangte
die Tradition ein Einleben in die Vergangenheit,
welches die Gegenwart völlig vergessen lässt. Man
übersah dabei, dass dies ohne eine gewisse archai¬
stische Auffassungsweise unmöglich ist. Die moderne
Schule, die dies erkannt hat, stellt sich, auch hier
ihrer Neigung zum Extremen folgend, sogleich auf
den völlig entgegengesetzten Standpunkt und fordert
mit den Worten des Bastien-Lepage: „Wenn man
Vergangenes malt, soll man es dem entsprechend
darstellen, was man um sich sieht, als hätte sich
das alte Drama gestern Abend ereignet.“ In diesem
Postulat ist die rein künstlerische Forderung ent¬
halten, das Geschehnis so wahr zu schildern, wie
möglich; es erheischt auch für die historische Schil¬
derung alle Errungenschaften der modernen Malerei.
Vor solchem Standpunkt konnten von den diesmal
in München vereinten Historienbildern nur wenisre
bestehen, am sichersten jedenfalls Robert Ilaug’s Ge¬
mälde aus den Freiheitskriegen: „Am Rhein.“ Die
Vorhut der Truppen zieht auf breiter staubiger
Chaussee dahin. Die strenge Ordnung in den Reihen
hat sich beim anstrengenden Marsch ein wenig ge¬
löst; mechanisch schreitet man vorwärts. Da hemmt
der vorderste Reiter plötzlich sein Pferd, wendet
sich zurück und ruft den Nachfolgenden die frohe
Botschaft zu: der Rhein! Wie ein Blitz fährt es in
die Leute, die Schritte beschleunigen sich, die Mützen
fliegen in die Luft, jauchzend eilen die ersten vor¬
wärts. Das ist so wahr geschildert, dass der Be¬
schauer an dem Vorgang selbst teilnimmt, so schlicht,
dass man vergisst, welch großes Studium dieser Dar¬
stellung vorausgehen musste, ein Studium, das hier
nicht nur aus jeder einzelnen Gestalt spricht, son¬
dern auch aus der malerisch -feinen Haltung des
Ganzen. Recht fein beobachtet und trefflich gemalt
ist auch das Bild von Jan Rosen: „Halt!“ Überhaupt
war das moderne Soldatenbikl zwar nicht reich, aber
gut vertreten, so durch Tli, Rocholl, R. von Ottenfeld
und Fritz Birlcemeyer. — Von anderen Gattungen
der Historienmalerei kann das nur unter Einschrän¬
kung gelten. Das nach Maßstab und Aufwand größte
Werk unter den Geschichtsbildern, Ferdinand Rogbefs
Kolossalgemälde: „Karl der Kühne in Nesles“ be¬
deutet sogar sicherlich einen Misserfolg, und das
ist um so seltsamer, als Roybet in einer zweiten
Arbeit, dem „Liebesantrag“, in welchem ein wüster
Reitertrompeter um die Gunst einer üppigen Geflügel¬
händlerin wirbt, an drastischer Charakteristik und
malerischer Verve selbst einem Jordaens kaum zu
weichen brauchte. Litis Alvarez' in einzelnen Par-
tieen vorzügliches Kolossalbild „Philipp 11. auf seinem
Felsensitz“ (im Besitz der Berliner Nationalgalerie)
ist schon aus der vorletzten Berliner Ausstellung
bekannt. Eduard IRinipffer, dessen im vorigen Jahr
ausgestellter „Luthercyklus“ noch so wenig reif er¬
schien, hat diesmal in seiner ebenfalls für das Er¬
furter Rathaus bestimmten Suite von Scenen aus
der Faustsage einen weit besseren Erfolg erzielt.
Besonders „Doktor Faust’s Ende“ ist sowohl in der
Charakteristik der Figuren, wie in der Wiedergabe
des Schauplatzes vortrefflich. Auch die Studien und
Zeichnungen des Künstlers bezeugen, wie ernst er
es nimmt.
Die oben angeführten Worte des Bastien-Lepage
haben die konsequenteste Anwendung bekanntlich
in unserer religiösen Malerei gefunden. Ihr Vor¬
kämpfer in diesem Sinne ist Fritz von Wide, der im
vorigen Jahr in seiner „Verkündigung an die Hirten“
120
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
der traditionellen Auffassungsweise des Kirclienbildes
gewisse Zugeständnisse machte, die.smal aber durch
die Verlegung der Legende vom jungen Tobias in
die Biedermeierzeit seinen bekannten Standpunkt
wiederum fast schroff vertrat. Von dem in der That
etwas gar zu banal dreinscbauenden Engel abgesehen,
ist auch dieses Werk in der Charakteristik der ein¬
zelnen Gestalten und des Milieu’s, wie auch in der
Malweise — gleich den drei übrigen von ihm hier
ausgestellten Studien — des Ruhmes seines Meisters
leidet an allzu absichtlicher Seltsamkeit. Daneben
trat auch auf diesem Stoffgebiet die Neigung zum
Mysticismus stärker als früher hervor, beispielsweise
in Hierl-Deronco’ s „Heiligen“. Erwähnt sei endlich
noch Albert Keller' s eigenartiges Gemälde „Die glück¬
liche Schwester“. Bei Keller ist schwer zu entschei¬
den, ob ihn das malerische oder das seelische Problem
geleitet habe, jedenfalls gelangt hier das erstere
— trefflich studirtes Kerzenlicht — packender zum Aus¬
druck, als die Charakteristik der einzelnen Figuren.
ürabmal der Herzogin Max in Bayern. Von W. v. Rümann.
würdig. I )rl hilft niis Legende vom „Verlorenen Sohn“
und .seine „Heilige Nacht“ bewährten auch in Mün¬
chen den Ernst der Auffässungsweise und den male-
riselieu Reiz, die sie in Berlin über so viele ver¬
wandte Arbeiten erhoben, und Waller Firle’s Tripty¬
chon „Das Vaterunser“ stand völlig auf der Stufe
seines im vorigen .fahre ausgezeichneten Gemäldes:
..In der Genesung“. Diesen Arbeiten gegenüber re-
jiräsentirten Werke wie Lron liotthicr's „Erziehung
t'hristi" eine völlig romantische Art, und Ernst Zhn-
mnmann's ..Ruhe auf der Flucht“ einen Kompromiss
mit der kirchlichen Tradition. 1 laherinann’ s „Pieta“
Hiermit möge der Rückblick auf diese Ausstel¬
lungen schließen. Dass er auf Vollständigkeit keinen
Anspruch erheben kann, ist schon eingangs unum¬
wunden eingestanden worden. Das liegt in der Natur
des Thema’s selbst. Nur eine Übersicht über das
Gesamtbild konnte und sollte hier gegeben werden,
das Gesamtbild, welches jedoch nur durch rein äußer¬
liche, zufällig- lokale Verbindung der Werke ent¬
standen ist und sich daher auch einer zusammen¬
fassenden kritischen Rückschau kaum fügen avüI.
Übergangsepochen, wie die heutige, stellen zudem an
die Kritik die schwerste Aufgabe. Der historische
,,Alt\vei’1'C‘rs<oiinnor“. (icmüldi' vmi .Tosta vox Gjki'l.
DIE MÜNCHENER KUNSTAUSSTELLUNGEN.
121
Blick, welcher hier nach dem Bleibenden im Wechsel
ausspäht, stößt auf schroffe Kontraste und auf Kom¬
promisse, auf die tüchtige Leistung traditioneller Art
und auf das von neuem Streben beseelte Schaffen,
welches selbst da, wo es unzulänglich ist, den zu¬
künftigen Erfolg verspricht, und diese Gegensätze
spiegeln sich sowohl in der rein künstlerischen, ma¬
lerischen und technischen Qualität der Werke, als
auch in ihrer geistigen und inhaltlichen Bedeutung.
Es ist wohl möglich, in diesem doppelten Sinne auch
dem zufällig entstandenen Gesamtbild einige allgemein
gültige Antworten zu entlocken, aber dieselben können
leicht irre führen und werden der Einzelarbeit als
solcher nicht genügend gerecht. Denn in Wahrheit
hat man es in Ausstellungen dieser Gattung denn
doch zunächst mit den Leistungpn der künstlerischen
Individualität zu thun, und tausendfältig wie diese
müsste auch das Urteil selbst lauten. Die kunst¬
historische Sichtung vermag endgültig erst die Zu¬
kunft zu vollführen.
Zum Schluss nur noch wenige Worte über die
Sladptiiren, welche diesmal quantitativ ebenso reich
waren, wie im Vorjahr, jedoch ohne das damalige
Gesamtniveau zu verändern, und ohne so umfassende
Bilder in sich abgeschlossener Künstlerpersönlich¬
keiten zu enthalten, wie im vorigen Jahre die Sonder¬
ausstellung Antokolsky’s. Da ein näheres Eingehen
auf den Bestand dieser Abteilung diesmal aus äuße¬
ren Gründen unmöglich ist, so seien auch hier
nur zwei für die beiden Hauptrichtungen bezeich¬
nende Hauptwerke erwähnt. Das eine ist in offi¬
ziellem Auftrag entstanden, in traditioneller Weise
aufgefasst, sorgsam durchgearbeitet, von vornehm¬
schlichter Wirkung, ein „Denkmal“, das seine Auf¬
gabe tadellos löst. Wilhelm von Rümann hat kein
schöneres Werk geschaffen, als dieses Grabmonument
der greisen Fürstin, die so friedlich-still im ewigen
Schlafe ruht. Wie der Kopf vom hohen Kissen ein
wenig zur Seite herabgesunken ist, wie in den Zügen
die Starrheit und die physische Erlösung des Todes
gekennzeichnet wird — das ist ganz wundervoll ge¬
geben, aber es bleibt — sicherlich kein Tadel! —
nur eine Variante dessen, was bei zahlreichen gleichen
Aufgaben in ähnlicher Vollendung geleistet wurde.
Anders das zweite Werk, Ja)i. Äntoin Injalbert’s
„Eva“. Lebensgroß kauert ein nacktes Weib am
Boden. Der Kopf ruht zwischen den verschränkten
Armen, die auf dem rechten Knie aufliegen, wobei
sich der- ganze Oberkörper leicht nach rechts neigt.
Es ist die Eva nach dem Sündenfall. Sie verbirgt
ihr Antlitz, die ganze Gestalt zieht sich gleichsam
in sich selbst zusammen, ein Schauder von Schmerz,
aber zugleich auch von Wonne scheint sie zu durch-
beben. Und wie herrlich ist dieser Körper durch¬
gearbeitet, vor allem an diesem gekrümmten Rücken !
Wahrheit und Schönheit, malerischer und plastischer
Reiz können nicht vollendeter vereint werden. Leider
war das Wei'k wohl aus — Schicklichkeitsgründen
so schlecht aufgestellt, dass es den Meisten entgangen
sein dürfte, doch war es bei den Sezessionisten in
einer kleinen Bronzenachbildung gut sichtbar. Hier
ist in der That in der Plastik etwas versucht wor¬
den, wofür die Vergangenheit keine bedeutungsvollen
Analogieen bietet: wieder ein Beweis dafür, dass die
jetzige, von neuen Zielen geleitete Entwickelungs¬
phase unserer Malerei auch in der Schwesterkuust
anzuklingen beginnt, dass sie historisch zwar eine
Übergangszeit ist, nicht aber eine wirkungslose Epi¬
sode, sondern ein integrirender Teil der großen, vor-
wärtsstrehenden Bewegung, in welcher unser ge¬
samtes Kultur- und Geistesleben nach den ihm ur¬
eigenen Ausdrucksformen ringt.
Zeitschrift fiir bildende Kunst. N. F. V. H. 5.
16
RECHTS UND LINKS IN NATUR UND KUNST.
VON JOSEF LANGE.
MIT ABBILDUNGEN.
Kif;. 1. Sc-lirftihev iiii Louvre y.n Paris.
.■\lfU.M denn doch Ijei den Meusclien die
Iieclite gegenüber der Linken in Betreff
der Gel)nuicli.sf;ihigkeit die bevorzugtere
ist, ja reelit.s überliaujit auf dein ganzen Erdball,
und der Bibel nach sogar auch iin Iliinniel, stets
die wichtigere und bedeutungsvollere Rolle spielt?
Di esc b'rage mag l'iir unsere Exi.stenz wohl eine
gleichgültige sein, bat aber bei näherem Betracht
ihre ganz interessanten Seiten. Wie alle höheren
fu'ganiscben Wesen, ist der Mensch in seiner Gestal¬
tung in strenger Syinmetrie aufgebauf ; er findet auch
Gefällen an der Symmetrie, da, wie die Physiologen
sagen, .sein tieliirn von symmetrischer Bildung ist,
und er die gleiche Verfassung in einer vorliegenden
Erscheinung als w'ohlthuend em])findct.“ Durch
nichts ist seine rechte Hälfte von der linken unter¬
schieden, und wie der Bau von innen heraus sich
gleichmäßig entfaltet, so sind auch die äußeren Ein¬
flüsse vollkommen gleichartig. Gleichmäßig durchflutet
der Äther den weiten Weltraum und gleichmäßig
vibriren der Sonne alles belebende Strahlen — und
doch welch gewaltiges Vorrecht hat allenthalben
rechts gegen links! Zur Rechten des Vaters sitzet
der göttliche Sohn im Himmel, und wenn am Ende
der Zeiten Cherub’s Posaunen die Menschen aus den
Gräbern rufen werden, da wird der Richter „die
Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber
zur Linken,“ Der Begriff' „Recht“ ist sprachlich
überall aus rechts hervorgegangen; links, linkisch
bedeutet das Unrechte, Unvollkommene, ja in vielen
Bedeutungen das Schlechte, Verderbliche, Vernei¬
nende. Wer mit dem linken Fuß aufgestanden, hat
den Tag über Verdruss und Ärger; Ehen auf die
linke Hand geschlossen sind nicht rechtsgültig;
gaucherie heißt auch bei den Franzosen so viel wie
ungeschickt u. s. f. Soll es wirklich nur die leidige
Gewohnheit von Adamszeiten her sein, also ein Erb¬
stück von unseren Ahnen, dass die Rechte die ge¬
lehrsamere geworden ist, oder dürfen wir nach Ur¬
sachen, nach positiven Gründen suchen? Hat Eva
mit der Linken nach dem verhängnisvollen Apfel
gegriffen, so dass diese Hand zur ewigen Strafe die
untergeordnete bleiben muss? Oder hat Adam’s
linke Seite gerade durch die Schöpfung seiner Ge¬
sponsin eine Schwächung erfahren, da der Herr von
dieser Seite die bedeutungsvolle Rippe nahm? Und
die Linke muss es gewesen sein, denn die Dichter
behaupten: „weil dieser Seite das Herz am nächsten
liegt!“ — Die Rechte ist aber auch bei den Damen
die bevorzugte geworden und besorgt sogar bei der
Toilette das Auf- und Zuknöpfeln, was die Männer
mit der Linken zu thun gezwungen sind, da seit
RECHTS UND LINKS IN NATUR UND KUNST.
123
undenklichen Zeiten die Schneider in eigensinniger
Weise die Knöpfe rechts an die Röcke nähen, wäh¬
rend die Damen dieselben an der linken Seite haben.
Wenn aber die Rechthändigkeit ererbte Gewohn¬
heit ist, dann muss es denn doch auffallen, dass
diese Gewohnheit zu allen Zeiten und bei den ver¬
schiedensten Völkerschaften unwandelbar festgehal¬
ten wurde, und Ausnahmen nur sporadisch, bei ein¬
zelnen Vorkommen und nicht bei ganzen Stämmen,
Geschlechtern oder selbst Familien. Besondere Auf¬
zeichnungen oder Beobachtungen über dieses Fak¬
tum sind freilich nirgends gemacht woi’den, aber
immerhin haben wir seihst aus grauer Vorzeit hin¬
reichend bildliche und auch schriftliche Zeugnisse,
welche die Rechthändigkeit der Menschen von der
ältesten Zeit her bestätigen. Schon im 1. Buch
Mose 48 wird von der Bedeutung der rechten Hand
bei Segnungen gesprochen. Als nämlich der alte
Israel die Rechte nicht auf das Haupt des Erst¬
geborenen (Manasse’s), sondern auf jenes des jüngeren
Sohnes Joseph’s (Ephraim’s) legt, erhebt dieser Ein¬
sprache. Israel aber erwidert bedeutungsvoll: „Ich
weiß wohl, dieser soll auch ein Volk werden und
wird groß sein; aber sein jüngster Bruder wird
größer denn er werden u. s. f.“ Rechts ist dann
namentlich, bei den Vorschriften für die Opfer der
Priester ausgezeichnet. So heißt es im 2. Buch Mose
29: „Und du sollst ihn schlachten (den Widder) und
seines Bluts nehmen und Aaron seinen Söhnen auf
den rechten Ohrknöchel thun und auf den Daumen
ihrer rechten Hand und der großen Zehe ihres rechten
Fußes etc.“; und weiter im 3. Buch Mose 9 wird
vom ersten Opfer Aarons erzählt: „Aber die Brust
und die rechte Schulter webete Aaron zur Webe
vor dem Herrn, wie der Herr Mose geboten hatte.“
Ganz ähnlich wie bei den Priesteropfern ist dann
die Prozedur bei der Reinigung vom Aussatze (3. Buch
Mose 14), wo gleichfalls am rechten Ohr, an dem
rechten Daumen und an der rechten großen Zehe
die Salbung vollzogen wird.
Mosaischen Ursprungs ist übrigens auch der Ge¬
brauch des Betriemens bei den Juden (5. B. Mos.).
Die „Rechte“ hat denselben um den linken Arm zu
winden, offenbar deshalb, weil sie die praktischere
und geübtere ist, und nicht, wie die Talmudisten
meinen, weil diese die gemeinen und auch sündhaf¬
ten Arbeiten verrichte, die Linke aber die „geheiligte“
sei! Denn für die Linkhändigen besteht wieder das aus¬
drückliche Gebot, dass sie den Gebetriemen um den
rechten Arm zu winden haben, also den vom Herzen
entfernten. Und dass es thatsächlich auch schon
im alten Testament Linkhändige gegeben hat, wird
uns im Buch der Richter (3. Kap. 21) erzählt. Als
nämlich Echud dem fünften Moabiterkönig Eglon
in der Sommerlaube seinen Besuch abstattet, heißt
es: „Echud aber reckte seine linke Hand aus und
nahm das Schwert von seiner rechten Hüfte und
stieß es ihm (Eglon) in den Bauch u. s. f.“ Die
Kelten und die Römer hatten auch das Schwert an
der rechten Seite, zogen es aber mit der Rechten.
In den erhaltenen Ninivitischen Bildwerken und
auch in jenen vom alten Babylon behält in den
Kampf- und Jagddarstellungen stets die Rechte die
Führung. Nur bei den Bogenschützen ist oft der
Symmetrie wegen oder vielmehr infolge der Unbe-
holfenheit in der Reliefbildung ein Wechsel in der
Haltung des Bogens und des Pfeiles wahrzunehmen.
Dagegen halten die Schreiber stets den Stift in der
Rechten, desgleichen die Hirten den Stab und die
Kämpfer den Speer. Bezeichnend für die schema¬
tische Gebundenheit in den assyrischen Reliefs ist
auch die Fußstellung bei den schreitenden Personen:
bei den nach links gestellten ist der rechte Fuß vor¬
gesetzt, während die nach rechts situirten den linken
vortreten lassen. Auf den Reliefs von Kujundschik
ist es auch nicht selten, dass linke Hände an rechten
Armen und umgekehrt Vorkommen: eine bildnerische
Unbeholfenheit, die auch bei den ältesten ägyptischen
Reliefs (so bei Sakkara am Grabe He.si’s aus der Zeit des
Cheops) wahrzunehmen ist. Und doch lesen wir in
der noch unfreien Kunst am Nil, dass auch bei den
Ägyptern die Rechte durchweg die bevorzugtere war.
Schon bei den ältesten Idolen ist die Rechte gehoben,
die Rechte hält die Attribute und in der Rechten
führen die Kämpfer den Speer und das Schwert.
Nur bei den Bogenschützen tritt in Gegenstellungen
wieder aus plastischen Rücksichten ein Wechsel in
der Bogenhaltung ein. Von Interesse ist es in
Bezug auf den Gebrauch der Rechten, die Ägypter
auch in ihren häuslichen und Feldbeschäftigungen
auf den Reliefs von El Kab, Beni- Hassan etc.
zu beobachten. Die Figuren säen, mähen, schnei¬
den das Getreide, führen den Stock beim Prügeln,
den Hammer beim Schlagen stets in der Rechten.
Auch beim Harfenspielen ist die rechte Hand (die
Prim spielend) oben, während die Linke die tieferen
Bässe greift; desgleichen greifen die Lautenschläge¬
rinnen (in einer Malerei zu Theben) mit der Linken
die Saiten und schlagen die Töne mit der Rechten.
In einem Relief zu Siut, in welchem das Schlachten
von Ochsen dargestellt ist, halten die Schlächter
durchgehends das Messer in der Rechten, nur ein
16*
124
RECHTS UND LINKS IN NATUR UND KUNST.
Fig. 9. Die Anghiarischlacht.
Fig. :i. Agyptisclie Gi al)figtir. Fig. 1. A]io)lo v.Tciiea
P'ig b. .\g.vptischer Tfogenscliiitze.
Fig. 6. Assyrische Bogenschützen.
Fig. Kl. Eirene und Demeter.
RECHTS UND LINKS IN NATÜR UND KUNST.
125
Linker ist darunter. Die Schreiber sind in der ägyp¬
tischen Bildnerei, von der berühmten Holzfigur im
Louvre (Fig. 1) angefangen bis in die späteste Zeit, durch-
wesr Rechte. Besonders interessant sind hierin die he-
züslichen Gestalten auf den Grabhildern von Sakkara,
wie sie die einlanfenden Waren, die Feldfrüchte
bei der Ernte u. a. sorgfältig verbuchen (Fig. 2).
So streng sich die ägyptische Freiskulptur infolge
des Kanons an die Symmetrie in der Bildung der
Gestalten hielt, so tritt in Bezug auf rechts und links
schon hei der ältesten uns bekannten Statue, der des
Sepa aus der dritten Dynastie (Louvre), die Eigen¬
tümlichkeit auf, dass der linke Fuß dem rechten vor¬
gesetzt erscheint. Dasselbe finden wir auch bei den
alten Grabstatuen der Griechen, den sogenannten
Apollobildern (von Tenea, Thera u. a., Fig. 3, 4). Die
Bildner wollten aber damit gewiss kein Vorschreiteu
markiren, sondern einfach den Stand- und Spielfuß be¬
zeichnen, wobei also wieder dem rechten, als dem
stärkeren, die Funktion des Tragens oder Stutzens
zufällt. Das Ausschreiten mit dem linken Fuß von
der stehenden Position zum Marsch ist ja noch bis
heute bei den Soldaten und Turnern gewiss aus
diesem Grunde beihehalten.
Welch langen Weg hatte die griechische Bild¬
nerei durchzumachen, bis sie beim Apollo vom Bel¬
vedere ankam! Erst hölzerne steife Götterbilder,
dann ebenso gebundene Marmorbilder mit dem linken
Fuß vor; allmählich aber kommt ein zackiges Be¬
wegen in die Puppen, wie dieses sich in so naiver
Weise bei den Agineten zeigt, und endlich die volle
Freiheit in der Aktion. Die Menschen wandeln in
Marmor und agiren und hantiren durchweg als
Rechte. Es ist nicht erwiesen, ob die Schreiber
jener Kulturvölker des Altertums, welche ihre Schrift¬
zeichen von rechts nach links setzten, Linkhänder
waren; wohl aber dürfen wir mit voller Bestimmt¬
heit annehmen, dass von den Griechen an die Schreib¬
weise von links nach rechts nur der Rechthändig-
keit der Schreiber zuzuschreiben ist, da die Schreiber
die Zeile im Schreiben nicht mit der Hand bedecken
wollten, was im umgekehrten Fall eintreten würde.
Herodot, der die Rechtsschreibung bei den Griechen
notirt ( B. H, 36), ist ganz aufgebracht darüber, dass
die Ägypter, die von der Rechten zur Linken schrei¬
ben (was übrigens nicht immer der Fall war), noch
behaupten, „bei ihnen geschähe es nach der Rechten
und bei den Hellenen nach der Linken.“ Wie die Grifiel-
führung, so lag selbstverständlich auch die Waffen¬
führung bei den Griechen in der Rechten, und die
Bogenschützen halten, wie schon auf dem von Schlie-
mann zu Mykenae gefundenen Stück eines Silber¬
gefäßes und wie Paris hei den Agineten, den Bogen
in der Linken und den Pfeil in der Rechten, und
gewiss ist unser vorhin erwähnter Apoll vom Bel¬
vedere als Bogenschütze gedacht und als solcher
korrekt ergänzt. Der Lärm mit der kleinen Stro-
ganoff’schen Bronze, nach welcher die Statue zum
Agis schüttelnden Schlachtgott hätte verwandelt
werden sollen, hat sich bereits gelegt. Apollo hätte
gewiss das dämonische Schreckbild in der Rechten
gehalten, denn er war, wie alle anderen Mitglieder
der olympischen Gesellschaft, ein Rechter. Lassen
wir ihm daher lieber den Bogen in der Linken!
Wir haben oben erwähnt, dass die freistehende
menschliche Gestalt nicht mit beiden Füßen, sondern
vorwiegend auf einem, dem Standfuß steht, und der
andere (Spielfuß) nur zur Unterstützung (Balance)
verwendet wird. Durch dieses Verlegen des Schwer¬
punktes nach rechts oder links von der Mitte kommt
Bewegung in die Figur; die Alechanik des Knochen¬
gerüstes tritt damit in Funktion. Die Griechen haben
hei ihren stehenden Götter- und Heroenbildern, um
dem Eindruck der Ermüdung vorzuheugen, der Hand
an der Spielfußseite in der Regel eine Stütze in der
Form eines Stahes, Scepters, Thyrsos etc. gegeben:
also statisch richtig nur an der Spielfußseite! (Fig. 10.)
Es ist dieses oft für fragliche Ergänzungen, wie z. B.
beim Hermes von Praxiteles, von Wichtigkeit, da
damit ein stützender Thyrsos in der Rechten, wie
er nach der zu Carnuntum gefundenen Scherbe vorge¬
schlagen wurde, von vorneweg unmöglich i.st (Fig. 11).
Doch verlassen wir die Rechts- und Linksexkur¬
sionen im Reiche der Kunst und ziehen, um der
Ursache der Rechthändigkeit näher zu treten, zu¬
nächst die Ausnahmsfälle, die sporadisch Linkhän¬
digen in Betracht. Dass von unseren Händen, ob rechts
oder links, gar vieles Außergewöhnliche durch Übung
gelernt werden kann, — wer wollte dieses schon im
Angesichte unserer modernen Klavierakrobaten in
Frage stellen! Gieht es ja sogar Maler — wie Adam
Siepen in Düsseldorf und Charles Felu in Brügge
— ohne Hände. Die Füße ersetzen ihnen, selbst für
die subtile künstlerische Arbeit, vollständig die fehlen¬
den oberen Extremitäten. Um wie viel leichter wird
daher auch die Linke die Fertigkeiten lernen, welche
gewohnheitsgemäß der Rechten zukommen, wenn sie
dazu .sy.stematisch erzogen wird! Nun tritt aber diese
Fähigkeitsanlage bei der Linken, ohne besondere
Veranlassung, oft schon von Kindheit an auf; der
Linkhändige wird also schon geboren. Lionardo
schrieb sein „Libro originale della natura“ und den
120
RECHTS UND LINKS IN NATUR UND KUNST.
Fig. 11. Hermes von Praxiteles.
..Traktat“ mit der Linken, — jedoch als Spiegel¬
schrift. Dies könnte fast zu der Annahme verleiten,
dass der große Toskaner ursprünglich dennoch mit
der Rechten (u. z. nach
rechts) habe schreiben
gelernt, aber da die
Linke hei ihm die von
Natur aus bevorzug¬
tere war, das mit der
Rechten Gelernte (nach
der Symmetrie der Ner-
venfunktionen) fortan
mit der Linken ausführte.
Geben wir einem im
Fieber liegenden Halb¬
bewusstlosen in die
Linke einen Stift , so
schreibt der Kranke
Spiegelschrift, ohne dass
er es weiß. Dass aber
Lionardo auch als Zeich¬
ner ein Linkhänder war,
bezeugen deutlich die
von links oben nach
rechts unten geführten
bei seinen
(Fig.
14 ; zugleich ein sicheres
Kennzeichen der echten
von den unechten). Für
die Bevorzugung von
links ist es übrigens
auch bezeichnend, dass
auf dem Karton der
Anghiarischlacht meh¬
rere der Kämpfer Link¬
händer sind; sie halten
i n der Rechten den Schild
und führen in der Linken
das Schwert (Fig. 9).
Linkhändige Maler sind
übrigens auch in der
Gegenwart nicht gar so
Sfdten; zählt ja zu ihnen
auch unser gefeierter Ad.
Menzel, der ebenso wie
der geniale Wiener De¬
korationsmaler J. Leh¬
mann, der Landschafter
Darnaut und gewiss
noch mancher andere
EJEJ EJ EJ E
/z/^z/z
Strichlagen
Handzeichnungen
Fig. 12 Verschied. Häamler-Motivc.
die Palette in der Rechten und den Pinsel in der
Linken hält.
Linke Musiker kann es freilich nicht gehen, da
unsere Instrumente durchweg für Rechthändige ein¬
gerichtet sind ’), und für Mephisto, hei dem ja alles
von Hause oder richtiger von der Hölle aus links
ist, müsste die Violine eigens umgespannt werden,
wenn nicht eine Höllenmusik nach unseren Begriffen
daraus zum Vorschein kommen sollte. An dem
Dome zu Amiens befindet sich übrigens (aus dem
13. Jahrhundert) das Bild eines die ovale Vielle
spielenden Teufels, der ganz höllenkorrekt den Bogen
in der Linken führt. Zu dem Teufel gesellt sich
im späteren Mittelalter dann auch der „Tod“ als
grausiger Geselle mit eigentümlich tragischem Humor
in künstlerischen Darstellungen, und auch den Klap¬
permann finden wir auf einem Totentanzbilde als
linken Fidelspieler.
Fig. 13. Aortabogen.
Dass nun die Linkhändigen thatsächlich mit dem
Schwarzen und seinem hageren Freund in irgend
einer Beziehung stehen, wollen wir beileibe nicht
behaupten, wohl aber dürfte sich mit Gambrinus ein
metaphysischer Kontakt nachweisen lassen; denn
unter allen rankenden Gewächsen ist allein der Hopfen
linkswendig. Der Wein, die Bohne, die Winde etc.
folgen dem allgemeinen Naturgesetze und drehen
sich von links nach rechts.
Schon vor Jahren hat, wenn ich nicht irre, ein
italienischer Anatom, später dann v. Mertens, die
Vermutung ausgesprochen, dass die Rechthändigkeit
bei den Menschen von der asymmetrischen Lagerung
der inneren Organe des Körpers herrühren könnte
und vor allem die Abzweigungen von der Aorta für
die Arbeitsfälligkeit des rechten und linken Arms
maßgebend seien. Die erste Abzweigung von dem
großen Aortabogen ist nämlich die Art. subclavia
1) Amu. d. Red. PjS kommen wohl Fälle vor, wo Geifer,
die an der Linken einen Finger verloren haben „umlernen“,
d. h. mit der Rechten die Geige halten und mit der Linken
den Rogen führen. Die Geige ist dann entsprechend zu
ändern, was durch Verlegung des Bassbalkens, des Stimm¬
stockes und entsprechende Besaitung unschwer geschehen kann.
RECHTS UND LINKS IN NATUR UND KUNST.
127
dextra, also die den rechten Arm speisende Pulsader;
es folgen die beiden Carotis (Halsschlagadern) und dann
erst die Art. subclavia siuistra, die linke Armpuls-
der. (Fig. 13.) Es ist somit wohl einleuchtend, dass der
rechte Arm in Bezug auf die Blutzuführung der be¬
vorzugtere ist und dass dieses einen Einfluss auf die
Thätigkeit desselben haben kann. Die genannte An¬
ordnung ist Regel; da aber auch in der Natur die
Regeln ihre Ausnahmen haben,
so trifft es sich in unserem Fall,
wenngleich selten, dass die Art.
subclavia dextra mit der sinistra
ihren Ursprung wechselt. Die
Blutzuleitung für die linke Seite
kehrt hinter der Luftröhre zum
rechten Arm zurück, während die
rechte, die zuerst der Aorta ent¬
sprungene Abteilung sich nach
links wendet. Hyrtl will in diesem
Naturspiel die Ursache der Link-
händigkeit ersehen; er sagt in der
letzten Ausgabe seiner Anatomie;
„Ich halte es für ausgemacht,
dass die Versetzung des Ur¬
sprungs der Art. subclavia dextra
hinter jener der sinistra infolge
der durch sie gegebenen Ab¬
schwächung des Kreislaufes in
die rechte Extremität den Ge¬
brauchsvorzug der Linken bedingt.
Hiermit wäre die causa auato-
mica der bisher unerklärt geblie¬
benen Linkhändigkeit aufzufin¬
den.“ Diese Behauptung des
großen Anatomen ist ebenso geist¬
reich wie einleuchtend , bleibt
aber denn doch noch so lange
hypothetisch, bis nicht eine An¬
zahl Linkhändiger uns die Ge¬
fälligkeit erweisen, sich seciren
zu lassen, und den thatsächlichen
Beweis erbringen, dass sie verwechselte
Armpulsadern in sich führen. Die
Fälle dieser Ausnahmen sind aber am
Secirtisch weit seltener, als Link¬
händige im Leben an getroffen werden,
daher diese Angelegenheit von anato¬
mischer Seite her noch ihrer endgül¬
tigen Lösung harrt. Aber nehmen
wir an, die Anatomen hätten recht, die
Linkhändigkeit datire vom Aorta¬
bogen hei', so bleibt dann noch immer
die weitere Frage offen: „Warum hat
die Natur in ihrer Konstruktion gerade
diese Seite bevorzugt? Beugte sie sich
Fig. 14. Faksimile einer Handzeiclnuiiig von Lionardo.
Fig. 15. Spiegelschrift von Lionardo.
12S
RECHTS UND LINKS IN NATUR UND KUNST.
darin nicht vielleicht einer anderen höheren Ge¬
walt?“ — Im Aveiten Weltall giebt es allerdings
kein Rechts nnd kein Links, kein Oben und kein
Unten; aber mit dem Fundamentalgesetz der Orga¬
nisation, der Attraktion, sind in den einzelnen
S3'stemen durch die Rotation der Körper Ebenen
und Pole, mithin Richtungen gegeben, nach denen
Kräfte Avirken. Die Idee mag paradox erscheinen,
den kleinen beAveglicheu Körpern auf der Erde,
also auch uns Menschen, die Eigentümliclikeiten
des ganzen Kolosses zu vindiciren. Da Avir aber
einmal samt und sonders mit unserem geliebten
Planeten zur Sonne fallen, ohne es zu Avissen,
Avarum sollen Avir nicht auch die Keime der Dreh¬
krankheit und zwar auf der nördlichen Hemis¬
phäre von links nach rechts in uns tragen? Nach
dieser Richtung — also nach rechts hin in der
Ebene der Ekliptik, wenn wir uns der Erdachse
konform stellen, Avirkt die ewige Kraft, nach rechts
hin tanzen die Planeten um die Sonne und wir
folgen derselben Richtung im Ballsaal, in der
Reitschule, auf dem Eisplatz etc., nach rechts liin
wirkt die geheimnisvolle Kraft allüberall und die
Organisation in der Natur hat sich in der allmäh¬
lichen EntAvickelung darnach eingerichtet. — Doch
halt! Dann müssten wir wohl, wenn sich die Ent¬
wickelungsgeschichte der Menschen auf der südlichen
Halbkugel vollzogen hätte, Linkhänder geworden
sein! Oder sind die Eingeborenen jenseits des Äqua¬
tors linkhändig ?
Vielleicht ließen sich aus der primitiven Orna¬
mentik der Urvölker jenseits der „Linie“ auf die
Link- und Rech thändigk eit derselben Schlüsse ziehen.
Ist doch die Mäanderlinie, Avelche beinahe bei allen
kunstübenden Völkern als primitive Zierweise vor¬
kommt (Fig. 12), lediglich aus der Konstruktion des
Handgelenkes hervorgegangen , und zwar im Zuge
nach rechts entschieden von Rechthänderu. Wenn nun
beispielsweise bei den Dayaks auf Borneo der Zug
der Saumornamente vorwiegend umgekehrt, nach
links hin gestellt erscheint, haben wir es in diesem
Falle mit Linkhändern zu thun ? Da hierauf bezügliche
Beobachtungen überhaupt meines Wissens von Seite
der Ethnographen nicht vorliegen, so hängt Avohl
unsere Angelegenheit vorläufig noch mit dem Erd¬
ball — in der Luft.
Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
t
i^oükment
]‘'i'e nii l.a^p, Petersburg,
Dru.'k V, b' A Brockhaiis, Lei’
PETER PAUL RUBENS.
VON ADOLF ROSENBEEO.
MIT ABBILDUNGE]N.
ON den weitausblickendeu
litterarischen Plänen, die im
August 1877 von dem Ru¬
benskongress in Antwerpen
bei Gelegenheit der von der
Stadt veranstalteten B^est-
lichkeiteu zu Ehren des drei-
hundertstenGeburtstages des
Meisters gefasst worden sind und deren Ausführung
einer Reihe von Kommissionen übertragen Avurde,
ist bisher nur einer verwirklicht worden. Außer
dem stattlichen Folianten des „Compte-rendu“ über
die Verhandlungen des Kongresses und dem sehr
unregelmäßig und in langen Zwischenräumen er¬
scheinenden „Bulletin Rubens“ ist das fünfbändige
Sammelwerk des gelehrten, vielseitig gebildeten und
scharfblickenden Konservators des Museum Plantin-
Moretus in Antwerpen, Max Äoo.scV Werk : „L’oeuvre de
P. P. Rubens“ 5 Bde (Antwerpen 1886 — 1892), das ein¬
zige litterarische Denkmal großen Stils, das an jenen
Beschluss erinnert, und selbst dieses kennzeichnet sich
nicht im Titel als ein offizielles Unternehmen der
Kommission, wenn es auch ursprünglich als ein sol¬
ches beabsichtigt war. Wohl hat Rooses sich einer
Unterstützung der Antwerpener Stadtverwaltung zur
Bestreitung seiner Reisekosten zu erfreuen gehabt,
und er durfte sich auch des reichen Apparates von
Stichen und Photographieen nach Rubens bedienen,
welchen eine Kommission im Aufträge des Antwer¬
pener Magistrats und zum Teil auch auf Kosten der
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. Y. H. 6.
belgischen Staatsregierung zusammengebracht hat.
Aber im wesentlichen ist sein Werk ein Privatunter¬
nehmen, das durch seine eigene Kraft und den Opfer¬
mut seines Verlegers vollendet worden ist, ein Muster
von sorg.samem B’leiß, von größter Zuverlässigkeit
im einzelnen und von vorsichtiger Stilkritik, die in
jedem Fall ihre Ergebnisse eingehend und feinsinnig
begründet. Erst durch diese grundlegende Arbeit,
auf die sich auch der nachfolgende Versuch, den
künstlerischen Entwickelungsgang des Meisters von
neuem zu skizziren, stützt, ist es möglich geworden,
das Gespinnst von Wahrheit und Dichtung, mit dem
zweihundertundfünfzig Jahre Rubens’ wirkliches Bild
verschleiert haben, zu entfernen.
Ein anderes, auf dem Antwerpener Kongresse
beschlossenes Unternehmen, ein ebenfalls ira größten
Stile angelegter ,, Codex diplomaticus Rubenianus“, ist
bisher noch nicht über den ersten Band hinausgediehen.
Er enthält den Anfang der Korrespondenz von Ru¬
bens '), umfasst aber nur trotz seines Umfangs von
440 Folioseiten die Zeit von 1600 — 1608, also die
Zeit von Rubens’ Aufenthalt in Italien. Der Heraus¬
geber, Charles Buelens, ist vor zwei Jahren gestorben.
Dadurch ist die Fortsetzung des Unternehmens wohl
unterbrochen, aber nicht aufgegeben worden. Als
Nachfolger von Ruelens ist Max Rooses bestimmt
1) Covrespondance de Rubens et documents epistolaires
concernant sa vie et ses ceuvres. Tome premier. Antwerpen
1887. Dieses Werk erscheint unter dem Patronat der Kom¬
munalverwaltung der Stadt Antwerpen.
17
130
PETER PAUL RUBENS.
worden, der sich als der würdigste dazu legitiniirt
hat, und von seiner Arbeitskraft darf man erwarten,
dass er auch dieses Riesenwerk in absehbarer Zeit
vollenden wird. Bis dahin kann die vom Verfasser
dieses Artikels ISSl herausgegebene Sammlung von
Rubensbriefen (Leipzig, E. A. Seemann), die das
weit zerstreute Material vereinigt hat, noch als hand¬
liches Hilfsmittel dienen.
I.
Riihens Lehrjahre und erste Thiitigkcit in Anhverpen.
Das älteste und zuverlässigste Dokument, das
uns über Rubens’ Lebensgang unterrichtet, ist die
von seinem Neffen Philipp Rubens auf Grund der
in seinem Besitze befindlichen Familienpapiere ver¬
fasste lateinische Lebensbeschreibung. Sie wurde
auf Wunsch des französischen Malers Roger de Piles
(1035 — ITOS), der sich eifrig mit Rubens beschäf¬
tigte und eine größere Arbeit über ihn vorhatte,
im Anfang des Jahres 1076 niedergeschrieben und
zwar, wie Philipp Rubens in dem Begleitschreiben
ausdrücklich hervorhebt, „als Auszug aus den Denk¬
würdigkeiten, die sein (P. P. Rubens’) ältester Sohn
hinterlasseii hat’“. 'i Da diese Denkwürdigkeiten mit
den ülu’igen ßMmilienpapieren und dem ge.samten
Nachlass an Briefen u. s. w. l)ei einem Brande ijn
vorigen .lahrhimdert zu Grunde gegangen sind, wird
jeiler, der von neuem den Versuch unternimmt, das
Lfben des universellsten Meisters der niederlän¬
dischen und, wie wir wohl hiiizusetzen dürfen, der
niederdcufschen Malerei des siebzehnten Jahrhun-
dfi’ts und die Entwickelung seines Kunstschaffens
in äußeren Umrissen festzustellen, von der latei-
ni.'ichen ., \’ita" seines Neffen, wie Avir sie kurz nennen
wollen, im Ausdruck wie in der knappen, hier und
da fast l•pigralnlnatischen Fassung einer Nachahmung
(h-r unter dem Namen des Cornelius Nepos gehenden
.. \'itae’‘ berühnder Männer, seinen Ausgang nehmen
müssen. Um so melir, als eine Leihe von Angaben
dor ..Vita“ durch Urkunden belegt werden kann,
liß-ieh am Anfang treffen wir freilich auf einen
Sti-in des .Anstoßes, des.sen Beseitigung und Erklärung
eine ganze Litteratur und, was noch schlimmer ist,
1) Der üricf’wer.li.sel /.wi.wchen l’hilipi) Rulieiis inid Ro-
('»•r ile l’iloH, der noedi nianclu'ilei wertvolle Mitteihni^cai eiit-
hiilt, die sich in der vorher f'e.Hchrieheneii ,,Vita“ nicht
finden, ist von fineleiiB ini Ihdlfd.in-ltuhens II, S. 1.07— 175
Tcröftentlicht worden. Dadurch sind alle Zweifel an der
Ziiverlii.s.si^keit und Echtheit iler Ihographie hinfällif' ge¬
worden.
eine patriotische Aufwallung hervorgerufen hat,
die bei den Antwerpener Säkularfesten sogar einen
chauvinistischen Charakter annahm, seitdem aber
bei den belgischen Kunstschriftstellern einer ruhigeren
Auffassung gewichen ist. Wenn die „Vita“ angiebt,
dass Peter Paul Rubens im Jahre 1577 in Köln ge¬
boren worden ist, wohin sich sein Vater Johannes
(Jan) „wegen der bürgerlichen Unruhen“ in Belgien
aus „Ruhebedürfnis“ zurückgezogen hatte, so wird
darum niemand den Vlamen das Anrecht auf den
autochthonen Ursprung eines ihrer edelsten und grö߬
ten Geister streitig machen. Vielleicht werden sich
sogar die Chauvinisten auf der einen wie auf der
anderen Seite, Avenn es deren noch giebt, zu dem
Zugeständnis becjuemen müssen, dass Rubens in seiner
Kunst und in seinem Leben weder Vlame noch Deut¬
scher war, dass er sich vielmehr als die feinste und
vollkommenste Blüte einer internationalen Kultur,
soweit man sie damals kannte, darstellt. Danach
ist auch jede weitere Erörterung der Frage müßig,
ob Rubens, wie die „Vita“ angiebt, in Köln oder,
wie die archivalischeu Forschungen über die unglück¬
lichen Verkettungen seines Vaters mit der Gattin
des Prinzen Wilhelm von Oranien, mit diesem selbst
und dem Grafen von Dillenburg wahrscheinlich ge¬
macht haben, in Siegen geboren worden ist, wo da¬
mals Jan Rul)ens Avegen seiner sträflichen Be¬
ziehungen zu der Prinzessin von Oranien gefangen
gehalten Avurde. Maria Pypelincx, seine helden¬
mütige Gattin, die den Fehltritt ihres Gatten mit
echt vlämischer Gelassenheit hingenommen zu haben
scheint, war um die Zeit, avo Peter Paul geboren
wurde, fast immer unterweg.s, immer auf der Reise
zwischen Siegen und Köln und AntAverpen, immer
l)estrel)t, das Schicksal ihres Gatten zu erleichtern
und Unheil von ihren Kindern abzuAvenden. Die
meisten Gründe sprechen allerdings für Siegen als
für Rubens’ Geburtsort. Seine ersten Jugenderinner¬
ungen waren jedoch mit Köln verknüpft, dessen er
noch in einem Briefe von 1637 gedachte, als der
Stadt, „in der er bis zum zehnten Jahre seines Lebens
erzogen Avorden sei.“ Wenn er aber wirklich in
Köln geboren worden wäre, würde er sich sicher¬
lich in jenem Briefe, der einen Auftrag für Köln
betrifft, ohne Umwege als Sohn der Stadt bekannt
hal)en. Denn damals gab es zwischen dem jetzigen
Belgien und der jetzigen preußischen Rheinprovinz
keine nationalen Unterschiede, keine anderen Schran¬
ken, als sie die Zollgelüste und die Gerichtsherrlich¬
keit kleiner Dynasten gezogen hatten.
Den Tag der Geburt giebt die „Vita“ nicht an
PETER PAUL RUBENS.
131
aber mau hat sich allgemeiu auf den 29. Juni ge¬
einigt, den Tag der Apostelfürsten, von denen Rubens
seine beiden Vornamen erhalten hat, die im Laufe
der Jahrhunderte mit seinem Zunamen unzertrenn¬
lich verwachsen sind. P Außer jenem oben erwtähn-
ten Briefe hat Rubens kein Zeugnis hinterlassen,
das über seine in Köln empfangenen Jugeudeindrücke
einen Aufschluss geben könnte. Aber nach dem,
wie damals die Erziehung von Kindern aus Familien
besserer Stände geübt wurde, ist wahrscheinlich, dass
dem jungen Peter Paul keine andere geistige Nahrung
geboten wurde als die Anfangsgründe der humani¬
stischen Wissenschaft, die damals den Söhnen vor¬
nehmer katholischer Familien durch die Jesuiten als
die berufensten Erzieher des unter der Herrschaft
der Gegenreformation heranwachsenden Menschen¬
geschlechts vermittelt wurden. Die Vita hebt denn
auch hervor, dass der erste Unterricht, den der
junge Rubens in Köln empfing, auf so fruchtbaren
Boden fiel, „dass er mit Leichtigkeit die Alters¬
genossen übertraf.“ Ob die Bau- und Kunstdenk¬
mäler Kölns, ob die rege Thätigkeit von Malern,
Steinmetzen, Goldschmieden u. a., die damals noch
edle Blüten zeitigte, irgend welchen Einfluss auf die
Phantasie des Knaben gemacht hat, erfahren wir
nicht, und auch in den Werken des Mannes ist keine
Spur zu entdecken, die darauf hiuwiese, dass Rubens
schon in Köln mit irgend einer Kunstübung in nähere
Berührung gekommen wäi*e.
Erst in Antwerpen, wohin seine Mutter nach
dem 1587 erfolgten Tode des Gatten mit den Kindern
zurückkehrte, scheint der Kunsttrieb in dem Knaben
erwacht zu sein. Ehe er aber zu so starkem Durch¬
bruch kam, dass die Entscheidung für den Beruf
erfolgte, hatte er noch seine Schulstudien zu voll¬
enden. Es liegt nahe anzunehmen, dass er sie bei
den Jesuiten fortsetzte, die in Antwerpen noch mehr
als in den Rheinlanden die Jugendlehre in den Händen
hielten. Die Aveltgewandten Väter waren klug genug,
der lebensfrohen Jugend die Zügel so weit schießen
zu lassen, dass keiner etwas von weltfeindlicher
Askese oder von einer „Knechtung der Geister“
.spürte. Um den Geist der Zöglinge zu beschäftigen,
ihre Phantasie anzuregen, um ein Ventil für die
1) Den Tag der Geburt giebt zuerst Bellori in den
Vite de’ piü celebri pittori etc. in folgenden Worten an: „H
sno natale segu'i il giorno 28 di Gingno nelT anno MDLXXVIT.“
Die Angabe ist wegen ihrer gesuchten Form auffällig, viel¬
leicht aber nur eine rhetorische Blume, die bei Malern, die
gern ihr schriftstellerisches Licht leuchten lassen, nicht selten
ist. Sandrart nennt den 28. Juni.
anderwärts zurückgedrängte Forscherlust zu schaffen,
eröffneten sie den Knaben und Jünglingen die un¬
gefährliche Welt des griechisch-römischen Altertums.
In dieser Welt zu schwelgen, war jedem erlavibt,
und in dieser Schule scheint Rubens nicht nur den
Grund zu seiner humanistischen Bildung, die ihn
bis an sein Lebensende begleitet hat und ihn be¬
fähigte, die Werke der römischen Schriftsteller in
ihrer Sprache zu lesen und sich sogar in dieser
Sprache mit einer gewissen Leichtigkeit auszu¬
drücken, sondern auch die Keime zu jener Seite
seiner Kunst gelegt zu haben, die ihn Motive aus
dem klassischen Altertum mit derselben Unbefangen¬
heit, daneben aber auch mit derselben Leidenschaft-
lichkeitund Inbrunst behandeln ließ, wie die frommsten
Devotionsbilder und die mit allen Berauschungsmitteln
des Mystizismus ausgestatteten Versinnlich ungen je¬
suitischer Dogmen.
üb Rubens nun wirklich, wie die Biographen
bisher nach alter Überlieferung angegeben haben,
das Jesuitenkollegium in Antwerpen besucht hat,
konnte bisher nicht dokumentarisch belegt werden.
Es liegt sogar ein indirektes Zeugnis vor, das es
wahrscheinlich macht, dass Rubens eine von einem
weltlichen Lehrer geleitete Schule besucht habe. Am
3. Nov. 1600 schrieb nämlich der Antwerpener
Buchdrucker Balthasar Moretus au den damals in
Rom lebenden Philipp Rubens, den älteren Bruder
von Peter Paul, einen Brief, worin er ihm in Erinne¬
rung bringt, dass er seinen Bruder schon als Knaben
auf der Schule kennen gelernt und lieb gewonnen
habe. Den Nachforschungen von Rooses, der diesen
Brief zuerst veröffentlicht hat'), ist es gelungen, zu
ermitteln, dass Moretus die Schule eines gewissen
Rombaut Verdonck besucht hat, die auf dem Lieb¬
frauenkirchhof, hinter dem Chore, lag. Sein noch
in der St. Jakobskirche vorhandener Grabstein rühmt
diesen Verdonck als einen „durch Frömmigkeit und
Gelehrsamkeit ausgezeichneten Lateinlehrer“, und
wenn Rubens wirklich sein Schüler geAvesen ist,
wissen wir, wem er seine Kenntnis der lateinischen
und griechischen Sprache zu verdanken hat. Dass aber
auch diese weltliche Lateinschule unter jesuitischem
Einfluss oder vielleicht sogar unter jesuitischer Auf¬
sicht stand, kann keinem Zweifel unterliegen. Schon
drei .Jahre nach ihrer Ankunft in Antwerpen, 1575,
hatten die Jesuiten einen Teil des Jugendunterrichts
in die Hände bekommen, und seit 1585, nachdem
1 ) Petrus Paulus Rubens en Balthasar Moretus. Ant¬
werpen 1884.
17
132
PETER PAUL RUBENS.
Rulie und Friede wieder in Antwerpen eingekehrt
waren, nahmen sie ihr Werk mit verdoppelten Kräften
und mit noch glücklicheren Erfolgen in Angriff, die
schließlich dazu führten, dass ihnen der Magistrat,
weil die Schulen zu eng geworden, ein geräumiges
Haus, das Jesuitenkollegium (1608), bauen ließ.
Immerhin kann Rubens nur kurze Zeit die La¬
teinschule des Magisters Verdonck besucht haben.
Denn in ihrem Testament giebt seine Mutter Maria
Pypelincx au , dass zu der Zeit, als sich ihre Toch¬
ter Blandine vermählte — die Hochzeit fand am
25. August 1590 statt — ihre beiden Söhne Philipp
und Peter Paul ihren Lebensunterhalt bereits selbst
erwarben. Peter Paul kann demnach den Unterricht
Verdonck’s höchstens drei Jahre genossen haben,
vermutlich weil seine Mutter danach trachten
musste, die Kosten ihres Hausstandes möglichst zu
verringern. Da die „Vita“ angiebt, dass der junge
Rubens bald nach Vollendung seiner Studien als
Page in den Hofhalt der Margarethe von Ligne, der
Witwe des Grafen Philipp von Lalaing, eintrat, ist
dieser Zeitpunkt spätestens um das Jahr 1590 anzu¬
setzen. Ruelens hat zu ermitteln versucht, wo die
Gräfin von Lalaing sich damals aufhielt, und nach
seinen Forschungen ist es wahrscheinlich, dass die
Gräfin nach dem Tode des Gatten ihren Wohnsitz in
Audenarde genommen hat, wo also auch Rubens
eine Zeitlang ihr Hausgenosse gewesen ist.
„Aber bald“, so heißt es in der „Vita“, „wurde er
des liofletjens überdrüssig, und da ihn sein Geist
zuin Studium der Malerei trieb, setzte er es bei seiner
Mutter, zumal da die Mittel seiner Eltern durch die
Kriege bereits erschöpft waren, durch, dass er dem
Antwerpener Maler Adam van Noort zum Unter¬
richt übergeben wurde. Unter diesem Lehrer legte
er vier .lalire lang die ersten Grundlagen zu seiner
Kunst.“ Kechnet man zu diesen vier Jahren die
gleiclie Zahl hinzu, die Rubens -nach dem Zeugnis
der ,\'ita“ bru seinem zweiten lichrer Otto van
\ een zugebracht hat, und stellt man damit das
I)atuni seiner Abnüse nach Rom (9. Mai 1600) zu¬
sammen, so würde, Rubens danach etwas mehr als
zwei .lalire bei der Gräfin ausgehalten haben. Es
scheint aber, dass sein Aufenthalt am Hofe der
Gräfin nicht so lange gedauert hat; denn nach einer
alten I berlieferung, als deren erster Träger unser
Sainlrart in seiner „J’eutschen Akademie“ erscheint-^),
1 Diese Angaben siml dem I’iiclie des Jesuiten|jators
Carola^ .Seriüaniiis „Orif'ines Aiitverpieiisiiuu“, Antwerpen
DjlO, üei .I«jlianne.s Moretiis, 8. 105 entnommen.
li) Nac'li Hooses, (Jescliiclite der Malerscliule Antwerpens
hat Rubens noch einen dritten Lehrer gehabt, dessen
Unterweisung der von Adam van Noort und Otto
van Veen vorangegangen sein muss. Wenn die
„Vita“ von diesem dritten Lehrmeister auch nichts
weiß, so darf Sandrart’s Angabe doch volle Glaub¬
würdigkeit beanspruchen. Wie er mit Stolz erzählt,
hat er Rubens bei einem Besuche, den der berühmte
Meister während einer nach dem Tode seiner ersten
Gattin nach Holland unternommenen Reise der
Malerstadt Utrecht abstattete, wo Bandrart damals
bei Honthorst als Schüler arbeitete, persönlich kennen
gelernt und ihm sogar wegen Unpässlichkeit seines
Lehrers als Führer gedient. Er führte ihn u. a. zu Abra¬
ham Bloemaert und Cornelis Poelenburgh, und da das
Gespräch sich dabei viel um die Landschaftsmalerei
drehte, mag Rubens auch erwähnt haben, dass sein
erster Lehrer ein Landschaftsmaler gewesen sei und
dass er seitdem sein Leben lang immer gern Land¬
schaften gemalt habe. Dafür, dass Sandrart aus
mündlicher Überlieferung schöpfte, spricht auch die
Art, wie er diesen Landschaftsmaler nennt: „ Tobias
Ver Hoch“. So mag in damaliger Aussprache der
Name des Tobias Verhaeght oder van Haecht
(1561 — 1631) dem jungen Deutschen ins Ohr ge¬
klungen haben.
Noch andere Gründe machen es glaublich, dass
der junge Rubens von Verhaeght in die Elemente
der Kunst eingeführt worden ist. Im Jahre 1590
aus Italien zurückgekehrt, wurde Verhaeght noch in
demselben Jahre als Meister in die Lukasgilde auf¬
genommen, und bald darauf heiratete er eine Base
von Rubens.^) Es lag also nahe, dass man sich in
der Verwandtschaft umsah, als der etwa vierzehn¬
jährige Knabe seinen Entschluss, Maler zu werden,
kundgab. Dann aber spricht dafür, dass Rubens
vom Anfang bis zum Ende seiner künstlei'ischen
Thätigkeit die Landschaftsmalerei mit großem Eifer
betrieben und dass er sogar in Rom, wo er doch so
unendlich viele künstlerische Eindrücke zu verar¬
beiten hatte und daneben selbst schöpferisch thätig
war, eine große Zahl von landschaftlichen Natur-
Studien gemacht hat, die zu den kostbarsten
Schätzen seines heimgebrachten Studienmaterials
gehörten. Diese auffallende Neigung zur Land-
S. 1()8, giebt es auch ein gestochenes Bildnis, dessen Unter-
sebrift darauf hinweist, dass Verhaeght Rubens’ erster Leh¬
rer gewesen ist. Ks ist vermutlich der Stich von C. van
Caukerken nach Otto van Veen’s Zeichnung.
1) Urkundliche Nachrichten über Verhaeght hat zuerst
F. J. van den Branden in seiner ,,üeschiedenis der Ant-
werpsche Schilderschool“ (Antwerpen 1883) S. 384 — 389 bei¬
gebracht.
PETER PAUL RUBENS.
133
Schaftsmalerei findet eine ungezwungene Erklärung
durch die Eindrücke, die Rubens von seinem ersten
Lehrer empfangen hat. Was Rubens vou ihm ge¬
lernt und in sein späteres künstlerisches Besitztum
de Bles begründet, von F. und G. Mostaert, C. Mole-
naer, Gillis van Coninxloo, den Brüdern Matthäus
und Paul Bril u. a. fortgeführt wurde, ln Rom
hatte Verhaeght gleich den Brüdern Bril auch land-
Mariä Verkündigung. Gemälde von Jk P. Kuisens in der kaiserlichen Galerie zu Wien. Nach einer Photographie vou J. Löwy.
mit übernommen hat, kann freilich nur von sehr
geringem Werte gewesen sein. Denn aus dem
wenigen, was wir von Verhaeght wissen, war er
ein Abkömmling jener Richtung der vlämischen
Landschaftsmalerei, die vou Patiuier und Herri met
schaftliche Wandgemälde in Fresko gemalt. Ob er
sich dabei auch einen großen Stil angeeignet hatte,
ist fraglich. Die Urkunden, auf die wir zur Fest¬
stellung der künstlerischen Eigenart Verhaeght’s an¬
gewiesen sind, deuten vielmehr darauf hin, dass er
134
PETER PAUL RUBENS.
nach seiner Rückkehr in die Heimat in der Art der
vaterländischen Überlieferung weiter arbeitete. Außer
acht Kupferstichen von Egbert van Panderen und
Hendrik de Hondt, die die vier Tageszeiten und
vier Seestücke darstellen, kommt nur ein einziges
Gemälde*) in Betracht, das uns von dem gesamten,
ziemlich umfangreichen Schaffen Verhaeght’s übrig
geblieben ist: eine mit eine)n aus den Buchstaben
V T H zusammengesetzten Monogramm und der
Jahreszahl 1613 (oder 1615) bezeichnete Gebirgs¬
landschaft mit Staffage, die das bekannte Abenteuer
Kaiser Maximiliau’s 1. auf der Martiuswand darstellen
soll (im Museum zu Brüssel). Das Bild ist nach
dem alten Rezepte gemalt: ein blauer Hintergrund
mit blauer Fernsicht und blauen Bergen, in unver¬
mitteltem Gegensatz dazu das kalte Grün des Vorder¬
grunds, eine kleinliche, pedantische Behandlung des
Baumschlags und im Einklang damit steif gezeich¬
nete, wie aus Holz geschnitzte Figuren, die vermutlich
auf die eigene Rechnung des Malers kommen, der
sich sonst fremder Beihilfe für die Staffage bediente.
Wie wenig oder wie viel Rubens bei Verhaeght
auch gelernt haben mag, außer der Liebe zur Land¬
schaft, insbesondere zur italienischen Landschaft mit
Ruinen wird er schon bei ihm die Sehnsucht nach
Italien eingesogen haben. Ein Figurenmaler, ein
Kirchen- und Historienmaler hat aber damals in
höherem Ansehen gestanden als ein Landschafts¬
maler; darum hat vielleicht auch die „Vita“ keine
Notiz von Verhaeght genommen, sondern Rubens’
künstlerische Studien erst beginnen lassen, als er in
die ^Verkstatt Adam van Noort’s trat und von die¬
sem als wirklicher Lehrling für die Register der
Lukasgilde angemeldet wurde. Bei der Frage, was
nun fler junge Rubens vier Jahre lang von Adam
van Noort gelernt haben kann, muss die Antwort
wiederum ausbleiben. Denn mit dem künstlerischen
Nachl a.s.s van Noort’s (1562 — 1641) ist es noch miss¬
licher bestellt als mit dem Verhaeght’s. Von den
Gemälden, die ihm zugeschrieben werden, ist nicht
ein einziges durch ein Monogramm oder eine Urkunde
bezeugt. Aus mehr oder weniger zuverlässigen
1 ’bcriiefernngen , aus Anekdoten, die dem Künstler
eine Hoheit des Wesens audichteten, die natür-
lich aiicli seine Werke widersjäegeln mu.ssten, und
l)esonders aus dem Umstande, dass außer Rubens
1 Nacl) einer Angabe von A. .1. Wauters in seiner
flescbichte der „ Vläini.scben Malerei“ (Deutsche Ausgabe,
I/cipzig lSb.3, S. 17.5) soll cs noch ein /weites Gemälde von
Verhaeght und zwar in Deul.schland gehen. Wo sich dieses
tteniiilde befindet, ist mir unbekannt.
auch Jordaens sein Schüler gewesen, hat man ein
Bild seiner Kunst erdacht, dem jede sichere Grund¬
lage fehlt, und wo sie wenigstens den Schein der
Sicherheit gewinnt, handelt es sich um Bilder, Zeich¬
nungen und Stiche nach seinen Kompositionen, die
nach Rubens’ Abreise nach Italien oder gar erst nach
seiner Rückkehr entstanden sind. Nur so viel scheint
sicher zu sein , dass Adam van Noort ein tüchtiger
und deshalb gesuchter Lehrer war, dass er aber als
Künstler mehr empfangend als schöpferisch thätig
war. Solange die scharfsinnigen Untersuchungen,
die Max Rooses auf die am meisten beglaubigten
Gemälde van Noort’s gegründet hat*), nicht durch
Urkunden widerlegt werden, muss man die Annahme
gelten lassen, dass Adam van Noort erst unter dem
Einflüsse der Meisterwerke seiner Schüler Rubens
und Jordaens zu einem Maler von einiger Bedeutung
geworden ist.
O I
Immerhin muss Rubens unter Adam van Noort
soweit vorwärts gekommen sein, dass er schon nach
zweijähriger Arbeit in der Werkstatt des Otto van
Veen, in die er um 1596 ein trat, als Freimeister in
die Lukasgilde aufgenommen wurde. Otto van Veen
(1556 — 1623) oder Otto Vaenius, wie er sich gern
nannte und nennen ließ, weil er mit dem Ruhme
des Malers auch den des gelehrten Dichters, des
Meisters der lateinischen Sprache, des sinnigen Er¬
finders von Symbolen und Allegorieen zu verbinden
suchte, bezeichnet die letzte Höhenschwingung in
dem unselbständigen Italienertum derniederländischen
Malerei. Alles an und von ihm war abgeschliffen
und weltgewandt, er wusste und kannte alles, was
andere vor ihm gewusst und gekannt hatten, aber
er hatte keine Individualität, selbst in den Bildnissen
nicht, die seine äußerliche Persönlichkeit mit den¬
selben Mitteln kühler Besonnenheit wiedergeben, die
er in seiner eigenen Kunstübung niemals verleugnet
hat. Es ist ein seltsames Verhängnis, dass auch an
den Gemälden, die seinen Namen tragen, der Geist
der zweifelnden Kritik nagt, die erst schriftliche
Urkunden haben muss, ehe sie sich mit Überliefe¬
rungen von Mund zu Mund beschäftigt. Immerhin
giebt es eine Anzahl von den Otto van Veen zuge¬
schriebenen Gemälden, die so gut beglaubigt sind,
dass man .sich danach ein Bild von dem Umfange
seiner künstlerischen Kraft machen kann. Wenn
man aber die Frage schärfer fasst: was konnte Otto
van Veen damals, als Rubens in seine Werkstatt
1) Geschichte der Malerschide Antwerpens, deutsch von
F. lieber, München 1881, S. 145-148.
PETER PAUL RUBENS.
135
trat? — so bleiben nur zwei Bilder übrig, die uns
als Anhaltspunkte dienen können: die mystische Ver¬
mählung der heiligen Katharina mit dem Jesuskinde
im Museum zu Brüssel, die mit seinem vollen Namen
(Otho Venius) und der Jahreszahl 1589 bezeichnet
ist, und das Martyrium des heiligen Andreas in der
Andreaskirche zu Antwerpen, das bei ihm 1594 be¬
stellt wurde, vermutlich also bald darauf ausgeführt
worden ist. Danach erscheint uns Otto van Veen
als ein noch etwas unbeholfener Eklektiker, der die
Schwerfälligkeit seines Temperaments, die Mitgabe
seiner holländischen Heimat — er stammte aus
Leiden — noch nicht völlig nnter dem Emflnsse
seiner besonders unter der Anleitung des Manieristen
Federigo Zucchero gemachten italienischen Studien
überwunden hatte. Noch fehlte es ihm an der ge¬
fälligen, wenn auch oberflächlichen nnd empfindnngs-
leeren Anmut, die seine reifsten, nach 1600 ent¬
standenen Gemälde kennzeichnet. Auch mit seinem
malerischen Können war es noch nicht sehr gut be¬
stellt: seine Lokalfarben sind kalt und trocken, die
grünlichen Schatten im Fleisch machen einen un¬
angenehmen Eindruck, und der Gesamtton ist flau,
ohne Glanz und Kraft.
Aber was nützt es uns, mit dem Aufgebot aller
kritischen Mittel festznstellen, welch einen künst¬
lerischen Rang Rubens’ Meister in seinen Lehrjahren
von 1590 — 1600 eingenommen haben, wenn wir nicht
wissen, was Rubens selbst gekonnt liat, bevor er
nach Italien ging, nm dort ein neuer Mensch und
ein anderer, ganzer Künstler zu werden? Es hat
nicht an Bemühungen gefehlt, Gemälde ausfindig
zu machen, die Rubens vor seiner Abreise nach
Italien gemalt haben soll, und darauf Hypothesen
aufzurichten. Rooses führt in seinem chronolo¬
gischen Verzeichnis der Werke *) noch sechs solcher
Bilder an, von denen er jedoch schon selbst zwei
als im höchsten Grade verdächtig durch den Zusatz
eines Fragezeichens ausscheidet. 2) Aber auch von
den übrigen vier sind drei, das Bildnis eines Mannes
mit breiter Halskrause mit der Jahreszahl 1599 in
der Galerie Leuchtenberg in Petersburg, Christus
und Nikodemus bei Madame van Parys in Brüssel
und Pausias und Glycera in Grosvenor House in
London, so zweifelhaft, dass wir sie aus dem Spiele
lassen müssen, bevor nicht stärkere Beweise für ihre
1) L’oeuvre de P. P. Rubens, Bd. V, S. 423.
2j Ein angebliches Selbstporträt von 1599, das sich in
der 1867 in Köln versteigerten Sammlung A. G. Thiermann
befand, aber seitdem verschollen ist, und eine Krönung
Mariä in der Ermitage zu St. Petersburg.
Echtheit beigebracht sind, als sie die eifrigen Be¬
mühungen von Rooses herbeizuschaffen vermocht
haben. Das vierte dagegen, die Verkündiguug Mariä
in der kaiserlichen Galerie zu Wien (im Kataloge
von Engerth Bd. 11, Nr. 1160, s. die Abbildung auf
S. 133), ist zunächst durch unanfechtbare Zeugnisse
als ein Jugendbild von Rnbens beglaubigt, und
da es außerdem noch keine Spur der unter italie¬
nischem Himmel und unter dem Einflüsse von Tizian
nnd Paola Veronese gewonnenen Sättigung und Tiefe
des Kolorits, wohl aber in der Färbung die für die
niederländischen Italianisten bezeichnenden Eigen¬
tümlichkeiten eines bläulich-grauen Tons und eines
stechenden kalten Glanzes zeigt, so kann es keinem
Zweifel mehr unterliegen, dass wir in dem Wiener
Bilde das einzige Werk besitzen, das nns über das
Maß des Könnens, das Rubens nach Italien mitnahm,
unterrichten kann. Dass wir es mit einem Jugend¬
bilde des Meisters zu thun haben, geht aus der von
dem Kunstverleger Martin van den Enden verfassten
Widmung des Stichs hervor, den Schelte a Bols-
Avert nach dem Gemälde ausgeführt hat. Als der
Stich in den Handel kam, Avar Rubens’ Kunst so
völlig eine andere geAvorden, dass das Bild einer
ausdrücklichen Bekräftigung bedurfte, ln der Wid¬
mung heißt es denn auch, dass die Gelehrtengesell¬
schaft (Sodalitas Parthenia niajor), der das Blatt zu¬
geeignet Avird, das Bild „einst“ (quondam) von
„Rubens’ Hand hat malen lassen.“ Bei den engen
Bezieliungen ZAvischen Rubens und dem großen Inter¬
preten seiner Werke ist anzunehmen, dass Rubens
selbst einen Hinweis auf den frühen Ursprung des
Bildes gefordert haben Avird. Überdies liegt uns
noch ein älteres Zeugnis als der Bolswert’sche Stich
vor. Dieselbe Komposition, vermutlich auf Grund
einer von dem Original mehrfach abweichenden Zeich¬
nung von Rubens, hat Theodor Galle für ein 1614
von der Druckerei Plantiu-Moretus herausgegebenes
„Breviarium Romanum“ gestochen.
Die Wiener „Verkündigung“ ist die Quintessenz
jener fast kalligraphischen Eleganz, die die nieder¬
ländischen Italienfahrer als höchstes Kunstideal in
die Heimat gebracht hatten. Alle Manierirtheiten,
alle schwülstigen Übertreibungen der Nachahmer
Michelangelo’s sind hier in die Malerei übertragen
worden: die bauschigen, wie vom Winde aufgebläh¬
ten GeAvänder mit ihrer Fülle nnd ihrem Wirrwarr
von Falten, die korrekte Eleganz der Köpfe und
der nackten Körperteile, die gezierten Bewegungen
der Hände, Arme und Füße, das kalte, nur wenig
durch Anmut gemilderte Ceremoniell im Ausdruck
136
PETER PAUL RUBENS.
der Gefühle. Damit harmonirt denn auch die kühle
Färbung, die Gegenüberstellung von weißen und
blauen Dominanten ohne die Vermittelung von war¬
men Halbschatten, so dass die Gruppe wie aus Metall
gebildet erscheint. Aber in die erkältende Grund¬
stimmung bricht doch schon ein Stück von dem
eigenen Temperamente des jungen Künstlers hinein:
die beiden Hauptfiguren sind die Reflexe der ange¬
lernten Kunst, von der sich ihr Schöpfer fortan ab¬
wendet; was aber über ihnen schwebt, die blond-
und braunlockigen Engelsbübchen mit den naiv und
doch so klug blickenden Augen und den schwellenden
Gliedern, — das ist ein Vorbote der echt Rubens’schen
Kunst, die schnell ihre erste Blüte entfalten sollte.
Lehrling van Veen’s im Sinne der Satzungen
]) Nach der Charakteristik, die Rooses, L’oeuvre II, S. 7
von dem Bilde „Christus und Nikodemus“ entwirft, ist dieses
der Lukasgilde ist Rubens, wie schon erwähnt, nur
zwei Jahre gewesen. Schon 1598 wurde er als Prei-
meister in die Lukasgilde aufgenommen; es scheint
jedoch, dass er, ebenso wie es zwei Dezennien später
sein eigener berühmtester Schüler van Dyck that,
noch fernere zwei Jahre in der Werkstatt seines
Lehrmeisters gearbeitet hat. „Aber da er schon in
dem Rufe stand,“ erzählt die „Vita“, „dass er seinem
Meister die Palme des Vorrangs streitig machte, er¬
griff ihn der Drang, Italien zu sehen, damit er dort
die berühmtesten Werke der alten und neuen Künstler
näher betrachten und nach diesen Vorbildern seinen
Pinsel bilden könnte. Er reiste am 9. Mai 1600 ab.“
Sein Reisepass, von dem noch eine Abschrift er¬
halten ist, trägt das Datum des 8. Mai.
_ (Fortsetzung folgt.)
von den angeblichen Jugendwerken am nächsten mit dem
Wiener Gemälde verwandt.
Mutterliebe. Gemälde von G. IIitchcock. (Aus Scribner’s Magazine.)
Kopfleiste von Schweinfurth. (Aus der American x\rt Review, Bd. I.)
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
EINDRÜCKE VON EINEM BESUCHE DER WELTAUSSTELLUNG IN CHICAGO.
VON TU. BODE.
IE Ausstellung in Chicago,
so verschieden sie von den
europäischen Besuchern be¬
urteilt worden ist, hat in einer
Richtung alle überrascht
und einstimmigste Bewun¬
derungerregt: in ihren künst¬
lerischen Leistungen. Die
Disposition und die Architektur der Ausstellungs¬
bauten war das Großartigste, was überhaupt auf
einer Ausstellung versucht worden ist; die xAusstattung
der Bauten und Plätze durch bildnerischen Schmuck
aller Art war eine überraschend wirkungsvolle, und
die amerikanische Abteilung im Kunstpalast war
nicht nur die umfangreichste, sondern im Durch¬
schnitt auch die beste. Wie wenig man bei uns
auf einen solchen Erfolg vorbereitet war, bewies das
Urteil eines deutschen Künstlers, der ein offenes
Auge für die Vorzüge fremder Kunst hat und die
Schwächen unserer eigenen Kunst nicht zu verheim¬
lichen sucht: er sprach den Amerikanern, ohne alle
Einschränkung, jede Kunst und sogar die Möglich¬
keit einer künstlerischen Entwickelung ab, weil ihnen
die Basis, die künstlerische Tradition, dafür fehle.
Die Ausstellung zeigte dagegen, dass Amerika schon
eine nach allen Richtungen entwickelte Kunst auf-
Zeitschrift fdr bildende Kunst. N. F. V. H. 6.
zuweisen hat, die alle Vorzüge der Jugend besitzt:
Frische, Naivetät und Selbstvertrauen; Vorzüge, die
leider unserer eigenen Kunst keineswegs in gleichem
Maße nachgerühmt werden können.
Die missachtende Behandlung der amerika¬
nischen Kunsthestrebungen und künstlerischen Lei¬
stungen hat zum größten Teil ihren Grund in
dem Mangel an Kenntnis derselben. Leider wird
auch die Ausstellung darin nicht sehr viel ändern,
da der Besuch derselben von Künstlern und Kunst¬
freunden Europas ein sehr schwacher war. Die
Unterschätzung hat aber noch einen tiefer liegen¬
den Grund: sie beruht zugleich auf einer in Europa
und ganz besonders bei uns in Deutschland weit
verbreiteten Verkennung der amerikanischen Ver¬
hältnisse überhaupt. Man sieht die starken Schatten
und über, sieht die Lichtseiten des amerikanischen
Charakters; man urteilt nach der oberflächlichen,
oft unvorteilhaften Erscheinung, die jedes fremde
Land bei flüchtigem Besuche bietet, und man
beurteilt nach dem politischen Leben das soziale
und Familienleben des Amerikaners und kommt da¬
durch zu einem völlig schiefen Urteil. Denn öffent¬
liches und Privatleben sind drüben zwei ganz ver¬
schiedene Dinge: die Politik, die kleine wie die
große, ist in Amerika ein Geschäft, und zwar ein
18
138
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
zum Teil recht schmutziges Geschäft, mit dem ein
anständiger Amerikaner, falls er nicht nach hohen
Staatsämtern strebt, nichts zu thuu haben mag. Das
Privatleben beruht dagegen auf einer sehr ernsten
Basis, und das Familienleben ist, trotz der selbstän¬
digen Entwickelung, die man den Kindern ange¬
deihen lässt, ein strenges und inniges. Von diesem
sittlichen Ernst ist auch das wissenschaftliche wie
das künstlerische Streben der Amerikaner durch¬
drungen; sie verdanken demselben die raschen Er¬
folge und die Bürgschaft für eine gesunde Weiter¬
entwickelung.
Wie schon die Entstehung der Kunst in den Ver¬
einigten Staaten für uns Europäer etwas Rätsel¬
haftes, Absonderliches hat, so bietet auch die Art
der Entwickelung, manches Überraschende. Nicht
die Architektur oder die Plastik hat hier den An¬
fang gemacht, sondern die Malerei, die bei uns die
jüngste der Schwesterkünste i.st. Ihre rasche und
reiche Entfaltung hat auf eine künstlerische Gestal¬
tung der Architektur und Plastik wie auf das Kunst¬
handwerk einen wesentlichen Einfluss geübt. Mit
einer Betrachtung der amerikanischen Malerei be¬
ginne ich daher die Aufzeichnungen über die Ein¬
drücke, welche die Kunst der Vereinigten Staaten
bei einem Aufenthalt gelegentlich der Ausstellung
auf mich gemacht haben. Da dieser Aufenthalt
leider nur ein sehr kurzer war, so können diese
Aufzeichnungen den Anspruch auf eine nur einiger¬
maßen vollständige oder zusammenhängende Dar¬
stellung der amerikanischen Kunstverhältnisse nicht
machen. Da letztere aber bisher von europäischer Seite
fast ganz unberücksichtigt geblieben sind, so bietet
die Veröffentlichung dieser Eindrücke auch so viel¬
leicht ein gewisses Interesse.
Di(} Ausstellung in Chicago hatte eine Sonder-
ausstelliing älterer Werke amerikanischer Kunst
aufzuweisen. Ein kleiner Saal war mit Gemälden
aus den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts
und aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg angefüllt;
es waren nicht mehr als etwa hundert Bilder, unter
denen verschiedene von eben verstorbenen Künstlern
(wie George Füller und Jervis Mc Entee) noch der
neuesten Kunst zuzurechnen sind. Die älteren Maler
— von einer Schule kann man bei ihnen noch nicht
reden — sind wenig bedeutende oder schwache Nach¬
folger der englischen Schule vom Ende des vorigen
Jahrhunderts; die Maler der Neuzeit, bis zur Mitte
unseres Jahrhunderts, stehen diesen Künstlern aber
fast ausnahmslos noch nach. Ohne ausgesprochene
Originalität, ohne wahren künstlerischen Sinn er¬
scheinen sie bald von der gleichzeitigen deutschen,
bald von der französischen oder englischen Schule
abhängig, je nach den Beziehungen, in die sie zu¬
fällig zu der einen oder anderen traten. Die Arbeiten
dieser Zeit haben ein historisches Interesse für
Amerika, der allgemeinen Kunstgeschichte gehören
sie aber nicht an; sind sie doch nicht einmal als
Vorbereitung der neuesten Phase der amerikanischen
Kunst von einschneidender Bedeutung.
Von wirklicher Kunst kann man in der Malerei
der Vereinigten Staaten höchstens seit zwei Men¬
schenaltern sprechen; eine reichere Entwickelung
datirt sogar erst aus den letzten fünfzehn Jahren,
und eine selbständige namhafte Plastik ist drüben
eben erst im Entstehen. Aber die Ausstellung be¬
wies sowohl durch die Zahl der Bilder (etwa drei¬
zehnhundert), zu denen die Zeichnungen und Maler¬
radirungen in ähnlichem Verhältnisse stehen, als auch
durch die Zahl der darin vertretenen Künstler, wel¬
chen Umfang in dieser kurzen Zeit die malerische
Produktion in den wenigen bisher in Betracht kom¬
menden Städten gewonnen hat. Dabei muss der
Jury die Anerkennung gezollt werden, dass sie in
der Auswahl keineswegs zu milde gewesen ist; die
amerikanische Abteilung machte, obgleich weitaus
die umfangreichste, einen gewählteren, einheitliche¬
ren Eindruck als die Ausstellungen der meisten an¬
deren Nationen, ganz besonders als die Gemälde¬
abteilung der Franzosen, deren Kritiker mit sehr
ungerechtfertigter Missachtung von den Leistungen
der amerikanischen Künstler in Chicago gesprochen
haben.
Dieses ungünstige, wohl zum Teil missgünstige
Urteil der Franzosen über die Ausstellung im all¬
gemeinen und insbesondere über die amerikanischen
Künstler ist diesen besonders empflndlich; sind sie
doch heute der großen Mehrzahl nach Schüler der
Franzosen oder wenigstens von ihnen beeinflusst.
Wer die Ausstellungen im Salon und auf dem Champ
de Mars während der letzten zehn Jahre genauer
verfolgt hat, wird in Chicago in der amerikanischen
Abteilung zahlreichen Bekannten von Paris her be¬
gegnet sein. Die namhaftesten Künstler sind fast alle
in Paris erzogen worden und sind hier Schüler von
Gerome, von Bonnat oder anderen als Künstler und
Lehrer berühmten Malern gewesen. Dasselbe gilt
von den Bildhauern. Nur eine kleine Zahl hat ihre
Ausbildung in Deutschland, namentlich in München,
in England oder in Italien erhalten; aber auch diese
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
139
haben meist nebenbei eine Zeitlang in Paris gear¬
beitet. Dieses Schnlverbältnis kommt natürlich in
den Arbeiten der amerikanischen Künstler zum Aus¬
druck. Wir erkennen schon im Durchgehen durch
die Räume der Ausstellung hier einen Schüler von
Gerome, dort von Carolus Duran oder Bönnat, hier
einen Nachfolger von Bastien Lepage, dort von Bes-
nard oder anderen Führern der französischen Malerei
und Plastik. Dennoch machen ihre Werke keines¬
wegs den Eindruck französischer Kunst; auch die
ganz im Ausland lebenden amerikanischen Künstler
bewahren regelmäßig mehr oder weniger ihren eige¬
nen nationalen Charakter. Freilich ist derselbe keines-
selbst der Gegensatz zwischen den Jungen und den
Alten (bei uns oft so stark, dass ein Jahrhundert
zwischen ihnen zu liegen scheint) ist vielfach nur
ein geringer, da der frische moderne Geist auch die
älteren erfasst und bestimmt hat. Charakteristisch
und ein Ausfluss dieses ganz modernen Sinnes ist
auch das Fehlen jeder Historienmalerei. Von dem
Einfluss eines Leutze oder seiner Nachfolger ist
nichts mehr zu merken; selbst die Columbische Aus¬
stellung hat die amerikanischen Künstler zu histo¬
rischen Darstellungen nicht verleiten können, obgleich
solche zweifellos patriotische Ahnehmer in Menge ge¬
funden hätten. Die amerikanische Kunst von heute
Herbstmorgen. Gemälde von Geo. Inness. (Aus dem Century Magazine.)
wegs SO stark ausgeprägt wie im amerikanischen Hand¬
werk und teilweise selbst in der amerikanischen
Architektur. Dazu sind Malerei und Plastik hier
noch gar zu jung; auch haben dieselben ja heutzutage
überall einen stärkeren internationalen Zug als das
Handwerk, in dem nationale Gewohnheiten sich leich¬
ter und schärfer ausprägen können.
Ganz augenfällig ist, schon bei einem flüchtigen
Blick in die Säle, der einheitliche, durchgehend mo¬
derne Charakter fast aller Bilder. Da ist nichts zu
bemerken von der Verschiedenheit der Schulen, wie
sie sich besonders in Deutschland, selbst unter den
gleichalterigen jüngeren Malern geltend macht; ja
geht völlig auf in der Wiedergabe des Individuellen:
das Bildnis, das Sittenbild und die Landschaft sind
daher die Motive, die fast allein dargestellt werden und
die sich immer wiederholen. Viele namentlich unter
den jungen Künstlern bethätigen sich in allen Gattun¬
gen und sind in allen gleich gevvandt.
Gemeinsam ist den modernen amerikanischen
Künstlern auch die Abneigung gegen jede Art von
Übertreibung. Während unsere Künstler, voran die
Franzosen, im Haschen nach dem Originellen nur
zu häufig die abenteuerlichsten und oft abgeschmack¬
testen Motive wählen und bestimmte neue Richtun¬
gen bis zur Karikatur übertreiben, halten sich die
18*
Hast unter Ruinen. Gemälde von Th. Robinson. (.\us Scribner's Jlagazine.
•1
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
141
amerikanischen Künstler fast ausnahmslos von sol¬
chen Extravaganzen fern. Die „Spanish Women“
von Dannat standen darin fast allein und wurden
deshalb, so sehr das Talent des jungen Künstlers
anerkannt wird, allgemein abfällig beurteilt.
Ein anderer Grundzug der amerikanischen Bilder
ist die malerische Erscheinung derselben: breite, nicht
selten skizzenhafte Behandlung und reiche farbige
Wirkung. Auch darin stehen die alten Künstler
zum Teil nicht hinter den jüngsten zurück.
Am eigenartigsten und daher am anziehendsten
für uns Nichtamerikaner erscheint die amerikanische
Landschaftsmalerei , die Hunderte von Künstlern zu
den ihrigen zählt, darunter eine ganze Reihe nahezu
gleich trefflicher Maler. Was uns hier schon fremd-
artig anmutet, sind die Motive, die der großen Mehr¬
zahl nach amerikanische sind. Freilich ihre berühm¬
ten Naturschönheiten: die Niagara-Fälle, den Yellow¬
stone Park, die Thousand Islands, wird kaum noch
ein moderner Künstler malen; die Motive sind ein¬
facher Art, oft das bescheidenste Stück Terrain,
ein Stückchen Wald, ein Blick in die Ferne, die
sich weder durch die Formen noch durch die Ve¬
getation wesentlich von unserer deutschen oder
von der englischen Landschaft unterscheiden. Aber
echt amerikanisch sind die Farben dieser Landschaft.
Nicht nur die starken Lichteffekte, namentlich bei
abendlicher Beleuchtung, vor allem die starken Lokal¬
farben des Laubes im Herbst, der sich ja im Norden
der Vereinigten Staaten durch mehrere Monate bis
in unsere Winterszeit ausdehnt und dem Amerikaner
als die schönste Zeit des Jahres, dem Maler als die
beste Zeit für seine Studien gilt. Nach dem ersten
leichten Nachtfrost, meist schon Ende September,
nehmen die Blätter des Ahorn und der Vogelbeere
die reichsten und kräftigsten Farben an, vom war¬
men Goldgelb bis zum tiefen Karminrot, während
die verschiedenartigen Eichen , die Ulmen, Tannen,
Lorbeer- und andere immergrüne Bäume ihr sattes
Grün noch in voller Frische bewahren.
