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ZEITSCHRIFT
FÜR
BILDENDE KUNST
Heraus creeeben
von
PROF. DR. CARL VON LÜTZOW
Bibliothekar der K, K. Akademie der Künste zu Wien.
MIT DEM BEIBLATT KUNSTCHRONIK
NEUE FOLGE
Sechster Jahrgang
LEIPZIG
Verlag von E. A. Seemann
Digitized by the Internet Archive
in 2018 with funding from
Getty Research Institute
I
https://archive.org/details/zeitschriftfurbi30unse
Inhalt des sechsten Jahrgangs.
Allgemeines.
Das Problem' der Form in der bildenden Kunst. Von
Dr. Fr. Carstanjen . . . • .
Architektur. •
Spanische Miscellen. Von C. Justi : II. Der Königliche
Palast der Habsburger in Madrid .......
(Nr. I s. N. F., Jahrg. V, S. 34.)
Thomar und Batalha. Von J. Bernjab .
Das Achilleion der Kaiserin Elisabeth auf Korfu. Von
G. v. Lützow .
Über das Restauriren von Baudenkmalen. Von M.
Schmid- Aachen . .
Das Münster in Bern . . .- .
Ein Denkmäler-Archiv .
Alte und neue Baukunst in Großbritannien Von A.
Rosenberg . 281,
Die Tempel zu Pästum. Von Dr. G. Warnecke . . .
Plastik.
Zwei Werke Michael Pachers. Von R. Stiassny . .
Karyatiden. Von P. Wolters .
Die neuen Dresdener Monumentalbrunnen. Von H. A.
Lier . .
Bode’s Denkmäler der Toskanischen Skulptur. Von
W. v. Seidlitz .
Arthur Volkmann. Von Dr. Eckstein .
Die Sammlung Barracco. Von E. Reisch .
Sphinx. Von Dr. J. Rberg .
Die Sockelbildung statuarischer Werke. Von W. P.
Tuckermann . 269,
Eine Rekonstruktion Joh. Seb. Bach’s .
Malerei.
Gottfried Keller als Maler. Von II. E. v. Berlepsch.
1, 45, 77,
Alte Kunstwerke in den Sammlungen der Vereinigten
Staaten. Von W. Bode . 13,
Seite
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Seite
Franz Stuck. Von C. v. Lützow . 20
Peter Paul Rubens. Von A. Rosenberg. III. IV. 61, 142
(Nr. I u. II s. N. F., Jahrg. V, S. 129, 225.)
Burne-Jones . 92
Von russischer Kunst. Von J. Norden .... 123, 153
Wieland und andere unentdeckte Gemälde von Anton
Graff. Von P. Weizsäcker . 128
Lombardische Miniaturen und Randleisten . 131
Das Badezimmer des Kardinals Bibbiena. Von Prof.
K. E. Hasse . 137
Ein Bildnis der Isabella von Österreich von Mabuse.
Von G. Justi . 161, 198
Daniel Chodowiecki als Maler. Von W. v. Öttingen . 185
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Maltechnik.
Van Eyck’s Tempera. Von E. Berger . . . 208, 240
•Arnos Cassioli. Von Isabella M. Anderton . 236
Die Gemälde -Galerie Doetsch in London. Von O. v.
Schleinitz . 244
Marie von Ebner-Eschenbacb. Porträt von J. Schmid.
Von Al. Necker . 249
Der malerische Stil. Von J. Strzygowski . 305
Graphische Künste.
Max Klinger’s Brahms-Phantasie. Von AI. Lchrs . . 113
Zur Geschichte der modernen Radirung. Von II. A.
Lier . 227, 252
Vierteljahrshefte des Vereins bildender Künstler Dres¬
dens. Von H. A. Lier . 334
Bücherschau.
Ein neuer Schwabenspiegel. ( A . Wintterlin: Württem-
bergische Künstler in Lebensbildern). Von O. Eisen¬
mann . 212
Die hellenistischen Reliefbilder, herausgegeben von Prof.
Dr. Th. Schreiber. Von R. Engelmann . 302
Zu Lermolieffs Gedächtnis. Von C. v. Lützow . . . 330
70
NB. Die kleinen Mitteilungen sind in das Register der
„Kunstchronik“ aufgenommen.
Illustrationen und Kunstbeilagen.
(Die mit f be'zeiehneten sind Einzelblätter. Die Abbildungen der auf mehrere Hefte verteilten Aufsätze folgen hintereinander).
Landschaft. Bleistiftzeichnung von G. Keller auf der
Stadtbibliothek zu Zürich . .
Bleistiftzeichnung von G. Keller .
Landschaft von G. Keller; im Besitze von J. Baeebtold
in Zürich .
Bleistiftzeichnung von G. Keller .
Am Wolfbach. Aquarellbild von G. Keller; im Besitze
von Frau Professor Frisch in Wien .
fFelsige üferlandschaft; Ölbild von G. Keller; im Be¬
sitze des Herrn W elti in München . zu S.
Bleistiftskizze von G. Keller .
Mittelalterliche Stadt. Bruchstück eines Entwurfs von
G. Keller; kopirt von H. E. v. Berlepsch . . . .
Blick vom Zürichberge. Aquarell von Gottfried Keller
Skizze von G. Keller .
Schweizer Kanoniere. Skizze von G. Keller ....
Studie von G. Keller .
Babeli Marti. Skizze von G. Keller .
Skizze von G. Keller .
Lorenzo de’ Medici. Thonbüste aus dem Atelier des
Verrocchio. Im Privatbesitz zu Boston .
(Aus dem Werke von P. Müller- Wald e : Leonardo da
Vinci. München. Verlag von G. Hirth.)
1 Porträt. Von .1/. v. Heemslcerk .
' (Unterredung. Gemälde von Pieter de Hooch. Aus der
Sammlung Havemeyer in New York .
* Aus der Gazette des Beaux-Arts. 1872. Bd. 1. 1869. Bd. 1.)
Porträt eines jungen Mannes von Rembrandt vom Jahre
1643. Sammlung Havemeyer in New York ....
Porträt einer jungen Frau von Rembrandt vom Jahre
1643. Sammlung Havemeyer in New York ....
Porträt einer alten Frau von Rembrandt vom Jahre
1640. Sammlung Havemeyer in New York ....
Verkündigung. Gobelin; italienisch XV. Jahrh. (Ferrara).
Aus der Sammlung Spitzer. Im Besitze des Herrn
M. A. Iiyeson in Chicago .
‘Studie zur Verfolgung. Von Fr. Stuck .
‘♦Studie zur Innocentia. Von Fr. Stuck .
‘Der Wächter des Paradieses. Gemälde von Fr. Stuck
♦♦Der Athlet. Statuette von Fr. Stuck .
I ranz Stuek. Gemälde von F. v. Lenbach. Helio¬
gravüre von Dr. E. Albert & Co. in München zu S.
“ ' Franz Stack. München. Verlag von
Dr. E. Albert & Co.)
Dezember'. Von Fr. Stuck. (Aus den fliegenden Blättern).
Buchhändler- Wappen von Fr. Stuck. (Aus dem Werke:
Allegorien und Embleme. Verlag von Gerlach &
Schenk in Wien) .
St. Michael. Schnitzfigur im Schlosse Matzen in Tirol
T Elefanten in ihrem Element. Ölgemälde von IV.
Kuhnert ; radirt von Fr. Krottewüx ... zu S.
Der Königliche Palast zu Madrid um die Mitte des
X\l. Jahrhundert-. Nach einer Zeichnung von A nt.
ran den MVyngaerdc .
B he Palast zu Madrid im XVII. Jahrhundert.
Nach einem anonymen Stich .
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Seite
Die Karyatidenhalle am Erechtheion zu Athen . . .
Karyatiden. Marmorreliefs im Berliner Museum . . .
Vom Thor des Heroons zu Gjölbaschi .
Tanzende Karyatide. Marmorstatue im Berliner Museum
fZigeunerknabe. Malerradirung von E. Klotz zu S.
fDie Taufe Christi. Zeichnung von P. P. Rubens (?)
im Louvre zu Paris . zu S.
Der heilige Gregor und andere Heiligen. Altarbild von
P. P. Rubens im Museum zu Grenoble. Holzschnitt
von R. Berthold .
Madonnenbild mit Engeln. Zeichnung von P. P. Rubens
im Museum zu Grenoble .
Der Hahn und die Perle. Gemälde von P. P. Rubens
im Suermondt-Museum in Aachen .
Romulus und Remus. Gemälde von P. P. Rubens in
der Galerie des Kapitols in Rom .
Die Krönung des Tugendhelden. Gemälde von P. P.
Rubens in der Dresdener Galerie .
Der trunkene Herkules. Gemälde von P. P. Rubens in
der Dresdener Galerie . .
Der heilige Franciskus im Gebet. Gemälde von P. P.
Rubens in Palazzo Pitti in Florenz .
*Aus EichendorfFs Taugenichts; illustrirt von H. Looschen 87 ,
*AusChamissos Peter Schlemihl; illustrirt von H. Looschen 88 !
*Aus Heines Harzreise; illustrirt von L. Stein ... 88 '
*Aus Hauff’s Phantasien; illustrirt von Adelb. Niemeyer 88 t
(* Aus den Modernen Elzevirausgaben. Verlag von Her¬
mann Seemann in Leipzig.)
•(■Die heilige Nacht. Originalradirung von K. Jahncke
zu S. 88
Stürmische Wogen. Monumentalbrunnen in Dresden
von R. Diez. Holzschnitt von Kaesebercj & Oertel 89 V
Stilles Wasser. Monumentalbrunnen in Dresden von
R. Diez. Holzschnitt von Brend’amour . 91/
Christus und die Frauen am Grabe. Gemälde von
Burne-Jones . 93
Die goldene Treppe. Gemälde von Burne-Jones . . 95 ;
Faun und Nymphe. Gemälde von Burne-Jones ... 96 /
Grundriss des Klosters Batalha . 100 /
(■Kloster zu Batalha. Gesamtansicht. Lichtdruck von
A. Frisch in Berlin . zu S. 101 *
Fontaine im Kloster Batalha . 102'
Fenster im Kloster Batalha . 105 f
fLandschaftsstudie. Originalradirung von P. Halm zu S. 142 ^
fAphrodite. Heliogravüre nach Max Klinger’s Radirung
zu S. 113 ^
Handzeichnung von Max Klinger . 113 V
Azaleenzweig. Handzeichnung von Max Klinger . . 118 i
Die frühere Villa Braila in Gasturi . . 119 v
Ansicht des Achilleion von der Einfahrtsseite .... 120 I
Ansicht des Achilleion von der Gartenseite .... 121 /
Aussicht von der Gartenterrasse des Achilleion . . . 122 /
Der verwundete Achill. Marmorstatue von E. Herter 127 f
Fürst Roman von Galizien. Ölgemälde von N.-B. Newreiv 123 c
Menschikoff im Exil. Ölgemälde von P.-A. Surikoff 125 v
37 V
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149 7
INHALTSVERZEICHNIS.
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Seite
Ein Rendezvous unter Freunden. Gemälde von TU.
Makowski . 153 v
Der Garten der Großmutter. Gemälde von TU. D. Polenow 156 r
Martin Wieland. Ölgemälde von Anton Oraff. (Im
Besitze des Herrn Sahrer von Sahr auf Dahlen in
Sachsen) . 129
*Der heilige Gregor. Miniatur aus dem Andachtsbuche
der Bona Sforza im Britischen Museum . 131 (
* Randleiste aus dem Andachtsbuche der Bona Sforza
im Britischen Museum . 132 j
♦Randleiste aus der Sforziade des Giovanni Simonetta
(1490). Britisches Museum . 133 '
(* Aus dem Werke von GL F. Warner, Miniatures and borders
from tlie book of hours of Bona Sforza. London 1894.)
f Originalradirung von H. Ulbrich . zu S. 136
fAm Wasser. Originalradirung von C. Th. Meyer-Basel
zu S. 137 v
Wanddekoration aus dem Badezimmer des Kardinals
Bibbiena im Vatikan zu Rom ...... 137, 140, 152 v
^Christus von Engeln betrauert, Relief von Donatello
im South-Kensington-Museum . 15S t
♦Martyrium des heil. Sebastian. Relief von Donatello 159 /
(* Aus dem Werke: Denkmäler der Renaissance-Skulptur
Toskanas in historischer Anordnung. Unter Leitung von
Wilhelm Bode, herausgegeben von Fr. Bruckmann.
München. Verlagsanstalt f. Kunst und Wissenschaft.)
tBeim Quacksalber. Heliogravüre nach einem Gemälde
von Werner Schuch . zu S. 160 ^
flsabella von Österreich. Gemälde von J. Mabuse.
Heliogravüre . . . zu S. 161 v
Bildnis der Isabella; gestochen von Jacob Bink . . . 162
Bildnis der Isabella aus der ehemaligen Ambraser
Sammlung . 163 <
Die dänischen Königskinder. Gemälde Mabuses in
Hamptoncourt . 165 1
Christiern II. von Dänemark. Gemälde in der König¬
lichen Galerie in Kopenhagen. Holzschnitt von Kaese¬
berg & Oertel . 167
Philipp der Schöne von Burgund, Gemälde von J.
Mabuse. (Nach einer Photographie von A. Braun &
Co. in Dörnach) . 199 (
Arthur Volkmann. Nach einer Photographie. Holz¬
schnitt von Kaeseberg o& Oertel . 169 ;
Amazone ihr Pferd tränkend. Marmorrelief von A.
Volkmann-, Holzschnitt von Kaeseberg & Oertel . . 170-,
Grabdenkmal für Hans von Marees von A. Volkmann 171 .
Erster Entwurf für das Denkmal Richard von Volkmanns
in Halle; von A. Volkmann . ... • ... . 172 ,
Bemalte Marmorbüste von A. Volkmann; Holzschnitt
von R. Berthold . 173 ^
Trierer Liebfrauenkirche. Fassade . 175 ,
Grundriss der Umgebung der Liebfrauenkirche in Trier 176
Entwurf für die Umgestaltung des Zugangs zur Lieb¬
frauenkirche in Trier . 177,.
Westansicht des Münsters zu Bern in seiner früheren
Gestalt vor 1890 . 180
Das jüngste Gericht. Relief von E. Kiing über dem
Portal des Münsters zu Bern . . . 181
Turmspitze des Münsters zu Bern . 182
Grundriss des Münsters zu Bern . 183
flm Atelier; Gemälde von J. J. Aranda ; Radirung von
Er. Krostewitz . zu S. 189
fln stiller Andacht. Originalradirung von O. Schultz
zu S. 216
Seite
Daniel Chodowiecki. Selbstporträt. Miniatur. Holzschnitt
von Kaeseberg & Oertel . 185 ,
Gesellschaft im Tiergarten zu Berlin. Gemälde von
Daniel Chodoiviecki im Leipziger Museum. Holz¬
schnitt von C. Köhnlein . 188
Eine Wochenstube. Gemälde von Daniel Chodowiecki 192
Kinderbild. Gemälde von Daniel Chodoiviecki . . . 193
Email camay eu. Von Daniel Chodowiecki. Holzschnitt
von Kaeseberg & Oertel . 197
♦Kalbträger . 202
♦Attisches Votiv-Relief . . . 203
♦Bärtiger Kopf . . 204
♦Cäsar . 205 Y
(* Aus dem Werke: La Collection Barracco publiüe p. Fr.
Bruckmann. München 1892—1894.)
**G. F. E. Wächter . 212
**K. J. B. Neher . 213 ,
**Ch. G. Schick . 213
(** Aus dem Werke von A. Wintterlin, Wiirttembergisclie
Künstler in Lebensbildern. Stuttgart 1895.)
Das Bismarckdenkmal in Leipzig . 215
fDorflandschaft. Gemälde von Wouter Knijff im städti¬
schen Museum in Leipzig, rad. von E. Liebsch zu S. 216
fDer Trinker. Originalradirung von W. Leibi . zu S. 233 ,
♦Der Sphinx bei den Pyramiden von Gizeh .... 217
(* Aus dem Werke von Ebers-Junghändel: Ägypten. Ver¬
lag des Cosmos in Berlin.)
Sphinx von Tanis, im Museum von Gizeh . 218
Widdersphinx . 219
Königssphinx . 219
Schreitender Sphinx auf Feinden. (Nach Perrot und
Chipiez) . 218
Weiblicher Typus einer Sphinx. (Nach Perrot u. Chipiez) 218
Assyrische Sphinx, eine Säulenbasis tragend. (Nach
Perrot und Chipiez) . 220
Ägyptischer König mit Sphinx kämpfend. (Nach Perrot
und Chipiez) . 220
Mykenische Sphinxe gelagert. Elfenbeinkamm aus
Spata. (Nach Perrot und Chipiez) . 221
Ägyptisirende Sphinxe auf einer Silberschale von Cypern
(Nach Perrot und Chipiez) . 221
Teller von Rhodos. (Nach Salzmann, Necropole de
Camiros) . 222
Detail der Francois- Vase. (Nach Ohnefalsch -Richter,
Kypros . 222
Terrakottarelief von Tenos. (Nach Stackeiberg) . . . 223 v
Sphinx und Oedipus. (Nach Overbeck) . . . i. . . 223
Von einer attischen Grabvase. (Nach Stackeiberg). . 223
Sphinx von einem lykischen Sarkophag. (Nach Hamdy
Bey und Th. Reinach, Necropole royale ä Sidon) . . 224
Sphinxvase. (Nach Compte rendu de la comm. archeol.
1870/71 . 225
Sphinxe. (Nach Ohnefalsch -Richter, Kypros) .... 226
Lesende Dame. Nach einer Original -Radirung von P. Hellen 229
Ansicht aus Rouen. Nach einer Originalradirung von
A. Brunet-Debaines . 232
Nach einer Original-Radirung von Seymour Heiden . . 252
Empire. Nach einer Originalradirung von Larsson . 254
Nach einer Originalradirung von A. L. Zorn .... 255
Nach einer Originalradirung von Seymour Heulen . . 257
Nach einer Originalradirung von H. Herkomer. . . . 258
fParting Ways. Nach einer Originalradirung von H.
Herkomer. Photogravure von O. Felsing in Berlin
zu S. 260
VI
INHALTSVERZEICHNIS.
fDer Balkon; Originalradirung von J. M. Whistler,
Lichtdruck von C. G. Roecler in Leipzig . . . zu S.
Ein Raucher. Nach einer Originalradirung von Pagliano
Nach einer Originalradirung von R. Haglund .
Der Himmelsbote. Gemälde von Arnos Cassioli . . .
Die Schlacht von Legnano. Gemälde von A. Cassioli
Der Erstgeborene. Gemälde von A. Cassioli . . . .
Francesca von Rimini. Gemälde von A. Cassioli . .
Porträt von Jan Schoreel .
Fräulein von St. Croix. Gemälde von A. van Dyck
Porträt von Frans Hals .
Frau, ihr Gewand anziehend. Gemälde von Tizian .
Der spanische Musikant. Gemälde von J. v. Velsen .
fMarie von Ebner-Eschenbach. Gemälde von J. Schmid.
Heliogravüre von J. Blechinger in Wien . . .zu S.
Eine Messbildaufnahme .
Tempel der Athena Nike in Athen .
Römisches Denkmal in Igel bei Trier . .
Krypta der Schlosskirche in Quedlinburg . . . . .
Inneres der Kirche zu Schwarzrheindorf .
Denkmal Friedrich des Großen in Berlin von Rauch .
Denkmal des großen Kurfürsten von Schlüter ....
Sockelbildung statuarischer Werke . 273, 274, 293,
Statuette der Parthenos .
Reiterstandbild des Marcus Aurelius in Rom. (Kapitol)
Reiterstandbild des Colleoni von Verrocchio (Venedig)
Gruppe im Parke von Caserta bei Neapel .
Seffners Büste von Joh. Seb. Bach nach Wegnahme
der linken Gesichtshälfte .
Johann Sebastian Bach. Ölbild in der Thomasschule
zu Leipzig .
vJob. Seb. Bach. Auf dem ausgegrabenen Schädel,
modellirt von C. Scffner, Lichtdruck von Sinsel & Co.
zu S.
GL idelandschaft. Originalradirung von W.Conz zu S.
Die Galiläa an der Kathedrale zu Durham. Erbaut
um 1175 .
Kathedrale von Licbfield. Westseite. Um 1280 . . .
Kreii/.gang der Kathedrale von Gloucester. Erbaut
1350—1410 .
i / College - Kapelle in Cambridge. Erbaut von
1440 1530 .
Halle des Middle-Tempel in London. Erbaut 1572. .
Vorhalle der Marienkirche in Oxford. Erbaut 1637
Holzhaus in Chester. Erbaut 1652 . . .
Badcliffe’ache Bibliothek in Oxford. 1737 — 1749 . .
Doppelhaus in London. Erbaut von Thomas E. Coleutt
Grundriss dazu .
Beau ftfanor in Looghborough. Erbaut von Jos. Naßh
Seite
260‘'
260
261
237.
238.
238
239
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245.
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246
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249
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298
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313
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Seite
House Aldersleigh. — New-Walk (Leicester). Erbaut von
Stoclcdale Harrison . 316
Theater und Restaurant Tivoli in London. Erbaut von
Walther Emden . 317*^
Haus am Cadogan Square in London. Erbaut von
Ernest George und Peto . . . . 31(j
fln der Lehre. Gemälde von L. v. Flescli- Brünningen ;
radirt von F. Krosteivitz . zu S. 304
Engel aus der Taufe Christi. Von Leonardo. Florenz 305'
Engel aus der Madonna in der Grotte. Von Leonardo.
London . 307 l'
Antenkapitell von der Basilika . 32V
Innenansicht der Cella des Poseidontempels .... 322 P
Die Cella des Poseidontempels, von der südlichen Halle
des Säulenumgangs gesehen . . 323/
Grundriss des Poseidontempels . 323/'’
Die Antenhohlkehle am Poseidontempel 'in größerem
Maßstabe . 324*
Ägyptisches Hohlkehlengesims mit aufrechtstehenden
Schilfblättern und der geflügelten Sonnenscheibe. (Nach /
Hauser) . . . 325 *
Ägyptisches Kapitell in Form des geöffneten Lotoskelches 325 ^
Ägyptisches Palmenkapitell. (Nach Hauser) .... 325
Terrakotta von einem Schatzhause in Olympia. (Nach
Bötticher, Olympia) . . . 326"
Sima vom Schatzhause der Geloer in Olympia . . . 326'
Kapitell aus Mykenae. (Nach Durm) . 326
Drei Kapitelle von Votivsäulen auf der Akropolis von
Athen. (Nach Bötticher. Die Akropolis von Athen) 327
Kapitell vom Demetertempel mit der Skotie . . . . 328
Kapitell vom Poseidontempel . 328
Kapitell vom nördlichen Tempel der Akropolis von
Selinunt. (Nach Hauser) . 328
Frieseinteilung am Demetertempel . 329
Büste Giovanni Morellis von Lod. Pogliaghi .... 330
*Madonna von Correggio. Florenz, Uffizien .... 331
*Frauenbildnis von Bartolamio de Venezia. Mailand,
Herzog G. Malzi . 332
^Männliches Bildnis von Antonello da Messina. Mai¬
land, Fürst Trivulzio . . 332
*Madonna in Terrakotta von A. Verrocchio. Florenz,
Museum von S. Maria Nuova . 333
(* Aus (lern Werke: Ivan Lermolieff, Kunstkritische
Studien über italienische Malerei. 3 Bände. Leipzig,
Verlag von F. A. Brockhaus. 1890—1893.)
fSommermittag. Originalradirung von F. Hollenberg
zu S. 336
yStudie. Kreidezeichnung von Emilie Mediz ■ Pelikan.
Lichtdruck von C. G. Roeder in Leipzig . . . zu S. 336
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
VON H. E. v. BERLEPSCH.
N den Besprechungen des
Romanes „Der grüne Hein¬
rich“1) von Gottfried Keller
findet sich nirgends der Hin¬
weis darauf, in wie tiefer
Weise dort das Schicksal ein es
Künstlers, sein Emporstreben
und sein Niedergang erfasst
ist. Und das bildet doch in dem Buche eigentlich
den Kern. Von vielen ist es bloß als eine glück¬
liche Beigabe angesehen worden. Diese Seite zu be¬
tonen, ist gewiss der Mühe wert und gehört mit zu
dem Nachfolgenden, in dem versucht wurde, den
Künstler Keller aus allem übrigen herauszuschälen.
Er hat sich über seine Jugendzeit, speziell über
die Maler-Periode in dem Aufsatze „Autobiographi¬
sches“ 2) flüchtig geäußert:
„In sehr früher Zeit, schon mit dem fünfzehnten Jahre,
wendete ich mich der Kunst zu; soviel ich beurteilen kann,
1) Die im Folgenden angeführten Stellen aus diesem
Buche und der Seitenhinweis beziehen sich auf die zweite
Bearbeitung des Romanes, 1889 erschienen in den gesam¬
melten Werken G. Keller’s, Verlag von W. Hertz, Berlin.
2) Veröffentlicht in der „Gegenwart“ Bd. X, Nr. 51 und
Bd. XI, Nr. 1 (1876 u. 1877).
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 1.
weil es dem halben Kinde als das Buntere und Lustigere
erschien, abgesehen davon, dass es sich um eine beruflich
bestimmte Thätigkeit handelte. Denn ein „Kunstmaler“ zu
werden, war, wenn auch schlecht empfohlen, doch immer¬
hin bürgerlich zulässig. Der Zufall, dass nur angebliche
Landschafter am Orte zugänglich für mich waren, entschied
für die Landschaftsmalerei, bei welcher ich denn auch bis
ungefähr ins dreiundzwanzigste Jahr verblieb, ohne jenes
Selbstkönnen und Leichtlernen in den Anfängen und dazu
noch stets übel beraten. Vor ein paar Jahrzehnten durfte
man noch nicht eine glänzende Kleckserei für eine Land¬
schaft oder überhaupt für ein Bild ausgeben. Dasselbe
musste mit Verständnis gezeichnet und technisch wohl vor¬
bereitet und fertig gemacht sein. Auf der anderen Seite
gerieten just um jene Zeit die gelehrten Landschaften,
welche ohne Farbe mehr einen litterarischen Gedanken als
ein gutes Stück Natur darstellten, welcher Richtung ich
mich eben wegen des Nichtkönnens mit Energie zuwendete,
auller Kurs, und es war nicht mehr möglich, mit derglei¬
chen zu Anerkennung oder gar zu einer akademischen Pro¬
fessur zu gelangen.“
Die malerisch-künstlerische Thätigkeit Keller’s,
über die Jakob Bächtolds Biographie zum ersten
Male Authentisches durch Briefe brachte, wird des
weiteren durch eine hübsche Zahl von Arbeiten
seiner Hand illustrirt. Sie befinden sich zum Teil
in dem auf der Stadtbibliothek zu Zürich befindlichen
Nachlasse, zum Teil sind sie im Besitze von Freun¬
den des Dichters. Auch ein auf dem Auer Tan-
1
9
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
delmarkt zu München gefundenes Ölbild, das sich
zur Zeit im Besitze des Herrn Weit! in Winterthur
befindet, hat sich erhalten.
Die hier wiedergegebenen Zeichnungen sind
zum Teil manuell nach den Originalen kopirt,
da diese durch Alter, Papierfarbe, Risse und
andere Umstände der mechanischen Reproduktion
Schwierigkeiten boten oder, wie bei den der Stadt¬
bibliothek in Zürich gehörigen, nicht erhältlich
waren. Leider war es gerade durch den letzteren Um¬
stand unmöglich gemacht, einige der hervorragend¬
sten und bezeichnendsten Blätter wiederzugeben.
Einiges ist durch den Verfasser dieser Zeilen kopirt
worden. Die unnötigen oder zufälligen Beigaben,
die sich gerade bei diesen Blättern vorfanden, wurden
weggelassen und nur auf das, was der Künstler eigent¬
lich wollte, das Hauptaugenmerk gerichtet. Sie
sind hierdurch nicht unverständlicher, eher klarer
geworden, z. B. der Riss der mittelalterlichen Stadt.
Wo es sich jedoch um den künstlerischen Strich
handelt, wurde Sorge getragen, dem Originale so
nahe wie möglich zu kommen.
Es kann sich hier nicht darum handeln, über
Dinge zu sprechen, die von kunstgeschichtlicher
Bedeutung sind; vielmehr soll die Rede sein von
den künstlerischen Jugendbestrebungen eines Mannes»
dessen Bethätigung im späteren Leben auf einem
anderen Gebiete als dem der Malerei lag, der aber
dennoch, selbst als sein Schriftstellername lange
schon zu den besten zählte, sich mit Aufgaben
malerischer Art, freilich ohne die Öffentlichkeit dar¬
über aufzuklären, beschäftigt und darin den Be¬
weis einer ausgegorenen Anschauung niedergelegt
bat. Er kann in dieser Beziehung das gleiche Inter¬
esse beanspruchen wie die Goncourts, wie Victor
Hugo oder Theophile Gautier, die, obschon in erster
Linie Schriftsteller, doch überall auch die Anschau¬
ung des bildenden Künstlers walten ließen.
*
* *
I. Die Jugendzeit .
Im Roman vom grünen Heinrich wird der
Vater des Helden „Heinrich Lee“ als ein geschickter
Steinmetz geschildert, der nach langer Wanderschaft
in der Heimat sich sesshaft machte und unter anderm
eine Kiste verwahrte, die mit Modellen, Zeichnungen
und Büchern angefüllt war. In Wirklichkeit war
der Vater Kellers ein Drechslermeister, „ein unge¬
wöhnlich geschickter Mann seines Handwerks“. Von
seiner Kunstfertigkeit zeugen noch vorhandene Ar¬
beiten: sein sog. Meisterstück, ein Schachspiel, ein
zierliches Nadelbüchschen, die als Aufsatzfiguren
für die Stockuhr der Familie gedrechselten kennt¬
lichen Büsten Goethe’s, Schillers und jenes im No¬
vember 1S18 gestorbenen Landvogtes Salomon Lan¬
dolt, dessen Gestalt der Sohn später so fein heraus¬
gearbeitet hat“1)- Mit 33 Jahren starb er; der
Sohn zählte fünf. Die Erziehung lag fortan ledig¬
lich in den Händen der Mutter, der von ihren sechs
Kindern nur der eine Knabe Gottfried und ein Mäd¬
chen, Regula, erhalten blieben. Die erste Jugend
verfloss, ohne dass äußerliche Ereignisse stark in
das Leben des Knaben eingegriffen hätten, es sei
denn die Gewaltthat des Schulmeisters, der den
Knaben um einer wunderlichen Ideenverbindung
willen, die er harmlos aussprach, heftig züchtigte
und zu züchtigen fortfuhr, als der Zögling nicht
weinte, sondern mehr erschrocken war. In seiner
Angst betete der Knabe bei dem neuen Überfall, der
ihm wie ein böser Traum vorkam: „sondern erlöse
uns von dem Bösen!“ worauf der Schulmeister zwar
abließ, aber der Mutter „versichern wollte, dass der
Schüler schon durch irgend ein böses Element ver¬
dorben sein müsste.“2)
Zeitig schon wirkt auf des Knaben Einbildungs¬
kraft das wandernde Sonnenlicht. Köstlich ist im
Roman die Beschreibung des kleinen Höfchens beim
elterlichen Hause und die Empfindung, die der
Sonnenuntergang wachruft, gegeben: „Gegen Sonnen¬
untergang jedoch stieg meine Aufmerksamkeit an
den Häusern in die Höhe und immer höher, je mehr
sich die Welt von Dächern, die ich von unseren
Fenster aus übersah, rötete und vom schönsten
Farbenglanz übersät wurde. Hinter diesen Dächern
war für einmal meine Welt zu Ende; denn den
duftigen Kranz von Schneegebirgen, welcher hinter
den letzten Dachfirsten sichtbar ist, hielt ich, da ich
ihn nicht mit der festen Erde verbunden sah, lange
Zeit für eins mit den Wolken.“ Frau Margret und
„Vater Jakoblein“ (derTrödler Jakob Hotz und dessen
Frau) tragen ebenso wie der Kreis ihrer Haus¬
genossen nicht wenig dazu bei, den Kopf des Kindes
mit allerlei seltsamen Vorstellungen zu füllen. —
1) Bächtold, Keller’s Leben I, 1.
2) Der grüne Heinrich I, 35: Der Knabe hatte schon öfter
das Wort Pumpernickel gehört, für das er sich keine leib¬
liche Vorstellung machen konnte. Als er in der Schule einst
das große P benennen sollte, das ihm einen wunderlichen
Eindruck machte, eben wie jenes unerklärte Wort, sprach
er plötzlich mit Entschiedenheit: Das ist der Pumpernickel !
Für einen solchen phantastischen und kindlichen Einfall
als durchtriebener Schelm geprügelt zu werden, war hart.
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
3
Ob das noch beute existirende, handwerklich außer¬
ordentlich flott und farbig gemalte Portrait des
„Meretlein“ seiner künstlerischen Qualitäten wegen
einen großen Eindruck auf den Jungen ausgeübt
habe, mag dahin gestellt bleiben. Wahrscheinlich
war es mehr die Zusammenstellung des frischen
Kinderporträts und des Totenschädels, die allerlei
Ideen sonderlicher Art wachrief. Seine phantastischen
Einfälle charakterisiren sich vorzüglich in der lügen¬
haften Erzählung von dem Spaziergang im „Bruder
Hölzli“ , die ein paar ganz unschuldige Knaben der
schulbehördlichen Strafe aussetzt *). In einer Theo¬
sophie, die sich unter den Büchern von Frau Mar¬
gret herumtrieb, findet er dann die Anregung zu Ex¬
perimenten, die ihm selbst bloß zum kleinsten Teile
verständlich sind. Er knetet aus Wachs verschiedene
embryonenhafte Gestalten: „In langen, schmalen Köl¬
nischwasserflaschen, denen er die Hälse abschlug,
baumelten ebenso lange schmächtige Gesellen an
ihrem Faden; in kurzen dicken Salbengläsern hausten
knollenartige Gewächse.“ Sie bekommen alle ihre
Namen: Sclmurper, Fork, Vogelmann, Schmerbauch,
Nabelhans u. s. w. Keller hat das Vergnügen an
dergleichen Phantasiegebilden auch später nicht
verloren, wie die Randzeichnungen, die er als Staats¬
schreiber in die Protokollbücher machte, darthun.
Die Spukgeschichte, die er dann mit diesen selbst
gemachten Kreaturen in der dämmerigen Dachkammer
aufführt, und das Ende derselben durch den Angriff
der scheugemachten Katze geben ein vortreffliches
Bild von dem seltsamen Gedaukenwuste, der sich in
dem jugendlichen Kopf angesammelt hatte2). Der¬
gleichen Geschichten fallen phantasielosen Kindern
nicht ein. Dann kommt die Zeit des Theaterspielens.
Vor allem aber ist es der Dekorations-Maler einer
Schauspielertruppe, der ihn mächtig durch seine
Arbeit anregt. „Es dämmerte die erste Einsicht in
das Wesen der Malerei.“ Dann folgen Schuljahre
und eine Reihe von Dingen, die weniger den künf¬
tigen Künstler als den heranwachsenden Menschen
angehen und endlich die an sich gar nicht so
schlimme Geschichte, die Kellers Entlassung aus
der Schule nach sich zog. Der nun beginnende
Lebensabschnitt trägt ^
im Grünen Heinrich ^ ^
den Titel: „Flucht
1) Der grüne Hein¬
rich I, 84.
2) Der grüne Hein¬
rich I, 103.
zur Mutter Natur.“ Der Hang zur Künstlerlaufbahn
bekommt bestimmte Form:
„Meine häusliche Beschäftigung hatte in letzter Zeit
beinahe ausschließlich im Zeichnen und Malen bestanden
und auch in dieser Hinsicht befand ich mich in einem son¬
derbaren Verhältnis zur Schule. Dort galt ich für nichts
weniger als für einen talentvollen Zeichner. Monatelang
klebte der gleiche Bogen auf meinem Reißbrette; ich quälte
mich verdrossen ab, einen kolossalen Kopf oder ein Orna¬
ment mit dem mageren Bleistift zu kopiren. Dutzende von
Linien wurden ausgelöscht, bis die richtige stehen blieb,
das Papier wurde beschmutzt und durchgerieben und ver¬
kündete einen faulen und verdrießlichen Zeichner. Sobald
ich aber nach Hause kam, warf ich diese Schulkunst bei¬
seite und machte mich mit eifrigem Pleiße hinter meine
Hauskunst. Nach einem ersten Versuche, eine gemalte Land¬
schaft zu kopiren, hatte ich fortgefahren, dergleichen Ge¬
bilde in Wasserfarben hervorzubringen; da ich nun aber
weiter keine Vorbilder besaß, musste ich sie auf eigene Faust
ins Leben rufen und that dieses mit anhaltendem Fleiße.
Der gemalte Ofen unserer Stube enthielt eine Menge kleiner
Landschaftsmotive, eine Burg, eine Brücke, einige Säuleu
an einem See und solches mehr; ein altes Stammbuch der
Mutter, sowie eine kleine Bibliothek verjährter Damen¬
kalender aus ihrer Jugend bargen einen Schatz sentimentaler
Landschaftsbilder, dem lyrischen Texte entsprechend, mit
Tempeln, Altären und Schwänen auf Teichen, mit Liebes¬
paaren in Kähnen sitzend und dunklen Hainen, deren Bäume
mir unvergleichlich gestochen schienen. Aus alle diesem
zusammen bildete sich eine höchst unschuldige und sozu¬
sagen elementare Poesie, welche meinem eifrigen Machen
zu Grunde lag und mich während desselben beglückte. Ich
erfand eigene Landschaften, worin ich alle poetischen Motive
reichlich zusammenhäufte, und ging von diesen auf solche
über, in denen ein einzelnes vorherrschte, zu welchem ich
immer den gleichen Wanderer in Beziehung brachte, mit
welchem ich halb bewusst mein eigenes Wesen ausdrückte.
Denn nach dem immerwährenden Misslingen meines Zusam¬
mentreffens mit der übrigen Welt hatte eine ungebührliche
Selbstbeschauung und Eigenliebe angefangen, mich zu be¬
schleichen; ich fühlte eiu weichliches Mitleid mit mir selbst
und liebte es, meine Person symbolisch in die interessanten
Scenen zu versetzen, welche ich erfand. Diese Figur, in
einem grünen, romantisch geschnittenen Kleide, eine Reise¬
tasche auf dem Rücken, starrte in Abendröten und Regen¬
bogen1), ging auf Kirchhöfen oder im Walde, oder wandelte
Bleistiftzeichnung von G. Keller.
1) Nr. 56 der Sammlung der Züricher Stadtbibliothek
erinnert an diese Zeit , obschon es sicher einer späteren
entstammt. Es ist eine flachhügelige Landschaft mit Feldern.
Vom unteren Rande her zieht sich ein Weg hin, auf dem
eine einzelne männliche Figur dahinschreitet, allerlei Mal¬
gerät auf dem Rücken tragend. Am Himmel bauen sich
mächtige Wolkenmassen auf, zwischen denen die Sonne
durchzubrechen scheint.
Dem Blatte ist eine ge¬
wisse Auffassung nicht
abzusprechen, nur über¬
stieg die Aufgabe das
Können des Autors. Es
liegt eine gewisse lin¬
kische Zaghaftigkeit in
der Anwendung des Farb-
1*
4
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
auch wohl in glückseligen Gälten voll Blumen und bunter
Vögel. Das Machwerk an der beträchtlichen Sammlung
materials; man sieht, dass der Gedanke, der zum Ausdruck
kommen sollte, größer war als die zu Gebote stehenden
solcher Bilder, welche sich bereits angehäuft hatte, blieb
immer auf dem nämlichen Standpunkte gänzlicher Erfali-
rungs- und ünterrichtslosigkeit; nur eine gewisse Keckheit
und Fertigkeit im Aufträgen der grellen Farben, welche ich
durch die unablässige Übung erwarb, verbunden mit der
Lan'1 i i aft von Hem, er. Jm Besitze von Jacob Bächtold in Zürich.
■ igens hat Keller später die Aquarelltechnik wenig
igt, spricht er doch in der Widmung des im Be-
1 rau Dr. Rodenberg in Berlin befindlichen Blattes
„blöden Aquarelle“. Er hat sich eben nicht so
die technische Seite der Malerei hinausgearbeitet,
kühnen Absicht meiner Unternehmungen überhaupt, unter¬
schied mein Treiben einigermaßen von sonstigen knaben-
dass ihm diese nur noch Ausdrucksmittel, aber nicht mehr
Problem war.
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
5
haften Spielen mit Bleistift und Farbe und mochte meinen
vorläufigen Ausspruch, dass ich ein Maler werden wolle,
veranlassen. Doch wurde jetzt nicht näher darauf einge¬
gangen, sondern bestimmt, dass ich einige Zeit in dem länd¬
lichen Pfarrhause bei dem Bruder der Mutter zubringen
sollte, um über die nächsten Monate meines Ungemaches
auf gute Weise hinwegzukommen, indessen eine taugliche
Zukunft für mich ermittelt würde.1)
Im Sommer 1834 hält sich Gottfried bei einem
Oheim, dem praktischen Arzt J. H. Sclieuchzer zu
Glattfelden, dem Heimatsdorf der Eltern Kellers, auf.
Dort lebte er „in einem grünen Wiesenthale, das
von den Krümmungen eines leuchtenden kleinen
Flusses durchzogen und von belaubten Bergen um¬
geben war.“ Die Landschaft hat daselbst in der
That außerordentlich viel Schönes und Anregendes. In
nächster Nähe fließt der grüne Rhein zwischen Berg¬
lehnen dahin, an denen alte Städtchen und Burgen
stehen. Dort im Hause des Oheims erfolgte die
Entdeckung einer Rumpelkammer und ihrer Schätze,
unter denen sich auch eine Mappe mit Zeichnungen
eines Sonderlings von Maler befand:
„Wir durchblätterten die vergilbten Papiere; es waren
ein Dutzend Baumstudien in Kr-eide und Rotstift, nicht sehr
körperlich und sicher gezeichnet, doch von einem eifrigen
dilettantischen Streben zeugend, nebst einigen verblassten
Farbenskizzen und einer großen in Öl gemalten Eiche. . . .
Ich betrachtete die Blätter stumm und aufmerksam, und bat
mir die Mappe zur freien Verfügung aus. Sie enthielt über¬
dies noch eine Anzahl radirter Landschaften, einige Water-
loo’s, einige idyllische Haine von Gessner mit sehr hübschen
Bäumen, deren Poesie mich frappirte und sogleich einnahm,
bis ich eine Radirung von Reinhardt entdeckte, gelb und
beschmutzt, knapp am Rande beschnitten, deren Kraft,
Schwung und Gesundheit mächtig zu mir sprach und aus
dem verzettelten Stückchen Papier gewaltig herausleuchtete.2)
Zu der Mappe und ihren Herrlichkeiten, die in
dem jugendlichen Herzen ein freudiges Gefühl —
so etwas von jenem „anch’ io sono pittore“ — wach
werden lässt, kommt in dem prächtigen Kapitel
„Berufsahnungen“ der Bericht von der Auffindung
des Gessner’schen Briefes „über die Landschafts¬
malerei“, weiter die Lektüre der „Theorie der schönen
Künste“. Das alles umnebelt des Jünglings Kopf
so,, dass er den Titel „Maler“ als etwas Selbstver¬
ständliches, Berechtigtes hinnimmt. Er schwimmt in
einem bodenlosen Meer von unbestimmtem Genie,
Glückseligkeitsdusel, und kann den Moment nicht
erwarten, wo er sich, mit Siegesgewissheit im Herzen,
nur hinzusetzen braucht, um im Fluge zu erwischen,
was ihm einstweilen in ziemlich unbestimmten Um¬
rissen vorschwebt. Dass es etwas Schönes, Großes,
1) Der grüne Heinrich I, 173.
2) Ebenda S. 192.
Famoses sein würde, steht außer allem Zweifel. Wer
hätte nicht ähnliches empfunden, der einer schein¬
bar rosigen Zukunft entgegen ging, in der sich die
spanischen Schlösser, eines höher als das andere
hintereinander auf bauten! Das kann nur schreiben,
wer’s mitgemacht hat, erfinden lassen sich der¬
gleichen Geschichten nicht.
Der verhaltenen Thatkraft endlich die Zügel
schiessen zu lassen, findet sich nach Tisch Gelegenheit.
Hinaus rennt der Kunstjiinger, dem Walde zu. Alles
am Wege liegende däucht ihm für den großen Mo¬
ment zu geringfügig. Natürlich! Große Ideen können
nur an einem großen Thema in gehöriger Weise
losgelassen werden. Das große Thema findet sich
nun in Gestalt einer Buche:
.... „die Sonnenstrahlen spielten durch das Laub auf
dem Stamme, beleuchteten die markigen Züge und ließen sie
wieder verschwinden , bald lächelte ein grauer Silberfleck,
bald eine saftige Moosstelle aus dem Helldunkel, bald
schwankte ein aus den Wurzeln sprossendes Zweiglein im
Lichte, ein Reflex ließ auf der dunkelsten Schattenseite eine
neue mit Flechten bezogene Linie entdecken, bis alles wie¬
der verschwand und neuen Erscheinungen Raum gab, wäh¬
rend der Baum in seiner Größe immer gleich ruhig dastand
und in seinem Innern ein geisterhaftes Flüstern vernehmen
ließ.“ (Grüner Heinrich I, 201.)
Herrlich, das zu empfinden und die Herrlich¬
keit auch künstlerisch wieder zu geben! Aber da
hapert’s nun freilich: —
„Hastig und blindlings zeichnete ich weiter, mich selbst
betrügend, baute Lage auf Lage, mich ängstlich nur an die
Partie haltend, welche ich gerade zeichnete, und gänzlich
unfähig, sie in ein Verhältnis zum Ganzen zu bringen, ab¬
gesehen von der Formlosigkeit der einzelnen Striche. Die
Gestalt auf meinem Papiere wuchs ins Ungeheuerliche, be¬
sonders in die Breite und als ich an die Krone kam, fand
ich keinen Raum mehr für sie und musste sie breit gezogen
und niedrig, wie die Stirne eines Lumpen, auf den unförm¬
lichen Klumpen zwingen, dass der Rand des Bogens dicht
am letzten Blatte stand, während der Fuß unten im Leeren
baumelte. Wie ich aufsah und endlich das Ganze überflog,
grinste ein lächerliches Zerrbild mich an, wie ein Zwerg
aus einem Hohlspiegel; die lebendige Buche aber strahlte
noch einen Augenblick in noch größerer Majestät als vorher,
wie um meine Ohnmacht zu verspotten ; dann trat die
Abendsonne hinter den Berg und mit ihr verschwand der
Baum im Schatten seiner Brüder. Ich sah nichts mehr als
eine grüne Wirrnis und das Spottbild auf meinen Knieen.
Ich zerriss dasselbe, und so hochmütig und anspruchsvoll
ich in den Wald gekommen, so kleinlaut und gedemütigt
war ich nun. Ich fühlte mich abgewiesen und hinaus¬
geworfen aus dem Tempel meiner jugendlichen Hoffnungen ;
der tröstende Inhalt des Lebens, den ich gefunden zu haben
wähnte, entschwand meinem inneren Blicke und ich kam
mir nun vor, wie ein wirklicher Taugenichts, mit welchem
wenig anzufangen sei. Ich brach verzagt und weinerlich
auf, mit gebrochenem Mute nach einem anderen Gegen¬
stände suchend, welcher sich barmherziger gegen mich er¬
wiese. Allein die Natur, mehr und mehr sich verdunkelnd
6
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
und verschmelzend, ließ mir kein Almosen ab; in meiner
Bedrängnis that sich mir das Wort kund „aller Anfang ist
schwer“, und damit die Einsicht, dass ich ja erst jetzt an¬
fange und diese Mühsal eben den Unterschied von dem frü¬
heren Spiel werke begründe. Aber die Einsicht stimmte mich
nur trauriger, da mir Mühseligkeit und saurer Fleiß bisher
unbekannte Dinge gewesen waren.“ (Grüner Heinrich I, 201.)
Ein Anderer als der, der wirklich zum Künstler
den ersten gewaltigen Anlauf genommen und alsbald
die eigene Ohnmacht empfunden hat (das ist der
Unterschied vom Dilettanten, der nie moralischen
Katzenjammer über seine Werke bekommt), kann
solch eine Schilderung überhaupt gar nicht schreiben,
weil sie zu sehr vom individuellen Empfinden ab¬
hängig ist. Wie Keller sie giebt, ist sie unver¬
gleichlich zutreffend. Und nun nachher die junge
Esche, die aufs Papier zu bringen leichter scheint,
die abermalige Enttäuschung und endliche Erlösung:
„Das Bäumchen hatte einen schwanken Stamm von nur
zwei Zoll Dicke und trug oben eine zierliche Laubkrone,
deren regelmäßig gereihte Blätter zu zählen waren und sich,
sowie der Stamm, einfach, deutlich und anmutig auf das
klare Gold dos Abendhimmels zeichneten. Weil das Licht
hinter der Pflanze war, sah man nur den scharfen Umriss
des Schattenbildes; es schien wie absichtlich zur Übung
eines Schülers hingestellt.
Ich setzte mich noch einmal hin und wollte flugs das
kindliche Stämmchen mit zwei parallelen Linien auf mein
Papier stehlen; aber noch einmal wurde ich gehöhnt, indem
der einfache, grünende Stab im selben Augenblicke, wo ich
ihn zu zeichnen und genauer anzusehen begann, eine un¬
endliche Feinheit der Bewegung annahm. Die beiden auf-
-trebenden Linien schmiegten sich in allen kaum merk¬
lichen Biegungen so streng aneinander, sie verjüngten sich
nach oben so fein und die jungen Aste gingen endlich in
-o gemessenen Winkeln daraus hervor, dass um kein Haar
abgi-wichen werden durfte, wenn das Bäumchen seine schöne
Uestalt behalten sollte.1) Doch nahm ich mich zusammen
und klammerte mich ängstlich und aufmerksam an jede
Bewegung meines Vorbildes, woraus endlich nicht eine
sichere und elegante Skizze, sondern ein zaghaftes, aber
ziemlich treues Gebilde hervorging. Ich fügte, einmal im
Zur'1' , mit Andacht die nächsten Gräser und Würzelchen
de Bodens hinzu und sah nun auf meinem Blatte eines
jener frommen na/.areni sehen Stengelbäumchen, welche auf
den Bildern der alten Kirchenmaler und ihrer heutigen
K. O men den Horizont so anmutig und naiv durchschneiden.
Ich war zufrieden mit meiner bescheidenen Arbeit und be-
tr.c htete sie noch lange abwechselnd mit der schlanken
E -'die, die -ich im leisen Abendhauche wiegte und mir wie
ein freundlicher Himmelsbote erschien. Als ob ich wunder
was verrichtet hätte, zog ich hochvergnügt dem Dorfe zu,
wo meine Verwandten begierig waren, die Früchte meiner
mit -o viel Anspruch unternommenen Waldfahrt zu sehen.
Nachdem ich aber mein Bäumlein mit seinen höchstens vier
1 Die-“ Erkenntnis vom Werte der individuellen Er¬
scheinung muss urn so mehr frappiren, als sie durchaus
nicht im Zuge der gleichzeitigen deutschen Landschafts-
mah rei lag. Wie diese sich zur französischen jener Tage
verhielt, siehe später.
Dutzend Blättern hervorgezogen, löste sich die Erwartung
in ein allgemeines Lächeln auf, welches bei den Unbefan¬
gensten zum Gelächter wurde; nur dem Oheim gefiel es,
dass man doch gleich ein junges Eschchen erkannte, und
er munterte mich auf, unverdrossen fortzufahren und die
Waldbäume recht zu studiren, wozu er mir als Forstmann
behilflich sein wolle.“
Die Stimmung des werdenden Malers ist un¬
übertrefflich geschildert. Ich glaube fast, dass es
eines Malers bedurfte, um das schreiben zu können!
Und dann die Sucht, auch äußerlich originell zu er¬
scheinen in dem Kapitel „Sonntags-Idylle“! Mir
fiel unwillkürlich dabei ein Akademie-Genosse der
eigenen Erinnerung ein, der allen Ernstes eines
Tages den Lehrer unserer Naturklasse — es war
der verstorbene Ferdinand Barth — frug, ob dieser
nichts gegen das Tragen eines altdeutschen Wamses
und Baretts einzuwenden habe — worauf Barth
lächelnd erwiderte: „Von mir aus malen’s Ihnen a
Gsicht aufn . und laufens nacket rum.“ —
Und noch einer fiel mir ein, der schnitt sich den
Rand des Hutes möglichst kurz ab und steckte eine
irdene Pfeife, ein paar Federn und einen Wach¬
holderzweig darauf, rauchte auch kurze Gypspfeifen,
trotzdem es ihm schlecht bekam, alles zu Ehren von
Brouwer oder Adrian van Ostade! Solcher Gesellen
laufen viele herum und wenn man ein Buch über
die unfreiwilligen Hanswurste schreiben wollte, so
lieferte die sogenannte Künstlerwelt dazu nicht das
kleinste Kontingent. — Doch zurück zn Keller, zum
grünen Heinrich, dem im Gespräch mit dem Schul¬
meister über Malerei der Kamm wieder gewaltig an¬
schwillt. Es ist köstlich, wie er den Mann über das
Wesen der Landschaftsmalerei unterrichtet. In den
Worten liegt ein ganzes Programm, ein Protest
gegen jene Malerei, die es mehr mit dem Gegen¬
ständlichen als mit dem künstlerischen Wesen der
Sache zu thun hat. Obschon das Gesagte einer
späteren Lehensperiode Kellers angehört (seit 1851),
stimmt es doch überein mit dem, was aus seiner
Malerperiode erhalten ist. Es finden sich unter
diesem Material nirgends Abbildungen berühmter
Stätten, deren Name dem Beschauer oft mehr sagen
muss als das sie darstellende Bild:
„Sie (die Landschaftsmalerei) besteht nicht darin, dass
man merkwürdige und berühmte Orte aufsucht und nach¬
macht, sondern darin, dass man die stille Herrlichkeit und
Schönheit der Natur betrachtet und abzubilden sucht, manch¬
mal eine ganze Aussicht, wie diesen See mit den Wäldern
und Bergen, manchmal einen einzigen Baum, ja nur ein
Stücklein Wasser und Himmel.“2)
1) Grüner Heinrich S. 203.
2) Grüner Heinrich I, S. 214.
GOTTFRIED KELLER ALS MALER,
7
Und dann verfällt er dem unbefangenen Lehrer
gegenüber in einen beinah renommistischen Ton.
- „Ja gewiss! Ich hoffe noch, Euch diesen See nait
seinem dunklen Ufer, mit dieser Abendsonne so zu malen,
dass Ihr mit Vergnügen diesen Nachmittag darin erkennen
sollt und selbst sagen müsst, es sei weiter hierzu nichts
nötig, um bedeutend zu sein, d. h. wenn ich ein Maler wer¬
den kann und etwas Rechtes lerne!“
Freilich, diesem Vorhaben standen Bedenken
und Vorurteile lästig entgegen. Die Schweiz ist
nicht reich an Werken der bildenden Kunst, Zürich
auch in neuerer Zeit keine Stadt geworden, in
der die bildende Kunst eine eigentliche
Heimstätte hat finden können. Ludwig
Vogel, Ulrich, Rudolf Koller sind verein¬
zelt dastehende Erscheinungen. Arnold
Böcklin ist nach kurzer Sesshaftigkeit von
Zürich wieder weggegangen. Der ganze
Zug des Lebens ist auf wesentlich andere
Dinge als auf künstlerische gerichtet, die
Zahl der wirklichen Kunstfreunde ver¬
schwindend klein. Die Anschauung, dass
geregeltes Einkommen erst den wahren
Mann bezeichne, macht sich in hervor¬
tretender Weise geltend. „Die Bedeuten¬
den unter unseren Schweizer Künstlern,
klagt Keller !), leben meistens in einer Art
freiwilliger Verbannung; entweder entsagen
sie der Heimat und verbringen das Leben
dort, wo Sitten und Reichtümer der Gesell¬
schaft, sowie Einrichtungen und Bedürfnisse
des Staates die Träger der Kunst zu Brot
und Ehren gelangen lassen, oder sie ent¬
sagen, gewöhnlich in zuversichtlichen Ju¬
gendjahren, diesen Vorteilen und bleiben
in der Heimat, wo ein warmes Vaterhaus,
ein ererbter oder erworbener Sitz in schöner
Lage, Freunde, Mitbürger und Lebensge¬
wohnheit sie festhalten. Gelingt es auch
dem einen und anderen, seine Werke und seinen
Namen in weiteren Kreisen zur Geltung zu brin¬
gen und sich zu entwickeln, vermisst er auch
weniger den großen Markt und die materielle För¬
derung, so ist es doch bei den besten dieser Heim-
sitzer nicht leicht auszurechnen, wieviel sie durch die
künstlerische Einsamkeit, den Mangel einer zahl¬
reichen, ebenbürtigen Kunstgenossenschaft ent¬
behren. Alle Liebhaber, Dilettanten, Schreibekri¬
tiker regen weder an, noch ist etwas von ihnen zu
lernen; man kennt uns ja insgesamt daran, dass
wir vor allem Neuentstehenden uns entweder mit
alten Gemeinplätzen behelfen oder uns erst besinnen
und suchen müssen, was wir etwa sagen können,
um nur etwas zu sagen. Der wirkliche Kunst¬
genosse dagegen weiss auf den ersten Blick, was er
sieht, und beim Austausche der Urteile und Er¬
fahrungen verständigt man sich mit wenig Worten“.
Was Zürich, die elegante Stadt von nahezu
hunderttausend Einwohnern und ihr Verhältnis zu
den bildenden Künsten betrifft, so braucht wohl nur
das eine Faktum erwähnt zu werden, dass sich da¬
selbst bis zur Stunde kein richtiger Raum,
geschweige denn ein Gebäude, findet, wo
Bilder unter annehmbaren Bedingungen
ausgestellt werden können; das sogenannte
„Künstler- Gütli“ kann kaum in Betracht ge¬
zogen werden.
In Kellers Jugendjahren nun war in
künstlerischer Beziehung, wenn auch hin
und wieder Kunstausstellungen in Zürich
stattfanden, nicht viel Anregung aus dem
am Platze selbst Gebotenen zu holen.
Natürlich macht gleichwohl der erste Ein¬
druck solcher Art die stärkste Wirkung
auf seine Seele. Der erste Moment war
ihm ganz traumhaft; erst weiß er gar nicht,
wohin er sich wenden soll, und endlich
steht er festgebannt vor einem Werke und
kommt nicht mehr weg. Besonders einige
große Landschaften prägen sich mächtig
ein (wahrscheinlich Bilder von Diday und
Calame), zu denen er immer wieder zurück¬
kehrt.
Die Sache stimmt ihn nachdenklich.
Er beklagt es zu Hause laut, dass er aufs
Malen verzichten müsse. Wie zu dieser Ab¬
sicht die Aussichten standen, geht aus einem
Briefe seiner Mutter hervor, die im August
1834 nach Glattfeld en schrieb:
„Bei Junker Meiss bin ich freilich gewesen, aber
wie er mir früher gesagt, die Malerei sei nichts.
Kupferstechen wäre ja besser. Er wies mich an
einen sehr ordentlichen, geschickten Mann . . . .
Allein, wie man sagt, soll diese Kunst sehr kost¬
spielig sein, und sich bis auf 1000 Gulden belaufen,
bis einer als geschickter Künstler agieren kann,
weil nicht bloß die Lehr- sondern auch die Fremde¬
zeit muss bezahlt werden, und wenn’s so wäre, so
weisst du wohl, dass unsere Finanzen nicht hin¬
reichend sind. — — Willst du auf deiner Malerei
bleiben, so findet sich in ganz Zürich ein einziger —
Bleistiftzeichnung
von G. Keller.
Ij Nachgelassene Schriften S. 227.
s
GOTTFRIED KELLER ALS MALER,
wo man sagen kann — geschickter Maler und dies
ist der Wezel, welcher aber keinen Lehrjungen an¬
nimmt, Die andern sind Koloristen.“
Noch im selben Herbste 1834 findet sich end¬
lich ein Lehrer, im Roman Habersaat, im wirklichen
Leben Peter Steiger genannt. Der war freilich alles
andere eher, als der Mann, der einem jungen An¬
fänger die rechten Wege weisen konnte. Er war
Maler, Kupferstecher, Lithograph und Drucker in
einer Person; dazu machte er sonst noch, was ihm
unter die Finger kam: Taufscheine mit Taufstein
genossen, was ihrem Wesen völlig zuwiderlief. Frei¬
lich besaßen sie im rechten Moment die nötige Kraft,
um dasselbe abzuschütteln und mit aller Energie ihre
eigenen Wege einzuschlagen. Bei Keller war das
nicht der Fall; die künstlerische Potenz in ihm
hatte nichts Gewaltsames und die nötige Kraft zur
Selbstbefreiung fehlte ihm auf diesem Gebiete. Da¬
für äußerte sie sich um so stärker auf anderen.
Er selbst sagt, dass sich durch das viele Nach-
ahmen fremder Vorbilder keineswegs ein Plattwerden
der eigenen Anschauung fühlbar gemacht, dass es
Am Wolfbach. Aquarellbild von G. Keller. Im Besitze von
Frau Professor Frisch in Wien.
"iid lifiviittcrslcuten, Grabschriften mit Trauerweiden
und weinenden Genien u. s. w. Dieser „Meister“ han¬
delte mit kolorirten Schweizer Ansichten und ließ
den Schüler ohne Auswahl dies und jenes kopiren.
Er that, was noch heute den Zeichenunterricht der
meisten Schulen zum durchaus unnützen Dinge
macht, und den Lehrern zumeist recht bequem ist.
Man ist nun leicht geneigt, das spätere Fehl¬
schlagen ihr Künstlerlaufbahn Kellers diesem Un¬
ding von Unterricht der Hauptsache nach zuzu¬
schreiben. Allerdings tragen solche Umstände mit
Schuld daran, indessen nicht die alleinige, denn die be¬
deutendsten Künstler haben zuweilen als Unterricht
vielmehr den „Grund edlerer Anschauung“ gebildet
habe, dem übrigen Treiben ein wohlthätiges Gegen¬
gewicht gewesen sei.
„Auf der anderen Seite aber heftete sich an die Errun¬
genschaft sogleich wieder ein Nachteil, indem sich die alte
voreilige Erfindungslust regte und ich, durch die einfache
Größe der klassischen Gegenstände verführt, zu Hause an¬
fing, selber dergleichen Landschaftsbilder zu entwerfen.“
Das ist sehr natürlich. Bei sehr vielen Künst¬
lern heisst noch heute „Komponiren“ das, was des
Wortes eigentliche Bedeutung ist: „Zusammen¬
setzen“ — nicht etwa „Erfinden“. — Habersaat
unterstützt dies Treiben mit allerlei Schlagworten
und spricht von Kartons, von Ölbildern, Studienreise
Besitze des Herrn Welti in München.
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
9
nach Rom u. s. w., kurz, das verkehrteste Zeug wird
zur Gewohnheit. Und wieder erwacht der Trieb,
das Gewonnene vor der Natur zu verwerten:
„Ich selbst ging nicht mehr mit der unverschämten,
aber gut gemeinten Zutraulichkeit des letzten Sommers vor
die runden, körperlichen und sonnenbeleuchteten Gegen¬
stände der Natur, sondern mit einer weit gefährlicheren
und selbstgefälligen Bornirtheit. Denn was mir nicht klar
war oder zu schwierig erschien, das warf ich, mich selbst
betrügend, durcheinander und verhüllte es mit meiner un¬
seligen Pinselgewandtheit, da ich, anstatt bescheiden mit
dem Stifte anzufangen, sogleich mit den angewöhnten Tusch¬
schalen, Wasserglas und Pinsel hinausging und bestrebt
war, ganze Blätter in allen vier Ecken bildartig auszufüllen.“
Das ist ganz außerordentlich bezeichnend. Manch
ein Künstler, der diese Zeilen mit dem richtigen
Verständnisse liest, wird darin die Charakteristik
einer großen, großen Quote jener „Ungefähr-Maler“,
vielleicht auch ein trefflich gezeichnetes Selbst¬
porträt finden. Das Bekenntnis ist zu trefflich, als
dass es nicht ganz gegeben sein sollte. Keller fährt
fort: „Ich ergriff entweder ganze Aussichten mit
See und Gebirgen, oder ging im Walde den Berg¬
bächen nach, wo ich eine Menge kleiner und hübscher
Wasserfälle fand, welche sich ansehnlich zwischen
vier Striche einrahmen ließen. Das lebendige und
zarte Spiel des Wassers im Fallen, Schäumen und
eiligen Weiterfließen, seine Durchsichtigkeit und
tausendfältige Widerspiegelung ergötze mich, aber
ich bannte es in die plumpen Formen meiner Vir¬
tuosität, dass Leben und Glanz verloren gingen,
während meine Mittel nicht hinreichten, das beweg¬
liche Wesen wiederzugeben. Leichter hätte ich die
mannigfaltigen Steine und Felstrümmer der Bäche,
in reicher Unordnung übereinander geworfen, be¬
herrschen können, wenn nicht mein künstlerisches
Gewissen verdunkelt gewesen wäre. Wohl regte sich
dieses oft mahnend, wenn ich perspektivische Fein¬
heiten und Verkürzungen der Steine, trotzdem dass
ich sie sah und fühlte (!), überging und verpudelte,
statt den bedeutenden Formen nach zu gehen, mit
der Selbstentschuldigung, dass es auf diese oder jene
Fläche nicht ankomme und die zufällige Natur ja
auch so aussehen konnte, wie ich sie darstellte;
allein die ganze Weise meines Arbeitens liess solche
Gewissensbisse nicht zur Geltung kommen, und der
Meister, wenn ich ihm meine Machwerke vorzeigte,
war nicht darauf eingerichtet, der fehlenden Natur¬
wahrheit nachzuspüren, die sich gerade in den ver¬
nachlässigten Zügen hätte zeigen sollen; sondern er
beurteilte die Sachen immer von seiner Stubenkunst
aus.“
Wahrer ist über solche Dinge nie geschrieben
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 1.
worden. Wollte man sich die Mühe nehmen und
all das, was der grüne Heinrich an Wahrheiten in
Bezug auf künstlerisches Werden enthält, zusammen¬
stellen, so bekäme man ein Resume, das jeden dok¬
trinären Standpunkt in den Schatten stellen müsste
und vielleicht manchem, der an maßgebender Stelle
sitzt, die Augen darüber Öffnete, was künstlerische
Erziehung heißen will. Die einschlägigen Stellen
enthalten Dinge, die wie Worte aus dem Evangelium
klingen und Zeile für Zeile, Wort für Wort studiert,
nicht bloss gelesen zu werden verdienen. Dass all-
mählige Verbohren in allerlei tolles Zeug ist da so
charakterisirt, dass jeder Pädagoge, heiße er Vater,
Lehrer oder Unterrichtsminister, nur Erwägungen
bester Art daraus ziehen könnte. Es muss ja Tau¬
senden wie Selbsterlebtes klingen , was Keller am
Schlüsse dieses Abschnittes1) sagt: „Doch bemerkte
er (Habersaat) nicht viel hierüber, sondern liess mich
meine Wege gehen, da ihm einerseits das frische
Gemüt mangelte, um den Ränken meines Treibens
nachzuspüren und mich darüber zu ertappen, und
andererseits die Überlegenheit des eigenen Wissens.
Diese beiden Vermögen bilden ja das Geheimnis
aller Erziehung: unverwischte, lebendige Jugendlich¬
keit, welche allein die Jugend kennt und durch¬
dringt, und die sichere Überlegenheit der Person in
allen Fällen. Eines kann oft das andere zur Not¬
durft ersetzen ; wo aber beide fehlen , da ist die
Jugend eine verschlossene Muschel in der Hand des
Lehrers, die er nur durch Zertrümmerung öffnen
kann. Beide Eigenschaften gehen aber nur aus
einem und demselben letzten Grunde hervor: aus
unbedingter Ehrlichkeit, Reinheit und Unbefangen¬
heit des Bewusstseins.“
Wie stellt sich zu dieser Anschauung jene Art
von Gunstbezeigungen, die als Kernpunkt die Ver¬
leihung einer lehramtlichen Sinecure in sich scliliessen !
Man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt.
Endlich wird dem Jüngling die Sache zu wider¬
wärtig. Er schlägt das Anerbieten Habersaats, für
Bezahlung bei ihm zu arbeiten, aus und beginnt auf
eigene Faust in der Dachkammer zu arbeiten. Sie
wird durch Herbeischleppung allen möglichen Krames
zum „Atelier“ gestempelt, eine ausgezeichnete Satire
auf jene Maler Werkstätten, die oft mehr ihrer Kurio¬
sitäten als des darin Geschaffenen halber ein Inter¬
esse bieten. Sie existiren noch heute zu hunderten,
bei Künstlern und Nichtkünstlern.
Das Jahr 1837 brachte die Bekanntschaft eines
1) Ebene!. 280.
2
10
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
anderen Künstlers, Rudolf Meyer von Regensdorf,
im grünen Heinrich „der Römer“ genannt.
Inwieweit dieser in früheren Jahren als Künstler
Bedeutsames geschaffen, ist unbekannt. Was vor¬
handen, sind „nette“ Landschäftchen, oder wie man
sich in Zürich ausdrücken würde, „artige“ Malereien,
weiter einzelne Blumenstudien, Schnecken, Blind¬
schleichen und dergleichen, an denen die Geduld be¬
wundernswerter ist denn die Kunst. Meyer riet
unserem Keller an, ernsthaft nach der Natur zu
zeichnen, wie er es selbst übte. Er war darin eine
wesentlich andere Erscheinung als der Allerwelts¬
künstler Habersaat. In der That weist u. a. eines
der Blätter der Züricher Stadtbibliothek ein Motiv
„An der Sihl“ auf, dem man ohne weiteres ansieht,
dass es ein Versuch nach der Natur und keine jener
Erfindungen „vor der Natur“ sei, wie Keller sie in
der Habersaat’schen Zeit in Hülle und Fülle schuf.
Ehrlich gewollte, wenn auch ängstlich ausgeführte
Arbeiten nach der Natur fallen ja immer und
in erkennbarer Weise auf gegenüber von Kopien
oder Phautasiestücken. Oft liegt in der scheinbaren
Ungeschicklichkeit weit mehr, weil sie ehrlich ist, als
in der Routine des Kopisten oder in der mit einem
glänzenden Mäntelchen versehenen Unkenntnis der
Formen, die an mehr als einem der modernen Ga-
leriebilder das auffälligste Moment bildet. — An Keller’-
sclien Copien nach Meyer’schen Originalen ist ver¬
seil iedenes vorhanden, doch ist es bedeutungslos.
Dagegen giebt ein vom August 1837 datirtes
Blatt „Am Wolfbach“, im Besitze von Frau Prof.
M. F risch in Wien, eine gute Idee davon, dass Keller
anfing, vollständig die richtigen Wege einzuschlagen.
Wohl spricht er von Steinen und kleinen Wasser¬
fallen, die er unter Habersaat nach der Natur ge¬
malt, wobei er eine „freche“ Technik in Anwendung
brachte. Frech ist nun das Wolfbachbild gar nicht,
vielmehr sieht man bei Fels, Moos, Wasser und
Bäumen die Mühe, die darauf verwendet wurde, sehr
deutlich. Bei den Bäumen ist dem Künstler der
Atem ein wenig ausgegangen, — das giebt Keller in
einem Briefe an die jetzige Besitzerin selbst zu.
Ind« -,s liegt in der ganzen Geschichte Auffassung,
Sinn für malerische Wirkung. Es ist ein heimeliger
Wald winkel ohne große dekorative Versatzstücke,
ein einfach liebreich behandelt Fleckchen grüner
Natur, ohne Charlatanerie wiedergegeben, ein Argu¬
ment für den intimen Sinn der Natur gegenüber,
ferne von jeder gewollt bombastischen Wirkung.
Von dem , was man sonst an einem Bilde bezüg¬
lich Ton u. s. w. verlangt, ist nicht viel zu sagen.
Das wussten damals weit berühmtere Landschafter
nicht, außer den jenen im Walde zu Fontainebleau
und ihren Genossen. Aber wer hätte in Zürich et¬
was davon wissen sollen, wo man gewiss Pauken
und Trompeten spielen ließ, wenn etwa eins oder
das andere der Bilder, die der Pariser Künstler¬
witz schon damals als „Calamites“ (von Calame) be-
zeichnete, auf den Ausstellungen zu sehen war. — Das
Blatt ist in einfacher Aquarelltechnik ohne Zuhilfe¬
nahme von Deckfarben ausgeführt, die Lichter im
Wasser mit dem Messer herausgekratzt.
Eine in der Sammlung zu Zürich befindliche
Baumstudie (Weide) ferner zeigt deutlich, dass es
Keller nicht am nötigen Fleiße zur Arbeit gebrach,
andererseits ihm aber niemand, auch Meyer nicht,
nur annähernd einen Begriff davon beigebracht hat,
dass ein Baum in seiner malerischen Erscheinung
etwas anderes ist als eine Unmasse einzelner Blätter,
die, wenn auch mit Mühe und Sorgfalt auf dem
Papier nebeneinander gesetzt, noch lange nicht das
Wesentliche des Gesamtwesens geben. Es ist eben
„Baumschlag“ in des Wortes schulmeisterlichster
Bedeutung. Wo es sich um allgemein umrissene
Züge einer landschaftlichen Erscheinung handelt, ist
Keller viel freier. Das zeigt die in Federmanier wie-
dergeff ebene Dorfansicht, welche das Wesen freier
Auffassung, frischen Arbeitens, das nicht vom Materiale
abhängt, in sich trägt. Das gleiche kann gesagt
werden von einer Bleistiftskizze, datirt 1834, welche
das Haus des Oheims in Glattfelden giebt. Wo aber
Wirklichkeit und Komposition miteinander in Ver¬
bindung treten, wie bei dem Blatt (Kat.-Nr. 20 der
Züricher Stadtbibliothek) „Katz und Wasserturm“,
da tritt die Unbehilflichkeit am stärksten zu Tage
in der linkisch behandelten Raumeinfassung, die der
Autor seiner nach der Natur gezeichneten Skizze
geben zu müssen glaubte, um eine bildmäßige Wir¬
kung zu erzielen. — In einem der Tagebücher findet
sich auch ein „sauberes“ Aquarell eingelegt, das
einen beschneiten Kirchhof zeigt. Rechts in der
Ecke steht ein schwarzes Holzkreuz mit dürrem
Kranze, den Hintergrund bildet die Kirche, umgeben
von blattlosen Bäumen , weiter rückwärts schließen
Berge das Ganze ab. Im Tagebuch steht dabei die
kurze Eintragung: „Heute starb sie.“ 14. Mai 1838.
Es handelt sich dabei um seine Jugendliebe, Anna,
die in Richterswyl begraben liegt. Das Blatt hat
in seiner ganzen Art etwas sorgsam Dilettantenhaftes.
Es ist, wie man zu sagen pflegt „verquält“ und mag
tiefem Schmerzgefühl entsprungen sein, das in der
detaillirten Art, womit dies Gedenkblatt ausgeführt
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
11
ist, seinen intimsten Ausdruck, man möchte sagen
eine Art von Schmerz -Genugthuung suchte. Vom
29. Mai des gleichen Jahres datirt das Gedicht „Das
Grab am Zürichsee“, das den Dichter Keller in einem
ganz anderen Lichte zeigt, als er sich iu dem vor¬
handenen einschlägigen Materiale als Maler darstellt.
An Vordergrundstudien ist aus dieser Zeit eben¬
falls verschiedenes erhalten. Auch diesen Blättern
haftet die ängstliche Mache in jeder Beziehung an.
Keller war nicht genügend in das Wesen der Form
eingedrungen, um daraus z. B. die einfachsten Schlüsse
über Beleuchtung ziehen zu können. Letztere ist
ja einzig und allein das, was jegliche Darstellung
plastisch zu machen vermag. Je einfacher die dabei
aufgewendeten Mittel — welcher Art sie seien, ist
ganz gleichgültig — , desto sicherer die Erreichung
des Zieles. Es giebt für die Art, wie Keller sich
mühevoll einer solchen Aufgabe erledigte, im alle-
mannischen Dialekt seiner Heimat einen vorzüglichen
Ausdruck. Man nennt das nicht „Malen“, sondern
„Mälelen“. Er wollte eben absolut der farbigen Er¬
scheinung nahe treten, ohne in erster Linie ihre
Wesenheit erfasst zu haben. Wenn man ein gutes
Porträt malen will, dann muss im Bilde der Schädel
fühlbar sein, die feste, kantige Form, welche die
Totalerscheinung charakterisirt. Und wer Blumen
und Blätter malen will, wird, befasst er sich mit der
einzelnen, individuellen Erscheinung, dieses Erfor¬
dernis auch da nicht außer Acht lassen können,
sonst kommt ein schlotteriges Etwas heraus, was
weder Hand noch Fuß hat, dem mit einem Worte
die Charakteristik fehlt.
Wo Keller ein Thema bildmäßig anfasste, ver¬
ließ er sich immer und immer wieder auf die aus¬
wendig gelernte Schreibweise, d. h. auf das Rezept,
wie der Landschafter dies oder jenes zu machen habe.
Die Selbständigkeit der Anschauung geht ihm dabei
ganz und gar ab. Das beweist das sehr durch¬
geführte Tuschblatt der Züricher Stadtbibliothek
(Kat.-Nr. 21), darstellend eine Brücke über die Glatt
bei Bulach hei der sog. Mangoldsburg, ein an sich
gewiss außerordentlich dankbares Motiv (doppelter
Brückenbogen mit mächtigen Weidenbäumen), bez.
1840; es beweisen es ferner die der Münchener Zeit
zuzuzählenden Ölbilder. Von diesen später. Ein
noch der Unterrichtszeit bei Meyer beizuzählendes
Ölbild (Meyer erwähnt es in einem an Keller ge¬
richteten Briefe), das Wetterhorn im Berner Ober¬
land darstellend, ist vorhanden, doch bietet es kei¬
nerlei Interesse und ist obendrein stellenweise bis
zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt. Es ist jeden¬
falls dem größten Teile nach unter des Lehrers Lei¬
tung, vielleicht sogar nach einem fremden Vorbild
gemalt, denn dass Keller um diese Zeit eine Reise
ins Berner Oberland gemacht habe, ist nirgends er¬
wähnt. Dazu waren schon in erster Linie seine
Mittel zu beschränkt.
Wie der damals kaum 18jährige Keller die Na¬
tur auffasste, ist in einem der Briefe an Johann
Müller in Frauenfeld, datirt vom 29. Juni 1837, deut¬
lich ausgesprochen:
„Ich fordere keinen scharfen umfassenden Geist, keine
berechnende, weitausschauende, entschlossene Kraft von einer
großen Seele; es sind schöne Gaben, aber sie kann ohne
dieselben bestehen. Hingegen fordere ich vom wahren Men¬
schen jene hohe, große majestätische Einfalt, mit der er
den Schöpfer und seine Schöpfung, sich selbst erforscht, an¬
betet, liebt. Ich fordere von ihm das Talent, sich in jedem
Bach, an der kleinsten Quelle wie am gestirnten Himmel
unterhalten zu können, nicht gerade um des Baches, der
Quelle und des Himmels, sondern um des Gefühls der Un¬
endlichkeit und der Größe willen, das sich daran knüpft.
Ich fordere von ihm die Gabe, aus jeder Wolke einen
Traum ziehen und der sinkenden Sonne, wenn sie ihr Feuer
über den See wirft, einen Heldengedanken entlocken zu
können; aber der kleinliche, spekulirende, kratzende, spot¬
tende, scliikanirende, schmutzige Zeitgeist sei ferne von ihm,
der keinen Menschen in Ruhe lassen und keines Menschen
Würde erkennen kann; und ferne sei von ihm die Nase¬
weisheit und die Frechheit des Jahrhunderts! Er sei edel
und einfach, aber einfach mit Geschmack, aus Achtung seiner
selbst und nicht um anderen zu gefallen! Den, der seinen
Körper mit Absicht in einen schmutzigen Kittel steckt, ver¬
lache ich; denn wenn der das Gefühl der Schönheit für
sich selbst nicht hat, so hat er's auch nicht für die Natur,
und wenn er es für die Natur nicht hat, so hat er einen
Riss in seinem Herzen, der ihn zum kleinen Menschen macht,
ja sogar unter das Tier setzt, und wenn er sonst noch so
gescheit wäre. Aber verstehe mich wohl, lieber Müller, ich
mache einen großen Unterschied zwischen dem, der die
Natur nur um ihrer Formen und dem, der sie um ihrer in¬
neren Harmonie willen anbetet, und wahrhaftig der un¬
schuldige Schwärmer ist mir lieber, der die Sonne um ihrer
selbst willen bewundert, als der größte Dichter, der nur
ihre Wirkung besingt, oder der feurigste Maler, der nur
ihren Effekt vergöttert.“ (Bäehtold, Keller’s Leben I, 64.)
Übrigens muss dem angehenden Künstler die
Erreichung seines Zieles als Maler gelegentlich als
etwas erschienen sein, wozu er keiner langen Kletter¬
anstrengung bedürfe, denn unterm 19. Juli 1837
schreibt er ins Tagebuch: „Heute ist mein acht¬
zehnter Geburtstag. Von heute an über zwei Jahre
gelob ich mir, einigen Ruf zu gewinnen; wo nicht,
so werf ich die Kunst zum Teufel und lerne das
Schusterhandwerk.“ Den nächsten Geburtstag folgt
der Widerruf: „Den 19. Juli 1838. Heute ist mein
neunzehnter Geburtstag und ich sehe ein, dass es dum¬
mes Zeug war, was ich vor einem Jahre schrieb."
Bemerkenswert ist, dass die Aufzeichnungen,
2*
12
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
die Keller auf Spaziergängen sammelte, in den
Büchern, die eigentlich Skizzenbücher werden soll¬
ten, mehr in schriftlicher Form vorhanden sind als
in gezeichneter. Der Dichter schiebt den Maler un¬
willkürlich bei Seite.1) Ihm selber wird das freilich
nicht deutlich. So scharf seine Beobachtung der
Personen und Verhältnisse war, so mühelos und leicht
er Personen zu charakterisiren wusste (wie seine
Schilderung der Malerklassen beweist2), so lebhaft
und natürlich seine gemalten Gedichte waren: er
hängt doch mit einem Feuereifer, der an Goethe’s
verwandte Bestrebungen erinnert, an dem Ziele fest,
malerische Kunstwerke zu gestalten. Denn nun,
nachdem die Natur vielfach anscheinend studirt war,
sollte es ans Komponiren gehen:
„Das gewichtige Wort Komponiren summte
mir mit prahlerischem Klang in den Ohren und ich
ließ, als ich nun förmliche Skizzen entwarf, die zur
Ausführung bestimmt waren, meinem Hange die
Zügel schießen. Der Lehrer ließ nun den Schüler
gewähren und dieser brachte etwas zu stände, das
ihm nicht genügen wollte, ohne dass er wusste,
weshalb. Darauf zeigte denn Römer, dass die „tech¬
nischen Mittel und die Katur Wahrheiten im’Einzelnen
der anspruchsvollen und gesuchten Komposition
wegen keine Wirkung tliun, zu keiner Gesamtwahr¬
heit werden könnten und um meine hervorstechende
Zeichnung hingen, wie bunte Flitter um ein Gerippe,
so dass sogar im Einzelnen keine frische Wahrheit
1) Siehe Bächtold, Keller’s Leben I, S. 77.
2) Ebene!. S. 75.
möglich sei . . . weil vor der überwiegenden Er¬
findung, vor dem anmaßenden Spiritualismus (wie
er sich ausdrückte) die Naturfrische sich so zu sagen
aus der Pinselspitze in den Pinselstiel spröde zurück¬
ziehe.“
Für Keller war das Verhältnis zu Meyer
nicht von Bestand: der Lehrer wurde irrsinnig und
verließ Zürich. Hier spielt auch die hübsche Ge¬
schichte mit dem Briefe von Keller’s Mutter an
Meyer, die Bächtold im ersten Bande der Biographie,
S. 57, wiedergiebt.
Keller sah sich wieder allein. Er las und schrieb
nun weit mehr, als er zeichnete und malte. Die
Zwiespältigkeit seines Wesens fiel ihm endlich, an
seinem 20. Geburtstage, schwer aufs Herz, und ein
langer bekümmerter Brief an Johann Müller in
München giebt davon Zeugnis.1) Dass in Zürich
seines Bleibens nicht mehr war, wenn er als Maler
vorwärts kommen sollte, war ihm deutlich. Er sah
die Notwendigkeit ein, den warmen Haussitz zu ver¬
lassen und freiwillig „die Verbannung“ aufzusuchen.
Der Ruf Münchens als Kunststadt und Asyl der wer¬
denden Maler lockte immer mächtiger. Ein Teil des
väterlichen Erbes, das in Wertpapieren bestand,
wurde zu Geld gemacht und eilig, ohne Reisepass,
den er nachschicken lassen wollte, verließ er die
Vaterstadt, fünfzig Gulden in der Tasche. Mit wel¬
chen Hoffnungen! Die Enttäuschungen, die er hinter
sich hatte, waren gering gegen jene, die seiner harrten.
_ (Fortsetzung folgt.)
1) Keller’s Leben I, 84.
Bleistiftskizze von G. Keller.
ALTE KUNSTWERKE
IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
VON W. BODE.
ON den Schätzen älterer Kunst
in den Vereinigten Staaten
vor meiner Abreise nach ver¬
einzelten Berichten und ge¬
legentlichen Zeitungsnach¬
richten mir auch nur einen
annähernden Begriff zu bil¬
den, war mir nicht möglich.
Wenn auf den Auktionen in London oder Paris ein
Bild von einem Unbekannten auf einen fabelhaften
Preis getrieben wurde, so hieß es in der Regel, dass ein
neu aufgetauchter amerikanischer Sammler der Käufer
sei; und in ähnlicher Weise werden unsinnige For¬
derungen namentlich im italienischen Kunsthandel
damit motivirt, dass amerikanische Liebhaber schon
den Preis geboten hätten, dass man aber „aus Patrio¬
tismus“ das Werk nicht nach drüben gehen lassen
wolle. Die Berichte ernster Kunstfreunde über ihre
Eindrücke in den Sammlungen Nordamerika^ klan¬
gen dagegen wesentlich anders: in den Privatsamm¬
lungen sollten die alten Meister überhaupt nur ganz
ausnahmsweise vertreten sein und in den wenigen
öffentlichen Sammlungen ließe die Masse des Mittel¬
guts und des Schlechten die vereinzelten guten
Kunstwerke kaum zur Geltung kommen.
Durch die Anschauung habe ich auch nach
dieser Richtung ein sehr abweichendes Bild von den
Kunstverhältnissen in den Vereinigten Staaten ge¬
wonnen. Freilich muss ich dabei von vornherein
zugeben, dass die Entwickelung gerade hier eine so
junge und zugleich eine so rasche ist, dass das Bild
von dem Kunstbesitz in den Vereinigten Staaten
vor zehn Jahren ein vollständig anderes gewesen
sein muss und voraussichtlich in zehn Jahren bereits
wieder ein erheblich anderes Aussehen zeigen wird.
Nach dem Eindruck meiner Wanderung durch
eine Reihe von Sammlungen, die mir sämtlich in
der zuvorkommendsten Weise zugänglich gemacht
wurden, sind die Amerikaner insofern den Sammlern
des alten Kontinents noch ungefährlich, als bisher
niemand, auch nicht für die öffentlichen Museen,
systematisch Werke der alten Kunst sammelt. Dies
ist aber nur ein schlechter Trost, denn es kann
sich und wird sich dies von heute auf morgen än¬
dern; auch sind die Liebhaber von drüben, wenn sie
gelegentlich einmal, sei es auf einer Continental tour,
in guter Laune und im Vollgefühl raschen Erwerbes
oder durch die Zuführung von alten Kunstwerken
seitens Pariser oder Londoner Kunsthändler zu An¬
käufen sich verführen lassen, rasch im Entschluss
und meist, nach unseren Begriffen, fast gleichgültig
gegen den geforderten Preis. Sie zeigen aber dabei
in neuester Zeit auch meist noch eine andere, für
uns kontinentale Konkurrenten sehr gefährliche Ei¬
genschaft: einen außerordentlich guten Geschmack.
Nicht nach berühmten Namen oder kunsthistorischen
Kuriositäten, sondern nach künstlerisch ausgezeich¬
neten Werken, namentlich nach solchen von hervor¬
ragendem malerischen Reiz steht der Sinn der ameri¬
kanischen Sammler. Sie sind daher auch meist sehr
vielseitig: wer Kunstwerke sammelt, pflegt neben
modernen Bildern japanische Bronze-, Thon- und
Lackarbeiten, chinesisches Porzellan, chinesische und
japanische Bilder, antike Gläser und Thonbildwerke,
alte holländische und vlämische, gelegentlich auch
altitalienische und deutsche Bilder und Skulpturen
zu besitzen.
Für die farbige Wirkung der Innenräume in
den modernen Häusern der kunstsinnigen Ameri¬
kaner sind diese ihre verschiedenartigen Samm-
14
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
lungen von wesentlicher Bedeutung; doch sind sie
nicht in der Weise dekorativ verwendet, wie wir es
namentlich in den Einrichtungen der französischen
Sammler sehen. Man ist in Amerika nicht, wie in
Paris, bemüht, durch die Kunstwerke und ihre An¬
ordnung die harmonische und stilvolle Wirkung der
Räume noch zu steigern, sondern dieselben sind
sammlungsartig als Gruppen in Schränken und an
den Wänden aufgestellt, nicht selten sogar in be¬
sonderen Räumen. Oberlichträume für die Gemälde
haben die meisten namhaften Bildersammler, auch
noch in den modernsten Häusern.
Der Besitz an alten Kunstwerken ist bisher fast
ganz auf die Städte im Nordosten der Vereinigten
Staaten beschränkt; einiges wenige findet sich in
San Francisco (namentlich von chinesischer und japa¬
nischer Kunst), während im Süden Sammlungen meines
Wissens ganz fehlen. Wie der alte Kontinent, so
besitzt auch Amerika öffentliche Sammlungen neben
Privatsammlungen; aber jene, die Museen, sind nicht
Staats- oder städtische Institute, wie bei uns, sondern
es sind Stiftungen, die aus Geschenken einer oder
mehrerer Privatpersonen hervorgegangen sind, und
daher in ihrem Charakter wie in ihrer Verwaltung
mit den Privatsammlungen noch nahe Verwandt¬
schaft haben. Die Direktoren der Museen sind ein¬
fache Kustoden im buchstäblichen Sinne; sie haben
für die Aufstellung und Instandhaltung der Kunst¬
werke, für die Ordnung im Hause, für die Inventa-
risirung und zuweilen auch für die Anfertigung des
Katalogs zu sorgen; die Anschaffung der Kunst¬
werke, die Beitreibung der Gelder, die Frage der
Bauten u. s. f. liegt aber ausschließlich in der Hand
der Trustees und vor allem ihres Vorsitzenden, der
in der Regel der eigentliche Schöpfer des Museums
ist und aus dessen Mitteln und nach dessen Willen
die Vermehrung desselben in erster Reihe erfolgt,
in welchem großen Stil und wie energisch die Ziele
der öffentlichen Kunstsammlungen durch diese fast
unumschränkte, rein persönliche Leitung verfolgt
werden, dafür sei hier ein besonders nahe liegendes
Beispiel genannt. Zu dein Museumsgebäude in Chi¬
cago, einem soliden Prachtbau aus Granit und Mar¬
mor in vornehmem klassischen Stil, wurden die Mittel
(fast drei Millionen Mark) durch Kunstfreunde der
Stadt vor ein paar .Jahren zusammen gebracht, im
Oktober 1892 wurde der Grund dazu gelegt, und
trotz des langen, grimmig kalten Winters wurde
am 1. Mai 1893 das Gebäude eröffnet.
Für die Kunstsammlungen in Amerika, die
öffentlichen wie die privaten, gilt im allgemeinen
der Grundsatz, dass, je jünger sie sind, um desto
höher der Wert ihrer Kunstwerke ist. Die Anfänge
der Sammlungen in dem eben eröffneten Art Insti¬
tute zu Chicago sind künstlerisch schon bedeutender
als die umfangreichen Sammlungen des mehrere
Jahrzehnte alten Museums in Boston (von der chine¬
sisch-japanischen Abteilung abgesehen) oder gar als
die noch ältere Galerie der Historical Society zu
New York, die ganz zufällig aus dem Nachlass von
ein paar Sammlern entstanden ist und in ganz un¬
genügenden dunklen Räumen einen traurigen Platz
gefunden hat.
Diese umfangreiche Bildersammlung der Histo¬
rical Society in New York ist durch Siftungen entstan¬
den, die von Mr. Reid, Thomas J. Bryan und Louis
Dürr zwischen den Jahren 1858 bis 1882 gemacht
wurden. Nach dem Katalog zusammen 838 Gemälde
zumeist von alten Meistern , in denen ziemlich alle
Schulen vertreten sind, jedoch mit starkem Vorwie-
gen der holländischen Meister des 17. Jahrhunderts.
An großen Namen fehlt es nicht: von Cimabue und
Giotto bis auf Gainsborough und Greuze sind so
ziemlich alle großen Meister im Katalog vertreten;
unter den Bildern wird man leider kaum Einen
darunter entdecken. Doch bleiben bei kritischer
Sichtung noch so viel interessante Bilder von zwei¬
ten Meistern, dass es wahrlich lohnen würde, die¬
selben aus der Masse der wertlosen Bilder auszu¬
scheiden und für sich in einem einzelnen guten
Raume aufzustellen.
Ich nenne die Bilder, welche mir bei kurzem
Besuch in der Dunkelkammer, die sich hier Galerie
nennt, als bemerkenswert auffielen. Unter den Ita¬
lienern eine Kreuzigung von Bramantino unter Man-
tegna’s Namen, dem sich der Meister hier eng an¬
schließt (Nr. 220), eine sehr gute Madonna aus
Leonardo 's Schule, Zenale genannt (Nr. 508), ein
kleiner Hieronymus von L. Mazzolino aus dessen
Todesjahre 1528, ein großer Franc. Zuccaro aus dem
Jahre 1007 (Nr. 213), ein weibliches Bildnis von
Allori (Nr. 226), mehrere interessante Florentiner
„deschi da parto“ und einige andere mittelgute Tre-
cento- und Quattrocentobilder. Von Altniederländern:
ein kleines Triptychon vom Meister der Himmel¬
fahrt (Nr. 309, Q. Massys genannt), eine Flucht nach
Ägypten von Patinir (Nr. 376), eine gute alte Kopie
des berühmten kleinen Mabuse in Palermo (Nr. 307),
eine kleine Madonna von Mostaert (Nr. 298); vor
allem unter J. v. Eyck’s Namen (Nr. 291) eine sehr
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
15
interessante Kreuzigung, die auf die Hand eines
Kölner Nachfolgers des Merode-Meisters zu weisen
scheint; von großer Leuchtkraft der emailartigen
Farben, die Landschaft matter, in der Art des Mem-
linck. Der zur Seite knieende Stifter ist durch In¬
schrift als „Fr(ater) Aurelius de Emael“ bezeichnet.
gar nicht zu trauen. Nur ein Waldrand von M. Hob -
bema (Nr. 515), dessen genauere Prüfung an seinem
Platze freilich unmöglich war, machte mir einen
sehr guten Eindruck. Echt sind sodann eine stille
See von W van de Velde (Nr. 360), ein paar Bilder
von A. v. Ostade (Nr. 738, 320 und 321), ein kleines
Unter den vlämischen Meistern sind nennens- Interieur von W. Kalf (Nr. 712) und ein größeres
wert: von Rubens
ein echtes großes
Bildnis eines Rit¬
ters des Goldenen
Vließes (Nr. 336),
etwas nüchtern in
der Behandlung
und Färbung, so¬
wie mehrere uner¬
hebliche Schul- und
Atelierbilder. Von
D. Teniers eine frü¬
he gute Hexenscene
(Nr. 351) und ein
Bauerntanz (Nr.
352); von A. Brou-
wer das interessante
halblebensgroße
Brustbild eines jun¬
gen Burschen, der
eine Münze prüft,
vor dunklem
Abendhimmel (Nr.
275); ein Gegen¬
stück dieses Bildes,
das der Katalog
aufführt, ein Alter
im Schlapphut (Nr.
274), ist vielmehr
ein mäßiges Werk
des Craesbeeck. Wie¬
derholungen beider
Bilder, von der
Hand des Oraesbeech,
Lorenzo de’ Medici. Thonbüste aus dem Atelier des Verroccfaio.
Stillleben von dem
selben Meister (Nr.
27), ein Waldbild
vom Haarlemer Jan
Vermeer unter Ruis-
dael’s Namen (Nr.
343), ein kleiner
Winter von Wou-
werman (Nr. 517)
und eine ganze
Reihe Gemälde klei¬
nerer Meister wie
B. Cuyp (Nr. 790
und 736), B. Cor-
nelisz (Nr. 685, bez.
Stillleben 163. .), E.
van der Poel (Nr. 370
und 538, letzteres
besonders gut), D.
Hals (Nr. 325), Och-
tervelt (Nr. 319), N.
van Gelder (Nr. 604
und 605, bez. 1674),
J. Donck (Nr. 748,
die „Gemüsehänd¬
lerin“, bez. 1630),
L. Bramer (Nr. 775
und 273), C. Saft¬
leven (Nr. 723 und
726) , B. Molenaer
(Nr. 322), Uytewael
(Nr. 379), Moeyaert
(? Nr. 552), Nieu-
landt (? großes Still-
ich kürzlich Im Privatbesitz in Boston. (Aus dem Werke von P. Müller- Walde : Leonardo da Vinci. IaKpii Nr jfll'l A
München. Yeriag von (j Hirtb.) leuen, im. iui;, m..
im Kunsthandel zu
Paris. Ein Interieur bei Kerzenlicht von D. Ryckaert
(Nr. 774), Mars und Venus von Rottenhamer (Nr. 744),
ein paar Bilder von G. van Herp (Nr. 679 — 681),
verschiedene gute Landschaften von G. Huysmans
(Nr. 301), J. Fouquieres (Nr. 292) und von L. van
Valckenburgh (Nr. 381 und 382), sowie einige Still¬
leben von Snyders (Nr. 348) und Fyt (Nr. 112).
Unter den Holländern ist den großen Namen
Palamedes{ Nr. 599),
C. Netscher (Porträts, Nr. 317 und 519), Jan Victors
(Nr. 107), D. Hagelstein (Nr. 700, bez. 1630), A. de
Lorme (Nr. 735), D. Verlanghen (Nr. 737), Q. Breke-
lenkam (Nr. 729), G. van Battem (Nr. 721), O. Marseus
(Nr. 707), M. Withoos (Nr. 595), S. Kick (? Nr. 734,
Wäscherin, Sorgh benannt).
Die „Großmut des Scipio“ ist eines der besten
Bilder, die ich von Eeckhout kenne (Nr. 290); der
16
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
Katalog enthält noch ein zweites Bild unter seinem
Namen, das mir nicht aufgefallen ist, „Historisches
Motiv, bezeichnet Is- Isaacken Invent1-' G. v. Eckhout
pingsit A. D. 1670“. Ein tüchtiges Bild des Künstlers
ist auch M. v. Musscher’s „Familie in der Landschaft“
(Nr. 501).
Unter den spanischen Bildern ist eines von her¬
vorragend malerischen Vorzügen: die zweite Frau
Philipp’s IV., doch wohl eher eine Wiederholung
des Del Maxo als von Velazquez selbst (Nr. 385).
Unter den französischen Bildern sind mehrere recht
gute; so die Porträts von
Chardin (Nr. 529), Largil-
licre (Nr. 419), Rigaud
(Nr. 420) und Ph. de Cham¬
pagne (Nr. 276), ein Mäd¬
chenkopf von Greuze (Nr.
440), eine große Thalland¬
schaft von C. Dugliet (Nr.
405).
Wenn diese Bilder
einmal aus ihrem Dunkel
und Schmutz herausgeholt
werden (Intriguen in der
Stadtverwaltung haben bis¬
her einen Neubau ver¬
hindert), so werden sich
gewiss noch eine Reihe
anderer Gemälde als be¬
achtenswert heraussteilen.
Die Gründung des Me¬
tropolitan Museum of Art
inmitten des großen Stadt¬
parks von New York, unter
der Leitung seines groß-
sinnigen Protektors TJmry
G. Marfjuand, , hat weiteren
Stiftungen an die Histori-
cal Society vorläufig ein Ziel gesetzt; mit Recht werden
alle Kräfte daran gesetzt, in diesem neuen Institut einen
der riesigen Weltstadt würdigen Mittelpunkt für die
Kunstinteressen zu schaffen. Hierbei beteiligt sich
neben den Kunstfreunden New Yorks auch die Stadt¬
verwaltung mit einem jährlichen Beitrag von etwa
80 — 100000 Dollars. Der Bau des Museums ist außen
schwerfällig und stillos, innen zwar geräumig und
hell, aber unübersichtlich und wenig stimmungsvoll,
namentlich weil man den Versuch machte, den Cha¬
rakter der Hauptsammlung, für welche der Bau er¬
richtet wurde, der cyprischen Sammlung Cesnola’s,
auch im Äußern und in der Dekoration zum Ausdruck
zu bringen. Diese in ihrer Art sehr bedeutende
Sammlung hat doch nur einen bedingten historischen
und einen mäßigen künstlerischen Wert und giebt
durch die große Zahl der einförmigen und befangenen
Skulpturen dem ganzen Museum einen wenig erfreu¬
lichen Charakter. Der Eindruck wird auch durch den
Anbau für die Gipssammlung nicht verbessert, ob¬
gleich dieselbe vorzüglich angelegt und den meisten
europäischen Sammlungen überlegen ist. Die chine¬
sisch-japanische Abteilung ist übersichtlich, aber für
Amerika unbedeutend; wesentlich bedeutender ist
die 1891 von Edward C.
Moore hinterlassene Samm¬
lung von altpersischen und
hispano-moresken Fayen¬
cen, von persischen und
arabischen Metallarbeiten
und Gläsern, Spitzen, ja¬
panischem Steingut und
griechischen und römischen
Gläsern. Von letzteren
sind noch mehrere große
Schränke , aus anderen
Schenkungen stammend,
in der cyprischen Abtei¬
lung aufgestellt; im gan¬
zen wohl mehr als tau¬
send meist sehr zierliche
und farbenprächtige, in
allen Farben des Regen¬
bogens schillernde Gläser.
Wie hier, wenn auch nicht
in gleicher Fülle, finden
sich in fast allen öffent¬
lichen Sammlungen und
bei den Privaten solche
antike Gläser in einer
Zahl und Güte und von so
vorzüglicher Erhaltung, wie sie der alte Kontinent
«rar nicht aufweist. Dies erklärt sich teils aus dem
ausgesprochenen Farbensinn der Amerikaner, teils
aus ihrer Vorliebe für die antike Kunst überhaupt.
Wetm die antiken Thongefäße, die kleinen Terra¬
kotten (leider auch jene modernen oder halbmoder¬
nen sog. kleinasiatischen Gruppen, welche der at¬
tische Antiquitätenmarkt liefert), die antiken Mar¬
morbildwerke in Italien und Griechenland, auch in
der Mittelware, seit wenigen Jahren eine wesent¬
liche Preissteigerung erfahren haben, zum Teil auf
das Doppelte und weit darüber hinaus, so liegt der
Hauptgrund gerade in der Nachfrage von amerika-
Porträt von M. van Heemskerk.
ALTE KUNSTWERKE ]N DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIG 1 EN STAATEN.
17
nischer Seite. Die Gemäldesammlung des Metropolitan
Museums enthält drei Oberlichtsäle mit alten Bildern.
Der größte derselben ist ausschließlich mit den von
Mr. Marquand geschenkten Bildern angefüllt; eine
Sammlung von nur 50 Gemälden, aber zum großen
Teil so gewählte Werke, dass sie jeder Galerie
des Kontinents zur Zierde gereichen würden. Unter
den ältesten Bildern ein
merkwürdiges Altfloren¬
tiner Bild: „Ein Porti-
nari mit seiner Frau“
unter Masaccio’s Na¬
men, wohl ein Werk
des Cosimo Rosselli (von
Lord Methuen erwor¬
ben). V on Jan van Eyck
die „Madonna in der
Kirche“ (aus der Galerie
Beresford Hope), in der
Ausführung wohl nicht
eigenhändig; die unter
dem gleichen Namen
ausgestellte Kreuzab¬
nahme ist ein besonders
feines, leuchtendes Werk
des Petrus Cristus. Eine
Madonna unter Leonar-
do’s Namen ist ein dem
Boltraffio am nächsten
stehendes sehr gutes
Bild der Schule Leonar-
do’s. Unter den spani¬
schen Bildern (neben ein
paar Atelierbildnissen)
ein Selbstbildnis des
Velazqnez, dem Bilde im
Kapitol ganz nahe, aus
der Galerie des Mar¬
quis of Lansdowne er¬
worben.
Von den drei dem P.
P. Rubens zugeschriebe¬
nen Gemälden ist die Susanna eine Schulkopie des
Münchener Bildes, „Pyramus und Thisbe“ ein Werk
des Thulden und das männliche Porirät ein charakteri
stisches, ganz frühes Werk des A. van Dyck, überein¬
stimmend mit ein paar aus dem Jahre 1618 datirten
Bildnissen beim Fürsten Liechtenstein. Wie dieses
Bild, so stammt das große stattliche Bildnis des James
Stuart mit einem Hund zur Seite, ein spätes Werk
des van Dyck, aus der Galerie des Lord Methuen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 1.
in Corsham House. Ein sehr anziehendes Frauen¬
bild unter der Bezeichnung van Dyck ist meines
Erachtens ein ganz charakteristisches, treffliches Werk
des Cornelis de Vos. Unter verschiedenen Bildern
von D. Teniers sind die zwei Kopieen nach Bassano
am anziehendsten (aus Bienheim stammend).
Auf Rembrandt sind vier Gemälde getauft. Die
„Mühle“ und die „Anbetung der Hirten“ sind das
eine eine englische Nachahmung, das andere eine
Kopie des Bildes in der National Gallery. Dagegen
sind zwei Männerbildnisse echt und bedeutend; das
eine (aus der Sammlung von Sir William Knighton
stammend) gehört zu den spätesten datirten Werken
des Künstlers (1665); das andere, von Marquis of
Lansdowne erworben, ist wohl noch in den fünfziger
Jahren gemalt. Bedeutender noch als Rembrandt
3
Unterredung. Gemälde von Pjeter de Hooch. Aus der Sammlung des Herrn Havemeyer in New-York.
18
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
ist Frans Hals vertreten. Neben einem flüchtigen
derben Genrebild (Der Raucher und sein Liebchen)
zwei treffliche Porträts der letzten Zeit: die Halb¬
figur eines Mannes und das Porträt einer älteren
Dame in reichem farbigen Kostüm, zur Seite der Aus¬
blick auf eine Stadt; eines der intimsten und male¬
risch vollendetsten Werke des Künstlers. Ein Doppel¬
porträt unter Hals’ Namen gehört vielmehr einem
vlämiscben Nachfolger des A. van Dyck. Ein anderes
bedeutendes Doppelbildnis, ein junger Mann mit
seiner Frau, ist ein ungewöhnlich gutes Werk von
Remhrandt’s Schüler S. van Hoogstraaten. Von G.Metsu
der „Musikunterricht“, ein etwas liebloses, noch an
Duck erinnerndes Werk (aus der Sammlung Perkius);
von Jan Vermeer von Delft ein „Junges Mädchen am
Fenster“, ein tadellos erhaltenes Meisterwerk dieses
seltenen Künstlers (von Lord Powerscourt erworben).
Gute Bilder außerdem von A. Cuyp, Jac. van Ruisdael,
G. Terborch, Sorgh und von einigen englischen Mei¬
stern des vorigen Jahrhunderts.
Die beiden kleineren Säle mit früheren Erwer¬
bungen — meist gleichfalls Geschenke — enthalten
ältere Bilder von sehr verschiedenem Wert; darunter
jedoch eine Anzahl guter und interessanter Werke.
Vor allem ein großes Hauptwerk von Sir Joslma
Reynolds, unter dem Namen „The Hon. Henry Fane
and his Guardians“ bekannt. Daneben hängen ein
paar vortreffliche größere Guardi , Ansichten aus
Venedig, sowie zwei flotte Skizzen von G. B. Tiepolo.
Ein großer Rubens, „Die Rückkehr der heil. Familie
aus Ägypten“ , ist ein ganz ruinirtes nüchternes
Atelierbild. Von Jacob Jordaens mehrere unerfreu¬
liche Bilder; von A. ran Dyck ein in Italien, ganz
unter venezianischem Einfluss, gemaltes religiöses
Motiv: die heil. Martha, von Gott die Abwendung
der Pest von der Stadt Tarascon erflehend. Von
vlämischen Meistern sonst ein paar gute D. Teniers,
ein sehr anmutiges Kinderporträt von C. de Vos und
verschiedene Gemälde von Jan Brueghel d. j., Jan Fyt,
Vcrendacl, Jhiysmans u. a. Unter den Bildern der
holländischen Schule ist wohl das interessanteste
eine ganz flüchtige, aber sehr geistreich hingestrichene
Studie der „Hille Bobbe“ von Frans Hals. Besonders
gut sind ein paar Männerporträts von A. de Vries
f 1 ♦',43 im Haag gemalt), B. rau, der Hehl, (1(541, ganz
im Anschluss an Claes Elias) und A. de Gelder; andere
Bildnisse von V. L. ran der Vinne und Karel de Moor ;
unter je zwei Landschaften von Salomon van Ruys-
darl und Jan ran Goyen ein paar vorzügliche aus der
späteren Zeit dieser Künstler, Landschaften von A.
>. Neer, /'. van Asch; Stillleben und Blumenstücke
von W. Kalf (gutes kleines Interieur), J. D. de Heem
ganz in der Art von P. Claesz), A. van Beyeren, M. van
Oosterwyck, R. Ruysch, verschiedene geringere J. Steen,
A. van Ostade u. s. f. Unter den älteren Bildern sind
ein Porträt des M. van Heemskerk von seinem Vater
(1532) und ein Strigel unter Cranach’s Namen be¬
achtenswert.
Das Metropolitan Museum besitzt unter seinen
mannigfaltigen Sammlungen auch eine solche von
alten Zeichnungen, zu deren Durchsicht mir leider
die Zeit fehlte.
Das Museum of Fine Arts in Boston, in seinen
Anfängen noch etwa um ein Jahrzehnt älter als das
New Yorker Metropolitan Museum, leidet noch in
höherem Grade als dieses an dem Bestreben, sich
möglichst eng an europäische Vorbilder anzulehnen
und von der ganzen älteren Kunstentwickelung in
Europa ein Bild vorzuführen. Um in kurzer Zeit
recht viel zusammenzubringen (was bei der großen
Entfernung vom Antiquitätenmarkt doppelt schwer
war), hat man sich mit Mittelgut begnügt. Dadurch
erhält aber der Amerikaner von der alten Kunst nur
eine ungenügende und ungünstige Anschauung und
der Förderung seiner eigenen Kunst können solche
Vorbilder eher schädlich als nützlich sein. In der
umfangreichen Sammlung europäischer Stoffe, Fay¬
encen, Emails, Silberarbeiten und anderer Zweige des
Kunstgewerbes sind nur wenige Stücke, die Beach¬
tung verdienen. Dagegen hat die große, gut gewählte
und gut aufgestellte Sammlung von Gipsabgüssen
mit Recht das Vorbild für alle anderen ähnlichen
Sammlungen in Amerika abgegeben. Auch nach einer
anderen Richtung kann sich das Bostoner Museum
rühmen, allen anderen Museen, auch auf dem alten
Kontinent weit überlegen zu sein: in den Arbeiten japa¬
nischer Kunst. Die Sammlung japanischer Töpfer¬
arbeiten, die von Mr. Morse erworben und aufgestellt
ist und jetzt von ihm katalogisirt wird, ist die her¬
vorragendste Sammlung ihrer Art; und dasselbe gilt
von der Fenallosa- Sammlung der Kakemono, der
sich die des Dr. Bigelow nicht unwürdig anschließt.
Die Gemäldesammlung, wie regelmäßig in Ame¬
rika in Oberlichtsälen aufgestellt, besteht vorwiegend
aus Leihgaben. Ein Saal nimmt die gewählte Samm¬
lung des jüngst verstorbenen Frederick L. Arnes mit
Meisterwerken der Schule von Barbizon ein; nament¬
lich Gemälde von Daubigny, Corot, Th. Rousseau
und Troyon. Unter den Werken alter Meister, die
mehrere Säle füllen, ist wenig Gutes, nichts Hervor¬
ragendes. Von Altitalienern einige gute Trecentisten,
namentlich eine Geburt Christi von Duccio (Nr. 3,
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
19
Schule Giotto’s gen.); Bilder von Palmezzano (als
Cima), Bassano, Tintoretto, Pacchiarotto (als Timoteo),
Palma Giovane (als P. Vecchio); dazwischen ein paar
gute Franzosen des vorigen Jahrhunderts, nament¬
lich zwei große Boucher, in ihrer prachtvollen Ori¬
ginaleinrahmung, und zwei Stillleben von Chardin.
Unter den Niederländern sind ein paar recht gute
von Sidney Bartlett geschenkte Bilder: ein „Schlacht¬
haus“ von D. Teniers, „Der Wucherer“ von G. J\[etsu
(datirt 1654), ein sehr poetisches früheres Bild von
Jacob van Ruisdael; außerdem, meist leihweise aus¬
gestellt, gute Bilder von Huysum, F. Snyders (als
W. Kalf), J. van Ruisdael, W. van de Velde , P. Boel, Jac.
van Ruisdael II. (als Hobbema), Sal. van Ruysdael , Jan
Weenix; unter Holbein’s Namen das Bruchstück eines
tüchtigen Bildes von einem Niederländer in der Art
des Q. Massys, den Stifter mit seinem Schutzheiligen
darstellend (Nr. 231).
Im Vergleich mit den Museen von New York
und Boston zeigt das vor wenigen Monaten, nach
Schluss der darin abgehaltenen Ausstellungskongresse,
eröffnete Art Institute in Chicago den raschen Fort¬
schritt des Kunstgeschmacks in den Vereinigten
Staaten. Nicht nur im Bau, in den Innenräumen
und in der Aufstellung, vor allem auch in der Wahl
der Kunstwerke. Dies gilt vor allem für die Gemälde,
die allein schon während der Ausstellung zugäng¬
lich waren: die alten im Museum selbst, die moder¬
nen in der Ausstellung. Erstere, die Werke der
alten Meister, beschränken sich bisher auf eine Aus¬
wahl meist niederländischer Bilder, welche der künst¬
lerisch fein gebildete Präsident des Museums, Charles
L. Hutchinson, aus dem Demidoff sehen Nachlass er¬
warb. Es sind dies: von Rembrandl das große an¬
mutige Bild eines Amsterdamer Waisenmädchens
(1645), von F. Hals das breit und geistreich be¬
handelte Bildnis eines 32 Jahre alten Malers (1644),
angeblich das Porträt seines Sohnes Härmen, von
D. Teniers die „Wachtstube“, von A. van Ostade der
„Geburtstag“ (1675), von G. Terborch das „Konzert“,
von Jan Steen das Familienkonzert“, von Hobbema
die „Wassermühle“, von Jacob van Ruisdael das „Schloss
am Wasser“, von A. van de Velde eine größere italie¬
nische Landschaft mit Vieh, von W. van de Velde eine
„Stille See“, von A. van Dyck das Bildnis der jungen
Prinzessin Helena Eleonora de Sievere, ausnahms¬
los gute und selbst ausgezeichnete Bilder dieser
Künstler von guter oder tadelloser Erhaltung. Das
Bildnis des Marquis Spinola ist dagegen nur eine
Schul Wiederholung nach Rubens’ Original beim Gra¬
fen Nostitz in Prag. Von Interesse ist noch der
lebensvolle Kopf eines alten Mannes, der in der Ga¬
lerie Sciarra zu Rom unter Dürer’ s Namen ging und
seither als ein Werk des H. Holbein galt, aber viel¬
mehr die Arbeit eines niederländischen Künstlers
vom Anfang des 16. Jahrhunderts ist.
ln demselben Raum mit diesen Bildern sind eine
Anzahl anderer alter Gemälde aus Privatbesitz aus¬
gestellt, die aber meist über kurz oder lang als Ge¬
schenke an das Museum überwiesen werden. Dar¬
unter sind besonders bemerkenswert die von Herrn
P. C. Hanford geliehenen Bilder: eine große Kon¬
zeption von Murillo , ein früheres Werk dieses Mei¬
sters, ein Bild König Philipps IV. von Velazquez,
eine große waldige Landschaft von Jacob van Ruis¬
dael, und ein interessantes späteres Bildnis von Rem-
brandt , bekannt unter dem Namen „Der Rechnungs¬
führer“. Vorübergehend ist auch eines der umfang¬
reichsten, farbig sehr wirkungsvolles Gemälde aus
Rembrandt’s letzter Zeit, „Saul und David“, hier aus¬
gestellt.
Die moderne Abteilung der Galerie hat aus
dem Legat von Mr. Henry Field einen Grundstein
erhalten, so gut wie die alte Abteilung in dem De¬
midoff sehen Ankauf: die kleine Sammlung besteht
fast nur aus besten Werken der ersten französischen
Maler aus den fünfziger und sechziger Jahren.
Die öffentlichen Museen in Philadelphia, Wash¬
ington und Baltimore enthalten an älteren Kunst¬
werken nur ganz Weniges, darunter an alten Ge¬
mälden kaum etwas Nennenswertes. Über die Museen
anderer Städte, in St. Louis, Cincinnati, Detroit
u. s. f. kann ich kein Urteil abgeben, da ich sie
nicht besucht habe; der Anfang zu Galerieen alter
Gemälde ist aber auch hier schon gemacht und es
bedarf nur des Anstoßes eines einzelnen reichen
Sammlers, um auch in solchen Städten in wenigen
Jahren namhafte Galerieen ins Leben zu rufen.
r@=-
3*
Studie zur Verfolgung Von Fr. Stuck. (Aus dem Werke: Franz Stuck. München, Verlag von Dr. E. Albert.)
FRANZ STUCK1).
MIT ABBILDUNGEN.
S wäre banal, von Franz Stuck
als von dem Bahnbrecher
der modernen Münchener zu
sprechen; er ist ihr Posaunen¬
bläser, ihr Plakatzeichner,
ihr Groteskakrobat und zu¬
gleich einer ihrer wunder¬
barsten Poeten , alles in
Einer Person! Keine Kleinigkeit fürwahr, einer sol¬
chen Kraftnatur gerecht zu werden, um so mehr
als ihre Entwickelung — normale Verhältnisse vor-
ausgesetzf noch lange nicht abgeschlossen erscheint.
Ein enthusiastischer, aber deshalb nicht un¬
kritischer Freund des Künstlers hat den Versuch
trotzdem gemacht, uns ein Charakterbild des gott¬
begnadeten Mannes zu entwerfen, ein Bild in Wor¬
ten, das von über hundert wirklichen Bildern be¬
gleitet wird, die für die Wahrheit des Gesagten
zeugen. Ohne allen Zweifel — so darf man auf
Grund dieser Schilderung mit Bierbaum behaupten
ist es eine kühn und selbständig schaffende künst¬
lerische Persönlichkeit, welche in dem gährenden
Übergangsstadium der heutigen Zeit ein tiefgehen¬
des Interesse beanspruchen darf.
1) I ber hundert Reproduktionen nach Gemälden und
plastischen Werken, Hand Zeichnungen und Studien. Text
von Otto Julius Birrhaum. München, Verlag von Dr. E.
Albert & Co. 1893. 4°.
Vor allem ein Zeichner allerersten Ranges. Franz
Stuck — als Sohn eines Müllers zu Tettenweis in
Niederbayern am 23. Februar 1863 geboren — war
früh darauf angewiesen, sich sein Brot durch Illus¬
trationen zu verdienen. Die Realschule, die Kunst¬
gewerbeschule lieferten ihm dazu die ersten Bildungs-
elemente. Die Akademie hat er des Erwerbes wegen
o
meist geschwänzt, „so dass ihm ihre Schablone
nicht allzu viel anhaben konnte.“ Bald half ihm
die Not auf die eigenen Füße.
Er begann mit Humoresken für die „Fliegenden
Blätter“, anfangs den Oberländer’schen verwandt,
jedoch keineswegs nachgebildet, schließlich von einer
ganz eigenen „zeichnerischen Komik von höchst
fideler Verwegenheit“. Ein derber Realismus tanzt
darin den Reigen mit einer tollen Phantastik. Oft
geht die letztere bis an die Grenze des Outrirten,
Schnörkelhaft- Bizarren, aber nie verleugnet sich
dabei die Schlagkraft des Witzes, der unfehlbare
Sinn für das Wahre und Typische; nicht selten weht
auch ein Hauch Schwind’sclier Poesie, wie in dem
beigedruckten Monatsbild „Dezember“, in die sonst
urmoderne Gestaltenwelt Stuck’s herüber.
Ernsten Anlass, sieb mit der Kunst der Ver¬
gangenheit, und zwar einer weit früheren, zu be¬
fassen, bot dem Zeichner die Aufforderung der
Wiener Verlagsfirma Gerlach & Schenk, an den von
ihr herausgegebenen Prachtwerken „AlJegorieen und
Embleme“ und „Karten und Vignetten“ mitzuarbei-
FRANZ STUCK.
21.
ten. Die Fülle der herrlichen Beiträge, die der
Künstler zu diesen Motivensammlungen geliefert hat,
offenbarte zuerst den ganzen staunenswerten Reich¬
tum seiner Erfindungskraft. Auf die Befruchtung
derselben hat unverkennbar das eindringende Stu¬
dium der alten deutschen Meister, vornehmlich
Dürer’s und Hans Baldung’s, mächtigen Einfluss
geübt: der breite Federstrich der Zeichnung, die
gedrängte und doch klar gegliederte Komposition,
hunderts. Aber durch das Lernen von den Alten geriet
Stuck durchaus nicht unter deren Botmäßigkeit. Im
Gegenteil! Seine Kraft entwickelte sich nun erst
recht zur vollen Eigenart; am reichsten in den
„Karten und Vignetten“. Da kommen zu den Dürer-
schen Anklängen „Züge von einer koketten Zier¬
lichkeit ganz gallischen Charakters, schließlich mo¬
dernste Raffinements, elegante Keckheiten in allerlei
zeichnerischen Verblüffungen und Kunststücken“,
Dezember. Von Fr. Stuck. (Aus den fliegenden Blättern )
der gedankenhafte und dabei durchaus plastische
Geist der Erfindung erinnern an die Weise des er-
steren, die malerische Behandlung, der grünliche
Ton mit schwarzen Schatten und aufgesetzten Lich¬
tern oft an die Helldunkelschnitte des letzteren. Das
Buchhändlerwappen z. B., mit dem Pegasus als Helm¬
zier, dem Merkurstab, der Eule und dem Krebs als
Schildzeichen, verrät Zug um Zug diesen Zusammen¬
hang mit den Vorbildern des sechzehnten Jahr-
dies alles je nach den Vorwürfen verschieden in der
Erfindung und im Vortrag, und doch stets mit der
„Note des Persönlichen“, echt Künstlerischen. Un¬
erschöpflich ist Stucks Laune vor allem in der Ge¬
staltung der schelmenhaften Amoretten, die auf
diesen für alle Wechselfälle des menschlichen Lebens
erfundenen „Karten und Vignetten“ ihr drolliges
und sinniges Spiel treiben, als neckische Schmetter¬
lingsbübchen, Hochzeitsgenien, Taufengel und Kobolde
wappen von Fit Stuck. (Aus dem Werke: Allegorien und Embleme. Verlag von Gerlack & Schenk in Wien.)
FRANZ STÜCK.
23
jeglicher Art. Nicht minder glücklich als in seinen
Liebesgenien ist der Künstler in der Gestaltung der
Tanzgeister und der Champagnergeisterchen, kurz in
jeder humorvollen Verkörperung irdischer Daseinslust.
Einer dieser ausgelassenen Schlingel (auf einer Karte
zum Künstlerfest) hat sich „mit lautsingendem Munde
auf der Freitreppe zu einem großen Festsaale nieder¬
gelassen und lockt auf einer Guitarre, die er aus
einer Palette improvisirte, Töne einer verwegenen
Fidelität hervor “ Auf einer der besonders gelunge¬
nen Karten, die vom
Sekt handeln , lässt
Stuck „den freigelas-
senen aufsprühenden
Champagnergeist zu
einer vielstengeligen
Pflanze werden, deren
Blätter und Blüten
eine ganze Schar tau¬
melnder Putten em¬
portreiben“. In man¬
che dieser Erfindun¬
gen sind Barockmo¬
tive von reizender
Keckheit verflochten,
doch stets mit jener
lebendigen Anmut, die
dem Hergebrachten
originales Gepräge
verleiht. „Selbst, wo
Stuck stilisirt, haucht
er Leben in das rein
Formelle, auch seine
Ornamente haben et¬
was Gewachsenes, wie
in windfreiem Blü¬
hen Gewordenes.“ Da¬
zu kommen endlich
auch Blätter von ganz
realistischem Charakter, welche in ihrer Härte und
Derbheit zu den phantastischen im entschiedensten
Gegensätze stehen. In diese Gruppe gehören z. B.
einige der Holzschnitte in den „Zwölf Monaten“ (G.
Weise's Verlag in Stuttgart). Während Stuck in
seinen Allegorieen und Emblemen als naher Stilver¬
wandter von Rud. Seitz erscheint, erinnert er in den
realistischen Zeichnungen, z. B. in dem kernigen
Blatte mit dem pflügenden Bauer, an die charakter¬
volle Schneidigkeit eines W. Diez.
Wie der Zeichner, so der Maler! Auch in Stuck’s
Malerei baut sich die phantastische Welt, über die
r- * Wr * "
V
W':
Studie zur Innoceutia. Von Fr Stuck
(Aus dem Werke: Franz Stuck. München, Verlag von Dr. E. Albert & Co.)
sein Genius gebietet, auf dem festen Grunde der
Natur und des Lebens auf. Gleich sein erster male¬
rischer Erfolg, auf der Münchener Ausstellung von
1889, zeigte dies klar, alle weiteren seit 1890 haben
es bestätigt. Da liegt nun der Punkt, an dem das
Verhältnis unseres Künstlers zu seinen Vorläufern
zur Auseinandersetzung zu bringen ist. Bierbaum
sagt gleich am Anfang seiner Darstellung mit Recht:
neben Thoma und Max Klinger war es vornehmlich
Arnold Böcklin, welcher Stuck die Wege zum Ver¬
ständnis der Zeitge¬
nossen brach und eb-
* nete. Aber es besteht
zwischen Stuck und
Böcklin, bei aller Ver¬
wandtschaft, doch
auch ein tiefer, wohl
zu beachtenderünter-
schied. Stuck — be¬
merkt unser Autor
— erhält den Anstoß
„mehr vom sinnlichen
Sehen“, Böcklin
schafft „mehr aus in¬
nerem Bewegen“.
„Darum ist das Land¬
schaftliche bei Stuck
wirklichkeitsechter,
deutscher, geschauter,
intimer, wenn auch
Streiflichter des Phan¬
tastischen über ihm
liegen. Seine Land¬
schaften sind nicht so
aus dem Traume, wie
meist bei Böcklin. Da¬
gegen spukt etwas
Symbolismus hinein,
das Abtönen der Far¬
benharmonie auf einen gewissen Grundton, auf ein
Leitmotiv (häufig grün-violett); aber die Farben sind
doch immer aus dem freien Lichte heraus, von der
Natur heimgetragen in schnellen Augenblicksnoti¬
zen.“ Und wie Böcklin „aus dem Kopfe“, Stuck da¬
gegen mehr vor der Natur malt, so sind die beiden
auch in der Art ihrer malerischen Behandlung scharf
unterschieden. „Technisch ist Stuck ganz Naturalist,
Naturalist im vorgeschrittensten Sinne, Impressio¬
nist. Daher trägt seine Vortragsweise das Gepräge
kühnster Unmittelbarkeit. Das Glatte der alten Ma¬
lerei, das auch Böcklin noch vielfach anhaftet, das
Der Wächter des Paradieses. Gemälde vou Fit. Stucic
i'v. I eribach pinx.
H eli o gravure v. Dr E.Afbert u_ C?
Franz Stuck.
Verlag v E.A. Seemann in Leipzig.
Drucke L Anderer in Berlin.
FRANZ STÜCK.
25
alles Licht in die Tiefen der Lasuren verlegt, ist
Stuck völlig fremd. Er lieht die stark aufgelegten
Farben, das Glitzernde, Hervorbrechende, oder aber
das verwobene Ineinanderwirken der keck neben¬
einandergesetzten Farbeneindrücke, er scheut selbst
vor derbsten Spacbtelungen nicht zurück. Unstreitig
bat er damit den künstlerischen Reiz seiner Bilder
außerordentlich erhöbt. Seine Phantasieen gewinnen
an lebendiger Glaublicbkeit, seine reinen Natur¬
stücke werden dadurch reich an Poesie des Wahr¬
haftigen.“
Die vornehmste Gabe, welche Stuck mit Böck-
lin gemein hat, ist die Fähigkeit des phantasie vollen
Weiterbildens innerhalb der natürlichen Welt. Er
ahmt, wie jener, nicht die Faune, Kentauren, Satyrn
der Alten einfach nach, sondern er schafft sie neu,
versteht sie dem Naturgegebenen organisch anzu¬
gliedern. Seine Phantasie ist nicht so wild-grotesk
wie die Böcklin’s. „Er geht nicht hinaus über die
Bildung von Bock-, Fisch-, Pferde-, Löwen- und
Hirschmenschen. Aber in der Variation innerhalb
dieses Gebietes künstlerischer Bastardbildungen ist
er reich an feinsten Nüancen.“
Es ist ein besonderes Verdienst des Bierbaum-
schen Werkes, uns die ganze Reihe der aus Natur
und Fabelwelt geschöpften Werke des Münchener
Meisters in Bildern vorgeführt und geistvoll erläu¬
tert zu haben. Eine gleich gründliche Würdigung
seiner Laufbahn und seines Wirkens ist wohl selten
einem eben erst dreißigjährigen, im frischesten
Schaffen stehenden Künstler zu teil geworden. Den
Anfang machen die sensationellen Bilder von 1889
und 1890: „Der Wächter des Paradieses“, die „Inno-
centia“ und „Die Vertreibung aus dem Paradiese“ ;
dann kommen jene phantastischen Gesellen aus der
animalischen Welt, die wilden, verliebten Tiermen¬
schen, wie der „Liebestolle Kentaur“, mit dem ganzen
Gelichter der „fleisch- und haarblonden Waldweib¬
lein“; wir beobachten in der „Neckerei“ ihr harm¬
loses Spiel, in der „Verfolgung“ und in den „Ri¬
valen“ ihre ungezügelte Leidenschaft und Natur¬
gewalt; dann thut sich in der „Waldwiese“, im
„Waldinneren“ die ganze träumerische Poesie von
Stuck’s landschaftlicher Stimmungsmalerei vor uns
auf; sie bevölkert sich in „Es war einmal“, in der
„Vision des heiligen Hubertus“, in der „Wilden
Jagd“ mit den uns wohlvertrauten Gestalten des
Märchens, der Legende, der Sage; dazu kommen
einige starke Accente groß gedachter und zu pul-
sirendem Lehen erwachter antiker Kunst, wie der Kopf
der „Pallas Athene“, die „Medusa“, die fürchterliche
Dreiheit der „Erinyen“, „Orpheus und die Tiere“,
„Der Sieger“, die wundersame „Sphinx“, das glut¬
erfüllte Stimmungsbild „Ovid“; endlich die Schöpfun¬
gen der jüngsten Zeit „Kreuzigung“ und „Pieta“
— der „Krieg“ von 1894 konnte in dem vor Jahres¬
frist entstandenen Werke natürlich noch keinen Platz
finden — und eine Auswahl der plastischen Werke
Stuck’s, darunter der „Athlet“, nebst einigen seiner
Radirungen.
Den tiefsten Ernst, die größte Wucht unter
den Gemälden besitzen die letzten, der christlichen
Geschichte gewidmeten Darstellungen. Die „Pieta“
ist ein Bild, „auf große Wirkungen vor einer tau¬
sendköpfigen Menge angelegt“, streng in den Linien,
dunkel in der Farbe, von symphonischer Einfachheit
und Größe. Auf der „Kreuzigung“ hat der Künstler
unter den Zuschauern links am Rande des Bildes
seinen eigenen Profilkopf angebracht und damit
seine Darstellung der großen Tragödie als die Vision
eines nordischen „Barbaren“ gekennzeichnet. Nichts
ist hergebracht in diesem Bilde, nichts gemahnt an
die süßliche, schönfarbige Kirchenmalerei der deut¬
schen Romantiker oder Historiker. Die erhabene
Liebe und Hingebung des Einen, Übermenschlichen,
Göttlichen und die brutalen Masseninstinkte sind in
ihrer vollen Stärke einander gegenübergestellt. „Der
Charakter des Dunkeltönigen, Wuchtigen, Drohen¬
den“ beherrscht das Ganze.
Derselbe Zug in’s Derbe und Wuchtige lebt
auch iu Stuck’s plastischen Gestalten. Die kräftige
Mannesschönheit, wie sein „Athlet“ sie verkörpert,
ist das Ideal, das ihn erfüllt. In diesem Athleten,
der mit gestählter Muskelkraft einen von beiden
Händen gestützten Globus in der Schwebe hält,
haben wir das Symbol von Stuck’s Künstlernatur
selber vor uns. Gewaltiges ist noch von ihm zu er¬
hoffen, wenn die Kraft anhält in gleicher Gesund¬
heit und bei gleichem Glück! G. v. L.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 1.
4
ZWEI WERKE MICHAEL PACHER’S.
MIT ABBILDUNG.
Wr
IE Landschaftliche Gemäldegalerie in Graz,
deren Übersiedelung in den Neubau des
Joanneums für das kommende Jahr bevor¬
steht und die augenblicklich interimistisch im Palais
Attems untergebracht ist, besitzt
unter dem Namen Grünewald’s
zwei kleinere, wohl von einer Al¬
tarstaffel stammende Tafelbilder
von ca. 1480—1490, welche die
Enthauptung eines hl. Bischofes
(Thomas Becket von Canterbury?)
am Altäre und dessen Begäng¬
nis darstellen; die Rückseiten
zeigen in geringerer Ausführung
die Zeichen der Evangelisten
Lukas und Markus auf damascir-
tem Goldgrund (42 x 42 cm; Kas¬
tanienholz). Die vorzüglichen
Feinmalereien des Martyriums und
der Leichenfeier weisen in Auf¬
fassung und Behandlung mit den
Gemälden auf den Vorderseiten
der Jnnenflügel und den Pre¬
dellenbildern des Hochaltars von
St. Wolfgang eine so entschie¬
dene Übereinstimmung auf, dass
die Urheberschaft Michael Pa¬
chers , des großen Meisters von
Bruneck, kaum einen Zweifel
duldet. Die Stileigentümlichkeiten
jener Hauptwerke der oberdeut¬
schen Tafelmalerei des 15. Jahr¬
hunderts finden sich, auf dem
kleinen Raum zu noch stärkerer
Wirkung vereinigt, sämtlich wie¬
der: die dramatische Komposi¬
tionsweise, die plastische Hell-
dunkelmodellirung, die treffliche
Perspektivik und der aparte Far¬
bengeschmack. Ein äußeres Mo¬
st. Michael.
Schnitzfigur in Schloss Matzen in Tirol
ment scheint die Richtigkeit der Zuschreibung zu
bestätigen. Auf der Begräbnisscene nämlich öffnet
sich ein Ausblick auf die heute noch wenig ver¬
änderte Hauptstraße Brunecks mit einem der vier
alten Thortürme des oberpuster-
thalischen Landstädtchens, dem
Kloster- oder Ursulinerinnenthore
im Hintergründe. — Zwei wei¬
tere, ursprünglich wohl zu dem¬
selben Altäre gehörige Bilder
von ungefähr gleichen Maßen
(40 x 41.5 cm), welche die „Ge¬
burt“ und die „Beschneidung“
zum Gegenstände haben, können
nur als tüchtige Arbeiten aus
der Werkstatt Pacher’s gelten.
Nicht von dem Künstler
selbst, wohl aber von dem bis¬
her beweislos mit ihm identifi-
zirten Bildschnitzer des Wolf¬
ganger Altares rührt eine aus¬
gezeichnete, gleichfalls bisher un¬
bekannt gebliebene Holzstatue
des hl. Michael in der Kapelle
des Schlosses Matzen bei Brix-
legg im Unterinnthale her (Eigen¬
tum des Baron Schnorr v. Carols-
feld). Eine missverstandene Res¬
tauration — die aus Lindenholz
gearbeitete, 183 cm hohe Figur
schwang ursprünglich ein Schwert
mit der Rechten und trug eine
Stola — hat den Erzengel in
den Drachentöter St. Georg zu
verwandeln gesucht. Dieser „Ver-
newerung“ ungeachtet lässt die
für einen hohen Standort be¬
stimmte, polychrom gefasste Frei-
fiffur, die in ihrer reizvollen Durch-
bildung die Hand des Skulptors
KLEINE MITTEILUNGEN.
27
der ganz ähnlich behandelten Michaelstatuen am
Altäre der Pfarrkirche zu Gries bei Bozen und im
Aufsatze des Wolfgangaltares nicht verkennen. (Siehe
die Abbildung.)
Sowohl auf dieses — in Bruneck selbst er¬
worbene — Schnitzwerk als auch auf die Grazer Ge¬
mälde, deren Bekanntschaft ich Direktor Schwach
verdanke, wird der Text einer in Vorbereitung be¬
findlichen Publikation des Hochaltars von St Wolf¬
gang Gelegenheit bieten, eingehender zurückzu¬
kommen.
Wien, Juli 1894. BOB. STIASSNY.
KLEINE MITTEILUNGEN.
BUCHERSCHAU.
Federigo di Montefeltro, Duca di Urbino. Cronaca
di Giovanni Santi. Nach dem Cod. Yat. Ottob. 1305 zum
erstenmal herausgegeben von Dr. Heinrich Iloltzinger,
Prof. a. d. Kgl. Techn. Hochschule zu Hannover Stutt¬
gart, W Kohlhammer. 1893. IY u. 230 S. 4°.
Die seit Gaye und Passavant von den Kunsthistorikern
wiederholt in ihrer vielseitigen Bedeutung eingehend ge¬
würdigte Reimchronik von Raffael’s Yater, Giovanni Santi,
wird uns in dieser Ausgabe zum erstenmal vollständig
vorgeführt. Zu Grunde liegt der Codex Ottobonianus 1305
der Yatikanischen Bibliothek, eine Handschrift, die offenbar
von dem Dichter selbst einem „zum Erfassen des Sinnes
wenig geeigneten Schreiber“ in die Feder diktirt und dann
„mit schon zitternder“ Hand ausgebessert worden ist. Da
die Korrekturen gegen Ende des Gedichts aufhören , darf
man annehmen, dass Giov. Santi noch vor Beendigung
dieser Durchsicht verstorben ist (1. August 1494). Über den
Beginn der Arbeit lässt sich nur soviel sagen, dass derselbe
später als 1482 fallen muss, da der in diesem Jahre (10. Sept.)
gestorbene Herzog Feden’go, der Held des Gedichtes, in der
einleitenden Yision als bereits aus dem Leben geschieden
erscheint.
Was den Inhalt des Werkes anbelangt, so möge hier
nur im allgemeinen in Erinnerung gebracht werden, dass
dasselbe mit der Verherrlichung des edlen Herzogs von Ur¬
bino, dieses Musterbildes eines humanistisch gebildeten
Fürsten der Renaissance, zugleich ein lebendiges Bild des
bewegten Lebens jener Zeit bietet, von deren oft düsterem,
blutbeflecktem Hintergründe die Feldherrngestalt Federigo’s
leuchtend sich abhebt. Aber, was Giovanni schildert, sind
vorzugsweise Ereignisse, von denen er zwar Ohren-, doch
nicht Augenzeuge war. Allerdings besaß er einen Gewährs¬
mann, wie ihn sich kein Chronist besser wünschen konnte.
Es war dies „des Herzogs Sekretär, Pier Antonio Paltroni,
Federigo’s ständiger Begleiter und Zeitgenosse, der seines
Herrn Leben und Thaten in einer (wie es scheint, verloren
gegangenen) lateinisch abgefassten Biographie geschildert
und zudem unserem Dichter, wie dieser bezeugt, manch
w-ertvolle Nachricht hatte zukommen lassen“. Dazu kam
selbstverständlich Giovanni’s Autopsie bei den friedlichen
Unternehmungen des Herzogs in Urbino selbst, z. B. bei
dem Bau und der Ausschmückung des von Federigo ge¬
gründeten Palastes und anderen ähnlichen Dingen.
Der Herausgeber hat den wortgetreuen Abdruck des
Codex, von einigen Bemerkungen philologischer Art abge¬
sehen, mit einer Inhaltsübersicht und kurzen Erläuterungen
ausgestattet, welche hier nur in kunstgeschichtlicher Hinsicht
näher in Betracht gezogen werden sollen. Über die eben
erwähnte Banfbätigkeit Federigo’s handelt das 59. Kapitel
des Gedichtes. Die gewaltigen Substruktionen des Palastes
von Urbino werden besonders erwähnt, die bekanntlich noch
heute zum Teil wohlerhaltene innere Ausschmückung der
Räume wird nur im allgemeinen angedeutet. Liuciano da
Laurana, der Chefarchitekt, erhält sein verdientes Lob. Dann
folgt ein Hinweis auf die Bauthätigkeit Federigo’s außerhalb
Urbino’s, auf seine verschiedenen Kirchengründungen, und
hieran reiht sich die vielcitirte Schilderung der von dem
Herzog angelegten Bibliothek, ihrer Ausschmückung, ihrer
kostbaren Handschriften Holtzinger notirt zu allem diesen
die neueste Litteratur. Das 60. Kapitel, das auch der häus¬
lichen Studien des Herzogs und seines leutseligen Verkehrs
mit den Bauleuten in begeisterten Worten gedenkt, enthält
dann die Erwähnung des herrlich gelegenen Palastes in
Gubbio, dessen Hofbau und teilweises Innere in jener Zeit
entstanden. — Aber der wichtigste Abschnitt für den Kunst¬
historiker ist bekanntlich die im 96. Kapitel folgende, be¬
reits von Passavant auszugsweise mitgeteilte „Disputa de la
pictura“, in welcher uns Giovanni einen Überblick über die
italienische Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts giebt und
auch einiger großer Flandrer jener Epoche, sowie des Königs
Rene von Anjou, kurz gedenkt. Der Herausgeber begleitet
diese Darstellung mit biographischen und kritischen Notizen.
Die „Disputa de la pictura“ und die oben erwähnte
einleitende Vision gehören zu denjenigen Teilen des Gedichts,
welche als Giovanni’s schriftstellerisches Eigentum zu be¬
trachten sind. Sie bieten uns wertvolle Anhaltspunkte zu
seiner geistigen Charakteristik. Und sie sind zugleich un¬
schätzbare Zeugnisse für die geistige Atmosphäre, in der
der junge Raffael, Giovanni Santi’s Sohn, aufgewachsen ist.
Schon dieser Umstand allein giebt dem gereimten Chronik¬
werke des braven Alten seinen unsterblichen Wert und
verpflichtet uns zu lebhaftem Dank gegenüber dessen treff¬
lichem Herausgeber und dem opferwilligen Stuttgarter Ver¬
leger. C. v. L.
Der Maler Christoff Amberger von Augsburg. In¬
auguraldissertation von E. Hausier. Königsberg 1S94. 142 S.
Das ist eine wirklich gute Schrift! Schon die Wahl
Amherger’s war ein glücklicher Griff', da man sich nur wun¬
dern muß, das dieser vorzügliche und dem modernen Ge-
schmacke sehr entgegenkommende Künstler noch keine
Monographie gefunden hatte Der Verfasser hat die vorhan¬
dene Litteratur und die Kunstwerke selbst sorgfältig studirt
und ist auch im Citiren seiner Quellen sehr gewissenhaft.
Amberger’s Herkunft ist noch immer unsicher, wenn wir
nicht der gewiss beachtenswerten Angabe des Frankfurter
Kunst Verlegers Vincenz Steinmeyer (Anf. des 17. Jahrhun-
4*
28
KLEINE MITTEILUNGEN.
derts) glauben wollen , der ihn zu Nürnberg geboren wer¬
den läßt. Jedenfalls aber kam Amberger bald aus der
Pegnizstadt fort; denn soweit sich seine Kunst genau ver¬
folgen läßt, — ganz frühe Arbeiten sind noch nicht, etwas
spätere nicht mit Sicherheit nachgewiesen — hängt er mit
der Augsburger Kunstweise zusammen. Doppelmayr glaubte,
er habe bei Holbein Vater gelernt. Doch hat zweifellos
Hans Burgkmair, der dem talentvollen Jüngling als fortge¬
schrittener Künstler viel näher stehen musste, einen Haupt¬
anteil an Amberger’s Ausbildung. Besonders viel aber ver¬
dankt er den Venezianern, in erster Linie Tizian; Haasler
glaubt, dass der Künstler in den ersten Jahren des 3. De-
cenniums sich zu Venedig aufgehalten habe. Jedenfalls ver¬
rät das Bildnis des Anton Welser von 1527 bereits vene¬
zianischen Einfluß. Doch dürfte eine zweite Reise in späteren
Jahren meines Erachtens nicht auszuschließen sein. Am
15. Mai 1530 erhielt Amberger die Malergerechtigkeit zu Augs¬
burg, wo er jedoch schon früher ansässig gewesen sein muss;
er hatte sie von seiner Frau, welche die Witwe eines Zunft¬
genossen gewesen war. Zwischen dem 1. November 1561 und
dem 19. Oktober 1562 ist er gestorben. Von der künstleri¬
schen Thätigkeit Amberger’s entrollt uns Haasler ein sorg¬
fältig und richtig gezeichnetes Bild. Auf S. 25 spricht der
Verfasser von dem „mittleren Breu“, den es aber nicht
gibt, und auf S. 20 und 21 von den Orgelflügeln der St.
Annakirche, die nach meiner Ansicht sämtlich von Breu
senior sind. Vgl. darüber Stiassny, Zeitschrift für christliche
Kunst 1894, S. 102 ft'., dessen Zuschreibung auf meinen Mit¬
teilungen beruht. Die Freskenreste Burgkmair’s im Fugger¬
hofe schreibt nicht, wie der Verfasser sagt, „eine alte Tra¬
dition“ dem Altdorfer zu, sondern dies beruht bloß auf
Waagen’s Hypothese, die vermutlich von Eigner übernommen
war. ln der Chronik für vervielf. Kunst, 1891, S. 56, habe
ich darüber gesprochen. Der Verfasser hält offenbar Alfred
Schmid und Heinrich Alfred Schmid für zwei Personen,
während die Namen bloß eine bezeichnen. WILH. SCHMIDT.
Les chefs - doeuvre. Peinture , sculpture, architecture.
Publies sous la direction de M. Henry Jouin. Paris,
Librairie Renouard & Maison Ad. Braun et Cie. Fol.
* Dieses in monatlichen Heften erscheinende Sammel¬
werk, die neueste Publikation der Firma Braun in Dornacb,
verfolgt den Zweck , die klassischen Meisterwerke der Ma¬
lerei, Skulptur und Architektur alter und neuerer Zeit in
Heliogravüren zu vereinigen, begleitet von Texten, die alles
zur Erläuterung der Kunstwerke Nötige darbieten. Den
Inhalt der beiden ersten, uns vorliegenden Hefte bilden der
Parthenon, dieGioconda von Leonardo, die Syndici von Rem-
hran/lt und der Frühling des Botticelli. Die dazu gehörigen
Texte rühren von A. de Calonne, II. Jouin, Bayer Marx
und Marcel Raymond her. Die Ausführung der Tafeln lässt
an Schärfe und malerischer Feinheit nichts zu wünschen
übrig. Die Texte zeugen durchweg von Geschmack und
Kennerschaft. Außer der gewöhnlichen Ausgabe, zu 50 Frank
per Jahr, erscheint auch eine Luxusausgabe des Werkes auf
japanischem Papier, zu dem doppelten Abonnementspreise.
Elefanten in ihrem Element. Nach dem Gemälde von
W. Kuhnert, radirt von F. Kr ostewitz. Auf der vorjährigen
Berliner Kunstausstellung erschien der Maler Wilhelm Kuh¬
nert, der sich bis dahin nur durch große Darstellungen von
Löwen, Tigern und anderen größeren Raubtieren bekannt
gemacht hatte, mit einer Reihe von elf Ölgemälden, deren
Motive teils Ägypten, teils den deutschen Kolonieen Ost-
afriba’s entlehnt waren. In allen waren die Menschen und
die Tiere, die die Landschaften belebten, wie die Land¬
schaften selbst mit ihren mannigfaltigen Stimmungen und
Beleuchtungen mit einer gleichen zeichnerischen und kolo¬
ristischen Meisterschaft durchgebildet, die nur durch gründ¬
liche Ortsstudien gewonnen sein konnten. In der That lagen
in diesen Bildern die ausgereiften Früchte eines mehrmonat¬
lichen Aufenthalts in Kairo und Oberägypten und einer Reise
vor, die Kuhnert vom September 1891 bis Februar 1892 von
Tanga nach dem Kilimandscharo und wieder zurück gemacht
hat. Wohl waren schon andere deutsche Maler soweit vor¬
gedrungen, aber nur im Gefolge von Afrikaforschern, hinter
deren Zwecken die der Künstler zurücktreten mussten, wäh¬
rend Kuhnert selbst eine eigene Expedition ausgerüstet hatte
und in der ganzen Reisezeit nur seinen Studien lebte, die
sich ebensosehr auf die Landschaft und die Vegetation wie
auf Menschen und Tiere erstreckten. Diesen Studien ver¬
danken seine Bilder nicht bloß ihre gleichmäßige Durch¬
bildung, sondern auch das Gepräge der Wahrhaftigkeit, das
selbst auf den überzeugend wirkt, dem die tropische und
subtropische Natur unbekannt ist. Man hat an der ostafri¬
kanischen Natur immer den Mangel an Großartigkeit, die
Stimmungs- und Poesielosigkeit getadelt. In den Land¬
schaften Kuhnerts machen sich diese Mängel nur wenig oder
gar nicht bemerkbar. Eine „Mondnacht“ ist sogar von
einem fast romantischen Zauber erfüllt, und selbst über
unserer Sumpflandschaft mit den lustig in ihrem Element
herumstampfenden Dickhäutern spannt sich ein Himmel,
schwebt eine Atmosphäre, die dem Künstler Gelegenheit
gegeben haben, die feinsten koloristischen Reize zu entfalten.
Als Tier- und Landschaftsmaler ist Kuhnert eigentlich Auto¬
didakt. Am 28. Sept. 1865 in Oppeln in Schlesien geboren,
bildete er sich auf der Berliner Akademie, zuletzt unter
der Leitung von Paul Thumann und Ernst Hildebrand, zum
Bildnismaler aus, und es fehlte ihm auch nicht an Erfolgen
auf diesem Gebiete. Aber sie waren doch nicht stark genug,
um sein künstlerisches Wollen ganz auszufüllen. Der Um¬
stand, dass sich sein Atelier in der Nähe des zoologischen
Gartens befand, führte ihn erst seinem wirklichen Berufe
zu. Wie alle Berliner Tiermaler, machte er hier an dem
beispiellos reichen Material seine ersten Studien, und seine
Löwen- und Tigerbilder fanden Beifall, wenn sie auch, be¬
sonders im landschaftlichen Teil, an einer gewissen Stumpf¬
heit und Trockenheit des Tons litten. Diese begreiflichen
Schwächen hat er nunmehr überwunden, nachdem es ihm
vergönnt gewesen, die Heimat seiner vierfüßigen Modelle
aus den Tropen mit eigenen Augen zu schauen und ihre
Eigentümlichkeiten auf zahlreichen Studienblättern festzu¬
halten. R-
Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
•1
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SPANISCHE MISCELLEN.
VON CARL JUS TI.
II.
Der Königliche Palast der Habsburger zu Madrid.
MSTEHENDE Darstellung
führt das alte, im Jahre 1734
durch Feuer zerstörte Kö¬
nigschloss zu Madrid in
einem Zustand und Zeit¬
raum vor Augen, der bisher
durch keine Abbildungen
vertreten war. Alle die
vorhandenen Stiche dieses seit dem XVI. Jahrhundert
umgestalteten Gebäudes gehen den vollendeten oder
nahezu vollendeten Neubau, genauer den nach da¬
maligem Geschmack schönsten und allein sehens¬
werten Teil: die Haupt- und Südfront, wie sie
erst im XVII. Jahrhundert, unter dem dritten und
vierten Philipp im Stil der italienischen Hochrenais¬
sance zur Ausführung gekommen ist. Nur in Pro-
specten der Stadt Madrid, wo der Palast in der Süd¬
westachse erscheint, sieht man ausser jener Fassade
auch noch die dem Thalabhang zugewandte, in ihrem
altertümlichen Zustand verbliebene Westseite.
Die Zeichnung ist geeignet, über die Geschichte
dieses künstlerisch wie geschichtlich merkwürdigen
Palastes neues Licht zu verbreiten. Seine Entstehung,
seine mittelalterlichen Wandlungen sind in ein wahr¬
scheinlich hoffnungloses Dunkel gehüllt; festen Boden
gewinnt man erst, seit ihn Kaiser Karl V., angelockt
durch das (damalige) Klima Madrids, zeitgemäß zu er¬
neuern beschloss. Diesen Umbau, den er im Jahre 1537
begann und bei seiner Abreise nach Deutschland (1543)
dem Prinzen Philipp als Gobernador des Reiches
überließ, sieht man hier im Werke, ja zu einem vor¬
läufigen Abschluss gebracht.
Das Blatt trägt kein Datum, es scheint aber in
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 2.
das siebente Jahrzehnt des Jahrhunderts oder wenig
später verlegt werden zu müssen. So sah das Schloss
aus in dem Augenblick, wo Philipp II. die für Spa¬
niens Zukunft so folgereiche Begründung einer
ständigen Residenz und Hauptstadt und deren Ver¬
legung nach Madrid beschloss und vollzog.
Der Zeitpunkt dieser Verlegung lässt sich mit
ziemlicher Genauigkeit bestimmen, — man müsste
denn die allerhöchste Beförderung der Stadt
Madrid auch amtlich schwarz auf weiss zu sehen
verlangen. Die Depeschen des Venezianers Paul
Thiepolo J) geben ein Bild, wie die Übersiedelung
des Hofes damals Hals über Kopf ins Werk ge¬
setzt wurde. Die Übelstände Toledo’s waren in den
letzten Jahren unerträglich geworden, besonders
während der herrschenden Dürre des Winters auf
1561, wo die Pferde zu Skeletten abmagerten.
Dass der Hof an einen menschlicheren Platz verziehen
müsse, das war ein unerschöpfliches Unterhaltung¬
thema der leidenden Personen. Der König hatte sich
wie immer in Schweigen gehüllt. Thiepolo hatte
eben einen ganz verzweifelten Brief nach Venedig
geschrieben und um Sendung des Nachfolgers ge¬
beten (4. Mai)1 2). Da überraschte eines Morgens die
Herren des Hofes eine königliche Ankündigung, sich
zum sofortigen Aufbruch nach Madrid zu rüsten
1) Dispacci degli Ambasciatori Veneti in Spagna. Arch.
di Stato, Frari.
2) Non so che altro partito prendere, che supplicar la
Ser. tä vra. che voglia compassionare alli danni mei in quel
modo che le dittarä la molta sua benignitä, et mandarmi
quanto prima sia possibile il successore, che sopra tutte le
cose e da me desiderato.
5
Der Königliche Palast in Madrid um die Mitte des XVI. Jahrhunderts. Nach einer Zeichnung von Ant. van den Wynoaerdi
SPANISCHE MISCELLEN.
31
(8. Mai) J). Gleichzeitig erfolgte die Sendung der
Fouriere. Vom 7. Mai ist das bekannte, von Llaguno
mitgeteilte Schreiben an den seit mehreren Jahren
allein mit der Bauführung betrauten Luis de Vega
(t 1562), für Instandsetzung der Wohnungen inner¬
halb eines Monats zu sorgen.
• ...
In demselben Monat Mai war Seine Majestät
selbst nach längerer Zeit wieder in Madrid erschienen,
um die Quartiere in Palast und Stadt zu verteilen.
Die Not des armen Hofes war damit aber keines¬
wegs zu Ende; man kam zunächst aus dem Regen
in die Traufe. „Da ist kein Haus, wo Fenster, Treppen,
Ställe und alles sonst Nötige in Ordnung wäre;
alles muss neu gemacht werden . . . Denn die Leute,
die da wohnen, wo der Hof hinzugehen pflegt, geben
sich nicht die Mühe, nur einen Nagel einzuschlagen.
Sie lassen alles verfallen, damit die Hofherren es
selbst in Stand setzen oder neu machen“.
Am 12. Mai schreibt Thiepolo bereits aus der
neuen Residenz. Vor drei Tagen ist er eingetroffen
(den 9.); ein großer Theil des Hofes ist gleich¬
falls schon am Platz, obwohl die Quartiere noch nicht
wohnlich gemacht sind. —
Die kolorirte Zeichnung befindet sich in einem
auf der Wiener Hofbibliothek bewahrten Bande spa¬
nischer Städteansichten, mit dem Einbandtitel „Win-
garde, villes)d’Espagne 1563—1570“. Dieser Name
findet sich auch auf einigen Blättern, auf andern der
Hoefnagels. Unser Blatt ist ohne Namen. Antonie van
den Wyngaerde, in Spanien Antonio (bei Dävila irrig
Jorge) de las Vinas genannt, war im Jahre 1561 mit
seiner Familie nach Spanien gekommen und in des
Königs Dienst getreten. Noch zur Zeit Philipps IV.
sah man im großen Fest- und Komödiensaal viele
seiner Prospekte (mapas) von spanischen, italienischen
und flandrischen Städten, die ohne Zweifel sein Gro߬
vater hier hatte aufhängen lassen. Wyngaerde galt
in diesem Fach als hervorragend (tuvo primor en
esto, sagt Dävila). Inventare und Reisende führen diese
Städtebilder einzeln auf.1 2)
1) Hä deliberato il Ser. mo Re, che la Corte vädi ä Madrid,
dove giä sono andati i forieri ä far li alloggiamenti, cosa
che generalmente hä poco piaccinto ec.
2) Die Abbildung ist nach einer Abzeichnung schon mit¬
geteilt worden von M. Büdinger in den Sitzungsberichten
der kais. Akademie der Wissenschaften, Band 128. 1893.
Der Verfasser, der in seinem Buch über Don Carlos (1891) dem
zuverlässigen Gachard geglaubt hatte, dass es von dem nach
Madoz geographischen Lexikon (1848) „unschönen“ Bau „weder
eine Abbildung, noch eine genaue Beschreibung gebe“, hat
in diesen „Mitteilungen“ die ihm seitdem bekannt gewor¬
denen Abbildungen und Beschreibungen kritisch zu ordnen
Der Standpunkt unserer Schloßansicht liegt un¬
gefähr in der Südostdiagonale; wir übersehen also
die ganze Süd- und Ostseite, von dem (vollendeten)
südwestlichen Eckturm (torre dorada ) an bis zum
nordöstlichen (noch im Bau begriffenen), der an die
Gärten stößt.
Wenden wir uns zuerst der Südseite oder Haupt-
und Eingangsfront zu, so tritt uns hier ein unregel¬
mäßiger Komplex von Bauteilen entgegen, ohne Ein¬
heit, wie es scheint, des Plans, des Stils und der
Zeit. Diese Südfront hat (abgesehen von dem Eck¬
turm) gar keine Ähnlichkeit mit der bisher allein
bekannten, ganz regelrechten, fast ganz flachen Fas¬
sade des habsburgischen Alcazar. Drei stark vor¬
springende Türme oder turmartigen Bauten, un¬
gleiche Zwischenwandflächen; der Eckturm ohne
Gegenstück. Dagegen bildet die südöstliche Eck¬
partie mit der Ostwand ein regelmäßiges Ganzes.
In der Mitte dieser Fassade sondert sich deut¬
lich der Thorbau ab, eine Portalfront, flankirt von
zwei massigen viereckigen Thortürmen, wie eine in
die Palastwand eingeschobene Thorburg. Das Glocken¬
häuschen dahinter gehört zu der Palastkapelle; in
den spätesten Abbildungen (z. B. von 1707) ragt
hier eine Kuppel hervor. Da die Renaissance solche
hervortretende Teile vermeidet, so wird diese Thor¬
anlage sicher ein Vermächtnis des Mittelalters sein.
Die Türme enthielten, nach den wenigen breiten
Fenstern, im Hauptgeschoss einen großen Saal. Uber
dem Untergeschoss laufen Altane her in der ganzen
Länge der Vorderwand. Aber die Mittel- und Eingang¬
wand wurde unverkennbar im Renaissancestil des
vierten und fünften Jahrzehntes des XVI. Jahrhunderts
überarbeitet. Das Verhältnis ist also ähnlich wie
bei dem Castel nuovo zu Neapel, wo das lombardische
Prachtportal Alfons’ I. zwischen zwei hier freilich
runde Thürme eingesetzt ist. Wir brauchen übrigens
nur nach der Madrid nächsten castilischen Stadt,
Alcalä de Henares zu gehen, um in dem Prachtbau
des Collegs von Santildefonso, begonnen 1539 *) von
Rodrigo Gil de Hontaüon, unter Mitwirkung des
Covarrübias, einen ganz ähnlichen, dreistöckigen
Eingangsbau zu finden. Dieselben flankir enden Säulen¬
paare in den zwei ersten, dieselben drei Balkon¬
fenster in der Hauptetage und das kaiserliche Wappen
versucht; indess, wie mich dünkt, die richtige Deutung,
besonders der Wyngaerde’schen Zeichnung nicht immer
getroffen. Auch scheint er, in der Absicht, auf jene voreilige
Behauptung am Schluss entschuldigend zurückzukommen,
sich etwas zu skeptisch ausgedrückt zu haben.
1) Auf der Fassade steht die Jahreszahl 1543.
5*
32
SPANISCHE MISCELLEN.
in der dritten. Von der Bogengalerie der Attika
ist liier nur ein Ansatz. Nun aber ist bekannt, dass
Carl V. im Jahre 1537 die Baumeister Alonso de
Cavarrübias und Luis de Vega gleichzeitig und an¬
fangs alternirend mit dem Umbau der Alcazars von
Toledo und Madrid betraut hatte; eine lateinische
Inschrift im Innern des letztem enthält den Namen
Carl V. und die Jahrzahl 1539.
Ganz neu für alle, die sich bisher für das alte
Schloss interessirten, ist der Anblick des Ostflügels.
Er lag der jetzigen Plaza de Oriente und der Stadt Zu¬
ge wau dt, und gehörte zu der Wohnung der Königin und
des Prinzen, el cuarto de la Reina. Seine Außenwand
wurde schon am Ende der XVI. Jahrhundert großen¬
teils zugebaut. Hier ließ nämlich Philipp II. um
einen , Küchenhof‘ ( patio de las cocinas) große Beam¬
ten- und Wirtschaftgebäude, fast von dem Umfang
des Residenzschlosses, anlegen. Sie füllten den Raum
zwischen dem Alcazar und dem Schatzhause ( Casa de
Tesoro) aus. Cuelbis schreibt 1599: „Rechts hat der
König ein anderes großes Gebäude angefangen für
die Hof beamten“. Diesen völlig verschwundenen Bau
sieht man auf dem in Antwerpen 1654 erschienenen
Stadtplan von Pedro Texeira. Hier kann man von
der Disposition des Schlosses und seiner Umgebung,
den Gärten und Parks, bis auf den langen, über die
benachbarten Gassen nach dem Kloster der Encar-
nacion führenden Corridor eine deutliche Vorstellung
gewinnen.
Jener Ostflügel präsentirte sich hiernach im
X V J . Jahrhundert als ein imposanter, regelmäßiger
Palast in dem ernsten weiträumigen Geschmack des
spätem XV. und beginnenden XVI. Jahrhunderts.
Will man einen bekannten Typus nennen, so wäre
es der venezianische Palast in Rom. Dieselben breiten
Verhältnisse, über den Rundbogenfenstern im Erd¬
geschoss diebreiten Balkonfenster des piso pr ineipal,
dessen Wandflächen sonst jeder Gliederung und Aus¬
schmückung bar sind. Solche lange Palastfassaden,
die sich wesentlich als Saalbauten aussprechen, mit
reichdekorirten Fenstern in weiten Zwischenräumen
kommen an vielen monumentalen Palast-, Collegien-
und Hospitalbauten jener Zeit vor. Bekannt sind
der noch halbgotische Palast der Medina Celi zu
Cogolludo, die Hospitäler Ferdinands und Isabella’s
in Granada und Santiago, das des Cohos zu Ubeda,
das Colleg des Cardinal Mendoza zu Valladolid.
Es ist nicht sicher, dass dieser Flügel im
X\ I. Jahrhundert von Grund neu aufgeführt worden
sei. Nur die Fensterverkleidungen und die Attica mit
ihrer Pilasterstellung zwischen kleinen Rundbogen¬
fenstern und die um das Dach geführte Balustrade
muss damals im plateresken Stil erneuert worden sein:
sie findet sich fast gerade so an der Fassade des Col-
legs von Santildefonso. Der noch im Bau begriffene
Nordostturm mit dem Kranen weist darauf hin,
dass man auch diesen in die begonnene Umge¬
staltung hineinziehen wollte.
In demselben plateresken Stil waren, aus der z. B.
bei Mesonero Romanos mitgeteilten Ansicht zu
schließen, die inneren Palasthöfe von dem Kaiser er¬
neuert worden. Die Angabe Llaguno’s, dass dieser be¬
schlossen habe, an Stelle der früheren plaza de
armas einen Hof [den späteren patio segundo\ , Por¬
tiken und Gänge auf Säulen, die Treppe, verschie¬
dene Prachtgemächer und zwei Thürme zu errichten,
bezieht sich auf den von ihm geplanten, aber zum
Teil erst viel später vollendeten Gesamtumbau.
Die Umgebung des Palastes, und die plaza de
palacio hat noch ein ziemlich wüstes Aussehen. Es
hatte dem Könige viele Mühe und Kosten verursacht,
die Freilegung des Schlosses zu bewerkstelligen. Um
den Eckturm herum und nur von ihm aus zugäng¬
lich ist ein Teil des offenen Platzes durch eine Mauer
abgetrennt worden. Hinter ihr lag ein Prunkgarten,
später Jardin de los Emperadores genannt, nach zwölf
Cäsarenbüsten, einem Geschenk des Cardinais von
Montepulciano aus dem Jahre 1561.
Statt dieses verworrenen und bunten Complexes
von Baukörpern und Wandflächen in Wyngaerde’s
Zeichnung steht in den Stichen des XVII. und XVIII.
Jahrhunderts eine regelmäßige, modern italienische
Palastfassade 1). Wann und durch wen hat sich diese
Wandlung vollzogen? Hier lassen uns die Urkunden
und die Schriftsteller im Stich.
Aber unsere Abbildung scheint ein festes Datum
zu bieten. Der große vierstöckige Turm mit seinen lan¬
gen, etwas zusammengedrängten Fenstern und Fen¬
sterverdachungen ist in einem andern Stil als die bis¬
herigen Verbesserungen und Zusätze. Er macht den
Eindruck eines begonnenen Neubaues nach veränder¬
tem Grundplan und Geschmack. Der platereske
Stil ist aufgegeben, ein nüchternes Cinquecento
an seine Stelle getreten. Dieser Turm nun ist das
einzige Stück, das sich auf den späteren An¬
sichten wiederfindet. Es ist die berühmte Torre dorada,
der Bibliothekturm, ein Lieblingsaufenthalt Phi¬
lipps II., wahrscheinlich weil er Stadt wie Park und
1) Diese giebt auch der Pariser Stich von Aveline wieder,
und es ist mir unverständlich, wie man darin den Zustand
vor 1561 hat finden können.
Der Königliche Palast zu Madrid im XVII. Jahrhundert. Nach dem Stich.
34
SPANISCHE MISCELLEN.
Ebene bis zum Guadarramagebirge und dem Escorial
beherrschte. Hier hatte er sich eine Privatwohnung
nach seinem Geschmack eingerichtet. Dass dies
schon in den 60 er Jahren geschehen war, ergiebt
sich auch aus den Dialogen Carducho’s. Sie ent¬
halten eine Angabe der dortigen Wandmalereien
des Gaspar Becerra, der bereits 1570 gestorben ist.
Er nennt den Hauptsaal einen königlichen Raum,
einzig in Plan und Ausführung ( pieza de singulär
traza y adorno).
Die Frage ist nun, hat Philipp mit seinem Bau¬
meister Vega schon gleichzeitig mit diesem Turm
auch die ganze übrige Südfront geplant und ent¬
worfen? Die Übereinstimmung in Stil und Verhält¬
nissen scheint dafür zu sprechen. Wenn er in dem
Schreiben an Vega vom Mai 1561 voraussetzt, das
dieser im Stande sein werde, in Monatsfrist die Palast¬
wohnungen in Stand zu setzen, so kann sich dies
nur auf einen vorläufigen Abschluss beziehen, dessen
Umrisse in den bei seinem letzten Aufenthalt in
Madrid erteilten Verfügungen angegeben worden
waren. Bei dem großen Wert, den die Architekten
der Zeit und der Monarch selbst auf strenge Regel¬
mäßigkeit legten, ist es schwer denkbar, dass er die
Eingangsfront seines Königsschlosses mit solcher
Flickarbeit hätte belassen wollen.
Die Sache liegt indess nicht so einfach. Was
man später hier ausgeführt sieht, war nämlich nicht
bloss eine dekorative Arbeit, eine Bekleidung der
Südfront mit modernen Formen. Es hatte sich das
Bedürfnis herausgestellt, diesen Flügel durch einen
parallelen, dessen Tiefe verdoppelnden Anbau zu
erweitern. Dieser Anbau sollte eine Reihe der vor¬
nehmsten und prachtvollsten Räume des Schlosses
enthalten.
Wenn man den einzigen erhaltenen Plan des
Alcazar, genauer des Hauptgeschosses seiner west¬
lichen Hälfte,1) betrachtet, so bemerkt man, dass der
Südflügel sich vor allen andern durch eine doppelte
Flucht von Sälen auszeichnet. Beide Reihen aber
sind geschieden durch eine Zwischenmauer von auf¬
fallender Stärke. Sie übertrifft an Dicke die Um-
fassungs- und Außenmauern dieses und aller übrigen
Flügel. Die Vermutung, dass diese die alte Außen¬
mauer war, wird bestärkt durch die Existenz eines
Rundturmes, an den sie stößt, und der früher die
hierher fällende Südwestecke des Palastes befestigte.
Die zweite Reihe von Gemächern war also dem Plan
des ersten Baumeisters fremd, sie ist erst später hier
1) Mitgeteilt in meinem Velazquez I, 184.
zugesetzt, der Südmauer vorgelegt worden. Und das
wird durch zahlreiche geschichtliche Notizen be¬
stätigt.
Die innere Hälfte des Südflügels enthält Ge¬
mächer und Säle, die in den Berichten des XVI. Jahr¬
hunderts bis in das zweite Jahrzehnt des XVII. eine
Rolle spielen: den großen Saal für die öffentlichen
Feste und Staatsaktionen (Sala de las Comedias, 6 de
las fiestas püblicas), das Schlafzimmer Ihrer Majestäten,
den Furiensaal, wo die vier Tartarusfiguren Tizians
aufgehängt waren. Noch im Jahre 1615 sind die
Heiratskapitulationen zwischen Ludwig XIII. und der
Infantin Dona Anna in dem alten Komödiensaal
abgeschlossen worden.
Die äußere Hälfte enthält dagegen lauter Räume,
die erst im XVII. Jahrhundert genannt werden, die
Galerie der Königin, auch Galerie der Bildnisse und
Südgalerie genannt, den Spiegelsaal über Thor und
Vorhalle, und den achteckigen Saal (la pieza ochavada ).
Cuelbis in seinem Bericht von 1599, selbst Gil Gon¬
zalez Davila in seiner Beschreibung des Alcazar vom
Jahre 1623 gedenken ihrer noch mit keinem Wort.
In den Inventaren der Gemälde kommen sie zuerst
vor unter Philipp IV. (1636). Die große Südgalerie
scheint zuerst fertig geworden zu sein , unter Phi¬
lipp II-I. Im Inventar von 1636 werden hier ver¬
zeichnet: sechs Bildnisse dieses Herrschersund seiner
Familie von Villandrando; Ansichten der Schlösser
von Fabrizio Castello (die der König 1611 bestellte);
die Bildnisse Alberts und Isabella’s von Rubens; ferner
Philipp H. im Alter und die Königin Anna. Alles
Bilder die auf die Zeit Philipps III. hinweisen. Später
hat Philipp IV. den Saal für seinen Schatz veneziani¬
scher Gemälde bestimmt.
Der Spiegelsaal, in dem er bei den feierlichsten
Anlässen die fremden Gesandten empfing, heisst noch
1637 die pieza nueva sobre cl zaguan y puerta princi-
pal de palacio (das neue Gemach über der Flur und
dem Hauptthor des Palastes). Und Carducho sagt,
dass er kürzlich errichtet sei: cl salon grande, que
se hizo de nuevo , que tiene balcones ä la plaza
(S. 350) (der große Saal, der neu angelegt wurde,
der Balkons auf den Platz hat).
Noch später ist der achteckige Saal, die Tribuna
des Palastes, unter Velazquez Leitung eingerichtet
worden.
Dies sind die Gemächer, deren Fenster mit den
vergoldeten eisernen Balkons in den Prospekten
des XVII. und XVIII. Jahrhunderts zu sehen sind,
die Räume wo sich der monarchische Pomp und
zum Teil auch die Kunstliebe der letzten Habsbur-
SPANISCHE MISCELLEN.
35
ger und des ersten Bourbonen entfalteten. Dass Phi¬
lipp II. bei der Verlegung der Residenz nach Madrid
sich ganz besonders mit der Frage der Hauptge¬
mächer dieser Südfront beschäftigte, geht aus dem
Briefe an Vega hervor, in dem er deren Risse ( traxas )
einfordert; dass er ihre Ausführung seinem Nach¬
folger überlassen musste, hatte aber gute Gründe.
Das Schicksal wollte, dass gerade im Anfang
dieser sechziger Jahre, als der stärkste Antrieb zur
Förderung des Umbaues ein getreten war, alle Ge¬
danken und Finanzmittel des Königs abgelenkt wur¬
den durch die Schöpfung des Escorial. In der De¬
pesche Thiepolo’s vom 27. April 1562 geschieht seiner
bereits Erwähnung. Die Vermutung ist sogar nicht
zu kühn, dass dieses Unternehmen den entscheiden¬
den Anstoß zur Übersiedlung des Hofes nach Madrid
gegeben habe. So ist es gekommen, dass der Riesen¬
bau des Palast-Klosters bereits 1584 fertig aufge¬
mauert dastand, während der 1537 begonnene Um¬
bau des Alcazar am Mansanares erst im letzten Drittel
des folgenden Jahrhunderts seinen Abschluss gefun¬
den hat.
Wahrscheinlich war es eben nach diesem Jahre
1584, als der König wieder Atem schöpfen konnte,
dass man die Erweiterung der Südfront plante und
begann. Denn dem blöden und indolenten Sohne
möchte man einen so kühnen Gedanken nicht Zu¬
trauen. Dass es in der That nicht früher geschehen
ist, das scheint aus folgendem merkwürdigen Um¬
stand hervorzugehen.
In der Wyngaerde’schen Zeichnung nämlich tritt
der große südwestliche Turm — sein jüngstes Werk —
noch in seiner ganzen Tiefe vor die Fluchtlinie der'
Fassade, also dass seine Ostwand mit ihren sämt¬
lichen Fenstern, je vier in den drei unteren Etagen,
frei sichtbar ist. In den Ansichten des XVII. Jahrhun¬
derts ist diese Ostwand durch den hinzugekommenen
Anbau des Südflügels zum größten Teil, mindestens
in Dreiviertel der Turmtiefe, verdeckt; nur ein schma¬
ler Saum, mit je einem Fenster, ragt noch heraus.
Es ist undenkbar dass man sich die Mühe genommen
habe, diese kostbaren Fenster mit ihren Gewänden
und Verdachungen ausführen zu lassen, *in der Aus¬
sicht, sie in wenigen Jahren zumauern zu müssen.
Die Wyngaerde’sche Ansicht des Turmes beweist
also zweifellos, dass man die Erweiterung des Süd¬
flügels und die Cinquecentofassade in den Bauplan,
der im Jahre der Verlegung der Hauptstadt in Aus¬
führung begriffen war, noch nicht aufgenommen, ja
noch gar nicht ins Aiige gefasst hatte.
Es fehlt aber auch in den spätem Prospekten des
XVII. Jahrhunderts nicht an Spuren, wie man bei
der Umwandlung der alten unregelmäßigen Südfront
in die moderne, regelrechte zu Werke gegangen ist.
Jene breiten Thortürme nämlich scheinen nicht ab¬
gebrochen, sondern in die neuen Räume verbaut
worden zu sein. Der rätselhafte Aufsatz, der zur
Rechten der neuen Eingangsfront über das Palast¬
dach wie ein Aussichtsturm emporragt und die
Symmetrie der Fassade stört, ist wohl nichts anderes
als ein Überbleibsel des alten, die platereske Thor¬
front Karls V. flankirenden, östlichen Thorturms.
Nach dem Grundriss des piso principal lag unter
diesem Aufsatz der Tocador (das Ankleidezimmer)
der Königin, dieser wird einst der große Saal des
Turmes gewesen sein. Auf der anderen Seite, links
vom Portal, lag der achteckige Saal; auch dieser
quadratische und gewölbte Raum entspricht ganz
einem Turmgemach, er wird der Hauptsaal des
westlichen Thorturmes gewesen sein. Die diesen
Türmen angehörigen Mauerflächen des Erdgeschos¬
ses sind fensterlos, augenscheinlich, weil man die
hier verbauten massiven Turmmauern durch Fenster¬
anlagen nicht schwächen mochte.
In den spätesten Ansichten ist jener Dachaufsatz
verschwunden, dagegen der rohe südöstliche Eckturm
neuerdings ganz in Übereinstimmung mit der südwest¬
lichen Torre dorada ausgebaut worden. Er hieß nun
der Turm der Königin; die Regentin Witwe Marianne
hatte sich in ihm ein Denkmal gesetzt. Den Zu¬
stand des Schlosses in seiner Vollendung ver¬
gegenwärtigt dessen größte und schönste Ansicht, die
im Jahre 1704 von dem Architekten Philipp Pallotta
gezeichnet und von N. Guerard in Kupfer gestochen
wurde (59x43 cm.). Auf dem Palastplatz ist der
Auszug Philipp V. zur Campagne von Portugal in
Callots Manier dargestellt. —
Wer die Erzählung liest von jenem nächtlichen
fackelbeleuchteten Gang Don Philipps am 18. Januar
1568 durch das alte Schloss, mit dem Gefolge seiner
Vertrauten, von seinen Wohngemächern nach dem
Schlafzimmer des Don Carlos, und von dem „Turm“,
in dem dieser dann sechs Monate gefangen sass,
verzweiflungvoll sein Ende beschleunigend, wird
sich gern eine bestimmte räumliche Vorstellung von
diesem unheimlichen Vorgang machen wollen. Und
dies ist selbst heute nicht ganz unmöglich. Die Woh¬
nung des Prinzen lag im östlichen „Hof der Königin“
(patio principal ) und zwar in dem unter dem piso
principal gelegenen cuarto bajo, an der Nordseite.
Der König, der die von Carducho so anschau¬
lich beschriebenen Räume im oberen Teil des West-
36
KARYATIDEN.
flligels bewohnte, musste danach folgenden Weg zu
dem Schlafgemach des Sohnes nehmen. Zuerst begab
er sich nach dem schmalen, an der Außenmauer hin¬
führenden Gang ( paso ), der von der Thür hinter der
Audienda nach der nordwestlichen Ecke des Palastes
zu dem „Turm des Hermaphroditen“ führte; von
da durch die große Nordgalerie ( galeria del cierzo )
ostwärts. Diese reichte von dem Ratzimmer ( pieza
de consultas ) bis zu dem Durchgang ( pasctdizo ) und
der Stiege nach den untern Wohnzimmern ( Escalera
de las bovedas al cuarto bajo). Der Turm in den der
Prinz eingesperrt wurde, ist nicht der „viereckige
Turm mit Dach“, der vielmehr zu einem nördlichen
Anbau des Palastes gehört, sondern der kleine
Turm mit halbrunder Ausladung nach Westen, der
die Nordgalerie nach dieser Seite hin abschließt, der
,Turm des Hermaphroditen'.
KARYATIDEN.
VON PAUL WOLTERS.
MIT ABBILDUNGEN.
LS Winckelmann im Jahre
1760 seine „Anmerkungen
über die Baukunst der Alten“
entwarf, schrieb er: „Carya-
tiden, auch Atlantes und
Telamonen genannt, welche
an statt der Säulen dieneten,
sieht man an einem Tempel
auf einer Münze und in Athen tragen weibliche Fi¬
guren die Decke eines offenen Ganges an dem so¬
genannten Tempel des Erechtheus. Es hat dieselben
von allen Reisenden niemand mit demjenigen Ver¬
ständnis betrachtet, dass wir hätten belehret werden
können, von was vor Zeit dieselben sind: Pausanias
meldet nichts von denselben.“ Für uns ist heute
zunächst nicht so auffällig, dass Winckelmann in
ungenauem Sprachgebrauch den Ausdrücken Karya¬
tiden und Telamonen die gleiche Bedeutung zu-
schreibt, als dass er nur eine so oberflächliche Kennt¬
nis von den Karyatiden am Ereehtheion hat, welche
jetzt jedem als klassisches Beispiel für die Verwen¬
dung der menschlichen Gestalt in der Architektur
gegenwärtig sind. Allerdings batten wenige Jahre,
ehe Winckelmann jene Sätze schrieb, Stuart und
Revett die Aufnahmen schon gemacht, welche der
Welt die Bauten Athens wieder schenkten und mit
einem Schlage Griechenland in den Vordergrund des
archäologischen Interesses rückten; aber er wusste
nur von dem bevorstehenden Erscheinen des Werkes,
das er „mit großem Verlangen“ erwartete. „Denn,“
wie er sagt, „es wird weitläuftiger und ausführlicher
werden, als die Arbeit des Herrn le Roy ist, weil
jene so viel Jahre, als dieser Monate in Griechen¬
land gewesen sind.“ Aus dem durch diese Bemer¬
kung gekennzeichneten flüchtigen, aber anspruchs¬
vollen Werke le Roy ’s, den zuerst 1758 veröffent¬
lichten „Ruines des plus beaux monuments de la
Grece“, war allerdings keine anschauliche Vorstellung
von dem Stil der Karyatiden am Ereehtheion zu ge¬
winnen, noch viel weniger natürlich aus den ganz
ungenauen Erwähnungen früherer Reisenden. Erst
im Jahre 1787, also lange nach dem Tode Winckel-
mann’s, ja nach dem Tode des Verfassers, Stuart’s,
wurde der zweite Band der „Antiquities of Athens“
vollendet, und damit zum erstenmal eine genauere
Kenntnis von den Bauten der athenischen Akropolis
ermöglicht; das zweite Kapitel ist dem Ereehtheion
gewidmet. Aber es dauerte noch einige Zeit, bis
dieser Bau den Platz in der öffentlichen Wert¬
schätzung einnahm, den er jetzt behauptet; jetzt ge¬
hört das Ereehtheion zu den am meisten bewunder¬
ten Resten des Altertums, und vor allem ist es die
Halle der Karyatiden, deren Lob in Poesie und
Prosa von Berufenen und Unberufenen gesungen
wird. Aber neben dem Wohlgefallen an der schönen
Form weckt dieser kleine Bau eine Frage, die gerade
im Anschluss an ihn mehrfach erörtert worden ist.
Was stellen diese tragenden Mädchengestalten vor,
in diesem besonderen Falle, wie überhaupt? Wie
haben wir sie zu deuten und .wie zu benennen?
Wenn wir uns auf das Ereehtheion beschrän¬
ken, so können wir scheinbar diese letztere Frage
mit Sicherheit lösen. In der großen, auf diesen
Tempel bezüglichen Bauinschrift werden die an
KARYATIDEN.
37
Stelle von Säulen verwendeten weiblichen Figuren
einfach als xoqcu, Mädchen, bezeichnet. Aber damit
haben wir wenig gewonnen. Das Wort besagt nur,
was jeder selbst sieht, es ist ebenso unbestimmt, wie
zu unserem Leidwesen die Beschreibung des Frieses
in derselben Inschrift, in welcher auch nur Bezeich¬
nungen, wie „der Jüngling neben dem Panzer“, „der
Wagen, der Jüngling und die beiden Pferde“, „die
Frau mit dem Kind“, aber kein deutender Name,
Atlantes und Telamones genannt“ eingereiht. Dass
eine Zusammenfassung der weiblichen und männ¬
lichen architektonischen Figuren unter das eine Wort
Karyatiden nicht eigentlich gerechtfertigt sei, deu¬
tete ich schon an. Winckelmann hat an dem laxen
Sprachgebrauch festgehalten, weil er in dem Rest
einer männlichen Stützfigur, also eines Atlas oder
Telamon, eine der Karyatiden wiederzuerkennen
glaubte, welche das Pantheon in Rom geziert hat-
Fig. 1. Die Karyatidenlialle am Ereehtheion zu Athen
keine wirkliche Benennung vorkommt. Für den
praktischen Zweck dieser Abrechnungen genügte
eine solche Bezeichnung, aber ebenso wenig wie wir
daraus schließen werden, dass die Figuren des Frieses
keine bestimmte, individuelle Bedeutung gehabt hät¬
ten, dürfen wir annehmen, die als architektonische
Stütze verwendete weibliche Gestalt hätte damals
den feststehenden Namen x6qt] geführt. Dafür scheint
der Ausdruck denn doch etwas zu unbestimmt.
Winckelmann hat die Mädchenfiguren vom Erech-
theion ohne Bedenken unter die „Caryatiden, auch
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 2.
ten. Gegen diese Vermutung wandte sich schon
Lessing in einem kleinen Artikel, der aus seinem
Nachlass veröffentlicht worden ist1), und wies darauf
hin, dass nach antikem Sprachgebrauch nur die weib¬
lichen architektonischen Figuren Karyatiden heißen
können. Das ergiebt sich eigentlich schon ohne
weiteres aus dem Geschlechte des Wortes EaQvärtg
und brauchte kaum weiter erwiesen zu werden.
1) Sämtliche Schriften, herausgegeben von Maltzahn XI,
S. 274.
6
38
KARYATIDEN.
Lessing hatte sich seinerseits auf die von Vitruv
vorgetragene Erzählung vom Ursprung der Karya¬
tiden berufen, die wir uns nun auch vorfuhren
müssen. Er erzählt im Anfänge seines Werkes von
der Architektur, zum Beweis, dass der Baumeister
nicht ohne historische Kenntnis sein dürfe, dieses:
„Wenn zum Beispiel einer marmorne langbekleidete
Frauenfiguren, sogenannte Karyatiden, bei einem
Bau anbringt und darüber ein Gebälk, muss er
davon folgendermaßen Rechenschaft geben. Die
peloponnesische Stadt Karyä hatte mit den Persern
gegen Griechenland gemeinsame Sache gemacht.
Nach ihrem glänzenden Siege erklärten nun die
Griechen gemeinsam den Karyaten den Krieg. Die
Stadt ward erobert, die Männer getötet, die Weiber
zu Sklavinnen gemacht, und dabei gestattete man
ihnen nicht, ihre matronale Tracht abzulegen, damit
die Schmach der Sklaverei für sie um so drücken¬
der sei, und gleichzeitige Architekten brachten bei
öffentlichen Gebäuden die Statuen solcher karya-
tischen Matronen als lasttragende Stützen an, um
die Bestrafung der Karyaten bei der Nachwelt in
Erinnerung zu halten. Ebenso haben die Spartaner
zum Andenken an den Sieg ihres Königs Pausanias
über die Perser aus der Siegesbeute eine Halle er¬
richtet und darin Statuen von Gefangenen in Bar¬
barentracht als Stützen des Daches angebracht, und
infolgedessen sind dann auch solche Perserfmuren
als architektonische Stützen beliebt geworden.“
Man kann diesem Bericht des Vitruv knappe
Folgerichtigkeit nicht eben nachrühmen. Er will
den Ursprung der Karyatiden erklären und erzählt
zugleich den der architektonischen Perserfiguren.
Offenbar hat er die beiden Geschichten so zusammen
gefunden und zusammen belassen.
Stuart nahm bei seiner ersten würdigen Ver¬
öffentlichung des Erechtheions ohne weiteres an,
Vitruv habe sich auf diesen Bau bezogen und sah
also in den stützenden Mädchenfiguren Darstellun¬
gen der karyatischen Weiber. Schon E. Q. Visconti
wies dagegen auf die Bauinschrift und deren Aus¬
druck xoqcu hin und meinte, es seien offenbar nicht
Gefangene dargestellt, sondern attische Mädchen,
welche auf dem Haupte Opfergerät trügen. Er be¬
merkte auch richtig, dass überhaupt im Altertum
die Verwendung gefangener Frauen in der Archi¬
tektur ganz ungewöhnlich ist; ausführlicher und be¬
stimmter handelte dann Böttiger in seiner Amalthea
„über die sogenannten Karyatiden am Pandroseum
und über den Missbrauch dieser Benennung“. Er
betonte mit Recht, dass Vitruv s Nachricht, wie u. a.
schon Lessing ausgesprochen, höchst unglaublich
sei und dass vor allem die Mädchengestalten am
Erechtheion in keinem Falle für schmachvoll er¬
niedrigte Gefangene angesehen werden dürften. Es
seien vielmehr Kanephoren, wie sie im panathenä-
ischen Festzuge am Fries des Parthenon erscheinen.
Merkwürdigerweise hatte diesen in der Hauptsache
einleuchtenden Gedanken schon der unkritische le Roy
ausgesprochen.1) Er meinte, die Kapitelle, welche
auf dem Haupt der Mädchen erscheinen, seien Körbe
und diese selbst also Korbträgerinnen, Kanephoren,
wie sie auch im Kult der Athena ihre Verwendung
fanden. Diese letztere Spezialisirung ist sicherlich
falsch, obwohl sie bis in die jüngste Zeit Zustim¬
mung gefunden hat. Der halbrunde Gegenstand auf
dem Kopf der Mädchen hat gar nichts mit dem
xavovv, dem Opferkorb, zu thun, dessen breite, flache
meist nur mit einem niedrigen Rand umgebene Form
uns aus zahlreichen Darstellungen zur Genüge be¬
kannt ist. Hier haben wir offenbar nur eine beson¬
dere Art von Kapitell vor uns — man könnte sagen
ein ionisches Kapitell ohne Voluten — und wir wer¬
den uns deshalb auch nicht entschließen, diese Mäd¬
chen speziell für Kanephoren zu erklären. Im Kult
der Athena war Gelegenheit zu manchem Dienst,
für die vornehmen Mädchen Athens, das zeigt uns
eindringlicher als jede antiquarische Untersuchung
der Ostfries des Parthenons, auf welchem diese Jung¬
frauen im Festzuge erscheinen mit allen Arten von
Gerät, wie es der Kult der Göttin heischte. Und
dieser Dienst war eine Ehre, auf die man stolz sein
durfte, von der ausgeschlossen zu sein als bittere
Kränkung empfunden wurde. Solche Jungfrauen
im Dienst der Göttin sind es auch, die am Erech¬
theion dasN Dach der Vorhalle tragen, leicht und
frei und sicher. Es ist kein drückender, beschwer¬
licher Dienst, dem sie sich hingeben, nicht im
Zwange knechtischer Dienstbarkeit dulden sie, wie
Vitruv fabelt, sondern in stolzem und selbstgewoll¬
tem Dienst weihen sie sich dem Kulte der heimi¬
schen Göttin und schmücken ihr Haus.
Aber wie konnte nur die Erzählung des Vitruv
entstehen? Auch wenn er nicht speziell an die
Mädchen vom Erechtheion gedacht hat, was ja
durchaus möglich ist, so bezieht sich seine Erzäh¬
lung deutlich genug auf die zahlreichen architekto¬
nisch verwendeten weiblichen Figuren, die wir mit
ihm Karyatiden nennen, und in denen wir fast aus-
1) I, S. 12 der zweiten Ausgabe von 1770.
KARYATIDEN.
39
nahmslos keinerlei Spur von der angeblich erdul¬
deten Sklaverei entdecken können.
Die älteste uns erhaltene Spur des Namens der
architektonisch verwendeten Karyatiden stammt aus
der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr.
Lynkeus, der Bruder des Historikers Duris, hat das
Scherzwort eines bekannten Parasiten Eukrates auf-
Fig. 2. Karyatide. Marmorrelief im Berliner Museum.
bewahrt *), mit welchem dieser einmal über die Bau¬
fälligkeit des Gemaches spottete, in dem man das
Gelage abhielt. Er meinte, hier müsse man ja
speisen, indem man die Decke mit der linken Hand
unterstütze, wie die Karyatiden. Dieser nicht über¬
mäßig geistreiche Scherz sichert für seine Zeit bereits
den technischen Ausdruck Karyatide. Wie allerdings
1) Athenaeus VI, S. 241 d.
die Karyatiden ansgesehen haben, an welche Eu¬
krates dachte, können wir nicht sagen, außer dass
sie mit einer erhobenen Hand das Gebälk zu stützen
schienen. Vitruv versteht unter Karyatiden lang¬
bekleidete, reich geschmückte weibliche Gestalten.
Aber seine Erzählung ist unhistorisch: das hat schon
Lessing gezeigt und andere sind ihm in der Ansicht
Fig. 3. Karyatide. Marmorrelief im Berliner Museum.
gefolgt. Es ist in der That eine ganz ungereimte
Vorstellung, dass der kleine peloponnesische Flecken
Karyä, der gar keine politische Selbständigkeit besaß,
sondern den Spartanern unterthan war, irgend eine
Vereinigung mit dem Landesfeind hätte anstreben
können. Offenbar ist es die Parallele mit den Dar¬
stellungen der persischen Gefangenen in der Halle
zu Sparta (deren Erklärung Vitruv derselben Quelle
entnimmt und in so unlogischer Weise anknüpft),
6*
40
KARYATIDEN.
welche diese höchst unhistorische Beziehung auf die
Perserkriege herbeigeführt hat. Die Entstehung so¬
wohl der männlichen als auch der weiblichen architek¬
tonischen Stützfiguren, der Perser wie der Karyatiden,
auf den griechischen Freiheitskampf zurückzuführen
war ja eine recht effektvolle Erfindung. Aber von
deren Wahrheit kann keine Rede sein und auch das
vielfach angezogene Relief in Neapel1), welches zwi¬
schen zwei stehenden Karyatiden eine anscheinend
trauernd am Boden sitzende weibliche Gestalt zeigt,
ist kein Beweis dafür, ja nicht einmal ein Beleg für
die Herrschaft dieser Überlieferung im Altertum.
Denn die Inschrift Tf/ 'Elläöi r 6 tqojicuov sCräd-?]
y.atavixtjOtvzcov zcöv Ka.Qva.Tajv besteht zwar aus
griechischen Lauten und Worten, ist aber kein Grie¬
chisch und offenbar eine höchst ungeschickte Fäl¬
schung, der man nicht so viel Aufmerksamkeit hätte
schenken sollen.
L. Preller, der vor gerade fünfzig Jahren diese
Frage erörtert hat2)? ist auf den Ausweg verfallen,
nur die Beziehung auf die Perser aufzugeben und
den Kern der Vitruv’schen Erzählung für echte Über¬
lieferung zu erklären. Er wies darauf hin, dass
Karyä ursprünglich zum tegeatischen Gebiet gehört
habe und erst nach harten Kämpfen von Sparta an-
nektirt worden sei. In dem Kriege, der nicht lange
nach den Perserkriegen zwischen Sparta und den
Tegeaten und Arkadern entbrannte, sei vermutlich
Karyä von Sparta abgefallen und seine zur Strafe
dafür erfolgte Zerstörung habe den von Yitruv nicht
ganz richtig datirten Anlass zur Erschaffung der
architektonischen Karyatiden gegeben. Aber diese
ganze Annahme ist willkürlich. Nirgends ist uns
von einem Abfall der Karyaten in dieser Zeit be¬
richtet und noch viel weniger von einer Vernichtung
ihrer Stadt. Und noch mehr! Nach der Schlacht
bei Leuktra, 371, als die Messenier, die Arkader
unter Thebens Schutz sich gegen die Spartaner er¬
hoben, fiel, wie uns Xenophon berichtet, auch Karyä
von ihnen ab. Nur wenige Jahre darauf wurde es
von Archidamos dafür grausam bestraft, durch nächt¬
lichen Überfall eingenommen und geplündert, und
Xenophon sagt ausdrücklich, dass der König alle
Gefangenen töten ließ. Das ist ein genügender Be¬
weis dafür, dass eine solche Vernichtung, wie sie
Vitruv erzählt und Preller annimmt, vor diesem
Jahre 368 nicht stattgefunden hat. Und auf diese
einzige und wirklich bezeugte Zerstörung von Karyä,
1) Museo Borbonico X, Taf. 59.
2) Gesammelte Aufsätze, S. 136.
die des Jahres 368, deren missdeutete Kunde noch
in Vitruv’s Erzählung leben mag, dürfen wir schlie߬
lich auch jene Erklärung des römischen Architekten
auch nicht beziehen: das verbietet die vorher durch
den Witz des Eukrates belegte Thatsache, dass im
vierten Jahrhundert der technische Ausdruck Kary¬
atide schon bekannt und verbreitet war, also nicht
erst damals entstehen konnte, abgesehen davon, dass
die Bestrafung ven Karyä in jenen Zeiten kaum die
Veranlassung zu einem monumentalen Erinnerungs¬
bau hätte geben können.
So werden wir uns wohl oder übel entschließen
müssen, Vitruv’s ganze Erzählung vom Ursprung
der Karyatiden für eine unbegründete Fabelei zu
erklären und, indem wir von ihr völlig abseh en
versuchen, auf eigenem Wege der Wahrheit so nahe
zu kommen, wie dies die Lückenhaftigkeit unserer
Überlieferung zulässt.
Wir müssen ausgehen von dem Namen KaQväriq.
Er bezeichnet ursprünglich selbstverständlich die
Einwohnerin von Karyä, dann auch die in Karyä
verehrte Artemis und vor allem die Mädchen, welche
in ihrem Kult zu ihren Ehren die berühmten Tänze
aufführten. Für uns kann offenbar nur diese dritte
Bedeutung in Frage kommen, aber welcher Weg
führt von diesem Begriff zu dem der architekto¬
nischen Figur?
Rayet1) hat versucht, einen solchen zu finden.
Wir wissen durch Pausanias, dass die jährlich statt¬
findenden Tänze von den spartanischen Mädchen
ausgeführt wurden, nicht von den Einwohnern von
Karyä, wie von vornherein anzunehmen wäre. Offen¬
bar hatte nach der Annexion Sparta diesen wich¬
tigen Kult in seine Obhut genommen. Darnach
werden wir uns denken dürfen, dass jährlich zur
bestimmten Zeit sich die Festteilnehmer von Sparta
nach Karyä begaben, voraussichtlich in geordnetem
Zuge. Rayet malt einen solchen mit vielem Geschick
aus; er denkt sich an der Spitze des Zuges die Ma¬
gistrate, die Priester, die Opfertiere mit ihren Be¬
gleitern sowie die Mädchen, die, dem Dienste der
Artemis geweiht, heute die für den Kult notwendigen
Geräte zu tragen haben, morgen zu Ehren der Göt¬
tin tanzen werden. So zog die Prozession den stei¬
nigen und steilen Weg dahin, einen ganzen langen
Tag, erst am Abend nahm sie der Ort Karyä auf
und am anderen Morgen fand das Opfer statt nebst
dem Festtanz. Es muss ein prächtiger Anblick ge¬
wesen sein, diese jungen Mädchen im festlichen Putz,
1) Monuments grecs I, zu Taf. 40.
KARYATIDEN.
41
auf dem Haupt die heiligen Geräte, wie sie sich
langsam weiter bewegten mit dem gemessenen Schritt,
welchen ein langer Marsch erfordert, und mit der
Würde, welchen die Erfüllung einer religiösen Pflicht
verleiht. Es ist kein Wunder, daß die Künstler von
diesem Anblick getroffen wurden und daß die Archi¬
tekten sich von der majestätischen Haltung dieser
Kanephoren inspiriren ließen, wenn sie Frauenge-
Voraussetzung Rayet’s. Möglich, dass eine solche
Prozession stattfand, überliefert ist es nicht, und
noch viel weniger ist überliefert, dass die Mädchen,
welche beim Feste tanzen sollten, den ganzen langen
Weg von Sparta bis Karyä das Opfergerät getragen
hätten. Auf dem Parthenonfries sehen wir derartiges,
aber der panathenäische Zug legte auch keinen
ganzen Tagesmarsch zurück, und das nötige Kult-
Fig 4. Vom Thor des Heroons zu Gjölbaschi.
stalten als Stützen verwenden wollten, und daß ihnen
dafür, ganz wie von selbst, der Name „Karyatiden“
auf die Lippen kam.
Diese Erklärung Rayet’s ist so reizvoll und
scheinbar so einfach, dass man sich nur ungern ent¬
schließt, sie zu verwerfen. Und doch ist sie unhalt¬
bar. Der ganze feierliche Zug mit seinen an den
Parthenonfries gemahnenden Scenen ist nur eine
gerät wird wohl im Heiligtum zu Karyä vorhanden
gewesen sein. Wäre aber auch Rayet’s Vorstellung
von dieser Prozession wirklich richtig, so bliebe doch
die Herleitung der architektonischen Karyatiden von
ihr unmöglich. Die Mädchen, welche von Sparta
nach Karyä wallfahrteten und Opfergerät trugen,
verdienten nicht den Namen Karyatiden: der kam
ihnen nur zu, wenn und insofern sie der Artemis
42
KARYATIDEN.
Tänze aufführten. Jene Trägerinnen des heiligen
Gerätes, die Rayet sich offenbar ganz wie die Mäd¬
chen vom Erechtheion und Parthenon denkt, würden
niemals anders als mit den feststehenden Namen
der Kanephoren, Hydriaphoren oder ähnlich, je nach
der Art des getragenen Gerätes bezeichnet worden
sein. Dagegen müssen die Karyatiden schon in
ihrer Erscheinung etwas Charakteristisches gehabt
haben , das sie von gewöhnlichen Mädchen unter¬
schied. Das dürfen wir aus einigen Nachrichten
schließen. Ktesias hatte erzählt, dass er vom Spar¬
taner Klearchos, dem Führer der Zehntausend, als
Geschenk und als Beweis ihrer Freundschaft einen
Ring erhalten hatte, auf dessen Stein tanzende Ka¬
ryatiden dargestellt waren. Die Charakteristik der
Tänzerinnen erlaubte also offenbar ohne weiteres,
sie als Karyatiden zu erkennen. Dasselbe geht daraus
hervor, dass man bestimmte Ohrgehänge als Karya¬
tiden bezeichnete '); offenbar zeigten sie je eine dieser
Tänzerinnen als Anhängsel, wie ähnlich ja schwebende
Eroten oder Niken so häufig sind. Auf diesen letz¬
teren Fall müssen wir besonders einiges Gewicht
legen, weil er beweist, daß die Karyatiden auch schon
in der Vereinzelung kennbar waren, nicht nur in
der Gruppirung zu mehreren. Es spricht dies näm¬
lich unter anderem gegen den Erklärungsversuch,
den Böttiger vorgetragen hat. Er wollte ganz mit
Recht den Namen der architektonischen Karyatiden
irgendwie mit den Tänzerinnen in Verbindung setzen,
aber um dies zu können, wagte er die Vermutung
„cs habe die Hauptstellung der Tänzerinnen im Em-
porhalten eines großen Gefäßes, Korbes oder Kala-
tluis mit Opfergaben oder Blumen bestanden, welche
die drei schlankesten oder erwähltesten Jungfrauen,
zu einer malerischen Gruppe vereinigt, mit den Hän¬
den hoch über den Kopf, der Geberde der Anbetung,
emporhielten, während die anderen Jungfrauen im
geschlossenen Kreise sich rechts und links anfassend,
tanzend den Ringelreigen um sie schlossen“. Und
da also die Karyatiden sowohl wie die Kanephoren
etwas zu tragen hatten, sei eine Verwechselung bei¬
der Begriffe eingetreten und der eigentlich unange¬
messene N ame Karyatide für die als architektonische
Stütze üblich gewordene Kanephore eingedrungen.
Eine recht umständliche und unglaubliche Vermutung,
die eingehend zu widerlegen kaum lohnt. Denn jene
\ erwechselung zweier so verschiedener Begriffe
müsste nach dem oben Bemerkten schon sehr früh,
1 Die Belege bei Plutarch, Artaxerxes 18 und Pol¬
lux V, 97.
vor dem vierten Jahrhundert eingetreten sein, was
ganz unwahrscheinlich ist, und jene elegante aber
recht wenig altertümliche Gruppe von drei Karya¬
tiden mit einem gemeinsam gehaltenen Korb existirt
nur in der Phantasie Böttiger’s.
Aber mit vollem Recht hatte er den Begriff der
architektonischen Karyatide aus dem der tanzenden
Mädchen von Karyä herl eiten wollen. Diese allein
werden ursprünglich mit dem Namen Karyatiden be¬
zeichnet, und der übertragene Ausdruck der Architek¬
tur muss von dem eigentlichen und ursprünglichen her-
kommen. Dieses so selbstverständliche Prinzip würde
fraglos längst allgemein anerkannt sein, wenn es nicht
schier unglaublich wäre, dass gerade tanzende Ge¬
stalten eine architektonische Verwendung gefunden
haben sollten, und dieser Anstoß musste um so größer
sein, je ausgelassener und wilder man sich den
karyatischen Tanz dachte.
In Wahrheit ist aber von einer ungezügelten
Ausgelassenheit dieses Tanzes gar nichts überliefert;
was man davon gesagt hat, beruht auf unbegründeten
Schlüssen moderner Forscher. So soll z. B. Plinius
durch seine Zusammenstellung der Karyatiden mit
Mänaden und Thyiaden die Wildheit des Tanzes be¬
weisen. Er zählt an der betreffenden Stelle Werke
des Praxiteles in Rom auf, darunter auch eine
Gruppe tanzender Karyatiden, die er zugleich mit
den Mänaden nennt, aber er führt dort überhaupt
ohne engeren sachlichen Zusammenhang auf: Flora,
Triptolemus, Ceres, Bonus Eventus und Bona For¬
tuna, Mänaden, Thyiaden, Karyatiden, Silene, Apollo
und Neptun, sie alle nennt er in einem Athem.
Daraus dürfen wir also nichts schließen.
Über die Art des karyatischen Tanzes schweigt
die literarische Überlieferung. Nur eine Nachricht,
daß er von den Dioskuren gelehrt sein sollte *), ge¬
stattet den Schluß, dass er dem Waffentanz, der
Pyrriche, einigermaßen verwandt war, die bei den
Spartanern ebenfalls Erfindung der Dioskuren hieß.
Das weist, wenn wir die zuverlässigen bildlichen
Darstellungen dieses Tanzes befragen — denn später
entartete der ernste Tanz zum lasciven Ballet — auf
einen streng gegliederten, gehaltenen Tanz hin. Und
es scheint möglich, mittelst der bildlichen Über¬
lieferung noch etwas weiter zu kommen. Wir be¬
sitzen eine große Zahl von Darstellungen verschie¬
dener Art, vor allem in Reliefs, dann auch in Terra¬
kotten, auf Thongefäßen, Schmuckgegenständen,
Münzen, welche uns tanzende Mädchen in einer eigen-
1) Lukian, Vom Tanze 10.
KARYATIDEN.
43
tümlichen Tracht zeigen. Auf dem Kopf tragen
sie einen großen, im Ganzen korbförmigen Putz,
ihre Kleidung besteht nur aus einem kurzen, bis zu
den Knieen reichenden Chiton. Heutigen Tages pflegt
man sie Kalatkiskostänzerinnen zu nennen. So hat
sie vor etwa dreißig Jahren Stephani benannt, weil
sie eben einen Kalathiskos , einen Korb, auf dem
Kopfe trügen und uns Kalathiskos als Name eines
Tanzes überliefert sei. Allerdings kennen wir gar
nichts von diesem Tanz als sei¬
nen Namen, und daraus allein
lässt sich recht schwerlich ein
sicherer Schluss ziehen, wie
man sich leicht überzeugt, wenn
man die massenhaft überliefer¬
ten Namen für antike Tänze
durchmustert. Sodann wechselt
die Form des Kopfputzes doch
vielfach und warnt uns, diese
so weit verbreitete Tracht aus¬
nahmslos auf einen bestimmten
Tanz und einen bestimmten Ort
zu beziehen. Mitunter ist der
Kopfputz sehr breit und wie ein
flacher Korb gestaltet; solche
Tänzerinnen scheinen dem dio¬
nysischen Thiasos anzugehören.
Mitunter hat der Kopfputz eine
steilere Form, die wirklich dem
Kalathos genannten Wollkorb
ähnelt, aber die sorgfältigsten
Kunstwerke, unter denen die Fig.
1 und 2 wiedergegebenen neu¬
erworbenen Reliefs des Berliner
Museums die erste Stelle ein¬
nehmen, zeigen uns keinen Korb,
sondern einen Kranz aus spitzen,
hochaufgerichteten, sich meist
überkreuzenden Blättern. Es ist
ein Kranz aus Palmblättern, wie
er auch bei den Gymnopädien
in Sparta verwendet wurde und
dort der thyreatische hieß. Schon von E. Q. Visconti ist
die Meinung ausgesprochen worden, dass wir in diesen
kurzbekleideten Tänzerinnen eben die karyatischen
erkennen dürfen. Seine Deutung ist etwas zu eng
1) Vgl. die Aufzählung im Petersburger Compte-rendu
1865, S. 60ff; Notizie degli scavi 1884, Taf. 7. 'EtprjusQlc,
uyyaioXoyixr/ 1889, S. 100. Hauser, die neu-attischen Re¬
liefs, S. 96 ff.
gefasst, da ja eine ähnliche Tracht, wie bemerkt,
auch bei den Tänzen anderer Kulte Vorkommen
konnte, aber was man sonst gegen die Deutung vor¬
gebracht hat, ist nicht sehr schwerwiegend. Vor
allem wird die daneben aufgestellte Erklärung auf
tanzende Hierodulen heute nicht mehr viele Anhänger
finden. Dagegen scheint die kurze Tracht, gegen
welche als eine lakonische Unsitte Clemens Alexan-
drinus eifert, und der Putz, der ebenso bei den Ar¬
temisköpfen kretischer Münzen
vorkommt, durchaus zu der Ver¬
mutung zu passen, dass dies die
Erscheinung der Karyatiden war.
Schon Stephani fand eine
besondere Charakteristik dieser
Tänzerinnen in ihren eigentüm¬
lichen Bewegungen, in den klei¬
nen , zierlichen auf den Fu߬
spitzen ausgeführten Schritten,
während jedes weitere Aus¬
schreiten von diesem Tanz völlig
ausgeschlossen ist. Außerdem
pflegen die Tänzerinnen, wenn
sie nicht beide Hände vor der
Brust halten, eine oder beide
Hände zu erheben, was uns an
das früher angeführte Witzwort
über die Karyatiden erinnern
darf. Alles dies und der fast
stets an den Boden geheftete
Blick geben uns das Bild eines
zwar ekstatischen, aber durch¬
aus in gehaltenen Bewegungen,
in abgewogenen Posen sich ent¬
wickelnden Tanzes. Und solche
Gestalten von gehaltener rhyth¬
mischer Bewegung, in symme¬
trischer Entsprechung, wie dies
wohl vom Tanze selbst erfor¬
dert wurde, müssen als archi¬
tektonische Stützen verwendet
worden sein, und diese Verwen¬
dung muss solchen Eindruck gemacht haben, dass
der Name der Karyatiden auf alle weiblichen archi¬
tektonischen Figuren überging, auch auf solche,
welche in Wahrheit keine karyatischen Tänzerinnen
waren.
EineSpur von der Verwendung dieser tanzenden
Gestalten in der Architektur ist uns noch erhalten.
An dem großen Grabmal von Gjölbaschi in Lykien
sind wie als Stützen des Thürsturzes rechts und links
Fig. 5. Tanzende Karyatide.
Marmorstatue im Berliner Museum.
44
KARYATIDEN.
tanzende Jünglinge angebracht, die in ihrer Tracht
ganz den karyatischen Tänzerinnen gleichen (s.Fig. 3).
Benndorf1) hat darauf hingewiesen, dass der Tanz,
welchen diese Jünglinge ausführen, eine im Totenkult
übliche Cärimonie war. Damit ist erklärt, dass man
überhaupt solche Tänzer an einem Grabmal dar¬
stellte, aber nicht, weshalb diese Tänzer in so un-
verhältnismäßiger Größe und eben an dieser archi¬
tektonisch bedeutsamen Stelle angebracht wurden;
das erklärt sich eben nur aus der Gewohnheit, der¬
artige tanzende kurzgewandete Figuren als architek¬
tonische Stützen zu verwenden. Je nach dem zu
verzierenden Bau musste man die Figuren mit in¬
haltlichem Bezüge wählen. Für das Grabmal in
Gjölbaschi boten sich ungesucht die Tänzer dar, die
im Totenkult ihre Rolle spielen, am Erechtheion
finden wir die attischen Mädchen, die im Dienste der
Gottheit stehen, in Eleusis haben sich Reste von
kolossalen architektonischen Figuren gefunden, Mäd¬
chen, welche die mystische Truhe auf dem Haupte
tragen 2) also ein deutlicher Bezug auf den Kult des
Ortes, wo der betreffenden Bau stand. Und so wer¬
den wir auch einmal die sonst erhaltenen zahlreichen
architektonischen Stützfiguren auf die Bezüge hin
prüfen müssen, welche sie etwa zu dem Kult der
Heiligtümer oder zu der Bestimmung der Gebäude
gehabt haben, zu deren Schmuck sie dienten. Die
karyatischen Tänzerinnen, welche in architektonischer
Verwendung solchen Ruhm erwarben, dass sie der
ganzen Gattung dieser Figuren den Namen gaben,
würden wir uns am liebsten an einem Bau des Hei¬
ligtums in Karyä denken. Nicht allerdings am Tem¬
pel, denn es gab dort keinen; das Bild der Göttin
stand im Freien, ebenso wie das uralte Bild des
Apollon in Amyklä. Dies letztere war wenigstens
mit einem prunkvollen, reich mit plastischem Schmuck
verzierten Throne umgeben, dem gefeierten Werke
des alten Meisters Bathykles; daran waren schon
menschliche Figuren als Stützen verwendet, wie über¬
haupt diese Benutzung der menschlichen Gestalt sich
am frühesten und reichsten an Geräten jeder Art
1) Das Ileroon von Gjölbaschi -Trysa, Tafel 5, S. 71.
2) Vgl. A. Michaelis, Ancient marbles in Great-Britain
S. 242.
und Größe entwickelt und fortgepflanzt zu haben
scheint. Dürften wir uns bei der Artemis von Karyä
irgend einen analogen Schmuck des Heiligtums
denken, so wäre bei einen solchen die erste ein¬
drucksvollste und beziehungs vollste Verwendung
der Tänzerinnen in architektonischem Zusammen¬
hänge wohl möglich. Aber hierüber können wir
Sicheres nicht behaupten.
Nur eines ist noch zu bemerken. Wenn wir
mit Recht unsere Vorstellung von den karyatischen
Tänzerinnen aus jenen reizvollen und zierlichen Dar¬
stellungen der kurzbekleideten Tänzerinnen herleite¬
ten, so dürfen wir aus derselben Quelle auch unsere
Anschauung von einigen nicht erhaltenen Kunst¬
werken des Altertums beleben. Die Karyatiden des
Praxiteles, die ich schon erwähnte, waren offenbar
eine Gruppe solcher kurzgekleideter Tänzerinnen,
von deren Anmut und reizvoller Bewegung uns die
Reliefs wohl eine Ahnung geben können, wenn auch
ein engerer Zusammenhang mit dem Werke des
Praxiteles nicht behauptet werden kann. Schon ein
älterer Künstler hatte denselben Vorwurf behandelt,
Kallimachos. Denn nach allem Gesagten ist es mir
nicht zweifelhaft, dass seine tanzenden Lakonerinnen,
welche als ein subtiles, aber zu studirtes Werk ge¬
nannt werden, eben tanzende Karyatiden darstellten ').
Erhalten ist uns eine solche Statue in einem stark
ergänzten Torso in Berlin (Nr. 229, s. Fig. 4), der aus
Rom stammt. Er ist leider von so geringem künst¬
lerischen Werte, dass der Versuch, die geschichtliche
Stellung seines Originales genauer zu bestimmen,
verwegen wäre, nur darf man wohl behaupten, dass
es einfacher, schlichter und lebloser war als das in
den Reliefs wiedergegebene. Eine Statue, die diesen
entspräche, würde etwa der Münchener Artemis (Nr.93)
gleichen; aber mehr wage ich vorläufig nicht zu be¬
haupten. Hoffen wir, dass der unerschöpfliche Boden
Griechenlands uns einst die Monumente schenkt,
welche eine bestimmtere Antwort auf diese Fragen
zu geben gestatten; sie sicher beantwortet zu sehen,
würde einen gleichen Fortschritt für die Geschichte
der Architektur wie der Skulptur bedeuten.
1) Plinius 34, 92; vgl. E. Petersen in den Arch.-epi-
graphischen Mitteilungen aus Österreich V, S. 59; E. Reisch,
Weihgeschenke, S. 10.
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
VON H. E. v. BERLEPSCH.
(Fortsetzung.)
OTTFRIED Keller verließ
Zürich am 26. April 1840,
um sein Heil in München
zu versuchen. Der erste Ein¬
druck, den die aufblühende
Stadt, das rege Künstler¬
leben auf ihn machten, muss
etwas Verwirrendes gehabt
haben, dieweil das tagtägliche Leben und manche neuen
Eindrücke den aus der damals äußerst oder wenig¬
stens äußerlich sittenstrengen Stadt an der Limmat
an die Isar Versetzten zu den später entstandenen
drastischen Worten veranlassten:
Ein liederliches, sittenloses Nest,
Voll Fanatismus, Grobheit, Kälbertreiber,
Voll Heil’ genbilder, Knödel, Radiweiber.
Landsleute waren sein nächster Umgang. In ein
bestimmtes Schul Verhältnis ist er, obschon er die
Briefe seiner Mutter als „an den Eleven der Königl.
Akademie“ zu bestellen bat, nie getreten. Ob sein
Heil darin allein bestanden hätte, mag hier nicht
erörtert werden. Die originellsten Künstler sind zu¬
meist den Schulen aus dem Wege gegangen; aber
Keller ist, trotzdem er sichtliche Arbeits- Resultate
zu Tage förderte, nicht zum fördernden Arbeiten
gekommen, das einzig und allein im strengen Stu¬
dium der Natur seine Wurzeln hat. Missgeschick
allein ist es nicht gewesen, was ihn aus dem Sattel
hob. Hätte er Arbeiten gesehen, die ihn wirklich
packten, so lag schon darin eine mächtige Anregung.
Ob er solche empfunden hat heim Anschauen der
Rottmann’schen oder anderer Arbeiten? Vergesse
man nicht, dass das München jener Tage seinen Ruf
hauptsächlich dem Umstande dankte, dass im übrigen
Deutschland für Kunst rein gar nichts geschah.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 2.
Inwieweit alle Münchener Arbeiten damals wahr¬
haft künstlerisch waren, mag jeder nach eigenem
Gefühl ermessen.
Neben den aus dieser Periode noch vorhandenen
Arbeiten Kellers, die, sowohl was Ausführung als
auch Format angeht, von größerer Bedeutung sind
als die Überbleibsel früherer Zeit, ist es wieder der
Grüne Heinrich sowie Bächtold’s Buch, die den ge¬
nauesten Aufschluss über den Lebensgang unseres
Künstlers geben.
Es wurde bereits gesagt, dass er schon während
der Lehrzeit bei Meyer (Römer) ein Ölbild, das
Wetterhorn vorstellend, „verbrochen“ habe. Haupt¬
sächlich hatte er bisher die damals übliche Aqua¬
relltechnik kultivirt, welche weit entfernt davon,
die zu Gebote stehenden Mittel frei auszunutzen,
noch ziemlich deutlich ihre bescheidene Herkunft
verriet: die ursprünglich mit Sepia oder Tusche
angelegte, zeichnerisch auf diese Weise durchge¬
führte und dann mit einigen wenigen farbigen La¬
suren (Tinten) vollendete Arbeit. Man hatte ein
Himmelblau, ein Baumgrün, eine Mischung von
Karmin und Ultramarin für die Ferne, feststehende
Schatten und Lichttöne. Dass ein Schatten oder auch
das Licht durch das Zusammenspielen verschiedener
Farben erst Leben bekomme, war eine unbekannte
Geschichte. Die Technik zwängte die Erscheinung
der Natur in ihre Regeln, statt dass das Verfahren der
Erscheinung angepasst und diese immer von neuem
als ein Problem betrachtet wurde. Nicht viel anders
stand es mit der Technik des Ölmalens. V om „Lustre“
der Farbe war in Deutschland wenigen etwas be¬
kannt, galt sie doch den großen Meistern der Zeit über¬
haupt nicht viel mehr denn als eine Beigabe, der man
sich nur gerade soweit bediente, um der Modellirung
7
46
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
des Gemalten eine gewisse Abwechselung zu ver¬
leihen. Man verschmähte die Einfachheit der far¬
bigen Erscheinung, wie sie bei mittelalterlichen
Fresken oft so äußerst anmutig auftritt, modellirte
aber auch nicht mit Farbe, sondern mit Lokaltönen,
zu denen ein Schatten — und ein Lichtton gemischt
wurde. Dieses Verfahren hat vor zwanzig Jahren
z. B. Anschütz in seiner Malklasse an der Münchener
Akademie noch gelehrt. Die eigentlich farbige
Wirkung der Natur musste förmlich neu entdeckt
werden. Die darauf beruhende Anschauung hat sich
bei uns überhaupt erst seit kurzer Zeit Bahn ge¬
brochen, freilich unter dem nicht enden wollenden
Widerspruche Mancher, die über Kunst das große
Wort führen, ohne mit dem intimen Wesen der
Erscheinung, wie sie sich dem künstlerisch ge¬
bildeten Auge bietet, auch nur irgendwie Bekannt¬
schaft gemacht zu haben. Die Theorie steht eben
auch in diesem wie in gar manch anderem Falle
der Praxis oft verneinend gegenüber, trotzdem sie
unproduktiv ist; das war für die deutsche Kunst in
unzählbar vielen Fällen der Hemmschuh, und ist es
manchmal heute noch.
Im Grünen Heinrich, Cap. XI, die Maler, heißt es:
„ - — Denn weder meine Vorbereitung noch meine
Lebenskunde waren geeignet gewesen, mein Thun und Lassen
rasch in eine feste Form zu bringen.
In diesem Obergangsschatten herumsuchend, sehe ich
mich eines Nachmittags bei guter Zeit die Palette reinigen
und die Pinsel auswaschen, mit denen ich den Kampf mit
einem auf Hörensagen begonnenen Ölmalen führte. — -
Ohne alle Empfehlungen angekommen und auch ohne Mittel,
mich in die Werkstatt eines in der Wolle des Gelingens
sitzenden Meisters einzudingen, war ich darauf angewiesen,
in den Vorhöfen des Tempels zu stehen und da oder dort
durch die Vorhänge zu gucken, was immer seine Schwierig¬
keit hatte. Denn von den Scholaren, wie sie im Durch¬
schnitte sind, war nichts zu lernen1) und sobald die jungen
1 Das stimmt mit der Wirklichkeit nicht ganz überein,
«h-nn gerade in den Malschulen wird durch Anregung seitens
der Genossen oft viel mehr wachgerufen als durch die Kor¬
rektur des Lehrers, der in den meisten Fällen seine An¬
schauung an den Mann bringt, wogegen sich bei Werden¬
den das Drängen einer eigenartigen Anschauungsweise mit
viel mehr Kraft den Mitstrebenden fühlbar macht und sie
aneifert. Was die „Kunstgeheimnisse“ angeht, so hätten
ie , da es sich hier wohl in erster Linie um technische
Kniffe und Fertigkeiten handelt, dem Anfänger wenig ge¬
nützt, da ihm die Erfahrung, wieso man dies und das so
und nicht anders macht, noch völlig abging. Übrigens ist
fahrangstbatsache, dass jeder, der vorwärts will, am
mei-ten durch das gefördert wird, was er selbst erringt.
Den Schlusspassus über Kümmel, Salz und Ambrosia wird
jeder, der Einblick in diese Welt hat, nicht für eine bittere
Bemerkung, sondern für durchaus zutreffend erklären. Es
mag nur ein Beispiel unter vielen dafür aufgeführt werden
Einer der in den sechziger und siebziger Jahren beliebtesten
Leute durch den Verkauf eines Werkleins als angehende
Meister sich betrachten lernten, wurden sie in der Mitteilung
ihrer Kunstgeheimnisse zugeknöpft und einsilbig. Schon war
ich einmal zurückgeschreckt worden, als ich mich auf aus¬
drückliche Einladung hin bei einem derartigen schüchtern
zum Besuche meldete und er mich an der Thüre mit der
hochmütigen Entschuldigung abwies, er halte soeben Kon¬
ferenz mit seinem Litteraten, um „den Mann“ für die Be¬
sprechung eines neuen Bildes zu instruiren. Auch in der
Idealwelt der Kunst sind Kümmel und Salz reichlicher als
Ambrosia, und wenn die Leute wüssten, wie klein und or¬
dinär es in den Köpfen mancher Maler, Dichter und Musi¬
kanten aussieht, so würden sie einige dem Völklein nur
schädliche Vorurteile aufgeben.“
Keller besucht seinen „neuen Freund“ Erikson,
der nicht zu der stark vertretenen Sorte der oben
Gekennzeichneten zählt, sondern ein anständiger
Mensch ist. Ob er einen norwegischen Freund hatte,
ist unbekannt. Knud Baade lebte erst seit 1842 in
München. Soviel Bächtold sagt, waren Schweizer,
darunter solche von vorgeschrittenerer künstlerischer
Bildung, außer diesen aber hauptsächlich Studenten
gleicher Nationalität der Kreis, in dem Keller ver¬
kehrte und seine Schnurren zum besten gab.
Erikson nun, oder wie er immer sonst heißen
mochte, kennt Keller’s Arbeiten offenbar schon, und
giebt diesem in scherzhaften Worten ein Urteil ab, das
durch die vorhandenen Arbeiten des Nachlasses durch¬
aus bestätigt wird:
„Sehen Sie, wie ich mich plagen muss,“ rief er, mir
unbefangen die Hand schüttelnd, „seien Sie froh, dass Sie
ein gelehrter Komponist und Kopfmaler sind, der nichts zu
können braucht, während so ein armer Teufel von Handels¬
maler nicht weiß, wo er die Tausende von bargültigen Halb-
tönchen, Druckerchen und Lichtchen auftreiben soll, um
seine kabinettsfähigen vierzig Quadratzoll nicht allzu schwin¬
delhaft zu überstreichen.“
Und später, als es sich um den Besuch bei Lys
handelt:
„Mich lässt er schon hinein, weil ich kein Maler bin!
Sie vielleicht auch, weil Sie noch nichts können und es
noch unentschieden ist, ob Sie überhaupt ein Maler werden!“
Und nach einer Pause, während deren ihm Keller
das Handwerkszeug in Ordnung bringen hilft:
„ - Aber die Pinsel sind rein, Gott segne Sie!
Von diesem Punkte aus kann man Sie unbescholten nennen!
Sie haben eine ordentliche Mutter, oder ist sie tot?“
Die beiden verfügen sich dann zu dem myste¬
riösen Niederländer Lys. Außerordentlich zutreffend
Münchener Maler, der sich mit seinen Bildern massenhaft
Geld verdiente, ließ z. B. die Baumgruppen, die er nach
der Natur gemalt hatte, nachher durch Absagen von Haupt¬
ästen, war es ihm möglich, durch Fällen der schönsten
Exemplare so zurichten, dass nach ihm kein anderer Kollege
mehr dem nämlichen Sujet sich nahen sollte. Der Mann
sprach aber stets in sonorem Tone von den „idealen“ Seiten
des Künstlerlebens und war auch Professor,
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
47
ist, was da an Bemerkungen fällt über die „leiden¬
schaftliche Beschränktheit“ der Kollegen, weiter über
das Rezensententum, den „verdrießlichen Handel,“
die gelehrte Erklärung künstlerischen Schaffens und
das Schwanken des Genies. Dann machen sie sich
auf den Weg, kommen an Keller’s Wohnung vor¬
über, was Erikson veranlasst zu sagen:
„Halt, wir wollen bei diesem auch noch schnell nach-
sehen, was er schafft. Die untergehende Sonne, die ihm
gerade in sein unpraktisches Fenster schaut, wird ihm zu
Hilfe kommen, dass wir wenigstens etwas Farbe vor Augen
haben!“
Mögen diese Worte in Wirklichkeit einmal ge¬
fallen sein oder legte sie Keller später in richtiger
Selbsterkenntnis einer erfundenen Figur in den Mund,
auch sie zielen auf die schwache Seite seines Ar-
beitens ab. — Zunächst zeigt er seinen Besuchern
die zwei großen Kartons ( — es war ja die Zeit der
Kartons und — der schlechten Maler), deren einer
eine altgermanische Auerochsenjagd, der andere einen
„Eichwald mit Steinmälern, Heldengräbern und Opfer¬
altären“ aufwies.
„Ich hatte die beiden Sachen mit großer Schilffeder
auf die mächtigen Papierflächen gezeichnet und markig
schraffirt, auch breite Schattenmassen mit gi’auer Wasser¬
farbe angelegt1), darauf die Kartons mit Leim wasser über¬
zogen und auf diesem Grund sodann mit Ölfarbe lustig
herumgewirtschaftet in der Weise, dass in den heildunkeln
durchsichtigen Teilen überall die Schilffederzeichnung durch¬
blickte. Nicht eine einzige Naturstudie hatte ich dazu be¬
nutzt, sondern in meinem ungezügelten Schaffensdrang den
ersten und letzten Strich frei erfunden, und da diese Arbeit
ebenso leicht als fröhlich vor sich ging, so sahen die zwei
farbigen Kartons nach etwas aus, ohne dass viel davon zu
sagen war; denn ob ich auch im stände gewesen wäre, solche
Bilder auszuführen, konnte man zunächst nicht wissen.“
Die „acht Zoll großen Figuren“ hatte ihm ein
Landsmann, der heute noch in St. Gallen lebende
Eviil Rittmeyer, damals in Kaulbach’s Atelier thätig,
hinein komponirt.
„Hinter diesen Fahnen, von welchen die eine kulissen¬
artig halb hinter der anderen verborgen stand, ragte an der
Wand eine dritte über sie hinaus, in gleicher Weise ange¬
legt, aber noch ohne Farben. Eine von gewaltigen, breiten
Linden umgebene kleine Stadt baute sich zwischen den
Stämmen und aus den Wipfeln heraus an einer Berglehne
hinan, dicht gedrängt, mit zahlreichen Türmen, Giebel¬
häusern, Wimpergen, Zinnen und Erkern. Man sah in die
engen, krummen und mit Treppen verbundenen Gassen
hinein, auf kleine Plätze, wo Brunnen standen, und durch
die Glockenstuben des Münsters hindurch, hinter welchen
die hellen Sommerwolken zogen, wie auch hinter den
offenen Trinklauben, die sich in die Luft hinaus profllirten
und Gesellschaften kleiner Männlein meiner eigenen Arbeit
1) „Angetuscht“ wäre der richtige Terminus technicus
für die farblose Unterlage, die bloß auf „hell und dunkel“
abzielt.
beherbergten. Ich hatte die merkwürdige Stadt mit Hilfe
eines architektonischen Sammelwerkes zusammengebaut und
die Formen der romanischen und gotischen Baustile in
bunter Gruppirung und Übertreibung so gehäuft, wie es
kaum jemals vorkam, und dabei die Entstehungsweise chro¬
nologisch angedeutet, indem die Burg und die unteren Teile
der Kirche das höchste Alter in der Bauart zeigten. Der
hochgerückte Horizont zog sich noch über die Linden weg
und schloss ein weites Gelände ab, das Meierhöfe, Mühlen,
Gehölze und in einem düstern Schattenwinkel das Hoch¬
gericht umzirkte. Vorn sollte aus dem offenen Thore eine
mittelalterliche Hochzeit über die Fallbrücke kommen und
sich mit einem einziehenden Fähnlein bewaffneter Stadt¬
knechte kreuzen. Dies Figurengewimmel fügte ich mit er¬
klärenden Worten hinzu, da einstweilen bloß der Platz dazu
offen war.“ (Grüner Heinrich III, Seite 15G.)
Der Holländer hält dann auch nicht mit seinem
Urteil zurück, das kaustisch genug lautet:
„Vortrefflich!“ sagte Lys, „eine gedachte Staffage; das
ist das Leichteste und Duftigste, was es giebt! Übrigens
glüht Ihre Stadt in der verfluchten Himbeerbrühe dieses
Abendrotes wie das brennende Troja! Doch fällt mir ein:
Sie müssen alles aufgetürmte Mauerwerk aus rotem Sand¬
stein bestehen lassen, das wird den kolossalen Bäumen
gegenüber und in Verbindung mit den weißglänzenden
Wolken einen eigentümlichen Effekt machen!“ (Grüner
Heinrich III, Seite 157.)
Das Blatt ist erhalten, seine Haupt- Partie in
Abbildung S. 48 beigefügt, Keller hat sich beim Ent¬
werfen offenbar gar keine Rechenschaft darüber ge¬
geben, wie ein solches Thema mit den tausend Ein-
zelnheiten bildmäßig zu verarbeiten wäre. Er häufte
Motiv an Motiv, jedem mit gleicher Liebe zugethan,
und sicher hätte es ihn ganz außerordentlich gereut,
wäre es der malerischen Wirkung zu liebe an ein
Beiseitelassen dieser Dinge gegangen. Soweit es sich
um den Zusammenhang der architektonischen Motive
handelt, ist das Räumliche klar durchdacht und ein¬
heitlich. Es mögen ihm dabei jene reizvollen Archi¬
tekturen vorgeschwebt haben, wie sie sich auf
manchem Dürer’schen Stiche finden. Merian’s Kos-
mographie und vielleicht auch die große Stadt-Aus¬
sicht Zürich’s, geschnitten von Josen Murer (1576),
haben wohl mitgewirkt bei der Entstehung dieser
Arbeit, die in vielen einzelnen Dingen reizvoll ge¬
nannt werden muss und sich allenfalls für einen Holz¬
schnitt vorzüglich geeignet hätte. Wo nun aber die
Größenverhältnisse von nah und fern in Betracht
kommen, hat der Autor entschieden Schiffbruch ge¬
litten; denn die mächtigen Linden z. B., die rechts
das Bild einrahmen und durch ihr bewegtes Ast-
und Laubwerk einen wirksamen Gegensatz zur Archi¬
tektur bilden sollen, stehen in gar keinem Verhält¬
nisse zu den rückwärtigen Partien; dagegen er¬
heben sich dann wieder im Vordergründe Schierlings-
7*
Mittelalterliche Stadt.
Bruchstück des Entwurfes von G. Keller, kop. von H. E. v. Berlepsch.
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
49
Stauden, die den genannten Bäumen gegenüber sieb
ausnebmen wie gewaltige Pflanzengebilde aus vorsünd-
flutlicher Zeit. Das an sieb reizend erfundene Haus
im Vordergründe, an dessen einer Seite ein Gärtchen
mit Malven und Sonnenblumen steht, ist für sich
genommen, ganz tretflich gedacht. Der Durchblick
durch das Thor, das am Rande des Ziehbrunnens
stehende Kind, das verfallene Flechtwerk der Palli-
tes gemacht, freilich nicht so, dass man den Wald
vor lauter Bäumen nicht sieht, wie auf dem Keller’
sehen Karton.
Keller weist nun den Kollegeu noch einige weitere
Dinge, die er ebenfalls „aus der Tiefe des Gemütes“,
keineswegs aber unter Zuhilfenahme der Natur auf
einen Karton gezaubert hat. Die figürliche Kompo¬
sition spricht hier das Hauptwort. Es ist Moses,
Blick vom Zürichberge. Aquarell von Gottfried Keller.
saden außerhalb, — alles klappt famos als abge¬
schlossene Erscheinung für sich, steht aber, ein Bild
im Bilde, durchaus nicht im Einklänge zum Ganzen,
schon durch seine Größenverhältnisse nicht. Dadurch
wirkt es naiv und steht entschieden im Gegensätze
zu der gedanklichen Arbeitsweise, durch welche sich
die Arbeiten der Klassizisten in erster Linie kenn¬
zeichnen. Schwind und Richter haben oft Verwand-
der die Gesetzestafeln schafft, und hinter ihm, auf
einem Granitblock stehend, das „prästabilirte“ Jesus¬
kind. Wo es dabei fehlte, erkannte er später absolut
richtig selbst, denn er lässt Lys sagen:
,,Da haben wir es also! Sie wollen sich nicht auf die
Natur, sondern allein auf den Geist verlassen, weil der Geist
Wunder thut und nicht arbeitet. Der Spiritualismus ist die¬
jenige Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht und
Gleichgewicht der Erfahrung hervorgeht und den Fleiß des
50
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
wirklichen Lebens durch Wunderthätigkeit ersetzen, aus
Steinen Brot machen will, anstatt zu ackern, zu säen, das
Wachstum der Ähren abzuwarten, zu schneiden, zu dreschen,
mahlen und backen. Das Herausspinnen einer fingirten,
künstlichen, allegorischen Welt aus der Erfindungskraft, mit
Umgehung der guten Natur, ist eben nichts anderes, als
jene Arbeitsscheu; und wenn Romantiker und Allegoristen
aller Art den ganzen Tag schreiben, dichten, malen und
operiren, so ist dies alles nur Trägheit gegenüber derjenigen
Thätigkeit, welche nichts anderes ist, als das notwendige
und gesetzliche Wachstum der Dinge. Alles Schaffen aus
dem Notwendigen heraus ist Leben und Mühe, die sich selbst
verzehren, wie im Blühen das Vergehen schon herannaht;
dies Erblühen ist die wahre Arbeit und der wahre Fleiß;
sogar eine simple Rose muss vom Morgen bis zum Abend
tapfer dabei sein mit ihrem ganzen Korpus und hat zum
Lohne das Welken. Dafür ist sie aber eine wahrhaftige
Rose gewesen!“
- „Die geognostisclie Landschaft, die Sie dar¬
stellen wollen, haben Sie nie gesehen und werden Sie, ich
will wetten, auch niemals sehen. Dahinein setzen Sie zwei
Figuren , mit denen Sie teils die Schöpfungsgeschichte und
den Schöpfer feiern, teils aber ironisiren; das ist ein gutes
Epigramm, aber keine Malerei; und endlich könnten Sie,
wie man wohl sieht, die Figuren, wenigstens jetzt, gar nicht
selbst ausführen, ihnen folglich nicht diejenige Bedeutung
geben, die Sie sich geistreich denken; folglich stehen Sie
mit dem ganzen Handel in der Luft; es ist ein Spiel und
keine Arbeit!“ (Grüner Heinrich, Bd. III, S. 159.)
Das ist klare Selbstkritik, reife Einsicht, frei¬
lich späteren Jahren entsprungen. Übrigens ist wohl
anzunehmen, dass Keller auch zu Zeiten der Ent¬
stehung der Kartons durch bloßen Einspruch nicht
zur Umkehr zu bringen gewesen wäre. Dafür war
er ein viel zu eigensinnig harter Kopf andern, aber
schwankend, wie es gar oft der Fall, sich selbst
gegenüber.
Wie ihn bei der besprochenen Arbeit der Zug
zum Romantischen erfasst hatte, so äußert sich in
anderen der Einfluss der klassischen Richtung Rott¬
manns. Zwar versuchte Keller weder italienische
noch griechische Motive zu erfinden, indes trägt
'eine „Ossianische Landschaft“, deren Vegetation des
Nordens Natur kündet, deutlich das Bestreben, gro߬
zügig sich auszudrücken, durch wenig gebrochene
Linien und einfach angeordnete Massen eine im-
ponirende Wirkung zu erzielen. Keller war hier
von klassizistischen Einflüssen stark inspirirt. Über
flachen Felsrücken, zwischen denen in der Ferne die
See zu sehen ist, schwebt dichtballiges Gewölk.
Massige Kiefern bestände, deren flache Kronen zu den
ruhigen Linien des Terrains durchaus passend sich
verhalten, bedecken das Gelände, aus dem im Mittel¬
gründe rechts gigantische Felsmassen in die sturm¬
bewegte Luft emporragen. Davor zieht sich ab-
tallendes Terrain hin. Gegen den Beschauer zu
steigt es an, wieder mit dichtem Kiefernwald be¬
deckt. Vorn schließen rechts und links — Versatz¬
stücke im eigentlichen Sinne des Wortes — ein
paar große Felsbrocken das Bild ab, dem Größe
der Anschauung durchaus nicht abzusprechen ist.
Es mag gerade deshalb eine Bemerkung hier Platz
finden , die sich in Gegensatz zu einer ziemlich
verbreiteten Anschauung stellt. Kellers malerische
Bestrebungen werden nämlich noch heute, selbst
von vielen seiner Verehrer, geradezu für „dilettanten-
hafte“ Schöpfungen gehalten. Solche mögen sich
gesagt sein lassen, dass dergleichen Arbeiten — ihre
Mängel alle mit eingerechnet — nicht im Kopfe
eines Dilettanten wachsen. Von Unbeholfenheit
zeugt manches, aber es liegt im Ganzen jener Guss,
der künstlerisches Denken und Empfinden als erste
Bedingung voraussetzt. Das will freilich gesehen
sein, will man über dergleichen sein Verdict abgeben.
So zaghaft manches gehalten ist, wo die Forderung
bestimmt ausgesprochener Detailform an den Künst¬
ler herantrat, so breit ist dagegen die Anschauung,
die sich im Ganzen kund giebt1). Keller glaubte
1) Der Verfasser vorliegender Zeilen brachte eines Abends
verschiedene größere Reproduktionen nach Keller’schen Ori¬
ginalen mit in einen Münchener Künstlerkreis. Auf Gottfr.
Keller riet beim Anschauen kein Mensch. Desto größer
war das Erstaunen, da dieser als Autor genannt wurde.
Ernst Zimmermann, der bekannte treffliche Künstler, erbat
sich die Sachen zu genauer Besichtigung und sandte sie
dann mit folgenden Zeilen zurück: „Anbei schicke ich Dir
die Keller’schen Sachen mit Dank zurück. Ich war beim
genauen Durchgeben derselben nicht wenig überrascht. Wie
wohl die meisten Leute, war auch ich der Meinung, Keller
habe es als Maler zu nichts „Rechtem“ gebracht, und jetzt
sagen mir diese Blätter, dass er nicht nur wirklich ein
Maler, sondern ein ganz hervorragender war. Wenn die
anderen um ihn herum das nicht gemerkt haben, tant pis
pour eux. - Kurzum, es sind künstlerisch hochstehende
Arbeiten. Wie ist es nur möglich, dass man nicht einmal
davon munkeln hörte, was das für ein Mordskerl gewesen
ist! Waren denn die Sachen bisher versteckt und bekam
sie niemand zu sehen? Das allein erklärt mir es u. s. w.“
Ähnlich äußerte sich Adolf Stcibli, der tüchtigsten Münche¬
ner Künstler einer. Hans Thoma schreibt u. a. über die
Blätter Keller’s : „Keller steckte bei manchem offenbar in
einer gewissen herkömmlichen Handwerksmäßigkeit und war
eine viel zu komplizirte Natur, um sich leicht davon frei zu
machen. Das, was er äußerlich sah in seiner Zeit, konnte
ihn nicht befriedigen, und ich glaube, dass er so das Inter¬
esse an der Malerei verlor. Dass er aber aus dieser Ver¬
lorenheit heraus ein Bild machte, wie das runde (siehe Abb.
S. 49) „Blick vom Zürichberge“, das ein wahres Ideal von Land¬
schaft ist, zeigt, wes Geistes Kind er war und dass er seine
Persönlichkeit nicht verloren hätte, wär’ er bei der Malerei
geblieben. Er hat es eben nach dieser Seite nicht bis zum
Sprengen der Decke gebracht, die für jeden vorhanden ist,
der nach verschiedenen Seiten starke Beanlagungen hat.
Was die verbohrte Handwerksmäßigkeit aber betrifft, die
Keller’s Jugendzeit umlagerte, so ist sie gewiss nicht ärger
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
51
sich vielleicht völlig Herr der Sache, die freilich
in diesem Falle sichtlich mehr auf Nachempfindung,
denn auf Selbstgesehenem beruhte. Es ist eine der
Rottmannschen Landschaften aus Griechenland oder
Italien, schlicht und groß ins Deutsche übersetzt.
Rottmann war eben in jenen Tagen der Mann, des
Wort und Werk die Situation beherrschte. Dass
Keller von diesem Fahrwasser mit fortgerissen wurde,
ist nicht zu verwundern. Er war noch zu weit
entfernt von selbständiger Anschauungs- ebenso
wie Ausdrucksweise. Wieviele Künstlerseelen (und
zwar von denen, die sich zu den „Selbständigen“
zählen) hat nicht Makart, Boecklin, Uhde, kurz
jeder im Gefolge gehabt, dessen Art für seine Zeit
von Bedeutung wurde! Mit diesem Faktum muss
noch weit mehr unserem Kunstadepten gegenüber
gerechnet werden, denn mit dem Pinsel umgehen
können , heißt noch lange nicht auch ein selb¬
ständiger Mensch sein. Das lehrt jede neue Aus¬
stellung ganz eindringlich.
Die Bistrezeichnung der oben besprochenen
Komposition steht entschieden hoch über der zwei
gewesen als die jetzige Modethorheit , die alles Dagewesene
überwunden zu haben meint. Sie ist gewiss nicht unerfreu¬
licher als Hunderte von modernen Bildern, welche die jetzigen
Ausstellungen beherrschen und durch ihr unbescheidenes
Wesen um nichts erfreulicher wirken. Man lacht wohl über
den ehrlich spießbürgerlichen „Baumschlag“ und sieht gar
oft nicht, mit welch einfältigen Mätzchen die moderne Hand¬
werksmäßigkeit arbeitet. Wenn man behauptet, landschaft¬
liche Kompositionen stünden mit dem Wesen der Landschafts¬
malerei im Widerspruch, wenn man behauptet, der Einfluss
der Antike auf die Malerei sei „stets“ ein großes Unglück
gewesen, dann wird man freilich auch nicht zum inneren
Kern der KelleFschen Arbeiten gelangen.“ — - Der Ein¬
fluss der Antike auf die Malerei „stets“ ein großes Unglück!
Das ist ein kapitaler Ausspruch! Wie wenn jemals das Hohe
und Vortrefflichste der Kunst derselben Schaden bringen
könnte, wenn man es nur recht versteht. Gewiss dürfen
wir dann auch den Homer nicht mehr lesen, den Borghesi-
schen Fechter nimmer anschauen, auch die griechischen
Löwen vor dem Arsenal zu Venedig nimmer, auch das nicht
und jenes nicht — denn die Antike droht uns mit Unglück!
Ach, was ist doch unsere Kunst für ein zartes Pflänzlein
geworden. — - Das Keller’sche Rundbild ist eine Mi¬
schung von Vedute und Komposition, aber wie anregend ist es
und welche Perspektive eröffnet es einer vernünftigen Land¬
schaftsmalerei. Veduten werden gewöhnlich halt dann öde,
wenn ein öder Maler sie öde malt. Das hindert aber nicht,
dass eine landschaftliche Komposition sich dennoch mit dem
Wesen der Landschaftsmalerei decken kann. Ist es denn
notwendig, dass alles über einen Leisten geschlagen, über
einen Kamm gekämmt werde? Wäre Keller bei der Malerei
geblieben, so hätte er sich wahrscheinlich durch nichts ein¬
engen lassen. Das thut überhaupt kein Künstler; die Maler
aber, die es thun, geben damit nur einen Beweis ihrer
Schwäche,
Jahre später (1843) entstandenen Ölskizze, die das
nämliche Snjet behandelt. Die Farbe ist, wie bei
manch anderem Versuche, trocken, bleiern, hart.
Das Wollen steht höher als das Können. Wo er
sich aber auf das, was er eigentlich gelernt, ver¬
lassen hat, da traten Resultate zu Tage, die, wenn
auch unseren heutigen Anschauungen über Tonwerte
u. s. w. keineswegs entsprechend, doch als“ abgerun¬
dete Leistungen bezeichnet werden müssen. Ihre
Gesamtwirkung ruft einen angenehmen Eindruck
wach, trotzdem sie etwas Altväterisches an sich tragen.
Vollständig trifft dies bei dem in Heft 1 wiedergegebe¬
nen Ölbilde zu, das ein günstiger Zufall einem in
München lebenden Schweizer Künstler, Herrn Welti
von Winterthur, auf der Auer Herbst-Dult 1893
(Jahrmarkt in der Vorstadt Au bei München) in
die Hände spielte.
Es ist eine komponirte Landschaft; das zeigt
der erste Blick, sonst hätte der Autor nicht ver¬
gessen zu sehen, dass Objekte, die am Rande ruhiger
Gewässer stehen, sich in denselben spiegeln. Weiße,
ballige, hell von der Sonne beleuchtete Wolken
ziehen am sommerlich blauen Himmel dahin. Gleich¬
mäßiges Licht ruht auf den Baumkronen, deren
Ausläufer gegen die Luft mit Liebe und Sorgfalt
gezeichnet sind. Die Partie jenseits der Wassers
macht beinahe den Eindruck, als lägen dabei Natur¬
studien zu Grunde, denn der eine größere Baum
ist deutlich als Eiche gekennzeichnet. Der Baum
rechts dagegen, des Schatten die ganze vordere
Uferpartie bedekt, sieht aus, als wäre er einem alten
Kupferstich entnommen. Von der Dunkelheit, mit
der sich solche, gegen die Luft stehende Laubpar¬
tien unter den gegebenen Beleuchtungsverhältnissen
abheben, müsste Keller gewusst haben, selbst wenn
ihm weiter nichts als die Beobachtung zur Seite ge¬
standen wäre, denn wer komponiren will, bedarf
einer weit geschärfteren Beobachtungsgabe als der,
der seine Motive vor der Natur verarbeitet, mithin
immer den genauen Gradmesser für die richtige Ab¬
gewogenheit seiner Arbeit vor sich hat. Die gegen
den Äther ausiaufenden Aste und Zweige sollten
das durchscheinende Licht wiedergeben und sind
aus diesem Grunde allzu zimperlich geworden.
Keller verfiel hier wieder in die alte Anschauung,
dass viele Blätter zusammen einen Baum abgeben.
Sie thun es freilich, aber das Auge des Malers sieht
die Masse, nicht die einzelnen Individuen.
Das Stoffliche der Erscheinung und seine je
nach den Lichtverhältnissen verschiedene Art, sich
dem Auge zu zeigen, war den Münchener Zeitge-
52
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
nossen Keller’s noch eine unbekannte Welt. „Le
beau, c’est le vrai“ — das blieb gar lange in
Deutschland untibersetzt. Die Landschafter malten
damals eben zu Hause, ohne sonderlich feinen Ge¬
schmack. das darf man ruhig sagen; auch gaben
sie sich zumeist mit einem vierwöchentlichen Land¬
aufenthalt, der neben malerischen Studien auch der
Freude des Kegeins, Schwimmens u. s. w. gewidmet
war, zufrieden. Wie sollte da die Frucht reifen,
die nur unter dem direkten Einflüsse von Sonnen¬
schein und Gewittersturm gedeihen kann, kurz unter
dem fortwährenden Kontakt mit der Natur! Das
als Anforderung beiseite gelassen, kann man dem
Keller’schen Bilde die Anerkennung nicht versagen,
dass es als Leistung der Zeit nicht geringer als
manch anderes erscheint, das seinen Weg sogar in
Galerien gefunden hat. Dass Kunst, die es mit
der Natur zu thun hat, und Theater (d. h. Theatra¬
lisches) zweierlei Dinge seien, die nicht verquickt
werden können, wussten selbst die berühmten Leute
in München nicht; giebt doch der Hohepriester auf
Kaulbachs „Zerstörung von Jerusalem“ die köst-
lichst karrikirte Theater- Selbstmordszene zum besten,
die nur je dargestellt worden ist. Und dann gar
erst die verzerrten Helden der Schnorr’schen Nibe¬
lungenverarbeitung, die noch heute dem in München
weilenden Fremdling gezeigt werden, ob als Kurio¬
sität oder als sonst etwas — das ist unbestimmt. —
Keller hat es später begriffen, was ihm abging,
denn seinen Roman- und Novellen- Figuren hat
er keinerlei Mäntelchen umgehängt, um Blößen zu
decken, vielmehr zeigen sie sich alle als wahrhaftige
atmende Menschen von Fleisch und Blut. Es ist
eine kleine, aber charakteristische Erscheinung ge¬
rade an diesem Bilde, dass Keller das Ufer felsig,
den Grund des Wassers steinig gemacht hat, aus
diesem steinigen Grunde aber sorglos Schilf- und
Wasserrosen wachsen lässt, die bekanntermaßen
weichen Untergrund verlangen. Reizend in den
Raum komponirt und gut in der Bewegung ist das
Figürchen des Fischers. Ob es Keller’s eigene, ob
es die Arbeit eines Freundes ist, kann nicht be¬
stimmt werden. Das Figürchen fällt durch nichts
aus dem Rahmen des Ganzen heraus.
(Fortsetzung folgt.)
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
N einer Zeit, in der nichts so
sehr darniederliegt und einer
Reform bedarf, wie die
Ästhetik, in der auch das
Kunstverständnis des Publi¬
kums durchaus nicht der
Menge wirklich hervorragen¬
der Kunsterzeugnisse ent¬
spricht und man auf wissenschaftlicher Seite noch
immer glaubt, mit einzig historischer und abstrakt
philosophischer Schulung den Problemen der Kunst
beizukommen, in einer solchen Zeit ist es von
höchster Bedeutung, wenn einmal ein Mann zu Wort
gelangt, der dazu veranlagt ist, künstlerische Intui¬
tion und theoretische Reflexion in sich zu vereinen
und zu bewältigen. Eine Erscheinung wie „Das
Problem der Form in der bildenden Kunst“ ') muss
um so mehr ins Gewicht fallen, da ein Adolf Hildc-
bratul es ist, von dem sie ausgeht, ein Künstler,
1) Straßburg 1893, J. N. Ed. Heitz 'Heitz & Mündel).
der als Plastiker Bedeutendes leistet und daneben
auch nachdenkt über die Gesetze seines Schaffens,
um in Wort und Schrift wiederzugeben, was sonst
bloß dunkler Instinkt des Künstlers zu sein pflegt.
Wenn auch der Psychologe von Fach nicht überall
mit der Hildebrand’ sehen Auffassung mancher hier
berührter Probleme übereinstimmt, so ist das eben
bedingt durch den verschiedenen Standpunkt, lässt
aber den Inhalt der Hildebrand’schen Arbeit unver¬
ändert. Und ich stehe nicht an, über den Inhalt
zu referiren, ohne von dieser Seite aus Kritik an
ihm zu üben, denn derselbe ist höchst anregend
und verdient die Beachtung auch weiterer Kreise.
Hildebrand geht aus von der Unterscheidung
zwischen einer rein schauenden Augenthätigkeit,
stattfindend in Aufnahme jedes Fern- oder Flächen¬
bildes, bei welchem das Auge alles dreidimensionale
als Flächenmerkmale empfängt — also dem reinen
Gesichtseindruck — und einem Sehen als Bewegungs¬
akt, wenn das Auge dem Objekt so nahe gebracht
wird, dass es zu Bewegungen genötigt ist, um nach-
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
53
einander alle Punkte des Objekts in den Punkt des
schärfsten Sehens rücken zu lassen. Hier haben
wir es dann nicht mehr mit reinen Gesichtsvorstel-
lungen, sondern mit Bewegungen und Bewegungs-
Vorstellungen zu thun. Letztere bilden das Material
des abstrakten Formsehens; jede plastische Form
eignen wir uns durch eine Bewegungsvorstellung
an. Das, was jeder z. B. von der Kugel festhält,
ist die Kreislinie. Dazu gesellt sich alsdann die Be¬
wegungsvorstellung, mit der er diese Kreislinie nach
allen Seiten hin wiederholt. Resultat: Wir sehen
alles nur zweidimensional.
In einem jeden Fern- oder Flächenbild sind nun
aber bestimmte Merkmale enthalten, die, obwohl vom
Auge nur zweidimensional aufgenommen, dennoch
eine Tiefenbewegung anregen und für die dritte
Dimension arbeiten. Somit können Tiefenvorstell¬
ungen sich aus reinen Flächeneindrücken ent¬
wickeln. — Umgekehrt schafft sich dagegen das
Sehen als Bewegungsakt immer wieder Flächenein¬
drücke durch Zurückführung der dritten Dimension
in die Fläche. Wir trachten immer danach, uns
Profilansichten der Dinge zu verschaffen. Aus beiden
Fällen ergiebt sich , dass wir allein im Flächenbild
ein einheitliches Bild für den dreidimensionalen
Komplex haben, die einzige Einheitsauffassung der
Form, im Sinne des Wahrnehmungs- wie Vor¬
stellungsaktes. Sehen wir z. B. in der Ferne ein
Haus, so ergänzen wir seine dritte Dimension aus
der Erinnerung. Der Teil seiner Seitenwandung,
welchen wir in der That wahrnehmen in Projektion
auf die vordere Fläche, wird doch sofort die Tiefen¬
vorstellung anregen, weil wir seine Tiefe aus der
Erfahrung wissen. Das Kind z. B. weiß nichts von
der dritten Dimension, so lange es den Raum noch
nicht durchmisst.
Da nun der Gesichtseindruck für die Tiefenvor¬
stellung mit von den wechselnden mitwirkenden Um¬
ständen (unserem zufälligen Standpunkt, der Beleuch¬
tung etc.) abhängt und deshalb wechselt, und wir
andererseits uns die Form eines Gegenstandes nur
als Bewegungsvorstellung aneignen, so ist unsere
Tiefenvorstellung keine klare, feste, zweifellose. Eben¬
darum ist auch unser Gesichtseindruck ein schwan¬
kender. Jeder vermag die Kugel sich als Form vor¬
zustellen, wie dieselbe sich aber als Gesichtseindruck
rund ausspricht, das weiß nicht ein jeder, wie sofort
erhellt bei der Aufforderung, einen gegebenen Kreis
als Kugel zu schattiren. Es steht also der Formvor¬
stellungsbesitz des Menschen in einem sehr unklaren
Zusammenhang mit den Gesichtsvorstellungen. Wir
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 2.
haben nur ein ungefähres Gesichtsbild und füllen es
je nach dem plastischen Bedürfnis mit Bewegungs¬
vorstellungen aus.
Die einzige Kontrolle für diese Beziehung un¬
serer Gesichts- und Bewegungsvorstellung liegt in
der Darstellung; denn dort werden beide Vorstellun¬
gen sichtbar. Bei der Darstellung gilt es zunächst,
das einheitliche Flächenbild zu geben in Zurück¬
gewinnung des reinen Gesichtseindruckes durch Eman¬
zipation von der durch die Erfahrung gewonnenen
räumlichen Vorstellung. Die sichtbare Wiedergabe
desselben muss nur die Bedingung erfüllen, dass sie
wieder voll und ganz eine räumliche Vorstellung er¬
zeuge. Um ein einfaches Beispiel anzuführen: es
gilt eine Emanzipation vom Wissen, dass der Würfel
sechs Quadrate zu Begrenzungsflächen hat, durch
die Darstellung des reinen Gesichtseindruckes von
etwa einem Quadrat und zwei anliegenden Parallelo¬
grammen. Wir müssen also wieder zweidimensional
sehen lernen wie das Kind. Aber dennoch muss
dann an der sichtbaren Darstellung die Probe stim¬
men, dass wir unmittelbar auf den aus ihr em¬
pfangenen Eindruck wie auf etwas Körperliches
reagiren. — Die Sache erscheint ungemein ein¬
fach, aber gerade das Einfache erweist sich so
oft als das am schwersten zu Hebende. Es ist ja
historisch zu verfolgen, wie viel ungezählte Jahr¬
hunderte verrannen, bis dem Menschen diese Eman¬
zipation vom Wissen bei der Darstellung gelang.
„Alle sonstigen geistigen Disciplinen — sagt Hilde¬
brand — lassen in diesem Punkte den Menschen
ganz naiv, in einem gänzlich unbewussten Verkehr
mit der Natur, und in einem gänzlich unklaren Vor¬
stellungsbesitz, — die bildende Kunst allein stellt
die Thätigkeit dar, in der sich das Bewusstsein nach
dieser Richtung hin entwickelt und welche die Kluft
zwischen der Formvorstellung und den Gesichtsein¬
drücken aufzuheben und beide zu einer Einheit zu
gestalten sucht. Andererseits beruht der eigentliche
Genuss am Kunstwerk und dessen unwillkürliche
Wohlthat im Empfangen dieser Einheit.“
Von diesem Standpunkte aus unterscheidet sich
nun die darstellende Thätigkeit des Bildhauers und
Malers folgendermaßen. Das geistige Material des
Bildhauers sind seine Bewegungsvorstellungen. Aber
wenn wir nun fortfahren und sagen wollten: er
hat dieselben durch die Form plastisch zu gestal¬
ten, so gleiten wir gerade über die Kernfrage
sachte hinweg, das eigentliche Darstellungsproblem
ist uns wieder entschlüpft. Hildebrand aber nor-
mirt: der Bildhauer hat diese seine Bewegungs-
8
54
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
Vorstellungen zu einem — Gesichtseindruck zu rea-
lisiren. Hiermit meint er, dem Bildhauer muss für
seine Figur ein zweidimensionales, ebenes Bild vor¬
schweben, eine Umrisszeichnung, welche schon alle
darzustellenden Momente der Position enthält. (Wir
kommen darauf im III. Teil zurück.) Die „ Ansicht“
der dargestellten Figur, also das subjektive Flächen¬
bild muss die volle Ausdrueksstärke für die Form be¬
sitzen. — Das geistige Material des Malers sind seine
Gesichtsvorstellungen. Er hat sie in einem Flächen¬
bild zu realisiren und zwar derart, dass wir die
volle räumliche Formvorstellung empfangen. Dies
zu leisten ist er nur dadurch im stände, dass er
alle Gesichtseindrücke auf ihre plastische Anregungs¬
kraft hin prüft und zu diesem Zwecke verwendet
und gestaltet.
Dieses In-Beziehung- Setzen der Bewegungs- und
Gesichtsvorstellungen bedeutet also ein Suchen nach
einem bestimmten Verhältnis beider. Wenn Hilde¬
brand jedoch glaubt, es müsse ein gesetzmäßiges
sein, so ist er in einer Täuschung begriffen und
beginnt einseitig zu werden. Auch hier giebt es
keine allgemeingültige Norm. Natürlich braucht
dieses Verhältnis nicht jedesmal durch die Wirk¬
lichkeit der Außenwelt erfüllt zu sein. Da es aber
jedesmal vom Kunstwerk gefordert werden muss,
so ergiebt sich in bestimmten Fällen eine Abweich¬
ung von der Wirklichkeit unter diesem Gesichts¬
punkte. Der Künstler hat also unbedingt der jewei¬
ligen Naturerscheinung — zuerst gedanklich, dann
realisirt — eine solche Bilderscheinung gegenüber¬
zustellen, bei welcher durch das Zurückführen auf ein
jeweilig bestimmtes Verhältnis zwischen Gesichts- und
Bewegungsvorstellung die Naturerscheinung verar¬
beitet und geklärt ist. Es ist möglich, dass Natur und
Bilderscheinung, so wie sie zu erstreben ist, zusam¬
menfallen — nur ein ausgebildetes Taktgefühl des
Künstlers wird diese Momente erkennen — in den
meisten Fällen sind jedoch die beiden Erscheinun¬
gen differirend.
Hildebrand unterscheidet zwischen einer „Da¬
seinsform“ unabhängig vom Wechsel der „Erschei¬
nung“ (z. B. der dreidimensionale Würfel) und einer
„Wirkungsform“ als Produkt des Gegenstandes auf
der einen Seite, der Beleuchtung, der Umgebung
und des wechselnden Standpunktes auf der anderen
(z. B. das Bild des Würfels als Quadrat mit zwei
anliegenden Parallelogrammen.) Die Wirkungsform
setzt sich wiederum zusammen aus den relativ zu
nehmenden Einzelfaktoren, den Wirkungsaccenten.
Während wir uns eine Form vorzustellen versuchen,
schaffen wir unwillkürlich an einem Gesichtsbilde,
welches sich zusammensetzt aus den Wirkungsaccen¬
ten. Sind diese noch so dürftig, — z. B. wenn Kinder
ein Gesicht als Kreis, mit zwei Punkten als Augen,
einem senkrechten Strich als Nase und einem wag¬
rechten als Mund zeichnen — so genügen sie doch
zur Formvorstellung, sie sind gleich der Grund¬
wirkung, die bei jedem gemalten oder gemeißelten
Menschengesicht vorherrschen muss. Die messbare
Naturform existirt also für das Auge nur in Form
von Wirkungen, wodurch alle thatsächlichen Maße
in Verhältniswerte umgesetzt werden — und diese
Verhältnis werte sind es, welche der Künstler wieder-
giebt, mit welchen er arbeitet, nicht die messbare
Daseinsform, die allein für die wissenschaftliche Be¬
trachtung von Bedeutung ist.
Die Kunst besteht darin, die beim Schauen und
Beobachten festgehaltenen, individuellen Eindrucks¬
werte wieder einzukleiden in wahrnehmbare und auch
für andere wiederum sichtbare Formen. Sie schafft
dadurch einen Eindruck, welcher beim Beschauer
ohne Rest im Vorstellungs werte aufgeht, während
der Natureindruck noch kein aus diesem Gesichts¬
punkt gereinigtes Vorstellungsbild ist — oder doch
nicht notwendig zu sein braucht. Der Künstler, je
nach seiner individuellen Begabung, bereichert also
unser Verhältnis zur Natur, lehrt uns erst die Natur
sehen, und zwar dadurch, dass er die „Daseinsform“
seines Sujets in solche Situationen bringt, die ihr
neue Wirkungsaccente verleihen. Aber das Eigen¬
tümliche daran ist, dass diese neuen Wirkungsaccente
immer normale sein müssen. Je normaler und typi¬
scher sie in einem Kunstwerk fallen, desto objek¬
tivere Bedeutung besitzt es.
Und da nun dieser Wirkungswert nicht ein
an und für sich greifbar vorhandener ist, sondern
erst entsteht durch das Produkt aus Gegenstand in
unsere Auffassungskraft, so ist ersichtlich, dass die
künstlerische Darstellung nicht ein mechanisches
positiv-ähnliches Wahrnehmungskonterfei der zu¬
fälligen Erscheinung bedeuten kann, sondern eine
Darstellung dieser von der Vorstellung schon ver¬
arbeiteten und als räumliche Wirkungswerte ge¬
prägten Formenwelt.