Am stärksten kommt diese reiche kräftige Fär¬
bung der Landschaft bei George Inness zum Aus¬
druck, der als der eigentliche Begründer der ameri¬
kanischen Landschaftsmalerei gilt und als ihr größter
Meister gefeiert wird. Obgleich den Siebzigen nahe,
ist er in Auffassung und Behandlung noch so mo¬
dern wie der jüngste unter seinen Landsleuten. Wer
würde in dem Meister dieser ganz breiten, malerisch
unbestimmten Farbensymphonieen den früheren Stahl¬
stecher vermuten, der mühsam seinen eigenen Weg
in der Malerei sich zu bahnen gezwungen war, bis
ein Besuch in Europa im Jahre 1850, namentlich
ein Aufenthalt in Paris ihm die Anregung gab, die
für seine spätere Entwickelung maßgebend wurde.
Inness’ Landschaften zeigen ausschließlich amerika¬
nische Motive, meist aus dem Staate New York oder
der Nachbarschaft, die durch ihre reichen bunten Wäl¬
der und ihr schön bewegtes hügeliges oder bergiges
Terrain ausgezeichnet ist. Schon die Titel seiner
Bilder, deren die Ausstellung in Chicago achtzehn
aufzuweisen hatte, darunter verschiedene, die als seine
Meisterwerke bekannt sind, bekunden die Mannig¬
faltigkeit seiner Motive und seine Vorliebe für far¬
bige Wirkung: Sundown in the Lane, End of the
Shower (der Regenbogen), Nine O’clock, Sunny Au-
tumn Day, Winter Moruing, September Afternoon,
Sunburst u. s. f.
Wenn Inness auch in Frankreich die bestim¬
menden Eindrücke empfangen hat, wenn namentlicli
die farbigen stimmungsvollen Landschaften von
J. Fr. Millet sich tief in ihm eingeprägt haben, so
ist er trotzdem seinen eigenen Weg gegangen und
ist von den verschiedenen Phasen der späteren fran¬
zösischen Malerei so gut wie unberührt gebheben.
Dass seine Landschaften den überfarbigen Bildern
der jüngsten Pariser Impressionisten gelegentlich
nahe stehen, ist ein Zeichen der Wandlung in der
französischen Kunst, nicht eine Änderung in seiner
eigenen Art. Ein leicht bewegtes waldiges Terrain
mit mehr oder weniger Fernsicht in den verschie¬
densten Stimmungen der Jahres- und Tageszeit, mit
den mannigfaltigsten Effekten, die Sonnenschein oder
bedeckter Himmel, Dämmerung oder Mondlicht, Sturm
oder Regen darin hervorbringen, bildet regelmäßig
den Vorwurf von Inness’ Bildern; und zwar sieht
und giebt der Künstler die Landschaft vor allem in
ihrer farbigen Erscheinung. Seine Behandlung ent¬
spricht dieser Auffassung , sie ist durchaus male¬
risch; der Farbenauftrag ist pastös und trocken, die
Ausführung breit und in neuester Zeit oft geradezu
skizzenhaft.
Im Saal der „alten Meister“ waren zwei Land¬
schaften des 1884 in Boston verstorbenen George Fidler
ausgestellt; sie hätten ebenso gut als die Arbeiten
eines Jünglings unter den modernsten Bildern ihren
Platz finden können; so frisch hat sich auch dieser
Künstler bis in sein Alter erhalten, oder richtiger
gesagt, er hat noch im Alter eine solche Frische
der Anschauung und Kraft der Färbung und Be¬
handlung sich angeeignet. Füller hatte länger und
schwerer noch als Inness zu kämpfen, bis er seinen
Beruf erkannte und bis er dann die Mittel zum Aus-
142
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
druck seiner künstlerischen Anschauung gefunden
hatte. Erst als ein Mann in den fünfzigern trat er
als Landschafter auf; in den acht oder neun Jahren, die
ihm noch vergönnt waren, erwarb er sich den Bei¬
namen des amerikanischen Millet. Die wenigen Land¬
schaften, die ich von dem Künstler gesehen, stehen
barer von der Schule von Barbizon ergriffen und be¬
einflusst worden und durch sein lebhaftes mitteil¬
sames Wesen hat er auf die heran wachsende Gene¬
ration noch stärker eingewirkt als jene.
Zn dieser Gruppe gehören auch ein paar jüngere,
bereits verstorbene Maler, J. H. Wyant und Jervis
'
■pj
,
Somuier. Gemälde von A. Harrison. (üemäldegaleiie in Dresden.)
denen de.s Inness in Motiv und Auffassung, in Kraft
und koloristisclier Wirkung ganz nahe. Ein dritter
gleiclialteriger Künstler, der schon 1879 verstorben
ist , scliliel.it sich den Genannten aufs engste an,
WlUi'im M. Ifiinl aus Bo.ston. Durch einen längeren
.Auffiitlialt in l’aris ist er noch tiefer und unmittel-
Mc. Entee, beide tüchtige Farbenimpressionisten in der
Art des Inness.
Die jüngeren Maler, die in den siebziger und
achtziger Jahren hervortraten, sind von jenen älteren
Meistern keineswegs so verschieden, wie bei uns die
ältere und neuere Landschaftei’schnle oder selbst
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
143
nur wie in Frankreich ein J. F. Millet und Bastien
Lepage oder Cazin. Wie die älteren die malerische
Auffassung und Behandlung der jüngeren angenom¬
men haben, so haben diese die kräftige Färbung als
Erbteil von jenen übernommen, obgleich sie fast
ausnahmslos in Frankreich ihre Schule durchgemacht
haben. In diesen kräftigen Lokalfarben, welche ein
charakteristisches Merkmal der amerikanischen Land¬
schaft ausmachen, stehen die amerikanischen Land¬
schafter zuweilen sogar den Engländern näher als ihren
Lehrmeistern und Vorbildern. Unter den jüngeren ist
auch bei uns in Deutschland D. TT'. Tryon bekannt;
erhielt er doch in der Münchener Ausstellung 1892
die große goldene Medaille. Tryon war sehr reich
und vorzüglich vertreten in Chicago; nach meinem
Geschmack waren seine Bilder dort unter allen Land¬
schaften die hervorragendsten. Vor Inness hat er
eine mehr geschlossene, ruhigere Wirkung der Farben,
eine schlichtere Auffassung der Natur voraus. Sein
Fai'benauftrag ist trocken, aber ohne dass dadurch
die Farben an Leuchtkraft verlieren. Seine Motive
wählt er, wie Inness, meist aus New England ; seine
Vorliebe für Winterlandschaften, für Mondschein¬
effekte erklärt sich aus seinem Bestreben, tonig und
duftig zu wirken.
Charles Davis, Theodor Robinson, Mark Fischer,
T. C. Steele, Robert Vonnoh u. a., fast sämtlich noch
in den dreißigern, verfolgen eine ähnliche Richtung
wie Tryon. Ihre Landschaften, beinahe ausnahmslos
amerikanische Motive, sind farbig und sonnig, von
ganz breiter malerischer Behandlung. Eine andere
Gruppe junger amerikanischer Landschaftsmaler, die
sich meist von Paris noch nicht haben trennen können,
steht der französischen Landschaftsmalerei noch näher.
Sie sind heller und matter in der Färbung; ein duf¬
tiger weißgrauer Ton, die Wirkung des gedämpften
Sonnenlichtes, ist über ihre schlichten landschaftlichen
Schilderungen ausgebreitet, die vielfach aus der Um¬
gebung von Paris genommen sind. Die Behandlung
ist flüssiger und weicher, aber nur ausnahmsweise
so skizzenhaft, dass die Ansichten wie helle Nebel¬
bilder erscheinen. Fast alle diese Künstler sind
keine einseitigen Landschafter; ihre landschaftlichen
Bilder sind regelmäßig mit Figuren belebt, die von
Licht umflossen ganz duftig in der Luft stehen; ja die
Figuren bilden nicht selten den Hauptteil der Land¬
schaften; daneben malen sie reine Genrebilder und
Porträts. Das Kennzeichen eines gesunden Realis¬
mus in alter Zeit wie heutzutage treffen wir auch bei
den modernen Amerikanern; das Bedürfnis, die Natur
nicht stückweise, sondern möglichst in ihrer ganzen
Erscheinung zu studiren. Die meisten dieser Künstler
sind uns von den Ausstellungen in Paris und Mün¬
chen, einige auch von den letzten Berliner Ausstellun¬
gen bekannt. Wie Tryon in München, so hat
Alexander llarrison jetzt in Berlin die goldene Medaille
erhalten; sein für die Dresdener Galerie erworbenes
Bild galt vielen als die hervorragendste Leistung
der ganzen Ausstellung. Die malerische Wirkung
des Sonnenlichts weiß der junge amerikanische Künstler
ebenso wahr wie anziehend wiederzugeben. Wie so
viele unter den Helllichtmalern, wie mit besonderem
Glück namentlich der Schwede Zorn, liebt auch
Harrison die nackte menschliche Figur in die Land¬
schaft einzuführen, um das Spiel des Lichts, die
mancherlei Reflexe auf der zarten Haut zum Aus¬
druck zu bringen und der Landschaft einen Mittel¬
punkt des Lichts zu geben. Seine großen Badenden
im Walde („In Arcadia“) sind ein Meisterwerk dieser
Art. Den eigentümlichen Reiz dieser Staffage haben
übrigens nicht erst die modernen Maler des Pleinair
entdeckt; schon die großen italienischen Meister des
Quattrocento kannten ihn und haben in Bildern, wie
in Sandro’s „Frühling“, in Bellini’s „Loth“, „Baccha¬
nal“ u. s. f. schon eine große Wirkung dadurch er¬
zielt. Ja, Piero della Francesca hat dadurch in seinem
„Begräbnis Adams“ in San Francesco zu Arezzo
ein Meisterwerk der Helllichtmalerei geschaffen, das
kein moderner Maler erreicht hat. Was diese alten
Meister dabei vor den jungen voraus haben, ist die
Naivetät der Auffassung, die mit dem Motiv völlig
im Einklang steht: ihre nackten Gestalten bewegen
sich in der Natur, als wären sie immer nur unbe¬
kleidet gewesen, während man den „Badenden“, den
„Bacchantinnen“ oder ähnlichen Gestalten in den
Bildern der modernen Schule nur zu sehr ansieht,
dass sie Modelle sind, die sich je eher je lieber
wieder bekleiden möchten.
Unbestimmter und farbloser noch als Harrisoii’s
Landschaften sind die von T. W. Dewing und Gh. Deivey.
Bei Louis Dessar kommt der violette Ton der Luft,
den manche junge französische uud deutsche Maler
so übertrieben stark betonen, stärker zur Geltung,
als sonst bei den Amerikanern dieser Richtung.
Twachtman verrät in einzelnen seiner Bilder in der
Art, wie die Farbe wie Mauerputz aufgetragen ist,
und in der unruhigen hellen Färbung das Vorbild
von Monet. William Chase kommt in den landschaft¬
lichen Motiven, die er der Umgebung seines Land¬
hauses entlehnt, den Bildern eines Cazin nahe.
Eugene Vail steht in seinen Kompositionen wie in der
Färbung manchen Engländern, besonders John Reid
144
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
nahe, wenn er auch zu demselben wohl keinerlei
nähere Beziehungen hat als den beiden gemeinsamen
französischen Einfluss.
Den genannten Künstlern ließen sich noch eine
größere Zahl von Landschaftern anreihen, die kaum
hinter ihnen zurückstehen, sämtlich jüngerer Künst¬
ler von ausgesprochen malerischer Richtung. Unter
ihnen waren Leonard Oclitman, Robert van Boslerck,
C. y. Turner, Thomas 3Ianley , Ben. Foster , Jules
Guerin, Frank Holman, Th. Clarke, A. Schilling,
Smillie, Enneking u. a. mit guten und selbst vor-
trefilichen Leistungen auf der Ausstellung von Chi¬
cago vertreten. Schon die große Zahl dieser tüch-
wiedergeben und nicht Novellen oder Humoresken
daraus machen. Nur ausnahmsweise begegnen wir
solchen Bildern, die — wie bei uns noch die Mehr¬
zahl aller Genrebilder — als Illustrationen und
nicht als Gemälde gedacht sind. Die Künstler
solcher vereinzelten Bilder sind meist auf deutschen
Akademieen ausgebildet. So der durch seine Lehrgabe
und persönlichen Einfluss in New-York bekannte
Walter Shirlaw, der in dem tiefen bräunlichen Ton
und der Motivhascherei die ältere Münchener Schule
verrät; Carl Gutherz, dessen Bilder durch einen un¬
angenehmen matten grauen Ton auffallen; Tohg
Rosenthal, ganz in München angesiedelt, dessen viel-
Dartmouth Moor«, JIa.ss. Gemälde von R, Swain-Giffoed. (Aus der American Art Review, Bd. I.)
tigen Maler, die alle in eigener, ganz moderner Art die
.Stimmung und malerische Erscheinung der Landschaft
zumeist in der Heimat zum Ausdruck zu bringen
trachten, ist ein charakteristisches Zeichen für die
frische und Kraft des künstlerischen Aufschwungs
in den Vereinigten Staaten.
Charakteristisch für diese moderne Richtung
ist auch die Vitdseitigkeit der Künstler: einer be¬
trächtlichen Zahl der Meister, die ich eben als Land-
scliafter aufgeführt habe, begegnen wir auch als
Genremalern und verschiedenen als Bildnismalern.
Ihren modernen Charakter verraten die amerikanischen
iMaler ferner dadurch, dass sie ihre sittenbildlichen
\'orwürfe einfach malerisch und charakteristisch
bewunderte „Tanzstunde“, „Mädchenschule“ u. s. f.
eine greisenhafte Sinnlichkeit verbergen. Andere
behandeln in ähnlicher Weise amerikanische Motive
wie F. L. Henry, Ilowla^icl und der jüngere F. D.
Milkt.
Eigentlich amerikanischen Motiven begegnen wir
sonst nur selten in den Sittenbildern der amerika¬
nischen Maler. Winslow Homer stellt mit Vorliebe
Scenen aus dem Negerleben dar, die mit ebenso
viel Humor wie malerischem Sinn wiedergegeben
sind. Anderer Art sind die Indianerbilder von George
de Forest Brush. Darstellungen wie „Der Bildhauer
und der König“, „Vor dem Kampfe“ u. s. f. haben
einen großen Zug. Der wilde Stolz und die würde-
DIE WINTERAUSSTELLUNGEN DER ROYAL ACADEMY.
145
volle Erscheinung des Indianers ist darin meisterhaft
zum Ausdruck gebracht; jedoch mit einem novellen-
haften Aufputz, den der Künstler von den antiken
Motiven seines Lehrers Gerome entlehnt hat, mit
dem er auch die glatte, etwas unmalerische Durch¬
führung gemein hat. Durch Gerome siud zwei andere,
begabte Künstler, die ganz in Paris angesiedelt sind,
Frederic Bridgman und Edurird Lord Weeks, nach an¬
derer Richtung bestimmt worden. Beide wählen
ihre Motive vorzugsweise aus dem orientalischen
Leben; Bridgman aus Algier, Weeks aus Indien.
Beide geben ihre Motive mit groisem malerischen
Geschick und sclilichter Wahrheit.
(Fortsetzung folgt.)
DIE WINTERAUSSTELLUNGEN DER ROYAL ACADEMY
UND DER NEW GALLERY IN LONDON.
0 zahlreiche und so vortreff¬
liche Werke italienischer Mei¬
ster sind noch nie zu einer
Ausstellung in London ver¬
einigt gewesen, wie es in
dieser Wintersaison der Fall
ist. Auch die, welche sich
rühmen durften, von den
hier im Privathesitz verstreuten Werken eine mehr
als oberflächliche Kenntnis sich erworben zu haben,
werden beim Besuch dieser Sammlungen gestehen
müssen, dass sich da nicht wenig Bilder von un¬
gewöhnlicher kunstgeschichtlicher Bedeutung vor¬
finden, über die sie früher nichts zu lesen und zu
hören bekommen haben. In dieser Beziehung liegen
die Verhältnisse in England sehr anders als in dem
Italien von heute. Wenn auch einzelne der großen
Sammlungen, die Waagen vor einem halben Jahr¬
hundert registrirt hat, seither aufgelöst worden sind,
so sind doch an deren Stelle zahlreiche andere ge¬
treten, auch sind im allgemeinen die leitenden Kri¬
terien der Sammler gegen früher vernünftiger ge¬
worden.
Die Ausstellung der New Gallery umfasst ita¬
lienische Kunstwerke aus der Zeit von 1300 bis
1550 mit Ausschluss der Schulen von Venedig und
des venezianischen Festlandes bis Brescia und Ber¬
gamo, der Bologneser und Ferrareser Malerschulen;
denn um diese Malerschulen in einer Londoner Aus¬
stellung würdig zu repräsentiren , ist ül)erreiches
Material vorhanden. Daher sollen diese im nächsten
Jahre an die Reihe kommen. Von den übrigen
Lokalschulen sind die von Mailand, von Florenz und
Zeitschrift für biMende Kunst. N. P. V. II. 6.
von Siena am reichsten und glänzendsten vertreten.
Selbst in dem reichen Mailand, der einzigen Stadt
Italiens, in welcher Privatsammlungen noch blühen,
dürften schwerlich so zahlreiche lombardische Werke
aufzufinden sein, wie sie in der New Gallery sich
vereinigt finden, wobei nicht zu vergessen ist, dass
die meisten der wohlbekannten historischen Privat¬
sammlungen Englands die New Gallery nicht be¬
schickt haben.
Was zunächst Luini anlangt, so darf man wohl
behaupten, dass allein von diesem Meister mehr Werke
(mit Ausnahme der Fresken) in England vorhanden
sind, als im übrigen Europa, wenn auch viele dieser
Bilder unter dem Namen Leonardo’s gehen, ein häu¬
figer Irrtum, den zu rügen hier ausnahmsweise keine
Veranlassung ist. Von besonderem Reiz ist eine
Serie kleiner Tafelbilder Luini’s mit Darstellungen
stehender Heiligenfiguren aus der Mailänder Passa-
lacquasammlung, jetzt im Besitz der Herren J. Ruston
und W. F''lower, Nr. 183, 184, 195, 196, sowie drei
Predellenstücke Nr. 188, die zu einem Altar werke
mit der Anbetung des Christkindes (Nr. 212) ur¬
sprünglich gehörten. Dies letztere macht leider nicht
den Eindruck guter Erhaltung.
Zu den Perlen der Ausstellung zählt die dem
Capt. G. L. Holford gehörende heilige Familie von
Oaudenrdo Ferrari (Nr. 216), dem Raffael der lom¬
bardischen Schule. Die das Christkind umgebenden
kleinen Engel sind ebenso originell, wüe sie das
moderne Gefühl unmittelbar berühren. Dabei dürfen
sie als die glücklichste Interpretation Leonardischer
Motive gelten, die je von einem Schüler des großen
Florentiners zu Tage gefördert worden ist. Es findet
19
146
DIE WINTEK AUSSTELLUNGEN DER ROYAL ACADEMY
sich wohl sonst nirgends außerhalb Varallo’s ein
Werk Gaudenzio’s, das sich diesem Meisterwerke an
die Seite stellen ließe. Daneben möge hier noch
das Jugendwerk genannt werden, aus der Sammlung
von H. Willett Nr. 235, eine Madonna mit Kind.
Ein Hauptwerk des Leonardoschülers Amhrogio
de Predis ist das Porträt eines jungen Mannes Nr.
1S5, aus der Sammlung Füller Maitland. Die Form¬
gebung ist eine höchst energische, das Kolorit email¬
artig. Sehr charakteristisch ist die Zeichnung der
verkürzten Hand, welche einen zusammengerollten
Papierstreifen hält mit den monogrammatisch ver¬
schlungenen Buchstaben AMBPR und der Jahres¬
zahl 1494. Eine große Ähnlichkeit mit gewissen
Bildern Boltraffio’s ist unverkennbar und oft sind
beide Meister in der Bestimmung der Bilder ver¬
wechselt worden. Beide dürften gleichzeitig im
Atelier Leonardo’s ihre Lehrjahre verbracht haben.
Nach Morelli-Lermolieff (Kunstkritische Studien;
die Galerieen Borghese und Doria, 1890, S. 239) ist
der hier Dargestellte der im Jahre 1474 geborene
Francesco di Bartolommeo Archinto.
Ein würdiges Seitenstück zu diesem Juwel lom¬
bardischer Porträtmalerei ist der Profilkopf einer
Dame von der Hand des Bernardino de’ Conti (Nr.
260, Besitzer A. Morrison), hier dem Boltraffio und,
wie Morelli angiebt (ebenda S. 249), früher im Hause
Castelbarco dem Leonardo zugeschrieben. Dem
Leonardo ist hier auch eine Zeichnung Bernardino’s,
einen männlichen Kopf im Profil darstellend (Nr. 1563),
aus der Sammlung W. H. Wayne zugeschrieben. —
Von dem großen Führer der Mailänder Porträtmaler,
Vincenzo Foppa, finden wir hier ein ausdrucksvolles
männliches Porträt, im Profil gesehen (Nr. 238, Be¬
sitzer A. Morrison), das von der außerordentlichen
künstlerischen Begabung dieses geborenen Bres-
cianers Zeugnis ablegt. — Auch Giampedrini ist in
mehreren Werken gut vertreten, die zum Teil unter
anderen Namen gehen, Aveniger Marco d’Ügionno.
Auch Salaino, jener Haushälter und Diener Leonardo’s,
rler von seinem Herrn als Zahlung Malstunden sich
geben ließ, ist hier in einigen Bildern anzutreffen,
die selbstverständlich Leonardo selbst gemalt haben
soll. Und gCAviss hat er dem ebenso braven wie
beschränkten Manne nicht nur seine Zeichnungen
als Vorlagen geliehen, sondern ihm auch hier und
da naclmeholfen. Nachdem einmal dem Salaino eine
Johannesfigur, lächelnd und mit erhobenem Arm,
gelungen war, hat er diese Figur, so oft er nur
konnte, mit leichten Abänderungen Aviedergemalt:
eine davon ist ein bekanntes Leonardobihl im Louvre,
zwei andere hängen hier nebeneinander, Nr. 187 und
198, natürlich auch als Leonardo’s.
Bedeutender sind die Bilder des Solario, eines
Meisters, dessen künstlerische Entwickelung zur Zeit
noch ein Problem ist. Die verschiedenen bedeuten¬
den Bilder seiner Hand in den Galerieen von Mai¬
land, Paris, London und Wien, deren Echtheit un¬
anfechtbar ist, zeigen ungewöhnlich große stilistische
Wandlungen. Der vlämische Charakter, den schon
die „Vierge au cousin vert“ im Louvre aufweist, ist
noch gesteigert in dem kreuztragenden Christus
der Borghese-Galerie. Er erreicht wohl seinen Höhe¬
punkt in dem Madonnenbild Nr. 118 der Ausstellung
in Burlington House (Besitzer A. McKay). Es ist
meines Wissens noch nicht beachtet worden, dass
Solario’s Kreuziguugsbild im Louvre vom Jahre 1503
in vielen Einzelheiten an gewisse Bilder Carpaccio ’s
gemahnt. Denselben Charakter hat auch das unbe-
zeichuete Tafelbild der vor dem Christkind knieen¬
den Madonna mit zwei musizirenden Engeln zur
Seite, Nr. 203 in der New' Gallery. Die Färbung ist
dieselbe wie in dem für eine Kirche in Murano ge¬
malten Altarbildchen der Brera, und der Madonnen¬
typus entspricht dem der Madonna auf dem kleinen
Jugendbild der Sammlung Poldi in Mailand.
Ein Hauptbild des Sodoma ist der knieende heil.
Hieronymus aus der Sammlung L. Mond (Nr. 201).
Von kleineren Bildern sind die Pieta (Nr. 167) und
die übermalte Jungfrau mit dem Kinde (Nr. 194,
Besitzer Lord Battersea), sowie das Frühbild einer
Madonna (Nr. 225, Besitzer L. Mond) zu nennen.
Von Werken umbrischer Meister ist nur wenig
vorhanden. Von den älteren Meistern sei hier nur
der seltene Francesco di Gentile da Fabriano genannt,
dessen bezeichneter Ecce homo (Nr. 82, aus der
Sammlung L. Mond) an Lorenzo di San Severino
und an Crivelli erinnert, ferner das Heiligenpaar
Laurentius und Philippus (Nr. 86) von Bernardino
di Mariotlo, wozu das Gegenstück in der Abteilung
Morelli der Galerie von Bergamo sich befindet.
Von dem Urbinaten Genga ist zunächst ein
Jugendbild aufzuführen, eine heil. Familie (Nr. 220,
Besitzer W, H. Wayne). Aus der besten Zeit des
Meisters stammt die heil. Familie mit dem Johannes¬
knaben (Nr. 229), dem Herzog von Westminster ge¬
hörend und fälschlich dem Fra Bartolommeo zuge¬
schrieben. Die Kennzeichen einer noch späteren
Phase seines Stiles zeigt das Bild der Jungfrau mit
dem Kinde und den Heiligen Elisabeth und Fran-
ciscus (Nr. 125, Besitzer Earl of Leicester), auffäl¬
ligerweise dem Ghirlandajo zugeschrieben. Die grau
DIE WINTERAUSSTELLUNGEN DER ROYAL ACADEMY.
147
in grau ausgeführten Reliefs im Vordergründe der
Komposition bekunden den Einfluss des Siguorelli.
Dem Namen des Timoteo Viti begegnet man in
einem großen Altarwerke mit der Beweinung Christi
(Nr. 226, Sammlung Drax), doch diese Bezeichnung
ist durchaus willkürlich. Vielmehr darf das Ma¬
donnenbild aus der Sammlung Northbrook (Nr. 248)
unter die Spät werke dieses väterlichen Freundes
RafFael’s gerechnet werden. Ich hatte diese Bezeich¬
nung schon in dem 1889 erschienenen Katalog der
Northbrook’schen Gale¬
rie (S. 154), wo auch eine
gute Abbildung des Bil¬
des sich findet, vorge¬
schlagen. Neuerdings ist
nun die Sammlung der
Handzeichnungen im Bri¬
tish Museum durch ein
Blatt vonTimoteo’s Hand
bereichert worden , wel¬
ches die Studie zu diesem
Madonnenkopf enthält.
V on den fünf echten
Bildern Ratfaels, welche
in England im Privat¬
besitz sich befinden, ist
leider keines in der New
Gallery ausgestellt. Zwar
begegnet man dem Na¬
men des Meisters nicht
selten im Katalog, aber
nicht wenige dieser Bilder
dürften ihren Anspruch
auf Berühmtheit vielmehr
von ihren Besitzern — es
sind zumeist Herzoge —
als von dem Maler her¬
leiten. Es sei hier nur
das vortreffliche Porträt
des Carondelet mit seinem
Sekretär genannt ( Nr. 243; Besitzer Duke of Grafton),
ln diesem hervorragenden Meisterwerke deutet schon
die ganz Giorgionesk behandelte Landschaft auf vene¬
zianischen Ursprung; Färbung und Faltenwurf, be¬
sonders am Ärmel der Hauptperson, die Zeichnung
der Hand und zumal die Behandlung des Pelzwerkes
erlauben nicht, daran zu zweifeln, dass hier SehasHano
del Piomho mit Raffael verwechselt worden ist, ähn¬
lich wie bei der sogenannten Fornarina in der Tri-
buna der Uffiziengalerie und wie bei der jungen
Römerin der Berliner Galerie, welche früher in
Bienheim auch für Raffael galt. Ein anderes Haupt¬
werk des Sebastiane del Piombo ist die heil. Familie
aus der Sammlung Northbrook in der Ausstellung
diQx: Roiial Academy (Nr. 113). Mehr noch als in der
berühmten Auferw’eckung des Lazarus in der Natio¬
nal Gallery ist es hier dem Sebastiane gelungen,
seine Komposition mit einem Hauche echt Michel-
angelo’schen Geistes zu verklären. Die Formen sind
hier viel studirter, und, w'enn man so sagen darf,
wissenschaftlicher behandelt, als in den Fi-ühwerken
dieses hochbegabten Ve¬
nezianers, die Komposi¬
tionbewegt sich in großen
Linien bei gedämpfter
Stimmung des Kolorits.
Es lässt sich« nicht leug¬
nen, hier und da ist es
dem Venezianer ebenso
gelungen, im Geiste Mi-
chelangelo’s Originelles zu
schaffen, wie er in seiner
.Jugend Hervorragendes
als Nachfolger Giorgio-
ne's geleistet hat.
Man hat bei dem in
der Nähe hängenden Por¬
trät eines Senators (Nr.
1 1 5, Besitzer Herzog von
Abercorn), das dem Raf¬
fael zugeschrieben ist,
auch den Namen des Se¬
bastiane del Piombo in
Vorschlag gebracht, aber,
wie mir scheint, sehr
mit Unrecht, denn dieses
herrliche farbige Bild
trägt durchaus die Stil¬
eigentümlichkeiten des
rarmeyyianino. — Um
noch einige Werke der
venezianischen Schule zu nennen, welche in der
Royal Academy ausgestellt sind, mögen hier zwei
Gemälde des Catena genannt werden: ein bezeich-
netes Madonnenbild mit Heiligen und Stiftern (Nr.
149, Besitzerin Miss H. Hertz), wohl das früheste
Bild seiner Hand, das den beiden Früh werken der
Budapester Landesgemäldegalerie ziemlich nahe steht,
besonders in den Typen. Ferner die originelle Kom¬
position des Christus, welcher dem Petrus die
Schlüssel übergiebt im Beisein der drei allegorischen
Figuren Glaube, Liebe und Hoffnung (Nr. 151). Die
19*
Madonna. Gemälde von Giovanni Bellini.
148
DIE WINTERAUSSTELLUNGEN DER ROYAL ACADEMY.
alte Kopie nacli diesem Bilde im Museum von Madrid
ist besonders hart im Faltenwurf und trübe in der
Färbung. Eine Abbildung der letzteren hat jüngst
G. Frizzoni im ..Arcbivio delF Arte“ publizirt.
Giovanni Bellini ist in zwei Werken vertreten,
in einem Madonnenbilde der Northbrook- Sammlung
(Nr. 143), einem Atelierbilde, das wahrscheinlich
von Bissolo ausgeführt worden ist, und einem Jugend¬
bilde (Nr, 142), einer Madonna, welche das auf einem
Kissen schlafende Christkind anbetet (s. Abb. 1). Das
Motiv kommt ähnlich bei Bartolommeo und auch bei
Alvise Vivarini vor. Stilistisch am nächsten stehen die
Savoldis de Brisia faciebat“ eingetragen ist. Die
Haltung des jungen Mannes ist eine Wiederholung
des Aktes, welcher der ebenso bezeichneten Vene¬
zianerin in Berlin und in der National Gallery zu
Grunde gelegt ist. Das Erfinden und Komponiren
war eben Savoldo's starke Seite nicht. — Das bezeich-
nete Bild „Der zwölfjährige Christus im Tempel dis-
putirend“ von Pans Bordone (Nr. 114), früher im
Palazzo Tiepolo in Venedig, erinnert in Komposition,
Kolorit und Typen noch sehr an Tizian, insbeson¬
dere an dessen Verkündigungsbild im Dom von
Treviso.
Die Wunder des heiligen Zenobius. Gemälde von Sandro Botticelli.
Madomieubilder der Sammlung G. Frizzoni und in
der erstem Seitenka])elle links in S. Maria dell’ Orto
in Venedig. Das in späterer Zeit nie melir vor¬
kommende blasse Blau des Madonnenmantels findet
sich ebenso, wie hier, in der Kreuzigung des Museo
Correr und in dem Getlisemamjbilde der National
Giillcry. Di(! Beliandbing der flachen Landscliaft mit
langgewiindenen Wegen ist ein weiterer Beweis
Bellini’schen Urs])rimgs. Das vortrefflich erhaltene
P>ild mag um das .Jahr 1470 ausgefübrt worden sein.
l)as ansprecliende Porträt eines Flötenbläsers
iNr. 117, Besitzer Earl Amlierstj, das auf dem Rah¬
men „Giorgione“ genannt wird, zeigt im Hintergrund
ein an der Wand befestigtes Notenblatt, wozu als
begleitender Text die Signatur „Joanes Geronimus
In der New Gallery ist den Trecentisten ein be¬
sonderer Saal angewiesen, der nicht weniger als achtzig
Bilder enthält. Dass unter diesen, sofern die Schule
Giotto' s in Betracht kommt, nur die wenigsten einen
individuellen Stil aufweisen und somit benannt wer¬
den können, versteht sich von selbst. Der Name des
Gründers der Schule kann nur bei einem kleinen
Bilde in Betracht kommen, das leider nicht einmal
girt erhalten ist, nämlich bei der Darstellung Christi
im Tempel (Nr. 24, Sammlung H. Willett). Es ist
hier Gelegenheit zu interessanten Vergleichen zwi¬
schen der Richtung der Florentiner und Sienesen ge¬
boten. Besonders letztere sind in ansehnlicher Zahl
vertreten. Von Duceio di Bnoninsegna sind hier
nicht weniger als fünf echte Tafelbilder, unter denen
DIE WINTERAUSSTELLUNGEN DER ROYAL ACADEMY.
149
die Kreuzigung Christi (Nr. 21, Besitzer Earl
of Crawford), eiu figurenreiches Bild von vortreff¬
licher Erhaltung, besondere Beachtung verdient.
Die Komposition ist durchaus verschieden von der
des Mittelbildes in der „Majestas“ in Siena und
steht jener berühmten Darstellung keineswegs nach.
Von UgoUno, dem treuesten Nachfolger Duccio’s,
dessen Werke in England nicht selten, dagegen
in Siena gar nicht mehr anzutreffen sind, ist
hier eine vortreffliche Kreuzabnahme (Nr. 25, Be¬
sitzer H. Wagner). Da¬
gegen sucht man ver-
geblich nach echten
Werken des großen
Dramatikers Ambrogio
Lorenzetti und nach
denen des entzücken¬
den Novellisten Simone
Martini. Um so reicher
sind die Sieneser Quat¬
trocentisten vertreten.
Diese ebenso liebens¬
würdigen, fleißigen und
ehrlichen wie unge¬
lenken Malermeister,
die mehr Handwerker¬
naturen als Malgenies
waren, sind hier bei¬
nahe vollzählig ver¬
treten. Wohl nirgends
sonst außer in der
Stadtgalerie von Siena
findet man sie alle, so
wie hier, zusammen.
F reilich sind nicht
wenige von ihnen falsch
benannt, aber wer sich
mit ihren Werken in
ihrer Heimatstadt vertraut gemacht hat, wird sie
unschwer herauskennen, den Taddeo di Bartolo und
den Sano di Bktro, CozzarelH und Neroccio, Benvenuto
di Giovanni und Giovanyii di Baolo, sowie Matteo di
Giovanni, den man den Ghirlandajo der Schule
nennen darf, und Francesco di Giorgio, endlich die
Zeitgenossen Sodoma’s, Fungai, Facchiarotto und Giro-
lamo del Facchia, so dass von den bekanntesten nur
Beccafumi fehlt. Die letzteren muss man sich
unter den Bezeichnungen Matteo da Siena (Nr. .55),
Florentiner Schule (Nr. 210) und Cesare da Sesto
(Nr. 206) zusammensuchen.
Es erübrigt uns noch, einige Bemerkungen über
die Florentiner Meister hier anzufügen. Die Zahl
bedeutender Werke von Künstlern zweiten Ranges
aus dem Quattrocento und dem Cinquecento ist groß,
viel schwächer sind die tonangebenden Meister ver¬
treten. Masaccio und Masolino, Paolo Uccello und
Andrea del Castagno fehlen ganz, ebenso Fra Ange-
lico. Das darf nicht überraschen. Von Fiero della
Francesca ist das herrliche Mädchenbildnis aus der
Sammlung Ashburnham (Nr. 116), während die Jung¬
frau mit dem Kinde, von Engeln umgeben aus Christ
Church, Oxford (Nr.
106), demselben Mei¬
ster zugeschrieben,viel-
mehr als Werk des Fra
Carnevale zu gelten hat.
Von Fesellino, dem
hochbegabten Schüler
des Filippo Lippi, führt
Morelli - LermoliefP in
seiner fleißigen Studie
über diesen Novellen¬
maler zwölf Bilder auf.
Drei davon, die beiden
Bildchen in der Casa
Alessandri in Florenz,
glaube ich ihm ab-
sprechen zu müssen.
Ich muss mir vorl)ehal-
ten, bei einer anderen
Gelegenheit den Be¬
weis beizubringen, dass
dies Jugend werke des
Benozzo Gozzoli sind.
Von derselben Hand
ist auch das herrliche,
früher Fra Angelico,
jetzt Pesellino genannte
Bildchen der Jung¬
frau mit dem Kinde, zwei Engeln und vier Hei¬
ligen (Nr. 107, aus Dorchester House). Dagegen
sind echte Bilder des Pesellino die beiden großartig
komponirten Predellenbilder Nr. 139: Der Triumph
der Liebe, der Keuschheit und des Todes und Nr.
129: Der Triumph des Ruhmes, der Zeit und
des Glaubens, beide aus der Sammlung J. F.
Austen, ganz willkürlich dem Pier di Cosimo zuge¬
schrieben.
Bei den unter Botticellis Namen gehenden Bil¬
dern stehen Qualität und Quantität in umgekehrtem
Verhältnis. Wohl noch nie sind so viel Bilder aus
Botticelli’s Atelier zusammengebracht worden, wie
Madonna. Gemälde von Fea Bartolommeo.
150
DIE WINTERAUSSTELLUNGEN DER ROYAL ACADEMY.
hier in der New Gallery. An erster Stelle ist der
Tod der Lucretia ans der Sammlung Ashburnham
zu nennen (Nr. 160), nur schade, dass alle Köpfe
durch eine arge Restauration entstellt sind. Übrigens
ist die Komposition durchaus verschieden von der
gleichfalls echten Darstellung des Gegenstandes in
der Sammlung Morelli in Bergamo. Zwei herrliche
Predellenstücke Bofticelli’s aus seiner Jugendzeit mit
Scenen aus dem Leben des heil. Zenobius sind in
der Royal Academy ausgestellt, Nr. 158 und Nr. 164
(aus der Sammlung L. Mond). Die Komposition ist
auch hier völlig verschieden von der Darstellung
desselben Gegeu.staiides durch Botticelli in der Dres¬
dener Galerie. In dem letzteren Bilde ist die Aus¬
führung weniger sorgfältig, die Zeichnung der Köpfe
nicht so präzis. Auf der beigegebenen Abbildung,
welche die Mittelgruppe des einen Bildes darstellt,
ist eine Legende illustrirt, nach welcher der Heilige
im Borgo Albizzi den aus dem Fenster gestürzten
Knaben einer französischen Dame ins Leben zurück¬
ruft (s. Abb. 2). Der Gegenstand bringt es mit sich, dass
Botticelli in diesen Bildern sein künstlerisches Ver¬
mögen im glänzendsten Lichte zeigt. Niemand
hat es so wie er verstanden, die ganze Aufgeregt-
heit der Nachkommen der alten Römer so drama¬
tisch und so wahr darzustellen. Es ist das innere
voll pulsirende Lebeii des Renaissancemenschen, das
in Mienen und Gesten seinen adüq^ialcn Ausdruck
findet, was diesen Schöpfungen Botticelli’s einen
klassischen Wert giebt, hoch erhaben über dem
fratzenhaften Zerrl)ild des am Corso herumlungern¬
den modernen Bramarbas.
Den Ehrenplatz unter den Cinquecentisten hat
eine königlich thronende Jungfrau mit dem Christ¬
kind und dem Johannesknaben (Nr. 216, Besitzer
L. de Rothscliildj von Andrea dcl Sario, ein Bild,
das alle vortrelflichen Eigenschaften des „pittore
senza falli“ besitzt, und dem nur das Beste, das
sfumato, fehlt. Manche moderneRestauratoren scheinen
sich mit der Beseitigung d(!sselben einen Ruf er¬
werben zu wollen. Wir brauchen nur an den
St. Sebastian der Pittigalerie zu erinnern. Doch der
Pall Rothschild ist nicht ganz so schlimm.
Zu den Seiten dieses Madonnenbildes hängen
zwei andere aus der Northbrook Gallery (Nr. 211
und Nr. 217), von denen das eine dem Giulio Romano,
das andere dem Fra Bartolommeo zugeschrieben ist.
Unrichtig sind beide Benennungen und merkwürdig
ist dabei nur, dass beide so verschieden benannte
Bilder von der Hand eines und desselben Malers sind,
eines Dritten, des bekannten Florentiners Perin del
Vaga, der zu den hervorragendsten unter den Schülern
Raffael’s gehörte. In jeder Beziehung stimmen diese
Bilder stilistisch und koloristisch überein mit dem
großen bezeichneten Altarwerk Perino’s, das unlängst
aus der Dudley Gallery in die des Sir Francis Cook
in Richmond gelangte.
Wenn Bilder von Schülern Raffael’s und selbst
von Genga, wie wir oben gesehen haben, dem Fra
Bartolommeo zugeschrieben werden, so ist das ein Be¬
weis dafür, dass dieser große Florentiner in England
sehr ungenügend bekannt ist. In der That finden
sich nur drei Bilder seiner Hand im Lande, zwei
davon in der New Gallery: eine große heil. Familie
(Nr. 239) und ein Jugendbild in kleinem Format mit
demselben Gegenstand (Nr. 250), beide aus der Samm¬
lung L. Mond. Das erstgenannte Bild stammt offen¬
bar aus der Zeit seiner persönlichen Beziehungen
zu Raffael Avährend dessen Aufenthaltes in Florenz.
Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass in dieser
Wechselbeziehung der jüngere nur der gebende, der
ältere nur der empfangende Teil gewesen sei. Ich
möchte jenes Madonnenbild, das Fra Bartolommeo’s
Kunstvermögen auf seiner Höhe zeigt und von
dessen Hauptfigur die beigegebene Abbildung eine
A^orstellung giebt (s. Abb. 3), zu jenen Werken rechnen,
aus denen sich das Gegenteil obiger Behauptung ab¬
leiten lässt. Beiläufig sei noch bemerkt, dass im
Hintergrund der Maler sich selbst dargestellt hat,
im Rücken gesehen, wie er mit zwei Gehilfen ein
Fresko über einem Thorwege ausführt.
JBJAN PAUL RICHTER.
Salome. Mavmorstatue von Max Klixgee. Kopf der Salome. Von Max Klinger.
KLEINE MITTEILUNGEN
* Der aus einer Trientiner Familie stammende Wiener
.Maler Ferrij Berat on (eigentlich Peratoner), von dem wil¬
den Lesern heute zwei Bilder in getreuen Nachbildungen
vorfuhren, war kurze Zeit Schüler der Wiener Akademie
und Hans Canon’s, lebte dann zwei Jahre hindurch in
Venedig im steten Ver¬
kehre mit Zezzos, Tito,
Fragiacomo, F avretto und
anderen ausgezeichne¬
ten italienischen Künst¬
lern, verdankt aber seine
höhere Ausbildung vor¬
zugsweise einem längeren
Aufenthalte in Paris, wo
er bei Carolus Duran für-
dersame Unterweisung,
in Manet, de Nittis u. a.
die ihm sympathischen
Vorbilder fand. „Natur,
Natur und das Sehen mit
eigenen Augen“: das
wurden nun auch für ihn
die Wegweiser zu seinen
künstlerischen Zielen. Im
„Salon“ machte das Bild¬
nis einer amerikani¬
schen Sängerin entschie¬
denes Glück; in einer
internationalen Ausstel¬
lung zu Nizza errang Be-
raton mit seinem Bilde:
„Der Krankenbesuch“
eine zweite Medaille.
Porträt- und Genrebil¬
der sind seitdem die bei¬
den bevorzugten Darstel¬
lungsgebiete des Künst¬
lers. Die Theaterwelt
schilderte er in seinem
Bilde: „Hinter den Cou-
lissen“, das intime Leben
des Volks in den beiden von uns mitgeleilten , schlicht und
ansprechend erzählten Scenen, das lustige Treiben im Prater
und in den Wiener Vorstadtschenken in den Gemälden: „Bei den
Grinzingern“, „Alt-Wien auf der Theater- und Musikausstel¬
lung“ u. a. Zu den neueren Porträts von Beraton zählen
/. B. d:is des verstorbenen Kantors Siilzer, des Herrn Ad.
Im Sturm. Gemälde von F. Beeaton.
V. Goldschmidt, des Sängers Blauwaert, des Herrn Erzherzogs
Ferdinand und der Sängerin Bellincioni. Die einfachste,
treffendste Übersetzung der Natur ohne die Kleinlichkeiten
der sogenannten realistischen Detailmalerei: das ist es, was
der Künstler anstrebt. Er verschmäht jede Pinsel Virtuosität;
das Wesen der Dinge,
das Innere des Menschen
sucht er mit aller Hin¬
gebung zu erfassen.
= Leipzig. Auf Seite
151 bringen wir zwei Ab¬
bildungen des von der
Stadt für das Museum
angekauften Marmorwer¬
kes Salome von Alax
Kiinger, über welches in
der „Kunstchronik“ be¬
reits mehrfach berichtet
worden ist (Nr. 8, S. 125;
Nr. 13, S. 206 u. 208).
Moderne Bilderpreise.
Aus dem Bericht , der
der sächsischen 2. Kam¬
mer über die Erwerbun¬
gen der Dresdener Ga¬
lerie in den letzten beiden
Jahren vorgelegt worden
ist, entnehmen wir fol¬
gendes über die gezahl¬
ten Preise ; es wurden ge¬
kauft: „Predigt in einer
Berliner Kirche“ von
Adolf Menzel für 14500
Mk., „ImMorgenrat“ von
Robert Haug für 17000
Mk., „An der Heerstraße“
von Wilhelm Diez in
München für 7000 Mk.,
„Die heilige Nacht“ von
Fritz Uhde für 16500 Mk.,
„Der Hüter des Thaies“
von H. Thoma in Frankfurt a. M. für 5000 Mk., „Pieta“ von
M. Kiinger für 5000 Mk., impressionistische Flusslandschaft von
Harrison für 3000 Mk., „Der Lootse“ von Krohg für 3000 Mk.,
„Fuchs im Schnee“ von Liljefors für .3300 Mk., ferner „Sommer“
von Makart für 50000 Mk., der „Christus am Kreuz“ von Mun-
kaczy für 45000Mk., die,,Cirkusscene“ vonKnaus für 35000Mk.
Herausgeber: Curl von I/iUzoiv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Iieii)zig.
■■ p I I • 1 Ml /4S< I .„-l ..c» . . . UTl*
7err7 BeratOD p. Beliogr.7 J.I.öw
AÜF DEM HEIMWEGE.
■■ ^ . A.RoeTiianri., Leip
Druck V F. A.Br o cldiau s . 1 eip i ;
aiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiHiiiHiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiliiiiiiiiiiiiiiiiHiimiiiuiiiiuiiiiiiiiiiiiiiii»iiiiiiiiiiiniiiiiiiaiiiiiiuiiiiiiiiHiiiiiiiuiiiiiuiiiiHiiiiii.iiMiiMHiiiuiliiiitHfl^ I
DIE REITERSTATUETTE KARL’S DES GROSSEN.
VON G. WOLFRAM.
MIT ABBILDUNG.
IE Frage, ob die Reiter¬
statuette Karl’s des Großen
ein Bildwerk der karolin¬
gischen Zeit sei oder nicht,
hat nach ihrer geschicht¬
lichen wie kunstgeschicht¬
lichen Seite hin eine hervor¬
ragende Bedeutung. Für den
Historiker handelt es sich darum zu wissen, ob die
markanten Züge dieses Bildes zur Charakteristik
des großen Karolingers benützt werden dürfen, für
den Kunsthistoriker wird je nach der Bejahung oder
Verneinung der Frage die Beurteilung der karolin¬
gischen Renaissance wesentlich zu modifiziren sein;
überragt doch das kleine Werk in Auffassung und
Ausführung derart alle Denkmäler des 9. Jahrhun¬
derts, dass auch die Verteidiger der karolingischen
Provenienz zugeben müssen, es stehe unter den
Kunstwerken jener Zeit einzig da.
Die Statuette war bis zur französischen Revo¬
lution in der Kathedrale zu Metz, wo sie nebst einer
zweiten gleichen Figur in Silber seit 1634 nach¬
weisbar ist. Mit der Revolution verschwinden beide
Figuren und die bronzene taucht dann, nachdem sie
in der Zwischenzeit durch verschiedene Hände ge¬
gangen ist, als Eigentum einer Mad. Evans Lomb
auf der Pariser Weltausstellung von 1867 wieder
auf. In seiner illustrirten Geschichte brachte Stacke
eine Abbildung des W^erkes und hierdurch angeregt
1) Stacke, Deutsche Geschichte, I, 142.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 7.
versuchte als erster Dombaumeister Tornow mit aller¬
dings unhaltbaren Gründen in einem Vortrage zur
Winckelmannsfeier in Bonn den Reiter der karolin¬
gischen Zeit wissenschaftlich zuzuweiseu. Die eisass¬
lothringische Regierung ließ auf seine Autorität
gestützt zwei metallene Nachgüsse der Figur für
die Kathedrale und Kaiser Wilhelm I. anfertiffen.
Als aber Essenwein in einer Eingabe das Werk für
eineFälschung des 19. Jahrhunderts erklärte suchte
Tornow bei Professor Aus’m Weerth wissenschaft¬
liche Unterstützung und letzterer bringt thatsächlich
in gelehrter Ausführung den Nachweis, dass die
Figur karolingisch sei. 3) In weiten Kreisen sind Aus’m
WeertlTs Argumente angenommen worden und fast
keine der zahlreichen illustrirten Geschichten hat sich
seitdem das kleine Bildnis als „gleichzeitiges Porträt
Karl’s des Großen“ entgehen lassen. ‘‘) Die stimm¬
führenden Vertreter der deutschen Kunstwissenschaft
blieben freilich auch jetzt noch in vorsichtiger Zurück¬
haltung oder widersprachen sogar direkt der Mög¬
lichkeit einer karolingischen Provenienz.^) Da nahm
1) Vgl. Aus’m Weerth, Jahrbücher des Vereins für Alter¬
tumsfreunde im Rheinlande, Heft 78. Bonn 1884.
2) Bericht vom 15. November 1882 an d. Staatssekretär
V. Hoffmann.
3) S. oben.
4) Eine Aufzählung dieser Besprechungen und Abbildun¬
gen bei Wolfram, Die Reiterstatuette Karl’s des Großen aus
der Kathedrale zu Metz, Straßburg 1890, S. 3 (künftig citirt
als „Reiterstatuette“).
5) Schnaase, Kunstgesch., 2. Aufl., Band III, 624, Anm. 4
(schon vor Erscheinen von Aus’m Weerth’s Arbeit); Lübke,
20
154
DIE HEITERST ATUETTE KARL’S DES GROSSEN.
von neuem Paul Clemen Aus’m Weerth’s Beweis¬
führung auf und vertiefte dessen Argumente nicht
unwesentlich.’) Freilich kam auch er nicht um das
Eingeständnis herum, dass kunsttechnisch das Werk
im 9. Jahrhundert keine Parallele habe und wusste
wie Aus'm Weerth dieses kunstkritisch schwere Be¬
denken nur durch die Erwägung zu bekämpfen, dass
die Figur ob ihrer Zeittreue in Kostüm und Beigaben
keiner anderen Epoche zugeschrieben werden könne.
Ich habe diesen kunsthistorischen Erwägungen
gegenüber untersucht, ob sich vom rein geschichtlichen
Standpunkte aus die Zeitstellung Clemen’s rechtfer¬
tigen lasse, und bin zu einem verneinenden Resultate
gekommen. 2) Auf die Einwendungen Clemen’s 3)
hiergegen habe ich wiederholt geantwortet^) und
da die Behandlung der Frage nach diesen Gesichts¬
punkten allgemeineres Interesse hervorgerufen hat ^),
so wird es gerechtfertigt erscheinen, wenn heute
das Für und Wider in berufenem Organ zusammen¬
gestellt und dem Urteil der maßgebenden Kreise
unterbreitet wird.
Die Untersuchung hat zwei scharf gesonderte
Fragen zu beantworten: 1. Ist die Statuette karo¬
lingisch? 2. Wenn das nicht der Fall ist, in welche
Zeit gehört sie dann?
(Jesch. der deutschen Kunst, S. 4.5, Anm. 2; Essenwein, Hand-
schriftl. Gutachten; Bode, Gesch. der deutschen Plastik, er¬
wähnt das Werk nicht unter den karol. Denkmälern, eben-
sowenif' v. Falke, Gesch. des deutschen Kunstgewerhes.
1) P. Clemen, Die Porträtdarstellungen Karl’s des Großen.
Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins XI, 185 tf.
2) S. oben Pieiterstatuette.
'■}) Zeitschrift des Aachener Geschichts Vereins XII, 230 ff.
Kejiertorium für Kunstwissenschaft XITI, 6. Studien über
merowingische und karolingische Plastik.
4) .lahrbuch der Gesellsch. für lothr. Gesch. und Alter¬
tumskunde III, 321 tf. Ebenda IV, 233 ff.
.5) Ich fand Zustimmung bei Lübke, Beilage der Mün-
cliencr Allg. Zeitung, 1891; Kraus, Rei)ertoi'ium 111, G und
Iteutsclie Litteraturzeitung vom 17. Oktober 1891; Schlosser,
Zcitschr. des Instituts für österr. Geschichtsforschung, 1890,
S. 3 1.3 ff. ; Riegel, Mitteil, des k. k. österr. Museums für Kunst
und Industrie, 1890, S. 244; Bourgeois, Ann. de l’Est, 1890,
Heft 3. Wenn ich schriftliche Äußerungen erwähnen darf;
Scheffor-Boichorst, Lorenz, D. Schäfer, A. Schulte, W. Wie¬
gand, A. Schricker. In weiteren Kreisen wird es auch inter-
e.‘.siren, dass Fürst Bismarck, der seiner Zeit von der eisass¬
lothringischen Regierung einen Abguss der Statue erhielt,
sich mit der Frage beschäft'gt hat. Se. Durchlaucht schreibt
mir am 19. Dezember 1890: Euer hochwohlgeb. Schrift über
die .Metzer Statuette habe ich mit Interesse gelesen, um so
mehr, als ich die Kopie jenes Werkes hier in Friedrichsruhe
besitze. Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass das Bildwerk
einer späten Zeit angehöif und bitte Sie, für Ihre freund¬
lichen Mitteilungen meinen verbindlichsten Dank entgegen¬
zunehmen. V. Bismarck.
Als wichtigstes positives Argument für die karo¬
lingische Herkunft der Figur tritt bei Aus’m Weerth
und Clemen in den Vordergrund: die Figur stimmt
durchaus mit der Schilderung Einhard’s von Karl
dem Großen überein und weiter: Tracht und Bei¬
gaben sind karolingisch.
Bevor ich auf diese Beweisführung im einzelnen
eingehe, schicke ich einige Erwägungen allgemeinerer
Art voraus. Aus’m Weerth ist der Ansicht, dass
die Figur nur in der bald nach Karl’s Tode einge¬
gangenen Aachener Gießhütte entstanden sein könne,
Clemen will sich zeitlich nicht so eng binden und
giebt eine weitere Frist bis etwa 840. Er will auch
(obgleich er damit einen Teil seiner Argumente selbst
hinfällig macht) nicht darauf bestehen, dass das Karl
sein müsse, sondern sieht nur einen der älteren Karo¬
linger in der Figur. Welcher sollte das sein?
Ludwig der Fromme keinesfalls. Sagt doch von
ihm sein Biograph Thegan ’), er sei nur von mäßiger
Gestalt gewesen, die Reiterfigur zeigt aber eine Per¬
sönlichkeit, von der Clemen selbst erwiesen hat, dass
sie über das gewöhnliche Maß hinausragt. Also viel¬
leicht Karl der Kahle? Der wurde 825 geboren und
war 840 erst 15 Jahre alt. Nach Clemen’s Ansicht,
der ich beipflichte, ist aber der Reiter mindestens
ein Vierziger. 2)
Oder Pipin? Der ist nie Kaiser gewesen. Einem
Teilkönige aber — diese Auffassung wird nicht
bestritten werden — hat die Anschauung jener Zeiten
niemals das Symbol der Weltherrschaft, den Reichs¬
apfel, zuerkannt.
Es bleibt sonach nur Lothar übrig. Der war
thatsächlich 817 Mitkaiser geworden und um 840
hatte er wohl das Alter, das der Bildner seiner
Reiterfigur gegeben hat. Sollte er aber zu Lebzeiten
des Kaisers die vollen Symbole der kaiserlichen Herr¬
schaft geführt haben? Das ist doch kaum anzu¬
nehmen; es müsste denn in jenem traurigen Jahre
gewesen sein, als er den Vater zur Abdankung ge¬
zwungen hatte. Diese Zeit passt aber wieder nicht
zu dem Alter, das in den markanten Zügen und der
Haltung der Figur ausgeprägt ist.
Was aber die Möglichkeit all dieser Annahmen
wesentlich beschränkt, das ist, dass der ganze Be¬
weis, der für die karolingische Herkunft der Figur
auch von Clemen geführt wird, in einem wesent¬
lichen Teile ausschließlich auf die Person Kari’s des
Großen zugespitzt ist. Seine Figur, sein Kopf, sein
1) Vita Ludov. cap. 19.
2) Karol. und merow. Plastik, 57 u. 140.
DIE REITERSTATÜETTE KARL’S DES GROSSEN.
155
Nacken, seine Angen sollen in der Figur porträtirt
sein, und wenn deinen auch nur schließt, „das kann
Karl sein“, so hat er doch das Argument der Iden¬
tität zwischen litterarischer Schilderung und Bronze¬
porträt bei seiner Beweisführung nicht verschmäht.
Ich meine, wenn man überhaupt von karolingischer
Provenienz sprechen will, so kann nur Aus’m Weerth’s
bestimmt geäußerte Ansicht in Betracht kommen:
das ist Karl der Große selbst.
Wie aber weiter? Waren die Künstler jener
Zeit fähig, ein Porträt nach dem Tode eines Mannes
lediglich aus der Erinnerung herzustellen, ein Por¬
trät noch dazu in retrospektiver Darstellung, das
einen Mann in den besten Jahren giebt, der ihnen
nur als 72 jähriger Greis vor der Seele stand? Das
darf wohl ohne weiteres verneint werden. Dieses
Porträt kann nur zu Karl’s Lebzeiten gefertigt sein
und zwar in einer Zeit, in der der König ca. 40 bis
50 Jahre zählte. Das ist zwischen 782 und 792.
Die karolingische Renaissance ist durch Karl
persönlich geschaffen, sie hat unter ihm erst ihre
Anfänge genommen und zwar wird sich das Jahr
781 als Geburtsjahr bezeichnen lassen. Soll nun
bei diesen ersten tastenden Versuchen das bedeu¬
tendste Werk der Zeit, das den Höhepunkt der ganzen
Entwickelung bezeichnet, entstanden sein ? Und weiter:
Karl führt den Reichsapfel, das Symbol der Welt¬
herrschaft, des Kaisertums. Erst 800 aber ist Karl
Kaiser geworden!
Und noch eine Erwägung muss hier Platz
finden. Einhard, der Schützling und Freund des
großen Königs, hat versucht, ein lebenswahres Bild
seines eben verschiedenen Herrn zu zeichnen und
nichts erscheint ihm für diesen seinen Zweck zu
geringfügig: bis auf die Binden der Schuhe erstreckt
sich seine eingehende Schilderung. Und bei diesem
heißen Bemühen, eine Gestalt nach dem Leben zu
schaffen, sollte Einhard das Kunstwerk vergessen
haben, das besser als aUe Federn der Welt das Bild¬
nis des großen Kaisers überlieferte, derselbe Einhard,
der nach seinem Beinamen Beseleel, — d. i. der Mei¬
ster, den der Herr erfüllt hat, künstlich zu arbeiten in
Gold, Silber und Erz — zu urteilen, ein doppeltes
Interesse für jenes Wunderwerk der Metalltechnik
haben musste!
Wenn ich jetzt auf die Argumente eingehe,
die Aus’m Weerth und Giemen für ihre Ansicht bei-
bringen, so ist das erste, die Übereinstimmung der
ligur mit den zeitgenössischen Schilderungen von
Karls Persönlichkeit, durch Giemen selbst, wie ge¬
sagt, schon erheblich erschüttert. Das zweite:
Tracht und Beigaben der Figur sind karolingisch,
hat gleichfalls so allgemein der Kritik nicht stand¬
halten können. Ich habe gezeigt, dass die kurzen
Stirnlocken, die Krone, der Mantel, die Heftung des
letzteren auf der rechten Schulter, die Schuhe an
den Füßen in derselben Art auch zur Zeit der Otto-
nen, teilweise sogar der salischen Kaiser sich er¬
halten haben.*) Nur in einem musste ich Giemen
bisher recht geben : die kurze Tunika und die Bein¬
binden sind zu keiner anderen Zeit nachweisbar, ja
sie finden sich sogar nur bis 840. Heute kann icli
auch diesen Halt, auf dem der Glemen’sche Beweis
noch einigen Untergrund fand, beseitigen. Linden-
schmit zeigt in seinem Handbuch der deutschen
Altertumskunde 2) , dass die Beinbinden sich bis in
das 11. Jahrhundert hinein behauptet haben, und
dieselben Bilder, mit denen dieser Satz illustrirt wird,
bringen die kurze Tunika.
Damit ist der gesamte Beweis Aus’m Weerth’s
und Glemen’s haltlos geworden. Die Übereinstimmung
der Figur mit der Schilderung der Zeitgenossen be¬
rechtigte lediglich zu dem Schlüsse: das kann Karl
sein; das Kostüm beweist ebenso nichts weiter als:
das kann karolingisch sein. Wenn dem nun gegen¬
übersteht, dass bezüglich der Technik die Figur im
9. Jahrhundert keine Parallele hat, mit anderen Wor¬
ten, dass der Stand der Technik des 9. Jahrhunderts
einem derartigen Guss nicht gewachsen war, so ist
die einzig mögliche Folgerung: in das 9. Jahrhundert
gehört diese Figur nicht.
Nach Beseitigung der Gründe, die die Figur in
das 9. Jahrhundert wiesen, werden diejenigen um
so wirksamer sein, die eine derartige Möglichkeit
geradezu ausschließen.
Unter den Beigaben haben Aus’m Weerth und
Giemen keine Rücksicht auf den Reichsapfel und das
Schwert, das der Reiter führt, genommen. Gerade
diese beiden Stücke aber sind für die Zeitstellung
der Figur von entscheidender Bedeutung.
Wir haben aus dem 9. Jahrhundert verschiedene
Berichte, die die Reichsinsignien gelegentlich des
Thronwechsels aufzählen. **) Da ist ausschließlich
von Krone, Scepter und Stab, vielleicht auch vom
Schwerte die Rede, nie aber vom Reichsapfel. Giemen
hat dieser Bemerkung nichts weiter entgegenzusetzen
gewusst, als dass der Reichsapfel auch späterhin bei
Kaiserkrönungen nur selten Erwähnung finde, ob-
1) „Reiterstatuette“ S. 6 ff.
2) S. 342—343.
3) S. die Zusammenstellung derselben in „Reiterstatuette“
S. 9 ff'.
2U*
156
DIE REITERSTÄTUETTE KARL’S DES GROSSEN.
«rleich er dann anderweit sicher nachweisbar sei.
Das Pomum sei eben nur eine Beigabe, nicht Insignie
gewesen. Der Einwand ist hinfällig. Einmal wird
das Pomum später doch überhaupt erwähnt, wenn
das auch nach Clemen’s Ansicht „nur selten“ ge¬
schieht. Sodann aber sind aus früherer Zeit nicht
nur Berichte über die feierliche Übergabe der In¬
signien, sondern auch verschiedene gleichzeitige Schil¬
derungen von Königen
im Ornat, wie es hei
feierlichen Gelegenhei¬
ten getragen wurde, über¬
liefert. W enn da auch der
Reichsapfel nur Beigabe
gewesen wäre, so hätte
hier der Berichterstat¬
ter doch keinen Grund,
ihn zu verschweigen;
auch der Mantel gehört
nicht zu den Insignien
und wird doch erwähnt.
So malt uns Einhard
Karl den Großen, The-
gan Ludwig den From¬
men '), der Fuldaer An¬
nalist Karl den Kahlen 2),
fast jedes Stück der
Kleidung, jede Beigabe
wird geschildert, vom
Ajtfel ist nirgends die
Rede. Meines Wissens
hat in litterarischen
Quellen das Pomum znm
ersGinmal zur Zeit Hein-
rich’s 11. Erwähnung ge¬
funden. -'j I’apst Bene¬
dikt VIII. überreicht
ihn im Jahre 1014 dem
Könige hei der Kaiser¬
krönung als Symbol der
belierrschten Welt. Aber
bezeichnend genug für
die Bedeutung, die Heinrich der Gabe beilegt: er
ül>ersendet sie dem Kloster Glugny. Das spricht
nicht dafür, dass eine alte Tradition dem deut-
1) V. llludovici imp. c. 19 M. (i. SS. II, 54.5.
2) Ann. Fuld. M. (1. SS. I, 380.
3) Kodulf. Glahr. 1, 5, p. 59. Adeinar III, 37, p. 1.33 (nach
Waitz, Verfa.ssun"sgeHch. VI, 220 n. 5. Unter den Kleinodien
zuerst erwähnt von Ekkehard 1100, S. 231 (Waitz ebenda, n. 0).
sehen Könige das Pomum auch nur als Beigabe be¬
sonders wertvoll gemacht hätte.
Von vielleicht noch größerer Beweiskraft als die
litterarischen Quellen sind die künstlerischen Dar¬
stellungen der karolingischen und nachfolgenden Zeit.
In erster Linie kommen unter ihnen die Abbil¬
dungen Karl’s des Großen selbst in Betracht und
da ergieht sich, dass weder die im 9. Jahrhundert
entstandenen und die auf
diese zurückgehenden
Bilder noch Darstel¬
lungen einer späteren
Zeit, die nach der Schil¬
derung Turpin’s arbei¬
tete, den Kaiser mit dem
Reichsapfel wiederge¬
ben.') Das Resultat ist
um so charakteristischer,
als anderen Herrschern
seit der KaiserzeitOtto’sI.
das Pomum stets von
den Künstlern beige¬
geben wird; dieser Ge¬
gensatz lässt sich nur
so erklären, da.ss der
Einfluss der alten Tra¬
dition bezüglich dieser
augenfälligenAußerlich-
keit mächtig genug war,
um im Gegensatz zur
Sitte der Zeit das Fehlen
des Pomums geradezu
als Charakteristicum des
großen Karolingers er¬
scheinen zu lassen.
Die Darstellungen
anderer Herrscher aus
karolingischer Zeit be¬
stätigen das bisherige
Resultat: bis zur Kaiser¬
krönung Otto’s 1. tritt
uns kein Herrscherbild¬
nis mit Reichsapfel entgegen, Besonders bewei¬
send ist hier das gewissermaßen offlzielle Material
der Siegelbilder: Arnulf, Ludwig das Kind, Konrad L,
Heinrich L, Otto 1. in seiner Königszeit tragen statt
des Pomums einen Schild. Die Bücherminiaturen stim¬
men hiermit durchaus überein. Nur eine Ausnahme
1) Zusammenstellung in Jahrb. III, 327 ff.
2) Ebenda.
DIE REITERSTATUETTE KÄRL’S DES GROSSEN.
157
findet sich auf letzterem Gebiete ; Karl der Kable
erscbeint auf dem Widmiingsbilde eines Psalters ’)
mit dem Reicbsapfel. Das lässt sieb jedoeb recht
wohl historisch erklären: der Reicbsapfel ist ursprüng¬
lich Attribut der byzantinischen Kaiser. Nun ist
gerade Karl der Kable derjenige, der im scharfen
Gegensatz zu seinen Vorgängern, insbesondere zu
Karl dem Großen, welch letzterer nur zweimal in
seinem Leben auf ausdrückliche Bitte des Papstes
nach Ablegung der fränkischen Tracht in römischer
erschien, dem byzantinischen Kleiderpomp im Abend¬
lande Eingang verschaffte. Novos et incolitos mores!
sagt der Fuldaer Annalist“) und fährt dann fort:
omnem enim consuetudinem regum Francorum con-
tempnens Graecas glorias optimas arbitrabatur et ut
majorem suae mentis elationem ostenderet ablato
regis nomine se imperatorem et augustum omnium
regum cis mare cousistentium appellare praecepit.
Der symbolische Ausdruck dieser überspannten An¬
sprüche war für den Maler das byzantinische Ponmm;
damit ist noch nicht einmal gesagt, dass der Kaiser
selbst es jemals geführt hat.
Clemen glaubt gegen die Bedeutung dieses Be¬
weises für die Zeitstellung der Statuette drei Fälle
„herausgreifen“ zu können, die das lästige Argument
widerlegen.
Nach seiner Angabe findet sich das Pomum
1. auf einer Elfenheinpyxis des 7. Jahrhunderts;
2. im Utrechtpsalter, Fol. 114;
3. im Cod. 384 der Bibi. comm. zu Camhray, „der
in den letzten Jahren des 8. und den ersten des
9.* Jahrhunderts in Tours, also mitten im Herzen
des Karolingerreichs geschrieben ist.“
Der erste Fall kommt hier überhaupt nicht in
Betracht. Eine Elfenheinpyxis des 7. Jahrhunderts,
deren Herkunft noch dazu unbekannt ist, beweist
nichts gegen die karolingische Sitte des 9. Jahr¬
hunderts.
Der zweite Fall beruht auf einem sonderbaren
Irrtum. Was Clemen für ein Pomum ansieht, ist ein
perspektivisch verzeichneter Rockärmel. Das ist keine
subjektive Interpretation der Linien: wie ich mich
überzeugte, malt der Illustrator des öfteren seine
Rockärmel mit genau demselben Ungeschick, auch
wenn es nicht Könige sind, die er darstellt. '^)
1) Pariser Nationalbibi Nr. 152. Abbildung bei Louandre,
les arts somptuaires.
2) Ann. Fuld. M. G. SS. I, 389.
3) Ich verglich die vorzüglichen Photographieen des
Codex im Brit. Museum. Eine Durchzeichnung des Originals
zu Utrecht konnte leider nicht gestattet werden.
Das dritte Beispiel widerlegt Janitschek: Durieux
hatte das Bild in das 10. Jahrhundert gesetzt. Da-
ffesen wendet er sich und sagt: schon nach den
ornamentalen Motiven der Bildumrahmuug — falls
dieselbe mit annähernder Treue wiedergegebeu —
muss auf die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts als
Entstehungszeit geschlossen werden. Wie ich ge¬
zeigt habe, sind dies — und zwar dies allein —
die Jahre, in denen sich das Vorkommen des Po-
mums aus den politischen Verhältnissen erklären
lässt. Für diese Zeit aber ist das Entstehen der
Statuette selbst nach Clemen’s Ansicht völlig aus¬
geschlossen.
Schließlich hat Clemen in seiner letzten Er¬
widerung auch ein Beispiel für die Existenz des
Pomums in frühkarolingischer Zeit (vor 840!) beige-
bracht: das Widmungsbild des karolingischen Evan¬
geliars von S. Vaast soll den Reichsapfel tragen und
für die Datiruug des Werkes beruft er sich auf
Delisle. ') Da ich weder das Original einsehen noch
der Arbeit Delisle’s habhaft werden konnte, wandte
ich mich, um Clemen’s Angabe zu kontrolliren, an
Delisle selbst und der berühmte Paläograph gab mir
in Lebens würdig.ster Weise folgende Auskunft: La
date de l’evangeliaire de S. Vast ne peut etre deter-
minee qu’approximativement. C’est un des plus
beaux monuments calligraphiques du IX® siede. Je
le crois du tcnips de Charles le Ghauve.
Damit ist die letzte Stütze, die Clemen seinem
Gegenbeweis untergeschoben hatte, beseitigt. Ja noch
mehr: das Beispiel ist ein weiteres Argument für
meine Annahme geworden, dass lediglich der persön¬
liche und politische Größenwahn Karl’s des Kahlen
die Beigabe des Reichsapfels auf Königsbildern einige
Male veranlasst hat. Weder vorher noch nachher,
bis zur Kaiserkrönung Otto’s 1. ist die Insignie auf
Herrscherbildern verwendet worden. Doch der Reichs¬
apfel ist nicht der einzige Anachronismus, der sich
an der „karolingischen“ Statuette nach weisen lässt,
so sonderbar es zunächst auch scheinen mag — das
in der Hand aufrecht gehaltene Schwert steht dem
Pomum in dieser Beziehung gleich.
Selbstverständlich haben die Könige jederzeit
das Schwert geführt und auch an Darstellungen —
litterarischen wie bildlichen — fehlt es nicht, die
dem Herrscher eine derartige Waffe in die Hand
geben. Aber es ist doch zweierlei, ob Schriftsteller
und Künstler den König mit den Abzeichen seiner
Würde darstellen oder als kämpfenden Kriegsmann
1) Merow. u. karol. Plastik 144.
158
DIE REITERSTATUETTE KARL’S DES GROSSEN
vorführen. Als Herrsch ersymbol aber begegnet das
Schwert in der Hand des Herrschers auf den bild¬
lichen Darstellungen der Karolingerzeit nie. Auf
Miniaturen habe ich es sogar bis in die Zeit Lud-
wig’s des Bayern nicht finden können, auf Münzen
ist es mir unter Konrad HL zum erstenmal begegnet
und die offiziellen Siegelbilder lassen es den Minia¬
turen entsprechend erst seit der Mitte des 14. Jahr¬
hunderts aufkommen.
Bezüglich der litterarischen Quellen liegt die
Sache allerdings etwas anders. In den Berichten
über Königsinvestituren wird schon zu karolingischer
Zeit das Schwert erwähnt, aber dieser scheinbare
Widerspruch im Vergleich zu den Darstellungen
findet seine Erklärung darin, dass das Schwert ge¬
wissermaßen nur Insignie zweiten Ranges gewesen
ist.’) Das beweist die Schilderung Ludwig’s des
Frommen durch Thegan: das Schwert trägt der König
an der Seite, das Scepter in der Hand. Auch die
Darstellungen der Vivianusbibel rechtfertigen diese
Auffassung: Karl der Kahle selbst hält das Scepter,
als Schwertträger sind besondere Figuren ein¬
gezeichnet, die hinter dem König stehen.
Die Beseitigung dieses Argumentes hat sich nun
Clemen recht leicht gemacht: einen Kampf gegen
Windmühlenflügel nennt er die Ausführung, denn
er glaubt den urkundlichen Beweis gefunden zu
haben, dass das Schwert der Statuette eine moderne
Ergänzung von Alexander Lenoir sei. „Die Öff¬
nung in der geballten Hand weist vielmehr auf
ein langes Schwert.“ Die „urkundliche“ Bestätig¬
ung liefert ihm ein Schreiben des Herrn Jules Cou¬
sin vom 25. März 1892, in dem der Franzose sagt:
Fepee a ete ajoutee du temps d’Alexandre Lenoir
vers 1819—1820.
Dass dieser Brief ein „urkundlicher“ Beweis sei,
ist eine etwas sonderbare Auffassung. Woher weiß
diis .Iiiles Cousin? Und zudem: Wenn A. Lenoir
wirklich das Schwert ersetzt hat, wer sagt Clemen,
dass vorher ein Scepter in der Hand gewesen ist?
Das aus dem Loch sehen zu wollen, ist doch mehr
als kühn. Ich habe oben ausgeführt, dass zwei
Statuetten in der Kathedrale waren, eine silberne
und eine bronzene; von ihnen war die eine Nach¬
guss der andern. Die silberne nun hat nach dem
Gericht von Mcurisse schon im Jahre 1G34 — 200
Jahre vor Lenoir — das Schwert gehalten; ist es
1) Auch Wait/. , Verfiissungsgesch. VI, 227, nennt als
„wiclitigste Insignien“ Krone und Scepter.
2) Den Beweis habe ich „Keiterstatuette“ S. 2.‘j erbracht.
nicht wahrscheinlich, dass das Ebenbild mit dem¬
selben Symbole dargestellt war? Doch es tritt noch
ein weiteres und zwar ausschlaggebendes Zeugnis
hinzu: Calmet, der beide Figuren c. 1750 gesehen
hat, beschreibt sie folgendermaßen’): La figure de
Charlemagne ä cheval et armee, le tout en vermeil;
on expose cette figure sur le grand autel au jour
de Lanniversaire de cet empereur, car on ne le re-
connalt pas pour saint ä Metz. Item: une autre figure
du meme prince aussi ä cheval et armee. Clemen
selbst wird kaum einwenden, dass die Bezeichnung
armee, die Calmet der Figur als Charakteristicum
geben zu können glaubt, auf die Schwertscheide, die
nur zum Teil unter dem Mantel hervor sichtbar wird
und in keiner Weise auffällt, bezogen werden soll.
Sonach ist das Schwert für den Beweis von
derselben Bedeutung wie der Reichsapfel. Wichtiger
aber noch als Reichsapfel und Schwert für sich ist
die Nebeneinander Stellung der beiden Symbole.
Es ist oben ausgeführt, dass der Reichsapfel
in der ersten Zeit nur Beigabe, nicht Insignie war;
ich habe weiter gezeigt, dass das Schwert als In¬
signie erst hinter Scepter und Krone stand, gewis¬
sermaßen also als Symbol zweiten Ranges aufgefasst
werden muss. Nunwohl! Niemals bis zum 14. Jahr¬
hundert begegnet auf bildlichen Darstellungen
Schwert und Apfel. Als mit Otto’s 1. Kaiserkrönung
das Pomum auftritt, wird es nicht ohne Scepter ge¬
zeichnet, und als das Schwert auf Kaiserbildern zu¬
nächst vereinzelt vorkommt, da wird die Herrscher¬
würde durch gleichzeitige Beigabe eines Scepters zum
unzweideutigen Ausdruck gebracht. Ein König mit
Apfel und Schwert ist sonach für die karolingische
Zeit ein Anachronismus.
Welcher Zeit aber kann die Statuette dann zu¬
gewiesen werden?
Um diese Frage zu beantworten ist es wesent¬
lich, festzustellen, seit wann eine Verehrung des
großen Karl, wie sie die Beschaffung zweier Figuren
voraussetzt, in der Kathedrale existirte.
Tornow und Aus’m Weerth haben diesen Kultus
bis in die karolingische Zeit hinaufzusetzen ver¬
sucht, um daraus gleichzeitig einen Beweis für das
Alter der Statuetten zu gewinnen. Das Argument
freilich, das sie hierfür beibringen — die Figur habe
im vorigen Jahrhundert auf einer karolingischen
Altarmensa gestanden — ist durchaus hinfällig.
Einmal ist noch nicht gesagt, dass Figur und Platte
zusammengehören: im Gegenteil die Figur passt
1) Calmet Not. sur la Lorraine ed. 1765 S. 834.
DIE REITERSTATUETTE KARL’S DES GROSSEN.
159
absolut nicht zu der runden Vertiefung die in der
Platte existirt (wahrscheinlicli fand hier ursprüng¬
lich ein Leuchter Aufstellung). Sodann aber ist nach
dem Urteil von Kraus und v. Schlosser die Mar¬
mortafel nicht einmal sicher karolingisch, sie kann
auch einer späteren Zeit angehören.
Um 1166 wurde Karl auf Veranlassung Fried¬
richs I. durch Paschalis, den Gegenpapst Alexander’sIII.
heilig gesprochen. War das vielleicht die Veran¬
lassung einer besonderen V erehrung ? Sicher nicht.
Metz war alexandrinisch wie kaum eine zweite Stadt
und ging in seinem Fanatismus sogar so weit, die
Kardinale des Gegenpapstes aus den Mauern zu
treiben. Da mochte eine Kanonisirung durch den Schis¬
matiker viel eher angethan sein, sich der Verehrung
des neuen Heiligen starr zu widersetzen, als dem
frommen Brauche in der Kirche Einlass zu gestatten.
Im 13. Jahrhundert existirte jedenfalls noch
keine Spur irgend welchen Kultus. Wir besitzen
aus jener Zeit ein ganz ausführliches Ceremoniale ^):
mit keiner Silbe erwähnt dasselbe das Andenken des
Karolingers. Das Werk giebt gleichzeitig Auskunft
über den Schatz der Kathedrale: die Statuette ist
völlig unbekannt.
Aus späterer Zeit wissen wir nun allerdings von
mehreren Kleinoden, deren Besitz die Tradition auf
Karl zurückführte. So existirte la Chape de Charle-
magne, le bäton de Charlemagne, la canne de Charle-
magne, eine aus kostbarem Stein geschnitzte Schale,
die vom König geschenkt sein sollte; endlich führten
zwei Türme der Kathedrale den Namen Tours de
Charlemagne.
Wie alt ist diese Tradition? Über die Schale,
die 1507 zerbrochen ist, konnte ich nichts ausfindig
machen.
Die Chape de Charlemagne stammt aus dem
12. Jahrhundert^), ist aber dem Ceremoniale noch
unbekannt, also zur Zeit der Niederschrift noch nicht
in der Kathedrale gewesen. Der bäton de Charle¬
magne führt im Ceremoniale noch die Bezeichnung
baculum cantoris^), la canne de Charlemagne ist
sogar noch 1628 als solche unbekannt und figurirt
erst seit 1750 unter dem historischen Namen im
1) Kunst und Altertum in Elsass-Lothringen III 566.
2) In seiner Anzeige, Zeitschr. d. Instituts für österr. Ge-
schichtsforscliung s. oben.
3) Metzer Stadtbibliothek. Ursprünglich angelegt im
12. Jahrhundert, überarbeitet im 13.
4) Kraus a. a. 0.
5) S. den Nachweis der Identität in „Reiterstatuette“
S. 14 ff.
Schatzverzeichnis ^), von den tours de Charlemagne
weiß keine ältere Chronik zu erzählen, nicht einmal
die französische chronique des eveques des 15. Jahr¬
hunderts; erst c. 1520 erscheinen sie bei Philipp v.
Vigneulles unter des Kaisers Namen. Vor das 14. bis
15. Jahrhundert wird nach alledem eine Ausbildung
des Kultus Karls in der Kathedrale nicht gesetzt
werden können. Da liegt es denn nahe, die Ver¬
ehrung Karl’s mit denjenigen Maßregeln in Ver¬
bindung zu bringen, die Ludwig XL in Frankreich
für den Kultus seines „Ahnen“ befohlen hatte.
Ein zwingender Beweis für das Alter der Sta¬
tuette ist mit diesem Resultat selbstverständlich
nicht erbracht, aber in der Kette der übrigen Argu¬
mente ist es doch von Belang. Unter ihnen kommt
wiederum die Untersuchung über den Reichsapfel
in Betracht. Wir sahen oben, dass das Pomum auf
Darstellungen seit der Kaiserkrönung Otto’s 1. be¬
gegnet. Das ist sonach der terminus a quo für die
Entstehung des Standbildes. Wie ich schon in
meinem ersten Aufsätze andeutete 2), liegt es nahe,
das Werk mit der Blütezeit der ottonischen Metall¬
technik in Verbindung zu bringen. Tunika und
Beinbinden passen, wie oben ausgeführt ist, auch in
diese Jahre, und ein Siegel Otto’s III. 3) zeigt eine so
auffallende Ähnlichkeit mit der Statuette, dass dies
für mich der erste Anlass war, der Prüfung der
ganzen Frage näher zu treten. Dem stellt sich aber
einmal entgegen, dass die mächtige gedrungene
Reiterfigur auch nicht entfernt mit der zarten knaben¬
haften Gestalt Otto’s III. zu identifiziren ist, weiter
rechtfertigen die sonstigen Leistungen ottonischer
Kunst, so hoch sie auch auf dem Gebiete der Metall¬
technik über der karolingischen steht, in keiner
Weise ein derart vollkommenes Werk, wie wir es
in der Statuette sehen. Und endlich schließt die
zweite Insignie des Königs, das aufrecht getragene
Schwert, eine derartige Datirung aus.
Wenn ich wieder in erster Linie die Bilder Karls
des Großen selbst heranziehe, so ergiebt sich, dass
der Kaiser nicht vor 1346 mit aufgerichtetem Schwerte
dargestellt wird.'*) Öfter begegnet der Kaiser mit
diesem Attribut im 15. Jahrhundert und im 16- Jahr¬
hundert wird das Scepter fast ganz verdrängt. Ö
1) S. ebenda.
2) „Reiterstatuette“ S. 14.
3) Metzer Bez. A. G. 431. Abbildung eines gleichen bei
Hetfner, Die deutschen Kaiser- u. Königssiegel II, 16.
4) Am Frankfurter Münsterportal. Clemen, Porträtdar¬
stellungen, S. 72.
5) Vgl. meine Ausführungen: Neue Untersuchungen, S.332.
16(»
DIE REITE R.STATÜETTE KARL’8 DES GROSSEN.
W as die Darstellungen anderer Herrsclier an¬
geht, so tritt das Schwert auf Miniaturen und Skul¬
pturen bis zur Zeit Ludwig’s des Baiern neben dem
Poinum nicht auf. Heinrich II. wird allerdings ein¬
mal mit Schwert und Lanze abgehildet ') und eine
Brüsseler Handschrift giebt ein namenloses Konigs-
bild mit Scepter und Schwert'^), aber wie man sieht,
giebt die erste Darstellung keinen König mit In¬
signien und die zweite dokumentirt durch das wich¬
tigste Königssymbol, das Scepter, die Würde seines
Trägers.
Ähnlich ist es mit den Münzen: Wo der König
das Pomum trägt, führt er als Gegenstück das
Scepter: erst Rudolf von Hahsburg begegnet mit
Apfel und Schwert.^) Das wesentlichste Beweis¬
material bieten auch hier wiederum die Siegel und
auf ihnen wird die alte Darstellung mit Pomum und
Scepter bis zur Zeit Karl’s IV. streng beibehalten.
Erst der Genannte führt auf einem Stempel das
Schwert, jedoch nicht wie der Reiter der Statuette
aufrecht, sondern horizontal in Oberschenkelhöhe.
Entsprechend ist Wenzel öfter dargestellt worden,
einmal trägt er auch das Schwert über die Schulter.
Ruprecht hält die Insignie stets horizontal und erst
Sigismund wird mit aufrecht getragenem Schwerte,
dem Reiter der Statuette entsprechend, im Bilde
wiedergegehen. Friedrich’s III. Stempelschneider hul¬
digen wieder der alten Gewohnheit, durch Scepter
und Pomum die Königswürde zum Ausdruck zu
bringen, erst unter Maximilian und Karl V. über¬
wiegen die Darstellungen mit Apfel und aufrecht
getragenem Schwerte, verschwinden jedoch nach
dieser Zeit vollständig wieder gegen das Bild mit
dem Scepter. ’)
Das Plrgehnis weist sonach die Statuette in das 15.
bis I t)..Iahrhuridert und dieser Schluss findet noch durch
ein \vciteres Argument seine Bestätigung. Der Kaiser
sitzt zu Pferde. Eine Vergleichung mit der Reiter-
statue Marc Aurel’s zeigt deutlich, dass diese für
Ross und Reiter unseres Werkes Vorbild gewesen
ist.') Die Anlelinung an dieses klassische Werk
strdit aber nun für das Reuaissancezeitalter durch¬
aus nicht einzig da. Verrocchio hat zu seinem Col-
leoni, Donatello zu seinem Gattamelata den Marc
Aurel als Vorbild genommen. Ebenso sind, wie
]) Rainhcrger Missale, idif'eb. bei Stacke, 2S5.
2) Aldtildung bei riutz, Staatengescbichte des Abend¬
landes .•32.'J.
3) Vgl. Neue Untersuchungen, S. 333.
4) Neue Untersuchungen S. .334.
.5) Die genauere Ausführung ebenda, S. 342
mir Herr Direktor Bode gütigst mitteilte, „der Reiter
auf der Piazza de la Signoria von Giovanni di Bo¬
logna und andere Reiterin onumente aus dieser Zeit
offenbar von Marc Aurel beeinflusst.“ In Dresden
findet sich eine kleine Kopie des römischen Denkmals,
die Filareti (c. 1450) gegossen hat; doch sie ist nicht
die einzige: nach Bode’s Angabe sind diese Nach¬
güsse im 15. und 16. Jahrhundert „häufig.“ Wenn
sonach . die Marc Aurel-Statue den Künstlern der Re¬
naissancezeit ein typisches Vorbild für Reiterfiguren
gewesen ist, so ergiebt sich daraus ein Grund mehr,
auch die Metzer Bronze der Wende des 15. zum 16.
Jahrhundert zuzuweisen.
Wir sehen also: in die Zeit, für welche das Auf¬
kommen des Kultus Karl’s des Großen die Beschaffung
seines Bildes für die Kathedrale wahrscheinlich macht,
passt auch die Art der Darstellung. Ja mehr noch,
die Beigaben der Figur schließen eine frühere Zeit
geradezu aus. Wir werden sonach zu der Annahme
genötigt, dass mit dem Aufkommen des Kultus Karl’s
des Großen sein Reiterbild nicht nur beschafft, son¬
dern auch entstanden ist.')
Und zu diesem Resultate kommt nun eine Notiz
der handschriftlich erhaltenen Conclusiones capituli,
dass das Domkapitel in Metz im Jahre 1507 bei
dem Goldschmied Francois eine fa^on de Charle-
magne bestellt, und die weitere Bemerkung, dass
Francois seinen Auftrag thatsächlich ausgeführt
hat. 2) Ja die Notiz sagt noch mehr: da das Dom¬
kapitel bei einem Goldschmied arbeiten ließ, so war
es ein Werk von Metall, das geliefert wurde. Ist
es zu kühn, diesen Eintrag der Kapitelprotokolle
mit unserer Statuette in Verbindung zu bringen?
Ich meine nicht. Von anderen Figuren Karl’s des
Großen in der Kathedrale außer der unseren und
dem silbernen Nachguss derselben findet sich nir¬
gends eine Spur. Der Schatz einer Kirche wird
nicht veräußert, wie der Besitz von Privatleuten, und
die natürliche Annahme ist sonach, dass wir in einer
der beiden 1634 erwähnten Statuetten das Werk sehen,
von dessen Anfertigung die Protokolle zu 1507 be-
1) Clemen erklärt hiergegen: Ein reitendes Heiligenbild
sei mit wenigen Ausnahmen unerhört. Ganz recht. Aber
er weiß nicht, dass Karl’s Heiligsprechung von der Kathe¬
drale nicht anerkannt wurde. S. oben die Beschreibung von
Calmet.
2) Item Ion a ordonne a ceux qui par eydevant ont eu
Commission de faire faire Charlemagne quilz concordent avec
Francoy lorfevre pour la facon et quil soy paye. Ein Blatt
weiter: Die Martis septima decima ipsius mensis Novem-
bris: on a conclu de payer a Francois lorfevre pour la
facon de Charlemagne et que Ion prengue largent en la volte.
DIE REITERSTATUETTE KARL’S DES GRÜSSEN.
lt)I
rioliten. Wenn dauu von der silbernen Figur er¬
wiesen Averden kann, — und das ist geschehen i) —
dass sie erst nach 1567 gefertigt wurde, so bleibt
für 1507 nur das Werk des Goldschmied Francois
übrig. So weit der Historiker.
Lässt sich nun die Zuteilung des Werkes in das
Reuaissaucezeitalter auch von kuustgeschichtlicheni
Standpunkte aus rechtfertigen?
Mit dem Brustton der Überzeugung, wie ihn
Clemen anschlägt^), ist diese Frage nicht zu ent¬
scheiden. Denn seinem Nein steht ein ebenso ent¬
schiedenes Ja von Lübke, Riegel, v. Schlosser und
Kraus gegenüber. Auch hier wird also mit Gründen
gefochten werden müssen, Avie um das für und Avider
des 9. Jahrhunderts.
In erster Linie Avird die Frage zu beantworten
sein: Wie war es im 16. Jahrhundert möglich, karo¬
lingisches Kostüm zeitgetreu darzustellen, und wie
ist es zu erklären, dass der Künstler im Gegensatz
zur Auffassung der Zeit ein Bild von Karl dem
Großen schuf, das der historischen Figur jedenfalls
nahe kommt?
Man würde der Beseitigung dieser Einwürfe rat¬
los gegenüber stehen, wenn die Statuette nicht gerade
in Metz entstanden wäre. Ich habe oben schon jene
kostbare karolingische Handschrift mit dem Porträt
Karl’s des Kahlen, die in der Kathedrale aufbewahrt
wurde, erwähnt; in derselben Schatzkammer besaß
man die sogenannte Virianusbibel mit einer Darstel¬
lung desselben Herrschers. Dem frommen Kultus ent¬
sprechend, der seit dem 15. Jahrhundert alle mög¬
lichen Gegenstände mit Karl’s des Großen Namen in
Verbindung brachte, hielt man nun auch jene Manu¬
skripte für Geschenke der kaiserlichen Huld. Als
,Jjible de Charlemagne“ wird der eine Band in einem
Inventar des 17. Jahrhunderts aufgeführt. Das Titel¬
bild stellte also nach der Auffassung des Kapitels
Karl den Großen dar, und Avas lag näher, als dass
1) Seit dem Jahre 15(jl wurden die Schätze der Kathe¬
drale veräußert, um die Interessen der Liga zu unterstützen.
Am 24. Dez. 1567 verkaufte man für 10 000 Frank Klei¬
nodien und Reliquiarien ; selbst das berühmte goldene
Kruzifix fiel der Politik zum Opfer. „Nichts blieb zurück“
sagtMeurisse, „als Kreuze und einige andere zum Gottesdienst
notwendige Reliquien.“ Wäre die silberne Figur schon vor¬
handen gewesen, so hätte sie bei ihrem hohen Wert — 15%
Silber — sicherlich nicht diese Krisis überdauert, umso weni¬
ger, als ja der Bronzeguss, den man als gleichfalls vorhanden
annehmen musste, die silberne Figur entbehrlich machte.
2) In allen drei Erwiderungen: „Wenn etwas in Betreff
der Statuette auf den ersten Blick unumstößlich feststeht,
so ist es dies, dass sie kein Werk der beginnenden deutsch¬
französischen Renaissance sein kann.“
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 7.
die Kommissiou, die mit Fraiiyois die fayon de Cliarle-
magne vereinbaren sollte, auf jenes ehrwürdige Porträt
zurückgrifF, in dem es mit gerechtem Stolz entgegen
der Vorstellung der übrigen Welt allein das Avahre
Bildnis des großen Kaisers zu besitzen meinte.
Auf Grund der beiden Miniaturen war nun aber
der Künstler ganz und voll in der Lage, die Figur
zu schatten, die wir heute besitzen. Auf beiden
Bildern hat Karl der Kahle das Gesicht mit den
großen Augen, den hoch geschwungenen Brauen, der
edel geformten Nase, dem starken Schnurrbarte, die
Vivianusbibel zeigt die kurzen Stirnlocken. Auf
beiden Darstellungen zeigt sich der auf der Schulter
mit einer Spange zusammengehaltene Mantel. Dem
Psalter entnahm der Künstler Aveiter Kronreif, Reichs¬
apfel und edelsteingeschmückte Schuhe. Aber der
Kaiser sollte wie Marc Aurel zu Pferde sitzen und
damit treten die Unterkleidung und die BeiugeAvän-
der hervor, die bei den Königsfiguren durch den
Mantel verhüllt sind. Auch hier boten die Bibel¬
malereien Aufschluss. Die Begleiter des Königs tragen
das kurze Wams, die unter dem Knie durch Bänder zu¬
sammengehaltene Hose und die fränkische Beinbinde.
Clemen hat der vorstehenden Ausführung ent¬
gegengehalten, eine derartige retrospektive Konstruk¬
tion nach Gestalt und Kostüm habe im 16. Jahr¬
hundert keine Parallele.
Das ist ein Irrtum, Seit der Wiedererweckung
des klassischen Altertums wussten Gelehrte und
Künstler recht Avohl, dass Römer und Griechen nicht
im Kostüm des 16. Jahrhunderts gegangen sind, und
die Künstler gaben diesem Wissen auch lebendigen
Ausdruck. Ich erinnere nur an ein Beispiel: den
Triumphzug Cäsar’s von Mantegna. Wenn diese Er¬
kenntnis aber einmal lebendig geworden war, dann
lag es nahe, sie überall zur Geltung zu bringen, wo
durch Denkmäler die Sitte vergangener Zeiten der
Gegenwart überliefert wurde. Solche Vorbilder waren
für mittelalterliche Gestalten selbstverständlich un¬
gleich schwerer zu erreichen als für die Figuren des
Altertums: die Plastik bot hier wenig Nachahmens¬
wertes und Zeichnungen wie Malereien waren in
Klosterbibliotheken vergraben. Doch auch das Be¬
dürfnis war auf diesem Gebiete weniger lebendig:
außer Karl dem Großen weiß ich kaum eine Person
des Laienstandes, der sich die Künstler jener Zeit in
ihren Schöpfungen bemächtigt hätten. Da liegt es
nun besonders günstig für unseren Nachweis, dass
gerade das berühmteste Bildnis, was je von Karl ge¬
schaffen wurde, die Malerei Albrecht Dürer’s, gleich¬
falls retrospektiv gehalten ist. Dürer hat das Ornat
21
102
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
nicht gewählt als blosse Charakteristik der Kaiser¬
würde — daun hätte er dasselbe nehmen können, in
dem er Kaiser Sigismund dargestellt hat — nein er
war des Glaubens, dass er in Ornat und Beigaben die
Kleider und die Insignien, wie sie Karl persönlich
getragen hat, wiedergab. Unter die Ornatstudien,
die er zum Bilde gemacht hat, schreibt er: „Das ist
des heiligen großen Kaisers Karls Habitus.“ Das
Bild selbst aber trägt die Unterschrift:
Das ist der gestalt und biltnus gleich
Kaiser Karlus, der das Remisch reich
Den Teutschen untertänig macht.
Sein krön und kleidung hoch geacht
Zeigt mnn zu Nurenberg alle jar
Mit andern haltum offenbar.
Die retrospektive Darstellung der Metzer 8ta-
tuette steht sonach nicht ohne Parallele da. Dass
das Metzer Porträt durchaus anders ausfiel als das
Nürnberger, lag in der Natur der Verhältnisse. Wie
Dürers Bildnis nirgends anders als in Nürnberg, dem
Aufbewahrungsort des Krönungsornats, entstehen
konnte, so war auch einzig ein Metzer Künstler in
der Lage, die Statuette zu schaffen. Nur hier in
Metz gab es Porträts karolingischer Zeit, die nach
der irrtümlichen Annahme des Kapitels Karl den
Großen selbst darstellteu. Dürer wie Francois sind
bei ihrem Schaffen von durchaus derselben Idee ge¬
leitet gewesen.
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN
EINDRÜCKE VON EINEM BESUCHE DER WELTAUSSTELLUNG IN CHICAGO.
VON W. BODE.
(Fortsetzung.)
IE große Mehrzahl der ameri¬
kanischen Sittenbilder schil¬
dern einfache Motive des all¬
täglichen Lebens, bald aus
der höheren, bald aus der
unterstehGesellschaftsklasse.
Die ersteren sind mit Vor¬
liebe dem amerikanischen
Kreise in Paris entlehnt, die letzteren führen uns
meist in das französische Volksleben,
Ein Schüler Geronie’s, Jules L. Stewart, hat sich
durch seinen „Ball des .Jagdklubs“, die „Taufe“, „Auf
der Yacht Namouna“ und ähnliche Bilder auf den
Pariser Au.sstellungen bekannt gemacht. Doch haben
diese Bilder meist einen empfindlichen Mangel au
Konij)osition und malerischem Sinn, Eigenschaften,
die sich doppelt fühlbar machen bei dem großen
rmfange derselben. Orslii, S. Parsoi/s, Edwund C.
’l'arhell , Fmnl; S. Ilohnnu, T. W. Deiring, Robert
Drill, gelegentlich auch (Jarl Marr u. a. m. behandeln
ähnliche Motive in verwandter Art, aber mit mehr
malerischem Ge.schick. Heller Sonnenschein breitet
sich über die Scene und giebt den Darstellungen
eine eigentümlich freundliche, einschmeichelnde
Stimmung.
Einzelne dieser Künstler verirren sich zuweilen,
in Nachahmung ihrer französischen Vorbilder, in eine
gar zu flaue Unbestimmtheit der Form, so dass wir
die Sonne wie durch eine helle Nebelschicht zu
sehen glauben; dies gilt namentlich für Reid und
Dewing. Neben solchen Bildern erscheint August
Koojmian fast zu plastisch und zu kräftig in den
Schatten; er ist darin Bonnat und L’Her mitte ver¬
wandt, von denen letzterer auch in seinen Motiven
ihm als Vorbild gedient haben könnte. Eugene Vail,
ein Schüler von Cabanel und Dagnan-Bouveret, ist
in seiner „Marine“ tiefer und kräftiger in der Farbe
als seine Lehrer, denen er in guter Modellirung und
Feinheit des Tones nahe kommt.
Wie Koopman und Vail, so malen eine Reihe
junger amerikanischer Künstler, die meist in Paris
ihre Schule durchgemacht haben und zum Teil
dort noch leben, Motive aus dem Leben der unteren
Klasse in Frankreich oder Holland. Meister wie
Dagnan-Bouveret und Bastien Lepage sind ihre Vor¬
bilder ; aber auch Israels und selbst Max Liebermann
und Uhde haben Einfluss auf ihre Richtung gehabt.
Die helle Färbung, die duftige Wirkung des Sonnen¬
lichts, gute Zeichnung und Modellirung, eine ernste
stimmungsvolle Auffassung ist fast allen gemeinsam.
Nur selten folgen sie ihren Vorbildern bis zu der
unbarmherzigen nackten Wiedergabe der Natur und
der derben Ausdrucksweise. Qa^ü Melchers, Walter
Gag, Walter Nettleton, George Ilitchcoclc, Ch. S2}rag2ie
Pearce, Walter Mc. Ewen sind sämtlich von der
Pariser Ausstellung, zum Teil auch von München und
Berlin her bekannt. Sie berühren sympathisch durch
ihre schlichte, aber fast ideale Auffassung; der fort-
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
163
geschrittenen und fortschrittlichen Richtung unserer
Künstler gilt dieselbe freilich als „gar zu anständig“,
sie ziehen die derbe malerische Auffassung eines William
Dannat vor, der auf der Ausstellung in seinen „Spa¬
nischen Sängerinnen“ in der schattenhaften Erschei¬
nung und in der Widerwärtigkeit des Motives seine
französischen Vorbilder fast noch überbot. Als ein
Nachahmer Besnard’s in seinem neuesten unnatürlichen
lilafarbenen Ton ist mir in der Ausstellung Roswell,
S. Hill aufgefallen. Auch Caliga hat sich denselben
Künstler, den talentvollsten, aber aucli den extra¬
in Chicago Bilder dieser Art ausgestellt, die sich
mehr oder weniger durch ähnliche Vorzüge wie ihre
gewöhnlichen Genrebilder auszeichnen. Freilich die
Frische und Tiefe der Empfindung, jene ungewollte
und gerade deshalb so ergreifende religiöse Stimmung
welche den einfachen Bauernscenen Millet’s inue-
wohnt, fehlt diesen bewussten religiösen Motiven;
er fehlt ja auch den meisten ähnlichen Bildern, die
in Frankreich oder bei uns gemalt werden. Nur
ausnahmsweise erreicht ein Basti eu Lepage, ein Fritz
von Uhde mit aller Mühe und allen Mitteln, was
.Jagd auf Elen. Gemälde von G. de Forest BrUsh. (Aus dem Century Magazine, Bd. XLIIT, 18‘)2.)
vagantesten der lelienden Franzosen, zum Vorbilde
genommen. Aber diese Bilder sind doch sehr ver¬
einzelte Ausnahmen; im allgemeinen halten sich die
Amerikaner in ihren sittenbildlichen Darstellungen
ebenso sehr von Übertreibungen und Absonderlich¬
keiten fern wie in ihren Landschaften.
Wie in Frankreich und bei uns hat sich auch
in den Vereinigten Staaten aus dieser Richtung des
Itäuerlichen Sittenbildes eine genreartige religiöse
Malerei herausgebildet, die auch hier mei.st von den¬
selben Künstlern ausgeübt wird. M. L. Macomher,
R. Reid, F. M. Du Monel, Ch. Sprarjue Pearee hatten
Millet voll und naiv zum Ausdruck bringt: jene
Religiosität der Natur, die nur der fühlt, der sie
so allseitig und tief zu erfassen vermag wie Jean
Fran9ois Millet es that.
Ein Künstler eigner Art, weil von ganz ab¬
weichender Erziehung, ist Karl Marr-, heute noch in
München ansässig, verrät er die Münchener Schule
auch in der Auffassung seiner religiösen Motive, die
nicht stimmungsvolle Darstellungen, sondern dra¬
matisch bewegte Zeitlnlder zu geben trachten. Seine
„Flagellanten“, die auch in Chicago ausgestellt waren,
sind das bekannteste Beispiel dafür.
t-
164
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
Der realistiscbeu Auffassung der modernsten
Malerei müsste, so sollte man glauben, eine Aufgabe
ganz fern liegen: die Darstellung des nackten menscb-
licben Körpers. Dies ist aber keineswegs der Fall;
nur ist die Auscbauung, von der die Künstler dabei
ausgeben, eine andere als sie bei Raffael oder Tizian,
bei Baudry oder Feuerbacb war. Nicht die Scbön-
beit der Linien, nicht die Schönheit der Fleiscb-
farbe wollen sie zur Anschauung bringen, sondern
den eigentümlichen Reiz des nackten Körpers im
jungen Künstlern ausgestellt, die ganz der fran¬
zösischen Richtung folgen. In anderer Art, mit
mehr Anspruch auf stilvolle dekorative Wirkung,
streben B. R. Fitz und Kenyon Cox Verwandtes an.
Diese Künstler leiten zu der eigentlichen dekorativen
Malerei, die in Amerika namentlich unter dem Ein¬
flüsse von Puvis de Chavannes steht. Die Hallen des
Liberal Arts Building hatten gerade von Kenyon Cox
wirkungsvolle Dekorationen der Art aufzuweisen. Die
„Thronende Jungfrau Maria“ von Äbhot H. TJ/nyrr hat
l)ie Vi'rUiiiiiligiin". ficrniilile von M. L. Macomhek. (Ans dem Century Magazine, Bd. SLV, 1893.)
Spi<4 des Lichts, unter den mannigfachen Reflexen
der Umgebung, im geschlossenen Zimmer wie im
|•'reieM, im Sonnenlicht wie beim Schein des Feuers.
Einer der amerikanischen Maler ist darin einer der
modernsten und tüchtigsten, Alr.raiidcr Ilurrison. Ich
liranche nur an die schon erwähnten „Badenden“
zu erinnern, welche die Dresdener Galerie in der
letzten Berliner Ausstellung erworben hat, um das
Bild des Künstlers in d(‘r Erinnerung des Lesers
wach zu rufen.
Ahidiche Bilder waren von ./. Alflni W'rir u. a.
etwas eigentümlich Feierliches in Komposition nnd
Ausdruck; dabei eine malerisch breite Behandlungs¬
weise und pikante düstere Färbung. Eine phantastisch
stilvolle Auffassung ganz für sich hat der in Rom
angesiedelte Eliliu Veddrr. Vedder ist augenschein¬
lich angeregt durch die Präratfaeliten, und einzelne,
namentlich frühere Kompositionen des Künstlers, der
im Jahre 1836 geboren ist, sind ganz in der Rich¬
tung dieser Künstler; in seinen meisten Darstellungen
ist er aber ganz phantastisch auf seine eigene Art.
Doch fehlt ihm der malerische Sinn, der seine
Lilitli. Gemälde von Kenvon Cox. (Aus Scriliner’s Magazine.)
1G6
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.
meisten Landsleute auszeichnet; seine Illustrationen
scheinen mir daher vor seinen Bildern, von denen
eine größere Zahl in Chicago vereinigt war, ent¬
schieden den Vorzug zu haben. Bei John Lafarge
ist dagegen in seinen biblischen und allegorischen
Darstellungen die malerische Begabung so stark
ausgesprochen, dass die Komposition darunter nicht
selten leidet; erst in der eigenartigen Glasmosaik
hat dieser Künstler das Material gefunden, in dem
Farbe und Zeichnung zu gleicher, harmonischer
Geltung kommen. Die Glasbilder Lafarge’s ge-
liören zum Wirkungsvollsten und Stilvollsten, was
die amerikanische Kunst bisher geschatfen hat.
Über die amerikanischen Porträtmaler genügen
wenige Worte; sind sie doch zum guten Teil die¬
selben Künstler, die wir als Genremaler und einzelne
auch als Landschafter kennen gelernt haben. Vor
allen müsste J. McNell Whistler genannt werden, von
allen amerikanischen Malern wohl der begabteste.
Dadurch, dass er .sich Europa, zuerst London und
dann Baris zu seinem Aufenthalt gewählt hat, ist
er hier wohl in verschiedener Weise bestimmt, aber
er hat seinerseits noch stärkeren Einfluss auf die
englische und selbst auf die französische Malerei
geübt. Die Ausstellung, die Bilder aus einem Zeit¬
raum von nahezu drei Jahrzehnten von Whistler’s
Thätigkeit aufzuweisen hatte, zeigte, wie er all-
mählich aus einer kräftigen farbigen Auffas.sung zu
seiner jetzigen nebelhaften Tonmalerei gekommen ist.
Aber auch schon in seinen früheren farbigen Por¬
träts ist ihm die malerische Unbestimmtheit der
Konturen, die Breite und Sicherheit in der Mo-
dellirung, die feine Art, wie die Figur in der Luft
wiedergegeben ist, eigentümlich. Allen Jüngeren
unter seinen Landsleuten ist Whistler im malerischen
Sinn mindestens gewachsen, in seinem rücksichts¬
losen Plrnst, seiner trotzigen Eigenart, seiner Größe
in der Wiederga})e der Form und der Individualität
ist er ilmen entscliieden überlegen. Neben ihm er-
sclieinen fast alle amerikanischen Porträtmaler etwas
zalim und sahudiaft; mehr oder weniger macht sich
bei ihnen auch eine sittenbildliche Auffassung des
Porträts geltend. Dies gilt für Charles Sprague
pro ree , dessen Farbe leicht etwas hell und matt,
(hfssen Behandlung etwas glatt und nüchtern ist; es
gilt auch für Julien Story in Paris, Frank FovÄer,
Jules L. Stewart, Ferd. C. Vinton und teilweise
sjdbst für John S. Sargent in London, der in dem
„Mutter und Kind“ betitelten Bilde eines der an¬
ziehendsten Bildnisse der Ausstellung geliefert hatte.
Für den Laien wie den Künstler gleich ansprechend
sind die Porträts von William M. Chase. Ähnlich
sind die kleinen, sehr geistreich und malerisch be¬
handelten Frauenbildnisse von T. W. Dewing. Tiefer
im Ton, aber sehr verwandt in Auffassung und Be¬
handlung sind auch O. de Forest Brush und Albert
Thayer. Die großen Anatomiebilder von Thomas
Enkins in Philadelphia lassen ähnliche französische
Porträtstücke als Vorbilder erkennen; der Künstler
hat eine energische, fast derbe Auffassung und
kräftige Lichtgebung, die jedoch seine Schatten
leicht zu schwarz erscheinen lässt. Als tüchtigster
Porträtmaler der älteren Schule gilt Eastman Johnson.
Sein großes Doppelporträt „Two Men“ ist von ernster,
schlichter Charakteristik; aber auch dieses Bild ist
zu branstig im Ton und unmalerisch in der Fär¬
bung.
Den Genannten steht eine ebenso große Zahl
anderer Künstler als Porträtmaler kaum nach: Carl
Marr, Gar. Melchers, E. Cameron, C. D. Wade, Fr.
W. Frees, F. W. Beaison, C. 11. Beck, Ch. N. Flagg,
R. Reid, Franz Dnveneck u. a. haben tüchtige Bildnisse
in Chicago ausgestellt. Allen i.st ernste Vertiefung
in die dargestellte Persönlichkeit, schlichte Auf¬
fassung und malerische Behandlung mehr oder
weniger eigentümlich; aber frische Eigenart, die den
wahren Meister macht, fehlt ihnen doch in höherem
oder geringerem Maße.
Um ein auch nur annähernd richtiges oder ab¬
schließendes Urteil über die Blastik in den Vereinig¬
ten Staaten zu erlangen, war die Ausstellung in
Chicago nicht angethan. Wer nur die im Art
Building meist ungünstig und verzettelt aufgestellten
Figuren und Reliefs im Auge gehabt hat, musste
ein sehr ungünstiges Bild der plastischen Begabung
der amerikanischen Künstler mit sich nehmen: einige
wenige Porträtbüsten und Figuren ausgenommen,
traf die etwa einhundertfünfzig ausgestellten Arbeiten,
die sich auf ungefähr fünfzig Künstler verteilten,
in höherem oder geringerem Maße der schwere Vor¬
wurf, dass sie die Natur nur in einer befangenen,
akademischen Weise Wiedergaben. Sie sind sämt¬
lich nüchtern und phantasielos. Eine vorteilhafte
Ausnahme machen einige Köpfe, wie das bronzene
Kinderköpfchen mit der Mütze von Olin L. Warner,
eine Frauenbüste von Paul Burtlett, eine männliche
Büste von Alfred White und namentlich ein paar
Frauenbüsten des jungen Herbert Adams in Brooklyn.
Sie sind in vorteilhafter Weise vom Studium der
italienischen Büsten des Quattrocento beeinflusst.
DIE KUNST IN DEN VEREINIGTEN STAATEN,
167
auf das diese Künstler in der Scliule ihrer Pariser
Lehrer hingewiesen wurden. Diese treffliche Schule
bekunden sonst nur einige wenige nackte Figuren,
wie der „Abend“ von F. TVeUington Etickstuhl oder
das „Böse Omen“ von Charles Graflg.
Es wai’en dies nur einige wenige Oasen in der
dies in überraschend günstiger Weise gethan. Nur
selten standen die Gruppen oder Figuren , mit
welchen die kolossalen Bauten geschmückt waren,
in entschiedener Disharmonie, wie z. B. die Gruppen
an den Seiteneingängen des Transportation Buil¬
ding, die bei der gebundenen, halb byzantinischen
Die Töchter des Phorkys. Gemälde von Elihu Vedders. (Aus American Art Review, Bd. I, 1880).
einförmigen Wüstenei des akademischen Machwerkes,
welche das Art Building aufwies. Aber die ameri¬
kanischen Bildhauer hatten außerhalb desselben durch
die Dekoration der Bauten und Plätze der Ausstel¬
lung in reichem Maße Gelegenheit gefunden, sich in
monumentalen Arbeiten zu bethätigen, und hatten
Architektur dieses Baues eine strenge Stilisirung
verlangt hätten. Die meisten verdienten das Lob,
dass sie am richtigen Platze standen und dass sie
in Maß und Bewegung in glücklicher Übereinstim¬
mung mit dem Bau waren. Dies gilt ganz beson¬
ders von den Gruppen auf dem Agricultural Buil-
1(58
ISMAEL UND ANTON lUPHAEL MENGS.
ding, von den Tieren und Gruppen am Gort of honor
und auf den Brücken, die zu demselben führen, und
von den Gruppen des Cowboy und des Indianers
am Landungsplatz vor dem Transportation Building.
Die jneisten dieser Schöpfungen vereinigen monu¬
mentalen Sinn und Geschmack mit feinem Natura¬
lismus; ganz besonders in den Tierdarstelhmgen
zeigen sich die jungen amerikanischen Künstler als
die tüchtigen Nachfolger von Barye, einem Künstler,
der drüben in höchster, wohlverdienter Achtung steht.
Solche Arbeiten und die neuesten Statuen, die aus
St. Gaudens’ Atelier hervorgegangen sind, nament¬
lich der Lincoln im Lincoln-Park zu Chicago, lassen
für die weitere Entwickelung der Plastik in Amerika
das Günstigste erhoffen.
Nach einer Richtung sind uns die amerikani¬
schen Künstler schon seit mehr als einem Jahr¬
zehnt bekannt und selbst in Europa unbestritten
als Meister in ihrem Fach anerkannt, als Illus¬
tratoren. Ihre Zeichner wie ihre Holzschneider
haben durch die illustrirten Zeitschriften, wie das
Century Magazine, Harper’s Monthly u. a., die ihre
Verbreitung durch die ganze Welt finden, die Auf¬
merksamkeit von vornherein auf sich gezogen. Hier
ist zuerst die malerische Richtung der neueren Kunst
auch in der Illustration voll und ausschließlich zur
Geltung gekommen; Künstler wie Jüngling, Frencli,
Kruell, Johnson, Aikman, Bernstron, King, Wolf, Davis
u. a. behandeln den Holzschnitt in derselben freien
malerischen Weise, welche die Form in der unbe¬
stimmten Wirkung des Lichts aufgelöst erscheinen
lässt, wie die modernen französischen Radirer seit
Jacquemart. Ihre Eigenart weiter zu verfolgen und
näher auf die Bedeutung einzugehen, welche diese
großen Zeitschriften auf die künstlerische Erziehung
und auf die Geschmacksbildung in Amerika gehabt
haben, verdient gelegentlich hier eine besondere
und eingehende Betrachtung.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
VON KARL WO ER MANN.
MIT ABBILDUNGEN.
(Fortsetzung.)
IR kehren zur Familie Mengs
nach Dresden und ins Jahr
1751 zurück. Da.ss der bis¬
lang allmächtige Oberhof¬
maler Louis deSilvestre durch
die Erfolge des jungen Mengs
den Boden unter seinen Füßen
weichen fühlte, ist erklärlich.
Von „gefälligen Ärzten“, vielleicht von Bianconi, der
es erzählt, selbst ließ er sich bezeugen, dass das Klima
I )resdens sich nicht mehr mit seiner Gesundheit ver-
Irüge, und kehrte nach Paris zurück, wo er mit offenen
Armen aufgenommen, ja, ani 29. Juli 1752 zum Aka¬
demiedirektorernannt wurde. Dass der dreiundzwanzig-
jälirige Mengs an seiner Stelle Oberhofmaler in Dres¬
den werden würde, erschien von vornherein ausge¬
macht. Silvestre selbst hatte ihn, wie Guibal erzählt,
dem Könige hierzu empfohlen und hinzugefügt: „Sire,
voici un jeune homme dont je serais bien jaloux si je
n’ehiis pas si vieux.“ Das königliche Dekret, nach dem
V.
„besagter Hofmahler Mengs nunmehr als unser Ober¬
hofmahler von jedermänniglich angesehen und ge¬
achtet, auch bei aller vorkommenden Gelegenheit also
tractiret und geschrieben werden möge“, ist vom 23.
März 1751 datirt. Dass sein Gehalt bei dieser Ge¬
legenheit auf 1000 Thaler, oder, wie andere melden,
gar um 1000 Thaler erhöht worden, steht in dem
Erlass nicht, ja es ist später, da man nichts davon
in den Akten zu finden meinte, einmal amtlich in
Zweifel gezogen worden. Gleichwohl aber geht aus
anderen erhaltenen Urkunden unzweifelhaft hervor,
dass sein Gehalt 1751 in der That von 600 auf 1000
Thaler erhöht worden. Verpflichtet war er dabei
zu nichts. Alle Arbeiten erhielt er besonders bezahlt.
Ja, sein königlicher Wohlthäter gestattete ihm sogar,
seine „Pension“ im Auslande zu verzehren.
Je unerquicklicher sich das Zusammenleben
des jungen Paares mit dem alten Mengs und seiner
Freundin in Dresden gestaltet hatte, desto lebhafter
sehnte es sich nach Rom zurück. Die beiden
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 7.
22
Pastellselbstbildnis von Th. C. Maron, geb. Mexgs. .Julie Mengs. Pastellbildnis von Th. C. Maron, geb. Mengs.]
(Kgl. Galerie in Dresden.) (Kgl. Galerie in Dresden.)
170
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
Schwestern Anton Raphael’s schlossen sich ihm an.
Ismael blieb mit seiner Haushälterin in Dresden
zurück. Als Anton Raphael im September 1751
Dresden verlieh, ahnte er wohl nicht, dass er niemals
in die Stadt, die doch eigentlich seine Vaterstadt
war, zurückkehren werde. In der That aber sah er
sie nicht wieder.
Fünf Monate blieb er dieses Mal mit den Seinen
in Venedig, wo er bereits den sechs Jahre älteren
Giovanni Battista Casanova, der später Akademie-
jirofessor in Dresden wurde, als Schüler annahm. Im
Frühling 1752 kamen alle in Rom an; und hier trat
nun auch Nikolaus Guibal, sein französischer Biograph,
gleich in sein Atelier und sein Haus ein, in dem er
täglicher Mittagsgast wurde. In demselben Jahre
noch erwählte die Accademia di San Luca, die be¬
rühmte alte römische Akademie, Meugs zu ihrem Mit-
gliede, und 1754 wurde er zum Professor der von
Papst Benedikt XIV. neu gegründeten kapitolinischen
Akademie ernannt. Ehren folgten jetzt auf Ehren,
Bestellungen auf Bestellungen. Zunächst malte er
für den Duke of N orthumberland eine große Copie
nach Raphael Santi’s berühmter „Schule von Athen“.
Das Gemälde schmückt noch das Northumberland
House zu Charing Cross in London. Waagen nannte
es „die beste Kopie, welche von diesem gepriesenen
Bilde gemacht worden“. Dann schuf er für seinen
König eine mittelkleine Darstellung der in der Ein¬
samkeit büßenden, lesenden Magdalena. In der Be¬
herrschung der Technik der Ölmalerei verrät dieses
Bild, das jetzt der Dresdener Galerie gehört, einen
großen Fortschritt des Meisters. Auf correggesker
Grundlage zeigt es doch ziemlich viel selbständiges,
wenn auch etwas äußerliches Empfinden, atmet aber
auch gerade in der Verschmelzung des Landschaft¬
lichen mit dem Figürlichen und der dadurch bedingten
Licht- und Farbenstimmung ein gewisses warmes
Eigenleben, dessen man .sich bei unbefangener Be¬
trachtung leicht bewusst werden wird. Als er darauf
gerade ernstlich an die Ausführung der großen Himmel¬
fahrt Christi gegangen war, tauchte plötzlich uner¬
wartet sein Vater Ismael mit .seiner Katharina wieder
in Horn auf. Da sie eine besondere Wohnung be¬
zogen, kamen die Kinder leidlich mit ihnen aus,
waren aber doch unangenehm berührt, als ihr sieben-
uud.sechzigjähriger Vater, wie es heißt, durch die
Geistlichkeit gedrängt, sich 1755 entschloss, sich mit
Katharina Nützschnerin, die sich endlich auch be-
fpiemt hatte, katholisch zu werden, ehelich zu ver¬
binden. Doch mochte es ihnen, da er im nächsten
Jahre von einem leichten Schlaganfall betroffen wurde.
ein Trost sein, ihn in guter Pflege 1756 die Heim¬
reise nach Dresden antreten zu sehen, wo der alte
Hofmaler wohl schon jetztnach seiner eigenen späteren
Aussage „durch die Gnade des Königs in denenKaser-
nen zu Neustadt ein freies Quartier assigniret“ erhielt.
Inzwischen war (1755) auch Winckelmann, der
große Archäologe, der Vater der Kunstgeschichte im
neueren Sinne des Wortes, in Rom angekommen.
Auch Winckelmann kam von Dresden und brachte
Empfehlungen an den sächsischen Oberhofmaler mit.
Mengs nahm den über zehn Jahre älteren Gelehrten,
der sich bald einen Weltruf gründete, mit offenen
Armen auf. Winckelmann wurde täglicher Gast im
Mengs’schen Hause, sei es zur Tafel, sei es zum
Kaffee. „Diese Bekanntschaft ist mein größtes Glück
in Rom“ schrieb der freundschaftsdurstige Gelehrte
1756 nach Hause. Es ist merkwürdig, dass die
Männer, die sich jetzt um den jungen Mengs drängten,
um von ihm zu lernen oder seine Gastfreiheit aus¬
zunützen, meist bedeutend älter waren als er. Er
aber bildete jugendfrisch, schmuck, arbeitsam, an der
Seite seiner bildschönen und liebenswürdigen Gattin
mit vollem Bewusstsein den Mittelpunkt eines Kreises,
in dem man nichts Geringeres beabsichtigte, als den
Umsturz der ganzen Barock- und Rokoko-Kunst und
den Wiederaufbau eines neuen, reineren, edleren
Kunsttempels. Winckelmann und Mengs, die innige
Freundschaft schlossen, ergänzten sich gegenseitig
in diesem Streben und arbeiteten einander in die
Hand. Die übrigen Freunde Anton Raphael’s be¬
haupteten, alles was Winckelmann von Kunst ver¬
stehe, habe er von Mengs gelernt; die Anhänger
Winckelmann’s meinten, nur an seiner Hand sei der
berühmte Praktiker auch zum Forscher, Gelehrten,
ja, später zum Schriftsteller geworden. Die Aus¬
grabungen antiker Wandgemälde in Rom und nicht
lange darauf in Herculaneum und Pompeji erweiterten
jetzt auch die Kenntnis der antiken Malerei. Durch
sie und durch Winckelmann beeinflusst, der das
einzige Heil der Welt in der Nachahmung der alten
Griechen sah, fing Anton Raphael Mengs bald an,
neben der Nachahmung Raphael’s, Correggio’s und
Tizian’s auch noch die Nachahmung „der Antike“ auf
sein Banner zu schreiben; und was er einmal auf sein
Banner geschrieben, das führte er mit der eisernen
Willenskraft, zu der er erzogen war, auch aus. Doch
kam dieser neue Stil des Meisters erst um 1760 zum
Durchbruch. Zunächst sehnte er sich vor allen Dingen
darnach, sich in der großen Freskomalerei zu ver¬
suchen. Als sich daher die Mönche von S. Eusebio
mit der Bitte an ihn wandten, er möge ihnen ihre
ISMÄEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
171
Heiligen in der himmlischen Herrlichkeit an die
Decke ihrer Kirche malen, nahm er diesen Auftrag
mit der größten Bereitwilligkeit an, obgleich die
guten Cölestinermönche ihm außer freiem Gerüste
nicht mehr als 200 Scudi dafür anzubieten hatten.
Bianconi erzählt zwar, Mengs habe dies Decken¬
gemälde ganz umsonst gemalt. Aber Bianconi war
damals noch nicht in Rom. Das Zeugnis Azara’s,
dass er es für 200 Scudi gemalt, ist daher in diesem
Falle vorzuziehen.
Bahnbrechend er¬
schien diese Ar¬
beit den Zeitge¬
nossen, insofern
sie zum ersten¬
mal mit dem seit
zwei Jahrhunder¬
ten siegreichen
Grundsatz brach,
ein Deckengemäl¬
de in der „Unter¬
sicht“ für die Per¬
spektive des unten
in der Mitte steh¬
enden Beschauers
anzuordnen , viel¬
mehr, wenn auch
noch nicht ganz
streng, zu der äl¬
teren Gewohnheit
zurückkehrte, es
so zu konstruiren,
dass der am Ein¬
gänge stehende
Beschauer es auf¬
recht vor sich zu
haben meint. Die
That war um so
kühner , als das
„di Sotto in Sü“
ja gerade von Correggio, dem Abgott Anton Raphael’s,
ausgebildet worden war. Das ungewöhnlich lange,
schmale Deckenfeld veranlasste ihn, sein Bild drei¬
teilig zu gliedern. Unten ist der berühmte Engel¬
chor dargestellt, in der Mitte schwebt der Heilige
im Messgewand, oben leuchtet das Auge Gottes in
der Himmelsglorie. Antikisirend ist die Haltung
dieses Gemäldes noch durchaus nicht; es zeigt sogar
noch Anklänge an die alte Überlieferung, aber damals,
sagt Justi, habe man nur das Neue in dem Bilde
gesehen, „das kräftige in Fresko unerhörte Kolorit,
die Mäßigung in den Verkürzungen, die Beruhigung
des himmlischen Tumults, die schönen jugendfrischen
Engelköpfe, die einmal von der Schminke und den
Grimassen des Balletts noch unverdorben waren,
überhaupt die gehaltvolle, solide Behandlung, nach¬
dem der Manierismus zuletzt zu einer ganz ge¬
spenstischen Unwirklichkeit ausgehöhlt war“. Jakob
Burckhardt meint sogar, das Bild sei „nach so vielen
Ekstasen eines verwilderten Affektes wieder die erste
ganz feierliche
und würdige Dar¬
stellung“. Was
will man mehr?
Wenn der Ver¬
fasser dieses Auf¬
satzes, anstatt sein
eigenesUrteilüber
alle einzelnen Bil¬
der Mengs’ in den
V Ordergrund zu
rücken, öfter, als
es sonst seine Art
ist, anderen leben¬
den Fachgenossen
das Wort zu ihrer
künstlerischen
Würdigung lässt,
so thut er das
lediglich in der
Absicht, den Hel¬
den seiner Erzäh¬
lung nicht zu kurz
kommen zu lassen.
Die Befürchtuno-
o
übrigens, die Re-
ber 1 877aussprach,
das Bild werde
mit der Kirche,
die es schmückt,
der neuen collini-
schen Stadtanlage weichen müssen, ist bis jetzt
glücklicherweise noch nicht eingetroffen. Kirche
und Bild sind noch unversehrt.
Bei der Arbeit in S. Eusebio wurde Mengs von
seinem Lieblingsschüler Anton Maron unterstützt,
der 1733 in Wien geboren, später ein berühmter
Bildnismaler wurde, als „Pittor primario e direttore
in Roma dei pensonarj Germani“ jedoch seinen Wohn¬
sitz hauptsächlich in Rom behielt. Um die Zeit, da
sie zusammen an dem Deckenbilde des heiligen
Eusebius malten, gab Anton Raphael ihm seine
22*
Madonua mit dem Kinde und dem kleinen Johannes.
Miniatur von A. R. Mengs in der Gemäldegalerie in Dresden.
172
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MEN GS.
Schwester Theresia Concordia zur Frau, die ihm,
obgleich sie acht Jahre älter war als er, nur zwei
Jahre im Tode vorausging. Anton von Maron starb
ISüS, Theresia Concordia starb 1806 in Rom. Juliane
Charlotte Mengs aber zog sich, als ihre Schwester
sich verheiratete, ins Kloster Belvedere bei Jesi in
der Marca d’Ancona zurück, wo sie, wie aus Urkunden,
die in Dresden verwahrt werden, hervorgeht, als
Klosterfrau den Namen Maria Sperandia führte und
1 780 noch am
Leben war.
Gleich nach
ilem Deckenhilde
in S. Eusehio
fülirte Anton Ra¬
phael i\lengs, den
der Abt dieser
Kirche seinen Or¬
densverwandten
empfohlen hatte,
noch ein Altarbild
für die Benedik¬
tinerkirche zu Sul-
mona, der abge¬
legenen Geburts¬
stadt Ovid’s in den
Abruzzen, aus.
Di eses Gemälde,
das von den Zeitge¬
nossen, die es ent¬
stehen salien, zu
den Hauptwerken
des Meisters ge-
reehnetAvird, stellt
den lieiligen Bene¬
dikt in der Einöde
ilar. Vermutlich
befindet es sich
noch an dem Pla¬
tze, für den es ge¬
malt worden Kei¬
ner der neueren Schriftsteller bat es beschriehen
Oller ge''elien; auch der Verfasser dieses Aufsatzes
nicht.
VI.
Während Anton Raphael Mengs um die Mitte
der fünfziger Jahre in Rom von den Kunstfreunden
aller händer umdrängt wurde, lieb der sächsische
Hof ihn keineswegs aus den Augen. Maria Amalia,
Kiiif'iirsI i'liiisliiiii. I’astcllliild von A. I!. Mknüs. (Kgl. Galerie in Dresden.)
die Tochter August’s II 1., die an den König Karl IV.
von Neapel verheiratet war, wünschte den berühmten
jungen Oberhofmaler ihres Vaters in ihrer schönen
vom Vesuv überragten Residenzstadt zu begrüßen.
August III. ließ es dem Meister daher nahe legen,
dass er sich an den neapolitanischen Hof begebe
und sich demselben zur Verfügung stelle. Der
Briefwechsel, den der sächsische Premierminister
Graf Brühl hierüber mit Mengs führte, zog sich jedoch
jahrelang hin. Die
in französischer
Sprache geschrie¬
benen Briefe aus
den Jahren 1755
und 1756 befinden
sich im sächsi-
schenHauptstaats-
archiv. Sie geben
uns ein anschau¬
licheres Bild von
Mengs’ Gesinnun¬
gen und Empfind¬
ungen, als die Ge¬
schichten, die seine
Biographen von
den angeblichen
Ränken der nea¬
politanischen
Künstler erzählen,
die seine Reise
nach Neapel zu
hintertreiben und
ihn durch falsche
V orspiegelungen
jahrelangabgehal-
ten haben sollen,
den Wünschen des
sächsischen und
des neapolitani¬
schen Hofes nach¬
zukommen. Nach¬
dem Brühl dem Meister am 5. Mai 1755 zuerst mit¬
geteilt, dass der König, „pour complaire aux instances
de Son Auguste fille“, ihm die Erlaubnis gebe, nach
Neapel zu gehen, sobald er das große Gemälde für die
katholische Kirche in Dresden vollendet habe, antwor¬
tete er am 30. Mai aus Rom zuerst sehr erstaunt dar¬
über, dass er eine Erlaubnis erhalte, um die er gar nicht
nachgesucht habe („que je re^ois une permission
d’aller ä Naples laquelle je n’avais pas demandee“)
und bittet sich dann Weisungen aus, ob er auf
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENOS.
173
sächsische Staatskosten als ein von Seiner Majestät
gesandter Maler nach Neapel gehen, oder mit dem
neapolitanischen Hofe wegen seiner Schadloshaltung
unterhandeln solle. Brühl antwortete am 16. Juni
„par ordre expres du Roi“, es sei des Königs Wille,
dass er sich an den Hof von Neapel begebe, der
übrigens bei seiner anerkannten „generosite“ nicht
verfehlen werde, ihn für die Werke, die er dort
In einem Briefe vom 5. Mai 1756 bittet Mengs den
Grafen Brühl um Zahlung der Rückstände, bietet
sich zum Vermittler bei Gemäldeankäufen an und
berichtet dann, der Fürst von Francavilla habe ihn
gefragt, ob er einen Vorschuss für seine bevorstehende
Reise nach Neapel verlange, „sur quoi je lui ai
repondu que je me reraet ä la Generosite et que
je ne demandai rien en avance“ (sic). Am 31. Mai ant-
Kurprinzessin Maria Antonia. Pastellbild von A. R. Mengs. (Kgl. Galerie in Dresden.)
malen werde, zu entschädigen, ohne dass er nötig
habe, vorher darüber zu unterhandeln. Am 5. Juli
antwortete Mengs kurz, er werde nicht verfehlen
zu gehorchen, sobald er das große Altarbild vollendet
haben werde. Ein Jahr später aber war er immer
noch nicht abgereist. Der siebenjährige Krieg warf
bereits seine Schatten voraus. Seit dem September
1755 waren die sächsischen Ehrengehalte an Mengs
und seine Schwestern nicht mehr bezahlt worden.
wertet Brühl darauf: „Pour ce qui regarde les offres
de la Cour de Naples, vous avez tres bien fait de
n’avoir rien demande, aussi ne convient-il pas ä une
personne engagee au Service du Roi de faire des
conventions, mais de laisser le tout ä la generosite
de LL. MM. Siciliennes.“ — Nun aber wurde Mengs
ungeduldig. Am 25. Juni 1756 schrieb er an Brühl:
Ich fühle vollkommen die Richtigkeit der Bemerkungen
Euerer Excellenz in Bezug auf die Anfragen von
J74
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
Neapel, erwarte nun aber von der Gnade Euerer
Excellenz auch die Mittel, ihnen folgen zu können,
(,les moyens de pouvoir les executer“). Mengs scheint
fast der größere Diplomat von beiden gewesen zu
sein Als Brühl, der alle Hände voll mit dem Abschluss
der Bündnisse und den Kriegsvorbereitungen gegen
Preußen zu thun hatte, nicht gleich antwortete, schrieb
er am 3. Juli noch einmal: Der Herzog von Gerizano
liabe ihm nochmals Geld und Reisekosten angeboten,
er aber habe, seinen Weisungen entsprechend, aber¬
mals abgelehnt; nun müsse Brühl aber auch Ernst
machen und Geld schicken; 100 Zechinen monatlich
er in Rom aus; zweilmndert Zechinen monatlich
werde er auf der Reise gebrauclien; Brühl möge
sofort 1000 Zechinen scliicken, auf die er übrigens
bereit sei, sich sein rückständiges Gehalt anrechnen
zu lassen,"sonst könne er die Reise nicht unternehmen
.comnie un ])eintre envoye par un Roy ä un autre
Roy“, .fetzt war an Brühl die Reihe ungeduldig zu
werden. Er beschwert sich in einem Briefe vom
20. Juli 17Ö0, dass Mengs ihn immer missverstehe.
«Vous avez mal fait de refuser l’olfre de Mr. le Duc
de Gerizano; et vous ne deviez rien demander, pour
ne pas faire uue marchaudise, mais accepter ce
qu’on vous offre.“ Seine Geldforderung aber sei
viel zu hoch, sie sei „au delä de la depense d’un
ministre“. — Vierzehn Tage darauf wurde Sachsen
vom Heere Friedrich's des Großen überschwemmt.
Brühl schickte natürlich kein Geld, und Mengs’ Reise
nach Neapel zog sich noch fernere zwei Jahre
hinaus.
In Rom hatte er, wie wir gesehen haben, auch
noch genug zu thun. In Rom beschäftigte ihn, nach
der Vollendung des Deckenbildes in S. Eusebio, die
Ausführung des Altarbildes für Sulmona. In Rom
wollte gleich nach seinem Regierungsantritt 1758
Papst Clemens XIII aus dem venezianischen Hause
Rezzonico von ihm gemalt sein; und Mengs malte
ihn zweimal; das eine der Bildnisse befindet sich jetzt
in der Pinakothek zu Bologna. In Rom führte er
nun aber doch auch schon für den König von Neapel
das Altargemälde der Darstellung Mariae im Tempel
aus, das noch heute die mit Marmor, Gold und
Lapislazuli verschwenderisch ausgestattete Kapelle des
Lustschlosses Caserta schmückt.
Dieses Bild selbst zu überbringen und seine
ferneren Dienste anzubieten, reiste er endlich um
die Jahreswende 1758 auf 1759 nach Neapel. Mit
dem dortigen Hofe sich zu einigen, hatte er in¬
zwischen ja Zeit genug gehabt. In Neapel fand er
Friedrich August der Gerechte als Kind.
Pastellhild von A. R. Mengs. (Kgl. Galerie in Dresden.)
ISMAEL END ANTON RAPHAEL MENGS.
175
alles iii Aufregung und Umwälzung begriffen. Der
König von Spanien war gerade gestorben. Karl IV.
von Neapel bestieg als Karl III. den spanischen
Königsthron. Sein Sohn, der blutjunge Ferdinand IV.,
blieb als König beider Sizilien zurüch. Obgleich das
kunstsinnige Herrscherpaar im Begriffe war, nach Ma¬
drid abzureisen, nahm es sich doch die Zeit, Mengs aufs
liebenswürdigste zu empfangen. Der König und die
Königin waren so entzückt von dem jungen deutschen
Maler, dass sie sofort beschlossen, sich nicht mehr
von ihm zu trennen. In Neapel sollte er nur einige
Hofdamen und den jungen König Ferdinand IV.
malen, dessen geschmackvoll angeordnetes und liebe¬
voll durchgeführtes jugendliches Bildnis sich im
Madrider Museum (ein anderes im Neapler Museum)
erhalten hat. Dann sollte er nach Madrid nach-
kommen. Unter Bedingungen, wie sie noch niemals
einem Künstler gestellt worden waren, sollte er erster
Maler des Königs von Spanien werden; 6000 Scudi =
24 000 Mark (man vergegenwärtige sich dazu den
damaligen Geldwert!) Jahresgehalt, freie Wohnung,
Wagen, Pferde und Bedienung wurden ihm angeboten.
Mengs nahm um so unbedenklicher an^ da die Ge¬
haltzahlung von Sachsen längst ganz ausgeblieben
war und er sich daher nicht mehr an den dortigen
Hof für gebunden hielt. Auch blieb er ja in der
Familie August’s HL, und diesem mochte es bei der
großen Geldnot, in die er durch die Drangsale des
siebenjährigen Krieges geraten war, nicht unlieb
sein, seinen berühmten Oberhofmaler an seine Tochter
abzutreten.
Sofort konnte Mengs aber noch nicht nach
Spanien abreisen. ln Rom hatte er dem Kardinal
Albani versprochen, seine Villa mit einem Decken¬
gemälde zu schmücken. Auch zahlreiche andere
Aufträge hatte er dort noch zu erledigen. Er vei*-
brachte zunächst noch zwei arbeitsreiche Jahre in
der ewigen Stadt. In den Arbeiten, die er um 1760
dort ausführte, kam in Stil und Stoffen seine durch
Winckelmann veranlasste antikisirende Richtung nun
erst voll zum Durchbruch : hatte er in Neapel doch
auch schon Gelegenheit gehabt, einen Einblick in
die herculanischen Entdeckungen zu thun!
Das Deckengemälde in der Villa Albani zu Rom
ist Mengs’ bedeutendstes Werk außerhalb Spaniens.
Raphael Morghen stach es. Alle Welt bewunderte
es. Es ist noch heute in voller Farbenfrische er¬
halten. Dargestellt ist Apollon, auf dem Parnass
von den neun Musen umringt, im Begriff, einer
neben ihm thronenden Dichterin den Lorbeerkranz
aufs Haupt zu setzen. Hier sind die letzten Reste
der „Untersicht“ verschwunden. Das Bild ist nur
von einer Seite zu sehen, als sei es ein an die Decke
geheftetes Wand- oder Tafelgemälde. Um aber zu
zeigen, dass er, wenn er wollte, auch „di sotto in sü“
malen konnte, stellte Mengs in den beiden kleineren
Seitenfeldern der Decke zwei Genien in der alten,
für die Untersicht verkürzten Art dar. Es ist nicht
nötig, hier auf das bekannte Hauptbild näher ein¬
zugehen. Friedrich Pecht sagt nach einigen Ein¬
schränkungen, er wisse auch heute noch niemand
in ganz Europa, der ein Bild in Fresko so zu
malen im stände wäre und auch nur halbwegs in so
dringende Gefahr dabei geraten könnte, wie Mengs,
mit Raphael selbst verwechselt zu werden. Dass
freilich, von anderen Vorzügen abgesehen, die Ge¬
stalten auf Raphael’s Parnass im Vatikan in viel
innerlichere und lebendigere Beziehung zu einander
gesetzt sind, als dies auf Mengs’ Bilde geschehen, ist
schon oft bemerkt worden; und dass der antikisirende
Zug, der hier in des Meisters Linienführung hinein
gekommen ist, nicht eben erwärmend wirkt, ist
selbstverständlich. Die Stilwandlung, die Mengs
durchgemacht, wird besonders deutlich, wenn man
seine Dresdener Magdalena mit diesem Bilde vergleicht.
Einen aus Azara’s Besitze stammenden Entwurf
zum Parnasse bewahrt die Ermitage zu St. Peters¬
burg. Dies ist eins der wenigen Bilder, auf die der
Meister seinen Namen gesetzt. Die Inschrift lautet:
ANT: RAPH: — MENGS — SAXO — MDCCLXI. —
Es ist beachtenswert, dass er sich hier noch aus¬
drücklich als Sachsen bezeichnet.
Ein anderes antikisirendes Bild, das Anton
Raphael um diese Zeit malte, war „Kleopatra zu
Füßen des Augustus“. Er malte es für einen gewissen
Mr. Hör in England. Ein lehrreicher Brief des
Meisters an Mr. Hör, in dem er sich eingehend über
dieses Bild auslässt, hat sich erhalten (Fea p. 370).
Er schrieb ihn am 27. Juni 1761 in Rom, nicht
lange vor seiner Abreise nach Spanien. Vielleicht
ist dies Mengs’ Bild „Antonius und Kleopatra“, das
sich nach Waagen (Treasures of Art I p. 394), der
es jedoch nicht selbst gesehen, im Stourhead House
in Wiltshire befand. Jedenfalls ist es nicht das von
R. Earlom 1784 in Schwarzkunst vervielfältigte Ge¬
mälde des Meisters, das ebenfalls eine Zusammen¬
kunft zwischen Augustus und Kleopatra darstellt.
Denn einerseits passt die Beschreibung jenes Bildes
nicht zu diesem, auf dem Cäsar am Lager der Kleo¬
patra sitzt, andererseits befand sich das Original des
Earlom’schen Blattes 1784 im Besitze des Generals
von Callenberg in Dresden und Earlom stach es
176 KLEINE MITTEILUNGEN.
nach einer Seydelmann’schen Zeichnung. Jetzt aber klang der Kunst N. Poussin’s oder wie ein Vorklang
befindet es sich in der Galerie Czernin zu Wien. der Art J. L. David’s.
Seiner Formensprache nach Avirkt es wie ein Nach- * *
(Fortsetzung folgt.)
KLEINE MITTEILUNGEN.
KUNSTGESCIIICHTLICHE FINDLINGE.
Eine liadirmuj des Prvnxen, jetzigen Königs Albert von
Sachsen (1841). Es dürfte wenigen bekannt sein, dass Se.
Majestät der König Albert von Sachsen einst, als das sieg¬
reiche Schwert noch in der Scheide ruhte, auch den Griffel
geführt hat. (Eine Bleistiftzeichnung — bärtiger Kopf —
aus dem Jahre 1841 und an den Erzieher von Lengenn ge¬
schenkt, befindet sich schon lange im K. S. Hauptstaats¬
archive.) In einer Berliner Autographenauktion, die ich
188(1 dienstlich besuchte, kam mir nun ein Exemplar der
seltenen Radii’ung des dreizehnjährigen Prinzen aus dem
vorgenannten Jahre vor, die sich jetzt ebenfalls in der er¬
wähnten Aktensammlung befindet. Dargestellt ist angeblich
Herzog Athrecht der Beherzte, der Stammvater des Königs¬
hauses Sachsen. Auch sonst ist dieser erlauchte Ahnherr-
früher nach dem Porträt Kurfürst Friedrich des Weisen (!)
dargestellt worden. Vielleicht können diese prinzlichen Ar¬
beiten einmal wiedergegeben werden. Heute genüge der
Hinweis auf das denkwürdige Stück und dessen hohen
Schöpfer, dessen Name auch daruntersteht.
Blasewitz-Dresden. THEODOR DISTEL.
Ein Hagdn- Porträt von Posier (179i)). Im Nachlasse
des am 16. Dezember 1842 zu Leipzig verstorbenen weimarischen
Hofrats Johann Friedrich Pochlitz, befand sich u. a. auch
ein Porträt Uaydn’s, welches Felix Mendelssohn-Bartholdg
nebst einem Schenkungsschreiben erhielt. ‘) In den betref¬
fenden Akten des Amtsgerichts Leipzig Ni-. 4 (K. S. Haupt¬
staatsarchiv Nr. 512 von 1887) wird als Maler desselben
Anton flraff genannt. Verzeichnet nun auch Muther in
seiner Graff -Monographie dieses Bild nicht, so forschte ich
ihm, da dort z. B. auch die von Brrtrand der K. Ge¬
mäldegalerie zu Dresden geschenkten Stücke desselben Künst¬
lers unerwähnt geblieben sind, weiter nach und fand es
endlich im Besitze der Tochter Mendelssohn’s, Frau Marie
Beneche, Norfolk Lodge, London. Die von Rochlitz in seinem
bereits gedruckten Testamente berührten handschriftlichen
Bemerkungen eigener Hand befinden sich noch darauf, wie
auch genannte Dame das angezogene Rochlitz’sche Schreiben
bewahrt. Danach ist das Porträt nun nach dem Leben
in Sitzungen und zwar von Johann Karl Rösler (geb. zu
Görlitz am 18. Mai 1775, gest. zu Dresden am 20. Fe¬
bruar 184.5), 1700, kurz nach des Originales zweitem Lon¬
doner Aufenthalte, gemalt und ihm sprechend ähnlich. Eine
grolle Sammlung von Stichen u. s. w. vermachte übrigens
Rochlitz der Großfürstin Panloirna. Die Sammlung ist dem
Großherzoglichen Museum zu Weimar einverleibt worden.
Dresden. THEODOR DISTEL.
1) .Seine eigenhändig vollzogene (Juittung darüber liegt bei den
angezogenen Akten.
Die Frühjahrsausstellung der Sezession in München
(Verein bildender Künstler Münchens) ist am 15. März vor¬
mittags 10 Uhr ohne weitere Feierlichkeiten eröffnet worden,
eine moderne Elitebilderschau von so eigenartigem Gepräge,
wie es kaum je eine deutsche Ausstellung aufwies. Ein
eigentümlich frischer, freudiger Zug geht durch diese Bilder,
es spricht alles so unmittelbar, so persönlich zum Beschauer,
und wenn auch durchaus skizzenhafte und flüchtige Schö¬
pfungen nicht überwiegen, so berührt andererseits gerade das
Fehlen mühsam und mit großem Apparat geschaffener Aus¬
stellungsbilder angenehm und behaglich. Zudem hat wohl
noch nicht leicht eine Hängekommission unter so günstigen
Bedingungen gearbeitet wie hier. Die relativ geringe Zahl
von Kunstwerken — 315 Nummern zählt der Katalog —
konnte in den geräumigen Sälen unter Aufwendung jeder
denkbaren Rücksicht auf Licht, Farbenklänge der Umgebung
u. s. w. untergebracht werden, so dass jedes Bild für sich
allein in Muße und ohne jede Störung aus der Nachbarschaft
betrachtet werden kann. Wie sehr dies den Genuss des Be¬
schauers erhöht, wird von allen Besuchern dankend aner¬
kannt. Mit wenigen Ausnahmen sind die bekanntesten älte¬
ren und jüngeren Mitglieder der Sezession vertreten, ferner-
zahlreiche andere Münchener Künstler, auch Mitglieder der
„Münchener Künstlergenossenschaft“ und Ausländer. Die
Ausstellung dauert bis zum 1. Mai. Schon am ersten Tage
wurden von S. K. H. dem Prinzregenten, sowie von Privaten
Gemälde gekauft.
Berlin. Im Kunstauktionshause von R. Lepke, Koch¬
straße 28/29, kommt am 10. April und den folgenden Tagen
die Aquarellsammlung des Herrn Ferdinand Schönemann
zur Versteigerung. Dieselbe umfasst 801 Nummern, unter
denen die Namen unserer bedeutendsten Aquarellisten ver¬
treten sind. Auch die sehr praktischen drei Aufbewahrungs¬
schränke kommen mit zur Versteigerung. Der Katalog ist
soeben erschienen und wird von der genannten Firma auf
Wunsch kostenfrei zugesandt.
* Die landschaftliche Radirung von F. Völlmy (München),
welche diesem Hefte beiliegt, errang bei dem von uns aus¬
geschriebenen Wettbewerb einen zweiten Preis. Es ist ein
ernstes Motiv italienischen Charakters von eigentümlicher
Poesie, durch die groß und feierlich wirkenden Cypressen
an Böcklin’sche Landschaften erinnernd. Auch die dunkle
Gestalt, die zwischen den hohen Gartenmauern einsam daher¬
schreitet, klingt an den Baseler Meister an. Der Radirer
ist in der Behandlung der Platte jedem Detailreiz aus dem
Wege gegangen; an einzelnen Punkten wünschte mancher
Betrachter des Blattes daher vielleicht mehr Vollendung.
Aber dafür wirkt die Ätzkunst hier in ihrer vollen Frische
und Schlichtheit; es mischte sich nichts Äußerliches ein in
den bestimmt und gehalten angeschlagenen Ton.
Herausgeber: Carl von lÄitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
h’hotogravure Meisenbach Riffarth & Co, .Berlin.
verlaß v:E.A. Seemann, Leipzig.
AU GUS TUS UND KLEOPATRA
f Galerie Czernin in Wien]
LruckvFABrockliaus Leipzig.
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I /
- .
ZAKYNTHOS.
Zwei venetianische Renaissancepaläste.
MIT ABBILDUNGEN.
ANTE — fiordel Levante! Man
muss wochenlang unter den
Bauern des Peloponnes gelebt
haben und, von Pyrgos kom¬
mend , in den Hafen von
Zante einfahren, um diesen
jauchzenden Ruf recht aus
vollem Herzen auszustoßen.
Endlich wieder europäische Kultur, endhch wieder
ein Stadtbild, das schon in der Gesamtanlage Ge¬
schmack, beim Näherkommen sorgsame Pflege ver¬
rät. Endlich wieder eine Atmosphäre, in der es
nicht ausschließlich nach Hammel riecht und bäu¬
rische Schlauheit die einzig gangbare Münze ist,
mit der man zu rechnen hat. Kurz, endlich wieder
Menschen, die noch etwas anderes kennen als die
gemeinsten Lebensinteressen und Erholung suchen
im Genüsse geistiger Güter.
Ein halbkreisförmiger Hafen und ein dominiren-
der Bergrücken im Hintergründe, die Abhänge und
Quais entlang die Häusermasse, — diesen verbreite¬
ten Typus zeigt auch die Hauptstadt der Insel
Zante. Zur Rechten des Einfahrenden die Piazza
mit den der Öffentlichkeit dienenden Gebäuden, die
andere Seite zur Linken abschließend mit einem
vorgeschobenen Kirchenbau. Der Berggipfel ge¬
krönt von einem imposanten Kastell, um das herum
Gärten, in südlicher Üppigkeit prangend, sich hin¬
ziehen und eine Straße verdecken, die rechts über
die Passhöhe nach dem Inneren der Insel führt.
Dort oben eröffnet sich dem Blick das wunderbarste
Panorama: auf der einen Seite die See und die
Küsten des Peloponnes, auf der anderen eine weite
Ebene, von einzelnen Häusern belebt, die, zwischen
die Saatfelder eingestreut, bis hoch hinauf an die
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V H. 8.
Abhänge der umschließenden Höhen reichen. Zu
Füßen malerisch aufgebaut der Hafen, die Stadt, das
Kastell selbst und die herrliche Vegetation. Der
des öden Peloponnes müde Wanderer erlabt sich
an dieser Fernsicht und wird durch die Natur selbst,
wie durch die höhere Kultur auf die Nähe Italiens
hingewiesen.
Diesen Eindruck verstärkt ein Gang durch die
Stadt. Dieselbe gruppirt sich um die von der Piazza
nach dem anderen Ende, dem Hafendamm parallel,
zwischen den Häusern sich hinziehende Mittelstraße,
die schon darin oberitalischen bezw. ursprünglich
syro-byzantinischen Ursprung zeigt, dass die Trot¬
toirs beiderseits von Kolonnaden überdeckt werden.
Ich greife aus der Masse beachtenswerter Bauten
zwei an dieser Hauptstraße stehende Paläste heraus,
von denen ich weder Namen noch Vorgeschichte
kenne. Vielleicht existiren sie selbst heute nicht
mehr in dem Zustande, den meine photographischen
Aufnahmen aus dem Jahre 1889 zeigen, vielleicht
haben die furchtbaren Erdbeben der letzten Zeit
auch sie vernichtet.
Der eine Palast, ein massiver Quaderbau von
zwei Stock Höhe und fünf Axen Breite, tritt mit
jener ernsten Würde auf, die seine florentino-römi-
schen Ahnen offenbar macht. In indirekter Abfolge
vom Palazzo Ruceflai und der Cancellaria abstam¬
mend, zeigt seine Fassade das System von drei über¬
einandergestellten Pilasterordnungen, doch so, dass
ihm durch Verschärfung aller Ausdrucksmittel deut¬
lich der Charakter des hohen 16. Jahrhunderts auf¬
gedrückt wird. Die beiden unteren Stockwerke hal¬
ten sich an das, seit 1500 etwa durch Bramante
eingeführte dorische Schema des Marcellustheaters:
schwere, massive Pfeilermassen bilden die unteren
23
l'alast in Zante.
ZAKYNTHOS.
179
Arkaden. Der durch geränderte Keilsteine ge¬
gliederte Bogen reicht bis an den Fries und hat
in der Mitte nach Art der antiken Triumphbogen
ein Konsol. Die Pilaster und der Triglyphenfries
zeigen jene typischen Formen, wie sie durch Serlio-
Vignola für die dorische Form fixirt worden waren.
Die beiden oberen Pilasterreihen stehen auf hohen,
den Fensterbalustraden entsprechenden Postamenten
und sind unten ionisch, oben korinthisch ') durch¬
gebildet, so dass der Bau, der Vorschrift der Sti¬
listen entsprechend, oben mit dem korinthischen
Konsolengesims abschließt.
Das, was nun der Fassade die besondere ernste
Würde giebt, ist außer den mächtigen Arkaden¬
stützen, auf denen sie ruht, noch dreierlei. Fürs
erste sind auch die oberen Stockwerke in Rustika
behandelt und zwar nicht nur die Wandflächen selbst,
sondern auch die vortretenden Pilaster, so dass also
dieses Motiv hier, nur gemäßigter, in derselben Art
dominirend hervortritt, wie etwa an Ammanati’s
Hoftrakt des Palazzo Pitti in Florenz und der Zecca
des Jacopo Sansovino in Venedig. Diese tragenden
und füllenden Rustikamassen werden zum zwei¬
ten durchbrochen von großen Fenstern, die nicht
minder scharf acceutuirt in allen ihren Gliedern
sind. Zunächst eine Umrahmung, deren einfache
Profilirung den Kontrast zwischen Mauer und Öff¬
nung scharf hervortreten lässt. Dann nach oben
im unteren, ionischen Stockwerke Giebel, im oberen,
korinthischen Lünetten, beide Reihen mit kräftiger
Schattenwirkung vorspringend. Ihnen entsprechend
am unteren Ende der Fenster drittens kompakte
Balustraden, die in ihrer Aufeinanderfolge, zusammen
mit den Pilasterpostamenten, zu dem überaus domi-
nirenden Hervortreten der horizontalen Gurtgesimse
beitragen.
Gehen wir über zur Frage nach der Zeit und
Person des Schöpfers dieser wirkungsvollen Archi¬
tektur, so lässt sich wohl mit Bestimmtheit behaup¬
ten, dass derselbe der Zeit nach 1550 angehören
muss und dem venetianischen Geschmacke huldigt.
Denn in Rom tritt um 1540 ein Rückschlag von
seiten der auftraggebenden Kirche in der Weise ein,
dass sich auch auf dem Gebiete der Architektur das
Hervortreten gewisser oder besser eines autorita¬
tiven Dogma’s geltend macht, welches bei der Fas¬
sadenbildung in dem dominirenden Hervortreten der
1) Vom Zeichner sind leider die oberen Pilastercapitelle
ionisch gemacht. Auch hat er die Rusticirung der ganzen
Fassade ungenügend angedeutet.
vertikalen Mitte bei Kirchen, der horizontalen Mitte
bei Palästen seinen weitesten Ausdruck findet. Eine
Koordination aller Teile untereinander, wie sie die
in Rede stehende Fassade von Zakynthos zeigt, ver¬
bunden mit durchgehender Verwendung von Quader¬
material, ist im Zusammenhänge mit diesen, unzwei¬
felhaft der Zeit nach 1540 angehörenden Detail¬
gliedern in Rom unmöglich. Ebenso in Florenz,
wo zwar der alte republikanische Geist der Renais¬
sance auch in der Architektur länger nach wirkt,
aber die charakteristischen Merkmale des völligen
Verfalles, d. h. eine Unruhe annimmt, die in deut¬
lichem Kontrast zu der vollendeten Ruhe steht, die
der Palast von Zakynthos atmet. Dagegen treffen
an ihm alle Merkmale zusammen, welche berech¬
tigen, ihn der durch Jacopo Sansovino in Venedig
inaugurirten Richtung zuzuweisen.
Im geraden Gegensatz zu dem Ernst der erst¬
besprochenen Fassade steht die zweite: die auf das
Zierliche gerichtete Zuckerbäckerphantasie eines
Dilettanten oder Banausen scheint ihn geschaffen
zu haben. Nur zwei Axen breit, scheint er ur¬
sprünglich auch nur ein Stockwerk gehabt zu haben;
das zweite dürfte vielleicht erst später aufgebaut
worden sein. Auch diese Fassade ruht auf Quader¬
bogen. Die Pfeiler sind in der einfachsten Art
durch Abfasung aus der viereckigen Deckplatte in
den achteckigen Stumpf überführt, etwa so, wie
das an türkischen Bauten sehr häufig zu beobachten
ist. Im ersten Stockwerke nehmen zwei Fenster eine
Thür mit Balkon in die Mitte. Der schmiedeeiserne,
stark ausgebauchte Balkon ruht auf drei Konsolen,
die nach vorn in Köpfe ausgehen, je einen weib¬
lichen an den Seiten und einen männlichen in der
Mitte. Die Thür wird von zwei dünnen Säulchen
flankirt, die sich nach oben zu stark verjüngen und
mit kräftig herausgearbeitetem Weinlaub umrankt
sind. Sie tragen schwere, korbartig ausladende
korinthische Kapitelle und Verkröpfungen, die, mit
einer Maske geschmückt, den über der rundbogigen
Thür hinlaufenden Architrav stützen. Dieser Auf¬
bau, welcher ohnedies nach oben hin so sehr an
Gewicht zunimmt, dass man jeden Moment das Aus¬
weichen der Säulen eintreten zu sehen glaubt, schließt
mit einer, aus zwei zu Seiten einer Blattknospe ge¬
lagerten weiblichen Gestalten bestehenden Krönung,
welche das alte Kranzgesimse, das in stark ver¬
kümmerter Ausladung reichen Ornamentschmuck auf¬
weist, durchbricht. Die zu dicht an die Maner-
ecken gerückten Fenster ruhen auf einer im Viertel¬
kreis vorspringenden Bank, die in durchbrochenem
23*
180
ZAKYNTHOS.
Relief eine von Ranken durchsetzte Wiederholung
der figürlichen Thürkrönung zeigt.
Diese Fassade würde eine bescheiden malerische
zwischen einem Blumenparterre und einer durch
Wasserstürze belebten Baumterrasse eingeschoben
wäre. Thatsächlich lehnt sie sich denn auch an
l’alast in Zante.
W irkung erzielen, wfain sie statt in einer Reihe mit
dfin ersihesproclienen Hau an einer kolonnadenge-
säumlen Straße, etw'a in einer suhurhaueu Villa
den ländlichen Stil, wie er sich zwar nicht in der
römischen Schule eines Raffael, wohl aber unter den
Händen der Florentiner und Venetianer Epigonen
BRIEG.
181
entfaltete. Auf venetianischen Einfluss weist mit
aller Entschiedenheit die Anwendung des Kielbogens
zum Abschluss der Fenster und die gotisirende Um¬
rahmung desselben mit aufstrebenden Blättern, wo¬
für das bekannteste Beispiel die Fassadeukrönungen
von S. Marco sind.
Es hat denn auch gar keine Schwierigkeit, für
beide Paläste die Möglichkeit einer Einwirkung der
venetianischen Kunst nachzuweisen. Denn die Insel
belangte, nachdem sie aus den Händen der Griechen
und der Normannen von Sicilien im Jahre 1479 in
diejenigen der Türken übergegangen war, schon
zwei Jahre später in den Besitz der Venetianer, die
sich dort bis zum Frieden von Campo Formio 1797
behaupteten, ln dieser Zeit sind die beiden Paläste
entstanden, der eine vielleicht unter der Leitung
eines Architekten aus dem Kreise des Jacopo San-
sovino.
Graz, 1893. JOSEF STRZYCiOW SKI.
BRIEG.
VON .4. JON ETZ.
(Schluss.)
\LD nach Fertigstellung des
Gymnasiums übernahm Mei¬
ster Baar (1570) im Beisein
des auf die Verschönerung
seiner Stadt bedachten Für¬
sten den Neubau des 1569
durch Brand vernichteten
Rathauses und führte den¬
selben, von seinem Schwiegersöhne Niuron unter¬
stützt, bereits 1572 zu Ende. Die Künstler haben
damit der Stadt ein Bauwerk geschenkt, das, bis
heute gut erhalten, durch seine malerische Schön¬
heit weithin bekannt ist. Aber diese Wirkung
haben sie durch weit einfachere Mittel erreicht
als beim Schlosse. Von schönen Verzierungen ist
keine Rede, wenn nicht etwa die jetzt kahlen
Wände einst von Sgrafflten bedeckt waren. Die
Schönheit des Baues liegt vielmehr in den kräf¬
tig gegliederten und wirksam gruppirten Bau¬
massen. Wiederum wird der Gegensatz benützt.
Die leichte, offene, unten von fünf dorischen Pfei¬
lern, oben von Holzsäulen getragene Halle auf der
Westseite wird von zwei schweren, bollwerkähn¬
lichen, etwas vorspringenden Ecktürmen begrenzt.
Dieselben sind bis zum Hauptgesims des Hauses
quadratisch, nehmen dann achteckige Form an und
werden schließlich von einer durchsichtigen Haube
bekrönt. Diese Anlage wird in ihrer malerischen
Wirkung durch das mächtig ansteigende, in der
Front mit drei Giebeln geschmückte und nach Nord
und Süd ebenfalls mit hohen Giebeln abschließende
Dach gesteigert. Und das Ganze überragt förmlich
als Höhepunkt des architektonischen Aufbaues der
gleichfalls erst quadratische, daun achteckige und
von einer zweimal durchsichtigen Haube bekrönte
Hauptturm. Die beste Vorstellung von diesem
schönen Bauwerk erhält der Leser durch die präch¬
tige Origiualradiruug Meister Ulbrich ’s (Heft 6).
Doch nicht bloß mit öflentlichen Bauten schmückte
sich Brieg damals, sondern das Beispiel des kunst¬
liebenden Fürsten bestimmte Adel und Bürgerschaft,
auch die Privathäuser, natürlich in bescheidenerer
Weise, künstlerisch auszustatten. So mag die vom
Schlosse nach dem Ringe führende Burgstraße, wo
die Adeligen und die italienischen Künstler ihre Woh¬
nung aufgeschlagen hatten ') , mit vielen schönen
Bauten geschmückt gewesen sein. Noch heute über¬
rascht das Auge die im Stile der Frührenaissance
gehaltene schöne, leider durch Tünche verunstaltete
Fassade des Hauses Nr. 6, dessen Portalbogen, Pi¬
laster und Fries mit reichen, in Zeichnung und Aus¬
führung ganz vortreölichen Ornamenten geziert sind,
die nach dem Urteil eines unserer erfahrensten
Kunstkenner 2) zu dem Besten gehören, was wir in
dieser Art in Deutschland überhaupt haben. Die
übrigen Bauten aus alter Zeit aber — über das
16. Jahrhundert dürfte kein Privathaus hinausreichen
— gehören der späteren Renaissance au. Bemer¬
kenswert ist, dass die Brieger Künstler vielfach
ihren eigenen Weg gegangen sind und ganz eigen-
1) Wernicke, a. a. 0. S. 10.
2) Lübke, Deutsche Renaissance 11, 083.
3) Abgebiklet bei Oitwein-Bischof, Deutsche Renaissance.
Abteilung XI, Blatt 18 u. 19.
182
BRIEG.
Mit ihm verwandt, aber in jeder Be¬
ziehung reicher ausgestattet ist das Haus
Ring 29 (Süß). Zunächst zeigt dieses einen
kleinen Vollgiebel in der Mitte, den zwei
größere, aber nur etwas über die Hälfte aus¬
geführte Giebel'seitlich umgeben. Die den Auf¬
bau gliedernden Säulen sind gleichfalls in
Kasten gestellt, die starken Konsolen bilden
auch hier einen Fries, aber geschickt sind über
denselben die verschnörkelten Zahlen 1-6-2-1
und die Buchstaben GVM verteilt, und dar¬
unter steht die Inschrift: fidus in perpetuum
benedicetur. Die Metallornamente endlich sind
bei diesem Gebäude in überreicher Fülle zur
artige, anderwärts nicht vorkom-
niende Ausschmückungen der Fas¬
saden geschaffen liaben. So hat
llrieg den Giel)elbau in charakte¬
ristischer ^Veis(! entwickelt. Dafür
ist znnäehst die höchst geschmack¬
voll in einen zierlichen Doppelgiebel zerlegte
front ries Ilairses Wagnenstraße 4 (Burkert) be-
zr-irdmeml. Auch die .schweren Konsolgesimse,
dir; in Kasten gestellten zwischen Säulen und die
inetallbeschlagartigen Ornamente, welche einzelne
Flächen belelren, sind merkwürdig. Das Haus ist
1097 vf)llendet, im 18. dahrhundert und 1889 teil-
wrn.sr* umgestaltet, aber erst ganz neuerdings in
M'iner feinen Symmetrie durch eine ini Erdge¬
schoss gebrochene zweite Thür gestört worden.
Bogen vom llauptpoi'tal des Piastenschlosses in Brieg.
BRIEG.
183
Anwendung gekommen; sie bedecken die ganze
Fläche der Fassade.
Zu den merkwürdigen Gebäuden Briegs gehört
sodann das im 18. Jahrhundert entstandene Eckers-
berg’sche Haus (Ecke Ring und Wagnerstr.). Es
ist wohl möglich, dass die ehemaligen Sgraffiten
des Schlosses oder des Rathauses die Anregung zu
der malerischen Ausschmückung dieses Hauses ge¬
geben haben. Alle Flächen des ersten und zweiten
Stockwerkes sind mit elegantem Stuckrankenwerk
geschmückt, das sich ehemals von dunklerem Grunde
abhob, heute aber denselben Farbenton zeigt, wie
die Flächen der Wände. Vom Ringe aus sieht man
die beiden Giebel, hinter welchen sich zwei parallel
laufende Dächer verbergen. Über dem Portal steht
eine Gruppe, welche einen mit einer Schlange käm¬
pfenden Adler darstellt.
Auch sonst bemerkt man am Ringe und in den
anderen alten Straßen Häuser mit schönen Portalen
und mit einfachen oder doppelten Giebeln ge¬
schmückt, Die Fassaden sind teils durch iouisi-
rende, teils durch korinthisirende Pilaster gegliedert,
die Flächen mit Ornamenten, namentlich mit Frucht-
schnüren, verziert. Die meisten dieser Gebäude ent¬
stammen wohl dem 18. Jahrhundert.
Schließlich besitzt Brieg noch ein anderes ehr¬
würdiges Denkmal des 16. Jahrhunderts, nämlich
das Oderthor. Dasselbe ist ein Rest der Befesti¬
gungsanlagen unter Joachim Friedrich (1586 — 1602).
Dieser Für.st ließ, da die seit dem 13. Jahrhundert
gegen die räuberischen Angriffe der Tartaren ange¬
legten Werke mangelhaft waren, den hohen Wall
vom Schlosse an der Oder entlang nach „altitalie¬
nischem Muster“ aufschütten und das schon 1581
begonnene, den Wall tunnelartig durchbrechende
Thor unter Leitung Niuron’s vollenden (1596), Erst
1844 wurde es bei Anlage der jetzt ein Stück strom¬
aufwärts führenden Brücke geschlossen. Einst das
schönste Thor Briegs, schaut es nunmehr, beiseite
gesetzt, düster in seine Umgebung hinaus. Der aus
starken, etwas verwitterten Sandsteinquadern gebil¬
dete Thorbogen trägt am Schlussstein das Wappen
der Stadt. Dasselbe zeigt auf dem von einem Engel
gehaltenen Schilde drei Anker oder nach der gewiss
richtigeren Lösung Grünhagen’s i) eine W olfssense
(Wolfsfalle), ein Symbol, welches an die Kämpfe
der ersten Ansiedler mit wilden Tieren erinnert.
Aus den Zwickeln lehnen sich bis an die Brust zwei
bärtige Krieger heraus, mit dem Helm auf dem
Haupt und so finsterem und drohendem Gesichts¬
ausdruck, als wollten sie schon dadurch den An¬
kömmling zurückschrecken. Der über dem Portal
sich erhebende, an den Seiten durch schlanke Kon¬
solen gestützte, durch kleine jonische Pilaster ge¬
gliederte Aufsatz enthält die von Greifen und Löwen
gehaltenen Wappen des Herzogs und seiner Gemahlin
Anna Marie von Anhalt-Zerbst. Auf dem Fries des
Hauptgesimses stand früher derselbe Spruch wie am
Schlosse: Verbum domini manet in aeternum.
Diese Befestigungen, welche unter Johann Chri¬
stian (1609 — 39) noch erweitert wurden, sollten bald
im dreißigjährigen Kriege ihre Probe bestehen. Die
letzten Jahre friedlicher Ruhe wurden der Stadt
durch das Wirken einer ausgezeichneten Fürstin aus
hohenzollernschem Stamme verschönt. Dorothea
Sibylla, vom Volke die „liebe Dorel“ genannt, war
die jüngste Tochter des Kurfürsten Johann Georg
von Bi’andeuburg und seit 1610 mit Johann Christian
von Brieg vermählt. Sie wurde der Liebling des
Volkes, und ihren edlen Sinn feierte man in Gedich¬
ten und Schriftwerken bis in die neuere Zeit. Am
Hofe Christian’s begann mau überhaupt die deutsche
Poesie zu schätzen, und der Begründer der schlesi¬
schen Dichterschule, Martin Opitz, Avar dort gern
gesehen.
Kaum war die Herzogin 1625 gestorben, da
begannen für Brieg die Unruhen des Krieges.
Schon 1626/27 erschienen Wallensteiner und „lagen
in Garnison zu Brieg“. 1633 musste die Stadt eine
sächsische und 1635 wiederum eine kaiserliche Be¬
satzung für lange Jahre aufnehmen und sich schweren
Leistungen unterziehen. 1642 wurde sie von den
Schweden unter Torstenson belagert. Die Bürger,
treu dem Kaiser, unterstützten die Besatzung so
tapfer, dass das Sprichwort aufkam: Brieg, Frei¬
burg, Brünn machen die Schweden dünn. Die Stadt
wurde zwar gehalten, aber das Land war durch
Plünderung und Brandschatzung arg mitgenommen.
Auch unter dem Hin- und Herziehen anderer Kriegs¬
scharen hatte es schwer gelitten. Darum vermochte
es sich später nur langsam zu erholen, obwohl die
Fürsten mit thätiger Fürsorge halfen und Erleich¬
terungen aller Art gewährten. ^)
Am meisten aber haben sich die Piasten in jener
Zeit darum verdient gemacht, dass sie gegenüber
den Bestrebungen der Gegenreformation die Reli¬
gionsfreiheit beschützten. Die Lichtensteiner hat
Brieg nicht kennen gelernt; und der evangelische
1) Grünhagen, Urkunden Briegs, S. 280 tf.
1) Schönwälder, Piasten III, 150.
IS4
BRIEG.
Haus Eckersberg in Brieg.
Teil der Bevölkerung muss dem Herzoge Johann
Cliristian dafür noch heute dankbar sein. Dieser
Schutz schwand freilich dahin, als ein Vierteljahr¬
hundert nach dem Kriege der Piastenstamm mit
Georg Wilhelm erlosch (1675).
Nunmelir nahm der Kaiser das Land in Besitz.
Er änderte zwar an der Verwaltung des Fürsten¬
tums nichts, aber er suchte die Bevölkerung wieder
der katholischen Kirche zuzuführen. Es bedurfte
des energischen Einschreitens Karl’s XII. von Schwe¬
den, um die 56 allmählich eingezogenen Kirchen
den Evangelischen wieder zu verschaffen. 1681
I
;1
4
J
Wohnhaus am Ringe in Brieg.
Zeitschrift fiir bildende Kunst. N. F. V. H. 8.
24
186
BRIEG.
kamen die Jesuiten nach Brieg. Sie entfalteten nach
und nach eine reiche Thätigkeit und erbauten 1735
bis 1745 ganz in der Nähe des Schlosses nach den
Zeichnungen des Paters Frisch die katholische Pfarr¬
kirche ad exaltationem crucis. Die Kirche ist mit
ihren stattlichen und maßvollen Formen eine Zierde
der Stadt. Die großen und hellen Raumverhältnisse
des Inneren in Verbindung mit reichen Verzierun¬
gen und vpirksamen, vom Pater Kube ausgeführ¬
ten Malereien an den Decken und über dem Hoch¬
altar verfehlen nicht den Zweck, auf Auge und
Gemüt zu wii'ken. Die Spitzen der Türme sind 1856
aufgeführt.
Mit der preußischen Besitznahme begann für
Brieg wiederum ein neues Leben; denn nunmehr
wurde es dem lebendigen Organismus eines großen
Staats Wesens eingefügt, dessen kräftigen Pulsschlag
es bald wohlthätig empfand. Diese Verschmelzung
war seitens der Fürsten mit Rücksicht auf die natür¬
lichen und kirchlichen Verhältnisse des Landes schon
lange vorbereitet worden. Bereits im Jahre 1417
begannen die Beziehungen zwischen den Piasten
und Hohenzollern; denn als Friedrich von Hohen-
zollern in Kostnitz mit Brandenburg belehnt wurde,
war Ludwig 11. von Liegnitz-Brieg (1399 — 1436) zu¬
gegen, und der Kaiser vermittelte die Verlobung
desselben mit der Prinzessin Elisabeth, der ältesten
Tochter des Hohenzollern. 2) Seitdem wurde die ein¬
mal angeknüpfte Verbindung im Laufe der Jahr¬
hunderte immer wieder erneuert, und wie innig
schließlich die-Bande zwischen den beiden Herrscher¬
familien wurden, dafür sind die Denkmäler Briegs
Zeugen. Denn Statuen, Stammbäume und besonders
die wiederholt an den Portalen der Gebäude ver¬
einten Wa])pen von Brandenburg und Brieg deuten
auf die Freundschaft der Herrscher und auf die be¬
absichtigte einstige Verschmelzung ihrer Länder.
Schon 1537 hatte der Piast Friedrich H. die Erb-
1) Derselbe war aucli beteiligt an den Fresken im Mnsik-
Hiuil und in der Aula der Dreslauer Universität.