„Die sogenannte positivistische Auffassung, —
sagt Hildebrand — welche die Wahrheit in der
Wahrnehmung des Gegenstandes selber sucht, nicht
in der Vorstellung, die sich von ihm in uns bildet,
sieht das künstlerische Problem nur in der genauen
Wiedergabe des direkt Wahrgenommenen. Allen
Vorstellungseinfluss hält sie für eine Fälschung der
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
55
sog. Naturwahrheit und sie bemüht sich, die Dar¬
stellung zu einem möglichst genau imitirenden Auf¬
nahmsapparat zu steigern, sich rein mechanisch re-
ceptiv zu verhalten.“ — Wenn uns nicht der Vor¬
wurf der Einseitigkeit treffen soll, muss jedoch auch
der positivistischen Auffassung ihr Recht werden,
denn — obwohl nur ein dienendes Glied — hat
sie doch nicht nur Daseinsberechtigung, sondern
ist durch die Vorbedingungen der künstlerischen
Darstellung selbst mitbedingt. Unsere Vorstellungs¬
fähigkeit erscheint stets als ein retardirendes Mo¬
ment der sich weiter entwickelnden Wahrnehmung
gegenüber, und so ist die Kunst, als vornehmlich
auf der Vorstellungskraft basirend, der Möglich¬
keit ausgesetzt, sich zu sehr auf diese allein zu be¬
schränken, ohne das Wahrnehmungsbild zum Ver¬
gleich heranzuziehen und sich an ihm zu korri-
giren. Die Spaltung in zwei einander korrigirende
Richtungen ist also unvermeidlich. Der Höhepunkt
wird erreicht durch eine gegenseitige Klärung,
Verfolgung aber nur einer der beiden Richtungen
kann zu nichts anderem als Einseitigkeit führen.
Der Positivismus ist daher zwar nicht als Zweck,
aber als Mittel zum Zweck, und die positivistische
Darstellung nicht als Endziel der Kunst, aber als
dirigirende Vorbereitung aufzufassen.
II.
Der einzelne Gegenstand ist nicht nur für sich
allein ein modellirter Körper, er dient auch wieder
zur Modellirung des gesamten ihn umgebenden
Raumes. Die Einzelgegenstände arbeiten durch ihre
Anwendung und Stellung an der Darstellung des
Gesamtraumes und verstärken je nach ihrer Ver¬
wertung die Raumanregung des Ganzen. Anderer¬
seits aber kommen durch diese Verwendung wieder¬
um die Einzelgegenstände stärker zum Ausdruck,
weil sie eben im Ganzen eine bestimmte räumliche
Funktion haben, eine bestimmte räumliche Rolle
spielen. „In dieser Doppelrolle, — so führt Hilde¬
brand trefflich aus, — welche in einer Raumwirkung
fürs Ganze und fürs Einzelne besteht, erkennen wir
aber die künstlerische Verknüpfung des Ganzen
und Einzelnen, — die Gelenke der Erscheinung als
eines künstlerischen Organismus. Wir erkennen auf
diese Weise die Möglichkeit eines Zusammenhanges
und einer Einheit in einem Bilde, die mit dem Zu¬
sammenhänge der Natur als organischer Einheit
oder als Einheit eines Vorganges nichts zu thun
hat. Es ist dieser Zusammenhang das spezielle
Eigentum der bildenden Kunst, und es liegt deshalb
meist außerhalb des Verständnisses des Laien.“
In der Landschaft bietet der originelle Zusam¬
menhang sehr wenig Notwendiges, das ganze Arran¬
gement hängt von der Willkür des Künstlers ab,
dennoch wird dem Beschauer alles zu einer Einheit,
sofern nur alles in der Bildfläche Erscheinende seine
Aufgabe als Modellirung des Raumes erfüllt. Aber
auch beim Figurenbilde, haben die Einzelfiguren
die Aufgabe, an der Raumentwicklung für das Auge
mitzuarbeiten. Daraus ist denn wiederum die For¬
derung einer künstlerischen Notwendigkeit im Gegen¬
satz zur Wirklichkeit erklärlich; man erkennt, dass
die Figuren eine viel allgemeinere Aufgabe im Bilde
lösen, als nur die, einen Vorgang zu erzählen.
Wichtig für die so wenig reichhaltige ästhe¬
tische Terminologie ist zugleich, dass Hildebrand das
jeweilige Produkt von Erscheinungsgegensätzen, wel¬
ches geeignet ist, eine räumliche Vorstellung in uns
zu erzeugen: Raumwert nennt. Solche Erscheinungs¬
gegensätze können gegeben sein durch Linien, durch
Hell und Dunkel und durch Farben.
Die Raum werte werden bestimmt durch den
Gegenstand seiner allgemeinen Beschaffenheit nach,
wie durch seine Lokalfarbe, die Beleuchtungsquelle
als Lichtrichtung und Qualität, und den Standpunkt,
den der Beschauer zum Gegenstände einnimmt. Sie
dienen wieder zur Offenbarung einer inneren Einheit,
die nur der Gesichtssinn erfasst, indem sie von ge¬
trennten Lageverhältnissen eine gleichzeitige Aus¬
sage machen, wodurch eine räumliche Orientirung
möglich, ein Erfassen der räumlichen Entfernungen.
Wir staunen manchmal über die plastische Kraft
eines Bildes, über das sog. „Losgehen“ voneinander,
eine Erscheinung, die hauptsächlich zurückzuführen
ist auf ein vollkommenes Erfassen der Raumwerte
seitens des Malers: in ihnen liegt die eigentlich ge¬
staltende und einigende Fähigkeit.
Man versuche einmal ein Bild zu malen mit
einem grünen Hügel im Hintergrund und einer
Eiche im Mittelgrund, die in Wirklichkeit einige
hundert Meter vor dem Hügel steht. Dann wird
man erkennen, was es für eine Bewandtnis damit
hat, die beiden Grün so gegeneinander abzustimmen,
dass sie für den Beschauer einen „Raumwert“ bilden,
d. h. dass die Eiche wirklich von dem Hintergründe
„losgeht“ , dass sie vor diesem zu stehen scheint.
Linien, hell und dunkel, sowie Farben bewirken je¬
doch erst dadurch einen Raumwert, werden erst da¬
durch wirksam für die Formvorstellung, dass sie
sich mit gegenständlichen Vorstellungen associiren.
56
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
Die perspektivisch verkürzte Linie allein würde uns
kein Zurückgelien verdeutlichen; Hell und Dunkel
mödelliren erst dann, und die Farbengegensätze
wirken erst dann raumgestaltend, wenn uns eine
gegenständliche Vorstellung dabei vorschwebt.
Die Erweckung der gegenständlichen Vorstel¬
lung geschieht aber dadurch, dass wir bestimmte
Flächenteile als ein Zusammengehöriges absondern
von der übrigen Flächenerscheinung, dass wir unter¬
scheiden zwischen einem Näheren und Ferneren. Dies
wird als Tiefenvorstellung um so besser geschehen
können, je einheitlicher und kenntlicher in der bild¬
lichen Darstellung das Nähere mit dem Ferneren
einen Raumwert bildete. Die Gestalt vor einem
Hintergründe ist nicht nur selbst plastisch modellirt,
sie modellirt auch am Raumganzen. Indem sie in
ein bestimmtes Wirkungs Verhältnis zum Hintergrund
gesetzt ist und mit ihm einen Raumwert bildet,
treibt sie ihn zurück und es entsteht eine allgemeine
Tiefenbewegung.
Da es für die Gegenstandsvorstellung von Wich¬
tigkeit ist, wie die Merkmale der dritten Dimension
in der Fläche zum Ausdruck gelangen und was als
Flächenproportion gegeben ist, so wird es von Ein¬
fluss sein, in welcher Ansicht wir einen Gegenstand
darstellen und in welcher Stellung und Bewegung,
wenn es sich um ein lebendes Wesen handelt. Denn
viele Stellungen und Ansichten wären uns in der
Darstellung völlig unverständlich, sofern gerade die
charakteristischen Merkmale verdeckt und unsicht¬
bar sind.
Die Flächenbilder der einzelnen Gegenstände
aber müssen wiederum möglichst einheitlich zum
Flächenbild des ganzen darzustellenden Raumes ver¬
einigt werden. Das kann dadurch geschehen, dass sie
gruppenweise in möglichst gemeinschaftliche Distanz¬
pläne geordnet werden, dass sie zur Überschneidung
gebracht werden. Die wichtige Kraft der Über¬
schneidung ist dabei die, dass Figuren verschiedener
Distanzschichten zu einer einheitlichen Flächenwir¬
kung verbunden werden können, indem sie durch die
Überschneidung sich seitlich kontinuirlich fortsetzen,
als Flächeninasse fortschreiten. — Ein weiteres Mittel
zur Einigung von Flächenbildern liegt im Lichtgange.
Flächenbilder, die in verschiedener Distanz liegen,
können als einheitliche Lichtmassen zusammenge¬
halten werden und dadurch den dunkleren gegen¬
über als Ganzes wirken. Außer den rein zeichneri¬
schen Mitteln dienen nun aber auch noch die far¬
bigen Kontraste als verbindende und trennende, vor-
und zurücktreibende Kräfte. Die Farbe steht aber
in einem dienenden Verhältnis zur räumlichen Vor¬
stellung, nur in sofern kann beim Bilde von einer
inneren Einheit der Farbe die Rede sein, als sie teil¬
nimmt an der großen Arbeit, ein Raumganzes zu
bilden. Nicht um den Reiz der Farbe an sich, wie
beim Teppiche, sondern um ihr Erscheinungsverhält¬
nis als Distanzträger handelt es sich in erster Linie.
„Wenn wir bedenken, welch unendlich anderes
Ding ein Bild ist, als das Dargestellte in natura, so
bliebe seine Kraft, im Menschen die Illusion zu er¬
wecken , ein Rätsel , wenn nicht ebenso wie die
Natur auch das Bild zuerst einen Prozess in uns
erzeugen müsste, um die Vorstellung des Raumes
zu erwecken. Indem Natur und Bild diesen Anreiz
üben, gelangen sie zu einem gleichen Resultat für
die Vorstellung. Die Parallele zwischen Natur und
Kunstwerk wäre also nicht in der Gleichheit ihrer
faktischen Erscheinung zu suchen, sondern darin,
dass ihnen beiden zur Erweckung der Raumvorstel¬
lung die gleiche Fähigkeit innewohnt. Nicht um
die Täuschung handelt es sich, dass man das Bild
für ein Stück Wirklichkeit halte, wie beim Panorama,
sondern um die Stärke des Anregungsgehaltes, wel¬
cher im Bilde vereinigt ist.“
Ungemein wohlthuend aber muss es jeden Fein¬
fühlenden berühren , wenn Hildebrand gegen das
Panorama mit kräftigen Worten zu Felde zieht.
Die Mittel seien brutale, weil die Gesamterscheinung
entstände durch eine Vermischung rein malerischer,
als Flächenmittel, und wirklicher räumlicher Perspek¬
tive und plastischer Darstellung. Das rufe ein Un¬
behagen, eine Art Schwindel hervor, anstatt des
Behagens eines klaren Raumeindruckes. Das alte
Panorama, als bloß fortlaufendes Bild, sei ein un¬
schuldiges Vergnügen ohne Hehl, für Kinder, das
heutige raffinirte aber unterstütze die Roheit der
Sinne durch eine perverse Sensation und ein gefälsch¬
tes Realitätsgefühl ganz in derselben Weise, wie es
durch die Wachsfiguren geschieht.
Neben den Raumwert stellt Hildebrand nun als
zweiten wichtigen Begriff den Funktionswert der
Form. Die bewegte Natur erzeugt bestimmte Ände¬
rungen, die wir als charakteristische Merkmale eines
bestimmten Vorganges festhalten. Mit ihrer Wahr¬
nehmung stellt sich die Vorstellung des Vorganges
ein, wir empfinden ihn mit, indem wir ihn sozusagen
innerlich mit agiren und diese innere Aktion der
äußeren Erscheinung als Ursache unterlegen. So
wird also die Form zum Ausdruck eines bestimmten
Vorganges, sie wird Funktionsausdruck. Die lang¬
fingerige, sehnige Hand verkörpert die Tendenz des
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST
57
Greifens, stark entwickelte Kinnladen machen den
Eindruck von Kraft und Energie, der Wulst der
Stirnmuskeln den des Zornes oder der Anstren¬
gung etc.
„Da nun die Natur durchaus nicht immer die
lebendige Mimik hat, die wir brauchen, um zur
Mitempfindung angeregt zu werden , und unsere
Vorstellung diese Mimik aus dem gesamten ange¬
sammelten Erfahrungsmaterial im Verein mit dem
direkten Körpergefühl gewinnt, ähnlich wie es der
Schauspieler thut, so wird auch der Künstler sich
nicht an die jeweilige thatsächliche Naturerschei¬
nung binden, an ihr kleben, sondern selbständig die
Sprache nach seiner subjektiven Kraft entwickeln
und bei seiner Darstellung die allgemeine Forderung
der Natur auch dem Einzelfall gegenüber geltend
machen.“ (S. 86.)
Manche der überkommenen Formen verlieren
mit der Zeit das Prägnante ihres Ausdrucks oder es
verbindet sich mit ihnen eine veränderte Vorstellung.
In diesem Wechsel liegt teilweise der Grund der
eigentümlichen Erscheinung des sogenannten „Suchens
nach Wahrheit“ in der Kunst. Dasselbe ist, nicht
zum geringsten Teil, nichts anderes als ein Suchen
nach dem zeitgemäßen Funktionswert. Es wäre in¬
teressant gewesen, wenn Hildebrand sich auch über
diesen Punkt ausgelassen hätte.
Von einer wirklichen Gestaltung der Erschei¬
nung als Funktionswert kann aber nur dann die
Rede sein, wenn die Erscheinung zugleich als Raum¬
wert gestaltet wird, wenn also die Einheit der Funk¬
tionswerte als Einheit von Raumwerten gefasst wird.
„Es ist dies für die bildende Kunst von großer Trag¬
weite. Denn es kann die Lebensempfindung im Sinne
des Funktionsausdrucks den Künstler zu einer Dar¬
stellung führen, die als Ausdrucksgeste genommen
durchaus wahr empfunden ist, die aber als einheit¬
licher Raumeindruck noch gar keine Gestaltung er¬
halten hat. Er stellt sich dabei selber als agirend
vor und frägt sich, würde ich mich so oder so in
dem Fall bewegen. Er frägt sich aber nicht, wie
wirkt nun diese so gewonnene Bewegung auf den
Beschauer. Er stellt sich die Bewegung also nicht
als gesehen vor, sondern nur als gethan, also nur
als Ausdruck, nicht als Eindruck.“ (S. 94.)
Daher kommt es, dass eine Masse Ausdrucks¬
gesten überhaupt unbrauchbar, weil als Eindruck
unkenntlich sind. „Die Roheit des sogenannten
Realismus liegt darin, dass diese künstlerisch not¬
wendige Metamorphose nicht stattgefunden hat, und
nur an die Wahrheit der Ausdrucksgeste gedacht wird.“
Die Form, welche uns eine Bewegung zur Vorstellung
bringt, braucht gar nicht der Wirklichkeit zu ent¬
sprechen, wenn sie nur Funktionsausdruck ist. Es wird
also überhaupt nicht die Wahrnehmung dargestellt,
sondern die Vorstellung. Diese „hält das Bild des
Hundebeins in der Ruhe fest und bringt es nur in die
Lage, die wir beim Laufen wahrnehmen, schafft sich
ein klares Bild, das sowohl überall den Hund, als
auch sein Laufen festhält. Unsere Wahrnehmungen
der Bewegung werden also erst in Beziehung zu
dem Bilde gebracht, welches unsere Vorstellung von
dem Gegenstände festhält, und wir bilden uns dann
wiederum eine Vorstellung der Ruhe vom Körper in
Bewegung. Dies ist aber etwas ganz anderes als
das Bild eines oder mehrerer zusammengesetzter
Momente, wie es uns der photographische Apparat
von der Bewegung zeigt, — das momentane Wahr¬
nehmungsbild.“ (S. 91 ff.)
Die Verdienste der Momentphotographie um die
bildende Kunst liegen jedoch in dem schon erwähn¬
ten Korrigiren, zunächst unserer Wahrnehmung. Die
Wahrnehmung mancher Bewegung ist durch sie eine
andere geworden. Wie immer, so sehen wir auch
in diesem Fall neue Momente aus einer Bewegung
heraus, scheinbar analysirend, weil wir durch die
Anschauung der Aufnahmen und die Beschäftigung
mit denselben in den Stand gesetzt sind, Momente
in die Bewegung hineinzusehen, an die wir früher
gar nicht denken konnten, weil sie eben nicht sicht¬
bar waren. (Ich habe das an mir selbst konstatiren
können in Bezug auf Pferdebewegung und Vogel¬
flug.) So ist hierdurch denn auch die Vorstellung,
z. B. eines laufenden Hundes, eines springenden
Pferdes eine andere geworden, welcher sehr häufig
frühere Darstellungen nicht mehr gerecht zu werden
vermögen. — Übrigens wird bei jeder intermittiren-
den Bewegung der künstlerische Darstellungspunkt
immer zusammenfallen mit dem intermittirenden
Ruhepunkt, in welchem für unsere Vorstellung die
Resultante aller Bewegungsmomente gegeben er¬
scheint.
Wenngleich dann auch Hildebrand, S. 89, sagt:
„Es ist jedoch wohl zu bemerken, dass die starke
Gestaltung der Phantasieübertragung bei verschiede¬
nen Menschen und in verschiedenen Zeiten verschieden
ausgebildet sein kann,“ so erhellt doch aus dem
Ganzen nicht zur Genüge, dass der Funktionswert
der Form keine konstante Größe ist. Er wechselt
mit der Zeit, und es wäre interessant, dies einmal
durch die Kunstgeschichte zu verfolgen.
58
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
in.
Wir haben somit an der Hand des Hildebrand-
scben Werkes gezeigt, wie der Künstler bei seiner
Aufgabe dazu gelangt, die Raum- und Formvor¬
stellung, welche wir allein durch die Erfahrung ge¬
winnen, so für seine Darstellung nutzbar zu machen,
dass er einen Flächeneindruck schafft mit starker
Anregung zu einer Tiefenvorstellung.
Das ist aber nichts anderes, als die in der grie¬
chischen Kunst herrschende Reliefauffassung. Die¬
selbe „markirt das Verhältnis der Flächenbewegung
zur Tiefenbewegung, oder das der zwei Dimensionen
zur dritten. Sie setzt uns in ein sicheres Verhält¬
nis als Schauende zur Natur. Die allgemeinen Ge¬
setze unseres Verhältnisses zum sichtbaren Raum
werden durch sie erst in der Kunst festgehalten, und
durch sie wird die Natur erst für unsere Gesichts¬
vorstellung geschaffen.“ Durch sie ist der Künstler
gezwungen, jeden Einzelwert als Verhältniswert zu
dem allgemeinen Tiefenwert darzustellen. Und die
geheimnisvolle Wohlthat, die wir vom Kunstwerk
empfangen, beruht immer nur und allein auf der
konsequenten Durchführung dieser Reliefauffassung
unserer kubischen Eindrücke. Erst diese giebt ein
kenntliches Bild des Gegenstandes in der Fläche
und ein einheitliches Tiefenmaß für die Volumen¬
empfindung.
Bei allen Abstufungen vom Flachrelief bis zum
Hoch-, d. h. eigentlich Tiefrelief, handelt es sich in
erster Linie darum, dass die einheitliche Wirkung
der Fläche zum starken Ausdruck kommt. Mit an¬
deren Worten, es müssen so viele Höhepunkte der
Darstellung in einer Fläche liegen, dass sie den Ein¬
druck der Fläche hervorrufen. Es ist also überhaupt
nicht die Grundfläche des Reliefs die Hauptfläche,
sondern die vordere Fläche, in der sich die Höhen
der Figuren treffen. Tritt einzelnes aus dieser Haupt¬
fläche heraus, so erscheint es vor der eigentlichen
Distanzschicht unseres Sehfeldes und ist von der
allgemeinen Tiefenbewegung ausgeschlossen; es
streckt sich, von dem Gesamteindruck losgelöst, uns
entgegen und wird nicht mehr von vorn nach
hinten gelesen, ist also durchaus unkünstlerisch in
der Wirkung. Ein Fehler, der heutzutage gang und
gäbe ist.
Interessant ist, wie Hildebrand dann die Relief¬
auffassung auf die runde Darstellung der Figur über¬
trägt. Er fordert, dass die dargestellte Figur für
verschiedene Ansichten die Reliefauffassung erfülle,
sich als Relief ausdrücke, d. h., dass die verschie¬
denen Ansichten der Figur stets ein deutliches Sil¬
houettebild für die Grundzüge der Position abgeben.
Der Bildhauer soll also den ganzen materiellen
Formbestand nur in Hinsicht auf diese Forderung
verwenden. So lange eine plastische Figur sich in
erster Linie als ein Kubisches geltend macht, ist sie
noch im Anfangsstadium ihrer Gestaltung, erst wenn
sie als ein Flaches wirkt, obschon sie kubisch ist,
gewinnt sie eine künstlerische Form, d. h. eine Be¬
deutung für die Gesichtsvorstellung.
Wenn es das natürliche Erfordernis für einen
Standpunkt ist, ein klares Flächenbild des Darge¬
stellten zu erhalten, so ist es umgekehrt die natür¬
liche Folge solcher Gestaltung einer runden Figur,
dass sie den Beschauer zwingt, seinen Standpunkt
den Flächen gegenüber zu wählen. Damit bestimmt
die Anordnung der Figur den Standpunkt, aus dem
sie gesehen sein will. — es liegt natürlich in der
Komposition der Figur, wie viele Ansichten sie hat.
Ob bloß zwei, — wie es Figuren haben, welche
analog einer reinen Relieferfindung sich ausbreiten,
ob drei oder vier etc. Es handelt sich dabei stets
nur um das Maß der Energie, mit der die Figur
bestimmte Standpunkte anweist, nicht um eine not¬
wendige Anzahl. Immer aber wird sich eine Ansicht
als diejenige geltend machen, welche analog dem
Bilde oder Relief die ganze plastische Natur der
Figur als einheitlichen Flächeneindruck darstellt und
zusammenfasst. Sie bedeutet die eigentliche Gesichts¬
vorstellung, welche der plastischen Darstellung zu
Grunde liegt, die anderen Ansichten sind ihr unter¬
geordnet als notwendige Konsequenz der Haupt¬
ansicht. In der Anordnung der runden Figur zu
solcher Bilderscheinung sieht Hildebrand das Pro¬
blem des plastischen Aufbaues des Ganzen.
Es kommt also alles auf das Silhouettebild der
Hauptansicht an; was in diesem nicht vertreten ist,
geht für die Gesichtsvorstellung verloren, dasselbe
hat alle charakteristischen Merkmale für die Figur, für
ihre Stellung und Bewegung zu enthalten. Und zwar
kann, wo die Plastik auf größere Entfernung zu
wirken hat, besonders in Bronze, die Gliederung eine
freiere, losere sein, bei Skulpturen für Innenräume
kann sie kompakter gestalten, bei größerer Feinheit
und Ausarbeitung der inneren Form.
Natürlich ist es von Einfluss auf den Arbeits¬
gang, ob das Material der Vorstellungsweise des
Künstlers günstig ist oder ihr widerstrebt. Stellt
dasselbe Bedingungen, welche den Bedingungen der
Vorstellungsentwickelung entsprechen, so wirkt der
Darstellungsprozess an sich heilsam und fördernd
auf die Einheit des Vorgestellten und weist natur-
DAS PROBLEM DER FORM IN DER BILDENDEN KUNST.
59
gemäß immer auf die elementaren künstlerischen
Probleme bin. Einen solchen Darstellungsprozess
bietet das freie Herausbauen aus dem Stein. Und
nun kommt der Praktiker in Hildebrand zum Wort,
indem wir zugleich einen interessanten Einblick ge¬
winnen, wie unser Autor von der Praxis aus alle
seine theoretischen Ansichten gewann.
Wenn der Bildhauer vor dem unbehauenen
Steinblock steht, um seine Arbeit zu beginnen, so
kann er nicht von vornherein feststellen, wie und
wo für jede Ansicht die Figur im Stein zu stehen
kommt, und ein vorläufiges Zurechthauen der rohen
Gesamtform ist daher nicht möglich. Er ist daher
gezwungen, von einer einzigen Ansicht auszugehen
und die anderen als ihre notwendigen Konsequenzen
entstehen zu lassen, d. h. aber, er legt seiner ku¬
bischen oder Bewegungsvorstellung eine Gesichts¬
oder Bildvorstellung zu Grunde. Das Bild zeichnet
er nun auf die Hauptfläche des Steins und zwar so
gedacht, dass mehrere Hauptpunkte gleich in die
erste, vorderste Steinschicht fallen, wie z. B.: der
Kopf, eine Hand, ein Knie etc., je nach der Stellung.
„Indem ich dies Bild in den Stein eingrabe und so¬
wohl von der Steinfläche das außerhalb der Kon¬
turen Liegende entferne, als auch im Innern die
Form abstufe, fange ich zugleich an, hei den Formen
auf das reale Tiefenmaß, welches der runden Figur
zukommt, zu achten.“ So taucht allmählich die Figur
aus der Masse des Steins empor in der Weise, wie
dies schon Michel Angelo beschrieben: Man müsse
sich das Bild wie im Wasser liegend denken, welches
man allmählich immer mehr ablässt, so dass die
Figur immer mehr und mehr an die Oberfläche tritt,
bis sie ganz frei liegt.
Diesem Vorgang wird das Modelliren in Thon
gegenübergestellt. Da man hierbei vom Gerüst aus¬
geht, das allmählich mit Thon umkleidet wird, so
ist von vornherein kein Raumkörper vorhanden, —
er wird erst allmählich erzeugt und auch nur inso¬
weit, als die Figur ihn selber einnimmt. Der Mo¬
delleur ist also nicht gezwungen, von einer Vor¬
stellung des Gesamtraumes, den seine Figur einnimmt,
auszugehen, und es kann ihm daher passiren, dass
die einzelnen Teile derselben nicht in jener stillen
Zusammengehörigkeit zu einander stehen, welche eben
die künstlerische Form und Raumvorstellung aus¬
macht, weil sie die Figur in eine für das Auge zweck¬
mäßige, d. h. übersichtliche, leicht erkennbare Form
gebracht hat. Beim Steinarbeiten stellt der Stein
selbst immer die Raumvorstellung real hin, — der
Steinkubus zwingt zur Raumeinheit. „Man sieht aus
dem so beschriebenen Verlauf der Steinarbeit, dass
der Bildhauer dabei von einer Bildvorstellung aus¬
gehen muss und deren Formvorstellung in wirkliche
Bewegungsvorstellung umsetzt. Beim Modelliren hin¬
gegen werden in erster Linie die Bewegungsvor¬
stellungen einmal zur Darstellung gebracht, dann
erst zeigt sich, wie sie wirken als Gesichtseindruck.
Der Gesichtseindruck spielt dann nur den Kritiker,
er macht seinen Einfluss nicht schon in der Vor¬
stellung geltend.“
Hildebrand führt als denjenigen, der neben den
Griechen am rücksichtslosesten und konsequentesten
seine künstlerische Vorstellungsart mit seinem Dar¬
stellungsprozess in direkter Beziehung entwickelt
hat, Michel Angelo an. Diesem Ideal und den ent¬
wickelten Kunstgesetzen steht nun die Jetztzeit mit
ihren plastischen Werken aufs bedenklichste gegen¬
über. Es ist wie ein Notschrei, wenn der Künstler
klagt, welch unsägliche Armut, welch ewiges
Einerlei die heutigen Monumente zeigen, die ganze
Masse von Plastik, „die sich abmüht, irgend etwas
Neues zu geben und sich in dem Bann der isolirten
Rundplastik unglücklich krümmt und windet, weil
ihr jeder Anschluss an Architektur, an irgend eine
Situation verboten ist, wie in Einzelhaft, — die reine
Sträflingsarbeit!“ Die subjektive Willkür, das sog.
Geistreichthun, die persönliche Kaprice, die sich
überall breit macht, sind immer nur ein Zeichen,
dass das künstlerische Schaffen seinen natürlichen
gesunden Inhalt verloren hat. „Alle individuelle
Naturauffassung, wodurch der Kunst ein neuer Natur¬
inhalt zugeführt wird, hat nur dann einen künst¬
lerischen Wert, wenn dieser als Ausdruck eines Ge¬
setzmäßigen erfasst, eine neue Variation des Grund¬
themas darstellt.“
Alles in allem: ich halte die Untersuchungen
in „Das Problem der Form etc.“ trotz einer manch¬
mal zu Tage tretenden Einseitigkeit für das Bedeu¬
tendste, was seit langer Zeit betreffs der bildenden
Kunst gedacht und geschrieben worden ist. Ich sehe
in Hildebrand nicht nur den Plastiker, sondern auch
— eine Lehrkraft, der es gewiss mit der Zeit nicht
an noch größerer Durchsichtigkeit der Darstellung
fehlen wird. Es es sei der Wunsch ausgesprochen,
dass er bald mehr von sich hören lasse!
München.
DR. FR. CARSTANJEN.
KLEINE MITTEILUNGEN
Goeler von Ravensburg, Grundriss der Kunstgeschichte.
Ein Hilfsbuch für Studirende. Berlin, Carl Duncker. 1894.
Das in erfreulicher Weise zunehmende Interesse wei¬
terer Kreise an der Kunst und ihrer Geschichte hat in den
letzten Jahren das Erscheinen mehrerer Hilfsbücher zur Ein¬
führung in die Kunstgeschichte sowohl für Lehrende als auch
für Lernende hervorgerufen. Anton Springer’s Textbuch zu See¬
manns kunsthistorischen Bilderbogen war die vorzüglichste
Arbeit derart, ein Werk reifer Einsicht in den Entwicklungs¬
gang der künstlerischen Dinge. Indessen wendeten sich
Springer’s Grundzüge mit mehr Erfolg an vorbereitete Leser,
denn an solche, „die das Studium der Kunstgeschichte zwar
nicht fachmäßig, aber doch mit einer gewissen wissenschaft¬
lichen Gründlichkeit erst betreiben“ wollen. Für den Ge¬
brauch der Kunstschüler und Studenten setzten sie zu viel
voraus, das der Erklärung bedarf. Goeler’s von Ravensburg
Grundriss, auf Veranlassung der kgl. preußischen Unterrichts¬
verwaltung bearbeitet nach dem Diktat, das der Verfasser
seinen Zuhörern an der Berliner Kunstschule zu geben
pflegte, sucht den Bedürfnissen der Studirenden gerechter zu
werden, indem er in geschickter Systematisirung des unge¬
heuren Stoffes und in möglichst prägnanter Darstellung eine
sehr ausgiebige Summe positiven kunstgeschichtlichen Wis¬
sens darbietet. Goeler’s Darstellung behandelt in streng di¬
daktisch disponirencler Weise die allgemeine Kunstgeschichte
bis zum Ausgang des vorigen Jahrhunderts, analysirt ein¬
gehend die verschiedenen Architektursysteme und Stile, be¬
spricht nach bestimmten Rubriken die einzelnen Schulen
und ihre hauptsächlichen Meister. Das kulturgeschichtliche
Moment, das Springer so nachdrücklich betonte, wird auf
knappe Charakterisirungen der Hauptepochen beschränkt,
dafür tritt die ästhetische Etikettirung von Künstlern und
Kunstwerken mehr in den Vordergrund, als uns billig scheint.
Die vielen, gern Superlativ gebrauchten Epitheta, welche die
unausbleibliche Trockenheit systematischer Aufzählungen
von Künstlern und Kunstwerken unterbrechen, scheinen uns
denn doch eher geeignet, einem leidigen Asthetisiren Vor¬
schub zu leisten1, als das historische Urteil zu wecken und
zu festigen. Diese subjektiv gefärbte und daher oft zum
Widerspruch reizende Bewertung der Kunstwerke ist unseres
Erachtens in einem Lehrbuch, das vor allem Thatsachen,
nicht fertige Ui’teile Vorbringen soll, wenig am Platz; sie ist
der Hauptfehler dieser fleißigen Arbeit, die im übrigen gewiss
gute Dienste leisten wird. Denn, was sie vor anderen ähn¬
lichen Erscheinungen auszeichnet, ist die große Übersicht¬
lichkeit der Darstellung und der Reichtum an wohlgeord¬
netem Material. Die Ergebnisse der neueren kunstgeschicht¬
lichen Forschung sind überall mit gesundem Urteil verwertet,
'-o dass das Buch auch als verlässliches Nachschlagewerk
vielen willkommen sein wird. Um den Preis des 478 Seiten
starken Bandes nicht zu erhöhen, ist von Illustrationen ab¬
gesehen worden ; nur ein paar Grundrisse sind beigegeben.
Mit Zuhilfenahme der bekannten kunstgeschichtlichen Bilder¬
werke aus dem Seemannschen Verlag, auf die der Verfasser
hinweist, und des klassischen Bilderschatzes wird daher
Goelers neuer Grundriss am vorteilhaftesten benutzt werden
können.
Zigeunerknabe. Malerradirung von E. Klotz.. Der diesem
Hefte beigegebene radirte Studienkopf ist nicht nur wegen
seiner markigen, charakteristischen Darstellung, sondern auch
in technischer Beziehung interessant. Die einzelnen farbigen
Töne der Darstellung sind von der Hand des Druckers auf
eine Platte aufgetragen und so mit einem Drucke erzielt.
Es entspricht dies einer alten Technik, von der in dieser Zeit¬
schrift öfter, das letzte Mal in der Kunstchronik N. F. V.,
Spalte 265 die Rede war. Der Urheber des Blattes ist 1863 in
Neureudnitz-Leipzig geboren, wo er noch lebt; er empfing
die ersten künstlerischen Anregungen durch Beschauen der
Bilder Ludwig Richter’s und Moritz von Schwind’s, besonders
durch deren Holzschnitte, welche ihn auch, bevor er auch
nur halbwegs richtig sehen und zeichnen geleimt, zu Kom-
positionsvei'suchen (in stoff licher Beziehung diesen Meistern
verwandter Themata: Märchen und Sage) anspornten. Dies
geschah, als er sich noch in der Vorbereitungsklasse der
Akademie zu Leipzig befand. Mehr und mehr zog ihn
dann Defregger’s originale und edle Künstlerindividualität
an, und es ward, als endlich Ernst gemacht werden sollte,
auch dieser Meister, auf Grund eingesandter Komposi¬
tionsversuche und einiger Versuche nach der Natur, um
seinen Rat bezüglich der Kardinalfrage: „Wird es zum
Künstler ausreichen?“ ersucht. Sehr ermunternd fiel des
Meistei’s Antwort aus, und so folgte denn auch ein Studien¬
aufenthalt in München und nach diesem längeres autodidak¬
tisches Studium; hiernach ließ Frithjof Smith in Weimar dem
Künstler seine vorzüglichen Weisungen zu teil werden.
Berlin. Vom 19.— 29. d. Mts. gelangt bei J. M. Hebeide
(H. Lempertz’ Söhne) aus Köln der gesamte Kunstnachlass
der Ehrenstiftsdame Emilie von Waldenburg in Potsdam im
Auktionslokale, Französische Straße 24 I, zur Versteigerung.
Dei’selbe umfasst einerseits Gemälde, Aquarelle, Handzeich¬
nungen Kupferstiche u. s. w (354 Nummern), andererseits
Kunstsachen, Mobilien, Einrichtungsgegenstände, Porzellane,
Ai-beiten in Glas, Elfenbein, Silber und Bronze, Juwelen,
Nippsachen, Dosen, Necessaires, Flacons, Fächer, Miniaturen,
Bücher, Autographen etc. (1511 Nummern). Die Kataloge
sind soeben ei'schienen und sind zum Preise von 5 M. für
den Gemäldekatalog und von 3 M. für den Kunstkatalog von
oben genannter Firma zu beziehen.
BERICHTIGUNG.
Im Oktoberhefte ist in dem Artikel „Zwei Werke von
Mich. Pacher“ S. 26, Sp. 2, 2. Zeile von unten das sinnstöi’ende
„die“ samt dem Komma davor zu sti’eichen.
-
Herausgeber: Carl von TAitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Druck v: F. AJrockhaua ,Leip*ij§
Vrrlng v. RA.aeemram, Leipzig.
MalerradirungS vE. Klotz.
Die Taufe Christi.
Zeichnung von 1’. 1’. Ri’ijkns (?) im Louvre -/.u Paris
PETER PAUL RUBENS.
VON ADOLF ROSENBERG.
MIT ABBILDUNGEN.
III. Rubens in Italien 1600 — 100S *).
(Fortsetzung.)
BWOHL Rubens während
seiner Reise nach Spanien
hauptsächlich darüber zu
wachen hatte, dass die ihm
anvertraute Karosse , die
Pferde, Kanonen, Bilder,
Kunstgegenstände und Kost¬
barkeiten, die der Herzog
von Mantua als Geschenke für den König von Spa¬
nien, seinen ersten Minister, den Herzog von Lerma,
und andere einflussreiche Würdenträger bestimmt
hatte, wohlbehalten ankämen, ist seine Kunst nicht
dabei zu kurz gekommen. Schon dass die Wahl
seines Herrn gerade auf ihn gefallen war, spricht
dafür, dass der Herzog von Mantua besonderen Wert
darauf legte, dass die Bilder den von ihm damit
Beschenkten durch einen gewandten Interpreten in
das richtige Licht gerückt würden. Einen großen
Wert stellten die Bilder ohnehin nicht dar; denn
es handelte sich zumeist um Kopieen von Werken
italienischer Meister (Raffael wird ausdrücklich ge¬
nannt), die damals für den spanischen Hof noch
unerreichbar waren. Dann hatte Rubens auch von
seinem schönheitsdurstigen Herrn den Auftrag er¬
halten, einige der Perlen unter den Frauen, die den
Hof Philipp’s III. zierten, für seine Galerie von
Schönheiten jeglicher Art zu porträtiren. Wie not¬
wendig es war, dass gerade ein Maler und zwar
ein von Jugendkraft und Entschlossenheit erfüllter
mit dieser Sendung beauftragt worden war, sollte
sich bald herausstellen. Auf der Landreise nach
Valladolid, wo der königliche Hof damals residirte,
hatte Rubens und sein Transport während dreier
1) S. Zeitschr. für bild. Kunst. N. F. V. H. 6 u. 7.
Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. VI. H. 3.
Wochen so viel durch Stürme und Regengüsse zu
leiden, dass ein Teil der Bilder völlig verdorben
ankam. Der Mantuanische Geschäftsträger in Valla¬
dolid riet ihm, sich bei der Wiederherstellung der
Bilder von den dortigen spanischen Malern helfen
zu lassen. Aber Rubens besaß schon damals, im
Vollgefühl seiner ersten Erfolge, so viel Selbstgefühl,
dass er in einem vom 24. Mai 1603 datirten Briefe
an seinen zuverlässigsten Gönner und Beschützer
am herzoglichen Hofe in Mantua, an den Sekretär
des Herzogs, Cbieppio, schrieb, dass er sich in An¬
betracht des Umfangs der Zerstörungen an den Bil¬
dern gerne helfen lassen würde, dass er aber im
übrigen die „unglaubliche Unzulänglichkeit und
Trägheit dieser Maler“ kenne, „deren Manier übri¬
gens , was sehr wichtig ist — Gott bewahre mich,
ihr in irgend etwas ähnlich zu werden — ganz und
gar von der meinigen verschieden ist.“ J)
Wenn Rubens hier den Mund etwas zu voll nimmt,
wie es seit Menschengedenken alle jungen Künstler
zu thun pflegen, so hat diese harmlose Großtliuerei
doch den Wert, dass wir aus ihr ersehen, dass sich in
der Bildersendung auch Kopieen oder vielleicht sogar
Originale von Rubens selbst befunden haben. Um
so eher konnte er sich aus der Verlegenheit ziehen.
Zudem kam ihm ein Zufall zu Hilfe, da sich die
Rückkehr des Hofes nach Valladolid um fast zwei
Monate verzögerte. Rubens hatte nicht nur Zeit
genug, das Verdorbene wieder aufzufrischen und zu
erneuern, sondern auch zwei fast sieben Fuß hohe
und zwei Fuß breite Bilder zum Ersatz für völlig
ruinirte hinzuzumalen, die ganzen Figuren Heraklit’s
1) Ruelens, Corresponclance etc. I, p. 145. — Rosenberg,
Rubensbriefe, S. 20.
9
62
PETER PAUL RUBENS.
und Demokrit’s, des weinenden und des lachenden
Philosophen , die damals wie heute die Gedanken¬
welt der sich gern mit schwerer Weisheit brüsten¬
den Hofgesellschaft und ihres Anhangs von schar¬
wenzelnden Schöngeistern und sich wissenschaftlich
gebärdenden Charlatans beherrschten. Rubens scheint
diese Gesellschaft und ihr Kunstverständnis ganz
richtig taxirt zu haben, indem er ihr mit derben, aber
flüchtigen Pinselstrichen ohne Aufwand von gefäl¬
ligem Kolorit zwei vierschrötige Gesellen hinstellte,
die mehr durch ihre robuste Erscheinung als durch
ihr geistiges Wesen und die Eigentümlichkeit einer
tieferen Charakteristik imponirten. Es scheint sogar,
dass diese beiden Bilder, die bei ihrer Überreichung
den vollen Beifall des Herzogs von Lerma fanden,
ihren Schöpfer zu einer Fortsetzung der Reihe an¬
gespornt haben. Denn im Museum zu Madrid,
wohin die beiden philosophischen Antipoden ge¬
kommen sind, vermutlich aus königlichem Besitz,
nachdem die Güter des Herzogs von Lerma konfiszirt
worden waren, befindet sich noch ein dritter Held
altgriechischer Weisheit, Archimedes, auch eine ganze
Figur von fast derselben Größe wie Heraklit und
Demokrit.
Auch zu selbständiger schöpferischer Thätigkeit
wurde Rubens, nachdem endlich im Juli 1603 die
Geschenke an den König und den Hof überreicht
worden waren, durch den Herzog von Lerma an¬
geregt, der ihm, wie es sich für einen großen Herrn
schickt, der einen Maler mit der Sonne seiner Gunst
erwärmen will, die Ausführung eines Reiterbildnisses
seiner Person auftrug. Das war damals eine große
Sache, und Rubens ist gewiss auch mit Begeisterung
an diesen Auftrag herangegangen. Um so mehr ist
es zu beklagen, dass gerade dieses für die Jugend¬
entwickelung des Meisters ungemein wichtige Bild
nicht aufzufinden ist. ') Nach den kurzen Bemer¬
kungen derer, die es gesehen haben, als es gemalt
wurde, muss Rubens nicht bloß den Auftraggeber,
sondern auch die schärfer urteilenden Vertrauten des
Herzogs von Mantua in hohem Grade befriedigt
haben. Man möchte ihrem Urteile misstrauen, wenn
man daneben ein anderes, ebenfalls für den Herzog
von Lerma ausgeführtes Werk des jungen Künstlers,
eine ganze Bilderreihe, Christus und die zwölf Apostel,
in Betracht zieht. Mit Ausnahme des Christus, der
verloren gegangen zu sein scheint, sind die Bilder
in das Museum zu Madrid gekommen. Es sind Halb¬
figuren, und jeder der zwölf ist durch das für ihn
1) Näheres darüber bei Rooses, L’oeuvre etc. IV, p. 203.
typische Attribut gekennzeichnet. Obwohl Rubens
zu ihrer Ausführung mehr Zeit hatte, als zu den
oben erwähnten beiden Lückenbüßern, sind sie keines¬
wegs gleichmäßig durchgeführt. Nur wenige machen
ihrem Schöpfer Ehre; die meisten aber leiden an
den schweren, undurchsichtigen Schatten, die für
Rubens’ Frühzeit charakteristisch sind. Diese Bilder¬
reihe war für die katholische Welt ein dankbarer
Artikel, und Rubens versäumte nicht, seine Zeich¬
nungen dazu — es scheinen die dreizehn in der
Albertina zu Wien befindlichen zu sein — mit in
die Heimat zu nehmen. Danach ließ er später von
seinen Schülern mit wenigen Veränderungen eine
zweite Reihe malen, die er im Jahre 1618 dem Sir
Dudley Carleton zum Kauf anbot, und um dieselbe
Zeit ließ er sie von Nicolaus Ryckemans stechen,
dessen Blätter wiederum mehrfach von anderen
Stechern kopirt wurden. Der Engländer lehnte den
Kauf ab, weil er nur Originale von Rubens haben
wollte. Es scheint, dass diese Schülerwiederholung
mit den dreizehn Bildern im Kasino Rospigliosi in
Rom identisch ist. Sie haben durch die von Rubens
in dem Briefe an Carleton angekündigte Retouche
so außerordentlich gewonnen, dass ihnen der „Cice¬
rone“ das Loh spenden kann, „dass sie alle gleich¬
zeitigen Leistungen der Italiener überragen, wenn
auch hie und da noch der Einfluss des einen oder
anderen durchblickt“, und zwar ist es besonders die
Größe der Charakteristik und die „meisterliche Fär¬
bung“, die sie den Madrider Originalen überlegen
machen.
Die Frage liegt nahe, ob und inwieweit Rubens’
erste Bekanntschaft mit der spanischen Kunst einen
Einfluss auf die nächsten Jahre seiner Entwickelung
geübt habe. Da diese Frage aber unbedingt ver¬
neint werden muss, ist es auch müßig, einen Blick
auf den damaligen Stand der spanischen Malerei,
im besonderen auf die Valladolids, wo sich Rubens
am längsten aufhielt, zu werfen. Überdies geht aus
jener oben citirten Briefstelle hervor, dass die Leis¬
tungen seiner spanischen Kollegen dem jungen
Vlamen nicht sonderlich imponirten. Drängte es
ihn, dessen Kopf von großen Plänen und Ent¬
würfen angefüllt war, doch so gewaltig nach Italien,
nach Mantua zurück, dass er sogar einen Antrag
des Herzogs, auf der Heimreise einen Abstecher nach
Frankreich zu machen und dort neue Beiträge für
des Herzogs Schönheitsgalerie zu sammeln, höflich
ab wies und seinen Serenissimus bat, ihn doch mit
Aufträgen zu bedenken, die seiner ganzen künst¬
lerischen Richtung mehr entsprächen. Das tliat denn
PETER PAUL RUBENS.
63
der Herzog auch, und dass Rubens’ Abweisung keine
Missstimmung bei seinem Gebieter hervorgerufen
bat, beweisen zwei Auszüge aus nicht mehr erhal¬
tenen Rechnungsbüchern, nach denen die herzogliche
Kasse angewiesen wird, dem „Signor Pietro Paolo
Rubens, pittore fiamengo“, fortan jährlich 400 Du¬
katen in Quartalsraten und zwar vom 24. Mai 1603
an gerechnet auszuzahlen.1)
Bei der lakonischen Fassung dieser Bruchstücke
ist nicht mit Sicherheit festzustellen , oh diese 400
Dukaten das Jahrgehalt des herzoglichen Hofmalers
ausmachen oder ob sie nur bis auf weiteres für eine
besonders , umfangreiche Arbeit angewiesen waren.
Eine solche nahm Rubens, der wahrscheinlich erst
im Februar 1604 nach Mantua zurückgekehrt war2),
nämlich gerade um diese Zeit in Angriff. Es war
die erste größere Aufgabe, mit der ihn sein Herzog
betraute, und man kann sich denken, mit welcher
Begeisterung Rubens ans Werk ging, um so
mehr , als er mit der Ausführung eines gottge¬
fälligen Werkes auch den warmen Dank verbinden
konnte, den er dem Herzoge und seiner Familie
schuldete. Vincenzo Gonzaga’s Mutter, die Herzogin
Eleonore, hatte sich ihre letzte Ruhestätte in der
Jesuitenkirche zu Mantua ausgesucht, und um sie
und den allmächtigen Orden der Väter von der Ge¬
sellschaft Jesu zugleich zu ehren, hatte ihr Sohn
die Stiftung eines Altarbildes im großen Stile, eines
Triptychons, beschlossen, dessen Grundthema die
Anbetung der heiligen Dreieinigkeit, der Schutz¬
patronin der Kirche, durch die Familie Gonzaga
bilden sollte. Wie dieses Werk, das größte und ge¬
nialste, das Rubens in Italien geschaffen, an seinem
Bestimmungsorte ausgesehen hat, müssen wir uns
aus der Handschrift eines Jesuitenpaters, Namens
Garzoni, rekonstruiren, der das Altarwerk noch in
seinem alten Glanze kennen gelernt und Zeuge ge¬
wesen ist, wie die kunstverständigen Fremden, die
nach Mantua kamen, das Bild zu sehen verlangten
und bei seinem Anblick „wahrhaft bestürzt vor Er¬
staunen“ wurden. Nach der Schilderung Garzoni’s
stellte das Mittelbild die Anbetung der heiligen Drei¬
einigkeit durch Vincenzo Gonzaga und seine Ge¬
mahlin, seine Eltern und seine sämtlichen Kinder
dar. Auch waren in der Umgebung ein herzoglicher
Leibgardist, dem Rubens seine eigenen Züge gegeben
hatte, und ein hochbeiniger Windhund zu sehen.
1) S. Ruelens, Correspondance de Rubens J, p. 242.
2) Die für dieses Datum sprechenden Gründe hat Rue¬
lens (Correspondance de Rubens I, p. 240) zusammengestellt.
Das Bild auf der Evangelienseite des Altars stellte
die Taufe Christi, das auf der Epistelseite die Trans¬
figuration Christi dar. Keinem Werke des Meisters
ist so Übles widerfahren wie diesem. Als die Fran¬
zosen 1797 Mantua einnahmen, verwandelten sie nach
ihrer Gewohnheit die Jesuitenkirche in ein Fourage-
magazin, und was nicht sofort an Kunstwerken ge¬
raubt wurde, ging durch die Ausdünstungen des
aufgestapelten Heues zu Grunde oder wurde von
roher Hand zerstört. Ein französischer Kommissar
machte sich an das Mittelbild und ließ es in mehrere
Stücke zerschneiden, um es leichter fortzubringen.
Aber sein Raub wurde ihm durch den Einspruch
der mantuanischen Akademie entrissen. Man erhielt
jedoch nur zwei Stücke wieder, den oberen und den
unteren Teil, die getrennt in dem großen Saale der
Bibliothek zu Mantua aufgehängt worden sind. Die
Dreieinigkeit mit den sie umgebenden Engeln Hat
zwar ebenso gelitten, wie die Bildnisse der Andäch¬
tigen; aber es scheint, dass sie von vornherein mit
Absicht etwas flüchtig und nebensächlich behandelt
worden war, damit die Bildnisse der auf der Erde
gebietenden Herren zu desto besserer Geltung kä¬
men. Eben dieser Teil ist nicht mehr vollständig;.
Man vermisst nicht nur die Söhne und Töchter des
Herzogs, sondern auch, was schmerzlicher ist, die
Figuren des Gardisten und des Windhundes. Als
der Maler Pelizza beauftragt wurde, die Stücke wie¬
der einigermaßen in stand zu bringen, hat er die
fehlenden Partieen durch Draperieen ersetzt. Trotz
dieser Unbilden ist aber, wenn man von der noch
etwas kalten bräunlichen Färbung absieht, die Bild¬
nisgruppe durch die Energie der Charakteristik und
den Ausdruck tiefer Andacht in den Köpfen der
beiden knieenden Paare von großartiger Wirkung.1)
Rooses trägt kein Bedenken, dieses Bild nächst
dem heiligen Gregorius, auf den wir bald zu sprechen
kommen, für das schönste unter den in Italien ent¬
standenen Werken des Meisters zu erklären. Von
irgend einer Einwirkung der spanischen Reise ist
keine Spur zu erkennen; wohl aber macht sich so¬
wohl in der Dreifaltigkeit, besonders in den stark
bewegten Gestalten der großen Engel, die eine aus¬
gespannte Draperie halten, vor der Gott Vater, der
Heiland und die Taube des heiligen Geistes gleich¬
sam wie eine himmlische Vision erscheinen, als auch
in den vier gar majestätisch anzuschauenden Bild-
1) Die Leser der „Zeitschrift“ haben die Komposition
beider Teile des Bildes durch zwei im Jahrgang 1887 (zu
S. 347) veröffentlichte Radirungen von F. Böttcher kennen
gelernt.
9*
64
PETER PAUL RUBENS.
nisfiguren der Einfluss Tintoretto’s geltend, mit dem
Rubens an berauschender Prachtentfaltung zu wett¬
eifern suchte.
Dieser Wetteifer mit den Heroen der italieni¬
schen Kunst beschränkt sich aber keineswegs auf
Äußerlichkeiten des Kolorits, der Charakteristik und
der Inscenirung. Rubens nahm sein Gut, wo er es
fand, ohne sich im mindesten um den uns modernen
Menschen völlig in Fleisch und Blut übergegange¬
nen Rechtsbegriff des geistigen Eigentums zu küm¬
mern. Wohl wurde auch damals schon von eifer¬
süchtigen Malern auf die Plagiatoren mit Fingern
gewiesen, aber meist nur dann, wenn sie in ihrer
Abschrift — natürlich nach der Anschauung der
damaligen Zeit — hinter den Vorbildern zurück¬
geblieben waren. Traute sich doch jeder von den
jugendlichen Stürmern, die nach Italien gekommen
waren, um mit gierigen Zügen eine Welt von neuer
Kunst einzuschlürfen, in seinem naiven Selbstbewusst¬
sein die Fähigkeit und die Kraft zu, eine von Raf¬
fael, Michelangelo oder Tizian entlehnte Figur oder
Figuren Verbindung, ein Motiv , der Komposition oder
gar eine ganze Komposition völlig neu zu gestalten
und obendrein noch viel besser zu machen, als es die
solcher Art Ausgeraubten vermocht hatten. Eine
der wenigen unanfechtbaren Lehren der Kunst¬
geschichte ist eben die, dass jede neue Künstlergene¬
ration die zuletzt voraufgegangene mit unendlicher
Verachtung bestraft und ibr bei jeder Gelegenheit
zu zeigen gesucht hat, wie es besser zu machen wäre.
Der junge Rubens wird in seinem ohnehin starken
Selbstgefühl, das sich schon sehr deutlich in dem
Briefe aus Valladolid zu erkennen giebt, worin er
so abfällig über die spanischen Maler urteilt, keine
Ausnahme gemacht Italien, und darum trug er auch
kein Bedenken, alles, was er den Klassikern abge¬
sehen und nachgezeichnet hatte, je nach Bedarf zu
verwenden.1) Das hat er auch in den beiden figu¬
renreichen Bildern gethan, die in der Jesuiten¬
kirche zu Mantua zu beiden Seiten der Anbetung
der heiligen Dreifaltigkeit aufgestellt waren. Obwohl
sie nicht wie diese zerschnitten wurden, hat ihnen
das Schicksal noch übler mitgespielt. Sie wurden
beide 1707 von den französischen Kunsträubern ent¬
führt. Aber nur das eine scheint wirklich an die
Regierung abgeliefert worden zu sein, die Transfigu¬
ration Christi, die sich schon 1801 im Museum zu
1 Ein«' große Anzahl solcher Entlehnungen führt Edgar
JJars in einer Abhandlung ,,Le sejour de Rubens et de van
J)yck en Habe“ (im XXVIII. Bande der Memoires der Aka¬
demie der Wissenschaften in Brüssel), S. 25 ff. an.
Nancy befand, das sie noch heute besitzt. Dort ist
sie bis vor nicht langer Zeit unter dem Namen des
Deodat Delmonte gegangen, der Rubens auf seiner
Reise nach Italien begleitet haben soll, obwohl sie
schon in den Notizen, die den aus Italien entführten
Kunstwerken beigegeben waren, als ein Werk von
Rubens, das aus Mantua stammte, bezeichnet worden
war.1) In dem Fouragemagazin hatte es so schwer
gelitten, dass am unteren Rande ein 15 cm breiter
Streifen der Leinwand, der in Fetzen zerrissen war,
ersetzt werden musste, und auch im übrigen ist es
so stark restaurirt, dass man nur im allgemeinen
den ursprünglichen, auf eine dunkle Skala gestimm¬
ten Gesamtton erkennen kann. Nach der genauen
Untersuchung des Bildes, die Charles Cournault, der
Berichterstatter der „Chronique des Arts“, angestellt
hat, treten aus dem Dunkel grüne, rote und blaue
Lokalfarben hervor, die er als „durchaus venezia¬
nisch“ in Anspruch nimmt. Das entspräche ganz
der Reihenfolge der Eindrücke, die Rubens bis 1604
verarbeitet hatte. Der erste Eindruck, das jubili-
rende Farbenkonzert der Venezianer, ist der stärkste
geblieben, und dann kam über ihn die gewaltige
Macht des aus dem Vollen seine Gottmenschen her¬
ausholenden Michelangelo und die kluge Überlegung
des RafFael’s römischer Zeit. Aus diesen drei Weis¬
heiten ist die „Transfiguration“ zusammengesetzt:
von Raffael hat Rubens einige Figuren entnommen,
die besonders schön und kühn bewegt sind, von
Michelangelo den großen Zug in der Charakteristik
und Gewandung der Apostel und von Veronese und
Tintoretto das feurige Kolorit, das er jedoch durch
einen Zusatz von Caravaggio auf einen für ein An¬
dachtsbild passenden Ernst herabzustimmen suchte.
Noch stärker sind die Anleihen, die Rubens bei
dem zweiten Seitenbilde, der Taufe Christi, gemacht
hat. Auch dieses Bild wurde 1797 aus der Kirche
entführt; aber es scheint nicht in die Hände der
mit der Verteilung der geraubten Kunstschätze be¬
trauten Behörden in Frankreich gekommen zu sein.
Erst um 1840 taucht es im Besitze des Genter Kunst¬
sammlers Schamp d’Aveschoot auf, und nachdem es
von diesem verkauft worden, wechselte es noch meli-
reremal den Besitzer, bis es 1876 als Vermächtnis
eines Herrn Joseph de Born an das Museum zu Ant¬
werpen kam. Es ist das einzige, sicher bezeugte
Jugend werk des Meisters, das die Stadt, die auf sei-
1) Näheres in der Chronique des Arts 1882, Nr. 38 und
39. Der erste, der dieses Bild Rubens zurückgegeben hat,
war Alexander Pinchart in einem Artikel des Bulletin des
commissions royales d’art etc. vom Jahre 18G8.
Der heilige Gregor und andere Heiligen. Altarbild von P. P. Rubens im Museum zu Grenoble,
66
PETER PAUL RUBENS.
nen Namen so stolz ist, besitzt. Der Zustand des
Bildes ist fast noch trauriger, als der der beiden
anderen. Eine Zeitlaug sträubte man sich sogar,
an seine Echtheit und an seine Identität mit dem ver¬
schollenen Bilde aus Mantua zu glauben, weil unter
der schwarzbraunen Sauce, in die das Gemälde er¬
tränkt ist, niemand eine Spur von Rubens’ Hand
zu erkennen vermochte, ln der That wird auch
infolge der starken Übermalungen und einer im
Jahre 1840 unternommenen Rentoilirung nicht viel
mehr von Rubens auf der Leinwand vorhanden sein.
Wir werden aber, was die Komposition betrifft, ei¬
nigermaßen durch ein kostbares Dokument entschä¬
digt, das der Louvre in einer Zeichnung besitzt.1)
Da sie sich, wenn ihr Ursprung auch nicht über
jeden Zweifel erhaben ist, für eine Reproduktion
besser eignet, als das Gemälde, führen wir sie un¬
seren Lesern vor Augen (siehe die Abbildung).
Sie ist zugleich das am meisten charakteristische
Beispiel für die Abhängigkeit von den italienischen
Großmeistern des 16. Jahrhunderts, in der sich Ru¬
bens um diese Zeit befand. Man hatte sie von jeher
für eine eigenhändige Arbeit von Rubens gehalten,
bis die neuere Kritik darin eine Vorlage für einen
nicht ausgeführten Kupferstich erkennen wollte, wo¬
bei die Kritik noch zwischen dem Kupferstecher
Vorsterman und dem jungen van Dyck schwankte,
der nicht bloß diese, sondern auch andere im Louvre
vorhandene Zeichnungen, die von Vorsterman und
anderen gestochen worden sind, nach Gemälden von
Rubens ausgeführt haben soll. Da wir aus der in
.Betracht kommenden Zeit (etwa 1618 — 1620) weder
von Vorsterman noch von van Dyck beglaubigte
Zeichnungen besitzen, musste sich jene Kritik haupt¬
sächlich auf den Umstand stützen, dass die Zeich¬
nung durch horizontale und vertikale Linien in Qua¬
drate eingeteilt worden ist, die angeblich die Über¬
tragung der Zeichnung auf die Kupferplatte er¬
leichtern sollten. Nun handelt es sich aber hier um
die vermeintliche Vorlage zu einem nicht ausgeführ¬
ten Kupferstich, während gerade die Zeichnungen
im Louvre, nach denen Lucas Vorsterman und andere
gestochen haben , nicht quadrirt sind. In späterer
Zeit wurden von Rubens und van Dyck den Kupfer¬
stechern sogar in Ol gemalte Grisaillen geliefert, weil
man ihnen genug künstlerisches Empfinden zutraute,
um die Vorlagen auch ohne die Eselsbrücke der
Quadrirung auf die Platten zu bringen. Ganz anders
liegt die Sache, wenn man bei der alten Annahme
1) Nr. 048 des Katalogs von F. Reiset.
bleibt, dass die Zeichnung von Rubens selbst in Ita¬
lien ausgeführt worden ist und dass er sie in Qua¬
drate einteilte, um sich oder Gehilfen, deren er bei
seiner Massenproduktion vielleicht schon damals be¬
durfte, die Übertragung auf die Leinwand zu er¬
leichtern. Wenn Rubens als reifer Mann diese Zeich¬
nung nach einem Jugendbilde hätte vervielfältigen
lassen, hätte er, der sonst so kritisch gegen seine
Jugendbilder gestimmt war, sicherlich den Figuren
den starken Accent seines Selbstbewusstseins, seiner
ganz anders gewordenen Gestaltungskraft mitge¬
geben. In der Zeichnung, die vor uns liegt, sieht
man aber nur den sammelnden Anfänger, der aus
seinen Studien nach Raffael, Michelangelo, Leonardo
und anderen etwas zusammengebracht hat, wovon er
gewiss selber glaubte, dass er alle Tugenden jener
Meister auf einer Leinwand eingefangen hätte. Die
Männer, die auf der rechten Seite des Bildes be¬
flissen sind, sich ihrer Kleider zu entledigen, er¬
innern auf den ersten Blick an Michelangelo’s be¬
rühmten Karton zur Darstellung der Schlacht bei
Cascina1), an die sogenannten „badenden Soldaten“,
nur mit dem Unterschiede, dass sich diese, die von
den Pisanischen Gegnern plötzlich beim Baden im
Arno überfallen werden, in aller Hast ankleiden,
während sich Rubens’ Täuflinge mit gleichem, durch
die Beredsamkeit des Predigers entflammten Eifer
auskleiden. Einer der Hastigsten, der Äußerste im
Vordergründe rechts, zeigt dabei eine Wut in dem
Ausdruck des verkniffenen Gesichts, dass man an
die bekannten, zu Rubens’ Zeit noch mehr als heute
verbreiteten Charakterköpfe Leonardo da Vinci’s er¬
innert wird. Die Taufe Christi auf der linken Hälfte
des Bildes steht ersichtlich unter dem Einfluss eines
denselben Gegenstand darstellenden Bibelbildes Raf-
fael’s in den Loggien des Vatikans. So ist die
Zeichnung ganz und gar aus Studienblättern zusam¬
mengesetzt, und wenn sie einige Abweichungen von
dem ausgeführten Bilde zeigt, unter denen die be¬
deutendste die ist, dass der sich an den Baum leh¬
nen Je junge Mann auf dem Bilde fehlt, so trägt
gerade dieser Jüngling ein so spezifisch italienisches
Gepräge, — man denkt auch hier an Raffael — dass
gerade um seinetwillen eine Entstehung der Zeich¬
nung in späterer Zeit abzuweisen ist. Dass Rubens
während der Ausführung seiner Gemälde von seinen
1) Rooses, L’oeuvre de P. P. Rubens II, pag. 4, spricht
von Michelangelo’s Schlacht bei Anghiari. Dass der Karton
Michelangelo’s eine Episode aus der Schlacht hei Cascina
darstellt, hat Thausing in dieser Zeitschrift (1878, S. 107 ff.)
nachgewiesen.
PETER PAUL RUBENS.
67
Entwürfen nnd Zeichnungen abwich, ist eine so häu¬
fige Erscheinung, dass die Kritik aus dem Fehlen
dieser und jener Figur keine entscheidenden Schlüsse
zu ziehen berechtigt ist.
Noch ein anderer Umstand spricht dafür, dass
die Zeichnung in Italien entstanden ist. Sie stimmt
nämlich in der Technik wie in dem angewandten
Material (schwarze Kreide) fast genau mit einer
zweiten überein, deren Echtheit ebensowenig an¬
fechtbar ist, wie der Ort und die Zeit ihrer Ent¬
stehung. Damit kommen wir auf das dritte der
großen Altarwerke, die Rubens in Italien ausge¬
führt hat. Nachdem er noch bis Ende 1605 in
Mantua geweilt hatte, zog es ihn wieder nach Rom,
wo er inmitten des beständigen Zusammenflusses von
stammverwandten Künstlern aus dem Norden einen
viel anregenderen Verkehr hatte, als in dem kleinen
Mantua, wo ihn später auch die Anwesenheit seines
Bruders fesselte, und wo er bald auch einen großen
Auftrag erhielt, der ihn fast zwei Jahre lang be¬
schäftigte, allerdings mit Unterbrechungen, die
durch Reisen im Aufträge seines Herrn bedingt
waren. Diese Reisen und das sonstige Schaffen
des Meisters wollen wir im nächsten Abschnitt
unserer Schilderung zusammenfassen, da bei dem
beständigen Hin und Her zwischen Rom, Mantua
und anderen italienischen Städten und bei der Schwie¬
rigkeit, die große Zahl der von Rubens in Italien
gemalten Bilder auf bestimmte Jahre zu vertei¬
len, eine streng chronologische Darstellung unmög¬
lich ist.
Das Altarbild war bei ihm von der Geistlichkeit
einer Kirche bestellt worden, die von 1575 — 1599
auf dem Boden eines abgebrochenen, unter dem
Namen Santa Maria in Vallicella bekannten Gottes¬
hauses erbaut worden war und darum im Volks¬
munde den Namen „Chiesa nuova“ erhalten hatte.
In der alten Kirche wurde ein Gnadenbild der
Madonna verehrt, das, wie viele seinesgleichen,
auf den heiligen Lukas, den ersten der Madonnen¬
maler, zurückgeführt wurde. Dieses alte Bild sollte
oben in die Komposition des für den Hochaltar be¬
stimmten Bildes eingelassen werden, und unten soll¬
ten die Schutzheiligen der Kirche, in erster Linie
der kanonisirte Papst Gregor und dann einige Mär¬
tyrer und Märtyrerinnen, deren Gebeine in der Kirche
auf bewahrt wurden, in Verehrung des wunderthäti-
gen Bildes erscheinen. Mit großem Eifer warf
sich Rubens auf diese Aufgabe; er machte flei¬
ßige Studien und Kompositionsversuche, und als das
Bild endlich ganz unter römischem Himmel voll¬
endet war, da der Herzog von Mantua seinem Hof¬
maler mit der Langmut eines wirklich großherzigen
Mannes den Urlaub immer wieder verlängerte, stellte
es sich heraus, dass das in Ol auf Leinwand gemalte
Bild für seinen Bestimmungsort, den Hochaltar der
Chiesa nuova, ganz und gar nicht passte, weil die
Beleuchtung so schlecht und die Reflexe so stark
waren, dass der aufgewendete Fleiß nicht zur Geltung
kam. Der Konflikt zwischen dem künstlerischen
Bewusstsein des Malers und dem billigen Verlangen
seiner Auftraggeber wurde am Ende so gelöst, dass
Rubens sich im Anfang des Jahres 1608 dazu ent¬
schloss, die Komposition auf drei Bilder zu ver¬
teilen. Das alte Gnadenbild kam auf den Hochaltar.
Dafür hatte Rubens nur eine Art Einfassung zu
malen, die er so gestaltete, dass das von einem gol¬
denen Rahmen umschlossene Madonnenbild schein¬
bar von dreizehn Engeln getragen wurde, und unter¬
halb des Bildes gruppirte er noch zwei Halbkreise
von größeren und kleineren Engeln, die zu der Ma¬
donna emporblicken. Eine Federzeichnung, vermut¬
lich der erste Entwurf zu dieser Komposition, be¬
findet sich in der Albertina zu Wien, und eine sehr
fleißig durchgeführte Kreidezeichnung zu der oberen
Hälfte (s. die Abbildung auf S. 68) besitzt das Mu¬
seum zu Grenoble. Die auf der ersten Fassung des
Bildes unterhalb der Madonna stehenden sechs Hei¬
ligen verwies Rubens auf zwei besondere Bilder, die
rechts und links vom Hochaltar, im Chor aufgestellt
wurden : auf das Bild zur Linken den Papst Gregor
und die beiden römischen, als Märtyrer gestorbenen
Soldaten St. Maurus und St. Papianus, auf das Bild
zur Rechten die heilige Domitilla nnd die Heiligen
Nereus und Achilleus. Obwohl diese drei auf Schie¬
fer gemalten Bilder eine von der ersten Fassung
völlig abweichende Komposition zeigen, — nur die
Gestalt des heiligen Gregor ist im großen und ganzen
unverändert geblieben — konnte Rubens schon am
28. Oktober 1608 seinem Herzoge anzeigen, dass die
Bilder vollendet seien, und er scheint sich auf die
schnelle Arbeit noch etwas zu gute gethan zu haben,
da er beiläufig bemerkt, dass diese drei Bilder, wenn
er sich nicht täusche, das am wenigsten schlecht
Gelungene von seiner Hand seien. Freilich waren
sie noch nicht enthüllt, weil die marmornen Ein¬
fassungen noch nicht fertig waren, und da Rubens
durch die Nachricht von der schweren Erkrankung
seiner Mutter zu schleuniger Abreise gedrängt wurde,
hat er sie niemals in ihrer Gesamtwirkung zu Ge¬
sicht bekommen.
Seine Zeitgenossen, wenigstens die, welche dieFeder
68
PETER PAUL RUBENS.
führten, scheinen von den Bildern nicht so erbaut
gewesen zu sein, wie Rubens selbst. Baglione sagt
von dem ersten Gemälde, dass die Putten, die das
Bild der Madonna bekränzen, „sehr schön“ seien,
und dass das Ganze ein „sehr gutes Bild“ (assai
buon quadro) sei, eine nichtssagende Phrase, die er
auch bei den drei später aufgestellten Bildern an-
und in der Art des Paul Veronese ausgeführt seien,
und Sandrart scheint das Mittelbild, die Madonna
mit den Engeln, ganz und gar übersehen oder doch
nicht für ein Werk von Rubens gehalten zu haben,
da er nur von zwei neben dem Hochaltar in der
Chiesa nuova aufgestellten Bildern spricht: „Das
eine mit stehenden Heiligen, das andere aber mit
Madonnenbild mit Engeln. Zeichnung von P. P. Rubens im Museum zu Grenoble.
wendet.1) Bellori sagt, dass sie nach dem Vorbilde
lj Nachdem Baglione in den Vite de' Pittori etc. (Nea¬
peler Ausgabe von 1733, p. 246) die erste Gestalt des Bildes
flüchtig beschrieben, widmet er dem Mittelbilde der zweiten
Fassung des Altarwerkes folgende Worte: „Onde-poi sopra
l’altare maggiore vi figurö una Madonna col tigliulo in
braccio, la quäle si leva, quando corrono le feste principale,
.«ccioche si velo l’altro immagine antica miracolosa della
den Heiliginnen erfüllt, alles in Lebensgröße.“ Noch
weniger konnte sich die moderne Kritik mit diesen
B. Vergine, che qui vi si conserva; e sonvi intorno diversi
puttini e da basso alcuni Angeli in ginocchione, che adorano
il SS. Sacramento e riverescono la B. Vergine.“ Daraus geht
also hervor, dass das alte Gnadenbild nur an hohen Fest¬
tagen gezeigt wurde, sonst aber durch ein anderes, vermut¬
lich auch von Rubens gemaltes Madonnenbild verdeckt war.
PETER PAUL RUBENS.
69
Bildern, denen man die Hast ihrer Ausführung in
jedem Pinselstriche anmerkt, befreunden. Rooses
sagt von dem Bilde des Hochaltars, dass man „kaum
Rubens’ Hand darin zu erkennen vermöge“, und von
den beiden Seitenbildern, dass das Kolorit wohl an
die Venezianer erinnerte, dass sie aber nicht die
Nachahmung eines bestimmten Meisters verrieten
und im übrigen keine besonders stark ausgespro¬
chene Originalität besäßen. Ungünstiger noch ist
das Urteil des „Cicerone“: „Der Einfluss, den die
Antike in Rom auf den Künstler ausübte, bekundet
sich hier in wenig glücklicher Weise in den kolos¬
salen Gestalten der Heiligen.“
Ein wirkliches, durch und durch erfreuliches
Meisterwerk hat Rubens dagegen in dem ersten, für
den Hochaltar der Chiesa nuova bestimmten Bilde
geschaffen. Freilich ist es zweifelhaft, ob es in der
Gestalt, in der wir es heute vor uns sehen, als ein
Erzeugnis seiner letzten italienischen Jahre anzu¬
sehen ist. Nachdem sich Rubens entschlossen hatte,
das vollendete Werk zurückzuziehen und dafür drei
neue zu malen, bot er ersteres seinem Herzoge zum
Kaufe an. Er wandte dabei seine ganze Beredsam¬
keit auf und suchte mit seinem ihm angeborenen
kaufmännischen Sinn, der sich im Laufe der Jahre
zu immer größerem Raffinement entwickelte, dem
Herzoge das Angebot möglichst verlockend zu
machen. Er schrieb ihm von der Pracht des Gegen¬
standes, von der Herrlichkeit und Mannigfaltigkeit
der Figuren junger Männer und Frauen und von
dem Prunk ihrer Gewänder. „Und obwohl alle Hei¬
lige sind, haben sie doch kein besonderes Abzeichen
oder Attribut, so dass sie auch für andere Heilige
von ähnlicher Art gelten könnten. Im ganzen bin
ich sicher, dass Eure Hoheiten, wenn Sie das Bild
gesehen haben werden, davon ebenso vollkommen
befriedigt sein werden, wie die unendliche Zahl von
Personen, die es in Rom gesehen haben.“ Trotzdem,
dass Rubens den Preis noch seinem Herzog anheim¬
stellte, hat sich dieser nicht zu dem Ankauf des
Bildes verstanden, weil seine Neigung als Privat¬
sammler ihren Schwerpunkt auf einem anderen Ge¬
biete fand. Rubens musste das Bild, als ihn die
Nachricht von der tödtlichen Erkrankung seiner
Mutter aus Rom so schnell abrief, dass er den letz¬
ten Brief an den Herzog „im Begriff, zu Pferde zu
steigen“ schreiben musste, mit nach Hause nehmen.
Als er dann die Verpflichtung fühlte, das Andenken
seiner Mutter durch ein künstlerisches Mal von seiner
Hand zu ehren, fiel seine Wahl auf das aus Italien
heimgebrachte Bild, und er stiftete es für den Altar
Zeitschrift für bildende Kunst. N. P. VI. H. 3.
des heiligen Sakraments in der Abtei St. Michael
in Antwerpen, in dessen Nähe seine Mutter bei¬
gesetzt worden war. Auch der Hochaltar in der
Chiesa nuova war, wie aus der Beschreibung Bag-
lione’s hervorzugehen scheint, dem heiligen Sakra¬
ment geweiht. Zur Zeit, wo Rubens dieses Bild
stiftete, war er bereits in jenem Umwandlungsprozess
begriffen, der ihn von dem schweren, bräunlichen
Schatten der späteren Italiener zu einer farbigeren
Auffassung und zu einer freigebigeren Lichtspendung
auf Grund eines warmen, goldigen Tones führte.
Es ist darum sehr wahrscheinlich, dass die warme
Beleuchtung, durch die vornehmlich die beiden Pracht¬
gestalten des Papstes Gregor und der heiligen Domi-
tilla von dem dunklen Hintergründe losgelöst und
plastisch hervorgehoben werden, und die kraftvolle
Einheitlichkeit des Gesamttones auf Übermalungen
und Retouchen zurückzuführen sind, die Rubens un¬
mittelbar vor der 1610 erfolgten Aufstellung des
Gemäldes vorgenommen hat. Immerhin darf es uns,
wenigstens was die Komposition , die Majestät der
beiden Hauptfiguren Gregor und Domitilla und das
Rubens’sclie Lieblingsmotiv, die eine Guirlande um
das Madonnenbild schlingenden Engel, anbetrifft,
nicht nur als Rubens’ Hauptwerk aus seiner italie¬
nischen Zeit, sondern überhaupt als eines seiner an¬
ziehendsten und liebenswürdigsten Werke gelten.
Leider ist es nicht der Stätte erhalten geblieben,
für die es kindliche Pietät geweiht hatte. Im Jahre
1794 wurde es von den Franzosen nach Paris ent¬
führt und durch kaiserliches Dekret vom 15. Februar
1811 dem Museum zu Grenoble überwiesen, dessen
schönste Zier es heute bildet. „Es ist der empfind¬
lichste Verlust“, sagt Rooses in seinem Rubenswerk,
„den Antwerpen an Gemälden von Rubens infolge
des Einfalls der Franzosen erlitten hat. Man darf
erstaunt sein, dass die Verwaltung des Louvre nicht
eifersüchtiger darauf bestanden hat, dieses Meister¬
werk dem Museum der Hauptstadt zu erhalten.
Dieser Laune verdanken wir den Verlust des Ge¬
mäldes, welches mit den anderen Werken des Mei¬
sters zu uns zurückgekehrt sein würde, wenn es in
Paris geblieben wäre.“ So hat es mit einer nicht
geringen Anzahl von Kunstgegenständen, die aus
Italien und Deutschland geraubt worden sind, das
Los geteilt, in einem französischen Provinzialmuseum
vergessen zu werden. Durch welchen Zufall der
Entwurf zu der oberen Hälfte des später ausgeführ¬
ten Mittelbildes ebenfalls in das Museum zu Grenoble
gekommen ist, kann nicht mehr ermittelt werden.
Unser Holzschnitt (s. die Abbildung S. 65) über-
10
70
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
liebt uns einer weiteren Beschreibung der Kompo¬
sition, die auch in ihrer schlichten Wiedergabe die
Hoheit der Auffassung, die das ganze Bild durch¬
dringt, widerspiegelt und etwas von der Pracht
des Kolorits ahnen lässt.1) In den beiden Haupt¬
figuren ist Rubens freilich auch hier noch von den
Venezianern, in der Figur des heiligen Maurus im
Vordergründe links sogar von Correggio abhängig.2)
1) Da eine im Besitze des Verf. befindliche Original¬
photographie für eine Reproduktion zu undeutlich ist, haben
wir den Holzschnitt nach einer Lithographie von Lemercier
anfertigen lassen, die, wie sich aus dem Vergleich mit der
Photographie erkennen lässt, das Gemälde mit außerordent¬
licher Treue wiedergiebt.
2) Rooses (L’oeuvre II, p. 274) macht darauf aufmerk -
Aber in den köstlichen Engelsbübchen, die in kind¬
lichem Spiel die Guirlande um das Madonnenbild
schlingen, ist er schon ganz er selbst. Welch mäch¬
tiger Aufschwung von den Engelsfiguren auf dem
Jugendbilde der Verkündigung in der Wiener Galerie
(s. o. S. 133) zu dieser schon echt Rubens’schen For¬
mensprache, die aber erst etwa zehn Jahre später
in dem berühmten Engelkranze der Münchener Pina¬
kothek ihren edelsten Wohllaut fand.
sam , dass der heil. Maurus dem heil. Georg auf dem be¬
kannten Bilde Correggio’s in der Dresdener Galerie nach¬
gebildet worden ist. Eine von Rubens ausgeführte Zeich¬
nung nach diesem Bilde, das sich bis 1649 in der Kirche
San Pietro Martire in Modena befand, besitzt die Albertina
zu Wien.
ALTE KUNSTWERKE
IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
VON W. BODE.
(Schluss.)
IE Privatsammlungen in den
Vereinigten Staaten sind den
öffentlichen Sammlungen fast
nach allen Richtungen —
von Nachbildungen abge¬
sehen — entschieden über¬
legen; sind doch die letz¬
teren auch fast ausschließlich
aus der Opferwilligkeit der Privatleute und insbeson¬
dere der Privatsammler entstanden. Fast alle diese
Sammlungen datiren erst aus jüngster Zeit; dass eine
bedeutende Sammlung in zweiter Hand sich noch er¬
hält, ist beinahe die Ausnahme, da es löbliche Regel
ist, dass dieselbe beim Tode des Sammlers an die
öffentlichen Museen überwiesen wird oder anderenfalls
zur Versteigerung kommt. Im allgemeinen gilt von
diesen Sammlungen, wie von den öffentlichen, dass
sie, je jünger, um so gewählter sind. Eine glän¬
zende Ausnahme machen die Sammlungen eines
Mannes , der schon seit fast vierzig Jahren ganz
unabhängig, nur nach seinem Geschmack und aus¬
schließlich zur Befriedigung seines Kunstgenusses
gesammelt hat, wo Zeit und Ort ihm die Gelegen¬
heit boten, Mr. Quincy A. Shaw in Boston. Ob¬
gleich Mr. Shaw nach amerikanischen Verhält¬
nissen nur mäßige Summen auf seine Kunstwerke
verwendet hat, obgleich er nie nach großen Namen
gekauft hat, verdient seine Sammlung als Ganzes
meines Erachtens doch die bedeutendste Privatsamm¬
lung in den Vereinigten Staaten genannt zu werden.
Seine japanischen Kunstwerke: die Lackarbeiten,
Stichblätter, Messergriffe, Fayencen, Kakemono, Netz-
kis, sowie die altitalienischen Skulpturen, seine Gemäl¬
de von alten Meistern wie die französischen Bilder der
Schule von Barbizon sind fast ausnahmslos mit dem
reinsten, völlig geläuterten Kunstgeschmack gewählt.
Ich habe erst hier in dem bescheidenen Hause in
Jamaica Plans in der herrlichen landschaftlichen
Umgebung einen vollen Begriff davon bekommen,
was das „paysage intime“ in Frankreich zu leisten im
stände war: von Corot, Rousseau, Troyon sind von
jedem eine Anzahl ihrer Meisterwerke vorhanden; von
Daubigny nur ein Bild, aber wohl das schönste, das
er gemalt hat; von J. Fr. Millet besitzt Mr. Shaw
eine solche Fülle von Ölgemälden, Pastellen und
durchgeführten Zeichnungen (nahezu 100), wie sie
sämtliche Museen und Privatsammlungen Frankreichs
zusammen kaum noch aufzuweisen haben. Diese
zeigen den Künstler in solcher Mannigfaltigkeit und
auf einer Höhe seiner Kunst, dass mir erst hier die
souveräne Überlegenheit dieses Meisters über alle
anderen Maler der neueren Zeit zu vollem Bewusst¬
sein gekommen ist.
Die alten Gemälde und einige wenige italienische
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
71.
Skulpturen des Quattrocento hat Mr. Shaw bei ein¬
zelnen kurzen Besuchen in Europa erworben; neben
seinem scharfen Blick hat ihn dabei ein seltenes
Glück begleitet. Von Altitalienern ist ein anspre¬
chendes Porträt eines Mantuaner Prinzen bemerkens¬
wert, das Werk eines Ferraresen in der Art des
Cossa; daneben besonders gute Madonnenbilder von
Mainardi, Fr. Francia (mit der Inschrift: Jacobus
Gambarus per Francionem aurifabrum hoc opus fieri
curavit. 1495.), Cima, eine Anbetung des Kindes von
Raffaellino, größere Werke von Tintoretto, Paolo Vero¬
nese und Francesco Vecellio. Eine Kopie der büßen¬
den Magdalena Correggio’s , auf Kupfer, in der Malerei
noch aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts,
ist dem Exemplar in Dresden gewachsen. Das Bild¬
nis eines deutschen Fürsten von B. Strigel ist durch
seine schöne Färbung ausgezeichnet. Eine Studie
von Claude , auf Papier in 01 gemalt, ist in der
Wahrheit der Beobachtung, in der Zartheit der
Linien, in der Delikatesse des Tons, in der Feinheit
der Durchführung fast allen seinen fertigen Gemäl¬
den überlegen. Und doch ist es nur eine Vedute
vor den Thoren Roms. Ein Mädchenkopf von Grenze
erscheint hier etwas fremdartig zwischen den ernsten
Werken der großen Kunst; das Bildchen hat aber
einen Affektionswert für den Besitzer durch die
Übereinstimmung des anmutigen Köpfchens mit
den Zügen eines verstorbenen Kindes. LTnter den
niederländischen Bildern erschienen mir besonders
beachtenswert: eine Skizze der Danae von Rubens,
zwei kleine Studienköpfe von Rembrandt, um 1645
entstanden (der eine merkwürdigerweise fast ge¬
nau derselbe, der sich auch im Louvre, in Kassel
und in Bridgewater Gallery findet), ein Paulus
Potter (ein Apfelschimmel in Landschaft), kleine Bilder
von A. v. Ostade , G. Dou, Ochterfeld , J. van Ruisdael,
A. van de Velde , vor allem ein trefflicher lebensgroßer
Studienkopf einer alten Frau von Frans Hals, eines
der ausgezeichnetsten Werke des Künstlers.
Mr. Quincy Shaw hat in Italien einige Bildwerke
zu erwerben gewusst, um deren Besitz ihn jedes
Museum beneiden wird: ein Marmorrelief der Ma¬
donna von Bellano, ein spätes und wohl das anmutigste
Werk dieses Künstlers; von Verrocchio ein großes
Marmorrelief der Madonna mit einem Engel zur
Seite, sowie eine unbemalte Thonbüste des jungen
Lorenzo Magnifico; von Luca della Robbia eine Ma¬
donna in einer farbig dekorirten Nische mit der alten
Vergoldung, eine holdselige Komposition, wie sie
selbst Luca nur wenige geschaffen hat, fast genau
übereinstimmend mit einem andern Relief, das aus
der Sammlung Gavet in Paris kürzlich gleichfalls
nach Amerika gekommen ist.
Von hervorragenden älteren Gemälden sind mir in
Boston außerdem nur ein paar Bildnisse von Mann und
Frau von Rembrandt bekannt geworden, die der ver¬
storbene Fred. Arnes aus der Sammlung der Princesse
de Sagan erworben hat, ein paar vorzügliche Werke
der früheren Zeit, von tadelloser Erhaltung (Nr. 34).
In New York sind die Sammlungen alter Kunst
weit zahlreicher als in Boston. Soweit sie von Be¬
deutung, sind sie sämtlich jungen Datums. Weit¬
aus die wichtigste, obgleich sehr beschränkt in
der Zahl, ist die Bildersammlung des Herrn Ilave-
meyer, die in seinem interessanten, von Louis Tiffany
eingerichteten Hause aufgestellt ist. Einer der Haupt¬
räume ist, von ein paar ganz kleinen Bildern abge¬
sehen, ganz mit Bildnissen von Rembrandt’ s Hand
geschmückt. Acht lebensgroße Porträts, meist Knie¬
stücke, das ist ein Wandschmuck, wie ihn kein Palast
auf dem alten Kontinent, wie ihn selbst nur wenige
öffentliche Galerieen aufweisen können. Alle diese
Bilder sind in dem kurzen Zeitraum von etwa drei
Jahren erworben. Zuerst der berühmte sogenannte
„Doreur“, schon in der Vente Morny mit 155000
Franken bezahlt, ein Wunderwerk in der email¬
artigen Leuchtkraft und Durchbildung, in dem
klaren, blonden Ton des Fleisches (Nr. 40). Bald
darauf hat Herr Havemeyer ein paar stattliche Bilder
aus der Familie Beresteyn, Bildnisse von Mann und
Frau, erworben; Werke aus der ersten Zeit nach
seinerÜbersiedelung nach Amsterdam (1632) und daher
besonders stark unter dem Einflüsse der älteren Amster¬
damer Bildnismaler, des Nicolaus Elias und Thomas
de Keyser. Aus demselben Jahre stammt noch ein
ähnliches männliches Bildnis der Sammlung, welches
vor etwa zehn Jahren mit der Sammlung Boesch in
Wien unter dem Namen „Le Tresorier“ versteigert
wurde. Eine spätere Erwerbung in Paris ist das außer¬
ordentlich liebevoll durchgeführte Bildnis der alten
Frau vom Jahre 1640, das in Paris rasch hinterein¬
ander seine Besitzer gewechselt hat (Narisclikin, Beur-
nonville, R. Kann), und von dem eine vorzügliche
Kopie in der Sammlung von Lord Yarborough zu
London sich befindet. Die letzte und bedeutendste
Erwerbung waren die drei Hauptbilder Rembrandt’s
aus der Galerie der Princesse de Sagan, der sog.
Tulp vom Jahre 1641, und die großen Bildnisse
eines jungen, reich gekleideten Mannes mit seiner
schönen Gattin, vom Jahre 1643; beide zu den an¬
mutigsten Bildnissen gehörend, die Rembrandt ge¬
malt hat, dem gleichzeitig entstandenen Ehepaar in
10*
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
Grosvenor Gallery ganz verwandt und ebenbürtig.
Zur Seite dieser Prachtwerke hängt das herrliche
Bild des Pieter de Hooch, das Interieur der Sammlung
Secretan (früher Delessert), das W. Bürger als Haupt¬
werk des J. Vermeer in Anspruch nahm. Neben
diesen Bildern füllen noch ein paar kostbare kleine
Bildnisse von F. Hals (1626, von der Vente Secre-
Poilrät l ines jungen Mannes von Rembrandt vom Jahre 1643.
Sammlung Havemeyer in New York.
tan), ein farbenprächtiger W. Kalf und ein nicht
ganz ebenbürtiges kleines Familienbild unter der irr¬
tümlichen Bezeichnung P. Codde die Lücken an den
W änden aus. In den oberen Räumen sind nur noch
einige alte Bilder: ein Fluss von /. van Cappelle , ein
Abend von A. van der Neer, eine Fernsicht von A. Cuyp
( Vente Secretan) und eine Köchin von G. Metsu.
Auch in diesem mit größter malerischer Pracht aus¬
gestatteten Hanse fehlen ebensowenig die Meister¬
werke der französischen Schule (darunter ein ganzes
Zimmer mit Aquarellen von Barye) wie die gewähl¬
testen Stücke japanischen Thongutes, chinesischen
Porzellans, japanische und chinesische Bronzen und
römische und griechische Gläser.
In den übrigen Sammlungen New-York’s sind
die alten Bilder noch sparsamer zwischen modernen
Bildern, vorwiegend aus
der Schule von Barbizon,
zerstreut und als Wand¬
schmuck der Zimmer ne¬
ben chinesischen und ja¬
panischen Kunstwerken
und Werken der antiken
Kleinkunst verwendet.
Mr. Jessup, der liberale
Gönner des Naturhisto¬
rischen Museums, besitzt
von Rembrandt die Bild¬
nisse eines jungen Ehe¬
paares, frühere Werke aus
dem Jahre 1633 oder
1634, die mir von Europa
her nicht bekannt oder
wenigstens nicht erinner¬
lich waren. Außerdem
ein gutes frühes Bild von
Jacob van Ruisdael (unter
Hobbema’s Namen) und
einfarbiges großes Haupt¬
werk seines Onkels Salo-
mon. Ein vereinzeltes Bild
von Rembrandt, das große
Brustbild seines Vaters
aus der Sammlung Beres-
ford Hope (vom Jahre
1630 oder 1631) besitzt
Mr. Beers. Bei Robert
Hoe befindet sich außer
einem feinen P. Codde,
einer Komposition mit
zwei Figuren, einer ein¬
zelnen Figur von G. Metsu und einer Anbetung
der Könige aus der Werkstatt von B. van Orley ein
interessantes Bild von Rembrandt: ein Kind von etwa
vierzehn Jahren, das dem Beschauer eine Medaille zeigt,
etwa 1637 entstanden. Der Maler Chase besitzt neben
den ausgezeichneten Kopieen, die er selbst nach einigen
Hauptwerken von F. Hals und Velazquez angefertigt
hat, ein sehr reizvolles Kinderporträt in ganzer Figur
von Santvoort, ein sehr gutes kleines Männerbildnis des
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
73
Clouei- artigen Meisters, der im Belvedere zu Wien
als Amberger galt, sowie namentlich ein breit und
frisch in der Farbe behandeltes kleines Familienbild
von Thomas de Keyser. Ein Selbstbildnis Rembrandt’s
aus dem Jahre 1635 oder 1636, nicht vorteilhaft auf¬
gefasst, aber keck und malerisch in der Behandlung,
besitzt Mr. Ingles (aus Hamilton Palace stammend).
Derselbe ist auch der
glückliche Besitzer eines
ganz hervorragenden P.
de Hooch, „Die Wäsche¬
rinnen am Brunnen“, ein
Bild von einer Tiefe und
Kraft der Farbe, dass es
noch an die beste Zeit
des N. Maes erinnert; da¬
neben einige gute Por¬
träts von F. Bol, Th. de
Keyser etc.
Im Besitz von Mr.
Stewart Smith fand ich
ein frühes eigentümliches
Werk Rembrandt1 s wieder,
das ich aus Lord Palmer-
ston’s Besitz kannte: das
Brustbild Johannes’ des
Täufers vom Jahre 1632.
Derselbe Sammler hat ein
größeres Genrebild von
Frans Hals, zwei singen¬
de Knaben, ein paar nette
Landschaften von D. Te-
niers (1646), und ein
Genrebild desselben Meis¬
ters, eine Landschaft von
Jan van Goyen aus dem
Jahre 1638, zwei kleine
Ansichten aus Venedig
von Guar di , neben eini¬
gen guten Bildern von
Troyon, Daubigny u. a.
französischen Malern. Be¬
sonders gewählt sind die Meister der Schule von
Barbizon im Hause von Mr. Garland (namentlich
Troyon und Breton), das mit vorzüglichen franzö¬
sischen Möbeln des vorigen Jahrhunderts ausgestattet
ist und die reichste und gewählteste Sammlung von
chinesischem Porzellan enthält, die ich je neben der
meines Freundes George Salting in London gesehen
habe. Vorzüglich sind auch die Stücke in Jade,
chinesischem und antikem Glas, die derselbe Herr
besitzt. Ein ungewöhnlich großes und ausgezeichnetes
Jugendbild Rembrandt’s, das lebensgroße Kniestück
eines Orientalen (vom Jahre 1632), das sich früher
im Orwell-Park in England befand, besitzt jetzt ein
van der Bilt’scher Schwiegersohn, Mr. H.M’Twombley.
Der „Admiral“ Rembrandt'’ s aus der Sammlung Crabbe
in Brüssel (v. J. 1658) ist noch im Besitz der Erben
des Kunsthändlers Schauß, der das Bild in der Ver¬
steigerung erwarb. Ein anderes, etwas früher nach
Amerika gebrachtes Bild Rembrandt’ s, das unter dem
Namen „l’homme ä l’armure“ bekannte Bildnis aus
der Sammlung Demidoff (um 1635) ist neuerdings
in den Besitz eines Mr. Sutton übergegangen, der es
einer von ihm in einer Stadt des Innern begründeten
öffentlichen Sammlung zu schenken beabsichtigt.
Eine größere Sammlung, namentlich von Kleinmeistern
Porträt einer jungen Frau von Rembrandt vom Jahre 1643.
Sammlung Havemeyer in New York.
74 ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
der niederländischen Schulen, die ich leider nicht
mehr sehen konnte, hat Mr. C. Lambert zusammen¬
gebracht; darin befinden sich u. a. die bekannten Fünf
Sinne von D. Teniers aus der Sammlung Secretan. —
Chicago besitzt bis jetzt nur Eine größere Samm¬
lung alter Gemälde, die von Mr. Charles T. Yerkes;
und diese Sammlung wird die „Weiße Stadt“ auch
in nächster Zeit verlieren, da Mr. Yerkes im Begriff
ist, in sein neues Heim am Stadtpark in New York
überzusiedeln. Doch soll die Sammlung, wie ich höre,
auf die Dauer der Heimatsstadt des Besitzers ge¬
sichert sein. In dieser Galerie begegnen uns aller¬
dings, was in anderen der neueren Bildersamm¬
lungen in den Vereinigten Staaten selten der Fall
ist, neben echten und ausgezeichneten Werken ge¬
ringwertige Bilder oder selbst Fälschungen unter
großen Namen. Doch sind dies verhältnismäßig nur
wenige Bilder, die der Besitzer gewiss über kurz
oder laug ausscheiden und durch hervorragende Ori¬
ginale ersetzen wird. Immerhin ist die Sammlung auch
jetzt schon eine sehr bemerkenswerte. Die Bilder ge¬
hören, bis auf ein vortreffliches großes Bild von F.
Boucher und ein paar reizende kleine Bildnisse unter
Clouet’s Namen, der hol¬
ländischen Schule an.
Von Rembrandt besitzt
die Sammlung vier echte
Werke: eine kleine Auf¬
erweckung des Lazarus,
der bekannten Radirung
ähnlich (um 1629), der
Offizier mit dem Gewehr
vom Jahre 1632, das far¬
bige Brustbild eines „Rab¬
biners“ (um 1635, aus
Leigh Court stammend),
endlich das sehr eigen¬
tümliche, malerische Bild
von Philemon und Baucis
aus dem Jahre 1655. Die
Bilder von Frans Hals
sind mindestens von glei¬
cher Bedeutung: das gro¬
ße Kniestück einer sitzen¬
den alten Frau, mit einem
Buch in der Hand, aus
dem Jahre 1635, höchst
lebensvoll und dabei fast
sorgfältig in der Durch¬
führung; sowie zwei hell¬
blonde Kinderköpfe von
sehr reizvoller Farben¬
wirkung und geistreicher
Behandlung, erst kürzlich
aus einer Privatsammlung
in Mecklenburg erworben.
Von G. Terborcli das „Glas
Limonade“ von der Vente
Beurnouville; von G. Metsu ein junges Mädchen im
Boudoir; von Jan Steen drei Gemälde, darunter zwei
ersten Ranges; ein paar Bilder von A. van Ostade,
worunter eines seiner bedeutendsten Werke (aus der
Vente Demidoff) ; zwei Bilder von G. Don , zwei von
Pieter de IJooch , jedoch aus seiner späteren Zeit,
Bilder von Jan Both, Jan van der Heyde u. s. f.
In verschiedenen Häusern der Kunstfreunde und
Mäcene Chicago’s sind zwar nicht eigentliche Samm-
Portriit einer alten Frau von Remtirandt vom Jahre 1G40.
Sammlung Havemeyer in New York.
\ erkiindigung. Gobelin; italienisch, XV. Jalirli. (Ferrara). Aus der Sammlung Spitzer. Im Besitze des Herrn M.
76
ALTE KUNSTWERKE IN DEN SAMMLUNGEN DER VEREINIGTEN STAATEN.
langen, so doch eine kleinere Zahl von guten Bildern
alter Meister vorhanden, die sich wohl bald zu Ga-
lerieen erweitern werden. So besitzt Mr. W. Ellsworth
in seinem sehr originell eingerichteten Hause neben
vielen hervorragenden Bildern der neuesten amerika¬
nischen Schule, guten antiken Gläsern, Vasen, Terra¬
kotten und chinesischem Porzellan, das unter dem Na¬
men Tulp bekannte, tüchtige frühe Männerbildnis Rem-
brandt’s aus der Sammlung Sagan (1632). Mr. Charles
L. Hutscliinsons behagliches Heim ist geschmückt mit
dem durch Jaccjuemart’s Radirung berühmten kleinen
Brustbild des Junkers Heythuysen von Frans Hals ,
mit ein paar kleinen, dem Rembrandt nahe kommenden
Bildnissen von N. Maes (aus der Sammlung Roth an),
einem vorzüglichen späteren Bildnisse von J. G. Cuyp ,
1 1649), ein paar Bildnissen von D. Teniers, C. Netscher
u. a. m. Mr. Charles I). Hamill besitzt u. a. eine
geistreiche, monochrom behandelte Landschaft von
Jan van Goyen (datirt 1646); Mr. Allison V. Armour
ein größeres treffliches Bild von Goyen aus dem¬
selben Jahre, einen Waldesrand mit Vieh von
Jacob van Ruisdael d. j., und ein Bildnis von F. Bol,
das sich in der Sammlung Gsell in Wien unter
Rembrandt’s Namen befand, Mr. Martin A. Ryerson
hat sich aus der Sammlung der Fürstin Demidoff
ein paar vorzügliche Bilder ausgewählt: „Am Pear“
von Jan van Cappelle (datirt 1651), und das Concert
von Jacob Ochtcrvelt; außerdem besitzt er die inter¬
essanten Predellenbildchen, die in der Versteigerung
Dudley unter Perugino’s Namen gingen, den Studien¬
kopf des Alessandro de’ Medici von Bronzino (zu
dem Bilde im Besitz des Fürsten Liechtenstein), einen
guten A. van Oslade und nebenher eine ganz gewählte
Sammlung kunstgewerblicher Gegenstände, die jüngst
in der Versteigerung Spitzer erworben wurde: darunter
den herrlichen ferraresischen Gobelin der Verkün¬
digung, eine Anzahl vorzüglicher, meist ornamental
dekorirter Majoliken, deutsche Krüge, griechische
Vasen, Gläser u. s. f.
Ein Ausflug nach Montreal, den ich der Gast¬
freundschaft von Mr. van Ilorne verdanke, hat mich
auch in Canada mit einer Anzahl vorzüglicher alter
Bilder bekannt gemacht. Mr. George A. Drummond
besitzt vor allem ein sehr groß gehaltenes Männer¬
bildnis von Frans Hals, aus dem Jahre 1643; außer¬
dem Bilder von Jan Both , J. van Goyen (1643), Goya,
van Os u. s. f. Mr. R. B. Angus besitzt ein hervor¬
ragendes Brustbild einer anmutigen jungen Frau, ein
ganz malerisch behandeltes Werk der letzten Zeit Rem¬
brandt’s, die Studie zu dem köstlichen großen Frauen¬
bildnis im Besitz von Mr. R. Kann in Paris; so¬
dann von Frans Hals das bekannte kleine Fami¬
lienporträt der Sammlung Secretan, einen breit und
geistreich behandelten kleinen Studienkopf eines
jungen Mädchens von Gerard Dou, eine Reihe guter
Porträts von Sir J. Reynolds, Gainsborough , Romney
u. a. Bei Sir Donald Smith befinden sich unter vielen
geringen Bildern ein paar gute Guardi , Bilder von
Netscher, Goyen u. s. f. Auch Mr. van Home besitzt
neben einer trefflichen Sammlung japanischer Thon¬
waren und französischer Gemälde ein paar alte Bilder :
ein Porträt von F. Bol, Bilder von P. Claesz, D. van
Toi, vor allem die Skizze eines Gekreuzigten unter
Vclazquez’ Namen, ein Werk von außerordentlicher
malerischer Wirkung.
Was ich hieran hervorragenden älteren Gemälden
in amerikanischen Sammlungen namhaft gemacht
habe, ist zum weitaus größten Teil im Ausgange
der achtziger Jahre für Amerika angekauft worden.
In den letzten Jahren ist weniges hinzugekommen,
infolge der Geldkrisis, die schwer auf dem Lande
lastet und die auch noch für die nächsten Jahre die
amerikanischen Liebhaber vom Kaufmarkt fern halten
wird. Diese werden aber, sobald die Krisis vorüber ist,
ihr Gewicht (und sie sind sehr viel „schwerer“ als die
meisten kontinentalen Sammler!) bei allen namhaften
Versteigerungen und im großen Kunsthandel mehr
und mehr fühlbar machen und vor allem fast allen
öffentlichen Galerieen die Erwerbung ganz hervor¬
ragender Werke durch die Steigerung der Preise ab¬
schneiden. Werden doch jetzt schon in Amerika
und für Amerika die guten alten Gemälde um fünf¬
zig bis hundert Prozent höher bezahlt, als bei uns in
Europa. Amerika wird in wenigen Jahrzehnten ein
Land sein, das man auch wegen seiner Sammlungen
von alten Kunstwerken besuchen muss, wie es heute
schon für unsere moderne Kunst und das Kunsthand¬
werk im hohen Maße anregend und belebend wirken
kann und hoffentlich wirken wird.
I
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
VON II. E. v. BERLEPSCH.
(Schluss.)
Skizze
von ff. Keller.
X J
j ELLER ist liier nur dem eigenen Zuge
/ k bezüglich der Art des Sujets gefolgt.
I Ü Er hat weder etwas Großzügig -Klas¬
sisches noch romantische Empfindun¬
gen hinein zu verweben getrachtet. Wo
er sich so äußerte, war die Äußerung
sicher dem eigenen Wesen am verwandtesten, denn,
vergleicht man den späteren Dichter damit, so wird
man gerade durch diesen darauf hingewiesen, wie
scheinbar gleichgültige, am Wege liegende Stoffe
durch die künstlerische Arbeit zum wertvollen Kleinod
werden. Um das zu erreichen, ist nicht im ent¬
ferntesten das äußerlich Große, Imponirende nötig.
Man denke nur an die Leute von Seldwyla! —
Anders verhält sich dies bei weiteren Blättern der
Münchener Zeit.
Da ist z. B. No. 25 des Katalogs der Stadtbib¬
liothek in Zürich, Tuschzeichnung, eine öde, steinige
Gegend, in der ein absterbender Eichbaum die ein¬
zige vegetative Erscheinung bildet. Dem Beschauer
den Rücken kehrend, zieht ein Reitersmann den
stillen Weg entlang, gefolgt von seinem Hunde.
Die Stimmung ist natürlich düster, sonst wär’s nicht
romantisch. Das nämliche Thema behandelt eine
Ölskizze. Es muss wohl eine sehr frühe Arbeit
sein, denn die Art, wie mit dem Material umge¬
gangen ist, bezeugt absolute Unerfahrenheit. Eben¬
so verhält es sich mit No. 51 derselben Sammlung,
wo ein Hünengrab darzustellen versucht ist. Es sollte
Zwielichtstimmung werden. Uber dem noch vom
letzten Schimmer des Tages erhellten Terrain ist
der Vollmond aufgegangen. Es entsteht mithin
eine doppelte Lichtwirkung. Zaghaft in der Wahl
der Gegenstände war Keller also entschieden nicht,
sonst hätte er sich solchen Farbenproblemen kaum
zu nahen gewagt. Freilich ist er auch über den
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 3.
heroischen Versuch nicht hinaus gekommen. Eine
Baumlandschaft mit Kirchturm in Abendbeleuch¬
tung, No. 50 desselben Katalogs, steht genau auf
dem nämlichen Standpunkte. No. 49, Waldlich¬
tung, Ölskizze, der gleichen Sammlung angehörend,
ist sicher nicht Keller zuzuschreiben. Das ver¬
rät die ganze Anlage, die nur von einer gewand¬
ten Hand herrühren kann und eine Sicherheit
verrät, die Keller nicht eigen war. Ob No. 54
unter bestimmtem Einflüsse oder vielleicht nach
einer fremden Studie entstanden ist, ob das Blatt über¬
haupt Keller zuzuschreiben sei, mag dahingestellt
bleiben. Es zeigt eine Baumlandschaft, in der die
rückwärts gelegenen Partien von der Sonne hell
belichtet sind, während ein näher stehender einzelner
Baum ganz im Schatten steht, wodurch eine ziem¬
lich gute räumliche Wirkung erzielt ist. Ein mit
No. 52 bezeichnetes unvollendetes Aquarell ist, das
verrät Sujet und routinirte Behandlungsweise, ent¬
weder Kopie oder rührt von fremder Hand her.
Es zeigt eine weite, abendliche Landschaft mit See
und waldigen Bergen und ist ganz in der süßlich
violetten Stimmung gehalten, ohne welche in jener
Zeit kein solches Thema behandelt wurde. Man
möchte bezüglich des Sujets beinahe auf Italien
raten. No. 48 giebt ein Waldinneres, offenbar auch
komponirt. Das geht aus den Baumformen, sowie
aus dem ganzen Arrangement hervor. Uber die
Grenze der Skizze reicht das Blatt nicht hinaus.
Auf der Rückseite desselben, beinahe ganz ver¬
wischt, findet sich eine Figurengruppe, Artilleristen
am Geschütz (S.80). Die Uniform entspricht der schwei¬
zerischen jener Zeit, das angezapfte Fässchen neben
der „Piece“ braucht nicht gerade schweizerisch zu
sein, ist es aber sicher. Ob Keller diese Gruppe
entworfen hat? Bei aller Einfachheit ist das Ding
11
78
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
doch sehr lebendig. Oder sollte es von einem jener
Schweizer Freunde, etwa Emil Rittmeyer herrühren,
der später trefflich lithographirte Blätter „Erinne¬
rungen an den Sonderbundsfeldzug“ herausgab?1)
Dass Keller viele figürliche Versuche gemacht hat,
dafür zeugen seine Skizzenbücher, wie auch die Pro¬
tokolle, die er als Staatsschreiber geführt. Die
kleine Skizze „Babeli Marti“ ist gut, die phantasti¬
schen Randzeichnungen aus späteren Lebensjahren
oft ebenso drollig wie geschickt gemacht. Man sehe
nur die beiden gegeneinander losmarschirenden Hohl¬
köpfe mit den dünnen Beinchen und der wichtigen
Pose, das seifenblasende Wesen, das in einen
Schlangenschwanz endigt u. s. w. Einmal bekennt
er sich sogar dazu, ein Porträt, das allerdings „et¬
was byzantinisch“ ausfiel, gemacht zu haben. Es
war das seiner Jugendliebe, der Anna. Die beiden
Köpfe, offenbar Münchener Typen, die sich in einem
seiner Skizzenbücher vorfinden, sind äußerst ge¬
schickt hingeworfen. Von mehreren ebendaselbst
sich vorfindenden Zeichnungen dieser Art behauptet
der noch heute in Zürich lebende Münchener Zeit¬
genosse Keller’s, Herr Hegi, sie rührten nicht von
Keller her, und seien offenbar von fremder Hand in
das Skizzenbuch gezeichnet worden. Dies nebenbei.
Ein im Besitze von Prof. Bächtold befindliches
Ölbild (siehe Abh. S. 4) wird von diesem gleichwie
ein anderes, im Besitze von Herrn von Tschudi zu
St. Gallen vorhandenes, der Entstehung nach in die
Münchener Zeit gesetzt. Ferner ist eine große Hand¬
zeichnung, ein mit wenigen Farben angetuschtes Blatt
der Züricher Stadtbibliothek (No. 47 d. Kat.), als in
München zwischen 1840 und 43 entstanden be¬
zeichnet. Dass das Bächtoldsche Bild in München
entstanden sei, ist leicht anzunehmen. Es trägt
durch die Felsenszenerie einen gewissen heroischen
Charakter, und der große Baum im Vordergrund
erinnert lebhaft an die Buchen-Studie von Glatt-
felden, denn der Künstler wollte da höher hinaus,
als sein Rahmen es gestattete, in jeder Hin-
1) Nach Niederschrift der obigen Zeilen traf ich Emil
liittmeyer in St. Gallen persönlich. Er erinnert sich sehr
wohl an seine .Mithülfe bei Keller’schen Arbeiten, will aber
weder das Fischer -Figürchen auf dem Welti’schen Bilde
(siehe die Tafel) noch die oben genannten Kanoniere ge¬
macht haben. Keller hat zuweilen mit ein paar Strichen
-ehr charakteristische Figuren gezeichnet, Schwierigkeiten
seien ihm nur erwachsen, wo es sich um ein genaues Ein¬
gehen auf die Form gehandelt habe. Demnach kann also
wohl angenommen werden, die Skizze rühre von K. her.
2j So nennt sich eine noch heute lebende Jugendgenossin
Keller’s, der das Schicksal die Größe normaler Menschen
versagt hat. Sie pflegte den todkranken Dichter lange Zeit.
sicht. Dass dabei Bilder holländischer Meister, wie
sie die bereits bestehende alte Pinakothek bot, zu
Rate gezogen sind, liegt außer allem Zweifel. Recht
bezeichnend ist der quer sich vor den Stamm legende
Ast des vorderen großen Baumes. Er sollte eigent¬
lich vorragen, indessen ist der Scurzo nicht geglückt,
und so wurde die Richtung eben verändert. Auch
hier hat’s am nötigen Fleiße keineswegs gefehlt.
Das Bild ist so durchgeführt, wie es selbst der klein¬
städtische Kunstfreund nur wünschen kann. Im
Ton ist es gut zusammen gehalten. Es wirkt grauer,
nobler als das Welti’sche. — Ob das zweitgenannte,
das Tschudi’sche Bild, in München entstanden ist,
mag stark in Zweifel zu ziehen sein, obschon sich
auf der Rückseite der Leinwand die Jahreszahl 1842
vorfindet. Bekanntermaßen sind die Rückseiten von
Bildern nicht das Maßgebende, bei Datirungen
ebenso wenig wie bei Namen. Es stellt eine ganz
bestimmte Aussicht vom Zürichberg gegen Höngg
und das Limmatthal hin gesehen dar, giebt eine
ganz bestimmte Häusersilhouette im Mittelgründe,
kurz ist, wenn man so will, ein landschaftliches
Porträt. Im Vordergründe stehen ein paar mächtige
Kiefern als Haupterscheinung des Bildes. Sie ragen
als dunkle Masse in den von abendlichem Licht¬
scheine übergossenen übrigen Teil der Landschaft,
die im Mittelgründe das leichtabfallende Gelände des
Zürichberges in der Nähe des sog. Susenberges zeigt.
W eiterhin sieht man die Höhenzüge, die das Limmat¬
thal bei Schlieren und Dietikon einfassen, und fern¬
hin sogar den Zug der Lägeren. Oh Keller das in
München nach einer sehr genauen, früher schon an¬
gefertigten Naturstudie gemalt hat?
Eine solche musste zu Grunde liegen, wenn man
nicht annehmen will, der größere Teil des Bildes sei
überhaupt vor der Natur entstanden, denn dergleichen
Dinge, die ein ziemlich reiches System von Linien-
Überschneidungen zeigen , machen sich nicht ohne
weiteres aus dem Gedächtnis. Gesetzt aber, es sei
dies bei Keller der Fall, gewesen, das Resultat viel¬
fältiger Beobachtung habe es ihm ermöglicht, auch
ohne einen Blick auf das Original richtig alles
wiederzugeben, so müsste er auch bei anderen Auf¬
gaben, die er sich gestellt, ähnliches gezeigt, nicht
manches, was sich ihm förmlich aufdringen musste,
ausser acht gelassen haben. Dass es auch hier
nicht ganz ohne eine Beigabe der Phantasie abging,
zeigt der Wassertümpel im Vordergründe. Der¬
gleichen giebt es auf den Höhen des Zürichberges
weit und breit nicht, aber ein Wässerlein gehörte
nun in Gottes Namen einmal dazu. Das Ganze aber
GOTTFRIED KELLER ALS MALER,
79
hat als Bilderscheinung etwas ganz ausserordentlich
Anmutiges und fein Elegisches.
Groß aufgefasst in des Wortes bester Bedeu¬
tung ist endlich das Blatt (No. 47 d. Kat. d. Z.
Stadtbibliothek) „Blick auf Richters wyl“. Keine
kleinliche Privatliebhaberei tritt hier störend in den
Weg. Dabei ist das Dargestellte durchaus charak¬
teristisch für die landschaftliche Erscheinung der
Gegend. Das coupirte Vorterrain, links von Büschen
und Bäumen begrenzt, welche vom Licht gestreift
werden, senkt sich gegen die Seefläche. Da liegt,
förmlich begraben unter den rundlichen Wipfeln
unzähliger Obstbäume, das Dorf, dessen Kirchturm
über die Baumkronen emporragt. Rückwärts sieht
man die Insel Ufenau, die Höhenzüge der Schin-
dellegi, weiterhin die Glarneralpen. Es ist gerade¬
zu frappirend , mit welch künstlerischer Freiheit
das Thema behandelt, mit wie wenig Mitteln all
das erreicht ist, was zu einer vollkommenen Bild¬
wirkung nötig war. Die Zeichnung ist auf grobes,
graues Papier gemacht, die vorderen Partieen sind
leicht angetuscht, die fernen Berge in einem licht¬
bläulichen Tone gehalten. Keine Spur von Ängst¬
lichkeit giebt sich kund, alles ist breit hingesetzt
und mit einer geradezu staunenswerten Anschauung
behandelt, kurzum es zählt mit zum Besten, was
Keller gemacht hat, und unterscheidet sich in jeder
Beziehung von seinen landschaftlichen Komposi¬
tionen, die mehr oder weniger alle ein gewisses un¬
sicheres Tasten verraten. Dass das Blatt in Mün¬
chen entstanden sei, ist sehr zu bezweifeln, denn es
verrät keinerlei fremden Einfluss und ist deshalb
gut geworden, sicherlich weit besser als die auf den
ersten Blick imponirende „Ossianische Landschaft“,
in welcher Keller mehr den Einfluss anderer zum
besten giebt, als das, was in ihm selbst steckte.
Letzteres aber liegt in dem Blatte „ Blick auf Ricliters-
wyl“. Da hat er alles falsche Pathos von sich ge¬
worfen und gab mit Stift und Pinsel ein Stück
„Züribiet“ ebenso herzerfreuend wieder, wie er im
„Fähnlein der sieben Aufrechten“ einige urchig-
zürcherische Mannstypen in unübertrefflicher Weise
gezeichnet hat. Man wird also nicht fehl gehen,
dieses Blatt einer Zeit zuzuschreiben, wo Keller zu
sich selbst zurückgekehrt und frei von jenen Ein¬
flüssen war, die ihn während der Münchener Zeit
in Befangenheit hielten.
Das unbestimmte Sich-Gehen-Lassen in Mün¬
chen war natürlich eher alles andere als fördernd.
Anfangs seines Aufenthaltes in der Isar-Stadt, am
21. Mai 1840, schreibt er an seine Mutter: „Ich
gehe mit dem Maler Scheuchzer, welcher sich viele
Mühe mit mir giebt, etwa für vier Wochen aufs
Land“. Scheuchzer, Keller’s Landsmann, war ein
bei Hofe angesehener Künstler, der u. a. Bilder
für Hohenschwangau malte, „das malerische Bayern'1
herausgab. Der Verkehr Keller’s mit ihm ist jedoch
nicht von langer Dauer gewesen. Die projektirte
Studienreise, die vielleicht dazu angethan gewesen
wäre, unseren Mann auf bestimmte Bahnen zu lenken,
wurde, teilweise wenigstens, zu Wasser. Schlechtes
Wetter veranlasste die Beiden nach kurzer Abwesen¬
heit zur Heimkehr, — eine Maxime freilich, die sich
für einen Landschafter schlecht empfiehlt. Indessen
stand Keller mit Geldmitteln von Anfang nur knapp
ausgerüstet da. In der nächsten Nähe Münchens
landschaftlich zu studiren, fiel keinem Landschafter
jener Tage ein. Die Schönheiten der Hochebene zu
entdecken, blieb Späteren Vorbehalten. Damals hieß
die Losung „Ins Gebirge“. Dahin aber war es bei
dem Mangel guter Verkehrsmittel immer schon eine
ganz respektable Reise. — Unterm 14. Juli 1840
meldet er, was das Leben in München koste. „Ich
sehe schon ein , dass ich auf den Spätherbst selbst
auskommen muss (mit dem gesandten Gelde), und
deswegen habe ich mich auch in den Kunstverein
aufnehmen lassen, welches für einen Fremden und
zudem für einen Anfänger der einzige Weg ist, seine
Bilder zu verkaufen. So geschickte Männer es hier
hat, und so sehr ich mich anstrengen muss, nur
einen Schatten von dem zu leisten, was jene, so
werden doch häufig noch ziemlich schlechtere Sachen
angekauft1), als ich mir zu machen getraue“.
Krankheit überfiel Keller nun noch obendrein.
Das für alle Fremden in München gefährliche
„Schleimfieber“ (Typhus) warf ihn darnieder. Er
schreibt darüber (19. Okt. 40):
„Ich lag vier ganze Wochen im Bett und bekam nichts
als Fleischbrühe und Wasser zu saufen, so dass Dein Traum
ziemlich erfüllt war; denn ich war so abgemagert und
schwach, als ich wieder ausgehen konnte, dass ich vor mir
selbst erschrak, als ich in den Spiegel schaute. Doch werde
ich in Zukunft nichts mehr von dergleichen Sachen schrei¬
ben, es mag mir gehen, wie es will, da man zu allem
Elend noch glaubt, ich lüge.
Was das viele Geldbrauchen betrifft, so weiß ich am
besten, für was ich es ausgebe; auf jeden Fall nicht für’s
Lumpen. Auch gehe ich nicht mit Lumpen, sondern einzig
und allein mit Hegi von Zürich, welcher mein bester Freund
hier ist, und wir sitzen meistens ganz allein bei einander.
Du wirst Dich wahrscheinlich wundern, dass die letzten
1) Offenbar gehört der Ankauf solcher Arbeiten zu den
festen Traditionen des Münchener Kunstvereins, bei dem
weitaus das meiste Geld für geringe oder mittelmäßige Ware
noch heute ausgegeben wird.
80
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
vier Louisd’or bereits wieder gebraucht sind, wenn Du nicht
bedenkst, dass ich dem Doktor 16 Gulden, dem Apotheker
8 Gulden, der Magd, welche alle Nächte bei mir gewacht
und mich sonst gut verpflegt hat, einen Thaler, und oben¬
drein den Mietzins bezahlen musste. Dazu musste ich, als
ich wieder essen und ausgehen durfte, feinere und kräftigere
Speisen nehmen und eine Zeit lang Rheinwein trinken, um
wieder zu Kräften zu kommen. Auch schaffte ich mir ein
Flanellleibchen , Unterhosen und Überschuhe an , weil das
Wetter hier immer nass und kalt ist, und ich mich vorzüg¬
lich auf den Winter warm halten muss. Du wirst mir viel-
den ganzen Tag essen, so ausgehungert bin ich durch die
Krankheit worden“. (Bächtold, Bd. I, S. 137.)
Wieder genesen, leben in ihm auch alle Hoff¬
nungen auf eine gute Zukunft neuerdings auf: „Ich
könnte, wenn ich wollte, jetzt schon mein Brot
kümmerlich verdienen mit Koloriren und anderen
Stinkereien; aber ich habe es mir einmal in den
Kopf gesetzt, mit etwas Rechtem anzufangen, und ich
hoffe, ich werde mich hier als Künstler und nicht
leicht indessen auch wieder nicht glauben, dass der Doktor
an meinem Aufkommen gezweifelt hat. Du wirst aus allem
also einsehen. dass ich das übrige Geld noch brauche, weil
ich wenigstens zwei Monat Zeit haben muss, um etwas zu
machen, das ich verkaufen kann. Nachher tragt keine Sorge
mehr für mich!
Was Deine Meinung im vorletzten Briefe betrifft, dass
ich nämlich wieder nach Haus kommen sollte, so traust
Du mir da nicht viel Charakter zu. Die Leuten würden ein
schönes Gelächter haben. Ich habe einmal meine Bahn
angetreten und werde sie auch vollenden, und müsste ich
Katzen fressen in München. Fischer ist schon über zwei
Wochen hier. Wir müssen nächstens Holz kaufen, denn
es ist abscheulich kalt; und was mich betrifft, so muss ich
als Kolorist durchbringen können. Ich kann nach¬
her noch machen, was ich will; auf jeden Fall gehe
ich nicht heim“. Manchmal rührt sich dennoch
leise ein sehnsüchtig heimatlich Gefühl, zumal im
Magen, der sich mit der groben Münchener Kost
(sie ist auch heute noch so) nicht abfinden kann:
,.Tch habe immer Sehnsucht nach den Fleischtöpfen
Ägyptens, d. h. nach einem guten Stücke Speck mit gedörr¬
ten „Stückli“, oder nach einer „Böllenwäbe“, oder zuletzt
nur nach einer guten gesottenen Kartoffel; denn von allen
diesen nähr- und schmackhaften Speisen kriege ich hier
nichts zu sehen. Da ist nichts zu haben als magere Gans-,
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
81
Enten- oder Hasenbrätlein, schlechte Koteletten und der¬
gleichen mehr, und die Kartoffeln kann man nicht anders
essen, als gebraten oder sonst gekocht.“ — — (Bächtold,
Bd. I, S. 148.)
Die Hoffnung, verkäufliche Bilder in Bälde malen
zu können, ist bei ihm wie bei jedem anfangenden
Kunstjünger außerordentlich groß. Das Verlangen
nach bescheidenen materiellen Mitteln, „um nicht ge¬
zwungen zu sein, die Stücke um jeden Preis weg¬
werfen zu müssen“, ebenfalls. ') Daher denn das be¬
kannte „Vergesst mir die dreißig Dukaten doch
nicht“ auch hier, allerdings in bescheideneren Di¬
mensionen stets wiederkehrt, und zwar immer unter
Anführung alles dessen, wofür man nun eben einmal
Geld braucht. Indessen werden allmählich seine
sanguinischen Hoffnungen doch etwas herabgestimmt,
denn unterm 13. August 41 schreibt er:
„Nun komme ich zum zweiten Abschnitt, welcher von
mir handeln soll, und wozu Du wahrscheinlich den Mund
ein wenig verziehen wirst. Du fragst mich, wie es mir er¬
gehe? Würde ich persönlich vor Dir stehen, so würde ich
die Achseln zucken und ein weinerliches Gesicht schneiden;
so aber kann ich Dir nur melden, dass es nicht so geht,
wie ich es geglaubt habe, und dass ich mich darin getäuscht
habe, dass ich glaubte, ich könne schon genug, um mich
durchzubringen, d. h. als Künstler. Nun aber muss ich zu
meiner Demütigung erfahren , dass mir noch gar manches
abgeht, und dass ich durchaus noch kein rechter Künstler
bin. Ich weiß freilich alle Hauptsachen und habe auch
Ideen und Auffassungskraft, habe hier vieles gelernt; aber
es fehlt mir immer noch an Übung und derjenigen Voll¬
kommenheit, die notwendig ist, um ein gutes Bild, das von
Kennern gekauft wird, zu malen.
Ich habe schon früher geschrieben, dass hier jeder, der
etwas Tüchtiges leistet, sein gutes Auskommen findet. Nun
haben meine Sachen von den älteren Künstlern und Ken¬
nern wohl Beifall; allein sie sind noch nicht vollendet
genug. Denn die großen Herren wollen nicht nur Bilder
haben, die viel Talent verraten, sondern auch wohlstudirte
Bilder. Zu diesem fehlt mir jetzt eben noch sozusagen die
letzte Feile, oder die letzte Übung. Ich sollte noch eine
Zeitlang ungestört die Fehler zu entdecken und zu ver¬
bessern suchen, ohne von außen gestört zu werden.
Wie ich jetzt bin, so muss ich mir halt eben immer so
knapp durchhelfen. Manchmal habe ich etwas, manchmal
nichts. Die Kleider sind auch wieder kapores, und ich muss
mir wieder Rock und Hosen machen lassen ; denn so schäbig
an der Sonne herumzusteigen, ist mir einmal nicht möglich.
Und dann vollends die Aussichten! Auf diese Art muss ich
immer am gleichen Fleck kleben und sehe nicht ein, wie
ich mich ohne ein besonderes Glück höher schwingen kann.
Auch ist mir diese Lage ganz unerträglich. Denn immer
1) Zufällig liegen mir verschiedene Briefe anderer Künst¬
ler aus deren Jugendzeit vor, und zwar von Leuten, die
sich nie gesehen und gekannt haben. In allen kehrt so
ziemlich das nämliche wieder: „Bald werde ich Bilder ver¬
kaufen und gehörig Geld einnehmen, aber — jetzt muss
ich mich rühren können, denn . . . Goldrahmen, Farben,
Leinwand, das kostet Geld und man darf doch bei den Erst¬
lingswerken nicht gleich mit Schleuderpreisen beginnen!“
nur mit wenigem hausen müssen, jeden Kreuzer zusammen¬
stecken , damit man am Ende des Monats den Zins geben
kann, ist mir durchaus nicht gegeben. Es sollte zwar nicht
sein, ich weiß es wohl; aber es ist mir einmal pur unmög¬
lich, so ängstlich leben zu müssen. Wenn ich etwas Be¬
stimmtes und Ordentliches zu verbrauchen habe, so kann
ich mich recht gut einteilen, aber unter solchen Lumpen¬
umständen kommt man zu nichts. Wenn ich mir nur Zeit
lassen könnte, etwas recht gründlich durchzuarbeiten, so
könnte ich mich schon bald herausschwingen; aber eben
das ist das Pech, dass ich alles nur flüchtig und schnell
machen muss, um wieder Geld zu bekommen. Jetzt ist
schon der zweite Sommer, wo ich keinen Strich nach der
Natur machen kann, und das gereicht mir zum größten
Nachteil. Ich könnte wohl vielleicht koloriren oder so etwas
treiben; allein das werde ich nie und nimmermehr tbun;
lieber der Kunst ganz entsagen; denn nichts hasse ich so
sehr wie das“. (Bächtold, Bd. I, S. 149.)
Es folgt dann der Vorschlag an die Mutter, sie
möge auf ihr bisher schuldenfreies Haus fünfhundert
Gulden aufnehmen, natürlich unter der Zusicherung
seitens Gottfried’s, dass es ihm binnen Jahr und Tag
leicht sein würde, alles bei Heller und Pfennig zu¬
zück zu bezahlen, „denn ich kenne hier Künstler von
fünfundzwanzig Jahren, die sich jährlich schon ein
Schönes ersparen und doch bequem leben“. — —
,, — — Drittens wirst Du sagen, dass ich jetzt schon
lange genug gelernt hätte, um etwas zu verdienen, und
dass ein solcher Schritt sehr leichtsinnig sein würde und
der Ökonomie einer guten Familie ganz zuwider. Nun
weißt Du, dass ich die Zeit in Zürich sehr schlecht an¬
wenden konnte, indem es mir an aller Aufmunterung und
Bekanntschaft mit besseren Künstlern fehlte. Mein erster
Lehrer konnte selbst nichts, und der zweite prellte mich.
Dazwischen tappte ich wieder einige Jahre im Dunkeln
herum. Sodann muss ich Dir noch sagen, dass man gewöhn¬
lich meinen Beruf und Stand viel zu oberflächlich beurteilt
und glaubt, er lasse sich so zunftmäßig in einigen Jahren
erlernen. Es giebt hier viele Künstler, die schon älter sind
als ich und doch nicht selbständig sind, obgleich sie alles
Talent haben. Das letzte, nämlich das Leichtsinnige eines
solchen Schrittes betreffend, glaube ich, dass man sich heut¬
zutage nur noch durch Opfer und Anstrengungen eine be¬
queme Existenz verschaffen kann, und dass es hierüber
freilich sehr verschiedene Meinungen geben dürfte.
Ich kann ferner hoffen, dass ich unterdessen auch dies
Jahr noch Verschiedenes verdienen kann, was alles eine
desto sicherere Grundlage bilden wird“. (Bächtold, Bd. I, S. 153.)
„In vier bis fünf Woeben“ hoffte er eine „große
Komposition“, die bereits angefangen ist, nebst einer
zweiten, die erst noch entstehen muss, gen Zürich
zu schicken. Ludwig Vogel, der in Zürich wohnte,
sollte dann den Ausschlag geben durch sein Urteil,
das ja nach Gottfried’s Meinung nur günstig aus-
fallen konnte. Vogel war nun um ein Stück älter
als Keller und äußerst vorsichtig, absolut keine jener
unglückseligen Enthusiastennaturen, die hinter jedem
Pinselstrich das Genie erkennen, zum Künstlertum
anfeuern und damit gar oft Schlimmeres anrichten,
82
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
als durch direktes Abraten vom künstlerischen Be¬
rufe. Die Mutter Iveller’s konsultirte ihn, ehe noch die
Proben des Sohnes eingetroffen waren. Stirnrunzeln,
manches Wenn und Aber war die Antwort, der sich
die Bitte anschloss: „Dann schreiben Sie nur Ihrem
Sohne (Gottfr. Keller), er soll nicht an mich schreiben,
denn das Schreiben ist mir schrecklich verhasst. Ich
lasse mich nie in gar keine Korrespondenz ein“.
„So freundschaftlich und geschwätzig er mir vorgekom¬
men“, fährt die Mutter in ihrem Schreiben an G. Keller fort,
„so schien es mir doch, als wollte
er sich gerne ablehnen“. — — —
— „Noch etwas sagte er mir, ob
Du inzwischen nichts verdienen
könntest, z. B. etwa koloriren.
Nein, sagte ich, diese Arbeit sei
Dir verhasst .... Dass Ihr Sohn
nicht gern kolorirt, dünkt mich
kurios. Es soll sich keiner schä¬
men , zu arbeiten , sei es , was es
wolle. Ich kenne einige große
Künstler, welche keine Mittel von
Hause hatten, welche solche Ar¬
beit thaten, nur um sich momen¬
tan Geld zu verdienen. Einer ging
sogar auf der Akademie in eine
nahe gelegene Fabrik und malte
auf Tahakdosen, Theebretter u.
s. w. Ich ging endlich fort und
zwar mit schwerem Herzen. — —
Du hast nun in kurzer Zeit
vieles erfahren, hast auch einen
Vorgeschmack von Notund Mangel;
allein es könnte mit der Zeit noch
schlimmer kommen. Nicht, dass
ich Dich von Deiner Kunst abhal¬
ten will , aber meine mütterliche
Meinung darf und muss ich Dir
doch sagen ... Was hast Du doch
von einem Leben , wenn Du mit
Not und vielen Schwierigkeiten
Dich durch die weite Welt schlep¬
pen musst, um höchstens Dir nach
dem Tode ein bischen Lob und
Ruhm zu erwerben! Während
Du in Deiner Heimat ein beque¬
mes Leben und Deiner Mutter
Freude und Erleichterung machen
könntest. Herr Vogel sagte als ein erfahrener Kenner und
Künstler, dass er niemals im stände wäre, seine Familie von
seiner Kunst zu ernähren; obgleich man überall sagt, dass
die Leute sehr einfach und häuslich leben. Bedenke daher
Deine Zukunft! Gott lenke Dein Schicksal zu Deinem und
meinem Glücke!“ (Bächtold, Bd. I, S. 157.)
Natürlich lehnt sich der Kunstjünger gegen die
erhobenen Ein wände auf; er antwortet in einer Art
von Entrüstung, die ihrer Sache nicht so ganz sicher
ist, denn sie bedarf der Berufung auf das Urteil
anderer! Er schreibt unterm 9. Sept. 1841 ....
— „Dass Herr Vogel ungern in die Sache einging
und sie sogar ablehnte, mag daher kommen, dass Du zu
ihm gegangen bist, bevor er etwas von mir gesehen hat.
Er urteilte halt nur nach Steiger etc. und vermutet wahr¬
scheinlich in mir einen gewöhnlichen Koloristen lehrj ungen,
welche derselbe sonst zu halten pflegt. Dass er sich meiner
nicht erinnerte, ist merkwürdig, indem er mich doch durch
Kaspar Rordorf in seinem letzten Briefe grüßen ließ.
Die Gründe und Ansichten Herrn Vogel’s, das schwere
Auskommen, die nötigen Talente etc. betreffend, sind mir
eben so oft schon von Anfang an von allen Leuten vor¬
geleiert worden und werden jedem jungen Künstler gesagt,
dass es eigentlich gar keine Künstler mehr gäbe, wenn
jeder darauf horchen wollte. Es ist nur die Frage, welche
auch Du mir stellst, und welche
ich eben deswegen jetzt frisch
wieder reiflich überdenke, ob ich
wirklich zum Maler geschaffen sei
und die nötigen Talente habe,
oder nicht. Hier muss ich nun
bemerken , dass mir von allen
Leuten, Kennern und Nichtkennern,
weder in Zürich noch hier gesagt
worden ist, ich tauge nichts da¬
zu“. — — — - „Wenn man
in Zürich nun sagt, ich werde
nichts, so kann ich wiederum die
Stimme meiner jetzigen Umgebung,
die eben nicht aus Mistfinken be¬
steht, auch nicht verachten, und
welche mich nur aufmuntert.
Wenn ich nun meinen Eifer
und die einzige Neigung zur Land¬
schaftsmalerei dazu rechne, welche
ich immer gehegt, und dass ich
mir gar keinen Beruf denken kann,
bei dem ich mich besser befinden
würde, so denke ich, die Frage
ist nicht schwer zu entscheiden.
Dass Herr Vogel sagt, er könnte
mit seinem Verdienst seine Familie
nicht ernähren, benimmt mir eben
das Zutrauen an seine anderen Aus¬
sagen; denn wenn er wollte, so
könnte er sechs Familien, wie seine,
ernähren. Dass er sich nicht nach
anderen Leuten zu richten braucht
und seine Gemälde selbst zu be¬
halten vermag, ist kein Grund zu
seinen Ansichten.
Dem sei nun, wie es will,
ich werde in den nächsten Wo¬
chen zwei entworfene und leicht gemalte Landschaften
heimschicken und dem Ausspruche unterwerfen. Herrn
Vogel werde ich natürlich seinem Wunsche gemäß nicht
schreiben; wenn Du meinst, er werde einige Augenblicke
zum Ansehen der Bilder verwenden, so kannst Du ihn ja
dazu noch bitten. Hingegen werde ich einen Brief an Herrn
Ulrich mitschicken und ihn bitten, die Sachen anzusehen.
Indessen würde ich mich, selbst in dem Falle, dass
man mir Talent nicht abspräche, nicht besinnen , etwas an¬
deres zu ergreifen, wenn sich Gelegenheit zu einer schick¬
lichen Stelle finden würde. Dass ich kein eigentliches Hand¬
werk mehr erlernen könnte, oder etwa in einer Handlung
als Postbub einstehen würde, wirst Du sehr begreifen; und
es möchte daher schwer sein, irgend einen ordentlichen
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
83
Platz zu kriegen, wo ich nicht zu lange umsonst schaffen
müsste. Hätte ich Vermögen oder Unterstützung, so würde
ich vielleicht nicht ungern die Rechte studiren ; aber so wird
es am besten sein, ich bleibe bei meinem Leisten, und werde
in diesem Entschluss durch das Beispiel von tausend anderen
bestärkt, die nur durch Not und Erfahrung aller Art auf
einen grünenZweig gekommen sind.“ (Bächtold, Bd. I, S. 159.)
(19. Septbr. 1841.) — — „Ich kenne hier zu Dutzenden
junge Künstler von drei-, vier- bis fünfundzwanzig Jahren,
welche alle im Anfang die gleiche Geschichte und Not hat¬
ten, wie ich, und die nun sehr gut stehen. Wir wollen es
also einstweilen getrost darauf ankommen lassen; denn
wenn mir etwas anderes bestimmt wäre, so wären gewiss
meine Gedanken etwa schon darauf gefallen, und ich habe
bis jetzt keine Ursache, an der Vorsehung zu zweifeln.“
(Bächtold, Bd. I, S. 161). — — Und ebendas.: — — „Herr
Vogel mag wohl sechs Jahr lang in einem abgeschabten
Rock umhergegangen sein. Es war wahrscheinlich unter
den damaligen Künstlern so Mode. Hier geht es einmal
nicht; denn München ist noch ziemlich kleinstädtisch, wo
man auf dergleichen Sachen so gut sieht, wie in Zürich.“
Die „zwei Bilder, welches in Ol gemalte Skizzen
sind“, stehen zum Versand bereit. Keller erhofft
nur Gutes davon, denn er schreibt unterm 19. Sept.
1841 weiter:
„Das Resultat oder die Meinung Herrn Vogel’s oder
Ulrich’s in Zürich weiß ich schon; denn sie werden eben
nicht viel anderes sagen können, als die Künstler in Mün¬
chen: es gefalle ihnen u. s. f. Dass sie Dir raten würden
zu dem bestimmten Entschlüsse, nachdem sie die Sache ge¬
sehen, ist ziemlich gewiss.“ - „Künftigen Sommer
ist wieder Ausstellung in Zürich, und da werde ich, weil
dann die Fracht mich nichts kostet, mehrere Sachen hin¬
schicken, die mich mit Ehren vor denen herausbeißen sollen,
welche glauben, es werde nichts aus mir.“
Aber er muss vorher hinaus, nach der Natur
arbeiten und dazu braucht man Geld:
„Noch ein anderer Grund lässt mich wünschen, bald
Geld zu haben. Ich habe nämlic h Gelegenheit, mit ein
paar sehr geschickten älteren Künstlern ins Gebirge zu
reisen, um dort Studien zu machen, was mir von großem
Nutzen nicht nur im Lernen, sondern auch im Verdienen
sein würde. Allein die 4 Louisd’or, welche Du mir so gut
warst, zu schicken, reichen nicht für den ganzen Herbst hin,
und wenn ich warten muss, bis die Sachen in Zürich an¬
kommen und gesehen und beurteilt worden sind, so wird
es zu spät dazu. Sei also so gut und schreibe mir vorher
noch, ob ich sie verpacken soll, oder ob Du mir auf Treu
und Glauben das Geld aufnehmen willst. Sollte dies letz¬
tere der Fall sein, so müsstest Du aber sogleich ohne Auf¬
schub die Sache besorgen; denn es ist besser für Dich und
mich, wenn es vorüber und man der Sorgen ledig ist.“
Daran knüpft sich eine Bemerkung, seine reli¬
giösen Gefühle betreffend:
„Ich gehe öfter in die Kirche, aber nicht in unsere,
sondern in katholische, griechische und in die Judensyna¬
goge, wo ich, während sie ihre Künste treiben, auf meine
Art andächtig bin. Ich habe immerwährend das Bedürfnis,
mit Gott in vertrauensvoller Verbindung zu bleiben; aber
dessen ungeachtet ist es mir unmöglich, die nüchternen und
kalten Predigten unserer reformirten Pfaffen zu hören und
ihre alten, tausendmal aufgewärmten Gemeinsprüche, die
doch so selten in unsere gegenwärtige Lage passen, zu
Wiederkäuen.“
Die Sache mit dem Geldaufnelimen seitens der
Mutter ging nicht so schnell, wie Keller sich einbildete,
denn er dankt für die erste Rate unterm 20. Dezember.
Nun war freilich die Gelegenheit zum Studienmalen
nach der Natur abermals wieder für ein Jahr ver¬
passt. Die Studien im Lechthale bei Augsburg, von
denen er in einem früheren Briefe schreibt, waren
weniger künstlerischer als bacchischer Art: es war,
wie Bächtold berichtet, eine äußerst fidele Suite, die
in Gesellschaft von Kameraden ausgeführt wurde.
Das von der Mutter gesandte Geld reicht kaum
aus, die schwebenden Schulden, um welche sich be¬
reits die hohe Polizei bekümmert hatte, zu zahlen.
Keller wäscht sich rein von dem Vorwurfe, ein Ver¬
schwender zu sein, und schreibt (20. XII. 41):
„Ich bin nun über anderthalb Jahr hier und hatte bis¬
her 300 Gulden von Haus empfangen, während die Häus¬
lichsten 400 Gulden jährlich brauchen. Man kann mir
vorwerfen, ich hätte schon lange etwas anderes ergreifen
sollen; aber eben darin liegt der Has im Pfeffer, dass man
ausharren und nicht bei anfänglichem Missgeschick den
Zweck auf eine feige Weise aufgeben soll. — Ich hätte
koloriren können, aber deswegen bin ich nicht in München,
das könnte ich zu Hause thun; ich muss die Zeit, die ich
in dieser lehrreichen Umgebung zubringen kann, köstlicher
und nützlicher anwenden, als zum Koloriren, und die Jahre
würden mich nachher mehr reuen , als wenn ich gar nichts
gethan hätte.“ - — „Ich weiß am besten, was meine
Schuld ist und was nicht, und werde, so Gott will, noch
alle die naseweisen alten Lebensprediger, die trotz ihren
klugen alten Tagen noch nie allein ins Leben hinaus¬
geworfen waren, und trotz ihren Erfahrungen, mit denen
sie sich brüsten, noch nicht das eigentliche Unglück er¬
fahren haben, zu beschämen wissen. Die 300 Gulden werde
ich, wenn mir Gott Gesundheit und Leben schenkt, noch
vor sechs Jahren abzahlen. Schreibe mir, wenn die Zinsen
jährlich verfallen sind.“ — — — „Um Dir zu beweisen,
dass ich meine Schulden allenfalls nicht durch Floribus
und Wohlleben erworben habe, schreibe ich noch, was ich
sonst nie gesagt hätte, dass ich bei alledem dennoch oft
mehrere Tage nichts genossen habe, als Brot und ein Glas
Bier; was mir aber im geringsten nichts macht. Ich kann
mich an alles gewöhnen, und es soll mir’s kein Mensch an-
sehen. Ich schreibe dies nur, um allen Vorwurf von Lieder¬
lichkeit abzuwehren.“
Von dem „Grillenfang“, der im Grünen Heinrich
so köstlich beschrieben, von der monumentalen
Kritzelei auf dem acht Schuh langen Carton, von
dem zufällig durch den Borghesischen Fechter ver-
veranlassten Studium der Anatomie, das ihn allmählich
auf ganz neue Gebiete hinüberbringt und den Zu¬
stand vollkommenster Zerfahrenheit immer weiter ent¬
wickelt, ist in den Briefen nicht die Rede. Gleich¬
wohl ist anzunehmen, dass auch hier der Grüne
Heinrich wie in vielen andern Dingen, welche durch
die Veröffentlichung der Briefe und Tagebücher
84
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
nicht als erfundene Roman-Situationen, sondern wahre
Erlebnisse sich darstellen, getreulich ein Stück Setbst-
biographie giebt. Sein Umgang mit Studenten mag
ihn wohl — das kommt ja auch heut noch vor —
zuweilen in die Hörsäle geführt haben. Er kam vom
Hundertsten aufs Tausendste. Schnorr’s Nibelungen¬
bilder führten ihn auf Rechtsaltertümer, Sagen u.s.w.,
er wurde, wie er sich selbst
ausdrückt, „eine Art von Halb¬
student.“ Immerhin machte
er sich Gedanken über das
materielle Auskommen und
findet, dass leichtsinniges
Schuldenmachen eine sehr
verwerfliche Geschichte sei.
„Diese großen Worte, mit
denen ich mir den Rat eines
weisen Vaters ersetzte, regten
mein Gewissen doch so kräftig
an, dass ich Anstalt traf, die
Thore des Erwerbers aufzuthun.
Ohne längeres Säumen machte ich mich an den Entwurf
eines Landschaftsbildes von bescheidenem Umfange, dessen
Verkauf nicht von vornherein unwahrscheinlich war.
Zu Grunde lag ein ansehnliches Studienblatt aus der
Heimat, welches einen gerodeten Bergwald darstellte. Von
diesem zog sich ein stehengebliebener Saum von Eichbäumen
einen höheren Grat entlang und stieg auf demselben ins
Thal herunter an einen schäumenden Waldbach, wie ein
Zug schreitender Riesen, die sich unten sammeln und Rat
halten. Als ich mit dem Entwürfe fertig war, fühlte ich
•las Bedürfnis, die Ansicht eines Kunstgenossen einzuholen,
um nichts zu unterlassen, was ein Gelingen herbeiführen
konnte. Denn der Ernst der Sache wurde mir mit jedem
Striche fühlbarer.“ (Grüner Heinrich, Bd. IV, S. 35.)
Hier deckt sich Dichtung und Wahrheit wieder
Skizze von Q. Keller.
wenig an und jeder leuchtete mit ungebrochener Kraft; also
waren auch seine Bilder überall gern gesehen, und er kam
mit solchem Fleiße der Nachfrage entgegen, dass er schon
begann, Mangel an Gegenständen zu empfinden und mehr
Gemälde lieferte, als er Ideen dazu im Vorrat besaß. Er
wiederholte sich öfter und war sogar um einzelne Wolken
— oder Erdformen verlegen, da er alle schon ein oder
mehrere Male irgendwie gebraucht hatte, obschon er noch
nicht vierzig Jahre alt war. Denn er besaß eine stattliche
Frau und eine Schar Kinder, die ernährt sein wollten, und
da er bei dieser Bemühung einmal im glücklichen Schüsse
war, so gedachte er gleich auch wohlhabend zu werden.
Wenn man für die alten Tage sorgen will, pflegte er zu
sagen, so muss man das in den jungen Tagen thun. Auch
sei es ihm unmöglich, die einzelnen seiner Kinder in der
Armut zu denken; darum müsse er sie alle dagegen schützen
und zugleich hiedurch bewirken, dass sie einstmals für ihre
Kinder ebenso gesinnt seien; so nähmen die Dinge auf lange
ihren guten Verlauf, einzig infolge eines entschlossen ange¬
wandten Grundsatzes.“ (Grüner Heinrich, Bd. IV, S. 35.)
Dieser Mann nun, der „mehr Gemälde lieferte,
als er Ideen dazu im Vorräte besaß“, war der später
hochangesehene Landschafter Julius Lange aus Darm¬
stadt. Aus Gründen der Phantasie- und Motivlosig¬
keit stibitzt er dem weniger Gewandten, unserm Keller,
sein Motiv ab, indem er es in seiner Gegenwart auf
ein Stück Papier zeichnet, scheinbar in der wohl¬
wollenden Absicht, dem Unerfahrenen zu zeigen,
worauf es ankomme. Das Unglück will es, dass die
Bilder Beider gleichzeitig zur Ausstellung kommen,
wobei natürlich Keller den kürzeren zieht und:
,, A.ls ich im Weggehen einen Augenblick vor meinem
verlassenen Bilde weilte, überzeugte ich mich, dass es statt
besser zu werden, durch den Ratschlag des Meisters förmlich
verarmt war, zum Beweis, dass auch in diesen Dingen der
Fink nichts von der Drossel lernt.“ (Grüner Heinrich,
Bd. IV, S. 39.)
in jeder Beziehung. Im Grünen Heinrich ist die
vortreffliche Charakteristik eines jener „beliebten“
Maler gegeben, die trotz ihrer sichtlichen Oberfläch¬
lichkeit Lieblinge des großen Publikums sind und
es dadurch natürlich zu
Wohlhabenheit und, wie
viele Fälle es lehren, so¬
gar zu offizieller Aner¬
kennung, zu Titeln und
Orden bringen. Der ge¬
schilderte Mann ist ein
vorzüglich gezeichneter
Typus, der überall, wo
Kunst getrieben wird, seine
Vertreter hat, damals wie
heute.
„Der Mann besaß eine
sichere und wirksameTechnik;
er brachte sozusagen keinen
Pinselstrich zu viel oder zu
Die Aussicht, ein ehrlich entstandenes Arbeits¬
produkt in die Welt zu bringen, um dadurch den
ersten Schritt zur gewollten Selbständigkeit wirklich
zu thun, schlägt also fehl durch das wenig an¬
ständige Benehmen eines
geschickteren Kollegen.
Von dem Unglücke aber,
das dem Bilde selbst durch
unvorsichtige Behandlung
seitens des Autors passirte,
ist in einem Briefe an
seine Mutter die Rede :
(21. März 42).
,, — — Letzten Februar
hatte ich einen Unfall. Der
Kunstverein hier kauft all¬
jährlich eine Menge Bilder an,
welche dann verlost werden.
Die Verlosung war am 16.
Februar. Der Verein hatte
noch eine Summe Geldes übrig,
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
85
welche noch verwendet werden musste; aber es waren nicht
genug Gemälde zum Verkaufe da. Man lud daher mehrere
Künstler ein, etwas einzusenden, und ich wurde auch ge¬
fragt, ob ich vielleicht etwas Fertiges hätte, das ich zu ver¬
kaufen wünschte. AVenn ich ein kleineres Bild zu 60 80
Gulden hätte, so wolle man es nehmen. Ich lief vergnügt
nach Hause und sah nach, fand eine Landschaft, die ich
vor mehren Monaten schon gemalt hatte und zeigte sie vor.
Man fragte mich um den Preis; ich sagte 6 Louisd’or.
Wurde angenommen. Nur sollte ich noch eine kleine Ab¬
änderung machen. Ich pechirte wieder heim, pinselte noch
schnell daran herum, und weil die Verlosung schon in zwei
Tagen vor sich ging, so stellte ich das Bild an den Ofen,
damit es schnell trockne, und verfügte mich darauf in die
Kneipe, um ein Glas Bier auf den glücklichen Handel zu
trinken. Ich sah das Bild nicht mehr an bis an den fol¬
genden Morgen, und als ich es da vom Ofen wegnehmen
wollte, siehe — da war meine arme Landschaft von oben
bis unten angebrannt! Fahret hin, ihr teuren 60 Gulden!
Ihr könnt Euch denken, wie ich geflucht habe; denn
ich hatte nichts anderes fertig, das ich statt des verbrann¬
ten hätte verkaufen können.“ *) (Bächtold, Bd. I, S. 173.)
Schon früher hatte Keller geschrieben:
„Ich kann nun bei dem eifrigen Kunstleben, welches in
Deutschland herrscht, meine Arbeiten so gut verkaufen als
ein anderer, wenn ich fleißig bin und mich anstrenge. Ich
werde deswegen den ganzen Sommer über ins Gebirge gehen,
um nach der Natur zu zeichnen (was ich nun zwei Jahre
nicht gethan habe und mein größter Schade war), damit ich
im Herbst und über den Winter Stoff zu Bildern habe.
Wenn ich das Bild in Zürich oder anderswo verkaufe, so
kann ich den ganzen Sommer über wie ein König leben,
und im Herbst weiß ich ganz sicher wieder eine Landschaft
in München zu verkaufen.“ (Bächtold, Bd. I, S. 173.)
Er fühlte also den Mangel eingehender Natur¬
studien sehr gut. Indessen entschließt er sich, vor¬
her noch etwas für die Züricher Ausstellung d. J.
1842 zu machen, das denn auch richtig abgeht.
1) J. C. Werdmüller, ein Münchener Zeitgenosse Keller’s,
erzählte mir diesen Vorfall, lang ehe die Keller’ sehen Briefe
veröffentlicht wurden. Er hatte den Schaden selbst mit an¬
gesehen. Von ihm rührt eine kleine komische Radirung
her, welche sich in der Sammlung der Züricher Stadtbiblio¬
thek findet. Da sieht man G. Keller, angethau mit großem Rad¬
mantel und gewaltiger Schirmmütze, das spanische Rohr —
dess Abhandenkommen Keller in große Trauer versetzte — in
der Hand. Darüber ein Wappen mit einem Bierfässchen und
auf einem Spruchband die Worte: „Hier steht Herr G. Keller.“
Eine Bleistiftzeichnung von J. S. Hegi, datirt: 7. Okt. 1840,
in der gleichen Sammlung befindlich und offenbar sehr ähn¬
lich, stellt Keller dar, wie er auf dem Sopha eingeschlafen ist,
die Mütze auf dem Kopf, unter dem die eine Hand liegt,
während die andere in der Tasche steckt. Ein anderes
Portrait, am gleichen Orte aufbewahrt, ist von verwandter
Auffassung. Endlich ist irgend einer Heldenthat des Grünen
Heinrich ein Denkmal gesetzt in einem ebenfalls der Bibi,
zu Zürich gehörenden Blatte, gezeichnet von Werdmüller.
Keller, auf dem Kopfe die große Schirmmütze, in aufgestülp¬
ten Hemdärmeln, hat den „Pfifenjoggel“ auf den Rücken ge¬
legt. Ein Mädel in alter Münchener Tracht reicht dem
Sieger einen Kranz, rechts ein lachender Bierkrug, im Hin¬
tergründe die Frauentürme.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 3.
Abermals verfolgt ihn das Pech. Das Bild litt nicht
gerade Schaden auf der Reise, doch war es, wie sich
die Mutter ausdrückt, „ganz voll Dreck und Mist“,
wurde nicht ausgestellt, wohl aber im Kataloge auf¬
geführt. Statt dass nun jemand dem Abwesenden
an die Hand gegangen wäre *) und den geringen
Schaden in Ordnung gebracht hätte, wurde das Bild
beiseite gestellt und erst nach allen nur denkbaren
Schritten, welche Keller’s Mutter dafür that, hervor¬
geholt, in Ordnung gebracht und ausgestellt. Alle
Bemühungen, es für die Verlosung empfehlend in
Erinnerung zu halten, nützten nichts. „Man kaufe
nur ausgezeichnete Bilder“ war die stereotype Ant¬
wort. Dagegen ist erfreulich, was Ludwig Vogel
der Mutter sagt und was sie ihrem Sohne mitteilt
(8. Juli 1842):
„Obgleich Dein Bild hier leider nicht in die Auswahl
gekommen, so muss ich Dir doch noch einmal darüber
schreiben. Das eine wird Dich ermutigen, das andere wird
Dich ärgern. Die Ausstellung wurde also für acht Tage
verlängert bis Mittwoch den 22. Juli. Ich fasste noch den
Mut und ging Montag d. 20. zu Herrn Vogel im „Berg“,
hauptsächlich, ein richtiges Urteil über Dein Bild zu ver¬
nehmen. Er war sehr freundschaftlich und sagte: „Mit
Freuden kann ich Ihnen sagen, dass mir das Ganze sehr
gut gefallen bis auf die Luft. Das Gewölk ist viel zu
schwer und zu dick. Es sollte viel leichter und reiner sein.
Bemerken Sie ihm dieses, wenn Sie schreiben! Sonst ver¬
rät das Bild sehr viel Fassungskraft und Erfindungsgeist.
Ich kann Ihnen sagen, dass ich dieses nicht von ihm er¬
wartet habe. Ich habe mich beim Anschauen des Bildes
sehr verwundert u. s. w. Ich hoffe, dass er später schöne
Sachen liefern könne“. (Bächtold, Bd. I, S. 180).
Der gleiche Brief beleuchtet so recht bezeichnend
die Zustände, unter denen die Ankäufe zu stände
gebracht wurden. Der patzigste unter allen „Kunst¬
freunden“, an welchen sich die besorgte Mutter
1) Die Ausstellung war nicht so groß an Umfang, dass
dies nicht hätte geschehen können. Sie zählte 249 Nummern.
In die Verlosung kamen 39. — Es ist rührend, was die
Mutter darüber schreibt: — — — „Es wurde mit großen
Augen von uns Nichtkennern bewundert. Ich stand lange
mit Nachdenken dabei und berechnete eben die Kosten der
Rahmen und die Zeit der Arbeit. Und dann wieder die Be¬
sorgnis, wenn es hier nicht verkauft wird! Freude und
Kummer wechselten stets meine Gedanken.“
Bezeichnend aber ist, was folgt: „Ich ging wieder zu
Frau Dekan, weil sie auch etwa Einfluss hat. Sie sagte,
dass sie Donnerstag den ganzen Nachmittag dort gewesen.
Das Bild habe ihr ziemlich gefallen!“ — — — - — Es muss
einem dabei doch unwillkührlich einfallen, was der schwei¬
zerische Bundesrat i. J. 1894 bezüglich des in Bern statt¬
findenden „Salons“ bestimmte. Bisheriger Gepflogenheit zu¬
wider sollen nämlich in Zukunft Bilder, welche von Mit¬
gliedern der Ankaufskommission gemalt sind, nicht mehr
zum Ankäufe zugelassen werden! — Die Bestimmung ist
nicht grundlos erfolgt.
12
S6
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
wendet, ist ein ,, Kunst-“ und Flach-Maler (Anstreicher)
Huber, der natürlich auch das breitmäuligste Urteil
abgieht.
Das Bild wurde nicht verkauft. Von der Not,
die inzwischen über ihren Gottfried hereingebrochen
war, hatte die Mutter keine Ahnung. Er schreibt
zwar unterm 24. October 1842:
„Ich habe meine Not einigen älteren Herrn geklagt,
■welche mir den Rat gaben, einige Monate nach Hause zu
gehen, dort fleißig zu arbeiten, weil mich das Leben nicht
so hart ankommt, wie hier, und nachher wiederzukom¬
men. Ich fand diesen Rat ziemlich gut, besonders, da ich
ein wenig Heimweh verspüre und eigentlich fast keine an¬
dere Wahl ist, wenn ich nicht ärger in die Tinte kommen
will. - Dass ich also heimkomme für ein
paar Monate, ist ziemlich nötig, und Du wirst mir Deine
Thore gewiss nicht verschließen; ich werde mein Möglichstes
thun, dass Dir meine Anwesenheit nicht zu beschwerlich
fällt. Es handelt sich hauptsächlich um das Reisegeld. Ich
erwarte zwar alle Tage mein Bild aus Basel zurück, wel¬
ches ich auf jeden Fall für 40 oder 50 Gulden einem Händler
verkaufen kann, um Reisegeld zu bekommen; aber da es
auf dem Hinweg so unsicher ankam, so könnte es sich jetzt
leicht auch verzögern ’). Ich muss aber bis in zehn Tagen
mein Logis räumen und möchte nicht gerne noch ein neues
mieten vorher. Wenn es Dir also möglich ist, so bitte ich
Dich, mir 30 Gulden zu schicken, damit ich dadurch nicht
aufgehalten bin und sogleich fort kann. Kommt mein Bild
noch vorher, so bringe ich das Geld dafür wieder heim, und
kommt’s nachher, so wird ein Freund von mir es besorgen
und überschicken. Nur muss ich Dich bitten, mir sogleich
es zu schicken, oder im Nichtfalle mir zu schreiben. Über
alles weitere hoffe ich mündlich Dich zu besprechen und
zu beruhigen, da Du alle Ursache hast, über diese neue un¬
verhoffte Lage der Dinge besorgt zu sein und zu glauben,
es werde am Ende halt immer so gehen. Aber ich kann
Dir nur versichern, dass es zwei Dritteln von den Künstlern
so gegangen ist, und ich mache halt die Erfahrungen die
ein jeder gemacht hat. Besser ist’s, man hat in der Jugend
zu kämpfen als im Alter. Freilich quält’s mich genug, dass
Du am meisten dabei zu leiden hast. Wäre ich früher nach
München gekommen, so wäre ich früher aus dem Pech; denn
ich sehe immer mehr ein, dass meine Zeit und Lehrjahre zu
Hause rein verloren waren“. (Bächtold, Bd. 1, S. 185).
1) Keller macht in einem späteren Briefe an seine
Mutter, geschrieben zu Frauen fei d, seinem gepressten Herzen
über diese Zustände Luft: „Mein Bild habe ich den letzten
Tag vor meiner Abreise noch erhalten, aber in welchem Zu¬
stande! Der Rahmen war ganz ruinirt. Es war lurnpen-
mäßig eingepackt. Es nimmt mich nur Wunder, dass sich
die hochmütigen und vornehmen Herrn Kunstgönner in der
Schweiz nicht schämen, einen jungen Kerl und armen Teufel
so um seine Sachen zu bringen“!! Ob’s ihm heute anders
erginge? Einem jungen, in München lebenden Schweizer
Künstler wurde vor einigen Jahren bei der Kunst- Ausstellung
in Bern ein Loch in sein Bild gestoßen. Auf seine Be-
-ch werde hin wurde ihm der Bescheid: „Man könne ja ein
Stück von dem Bilde abnehmen oder es oval zuschneiden,
dann bliebe es immer noch eine ganz hübsche Ausstellungs¬
nummer“. Der das schrieb, war aber nicht etwa oben ge¬
nannter Herr Huber, „Kunst-“ und Flachmaler, ein „Seld-
wyler“ aber war er sicherlich.
Der nächste Brief ist datirt: Frauenfeld, den
22. November 1842. Keller batte also den Rückzug
von München angetreten und damit zugleich — er
ahnte es vielleicht selbst noch nicht — den Rück¬
zug vom bisherigen Streben. Die Ursachen, die ihn
dazu zwangen, hat er im Grünen Heinrich niederge¬
legt. Er war manchmal geradezu am Verhungern.
In dem Kapitel des Romanes „Das Flötenwunder“
ist ohne Umschweif die ganze Künstler-Misere er¬
zählt. Keller nahm nochmals einen Anlauf, dem
Schicksale zu trotzen, und malte ein paar kleinere
Sachen, die er, ein öffentliches Ausstellen umgehend,
beim Kunsthändler anzubringen hoffte. Bescheiden
tritt er in die Räume des Mannes ein, „welcher auch
ganz neue Bilder kaufte, wenn sie vor seiner Kenner¬
schaft Gnade fänden, oder seine Gewinnlust sonst
durch irgend einen geheimnisvollen Vorzug reizten.“
Die Charakterisirung des Händlers und der Lieb¬
haberkonferenz, „durch die solche Biedermänner ihrem
Hazardspiel einen wissenschaftlichen Anstrich zu
geben pflegen“, ist vorzüglich. Es wäre heute nicht
um ein Haar anders.
Getäuschte Hoffnung! Er darf seine zwei Bild¬
chen nicht einmal vorzeigen. Ein Händler niedereren
Ranges ist die nächste Station. „Die Sachen sind
nicht übel, aber sie sind nach alten Kupferstichen
gemacht“, lautet der Bescheid. Keller beteuert, dass
Naturstudien zu Grunde lägen.
„In diesem Falle kann ich die Bilder erst recht
nicht brauchen. Man wählt nach der Natur keine
Motive, die wie aus alten Kupferstichen aussehen.
Man muss mit der Zeit leben und vorwärts schreiten.“
„Da hatte ich die ganze Stilfrage in einer Nuss!“
Weiter, weiter! Ein israelitischer Schneider, der auch
mit Bildern handelt, „zeigt sich gleich bereit, die
Sachen anzunehmen, betrachtet sie mit lüsterner
Neugierde, ließ sich alles wie, was und wo erklären
und fragte zuletzt, ob ich die Dinger wirklich selbst
gemacht habe und ob sie gut gemalt seien? Das war
gar nicht so naiv, wie es aussah; denn er blickte
mich in der Zeit genau an, um aus meinen Mienen
den Grad meines berechtigten oder eitlen Selbstver¬
trauens zu lesen, wie er einen andern, der ihm einen
goldenen Ring antrug, zunächst frug, ob derselbe
auch echt sei.“ Der Antrag lautet auf Übernahme
in Kommission. Lauter fehlgeschlagene Hoffnungen!
Dazu der Zwiespalt im eigenen Wesen:
„Während Wahl und Pflicht mich an das körperliche
Schaffen banden, gewöhnte sich der Geist an das Leben in
seiner eigenen Bewegung; das langsame, kaum mehr von
Hoffnung beseelte Hervorbringen eines einzigen Gedankens
durch die Hände schien voll unnützer Mühsal zu sein, wenn
KLEINE MITTEILUNGEN.
87
in der gleichen Zeit tausend Vorstellungen auf den Flügeln
des unsichtbaren Wortes vorüberzogen. Diese verkehrte
Empfindung beschlich mich um so unbewachter, als meine
Teilnahme an wissenschaftlichen Dingen sich auf Hören und
Lesen, auf bloßes Empfangen und Genießen beschränkte
und ich die Arbeit wissenschaftlichen Hervorbringens nicht
aus Erfahrung kannte. So drehte ich mich gleich einem
Schatten umher, der durch zwei verschiedene Lichtquellen
doppelte Umrisse und einen verfließenden Kern erhält.“ —
(Grüner Heinrich, Bd. IV, Seite 56).
Das Einbinden eines Manuskriptes kostet den
Restbestand der mageren Barschaft und zum ersten
Male hungert er, und zwar gleich mehrere Tage hin¬
tereinander. Als erstes, was zur Linderung der
schlimmsten Not versilbert wird, kommt die Flöte
dran. Mit bellendem Ma^en muss er dem Trödler
o
auch noch was Vorspielen und wählt hierzu die Arie
aus dem Freischütz: „Und ob die Wolke sie ver¬
hülle — die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ — —
Der Flöte folgt der „bescheidene Bücherschatz“, dann
Studien und Zeichnungen, erst einzeln, dann partien¬
weise. Schließlich werden die großen Kartons in
kleinere Stücke zerschnitten, um quantitativ nach
mehr auszusehen, und als diese Quelle des Lebens¬
unterhaltes endlich auch versiegt, lässt er sich von
seinem alten Trödelmännchen anstellen, um Fahnen¬
stangen anzustreichen. Bald geht die Arbeit gut von
statten. Der schon einmal genaunte Werdmüller
sagte, dass auch dies keineswegs in’s Gebiet der
Dichtung gehöre, sondern dass man in der letzten
Zeit Keller selten gesehen und er selbst auch nie
gesagt habe, wo er tagsüber weile. Farbenspuren
an den Händen und Kleidern hätten aber verraten,
dass er „anstreiche.“
Keller hat später einmal, auf die anfänglichen
Misserfolge seiner lyrischen Gedichte anspielend,
gesagt: „Wenn man mit einer Sache nicht durch¬
dringt, so liegt die Schuld nicht an den andern,
sondern am Urheber selbst, der entweder voreilig
und leichtsinnig verfahren ist oder schlecht beraten
war.“ Vielleicht ist dies auch auf den Maler Gott¬
fried Keller anwendbar. Er kehrte der Kunststadt
den Rücken und zog im Herbst 1843 wieder heim,
gen Zürich.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Moderne Elzevir-
ausgaben bringt eine
neue, junge Verlags¬
firma , Hermann See-
mann in Leipzig, in
den Handel. Es sind
kleine Sedezbändchen
nach dem Muster fran¬
zösischer und engli¬
scher Luxusausgaben,
durch zierliche Holz¬
schnitte illustrirt und
mit gutem Geschmack
ausgestattet. Seither
erschienen folgende
Bändchen : Chamisso,
Peter Schlemihl, Shakespeare, Romeo und Julia, Heine,
Harzreise, Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts,
klassische Balladen von Goethe und Schiller, Lessing’s Minna
von Bamhelm. Jedes Bändchen kostet geheftet 2 M. ; in
weichem, sehr ansprechendem Ganzlederband 3 M. Sechs
Bändchen in elegantem Lederkästchen sind für 20 M. er¬
hältlich und bilden eine treffliche Weihnachtsgabe.
Auf Wunsch der Vorstände des Britischen Museums sollen
auf dem sog. Parliament Hill in der Nähe von London Aus¬
grabungen vorgenommen werden. Es handelt sich um die Lös¬
ung der Frage, ob unter dem dortigen Tumulus die Königin Boa-
dicea begraben ist, wie der Volksmund behauptet. Sie ver¬
suchte England vom Joche der Römer zu befreien, nahm
Verulamium im Gebiete der Catavellauner ein, und drang
bis Londinum vor, nachdem sie in einer großen Schlacht
angeblich 90000 Römer hatte töten lassen. Von Suetonius
Paulinus besiegt, vergiftete sie sich im Jahre 63 n. Chr. —
Fachmänner sind der Ansicht, dass die Königin mit ihrer
Goldkette , die von Tacitus ausführlich beschrieben wird, be¬
graben wurde, so dass die Identität etwaiger Vorgefundener
Gebeine leicht festgestellt werden könnte. — : —
Im „Bolletino archeologico“ zeigt Professor Orazio Ma-
rucchi den Fund eines fragmentarischen antik-römischen
Kalenders auf dem Esquilinus an. Dieses Calendarium
wurde bei den Erdarbeiten, welche gegenwärtig zur Ver¬
längerung der Via dei Serpenti ausgeführt werden, auf einem
Grundstücke vor dem Kolosseum ausgegraben. Marucchi
verlegt die Zeit der Anfertigung des Kalenders in die ersten
Regierungsjahre des Tiberius, weil die göttlichen Ehren dar¬
auf Erwähnung finden, welche dem Andenken des Augustus
im Jahre 767 der Stadt erwiesen wurden. Marucchi schließt
daraus für die Entstehungszeit des Calendariums auf die
Jahre 768 oder 769. R. Bk.
Der Akademie der Inschriften in Paris teilte Homolle,
der Direktor der französischen Schule in Athen, mit, dass
der zweite mit antiken Musiknoten versehene Hymnus, der
im Schatzhause der Athener zu Delphi ausgegraben wurde,
sich von dem im letzten Jahre entdeckten Apollon- Hymnus, der
so großes Aufsehen erregte, dadurch unterscheidet, dass er
nicht nur mit Gesangs-, sondern auch mit Instrumentalnoten
versehen ist. — Da die Griechen für die Instrumente ein
anderes, altertümlicheres Notenalphabet brauchten, als für
die Stimmen, ist ein Irrtum unmöglich. Diese großartige
archäologische Entdeckung wird endlich in die Frage Licht
bringen, inwiefern die Griechen Harmonie anwendeten. — : —
Aus Eichendorff’s Taugenichts.
(Hans Looschen.)
8S
KLEINE MITTEILUNGEN.
Zu unserem Bilde. Die
diesem Hefte beigegebene
Originalradirung von K.
Jahncke „Die heilige Nacht“
gehört zu den Radirungen,
die bei der Konkurrenz im
Oktober 1892 von den Preis¬
richtern für würdig erachtet
wurde, angekauft zu werden.
Über seine Entwickelung
teilt uns der Künstler fol¬
gendes mit: „Ich bin in
Güstrow in Mecklenburg-
Schwerin als Sohn eines
Realschullehrers am 20.
April 1860 geboren, verlor
meine Eltern frühe, und da
von meinen Verwandten
für nötig befunden wurde,
dass ich bald auf eigene
Füße gestellt werde, so
wurde ich in die Lehre zu
einem Maler und Lackirer
gethan; absolvirte dort eine vierjährige Lehrzeit und ging
als Malergehilfe nach Berlin. Nachdem ich majorenn
geworden, benutzte ich ein kleines Erbteil zum Besuch der
dortigen Kunstakademie, doch stand ich bald ohne Mittel
und musste mir meinen Unterhalt durch kunstgewerbliche
Arbeiten zu erringen suchen, um somit die Akademie weiter
besuchen zu können. Mir gefiel jedoch die Berliner Mal¬
weise nicht, und so trachtete ich immer, nach München zu
kommen, was ich im Jahre 1886 auch ausführen konnte.
Ich trat hier in die Malschule des Herrn Prof. v. Linden-
schrnit und später in
das Atelier für Radi¬
rung des Herrn Pro¬
fessor J. L. Raab und
wurde vom Professoren¬
kollegium auch mit einer
Medaille für meine Ar¬
beiten ausgezeichnet. Im
Jahre 1889 machte ich
mich selbständig und
habe seit dieser Zeit alle
Jahre im Glaspalast,
Wien, Berlin, Chicago
etc. ausgestellt. Meine
ersten Arbeiten waren
Porträts in Ölfarbe und
kann ich wohl sagen,
dass dieselben nicht un¬
beachtet blieben. In¬
zwischen hatte ich
eine große Radirung
nach dem Bilde 0.
Gebler’s (Reineckes En¬
de, neue Pinakothek) gemacht, und bei einer von dem
hiesigen Kunstverein ausgeschriebenen Konkurrenz wurde
mir auf oben erwähnte Radirung hin der Auftrag zu teil,
nach dem bekannten Gemälde des Herrn Prof. W. v. Diez
(Das Verhör) eine große Platte zu radiren, was ich auch
zur Zufriedenheit des Vorstandes des Kunstvereins that. Von
meinen Originalradirungen wurde meine „Heilige Nacht“
derzeit von Ihnen angekauft und wird somit wohl am mei¬
sten bekannt werden“.
Aus Cbamisso’s Peter SeMemilil.
(Hans Looschen.)
Aus Heine’s Harzreise. (Ludw. Stein )
Aus Hauffs Phantasien. (Adelb. Niemeyer.)
Herausgeber: Carl von TAitxoiv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
DIE HEILIGE NACHT.
DtucI v. L.An^erer , Berlin.
Stürmische Wogen. Monumentalbrunnen in Dresden von R. Diez.
DIE NEUEN DRESDNER MONUMENTALBRUNNEN.
MIT ABBILDUNGEN.
ENN man die Summen ver¬
gleicht, welche die einzel¬
nen deutschen Staaten für
öffentliche Kunstzwecke
jährlich auf wenden, wird
man finden, dass auf diesem
Gebiete der sächsische Staat
in erster Reihe zu nennen
ist. Ähnlich verhält es sich mit der Haupt- und
Residenzstadt Dresden, die durch eine Reihe nicht
unbeträchtlicher Stiftungen in der Lage ist, von Zeit
zu Zeit größere Aufträge für ihre Verschönerung
durch die Kunst zu erteilen. Es ist gar keine Frage,
die Staatsregierung ebensowohl wie die Stadtver¬
waltung sind in Dresden eifrig bemüht, die monu¬
mentale Kunst zu fördern. Wie weit dieses Be¬
streben von Erfolg gekrönt ist oder nicht, darüber
gehen allerdings die Meinungen der Kunstverstän-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 4.
digen oft sehr auseinander, und thatsächlich erfährt
so manche Schöpfung, die der Dresdener Lokal-
patriotismus in den Himmel erhebt, außerhalb eine
ziemlich kühle Beurteilung. Um so erfreulicher er¬
scheint daher der Umstand, dass die neueste Be¬
reicherung an Kunstwerken, die Dresden durch die
Errichtung der beiden Monumentalbrunnen auf dem
Albertplatz erfahren hat, einstimmig als eine überaus
dankenswerte Gabe der Güntz-Stiftung an die Stadt
bezeichnet worden ist. Die beiden Brunnen bilden
eine entschiedene Anziehungskraft für die Neustadt,
die sich bisher eines künstlerischen Schmuckes von
ähnlichem Werte nicht zu erfreuen hatte, und wenn
wir auch die von Dresdener Kritikern wiederholt
ausgesprochene Versicherung, dass keine deutsche
Stadt so herrliche Brunnen wie diese besitze, nicht
zu unterschreiben vermögen, weil wir uns sofort an
die schönen Renaissancebrunnen süddeutscher Städte,
13
90
DIE NEUEN DRESDNER MONUMENTALBRUNNEN.
z. B. an die Brunnen in Wien, München, Augsburg
und Nürnberg erinnern und billig genug denken, um
auch dem Leipziger Mendebrunnen und dem neuen
Berliner Schlossbrunnen ihr Recht widerfahren zu
lassen, so stimmen wir doch allen denen bereitwilligst
zn, welche die beiden Dresdener Brunnen als höchst
bedeutende Leistungen anerkennen.
Ihr Schöpfer ist der Bildhauer Robert Diez, der
sich schon durch seinen im Jahre 1888 vollendeten
Gänsedieb auf dem Brunnen am Ferdinandsplatz in
der Altstadt einen geachteten Namen errungen und
als Nachfolger HäJmels bereits erfreuliche Proben
seiner Wirksamkeit als Lehrer an der Dresdener
Akademie abgelegt hat. Fast zwei Jahrzehnte lang
hat sich Diez mit dem Gedanken an diese Brunnen
beschäftigt, da bereits im Jahre 1875 bei der An¬
lage der beiden großen Wasserbecken der Plan auf¬
tauchte, sie mit plastischem Schmuck zu versehen.
Bei dem vom Rat im Jahre 1879 ausgeschriebenen
Wettbewerb wurde der Diez’sche Entwurf neben
zwei anderen durch Verleihung eines Preises aus¬
gezeichnet. Doch vergingen noch eine Reihe von
Jahren, bis eine endgültige Entscheidung getroffen
wurde. Erst zu Weihnachten 1883 erhielt Diez vom
Rat den Auftrag, den figürlichen Schmuck der beiden
Brunnen nach seinen inzwischen umgearbeiteten
Entwürfen für den Erzguss zu modelliren. Der
Guss erfolgte in der Erzgießerei von Albert Bierling
in Dresden, aus der in neuerer Zeit eine Reihe
technisch wohlgelungener Werke hervorgegangen
sind. Die beiden großen, aus geschliffenem Granit
hergestellten Wasserbecken, aus denen die Diez’schen
Gruppen hervorragen, sind das Werk des Architekten
Weidner , während der Schmuck der bronzenen
Schalen über den Figuren von dem Bildhauer
Clemens Grundig herrührt.
Beide Brunnen gehören auf das engste zusam¬
men und bilden trotz der Gegensätze, die in ihnen
verkörpert erscheinen , eine in sich geschlossene
künstlerische Einheit. In der einen Gruppe hat
Diez versucht, die „stürmischen Wogen“, in der
anderen das „stille Wasser“ darzustellen. Er that
dies in der Weise, dass er in dem ersten Falle männ¬
liche Kraft und wild bewegte Leidenschaft, in dem
zweiten weibliche Anmut und Schönheit und idyl¬
lischen Frieden zu Trägern seines Gedankens erhob.
Zu diesem Zwecke griff er in die uns von den Alten
überlieferte Welt der Wassergötter und Wasser¬
menschen, aber er vermied die große Gefahr, uns
frostige Allegorien und Gestalten nach bekannten
Mustern zu geben, und hat sich gerade dadurch als
ein selbständiger, mit reicher Phantasie begabter
Künstler erwiesen.
Im einzelnen seine Gestalten und Gruppen auf
ihre spezielle Bedeutung untersuchen zu wollen,
halten wir für verfehlt. Man kann sich leicht eine
Erklärung ausdenken und ein sinniges Märchen da¬
zu erfinden; wenn man aber im Angesicht der
Brunnen die Probe machen will, kommt man bald
in die Brüche und muss sich gestehen, dass auch
eine andere Auffassung möglich sei. Darin liegt
vielleicht ein Mangel der Diez;schen Schöpfungen,
ein Mangel wenigstens für den, der auch bei dem
Betrachten eines Kunstwerkes nicht über die süße
Gewohnheit des Schulmeistern s hinauskommt. Wer
aber ein großes Kunstwerk als Ganzes zu erfassen
weiß und der Phantasie des Künstlers möglichst
unbeschränkte Rechte zugesteht, wird nicht mäkeln
wollen, wenn ihm der Zusammenhang der Gruppen
im einzelnen nicht unmittelbar klar ist, ebenso wenig
wie er geneigt sein wird, Böeklins Bilder oder
Klingers Radirungen deshalb zu verwerfen, weil ihm
nicht jede in ihren Schöpfungen hervortretende Be¬
ziehung sofort verständlich wird.
Am deutlichsten, das ist für uns unzweifelhaft,
hat der Künstler seine Absichten in den „stürmischen
Wogen“ auszudrücken gewusst, die uns in jeder
Hinsicht als die bedeutendere Leistung erscheinen.
Wie gewaltig ist die männliche Figur, die auf dem
aus dem Gewühl sich mit äußerster Kraftanspan¬
nung emporarbeitenden Meerross mit den Krallen¬
füßen dem Beschauer entgegenstürmt. Der Künst¬
ler mag sich dabei wohl die Personifikation des
Sturmes gedacht haben, der die Wogen und Wellen
zum tosenden Kampf aufruft. Aber auch alle
übrigen Gestalten dieser Gruppe zeigen sich in
leidenschaftlichster Bewegung begriffen. Der Aufruhr
des Elementes ist, wenn wir den Künstler recht
verstehen, nichts anderes, als die Wirkung, die der
Hass und die Feindschaft seiner Bewohner unter¬
einander erzeugt. Wenn aber der Kampf ausgetobt
hat und die bösen Geister sich zeitweilig zur Ruhe
gezwungen haben, dann senkt sich Frieden und Se¬
ligkeit über die Wasser und die lieblichen Bewohner
der Tiefe, die der Dichter sich nur in Gestalt schöner
Meermädchen und Meerfrauen denken kann, steigen
empor und verlocken die Menschen durch ihren Ge¬
sang und ihre Schönheit, in ihr Reich unterzutauchen.
Diese Gedanken werden durch die weiblichen Fi¬
guren, die das „stille Wasser“ verkörpern sollen,
ausgedrückt. Aber, merkwürdig genug, so wahr¬
haft genial Diez in der Darstellung der Kraft und
DIE NEUEN DRESDNER MONUMENTALBRUNNEN.
91
Leidenschaft erscheint, so wenig sicher fühlt er sich
in der Schilderung weiblicher Anmut und Schönheit.
Die ganze Gruppe, die, wie die der „stürmischen
Wogen“, in vier Einzelgruppen zerlegt werden kann,
ist ohne Zweifel ungemein schön komponirt. Aber
dass sie komponirt erscheint und nicht so, wie die
der Wogen, unmittelbar wirkt wie das Leben, darin
liegt ihr relativer Mangel. Dazu kommt noch der
weitere Fehler, dass die eine oder die andere dieser
weiblichen Gestalten den Eindruck akademischer
lieh zum Ausdruck, ohne dass von einer Übertreibung,
wie sie die Barockkunst in solchen Fällen häufig
zeigt, die Rede sein könnte. Der Künstler muss die
sorgfältigsten Naturstudien gemacht haben, um so,
bis aufs Kleinste herab, seine Aufgabe bewältigen
zu können. Nur in einem Falle können wir uns
mit seiner Ausführung nicht einverstanden erklären;
oder hätten wir Unrecht, wenn wir behaupten, dass
solche Hüften, wie sie der oben erwähnte Reiter zeigt,
nicht mehr männlich, sondern entschieden weiblich
Stilles Wasser. Monumentalbrimnen in Dresden von B. Diez.
Korrektheit und Leere macht, was z. B. bei der
sitzenden Figur, die einen Blumenstengel betrachtet,
und bei der singenden Gestalt, die das Saitenspiel
rührt, der Fall ist.
In technischer Hinsicht verdienen die Diez’scben
Figuren die höchste Anerkennung. Diez erweist
sich hier als ein Meister, der auch die schwierigsten
Aufgaben zu bewältigen versteht. Namentlich ist
die Durchbildung der männlichen Körper, bei denen
die heikelsten Verkürzungen Vorkommen, geradezu
staunenswert. Die wilde Energie, die ihre Seele er¬
füllt, kommt in der Anspannung der Muskeln deut¬
sind? Doch genug mit solchen Ausstellungen. Der
Größe der Diez’sclien Leistung können sie nichts
anhaben. Die beiden Brunnen *) sind Kunstwerke,
auf die Dresden stolz sein kann, weil sie sich dem
Besten würdig anreihen, was die deutsche Kunst in
unserer Zeit aufzuweisen hat. -V- A- LIEB.
1) Die Nachbildungen, die wir bringen, sind nach Pho¬
tographien von E. Sonntag in Dresden hergestellt, der zwölf
Aufnahmen von den Brunnen gemacht hat. Sie sind in jeder
Hinsicht vorzüglich ausgefallen und verdienen die Beachtung
der Kunstfreunde in hohem Maße.
13
BURNE-JONES.
MIT ABBILDUNGEN.
0 WEIT auch die Ansichten
über den Wert der Werke
von Burne-Jones auseinander
gehen mögen, so viel steht
fest, dass er augenblicklich
einer der beliebtesten engli¬
schen Maler ist und dass für
seine Bilder sich ein unausge¬
setzt wachsendes Interesse bekundet. Burne-Jones
ist der Repräsentant eines besonderen Stils und ein
Originalmeister ersten Ranges. Er sieht das Leben
durch das Medium seines eigenen poetischen Tem¬
peraments, und hat, um Anerkennung zu finden, einen
langen dornenvollen Weg zurücklegen müssen, bis
er schließlich siegreich zum Ziele gelangte. Der
Geist der Wissenschaft ist in jeden Zweig der bil¬
denden Kunst eingezogen und Burne-Jones hatte
deshalb besonders zu kämpfen, da er hiervon in der
Malerei nichts hören will. Schönheit und Darstel¬
lung des inneren Seelenlebens, leidenschaftlicher En¬
thusiasmus für die Vergangenheit bilden das Fun¬
dament seines Schaffens. Der verstorbene Herzog
von Marlborough, der ein sehr bedeutender Kenner
und Sammler war, hat in seiner letzten, kürzlich
veröffentlichten Schrift über Kunst Burne-Jones
als den ,. Wagner“ in der Malerei bezeichnet.
Der Meister führt uns in das Traumgebiet seiner
Empfindung, aus der wir eine alte Romanze zu
vernehmen glauben, die uns mit magischem Zau¬
ber berührt. Worin liegt sein Genius? Was hat sich
vereinigt, um den besonderen Stil seiner künstle¬
rischen Kraft hervorzurufen, und welche Tendenzen
sehen wir in seinen Werken gekennzeichnet?
Sein Genius entspringt zunächst einer tief poe¬
tisch angelegten Natur. Er sieht Schönheit in zar¬
ter Frauengestalt, in dem Reiz der Jugend, in der
Natur, in der Legende, in dem Reich der Feen, in
klassischer Erzählung und in heidnischer Mytholo¬
gie. Über das ganze Reich der Mystik und Ro¬
mantik sind seine Sujets verteilt; Homer, Virgil
und die Minnesänger ziehen ihn gleichmäßig an.
Das Reich der Vergangenheit, durch seine Ein¬
bildungskraft und wunderbare Kunst berührt, bil¬
det für ihn eine unerschöpfliche Fundgrube des
Schaffens. Wir besitzen keinen modernen Maler in
der ganzen Welt, der so unberührt ist von dem
Zeitgeist, von dem Fortschritte der Wissenschaften
oder den Ereignissen des Augenblicks. Seine Er¬
findung ist reich und durchdringend, aber niemals
willkürlich, ein Umstand, aus dem der Ernst seiner
Arbeit sich ergiebt. Ob er in letzter Instanz auch
in kommenden Zeiten populär bleiben wird, ist frag¬
lich, da er sich niemals an Lokales oder Nationales
anlehnt.
Das Heitere, das Spielende liegt ihm fern, diese
Seite des menschlichen Lebens, ebenso wie die Hu¬
moreske, das Grotteske und Melancholische hat kei¬
nen Platz bei ihm. Er liebt die gesamte Natur, aber
seine Natur ist unberührt von menschlicher Hand,
er malt niemals einen Garten, einen Park oder einen
gepflügten Acker. Die Landschaft in dem „Spiegel
der Venus“ ist ein unbewohntes Thal zwischen Hü¬
geln, schön, aber einsam. Die Rose im „Dornrös¬
chen“ ist nicht die Gartenrose, sondern die mit
außerordentlicher Naturtreue wiedergegebene wilde
Rose. Der Engel in den „Sechs Tagen der Schö¬
pfung“ steht an keiner Erdenküste, aber niemals hat
man so schöne Muscheln in Farbe und Ton gesehen,
ln jedem seiner Werke ist irgend ein tiefer Ge¬
danke. Burne-Jones ruft uns zu: alle Kunst ist sym¬
bolisch !
Wenn man Burne-Jones mit einem deutschen
Maler vergleichen wollte, so könnte dies nur mit
Böcklin geschehen, obschon ersterer an Genialität
Christus und die Frauen am Grabe. Gemälde von Burne- Jones.
94
BURNE-JONES.
dem deutschen Meister nachstellt, dafür aber des
dämonischen Zuges in seinen Werken entbehrt. Man
kann alle Künstler in zwei Klassen scheiden: die,
welche wie Raffael, Correggio und Tizian in einer
beständigen Metamorphose begriffen sind, ewig stre¬
ben, und jene, welche wie Paolo Veronese und wie
viele der Holländer fertig auf die Welt kommen und
sich dann immer gleich bleiben. Beide Künstler ge¬
hören zu der ersteren Klasse, sind echte Dichter
in Farben und stellen sich bei jedem Bilde ein
neues Problem; trotzdem erkennt man ihre male¬
rische Handschrift leicht heraus. Beiden gemein ist
die große Stimmungsmacht, über welche sie in ihren
Ideallandschaften, unter Ruinen und bei Meernixen,
verfügen, obschon bei Burne- Jones der Ausdruck
seiner Stimmung Glaube und Offenbarung ist, wäh¬
rend Böcklin die Kunst wohl mehr als Mittel zur
Lösung realistischer Probleme und als ein Reich
der Fabel behandelt. Aus den Werken beider glau¬
ben wir die Worte zu vernehmen: „Meine Gedanken
sind nicht Eure Gedanken“; wie seltsam sie auch oft
auf uns wirken, sie prägen sich dem Gedächtnis un¬
auslöschlich ein.
Der Einfluss Botticelli’s, des Meisters, dem Burne-
Jones so gern folgt, ist fast in all seinen Werken
vorherrschend. Die ersten Bilder, namentlich die
Aquarelle, sind unter Anlehnung an Rosetti ent¬
standen. Bezeichnend genug sagt man von ihm: er
sei der einzige lebende englische Maler, der mit den
großen alten Meistern gleichzeitig genannt werden
dürfe, und dessen Bilder man getrost morgen in den
früh-italienischen Saal der „Nationalgalerie“ hängen
könne, ohne die Harmonie zu stören. Man denke sich
die Maler der englischen Kinderstube und des Sports
in Gesellschaft mit Crivelli, Mantegna und Botticelli:
das Resultat würde unaussprechlich sein.
Die Studien zu seinen Bildern bereitet Burne-
Jones, der ein sehr guter Zeichner ist, mit der größten
Sorgfalt vor. Manche mögen seinen Stil nicht an¬
erkennen, aber das ist Geschmackssache; so lange er
korrekt und harmonisch bleibt, sowie den Buchsta¬
ben des Gesetzes nicht verletzt, muss er immerhin
als führende Kraft gelten. Es vergeht kein Tag,
an dem der Meister nicht eine Bleistiftzeichnung an¬
fertigte, wobei ihm sein großes Forraengedächtnis
gute Dienste leistet.
Sehr viel zu der Bewunderung seiner Bilder
trägt die unvergleichliche Schönheit der Farbe bei, in
der er wahrhaft königlich gebietet, und die als har¬
monisch, reich und voll bezeichnet werden muss.
Es ist nicht das Kolorit der alten Venetianer,
sondern das Glühen der früh-florentinischen Schule.
Warme Töne in zarten, abgetönten Schattirungen
lassen das Auge mit Wohlgefallen verweilen. Er malt
niemals einen kalten englischen Himmel, dagegen
benutzt er in den Schattirungen und im Haar häu¬
tig Gold, um den Eindruck des Reichen und Kost¬
baren hervorzurufen. Burne-Jones ist ein äußerst ge¬
wissenhafter Maler. Seine Bilder hängen oft Jahre
im Atelier; denn er malt niemals direkt zu einer
Ausstellung oder für einen vorgeschriebenen Zweck.
Als bester Beweis seiner vollendeten Technik mag
ein Vergleich mit anderen Bildern aus früherer
Zeitperiode — vor etwa 30 Jahren — dienen, die
wohl oft, wegen ihrer Verflüchtigung, keine Aussicht
haben, auf die Nachwelt zu kommen. Die seinen
zeigen sich nicht nur vollständig erhalten, sondern
haben sogar an leuchtender Kraft zugenommen, ln
all seinen Bildern finden wir die durchsättigten Tin¬
ten des Südens, und fühlen wir uns jedenfalls jen¬
seits der Alpen oder in einem Feenlande.
Wie erwähnt, hängen die Bilder des Künstlers
oft lange Zeit in seinem Atelier, da er unaufhörlich
über den Gegenstand sinnt, und nur falls es ihn
hinzieht, beginnt er von neuem an den alten Bil¬
dern zu arbeiten; er lebt nur in diesen, denn seine
Kunst ist sein Leben, und es decken sich beide ohne
Rest. — Seine Frauentypen scheiden sich in zwei
Klassen: religiöse und weltliche. Wie bei vielen alten
Meistern, so finden wir auch in seinen religiösen Ge¬
stalten stets denselben Typus. Ein Künstler, der
sein Ideal gefunden, hält es fest und sieht es über¬
all, im Strom, in der Quelle, in der ganzen Natur.
Er ist auch deshalb kein Porträtmaler im eigentlichen
Sinne, denn es entsteht für denjenigen, welcher das¬
selbe Ideal nicht anerkannt — und es sind ihrer
viele — eine gewisse Monotonie. Um gerecht zu
sein, muss aber hervorgehoben werden, dass trotz
dieser Idealisirung seines wiederkehrenden Frauen¬
typus jede Szene ihre eigene Individualität besitzt.
So hat „die Auferstehung“ ihren mystischen Reiz,
„das Fest des Peleus“ erinnert in der Außendeko¬
ration an Veronese, aber aus der Seele der Göttin
spricht das Wort Dante’s: „Es giebt keinen größeren
Schmerz als an verlorenes Glück zu denken“.
Diese Art der Melancholie mag als das Gewand
angesehen werden, das Burne-Jones als passendsten
Ausdruck für seine poetischen Gedanken erkennt.
Da wo viel Licht, ist auch viel Schatten, und
will man daher von den Fehlern Burne-Jones’ spre¬
chen, so muss man außer der bereits hervorgehobe¬
nen Monotonie der Auffassung in seinen weiblichen
BURNE -JONES.
95
Charakteren eine gewisse wiederkehren¬
de Weichheit in den männlichen Ty¬
pen tadeln, ohne daß letztere jedoch
übertrieben oder ungesund wären. —
Wenn der Meister Joseph und Maria
darstellt, sei es nun in Bethlehem oder
auf dem Wege nach Ägypten, so be¬
hält das Bild stets seine mystische
Schönheit und das Verehrungswürdige
in der Manier des Giotto oder des Fra
Angelico da Fiesoie. Nach der Tra¬
dition der alten Schule und mancher
ihrer Meister haben seine Engel oft
Flammen an der Stirn. Keinen größe¬
ren Gegensatz unter modernen Malern
kann man sich in dieser Beziehung
denken, als den von Burne- Jones und
dem Engländer Dudley Hardy. Letz¬
terer hatte vor einiger Zeit im „Verein
Berliner Künstler“ eine „Flucht nach
Ägypten“ ausgestellt, von der ein Ber¬
liner Kritiker sehr treffend sagte: „Diese
Madonna würde gänzlich incognito
reisen, wenn nicht ihr Nimbus vorhan¬
den wäre. Kann diese von echt eng¬
lischem Nebelqualm eingehüllte Gegend
noch zum Orient gerechnet werden?
Maria und Joseph sind beide in wasser¬
dichte graue Regenmäntel vermummte
Gestalten“.
Burne- Jones ist Mitglied der könig¬
lichen Akademie der Künste. Bei seiner
Einführung 1871 als Professor an der
Universitäts-Kunstschule hielt er eine
kurze Ansprache, die in dem Satze
gipfelte: „Es gilt eine Welt zu schaffen,
nicht aber das Gesehene einfach zu
imitiren“. Es giebt denn wohl auch
kaum jemand, der eine selbständigere
Form des Ausdrucks besitzt als Burne-
Jones.
Die von ihm herrührenden Aqua¬
relle und Ölgemälde beginnen mit dem
Jahre 1860. Die Erstlingswerke sind
in der Technik schwächer, wie z. B.
„Merlin“ und zeigen den Einfluss des
Millais. Zu dieser Klasse von Bildern
gehört ferner „Clara und Sidonia von
Borck“, die Heroinen in Meinhold’s
Roman: „Die Hexe“. Hier findet man
schon die außerordentlich mühsame und
Die goldene Treppe. Gemälde von Burne -Jones.
Faun und Nymphe. Gemälde von Burne- Jones.
BURNE-JONES.
97
gewissenhafte Durchführung des Details als eine von
des Meisters charakteristischen Eigenschaften. Eine
ungemein schwierige Aufgabe hat Burne-Jones in dem
Aquarell: „Der vergebende Ritter“ gelöst. Letzterer,
obwohl imstande, den in seine Hand gegebenen
Feind zu töten, vergiebt ihm, und als er dann vor
einem Cruzifix betet, neigt sich Christus mit seinem
Oberkörper zu ihm herab, umarmt und küsst ihn,
während der untere Teil des Körpers am Kreuz be¬
festigt bleibt. — Die Steigerung der Leistungsfähig¬
keit des Meisters nimmt unausgesetzt zu. Eine seiner
besten Conceptionen ist: „Das Glücksrad“. Die Göttin
stellt in Kraft und Würde, aber mit fast gleich¬
gültigem Ausdruck, die unabänderliche Tragik des
Schicksals und den Wechsel des Glücks dar. Ein
Sklave ist oben auf dem Rade angelangt, mit dem
Fuß auf die Krone des unter ihm befindlichen Königs
tretend; aber auch seine Zeit kommt bei dem Drehen
des Rades, an dessen unterster Stelle augenblicklich
ein mit dem Lorbeer geschmückter Dichter oder
Künstler vergeblich ringt. Ferner sind hervorzuhe¬
bende Bilder: „Temperantia“ , „Die Delphische Si¬
bylle“; das Porträt der Tochter des Malers, „Die Ver¬
kündigung“ in früh-italienischer Manier, „Laus V eneris“,
„Der Spiegel der Venus“ und „Chant d’Amour“, ein
Pastorale von wunderbarer Farbenharmonie, im Tone
an Giorgione erinnernd. Dieses Bild kam 1886 bei
Christie zur Auktion und wurde mit 3500 £ bezahlt.
Da die Werke von Burne-Jones fast alle in festen
Händen sind, so ist es die größte Seltenheit, dass
eins derselben in den Handel kommt, und der Preis
beträgt in solchen Fällen durchschnittlich 3000 £.
Zur Ausstellung der königlichen Akademie in
Burlington - House hat der Künstler im Verlauf
seiner ganzen Thätigkeit überhaupt nur ein Bild
gesandt: „Die Tiefen des Meeres“. Das Gesicht der
Nixe mit dem Fischschwanz leuchtet triumphirend,
während sie ihr lebloses Opfer in den Armen hält
und im Begriff ist, den Jüngling in dem Palast auf
dem Meeresgründe zu betten. Das verführerische
Lächeln der Seejungfrau und die durchsichtige Tiefe
des Meeres sind bewundernswert gemalt. Eines der
anmutigsten und ansprechendsten Bilder ist: ,,Die
goldene Treppe“ mit einer Menge hübscher Mädchen
von harmonischen Farbentönen. Die Treppe selbst
hat Elfenbein-Marmorfarbe. — Seit 1870 ist ein aber¬
maliger bedeutender Fortschritt in den Werken des
Meisters bemerkbar, so unter anderen in „Der Wein
der Circe“ „Pygmalion“ „Orpheus und Eurydice“,
„Die Romanze der Rose“, „Die Schöpfung“, „Flamma
Vestalis“, in der Profilstudie eines vorzüglich model-
lirten jungen Mädchens, „Liebe unter Ruinen“, „Dies
Domini“ und „die Legende der heiligen Dorothea“.
In dem 1887 gemalten Bilde „Der Garten des
Pan“, ist der Ausdruck des der Musik lauschenden
Mädchens ein höchst fesselnder. Wenn es dem
Dichter leicht wird, aufeinander folgende seelische
Affekte zu schildern und zu erklären, so ist anderer¬
seits der bildende Künstler in solchen Fällen in
eine bedeutend schwierigere Lage versetzt. Er kann
nur einen einzigen, einheitlich angelegten Gesamt¬
vorgang ausdrücken, und die Zeitfolge nicht zur
Anschauung bringen. In dem erwähnten Bilde
ist die ungeahnte Freude des Mädchens über die
Musik, die Leidenschaft für den Jüngling und ihre
Trauer darüber, sich an der Schwelle der Erkenntnis
zu befinden, geradezu genial wieder gegeben.
Burne-Jones hat gelegentlich auch Bücher und
Manuskripte illuminirt; diese in Aquarellfarben aus¬
geführten Miniaturen, ohne einen bestimmt ausge¬
sprochenen Charakter, bekunden modernen Geist zum
Teil, aber zum Teil auch Anklänge an die alten Mis¬
salien der byzantinischen, romanischen und gotischen
Miniaturschulen. — Schließlich ist noch zu bemerken,
dass der Meister schon zu Lebzeiten in Malcolm Bell
einen ebenso geistreichen wie gründlichen Biographen
gefunden hat. Außer dem Porträt von Burne-Jones
von Watt, befinden sich etwa 100 seiner Werke als
Illustrationen in dem Buche. Der Titel des Pracht¬
werkes lautet: „Edward Burne-Jones, a Record and
Review by Malcolm Bell“, herausgegeben in London
von George Bell und Söhnen. Dieses litterarische
Werk bildet ein bleibendes Denkmal für eine der
merkwürdigsten Erscheinungen in der Kunst unserer
Zeit. SCHL.
Zeitschrift für bildende Kunst N. P. VI. H. 4
14
THOMAR UND BATALHA.
VON JOSEF DE RN JA C-
S sind jetzt drei Jahre her,
dass wir die vortreffliche Ar¬
beit Albrecht Haupt’s über
die „Portugiesische Renais¬
sance'4 in diesen Blättern
einer eingehenden Bespre¬
chung unterzogen. ’) Im
Nachfolgenden knüpfen wir
an die kürzlich erschienene reicli ausgestattete Pub¬
likation Vicomte de Condeixa’s über Batalha etliche
eigene Beobachtungen, Randbemerkungen und Schluss¬
folgerungen. 2)
1 „Die Renaissance in Portugal.“ Zeitsclir. f. b. Kunst.
N. F. II, S. 38 ff.
2, Visgonde de Condeixa: 0 Mosteiro da Batalha em
Portugal. Monographia ornada da vinte e seis gravuras helio-
graphicas. Lisboa, Manuel Gomes; Paris, Firmin-Didot & Cie.
1S93. gr. Fol. Mit französischer Übersetzung. Den 26 guten
Abbildungen hätte die Zugabe einiger Ansichten von Tho-
mar entschieden keinen Eintrag gethan und eine Reproduktion
des inneren Portales der Capellas imperfeitas, besser als die
S. 111 — 145, sicherlich nicht geschadet. Was den Text be¬
trifft, ho ist es auch für jemanden, der die einschlägige Lifte-
ratur schon kennt, keine Sünde an dem weltmännischen
Verfasser, zu wünschen, dass durch Fußnoten auch andere
in den Stand gesetzt worden wären, dessen Angaben Schritt
für Schritt einer Kontrole zu unterziehen. Die alte Arbeit
Murphy - hat auf die Kapiteleinteilung Condeixa’s zweifels¬
ohne Einfluss geübt. Er entnimmt derselben nicht nur den
Crundri-u, sondern auch die Tafel mit der Restauration des
durch das Erdbeben zerstörten Tunnhelmes am Mausoleum
des Erbauers, er unterlässt es nicht, wie Murphy, der Be-
-prechung des eigentlichen Thcma’s auch seinerseits „Noticias
aeerca do estylo gothieo“ vorauszuschicken. Manches von
dem, was er über den bei der Konception der mittelalterlichen
Bauten mitspielenden Mysticismus in diesem Abschnitte vor¬
bringt, könnte in irgend einem landläufigen „Abriss der Ge¬
schichte der Baustile“ seinen Platz finden, ohne dessen Kurs¬
wert wesentlich zu gefährden. Die Stellen, in denen er selbst
nach dem in Batalha’a Grundriss verborgenen Mysticismus
auf die Suche geht, sind, wie sich oben zeigen wird, die
schwächsten seines Werkes.
Die Geschichte der Portugiesen beginnt mit der
Zueignung der Grafschaften Portugal (Portus Calli)
und Lissabon (Ulysippo) an Alphonso’s YI. von Ca-
stilien Tochtermann, Heinrich von Burgund im Jahre
1072, also nur um nicht ganz drei Dezennien früher
als der erste Kreuzzug (1099). Sein Wachstum von
dem Augenblicke an , da Heinrich’s Sohn Alphonso
den Grafen- mit dem Königstitel vertauscht, ist selbst
das Ergebnis von Kreuzfahrten, bei welchen, wie bei
jenen in Palästina, die Tempelherren in erster Linie
stehen. Wir finden sie im Lande sesshaft noch vor
ihrer Anerkennung durch das Concilium von Troyes
(1128); ihr Waffenruhm erreicht seinen Gipfelpunkt,
als von den Riesenheeren der Sultane von Marokko
das eine im Angesichte von Santarem in Stücke ge¬
hauen wird(1 184), das andere an den heldenmütig ver¬
teidigten Mauern ihrer Residenz Thomar zersplittert
(1190). Es ist demnach ganz natürlich, dass aus der
„epocpie la plus glorieuse des Templiers“ ') in Portugal
daselbst noch Baudenkmale sich finden, aufgeführt
von jenen fahrenden Werkleuten, die von den franzö¬
sischen Bauhütten weg und mit den Rittern nach dem
Gelobten Lande gezogen sind, nach der Aufführung
von Bauten, die in Palästina und Syrien, Cypern und
Rhodus heute noch das berechtigte Erstaunen von
Reisenden erregen, hinterher die Eindrücke des Orients
an den Dombauten ihrer Heimat, wie z. B. die für
Syrien charakteristische Tierwelt im plastischen
Schmucke der Kathedrale von Sens, künstlerisch ver¬
wertet, oder im Orient selbst Bauhütten gegründet
und in denselben die nationale Bauweise den Ver¬
hältnissen ihres Aufenthaltsortes entsprechend cha¬
rakteristisch durchgebildet haben. Es mag ja ge¬
schehen sein, dass diese zugewanderten fränkischen
Gesellen und Meister, welche die ersten Kirchen der
1) Raczynski, Les Arts enPortugal. Paris, 1846. 8°. S.409.
THOMAR UND BATALHA.
99
Kreuzfahrer noch im Rundbogenstile erbauten, aus
purer Würdigung der technischen Vorzüge des Spitz¬
bogens in der Folge für letzteren eine bis zur aus¬
schließlichen Anwendung sich steigernde Vorliebe
bekundeten. Die Frage ist, wo treffen wir den Spitz¬
bogen zuerst und ob man angesichts der Tlmtsache,
dass Richard Löwenherz als Gefangener des Comnenen
Isaak II. die (1190) erbaute spitzbogige Kirche von
Machaira in Cypern besucht hat, dass die romanisch
begonnene Notre-Dame von Paris nach der Rück¬
kehr Philipp August’ s im gotischen Stile fortgesetzt
ward, nicht etwa vermuten darf, dass auch „der
Wunsch der Mächtigen“ auf sie nicht ganz ohne
Einfluss gewesen.
Für die Mächtigen besaß vielleicht die Form
des Spitzbogens, von der sie wussten, dass sie bei
den Kirchenbauten des Orients schon längere Zeit
in Gebrauch, einen heiligen Beigeschmack; über¬
dies besaßen auf sie gerade die Templer den mäch¬
tigsten Einfluss. Auffällig sind an den Templer¬
bauten die Rundtürme, von denen beispielsweise
vier bekanntlich die Hauptmasse des berühmten
„Temple“ in Paris umgaben, nach denen u. a. die
berühmte Commende „Kolossi“ auf Cypern den
Namen führt. Dass gerade alle diese Kale’s (arab.
Türme) den christlichen Centralbauten (Kirkos
== circus, Kirche, Church?) nachgebildet und aus¬
nahmslos die militärisch dürftigen und kahlen Ora¬
torien des in Bezug auf Andachtsübungen zum
knappsten Haushalt mit der Zeit angewiesenen Ritter¬
ordens gewesen, möchten wir nicht, wie Condeixa,
behaupten. Gewiss ist, dass die Templer keinem
Monumente eine so schwärmerische Verehrung wid¬
meten, keines in ihren eigenen Kirchen so häufig
kopirten, als das „Templum Domini“, das sie mit
der gläubigen Menge wohl gelegentlich für eine
gelungene Reproduktion des alten Judentempels
betrachteten, hinter dessen architektonischen For¬
men sie, wie Condeixa hinter denen von Batalha,
einen „geheimen Sinn“ vermuteten, und von dem sie
den Namen führten. ’)
Da die „Dankesmoschee“ des Islam1 2) (Sakliar
= Dank), Kubbet-es-Sachra, unter dem Chalifen
Omar von einem christlichen Architekten im sie¬
benten Jahrhundert erbaut, den Spitzbogen zeigt,
so darf uns der Gebrauch desselben bei anderen
1) Ygl. Vogüe, Les Eglises de la Terre sainte. Paris,
18G0. 4°. S. 281: „La foule frappee des ses formes toutes
nouvelles, eblouie par la magnificence de son ornamentation
erat voir le Temple des Juifs“.
2) Übrigens übersetzt auch Vogüe „Dom des Felsens“.
Moscheen, Ihn Tulun z. B., nicht Wunder neh¬
men. Derselbe war, wie eine vor beiläufig einem
Vierteljahrhundert in den Ruinen des cyprischen Sa¬
lamis durch d'Orcet und Duthoit gefundene, auf die
spitzbogige Wasserleitung Justiniana bezügliche In¬
schrift beweist, im byzantinischen Reiche für Profan-
bauten schon unter Justinian im Gebrauch. Wie die
Gotteshäuser der „Tempel“ in London, Paris und
in Deutschland, wie jene von Segovia, von Mout-
morillon, von Laon und von Metz !), so ist auch die
alte Kaie von Thomar, erbaut gleichzeitig mit dem
ältesten Teil der Feste auf und mit den Trümmern
der antiken Stadt Nabancia, in architektonischer Be¬
ziehung als eine echte „Tochterkirche“ von Kubbet-
es-Sachra zu betrachten. Sie dürfte, ihrer Ent¬
stehungszeit 1160 nach, zwar nicht der früheste, wie
Condeixa behauptet, wohl aber mit dem zwanzig
Jahre älteren Chor von St. Denis (1140) und mit
der gleichzeitig mit letzterem eingeweihten Cap¬
pella Palatina von Palermo, mit dem Beginn der
Gotik und mit der Vollendung des Siculo-Romanis-
mus, eines der frühesten spitzbogigen Baudenkmale
in ganz Europa sein.
Das Konzil von Vienne (1312) unterdrückte den
Templerorden. Die Bulle des Papstes Johannes XXIII.
stellte auf königlichen Wunsch denselben als „Ritter¬
orden unseres Herrn Jesu Christi“ (A Ordern deNosso
Senhor Jesus-Christo) für Portugal wieder her. Die
meisten Templer, ihr Meister von Portugal nicht
ausgenommen, traten in den neuen Orden über, der
durch die über alle Erwartung großartige und kühne
Lösung der Aufgabe, die ihm durch seine Ansied¬
lung in Castro Marim am äußersten Südrande von
Algarve, Afrika gegenüber, in der Bekämpfung des
Islam zugewiesen worden war, zu welthistorischer
Bedeutung sich emporgerungen hat. Das Banner,
das als das erste europäische bei der Erstürmung
von Ceuta (1415) unter dem Großmeister Lopo de
Sousa auf afrikanischem Boden flatterte, die Flagge,
unter welcher der Großmeister Heinrich „der See¬
fahrer“, Herzog von Vizeü seine Flotillen auf un¬
bekannte Meere sandte, zierte das „durchbrochene
Kreuz“, jenes uns bereits von dem charakteristi¬
schesten Denkmal des „Zeitalters der Entdeckungen“,
dem Torre Sao Vicente von Belem her bekannte Em¬
blem2), von Wappenkundigen auf eine Stelle im Pro¬
pheten Jeremias bezogen (LII, 21), im ersten Kreuz-
1) Ebendas, nach der später zu citirenden Arbeit von
Lenoir.
2) S. darüber Haupt und unseren eingangs citirten
Aufsatz.
14*
Grundriss des Klosters Bat&lha.
Gesammtansicht.
THOMAR UND BATALHA.
101
zuge von Raymond von St. Gilles, Grafen von Tou¬
louse und von der Provence an seiner Heldenbrust
getragen, von dessen überstarrköpfigen Descendenten
in den Albigenserkriegen bei den „wahrhaft From¬
men“ als „ghibellinisch“ ein wenig in Verruf gebracht,
aber vielleicht gerade deswegen vom König Dionys
zur Insignie des neuen Jesus -Christus -Ordens, der
dem Papste nicht, wie die guelfischen Templer, mehr
gehorchen sollte als dem König, auserkoren. Seit der
Maurenschlacht am Flusse Salado (zwischen Sevilla
und Granada, 1340), die ein Ruhmesblatt in der
Geschichte der neuen Templer, erlebte die Hoch¬
burg der alten Templer, Thomar, zur Residenz des
Christus- Ordens und zum Sitze von dessen drittem
Würdenträger, dem Großprior erhoben, eine neue
Periode der architektonischen Entwickelung. Auch
Emmanuel der Große, der auch als König auf die
Würde eines Großmeisters des Jesus-Christus-Ordens
nicht verzichten mochte, hat daselbst viel gebaut.
In dem sogen. Mausoleum Emmanuels zu Batallia
haben wir eine Nachahmung der alten Kaie von
Thomar, deren Muster Kubbet-es-Sachra zu er¬
blicken; als König Emmanuel die Kirche von Tho¬
mar neu erbaute, gab ihm jene von Batallia dafür
das Vorbild ab.* 1)
Mit reichen Lorbeeren bedeckte der Orden sich
in der Schlacht von Aljubarrota, in welcher das
Kriegsglück binnen einer halben Stunde zwischen
den beiden Kronprätendenten, Johann, dem Meister
des Ordens von Avis und Johann König von Casti-
lien zu Gunsten des Ersteren entschied. An diesen
für die ganze weitere Entwickelung von Portugal
hochwichtigen 14. August von 1385 erinnert heute
noch das „Mosteiro de Nossa Senhora da Victoria“,
bekannter unter dem Namen „Convento da Batalha“
(Schlacht). Es war zu Ende des vorigen Jahrhunderts,
dass, aufmerksam gemacht durch Zeichnungen, welche
zwei englische Offiziere ihm übermittelt hatten, der
gelehrte Irländer James Cavannah Murphy zur Er¬
forschung dieses in Bezug auf kunsthistorisches In¬
teresse den großen Kathedralen Frankreichs, Eng¬
lands und Deutschlands durchaus nicht nachstehen¬
den Baudenkmals2) eine eigene Fahrt nach Portugal
1) „En effefc, le plan de cette rotonde, qui est bien plus
celui d’une mosquee que d’une eglise reproduit exactement
celui de la rotonde de Gualdim Paes.“ (S. 157). „Le roi Dom
Manuel repeta exactement le plan de l’eglise de Batalha en
reconstruisant celle de Thomar“ (S. 139).
2) „Mais on peut dire que (ä l’exception d’une vingtaine
des plus helles cathedrales de France, d’Angleterre, d’Alle-
magne, de Belgique, d' Italic et d’Espagne . . . Batalha peut
unternahm. Das Resultat derselben waren eine Reise¬
beschreibung *) und jene bekannte, „mit Kupfern“
ausgestattete Monographie, die zwar für jene Zeit
eine außerordentlich verdienstvolle Leistung und sehr
gewissenhaft gearbeitet, aber zumal in Bezug auf
Ansichten über die Gotik überhaupt gegenwärtig
gründlich veraltet und namentlich in den Tafeln
nichts weniger als zuverlässig ist. 2) Wie alle in den
kunsthistorischen und in den Reisewerken über Ba¬
talha verbreiteten Ansichten, so geht auch die zu¬
letzt mit Albrecht Haupt vou uns geteilte An¬
sicht, dass englische, mit Philippa von Lancaster,
Gemahlin Johann’s I., ins Land gekommene Arbeiter
die Erbauer von Batalha gewesen seien3), in letzter
Linie auf Murphy zurück. An dem Mausoleum des
Gründers und seiner Gemahlin (la capella do Fun-
dador) ist ein oder der andere Anklang an englische
Gotik tliatsächlich vorhanden, die Thätigkeit eng¬
lischer Künstler also immerhin möglich. Eine etwas
lebhafte Phantasie wird am Grabmal des Königs¬
paares selbst des Englischen noch etwas mehr, z. B.
die (rote) Rose von Lancaster, zu entdecken un¬
schwer im stände sein. Am Ende haben an dem
Votivbau König Johanns I. auch Normannen mit-
gethan. Bei einigem guten Willen entdeckt man an
demselben auch normännische Anklänge. Gesamt¬
eindruck: Das Bauwerk zeigt in der Periode der
späten Gotik frühgotische Formen. „Es ist ein Werk
reinen und edlen gotischen Stils, das in dieser Be¬
ziehung alle anderen Bauten der Halbinsel und selbst
manche gleichzeitigen Monumente der nördlichen
Länder übertrifft und die späte Zeit seiner Ent¬
stehung nur durch die abstrakte Regelmäßigkeit im
Gegensatz gegen die Frische der Frühgotik verrät.“4)
Im 17. Jahrhundert wollte „ein mönchischer Geschicht¬
schreiber“, Frey Luis de Sousa, von etlichen Archi¬
tekten und Steinmetzen wissen, vom Könige „aus den
entferntesten Ländern“ zum Baue herbeigerufen. 5)
Sind etwa England und die Normandie auch „ent¬
fernteste“ Länder, oder bloß „entfernte“ Länder?
etre considere comme un des restes les plus interessants et
meme les plus seduisants de la pure architecture gothique“.
Raczynski, a. a. 0., S. 460.
1) Trawels in Portugal. London, 1795. 4°.
2) Plans, elevations, seotions and views of tlie Church
of Batalha. With the History and Description by Fr. Luis de
Sousa, with remarks to which is prefixed an introductory
discourse on the principles of Gothic architecture. Illustr.
with 27 plates. London. Fol.
3) S. unseren eingangs citirten Aufsatz.
4) Schnaase, VIII, S. 609.
5) Ebendas. S. 610, Note 1.
102
THOMAR UND BATALHA.
Auf was für Länder, wenn nicht auf die beiden letzt¬
genannten, deuten gewisse Eigentümlichkeiten am
Äußeren des Gebäudes, Avofern an der bisher als
„unbewiesen“ ignorirten Nachricht Luis de Sousa's
doch etwas dran ist?
Eine charakteristische Besonderheit der Kirche
schließen.“ *) Und worin sich das Bauwerk ATon den
meisten gotischen Monumenten noch unterscheidet,
ist, dass in seiner Verzierung das tierische Element,
bis etwa auf die Wasserspeier, keine Stelle gefunden
hat. Terrassendächer, nur denkbar in einem Lande,
dem Schneefälle unbekannt sind, eine nur Vegeta-
von Hat al ha wenigstens ist längst konstatirt, bisher
aber nicht genügend betrachtet Avorden. Mit ihr zu¬
sammengehalten, gewinnt auch eine andere eine bis¬
her noch nicht vermutete Bedeutung. „Das Außere
unterscheidet sich von nordischen Bauten dadurch,
dass alle Teile statt des Daches mit Steinplatten be¬
legt sind und daher mit horizontalen Linien ab-
bilisches reproducirende Ornamentation, die in der
Scheu, die Muselmänner zu verletzen, in der Not¬
wendigkeit, den Gesinnungen von Christen ikono-
klastischer Sekten Rechnung zu tragen, ihren Ur¬
sprung hat: das sind die hervorstechenden Merk-
1) Ebendas.
Fontaine im Kloster Batallia.
THOMAR UND BATALHA.
103
male der großen Kirchen auf der Insel Cypern, wie
San Giacomo in Famagusta, Saneta Sophia in Ni¬
cosia, der Cisterzienserabtei Lapais u. a. Die Ent¬
stehungszeit dieser Kirchen ist das 13. und 14. Jahr¬
hundert1); sie bilden den Gipfelpunkt der Entwicke¬
lung der franco -orientalischen Gotik, die durch
französische Werkmeister, welche mit den Kreuz¬
fahrern nach Palästina gekommen sind, begründet,
in ihrem Typus ähnlich der niederländischen, zwar
auf einer frühen Stufe der Entwickelung stehen
bleiben, dabei aber in gewissen Details den Bedin¬
gungen des Landes entsprechende Veränderungen
erfahren musste. „Das Maßwerk der Fenster ist
durchaus englischen Stils, indem es durchweg aus
einem Netzwerk koncentrisclier Bögen mit eingelegten
Pässen besteht.“2 3) Im Jahre 1191 wurde Cypern
von Richard Löwenherz erobert. Ist es nicht denk¬
bar, dass die Übereinstimmung des Maßwerkes von
Batalha mit jenem einzelner englischer Monumente
in der Gemeinsamkeit des Vorbildes ihren Ur¬
sprung hat?2)
Von Richard Löwenherz ging die Insel durch
Schenkung über an Guido Lusignan. Der franco-
orientalische Stil fand, wie alle flüchtigen Trümmer
der durch die Kreuzfahrer in Palästina gepflanzten
christlichen Civilisation, in Cypern eine neue Heim¬
stätte. Seine Blüte daselbst bleibt für immer mit
dem Namen der Lusignan verknüpft. Die Übertra¬
gung einer architektonischen Form von Cypern nach
Portugal ist, wenn man die politische Lage in Be¬
tracht zieht, wohl erklärlich. Wenn der Sohn König
Johann’s in die Lage kam, zum König von Cypern
erwählt zu werden und die Krone abzulehnen, so
müssen zwischen beiden Ländern sehr enge Bezie¬
hungen bestanden haben. Von Künstlern, die am
Bau von Batalha beschäftigt gewesen sind, werden
uns genannt: Affonso Domingues (1388— 1402), ein
gebürtiger Portugiese, vermutlich nicht nur mit
der Obsorge über den administrativen und finanziel¬
len Teil des ganzen Unternehmens betraut, auf
den wohl die Fundamentirung und der Ausbau
eines Teiles der Kirche und des Mausoleums zu¬
rückgeht; der später in „Hacket“ verdrehte und an¬
gesichts der vorerwähnten englischen „Anklänge“
hinterher natürlich zu einem Engländer oder Irländer
1) Vgl. darüber Vogüe, a. a. 0., S. 378. Daselbst, so
wie bei Condeixa, auch die sonstige Litteratur über Cypern.
2) Schnaase, a. a. 0.
3) Wir meinen das Maßwerk in den Bogen, nicht in
den Füllungen der Kirchenfenster. Eine Abbildung des Kreuz¬
ganges von Lapais bei Cassas, Voyage en Syrie, Taf. CIV.
gestempelte Huguet (1402 — - 1438) , mutmaßlich ein
unbekannt wo zur Welt gekommener Abkömmling
fahrenden französischen Künstlervolkes, wohl in Cy¬
pern geschult und in Venedig weiter ausgebildet,
dem die Vollendung der Grabkapelle des Stifters und
der Kirche, sowie der Bau des Kapitelsaales, der
Sakristei, des „Königs-Kreuzganges“ (Claustro real)
endlich der Beginn der „capellas imperfeitas“ zuzu¬
schreiben ist; Martin Vasques, beschäftigt uuter
König Duarte (bis 1448), auf den der Beginn, dessen
Neffe Fernao dEvora, auf den unter Alf'onso V. die
Vollendung des nach diesem Könige benannten Kreuz¬
ganges zurückzuführen; die beiden Matheus Fernandes,
Vater und Sohn (bis 1515 und bis 1525), die Meister
der „Emmanueliana“ am Gebäude, der wunderbaren
Fensterfüllungen des Königs -Kreuzganges, des oft
abgebildeten Prachtportales am sogen. Mausoleum
Emmanuel des Großen; Antonio de Castilho (seit 1528),
der, und zwar bereits im Renaissancestil, den Kreuz¬
gang Johannes III., und Antonio Gomes, der unter
demselben Könige das Dormitorium, das Kranken¬
haus, die Bibliothek und die sonstigen profanen
Klostergebäude, beziehungsweise klösterlichen Pro-
fangebäude erbaute. Alle diese Meister, deren namen¬
losen Nachfolge™ eine Thätigkeit zugefallen, die sich
zu der ihrigen verhält, wie die der heutigen „Dom¬
baumeister“ und „Schlossverwalter“ zu jener der alten
Bauhüttenchefs und fürstlichen „surintendants des
bätiments“, hatten, wie die Verschiedenheit ihrer
Formensprache beweist, in Beziehung auf Dekoration
thatsächlich ein bedeutendes, in Rücksicht auf die
Konzeption und den Entwurf des Ganzen aber, be¬
hauptet Condeixa, nur ein bescheidenes Maß von
Freiheit und dies um einer Persönlichkeit willen, der
zwischen dem Lande der Lusignan und Portugal in
Rücksicht auf künstlerische Formen die eigentliche
Vermittlerrolle zugefallen war.
Der Plan der Anlage von Batalha rührt nach
Condeixa vom König Johann selbst her, der, wie alle
Ordensritter seiner Zeit, schon des Festungsbaues
wegen, auch etwelche architektonische Kenntnisse
besitzen musste. Nun gab es im Johanniterorden zu
Malta bekanntlich auch eine portugiesische „Zunge“.
Ein Ritter dieser „Zunge“ dürfte Gelegenheit gehabt
haben, Cypern zu bereisen und in der Folge betreffs
der Konstruktion und der Grundzüge der Dekoration
des Königs Mitarbeiter gewesen sein. Nach unserer
Ansicht geht zu weit, wer, geleitet von seiner aristo¬
kratischen Empfindung, der Ansicht huldigt, der Zu¬
tritt beim Hofe von Portugal sei der archaischen
Gotik von Cypern nur in dem Falle, wenn es ihr
104
THOMAR UND BATALHA.
glückte, sich in einem mehr oder minder hochge¬
borenen Individuum zu personifiziren , möglich ge¬
wesen. Uns will es absolut nicht einleuchten, warum
nicht vielleicht auch z. B. der ,,franco-orientalische“
Plebejer, dem Condeixa selbst die T-förmige Ge¬
staltung des Lang- und Querhauses vindiziren möchte1),
derjenige Meister gewesen sein könnte, dessen Ideen
des Königs Majestät in Bezug auf alle Teile des
Baues als die allerhöchsteigenen gelten zu lassen
die Gewogenheit und Gnade gehabt. Das Klos¬
ter von Batalha war für die Mönche des heiligen
Dominikus bestimmt. Dieselben mussten bei irgend
welchem maßgebenden Einfluss auf den Bau , zur
Gestaltung des letzteren durchaus nicht, wie Con¬
deixa meint, einen Brunelleschi, die Jacobelli und
Pietro da Venezia, sowie andere berühmte Zeit¬
genossen des königlichen Stifters herbeizitiren. Die
Kirche von Batalha zeigt den Typus der Domini¬
kanerkirchen von Venedig und der Terra ferma. In
Übereinstimmung mit San Giovanni e Paolo, der
wichtigsten dei*selben, ist an ihr. der Schluss der
fünf Chornischen „nicht durch einen Winkel, son¬
dern in gewohnter Weise durch eine volle Polygon¬
seite bewirkt.“2) Der Bau, beziehungsweise die Voll¬
endung der Grabkirche der venetianischen Dogen
füllt in die .Jahre 1395 — 1430, i. e. in dieselbe Zeit,
wie die des Gotteshauses von Nossa Senhora da
Victoria. Wir haben oben gesehen, wer in dieser
Periode die Arbeiten an letzterem leitete. Es ist
derselbe Mann, bei dessen Säulen im Kapitelsaale
Condeixa nicht nur einen byzantinischen, sondern
auch einen venetianischen Einfluss vermutet und bei
dem uns eine Weiterbildung in Venedig angesichts
der bekannten engen Beziehungen dieser Stadt mit
Cypern nicht zu wundern braucht. Huguet wird ver¬
mutlich mehr Anteil gehabt haben an der Umwand¬
lung der königlichen Bauidee in einen ausführbaren
Baugedauken, als der für seine Zeit vielgereiste Con-
1 „Une nouvelle preuve de l'intervention d’un archi-
tec.te franco-oriental: ce sont los proportions de la croix latine
dont le chevet ewt tellement reduit, qu’il se borne ä une
simple abfiide contenant tout juste la „capella mör“ de sorte
que la croix se trouve reduite ä la forme d’ un T. . . . le
chevet reduit ä l’abside est une des particularite’s du style
franco-oriental“ (S. 119). Ob die Absidenreihe auch an den
cypriscben Kirchen vorkommt, ist aus dieser Stelle nicht er-
-ichtüch und sind wir in diesem Augenblicke nicht in der
Lage, zu konstatiren.
2) Schminse VII, 129. Condeixa selbst ist eine Verwandt¬
schaft mit dem venetianischen Stil aufgefallen: „dans lequel
on eut constater certains eignes de parente avec cependant
plus de lourdeur.“ (S. 113).
cleixa’sche Maltheserritter. Letzterer steht, wie es
uns bedünken will, so ziemlich in der Luft.
Befremdend wirkt an der Anlage von Batalha
die Form des Schlüssels, in welcher die dem Kultus
gewidmeten Gebäude an einander geordnet sind.
Dieselbe ist nicht abzuleugnen und soll aus den
Buchstaben 0 und L (°) sich zusammensetzen.
OL Cie, zwei Worte von angeblich hebräischer Pro¬
venienz und „Superabit omne“ bedeutend, sollen auch
auf einem Originalentwurf der Kirche von Batalha
zu lesen sein. Als Torsos ragen über den „Capellas
imperfeitas“ der Rotunde König Emmanuels, die, wie
schon gesagt, der Kaie von Thornar nachgebildet ist,
sechs gewaltige Pfeiler in die Höhe, die aussehen,
als bestünden sie aus Masten, die der Sturm entzwei¬
gebrochen und die man mit Tauen in Bündel zu¬
sammengebunden hat. Die Restauration, welche
Murphy von diesem Gebäude versucht (s. Taf. 14) sieht
sich heute etwas komisch an. Die Pfeiler dürften
wahrscheinlich bestimmt gewesen sein, eine Kuppel
zu tragen, welche ca. 80 m, also ungefähr 20 m mehr
als das von Murphy konstruirte Gebäude Scheitel¬
höhe gehabt und die ganze Kirche, die abweichend
von den abendländischen und selbst cyprischen Kirchen
(s. Vogüe) keine Türme an der Fassade, sondern nur
einen kleinen Glockenturm über der Sakristei besitzt,
effektvoll dominirt hätte. Es müssen nicht gerade,
wie Condeixa meint, die „islamitischen Reminis-
cenzen“, welche sie erweckte, die Nichtvollendung
der Rotunde Emmanuels verschuldet haben. Der
Bau derselben ward unter König Johann 111. in einer
Periode eingestellt, da auch so manch’ ein anderer
im Mittelalter begonnene Bau ins Stocken geriet.
Wer aber nach solchen Reminiscenzen sucht, wird
sie finden und bei gefälliger Einsichtnahme in einige
neuere Werke über Indien auch auf die Prototypen
nicht bloß der Füllungen in den Kirchenfenstern,
welche unserer Überzeugung nach ihre weiße Farbe,
wie die des Königs-Kreuzganges in die Zeit Emmanuels
versetzt, sondern auch der gewissen „sieben Ketten¬
gewinde“ am inneren Portale der Emmanuelrotunde,
bei der Deutung dieser Kettengewinde aber sicher
nicht auf „die Bande, in welche der Islam ge¬
schlagen worden ist“, verfallen. ')
Wenn Condeixa schließlich, weil der „Rost“
des Escorial eine mystische Bedeutung besitzt, auch
für den „Schlüssel“ von Batalha sich nach einer
solchen umsieht und in denselben Portugal — die
1) Man vgl. die Tafeln bei Cole, The Architecture of
ancient Delhi. Fol.
THOMAR UND BATALHA.
105
Grabkapelle des Stifters — getrennt durch den gläu¬
bigen Occident — die Kirche — von dem ungläu¬
bigen Orient — dem sogenannten Mausoleum Em¬
manuels hineingeheimnisst, so ist dergleichen, auf¬
richtiggesagt, für uns zu hoch, und war es vermutlich
auch für die Zeit, in der das Kloster von Nossa Sen-
holung des Kirchenbaues von Batalha in Thomar
dem Jesus- Christus -Orden vindizirt. Der Jesus-
Christus -Orden wird ihn wohl auch nicht erfunden,
sondern, wie seine Vorfahren, die Templer, ein Ge¬
bäude des hl. Landes sich zum Muster genommen
haben. Es wird mutmaßlich dasselbe sein, welches
Fenster im Kloster Batalha.
hora da Victoria erstanden ist. Im Übrigen aber
stimmen wir mit Herrn Vicomte de Condeixa voll¬
ständig überein, wenn er der Ansicht huldigt, dass der
Plan von Batalha, speziell der der Kirchengebäude,
nicht das geistige Eigentum des Königs ist, von dem
er herrührt. Nur genügt es uns nicht, wenn er ihn
mit Berufung auf die schon oben angeführte Wieder¬
zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. i.
auch der Abteikirche von Charroux zu Grunde liegt. l)
Somit wäre denn auch für den Schlüssel von Ba¬
talha ein Schlüssel gefunden. Derselbe erweist sich
1) S, den Grundriss bei Lenoir, Influence de l’Architecture
byzantine dans toute la chretiente. Annales archeologiques,
XII, S. 182—183.
15
106
THOMAR UND BATALHA.
als eine höchst geistreiche Weiterbildung des Motivs
der hl. Grabeskirche von Jerusalem. *)
Dies alles vorausgesetzt, dass die Sache sich so
verhält, wie Condeixa behauptet, dass die Rotunde
von Batalha schon von vorneherein als das Haupt¬
gebäude der ganzen Anlage in Aussicht genommeu
und im Entwürfe König Johann’s schon enthalten war,
dass König Duarte ihren Bau schon begonnen und
König Emmanuel denselben nur fortgeführt hat.
Die Kirche von Batalha hat, was ihren Typus be¬
trifft, in Portugal weder Vorgänger noch Nachfolger,
bemerkt Condeixa. In älteren kunsthistorischen Wer¬
ken wird das System der flach gehaltenen Dachlinien,
der fehlenden Giebel, der als ein wesentliches Ele¬
ment in die Formen der Fassade aufgenommenen Strebe¬
bögen vor allem den spanischen Kirchen als ein cha¬
rakteristisches Merkmal vindizirt. 2) Wir möchten
nicht behaupten, dass unter diesen Kirchen noch
eine zweite durch die „fehlende Dachschräge“, durch
ihre „langen Horizontalen“ (Schnaase a. a. 0. VII, 607)
und wohl auch durch ihre Verzierung jener von Ba¬
talha in so bedeutendem Grade ähnlich sieht, als die
Kathedrale von Sevilla, begonnen 1403, also um die¬
selbe Zeit, da Huguet die Leitung des Baues von
Nossa Senhora da Victoria übernahm. Sollte auf die
Entwickelung der spanischen Gotik außer der französi¬
schen nicht noch eine zweite Strömung, jene vom Süd¬
westen her von maßgebendem Einfluss gewesen sein?
Sie wäre die Vorgängerin von jener anderen, welche,
wie Haupt uns nachgewiesen, von Portugal aus die
Formensprache von Bauten wie das Collegio San
Gregorio zu Valladolid und das Palacio ducal del
I n f'ant ado zu Guadalajarra bestimmt hat.3)
Damit gelangen wir am Schlüsse unserer Ar¬
beit zu jener wunderbaren Ornamentik, gemischt aus
1) 8. den Grund- u Aufriss derselben bei Vogiie, a. a. 0.
8. 174 ff., Taf. VIII u. IX.
2) Homberg, .J. A. u. Faber, Conversations-Lexikon für
bildende Kunst, Leipzig 1840. II, 8 82 ff.
3) S. darüber unseren eingangs citirten Aufsatz.
gotischen und Renaissance- Elementen, in welcher die
portugiesische Steinmetzkunst, der arabischen ge¬
lehrige Schülerin, wie in Belem, so auch hier, ihr
Höchstes geleistet hat. In der Rotunde dieses Kö¬
nigs, wie in den Fensterfüllungen im Königs-Kreuz¬
gang1), da sind es vor allem zwei Motive, welche
bald als winziger Zierrat au irgend einer untergeord¬
neten Stelle, bald als Mittelpunkt der gesamten
Ornamentkomposition die Aufmerksamkeit des Be¬
schauers fesseln müssen. Die Insignien des Jesus-
Christus - Ordens und die Astrolabiumchiffre Em¬
manuel des Großen sind am Siegesdenkmal im
Felde von Aljubarrota vorzüglich am Platze. Ohne
Lopo da Sousa’s und seiner Christusritter Anschluss
hätte der Großmeister des Ordens von Avis niemals
die Entscheidungsschlacht geschlagen, an welche Ba¬
talha erinnert; ohne als König - Großmeister des
Jesus-Christus-Ordens weltumfassende Pläne zu ver¬
folgen, Emmanuel der Große die Votivkirche seines
Ahnherrn niemals so prunkvoll verziert. Die weite¬
ren Geschicke von Batalha und Thomar und somit
die des Jesus-Christus-Ordens zu skizziren, ist nicht
mehr unsere Aufgabe. Derselbe war längst mön¬
chischer Regel unterworfen und schließlich zu einem
simplen „Verdienstkreuz“ herunter „reformirt“ wor¬
den, d. h. abgestorben, als Philipp II. und Philipp IV.
ihm in der berühmten Wasserleitung und in dem
„Kreuzgang der beiden Philippe“ zu Thomar sein
prächtiges Mausoleum errichteten.
„Die Geschichte der Tempelritter ist die Geschichte
der Kreuzzüge“2). Was ist die der Christusritter?
Wie verhalten sich die Entdeckungsreisen dieser zu
den Heerfahrten jener? Sollte ein Historiker an die
Beantwortung dieser Fragen schreiten, so wird ihm
der von Condeixa erwiesene Zusammenhang zwischen
den Rotunden von Thomar, Batalha und Kubbet-es-
Sachra, zwischen den Kirchen von Cypern, Batalha
und Thomar, dabei vortrefflich zu statten kommen.
1) Über das Material ebendort.
' 2) 8. Vogüe, S. 28(J.
.'<>y -r"
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
VON H. E. v. BERLEPSCH.
(Schluss.)
Der malende Dichter.
IT der Rückkehr zur Mutter,
mit dem Scheiden aus einer
Umgebung, die ihm zum
mindesten das Wort „Kunst“
fortwährend zu hören gab,
trat ein allmähliches Zögern
im malerischen Schaffen Kel-
ler’s ein. Ganz an den Nagel
gehängt hat Keller es nie. Seine Augen blieben
die des stets beobachtenden Künstlers, auch wenn
er das Malen nicht mehr als den Hauptlebenszweck
betrachtete. Das beweisen seine Anschauungen über
künstlerische Dinge, die er in verschiedenen Arbeiten
niedergelegt hat (davon später noch ein Wort); es
beweist sich aber am besten durch seine Schreib¬
weise, die ungleich farbiger ist als jene manches
berühmten Zeitgenossen.
„Ein Mann ohne Tagebuch (er habe es nun in
den Kopf oder auf Papier geschrieben) ist, was ein
Weib ohne Spiegel.“ Der Trieb zu schriftlicher
Äußerung ist damit vollständig gekennzeichnet. Das
Tagebuch wird in der ersten Zeit die hauptsäch¬
lichste Stätte, wo Reflexionen aller Art niedergelegt
werden. Hin und wieder findet auch die Beschäf¬
tigung des Malers darin Berücksichtigung. Von Ge¬
dichten, selbstverfassten und gelesenen, von Erzäh¬
lungen ist des öfteren die Rede, kritische Gedanken
über diesen und jenen Dichter füllen ganze Seiten,
dazu kommt auch gelegentlich die Bemerkung
„Nach der Natur gezeichnet“ und daran reihen sich
Vorsätze:
„Ich habe eine große alte Föhre angefangen
mit Bleistift. Ich werde trachten, mir eine hübsche
genaue Zeichnung anzugewöhnen, denn abgesehen
davon , dass die Studienblätter an sich selbst einen
inneren Wert dadurch bekommen und mir noch
lange nachher zur Freude gereichen, so nützen sie
mir auch bei der Anwendung mehr als die rohen
Farbenkleckse, die ich früher machte. Auch will
es mich bedünken, dass es auch einem Landschafts¬
maler gar nichts schadet, wenn er mit Bleistift oder
Feder in einem gewissen Stile gewandt umzugehen
weiß; wenn schon viele es verachten und höchstens
plumpe Sclnnieralien mit rußiger Kreide und Weiß
zu machen wissen. Überdies kommt das gute Zeich¬
nen mit der Feder einem sehr zu statten in dem
Falle, wo man etwa auf den Gedanken kommt, etwas
zu radiren.“
Ein andermal findet sich neben der kurzen Notiz
„Nach der Natur gezeichnet“ ein längerer Bericht
über das Studium des Lebens in einem Ameisen¬
haufen, der offenbar diesmal einer eingehenderen
Betrachtung als das zu zeichnende Motiv gewürdigt
wurde. Dann kommen, wie schon früher, allerlei
Aufzeichnungen über „Landschaftliche Kompositio¬
nen“ vor, nachdem mit 1) 2) 3) 4) verschiedene The¬
mata zu Gedichten skizzirt sind. Da findet sich denn
als Nr. 5 „Mittelalterliches Bild“ der Gedanke zu
dem Entwürfe ausgeführt, der bereits besprochen
wmrde und im Grünen Heinrich in die Münchener
Zeit verlegt ist, die „mittelalterliche Stadt“. Das
Vorhandensein der Zeichnung beweist, dass Keller
es beim Niederschreiben der Gedanken nicht bewendet
sein ließ, sondern offenbar mitunter viel Zeit auf
diese Seite seiner Thätigkeit verwandte, denn die
Herstellung des Kartons beanspruchte sicherlich nicht
Tage, sondern Wochen. Indes gewinnt doch der
Schriftsteller mehr und mehr die Oberhand. In dem
bereits einmal citirten Aufsatze „Autobiographisches“
ist das deutlich und klar aus gesprochen:
„Ohne (in München) etwas geworden zu sein,
musste ich nach drei Jahren zurückkehren und ge¬
dachte mich in der Heimat neu zu kräftigen und
15*
108
GOTTFRIED KELLER ALS MALER
durch kühne Erfindungen emporzubringen. Die Kar¬
tons zu ein paar poetischen Landschaften waren so
umfangreich, dass ick dieselben in meinem alten
Malkämmerchen nicht aufstellen konnte, sondern
genötigt war, außer dem Hause einen eigenen Raum
dafür zu mieten. Es war gerade Winter und jener
Raum so unheizbar, mein inneres Feuer für die
spröde Kunst auch so gering, dass ich mich meistens
an den Ofen zurückzog und in trüber Stimmung
über meine fremdartige Lage, hinter jenen Karton¬
wänden versteckt, die Zeit wieder mit Lesen und
Schreiben zuzubringen begann. — Allerlei erlebte
Kot und die Sorge, welche ich der Mutter bereitete,
ohne dass ein gutes Ziel in Aussicht stand, beschäf¬
tigten meine Gedanken und mein Gewissen, bis sich
o
die Grübelei in den Vorsatz verwandelte, einen trau¬
rigen kleinen Roman zu schreiben über den tragi¬
schen Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn, an
welcher Mutter und Sohn zu Grunde gingen. Dies
war meines Wissens der erste schriftstellerische Vor¬
satz, den ich mit Bewusstsein gefasst habe, und ich
war etwa 20 Jahre alt. Es schwebte mir das Bild
eines elegisch-lyrischen Buches vor mit heiteren Epi¬
soden und einem cypressendunkeln Schlüsse, wo
alles begraben wurde. Die Mutter kochte unterdessen
unverdrossen an ihrem Herde die Suppe, damit ich
essen konnte, wenn ich aus meiner seltsamen Werk¬
statt nach Hause kam.“
Im Herbst 1848 verließ Keller seine Vaterstadt
zum zweitenmal, freilich nicht, um abermals sein
Glück als Künstler zu versuchen, sondern als „Stu¬
dent der Philosophie“. Die nächsten beiden Jahre
verbrachte er in Heidelberg. Dieser Zeit, die ihn
eigentlich fernab von künstlerischer Thätigkeit auf
die Wege anderer Studien führte, entstammen zwei
im Jahre 1849 entstandene Aquarelle, die sich heute
im Besitze von Frau Anna Kapp in Zürich befinden.
Der Maler verlangte also trotz aller Erfordernisse
anderweitiger Studien noch immer von Zeit zu Zeit
seine Rechte. Keller führte offenbar seine Malre-
quisiten mit.
Das eine der beiden Blätter ist wohl eine Zü¬
richer See-Reminiscenz: im Vordergründe ein Bauern¬
gärtchen mit Sonnenblumen, rückwärts unter Bäumen
liegende Bauernhäuser, weiterhin Kornfelder, ein
Stück See, ferne Berge, alles mit großer Sorgfalt
gezeichnet. Das andere Blatt zeigt einen Wasser-
tiimpel mit Schilf und Boot, über dem herbstlich
gefärbte Baumkronen aufragen. Zwischendurch sieht
man einen Zaun mit Thor, umrankt von Kürbis¬
stauden, dahinter einen blühenden Rosenbusch. In
der Ferne ein Seespiegel, Bäume, Berglinien. —
Dass dies nicht die einzigen malerischen Resultate
jener Zeit waren, scheint aus einem Briefe von Chris¬
tian Köster (Bächtold, Bd. I, 336) hervorzugehen, wo
dieser an Keller schreibt (Dezember 1848): „Ihre
Skizzen haben mir sehr wohl gefallen. Sie stehen
hier der Natur einsam und allein gegenüber, ohne
sich in fremden Manieren oder in nordischen For¬
meln zu bewegen, und das thut gemütlich so wohl;
obgleich der Wunsch rege wird, durch mehr Verein¬
fachung und Gelenkigkeit des Traktaments einen
Punkt zu erreichen, wo sich die kunstfreie Thätig¬
keit mit den Schranken der Naturtreue umschlungen
hält, durch Gewinnung eines Stils, — freilich leichter
gesagt als gethan.“ — Vielfach verkehrte Keller auch
mit dem zu jener Zeit in Heidelberg lebenden Rott¬
mann-Schüler Bernhard Fries.
Er schreibt über diesen an seinen alten Mün¬
chener Freund Hegi: „ — — — er war lange in
Italien und hat auch aus der Schweiz ganz gran¬
diose Zeichnungen mitgebracht. Er wird nächstens
zwei kolossale Bilder malen zu Goethe’s Lied :
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen“, ein
italienisches und ein schweizerisches Gebirgsbild, zu
welch letzterem er das Motiv vom Monte Rosa her¬
nimmt. Ich werde ihm helfen untermalen und han-
tiren dabei, zu Nutz und Vergnügen, an müßigen
Nachmittagen.“
Fries muss mithin etwas von Keller gehalten
haben, denn den ersten besten Dilettanten lässt man
nicht mithelfen bei einer Anlage, die unter Um¬
ständen für die Weiterführung der Arbeit sehr ins
Gewicht fällt.
Das Berühren künstlerischer Arbeit kommt sonst
in den Briefen der Heidelberger Zeit nur äußerst
selten vor. Desto mehr ist die Rede von philoso¬
phischen und litterarischen Studien, von eigenen
Arbeiten (der Grüne Heinrich war im Entstehen be¬
griffen), von der badischen Revolution.
Im April 1850 siedelte Keller nach Berlin über,
seine Studien weiter fortzusetzen.
Missgeschick, was er als Maler nicht überwand,
es vermochte den Dichter nicht aus dem Sattel zu
heben. Der Hunger hat auch da an seine Thüre
geklopft, aber Keller ging siegreich aus der harten
Probe hervor.
In einem Briefe an Freiligrath bezeichnet er
das Theater als seine „Hauptunterrichtsanstalt“ und
sagt dem Adressaten: „Aus dem Titel „Kunstmaler“
ersehe ich, dass Du das Gedächtnis für verworfene
Hallunkereien noch nicht verloren hast.“ Einem
GOTTFRIED KELLER ALS MALER
109
Schreiben an Hettner ist zu entnehmen, wie ihn die
Umgebung Berlins und die Berliner anmuten. Er
sagt da u. a. : „Dass es Ihnen am Meere gut ging
und gut gefiel, freut mich; ich bin nur neugierig,
ob ich auch noch den Tag erlebe, wo ich wieder
in eine vernünftige Gegend komme und entweder
Meer oder Gebirg sehe. Die märkische Landschaft
hat zwar etwas recht Elegisches, aber im ganzen
ist sie doch schwächend für den Geist; und dann
kann man nicht einmal hinkommen, da man jedes¬
mal einen schrecklichen Anlauf nehmen muss, um
in den Sand hinein zu waten. Ich bin fest über¬
zeugt, dass es an der Landschaft liegt, dass die Leute
hier unproduktiv werden. Ich sagte es schon hun¬
dertmal zu hiesigen Poeten, die sich domizilirt haben,
und sie stimmten alle ein und schimpfen womög¬
lich noch mehr als ich; aber keiner weicht vom
Fleck ... Wie sehr werde ich mich sputen, wenn ich
einmal kann! Denn ich fühle wohl, dass ich hier
auch eintrocknen würde Ein Hauptgrund zu der
Impotenz ist auch die verfluchte Hohlheit und Cha¬
rakterlosigkeit der hiesigen Menschen, die gar keinen
ordentlichen fruchtbaren Gefühlswechsel und -Aus¬
druck möglich macht. — — Ein vorübergehender
Aufenthalt hier hingegen ist jedenfalls auch für künst¬
lerische und andere Seiltänzernaturen gut. - “
Die Zahl der Briefe, welche aus der Berliner
Zeit stammen und im zweiten Bande der Bächtold-
schen Biographie mitgeteilt sind, ist nicht klein.
Beinahe befremdend wirkt es, dass über Dinge der
bildenden Kunst so gut wie gar nicht die Rede ist,
während über Theater und Litteratur ausführlich ge¬
sprochen, gelegentlich auch scharf losgezogen wird.
Freilich boten ja die künstlerischen Zustände jener
Zeit in Berlin wenig Erquickliches; indessen lebte
immerhin ein Menzel daselbst, dessen lange missver¬
standene Art in immer mächtigerer Weise sich ent¬
faltete. Einmal hatte Keller, wie es scheint, ver¬
sprochen, einen Bericht über die akademische Kunst¬
ausstellung an Hermann Hettner zu schicken, doch — — :
„Den versprochenen Aufsatz über die Ber¬
liner Ausstellung habe ich nicht geschrieben. Die
Ausstellung ist ein solcher Ausdruck einer inneren
geistigen Armut und Bettelhaftigkeit der jetzigen
Staffeleikunst, dass nichts zu sagen war, als etwa
über diese Armut selbst. Und dazu fühlte ich mich
nicht aufgelegt, da ich mich nun lieber der positiven
Beschäftigung zuwende. Freilich ist auch nicht viel
gesandt worden von außen her. Aus Frankreich und
England gar nichts, von München und Wien zwei
oder drei Bilder und selbst aus Düsseldorf wenig.
Die glänzendste Repräsentation genoss die vornehme
Porträtmalerei in gut gemalten Bildnissen von Für¬
sten, Adeligen, Diplomaten und eleganten Damen.
Selbst die guten Landschaften übersteigen nicht ein
halbes Dutzend; gute Genrebilder bringen es nicht
einmal so hoch, und doch zählt die Ausstellung
1300 Nummern etc.“
Keller hat auch in Berlin in stillen Stunden
gelegentlich wieder zum Pinsel gegriffen, trotzdem
er nichts darüber berichtet. Ein im Besitze von
Frau Justine Rodenberg zu Berlin befindliches Aqua¬
rell, datirt „Berlin 1853“, giebt ein Motiv aus der
Gegend von Treptow wieder: Kiefern, Wassertümpel,
Regenstimmung. Gelegentlich der Schenkung des
Blattes an die jetzige Eigentümerin schrieb Keller
rückwärts folgende Worte:
Dies trübe Bildchen ist vor dreiundzwanzig Jahren
Im einstigen Berlin mir durch den Kopf gefahren;
Mit Wasser wurd’ es dort auf dem Papier fixiret,
Von Frau Justinen nun dahin zurückgeführet,
Wo es entstand. Vom regnerischen Zürichsee
Bis hin zur altberühmt- und wasserreichen Spree.
Auf Wellen fahret so, ein Niederschlag der Welle,
Des Lebens Abbild hin, die blöde Aquarelle.
Im Dezember 1855 kehrte Keller endlich wieder
in die Heimat zurück, freilich nicht, um den gelegent¬
lich einmal in Aussicht gestellten Posten eines Pro¬
fessors für Litteratur- und Kunstgeschichte an der
neuerrichteten polytechnischen Schule in Zürich zu
übernehmen, sondern um sich ganz und gar mit
seinen litterarisehen Arbeiten zu beschäftigen. An
Chr. Schad, den Herausgeber des „Deutschen Musen¬
almanach“, schreibt Keller als Postskriptum: „Die
Benennung „Maler“ bitte ich künftig weglassen zu
wollen, da sie mir längst nicht mehr zukommt.“
Und dennoch steckte ihm der Maler in den Knochen.
Man lese in den nachgelassenen Schriften den Auf¬
satz „Am Mythenstein“ (1860): „Ich fuhr mit dem
Frühboot von Luzern weg in die klassische Gebirgs-
welt hinein , welche in grauem Morgenschatten vor
uns stand, geheimnisvoll gleich einem Theatervorhang
den goldenen Morgen verhüllend, der im Osten hinter
ihr heraufstieg. Da ich nichts als Fest '), Teil und
Schiller im Kopfe trug, so war es mir wirklich wie
in einem Theater zu Mute, so erwartungsvoll, aber
auch so absichtlich. Ich gedachte der Teildekora¬
tionen, die ich da und dort gesehen, und harrte fast
ängstlich kritisch auf das erste Erglühen eines Berg¬
hauptes. Da, plötzlich und unversehens, indem ich
1) Es handelt sich um das Fest am 21. Oktober 18G0
gelegentlich der Enthüllung einer Gedenktafel für Schiller
am Mythenstein im Vierwaldstätter See.
110
GOTTFRIED KELLER ALS MALER.
mich rückwärts wandte, war die Klippenkrone des
Pilatus rosig beglänzt und durch Linien des ersten
Herbstschnees fein gezeichnet. Es war ein gar statt¬
liches Versatzstück; ich wandte kein Auge davon,
vergass die mitgebrachte Theaterkultur und verfiel
der malerischen. Ich erwog die technischen Mittel,
welche für diesen Effekt aufzubieten waren, die
Lmtermalung und die Lasuren, trug das Pastose auf,
überzog es mit dem Transparenten, und indem ich
so mit dem Pinsel um die Formen herum model-
lirte, merkte ich, dass es mit meiner Zeichnung nicht
gut beschlagen war. Ich zog also in Gedanken den
Stift hervor und ging den zerklüfteten Riesengebilden
auf den Grund, vom Schlaglicht des Morgens geleitet.“
„So zeichnete, wischte, tuschte, kratzte und
malte ich mit den Augen, indem das Schiff weiter
fuhr, wie in saurem Tagelohn, und es war fast nöt-
lich anzusehen, wie ich mich befliss, keine der vor¬
überziehenden Erscheinungen mir entweichen zu
lassen. Ganz niedrig und nah am Schiff saß noch
eine zurückgebliebene Nebelflocke auf einem Felsen,
schief aufwärts um ein Tännchen gewickelt. So¬
gleich überlegte ich, auf welche Weise sie am duf¬
tigsten anzubringen wäre, trug etwas Weiß mit
Rebenschwarz auf und handhabte eben den Ver-
treiber, als ein Lufthauch die Flocke losmachte und
wie einen verlorenen Frauenschleier an der Berg¬
wand entlang w,ehte. Das Geisterhafte des Anblicks
schob mir nun die Dichterei in das Malen hinein
und stracks war ich dahinter her, ein Bergmärchen
auszuspinnen, als ich endlich dieser modernen Be¬
fangenheit und Machsucht inne ward.“
Und wenn man nun im gleichen Aufsatze weiter,
und die Entwickelung der Idee von groß angelegten
Schauspielen liest — — — :
„Wären die Farbenreihen der Gewänder nach
bestimmten Gesetzen berechnet, so gäbe es Augen-
blieke, wo Ton, Liebt und Bewegung, als Begleiter
des erregtesten Wortes, eine Macht über das Gemüt
übten, die alle Blasirtheit überwinden und die ver¬
lorene Naivetät zurückführen würde, welche für das
notwendige Pathos und zu der Mühe des Lernens
und llbens unentbehrlich wäre; denn ohne innere
und äußere Achtung gedeiht nichts Klassisches“ —
wem muss da nicht von selbst die Überzeugung
kommen, dass der das dachte und sprach, selbst ein
Künstler von Gottes Gnaden sein müsse! Ein Künst¬
ler, ja, er brauchte deswegen nicht just ein Maler
zu sein, denn nicht jeden Maler kann man auch als
Künstler bezeichnen, lange nicht jeden, sogar nur
recht wenige!“
Dass Keller’s Malerlaufbahn unterbrochen wor¬
den ist, hat ihn nicht gehindert, dennoch ein großer
Künstler zu werden, Darin liegt der Beweis, dass,
was künstlerische Rasse hat, nicht von der hand¬
werklichen Äußerlichkeit, vom Ausdrucksmittel, ab¬
hängt.
Keller, der Maler, der Poet, ist bekanntermaßen
mit seinem 42. Jahre in den Staatsdienst getreten
als Staatsschreiber.
Vom Staatsschreiber Keller rührt die kreisrunde
Landschaft her, deren Original im Besitze von f Prof.
Ad. Exner in Wien war. Wo im Laufe der Jahre
und unter dem Einflüsse vielartig sich ändernder,
in den wenigsten Fällen günstiger Verhältnisse eine
solche Abklärung sich vollziehen konnte, da muss
die Kraft von unverfälschter Art sein. Wenn das
auch manche, viele nicht eingesehen haben, so ändert
es doch an dem Faktum nichts, dass in Keller eine
ganz stark entwickelte malerische Potenz wohnte.
Dass sie sich selbst nach dem Verlassen der eigent-
liehen Malerlaufbahn immer wieder regte, ist nur
ein Beweis für ihre Echtheit. Kraftlosen Naturen
entfällt in solchen Umständen leicht und ohne
Schmerzen das, wovon sie sich trennen müssen. Bei
Keller pochte immer und immer wieder der Maler
an, wenn er auch für die Welt längst begraben war
oder in den Augen jener, die eben so in den Tag
hineinschwatzen, ohne zu wissen, was sie sagen, als
ein Dilettant dastand. — Das kreisrunde Bild ist,
wie Prof. Bächtold sagt, vom Jahre 1878, mithin
von Keller etwa im beginnenden sechzigsten Lebens¬
jahre gemalt und unter allem, was bis zur Stunde
an malerischen Arbeiten seiner Hand bekannt ist,
unzweifelhaft das Beste, eine Arbeit, die, um em¬
pfunden und auf ihren künstlerischen Wert richtig
geprüft zu werden, keines gelehrten Verständnisses
bedarf.
Noch zwei kleinere Aquarelle, die indessen, was
die Auffassung des Gegenstandes betrifft, nicht auf
gleicher Höhe mit dem vorgenannten stehen, be¬
finden sich im Besitze von Frau Prof. Frisch, geb.
Exner, in Wien. Das eine giebt nach links sich
senkendes, baumbestandenes Bergterrain mit Aus¬
blick auf waldige Halden, das andere eine mehr
ebene Landschaft mit zierlichen Baumgruppen, hinter
denen sich eine weite Wasserfläche dehnt, jenseits
deren mächtige, stotzige Bergwände aufsteigen. Beide
Blätter sind mit der Jahreszahl 1873 versehen und
wurden vom Staatsschreiber Keller gelegentlich eines
Ferienaufenthaltes am Mondsee im Salzkammergut
gemalt und der jetzigen Besitzerin dedizirt.
KLEINE MITTEILUNGEN.
111
Es ist absichtlich hier davon abgesehen worden,
eine förmliche Liste, etwa das aufzustellen, was die
Franzosen beim Künstler als „l’ceuvre de sa vie“
bezeichnen. Will man vom Lebenswerke Keller’s
sprechen, so liegt es auf einem anderen Gebiete als
dem der bildenden Kunst. Ob nicht aber diese und
seine Begabung dafür ihn erst recht befähigten, als
Schriftsteller manches zu sagen und zu sehen, was
andere, mit minder geschärften Augen zu sehen,
folglich auch zu sagen nicht im stände sind, selbst
solche, die in Sachen der Kunst immer ein bis zum
Rande gefülltes Tintenfass in Bereitschaft haben!
Wie er über neuere Kunst dachte, hat er an
vielen Orten gesagt. Wie gerecht er den verschie¬
densten Anschauungen gegenüber zu sein vermochte,
zeigt der in seinen nachgelassenen Schriften ver¬
öffentlichte Aufsatz: „Ein bescheidenes Kunstreis-
chen“, in dem über einige wenige Maler weit mehr
Gescheites und Zutreffendes gesagt ist, als in manch
spalten- und bogenlangen Ausstellungsberichten derer,
die das „Richten“ als etwas Bedeutsameres anschauen
als das „Fühlen“, das man allerdings nicht lernen
kann. — Wie wäre es sonst möglicli gewesen, dass
enge Freundschaft Gottfried Keller bis ans Ende
seiner Tage mit Arnold Böcklin verband, der, das
ist keine allgemein bekannte Thatsaclie, eine herr¬
liche Keller-Medaille modellirt hat, freilich eine frei
empfundene, hochkünstlerische, die wahrscheinlich
aus diesem Grunde an offizieller Stelle jene Wür¬
digung nicht fand, die ihr von künstlerisch Empfin¬
denden dargebracht worden wäre, zumal für den
Zweck, dem sie dienen sollte: eine Erinnerung an
Gottfried Keller’s siebzigsten Geburtstag zu sein,
ein künstlerisches Andenken an einen großen Künstler.
KLEINE MITTEILUNGEN.
BÜCHERSCHAU.
Anleitung zur Ölmalerei von H. S. Templeton. Autori-
sirte Übersetzung aus dem Englischen von 0. Strassner.
Stuttgart, Paul Neff. 1S93.
Es ist ein unbestreitbares Verdienst des Übersetzers und
Verlegers, die vorliegende Schrift dem deutschen kunst¬
pflegenden Publikum, dem das englische Original aus irgend
einem Grunde nicht zugänglich ist, zum Studium geboten
zu haben. Der beste Prüfstein, der zuverlässig die Brauch¬
barkeit jedes Buches zeigt, ist die Zahl der Auflagen, die
ihm seine eigene Güte und die ihm dadurch zugewandte
Gunst des Interessentenkreises verschafft. Das englische
Original hat bis heute 47 Auflagen erlebt. Strassner, der
sehr fachmännisch-gewandte Übersetzungen liefert, macht
uns auch noch auf einige andere Werke begierig, die er für
die nächste Zeit verspricht und die, wie das hier angezeigte,
aus dem in dieser Richtung bekannten Verlage von G. Rowney
u. Comp, stammen. Unser kleines Werk ist für sich ein
Ganzes, findet aber noch eine vorzügliche Erweiterung in
der „Anleitung zur Landschaftsmalerei in Öl“ von Glint und
in der „Abhandlung über Porträtmalerei nach dem Leben
sowohl als auch nach Photographieen und auf Photograpbieen“
von Haynes. Es steht über jedem Zweifel, dass gerade solche
in engen Grenzen gehaltene Darstellungen den beabsichtig¬
ten Zweck, eine Anleitung zu bieten, viel besser erreichen
als umfangreiche Publikationen dieser Art, die nur zu häufig
— selbst immer nur sehr gute Arbeiten vorausgesetzt — be¬
sonders den Anfänger verwirren und durch ein Zuviel dort
zum Experimentiren verleiten, wo eine einzige apodiktisch
hingestellte Anweisung für immer ein festes Fundament
bildet. — Von diesem Standpunkte aus sei das instruktive
Büchlein bestens empfohlen. RUD. BOCK.
Kurze Anleitung zur Tempera- und Pastelltech¬
nik etc. von Fr. Jcienniche. Stuttgart. Paul Nett'. 1893.
Diese Arbeit des durch seine verwandte Themen be¬
handelnden Bücher wohlbekannten Autors führt besonders
das Kapitel über Pastelltechnik, Gobelins- und Fächermalerei
und die Kolorirung von Photographieen aus und ist speziell
Adepten des Kunstgewerbes im Hinblick auf seine einfache,
leicht verständliche Vortragsweise bestens zu empfehlen.
R. BK.
Anleitung zur Modellirkunst. Mit 41 Illustrationen
Von H. Bouffier. Leipzig, Moritz Ruhl. 58 S. Gr. 8°.
Die Broschüre ist mit Rücksicht auf den Liebhaber ge¬
schrieben; sie will, was ja sehr löblich ist, den Sinn für
Plastik in weiteren Kreisen wieder beleben oder besser aus
dem tiefen Schlaf erwecken, in den er leider bei uns ver¬
fallen ist. Dass sich der Autor dabei besonders an die
Damenwelt wendet, scheint uns nicht der glücklichste Weg
für ein Prosperiren seiner Absicht zu sein; wohl aber stim¬
men wir ihm in der Meinung bei, dass von unseren Kunst¬
schulen, namentlich denen niederen Ranges, mehr für die
Popularisirung der Plastik geschehen sollte, und zwar am
besten, wie uns dünkt, durch öffentliche Kurse, ähnlich den
allgemeinen Zeichenschulen. Besonders beherzigenswert ist
der an dieser Stelle von uns wiederholt ausgesprochene
Wunsch, der Polychromie in der Plastik wieder zu ihrem
uralten Rechte zu verhelfen, das ihr nur der akademische Zopf
geraubt hat. — Das klar und fasslich geschriebene kleine
Buch, das manchem Liebhaber und vielleicht auch manchem
echten Talente eine gute Stütze sein wird , bespricht außer
den Materialien zum Modelliren die verschiedenen Rich¬
tungen dieser Kunst in recht übersichtlicher Weise, das Mo¬
delliren selbst, das Formen nach dem Modelle und der
Natur (auch von Totenmasken), die Retouche und das Verviel-
112
KLEINE MITTEILUNGEN
faltigen. Besonders das Kapitel über das Abformen ist für
den Kunstfreund zur praktischen Anwendung sehr brauch¬
bar. Den letzten Abschnitt widmet der Verfasser der
Gummiknetmasse, die heute auch in der Hand des Malers
für Rahmenmodellirung nach eigenem Geschmack zu so
häufiger Anwendung kommt, umsomehr als die Polychro-
mirung derselben mit allen Arten von Farben, Wasser-,
Gouache, Öl- und Bronzefarben etc., leicht zu bewerkstelligen
ist. — Das Büchlein ist für grundlegende Winke in Erman¬
gelung eines leitenden Lehrers und Praktikers jedenfalls sehr
empfehlenswert. RUD. BOCK.