2) Scliönwillder, Piasten 1, 233.
Verbrüderung mit Brandenburg geschlossen. 1675
erlosch das Geschlecht. Aber erst der Hohenzoller
Friedrich 11. vermochte die Erfüllung jenes Vertrages
mit Gewalt zu erzwingen. Freilich musste er, der
größte seines Stammes, dabei auch die besten Werke
des größten Piasten vernichten. Die Statuen beider
Männer stehen heute nicht weit von einander, die
eine am Portal des Schlosses in Stein, die andere
vor der Halle des Rathauses in Erz. Nicht vom
Alter gebeugt, wie die meisten Bildnisse König
Friedrich darstellen, sondern in feurigem Jugendmut
weist er, den Degen in der Rechten, mit der Linken
gebieterisch nach den nicht fernen Feldern von Moll¬
witz, wo seine Waffen den ersten Schlag zur Ge¬
winnung von Schlesien führten. Dies Denkmal hat
Brieg dem Andenken des Königs in voller Erkennt¬
nis seiner besonderen Verdienste um das Wieder¬
aufblühen der Stadt geweiht; denn abgesehen von
allem anderen wurde erst durch seine wiederholten
reichen Geldgeschenke die Errichtung zahlreicher
neuer, massiver Gebäude möglich, so dass die Stadt
ein ganz anderes Aussehen gewann. Zu den schön¬
sten Bauten jener Zeit zählt das ehemalige Kom¬
mandantenhaus (die jetzige Mohrenapotheke) mit
seinem von Säulen getragenen und von einem
schönen Eisengitter umschlossenen Balkon (s. unsere
Abb.). In diesem Hause pflegte Friedrich während
seines Aufenthalts in Brieg zu wohnen.
Auch die Festungswerke hat Friedrich sehr ver¬
stärkt. Aber schon 1807 wurden dieselben auf Be¬
fehl Napoleon’s geschleift. Die Schönheit Briegs
hat darunter sicherlich nicht gelitten, denn statt der
Werke umziehen die Stadt jetzt viel bewunderte
Promenaden. Auch die Vorstädte, welche bei den
Belagerungen wiederholt vernichtet worden waren,
haben sich seitdem mit schönen Villen und man¬
chem Prachtbau geschmückt, und in neuester Zeit
beginnt sich auch Brieg an dem Wiederaufleben der
deutschen Renaissance zu beteiligen, wie das neue
Postgebäude und das noch im Bau begriffene Haus
neben demselben beweisen.
DER MEISTER DES TODES MARIAE, SEIN NAME UND
SEINE HERKUNFT.
VON EDUARD FIRMENICH- RICHARTZ.
MIT ABBILDUNGEN.
AS Vorrecht, eineu der inter¬
essantesten Meister der vlä-
mischen Malerschule des 16.
Jahrhunderts in einer Mono¬
graphie eingehender behan¬
deln zu dürfen, ist von der
Lösung eines Rätsels abhän¬
gig, das uns der Meister des
Todes Mariä im Ermitteln seiner Persönlichkeit auf-
giebt.
Erst dem glücklichen Entdecker seines Namens
und seiner Herkunft kann es gelingen, uns ein un¬
trügliches und anschauliches Bild der Kunst des
Meisters darzubieten. Seit zwei Jahrzehnten ist denn
auch die allgemeine Spannung auf diese für die
deutsche und niederländische Kunstgeschichte epoche¬
machende Entdeckung intensiv gerichtet, ihr stetes
Ausbleiben glaubte man unwillig dem „traurigen Zu¬
stande der Urkundenforschung in Köln“ zur Last
legen zu müssen.
Ein solch’ glücklicher Fund im Kölner Stadt¬
archiv, welcher die rheinische Malerschule mit einem
neuen strahlenden Namen beschenken soll, erscheint
mir nun aber so gut wie ausgeschlossen, jedenfalls
sehr unwahrscheinlich. Unter den wenigen Gemälden
des Meisters vom Tode Mariä, welche nachweislich
in Köln entstanden sind, befindet sich nicht ein ein¬
ziges, das der Rat der Stadt oder eine dortige Bru¬
derschaft dem Künstler aufgetragen hätte, alle ver¬
danken Familienstiftungen ihre Entstehung. Der
Maler hat demnach auch niemals einen Vertrag mit
der Stadt abgeschlossen, in den Ratsprotokollen wird
sein Name fehlen , in den Rechnuugsbüchern der
Rentkammern sich kein Posten über Zahlungen an
ihn vorfinden.
Wäre also der Meister des Todes Mariä auch
wirklich in Köln heimisch und ein Mitglied der
dortigen Malergilde gewesen, so fehlte doch stets
der Zusammenhang zwischen dem Bürger und dem
Künstler, so lange wir keine bestimmte Nachricht
von seinen Arbeiten besitzen. Gerade die Kunst des
Meisters vom Tode Mariä belehrt uns jedoch im
Gegenteil, dass sein Aufenthalt und seine Thätigkeit
in Köhl nur vorübergehend und zufällig waren, dass
wir sein Domizil in Flandern zu suchen haben und
er jenen niederländischen Wandermalern beizuzählen
ist, deren Schöpfungen fast in ganz Europa zerstreut
sind. Seinen Namen der Nachwelt zu überliefern,
dürften die Kölner Behörden nicht die mindeste Ver¬
anlassung gefunden haben. Als Mitglied der Ant-
werpener Malergilde wird der Meister des Todes
Mariä auf die Erlangung des Bürgerrechtes in Köln
verzichtet haben und war somit von allen Ämtern
ausgeschlossen. Ebenso wird derselbe schwerlich in
Köln Grundbesitz erworben oder einer Bruderschaft
angehört haben, und zuletzt wollen wir zu seiner
Ehre auch noch hoffen, dass sein Name in den Thurn-
büchern und den Protokollen des Amtsgerichtes un¬
auffindbar ist.
Auch von anderen auswärtigen Malern des 16.
Jahrhunderts, deren vorübergehende Thätigkeit in
Köln verbürgt ist, war bisher keine urkundliche Er¬
wähnung beizubringen, und so lange die Pierre de
Mares, Hans von Melem, Scorel, Heemskerck u. a. in
24*
188
DER MEISTER DES TODES MARIAE, SEIN NAME UND SEINE HERKUNFT.
den Stadtbücliern fehlen, werden wir auch nach dem
Namen des Meisters vom Tode Mariä die verstaub¬
ten Schriftstücke umsonst durchstöbern.
Halten wir uns also lieber an seine Werke, um
den Schlüssel zu seinem Geheimnis zu finden! Wir
dürfen die Überzeugung hegen, dass ein Meister,
von dessen reger Thätigkeit und bedeutendem Ein¬
fluss Kirchen und Sammlungen nördlich und süd¬
lich der Alpen vollwiegendes Zeugnis ablegen, auch
in den Kunstannalen seiner Zeit nicht ganz mit Still¬
schweigen übergangen wurde.
Wir unternehmen es im folgenden, die zahl¬
reichen äußeren und inneren Beweisgründe zu ent¬
wickeln, welche uns veranlassen, den Meister des
Todes Mariä in einem vlämischen Maler zu suchen,
der den Liggeren der Antwerpener Malergilde, dem
Schilderboek van Mander’s und ebenso auch den ita¬
lienischen Kunstschriftstellern Guicciardini und Va-
sari wohlbekannt ist. Sein Name ist Joost van Cleve;
die Nachrichten von ihm und einem gleichnamigen
späteren Maler, die uns Karel van Mander i) über-
liefeide, sind überaus spärlich und verworren.
Der Bericht des holländischen Künstlerbiogra¬
phen ])eginnt mit der Bemerkung, dass er nicht
wisse, ob jener Joost van Cleve, der 1511 in die
Malergilde aufgenommen wurde, ein Vorfahr des
Malers Joost van Cleef mit dem Beinamen „de Zotte“
gewesen ist. Als den Vater dieses Narren Cleef be¬
zeichnet er den Maler Willem, der 1518 der Gilde
beitrat; dessen beide Söhne hießen jedoch Marten
und Hendrik. Von dem närrischen Cleef erzählt van
Mander ferner, dass er zur Zeit der Vermählung
Pliilipp’s II. von Spanien mit Maria Tudor, also im
Jahre 1554, nach England gereist sei in der Hoff¬
nung, dort durch Befürwortung des Hofmalers Antonis
Moor seine Gemälde zu verkaufen. Damals sei aber
eine Sendung köstlicher Bilder Tizian’s und anderer
italieni.scher Meister in London eingetroffen und diese
Kunstschöpfungen wären den Arbeiten des Cleef all¬
gemein vorgezogen worden. Missachtung und ge¬
kränkte Künstlereitelkeit hätten die Verrücktheit des
Malers zu Raserei und Tobsucht gesteigert, in der
Pflege seiner Freunde sei er dem Wahnsinn er¬
legen. Im Anhang fügt van Mander noch hinzu,
dass Joost van Cleef mit Marten und Hendrik ver¬
wandt gevvesen sei. Er konstatirt, dass es zwei be-
rOlimte Maler des Namens Joost van Cleef gegeben
habe, was auch Domenicus Larapsonius in seinen
1; Vergl. II. Ilymans, Le livre des peintres de Carel
van Mander (PXJ4). Paris 1884. I, S. 24311'.
2) Domenicus Lampsonius (1552 — 1509) bezeichnet in
Distichen zu des Malers Porträtstich von Hierony¬
mus Wierix bekräftigt.
Unter den Gemälden des Joost van Cleef nennt
er dann ein Madonnenbild, dessen landschaftlicher
Hintergrund von Joachim Patinir herrühren soll, der
1524 bereits verstorben war, während der Narr Cleef
seinen Angaben zufolge erst nach 1518 geboren
sein kann.
Will man nun im Gegensatz zu Lampsonius und
van Mander nur einen einzigen Maler Joost van Cleef
annehmen, der 1511 in die Antwerpener Gilde ein¬
trat und 1540 dort starb, so muss man mit H. Hy-
mans für die englische Reise des Künstlers einen
weit früheren Termin, etwa um 1536, ansetzen, in
welchem Jahre der Name des Joost van Cleef zum
letztenmal in den Liggeren erscheint. Hiermit würde
man dann ohne jeden triftigen Grund die ganze Er¬
zählung van Mander’s verwerfen, da das Schilder¬
boek ausdrücklich berichtet, dass der närrische Cleef
von der Gunst und Empfehlung des Antonis Moor
sein Glück erwartete. Dieser kam aber erst 1547
in die Antwerpener Gilde und war als Hofmaler
Philipp’s 11. thatsächlich 1553/54 in London anwesend.
Auch erzählt van Mander, dass die Schöpfungen
Tizian’s die Arbeiten des Cleef in London in den
Hintergrund drängten. Gemälde des großen Vene¬
zianers, dessen europäischer Ruhm etwa seit der
Zeit des Augsburger Reichstages datirt, dürften sicher¬
lich nicht vor dem Todesjahr des älteren Joost van
Cleef nach England gelangt sein. Gerade von dem
Selbstporträt des närrischen Cleef beim Earl Spen¬
cer, das dem Stich des Wierix zur Vorlage diente,
rühmte nun Waagen den warmen, den Venezianern
nahekommenden Ton der Färbung.
Auch kann es doch weit weniger auffallen, wenn
der Name des Narren in den Liggeren fehlt, als es
unwahrscheinlich sein würde, dass ein Künstler, dessen
überreizte Heftigkeit und maßloser Hochmut zur
Geisteskrankheit ausartete, dreimal zum Dekan ge¬
wählt wurde und zwischen 1516 — 1536 eine ganze
Anzahl Schüler heranbildete.
Einige treffliche Bildnisse, welche auf Grund
der Vergleichung mit seinen wohlbezeugten Selbst¬
porträts und dem Bilde seiner Gattin (in Windsor
seinen Versen (1572) allerdings den zweiten namhaften Maler
Joost van Cleef als den Sohn des Narren. In diesem Falle
müsste aber der jüngei'e Künstler ein Zeitgenosse des Dichters
gewesen sein, was dem Sinn der Distiche widerspricht; über¬
dies hieli des Narren Sohn Cornelius.
1) Waagen, Treasures of art II, p. 433; III, p. 32, 41,
42, 475.
DER MEISTER DES TODES MARIAE, SEIN NAME UND SEINE HERKUNFT.
189
Castle und beim Earl Spencer) dem närrischen Cleef
zugewiesen werden, stehen nach dem übereinstim¬
menden Votum der Kenner in Haltung und Form
etwa in der Mitte zwischen Holbein und Moro und
werden also nicht vor 1536 entstanden sein. In dem
ist uns vielleicht jenes Porträt erhalten, das ehemals
unter der Benennung Joost van Cleef in Rubens’
Besitz war. Es trägt auf der Rückseite die Be¬
zeichnung W’E'P’L'C' 52. Die Schrift stammt aus
dem 16. Jahrhundert und so dürfte die Vermutung
Salvator, Kopie nach Q. Massys. (Louvre zu Paris.)
überaus anziehenden Bildnis eines Jünglings, welches
aus Bienheim in das Berliner Museum gelangte,
1) Berliner Museum Nr. 633 A. Papier auf Eichenholz.
Aus Rubens’ Nachlass Nr. 225, der das Bild eigenhändig
kopirte (Münchener Pinakothek, Nr. 786). Vergl. W. Bode
in Thode’s Kunstfreund 1885, Nr. 17.
nicht ganz ausgeschlossen sein, dass die Zahl 52 das
Datum der Entstehung anzeigt. Die weiche Model-
lirung des Fleisches, die Zeichnung und vor allem
der Farbengeschmack weisen auf eine Beeinflussung
des Malers durch die Werke der großen Meister
des Cinquecento deutlich hin.
190
DER MEISTER DES TODES MARIAE, SEIN NAME UND SEINE HERKUNFT.
Vielleicht können wir annehmen, dass Joost van
Cleef de Zotte der Sohn jenes Antwerpener Malers
ist, den wir mit dem Meister des Todes Mariä identi-
fiziren. Sein Familienname war nach F. J. van den
Branden’s ') Ermittelungen wahrscheinlich van der
Bcke. Joost der ältere ist der erste Maler „van Cleef“
in Antwerpen und war offenbar aus seiner Heimat¬
stadt Cleve dorthin ausgewandert. Im Jahre 1511
trat er in die Gilde ein. Der betreffende Passus der
Liggeren^) lautet: „Joos van Cleeve, scildere woo-
nende by de capelle van Gratien betaelt voor syn
incomst j X sc. Brab.
1516, 1523, 1535 und 1536 werden junge Maler,
die Joost van Cleve ausbildete, zu Freimeistern er¬
nannt. ln den Jahren 1519, 1520 und 1525 beklei¬
dete der Künstler das x4mt eines Dekans der Gilde.
Joost war zweimal verheiratet, seine zweite Ver¬
mählung fand 1528 statt. 1540 machte er sein Testa¬
ment, wobei Peter Coeck als Zeuge fungirte. Er
starb 10. November 1540 in Antwerpen.
Das Schilderboek erzählt von ihm, dass er Ma¬
donnen von Engeln umgeben gemalt habe, und ein
solches Bild mag es auch gewesen sein, das van
Mander unter der Bezeichnung Joost van Cleef bei
Melchior Wijntgis in Middelburg antraf; den Hinter¬
grund bildete hier eine Landschaft, die er für ein
Werk des Joachim Patinir ansah.
Auch Guicciardini 3), dessen „descrittione“ Va-
sari in seinem Abschnitt über die berühmtesten
vlämischen Meister benutzte, kennt einen Antwerpe¬
ner Künstler Gios de Cleves, den er als einen aus¬
gezeichneten Bildnismaler und vorzüglichen Kolo¬
risten preist. Auf ihn soll die Wahl Franz’ I. von
fVankreich gefallen sein, als er einen Hofmaler suchte,
und Guicciardiiii berichtet, dass Joost van Cleve den
König, seine Gemahlin, auch viele Herren und Damen
des Hofes zur allgemeinen Befriedigung porträtirt
habe.
1) Vergl. F. .1. van den lü'andcn, Geschiedenis der Ant-
wer])Hclie .Scliilderschool. Antwerpen 1883. S. 204 tf.
2) Vergl. I’Ij. Roinbouts en Tli. van Lerius, De Liggeren
en andere Historische Archieven der Antwerpsche Sint Lucas-
gilde. .\ntwerpen en s’Gravenhage 1804 f. I, S. 75 ff.
3) Lodovico Guicciardini: Descrittione di tiitti i paesi
bassi altriiuenti detti Germania inferiore Anversa 1507: . . . .
„Gios di Cleves cittadino d’ Anversa rarissimo nel colorire,
et tanto eccellente nel ritrarre dal naturale, che hävendo
il Ile Francesco primo inandati qua huomini a posta, per
condurre alla Corte qualche maestro egi'egio, costui fu l’eletto
et condotto in Francia ritrasse il Ke et la regina et altri
I’rincipi con sonima laude et premi grandissimi . . . .“ Vergl.
auch Vasari, 11. Ausg. „di diversi artifici fiammenghi.“ Mi-
lanesi VII, 8. 583-
Aus dem Schilderboek wissen wir nun, dass
Franz 1. an Jan van Scorel nach seiner Rückkehr
aus Italien, also nach 1525, mit Anerbietungen heran¬
trat, der berühmte Utrechter Meister jedoch das Amt
eines Hofmalers ablehnte. Hierauf wird man sich
dann wohl an Joost van Cleve gewandt haben, doch
der urkundliche Nachweis seiner Thätigkeit in Frank¬
reich fehlt uns.i)
Betrachten wir nun die Gemälde des Meisters
vom Tode Mariä, die uns in reichlicher Anzahl er¬
halten sind. Sie könn'en die sicherste Auskunft über
die künstlerische Herkunft des Malers und seine
geistigen Errungenschaften bieten, auch mangelt es
da nicht an äußeren Kennzeichen, Signaturen, Wap¬
pen, Aufschriften, welche mit großer Zuverlässigkeit
auf ihren Meister zurückdeuten und dessen Identität
mit dem älteren Joost van Cleve überzeugend dar-
thun.
Bereits Hotho^) erkannte eine weitgehende Ver¬
wandtschaft der Werke des Meisters vom Tode Mariä
mit den Gemälden des Hochaltares in der Pfarr¬
kirche zu Calcar, welche Jan Joest von Haarlem
im Jahre 1508 vollendete. Die Ähnlichkeit zeigt sich
besonders in den Typen, der Durchsichtigkeit und
dem Schmelz der Karnation, erstreckt sich aber auch
auf bestimmte Physiognomieen , Bewegungen und
sonstige Motive. Diese Übereinstimmung erschien
dann Eisenmann so frappant, dass er den Meister
des Todes Mariä direkt mit Jan Joest identifizirte,
eine Annahme, deren Unhaltbarkeit durch die Auf¬
findung des Todesjahres des Jan Joest (1519) hin¬
reichend erwiesen worden ist.
Sein Schüler war es, in dem die Typen und
Gestalten des Jan Joest verjüngt fortlebten. Zur
Zeit der Entstehung des Calcarer Altarwerkes weilte
Joost van Cleve noch in der Heimat. Die umfassende
Kunstschöpfung in dem Nachbarort musste auf seine
jugendliche Phantasie den nachhaltigsten Eindruck
ausüben, wahrscheinlich nahm Jan Joest ihn auch
zum Lehrknaben an und während die noch unge¬
lenke Hand die Vorlagen des Meisters nachbildete,
jträgten sich diese Formen, Motive und Typen un¬
vergänglich seinem Geiste ein.
Den jugendlichen Meister des Todes Mariä finden
wir zunächst in der Kunstmetropole an der Schelde
1) Sandrart und Descamps lassen „Joost van Cleef“ auch
nach Spanien reisen.
2) Vergl. Hotho, Geschichte der deutsch, und niederl.
Malerei, 1813. II, S. 188.
3) Vergl. Eisenmann in der Augsburger Allg. Z. 28. Okt.
1874. — Kunstchronik X (1874), S. 74.
4) A. V. Willigen, Des artistes de Haarlem , 1870, p. 54,
191
DER MEISTER DES TODES MARIAE, SEIN NAME UND SEINE HERKUNFT.
unter dem Einfluss des Quinten Massys wieder.
Eine seiner frühesten dortigen Arbeiten ist eine Kopie
des Salvatorbildes von Quinten Massys, das etwa
um 1510 aus dessen Atelier bervorging. Die er¬
habenen, ernsten Züge seines Vorbildes bat der Meister
des Todes Mariä bei seinem Erlöser in das Zierlich-
Feine übertragen. Eine gewisse Unsicherheit haftet
noch an der Bildung dieser Augenlider, die über¬
schmale, segnende Hand ist sogar recht unglücklich
verzeichnet (Louvre zu Paris, Nr. 679).
Im Jahre 1511 trat Joost van Cleve in die Ant-
werpener Malergilde ein. — Das erste größere Werk
des Meisters vom Tode Mariä, welches wir mit eini¬
ger Sicherheit zu datiren vermögen, hat seinen Ur¬
sprung ebenfalls in den Niederlanden. Den Hoch¬
altar in der Reinolduskapelle der Danziger Ober¬
pfarrkirche schmücken außer den Gemälden unseres
Meisters noch einige trefiFliche Holzskulpturen, die
sich als vlämische Arbeit erweisen. Das Altarwerk
entstand um 1514/15, wie aus einem Posten der Rech¬
nungsbücher hervorgeht. Am 2. Nov. 1516 wurde
dasselbe feierlich eingeweiht. Von dem Meister des
Todes Mariä rühren die Flügelbilder her mit Scenen
aus dem Leben Christi und der Passion. Seine Dar¬
stellung des Abendmahles versah der Maler mit der
perspektivisch verkürzten Signatur welche sich
zwanglos in van der Beke auflöst.
Um 1515 — 1516 hielt sich der Meister des Todes
Mariä in Köln auf, wohin ihn die Familie Hakeney
berufen hatte, ein aus den Niederlanden stammen¬
des Patriziergeschlecht, welches durch mehrere Ge¬
nerationen am Rhein zu großem Reichtum und be¬
deutendem Ansehen gelangt war. Ritter Nicasius
Hakeney (f 1518) gewann als Kaiser Maximilian’s
Rat und Rechenmeister vielseitigen Einfluss und er¬
scheint auch als „maistre d’hostel“ am Hofe der Statt¬
halterin Margaretha von Österreich in Mecheln. Für
die Hauskapelle seines Rittersitzes am Neumarkt zu
Köln führte der Meister des Todes Mariä ein Tri-
1) Vergl. L. Kämmerer im Jahrb. der kgl. Pr. K. XI,
1890, S. 150 — 160, wo auch getreue Nachbildungen der Signa¬
turen. Das Zeichen bei vlämischen und holländischen
Malern vielfach üblich, muss hier ähnlich, wie bei dem
Monogramme des Crispin van den Broeck u. a., Präposition
und Artikel vertreten.
2) Nicasius Hakeney 1483 — 1518 nachweisbar. Vergl.
Zeitschr. f. ehr. K. VI, 1893, Nr. 11; vergl. Le Glay, Corres-
pondance de l’empereur Maximilien ler et de Marguerite
d’Autriche de 1507 ä 1519. Paris 1839. II, 313, 341; Briefe
vom 21. Dez. 1515 u. 18. Jan. 1516.
ptychon aus, dessen Hauptdarstellung, das Hinscheiden
der Gottesmutter, dem Anonymus einen Namen ver¬
schaffte. An einer Fensterscheibe im Gemache der hl.
Jungfrau brachte er wiederum seine Signatur, diesmal
vollständig an: (b undeutlich) = Joost van der
Beke und bekannte sich in der Fremde durch das
Wappen mit den drei silbernen Schilden im blauen
Feld ') gleichzeitig als Mitglied der Antwerpener
Malergilde (Wallraf- Richartz - Museum zu Köln,
Nr. 152).
Im Jahre 1516 malte er zum zweitenmal den
Tod Mariä für die Familie Hakeney (Pinakothek zu
München, Nr. 55 — 57). Bald darauf muss er nach
Antwerpen zurückgekehrt sein.
Im Jahre 1516 entließ „Joes van Cleve“ seinen
Lehrling Claes van Brugghe, 1519 und 1520 beklei¬
dete er die Würde eines Dekans der Gilde.
Seitdem Joachim Patinir im Jahre 1515 der
Antwerpener Malergilde angehörte, zeigt sich eine
wesentliche Veränderung in den Landschaften des
Meisters des Marientodes. In deii Hintergründen
seiner früheren Bilder schloss dieser sich noch
an das Beispiel des Jan Joest und dessen hollän¬
dische Landschaftskuuvst an. Nun erweitert sich der
Horizont in duftige blau grüne Fernen. Schroffe zer¬
klüftete Felspartieen, deren zackige Gipfel Ruinen
krönen, rahmen die Scenen ein; durch Felsenthore
schaut man auf saftiggrüne Abhänge, über die Höhen
in enge Felsthäler hinab mit phantastischen Burgen
und Städten.
Wir erinnern uns, dass Karl van Mander eine
solche Landschaft im Hintergründe eines Madonnen¬
bildes von Joost van Cleve direkt als eine Arbeit
des Joachim Patinir bezeichnete, und es wäre im¬
merhin möglich, dass der berühmte Landschaftsmaler
den Freuud gelegentlich mit seinem Pinsel unter¬
stützte.
Von dem älteren Joost van Cleef kannte van
Mander vornehmlich Madonnen von Engeln umgeben,
und einige Bilder der heil. Familie von einem Kranz
lieblicher Engelsköpfe umrahmt oder, wo Engel die
Jungfrau krönen, dem göttlichen Kinde Früchte dar¬
bieten, es anbeten und mit Musik erfreuen, gehören
zu den beliebtesten Schöpfungen des Meisters vom
Tode Mariä, welche seine Schüler und Gehilfen nicht
müde werden zu wiederholen.
Guicciardini lobt besonders die Bildnisse des
1) Seit 1466 das Abzeichen der Antwerpener Malergilde.
Vergl. P. Warnecke, Das Künstlerwappen. Berlin 1887.
Bildnis des Kardinals Bernardus Clesius. (Galerie Corsini zu Rom.)
fliircli eitif; leljendige, feine Charakteri.stik, die ihnen
mituntf-r die liezeichnnng „Holbein“ eintrng.
Von datirten Bildnissen entstand in dieser Periode
das I’orträtpaar in der Malergalerie der Uffizien
Nr. 237 bez. 1520.
Um das Jahr 1523 24 unternahm der Meister
des Todes .Mariä seine erste Italienfabrt; die dort
gesammelten Eindrücke verwertete er sogleich in
dem großartigen Triptychon, welches der Ratsherr
in den verhärmten Köpfen aus. Die Farben sind ge¬
dämpft, auch das Karnat erscheint bleich, graurosig.
Die Formen des Leichnams sind tadellos gebildet. In
dem edlen Werke paart sich die Größe italienischen
Stils mit germanischem Empfinden. Die ruhige, reife
Schönheit beeinträchtigt aber den innigen Ausdruck,
die Eigenart der Formensprache in keiner Weise. Ein
Werkwie dieses bezeugt, zu welcher Läuterung den nor¬
dischen Maler die klassische Kunst Italiens leiten konnte.
192 DER MEISTER DES TODES MARIAE, SEIN NAME UND SEINE HERKUNFT.
Joost van Cleve wegen ihres vorzüglichen Kolorits
und eben im Porträtfach behauptet sich der Meister
des Todes der Maria neben den ersten nordischen
Malern. Seine Bildnisse sind überaus ansprechend
durch die zarte, flüssige Behandlung klarer, leuch¬
tender Farben, das weiche ro.sige Inkarnat; sie fesseln
Jobelin Schmitgen ihm bei seiner Rückkehr in Köln
auftrug und 1524 in St. Maria Lyskirchen stiftete
(Städel-Institut zu Frankfurt, Nr. 93). In geschlos¬
sener Komposition schildern großgedachte Gestalten
ergreifend die Klage am Leichnam des Herrn. Der
Ausdruck des Schmerzes spricht sich tief und gehalten
DER MEISTER DES TODES MARIAE, SEIN NAME UND SEINE HERKUNFT.
193
Im Jahre 1525 war Joost van Cleve zum dritten¬
mal Regent der Antwerpener Malergilde.
Aus dem Jahre 1525 und 1526 rühren auch die
Porträts der Kasseler Galerie Nr. 11, 12 her, von
denen sich namentlich das männliche Bildnis (bez.
1526) durch eine breitere, pastose Behandlung vor
den übrigen Werken des Meisters des Todes Mariä
auszeichnet. Ein Datum trägt auch das merkwür¬
dige Jünglingsbildnis in der Sammlung Dormagen
zu Köln, das uns durch eine Aufschrift in franzö¬
sischer Sprache besonders aufföllt. Über dem leb¬
haft zur Seite gewandten Kopfe stehen auf einem
Zettel die Worte: Lan mille cincqcens |vingthuyt|
des ans eu soy vingt .... (unleserlich). Die beiden
Wappen, die sich zu den Seiten von dem grünen
Grunde abheben, gehören keinem niederländischen
Adelsgeschlechte an; da aber nun die französische
Sprache damals in den Niederlanden nur in exklusiven
H of kreisen herrschte, so ist die Annahme gerechtfertigt,
dass das Bildnis einen Franzosen darstellt. — Wir
vernahmen bereits, dass Joost van Cleve sich als
Hofmaler Franz’ I. einige Zeit in Frankreich auf hielt.
Mit dem Jahre 1530 pflegte man bisher die
Thätigkeit des Meisters des Todes Mariä abzuschlie¬
ßen; ein Bildnis in der Galerie Corsini zu Rom er¬
möglicht es, diesen Termin etwas weiter hinauszu¬
rücken. Das prächtige Porträt eines Kardinals VI,
43 gilt als das Abbild Albrecht’s von Brandenburg,
mit welchem der Dargestellte aber nur eine sehr
oberflächliche Ähnlichkeit, das breite, bartlose Prä¬
latenantlitz, gemein hat. Das Wappen auf der Hand¬
glocke und dem Siegelring bestimmen uns die Person
weit genauer. Der quadrirte Schild mit dem Adler
im ersten und vierten Felde, zwei Löwen im zweiten
und dritten Felde stimmt durchaus nicht mit den
wohlbekannten Abzeichen des berühmten Mainzer
Erzbischofs überein, sondern entspricht völlig dem
Wappen des Kardinals Bernardus Clesius ^) (v. Cles
oder Gloss), einem Deutschen, der am 13. März 1530
in Bologna den Purpur empflng und im Jahre 1539
1) Vergl. Bonifacius Gams: Series episcoporum , S. 265.
— Ciaconius: Vitae et res gestae Pontificvm Tom. III, 516
— 517. „Bemardvs Clesius natione Germanus, ex Maximi-
liani Imp. Consiliario in Triclentinum Antistitem fuit delectus;
at mortuo Maximiliano, Ferdinande Austriaco se addixit cui
Boemiae & Hungariae Regi supremus Cancellarius & secretus
Praeses seruiuit. Ad magnos Principes ab eodem Legatus
Bononiam missus Caroli V Coronationi interfuit (1530) & pur-
puram habuit (13. März 1530) cum titulo S. Stephani in
Coelio monte . Is postolatus in Administra-
torem Brixiensis Episcopatus anno 1539 cum illuc possessionis
capiendae causa venisset (21. Jan.) inter prandendum apo-
plexia tactus interijt 28. Julij, corpus funebri pompa Triden-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 8.
kurz nachdem ihm die Verwaltung des Erzbistums
Brixen übertragen worden, im Alter von 54 Jahren
verstarb. Sein Porträt muss nach 1530 in Bologna,
Trient oder Rom gemalt sein. Die kühlere plastische
Modellirung des Fleisches mit graulichen Schatten,
die härtere Färbung entsprechen dem späten Stil des
Meisters vom Tode Mariä, in welchem er sich dem
„ersten Romanisten“ eng anschließt. Jan Gossaert gen.
Mabuse ist aber erst seit den dreißiger Jahren wie¬
der in Antwerpen ansässig, wo er 1541 verstarb.
Die Arbeiten des Meisters des Todes Mariä in
dieser letzten Manier stammen, soweit ihr ursprüng¬
licher Bestimmungsort bekannt wurde, meist aus
den Kirchen Genuas oder seiner Umgebung. Wir
nennen hier den großen Dreikönigenaltar aus S. Luca
d’Erba fuori di Genova (Dresdener Galerie, Nr. 1963).
Das Altarwerk mit der Kreuzabnahme aus S. Maria
della Pace in Genua (Louvre, Nr. 601) und das Tri¬
ptychon mit der Anbetung der Magier im Museo
nazionale zu Neapel, Nr. 6. Das letzte Werk iuter-
essirt uns in diesem Falle vornehmlich, da es aufs
neue einen evidenten Beweis für die Urheberschaft
des Joost van Cleve liefert. Auf dem rechten Flügel¬
bilde findet sich nämlich neben dem Mohrenkönig
Balthasar, der in zierlichen Schritten mit seinem
Geschenke herantritt, ein großer Windhund, an dessen
Halsbande der Maler dekorativ verschiedene Schild¬
chen anbrachte. Das mittlere enthält deutlich das
Wappen von Mark- Cleve. Die sorgfältige Wiedergabe
komplizirter heraldischer Figuren kann weder als
Zufall noch als sinnloser Zierat gelten, sie vertreten
an dieser Stelle die Namenshezeichnung des Meisters
— Joost van Cleve.
Zum Schluss sei noch in Kürze der fünf Selbst¬
porträts des Künstlers gedacht, welche vollkommen
zu den Lebensdaten des Joost van Cleve stimmen.
Nach dem Gesagten erscheint es überflüssig, ül)er
die Scorel- Hypothese noch ein Wort zu verlieren.
Unsere rheinischen Kunstenthusiasten und Lokal¬
patrioten aber werden tiefbewegt ein neues wich¬
tiges Glied aus der Entwickelungskette der kölnischen
Malerschule schwinden sehen. Nachdem ihnen der
„Meister Wilhelm“ geraubt wurde, Barthel Bruyn
sich als Niederländer entpuppte, müssen sich die
Herren diesmal mit dem Bewusstsein trösten , dass
der Meister des Todes Mariä doch immerhin ein
geborener Rheinländer gewesen ist, und dass seine
tum relatum ibidem in Cathedrali sepulchrum habuit ....
Vergl. auch Aubert: Histoire generale des Cardinaux III,
p. 401. — Die Bestimmung des Wappens verdanke ich der
Güte des Herrn Dr. J. Kaufmann am Hist. Institut zu Rom.
25
194
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE PORTRATS.
lieblichen Gestalten einen Idealismus und eine Innig¬
keit der Gefühlsweise bekunden, welche man bisher
als ein Privilegium und Erbteil der altkölnischen
Malerschule ansah.
Der Verfasser behält es sich vor, an anderer
Stelle den Kunstcharakter und stilistischen Entwicke¬
lungsgang des Joost van Cleve d. ä. ausführlicher
zu schildern.
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE PORTRÄTS.
VON J. J. BERNOUILLI.
MIT ABBILDUNGEN.
NTER den archäologischen Publikationen,
welche sich die Aufgabe gestellt haben,
einzelne Klassen unseres Denkmälervorrats
(Sarkophage, Grabreliefs, Ter¬
rakotten etc.) in planmäßi¬
ger Weise zu sammeln und
zur Anschauung zu bringen,
ist eine der jüngsten, aber
wohl auch eine der inter¬
essantesten die der griech¬
ischen und römischen Por¬
träts nach Auswahl und An¬
ordnung von H. Brunn und
P. Arndt, herausgegeben von
Fr. Bruckmann. — ■ Refe¬
rent hat schon unmittelbar
beim Erscheinen der ersten
Lieferung Anlass genommen,
auf dieses großartig ange¬
legte, viel versprechende und
unter bewährter Leitung ste¬
hende Werk hinzuweisen
(s. Allgeni. Ztg., 25. April
1S91). Jetzt, nachdem die
Fuldikation durch 2 ',2 Jahre
liindurch ihren regelmäßigen
Fortgang genommen liat(nur
einmal durch Krankheit des
zweiten Herausgebers für
kurze Zeit unterbrochen) und
bereits auf l(j Lieferungen
mit 109 Tafeln angewachsen
ist, dürfte es am Platze sein,
einen vorläufigen Rückblick
auf das Gebotene zu werfen
und zu sehen, in Avelchem
Sinne das Unternehmen geführt wird und was für
einen Ertrag Kunst- und Altertumswissenschaft davon
zu erwarten haben. Das Werk ist so ausnehmend reich¬
haltig — es ist auf 800 bis 1000 Tafeln berechnet — ,
dass, wenn man für diesen Rückblick die voll¬
ständige Beendigung abwarten wollte, man kaum
mehr auf den Inhalt ein-
treten könnte, ohne ein
förmliches Buch zu schrei¬
ben. Und doch wird es
manchem Leser dieser Zeit¬
schrift erwünscht sein, über
den Inhalt etwas Näheres
zu erfahren, da ja gar viele
nicht in dem Fall sein wer¬
den, das kostspielige Werk
selber anzuschaffen.
Für diejenigen, denen
dasselbe noch völlig unbe¬
kannt ist, mag vorausge¬
schickt werden, dass es sich
um ein Lichtdruckwerk nach
Photographieen handelt, in
welchem alle beachtenswer¬
ten griechischen Bildnisse
(Statuen, Hermen und Büs¬
ten) und von den römischen
eine Auswahl der künstle¬
risch vorzüglichsten und der
am meisten charakteristi¬
schen aufgenoramen werden
sollen, meist in doppelter
Ansicht, Face und Profil, und
(bei den Köpfen) in einem
dem Original nahekommen¬
den Maßstabe. Die Heraus¬
gabe erfolgt wie bei den
„Denkmälern der griechi¬
schen und römischen Skul¬
ptur“ ohne Rücksicht auf historische oder gegenständ¬
liche Zusammengehörigkeit, indem eine systematische
Anordnung der Tafeln und deren definitive Numerirung
Seneca. Aus dem Werke: Griechiscke und römische Porträts.
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE PORTRÄTS.
195
erst für den Schluss des Wertes in Aussicht genom¬
men ist. Nur innerhalb einer und derselben Lieferung
werden öfter jetzt schon gleichartige oder in gegen¬
seitiger Beziehung zu einander stehende Bildnisse
gegeben. Diese Zufälligkeit der einstweiligen Reihen¬
folge und das hei allem Umfange Bruchstückartige
des bis dahin Erschienenen legen es auch dem Be¬
richterstatter nahe, zunächst einfach Lieferung für
Lieferung mit einigen Worten dem Leser vorzuführen.
A Jove principium, dachten ohne Zweifel die
Herausgeber, indem sie die schöne Homerbüste von
Sanssouci an die Spitze ihres Werkes setzten, jenes
erlauchte Beispiel von der Gestaltungskraft grie¬
chischer Phantasie, die auch das Nichtvorhandene
oder das aus der Erinnerung Entschwundene glaub¬
haft darzustellen wusste. Man möchte beim Anblick
dieses Kopfes fast wünschen, die großen Künstler
hätten manchmal, auch bei den Geistesheroen der
späteren Zeit, die individuellen Züge derselben preis¬
gegeben und ihre Physiognomie wie die der
Götter aus der Idee, d. h. nach ihrem geistigen
Charakter neu geschaffen. — In der That empfindet
man es gleich bei dem zweitnächsten Bildnis, der
Berliner Platoherme, dass hier kein schöpferischer
Menschenbildner, wie dort, sondern nur ein Nach¬
bildner menschlicher Gesichtsformen den Meißel ge¬
führt hat. Aber freilich müssen wir zufrieden sein,
auch nur diese endlich zu kennen, nachdem wir so
lange mit den Platobildnissen im Dunkeln getappt.
Die 2. Lieferung giebt uns von berühmten Grie¬
chen eine Berliner Replik des aus der Neapeler
Doppelherme bekannten Herodot mit der hohen
Stirn und dem darüber wie gescheitelt auseinander¬
gehenden Haar, und dann eine, von Wolters auf
Hermarch bezogene Berliner Büste, in welcher aber
meiner Ansicht nach nicht sowohl jener Schüler des
Epikur, als vielmehr der treue Begleiter desselben,
Metrodor zu erkennen ist, mit dessen inschriftlich be¬
glaubigtem kapitolinischen Bildnis (Doppelherme) es
bis auf die Anlage der Haare und des Bartes stimmt.
Auch die athenische Büste (Arch. Ztg. 1884, S. 153),
und der kapitolinische sog. Epikur Nr. 62 sind dar¬
nach umzutaufen. — Auf den weiteren Tafeln ist ein
jüngerer Drusus der Sammlung Jakobsen und ein
aus Athen stammender jugendlicher Tiberius in
Berlin zusammengestellt, um die trotz der Gleich¬
zeitigkeit so verschiedene Behandlungs weise römi¬
scher und griechischer Porträtkünstler zu veran¬
schaulichen. Auch in dieser späteren Zeit zeigt
die griechische Kun.st noch ihr überlegenes Lebens¬
gefühl.
Die 3. Lieferung führt uns zunächst mit zwei
Köpfen in die archaische Zeit des Übergangs vom 6. bis
ins 5. Jahrhundert v. Chr. zurück, einmal mit einem
in Aegina gefundenen Statuenkopf der Sammlung
Sabouroff (Berlin), und dann mit der Hermenbüste
eines behelmten Kriegers in München. Jener mit
kurzgeschorenem Haar und Bart, was der damaligen
Sitte nicht ganz entspricht; denn die Athener der
Pisistratidenzeit pflegten langes Haar zn tragen.
Dieser zwar unbekannten Fundorts, aber mit den
Aegineten fast noch näher verwandt als der vorige;
seinen porträthaften Zügen nach vielleicht ein Held
der Perserkriege. — Daneben drei unbärtige Charakter¬
köpfe ersten Ranges ans der Glyptothek zu München,
die zu identificiren bisher nicht gelungen, die beiden
leidenschaftlich erregten sogenannten Sulla und
Cicero und der mehr kontemplative sog. Seneca.
Keiner dieser Namen lässt sich mit Hilfe äußerer
Kriterien aufrecht erhalten, und mit dem historischen
Charakterbild ihrer Träger stehen sie zum Teil
geradezu in Widerspruch; so der plebejische Typus
der ersten Büste mit dem Aristokraten Sulla, oder
der energische Ausdruck der zweiten mit dem im
Grunde furchtsamen Cicero. Wolters hat die erstere
auf Antiochos Soter deuten wollen; aber die Münzen,
auf die er es gründet, widerlegen die Deutung eher,
als dass sie sie beweisen, davon abgesehen, dass An¬
tiochos schwerlich ohne Diadem dargestellt worden
wäre. Nur so viel ist richtig, dass man noch zwischen
einem Griechen und Römer schwanken kann. —
Außerordentlich interessant und wie gemacht für
psychologische Analyse ist die dritte Büste, ein
greiser Kahlkopf von edler, schmaler Bildung mit
kleinen, fast blinzelnden Augen. Seneca kann cs
nach der Berliner Doppelherme nicht sein, doch
scheint allerdings eine litterarische Größe der ersten
Kaiserzeit dargestellt zu sein. Warum diese drei
Köpfe nach Gipsabgüssen aufgenommen sind, da
es doch die Herausgeber vollkommen in ihrer Macht
hatten, die Originale zur Aufnahme in das richtige
Licht zu stellen, ist mir unbekannt.
Die 4. Lieferung enthält lauter Bildnisse be¬
rühmter Griechen, zwei angebliche des Sophokles,
zwei des Euripides und zwei des Epikur. Die Ikono¬
graphie des Sophokles beruht bekanntlich auf einer
kleinen, mit den Endbuchstaben seines Namens (okles)
versehenen Marmorhüste des Vatikan, nach welcher
auch die lateranische Statue, die uns dann in der
12. Lieferung begegnet, sowie zahlreiche andere
Köpfe als Darstellungen desselben erkannt worden
sind. Man begnügte sich aber bald nach Visconti nicht
196
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE PORTRÄTS.
mehr mit diesem einen Typus, sondern glaubte, noch
zwei andere, wovon der hier publizirte Berliner
Kopf i^Taf. 31, 32) und derjenige der Sammlung
.lakobsen in Kopenhagen (Tat. 33, 34) je ein Exem-
})lar repräsentiren, auf ihn beziehen zu dürfen; jenen
als den früheren naturwahren Typus im Gegensatz
zu dem idealisirten der lateranischen Statue, diesen
als Sophokles in höherem Alter. In Wahrheit ist
die Deutung beidemal sehr problematisch, gerade
die jetzt ermöglichte unmittelbare Vergleichung dürfte
bald zu der allgemeinen Erkenntnis führen, dass zu¬
nächst wenigstens der Berliner Kopf mit seinen
Repliken von den Sophoklesbildern auszuscheiden ist,
indem kein einziger charakteristischer Zug zu nennen,
der ersichtlich von ihm zii dem der lateranischen
Statue herübergenommen wäre. Und was den Kopen-
hagener Kopf betrilft, so muss die Publikation des
mit Namensaufschrift bezeichneten greisen Sophokles
in den vatikanischen Gärten abgewartet werden,
bevor ein sicheres Urteil über seine Bedeutung mög¬
lich ist. Durch den Vergleich mit dem Kopf der
lateranischen Statue wird die Benennung keines¬
wegs empfohlen, wie Brunn und Arndt meinen.
Ich halte alles, was von erhaltenen Darstellungen
des greisen Sophokles gesagt worden ist, einstweilen
für sehr diskutirbar. Von Eui'ipides wird hier die
schöne Mantuaner Herme und ein stark ergänzter
Berliner Kopf gegeben. Die inschriftlich bezeichnete
Herme in Neapel folgt erst in Lieferung 13. Welch
ein Gegensatz in diesem nachdenklichen, fast trüben
Blick mit den kleinen, eingesunkenen Augen und
dem sonnenklaren Antlitz des Sophokles! — Epikur
endlich tritt uns in zwei bisher noch nicht publi-
zirten Biistfui entgegen, einer halblebensgroßen Ber¬
liner und einer im Schädelbau missratenen der Samm¬
lung .lakobsen.
In der .ö. Lieferung sind einige Porträts von
Barbaren zusaminengestellt, worauf indes in der
Portsetzung des Werkes ohne Zweifel noch bezeich-
nenilere Beispiele folgen werden und zum Teil schon
gefolgt sind; denn der Kriegerkopf von Catajo könnte
der Ilelniform nach wohl auch ein Römer sein und
der Itzinger'sche Kn;ibenko])f in Berlin trotz seiner
aufgeworfenen Lijipen ebenfalls. Nur der vortrefF-
liehe Bronzeko])f von Kyrene im Britischen Museum
und fler Kopf mit dem langgelockten Haar in Mantua,
stcdlen sicher je einen jug<!ndlichen , die Büste des
Kajijiadokiers p]ul)ulu.s einen älteren Barl)aren dar,
einen Afrikaner, einen Germanen und einen Asiaten.
I)ie Müncliener Büste des A])ollodor (Baumeisters
des Trajan?) gerade in diesen Zusammenhang zu
bringen, war meines Erachtens kein Grund vor¬
handen.
Mehr stilistisch als ikonographisch interessant
sind die Bildnisse der 6. Lieferung, darunter eine
Anzahl aus der beginnenden byzantinischen Zeit
(Anfang des 4. Jahrh.), zu denen, wenn noch weitere
derselben Art veröffentlicht sein werden, ein aus-
fühi'licher Text von Strzygowski in Aussicht gestellt
wird. Wir sind auf das Erscheinen desselben um
so gesjiannter, als wir einstweilen nicht überall mit den
gegebenen Datirungen einverstanden sein können. —
Warum z. B. der weibliche Kopf mit dem turban¬
artig ausladenden Flechtenkranz (Taf. 56, Sammlung
Jakobsen), dessen Analoga man bisher der Traja-
nischen Zeit zuzuschreiben pflegte, eher dem 4. Jahr¬
hundert angehören soll, ist mir noch dunkel. Wenn
auch die Haartracht auf den Münzen der Plotina
und derMarciana gerade so nicht vorkommt, so hat
doch der ganze Charakter der künstlichen Flechten
und des darunter hervorkommenden Saumes natür¬
licher Haare nirgends so genaue Analogieen, wie
dort. Und der Fundort Konstantinopel kann gegen¬
über der Masse von ähnlichen in Italien gefundenen
Köpfen nichts beweisen. — Auch der bärtige Dres¬
dener Kopf, den man bisher wegen seiner Kopfzier
als König und wegen seiner gescheitelten Perücke
fälschlich als Arsaciden gefasst, zeigt in den Augen
ein Leben und eine Naturwahrheit, die aus dem 4.
Jahrhundert kaum irgendwo noch getroffen werden.
Sichere Beispiele dagegen für diese Zeit sind die
beiden anderen weiblichen Köpfe der Sammlung Ja¬
kobsen, der eine (Taf. 57) mit Schleier, der andere
(Taf. 58) mit haubenartiger Verhüllung des Wirbels,
letzterer im Lokalkatalog nicht gerade ungeschickt
als h. Helena bezeichnet. — Außerdem verdienen
noch Erwähnung zwei männliche Kalksteinköpfe aus
Palmyra (Taf. 59, 60) von sehr eigentümlichem Stil,
l)ei deren einem man des zierlichen Diadems wegen
an Odenath, den Gemahl der Zenobia, denken kann.
— Die Kriegerstatuette von Dresden mit dem auf¬
gesetzten Kopf hätte in einem Porträtwerk, wie dieses,
weggelassen werden können.
Fast ausschließlich der Sammlung Jakobsen und
zwar der sog. Familie des M. Brutus ist die 7. Liefe-
runs: gewidmet. Uber den für die Geschichte des
römischen Porträts epochemachenden Fund, dem
diese und zahlreiche andere Porträtköpfe des gleichen
Besitzers angehören, ist bis jetzt nichts Genaueres
in die Öffentlichkeit gedrungen. Ich weiß daher
nicht, wie es mit den Kriterien für jene Benennung
steht, vermute aber, dass nur die entfernte Ähnlich-
(Aus dem Werke: Griechiseke und römische Porträts.)
198
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE PORTRÄTS.
keit des männliclien Kopfes (Taf. 67, 68) mit dem
sogenannten Brutus in Neapel und dann die noch
halb republikanische Haartracht der mitgefundenen
weiblichen Köpfe dazu Anlass gegeben hat. Innere
Wahrscheinlichkeit ist schon deswegen keine vor¬
handen, weil der männliche Kopf einen höchstens zwan¬
zigjährigen Jüngling zeigt, in welchem Alter Brutus
schwerlich schon statuarisch dargestellt wurde, und
weil von den drei weiblichen Köpfen die zwei jüngeren
sich zwar wohl als Schwestern geben, aber keines¬
wegs als Töchter der angeblichen Servilia (Taf. 61,
62). — Auch der zur Vergleichung beigefügte Mün¬
chener Kopf (Taf. 69) ist bloß seines herben Aus¬
drucks wegen Brutus genannt.
Daran schließen sich in der 8. Lieferung fünf
weitere Köpfe von unbekannten Römern der repu¬
blikanischen Zeit, die beiden ersten aus Kalkstein.
Physiognomisch besonders interessant der alte, ab¬
gemagerte Dresdener Kopf (Taf. 75, 76) mit der
hohen Nasenlippe und dem kleinen Kinn, das Bild
eines in altrömischer Zucht und Einfachheit ergrauten,
vom Luxus und von der Devotion der Kaiserzeit
noch nicht beleckten Staatsmannes, aus dessen ruhigen
Zügen eine seltene Energie hervorleuchtet. Ohne
das Horazische „intonsus“ könnte man sich den Cato
Censorius etwa so vorstellen.
Höchst bedeutende , allerdings unter sich etwas
lieterogene römische Porträts bringt die folgende
9. Lieferung: Neben der durch ihre Arbeit ausge¬
zeichneten Panzerstatue eines Claudiers im latera-
nisclien Museum die mehr gegenständlich merk¬
würdige Konstantins des Großen in der Vorhalle der
lateranischen Basilica und den ebenfalls auf letzteren
Itezogenen Kopf der Uffizien; neben dem florenti-
iiisclien Arringatore einen weiblichen Bronzekopf
aus Velleja in Parma. Die Zusammenstellung der
beiden er.steren sollte wohl den verwandtschaftlichen
Charakter des Konstantintypus mit dem der Claudier
zur Anschauung bringen; die des Imperators der
Basilica mit dem bediademten Florentiner Kopf sollte
zeigen, dass nur einer von beiden Konstantin sein
kann, den Münzen nach nur jener. Brunn- Arndt
glauben, dass nach Ausweis des Lichtdrucks an der
Echtheit des Ko])fe.s der Konstantinstatue nicht mehr
gezweifelt werden könne, und wirklich scheint es so.
Aber vollkommene Sicherheit Avird eben doch nur
eine von sachkundiger Seite geführte Untersuchung
mit Leitern gewähren können. — Den Konstantin-
bildni.ssen, die für uns sozusagen das Ende der rö¬
mischen I’orträtgeschichte repräsentiren , steht der
.Arringatore als eines der frühesten erhaltenen ita¬
lischen Monumentalwerke gegenüber, noch etruskisch
gebunden, aber gleichsam nur der Erlösung wartend
durch die Berührung mit der herüberwinkenden
griechischen Kunst. Ob freilich Conestabile’s Da-
tirung (300 — 250 v. Chr.) nicht etwas zu früh an¬
gesetzt ist? Die über der Stirn abgeschnittenen und
leicht vorstehenden Haare sind sonst eher für das
letzte Jahrhundert charakteristisch und auch an der
sonstigen Behandlung glaubt man schon einen größeren
Einfluss von Griechenland her zu erkennen, als für
das 3. Jahrhundert wahrscheinlich ist.
Die 10. und 11. Lieferung enthalten Bildnisse
hellenistischer Herrscher der Diadochenzeit. Sechs
davon aus der Villa der Pisonen in Herculanum.
Die meisten sind mit dem Diadem geschmückt und
dadurch deutlich als Könige bezeichnet. Wo dies
nicht der Fall, wie bei dem sogenannten Philetäros
in Neapel (Taf. 107), müssen in dieser Beziehung
noch Zweifel gestattet sein, obwohl allerdings Phile¬
täros als bloßer Statthalter wahrscheinlich noch ohne
Diadem dargestellt wurde.
Bei den Bildnissen der zehnten Lieferung ver¬
zichten die Herausgeber auf positive Benennungen,
und mit Recht, da die Münzen über die betreffen¬
den Köpfe keinen hinreichenden Aufschluss geben.
Auch die als bloße Vermutung gegebene Deutung
eines der sog. Ptolemäer (Taf. 91) auf Philipp von Mace-
donien (Avegen der Ähnlichkeit mit Alexander) muss
als unwahrscheinlich fallen gelassen werden , weil
das Diadem erst mit Alexander aufkam, und weil, wo
wir Alexander- artigen Haarwurf treffen, eher Nach¬
ahmung als Vorbildlichkeit anzunehmen ist. Was
die Bronzebüste des sog. Ptolemaeos Apion (Taf. 99,
100) betrifft, über deren Geschlecht bekanntlich ge¬
stritten wird, so entscheidet sich Arndt mit Compa-
retti für einen Mann. Ich kann ihm dabei, wenn
anders die unter der Binde herabfallenden Spiral¬
löckchen richtig ergänzt sind, nicht folgen.
In der elften Lieferung ist der Verfasser der
Inhaltsangabe (Arndt) schon weniger zurückhaltend
und adoptirt sowohl die Wolters’sche Deutung eines
herculanischen Kopfes (Taf. 101) auf Selcukos Nikator,
als auch die Villefosse’sche des Pariser sog. Cäsar
(103) auf Antiochos III., beides einstweilen bloße
Möglichkeiten. — Dass auch der früher sog. alte
Augustus im Vatikan (Taf. 105) jetzt als griechischer
König gefasst wird, ist nur zu billigen.
Und nun wieder mit den nächsten drei Liefe¬
rungen zu den Dichtern und Staatsmännern Athens!
Die sog. Ae.sc%/o.sherme im Kapitol wird es schwer¬
lich je gelingen zu identificiren. Ihr Wei't besteht in
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE PORTRÄTS.
199
ihrem Stil (Mitte des 5. Jahrh. v.Chr.). Um so wichtiger
in jeder Beziehung künstlerisch, kunstgeschichtlich
und ikonographisch, ist die herrliche Statue des SojyJio-
kles im Lateran, nach dem oben Gesagten (Lief. 4),
das erste authentische Bildnis des Dichters in dieser
Porträtsammlung. Arndt ist mit der Mehrzahl der
Archäologen geneigt, die Statue auf das Erzbild im
Theater von Athen, welches der Redner Lykurg be¬
antragt hatte, zurückzuführen, trotz des Mangels
aller auf Erztechnik weisenden Spuren. Daneben
spricht er auch von Praxitelischer Kunstrichtung
und citirt als Analogon die Sardanapallosstatue in
der Sala della biga des Vatikan. Aber warum soll
die letztere Praxitelisch sein? Und wenn sie es
wäre, was könnte sie beweisen? Höchstens, dass
es außerhalb der Schule noch bedeutendere Künst¬
ler gab als ihren Verfertiger. Denn die Statue des
Sophokles ist meines Erachtens bei weitem einfacher
und großartiger als die des Sardanapal. — Die dar¬
auffolgende des Neapeler Aeschines hat nur das Kör¬
per- und Gewandmotiv und die Sicherheit des Na¬
mens mit der vorigen gemein. Entwurf und Aus¬
führung verraten eine bei weitem geringere Hand.
Die 13. Lieferung bringt eine Anzahl von
Doppelhermen zur Anschauung, jene der grie¬
chischen Porträtkunst eigentümliche, verschieden be¬
urteilte, aber jedenfalls in ihrer Art originelle Dar¬
stellungsform. Sie fordert, wo es sich nicht um
inschriftlich beglaubigte Köpfe handelt, wie in der
Neapeler Doppelherme des Herodot und Thukydides
(Taf. 128 — 130) wegen der vorauszusetzenden gegen¬
seitigen Beziehungen förmlich zu Deutungen heraus.
Doch hat die Ikonographie auf diesem Felde bis
jetzt keine großen Triumphe aufzuweisen. In den
zwei kleinen Bonner Hermen ist nur ein einziges
Bildnis erkannt, Euripides, in der lebensgroßen Nea¬
peler keines von beiden. Selbst über die Nationalität
der unbärtigen Köpfe (Griechen oder Römer) ist man
noch völlig im Zweifel. Aber gerade für solche Fälle
bieten die Tafeln dieses Werkes ein unschätzbares
Material.
14. Lieferung: Lysias, Isokrates, Demosthenes.
— Die beiden A//.siflsbüsten (Neapel und Kapitol)
und ebenso zwei von denen des Demosthenes (Mün¬
chen, Berlin) zeigen in einleuchtender Weise, wie
weit oft die einzelnen Repliken eines Bildnisses von
einander differiren, und wie sehr die späteren in der
Arbeit hinter den früheren zurückzustehen pflegen.
Trotz zahlreicher und bedeutender Unterschiede kann
doch beidemal an der Identität der Person nicht
gezweifelt werden, weil die charakteristischen Haupt¬
züge, die Schädel- und die Bartform, dann dort die
Glatze und die Linie des Profils, hier der verzogene
Mund, dieselben sind. Bei dem Campana’schen Kopf
des Louvre (Taf. 139, 140) dagegen, der gewöhnlich
auch noch als Demosthenes bezeichnet wird, fehlen
diese Züge — Kopfform, Augen, Mund, Bart, Kinn
sind total verschieden — und ich wüsste nicht, auf
welche gleich stark dilferirenden Sokratesköpfe man
sich berufen könnte, um hier noch den Namen zu
rechtfertigen. — Inbetrelf der kleinen albanischen
lsokrates\\exme: (Taf. 135) kann man nur seine Freude
ausdrücken darüber, dass endlich eine authentische
und citirbare Abbildung derselben vorhanden ist.
Wieder in einen anderen Kreis, einen ausschlie߬
lich weiblichen, mit Wahrscheinlichkeit in den von
Dichterinnen, führt uns die 15. Lieferung, in der
uns ein epheubekränzter Kopf von Catajo, eine rei¬
zende Statuette des Konservatorenpalastes mit bin¬
denumwundenem Haar und drei dieser ähnliche sog.
Sapphoköpfe aus den Uffizien, aus Villa Albaui
und Pal. Pitti geboten werden. Wir bewegen uns
hier, was die sachliche Erklärung betrifft, noch
auf einem sehr schwankenden Boden. — Drei oder
vier auf die lesbische Dichterin bezogene Köpfe
— es giebt aber deren wenigstens ein Dutzend —
alle das Haar mit Binden umwunden oder in eine
Haube gehüllt, wie die Sapphoköpfe auf den Mün¬
zen von Mitylene, und doch den Gesichtszügen nach
jede von der anderen verschieden. Sollte der Sappho-
typus wirklich so gewechselt haben , oder ist es
nicht eher ein Beweis, dass dieselbe Kopftracht
auch noch anderen Personen gegeben wurde ? Und
wenn nur eine von ihnen Sappho, für welche sollen
wir uns entscheiden? Für die, welche zufällig einem
der selber wechselnden Münztypen am nächsten
kommt? — Vollends verfrüht ist es, jetzt schon
eine dieser Kopistenarbeiten (die in Villa Albani)
herauszugreifen und ohne allen Vorbehalt dem
uns seinem Stil nach ganz unbekannten Silanion
zuzuschreiben, wie es neuerdings geschehen ist.
Warten wir die Publikation der übrigen sogenann¬
ten Sapphoköpfe, die ja früher oder später in dieser
Sammlung erfolgen wird, ab und gruppiren wir sie
dann nach Typen oder Personen.
Die Bildnisse der 16. Lieferung endlich stellen
fünf unbekannte Griechen dar. Denn unbekannt
der Person nach, trotz des aufgeschriebenen Namens,
ist für uns auch die kapitolinische Büste des PytJio-
doris mit dem ausladenden Lorbeerkranz. — An die
Identifikation der vier übrigen wird nicht zu denken
sein, zumal nicht an die der als Gegenstücke gefas^-
200
KLEINE MITTEILUNGEN.
ten herculanischen Bronzebüsten (sog. Heraklit und
Demokrit). — Die beiden anderen, welche das Ge¬
meinsame einer turbanartigen Kopfbedeckung haben
und herkömmlicherweise unter dem unbegründeten
Namen Ärchytas gehen (eine Herme des Kapitols und
eine weitere herculanische Bronze) können vielleicht
mit der Zeit eben dieser Tracht wegen ihrem Cha¬
rakter nach noch näher bezeichnet werden.
Wir sind am Schlüsse des bis jetzt Erschiene¬
nen und somit auch unserer Berichterstattung an¬
gelangt. Was für eine Fülle teils wirklich neuen,
teils jetzt erst durch würdige Publikation den Stu¬
dien zugänglich gemachten Materials liegt schon in
diesem nur schwachen Bruchteil des Werkes vor.
Fast drängt sich der Gedanke auf, ob es nicht des
Guten zu viel ist, wenn zu dem bereits gebotenen noch
das Fünf- oder Sechsfache in Auswahl gestellt wird,
alles in diesem monumentalen, selbst bei Pracht¬
werken ungewöhnlichen Maßstab. Wir sind keine
besonderen Verehrer der kostbaren und luxuriösen
Publikationen, die nachgerade auch in der Wissen¬
schaft Sitte werden, und glauben sogar, dass vielen
mit einem kleineren Format, das doch wohl auch
den Preis verringert hätte, besser gedient gewesen
wäre. Aber was die Zahl der Tafeln betrifft, so ist
dieselbe von den Herausgebern gewiss wohl über¬
legt worden und jedes Abmarkten in dieser Bezie¬
hung wäre vom Übel. Neben der Vortrefflichkeit
der photographischen Aufnahmen ist es gerade die
relative V ollständigkeit des Materials, was den Haupt¬
vorzug dieser Porträtsammlung ausmachen wird.
Es soll der Atlas sein, auf den sich künftig alle das
Altertum betreffenden ikonographischen Arbeiten
und die Geschichte der antiken Porträts überhaupt
berufen können, während sie selber der Beigaben
kostspieliger Tafeln fortan überhoben sind. So wird
schließlich auch für die Bibliotheken die jetzige Aus¬
gabe, die sich übrigens auf Jahre verteilt, durch
die zu erhoffende größere Wohlfeilheit der ein¬
schlägigen Bücher einigermaßen ausgeglichen werden.
KLEINE MITTEILUNGEN.
* JtiHus Nciimami in München, der Radirer des dem
heutigen Hefte der Zeitschrift beiliegenden trefflichen Blattes
„Hohe Pulitik“, macht uns über seinen Lebensgang und seine
künstlerische Entwickelung folgende Mitteilungen: „In Essen
an der Ruhr geboren, verlebte ich infolge der Berufsthätig-
keit meines Vaters, des Redakteurs J. Neumann, meine Schul¬
zeit in Berlin. Durch den Verkehr eines Freundes fand ich
oft (lelegenheit, bei dessen Onkel eine Sammlung von Kupfer¬
stichen und Radirungen einzusehen. War schon damals in
mir das Interesse lebendig, kleine Radirungen mit der Feder
nachzuzeichnen, so wuchs dieselbe mit der Zeit so, dass der
Wunsch in mir rege wurde, mich später der Kupferstecherei
zu widmen. Als ich das Reifezeugnis für die Oberprima er¬
langt hatte, besuchte ich auf kurze Zeit die Akademie in
Berlin und die Kunstschule in Weimar und trat dann in
■München in die Kupferstecherschule des Prof. J. L. Raab
ein. Mit diesem Momente, muss ich wohl sagen, fing erst
das ernste Studium an. Unter Raab’s Leitung habe ich zuerst
in der Nn'urklasse gezeichnet und dann mehrere Porträts und
Hadirungen nach der Natur, sowie Stiche angefertigt. Meine
letzte große Arbeit auf der Akademie war die Pieta nach van
Dyck in der alten Pinakothek (erschienen bei Stiefbold in
Berlin), für welche Arbeit ich seiner Zeit mit der großen sil¬
bernen Medaille von dem Professorenkollegium ausgezeichnet
wurde. Seit zwei .Jahren arbeite ich selbständig. Porträtsund
kleine Radirversuche wechseln mit meiner jetzigen Hauptar¬
beit, einem großen Stich nach einem Bilde von Böttcher, ab.
Eine solche Zwischen- oder Erholungsarbeit war auch die Radi¬
rung, die ich zur Leipziger Konkurrenz einschickte. Wie
sie entstanden? Das kann ich kaum sagen. Scenen dieser
Art, die ich selbst auf dem Lande, in den Dorfschenken
erlebt, haben mich zu dem Vorwurfe angeregt.“
* Am Strande von Oöhren (Rügen), Originalradirung
von Albert Krüger. Aus dem Studium der alten Meister, das
nach dem glänzenden Vorgänge William Onger's keiner so
ernst, so eindringlich, vielseitig und erfolgreich betrieben
hat wie Albert Krüger, hat dieser Künstler, der jetzt im 36. Le¬
bensjahre steht, auch die Kraft gezogen, sich gelegentlich
auf eigene Füße zu stellen. Es ganz und gar zu thun, dazu
reicht die Armseligkeit unseres heimischen Kunstmarktes
immer noch nicht aus. Malerradirer wie in England, die be¬
haglich ihrer künstlerischen Muße leben können, weil die
Kunstfreunde ihre seltenen Einzeldrucke mit entsprechenden
Preisen bezahlen, giebt es in Deutschland nicht, obwohl die
geistigen Grundlagen und die künstlerischen Potenzen dazu
vorhanden sind. Unsere Radirer müssen in erster Linie auf
die Aufträge von Kunst Verlegern blicken, die zumeist nach
Reproduktionen berühmter Werke verlangen. Die diesem Hefte
beigegebene Originalradirung Albert Krüger’s, der noch zu
den Bevorzugten seiner Kunst gehört, lässt uns diese traurige
Lage des deutschen Kunstmarktes besonders schwer empfin¬
den. Mit wie geringen und doch den gebotenen Stim¬
mungsmoment völlig erschöpfenden Mitteln ist hier eine volle
Wirkung erzielt worden! Nur der erste Eindruck wirkt auf
den Beschauer, dieser aber mit einer Frische, die durch
keine dem Auge erkennbare spätere Retouche abgeschwächt
wird. Wir wollen hoffen, dass die Zeitschrift durch Veröffent¬
lichung solcher Malerradirungen dazu helfen wird, unseren
Kunstfreunden über das Gute, das wir im eigenen Lande
besitzen, die Augen zu öffnen. A. R.
Herausgeber: Carl von lAitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig,
Druck von August Pries in Leipzig.
Die Taufe Christi.
Von ItARTii. Zkitblom. (Vom Blauheurener Hochaltar.)
STUDIEN
ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
VON MAX BACH.
MIT ABBILDUNGEN.
11. Bartholomäus Zeitblom.
ER Name dieses Künstlers
war zu Anfang unseres Jahr¬
hunderts vollständig ver¬
gessen; auch die ülmischen
Chronisten erwähnen den¬
selben nur an einer Stelle
und zwar bei der Beschrei¬
bung der zum Ulmer Gebiet
gehörigen Pfarrkirche zu Süssen, In dieser Kirche
befand sich nämlich ein Altarwerk Zeitblom’s, mit
dessen Namen bezeichnet, welches leider im Jahre
1707 durch Brand zu Grunde ging. Wollaib schreibt
an der betreffenden Stelle: „Unter St. Ulrich stehet:
Bartolme Zeitblom, welches Sculptoris oder Pictoris
Namen sein wird.“ Diese Notiz hat dann Haid in
sein Buch über Ulm (1786) aufgenommen, ohne
irgend etwas dazu beifügen zu können, ein Beweis
dafür, dass auch schon im vorigen Jahrhundert eine
Erinnerung an den Meister vollständig erloschen
war. Erst im Morgenblatt 1816 findet sich wieder
eine Beschreibung eines Zeitblom’schen Altars und
zwar aus der Feder Justinus Kerner’s; es ist das der
bekannte Heerberger Altar, von dem später noch die
Rede sein wird. Auch Weyermann in dem 1798
erschienenen ersten Bande seiner Nachrichten von
Gelehrten und Künstlern Ulms führt Zeitblom noch
nicht an; erst im zweiten, 1829 erschienenen Bande
zählt er einige Werke des Meisters auf und zwar
den fälschlich ihm zugeschriebenen Ecce Homo in
Nördlingen, den Heerberger und Eschacher Altar.
Jetzt war Zeitblom in die Kunstgeschichte einge-
1) Wollaib Paradisus Ulmensis 1710, Manuskript der
Stadtbibliothek Ulm.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. P. V. H. 9.
führt und man begann auch in Ulm selbst Nach-_
forschungen nach ihm in den Archiven anzu¬
stellen. So veröffentlichte schon im Jahre 1830
Weyermann im Kunstblatt eine ganze Reihe von
Notizen über Ulmer Künstler, welche er nach seiner
Angabe den alten Steuer- und Bürgerbüchern ent¬
nommen hat; weiter brachte Pfarrer Jäger im Kunst¬
blatt 1833 Ergänzungen dazu. Obgleich nun Weyer¬
mann versicherte, seine Aufzeichnungen beruhten
durchweg auf neuen Forschungen, so hat man doch
gerechte Zweifel daran. Brulliot berichtet nämlich
schon in einem Aufsatz über M. Schaffner im Kunst¬
blatt von 1822: Prälat Schmid in Ulm habe ihm
eine Sammlung höchst erwünschter Notizen über
ältere Künstler Ulms übermittelt. Diese Notizen
seien vor 50 Jahren von einem Sammler Ulmischer
Merkwürdigkeiten Namens Neubronner fleißig zu¬
sammengesucht, von Prälat Schmid gekauft, von
demselben vermehrt und berichtigt worden. „Sie
sind aus Bürgerregistern und Steuerbüchern, aus
Rechnungen, Innungs- und Kirchenbüchern, mit
einem Worte aus urkundlichen und glaubwürdigen
Papieren geschöpft.“ Diese Quelle hat nun Weyer¬
mann in ausgiebiger Weise benutzt. Neuere Nach¬
forschungen im Ulmer Archiv, welches sich jetzt
wohl geordnet im südlichen Chorturm des Münsters
befindet, haben jedoch ergeben, dass ein großer
Teil dieser Archivalien jetzt fehlt, was bei den
wechselvollen Schicksalen dieses Archivs leicht er¬
klärlich ist. So fehlt z. B. jetzt das Steuerbuch von
1484 und aus dem von den genannten Autoren be¬
nutzten Bürgerbuch sind die Jahrgänge 1483 — 92
herausgeschnitten.
Die Familie Zeitblom scheint aus Augsburg zu
26
202
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
stammen, dort kommt dieser Name in den Steuer-
bückern am Ende des 14. und Anfang des 15. Jahr¬
hunderts öfter vor; so erscheint ein Fritz Zeitblum
(Zytblum, Tzytblum) von 1391—98, und es ist sehr
wahrscheinlich, dass bei dem damals sehr lebhaften
Verkehr beider Städte diese Familie nach Ulm über¬
siedelte. In Ulm selbst finden wir vor 1484 den
Namen nicht, in diesem Jahr erscheint derselbe nach
den Angaben Weyermann’s im Steuerbuch. Alle An¬
gaben, welche frühere Autoren über eine Thätigkeit
des Meisters vor dieser Zeit machen, sind falsch und
fußen auf der Missdeutung des angeblichen Mono¬
gramms Zeitblom’s auf dem Herlen’scheu Ecce-homo-
Bild in Nördlingen. Schon Waagen hat diesen Irr¬
tum im Kunstblatt 1854 berichtigt, und er wäre da¬
mit abgethan gewesen, wenn nicht Kassier in seinem
Sendschreiben an Eduard Mauch die Sache wieder
Angebliches Monogramm Zeitblom’s
auf dem Gemälde von Herlin in Nördlingen.
bezweifelt hätte. Die Ulmer Gemäldeausstellung vom
Jabre 1877, in der das Bild mit echten Werken
Zeitblom’s verglichen werden konnte, hat diese Zweifel
wieder zerstreut, und heute denkt kein Mensch mehr
daran, das Bild dem Zeitblom zu vindiziren. Zeit-
blom führte überhaupt gar kein Monogramm, und
das ganze Unheil scheint Weyermann angerichtet zu
haben, welcher Brulliot falsch berichtete und ihm
ein Zeichen mitteilte, welches allerdings große Ähn-
liclikeit mit einem Z und B hat, in Wirklichkeit
aber ganz anders aussieht. Man hat nun weiter an¬
genommen, Zeitblom habe im Jahre 1483 eine Tochter
Schühlein’s geheiratet; auch dieses Datum ist ur¬
kundlich nicht erweisbar; man weiß nur (s. Artikel
1, Jahrg. 1893, S. 127), dass Zeitl)lom im Jahre
1 199 Inhaber eines Kirchenstuhls gemeinschaftlich
mit Schühlein war, und dass bei dem betreffenden
1) AugHÜ. Allgem. Zeitung, 1872, Beil. IIG.
Eintrag im Zinsbuch der Frauenpflege beigefügt ist:
„Zeytpluom seim Tochtermann.“ i)
Über das Schulverhältnis des Meisters, seinen
Bildungsgang u. s. w. herrschen nur Vermutungen.
Man hat früher einen Einfluss Herlin's oder Martin
Schön’s vermutet, weil man beide Künstler als in
Ulm ansässig annehmen zu müssen glaubte. Aller¬
dings kommt in den Ulmer Münsterrechnungen
schon in den Jahren 1449 und 1454 ein Maler „Här-
lin“ vor, welcher in der „süzlins“ Gassen beim
butzenbrunnen ein Haus besaß, für welches er 15
Schilling Heller Jahreszins bezahlte; ob es aber der¬
selbe Herlin ist, welcher 1462 den Hochaltar zu
Nördlingen malte und 1467 als Bürger dort auf¬
genommen wird, lassen wir dahin gestellt. 2) Thatsäch-
lich wird ja Herlin in dieser Bürgerrechtsurkunde
als von Rothenburg a. d. T. gebürtig genannt.
Ähnlich verhält es sich mit Mqßiin Schongauer^
dessen Aufenthalt in Ulm durch nichts verbürgt ist ;
alles was man ihm dort von Gemälden zuschreiben
wollte, sind nur Kopieen von anderer Hand nach
seinen Kupferstichen; ebenso verhält es sich mit dem
angeblich von ihm ausgeführten Hochaltar in der
Pfarrkirche zu Biberach. Allerdings scheint Martin’s
Bruder Ludwig 1479 in Uhn das Bürgerrecht er¬
worben und dort auch geheiratet zu haben. Im
Jahre 1486 finden wir denselben aber wieder in
Augsburg und 1493 in Colmar. Bilder von seiner
Hand sind nicht nachzuweisen.
Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass Zeit¬
blom sich an die Wohlgemuth’sche Schule ange¬
schlossen hat, und wir dürfen die Aussage Jäger’s
(Kunstblatt 1833) nicht so ganz über Bord werfen,
welcher behauptet, Zeitblom habe sich sehr lange
in Nürnberg aufgehalten; zumal jetzt sicher ist,
dass sein angeblicher Lehrer Schühlein Beziehungen
zu Nürnberg hatte.
Als Jugendwerke Zeitblom’s gelten bei den meisten
Autoren die sog. Kilchberger Tafeln. Ich habe dar¬
über im Repertorium für Kunstwissenschaft, XII. Bd.
ausführlich gehandelt, kann mich deshalb hier kurz
fassen. Nach dem dort Ausgeführten stammen diese
Tafeln aus der Schlosskapelle der Herren von Ehingen
zu Kilchberg, jetzt dem Freiherrn von Tessin ge-
1) Münsterblätter IV, S. 93. Kassier, Sendschreiben, 1855.
2) Dieser Härlin, auch Herlin geschrieben, „Mäuler“,
kommt ferner in den Zinsbüchern der Frauenpflege vor
1485 — 91, er muss 1494 gestorben sein, da von da an ein
Jacob Frey den Zins für sein Haus bezahlt. Damit ist durch¬
aus ausgeschlossen, an den Nördlinger Maler zu denken.
S. Münsterbl. III. IV. S. 95.
3) 8. meine Abhandlung im Archiv für christl. Kunst, 1893.
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
203
hörend, und bildeten einst die Flügel des noch dort
vorhandenen Schreins, welcher auf der Predella den
Namen „bartolome Zeytblom maler zu Ulm“ an¬
geschrieben hat. Einen Flügel erwarb schon in den
30er Jahren Obertribunalprokurator Abel in Stutt¬
gart, der andere kam in die Hirscher’sche Sammlung
in Freiburg, wurde aber im Jahre 1840 gleichfalls
von Abel erworben. Ein zweiter Altar, welcher mit
dem angeführten häufig verwechselt und in der
Dorfkirche von Kilchberg sich noch befindet, ist
gleichfalls seiner Flügel beraubt und trägt die Jahres¬
zahl 1478; ein Flügel davon ist jetzt im Besitz des
Herrn von Tessin und stellt einen Ritter von Ehingen als
Donator dar; der andere Flügel ist längst verschollen,
befand sich aber im Jahre 1829 bei Maler Dörr in
Tübingen, dem er von dem Schlossbesitzer zur Re¬
stauration übergeben war. Aus den Resten dieses
Altars ist nicht mit Sicherheit zu schließen, ob der¬
selbe von Zeytblom gemalt ist; doch zweifelte Maler
Wir sehen daraus, dass mau auch mit dieser
Argumentation bestimmte Schlüsse auf den Entwicke¬
lungsgang des Meisters nicht bauen kann; alle be¬
glaubigten Werke bewegen sich in dem Zeitraum
zwischen 1496 und 1511. Nur ein Werk, welches
alle kunstgeschichtlichen Handbücher anführen, der
Altar von Hausen, geht über diese Zeit etwas zu¬
rück, nämlich bis 1488. Passavant, welcher diesen
ehemals im Besitze Prof. Hassler’s in Ulm und jetzt
in der Sammlung vaterländischer Altertümer in Stutt¬
gart befindlichen Altar erstmals auführt, findet darin
schon den ausgebildeteu Stil Zeitbio m’s; ich kann
darin nur eine Arbeit seiner Schule erkennen. Die
Gesichtszüge der dargestellten Heiligen, Nikolaus
und Franziskus, sind hart, das Kolorit nicht von der
Frische und Leuchtkraft wie bei den beglaubigten
Bildern des Meisters. Die stark restaurirten Außen¬
seiten der Flügel geben überdies keine Anhaltspunkte
zur Bestimmung des Meisters; die Darstellungen sind
I bat tolötnf |fylMoiti malf r i
Inschrift vom Altar in der Schlosskapelle zu Kilchberg bei Tübingen.
Dirr in Ulm, bei dem ich den Flügel vor 12 Jahren
sah, nicht daran. Sei dem wie ihm wolle, die Jahres¬
zahl 1478 hat keine Beziehung zu den Kilchberger
Tafeln der Stuttgarter Galerie. Lübke glaubt in diesen
Bildern sichere Anhaltspunkte zu finden, die auf flan¬
drischen Einfluss weisen: eckige Bewegungen, magere
spitzige Formen und ein tiefes leuchtendes Kolorit. Das
ist nicht zu leugnen, aber anderseits kann darin eben¬
sogut ein Einfluss der beginnenden Renaissance be¬
merkt werden, was namentlich die bewegtere Stellung
der Figuren, die reichere Drapirung, die mehr ge¬
ringelten Haare und die mehr ins Breite gehende
Kopfbildung verraten. Aber abgesehen davon sind
auch urkundliche Zeugnisse vorhanden, die eine Ent¬
stehung der Tafeln nicht vor 1494 möglich machen;
auch hielt der frühere Besitzer Abel fest an dem
späteren Ursprung der Bilder, etwa ums Jahr 1504. *)
1) Bei einem neuerlichen Besuch in Kilchberg habe ich
die beiden Altarschreine, soweit thunlich, gemessen. Der
Schrein in der Kirche misst 178 cm in der Breite, dazu ist der
einzelne Flügel 86 cm breit. 144 hoch ohne Rahmen. Der
derSchongauer’schen Pas.sion entlehnt. WeunHassler
in dem Kopfe des h. Nikolaus ein Porträt des in dieser
Zeit in Augsburg regierenden Bischofs Friedrich von
Zollern erblicken will, so ist das eine bloße Vermutung,
noch mehr aber das Märchen, der genannte Bischof
habe sich von dem „Magister Bartholomäus“ eine
Visirung dazu machen lassen. Wie Hassler selbst in
seinem Sendschreiben an Ed. Manch mitteilt, malte
Zeitblom ein und denselben Kopf „z. B. als h. Va¬
lentin in Augsburg, als h. Nikolaus auf meinem
Altar, als Kirchenvater auf der Rückwand des Blau-
beurer Altars“ ; dann kann noch hinzugefügt werden.
Altarkasten in der Kapelle ist 174 cm breit und 162 hoch.
Die Stuttgarter Tafeln haben ohne Rahmen je eine Breite
von 69 und eine Höhe von 145 cm, passen somit, wenn man
die Rahmenbreite dazu rechnet, ganz gut zur Bedeckung
des Schreins. Die Predella des Schlosskapellenaltars trägt
eine leider verwischte Inschrift, von welcher nur noch der
Anfang des Jahreszahl MCCCC in Minuskelschrift zu lesen
ist. Der Name des Meisters steht ganz außen am linken,
spitz zulaufenden Ende der Predella, da wo der geöffnete
Flügel sein Auflager hatte.
26
204
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
der Kopf des h. Virgilins von Salzburg in der
Karlsruher Galerie. Es ist aber der allgemeine Typus
für Bischöfe der Zeitblom’scben Schule und der Bi¬
schof Friedrich von Zollern hat offenbar damit nichts
zu schaffen.
Ein weiteres Märchen, das uns Harzen auftischt,
kann gleich hier eingereiht werden. Derselbe, wel¬
cher mit Beiziehung aller möglichen, da und dort
gesammelten Hypothesen eine
anziehende Biographie Zeit-
hlom’s geschrieben hat '), ver¬
wertet nämlich eine Erzäh¬
lung aus einer Kirchheimer
Klosterchronik, welche der
Ijekannte Württembergische
Historiograpli Sattler mit¬
teilt -), für seine Zwecke. Dort
ist von einem „meyster Bar¬
thlome dem maler“ die Rede,
Avelcher mit andern Kirch¬
heimer Bürgern den durch
Herzog Eberhard d. J. von
4Vürttemberg hart bedrängten
Nonnen des Klosters St. Jo¬
hann beigestanden habe. Nun
ist aber dort Aveder der Name
Zeitblom genannt, noch son¬
stige Anlialtspunkte vorhan¬
den, AA'elche auf einen Aufent¬
halt des Meisters in Kirch-
lieiin schließen lassen. Lei¬
der haben fast alle neueren
hunsthistoriker bis auf Janit-
schek herab diesen Angaben
Glauben gescJienkt; offenbar
kann sich’s hier nur um eine
ganz gewagte Kombination
handeln.
7\nsch]ießend an die
Kilchberger Tafeln möchte
ich zunächst noch anführen
die Reste eines AltarAverks,
von Avelehern zwei Tafeln mit den Heiligen Vir-
gilius und Laurentius, Mauritius und Sebastian,
unten a}>geschnitten in der Galerie zu Karlsruhe,
zwei andere, wohl die Außenseiten der zersägten
Flügel, darstellend die Heimsuchung Mariä undElisa-
1 Niiumann’s Archiv 1800, S. 27 ih
2) Ghronicon Coenobii Kirchheimense , Sattler Grafen,
'I’h. .1, 180.
beth, Maria Magdalena und Ursula in Donaueschiugen.
Die letzteren Bilder befanden sich früher in der von
Lassberg’schen Sammlung zu Meersburg, die Pro¬
venienz der Karlsruher Tafeln ist nicht bekannt.
Der Stil dieser Bilder erinnert auf den ersten Blick
an die Kilchberger Tafeln und man hat dieselben
deshalb auch zu den frühesten Werken des Meisters
gezählt. Inwieweit das zutrifft, lassen wir dahinge¬
stellt. Wie schon erwähnt,
halten wir die Kilchberger
Tafeln für später und können
auch den edlen großartigen
Stil in der Gewandung, wel¬
cher den Hauptwerken des
Meisters eigen ist, nicht als
ein Resultat der späteren Ent-
Avickelung, sondern lediglich
als ein noch mit den alten
kirchlichen Traditionen in Zu¬
sammenhang stehendes Motiv
erkennen. Die Gewandbehand¬
lung bei den schwäbischen
Meistern der früheren Zeit bis
etwas nach der Mitte des 15.
Jahrhunderts ist eine einfa¬
chere, noch nicht so zerknit¬
terte, was sich auch in der
Architektur und Plastik be¬
sonders geltend macht. Die¬
ser Reichtum, d. h. das Be¬
streben, möglichst viele eckige
Falten und Brüche, Über¬
schneidungen und Durch¬
dringungen anzubringen, stei¬
gert sich gegen Ende des
Jahrhunderts immer mehr und
wird im Anfang des 16. Jahr¬
hunderts zur Regel. Zeitblom
konnte sich dieser Richtung
auch nicht ganz entziehen, ob¬
gleich er im allgemeinen an
einer einfacheren Drapirung
festhält. Vergleicht man z. B. die Figur des h. Niko¬
laus vom Hausener Altar (1488) mit dem h. Alexander
datirt von 1504 in Augsburg, so bemerkt man in¬
sofern einen Fortschritt in der Gewandung, indem
das weiße Untergewand beider Heiligen bei dem
ersteren mehr geradlinig eingezogene Faltenbrüche
aufweist, während das bei dem letzteren weniger
der Fall ist, dagegen eine reichere Entfaltung bau¬
schiger Motive angewendet ist. Das einfachere Ge-
.Tolianiies der Täufer von B. Zeitblom.
(Vom Kilclil)erger Altar.)
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
205
wandmotiv sehen wir dann wieder beim Mickhäuser
Altar (Papst Gregor und St. Augustinus) ‘), dieser
Altar gehört deshalb auch ohne Zweifel zu den
früheren Arbeiten des Meisters. Vergleicht man noch
die beiden Johannes von Eschach und Kilchberg,
so ist doch gewiss einleuchtend, dass der letztere
jüngeren Datums ist. Stellung, Drapirung und
Kolorit ist bewegter, reicher und feuriger als auf
der Eschacher Tafel (vergl.
die Abbildungen).
Im Anschluss an die ge¬
nannten Bilder seien noch
angeführt die kleineren Ta¬
feln mit den Heiligen Georg 2)
und Valentin, aus dem Klos¬
ter Urspring stammend, frü¬
herin der AbeTschen Samm¬
lung und jetzt in der Stutt¬
garter Galerie; zu diesen ge¬
hörten, wie Waagen und
Grün eisen angeben, noch die
Heiligen Katharina, Nr. 485
und Barbara^) (jetzt ver¬
schollen?), Janitschek rech¬
net dazu noch die Bilder in
der Pinakothek zu München,
Nr. 180 und 181, denh. Georg
und h. Antonius; diese Bilder
stammen aber, wie der Kata¬
log angiebt aus Schwäbisch
Gmünd und kommen 1803
in die W allerstein’sche Samm¬
lung, können demnach nicht
zu dem Urspringer Altar in
Beziehung stehen. Die bei¬
den Ritterfiguren erinnern
auffallend an die analosren
o
Figuren des Kilchberger Al¬
tars, doch ist der Urspringer
Georg entschieden altertüm¬
licher. Lübke findet in diesen
Bildern schon weichere For¬
men und eine mildere Farbenskala, einen Übergang
zum reiferen Stil des Meisters, was richtig ist; übrigens
bemerken wir eine unverkennbare Ähnlichkeit zwi-
1) S. die Abbildung auf S. 128, Jahrg. 1893.