* Siebzehn Bembrandt’s der üasseler Galerie , das sind
nahezu sämtliche Bilder, welche die Sammlung von dem
großen holländischen Meister besitzt, bilden den Gegen¬
stand einer höchst beachtenswerten Publikation, welche
die Photographische Gesellschaft in Berlin soeben heraus¬
gegeben hat. Und zwar in Photogravüren auf japanischem
Papier, welche an Schärfe der Wiedergabe und Feinheit des
Tons den vorzüglichsten Leistungen der modernen Technik
sich anreihen. Als besonders gelungene Reproduktionen be¬
zeichnen wir das Bildnis des Alten mit Halskette und Kreuz,
die Saskia, die Heilige Familie, den Bruyningh und den
Segen Jakob’s. Die Wirkung einiger Blätter hätte durch
Retouchen mit der Nadel erhöht werden können, was je¬
doch — wie es scheint — grundsätzlich vermieden wor¬
den ist.
* „Die Bedeutung der Amateur - Photographie“ betitelt
sich eine neue Schrift von Direktor Dr. A. Lichtwark in
Hamburg, in der dieser geistvolle, für die Verbreitung des
Kunstsinnes auf praktischem Wege rührig thätige Autor für
die Amateur-Photographie energisch eintritt. Den Ausgangs¬
punkt für seine beachtenswerten Darlegungen bildete die
Hamburger Amateur-Photographie- Ausstellung v. J. 1893, und
die Leistungen der besten auf derselben vertretenen Amateur-
Photographen,- vor allem die der HH. B. Eichemeyer jun. in
New-York und Bar. A. Bothschild in Wien sind in vorzüg¬
lichen Wiener Heliogravüren von Bleehinger dem bei W.
Knapp in Halle erschienenen Buche beigegeben. Wir em¬
pfehlen dasselbe der allgemeinsten Beachtung.
\Y innerst ad.t! Lebensbilder aus der Gegenwart, geschil¬
dert von Wiener Schriftstellern. Gezeichnet von Myrbach,
Za.<ln , Engelhaft , Mangold und lieg. Wien und Prag, F.
Tempsky; Leipzig, G. Freytag. 1893—1894. Lieferung 10 — 12.
In diesem von uns schon früher besprochenen Werke
brillirt in den vorliegenden Lieferungen wieder Myrbach als
Meister der tonigen Federzeichnung, besonders in seinen
Bildern des Parterres der Oper, des Orchesters und der Phil¬
harmoniker. Weniger bedeutend ist sein Hofball mit be¬
kannten, zum Teil abgetretenen, zum Teil gestorbenen Größen:
Tautle, Gautsch, Schmerling etc., derselbe Ball, bei dem der
Zug ins Große selbstverständlich und notwendig ist; unver¬
gleichlich besser wusste der Künstler das Charakteristische,
den Qualm und Lärm des Fiakerballs festzuhalten; auf
kleinem Raum zeichnet er da gegen hundert Köpfe und
Halbfiguren voll Leben, einen wahrer als den andern, alle
zusammen das echte Ballgedränge dieser Qualität bildend,
alles in der echten Ballluft, der man ansieht, dass sie keine
Luft ist, sondern zum Schneiden dick. Sehr verliert neben
Myrbach, Mangold, Engelhart und Hey der flotte Chik-
Zeichner des „Figaro“ Zasche, der schablonenhaft arbeitet.
Engelhart schuf dagegen in seinem „kunstsinnigen Ehepaar
im Rubenssaale im neuen Museum“ ein Genrebild von
solchen Vorzügen der Charakteristik und schärfsten Beo¬
bachtung, so voll Humors, dass kein Kunstfreund 'versäumen
sollte., damit Bekanntschaft zu machen: die alte Wiener
Schule lebt darin neu verjüngt auf. Der einzige Wunsch,
den wir so oft bei Engelhart äußern mussten, ist: mehr Ge¬
duld für seine Arbeiten, sowie er sie auf den letzten
Pastellen der Internationalen Ausstellung zeigte, — wenn
man auch sieht, dass er sich Gewalt anthun muss, um ruhig
zu bleiben und nicht schleuderisch zu werden. Vortreffliche
neue Kräfte lernen wir in Mangold und Hey schätzen, nament¬
lich bewahrheiten des letzteren Tuschirungen aus den
Kirchen Wiens den oben bei Engelhart ausgesprochenen
Satz — infolge ihrer Solidität in noch höherem Grade als
bei diesem — von der Benaissance der Altwiener Genre¬
kunst. Seine „Andacht vor dem Gnadenbild Maria Pötsch
in der Stephanskirche“, seine „Einsegnung“ oder sei ne,, Fasten¬
predigt“ in der Caroluskirche des älteren Fischer von Er¬
lach, das sind — selbst ohne Farbe — Bilder von bleiben¬
dem Werte. Zum Schluss eine textliche — vielleicht Druck¬
fehler-Berichtigung: Das „heilige Grab“ der Karwoche wird
in Wien nirgends „Heiligenkreuz“ genannt. R. Bk.
* Peter Halm’ s Name ist allen Freunden der Radirkunst
wohlbekannt; die feinsinnige Studie, die wir dem gegen¬
wärtigen Hefte beigeben, entstand aus Anlass der Radirungs¬
konkurrenz, die der Verleger der Zeitschrift vor zwei Jahren
ausschrieb. Das Blatt war nicht rechtzeitig fertig geworden,
wurde jedoch nachträglich erworben. Der Vorwurf, den
der Künstler sich wählte, ist nicht gerade bildmäßig im
gewöhnlichen Sinne, sondern eine Naturstudie, ein künst¬
lerisches Augenblicksbild, das um eines momentanen Reizes
willen vom Künstlerauge erfasst und von der nachfühlen¬
den Hand wiedergegeben wurde. Es sind auch keine star¬
ken Kontraste und besonderen malerischen Reize darin zu
suchen, aber die Leichtigkeit, Freiheit, Reinheit der Tech¬
nik, die Gefälligkeit der Darstellung machen auch dies
Blatt zu einem schätzenswerten und verraten von Halm’s
künstlerischem Charakter dem Kenner eben so viel wie
andere mühevoller und ausführlicher durchgearbeitete Ra¬
dirungen. Ja, uns will bediinken, dass gerade von solchen
geistreichen Improvisationen der angehende Radirer die
besten Fingerzeige hat, mit deren Hilfe es sich schon eher
weiter fühlen lässt, wenn man nach rechten Mitteln des
Ausdrucks noch sucht.
Herausgeber: Carl von Lülzow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Handzeichnung von Max Klinger.
MAX KLINGER’S „BRAHMS- PHANTASIE“.
MIT ABBILDUNGEN.
E WUNDERT viel und viel gescholten!“
Auf wen möchte das Goetlie’sclie Wort
besser passen als auf Max Klinger, den stil¬
len bescheidenen Künstler, der — unbeirrt von der
Parteien Gunst und Hass — seinen einsamen Pfad
bergan verfolgt bat und nun, in der Vollkraft des
Schaffens, jenem heiteren Himmel nahe ist, von
dem herab die ewigen Sterne der Kunst in ruhiger
Klarheit uns armen Sterblichen leuchten!
Bewundert viel und viel gescholten, hat er es
gewagt, in der langen Reihe seiner radirten Folgen
den wechselnden Empfindungen Ausdruck zu ver¬
leihen, die ein Menschenherz in Freud und Leid
durchzittern, und wenn er auch in mancher Brust
ein frohes Echo geweckt hat und keiner tiefer veran¬
lagten Natur gleichgültig geblieben ist, so zählt er
doch nach wie vor zu den einsamen Menschen, die
der tausendköpfigen Menge rätselhaft, ja unverständ¬
lich bleiben, weil sie nicht, dem Philister gleich,
auf dem allgemeinen Fahrweg der Gedanken dahin¬
ziehen.
Nur einen ihm ebenbürtigen Genossen hat er
auf seinem Lebenswege getroffen: Arnold Böcklin,
und nur der Genius dieses größten deutschen Künst¬
lers hat es vermocht, ihn zeitweilig derart in seinen
Bannkreis zu ziehen, dass er eine kleine Zahl Böck-
lin’scher Gemälde mit den Mitteln graphischer Kunst
wiederzugeben oder umzudichten unternahm. Aber
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 5.
dennoch ist er in allem, was er sonst geschaffen,
sich selbst treu geblieben, und keines seiner Ge¬
mälde, keine seiner Radirungen oder plastischen
Arbeiten verrät im mindesten Anklänge an Böek-
lin's künstlerische Eigenart. Was er mit dem ihm
in inniger Freundschaft verbundenen Baseler Meister
indes redlich geteilt hat, das ist der bittere Spott
und die boshafte Schmähsucht des Unverstandes, wie
sie sich fast bei jedem neuen Werke Klinger’s glei¬
cherweise im Publikum und in der Kritik breit
machten.
„Es ist ein furchtbares Schicksal, in Deutsch¬
land ein großer Künstler zu sein“, sagt Lichtwark
in einer seiner lesens- und beherzigenswerten Schrif¬
ten : „ Anerkennung und Zustimmung aus dem Pu¬
blikum pflegen auf einem Missverständnis zu be¬
ruhen. Das Lob hat keine Freude, aber der Tadel
aus dem Munde des Unverstandes trifft mit doppel¬
ter Härte.“ Er ist Max Klinger so wenig erspart
geblieben, wie Arnold Böcklin. Aber die Zeiten
haben sich geändert, und der Ruhm Böcklin’s steht
heute so fest begründet, dass es kein Gebildeter oder
doch keiner, der dafür gelten will, mehr wagt, bei
diesem Namen zu spotten. Er hat sich Anerken¬
nung erzwungen und gilt sogar der kalt reflektiren-
den Vernunft des Berliners, dessen Empfindungs-
1) Wege und Ziele des Dilettantismus. München 1894.
16
MAX KLINGER'S BRAHMS-PHANTASIE.
i 14
weise er naturgemäß am fremdesten bleiben sollte,
für unverletzlich. Klingel* ist an Jahren der Jüngere
und daher noch nicht so nahe dem Gipfel unbestrit¬
tenen Ruhmes. Noch hemmen breite Nebelschichten
den erwärmenden Sonnenstrahlen seines Talentes
den Weg. Aber schon lichtet sich das Gewölk, und
auch für ihn wird der Tag kommen, wo das deutsche
Volk mit Stolz zu ihm aufblickt als zu einem sei¬
ner edelsten Söhne, und die kritischen Spötter, die
sich einst so erhaben über ihn dünkten, der eigenen
Lächerlichkeit anheimfallen.
Der neue Cyklus von Radirungen des Künstlers,
der uns hier beschäftigen soll, trägt den Namen:
„Brahms- Phantasie“. Es sind sechs Lieder, die
Klingel* teils durch größere oder kleinere Radirungen,
teils durch lithographirte schmale Leisten neben den
Noten illustrirt hat. „Illustrirt“ ist eigentlich nicht
der richtige Ausdruck, denn der Künstler verschmäht
es, den Wortlaut der Lieder in landläufiger Weise
zu Bildern umzugestalten. Seine Radirungen sind
vielmehr Transskriptionen der Bralims’schen Melo-
dieen, und wie die Musik, als die in ihrer Erschei¬
nung flüchtigste und geschmeidigste unter allen
Schwesterkünsten, dem Empfinden des Einzelnen den
weitesten Spielraum gewährt, ihn nicht zwingt das
vom Künstler Gewollte nur von einem, von seinem
Gesichtspunkte aus zu betrachten und zu genießen,
so lässt auch Klingel* denen, die sich in seine
Schöpfungen vertiefen wollen, die volle Freiheit des
Denkens und Empfindens, des Deutens und Erklärens.
Wie ein Präludium berührt das erste, an die
Spitze der Lieder gestellte Blatt: „Accorde“. Auf
erhöhtem Platz über der bewegten Meeresflut sitzt
der Künstler am Flügel und entlockt seinem Instru¬
ment den Grundton, der aus dem Rauschen der
Wog( •n zu ihm ernporklingt. Die Nixen des Meeres
schlagen ihn an auf der riesigen, mit einer singen¬
den Maske geschmückten Harfe, die ein bärtiger
Wassergeist hält. Die Gleichheit des Accordes Sym¬
bol isirt eine neben dem Künstler sitzende Frauen-
gestalt, die mit der einen Hand auf den Naturlaut
der singenden Harfe, mit der anderen auf das Noten¬
heft zeigt. Und über die Wellen steuert pfeilschnell
ein einsames Schifflein dahin, — „flieget den hellen
Inseln entgegen“, den seligen Gestaden der Phantasie,
wo sich aus dem Schatten dunkler Cypressen der
Schönheit Tempel erheben, überragt von den schnee¬
bedeckten Häuptern des Gebirges, die sich, von dich¬
ten Wolkenschleiern umsponnen, weit in der Ferne
verlieren.
Das Lied „Alte Liebe“ von Candidus eröffnet
den Reigen:
„Es kehlt die dunkle Schwalbe
Aus fernem Land zurück,
Die frommen Störche kehren
Und bringen neues Glück.
An diesem Frühlingsmorgen,
So trüb verhängt und warm,
Ist mir, als fand ich wieder
Den alten Liebesharm.“
An diese Worte knüpft Klinger an: Der Künst¬
ler liegt, lässig hingestreckt, auf dem Balkon seines
Hauses, von dem sich ein herrlicher Blick über die
Dächer und Kuppeln der Siebenhügelstadt öffnet.
Rechts sieht man auf den verlassenen Flügel im
Zimmer, vor dessen Thür melancholisch der geflü¬
gelte Liebesgott sitzt. Er zeigt mit der Spitze seines
Pfeiles auf ein Häuflein verstreuter Briefe, von denen
immer mehr noch einem geöffneten Kästchen ent-
cpiellen. Gedankenvoll den Kopf in die Hand stüt¬
zend, schaut der Einsame auf die papiernen Zeugen
entschwundenen Glückes, und unten rollt das Rad
der Zeit unaufhaltsam hinab über den blumigeu
Rasen, der alle Erinnerungen der Lebenden deckt.
Aber vor dem geistigen Auge des stillen Träumers
erhebt sich das morsche Gemäuer eines zerfallenden
Turmes, den die dunkeln Schwalben umkreisen,
während drunten im abendlichen Schatten der Kas¬
tanien ein glückliches Paar wandelt, berauscht vom
kurzen Frühlingstraum der alten Liebe.
Schwermütig ertönt das böhmische Volkslied:
„Hinter jenen dichten Wäldern weilst Du meine
Süßgeliebte“. Klinger hat die Musik mit den rei¬
zendsten Randleisten umrahmt, die man erdenken
kann. In den schmalen, kaum zollbreiten Raum
bannt er die ganze Poesie des dichten Waldes, dessen
dunkles Laub sich im klaren, stillen See wider¬
spiegelt samt den flimmernden Sternen, die vom
dunkeln Abendhimmel herniederstrahlen. Eine größere
Radirung zeigt uns „die ferne süße Maid“, an einen
Baumstamm gelehnt, zwischen den Wasserlilien des
Seeufers, und auf einem zweiten kleineren Bilde ruht
der Liebende im hohen Gras vom hellen Schein des
Mondlichts übergossen, während sich vom Himmel
herab die Geisterhand der „Süßgeliebten“ auf sein
sehnendes Herz legt.
Dem mit zwei reizvollen Randleisten geschmück¬
ten Paul Heyse’schen Liede „Am Sonntag Morgen“
folgen die Dichtungen „Waldeinsamkeit“ von Almers
und „Kein Haus — keine Heimat“ von Friedrich
MAX KLINGER’S BRAHMS -PHANTASIE.
115
Halm. Nur die erstere der beiden bat Klinger il-
lustrirt, und zwar schließt sich seine Radirung dies¬
mal ausnahmsweise eng den Anfangsworten des
Textes an:
„Ich ruhe still im hohen grünen Gras
Und sende lange meinen Blick nach oben.
Von Grillen rings umschwirrt ohn’ Unterlass,
Von Himmelsbläue wundersam umwoben“.
In der ersten Randleiste kauert ein winziger
Mensch zu Füßen des großen Pan, der im Ähren¬
kranz, eine schwere Blüten- und Fruchtguirlande
auf den Schultern, als Verkörperung der geheimnis¬
voll waltenden Naturkräfte auf der Erdkugel steht,
während über seinem Scheitel der Sonnenball, die
Quelle des Lichts und des Lebens, strahlt. In der
zweiten Leiste schweben zwei Liebende, die Hände
ineinander geschlungen, die Gesichter zum Kuss sich
neigend, empor durch den dunkeln Äther:
„Die schönen weißen Wolken zieh’n dahin
Durchs tiefe Blau wie schöne, stille Träume;
Mir ist, als ob ich längst gestorben bin
Und ziehe selig mit durch ew’ge Räume.“
Die fünf kleinen Lieder sind verklungen, und
ihre schwermütigen Weisen haben gewissermaßen
nur die Stimmung vorbereitet, die in dem sechsten,
in Hölderlin’s grandiosem „Schicksalsliede“ zu immer
mächtigeren Tönen anschwillt und ausklingt. Der
Künstler hat hier alle Kraft gesammelt, um den Kern
der Dichtung in einen Cyklus von acht großen Ra¬
dirungen zusammenzufassen, die er dem Schicksal
der den Otymp stürmenden Giganten und der Pro¬
metheussage widmet. Ein zweites Präludium knüpft
an das Titelblatt des Werkes an und zeigt uns wie¬
der den einsamen Künstler am Meer, dessen rau¬
schenden Wellengesang er mit immer volleren Ac-
corden begleitet. Begeistert wendet er den Blick
empor zu der singenden Meeresharfe, die neben ihm
auf der Brüstung steht, und dahinter erscheint ihm
in unverhüllter Schönheit mit ausgebreiteten Armen
ein herrliches Weib. Gewand und Maske hat sie
von sich geworfen: es ist die Muse selbst, die ihn
zuerst den Urlaut aller Melodie gelehrt. — Und über
den Wassern jagen die Wolken dahin und verdich¬
ten sich zu himmelstürmenden Giganten und Ken¬
tauren, Felsblöcke schleudernd und Pfeile entsendend,
zahllos, gewaltig und unaufhaltsam in wildem, ver¬
geblichem Trotz gegen die Himmlischen.
Hätte Klinger nichts geschaffen als diese eine
von höchster dramatischer Kraft erfüllte, herrliche
Komposition, sie würde genügen, seinem Namen
die Unsterblichkeit zu sichern. Mächtiger, leiden¬
schaftlicher als diese bildgewordene Verkörperung
der Musik lässt sich nichts erdenken, und es ver¬
dient ausgesprochen zu werden, dass noch kein
Künstler die wilde Großartigkeit des Meeres ohne
Zuhilfenahme der Farbe mit gleicher Wahrheit wie-
derzugeben gewusst hat. Glaubt man doch die dun-
kein, schaumdurchzogenen Wellen mit ihren weißen
Kämmen durch das Geländer der Brüstung und die
Saiten der Harfe hindurch auf- und niederfluten zu
sehen! Immer neue Wogen rollen heran und ent¬
locken der singenden Harfe die mächtigen Töne des
Schicksalsliedes — „wie die Finger der Künstlerin
heiligen Saiten“.
Klinger hat den großen Radirungen kurze Be¬
zeichnungen gegeben, die, meist in ein einziges Wort
zusammengefasst, seine Abneigung gegen jede „Er¬
klärung“ in charakteristischer Weise darthun. Den
in der „Evocation“ schon als Luftgebilde angedeu¬
teten Gedanken an den Gigantenkampf spinnt er
im zweiten Blatt „Titanen“ weiter. Von hohen Ber¬
gesgipfeln aus setzen die riesigen Erdensöhne den
Kampf gegen die Götter fort. Bis zum Himmel
empor ragen ihre mächtigen Leiber, von ziehenden
Nebelstreifen umwallt. Aber hoch über den Wolken
thronen in sicherer Ruhe die Unsterblichen, Apoll
und Diana entsenden ihre nimmer fehlenden, tod¬
bringenden Pfeile, und ob sich die kühnen Angreifer
auch hinter breiten Felsplatten zu bergen suchen,
einer nach dem anderen sinkt getroffen hinab. —
Auf dem dritten Blatt: „Nacht“ decken die Körper
der toten Giganten weithin die entvölkerte Erde.
Nur Möven flattern ängstlich über die finstere Mee¬
resflut, und oben, wo sich der Himmel vom Licht
eines neuen Tages erhellt, sitzt die Sage und erzählt
dem jugendlichen Prometheus vom Schicksal der
Titanen, die es gewagt, den Unsterblichen zu trotzen.
Mitgefühl mit den Leiden der Besiegten und feste
Entschlossenheit, die Niederlage der Väter zu rächen,
spiegeln sich in Blick und Haltung des jungen Hel¬
den. — Zum Manne gereift, sehen wir ihn auf dem
vierten Blatt: „Raub des Lichtes“, wie er in kühnem
Fluge, die Fackel in der hocherhobenen Hand, zur
Erde schwebt und den in dichte Finsternis gebann¬
ten armen Sterblichen, die ihn jauchzend umringen,
das himmlische Feuer herniederbringt.
Die Freude der Griechen schildert das fünfte Blatt:
„Fest“, eine der köstlichsten Kompositionen des gan¬
zen Werkes. Vor dichten Lorbeerbäumen, durch deren
Stämme man weit auf das Meer hinausblickt, erhebt sich
der Altar mit dem heiligen Feuer. Um ihn und den
auf erhöhtem Platz die Menge überragenden Prome-
16*
116
MAX KLINGER’S BRAHMS -PHANTASIE.
theus, dessen Haupt ein Lorbeerkranz ziert, schlingt
sich der jubelnde Reigen glücklicher Menschenkinder.
Mit wahrhaft bezaubernder Grazie ist hier das
Rhythmische und Gesetzmäßige des Tanzes verkör¬
pert, die von der weiblichen Anmut gebändigte männ¬
liche Kraft. Wie ernst und feierlich windet sich
die Kette der Mädchen unter den erhobenen Armen
der Jünglinge hindurch, um sich hinter dem Altar
in den heiteren Wirbel des paarweisen Tanzes auf¬
zulösen! Glaubt man nicht eine Illustration zu
Schiller’s bekannten Versen vor sich zu sehen?
„Siehe, wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die
Paare
Drehen! Den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß.“
„Wie, vom Zephyr gewiegt, der leichte Rauch in die Luft fließt,
Wie sich leise der Kahn schaukelt auf silberner Flut,
Hüpft der gelehrige Fuß auf des Taktes melodischer Woge;
Säuselndes Saitengetön hebt den ätherischen Leib.
Jetzt, als wollt’ es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes,
Schwingt sich ein mutiges Paar dort in den dichtesten Reihn.
Schnell vor ihm her entsteht ihm die Bahn, die hinter ihm
schwindet,
Wie durch magische Hand öffnet und schließt sich der Weg.“ —
Aber die Rache der Götter schläft nicht. Auf
dem sechsten Blatt: „ Entführung des Prometheus“
wird der Frevler eiligen Fluges von Merkur und dem
Adler des Zeus durch die Luft getragen, um, an den
Felsen geschmiedet, ewige Strafe zu dulden. Wie
überzeugend schildert der Künstler hier die rasende
Schnelligkeit, mit der die beiden Götterboten den
Befehl ihres Gebieters vollziehen! Hoch über der
weiten Meeresflut tragen sie ihr Opfer dahin, dem
der entblätternde Kranz vom Haupt sinkt, und
schwarze Gewitterwolken verhüllen die Sonne, legen
sich um die schneebedeckten Gipfel des Gebirges,
finstere Schatten werfend über die Wogen des
Meeres.
Angstvoll beugt sich das gedemütigte Men¬
schengeschlecht im Staube vor der Allmacht des
grollenden Zeus und opfert anbetend dem unbesieg¬
baren Herrn der Welt, der in einsamer Größe über
den Wolken thront. Seine Füße ruhen auf dem der
Meerflut entragenden Felsen, an den der gefesselte
Prometheus geschmiedet ist, und weithin bedecken
die Körper toter Titanen den sonnigen Strand.
Hier setzt das „Schicksalslied“ ein. Kein Ge¬
ringerer als der greise Homer stimmt es an. Be¬
gleitet von seinem treuen Hunde steht er am Meeres¬
gestade. die Leier auf ein riesiges, dem Sande ent-
ragendes Haupt gelehnt, indes die Wellen der be¬
siegten Giganten Leiber ans Ufer spülen. Zeus und
Juno schweben auf hohem Wolkensitze über den
Wassern, und in den Randleisten ruhen in heiteren
Himmelshöhen lässig hingestreckt die Unsterblichen:
„Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien !
Glänzende Götterlüfte
Rühren Euch leicht
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten!“ —
Dunkles Gewölk bedeckt die von einem grellen
Blitz beleuchteten aufspritzenden Wogen, aus deren
Mitte sich die schaumgeborene Göttin der Schönheit
erhebt. Ihr blondes Haar flattert mit dem wehen¬
den Gewände empor in den lichten Äther, in flim¬
mernde sonnige Lüfte reckt sie die weißen Arme
und richtet begeistert den Blick nach oben:
„Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.“
Doch zu Füßen der Göttin treiben auf den
Wellen des irdischen Lebens die ohnmächtig mit den
Fluten ringenden Menschen, den sterbenden Blick
emporgekehrt zu den unerreichbaren Höhen des Jen¬
seits. Ungehört verhallt ihr letzter Seufzer, ihr ver¬
zweifelnder Aufschrei :
„Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrlang in’s Ungewisse hinab.“
Klinger, der den Tod in all seinen Gestalten
geschildert, ihn als die Geißel der Menschheit und
als ihren Erlöser darzustellen verstanden hat, weilt
auch hier lieber und länger bei ihm, als bei den
seligen Göttern des Olymp. In den sechs Rand
leisten, welche dem herrlichen Venusbilde folgen¬
zeigt er uns die leidenden Menschen von Polypen¬
armen zur Tiefe gezogen oder über steile Felsen,
an denen sie vergeblich Halt suchen, herabgleitend,
den gläubig Sterbenden, der noch das Kreuz in der
festgeschlossenen Hand hält, indes ihn der Tod in
öder Landschaft als urweltlich wildes Tier mit seinen
Krallen gepackt hat, endlich den Sturz der Lawinen,
die den Menschen mit Haus und Hof zerschmettern,
ob er in ohnmächtigem Zorn emporblickend die
Faust ballt oder wie das arme Weib am Wege angst¬
voll betend niederkniet. — Auf der vorletzten der
kleineren Radirungen erscheint er noch einmal als
schwarzer Ritter auf abgetriebenem Ross und winkt
mit der eisernen Hand dem blühenden Mädchen, das
auf blumenübersäeter Wiese im Grase sitzend den
MAX KLINGER’S BRAHMS-PHANTASIE.
117
Blick nicht auf den Tod, sondern aufs sonnige
Leben richtet. Und das Schlussbild zeigt eine
düstere Landschaft, über der auf hellen Wolken ein
strahlendes Maß erscheint, das ewige Gleichmaß der
Dinge, von dem die Hand des Schicksals das Lot
abreißt und jede Norm aufhebt. Unten raucht als
Sinnbild des Friedens der Schornstein einer einsamen
Hütte, und der Bauer schreitet gebückt hinter dem
Pflug daher, aber aus den Ackerfurchen, die er ge¬
zogen, schießt von neuem die Saat des Todes em¬
por. Säbel und Bajonette wachsen wie dichte Halme
aus dem Boden, und auf den kurzen Frieden folgt
der männermordende Krieg.
Hier endet das Schicksalslied, doch damit
ihm der versöhnende Schluss nicht fehle, lässt
Klinger als letztes Blatt die „Befreiung des Prome¬
theus“ folgen. Vornübergebeugt und das Antlitz
in den Händen bergend, sitzt der Dulder auf hohem
Felsen. Neben ihm steht in männlicher Jugendkraft
sein Befreier Herakles, auf den Bogen gestützt, mit
dem er den Adler erlegte, das Haupt in stummer
Teilnahme gesenkt. Aber drunten brandet das ewige
Meer, und aus den schäumenden Wogen klingt der
Jubel der Okeaniden empor zu dem befreiten Hel¬
den. —
Wenn ich in Vorstehendem der Versuchung
nicht habe widerstehen können, die Phantasien
Klingers zu deuten und seinen Schöpfungen meine
eigenen Gedanken unterzulegen, so möchte ich mich
von vornherein dagegen verwahren, dass ich mir
einbildete, überall, ja auch nur in der Mehrzahl der
Fälle erraten zu haben, was der Künstler gewollt
und gemeint. Ganz und gar nicht, denn solch Be¬
ginnen wird immer Sache des subjektiven Empfin¬
dens sein, und Phantasiekunst wird stets — auch
wo sie nicht wie hier neben Dichtung und Melodie
geschwisterlich einherschreitet — musikalisch auf
uns wirken und wirken müssen. Das eben ist ihr
schönstes Vorrecht und ihr stärkster, mächtigster
Reiz, dass sie dem einen dies, dem anderen jenes
ins Ohr flüstert, dass alle ihr gerne zuhören und
jeder glaubt, ihr hohes Geheimnis ganz zu verstehen.
— So lange aber die Augen ungezählter Tausende
noch nicht gelernt haben, ein Werk der bildenden
Kunst mit gleicher Verständnisinnigkeit auf sich
wirken zu lassen, wie das Ohr des musikalisch Ge¬
bildeten ein Werk der Tonkunst, so lange wird es
der Vermittler und der Zeichendeuter bedürfen, um
die Kunst eines Böcklin — eines Klinger zum Ge¬
meingut der Nation zu machen.
Die Brahms-Phantasie hat Klinger fünf Jahre
hindurch neben seiner Thätigkeit als Maler und
Bildhauer beschäftigt. Unter den zahlreichen Probe¬
drucken, wie sie besonders das Dresdener Kabinet
in großer Menge bewahrt, datiren einige vom Juni
1890. Um diese Zeit, also während seines römischen
Aufenthalts, entstanden die Evocation und der Raub
des Feuers. Noch in demselben Jahre radirte er
die Accorde, den Turm1) und den Homer, 1891 den
träumenden Mann mit den Liebesbriefen, die drei
kleineren Illustrationen zum Schicksalslied und die
Befreiung des Prometheus, 1892 Gigantenkampf und
Opfer. Die übrigen Blätter entstanden während der
beiden folgenden Jahre in Leipzig und Berlin 2).
Zwei Platten verwarf der Künstler beim Abschluss
des Werkes und ersetzte sie durch neue, von denen
mir die Eingangskomposition zu dem böhmischen
Volkslied „Hinter jenen dichten Wäldern“, wie ich
gestehen muss, nicht die glücklichere erscheint.
Mehr als in seinen früheren Werken hat sich
Klinger in der Brahms-Phantasie neben der Radi¬
rung der kalten Nadel und besonders des Grab¬
stichels 3) als Ausdrucksmittel bedient, und von seiner
unübertroffenen Meisterschaft in der Anwendung
der Aquatinta den ausgiebigsten Gebrauch gemacht4).
Auf dem „Opfer“ ist sogar der Schatten im Vorder¬
grund durch Vernis mou wiedergegeben. Große
Flächen in einzelnen Radirungen sind mit dem
Schaber übergangen, und der Künstler erzielt damit
in manchen Fällen, besonders bei der „Evocation“,
eine noch ungewohnte, aber außerordentlich male¬
rische Wirkung. Dass er bei zwei Randleisten zum
Schicksalslied sogar dem farbigen Druck das Wort
verleiht, möchte ich allerdings nicht billigen. Klinger
hat uns so oft bewiesen, welche erstaunliche Farbig¬
keit er in Schwarz und Weiß zu erzielen vermag, dass
es der wirklichen Farben hier nicht bedurft hätte.
Aber abgesehen von dieser kleinen Ausstellung ist die
Brahms-Phantasie auch rein technisch von epoche¬
machender Bedeutung für die Geschichte der gra¬
phischen Künste, und wie Dürer in der Anwendung
der kalten Nadel und der Eisenätzung wird Klinger
stets als Bahnbrecher auf dem noch einer großen
1) Der Turm und die erste Randleiste zum Schicksals
lied (die Frau unter der Palme), ursprünglich Radirungen,
sind im Werke selbst durch Steindrucke ersetzt.
2) Ich verdanke diese Angaben der Güte des Herrn Dr
H. W. Singer, der einen ausführlichen Katalog der Radi¬
rungen, Stiche und Lithographieen Klinger’s vorbereitet.
3) Accorde, Evocation, Fest, Homer, Venus.
4) Accorde, Evocation, Entführung des Prometheus.
118
MAX KLINGER’S BRAHMS -PHANTASIE.
Vervollkommnung fähigen Gebiete der kombinirten
Sticbradirung genannt werden müssen.
Die bolie Bedeutung, welche die radirten Folgen
Max Klingers: „Eva und die Zukunft“, „Dramen“,
„eine Liebe“, „ein Leben“, „vom Tode“ für die Kunst-
und Kulturgeschichte unseres Jahrhunderts besitzen,
entspricht vollkommen derjenigen, welche Dürers
großen Holzschnitt-Folgen: der Apokalypse, der Pas¬
sion und dem Marien-Leben ihre ewige Gültigkeit
für die Würdigung des Erwachens der Geister zu
Anfang des sechzehnten Jahrhunderts verliehen hat.
Diese Thatsache wird freilich heute noch nicht all¬
gemein anerkannt, am allerwenigsten von denen, die
sich ausschließlich mit der alten Kunst beschäftigen
und so gern das Dogma von der den Epigonen
unerreichbaren Größe der Väter predigen. Aber
künftige Geschlechter werden die künstlerischen Be-
Strebungen unserer Zeit mit unbefangenerem Auge
betrachten und in Max Klinger den neuen Prome¬
theus erkennen, der in Zeiten dichter Finsternis den
Menschen das heilige Feuer vom Himmel brachte.
Dann wird auch dem bescheidenen Dulder ein neuer
Herakles erstehen, der den Adler der Missachtung
und Verkennung erlegt und den Geistestitanen des
neunzehnten Jahrhunderts dauernd befreit. — Bis
das geschieht, möchten wir den Blinden und Kurz¬
sichtigen unserer Tage zurufen, was ein anderer
Maximilian Klinger, der Dichter von „Sturm und
Drang“, einst von Goethe sagte: — „Den könnt Ihr
nun wieder alle nicht fassen und begreifen!“ —
MAX LEERS.
Azaleenzweig. Handzeichnung von Max Kltnger.
Die frühere Villa Braila in Gasturi.
DAS ACH1LLEION
DER KAISERIN ELISABETH AUF KORFU.
MIT ABBILDUNGEN.
INE Stunde südlich von der
Hauptstadt Korfu, an der
steilen, gegen Albanien zu¬
gekehrten Ostküste der alten
Phäakeninsel , liegt hoch
zwischen Olivenpflanzungen
und Platanengruppen das
malerische Dorf Gasturi mit
seinen hell schimmernden Landhäusern und Oran¬
gengärten. Die meisten der schlichten, flachgedeck¬
ten Wohngebäude ziehen sich gegen die Thalschlucht
hinab. Nur für einen größeren Landsitz, den zur
Zeit der englischen Herrschaft der Lord Oberkom¬
missär von Korfu im Sommer zu bewohnen pflegte,
die ehemalige Villa Braila, hatte sich ihr Erbauer
ein außerhalb des Ortes gelegenes Bergplateau aus-
erseben, das nach allen Seiten hin, besonders nach
Norden und nach Osten, herrliche Fernsichten dar¬
bietet. Diese alte, von Ölbäumen und Cypressen
wild umwachsene Villa Braila auf der Höhe von
Gasturi, von der unsere obige Illustration dem Leser
ein Bild giebt, bezeichnet die Stelle, wo gegen¬
wärtig das Achilleion der Kaiserin Elisabeth von
Österreich steht,
Der verstorbene Baron Alexander von Wars¬
berg war es, welcher die Aufmerksamkeit der Kai-
serin zuerst auf die Schönheit der Lage von Gas¬
turi hinlenkte. Im Jahre 1889 — Warsberg beklei¬
dete damals das Amt eines k. und k. Generalkonsuls
auf Korfu — brachte die hohe Frau zwei Monate
stiller Zurückgezogenheit in der Villa Braila zu;
und im Gefühle der Dankbarkeit für die dort ihr
zu teil gewordene Kräftigung von Körper und
Seele mag es geschehen sein, dass die Herrscherin
den Plan fasste, an der von der Natur gesegneten
Stätte sich ein dauerndes Heim zu gründen.
Zwei Jahre genügten, um den Plan zu verwirk¬
lichen. Italienische, österreichische und deutsche
Künstlerhände wurden aufgeboten, um den schlich¬
ten Edelsitz in eine Villa von fürstlichem Reichtum
umzuwandeln, sie mit herrlichen Anlagen zu um¬
geben und ihr Inneres mit sinnreich erfundener
Pracht so glänzend auszuschmücken, dass die Er¬
innerungen an den von Homer geschilderten Palast
des Phäakenkönigs Alkinoos in der Seele dessen
wach gerufen werden, der heute die Räume durch¬
wandert. Im September 1891 besuchte die Kai¬
serin zum erstenmal das damals eben vollendete
120
DAS ACH ILLE ION DER KAISERIN ELISABETH AUF KORFU.
Feenschloss und seit jener Zeit hat sie bereits zu
wiederholten Malen hier den Frühlings- oder Herbst¬
aufenthalt genommen, und erst kürzlich ihrer Schöp¬
fung wieder neue künstlerische Zierden zugeführt.
Der Platz bot Raum zu einer weiten Area,
genügend für das große Wohngebäude, einen Vor¬
hof mit Wirtschaftslokalitäten und für die lang aus¬
gedehnte Gartenterrasse. Wir treten zunächst auf
die letztere hinaus, ehe wir die Villa selbst näher
ins Auge fassen. Der Ausblick von der Terrasse
(s. die Abbildg.), ungefähr derselbe, wie man ihn
einst vom Gartensaal der alten Villa genoss, ist einer
kahlen, schroffen Bergzüge von Albanien. Vornehm¬
lich Abends, wenn ihr nacktes Felsgestein in röt¬
lichem Glanze strahlt, gewährt ihr Anblick, zusam¬
men mit dem des tiefblauen Meeres und der dunk¬
len Vegetation des Vordergrundes, das alles vom
Lichte der südlichen Sonne durchglüht, ein Bild
von unvergleichlicher Pracht.
Wir wenden nun den Blick dem Garten selber
zu, in dem wir stehen. Inmitten des nördlichen
Vorsprungs der Terrasse, dessen Rand von einer
Balustrade eingefasst ist, steht vor einer halbkreis¬
förmigen Exedra die kolossale Marmorstatue des
Ansicht <les Achilleion von der Einfalirtseite.
der wundervollsten der Welt. Über die tief in das
Inselland einschneidende Bucht hinschauend, sieht
man in der Ferne die Häuser der Stadt Korfu mit
der doppelten Kuppe ihres Festungsvorgebirges
und darüber, in blauem Dufte verschwimraend, den
breiten Grat des Pantokrator. Rechts im Meere,
vor der tief eingreifenden Bucht, lässt der Blick
von der Villa Braila aus fs. oben) noch die kleine
„Mausinsel“ erkennen. Sie gilt in der Sage als das
versteinerte Schiff der Phäaken, auf dem Odysseus
nach Ithaka heimgekehrt sein soll. Dahinter, am
Strandvorsprunge, liegt der schöne Aussichtspunkt
„il canone“, — nach einer venetianischen Batterie
so benannt — ein beliebtes Ausflugsziel der Kor-
fioten. Den Abschluss des Hintergrundes bilden die
verwundeten Achill (s. die Abbildung S. 127), nach
welcher die Villa ihren Namen führt. Sie ist das
Werk des Berliner Bildhauers, Prof. Ernst Herter.1)
Ein Standpunkt von gleich klassischer Schönheit,
wie der des verwundeten Achill auf der Höhe der
sagenumwobenen Insel des Alkinoos, ist wohl nicht
leicht einer bildnerischen Schöpfung von deutscher
Meisterhand zu teil geworden. — Eine Kopie des
ruhenden Hermes im Museum zu Neapel und die
zwei bronzenen Ringkämpfer derselben Sammlung
schmücken den oberen, südlichen Teil der Terrasse.
1) Von demselben Künstler rührt auch die Marmorstatue
des Hermes her, welcher im Garten der kaiserlichen Villa
bei Lainz unweit von Wien aufgestellt ist.
DAS ACHILLEION DER KAISERIN ELISABETH AUF KORFU.
121
— Riesige Agaven und Kakteen zieren die regel¬
mäßig angelegten Beete des Gartens, welcher gegen
die Villa hin ansteigt und auf seinem oberen Absatz
einen Springbrunnen mit wasserwerfendem Delphin,
dem Sinnbilde des Korfiotisclien Kaiserschlosses,
trägt. Mächtige Cypressen, Magnolien und Ölbäume
umstehen das Rund der Fontaine. — Beide Lang¬
seiten der Terrasse sind von Laubengängen eingefasst.
Gegen Osten fällt das bewaldete Terrain steil
gegen das Meer ab. Eine Marmortreppe führt von
Decke umhüllt, und in der herabhängenden Hand
hält er ein Blatt, worauf die Worte zu lesen sind:
„Was will die einsame Thräne?
Sie trübt mir ja den Blick.“
Wir kehren zur Gartenterrasse zurück und be¬
treten von hier aus das Innere der Villa durch die
reichgeschmückten Hallengänge, durch welche sich
der Bau gegen die Terrasse öffnet. Wie unser Bild
zeigt, sind Statuen vor den Säulen der Halle aufge¬
stellt, und die Schäfte der Säulen, die Wände und
Ansicht des Achilleion von der Gartenseite.
dem eigens für die Villa hergestellten Landungs¬
plätze durch den Wald empor. Am oberen Ende
dieser Treppe erhebt sich das Rundtempelchen, in
dem das von dem dänischen Bildhauer Hasselriis
modellirte Sitzbild Heinrich Heine’s in weißem Mar¬
mor aufgestellt ist: das einzige bisher dem Dichter
errichtete Denkmal! Hell schimmernde Säulen tra¬
gen das Kuppeldach des Tempelchens, auf dessen
Höhe eine vergoldete Nike, den Lorbeerkranz er¬
hebend, steht. Die Gestalt des Dichters ist müde
in den Stuhl zurückgelehnt, die Kniee sind mit einer
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 4.
die Decken des Hallenganges tragen farbenhelle
pompejanische Malerei. Denselben Stil zeigt die
ganze innere Ausstattung des Gebäudes: im Vesti¬
bül wie in den Empfangsräumen, in den Wohn¬
zimmern und den Badelokalitäten. Nicht nur zier¬
liches Ornament, sondern auch große figürliche Kom¬
positionen aus der antiken Sage und Geschichte,
dazu landschaftliche Veduten und plastische Ver¬
zierungen mannigfacher Art schmücken das Innere
in allen seinen Räumen. Wie sich das Außere von
der Eingangsseite darstellt, zeigt unsere Ansicht.
17
122 DAS ACH1LLEI0N DER KAISERIN ELISABETH AUF KORFU.
Ausblick von der Gartenterrasse des Achilleion.
industrie: das gusseiserne Thor von der Firma
P. Ph. Waagner ( Gustav Ritter v. Leon). Es trägt
in griechischen Lettern die Überschrift: Achilleion.
Die achtundzwanzig Salons und Zimmer der Villa zei¬
gen Parketböden von höchstem Reichtum und wunder-
o
barer Ausführung aus der Fabrik der Gehr. Engel
in Döbling. Sie sind, wie der Wandschmuck und
die Möbel, in griechischem Stil gehalten. Im
Einklang damit stehen selbstverständlich auch die
Tapeziererarbeiten von Kowy und Jwinger in Wien,
das aus der Berndorfer Fabrik von Arthur Krupp
stammende Metallgerät, das von J. Schreiber und
Neffen in Wien gelieferte kostbare Glasservice, die
in pompejanischer Weise bemalten Porzellangeräte
von Knoll in Karlsbad, endlich das von J. Tretten-
hann in Wien gelieferte Leinenzeug. Alle diese Ein¬
richtungsstücke tragen das Wappen des Achilleion,
den Delphin mit der Kaiserkrone. Die Monarchin
hat jedes Stück selbst geprüft und über die Anord¬
nung des Ganzen verfügt. In der Wahl der Stoff¬
muster waltete ihr persönlicher Geschmack.
Es braucht kaum besonders hervorgehoben zu
werden, dass auch die moderne Beleuchtungstechnik
dazu berufen wurde, hier ihre Wunder zu entfalten.
Ein weißes Häuschen mit rotem Ziegeldach, welches
rechts vom Molo am Strande steht, birgt die Ma¬
schinen für das elektrische Licht, dessen Zauber¬
wellen, wenn die Kaiserin in ihrem Besitze weilt,
bei eintretender Dunkelheit aus zahllosen Ampeln
und andern Leuchtkörpern die Bäume des Innern
und die Hallen- und Laubengänge der Terrasse
durchfluten. CARL v. LÜTZOW.
Es ist ein zweistöckiger Bau mit säulen getragener
und mit Bildwerken bekrönter Vorhalle und Balkons,
im Stil jener schlichten, edlen Renaissance, wie wir
ihn besonders in modernen Bauten Süditaliens heute
vielfach angewendet finden.
Von dorther stammt denn auch der Architekt
der Villa, Raffaele Carito, der in Neapel eine An¬
zahl schöner Bauten ähnlichen Charakters ausgeführt
hat. Aus Neapel kamen ferner zahlreiche, nach
Zeichnungen des Professors Caponetti im dortigen
Albergo dei poveri ausgeführte Möbel, sowie die
Urheber der figürlichen und ornamentalen Malereien
des Inneren, Cav. Paliotti, Postiglione und Scanni.
Das große Gemälde im Treppenhause, Achill mit der
Leiche des Hektor die Mauern Troja’s umfahrend, ist
ein Werk des Wiener Professors Franz Matsch. Die
Statuen vor der Gartenhalle und die bildnerischen
Zierden im Inneren wurden teils in Rom, teils in
Florenz und Neapel beschafft. Es sind darunter
mehrere Werke aus früherem Borghesischen Besitz,
eine Tänzerin von Canova, eine auf den Flügeln
eines Schwans hingestreckte Peri u. a. An der
Rückwand der Gartenhalle stehen Hermenbüsten von
antiken Rednern und Philosophen.
Mit der Leitung der Arbeiten und der Voll¬
endung der Dekoration des Gebäudes war der k.
und k. Linienschiffslieutenant v. Bukovics betraut.
Ihm wurde der Auftrag, dafür zu sorgen, dass bei
der Ausstattung des „Achilleion“ auch der öster¬
reichischen Industrie der ihr gebührende Anteil zu¬
falle. Gleich beim Eintritte in den Schlosshof stoßen
wir auf ein treffliches Werk der Wiener Eisen¬
Fürst Roman von Galizien. Ölgemälde von N.-B. Newrew.
VON RUSSISCHER KUNST.
AR wenig noch weiß man
draußen von russischer Kunst.
Man glaubt wohl vielfach,
es gäbe gar keine noch,
man kennt höchstens einige
einzelne Künstler. DieFacli-
litteratur hat natürlich schon
längst auch dem Kunstleben
im fernen Osten ihre Aufmerksamkeit zugewandt,
aber in das große Publikum dringt davon immerhin
nur wenig; und auch Einzelschritten über russische
Kunstzustände und russische Künstler, die im Laufe
der letzten 20 — 30 Jahre in deutscher, französischer,
englischer Sprache erschienen sind, können auf¬
klärend doch nur in kleineren Kreisen wirken, in
Kreisen, die der europäischen Kunst überhaupt ein
größeres Interesse entgegenhringen , wo nur daher
solche Bücher und Schriften gekauft werden.
Als ich 1891 die internationale Kunstausstellung
in der deutschen Reichshauptstadt besuchte, konnte
ich mich davon überzeugen, welch ein Interesse ge¬
rade die russische Abteilung erregte: ein Interesse,
das hier sich mit Neugier, dort mit unverkennbarem
Staunen verband. Und die Kritik — nun, die Kritik
sprach sich anerkennender aus, als es je die ein¬
heimische gethan hatte, wenigstens was die hier
ausgestellten Bilder betraf. Denn waren auch in der
That einige der namhaftesten Maler vertreten, so
waren sie es doch lange nicht aufs beste, und zudem
fehlten viele, die für die Kunst Russlands bezeich¬
nend sind. Aus allem war aber zu entnehmen, dass
man mit dieser Kunst noch sehr wenig bekannt war.
Dasselbe erlebten wir auch wieder in Chicago.
Man ist eben in erster Linie überrascht, verwundert.
Wo man eine Wüste wähnte, da zeigen sich auf
einmal eine ganze Menge ungeahnter Oasenschön-
17*
124
VON RUSSISCHER KUNST.
heiten und wo andere nur chinesischen Kuriositäten
begegnen zu können glaubten, da sehen sie sich
plötzlich europäischem Empfinden und Können gegen¬
über.
Fragen wir nach den Gründen dieser Erschei¬
nung, so muss vor allem zur Entschuldigung solcher
Unkenntnis und solcher falscher Vorstellungen darauf
hingewiesen werden, dass eben das Material fehlt,
nach dem der Westeuropäer sich ein Urteil bilden
könnte. Er sieht zu wenig von dem, was russische
Künstler schaffen. Diese beteiligen sich nur gar spär¬
lich an internationalen Ausstellungen, und sehen wir
von dem Dutzend Malern und Bildhauern ab, die in
Paris eine kleine russische Künstlerkolonie bilden
und von dem halben Dutzend, das in Rom lebt, so
dringt von ihnen eigentlich nichts in die Welt
außerhalb des Vaterlandes hinaus. Aiwasowslä , der
phantastische, färbenschwärmende Marinemaler, Was¬
sili Wereschtschagin , der berühmte Antikriegs- und
Indienmaler, Antokolslci , der geniale Bildhauer, Hein¬
rich Siemiradski , der blendende Kolorist und Historien¬
maler, Konstantin Makowski, der „russische Makart“,
in jüngster Zeit noch etwa Ilja Repin, Russlands be¬
deutendster und nationalster Genremaler — ja, ich
glaube, andre Namen sind den meisten kaum ge¬
läufig, wenn von russischer Kunst die Rede ist, und
bis auf den letztgenannten, haben ihre Träger zu¬
meist selbst dafür gesorgt, dass sie in Europa be¬
kannt wurden.
Außer durch Ausstellungen lässt sich das doch
wohl nur durch Reproduktionen erreichen. Und gerade
auf diesem Gebiete ist’s in Russland noch gar schlimm
bestellt, lllustrirte Ausstellungskataloge, die regel¬
mäßig erscheinen, Reproduktionen in illustrirten Zeit¬
schriften — es ist noch nicht gar lange her, dass wir
denen häufiger begegnen; noch seltener aber sind Al¬
bum'., Sammelwerke u. dgl. Woran das liegt, das darzu¬
legen würde mich zu weit fuhren. Genug, es ist so.
Und das erklärt auch die Unbekanntschaft mit russi¬
schen Kunstwerken im Auslande sicher in erster
Linie. Was helfen denn die schönsten und kenntnis¬
reichsten Aufsätze in Kunstzeitschriften und die
besten Monographieen, — die große Masse will vor
allem Bilder und Bildwerke sehen, nicht ihre Beschrei¬
bungen, und mögen sie noch so lebendig und poe¬
tisch sein, lesen, wenn anders sie sich ein Urteil
über die Kunst eines Landes bilden soll.
* *
*
Und wenn auch, wie gesagt, in der letzten Zeit
die Vervielfältigung eine bessere, regere Entfaltung
zeigt, — es bleibt doch fast alles im Lande. Mit
großer Genugthuung muss daher jedes Unternehmen
dieser Art begrüßt werden, das russische Kunst im
Auslande zu popularisiren bestrebt ist. Einem solchen
auch gelten diese Zeilen vor allem.
Aber ehe wir uns etwas näher mit ihm befassen,
vorerst noch einige Worte über die augenblickliche
Sachlage.
Die ist derart aber, dass, wer nicht selbst nach
Russland kommt, keine blasse Ahnung von dem Kunst¬
schaffen dort gewinnen kann. Und um das gründ¬
lich kennen zu lernen, muss er zudem nach Moskau
gehen. Nur in dem Herzen des Zarenreichs findet
er das Wesen dieser Kunst heraus, nur hier kann
er sie in ihrer Entwicklung während der letzten fünf¬
zig Jahre eingehend studiren. Petersburg besitzt ja
noch immer nicht eine richtige Nationalgalerie. Dürf¬
tig und einseitig nur ist die russische Kunst in den
Galerien der k. Akademie der Künste, ja selbst in
der Eremitage vertreten und auch die meisten Pri¬
vatgalerien weisen fast ausschließlich Meister des
Westens auf, aus der Zeit des Cinquecento bis auf
unsere Tage. Die Schätze der Eremitage, die in
Bezug auf spanische Meister und Franzosen nur der
Madrider Galerie und dem Louvre nachstehen, für
vlamändische Künstler kaum von einer anderen
Galerie übertroffen werden, während für die hol¬
ländische Schule die Sammlung der Eremitage be¬
kanntlich als die erste dasteht, die ferner das unver¬
gleichliche Museum von Kertsch aufzuweisen haben
und in jüngster Zeit durch die Überführung des histo¬
rischen und archäologischen Museums von Zarskoje
Szelo und noch andere kostbare Kollektionen be¬
reichert worden sind, — sie enthalten nicht mehr als
etwa 70 — 75 russische Bilder und von ihnen reicht
das allermeiste nicht über die Mitte unseres Jahr¬
hunderts hinaus. Und was die Galerien der Akademie
betrifft, so finden wir dort wohl einige hundert
Kunstwerke von den Zeiten Peters des Großen bis
in die Gegenwart hinein, aber es sind ausschließlich
Arbeiten von Professoren und Schülern dieser An¬
stalt, Programm- und Prüfungsarbeiten u. s. w.
Moskau aber besitzt nun — neben einigen echt
russischen Privatgalerieen — seit dem Herbst 1893
eine echte rechte Nationalgalerie, d. h. besitzt sie
seitdem als eine städtische. Denn sie war früher
schon vorhanden, aber auch nur als eine private.
Es ist das die ehemals Tretjakow'sche und ihre Er¬
öffnung erfolgte im August vorvorigen Jahres. Zur
Erinnerung an dieses für das Kunstleben Russlands
denkwürdige Ereignis ward kürzlich im Mai v. J. in
VON RUSSISCHER KUNST.
125
Moskau auch der erste russische Künstlerkongress
veranstaltet. Denkwürdig aber ist dieses Ereignis
vor allem deswegen, weil die Galerie nicht etwa
durch Kauf in die Hände der Stadt übergegangen
ist, sondern als Geschenk seitens des Gründers, oder
richtiger der Gründer. Eine wahrhaft fürstliche
Spende, denn die Sammlung zählt weit über tausend
Nummern und hat einen Wert von anderthalb bis
zwei Millionen Rubel. Die Brüder Kommerzienrat
wie der Zufall es fügte, sondern ganz systematisch.
Der ältere der Brüder, Ssergei, wandte sein Interesse
hauptsächlich dem Auslande zu, und seine Samm¬
lung spiegelt vornehmlich das moderne Kunstschaf¬
fen Frankreichs, Hollands, Deutschlands u. s. w. wieder.
Paul sammelte russische Bilder, Zeichnungen, Stiche.
Und gerade auf ihn bezieht sich, was ich soeben
von System und Plan sagte. Er wollte eine natio¬
nale Galerie anlegen, die ein möglichst vollständiges
Menschikoff im Exil. Ölgemälde von P.-A. Surikoff.
Paul und Wirklicher Staatsrat Ssergei Michailowitsch
Tretjakow, — der letztere war mehrere Jahre Stadt¬
haupt von Moskau — Sprösslinge einer reichen und
angesehenen moskauischen Kaufmanns- und Fabri¬
kantenfamilie, waren von Jugend an große Kunst¬
freunde, und ihre Mittel gestatteten es ihnen, dieser
Liebhaberei gründlich zu fröhnen. Sie waren nicht
nur in den Ateliers und Galerien gut zu Hause,
sie unterstützten nicht nur jüngere und ältere Künst¬
ler, sondern sie kauften auch viel, nicht planlos und
Bild von dem Kunstschaffen in Russland namentlich
während des letzten halben Jahrhunderts lieferte,
obschon er immerhin beträchtlich weiter zurückffriff,
sogar bis in die Zeit Katharinas II. Und so be¬
gann er zu sammeln und natürlich, je mehr er sich
der Neuzeit näherte, mit immer größerem Erfolge,
insbesondere was die letzten dreißig Jahre betrifft.
Wie ich in meinem Aufsatz über Ilja Repin,
der im Februar 1892 in dieser Zeitschrift veröffent¬
licht wurde, ausführlicher dargethan habe, vollzog
126
VON RUSSISCHER KUNST.
sich in der Mitte der sechziger Jahre im Kunstleben
Russlands ein großer Umschwung, der, die freiheit¬
lichere Richtung im gesamten geistigen und sozialen
Lehen des Reiches widerspiegelnd, u. a. auch zur
Lostrennung einer großen Gruppe jüngerer, und zwar
der besten Künstler von der Akademie der Künste
führte, die sich dann später zu dem damals so lebens¬
frischen und aufstrebenden Vereine der „Wander¬
aussteller“ zusammenthat, welche die Devise „Wahr¬
heitssinn und Volkstümlichkeit“ auf ihr Banner
setzten und treu daran festgehalten haben bis auf
den heutigen Tag, wo der Verein als geschlossene
Opposition seine Daseinsberechtigung eigentlich schon
verloren hat. Denn die Grundsätze der „Wander¬
aussteller“ haben sich allmählich überall Bahn ge¬
brochen und, wie nachher gezeigt werden soll, vor
allem in der k. Akademie der Künste selbst, die
im Augenblick einer radikalen Umgestaltung unter¬
zogen wird und in der jetzt gerade jene Protestler
von ehemals die leitende Rolle spielen.
Nun, unter dem belebenden Einflüsse des frei¬
heitlicheren Umschwungs der sechziger Jahre, er¬
wachte auch in weiteren Kreisen der Gesellschaft
wärmeres Interesse und tieferes Verständnis für
heimische Kunst.
Und eben in dieser Zeit begannen auch die
Tretjakow als Sammler hervoi'zutreten. Was erst
Liebhaberei und Vergnügen war, das wurde für Paul
Michailowitsch mit der Zeit eine Pflicht und eine
Lebensaufgabe, die ihm schließlich mitunter gar
lästig gefallen sein mag. Er ward so recht ein
Märtyrer seiner Lust, der hagere, gebückt gehende,
blonde Mann mit dem schütteren Vollbart, der keine
hervorragendere russische Ausstellung, keine bedeu¬
tendere Kunstauktion unbesucht ließ, der überall
seine Agenten hatte und mit allen Künstlern Füh¬
lung unterhielt und vornehmlich der Abgott der
Wanderaussteller war. Ein Märtyrer seiner Lust, —
denn er ließ es sich viel Mühe und Verdruss kosten,
um sich dieses oder jenes bestimmte Bild, als ein
besonders typisches und charakteristisches, zu ver¬
schaffen; er kaufte aus demselben Grunde Bilder
und Kunstwerke, die ihm persönlich gar nicht zu¬
sagten. nur um der Vollständigkeit willen, damit der
und der Name, die und die Richtung gut vertreten
wären. Und er that das um so gewissenhafter, seit¬
dem er den Beschluss gefasst hatte, seine stets wach¬
sende Sammlung nach seinem Tode der Stadt Mos¬
kau zu vermachen. Für ihn exist.irten nicht die
Spaltungen und das Kliquenwesen, die beide die rus¬
sische Künstlerwelt so traurig auszeichnen — übri¬
gens nur sie allein? — er kannte bloß eins: russische
Kunst im allgemeinen. So ist es denn gekommen,
dass seine Sammlung alle in den letzten dreißig
Jahren in Petersburg, in Moskau und in Kiew ent¬
standenen Galerien, wie die seines Bruders, die Bot-
kin’sche, die Kokorew’sche, die Ssoldatenkow’sche,
die Tereschtschenko’sche, die Goljaschkin’sche, in
jüngster Zeit die Kusnezow’sche u. a. an Planmäßig¬
keit und Vollständigkeit weit übertrifft.
Beide Brüder besaßen zusammen ein Haus. Auf
gemeinschaftliche Kosten hatten sie es zu einem
Kunstmuseum ausgestaltet, das jetzt in bescheidener,
anspruchsloser Hülle einen dem inneren Wesen nach
unschätzbaren Kern birgt. Auf gemeinschaftliche
Kosten schafften sie auch manche Perlen der Samm¬
lung an, so z. B. die berühmte Kollektion der Bilder
und Studien W. Wereschtschagin’s (über 230 Num¬
mern). In dem Testament, das der im Jahre 1893
verstorbene S. M. Tretjakow hinterließ, fand sich
unter anderen Geschenken für die Stadt auch das
seines Teiles des Hauses mit einem Teile der Samm¬
lung ausländischer Meisterwerke, sowie eines Kapitals
von 125000 Rubel, von dessen Zinsen immer neue
und zwar nunmehr russische Bilder und Skulpturen
angeschafft werden sollen. Und da entschloss sich
denn Paul Tretjakow, auch seinen Teil des Hauses
und seine ganze große Sammlung schon bei Leb¬
zeiten der Stadt zu übergeben. Der Stifter hat sich
nur ausbedungen, bis zu seinem Tode mit seiner
Frau die bisherige Wohnung im Hause beizubehal¬
ten, wofür er aber auch alle Unterhaltungskosten
tragen wird. Das Haus darf nie seine Bestimmung
wechseln; lebenslänglich ist Paul Tretjakow Kurator
des Museums, und nach seinem Tode sein Neffe
N. S. Tretjakow; die Galerie hat vier Tage in der
Woche jedermann unentgeltlich offen zu stehen,
darunter an allen Sonn- und Feiertagen, damit eben
auch gerade der Mann aus dem Volke, der Arbeiter,
sie besichtigen kann. Als Kurator hat der Spender
das Recht, den Bestand der Sammlung im einzelnen
zu verändern, ohne dass ihr Gesamtwert vermindert
wird, was also mit anderen Worten heißt, dass er
auch noch für ihre Vervollkommnung Sorge tra¬
gen will.
Unter so glänzenden Bedingungen fiel der Stadt
Moskau das Geschenk zu, und sie besitzt jetzt in
ihm die größte national-russische Galerie, die sie in
dankbarer Erinnerung an die Spender „Städtische
Kunstgalerie der Brüder Paul und Ssergei Michai¬
lowitsch Tretjakow“ genannt hat. Und wie reich¬
haltig ist sie! Sie weist 1276 russische Ölgemälde,
VON RUSSISCHER KUNST.
127
Skizzen' und Studien auf, wovon etwa nur 200 in
die Zeit vor 1850 fallen, sowie 471 Zeichnungen,
Aquarelle, Radirungen. Die Skulptur ist nur mit
9 Nummern vertreten, aber unter ihnen befindet
sich ein solches Meisterwerk wie Antokolski’s Mar¬
morstatue „Zar Iwan der Schreckliche“. Zu diesen
1756 Werken einheimischer Künstler kommen 83
Bilder und Zeichnungen, sowie 5 Skulptur- Arbei¬
ten von Ausländern, unter denen wir beispielsweise
von Deutschen den Namen Knaus, Vautier, Petten-
kofen, A. und 0. Achenbach, Ducker, Meyerheira,
Ad. Menzel begegnen.
Es wäre nun sehr verlockend, einen flüchtigen
Rundgang durch die in zwei Stockwerken liegenden,
sehr einfach ausgestatteten 22 Säle und Zimmer zu
unternehmen, aber es würde uns heute zu weit
führen und es sei mir daher ein anderes Mal gestattet,
den Leser mit dieser kostbaren Sammlung bekannt
zu machen. Nur so viel: es fehlt kein einziger
irgendwie hervorragender Name in der möglichst
systematisch geordneten Sammlung; die bedeuten¬
deren, ohne Ansehen von Schule oder Richtung, sind,
wofern es möglich war, nicht ein paarmal, sondern
Dutzende von Malen, ja mitunter gar mit hundert
und mehr Nummern vertreten. Meister wie P. A.
Fedotow, den Gogol unter den Malern (1816 bis
1852), A. A. Iwanow, den Maler des „Johannes
der Täufer“ (1806 bis 1858), den Genremaler W. G.
Perow (1833 bis 1882), den genialen Landschafter
F. A. Wassiljew (1850 bis 1873), den Bildnismaler
N. N. Kramskoi (1837 bis 1887), den Historienmaler
V. G. Schwarz (1838 bis 1869), W. W. Weresch-
tschagin, W. E. Makowski, J. J. Schischkin, Ilja
Repin und viele andere noch kann man überhaupt
gar nicht kennen lernen, wenn man nicht das alles
gesehen hat, was hier von ihnen vorhanden ist.
Leider fehlt es noch an einem Catalogue rai-
sonne der einzigartigen Sammlung, und erst recht
an Ausgaben, die ihre Perlen reproduzirten, und
wäre es auch nur in annehmbaren Photographieen.
Es wäre sicher eine schöne Art, das Andenken der
fürstlich freigebigen Spender zu ehren, wenn man
lieferungsweise ein Albuin von 150 — 200 photogra¬
phischen Blättern herausgeben wollte, das die besten
Werke dieser Galerie in verständnisvoller und um¬
sichtiger Auswahl reproduzirte und so dieselben in
weiten Kreisen bekannt machte. Ein Plan, der mir
entschieden lebensfähig erscheint, jetzt, wo das In¬
teresse für heimische Kunst in immer größeren Schich¬
ten der russischen Gesellschaft Boden findet.
(Schluss folgt.)
Der verwundete Achill. Marmorstatue von E. Herter. (Siehe S. 120.)
WIELAND UND ANDERE NEUENTDECKTE GEMÄLDE
VON ANTON GRAFF.
VON PAUL WEIZSÄCKER.
^ se*ner verdienstlichen Lebensbeschreibung
'1®® Anton Graff’s unterscheidet Richard Muther
bei der Aufzählung seiner Werke: erhal¬
tene Porträts, solche, die nur in Kupferstichen
vorhanden sind, und verschollene, d. h. solche,
von denen nur noch litterarische Kunde vorhan¬
den ist, endlich Kopieen, Radirungen, Silberstift¬
bildchen und Zeichnungen. Durch meine Studien
über die Bildnisse Wielands wurde ich veranlasst,
mir die Kreidezeichnung Graff’s, die Muther S. 112,
Nr. 9 erwähnt, näher anzusehen, und erkannte in
ihr sofort eine Wiederholung jenes nur in dem
schlechten Stich von Bause 1797 und dessen Nach¬
ahmungen erhaltenen Wielandporträts (Muther, Nr.
233), das Graff auf die Ausstellung der Dresdener
Kunstakademie am 5. März 1796 lieferte, und zu
dem Wieland während seines Dresdener Aufenthalts
in der ersten Hälfte des August 1794 dem Maler
gesessen war. ’) Da Wieland dem Maler nur vier
\ ormittage widmen konnte, so ist auzunehmen, dass
in dieser Zeit das Bild nicht fertig gemalt wurde,
und dass daher Graff vor Wieland’s Abreise noch
jene Zeichnung, die nur den Kopf des Dichters
zeigt, zur Stütze für sein Gedächtnis entwarf. Dass
in der Zeichnung Wieland nach rechts, in dem Stich
nach links gewendet ist, rührt davon her, dass Bause
seine Vorlage, wie immer, direkt auf die Platte
brachte, so dass auf allen seinen Bildern die Dar-
gestellten nach der entgegengesetzten Richtung des
Originals schauen. Bot schon die Zeichnung Graffs
einen erfreulichen Ersatz für das verschollene Ge¬
mälde gegenüber der abscheulichen Fratze, die Bause
daraus gemacht hatte und über die sich Wieland
in komischer, aber gerechter Entrüstung in einem
Briefe an Göschen aussprach, so kann man dieses
Machwerk vollends nicht mehr ohne Abscheu an-
sehen und darf man es nicht mehr als ein gültiges
1) Die Bildnisse Wieland’s, S. 23 ff.
Bild Wieland’s betrachten, seitdem zur Freude aller
Verehrer des Dichters und des Malers und zur
wahren Ehrenrettung des letzteren das Original¬
gemälde wieder aufgetaucht ist. Der Besitzer des¬
selben, Herr Sahrer von Sahr auf Dahlen, königlich
sächsischer Kammerherr, hat mir, sobald er erfuhr,
dass der Verbleib des Originals unbekannt sei, nicht
nur Nachricht von seinem Besitz gegeben, sondern
auch zugleich zwei Photographieen davon beigelegt,
ja er hat auch in zuvorkommendster Weise das Bild
zu einer neuen Vervielfältigung zur Verfügung ge¬
stellt. Eine solche erscheint um so notwendiger,
als der Dargestellte eine der berühmtesten Persön¬
lichkeiten des vorigen Jahrhunderts, einer der ersten
Dichter Deutschlands, und der Künstler einer der
trefflichsten Porträtmaler aller Zeiten ist, und als
eben aus diesem Grunde gerade dieses Bild Wie¬
lands leider in der unverzeihlichsten Entstellung
und Verfratzung durch Bause und zum Nachteil des
Dichters wie des Malers die weiteste Verbreitung
gefunden hat. Wer die neue vorzügliche Wieder¬
gabe dieses freundlichen und geistvollen Kopfes mit
Bause’s Leistung vergleicht, wird zugeben müssen,
dass eine neue Abbildung des vortrefflichen Werks,
das sich den besten Graffs würdig anreiht, wirklich
nicht überflüssig war, und es trifft sich schön, dass
diese genau hundert Jahre nach der Entstehung des
Originals das Licht der Welt erblickt zur Sühne
eines ein Jahrhundert alten Unrechts gegen den
Dichter und den Maler.
Doch ich bin noch den Nachweis schuldig, dass
das glücklich entdeckte Ölgemälde auch wirklich
das Graff’sche Original ist. Nun, eine Ölkopie mit
Benutzung des Bause’schen Stichs ist es nicht, das
lehrt der Augenschein. Höchstens könnte es eine
Kopie des Originals sein, die entweder, wie das
auch sonst geschah, von Graff selbst oder von einem
anderen nach Graff’s Original vor dessen Verschwin¬
den im Privatbesitz gemalt wurde. Selbst wenn
WIELAND UND ANDERE NEUENTDECKTE GEMÄLDE VON ANTON GRAFF.
129
das letztere der Fall sein sollte, so wäre es kein
Unglück, denn das Bild zeigt alle Vorzüge der Por¬
trätkunst GrafF s und der Kopist hätte dann sein
Original vollkommen erreicht. Es ist aber kaum
ein Zweifel möglich, dass wir wirklich das Original
GrafFs vor uns haben. Das Bild wurde einst für
von dem Oheim des jetzigen Besitzers von der Ar-
nold’schen Kunsthandlung in Dresden erworben
wurde. Leider vermag der jetzige Inhaber dieser Firma
über die Vorgeschichte des Bildes keine Auskunft
zu geben, da er die betreffenden Bücher und Korre¬
spondenzen seines Vorgängers nicht mit übernom-
Martin Wieland. Ölgemälde von Anton Graff. (Im Besitze des Herrn Sahrer von Sahr auf Dahlen in Sachsen.)
den Buchhändler Goschen gemalt. Alle meine Nach¬
forschungen bei den Nachkommen Göschen’s, die
mir alle die bereitwilligste Auskunft gaben, waren
erfolglos. Es blieb also nur die Annahme übrig}
dass das Bild entweder vernichtet oder veräußert
worden sei. Nun fehlen alle Spuren desselben bis
zum Jahre 1864, wo das hier wiedergegebene Bild
Zeitschrift für bildende Kunst. N. P. VI. H. 5.
men hat. Trotz dieser Lücke in der Überlieferung
werden wir kein Bedenken tragen dürfen, in dem
Bilde einen echten Graff zu erkennen, zumal da der
Käufer desselben ein großer Sammler und Kenner
war und auf seinen Neffen, den jetzigen Besitzer,
noch weitere zehn Graff’sche Porträts vererbte, die ich
nachstehend nach seiner gütigen Mitteilung aufzähle:
IS
130
WIELAND UND ANDERE NEUENTDECKTE GEMÄLDE VON ANTON GRAFF.
1) Friedrich August der Gerechte (Muther 106,
aber in anderer Uniform), 66 x 50 cm.
2) Maria Amalia Augusta (Muther 108, aber in
rotem Kleide), 71 x 55 cm.
3) Prinz Heinrich von Preußen, viereckiges Brust¬
bild ohne Hände, im Kürass, 77 x 61 cm.
Ohne Zweifel das „nur in Stichen erhaltene“
Porträt: Muther 203, gemalt in Rheinsberg
1777, gest. v. Bause 1779. „Der Prinz, nach
links (also auf dem Original nach rechts) ge¬
wendet, trägt frisirtes Haar, von dem eine
Locke auf die linke (Orig, rechte) Schulter
herabfällt, einen Harnisch mit darüber liegen¬
dem Ordensband und über der rechten (Orig,
linken) Schulter einen Hermelinmantel.“
Muther, Beschreibung nach dem Stich.
4) Thomas, Freiherr von Fritsch (Muther 26,
aber in rotem Rock), 78 X 63 cm.
5) Gräfin Hoym, geb. Gräfin Beichlingen, ovales
Brustbild ohne Hände, 66 x 51 cm.
6) Wieland. Farbe des Rockes rotbraun, 68,5
x 54,5 cm.
7) Tiedge, mit Wieland gleichzeitig von Arnold
gekauft, Brustbild mit Händen, 68 x 54 cm
(also der Größe nach ein Gegenstück).
8) Elisabeth Chudleigh Duchess of Kingston,
Brustbild ohne Hände, 59 X 48 cm.
9) Männliches Bildnis, im Pelz über Uniform,
wahrscheinlich Christoph Friedrich von Schön¬
feld, geb. 1744, gest. 1771. Brustbild mit
Hand. 84 X 68 cm.
10) Gräfin Johanna Erdmuth von Bünau, geb.
von Schönfeld, Korrespondentin Gellei't’s,
Brustbild mit Händen, 83 X 62 cm.
11) Graf Johann Hilmar Adolf von Schönfeld,
kursächs. Gesandter am kaiserlichen Hofe zu
Wien. Brustbild mit Händen, 83 x 62 cm
(Seitenstück zu 10).
Endlich ist noch zu erwähnen, dass von den
beiden „verschollenen“ Porträts des Ministers Grafen
von Einsiedel (Muther 271 und 273) eines sich im
Besitz des Grafen Detlev Einsiedel, Majors im Garde-
kürassierregiment zu Berlin, befindet, wie mir eben¬
falls Herr Sahrer von Sahr, ein naher Verwandter
des Besitzers, freundlichst mitgeteilt hat.
Von dem Bilde Wieland’s schreibt der Besitzer
noch insbesondere, dass es in der Farbenwirkung
ganz reizend sei. Diese vermag das Abbild leider
nicht wiederzugeben, aber der warme Dank, den wir
Herrn Sahrer von Sahr für seine Mitteilungen und sein
Entgegenkommen schulden, soll darum nicht unaus¬
gesprochen bleiben. Ein Wort der Charakteristik
dieses Porträts scheint notwendig, wenn wir uns er¬
innern, wie absprechend sich Wieland immer, na¬
mentlich aber 1802 dem Bildhauer Schadow und
später 1808 dem Maler Kügelgen gegenüber, über
seine früheren Bildnisse geäußert hat, Namentlich
gegenüber seinen überschwenglichen Lobpreisungen
des Bildes von Kügelgen scheint es unerlässlich,
das Verdienst des Graff’schen Gemäldes besonders
hervorzuheben. Denn wenn auch Kügelgen selber
behauptete, dass in allen gemalten und gestochenen
Bildnissen, unter denen Wieland’s Name stehe, zwar
mehr oder weniger eine Art von Ähnlichkeit sei,
dass aber allen gerade nur das Einzige fehle, was
nicht fehlen dürfe, wenn ein Bild das Wieland’s
werden sollte, und wenn er sich vermaß, aus Wie¬
land’s Seele und seiner alten pockennarbigen Fratze,
der Ähnlichkeit unbeschadet, ein harmonisches Ganzes
zu machen '), so geht daraus hervor, dass er so
wenig wie Wieland, von dem wir dies nach dem er¬
wähnten Briefe von Göschen als sicher annehmen dür¬
fen, das Originalgemälde Gralf’s gesehen hat, sondern
lediglich nach dem Stich von Bause urteilte. Wenn
wir heute beide Bilder, das von Graff und das von
Kügelgen, miteinander vergleichen, so kann die Ent¬
scheidung nur zu Gunsten von Graff ausfallen; denn
trotz aller Versicherungen über die „unübertreffliche
Ähnlichkeit“ und unvergleichliche Schönheit des
Bildes von Kügelgen wird sich jeder Beschauer
sagen müssen, dass in dem Bilde von Graff unend¬
lich mehr Wahrheit liegt, dass Kügelgen zwar einen
wenig schönen, aber geistreichen alten Mann recht
schön gemalt, Graff aber ein viel lebenswahreres
Bild des klugen, witzigen, geistvollen Dichters ge¬
schaffen hat, und dass die Liebenswürdigkeit des
alten Herrn, die beide zum Ausdruck bringen woll¬
ten, bei Kügelgen zur Süßlichkeit geworden ist,
während Graff, ohne zu verschönern und zu schmei¬
cheln, den ganzen Charakter des Mannes in seiner
vollen Eigenart erfasst hat. Dort haben wir ein
trotz vieler Sitzungen doch nur vom Maler erdich¬
tetes Phantasiebild, hier trotz der wenigen Sitzungen
doch ein echtes Charakterbild.
Ein früheres Bildnis Wieland’s von Graff, das
nur aus der Erwähnung in Meusel’s Künstlerlexikon
II (Lemgo 1789, Muther 274) bekannt ist, harrt noch
der Entdeckung.
1) Ludw. Wieland, Auswahl denkwürdiger Briefe von
C. M. Wieland, 2, lG3ff.
LOMBARDISCHE MINIATUREN UND RANDLEISTEN').
MIT ABBILDUNGEN.
1) Miniatures and
borders from the book
of hours of Bona Sforza,
Duchess of Milan, in the
British Museum. With
introduction by George
F. Warner, A. A. Assis¬
tant Keeper of Manus-
crits London, published
by the Trustees. 1894. 4.
in
füi
IE Kunst der Renaissance hat uns kein voll¬
endeteres Werk der Miniaturmalerei hinter¬
lassen, als das Andachtsbuch der Bona
Sforza, Herzogin von Mailand, welches 1871 durch
J. C. Robinson von Madrid nach England gebracht
ward, dort zunächst in den Besitz des Herrn John
Malcolm von Poltalloch und 1893 durch Geschenk
desselben in das Eigentum des Britischen Museums
überging. Herr G. F.
Warner, Direktorial -
assistent an der Hand¬
schriftensammlung
dieses Museums , hat
soeben eine vorzüg¬
liche phototypische
Ausgabe l) des kost¬
baren Bandes veran¬
staltet und dadurch
eine der Perlen lom¬
bardischer Kunst vom
Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts demStu-
dium weiterer Kreise
zugänglich gemacht.
Wir teilen den Le¬
sern zwei Proben der
schönsten Miniaturen
des Buches mit und
fügen zur kunstge-
vorausgeschickt werden
Der heilige Gregor.
Miniatur aus dem Andachtsbuche der Bona Sforza im Britischen Museum.
Schichthöhen Würdigung derselben ein drittes größe¬
res Blatt, eine reichverzierte Randleiste aus der Sfor-
ziade in der Grenville- Bibliothek des Britischen
Museums, bei, welche in Figuren und Ornamentik
denselben Stil zeigt, wie die Miniaturen des An¬
dachtsbuches.
Letztere stammen übrigens — das möge hier
nicht sämtlich von der
Hand italienischer
Meister her. Ein Teil
ist flandrischen Ur¬
sprungs und wahr¬
scheinlich einige De¬
zennien später hinzu¬
gefügt, nachdem das
Manuskript in den
Besitz Kaiser Karl’s V.
übergegangen war,
mit welchem es nach
Madrid kam. Wir
lassen diese sechzehn
flandrischen Miniatu¬
ren hier außer Acht,
so viel des Interessan¬
ten und Schönen sie
auch darbieten. Die
achtundvierzig Blät¬
ter italienischen Ur¬
sprungs zerfallen in
zwei Klassen: die eine
derselben, neun Blät¬
ter umfassend, ist ent¬
schieden von geringe¬
rer Hand und wurde
daher in der War-
ner’schen Ausgabe
nicht reproduzirt; die
andere, die übrigen
18*
132
LOMBARDISCHE MINIATUREN UND RANDLEISTEN.
neununddreißig Miniaturen in sich schließend, bil¬
det den künstlerisch wertvollsten Teil des Ganzen;
die Blätter dieser Klasse stammen offenbar, wenn
nicht aus einer Hand, so doch wenigstens aus
derselben Schule. Sie stehen in Komposition, Zeich¬
nung, Proportionen, Ausdruck, in flüssiger Behand¬
lung des Faltenwurfes und des Haares auf sehr
respektabler Höhe und sind im Kolorit von außer¬
ordentlicher Frische und Leuchtkraft. In diese Kate¬
gorie gehören zunächst die neun Scenen aus der
Passion , von denen
das Buch fünf repro-
duzirt. Darunter das
Abendmahl, eine der
schönsten Darstellun¬
gen der Handschrift
überhaupt. — Dann
die Einzelbilder der
Heiligen, von denen
wir das in Zeichnung
und malerischer Aus¬
führung exquisiteste
Blatt, den heil. Gre¬
gor, in Zinkotypie
diesem Aufsatze bei¬
fügen. Während Gold
im allgemeinen spar¬
sam an gewendet ist,'
findet es sich hier in
reicher Fülle: am Vor¬
hang hinter dem Kop¬
fe des Heiligen, am
Pult, an der Stufe, in
der Unterschrift. Auch
die Farben sind auf
diesem Blatt von be¬
sonderer Brillanz. Ei¬
nen hohen Reiz in
den Blättern der Hei¬
ligenfolgebesitzen die
Architekturen; sie sind von staunenswerter Wahr¬
heit und Feinheit in der Durchbildung, wie auf
dem Blatte mit dem heil. Gregor auch die Zeich¬
nung der Wand mit ihren Gestellen, Utensilien,
Büchern u. dgl. uns zeigen kann. — Endlich kom¬
men dazu die große Zahl höchst anmutiger, in
Gold und Farben prangender Zierleisten, von denen
wir gleichfalls ein Beispiel hier anfügen. Der orna¬
mentale Teil dieser köstlichen Randornamente weist
den bekannten Apparat von Formen und Motiven
auf, mit dem die Frührenaissance Italiens zu schal¬
ten pflegt: Vasen, Trophäen, Kandelaber, Blumen,
Blätterwerk, Bandverschlingungen, Greife, Sphinxe,
Putten aller Art, ferner antike Gemmen, Perlen,
Edelsteine in der täuschendsten realistischen Aus¬
führung. Am unteren und bisweilen auch am oberen
Rande sind kleine Miniaturbilder von Engeln und
ähnlichen idealen Gestalten eingesetzt, die zu den
reizendsten Bestandteilen des Ganzen zählen. Diese
Bilder und die dazu gehörigen Embleme stehen in
manchen Fällen zu dem Text des Andachtsbuches
in deutlicher Bezie¬
hung. Von großem
Interesse unter den
Miniaturbildchen sind
z. B. die Engel mit
Musikinstrumenten,
von denen Warner
sechs Beispiele mit¬
teilt. Sie stehen im
Stil dem von uns
vorgeführten schönen
Blatt sehr nahe. Nicht
minder interessant
sind die zahlreichen,
mit frappantem Rea¬
lismus behandelten
Tiere, namentlich Vö¬
gel, z. B. die beiden
in das Randornament
eines dieser Blätter
eingefügten Pfauen,
die der Miniator in
der vollen Farben¬
pracht ihres Gefieders
wiedergegeben hat.
Es ist leider bis¬
her nicht möglich ge¬
wesen , die Künstler
zu bestimmen, von
denen die Miniaturen
und Bordüren dieses prächtigen Andachtsbuches her¬
rühren. Hoffentlich trägt die Warner’sche Publika¬
tion dazu bei, durch Vergleichung auf den richtigen
Weg zu kommen. Das Britische Museum, das an
Miniaturen aus der zunächst in Betracht kommen¬
den Mailänder Schule nicht so reich ist wie an floren-
tinischen, besitzt gleichwohl einige gleichzeitige
Werke verwandten Stils, welche für die Lösung der
Frage von Belang sind. Warner unterzieht sie
einer sorgfältigen Analyse und kommt auf Grund
derselben zu beachtenswerten Resultaten.
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in tn.muegfidnp.ir
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lens mifctt.1
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jillmmncr iitiltä firn?
Randleiste aus dem Andachtsbuche der Bona Sforza
im Britischen Museum.
.IBRO PRJMO DELLA HISTORIA DELLE CQSE FACTE DALLO
NVICTlSSIMO DVCA FRANCESCO SFORZA SCRIPTA IN LA
INO DA GIOVANNI SIMON ETTA ETTRADOCTA IN LIN
iVA FIQRENTIN A DA CHRi&TöPHQRQ LANDINO FIORP.N
1 EM FI LHELA kt+GUM A '(5IÜVÄMN A SH
WM J^^^Mkondafigiiuola dl Carlo Re regnaua:perche era iuc
SP TSHBce^uune^ reSno Neapohtanoa Lautlao Rc fuo fra j
JgIjMp*0 'JBWB|tello:dcuaIc pam dt iura fan;a figiiuoli:Alphonfo '
Br daragonacon gründe armara mouendo bi Gua
Hlogna ucnne m Sicilia : Ifeladi i'uo Irnpeno La cui
I_ , Jj|£S|uenutJ excito g!i huormrn acl Neapohrano rcgno a
yB^JERjBAXRL^lgua in fauorudt a diuerli configlnde non con piccoli
tnouimenn di quel regnoJmpero cheGiouana Regina per moirt « uam
(uoi tmpudichi amori era caduta in föma in&rniajbc defperandoft che 1er
femina potefli adempiere lofTicio del Re& admimftrare ramo rcgno;fece>
ja ie maruo Iacopo di Nerbona Conte diMarciatelquaLe paar nobihta di (kni
Igue.-öi belleza di corpo;nemfenoper uirtu era tra Pnnctpi di Francta excett
lente .Maaccorgendofi in breue che quello defideraua pm eifere Re: eher
[marifo:&queIla non molto fhmauatmofTo da femimleleuita!oriftuto:<if
jpriuo dogmadmimflratice . Queüo fucacionechel fuoregnb:elqüaleper
|fuä natura e pronoaile diflenfxoni & difcordie^rragepdouifi e nö honeßi
[coftumi della Regina : ruorno nelle ant tche fadhom-di partialitarifccönun
jcio ogni giorno piu a fl ucfhureÄ aacillare.Eranoalcuni acuait nööifpia
j ceua Fa fignoria della döna:perche benche il nome fuffi in leidoro menredr
'menocomidaaono.AJtri defiderauanocheLodouico terno Ducadanjuo:;
figlmolo di Lodouico e! quäle era nomato RediPuglia:Ötdi uiolantenatat
! della Realeftirpe daragoniaTufli adoptato aafla Regina. Coftui pocoauitr
jpeconforti di Marnno tertio fomo Pontefice:d' di Sforza Attendolo excel
[tennfTimo Duca in miluaredifciphna : & padre di Francefco fforza de cui’
(egrefii fadi habbiamoa fenuere era uenuto a Im diCampagna:Etcögtuiv
itofi Sforza;haueamoflo guerra alla Regina . Maquegli che repugnauano;
la Lodouicho:metteuano ogni induftria : che Alphonio fufTi adoprato in fi
fltuoio ddla Rema: accio chem Napoli fufli tal Re:che con le Tue forze di
t mare de di terra potefli refiftere alla pofla dg Franciofi . Adunque in cofi
jtiehemetecontenoone debaronnddpiu huommide! regno:Alphonfo chia
mato dallaReina m herede d'compagnodel regno.-diuenenö foloilluftre:
tna anchora horribile : Et el nome Catelano elquale mfino a quegh rempi
nö era molto noto Öi celebre fe non a popoh marmmuma muifo dt. odiofo:
commcto a crefcere : di farfi chiaro . Ma di da Lodouico di da Sforza tanto
ogni giorno ptu eronoopprefluel Re di la Regmauhediffididofi nelle pro
pne forze; conduxono Braccio Perugtno : el quäle era ei fecondo Capitano
iimilma
in Italia in quegli tepi cö molte honoreuoh cöditioru:&mayime
Xi""' ^
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fBrcJä
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Randleiste aus der Sforziade des Giovanni Simonetta (1490). Britisches Museum.
134
KLEINE MITTEILUNGEN.
Eines der zum Vergleich herbeizuziehenden
Werke ist die gedruckte Sforziade, die Lebensbeschrei¬
bung des Francesco Sforza -Visconti, vierten Herzogs
von Mailand, von Giovanni Simonetta, welche in
lateinischer Übersetzung von Christ. Landino 1490
in Mailand erschienen ist. Wir geben die von War¬
ner in verkleinertem Maßstabe mitgeteilte kolorirte
Randleiste dieses Buches in gleicher Größe, wie sie
bei dem englischen Autor erscheint, in nebenstehen¬
der Abbildung wieder. Das an und für sich höchst
merkwürdige Blatt bietet nicht nur in der Kompo¬
sition und Zeichnung, sondern auch in der Wahl
und Zusammenstellung der Farben mit den Bordüren
des Andachtsbuchs der Bona Sforza die schlagend¬
sten Analogieen dar. Seine vornehmsten Zierden bilden
die beiden mit größter Sorgfalt ausgeführten Minia¬
turporträts, links des Herzogs Francesco Sforza,
rechts seines Sohnes Lodovico il Moro. Auf den Bei¬
namen des letzteren spielt der Mohrenkopf in der
Mitte der oberen Randleiste an. Unten prangt das
von Amoretten umspielte Wappen des Lodovico mit
den Lilien von Frankreich im Mittelschild. — Die
übrigen fünf unserem Autor zur Vergleichung die¬
nenden Werke, zwei Manuskripte, zwei Drucke und
ein Pergamentblatt des Britischen Museums mit den
Miniaturporträts des Lodovico und der Beatrice d’Este
(v. J. 1494), haben wohl den gleichen Werkstatt¬
charakter, jedoch ohne dass darin für die Bestim¬
mung einer ausgesprochenen künstlerischen Persön¬
lichkeit genügende Anhaltspunkte geboten würden.
Von Antonio da Monza , Girolamo da Milano,
Liberale da Verona und Giovanni Pietro Birago, deren
Namen bei der Untersuchung der Künstlerfrage ge¬
nannt wurden, kann — wie Warner nach weist —
ernstlich nicht die Rede sein. Dagegen verdient
allgemeine Beachtung die dem Herausgeber kürzlich
auf persönlichem Wege zugegangene Notiz von Dr.
Müller -Walde, dem bekannten Lionardo- Forscher,
dass die Mehrzahl der Miniaturen des Andachts¬
buches der Bona Sforza mit einer Donatus -Hand¬
schrift in der Bibliothek Trivulzi zu Mailand die
auffallendste Ähnlichkeit zeigen, und dass die Minia¬
turen dieses Codex Trivulzianus von keinem Gerin¬
geren als von Ambro gio de Predis, dem durch Ler-
molieff wieder zu Ehren gebrachten Maler der Bianca
Maria Sforza, herrühren. Danach würde also dem¬
selben Künstler, welcher das Bildnis der Bianca
Maria in der Ambrosiana malte, die leitende Stellung
bei der Ausschmückung des Andachtsbuches ihrer
Mutter Bona zuzuschreiben sein. Dass Ambrogio
de Predis als der Urheber des Miniaturschmucks
der Trivulzi-Handschrift zu betrachten sei, hat auch
Lermolieff bereits ausgesprochen. G. v. L.
KLEINE MITTEILUNGEN.
* „Italien in sechzig Tagen“ von Dr. Th. GseU-Fels,
das bekannte praktische Reisebuch des Bibliographischen
Instituts (Leipzig und Wien) liegt seit kurzem in fünfter
Auflage vor. Sie bildet einen ziemlich starken Band,
ist jedoch in zwei leicht auseinander zu trennende Ab¬
teilungen gegliedert, deren jede bequem in der Tasche zu
tragen ist. Wenn man etwas an den gediegenen Reise¬
werken des trefflichen Gsell-Fels aussetzen wollte, so war
dies ihre Oberfülle an gelehrtem Stoff. Dieser ist in der
gedrängten Anordnung des vorliegenden Führers glücklich
abgeholfen , und er wird dem Reisenden jeglicher Gattung
ausgezeichnete Dienste leisten.
Düsseldorf im Januar. Das erste Glied eines Cyklus
von Wandgemälden, welche für den Rathaussaal in Danzig
bestimmt sind: „Der Hochmeister Ludolf König legt den
ersten Stein zur Stadtmauer der Rechtsstadt Danzig im Früh¬
jahr 1343“ hat in der Kunsthalle Aufstellung gefunden. Eine
sehr gute Probe dessen, was das immer beliebter werdende
Casein auszudrücken vermag, kann es wohl als das fertigste
und reifste Bild Professor Ernst Roeber’s gelten. Das
Casein gewinnt mit jedem Versuch neue Freunde und em¬
pfiehlt sich jedenfalls, seiner außergewöhnlichen Leuchtkraft
wegen, für Wandmalerei im großen Stil. Man muss ein
solches Bild an Ort und Stelle denken. Selbstverständlich
fällt es, inmitten von fein gestimmten und auf „Ton“ gear¬
beiteten Landschaften, die auf das „Intime“ zielen, aus
seiner Umgebung heraus, aber die reinen, leuchtenden Far¬
ben bilden einen hellklingenden, etwas harten, in sich ab¬
geschlossenen Accord. Die Komposition ist sicher und klar,
die Zeichnung kräftig, und nur im Himmel erinnert der blaue
Äther, einige Grade zu tief gehalten, etwas an Waschblau.
Vortrefflich ist der niedere Baumwuchs behandelt, der den
Charakter der Landschaft mit den Dünenketten dahinter
scharf hervorhebt. Unter den Gestalten der Bauern erkennt
man einige typische Köpfe aus Professor Janssen’s „Schlacht
bei Worringen“ wieder, beliebte Akademiemodelle, welche
auf diesem Wege zu historischer Bedeutung gelangen! —
Der historische Vorgang, auf den an dieser Stelle nicht näher
eingegangen werden kann, stellt den Augenblick dar, wo
vor dem versammelten Orden der Deutschritter, den Ver¬
tretern der Kirche und dem Gemeindevorsteher der Grund¬
steineingesegnet wird. Die sich lang hinzieh enden Dünen bilden
einen stimmungsvollen Hintergrund zu der feierlichen Hand¬
lung, und über die Dächer der Hütten und die Dünen hin-
KLEINE MITTEILUNGEN.
135
weg begrenzt das blaue Ostseebecken den Horizont. Gerade
der landschaftliche Teil ist dem Künstler gut geraten und
vergebens sucht man nach einer Stelle , die „herausfällt“ :
eine Thatsache, die für eine so umfangreiche Arbeit voll ins
Gewicht fällt. Der nordische Charakter mit seiner zähen
Energie spricht aus dem landschaftlichen wie figürlichen
Teil des Bildes und das Ganze ist aus einem Guss erfasst
und durchgeführt. — Bei Eduard Schulte stellte Hans von
Volkmann eine vielseitige Kollektion feiner Landschaften
aus, Ölbilder, Zeichnungen, Aquarelle, Studien, Humoristi¬
sches. Die größeren Ölstudien, worin eine warme Naturauf¬
fassung, mit intimer Durchführung verbunden, jedesmal
eine Bildwirkung erzeugt, haben den meisten künstlerischen
Wert. Die Farbentöne, teils in sonnig warmen, teils in kühl¬
grauen Motiven, sind außerordentlich fein empfunden. In
der zeichnerischen Sicherheit und soliden Grundlage der
„Mache“ offenbart sich der gute Einfluss der Karlsruher,
insbesondere Schönlebers. Interessant war mir die erste kleine
Vorstudie „Haferfeld“ zu dem von der Pinakothek ange¬
kauften Bilde. Einfacher und treuer kann man der Natur
nicht gegenüberstehen. — Die Aquarelle sind humoristischen
Inhalts, kleine kecke Zeichnungen („Das Volk Israel in der
Wüste“, „Angelsachse und Pelikan“), die in ihrer Vermensch¬
lichung der Tiere manchmal an die Kaulbach’schen Illustra¬
tionen zum Reineke Fuchs erinnern. — Zwei große Marinen
sind durch ihre Gegensätze von Interesse. Das eine „Die
letzten Drei“ von Carl Leipold wirkt durch seine Stimmung
groß und tief. Die letzten Sonnenstreifen am Horizont sind
fein eingesetzt in die tiefe eintönige Luftstimmung. Leider
ist das Wasser ohne jede Feuchtigkeit und auch das Boot,
mit den drei letzten Opfern des Schiffbruches, fährt so un¬
beweglich, so „ungeschaukelt“ auf diesen grünen Wellen¬
bergen, dass es den Eindruck eines Patentfahrzeugs gegen
die Seekrankheit macht. Carl Salzmann’ s „Am Cap Verde“
ist dagegen viel seemännischer aufgefasst, und in der Be¬
handlung der tiefblauen schweren Wellen des Ozeans zeigt
sich eigene Anschauung und Gefühl für Bewegung. Auch
die Segel sind richtig gegen die Luft eingesetzt, aber alles
ist Farbe, schwere Farbe, die, wären nicht die Glanzlichter
recht geschickt und lebendig aufgetragen, jedes Reizes ent¬
behren würde. — Da zieht ein hochmodernes, vorzüglich
gemaltes Bild aus der neueren Münchener Schule: „Die
letzten Stunden“ von Georg Jauß durch sein koloristisches
Feingefühl weitaus am meisten an. Hier ist ein Lichtpro¬
blem, die Lampe, welche am Bett der stellenden Frau steht,
und deren letzter, flackernder Schein mit dem Morgensonnen¬
strahl kämpft, der durch das Fenster hereinbricht, mit stu-
pendem Können gelöst. W. SCHÖLERMANN.
* Der „ Verein bildender Künstler Münchens “ (Sezession)
wird seine dritte internationale Kunstausstellung in seinem
eigenen Ausstellungsgebäude an der Prinzregentenstraße in
der Zeit vom 1. Juni bis Ende Oktober dv Js. abhalten.
Circulare und Formulare mit den genauen Ausstellungs¬
bestimmungen werden im Monat April zur Versendung
kommen.
□ Aus den Wiener Ateliers. Prof. E. von Lichtenfels
arbeitet gegenwärtig an einigen Landschaften, deren tech¬
nische Ausführung in mehreren Punkten von den früheren
Verfahrungsarten des genannten Künstlers abweicht. Lich¬
tenfels hat diese neuen Bilder, welche Motive aus der Gegend
von Spital a. P. und Dürrenstein a. d. D. behandeln, in
englischer Tusche mit dem Haarpinsel auf weißem Grunde
vorgezeichnet und dann mit dem Borstenpinsel leicht unter¬
tuscht. Das nun folgende Fertigmalen in Ölfarbe lässt die
Schatten sehr durchsichtig erscheinen, soweit man nach den
fast vollendeten Stellen schließen kann, die auf einem großen
Breitbilde mit einer Gebirgslandschaft zu sehen sind. —
Der Maler Berthold von Lippay, bekannt durch einige Bild¬
nisse hervorragender Persönlichkeiten, hat seit einigen
Monaten in Wien ein ständiges Atelier. Daselbst findet
man auf den Staffeleien mehrere Porträts, die nahezu fertig
sind. Fast vollendet ist das lebensvoll aufgefasste Antlitz
des jungen Königs von Serbien, der vom Maler in lebens¬
großem Kniestück dargestellt wird. Das lebensgroße Bildnis
eines ungarischen Magnaten ist erst untermalt, ebenso das
reizende Köpfchen einer schönen jungen Dame. Nahezu
beendet ist die Arbeit an dem Brustbilde des Direktors
Swetlin, der lebensgroß und von vorn gesehen gemalt ist.
Lippay benutzt seit einiger Zeit Petroleumfarben.
Im preußischen Unterrichtsetat 1895/96 sind folgende
für das Kunstleben besonders interessante Titel eingestellt:
der Fonds zur Vermehrung der Sammlungen der Museen in
Berlin wird um 60 000 Mark erhöht, desgleichen ein Betrag
von 7000 Mark ausgeworfen für die weitere Reinigung von
Bildwerken , insbesondere der bei Pergamon gemachten
Funde. — Zur Sicherung und ordnungsmäßigen Aufstellung
der Sammlungen von Handzeichnungen und Kunstdrucken
der National-Galerie in Berlin insgesamt 10 000 Mark. Für
die photographische Aufnahme von Werken, der monumen¬
talen Malerei und Plastik, sowie zu ihrer Vervielfältigung
und Verbreitung 19 500 Mark. Die aus Mitteln des
staatlichen Kunstfonds ausgeführten und fernerhin auszu¬
führenden Werke monumentaler Malerei und Plastik be¬
dürfen geeigneter Veröffentlichung und Verbreitung, um
dem Urteile der Künstler und Kunstfreunde zugänglich ge¬
macht und dem Genüsse und Studium im weiteren Umfange
dargeboten zu werden. Zu diesem Zwecke wird beabsichtigt,
die aus Staatsmitteln oder mit Staatsunterstützung herge¬
stellten Malereien etc., welche ihrer Natur nach an den Ort
ihrer Entstehung gebunden sind, auf photographischem und
sonstigem mechanischen Wege zur veröffentlichen. — Für
die Wiederherstellung des Schlosses in Marienburg sind
weitere 50 000 Mark ausgeworfen.
%* Über das bekannte pompejanische Mosaikbild der
Alexanderschlacht , das sich im Museo nazionale in Neapel
befindet, hat Prof. Adler in Berlin im dortigen Architekten¬
verein einen Vortrag gehalten, in welchem er neue Hypo¬
thesen über die Herkunft des Bildes aufgestellt hat. Nach¬
dem er alle bekannten Nachrichten über ein angeblich von
der Malerin Helena, einer Zeitgenossin Alexanders des Großen,
ausgeführtes Gemälde der Alexanderschlacht, das von Ves-
pasian aus Alexandrien nach Rom gebracht worden ist, re-
kapitulirt hatte, warf er die Frage auf, wer denn ein Inter¬
esse daran gehabt hätte, in Alexandrien ein so großes Ge¬
mälde der Schlacht bei Issos ausführen zu lassen. Er ver¬
mutet, dass es Ptolemäus gewesen ist, der sich in der
Schlacht bei Issos besonders auszeichnete und dem nach
Alexanders Tode die Herrschaft über Ägypten zufiel. Hier,
in der rasch entstandenen Stadt Alexandria, die einen bei¬
spiellosen Aufschwung nahm, entwickelte sich auch die Tech¬
nik der Herstellung künstlerischer Mosaiken zuerst. Es liegt
also die Vermutung nahe, dass auch hier das Mosaik der
Alexanderschlacht entstanden ist, als unvergängliche Kopie
des kostbaren Originals. Nur ein Fürst konnte sich auch den
Luxus einer solchen Kopie gönnen, die nur von Künstlern
hergestellt werden konnte und enorme Kosten verursacht
haben muss. Das Bild ist 2,47 m hoch, 5,50 m lang, hat
also 13,81 qm. Es ist nur in natürlichen, farbigen Marmor¬
stiften von außerordentlicher Kleinheit ausgeführt, so dass
14 — 15 Stück auf 1 qcm gehen. Die Figuren haben % der
136
KLEINE MITTEILUNGEN.
natürlichen Größe, und es ist anzunehmen, dass das Tafel¬
bild, das, wie im Altertum üblich, jedenfalls auf Holz ge¬
malt gewesen ist, dieselbe Größe hatte. Wie kann nun das
Bildwerk nach der Casa del Fauno in Pompeji gekommen
sein? Diese Villa ist eine der größten und ältesten. Sie ist
in Tuff mit vorzüglichem Stuck ausgeführt, d. h. einem
Material, wie es sich nur noch an sieben kleinen Gebäuden
findet, die nachweislich zu den ältesten gehören. Sie stammt
wahrscheinlich aus der Zeit 200 v. Chr. In diesem prächtig
ausgestatteten Gebäude, das nur einem reichen Manne ge¬
hört haben kann, finden sich keine der sonst üblichen Wand¬
gemälde, sondern nur Mosaiken, und zwar deren zwölf, aus
deren ganzer Anordnung hervorzugehen scheint, dass der
Besitzer, der diese Mosaiken auf kaufte, ihnen zu Liebe die
ganze Anlage des Hauses vorgenommen hat. Wichtig ist,
dass mehrere der Mosaiken direkt auf Ägypten hinweisen.
So findet sich eine Katze, die mit einem Rebhuhn spielt.
Die Katze war aber nur in Ägypten heimisch und bekannt.
Horaz kennt noch keine Katze, sondern nur das Wiesel als
das mäusefangende Haustier. Ein anderes Mosaik stellt
Enten dar, welche Lotosblumen und Papyrus fressen. Auf
einem dritten ist eine Scene aus dem Dionysos- Kult dar¬
gestellt, der besonders in Alexandrien getrieben wurde. Ein
anderes Mosaik giebt eine ganze Kollektion der ägyptischen
Fauna, Nilpferd. Krokodil, Ichneumon u. s. w., kurz überall
findet sich der Hinweis, dass diese Bildwerke in Ägypten
selbst entstanden sind. Die Frage ist nun weiter, wo haben
sich die Mosaiken früher befunden, und dabei ist Prof. Adler
zu dem Schlüsse gekommen, dass sie eins der großen Pracht¬
schiffe geschmückt haben, von denen wir wissen, dass man
in ihre Fußböden kostbare Mosaikbilder einlegte. Mit dem
Verfall der Ptolemäerherrschaft ließ man wohl auch diese
unbrauchbaren Kolosse, von deren einem uns Abmessungen
überliefert sind, die mit denen des bekannten „Great
Eastern“ übereinstimmen, verkommen. So war es dem reichen
Pompejaner, der sich offenbar im Winter im Süden auf¬
hielt, denn sein Haus hat keine Winterräume, keine Heizung,
wohl möglich, sie aufzukaufen und, da sie leicht aus den
Schiffsböden herausgenommen werden konnten, sein neu zu
erbauendes Haus damit zu schmücken. Es sind dies zwar
nur Voraussetzungen, die aber aus den Darstellungen der
Mosaiken, dem ganzen Befunde, dem mehrfachen Hinweis
auf nur in Ägypten bekannte Glastechniken u. s. w. einen
Grad von Wahrscheinlichkeit für sich haben.
%* Technischer Unterricht in Wiederherstellung von Ge¬
mälden. Seit geraumer Zeit werden an Gemälden neueren
Ursprungs bedenkliche Beobachtungen gemacht, welche die
preußische Kunstverwaltung nötigen, eingreifende Mittel an¬
zuwenden, um die Haltbarkeit der Kunsterzeugnisse zu sichern.
Unter den verschiedenen Ursachen, welche den häufig her¬
vortretenden Verfall moderner Gemälde erklären, ist die
mangelhafte Kenntnis der Natur und Beschaffenheit des Mal¬
materials eine der erkennbarsten. Nachdem auf mannigfal¬
tige Weise für die Verbreitung technisch -handwerklicher
Unterweisung durch Schrift und Wort Vorsorge getroffen
worden, handelt es sich darum, den jungen Künstlern durch
praktische Anleitung in Lehranstalten die Mittel zur zweck¬
mäßigen Handhabung der Materialien zu verschaffen. Zu
diesem Zweck soll bei der akademischen Hochschule für
die bildenden Künste in Berlin probeweise der Unterricht
über Eigenschaften, Präparation und Behandlung der für
die Kunstmalerei dienenden Farben u. s. w. eingeführt wer¬
den. Die Kosten der ersten Einrichtung, einschließlich des
Honorars für die Vorträge und chemischen Versuche, sind
auf 5800 M. im Staatshaushalt veranschlagt.
In der „ Revue Bleue “ ergeht sich Paul Flat anlässlich
der Eröffnung eines neuen Louvre- Saales , der die Gemälde
der deutschen Schule übersichtlich vereinigt, in den äußer¬
sten Lobeserhebungen über diese Thatsache. Nachdem er zu¬
erst die Administration des Louvre zu diesen wertvollen Verän¬
derungen beglückwünscht, kommt er auf die Bilder selbst zu
sprechen und preist begeistert die Schönheit der deutschen
Kunst. „Man kann dort — im neuen Louvre-Saale nämlich —
wo der nötige Raum zwischen den Gemälden gelassen ist,
so dass sie besser zur Geltung gelangen, in logischer Folge
die soliden und kräftigen Holbein'1 sehen Porträts betrachten,
die früher in der langen Galerie am Flussufer vereinzelt
umhergestreut waren, man kann die Bilder von Cranach
und die leider so spärlichen von Dürer bewundern, vor
allem aber jene großartige und wahrhaft einzige Kreuzab¬
nahme der Kölner Sclutle, die das schönste und bedeutendste
unter allen Werken ist, die wir aus der deutschen Schule
besitzen, ja, die so schön ist, dass ich meinerseits, wenn
ich meine Erinnerungen befrage , nicht wüsste, welchem
anderen Werke sie zu vergleichen wäre. Erst in diesem
Raume nimmt sie den Platz ein, der ihrer würdig ist, erst
durch die neue Anordnung und durch die sie umgebenden
Gemälde gelangt man zu einer vollen Schätzung ihres
Wertes.“ — : —
Hugo Ulbrich, der Urheber der Originalradirung, die
diesem Hefte beigegeben ist, ist einer jener Künstler, die
sich ihre Laufbahn erst erkämpfen mussten. Er wurde am
10. November 1867 in Diesdorf bei Nimptsch in Schlesien
geboren, und nachdem er das Realgymnasium in Reichen¬
bach in Schlesien besucht hatte, musste er zunächst einen
weniger unsicheren Beruf wählen als den des Malers. Er
wurde Buchhändler, benutzte aber seine freie Zeit, um
zu zeichnen. Der Zufall führte ihn mit dem Verleger
dieser Zeitschrift zusammen , der zuerst die Zeichnungen
aus Duderstadt (in Jahrg. III d. N. F. d. Bl.), später die aus
Brieg (Jahrg. V d. N. F.) bestellte. Eine Zeit lang war der
junge Künstler alsdann als Ätzer und Retoucheur bei der
Firma Riffarth & Co. in Berlin thätig, und da lag es nahe,
dass er sich auch in der Technik der Radirung versuchte.
Die erste Platte dieser Art, 1892 entstanden, erwarb der
Verein für Originalradirung: Am Kgl. Schlosse in Berlin.
Im Jahre 1894 wurde Ulbrich Meisterschüler K. Köpping’s.
Er ist jetzt Mitarbeiter bei der Herausgabe der Kunstdenk¬
mäler Schlesiens. Eine größere Radirung: „Altes Schloss im
Sturme“ wird binnen kurzem vollendet sein. Die Zeichnun¬
gen und Radirungen, die von dem Künstler bis jetzt vor*
liegen, beweisen seine ausgesprochene Begabung für die
malerische Darstellung der Architektur und der Landschaft;
er bedarf nur der Förderung, um sein Talent zur Entfal¬
tung bringen zu können.
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Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
ORIGINALRADIRUNG von H. ULBRICH
Verlag vEA, Seemann, Leipzig
Bruck vEA.Brodsh.ans, Leipzig.
Wanddekoration aus dem Badezimmer des Kardinals Bibbiena im Vatikan zu Rom.
DAS BADEZIMMER DES KARDINALS BIBBIENA.
MIT ABBILDUNGEN.
APHAEL batte mit Beihilfe des Giulio Ro¬
mano für den Kardinal Bibbiena den Ent¬
wurf für die Ausschmückung eines Bade¬
zimmers gemacht und Zeichnungen dazu geliefert.
Als dann das ganze Werk von seinen Schülern
in Fresko ausgeführt war, hat es, wie es scheint,
allgemeinen Beifall gefunden. In der Villa Palatina
wurden durch Giulio Romano einige der Hauptbilder
in vergrößertem Maßstabe wiederholt. Marc Anton
Raimondi, Marco da Ravenna und Agostino Vene¬
ziano vervielfältigten die Zeichnungen durch den
Kupferstich. Aber bald nach dem Tode des Kardi¬
nals und des Papstes Leo X. suchte man diesen
allerdings ungeistlichen Bilderschmuck in Vergessen¬
heit zu bringen. Das Gemach wurde verschlossen
und unzugänglich gemacht; es war nicht mehr die
Rede davon. Dazu wirkte der Umstand mit, dass
die wechselnde Gunst der Zeit sich vorherrschend
der Bolognesischen Schule und den Epigonen der
ersten Meister des Cinquecento zuwandte. Das ver¬
steckte Raphaelische Kunstwerk blieb verschollen;
niemand erwähnte es mehr während der folgenden
zwei Jahrhunderte. Zuerst um das Jahr 1780 er¬
scheinen, wie es in dem Verzeichnis der „Raphael
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 6.
Collection“ des Prinzen Albert (S. 276) heißt, Um¬
rissstiche eines Anonymen: „Veduta del Ritiro di
Giulio Secondo“. Passavant deutet (Bd. II, S. 278;
französ. Ausgabe I, 1, p. 228) auf dieses Werk hin;
ich habe es leider nicht zu Gesicht bekommen J).
Vorher hatten weder Bellori 1 2) noch Volckmann 3),
um nur zwei der sorgfältigsten Berichterstatter über
die Kunstschätze des Vatikans aus dem 18. Jahr¬
hundert zu nennen, etwas von dem Badezimmer zu
berichten gewusst.
Erst in der für die Papstherrschaft so verliäng-
1) Soeben erhalte ich durch die Vermittelung von Prof.
Ehlers in Göttingen die folgende gütige Mitteilung des Hrn.
Hofrat Ruland in Weimar: „Es ist ein Einzelblatt, das
nicht ganz zwei Wände des Zimmers im Umrissstich dar¬
stellt, daher ohne jeden Text. Ich habe das einzige mir be¬
kannte Ex. vor mehr, als 20 J. bei einem Trödler in Rom
aufgelesen und in der Windsor-Sammlung niedergelegt.“ —
Ruland fügt hinzu: „Im J. 1804 war ich in dem Zimmer,
ohne die Fresken zu sehen, denn man hatte die Wände ver¬
schalt und übertapezirt. Es war das Vorzimmer zu dem
von Monsignore Talbot bewohnten Appartement.“
2) Bellori, Descrizione delle Imagini dipinti da Raffaele
nel palazzo Vaticano etc. Roma 1751.
3) P. Volckmann, Historisch - kritische Nachrichten über
Italien, . . . insbesondere über die Werke der Kunst. Bd. 11. 1770.
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138
DAS BADEZIMMER DES KARDINALS BIBBIENA.
nisvollen Zeit am Ende des vorigen und im Anfang
des jetzigen Jahrhunderts, als die Franzosen im Va¬
tikanischen Palaste so gut wie die Herren waren,
wurde das schlafende Dornröschen geweckt. Passa-
vant berichtet, dass M. A. Maestri Zeichnungen von
den Malereien des Badezimmers machen konnte,
von denen die Reihe der sechs Amorinen von Coc-
queret gestochen und kolorirt im J. 1802 in Paris
erschienen sind. Von diesem Werk besitze ich die
sechs einzelnen Blätter. Auf ihnen ist der Zeichner
Maestri nicht genannt, auch keine Jahreszahl ange¬
geben; aber aus der Unterschrift: „deposes ä la
Bibliotheque nationale“ geht hervor, dass sie vor 1805
herausgegeben sind. Nur die Bezeichnung: Amor
nobile, poetico etc. auf jedem Blatt deutet auf die
italienische Herkuuft. In meiner Raphael-Sammlung
befinden sich Zeichnungen von fünf der Amorinen,
mit der Feder konturirt und mit Sepia schraffirt und
lavirt '). — Sie sind von der gleichen Größe wie die
Wandgemälde und zeichnen sich vor den glatten und
eleganten Blättern von Cocqueret durch kecke Ur¬
sprünglichkeit der Zeichnung und schärfere Charak-
terisirung aus. — Außer dem kolorirten Werke führt
Passavant noch ein zweites an, das nur in Konturen
gestochen sei und nebst der Widmung an Kardinal
Leon. Antonelli auch die Angabe der Örtlichkeit
enthalte. Diese Ausgabe ist mir leider unbekannt
geblieben.
Die um die angegebene Zeit erschienenen kon-
turirten Abbildungen bei Landon und Piroli sind
offenbar nach obigen Werken und nach den Kupfer¬
stichen der Raimondischen Schule kopirt, ebenso
einige Einzelbilder von Ruschewey, Campanella u. a.
Nachdem der Papst aus der Napoleonischen
Verbannung zurückgekehrt und aufs neue Herr im
Vatikan geworden war, ist das Zimmer wieder un¬
zugänglich gemacht worden. Keine zuverlässige
Nachricht darüber gelangte in die Öffentlichkeit.
Alle die zahlreichen, seitdem erschienenen Werke
schweigen entweder, wie z. B. der „Cicerone“ des
trefflichen J. Burckhardt, oder sie wiederholen mit
verschiedenen Varianten und unerheblichen Zusätzen
das, was Passavant sagt. E. Müntz in seinem mit
wahrem Bienenfleiß zusamrnengetragenen Literatur¬
verzeichnis über Raphael (Les historiens et critiques
de Raphael, Paris 1S83, p. 83) hat über das Bade¬
zimmer nur zwei unerhebliche Notizen zu geben. —
Es scheint, dass es nur selten jemandem gelungen
1 Wahrscheinlich die nämlichen Zeichnungen, die in
der Raphael Collection des Prinzen Albert als im Besitz eines
Herrn llcubel in Berlin angeführt sind.
ist, Zutritt zu demselben zu erhalten. L. Grüner ist
wirklich hineingelangt. Er giebt in seinem schönen
chromolithographischen Werke (Specimens of orna¬
mental Art etc. London 1850), nach Aquarellen von
Consoni und Bartoccini, eine vollkommen treue far¬
bige Abbildung der Hinterwand und der einen
Hälfte der linken Seitenwand des Gemaches, welche
wir hierbei in Zinko teilweise reproduziren.
Mancherlei Erzählungen 1 ) gehen über die Ver¬
änderungen, die das Badezimmer erfahren habe, um.
Es sei in eine Kapelle verwandelt worden, indem
man die Wandgemälde durch Vertäfelung ganz
zugedeckt und an Stelle der Badeeinrichtung
einen Altar errichtet habe. Crowe und Cavalcaselle
(Raphael, Deutsche Übersetzung v. Aldenhoven, B. II,
S. 266) versetzen diese Umwandlung in die erste
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Andere behaupten, das
Zimmer sei als Küche oder Speisekammer benutzt
worden. Passavant sagt einfach, die Wohnung des
Kardinals sei der päpstlichen Dienerschaft über¬
lassen worden, und ich kann aus guter Quelle die
Nachricht hinzufügen, die Wäscherin des vatikani¬
schen Haushaltes habe in der zweiten Hälfte der
60er Jahre einen Teil der ehemaligen Kardinals¬
wohnung innegehabt.
Was in der neuesten Zeit aus dem Badezimmer
geworden ist, darüber liegen sichere Nachrichten
nicht vor. Senneville berichtet (Gazette des beaux
arts, 1874, T. IX, p. 476) von einem vergeblichen Ver¬
such des Hrn. Gruyer, den Raum zu betreten. Trotz
der nachdrücklichsten Empfehlungen wurde er mit
den Worten abgewiesen, es sei alles zerstört. Dieses
„tutto rovinato“ hatten auch wir schon zu hören
bekommen. Minghetti in seinem Werke über Raphael
(Deutsche Übers, v. S. Münz 1887, S. 189) sagt: „Seit
langer Zeit ist der Eintritt verboten, man zweifelt
sogar an dem Vorhandensein dieser Gemälde.“
Die eigentliche literarische Wiedergeburt des
schönen Kunstwerkes verdanken wir einzig Passa¬
vant, der in seinem grundlegenden Werke über
Raphael (Deutsch 1839; in französ. Übers. 1860) aus¬
führlich das Badezimmer und alle damit im Zu¬
sammenhang stehenden Verhältnisse behandelt.
Einem Zusammentreffen günstiger Umstände
hatte ich es im Jahre 1869 zu verdanken, dass ich
Zutritt zu dem verschlossenen Zimmer erhielt und
meiner Anschauung die ganze Örtlichkeit und deren
malerische Ausschmückung fest einprägen konnte. —
1) Eine erheiternde Fabulirung liefert E. Pelletan über
das Bad Julius TI., wie er es nennt, in dem ., Cabinet de
l’Amateur“. T. 111, p. 442. 1844.
DAS BADEZIMMER DES KARDINALS BIBBIENA.
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Als ich dann, von der Romfahrt heimgekehrt, meinen
langjährigen getreuen Führer in Sachen Rapliael’s,
Passavant (franz. Ausg. I, 1, p. 235: II, p. 228)
wiederum zu Rate zog, fand ich zu meinem Er¬
staunen, dass seine Beschreibung der Lage des Ge¬
maches und der Verteilung der Malereien teils un¬
klar, teils sogar unrichtig ist. Damals vielfach
anderweit beschäftigt, ließ ich die Sache ruhen und
hoffte, es werde mit der Zeit eine Aufklärung an
den Tag kommen. Aber als auch in dem Werke
von Crowe und Cavalcaselle über Raphael (deutsche
Übersetzung von Aldenhoven, 1885) nichts zu finden
war1) und auch späterhin Weiteres nicht bekannt
wurde, nahm ich den Gegenstand wieder vor. Aus¬
gerüstet mit fast sämtlichem Material, hielt ich es
für eine Art Pflicht, mit meiner dem Augenschein
entnommenen Darstellung hervorzutreten. Ich lasse
diese hier folgen.
Auf einer Nehentreppe links vom Cortile di
S. Damaso steigt man bis zum dritten Stock hinauf
und betritt dann einen schmalen Gang, der, recht¬
winkelig von der Loggienfassade des Palastes, auf
dessen südwestlicher Seite hinläuft. Ungefähr in
der Mitte dieses nach einem Seitenhofe schauenden
Ganges befindet sich der Eingang zu der ehemali¬
gen Wohnung des Kardinals Bibbiena. Deren erster
Raum ist ein mäßig großer Vorplatz mit mehreren
Thüren, von denen die rechterseits zu dem Bade¬
zimmer führt. Dieses ist ein ziemlich kleines Ge¬
mach mit zwei kürzeren und zwei längeren Seiten.
Auf der einen kürzeren (südlichen) Seite befindet
sich das breite Fenster, das sich nach dem erwähn¬
ten Gange hin öffnet. Da auf diese Weise das Licht
nicht unmittelbar von außen kommt, ist die Beleuch¬
tung des Gemaches ziemlich ungünstig. Man hat
demnach auch aus dem Fenster selbst keinen Aus¬
blick in den Hof, geschweige denn auf die Kuppel
von St. Peter, wie Passavant angiebt. — Die Lang¬
seite rechts wird von der Thür in der Ecke und
von einer groß ausgebauten Nische für die Bade¬
einrichtung in Anspruch genommen. Auf den beiden
anderen Seiten sind die hauptsächlichsten Malereien
angebracht. Die flachgewölbte Decke zeigt die
reichste Verzierung, inmitten welcher vier größere
und mehrere kleine Malereien harmonisch verteilt
sind2). — Was nun die Wandmalereien betrifft, so
1) Bemerkenswert ist ihre Mitteilung, dass die Wand¬
gemälde der ehemaligen Villa Palatina nach Petersburg in
die Eremitage gekommen sind.
2) Diese Dekoration ist ganz ähnlich derjenigen der
Gewölbe der Villa Madama auf Monte Mario.
sind sie auf drei großen Feldern ausgeführt, von
denen das eine, etwas breitere, die Rückwand, dem
Fenster gegenüber, einnimmt. Die beiden anderen,
etwas schmaleren Felder bedecken die linke, der
Badeeinrichtung gegenüberliegende Seitenwand. Zwi¬
schen diesen letzteren beiden Feldern ist eine kleine
Nische angebracht, in der eine Venusstatue aufge¬
stellt werden sollte; da diese aber dazu viel zu groß
war, blieb sie weg.
Jedes der drei Wandfelder ist durch symme¬
trisch verteilte Malereien geschmückt. Oben wölbt
sich über jedem ein breiter Bogen, der sich auf ein
quer durchlaufendes Gesims stützt. Auf den beiden
Feldern der Seiten wand sieht man in der Mitte eine
Art Blindfenster, das nur leicht ornamentirt ist und
mit einem Rundbogen das eben erwähnte gemalte
Gesims durchbricht. Auf jeder Seite dieses läng¬
lichen Mittelraumes ist in mittlerer Höhe eines der
Hauptbilder angebracht, weiter unten je ein kleineres
Bild mit einem Amorin, unterhalb der Blindfenster
in Grau gemalte Grotesken. Das Feld der Rück¬
wand unterscheidet sich von den beiden anderen
nur dadurch, dass es etwas breiter ist und statt
eines Blindfensters eine breite Blindthüre in der
Mitte zeigt. ') Hierdurch wird ein passendes Gegen¬
über zu dem wirklichen Fenster des Gemaches her¬
gestellt. Die drei Wandfelder sind untereinander
und mit der Decke durch anmutige Ornamentirung
verbunden.
Drei der erwähnten größeren Bilder sind nach
Zeichnungen Raphael’s gemalt. Sie beziehen sich auf
die Geschichte der Venus und die Macht des Amor.
Sie zeigen: Venus aus dem Meere geboren, Venus
und Amor auf den Meereswellen, Venus, die dem
Amor ihre Wunde zeigt. Die Kupferstiche des
Marc Anton und seiner Schüler geben einen Begriff
von der Schönheit der Darstellungen. Die drei
letzten Bilder von der Hand des Giulio Romano
sind: Venus und Adonis, Pan und Syrinx und Vul-
can und Minerva.
Die unterhalb dieser größeren befindlichen sechs
kleineren Bilder stellen, wahrscheinlich auch nach
Zeichnungen des Raphael, Amorine dar, jeder ver¬
schieden von den anderen. Die reizenden kleinen
Figuren stehen auf Siegeswagen und allerlei phan¬
tastischen Fahrzeugen mit Gespannen von Tieren
und Drachen, jeder in Ausdruck, Haltung und Thätig-
keit treffend charakterisirt.
1) Diese zwei blinden Fenster und die Thüre sind wahr¬
scheinlich die drei Nischen , welche Passavant als zwischen
den Bildern befindlich angiebt.
1<J*
Wanddi'koration aus dem Badezimmer des Kardinals Bilibiena im Vatikan zu Korn.
DAS BADEZIMMER DES KARDINALS BIBB1ENA.
141
Leider haben diese Malereien mehr oder weniger
o-elitten, einzelne bis fast zur Unkenntlichkeit, die
nach Raphael gemalten noch am wenigsten. Indessen
der so ungemein harmonische Gesamteindruck ist
nicht aufgehoben und bietet dem Auge noch genug
des durch Vergoldung gehobenen Formen- und
Farbenreizes.
Vergleicht man nun die soeben gegebene Dar¬
stellung mit der Beschreibung von Passavant, so
stößt man auf abweichende Angaben, die sich kaum
genügend erklären lassen. So z. B. in Bezug auf
die Lage des Badezimmers heißt es (französ. Ausg.
T. I, p. 235): „le Cardinal habitait au troisieme etage
du Vatican — quelques chambres . . . dont la sortie
donne sur les loges superieures.“ Das erstere ist un¬
bestimmt ausgedrückt, das letztere unrichtig. In der
deutschen Ausgabe wird dem Gemach mit Recht
nur ein Fenster zugewiesen, in der französischen
Ausgabe wird aber einmal gesagt (T. I, p. 237):
„ä la partie superieure des murs pres des fe7ietres et
de trois niches‘£ ... Was die drei Nischen anlangt,
so kann man nur vermuten, was gemeint ist (s. o.).
Die Art, wie Passavant die Verteilung der Wand¬
bilder über die Räume des Zimmers beschreibt,
leidet nicht minder an Unklarheit. In der französ.
Ausg. liest man (T. II, p. 229): „cette chambre —
contient sept tableaux principaux . . . dont deux
sur chaque face de mur, ä l’exception du mur oü se
trouve la porte avec une seule peinture.“ Passavant
nimmt offenbar an, dass die Hinterwand, die linke
Seitenwand und die Fensterseite je eines der großen
Mittelfelder mit je zweien der Hauptbilder und zwei
Amoren erhalten hätten. Wenn demnach die linke
Seitenwand von einem einzigen Malfelde bedeckt
wäre, wo bliebe dann die Maiunornische für die
Venusstatue, die ja dem Bade gegenüberstehen sollte?
In Wirklichkeit befinden sich auf dieser Wand zwei
der drei großen Gemäldefelder und zwischen diesen
die kleine Marmornische. Die Fensterwand hat die
ihnen zugeschriebenen Malereien überhaupt nicht.
Würde sich auch wohl ein Maler entschließen, mit
dem Fensterlicht vor den Augen in die engen dun¬
keln Winkel hineinzumalen? — Von dem als neben
der Thür befindlichen siebenten Hauptbilde habe
ich ebenfalls nichts gesehen; es wäre dort auch
kaum der Platz dafür. In dem beschreibenden Ver¬
zeichnis der Hauptbilder (T. II, p. 229 u. ff.) wer¬
den wiederum sieben gezählt, während ich immer
nur sechs auffinden konnte. Allerdings sagt Passavant
von dem siebenten Bilde an der Thür, es habe sehr
gelitten und der dazu gehörige Amor sei vorlängst
ganz zerstört worden. Man erfährt aber nicht,
welche von den von ihm beschriebenen Darstellun¬
gen sich auf diesem unfindbaren siebenten Bilde
befunden habe, wahrscheinlich aber war es die Venus,
die sich den Dorn aus dem Fuße zieht. Von diesem
Bilde erzählt er selbst (I, 2, p. 251), es sei ur¬
sprünglich angebracht gewesen, aber nachher heraus¬
genommen worden. Gleichwohl zählte er es in dem
mehrerwähnten Verzeichnis wiederum auf und musste
nun für diese Nr. 7 einen Platz suchen. — An die
Stelle des weggenommenen Bildes scheint die noch
vorhandene, sehr unscheinbar gewordene Darstellung
von Venus und Adonis ') gekommen zu sein. Die
Venus mit dem Rosendorn wurde für die Villa Pala¬
tina im Großen kopirt, ein Ölgemälde nach dieser
Kopie befindet sich in der Mannheimer Galerie und
ist von Audouin vortrefflich in Kupfer gestochen
worden. Nach der ursprünglichen Zeichnung des
Raphael hat Marco da Ravenna einen besonders
schönen Kupferstich geliefert. — In der Reihenfolge
der Venusbilder im Badezimmer wäre diese Dar¬
stellung der Venus nur eine unwesentliche Episode
gewesen, während die Vereinigung der Göttin mit
ihrem Geliebten einen passenderen Abschluss der
ganzen Folge bildet. — Ebensowenig wie das er¬
wähnte Bild von dem Inhalte der darzustellenden
Gegenstände gefordert erscheint, ebensowenig würde
es in seiner Vereinzelung neben der Thüre zu dem
Systeme der ganzen Dekoration passen. Eine solche
unsymmetrische Sieben könnte nur störend wirken.
Nach den gegebenen Erörterungen fasse ich als
Ergebnis nochmals zusammen: die rechte längere
Seite des Badezimmers enthält die Thüre und die
Badeeinrichtung, die gegenüberliegende Wand hat
in der Mitte die kleine Nische für die Venus, dieser
zu Seiten je ein bemaltes Feld, von denen ein jedes
ein gemaltes Blindfenster, zwei Hauptbilder und
ebenso viele Amoren zeigt, — die etwas schmalere
Hinterwand trägt das dritte Malfeld mit zwei Haupt¬
bildern, zwei Amorinen und in der Mitte eine breite
gemalte Blindthüre, letztere als passendes Gegenüber
zu dem wirklichen Fenster der Vorderwand, — dar¬
über wölbt sich die reich geschmückte Decke des
Zimmers.
So stellt sich das Ganze dar als ein bis in alle
Einzelheiten wohlbedacht entworfenes und reizend
ausgeführtes Meisterwerk der dekorativen Kunst.
Hannover, im Dezember 1894.
_ Prof IC. E. HASSE.
1) In Kupferstich von Marc Anton und Agostino Vene¬
ziano unter der Bezeichnung Angelika und Medor.
PETER PAUL RUBENS.
VON ADOLF ROSENBERG.
MIT ABBILDUNGEN.
IV. Rubens in Italien, 1600 — 1608.
E NN man den V ersuch macht,
die in unserer Darstellung
noch nicht erwähnten, zahl¬
reichen Werke des jungen
Meisters, die nach dem über¬
einstimmenden Urteile der
neueren Forscher in Italien
ausgeführt worden sind1),
nach der Zeit ihrer Entstehung zu ordnen oder doch
wenigstens örtlich zu fixiren, so geben uns die Reisen,
die Rubens im eigenen Interesse nach Rom und im
Gefolge seines Herzogs nach anderen Städten Italiens
gemacht hat, einige, wenn auch unsichere, Anhalts¬
punkte. In Rom war er, wie wir schon erwähnt
haben, während seiner Dienstzeit beim Herzog von
Mantua dreimal, jedesmal zu längerem Aufenthalt,
dessen Abkürzung ihm immer sehr schwer wurde
und den er auch unter allerhand Vorwänden zu ver¬
längern wusste. Fesselten ihn doch hier nicht bloß
die Werke der toten Meister, die für den Inbegriff
der künstlerischen Vollendung galten, sondern auch
der Verkehr mit den Lebenden, die damals gerade
aus der nordischen Heimat, aus den Niederlanden
und Deutschland nach Rom strömten und sich dort
zu Brüderschaften zusammenthaten Einer lernte vom
andern, einer gab dem andern wohl auch seine Ge¬
heimnisse kund, wie Rubens selbst später von dem
Frankfurter Maler Adam Elsheimerberichtet, der dem
jungen ^ lamen die Komposition eines guten Ätz-
grundes für Radirungen .'ingab.2) Von Elsheimer
1 ) Rooses, LVpuvre de P. P. Rubens V, p. 423 — 424 hat
i in Verzeichnis von 74 Gemälden und Skizzen und 14 Zeich¬
nungen aufgestellt, deren italienischer Ursprung hinreichend
beglaubigt ist.