2) Nach Grüneisen St. Ulrich.
3) Die analogen Bilder Nr. 499 und 504 der Stuttgarter
Galerie sind keinenfalls vonZeitblom, vielleicht von Strigel; sie
sollen, wie Grüneisen (Kunstblatt 1840) angiebt, aus Hürbel
stammen.
sehen dem Kopfe des h. Valentin und dem h. Am¬
brosius auf der Eschacher Predella.
Mit Vorstehendem haben wir alles erschöpft,
was man etwa als den Entwickelungsgang des Mei¬
sters bis in die 90er Jahre hinein ansehen kann, und
jetzt betrachten wir das Werk, welches bis jetzt
als der Höhepunkt der künstlerischen Leistungen
Zeitblom’s angesehen wurde, ich meine den Eschacher
Altar.
Das Pfarrdorf Eschach
im Königreich Württemberg,
Oberamt Gaildorf in der ehe¬
maligen Grafschaft Limpurg
gelegen, war im 15. Jahr¬
hundert im Besitz der Grafen
von Rechberg. Die Kirche
wurde in den Jahren 1493
bis 1495 erbaut und ist den
beiden Heiligen Johannes ge¬
weiht. Das Altarwerk, datirt
von 1496, ist ohne Zweifel
eine Stiftung der Herren von
Rechberg. Im Schrein sieht
man noch die lebensgroßen
Schnitzfiguren der Maria mit
dem Kinde von Engeln ge¬
krönt und die beiden Johan¬
nes, den Täufer und den
Evangelisten. Die gemalten
Flügel wurden schon im
Jahre 1818 für etliche 20 Ka-
rolin verkauft, indem die
Mauer um die Kirche mit dem
Einsturz drohte und das Kir¬
chengut kein Geld hatte.
Später kamen die Flügel in
die Abel’sche Sammlung nach
Stuttgart und von da 1862
in die Stuttgarter Galerie.
Kugler hatdieseTafeln schon
im Jahre 1843 eingehend ge¬
würdigt ^) und lobt besonders
die Karnation; „es ist ein weicher warmer Schmelz
auf grünlichem Grundton, von dem Verblasenen der
Kölner Schule wesentlich verschieden. Bildung und
Ausdruck der Köpfe durchaus eigen — ein treuer
deutscher Ernst, der aber doch schon etwas von
ruhig rationalistischer Weise in sich trägt.“
Die Innenseiten, Heimsuchung und Verkündi-
1) Kleine Schriften, II, S. 422.
20Ü
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
guiig, aiißeii die beiden Johannes, anf der Predella
die vier Kirchenväter, Rückseite das veraicon; das letz¬
tere, ehemals in der Hirscher’schen Sammlung und
jetzt in Berlin, ist ohne Zweifel das am besten erhal¬
tene und vortrefflich restanrirte Stück des Altars,
die Aberschen Tafeln haben durch die unglückliche
Eigner’sche Restauration, welche schon in den 40er
Jahren stattfand, stark gelitten, besonders störend
wirkt der blaue Grundton und das aufgemalte go¬
tische Ornament bei den Johannesbildern. Eigner
ist auch wohl der Erfinder des von Brulliot, Dic-
tionnaire 11, Nr. 308 mitgeteilten Monogramms B Z
1490, mit welchem Zeitblom dieses Werk bezeichnet
haben soll. Im allgemeinen möchte ich den Bildern
keine so große Bedeutung beilegen, wie gewöhnlich
geschieht. Die weiblichen Gestalten sind geradezu
hässlich, dagegen erblickt man in dem Engel der
Verkündigung den echten Zeitblom’schen Stil.
In dieselbe Zeit (1495 — 96) wird nun allgemein
die Fertigung jenes großen Altarwerks gesetzt, mit
welchem der Name Zeitblom verbunden wird, näm¬
lich der Hochaltar zu Blaubeuren. Aus der umfang¬
reichen Litteratur über den Altar führen wir zu-
näclist an, dass das Werk lange Zeit ohne Bedenken
für eine Arbeit Sürlin’s galt *), der, wie eine Inschrift
am Chorgestühl meldete, dasselbe 1493 gefertigt hat.
Aber noch eine andere Inschrift am Levitenstuhl
hat man auf den Altar selbst bezogen. Es heißt dort:
Sürlin artificis nomen
extolere quia velis
Figuris deificis pinxit
qui dominum de celis.
1496.
Sei dem wie ihm wolle, wir haben uns hier nicht
mit dem Bildschnitzer, sondern dem Maler zu be¬
schäftigen. Weyern)ann '-) erwähnt, wer weiß aus
welcher (Quelle: „Der Maler des Hochaltars in der
Klosterkirche zu Dlaubeuren beißt Stöcker, aber sein
'l’anfname ist unbekannt.“ Nun hat freilich ein
.Meister Jfh'g Stöcker in Ulm existirt, welcher 1491
ein Itild in die Neidbard’sclie Kapelle des Münsters
malte und auch seinen Namen „.lörg Stöcker Maler zu
Ulm 1520* auf einem Altar in der Kirche zu Obersta¬
dion nennt. Leider wurde dieses Werk schon im
Jahre ISfil durch einen gewöhnlichen Kirchenmaler
1) Schon in der handschriftlich hinterlassenen Kloster-
heschreihung von Erf'enzinf^er 1747 heißt es; ,,das berühmte
Kunstwerk des unvergleichliclien Malers und Bildsclmit'/.ers
(iCOTfi Sürlin d. .1.“
2) Kunstblatt, 18.30, tilfl.
restaurirt, so dass die ursprüngliche Patina verloren
ist. Spätere Autoren, an der Spitze Grün eisen und
Manch (1840), haben dann die Werkstätte Zeitblom’s
als Geburtsstätte des Altars eingeführt und man be¬
gann in der Folge einzelne Teile des Schreins als
von seiner Hand ausgeführt zu bezeichnen. Passa-
vant 1846 glaubt nur die Flügel der Predella und
die Bischofsfiguren der Rückseite von Zeitblom aus¬
geführt, Waagen geht noch weiter, er weist ihm
die ganze Johanneslegende und noch zwei Stücke
von den Passionsscenen auf der Vorderseite zu.
Hassler erkennt richtig die Thätigkeit verschiedener
Meister. „Unter diesen Meistern ist einer kenntlich,
auch wenn er unter hundert andern stünde: Zeit-
hlom, mag man ihm bloß die Bilder der Predella
und auf der Rückwand zuschreiben, wie jedermann
thut, der ihn kennt oder auch einen Teil der Dar¬
stellungen aus dem Leben Johannes des Täufers“.
Schnaase-Eiseumann spricht sich nicht bestimmt für
Zeitblom aus und sagt ganz richtig: bei näherer
Betrachtung erkenne man verschiedene Hände, von
denen keine für ihn ganz genügt. Auch Mauch
äußert sich in ähnlicher Weise über die Johannes¬
bilder, besonders abweichend im Stile findet er die
unteren Gemälde am inneren Flügel: Johannes’ Ge-
fangennehmung, Enthauptung und Gastmahl des
Herodes. Robert Vischer will ganz entschieden auch
die Hand B. Strigel’s erkennen, besonders die oberen
Bilder auf den Innenseiten der äußeren Flügel. Ja-
nitschek giebt sich keine weitere Mühe, einzelne
Bilder Zeitblom selbst zuzuschreiben, doch findet er
in den Heiligengestalten der Rückseite die Vorzüge
des Meisters selbst wieder.
Das sind im großen Ganzen die Resultate der
bisherigen Forschung, die dadurch noch erschwert
waren, weil man keine photographischen Aufnahmen
der einzelnen Bilder des Altars hatte. Erst vor
zwei Jahren gelang es den langjährigen Bemühungen
des Hofrats Baur in Blaubeuren, gute Aufnahmen
von allen Teilen des Werkes zu erhalten, die teil¬
weise auch in die amtliche Ausgabe des Werkes
„Kunst- und Altertumsdenkmale in Württemberg*
aufgenommen sind.
Mein Urteil über den Altar, welches ich mir
durch oftmalige Besichtigung und langjährige Be¬
schäftigung mit der Sache ausgebildet habe, geht
dabin, dass das Werk wohl nicht bei Zeitblom be¬
stellt, sondern einer ganzen Reihe Ulmischer Künstler
in Auftrag gegeben wurde. Wäre das Werk aus¬
schließlich in Zeitblom’s Atelier entstanden, so hätte
er sich gewiss an irgend einer Stelle des Altars mit
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
207
seinem Namen bezeichnet, so aber konnte das selbst¬
verständlich nicht geschehen; auch war Zeitblom
gerade in dieser Zeit mit den Altären für Eschach,
Heerberg und Hürbel i) vollauf beschäftigt und konnte
nicht zugleich noch dieses großartige Werk in Ar¬
beit nehmen. Aber ganz ausschließen möchten wir
die Mitarbeit Zeitblom’s doch nicht ganz, wenn auch
nicht durch untergeordnete Arbeiten, wie die Hei¬
ligenfiguren der Rückseite oder die Predellenflügel
ihn einführen; so doch durch zwei Darstellungen
aus der Johanneslegende auf dem linken äußeren
Flügel unten. Diese Bilder sind die einzigen des
ganzen Cyclus, wo Christus selbst dargestellt ist;
nämlich die Scene, wo Johannes seinen Freunden
Petrus und Andreas den in Begleitung seiner Jün¬
ger nahenden Christus zeigt, und Christi Taufe im
Jordan (s. den Lichtdruck). Das sind Darstellungen, die
sich Zeitblom ohne Zweifel selbst ausgewählt hat, es
sind Hauptmomente im Leben des h. Johannes und
tragen irn verkennbare Spuren Zeitblom’scher Kunst.
Alle anderen Bilder des Altars weichen mehr oder weni¬
ger von dem leicht kenntlichen Typus des Meisters ab;
die Gestalten auf der Rückseite sind etwas hart in
der Zeichnung, die Drapirung nicht so edel wie
man’s bei Zeitblom gewöhnt ist. Einige Köpfe
gleichen sich ganz. Auch die Predellaflügel, welche
Robert Vischer unbedingt für eigenhändige Arbeiten
Zeitblom’s in Anspruch nimmt, möchte ich nicht
1) Die hierher gehörigen Tafeln keinen aus dem Besitz
des Finanzrats Esers in Stuttgart nach Bukarest.
dem Meister zuweisen, sondern lieber Jakob Acker,
dem sie auch, auf Grundlage eingehender Beschäf¬
tigung mit den Altären Acker’s zu Risstissen und
Ersingen, Fr. Dirr zugeschrieben hat.
Ganz abweichend vom Zeitblom’schen Stil sind
die Bilder von der Innenseite des rechten Flügels,
sie erinnern an Strigel, einer anderen Hand gehören
an die vier oberen Bilder der inneren Flügel, wäh¬
rend die vier unteren wieder mehr an Zeitblom
erinnern, man hat sie schon Herlin oder gar
M. Schongauer zuschreiben wollen. Die vier Bilder
des linken Flügels zeichnen sich, wie schon Passa-
vant bemerkt, durch einen weit tieferen Ton der
Karnation aus. Die vier Passionsscenen der Außenseite
sind rohe Arbeiten der Wohlgemuth’schen Schule.
Man hat sich früher alle Mühe gegeben, Inschriften,
Monogramme und Jahrzahlen und anderes an dem
Werke zu entdecken, welche über den Stifter oder
Künstler des Altars Aufschluss geben könnten. Doch
findet sich nichts daran als unter der Madonna im
Mittelschrein das Wappen des Abts Heinrich Faber
(1475—95), unter dessen Regierung der Altar aus¬
geführt wurde. Die beiden als Künstlermonogramme
gedeuteten Zeichen am Oberschenkel des Mohren¬
königs und an demjenigen eines Dieners beim Gast¬
mahl des Herodes sind lediglich als Verzierungen,
beziehungsweise als das Livreezeichen des Herodes
Antipater anzusehen. Ich gebe hier beide in genauen
Abbildungen, da solche vielfach falsch abgezeichnet
werden. (Schluss folgt.)
Monogramm vom Blaiibeurener Altar.
Wappen des Abts Heinrich Faber.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
VON KARL WO ER MANN.
MIT ABBILDUNGEN.
(Fortsetzung.)
M Herbst 1761 siedelte Mengs
mit seiner ganzen Familie
nach Madrid über. Am 7.
Oktober dieses Jahres lan¬
dete er in Alicante. In Ma¬
drid, wo er die sächsische
Königin von Spanien nicht
mehr am Leben fand, vom
König aber liebevoll empfangen wurde , begann
er eine äußerst angestrengte Thätigkeit. Vor allen
Dingen sollte er im Wettbewerb mit Tiepolo, dem
großen Venezianer, der lieber der glänzendste Ver¬
treter als der Neugestalter der Kunst seiner Zeit sein
wollte, das königliche Schloss mit großen Decken¬
gemälden schmücken; dann galt es, die Madrider
VIL
Akademie, die berühmte Academia de San Fernando,
auf neue Grundlagen zu stellen, wobei er auf den
lebhaftesten Widerstand der Spanier und Italiener
der alten Schule stieß und nur Verdruss erntete;
auch Bildnisse und Altargemälde hatte er in großer
Anzahl zu malen; und endlich drängte es ihn selbst,
wissenschaftlich angelegt, wie er war, sich in die
Reihen der Kunstschriftsteller zu begeben. Sein
erstes Schriftwerk: „Gedanken über die Schönheit
und den Geschmack in der Malerei“ erschien in deut¬
scher Sprache 1762 bei Füssli in Zürich, wurde aber
bald in alle Kultursprachen übersetzt und erzielte
einen ungeheueren Erfolg. Winckelmann begrüßte
das Werkchen in einem am 23. Juni 1762 von Castel
Gandolfo aus an Mengs gerichteten Brief mit dem
J
Faksimile der Unterschrift von A. K. Mengs.
Amor.
Pastellgemälde von A. R. Mengs in der Dresdener Galerie,
A. R. Mengs: Josephs Traum. Ölskizze. (Kgl. üemäldegalerie in Dresden.)
Zeitschriit für bildende Kunst. N. F. V. H. 9.
210
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
überschwenglichsten Entzücken. „Hier hat es mich
erreicht,“ schreibt er (Fea, p. 422), „ich verschlinge
es; alles erscheint mir nen; ich wette, dass niemals
eine so kleine und unscheinbare Arbeit zu Tage ge-
ö n
fordert worden, die so reich wie dieses Euer Werk-
chen an tiefen Empfindungen, gründlichen Erörte¬
rungen, thatsächlicher Förderung und Belehrung
gewesen. Nicht nur mit anderen Werken über die
Kunst, sondern — ich wage es zu behaupten — mit
anderen Büchern jeder Art verglichen, erscheint es
so gewichtig wie ein Pfund Blei gegen ein Säck¬
chen Wolle.“ Er muss also doch wohl etwas aus¬
gesprochen haben , nach dessen Aussprache die Zeit
sich gesehnt hatte. Wir kommen darauf zurück.
Von den zahlreichen Bildnissen, die Mengs
während seines ersten, acht Jahre dauernden Aufent¬
halts in iMadrid schuf, sind manche im Madrider
Museum erhalten, ist aber doch dasjenige der In¬
fantin Maria Ludovia in die kais. Galerie zu Wien
gelaugt. Auch die Altargemälde sind meist in Spa¬
nien geblieben, wie sich dies in Bezug auf die
Deckengemälde im Schlosse von selbst versteht. Nur
die letzteren können hier kurz erwähnt werden. Zuerst
schmückte der Meister die Decke des Wohnzimmers
des Königs mit einer großen Götterversammlung,
die die Aufnahme des Herakles in den Olymp dar-
stellte. Sodann malte er in dem Zimmer der Kö¬
nigin die gepriesene „Aurora“ mit den „vier Jahres¬
zeiten“ zu ihren Seiten. Diese Aurora bekam der
Verfasser dieses Aufsatzes nicht zu sehen, weil das
Zimmer, als er in Madrid war, gerade von der er¬
krankten Prinze.ssin von Asturien bewohnt wurde.
Jene Götterversaminlung aber schien ihm in der
Geschio.ssenheit ihrer Anordnung und in dem klaren
Gleichgewiclit ihrer Formen- und Farbenpracht noch
einen l’ortschritt über den Parnass der Villa Albani
hinaus zu l)edeuten.
Besonders wohl aber hat sich die Familie Mengs
in Madrid von Anfang an nicht gefühlt. Seine schöne
Frau unil seine Kinder scliickte der Meister schon
17b.‘{ nach Rom zurück. Frau Mengs richtete sich
am Tiberstrande verschwenderisch ein; und im fol¬
genden .Jahre spielte sicli hier das merkwürdige,
von .lusti (Winckelmann 11, S. 340 — 334) eingehend
geschilderte Abenteuer zwischen ilir und Winckel¬
mann ab, das dank der Tugend mul Freundschafts-
sehwärmerei der drei Beteiligten glücklich verlief,
ohne dass einer von ihnen Schaden an Leib und
Seele genommen hätte. Einen Stoß erhielt Winckel-
mann’s Begeisterting für Mengs erst, als er den
Streich entdeckte, den der Meister ihm wohl nur
aus Künstlerübermut gespielt, indem er ihn veran-
lasste, zwei von ihm selbst angefertigte Nachahmun¬
gen antiker Wandgemälde als echt zu veröffent¬
lichen. Auch hierüber lese man das Nähere bei
Justi (Winckelmann II, S. 213, 334, 348) nach. Es
kam zu einem Bruche, den leider kein Wiedersehen
heilen konnte, da Winckelmann bekanntlich 1768
in Triest ermordet wurde. Doch betrachtete Mengs
seinen gelehrten Landsmann bis an sein Ende als
seinen Freund, wenngleich er sich, nachdem er die
Nachricht von seiner Ermordung erhalten, in einem
italienischen Briefe an Raimondo Ghelli vom 19. Juli
1768 ziemlich kühl philosophisch darüber aussprach.
„Mit dem größten Bedauern“, schrieb er, „habe ich
von dem unglücklichen Tode Freund Winckelmann’s
gehört; aber da sich die Thatsache nicht ändern
lässt, habe ich mich mit der Hoffnung zu trösten
gesucht, dass er ein gutes Ende gehabt habe (che
abbia fatto una buona morte) und folglich die ewige
Seligkeit genieße, auf die es vor allem ankommt.
Der Mensch fängt ja schon an zu sterben, noch ehe
er geboren wird u. s. w.“
In demselben Jahre, in dem Mengs seine Gattin
nach Rom zurückschickte, ging der siebenjährige
Krieg zu Ende. Gleich darauf, noch im gleichen
Jahre 1763, starben kurz nach einander August HI.
und sein erster Ratgeber Graf Brühl. Der Lübecker
Heinecken musste dem Hamburger Hagedorn in der
Leitung der Dresdener Kunstangelegenheiten Platz
machen. Der Leibarzt Bianconi wurde, da der Kur¬
fürst Christian nach nur zweimonatlicher Regie¬
rung am 17. Dezember 1763 unter seiner Behand¬
lung ebenfalls gestorben war, und die Kurfürstin
Marie Antonie ihn infolgedessen mit scheelen Blicken
ansah (so schrieb wenigstens Winckelmann am 3. Jan.
1764 an Mengs), an Lagnasco’s Stelle als sächsischer
Geschäftsträger nach Rom versetzt, wo er später
Mengs’ Leben schrieb. In Sachsen wurden die Ver¬
hältnisse umge.staltet und neugeregelt. Vor allen
Dingen wurde an Stelle der alten, von August dem
Starken gegründeten unentgeltlichen Zeichenschule,
deren Direktor ihr einziger Lehrer zu sein pflegte,
eine wirkliche Akademie der bildenden Künste in
Dresden errichtet. Ihre Errichtung angeregt zu haben,
war ein Hauptverdienst des so früh verstorbenen
Kurfürsten Friedrich Christian. Ausgeführt wurde
sie 1764 nach Hagedorn’s Vorschlägen unter der „Ad¬
ministration“ des Prinzen Xaver. Die Geschichte ihrer
Gründung kommt hier nur in .Betracht, soweit es
sich um die Familie Mengs handelte. Natürlich ver¬
gaß man dieselbe nicht. Doch sah man von vorn-
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
211
herein ein, dass au einer Akademie, deren Professo¬
ren durchschnittlich 600 Thaler Gehalt hatten, kein
Platz für Anton Raphael sei, der in Madrid 6000
Scudi Gehalt bezog. Man machte ihm daher nur
eine Anstandsverbeugung, indem man in dem priuz-
lichen Erlass vom 6. Februar 1764 über die Künstler¬
gehalte, nachdem man seine Streichung aus der
Liste der sächsischen Pensionäre ausgesprochen, den
Satz eiufließen ließ: »Sollte er sich allhier anderweit
uiederlassen wollen, so werden wir uns darüber, in
mahler, zieht 600 Thaler Pension, die er im Lande
verzehren oder allem Anschein nach entbehren kann.“
Doch beschloss man schließlich, dem alten Herrn
gegenüber ein Auge zuzudrücken und ihn in Rück-
sicht auf seine vieljährigen Dienste zum Professor
honorarius an der neuen Akademie zu ernennen mit
der Erlaubnis, seine Pension von 600 Thaleru in Rom
verzehren zu dürfen. Wider Vermuten kehrte er
jedoch zu Anfang des Jahres 1764 nach Dresden
zurück und erteilte noch einigen Schülern Unterricht
A. ß. Mengs: Magdalena. Ölgemälde. (Kgl. Gemäldegalerie in Dresden.)
wie weit ihm eine seiner ausnehmenden Geschick¬
lichkeit gemäße Belohnung zu bestimmen thuulich,
entschließen.“ Durch denselben Erlass wurden die
Gehalte der Theresia Concordia Marou geb. Mengs
und der Klosterfrau Juliane Mengs, die beide nicht
nach Dresden zurückgekehrt waren und keine Ar¬
beiten mehr für den sächsischen Hof geliefert hat¬
ten, einfach gestrichen. Anders stand es mit Ismael
Mengs. Dieser befand sich, alt und gebrochen, 1763
wieder in Rom. In einer schon in diesem Jahre
niedergeschriebenen, vorbereitendenDenkschriftHage-
dorn’s heißt es daher: „Ismael Mengs, Miniatur-
im Emailliren. Sein Wunsch, dem er gleich nach
seiner Rückkehr in einer Eingabe an den Regenten
Ausdruck gab, ging dahin, in der Porzellanfabrik
zu Meißen angestellt zu werden. Die Eingabe zeigt,
wie schwach inzwischen sein Deutsch geworden war.
Es heißt in ihr: „und ob ich gleich zu mahlen alt
und schwach bin, so verspreche, dass ich noch in
stand seye einen oder zwei porcilaner (sic) so vill
mit meiner Wissenschafft zu lehren und großen
nutzen zu schaffen als andere in zwanzig Jahre
studirt und laborirt, dass exempel ist an meinem
Sohne Mengs, welcher den ersteren mahlern vorge-
212
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
zogen wird“ u. s. w. Mündlich wurde ihm bedeutet,
er müsse sich an den Geheimrat Hagedorn wenden.
Im Februar des Jahres 1764 richtete er eine flehent¬
liche Bittschrift an diesen, in der er hauptsächlich
um die Freiwohnung im Schlosse zu Meißen hat,
die Herr Bergrat Herold innegehabt, auch um das
Freiholz, das dieser bezogen, „nemblich die abschnitz
von holtz, die sie nicht könen in den Brennöfen
gebrauchen“. Er hofft, dass Hagedorn ihm nicht
.contrer seyn“, sondern ihm helfen werde^ „posiren,
zu einem glückseeligen Alter in ruhe zu setzen“.
Am 9. April erhielt er die Antwort, dass sein Wunsch,
da Herr Bergrat Herold noch am Leben sei, bis
auf weiteres nicht erfüllt werden könne. „Inmittelst“,
schreibt Hagedorn, „sind Ew. Hochedl. als Professor
honorarius in der Classe der Mahlerey bei der neu
errichteten churfürstlichen Akademie am 22. Februar
ernannt“. Am 23. Juli desselben Jahres bat Ismael
nunmehr um ein „freies Logement“ in Dresden, da
er bereits einige Schüler zu unterrichten, aber kein
Geld habe, selbst „ein hinlänglich großes und lichtes
(Juartier zu bezahlen“. Als ihm auch dieses nicht
gewährt, ihm vielmehr die Anwartschaft auf des
Bergrats Herold Freiwohnung in Meißen zuge¬
sprochen wurde, bat er, da es ihm in Dresden zu
teuer sei, inzwischen auf eigene Kosten mit seinen
Schülern nach Pirna oder Meißen ziehen zu dürfen.
Daraufhin erhielt er im August die Erlaubnis, nicht
zwar nach Pirna, wohl aber nach Meißen zu ziehen,
„wo man ihm, wegen der nicht zu* verabsäumenden
Schmelzarbeit oder Email etwa einen Scholaren durch
den Direktor Dietrich zuweisen lassen könnte“. Er
kam aber nicht mehr dazu, Dresden zu verlassen.
Am 23. Juli hatte er hier auch schon sein Testament
gemacht. Den Herbst über war er leidend; doch
eröffnete er noch am 3. November seine Lehrstunden
über die „Traktation der Farben“. Am 24. Dez.,
als er nocli lebte, schlug Hagedorn dem Prinzen
X^aver bereits vor, da Ismael Mengs ohne Hoffnung
darniederliege, sein Gehalt nach seinem Tode unter
die Professoren Casanova, Camerata und Coudray zu
verteilen. Der Prinz entschied dem entsprechend;
als Ismael am 26. Dez. 1764 gestorl^en war, erhielt
jeder von ihnen 200 Thaler Zulage. Frau Katharina
.Mengs, geh. Nützschner, machte am 28. Dezember die
Anzeige von Ismaers Hinscheiden, zugleich um die
drei Guadennionate und ein Witwengehalt bittend.
„Alle Lehrer, Mitglieder und Zöglinge der Akademie
folgten seiner Leiche bei der Beerdigung“. (Bibi, der
schönen Wissenschaften XII, S. 145).
Da ismael in seinem Testamente, dessen Abschrift
sich im K. S. Hauptstaatsarchiv befindet, seine Kinder
auf ihren Pflichtteil gesetzt, aber auch diesen durch
Forderungen seiner Frau für aufgezehrt erklärt hatte,
so dass seine Kinder ganz leer ausgehen sollten, seiner
Witwe aber sein ganzer Nachlass zugedacht war,
so fochten die Kinder das Testament an. Frau
Katharina reiste im nächsten Jahre sogar nach
Madrid, um sich mit ihrem Stiefsohn Anton Raphael
auseinanderzusetzen. Befriedigt von seiner Frei¬
gebigkeit und Güte, kehrte sie nach Dresden zurück.
Die Erbansprüche der Witwe und der Kinder Ismael’s
sollten durch gerichtlichen Vergleich geregelt werden.
Doch kam dieser Vergleich erst ein Jahr nach Anton
Raphael’s Tode, erst 1780 zu stände. Nach ihm
hatte Frau Mengs 1200 Thaler im ganzen, je 400
für jedes ihrer Stiefkinder oder deren Erben abzu¬
geben. Da aber Theresia Concordia auf ihren Anteil
zu Gunsten ihrer Neffen Alberich und Raphael, der
beiden in Rom lebenden Söhne Anton Raphael’s, ver¬
zichtete (deren versorgte Schwestern auch verzichtet
zu haben scheinen), so erhielten diese je 300 Thaler;
300 Thaler erhielt die Klosterfrau Julia Mengs (Maria
Sperandia) und 300 Thaler die Witwe des Karl
Moritz Mengs in Kremsmünster. Den Rest der Erb¬
schaft, 2150 Thaler, behielt Frau Katharina. Erst
1789, nachdem sie lange vergeblich um Pension ge¬
bettelt, wurde der einundachtzigjährigen auch eine
jährliche Beihilfe von 36 Thalern aus der könig¬
lichen Schatulle zugesichert. Lange aber kann sie
nach dieser Zeit nicht mehr gelebt haben.
* *
*
VIII.
Ein Jahr nach dem Tode seines Vaters trat
übrigens auch Anton Raphael wieder in Beziehung
zu dem sächsischen Hofe. Als ihm 1765 sein Bild
der Himmelfahrt Christi von Rom nach Madrid nach¬
geschickt worden war, damit er es hier endlich
vollende, ließ er in einem der Briefe, die er in dieser
Angelegenheit an den sächsischen Gesandten in
Madrid, den Legationsrat Saul richtete, die liebens¬
würdige Bemerkung einfließen, dass er, von einem
durch Dankbarbeit eingegebenen patriotischen Eifer
beseelt (imperato da un zelo patriotico a ragione di gra-
titudine), mit dem größten Vergnügen auf einige Zeit
nach Sachsen gehen würde, wenn es seinem Vater¬
lande von einigem Nutzen sein könne, und er bitte,
Ihre Königlichen Hoheiten dies wissen zu lassen.
Da er kurz vorher auf sein ungewöhnlich hohes Ge¬
halt hingewiesen, das ihm volle Freiheit der Be-
A. R. Mengs; Ferdinand IV. Ölbild im Museo Nazionale in Neapel.
R. Mengs: Der Daiuass. Deekeul'resko iu der Villa Alliaui iu Küiii. Naeh dem Studi v.'ii Kaidin.d Moia
DIE GALERIE SCHÜBART IN MÜNCHEN.
215
wegung lasse, so konnte dies eigentlich gar nicht
so verstanden werden, als trüge er Verlangen nach
sächsischem Gelde. Vielleicht war es auch nur eine
Höflichkeitswendung, wie die spanische Redensart
,, A la disposicion de Vd.“ Es ist aber lehrreich und
spaßig, urkundlich zu verfolgen, welche Aufregung
des Meisters Anerbieten in Dresden verursachte. Die
Akademieprofessoren gerieten in helle Angst ' und
suchten die Rückkehr des kühnen Neuerers mit allen
Mitteln zu hintertreiben. Zu ihrem Anwalt machte
sich der Geheimrat Hagedorn in einer längeren,
gewundenen Eingabe an den Regenten am 20.
Februar 1766, in der er natürlich zunächst grund¬
sätzlich anerkannte, dass der berühmte Mengs dem
Kunstleben seiner Vaterstadt von großem Nutzen
sein könne, dann aber dazu überging, zahlreiche Ein¬
wendungen zu machen: „Vielmehr ist es allerdings
zu besorgen, dass, wenn Mengs die Unzuverlässigkeit
im Zeichnen, und viele andere Dinge, wo der Wett¬
eifer in Eifersucht ausartet, wabrnehraen sollte, er
sie nur nach seinen Begriffen zu deutlich bei ihren
Namen nennen, nicht allemal im Gleise bleiben, auch
wohl andere nützliche Mitglieder vor den Kopf
stoßen möchte.“ Auch sei es nicht nötig, einen
Künstler aus Madrid zu verschreiben, da man Männer,
wie Hutin, Casanova, Canale (lauter Ausländer!) in
Dresden habe. Außerdem werde Mengs Nebenab¬
sichten haben, sich wegen der Rückstände der Stief¬
mutter, der Schwestern „mehr als ein Geschäft“
machen, werde mindestens das Deckengemälde der
katholischen Hofkirche malen wollen, ein Porzellan¬
geschenk erwarten n. s. w., u. s. w. Kurz, der Prinz¬
regent möge ihm ausweichend antworten lassen, jeden
Schein einer Berufung vermeiden und sich vor allen
Dingen nach den Bedingungen erkundigen, unter
denen Mengs bereit sei, seiner Vaterstadt einen Be¬
such zu machen. Dies geschah. Mengs erteilte
dem Legationsrat Saul in Madrid eine mündliche
Antwort. Dieser berichtete am 10. April 1766:
„Mengs hat mir geantwortet, da er zur Zeit unter
sehr guten Bedingungen (avec de tres bons apointe-
ments) im Dienste Seiner katholischen Majestät stehe,
so denke er gar nicht daran, dem sächsischen Hofe
auch nur im allergeringsten zur Last zu fallen, noch
an der Akademie angestellt zu werden, noch auf
Kosten des Dresdener Hofes eine Reise von Madrid
nach Sachsen zu unternehmen. Er habe nur als
guter Bürger für alle Fälle seine schwachen Dienste
anbieten wollen, u. s. w.“
(Schluss folgt.)
DIE GALERIE SCHUBART IN MÜNCHEN.’)
MIT ABBILDUNGEN.
IE Flerstellung großer Galerie¬
werke hat bisher vier ver¬
schiedene Phasen durch¬
gemacht. Für die wenigen
Publikationen des 17. und
18. Jahrhunderts war als
vermittelnde Technik der
Kupferstich oder die Radi¬
rung gewählt worden. Im 19. Jahrhundert erschien
der Steindruck, als dritte der Stahlstich, und seit
wenigen Jahrzehnten verzeichnen wir eine vierte
Entwickelungsstufe, in der die Nachbildungen von
1) Sammlung Schubart, früher Dresden, jetzt München.
Eine Auswahl von Werken alter Meister aus dieser Samm¬
lung, rcproduzirt in Heliogravüre und Phototypie. Mit einem
Vorwort des Besitzers und mit erläuterndem Text von Cor-
nelis Hofstede de Groot. München, Verlag f. Kunst und
Wissenschaft, vormals Fr. Bruckmann. Fol.
Gemälden als Lichtdrucke der verschiedensten Art
auftreten, als Chromgelatinglasdrucke, Heliogravüren,
Phototypieen, Heliotypieen oder wie sie alle an ver¬
schiedenen Orten verschieden getauft und hergestellt
werden. Der Stich und die Radirung als Mittel zur
Wiedergabe alter Gemälde treten mehr nnd mehr
zurück. Begreiflich das! So sehr es uns auch in-
teressirt, wie dieser oder jener Meister der Radir-
nadel oder des Grabstichels einem Rembrandt, einem
Tizian gerecht wird, so liegt doch für uns bei Nach¬
bildungen alter Gemälde das Hauptgewicht auf dem
alten erfindenden Meister nnd nicht auf dem moder¬
nen, nachdichtenden Künstler. Wir suchen vor allem
höchste Treue der Wiedergabe. Diese wird sich
aller Voraussicht nach auf dem Wege der photo¬
chemischen Verfahrungsarten noch bis ins heute Un¬
geahnte steigern. Verfeinerungen des Farbendrnckes
werden alljährlich erfunden, nnd in absehbarer Zeit
Männliches Bildnis von Chr. Amüerüer Weildidies Bildnis von rnu. AMi;i;r.. i;n.
A\is dem Werke: Die .Sammlung Scbiibart.
DIE GALERIE SCHUBART IN MÜNCHEN.
217
wird man auf die Blätter der Arundel-Society mit¬
leidig oder scLou mit liistoriscliem Interesse lierab-
blicken und Farbendrucke hersteilen, die wie gemalte
Kopieen ausseben. Die Radirer und Stecher werden
sich mittlerweile vollkommen mit dem Gedanken
befreundet haben, dass es ganz hübsch ist, selbst
etwas zu erfinden und auf Kupfer auszubilden, an¬
statt ewig und immer das nachzusprechen, was die
großen Maler der Vergangenheit, streng genommen,
doch schon viel besser gesagt haben. Mit all
dem hat es aber noch Weile. Noch erfreuen wir
uns an guten Blättern nach Raffael und. Holbein,
noch genügen uns die trefflichen, farblosen Licht¬
bilder, die man nach alten Gemälden bis heute herzu¬
stellen vermag. Ganz besonders willkommen sind
uns aber solche Reproduktionen, wenn uns dadurch
auserlesene Gemälde vorgeführt werden, die ihrer
Aufbewahrung nach für wenige nur zugänglich sind,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 9.
wenn uns also der Anblick von Bildern aus privaten
Sammlungen dadurch vermittelt wird. Wir danken
es daher dem Eigentümer einer ungewöhnlich wert¬
vollen Privatsammlung, Herrn Dr. Sclmhart in Mün¬
chen, gewiss aufrichtig, dass er die Hauptstücke
seiner Galerie in Nachbildungen vorzüglicher Art
hat veröffentlichen lassen. Ein sorgfältig gearbei¬
teter Text von Dr. CorncUs Hofstede de Groot macht
auf manches aufmerksam, das auch dem Galeriekun¬
digen zu erfahren erwünscht sein kann, und ein
Vorwort aus der Feder des Besitzers hat einen ganz
besonders intimen Reiz, da es in ebenso bescheidener
wie geistvoller Weise die Frage erörtert, ob ein
Sammler seine eigenen Bilder für die Öffentlichkeit
besprechen soll oder nicht. Burtin’s Bericht über
seine eigene Sammlung hat etwas Prahlerisches an
sich. Schubart bemerkte die Klippe und überließ
die Aufgabe der kritischen Beschreibung einem an-
28
Christus. Gemälde von P. P. Rubens. Aus dem Werke: Die Sammlung Schubart.
DIE GALERIE SCHUBART IN MÜNCHEN.
2 IS
deren. Sein Vorwort wirkt nur wie eine liebens¬
würdige Einladung, die Lesung des de Groot’sclien
Buckes zu beginnen, und vermeidet jedes Taxiren
seiner Bilder. Einem solchen kann er ja ruhig ent¬
gegensehen. Denn so viel Anregendes und Wert¬
volles bietet gegenwärtig seine Sammlung, dass jeder
Bilderfreund dort etwas finden wird, das ihn fesselt,
ja entzückt.
Als Titelblatt des neuen Foliobandes, der in
jeder Beziehung reich und prächtig ausgestattet ist,
wurde das Brustbild eines spanischen Malers ge-
Avählt. Mit Vorbehalt wird bei diesem weich be¬
handelten Gemälde von einem Eigenbildnis desMurillo
gesprochen, dabei aber ganz richtig auf die Schwierig¬
keit hingewiesen, dieses Porträt mit anderen Bild¬
nissen Murillo’s in Einklang zu bringen. Ob wir
nicht ein Selbstporträt des Spaniers Mazo vor uns
haben? Und das hauptsächlich wegen einer gewissen
Porträtähnlichkeit mit den Zügen des Mazo auf dem
bekannten Familienbildnisse in Wien (als Velazquez
katalogisirt), das entweder von Pareja oder gar wahr¬
scheinlich von Mazo gemalt ist. Den letzteren
Namen hat auch Justi vor dem Wiener Bilde ge¬
nannt, der wohl auch gelegentlich die Frage nach
dem Meister des Münchener Bildes wird beantworten
können.
Auf sicherem Boden stehen wir bei den näch¬
sten Abbildungen, nämlich den beiden Porträts des
Matthäus Schwarz und seiner Frau von Christoph
Amtjerger. (Siehe unsere verkleinerten Abbildungen.)
Bekanntlich sind beide Gemälde beglaubigte Werke
Amberge r’s und die Ausgangspunkte für die Bestim-
mmm seiner Werke. Man sieht einer Einzelstudie
über diesen Vertreter der Augsburger Bildnismalerei
aus der Mitte des 16. -Jahrhunderts entgegen, die
gewiss mehr Neues bringen wird, als hier in weni¬
gen Zeilen gesagt werden könnte.
Das Schubart’sche Galeriewerk lässt nun die
Nachbildung und Besprechung von mehreren inter-
e.ssauten frühen Werken des älteren folgen:
zunächst des Bildnisses eines vornehmen Herrn Jacob
N. N. in einfacher Pilgertracht, die einen auffallen¬
den Ougensatz zu den vielen kostbaren Ringen an
den Fingern des Dargestellten bildet. Die gekreuz¬
ten Wanderstäbe und die Pilgermuscheln erteilen
dem Dargestellten die Nottaufe auf den Namen
-lacobus major. Weiterhin wird die Quellnymphe
von 1518 abgebildet, die früher in der Baron
Friesen’schen Sammlung war und mehrmals von der
Kranachlitteratur berührt wurde. Das Bild ist schon
deshalb interessant, weil cs fast dieselbe Körper¬
haltung aufweist, wie einige venezianische Venus¬
figuren, voran wie die des Giorgione, die Lermolieff
in Dresden wieder zu Ehren gebracht hat. Dürer’s
Quellnyraphe im Ambraserbande und Kranach’s
Quellnyraphe (nicht Diana) der Kasseler Galerie ge¬
hören demselben Kreise von Darstellungen an, die
wohl allesamt ihre Anregung von der Antike her¬
genommen haben. Bei Gelegenheit komme ich auf
diese Frage zurück. Die Abbildung der anmutigen
Madonna Schubart von 1529 beschließt den Abschnitt
über den älteren Kranach.
Es folgt eine Landschaft, die ich nach der Ab¬
bildung trotz des italienischen Gegenstandes (des
Tiber in Rom) für eine Arbeit des Josse de Momper
halten möchte, und eine Tafel mit dem büßenden
Hieronymus von Memling, einem Bilde, das den
Freunden altniederländischer Kunst wohlbekannt
ist; weiterhin eine kleine reizende feine Landschaft
von Adriaen v. Stalbent (bez. „A V Stalbent“, A
und V verschränkt), die man als Gegenstück des
netten Bildchens in der Mainzer Galerie ansehen
kann.
Das Galeriewerk geht nunmehr auf die zwei
Werke des Bubens über, die mit zu den Haupt¬
zierden der Sammlung gehören; auf das wundersame
Bruch-stück aus dem Bade der Diana, das im Nach¬
lass des Rubens eine ganz besondere Rolle spielte
und später bei Kardinal Richelieu war, und auf eine
Skizze mit einem Christus in Wolken. Auf S. 217 ist
das letztere Werk abgebildet. Es folgen in treff¬
licher Wiedergabe Werke des jüngeren David Teniers,
der beiden Faw der Neer und des M. Withoos, eines
Künstlers, der zwar in seiner Komposition etwas
schwach ist, aber meist einen Farbenzauber von sel¬
tenen Vorzügen über seine Bilder zu verbreiten
wusste.
Ein Greisenkopf des Rembrandt , der sich nun¬
mehr anschließt, gehört zu den bezeichnenden Wer¬
ken des mittleren, fast reifen Stiles und wird vom
Text in ansprechender Weise als eine alttestament-
liche Person gedeutet. Sehr hübsch ist auch der
Hinweis de Groot’s auf den Widerspruch zwischen
dem Prachtgewand und den etwas nach Straßen¬
modellen aussehenden Zügen des Greises.
Die zahlreichen herrlichen und ausgezeichneten
Holländer, die noch folgen, sind in einzelnen Proben
den Lesern dieser Zeitschrift schon bekannt: der
Bieter de Iloogh, der Hobbema, Wouwerman, Solomon
van Rwjsdael. Zu einer Küstenlandschaft des großen
Jacob van Ruisdael, einem frühen Werk von großem
Interesse, macht der Text die Bemerkung, dass ihr
RICHARD MUTHER’S GESCHICHTE DER MODERNEN MALEREI.
219
Motiv vermutlich vom südöstlichen Teile der Zuider-
see, von der Küste des Gooilandes hergenommen ist.
Sehr beachtenswert sind die Erörterungen über die
Maler Jillis und Salomon Rombouts , von denen je
ein Bild in getreuer Wiedergabe erscheiut. Jan
Steen’s Sittenbild, das unter den folgenden Holländern
besonders auffällt, ist ein ganz reizendes Werk, das
ich ziemlich früh ansetzen möchte, nahe an den
Liebesantrag im Städehschen Institut und an die
datirten Bilder, die um 1660 fallen.
Das Schubart’sche Galeriewerk lässt noch Bilder
von Gabriel Äfetzu , Niclaes Bcrchem und Wijnants
folgen, ferner Non Adriaen v. de Velde, Gerrit Don, Dom.
V. Toi, Alb. Cuyp. Die altflandrische Landschaft, die
auf Seite 43 abgehildet ist und die ich wohl hei
meinem Besuche der Galerie Schuhart vor etlichen
Jahren übersehen habe, wird dem Gülis v. Coninxloo
zugeschrieben. Nach dem Lichtdrucke zu urteilen,
erscheint mir diese Zuschreibung etwas befremdend.
Ein treffliches Bild von Antoine Watteau beschließt
das Werk, das in seiner eleganten äußeren Erschei¬
nung und mit seinen gehaltvollen Mitteilungen sich
in seiner Weise würdig an die großen Galerie werke
der jüngsten Jahre, etwa an die beiden von Bredius
über die Galerie des Maurizhuis und des Rijks-
museums anreiht. DR. TU. v. FR I MM EL.
RICHARD MUTHER’S
GESCHICHTE DER MODERNEN MALEREI.
MIT ABBILDUNGEN.
BENSO wie in der Religion
giebt es auch in der Kunst
Dogmen, deren Zwang jeden
gesunden Fortschritt in der
Erkenntnis hindert, deren
Beseitigung aber wie ein Akt
der Befreiung und Erlösung
von einem schweren Joche
wahrhaft wohlthuend und herzerquickend wirkt. Ein
solches, die Entwickelung hemmendes Kunstdogma be¬
stand in dem Glauben, dass Cornelius, den bekanntlich
Niebuhr sehr voreilig als denjenigen bezeichnet hatte,
der unter den deutschen Malern das sei, was Goethe
unter den Dichtern, nächst Dürer als der größte
deutsche Künstler angesehen werden müsse, und
dass alles, was ein Abweichen von seiner Richtung
bedeute, auch als ein Abfall von der allein wahren
deutschen Kunst zu gelten habe. Mit dieser Über¬
schätzung des Cornelius hing aber auch die Über¬
schätzung des Inhalts der Kunstwerke zusammen,
deren Folge die war, dass die deutschen Kunstfreunde
in ihrer Beurteilung lange Zeit nur auf den Ge¬
danken sahen und die Frage nach der formellen
Vollendung erst in zweiter oder dritter Linie ins
Auge fassten. Unsere Maler ließen sich daher in
einen thörichten Wettstreit mit den Dichtern ein,
aus deren Werken sie die meiste Anregung für ihr
Schaffen entnahmen, und seit Kaulbach trauten sie
sich gar die Fähigkeit zu, die schwierigsten Pro¬
bleme der Philosophie und Geschichte mit Hilfe
ihres Pinsels lösen zu können. Kein Wunder also,
dass diese hohe Kunst mehr und mehr durch die
Abwendung von der Wirklichkeit den Boden unter
den Füßen verlor und nur einen kleinen Bruchteil
der Bevölkerung befriedigen konnte, während das
eigentliche Bürgertum ihr fremd gegenüber stand
und sich schließlich um künstlerische Dinge so gut
wie gar nicht mehr bekümmerte. Trotz dieser
Vereinsamung setzten die Führer der Bewegung
ihre Geringschätzung des Publikums fort, unter¬
stützt von den maßgebenden Kritikern und Kunst¬
schriftstellern, die sich im Lobe ihrer Helden nicht
genug thun konnten, und sie merkten es gar nicht,
dass sich bereits von England und Frankreich her
im engsten Anschluss an die Wirklichkeit eine
Gegenrevolution vorzubef eiten begann, die ihrer
Alleinherrlichkeit ein jähes Ende bereiten sollte.
Am frühesten aber erlitt natürlich das Ansehen
des Cornelius und seiner Schule unter den Künstlern
Einbuße. Noch ehe daran zu denken war, dass sich
in der Kritik ein ernstlicher Zweifel an der absoluten
Größe des Meisters geregt hätte, war ihnen bereits
das Auge für seine Mängel aufgegangen, und seit¬
dem die belgischen Bilder von Gallait und Biefve
28*
22ü
RICHARD MUTHER’S GESCHICHTE DER MODERNEN MALEREI.
ihren Siegeszug durch Deutschland angetreten hatten,
noch mehr aber seitdem unsere Maler anfingen, in
Paris die genauere Bekanntschaft mit den Werken
der neueren Franzosen zu machen, wurde es den
meisten unter ihnen klar, dass es doch noch andere
Ideale für den Künstler gebe, als sie von der Carton¬
schule des Cornelius aufgestellt worden waren. Das
Dogma von der uneingeschränkten Meisterschaft des
Cornelius geriet also ins Wanken, und nun ging es,
wie es immer zu gehen pflegt, wenn der Streit über
Glaubenssachen angefacht wird: man schüttete das
Kind mit dem Bade aus, und der einst hoch ver¬
ehrte oder doch wenigstens gefürchtete Führer der
schieden in dem Kampfe gegen die monumentale
Richtung zu weit und kam daher auf diesem Wege
schließlich bei allem Fortschritt, der nach der tech¬
nischen Seite hin gemacht wurde, im Beginn der
fünfziger Jahre auf einem ziemlich niederen Stande
der Entwickelung an, der erst seitdem wieder durch
die Wiederaufnahme neuer großer Probleme verlassen
worden ist.
Diesen großen geistigen Prozess hat bis vor
kurzem weder die Tageskritik, von der man es nicht
verlangen konnte, noch auch die Geschichtschrei¬
bung der modernen Kunst, die sich auf ihre Ge¬
lehrsamkeit und ästhetische Bildung viel zu Gute
üAiNsnoROUGH : Die Tränke. (Aus Muther: Geschiclite der Malerei.)
deutschen Kunst sah sich in seinem Alter von allen
verlassen, die überhaupt noch als schöpferische Ta¬
lente Anspruch auf Beachtung machen konnten.
Allerdings war dieser vollständige Bruch mit den
Grundsätzen der Cor ncUani sehen Richtung eine histo¬
rische Notwendigkeit für die Künstler, die sich von
ihren Überlieferungen frei machen mussten, wenn
überhau])t ein Fortschritt im deutschen Kunstleben
möglich sein sollte. Aber es wäre nicht nötig ge¬
wesen, wenn es auch erklärlich ist, dass vielfach
von den Künstlern, die das geringe Maß des Kön¬
nens in der alten Schule erkannt hatten, nun auch
die Größe ihres Wollens bezweifelt und der ihr
eigene ideale Zug übersehen wurde. Man ging ent-
that, zu begreifen vermocht. Denn während die
Künstler längst mit Cornelius fertig waren, wurde
uns immer noch in der Kunstlitteratur oder vom
Katheder herab das Dogma seiner unbedingten
Größe verkündigt und heute, wo die Wendung zum
Besseren, freilich in anderer Gestalt, als es den Ver¬
tretern der alten Schule vor Augen schwebte, be¬
reits vollzogen ist, stehen die Wortführer in der
Presse, wenige Ausnahmen abgerechnet, den neuen
Erscheinungen ratlos, wenn nicht sogar feindlich
gegenüber,
Um so wertvoller muss es daher erscheinen,
dass sich ein Mann gefunden hat, der mit umfassen¬
dem Wissen und auf Grund eines ungewöhnlichen
RICHARD MUTHER’S GESCHICHTE DER MODERNEN MALEREI.
221
reichen Anschauungsmaterials den Versuch gemacht
hat, die ganze Entwickelung der modernen Malerei
von der Wende des vorigen Jahrhunderts an bis in
die jüngste Vergangenheit geschichtlich darzulegen
und damit den Weg zum Verständnis dessen anzu-
bahneu, was wir als das nächste Ziel der rastlos fort¬
schreitenden Bewegung anzusehen haben. Dieses
Verdienst gebührt Muther, der durch sein drei Bände
umfassendes Werk über die Geschichte der neueren
Malerei, das allen denen, die sich überhaupt für
kunstgeschichtliche Studien interessiren, nicht genug
empfohlen werden kann, alle seine Vorgänger so
entschieden übertroffen hat, dass sein Buch als
ein Werk von grundlegender Bedeutung angesehen
werden muss. Dieses Lob wird auch durch die
Erwägung nicht eingeschränkt, dass sich Muther’s
Urteile nicht nur im wesentlichen mit denen decken,
feinfühliges Verständnis für seinen Gegenstand zeigt,
wie es wohl die Ooncourt oder Ruskin bekunden, wie
es aber bei unseren deutschen Kunsthistorikern bis
jetzt nur in ganz wenig Fällen an den Tag getreten
ist. Der bei weitem größte Teil des Werkes liest
sich so spannend wie ein Roman, ein Vorzug, der
im wesentlichen auf die Kunst der Darstellung zu¬
rückzuführen ist, und wenn sich auch an nicht we¬
nigen Stellen im Leser lebhafter Widerspruch regen
mag, so liegt gerade in der weitgehenden Subjekti¬
vität Muther’s ein Moment, das seinem Werk auch
für die Zukunft Wert verleihen wird, weil hier in
der That eine Quelle eröffnet ist, aus der sich die
Zukunft über das Verhältnis unserer Zeit zur Kunst
wird Aufschluss erholen können.
Der Maßstab, den Muther hauptsächlich bei der
Würdigung eines Künstlers und seiner Werke an-
Goya: La Maja vetue. (Aus Muther: Geschichte der Malerei.)
die Helfericli in seiner überaus anregenden kleinen
Schrift: „Über moderne Kunst“ niedergelegt hat, son¬
dern auch, dass sie vielfach nur als das Echo dessen
erscheinen, was von den an der Spitze der modernen
Bewegung stehenden Künstlern als ihr Glaubensbe¬
kenntnis ausgesprochen wird.
Indessen würde man Muther’s Arbeit nicht ge¬
nügend würdigen, wenn man sie bloß wegen der in
ihr aufgestellten Grundanschauungen rühmen wollte.
Ihr Hauptreiz besteht vielmehr darin, dass sie eine
schriftstellerische Leistung ersten Ranges ist, ein
Buch, in dem das Temperament des Verfassers auf
allen Seiten zum Vorschein kommt, das Liebe oder
Hass erweckt, zu dem man sich je nach der eigenen
Verfassung hingezogen oder von dem man sich ab-
gestossen fühlt, ein Buch endlich, das bei aller
Gründlichkeit sich doch frei hält von jedem ge¬
lehrten Dünkel, das vielmehr erlebt ist und ein so
legt, ist die Frage nach dem größeren oder geringe¬
ren Grade von Originalität, Tradition oder Freiheit;
darin gipfelt seine Kritik, und nur diejenigen be¬
stehen vor seinem Urteil, die es gewagt haben, den
Bann der Überlieferung zu durchbrechen und sich auf
eigene Füße zu stellen. Unter diesem Gesichtspunkte
betrachtet, kommt freilich in seiner Darstellung die
o
gesamte ältere deutsche Malerei aus dem Anfang
unseres Jahrhunderts, die ihre Ideale in dem An¬
schluss und in der Nachahmung der großen Italiener
suchte, nicht gerade gut weg. Auch die unbedingten
Anbeter der Antike, wie Winckelmann, Carstens und
seine Nachfolger werden als Nachahmer rasch ab-
gethan, während die bescheidenen Kleinmeister, die
von den Historienmalern zu ihrer Zeit in den Hin¬
tergrund gedrängt wurden, die Biirkel, Peter Hess,
Morgenstern, Kaufmann, Runge und Spitzer zum
erstenmal bei ihm zu ihrem Recht gelangen. Mit
222
RICHARD MÜTHER’S GESCHICHTE DER MODERNEN MALEREI.
Entschiedenheit tritt Muther für die Bedeutung der
Technik ein, und namentlich betont er die Wichtig--
keit der Farbe für die moderne Malerei. Trotzdem
wird er nicht etwa zum Verherrlicher Piloty’s und
seiner Jünger, im Gegenteil verwirft er ihr am
Äußerlichen der Kunst haften gebliebenes Verfahren,
wobei er jedoch ihre historische Mission für die Erwei¬
terung des Könnens in Deutschland durchaus aner¬
kennt. Volle Liebe aber bringt er den poetisch ver¬
anlagten Künstlern entgegen, z. B. Schwind, dem er
einen der herrlichsten Abschnitte seines Werkes ge¬
widmet hat, oder BöcJdin und den modernsten Phan-
tasieküustlern KUnger, Tlionia und Stuck, über deren
Bedeutung als Wegweiser in ein neues Zauberland
der Kunst er treffende Bemerkungen macht. In¬
dessen ist er sich auch klar genug über die Gefahren,
die aus dieser phantastischen
Richtung entspringen kön¬
nen, und seine Verherrli¬
chung und mehr
noch sein Hinweis auf Menzel,
sowie der Wunsch, dass des¬
sen gesunder Realismus ein
fortdauerndes Gegengewicht
gegen den Icarusflug dieser
.Jüngsten bilden möge, be¬
weisen deutlich, worin er das
eigentliche Heil der Kunst
sieht.
Die Geschichte der deut¬
schen Malerei nimmt jedoch
nur einen verhältnismäßig
kleinen Raum in dem Werke
ein. Denn bei allem Patriotismus hat sich Muther
der Einsicht nicht verschließen können, dass wir
keineswegs, wie wir lange, in schlimmer Selbstver-
blendimg befangen, meinten, das erste Kunstvolk
der neuen Zeit sind. Vielmehr hat ihn seine um¬
fassende Bekanntschaft mit allen wichtigen Er-
sclieinungen der neueren Kunst die Überzeugung
gewinnen la.ssen, dass wir die Hauptleistungen auf
dem Gebiete der neueren Malerei bei den Franzosen
zu suchen haben, wie sie auch die Lehrmeister in
allem, was wir als einen Fortschritt über die alte
Kunst hinaus anzusehen bähen, für alle Völker ge¬
wesen sind, allerdings mit Ausnahme der Engländer,
deren durchaus selbständige Flntwickelung sogar
nicht ohne EinHu.ss auf die französischen Künstler
geblieben ist. Es war daher auch höchst bezeich¬
nend für Muther’s Anschauung, dass gleich der Um¬
schlag des ersten Heftes seines Werkes mit dem
Doppelbildnis von Rousseau und Millet nach dem
Denkmal im Walde von Barbizon geschmückt war,
und nicht etwa mit der bekannten Zeichnung, die
uns Overbeck und Cornelius in altdeutscher Tracht auf
einem Blatt vereinigt vorführt. Dieser Wertschätzung
der großen Franzosen entsprechend, erscheinen auch
die Abschnitte, in denen die Leistungen der Schule
von Fontainebleau gewürdigt und die Bedeutung eines
Millet und Courbet abgewogen werden, als die ge¬
lungensten des Werkes, da Muther ihren Schöpfungen
volles Verständnis entgegenbringt und gerade hier
über ein beneidenswertes Anschauungsmaterial ver¬
fügt. Leidenschaftlich aber und fast erregt wird er,
wenn er auf Manet, den großen Pfadfinder der HeU-
malerei, zu sprechen kommt und die prickelnde
Nervosität und Unruhe zu schildern unternimmt,
welche die Hauptmerkmale
der Kunst eines Degas, Bes-
nard oder Felicien Rops
bilden. Er macht dabei
gar nicht den Versuch, die
Werke dieser Künstler, von
denen einige wenigstens in
den Augen des deutschen
Publikums entschiedene
Bedenken wegen ihres Ge¬
genstandes erwecken kön¬
nen, moralisch zu rechf-
fertigen, sondern betrachtet,
sie als notwendige Erschei¬
nungen ihrer Zeit mit der¬
selben Unbefangenheit, mit
der die Naturforscher auch
die hässlichsten Abnormitäten zu untersuchen pflegen.
Überhaupt vermeidet es Muther durchweg, die Kunst
mit dem Auge des Sittenrichters zu durchmustern; er
nimmt die Menschen und Dinge, wie sie sind, und
gerät nur dann in Aufregung, wenn er den Einfluss
gedankenloser Nachahmung und die Anbetung fal¬
scher, d. h. bereits verbrauchter Ideale bekämpft.
Die Bedeutung der neueren französischen Kunst
für die Entwickelung der modernen Malerei ist in¬
dessen bereits so allgemein anerkannt, dass das ihr
von Muther gespendete Lob kaum auffallen kann.
Um so überraschender wird den meisten Lesern
die Begeisterung sein, mit der er von der englischen
Malerei spricht. Ihre Bedeutung im Zusammenhang
mit der festländischen Entwickelung erkannt zu
haben, ist eines der hauptsächlichsten Verdienste,
die sich Muther mit seinem Werk erworben hat.
Auch wer sich einer umfassenden Bekanntschaft mit
Aus Schnorr’s Bilderbibel.
(Muther; Geschichte der Malerei.)
RICHARD MÜTHER’S GESCHICHTE DER MODERNEN MALEREI.
223
der Gescliiclite der modernen Malerei erfreut, wird
in diesen Teilen des Buches auf eine Menge ganz
neuer und interessanter Erscheinungen stoßen und
so manchem Namen und manchem Bilde begegnen,
die ihm bisher entgangen sind; ja für die meisten
Leser dürften die Ausführungen über englische
Kunst überhaupt durchaus neu sein. Muther’s Buch
ist auf diesem Gebiete für uns Deutsche entschieden
grundlegend, mag man dabei an die Anfänge der
englischen Malerei im vorigen Jahrhundert, d. h.
an die Zeiten Hogarth's, Bcynolds' und Gainshoroiigli s
und ihrer Nachfolger Turner^ Constable und Boning-
ton, oder an das Auftreten der Präraffacliten oder
an die allermodernsten Erscheinungen Wlristkr's und
der Glasgower Landschaftsschule denken. Muther er¬
weist sich gerade hier als ein überaus zuverlässiger
Führer, dem die englische Eigenart, die uns viel¬
fach erst fremd anmutet, durch längere Bekannt¬
schaft vertraut und lieb geworden ist, was seine Dar¬
stellung uns so seltsam erscheinender Künstler wie
Ford Madox Broivn, Bosetti, Burne-Joncs und Watts am
besten beweist. Am wenigsten hat uns Muther’s Er¬
zählung der italienischen und spanischen Kunstge¬
schichte befriedigt, in der zwar der Abschnitt über
Goga hervorragt, im übrigen aber nur das Material ver¬
arbeitet sein dürfte, das die letzten großen Ausstel¬
lungen in Deutschland seit der Münchener von 1879 zu
Tage gefördert haben. Indessen wäre es Unrecht, aus
diesem Mangel einen Vorwurf gegen Muther erheben
zu wollen, einmal, weil das Fehlen eingehender Vor¬
arbeiten, auf die auch er angewiesen war, ihm nicht
zur Last gelegt werden kann, und dann, weil die
in neuerer Zeit entschieden weniger hervorragende
künstlerische Originalität der Italiener und Spanier
ein genaueres Studium ihrer Werke eher entbehrlich
erscheinen lässt.
Um so eingehender hatsichMuthermit der Malerei
der nordischen Völker beschäftigt und namentlich für
die Würdigung der dänischen Malerei und ihrer Führer
Viggo Johansen und Peter S. Kröger eine Reihe treff¬
licher Fingerzeige gegeben. Vollständig neue Auf¬
schlüsse erhält man endlich aus dem Kapitel über
die russische Malerei. Doch war es auch Muther
nicht möglich, über diese sich durch persönliche
Anschauung ausreichend zu orientiren, so dass er sich
genötigt sah, sich für diesen Abschnitt der Mitwirkung
einer fremden Ki'aft, des Herrn Alexander Benois in
St.-Petersburg, zu bedienen.
So hat er in der kurzen Zeit von zwei Jahren
die große, umfassende Aufgabe, die er sich gestellt
hatte, ein anschauliches Bild der gesamten modernen
Kunstbewegung auf dem Gebiete der Malerei zu
geben, in glänzender Weise gelöst und jedem den¬
kenden Kunstfreunde eine solche Fülle neuer Ge¬
sichtspunkte und weitreichender Ausblicke eröffnet,
dass die Beschäftigung mit seinem Werke als über¬
aus anregend bezeichnet werden muss. Selbstver¬
ständlich wird auch der, der in allen Hauptsachen das
künstlerische Glaubensbekenntnis Muther’s teilt, nicht
in allen Punkten mit ihm übereinstimmen können.
Aber Muther ist auch weit entfernt, für seine Dar¬
legungen eine objektive Giltigkeit in Anspruch nehmen
zu wollen. Wie er das Kunstwerk mit Zola als „ein
Stück Natur, gesehen durch ein Temperament“ auf¬
fasst, so will er in seinem Buche auch nicht mehr
geben, „als ein Stück Kunstgeschichte, gesehen durch
ein Temperament“. Diese Bescheidenheit sichert ihn
gegen die Angriffe aller Übelwollenden, da die Sub¬
jektivität seiner Urteile von ihm selbst ausdrücklich
betont wird. Wer aber Wert darauf legt, die Be¬
kanntschaft eines geistreichen Mannes zu machen,
und .sich nicht daran stößt, unter seinen Ansichten
auch einigen paradoxen Meinungen zu begegnen,
dem können wir nur empfehlen, sich eingehend mit
Muther’s Werk zu befassen. Wir sind überzeugt,
dass er schon deshalb bei der Lektüre seine Rech¬
nung finden wird, weil der Autor in der That in
hohem Grade das besitzt, was wir unter Temperament
verstehen.
Die Würdigung des Buches würde aber einsei¬
tig sein, wenn wir uns nur an den Text halten und
nicht wenigstens mit einem Wort auch der Abbil¬
dungen gedenken wollten. In dieser Hinsicht aber
verdient der Verleger Hirth in München alles Lob.
Sind auch die Zinkätzungen, mit denen das Werk
geschmückt ist, und von denen wir einige hier bei¬
geben, der Verschiedenheit der Vorlagen gemäß
nicht immer gleich scharf ausgefallen, und ist auch
der Maßstab gelegentlich etwas zu klein gewählt,
so entschädigt uns doch die große Zahl und vor
allem die Neuheit der Abbildungen für diese Mängel
in reichstem Maße. Dazu kommt noch die Billigkeit
des Werkes, das somit in jeder Hinsicht alles über¬
trifft, was uns bisher auf diesem Gebiete von anderer
Seite geboten worden ist.
H. A. LIEB.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Der ]\Ieistcr des Todes Mariä. Im letzten Heft dieser
Zeitschrift hat der Meister des Todes Mariä durch Firmenich-
Richartz einen Namen gefunden. Joos van der Beke, ge¬
nannt Joos van Cleve, Maler zu Antwerpen, ist durch das
Zusammenfügen vieler Wahrscheinlichkeiten durchaus glaub¬
würdig als Schöpfer der vielverbreiteten Werke des bisher
anonymen Meisters hingestellt worden. Da aber wirklich
ausschlaggebende Gründe fehlen, müssen Bestätigungen des
Fundes erwünscht sein. Der Mann auf dem Doppelporträt
von 1520 in den Uffizien (Nr. 237 unter dem Namen
Q. Massys) gilt bei Vielen als das Selbstbildnis des Meisters
vom Tode Mariä. Der Dargestellte macht sich mit seinem
Siegelring zu schaffen, indem er ihn demonstrativ
auf den Finger schiebt, als wollte er ihn dem Be¬
schauer zeigen. Der Stein zeigt deutlich neben¬
stehendes Wappen; die Mitte des Feldes durch¬
schneidet horizontal ein sich schlängelnder Was¬
serlauf, ein Bach; darüber befindet sich in der
Ecke rechts ein kleines aufgerichtetes Kleeblatt.
Das niederdeutsche Wort für Bach ist ,,beke“ und das einfache
Wappen eines solchen wellenförmigen Querstreifens im sonst
leeren Felde ist noch in Bremen nachweisbar als das der
E^amilie von der Becke, die in Niederdeutschland verbreitet
war (Siebmacher, Wappenbuch III 3, Taf. 2). In Lübeck
ließ sich das Wappen der Familie nicht bestimmen, doch
sehen wir es vermutlich auf einem Gemälde von 1490 (Nr. 14
der Sammlung der Katherinenkii-che), wo neben dem Wasser¬
lauf die Initialen angebracht sind, deren zweite ein h ist.
Das Kleeblatt aber auf dem Wappen des Ringes ist das
Zeichen der Stadt Cleve, wie es sich am Anfang des 16. Jahr-
liunderts als Rücksiegel des eigentlichen Stadtsiegels mit
den Türmen befand und seit dem 17. Jahrhundert in der
Dreizahl um ein Schildchen gruppirt das gebräuchliche Stadt¬
wappen wurde (Siebmacher, Wappenbuch, Städtewappen II,
'Laf. 218). Somit sagt uns das Siegel des Ringes: von der
Becke oder Beke aus der Stadt Cleve. Eis wäre ein zu
merkwürdiger Zufall, wenn danach das Florentiner Porträt
nicht ein Selbstbildnis des Meisters des Todes Mariä sein
sollte, nachdem man so von zwei Seiten zu demselben
Namen gelangt. Stellen aber die Porträts auf den Dresdener
Bildern des Meisters dieselbe Person dar? Dies scheint mir
niwih einem Vergleich noch zweifelhaft. Das als Selbst¬
bildnis gelternle Porträt in der Sammlung von Kaufmann
in Berlin zeigt auf den Ringen kein Wappen. Auch des
Meisters 'J’hätigkeit in Antwerpen wird bestätigt durch den
Danziger Reinholdsaltar , denn das im Innern befindliche
Schnitzwerk trägt auf mehreren Stellen die Antwerpener
Markf; der Hand, und es ist sehr unwahrscheinlich, d.ass
die Holzskuljituren und die Malerei in verschiedenen Stäxlten
hergestellt sind. ADOU'II aOLDSCHMIDT.
ItH Sonnenschein. Gemälde von Lndnng Noslcr, radirt
von Fnlx, Krosicu ltx. Der Maler dieses trotz der Fenster¬
vorhänge von warmem Sonnenschein durchfluteten Innen¬
raums, dessen zwei Insassen den Sonnenschein von draußen
aus ihren Herzen wieder auf die hübschen Gesichter zurück¬
strahlen lassen, ist ein Sohn der überall als unheilbar pro¬
saisch verschrieenen und doch so viel Poesie im Herzen
tragenden Mark Brandenburg, freilich in etwas weiterem
Sinne. Aber Friedeberg in der Neumark, wo Ludwig Noster
am 9. Oktober 1859 geboren wurde, ist trotzdem noch pro¬
saischer, als die eigentliche Mark, die ihre Seen und Flüsse,
ihre Schwermut bei Sonnenuntergang und ihr Flimmern
und Blitzen auf breiten Wasserflächen bei dem Aufstieg der
mit den Nebeln kämpfenden Sonne hat. Wie seit Menschen¬
gedenken ist auch heute noch in den großen und kleinen
Städten der Mark das Malergewerbe in schlechtem Rufe
von Leichtfertigkeit und schmalem Verdienst, und so hatte
auch Ludwig Noster den üblichen Kampf mit seiner Familie
zu bestehen, ehe er es dazu bringen konnte, den früh rege
gewordenen Kunsttrieb an der Berliner Kunstakademie zu
befriedigen. Einem echten Sohne der Mark entbindet sich
das Talent, wenn es überhaupt vorhanden ist, immer nur
langsam, dann aber sicher. Auch Noster kam in Berlin
lange Zeit nicht dazu, den rechten Weg zu finden, obwohl
er sich der näheren Unterweisung von so verständigen und
aller Farbenrezepte vollen Lehrern wie Knille, Thumann
und Gussow zu erfreuen hatte. Auf des letzteren Rat ging
Noster nach Düsseldorf, wo er mit W. Sohn und E. v. Gebhardt
bekannt wurde, ohne jedoch, wie er gewünscht hatte, in
Sohn’s Schule einen Platz zu finden. Aber Sohn führte ihn
auf den richtigen Weg der malerischen Anschauung und
Ausbildung, indem er ihm eine Studienreise nach Holland
empfahl, die Noster im Frühjahr ISST antrat. Dort fand
er einen festen Studienplatz in dem Fischerdorf Volendam bei
Edam, wo er sich fast ein Jahr lang aufhielt, vielfach geför¬
dert in seinen Studien dortigen Lebens durch einen schlichten
Kunstenthusiasten, den Bäckermeister Anton Beck in Edam,
der seit jener Zeit unter dem Namen ,, Kunstbäcker“ das will-
fähige Orakel aller nach malerischen Innenräumen und Volks¬
trachten begierigen Maler, die nach Edam ziehen, geworden
ist. Während eines kurzen Aufenthalts in der Heimat malte
Noster außer einem Genrebilde „Besuch der Großmutter im
Spittel“ nach einem Motiv aus Friedeberg, das ihm einen
Preis der Berliner Kunstakademie einbrachte, ein Bild nach
seinen holländischen Stadien „Nachricht von ihm“. Dann
ging Noster nach Berlin, wo er seitdem, zuerst besonders
durch A. v. Werner gefördert, seinen Wohnsitz behalten
hat. Anfangs musste er von der melkenden Kuh der Bild¬
nismalerei seines Lebens Notdurft bestreiten, und erst wieder
im Jahre 1890 gelang es ihm, nach Holland zurückzukehren,
von wo er eine Reihe von Studien mitbrachte, die er zu einer
Reihe von Bildern gestaltet hat, in denen immer Sonnenlicht
eine heitere Farbigkeit aus den Figuren, den Möbeln, den
Geräten und allem übrigen Beiwerk herauslockt. Seine
Bilder sind ein erfreuliches Zeugnis dafür, dass sich alle
neuen Erfindungen der malerischen Darstellung, alle Fein¬
heiten der Freilichtmalerei und alle Forderungen der abso¬
luten Wahrheitsliebe mit dem Urgrund aller Kunst, der bil¬
denden Phantasie und Poesie, zu einer edlen Harmonie ver¬
schmelzen lassen. A. R.
Herausgeber: Carl von IJitxow in Wien. — E'ür die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
IM SONNENSCHEIN
-1 ^ m . i .'!
in
JrufM vor, Lj .
/. ri tl/. UND IJ'HSlJTiA.
PETER PAUL RUBENS.
VON ADOLF ROSEN BERG.
MIT ABBILDUNGEN.
11.
Rubens in Italien 1600 — 1608.
EI dem völligen Mangel an
Nacliricliten Aväre es ein mü¬
ßiges Beginnen, Vermutun¬
gen über den Weg anzu¬
stellen, den Rubens von Ant¬
werpen nach Italien einge¬
schlagen hat. Ein Mann, der
seinen Reisepass am 8. Mai
erhielt und am Tage darauf gen Süden fuhr, genau
so, wie wir es in unserem Jahrhundert thaten, als
wir noch eines Passes nach Italien bedurften, — der
wird sich nicht lange unterwegs aufgehalten haben.
Wie damals der große, allgemein benutzte Reiseweg
vom Norden nach dem Süden ging*), wird Rubens
wahrscheinlich Augsburg berührt haben, Augsburg,
den Mittelpunkt des Grroß- imd Kleinhandels zwischen
Italien und den Ländern jenseits der Alpen, eine
Stadt, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
einen mehr oberitalienischen als süddeutschen Cha¬
rakter angenommen hatte. Von deutscher Kunst, d. h.
von der volkstümlichen Art, die mit Dürer und Burgk-
mair zusammenhängt, ist Rubens sicherlich nichts
auf seiner schnellen Reise angeflogen, und auch in
seiner späteren Massenarbeit ist keine Spur von der
Einwirkung irgend eines der Künstler zu ent¬
decken, in denen nach unserer jetzigen Meinung das
deutsche Kunstschaffen im 16. Jahrhundert gipfelt.
1) Mit Rücksicht auf die unten mitgeteilten Angaben
der „Vita“ und noch andere Beweisstücke verdient die Notiz
der aus Überlieferungen und Anekdoten unkritisch zusam¬
mengewobenen „Histoire de la vie de P. P. Rubens“ von
.1. F. M. Michel (Brüssel 1771, S. 26), dass Rubens über Frank¬
reich nach Italien gereist sei, wenig Glauben.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. II. 10.
Mit Dürer hatte der junge Rubens nur einen
Zug gemeinsam; den Drang nach Venedig. Die Cen¬
tralsonne der großen Koloristen, von der Dürer in
Giovanni Bellini nur den Aufgang gesehen nnd
freudig begrüßt hatte, war auch Rubens’ erste Sta¬
tion. Die „Vita“, die auch hier wieder unsere erste
Quelle ist, berichtet: „Wie er nach Venedig kam,
brachte ihn der Zufall in einer Herberge mit einem
Edelmann aus Mantua, einem, der zum Hause des
Herzogs Vincenzo Gonzaga von Mantua gehörte,
zusammen. Diesem zeigte er einige von ihm gezeich¬
nete Bilder, die jener dem Herzog vorwies, der, weil
er ein sehr wis.sbegieriger Freund der Malerei uyd
aller schönen Künste war, ihn (Rubens) sofort (statim)
an sich fesselte und ihn seinem Hofstaate einver¬
leibte, bei dem er sieben volle Jahre znbrachte.“
Bei der präzisen Fassung der „Vita“ hat man
das Recht, auf jedes Wort Gewicht zu legen, und
es fehlt in der That nicht an Zeugnissen, die es
wahrscheinlich machen, dass Rubens’ Aufenthalt in
Venedig nicht lange gedauert hat, dass er wirklich
„sofort“ , nachdem ihm das Anerbieten gemacht
worden war, dem Rufe des Herzogs nach Mantua
gefolgt ist. Im Monat Juli des Jahres 1600 hielt
sich der Herzog einige Tage in Venedig auf, und
da die „Vita“ ausdrücklich sagt, dass ihm der Edel¬
mann seines Gefolges die Bilder von Rubens gezeigt
habe, kann es kaum noch einem Zweifel unterliegen,
dass die Anwerbung des jungen vlämischen Malers,
des „Pittore fiamingo“, wie er fortan in den Doku¬
menten heißt, in Venedig geschehen ist. Freilich
wird Rubens’ Name in den von Armand Basche
ans Licht gezogenen Aktenstücken des Mantuanischen
29
•226
PETER PAUL RUBENS.
Archivs zum erstenmal in einem Briefe des Herzogs
vom 18. Juli 1601 erwähnt. Aber es liegt noch ein
zweites Zeugnis dafür vor, dass Rubens schon in
der zweiten Hälfte des Jahres 1600 im Dienste des
Herzogs von Mantua stand. Er wohnte nämlich,
wie aus einem von Ruelens angezogenen Briefe des
französischen Parlamentsrats Fabri de Peiresc her-
vorgeht, der am 5. Oktober 1600 in Florenz durch
Proknration vollzogenen Vermählung der Prinzessin
Maria von Medicis mit dem Könige Heinrich IV.
von Frankreich bei, und zwar als so naher Beob¬
achter aller Ceremonieen und Festlichkeiten, dass
er eine solche Vergünstigung nur als Mitglied des
Hofstaats des Herzogs von Mantua genossen haben
kann, der mit einem glänzenden Gefolge am 2. Ok¬
tober in Florenz eingetroffen war, um der Hochzeit
beizuwohnen.
Welcher Art die Gemälde gewesen sind, die
den Herzog von Mantua, einen verwöhnten Kunst¬
liebhaber, bestimmt haben, Rubens als Hofmaler an-
zuuehmen, darüber lassen sich nur Vermutungen
anstellen. Der Umstand aber, dass Rubens in seiner
ersten mantuanischen Zeit und auch noch in spä¬
teren Jahren wesentlich mit Kopieen beschäftigt
wurde, die der Herzog entweder für sich zu haben
wünschte oder als Geschenke für befreundete Fürsten
brauchte, deutet darauf hin, dass jene Bilder Kopieen
nach venezianischen Meistern, in erster Linie wohl
nach Tizian, gewesen seien. Das Ansehen, das sich
Knltens als Kopist venezianischer Gemälde in Italien
erworben hat, ist noch lange Zeit lebendig geblie¬
ben. Es findet einen Nachhall auch in einer merk¬
würdigen Stelle der unter dem Titel „La Carta del
Navegar pitore.sco“ 1660 in Venedig erschiene¬
nen ]»oeti.schen Verherrlichung der venezianischen
Malerei von .Marco Boschini. Darin erzählt der Dichter,
dass ein .Maler, Namens Erman Stroifi, ein Schüler
des Bernardo Strozzi, einst den vlämischen Meister
.Iiistus Sustermans, den Hofmaler des Großherzogs,
1 S. KuclenH, CorrcKjionilancc de Hubens I, S. 17 — 20,
w() alle ZeufjaiHse beijfela’aeht und ini einzelnen kritisch er¬
örtert .sirnl. Wenif'er (iewiehl Icf'en wir auf die von Ruelens
ini Üulletin l!ubens III, S. 82— SO eitirte und besjirochenc
Stidle in dein idiantiu-tischen Lelirf'edicht ,,Ija Carta del
Navef^ar jiitore^see“ von Marco Boschini, dessen 'rendenz dar-
-tuf hinausläuft, allen in- und ausländischen Malerruhin von
Veiieilij' aus'<trahlen und auf Venedig zurückstrahlen zu
la. len. — Der Vollständigkeit halh(;r citiren wir noch die
von der Brüsseler Akademie mit einem Preise gekrönte
.Schrift: „Le si'jour de Hubens et de A. van Dyck cn Italic“
v-m Kdgar Baer im 2S. Bande der „Memoires“ der Akademie.
Sie ist bei dem heutigen .Stande der Hubensforschung völlig
wertlos.
in Florenz besucht und dass dieser ihm Bilder von
seiner und fremder Hand gezeigt habe. Darunter
befanden sich auch einige, die Erman Stroifi für
bedeutende Werke Tizian’s hielt, worauf ihm sein
Gastfreund erklärte, dass es sich in Wirklichkeit
um Bilder von Rubens handelte, mit dem Suster¬
mans in persönlichem und brieflichem Verkehr ge¬
standen hatte. Dabei kam das Gespräch auf Rubens’
Verehrung für Tizian, den der vlämische Meister
„so in sein Herz geschlossen hätte, wie eine Dame
ihren wirklichen Geliebten.“ Bei häufigen Besuchen
Sustermans’ bei Rubens hätte dieser ihm versichert,
„dass Tizian erst der Malerei ihre Würze gegeben
hätte und dass er der größte Meister wäre, der bis
dahin aufgetreten.“
Man darf aus dieser ersichtlich tendenziösen
Darstellung des Ruhmredners der venezianischen
Malerei aber keineswegs schließen, dass Rubens außer
Tizian keine anderen Leitsterne gehabt habe. Im
Gegenteil — der Einfluss Tizian’s zeigt sich in den
Bildern, die Rubens in Italien gemalt hat, bei weitem
weniger, als in den Schöpfungen aus dem letzten
Jahrzehnt seines Lebens. Sein ungestümer Thaten-
drang folgte vielmehr bald anderen Idealen. In Mantua
waren es zunächst die Fresken Giulio Romano’s und
seiner Schüler in den dortigen Palästen, die seine Phan¬
tasie mächtig anregten und seine Kraft zu gleichem
Thun anspornten. Eine so umfangreiche, so planmäßig
durchgeführte Äußerung der monumentalen Kunst
hatte er selbst in Venedig nicht gesehen, und es ist
wahrscheinlich, dass der tägliche Umgang mit den aus
Raffael und Michelangelo gemischten Kompositionen
Giulio’s, der persönlich den Übergang von Raffael
zu den Michelangelesken Eklektikern der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts vermittelt hatte, einen
tieferen Eindruck auf Rubens gemacht hat als die
Bewältigung großer Massen, die er in Venedig vor¬
nehmlich durch Tintoretto kennen gelernt hatte.
Aber das Eine blieb doch aus seinen heimischen
und venezianischen Erinnerungen in ihm haften, die
Ablehnung der Freskomalerei, sei es, dass ihn die
vlämische Gelassenheit daran hinderte, sei es, dass
er an die Vergänglichkeit des Malgrundes oder an
die anders geartete Beschaffenheit seines heimat¬
lichen Klimas dachte. Auch in Rom und in anderen
Städten Italiens hat er sich nicht zur Freskomalerei
bewegen lassen, obwohl seine Handfertigkeit es mit
allen Faprestos seiner Zeit aufgenommen hätte und
obwohl er, wo es anging, fleißig Fresken von Michel¬
angelo, Raffael, Leonardo, Giulio und anderen Meis¬
tern mit dem Zeichenstift kopirt hat.
PETER PAUL RUBENS.
227
Es muss ihm so flink von der Hand gegangen
sein, dass man im Angesichte der enormen Fülle
von Studien, Zeichnungen, Kopieen und eigenen Er¬
findungen und Ausführungen, die in dem Zeitraum
von 1600 — 1608 entstanden sein müssen, weil sie
schlechterdings nicht in spätere Jahre unterzu¬
bringen sind, nur bekennen muss, einem früh reif
gewordenen Geiste von universeller Begabung und
von unerschöpflicher Aufnahmefähigkeit gegenüber¬
zustehen. Er hat sieben Jahre lang einen nicht
leichten Herren dienst geleistet, daneben noch anderen
Herren gedient und persönlich alle Ziele verfolgt,
die ihm zur Ausbildung eines das Weltall umfassen¬
den Künstlergeistes dienlich sein konnten.
Im einzelnen freilich lässt sich nur ein kleiner
Teil der von Rubens in Italien gemalten und ge¬
zeichneten Bilder und Studien bestimmten Jahren
zuweisen, und überdies haftet noch manchem dieser
Werke ein Zweifel an, ob es wirklich noch in Ita¬
lien oder schon in den ersten Jahren nach Rubens’
Rückkehr in die Heimat entstanden ist. So ist es
z. B. keineswegs ausgemacht, dass die durch Edelinck’s
schönen Stich berühmt gewordene Zeichnung nach
einer Gruppe aus Leonardo da Vinci’s Schlacht bei
Anghiari, die sich im Louvre befindet, in Italien an¬
gefertigt worden ist, da sich eine Kopie des schon
zu Rubens’ Zeit zu Grunde gegangenen Kartons
auch in den Tuilerieen in Paris befunden hat, wäh¬
rend eine zweite noch jetzt in Florenz vorhanden
ist. Ja es regen sich sogar Zweifel, ob diese Zeich¬
nung überhaupt von Rubens herrührt, da seiner
Autorschaft auf dem Stiche Edelinck’s keine Er¬
wähnung geschieht und auch sonst keine andere
Beglaubigung vorliegt, als eine anscheinend nicht
über die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück¬
reichende Überlieferung, i) Anders verhält es sich
mit der gleichfalls im Louvre befindlichen Studie
nach dem Christus und einem der Apostel aus Leo¬
nardo da Vinci’s Abendmahl, die Rubens ebenso
wie die nicht mehr vorhandene Zeichnung, die Pieter
Soutman für seinen Stich benutzt hat, sicher nach
dem Originale in Mailand ausgeführt haben wird,
und noch besser, durch eine eigenhändige, in latei¬
nischer Sprache abgefasste Erläuterung von Rubens,
ist eine dritte Zeichnung im Louvre beglaubigt, die
zwei Figuren aus einer der Fresken wiedergiebt,
die Pordenone in San Pietro in Treviso gemalt hat. 2)
1) Vgl. Reiset, Notice des dessins etc. exposes au Louvre,
Paris 186G, S. 318—320.
2) Rooses, L’ Oeuvre de P. P. Rubens V, Nr. 1383.
Vermutlich hat Rubens von Venedig einen Abstecher
nach Treviso gemacht, vielleicht auch die Stadt
schon vorher auf seiner Hinreise nach Italien berührt.
Baglione, Rubens’ ältester Biograph, berichtet
uns über Rubens’ Thätigkeit in Mantua nur in sehr
unbestimmten Worten: er habe dort verschiedene
Arbeiten ausgeführt und besonders „einige ziemlich
schöne Bildnisse“ gemalt. ') Wenn Bellori noch
weiter angiebt, dass es die Bildnisse der Fürsten
d. h. des Fürstenpaares gewesen seien, so ist damit
auch nicht viel mehr gesagt, da uns keines dieser
Bildnisse erhalten oder doch mit unzweifelhafter
Sicherheit nachweisbar ist. •^) Jedenfalls wird seine
Thätigkeit in Mantua, wie es damals der Hofdieust
eines Malers verlangte, als Porträtmaler und als
Kopist für die Zwecke seines Herrn und, wo es
anging, auch für seine eigenen Zwecke begonnen
haben. Allzu hart kann dieser Hofdienst aber nicht
gewesen sein; denn schon im Sommer des Jahres
1601 erhielt Rubens einen längeren Urlaub, um ein
großes Altarwerk für die Kapelle der heil. Helena
in der Kirche Sa. Croce in Gerusalemme in Rom
zu beginnen, mit dessen Ausführung ihn der Ge¬
schäftsträger der spanischen Niederlande in Rom,
Jean Richardot, im Namen des Statthalters Erzher¬
zogs Albert beauftragt hatte. Rubens blieb bis
nach der Mitte des Januar 1602 in Rom. Bis dahin
hatte er aber nur das Mittelbild des Altarwerkes,
die Auffindung des wahren Kreuzes Christi durch
die heil. Helena, vollendet. Da es jedoch dem Erzher¬
zog Albert aus triftigen Gründen darauf ankam, den
Schmuck der Kirche, deren Titularherr er während
der Zeit seines Kardinalats gewesen war, sehr bald
1) Le vite de’ Pittori, scultori etc. S. 24(3 der Neapeler-
Ausgabe von 1733.