2) Kosenberg, Ruhenshriefe, S. (53.
nahm Rubens auch gewisse Lichtwirkungen, gewisse
landschaftliche Stimmungen in seine Kunst auf, die
gelegentlich einmal, als er schon mehrere Jahre
wieder in Antwerpen schuf und ein Größerer ge¬
worden war, so sehr in ihm mächtig wurden, dass er
auch ein paar Bilder in der Art Elsheimers malte, viel¬
leicht nach Erinnerungen aus der römischen Zeit.
Wie tief diese in ihm nachwirkten, zeigt sich am deut¬
lichsten in den Landschaften, die er im letzten Jahr¬
zehnt seines Lebens, als er einen Teil des Jahres auf
seinem Landgut Steen zubrachte, gemalt hat. Die
Motive sind wohl der Heimat entnommen; aber die
figürliche Staffage, die Bauern und die Bäuerinnen,
die Knechte und Dirnen, zeigen die Pracht römischer
Glieder in frei angeordneten Gewändern. In diesen
Fahrten und Gängen zum Markt, diesen Heimkehren
von der Feldarbeit und Ernte, diesen Kirmessen steckt
etwas von der bacchantischen Lust der römischen
Winzer und der Campagnolen, und dass Rubens genug
solcher Studien während der schönen Jahre in Rom
gemacht hat, beweisen außer einigen Zeichnungen und
Skizzen, von denen wir nur die Tuschzeichnung mit
den Ruinen des Mons Palatinus in der Albertina zu
Wien (s. S. 234 des vor. Jahrgangs) und den Tanz
römischer Bauern in der Sammlung der Wiener Kunst¬
akademie ') citiren, einige direkte Zeugnisse. Der be¬
rühmte Bauerntanz im Museum zu Madrid, zu welchem
das Wiener Bild eine Vorstudie mit nur leicht ange¬
deuteter landschaftlicherUmgebung ist, wird sowohl in
dem Verzeichnis von Rubens’ Nachlass als auch in den
Verhandlungen mit dem Bevollmächtigten des Königs
von Spanien, der das Bild aus dem Nachlasse kaufte,
ein „Tanz italienischer Bauern“ genannt. Auf dem
Ij Nr. (J45 des Katalogs von C. v. Lützow
PETER PAUL RUBENS.
143
von Schelten Boiswert ausgeführten Stiche nach jener
Zeichnung der Albertina (s. S. 233 des vor. Jahrgangs)
liest man: „Pet. Paul Rubens pinxit Romae“, und
von einer zweiten, ebenfalls von Schelte a Boiswert ge¬
stochenen Landschaft, die sich im vorigen Jahrhundert
in der Sammlung des Herzogs von Richelieu befand
und vermutlich mit einer bei Sir Adrian Hope in
London befindlichen Landschaft mit dem Schilfbruch
des Äneas identisch ist, bezeugt Roger de Piles, der,
wie wir wissen, aus den Aufzeichnungen der nächsten
Verwandten des Meisters schöpfte, dass sie „die An¬
sicht eines Fanals (Leuchtturms) auf einem Berge
bei Porto Venere“ darstelle. Auch die im Louvre
vorhandene Landschaft mit dem Regenbogen hält
Rooses für ein Werk aus Rubens’ italienischer Zeit,
worin sich der Einfluss der Landschaften von Annibale
Carracci kundgebe.
Sicherer als dieses Bild ist aber ein anderes be¬
glaubigt, das unter Rubens’ italienischen Arbeiten
eine vereinzelte Stellung einnimmt und zugleich an ein
interessantes biographisches Detail anknüpft: der
Hahn und die Perle im Suermondt-Museum in Aachen
dessen Gründer es 1882 auf der Versteigerung der
Kraetzerschen Sammlung in Mainz erworben hat
(s. die Abbildung S. 144). Obwohl die Geschichte
dieses merkwürdigen Bildes nicht weiter zurück¬
verfolgt werden kann, ist doch jeder Zweifel an seiner
Echtheit, dank dem von Mariette aufgespürten Zeug¬
nis seines ersten Besitzers, ausgeschlossen. Es ist
der aus Bamberg gebürtige Arzt Johannes Faber,
der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in
Rom als Heilkünstler in Lehre und That wirkte. In
seinem 1651 in Rom erschienenen Sammelwerke „Re-
rum medicarum Novae Hispaniae thesaurus“ erzählt
er, dass er einst den in Rom schwer an Pleuritis
(Brustfellentzündung) darnieder liegenden Peter Paul
Rubens mit Gottes Hülfe wieder hergestellt hätte,
wofür ihm dieser zum Dank sein Porträt gemalt und
außerdem noch das Bild eines Hahnes mit der scherz¬
haften Widmung geschenkt hätte: Pro salute. V. C.
Joanni Fabro M. D. Aesculapio meo olim damnatus.
L. M. votum solvo. Ob Rubens im Gefühl seiner
wiedergewonnenenGesundheit sich mit seinem Äskulap
einen Spaß gemacht und ihn unter dem Bilde des
Hahnes, der nach der Fabel eine Perle aus dem Miste
herauskratzt, dargestellt oder ob er seinem Lebens¬
retter nur ein gerade vorhandenes Bild aus Erkennt¬
lichkeit dargebracht hat, dürfte schwer zu entscheiden
sein. Dafür hat Ruelens aus einer Fülle von Kor¬
respondenzen festgestellt, dass Rubens wirklich im Juli
1606 so schwer krank gewesen ist, dass sogar sein
Bruder Philipp, der vermutlich schon Ende 1605
das Ziel seiner unstillbaren Sehnsucht Wiedersehen
durfte und mit Peter Paul in gemeinsamem Haus¬
halt lebte, an des Malers Stelle die Bittbriefe um
Gehaltszahlungen nach Mantua schrieb, wo damals
die Finanzlage besonders schwierig war.
Nach den Berechnungen, die Ruelens1) angestellt
hat, scheinen die Brüder, die zugleich durch gemein¬
same wissenschaftliche Interessen verbunden waren,
Ende November 1605 in Rom eingetroffen zu sein.
Dass sie, wenigstens im Sommer 1606, zusainmen-
wolinten, wird durch einen Notariatsakt bezeugt,
worin die Herren Peter Paul und Philipp Rubens,
wohnhaft in der Strada della Croce bei der Piazza
di Spagna, am 4. August 1606 ihrer Mutter eine
General- Vollmacht über das gesamte Vermögen er¬
teilen.2) Der tägliche Verkehr mit seinem Bruder
Philipp, der noch dazu bestimmten antiquarischen
Studien oblag, führte auch Peter Paul wieder mit
neuem Eifer der alten Kunst zu. Die Beschäftigung
damit muss beide Brüder so stark in Anspruch ge¬
nommen haben, dass der oben erwähnte Arzt in
seinen Aufzeichnungen zuerst von dem „Liebhaber
und Kenner von Altertümern in Marmor und Erz“
und in zweiter Linie von dem weit und breit be¬
rühmten Maler spricht. Er und sein Bruder Philipp,
,.der sich durch Herausgabe von Büchern bekannt ge¬
macht, seien einst Schüler von Justus Lipsius ge¬
wesen und würdig, als dessen Nachfolger seinen
Lehrstuhl einzunehmen“. Um diese Zeit arbeitete
Philipp Rubens gerade an seinem großen Werke
„Electorum libri II“, einer Sammlung von antiqua¬
rischen und philologischen Abhandlungen. Denn die
Druckerlaubnis dieses im Jahre 1608 in Antwerpen
erschienenen Buches trägt das Datum des 15. No¬
vember 1607. Philipp bezeugt in diesem Werk selbst,
dass sein Bruder Peter Paul ihm dabei nicht bloß
„mit seiner kunstreichen Hand“, sondern auch „nicht
wenig mit seinem scharfen und sicheren Urteil“ bei¬
gestanden habe. Von den sechs in Antwerpen aus¬
geführten Stichen, die das Buch begleiten, ist nur
einer nach einer Vorlage gearbeitet worden, die nicht
das Gepräge von Rubens’ Hand zeigt. Um so deut¬
licher zeigen es die übrigen fünf, die zudem noch
antike Statuen und Reliefs darstellen, die sich damals
in Rom befanden. Die interessantesten davon sind
1) Correspondance de Rubens 1, p. 305 ft’.
2) Aus dem Archivio urbano in Rom veröffentlicht von
A. Bertolotti, Artisti belgi ed olandesi a Roma nei secoli
XVI e XVII. Florenz 1880. S. 138—140.
144
PETER PAUL RUBENS.
der Titus im Vatikan, eine sitzende Minerva und die
berühmte Flora Farnese, die sich jetzt im Museum
zu Neapel befindet. Es ist selbstverständlich, dass
wir keine Nachbildungen vor uns haben, die den
modernen Forderungen nach archäologischer Treue
entsprechen. Wie es Rubens von Giulio Romano
und seinen Schü¬
lern gelernt hatte,
wie es seine italie¬
nischen Zeitgenos¬
sen , insbesondere
die Carracci und
ihre Schule thaten,
sah Rubens die
Denkmäler altrö¬
mischer Architek¬
tur und Plastik mit
den Augen des Ma¬
lers an. Vielleicht
ohne es selbst zu
wissen oder auch
nur zu empfinden,
zwang er sie ge¬
wissermaßen unter
seine Individualität.
Es ist nicht ange¬
bracht, hier von
einer spezifisch vlä-
mischen Derbheit
gegenüber der An¬
tike zu sprechen.
Dieser derbe, ge¬
wissermaßen ver¬
gröbernde Zug bei
der Wiedergabe an¬
tiker Denkmäler
durch Zeichner und
Kupferstecher geht
vielmehr durch das
ganze 17. Jahrhun¬
dert hindurch und
noch bis tief ins 1 8.
Jahrhundert hin¬
ein, bis die Wiederbelebung der Studien klassischer
Kunst durch Winckelmann allmählich auch Zeichnern
und Malern die Augen öffnete.
Noch f reier und unabhängiger trat Rubens schon
1) Kino Nachbildung der Flora und des Titus bei Rosen¬
berg, Der Kupferstich in der Schule und unter dem Einfluss
des Rubens, S. 4 und 5.
in jener Zeit werdender Meisterschaft der Antike
gegenüber, wenn er ein altes Bildwerk in eines seiner
Gemälde hinübernahm. Unter den anderthalb Dutzend
in Italien entstandenen Bildern, die Gegenstände aus
der antiken Mythologie und Geschichte behandeln,
ist das interessanteste Beispiel dafür der sterbende
Seneca in der Mün¬
chener Pinakothek.
Es ist selbstver¬
ständlich, dass der
Schüler vonLipsius
auch ein Verehrer
des römischen Phi¬
losophen war, des¬
sen angeblicher
Büste wir schon
auf dem in Italien
entstandenen Bilde
„ Justus Lipsius und
seine Schüler“ be¬
gegnet sind. Es
scheint sogar, dass
diese Büste mit
einer antiken Mar¬
morbüste identisch
ist, die sich in
Rubens’ eigener
Sammlung befand
und die er dem¬
nach selbst in Ita¬
lien erworben ha¬
ben muss. *) So er¬
regte auch eine
merkwürdige an¬
tike Statue, die sich
damals in der Villa
des Kardinals Borg¬
hese befand, das
ganz besondere In¬
teresse des jungen
Künstlers, weil sie
nach der Meinung
derer, die sie nach
der Gewohnheit der damaligen Zeit ergänzt hatten, einen
im Bade durch Öffnung der Adern sterbenden Seneca
] ) Das wird ausdrücklich von Balthasar Moretus in der
Vorrede zu Lipsius’ Senecaausgabe bezeugt, für die Rubens
die Büste zu einem vom Verstorbenen gestochenen Bildnis
des sterbenden Seneca benutzt hat. Die Büste stellt übrigens
nicht Seneca, sondern anscheinend einen Dichter der helle¬
nistischen Zeit dar.
Der Hahn und die Perle.
Gemälde von P. P. Rühens im Suermoudt-Museum in Aachen.
PETER PAUL RUBENS.
145
darstellte. Um zu dieser Fiktion zu gelangen, hatte
man den nach vorwärts gebeugten, aus schwarzem
Marmor gebildeten Körper mit den Füßen in ein
Marmorbecken gestellt, das für diesen Zweck an¬
gefertigt worden war. Mit den übrigen Antiken der
Villa Borghese ist das Bildwerk später in das Louvre
sich daraus erklären, dass er auf seinen Fang auf¬
passt. Obwohl Rubens sonst in antiquarischen
Dingen ein scharfsinniger Interpret war, lag es ihm
wie allen seinen gleichen Studien obliegenden Zeit¬
genossen durchaus fern, in die hergebrachte Be¬
nennung eines antiken, also schon durch seine Her-
Romulus und Remus. Gemälde von P. r. Rubens in der Galerie des Kapitols in Rom.
gekommen, und dort hat die nachprüfende Forschung
aus der Tragödie des römischen Philosophen eine
einfache Idylle, ein Genrebild im alexandrinischen
oder pompejanischen Stil gemacht. Der schwarze
Mann ist in Wirklichkeit ein afrikanischer Fischer,
dessen vorgebeugte Haltung, dessen gebogene Kniee
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 6.
kunft geheiligten Kunstwerks Misstrauen zu setzen.
Was hat er nun daraus für seine Kunst gemacht?
Nur die Statue hat er benutzt. Aber auch sie hat
er in farbiges Leben umgesetzt. Die Füße des Greises
stehen nicht in einer Marmorwanne, sondern in einem
Becken von leuchtendem Kupfer, in welches das aus
20
146
PETER PAUL RUBENS.
den geöffneten Adern des linken Arms strömende
Blut fließt. Ein bärtiger Sklave zu seiner Linken
bat eben die traurige Pflicht vollzogen. Zwei ge¬
wappnete Krieger zu seiner Reckten sind die Zeugen,
die über die Ausführung des Todesurteils zu wachen
haben. Sie scheinen mit Ernst und Andacht den letz¬
ten Worten des Sterbenden zu lauschen, der sein edles
Haupt wie verklärt gen Himmel hebt. Mit schwärme¬
rischer Begeisterung folgt ihnen aber ein junger Schüler
mit einem wahren Johanniskopf, der zur Seite des
verehrten Lehrers am Boden hockt und seine letzten
Reden mit fliegendem Griffel in ein Buch einträgt.
Es giebt kaum ein zweites Beispiel im ganzen Werke
des Meisters, in dem wir die Freiheit und die Genia¬
lität, womit sich Rubens Schöpfungen der Antike
zu eigen machte, so genau kontroliren können wie
an diesem. Wie es die großen Künstler unserer
Zeit zu tliun pflegen, benutzte er ein antikes Denk¬
mal nur als ein Dokument, als ein urkundliches Hilfs¬
mittel, das er mit der schöpferischen Kraft des echten
Künstlers in sein Idiom übertrug.
Rooses weist die Entstehung des Bildes in das
Jahr 1606, was gerade mit der Zeit übereinstimmen
würde, wo Rubens und sein Bruder Philipp ganz
von den Studien antiker Kunst und Wissenschaft
erfüllt waren. Zu dieser Zeit stimmt auch der malerische
Stil, der dunkle Ton des Hintergrundes und die
Charakteristik der Nebenfiguren, die durchaus das
Gepräge der Carracci trägt. Schwieriger ist es um
die Datirung der übrigen mythologischen Bilder be-
st eilt, die Rooses in seinem Katalog in die italienische
Zeit verweist. Wenn wir nur die noch in Italien
vorhandenen ins Auge fassen, ergeben sich hin¬
sichtlich ihrer Datirung zwischen Rooses und Bode
(Cicerone), die wir als die ersten Autoritäten in der
Kritik Rubens’scher Bilder zitiren dürfen, ganz be¬
trächtliche Differenzen. Zwei große Bilder im Palazzo
Adorno in Genua, die Herkules und Deianir'a dar-
stellen, schreibt Bode z. B. der letzten Zeit des
Künstlers zu, während Rooses sie in die Zeit von
1600 — 1608 verweist. Die Auffindung des Romulus
und Rem us in der Galerie des Kapitols in Rom
('s. die Abbildung S. 145) zählt Rooses ebenfalls zu
den italienischen Jugendwerken, *) wogegen Bode sie
etwa um Gilt) ansetzt. Da diese und andere Bilder,
die hier in Frage kommen, zum Teil durch Restau¬
ration entstellt sind , da sich überdies nichts über
ihre Herkunft ermitteln lässt, wird man gut tliun,
1) Eine skizzenhaft behandelte, anscheinend spätere
Wiederholung des Bildes befindet sich in der Galerie Fried¬
richs des Großen in Sanssouci.
den unsicheren Boden der Mutmaßungen zu ver¬
lassen und wieder nach sicheren Anhaltspunkten Um¬
schau zu halten. Nur der Vollständigkeit halber sei
noch erwähnt, dass die prächtigen, von Humor
strotzenden Halbfiguren zweier Satyrn, von denen der
eine, dem Beschauer zugekehrte in stiller Wonne
des Vorgenusses eine volle Traube an seine Brust
drückt, während der andere im Hintergründe behag¬
lich seine Schale Wein schlürft (in der Münchener
Pinakothek), der Herkules am Scheidewege (zwischen
Minerva und Venus) in den Uffizien zu Florenz, der
trunkene Silen, der von einem Faun, einer Faunin
und einer Negerin heimgeleitet wird, in derselben
Sammlung und die aus der Sammlung des Lord
Lyttelton in den Besitz des Kunsthändlers Sedlmeyer
in Paris übergegangene, unter dem Namen „Tigris
und Abundantia“ oder „die Vermählung des Wassers
mit der Erde“ bekannte Allegorie mit mehr oder
weniger Sicherheit der italienischen Zeit des Meisters
zugeschrieben werden. Wenn diese Datirungen, die
zumeist durch den dunklen, fast schwärzlichen Grund¬
ton, durch den bräunlichen, für Rubens’ italienische
Werke besonders charakteristischen Fleischton und
den festen, fast zähen Farbenauftrag unterstützt
werden, richtig sind, würde Rubens schon damals
die ersten Keime zu zwei Reihen von Kompositionen
gelegt haben, auf die er während seines ganzen
Lebens wieder zurückkam: zu den Bacchanalen, deren
Mittelpunkt der Dickwanst Silen bildet, und zu den
allegorischen Darstellungen von Fluss- und Land¬
gottheiten in Verbindung mit exotischen Tieren
und den Symbolen der Fruchtbarkeit.1)
Dass Rubens sich in Italien wirklich schou mit
solchen und ähnlichen halb mythologischen, halb
allegorischen Darstellungen beschäftigt hat und dass
es ihm nicht an Kraft gebrach, an Stärke des dra¬
matischen Ausdrucks und an Reichtum des Kolorits
mit den ersten seiner italienischen Zeitgenossen zu
wetteifern, wird uns durch die beiden, fast gleich¬
großen Gemälde „die Krönung des Tugendhelden“
und „der trunkene Herkules“ in der Dresdener Galerie
bezeugt, die vor allen anderen größeren Sammlungen
Rubens’scher Bilder den Vorzug hat, dass man in ihr
den ganzen Rubens, von der ersten bis zur letzten
Phase seiner Meisterschaft, studiren kann und zum
1) Eine Versammlung von Nymphen und Satyrn in arka¬
dischem Gefilde, die sich im Besitze des Herrn J. L. Menke
in Antwerpen befindet, weist Rooses ebenfalls in die italienische
Zeit. Das Bild ist in der „Zeitschrift für bildende Kunst“
von 1888 zuerst durch eine Radirung von W. Linnig (bei
S. 246) reproduciit worden,
PETER PAUL RUBENS.
147
Teil auch in Hauptwerken kennen und genießen
lernt. Die beiden Bilder (s. die Abbild. S. 148 u. 149)
sind bis zu ihrer 1743 erfolgten Überführung nach
Dresden nicht aus Mantua herausgekommen. Rubens
hat sie dort im Aufträge seines Herzogs gemalt, wie
es scheint, in der ersten mantuanischen Zeit, als er
noch mit den ersten Eindrücken kämpfte. Die Bilder
sind sehr dunkel im Ton, vielleicht auch nach¬
gedunkelt, und die Komposition ist steif und un¬
beholfen, was aber in dem Bilde des trunkenen
Herkules nicht so auffallend ist wie in dem des von
der Victoria bekränzten Helden. Vielleicht hat Rubens
zuerst in schuldiger Ehrfurcht vor dem neuen Herrn
das Ceremonienbild geschaffen, dessen symbolische
Bedeutung keineswegs der Wirklichkeit entsprach,
und als er dann das Gegenstück malte, ließ er seiner
Phantasie freien Lauf, indem er nach der burlesken
Umdeutung, die die antike Herkulessage durch allerlei
Parodisten erfahren hat, den trunkenen Riesen mit dem
losen Volk von Satyrn und Bacchantinnen umgab.
Bei der Fülle von Urkunden, die wir über
Rubens’ Aufenthalt und Thätigkeit in Mantua und
Rom besitzen, ist es schwer zu erklären, dass sich
in den mantuanischen Archiven nicht die geringste
Spur von einem Dokumente über andere Reisen in
Italien gefunden hat. Und doch hat er längere
Zeit in Genua geweilt. Sein Aufenthalt in Genua
muss sogar seinen Zeitgenossen in dauernder Er¬
innerung geblieben sein; denn Bellori, Rubens’
Zweitältester Biograph, schreibt, dass er sich nächst
Rom in keinem anderen Orte Italiens so lange auf¬
gehalten habe wie in Genua. Das scheint jedoch nur
eine willkürliche Voraussetzung Bellori’s zu sein, die
sich auf die große Zahl der Gemälde von Rubens
stützt, die in Genua vorhanden waren und zum Teil
noch dort geblieben sind. Zumeist wird aber eine um¬
fangreiche Sammlung von Zeichnungen nach genue¬
sischen Palästen, die Rubens im Jahre 1622 veröffent¬
licht hat, die Sage von seinem längeren Aufenthalt
in Genua unterstützt haben. Von diesem Werke
scheint nun die erste, von Rubens selbst veranstaltete
Ausgabe, die nur den einfachen Titel „Palazzi di
Genova“ ohne Angabe des Druckers und ohne Jahres¬
zahl trägt, in weiteren Kreisen über die Niederlande
hinaus nicht bekannt geworden zu sein, sondern erst
die zweite von 1652, die den Titel trägt: Palazzi
Moderni di Genova raccolti e designati da Pietro
Paolo Rubens. !) In der von Rubens der ersten Aus-
1) Bellori zitirt zwar die Ausgabe von 1622, glaubt
aber doch, dass Rubens die Zeichnungen selbst angefertigt
gäbe vorausgeschickten Vorrede, die auch in der
zweiten nicht fehlt, sagt der Meister aber selbst,
dass er „die Pläne, Aufrisse und Ansichten mit ihren
Längs- und Querschnitten (con li loro tagli in croce)
gesammelt“, nicht selbst gezeichnet habe, und dazu
hätte er auch keine Zeit gehabt, weil sein Aufent¬
halt in Genua sich höchstens auf acht Wochen er¬
streckt haben kann.
Rubens hatte zur Ausführung seines großen
Altarwerkes für die Kirche Sa. Maria Vallicella in
Rom von seinem Herzoge einen längeren Urlaub er¬
halten. Da er zur Vollendung der Bilder nicht aus¬
reichte, bewilligte ihm der Herzog auf sein Ansuchen
am 15. Dezember 1606 in gnädigen Worten einen
neuen Urlaub mit der Weisung,, er möchte sich
nächste Ostern in Mantua einstellen. Auch diesen
Termin hielt Rubens nicht ein. Erst Anfang Juni,
als ein neuer, in sehr entschiedener Form abgefasster
Befehl des Herzogs zur Rückkehr nach Mantua ein¬
traf, musste sich Rubens zur Abreise entschließen.
Der Herzog war nämlich vom Rheumatismus geplagt,
und da er schon einmal die Bäder von Spa mit Erfolg
gegen sein Leiden gebraucht, hatte er sich zu einer
abermaligen Kur in dem heilkräftigen belgischen
Bade entschlossen. Was war natürlicher, als dass
ihn sein vlämischer Hofmaler begleiten sollte, dem
es am Ende auch nicht unlieb war, die Seinigen
wiederzusehen, zumal da seine Mutter schon seit
Monaten ihr Ende nahen fühlte? Als Rubens aber in
Mantua eintraf, hatte der Herzog seinen Entschluss
wieder geändert. Er zog es vor, die heiße Jahres¬
zeit in San Pier d’Arena bei Genua zuzubringen,
das damals der beliebteste Landaufenthalt des genue¬
sischen Adels war, wovon noch heute zahlreiche
Villen und kleine Paläste zeugen. Nachdem er an
seinen Freund Giovanni Antonio Spinola die Bitte
gerichtet, ihm sein dort gelegenes Landhaus über¬
lassen zu wollen, schlug ihm der Sohn Spinola’s den
geräumigeren Palazzo Grimaldi vor, der besser seinen
Bedürfnissen entsprechen würde, und am 4. oder
5. Juli 1607 traf der Herzog dort ein. Die vor¬
handenen Briefe und sonstigen Urkunden bieten nicht
den geringsten Anhalt dafür, dass Rubens den Herzog
begleitet habe. Aber es fehlt nicht an inneren
habe, indem er schreibt: „Attese egli quivi (in Genua) all’
Architettura e si esercitö in disegnare i palazzi di Genova
con alcune Chiese.“ Das Werk enthält in seinem ersten,
72 Tafeln umfassenden Bande die Pläne und Fassaden von
zwölf Palästen, in seinem später erschienenen zweiten Bande
auf 67 Tafeln die Pläne u. s. w. von neunzehn Palästen und
vier Kirchen.
20
14S
PETER PAUL RUBENS.
Gründen, die diese Annahme wahrscheinlich machen.
Ruelens, der diese Gründe zusammengestellt hat,
bemerkt mit Recht, dass es einem einfachen Maler,
der sich nicht im Gefolge eines Fürsten befand,
schwerlich möglich gewesen wäre, den Zutritt zu all
den Palästen zu erlangen, deren Außen- und Innen¬
ansichten Rubens in seinem Werke über die genue¬
in dem Werke wiedergegeben, und als letztes Be¬
weisstück kommt noch ein Brief des Paolo Agostino
Spinola an Rubens’ Beschützer Cbieppio hinzu, worin
sich jener beklagt, dass er so lange von Rubens
keine Nachrichten erhalten habe. Er möchte so
gern wissen , wann Rubens die bei ihm bestellten
Bildnisse — sein eigenes und das seiner Gemahlin —
Die Krönung des Tugendhelden. Gemälde von P. P. Rubens in der Dresdener Galerie.
sischen Paläste veröffentlicht hat. Unter diesen
Palästen befinden sich auch drei, die der Familie
Grimaldi gehörten, und darunter auch der des
Giovanni Battista Grimaldi, worin der Herzog ge¬
wohnt hat. Ferner ist das Werk einem Mitgliede
dei Familie, dem »Signor Carlo Grimaldi, gewidmet.
Die Paläste der Pallavicini und der Spinola, die der
Herzog von Mantua später bewohnte, sind ebenfalls
ausführen würde. Dieser Brief bereitet leider inso¬
fern einige Schwierigkeiten, als er neben dem Monats¬
datum, dem 24. September, deutlich die Jahreszahl
1606 trägt. Das würde mit allen übrigen Daten und
mit allen damit in Einklang stehenden Wahrschein¬
lichkeitsberechnungen nicht stimmen. Um die Mitte
des Septembers 1607 war der Herzog wieder in
Mantua. Es liegt also näher, einen Schreibfehler
PETER PAUL RUBENS.
149
Spinola’s anzunehmen, als einen früheren Aufenthalt
des Künstlers in Genua zu vermuten, der keine
andere Stütze als diesen Brief haben würde.
Schwieriger ist die Frage, welche von Rubens’
Werken, die sich in Genua befinden, noch während
seines Aufenthaltes in Italien infolge von dort
erhaltenen Aufträgen entstanden sind, und welche
ein Bild, das erst um 1620 vollendet wurde und um
dieselbe Zeit nach Genua gekommen ist. Hier muss
wieder die Stilkritik helfen, die zunächst das Bild
des Hochaltars in derselben Kirche, die Beschneidung
Christi, mit vielen Gründen in die italienische Zeit
weist. Ein hervorragendes Werk ist es freilich nicht.
Rooses nennt es sogar für des Meisters durchaus un-
Der trunkene Herkules. Gemälde von P. P. Rubens in der Dresdener Galerie.
er später für genuesische Familien gemalt hat, mit
denen er damals Beziehungen angekuüpft hatte, die
sich noch lange Jahre erhielten. An Urkunden fehlt
es durchaus, und die Angaben Bellori’s, die ältesten,
die vorhanden sind, sind durchaus unzuverlässige.
Er lässt einfach alle Bilder, die er in Genua gesellen
hat, auch in Genua gemalt sein, darunter auch die
„Wunder des heiligen Ignatius“ in San Ambrogio,
würdig und erklärt, angesichts der vorhandenen
Zeugnisse, sein gegenwärtiges Aussehen daraus, dass
es durch die Zeit und ungeschickte Restauration
stark gelitten hätte. Bode (im Cicerone) hat das
Bild offenbar häufiger und schärfer betrachtet. Es
ist nach seiner Anschauung, die uns die richtige zu
sein scheint, eines jener italienischen Jugendwerke,
in denen sich mehrere Einflüsse kreuzen, ohne zu
PETER PAUL RUBENS.
150
einem erfreulichen Einklang zu gelangen, hier neben
dem Studium nach den Typen der Carracci in den
kolossalen Gestalten zugleich ein sehr starker Ein¬
fluss von Correggio, dessen „Nacht“ Rubens offenbar
bei der Komposition seines Bildes vorschwebte.“
Bode ist auch geneigt, das Bild etwa um 1605 an¬
zusetzen. Denn 1607 war Rubens schon erheblich
weiter in der Bewältigung fremder Einflüsse vor¬
geschritten. Es ist darum wahrscheinlich, das Rubens,
als ihm der Marchese Nicolaus Pallavicini den Auf¬
trag zu zwei Bildern für die Kirche San Ambrogio
gab, zunächst ein in seiner Werkstatt vorhandenes
Bild, das der Beschneidung, ablieferte und ihn wegen
des zweiten auf spätere Zeit vertröstete. In Rubens’
Werk hat die „Beschneidung“ in San Ambrogio also
nur den Wert eines Zeugnisses, dass der Künstler
auch dem Studium Correggio’s nicht fremd geblieben
ist. Freilich waren um die Zeit, wo Rubens studierte,
die Versuche der Maler, künstlicher Beleuchtung
starke Wirkungen abzugewinnen, weit über Correggio
hinaus gediehen, und Rubens interessirte sich, wenig¬
stens in der letzten Zeit seines italienischen Aufent¬
haltes. bei weitem mehr für die robuste, gewaltsame
Art, in der Caravaggio das poetische' Helldunkel
Correggio’s weiter ausgebildet und schon fast bis
zur Roheit übertrieben hatte. Wir besitzen dafür
ein interessantes Zeugnis in einer Reihe von Briefen
des mantuanischen Agenteu in Rom, Giovanni Magno,
an den herzoglichen Sekretär Annibale Chieppio in
Mantua. Sie drehen sich sämtlich um ein Bild des
Caravaggio, das auf Rubens’ Vorschlag und warme
Fürsprache für den Herzog von Mantua angekauft
worden war. Seltsamerweise wird in den Briefen
der Gegenstand des Bildes nicht erwähnt. Wie
A. Hasebet, der die Briefe zuerst vei'öffentlicht hat, ’)
aber aus den Inventuren der mantuanischen Galerie
nachgewiesen Hat, handelte es sich um den Tod der
.Jungfrau Maria, der sich jetzt im Louvre befindet.
Das Bild war, wie aus den Briefen hervorgeht,
ursprünglich für eine Kirche bestimmt, von dieser
aber zurückgewiesen worden, und das bezeugt auch
Baglione, der noch nähere Details giebt. Es war
die Kirche Sta. Maria della Scala, deren Geistlich¬
keit das ihr dargebotene Bild zurückgewiesen hatte,
weil sie an der unpassenden Darstellung Anstoß
nahm. Die Madonna liegt nämlich mit geschwollenem
Leibe und entblößten Beinen auf ihrem Bette. Rubens,
der nur auf die künstlerischen Qualitäten des Bildes
1 In der Gazette des Beaux-Arts XXII, p. 316 ff. Die
Originale bei Ruelens, Correspondance etc. I. p. 362 — 369.
sali, die übrigens auch von anderen Malern in Rom
hochgeschätzt wurden, fand an der Darstellung
nichts Arges, wie er denn selbst damals und später
vor solchen und noch stärkeren naturalistischen
Wagnissen nicht zurückschreckte.
Wie jener Brief des Paolo Agostino Spinola,
sind auch zwei noch erhaltene Bildnisse von Frauen
aus den Familien Grimaldi und Spinola wegen ihrer
Datirung mit Rubens’ Aufenthalt in Genua im Som¬
mer 1607 unvereinbar. Es sind zwei gleichartig
komponirte, als Pendants behandelte Stücke, von
denen das eine die Marchesa Maria Grimaldi, das
andere die Marchesa Brigitta Spinola, die Braut des
Dogen Doria, beide in weißen Seidenkleidern mit
reichem Schmuck angethan, darstellt. Sie befinden
sich in der Sammlung des Mr. Bankes in Kingston
Lacy, wohin sie aus dem Palazzo Grimaldi in Genua
gekommen sind. Waagen, der immer noch unüber¬
troffene Inventarisator der Kunstschätze Englands,
ist der einzige, der unseres Wissens bis jetzt ein
sachverständiges Urteil über die Bilder abgegeben
hat.1) Obwohl sie aber von jeher für Pendants ge¬
halten worden sind, sind sie nicht in gleicher Art ge¬
malt, und es trägt auch nur das Bildnis der Brigitta
Spinola die Inschrift: Petr. Paulus Rubens pinxitl606.
„Der Kopf, sagt Waagen, ist zart aufgefasst, die Aus¬
führung ist noch nicht von der Freiheit und Breite
seiner späteren Bilder, sondern noch verschmolzen
im Stile seines Meisters Otto Venius. Die Gesamt¬
haltung des Bildes ist auch dunkel und kontrastirt
seltsam gegen die späteren lichtreichen und leuchtenden
Werke.“ Von dem anderen, undatirten Bilde, das
ebenso angeordnet ist, nur dass noch ein hässlicher
Zwerg hinzugefügt worden ist, der einen roten Vor¬
hang zwischen Säulen hinwegzieht, um einen Sonnen¬
strahl einzulassen, sagt Waagen: „Der Kopf ist
hier noch zarter, der Effekt des Ganzen unvergleich¬
lich klarer und leuchtender und deutet mehr direkt
auf seine spätere Periode. Der Vorhang allein er¬
innert noch in Farbe und Behandlung an Otto Venius.“
Hier liegt also ein Widerspruch vor, der bis jetzt
ebensowenig zu lösen ist wie die rätselhafte Jahres¬
zahl 1606. Da Rubens, soweit sich aus den uns zu
Gebote stehenden Quellen erkennen lässt, das ganze
Jahr 1606 in Rom gewesen ist, ist die Vermutung
gestattet, dass die Familien Grimaldi und Spinola
1) Treasures of Art in Great-Britain, Bd. IV. (Supplement)
S. 375. Über die Herkunft der Bilder sagt Waagen aus¬
drücklich: „ Botk were purchased by tbe late Mr. Bankes in
Genoa from the Grimaldi Palace “
Der heilige Franziskus im Gebet. Gemälde von I*. P. Hubens im Palazzo Pitti in Florenz
152
PETER PAUL RUBENS.
in diesem Jahre einen Besuch in Rom gemacht haben.
Bei der alten Freundschaft zwischen dem Herzoge
von Mantua und der Familie Spinola ist es wohl
möglich, dass jener den vornehmen Genuesern seinen
Hofmaler empfohlen haben kann. Ebenso berechtigt
ist aber auch die Annahme, dass Rubens, vielleicht
zur Erholung von seiner Krankheit, von Rom eine
Reise nach Genua gemacht und dort unmittelbar
die Beziehungen angeknüpft habe, die ihm diese
und später noch andere Aufträge verschafften.
Man sieht daraus, dass noch mancher Punkt in
Rubens’ italienischen Lehr- und Wanderjahren bisher
unaufgeklärt ist und wohl auch unaufgeklärt bleiben
wird, da die Gelehrten der belgischen Rubens¬
kommission alle Archive, die etwa in Betracht
kommen konnten, selbst durchforscht haben oder von
hilfsbereiten Italienern haben durchforschen lassen.
Die Aufklärung von Rubens’ künstlerischem Entwick¬
lungsgang würde übrigens durch die Feststellung
der Daten nicht weiter gefördert werden. Sie haben
nur ein biographisches Interesse ; denn die Zahl der
sicher datirten Werke ist im Verein mit einigen Ur¬
kunden groß genug, dass danach festgestellt werden
kann, welche Entwicklungsphasen Rubens in acht Jah¬
ren schnell durchmessen hat, wie er von den großen
Venezianern, von Tizian, Veronese und Tintoretto,
schnell über Giulio Romano und Michelangelo hin¬
wegeilte, um desto fester an der Antike und an den
neuen Göttern der Malerei, an den Carracci und an
Caravaggio festzuhalten, die seinem jugendlichen
Ungestüm mehr entsprachen, als die klassischen
Römer und Venezianer, welche die römische Künstler¬
jugend damals ebenso zu dem alten Eisen warf, wie
es heute etwa die Jungdeutschen mit Cornelius,
Kaulbach , Piloty und Makart thun. Außer den
bereits erwähnten Bildern von Rubens giebt es noch
einige andere in italienischen Galerieen, die so deut¬
lich die unmittelbare Einwirkung der Carracci zeigen,
dass sie nur in Italien entstanden sein können, wie
z. B. der hl. Franciscus im Gebet in Palazzo Pitti
in Florenz (s. die Abbildung S. 151). Rubens hatte
aber soviel von Studien und Erinnerungen ein¬
geheimst, dass sich die ersten Eindrücke, die sich
bei dem vielseitigen Interessen dienenden Künstler
überstürzten, allmählich abklärten, und dass manches,
das er anfangs als gering geachtet hatte, in seiner
späteren Entwicklung wieder stärker in den Vorder¬
grund trat und auf seine Stilbildung bestimmend
einwirkte.
Als ihn die Kunde von der schweren Erkrankung
seiner Mutter so schnell nach Hause rief, dass er
seinen letzten Brief an den Geheimsekretär des Her¬
zogs von Mantua am 28. Oktober 1608 „im Begriff,
zu Pferde zu steigen“ schrieb, hatte er die feste Ab¬
sicht, wieder nach Italien, in den mantuanischen
Herrendienst, zurückzukehren. Er hat Italien nicht
wiedergesehen, wie weit ihn auch in späteren Jahren
seine Reisen geführt haben. Er hat aber doch noch
einmal den unmittelbaren Einfluss der italienischen
Kunst erfahren, als er 1628 in diplomatischer Sen¬
dung nach Spanien ging. In Madrid, in der Kunst¬
sammlung des Königs Philipp IV., ist ihm, dem
gereiften Manne, erst das volle Verständnis der Kunst
Tizians aufgegangen, und aus dem, was er damals
sah, genoss und kopirte, entspross ihm selbst eine
neue Entwicklung seiner Kunst, die dem farbenfrohen
Auge der Gegenwart als die feinste und vollendetste
Offenbarung seines reichen Geistes erscheint.
Aus dem Badezimmer des Kardinals liibbieua
im Vatikan zu Iiom.
Ein Rendezvous unter Freunden. Gemälde von W. Makowski.
VON RUSSISCHER KUNST.
(Schluss.)
NZ WISCHEN sei dem Leser ein anderes Unter¬
nehmen empfohlen, das ähnliche Zwecke ver¬
folgt und auch bereits seine Geschichte hat.
Vor zehn bis zwölf Jahren nämlich fasste die
Firma Caneau & Cie. in Moskau den glücklichen
Gedanken, ein Album russischer Bilder herauszu¬
geben, und sie wählte hierzu als Vervielfältigungs¬
methode die im Auslande schon längst gerade für
derartige Albums und Mappen angewandte Helio¬
gravüre. Dieserhalb wandte sie sich an die be¬
rühmte Kunstanstalt von Angerer in Wien, die denn
auch die Herstellung von 52,8 cm langen und 39,6 cm
breiten Platten übernahm. In solchen trefflichen,
alle Vorzüge der Originale wiedergebenden Helio¬
gravüren sollten nun Gemälde der Moskauer Gale-
rieen reproduzirt werden, und zwar hatte man vor¬
nehmlich Bilder der besten lebenden und jüngst
verstorbenen Historien-, Genre- und Porträtmaler
Russlands ins Auge gefasst. Wir begegneten im
Prospekte Namen, wie Bronnikow, Huhn, V. Jakobi,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 6.
N. Kramskoi, K. und W. Makowski, W. Perow,
Shurawlew, H. Siemieradski, Al. und P. Sswedomski,
W. W. Weresclitschagin u. a. Die Subskriptionen
waren sehr günstig: jede monatlich erscheinende
Lieferung sollte je zwei Kunstblätter und einen er¬
läuternden Text von Professor A. N. Schwarz in
russischer und französischer Sprache enthalten. Zwölf
Lieferungen sollten zusammen je eine Serie bilden.
Der Preis der Lieferung war, wenn man auf eine
ganze Serie Unterzeichnete, sehr niedrig bemessen,
nämlich auf 1 Rbl. 80 Kop., was für die ganze
Serie 21 Rbl. 80 Kop. ausmachte, während im Einzel-
verkauf jedes Heft 2 Rbl. 50 Kop. kosten sollte.
Das Unternehmen wurde von der Kritik, wenn
sie sich auch nicht immer ganz mit der Wahl der
Bilder einverstanden erklären konnte, freundlich
begrüßt und unterstützt. Aber es vermochte sich
die Gunst des Publikums nicht zu erwerben. Immer
langsamer erschienen die Hefte, und als die erste
Serie mühsam zum Abschluss gebracht worden,
21
154
VON RUSSISCHER KUNST.
schlief die Sache ganz ein .... Jahre sind in¬
zwischen hingegangen und selbst in Kunstkreisen
vergaß man des Caneau’schen Unternehmens allmäh-
lieh . . . Nun taucht es auf einmal wieder auf: in
Gestalt eines geschlossenen Albums unter dem Titel
„Album von Heliogravüren nach Bildern russischer
Künstler“. Als Herausgeber zeichnet die Firma
Großmann dt ’■ Knobel in Moskau, die von Caneau
& Cie. allem Anscheine nach die Platten und den
Rest der fertigen Blätter käuflich erstanden hat,
den Schwarz’schen Text, der übrigens recht lücken¬
haft, vielfach veraltet und daher jetzt oft unrichtig
ist, Umdrucken ließ, getrennte Ausgaben in russischer
und französischer Sprache herstellte und hübsche
Albummappen bestellte, in denen nun die 24 Bilder
der ersten und auch letzten Serie des einstigen
Caneau’schen Unternehmens aufs neue auf dem
Kunstmarkte erscheinen.
Möge ihnen das Geschick jetzt freundlicher sein,
als damals! Denn davon hängt es natürlich ab, ob
der neue Verlag im stände sein wird, die Sache fort¬
zusetzen. Es wäre äußerst schade, wenn es wiederum
nur bei dieser einen Albumausgabe sein Bewenden
hätte, nicht bloß, weil sie technisch sehr Gutes
bietet, — die meisten Heliogravüren sind ganz vor¬
trefflich — sondern auch hauptsächlich darum, weil
dann erst bei einer Fortsetzung das kunstliebende
Publikum des Westens wirklich allmählich und zwar
auf würdige Weise mit russischer Kunst bekannt
gemacht werden könnte.
Denn — und das ist der einzige Vorwurf, der
gegen das jetzige Album und die einstige erste
Caneau’sche Serie erhoben werden kann — die Zu¬
sammenstellung der Bilder trägt den Charakter des
Zufälligen, sowohl, was die Auswahl der Künstler
betrifft, unter denen, selbst in einem einzigen Album,
nie und nimmer solche Maler, wie z. B. die Histo¬
rien- und Genremaler Ilja Repin und W. Perow,
der Landschafter J. Schischkin, der Marinemaler
R. Ssudkowski fehlen dürften, wenn anders ein sol¬
ches Album wirklich Anspruch darauf macht, die
russische nationale Kunst zu illustriren — als auch
hinsichtlich der Wahl der einzelnen Bilder der in
der Ausgabe vertretenen Künstler, die hier durch¬
aus nicht in ihren charakteristischen Seiten erfasst
erscheinen, wenigstens in den allermeisten Fällen.
Die planmäßige Anlage der Tretjakow’schen
Galerie — sie gerade müsste einem solchen Unter¬
nehmen als Vorbild dienen und sie besitzt ja, wie
erst gezeigt wurde, aus allen einzelnen Phasen der
Entwickelungsgeschichte russischer Nationalkunst
während der letzten fünfzig Jahre Bilder und Stu¬
dien von allen namhafteren Künstlern, und zwar
immer solche, die sie am besten und tiefsten kenn¬
zeichnen in ihrer ganzen Eigenart.
Solche Bilder z. B., wie W. P. Wereschtschagin’s
„Besuch im Gefängnis“ (eine Scene aus dem ita¬
lienischen Volksleben), wie A. Rizzoni’s „Archäo¬
logen“ und „Scene in der Synagoge“, — inwiefern
sind sie russische Bilder? Jenes Bild von Werescht-
schagin, der ja nicht mit seinem Namensvetter,
dem in ganz Europa und Amerika bekannten Anti¬
kriegsmaler und beredten Schilderer von Land und
Leuten in Mittelasien und Indien verwechselt werden
darf — es ist so steif ledern typisch „akademisch“,
wie heute wohl kaum noch irgendwo gemalt wird,
auch in Russland nicht. Und Rizzoni, dessen Wiege
wohl in Riga stand und der in der k. Akademie
der Künste seine Ausbildung erhielt, sie aber dann
in Paris und Rom vollendete und seit Jahrzehnten
schon ganz im Auslande lebt, — mit welchem Recht
kann man diesen Maler mit seinen nichtrussischeu
Typen und Scenen, die er in einer stark an die
Meissonier’sche Schule sich anlehnenden Vortrags¬
weise behandelt, überhaupt noch als einen russischen
betrachten?
Auch Heinrich Siemieradski, neuerdings Titular¬
professor der k. Akademie der Künste, der eben¬
falls seit vielen Jahren im Auslande — in Rom — lebt,
gehört seiner ganzen Richtung und Empfindungs¬
weise nach durchaus dem Westen an. Das Gleiche
gilt auch wenigstens von den in dieser Sammlung
vorhandenen Bildern von V. Jakobi („Terroristen und
Gemäßigte“), K.Huhn („Scene aus der Bartholomäus¬
nacht“), eigentlich auch W. Polenow („Cäsarenzeit¬
vertreib“). Das sind lauter schöne Arbeiten, inter¬
essant im Vorwurf, charakteristisch in der Behand¬
lung, anmutend in der Technik, — aber sie tragen
in nichts den Stempel des Russischen, sind in
keiner Hinsicht als charakteristisch für die nationale
Kunst zu betrachten. Genau so hätte dieselben Mo¬
tive auch ein Pariser, ein Münchener, ein Düssel¬
dorfer Maler auffassen und ausführen können.
Es ist gewiss sehr bezeichnend, dass alle diese
Bilder nicht aus den ehemaligen Tretjakow’schen
Sammlungen stammen, sondern aus anderen Mos¬
kauer Galerien, wie der von K. Ssoldatmkow (der
überhaupt sieben von den 24 reproduzirten Bildern
sein nennt), von S. Goljaschkin (aus welcher Samm¬
lung zwei Bilder vorhanden sind), von S. Matwejew
(Polenow’s „ Cäsarenzeitvertreib “ ).
Auf die Galerie von P. M. Treljakow entfällt
VON RUSSISCHER KUNST.
155
so ziemlich der ganze Rest der Bilder, wenngleich
sie nicht im Besitz der hier reproduzirten indischen
Bilder von W. Wereschtschagin ist, wohl aber in
dem vieler Studien und Entwürfe zu ihnen.
Über Wassili Wereschtschagin noch ein Wort
sagen zu wollen, wäre ganz überflüssig. Gerade mit
ihm hat sich die westeuropäische Kunstliteratur
mehr als sonst mit irgend einem der russischen
Maler beschäftigt, und von keinem sind so viele
Werke in allen möglichen Verfahrungsarten ver¬
vielfältigt worden, als gerade von seinen.
Aber über einige andere der in diesem Album
vertretenen Künstler seien einige Bemerkungen ge¬
stattet. Doch zuvor eine Übersicht über die 24
Bilder des Albums überhaupt:
Es sind vertreten Wassili Wereschtschagin vier¬
mal („Der künftige Kaiser von Indien“, „Nieder¬
werfung des Aufstandes in Indien“ , „Königsgrab in
Jerusalem“ und „Indische Grabkapelle“); je zweimal:
W. D. Polenow („Großmutters Garten“ und „Cä¬
sarenzeitvertreib“), W. E. Makowski („Unter Freun¬
den“ und „Vierhändig“), A. Rizzoni (die beiden erst¬
erwähnten Bilder); je einmal: N. Newrew („Prinz
Roman von Galizien“), W. Ssurilcow („Menschikow
in der Verbannung“), II. Siemieradski („Schwerter¬
tanz“), Gr. Mjassojedow („Gebet um Regen“), J. Krams-
lcoi („Untröstlicher Kummer“), Konstantin Makowski
(„Alexeje witsch“), A. Ssivedomski („Straße in Pom¬
peji“), V. Jakobi („Terroristen und Gemäßigte“),
J. Prjannischnikow („Im Gostinny Dwor zu Moskau“),
A. Korsuchin („In der Klosterherberge“), G. Bronni-
kow („Auf der Schädelstätte“), K. Huhn („Scene aus
der Bartholomäusnacht“), W. P. Wereschtschagin („Be¬
such im Gefängnis“), P. Sswedomslci („Medusa“).
Einige von diesen Künstlern, wie der 1887 ver¬
storbene Genremaler und Porträtist Iwan Kramskoi,
wie der im Dezember 1893 ebenfalls verstorbene
Ilarion Prjannischnikow , wie Wladimir Makowski, wie
Grigorji Mjassojedow , Wassili Ssurilcow, Wassili Po-
lenow gehörten und gehören zu den hervorragend¬
sten „Wanderausstellern“ und zeigen alle charakteris¬
tischen Züge eminent nationalrussischer Künstler.
Was diese vor allem auszeichnet, das ist die
Wahl vaterländischer Stoffe und Typen historischen
oder alltäglichen Charakters, landschaftlicher Motive
nur des Vaterlandes, die sie realistisch auffassen
und behandeln; eine Neigung zum Spintisiren und
Grübeln, eine Vorliebe für das Traurige, Düstere,
mitunter geradezu Hässliche oder aber andererseits
für das Tendenziöse, entsprechend den geistigen
Strömungen der sechziger und siebziger Jahre; end¬
lich eine Technik, die hier und da in genialer Hudelei
und Sudelei ausartet, oder gar einfach, roh und un¬
fertig erscheint, während sie bei anderen zielbewusste
Sicherheit und künstlerische Breite zeigt . . .
Es ist merkwürdig, wie wenig Humor in der
russischen Malerei anzutreffen ist; die Künstler, die
ihn bieten, können an den Fingern hergezählt werden,
und auch im vorliegenden Album vertritt ihn eigent¬
lich nur Wladimir Makowski mit seinen prächtigen
beiden Bildern aus dem russischen Alltagsleben. Das
sind Scenen und Typen, wie wir ihnen hier überall
begegnen können, und das sind Vorgänge, die keinerlei
Kommentars bedürfen. Allgemein Menschliches in
russischer Gewandung — jeder versteht’s. Das wun¬
derbar lebenswahr erfasste alte Paar am Klavier auf
dem einen Bilde oder der gemütliche Freundeskreis,
in den wir auf dem anderen geführt werden, — ist
es nicht voll und ganz aus dem Leben gegriffen?
Eben diese feine Beobachtungskraft und die
starke Fähigkeit, das Erschaute und Erfasste charak¬
teristisch zu gestalten — das ist’s vor allem, was
diese nationalen und realistischen Künstler aus¬
zeichnet: Wladimir Makowski so gut, wie von den
hier vorhandenen Prjannischnikow und Korsuchin,
die Maler russischen Familienlebens in den Kreisen
meist der kleinen Leute. Konstantin Makowski, der
beliebte Damenbildnismaler und Pseudohistorien¬
maler, ist anderen Geistes. Er legt den Hauptnach¬
druck auf die Eleganz in Farben und Formen. Sein
Kolorit ist blendend, seine Stoff- und Accessorien-
malerei virtuos. Er bietet meistens alles, nur keine
Seele. Seine historischen Gemälde, wie „Der Tod
Iwan’s des Schrecklichen“ oder „Des Zarewitsch Alexei
Michaile witsch Brautwahl“, seine Genrebilder, wie
die bekannte „Bojarenhochzeit“ und die „Brauttoi¬
lette“, — es sind fast immer nur schöne, theatra¬
lisch wirkende Kostümbilder; der Geist der Zeit weht
nicht aus ihnen, und es sind moderne Leute der
guten und besten Gesellschaft in schönem, stilgerech¬
tem Maskenstaat, geschmackvoll gruppirt, wie zu
einem lebenden Bilde in einem Kaiserschloss oder
im Salon der großen Welt. Und doch vermag auch
er mitunter sehr schön zu cliarakterisiren. Gerade
das Bild, welches das Album von ihm bringt, beweist
das. „Alexejewitsch“ ist ein alter Hausdiener, ein
Typus, wie man ihn in manchen russischen Familien
noch heute antrifft, eine Erinnerung noch an die
Tage der Leibeigenschaft und eine ihrer leichteren
Seiten verkörpernd. In Moskau, auf den Gütern
sind solche Dienertypen häufiger anzutreffen. Man
braucht das alte prächtige Faktotum bloß anzusehen,
21*
156
VON RUSSISCHER KUNST.
um sich klar zu machen, dass in diesen glücklichen
Häusern keine „Domestikenfrage“ bekannt ist . . .
Auch Konstantin Makowski gehörte früher zu den
./Wanderausstellern“, trat aber später aus dem Ver¬
eine aus .... Ganz anderen Geistes ist Wassili Ssu-
rikow. Wohl besitzt er mächtige Schilderungskunst,
und tief ist er in den Geist und die Empfindungsweise
seines Volks eingedrungen, aber der Schönheitssinn
stecken, was für ihn denn auch zu einem solchen
wurde. Aber er war einer der geistvollsten, treffend
charakterisirenden und dabei durch ein ebenso wah¬
res, wie immer künstlerisch schönes Kolorit fesseln¬
der Bildnismaler, dem das Frauenporträt sich ebenso
gut gab, wie das Männerporträt, und zwar dieses
in allen Schichten der Bevölkerung. Daher machen
auch die Figuren auf seinen Genrebildern stets den
Oer Garten der Großmutter. Von W. D. Polenow.
geht, ihm zumeist ab und wir begegnen bei ihm
vif] Rohem und Hässlichem, so auch in dem Bilde,
das uns hier Menschikow mit seinen Töchtern in
der Verbannung zeigt . . .
hran Kramskoi und Wassili Polenow, von denen
der letztere auch ein trefflicher, empfindungsvoller
Landschafter ist, gehören mehr der spintisirenden
Richtung an. Kramskoi hat sich sein ganzes Leben
hindurch mit der Christusidee herumgequält und
blieb dabei immer nur im Begriff’ des Martyriums
Eindruck des lebensvollsten Porträts. So auf dem
im Album vorhandenen Bilde einer trostlosen Mutter,
der ein süßer Liebling soeben gestorben . . . Der
andere von den beiden zuletzt genannten Künstlern
ist ein glänzender Kolorist in erster Linie; das hat
er mit Heinrich Siemieradski und Konstantin Ma¬
kowski gemeinsam; er ist meistens ein sehr guter
Zeichner, oft auch, was die Komposition betrifft,
ein guter Erfinder, und er besitzt viel Gemüt und
Anempfindungsvermögen; seine Bilder zeigen in der
VON RUSSISCHER KUNST.
157
Regel packende „Stimmung“. Aber er legt gerade
da, wo er religiöse und biblische Stoffe behandelt,
mitunter ein allzu großes Gewicht auf den Wirk¬
lichkeitssinn, und gerade bei dem großen Werke
seines Lebens, dem vom Kaiser Alexander III. an¬
gekauften Galeriegemälde „Christus und die Ehe¬
brecherin“ zeigt es sich, dass er den Realismus im
Äußeren nicht mit idealem Gehalt zu verschmelzen
vermochte. Er hatte die weitgehendsten Vorstudien
gemacht; er studirte Strauß und Renan, er durch¬
forschte die Beschreibungen der ältesten Christus¬
bilder, machte sich mit Schriften auch nichtbib¬
lischer Zeitgenossen Christi, die sich mit des „Men¬
schen Sohn“ beschäftigt hatten, bekannt u. s. w.; er
bereiste dann die Stätten, wo der Messias gelebt,
gelitten und gestorben, und brachte von dort viele
Mappen mit den schönsten Studien mit; er trieb ein¬
gehende archäologische Studien in Bezug auf Kos¬
tüme, Sitten, Gewohnheiten der alten Juden u. s. w.
u. s. w. Und doch — trotz der packenden Expression
der einzelnen Figuren, trotz der schön-realistischen
Behandlung des Stofflichen in den Gewändern und
in der Architektur und in der Pflanzenwelt, trotz
der naturwahren südlichen Atmosphäre, die uns von
der Leinwand entgegenweht, trotz der überall rich¬
tigen Zeichnung, des schönen, warmen, kräftigen, ja
blendenden Kolorits, trotz aller virtuosen Technik
bleibt es doch ein „gemeines“ Bild im Sinne Schillers,
wenn er seinen Wallenstein sprechen lässt: „Denn vom
Gemeinen ist der Mensch gemacht, und die Gewohn¬
heit nennt er seine Amme“ ... Er ist übrigens
ein ungemein vielseitiger Maler, in allen Sätteln
gerecht. Auch in der Tretjakow’schen Galerie ist viel
von ihm vorhanden, vom großen Historienbilde an
bis zum stimmungsvollen kleinen Landschaftsmotiv.
Und auch die beiden Bilder, die das Album bietet,
sind ja ganz verschiedener Art. Der persönliche
Geschmack entscheide, welchem der Vorzug zu geben.
Wer jedoch die Originale kennt, dürfte kaum
schwanken: die Stimmung in „Großmutters Garten“
ist von in jeder Beziehung so packender Wirkung,
dass man sich von diesem Bilde besonders angezogen
fühlen muss . . .
Ich nannte erst noch Gr. Mjassojedow. Auch
er ist sehr vielseitig; im Genre, dem historischen
und dem des Alltagslebens gleich gut zu Hause, wie
in der Landschaft, dabei durch und durch national;
mir ist von ihm kein Bild bekannt, das nicht auch
seinem Motive nach in allem zu des Künstlers Vater¬
land in engster Beziehung stände. Mit Vorliebe
geht er den Spuren des Volkslebens, zumal des
Bauernlebens, nach und weiß es gut zu erfassen in
Freud und Leid, in Dur und Moll, in Licht und
Dunkel, aber das Leid, Moll und Dunkel überwiegen.
Auch berührt sein Kolorit meist nicht angenehm;
es ist oft grell, hart, bunt. Übrigens gehört das
hier reproduzirte Bild, das uns eine häufig anzu¬
treffende Seite aus der Leidensgeschichte der russi¬
schen Ackerbauer so beredt schildert, in dieser Be¬
ziehung gerade zu den besseren, wie es auch sonst
eines seiner allerbesten ist, wo die ganze Komposi¬
tion und die Charakteristik der einzelnen Figuren
in gleicher Weise nichts zu wünschen übrig lassen . . .
Gr. Mjassojedow und der vor einigen Jahren
schon verstorbene J. Kramskoi standen einst an der
Spitze der ersterwähnten der Akademie feindlichen
Emanzipationsbewegung. Und im letzten Winter
wurde er, gleich Ilja Repin, Wl. Makowski, W. Po-
lenow, W. Ssurikow, J. Prjannischnikow, J. Schisch-
kin und anderen „Wanderausstellern“ zum Mitgliede
derselben Akademie erwählt, in deren Zahl übrigens
auch P. M. Tretjakow aufgenommen wurde.
Denn diese nunmehr reformirte Akademie ist ja
nicht mehr dieselbe. Sie ist vielmehr umgewandelt
in eine wirklich die Blüte nationaler Kunst repräsen-
tirende Körperschaft nach dem Vorbilde des Pariser
„Institut“ mit einer beschränkten Anzahl von Mit¬
gliedern (sechzig), von denen ein bestimmter Prozent¬
satz statutenmäßig aus Nichtkünstlern bestehen muss,
wie ein anderer von Künstlern, die in der Provinz
ihren Sitz haben, gebildet wird; und sie ist anderer¬
seits zu einer wirklichen Hochschule der freien
Künste mit zwölf Meisterateliers umgestaltet worden,
von denen die Hauptateliers für Malerei abermals
„Wanderausstellern“ anvertraut wurden.
Fürwahr — eine glänzende Genugthuung, die
dieser Künstlergruppe nach fünfundzwanzig Jahren ge¬
worden; eine Genugthuung, die gleichzeitig beweist,
welch’ ein reges Leben jetzt auf dem Gebiete der Kunst¬
pflege in Russland herrscht, ein Leben, das schöne
Früchte für die Zukunft in Aussicht stellt .... Aber
ich habe mich weit von dem eigentlichen Gegen¬
stände dieses Aufsatzes entfernt, zu weit schon, als
dass ich auch heute noch länger bei der so tief
einschneidenden Reform der k. Akademie der Künste
verweilen könnte.
Ein gesegneter Winter, dieser von 1893/94, der
Russland eine reiche Nationalgalerie und eine neue
Oentralstätte für nationale Kunstpflege beschert hat.
Möge unter diesen Auspicien auch das Unter¬
nehmen von Großmann & Knöbel viel Glück haben!
St. Petersburg. J. NORDEN.
«wy*»" y", I , I
Christus von Engelu betrauert. Relief von Donatello im South -Kensington- Museum.
(Aus dem Werke von W. Bode, Denkmäler der Renaissance-Skulptur Toskana’s. München, Verlagsanstalt.)
BODE’S DENKMÄLER DER TOSKANISCHEN SKULPTUR.
MIT ABBILDUNGEN.
IE weit und groß angelegte
Thätigkeit der Verlagsan¬
stalt für Kunst und Wissen¬
schaft (Fried. Bruckmann)
in München gereicht eben¬
so dieser Firma wie dem
deutschen Volke zur höch¬
sten Ehre. Die Kühnheit,
womit hier Unternehmungen wie das Werk über die
Henaissance-ArchitekturToskana’s, die Denkmäler der
antiken Plastik und nun die Denkmäler der tos¬
kanischen Skulptur ') in Angriff genommen sind,
1 ) Denkmäler der Renaissance-Skulptur Toskana’s in histo¬
rischer Anordnung. Unter Leitung von Wilhelm Bode
herausgegeben von Friedrich Bruckmann. München, Ver¬
lagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Fr. Bruck¬
mann. Groll-Folio. (Bis Ende 1894 22 Lieferungen erschienen.)
kann nur aus der Zuversicht erklärt werden, dass
solche Veröffentlichungen, wenn sie unter Beihilfe
der besten Kräfte und mit allen Mitteln der Repro¬
duktionstechnik ausgeführt werden, also eine ab¬
schließende und erschöpfende Gestaltung in sichere
Aussicht stellen, ganz ohne Rücksicht auf die Höhe
der Kosten ihren Absatz finden müssen. Das deutsche
Volk aber hat sich dadurch geehrt, dass es durch
die That bewiesen hat, die Rechnung sei richtig:
die Verwalter der geistigen Schätze der Nation, die
Leiter der Bibliotheken und Museen, haben nicht
gezaudert, die Anschaffung dieser kostbaren aber un¬
entbehrlichen Werke, wenn auch zumeist gewiss
unter Überwindung beträchtlicher Schwierigkeiten,
ins Werk zu setzen. Hätte kein Unternehmer, wie
Bruckmann, den Mut zu solchen Veröffentlichungen
gefunden, so hätten wir noch lange darauf warten
BODE’S DENKMÄLER DER TOSKANISCHEN SKULPTUR
159
können; denn gelehrte Körperschaften, die etwa
dafür die Mittel besäßen, pflegen Bilderwerken gegen¬
über, wenn solche nicht gerade eng abgegrenzte Ge¬
biete umfassen, sich ziemlich ablehnend zu verhalten;
auch ist ihr Apparat zu schwerfällig, um eine rasche
Fortführung der Arbeit zu ermöglichen.
In dem oben genannten Werke bietet Bode, der
beste Kenner der italienischen Plastik , weil zum
guten' Teil ihr Entdecker und der erste gründliche
Erforscher ihrer Geschichte, ein Corpus der ganzen
Renaissance-Skulptur Toskana’s, von Ghiberti an bis
auf Michelangelo. Nicht
nur alle teils noch am
Ort ihrer Entstehung
befindlichen, teils über
die Hauptsammlungen
Europas verteilten Er¬
zeugnisse dieser gro¬
ßen Kunstepoche, die nur
in der Blütezeit Grie¬
chenlands ihresgleichen
findet, werden hier in
Abbildungen, die ihre
volle Würdigung ermög¬
lichen, vorgeführt, son¬
dern eine Menge dieser
Stücke findet hier erst
ihre richtige Einord¬
nung. Neben dem italie¬
nischen Besitz, der ja
freilich meist schon auf¬
genommen und in bil¬
ligen Reproduktionen zu
haben ist, hier aber in
neuen großen und ge¬
nauen Aufnahmen ge-
o
boten wird, soll auch
alles, was das Ausland,
selbst Amerika, an ir¬
gend nennenswerten toskanischen Skulpturen be¬
sitzt, vorgeführt werden. Ist doch selbst der
reiche Bestand des South -Kensington- Museums in
London sowie der des Louvre in Paris bisher fast
ganz unpublizirt geblieben. Dazu kommt die
Fülle der Werke, die das Berliner Museum birgt,
dessen Renaissance - Abteilung eigentlich erst in
den letzten zwanzig Jahren entstanden ist. Ein
solches Monumentalwerk, als mitten aus der noch
lebendigen, vorwärts schreitenden Forschung er¬
wachsen, wird nicht überall bis ins Einzelne fest¬
stehende Ergebnisse bieten können: aber der ver¬
Martyrium des heil. Sebastian. Relief von Donatei.lo
tieften Kenntnis dieser wichtigen Kunstzeit arbeitet
es in einer auf keinem andern Wege zu erzielenden
Weise vor. Die Aussicht, mit der Zeit einige kleine
Änderungen in der Bestimmung einzelner Werke
vornehmen zu müssen, ist weit weniger bedenklich,
als wenn mit der ganzen Veröffentlichung noch ein
Jahrzehnt oder länger hätte gewartet werden sollen.
Denn die Werke der italienischen Frührenaissance,
als deren Abschluss und höchste Blüte Michelangelo
anzusehen ist, haben für uns neben ihrer histo¬
rischen noch eine weit höher zu veranschlagende prak¬
tische Bedeutung. Wie
sie die ersten vollen¬
deten Zeugnisse des von
dem Druck der Über¬
lieferung befreiten mo¬
dernen Empfindens sind,
also dem Worte Renais¬
sance entsprechend viel¬
mehr die Geburt eines
Neuen, als die Belebung
eines Alten darstellen,
so reden sie zu uns, die
wir abermals eine Be¬
freiung aus den Banden
einer uns fremd und
daher äußerlich gewor¬
denen Kultur mit er¬
leben, eine Sprache, die
verständlich, wohlthu-
end und anspornend an
unser Ohr klingt. Die
große Überlegenheit der
griechischen Plastik
wird niemand leugnen
wollen. Aber wir können
diese Kunstwelt nur von
ferne, wie ein verlornes
Paradies anstaunen; auf
diesem Wege ist für uns kein Weiterkommen; weiter
aber müssen wir, auf der uns von der Natur gewiese¬
nen Bahn. Die führt nicht zu den Höhen olympischer
Schönheit; dafür aber ermöglicht sie ein um so
tieferes Eindringen in die unerschöpfliche Ver¬
schiedenheit der menschlichen Charaktere, in das ge¬
heime Walten der menschlichen Seele, die sich ihren
Körper baut, und in die Regungen des Geistes, die
einen äußerlich greifbaren Ausdruck gewinnen. So
wandelt sich für den modernen Bildhauer das Ideal
immer mehr aus einem allgemeinen und umwandel¬
baren in ein individualisirtes und momentan erregtes,
160
KLEINE MITTEILUNGEN.
aus einem streng architektonischen in ein malerisch be¬
wegtes. Diese Entwickelung macht sich in der toska¬
nischen Plastik schon sehr früh bemerklich. Einer der
Hauptmeister des Trecento, Giovanni Pisano, hat das
Streben nach packendem Ausdruck des Lebens so
weit ausgebildet, dass er in dieser Hinsicht noch jetzt
unüberboten dasteht. Der Meister, der an der Pforte
der Quattrocento steht und mit dem das Bode’sche
Werk beginnt, Loren zo Gkiberti, führte andrerseits
den Grundsatz der malerischen Anordnung innerhalb
des als endlos gedachten Raumes bis an die Grenze
des Möglichen durch, wenn er dabei auch, seinem
wohl abgewognen Naturell gemäß, die plastische
Ruhe zu wahren wusste. Michelangelo endlich, der
den Kunstcharakter des Cinquecento bestimmt, er¬
füllt seine Gestalten, ohne sie besonders stark zu
individualisiren oder sie in außergewöhnlich heftige
Bewegung zu versetzen, mit einem solchen Maße
verhaltenen innern Lebens, dass sie als unheimliche
Rätselgebilde sich tief dem Geiste des Beschauers
einprägen und ihn in ihren Bann schlagen.
Mitten inne zwischen Ghiberti und Michel¬
angelo steht Donatello als der vollkommenste Ver¬
treter der Quattrocento-Kunst nach den verschieden¬
sten ihrer Richtungen hin und daher als der voll-
giltigste Vermittler zwischen der Gotik und der
Hochrenaissance. Ihm ist denn auch der größte
Teil der bisher erschienenen Lieferungen gewidmet,
dabei aber seine an Wandlungen überreiche Ent¬
wickelung erst Dis in die Mitte seiner Künstlerlauf¬
bahn verfolgt. Hier ziehen die Statuen, womit er
die Fassade des Florentiner Doms, dessen Campanile
sowie das Außere von Or- San -Michele schmückte,
die reichen Grabmäler, die er gemeinsam mit
Michelozzo fertigte, die muntern Kinderreigen, die
er für die Kanzel von Prato und die Orgelbalustrade
des Florentiner Doms ersann, neben einer Menge
kleinerer Werke mehr dekorativer Art an unserm
Auge vorüber. Sie zeigen uns, wie mächtig die
Lebens- und Schaffenskraft in ihm pulsirte, dieser
kühne, zugreifende Geist, der das plötzliche Auf¬
blühen der Kunst im Beginn des fünfzehnten Jahr¬
hunderts erst ermöglichte. Ein leises Nachwirken
der Gotik lässt sich höchstens noch in dem leichten
Schwung seiner Gestalten verspüren. Zartheit und
milder Liebreiz sind nicht seine Sache; derartiges
findet sich weder in seinen frühen noch in seinen
späten Werken. Im Gegenteil: je älter er wurde,
um so selbstherrlicher bildete er zu einer Zeit, die
die sanften Regungen des Gemüts zu bevorzugen
begann, das Wild-Energische, Brutale und Packende
in sich aus und bereitete so die Geister auf das Er¬
scheinen seines gewaltigen Nachfolgers vor. — : An¬
genehm berührt es, dass die Abbildungen gleich in
chronologischer Anordnung herausgegeben werden.
Der Bode’sche Text verfolgt diese Entwickelung
in einer knappen, die großen Züge klar hervor¬
hebenden Darstellung. Die erste Textlieferung hatte
neben Ghiberti dessen ältere Zeitgenossen Niccolö
d’Arezzo, Ciuffagni und Nanni di Banco behandelt,
weiterhin Brunelleschi und endlich jenen eigentüm¬
lichen, erst von Bode entdeckten, noch halb gotischen
Meister, dessen Name sich bisher nicht hat heraus¬
finden lassen", der aber nach einem Hauptwerk in
Sta. Anastasia zu Verona jetzt als der Meister der
Pellegrini-Kapelle bezeichnet zu werden pflegt. Mit
der zweiten Lieferung beginnt die Schilderung der
Entwickelung Donatello’s. Für unsere Text-Illu¬
strationen sind durchweg Werke dieses Hauptmeisters
der toskanischen Plastik gewählt worden.
W. v. SEIDLITZ.
KLEINE MITTEILUNGEN.
..Am Wasser“, Original radirung von C. Tb. Mcycr-Bascl.
Wir bieten unseren Lesern mit diesem Blatte die letzte der
in dem Wettbewerbe vom Oktober 1892 ausgezeichneten
Rad im ngen , die von den Preisrichtern zum Ankauf em¬
pfohlen war. Ober den Entwickelungsgang des Künstlers
haben wir in Band V, S. 48 d. BL berichtet.
..Ibnii Oaac/rsalber“, Heliogravüre nach einem Gemälde
von Werner Schuch. Das Bild stammt aus der frühesten
Zeit des Künstlers, der sich in der letzten Zeit durch seine
Rciterporträts und seine Bilder aus dem 30jährigen Kriege
einen Namen gemacht hat, und befindet sich seit dem Jahre
1874 im Provinzialmuseum zu Hannover. Geboren wurde
Werner Schuch am 2. Oktober 1843 zu Hildesheim und er¬
langte seine Ausbildung als Architekt von 1860 — 1864 auf
dem Polytechnikum zu Hannover. Nach vollendeten Studien
war er als praktischer Architekt zuerst unter Hase und als¬
dann als Privatarchitekt thätig und wurde 1870 als Professor
der Baukunst an der technischen Hochschule zu Hannover
angestellt. Erst 1872 versuchte er sich ohne Lehrer in der
Ölmalerei, wobei ihm ein hervorragendes zeichnerisches
Talent zu Hilfe kam. Kopien in der Dresdener Galerie,
Skizzen in Tirol und Oberitalien bereiteten sein malerisches
Können vor, bis er 1877 in Düsseldorf sich weiter bildete.
Seit einer Reihe von Jahren lebt der Künstler in Berlin,
wo er in der Ruhmeshalle des Zeughauses die Schlacht von
Leipzig malte.
Herausgeber: Carl van Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Bi! IM' QUACKSALBER
J Mabuse pinx.
ISABELLE VOLT OESTERREICH.
mann
ivzif,
Druck v F A.Brockhaus , Leipzig.
EIN BILDNIS DER ISABELLA VON ÖSTERREICH
VON MABUSE.
VON CARL JUS TI.
SABELLA von Österreich,
oder wie sie selbst bei ihrer
Trauung Unterzeichnete, Eli¬
sabeth d’Autriche et de Bour-
goigne, war die Tochter Phi¬
lipps des Schönen und der
Johanna von Kastilien, also
eine Schwester Kaiser Karls V.
Geboren am 18. Juli 1501 zu Brüssel, vermählte sie
sich im Jahre 1514 mit Christiern II., König von
Dänemark, und starb am 19. Januar 1526 zu Gent,
mehr als dreißig Jahre vor den Geschwistern. Von
ihren drei Schwestern blieb eine kinderlos, und nur
eine brachte ihr Geschlecht auf einen Enkel; aber
Isabellens der frühverstorbenen Nachkommenschaft
blüht noch heute auf hohem Kaiserthron.
Die burgundischen Prinzessinnen verloren als
kleine Kinder den Vater, die letzte schon vor
der Geburt, und wurden zu derselben Zeit für
immer geschieden von der unseligen, unheilbarer
Melancholie verfallenen Mutter. Aber sie hatten das
Glück, eine zweite, bessere Mutter zu finden in ihrer
Tante Margarete, der einzigen Tochter Maximilians
und Mariens von Burgund, die nach dem Tode Phi-
liberts von Savoyen mit dem Lebensglück abschlie¬
ßend, ein Vierteljahrhundert lang die schwierige Re¬
gentschaft der Niederlande führte und die künftige
Größe ihres Neffen Karl vorbereitete. Die Prinzes¬
sinnen haben der Erzieherin Ehre gemacht, auf
königlichen Thronen, in Dulden und Handeln. Die¬
selbe Politik, die Margarete schon als Kind zum
wunderlichen Spielball ehrgeiziger Projekte ausersah,
hat ihre Nichten über Reiche gesetzt, deren Umkreis
einen Augenblick von der Mündung des Tajo bis
zu den Karpathen und Finnmarken reichte, freilich
ihr Los auch zum Teil mit dem Fall dieser Reiche
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 7.
verschlungen. Denn mit dunkeln Fäden hatten die
Parzen ihre Goldreife umsponnen.
Die älteste, Eleonore, geboren den 15. November
1498, wurde als zwanzigjährige mit dem dreißig
Jahre älteren, bereits hinfälligen Emanuel von Por¬
tugal verbunden. Nach drei Jahren Witwe, versprach
sie der kaiserliche Bruder dem Connetable von
Bourbon, der vor Roms Thoren fiel. Dann hat er sie
im Vertrag von Madrid Franz 1. aufgenötigt, der
aus seiner Abneigung und Untreue kein Hehl machte.
Nach seinem Tode war ihr nur der Wunsch übrig,
mit ihrem einzigen Kinde Marie von Portugal ver¬
eint zu leben. Bloß ein Besuch von zwanzig Tagen
ward ihr vergönnt, die Trennung, die eine für
immer war, hat sie nur fünfzehn Tage überlebt.
Sie starb am 25. Februar 1558 in Talavera, in dem¬
selben Jahre folgte ihr Karl V. und ihre zweite
Schwester Maria.
Maria, geboren den 13. September 1505, waren
nur fünf glückliche Jahre an der Seite des jungen
Königs Ludwig von Ungarn beschieden gewesen,
der 1526 in der mörderischen Türkenschlacht bei
Mohacz Heer und Leben verlor. Sie wurde die Nach¬
folgerin ihrer Tante in der (achtundzwanzigjährigen)
Regentschaft der Niederlande.
Katharina, das letzte Kind Philipps des Schönen,
geboren, drei Monate nach dessen Tode, zu Torde-
sillas, dem langjährigen Witwensitz der bereits um-
nachteten Mutter, wurde dem Thron von Portugal be¬
stimmt. Sie war die schönste der vier Schwestern,
und nach dem Bildnis A. Mors von majestätischer Er¬
scheinung. Sie hat alle Geschwister und alle ihre acht
Kinder überlebt, führte nach dem Tode Johanns III.
noch fünf Jahre die Regentschaft und starb am
12. Februar des für Portugiesen schrecklichsten Jahres
ihrer Geschichte, 1578, in dem sechs Monate später
22
L62
EIN BILDNIS DER IS Aß ELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
ihr einziger Enkel, D. Sebastian, mit der Blüte des
Adels, auf dem Schlachtfeld von Alcacer-Kibir dem
maurischen Schwert erlag. Zwei Jahre später fiel das
Reich dem spanischen Philipp anheim. —
Noch mehr waren die Schicksale der zweiten
Prinzessin, Isabella, gemacht, ihr innige Sympathie
bei Zeitgenossen und Nachwelt zu erwerben. Zum
Leid der Fürstin und Gattin kam hier noch der
religiöse Zwiespalt. Sie allein von diesen wider¬
standsfähigen Naturen ist denn auch früh zusammen¬
gebrochen.
Nachdem die Für¬
sorge des Großvaters sie
schon im achten Jahre
mit Karl von Egmont,
Herzog von Geldern, be¬
droht („zu unserer Un¬
ehre und der unseres
Sohnes des Erzherzogs“
schrieb damals Marga¬
rete) und dann mit Henri
d’Albret, dem Sohne der
Erbin von Navarra, Ca-
tharine de Foix, wurde
sie im vierzehnten Jahre
an den dänischen Be¬
werber, den vierundzwan-
zigjährigen ChristiernlL,
König von Skandinavien
vergeben, dessen Gro߬
mutter, wie Maximilian
entschuldigend bemerkte,
eine Schwester Kaiser
Friedrichs III. gewesen
war. Außerdem kam man
damit den Wünschen der
niederländischen Han¬
delswelt nach guten Be¬
ziehungen zum skandi¬
navischen Norden ent¬
gegen. Christiern war seit Jahren verstrickt in die
Reize einer Holländerin bürgerlicher Herkunft,
deren kluge und thatkräftige Mutter in Haus
und Staat das Regiment führte, ja als gute Pa¬
triotin zu der Bewerbung um eine niederländische
Prinzessin geraten haben soll. Die an den Kaiser
im Jahre 1511 abgeordnete Gesandtschaft sollte um
Eleonoren anhalten, unterwegs, bei Kurfürst Friedrich
von Sachsen unterrichtet, dass diese bereits vergeben
sei, wurde Isabella an ihre Stelle gesetzt. Der König
hat sich auch nach der Verbindung mit des Kaisers
Schwester von jener Düveke nicht getrennt (sie
starb 1517). Ja die junge Königin musste froh
sein, sich mit deren Mutter Siegbret auf niederdeutsch
unterhalten zu können, und hat in delikaten Situa¬
tionen ihren Beistand nicht verschmäht. Ihre Stellung
war keine leichte an der Seite des Wüterichs, der
einmal, infolge eines tadelnden Briefes seines Schwa¬
gers, den Orden ihres Hauses, das goldene Vließ von
der Brust riss und mit Füßen trat. Er hat sich
durch seinen Kampf gegen die privilegirten Klassen
im Interesse des Bauern- und Bürgerstandes, und
durch seine Neigung zum
Protestantismus mildern¬
de Umstände bei den
Geschichtschreibern ver¬
dient; aber das Blutbad
von Stockholm (8. No¬
vember 1520) erinnert un¬
heimlich an die Methoden
Caesar Borgia’s. Als nach
dem Abfall Schwedens
auch der jütische Adel
sich erhob, trieb ihn eine
Anwandlung von Klein¬
mut — oder die Nemesis,
ohne zwingende Gründe,
sein Reich zu verlassen
(1523), um im Auslande
Hülfe zu suchen. Er ahnte
nicht, dass er seine Haupt¬
stadt erst nach neun Jah¬
ren Wiedersehen sollte,
aber dann, um sein Le¬
ben nach grausiger, sie-
benundzwanzigjähriger
Gefangenschaft in einer
Zelle des Schlosses von
Sonderburs: zu beschlie¬
EU Z AB ET DANORVM REGINA
ET, CE* ARXjHIDVXIS, AV5, ET BVR, .
Bildnis der Isabella. Gestoehen^von Jacob Bink.
ßen. Die Königin be¬
gleitete ihn damals nach
den Niederlanden mit ihren drei Kindern. Die Stände
waren ihr zugethan, vielleicht hätte sie durch Los¬
sagung von Christiern ihrem Sohne den Thron retten
können. Sie war, sagt Holberg, die vortrefflichste
Königin, die Dänemark besessen hat. Sie aber „wollte
lieber leiden, was sie könne, als fern von ihm haben,
was sie wolle“. Sie wurde das Opfer ihrer Gattentreue.
Christiern hatte seine Hoffnung gesetzt auf die
großen Verwandten, den kaiserlichen Schwager und
die Statthalterin, den Schwager Joachim von Bran¬
denburg und den Oheim Friedrich von Sachsen. Er
EIN BILDNIS DER ISABELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
163
erfüllte die europäischen Höfe mit seinen Vorstel¬
lungen und Klagen; aber seine Unternehmungen
scheiterten an Geldmangel und den widerstreiten¬
den Interessen derer, die sich für seine Wiederher¬
stellung interessirten. Das einzige, was er erreichte,
war ein Asyl in Brabant. Margarete bildete dem
flüchtigen Paare einen Hofstaat mit dem Städtchen
Lier als Wohnsitz. Dort wird noch heute het liof
van Denmarken gezeigt, den er sieben Jahre be¬
wohnt hat.
Isabella hat diese Mühen und dieses Elend drei
Jahre lang treulich mit ihm geteilt. Sie hat persön¬
lich vor dem versammel¬
ten Reichstag zu Regens¬
burg die Sache ihres
Sohnes Hans verfochten,
nicht ohne Rührung hör¬
ten die Räte sie an; ohne
sie, schrieb der sächsi¬
sche Gesandte, um Chris-
tierns willen, hätte nie¬
mand ein Pferd satteln
mögen.
Ihr schwerstes Her¬
zeleid war die Entfrem¬
dung von ihren nächsten
Verwandten, seit sie dem
Dänen auch in der Re¬
ligion gefolgt war. Ihr
Bruder Ferdinand, so wur¬
de ihr erzählt, hatte ge¬
sagt, er wolle sie lieber
ertränkt sehen, als dass
sie mit Luther verhandele.
Am Gründonnerstag 1524
hat sie auf der Burg zu
Nürnberg aus Osianders
Händen die Kommunion
unter beiderlei Gestalt empfangen. Aber sterbend
musste sie froh sein, dass die Tante Margarete an
den Kindern ihre Stelle vertreten wollte, deren vor¬
nehmste Sorge war, sie im alten Glauben erziehen
zu lassen.
Aus diesen drei Jahren des Exils besitzen wir
ein vorzügliches Bildnis Isabellens, das der Anlass
dieses Artikels ist.
Bisher waren nur minderwertige und nicht ge¬
naue Bildnisse von ihr bekannt. Von dem Kupfer¬
stecher Jakob Bink giebt es ein seltenes Blättchen
(von 1525), als Pendant zu dem Christierns; im Profil,
also wohl nach einer Medaille gemacht. Vergleicht
man aber sein großes und schön gestochenes Por¬
trät des Königs, das vielleicht auf ein Gemälde Bern¬
hard von Orley’s zurückgeht, mit der Tafel von
1515 in Kopenhagen, einem Original, so ergiebt
sich doch, dass Bink, als Stecher ohne eigenen Cha¬
rakter, Form wie Physiognomie verfehlt hat. Aus
dem länglichen Haupt, das in Zügen und Ausdruck
von Härte und Entschlossenheit spricht, Wildheit
und Grausamkeit ahnen lässt, hat er einen ziem¬
lich phlegmatischen Breitkopf gemacht. Eine zu¬
verlässige, wenn auch unbestimmte Vorstellung von
den Zügen der Königin giebt dagegen die kleine
Kopie in der Ambraser
Sammlung Erzherzog
Ferdinands '). Sie hatte
danach nicht das läng¬
liche Gesicht ihrer Brü¬
der sowie der ältesten und
jüngsten Schwester.
Die Ungunst des Ge¬
schicks hat Isabella auch
im Grabe nicht verschont.
Der verwitwete Monarch
wollte ihr in der Abtei¬
kirche St. Peter zu Gent
ein Denkmal setzen, hatte
aber nur lässige Hände
gefunden. Ein Brief in
vlämischer Sprache vom
20. August 1528 aus Lier
an den Abt von St. Peter
kündigt sein demnäch-
stiges Eintreffen in Gent
an, wo er die Arbeit in
Gang bringen will. Er
ersucht den Abt, den mit
dem Denkmal betrauten
Meister, der nach See¬
land gegangen sei, in den nächsten Wochen nach
Gent zu rufen, dieser solle den Scilcler Jennyn de Ma-
buse mitbringen, vielleicht aus Middelburg. Der Bild¬
hauer war Jan de Heere, nach dem Zeugnis des
ihm befreundeten Geschichtsschreibers Martin van
Vaernewyck, der das Denkmal (im hohen Chor) in
seiner belgischen Geschichte (1574) noch erwähnt1 2).
Es war eine marmorne Tumba mit der Statue der
1) Jahrbuch der Kunstsarmnl. d. Allerh. Kaiserhauses.
XIV. T. X. 155.
2) Martin van Vaernewyck, Die Historie van Belgis.
Ghendt 1574. F. CXIX, 4. Dess. Warachtighe Ghesciedenisse
. . . van den K. Carolus V. 15(14.
Bildnis der Isabella aus der ehemaligen Ambraser Sammlung.
22*
164
EIN BILDNIS DER ISA BELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
Königin; an der Wand darüber eine Bronzetafel mit
drei lateinischen Gedichten des Cornelis Schepper
und dem Wappen, von Engeln gehalten 1). Im Jahre
1532 war die Leiche ihres Sohnes mit der ihrigen
vereinigt worden. Wenige Jahre später, in den Re¬
ligionskriegen, wurde die Kirche verwüstet und die
Turnba zerstört (1579). Ihre Reste wurden (1600)
aus den Ruinen weggenommen und 1652 in die neue
Kirche versetzt. Im Jahre 1810 wurde die Gruft
erbrochen und geplündert, Epitaph und Wappen ge¬
raubt. Im Jahre 1814, nachdem S. Peter Pfarrkirche
geworden war, ließ der Geistliche Emilien Malingie
das Grab wieder hersteilen; 1883 ist der Staub Isa¬
bellens in die königliche Gruft zu Kopenhagen über¬
geführt worden.
Was sollte aber Mabuse bei jener Zusammen¬
kunft in Gent? Von einem gemalten Bildnis auf
dem Epitaph wird nichts berichtet. Aber er kann
an der Beratung des Planes teilgenommen haben.
Er war groß im Architekturzeichnen, das sieht man
auf mehr als einem Gemälde. Seinem alten Gönner,
dem Bischof von Utrecht, hat er selbst, mit dem ge¬
lehrten Gerhard Geldenhauer von Nimwegen ein Epi¬
taph in der Kirche zu Wyck gesetzt, auf dem sein
Name au erster Stelle steht.2) Wahrscheinlicher ist,
dass er Jan de Heere bei der Modellirung des Kopfes
des auf der Tumba ruhenden Marmorbildes helfen
sollte, da er die Königin früher porträtirt hatte.
Dass er mit den Dänen seit lange Verbindungen
hatte, ist sicher. .Jedermann kennt das Dreikinder¬
bild in Schloss Iiamptoncourt, das nicht (wie Vertue
aufgebracht) die Kinder Heinrich VII. darstellt, son¬
dern nach George Scharfs überzeugendem Nachweis 3)
die dänischen Königskinder, nämlich Hans, geboren
den 22. Februar 1519, Dorothea, geboren 1520, ver¬
mählt 1534 mit dem Pfalzgraf Friedrich bei Rhein,
und Christine, geboren den 5. Dezember 1521, ver¬
mählt den 5. Dezember 1550 mit Francesco Sforza,
Herzog von Mailand, und dann mit Herzog Franz 1.
von Lothringen. Das Zeugnis des Katalogs Hein¬
richs VIII. von 1542 ist schlagend4), und für die aller¬
1) Mitgeteilt von J. F. Willems im Belgischen Museum
1, Gent 1838, nach einer alten Zeichnung und dem Holz-
ohnitt hei Vaernewyck. Ebenda der Brief Christierns.
2) Mitgeteilt von Gerhard von Nimwegen, dem Almose¬
nier, Lektor und Sekretär Philipps, der später zum Prote-
-tanti-inu- »bortrat, und Professor an der Universität Marburg
wurde, in: Vita Philipp] a Burgundia. Marpurgi 1542.
3) Archreologia, Vol. XXXIX. London 1800.
4) A table with the poitraits of the tbree children of
the Kynge of Denmark, with a curtain of white ad yellow
-arcenette paned together. Der Katalog der Tudorausstel-
dings auffallende Thatsache, dass in England nicht
weniger als vier alte Kopien, im Ausland keine,
Vorkommen, giebt es eine genügende Erklärung.
Das Bild war sehr früh nach England gekommen.
Niemand konnte es ohne Interesse und Rührung be¬
trachten. Diese Kinder hatten in demselben Alter
ihre Mutter verloren; der vielversprechende Knabe,
der Thronerbe, ward in der Fremde vierzehn Jahre
alt dahingerafft; er starb am 10. August 1532 zu
Regensburg, zwei Wochen nach des Vaters verräteri¬
scher Gefangensetzung. Das jüngste Mädchen aber war
eine gefeierte Schönheit geworden, an der sogar der
Kelch, den Thron Heinrichs VIII. zu teilen, vorüberge¬
gangen ist. Aber auch als namenloses Kinderbild
würde diese Tafel beachtens wert sein. Die überaus
treue, an Nüchternheit streifende Naivetät in der
Auffassung dieser charaktervollen, zur Zeit keines¬
wegs hübschen Kinderköpfe, die wohl jeder andere
verschönernd geglättet hätte, übt noch heute einen
seltenen Reiz, neben dem sogar die berühmten Königs¬
kinder van Dycks verlieren würden. Es fehlt nicht an
englischen Zeugnissen aus der Zeit des Bildes von
dem Eindruck, den diese Kinder machten, z. B. in
Wingfield’s Schreiben an Wolsey. 4)
Die Urheberschaft Mabuse’s, schon Karl van
Mander bekannt, ist so augenfällig, dass man sogar
im 17. Jahrhundert, bei Aufstellung des Katalogs
der königlichen Bilder unter dem Commonwealth (1651)
auf diesen Namen gekommen ist, den man damals
an die Stelle des Klassennamens Jennet setzte.
Es wurden £ 10 dafür gezahlt Man erkennt
Mabuse an dem festen scharfen Kontur und an
den durch Reflexe erhellten Schatten der grauen
Carnation, die so völlig des Fleischtons entbehrt,
dass man wohl ein Unterbleiben der beabsichtigten
Lasuren annehmen muss. Die Gleichheit der Manier
wird besonders einleuchtend, wenn man den Mädchen¬
kopf rechts mit dem des Kindes in der Carondolet-
Madonna des Louvre zusammenhält.
Christiern hatte bald nach seiner Ankunft in den
Niederlanden mit Isabella eine Reise nach England
unternommen, um Heinrich VIII. und Jakob V. von
Schottland für seine Pläne zu gewinnen. Er landete
am 15. Juni 1523 in Dover und wohnte zweiundzwan¬
zig Tage im Palast des Bischofs von Bath in London.
lung ist unkritisch genug zu der alten Benennung zurück¬
gekehrt.
1) Sir Robert Wingfield schreibt den 14. März 1525 aus
Mecheln, wo er sie bei Margarete sah, an Wolsey: Which
be right goodly and fair children, specially the daughters.
Calendar of State Papers. Henry VIII. Vol. IV. P. I. 2025.
EIN BILDNIS DER ISABELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
165
Die Annahme indes, dass das Bild damals von Ma-
buse in England gemalt sei, ist nicht haltbar, da
die Kinder, als die Eltern am 5. Juni in Calais
unter Segel gingen, zurückgeblieben waren, „es gab
beim Abschied viel Wehmut und Thränen“.
Die Aufnahme muss also in den Niederlanden,
zwischen 1523 und 1526 gemacht sein, wahrschein¬
lich im Auftrag ihrer Großtante Margarete, vor dem
Tod der Mutter. Die Anwesenheit der Kinder dort
des berühmten Malers, gewiss eine bloße Gefällig¬
keit, setzt wohl interessantere Aufträge voraus.
Margarete fasste nach der Mutter Tode den Ent¬
schluss, die Kinder an sich zu nehmen. Als sie
hörte, dass Christiern in seine armselige Residenz
zurückgekehrt war und damit umgehe, die Kinder
zum Herzog Erich von Braunschweig zu bringen,
ist sie sofort nach Lier gefahren und hat ihm eine
Übereinkunft abgerungen, wie sie sagt, pour par
Die dänischen Königskinder. Gemälde Malsuse’s in Hamptoncourt.
konnte ja damals nur für vorübergehend gelten. In
der hübschen Anordnung glaubt man die weibliche
Hand zu erkennen. Die Verhältnisse des Hofs in
Lier waren so, dass man nicht viel an Aufträge bei
anspruchsvollen Malern denken konnte. Die Königin
hat gelegentlich den Kindern Kleider aus des Vaters
Röcken selbst geschneidert, und die Schmucksachen
nicht nur, auch das Spielzeug der Kinder wanderte
ins Pfandhaus. Dagegen war Mabuse nachweislich
1524 zwei Wochen in Mecheln, um Gemälde für die
Regentin zu restauriren. Eine solche Beschäftigung
voye amiable reeouvrer les enfants en mes mains
(6. März 1528). Sie schreibt an ihren kaiserlichen
Neffen: „Ihr müsst ihnen nun Vater und Mutter
sein und sie zu Euren eigenen Kindern machen.“
Sie wählte Agrippa von Nettesheim zu ihrem Er¬
zieher. Vielleicht hat sie dem Vater damals das
Bild als Trost überlassen. Es wäre dann bei dessen
unglücklicher Expedition nach Dänemark (1531) in
Lier zurückgeblieben und etwa von dem englischen
Gesandten erworben worden. Denkbar ist indes' auch,
dass Christiern es schon früher an Heinrich VJJ1.
1G6
EIN BILDNIS DER ISA BELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
gesandt hätte, um für seine Sache, die ja auch die
des Sohnes war, Stimmung zu machen.
Das Mailänder Gemälde.
Der Verfasser sah das hier in Heliogravüre !) ver¬
öffentlichte Gemälde zuerst am 9. März 1885, in
Gesellschaft des verewigten Senators Morelli, der
ihm das in der Casa Cereda entdeckte Bildchen
des bisher in Italien unbekannten Leonardesken
Malers Francisco Napolitano zeigen wollte. Die
in jener Umgebung so fremd dreinschauende Dame
kam hei dieser Betrachtung etwas zerstreuend da¬
zwischen. Physiognomie, Tracht, Auffassung, Stil
der Zeichnung, Malweise, der grüne Grund, alles er¬
weckte Erinnerungen an manche in der Ferne zer¬
streute, interessante, rätselhafte Bildnisse.
Alle diese Bildnisse hießen damals Clouet, aber
dieser Name bedeutete ja wenig mehr als eine
Standesperson vom Hofe der Valois. In Paris habe
ich die Dame gelegentlich gesucht, auch die Pho¬
tographie dortigen Kennern gezeigt. Alle meinten,
dass sie keine Französin sein könne, kein Clouet, sie
nannten wohl den angeblichen, von Guicciardini nach
Paris gebrachten Josse van Cleve.
Die Tafel wurde im ,, Cicerone“ seit 1885 dem
Meister des Marientods zugeschrieben. Indes die kalte
pastose verschmolzene Malweise, bei scharfen Kon¬
turen, passte zu diesem ebensowenig, wie die gleich¬
gültige fast impassible Ruhe des Gesichts. Dass der
Typus deutsch, österreichisch sei, wurde in Paris
ebenfalls vermutet. Der neueste „Cicerone“ hat sie
auch bereits, in richtiger Bemerkung des Familien-
charakters, Margareta von Österreich getauft. Allein
die Tochter Maximilians hat nach dem ganz sicheren,
wenn auch nicht Original -Bildnis, das wohl auf
Orley zurückgeht, in Antwerpen und Ilamptoncourt,
eine entschieden längliche Gesichtsform, näher bei¬
sammen stellende Augen und vortretenden Unter¬
kiefer. Da sie nach dem Tode Philiberts von Sa¬
voyen stets den Witwenschleier trug, müsste dies
decolletirte Bildnis vor 1504 fallen. Das Lebensalter
würde wohl passen, aber nicht das Kostüm.
Dies Zwielicht wurde Tag, vor jener Gruppe der
dänischen Königskinder, im Schlosse Wolsey’s. Die
Ähnlichkeit war frappant, besonders die des jüngsten
Töehterchens (die Unterlippe!), aber auch des Knaben
(die Nase!). In der kleinen Christine ist die Über¬
einstimmung sogar im Zufälligen beabsichtigt worden;
Haltung und Bewegung der Hände, das Häubchen,
1) Nach derPbotographie von Pagliano eRicordiin Mailand.
der Wurf des Hermelinpelzes über Schulter und Arm,
ist dem Bildnis der Mutter möglichst nahe gerückt.
In der Beschreibung eines im Guardajoyas Philipps II.
befindlichen Porträts der Isabella kommt auch die
schwarze Haube vor. p
Die Provenienz des Mailänder Bildes ist nicht
bekannt. Aber da die kleine Christine später Her¬
zogin von Mailand geworden ist, so kann sie es
wohl gar gewesen sein, die das Bildnis der Mutter
mit über die Alpen genommen hat.
Dasselbe Kinderbild führte auch auf den Meister.
Der Name Mabuse, in dem „Cicerone“ von 1893 be¬
reits an die Stelle des Meisters des Marientods gesetzt,
wird, einmal ausgesprochen, allgemeine Zustimmung
finden. Die Übereinstimmung in der Malweise kann
nicht schlagender sein.
Als Hausgenosse und Freund des Bastards
Philipp von Burgund hatte er schon im Jahre 1514
Gelegenheit gehabt, die damals noch blutjunge
Königin kennen zu lernen, als sie nach der in Brüs¬
sel vollzogenen Trauung durch Vollmacht, von dem
Admiral Hollands mit glänzendem Gefolge, darunter
dessen Bruder Baudouin von Lille, nach der nor¬
dischen Hauptstadt geleitet wurde. Schiffskapitän
war derselbe berühmte Seefahrer Jan Cornelisz Hubert,
der auch ihren Vater Philipp den Schönen 1506
nach Spanien gefahren hatte, und bald darauf den
neuen König von Kastilien Karl desselben Wegs
führte. Sehr wahrscheinlich hat der Admiral auch
seinen Leibmaler mitgenommen. Die Jahreszahl auf
dem Bildnis Christierns II. in der Galerie zu Kopen¬
hagen, 1515 (in dem der König nicht aus Dänemark
herausgekommen ist), würde dies beweisen, wenn
jenes Bildnis wirklich von Mabuse wäre. Die
äußerst zarte, wie polirte Malerei, mit der sich
doch die Linien despotischer Härte und ungebän-
digter Wildheit so trefflich vertragen, passt auf
ihn. Die Königin hat er natürlich erst nach
der Rückkehr in ihre Heimat gemalt. Das irrende
Paar brachte 1523 die erste Woche nach einer
stürmischen Seefahrt zu Veere auf der Insel Wal¬
ch eren zu, unter dem Dach eines andern Bastards
von Burgund, Adolphs Herren von Beveren, des
Enkels des berühmten Anton, und jetzt Nachfolgers
des zum Bischof von Utrecht erwählten Philipp in
der Admirals würde. Wir finden ihn später in der
Nähe Christierns, und auch als Gönner Mabuse’s, den
er nach Middelburg lud.
1) Im Inventar Philipp II. Un retrato de la Reina de
Dinamarca, vestida de negro con gorra negra y un pafiicuelo
en las manos y sarta al cuello. y2 vara hoch, '/3 v. 3 dedos breit.
EIN BILDNIS DER ISABELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
167
Mabuse erscheint hier als Mitbewerber Bernhard
von Orley’s, des Malers Margareta’s. Denn Orley
hatte schon 1515 sämtliche sechs Kinder Philipp’s
des Schönen gemalt, welche Bilder später Christi ern
geschenkt wurden; ferner 1516 die beiden ältesten,
Eleonore und Karl, und dann Christiern mit Isabella
als Braut in einem Diptychon. ') Kleine Bildnisse der
burgundischen Prinzessinnen in diesem Alter sind
in Hamptoncourt Lucas Cornelis genannt; Nr. 564
gilt als Bildnis Isabellens. Auch Philipp IV. hatte
in seinem Schlosse zu Madrid (1636) eine längliche
Tafel, mit den Bildnissen der Königinnen Isabella !
von Dänemark, [Eleonore
oder Katharina] von Portu¬
gal und [Katharina] von Eng¬
land.
Das Bildnis der Königin
Eleonore.
In der South Galerie
zu Hamptoncourt sieht man
eine Anzahl merkwürdiger,
zum Teil noch unaufge¬
klärter Bildnisse aus dem
Kreise, in dem wir uns hier
bewegen. Das bekannte ist
das der ältesten Schwester
Isabellens, Eleonore, mit dem
spanisch überschriebenen
Brief in der Hand, als Köni¬
gin von Frankreich, also
zwischen 1530 und 47 gemalt.
Die Tafel erzählt von
ihrem Los. Das muss man
im Auge haben, um sie rich¬
tig zu beurteilen. Als drei-
undzwanzigjährige Witwe
eines Greises, sah sie sich
damals an der Seite des für Frauen bestrickenden
Königs, der aber die Verbindung mit ihr offen ver¬
wünschte, und bei ihrem Einzug in Paris in offenem
Jenster mit der Herzogin von Etampes sich zeigte.1 2)
Wo ist das heitere Kind geblieben mit den rosigen
Wangen und roten Lippen, deren Augen, die stets zu
lachen schienen, einst zärtlich dem blonden Pfalz¬
graf Friedrich II. folgten.3) Es ist etwas in dem
Cliristiern II. von Dänemark.
Gemälde in der Königlichen Galerie in Kopenhagen.
1) A. Wauters, Bernard von Orley. Paris, p. 12.
2) II en medissoit fort l’alliance, ainsi que j’ay ouy dire.
Brantöme ed. Lalanne IX, 621.
3) Huberti Thomae Leodii Annalium Frederici II. Palat.
Elect. L. X1Y. p. 50 ff.
noch jugendlichen Gesicht von der „melancholischen
Blässe“ und Starrheit, die oft schwere Erfahrungen
zurücklassen.
Dass es eine Königin von Frankreich ist, war ge¬
wiss der Grund, die Namen Leonardo und Clouet auf
sie zu übertragen, der auch bis heute an ihr haftet.
Mrs. Jameson freilich fand hier eine ungezwungene
Natur, ein Leben, eine königliche Grazie, eine Kraft
und Harmonie der Farbe, eine roundness of effect, die
das Beste was sie von ,Jeannet‘ sonst gesehen, weit
überrage. ’) Dies Lob scheint etwas stark gefärbt;
aber es dürfte doch schwer halten, in der Masse
der mit mehr oder weniger
Recht den Clouets zu ge¬
schriebenen Bildnisse ein ein¬
ziges nachzuweisen, das die¬
selbe Hand verriete. Denn
das schöne und sprechende
der Schwester Franz' I., Mar¬
gareta von Valois, im Muse¬
um von Liverpool, zeigt ge¬
nauer besehen, eine ganz
abweichende Malführung.
Sollte man nun einen so
ausgezeichneten Porträtirer
am französischen Hof, wo
kein Überfluss an guten Ma¬
lern war, so wenig in An¬
spruch genommen haben?
In dem von Lord Gower her¬
ausgegebenen Clouet- Album,
früher in Castle Howard, jetzt
beim Duc d’Aumale, begeg¬
nen wir drei Bildern Eleo¬
norens, einmal als Witwe,
zweimal als Königin in ver¬
schiedenem Alter. Beide sind
von dem vorigen abweichend.
Hätte dieses sich dort befunden, der Zeichner würde es
gewiss nicht übersehen haben.2) Wie sollte ferner ein
französischer Hofmaler seiner Königin einen Brief mit
spanischer Adresse in die Hand gegeben haben, —
die auf den alten Repliken standhaft wiederkehrt!
Bekannt sind wohl italienische Sympathien Franz’ I.
und seines Hofes, aber Spanien hat er hauptsächlich
von dem Turmfenster des Alcazar in Madrid herab
kennen gelernt. Und hier ist gar aus dem Porträt
1) Jameson, A handbook to the [public Galleries etc.
Vol I, 292. London 1842.
2) Es ist hier nicht der Ort, den Nachweis zu führen,
dass diese Skizzen nicht alle nach dem Leben gemacht sind.
/
16S
EIN BILDNIS DER ISABELLA YON ÖSTERREICH VON MABUSE.
seiner Frau ein Dokument ihrer Correspondenz mit
Spaniern gemacht. Selbst ihr Bruder Karl V. schrieb
an sie französisch: A Madame ma meilleur Soenr.
Das Bildnis kann also wohl nur im Auftrag und für
Mitglieder des spanisch - habsburgischen Hauses ge¬
macht sein; in Spanien befindet sich auch noch eine
kleine Wiederholung.
Das Exemplar in Hamptoncourt hat gelitten
und erscheint im Gesicht etwas stumpf. Besser er¬
halten war die kleine Wiederholung in der Samm¬
lung Minutoli, die der Verfasser 1S84 im Berliner
Museum sah. Sie ist als Heliogravüre in dieser
Zeitschrift veröffentlicht worden.2) Man hat damals
mit richtigem Blick den niederländischen Charakter
erkannt; nannte auch den Namen Goßart, entschied
sich aber für Bernhard von Orley. Die Ähnlich¬
keit mit der Figur in dem dritten Fenster von Ste-
Gudule zu Brüssel, dem einzigen, das Orley ausge¬
führt hat, liegt jedoch mehr im Kostüm. Der Maler,
der jenes englische Porträt gemacht, kann ihr
schwerlich diese lange, schmale, oben scharf ge¬
krümmte Nase verliehen haben. Orley hatte sie seit
jener Aufnahme als junges Mädchen nicht wieder
gesehen. Er mag die Absicht gehabt haben, der
pomphaften Figur am Betpult reifere, entschiedenere
Züge zu geben. Die Entscheidung zwischen ihm und
Mabuse ist an sich nicht leicht. Seine Malweise nähert
sich in den zwanziger Jahren der seines Neben¬
buhlers, besonders in dem hellgrauen Ton der Frauen¬
gesichter. Indess ist in dem Bildnis ein stilvoller
Zug in Linien und Pose, den man bei dem hierin
sehr unbefangenen Orley nicht gewohnt ist. Da
wirft nun das Mailänder Bildnis ein Gewicht in die
Wagschale zu Gunsten Mabuse’s, der sie übrigens
ebenfalls schon im Jahre 1516 für den Bruder ge¬
malt hatte.3) Sähe man beide nebeneinander, man
1 Im Besitz des General Romualdo Nogues, ausgestellt
auf <1<t Kxposicion bistorico - europea zu Madrid, 1892, als
.1. Clouet. Eine andere Copie, bei Bernal, kam 1855 für
£ 225 an den Herzog von Aumale.
2) Jahrgang 1886, S. 322. Der Bericht von II. Thode.
3) I’inchart, Archives etc. T. I, p. 180.
würde wohl kaum an der Selbigkeit der Hand
zweifeln.
Einige Verlegenheit bereitet nur das Wann und
Wo des Porträts. Eleonore ist nach dem Tode
Emanuels nicht nach den Niederlanden zurückge¬
kehrt, sie verliess Spanien erst als Braut Franz’ I;
am 5. März 1531 fand ihre Krönung in St. Denis
statt. Der Krieg zwischen Gemahl und Bruder
schloss zunächst einen Besuch in ihrem Geburtslande
aus. Indes ist die bedenkliche Annahme einer Pa¬
riser Reise Mabuse’s nicht nöthig.
Nach Margarethens Tode (30. November 1530)
hatte ihre Nichte Maria von Ungarn die Regent¬
schaft übernommen; sie hegte die lebhafteste Sehn¬
sucht, nach dreizehn langen schicksalreichen Jahren
die Schwester, die ihr kränkelnd und unglücklich
geschildert wurde, wiederzusehen. Seit 1531 wurde
über eine Zusammenkunft in der Picardie oder
Champagne verhandelt. Am 27. November des
folgenden Jahres schreibt sie an den Kaiser: es sei
eines ihrer größten Verlangen auf dieser Welt,
Eleonoren wiederzusehen. Obwohl der Besuch ein
rein, freund-verwandtschaftlicher sein sollte, ohne
politische Hintergedanken, wollten Franz ■ I. und
Karl V. nichts davon wissen. Erst am 16. August
1535 kam er zustande, in Cambrai; er währte bis
zum 24. Mit der Königin kamen ihre Stieftöchter
und die Schwiegertochter Franz’ I., Madame von
Vendöme, die Cardinäle von Bourbon und Tournon,
Philipp de Chabot, Admiral von Frankreich, John
Stuart, Herzog von Albany und die Gemahlin Hein¬
richs von Nassau, Dona Mencia de Mendoza. Da
nichts dafür sprach, dass dieser Besuch sich wieder¬
holen könne, so mag die Statthalterin die Gelegen¬
heit benutzt haben, sich ein Bildnis der geliebten
Schwester zu verschaffen. In ihrem Nachlass fanden
sich mehrere, freilich aus ihren Witwenjahren; eines
von Antonis Mor, und eine Halbfigur in Marmor
von Jakob du Broeucq, die jetzt im Prado-Museum
zu Madrid aufgestellt ist. Auch Leone Leoni hat sie
ihre Bronzebüste aufgetragen, die nebst anderen der
Sippe einst das Schloss Binz schmückte.
(Schluss folgt.)
ARTHUR VOLKMANN.
MIT ABBILDUNGEN.
Arthur Yolkmann.
Als Hans von Marees am
5. Juni 1S87 in Rom gestor¬
ben war und auf dem stillen
protestantischen Friedhof an
der Pyramide des Cestius
seine letzte Ruhestätte ge¬
funden hatte, da erhielt den
Auftrag, das Grabdenkmal
des Verstorbenen zu fertigen, einer seiner Lieblings¬
schüler, der Bildhauer Arthur Volkmann. Denn
Marees hatte in Rom trotz seiner Zurückgezogenheit
einen Kreis dankbarer und lernbegieriger Schüler
um sich versammelt, denen er in seiner feinen und
liebenswürdigen Weise Gelegenheit gab, in den Ent¬
wicklungsgang eines wahren Künstlers einen Einblick
zu thun. Durch sein Beispiel, durch seine Art zu
arbeiten und durch kurze belehrende Bemerkungen
übte Marees auf seine getreuen Jünger den nach¬
haltigsten Einfluss aus. Ein treffliches Bild dieser
Lehrmethode, die vielleicht niemals akademisch war,
hat Karl von Pidoll in seiner Schrift: „Aus der
Werkstatt eines Künstlers“ gegeben und die Vor¬
schriften Marees’ in die Worte: „Sehen lernen ist
alles!“ zusammengefasst. Und wo kann ein Künstler
dieses „Sehen“ besser erlernen als unter den Kunst¬
schätzen Roms und in dessen herrlichen Umgebungen?
Darin liegt das alte Geheimnis jener Sehnsucht der
bildenden Künstler nach der ewigen Stadt, und es
bedarf nicht erst des Zaubertrankes aus der Fontana
di Trevi, um jenem unwiderstehlichen Zuge, dorthin
zurückzukehren, Folge zu leisten. Am besten ist es
ja wohl, seinen Wohnsitz für immer in Rom auf¬
zuschlagen und hier zu arbeiten, bis dass der Todes-
eugel die Fackel zur Erde kehrt.
Unter den deutschen Künstlern, die in neuerer
Zeit in Rom ihren dauernden Aufenthalt gefunden
haben, nimmt Arthur Volkmann eine hervorragende
Stellung ein. Seit dem Dezember 1876 wohnt er in
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 7.
Rom und hat seit dieser Zeit fleißig gearbeitet, sodass
er durch seine Werke in immer weiteren Kreisen be¬
kannt geworden ist. Volkmann wurde 1851 in Leipzig
geboren, wo sein Vater ein angesehener und viel¬
beschäftigter Rechtsanwalt war. Dieser sah es nicht
ungern, dass der Knabe eitrigst zeichnete und da¬
neben allerlei Figuren in Wachs und Thon zu mo-
delliren suchte. Auch als Thomasschüler übte er
jene Fertigkeiten, ohne dabei die humanistischen
Studien zu vernachlässigen. Die Werke griechischer
und römischer Litteratur, welche er als reiferer
Gymnasiast kennen lernte, machten durch ihre Schön¬
heit auf ihn einen so tiefen Eindruck, dass man den¬
selben ohne Mühe in Volkmanns späteren Arbeiten
empfindet. 1870 verließ er als Primaner die Thomas¬
schule, da er sich entschlossen hatte, Bildhauer zu wer¬
den. Zuerst besuchte er die Leipziger Kunstakademie,
blieb aber hier nur drei Monate, dann ging er uacli
Dresden und wurde Julius Hähnel’s Schüler. Aber
auch hier fand er nicht die rechte innere Befrie¬
digung, und so kam er 1873 nach Berlin, wo er von
Albert Wolff als Schüler angenommen wurde. Durch
rastlosen Fleiß, der durch natürliche Anlagen unter¬
stützt wurde, errang Volkmann 1875 bei der aka¬
demischen Konkurrenz in Dresden den ersten Preis
und das damit verbundene Reisestipendium, um in
Italien seine Studien fortzusetzen. Er hatte das
Gipsmodell einer lebensgroßen Figur, welche einen
Germanen auf der Eberjagd darstellt, angefertigt.
Diese Arbeit kaufte das Leipziger Museum an. Es
ist eine jugendlich frische, elastisch bewegte Gestalt,
deren Formen lebensvoll durchgebildet sind. So kam
Volkmann Ende des Jahres 1876 nach Rom und hat
es seit dieser Zeit nur mit kurzen Unterbrechungen
verlassen. Hier begann für ihn die eigentliche Aus¬
bildung als Künstler; denn alles, was er vor seiner
Ankunft in Rom geschaffen hat, schätzt er selbst
sehr gering. Bei seiner weiteren Entwicklung als
23
170
ARTHUR VOLKMANN.
Bildhauer war ihm der rege, freundschaftliche Ver¬
kehr mit Hans von Marees von größtem Vorteil.
Oftmals saß er in dessen Atelier, sah ihm beim
Malen zu, mischte ihm die Farben und lauschte den
kurzen und für ihn doch so wichtigen Bemerkungen.
Da erweiterte er seinen Blick und bemühte sich
„sehen“ zu lernen.
Das erste Werk in Rom zeigt den Weg, den
der junge Künstler einschlagen will. Er fertigt eine
männliche Hermen-
sänle in Marmor,
ohne dabei eine der
zahlreichen antiken
Hermen in den
römischen Samm¬
lungen als Vorbild
zu benutzen, ja je
weniger er die Alten
irgendwie nachzu¬
ahmen suchte, um
so näher kam er
ihnen. Der kunst¬
sinnige Freund Ma¬
rees’, Dr. Fiedler in
München, erwarb
diese erste römische
Arbeit. Zu gleicher
Zeit mit der Herme
fertigte er eine
kleine Bronzefigur:
Der Bogenschütze,
welche sein Vetter,
der berühmte Chir¬
urg Richard von
Volkmann in Halle,
in seinen Besitz
brachte. Eine Wie¬
derholung dieser
Figur befindet sich
im Albertinum zu
Dresden. Richard von Volkmann erwarb auch die
nächsten Arbeiten, eine weibliche Hermensäule in
Marmor und einen Hermes in Bronze. Durch diese
Arbeiten wurde Volkmann bekannter und erhielt
verschiedene Aufträge, Porträtbüsten anzufertigen.
Bei der Büste des berühmten Leipziger Kanzel¬
redners Ahlfeld hat er wohl zum erstenmal ver¬
sucht. den Marmor leicht zu tönen. Entschiedener
hat er dann diese Abtönung des Marmors durch¬
geführt bei der Idealbüste einer Römerin, die für
die National-Galerie in Berlin angekauft wurde. Da
Volkmann glaubte, durch das Beizen des Marmors
der Natur näher zu kommen, und da es ihm klar
war, dass auch die Alten ihre Statuen bemalt hatten,
so studierte er jetzt eifrig die polychrome Technik.
Erbemühte sich dieselbe bei seinen späteren Marmor¬
arbeiten an zu wenden und hat ihr durch sein Vor¬
gehen die berechtigte Geltung und Anerkennung ver¬
schafft. Aber nicht nur Figuren und Büsten be¬
malte er, sondern auch Reliefs. Volkmann bevorzugt
das flache Relief
und malt den Hin¬
tergrund meistens
in einem hellen
Blau, von dem sich
die Figuren, gleich¬
falls zart bemalt,
scharf abheben. So
die als Fragmente
behandelten Re¬
liefs: Jüngling ne¬
ben seinem Pferd,
dann ein weiblicher
Kopf mit einem
Olivenzweig, weiter
ein männlicherKopf
mit einem Lorbeer¬
kranz. Zwei weib¬
liche Hermensäu¬
len, die in der Al-
bers’schen Villa in
Steglitz bei Berlin
aufgestellt wurden,
hat Professor Prell
bemalt. Ebender¬
selbe Künstler be¬
malte auch das in
Dresden befind¬
liche Relief: Eva.
Kleinere Arbeiten
V olkmanns können
hier unerwähnt bleiben. Hervorzuheben ist jedoch
ein Bacchus, eine lebensgroße Jünglingsgestalt in
Marmor, in der linken Hand eine Schale haltend,
in der rechten eine Weintraube. Auch bei dieser
Figur ist die Polychromie angewandt, allerdings nur
in sehr zarter Weise. Dieses Werk, im Breslauer
Museum befindlich, gilt mit Recht als eine der be¬
deutendsten Arbeiten unseres Künstlers. Durch den
Bacchus wurde Volkmann auch mit dem Bildhauer
Adolf Hildebrand näher bekannt und später eng be¬
freundet. Hildebrand war nach Marees’ Tode nach
Arna/.one, ihr Pferd tränkend; Marmorrelief von A. Volkmann.
ARTHUR VOLKMANN.
171
Rom gekommen, um in Gemeinschaft mit Dr. Fiedler
dessen Nachlass zu ordnen. Beide veranlassten Volk¬
mann, das Grabdenkmal Marees’ zu fertigen. Dieses
ist in der Art einer attischen Grabstele gedacht und
mit einem Relief geschmückt, welches uns den Ver¬
storbenen in antiker Tracht zeigt; er wird von dem
Genius des Todes, der
durch einen nackten,
jugendfrischen Knaben
dargestellt ist, einer
jugendlichen weib¬
lichen Gestalt zuge¬
führt, die ihm die
Rechte reicht, mit der
linken Hand ihm aber
einen Lorbeerkranz auf
das Haupt zu setzen
im Begriff ist. Die bei¬
den Hauptfiguren sind
im Profil dargestellt,
der Knabe wendet dem
Beschauer sein Ange¬
sicht voll zu. Als In¬
schrift lesen wir nur:
Hans von Marees 1837
bis 1887. Über dem
Relief ist ein Kreuz,
das der Künstler aber
durch das Familien¬
wappen Marees’ zu er¬
setzen beabsichtigt.
Hier mögen noch einige
von Volkmann gefer¬
tigte Grabdenkmäler
erwähnt werden : zu¬
nächst das seiner El¬
tern auf dem Leipziger
Friedhof, ein Rundbild
mit den Porträtköpfen
der Verstorbenen; dann
das des berühmten
Theologen, des Geh.
Kirchenrates Hase und
seiner Gemahlin auf
dem Friedhof zu Jena. Auch hier hat Volkmann das
Rundbild gewählt, und zwar hat er ein römisches Grab¬
relief als Vorbild genommen, das sich in der vatikani¬
schen Antikensammlung befindet und früher wohl als
Cato und Porcia bezeichnet wurde. (Sala deibusti, Nr.
388.) Eine Wiederholung dieses antiken Reliefs von der
Meisterhand Rauch’s schmückt das Grab Niebuhr’s
in Bonn. Endlich noch ein Reliefporträt des jung
verstorbenen Töchterchens des bekannten Kunst¬
historikers W. von Seidlitz, der in der Zeitschrift:
„Die Kunst für Alle“, 6. Jahrgang, Seite 161 — 163
in liebevoller Weise des Künstlers Thätigkeit ge¬
schildert hat. Dieser Artikel ist bei der vorliegenden
Arbeitmit benutzt wor¬
den; das dankend zu
erwähnen, soll nicht
vergessen werden.
Alle erwähnten
Reliefs sind in Mar¬
morgearbeitet, daVolk-
mann dieses Material
besonders begünstigt.
Dass er auch in Bronze
arbeitet, ist schon ge¬
sagt worden; andere
Bronzefiguren von ihm
sind: „Marianna“, eine
weibliche Büste, versil¬
bert, im Besitz des Prof.
Prell in Dresden, dann
ein Psyche, weiter Ga¬
nymed, eine kleine
Figur im Besitz des
Dr. Fiedler in München,
eine Reiterfigur, eine
jugendliche Mädchen¬
gestalt mit Spiegel im
Besitze des Hrn. Ciclio-
riusin Leipzig. In Volk¬
manns Atelier sind auch
noch mehrere Ent¬
würfe für Bronzearbei¬
ten, ein prächtiger alter
Silen auf dem Esel
reitend, dann Telema-
chos von zwei Hunden
begleitet.
Kurz nach dem
Tode des Geh. Rates
Richard von Volkmann
in Halle beschlossen die
Freunde und Verehrer des im kräftigen Mannesalter
verstorbenen Gelehrten, der Nachwelt sein Bild in Mar¬
mor zu überliefern und beauftragten unseren Künstler
mit der Ausführung dieser Aufgabe. Allerdings war
Arthur Volkmann besonders geeignet, diesem Mann
ein würdiges Denkmal zu schaffen, da er, durch Ver¬
wandtschaft mit ihm verknüpft, in engem Verkehr
23*
Grabdenkmal für Hans von Maries von A. Voi.kmann.
172
ARTHUR VOLKMANN.
mit ihm gestanden hatte. Die beiden Vettern waren
geistig verwandte Naturen, und trotz des Altersunter¬
schiedes herrschte zwischen ihnen ein edler Freund¬
schaftsbund. Richard von Volkmann war ja nicht
nur der geschickte Chirurg und der berühmte Ge¬
lehrte, sondern auch der feinsinnige Dichter und
der gemütvolle Märchenerzähler. So ist es leicht
erklärlich, dass der dichtende und bildende Künstler
sich zu einander hingezogen fühlten. Richard von
Volkmann weilte bei seinem wiederholten Aufent¬
halt in Rom gern in sei¬
nes Vetters Atelier und
verfolgte dessen künst¬
lerische Entwicklung mit
inniger Teilnahme. Schon
früher hatte Arthur Volk¬
mann den Kopf seines
Vetters modellirt, und
diese Vorarbeit war ihm
bei der jetzigen Aufgabe
von großem Nutzen. Ende
1890 war der Entwurf zu
diesem Denkmal vollen¬
det und wurde nun dem
Hallischen Denkmal-
comite zur Beurteilung
übersandt. Leider fand
dieser erste Entwurf nicht
den Beifall der Hallischen
Kunstverständigen. Volk¬
mann hat den Entwurf an
eine Wand seines Ateliers
in Rom in großen Um¬
rissen mit Kohle hinge¬
zeichnet; so sah ihn der
Schreiber dieser Zeilen.
Auf einer schlichten atti¬
schen Hermensäule er¬
hebt sich der Porträtkopf
Richard von Volkmanns, vor der Säule sitzt ein
Knabe mit einem Buche, auf dem man den Namen
Leander liest, zur Linken der Herme steht die lebens¬
große Gestalt des Asklepios, zur Rechten die der
Mnemosyne. Volkmanns Kopf tritt dem Beschauer
packend entgegen, man fühlt unwillkürlich, dass
man dem Bilde eines bedeutenden Mannes gegen¬
übersteht! Die antiken Nebenfiguren, kleiner als die
Herme, verherrlichen in einfacher Weise Volkmanns
Thätigkeit als Arzt und Dichter. Dieser Entwurf
also wurde von der Mehrheit des Comites zurück¬
gewiesen. Der Künstler wurde aufgefordert, einen
neuen Plan anzufertigen und sich dabei mehr an
den herkömmlichen Denkmalstil zu halten. Volk¬
mann empfand dieses Urteil sehr schmerzlich, da er
sich mit vollem Rechte sagen konnte, nicht nur etwas
Eigentümliches, sondern auch etwas Schönes ge¬
schaffen zu haben. Aber auch in dem neuen Ent¬
würfe suchte er seiner Aufgabe gerecht zu werden.
Ob es ihm so wie bei dem ersten Entwurf geglückt
ist, ist eine andere Frage. Richard von Volkmann
ist sitzend dargestellt, überlebensgroß; in der rechten
Hand, welche sich leicht
auf die Lehne des Sessels
stützt, hält er eine halb¬
geöffnete Schriftrolle, die
Linke ruht auf dem vor¬
gestreckten Bein. Von
der Schulter fällt ein
schwerer Mantel herab,
der den Unterkörper ver¬
deckt und nur den linken
Fuß zum Teil frei lässt.
Der unbedeckte Kopf ist
von großer Wirkung, er
ist vom ersten Entwurf
wohl nur mit einer klei¬
nen Änderung beibehal¬
ten. An der Vorderseite
des Postamentes ist ein
Marmorrelief: rechts As¬
klepios, links die Muse
der Dichtkunst den Pega¬
sus am Zügel haltend, vor
dem Flügelross sitzt auf
einem Felsblock Pallas
Athene, die Schirmgöttin
der Kunst und Wissen¬
schaft. So hat der Künst¬
ler die früher freistehend
gedachten Figuren in ein
flaches Relief bringen müssen ! Und doch ist auch dieses
Relief ein schönes Zeugnis von Volkmanns einfacher
und schlichter Kunst, ln seinem Atelier ist das Modell
zu diesem Relief in sehr zarter Weise polychrom
behandelt und erzielt dadurch eine große Wirkung.
Warum ist in Halle die Polychrom ie nicht ange¬
wandt, da das Relief sich doch nicht an der Wetter¬
seite befindet, die Farben sich also leicht erhalten
lassen? Hat der Künstler den Hallischen Kunst¬
verständigen eine solche Neuerung nicht vorzuschlagen
gewagt? Erst 1894 bei der großen Jubiläumsfeier
der Universität Halle wurde das Denkmal, welches
Erster Entwurf für das Denkmal Richard von Volkmanns in Halle;
von A. Volkmann.
ARTHUR VOLKMANN.
173
vor der chirurgischen Klinik aufgestellt ist, feierlich
enthüllt. Der Schöpfer desselben war bei dieser Feier
nicht zugegen. — Beim Beschauen des Denkmals
empfindet man lebhaftes Bedauern darüber, dass an
dem bestimmten Platze nicht der erste Entwurf auf¬
gestellt ist, da er sich für diese Stelle viel besser
eignen würde. Hätte H. Heydemann damals noch
gelebt, so würde das Urteil des Haifischen Comite’s
wohl ein anderes geworden sein!
Die polychrome Technik verwendet Volkmann
bei all seinen neueren Arbeiten, so in dem wohl jetzt
erst vollendeten flachen Marmorrelief „Die Löwen¬
jagd“. Vier Reiter bekämpfen
einen anspringenden Löwen.
Hier sind die Pferde sehr gut
gelungen. Dann in dem Ent¬
wurf zu einem Monumental¬
brunnen: eine Amazone ihr
Pferd tränkend als Hochrelief
über der Brunnenöffnung ge¬
dacht. Dieser Entwurf wird
jetzt in Marmor ausgeführt und
soll im Garten des Generals
von Hübel in Dresden aufge¬
stellt werden. Weiter in dem
flachen Relief, welches einen
Opferzug darstellt, auch noch
unvollendet.
Für Statuen hat Volkmann
jetzt eine völlig naturgetreue
Bemalung gewählt. Auf den
Ausstellungen in München und
Dresden 1894 war von ihm
eine dreiviertel lebensgroße
Marmorstatue eines Mannes
ausgestellt, welche die Bezeich¬
nung: „Am Ziele“ führt. Der
Sieger im Wettlauf bei einem
hellenischen Festspiel hat das
Ziel erreicht; von der Anstrengung ausruhend, stützt
er sich mit der rechten Hand auf einen Baumstamm,
die finke ist auf die noch heftig arbeitende Brust
gelegt, er ist unbekleidet. Der Körper ist leicht ge¬
beizt, das Haar bemalt. Ohne alles Haschen nach
Erfolg, einfach und schlicht steht dieses Werk da
und erinnert unwillkürlich an die Meisterwerke hel¬
lenischer Kunst. In der Galerie Borghese ist eine
jugendliche weibliche Statue, archaisch, Original aus
dem Peloponnes, welche unserem Künstler wohl un¬
bewusst bei mancher Arbeit vorgeschwebt hat. In
dem Katalog der Collezione Edelweiß ist diese Statue
auf Seite 44 unter Nr. 216 in der Camera 7a an¬
geführt. — Andere Werke sind erst im Modell voll¬
endet und harren noch ihrer Ausführung in Marmor;
so eine weibliche Kniefigur; dann die lebensgroße sit¬
zende Darstellung Nestors. Der „alte Zecher“ führt die
goldene Schale zum Munde, in seinen Mienen sehen
wir den Ausdruck heiterer Ironie, der Frucht langer
Erfahrung und wahrer Lebensweisheit, von der er
seinen Zuhörern freigebig mitzuteilen scheint. Diese
Statue, mit einem Mantel um die Hüften bekleidet,
ist vollständig bemalt und gewinnt dadurch un-
gemein an Lebendigkeit und Natürlichkeit. Das
Gegenstück zum Nestor bildet
eine gleichfalls sitzende Gestalt
im besten Mannesalter, auch
erzählend dargestellt, unbe¬
kleidet. Auch sie soll poly¬
chrom behandelt werden. Bei
der Bezeichnung dieser Statue
schwankt der Künstler noch,
ob er den Namen des listigen
Helden von Itliaka, den des
Odysseus’, wählen soll, oder ob
er sie einfach: A&HNAI02
nennen soll, da die Haupteigen¬
schaft des Odysseus’, in dem
Gesichtsausdruck jener Statue
weniger hervortritt.