2) Die Stelle bei Bellori lautet: „dove (in Mantua) fece
i ritratti di que’ Principi, essendo nell’ etä di venti anni.“
Rooses (L’oeuvre IV, S. 187) interpretii-t die Worte so, dass
das Fürstenpaar, das um 1600 dicht vor den vierziger Jahren
stand, im Alter von 20 Jahren gemalt worden sei. Bei der
etwas krausen Ausdrucksweise Bellori’s kann es aber auch
heißen, dass Rubens in den zwanziger Jahren war, als er
die Bildnisse malte. Man begreift auch nicht recht, zu wel¬
chem Zwecke Rubens Jugendbildnisse seiner Herren rekon-
struirt haben sollte. Jedenfalls kann das von Rooses (L’oeuvre
IV, S. 187) citirte Bildnis Vincenzo’s im Besitze des Dr. Ta-
massia in Mantua nicht mit einem der von Bellori genann¬
ten Porträts identisch sein, da das Bildnis in Mantua den
Herzog in mittleren Jahren darzustellen scheint. Auch zwei
mit schwarzer Kreide und Rotstift gezeichnete Knabenbild¬
nisse, die die Söhne des Herzogs Vincenzo, Ferdinand und
Franz, darstellen sollen, sind hinsichtlich der Identität der
Personen nur durch Inschriften aus der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts beglaubigt.
29
Maria’a I’.esucli bei Kliaa))etli.
(Jemäble von I'. P, Puiiens in der Oalerie Porgliese zu Ilom, Nacii einer Pliotographie von A. Braun & Co.
PETER PAUL RUBENS.
229
■vollendet m sehen , suchte sein Geschäftsträgei’ in
einem vom 26. Januar 1602 datirten Briefe au den
Herzog einen neuen Urlaub für den „jungen vlärai-
scheu Maler Namens Peter Paul“ nach, und vor dem
20. April 1602, wo Rubens wieder in Mantua war,
hatte der junge Künstler auch die beiden Seiteu-
bilder, die „Dornenkrönung“ und die „Aufrichtung
des Kreuzes Christi“, vollendet. Wenn bei dieser
Nachgiebigkeit des Herzogs, der gerade damals
große künstlerische Pläne in Mantua vorhatte, auch
diplomatische Rücksichten mitgewirkt haben mögen,
so hatte Rubens doch auch in anderen Dingen so
vom 10. August 1630 an Peiresc sagt er, dass er
sich viele Jahre „der höchst entzückenden Residenz
dieses Landes (Mantua) in seiner .Jugend erfreut
habe.“ Unter diesem Gesichtspunkte ist auch Ru¬
bens’ Sendung nach Spanien zu beurteilen, die man
bisher immer als einen des Malers unwürdigen
Dienst betrachtet hatte, der hierbei nur die Rolle
des Spediteurs gespielt haben sollte. Wer die Reise¬
lust der Jugend, insbesondere die der malenden
.Jugend kennt, der wird begreifen, mit welcher
Freude Rubens den Befehl zu der Reise nach Spa¬
nien aufgenommen hat!
Rubens’ Vatei’ (?).
Gemälde von P. P. Rubens in der Pinakothek in München.
freie Hand, dass er den Herrendienst gewiss nicht
als eine schwere Last empfunden hat. Wenigstens
hat er in seinen späteren Jahren die Zeit seines Dien¬
stes in Mantua in bester Erinnerung behalten, wofür er
in einem vom 20. April 1628 datirten Briefe an Dupuy
selbst mit den Worten Zeugnis abgelegt hat: „Ich
danke Eurer Herrlichkeit für die interessante Nach¬
richt, die Sie mir von den italienischen Angelegen¬
heiten gegeben haben, an denen ich um so größeres
Mitgefühl habe, als ich dem Hause Gonzaga etwa
sechs Jahre lang (quäl che sei anni) gedient und
von seiten des erlauchtesten Fürsten jedwede gute
Behandlung erfahren habe.“ Und in einem Briefe
Rühens’ Mutter (V).
Gemälde von P P. Rubens in der Pinakothek in München.
Als er dahin aufbrach, hatte er bereits etwas
vollbracht, das sich sehen lassen konnte und auch
nach Verdienst in Rom geschätzt wurde. Erzherzog
Albert war trotz seiner tadellosen Rechtgläubigkeit,
anscheinend weil er gegen die Ketzer in den Nieder¬
landen nicht streng genug verfuhr, in Rom selbst
der Ketzerei verdächtigt worden, und um sich von
diesem Verdachte zu reinigen, suchte er durch ein
frommes Werk sein Ansehen so schnell wie mög¬
lich wieder herzustellen.') Ein unmittelbarer Auftrag
an Rubens ist sicher nicht erfolgt. Es ist eine
1) Die Belege bei Ruelens, Correspondance I, S. 21 — 27.
230
PETER PAUL RUBENS.
spätere Erfindung, dass der Erzherzog schon vor
Rubens’ Abreise nach Italien auf das Talent des
Künstlers aufmerksam geworden sei und ihn seit¬
dem im Auge behalten habe. Ein so weitblicken¬
der Beschützer der Künste war Albert, der keine
anderen Leitsterne als die Willfährigkeit gegen
Philipp 111. von Spanien und die Devotion gegen
die Kirche kannte, nicht. Jean Richardot hat den
Maler selbst gewählt, weil Familienbeziehungen ihn
zu dieser Gunstbezeugung bestimmten. Der Schnel¬
ligkeit, mit der das Altarwerk für Sa. Croce erdacht
und ausgeführt werden musste, entspricht auch sein
Gelingen, ln einem Moment, wo Miclielaugelo’s
Sibyllen und Propheten, Ratfael’s Stanzen, Caravag-
gio und die Carracci und darüber als alles beherr¬
schender Stern die Antike auf eine junge, durstige
Malei’iihantasie einstürmten und alles zugleich ver¬
arbeitet werden musste — in solchen künstlerischen
Gewissensdrangsalen noch den Fa presto zu spielen,
das war nur möglich, wenn ein Charakter vorher
durch gute fremde Zucht und starke Selbstzucht ge¬
stählt war! ln unserem Jahrhundert haben wir oft ge¬
nug das Schauspiel erlebt, dass reich begabte Kunst¬
jünger so lange vor den Wundern Roms ratlos und
des Schaffens unlustig und unfähig dastanden, bis
sie zuletzt erschlafften und za Grunde gingen, und
wenn sich wirklich einer von den allzu stark Be¬
einflussten losriss und in der Heimat weiter schuf,
konnte er den fremden Tropfen in seinem Blute
auf lange Zeit oder überhaupt nicht los werden.
Der junge Rubens war anders geartet. Er
malte frisch darauf los und studirte daneben ebenso
frisch weiter. Von dem, was er malte, d. h. an voll¬
endeten Werken zu stände brachte, ist freilich weni¬
ger Aufhebens zu machen als von seinen Studien,
die ihn sein Leben lang begleitet haben, ohne dass
er ihnen unterlag. Allerdings haben widrige Zu¬
fälle und niis.sliche äufiere Umstände seinen in Ita¬
lien entstiindenen groben Altar- und Andachtsbildern
übel nutgespielt. Das Mittelbild des Altarwerkes
in der Kaj)elle der heiligen Helena hatte schon im
.lahre 17f)3 so stark gelitten, dass es nach der
Bibliothek der Kirche gebracht wurde. 1811 wur¬
den alle flrei Bilder nach London verkauft, wo sie
durch verschiedene Hände gingen, bis sie schlie߬
lich von einem Herrn Perrolle aus Grasse im süd¬
lichen Frankreich erworl^en wurden, der sie durch
letztwillige Verfügung in die Kapelle des Hospizes
seiner Vaterstadt stiftete, wo sie sich noch jetzt be¬
finden. 1880 wurden sie einer Restauration unter¬
zogen. Nach solchen Schicksalen ist wohl von
Rubens’ Hand nicht viel übrig geblieben. Zudem
scheint das eine der Bilder, die Aufrichtung des
Kreuzes, eine Kopie zu sein, da es auf Leinwand
gemalt ist, während die beiden anderen auf Holz
gemalt sind. Es ist aber auch möglich, dass Rubens
größerer Beschleunigung wegen das Bild schon selbst,
vielleicht in Mantua, auf Leinwand gemalt hat. In
der Komposition der drei Bilder wirkt noch der
Einfluss der Venezianer nach. Die Dornenkrönung
lehnt sich sogar sehr eng an das jetzt im Louvre
befindliche Gemälde gleichen Inhalts von Tizian an,
das dorthin aus der Kirche Sa. Maria delle Grazie
in Mailand gekommen ist. Das schwere und trübe
Kolorit, die braunen, undurchsichtigen Schatten und
die Vermeidung leuchtender Lokalfarben deuten da¬
gegen schon auf den Einfluss Caravaggio’s hin, der
im Verein mit dem der Carracci in den späteren
Jahren noch wachsen sollte.^) Bei der Aufrichtung
des Kreuzes, die er später gewissermaßen als Vor¬
studie für das berühmte, jetzt in der Kathedrale zu
Antwerpen befindliche Altarbild für die St. Wal¬
burgiskirche benutzte, bediente er sich einer so un¬
gewöhnlichen Freiheit der Komposition, dass San-
drart, der das Bild selbst gesehen zu haben scheint,
ganz besonders darauf aufmerksam gemacht hat.
„In gleichen verfärtigte er,“ so schreibt Sandrart in
seiner Biographie des Meisters, „in selbiger Stadt
(Rom) die Kreutzigung Christi, welcher an den bey-
den Händen fast angenagelt ist, mit den Füßen aber
ledig und frey henket, auf ungemein Weiß, sonsten
mit vielen Bildern sehr herzhaft und Geistreich aus¬
gebildet, und dienet jetzo für ein Altar-Blat in sel¬
biger Stadt kleinen Kirchlein A santa Croce in Geru-
salem.“ In der That ist die Anordnung des Körpers
Christi derartig, dass nur die Hände am Querholz
befestigt sind und infolgedessen die Füße, während
das Kreuz aufgerichtet wird, frei in der Luft hän¬
gen. Es ist der Einfall eines jungen Künstlers, der
einmal etwas von dem Herkömmlichen Abweichen¬
des bieten wollte, um wenigstens in einem Punkte
originell zu erscheinen.
Ein seltsamer Zufall hat es gefügt, dass Rom
in der Galerie Borghese auch eine Vorarbeit zu
Rubens’ zweitem Meisterwerke in der Kathedrale
zu Antwerpen, dem die Heimsuchung Mariä (Maria’s
Besuch bei Elisabeth) darstellenden linken Flügel¬
bilde der Kreuzabnahme besitzt (s. die Abbildung
S. 228). Rooses, der dem Bilde keinen großen künst¬
lerischen Wert beimisst, ist auf Grund der unbe-
1) Rooses, L’oeuvre etc. II, Nr. 444 — 44G.
PETER PAUL RUBENS.
231
stimmten koloristischen Haltung, aus der nur zwei
stärkere Accente, das rote Gewand der Maria und
das grüne Obergewand der sie begleitenden Magd,
liervortreten, zu der Ansicht gekommen, dass es ein
Jugendbild und wahrscheinlich in Italien gemalt sei.
Auch mir scheint diese Datirung richtiger zu sein,
als die Annahme derer, die das Bild um 1610 an¬
setzen, also in die Zeit, wo Rubens bereits mit der
Ausführung des großen Triptychons begonnen hatte.
Damals war Rubens schon erheblich reifer und sou¬
veräner, während auf dem Bilde der Galerie Bor¬
ghese, namentlich in der prächtigen Gestalt der
Magd, der noch unverarbeitete Einfluss von Tizian
und Veronese übermächtig wirksam ist. Diese Magd
erscheint auf dem Flügelbilde au anderer Stelle und
in völlig veränderter Haltung und Dienstleistung.
Auffallend ist ein Umstand, der schon hier berührt
werden muss, weil er, wenn das Gemälde wirklich
in Italien gemalt worden ist, das erste Beispiel eines
der durch Rubens’ ganzes Lebenswerk hindurch¬
gehenden Typen ist. Das wohlwollende, gemütvolle
Greisenantlitz der heiligen Elisabeth, wie es uns hier
entgegentritt, kehrt auf zahlreichen Bildern des
Meisters wieder, und es ist immer so liebevoll, so
aus inniger Verehrung heraus gemalt, dass es sich
jedem Rubensfreunde fest eiugeprägt hat. Die Mün¬
chener Pinakothek besitzt eine Studie dieses Kopfes,
nach links geneigt, mit gesenkten Augenlidern, und
nach alter Tradition soll er die Maria Pypelincx,
Rubens’ Mutter, darstellen (s.die Abb.S.229). Bildnisse
seiner Mutter und seines Vaters haben sich in Rubens’
Nachlass befunden, und da Maria Pypelincx in ihrem
Testamente erwähnt, dass sie Bilder ihres Sohnes be¬
sitze, werden auch Porträts darunter gewesen sein.
Rooses verwirft die Überlieferung und sieht in dem
Münchener Bilde, das er um 1615 ansetzt, nur eine
Vorstudie nach einem zufälligen Modell zu einer
Nebenfigur auf einer Vermählung der heil. Jungfrau,
die nicht mehr im Originale, sondern nur in zweifel¬
haften Kopieen und in einem Stiche von Schelte
a Boiswert erhalten ist. Nach diesem Stiche hat
die Komposition aber ein so unselbständiges, be¬
sonders dem Veronese nachempfundenes Gepräge,
dass wir berechtigt sind, auch dieses Bild in Rubens’
italienische Zeit zu versetzen. Die Wahrscheinlich¬
keit, dass wir in dieser immer wohlwollend und
heiter gestimmten Matrone die Züge von Rubens’
1) Reymond in der Schrift „Opere di Rühens in Roma“.
Seinem Urteil folgt Venturi in der ersten Lieferung des
Textes zu den Braun’schen Photographieen „Le Gallerie di
Roma“, S. 22.
Mutter vor uns haben, ist also nicht so ohne weitere
Begründung abzuweisen. Warum sollte Rubens auch
in der Zeit seiner reifen Meisterschaft nicht diesen
Kopf in allen Wendungen und Gefühlsstimmungen
wiedergegeben haben, er, der alles in Italien liegen
ließ, der seine ganze künstlerische Zukunft aufs
Spiel setzte, als ihn die Kunde von der tödliclien
Erkrankung seiner Mutter traf? Wie vermag man
sonst die Pietät zu erklären, mit der Rubens sein
Leben lang an dieser Physiognomie festhielt, die für
ihn das Ideal einer edlen Greisin wurde?
Wenn mau aber auch diese Studie preisgiebt,
so bietet uns ein zweites Bild der Münchener Pina¬
kothek noch mehr Rätsel, weil es nach alter Über¬
lieferung, die auch auf der Hanfstängrschen Photo¬
graphie wiederholt wird (nicht im Reber’schen Ka¬
talog), als ein Porträt von Rubens’ Vater gilt (s. die
Abb.S. 229). Eine andere Deutung, die Reber mit einem
Fragezeichen begleitet, weist auf Hugo Grotius hin,
mit dessen Zügen das Münchener Bildnis nichts ge¬
meinsam hat. Denn dass es sich um ein Bildnis han¬
delt, kann nach der Tracht des im Brustbild Darge¬
stellten, der mit einem Pelzrocke bekleidet ist und auf
dessen Brust eine goldene Kette mit Medaillon herab¬
fällt, keinem Zweifel unterliegen. Wen haben wir nun in
diesem Bildnisse vor uns? Diese Frage interessirt
uns ganz besonders, Aveil dieselbe Persönlichkeit
etwa im Alter von 48 bis 50 Jahren, d. h. um einige
Jahre jünger als auf dem Münchener Bilde, auf dem
berühmten Bilde der sogenannten vier Philosophen
im Palazzo Pitti in Florenz (s. die Abbildung S. 232),
das nach Rooses’ Meinung im Jahre 1602 gemalt
worden ist, im Vordergründe rechts erscheint.’)
Nach alter Überlieferung wird die fragliche Figur
des Florentiner Bildes ebenfalls Hugo Grotius ge¬
nannt. Während über die Identität der übrigen drei
Personen — Justus Lipsius, sein Schüler Philipp
Rubens und hinter ihm, in bescheidener Zurück¬
haltung von dem Trifolium gelehrter Männer, Peter
Paul — kein Zweifel obwalten kann, hat Rooses hin¬
sichtlich der vierten Person die Richtigkeit der Über¬
lieferung bestritten und einen anderen Namen in
Vorschlag gebracht, den Rechtsgelehrten und spä¬
teren Schöffen von Antwerpen, Jan van de Wou-
were, gewöhulich in der Latinisiruug seines Namens
Woverius genannt. Dieser Woverius war aber im
Jahre 1602, wo er mit den Brüdern Rubens in Ita¬
lien weilte und mit ihnen in häufigem und engem
1) Rooses, L’oeuvre IV, Nr. 977. — Dagegen setzt Bode
(im Cicerone 0. AuH. III, S. 813) das Bild um 1616 an.
Die vier Dhilosojiheu.
Gemiilde von 1’. 1’. DUDENS im l'alazzo l’iUi zu Florenz. Naeli einer l'liotographie von A. Braun & Co
Zeitschrift für bildende Kunst. N. P, V. H. 10.
30
Römische Landschaft mit Ruinen von P. P. Rubens. Nach einem Stich von Schelte a Boiswert.
234
PETER PAUL RUBENS.
Verkehr stand, 26 Jahre alt, also ein Altersgenosse
der beiden. Damit fällt Rooses’ Annahme, da die
fragliche Persönlichkeit auf dem Bilde der vier Philo¬
sophen hoch in den Vierzigern steht. Aus demselben
Grunde ist natürlich noch viel -weniger an den 1583
geborenen Hugo Grotius zu denken. Da übrigens
Rooses selbst zugiebt, dass sein vermeintliches Bild¬
nis des VVoverius von dem einzigen authentischen
des Gelehrten, dem von P. Pontius gestochenen in
der Ikonographie van Dyck’s, verschieden ist, muss
die Frage bis auf tiefere ikonographische Studien
offen bleiben. Dafür aber, dass das Bild der vier
Philosophen wirklich in Italien gemalt ist oder doch
eine italienische Erinnerung festhalten soll, liegt
außer der Büste Seneca’s in der Nische über dem
Kopfe seines berühmten Herausgebers noch ein an¬
deres Zeugnis vor. Der hinter Peter Paul aufgenom¬
mene rote Vorhang gewährt uns einen Blick in eine
Landschaft mit Bauwerken und Ruinen, von denen
ein Rundbau mit flacher Kuppel besonders charak¬
teristisch ist. Dieser Rundbau erscheint auch mit
den angrenzenden Ruinen auf einer von Schelte a
Boiswert gestochenen Landschaft wieder (s. die Ab¬
bildung auf S. 233), die mit der Inschrift: Pet. Paul
Rubens pinxit Romae versehen ist. Das Original
dieses Stiches, eine in brauner und bläulicher Tusche
ausgeführte Zeichnung, die sich in der Albertina in
Wien befindet ^), zeugt bereits von einer so erstaun¬
lichen Sicherheit und Freiheit der Hand, dass Ru¬
bens etwa dreißig Jahre später, als er seinem Stecher
diese Studie zur Nachbildung überließ, nur ein paar
kräftige Drucker in schwarzer Tusche hinzuzufügen
brauchte, um sie auf die Höhe seines damaligen
U'ollens und Könnens zu erheben. Der Landschafts¬
maler Rubens scheint in Italien überhaupt dem Histo¬
rien- und Bildnismaler voraus gewesen zu sein. Die
IGunpositiou des Bildes der vier Philosophen ist
immer noch etwas linkisch und leblos: aber in der
liarmonischen Zusammenstimmung des Kolorits, in
der Wärme des Tons, vor allem aber in der Würde
der Auffassung und in der Größe des Stils zeigt
sich schon tiefer der Einfluss Tizian’s als in dem
Altai*werke für die Kapelle in Sa. Croce in Geru-
salemme. Phn feiner Zug ist die kleine Glasvase
mit den vier Tulpen vor der Büste Seneca’s. Solche
Iliddigungen pflegten die Venezianer aus der Schule
des Bellini nur ihren Madonnen und dem heiligen
1 Kine wolilgelnngene Faksimilenachbildung der Zeich¬
nung findet sicli in dem Werke des Verf. „Der Kupferstich
in der .Schule und unter dem Einflüsse des Rühens“ (Wien
18SH) hei S. 114,
Bambino darzubringen. Der Schutzpatron, der über
dem Konventikel der Gelehrten waltet, schien dem
blumenliebenden Vlamen, der hier mit seinem Ge¬
vatter Jan Brueghel wetteifert, einer gleichen Huldi¬
gung würdig.
Die Frage, die sich um Jan Woverius dreht,
wäre bedeutungslos, wenn sich nicht an dieselbe Per¬
sönlichkeit ein zweites Bild aus Rubens’ Frühzeit
und der erste nach einem seiner Bilder gefertigte
Kupferstich knüpfte. Es giebt einen von Corne¬
lius Galle dem älteren ausgeführten, die Enthauptung
des Holofernes durch Judith darstellenden Stich, der
mit folgender Widmung von Rubens versehen ist:
Clarissimo et amicissimo viro D. Joanni Woverio
paginam hanc auspicalem primumque suorum operum
typis aeneis expressum P. P. Rubenius promissi jam
olim Veronae a se facti memor Dat Dicat.’) Daraus
erhellt also, dass Rubens in Verona dem Jan Wove¬
rius versprochen hat, ihm den ersten Kupferstich
nach einem seiner Gemälde zu widmen. Das Zusam¬
mentreffen der beiden Brüder Rubens mit Woverius
in Verona fand, wie durch einen Brief Philipp’s be¬
zeugt wird, im Juli 1602 statt. Damals hat sich
Peter Paul demnach, vermutlich von neuem durch
die in Mantua noch blühende Kupferstecherschule
angeregt, bereits mit dem Gedanken an eine Ver¬
vielfältigung seiner Gemälde durch den Kupferstich
getragen. Leider ist das durch den Galle’schen Stich
reproduzirte Bild im Original nicht mehr vorhanden. 2)
Dass es aber ein Jugendwerk des Meisters gewesen
ist, wird von diesem ausdrücklich sowohl in der
Widmung des Stiches als auch in einem Briefe vom
13. September 1621 betont, wo sich das Bild im Be¬
sitze des Prinzen von Wales, späteren Königs Karl 1.
von England, befand.^) Darin verpflichtet sich Rubens
beim Aufträge eines neuen Bildes für den Prinzen,
dass er es „an Künstlichkeit dem des Holofernes
überlegen machen werde, den er in seiner Jugend
gemalt habe.“ Soweit sich nach dem Stiche Galle’s
im Verein mit den Kopieen des Originals beurteilen
1) „Dem hochberühmten und ihm innig befreundeten
Manne Herrn Jan Woverius -widmet P. P. Rubens dieses An¬
fangsbild und zugleich das erste seiner durch Kupferdruck
wiedergegebenen Werke, eingedenk des einst in Verona von
ihm gegebenen Versprechens.“
2) Eine anscheinend alte Kopie, die jedoch völlig mit
dem Galle’schen Stiche übereinstimmt, befindet sich im Be¬
sitze einer Frau Brun in Nizza (Rooses I, Nr. 125), eine grö¬
ßere, in Einzelheiten mehrfach abweichende, im Besitze des
Professors Dr. Lohmeyer in Göttingen. Eine mir von diesem
freundlichst übersandte Photographie ist leider so undeut¬
lich, dass wir danach kein Gliche anfertigen lassen konnten.
3) Rosenherg, Rubensbriefe, S. 61.
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
235
lässt, ist diese Judith, die dem rücklings von seinem
Lager herabgestürzten Holofernes mit robuster Energie
den Kopf abschneidet, ein Denkmal jener Zeit, in
der Rubens seine venezianischen Eindrücke mit den
ersten römischen zu verschmelzen suchte. Die ver¬
ächtlich auf den gefallenen Riesen herabblickende
Judith mutet uns wie eine der ins Heroinenhafte ge¬
steigerten blonden Schönheiten Paolo Veronese’s an,
und der nackte Körper hat bereits das Gepräge der
muskelkräftigenund fleischgewaltigen Formenbildung,
die Caravaggio von Michelangelo und Rubens von
Caravaggio gelernt hat, wobei der eine den anderen
immer überbot. Die vier in der Luft schwebenden
Engelsbübchen, die das gottgefällige Werk in gar
drolliger Weise zu fördern und zu verheimlichen
suchen, sind dagegen aus Rubens’ eigener Mitgift,
aus dem Humor seiner vlämischen Heimat eut-sprossen.
Einen neuen Aufschwung nahm Rubens’ Kunst
in Italien nach seiner spanischen Reise, die er im
Dienste seines Herzogs im März 1603 an trat.
(Fortsetzung folgt.)
STUDIEN
ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
VON MAX BACH.
MIT ABBILDUNGEN.
II. Bartholomäus Zeitblom.
(Schluss.)
Über ein sicheres Werk des Meis¬
ters, das einzige, welches noch intakt
und mit seinem Namen bezeichnet ist,
können wir kürzer hiuweggehen. Es
ist zugleich das am längsten bekannte
Werk Zeitblom’s; schon im Morgen¬
blatt vom Jahre 1816 ist es, wie schon
bemerkt, aus der Feder Justinus Ker-
ner’s beschrieben; später, 1845, ver¬
öffentlichte der Ulmer Altertumsver-
eineinebesondere Publikation darüber;
darnach sind auch Abbildungen in ver¬
schiedene kunstgeschichtliche Hand¬
bücher übergegangen. (Wir geben hier
das eigenhändige Porträt Zeitblom’s
welches er auf der Rückseite des
Schreins aufgemalt hat.) ’) Der Altar¬
schrein wurde im Jahre 1497 für
die Wallfahrtskirche auf dem Heer¬
berg O/A. Gaildorf von dem Schenken
Albert von Limpurg (f 1 506) und seiner
Gemahlin Elisabeth Gräfin von Oet-
tingen (f 1509) gestiftet, wie die an¬
gebrachten Wappen aufs bestimm-
1) Die ganze Rückseite ist ebenfalls
durch den Ulmer Verein im Jahre 1874 in
EMrüendruck vervielfältigt worden.
30*
Bildnis des Bartholomäus Zeitblom. (Vom Heerberger Altar.)
236
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
teste ausweisen, denn außer den beiden Wappen der
Stifter sind auch noch die Wappen ihrer Ahnen, des
Grafen Wilhelm von Oettingen (•]■ 1467), seiner Ge¬
mahlin Beatrix della Scala und der Eltern des Schenken
Albert, Konrad (f 1482) und Clara Gräfin v. Mont¬
fort angebracht. Der Altar befindet sich schon seit
ca. 25 Jahren in der Sammlung vaterländischen Kunst-
und Altertumsdenkmale in Stuttgart; die ehemaligen
Schnitzfiguren des
Schreins , darstel¬
lend die Heiligen:
Maria auf der Mond¬
sichel, Katharina
und Barbara, hat
die Gemeinde zu¬
rückbehalten. Lei¬
der haben die Ge¬
mälde durch wie¬
derholte Restaura¬
tionen ihren alter¬
tümlichen Charak¬
ter etwas verloren,
was besonders von
den Außenseiten zu
sagen ist, welche
die Verkündiffunsr
Mariä darstellen.
Auf der Höhe
seiner Kunst er¬
blicken wir nun
Zeitblom in den
herrlichen Heili¬
gengestalten Ursu¬
la und Margaretha
der Münchener Pi¬
nakothek. Ihre ein¬
stige Bestimmung
ist unbekannt ; doch
weiß man, dass die
Bilder schon im
Jahre 1S16 vom
die Wallerstein’-
schen Sammlungen und von dort in die Nürnberger
Moritzkapelle kamen, wo sie lange Zeit wenig Be¬
achtung fanden. Ihre einstige Heimat ist demnach
wohl in den einstigen Rechberg’schen Besitzungen
in der Nähe von Gmünd zu suchen; vielleicht
gehörte zu demselben Altar noch die h. Brigitta,
welche ungefähr in gleichen Dimensionen ausge*
führt ist und gleichfalls in der Pinakothek sich
befindet. Wie schon ein Bericht anlässlich der
Eröffnung der Moritzkapelle im Jahre 1829 sagt,
ist „die Zeichnung ausgezeichnet, besonders die
Hände mit seltener Wahrheit gezeichnet, die Köpfe
scheinen nach der Natur und sind vortrefflich aus¬
geführt, die Gewänder schön gelegt und alles zeich¬
net sich durch die Pracht der Farben und Größe
des Stils aus“ (s. die Abbildung).
Zu den besten
Werken Zeitblom’s
gehören ferner acht
Gemälde, Fragmen¬
te von Altarflü^eln,
welche früher ein¬
zeln in der Schloss¬
kapelle zu Krau¬
chenwies bei Sig¬
maringen, wohin
sie von Pfullendorf
gekommen sein sol¬
len, aufgehängt wa¬
ren und jetzt im
fürstlichen Museum
zuSigmaringen sich
befinden. Sie für Ju¬
gendarbeiten Zeit¬
blom’s zu halten,
wie Wiegmann
thut, liegt kein
Grund vor; Köpfe
und Drapirung zei¬
gen den ausgebil¬
deten Zeitblom’-
schen Stil, wie er
im letzten Jahr¬
zehnt des 15. Jahr¬
hunderts sich ent¬
faltet hatte. Ergrei¬
fend ist besonders
der Tod der Maria,
wie sie, von einem
Apostel unterstützt,
am Betpult nieder¬
kniet und ihr Ende erwartet (s. die Abbildung). Die
Bilder wurden 1857 von Prof. A. Müller in Düssel¬
dorf vortrefflich restaurirt und zu je vieren in zwei
großen Rahmen vereinigt.
Vier andere Tafeln, noch an ihrer ursprüng¬
lichen Stelle befindlich, müssen hier angereiht werden :
sie finden sich in der Nähe von Sigmaringen in
dem Dorfe Bingen. Es sind die Reste des ehe-
Grafen Rechberf; in
Der Tod Mariä. Gemälde von B. Zeitblom, im fürstlichen Museum zu Sigmaringen.
STUDIEN ZUR, GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
237
maligen Hochaltars, welcher schon gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts abgebrochen wurde. Jetzt
bilden die beiden Hauptstücke Geburt und Anbetung,
nebst zwei kleineren oblongen Tafeln, Darstellung
im Tempel und Tod Mariä, den Schmuck der beiden
Seitenaltäre. Wie Lehner berichtet, machte zuerst
Herr von Maienfisch 1841 auf die Bilder aufmerk¬
sam und veranlasste
deren Restauration.
Eine von den bei¬
den Tafeln, die, wie
vorauszusehen, sich
auch auf der Rück¬
seite mit Darstel¬
lungen versehen
zeigte , war hinten
durch die Feuch¬
tigkeit so beschä¬
digt, dass an eine
W ied erherstellung
nicht zu denken
war, um so weniger,
als die am erträg¬
lichsten erhaltenen
Köpfe von einem
Liebhaber ausge¬
schnitten waren.
Später sollen diese
Köpfe in das Eigen¬
tum des Oberstu¬
dienrats Hassler
übergegangen sein_
Die andere Tafel
war auf der Rück¬
wand gut erhalten,
daher konnte sie
zersägt werden,
durch welche Ope¬
ration die beiden
kleineren Bilder ge¬
wonnen wurden.
Ob diese An¬
gaben dem Thatbe-
stand entsprechen, ist fraglich, denn wie konnten
aus der Rückwand eines Flügels Stücke ausgeschnit¬
ten werden, ohne die ganze Tafel zu zersägen?
Dahlke vermutet daher, die beiden kleineren Stücke
hätten ehemals Vor- und Rückseite eines Predella-
1) Kunstwerke der Pfarrkirche zu Bingen, 2. Aufl. 1870.
Fol. A.
flügels gebildet, was wir jedoch nicht acceptiren
können. Bezüglich der ausgeschnittenen Köpfe haben
wir eine Spur gefunden, nach welcher acht derartige
Köpfe schon im Jahre 1843 sich im Besitz des Anti¬
quitätenhändlers Herrich in Ravensburg befanden;
zehn Jahre später sind diese Köpfe in der Hassler’-
schen Sammlung in Ulm, wo sie von Eigner als die
schönsten Bilder er¬
klärt werden. Un¬
begreiflicherweise
ffiebt aber Hassler
diese Propheten¬
köpfe, welche sich
jetzt in der Samm¬
lung vaterländi¬
scher Altertümer
in Stuttgart befin¬
den, in seiner Ul¬
mischen Kunstge¬
schichte für Schüh-
lein aus; dabei be¬
merkt derselbe, die
Köpfe seien heraus¬
geschnitten aus
größeren Tafeln,
welche neutesta-
mentliche Begeben¬
heiten darstellen
und nach der Weise
der Biblia paupe-
rum auf den Zu¬
sammenhang mit
dem alten Testa¬
ment zurückweisen,
indem je oben in
der Ecke rechts
oder links derjenige
Prophet angebracht
war, bei welchem
das auf die darge-
. stellte Begebenheit
bezügliche Vatici-
nium sich findet.
Auf der Tafel zu Bingen aber ist Prophet und Be¬
gebenheit noch beisammen.
In der That ähneln diese Köpfe ungemein, be¬
sonders in Stellung und Anordnung den beiden Bin-
gener Prophetenbrustbildern, welche, Schriftrollen
in den Händen haltend, je oben in der rechten Ecke
der beiden kleineren Tafeln auf die dargestellten
Begebenheiten herabschauen. Ich habe früher in
Heilung eines epileptischen Knaben durch den h. Valentin. Gemälde von B. Zeitblom
in der Augsburger Galerie.
238
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
meiner Abhandlung über die Ulmer Ausstellung im
Jahre 1877 und später 1881 in einem Aufsatz über
Zeitblom auf Grundlage der angeführten Litteratur
behauptet, diese Hassler’schen Köpfe stammten aus
dem Ringer Altarwerk. Ich möchte das, nachdem
ich nun die Bingener Tafeln selbst gesehen, nicht
mehr ohne Bedenken annehmen, denn wo sollten
diese acht Köpfe auf der Rückseite des einen Flü¬
gels Platz finden? Vielleicht gehören dahin die beiden
als jüdische Schriftgelehrte bezeichneten Köpfe in
der Stuttgarter Galerie (Nr. 541, 543), und zwei ähn¬
liche in Augsburg. Uber die künstlerische Bedeutung
des Werkes hat Dahlke ausführlich gehandelt ^) ; wir
unterlassen es daher, hier weiteres darüber anzu¬
führen.
Ein weiteres Werk Zeitblom’s welches sich in
der Augsburger Galerie befindet, ist durch photo¬
graphische Reproduktion allgemein bekannt, nämlich
die Valentinsbilder. Diese Bilder waren aber nicht,
wie Dahlke angiebt, be.stimmt „zur Ausfüllung eines
überwölbten Wandfeldes“, sondern es sind zwei zer¬
sägte Altarflügel, von welchen zwei Darstellungen, Va¬
lentin im Gefängnis und wie derselbe mit Knütteln
totgeschlagen wird, die Vorderseiten, die Heilung
eines epileptischen Knaben und Valentin’s Gefangen¬
nahme die Rückseiten bildeten (s. die A bbildung). Durch
die aufgemalten hässlichen gotischen Ornamente wird
der Eindruck der Bilder wesentlich gestört; ohne
Zweifel waren hier früher geschnitzte Ornamente ange-
l>racht. Bezüglich der Provenienz der Bilder sind
alle bisherigen Angaben falsch. Die schon in den
dreißiger Jahren zersägten Tafeln stammen nicht aus
dem Carmeliter-, sondern aus dem Katharinen- (Do-
niinikaner-jKloster, an der Stelle der jetzigen Gemälde¬
galerie. Die ehemalige Dominikanerkirche wurde
1512 restaurirt, in ihr befanden sich viele Patrizier-
kaj)ellen Jiiit Grablegen, und ohne Zweifel gehörte
das Zeitblom’sche Altarwerk einer solchen Kapelle
an. Bei den nahen Beziehungen des Augsburgischen
Patriziats mit dem Ulmer ist die Beiziehung eines
auswärtigen Meisters leicht erklärbar, zumal ja auch
die Familie Zeitblom’s, wie wir oben gesehen, aus
Augsburg zu stammen scheint; hierzu ist noch nach¬
zutragen , dass auch ein Meister Simon Zeitplum in
den Steuerbüchern unter der Rubrik „Uff dem Gra¬
ben gen. Wint})runnen“ von 1386—98 genannt ist.
Die noch bestehende Kirche des Carmeliter-
klosters zu St. Anna wurde in den Jahren 1487 — 97
unter dem Prior Matthias I’abri fast ganz neu er-
1 Ilepertorium IV, a. a. 0.
baut; derselbe führte auch ein genaues Inventar über
alle Gegenstände im Kloster, worin auch unser Al¬
tar, wenn er sich dort befunden haben sollte, gewiss
angegeben gewesen wäre. Der Umstand, dass die
Kirche nach Aufhebung des Klosters nicht einge¬
gangen, sondern zur protestantischen Pfarrkirche
erhoben worden und ihre Kunstschätze behalten hat,
spricht auch gegen die Annahme, dass die V alentins-
bilder von dort herstammen.
Zwei schmale Flügel in derselben Galerie, einer¬
seits den h. Alexander, anderseits die Heiligen Even-
tius und Theodolus darstellend, bezeichnet 1504, und
zwei kleinere Tafeln mit den Heiligen Benedikt und
Brigitta, Barbara und Katharina zeigen den Zeit-
blom’schen Stil; doch gehören letztere jedenfalls einer
früheren Periode des Meisters an. Die beiden Hei¬
ligen Cyprian und Cornelius in der Münchener Pina¬
kothek (Nr. 178) sind in Ausführung und Format
den erstgenannten Augsburger Tafeln konform und
stammen ohne Zweifel von demselben Altarwerk,
welches nach Aufhebung des Ulmer Wengenklosters
1803 in den Besitz des bayerischen Staates kam.
Ein weiteres Bild, welches von den älteren Au¬
toren nicht erwähnt wird, weil es früher dem Martin
Schön, später Schaffner zugeschrieben wurde, befand
sich bis 1881 in der Münchener Pinakothek und ist
jetzt im Germanischen Museum aufgestellt. Es stellt
die Beweinung Christi dar und ist augenscheinlich
dem Holzschnitt Dürers aus der großen Passion
(B. 13) nachgebildet. Das Bild gewinnt dadurch an
Interesse, weil man sieht, dass auch Zeitblom ein
Werk Dürer’s als Vorlage benützt hat; es war das
damals nichts Ungewöhnliches, zu derselben Zeit
wurden die Kupferstiche Schongauer’s unzähligemal
kopirt. Die charakteristischen Merkmale für Zeitblom
fehlen nicht: die lange schmale Nase, die kleinen
mandelförmigen, etwas schielenden Augen, die auf¬
fallend kurzen Hände u. dergl. Man hat mit diesem
Bild eine Notiz in Verbindung gebracht, welche in
einer von dem Prälaten Michael HI. Kuen verfassten
Monographie über das Ulmer Wengenkloster (Ulmae
1766 fol.) steht. Nach derselben soll das Gemälde
im Jahre 1613 von dem Herzog Wilhelm von Bayern
begehrt worden sein ’). In der Beschreibung des
Bildes heißt es aber ausdrücklich, es sei auf Lein¬
wand gemalt gewesen, wird auch dort dem Martin
Schön zugeschrieben. Offenbar war es also wieder
eine der vielen Kopieen Schongauer’scher Stiche, in
moderner Weise gemalt. Gewöhnlich wird damit noch
1) Archiv f. Christi. Kunst 1892, S. 8.
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE
239
ein anderes Bild verwechselt, welches sich im Ulmer
Münster befindet, jedoch mit Zeitblom nichts zn
schaffen hat. ’) Die Nürnberger Beweinung Christi
kam schon im Jahre 1803 ans dem Wengenkloster
in bayerischen Staatsbesitz; damals wurden, wie Weyer¬
mann ‘^) angiebt, ein ganzer Leiterwagen voll Bilder
fortgeführt, welche ein Ulmer Bürger mn 13 fl. er¬
steigert hatte.
In Ulm seihst und zwar in der dortigen Mün¬
stersakristei sind gleichfalls einige Tafeln aus der
Zeitblom’schen Schule erhalten, die einem Altarwerke
im Wengenkloster angehört haben sollen. Diese
Bilder wurden auf Anregung des Zeichuuugslehrers
Manch im Jahre 1838 von der Stadt erworben. Eine
erstmalige nähere Würdigung dieser Bilder gieht
Eisenmann in Schnaase’s Kunstgeschichte, 8. Bd.
Es sind sechs Tafeln von je 1,20 m Höhe und 65 cm
Breite und stellen die Verkündigung, Beschneidung,
Darstellung und Himmelfahrt Mariä, zwei andere,
die offenbar einst zur Außenseite der Flügel gehörten,
einerseits männliche, anderseits weibliche Heilige dar.
Zu dieser Folge kommen dann noch zwei andere,
die Geburt Christi und die Messe des h. Gregor, in
den Galerieen zu Stuttgart und Karlsruhe. Ob die
beiden größeren ebenfalls in Ulm befindlichen, im
Format unter sich aber verschiedenen Bilder, die
Apostel Jakobus und Bartholomäus und ein einzelner
schlafender Jünger in weißem Mantel, zu demselben
Altarwerk gehörten, lassen wir dahingestellt. Eisen¬
mann hält diese Bilder für ungleich bedeutender:
„in der Farbe leicht gehalten, aber von festester
großartiger Zeichnung, Köpfe von hohem Ernst, Ge¬
wandung von strenger Schönheit, Körper von edler
Bildung. Es ist etwas Altertümliches aber Kräftigeres
darin, als in anderen Werken Zeitblom’s, so dass man
sie für Arbeiten seiner Frühzeit, oder eines ihm ver¬
wandten älteren Meisters halten müsste.“
Leider hat man keine Nachrichten über die ehe¬
maligen Altäre in der Wengenkirche; dass aber noch
im Jahre 1825 ein Altar von Jörg Syrlin dort ge¬
standen hat, geht aus der Beschreibung der Stadt
Ulm von Dietrich hervor; die Kirche wurde im 17.,
18. und 19. Jahrhundert öfters erneuert und enthält
jetzt keine alten Kunstwerke mehr.
Das sind die einzigen Überreste von der Thätig-
keit des Meisters in seiner Vaterstadt selbst; auch
diese Bilder wären wohl verschleudert worden, wenn
sie nicht, wie schon erwähnt, ein patriotischer Bür-
1) Grüneisen und Mauch, S. 35 ff.
2) Kunstblatt 1830, Nr. 89.
ffer der Stadt erhalten hätte. Erst in neuerer Zeit
kamen noch zwei Fragmente Zeitblom’scher Kunst
in die Sammlung des Hauptmanns Geiger in Neu-
Ulm. Das eine, Bruchstück einer Verkündigung, das
andere, der Kopf eines schlafenden Johannes auf
Goldgrund, beide aus der Sammlung des Freiherru
von Holzschuher aus Augsburg stammend.
Rastlos war die Thätigkeit des Meisters noch in
den ersten Decennien des 16. Jahrhunderts, und jetzt
erscheint er auch öfters in öffentlichen Urkunden.
1499 ist er genannt als einer der beiden Schatz¬
meister der Maler-Zunft S. Lucas zu den Wengen
und in demselben Jahre erscheint er erstmals in den
Zinsbüchern der Pfarrkirchenbaupflege und zwar als
Inhaber eines Stuhls gemeinschaftlich mit Schühlein,
welchen Stuhl er aber seit 1508 allein besitzt und
dafür zwei Ort bezahlt bis zum Jahre 1512. In den
Ulmer Bürgerbüchern erscheint der Meister nach
Weyermaun und Jäger 1504 und 1508, nach Hassler
ferner im Jahre 1516 als Bürge für den Maler Jörg
Bochsdorfer. Für diese Stelle sind jedoch die Be¬
lege nicht mehr aufzufinden; dagegen fand sich im
Bürgerbuch von 1501 — 1547 folgender Eintrag auf
Blatt 68b: „Eodem die (30. Januar 1517) ward unser
Burger Hans Schäfer Messerschmid, also dass er
zehen jar unser eingesessener Burger sein und uns
derzwischen jährlich auf Martini, wir nemen gemeine
Stewr oder nit, zu gedingter Stewr richten und geben
soll ain guldi wie ander hievor, und er hat uns ver¬
bürgt mit Bortlome Zeithlom, Facius Spul seinem
Schwehr und Jörgen Bremakher auf unsere Burger un-
verscheidentlich, und er gab auf Martini im XVII den
jar sein Erstes.“ 2)
Zum letzten Mal wird der Meister genannt in einer
Hüttenrechnung von 1518 unter den Ausgaben für
den Olberg, welcher nach einem schon im Jahre
1474 von Matth. Böblinger gezeichneten Entwurf
auf dem Münsterplatz errichtet wurde. Dort heißt
es: „Bartime Zeytblum und Martin Schaffner von
dem Getter rot anzestreichen , von den Knöpfen zu
vergulden und von den Gilgen und Blumen zu malen
28 Pf. 27 Sh. 6 hl.“ Doch muss Zeitblom noch
einige Jahre gelebt haben, denn erst 1521 tritt an
dessen Stelle als Bürge für den genannten Bochs¬
dorfer ein Notar May ein.
1) Sendschreiben von Ed. Mauch 1855, S. 74. Dieser
Bochsdorfer, auch Boxdorffer geschrieben, kommt schon in
den Hüttenrechnungen im Jahre 1508 vor; s. Münsterbl. IIT
und IV, S. 95.
2) Die urkundlichen Notizen verdanke ich der Güte des
Herrn Landgerichtsrats Bazing in Ulm.
240
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ULMER MALERSCHULE.
Zu den späteren Werken Zeitblom’s, welche eine
Datirung tragen, gehört außer dem schon genannten
Altar zu Süßen von 1507, welcher auf den Flügeln
die Legenden dei Heiligen Nikolaus und Wolfgang
gemalt zeigt, der Altar in der Klosterkirche zu Adel¬
berg von 1511. Dieser Altar, lange Zeit verwahr¬
lost, wurde in den letzten zehn Jahren teilweise
restaurirt; im Schrein sieht man die Schnitzfiguren
der Madonna, St. Katharina, Liborius, Ulrich und
Cutubilla, letztere eine selten genannte Heilige, welche
den Mäusen heilig war. Auf den Flügeln innen die
Verkündigung und Krönung Mariens, außen Geburt
Christi und Anbetung der Könige (diese noch un-
restaurirt). Auf der Rückseite das jüngste Gericht,
sehr abgeblasst. Auf der Predella Christus mit den
zwölf Aposteln. Unverkennbar tragen diese Bilder
das Gepräge von des Künstlers Hand, besonders in
der einfach angelegten, wenig gebrochenen Gewan¬
dung und der mild harmonischen, gesättigten, kraft¬
voll wirkenden Farbe. Auch bei der Madonna sieht
man wieder die langen goldgelben, langsträhnig über
die Schultern herabfallenden Haare, doch hier schon
mehr bewegt als bei Zeitblom’s früheren Werken,
Über zwei weitere früher nicht bekannte AltarflügeF)
in der Stadtkirche zu Blaubeuren hat Dahlke im
Repertorium IV. ausführlich gehandelt; ich bin mit
ihm der Meinung, dass es sich hier nur um Schul¬
arbeiten handeln kann. Von Interesse ist, dass dieser
Altar, zu welchem als Mittelstück eine Kreuzigung
Christi von Altdorfer verwendet ist, im Jahre 1605
von dem Ulmer Patrizier Martin Neubronner und
seiner Ehefrau, einer geb. Glockengießerin gestiftet
worden ist, samt einem Kapital von 1000 Gulden
für die Armen und der Bestimmung: dass die „Herren
zu Blaubeuren sollche Tafel von diesem unserem
Allmuosenzinsgeldt Jedesmahls, so offt es die Noth-
durfft Erfordert, wider Erneuern, machen und auß-
})essern, auch selbige Immer und bestendiglich in
Irem Wesen richtig erhalldten lassen sollen.“
1) l’hotographieen im Verlag der Mangold’schen Buch¬
handlung in Blaubeuren.
Einige weitere Zeitblom’sche Werke, die bisher
keine Beachtung fanden, bergen ferner das bayerische
Nationalmuseum und das Germanische Museum zu
N ürnberg. In München, zuerst von Janitschek erkannt
und dort als oberbayrisch bezeichnet, ein Flügelaltar. Im
Schrein Maria mit dem Kind mit den Heiligen Bruno
und Wolfgang, auf den Flügeln innen die Heiligen
Sebastian und Rochus, außen Nikolaus und St. Jo-
docus. Auf der Predella die heilige Sippe von anderer
Hand. Auf den Flügeln unten sind die Stifterwappen
angebracht; rechts in Rot ein schwarzer Schräg¬
balken mit drei gelben Pflaumen belegt; Kleinod:
roter Flug mit dem Wappenbilde belegt. Links in
Gold ein rothes steigendes Lamm, als Kleinod wach¬
send, Andere dort dem Zeitblom zugeschriebene
Tafeln mit Darstellungen aus der Legende des h.
Johannes sind wohl nicht des Meisters würdig. In
Nürnberg ist dann noch eine Predella aus der
ehemals Wallerstein’schen , vormals Rechberg’schen
Sammlung, mit der h. Anna selbdritt, zu beiden Seiten
die hh. Margaretha, Barbara, Dorothea und Magda¬
lena in Halbfiguren; ferner zwei kleine Brustbilder
Maria und Johannes auf zwei einzelnen Tafeln.
Ein Sohn Zeitblom’s ist offenbar jener „Barth-
ieme Zeitblom“, welcher im Bürgerbuch unter 1532
genannt ist, als Steuerpflichtiger wie andere Bürger,
„dieweil er in ledigem Stande ist“. Ein Hans Zeit¬
blom war Hofmaler Kaiser Karl’s V. In einem am
18. Januar 1550 ausgestellten Privilegium wird der¬
selbe genannt „unser Trabant und des Reichs lieber
getreuer Meister Hans Zeitbluem“. Er machte eine
Zeichnung von dem Streit Karl’s V. mit dem Herzog
Johann Friedrich von Sachsen im Jahre 1547, wobei
letzterer eine Niederlage erlitt. Die Zeichnung sollte
auf besonderen Wunsch des Kaisers in Kupfer ge¬
stochen werden, ein Abdruck davon hat sich aber
bis jetzt nicht gefunden.^) Noch 1575 lebt ein Hans
Zeitblum als Weinzieher in Ulm.
1) Anz. d. German. Museums, 188G.
DAS RUMÄNISCHE KÖNIGSSCHLOSS PELESCH.
MIT ABBILDUNGEN.
lE transsylvaiiischen Alpen
galten uns immer als das
Grenzland der europäischen
Kultur gegen den Byzanti¬
nismus. Die mittelalterlichen
Bauwerke Siebenbürgens ra¬
gen aus jenen Zeiten als die
am weitesten gegen den
Orient vorgeschobenen Denkmäler deutschen Ur¬
sprungs empor und zeugen nicht minder deutlich
als die ungebrochene Natur der altsächsischen Be¬
völkerung der Lande für den herben Ernst und
die schlichte Tüchtigkeit der äußersten Vorposten
deutschen Volkstumes im Osten.
Seit aus den türkischen Donaufürstentümern ein
wohlorganisirtes Königreich unter der Herrschaft
eines thatkräftigen Hohenzollernfürsten geworden
ist, dringen westliche Civilisation, Industrie und
Kunst unaufhaltsam über die Abhänge der sieben-
bürgischen Berge hinüber. Namentlich aber ist es die
österreichische Kaiserstadt an der Donau, welche
auf den ganzen Südosten des Weltteils und dem¬
gemäß auch auf Rumänien und die angrenzenden
Gebiete durch ihre hochentwickelte Baukunst und
Kunstindustrie mächtigen Einfluss zu nehmen be¬
gonnen hat.
Ein glänzendes Zeugnis für diese Thatsache
liegt uns in dem Prachtwerke vor, welches die
Schilderung des rumänischen Königsschlosses Peleseh
zum Gegenstände hat, und mit dessen in mannig¬
facher Hinsicht fesselndem Inhalte wir die Leser be¬
kannt maclien möchten, i) Der Bau , den das Buch
1) Das rumänisclie Königsschloss Pelesch. Herausgegeben
und mit erläuterndem Text begleitet von Jacob von Falke.
Mit 25 Radirungen und 38 Holzschnitten. Wien, Druck und
Verlag von C. Gerold’s Sohn. 1893. 4. — 50 M.
Zeitschrift für bildende Kunst N. F. V. H. lO,
beschreibt, wie das Buch selbst sind vorwiegend
durch Wiener Kräfte hergestellt. Beide heimeln uns
an, als handele es sich nicht um ein rumänisches,
sondern um eiu deutsches Königsschloss in unseren
Alpen.
Die Königin von Rumänien, als Dichterin unter
dem Namen Carmen Sylva bekannt, hat über ihren
prächtigen Landsitz unter dem Titel „Pelesch im
Dienst“ eine Schrift verfasst, aus der uns Falke in
seinem Text zu dem Werke mehrere interessante
Mitteilungen macht. Die Monarchin giebt da zu¬
nächst die Namen des Planverfassers, Prof. TU. v. Do¬
derer in Wien, und des Bauleiters, Joh. Schulz aus
Wien, an, und verzeichnet dann genau die Mate¬
rialien, aus welchen der Bau besteht, und die bei
demselben in Geltung gewesenen Arbeitslöhne. Am
22. August 1875 wurde die feierliche Grundstein¬
legung begangen. Im Herbst 1883, am 7. Oktober,
fand die AVeihe des Baues und zugleich der Einzug
des königlichen Paares und des Hofstaates in die
wohnlich und reich ausgestatteten Räume statt.
Bevor wir uns im Geist an diese Stätte ver¬
setzen und die Räume durchwandern, sei erst der
Künstler gedacht, durch deren Zusammenwirken das
Falke’sche Buch seinen Bilderschmuck erhalten hat.
Es sind fast sämtlich Angehörige der Wiener Kunst¬
gewerbeschule, teils Radirer, teils Holzschneider,
ausgezeichnete Schüler der Professoren TJnger und
Hecht, in deren Händen Leitung und Aufsicht über
das Ganze lag. Wir nennen die Radirer Älphons,
Bayer, Oroh, Kayser, Goldfeld, Jiippe und Schul¬
meister. Unter vielen der Holzschnitte lesen wir
den Namen des als Zeichner von Architekturen und
Ornamenten mit Recht hochgeschätzten Buä. Bernt.
Schloss Pelesch liegt mitten im Hochlande
der Karpathen, umgeben von stolzen Tannen- nnd
31
242
DAS RUMÄM ISCHE KÖNIGSSCHLOSS PELESCH.
Buchenwäldern, unfern von dem altberühmten grie¬
chischen Kloster Sina'ia, neben welchem in jüngster
Zeit ein betriebsamer Ort gleichen Namens entstan¬
den ist. Seinen Namen führt das Schloss nach dem
schäumenden Gebirgsflüsschen Pelesch, einem Neben¬
flüsse der Prahova, durch deren Thal die Bahn von
der siebenbürgischen Grenzstadt Predeal zur wala-
chischen Ebene hinabführt. Das Kloster Sinaia,
eine Gründung vom Ende des 17. Jahrhunderts, lag
gen dienten dazu, den Boden zu festigen. Es han¬
delte sich nicht nur um den Platz für den Herrscher¬
sitz allein: eine Menge Nebengebäude mussten gleich¬
zeitig mit ihm entstehen, insbesondere ein Marstall,
eine Militärwache, ein Haus für die zahlreiche Diener¬
schaft, ein Waschhaus, ein Gebäude für die elek¬
trische Beleuchtung, eine Gärtnerswohnung, ein
Forsthaus, nebst Wasserleitungen, Brunnen und an¬
deren Anstalten. Kein Wunder, dass Jahre darüber
Glasfenster im Schloss Pelesch. — Lagerscene aus dem 17. Jahrhundert.
in wilder Phnsamkeit da, „rückwärts der Urwald
und die hininielliolien Berge“. Da kam, zu Anfang
der siebziger Jahre, das rumänische P'ürstenpaar für
kurze Zeit zum Sommeraufenthalt in diese Abge-
scliiedenheit, und bescliloss, in einem nahen abge¬
schlossenen Thalraum eine Ansiedelung im großen
Stil zu gründen. Damit zogen Leben und Kultur
in die bis dahin weltvergessene Gegend ein.
Ein ausgedehntes Terrain war der .steilen, von
Bächen und Quellen durchiieselten Bergwand abzu¬
gewinnen. Umfassende Erdarbeiten und Kanalisirün-
hingingen, — überdies einige zum größten Teil für
die Bauthätigkeit verlorene Kriegsjahre — bevor
alles fertiggestellt werden konnte, und dass die Ge¬
samtkosten für das Schloss und seine Ausstattung
samt den Nebengebäuden sich auf nicht weniger als
sechs Millionen Franken beliefen.
Der Stil des Ganzen ist die deutsche Renais¬
sance, in jener pittoresken und reichen Ausgestal¬
tung, wie er sie im Laufe des sechzehnten Jahrhun¬
derts in den nordischen Ländern erfahren hat.
Dieser Stil entspricht am vollkommensten den Be-
243
DAS RUMÄNISCHE KÖNIGSSCHLOSS PELESCH.
dürfnissen einer modernen, bequemen und eleganten
Wohnlichkeit und fügte sich zugleich den Bedingun¬
gen der Lage des Schlosses vortrefflich ein. „Sein
wechselvolles Luftprofil“ sagt Falke — „der Reich¬
tum seiner Gestaltung, mit seinen Baikonen und
Erkern, seinen Dachreitern, Türmen, Türmchen und
Spitzen, mit seinen Gittern und Wetterfahnen und
sonstigem krönenden Eisenwerk — Kunstarbeiten,
welche mit vielen anderen der Art, mit Laternen
und Riegeln und Thürbeschlägen aus den Ateliers
des Wieners Gillar hervorgegangen sind, — das
alles bringt ihn in Harmonie mit Berg und Wald
und macht ihn zum passendsten Stil gerade in einer
Gegend wie die um Prahowa und den Pelesch,
wo hohe Berge noch vom Urwald umgeben sind,
wo Bergwässer sich aus den Schluchten hervor¬
stürzen. Andererseits verbreiten die bunten gemal¬
ten Fenster, die Vertäfelung der Wände, die viele
Holzschnitzerei in Verbindung mit Malerei, die vielen
Ecken und Winkel, sie verbreiten Behaglichkeit und
Wärme und schließen die vornehmste Eleganz so
wenig aus, wie alle die Erfindungen und Verbesse¬
rungen, welche die neueste Zeit an Beleuchtung,
Ventilation und Erwärmung für unsere Wohnung
geschaffen bat. Dieser Stil, die deutsche Renais¬
sance, entsprach daher völlig der Umgebung, wie
er im eigensten Geschmack der Begründer des
Schlosses begründet lag. Für ihn waren auch die
künstlerischen Kräfte zur Verfügung; denn zur Zeit,
da der Plan des Schlosses Pelesch gefasst wurde,
war die deutsche Renaissance in Deutschland selbst
wieder in Mode getreten und wurde als nationaler
Stil betrachtet und geübt.“
Eine besondere Schönheit des Schlosses bilden
seine Gartenanlagen. Der nächstgelegene Teil des
Waldes wurde in einen Park verwandelt, unter mög¬
lichster Schonung der wundervollen Bäume. „Aber
für den Garten fehlte es an Platz; fast senkrecht
schoss die Bergwand herab. Um sie in eine sanfte,
dem Äuge wohlgefällige Böschungslinie zu verwan¬
deln, um vor dem Schlosse die hinlängliche Breite
für eine Blumen terrasse und für eine Fontäne,
welche nunmehr einen armdicken Wasserstrahl 22 m
hoch hinaufsendet, samt ihrem Bassin zu gewinnen,
mussten gewaltige Massen von Erde angeschüttet
werden, und diese holte man von der Gegenseite des
Thaies herüber. Es geschah dies mittelst einer
Drahtseilbahn, welche, hoch über dem Thale schwe¬
bend, von der einen Seite auf die andere an 20 000
Kubikmeter Erde zur Anschüttung herüberftihrte.“
Die ganze Arbeit, durch welche eine Fläche von
über 55000 Quadratmeter gewonnen wurde, geschah
unter der Oberleitung des Gartendirektors Knechtei.
Der für die Bekleidung der Fläche erforderliche
Rasen wurde von einer höher gelegenen Alpenwiese
abgegraben. Darnach wurde die Straße nach Sinaia
zu einer wirklichen Kunststraße mit eisernem Ge¬
länder ausgebaut. Über den Fluss wölbte sich eine
steinerne Brücke. Das Schloss und die Nebenbauten
erhielten ihre Verbindungen durch Fahr- und Fu߬
wege, die größtenteils durch den Wald führen. An¬
dere Wege ziehen sich hinauf bis nahe an das Ende
der Waldregion, bis zu 1500 Meter Meereshöhe.
Wie beträchtlich die Höhenlage des Schlosses selber
ist, mag aus der Thatsache geschlossen werden, dass
das Plateau vor dem Schlosse bereits 1000 Meter
über der Meeresfläche liegt. Dasselbe kann daher
auch nur während der Monate Juni bis September
in einen Blumengarten umgewandelt werden. Exo¬
tische Coniferen aus dem Himalaja und aus Nord¬
amerika zieren die daran stoßenden Anpflanzungen.
Dem Wesen der deutschen Renaissance gemäß
bildet die Verbindung von Steinbau und Riegelbau,
jener im Unter-, dieser im Obergeschoss die Cha¬
rakteristik der äußeren Erscheinung des rumänischen
Königsschlosses. Im Inneren ist vornehmlich Holz¬
werk in ausgedehntem Maße zur Anwendung ge¬
kommen: so in der gemütlichen Trinkstube, in den
Wandvertäfelungen und Plafonds der Bibliothek,
in den Gemächern des Königs und der Königin,
bei sämtlichen Treppen u. s. w. Der Hofbildhauer
Stöhr machte sich um die künstlerischen Teile dieser
Holzarbeiten besonders verdient. Den ausgedehn¬
testen Gebrauch machte man ferner von der Glas¬
malerei. Mit ihrer Hilfe „werden Sonne und Mond
zu Künstlern, welche der Dekoration die letzten
und wirkungsvollsten Reize geben“. Alle Fenster
des Schlosses haben diesen Schmuck erhalten, sei
es durch figürliche Bilder, sei es in Form von orna¬
mentaler Verglasung, stets aber in geschmackvoller
und maßhaltiger Weise. Die Ausführung der sämt¬
lichen Fenster wurde von der bekannten Zettler’&cX^ew
Anstalt in München besorgt. Die Zeichnungen lie¬
ferten A. Widmann, Julius Jürs und F. X. Barth.
Der Inhaber der genannten Glasmalereianstalt hat
die hervorragendsten der ira Schlosse Pelesch aus¬
geführten Glasgemälde in einer besonderen Publi¬
kation (München 1887) vereinigt, auf welche wir
hier der Kürze wegen verweisen wollen. Geschichte,
Natur, Menschenleben, Poesie und Kunst sind in
diesen farbigen Bildern durch eine Fülle reizvoller
Darstellungen vertreten.
31*
lininneu iui iiniereu Hofe von Schloss Pelesch.
DAS RUMÄNISCHE KÖNIGSSCHLOSS PELESCH.
245
Die Haupträume des Schlosses sind auf zwei
Stockwerke verteilt, von denen das untere die Ge¬
mächer des Königs, das obere die der Königin ent¬
hält. Darüber erhebt sich noch ein gleichfalls zu
Zimmern ausgehautes Dachgeschoss. Auf diese W eise
ist hinlänglich Raum geschaffen, nicht nur für den
Hof und die Hofhaltung, sondern auch für zahl¬
reiche Gäste. Das Ganze wird hoch überragt von
einem Hauptturm, der die Fahne des Hauses zu
tragen hat. — Die Hauptmasse der Gemächer lagert
sich um einen quadratischen Hof, an den gegen
Südosten eine mit offenen Arkaden umgebene, schön
mit Grün iimwachsene Terrasse angebaut ist. Den
prächtigen Ausblick von dieser Terrasse auf das
Waldgebiet und die Berge stellt ein Holzschnitt des
Buches dar. Gegen Süden öffnet sich ein zweiter
Hof, der bei festlichen Gelegenheiten die Wagen
der Gäste aufzunehmen hat. Der große Festsaal
uud der Speisesaal sind uach diesem Hof hinaus
gelegen. Der Zugang von dem Hof in das Innere
führt uns zunächst in eine reich mit farbigem Mar¬
mor getäfelte Säulenhalle und sodann in den mit
den Ahnenbildern des Königshauses geschmückten
Treppenraum. Die Bilder sind nach alten Stichen
von den Wiener Malern Franz Matsch uud Gustav
Klimt ausgeführt. Auch der Korridor, den wir von
dem Treppenraum aus betreten, und der sich um
alle vier Seiten des inneren Hofes herumzieht, trägt
an den Wänden reichen Bilderschmuck, darunter
einige treffliche Werke altspanischer, italienischer
und niederländischer Meister.
Das Gleiche gilt von dem Arbeits- und Em¬
pfangszimmer des Königs, dem im Stile vollkom¬
mensten unter den Gemächern des ersten Geschosses.
Von den Gemälden, welche dieses Gemach zieren,
hebt Falke außer mehreren Venetianern und einer
Madonna von Botticelli auch den Kopf eines alten
Mannes von Remhrandt hervor. — In demselben Ge¬
schoss verdient ferner das hübsche kleine Schloss¬
theater noch besondere Erwähnung. Den dekora¬
tiven Wandschmuck desselben besorgten gleichfalls
die beiden vorhin genannten Wiener Maler.
Nicht minder kostbar und reich an Werken
alter und moderner Kunst sind die Gemächer des
zweiten Geschosses, vornehmlich die Wohnzimmer
der Königin und die für fürstliche Gäste bestimm¬
ten Räume. Unter den hier befindlichen Gemälden
nennt Falke Werke von Bmjsdael, Ilohhema, den
beiden Teniers, Breugliel d. ä., van Dgck, Domenichino ,
Bemhrandt, David u. v. a. Herrlich durch seinen mit
dem feinsten Geschmack auserlesenen Schmuck wie
durch die Reize seiner Aussicht ist vor allem Carmen
Sylva’s Arbeitszimmer: ,Da ist ein großes Fenster
darin, dass man glaubt, es ist gar keines da und
die Tannen und der Rasen von der Bergwand wür¬
den direkt hineinspazieren,“ — so beschreibt es die
Königin selbst in einem ihrer „Märchen“.
Das rumänische Königsschloss war das erste
Residenzschloss, welches vollständig von innen und
außen mit elektrischer Beleuchtung versehen wurde
(1883 — 84). Inmitten der Waldeinsamkeit wirken
die Zauberkünste dieser Einrichtung mit verdoppelter
Gewalt. „Um so schöner“ — mit diesen Worten
des Textes wollen wir schließen • — „wenn das sil¬
berne Mondlicht sich hinzimesellt und über Berge
und Wald sich verbreitet. Das Schloss auf der
Bergwand mit seiner bunten, wechselvollen Gestal¬
tung, seinen Erkern und Türmen und vorspringen-
deu und zurücktrefenden Teilen, seinen verschieden
geformten, mit farbigem Glas geschlossenen Fenstern,
alles von außen und innen beleuchtet; hier farbiger
Glanz, dort tiefe schwarze Schatten, dort wieder
helles Licht, Brunnen, Bassins und Marmorsitze,
leuchtend, still und feierlich, ein dunkler Wald, auf
dessen Kuppen das silberne dämmernde Mondlicht
lagert, gewaltige Berge, die sich in den nächtlichen
Himmel verlieren, — das zauberhafteste Bild, das
Natur und Kunst in einer Sommernacht zusammen
erschaffen können.“ C. v. L.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Bildercyklus aus dem Leben des Walter von der
Vogelweide. Von Edmund Wörmlle von Adelsfried.
Innsbruck, C. Raucb’s Buchhandlung (Heinr. Schwick),
1893. Fol.
* Sechs von kurzem Text begleitete Lichtdrucktafeln
nach Zeichnungen, welche die Hauptmomente aus dem Leben
des edlen deutschen Minnesängers, etwa in der Weise Jul.
Schnorr’s, zur Veranschaulichung bringen. Wir sehen Walter
am sangesfrohen Hofe der Babenberger in Wien, wo er dem
Durchzug des Kreuzheeres unter Friedrich Barbarossa zu¬
schaute, begleiten ihn dann ins Thüringer Land, wo er
beim Sängerkrieg auf der Wartburg den Sieg gewann, und
finden ihn endlich, nachdem er das Vaterhaus noch einmal
begrüßt, am Gestade des heiligen Landes, den geweihten
Boden in Jubeltönen feiernd. Die stilvoll gezeichneten
Kompositionen erhalten durch das glückliche Mitwirken
der Landschaft einen besonderen Reiz. Als Heimat Walter’s
ist, der jetzt herrschenden Anschauung entsprechend, der
Vogelweider Hof in Tirol angenommen. In jüngster Zeit
wurden für das deutsche Böhmerland, als Geburtsland des
Dichters, bekanntlich wieder gute Gründe vorgebracht.
l>ie jüngste Vcr'üffc7itlic]iimg der Chalkorjraphischen
(Jesellschnft. Die Internationale Chalkographische Gesell¬
schaft hat als Jahrespublikation für 1893 — 94, wie den
Lesern bereits gemeldet wurde, das vollständige Werk
des ,. Meisters des Amsterdamer Kabinetts“ herausgegeben
und damit einen ganz besonders glücklichen Gedanken ver¬
wirklicht. War es von der Begründung an die Absicht
der Gesellschaft, Kupferstiche des 15. Jahrhunderts von her¬
vorragendem Reiz und kunsthistorischer Wichtigkeit zu re-
produ/.iren, mit Bevorzugung der nur in wenigen oder gar
nur in einem Abdrucke auf uns gekommenen Blätter, so
gifbt es keinen zweiten Stecher, dessen gesamtes „oeuvre“
ebensowohl in ihre Veröffentlichungen hineinpassen würde.
Der ,, geniale Unbekannte“ — so nannte R. Vischer den
Stecher — steht an künstlerischem Vermögen keinem Zeit¬
genossen nach; und, was die Seltenheit seiner Arbeiten an¬
geht, , so stehen wir vor der wohl beispiellosen Thatsache, dass
von seinen 89 bekannten Stichen mehr als GO nur in einem
Abdrucke vorliegen. Der Meister ward nach dem Orte ge¬
tauft, wo sich seine Schöpfungen fast vollzählig beisammen
fanden. Dass er in Holland gearbeitet hätte, glaubten die
Forscher, die zuerst auf ihn aufmerksam wurden. Heute
glaubt man das nicht mehr. Selbst wenn die Art dieses
freien und kühnen Meisters nicht so deutlich oberdeutsches
Gepräge hätte, würde das von Harzen ihm mit Recht zuge¬
teilte „Hausbuch“ in Wolfegg als gewichtiges Argument für
Oberdeutschland in die Wage fallen, da eben dieses Buch
für die südschwäbische Familie Goldast geschaffen wurde. Das
Datum 1480, nach dem Duchesne den Stecher benannte, fin¬
det sich auf keiner Arbeit seiner Hand. Doch fixirt diese
Zahl die Zeit seiner Thätigkeit leidlich richtig, wie der Stil
seiner Zeichnung und die Trachten seiner Figuren darthun.
Der Meister des Amsterdamer Kabinetts erscheint im Gegen¬
sätze zu den meisten seiner Genossen als eine runde Indi¬
vidualität. Er war wohl Maler und nicht Goldschmied.
Für den Forscher ist es sehr verlockend, nach dem Namen,
vielleicht auch nach Gemälden des Anonymus die Angel
auszuwerfen. Die Publikation der Chalkographischen Ge¬
sellschaft wird durch orientirende Worte von Max Lehrs
eingeführt, die das Ergebnis der bisherigen Forschungen
über den Anonymus mitteilen, sich aber mit Recht eigener
Hypothesen enthalten. Versuche, die Persönlichkeit zu
eruiren, sind in Zeitschriften am Platze, nicht aber in einer
monumentalen Veröffentlichung, die möglichst rein bleiben
soll von allem, was noch zur Diskussion steht. Dem refe-
rirenden und charakterisirenden Text folgt ein ebenfalls von
Max Lehrs verfasstes Verzeichnis, das mit mustergültiger
Genauigkeit alle bekannten Abdrücke der Stiche erwähnt.
Hier sind auch die verlorenen Originale aufgeführt, von
denen wir durch Kopieen Kenntnis haben. Auf dem Titel¬
blatt des Werkes ist eine Zeichnung des Meisters aus dem
Berliner Kupferstichkabinett reproduzirt, die einzige bekannte
Zeichnung, von den Blättern des „Hausbuches“ abgesehen.
Die Nachbildungen der 89 Kupferstiche, Heliogramme der
Reichsdruckerei von bekannter Vortrefflichkeit, sind auf
starke üntersatzkartons leicht aufgeklebt, eine Montirung,
die ihren Eindruck dem von Originalen noch nähert. Im
Gegensatz zu den früheren Jahrespublikationen der Gesell¬
schaft sind die Blätter diesmal in Buchform zusammenge¬
bunden. Den kleinen Nachteil des schwereren Vergleichens,
der daraus erwächst, nimmt man gern in Kauf gegen die
größere Handlichkeit des in englische Leinwand gekleideten
Bandes, der ein überaus vornehmes Ansehen hat. Von
Schongauer haben wir Gemälde, unseren Anonymus kennen
wir bisher nur als Stecher und Zeichner, und doch ist der
Meister des Amsterdamer Kabinetts mehr Maler als Martin
Schongauer, der, verglichen mit ihm, wie ein Goldschmied
das Metall bearbeitet, wie ein Plastiker komponirt. Wie
unser Meister ganz unabhängig von der im 15. Jahrhundert
KLEINE MITTEILUNGEN.
247
üblichen Grabsticheltechnik das Metall in ungleichmäßiger,
regelloser, schulfremder Führung des Stichels oder der Nadel
ritzt, so sind auch seine Kompositionsweise, seine Raumauf¬
fassung und seine Formbehandlung frei von schematischer
Gebundenheit. Er zeichnet nicht immer richtig, stets aber
nach eigener Beobachtung, anscheinend mit Leichtigkeit und
frischer Lust, zuweilen überraschend glücklich in der Wieder¬
gabe des bewegten Lebens. Manches, an dem die Zeitgenossen
achtlos Vorbeigehen, ist ihm der Darstellung wert, manches,
was die Kunst des 15. Jahrhunderts ängstlich in die Ränder
der Werke gleichsam einschmuggelt, stellt er keck in den
Mittelpunkt. In anspruchsvollen Maßen zeichnet er eine
Bulldogge, die sich mit einer Hinterpfote am Ohre kratzt.
Er besitzt eine bei den Stechern des 15. Jahrhunderts nicht
eben häufige Eigenschaft: Humor. Vielleicht haben wir
die Jugendarbeiten eines früh gestorbenen Künstlers vor uns,
der das 16. Jahrhundert nicht mehr erlebte, dem er seinem
W esen nach bein ahe schon angehörte. Die Chalkographische G e-
sellschaft hat sich mit dieser vollständigen und vollkommenen
Publikation zu Dank verpflichtet nicht nur die kunsthisto¬
rische Forschung, sondern alle verständigen Kunstfreunde.
Renouvier fand den Meister mit Recht ,,en possession d'une
maniere qu’on peut decidement goüter sans etre archeologue“.
f—
* Von dem „Führer durch die k. Sammlungen xu
Dresden'" ist eine zweite Auflage erschienen, welche außer
der Übersicht der Kunstgegenstände auch geschichtliche und
technische Bemerkungen über die einzelnen Sammlungen
enthält und sich dadurch zur Einführung in das Studium
derselben besonders empfiehlt. Unvollständig ist bisher nur
noch der die Skulpturensammlung betreffende Teil, da die
neue Aufstellung derselben im Albertinum erst für die Ab¬
teilung der Gypsabgüsse beendigt ist, während an der Neu¬
ordnung der Originale (im 1. Stockwerk) noch gearbeitet
wird.
Joße van Cleve und der Meister vom Tode der Maria.
Im Mai -Hefte der „Zeitschrift für bildende Kunst“, S. 187,
versucht Herr Firmenich -Richartz den Nachweis zu liefern,
dass hinter diesem vielgesuchten Meister endgültig kein an¬
derer verborgen sei, als der Maler Joße van Cleve der
ältere, der im Jahre 1511 in die Antwerpener Gilde trat.
Es sei mir, als dem Urheber der Ansicht, dass der Meister
vom Tode der Maria mit Jan Schorel identisch sei (Zeit¬
schrift 1883, S. 46), gestattet, zu dem Aufsatze des Herrn
Dr. Firmenich - Richartz einige Bemerkungen zu machen:
1) Es existirt überhaupt kein beglaubigtes oder vermutetes
Bild dieses älteren Joße van Cleve, welches zu einem Ver¬
gleiche mit den Werken des Meisters vom Tode der Maria
herangezogen werden könnte. 2) Nach van den Branden’s
Ermittelung wäre der Familienname dieses Malers ursprüng¬
lich van der Beke gewesen, und da man auf einem, dem
Meister vom Tode der Maria zugewiesenen Altarflügel zu
Danzig ein scheinbar aus den Buchstaben J. V. A. B. beste¬
hendes Monogramm fand, welches einer undeutlichen Be¬
zeichnung auf dem Fenster des kleineren Todes der Maria
zu Köln ähnlich ist, so glaubt man damit das Monogramm
des Meisters vom Tode der Maria gefunden, und den Maler
in dem älteren Joße van Cleve alias van der Beke ermittelt
zu haben. Abgesehen davon, dass dieses Monogramm jede
beliebige Deutung (bei wohlwollender Anschauung sogar
die Leseart J. V. A. S.) zulässt, widerstreitet doch die Auf¬
lösung desselben allen Gepflogenheiten der Monogrammirung
älterer Meister und stellen sich der Zuweisung desselben
an Joße van Cleve noch ganz besondere Schwierigkeiten
entgegen. Der Umstand, dass dieser Maler bereits 1511
und auch fernerhin wohl zehnmal nur unter dem Namen
Joße van Cleve in den Liggeren erscheint und niemals Joße
van der Beke alias Cleve genannt wird, gestattet gar nicht
die Vermutung, dass er noch im Jahre 1515 oder später
J. V. A. B. signirt habe, denn er hieß Joße van Cleve, nicht
Joße van der Beke; seine Söhne hießen alle van Cleve,
nicht van der Beke, und wenn ich auch annehmen will,
dass die Konjunktur van den Branden’s ihre Richtigkeit
habe, so wäre dieser Maler das bisher unerhörte Beispiel
eines Künstlers, der gleich fürstlichen Personen, die — in-
cognito — unter anderen Namen auf Reisen gehen, unter-
anderem Namen, somit auch incognito dreißig Jahre lang
Mitglied der Antwerpener Gilde gewesen wäre, seine Werke
aber inzwischen mit seinem Familiennamen signir-t hätte
3) Van Mander unterscheidet genau zwischen diesem älteren
Joße van Cleve und dem jüngeren, sogenannten Sötte Cleve
oder Cleve dem Narren, und sagt ausdrücklich, dass dieser
ältere Maler Madonnen, von Engeln umgeben, gemalt habe, und
nennt hiermit Darstellungen, die auf eine ideale Auffassung der
Maria hindeuten, die, wenn sie auch für die Kunst jener Tage
allgemeine Giltigkeit haben, doch gewiss nicht den Gesamt¬
charakter der Werke des Meisters vom Tode der Maria be¬
zeichnen. In dem Vorstellungskreise dieses durch und durch
realistischen Malers bilden derartige Kompositionen die sel¬
tene Ausnahme gegenüber den realistischen Darstellungen
der sterbenden Maria, deren Krankenstube einer der Apostel
vorsichtig ausräuchert, und die mit der peinlichsten Sorgfalt
eines modernsten Naturalisten gemalt ist; gegenüber den
Madonnen, die als schlicht bürgerliche Mütter dargestellt
werden, die, um das Kind zu entwöhnen, ihre Brust mit
Wermut aus dem nebenstehenden Glase oder mit dem Safte
der angeschnittenen Citrone befeuchtet haben; und endlich
gegenüber den zahlreichen Porträts, die sich durch ihre
schmucklose Naturwahrheit auszeichnen. Der Meister vom
Tode der Maria hat der Frömmigkeit und der Marieenver-
ehrung seiner Zeit auch seinen Zoll gezahlt, hat auch zu¬
weilen einen Engel gemalt, aber er ist ein Realist und kein
Maler von Heiligenbildern und Andachtsmadonnen, welchen
van Mander mit der Charakteristik seines Joße van Cleve
offenbar im Auge hat. 4) Die Vermutung des Herrn Dr.
Firmenich -Richartz, dass Joße van Cleve ein Schüler des
Jan Joest van Calcar gewesen, da Cleve und Calcar nahe
beieinander liegen, und dass er sogar 1508 bei der Ent¬
hüllung des Calcarer Altarbildes noch zugegen gewesen
und die Eindrücke dieses Werkes seines Lehrers und Meis¬
ters so getreu bewahrt habe, dass diese noch in seinen um
zehn Jahre später gemalten Werken zur Kenntnis der Kunst¬
forscher des 19. Jahrhunderts gelangen, ist meiner Ansicht
nach eine These, die keiner Wiederlegung bedarf. Der
Meister vom Tode der Maria muss das Altarbild von Calcar
unmittelbar zuvor gesehen haben, ehe er jene künstlerischen
Eindrücke in seinen eigenen Werken verarbeitete, nicht
aber zehn Jahre vorher, denn bei jedem receptionsfähigen
Talente verwischt, ein Eindruck den anderen, und zehn
Jahre lang trägt sich nur ein Stümper, aber kein die Natur
und die Werke anderer studirender Meister mit alten Re-
miniscenzen. 5) Was die zahlreichen, dem Meister vom Tode
der Maria zugeschriebenen Bilder betrifft, welche angeblich
nach dem Jahre 1521 entstanden oder gar datirt sein sollen,
so habe ich mich hierüber bereits erschöpfend ausgesprochen
(Kunstchronik 1883, S. 112) und kann nur wiederholen, dass
all diese Zuschreibungen und Datirungen nur in der Phan¬
tasie desjenigen Beschauers ihre Berechtigung haben, welcher
beweisen will, was aus solchen Dichtungen nicht zu be¬
weisen ist. Die Grablegung des Städel’schen Instituts von
248
KLEINE MITTEILUNGEN.
1524 rührt von einem talentlosen Manieristen her, nicht
aber von dem Meister vom Tode der Maria. Für die An¬
betung der Könige der Dresdener Galerie ist überhaupt kein
Entstehungsjahr beizubringen, ebenso wenig für das Bild
in Neapel und andere mehr. Die beiden Porträts zu Kassel
erklärten andere Autoritäten für Arbeiten des de Bruyn,
und was endlich das von Herrn Firmenich -Richartz mit so
viel Sicherheit ins Trefl'en geführte Porträt des Kardinals
Albrecht von Brandenburg, recte des Kardinals Bernardus
Celsius, der Corsini-Galerie betriät, welches der Meister vom
Tode der Maria gar im Jahre 1530 gemalt haben soll, so
bedauere ich, Herrn Dr. Firmenich-Richartz darauf aufmerk¬
sam machen zu müssen, dass dieses Bild eine Kopie nach
einem in dem kunsthistorischen Museum in Wien befind¬
lichen Porträt (Nr. 996) ist, welches Herr Dr. Firmenich-
Richartz gewiss nicht für eine Arbeit des Meisters vom Tode
der Maria gehalten haben würde, wenn er von seiner Exi¬
stenz Kenntnis gehabt hätte. G) Da mehrere dieser angeb¬
lich späteren Bilder des Meisters vom Tode der Maria aus
italienischen Kirchen herrühren, muss der Meister, resp. Joße
van Cleve, auch mehrere Reisen nach Italien gemacht haben,
und Herr Dr. Firmenich-Richartz lässt ihn zu diesem Zwecke
auch wenigstens zwei solche Reisen, 1523 und 1530, unter¬
nehmen. Dem gegenüber aber ist zu bemerken, dass nicht
der leiseste Umstand uns vermuten lässt, dass Joße van
Cleve in Italien war; dass er seit 1511 in der Antwerpener
Gilde und in den Jahren 1516, 1519, 1520, 1523, 1525, 1528,
1535, 1536 und 1540 in Antwerpen nachgewiesen ist; dass
er zweimal, das zweitemal im Jahre 1528, heiratete; und
dass er demnach ein sesshafter Mann gewesen zu sein scheint.
Ganz unwahrscheinlich aber ist es, dass er noch unmittel¬
bar nach seiner zweiten Ehe im Jahre 1528 die damals be¬
schwerliche Reise noch einmal gemacht haben soll. Diese
Italienfahrten Joße’s van Cleve sind durch nichts zu be¬
weisen, ebenso wenig wie die Annahme, dass die Familie
Ilackenay den Maler 1515 nach Köln berufen habe, um dort
den kleinen Tod der Maria zu malen. 7) Was aber der
ganzen Identitätshypothese die Krone aufsetzt, ist, dass Herr
Dr. Firmenich-Richartz die Stelle des Guicciardini (1567)
ernst nimmt, wo derselbe erzählt, dass ein Gios (Joße ist
.lodocus) di Cleves, cittadino d’Anversa, ein ausgezeichneter
l’orträtmaler gewesen sei und vom Könige Franz I. nach
Frankreich berufen woi’den wäre, wo er den König, die
Königin und viele Herren und Damen des Hofes gemalt
habe. Davon hätte doch van Mander auch noch etwas
wissen müssen; aber er hütet sich wohl, uns eine solche
|)lumpe Lüge aufzufischen. Auch in Frankreich müsste man
davon etwas wissen, und ein Maler, der an den Hof des Königs
Franz I. berufen wurde, dort den König und so viele Per¬
sonen seines Hofstaates porträtirt hat, ist doch keine Person,
die aus der Geschichte verschwindet, ohne nicht wenigstens
eine Spur zurückzulassen. Guicciardini hat aber etwas ge¬
hört von einem Antwerpener Maler van Cleve, der Porträts
maltf!, und von einem anderen Niederländer Maler Clove am
Hofe Franz’ 1., der auch Porträts malte, und vermischt den
.Sotte-Cleve mit den Malern .Imn Clowt oder Claret, die in
Brüssel geboren, am Hofe Franz’ 1. und Franz’ 11. peintres
du roi gewesen und den König und zahlreiche Vornehme
seines Hofes wirklich gemalt haben. Clovet oder Clouet
hieß der Mann, dessen Name für den Italiener Guicciardini
wie Cleve lauten mochte, und diesem ist dieses (^ui pro
quo zu verzeihen; einem Kunstgelehrten des 19. Jahrhun¬
derts aber darf so etwas nicht passiren. Kurz gesagt: die
ganze Hypothese ist unhaltbar, weil sie lediglich auf irrigen
Voraussetzungen beruht und weil der Meister vom Tode der
Maria überhaupt kein Vläme und kein Antwerpener Maler,
sondern ein Holländer, ein Maler der Harlemer und Amster¬
damer Schule ist, ein Schüler des Jacob Cornelissz, vielleicht
sogar wirklich im Geiste ein Schüler des Jan Joest, der in
Harlem lebte, als Jan Schoreel seine Lehrjahre bei Cornelis
Willemsz daselbst durchmachte. ALFRED v. WURZBACH.
* Zu der Radirwig von Fr. Völhny im April -Hefte
der Zeitschrift sind wir heute in der Lage, noch folgende
biographische Daten nachzutragen: Fritz Völlmy wurde am
20. März 1863 als Sohn eines Kaufmanns in Basel geboren.
Nachdem er das Gymnasium seiner Vaterstadt besucht, be¬
gann er seine künstlerische Laufbahn auf Veranlassung seines
Vetters Prof. Ferdinand Keller an der Kunstschule in Karls¬
ruhe. Am meisten zogen ihn dort bald die Arbeiten von
Gustav Sch'önleber an, er wurde dessen Schüler, und zwar
einer der besten derselben. Im Jahre 1886 begleitete Völlmy
seinen Lehrer auf einer Studienreise nach Nervi bei Genua
und siedelte unmittelbar darauf nach München über. Dort
entstand, außer anderen Bildern, die größere Komposition:
., Strand bei Nervi“ (im Baseler Privatbesitz) und eine An¬
zahl von Landschaften aus der Umgebung Münchens. Viel
Anregung und Förderung erfuhr Völlmy durch den regen
Verkehr mit seinen Freunden Ludwig Dill und Wilhelm
Volz. Mit ersterem bereiste er die belgische Küste und das
Resultat dieser Reise waren u. a. die Bilder: „Dünen bei
Ostende“ (1889, Jahresausstellung in München) und „Bel¬
gisches Doif“ (Weltausstellung in Paris). Das Interesse für
die Radirkunst wurde in dem Künstler durch Stauffer-Bern
und Meyer -Basel erweckt; doch konnte er dasselbe bisher
nur wenig bethätigen. Der von uns mitgeteilten Cypressen-
radirung liegt eine Aquarellstudie aus Südtirol zu Grunde.