Volkmann vermeidet fast
ängstlich alles, was irgendwie
den Anschein des Gemachten
und nach Effekt Haschenden
geben könnte. In seinen Wer¬
ken tritt der eigene Charakter
des Künstlers zu Tage. Ruhig
und bescheiden lebt er in seiner
einsamen Wohnung, bedient von
dem alten braven Tommaso, der
einst, als er sich noch des vollen
Gebrauches des Augenlichtes erfreute, selbst Bildhauer
war. Freundlich und liebenswürdig empfängt Volk¬
mann die ihn aufsuchenden Landsleute, unterstützt sie
mit Rat und Tliat und widmet sich ihnen gern während
der Abendstunden; denn am Tage arbeitet er von früh
an, sich nur kurze Pausen der Erholung gönnend. Der
Fleiß, jene Haupteigenschaft des wahren Talentes,
fehlt ihm nicht. Und so hoffen wir, dass noch man¬
ches Meisterwerk aus seiner Werkstatt hervorgehen
werde, wenn der Künstler es auch verschmäht, nach
der Gunst der Menge zu streben und sich selbst in
Mode zu bringen! ECKSTEIN -ZITTAU.
ÜBER DAS RESTAURIREN VON BAUDENKMALEN.
VON MAX SCH MID- AACHEN.
MIT ABBILDUNGEN.
ESTAURATOR und Bilder¬
verderbei' waren für Lermo-
lieif- Morelli identische Be¬
griffe. In der Tliat büßt
jedes Kunstwerk, das einer
Restaurirung unterworfen
wird, einen ganz erheblichen
Teil seines Reizes für den
Genießenden, seines Wertes für den Forschenden ein.
Dennoch, sobald ein Kunstwerk bis zu einem
gewissen Grade durch die zerstörenden Einflüsse
der Zeit, der Witterung, der Luft und des Lichtes
mitgenommen ist, wird ein solcher Angriff auf seine
erste jungfräuliche Erscheinung unvermeidlich. Frü¬
here Jahrhunderte operirten dabei mit voller Un¬
befangenheit. Sie wollten das Kunstwerk nicht
wissenschaftlicher Forschung erhalten, sondern dem
Auge des Beschauers in verschönter und verjüngter
Form darbieten, und zwar verschönert nach dem
jeweiligen Gaschmacke der Zeit. So wurde die Lao-
koongruppe aus einer Antike zu einem Renaissance¬
werke umgeschaffen, so wurde Verrocchio’s Taufe
Christi in der Florentiner Akademie durch Über¬
malung mit Ölfarben gründlich modernisirt, aller¬
dings nicht durch Lionardo’s Hand, wie manche
annehmen.
Schädlich waren solche Eingriffe für Skulpturen
und Gemälde, wenigstens wenn man sich auf den
Standpunkt des modernen Forschers stellt. Anders
liegen die Dinge bei Architekturen. Geschahen
die Ergänzungen, Einbauten und Einfügungen,
von Monumenten mit Geschmack, mit Rücksicht
auf Raumverhältnisse und Ton wirkung des Vorhan¬
denen, so trugen sie meist zur Belebung, Bereiche¬
rung und malerischen Verschönerung der Kirchen
bei. Es wird in Italien keinen Unbefangenen ge¬
stört haben, dass manche der älteren Kirchen wahre
Museen der Kunst verschiedener Jahrhunderte ge¬
worden, dass gotische Bauten Oberitaliens mit Re¬
naissancefresken ausgemalt, mit barocken Neben¬
kapellen und Denkmalen geschmückt sind, dass jeder
Raum im Laufe der Jahrhunderte ausgenutzt wurde.
In diese stattlich gefüllten, malerisch schönen,
überall eigenartigen und reizvollen Bauten hat nun
schon vielerorten, besonders in Deutschland, die
rauhe Hand des „Restaurators“ unerbittlich einge-
griffen, und zwar mit einer Rücksichtslosigkeit, die
in Plastik und Malerei nicht mehr gestattet wird.
Wo in Galerieen heute verständige Direktoren und
gebildete und erfahrene Restauratoren Zusammen¬
wirken, wird das Original, so weit irgend möglich,
geschont. In der Skulptur sind wir sogar bereits
soweit gekommen, ohne „Ergänzung“ und „Ver¬
besserung“ die Fundstücke aufzustellen, sie nur von
allem Ungehörigen zu befreien, wie das in glänzen¬
der Weise bei den Resten des pergamenischen
Altarbaues gelang. Selbst den Edelrost der Jahr¬
hunderte bewahren heute die Marmorfiguren und
spätere Generationen werden uns für diese Sorgfalt
Dank wissen.
Anders liegen die Dinge bei den architekto¬
nischen Restaurationsarbeiten. Die Mehrzahl der äl¬
teren Bauten ist heute noch im Gebrauch, und
auch wo dies nicht der Fall, verlangt die Sicherung
des Baues oft tiefgehende Eingriffe in den Organis¬
mus des Gebäudes, das moderne Bedürfnis oft aus¬
gedehnte An- und Umbauten.
Soweit derartige Arbeiten mit möglichster Scho¬
nung des Vorhandenen geschehen, sind sie eben un¬
vermeidlich, lassen auch zumeist den Grundcharakter
des Baues unangetastet.
Verheerend aber hat in den alten Bauten der
ÜBER DAS RESTAURIREN VON BAUDENKMALEN
175
„strenge historische Geschmack“ gewirkt, der ganz
besonders an kirchlichen Bauten sein Vernichtungs¬
werk begann.
Es ist, als ob der Militarismus auch in der
Kunst zur Herrschaft gekommen wäre. Da muss
alles ordentlich ausgerichtet in Reih und Glied
gemüht, den Reiz der Ruinen zu besingen, die
altersgrauen Mauern, in deren Ritzen und Spalten
Moos und Strauchwerk nistet. Wie lange währt’s,
dann melden uns nur noch die Lieder davon. Die
jammervollsten Türme und unbenutztesten Mauern
werden heute säuberlich „bloßgelegt“, ergänzt, regel-
Fig. l. Trierer Liebfrauenkirche. Fassade.
stehen. Jeder Messingknopf muss glänzen, als ob
er über die Knopfgabel gezogen wäre. Und vor
allem muss alles hübsch weiß, oder doch wenig¬
stens frisch und bunt angestrichen sein, muss glän¬
zen, wie die Monturen bei der Parade.
Jahrzehnte hindurch haben sich die Dichter ab¬
recht ausgemauert und stehen nun als formlose
Würfel oder Cylinder mit einem monotonen Schiefer¬
dach kahl und reizlos auf ihrem Platze.
Alles Unheil, was die Bilderstürmer der Refor¬
mation und Revolution angerichtet, verschwindet
dagegen. Grabdenkmale und Altäre wurden damals
176
UBER DAS RESTAURIREN VON BAUDENKMALEN.
aus Kirchen und Kapellen entfernt. Aber sie wan¬
delten nur zum Teil in die Museen, zum Teil kehr¬
ten sie nach kurzem Exil wieder an ihre ehemalige
Stätte zurück. Waren sie in die Wände eingemauert,
so begnügte man sich wohl auch, sie durch einen
Bretterverschlag zu verstecken, und so hat beispiels¬
weise der Dom zu Trier noch die Mehrzahl seiner
alten Altäre, Kanzeln und Grabmale gerettet.
Viel gründlicher gingen die mit „Stilgefühl“
begabten Restauratoren vor. Nicht nur Kanzeln
und Altäre werden abgerissen, stilwidrige Türme
und Kapellen beseitigt, nein, weithin im Umkreise
wird alles niedergelegt, was irgendwie erreichbar ist.
Ungezählte Millionen hat es dem deutschen
Volke gekostet, und kostet es ihm heute noch,
dieses, .Ereilegun gs-
fieber“ , Millionen,
die absolut unpro¬
duktiv verschleu¬
dert wurden. Ja,
man hat diese Mil¬
lionen vergeudet,
lediglich zu dem
Zwecke, um schöne
und malerische Stä¬
dtebilder zu zer¬
stören und damit
den Reiz der an¬
geblich verschöner¬
ten Bauwerke zu
vernichten.
W enn die Häu¬
ser der Berliner
Schlossfreiheit nie¬
dergelegt wurden,
so fiel eine Reihe hässlicher Buden, und dafür trat
das machtvolle Portal Eosanders zum erstenmal
sichtbar hervor. Seine volle Größe aber wird es
erst dann offenbaren, wenn an Stelle jener nieder¬
gelegten hässlichen Gebäude dekorativ wirksame,
kleinere Bauten oder Anlagen errichtet sind, sei es,
dass die projektirte Denkmalshalle zur Ausführung
kommt, oder dass andere Zierbauten dort aufgeführt
werden, die unter Freilassung des Blickes auf das
Portal die kahlen Fassadenteile zu beiden Seiten des¬
selben verstecken und für die gewaltigen Dimen¬
sionen des Baues einen Maßstab ergeben.
Anders stand die Sache bei der Freilegung des
Kölner Domes. Die gotischen Riesenkathedralen er¬
hoben sich im Mittelalter gerade in denjenigen
Städten am gewaltigsten, die reich und blühend
innerhalb der Ringmauer eine zahlreiche Bürger¬
schaft zusammendrängten. Je enger der Häuser¬
gürtel sich um sie schloss, um so leichter, freier
und höher suchte der Architekt sie über dieselben
hinauszuheben. Durch schmale Gassen hindurch
gewann man den Ausblick auf reichgeschmückte
Fassadenteile, auf Riesentürme, die alles überragend
emporstiegen. Der Schwerpunkt der Entwickelung,
ganz besonders bei deutschen Bauten, lag in der
Ausgestaltung des Inneren. Im Äußeren wurde sorg¬
los das konstruktive Gerüst gezeigt. Unregelmäßig¬
keiten, Unsymmetrie wurden nicht als Übel em¬
pfunden. Waren am Kölner Dom die Streben der
einen Chorseite reicher entwickelt als die der an¬
deren, so störte das nicht. Klebten doch meist un¬
mittelbar am Chor
Grabdenkmale,
Hütten und Häus¬
lein, malerisch zwi¬
schen Kapellen ein¬
genistet, und nur
selten lag der Chor
so frei, dass man
in schnellem Um¬
gänge beide Seiten
miteinander ver¬
gleichen konnte.
Hatten unsere
V orfahren kein
Kunstverständnis ?
Fehlten ihnen Ge¬
schmack und Sinn
für Schönheit? Oder
warum sonst dul¬
deten sie diese Ge¬
staltung der Dinge? Nun, die Kostbarkeit des Raumes
in der engumschlossenen Stadt hat wohl vielfach der¬
artige Anbauten verursacht. Aber als Schönheitsfehler
wird man sie offenbar nicht empfunden haben, und
o-anz mit Recht hat man daher bei der Wiederher-
o
Stellung des Aachener Rathauses dafür gesorgt, dass
zur Seite einige ältere Fachwerksbauten, hübsch
wiederhergestellt, sich an den riesigen Körper des
Gebäudes anschmiegen. Weshalb solche Anbauten
notwendig sind, hat Camillo Sitte in seinem bahn¬
brechenden Büchlein „Der Städtebau“ auseinander-
o-esetzt, und es braucht hier nicht wiederholt zu
werden
Demnach würden diese Anbauten nur da zu
entfernen sein, wo sie besonders schöne und reiz¬
volle Teile des Gebäudes verbergen. Sodann wäre
ÜBER DAS RESTAURIREN VON BAUDENKMALEN.
177
Sorge zu tragen, dass auch die umgebenden Straßen
soweit erhalten bleiben, dass einmal ein malerischer
Abschluss des Platzes nach den verschiedenen Seiten
hin gewahrt bleibt, dass zum zweiten aus den
Straßen malerische Ausblicke sich ergeben, und
zum dritten überall der richtige Maßstab für das
Gebäude sich aus der Umgebung gewinnen lässt.
Dagegen ist nirgends gründlicher gesündigt als
am Kölner Dom, und die architektonischen Mängel
dieses nackt und kahl auf einen Präsentirteller von
zeitigen Einspruch abzuwenden ist, da bis zur Auf¬
bringung der dazu nötigen Mittel immerhin noch
einige Jahre hoffentlich vergehen werden. Es sei
deshalb gestattet, es hier etwas eingehender zu er¬
örtern.
Zur Zeit wird der volle Überblick über diese
„Fassade“ dadurch gehindert, dass nur durch eine
schmale Gasse die Küsterwohnung (vgl. Fig. 2 e),
von ihr getrennt ist. Zum Glück. Denn diese
sogen. Fassade war wohl niemals als ein Effekt-
Fig. 3. Entwurf für die Umgestaltung des Zuganges zur Liebfrauenkirche in Trier.
gewaltiger Ausdehnung gesetzten Baues treten heute
um so greller hervor. Einen wirklichen Eindruck
hat man heute nur noch von dem naheliegenden
kleinen Wallrafplatz aus, von wo die vorliegenden
Häuser einen Maßstab geben.
Aber die blinde Begeisterung für „Freilegung“
geht soweit, dass man gar nicht mehr danach fragt,
ob eine Fassade auch der Freilegung überhaupt
wert sei. Bezeichnend ist dafür das Projekt, die
Fassade der Liebfranenkirche zu Trier freizulegen,
ein Unglück, das von dem reizenden Denkmal frü¬
hester deutscher Gotik vielleicht noch durch recht¬
stück gedacht (vgl. Fig. 1). Über dem bekannten
Portal erhebt sich in zwei Stockwerken die Ober¬
mauer, von einfachen, in ihren Achsen nicht ein¬
mal genau übereinander gestellten Fenstern durch¬
brochen. Den etwas stumpfen Giebel schmückt
eine kolossale Kreuzigungsgruppe, die unverhält¬
nismäßig auf dem Ganzen lastet. Diese Fassade
wirkt nur erträglich, so lange man sie von der
Seite her, also verkürzt sieht, wobei der dar¬
über hervortretende Turm des Baues ausgleichend
mitwirkt. Eine Niederlegung der Küsterwohnung
würde also der Fassade schaden.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 7.
24
17S
ÜBER DAS RESTAURIREN VON BAUDENKMALEN.
Schaden würde aber dabei auch der unmittelbar
angrenzende Dom leiden. Dem von der Stadt her über
deu Domfreibof (c) herankommenden erschien der Dom
(a) als den Platz beherrschendes Bauwerk, nur sekun-
dirt vom Turmbau der Liebfrauenkirche, während deren
Unterbau, der wenig glücklich mit dem Dom selbst
sich verbindet , hinter einer hohen Mauer (d) ver¬
schwand. Nach der projektirten Freilegung hätte
er diese Herrschaft mit der Liebfrauenkirche zu
teilen, ohne dass damit ein wirksames Architektur¬
bild gewonnen wäre.
Würde man dagegen die Küsterwohnung (e) res-
tauriren, ausbauen, und ein kleines Stück der daneben
befindlichen Mauer abtragen (bei h), so würde den
vom Dome Heranschreitenden ein anziehendes Archi¬
tekturbild (Skizze 3) überraschen. Zur Linken die
sich verschiebenden Bauformen des Domes und der
Kirche, zur Rechten die Küster wohnung, hinter der
andere kleinere Bauten auftauchen, und im Hinter¬
gründe als malerisch wirkungsvoller Abschluss die
tiefen Töne der Kesselstadt’schen Palastfassade. So
wäre eine die Wirkung des Platzes und der Straße,
und damit die Wirkung der Kirchen erhöhende An¬
lage mit geringen Unkosten zu schaffen, ohne den
Neubau einer Küsterwohnung an entlegener Stelle
nötig zu machen.
Wie die Freilegungsmanie den künstlerischen
Eindruck des Außenbaues, so vernichtet der „Puris¬
mus“ den malerischen Effekt der Interieurs. Wie
lange wird noch der Grundsatz gültig bleiben, dass
Renaissance, Barock und Rokoko gnadenlos weichen
müssen, dass romanische Kirchen nur romanische,
gotische nur gotische Skulpturen dulden?
Die Prachtaltäre, die unsere biederen Vorfahren
in ihrem frommen Sinne stifteten, die sie Gott und
ihrer Kirche zu Ehren errichteten, vor denen, wie
sie hofften, noch späte Generationen in Andacht
knieen sollten, sie liegen vor den Kirchthürnn hin-
gestreckt, nicht zerstört von den Feinden der Kunst
oder der Kirche, sondern von den Stileiferern. Die
Stilgerechtigkeit ist eine Flamme, die die Wissen¬
schaft angefacht, und die nun zum Schadenfeuer
geworden. Es ist Sache der Gelehrten, wie auch
der Kirche, hier durch Aufklärung Wandel zu
schaffen und den Übereifer zu dämpfen.
Ist eine Kirche solchergestalt freigelegt und
purifizirt, dann pflegt man, falls es die Mittel ge¬
statten, die dritte Sünde an ihr zu begehen, man
.malt sie aus*. Natürlich „stilgemäß“, vor allem
.stilgemäß“. Die Schönheit, der Geschmack kommen
dabei wenig in Frage. Man durchwandere heute die
Bauten des Mittelalters, am Harz wie im Rheinland,
in Nord- und Süddeutschland, überall mit wenigen
Ausnahmen, begegnen uns Beispiele jener grell be¬
malten Wände, jener goldglänzenden Ornamente auf
knallrotem Grund, jener grünen Bänder auf ultra¬
marinblauen Säulen. Ich will hier nicht untersuchen,
ob die primitive Farbenskala der frühmittelalterlichen
Kunst so barbarische Effekte bedingte, ob sie wirk¬
lich dem Stil der guten Werke jener Zeit entsprechen.
Aus den seltenen erhaltenen Resten und aus den
Buchmalereien scheint mir hervorzugehen, dass man
jene kräftigen vollen Farben häufig durch zweck¬
mäßige Verteilung, durch Trennungsfarben und durch
verständig angewandte Vergoldung wohl zusammen¬
zustimmen wusste, während manche neuerdings re-
staurirte Kirchen papageienhaft bunt uns entgegen¬
schreien.
Aber gesetzt auch, die alten Künstler hätten so
geschmacklos gemalt, wer wollte uns zwingen, das
zu wiederholen ? Erziehung zum Kunstempfinden,
zum guten Geschmacke verlangen wir heute von der
Schule, vom Zeichenunterricht. Aber was soll es
helfen, wenn das Auge des Kindes schon frühzeitig
durch die Kirche verbildet wird und heute grelle,
bunte und schreiende Töne an so bedeutsamer Stelle
auf sich wirken lassen muss, die sich ohnehin durch
unausgesetzt wiederholte Betrachtung außerordent¬
lich stark einprägen müssen.
Zunächst scheint mir eine durchgehende Be¬
malung überhaupt nur da angebracht, wo der Stein
selbst nicht hinreichend schön wirkt. In St. Nicolai
zu Berlin hat man den Backstein unverputzt zur
Wirkung gebracht und mit gutem Erfolge. Die
Liebfrauenkirche zu Trier ist in einem wundervollen,
gelbgrünen Sandstein errichtet, auf dem die farbigen
Lichter der Glasfenster heute noch ein reizendes
Spiel treiben. Aber — wie bald wird diese Schön¬
heit unter der Hand des Tünchers verschwinden,
und kaffeebrauner Grund mit gelben und grünen
Lilien, wie an so vielen Orten, auch hier sich aus¬
breiten. Schon sollen Projekte sich vorbereiten.
Wird ausgemalt, dann sollte man unserem Empfin¬
den die Konzession machen, dass allzu Buntes und
allzu Hartes vermieden wird.
Wo also der Stein im Tone genügend wirkt, sollte
man auf die Bemalung ganz verzichten, den Steinton
allein wirken lassen und dafürzur Belebung der Flächen
die Fugen betonen, sonst aber die Bemalung auf die
Kapitelle, auf die Gewölbekappen etc. beschränken.
Jedenfalls hauptsächlich auf die Flächen, die aus
irgend welchen technischen Gründen verputzt wer-
DAS MÜNSTER IN BERN.
179
den müssen, sowie auf die wichtigsten konstruk¬
tiven Formen.
Längst hat man in Frankreich die Bahn der
vorsichtigen und maßvollen Wiederherstellung be¬
treten. Auch hier wurden einst Decken, Wände
und Pfeiler bunt bemalt, wie aus früherer Zeit die
Kathedrale von St. Quentin beweist. Dagegen ver¬
fährt man neuerdings mit größter Schonung, ver¬
zichtet vielfach ganz auf Bemalung oder hält diese
in zarten, gebrochenen Tönen, wofür ein ausgezeich¬
netes Beispiel die allerdings neu errichtete Kirche
St. Epore zu Nancy ergiebt. In Laon werden mit
der gotischen Kathedrale die Renaissancekapellen
ebenso sorgfältig wiederhergestellt, Barockkanzeln
und Rokokochorschranken sorgfältig konservirt.
Hoffen wir, dass auch in Deutschland die Dinge sich
bessern und das Wüten gegen unsere eigenen
Kunstwerke sich legt!
Das ideale Ziel wäre, jene ehrwürdigen Bauten
in dem ganzen malerischen Reize, mit der Patina
der Jahrhunderte, in der alten malerischen Um¬
gebung zu erhalten, nur da auszubessern, wo Ge¬
fahr droht, nur da niederzureißen, wo wirklich
schöne Teile verborgen werden. Mit all’ ihren Un¬
regelmäßigkeiten und ihrer Unsymmetrie, mit all’
den Zufälligkeiten der Form und Farbe möchte man
sie erhalten sehen, diese ehrwürdigen Zeugen der
Pietät vergangener Geschlechter. Wie wunderlich,
dass heute, da man bei uns noch so manche un-
restaurirte Kirche ihrer malerischen Reize entkleidet,
in Süddeutschland kirchliche Neubauten aufgeführt
wrerden, die diese Reize künstlich nachahmen. Sollte
das nicht stutzig machen und den puristischen Eifer
unserer Pastores und Kirchenbaumeister abzukühlen
vermögen? Hoffen wir, dass sich die Erkenntnis
allmählich Bahn bricht!
DAS MÜNSTER IN BERN1).
MIT ABBILDUNGEN.
EIT Dr. Stantz (1865) seine
Beschreibung des Berner
St. Vincenzenmünsters her¬
ausgab, die durch Wilhelm
Lübke im ersten Jahr gange
dieser Zeitschrift bei den
Lesern eingeführt wurde,
welche Veränderungen sind
da mit dem ehrwürdigen Bau, der Schöpfung des
Mathäus Ensinger, vor sich gegangen ! Zu jener Zeit
stand die westliche Hauptfassade des Münsters noch
mit ihrem Turmstumpf und den undurchbrochenen
Fenstern als eine breite, ungefüge Masse da; nur
vereinzelte Stimmen waren laut geworden, welche
nach dem Ausbau des Jahrhunderte lang unvollendet
gebliebenen Werkes riefen; aber die rechte Begeiste¬
rung dafür fehlte, und so fehlten auch die Mittel
und die zur Ausführung berufenen Kräfte.
1) Festschrift zur Vollendung der St. Vincenzenkirche von
Dr. B. Haendcke und Aug. Müller. Bern, Schmid, Francke
& Co., 1894. VIII u. 179 S. gr. 4«.
Das alles ist inzwischen auf rühmenswerte Weise
völlig anders geworden! 1878 entstand in Bern ein
Münsterbauverein, der sich 1887 neu und fester
konstituirte; durch Sammlungen und Lotterieen wur¬
den die für den Ausbau erforderlichen Summen
(über 400 000 Frank) herbeigeschafft, und 1888 in
dem bewährten Meister des Ulmer Münsterturmes,
Prof. A. v. Beyer, der richtige Mann für die Lei¬
tung des großen Unternehmens gewonnen. Er hat
im Laufe der letzten fünf Jahre den Turm des
St. Vincenzenmünsters ausgebaut; am 25. November
1893 fand die feierliche Versetzung des Schluss¬
steines am Helm des Turmes statt. Eine Ehren¬
schuld Berns an seine ruhmreiche Vergangenheit
ist damit getilgt, dem ernsten großartigen Bilde der
schweizerischen Bundeshauptstadt ward ein neuer
Charakterzug eingefügt.
Das Ereignis ist nicht vorübergegangen, ohne
auch durch ein litterarisches Denkmal dem Gedächt¬
nisse der Nachwelt bewahrt zu werden. Der durch
seine fleißigen Arbeiten auf dem Gebiete der Schwei¬
zer Kunstgeschichte wohlbekannte Dr. B. Haendcke
24*
180
DAS MÜNSTER IN BERN.
verband sieb mit dem bauleitenden Architekten
des Berner Münstei-s, Aug. Müller , zur Heraus¬
gabe eines reich ausgestatteten Werkes, in dem
die Geschichte des Münsterbaues von den Anfängen
Arbeit von Stantz erfuhr dadurch in zahlreichen
Einzelheiten ihre erwünschte Vervollständigung; die
letzte Periode des Münsterbaues wurde in genaue¬
ster fachgemäßer Darstellung hinzugefügt; dazu
Westansicht des Münsters zu Bern in seiner früheren Gestalt vor 1890.
bis zur Gegenwart urkundlich dargestellt und zu¬
gleich eine genaue Beschreibung und kritische Wür¬
digung des Gebäudes wie seiner gesamten künst¬
lerischen Ausstattung und Einrichtung geboten wer¬
den sollte. Die für ihre Zeit sehr verdienstliche
kamen endlich eine große Anzahl vortrefflicher
Illustrationen in entsprechend gewählter Technik:
mit einem Wort, es entstand eine Publikation, welche
des monumentalen Gegenstandes und des festlichen
Anlasses in Inhalt und Form durchaus würdig ist.
Das jüngste Gericht. Relief von E. Küng über dem Portal des Münsters zu Bern.
DAS MÜNSTER IN BERN.
Turmspitze de» Munster» zu Bern
Wir heben einige der wichtigeren Momente aus der
Darstellung hervor, um darzuthun, dass das Werk
nicht etwa nur den lokalen Fachkreisen, sondern
auch für das größere kunstfreundliche Publikum,
für den Kunsthistoriker wie für den Architekten,
ein mannigfaches Interesse darbietet.
Dem jetzigen spätgotischen Bau des Vincenzen-
münsters gingen an derselben Stelle zwei ältere
Gotteshäuser voran: eine kleine, bei der Gründung
der Stadt (1191) angelegte Kapelle und die aus
dem Ende des 13. Jahrhunderts stammende „Leut¬
kirche“. Auf die Fundamente derselben stieß man
1872, hei damals wegen Anlage der Luftheizung
vorgenommenen Ausgrabungen. Zu dem jetzigen
Münster, der Schöpfung des Mathäus Ensinger von
Ulm, wurde nach dessen 1420 erfolgter Berufung
aus Straßburg am 11. März 1421 in feierlicher Weise
der Grundstein gelegt. Die am Hauptportal aus¬
gemeißelte Schriftrolle zeigt dieses auch von dem
Chronisten Justinger überlieferte Datum.
Das Münster ist eine dreischiffige Anlage (s.
den Grundriss) von jener schlichten Gestaltung in
Plan und Aufbau, wie sie namentlich bei den deut¬
schen Pfarrkirchen der Spätgotik üblich war. Ein
Querschiff ist nicht vorhanden; der Chor ist nur
einschiffig; an der einen Seite legt sich an ihn die
Sakristei an; die niedrigen Seitenschiffe des Lang¬
hauses sind durch den Anbau von je fünf Kapellen
erweitert. Die Durchbildung der Pfeiler im Inneren
wie am Strebesystem des Äußeren ist von großer
Einfachheit. Nur die reiche Netzgewölbebildung
und ein üppiger plastischer Schmuck, vornehmlich
am Hauptportal, verleihen dem Werke höheren
Glanz. Die Bekrönung sollte, wie in Esslingen und
Ulm, der imposante Turmbau bilden, zu dessen
Vollendung aber, wie in Ulm, so auch in Bern der
alten Zeit die Mittel fehlten.
Mathäus Ensinger hat sicher für den Berner
Turm einen Bauriss gezeichnet. Aber derselbe ist
ebenso wenig auf unsere Tage gekommen, wie meh¬
rere andere alte „Visirungen“, von denen die Ur¬
kunden sprechen. Prof. v. Beyer war daher auf die
ihm durch die vorhandenen Bauteile dargebotenen
Anhaltspunkte und auf seine genaue Kenntnis der
übrigen Werke des Meisters angewiesen, als er über
seinen Berner Turm die Entscheidung traf. Er kon-
struirte ein Achteck von mäßiger Höhe und ließ
aus diesem einen schlanken durchbrochenen Helm
emporsteigen, dadurch ungefähr die gleiche Wirkung
erzielend, wie sie in den Türmen von Esslingen
und Ulm erreicht ist (s. den Aufriss). Alle Details
DAS MÜNSTER IN BERN.
183
wurden in ruhigen, dem Geiste des Ganzen sich
harmonisch einfügenden Formen gehalten, welche
an passender Stelle den Eigentümlichkeiten der Spät¬
gotik Rechnung tragen.
Dem berühmten plastischen Schmucke des Haupt¬
portals widmet die Festschrift eine sehr eingehende
stilkritische Untersuchung. Das Ergebnis derselben
ist, dass die figurenreiche Komposition des Jüngsten
Gerichts, bekanntlich das Werk des westfälischen
Meisters Erhard Küng (um 1469), den nächsten Zu¬
sammenhang mit der Schule von Dijon zeigt. Auch
der alten Glasgemälde ist das von einem Mitgliede
der Familie Zigerli von Ringoldingen gestiftete
„Dreikönigsfenster“, nach der figurenreichen Dar¬
stellung des Zuges und der Anbetung der Heil. Drei
Könige so benannt. Es wird in die Zeit von 1460
bis 1470 gesetzt und ist zweifellos das Werk eines
hochbegabten und feingebildeten Meisters, der mit
den schönen Wild’schen Fenstern im Chor des Ulmer
Münsters (von 1480) in Vergleich treten kann. Mehr
durch seinen merkwürdigen Gegenstand und durch
eine gewisse „grobe Realistik“ der Darstellung ist
Grundriss des Münsters zu Bern.
die Dekoration der sogen. Schultheißenpforte be¬
kundet dieselbe Beeinflussung durch die Werke des
Claux Sinter und seiner Genossen und wird daher
von Haendcke gleichfalls dem Küng zugeschrieben.
Über den Lettner, das prächtige Chorgestühl,
den Priesterdreisitz und die sonstigen Werke der
dekorativen Plastik, welche den Bau zieren, müssen
wir hinweggehen, und widmen nur noch dem kost¬
baren Schmuck der gemalten Chorfenster einige
Worte. Die Fenster sind zum Teil durch moderne
Arbeiten ergänzt. Das künstlerisch hervorragendste
das etwas jüngere Fenster mit der „Hostienmühle“
interessant. Wir sehen da das Dogma der Trans-
substantiation unter dem seltsamen Bilde einer srro-
ßen Mühle vorgeführt, in welcher das Wort Gottes
für den Genuss der Gläubigen zu Hostien umge¬
staltet wird.
Den Schluss der gehaltvollen Arbeit bildet ein
Verzeichnis der an dem Berner Münster vorkom¬
menden alten Steinmetzzeichen. Sie reichen von
1421 bis ca. 1600. Mehrere von ihnen finden sich
in Ulm und Straßburg wieder. c. v. L.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Heinrich von Wörndle, Lucas Ritter von Führich' s aus¬
gewählte Schriften, im Einvernehmen mit der Familie
herausgegeben und mit einer einleitenden Biographie ver¬
sehen. Mit dem Bildnisse Lucas Ritter von Führich’s.
Stuttgart, Jos. Roth’sche Verlagsbuchhandlung, 1894. 8°,
XXXVII und 87 S.
Anregender Lesestoff für jenen Kreis von Kunstfreunden,
die an Alt -Wien und seinen Kunstverhältnissen sowie an
der modernen kirchlichen Kunst lebhaften Anteil nehmen.
Von einem gewissen allgemeinen Interesse ist der Aufsatz
„Erinnerungen aus einer Künstlerwohnung“, der von Joseph
v. Führich, dem berühmten Maler, handelt. Führich hat
viele Jahre lang im Hause Nr. 187 auf dem Salzgries in
Wien gewohnt und dort den Schauplatz seiner künstlerischen
'l'hätigkeit aufgeschlagen. Ein Atelier im eigentlichen Sinne
hat er sich niemals eingerichtet. Dem gemütvollen, weich¬
herzigen Künstler war es ein Bedürfnis, im Kreise der
Familie zu schaffen, und sein einfacher Sinn verschmähte
allen äußeren Glanz, wie denn Führich auch nur höchst
selten nach dem lebenden Modell malte. Der erwähnte Auf¬
satz teiltu. a. auch vieleErlebnisse Führich’s aus demJahrel84S
mit. Die übrigen Essays handeln von dem „Verhältnis der
kirchlichen Baukunst zu den bildenden Künsten in der Gegen¬
wart“, vom „Weihnachtsmann“ von Ludwig Richter, von Carl
Madjera und vom Krönungsdome zu Rheims. Sie sind sämt¬
lich vorher schon in Zeitschriften und Zeitungen gedruckt
gewesen. Den Schluss bilden einige Gedichte. Vorangestellt
ist den Aufsätzen ein kurzes Vorwort von Joh. M. Stöber
und eine Biographie des Künstlersohnes Lucas von Führich.
Der Sohn hatte eine reiche Phantasie vom Vater geerbt,
und die meisten werden aus seinem Lebensgange den Ein¬
druck gewinnen, dass Lucas eine Künstlernatur war, die in
der Beamtenlaufbahn verkümmert ist. Fr.
Im Atelier. Nach dem Gemälde von J. J. Aranda
radirt von Fritz Krostewitx . Der jetzt in Madrid ansässige
spanische Maler Jose Jimenez Aranda gehört zu der zahl¬
reichen Gruppe seiner malenden Landsleute, die den Bahnen
des glänzenden Gestirns Fortuny gefolgt sind. Aber er hat
sich nicht wie viele andere dieser Gruppe in kokette Kostüm¬
malerei verloren, die sich mit einer Wiedergabe der flim¬
mernden Oberfläche des Wechselnden und des Bleibenden in
der Natur begnügt. Seit etwa zehn Jahren beteiligt er sich
stets an den großen Ausstellungen in München und Berlin,
und fast immer haben wir bemerkt, dass seinen pikant ge¬
malten, von starker Lebensfülle durchströmten Bildern ein
geistreicher Gedanke zu Grunde liegt. So auch dem von
Krostewitz mit feinem Verständnis für die malerische Technik
radirten Bilde, das einen Maler aus dem Ende des 18. Jahr¬
hunderts in seiner Werkstatt darstellt. Es ist die Fortuny-
sche Technik, die in ihrem Kontrast zur liebevollen, am Stoffe
haftenden Detailmalerei und scharfer, fast unruhiger Spitz¬
pinselei das Tote, das Gegenständliche vom Lebendigen zu
scheiden weiß. Das Bild , das uns in gewissen Teilen an
ähnliche Bilder unseres eigenen Rokokomalers Chodowiecki
erinnert, ist zwar an und für sich als meisterliches Interieur
verständlich und wirksam; aber es hat noch ein Gegenstück.
Dem Maler des 18. Jahrhunderts, der die Motive zu seinen
Bildern aus einem Folianten, vielleicht aus der Bibel oder
einer alten Chronika heraussucht, hat der Künstler in einem
zweiten Bilde die Maler aus dem Ende des 19. Jahrhunderts
gegenüber gestellt. Am Eingänge eines Thaies sitzen mehrere
Maler auf Feldstühlen vor ihrer Staffelei und malen, frei
vom künstlichen Atelierlicht, frischweg nach der Natur. Zu
welcher Partei sich Aranda selbst zählt, ist aus den Bildern
nicht zu ersehen. Er hat sie beide mit jener Liebe und
Sorgfalt durchgeführt, die den echten Künstler von dem
wandelbaren Parteigänger der Kunstpolitik unterscheiden.
A. R.
Berlin. Die Kunsthandlung von Amsler & Ruthardt
versteigert am 23. u. 24. d. Mts. eine Sammlung höchst reiz¬
voller Originalhandzeichnungen von Daniel Chodowiecki,
seines Bruders Gottfried und seiner Kinder Wilhelm und
Susanne, sowie von J. W. Meil und T. Bolt, aus dem Nach¬
lasse des Herrn J. C. D. Hebich zu Hamburg. Daran schließt
sich eine wertvolle Sammlung von Entwürfen zu Glasfenstern
in Originalhandzeichnungen alter Schweizer Glasmaler des
XVI. und XVII. Jahrhunderts. Die beiden Kataloge, von
denen der letztere reich illustrirt ist, sind soeben erschienen
und werden von der genannten Firma auf Verlangen zu¬
gesandt. —
* Berichtigung. In dem vierten Artikel über P. P. Rubens
im Märzheft der Zeitschrift ist S. 144 Sp. 2 Note 1 Z. 3 von
oben statt „vom Verstorbenen gestochenen Bildnis“ — „von
Vorstcrman gestochenen Bildnis zu lesen.“
Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
IM ATELIER.
.Seemann, Leipzig. Druck vB.A. Br odäraus, Leipzig.
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
VON WOLF GANG VON OETTINGEN.
NTER den deutschen Klein¬
meistern der Radir kirnst ragt
im achtzehnten Jahrhundert
Daniel Nicolaus Chodowiecki
ohne Zweifel an erster Stelle
hervor. Er muss als der
Neubegründer der technisch
verfeinerten und geistreich
durchgeführten Buchillustration in Deutschland gel¬
ten, denn seit den herrlichen Holzschnitt-Ausstat¬
tungen der Renaissance waren bis zu seinem Auftreten
würdige Abbildungen nur selten den
Erzeugnissen des deutschen Buchhan¬
dels zu teil geworden. Er legte auch
in Hunderten von frei erfundenen Blät¬
tern und Blättchen einen ganzen Schatz
gesundester Naturbeobachtung und Men¬
schenkenntnis nieder und erweckte da¬
durch vielfach hei dem Publikum und
bei den Künstlern den seit langem
schlummernden Sinn für die Wahrheit
in der Kunst. Kein Wunder, dass sein
Wirken alsbald eine ansehnliche Schule
von Illustratoren ins Leben rief, ohne dass
er sich persönlich mit der Erziehung von Radirern oder
Kupferstechern abgegeben hätte. — Mit unendlichem
Fleiße und liebevollster Vertiefung sind die meisten
seiner Platten ausgearbeitet; wer sie betrachtet, ge¬
langt gewiss zu dem Eindruck, hier habe doch ein¬
mal ein Mann den ihm von der Natur zugedachten
Beruf mit festem Griffe gewählt und mit Begeisterung
ausgeübt. Auch die offenbare Vorzüglichkeit seiner
anmutigen Schöpfungen gegenüber den entsprechen¬
den seiner Zeitgenossen, sowie die allgemeine An¬
erkennung , die er jahrzehntelang nicht nur in
Deutschland, sondern in fast ganz Europa genoss,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 8.
müssten ihm — sollte man meinen — ein Gefühl
gerechtfertigter Befriedigung und hohen Stolzes auf
die neue Art der Menschendarstellung eingeflößt
haben, die er als Vorläufer der modernen Realisten
dem Vaterlande gab.
Indessen war beides nur in beschränktem Sinne
der Fall: Chodowiecki ist fast nur durch einen Zu¬
fall zur Radirkunst gelangt und empfand auch nicht
im ganzen Umfange das Glück, mit dem ein gütiges
Schicksal ihn begünstigt hatte — er war mit seiner
Thätigkeit nicht immer recht zufrieden. Zwar äußerte
er sich bei Gelegenheit nicht ohne
Selbstbewusstsein über seinen Wert,
und wusste auch, bei aller Bescheiden¬
heit, den Verlegern gegenüber seinen
Ruhm auf praktische Weise geltend zu
machen; aber aus allerlei vertraulichen
Bekenntnissen vernehmen wir doch zu
unserer Verwunderung seine Klage, das
unablässige Illustriren von Kalendern
und Taschenbüchern mit ihren Erzäh¬
lungen, Gedichten und Modeberichten,
von vielbändigen Romanen, von Dramen
und anderen Schriften der verschieden¬
sten Gattungen lasse ihn leider nicht zu der Ausübung
der echten und wahren Kunst gelangen. Das heißt also :
die Wiedergabe von Vorgängen und Zuständen aller
Art aus dem Leben aller Stände und die Bearbeitung
des geselligen Treibens seiner Zeit — denn um der¬
gleichen Gegenstände handelt es sich im wesentlichen
bei seinen Illustrationen — genügten ihm im Grunde
nicht; gerade die Stilgattung, in der er für uns am
liebenswürdigsten und, vom französischen Einflüsse
abgesehen, am originellsten dasteht, nämlich das
Genre, erscheint ihm selber unzulänglich. Und was
ist ihm dagegen das Wertvolle? Er sehnt sich nach
25
Daniel Chodowiecki.
Selbstporträt. Miniature.
186
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
der Darstellung großer und edler Gefühle und
Leidenschaften, der passions nobles — die man zu
jener Zeit nicht anders als in dem uns unerträglichen
klassicistischen Stile zu behandeln wusste und in den
er selbst verfällt-, so oft er aus dem Kreise der genre¬
haften Stoffe heraustritt. Wirklich schätzt er denn
auch unter seinen Werken die Darstellungen antiker,
mythologischer und religiöser Motive , die nach
unserem Geschmacke ihm meist gänzlich verunglückt
sind, eigentlich am höchsten. Aber noch mehr!
Er bedauert nicht nur, dass die Verleger ihn durch
ihre beharrliche Vorliebe für seine kleinen, modernen
Genrefiguren verhindern, der ärgste Feind seines
Künstlertums zu werden, sondern er ist sogar der
Meinung, er habe seinen Beruf überhaupt verfehlt
- die Malerei, nicht die Radirung, sei das richtige
Gebiet für seine Begabung gewesen. Er habe immer
als Maler schaffen wollen, äußert er einmal, das
Publikum jedoch habe ihn zum Kupferstecher (oder
vielmehr Radirer) gemacht. Indem es nämlich seine
Malereien ablehnte und Radirungen von ihm ver¬
langte.
..Wir wissen kaum, was wir sind“, sagt die
keineswegs unkluge Ophelia; und das Ende ihres
Satzes ahändernd können wir hinzufügen: „aber nicht,
was wir hätten werden sollen.“ Wie oft irrten sich
schon bedeutende und unbedeutende Männer — und
zwar jene noch öfter als diese — über das Ver¬
hältnis ihres Wirkens zu ihrem Wesen! Bei Chodo-
wiecki ist dieser Irrtum jedoch besonders auffallend.
Denn wir bemerken, dass er die Schwächen seiner
Kollegen von der „großen“ Malerei mit scharfem
Auge und scharfer Zunge ganz in unserm Sinne auf-
fasste und formulirte, während ihm offenbar entging,
dass seine eigenen Arbeiten im „idealen“ Stile sich
von jenen andern Werken des Manierismus nur noch
zu ihrem Nachteile unterscheiden. Wie erklärt sich
dieser Widerspruch ? Was hat Chodowiecki als Maler
erreichen wollen? Bei dem Interesse, das die Be¬
deutung des Meisters mit Recht für sich in An-
sprucli nimmt, darf diese Frage gewiss aufgeworfen
und ihre Lösung versucht werden.
Man lernt ja einen Menschen am besten kennen
und am gerechtesten beurteilen, indem man nach
seinem Entwickelungsgange forscht. Das Verstehen
vermittelt dann das Verzeihen oder, bei minder hoch¬
fahrenden Analytikern, die Anerkennung und die Be¬
wunderung. Chodowiecki’s Erlebnisse auf seiner künst¬
lerischen Wallfahrt werden manchem das Geständnis
abnötigen, dass in ihm ein Genius von ausgesprochenen
Talenten mit irregeleiteter Energie um den Ruhm
eines Malers kämpfte, bis die hemmenden Verhält¬
nisse ihn zu ehrenvoller Resignation und in sein
natürliches Geleise zwangen.
Chodowiecki ist einunddreißig Jahre alt geworden,
ehe er eine Radirnadel anrührte. Dagegen wurde
er schon als Kind, obgleich er von Anfang an für
die Handelslaufbahn bestimmt war, seiner Neigung
entsprechend zum Malen angehalten. Gerade das
aber gereichte ihm schon zum größten Verderb und
Nachteile. Ein dilettantischer Arater und eine nicht
minder dilettantische Base, die beide in Miniaturen
das Herkömmliche leisteten, ließen ihn hei Gelegen¬
heit die „Principia“ zeichnen, schlechte Kupferstiche
durchpausen und schraffiren, sowie mit Wasserfarben
malen. Der ganze Kreis urteilsloser Verwandten be¬
wunderte seine halb naiven, halb routinirten Mach¬
werke höchlichst, und man verschaffte ihm sogar
mit der Zeit eine kleine Einnahme aus dem Verkaufe
seiner Miniaturen, indem sie mit denen seiner Tante
an das Quincailleriegeschäft eines Onkels in Berlin
abgesetzt wurden. Als man ihn dann 1743, nach
dem frühen Tode des Vaters, als siebzehnjährigen
Lehrling und Kommis in jenem Geschäfte unter¬
brachte, wurde diese Art von Malerei eifrig fort-
geführt. Seine konventionellen Fürstenbildnisse, seine
Schäfer- und Komödiautenscenen, Blumenstücke und
Ornamente nach französischen Mustern dienten zur
Verzierung von billigen Schnmckwaren , Ringen,
Bracelets, Berloques, Dosen und Stockknöpfen, in
welche sie eingefügt wurden, und er entwickelte
bald eine solche Geschicklichkeit in ihrer Verfertigung,
dass der betriebsame Oheim ihn zu Gunsten dieser
einträglichen Fabrikation dem eigentlichen Zwecke
seines Aufenthaltes in Berlin, der Erlernung des
Handels, immer mehr entzog. Es liegt nun auf der
Hand, dass eine derartige Thätigkeit sein Talent in
die schlimmste Lage brachte. Einen geordneten
Zeichenunterricht hatte er kaum genossen, von einer
wirklichen Ausbildung in der Malerei war nie die
Rede gewesen; übel gewählte Vorbilder, nämlich
manierirte französische und niederländische Kupfer,
verdarben ihm den Geschmack; die spielende Leich¬
tigkeit der Produktion, die er durch mancherlei
Handgriffe erreichte, gewöhnte ihn an flüchtiges
Schaffen, und der Beifall seines Brotherrn, sowie die
Zustimmung des willig kaufenden Publikums ließen
ein strengeres Urteil nicht in ihm aufkommen. Er
und sein Bruder Gottfried, der schon etwas früher
als er von Danzig nach Berlin ausgewandert war,
wetteiferten förmlich darin , wer es dem andern in
der frivolen Eleganz der Arbeit zuvorthäte. Noch
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
187
bedenklicher aber wurde die Lage, als eine herr¬
schende Mode den Onkel veranlasste , statt der
Miniaturen billige Emaillen für seine Quincaillerien
zu verwenden. Jetzt sollten die Neffen die Her¬
stellung des neuen Artikels im großen vornehmen
und ein Goldschmied, Namens Schröder, sollte sie in
die Technik einführen. Bald stellte sich jedoch
heraus, dass der Lehrer ein Ignorant war, der mehr
verdarb, als er zu stände brachte, und dessen Ge¬
schmack selbst dem gänzlich unwissenden Fabrik¬
besitzer verdächtig schien. So hatte Daniel denn
wiederum Untaugliches gelernt und von neuem viele
Zeit verloren, die besser zu seiner gründlicheren Aus¬
bildung im Zeichnen verwendet worden wäre — ein
Bedürfnis, das er, im Gegensätze zu seinem minder
begabten Bruder, allmählich zu empfinden begann.
Ein Überdruss an den geistlosen Kopien, die er zu
Dutzenden nach gleichgiltigen Vorlagen oder nach
eigenen Originalen zu liefern hatte, stieg in ihm auf,
und mit dem Ansprüche, Künstlerisches und Erhabenes
zu schaffen, wie die großen Männer, von denen er
bisweilen las, entwickelte sich in ihm der Trieb, sich
die Malerei von Grund aus auf solide Weise an¬
zueignen. Welchen Weg aber sollte der vielbe¬
schäftigte, unfreie Handelslehrling zu diesem Ziele
einschlagen ?
Das Schicksal ließ ihm einen Fingerzeig dafür
durch seinen zweiten Lehrer im Emailliren erteilen.
Der Augsburger Haid, den Herr Ayrer, der Oheim,
sich aus Polen verschrieb, war ein verkommenes
Genie. Er leistete in seinem Unterricht zwar Besseres
als Schröder, aber zu wirklich guten Erfolgen brachte
auch er es nicht. Sein eigentliches Verdienst um
Chodowiecki bestand schließlich darin, dass er dem
begierig aufhorchenden Jüngling einen Begriff von
dem Wesen der Malerei und von den Kenntnissen
und Fähigkeiten gab, die ein guter Künstler er¬
werben müsse. Er erzählte ihm von den Akademien,
die er ehedem (freilich ohne viel Gewinn) besucht
hatte, und er gab ihm zum Nachzeichnen Aktfiguren,
die noch aus seinen eigenen Lehrjahren stammten.
So nährte er die Aufregung und den Ehrgeiz seines
Schülers und förderte, vielleicht ohne es selbst zu
ahnen, dessen Entschluss, mit der gewohnten Routine
zu brechen , sobald es möglich sein würde. Wann
dieser Fall eintreten könnte, war allerdings zunächst
nicht abzusehen. Es fehlte in Berlin an einer leicht
zugänglichen Bildungsstätte für unbemittelte, auf¬
strebende Künstler; denn die von König Friedrich
dem Ersten in großem Stile eingerichtete Kunst¬
akademie war unter seinem Nachfolger arg vernach¬
lässigt und vollends nach ihrem Brande im Jahre 1743
von Friedrich dem Großen geradezu vergessen worden;
sie führte ein armseliges Scheinleben und durfte
kaum für etwas anderes als für eine mittelmäßige
Zeichenschule gelten. Außer ihr gab es nur noch
die privaten Ateliers der wenigen in Berlin lebenden
Künstler, die aber den in ihnen lernenden Kunst¬
jünger auf lange Jahre ganz mit Beschlag belegten
und außerdem wohl in den meisten Fällen sich nur
gegen ein mehr oder weniger beträchtliches Lelii'-
geld Öffneten. Chodowiecki konnte weder an jenen
ersten noch an diesen zweiten Erziehungscursus
denken; er sah sich vielmehr darauf beschränkt, gute
Kunstwerke mit Aufmerksamkeit zu studiren und nach¬
zubilden, so oft sich ihm in den Kirchen, in den
königlichen Schlössern und Gärten oder in Privat¬
sammlungen eine knappe Gelegenheit dazu bot, oder
wenn es ihm gelang, sich Kupferstiche nach den
damals berühmtesten modernen Meistern, etwa nach
Watteau und Boucher, zu verschaffen. Vor allem
aber: der Zwang, unter dem er dahinlebte, ließ
ihn im Stillen und selbständig auf weitere Aus¬
kunftmittel sinnen und sich allmählich einen eige¬
nen Plan erfinden, nach dem er sich von dem ver¬
hassten Geschäfte befreien und zugleich zur Aus¬
übung der Tafelmalerei Vordringen würde. Je leb¬
hafter er sein Talent empfand, desto unverdrossener
arbeitete er daran, ihm, oft unter harten Entbehrungen
und Kämpfen, zu einer offenen Bahn zu verhelfen.
Dies geschah allerdings zunächst in der Weise,
dass er einen guten Teil seiner Nächte auf Lektüre
von Büchern verwandte, von denen er Aufklärung
und Belehrung über die Kunst oder überhaupt die
Anregung zu einem unverzagten Vorwärtsstreben
erhoffte. Er fühlte sich eben als ein Kind der Zeit,
die das litterai'ische Wort ganz besonders hoch¬
schätzte, die ein „tintenklecksendes Säculum“ war
und dem Plutarch zum Trotz ihre großen Männer
durch Theorie und durch moralische Einwirkung zu
erzeugen gedachte. Ob ihm nun die ästhetischen
und technischen Schriften über die Malerei, jene uns
so unverständlichen Traktate von der Schönheit und
dem Schönen, über Handgriffe und Rezepte, viel ge¬
nützt haben oder nicht, ob ihm wirklich aus den
Lebensbeschreibungen berühmter Künstler die er¬
sehnte Erleuchtung und Erhebung zuströmte, lassen
wir hier ununtersucht; jedenfalls fand der Strebsame
in diesen heimlich und mit Begeisterung betriebenen
Studien ein ihm erquickliches Gegengewicht gegen
die öde, fast mechanische Mal- Arbeit seiner Tage.
Indessen vernachlässigte er diese deshalb keineswegs ;
25*
188
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
vielmehr gelang es ihm durch erhöhte Sorgfalt so¬
wie durch häufiges Studiren nach Vorlagen, nach
Gips und auch nach der Natur, sich in Zeichnung,
steinen bereicherte Dosen zu taugen begannen. Diese
wurden natürlich weit höher bezahlt als die früheren
und zugleich stieg Chodowiecki durch sie in der
Gc^i-llHchaft im Tiergarten zu Berlin. Gemälde von Daniel Chodowiecki im Leipziger Museum.
Farbe und Erfindung allmählich zu verbessern. Er
erreichte damit, dass seine Plmaillen und Miniaturen
nicht mehr zu untergeordneten Waren verwendet
wurden, sondern für kostbare, goldene und mit Edel-
Achtung seines Oheims, der ihm deshalb auch mehr
Freiheit und Selbständigkeit ließ.
So verging Jahr auf Jahr in dem eintönigen
Wechsel zwischen der immerhin noch konventionellen
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
189
Geschäftsmalerei zum Broterwerbe und der stillen
Vorbereitung auf glücklichere Zeiten. Nur wenige
künstlerische Zeugnisse illustriren uns Chodowiecki’s
Thätigkeit in dieser Periode. Es sind einzelne Zeich¬
nungen, die sich von ihm erhalten haben, und
außerdem ein überaus reizvolles Album von 42 Blätt¬
chen in Federzeichnung, verbunden mit schwarz¬
brauner Tuschmalerei (im Besitze der Großherzogin
von Sachsen). Erkennen wir aus einer jener Zeich¬
nungen, die eine Predigt vor polnischen Wallfahrern
(1750) vorstellt, den noch kindlich befangenen und
unbeholfenen Realisten, der aber doch schon selb¬
ständig zu beobachten beginnt, so tritt uns in dem
fast gleichzeitigen Album (1752) ein vollkommen routi-
nirter Französling entgegen. Wir können uns also
an diesen beiden Beispielen über das künstlerische
Doppelleben des jungen Daniel ganz ausreichend
orientiren. Die Zeichnung ist einer der zum Stu¬
dium unternommenen Privatversuche ; das Album aber
— es handelt sich um Abbildungen zu der humo¬
ristischen Novelle „Blaize Gaulard ou le Neveux de
la tante Bobe“, von denen Chodowiecki 1776 zwölf
Blätter für den Berliner Kalender mit geringen
Veränderungen radirte (E. 140) — schlägt nach
Format und Technik ganz in die gewohnte Miniatur¬
malerei und steht deswegen unter dem Banne fran¬
zösischer Muster. Mit diesen teilt es manche
Schwächen : die schwankenden Proportionen, die un¬
korrekte Zeichnung, die oft manierirten Motive ; aber
es überrascht auch durch eine scharfe, lebendige
Auffassung, durch frische Charakteristik und durch
Anmut und Grazie, während die Behandlung der
Komposition und der Lichtführung mit einer ebenso
erstaunlichen, leichtfertigen Sicherheit gehandhabt
ist. Es muss dem Meister dieser zierlichen Blätter
entschieden als ein Verdienst angerechnet werden,
dass er sich mit einer so hervorragenden Geschick¬
lichkeit, die ihm im damaligen Berliner Kunsthand¬
werke das beste Fortkommen gewährleistete, nicht
begnügte , sondern minder banausisch gesonnen
einem ihm selbst eigentlich noch verhüllten Ziele
zustrebte.
Von Miniaturen und Emaillen scheint sich aus
dieser Periode Chodowiecki’s nichts bis auf uns ge¬
rettet zu haben; wenigstens lassen sieb die später
zu erwähnenden Stücke nicht ohne Willkür so weit
hinaufdatiren. Und doch muss seine Produktion
eine sehr reichliche gewesen sein; denn im Jahre
1754 fand sich, dass das Geschäft des Oheims den
Brüdern schon eine gewisse Summe schuldig war,
während sie anfangs als ziemlich unbemittelte Lehr¬
linge sich in ihm die ersten Fertigkeiten angeeignet
hatten und also ihrerseits dem Geschäfte gegenüber
in einer Schuld standen. Jetzt trafen sie mit dem
Oheim im Abkommen, das ihnen volle Selbständig¬
keit gewährte. Sie sollten auf eigne Hand arbeiten
und Herr Ayrer verkaufte ihre Lieferungen , von
deren Erlös er ihnen zwei Drittel auszahlte. Das
Verhältnis der Brüder zu einander aber gestaltete
sich allmählich so, dass der energische und streb¬
same Daniel den weniger begabten Gottfried in jeder
Beziehung weitaus überflügelte, ihm jedoch stets
hilfreich zur Seite blieb. Ein solches Zusammen¬
halten wurde auch dadurch begünstigt, dass beide
Chodowiecki’s sich am 18. Juli 1755 mit Damen aus
der französischen Kolonie verheirateten und längere
Zeit ein Haus gemeinsam bewohnten.
Unser Meister stand also 1755, fast dreißig¬
jährig, als ein geschätzter Emailleur und Miniaturist
vor dem Berliner Publikum, ohne doch jemals einen
anderen Unterricht in diesen Künsten genossen zu
haben als seinen eigenen, gänzlich unberatenen und
zeitweilig denjenigen unberufener Lehrer. Zum Glück
hörte er nicht auf, diesen Mangel zu empfinden; und
während er, wie früher, mit der Verfertigung seiner
Kunstwaren für den Broterwerb fleißig fortfuhr,
ging er jetzt mit verdoppeltem Eifer an die Ver¬
wirklichung seiner kühneren Pläne. Er konnte nun¬
mehr ernsthafter an den zweiten Teil jenes Pro¬
grammes denken, das er sich für seine Bildung auf¬
gestellt hatte; und dieser Teil enthielt als Grundzug
die Idee, die seiner ganzen spätem Kunstübung ihren
Stempel aufprägen sollte. Während alle Theoretiker
und Praktiker rings um ihn her die Bewunderung
der Natur zwar stets im Munde führten, in ihren
weiteren Darlegungen und in ihren Werken aber
immer wieder auf ihre Stilisirung im Sinne der
Antike und gewisser, als Muster anzuerkennender
Meister gerieten, beschloss Chodowiecki, die Natur,
die er schwärmerisch liebte, aufzugreifen wie er sie
fand, und die Welt so wiederzugeben wie er sie sah.
Er verhehlte sich nicht, dass ihm dazu noch
fast alles Können abging. Hatte er doch bis jetzt
niemals einen Akt gezeichnet oder überhaupt einen
nackten Körper unter dem Gesichtspunkte seiner
künstlerischen Schönheit betrachtet! Hier also musste
er einsetzen; und wirklich fügte es sich, dass gerade
im rechten Augenblicke der Maler Bernhard Rode
einen Aktcursus in seinem Hause eröffnete, da eine
Gelegenheit dazu den jungen Malern an der Kunst¬
akademie seit langem nicht geboten wurde. Mit
dem für ihn so charakteristischen emsigen Fleiße
190
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
beteiligte sich Chodowiecki an diesen unumgänglich
notwendigen und heilsamen Übungen, die er einige
Jahre hindurch, und schließlich mit Rode allein
fortsetzte, da die übrigen Künstler der Sache bald
überdrüssig wurden und von ihr absprangen, indem
sie sie für entbehrlich erklärten.
Eine solche Meinung ließ Chodowiecki in sich
nun keineswegs aufkommen. Im Gegenteil! Als die
Kunstakademie später wieder ihren Aktsaal benutzte,
verfehlte er bis in sein Alter nicht, wenn er es
irgend ermöglichen konnte, sich an einem oder zwei
Abenden der Woche in ihm zu üben. Aber er hat
es dennoch niemals zu einer vollkommenen Be¬
herrschung der menschlichen Körperformen und ihrer
Bewegungen gebracht: sobald seine Figuren das
Miniaturformat überschreiten, verfallen sie leicht in
das Schematische und Konventionelle. Die Ursache
dieser Schwäche ist offenbar darin zu suchen, dass
er mit dem Formenstudium erst verhältnismäßig spät
begann, und ferner darin, dass er es auch nicht sorg¬
fältig genug betrieb. Er wollte wahrscheinlich zu-
nächst nur die Behendigkeit von Auge und Hand
ausbilden , wenn er sich hauptsächlich auf das
Schnellzeichnen legte. Während die Kollegen einen
Akt in zwei Abenden zu stände brachten, war er stolz
darauf, ihrer zwei an einem Abende (in einer Höhe von
etwa öOCentimeteru) hinzusetzen. Darüber musste er
natürlich das eingehende Erkennen der Formen ver¬
nachlässigen ; und wenngleich seine uns erhaltenen
Aktfiguren recht sauber und fein gezeichnet sind, so
fehlt ihnen dabei fast immer der geistreiche, leben¬
dige Zug, der sich stets einstellt, wenn ein Meister
herrliche Naturformen mit einem der Natur gleichsam
kongenialen Vermögen nachschafft.
Indessen handelte es sich bei alledem nur um
Modelle, denen unter künstlicher Beleuchtung eine
künstliche, gewählte Stellung gegeben war. An
ihnen fand ja der Zeichner die Naturbildung, die er
suchte; aber sie zeigte sich ihm bloß von einer ihrer
Seiten, bloß in der unbewegten Form. Das genügte
unserni Chodowiecki nicht. Sein stets beobachtendes
Auge hatte ihm längst die Mannigfaltigkeit und
Schönheit der zahllosen malerischen Motive er¬
schlossen, die der sich selbst überlassene Mensch,
im Freien oder in Räumen wandelnd und handelnd,
dem Auffassenden darbietet. Und hatte er schon
früher bei Gelegenheit nach der Natur oder aus der
Erinnerung skizzirt, so warf er sich jetzt ganz
speziell auf diese Übungen. Er machte förmlich
Jagd auf die Menschen seiner Umgebung. Womög¬
lich ohne dass sie es ahnten — aus Furcht, sie
möchten interessante Mienen und Posen affektiren,
sobald sie sich aufs Korn genommen fühlten —
fixirte er mit flüchtigen Bleistiftstrichen und be¬
zeichnenden Druckern ihre Stellungen, ihren Ge¬
sichtsausdruck, ihre Gruppirungen auf die Blätter
seiner Notizbücher. In den Gesellschaften zeichnete er,
hinter irgend einem breiten Rücken oder hinter der
Lehne eines Sessels verschanzt, die spielenden, rnusi-
cirenden, konversirenden Damen und Herren; gelang
es ihm, so guckte er durch das Schlüsselloch so¬
gar in ein Schlafzimmer. Von seinem Fenster aus
bemächtigte er sich der ihm interessanten Figuren
auf der Straße, und bei seinen Spaziergängen, selbst
während seiner häufigen Ritte, griff er landschaft¬
liche Motive, die ihn reizten, oder sonst allerlei
Details zum Studium oder zu weiterer Verwendung
auf. Dabei beachtete er nicht bloß die charakte¬
ristischen Eigentümlichkeiten der Ei'scheinungen in
Bewegungen, Formen und Typen, sondern er ver¬
wandte auch viel Aufmerksamkeit auf die Licht¬
führung und die Beleuchtungseffekte. Rembrandt
und Correggio wurden damals hauptsächlich wegen
ihrer Meisterschaft in diesen Dingen bewundert und
von Malern wie Radirern darin nachgeahmt; neben
den ihrigen standen die Künste eines Gottfried
Schalcken in hohem Ansehen. Chodowiecki, der bei
allen seinen Studien die Ölmalerei im Auge hatte,
aber solche Fertigkeiten auch bei den Emaillen und
Miniaturen anwenden konnte, beschäftigte sich also
ebenfalls eingehend mit dem Helldunkel. Unter
seinen unzähligen Skizzen aus den fünfziger Jahren
befinden sich sehr viele, die in der Weise seiner
Radirung (E. 22:) „Der große L’hombretisch“ eine
Anzahl von Personen um eine Kerze versammelt
darstellen. Die herrlichsten Licht- und Schatten¬
massen, sagt er einmal, ergeben sich bei solchen
Gruppen und gewähren die beste Anleitung zu ihrer
Anordnung im größeren Maßstahe. Guter, be¬
scheidener M.mn! Wie Cennino Ceunini ein Ge¬
birge nach den Motiven des gebrochenen Steines
entwirft, den er sich als Modell in der Werkstatt
hält, so gedenkt er die herrlichen Gruppen, die
großartigen Wolkengebilde und die erhabenen Hallen
der Gemälde, von denen er träumt, gemäß den
Wirkungen des Öllämpchens oder des Talglichtes
zu beleuchten, bei deren Schein seine Frau mit den
Demoisellen Quantin oder Lecoq ihre Karten legte
oder Handarbeiten machte.
Trotz dieser Naivetät, die uns statt eines künf¬
tigen Historienmalers den geborenen Genrezeichner
zeigt, müssen wir allen solchen Bestrebungen Chodo-
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
191
wiecki’s eine für ihn schwerwiegende Bedeutung bei¬
messen. Es fand sich außer ihm kein einziger in
Berlin, ja vielleicht in Deutschland, der mit gleicher
Frische und Entschlossenheit sich einem so aus¬
gesprochenen Realismus hingab; und handelte es
sich hier zunächst auch nur um Studien, um vor¬
bereitende Skizzen, die stets um ein gutes Teil un¬
mittelbarer empfunden sind als ihre späteren Aus¬
führungen im Gemälde, so überrascht doch an ihnen
die für jene Zeit überaus glücklich zurückgedrängte
Manier. Wir erkennen mit teilnehmender Freude,
dass unseres Meisters gesunde Natur thatsäclilich
den besten Weg gewählt hatte, um aus der fran¬
zösischen Routine, so weit es ging, herauszukommen.
Natürlich probirte Chodowiecki, gleichsam sich
selber vorgreifend, auch schon früh die Ölmalerei.
Palette und Farben lagen ihm längst bereit, und er
wird wohl ab und zu mit ihnen seine Versuche an¬
gestellt haben; aber das eigentliche Malen kam, wie
er selbst berichtet, ganz plötzlich über ihn. „An
einem trüben Abend“, lesen wir in seiner fragmen¬
tarischen, bisher noch ungedruckten Autobiographie,
„überfiel mich wie ein Fieber der Trieb, in Ölfarben
zu malen, ich .... setzte meine Palette auf und
malte denselben Abend noch eines alten Mannes
Kopf; wie groß Avar meine Freude, da ich sah, ich
würde die Abende können in Ölfarben malen; bei
Tage war es anderer Geschäfte halber nicht möglich.
Darauf ging ich weiter; ich legte ein Stück Leinwand
gerade horizontal auf den Tisch vor mich, setzte
eine Lampe vor mich hin, fing die Strahlen des
Lichtes durch ein konvexes Glas auf und führte sie
auf meine LeinAvand, wohin ich sie brauchte. Das
beleuchtete mir sehr die Arbeit und ich malte, so
lange mir der Schlaf Frieden ließ .... Eines
Abends als ich zu Herrn Rode in die Akademie (d. li.
zu dem Aktzeichnen) kam, sah ich das Modell noch
angekleidet neben einem eisernen Ofen sitzen, es war
wenig andres Licht im Zimmer als das Feuer im
Ofen; das machte einen herrlichen Rembrandt’schen
Effekt. Ich zeichnete es sogleich (mit Rötel), und
da ich nach beendeter Akademie nach Hause kam,
setzte ich nach dem Abendessen noch die Palette
auf und malte denselben Abend bis drei Uhr in die
Nacht das Bild fertig. Als der Sommer kam (etwa
1755 oder 1756), setzte ich alle Woche einen Tag
zur Ölmalerei an, konnte auf diese Art nur wenig
vor mich bringen.“
Diese letzte Angabe wird auch der grimmigste
Skeptiker nicht bezweifeln wollen. Das Wenige aber,
das er vor sich brachte, hat für den ein Interesse, der
über den damaligen Zustand der Ölmalerei in Berlin
unterrichtet ist. Antoine Pesne, der unverfälschte
Franzose, war das Hauptgestirn des dortigen Him¬
mels, wobei er im ganzen wenig aus seiner reser-
virten Stellung als Hofmaler heraustrat. Ihn hatte
Chodowiecki zu besuchen gewagt und war auch nicht
unfreundlich von ihm empfangen worden; indessen
hatte die Zusammenkunft keine weiteren Folgen, und
Pesne starb zu früh (1757), als dass er durch den
allmählich anwachsenden Ruhm des jüngeren Ge¬
nossen wieder auf ihn aufmerksam geworden wäre.
Lesueur, der Direktor der Akademie, schien kaum
mehr als eine behäbige Null; er leistete so gut wie
gar nichts, und so war auch wenig von ihm zu lernen.
Die übrigen nahmhafteren Berliner Meister aber:
Bernhard Rode, Johann Martin Falbe, Johann Gott¬
lieb Glume, die beiden Meil, Frisch, Reclarn — sie
alle hielten sich schlecht und recht im französisch¬
italienischen Fahrwasser. Ihre Bildnisse zwar sind
ziemlich nüchtern und trocken; in ihren allegorisch¬
mythologischen Fresken jedoch, etAva an den Plafonds
des Neuen Palais, in ihren Altarbildern, Historien und
dekorativen Vignetten herrscht durchaus der idealis¬
tische Stil der Pariser Akademie. Aber schreitet er
in Frankreich, als prangender Herold eines unerhört
anspruchsvollen Jahrhunderts, wie auf dem Kothurne
einher, so lief er W'ie auf Stelzen über den märki¬
schen Sand, der zu jener Zeit die erhabene Phrase
noch kaum selbst hervorgebracht hatte, und seine
Kranichtritte nötigten schon damals nicht allen
Beschauern Bewunderung ab. Auch Chodowiecki,
obgleich er mit den genannten Meistern freundschaft¬
lich verkehrte, vermochte es nicht über sich, irgend
einem von ihnen nachzuahmen. Vielmehr verharrte
er, als er jene Versuche in der Ölmalerei fortsetzte,
zunächst durchaus in der ihm eigentümlichen Sphäre
und brachte sich dadurch, wahrscheinlich übrigens
viel eher unbewusst als bewusst, in einen gewissen
Gegensatz zu den Kollegen. Mit einer Technik, die
der primitiven Art seiner Übungen entsprach, malte
er nämlich eine Scene, wie er sie in seinem Skizzen¬
buche gefunden haben mochte, und dachte offenbar
nicht daran, sich eine Komposition mit „schönen“
Stellungen und Gefühlen abzuquälen. Wir reden
von einem Bildchen (Privatbesitz in Charlottenburg),
das offenbar kein anderes ist, als das erste, das
Chodowiecki nach jenem männlichen Kopfe ausführte.
Es stellt, dem Berichte des Künstlers entsprechend,
eine Brautwerbung dar. „Nun mahlte ich einen Alten,
der bei einer Alten um ihre Tochter anhält“, heißt
es in der schon einmal citirten Autobiographie.
192
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
Das Bild aber zeigt auf einförmigem Grunde, der ein
Gemach andeuten soll, eine stattliche alte Dame im
Kostüm des achtzehnten Jahrhunderts und ihr zur
Seite ein anmutiges Mädchen; beide empfangen mit
freudigem Erstaunen den Besuch eines Fremden in
gesetzten Jahren, der in Begleitung eines zierlichen
wohl weil es das früheste unter seinen Versuchen
war, so sehr, dass er es noch in seinem hohen Alter
rentoiliren ließ. Und doch ist es durchaus dilettan¬
tisch und unscheinbar. Wie das Lokal nur aus den
Requisiten, nämlich Tisch und Stuhl, erraten wird,
so ist auch die Komposition flüchtig und locker
Kine Wochenstube. Gemälde von Daniel Chodowiecki.
Jünglings und eines mit Gepäck beladenen Bedienten
das Zimmer betritt. Auch der Hausherr, in Schlaf¬
rock, Zipfelmütze und Pantoffeln, begrüßt die An¬
kömmlinge; die Tochter aber deutet durch eine dis¬
krete Gebärde an, der junge Mann sei ein Erwarteter
und Erwünschter. Chodowiecki liebte dieses Bild,
Die Farben, an sich reizlos, sind in landläufiger Har¬
monie und fast ohne Schatten verteilt; überhaupt
sind die zeichnerisch entworfenen Gruppen eigent¬
lich nur gefärbt und konventionell beleuchtet. An
dem feinen Humor, der das Ganze belebt, ohne irgendwo
an Karikatur zu streifen, und an manchen Einzel-
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
193
Leiten, wie z. B. den sprechenden Händen, erkennt
man vollends den Maler als einen Künstler, der wohl
längst seiner Gegenstände und ihrer Wiedergabe im
allgemeinen, aber noch lange nicht ihrer Verwertung
innerhalb eines koloristisch zu empfindenden Werkes
Herr war.
Also das Aktzeichnen, das Skizziren nach der
Natur und die Versuche mit Ölfarben sollten, neben
dem Studium von Lehrbüchern, Kupferstichen und
Gemälden, unsern Emailleur und Miniaturisten über
seinen bisherigen Stand hinaus fördern. Wir müssen
jedoch im Auge behal¬
ten, dass er alle diese
Dinge nur nebenher
treiben konnte, sie nur
mühsam dem täglichen
Geschäfte abstahl.
Denn immer schwung¬
voller wurde der Han¬
del mit seinen Fabri¬
katen, die bereits den
Durchschnitt ihrer
französischen Vorbil¬
der erreichten oder
übertrafen. Mit Ver¬
wunderung entnehmen
wir den Rechnungen in
einem Notizbuche des
Meisters, wie zahlreich
die kleinen Porträts und
Plaquetten waren, die
er monatlich ablieferte;
denn nur dem ange¬
strengtesten Fleiße und
einer unfehlbaren
Handfertigkeit sindsol-
clie Mengen immerhin
wertvoller Erzeugnisse
zuzutrauen. Da erhal¬
ten die Hofjuweliere Jordan und Reclam gleich in
mehreren Exemplaren die Köpfe oder Brustbilder des
Königs oder des Prinzen Heinrich oder der Prinzessin
Ulrike; da werden für einige hundert Thaler emaillirte
Dosenteile notirt , und allerhand Privatbestellungen
kommen noch dazu. Besonders während des Sieben¬
jährigen Krieges blühte das Geschäft, und zwar speziell
die Bildnismalerei in Miniatur. Berlin beherbergte
in jener Zeit eine große Gesellschaft reicher Adligen,
die sich aus den bedrohten Landesteilen und von
ihren Gütern nach der Residenz gezogen hatten, wo
sie in leidlich vergnügtem Treiben den Frieden er-
Zeitsclnift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 8.
warteten; ihr geschäftiger Müßiggang kam den
Künsten einigermaßen zu gute und brachte besonders
den Porträtisten erwünschte Einnahmen. Damals ließ
Chodowiecki, der aus Furcht vor krittelnder Kritik
bisher nur seine Angehörigen, seine nächsten Freunde,
sich selbst und jene wehrlosen Fürstenköpfe gemalt
hatte, sich überreden, als Porträtist in die Dienste
eines größeren Publikums zu treten. Der erste Ver¬
such darin, das Miniaturbildnis eines Herrn v. Burgs-
dorff, fand Beifall durch seine gesunde Farbe und
die natürliche Auffassung. Bald mehrten sich die
Kunden, und Chodo¬
wiecki befriedigte sie
mit immer wachsendem
Vergnügen, weil er
einsah, dass das Por¬
trätmalen für jeden
nicht ganz konventio¬
nellen Künstler ein fort¬
währendes Studium
nach der Natur ist.
Auch bot sich ihm hier
eine Gelegenheit, durch
die Darstellung rich¬
tiger Posen und kor¬
rekter Bewegung zu
beweisen, wie nützlich
selbst dem Miniaturis¬
ten das Beobachten der
Menschen in ihrem
Wesen sei.
Aus dieser Periode,
also etwa aus den Jah¬
ren 1755 — 65, stammen
die übrigen nicht sehr
zahlreichen Werke der
Kleinmalerei, die mit
Sicherheit Chodowiecki
zuzuschreiben sind.
Manches echte, bezeiclmete Stück mag ja in entlegeneren
Sammlungen und im Privatbesitze sich noch verborgen
halten, manches unbezeichnete, aber doch auch echte
unter falschem Namen oder namenlos gezeigt werden;
indessen ist das meiste ohne Zweifel zu Grunde ge¬
gangen, weil es an das Schicksal der im allge¬
meinen ja sehr vergänglichen Schmucksachen gebun¬
den war. Was sich gerettet hat, verdanken wir
hauptsächlich der Sorgfalt der älteren Sammler und
außerdem der Pietät der Nachkommen unseres Künst¬
lers, die den ererbten und öfters durch eben diese
Erbfolge auch beglaubigten Besitz gewissenhaft ge-
26
Kinderbild. Gemälde von Daniel Chodowiecki.
194
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER,
schützt haben. Wie altmodisch, wie intim muten
uns nun die zierlichen Emaillen an! Bald zeigen sie
auf zart rosa Grund Amorettentänze um den Altar
der Freundschaft oder der Liebe, in grauem Camayeu
ausgeführt. Bald sehen wir, im kleinsten Format,
aber in blühenden Farben, eine Toilette der Venus
oder eine Schmiede Cupido’s — „Sapristi, que c’est
rococo!“, möchten wir auf Französisch ausrufen, weil
uns im Deutschen der genau entsprechende Ausdruck
für diese bei aller Affektation so liebenswürdig wunder¬
liche Welt offenbar noch mangelt. Und wirklich ist
die Arbeit auch ganz französisch; der pointillirte
Grund, die roten Umrisse und Modellirungen des
Fleisches, die kecken Touclien — alles ist den vor¬
geschrittenen Nachbarn entlehnt und legt Zeugnis
dafür ab, wie erfolgreich die französischen Refugies
bestrebt gewesen waren, die Künste ihrer alten Heimat
der neuen als Gastgeschenk zu überliefern. Ja selbst
die Kompositionen sind oft Kopien französischer Vor¬
lagen noch in den Jahren, in denen Chodowiecki
sonst schon als selbständiger Schöpfer auftritt; so
findet sich auf der Innenseite des Deckels einer be-
zeiclmeten Dose die im Gegensinne dargestellte Nach¬
bildung von Lemoyne’s „Herkules bei der Omphale“
aus dem Louvre; und eine Folge von sechs Email-
plaquetten (1757), die vermutlich bestimmt waren, in
eine Kassette eingesetzt zu werden, erweist sich als
eine uneingestandene Anleihe aus des Sebastien le
Giere radirter „Passion“ mit ihrem ganzen gewalti¬
gen theatralischen Apparat und Pathos im Miniatur¬
format. Bei aller Sauberkeit und Farbenpracht tritt
dieses letzte Werk, dessen innere Hohlheit der
schlichten Empfindung Chodowiecki’s widersprach,
entschieden hinter seinen anspruchsloseren Schäfer-
scenen, Gesellschaftsspielen und sonstigen leichten
Erfindungen in der Wirkung zurück. Mögen auch
sie weder deutschnational noch überhaupt ganz
originell sein, so enthalten sie doch stets etwas von
dem anmutigen, feinen Humor und der Grazie ihres
Schöpfers, der diese ihm angeborenen Eigenschaften
im Verkehr mit der französischen Formen weit ent¬
wickelt hatte. Dagegen verspüren wir wieder in
einem Emailporträt Friedrichs des Großen (1758) den
sorgfältigen Arbeiter, dessen Aufmerksamkeit sich so
sehr auf das rein Technische konzentrirt, dass seine
Persönlichkeit dem Gegenstände nichts zu gute
kommen lässt und seine Hand sich außerdem gründ¬
lich verzeichnet.
Dass von den Miniaturen Chodowiecki’s kaum
etwas anderes zu berichten ist als von seinen Emaillen,
liegt in der Natur der Sache. Das Email hatte sich
ja längst seiner uralten, strengen und charaktervollen
Eigentümlichkeiten entäußert und, bis auf die Tech¬
nik, sich der Miniaturmalerei in Gouachefarben an¬
geschlossen; so kam es, dass beide Künste zur Ver¬
zierung der nämlichen Geräte oder Schmucksachen
verwendet wurden und dieselben Stoffe in denselben
Formaten behandelten. Nur war die Miniaturarbeit
die bei weitem billigere von beiden und verdrängte
deshalb allmählich die ehemals so vornehme Neben¬
buhlerin, an der sich das Publikum, nach ihrer zeit¬
weiligen, breiten Beliebtheit, übrigens auch satt zu
sehen begann. Andererseits unterliegen die Minia¬
turen wider viel eher als die Emaillen dem Verderben,
und überdies gefährdet sie der Umstand, dass ge¬
wöhnlich eben sie dazu verurteilt sind, die Züge von
Privatpersonen darzustellen, die der vergesslichen
Nachwelt bald gleichgültig und des Aufbewahrens
unwert erscheinen. Zum Glücke haben sich jedoch
unter Chodowiecki’s Miniaturen gerade einige Bild¬
nisse erhalten, und diese erklären uns, warum er mit
seinem Porträtiren so rasch in die Mode kam. Es
sind drei kleine Medaillons, die ihn selbst (1759),
sein ältestes Töchterlein (1762) und seinen Bruder
Gottfried (?) zeigen, sowie ein viereckiges Brustbild
seiner Frau, das er auf Elfenbein gemalt und mit
einem Kartenblatt unterlegt hat. In ihnen ist von
französischem Einflüsse nichts zu bemerken; wir
haben hier durchaus den relativ unverfälschten Ein¬
druck und die treue Wiedergabe eines ruhig und
scharf Beobachtenden, der für sein Werk nach Wahr¬
heit strebt. Schon dies fällt ja in jener Zeit als ein
besonderer Vorzug auf; aber als ein zweiter gesellt
sich zu ihm die feine, sichere Technik, die gegen¬
über der herkömmlichen Roheit und Nachlässigkeit
der meisten deutschen Miniaturisten derselben Periode
alle Anerkennung verdient.
Wie steht es nun aber um den Fortgang von
Chodowiecki’s Ölmalerei? Was ließ er jener „Braut¬
werbung“ folgen? Da wir hörten, dass er, etwa wie
ein komischer Schauspieler sich im Stillen tragischer
Rollen für fähig hält, auf die Malerei in einem
größeren Stile hinauswollte, so liegt die Vermutung
nahe, er habe nunmehr Mittel gesucht, um nach
Italien zu gelangen, oder sei mindestens mit seinen
Skizzen und Entwürfen in die Schule des Le Brun
oder de Troy oder Silvestre gegangen. Weit gefehlt!
Nach Italien zu reisen, fiel ihm erst ein, als es für
ihn viel zu spät war; er hat niemals das Land
Domenichino’s, Guido Reni’s, der Caracci und der
Antike erblickt. Aber er bedauerte das auch nicht,
denn er bemerkte, dass viele umsonst die Pilger-
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER.
195
Schaft dahin unternahmen und nur Verwirrung oder
Verbildung von dort zurückbrachten. Was aber die
historisch-heroischen Entwürfe betrifft, so scheint er
allerdings mit ihnen einen Versuch angestellt zu
haben. Auf die „Brautwerbung“ folgt nämlich „die
Geschichte des Eliezer, der von Laban geführt dem
Betlmel den Antrag machte, seine Rebekka dem
Isaak zu geben“. (1. Mose 24.) Leider ist dieses
Bild verloren; ’) es würde uns darüber belehrt haben,
ob Chodowiecki in jener Periode irgendwelche Selb¬
ständigkeit in der Auffassung eines der Gegenwart
fern liegenden Stoffes besessen hat. Vermutlich ist
dies nicht der Fall gewesen und der Künstler mochte
sich wohl selbst das Geständnis einer vorläufigen
Unfähigkeit dazu ablegen, denn er ist so bald nicht
wieder an ein zu stilisirend es Problem heran getreten.
Abelmehr griff er von neuem auf seine Skizzenbücher
zurück und übersetzte die angenehmen Gruppen, die
das Leben seiner täglichen Umgebung ihm zeigte,
aus der Bleistiftstudie iu säuberlich ausgeführte
kleine Ölbilder.
Auf diese Weise entstand im Laufe der nächsten
Jahre — nachweislich seit 1757 — eine Reihe von
Gesellschaftstücken, die unter sich eine höchst charakte¬
ristische Gruppe bilden. Sie versetzen uns gewöhn¬
lich in die Wohnstube des Künstlers, in der die
Personen seines Verwandten- und Freundeskreises
auf mancherlei Art angebracht und verteilt sind.
Oft handelt es sich um Damenvisiten; da sitzen sie
denn in zwanglosen Zusammenstellungen umher und
unterhalten einander durch Konversation, durch ge¬
meinsame Lektüre oder durch ein wenig Gesang zur
Guitarre. Gelegentlich wird auch ein Kartenspiel
gemacht, und zwischen den Damen befindet sich
dann wohl dieser oder jener Hausfreund, dessen
Scherze die Gesellschaft zu einer anständigen Heiter¬
keit animiren. Mit Vorliebe bringt unser Künstler,
ein musterhafter Ehemann, seine Gattin im Bilde an;
hat er sie bei seinem heimlichen Skizxiren nur zu
oft auf einem Schläfchen im Lehnstuhl ertappt,
so lässt er die tüchtige Hausfrau doch auch nähend
und stickend ihren Fleiß beweisen. Und als sich
gar endlich der längst erhoffte Kindersegen (seit 1760)
einstellte, verwandelte man die Wohnstube in eine
Wochenstube und machte sie zum Schauplatze der
zartesten Familiensorgen und Freuden: natürlich fand
1) Eine Tradition will wissen, die oben beschriebene
„Brautwerbung“ sei nichts andres als die aus der Bibel
travestirte Scene Elieser’s; doch widerspricht dem sowohl der
Wortlaut in der Autobiographie Chodowiecki’ s als auch der
bei allem Humor fromme und strenge Sinn des Künstlers.
sie da erst recht ihre Verherrlichung im Gemälde
samt allen ihren Insassen, von der glücklichen
Mutter und dem Säuglinge an bis zu den greisen
Schwiegereltern Barez, und den besorgten Schwäge¬
rinnen, und den Cousinen Rollet, in deren Hause man
wohnte. — Offenbar sind die erwähnten Bilder zum
Teil im Winter gemalt, worauf die Pelzboa’s und die
Muffe mancher Damen, sowie die mehrmals vor¬
kommende Kerzenbeleuchtung bei den Unterhaltungen
hindeuten; im Sommer aber treffen wir die Gesell¬
schaften auch im Freien. Da ergehen sich die uns
wohlbekannten, porträtähnlich dargestellten Personen
auf einem Rasenplatz des Berliner Tiergartens bei
einer Partie Federball, oder sie übertragen ihre
Konversationen aus dem Salon in die breiten Alleen
und in den Schatten eines Baumes oder Gebüsches des
Parkes; man lagert sich am Ufer eines stillen Wassers
oder lehnt an dem Postamente einer Statue und
lauscht auf die Klänge der Flöte und eines kleinen
französischen Couplets, wenn man nicht vorzieht, sich
den Freuden des ländlichen Frühstücks zu überlassen.
Das Bedeutsame an allen diesen Bildern ist nun,
dass sie zwar im allgemeinen an französisches Genre
erinnern, im einzelnen aber weder von Watteau,
noch von Grenze oder deren Schulen beeinflusst
sind. Davor schützt sie ihr anspruchsloser Realis¬
mus. Sie wollen weder, wie Grenze, die Reize des
naiven Seelenlebens, noch, wie Watteau, die Freu¬
den einer fingirten Gesellschafts Sphäre darstellen.
Sie sind eben nichts andres, als die treuen Illustra¬
tionen aus dem Leben der Familien Chodowiecki,
Barez, Quantin, Laine u. s. w., die vom Künstler zu
seiner Übung gemalt, aber zugleich meistens mit
großer Liebe durchgeführt wurden und übrigens
weder für den Handel bestimmt waren, noch jemals
in den Handel kamen. Gerade das verleiht ihnen
jedoch ihre eigentümliche Bedeutung. Wir sehen
an ihnen, dass die Vorurteile des Künstlers für eine
monumentale Malerei doch nicht stark genug
waren, um sein Naturell zu überwältigen. Da er
sich selbst überlassen blieb, indem sein selbständiges
Wesen ihm bei der Begründung eines freieren
Künstlertumes vom Anschluss an andere abriet, so
wählte er für seine fortgesetzten Übungen im Öl¬
malen unbedenklich, zunächst die Stoffe, die ihm
am nächsten lagen, d. h. solche, bei deren Behand¬
lung seine Gewöhnung an das Genrehafte und seine
durchdringende Beobachtung sich begegneten. Diese
Arbeiten schienen ihm im ganzen zu gelingen, und
so blieb er einstweilen bei ihnen stehen, ohne im
übrigen einen höheren Wert auf sie zu legen. Auch
26*
196
DANIEL CHODO WIECKI ALS MALER.
wir werden sie ähnlich beurteilen. Sie sind nicht
alle gleichmäßig ausgeführt; die reifsten unter ihnen
erfreuen durch eine zarte, sanfte Färbung, durch
graziöse, lebendige Motive und durch jene Sorgfalt,
die mit allen ihren Mitteln haushält, um jedes an
seinem Orte bescheiden, aber auskömmlich wirken
zu lassen. Was jedoch der Künstler selbst viel¬
leicht nicht klar erkannte, fügen wir hinzu: in diesen
Bildern offenbart sich vor allem das Talent eines
Zeichners und eines Erzählers. Wie bei der „Braut¬
werbung“ der Stoff, mit seiner geistreichen Be¬
handlung, die malerischen Probleme des Gemäldes
durchaus in den Hintergrund drängte, so sagen wir
auch bei den andern Kompositionen, dass sie ebenso
gut hätten unkolorirt bleiben können, da ihre Far¬
ben weder die Zeichnung noch die Erfindung merk¬
lich heben. Wirklich ist denn auch das größte von
ihnen, die „Federball-Partie“ (c. 1760), in grauem
Camayeu gehalten. Ein echter Maler war Chodo-
wiecki also nicht; aber je besser sein Talent für die
gezeichnete Wiedergabe der glücklich erfassten Welt
taugte, desto schmerzlicher empfand er, dass es ihm
versagt zu bleiben schien, die Malerei nach seiner
Erkenntnis zu beeinflussen. Wir glauben mit der
Annahme nicht zu irren, er habe gehofft, bei fort¬
gesetztem Studium auf eine Art von realistischer
„großer“ Malerei zu geraten.
Da zwangen ihn denn freilich die äußeren Ver¬
hältnisse immer wieder an die einträglichen Arbeiten
des Tages. Wir hörten, dass er während des Sieben¬
jährigen Krieges viele Miniaturporträts zu malen
hatte. Das setzte sich fort; und wenn er auch in
den Jahren 1757 und 58 für jene Ölbilder und seine
ersten Versuche im Radiren einige Zeit fand, weil
manche Kunden ihn wegen seiner hohen Preise auf-
gaben, so war er doch in der ersten Hälfte der
sechziger Jahre wieder sehr in Mode. Er durfte
vornehme Personen, sogar Prinzen, die ihm Sitzungen
gewährten, porträtiren; die Prinzessin Sophie Wil¬
helmine malte er, als sie sich verlobte, in Öl, und
selbst an die Kaiserin Katharina — an diese frei¬
lich nicht persönlich — scheint er sich gewagt zu
haben. Nebenher gingen immer noch die gewöhn¬
lichen Miniaturbildnisse und die allerdings sehr ein¬
geschränkte Emaillemalerei. Und dazu kam, seit dem
Jahre 1769, sein Radiren als die eigentliche Lebens¬
aufgabe, die ihn bald fast ganz in Anspruch nahm.
Diesen plötzlichen Aufschwung im Radiren ver¬
dankte er merkwürdigerweise seiner Ölmalerei und
zwar ziemlich unverdientermaßen. Er hatte, wahr¬
scheinlich zum eingehenderen Studium der fran¬
zösischen Genretechnik, die gestochene Komposition
Carmontelle’s „la malheureuse Familie Calas“ (1765)
in Öl kopirt; da fiel ihm 1767 ein, ein Gegenstück
dazu zu schaffen und in Öl zu malen. So entstand
das bekannteste seiner Gemälde: „Les Adieux de
Jean Calas ä sa Familie“ (Berlin, Königl. Museum).
Es misst 30:41 Centimeter und drängt auf diesem
kleinen Raume eine große Menge von Motiven zu¬
sammen. Wir sehen den ehrwürdigen Greis Calas,
das unschuldige Opfer der fanatisirten Justiz in
Toulouse, auf der dürftigen Bettstatt seines Gefäng¬
nisses; während der Schließer ihm zum Gange nach
dem Richtplatz die Ketten abnimmt, umgeben der
Sohn und die beiden Töchter zum letztenmal den
Vater, der sie tröstet. Im Hintergründe rechts be¬
mühen sich der Hausfreund Lavaysse und die treue
Magd Jeanne Viguiere um die ohnmächtige Mutter,
links aber treten durch die von Schildwachen be¬
setzte Thür zwei Mönche ein, um der Kirche wo¬
möglich noch eine verzagende Seele zu gewinnen.
Der gefasste, verklärte Ausdruck Calas’ sagt uns
jedoch, dass ihr \rorhaben ein aussichtsloses ist. —
Hier hatte nun Chodowiecki einen tragischen Stoff,
hier fanden sich tiefe und zugleich edle Seelen¬
bewegungen und überdies waren die Personen der
ergreifenden Scene Menschen aus des Künstlers
eigener Sphäre, aus dem bürgerlichen Mittelstände
der Gegenwart, — wie löste er die so glücklich sich
darbietende Aufgabe? Er hatte mit dem Bilde in
Berlin einen großen Erfolg, denselben Erfolg, den
Grenze mit seinen Rührstücken des Dorfes weit über
Frankreich hinaus genoss; aber wiederum lag die
Bedeutung des Werkes in der sympathischen Auf¬
fassung des Gegenstandes, während die allzu merk¬
lich studirte Komposition nur zu sehr eben an
Greuze erinnert, und die Technik, besonders die
Farbe, eine sehr schwerfällige und reizlose ist. Für
uns also bezeugt das Gemälde wiederum die Be¬
schränkung von Chodowiecki’s Kunstvermögen; das
damalige Publikum, das ihn nicht kritisch als Maler
beurteilte, sondern freudig in ihm einen warm und
rein empfindenden Mann begrüßte, veranlasste ihn
dagegen, seine Arbeit zu radiren. Diese Platte, so
misslungen sie in technischer Beziehung ist, be¬
gründete seinen Ruhm als Radirer; und als er ein
Jahr später (1769) die reizenden Blättchen zu Minna
von Barnhelm (E. 51 — 52) für den Berliner Genea¬
logischen Kalender von 1770 geschaffen hatte, da
wurde er von den Verlegern aller Litteraturgat-
tungen um Illustrationen im Miniaturformat geradezu
bestürmt.
DANIEL CHODOWIECKI ALS MALER
197
Seit diesem Jahre tritt daher seine Email- und
Miniaturmalerei entschieden zurück; die erstere über¬
ließ er gewöhnlich seinem Bruder Gottfried, die
zweite betrieb er nur zeitweilig, z. B. 1773, wäh¬
rend seines Aufenthaltes in Danzig, wieder lebhafter,
weil er dort viele Gelegenheiten fand, den polnischen
Adel gegen gutes Honorar zu porträtiren. Aus
Chodowiecki, dem Maler und Kupferstecher, als wel¬
cher er 1764 den Titel eines Mitgliedes der Berliner
Kunstakademie erhalten hatte, wurde immer aus¬
schließlicher ein peintre-graveur. „Das Publikum
machte ihn dazu“, wie wir ihn ja klagen hörten.
Und wirklich gelang es ihm seitdem nicht, seine
Pläne für die Ölmalerei weiter zu verfolgen. Auf
jene originellen Anfänge in einem sozusagen rea¬
listischen Genre kam er nur noch einmal, 1772, in
einem Bilde „Le Parc“ zurück, das die Komposition
seiner Radirung E. 83 „Premiere Promenade de
Berlin“ (d. h. die Zelte im Tiergarten)
mit einigen Veränderungen wieder¬
holt. Daneben aber malte er, gleich¬
sam sein Streben nach Selbständig¬
keit aufgebend, mehrere Gesellschaft¬
stücke in Watteau’s oder besser
Lancret’s Geschmack (Berlin, Kgl.
Museum) und einzelne ländliche
Genrestücke, eine Dorfschule, eine
Scene am Brunnen und Ähnliches,
etwa im Sinne Chardins oder Co-
chin’s, aber ohne seine Technik zu
verfeinern. Auch mehrere Porträts,
besonders aus seiner Familie, hat er
noch in Öl ausgeführt, auf welche
hier näher einzugehen der Raum verbietet.
Um das Jahr 1775, also mit ungefähr 50 Jah¬
ren, stand unser Meister auf der Höhe seines Wir¬
kens. Seine Radirungen, mit Sorgfalt vorbereitet
und mit einer erstaunlichen Technik ausgeführt,
ließen alle seine guten Eigenschaften zur Geltung
kommen. Sie sprühten von Leben und reizvoller
Grazie; sie redeten zum Beschauer mit der Sprache
des wahren Gefühls und des milden Humors, —
vorausgesetzt immer, dass ihr Format ein kleines
und ihr Gegenstand kein „historischer“ war; in diesen
Fällen versagten dem Künstler sowohl die Formen¬
kenntnis als auch das Vermögen, ansprechend zu cha-
rakterisiren, und wir finden dann nur einzelne, über¬
raschend feine Motive in den übrigens öden Blättern.
Aber wie merkwürdig! Diese handgreiflichen Schwä¬
chen bemerkte der sonst so scharfsichtige Realist
ebensowenig, wie er sich seines unzulänglichen Far¬
bensinnes bewusst wurde. Wir hörten schon, dass
er seine in unseren Augen verunglückten Kompo¬
sitionen allegorischen oder historischen und bibli¬
schen Inhaltes, wie die Illustrationen zu Lavaters
Jesus Messias oder die Entwürfe zu den Statuen
und Reliefs für den französischen Dom in Berlin
(die wirklich nach seinen Zeichnungen ausgeführt
sind), hoch schätzte; und diesem Mangel an Selbst¬
kritik entspricht, dass er nach Aufgabe der Ölmalerei
doch die Vorliebe für Färbung seiner größeren
Werke nicht auch aufgab, sondern zu der Zeichnung
ä trois und ä quatre crayons, sowie zum Pastell über¬
ging und auch in diesen meist fragwürdigen Leis¬
tungen seine Befriedigung fand.
Wir müssen aus solchen Beobachtungen den
Schluss ziehen, dass Chodowiecki, von
der Natur zu einem Meister der rea¬
listischen Zeichnung bestimmt, aber
durch eine verfehlte Erziehung in das
malende Kunsthandwerk geleitet, zu¬
nächst noch Kritik genug besaß, um
die Schwächen der damals geltenden
„großen“ Malerei zu erkennen und,
weil er begreiflicherweise nach ihr
strebte, sie auf bessere Art betreiben
zu wollen. Mit glücklichem Ansätze
gelangte er zu dem Anfänge einer
ihm konvenirenden genrehaften Öl¬
malerei, die er sich als Grundlage
einer vornehmeren historischen Ma¬
lerei dachte, und deren Stil von dem Manierismus
der übrigen abweichen sollte. Indessen wurde sein
Studiengang dadurch unterbrochen, dass das Pub¬
likum, in diesem Falle einsichtiger als der Künst¬
ler selbst, die Radirungen des Meisters verlangte,
seine Ölbilder aber nur kühl aufnahm. So ent¬
fremdete sich Chodowiecki allmählich seinen Jugend-
plänen und geriet unvermerkt in die Gefolgschaft
der von ihm sonst getadelten Richtung, sobald er
sein eigentliches Gebiet verließ. Die Malerei hat
also in seinem Leben eine verhängnisvolle Rolle
gespielt, — zum Glück war sie jedoch nicht im¬
stande, das Wirken des immer wieder zum Rich¬
tigeren einlenkenden Mannes auf die Dauer zu unter¬
binden.
Email camayeu.
Von Daniel Chodowiecki.
EIN BILDNIS DER ISABELLA VON ÖSTERREICH
VON MABUSE.
VON CARL JUS TI.
(Schluss.)
Der Bastard Philipp von Burgund (1465 — 1524).
M vorigen ist der Name des
Bastards von Burgund ge¬
nannt worden, des Sohnes
Herzog Philipp des Guten,
der viele Jahre Admiral von
Holland gewesen war, bis
er auf das Drängen und
im Interesse Carls Y. das
Bistum Utrecht übernahm. Philipp von Burgund
war kein gewöhnlicher Mensch. Er hat sich die
Zuneigung eines Julius II. gewonnen, der sein
Urteil in Kriegs- und Staatssachen bemerkte und
ihu z. B. auf seine intimen Jagden bei Ostia mit¬
nahm.1) Er hatte sich auch in Malerei und Gold¬
schmiedkunst versucht und verstand die Proportions¬
und Formenlehre der klassischen Architektur, deren
Reste er von Mabuse aufnehmen ließ. Der Pabst
schenkte ihm die Büsten des Julius Cäsar und Hadrian,
das einzige was er annehmen wollte. Unterhaltung
mit Gelehrten (zu seinen Korrespondenten gehörte
Erasmus >, Vorlesen aus Geschichtwerken war ihm täg¬
liches Bedürfnis. Er baute die Burgen seiner Diöcese,
und schuf sich ein Tibur in Sujtburg, später als Bischof
zog er Duersteden vor, wo er mit Malern, Bildhauern
und Steinmetzen wie einer ihres gleichen verkehrte.
Enter den Kunstwerken, mit denen er sich umgab,
werden auch Terracotten genannt, darunter ist sein
eigenes Bildnis. Besonders war er ein Liebhaber
schöner Brunnen. Während er die Trunksucht seiner
Standesgenossen verachtete, und seit jener Reise
nach Rom als Gesandter Maximilians und des Prinzen
Carl über das Leben der „Cortigiani“ mit dem Eifer
1) Vom 4. bis 12. E'ebruar 1509. Come el papa e pur
a Hostia a piaceri, con do oratori di Borgogna, per clarli
piacer di caze ed altro, el andato poi 5 Cardinali ec. Marin
Sanuto, I Diari VII., 748. Roma, 8. Febr. vgl. p. 716. 719. 740.
eines Reformators sich auszulassen pflegte, behielt
er stets eine eingestandene Schwachheit für die
Töchter Eva’s. Als junger Mann soll er von ver¬
führerischer Gestalt gewesen sein, „von rosigem Ant¬
litz und zierlichem Bau, mehr Parthenius als Philippus
zu nennen.“ Besonders fielen seine dunklen Haare
und schwarzen feurigen Augen auf,1) die ihn damals
den Nachstellungen edler Damen aussetzten und in
lebensgefährliche Abenteuer verwickelten, zum Kum¬
mer seines älteren Bruders, des Bischofs David.
Jan Goßart war gleichsam seine Schöpfung;
jener Reise verdankte er den alten, heute etwas
verblaßten Ruhm des ersten Niederländers, der aus
Welschland die Kunst der Historien und Poesien
mit nackten Figuren herüberbrachte; so sagt Guic-
ciardini. Da müßte man auf ein Bildnis dieses Gönners
und Freundes, dem er ohne Zweifel sein bestes ge¬
widmet haben wird, gespannt sein.
Zwei treffliche Gemälde, nach früherer Verken¬
nung, aber unter sehr großen Namen, neuerdings
als seine Arbeit bezeichnet, gelten als Bildnisse
Philipps, obwohl, da sie unvereinbar voneinander
ab weichen, nur eines das richtige sein kann. Das
im Berliner Museum (586 A) früher Holbein geheißen,
zeigt auf der Dolchscheide die burgundische Devise
Avtre qtie vous [ n’aime ]. Der Mann hat in der That
die schwarzen Augen, aber das ist auch der einzige
Zug, der zu der Schilderung des Gerhard von Nim¬
wegen stimmt. Der Oberkörper ist so kurz, dass
man ihn für verwachsen halten müßte, auch die in
wildledernen Handschuhen steckenden Hände scheinen
nicht normal. Philipp hatte ferner schon am 23.
I) Eo tempore, juvenili supraque modum amabili forma
erat, oculis nigritantibus , et nescio quid Cupidineum ejacu-
lantibus. Gerardus Noviomagus a. a. 0,
EIN BILDNIS DER ISABELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
199
Philipp, Bastard von Burgund. Gemälde von J. Mabuse.
(Nach einer Photographie von A. Braun & Co. in Dörnach.)
Das Kostüm weist auf viel spätere Zeit hin, aber
nach 1516 dürften' die bischöflichen Insignien nicht
fehlen.
Noch ältere Ansprüche hat das früher Lucas
von Leiden genannte Bildnis im Ryksmuseum zu
Amsterdam, und hier trägt er das goldene Vließ an
geh Warze Philipp zu hellblauen Augen und blonden
Haaren ?
Der Eindruck, dass hier einer vom Hause Bur¬
gund vor uns stehe, war aber doch wohl keine
Täuschung. Und die reichen goldenen Locken, die
grossen blauen Augen, das von Jugend- und Lebens-
Januar 1501 von Maximilian das goldene Vließ
empfangen, das in einem mit so manchem bedeutsamen
und kostbaren Schmuck überladenen Bildnis nicht
fehlen könnte. Der Mann scheint etwa ein dreißiger,
dann müßte er um 1495 gemalt sein, also acht Jahre
vor der Aufnahme Mabuses in die Antwerpener Gilde.
schwarzem Band über dem hellroten Rock, dessen
Schlitze mit Goldstoff gefüttert sind. Der weiss
damastene Mantel mit braunem Pelzkragen fällt über
die Achseln, und lässt den Hals ganz frei. Nach
dem jugendlichen Aussehen mußte er noch früher
als 1495 aufgenommen sein. Aber wie kommt der
200
EIN BILDNIS DER ISABELLA VON ÖSTERREICH VON MABUSE.
lust durch glühte Gesicht führen auf Philipp den
Schönen, den Vater Isabellens, den Bruder Mar¬
garetens und Jagdgenossen ihres Gemahls, Philiberts
von Savoyen.
Die bekannten Bildnisse Philipps des Schönen
sind im besten Fall nur mittelmäßge Kopien, zum
Teil aber blosse Phantasieerzeugnisse. ') Man sieht
Lang- und Breitköpfe, flache und kühn ausladende
Profile, blöde und feurige Augen. So war man bis¬
her in Verlegenheit, wie man sich die Schönheit des
auch von den Spaniern El hermoso genannten Sohnes
Maximilians und der Maria von Burgund eigentlich
vorstellen sollte.
Charakteristisch sind in dem Amsterdamer Kopf
die Augen mit weiter Lidspalte und steiler Wölbung.
Diese Augen finden sich u. a. wieder in dem Stich
P. de Jode’s nach J. Mostart. Die Guachemalerei im
Statutenbuch des Ordens vom goldenen Vließ die,
wenn man aus den übrigen Bildnissen einen Schluss
ziehen darf, nach guter Vorlage gemacht ist,1 2) hat
dieselbe lange, gerade, wenig vortretende Nase, und
die helle Gesichtsfarbe. Nur ist er da noch ein
magerer, blöder Jüngling. So auch auf dem Flügel¬
bild des Brüsseler Museums.3) Die blonden Locken
sind etwas kürzer als sie sonst Vorkommen.
Philipp war nach der Schilderung des vene¬
zianischen Gesandten eine wohlgebildete, frische,
kraftvolle Erscheinung, gewandt in den Schranken,
eifrig und wachsam im Felde, jeder Strapaze ge¬
wachsen. Dabei glänzend, freigebig, auch zuver¬
lässig, aber leichtgläubig. Bei einein so guten Kopf,
der die dornigsten Materien leicht bewältigte, befrem¬
dete ein zögerndes Antworten, eine Unentschlossen¬
heit die die Entscheidungen deu Bäten überliess.
Selbst diesen Zug glaubt man in den Linien des
Gesichts zu lesen.4)
Philipp dürfte hier in der Mitte der zwanzig,
also kurz vor seiner Abreise nach Spanien zur Be¬
sitzergreifung der Krone Kastiliens gemalt sein. Hier
war es, wo er am 25. September zu Burgos einem
hitzigen Fiber erlag, „wie eine Frühlingsblume da¬
hinwelkte,“ sagt Petrus Martyr.
Wir hätten also hier zum erstenmale ein authen¬
tisches Bildnis dieses Fürsten von der Hand eines
1) Zu den letzteren gehört z. B. das Bildnis in der
Dresdener Galerie, wo das Pendant, Da. Juana, indes ähnlich
ist. N. 09, 70 Neapolit. Schule.
2) Jahrbuch der Kunstsammlungen des A. H. Kaiser¬
hauses V. Tafel XXI. Wien 1887.
3) N. 100. Aus der Kirche von Zirikzee.
4) Vinc. Quirini, Itelazione di Borgogna 1506, in Alberi’s
Sammlung.
hervorragenden Künstlers, und einen Beweis, wie
früh Mabuse dem regierenden Hause nahegetreten
ist. Von seinen Beziehungen zum Hof spricht auch
das Porträt eines kaiserlichen Sekretärs in dem Brüs¬
seler Museum (124 A), der sich an seinem Arbeits¬
tisch, umgeben von treuen Abbildern der durch ihn
ausgefertigten Verordnungen Maximilians und Carl V.
abkonterfeien liess. Schwerlich ist es (wie Fetis ver¬
mutet) der Sekretär Philipp Hanneton, der Stifter
des dortigen Triptychons von der Hand Orley’s.
Wenn einmal Jemand der in Niederländischen
Meistern und in der Geschichte dieser Zeit zu Hause
ist, die große Tour durch die europäischen, besonders
englischen Galerien macht, so werden sich vielleicht
noch mehr Beiträge von Mabuse’s Hand ergeben
zur flandrischen Ikonographie wie zur Rekonstruction
seiner Künstlerlaufbahn. Den Mittelpunkt würde bilden
das Treiben auf den Schlössern Philipps von Burgund,
zu Suytburg und Duersteden, und die Gesandtschafts¬
reise an den römischen Hof und über Venedig, wo
sich Jacopo de’ Barbari anschloss. Die reichen
Brunnen im Hintergrund seines Paradiesbildes und
des heil. Lucas sprechen von seines Herrn Lieb¬
haberei für „Fontänen, Aquäducte und Thermen.“ Die
nackten Heidengötter waren ebenfalls für die Andacht
des Schloßherrn bestimmt, wie das Inventar von
Duersteden bezeugt. 4)
Aber man wird den Hennegauer vielleicht noch
weiter zurückverfolgen können, in Anfänge, die
freilich vor der Hand nebelhaft erscheinen. Mander
hatte gehört von trefflichen Bildnissen die er in
London gemalt habe. 2) Aber wann hat diese eng¬
lische Reise stattgefunden?
In der Tudorausstellung des Jahres 1890 sah
man zwei Bildnisse' Heinrich VII., darunter ein lebens¬
großes Brustbild mit der Bezeichnung Johan de Mau¬
beuge , ferner das des Dechanten von S. Paul, John
Colet und die große Tafel der Trauungsfeier des
Königs mit Elisabeth von lrork in Westminster
(18. Januar 1486) mit dem Bischof von Imola zur
Rechten, die H. Walpole in seinen Anecdotes be¬
schrieben hatte.
Der Verfasser glaubt noch in einem anderen eng¬
lischen Ceremonienbild, das in allen Büchern bei
Gelegenheit Jan van Eycks mitläuft, ein sehr frühes
1) Een groot tafreel van een naict vrouken mit een pyl
in de liant, ende Cupido overdect mit een gordynken blauw
ende geluw taftaf. (Im Scblafgemach). Noch twee tafreelen
mit naecten luyden. Inventar von Duersteden u. a. O. 215. 221.
2) Yerscheyden conterfeytselen zyn van hem ook seer
wel ghedaen te Bonden. Van Mander F. 14Gd.
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
201
Werk Mabuse’s zu erkennen. Es ist die Weihe
des Thomas Becket zum Erzbischof von Canterbury,
in Chatsworth, dem Landsitz des Herzogs von Devon-
shire. Dies vielfach übermalte und mit gefälschter
Signatur versehene Bild erinnert nämlich auffallend
an sein frühestes beglaubigtes Werk, die Epiphanie
aus der Abtei Grammont, jetzt in Castle Howard.
Dieselbe strenge Symmetrie der kerzengerade da¬
stehenden Feierversammlung, mit dem senkrechten
Faltenwurf, derselbe bräunliche, sehr verschmolzene
Ton der hartgezeichneten Köpfe. Die Figur zur
Rechten ist ein unzweifelhaftes Porträt Heinrichs VII.
Das von Hymans angeführte, ganz übermalte Bild
des großen Rates unter Karl dem Kühnen (1474)
im Museum zu Mecheln, könnte in denselben Kreis
großer zerimonieller Handlungen gehören, die hier¬
nach die früheste Spezialität Mabuse’s gewesen wäre.
Dies würde für seine Art gewiss bezeichnend sein
und konnte für die Ausbildung seines malerischen
Charakters nicht ohne Folgen bleiben. Eben jenes
prunkhafte Dreikönigbild scheint auf solche Vorstu¬
dien hinzuweisen.
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
VON EMIL REISCH.
MIT ABBILDUNGEN.
N den anspruchslosen Räumen
eines bescheidenen Hauses
am römischen Corso hat seit
Kurzem eine kleine aber aus¬
erlesene Anzahl antiker Mar¬
morbildwerke Platz gefun¬
den, die der kunstsinnige
italienische Senator Don
Giovanni Barracco binnen zweier Jahrzehnte um sich
zu vereinigen gewusst hat. Von den zahlreichen
alten und neuen Privatsammlungen Roms unter¬
scheidet sich diese Sammlung sehr wesentlich durch
ihr eigenartiges Gepräge. Hier haben nicht Zufall
und Laune Gevatter gestanden und einen weitherzigen
Enthusiasmus veranlasst, zusammenzutragen, was am
Wege sich lockend darbot, — hier hat von Anfang
an ein wissenschaftlicher Geist dem Sammeleifer
strenge Zügel angelegt und ihm das bestimmte Ziel
gesetzt, den Entwickelungsgang der antiken Plastik
in einer geschlossenen Reihe charakteristischer Bild¬
werke vor Augen zu stellen. Und glücklicherweise
hat derjenige, der diesem Ziel mit ebensoviel Aus¬
dauer als Erfolg nachgestrebt hat, durch seinen lehr¬
haften Zweck sich nicht dazu verleiten lassen, wert¬
lose Kopieen nach anderweitig besser überlieferten
Originalen anzuhäufen, sondern er hat als ein wahrer
Kunstschätzer mit feinem Takt auf den individuellen
Wert der einzelnen Stücke das Hauptgewicht gelegt
und die intimen Reize selbständiger künstlerischer
Arbeit zu würdigen gewusst. So trägt die Samm-
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 8.
lung mehr als irgend eine andere den persönlichen
Stempel ihres Besitzers und gewährt in dem
Hundert Bildwerke, das sie umschließt, ebensoviel
Genuss wie Belehrung. Was bisher in der Ver¬
borgenheit privater Räume nur einer kleinen Schar
kunstbeflissener Romfahrer zugänglich gewesen war,
hat Barracco nunmehr durch eine prächtige Publi¬
kation in das Licht allgemeiner Betrachtung ge¬
rückt. Der Kunstverlag von Friedrich Bruckmann
in München hat die photographische Reproduktion
der Skulpturen unternommen und sein bestes tech¬
nisches und künstlerisches Können in den Dienst
dieser Aufgabe gestellt. Heute liegt das Werk, das
120 fast durchwegs wohlgelungene Tafeln enthält,
bereits abgeschlossen vor. ')
Ban'acco hat dem erläuternden Texte, der die
Tafeln begleitet, eine wohlabgewogene kunstge-
schichtliche Studie als Einleitung vorausgeschickt
und darin Gelegenheit genommen, die Anschau¬
ungen darzulegen, die ihn bei der Anlage seiner
Sammlung geleitet haben. Voll warmer Empfindung
für die reizvolle Naivetät und konventionelle Be¬
fangenheit des Archaismus, sucht er die treibenden
Kräfte im Werdegang der antiken Plastik aufzu¬
decken und die Bedingungen künstlerischer Dar-
1) La Collection Barracco, publiee par Frederic Bruck¬
mann d’apres la Classification et avec le texte de Giovanni
Barracco et Wolfgang Helbig. München, Verlagsanstalt für
Kunst und Wissenschaft. Zwölf Lieferungen zu je 10 Tafeln.
1892-1894. Fol.
27
202
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
Stellung bis auf ihre letzten psychologischen Grund¬
lagen bloßzulegen. Natürlich muss dabei auch auf
die Werke der ägyptischen und orientalischen
Kunst zurückgegriffen werden, die in einer Reihe
konventioneller Züge auf die älteste griechische
Plastik Einfluss geübt hat. Das hat den Anlass
gegeben, auch ägyptische, assyrische und kyprische
Kunsterzeugnisse in die Sammlung aufzunehmen, die
auf solche Art zu einem wirklichen Museum ver¬
gleichender Plastik werden sollte. Und wenn das
Hauptgewicht auf die Veranschaulichung der Kunst¬
entwickelung auf griechischem Boden, ihrer Anfänge
und ihres Aufsteigens
fallen musste, so durften
doch auch ihre späteren
Weiterbildungen und ört¬
lichen Brechungen in an¬
deren Ländern nicht aus¬
geschlossen bleiben. In
welcher Weise die von
diesen Gesichtspunkten
aus erwählten Bildwerke
auch wirklich die einzel¬
nen Phasen in der wech-
selvollen Geschichte der
antiken Plastik zu ver¬
anschaulichen geeignet
sind, das wird in den
Erläuterungen, die zu den
einzelnen Stücken ge¬
geben werden, des ge¬
naueren dargelegt.
Barracco selbst hat
nur den Text zu den
ägyptischen, assyrischen
und kyprischen Skulptu¬
ren verfasst und sich da¬
bei als ein selbständiger
Kenner dieser von Kunstliebhabern wie Kunstgelehr¬
ten so selten in den Kreis ihrer Betrachtung ge¬
zogenen Kunstgebiete erwiesen.
Die Erklärung der griechischen und italienischen
K unst werke hat Helbig übernommen, der als Barracco’s
langjähriger Freund und fachmännischer Berater be¬
sonders berufen schien, als erster diese Bildwerke
der wissenschaftlichen Verwertung zuzuführen. Wie
es durch das Programm des Unternehmens gegeben
war, hat er sich darauf beschränkt, den einzelnen
Stücken in großen Zügen ihre kunstgeschichtliche
Stellung neben verwandten Werken zuzuweisen.
Auch dort, wo die Versuchung nahelag, die Fäden
der Kombination weiterzuspinnen, hat er sich einer
heute bereits ungewöhnlich gewordenen Zurück¬
haltung und Vorsicht befleißigt, wohl geleitet von
der berechtigten Erwägung, dass in dem Rahmen
einer monumentalen Publikation für blendende Ein¬
tagsvermutungen kein Raum sei. Da in der An¬
ordnung der Tafeln die kunstgeschichtliche Abfolge
strenge durchgeführt worden ist, so ist es uns leicht
gemacht, an der Hand des Bruckmannschen Werkes
den Gewinn zu überschauen , der aus dem neuer¬
schlossenen Skulpturenbestand der Kunstgeschichte
erwächst. Ich will versuchen, in Kürze davon ein
Bild zu geben, ohne an
dieser Stelle die Bedeu¬
tung der Sammlung er¬
schöpfen zu können.
Unter den ägypti¬
schen Stücken ist neben
dem Relief des Nefer aus
dem alten Reich (T. 1)
wohl das interessanteste
die Sphinx der Königin
.Hatshepu (T. 7), die Bar¬
racco als Portrait der
Regentin Ramaka Knumt-
amon, der Tochter Thut-
mes’ I., nachzuweisen
versucht. Die assyri¬
sche Kunst ist durch
das Relief eines geflügel¬
ten Genius aus der Zeit
Assur-nazir-habals (882
bis 857) wie durch einige
gegenständlich interes-
sante Alabasterreliefs von
Kuyundyik aus dem 7.
Jahrh. in bemerkenswer¬
ter Weise vertreten. Die
kyprischen Skulpturen (T. 18 — 22) überragen nicht
beträchtlich die Durchschnittsware, mit der in den
letzten Jahren der Kunstmarkt überschwemmt worden
ist; aber für den Zweck den sie erfüllen sollen, sind
sie glücklich ausgewählt, indem sie die wechselnden
Beziehungen der kyprischen Kunst zur ägyptischen
und griechischen gut veranschaulichen.
Von den griechischen Bildwerken aus dem 6. und
5. Jahrh. v. Chr. sind einige der hervorragendsten
Stücke schon in den letzten Jahren durch Abgüsse
oder Abbildungen bekannt geworden, so das Relief
eines Reiters (T. 23) vom Sockel einer attischen
Grabstele, die noch der Pisistrateischen Zeit zuge-
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
203
wiesen werden muss (Conze, Die attischen Grab¬
reliefs T. IX, 1), dann der den Ägineten verwandte
Jünglingskopf T. 29 (Friederichs- Wolters, Berliner
Gipsabgüsse 88), der schöne Apollonkopf von Esquilin
T. 34 (Friederichs- Wolters 280), die Replik der Büste
des Myronischen Marsyas T. 37 (Friederichs- Wolters
455), endlich die neuerdings vielbesprochene Statue
eines sich bekränzenden Epheben T. 38 (Kekule,
Bronzestatue des Idolino, T. IV).
Diesen reiht sich nunmehr eine ganze Anzahl
gleichwertiger Stücke, die erst jetzt bekannt werden,
an. Dem strengen Archaismus ist ihrem Vorhilde
nach die Statue eines Kalbträgers T. 31 zuzurechnen;
leider ist sie eine ziemlich grobe und willkürlich ver¬
änderte Kopie (Ahb. 1). Im Typus stimmt sie genau
mit einem litterarisch bezeugten Werke des Kalamis
überein; aber die naheliegende Annahme, dass eben
dieses Werk der Barraccoschen Statue zum Vorbilde
gedient habe, wird man ablehnen müssen. Denn der
hier verwendete Typus eines „Kalbträgers“ ist schwer¬
lich erst von Kalamis erfunden worden, der Stil aber,
den die Kopie nach Abzug willkürlicher Zuthaten
für das Original erraten lässt, ist durchaus verschieden
von der Kunstweise, die wir auf Grund unserer
Nachrichten für Kalamis voraussetzen müssen.
Die bereits so zahlreiche Gruppe der archaischen
Gewandstatuen wird um eine weitere Variante durch
die weibliche Figur T. 27 bereichert, die sich von
der Mehrheit der bekannten Akropolisfiguren durch
die bescheidenere Einfachheit in Anlage und Durch¬
führung unterscheidet. Helbig erklärt die Statue mit
Bestimmtheit für ein griechisches Original aus der
Zeit um 500; ich wage daher nicht, mich allein
durch den Eindruck der Abbildung zum Widerspruch
bestimmen zu lassen; danach würde ich in dem Werke
allerdings mehr den harten und seelenlosen Vortrag
eines gewandten Kopisten als die empfindsame Hand
eines schöpferischen Künstlers zu erkennen glauben.
In noch höherem Grade scheint mir die archaische
Mädchenfigur T. 28, die in ihrer etwas bäuerischen
Art einen scharfen Gegensatz zu den Gestalten der
ionisch-attischen Kunst bildet, den Charakter einer
archaischen Original arbeit vermissen zu lassen; auch
möchte ich glauben, dass die merkwürdige Anord¬
nung ihres Gewandes, insbesondere des Apoptygma’s
(Gewand Überschlages) nicht, wie Helbig annimmt,
durch eine sonst nicht nachweisbare Trachtsitte,
sondern nur durch ein Missverständnis des Kopisten
zu erklären sei.
Dagegen ist wohl ein originales Werk der
Athenekopf T. 30, der dem äginetischen Kunstkreis
zuzuzählen ist. Ein. zweiter Athenekopf (T. 24) lehnt
27*
2. Attisches Votivrelief.
204
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
sich an Vorbilder der ionisch-attischen Kunst aus
der Wende des 6. und 5. Jahrh., einen dritten (T. 25),
den Helbig als Vorläufer des Parthenostypus zu be¬
trachten geneigt ist, möchte ich trotz mancher alter¬
tümlicher Züge erst in späterer Zeit entstanden
denken.
Der Jünglingskopf T. 36 ist in seiner stillen Schön¬
heit und fast mädchenhaften Anmut ein bemerkens¬
wertes Stück aus der Zeit des Übergangs vom
Archaismus zur Reife. Schon einer weiter fort¬
geschrittenen Entwickelung gehört der ausdrucks¬
volle Knabenkopf T. 46 an, der dem Florentiner
Idolino nahe verwandt ist.
Der Kopf des Polykle-
tischen Doryphoros tritt
uns T. 43 in einer mit
künstlerischem Schwünge
durch geführten , freien
Nachbildung entgegen
deren vorteilhafte Wir¬
kung zum guten Teile
darauf beruht, dass sie
den Bronzestil des Origi¬
nals fast völlig abgestreift
hat. Eine jüngere Ab¬
wandlung des Dorypho-
rostypus , die bisher nur
durch eine stark ergänzte
Statuette in der Galleria
dei candelabri bekannt
war, stellt uns jetzt die
gut erhaltene Jünglings-
figur T. 45 in allen wesent-
liehen Zügen vor Augen.
Unter den Skulptu¬
ren, die sich an Werke
des Phidiasschen Kreises
anlehnen, sind wiederum
zwei Atheneköpfe zu nennen; der eine T. 40 steht der
Parthenos nahe, der andere T. 48 giebt den Typus
der Pallas von Velletri in abschwächender Moderni¬
sirung wieder, ln diese Gruppe stellt sich auch der
mit einem Stern über der Stirne geschmückte Frauen¬
kopf T. 85 (T. 52 bis), in dem man geneigt sein
könnte, eine Nyx oder Selene zu erkennen, ln dem
lebendig ausgeführten Frauenkopf T. 83 (48 bis)
liegt die freie Wiedergabe eines gewöhnlich als
„Sappho“ bezeichneten, von Helbig auf Aphrodite
gedeuteten Typus vor, der durch eine Reihe sehr
ungleichartiger, aber meist minderwertiger Repliken
bekannt ist.
Ein Kabinettstück von anspruchsloser Liebens¬
würdigkeit ist das attische Votivrelief T. 50, aus
der Zeit um 100 v. Chr. (Abb. 2). Der Götter¬
gruppe Apollon Artemis Leto nahen, von einem
bärtigen Mann geleitet, vier ganz in ihre Mäntel ge¬
hüllte Knaben; ihre Namen sind an der unteren
Reliefleiste angeschrieben, während am oberen Rand
die Weihinschrift steht: Ilv&aiOtal ave&soav xro
AjtoXHcopi. Pythaisten heißen sonst die „Orakel¬
suchenden“; hier, wo offenbar die vier Knaben, die
der Priester seinem Gotte vorführt, mit diesem
Namen bezeichnet sind, wird man das Wort viel¬
leicht in anderem Sinne
verstehen müssen, als Be¬
zeichnung derjenigen, die
an einer Feier oder einer
Kulthandlung im Dien¬
ste des Apollon Pythios-
Pythaieus teilgenoramen
haben. Übrigens stimmt
das Relief in so vielen
Beziehungen mit einigen
W eihreliefs aus Ikaria
(American journal of ar-
chaeology V 472, T. XI)
überein, dass man das
Pythion von Ikaria als
seinen ursprünglichen
Aufstellungsort vermuten
darf.
Eine gute attische
Durchschnittsarbeit ist
das Grabrelief des Posei-
dippos T. 51 mit dem üb¬
lichen Typus der „Hand¬
reichung“. Als Schmuck
eines Grabmals diente
wohl auch das Relief T. 49,
das einen von der Jagd heimkehrenden Reiter mit seinem
Diener zeigt; wir kennen diese attische Genrescene
schon durch ein Grabrelief aus Tanagra (Friederichs-
Wolters, Berliner Gipsabgüsse 1076), wo sie im
Sinne böotischer Kultvorstellungen noch durch die
Figur eines jungen Mädchens erweitert ist, das
spendend dem Reiter entgegentritt. Ein anderes
Reiterrelief der Sammlung (T. 52) stimmt in auf¬
fälliger Weise mit einem seit langem bekannten Stück
in Sevilla (Annali dell instituto arch. 1862 T. F.)
überein; rechtshin sprengt ein Jüngling, (an dessen
Chlamys man übrigens die über der Schulter zu¬
sammengeschobenen Falten nicht als Kapuze miss-
3. Bärtiger Kopf.
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
205
deuten darf), links ist an dem fragmentirten Relief¬
rand noch das Ohr vom Pferde eines zweiten Reiters
sichtbar, der nach dem Vorbild jenes Reliefs in
Sevilla sich mit Sicherheit ergänzen lässt. Schwerer
als bei dieser Kopistenarbeit ertragen wir die Ver¬
stümmelung bei dem attischen Relief T. 84 (T. 51 bis).
Erhalten ist noch die Figur eines Jünglings, der vor
einem Tempel auf einem Tierfell sitzt und mit der
Rechten eine Keule aufstützt, links der Vorderteil
eines zusammenbrechenden Stieres, daneben noch ein
aufrechtstehender Jüngling, dessen Bewegung aus
den erhaltenen Resten nicht mehr mit völliger Sicher¬
heit ermitteltwerdenkann,
aber an die Haltung des
„Anadumenos“ erinnert.
Helbig möchte die Dar¬
stellung auf Peirithoos
und Theseus mit dem
marathonischen Stiere
deuten. Da die Bändi¬
gung der Opferstiere bei
einer Anzahl großer F este
ein vielgerühmtes Kraft¬
spiel der Epheben war,
so würde die Darstellung
einer mythischen Stier¬
bezwingung recht ' wohl
für ein gelegentlich eines
solchen Festes darge-
brachtes Votivrelief ge¬
eignet sein.
Diese Reliefs haben
uns bereits in den Bann¬
kreis der sog. zweiten
attischen Blütezeit hin¬
übergeleitet, für deren
Kenntnis wir der Barrac-
co’schen Sammlung in
einer Anzahl von Köpfen noch andere wertvolle
Bereicherung verdanken.
Die idealisirenden Kunstrichtungen dieser Zeit
treten uns in zwei interessanten Athletenköpfen T. 55
und 56 entgegen; der eine (T. 55) ist den jetzt Skopas
zugewiesenen Köpfen verwandt, der andere (T. 56)
scheint mir Praxitelischen Werken fast näher zu
stehen, als den von Helbig verglichenen Lysippischen.
In eine jüngere Epoche führt der schwungvolle
Jünglingskopf T. 58, für den Helbig, wie ich glaube
mit Recht , auch nach dem Widerspruche Koepps
(Über das Bildnis Alexanders- des Großen 1892, S. 24)
an der Benennung Alexander festhält. Der Kopf ist
allerdings kein Porträt in unserem Sinne, sondern
vielmehr eine auf der Basis einzelner individueller
Züge aufgebaute Idealbildung. Aber die zu Grunde
gelegten charakteristischen Züge scheinen mir mit
den beglaubigten Alexanderköpfen gut vereinbar,
und es kann nicht befremden, dass das Bild eines
Königs, der im Culte Göttern gleichgesetzt wurde,
auch von der Kunst den Göttertypen angeähnlicht
wurde. Dass der Barracco’sche Kopf eine andere
Auffassung Alexanders verrät , als die auf Lysipp
zurückgehende Herme des Louvre, ist richtig; Helbig
möchte ihn daher auf die von Leocliares gefertigte
Statue im Philippeion zu
Olympia zurückführen.
Es ist wohl möglich, dass
diese Schöpfung für den
hier vorliegenden Ideal¬
typus vorbildlich oder
doch bestimmend gewe¬
sen ist, aber für die An¬
nahme einer unmittelba¬
ren Abhängigkeit scheint
es mir an genügenden
Gründen zu fehlen.
Von jenen attischen
Grabdenkmälern mit fast
lebensgroßen Figuren, die
zu dem herrlichsten Erbe
des 4. Jahrh. gehören,
sind einige prächtige
Köpfe in die Sammlung
Barracco gelangt. Der
vornehmschöne Mannes¬
kopf T. 86 (T. 53 bis) •
erscheint noch als eine
jüngere Fortbildung der
ebenmäßig stilisirten Ty¬
pen des Parthenonfrieses.
Dagegen ist der ausdrucksvolle Frauenkopf T. 54 in
seiner leisen, schwärmerischen Wehmut und seinen
bewegten Formen durchaus unter dem Einfluss der
neuen pathetischen Richtung entstanden. Völlig ver¬
schiedene künstlerische Absichten verrät der Kopf
eines älteren Mannes T. 62 (Abb. 3), der nach
Helbigs Angaben ebenfalls von einem sepulcralen
Hochrelief herrührt; er muss dann zu jener kleinen
jüngeren Gruppe von Grabdenkmälern gehören, auf
denen die kraftvolle Porträtkunst des 4. Jahrh. zu
nachdrücklicher Geltung kommt. Frei von der
Schablone überkommener Typik ist der Kopf durch¬
aus individuell gestaltet; ein überaus strenger Aus-
4. Caesar.
206
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
druck schmerzlichen, ja unwilligen Entsagens liegt
über den gramdurchfurchten Zügen; in der Auf¬
fassung und Modellirung der Formen kündigt sich
schon jener energische Realismus an, der uns in
weiterer Steigerung in den bekannten hellenistischen
„Charakterköpfen“ entgegentritt. Neben diesem be¬
deutenden Original kann der bärtige Kopf T. 87
(T. 55 bis) nur den Rang einer tüchtigen, aber etwas
harten Kopie beanspruchen. Das scharf erfasste und
charakteristisch wiedergegebene Porträt war schon
durch eine andere Replik, in der Sammlung Jacobsen
(Brunn u. Arndt, Griechische und römische Porträts
n. 33 f.) bekannt. Die von Helbig zögernd vorge¬
schlagene Deutung auf Sophokles vermag mich nicht
zu überzeugen.