Völlmy hat gegenwärtig seinen Wohnsitz in Basel, unter¬
hält jedoch stets regen Verkehr mit München. Er war einer
der Gründer der dortigen „Sezession“.
BERICHTIGUNG. (Verspätet.)
In meiner Abhandlung „Der Meister des Todes Mariä,
sein Name und seine Herkunft“ (Zeitschrift für bild. Kunst
V, 8) sind die Monogramme des Künstlers an unrichtiger
Stelle in den Text eingesetzt worden. Die perspektivisch
verkürzte Signatur des Danziger Altarwerkes, welche S. 191
erste Spalte besprochen wird, ist
das Monogramm auf
der Kölner Darstellung des Todes Mariä dagegen
. In
der ersteren Bezeichnung fehlt demnach der Buchstabe 1,
doch ist b deutlicher erkennbar.
Bonn, 25. Mai 1894. EDUARD FIRMENICH-RICHARTZ.
NOTIZ.
Die beifolgende Lichtdrucktafel: Reiterstatuette Karl’s
des Großen, gehört zu dem Aufsatze von G. Wolfram in
Heft 7, S. 153 u. ff.
Herausgeber: Carl von lAitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Keiterstatuette Karl’s des Großen.
GOETHE’S BILDNISSE
UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
VON E. LEHMANN.
ENN in den folgenden Zeilen
die Gestalt des großen deut¬
schen Dichters mehr in den
Vordergrund gerückt er¬
scheint als die ihn ahbil-
denden Künstler, wenn hier
mehr auf das Dargestellte
als auf die Kunst und ihre
Technik Bezug genommen wird, so kann uns doch
nicht der Vorwurf treffen, dass wir etwas Fremdes
in diese Blätter trügen. Denn wo Goethe ist, ist auch
die Kunst. Sie begleitet ihn durch sein ganzes
Leben. Schon als Knabe versenkte er sich in die
vom Vater gesammelten Bilder und sog daraus den
ersten Honigseim für seine künst¬
lerischen Anwandlungen. Er sollte
sie nie wieder los werden, ja lange
Zeit hindurch glaubte er, der schon
Gefeierte, er sei von der Natur
mehr zum Maler und Bildhauer als
zum Dichter berufen.
Als Adam Friedrich Oeser’s
Lehre und künstlerische Anregun¬
gen Goethe’s Seele erfüllten, griff
dieser mächtig in die Kunstbewe¬
gung ein. Und wer anders als
Goethe hat uns Dürer wieder er¬
schlossen? Er war es, der vor
nunmehr hundert Jahren die Dürer-
litteratur ins Leben rief und der
an Lavater die Worte richtete: „Ich
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H.
„Mehr Inhalt, weniger Kunst.“
SHAKESPEARE.
verehre täglich mehr die mit Silber und Gold nicht
zu bezahlende Arbeit des Menschen, der, wenn man
ihn recht im Innern erkennen lernt, an Wahrheit,
Erhabenheit und selbst an Grazie nur die ersten Ita¬
liener zu seines Gleichen hat.“
Es scheint daher nur ein Zeichen des Dankes,
den die Kunst dem Dichter zollte, wenn sie sich
bemühte, sein Bildnis zur Freude der Mit- und Nach¬
welt in allen Phasen seines Lebens festzuhalten.
Ehe wir die wichtigsten Bildnisse aus dem
Jugend- und mittleren Mannesalter des Dichters einer
kurzen Betrachtung unterziehen, sei auf einen Um¬
stand hingewiesen, der leicht von schlimmerer Be¬
deutung werden kann, als die Überfülle des Stoffes.
Es ist die Befangenheit oder bes¬
ser die Voreingenommenheit, unter
deren Einflüsse wir beim Anblicke
der zeitgenössischen, oft technisch
unvollkommenen Bildnisse eines
Mannes stehen, der nicht mehr den
Lebenden angehört und doch geis¬
tig in uns wirkt und unser Denken
und Empfinden mehr oder weniger
beherrscht. Jeder von uns hat sich,
bewusst oder unbewusst, ein Bild
geformt von ihm, der den Ton¬
wechsel unserer Sprache, des Werk¬
zeuges unseres Geistes und Gemütes,
so meisterlich zu handhaben ver¬
steht, dass er uns nie im Stiche lässt,
wenn wir zu ihm kommen. Aber
32
250
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
dieses Bild ist nicht allein unter dem Eindrücke
seiner Werke in uns entstanden, sondern vor allem
durch den Einfluss der bekannteren Bildnisse, die
ihn in späterem Alter darstellen: die wohlbekann¬
ten Büsten Trippel’s und Rauch’s, die Gemälde
Kolhe’s und Stieler’s, sowie die Schar der Nach¬
bildner Herzig und Melcher, Jäger, Fr. Pecht und
Woldemar Friedrich, im Verein mit all den sü߬
lichen Erzeugnissen, wie sie, dem Tagesgeschmacke
liuldigeud, in sogenannten Prachtausgaben geboten
sich ein Brief aus dem Jahre 1822, in dem ein
Sechzehnjähriger das Glück schildert, den Dichter
im Nachbar garten ungestört beobachten zu können.
Der junge Verehrer schreibt u. a.: „Sie können ver¬
sichert sein, in Goethe’s ganzem Wesen zeigt sich
seine Größe. Er ist noch so rüstig wie ein Mann
von vierzig Jahren. Sein majestätischer Gang, die
gerade und aufrechtstehende Stirn, die herrliche
Form seines Kopfes, das feurige Auge, die gebogene
Nase, alles das ruft: Faust, Margarethe, Götz, Iphi-
Fig. 2. Goethe. Büste von Fr. Tieck (1820).
werden, — sie alle haben Anteil an dem sich in
uns formenden Dichterhilde. Unwillkürlich bleibt
unser Blick auf ihnen haften: milssen sie uns doch
den Aiddick des wirklichen Menschen ersetzen,
sollen sie doch das Verlangen stillen, ihn uns
wahrhaftig und getreu vorzu.stellen, mögen wir
nun den jugendlichen Dichter nach Italien begleiten
und in seinem Schaffen belauschen, oder bei andachts¬
vollem Verweilen in den Räumen seines Hauses die
Gestalt des Altmeisters an uns vorüberschreiten lassen.
In dem Nachlasse von Johannes Falk findet
genie, Tasso und, was weiß ich, was alles sonst
noch mehr? Nie habe ich in diesem vorgerückten
Alter einen so rüstig schönen Mann gesehen. Ich
sehe ihn jetzt, wenn es schönes Wetter ist, täglich
in seinem Garten, und das gewährt mir ebenso viel
Unterhaltung, als andere darin finden, wenn sie
Büsten betrachten und schöne Bilder und Kupfer¬
stiche ansehen.“
Wird nun die Kunst den Dichter auch uns so
nahe bringen? Und wenn nicht, welche Grenzen
sind ihr hier gezogen? Abgesehen davon, dass das
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
251
unbewegliche Bild den Lebenden in der Veränder¬
lichkeit seiner Züge, deren leiseste Bewegung den
Wechsel innerer Empfindungen wiederspiegelt, nie
vollkommen darzustellen vermag, — wie die Photo¬
graphie uns immer von neuem bestätigt — erschwert
die persönliche Auffassung des Künstlers die voll¬
ständig genaue Wiedergabe des Darzustellenden.
Wenn zwei dasselbe thun, ist es nicht dasselbe.
Einen schlagenden Beweis für das alte Wort liefer¬
ten die beiden Künstler Bauch und Tieck (Fig. 1 u. 2),
als sie in Jena am
16. August 1820
die Büsten des
Dichters gleich¬
zeitig modellirten.
Während Rauch’s
Büste, deren herr¬
liches Original in
Marmor sich im
Leipziger Museum
befindet, nicht nur
die kühne und si¬
chere Hand ihres
Schöpfers, sondern
auch , seiner ver¬
wandten N atur ent¬
sprechend, das
Thatkräftige und
Herrschergewalti¬
ge im Charakter
des Dichters er¬
kennen lässt, bringt
das W erk von
Tieck, dem Bruder
des Romantikers,
die andere Seite des
Goethe’schen We¬
sens, die sinnende
Beschaulichkeit zu
überraschend tref¬
fendem Ausdruck. Beide ergänzen einander. Die
Tieck’sche Büste hat unverdientermaßen keine grö¬
ßere Verbreitung gefunden; jedenfalls sollte sie
aber in keinem Museum neben der Rauch’schen
fehlen. Zeitgenossen, wie Zelter und die Verwan¬
dten Goethe’s selbst, erklärten die Rauch’sche Büste
neben der Trippel’schen für die beste Wiedergabe
des Lebenden. Johann Heinrich Meyer, wie später
auch Zarncke, bemerkt indes in den Gesichtszügen
etwas Gespanntes. Dieser Eindruck schwindet aber,
sobald man die Büste nicht aus zu großer Nähe
betrachtet und dabei im Auge behält, dass sich, wie
im Ab/ic’schen Bilde von 1826 (Fig. 3), Kopf und
Hals nach rechts wenden, wodurch das Werk
an Leben gewinnt und, was scheinbar nebensäch¬
lich ist, die linke Seite des Kopfes in den Vor¬
dergrund gerückt wird. Goethe’s Gesicht war nicht
vollkommen symmetrisch gebaut, was jedoch die
natürliche Anmut nur wenig beeinträchtigte, im Alter
aber mehr als in jüngeren Jahren hervortrat; die
linke Gesichtshälfte war merklich länger als die
rechte, und durch
jene Wendung des
Kopfes erscheint
daher die entfern¬
tere rechte Seite
wie in natürlicher
Verkürzung. Aus
ähnlichem Anlass
ließ Raffael den
geistvollen Inghi-
rami-Fedra mit
entsprechender
Kopfwendung den
Blick seitlich nach
oben richten, um
das Schielen des
Dargestellten mög¬
lichst zu verdecken
und dabei doch
die Porträtähnlich¬
keit nicht zu schä¬
digen. — Wenn
nun schon beim
ersten Vergleiche
dieser beiden
gleichzeitig ent¬
standenen Büsten
— Zarncke nennt
sie deshalb Atem-
pobüsten — das
Ange forschend von der einen zur anderen schweift
und von der Verschiedenheit des Eindruckes über¬
rascht und fragend blickt, so darf es Niemand
Wunder nehmen, wenn die erste Empfindung, wel¬
che die in verschiedenen Zeiten und unter Um¬
ständen hervorgebrachten Bildnisse wachrufen, —
Enttäuschung ist, selbst wenn wir von den wirklich
misslungenen Erzeugnissen einer Charlotte von Bauer
oder des genialen Architekten Heideloff ganz absehen.
„»So soll Goethe ausgesehen haben? Unmöglich!“ hat
schon manche und mancher ausgerufen und sich mit
Fig. 1. Goethe. Büste von Chr. Rauch (1820).
32*
252
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZABNCKE’SCHE SAMMLUNG.
schlecht verhohlener Entrüstung abgewandt, um sich
nicht die Illusion, d. h. seine Wahnvorstellung zu
zerstören. Ihm geht es wie einem, der zum ersten¬
mal durch ein zusammengesetztes Mikroskop oder
durch ein astronomisches Fernrohr blickt und der
die kleine und große Welt sich so ganz anders vor-
gesteUt hatte. Wie dort, so will auch hier an unseren
Bildern das Sehen gelernt sein, ehe das Auge die
feinen Züge entdeckt, die uns nur die Natur, nicht
aber unsere Einbildungskraft zeigen kann; nur all¬
mählich treten die
sprechenden For¬
men schärfer zu
Tage und das Ge¬
samtbild gewinnt
an Vertiefung und
Schönheit: ein ähn¬
licher Prozess, wie
er sich in uns vor
den Bildnissen
Rembrandt’s oder
manchem Dürer’-
schen Bilde ab¬
spielt.
Freilich wird
das rasche Ver¬
ständnis auch da-
(lurch gehemmt,
dass sich hier ne¬
ben einer Künst¬
lerschar von der
verschiedensten
Begabung auch
eine Reihe von
Nichtzünftigen
einstellt, deren
Können mit der
gestel Uen Aufgabe
niclitiniEinklange
.steld. Während l’erner einige die Züge mit liebevoller
Genauigkeit ahzu.sclireiben versuchen, folgen andere,
und zwar die Begalderen unter ihnen, dem Zuge
der Zeit und bringen im Bewusstsein ihrer reiferen
Künstlerschaft den wahrgenommenen Ausdruck in
freierer Weise zur Geltung. Die Antike hatte da¬
mals mit Ausnahme einiger Zeichner alle in Fesseln
geschlagen. Rousseau, der leidenschaftliche Natu¬
ralist, entlehnte die erläuternden Beispiele für seinen
auf rein naturalistischer Grundlage errichteten Ge¬
sellschaftsbau aus der Antike; Diderot sprach sein
vernichtendes Urteil über Boucher nicht nur als Na¬
turenthusiast, sondern auch als warmherziger Ver¬
ehrer der Einfachheit antiker Kunst aus; Winckel-
mann’s „Gedanken über die Nachahmung der grie¬
chischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“
griffen unmittelbar in die Kunstübung ein, und
seine „Kunst des Altertums“ riss mit ihrer Begeiste¬
rung die Genießenden im Sturme mit sich fort, und
endlich hatte sich auch Goethe selbst in Lehre und
Praxis leider viel zu früh zu den Alten geschlagen.
Damit war aber eine trennende Schranke zwischen
dem Volke und
der Kunst aufge¬
richtet. Die Ge¬
schichte der Re¬
naissance zeigt,
dass die Künstler
der Antike nur
dann ihr Bestes
ablernen, wenn sie
bereits der Natur
nach heißem Be¬
mühen das For¬
mengeheimnis ah-
gelauscht haben
und ihr als erster
und hauptsächlich¬
ster Lehrmeisterin
gehorchen , wie
Raffael und Dürer
es verstanden. Be¬
lege aus unserer
Sammlung sind u.
a. das zweite Bild
der Caroline Bar-
dua, das erste Bild
Bury’s, das Tisch-
hein’sche Gemäl¬
de , die TrippeV-
sche Büste, das er¬
ste Medaillon von Melchior (Fig. 5), die Statuen
Goethes und Schillers von Ranch und die Statuen
von Thorwaldsen, sowie einige Bilder von Angelika
Kan ffmami, die halb Klassicismus, halb Rokoko atmen.
Auf Winckelmann, den Heiden, folgte Wacken¬
roder, der Schwärmer für das mittelalterliche Chri¬
stentum des Quattrocento, auf Carstens Overbeck,
Vogel und Veit, die Brüder von Sant’ Isidoro, auf
die Antike die Weltentfremdung. Beide Strömungen
führten zum „corriger la nature“, zur Idealisirung,
wie man es nannte. Durch beide ging der deutschen
Malerei der Zusammenhang mit dem Leben der Ge-
GOETHE’S B1L*DN1SSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG,
253
geuwart verloren. Während in den Werken Dürer’s,
seiner italienischen Zeitgenossen und der Nieder¬
länder ihr eigener Geist, ihre Gefühlsweise, ihre
Sitten und Gebärden und Trachten lebendig geblie¬
ben sind, ist es nicht anzunehmen, dass eine spätere
sie haben durch theatralische Stellungen, erlogene
Teints, bunte Kleider die Augen der Weiber ge¬
fangen. Männlicher Albrecht Dürer, den die Neu¬
linge ausspötteln, deine holzgeschnitzteste Gestalt ist
mir willkommener! Nur da, wo Vertraulichkeit und
Fig. 5. Goethe. Marmorrelief von J. P. Melchior im Schlosse zu Tiefurt (1775).
Zeit aus den Bildern eine richtige Vorstellung von
dem Leben des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahr¬
hunderts werde gewinnen können. „Wie sehr unsere
geschminkten Puppenmaler mir verhasst sind,“ rief
einst der junge Goethe in seinem Aufsatz über
deutsche Art und Kunst, „mag ich nicht deklamiren;
Bedürfnislosigkeit wohnen, wohnt alle Künstler¬
schaft, und wehe dem Künstler, der seine Hütte ver¬
lässt, um in den akademischen Prunkgebäuden sich
zu verflattern.“ Ja, wenn die deutschen Künstler
es ihren englischen Genossen Reynolds und Romney
gleich zu thun verstanden hätten, die die Porträts
254
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
in Allegorieen einsetzten und verschönerten, ohne
sie unähnlich erscheinen zu lassen ! So hat Romney
allein die berühmte Lady Hamilton als Magdalene,
Jeanne d’Arc, als Bacchantin und Odaliske gemalt,
und doch bleibt sie immer Lady Hamilton. Wer
wollte Ähnliches von den verschiedenen Bildnissen
Goethe’s von Maij, Raabe oder von Jagemann behaup¬
ten? Der einzige der damaligen Porträtmaler, der
ganz auf realem Boden stand, war Anton Oraff.
Seiner markigen Kunst verdanken wir die Bildnisse
von Lessing und Schiller, Bodmer und Gessner,
Wieland und Herder, Bürger und Geliert, Christian
Gottfried Körner und Lippert, Moses Mendelssohn
und Sulzer, kurz der langen Reihe von Dichtern
und Gelehrten, die die Zeit des neuerwachenden
deutschen Geisteslebens herheiriefen. Leider besitzen
wir von seiner Hand kein Bild von Goethe. Und
doch verstand es keiner wie Graff, die Köpfe so
klar und plastisch herauszuarbeiten, keiner besaß
eine solche Gewandtheit und Unfehlbarkeit der
Technik. Lange Zeit galt der vom Kupferstecher
Barth auf Grund des ÄiefeUschen Ölbildes umgear¬
beitete Stich, in dem namentlich die Kopf- und
Augenwendung abgeändert erscheint, als eine Kopie
nach einem Gemälde von Graff ; hier gebührt Zarncke
das Verdienst, die absichtliche Täuschung nachge¬
wiesen zu haben.
Es ist von geringem Belang für unsere Absicht,
ein richtiges Bild des Dichters in uns lebendig wer¬
den zu lassen, wenn wir durch Vergleichung der
besseren Bildnisse die ihnen gemeinschaftlichen phy-
siognomischen Grundzüge festzustellen suchen. Weil-
bach hat folgende herausgefunden: ein im Verhält¬
nis zum Antlitz kleiner Hinterkopf, eine mächtige
Stirn, ein großes musikalisches Ohr, große feurige,
tiefliegende Augen, mittelstarke, in schönen Bogen
gezeichnete Augenbrauen, ein ausgeprägt kräftiger
Übergang zu der wohlgebildeten Adlernase mit der
fleischigen, nicht ganz wenig herabhängenden Nasen¬
spitze, ein großer lieblicher Mund mit einer fast zu
kurzen Oberlippe, ein derbes fleischiges Kinn mit
kräftig ausgebildeten knochigen Kinnbacken. Das
lässt sich bis auf die Augen und den Hinterkopf
weit sicherer an den Gipsabgüssen nach dem Leben
ablesen, die Weißer 1807 und Schadow 1816 abge¬
formt haben. Auf Grund jener Zusammenstellung
könnte ebenso gut ein anderer Kopf, etwa der Napo-
leon’s I., herausgebildet werden. Für uns handelt
es sich um mehr: einmal um die wichtige Form des
Umrisses, um die genaue Modellirung, die nicht be¬
schrieben, sondern nur gezeichnet und gebildet wer-
Fig. 6. Porträt von Jens Juel (1779).
Fig. 7, Büste von M. G. Ki.auek im Schlosse zu Tiefurt
(1779).
GOETHE’S BILDNISSE UND DTE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
255
den kann, da.s andere Mal um den geistigen und
seelisch wahren, den ganzen Menschen erfassenden
Ausdruck, wie ihm etwa ein Lenbach oder Stautfer-
Bern auf den Grund zu kommen im stände ist. Im
übrigen tritft die Bezeichnung „Adlernase“ bei Goethe
nicht zu; die herahhängende Nasenspitze dürfte sich
nur auf den Darstellungen des alternden Dichters
finden, in denen des jugendlichen auf keinen Fall.
Unserem größten Dichter gegenüber sind wir
darauf angewiesen, die Originale meist mittelmäßiger
Künstler und noch öfter die späteren Nachbildungen
zu studiren und durch erneute Vergleichung die
wahre äußere Erscheinung des Jünglings und des
Mannes wieder in uns erstehen zu lassen. Die Mög¬
lichkeit dazu wurde uns neuerdings durch die Zarn-
cke’sche Sammlung geboten, die durch den kürz¬
lich erfolgten Ankauf der Stadt Leipzig erhalten
geblieben ist. Sie enthält allein an 1400 Bildnisse
Goethe’s, die chronologisch nach den Originalen an¬
geordnet sind, deren jedem sich sämtliche zugehörige
Nachbildungen und Abkömmlinge — oft 30 bis 40
— unmittelbar anschließen, einige so sehr ver¬
schieden von ihren Ahnen, dass nur der Kenner¬
blick Zarncke’s sie -ihrer Familie sicher zuweisen
konnte. Außer diesen Gemälden, Stichen und Schatten¬
rissen enthält die Sammlung die Abgüsse der Büsten,
Statuetten und Medaillons Goethe’s, ferner eine An¬
zahl Reliquien, das von Rauch genommene Maß
Goethe’s, einen Abguss seiner Hand u. a,, Dinge, die
wiederum ein Goetherhuseum für sich bilden. Die
Bildnisse Goethe’s sind indes nur der Grundstock
der Sammlung. An sie schließt sich eine schier end¬
lose Reihe von Bildern der Fürsten und Privatper¬
sonen, die mit Goethe in Beziehung gestanden
haben. Dazu kommen noch Pläne und Ansichten
der Städte, namentlich Leipzigs, und Gegenden, wo
der Dichter gelebt oder die er auf Reisen berührt hat.
Der große Wert der Sammlung, dieser Arbeit
eines ganzen Gelehrtenlebens, liegt mit in ihrer Voll¬
ständigkeit. Sie enthält nicht nur sämtliche Bild¬
nisse Goethe’s, die auf uns gekommen sind, auch
die Verwandten des Dichters sind vom Ururgroß-
vater Johann Wolfgang Textor bis zu Walter Goethe,
dem letzten Träger des Namens, vollständig bei¬
sammen. Die Bildnisse der Dichter und Gelehrten,
der Künstler und Schauspieler, die Goethe irgend¬
wie näher getreten waren oder in irgend einer Be¬
ziehung zu seinen Werken stehen, zählen nach Tau¬
senden; für sie war die alphabetische Anordnung
die einzig mögliche. So leuchtet zwischen dem Pro¬
pheten Basedow und dem lustigen Beranger das lieb-
Fig. 8. Porträt von J. A. Dakbes (1785).
Fig. 9. Porträt von J. H. LiPS (1791),
256
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
liehe Köpfchen Christiane Becker’s, Goethe’s Euphro-
syne, die Großmutter des jüngst verstorbenen Malers
Karl Werner, uns entgegen, und nach Hamann’s,
des Magus des Nordens, seltsamem Antlitze tauchen
die berückenden Züge der Lady Hamilton auf. Da
sind Bettina das Kind, Charlotte Buff in allen Lebens¬
altern — unter anderem die Silhouette von 1774 mit
den Worten Goethe’s: „Lotte, gute Nacht!“ — Car-
lyle und Chodowiecki, Eckermann und Eckhof,
Fichte, Geliert und Gottsched, Herder und Klopstock,
Minchen Herzlieb, Humboldt und Huyghens, Ange¬
lika Kauflfmann, Sophie und Maxe Laroche, Lavater,
Goethe’s letzte Liebe Ulrike von Levetzow, Adele,
Arthur und Johanna Schopenhauer, Lili Schönemann,
Frau von Stein, Marianne von Willemer u. s. f. bis
hinab zu Zampieri und Zelter. Der große Freund
Goethe’s aber, Schiller und seine Familie sind mit
den Verwandten Goethe’s in einer Mappe vereinigt.
Wie man leicht erkennt, stellt sich die Samm¬
lung — ein Goethelexikon in Bildern — nicht nur
in den Dienst der Goethephilologie, der Zarncke
sein abschließendes Werk über die Originalaufnah¬
men von Goethe’s Bildnis einreihte. Die Sammlung
besitzt auch einen hohen kultur- und kunstgeschicht¬
lichen Wert. Sie giebt uns eine vollständige Ge¬
schichte der Entwickelung der vervielfältigenden
Künste in der Zeit von 1760 bis 1840. So gewähren
schon allein die Nachbildungen des il/u?y’schen Ori¬
ginals einen fesselnden Einblick in den Fortschritt
jener Künste. Die Sammlung birgt neben Holz-
und Helldunkelschnitten auch Kupferstiche aller Art:
in Linienmanier, mit der kalten Nadel, in der punk-
tirten und gepnnzten Manier, Stiche in Bleistift-,
Kreide-, Tusch- und Aquatintamanier, sowie eine
Anzahl von Steindrucken, in denen sich die Ent¬
wickelung der Lithographie von ihren ersten An¬
fängen durcli Senefelder und Strixner bis zu den
Versuchen Weishaupt’s und Zahn’s, das Buntdruck-
verfahren des Kupferstichs auf die Lithographie zu
übertragen, wiederspiegelt.
Und nun zu den Bildnissen Goethe’s selber!
Stella’s Worte mögen uüs zu ihnen hinführen: „Ihr
sollt sein Forträt sehen! — Mich dünkt immer, die
Gestalt des Menschen ist der beste Text zu allem,
w{is sich über ilin empfinden und .sagen lässt! —
So! und doch nicht den tausendsten Teil, wie er
war. Diese Stirn, diese braunen Augen, diese schwar¬
zen Locken, dieser Ernst! — Aber ach, er hat nicht
ausdrücken können die Liehe, die Freundlichkeit,
wenn seine Seele sich ergoss!“ — Schon in Dich¬
tung und Wahrheit tritt uns der lebhafte Knabe
so deutlich vor Augen, dass wir nicht umhin können,
uns ein Bild von ihm zu machen. „Ich war über
eine gewisse Würde berufen,“ erzählt Goethe von
sich, und Bettina berichtet die Äußerung der Mutter,
sie habe ihm schon als Knaben vorgehalten, dass
er zu gravitätisch einherschritte. Im Knabenmär¬
chen sehen wir ihn, neunjährig, in einem Rock von
grünem Berkan mit goldenen Balletten auftreten.
„Ich war frisirt und gepudert, und die Locken
standen mir wie Flügelchen vom Kopfe.“
Aus seiner Knabenzeit erscheinen nur zwei
Bilder genügend beglaubigt: das Bild des Malers
Seekatz aus dem Jahre 1761, dessen Veröffentlichung
wir Heinemann verdanken (siehe Zeitschrift für bild.
Kunst, N. F. IH, S. 62), jetzt im Besitze Hermann
Grimm’s, des Schwiegersohnes der Bettina, und die
Silhouette der Sammlung EUscher in Budapest. Auf
jenem sind Goethe’s Eltern nebst Wolfgang und
Cornelie als Schäfer dargestellt, Frau Rat sitzend,
wie sie eben „in ganzer Pracht“ eine Geschichte
erzählt, der der neben ihr stehende Gatte andächtig
lauscht. Wolfgang steht mit der Schwester in der
Nähe, im Schatten einer Tempelruine, und bindet
ein rotes Band um den Hals eines Lämmchens.
Im Hintergründe spielen die verstorbenen vier Ge¬
schwister als Genien. In Elischer’s Schattenriss,
dessen Echtheit jetzt durch eine im Goethenational¬
museum befindliche Parallelsilhouette gesichert ist,
blickt das hübsche Gesicht des 13jährigen Knaben,
dessen sprechendes Profil durch die angedeuteten
Augenwimpern zierlich unterbrochen wird, frei vor
sich hin. Das Toupet, die Haartolle, ist mittelhoch,
der dicke Zopf ist mit einer Masche einfach ge¬
bunden. (Fig. 4.)
Aus seiner Studentenzeit in Leipzig, d. i. aus
den Jahren 1765 — 68, ist kein Bild auf uns gekommen.
Wohl aber ist das Bild von Ännchen, wie er sie
in Dichtung und Wahrheit nennt, Anne Cathar.
Schönkopf, wie auf ihrem Grabsteine auf dem alten
Johannesfriedhofe in Leipzig zu lesen ist, erhalten.
Es entspricht ganz der Goethe’schen Schilderung:
„Sie war jung, bei 19 Jahren, hübsch, munter, liebe¬
voll, dass sie wohl verdiente, in dem Schrein des
Herzens eine Zeit lang als eine kleine Heilige auf¬
gestellt zu werden.“ Woldemar Friedrich hat die
Tischgesellschaft beim alten Schönkopf neben dem
Sonnenweiser am Brühl, dort, wo jetzt das Haus
Nr. 37 steht, in einer Tuschzeichnung verewigt und
die Gestalten Käthehens, sowie des liederfrohen
Zachariä und des weit- und menschenkundigen Beh-
risch nach den überlieferten Bildnissen getreu kopirt.
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZAR,NCKE’SCHE SAMMLUNG.
257
Auch für Goethe hat der Zeichner ein zeitgenös¬
sisches Bild verwertet, das lange für eine Radirung
von der Hand Oeser’s galt, bis Zarncke den vollen
Beweis erbrachte, dass es nicht Goethe, sondern den
jungen Grafen Chr. Friedr. von Stollberg darstellt, der
das Bild selbst radirt hat. Damit wurden alle Folgerun¬
gen, die Schröer an das Bild knüpfte, sowie die Ein¬
wände Rollett’s in
seiner Zusammenstel¬
lung derGoethe’schen
Bildnisse hinfällig.
Auch aus derStraßbur-
ger Zeit hat sich keine
authentische bildliche
Darstellung der äu¬
ßeren Erscheinung des
Dichters des Götz er¬
halten, die die beiden
Töchter des Tanz¬
meisters berückte und
Friederiken bezauber¬
te und die sein Tisch¬
genosse Jung mit den
Worten schilderte:
„Besonders kam einer
mit großen hellen
Augen, prachtvoller
Stirn und schönem
Wixchs mutig ins Zim¬
mer, den man Herrn
Goethe nannte.“ Eine
Ahnung der herr¬
lichen Züge über¬
kommt uns beim An¬
blicke der Silhouette,
die er am 31. August
1 7 74 an Lotten schick¬
te und mit den be¬
kannten V ersen be¬
gleitete, in denen es
am Schlüsse heißt:
„Ich schicke meinen Schatten dir!
Magst wohl die lange Nase sehn,
Der Stirne Drang, der Lippe Fleh’n,
’s ist ohngefähr das garst’ge Gesicht,
Aber meine Liebe siehst du nicht.“
Eine Zeichnung, von der Zarncke gegründete Ver¬
mutung hegt, dass sie von der Hand Lotten’ s her¬
rühre, nennen wir nur dieses Umstandes wegen. Die
Züge des Bildes sind unbeholfen und grob modellirt,
und die Augen liegen zu tief in den Höhlen. Die Wer-
therzeit ist durch das sprechend ähnliche Relief JoIl
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. Y. H. 11.
Peter Melchiors vertreten. Unterdessen Eindruck wird
es uns nicht schwer fallen, die schlanke, anmutig
keck bewegte Gestalt der Silhouetten in ganzer Figur
— Goethe mit dem Degen oder vor der Büste oder mit
Fritz von Stein — in die Werthertracht zu stecken:
„Gelb war des Toten Weste
Und blau sein Rock von Tuch“,
wie es im Liede heißt;
dazu noch der runde
graue Hut und die
gelben Hosen, und
dies alles mit vier
mnltiplizirt, so ha¬
ben wir das Quartett
der vier „Haimons-
kinder“ Goethe, Hau g-
witz und der beiden
Stollberg leibhaftig
vor uns, wie sie von
Frau Aja Abschied
nehmen und freiheits¬
trunken Tell’s Heimat
zusteuern. — Die kur¬
ze Frankfurter Zwi¬
schenzeit, in der ihn
Maximiliane und Lili
fesselten, hat Wil¬
helm von Kaulbach’s
und Woldemar Fried-
rich’s Bildern zum
Vorwurf gedient, in¬
des haben sich beide
Künstler mehr an die
1788 entstandene Trip-
juc/’sche Büste oder
deren von Tiecl: her¬
rührende Umarbei¬
tung gehalten, als an
das 1775 gezeichnete
Profil SchmoU's, nach
dem später (1776)
Chodowiecki seinen in Mund und Auge total verzeich-
neten Stich ausführte. Während sich Kaulbach wenig
um Porträtähnlichkeit kümmerte und nur den Apollo¬
typus in Gestalt und Pose nach bekannter Schablone
zur Darstellung brachte, hat Friedrich in seinem
anmutigen Sitteribilde sowohl den auf blinkendem
Stahle dah erfahrenden dunkeläugigen Goethe wie
die im Stuhlschlitten sitzende Maxe, die Lotte von
Werther’s zweitem Teile, sowie die Frau Aja den zeit¬
genössischen Bildern getreu abgelauscht.
33
Fig. 9. Goethe; Marmorhüste von Al. Trippel (1790).
258
GOETBE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
lu den ersten zehn Jahren des Weimarer Auf¬
enthaltes war der Dichter dem Angesichte der Welt
gänzlich entrückt; es war die schönste Zeit seines
Lebens, reich an innerer, arm an äußerer Hervor-
brimruug. Sein Genius bereitete sich zu hohem
Fluge und verbarg sich ganz dem Auge der Welt.
Während dessen schufen Meisterhände bedeutende
Werke bildender Kunst, die uns sein Antlitz in
jener Zeit überquellender Jugendlust, aber auch der
beginnenden Sänftigung und Klärung zeigen, in jener
Zeit, der Wanderers Nachtlied entstammt: „Der du
von dem Himmel bist“ und sein „Edel sei der Mensch,
hilfreich und gut.“ Das erste bedeutende Bildnis
jener Zeit ist das Ölgemälde von Melchior Krauss
aus dem Jahre 1776. In fast ganzer sitzender Figur,
leicht nach links gewendet in den Stuhl gelehnt,
den linken Arm auf einen Tisch gestützt, hält der
Dichter in der Rechten ein Blatt mit einer Silhou¬
ette. Wie auf den übrigen Krauss’schen Bildern er¬
scheint der Kopf im Profil und das Haar in breiter
Tolle und starker Wulstlocke über dem Ohre. Das
Urteil Bertuch’s in einem Briefe an Chodowiecki:
„Es ist nur ein einziges historisches Porträt von
Goethe, das ganz er ist. Die Herzogin- Mutter be¬
sitzt es; Herr Krauss aus Frankfurt hat es für sie
gemalt“, sowie die Worte der Frau Rat in dem
Briefe an die Herzogin Amalie, in dem sie sich für
die Kopie des Bildes bedankt, fordern zu eingehen¬
der Betrachtung der Züge auf.
In die Zeit von 1778 — 80 fällt die Modellirung
der ersten fünf trefflichen Büsten durch Martin
Klauer, deren Feststellung Zarncke erst nach mannig¬
fachen Reisen, wiederholter Veranstaltung von photo¬
graphischen Aufnahmen und einer umfangreichen
Korrespondenz gelang.
(Schluss folgt.)
••
r
Studie von IIeemann Baisch.
Heimaiin Baisch.
HERMANN UND OTTO BAISCH.
lEDERUM hat die Karls¬
ruher Künstlerschaft einen
herben, unersetzlichen Ver¬
lust zu beklagen. Wie Karl
Hoff, ist auch Hermann Baisch
vor der Zeit, aus vollem
Schaffen heraus plötzlich
dahingerafft worden ; der
Genialsten und Besten einer ist mit ihm aus un¬
serer Mitte geschieden. Doch nicht uns allein,
Baisch gehörte dem ganzen deutschen Volke an,
dessen politische und künstlerische Entwickelung er
mit warmem Herzen verfolgte und in dessen Kunst¬
geschichte er stets einen ehrenvollen Platz behaup¬
ten wird. Die in den Tagesblättern erschienenen
Nekrologe geben Zeugnis von der hohen Wert¬
schätzung, die der Verewigte sich allseitig zu er¬
werben gewusst, von der allgemeinen Teilnahme,
die sein frühzeitiges Ende gefunden hat. In der
Schilderung der Lebensumstände ist man dabei meist
von den Angaben in F. Pecht’s Geschichte der
Münchener Kunst im 19. Jahrhundert ausgegangen,
worauf auch hier verwiesen sei und wo auch eine
im Ganzen zutreffende Würdigung der künstlerischen
Eigenschaften Baisch’s gegeben ist. Wie viel er
den Meistern des französischen paysage intime ver¬
dankt, wie bestimmend der Pariser Aufenthalt von
1868 und die Bekanntschaft mit den Werken der
sogen. Schule von Fontainebleau auf ihn gewirkt
hat, ist von Baisch selbst stets dankbar anerkannt
worden. Er durfte sich rühmen, einer der Ersten
gewesen zu sein, die die französische Freilicht¬
malerei auf deutschen Boden verpflanzt und eigen¬
artig verarbeitet haben. Ein glückliches Geschick
ist es zu nennen, dass er in München, wohin er
zunächst übergesiedelt war, in die Bahnen Adolf
Lier’s geriet, der aus derselben Quelle geschöpft
und neben Baisch eine Anzahl gleichstrebender
Schüler, Gustav Schönleber an der Spitze, um sich
gesammelt hatte.
Den zweiten Hauptfaktor in der Entwickelung
des jugendlichen Künstlers bildete das Studium der
holländischen Meister und zugleich die Bekannt¬
schaft mit der duftumflossenen , stimmungsvollen
Landschaft in der Heimat eines Cuyp und Potter.
Wie eine Offenbarung wirkte auf ihn der eigen¬
artige und anspruchslose Reiz jener Gegenden, deren
natürliche lebende Staffage in seinen Bildern all-
33
260
HERMANN UND OTTO BAISCH.
mählich einen immer breiteren Raum einzunehmen
begann, so dass er bald zu den ersten Tiermalern
Deutschlands gerechnet werden konnte. Die meisten
kennen in Baisch nur den Tiermaler, und auch
R. Muther hat geglaubt, ihm den Vorwurf einer
gewissen Eintönigkeit in dieser Beziehung nicht
vorenthalten zu sollen. Wie
ungerechtfertigt diese Beur¬
teilung ist, zeigt sich gerade
jetzt, nachdem die treue
Freundeshand Schönleber’s
hervorgesucht und übersicht¬
lich vereinigt hat, was sich
an Skizzen, Entwürfen und
Studien aller Art in den
Mappen und Schränken des
V erewigten vorfand. Hier
überblickt man so reclit alle
Seiten dieser so mannigfal¬
tig veranlagten Künstlernatur.
Land und Meer, Fleide und
Moor, Wiese und Wald, Feld
und Au, alle Gebiete des Na¬
turlebens erfasste sein Auge
mit gleicher Liebe, wusste
sein Pinsel mit gleicher Treue
auf die Leinwand zu zaubern.
Daneben herrliche Tierstücke
voll Leben und Beobachtung.
Ein Künstler, der Bilder von
so verschiedenem Charakter
wie „Die Tauholer“ der Ber¬
liner Nationalgalerie oder die
jüngst auf Befehl des Grol.h
herzogs aus dem Nachlasse des
Künstlers für die Karlsruher
Kunsthalle erworbene „Heim-
kehreude ILnderherde im Früh¬
ling“ hervorbringen konnte,
sollte billigerweise vom Vor¬
wurfe der Einseitigkeit ver¬
schont bleiben. Baisch nur
nach seinen Tierstücken beur¬
teilen, heißt den Jjandschafter Baisch verkennen,
der es wie wenige unter den Zeitgenossen verstan¬
den hat, beide Elemente seiner Kunst zu ver¬
schmelzen. dVeu und schlicht, wie das Wesen des
.Mannes, war seine Kunst. Hierin beruht denn auch
seine hohe Bedeutung als Lehrer der heranwach-
senden akademischen .lugend. Gerade in jetziger
Zeit, wo alles in Gährung und Umschwung begriffen
ist, wo unter der Flagge des Pleinairismus, Impres¬
sionismus etc. so manche traurige Ware in den
Hafen der Kunst eingeschmuggelt wird, gerade heut¬
zutage sind Künstler wie Baisch als Leuchttürme
im akademischen Leben unentbehrlich und doppelt
schwer zu ersetzen, wenn ihr Licht erloschen ist.
Den berechtigten Bestrebun¬
gen der Modernen gegenüber
hat sich Baisch niemals ab¬
lehnend verhalten; war er
doch selbst, wie erwähnt, einer
der Ersten, der Luft und Licht
in die dumpfen Atelierräume
hineinließ und seine Bilder
im Freien gemalt hat. Sein
feines künstlerisches Empfin¬
den, seine wahre und ofiFene
Art machten ihn aber von
vornherein zu einem ausge¬
sprochenen Gegner aller Über¬
treibungen und jenes markt¬
schreierischen Künstlertums,
das nur eine Parole kennt:
Aufsehenerregen um jeden
Preis. Seine Werke waren
der lebhafteste Protest da¬
gegen, und seine Schüler ha¬
ben ihn verstanden. In die¬
sem Geiste hat er während
seiner zwölfjährigen Thätig-
keit an der Karlsruher Kunst¬
akademie segensreich gewirkt,
und kein Auge blieb thränen-
leer, als Fritz Kallmorgen am
offenen Grabe in schlichten,
tief empfundenen Worten der
unauslöschlichen Dankbarkeit
aller derer Ausdruck gab, die
in Baisch den Lehrer, Freund
und Berater verloren haben.
Und doch, was uns von ihm
geblieben, ist wahrlich nicht
wenig: es ist die Erinnerung
an einen guten Menschen und trefflichen Künstler,
es ist die Freude an seinen Werken, die ihren Schöp¬
fer überleben. Oe.
* *
*
Über den Brüdern Otto und Hermann Baisch,
deren Kunst so sonnig und heiter war, hat ein
dunkles Verhängnis gewaltet. Sie, die im Leben
.Stiiilie von Hermann Baisch.
HERMANN UND OTTO BAISCH.
261
eng lind innig mit einander verbunden waren, sind
im Tode schneller vereinigt worden, als es der Über¬
lebende der Brüder geahnt haben mochte. Als
man das Grabmal des älteren in Stuttgart einweihte,
traf den jüngeren der Hauch des Todes. Er wurde
ein Opfer der Pietät, der Dankbarkeit gegen den
Bruder, der einst in schwierigen Zeiten durch rüstige
Thätigkeit der des Ernährers beraubten Familie
den Kampf nms Dasein erleichtert hatte. Das Grab¬
denkmal auf dem Friedhofe in Stuttgart erhält nur
einem kleinen Kreise teilnehmender Freunde und
Bernfsgeno.ssen des dahiugeschiedenen Dichters und
Journalisten, der zuletzt in Stuttgart die Zeitschrift
„Über Land und Meer“ leitete, die Erinnerung an
einen ungemein vielseitigen, dichterisch und künst¬
lerisch gleich begab¬
ten. aber immer auf
Bescheidenheit und
Resignation gestimm¬
ten Mann. Sein Ge¬
dächtnis aber auch
der großen Gemeinde
aller Freunde ecliter
Poesie und Kunst be¬
wahrt zu haben, ist
eines der letzten Ver¬
dienste des Malers
Hermann Baisch, das
uns heute bereits im
Lichte eines V ermächt-
nisses erscheint.
Die angestrengte
Thätigkeit eines Re¬
dakteurs zweier großer Wochenschriften, die derLitte-
ratur und der Kunst zugleich gewidmet sind, hatte
Otto Baisch zwar nicht völlig von eigenem poetischen
Schaffen ferngehalten, ihn aber nicht dazu kommen
lassen, das in den wenigen Stunden glücklicher
Stimmung und fruchtbarer Muße Entstandene zu
sichten, zu ordnen und zu einem Strauße zusammen¬
zubinden. Erst im letzten Sommer seines Lebens
kam er dazu, eine Auswahl aus seinen Gedichten
und Liedern zu treffen, und da er immer bestrebt
war, eine Kunst durch die andere zu ergänzen, bat
er seinen Bruder Hermann, seine dichterischen Em¬
pfindungen, die zugleich den Reiz des Musikalischen
hatten, mit Zeichnungen zu begleiten, in denen sich
gewissermaßen die dichterische Stimmung mit dem
Naturobjekt zu einer vollkommenen Einheit ver¬
schmelzen sollte. Die ersten Proben der Zeichnungen
seines Bruders gefielen Otto Baisch so gut, dass er
sich mit dem angeschlagenen Ton einverstanden er¬
klärte. Die Vollendung hat er nicht mehr erlebt, da
ihn ein plötzlich aufgetretenes Leiden am 18. Oktober
1 892, im Alter von 52 Jahren, in wenigen Tagen auf¬
rieb. Mit um so größerem Eifer widmete sich Her¬
mann Baisch der Aufgabe, dem letzten Vermächt¬
nis des Bruders eine künstlerische Erscheinungsform
zu geben, die noch über die Wünsche des Verstor¬
benen hinausging. Zu Weihnachten vorigen Jahres
gab die deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart, der
Otto Baisch die letzten .sieben Jahre seiner Thätig¬
keit gewidmet hatte, unter dem Titel: „Lieder und
Sinnsprüche“ von Otto Baisch ein kleines Pracht¬
werk heraus, dessen vornehmster Schmuck die Feder¬
zeichnungen und Radirungen von Hermann Baisch
bilden.
Hermann Baisch
war bis dahin als Ra-
direr nur wenig her¬
vorgetreten. Wie wir
aus den Blät tern, deren
eines wir diesen Zeilen
beigeben, ersehen, hält
Baisch sehr glücklich
die Mitte zwisclien
der älteren Richtung,
die sich in der De-
taillirung nicht ge¬
nug thun kann, und
der modernen Origi-
nalradirung, die mit
wenigen Nadelrissen
nur den Gedanken und
die Umrisse der Landschaftsformen angiebt und die
Ausfüllung des Gerippes mit Blut, Fleisch und
Leben dem Atzwasser, der Farbe und dem Geschick
des Druckers überlässt. Einige der Radirungen
von Hermann Baisch haben sogar etwas von der
malerischen Weichheit der Lithographie, die ihrer
Wirkung nur zum Vorteil gereicht. Die Litho¬
graphie war die Kunst des Vaters gewesen, und ihr
waren auch die Söhne nicht fremd geblieben. Otto
Baisch hatte Jahre lang als Lithograph gearbeitet,
ehe er sich, freilich zu spät, um darin seinen letzten
Beruf zu finden, der Malerei widmen konnte, und
Hermann Baisch hat von Vater und Bruder eben¬
falls die ersten Handgriffe und Ausdrucksmittel der
Kunst gelernt, bevor er sich, darin der Glück¬
lichere der beiden, auf der Kunstschule in Stuttgart
zum Maler ausbilden konnte.
Obwohl sie sich beide viel in der Welt herum-
262
EIN HOLLÄNDISCHES REGENTENBILD VON ALLART VAN LOENINGA.
getrieben haben, ist ihnen das Erbteil der Eltern,
das frohgemute schwäbische Temperament, treu ge¬
blieben: dem einen in der nüchternen Luft eines
Berliner Redaktionsbureaus und auf den sonstigen
steinigen Pfaden des deutschen Journalismus, dem
anderen auf seinen häufigen Studienreisen nach Hol¬
land, aus dessen Viehtriften, Kanälen, Dünen und
Strandebenen Hermann Baisch viel goldig und silbern
funkelnde Poesie herausgeschlagen hat. Wie ein¬
mütig sich die Brüder in ihrem Naturempfinden zu¬
sammengedacht und gelebt hatten, dafür ist ihr ge¬
meinsames Werk, dessen Hauptbestandteil eine lyrisch¬
malerische Schilderung der vier Jahreszeiten „Im
Kreislauf des Jahres“ bildet, ein psychologisch, poe¬
tisch und künstlerisch gleich fesselndes Denkmal,
das in der deutschen Litteratur bis auf weitere, will¬
kommene Nachahmung vereinzelt dasteht.
Ä. R.
EIN HOLLÄNDISCHES
REGENTENBILD VON ALLART VAN LOENINGA.')
MIT ABBILDUNG.
CHT Personen sind es, welche
uns der Middelburger Meis¬
ter Allart van Loeninga im
Jahre 1635 n. Chr. in feier¬
licher Sitzung vorführt. Wir
sehen Männer von germa¬
nischem Schrot und Korn,
wettergebräunte Seekapi¬
täne aus einem der am weitesten nach Westen vorge¬
schobenen Plätze Hollands, die unter ihrem Bürger¬
meister, dem dreiundsiebenzigjährigen Marcus de la
Pahna, welcher von 1607 bis 1640 nicht weniger als
zwülfmal, nämlich 1607 das erste, 1610 das zweite und
1640 das letzte Mal, innerhalb des Ratskollegiums den
verantwortungsvollen Posten eines dirigirenden Stadt¬
oberhauptes von Middelburg einnahm, am grünen
Tisch zusammengetreten sind, um ihre herkömm-
liche Gildensitzung zu halten. Sie haben ihr Fest¬
gewand von Sammet und Seide angelegt, und breite
Mülilsteinkragen von tadelloser Fältelung und Sauber¬
keit decken den Hals. Der Bürgermeister sitzt in
einem schon geschnitzten und mit einem Purpur¬
kissen belegten Stuhl links im Bilde, ein feiner
durchgeistigter Kopf, ernst und milde blickend, von
blasser Hautfarbe, ein erfahrener alter Rechtsgelehr¬
ter, vom Jahre 1562 her am Leben und zuletzt alt
und grau geworden in den Sturmzeiten der hollän¬
dischen Geschichte. Man sieht es ihm an, dass das.
1) Das Bild ist auf Eichenholz gemalt, 1,02 hoch und
2,10 breit.
was er erlebt hat, nicht von gewöhnlicher Art war.
Hinter seinem Stuhl steht der Knappe oder Diener
der Schiffergilde, Gillis Gysbrecht Potter, auch er
ein Charakterkopf. Wer weiß, ob er nicht mit seinen
Herren, den Seekapitänen, manchen Strauß zu Wasser
xind zu Lande ehrlich geteilt hat; denn ebenso fest
und tüchtig, ebenso welterfahren und wettergebräunt
wie diese, schaut auch er ins Leben. Und nun folgen
nach rechts hin seine Herren, sog. privilegirte Beurt-
oder Rangschiffer von Middelburg, in deren Händen
der Seeverkehr der Vaterstadt lag. Was für präch¬
tige vertrauenswürdige Männer voll Kraft und Intel¬
ligenz, dazu gesegnet mit derben Händen, die an¬
scheinend auch der schwersten Arbeit nicht aus dem
Wege gingen! Richtige Helden der Nordsee! Der
erste neben dem Bürgermeister heißt Dirk Wouters,
ein Mann mit dunkelblondem Haupt- und Barthaar,
der ungefähr fünfzig Jahre zählen mag. Ihm folgt
der ältere Joost Dircksen mit kurz geschorenem,
dicht gewachsenem, aber längst eisgrau gewordenen
Haupt- und Barthaar, eine ehrliche Haut mit treuen
blauen Augen. Und was für Fäuste sind es, über die
er verfügt! Neben ihm sitzt ein stattlicher jüngerer
Mann mit dunkelbraunem Haupt- und Barthaar, es
ist Tuenis Pen. Diesem folgt Jan Stevens, das we¬
nigst anziehende und doch eines begründeten Selbst¬
gefühles nicht entbehrende Gesicht. Diese bisher
erwähnten vier Schiffer sitzen jenseits des mit grüner
Tuchdecke versehenen Tisches, auf dem ein rot ge¬
schnittenes aufgeschlagenes Gildenbuch, ein zinnernes
Tintefass, ein Stempel oder Siegel und einige Gold-
EIN HOLLÄNDISCHES REGENTENßILD VON ALLART VAN LOENINOA.
263
dukaten liegen; der nun folgende fünfte Kapitän,
Rein Tueniss, sitzt diesseits des Tisches auf einem
ähnlichen Stuhl, wie ihn der Bürgermeister hat.
Sein Haupt ist kahl geworden, aber sein hellblonder
Schnurr- und Backenbart stehen ihm vortrefflich,
und aus einem wohlgebauten Kopf schauen so kluge
Augen heraus, dass man ihm wohl eine besondere
Bedeutung in der Gilde Zutrauen möchte. Als jüngstes
Mitglied der letzteren erscheint endlich Joost Pen
mit braunem Haupt- und Barthaar. Er wird ein
naher Verwandter, vielleicht gar ein Bruder des
Tuenis Pen sein, wenn die Ähnlichkeit nicht trügt.
Die Schütter-, Regenten- und Regentessen-Bilder
sind und bleiben mit Recht der Stolz der holländi¬
schen Städte. Diese Bilder sind Zeugen und Zeugnisse
jener wichtigen Zeit, in welcher das kleine Land an
der Entwickelung der Weltgeschichte den größten
Anteil hatte und der neueren Kunst ihre Bahnen
anwies. Kein Wunder, dass diese Schätze heute mit
Argusaugen gehütet werden.
Wie ist es denn aber gekommen, dass Middel¬
burg dieses Bild, welches einstmals in seinen Mauern
war und das einen der besten und stolzesten Stände
von Hollands Land und Leuten, den der Seekapitäne
repräsentirt, aus seinen Fingern ließ?
Die näheren Umstände können hier nicht ange-
geben werden, weil sie dem Verfasser dieser Zeilen
nicht bekannt sind. Gewiss aber war einer der
Gründe der Nichtbeachtung des Bildes der, dass bis
vor kurzem Niemand wusste, wer die Dargestellten
seien und wer das Bild gemalt habe. Als ein durch
vielmaliges Überfimissen dunkel und schmutzig ge¬
wordenes, auf seiner rechten Seite hie und da auch
übermaltes Bild kaufte es der Vorstand des Rotter¬
dam er Kunstklubs, Herr Joseph de Kuyper. Dieser
erzählte mir davon, und ich empfahl es dem Herrn
Ferdinand Meyer anzuvertrauen, einem mit der Gro߬
herzoglichen Museumsverwaltung vielfach in Ver¬
bindung stehenden, tüchtigen und gewissenhaften
Künstler, der sich die bei uns befolgten Reinigungs¬
und Restaurirmethoden vollkommen zu eigen ge¬
macht hat. Das geschah im Sommer vorigen Jahres.
Die Reinigung gelang vorzüglich, und dabei kam alles
nur Wünschenswerte zum Vorschein. Die schwarze
Hinterwand, auf welcher die Köpfe wie undeutliche
Flecke erschienen, entpuppte sich als ein wohlerhalte¬
ner hellgrauer Hintergrund, von dem sich die Köpfe
leicht und in kräftiger plastischer Wirkung ablösen,
und der koloristisch zu dem Schwarz von Sammet
und Seide, dem Grün des Tisches, dem Goldbraun
der Stühle und dem Rot des Kissens und des Buch¬
schnittes ganz vortrefflich stimmt. An den Gewän¬
dern kamen die Falten und Knöpfe zum Vorschein,
von denen man vorher nichts gesehen hatte. Rechts
war die Stuhllehne des Rein Tuenis sowie das Ende
des Tisches und der grünen Decke schwarz übermalt
worden, sodass man Anfangs nicht wusste, wie Tisch
und Gestalten zu einander ins Verhältnis gesetzt
seien. Auf den beiden aufgeschlagenen Seiten des
Gildenbuches wurden die Namen der Dargestellten
vollkommen deutlich, während vorher nur die Jahres¬
zahl 1635 sichtbar war. Das beste aber war, dass
die Köpfe von Gillis Gysbrecht Potter, Marcus de
la Palma, Dirk Wouters, Joost Dircksen, Tuenis Pen
wohlerhalten und nie von einer Retouchirung be¬
rührt, zum Vorschein kamen und dass an denen von
Jan Stevens, Rein Tuenis und Joost Pen die Be¬
schädigungen so geringfügiger Art waren, dass auch
sie in der Ursprünglichkeit der Wirkung keine Ein¬
buße erlitten haben. Dazu fand sich oben links der
volle Name des Malers A. v. Loeninga (das A, V, L
in Ligaturk Kurzum, die Restaurirung des Bildes
hatte einen so glücklichen Erfolg wie er selten vor¬
kommt.
Mit dem Namen des A. van Loeninga aber er¬
gab sich der erste Anhalt zur näheren Bestimmung
des Bildes. Freilich wusste man bis dahin von dem
Meister gar nichts. Die zeitgenössischen Kunst¬
schriftsteller haben ihn übersehen, und infolge da¬
von existirt er bis heute in keinem unserer Lexika.
Aber eine Viertelstunde nach der Auffindung seines
Namens hatte ich ihn bereits im Obreen sehen Archiv
gefasst. Dort hat er in dem von dem fleissigen
Bredius veröffentlichten Gildenbuch von Middelburg
seinen Platz. Vgl. Bd. VI (1884—1887), S. 170, 172,
174, 175, 178, 263. Darnach gehört er bereits im
Jahre 1639 zum Vorstand der Lukasgilde, ist 1640
zum erstenmal, 1647 zum zweitenmal Dekan, und
zählt in einer Rechnung der Gilde, welche vom
5. Januar 1649 bis zum letzten November 1650 läuft,
bereits zu den Toten.
Ein Regentenbild von einem Middelburger Meis¬
ter ließ denn auch sofort vermuten , dass das dar¬
gestellte Kollegium der Stadt Middelburg angehören
müsse. Ich sprach diese Vermutung in der Zeit¬
schrift „Oud- Holland“ 1892, S. 131 aus, und die
sofort von Herrn Stadtarchivar M. H. van Visvliet
angestellten Nachforschungen im Middelburger Ar¬
chiv ergaben alle nur wünschenswerte Bestätigung.
Vgl. Middelburg’sche Courant 1892, N. 168 und 200;
Nieuwe Rotterdam’sche Courant 1892, N. 309. Herr
M. H. van Visvliet fand die Namen des Bürger-
l’u'griiteiibilcl von Ai.i.Anr van Loeninv..
•264
EIN HOLLÄNDISCHES REGENTEN BILD VON ALLAKT VAN LOENINGA.
meisters, der Schiffer Wouters, Ste¬
vens, Tennis, Pen und des Dieners
der Schitfergilde und zwar letzteren
mit dem vollen Namen Gillis Gys-
brecht Potter, während im Bilde
auf der aufgeschlagenen Seite des
Buches nur Gillis Gysbrecht zu
lesen ist. Er fand ferner, dass die
Gilde bis zum Jahre 1646 hin jedes¬
mal den dirigirenden Bürgermeister
zu ilirem Dekan machte, während
sie vom Jahre 1646 an ihren De¬
kan aus sich selber erwählte. In
der That alle nur wünschenswerte
Aufklärung.
Sehen wir die Kunst des Loe-
ninga näher an, so finden wir,
dass sie der des Miereveld am ver¬
wandtesten ist und dass er in die
Gruppe jener Meister der ersten
Hälfte des XVII. Jhdts. gehört, als
deren Chorführer der letztgenannte
gilt. Jedoch zeigt er sich auch
von dem Geiste der etwas jüngeren
Porträtistenschule berührt, deren
hervorragendste Führer Frans Hals
und Rembrandt sind. Gediegene
Zeichnung und Modellirung der
Köpfe, wie Miereveld sie in seinen
besten Werken erstrebt, ist auch
Loeninga’s Eigenart, dabei eine ein¬
dringende Charakteristik in echt
germanischem Sinne. In Neben¬
sachen — • als solche sieht er auch
die Hände an — ist er derbe. Auch
Miereveld ist oft recht derbe. Dass
aber Loeninga nach Art der Jünge¬
ren seiner Zeit auch mit leichter
und flotter Hand die Formen zu be¬
herrschen vermag, beweist er be¬
sonders in den drei letzten Köpfen
rechts. Weit mehr als die ersten
fünf Köpfe erinnern diese an die
geschickte Art des Frans Hals, man
denkt bei ihnen unwillkürlich an
das erste große Bild des letzteren
im Museum zu Haarlem vom Jahre
1616, ja, es sieht fast aus, als ob
der Maler mit ihnen im Punkte der
Technik etwas Besonderes habe be¬
weisen wollen. Jedoch ist dieser
DIE HOLZBAUKUNST NORWEGENS IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART.
265
Unterschied in der Behandlung für die Gesaint-
wirkung durchaus nicht störend. Die koloristischen
Vorzüge des Werkes sind oben bereits hervorge¬
hoben. Loeninga ist ein Meister, über dessen kunst¬
geschichtliche Auferstehung man sich freuen kann.
Er wird ohne Zweifel noch andere tüchtige Porträts
in großer Zahl geschaffen haben, die zur Zeit ent¬
weder ohne oder mit falschem Namen in den Samm¬
lungen hängen. Hoffentlich trägt das wieder aufge¬
fundene beglaubigte und datirte Werk des Meisters
dazu bei, mit Irrtümern aufzuräumen, die auch dem
Material der neueren Kunstgeschichte in übergroßer
Masse anhaften. Zu diesem Zwecke wäre es gut,
wenn Holland das Werk festhielte. Denn dort giebt
es immer noch die meisten Porträts, welche „unbe¬
kannt“ sind und ihrer Bestimmung harren, dort
werden auch ohne Zweifel noch Werke des Loeninga
sein, die Niemand kennt. Sollte Holland seine Middel-
burger Seekapitäne samt ihrem feinen und klugen
Bürgermeister Marcus de la Palma, ohne sich zu
rühren, ins Ausland fahren lassen ? Hoffentlich nicht
Schwerin. FRIEDRICH SCHEIE.
DIE HOLZBAUKUNST
NORWEGENS IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART.’)
MIT ABBILDUNGEN.
ÜR Alles, was mit dem Holz¬
werk und Holzbau, den Kin¬
dern des Waldes, irgendwie
zusammenhängt, lebt in uns
Deutschen, wie in den stamm¬
verwandten Skandinaviern,
eine durch tausendjährige
Überlieferung bewahrte Vor¬
liebe. Der Binnenländer, der aus Balken und Bret¬
tern sich sein Haus zimmert, und der Seefahrer, der
die gebogenen Balken und Bohlen zum Boote zu¬
sammenfügt: sie beide sind Meister einer uralten,
echt volkstümlichen Kunst, die in phantastisch ver¬
schlungenem Schnitzwerk und Malerei ihre nicht
minder primitiven und eigenartigen Verzierungen
besitzt.
Wiederholt haben deutsche wie skandinavische
Forscher, Gelehrte und Künstler, den Denkmälern
dieser Gattung ihr Studium zugewendet. Das be¬
kannte Werk von Dahl (1837) gab den ersten An¬
stoß. Unter den Nordländeim hat zunächst Nico-
laysen grundlegende Arbeiten über den Gegenstand
geliefert (1854 — 80). Es folgten die gei.stvollen Be¬
merkungen Semper’s im „Stil“ (1863), die verdien.st-
lichen Vorträge von Lehfeldt (1880) und eine Reihe
1) Von Prof. Dr. L. Dietrichson und Architekt H. Munthe
in Christiania. Mit einer Übersichtskarte und 31 Tafeln,
sowie über 220 Textabbildungen. Berlin, Schuster & Bufleb,
1893. Fol. M. 45.—
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 11.
von Spezialschriften und Abhandlungen, zu denen
auch diese Zeitschrift ihr Kontingent gestellt hat.
Aber das Hauptverdienst um die wissenschaft¬
liche Bearbeitung aller in das Gebiet der nordischen
Holzarchitektur einschlägigen bautechnischen und
haugeschichtlichen Fragen erwarb sich der erst¬
genannte Herausgeber des vorliegenden trefflichen
Werkes, der Professor der Kunstgeschichte an der
Universität Christiania, Dr. L. Dietrichsou. Er be¬
reicherte vornehmlich die Litteratur über die alten
Holzkirchen Skandinaviens mit einer Anzahl selb¬
ständiger Forschungsergebnisse, die teils in beson¬
deren Abhandlungen, teils in schwedischen, norwe¬
gischen und französischen Zeitschriften erschienen
sind , und dehnte dann seine Studien auch auf das
Gebiet der profanen Holzhaukunst des Nordens und
auf deren Fortleheu in der Gegenwart aus, um schlie߬
lich das Gesamtergebnis dieser Arbeiten dem Publi¬
kum in einer deutschen Ausgabe vereinigt vorzu¬
führen. Als Präludium zu derselben darf der hoch¬
interessante Vortrag gelten, den uns Dietrichson
letzten Herbst auf dem kunsthistorischen Kongress
in Nürnberg hielt und der in der Münchener „All¬
gemeinen Zeitung“ sowie im „Offiziellen Bericht“
über die Verhandlungen des Nürnberger Kongresses
zum Abdruck gekommen ist. Was dort in Kürze
zusammengefasst war, erscheint in der vorliegenden
Publikation ausführlich begründet, durch einen rei¬
chen gelehrten und künstlerischen Apparat erläutert,
34
266
DIE HOLZBAUKUNST NORWEGENS IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART.
in ebenso wisssenscbaftlicb musterhafter wie schrift¬
stellerisch ansprechender Form.
Das Werk zerfällt in drei zu einem Bande ver¬
einigte Teile. Der erste derselben ist eine Über¬
setzung und teilweise Neubearbeitung des Werkes
über die nordischen Holzkirchen, welches der Ver¬
fasser unter dem Titel „De norske Stavkirker“ her¬
ausgegeben hat. Die Bearbeitung ist durch Beigabe
von fünf Tafeln mit Portalbildungen wesentlich be¬
reichert, dagegen im Text nicht unerheblich gekürzt.
Manche nur für den Norweger interessante bauge¬
schichtliche Einzelheiten sind weggeblieben. Es
werden uns nicht die sämtlichen, ohnedies meist
verschwundenen Holzkirchen des Landes im Detail
vorgeführt. Für den Spezialforscher, der mehr ver¬
langt, als die deutsche,
übersichtliche Behand¬
lung bieten konnte, bleibt
daher für diesen Teil im¬
mer noch das norwegi¬
sche Originalwerk Diet-
richson’s eine wichtige
Quelle. — Der zweite Teil
der deutschen Publika¬
tion, welcher von dem
„])rofänen Holzbau der
A'ergangenheit“ handelt,
sowie der dritte, über
„Die norwegische Holz¬
baukunst der Gegenwart“,
erscheinen hier zum er¬
stenmal. Für diese Teile
darf bei unserem deut¬
schen Publikum ein be¬
sonderesinteresse voraus¬
gesetzt werden, vornehm¬
lich seitdem Se. Maj. der Kaiser Wilhelm II. sein
Augenmerk der altehrwürdigen Bauweise zugewendet
und dies durch die in seinem Aufträge von dem
norwegischen Architekten If. Mmühe in Rominten
und bei JMtsdam ausgeführten Holzbauteia bethätigt
hat. Diese gelungenen Nachbildungen altnordischer
Muster und andere Werke verwandten Stils aus
neuester Zeit, norwegische und deutsche, werden
uns von Dietrichson in Bild und Wort vorgeführt,
und zu ihrer Erläuterung und geschichtlichen Wür¬
digung die Studienergebni.sse der norwegischen For¬
scher über den nordischen Holzbau profaner Gat¬
tung in klarer Übersicht beigefügt. Namentlich die
hier zum erstenmal erscheinende Entwickelungsge-
.schichte des norwegischen Bauernhauses ist als ein
sehr wertvoller Abschnitt dieses Teiles zu begrüßen.
Es ist nun vor allem nötig, sich in technischer
Hinsicht auf dem ausgedehnten Gebiete zu orien-
tiren, und streng zu scheiden, was in früheren deut¬
schen Werken über den Gegenstand vielfach mit
einander verwechselt worden ist: Blockhau und Fach¬
werkbau. Beide Arten waren in Norwegen schon
in vorhistorischer Zeit heimisch, aber so, dass „der
Fachwerkbau hauptsächlich düe. kirchlichen, der Block¬
bau aber die ivcltlichen Gebäude umfasste“.
Von den im Fachwerkbau errichteten alten Holz¬
kirchen des Landes, die nach Hunderten zählten,
sind die bekanntesten, noch heute vorhandenen die
von Urnes, Borgund, Hitterdal und Hopperstad,
ferner die versetzten von Wang (jetzt in Schlesien),
Gol (jetzt bei Christia-
nia) und Fortun (jetzt bei
Bergen). Sie stammen
sämtlich aus dem 12. und
13. Jahrhundert und zei¬
gen im wesentlichen ge¬
nau das Schema der ro¬
manischen Basilika, aus
dem Stein ins Holz über¬
setzt. Nur das Querschiff
fehlt, und die Säulen sind
nicht nur der Länge, son¬
dern auch der Breite nach
um das Mittelschiff her¬
umgestellt, um der Kon¬
struktion nach allen Sei¬
ten hin eine gleichmäßi¬
ge Festigkeit zu geben.
Als Grundsätze bei der
Konstruktion dieser Fach¬
werk- oder Stabkirchen
— wie die Norweger sie nennen — dürfen fol¬
gende gelten: „1) alle Hauptverbindungen sind
durch Einspunden und Ein%ax>fen (nicht durch Nägel)
hergestellt, und 2) alle Teile sind durch bald lie¬
gende, bald stehende rundbogige Bugverbindungen
(nicht durch Schrägstreben) abgesteift.“ Auf diese
Weise haben die Eigentümlichkeiten und Vorteile
des Holzmaterials ihre zweckentsprechende Verwen¬
dung gefunden; der ganze Bau bindet sich gleich¬
sam selbst und wächst wie zu einem lebendigen
Organismus zusammen. Ein norwegischer Architekt
erzählte dem Verfasser von einem Sturme, den er
in einer solchen Stabkirche erlebte. „Zuerst,“ sagte
er, „knisterte es so gewaltig in den Fugen, dass
ich glaubte, die alte Kirche würde über meinem
Aus Dietrichson unrl Mimthe: Die Holzhaukunst Norwegens.
Berlin, Schuster & Bufleh. 1893.
DIE HOLZBAUKUNST NORWEGENS IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART.
267
Kopfe Zusammenstürzen; nachdem aber der Sturm
einige Zeit getobt batte, wurde es in den Wänden
ganz stille, während der Sturm fortraste; alle Teile
waren in der richtigen Lage
zur Ruhe gekommen.“
Die ganze Konstruktion
ist im Grunde genommen nichts
anderes als eine Schiffskon¬
struktion. Der über die Kirche
gespannte „Kielbogen“ mit den
Untersparren und dem Quer¬
balken, der die Sparren und
Wände auseinanderhält, ent¬
spricht vollkommen der umge¬
kehrten Form des Wickinger-
schiffes. „In Nordland legen
arme Leute noch heute ein altes
Boot als Dach über ihre Hüt¬
te.“ — „Die Leistenprofile der
Stabkirchen kommen noch heu¬
te in den Booten der norwe¬
gischen Fischer vor, und die
Vorrichtung unter den Säulen,
um dieselben in die Schwellen
einzuzapfen, hat ihre F orm der
ähnlichen Vorrichtung des im
Schiffe aufzurichtenden Mastes
entlehnt,“ — „Darum war es
auch so natürlich, die Stabkir¬
chendächer mit den Drachen¬
köpfen, die man den Steven¬
figuren der Schiffe entnahm,
zu schmücken.“
Dazu kommt dann die
namentlich an den Portalen
üppig entwickelte Flächenorna¬
mentik. Es sind einesteils die
Bandverschlingungen der iri¬
schen Miniaturen und die Fa¬
beltiere, „die schon die heid¬
nische Zeit des jüngeren Eisen¬
alters kannte“ ; anderenteils
kommt dazu „um 1150 das be¬
kannte anglo - normannische
Blätter werk, worin sich ge¬
waltige Flügeldrachen verkrie¬
chen“; drittens grüßen uns von
den Portalen herab sogar bis¬
weilen „die alten, von dem
Volke geliebten heidnischen
Recken, Sigurd der Drachen¬
töter und die übrigen Nibelungen, die eine kluge
Toleranz der Geistlichkeit dem halbheidnischen Volke
gegenüber duldete.“
Portal der Kirche zu Hemsedal in Hallingdal, Stift Christiania.
(üuiversitätsmuseum zu Christiania.)
Aus Dietrichson und Munthe: Die Holzbaukunst Norwegens. Berlin, Schuster & Bufleb. 1893.
34*
268
DIE HOLZBAUKÜNST NORWEGENS IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART.
Damit haben wir nun auch für die Beurteilung
des norwegischen Holzkirchenbaues in geschichtlicher
Hinsicht den richtigen Standpunkt gewonnen. Es
steckt in ihnen, sowohl was das Grundschema als
auch was die Erscheinung betrifft, manch fremd¬
ländischer Zug, der mit der christlichen Religion
von Westen her dem Volke zugekommen war. Aber
die Konstruktion dieser Kirchen ist grundnational,
wie der Holzbau überhaupt, und die Norweger haben
es verstanden, alle ihnen von außen zugebrachten
Elemente dem Holzbau stilistisch anzupassen, sie
ihrer nationalen Bauweise einzufügen.
Nicht minder national als der Fachwerkbau der
norwegischen Kirchen ist der Blockverband der nor¬
dischen Profanbauten,
das Baucrnhmis,
wie es sich seit
der Zeit derChris-
tianisirung des
Landes ( ums Jahr
1000) bis in die
erste Hälfte un¬
seres Jahrhun¬
derts teils in der
Litteratur, teils
in erhaltenen Bei-
spielen verfolgen ^
lässt. Der Haupt¬
bestandteil des¬
selben ist die
Die Urform der letzteren ist
ein kleines Giebelzimmer. Das Sparrendach des Hauses
war mit Brettern, Rinde und Torf, bisweilen auch
mit Schindeln gedeckt. An den mit Moos oder mit
wollenem Zeug gedichteten Wänden der Halle stan¬
den feststehende Bänke, mit Erde gefüllt. Hinter
den Bänken öffneten sich bisweilen feste Schlaf¬
stellen in der Wand für die zechenden und wohl
öfters bezechten Recken. In der Mitte der langen
Wände' standen die zwei „Hochsitze“, und vor dem
vornehmsten derselben erhoben sich zwei mit Götter¬
bildern geschmückte Säulen. Wenn die Mahlzeit
oder das Trinkgelage begann, wurden die sonst an
der Wand hängenden Tische zuf Gestellen zwischen
den Bänken und dem Herdfeuer aufgestellt. Reicher
Wandschmuck aus Teppichen und Waffen vollendete
den ernsten Ein¬
große Halle mit
druck der dun¬
keln, gebräunten
Halle.
Eine nicht
unbedeutende
V eränderung in
der Beschaffen¬
heit dieser Bau¬
ten ging mit der
Einführung ei¬
ner neuen Hei¬
zungsanlage vor
sich. Im 11. Jahr¬
hundert trat an
Stelle des offe¬
nen Herds in der
J Mitte der in die
Rolstad. Ecke der Halle
Aus DietriclisonundMunthe: Die Ilolzbaukunst Norwegens. Berlin, Schuster &Buflel). 1893.
geschobene
offenem Dach¬
stuhl und Herd in
der Mitte. Die
I lalle heißt „Stu¬
be“, und bei ihrer Bedeutung für das Ganze ist
es natürlich, dass „Stube“ und „Haus“ oft iden¬
tisch erscheinen. „Die Hallen des Königs und die
Stuben des Bauern unterschieden sich nur durch
Anzahl, Au.sstattung und Geräumigkeit, nicht aber
in der Form der Anlage. Somit giebt uns die
Schilderung der Bauernstube zugleich eine lebendige
Vorstellung von den alten hölzernen Königshallen
Norwegen.s.“
Der Bau derselben ruht nicht auf einer zu¬
sammenhängenden Grundmauer, sondern auf ein¬
zelnen großen Steinen, die nur da gelegt sind, wo
zwei .Mauern zusammenstoßen. Außer der großen
Halle umfa.sste der Bau minde.stens ein Nebenzimmer,
einen Flur und den Laufgaug, der sich an zwei
Seiten des Hauses hinzog. 1 her den Nebenräumen lag
„Rauchofen“, ein viereckiger Steinkasten, der die
Wärme länger hielt und daher namentlich in dem
holzärmeren westlichen Norwegen gebräuchlich
wurde. Bei beiden Anlagen, dem Herd wie dem
Rauchofen, entweicht der Rauch durch die Öffnung
im Dache. Einen Rauchfang zeigt erst die dritte
Form der Heizungsanlagen, der sog. „Peis“, ein bis
gegen zwei Drittel der Wandhöhe nach vorn ge¬
öffneter, oben gewölbter Kamin, dessen Feuer die
Stube ausgiebig beleuchtet und heizt. Er kam nach
dem Jahre 1600 in allgemeinere Verbreitung. Die
Dachöffnung der Halle konnte jetzt geschlossen
werden, die Häuser wurden mehrstöckig, auch im
Grundriss bereichert; die Wände bekamen Fenster.
In Österdalen erhebt sich über dem Fachwerkver¬
schlag ein kleiner Turm, der den Namen „Barfrö“
269
DIE HOLZBAUKUNST NORWEGENS IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART.
führt. In unserer Zeit endlich gehen die im 18. Jahr¬
hundert mit eisernen Öfen versehenen Bauernstuben
in ganz moderne Gutsherrnwohnnngen über.
Außer der Mittelhalle war noch das „Loft“ ein
sehr charakteristischer Teil der altnorwegischen
Blockhausbauten. Der mit „lüften“, „in die Luft
heben“ zusammenhängende Name bezeichnet „eine
zweistöckige Anlage, deren Untergeschoss als Nieder¬
lage für Nahrungsmittel diente, während der obere
„Stab-Bur“, dessen Oberbau auf freistehenden Holz¬
blöcken sich erhob und dessen ganzes Obergescho.ss
(nicht bloß der Laufgang) in Blockverband weit
über das Untergeschoss vorsprang; nur die Vorder¬
seite bewahrte den aus Fachwerk bestehenden Lauf¬
gang: „Diese so zu sagen freischwebenden, höchst
eigentümlichen Bauten haben deutlich den Zweck,
nicht nur die Feuchtigkeit des Bodens, sondern auch
nagende Tiere, wie Ratten, Marder und ähnliche.
=r.r--
Kaiserliche Kirche zu Rominten in Ostpreußen.
Aus Dietrichson und Munthe: Die Holzbaukunst Norwegens. Berlin, Schuster & Bufleb. 1893.
Stock die Kleidungsstücke und Kostbarkeiten des
Hauses, sowie auch an der Wand feststehende Betten
enthielt.“ Neben der an der Langseite des Gebäudes
befindlichen Thür führte eine Freitreppe zu dem
Laufgang des Obergeschosses empor, welcher auf
den weit vorspringenden Balkenenden des Unter¬
geschosses ruhte, aus Fachwerk gebildet und in der
Mitte gewöhnlich mit Balustrade und Arkadenbögen
verziert war. Dem „Loft“ verwandt ist das sog.
von dem Inhalte des Hauses fern zu halten.“ Auch
diese Bauten tragen eine reiche und charakteristische
geschnitzte Ornamentik, besonders an den Ecksäulen
und an den Planken der Thüren. An den älteren
Beispielen der letzteren lässt sich der Einfluss der
Portalornamente an den Stabkirchen verspüren; die
Ecksäulen dagegen und die späteren Portale zeigen
die Formen der norddeutschen und holländischen
Renaissance.
270
FÜHRER DURCH RÖMISCHE UEMÄLDESAMMLÜNGEN.
Im Gauzeu betrachtet, offenbart die norwegische
Holzbaukmist, in ihrer derben und kühnen Kon¬
struktion wie in ihrer phantastischen und eigenarti¬
gen Ornamentik, einen so mächtigen, selbstbewussten
Geist, sie gemahnt so eindringlich an das Helden¬
alter des Volkes und seine von Dichtung und Sage
verklärten Reckengestalten, dass es niemanden
Wunder nehmen wh*d, die alte Bauweise heute, in
der Zeit des wiedererwachten Natioualgefühls, zu
neuem Leben erblüht zu sehen. Die junge Genera¬
tion der norwegischen Architekten wendet mit wach¬
sendem Erfolg ihr Studium dieser Sache zu. Nament¬
lich Christie und Hohn Munthe haben in Kirchen
und Villenanlagen Vortreffliches iii der geschilder¬
ten Bauart geleistet.
Diesen Werken reihen sich nun auch die Bau¬
ten an, welche Kaiser Wilhelm durch den letzt¬
genannten Architekten zu Rominten und am Jung¬
fernsee bei Potsdam errichten ließ, und welche in
mustergültiger Weise darthun, wie die alte, gesunde
Art, sich den Forderungen des Materials zu fügen,
mit den Ansprüchen des modernen Lebens wohl zu
vereinigen ist. In dem kaiserlichen Jagdschloss zu
Rominten ist die Halle wie der Loft zur Anwendung
gekommen. Die als Speisesaal dienende Halle zeigt
in der Mitte der Schmalwand den wärmenden Peis.
Die Loftgebäude dienen als Kavalierhäuser, Rauch¬
zimmer u. s. w. Offene Balkons und Veranden er¬
innern an die alten Laufgänge. Die Kapelle ist
eine Nachbildung der altnorwegischen Stabkirche.
— Das Gebäude am Jungfernsee bei Potsdam ist
ein in Blockverband hergestellter Bootschuppen.
Dietrichson schließt die Betrachtungen seines
Werkes mit einem Hinweis auf die gewaltige Wir¬
kung der altnordischen Sagenwelt und Poesie auf
die Dichtkunst und Musik Deutschlands, und meint,
dass auch das edle Reis der ehrwürdigen Bauweise
seines Vaterlandes unserer heimischen Architektur
ein „nicht zu unterschätzendes Element der Frische
und Urwüchsigkeit zuzuführen“ im stände sei. Wir
treten seiner Anschauung bei, und empfehlen das
Studium der Publikation des nordischen Freundes
und Kollegen auch in diesem Sinne dem gesamten
deutschen Publikum, nicht nur den Archäologen
und Historikern, sondern auch den Architekten und
Kunstfreunden, aufs angelegentlichste. C. v. L.
FÜHRER DURCH RÖMISCHE GEMÄLDESAMMLUNGEN.
ER Katalog der Kunstschätze
der Villa Borghese von
Adolfo Venturi bildet den
vierten Band in der von
demselben Verfasser in der
Collrzione Edeliveiß publizir-
ten Serie von Führern durch
römische Sammlungen, von
denen die Gemäldegalerie des Kapitols, die Villa
Farnesina und die Vatikanisclie Bildersammlung be¬
reits ISffO erschienen sind. Venturi hat im Vorwort
zu dem Katalog der Kapitolinischen Galerie den
Zweck dieser Fülirer daliin bestimmt, dass sie den
Besucher römischer Sammlungen über die einge¬
fleischten Irrtümer und grundlosen traditionellen Zu¬
schreibungen aufklären, ihn auf die Werke von un¬
bedingtem Werte aufmerksam und mit den neuesten
Besultaten der wissenschaftlichen Kritik vertraut
machen sollen, um ihn in den Stand zu setzen, sich
über die streitigen Punkte selbst ein Urteil zu bilden
und somit einen wirklichen Gewinn aus dem Studium
der Kunstschätze zu ziehen. Und jeder, der diese
Führer benutzt hat, wird Venturi Dank und Aner¬
kennung zollen für die treffliche und geschickte
Lösung dieser Aufgabe, umsomehr, als er frei von
jedem Autoritätsglauben mit scharfem Blick wesent¬
lich zur Klärung wichtiger stilkritischer Probleme
beigetragen hat. Da die wohlfeilen , gut illustrirten
Bändchen leider nicht die Verbreitung gefunden
haben, die sie ihrem Werte nach beanspruchen, so
möchte es nicht überflüssig sein, gelegentlich des
Erscheinens des Kataloges der Borghese-Sammlung
mit wenigen Worten auch der wichtigsten von den
von anderer Seite ausgesprochenen Attributionen
abweichenden Bestimmungen Venturi’s in den frühe¬
ren Führern zu gedenken.
Keine der römischen Sammlungen scheint so
reich an Erzeugnissen der ferraresischen Schule wie
die Kapitolinische; Venturi lässt in scharfer Kritik
nur einen verschwindend kleinen Teil als wirklich
der großen Namen würdige Ware gelten. Dem
Dosso IJossi lässt er nur die große heilige Familie
FÜHRER DURCH RÖMISCHE GEMÄLDESAMMLUNGEN.
271
(Nr. 145), die er mit Recht als eine seiner farben¬
prächtigsten, grandiosesten Schöpfungen feiert, ent¬
gegen dem absprechenden Urteil Morelli’s; von Garo-
falo erkennt er nur das kleine Madonnenbild (Nr. 44),
eine Jugendarbeit unter dem Einflüsse seines Lehrers
Boccaccino, und die tiefgestimmte kleine hl. Familie
(Nr. 30) als eigenhändige Werke an. Während er
die Einzelgestalten des Nikolaus von Bari (Nr. 87)
und des Sebastian (Nr. 79), die von Morelli für frühe
Arbeiten Garofalo’s erklärt werden, im Katalog nur
einem dem Ortolano nahestehenden Künstler znweist,
giebt er sie jetzt diesem großen Zeitgenossen Dosso’s
und Tisi’s selbst. In dem anziehenden feinempfun¬
denen Mädchenporträt unter Giambellino’s Namen
(Nr. 207) erkennt Venturi eine Arbeit des Ercole Grandi,
während Morelli an Amico Aspertini gedacht hatte.
Für das männliche Profllbildnis (Nr. 146), das in der
Galerie ganz grundlos auf Petrarca getauft und eben¬
falls dem Giovanni Bellini zugeschrieben ist, nennt
auch Venturi keinen anderen Meister als dessen
Bruder Gentile, den schon Morelli in Vorschlag ge¬
bracht hatte. Und doch kann ich nichts Venetia-
nisches darin Anden , vielmehr weisen die scharfe
Profllzeichnung, das helle Inkarnat mit den rosa
Lichtern, der blaue Grund, die violette Farbe des
Gewandes auf einen Florentiner , nur fern auf
Domenico Veneziano als Verfertiger hin. Auch Ven¬
turi ist, wie ich erfahre, unterdessen zu der gleichen
Erkenntnis gelangt. Hingegen nicht einem Floren¬
tiner aus der Schule Ghirlandajo’s, wie Venturi nach
dem Vorgang von Crowe und Cavalcaselle annahm,
sondern einem Piemontesen und zwar dem Macrino
d’Alba gehört die früher Botticelli zugeschriebene
Madonna mit Nikolaus und Martinus (Nr. 36) an. ln
Formengebung, Gewandbehandlung und Landschaft
stimmt sie durchaus mit den bezeichneten Bildern
dieses Meisters in der Certosa bei Pavia und im
Museum zu Turin überein.
ln dem in knapper Darstellung alles Wissens¬
werte über den Erbauer und die Baugeschichte der
Villa bietenden Führer durch die Farnesina stimmt
Venturi in der Scheidung der verschiedenen Schüler¬
hände bei der Ausschmückung des Psychesaales im
wesentlichen mit Crowe und Cavalcaselle überein.
Die Frage, ob der Kolossalkopf im anstoßenden
Raume von Peruzzi oder Sebastiane del Piombo her¬
rühre, — denn an Michelangelo hat man doch nie¬
mals ernstlich denken können, — bleibt hierbei un¬
entschieden, wiewohl der Kopf in der That genau
dieselben Züge hat wie die Putten Penozzi’s an der
Decke , nur ins Kolossale vergrößert. Diesem letz¬
teren weist Venturi den Entwurf und zum grö¬
ßeren Teil auch die Ausführung der gesamten
Dekoration des großen Saales im ersten Stock der
Villa zu, in der man verschiedentlich die Hand des
Giulio Romano hat erkennen wollen.
In dem Führer durch die Vatikanische Galerie
zieht der Verfasser energisch gegen die unsinnigen
traditionellen Benennungen zu Felde. Die Gozzoli
zugewiesene Predella mit den Wundern des heiligen
Hiacynthus ist für ihn ein sicheres Werk des Fran¬
cesco Gossa, zeitlich den Fresken im Palazzo Schifa-
noja nahestehend, die Mantegna zugeschriebene Pieta
gilt ihm hier zwar noch für eine Arbeit des 3Ion-
tagna, unterdessen ist er jedoch zu der Einsicht ge¬
langt, dass es sich vielmehr um ein Werk des
Buonconsiglio handelt, aber nicht um eine Kopie
dieses Meisters nach einem verschollenen Bilde des
Montagna, wie Morelli annahm, sondern um eine
Originalarbeit des Marescalco unter dem Einflüsse des
Giovani Bellini. Die Francesco Francia genannte
Madonna mit Hieronymus wird dem Boateri, von dem
ein bezeichnetes Bild im Palazzo Pitti sich befindet,
zugewiesen, die hl. Familie Garofalo’s nur als alte
Kopie nach diesem aufgeführt. In der Landschaft
auf Raffael’s „Madonna di Foligno“ erkennt auch
Venturi die Mithilfe des Battista Dosso, leugnet
dagegen mit Recht des Urbinaten Mitarbeit an Peru-
gino’s „Auferstehung Christi“. Die „Madonna della
Cintura“ ist trotz der Bezeichnung kein Werk des
Cesare da Sesto, sondern eine geleckte unerfreuliche
Arbeit eines späteren Lombarden, der segnende Chris¬
tus eine carraceske Kopie wahrscheinlich nach dem
untergegangenen Bilde Correggio’s in S. Maria della
Misericordia in Parma.
Angaben über Bilder und Skulpturen zugleich
enthält der umfangreichere Katalog der Sammlung
Borghese. Da ich an anderem Orte ausführlicher
darauf einzugehen gedenke, so seien hier nur einige
der hauptsächlichsten darin ausgesprochenen, mit
Morelli’s Urteil in Widerspruch befindlichen Bilder¬
bestimmungen erwähnt. Das von Lermolieff für
eine Arbeit aus BotticeUi’s Bottega ausgegebene
Rundbild der Madonna mit Engeln und dem Jo¬
hannesknaben (Nr. 348) wird richtig dem Meister
selbst zurückgestattet ü , für die Verlobung der hl.
1) Bei dieser Gelegenheit will ich zwei bisher unbe¬
kannte echte Bilder dem Werke Botticelli' s hinzufügen.
Sie befinden sich im Besitz des Principe Pallavicini zu Rom.
Das eine ist eine kleine Tafel unter dem Namen Masaccio
und stellt die büßende Sünderin an der Pforte des Tempels (?)
dar, von ergreifend schwermütiger Stimmung in vollendet
272
KLEINE MITTEILUNGEN.
Katharina (Nr. 177) an Stelle Franciabigio’s Bucjiar-
dini in Vorschlag gebracht, die große hl. Familie
(Nr. 334) und die Halbfigur der Magdalena (Nr. 328)
werden Sarto selbst gelassen, das Kruzifix zwischen
Hieronymus und Cristoforus (Nr. 377) dem Fiorenzo
di Lorenzo an Stelle seines Schülers Pinturicchio zu¬
gewiesen. Nichts mit Raffael hat das männliche Bildnis
(Nr. 397) nach Venturi’s richtiger Ansicht zu schaffen,
es ist ein treffliches Werk des in seinen guten
Arbeiten so oft zu Gunsten seines Schülers ver-
koloristischer Behandlung, Ende der achtziger Jahre etwa
entstanden; das andere ist ein größeres Rundbild mit der
Madonna und dem Kinde, von zwei Engeln gekrönt und
mit dem Johannesknaben rechts, ebenfalls der späteren Zeit
angehörend. Eine in der Bottega ausgeführte Replik danach
befindet sich in der Nationalgaleide in London (Nr. 226).
Ein treffliches Jugendbild Sandro’s birgt auch die Sammlung
des Principe Chigi in Rom. Maria reicht dem auf ihrem
Schoße sitzenden Kinde eine Kornähre, die sie der von
einem Engel dargebotenen Fruchtschale entnimmt. In der
Mischung Fra Filippo’scher und Verrocchiesker Einflüsse
steht das Bild den beiden Jugendwerken Botticelli’s in den
Uffizien ganz besondei's nahe.
kannten Pe?‘ugino. Nicht nur nicht Sodoma, sondern
nicht einmal eine direkte Kopie nach diesem kann
die Leda mit dem Schwan sein (Nr. 434), ebenso
wenig gehört Francia selbst die Halbfigur des hl.
Antonius (Nr. 57) an, ein Werk seines Schülers und
Nachahmers Marco Meloni. Überzeugend wird der
grundverschiedene Kunstcharakter in den Bildern
des leeren Garofalo und des markigen Ortolano, welch’
letzterem unzweifelhaft die großartige Kreuzabnahme
(Nr. 389) angehört, dargethan, und die Unterschiede
in den Arbeiten der beiden Dossi klargelegt. Paolo
Veronese’s eigene Weise erkennt der Verfasser in
der Predigt Johannis (Nr. 137) und der Predigt des
hl. Antonius (Nr. 101), spricht dagegen mit vollem
Recht das schwache weibliche Bildnis (Nr. 143) dem
Giorgione ab.
Es ist nur zu wünschen, dass diese nützlichen
und handlichen Führer auch durch die übrigen
Privatgalerieen Roms fortgesetzt werden und über die
Sammlungen und Museen anderer italienischer Kunst¬
stätten sich ausbreiten mögen.
HERMANN ULMANN
KLEINE MITTEILUNGEN.
At?i häuMiclicn Herd, Originalradirung von Jos. üam-
henjer in München. Das vorliegende Blatt ist eine Wieder¬
holung der im Jahre 1892 ausgeführten Radirung, die neben
den bereits veröffentlichten Blättern von Th. Meyer-Basel
und Fr. ]Allniy den 2. Preis in der Radirungskonkurrenz
des Verlegers dieser Zeitschrift erlangte. Die Originalradi¬
rung war auf einer Zinkplatte ausgeführt und daher zum
Druck in größerer Auflage nicht geeignet; der Künstler er¬
bot sich jedoch aus freien Stücken, den Gegenstand noch¬
mals auf Kupfer herzustellen. Im großen Ganzen hat auch
ilie zweite Platte die gleichen künstlerischen Vorzüge wie
die erste. Die Preisrichter erkannten dem Werke trotz
einiger Mängel den 2. Preis zu, weil sich darin Talent,
gute Naturbeobachtung und strenge selbständige Art der
Wiedergabe au.ssprach. Jos. Damberger ist im Jahre 1867
als Sohn wenig bemittelter Eltern geboren worden. Er ab-
Holvirte zum Teil die Realschule und dort schon zeigte sich
bald der Hang zur bildenden Kunst. ,,lch sollte mich,“
teilt der Künstler darüber mit, „auf Anraten meines Vaters
im kunstgewerblichen Zeichnen ausbilden, weil ich nämlich
stets meine freie, oft auch die nicht freie Zeit dazu be¬
nutzte, Bilder, die in meinen Lehrbüchern mir begegneten
oder die der Zufall mir in die Hand gab, nachzuzeichnen.
Ungefähr ein Jahr lang versuchte ich diese Thätigkeit, die
mich aber nicht sonderlich befriedigte. Ich bat meine Eltern,
mich vollständig der Malerei widmen zu dürfen, der ich
dann mit ganzer Seele anhing. Im Jahre 1886 trat ich
in die Akademie der bildenden Künste ein und die Pro¬
fessoren W. Diez und Defregger wurden meine Lehrer.
Beide ließen mir vollständige Freiheit der Entwickelung
und für die mir dadurch gebliebene Selbständigkeit bin ich
ihnen sehr dankbar. Vor etwa vier Jahren erlernte ich
durch die liebenswürdige praktische Unterstützung eines
Kollegen die Technik der Originalradirung, in der ich mich
übte, aber vorerst nichts verööentlichte. Infolge der Auf¬
forderung zu einem Wettbewerbe von Originalradirungen
sandte ich eine Probe ein und der Erfolg, den das Blatt
erhielt, hat mich gereizt, in dieser Kunstart mich weiter
auszubilden.“
Herausgeber: Carl ton Lützoiv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von Auyust Pries in Leipzig.
AM HÄUSLICHEN HERD.
Vi.-rlay vcjn 1', A oecmatm iji Ijoipzicj
r,>ruck von L.Angerer in Berlin.
■y ,
Fig. 5. Die Sophienkirche in Konstantinopel.
DIE TRIANGULATUR IN DER ANTIKEN BAUKUNST.
VON 0. DEHIO.
MIT ABBILDUNGEN.
ON der Bedeutung der Pro¬
portionen für das architek¬
tonische Kunstwerk hier zu
sprechen, wäre überflüssig.
Weniger überflüssig ist es,
daran zu erinnern, dass die
kunstgeschichtliche For¬
schung die einschlägigen
Fragen unverhältnismäßig wenig erst gefördert
hat, ohschon Untersuchungen wie in neuerer Zeit
die ausgezeichneten und ergebnisreichen August
Thiersch’s wohl zur Nacheiferung reizen müssen.
Es ist aber ein offenbares Interesse der Ästhetik,
empirisch zu ergründen, mit welchen Mitteln ge¬
wisse anerkannte Meisterwerke der Proportionskunst
ihre Wirkung, die jedermann empfindet, vollbringen;
und ein ebenso offenbares Interesse der Kunst¬
geschichte, nach etwaniger Tradition in diesen Dingen
zu forschen. In meinen kürzlich veröffentlichten
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. V. H. 12.
„Untersuchungen über das gleichseitige Dreieck als
Norm gotischer Bauproportionen“ (Stuttgart, J. G.
Cotta’sche Buchhandlung, 1894) habe ich eine wich¬
tige Einzelregel eine Strecke lang zu verfolgen ver¬
mocht. Ich habe dort nicht nur an den Kirchen-
hauten der klassischen Gotik das gleichseitige Drei¬
eck als Proportionseinheit nachgewiesen, sondern auch
Beispiele für die Kenntnis und Anwendung dieser
Regel in der romanischen Epoche bis zum Jahre 1000
zurückverfolgt. Wie jeder Kenner der inneren Trieb¬
kräfte des mittelalterlichen Bauwesens zugeben wird,
ist es nun aber höchst unwahrscheinlich, dass eine
Bauregel von der Art der in Rede stehenden damals
erfunden sein sollte. So wird die Vermutung un¬
widerstehlich darauf hingedrängt, nach einer viel
älteren Tradition zu suchen. Wir werden die byzan¬
tinische, wir werden schließlich die antike Baukunst
in die Untersuchung hineinziehen müssen und eine
einfache psychologisch -ästhetische Erwägung sagt
35
274
DIE TRIANGULATÜR IN DER ANTIKEN BAUKUNST.
iius, dass wir zuerst beim Centralbau einzusetzen
haben.
Äußere Umstände nötigten mich, meine Unter¬
suchung dort, wo ich es gethan habe, abzubrechen
und eine Zeit lang ruhen zu lassen. Inzwischen
habe ich sie wieder aufgenommen. Das als mög¬
lich Vermutete hat sich als wirklich erwiesen: die
Triangulatur ist ein schon der Antike geläufiges
Prinzip. Da einige Zeit vergehen wird, bis ich in
der Lage bin, meine Untersuchung vollständig zu
veröffentlichen, fühle ich die Pflicht, wenigstens
durch diese vorläufige Mitteilung die Lücke, die ich
gelassen habe, auszufullen. Ich beschränke mich
dabei auf einige wenige Belege, die aber so gewählt
das Schema des gleichseitigen Dreiecks bestimmt
ist. Ja noch mehr als das: auch die Fassade der
Vorhalle ist nach dem nämlichen System propor-
tionirt. An unserer Figur lässt sich das in der
Weise demonstriren , dass wir die Breite der Vor¬
halle = C D eintragen, worauf sich zeigt, dass die
Spitze des entsprechenden Dreiecks in die Höhen¬
lage des Kranzgesimses fällt. Die letztere Beobach¬
tung ist von besonderer Bedeutung für das Ge¬
schichtliche des berühmten Bauwerks. Die gelehrte
Welt hat kürzlich mit Erstaunen die unwiderleg¬
lichen Beweise entgegengenommen, dass der gegen¬
wärtige Rundbau eine Schöpfung Hadrian’s und
nur die Vorhalle augusteisch ist. Aus dem Obigen
A c
Fig. 1. Das Pantheon in Rom.
sind, dass sie an der Sache keinen Zweifel lassen
werden.
Der suchende Blick wendet sich naturgemäß
zuerst auf den größten, berühmte, sten und besterhal¬
tenen Uentralbau des Altertums, das ranthmn. Die
beistehende Figur giebt den Läugenschnitt. Da das
centrale System des Planes durch die Eingangshalle
unterbrochen wird, muss aus dem Grundri.ss die
lichte Weite des Innenraums von Nische zu Nische
übertragen werden, was dem Abstand A — B gleich¬
kommt. Das auf dieser Basis errichtete gleichseitige
Dreieck trifft mit seiner Spitze genau den Scheitel
des aus dem Kuppelradius entwickelten Halbkreises.
Addirt man zu den Maßen des Inneren einerseits
die Höhe des Außensockels, andererseits die Dicke
des das Opeion einschließenden Kuppelringes hinzu,
so ergiebt sich, dass auch der äußere Aufbau durch
ergiebt sich nun aber doch das Bestehen eines in¬
nigen Bandes zwischen Vorhalle und Rotunde, wel¬
ches die Vermutung nahe legt, dass Hadrian sehr
wesentliche Bestimmungen aus dem augusteischen
Bau in den seinigen herübergenommen haben muss.^)
In derselben Weise proportionirt sind die großen
Rundsäle der Caracalla- und der Diodetiansthermen,
der sog. Minerva Medica, der Torre de’ Sdiiavi u. a. m.
Eine zweite Art der Verwendung zeigt der
Jupitertempel in Spalato (s. die Figur), der dem
gleichen Typus zugehörende Tempel des Portumnus
in Ostia, der Vestatempel in Tivoli.
Eine dritte das Columbarium der Freigelassenen
1) Während der Drucklegung wird mir von befreundeter
Seite mitgeteilt, dass neueste Untersuchungen auch die Vor¬
halle als hadrianisch erweisen sollen, wonach das Schluss¬
glied der obigen Erwägung entsprechend zu ändern ist.
DIE TRIANGÜLATUR IN DER ANTIKEN BAUKUNST.
275
des Augustus. Es ist ein oblonger Raum mit je
drei Nischen an den Längsseiten und je einer an
den Kurzseiten. Das über der Längenacbse des
Rechtecks aufgebaute Dreieck ABC bestimmt die
Höhe der Nischen,
das Dreieck PQR
würde der mut¬
maßlichen Höhe
der Decke gleich¬
kommen.
Sollen wirdie
Römer als die Be¬
gründer des durch
die obigen Bei¬
spiele hinreichend
klargestellten Ka¬
nons anseh en?
Sehr vieles deutet
daraufhin, dass sie
im monumentalen
Gewölbebau Schü¬
ler der hellenisti¬
schen Kunst ge¬
wesen sind. Die
hiermit aufgewor¬
fene Erweiterung
unserer Frage weiter zu verfolgen, ist leider un¬
möglich, da die Denkmäler uns gänzlich im Stich
lassen. Aber in grauer Vorzeit taucht die Spur
noch einmal auf. Die nebenstehende Figur zeigt
das sogenannte Grabmal des Tantalus in Phrygien.
Texier hat den Neigungswinkel des Tumulus noch
messen können: die daraus resultirende Höbe des
Fig. 2. Der Jupitertempel in Spalato. (Nach Dehio und v. Bezoi.d.)
angelangt. Wie der Tumulus die Urform alles Cen¬
tralbaus ist, so musste auch an seiner Silhouette
zuerst die geometrische Beziehung zwischen Kegel
und Dreieck zum Bewusstsein kommen. War ein¬
mal diese Abstrak¬
tion vollbracht,
dann war der
Schritt zur ab¬
sichtsvollen Rege¬
lung dieses Ver¬
hältnisses nicht
mehr weit. Man
kam auf das gleich¬
seitige Dreieck,
weil es unter allen
seines Geschlechts
das einfachste, das
am meisten typi¬
sche, das die
Gleichgewichts¬
idee am vollkom¬
mensten darstel¬
lendeist. Der Cen¬
tralbau in seiner
weiteren Entwik-
kelung führte es
als einen festen Erbbe-
dann durch alle Stadien
stand mit sich.
Durch alle Stadien! Ich übergehe die altchrist¬
lichen Denkmäler dieser Gattung, da sie nur wieder-
Fig. 3.
Columbarium der Freigelassenen des Augustus.
(Nach Canina.)
Grabmals verhält sich zum Durchmesser nahezu
genau wie der Perpendikel des gleichseitigen Drei¬
ecks zur Basis. Hiermit sind wir, wo nicht chrono¬
logisch, so doch logisch beim Ursprung der Methode
Fig. 4. Grabmal des Tantalus.
(Nach Perrot und Chipicz.)
holen, was längst feststand, um zum Schluss die
Aufmerksamkeit auf jenes gewaltige Bauwerk zu
richten, das den Markstein zwischen Altertum und
Mittelalter bildet, die Sophienkirche Justinian’s.
35*
276
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
Unsere Figur bietet den Längensclinitt. Der Grund¬
riss ist jedermann geläufig. Er zeigt, dass die
Wirkungseinheit des Raumes in dem großen mitt¬
leren Quadrat zusamt den in der Länge sich daraus
entwickelnden Halbkreisen beschlossen ist, während
die Nebenräume bloßer Hintergrund sind. Die Län¬
genachse wird durch die Schneidung der Halbkup¬
peln mit den anstoßenden Tonnengewölben einer¬
seits des Chores, andererseits des Eingangsraumes
bestimmt. Diesen Abstand tragen wir auf der
Grundlinie bei A und B ein. Das darüber errich¬
tete gleichseitige Dreieck trifft in seiner Spitze C
mit dem Scheitel der großen Centralkuppel mit haar¬
scharfer Genauigkeit zusammen. Der zusammen¬
gesetzten Natur der Komposition entsprechend sind
aber auch zahlreiche Unterabteilungen analog trian-
gulirt. Auf den Querschnitt kann ich hei der vor¬
geschriebenen engen Begrenzung meiner Mitteilung
nicht eingehen; nicht unterlassen möchte ich aber,
auf die drei wiederum gleichseitigen Dreiecke hin¬
zuweisen, durch welche die Grundlinie der Emporen
mit den Kämpferlinien der über jedem Raum auf¬
steigenden Kuppeln verknüpft wird; endlich auf die
der Seite des großen Dreiecks parallel laufende Linie
D G mit ihren bedeutsamen Schnittpunkten E und F.
Die altchristlichen Basiliken kennen die Trian-
gulatur ebensowenig wie die griechischen Tempel.
Sie gehört im Altertum allein dem Centralbau. Ihre
Übertragung auf den Longitudinalbau ist das Werk
des Mittelalters. Wie und wann dieser Vorgang sich
vollzogen hat, ist eine offene Frage, auf die ich
noch keine Antwort weiß. Über allem Zweifel steht
mir aber, dass die Triangulatur in der romanischen
und gotischen Baukunst nichts anderes ist als „Nach¬
leben der Antike“. Eine großartige Continuität
in den Grundsätzen der praktischen Ästhetik reicht
von den frühen Grabbauten des Orients bis zum
Pantheon der Kaiser Augustus und Hadrian, von
diesem zur Sophienkirche und von hier wieder zum
Straßburger Münster: — sie alle haben das gleiche
Grundschema proportionaler Schönheit zur Voraus¬
setzung.
GOETHE'S BILDNISSE
UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
VON E. LEHMANN.
(Schluss.)
IE einst Raftael’s Madonna
deir Granduca in einem
ärmlichen Häuschen erst
von Carlo Dolci’s Künstler¬
auge erspäht wurde, so
musste eines der schönsten
und bekanntesten Bildnisse
unseres Dichters, das Öl¬
gemälde von May aus dem Jahre 1779, lange
Zeit im Dunkel eines Trödlerladens harren, be¬
vor es 1^35 von August Lewald entdeckt wurde,
von dem es in den Besitz von Cotta überging. Wie
es den Weg aus den Gemächern der Herzogin Eli¬
sabeth von Württemberg, der Nichte Friedrich ’s
des Großen, bis zu jenem Trödler gefunden hat,
bleibt ein Rätsel. Genug, es ist gerettet, und unser
Blick kann sich an dem offenen Antlitz und den
feinen geistreichen Zügen weiden, die an die Sil-
,,Mehv Inhalt, weniger Kunst.“’
SHAKESPEARE.
houette von 1774 erinnern. Die Stirn ist weit und
hochgewölbt, die Nase leicht gebogen, der Mund
mit voller Oberlippe wie zum Kuss geschwellt, das
braune Auge mit herrlichem Glanz erfüllt, und aus
dem Ganzen leuchtet die liebenswürdig selbstbe¬
wusste Anmut, mit der „der schöne Hexenmeister“,
wie ihn Wieland nannte, alle Frauenherzen und
einen großen Teil der Männerwelt eroberte.
ln demselben Jahre zeichnete der Däne Jens
Juel den Dichter. Das Blatt enthält mehr, als was
man auf den ersten Blick herausliest; jedenfalls ist
es unter Hunderten das einzige, das den Dichter
hervorkehrt. Der Kopf ist leicht gehoben, fast Profil,
wie es Holbein liebt, das andere Auge gerade noch
zu sehen; der schwärmerische Blick kennzeichnet
ein strahlendes Seherauge.
Das Jahr 1780 ist durch die gewandt geschnit¬
tenen Anthing’schen Silhouetten vertreten, die einem
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
277
Konewka Ehre machen würden: Goethe mit etwas
zurückgebogenem Oberkörper in edler Haltung als
neuer „Geheimbderat“. Der zierlich gebundene Zopf
reicht bis zur Mitte des Rückens, die Hände sind
über der Brust verschränkt, der linke Arm hält den
Hut; der bis an das Knie reichende, die Gestalt in
schönen Linien zeigende Rock ist offen; an der Seite
hängt der Degen mit gewundenem Griffe. Tn der
Haltung ähnlich, aber nach rechts gewandt, ist der
im Besitze des Freiherrn ron Biedermann befindliche
land nach den Proben, die in der Bibliothek zu
Weimar und auf der Ettersburg stattfanden: „Nie
werde icb den Eindruck vergessen, den er als Orest
auf mich machte. Goethe war ein Apoll, hernieder-
ffestiegen, um die Schönheit Griechenlands zu ver-
körpern. Noch nie erblickte ich eine solche Ver¬
einigung physischer und geistiger Vollkommenheit
und Schönheit bei einem Manne.“
Weder die „Schiefgesichtigkeit“ Goethe’s noch
seine Blatternarben werden von den Besuchern be-
Goethe in den Ruinen Roms. Gemälde von J. F. Tischbein (1787).
Schattenriss. In allen diesen Bildern spiegeln sich
die Urteile der Mitwelt wieder, die — mit Aus¬
nahme von Veit’s Schilderung — sich nicht genug
thun können und in wahre Hymnen über die strah¬
lende Erscheinung des Dichters ausbrechen. Die
nicht so ohne weiteres zu beantwortende Frage:
„Ist Goethe schön gewesen?“ ist schon oft erörtert
worden, am ausführlichsten in der Wiener „Deut¬
schen Zeitung“ vom 1. Juni 1878. Als „Iphigenie“
in der ersten Gestalt vollendet war, erklärte Hufe-
sonders bemerkt. Beides scheint durch die Leben¬
digkeit des Mienenspiels und das Bedeutende in
den Zügen des Ehrfurcht und Bewunderung ein¬
flößenden Dichterhauptes vollständig verdeckt wor¬
den zu sein, obschon kein Zweifel an dem Vor¬
handensein der beiden „Schönheitsfehler“ möglich
ist. Das sprechendste Zeugnis dafür findet sich in
der von Weißer abgenommenen Gesichtsmaske, nach
der er ohne jede künstlerische Zuthat beinahe me¬
chanisch die bekannte Büste arbeitete. An ihr oder
278
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
an ihrer Photographie sieht man deutlich die Narben
am Kinn, an der Seite der Mundwinkel und Nasen¬
flügel, in der Nähe der Schläfen und über der
Nasenwurzel. Nur die lebhafte Tante Melber, wie
sie Goethe nennt, hatte scharfe Augen für die Ver¬
unstaltung des Lieblings, Bevor der kleine Wolf-
Harmonie der Erscheinung — haben sicher auch
andere äußere Umstände, sowie persönliche Neigung
und Stimmung das Ihrige dazu beigetragen und
eine eingehende Prüfung des Einzelnen unterdrückt.
Im Grunde kommt auch herzlich wenig darauf an.
Wurden aber diese und jene Einzelheiten bei Leb-
Goethe. Kreidezeichnung von Büry (1800).
gang von den Blattern befallen wurde, hatte sie oft
seine Schönheit ge])riesen; nach der Krankheit aber
l)egrüßte sie den Vater Goethe mit den Worten:
..l’fni Teufel, Vetter, wie garstig ist er geworden!“
Neben dem Ausdrucke des Erhabenen und An¬
mutigen in Goethe’s Gestalt und Gesicht — nur
seine etwas zu kurzen Beine störten im Alter die
Zeiten des Dichters beständig übersehen, so hatten
sie auch mit dem der Nachwelt zu überliefernden
Abbilde nichts zu schaffen. In uns, die wir Goethe
nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen haben,
zerfließt die in der Phantasie aufdämmernde Ver¬
körperung des Dichters unter dem rein geistigen
Eindrücke seiner Werke. So verstehen wir auch
Goetlie. Porträt von J. J. Schjieller (1829). Goethe. Kreiilezeiclmimg von F. Jagemann (1817).
280
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
die Worte öd()^ sjtvsxo jivsvfia^^ auf dem von
Bettina entworfenen Standbilde, einer Apotheose des
Dichters: in der Linken hält er die Leyer, die
Psyche zum Tönen bringt. Oder, wie Holtei treffend
sagt: „Wenn wir auf dem Titel eines gedruckten
Buches den Namen Goethe lesen, so ist es uns oft
unmöglich, ihn in unserer Phantasie mit irgend einer
Persönlichkeit in Verbindung zu bringen; gerade
weil er das rein Menschliche in allen Tiefen und
Höhen durchdrungen, scheint er uns so wenig an eine
körperliche Form gebunden, dass unsere Einbildungs¬
kraft sich kein Individuum dabei vorstellt. Uns ist
es die Dichtkunst selbst, die zu uns redet durch
den lebensreichsten deutschen Dichter.“
Die meisten der in Seitenansicht aufgenommenen
Bildnisse der jüngeren Jahre zeigen eine auffallende
Ähnlichkeit mit dem des Vaters; namentlich tritt
dies bei den Krauss’schen Bildern zu Tage, sowie
in der Silhouette von 1774, deren Umriss sich wie¬
derum fast vollständig mit der von Goethe’s Hand
herrührenden bekannten Profilzeichnung seiner
Schwester deckt. Die großen braunen, wunderbar
glänzenden und tiefblickenden Augen • — „sie blick¬
ten wie Töne eines Violoncello“, sagt Bettina —
sowie der liebliche Mund, der seine Formen, wie
die Weißer’sche Maske bezeugt, bis ins hohe Alter
bewahrte, sind ein Erbteil der Mutter. Ihre Züge
sind am treuesten in dem IIeuser’sch.en Pastell¬
gemälde erhalten, das jetzt neben den Bildern ihrer
Großenkel im gelben Zimmer des Goethehauses in
Weimar hängt. Jeden Zweifel an jener freundlichen
Übereinstimmung benimmt uns ein Bildnis aus dem
Jahre 1785, das Ölgemälde von Darhes, das eben¬
falls in Lebensgröße, aber mit geringer Wendung
nach links, ein treffliches Gegenstück zu dem Heuser-
schen der Mutter bildet.
Das Jahr 1786 ist der zweite wichtige Mark¬
stein in Goethe's Leben. Die Sehnsucht nach dem
Wunderland der Hesperiden, dem Traume seiner
Jugend, lockte ihn „wie Zaubersaiten und Gesang“;
sie riss ihn vom Liebsten hinweg, was er in Weimar
besessen. Selbst Frau von Stein, die zehn Jahre als
seine Seelenführerin, als die liebe Begleiterin all
seiner Gedanken, als der unversiegliche Quell seines
Glückes in seinem Herzen gewaltet hatte, konnte
ihn nicht zurückhalten: „Und wieder gingen die
Sonnenpferde der Zeit, wie von unsichtbaren Geistern
gepeitscht, mit seines Schicksals leichtem Wagen
durch“, und diesmal hoben sie ihn zur Sonnennähe,
ln Italien rang sich sein Genius zur geistigen Klar¬
heit empor; losgelöst von allem Kleinlichen des
Berufs und des höfischen Lebens streifte er in tief¬
innerer Glückseligkeit die alten Schlacken ab. Sein
Abbild dieser Zeit ist das Apollohaupt der Trippel-
schen Büste, deren Porträtähnlichkeit größer ist, als
gemeiniglich zugestanden wird. Neben der Wei¬
marer Büste hat der jetzige Großherzog die Maske
nach dem Leben aufstellen lassen: selbst der Mund,
wie Lavater sagt, „voll genialischen Reichtums“,
den man als besonders idealisirt hinstellte, erscheint
beim Vergleiche als genaue Kopie des Lebens, und
nur die zu mächtigen Stirnlocken und das Wangen
und Hals umspielende Haargelock leiht der Büste
den genienartigen Ausdruck. Trippei hatte aber
den Zopf aus der Masche gelöst und die Haarfülle
gelockert, die antike Drapirung that das übrige
— und der Apollo war fertig.
In dem Briefe vom 12. September 1787 schreibt
Goethe aus Rom: „Meine Büste ist sehr gut geraten,
jedermann ist damit zufrieden: gewiss ist sie in
einem schönen und edlen Stile gearbeitet, und ich
habe nichts dagegen, dass die Idee, als hätte ich so
ausgesehen, in der Welt bleibt.“ Man hat aus diesen
Worten, ohne genauere Prüfung der übrigen Bild¬
nisse, schließen wollen, Goethe hätte selbst nicht an
die volle Ähnlichkeit der Büste geglaubt, ergo sei
sie nur ein schöner Schein und keine Wahrheit.
Dagegen ist einzuwenden, dass fast niemand im stände
ist, sein eigenes Bildnis so nachzuprüfen, — es sei
denn, dass er es Zug um Zug nachzufühlen und zu
bilden vermöchte, — namentlich aber dann nicht,
wenn die unmittelbare Umgebung, wie die Haar¬
tracht, der Faltenwurf, der Kragen oder Saumbesatz
in der Nähe des Halses sich ändert, wie es hier ge¬
schehen ist, wo die gewohnte Tracht der antiken
gewichen ist. Der Porträtmaler weiß, dass sogar
der Blick und der Gesichtsausdruck nicht allein
vom Auge und dessen umgebenden Partieen, sondern
auch, so wunderlich es erscheinen mag, von der
Zeichnung des Rockkragens abhängen kann; eine
einzige neue falsche Richtung vermag dem vorher
noch geistvoll blickenden Auge einen blöden Aus¬
druck zu geben und die freie Haltung in eine steife
und gezwungenene umzu wandeln. Verdeckt man
z. B. auf der Wiedergabe der auf hohem Postamente
gedachten David’schen Kolossalbüste nicht nur die
in die Länge und Breite gezogene Stirne, sondern
auch den unförmlich dicken Hals, so giebt sich die
Ähnlichkeit mit dem Dargestellten weit eher kund.
Ähnlich wie Goethe’s Verwandte äußert sich
Schöll über das Werk: „Trippei ’s Büste ist nicht nur
das realste, sondern auch das wahrste Bildnis, was
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
281
wir haben. Die Schönheit, den Apolloausdruck, der
zu ihrem weitläufigen Prädikat geworden ist, haben
von jeher alle Laien oft in der Meinung bewundert,
sie sei mehr Wirkung der künstlerischen Idealisi-
rung, als der Treue, wogegen naturkundige Kenner
und Künstler dem Bildner auch nach der Bildnis¬
individualität und atmenden Wahrheit seines Werkes
die Palme zuerkennen.“ Hierzu ist zu bemerken,
dass Schöll nicht das Arolsener, sondern das Wei¬
marer Exemplar im Sinne hat, das zwar dieselbe
geist greifbar hinstellen wollen, dessen Wesen nicht
nur das Erhabene und Ergreifende, sondern auch
das Kindliche und Übermütige in sich vereinigte.
Außer dem großen 7iroZ^)6’schen Gemälde aus dem
Jahre 1826, von dem der Meister das im Leipziger
Museum befindliche Brustbild entnahm, ist das Tisch-
heiii’^che. Gemälde das einzige Bild, das den Dichter
in ganzer Gestalt zeigt. Vor Rom in der Campagna
in langem faltigen weißen Mantel auf einem um-
gestürzten Obelisken hat er sich hingelagert; mit
Goethe. Skizze auf Schloss Arklitten bei Gerdauen.
Drapirung der Chlamys aufweist — nur die Spange
ist, statt durch eine tragische Maske, durch eine ver¬
zierte Buckelagraffe ersetzt, — aber die fast klas¬
sisch strengen Züge etwas gemildert erscheinen lässt.
Goethe bezeichnet seinen Aufenthalt in Italien
als den Höhepunkt seines Daseins, — kein Kunst¬
werk kann die glänzende Zeit dichterischen Schattens
besser verkörpern als die Trippel’sche Büste und
allenfalls noch das gleichzeitige große Tisclthein’sohe
Ölgemälde im Städel’schen Kunstinstitute zu Frank¬
furt a. M. Diese beiden Kunstwerke sind es vor
allen anderen, denen unsere Künstler die Grund¬
züge des Gesichtes und der Gestalt zu entnehmen
haben, wenn sie uns den allumfassenden Dicbter-
Zeitschrift für bildende Kunst N. F. V. II. 12
Goethe. Porträt von G. v. KÜgelgen (1810).
dem rechten Arme auf das Gestein sich lehnend,
blickt er sinnend und beschaulich in die Landschaft
hinaus. Im Mittelgründe erinnert ein antikes Flach¬
bild neben einem römischen Säulenkopf an „Iphi¬
genie“, und von da erstreckt sich bis in die duftige
blaue Ferne die wellige Campagna mit ihren Aquae-
dukten und Rundtürmen bis zum Monte Cavo. Der
Künstler hat sich weniger Tizian und van Dyck als
Holbein zum Vorbild genommen; die Umrisse sind
deutlich hervorgehoben, um auch im Kleinen das
Charakteristische erkennen zu lassen. In der Farbe
herrscht vollständig ein weißlich grauer Ton, doch
ist dabei die Modellirung plastisch, der weiße Mantel
auch in stofflicher Beziehung trefflich behandelt.
30
Goethe. Porträt von 0. Kiprix«ki (1823) Goetlie. Porträt von L. GEnr.F.its (I8.’t
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
283
Das Gemälde ist sclion dem Entwürfe nach das gro߬
artigste aller vorhandenen Bildnisse Goethes und zu¬
gleich Tischbein’s beste klassicistische Leistung, ein
Zeugnis des antiquarischen Enthusiasmus des Dich¬
ters und des Malers zugleich. Goethe selbst, der in
Rom bei Tischbein wohnte, schildert ausführlich, wie
das Bild entstand und wie sorgfältig der Künstler zu
Werke ging. Für die Drapirung des Mantels hatte
sich Tischbein von einem tüchtigen Bildhauer eigens
ein Modell von Thon machen lassen, wie es im
Museum zu Weimar nachgebildet erscheint. Was
den Gesichtsausdruck in unserem Bilde anlangt, der
trotz aller Energie nicht des Beschaulich-Heiteren
entbehrt, so wissen wir von Augenzeugen, u. a. durch
Angelika Facius, aus deren Händen das große Relief¬
bild Goethe’s im Museum zu Weimar hervorging,
sowie aus Marianne von Willemer’s Briefen, dass
die Außenseite des Dichters häufig den Stempel der
Unnahbarkeit trug, ohne dass er es eigentlich war.
Die ihm von Jugend auf anhaftende Gravität wich
sogleich, wo sein Anteil im Umgang mit anderen
angeregt wurde; namentlich war er stets von hin¬
reißender und bezaubernder Güte gegen Kinder; das
heitere Spiel eines liebevollen Lächelns verklärte dann
nocli lange seine Züge, dasselbe rein menschlich zu¬
trauliche Mieuenspiel, das uns in südlichen Physio-
gnomieen mehr als hier im graulichen Norden be¬
gegnet und entzückt. Goethe selbst schildert es
treffend in den oft angeführten Versen:
,,Hier ist das Wohlbehagen erblich.
Die Wange heitert wie der Mund.
Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich.
Sie sind zufrieden und gesund.“
Auch Angelika Kauffinann. versuchte sich zur
Zeit des zweiten römischen Aufenthaltes an Goethe’s
Porträt, aber mit wenig Glück. Etwas Süßliches,
mädchenhaft Zurückhaltendes spricht aus dem Bilde,
was dem Goetlie’sehen Wesen durchaus fremd war.
Es ist nie im Besitze des Dichters gewesen, hat
aber jetzt seinen Platz wohl für immer im gelben
Zimmer des Goethehauses neben dem Bilde der
Marianne von Willemer gefunden. „Angelika malt
mich auch,“ schreibt Goethe, „daraus wird aber
nichts. Es verdrießt sie sehr, dass es nicht gleichen
und werden will. Es ist immer ein hübscher Bursche,
aber keine Spur von mir.“ Einen Pseudo -Goethe
von Angelika besitzt das Leipziger Museum.
Die neunziger Jahre, die epische Zeit in Goethe’s
Leben und Dichtung, geben sich auch in einer be¬
stimmten Wandlung im Äußeren kund: der Apollo¬
typus beginnt zu weichen, und der Zeustypus tritt
Goethe. Skizze auf Schloss Arklitteu bei Gerdauen.
36*
Goethe. Porträt von J. K. Stielee (1828).
2S4
GOETHE’S BILDNISSE UND DIE ZARNCKE’SCHE SAMMLUNG.
allmählich au seine Stelle. Das einzige Bildnis von
wirklich künstlerischem Werte, das den Dichter im
mittleren Maunesalter darstellt, rührt von der Hand
des Zeichners und Kupferstechers Lips her. Zeich¬
nung wie Stich bekunden eine fast großartige Auf¬
fassung, ganz abweichend von seinen Bildnissen
Goethe’s aus früherer Zeit. Obwohl im Ganzen die
Ähnlichkeit gewahrt erscheint, blickt doch eine ge¬
wisse absichtliche Stilisirung hindurch, die im Ver¬
ein mit der geometrisch genauen Vorderansicht dem
Antlitz etwas medusenhaft Erstarrendes giebt, —
eine Eigentümlichkeit, von der kein Porträt en face
ganz frei ist, und wenn sein Schöpfer ein Dürer wäre.
Einen eigentümlichen, fast befremdenden Ein¬
druck machen auf uns zwei Bilder, die wenige Jahre
später entstanden sind: die Kreidezeichnung der
Charlotte Bauer und das Aquarell von Joli. Hcinr.
Meijcr, dem „Goethe -Meyer“ oder „Kunschtmeyer“,
wie er genannt wurde, der auch das bekannte Bild
von Christiane mit dem kleinen August auf dem
Schoße malte. Die genannten Bilder lassen sich
den physiognomischen Rätseln an die Seite stellen,
die vor zwanzig Jahren die Gartenlaube in zwei
Bildern Bismarck’s aus den Jahren 1846 und 1856
iliren Lesern auftischte und die sofort gelöst waren,
sobald man den Backenbart zudeckte. Auch Goethe
ist in jenen Bildern mit der an ihm ganz unge¬
wohnt erscheinenden Zierde versehen. Für uns kann
nur das iMeyer’sche Bild in Betracht kommen, das
der Bauer besitzt allzu geringe Ähnlichkeit. Auf
jenem trägt der Dichter außerdem zum erstenmal
ziemlich kurzes Haar, obwohl er, wie einige Goethe-
forscher behaupten, dem Zopfe noch bis in das Jahr
1810 gehuldigt haben soll; — doch ist der Streit
lim des Dichters Zopf bisher nicht mit Bestimmtheit
entschieden.
Schließlich gehört zu dieser Gruppe noch die
große Kreidezeichnung des Schweizer Malers Friedr.
Hury, die Goethe ganz besonders hoch schätzte; sie
hängt noch heute neben Christianen’s Bild an der¬
selben Stelle des Junozimmers seiner Wohnung, wie
ehemals hei seinen Lebzeiten. So wenig uns das
Bild auf den ersten Blick anmutet, so muss man
doch zugehen, dass es, wie sich Kanzler von Müller
ausdrückt, neben nicht zu leugnender Ähnlichkeit
auch den tiefen, kraftvollen, unerschütterlichen Ernst
und klaren Charakter des großen Mannes wieder¬
spiegelt.
I )ie Bildnisse des alternden Dichters sind zumeist
allen bekannt; unter ihnen befinden .sich die wohl-
thuendsten und anheimelndsten und auch die an¬
ziehendsten, sowohl was die Persönlichkeit des
Dichters als der Künstler anlangt. Die Maler rissen
sich förmlich um ihn, Könige und Fürsten sandten ihre
Künstler nach Ilm-Athen, und sein Bildnis machte,
wie seine Lieder, die Reise um die Erde. Die Reibe
beginnt mit Caroline Bardua, Jagemann und Kügel-
genViVidi QwdigiimiKiprinslcijStieler, Schmeller, Schwerd-
geburth und Preller. Sie alle versuchten zu erreichen,
was Mademoiselle Bardua’ s Vater von dem 1805
gemalten Bilde seiner Tochter behauptete: „Mit
diesem Bilde ist Goethe für die Nachsicht zufrieden.“
Das Ölgemälde, auf dem der Dichter mehr fromm¬
süßlich als geheimrätlich- steif erscheint, fand der
jetzige Besitzer, Herr Universitätsrat Dr. Meitzer, im
Anfang der achtziger Jahre in Legefeld, einem Dorfe
zwischen Weimar und Berka a. d. Hm, wo es eine
Zeit lang auf dem Hühnerboden gelegen hatte. Von
derselben Malerin, einer Schülerin Heinrich Meyer’s
und später Franz Gerhard Kügelgen’s, rührt noch
ein Bildnis Goethe’s her, das ihn in römischem
Kostüm darstellt und bereits von größerer Kunst¬
fertigkeit zeugt; auch das dilettantenhafte Bildnis
von Christiane, das jetzt im gelben Zimmer des
Goethe’schen Hauses hängt, stammt von ihrer Hand.
Die Bilder Jagemann’ s , der ebenso an Schiller
wie an Goethe mit glühender Verehrung hing —
er war einer von denen, die in der stürmischen
Nacht des 11. Mai 1805 die Leiche des Dichters
nach dem „Kassegewölhe“ trugen, — stammen aus
den Jahren 1806, 1807 und 1817 und sind ebenfalls
von ganz ungleichem Werte. Schon 1804 hatte
Herzog Karl August in seiner launigen Art an
Goethe den Besuch Jagemann’s angekündigt: „Da
du nunmehr deine Dachsmonate angetreten hast, so
kannst du auch ruhig deinen Kopf hinhalten, und
bitte dich ergebenst, solchen an Jagemann darzu¬
reichen, der schon alle Instrumente zur Operation
bereit hält. Nur eine große Praxis in der Kopf-
ahnehmerkunst kann aus ihm die Wirkungen seines
Talentes heraustreiben!“
Das erste von Jagemann’s Bildern, ein Pastell¬
bild im Goethehause, ist noch geringwertiger als
das der Bardua, — wahrscheinlich hat ihm der Dichter
dazu gar nicht gesessen; das zweite, ein Ölbild auf
Holz, jetzt in der Bibliothek in Weimar, zeigt sicher
große Ähnlichkeit, wenn es auch in dem sinnend
vor sich hinblickenden Antlitz die geistige Bedeu¬
tung des Dargestellten kaum ahnen lässt. Erst das
dritte Bild, die bedeutende lebensgroße Profilzeich-
nung aus dem Jahre 1817, hat des Künstlers Namen
verbreitet. Der Ausdruck des mächtigen Kopfes
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
285
hat etwas Gebietendes und Ernstes, Ruhiges und
Vornehmes; die sichere Strichführung in Umriss
und Schatten gebung erhöht den Eindruck des ener¬
gisch Lebensvollen und bestärkt unser Zutrauen
zur Treffsicherheit des Zeichners. Besondere Beach¬
tung verdienen die Schmeller’schen Bildnisse Goethe’s.
cj
Leider lässt sich die Zeit der Entstehung des besten
unter ihnen nicht genau feststellen. Zarncke ent¬
schließt sich in der chronologischen Übersicht für
1829; die Angaben schwanken zwischen 1825 und
1831. Jedenfalls sitzt der Kopf mit dem sicheren
Blicke viel energischer in den Schultern, als auf
der Zeichnung von 1830. Wer die 130 Bildnisse
von der Hand Schmeller’s im Goethehause gesehen
hat, wird an der treuen Wiedergabe des Dichter¬
antlitzes kaum zweifeln können.
Auch jenes Porzellanbild auf einer Muiidtasse
von Sebbcrs gemalt, zu dem Goethe über zwanzig
Sitzungen bewilligte und dessen minutiöse Porträt¬
ähnlichkeit von 3Icyer besonders hervorgehoben Avird,
stammt aus der letzten Lebenszeit des Dichters. Der
bekannte Goethebiograph Friedr. Förster, nicht
Goethe, schrieb dem Maler die bezeichnenden Verse
ins Album:
„Nun ich hier als Altmeister sitz’,
Rufen sie mich aus auf Straßen und Gassen,
Zu haben bin ich wie der alte Fritz
Auf Pfeiti'enköpfen und Tassen;
Doch die schönen Kinder, die bleiben fern.
0 Traum der Jugend, o goldner Stern!“
Der erste Versuch zu einer Ikonographie
Goethe’s wurde 1877 von Prof. Scliröer in Wien
gemacht. Sie ging aus dem Bestreben hervor, zur
Errichtung eines Denkmals Goethe’s die Anregung
zu geben. Auch in Leipzig sind hin und wieder
Wünsche laut geworden nach einem Staudbilde des
Studenten oder des Faustdichters Goethe. Sollte
es dem jungen Dichter gelten, Avie wir ihn uns
gern den PoetenAveg entlang nach dem Gohliser
Schlösschen zu Hofrat Böhme’s lustAvandeln denken,
so fände der Künstler, da die beiden Bildnisse der
Leipziger Studentenzeit verschollen sind, an den
Kestner’schen Silhouetten , an den Stichen von
Schmoll und Krauß , dem Melchior’schen Relief,
namentlich aber au den Klauer’schen Büsten den
physioguomischen Anhalt für sein Werk. Und will
er sie alle prüfenden Auges vergleichen, so muss er
die Zarnckc’sche Sammlung zu Rate ziehen.
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
VON KARL WO KR MANN.
(Schluss.)
IE merkwürdige Behandlung,
die man der Angelegenheit
in Dresden hatte angedeihen
lassen, erklärt sich zum Teil
allerdings aus einer am 20.
Jan. 1766, also einen Monat
vor Hagedorn’s Bericht, eigen¬
händig von Anton Raphael
Mengs in Madrid geschriebenen Eingabe an den
sächsischen Minister, die in der Tbat die Gehalts¬
rückstände seiner Schwestern betrifft. Nach der
Beendigung des siebenjährigen Krieges wurden näm¬
lich die rück-ständigen sächsischen Staats- und Hof¬
beamtengehalte mit einem gesetzlichen Abzug nach¬
träglich ausgezahlt. Ismael Mengs hatte damals für
acht Jahre und acht Monate (vom 1. Sept. 1755
bis 1. Mai 1764) zu 600 Thalern jährlich 5200
Thaler zu fordern; 20 vom Hundert betrug der ge¬
setzliche Abzug, er erhielt daher (1764) thatsächlich,
wie sich aus den Urkunden der „Cammer-Credit-
Casse“ ergiebt, 4160 Thaler. An Anton Raphael
Mengs und seine Schwestern aber hatte man bei der
Regelung der Rückstände nicht gedacht. Eben
deshalb meldete der Meister sich in jener Eingabe
vom 20. Januar 1766. Sie ist in deutscher Sprache
geschrieben und in manchen Beziehungen bedeutsam.
Der Meister beruft sich zunächst auf Zeitungsnach¬
richten über die Nachzahlung der Rückstände in
Sachsen. Dann betont er, dass auch er und die
Seinigen zu den Geschädigten gehörten. Für sich
bittet er aber um nichts, er bittet nur für seine
Schwestern. Bezeichnend für sein Selbstgefühl ist
der folgende Satz dieses Schriftstücks: „Sollte etwan
vor Verdienst angesehen werden können, seinem
Vaterlande Ehre zu machen, so bitte Unterthänigst
Ew. hochgräffl. Excellence Ihre Hoheiten zu erinnern,
dass ich der erste Sachse bin, so in der Wenigkeit
meiner Kunst den Waahn der Fremden überwunden,
2S6
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
und wo ich biß dato geweesen, auch der Erste ge¬
blieben, und ich vor meine Schwestern bitte.“ Dass
Mengs diplomatische Anlagen hatte, haben wir schon
früher gesehen. Er mochte überzeugt sein, dass,
wenn zu Gunsten seiner Schwestern entschieden
werde, man folgerichtig auch ihn nicht übergehen
könne. In der That entschied der „Administrator Xa-
verius“ in einem Erlass vom 6. August 1766, dass nicht
nur Anton Ra-
phael’s beiden
Schwestern, son¬
dern auch ihm
selbst die rück¬
ständigen Gehalte
ausbezahlt wer¬
den sollten. Seine
Schwestern erhiel¬
ten ihre Pensio¬
nen vom 1. Sept.
1755 bis zum 31.
Dez. 1763, dem
Tage ihrer Er¬
löschung durch
das oben erwähn¬
te Dekret, nachbe¬
zahlt: 8 Jahre und
4 Monate zu 300
Tlialern jährlich,
machte 2500 Tha-
1er. Bei dieser
Summe betrug der
„Abscho.ss“ nur 1 0
vom II lindert. Jede
von ilinen erhielt
dalier nocli 2250
Tlialer ausgezablt.
Bei Anton Ra-
})hael Mengs hin¬
gegen wurde an¬
genommen, dass
sein säcbsisclies
Gelialt Ende 1 760 mit seinem Übertritt in spani¬
sche Dien.ste erloschen sei. Er bekam die Rück¬
stände .seines .lahresgehalts von 1000 Thalern, das
liier aktenmäßig komstatirt wird, daher nur vom
1. Sept. 1755 bis zum 31. Dez. 1760, also für fünf
Jabre und vier Monate mit 20 vom Hundert „Abschoss“
nachbezahlt und erhielt dementsprechend 4266 Thaler
und 16 Groschen. Etwas war also für ihn bei seiner
Wiederanknüpfung des Briefwechsels mit Sachsen
doch heraus gekommen. Auch sehen wir aus einem
ferneren „unterthänigsten Vortrag“ Hagedorn’s vom
31. März 1769, dass man damals, als Casanova mit
seinem Abschied drohte, in Dresden erlistlich die
Möglichkeit erwog, Mengs zurückzuberufen. Doch
kam es nicht dazu und hätte, da man auch damals
für Mengs nur 1200 Thaler Gehalt jährlich aufzu¬
bringen gedachte, gar nicht dazu kommen können.
Allerdings aber verließ Mengs Ende 1769, von
seinem königli¬
chen Gönner be¬
urlaubt, Madrid,
um Rom und die
Seinen wiederzu¬
sehen. Er reiste
über Barcelona
und die Riviera.
Hier erkrankte er.
Lange lag er 1770
in Monaco, wo er
u. a., wie schon
bemerkt, die „Ma¬
donna zwischen
zwei Engeln“ der
Wiener Galerie
malte. Dann hielt
er sich noch län¬
gere Zeit in Genua
und Florenz auf.
Überall wurde er
glänzend als Stern
erster Größe em¬
pfangen, überall
arbeitete er oder
nahm er Aufträge
entgegen. In Flo¬
renz malte er die
großherzogliche
Familie für den
König Karl HI.
von Spanien, des¬
sen Tochter mit
dem Gros.sherzog Leopold von Toskana, dem nach¬
maligen Kaiser Leopold I., vermählt war. Diese
Bilder befinden sich im Madrider Museum. Erst im
Februar 1771 kam Mengs in Rom an. Die Urkunde,
durch die er zum Oberhaupt (Principe) der Accademia
di San Luca ernannt wurde, kam ihm schon nach
Florenz entgegen. Sein Wiedereinzug in Rom glich
in der That demjenigen eines Fürsten. Aber rastlos
begab er sich auch hier wieder an die Arbeit. Zu¬
nächst schuf er die ihrer Zeit hoch gefeierte, durch
Maelonua mit dem Kind.
Ölgemälde von A. 11. Mengs in der Kaiserlichen Galerie in Wien.
tyy*
i'S «VS
a-.’ÄW
--
Die Geburt Christi. Ölgemälde von A. R. Mengs im Museum zu Madrid. Stich von Rahpael Morghex.
288
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
J. K. Sliervin’s Stich bekannte Darstellung des
^Christus als Gärtner“ für All Souls College in Oxford.
Er soll 1000 Guineas für das Bild erhalten haben,
das vor kurzem innerhalb All Souls College seinen
Platz gewechselt hat, übrigens aber wohl erhalten
ist. Dann malte er, seiner Pflichten gegen den
König von Spanien eingedenk, für diesen, außer
einigen kleineren Bildern, seine berühmte „heilige
Nacht“, eine „Anbetung der Hirten“, durch die er
offenbar in unmittelbaren W ettstreit mit Correggio’s
„Heiliger Nacht“ treten wollte. Es ist jetzt neben
vielen Bildnissen das eigentliche Hauptwerk des
Meisters im Madrider Museum. Durch Raphael
Morghen’s seltenen Stich ist das Bild nicht so be¬
kannt geworden, wie es verdiente. Bekannter ist
J. A. Drda’s Stich nach der Wiederholung, die sich
früher in der Sammlung des Grafen Colloredo in
Prag befand. Diese ist, da A. Hirt (Kunstbemer¬
kungen auf einer Reise u. s. w. Berlin 1830) sie noch
1819 in Prag bewunderte, jedenfalls nicht identisch
mit der 1817 von einem Antiquar Braun erworbenen
(ob eigenhändigen?) Wiederholung in der Galerie
Liechtenstein in Wien. Bianconi erzählt, dass Mengs
1771, als die Kurfürstin Witwe von Sachsen in Rom
war, dieser eine Wiederholung des Bildes versprochen
habe. Dass er eine solche eigenhändig ausgeführt,
ist aber überhaupt nicht überliefert. Eine andere
Darstellung zeigt die kleine „Geburt Christi“ in der
Galerie Harrach zu Wien. Dass Mengs diese für
den Grafen Harrach gemalt, ist litterarisch überliefert.
Da Mengs aber einmal in Rom war, wollte
Papst Clemens XIV. aus der Familie Ganganelli, der
1709 auf Clemens XHT. gefolgt war, auch nicht leer
ausgehen. Er übertrug Mengs die Ausschmückung
fler Stanza de’ Papiri des Vatikans mit großen alle¬
gorischen Fre.sken. Der Künstler nahm den Auftrag
an und arbeitete, von seinem Schüler Unterberger
unterstützt, mit Unterbrechungen während der
ganzen beiden Jahre seines jetzigen römischen Aufent¬
halts an diesem utnfangreichen Werke, das von den
Zeitgenossen mit dem größten Lobe überschüttet
wurde. Die durch Cunego’s Stich bekannte Alle¬
gorie des Deckenbildes erscheint uns heute freilich
etwas ungenießbar. Die schöne junge „Storia“
schreibt auf dem Rücken des zu ihren Füßen
gekrümmten Flügelgreises „Tempo“ und lauscht
den Eingebungen des rechts neben ihr stehenden
zweiköpfigen „.Tanus“, der Vergangenes und Zu¬
künftiges schaut. Links kommt die „Fama“ herbei¬
geflogen u. s. w. Der Hauptreiz des Zimmers liegt
in der dekorativen Farbenfrische, die Mengs’ Fresken
eigentümlich ist. Jacob Burckhardt meinte, dass
diese Bilder „wenigstens wieder eine Vorahnung
des wahrhaft monumentalen Stiles“ gäben.
Inzwischen ließ Mengs sich, wie früher vom
sächsischen, so jetzt vom spanischen Hofe fortwährend
drängen, nach Neapel zu gehen, wo er für Karl HI
die dortige, ihm nahe verwandte Königsfamilie malen
sollte. Zu Anfang des Jahres 1773 finden wir ihn
in Neapel. Die Bilder des Königspaares befinden
sich im Madrider Museum. Im Frühling kehrte
Mengs nach Rom zurück, wo er jetzt noch einige
berühmt gewordene Bildnisse, nämlich diejenigen
des Kardinals Zelada, des spanischen Gesandten Azara
und des Barons Edelsheim malte und die letzte Hand
an die Stanza de’ Papiri legte. Dann begab er sich,
von Azara im Auftrag des Königs zur Rückkehr
nach Spanien gedrängt, mit seiner Gattin nach Florenz,
wo er nun, noch 1773, den „Traum Joseph’s“ der
Wiener Galerie für den Großherzog Leopold und
sein Selbstbildnis für die Uffizien malte. Bis ins
Jahr 1774 hinein blieb er in Florenz. Der Abschied
wurde ihm doppelt schwer, da seine Gattin sich im
entscheidenden Augenblick wieder nicht entschloss,
ihm nach Madrid zu folgen, sondern nach Rom zu¬
rückkehrte. Im Mai 1774 finden wir ihn in Turin;
erst im Juli dieses Jahres können wir ihn wieder in
Madrid nachweisen.
* ^
*
IX.
Nach Madrid zurückgekehrt, suchte Anton
Raphael Mengs seinen Wohlthäter für sein langes
Ausbleiben durch eine um so angestrengtere Thätig-
keit im königlichen Dienste zu entschädigen. Es
ist geradezu erstaunlich, was er hier in den nächsten
zwei Jahren noch alles schuf: an riesigen Decken¬
fresken vor allen Dingen seine Madrider Haupt¬
leistung, das Deckengemälde im königlichen Speise¬
saal, das die Vergötterung des in Spanien geborenen
römischen Kaisers Trajan darstellt, und das alle¬
gorische Deckenbild im Theater zu Aranjuez, das
die Vergänglichkeit irdischer Lust versinnlicht; dann
noch zahlreiche Kirchenbilder, weltliche Staflfelei-
gemälde und Bildnisse, und schließlich eine Reihe
seiner litterarischen Werke in den vier Sprachen,
die er so beherrschte, dass er sie druckfertig, wenn
auch nicht immer mustergültig schrieb.
Bald aber konnte es keinem Zweifel mehr unter¬
liegen, dass Mengs durch sein rastloses, fast möchte
man sagen wahnsinniges Arbeiten, wobei es ihm, da
seine Familie außerordentlich kostspielig lebte, auch
Gemaldf . A-R Menge.
Verlag y E A.Seerüann Leipzig,
DIB VERKÜNDIGUNG
(Kaiserliche Gemäldegaierio in Wien.)
Druck vrüA.Brockhaus, Leipzig
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Zeitschrift für bililende Kunst. N. F. V. H. 12.
87
DecUenbilil von A. R. Mengs in der Stanza de’ Papiri im Vatikan zu Pom. Stich von Cenego.
290
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
wesentlich mit um den Geldgewinn zu thun war,
seine Gesundheit vollständig untergrub. Ende 1776
war er fertig. Er erbat sieb von seinem hochherzigen
Könm die Erlaubnis, da er das Madrider Klima nicht
vertragen könne, ganz nach Italien zurückkehren zu
dürfen ; und er erhielt seinen Abschied unter wahr¬
haft königlichen Bedingungen. Ohne irgend eine
Verpflichtung zu übernehmen, behielt er die Hälfte
seiner Bezüge als
Ruhegehalt; dazu
erhielt jede seiner
fünf Töchter 200
Scudi Pension ;
und der König ver¬
sprach ihm , sich
seiner beiden Söh¬
ne annehmen zu
wollen.
Am 11. März
1777, einen Tag
vor seinem 49.
Geburtstage, kam
der Meister wieder
Rom an, wo
ihm nun nur noch
wenig mehr als
zwei .1 ahre zu leben
heschieden war.
Aber auch diese
zwei .lahre waren
noch reich an Ar-
heiten und Ent¬
würfen. Pa])stPius
VI. (1770-1795)
beehrte ihn mit
dem von den grö߬
ten Künstlern frü¬
herer .hihrhun-
derte als höchste
Auszeichnung he-
gelirten Auftrag,
ein großes Altarhlatt für die Peterskirche zu malen.
Doch vollendete er nur mehr den Karton des Werkes,
d(-: sen Gegenstand das „Weide meine Schafe!“ war.
Dagegen führte er gleich 1777 noch eine lebensgroße
I)arstellung der Befreiung der Andromeda durch Per-
eus aus. Für den l’erseus benützte er den Apoll des
Belvedere, für die Andromeda eine weibliche Gestalt
eines Peliefs in der Villa Pamfili. Das Bild gelangte
nach mannigfaltigen Schicksalen in die Ermitage zu
St. Petersburg, die in ihrem „Parisurteil“ noch
zweites großes mythologisches Werk der letzten(Jahre
des Meisters besitzt. Auch war er archäologisch
und litterarisch noch eifrig thätig. Seinen archäo¬
logischen Scharfsinn zeigte er z. B. in seiner Ab¬
handlung über die Niobidengruppe — in Gestalt
eines Briefes an Monsignor Fabroni, den Rektor der
Universität Pisa. In ihr stellte er zuerst die heute
allgemein "als richtig anerkannte Ansicht auf, dass
die zu dieser Grup¬
pe gehörigen, be¬
kannten , zumeist
in Florenz aufbe¬
wahrten antiken
Statuen nicht die
im Altertum be¬
rühmten Originale
des Skopas oder
des Praxiteles, son¬
dern nur spätere,
von verschiedenen
Händen ausge¬
führte Kopien
nach diesen seien.
Auf dem Gebiete
der neueren Kunst¬
geschichte
dage¬
Sell).stl)il(lni8 von A. li. Mengr. Ölgemälde in den Uflizien in Florenz.
ein
gen sind die „Me-
morie concernenti
la vita e le opere
di Antonio Allegri
denominato Cor¬
reggio“ seinHaupt-
werk, durch das
er in der That un¬
sere Kenntnis der
Lebensgeschichte
Correggio’s geför¬
dert hat, wenn
auch sein Schüler
Ratti später be¬
hauptete, das meis¬
te Material zu diesem Buche herbeigeschafft zu
haben. Doch würde es hier zu weit führen, Mengs’
wissenschaftliche Thätigkeit eingehend zu erörtern.
Immer wieder kehrte er von ihr zum künst¬
lerischen Schaffen zurück. Das letzte Werk, das er
begann, war wieder von Karl IH. von Spanien be¬
stellt. Es war eine große „Verkündigung Mariae“,
die als Altarblatt für die königl. Kapelle in Aran-
juez bestimmt war, aber, da der Meister sie nicht
ganz vollendet hinterließ, nicht an ihren Bestimmungs-
3v *
Das Urteil des Paris. Ölgemälde von A. R. Mengs in der Ermitage zu St. Petersbiirj
292
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
ort abgeliefert wurde. Sie blieb in Rom, wo sie 1816
für die kaiserliche Galerie zu Wien erworben wurde.
Dass das Werk unvollendet ist, sieht man ihm kaum
an. Nächst der , Himmelfahrt Christi“ in der katho¬
lischen Kirche, der „Anbetung der Hirten“ im Ma¬
drider Museum und einer vielgepriesenen „Grablegung“,
die sich wahrscheinlich noch im Schlosse zu Madrid
befindet, ist diese „Verkündigung“, deren Entwurf
sich ebenfalls in der Ermitage zu St. Petersburg
befindet, als Mengs’ bedeutendstes Altarwerk zu be-
zeichen. Das Bestreben, Correggeske und Raphaelische
Eigenart zu verschmelzen, tritt auch in diesem letzten
Gemälde des Meisters noch deutlich hervor. Seinen
reizvollsten Bestandteil bildet der Engelreigen, der
zwischen dem liebend in weißem Gewände aus den
Wolken herabschauenden ewigen Vater und der
Gruppe des großen Engels mit der heil. Jungfrau
zu vermitteln scheint.
Während Mengs noch an diesem Bilde malte, erlag
er seinen langjährigen Leiden. Seine Gattin, die er
über alles liebte, war ihm in den Tod vorangegangen.
Sie war am 3. April 1778 dem römischen Fieber
erlegen. Neunundzwanzig Jahre war er mit ihr
vermählt gewesen;' zwanzig Kindern, von denen sie
jedoch nur sieben überlebten, hatte sie das Leben
geschenkt. Seinem alten Schüler und Freunde Ratti
in Genua schrieb Mengs am 9. Mai 1778: „Kaum
war ich wieder aufgestanden, so erkrankte meine
liebe Frau an einem leichten Wechselfieber (una
legger terzana), das sich jedoch rasch in ein akutes
Fieber (febre acuta) verwandelte, an dem sie (mit
dem Beistand zweier berühmter Arzte) zu meinem
großen Schmerze am dritten des vergangenen Monats
April gestorben ist. Seit dieser Zeit habe ich schon
wieder Wechselfieberanfälle gehabt, auch werde ich
sehr von einem grausamen Husten und von Schmerzen
in der Brust und im ganzen Körper gequält, die mit
großer Schwäche verbunden sind. Andere Neuigkeiten
von hier kann ich Ihnen nicht mitteilen. Es bleibt
mir daher nur das Verlangen, Sie glücklicher als
mich zu wissen, wie ich es Ihnen von ganzem Herzen
wünsche.“ lin nächsten Jahre erlebte er noch die
Verheiratung zweier seiner Töchter. Die älteste,
Anna Maria, die 1751 in Dresden geboren war,
heiratete den damals berühmten spanischen Kupfer¬
stecher Manuel Salvador Carinona, der freilich einund¬
zwanzig Jahre älter war als sie. Die zweite heiratete
„einen gebildeten und wohlbemittelten Menschen“ von
Ancarona im Gebiete von Ascoli. Aber der Meister
selbst hatte keine PVeude mehr am Leben und war
von Todesahnungen erfüllt. Mehrfacher Wohnungs¬
wechsel half ihm nichts, die Zuziehung eines Quack¬
salbers [natürlich erst recht nichts. Sein Hausarzt
behielt recht. Als seine Leiche geöffnet wurde,
stellte sich heraus, dass seine Lunge ganz gesund
war und dass auch seine anderen Organe nicht tödlich
verletzt waren. Die Arzte sagten nun, er sei an
Überanstrengung, schlechter Ernährung und den
Folgen häufiger Wechselfieber gestorben. Bianconi
schildert seinen Tod mit folgenden Worten: „Anton
Raphael Mengs, der Ruhm seines Vaterlandes Sachsen,
Spaniens und Roms, starb 51 Jahre alt, am 29. Juni
1779; und er starb so voller Frömmigkeit und Geistes¬
gegenwart, als hätten die Kräfte seiner schönen Seele
sich nicht verringern, sondern nur alle auf einmal
erlöschen können.“
Nach seinem Tode flammte sein Ruhm eine
Weile heller auf als je. Azara, der spanische Ge¬
sandte in Rom, ließ seine Büste im Pantheon neben
derjenigen Raphael’s aufstellen. Ratti, Azara, Bian¬
coni und Guibal schrieben, wie erwähnt, seine Lebens¬
geschichte. Azara gab gleichzeitig seine litterarischen
Werke heraus. Die Kaiserin Katharina von Russland
gab Befehl, wie der damalige sächsische Gesandte
in St. Petersburg am 7. September 1779 nach Dresden
berichtete, „alle Gemälde aus der Verlassenschaft
des berühmten Mengs zu kaufen, sie mögen kosten
was sie wollen.“ Seine zweite Sammlung antiker
Gipsabgüsse — die erste hatte er dem König von
Spanien für die Madrider Akademie geschenkt —
wurde 1783 von der sächsischen Regierung für Dresden
angekauft. — Kunstwerke waren freilich auch das
Einzige, was er seinen Erben hinterließ, da seine
großen Einnahmen stets nur eben hingereicht hatten,
seine großen Ausgaben zu decken.
*
*
X.
Ein Blick in die Schriften des Meisters wird
unser Schlussurteil über ihn wesentlich erleichtern.
Dass er außerordentlich viel gekonnt, mehr gekonnt
hat als die meisten seiner Zeitgenossen, hat sich uns
freilich schon aus dem Verlaufe unserer Beobach¬
tungen in reichem Maße ergeben. Pecht sagt mit
Recht: „Die ganze Cornelianische Schule hat niemals
auch nur eine einzige Hand zu malen vermocht, wie
wir sie auf seinen Bildern finden.“ Wie es aber
mit seinem künstlerischen Wollen, seiner Stellung zur
Natur, seinem künstlerischen Geiste bestellt war,
darüber müssen seine Schriften, deren meiste ja
seinen künstlerischen Grundsätzen gewidmet sind,
uns die beste Auskunft geben. Wir brauchen in
ISMAEL UND ANTON RAPHAEL MENGS.
293
ilinen auch nicht lange nach seiner Meinung zu suchen.
Wiederholt er sie doch stets und überall mit etwas
anderen Worten!
Mengs geht zunächst von allgemeinen Ideal-
und Schönheitsbegriffen aus; »Die Schönheit ist die
Seele der Natur“, sagt er, und „die Schönheit erhebt
unsere Seele über die Menschheit.“ »Die Kunst
kann die Natur au Schönheit übertreffen.“ „Es kann
immer noch einen größeren als den größten Künstler
geben.“ „Kein Maler von allen denen, deren Werke
wir vor Augen haben, hat den Weg der höchsten
Vollkommenheit gesucht.“ „Ich will unter Ideal
die Wahl verstanden wissen, womit in der Natur
eine gute Auswahl zu treffen und nicht neue Dinge
zu erfinden.“ Um seine Auswahl treffen zu können,
wendet er sich den kunstgeschichtlichen V orbildern zu.
Alles Gotische ist abscheulich und barbarisch. Auch
alle Meister des 15. Jahrhunderts, einschließlich
Leonardo da Vinci’s, haben noch nicht sehen ge¬
konnt. Leonardo’s Manier sei trocken, er habe die
bezaubernde Kunst des Helldunkels nicht gekannt (!).
Sogar Michelangelo habe fehlerhaft gezeichnet. Kurz,
vor Raphael, Tizian und Correggio — und nach den
alten Griechen — habe es nur Maler gegeben, deren
Gemälde „ein wahres Chaos“ sind, „ungestalte Werke
solcher Künstler, die die Natur nachahmen wollten,
aber nicht konnten“. Dürer, der Barbar, hätte viel¬
leicht ein großer Meister werden können, wenn er
in Italien zur Welt gekommen wäre. So kommt er
zu dem Schlusssatz: „dass der Maler, welcher den
guten Geschmack, nämlich den besten Geschmack
erlernen will, folgende vier Muster studiren muss
nämlich 1) in den Antiken den Geschmack der
Schönheit; 2) an dem Raphael den Geschmack
der Bedeutung und des Ausdrucks; 3) an dem
Correggio den Geschmack des Reizes und der
Harmonie und 4) an dem Tizian den Geschmack
der Wahrheit und des Kolorits.“ Nachhinkt dann
das halbe Zugeständnis: »Übrigens muss er sich in
diesen verschiedenen Teilen dadurch vollkommen
machen, dass er die Natur beständig studirt.“ Man
sieht, es ist das sogenannte „eklektische Rezept“ in
eindringlichster Gestaltung.
Dass die Kunst erlernbar sei, was er ja an sich
selbst erfahren zu haben meinte, sagt er an anderen
Stellen; „Ich für meine Person wiederhole es noch
einmal und glaube fest, dass alles Schöne, was die
Menschen hervorgebracht haben , nach eben den
Grundsätzen wieder hervorgebracht werden kann“;
und „die Geduld überwindet alle Schwierigkeit“.
Die Gerechtigkeit erheischt allerdings, hinzuzu¬
fügen, dass er in seinen allerletzten Schriften, be¬
sonders in seinem Schreiben an Herrn Ponz vom
4. März 1776 (in spanischer Sprache geschrieben
und so zuerst abgedruckt iin sechsten Bande von
Ponz’ Viaxe de Espaüa, Madrid 1776, p. 186—259)
über die Gemäldeschätze im Schlosse zu Madrid,
doch eine wesentlich weitere und freiere kunst¬
geschichtliche Anschauung verrät, sich, rückwärts¬
schauend, wenigstens noch zu einem Lobe Domenico
Ghirlandajo’s aufschwingt und, vorwärtsblickend, wie
das freilich in Madrid auch nicht anders anging, zu
fast unbedingter Bewunderung des Velazcpiez ver-
steigt, von dessen „Teppichwirkerinnen“ gerade er an
dieser Stelle das bekannte geistvolle Wort gebraucht,
„es scheine, als hätte an der Ausführung dieses Werkes
die Hand keinen Anteil gehabt, sondern nur der
Wille den Pinsel geführt“.
Aber diese verspätete kunstgeschichtliche Ein¬
sicht hat weder seine eigene künstlerische Grund¬
anschauung noch sein eigenes Schaffen beeinflusst.
Jene zuerst angeführten Stellen aus seinen älteren
Schriften sind vielmehr der geti'eue Spiegel der ganzen
Mengs’schen Theorie und der ganzen Mengs’schen
Praxis. Nachahmung mit Auswahl! Zusammensetzung
des Ideals aus den besten Eigenschaften einiger er¬
lesener Meister! Unsere heutige Kunstanschauung
bewegt sich in entgegengesetzten Geleisen. Die Kunst,
die uns erwärmen soll, muss mit dem eigensten Selbst
des Künstlers durchgeistigt, mit seinem innersten
Herzblut getränkt sein.
Für uns ist Mengs, so sehr wir seine technische
Meisterschaft bewundern mögen, daher auch nicht der
Bahnbrecher einer neuen Kunstanschauung, sondern
nur der Nach geborene, der die Kunstentwickelung
der vorhergehenden 250 Jahre noch einmal in sich
zusammenfasst und verkörpert, indem er gewisser¬
maßen den Durchschnitt aus ihremKönnen undKennen
zieht. Unser Liebling, ein Liebling unserer Zeit und
unseres Volkes, dem er den Rücken gekehrt, wird
Anton Raphael Mengs nie wieder werden können.
Aber das darf uns nicht hindern, seiner kunstgeschicht¬
lichen Größe gerecht zu werden und ihn zu feiern
— ihn zu feiern als den ersten deutschen Meister
nach jahrhundertelangem Hinsiechen deutscher Kunst,
der es verstanden, die Augen der ganzen Welt auf
sich zu ziehen und den Ruhm deutscher Künstler¬
schaft wieder in den fernsten Ländern zu verbreiten ;
und wenn wir seiner gedenken, dürfen wir auch
seines Vaters Ismael- nicht vergessen, der ihn ab¬
sichtlich und zielbewusst gerade zu dem gemacht,
was er geworden ist,
MARIEN-LEGENDEN
VON ÖSTERREICHISCHEN CNADENORTEN').
MIT ABBILDUNG.
13 den Küustlern, welche be¬
rufen waren, das Juwel der
modernen Wiener Gotik, Fers-
tel’s herrliche Votivkirche,
mit Bildern zu schmücken,
gehört neben Führich und
Lauf berger auch Josef Mathias
Trciikwald, der gegenwärtige
Rektor der Wiener Akademie. In dem Kapellen¬
kranze, welcher das nach französischer Weise ge¬
staltete Chorhaupt des Gotteshauses umgiebt, finden
wir den Meister zunächst durch einen Cyklus farben¬
prächtiger Glasgemälde vertreten, deren Inhalt das
Marienleben bildet. Außerdem ziert die sieben Ka¬
pellen eine Reihe von in Tempera ausgeführten
Wandbildern, ebenfalls von Trenkwald’s Hand, in
denen uns die Legenden der Marianischen Gnaden-
II nd Wallfahrtsorte Österreich-Ungarns veranschau¬
licht werden. Im Januar 1880 im Aufträge des k.
k. Ministeriums für Kultus und Unterricht begonnen
und im September 1889 vollendet, steht dieses edle,
gestalten reiche Werk als die reifste, abgeklärteste
Schöpfung des tretflichen Wiener Meisters da, der
nacli dem Tode Führich’s der Hauptvertreter der
kirchlichen Kunst in Österreich ist. Die Heraus-
geljer des Cyklus in dem vorliegenden, schön aus¬
gestatteten Werke haben sich durch seine bildliche
Wiedergabe und sachgemäße Interpretation ein Ver¬
dienst erworben, das in unserer Zeit der Überflutung
mit Erzeugnissen stil- und würdeloser Mas.senarbeit
doppelt hocli anzuschlagen ist.
Die langgezogenen P'lächen der Kapellenwände
sind in ihren oberen Teilen mit einzelnen Propheten¬
gestalten, hervorragenden Marienverehrern und ent-
1) Zwanzig Bilder im Chor der Votivkirche in Wien
von./. M. Trenkiculd, in Holzschnitt ausgeführt von U W. Bader-
Einleitung und erklärender Text von Dr. Heinrich Swoboda,
Wien, „St. Norbertus“ Buch- und Kunstdruckerei. Fol.
sprechend gewählten typisclieu Figuren oder Sym¬
bolen ausgefüllt. Aber den eigentlichen Kern des
Wandschmuckes bilden die legendarischen Darstel¬
lungen, in welchen jedes Kronland der Monarchie
wenigstens mit einem seiner Gnaden- oder Wallfahrts¬
orte repräsentirt erscheint. Die 1 m hohe und 1,30
breite Fläche enthält entweder eine oder zwei neben¬
einander dargestellte Legenden. Das vorliegende
Werk führt die so gestalteten zwanzig Bilder auf
sechs Holzschnitttafelu vor, zu denen dann als Titel-
und Schlussvignette noch zwei Einzelbilder der
Maria hinzukommen, welche gleichfalls dem Ka-
pellenkrauz entnommen sind.
Die Freundlichkeit des Künstlers und der Heraus¬
geber setzt uns in den Stand, den Lesern eines der
Doppelbilder vorzuführen, in welchem ein Salzburger
und ein Siebenbürger Gnadenort vereinigt sind. Das
Bild zur Linken stellt die Legende von dem
Muttergottesbilde zu Maria Plain bei Salzburg dar,
das bei der Erstürmung und Verwüstung des kur¬
bayerischen Marktfleckens Regen durch die Schweden
(1633) unter Schutt und Brand sich unversehrt er¬
halten haben soll. Die Darstellung zur Rechten
gilt den Glaubenskämpfen der Szekler von Csik
Somlyö, während deren blutigem Ringen die Weiber
und Kinder in der Franziskanerkirche vor dem Bilde
der Gottesmutter auf den Knieen liegen, den Sieg
erflehend.
Das gewählte Beispiel lässt uns Trenkwald’s
Kompositions- und Behandlungsweise deutlich er¬
kennen. Er basirt das Ganze auf den bestimmt ge¬
zeichneten Umriss; in der Bündigkeit und Kürze
des Ausdrucks — sagt der Verfasser des Textes
mit Recht — erblickt er das natürlichste Mittel
monumentaler Klarheit. „Der Kern der Situation
wird herausgehoben, diese aber voll ausgesprochen.“
Allein trotz der strengen, bisweilen herben Formen-
gebung fehlt den Bildern Trenkwald’s keineswegs
MARIEN -LEGENDEN VON ÖSTERREICHISCHEN GNADENORTEN.
295
der malerische Reiz. „Poetische Wirkungen, die
nicht nur auf dem Inhalte beruhen,“ erklingen aus
den anmutigen Linien „wie aus einem von weicher
Hand ergriffenen Saitenspiele.“ Dazu kommt die
von einem romantischen Hauch umwehte Landschaft,
die in der tadellosen Rhythmik ihrer Linien wie in
den zarten Abstufungen ihres Kolorits einen wesent-
von Trenkwald’s Kunst zu getreuem Ausdruck. Dazu
ist zu bemerken, dass die Holzschnitte nicht etwa
nach Holzzeichnungen, sondern auf Grundlage von
Photographieen der Originalkartons gearbeitet sind.
Sie geben trotzdem den Charakter der Malereien
trefflich wieder. Die Umrisse sind bestimmt mar-
kirt, jede Einzelheit ist aufs sorgfältigste durchge-
Gemälde von J. M. Trenkwald.
(Aus den Marien-Legenden von österreichischen Gnadenorten, Wien, St. Norhertus.)
liehen Anteil hat an der schönen Wirkung des
Ganzen. Bei aller festen Anlehnung an den kirch¬
lichen Stil und dessen geistigen Gehalt spricht aus
den Bildern eine fein geartete Individualität, das
Innere einer echten Künstlerseele.
In Bader’s mit gewohnter Meisterschaft ausge¬
führten Holzschnitten kommt die Eigentümlichkeit
bildet und dabei der weichen, ruhigen Flächenwir¬
kung ihr volles Recht gelassen.
So stellt sich das Werk nicht nur als ein edles
Erbauungsbuch, sondern auch als ein stilvolles
Kunstbueb dar, das allen ernsten Betrachtern Freude
machen wird. c. r. L.
KLEINE MITTEILUNGEN.
* Bei der Versteigerung der gewählten Sammlung Adrian
Hope in London (durch Christie, Manson und Woods, 30. Juni
d. J.) wurden hohe, doch nicht exorbitante Preise erzielt.
Wir heben hervor: Jan Both, Landschaft, 580 Guineen (Col-
naghi), A. Canaletto, Canal grande 890 G. (Agnew), G. Co-
ques, Fanlilienbildnis mit vier Figuren, 170 G. (Sedelmeyer),
derselbe, desgleichen mit drei Figuren, 490 G. (Murray),
A. Cuyp, Große Landschaft mit Reitern, 2000 G. (C. Wert¬
heimer), derselbe. Zwei Reisende, 530 G. (Davis), Ger. Dou,
Der Flötenspieler, eines der feinsten Bildchen des Meisters,
von trefflicher Erhaltung (Smith, Suppl. 73), 3500 G. (Davis),
J. B. Grenze, Junges Mädchen am Fenster, 2900 G. (Besser),
B. van der Heist, Bildnis eines Offiziers, 780 G. (Agnew),
M. Ilobbema, Landschaft mit einem Bauernhaus im Mittel¬
gründe (Smith Nr. 99), sehr schönes, tadellos erhaltenes Bild
3000 G. (C. Wertheimer), P. de Hooch, Interieur, (Smith
Nr. 29), 2150 G. (C. Wertheimer), P. Lely, Bildnis der Mrs.
Claypole, Bild ersten Ranges, klar und von breiter Pinsel¬
führung, tadellos erhalten, 450 G. (Davis), N. Maes, Frau
am Pumpbrunnen in einer weiten Halle, Hauplbild der Samm¬
lung (Smith Nr. 12), 2860 G., G. Metsu, Frau mit Buch auf
dem Schoß, eine kleine Perle, warm und weich in der Farbe,
1200 G. (M. Colnaghi), Eglon van der Neer, Junge Frau
mit Guitarre, sehr schön und gut erhalten (Smith Nr. 27),
290 G. (Donaldson), A. Palamedesz Stevaerts, Junge Dame
am Tisch sitzend, reizvoll und fein, 220 G. (Colnaghi), Rem-
brandt, Bildnis der Petronella Buys, bez. und datirt 1G35,
ein Werk von erster Qualität (Smith Nr. 497), 1300 G. (C.
Wertheimer), derselbe, Bildnis des Nicholas Ruts, herrliches,
lebensvolles Bild mit besonders fein durchgebildeten Händen,
etwas schwärzlich im Ton, aus der Sammlung des Königs
Wilhelm 11. von Holland, 4700 G. (Agnew), Rubens, Bären¬
jagd in waldiger Landschaft (diese wohl von van Uden),
sehr schön in der Farbe, aus derselben Sammlung, 1660 G.
(Lawrie), Jac. Ruisdael, Wasserfall, sehr schönes, tadellos
erhaltenes Bild (Smith, Suppl. Nr. 114), 1660 G. , derselbe,
Landschaft mit verfallenem Befestigungsturm (Smith, Suppl.
Nr. 10), sehr schön, pikant im Ton, 610 G. (M. Colnaghi),
Jan Steen, Musikalische Unterhaltung, ungewöhnliche Kom-
jiosition von italienischem Charakter, höchst fein und treff¬
lich erhalten, 78t) G. (Agnewj, l^hil. Wouverman, Lagerscene,
! Smith Nr. 178), 700 G. (Sedelmeyer).
■ Bei H. O. fJntckunst’s Versteigerung in Stuttgart am
2.‘L April ff. d. .1. kamen eine Anzahl von hervorragenden
Stichen alter Meister der deutschen, holländischen und ita¬
lienischen Schulen sowie eine reiche Auswahl von Blättern
der englischen und französischen Meister des 18. Jahrhun¬
derts zum Aufschlag. Wir notiren einige der erzielten
l’reise: A. Altdorfer, Geflügelter Knabe (B. 46) 135 M. (Lon¬
don), ders., Bergige Landschaft (B. 70) 237 M. (Dresdener
Kabinett), ders.. Der Glaube (mutmaßlich Unikum) 460 M.
(An)sler), Jak. Binck, Christus (B. 14) 515 M. (Artaria), Fr.
V. Bocholt, Heil. Georg (B. .33) 8.50 M. (Gutekunst), Dürer,
Heil. Familie (B. 4.3) 3400 M. (Gutekunst), ders.. Die große
Fortuna (B. 77) 690 M. (London), ders. Holzschn., Heil. Jung¬
frau mit vielen Engeln (B. 101) 137 M. (Dresdener Kabinett),
ders,, Dürer’s Wappen (B. 160) 421 M. (Germanisches Mu¬
seum), Jacopo Francia, Bacchuszug (B. 7) 266 M. (Börner),
Th. C. V. Fürstenberg, Haupt Johannis des Täufers (Smith 1)
505 M. (Börner), H. Goltzius, Selbstbildnis (B. 164) 355 M.
(Bibliotheque royale, Bruxelles), W. de Heusch, Die zwei
Bäume (Dutuit 13) 660 M. (Amsler), H. Wechtlin, Alkyon
von Kreta, Clairobscur (B. 9) 280 M., J. le Ducq, Stehender
und liegender Hund (B. 10) 381 M. (Amsler), L, v. Leyden,
Saul vor David (B. 27) 780 M. (Danlos), ders.. Der Eulen¬
spiegel (B. 159) 1600 M., J. v. Meckenen, Tod der Lucretia
(B. 168) 870 M. (Danlos), ders., Großes Rankenornament mit
Liebespaar (B. 205) 1500 M., Meister mit dem. Krebs, Geburt
Christi (B, 3) 1571 M. (Danlos), Meister mit dem Vogel, Heil.
Sebastian, Clairobscur (wohl Unikum) 905 M. (Amsler),
Marcanton Raimondi, Heil. Jungfrau vor Christi Leichnam
(B. 35) 1320 M., ders., Heil. Cacilia (B. 116) 1100 M. , ders.,
Orpheus und Eurydike (B. 295) 790 M. (Dresdener Kabinett),
Rembrandt, Selbstbildnis im gestickten Mantel (B. 7) 1500 M..
ders., Selbstbildnis (B. 21) 3460 M. (Meyer, Dresden), ders.,
Landschaft mit dem dicken Turm (B. 223) 1805 M. (Amsler),
ders. , Jan Asselyn (B. 277) 2860 M. (Dresdener Kabinett),
Jac. Ruisdael, Das Getreidefeld (B. 5) 240 M., M. Schongauer,
Christi Geburt (B, 4) 1650 M., ders.. Das große Kreuz (B. 25)
1550 M., ders., Das Rauchfass (B. 107) 900 M., L. von Siegen,
Eleonora Gonzaga (Smith 2) 1400 M. (Dresdener Kabinett),
ders., Wilhelm Prinz von Oranien (Smith 3) 2500 M. (Amsler),
Augusta Maria von England (Smith 4) 2700 M. (Amsler),
Adr. van der Velde, Das Thor im Dorfe (B. 18) 400 M.
(Amsler), J. B. Weenix, Der stehende Ochse (Weigel 4)
435 M. (Amsler). — Debucourt, La promenade du Palais
Royal, 351 M. (Meyer, Dresden), Le compliment — Les
bouquets, 2 Bl. 460 M. (London), H. Fragonard, Les hazards
heureux de Tescärpolette, 235 M. (London).
S. Die Windmühle von August Holmberg, radirt von
W. Woernle, Der Maler dieses Bildes ist den Lesern der
Zeitschrift kein Unbekannter mehr. Es war oft Gelegen¬
heit, seine technische Fertigkeit, seine gediegene Charak¬
teristik, sein warmes Kolorit zu rühmen. Im 18. Jahrgang
findet sich ein kleines Blättchen, das er mit eigener Hand
trefflich radirte, „Santa Conversazione“ und eine unter
Leitung von E. Forberg ausgeführte Radirung seines „Nu¬
mismatikers“. Das vorliegende Blatt zeigt den vielseiti¬
gen Künstler als Landschafter. Holmberg wurde 1851 in
München geboren, begann als Bildhauer, ging 1868 zur
Malerei über und war Schüler von Wilh. Diez. Er hat
auch Stillleben gemalt, ist also, wie auch das vorliegende
Blatt zeigt, nicht nur „Geschichtsschreiber der Kardinäle“,
wie ihn Muther in der Geschichte der Malerei des 19. Jahr¬
hunderts nennt. In dem dort gefällten Urteil kommt der
Künstler entschieden zu kurz. Von. einem „reichen Kleider¬
schrank“, auf den Muther mit satirischer Wendung anspielt,
ist wenigstens in dem vorliegenden Blatte nichts zu be¬
merken, dessen Original den späteren Arbeiten kaum nach¬
steht.
Herausgeber: Carl von lAitxmv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann m Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
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