Unter den nicht zahlreichen Tierskulpturen, die
das Altertum uns überliefert hat, darf die Statue
einer liegenden Hündin T. 58 einen hervorragenden
Platz beanspruchen. Die Hündin, die sich ein wenig
auf den Vorderpfoten aus ihrer Ruhelage gehoben
hat, wendet lebhaft den Kopf zurück und beleckt
eine Wunde an ihrem rechten Oberschenkel; der
Moment der Bewegung ist scharf beobachtet, alle
Einzelformen mit genauer Kenntnis der Natur
wiedergegeben. Das Bild eines Windspiels im
Museum von Vienne (Gazette archeologique VI 1880
T. 10) zeigt ein ähnliches Motiv und ist vielleicht
unter dem Einflüsse des gleichen Originals ent¬
standen, scheint aber von ungleich geringerer Kraft
und Lebendigkeit. Wir wissen durch Plinius (34,38),
dass im kapitolinischen .lupitertempel in der Cella
der .Juno bis zum Brande des Jahres 69 n. Chr. das
Bronzebild eines „seine Wunde leckenden Hundes“
ioder einer Hündin) stand; das Werk galt seiner
täuschenden Lebenswahrheit wegen als ein Wunder
der Kunst und ward so hoch geschätzt, dass die
Wächter des Tempels mit ihrer Person (capite) für
seine Unversehrtheit haftbar waren. Helbigs Ver¬
mutung, dass jene kapitolinische Bronze das Vorbild
der Barracco’schen Marmorfigur sei, darf als äußerst
wahrscheinlich gelten. Leider nennt Plinius den
Künstler der Bronze nicht; uns drängt sich natürlich
zunächst der Name des Lysippos auf, der als Ilunde-
darsteller berühmt war und in seinen .Jagdgruppen,
/.. B. bei der „Löwenjagd Alexanders“ gewiss auch
Bilder verwundeter Hunde geschaffen hat. Aber
man wird auch die Möglichkeit offen halten müssen,
dass jenes Kunstwerk nicht von Lysipp selbst, sondern
von einem seiner Nachfolger, der in seinem Realis¬
mus noch über Lysippos hinausging, lierrühre.
Der frühhellenistischen Zeit gehört die trefflich
erhaltene Poseidonstatue T. 61 an, eine kraftvoll
gesteigerte Umbildung eines älteren Typus, die einen
nicht unbedeutenden Künstler verrät. Der Epikur¬
kopf T. 63 nimmt durch seine wirkungsvolle Arbeit
und die nachdrückliche Betonung der charakteris¬
tischen Züge eine hervorragende Stelle unter den
Porträts des Philosophen ein. In die letzte Periode
des Hellenismus weist uns der Kentaurenkopf T. 66,
der mit den Köpfen der von Eroten gepeinigten
Kentauren (Friederichs - Wolters, Berliner Gips¬
güsse 1421; Berliner Skulpturenkatalog 205) zu¬
sammengeht und die an diesen beobachtete Ähnlich¬
keit mit dem Laokoonkopfe in seinen schmerzlich
verzerrten Zügen besonders augenfällig werden lässt.
Einer durch Stil und Material scharf charak-
terisirten Gruppe griechisch-ägyptischer Skulpturen
aus den letzten Jahrzehnten vor unserer Zeitrechnung
gehört der im Nildelta gefundene Cäsarkopf T. 75
(Abb. 4) an, der von einer ägyptischen Pfeilerstatue
aus sog. schwarzem Granit (Diorit) herrührt. Wie
in den verwandten, ebenfalls durchwegs aus harten
Steinarten gefertigten Bildwerken, zeigt sich auch in
diesem Barracco’schen Kopf spätgriechische Kunst¬
weise in merkwürdiger Art von konventionellen
Eigentümlichkeiten der ägyptischen Kunst beein¬
flusst. Der bewundernswerte Reichtum des Aus¬
drucks, mit dem Stirn, Auge und Mund gebildet sind,
der treffsichere Naturalismus und die energische
Charakteristik erinnern durchaus an die griechischen
Porträts der späthellenistischen Zeit, aber daneben
sind in den Formen der Stirne und des Unter¬
gesichtes einzelne Anklänge an die typischen Phy-
siognomieen ägyptischer Bildwerke unverkennbar;
ebenso weist die Virtuosität, mit der das wider¬
strebende Material gehandhabt ist, auf die im Nil¬
thal heimische Kunstüberlieferung. Helbig hat in
dem Kopfe Cäsar erkannt. Wir kennen allerdings
kein Porträt, in dem Cäsar, wie hier, bärtig dar¬
gestellt wäre. Aber die Ähnlichkeit der Gesichts¬
züge mit den Cäsardarstellungen auf Münzen ist in
der That sehr groß, wenigstens ebenso groß wie bei
manchen andern auf Cäsar gedeuteten Köpfen, deren
ikonographische Einordnung allerdings noch mancher¬
lei Schwierigkeiten unterliegt. Dazu kommt noch,
dass am Barracco’schen Kopf das Stirnband mit einem
Stern gesclimückt ist, der als das (anderweitig be¬
kannte) Attribut des Divus Julius sich am besten
zu erklären scheint. Dann wird man sich mit der
auffälligen Thatsache, dass Cäsar hier bärtig dar¬
gestellt ist, irgendwie auseinandersetzen müssen.
Helbig erinnert daran, dass Cäsar im Jahre 54 v. Chr.
DIE SAMMLUNG BARRACCO.
207
nach dem Tode seines Unterfeldherrn Q. Titu-
rius Sabinus zum Zeichen der Trauer den Bart
wachsen ließ, und er möchte darauf hin annehmen,
dass Cäsar, als er im Jahre 48 nach Ägypten kam,
das gleiche auch zu Ehren des toten Pompeius ge-
than habe und solcher Weise den Ägyptern mit
einem „ Trauerbarte“ bekannt wurde und bekannt
blieb. Man sieht, die Erklärung ist nicht voraus¬
setzungslos. Aber ich weiß eine bessere nicht
zu geben.
Auch die Spiegelungen und Wandlungen der
griechischen Kunst auf italischem Boden lassen sich
in der Barracco’schen Sammlung an lehrreichen
Proben studiren. Die unter archaisch-ionischen Ein¬
flüssen erwachsene altetruskische Kunst ist durch
einen Grabstein von Chiusi T. 76 vertreten, dessen
Reliefdarstellungen der Deutung einige Schwierigkeiten
bieten. Eine andere Gattung italischer Grabdenk¬
mäler stellt eine Graburne aus Palestrina T. 79 vor
Augen; sie hat die Gestalt eines säulengeschmückten
Tempels und erscheint so als ein Nachhall einer vor¬
nehmen griechischen Sarkophagform, für die der
Pleureusen-Sarkophag von Saida das schönste Bei¬
spiel ist.
Ein Erzeugnis tüchtiger italischer Handwerks¬
arbeit des 4. oder 3- Jahrh. ist der weibliche Kopf
T. 76 vom Schlusstein eines Grabbaues in Volsinii-
Orvieto. Bedeutender ist ein Frauenkopf aus Bolsena
(Volsinii novi) T. 78, der in seiner flotten gro߬
zügigen Durchführung und seinem hochgesteigerten
Pathos durchaus griechischen Geist atmet; da er aus
einheimischen Trachyt, also sicher an Ort und Stelle
verfertigt ist, wird er kaum vor dem 2. Jahrh. v. Chr.
entstanden sein, für welche Zeit sich übrigens auch
durch andere Funde die Vorliebe der Italiker für
die pathetische Richtung nachweisen lässt. Den
römischen Porträts der Augusteischen Zeit reiht sich
als eine feine, aber etwas allzuglatte Arbeit die
Büste eines jungen Römers T. 73 an. Eine Frauen¬
büste aus Palmyra (T. 80) schließt als Zeugnis einer
merkwürdigen Kreuzung, welche im fernen Osten
die Ausläufer römisch-griechische und orientalische
Kunst miteinander ein gegangen sind, das Bild der Ent¬
wickelungsgeschichte der antiken Plastik.
Bei diesem Fluge durch die Jahrhunderte
griechischer Kunst, zu dem die Sammlung Barracco
uns veranlasst hat, haben wir noch manch bemerkens¬
wertes Stück beiseite lassen müssen, so den archa¬
ischen Jünglingskopf T. 82 (T. 31 bis), die niedliche
Hydrophore T. 42, die leider arg verstümmelte Kopie
des Perikieskopfes T. 39, die Doppelherme der Dios-
kuren T. 35, die gute Replik vom Kopfe des „aus¬
ruhenden Apollon“ T. 59, die groteske Besfigur
T. 68, den anmutigen Mädchenkopf T. 69, die na¬
turalistische — leider kopflose — Statue eines
Philosophen aus hellenistischer Zeit T. 64 u. a. m.
Aber das Angeführte mag genügen, um zu zeigen,
dass dieser römischen Privatsammlung auch heute,
wo der griechische Boden die athenischen Museen
mit unerschöpflichen Reichtümern beschenkt, eine
hervorragende Bedeutung zukommt. Der Kunst¬
freund wird hier vielleicht mehr Werke finden, an
denen er Freude empfindet, als in manchen großen
Museen, wo das Gute durch die seit Alters aufge¬
stapelte Menge des Unerfreulichen erdrückt wird,
und in dem Arbeitsmaterial des Archäologen wird
die Bruckmann’sche „Collection Barracco“ fortan
einen wichtigen Platz einnehmen. Sie würde viel¬
leicht die gebührende Würdigung rascher finden,
wenn sich in der neuen Publikation mit einem hand¬
licheren Format ein geringerer Preis verbände.
Allerdings ist der Preis von 2 Mark für eine photo-
typiscbe Tafel, die den strengsten Anforderungen
entspricht, verhältnismäßig nicht hoch; aber die
Größe der Opfer, die unsere Kunstfreunde in ihrem
wissenschaftlichen Sammeleifer bringen, lässt uns un¬
bescheiden genug werden, ihnen auch noch als ein
letztes Opfer zuzumuten, sie möchten die Kosten
ihrer Prachtwerke in so hohem Ausmaß über¬
nehmen, dass deren Preis ein unverhältnismäßig
billiger werde.
Gerne möchte ich auch noch an dem Formate
der Publikation mäkeln; das heute übliche Gro߬
folio, das nicht sowohl durch die Maßverhältnisse
der Photographieen als durch die Größe der unter¬
gelegten Kartonblätter bedingt ist, trägt selten etwas
zur Schönheit, häufig Beträchtliches zur Verteuerung,
immer sehr viel zur Unbequemlichkeit bei; es er¬
schwert die Benutzung und verleidet den Genuss.
Aber wir können es dem Sammler nicht verwehren,
dass er seinen liebsten Besitz in jenem Gewand in
die Welt gehen lasse, der ihm dafür am passendsten
scheint. Das Werk ist der Königin von Italien zur
Feier ihrer silbernen Hochzeit gewidmet, und für
solchen Anlass mochte dem ritterlichen Besitzer
die vornehmste Ausstattung nur eben genügend
scheinen.
Barracco sagt am Schlüsse seiner Vorrede: „Je
l’aime, cette collection de vieux marbres, ä cause des
joies exquises, qu’elle me procure et je m’y attache
d’autant plus tous les jours, que j’ai l’intention bien
arretee de la leguer tout entiere ä mon pays.“
208
BEITRAGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
Man hat Ursache, nicht nnr in Italien diesen
großherzigen Entschluss freudig zu begrüßen. Aber
wenn man sonst bei Privatsammlungen nur allzu¬
häufig im sachlichen Interesse den Zeitpunkt nicht
gerne verzögert sieht, an dem sie in öffentliche
Hände übergehen sollen, so ist es bei dieser Samm¬
lung, die so trefflich betreut wird und noch immer
im Wachstum begriffen ist, nicht nur ein Ausfluss
persönlicher Anteilnahme, sondern wissenschaftlicher
Selbstsucht, wenn wir dem Wunsche Ausdruck geben,
dass es dem Besitzer vergönnt sein möge, sich
seines Schatzes als sorgsamer Hüter und eifriger
Mehrer noch recht lange zu erfreuen.
EMIL REISCH.
BEITRÄGE
ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
Van Eyck’s Tempera.
YON ERNS1 BERGER , MALER.
ASARI’S Erzählung von der
Erfindung der Ölmalerei
durch die Brüder van Eyck
wurde zweieinhalb Jahrhun¬
derte lang von der Kunst-
weit, als richtig hingenom¬
men. Nach dieser Erzählung,
welche gleichlautend von
allen späteren Autoren wiederholt wird, hätten
Hubert und Jan van Eyck ihre Zeitgenossen mit
einer neuen Art, der Ölmalerei, in welcher ihre be¬
rühmten Werke gemalt waren, in Erstaunen und
Begeisterung versetzt; seit ihrer Erfindung sollte sich
der Umschwung in der Technik des Bildermalens
datiren und alle Verdienste um die Fortschritte der
Ölmalerei als solche wurden unbestritten den beiden
van Eycks zugeschrieben.
Seit mehr als hundert Jahren bemüht sich nun¬
mehr die Kunstgeschichte, dieses Verdienst den
Brüdern van Eyck wieder abzusprechen, wobei es
an herben Vorwürfen gegen Vasari und seine Ab¬
schreiber nicht fehlen konnte. Vasari, der selbst
der Malerzunft angehörte, hätte sich doch besser
instruiren sollen, bevor er der Mitwelt ein Märchen
zum besten gab; er hätte doch wissen müssen, dass
lange vor van Eyck mit Ölfarben in Italien selbst,
in Griechenland, Deutschland und England gemalt
wurde, ja er hätte sich etwas eingehender mit älteren
Büchern über Malerei, wie z. B. dem des Cennini,
beschäftigen sollen, bevor er die „Erfindung der Öl¬
malerei“ erfand. Was ist nicht alles schon behaup¬
tet und bestritten worden, seit Lessing in der Ab¬
handlung „Uber das Alter der Ölmalerei“ (1774)
I.
diese Frage aufs Tapet brachte! Welche Reihe von
hervorragenden Forschern hat sich seither nicht be¬
müht, entweder teilweise oder ganz dem Vasari Un¬
recht zu geben, nachdem immer neue Beweise gegen
ihn Vorlagen!
Aus der Handschrift des Mönches Theopliilus,
von Lessing dem XL Jahrhundert zugeschrieben,
war bereits der Gebrauch der Ölfarbe zur Malerei
ersichtlich; Raspe (A critical essay on oil painting,
London 1781) entdeckte die Handschrift des Ilera-
clius in der Bibliothek zu Cambridge, in deren III. Teil,
welcher nicht jünger als das XIII. Jalirh. sein konnte,
Öle zum Anreiben von Farben erwähnt sind; nachdem
noch die Handschrift des Cennino Cennini (ed. Tam-
broni, Rom 1821) in der vaticanischen Bibliothek
aufgefunden, die Hermeneia des byzantinischen Mön¬
ches Dionysius vom Berge Athos bekannt geworden
waren, wurde es Allen klar, dass die ganze Geschichte
von der Erfindung der Ölmalerei durch van Eyck
ein Märchen sei, welches der „Kunstschwätzer von
Arezzo“ der Nachwelt aufgebunden habe.
In den hier folgenden Erörterungen soll nun¬
mehr der Versuch gemacht werden, das den Brü¬
dern van Eyck gebührende und so sehr bestrittene
Verdienst auf Grundlage der geschichtlichen und
naturgemäßen Entwicklung der Maltechnik in Ver¬
bindung mit vorgenommenen Proben wieder zu er¬
obern und dabei die Richtigkeit von Vasari’s Er¬
zählung, trotz alledem, was gegen dieselbe vorgebracht
wurde, zu beweisen. Es wird sich dabei der gewiss
bemerkenswerte Umstand ergeben, dass im Texte
des Vasari die von van Eyck erfundene «neue Art
von Ölmalerei“ vollkommen treffend geschildert ist!
BEITRÄGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
209
Um zu diesem Resultate zu gelangen, war eine
lange Reihe von systematisch angestellten Versuchen
nötig, welche nach den oft sehr unklaren Anweisungen
der alten Kunstschriften ins Werk gesetzt wurden.
Es hat sich dabei konstatiren lassen, dass alle mittel¬
alterlichen Malverfahren Beziehungen zum byzan¬
tinischen aufweisen, welche daher kommen können,
dass byzantinische Künstler nach dem Bildersturm
nach allen Richtungen sich verbreiteten und an den
Höfen der Carolinger ebenso wie in vielen Städten
Italiens Aufnahme gefunden hatten. Ihre auf glanz¬
volle Äußerlichkeit angelegte Technik verpflanzten
sie auch nach Italien und so erkennen wir an den
ältesten Bildern des Giunta, Cimabue bis auf Giotto
alle byzantinischen Malweisen wieder. Die reiche
Ausschmückung der Tafel mit Glanzvergoldung und
erhöhten oder gepunzten Heiligenscheinen, die Ver¬
wendung von Eibindemitteln zur Malerei und die
Bereitung von Ölfirnissen zum Überzug der Gemälde
linden sich auch im Trattato des Cennini ausführ¬
lich beschrieben. Im Vergleich mit der Hermeneia
fehlt aber hier vollständig die Malerei mit „Glanz¬
farbe“ (§ 37 des Handbuches), welche eine Mischung
von Wachs, Lauge und Leim war und durch Glätten
glänzend wurde; die pictura aureola des Lucca Ms
ist bis auf ein Minimum verschwunden und wird
nur zur Verzierung von Einfassungen (Kap. 97 und
98 des Cennini) verwendet. Die Beizenvergoldung
für Wandmalerei und Stein (Kap. 91), wie man Re¬
liefs und Heiligenscheine auf der Mauer macht
(Kap. 126), die Knoblauchbeize (Kap. 153), die An¬
gaben über Miniaturmalerei mit Eierklar und Assiso¬
verwendung (Kap. 157) finden sich auch in der Her¬
meneia. Die Malerei mit Ölfarben, „Naturale“, welche,
wie die Bezeichnung andeutet, zum Malen des nack¬
ten Fleisches verwendet wurde, findet sich in dem
Kap. 89 ff. bei Cennini wieder.
Besehen wir uns die eigentliche Technik des
Malens dieser Periode (Frührenaissance) genauer, so
ist es die Malerei a tempera mit Eigelb und der
vielbesprochenen Feigenmilch, welche allgemein in
Gebrauch gekommen war und einer besonderen
Charakteristik bedarf, um den Unterschied zwischen
der italienischen und der nordischen Malart des
Theophilus kennen zu lernen. Die Bereitung des
Grundes aus feinem Gips (gesso sottile), die Auf¬
zeichnung und Einritzung der Konturen und der
für Vergoldung unentbehrliche Bolusüberzug, das
Malen aus dem dunkeln Mittelton (§ 51 und § 16
der Herrn.) erhält sich bei Cennini und die Model-
lirung wird stets mit hellerer Deckfarbe, die Tiefen
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 8.
und „Züge“ der Falten durch Strichelung erzielt.
Versuche mit der oben genannten Feigen rnilchtem-
pera, um diesen Namen beizubehalten, haben ge¬
zeigt, dass sich ein solches Malen „aus dem Dun¬
keln“ mit großer Leichtigkeit ausführen ließ. Was
den Zusatz der Feigenmilch betrifft, so kann mit
aller Bestimmtheit versichert werden, dass derselbe
nicht Bindemittel, sondern Lösungs- und Konser-
virungsmittel für das Ei gewesen sein muss; über¬
dies ist nicht von dem Saft der Feigen, sondern
nur von den abgeschnittenen jungen Trieben die
Rede (Cennini Kap. 72) und nie allein, sondern stets
in Verbindung mit dem ganzen Ei, wobei sich das
Eiklar durch das Umrühren mit den Feigensprossen
sehr schnell löst, während sonst das Schlagen des
Schaumes und das Abtropfen längere Zeit erfordert.
Mit diesem Bindemittel sind die Farben anzu¬
reiben und genügt es zu wissen, dass man öfters
übereinander malen kann, aber die unteren Farb-
schichten durch die Feuchtigkeit der darüber ge¬
setzten Lagen sich leicht erweichen lassen, bekannt¬
lich ein Hauptübelstand aller Temperabindemittel
und viel unangenehmer als das sog. „Einschlagen“.
Die Feigenmilchtempera hat jedoch das Gute, dass
die Farbtöne sich durch nachheriges Firnissen nur
sehr wenig verändern. Ist aber die Firnissschichte
darübergegeben, was stets mit großer Umsicht und
nach gründlichem Trocknen geschah (Kap. 155), so
konnte man mit dem wassermischbaren Bindemittel
nicht mehr weiter malen und waren deshalb die
letzten feurigen Lasuren stets der Ölfarbe Vorbe¬
halten (Kap. 144).
Cennini berichtet (Kap. 89) von der Malerei mit
Ölfarben auf der Tafel oder Mauer „wie dies vorzüg¬
lich die Deutschen im Gebrauch“ haben; es mag
deshalb auch in Erwägung gezogen werden, ob sich
die Technik der Malerei im Norden, in Frankreich,
den Niederlanden oder Deutschland von einer an¬
deren Seite aus entwickelt haben könnte als in
Italien, da naturgemäß die Feigenmilchtempera des
Klimas wegen das Jahr hindurch nicht zu beschaffen
war. Es kann hier nicht näher darauf eingegangen
werden , in welchen Beziehungen die Tafelmalerei
zur Miniaturmalerei zu Beginn des XIII. bis zum
XIV. Jahrh. stand; so viel ist aber gewiss, dass vom
technischen Standpunkt vollkommene Übereinstim¬
mung herrschte. Der deutsche Mönch Theopliilus
aus Westfalen empfiehlt ebenso wie Heraclius,
dessen III. Buch französischen Ursprunges zu sein
scheint, die Überspannung der Holztafel mit Perga¬
ment oder Leder (Kap. 17) und in Ermangelung des-
28
210
BEITRÄGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
selben Leinenstoff mit Gips zu überziehen (Kap. 19).
Es ergibt sich daraus folgerichtig, dass auf diesen
mit Pergament bespannten Holztafeln, mit den¬
selben Bindemitteln gemalt wurde, welche für die
Miniaturmalerei jener Zeit in Gebrauch gewesen sind.
Theophilus beschreibt genau, wie neben der schon
genannten Ölmalerei, dem „Naturale“ des byzant. Dio¬
nysius, noch als Beschleunigung der Arbeit die
Gummitempera zu handhaben ist. „Alle mit 01 oder
Gummi angeriebenen Farben darfst Du dreimal auf
Holz setzen“ und ist die Malerei trocken, so hat das
Überstreichen mit dem Firniss (Vernition) in der
Sonne ebenfalls dreimal zu geschehen (Kap. 28).
Versuche haben ergeben, dass sich derartig mit
wassermischbarer Gummitempera übermalen lässt,
sobald die Firnissschichte sich in den Grund einge¬
sogen hatte. Da einige Farben, insbesondere das
unentbehrliche Bleiweiß mit Eierklar anzureiben
vorgeschrieben ist, so ergibt sich die Gleichheit mit
der Miniaturtempera, nur dass diese keinen Firniss-
überzug bekam, was in Büchern überflüssig und un¬
ausführbar wäre. Die Technik des XIII. — XIV. Jahr¬
hunderts ist demnach nichts anderes als gefirnisste
Miniaturmalerei; sie gestattete durch das öftere Über¬
malen eine große Durchführbarkeit der Details, und
durch das mehrfache Firnissen des Gemalten hatte
der Maler die Möglichkeit, die Wirkung zu ver¬
gleichen. Dass auf die Reinigung der Oie zur Firniss¬
bereitung und zur Malerei selbst bereits Sorge ge¬
tragen wurde, ist aus Heraclius und dem Stra߬
burger Ms. zu ersehen. Bedenken wir, dass die
italienische Tempera erst nach der Vollendung des
Bildes gefirnisst werden durfte, so werden die Vor¬
züge der nordischen Art sofort verständlich sein.
Die Maler der altkölnischen, westfälischen und
vor-van Eyek’scheu Schule in den Niederlanden konn¬
ten dreimal mit Tempera auf gefirnisste Unterlage
malen und batten stets den Eindruck der fertigen
Wirkung während der Arbeit; die Fbermalung mit
der Gummitempera trocknet überdies sehr schnell.
Gegenüber diesen Vorzügen sind die Nachteile:
I . die Notwendigkeit des Trocknenlassens in der Sonne
oder am Herdfeuer, sobald eine Farbschichte gemalt
und mit Olfimiss tiberstrichen ist, und 2. der geringe
Widerstand gegen Feuchtigkeit, bevor die Firniss¬
lage aufgetragen war. Immerhin war das Verfahren
umständlich genug, da im Norden die Temperatur¬
verhältnisse unverlässlich sind und oft tagelang auf
Sonnenschein gewartet werden muss (wie es auch
mir bei den Versuchen erging!), oder im anderen
Falle bei „gelindem Herdfeuer“ auf der halbfeuchten
Oberfläche Staub und Ruß sich ablagern kann, was
für fein ausgeführte Bilder nicht zu wünschen ist,
abgesehen von der Gefahr des Werfens und Rissig¬
werdens der Holztafel.
Wie von selbst drängt sich hier die Beobach¬
tung auf, dass dieselben Übelstände es gerade sind,
welche nach Vasari’s Erzählung den van Eyck’s
Veranlassung gaben, ihre vielbesprochene Erfindung
zu machen. Und welche Mittel sollten sie dazu
ersonnen haben? Die Farben mit Leinöl oder Nussöl
zu mischen, war ja längst bekannt, ebenso verschie¬
dene Arten Oie zu reinigen und schneller trocknend
zu machen; ja selbst die Ölfirnisse, vernice liquida
und vernition kannten sie und mischten Farben damit
zur pictura translucida und Lasuren ; Ölbeizen (mor-
dants) für Vergoldung waren im Norden allgemein
in Verwendung. Was war es demnach, das die
Eycks eigentlich in Beziehung der Ölfarben hätten
erfinden können? Worin bestand ihr „Geheimnis“?
Dass die Meinungen darüber sehr auseinandergehen,
ist bekannt; ich verweise hierbei auf den Exkurs
über die Ölmalerei von Ilg (Anhang zur Heraclius-
Ausgabe), worin dieselben ausführlich erwähnt sind.
Nur auf die Ansicht von Eastlake, welche „die
Frage endgiltig lösen sollte“, sei hier näher einge¬
gangen. Diese Ansicht besteht darin, dass van Eyck in
der Anwendung des Zinkvitriols, als Trockenmittel, die
Schwierigkeiten der Ölmalerei überwand. Abgesehen
davon, dass dieses Trockenmittel schon in Schriften
des XIV. Jahrhunderts (Straßburger Ms) mit„Galicen-
stein“ bezeichnet vorkommt, ist es auch im Marciana
Ms erwähnt und dem Leinöl beigefügt, um dessen
Trockenkraft zu erhöhen, aber als Vergolderbeize
für Glas, wie hinzugefügt werden muss. (Marciana
Ms Nr. 339, Merrifield II p. 621.) Was für Deko¬
ration von Glasschüsseln nötig und passend ist, sollte
für die vollkommenste Malerei der van Eyck geeig¬
net sein? Ein so starkes Trockenöl mit Bernstein¬
firniss angemacht, wäre ihr Bindemittel gewesen, um
die minutiösesten Details „infinitamente bene“ aus¬
zuführen? Ein Beizmittel, das im Pinsel fest wird!
Bei aller Bewunderung für die Arbeit und Mübe,
welche sich Eastlake gegeben, das würde er uns
Malern nie verständlich machen können , dass die
van Eycks, Memling, R. van der Weyden, Dürer oder
Holbein mit einem solchen Mittel gemalt hätten!
II.
Indem ich daran gehe, die Resultate meiner
eigenen Beobachtungen und Versuche bekannt zu
machen, wäre zunächst zu untersuchen, ob die
BEITRÄGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
211
Quellenschriften nicht doch genügende Anhaltspunkte
und Andeutungen über die „neue Methode“ geben,
die geeignet sind, zur Lösung der schwierigen Frage
beizutragen und entweder noch gar nicht oder nicht
mit allen wissenschaftlichen Mitteln ins Auge gefasst
wurden. Im Punkte der Technik möge noch eine allge¬
meine Bemerkung gestattet sein: Durch den nur auf die
moderne Ültechnik Rücksicht nehmenden Studiengang
unserer Kunstakademien sind wir Maler (ich spreche
aus Erfahrung!) völlig im Dunkeln über andere Mal¬
arten und mancher Tüncherlehrling würde uns darin
beschämen können. Frescomalen ist eine vergessene
Sache und was Tempera heißt, wissen wir nur vom
Hörensagen. Die Kunstgeschichte lehrt, dass dazu
Ei, Gummi, Honig, Feigenmilch u. dgl. genommen
wurde. Es ist deshalb den meisten Kollegen und
auch Kunsthistorikern völlig unbekannt, dass es
eine Tempera gibt , die durch innige Mischung
eines fetten Öles mit einer gummiartigen, zähen,
wasserlöslichen Substanz (Gummi oder Eigelb) als
Emulsion bereitet werden kann. Eine solche in¬
nige Vermischung eines Fettes mit einem anderen
Körper bewirkt vor allem eine ungeheuer feine Ver¬
teilung der Ölteilchen und die Folge davon ist, dass
solche Öle mit Wasser mischbar sind, sie werden
dadurch zur Tempera, zur Öltempera. Auf zwei
Arten lässt sich dies leicht erreichen: erstens, wenn
die Öle aufs innigste mit Eigelb vermischt werden,
die Ei -Öltempera, oder wenn dazu pulverisirte
Gummiarten verwendet werden, die Gummi-Öltempera.
Im Verfolge meiner Arbeit, war ich nun auch bestrebt,
den ersten Spuren dieser Temperaart in den Quellen
nachzuforschen. Thatsächlich fand sich das gesuchte
Rezept in dem älteren Teil des Marciana Ms (Eastlake I.
p. 225), welches lautet: „Toy torli de ove e vernice
liquida egualemente et incorpora molto ben insieme
e de questa tale cola darai per copertura come el
penelo la quäl colla non teme aqua ne cossa che
sia.“ (Nimm Eigelb und „vernice liquida“ i. e. ge¬
kochtes Leinöl, dem noch ein Harz beigegeben war,
in gleicher Menge und vermische diese sehr gut
miteinander und von diesem Bindemittel gib den
Überzug mit dem Pinsel; dasselbe schützt vor Was¬
ser und was es auch sei.) Dass sich dieses Rezept
der Emulsionstempera in einem venetianischen Ms
fand, in der Stadt, in welcher Antonello da Messina
nach seinem Aufenthalt in Flandern gelebt, führte
direkt dazu, die Erzählung des Vasari über die Eyck-
sche Erfindung genauer daraufhin zu vergleichen.
Vasari (Leben des Antonello da Messina, I. Ed.
1550, p. 379 ff) spricht von Verbesserungsversuchen,
die Baldovinetti , Pesello und andere machten, und
dabei „eine andere Art von Ölen mit Temperamitteln
vermischt“ verwendeten. Im Leben des Baldovinetti
begegnet uns dasselbe Emulsionstemperarezept, von
dem Vasari sagt, es hätte den erwarteten Erfolgen
nicht vollkommen entsprochen. Vasarierzählt: Baldo¬
vinetti bereitete seine Farben mit Eigelb in Mischung
mit Vernice liquida (rosso d’uovo mescolato con
vernice liquida); er gedachte durch diese Tempera
die Malerei (auf der Mauer) gegen Feuchtigkeit zu
schützen, aber sie war so stark, dass an Stellen, wo
sie zu sehr angehäuft war, die Malerei absprang.
Vasari bringt hier zwar negative Resultate, wir er¬
sehen jedoch deutlich, nach welcher Richtung hin
sich die Versuche bewegt haben müssen, dass es
also die verschiedenen Arten von Öltempera waren,
welche bei den damaligen Malern „Gegenstand zahl¬
reicher Versuche und Diskussionen“ bildete.
Vergleicht man die bezügliche Notiz der ersten
Ausgabe (1550) des Vasari mit der zweiten (1568),
so ergibt sich der auffallende Umstand, dass „ altra
sorte di olii mescolati nella tempera“ verändert ist
in „altre sorte di colori mescolati nelle tempere“.
Nach Eastlake (I, 203 Anmerkung, ebenso Lamp-
sonius) hätte Vasari mit dieser Änderung die Ab¬
sicht gehabt, dem Joh. van Eyck die actuelle Er¬
findung der Ölmalerei zuzuschreiben. Das Mischen
der Farben mit Ölen war aber doch eine längst bekannte
Sache, ebenso wie das Mischen der Farben mit ver¬
schiedenen Temperabindemitteln (colori mescolati
nelle tempere). Er musste doch einen bestimmten
Grund gehabt haben und es scheint mir der folgende
zu sein: Die Satzperiode „ne con vernice liquida,
ne con altra sorte di olii mescolati nella tempera“
der ersten Ausgabe schließt durch das erste „weder“
auch das folgende „noch“ von den verbesserten Mal¬
arten, die in Betracht kommen konnten, aus. Da
aber gerade in dieser Art (der Emulsion) eine Neue¬
rung zu erkennen ist, wie aus den weiteren Er¬
örterungen über die van Eyck’sche Erfindung ge¬
folgert werden muss, so mochte Vasari in der II.
Ausgabe diese Veränderung vorgenommen haben.
Dazu kommt noch die Bezeichnung „altra sorte di
olii mescolati nella tempera, eine andere Art (sin¬
gulär!), die Öle mit der Tempera (singulär!) zu
mischen, als welche damals allgemein Eigelb (Cen-
nini Kap. 72) verwendet wurde. Diese Mischung
war damals neu, wie die Versuche des Baldovi¬
netti zeigen, und ist nichts anderes darunter zu ver¬
stehen, als die Öltempera, die Emulsion!
(Schluss folgt.)
28*
EIN NEUER SCHWABENSPIEGEL.1)
MIT ABBILDUNGEN.
Obwohl die
Schulabhängigkeit
unter Dichtern, we¬
nigstens unter sol¬
chen, die diesen
Namen verdienen,
nur eine sehr lo¬
ckere sein kann, ja
streng genommen
völlig ausgeschlos¬
sen ist, spricht man
doch allgemein von
einer „ schwäbi¬
schen Dichterschu¬
le“. Niemand aber
spricht, das 15. und
1 6. J ahrhundert aus¬
ser betracht gelassen, von einer schwäbischen Künst¬
lerschule, ja die allgemeine deutsche Kunstgeschichte
pflegt sogar von den in Württemberg geborenen oder
thätig gewesenen Künstlern mit Ausnahme etwa von
Dannecker, Wächter und Schick wenig oder gar keine
Notiz zu nehmen. Wenn auch Wintterlin die statt¬
liche Reihe von vierzig Lebensbildern dortiger
Künstler zu einem vollschwellenden Kranze heimat¬
licher Ehre zusammenfasst, ohne dabei die Zahl der
wirklich vorhanden gewesenen zu erschöpfen, so liegt
ihm gleichwohl fern, einen engen und strengen
inneren Zusammenhang unter ihnen nachweisen zu
wollen. Dennoch wird man vielleicht auch in diesen
Charakterköpfen bildender Künstler einen gewissen
schwäbischen Grundzug aufzufinden vermögen. Jeden¬
falls mutet ihre Zusammenstellung den in Württem¬
berg einigermaßen Heimischen nicht kühl und er¬
zwungen, sondern sehr sympathisch an und darf das
1 , II iirtfembergische Künstler in Lebensbildern von
Angnst Wintterlin. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart,
Leipzig, Berlin, Wien. 1895. 8°.
treffliche Buch gewiss auch außerhalb seines engeren
Vaterlandes auf reiche Teilnahme rechnen.
Der Verfasser hat mit der Akribie eines alt-
württembergischen Gelehrten gearbeitet, eine Menge
falscher biographischer Daten, die sich „wie eine
ew’ge Krankheit“ von Buch zu Buch fortgeerbt
hatten, auf Grund authentischer Quellen richtig ge-
gestellt und dadurch ein für allemal eine zuverlässige
Grundlage für die Lebensgeschichte dieser Künstler
geschaffen. Jedoch nicht ein Skelett, sondern ein Bild
von Fleisch und Blut. Er giebt nicht nur Namen
und Daten, sondern weiß die feinsten Fäden der
Fntwickelung, die Genesis jeder Künstlernatur und
ihrer Werke zu einem lebensvollen Ganzen zu ver¬
knüpfen. Dem Kunstgelehrten wird es dabei zur Be¬
friedigunggereichen, dass Wintterlin gerade die besten
württembergischen Künstler mit dem allgemeinen
Maßstabe der deutschen Kunstforschung und nicht
mit dem eines übertriebenen Lokalpatriotismus ge¬
messen hat. Als Grundlage für sein Werk dienten ihm
die Beiträge, die er seit vielen Jahren für die „All¬
gemeine deutsche Biographie“ geliefert hatte; doch
sind dieselben in der neuen Gestalt gründlich durch¬
gesehen und erweitert. Er fügte ihnen eine Reihe
in weiteren Kreisen bis jetzt unbekannter Vorträge,
Festreden, Nekrologe und auch völlig Neues, bisher
Ungedrucktes hinzu u. a. die schönen Betrachtungen
über Dannecker , Wächter, Thouret.
Bei Erwähnung einer bezeichnenden Äußerung
Herzog Karls in einem der Lebensbilder, die zum
Neuen gehören, giebt er eine Anregung, die auf das
Buch selbst anzuwenden für den Referenten ver¬
lockend war. ln einer Anmerkung zur Biographie
Eberhard Wächters sagt er nämlich: „Wie groß
oder vielmehr wie klein der Prozentsatz der Beamten¬
kinder unter den deutschen Künstlern überhaupt ist,
wäre einer statistischen Zusammenstellung und psy¬
chologischen Untersuchung wert.“ Sehen wir da-
EIN NEUER SCHWABENSPIEGEL.
213
raufhin die hier in
Betracht kommen¬
den 40 Lebensläufe
württembergischer
Künstler durch, so
finden wir, dass da¬
von nur etwa 6 von
Beamten abstamm¬
ten. Neun bis zehn
dagegen waren Söh¬
ne von Handwer¬
kern, 4 von Stall¬
knechten, Lakaien,
Haiducken u. s. w.,
2 von Kaufleuten,
einer ein Sohn eines
Pfarrers, Offiziers, Arztes oder Musikers. Der höch¬
ste Prozentsatz aber, 12 — 14, führt zu Familien von
Künstlern selbst zurück, so dass daraus zu ersehen ist,
was ja auch sonst beobachtet wird, dass die Anlage
zur bildenden Kunst von allen Anlagen am häufig¬
sten sich vom Vater auf den Sohn vererbt. Das
Gleiche gilt, wie bekannt, für die Musiker. Ähnlich
wird sich ja wohl der Prozentsatz der Abstammung
für die Künstler in ganz Deutschland herausstellen.
Die Berufswahl der württembergischen Künstler an¬
langend finden wir unter ihnen 7 Architekten, 7 Bild¬
hauer, 21 Maler und 5 Kupferstecher, ein Verhältnis,
das annähernd für die Statistik der Künstler im
allgemeinen gleichfalls zutreffend sein dürfte.
Interessant ist auch die Beobachtung über das
Lebensalter, welches diese Vierzig erreicht haben.
Zwei sind über 90 Jahre alt geworden, 7 über 70,
11 aber über 80 Jahre, was ein außerordentlich
günstiges Prognostikon für das Alter der Künstler
zuließe, wenn daraus ein allgemeiner Schluss ge¬
zogen werden dürfte. Denn die Hälfte aller Künst¬
ler würde alsdann durchschnittlich über siebenzig
Jahre alt.
Die Höhe des erreichten Alters in den hier
für Württemberg geltenden Fällen steht indes
leider nicht immer im Verhältnis zur Bedeutung:
ihres Talentes. Zwar ist der große Dannecker 83
Jahre, der treffliche Wächter sogar 90 Jahre alt ge¬
worden , dagegen hat Schick , der zu so schönen
Hoffnungen berechtigte, nur 36 und der in seiner
Wiedergabe der Sixtinischen Madonna unerreichte
Friedrich, Müller gar nur 34 Jahre erreicht. Gang-
loff aber, dem Uhland seine schönen Sonette aufs Grab
legte, erreichte nur ein Jünglingsalter von 24 Som¬
mern. So ist der Genius den einen ein Ernährer,
den andern ein Verzehrer ihrer Kräfte gewesen.
Von näheren Beziehungen der bildenden Künstler
zu den Dichtern des Schwabenlandes ist schon eine
erwähnt, eben die Freundschaft Gangloffs zu Uhland.
In den beiden Eingangsversen zum 2. Sonett sagt
der Poet vom Maler:
„Nach Hohem, Würd’gem nur hast du gerungen,
Das Kleinliche verschmähend wie das Wilde.“
Es sei erlaubt, diese beiden Zeilen unter Er¬
weiterung des „hast du“ in „habt ihr“ zur Charak¬
teristik der hier besprochenen württembergischen
Künstler überhaupt zu gebrauchen. Zur Genüge
bekannt ist ferner die nahe Verbindung der beiden
Mitschüler auf der Karlsschule, Schiller und Dan¬
necker, und die daraus entsprungene herrliche Schiller¬
büste. Weniger verbreitet dagegen dürfte sein, wie
viel die auch noch nach unseren heutigen Begriffen
hervorragende Bildnismalerin Ludovike Simanowiz
ihrer Bekanntschaft mit Schiller und dessen Schwester
Christophine verdankte. Sie hat Bildnisse des Dichters,
seiner Frau, seiner Eltern und Geschwister geschaffen,
die nicht nur den Dargestellten , sondern auch der
Darstellerin zur größten Ehre gereichen. Auch zu
dem unglücklichen Dichter Schubert, der ihr Ge¬
dichte widmete, kam die Malerin, in nähere Be¬
ziehung. Hervorzuheben ist ferner die gleichfalls
aus der Karlsschule stammende Kameradschaft
Schillers und Scheffauers, den jener später in einem
seiner Briefe einen „sehr geschickten Bildhauer“
nennt. Mit des Verfassers eigenen Worten gedenken
wir noch der Bedeutung, den die glückliche Be¬
rührung des württembergichen Architekten Thouret
mit Goethe für ersteren gehabt. Wintterlin sagt im
Eingang zum Lebensabriss desselben:
„Goethe’s Vertrauen und Anerkennung haben
einem Künstler, dessen Wirkungskreis sonst nicht
über sein engeres V ater-
land hinausreichte, zu
einem bleibenden Na¬
men in Deutschland ver¬
holten, dem Baumeis¬
ter Nikolaus Friedrich
Thouret.“
Mit Ausnahme des
berühmten Heinrich
Schickhardt, dessen Thä-
tigkeit noch in die zweite
Hälfte des 16. und in
das erste Drittel des 17
J ahrhunderts fällt, bietet
uns der Verfasser nur
K. J. B. Neher.
214
KLEINE MITTEILUNGEN.
Lebensbilder von Künstlern des 18. und 19. Jahrhun¬
derts. Die wichtigsten darunter sind die Maler Gui-
bal, Heisch, die schon erwähnte Ludovike Simanowitz,
Wächter, Seele, Schick, Gottlob Friedrich Steinkopf, den,
wie der V erfasser mit Recht bemerkt, die neuere Kunst¬
geschichte unbilliger Weise tot schweigt, Gangloff,
Gegenbaur, Näher und der zu früh verstorbene Ernst
Reiniger. Unter den Bildhauern ragen hauptsächlich
die oben genannten Dannecker und Scheffauer hervor,
denen noch Wagner, Hofer und Rau beizufügen sind.
An ersten Baumeistern müssen außer Schickhardt
und Thouret die jüngeren Etzel und Leins, an Kupfer¬
stechern die Müller, Vater und Sohn, genannt
werden.
Leider verbietet uns die gebotene Rücksicht
auf den Raum, näher auf diese schönen Biographien
einzugehen und können wir den Lesern nur noch
bestens empfehlen, sie selbst in die Hand zu nehmen.
Der Grundzug derselben ist warme Hingebung an die
Aufgabe, gründliche Kenntnis und Erforschung der¬
selben, ein feiner Sinn für die Kunst und eine vor¬
nehme Sprache. Die 18 kleinen und 4 großen Bild¬
nisse, meist — wie die hier beigefügten Proben
zeigen — recht lebendig und hübsch, sind als
Illustrationen zu den Lebensbildern in Worten sehr
dankenswert.
Kurz, dieser „Schwabenspiegel14 württember-
gischer Künstler mit seinem angenehm kräftigen,
heimatlichen Erdgerucli ist eine höchst erfreuliche
und dankenswerte Gabe. 0. EISENMANN.
KLEINE MITTEILUNGEN.
C. Hasse, Kunststudien , V. Heft. 8. Roger van Brügge,
9. Gemälde Memling’s, 10. Das Werk von A. J. Wauters
„Hans Memling“. Breslau, Ed. Trewendt, 1894. 8°, 78 S.
Die Frage nach den Namen Rogier von Brügge, Rogier
van der Weyden, Rogier von Brüssel (mit all ihren Vari¬
anten) gilt seit fast einem halben Jahrhundert für eine ge¬
löste. Man hat die ältesten Angaben über diese Namen so
ausgelegt, dass sie sich zumeist auf einen und denselben
berühmten Maler beziehen , nämlich auf Rogier van der
Weyden. Dass es daneben einen unberühmten Rogier da
und dort gegeben haben mag, bleibt dabei zugestanden.
Zweifellos hat es sein Gutes, derlei Fragen von Zeit zu Zeit
kritisch zu überprüfen, etwa in den kunsthistorischen Semi¬
naren oder bei privaten Studien über altniederländische
Malerei. Insofern ist Hasse’s Studie Nr. 8 die erste des vor¬
liegenden Heftes, in ihren Absichten und in ihrer Anlage
als ein erfreuliches Unternehmen zu bezeichnen. Was aber
die Durchführung der Arbeit betrifft, so können wir uns der
Überzeugung nicht erwehren, dass Hasse nach einer neuer¬
lichen kritischen Durchsicht der ganzen Frage zu anderen
Ergebnissen kommen wird, als er sie bisher ausgesprochen
hat. Er bestreitet die Zuverlässigkeit des Wahrscheinlich-
keits.“chlusses, den der ältere Wauters in den 40er Jahren
gezogen hat, und der dahin geht, der berühmte Rogier von
Brügge und der von Brüssel seien miteinander und mit
R. v. d. Weyden identisch. Zu diesem Wahrscheinlichkeits-
schlusse zwingen denn auch die sicheren Prämissen nicht
nur so, wie sie Wauters und später andere vorbrachten,
sondern auch so, wie sie Hasse selbst zunächst aufzählt.
Nur fügt Hasse zu den sicheren Grundlagen auch noch allerlei
schiefe Voraussetzungen, die dann das Urteil ablenken. Offen¬
bar hat Hasse, gereizt durch einen unsanften Angriff auf
eine seiner früheren Studien, die Gedankenfäden nicht mit
der nötigen Kühlheit und Ruhe verbunden, um zu brauch¬
baren Folgerungen zu gelangen. Dies kommt auch zum
Ausdruck in seiner Zusammenstellung der Werke seiner bei¬
den Rogier. Beim Rogier von Brügge beginnt er z. B. so¬
fort mit einem circulus vitiosus, der durch eine missver¬
standene Angabe des Engerth’schen Kataloges der Wiener
Galerie veranlasst wird. Engerth nimmt nämlich an, die
kleine Madonna des Rogier in Wien (Nr. 1385) sei unbedingt
identisch mit dem Bilde, das der Anonimo Morelliano (d. i.
Marc- Anton Michiel) 1530 im Hause des Gabriel Vendramin
in Venedig gesehen hat. Deshalb giebt Engerth ohne wei¬
teres (nebenbei bemerkt sehr unvorsichtigerweise) als Prove¬
nienz an: „Aus dem Hause Vendramin in Venedig“. Hasse
schließt nun so: nach Engerth’s Angabe stammt das Bild
aus dem Hause Vendramin, ergo ist es identisch mit dem
Bilde des Ruggiero da Bruges, das der Anonimo Morelliano
1530 bei Vendramin in Venedig gesehen hat. Er kommt
also glücklich dort wieder an, von wo Engerth ausgegangen
war. Dass man die Identifizirung des Wiener Bildchens
mit dem, das der Anonymus des Morelli erwähnt, mit nichten
als ausgemacht annehmen könne, hat schon vor Jahren
Scheibler ausgesprochen (im Repert. f. Kunstw. X, S. 2910.).
— Das Auf bauen von angeblich beweisenden Schlüssen auf
schwachen oder falschen Voraussetzungen kehrt auch in den
übrigen Studien des vorliegenden Heftes wieder, die sich
um Memling als Mittelpunkt bewegen. Hasse ist vielseitig
geschult und wird zweifellos bei ruhiger Überlegung einen
passenden Weg finden, der ihn aus dem Gewirr von Trug¬
schlüssen, in das er sich verwickelt hat, wieder herausleitet.
TH. v. FR.
Eine neue Zeitschrift ,, Biographische Blätter Viertel¬
jahresschrift für lebensgeschichtliche Kunst und Forschung,
erscheint im Verlage vonErnst Hofmanndb Co. in BerlinSW.48.
Ständige Mitarbeiter sind u. a. die Proff. Dr. Michael Bernays,
E. von Bezold, A. Brandt, A. Fournier , Luaw. Geiger, S. Gün¬
ther, Eug. Guylia, Ottokar Lorenz, Karl von I/utxow, Jakob
Minor, Er. Ratzel, Erich Schmidt und Ant. E. Schönbach;
Das Bismarckdenkmal in Leipzig.
216
KLEINE MITTEILUNGEN.
Herausgeber ist Dr. Anton Bettelheim. Die wohlwollende
Aufnahme, welche die von letzterem herausgegebene, in dem¬
selben Verlage erscheinende Sammlung von Biographieen
„Geisteshelden (Führende Geister)“ in Fachkreisen und im
großen Lesepublikum gefunden, hat den Gedanken nahe¬
gelegt, den gleichen Zielen in einer besonderen Zeitschrift
nachzustreben, die durchweg von namhaften Kennern und
Freunden der biographischen Kunst 1. selbständige Abhand¬
lungen zur Theorie und Entwickelungsgeschichte der Bio¬
graphie und Selbstbiographie; Charakteristiken und Kritiken
der Meister biographischer Kunst und Forschung, 2. abge¬
schlossene biographische und selbstbiographische Aufsätze
und Studien, 3. Selbstbekenntnisse aus ungedruckten oder
schwer zugänglichen Quellen in der Art der kulturgeschicht¬
lichen Zeugnisse in Gustav Freytag’s „Bildern aus der deut¬
schen Vergangenheit“, 4. biographische Miscellen, Nekrologe,
Anzeigen aller wichtigeren in und außer Europa erscheinen¬
den Biographieen, Selbstbiographieen und Denkwürdigkeiten,
sowie der meisten in Zeitschriften zerstreuten biographischen
Essays bringen soll. Ein solches Vorhaben setzt zu seiner
gedeihlichen Entfaltung die ständige Mitwirkung unserer
ersten Gelehrten, dauernde Förderung durch Liebhaber und
Sammler und freundliche Mithilfe aller Berufenen voraus,
welche für Hinweise auf nicht immer leicht erreichbare
Tagesblätter, für gefällige Einsendung von biographischen
Nachrichten , Drucken u. dergl. an die Adresse des Heraus¬
gebers Dr. Anton Bettelheim in Wien XIX, Hasenauerstr. 21,
zum voraus geziemenden Dankes versichert sein mögen.
* Die Radirung „Tn stiller Andacht11 von Oskar Schul
welche diesem Hefte beiliegt, ist dem letzten Jahrgange (1894)
der Publikationen des Radirvereins in Weimar entnommen,
über dessen löbliches Bestreben wir den Lesern wiederholt
berichtet haben. Gleich den früheren, sind auch die jüngst
erschienenen Blätter der Weimarer Künstler vorwiegend land¬
schaftlichen Charakters, wie das ja in der Natur der Sache
begründet ist. Und zwar haben vor allen Max Asperrjer ,
E. Wcichbcrger und Fritz Braendel zu dem vorliegenden
Hefte mehrere Radirungen von jener Schlichtheit der Motive
und der Behandlung beigesteuert , welche die lyrischen
Fähigkeiten der Radirkunst am wirkungsvollsten zur Geltung
bringt. Blätter figürlichen Inhalts enthält die Lieferung —
von zwei trefflichen Tierstücken Alb. Brendel’s abgesehen —
nur wenige, und unter diesen geben wir dem vorliegenden
Stimmungsbildchen von Oskar Schuh, unbedingt den Preis.
Der Ausdruck ruhiger Hingebung, vollen, sonnigen Gottes¬
friedens ist liier mit so anspruchsloser, echter Kunst vor¬
getragen, dass jedes Wort der Erläuterung überflüssig wäre.
Derselbe Künstler ist in dem Heft auch durch eine em¬
pfindungsvolle „Heilige Elisabeth“ von edler Stilistik ver¬
treten, die vielleicht als Holzschnitt nach Ludwig Richter’s
Art eine noch befriedigendere Wirkung machen würde. —
Im ganzen sei damit die reichhaltige Veröffentlichung des
Weimarer Künstlervereins dem Publikum wiederholt bestens
empfohlen.
Woutcr Knijff, Holländischer Kanal. Das von der Hand
eines jungen Leipziger Künstlers radirte Bild von Wouter
Knijff, d fi s dem gegenwärtigen Hefte der Zeitschrift beiliegt,
stammt von einem seltenen holländischen Meister, über dessen
Lebensgang nur einige dürftige Notizen vorhanden sind.
Der Maler ist aus Wezel gebürtig und zwar liegt sein Ge¬
burtsjahr vor 1620. Er lebte seit 1640 in Hartem, wo dies
auf Leinwand gemalte Stück im Jahre 1644 entstanden ist.
Es ist mit der Jahreszahl und den Anfangsbuchstaben be¬
zeichnet; ein Faksimile der Bezeichnung fipdet sich in dem
Katalog des Leipziger Museums, in dessen Galerie das Bild
sich befindet. Die Maße des Originals sind 94 cm und 1 m
5 cm. Knijff starb nach 1679 und war um 1653 Mitglied der
Malergilde in Middelburg. Ein anderes Bild von ihm findet
sich im Museum zu Gent; es stellt eine Stadt an einem Flusse
dar und ist mit einem verschlungenen W. K. bezeichnet. Das .
Leipziger Bild zeichnet sich durch einen feinen grünlichen
Ton aus.
* Das Leipziger Bismarckdenkmal. Unter den Ehrungen
Bismarcks, die am 1. April dieses Jahres allenthalben in
Deutschland offenbar wurden, ist das auf dem Leipziger
Augustusplatze binnen drei Wochen errichtete ca. 9 Meter
hohe Denkmal wohl die monumentalste und kühnste. Die
Idee zu dieser bildnerischen Improvisation entsprang dem
Kopfe eines Architekten , des Baurats Eelbo , der sie zuerst
dem Bismarck - Komitee mitteilte, und als dieses von der
Lösung der schwierigen Aufgabe abstand, einem fröh¬
lichen Künstler- und Schriftstellerkreise, der den Namen
Stalaktiten führt, zur Ausführung empfahl. Unter den
Stalaktiten, zu denen außer Eelbo auch Max Klinger, Georg
Bötticher, Prof. Schreiber u. a. zählen, fand dieser Gedanke
auch fruchtbaren Boden und am ersten Abend schon waren
800 Mark gezeichnet, um die treffliche Manifestation der
Verehrung für den großen Kanzler zu sichern. Der Träger
des Unternehmens und die eigentliche Seele desselben war
Baurat Eelbo, der im Verein mit zwei Leipziger Bildhauern,
Adolf Lehnert und Joseph Magr, an die Verwirklichung der Idee
ging. Er entwarf eine Skizze, die mit einigen Änderungen
von den beiden beteiligten Bildhauern in plastische Formen
umgesetzt wurde, zunächst als Hilfsmodell in kleinem Maße.
Magr übernahm die Ausführung des Sockels mit der heran¬
springenden Figur, Lehnert die des Fürsten mit seinem ge¬
treuen Tiras. Der Sockel wurde gleich an Ort und Stelle
unter nicht geringen Schwierigkeiten punktirt und ausgeführt.
Die Figur Bismarcks ist im Atelier in drei Teilen hergestellt,
die nach einander auf den Sockel aufgesetzt wurden. Ein
Eisengerüst wurde mit Drahtgeflecht und Leinwand über¬
zogen und auf dieses das plastische Material, Gips, auf¬
getragen. Nach Vollendung wurde das Ganze von kundiger
Hand bronzirt und mit dem Glockenschlage 12 Uhr Nachts
bei Beginn des ersten April feierlich enthüllt und durch
vier Bogenlampen und Fackeln beleuchtet. Am andern
Morgen sah mancher mit Staunen, welch ein kräftiger
Huldigungsgruß auf dem sonst ziemlich unergiebigen Kunst¬
boden Leipzigs hervorgetrieben worden war. Das Werk ist,
von einigen Kleinigkeiten abgesehen, die auf Rechnung der
raschen Ausführung zu setzen sind, eine wohlgelungene
Improvisation und nimmt sich in dem prächtigen architek¬
tonischen Rahmen, den die Theater-Fassade dazu abgiebt,
vortrefflich aus. Der Gedanke, das Werk in dauernder Form
festzuhalten, lag nahe, und eine vorläufige Umfrage ergab
denn auch genug klingende Zustimmung, sodass die Aus¬
führung in Bronze wahrscheinlich in einiger Zeit zur That-
sache werden wird. Man könnte der Stadt Leipzig zu diesem
trefflich koncipirten Schmuck nur Glück wünschen; er
würde dem vielgelobten Augustusplatz zur besonderen Zierde
gereichen.
Herausgeber: Carl von Lützow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig. .
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i*r. . gleich- o Zielen in einer besonderen Zeitschrift
■ n,_ s, iw durchweg von namhaften Kennern und
i Kunst - . . -
lungen tar Theorie and Entwickelungsgeschicbte der Bio-
-iw; an i Seibstbiographie; Charakteristiken und Kritiken
M-. lei biographischer Kunst und Forschung, 2. äbge-
• -.v-no biographische und ‘seil -stbiögraphiscbe Aufsätze
’.iui -'knl ru, ff. Selbstbekenntnisse aus ungedruckten oder
schwor zugänglichen Queller» in der Art der knlturgeschicht-
’icl.en Zeugnisse in Gustav Fr eytag’s „Bildern au- der deut-
• hon Vergangenheit“, 4. biographische. Miseellen, Nekrologe,
Anzeigen Hei wichtigeren in und außer Europa erscheinen-
d • Biogvaphieen, Selbsfcbiographieen und Pc-nk Würdigkeiten,
c 1 ' B a i in Zeitschriften zerstreutc.u b , ,■ ■ . n
Essays bringen soll. Ein solches Vorhaben setzt zo
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Nachivibti.-Ti , Druckt:!! u. dergl. au die Adresse des Heraus¬
gebers 1 >i . Ant<m Jkttdheim in Wien XIX, Hasenaacn-tr. IM,
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Es ist mit d .lahv- .- ah! und den Anfangsbuchstaben be¬
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Stalaktiten, zu denen außer Eelbo auch Max Klingel“, Georg
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zogen und. auf dieses das pia t; ’ Material, Gips, auf-
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L'.’-uk von \ rjui-' i’r ■ ir; Leipzig
I) ORFLAND S CHAF T.
'erlag vE.A.Seemann in Leipzig. Original im Städtischen Museum zu Leipzig. Druck V-F.AiBrockhaus mleipzi
1. Der Sphinx bei Jen Pyramiden von Gizeh. (Aus dem Werke von Ebers-Junghändel : Ägypten. Verlag des Cosmos in Berlin )
SPHINX.
VON DR. JOHANNES ILBERO.
LS Sinnbild alles Rätselhaften und Ge¬
heimnisvollen gilt unserer bildenden
Kunst die wohlbekannte Gestalt der
Sphinx. Wer der Bedeutung und den
zahlreichen Wandlungen dieses un¬
heimlich-reizvollen Typus nachforscht,
wird erstaunt sein, wie häufig er ihm in der an¬
tiken Welt entgegentritt, am Tigris wie am Nil,
auf den Hochebenen und an den Felswänden Klein¬
asiens wie in der gesamten griechischen Kultur¬
welt bis hinauf nach Südrussland, in den Gräbern
Etruriens wie in den Prachtpalästen der römischen
Kaiser. Wo auch die Männer vom Spaten ihre
Triumphe erkämpft haben, da schufen sie die Mög¬
lichkeit, einen tieferen Einblick in die Geschichte
der Sphinxgestalt zu thun und belehrten uns da¬
durch über Zusammenhänge und Kulturströmungen
von höchstem Alter.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 9.
Schier unermesslich wie die räumliche Ver¬
breitung der Sphinxdarstellungen ist auch ihre
Mannigfaltigkeit. Zahllose Sphinxkolosse bedeckt
und bedroht der Wüstensand Ägyptens: welcher
Gegensatz allein äußerlicher Art zu den überaus
feinen Gemmen und Siegelcylindern mit dem Bilde
unseres Fabelwesens, wie sie die Ebenen Mesopota¬
miens geliefert haben oder die vom phönizischen
Kunstgewerbe eroberten Küstenstrecken des Mittel¬
meeres! An Thronsesseln und Altären, als Schmuck
für Gewänder, Rüstungen, Gürtel und Diademe, auf
Grabmälern und Thongefäßen aller Art, auf Münzen
der verschiedensten Gegenden, an Marmortischen
und Candelabern, immer und immer wieder taucht
das phantastische Wesen auf. ln Stein gemeißelt
und gravirt, in Bronze, Silber und Gold getrieben
oder geprägt, aus Thon gebildet oder darauf gemalt
und gepresst, — es giebt kein Material und keine
29
218
SPHINX.
2. Sphinx von Tanis, im Museum zu Gizeh.
Technik, die für Darstellungen der Sphinx nicht
angewendet worden wären. Bald lagert sie regungs¬
los ausgestreckt, bald stützt sie sich halbaufgerich-
5. Schreitender Sphinx auf Feinden. (Nach Perrot & Chipiez.)
tet auf diu Vordertatzen, bald hebt sie drohend eine
Pranke, bald fallt sie raubtiermäßig ihresgleichen
an oder tritt einen Feind unter die Füße; gravitä¬
tisch schreitet sie im Zuge, vereint mit
verwandten Fabeltieren und erscheint
endlich, auf dem Felsen sitzend, gegen¬
über ihrem Meister Ödipus. Beachtet
man ferner die Unterschiede, die sich
aus dem Mangel oder Vorhandensein
der Flügel, sowie aus deren Form er¬
geben, lässt man auch die Verschieden¬
heit des Geschlechts nicht unberück¬
sichtigt, so zeigen sich zahlreiche
Unterarten und Fortbildungen des
Grundtypus, die zu dem Versuche
reizen könnten, eine Naturgeschichte
der Sphinx zu schreiben und auf dieses
mythologische Untier einmal die Dar¬
winsche Descendenztheorie anzuwenden.
Halten wir also Umschau nach der
„Entstehung der Arten“. Bei dem
Namen Sphinx treten sogleich zwei Bilder vor un¬
sere Seele: .wir sehen das buntgeflügelte, scharf¬
krallige Ungeheuer auf dem böotischen Sphinxberge,
raubgierig thebanische Jünglinge zerfleischend, sieges¬
gewiss dunkle Rätselworte murmelnd — oder unsere
Phantasie schweift ins ferne Nilthal und lässt aus
dem steinernen Munde regungslos gelagerter Kolosse
die Worte des Dichters vernehmen:
„Wir von Ägypten her sind längst gewohnt,
Dass unsereins in tausend Jahre thront.
Und respektirt nur unsre Lage,
So regeln wir die Mond- und Sonnentage.
Sitzen vor den Pyramiden,
Zu der Völker Hochgericht;
Überschwemmung, Krieg und Frieden —
Und verziehen kein Gesicht.“
Wie nahe berühren sich in uns diese beiden
Reminiscenzen vom Nil und von Griechenland, und
doch liegen zwischen ihnen viele Jahrhunderte weit-
geschichtlicher Umwälzungen! Durch weite Länder¬
und Meeresstrecken musste das Fabeltier wandern,
durch Völker verschiedenster Abstammung, Kultur¬
stufe und Religion, bis es vom Sande der libyschen
Wüste an den Kopaissee gelangte, bis es fernerhin
auf dem Helme der Athena Parthenos, am Throne
des olympischen Zeus, auf dem Siegelring des Kai¬
sers Augustus Posto fassen konnte!
Begleiten wir es auf dieser Weltreise und halten
wir dabei Umschau, welche Wandlungen es auf ihr
in der bildenden Kunst erfahren hat.
Jm Anfang war die That! — tönt uns aus dem
Munde der Sphinx entgegen. Und welche Riesen-
that! Keine schriftliche Kunde belehrt uns darüber,
wann das großartigste Monument entstanden ist, zu
SPHINX.
219
3. Widdersphinx.
dem jemals in der Kunstentwicklung der Spliinx-
typus die Inspiration gab. Es ist die mächtigste
Skulptur der Welt, der riesige Sphinx von Gizeli.
Ich sage „der Sphinx“, denn Sphinxe weiblichen
Geschlechts, wie sie der modernen Anschauung ge¬
läufig sind, gehören auf ägyptischem Boden zu den
Ausnahmen.
Aus dem Dunkel der grauesten Vergangenheit
reicht die Geschichte des in der Wüste aufragenden
Wunderwerkes bis auf unsere Tage herab. Die über
seiner Entstehung lagernde Dunkelheit ist noch
immer nicht völlig gelichtet. Es ist aus dem leben¬
digen Felsen herausgehauen; an einigen Stellen nur,
wie in der Mitte des Körpers und bei den Tatzen,
wo das gewachsene Gestein nicht ausreichte, hat
man mit gemauerten Quadersteinen nachgeholfen.
Der Löwenleib wurde nur in annähernder Form,
mit größter Sorgfalt und Genauigkeit dagegen das
Haupt ausgeführt. Der ganze Koloss war ursprüng¬
lich mit sorgsam geglättetem Kalkstein bedeckt;
das vielbewunderte Antlitz rötlich gefärbt, die Augen
schwarz. Am Kinn saß ein streng geometrisch ge¬
formter Bart, der vor einiger Zeit aus dem Sande
gegraben wurde und jetzt im Britischen Museum
bewundert werden kann. Der obere Teil des Kopf¬
schmuckes mit der Uräusschlange ist ebenfalls ab¬
gebrochen, die Nase gänzlich zerstört (Abb. 1).
Man erblickte einstmals im großen Sphinx am
Fuße der Pyramiden eine Verkörperung des Sonnen¬
gottes Harmachis und weihte ihm Tempel und Kul¬
tus. Nachgeschaffen wurde diesem bedeutsamen
Riesenmodell eine ungeheure Anzahl von Sphinxen,
die in Verbindung mit allerlei heiligen Monumental¬
bauten aufgerichtet waren. Sie bildeten Zugangs¬
straßen und Prozessionswege vor den Tempeln oder
Totenwohnungen, die den Eindruck höchst impo¬
santer, ernster Alleen gemacht haben müssen. Sphinx
an Sphinx zu beiden Seiten in unabsehbarer Reihe!
Die ausgedehntesten Anlagen dieser Art entstanden
in der Glanzzeit des Pharaonenlandes, als der weite
Komplex der Reichsheiligtümer von Theben aus¬
gebaut wurde.1)
Hervorragende Sphinxstatuen aus älterer Zeit
hat Mariette zu Tanis (San el Hager) im östlichen
Delta ausgegraben (Abb. 2). Diese eigenartigen Monu¬
mente sind aus schwarzem Granit gemeißelt und zeigen
einen fremdartigen Typus, der von dem sonst auf
ägyptischen Denkmälern auftretenden durchaus ver¬
schieden ist. Die Augen sind klein, die Nase stark
und fiacli, der Mund breit, das Kinn vorspringend;
das hartknochige, breite Gesicht, von dichter Mähne
umrahmt, hat einen rohen, geistlosen, man möchte
sagen landsknechtmäßigen Ausdruck. Vier von
ihnen sind an dem Fundorte belassen worden; die
Gesichtszüge der jetzigen Bewohner der Gegend
sollen, wie z. B. Ebers findet, eine frappante Ähn¬
lichkeit mit ihnen zeigen. Die schönsten Exemplare
Hat man ins Museum nach Gizeli gebracht, eins
steht im Louvre. Wem die merkwürdigen Züge
dieser düsteren Ungeheuer angehört haben mögen,
ist oft diskutirt worden. Früher glaubte man darin
Herrseberporträts aus der Hyksoszeit zu besitzen,
doch ist jetzt wohl kein Zweifel, dass die sogenann¬
ten Hyksos-Sphinxe schon der 12. Dynastie ange¬
hören und Ameuemha III. sowie etliche seiner Nach¬
folger darstellen.2)
Die, wie geschildert, in der Mehrzahl auftreten¬
den Monumente zeigen in einigen Fällen Widderköpfe
(Abb. 3) und erweisen sich dadurch als heilige Tiere
des Amon, des Schutzgottes des thebanischen Gaues,
der in Widdergestalt im Tempel lebte. Eine Abart
des Typus schuf man auch durch Vereinigung von
Löwenleib und Sperberkopf, wobei die Darstellung
1) Das Süd- und Nordviertel von Theben (heute Kar¬
nak und Luqsor) waren durch eine breite Sphinxstraße von
2 km Länge verbunden, zu deren Einfassung gegen 1000
Sphinxe erforderlich gewesen sind; und weit länger noch
war die zum Nil hinabführende Avenue, die sich jenseits
des Stromes bis zu den Königsgräbern am westlichen Ge-
birgsrande fortsetzte.
2) S. zuletzt Steindorff in der Festschrift zum Deutsch.
Historikertag in Leipzig 1894, S. Ü.
4. Königssphinx.
29*
220
SPHINX.
des Re Harmachis
mit dem Sperber¬
kopf maßgebend
gewesen ist. In
den meisten Fällen
jedoch ist der Lö¬
wenleib mit dem
Haupte dessen ver¬
einigt, der das
Denkmal bat er¬
richten lassen. Ge¬
wöhnlich war das
ein König, und so
trat dem Ägypter
beim Gange zum
Tempel das Ange¬
sicht seines Pharao
in hundertfältiger
Wiederholung entgegen. Von der 12. Dynastie an
bis hinab zu den Ptolemäern existirt eine große
Zahl dieser Kölligssphinxe mit mehr oder minder
ausgesprochenen Porträtzügen ( Abb. 4). Es sind Mono¬
lithen, meist aus Granit, doch finden sich auch
Bronzen, Basreliefs, Fresken u. s. w. Das Königs¬
haupt ist gewöhnlich mit grosser Sorgsamkeit aus-
geführt, der Löwenleib pflegt in konventioneller
Weise wiedergegeben zu werden (wie auch beim
großen Sphinx), bei weitem nicht mit der Natur-
wahrheit,die von der ägyptischen Kunstsonst in Löwen¬
darstellungen erreicht worden ist. War das Monu¬
ment von einer Königin gestiftet, so erhielt es ganz
folgerichtig weibliches Geschlecht, sonst (in der
echtägyptischen Kunst wenigstens) niemals. Aus
diesen Beobachtungen darf man den berechtigten
Schluss ziehen, dass auch der große Sphinx, unbe¬
schadet seiner göttlichen Bedeutung, die Gesichts-
ziige eines Herrschers aufweist und dass wir in ihm
eine der ältesten Porträtbüsten des Erdballs besitzen.
Der Sphinx trägt in der Regel das Klaft (Ka-
lant ika) genannte königliche Kopftuch, das auf den
Schultern in zwei gefältelten Streifen aufliegt und
hinten zu einem runden Stutz zusamniengedreht
ist, der wie ein kurzer Zopf auf dem Nacken hängt.
( her der Stirn richtet sich die Uräusschlange auf,
das Symbol der königlichen Würde. Zuweilen er¬
scheint er mit der Doppelkrone, dem Pschent, ge¬
schmückt, auch hat man Darstellungen, auf denen
über dem Kopftuch sich die Sonnenscheibe oder das
aus Hörnern, Sonnenscheibe, Schlangen und Federn
wunderlich zusammengesetzte Götterdiadem erhebt.
Oft ist das Antlitz mit dem zur Königstracht ge¬
hörenden langen Kinnbarte versehen, oder ein brei¬
ter Halskragen senkt sich zur Brust hinab. Den
Rücken des Tieres bedeckt manchmal eine mehr
oder weniger reich verzierte Schabracke. Auf der
Brust ist meistens der Thronname eingemeißelt, wo¬
bei allerdings zu beachten ist, dass die Herrscher
gar nicht selten Sphinxe von Vorgängern durch An¬
bringung ihres eigenen Namens für sich usurpirten.
Auch wurde zwischen den Vorderbeinen mitunter
die aufrecht stehende Statuette des Pharao in Relief
dargestellt.
Die majestätische Ruhe der gelagerten Kolosse
führte dahin, dass man den in Sphinxgestalt mit
Königsantlitz gebildeten Sonnengott häufig als Wäch¬
ter auffasste. Wie die geflügelte Sonnenscheibe über
den Tempelpforten den Bösen abschrecken sollte, so
hüteten auch die Sonnensphinxe das Heiligtum. Ihre
Aufstellung in Gräbern geht auf ähnliche Anschauung
zurück. Die Kraft, Unheil zu beschwören und
Gegenzauber auszuüben, ist seitdem unserem Wunder¬
tiere niemals wieder verloren gegangen. Infolge
seiner vielfachen Verwendung für die Tempelwege,
Eingänge und Höfe neigte es sogar dazu, rein sym¬
bolisch zu werden und zum bloßen Ornament herab¬
zusinken. Das Persönliche in seinen Gesichtszügen
verschwindet dabei allmählich , auch die streng ge¬
bundene Stellung wird oft aufgegeben. Der Sphinx
erhebt sich, schreitet, er wird mit Menschenhänden,
endlich mit Flügeln ausgestattet.
Den König als Bewältiger der Feinde darzu¬
stellen , war ein sehr beliebter und mannigfach
variirter Gegenstand der ägyptischen Kunst. So er¬
scheint denn auch der Pharaosphinx erbarmungslos
die Gegner mit den Klauen niedertretend (Abb. 5), be¬
sonders als dekoratives Beiwerk auf Wandgemälden.
Der Typus mit Menschenhänden wurde gern ver¬
wendet, wenn der Sphinx irgend einen Gegenstand,
wie einen Altar, tragen sollte. Doch haben die
Hände auch spitzige, einwärts gekrümmte Nägel
reißender Tiere, wie die vier schon von Winckelmann
8. Assyrischer König mit Sphinx kämpfend. (Nach Perrot & Chipiez.)
7. Assyrische Sphinx, eine Säulenbasis
tragend. (Nach Perrot & Chipiez.)
SPHINX.
221
9. Mykenische Sphinxe, gelagert. Elfenbeinkamm aus Spata. (Nach Perrot & Chipiez.)
beschriebenen Exemplare an der Spitze eines rö¬
mischen Obelisken. ') Auch weibliche Sphinxe, meis¬
tens Darstellungen von Königinnen, wie wir sahen,
bildete man oft mit menschlichen Armen (Abb. 6).
Flügelsphinxe sind in Ägypten keine einhei¬
mische Neubildung; sie verdanken ihren Ursprung
der Phantasie asiatischer Völker. Begeben wir uns
im Geiste aus dem Nilthale nach den weiten Ebenen
Mesopotamiens mit seinen uralten Königspalästen
und Weltstädten! Im Traume des Propheten Daniel
gilt der Löwe mit Adlerflügeln als Sinnbild des chal-
däischen Reiches; eine sehr begreifliche Allegorie;
denn die babylonische und assyrische Kunst ist es,
in der wir die dämonischen Flügelwesen so recht
heimisch finden. Es sind adlerköpfige Gottheiten mit
zwei oder vier Flügeln, die vor dem heiligen Palm¬
baum stehen; es sind geflügelte Löwen und Stiere
mit Menschenhäuptern, als thorhütende Genien ge¬
dacht. Als der ägyptische Sphinx, nach dem Norden
vordringend, in Syrien eingewandert und in den
Bereich mesopotamischer Kunstübung getreten war,
versah man auch ihn nach dem V orbilde jener Phantasie¬
schöpfungen mit Flügeln, um ihn dadurch als höheres
Wesen zu kennzeichnen; dort auch ist es gewesen,
wo man ihm aus unaufgeklärtem Grunde den weib¬
lichen Typus verlieh, der seitdem der Gestalt bis
auf den heutigen Tag eigentümlich geblieben ist.
Syrien also, wo sich so oft die Kulturströmungen ge¬
kreuzt haben, war auch in
diesem Falle das maßgebende
Centrum. Von hier aus ver¬
breitet sich nach vollzogener
Metamorphose der weibliche,
geflügelte Sphinxtypus nach
allen Himmelsrichtungen. Er
kehrt zurück in sein Heimats¬
land, besonders in das von
1) Gesch. der Kunst d. Altert.
8. 41, 44 (Ausg. von Jul. Lessing).
zahlreichen semitischen Elementen bevölkerte Nil¬
delta und zeigt dort nunmehr in Attributen und
Gesichtsschnitt deutlich den östlichen Einfluss. Er
begeguet uns, freilich erst nach Jahrhunderten,
neben den einheimischen Flügelgestalten Mesopota¬
miens zu Nimrud im Palaste Assarhaddons mit hörner¬
umgebener Tiara in tektonischer Verwendung (Abb. 7).
Auch der aufrecht stehende Typus mit erhobener
Vorderpfote kommt daselbst in Kampfscenen vor,
so als Gewanddekoration des Assurbanipal und sonst
(Abb. 8). Das Fabeltier scheint hier besiegt zu werden,
wie zahlreiche dämonische Gestalten jener Kunst¬
welt, eine Auffassung, die den Sphinxdarstellungen
anderer Völker des Ostens fernliegt.
Schicksalsvoll vor allem jedoch war der Zug nach
dem Westen. Er erfolgte zu Lande und zur See. Auf
dem über die „Völkerbrücke“ Kleinasien führenden
Landwege eine vermittelnde Rolle gespielt zu haben, ist
das Verdienst des zwischen Euphrat und Taurusgebirge
ansässigen, noch vielfach rätselhaften Volkes der
Hethiter, dessen Kunstentwickelung erst in neuester
Zeit aus dem tiefsten Dunkel hervorzutreten beginnt.
Das nordsyrische Hethiterreich blühte innerhalb we¬
niger Jahrhunderte rasch empor und verschwand
ebenso rasch wieder aus der Weltgeschichte; aber
dennoch war die Verbindung von babylonischer und
ägyptischer Kunstweise, die sich in ihm vollzogen
hatte, für einen großen Teil des Orients von blei¬
bender Bedeutung. Im Hethi¬
terlande ist der Greifentypus
geschaffen worden, der später
auf verschiedenen Wegen nach
Griechenland gelangte;1) zu¬
erst auf hethitischen Denk¬
mälern erscheinen Greif und
Sphinx verbunden als Wäch¬
terpaar, eine Gegenüberstel-
1) S. Furtwängler in Roschers
Mythol. Lexikon unter „Gryps“.
10. Agyptisirende Sphinxe auf einer Silberschale
von Cypern. (Nach Perrot & Chipiez.)
222
SPHINX.
der
griechischen
Kunst so unffemein
lung, die i
häufig ist. Künftigen Entdeckungen bleibt es Vor¬
behalten, über die hethitische Kunst als Mittelglied
zwischen Osten und Westen mehr Licht zu ver¬
breiten. Wenn erst der Boden Nordsyriens und
Kleinasiens so gründlich durchforscht ist, wie der
von Troja und My-
kenä, dann wird
man wohl auch die
beiden mächtigen,
flügellosen, mit
eigentümlichem
Haarschmuck ver¬
sehenen Sphinxe
richtig beurteilen
können, die am
Burgthore des al¬
ten Königsitzes
Pteria (Üjük) in
Kappadozien ste¬
hen. Aufgerichtet
hüten sie den
Mauerring, als ver¬
lorene Posten eines
versunkenen , na¬
menlosen Herr¬
schergeschlechtes,
von dem vorläufig
nicht einmal zu
ergründen ist, ob
es damals blühte,
als Ramses gegen
die Hethiter, die
„Clieta“, zu Felde
zog, oder ob es
viel später, nach
dem Zusammen¬
bruche der Hethi¬
termacht, seine im-
ponirenden Bau-
tenaufgeführt hat.
Ilethitischer
Einfluss berührte
weiterhin die My-
kenische Welt. Dort hatten bereits phönizische
Händler auf dem Seewege, über Cypern, Kreta, Rho¬
dos nach Westen steuernd, dem Kunstgewerbe Sy¬
riens und Ägyptens Eingang verschafft. Mit ihnen
landete die Sphinx zum ersten Male an der grie¬
chischen Küste. Schliemanns Funde beweisen, dass
die goldreichen und prachtliebendeu Geschlechter,
gel fehlen.
11. Teller von Klioilus. (Nach Salzraaun, N6cropole cle Camiros.)
12. Detail der Francois- Vase. (Nach Ohnefalsch -Richter, Kypros.)
die das Löwenthor von Mykenä durchschritten, die
Sphinxgestalt sehr gern als Ornament für allerlei
Schmucksachen und Gebrauchsgegenstände verwendet
haben. Sie ist geflügelt, das Antlitz zeigt ausgeprägt
volle, weibliche Züge, obwohl die Brüste in der Re-
An den Flügelansätzen finden sich oft,
ähnlich wie beim
syrisch -ägyp¬
tischen undmyke-
nischen Typus des
Greifen , charak¬
teristische, locken¬
artige Ornamente,
die sich bis zur
Brust fortsetzen.
Regelmäßig trägt
die Sphinx des my-
kenischen Kunst¬
gebietes ein nied¬
riges Mützchen
mit langflattern¬
der, zopfartiger
Quaste, die mit¬
unter aus einem
Pflanzenornamen¬
te herauswächst,
und in der wir
ohne Zweifel eine
W eiterbildung des
oben erwähnten
ägyptischen Kopf¬
schmuckes zu er¬
kennen haben. Die
Sphinxe jener
Epoche schreiten
hochbeinig auf
eine in der Mitte
befindliche Säule
zu, mit weit aus¬
gebreiteten Flü¬
geln lagern sie ein¬
ander gegenüber
(Abb. 9) auf den
Vorderfüßen ste¬
hend sind sie in syrischer Weise zu den Seiten eines
Palmbaums gruppirt und zeigen einen stachlichen
Unterleib u. s. w. Spätere Thongefäße einiger grie¬
chischer Inseln lassen erkennen, dass sich daselbst
ein gewisser Zusammenhang mit der mykenischen
Darstellungsweise ziemlich lange erhalten hat.
Im allgemeinen ist allerdings in Griechenland
SPHINX.
223
dieser Zusammenhang unterbrochen worden. Man
hat die mykenische Kunst mit einem bunten Bühnen¬
vorhang verglichen, nach dessen Aufgehen die echt¬
griechische mit ihren scharfen und bestimmten For-
men sich zu entwickeln beginnt. ’) Obschon sich
aber nach den großen Wanderungen, die das „grie¬
chische Mittelalter“ einleiteten, die Kunstübung auf
ganz veränderter Grundlage heranbildete, der zu¬
kunftsreichsten Keime voll, so hat sie dennoch dem
erneuten Eindringen orientalischer Einflüsse, wenig¬
stens in ihrer archaischen Vorbereitungszeit, einen
Widerstand nicht entgegengesetzt. Des Ostens Über¬
legenheit war damals auf künstlerischem Gebiete
weltbezwingend. Vom persischen Golf bis zum tyr¬
rhenischen Meere vermögen wir seit dem Anfänge
des ersten Jahrtausends v. Chr. denselben ornamen¬
talen Stil zu verfolgen Er ist gekennzeichnet
durch regelmässige Gruppirung von Tieren und phan¬
tastischen Flügelwesen, die einander gegenüberstehen
(oft zu beiden Seiten eines Baumes oder einer
Blume) und häufig streifenförmig als Fries angeordnet
sind. In allen Zweigen des Kunstgewerbes wurde
diese Dekorationsweise zur Anwendung gebracht; die
Griechen mögen sie besonders an orientalischen
Metallarbeiten kennen gelernt haben, auch an ge¬
wirkten und gestickten Stoffen und Teppichen, einem
Artikel, in dem ja der Orient heute noch groß da¬
steht. Mit diesem Stile wanderte unsere Sphinx
zum zweiten Male in Hellas ein, um von nun ab
das ganze Altertum hindurch hier heimisch zu
bleiben.
Wie der ewig jugendliche Genius Griechen¬
lands, bestimmt die Welt zu entzücken und zu beherr¬
schen, fremde Elemente aufnimmt, um sie in über¬
raschender Weise neu aufleben zu lassen, das lehrt
auch ein Blick auf seine Beziehungen zum Sphinx¬
ungeheuer.
Es entspricht durchaus den Bevölkerungsver¬
hältnissen der merkwürdigen Insel Cypern, wenn sich in
ihren Kunstdenkmälern neben ägyptischen und assyri¬
schen Einwirkungen schon frühe ein Hauch helleni¬
schen Geistes verspüren lässt. Die kostbaren Silber¬
schalen der blühenden Metallindustrie von Cypern, die
bis nach Italien ausgeführt wurden, zeigen uns denn
auch Sphinxtypen von verschiedener Herkunft und
Combination in bunter Mischung nebeneinander
(Abb. 10). Aber die orientalische Art tritt allmählich
in den Hintergrund; eine fortschreitende Hellenisirun0,
1) H. Dümmler, Verhandl. der Wiener Philologenver-
sarnml. von 1893, S. 123.
13. Terrakottarelief von Tenos. (Nach Stackeiberg.)
224
SPHINX.
des Typus lässt sich erkennen. Auf der berühmten,
jetzt im Metropolitan-Museum zu New York befind¬
lichen Silberschale von Kurion sind u. a. zwei Flügel¬
sphinxe dargestellt, die zu beiden Seiten des durch
ein Pflanzenornament angedeuteten heiligen Baumes
aufgerichtet mit erhobenen Köpfen den Blütenduft ein¬
saugen (Abb. 18). Neben diesem auf Assyrien zurück¬
weisenden Baumkultus findet sich unvermittelt in dem
inneren Streifen der Schale ein ungeflügeltes ägypti-
sirendes Sphinxbild mit Namensschildern. Im gan¬
zen zeigt jedoch das hervorragende Kunstwerk deut¬
lich die überhandnehmende Wirkung griechischen
Schönheitsgefühles auf orientalische Typen. Es ließe
sich der gleiche Vor¬
gang vielfach nachwei-
sen, z. B. an cyprischen
Grabreliefs, worauf die
Sphiuxe wappeuartig an¬
geordnet und mit mäch¬
tigen Flügeln ausgestat¬
tet den heiligen Baum
umgeben, ein Kultus¬
objekt, das später, als
seine Bedeutung längst
verloren gegangen war,
einfach als Palmette er¬
scheint. Am deutlichsten
wird die Umbildung des
Typus bei einer Durch¬
musterung der griechi¬
schen Thongefäße fast
aller Gattungen. Man
wird dies bestätigt fin¬
den, wenn man die alter¬
tümlichen Darstellun¬
gen von Rhodus (Abb.
11), die mitunter sogar
noch in ägyptischer
Weise bärtigen Sphinxe von Korinth oder die älteren
schwarzfigurigen Vasen aus Attika mit den genial
hingeworfenen, zu klassischer Schönheit erhobenen
Exemplaren der Blütezeit Athens vergleicht. Als
Beispiel des Übergangs soll nur die von Francois
gefundene attische Vase aus der älteren Zeit genannt
werden, auf der ein Nachklingen der ursprünglich
allein herrschenden orientalischen Dekorationsweise
zu erkennen ist. Unter ihren figurenreichen Dar¬
stellungen aus der Sagengeschichte zieht sich ein Strei¬
fen kämpfender Tiere hin, an der Vorder- und Rückseite
durch ein Pflanzenornament unterbrochen, um welches
vorn zwei Sphinxe, hinten zwei Greife gruppirt sind,
16. Sphinx von einem lykischen Sarkophag.
(Nach Ilamdy Bey u. Th. Reinach, Nfecropole royale ä Sidon
sodass das Figurenband „wie durch die Schlösser
eines Gürtels zusammengehalten wird“ (Abb. 12).1)
Bevor noch in den Zeiten des Phidias und Pra¬
xiteles das Sphinxideal der Griechen geschaffen
wurde, hatte der Typus eine erweiterte Bedeutung
gewonnen durch seine Verknüpfung mit der helle¬
nischen Sagenwelt. Es ist hier nicht der Ort, auf
diesen Vorgang näher einzugehen, aber notwendig ist es,
ihn zu erwähnen. Einen Mythus bringt die Sphinx
bei ihrer Einwanderung nach Griechenland nicht
mit sich. Sie ist als willkommene dekorative Aus¬
schmückung in ähnlicher Weise wie Gorgone und
Greif ohne weiteres aus dem Orient übernommen
worden. Wenn nun
einem geistig regsamen
Volke Gestalten aus
einem fremden Kunst¬
kreise nahegebracht wer¬
den, sucht es sich mit
ihnen auf seine Weise
abzufinden und sieht
darin wohlbekannte Er¬
scheinungen verkörpert.
So kam es, dass sich
auch in der griechischen
Sphinx fremdartige Ele¬
mente vermischten: der
Osten schuf die Gestalt,
die Sage Hellas. Es ist
ein vielverbreiteter Mär¬
chenstoff von einer spuk¬
haften Unlioldin, ihrer
Rätselwette und Besie¬
gung. Die Furchtbare
haust auf einem steilen,
kahlen Felsen. Wie alle
Landplagen gilt sie als
W erkzeug einer höheren
Macht; unsägliches Unheil bringt sie dem ganzen
Volke. Im Fluge naht sie sich den jugendlichen
Opfern, packt sie mit den Klauen und entführt
sie durch die Luft, um sie zu erwürgen, wie ihr
griechischer Name besagt. Erst nach Homers Zeiten
ist die Sphinx mit der Sage von Ödipus ver¬
knüpft worden; der Held verdankt seinen Ruf als
Rätselkundiger einer volkstümlichen Ausdeutung sei¬
nes Namens.2) Man ersieht daraus die Unhaltbarkeit
1) 11. Brunn, Griechische Kunstgeschichte, S. 168.
2) Das Volk erblickte in dem ritterlichen Oidi-pus oder
Oidi-podes den Mann, der über den Fuß Bescheid weiß und
schrieb ihm daher die Lösung des bekannten Rätsels vom
SPHINX.
225
der gangbaren Anschauung, derzufolge bereits die
altägyptische Sphinx als Rätselwesen aufgefasst zu
werden pflegt.
Wir haben somit in andeutenden Strichen den
Hintergrund skizzirt, von dem sich die griechi¬
schen Sphinxdarstellungen der Blütezeit abheben.
Diese schließen sich teils an die Ödipussage un¬
mittelbar an, teils sind sie von ihr nur indirekt be¬
einflusst und führen die alte Tradition des Orients
weiter. Auf die Darstellungen der Jünglinge rau¬
benden oder mit Ödipus gruppirten Sphinx soll hier
nicht näher eingegangen
werden; es sind meis¬
tens rotfigurige Vasen¬
bilder oder spätere Gem¬
men, die uns die Sage
illustriren. Wichtiger
noch ist die zweite Grup¬
pe und zwar, abgesehen
von ihrer weit größeren
Verbreitung, aus dem
Grunde, weil sie uns die
Symbolik klar erkennen
lässt, die der Grieche
und seine Nachahmer
mit der Sphinxgestalt
verbunden haben.
Bereits die Ägypter
hatten ihren Sphinxko¬
lossen, wie oben hervor¬
gehoben ist, mitunter
die Bedeutung von Gra¬
beswächtern verliehen.
Diese sepulcrale Ver¬
wendung tritt auf ver¬
schiedenen Kulturgebie¬
ten noch ausgeprägter
und häufiger her vor. Be¬
sonders ist die griechi¬
sche Phantasie, die den überlieferten Typus mit
reichem Inhalt mannigfacher Art erfüllte, nach
dieser Richtung hin thätig gewesen. Sie knüpft
dabei teils an die Auffassung des Fabelwesens als
regungslos gelagerten Wächter, teils an diejenige als
dahinraffendes Ungetüm an, dessen wilder Gewalt-
thätigkeit nichts Lebendes widerstehen kann. Für
beide Typen lagen, wie wir gesehen haben, orien¬
talische Vorbilder vor. Ein verderbenbringendes
vier-, zwei- und dreifüßigen Geschöpfe zu. So rankt sich um
„redende Namen“ die Sagenwelt immer üppiger und dichter.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 9.
Ungeheuer als Sinnbild des Unheils und der Ver¬
nichtung zu gebrauchen, lag nahe. Greif und Gor-
gone, Sirenen und Harpyien begegnen uns in dieser
Bedeutung ähnlich wie die Sphinx. Sie erscheint
demgemäß schon seit älterer Zeit auf Grabmälern,
besonders auf lykischem Boden. Anfangs wurde sie
selbständig als Grabesschmuck verwendet, wie sonst
bekanntlich der Löwe, und lagert oft auf einer Säule.
Attische Maler zeichnen sie gern auf Grabvasen;
mit gewaltigen Schwingen begabt, lauert sie dann
wohl vor der Grabsäule und erhebt drohend eine
Vordertatze. Als man
im vierten Jahrhundert
beginnt, den Verstor¬
benen selbst mit seinen
Lieben auf den Grab¬
reliefs abzubilden, sinkt
die Sphinx zur Dekora¬
tion herab und erscheint
z. B. als Krönung jener
rührenden Familien-
scenen oder als Eckfigur
des Monumentes, zu¬
weilen mit Doppelkör¬
per nach zwei Seiten.
Zu den schönsten Grab¬
sphinxen gehören ohne
Zweifel die Reliefs des
neuerdings in Phönizien
entdeckten „lykischen*
Sarkophages ; mit Recht
hat man sie christlichen
Engelsgestalten zur Seite
gestellt. An dieser Stelle
sei auch ein herrliches
Gefäß in Form einer
Sphinx eingereiht , ob¬
wohl wir seine sepulcrale
Bedeutung nicht ver¬
bürgen möchten. Es wurde im Grabe einer vornehmen
Griechin in Südrussland gefunden und atmet den Zau¬
ber der Praxitelischen Zeit. Von der Vasenform sind
nur Hals und Henkel entlehnt, die unmittelbar hinter
dem Kopfe hervorragen. Der erste Herausgeber sagt
darüber: „Niemand, der dieses Kunstwerk von wahr¬
haft ergreifender Lieblichkeit zu sehen Gelegenheit
gehabt hat, wird leugnen, dass keine der übrigen
uns erhaltenen griechischen und römischen Darstel¬
lungen der Sphinx in Hinsicht ihres künstlerischen
Werts auch nur von fern mit dieser verglichen wer¬
den kann und dass namentlich der sehnsüchtig ver-
30
Sphinxvase.
(Nach Compte rendu de la Commission archeol. 1870/1.)
226
SPHINX.
führerische Charakter der furchtbaren Jungfrau,
welcher die Alten veranlasste, sie mit den Hetären
zu vergleichen, hier einen umso bezaubernderen Aus¬
druck gefunden hat, je strenger zugleich die Gren¬
zen edelster Schönheit innegehalten sind.“ ‘)
Seit sehr alter Zeit stand auch die Küste Etru¬
riens in lebhafter Verbindung mit den Handelsvölkern
des Ostens, zuerst mit den Phöniziern, wie u. a. ver¬
einzelte ägyptische Sphinxdarstellungen aus den
Gräbern bezeugen, sodann mit griechischen See¬
städten. Insbesondere ist der korinthische Sphinx¬
typus von der etruskischen Kunst dauernd festge¬
halten worden. Gruppen wilder und phantastischer
Tiere erblickt man an den Wänden mehr als einer
etruskischen Totenwohnung; durch groteske Ge¬
stalten besonders merkwürdig sind die Fresken des
einzigen noch erhaltenen Grabes von Veji, die neben
Panther, Hunden und Löwe eine hochbeinige Sphinx
zeigen. Ungemein häufig sind sodann Sphinxe an
den römischen Gräberstraßen und in den Colurn-
barien, auf Sarkophagen, Grabsteinen, Aschenurnen
und Grablampen. Ihre Vordertatzen liegen nicht
selten auf einem Widderkopf, einem Rade, auf Stier¬
kopf oder Totenschädel, ihre Formen werden gern
üppiger gebildet als ehedem in Griechenland.
Schreckhaften Typen legte man oft die Kraft
bei, Böses abzuwehren. Auch diese Eigenschaft
wurde der Sphinx beigemessen. Über erschlagene
Feinde dahinschreitend, trägt sie schon die Arm¬
lehnen ägyptischer Königssessel. In Griechenland
wurden vor allem die Throne der Götter mit solchem
Schmucke versehen. Jünglinge raubend, stützten
diese Schutzdämonen die Armlehnen am Throne des
Zeus in Olympia; sie sind mitunter an der Rück¬
lehne, neben oder unter dem Throne, auch an der
Fußbank angebracht und dienen oft statt der Füße.
Apollon, Asklepios, Aphrodite bedienen sich so ver¬
zierter Sessel. Mit einer Sphinx schmückte Pliidias
den Helm seiner aus Gold und Elfenbein gefertigten
Athena im Parthenon. Gewöhnlich wird gesagt, der
Künstler habe dadurch die Unergründlichkeit der
1) L. Stephani, Compte rendu 1870 — 71, S. 10.
göttlichen Weisheit andeuten wollen; doch nötigen
die gleichzeitigen Analogien dazu, auch hier ein
Sinnbild der Abwehr, ein Apotropaeum, zu erkennen.
Diesem berühmten Originale nachgebildet ist der
Athenahelm auf zahlreichen griechischen Goldarbeiten
und Münzen. Hellenische Fürsten, römische Cäsaren
stattete man mit demselben Emblem aus. Von
Athena übertrug man es aber besonders auf die
Idealgestalt der Roma, deren sphinxgeschmückter
Helm durch ein Fundstück des Hildesheimer Silber¬
schatzes wohl am bekanntesten geworden ist.
Die mannigfaltigsten Erzeugnisse der Kunst¬
industrie und Kleinkunst könnten angeführt werden,
bei denen diese zuletzt geschilderte Geltung des
Typus unverkennbar ist. Allmählich aber schwindet
sein innerer Gehalt; er wird ein geläufiges Element
der künstlerischen Formensprache, nur um seines
bizarren Äußeren willen gewählt, wie andere Fabel¬
gestalten. Als ungelöstes Rätsel dient die Sphinx
späteren Geschlechtern immer wieder aufs neue als
geduldiges Objekt abenteuerlich allegorischer Deu¬
tungsversuche.
Auch über dieses fremde Gebilde aus dem Osten
hat der hellenische Genius seinen berückenden Zau¬
ber ausgegossen. Ich will zum Schluss nur zwei
Denkmäler erwähnen, die durch ihren Gegensatz
seine verklärende Kraft erkennen lassen.
Vor einiger Zeit wurde zu Athen ein Grabrelief
mit Inschrift gefunden, das einem dort verstorbenen
phönizischen Seefahrer von einem befreundeten Lands¬
manne gesetzt worden ist. Darauf ist ein gespenster-
hafter, furchtbarer „Grimmlöwe“ dargestellt, der die
Seele des Sterbenden zu zerreißen droht. Man ver¬
gleiche damit die griechischen Sphinxe auf einem
der jüngst entdeckten Sarkophage von Sidon! Voll
milden Ernstes und reiner Schönheit blicken uns
diese Köpfe aus den spitzbogigen Giebelhälften ent¬
gegen. Die unerbittlich grausame Löwenjungfrau
ist zum sanften, man möchte sagen menschlich mit¬
fühlenden Todesengel geworden, und es drängen
sich uns die Worte auf die Lippen, die Lessing über
seine Abhandlung setzte: „Wie die Alten den Tod
gebildet“ : Nullique ca tristis imago.
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG. ')
VON H. A. LIEß.
MIT ABBILDUNGEN.
I.
AN kann die durch zahlreiche
Beispiele leicht zu erhärtende
Behauptung aufstellen, dass
in Zeiten, in denen Linien¬
schönheit in der Malerei vor¬
herrscht und bei den Bildern
der Hauptnachdruck auf den
Gedankeninhalt gelegt wird,
der Kupferstich mit besonderer Vorliebe und gutem
Gelingen gepflegt wird, während in denjenigen
Perioden, in denen in erster Linie nicht die Form,
1) Für diejenigen unserer Leser, die sich mit der Ge¬
schichte der modernen Radirung genauer befassen und, so¬
weit dies aus Büchern möglich ist, mit ihrer Technik vertraut
machen wollen, führen wir aus der reichen Literatur folgende
Werke und Aufsätze an, die uns besonders beachtenswert zu
sein scheinen: Kupferstich und Photographie (Lützow’s Zeit¬
schrift für bildende Kunst 1866, S. 287 — 294). Vgl. dazu
die Schlussabschnitte von G. von Lützow’s Geschichte des
deutschen Kupferstichs und Holzschnittes. Berlin 1891. gr. 8°.
S. 295—306. — Jul. Tliaeter , Über Reproduktion in der bil¬
denden Kunst. (Augsburg. Allgem. Ztg. 1867, Nr. 201. 202.
Wiederabgedruckt in Jul. Thaeter: Das Lebensbild eines
deutschen Kupferstechers . . . von Anna Thaeter. Frankf.
a. M. 1887. 8°. S. 174 — 185). — L. Jacoby (über den Kupfer¬
stich) und W. Unger (über die Radirung) im „Illustrirten
Katalog der ersten internationalen Spezial-Ausstellung der
graphischen Künste in Wien“. Wien 1883. 4U. — A. Springer ,
Die Aufgaben der graphischen Künste, bei Ludw. Nieper,
Die Kgl. Kunstakademie und Gewerbeschule in Leipzig.
Festschrift. Leipzig 1890. Fol. S. 3—12. — L. von Donop,
Ausstellung der Radirungen von Bernhard Mannfeld. Ber¬
lin 1890. 8°. — Max Klinger, Malerei und Zeichnung. Ber¬
lin 1890. 8°. — J. E. Wessely, Geschichte der graphischen
Künste. Leipzig 1891. gr. 8°. — U. Herkomer, Etching
and Mezzotint-Engraving. Lectures delivered at Oxford.
London 1892. 4°. — Friedr. Lippmann, Der Kupferstich.
Berlin 1893. 8°. Das Hauptwerk für die Geschichte der
modernen Radirung, an das sich die folgenden Zeilen eng
anschließen, ist: Richard Graul, Die Radirung der Gegen¬
wart in Europa und Nordamerika. Wien 1892. Fol. (Die
vervielfältigende Kunst der Gegenwart. Herausgeg. von der
Gesellsch. f. vervielfältigende Kunst. III.)
sondern die Farbe im Vordergründe der künstlerischen
Bestrebungen steht und realistische Tendenzen vor¬
herrschen, vornehmlich die Radirung zur Blüte ge¬
langt. Daraus erklärt sich die glänzende Entwick¬
lung der Radirung in den Niederlanden während des
17. Jahrhunderts, die mit der rein malerischen Rich¬
tung Rembrandts und seiner Nachfolger Hand in
Hand geht, und ihr gewaltiger Aufschwung in
unserem Jahrhundert, ebenso wie der gleichzeitige
Rückgang des Kupferstiches, der, von vereinzelten
Ausnahmen abgesehen, nur noch mühsam sein Da¬
sein zu fristen vermag.
Es ist bezeichnend, dass die ersten Spuren der
Neubelebung der Radirung bei demjenigen Volke
zu finden sind, dem wir überhaupt die Erneuerung
der Malerei in unserem Jahrhundert zu danken haben,
bei den Franzosen, und dass diejenige Gruppe fran¬
zösischer Künstler, in deren Wirken wir die ersten
fruchtbringenden Keime jener Entwicklung bemerken,
auch zuerst die Pflege der Radirung mit Glück in
die Hand genommen hat, d. h. die Schule von
Fontainebleau. Das kleine Barbizon , jenes stille,
zwischen den Bäumen des Waldes versteckte Dörf¬
chen, dessen nächste Umgebung die Geburtsstätte
der größten künstlerischen Thaten in unserem Jahr¬
hundert geworden ist, hat auch die Motive für die
ersten französischen Malerradirer abgegeben. Dort
oder vielmehr in nächster Nähe von Barbizon, in der
Stadt Fontainebleau selbst, wurde im Jahre 1805
Eugene Blery geboren, den wir als Vorläufer der
ganzen Richtung anzusehen haben. Seine Vorbilder
waren die großen holländischen Landschaftsmaler
Hobbema und Ruisdael. Aber wenn er auch ihre
Grundsätze in der Malerei auf die Radirung zu über¬
tragen suchte, so vermochte er sich doch noch nicht
von dem Einfluss Poussin'>s und seiner übertriebenen
Genauigkeit freizumachen. Darum erklärt sich die
30*
228
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
ans Kleinliche streifende Sorgfalt seiner zierlich aus¬
gearbeiteten Platten, in denen jedes Gräschen, jede
Birke und Eiche mit so zu sagen biographischer
Treue wiedergegeben ist. Trotzdem gebührt Blery, der
seiner Manier bis ins Alter treu geblieben ist, der
Ruhm, seine Zeitgenossen auf die Schönheit jener
Studienplätze aufmerksam gemacht zu haben, auf
jenen „Bois sacre, eher aux Muses", wie ihn Puvis
de Chavannes einmal genannt hat.
Der erste bedeutende Nachfolger und Rivale,
den Blery fand, war Charles Jacque (geh. 1813), ein
Künstler, der als Maler wie als Radirer und Holz¬
schneider gleich Großes geleistet hat. Weit freier
und selbständiger als Blery, gelegentlich sogar
zu impressionistischen Übertreibungen hinneigend,
war er der erste, der es wagte, den französischen
Landmann, so wie er zu jener Zeit wirklich war,
in das Bild aufzunehmen. Er ging in diesem
Bestreben Hand in Hand mit Millet , mit dessen Ver¬
fahren das seinige große Ähnlichkeit zeigt, und ge¬
wöhnte dadurch das französische Publikum daran,
Natur und Landleben nicht mehr mit jener kon¬
ventionellen Süßlichkeit zu behandeln, die seit Wat¬
teau1?, und seiner Nachfolger schäferlicher Auffassung
in der ganzen Welt verbreitet war.
Auf den Schultern Jacque’s steht Charles Dau-
higny (1817 — 1878), der nicht nur ein großer Land¬
schaftsmaler, sondern, was in Deutschland nur wenige
wissen, auch ein hervorragender Malerradirer war
und seine Platten mit derselben erstaunenswerten
K ühnheit und Geschicklichkeit zu behandeln verstand,
die wir auch an seinen Ölgemälden bewundern.
Dagegen blieb Jean Francois Millet (1814 — 1874),
der gewaltigste Stilist und der charaktervollste Künst¬
ler, den Frankreich in unserem Jahrhundert hervor-
gebracht hat, in seinen Radirungen, von denen un¬
gefähr zehn bekannt geworden sind, hinter den
Leistungen seiner Genossen zurück. Es fehlte ihm
auch auf diesem Gebiete die genauere Kenntnis des
Handwerksmäßigen, worin ihm andere weit weniger
bedeutende Künstler vielfach überlegen waren; aber
so unbeholfen auch seine Blätter ausgefallen sind,
seine große Persönlichkeit, der Ernst und die Tiefe
seiner Weltanschauung, leuchtet uns auch aus ihnen
eindrucksvoll entgegen. Ihr Gegenstand ist, wie
schon die Unterschriften: „Cardeuse de lain“, „La
tricoteuse“, „L'homme ä la brouette“, verraten, der¬
selbe, den Millet in seinen Ölbildern behandelt, das
Leben des französischen Bauern, den er nicht als
Individuum, sondern als Typus des an die Scholle
gefesselten Landarbeiters aufgefasst hat.
Auch Camille Corot (1796 — -1875), der ewig
junge Alte, der in der Natur nur die Ruhe und den
Frieden sah und den Abglanz seiner immer heiter
gestimmten Seele in dem leuchtenden Duft der Wälder
und Seen am Morgen oder Abend wiederzuspiegeln
liebte, griff gelegentlich zur Radirnadel. Mit Hilfe
Bracquemönd’ s, der ihm die Platten geätzt haben soll,
schuf er eine Anzahl Blätter, Träumereien von Isle
de France, in denen, wie auf seinen Ölgemälden,
Himmel, Erde und Wasser in warme Nebel getaucht
erscheinen.
Die Schule von Barbizon ist für sämtliche
französische Malerradirer, die sich mit der Land¬
schaft beschäftigen, maßgebend geworden, und nur
einer, freilich eins der größten und ursprünglichsten
französischen Talente aus neuerer Zeit, ist wie als
Maler so auch als Radirer seine eigenen Wege ge¬
gangen: Jules Bastien-Lepage (1812 — 1879). Bas-
tien-Lepage entnahm seine Motive seiner engeren
Heimat, der Landschaft an der Meuse, wo er zu
Hause war. Dieser Gegend gehören auch seine
Bauern an, die er schlicht und derb, wie sie sind,
mit naturalistischer Treue ebenso wie in seinen Bil¬
dern auch in seinen wenigen Radirungen vorführte,
ohne übrigens auf diese Arbeiten besonderen Wert
zu legen.
Fast um dieselbe Zeit, in der in Frankreich die
Landschaftsradiruug aufkam, tauchte auch eine An¬
zahl von Künstlern auf, die sich das Leben und
Treiben in den engen, winklichen Straßen und Gassen
des alten Paris zum Vorwurf erkoren, und ganz im
Sinne der Victor Hugo’schen Romantik für das
mittelalterliche Paris schwärmten. Das Haupt dieser
Gruppe war Charles Meryon (1821 — 1868), ein früherer
Marineoffizier, der von Blery die erste Anleitung er¬
hielt und seitdem die Radirkunst geschäftsmäßig
betrieb. Seine Blätter haben für Paris, das bald
nachher durch Haußmann gründlich umgestaltet
wurde, den Wert einer interessanten Bilderchronik
und fesseln den Kenner durch die bizarren Einfälle
ihres Autors, der, nervös überreizt und phantastisch
veranlagt, seine Architekturen mit allerhand Alle-
gorien und gespensterhaften Scenen zu bevölkern
liebte, in technischer Hinsicht aber nur Unvoll¬
kommenes zu stände gebracht hat.
Sein Nachfolger und Verehrer Felix Bracquemönd
hat Meryon weit überflügelt. Bracquemönd, der sich
zunächst in der Faience-Malerei versucht hatte, fing
damit an, nach japanischen Vorbildern Enten und andere
Vögel zu radiren, wobei er weniger durch sorgfältige
Zeichnung als durch die Frische und Weichheit
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG. 229
seiner Nadelführung Aufsehen erregte. Dann ver- wandte sich der reproduzirenden Kunst zu, in der
legte er sich auf das Porträt, hatte aber dabei wenig er, wie wir noch sehen werden, sich zu einem
Glück, da seine Bilder zu wenig ähnlich ausfielen, Künstler ersten Ranges aufschwang.
Lesende Dame. Originalradirung von P. Helleu.
während ihre technische Durchführung zum Teil Auch Jules Jacquemart, der im Alter von vierzig
meisterhaft war. Da also der Erfolg ausblieb, gab Jahren starb, musste seine Neigung, als Original¬
er mehr und mehr die Originalradirung auf und radirer thätig zu sein, der harten Notwendigkeit,
230
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
durch Herstellung von Kopien für seinen Lebens¬
unterhalt zu sorgen, in der Hauptsache opfern. Seine
besten Werke, z. B. die „Fleurs de la vie“ und die
„Gemrues et joyaux de la couronne“, gehören dem
Gebiete des Stilllebens und der Blumenmalerei an;
aber obwohl sie also ihrem Gegenstände nach nicht
bedeutend erscheinen, nehmen sie doch wegen ihrer
unübertrefflichen Naturtreue und wegen ihrer tech¬
nischen Vollendung, bei der die Atzung in allen
ihren Kombinationen mit dem Kupferstich und dem
Aquatinta-Verfahren zur Anwendung gekommen ist,
einen hohen Rang ein.
Merkwürdiger Weise ist in Frankreich die Zahl
der Maler, die ihre eigenen Werke durch den
Kupferstich und die Radirung wiederzugeben ver¬
stehen, nicht groß, obwohl seit kurzer Zeit in Paris
die Radirung von den jüngeren Künstlern fast sports¬
mäßig betrieben wird. Bedeutend ist auf diesem
Gebiete nur Meissonier gewesen, dessen Radirungen
dieselbe photographische Treue und Feinheit wie
seine Ölgemälde besitzen. Meissonier hat nur weniges
radirt, aber stets in jenen glücklichen Momenten,
von denen Jules Dupre einmal gesagt hat: „Die
Maler malen Bilder zu jeder Stunde, ob sie nun
glücklich oder unglücklich ist, Radirungen aber
bringen sie nur in ihren glücklichen Stunden zu
Wege“. Meissonier’s bestes Blatt ist der „Fumeur
assis,“ „eine vortreffliche Arbeit, voll pulsirenden
Lebens und bei ihren kleinen Dimensionen von köst¬
licher Feinheit.“
Unter den französischen Malerradirern der
Gegenwart, die mehr oder weniger sämtlich unter
dem Zeichen des Naturalismus stehen, genießt neben
Auguste Lunron, der ähnlich wie Zola das Leben des
Arbeiters darzustellen liebt, vor allem Felicien Rops,
ein Ungar von Geburt und naturalisirter Belgier,
bei den Feinschmeckern einen besonders großen Ruf.
Allerdings ist die Freude an den Arbeiten Rops’,
den Muther in seiner Geschichte der Malerei neben
Klinger für den größten Radirer unserer Zeit erklärt,
nicht jedermanns Sache. Denn die Welt, die seine
Nadel verherrlicht, ist die des Lasters und der
faunischen Lüsternheit, in der Dirnen, Kellnerinnen
und geile Weiber, welche die Männer zu entnerven
suchen, die erste Rolle spielen, und vorstädtische
Straßenscenen den Schauplatz der Handlung bilden.
Seine Blätter entziehen sich daher der öffentlichen
Besprechung und pflegen in unseren Kupferstich¬
kabinetten nicht ausgestellt zu werden; gleichwohl
hat sich ein Liebhaber gefunden, der das Werk
des Künstlers mit der größten wissenschaftlichen
Genauigkeit aufgezeichnet hat, ein Beweis, dass
stoffliche Bedenken heutzutage die Kenner nicht
mehr abschrecken.
Die neueste Phase wird durch die Namen
P. Helleu und A. Lunois bezeichnet. Helleu, von
dessen Kunst wir eine Probe in Nachbildung bringen,
liebt es, modern gekleidete Damen in nachlässiger
Haltung sitzend oder liegend darzustellen. Es ist
etwas Nervöses in seiner Kunst, dem die flüchtige,
aber sichere und elegante Zeichnung seiner Nadel
entspricht. Weit derber erscheinen die wenigen bis¬
her bekannt gewordenen Arbeiten von Lunois, an
deren Herstellung die Kunst des Druckers einen
hervorragenden Anteil hat. Lunois strebt entschieden
farbige Wirkungen an und hat sich auch in der
Anfertigung kolorirter Lithographien versucht, bei
denen er jedoch noch nicht über das Stadium des
Experimentes hinausgekommen zu sein scheint.
II.
Kaum minder großartig als die Entwicklung
der Originalradirung in Frankreich ist diejenige, die
dort die Radirung als reproduzirende Kunst ge¬
nommen hat.
Während noch bis in die Mitte unseres Jahr¬
hunderts in Frankreich wie überall einzig und allein
der Kupferstich in Betracht kam, wenn es sich um
die Wiedergabe hervorragender Werke alter Meister
handelte, hat sich dort die Radirung auch auf dem
Gebiete der Reproduktion seit etwa dreißig Jahren
zu einer gefährlichen Rivalin des Kupferstiches empor¬
gezwungen, und obwohl Frankreich in Gaillard einen
Kupferstecher ersten Ranges aufzuweisen hat, so
scheint doch die jüngere Kunstweise vor der älteren
den Sieg davon zu tragen. Dieser Umschwung zu
Gunsten der Radirung hängt mit einer veränderten
Richtung in dem Kunstgeschmack des Publikums
zusammen. Er knüpft sich in erster Linie an den
Namen Rembrandt’s. Sobald die Neigung der Lieb¬
haber sich den Werken des großen Niederländers
zuwandte, fing man auch an zu erkennen, dass die
Radirung in weit höherem Grade als der Kupfer¬
stich befähigt ist, die Reize seines Pinsels nachzu¬
ahmen. Die Kupferstecher selbst, Leopold Flameng
an ihrer Spitze, wandten sich der Radirung zu und
lieferten bald Platten, die sowohl durch ihren Um¬
fang als auch durch die Sicherheit und Treue in der
Wiedergabe Aufsehen erregten und zahlreiche Ab¬
nehmer fanden. Flameng, der sich zunächst mit
einer Kopie von Rembrandt’s Hundertguldenblatt
versucht hatte, debutirte mit Radirungen nach den
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
231
„Syndici“ und der „Nachtwache“ und ging dann zu
moderneren Bildern über, indem er sowohl den „Blue
boy“ als auch die Miss Graham von Oainsborough
bearbeitete, vor allem aber auch Gemälde moderner
Franzosen, z. B. Meissonier’s „Cavaliers ä la porte
d’une auberge“ mit bestem Gelingen auf diese Weise
vervielfältigte. Seine Bestrebungen wurden durch
Leon Gaucherel, den Direktor der Zeitschrift „l’Art“,
den man den „Vater der Ätzkunst“ genannt hat,
wesentlich gefördert. Gaucherel war selbst ein frucht¬
barer Radirer, aber zu eilig und vielgeschäftig, um
in seinen eigenen Arbeiten einen höheren Grad der
Vollendung zu erreichen. Um so größer erscheinen
seine Verdienste, die er sich durch die Protektion,
die er den Radirern in seiner Zeitschrift erwies, er¬
worben hat. Er war ein guter Wegweiser und Pfad¬
finder für andere, wirkte aber mehr durch die von
ihm ausgehenden Anregungen als durch sein eigenes
Beispiel. Eine ähnliche Rolle spielte Edmond He-
douin , doch stehen seine eigenen Radirversuche auf
einer höheren Stufe als diejenigeu Gaucherel’s. Da¬
gegen brachte es Bracquemond, von dessen Original¬
radirungen schon die Rede war, durch Fleiß und
Ausdauer zu einer führenden Stellung in seiner
Kunst, obwohl er sie ohne Anleitung von fremder
Seite, wie man sagt, nur mit Hilfe des Werkes von
Roret über die Ätzkunst erlernen mußte. Bracque¬
mond verstand es zuerst, was heute mehr oder weniger
von jedem reproduzirenden Radirer verlangt wird,
sich der Eigenart seiner Originale anzubequemen; er
ist weich und geschmeidig wie sein Vorbild, ernst
und streng, wo diese Eigenschaften im Original auf-
treten. Er weiß also jedem gerecht zu werden, ob
er nun nach Meissonier oder Mittet arbeitet oder
als Dolmetscher der phantastischen Kompositionen
Gustave Moreau’s auftritt. In technischer Beziehung
weiss er sich alle Hilfsmittel seiner Kunst zu nutze
zu machen. Er kombinirt die Anwendung des Stichels
mit der der Nadel und erreicht so die größten
Wirkungen, die sein Ansehen in Frankreich und
seinen Einfluss auf die jüngere Generation der fran¬
zösischen Radirer erklären.
Ein noch weit anschmiegsameres Talent als
Bracquemond besitzt der gleichfalls bereits genannte
Biles Jacquemart, der thatsächlich jeweilig in dem
Meister aufzugehen scheint, dessen Werk er gerade
wiederzugehen gedenkt. Schon seine erste Sammlung
von Radirungen, die er im Jahre 1872 unter dem Titel
„Metropolitan museum of art“ veröffentlichte, und
welche die Reproduktionen der Hauptwerke aus dem
New-Yorker Museum enthält, bot dafür einen voll¬
gültigen Beweis; denn Jacquemart hatte es schon hier
verstanden, mit gleichem Geschick z. B. die Art
Cranacli’s wie diejenige des Frans Hals zu treffen.
Am meisten fühlte er sich aber zu den Bildern der
Niederländer hingezogen, weil er erkannt hatte, dass
ihre ganze Vortragsweise sich wie keine andere
malerische Technik für die Nadel des Radirers eignet.
So schuf er eine lange Reihe von Blättern nach
Ostade, Cuyp , van de Gappelle, Fyt, Simon de Vos und
van Goyen und langte schließlich bei dem einzigen
Künstler der Gegenwart an, der den Vergleich mit
den Niederländern aushält, bei Meissonier , dessen Bild
„Le liseur“ er mit unnachahmlicher Grazie und mit
unübertroffener Vollendung radirte.
Jacquemart’s bedeutendster Nachfolger ist Char¬
les Waltner. Er nimmt unter den reproduzirenden
Radirern Frankreichs gegenwärtig die erste Stelle
ein. Vielfach von englischen Kunsthändlern be¬
schäftigt, hat er namentlich eine Anzahl Porträts des
in England mit Recht so bewunderten Millais ver¬
vielfältigt, sich dann aber auch mit Velazquez und
mit besonderer Vorliebe mit Pembrandt beschäftigt,
dessen „Nachtwache“ er unter anderen in muster-
giltiger Weise interpretirte. Unter seinen Blättern
nach modernen französischen Meistern verdienen vor
allem zwei hervorgehoben zu werden, weil aus ihnen
zu ersehen ist, mit welcher Leichtigkeit sich Waltner
der Richtung seiner Vorbilder anzupassen versteht
das Blalt „l’Amour et Psyche“ nach Paul Baudry und
der „Angelus“ nach Mittet’ s bekanntem Hauptwerk.
Es ist nicht möglich, hier alle die Radirer, die
heute in Frankreich thätig sind, auch nur mit Namen
anzuführen, geschweige denn ihre Eigenart eingehen¬
der zu charakterisiren. Ihre Leistungen stehen durch¬
gängig auf einem ziemlich hohen Niveau, da das
technische Verfahren in Frankreich von Jahr zu
Jahr mehr vervollkommnet worden ist. Dazu hat
neben Bracquemond namentlich noch Eugene Gau¬
jean viel beigetragen, indem er die farbige Tönung
des 18. Jahrhunderts nachzuahmen versuchte. Einen
guten Einblick in die Leistungen dieser jüngsten
französischen Radirer gewinnt man, wenn man die
letzten Jahrgänge der „Gazette des Beaux-Arts“
durchblättert. Man findet dort nicht nur Arbeiten
von Gaujean, sondern auch solche von Paul Berat ,
der sich als Radirer an das Vorbild des berühmten
Kupferstechers Gaillard hielt und gerade für das
genannte Blatt seine besten Arbeiten geliefert hat,
und von Milius, dem wir eine vorzügliche Radirung
nach dem bekannten Bilde Dagnan-Bouveret’s „Bene¬
diction des epoux“ verdanken.
232
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
Natürlich hat es nicht an Radirern gefehlt und
fehlt auch heutzutage nicht an solchen, welche
sich auf die Wiedergabe von Landschaften großer
Meister verlegen. Unter ihnen muss Theophile Cliau-
vcl an erster Stelle genannt werden, weil er sich
für seine besonderen Zwecke eines eigenen Verfah¬
rens bediente, das er mit vielem Glück bei seinen
Blättern nach Dau-
bigny, Rousseau,
Dupre, Diaz und
Corot anwandte.
Die virtuosen Licht-
effekte Corot's z. B.,
an deren Bewälti¬
gung jeder frühere
Radirer verzweifelt
wäre, hat er mit
seiuer Methode so
treffend wiederzu¬
geben verstanden,
dass man auch aus
seinen Reproduk¬
tionen einen voll¬
ständigen Begriff
von der Schönheit
der Originale em¬
pfängt. Auch Alfred
Brunei - Dehaines,
ein Schüler Jacque-
mart’s , der sich
meistens in Eng¬
land auf hält, ist ein
Radirer, der sich
in seiner Spezialität,
der Bearbeitung
englischer Land¬
schaften, z. B. Con¬
stable’ s und Turner 's,
wie in allen seinen
bisherigen Arbei¬
ten, von denen wir
hier eine Probe aus
seiner frühesten
Zeit, die „Rue de l’Epicerie ä Rouen“, veröffentlichen,
als ein trefflicher Künstler bewährt und sich zu einem
der besten französischen Landschaftsrad irer der Gegen¬
wart entwickelt hat. Allerdings hat er und seine
Collegen gegenwärtig einen schweren Stand, da die
von der Firma Goupil fast ausschließlich gepflegte
Heliogravüre, die sich so vorzüglich für die Wieder¬
gabe von Landschaften eignet, ihnen eine starke
Konkurrenz bereitet. Sie sind auf Aufträge aus
England oder Amerika angewiesen, wo man noch
immer die Radirung dem photographischen Ver¬
fahren vorzieht; doch ist es wohl nur eine Frage
der Zeit, d. h. wenigstens für das Gebiet der re-
produzirten Landschaft, dass die Heliogravüre den
Sieg über die Radirung davontragen wird.
III.
Weit weniger
glänzend als die
Entwickelung der
modernen Radirung
in Frankreich er¬
scheint ihre Ge¬
schichte in Deutsch¬
land. Wir haben
bei uns erst in
neuester Zeit Leis¬
tungen aufzuwei¬
sen, die sich neben
denen der Franzo¬
sen sehen lassen
können, dürfen uns
aber freuen, eine
Anzahl Kräfte zu
besitzen, die durch
ihre Eigenartigkeit
und die Größe ihrer
Absichten für die
Zukunft zu den
schönsten Hoffnun¬
gen berechtigen.
An dem langen
Darniederliegen der
Radirung in
Deutschland trägt
die erst unlängst ge¬
brochene V orherr-
schaft der classi-
zistischen Kunst
vornehmlich die
Schuld. Die Werke
eines Cornelius und seiner Schule boten wohl den Kup¬
ferstechern Gelegenheit, ihre Kunst zu bethätigen; aber,
da ihnen alle feineren malerischen Reize abgingen,
konnte unmöglich durch sie ein Antrieb sich ergeben,
mit den Mitteln der Radirung an ihre Vervielfältigung
heranzutreten. Erst seitdem auch bei uns die male¬
rischen Bestrebungen in den Vordergrund traten,
fand ein Wandel in den Anschauungen zu Gunsten
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
233
der Radirung statt. Aber sie musste sich mühsam
genug ihren Weg suchen. In unseren Akademien
und von den unter ihrem Einfluss stehenden Kunst¬
vereinen wurde nur der Kupferstich gepflegt, der
wenigstens für kurze Zeit von der Lithographie in
den Hintergrund gedrängt wurde, bis der Holzschnitt
und die Photographie zur Blüte gelangten und nun
erst recht die Bedrängnis der Kupferstecher ver¬
mehrten. Heutzutage ist der Streit längst ent¬
schieden. Die wenigen Kupferstecher, die es heute
noch in Deutschland gibt, fristen ein trauriges Da¬
sein und werden sich kaum wieder zu der einstigen
Bedeutung aufschwingen können, während die lange
verkannte und unbeachtet gebliebene Radirung von
Jahr zu Jahr an Ansehen gewinnt und sowohl da,
wo sie selbstschöpferisch auftritt, als auch da, wo
sie reproduktiv verfährt, sich allmählich, wenn auch
nur bei einem kleinen Teil des Publikums, Geltung
zu verschaffen gewusst hat.
Die kleine Anzahl Radirer aus dem Anfang un¬
seres Jahrhunderts, von denen die Kunstgeschichte
zu berichten weiß, sind Originalradirer gewesen.
Als Techniker können diese Kleinmeister keinen
Anspruch auf Beachtung machen , aber der echt
deutsche Gehalt ihrer Schöpfungen, meist nur Stu¬
dien und Skizzen, gibt ihnen doch einen entschiede¬
nen künstlerischen Wert, den ihre gleichzeitigen
Gemälde nur selten besitzen. Man wird deshalb
Männer, wie Johann Adam Klein und Johann Chri¬
stian Erhard, aus deren Radirungen wir einen Über¬
blick über das alltägliche Treiben auf dem Markte und
der Heerstraße, wie es sich zu ihrer Zeit in Deutsch¬
land entwickelt hatte, empfangen, nicht ferner über
die Achseln ansehen und ihre Namen in den Kom¬
pendien der Kunstgeschichte, wie bisher, unerwähnt
lassen können. Vor allem wird man auf Klein achten
müssen, der als Tierzeichner ganz Vorzügliches ge¬
leistet hat, und neben ihm werden eine ganze Reihe
älterer Münchener Künstler, z. B. W. v. Kobell, oder
die beiden Wiener Jakob und Friedrich Gauermann
wieder in ihre Stellung einzusetzen sein, die sie
unter dem Übermaß der Bewunderung, das Cornelius
und den Seinen gezollt wurde, eingebüßt haben.
Besser als den Realisten ist es den Romantikern
ergangen, die allerdings duruh Moriz von Schwind
und Ludwig Richter die deutsche Kunst in ihrer Art
nahe an den Gipfel der Vollendung geführt haben.
Noch heute wird Schwind’ s im Jahre 1844 veröffent¬
lichter „Almanach von Radirungen“, den Feuchters¬
ieben mit erklärenden Versen versah, von den Ken¬
nern geschätzt, und jeder Anhänger Ludwig Richter’ 's
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 9.
— und welcher deutsche Kunstfreund zählte sich
nicht zu seinen Bewunderern? — weiß, dass seine
Blätter: „Rübezahl“, „Genoveva“ und die „Christ¬
nacht“ gleichwertig mit seinen besten Holzschnit¬
ten sind.
In technischer Beziehung hat aber weder Schwind
noch Richter die Radirung gefördert und ebenso we¬
nig der phantasievolle Eugen Neureuther, während
Kaspar Scheuren, J. W. Schirmer und Adolf Schrödter
in dieser Hinsicht entschiedener auf malerische Wir¬
kungen ausgingen, und sich Menzel in den wenigen
Proben, die wir von ihm besitzen, auch auf diesem
Gebiete als selbständiger Künstler bewährte. Trotz¬
dem ging es mit der Radirung sehr langsam bei
uns vorwärts.
Wenn wir von vorübergehenden Versuchen in
Berlin und München absehen, so erscheint der im
Jahre 1876 in Weimar gegründete Radirverein als
das erste umfassende Unternehmen, in Deutschland
der Radirung einen festen Boden zu bereiten. Er
fand zunächst in Düsseldorf Nachahmung, wo sich
im Jahre 1879 ein Radirklub bildete, und seit 1886
auch in Berlin, während in München erst seit dem
Jahre 1891 ein Verein für Originalradirungen be¬
steht. Bei dieser spärlichen Betheiligung der deut¬
schen Künstler war es von Wichtigkeit, dass der
Verleger dieser Zeitschrift schon bei ihrer Begrün¬
dung im Jahre 1866 die Pflege der Radirung ins
Auge fasste, und dass die in Wien bestehende Ge¬
sellschaft für vervielfältigende Kunst seit dem Jahre
1870 dieselbe Aufgabe mit in ihr Programm aufnahm.
Überblickt man heute die Summe alles dessen,
was im einzelnen in Deutschland geleistet worden
ist, so zeigt es sich, dass viele als Maler hervorragende
Künstler nebenbei die Radirnadel geführt haben,
z. B. Andreas Achenbach, Max Zimmermann, Schönleber
u. a. m. ; aber es ist charakteristisch, dass selbst die
Kenner unserer neueren Kunstgeschichte von diesen
Versuchen meistens nichts wissen. Da es nicht Auf¬
gabe dieser Übersicht sein kann, eine compendienartige
Aufzählung zu geben, müssen wir uns begnügen,
unter den deutschen Malerradirern, die nur nebenbei
die Ätzkunst betrieben haben, auf denjenigen hinzu¬
weisen, der sich auf diesem Gebiete als ein Meister
von seltener Kraft bewährt hat, auf Wilhelm Leibi.
Wie als Maler, so imponirt Leibi auch als Ra¬
direr zunächst durch die erstaunliche Solidität und
Feinheit seiner Technik. Ihr dankt er vor allem
seine großen Erfolge, wobei nicht geleugnet wer¬
den soll, dass er sich auch innerhalb des beschränkten
Rahmens seines Stoffgebietes als ein Meister psycho-
31
234
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
logischer Charakteristik erwiesen hat. Auch in sei¬
nen Radirungen, von denen nur wenige bekannt ge¬
worden sind, begegnen wir jenem unendlichen Fleiß,
der niemals ermüdet, und zugleich bei der minutiöse¬
sten Verwendung der kürzesten und feinsten Strichel¬
chen niemals kleinlich wird. Wir veröffentlichen
hier eines seiner gelungensten Blätter, den 1874 ent¬
standenen Trinker, das alle Vorzüge seines Ver¬
fahrens und seine Vorliebe für scharfe Kontrast¬
wirkungen vortrefflich erkennen lässt.
Außer Leibi hat unter den Münchenern nament¬
lich Peter Hahn (geh. 1854) bahnbrechend für die
Pflege der Radirung in der bayerischen Hauptstadt
gewirkt. Er gehört zu den Begründern des bereits
erwähnten Münchener Radirvereins und hat einer
Menge von Malern die Anfangsgründe seiner Kunst
beigebracht. Hauptsächlich als reproducirender Ra-
direr thätig, hat er sich doch auch in der Original¬
radirung versucht, indem er landschaftliche Motive
von meist einfachem Charakter zu stimmungsvollen
Naturstudien zu verarbeiten wusste, die, wie die
Leser der Zeitschrift wissen, vor allem wegen ihrer
treuen Beobachtung der Wirklichkeit und ihrer geist¬
reichen Durcharbeitung gefallen.
Unter denjüngeren Münchenern erscheint nament¬
lich der gleichfalls als Mitarbeiter der „Zeitschrift“
bekannt gewordene Carl Theodor Meyer- Basel von
Halm beeinflusst; er bat als Originalradirer nach
Motiven vom Bodensee, den er sich überhaupt als
Studienplatz ausersehen hat, weit Besseres geleistet
als in denjenigen Blättern, in denen er nach Bildern
neuerer Meister gearbeitet hat, und wir möchten
glauben, dass ihm noch eine schöne Zukunft bevor¬
steht, sobald er sich entschließt, von einer gewissen
Flüchtigkeit, die allen uns von ihm bekannt gewor¬
denen Arbeiten eigen ist, abzusehen, und sich mehr
als bisher in den von ihm gewählten Vorwurf hin¬
ein zu vertiefen.
Durch Halm wurde auch Karl Stauff'er- Bern
(f 1891) in die Anfangsgründe der Ätzkunst ein-
geführt, in der er vermutlich das Größte geleistet
hätte, wenn ihm ein längeres Leben beschieden
gewesen wäre. Stauffer besaß echtes Künstlerblut
und eine ebenso ausgesprochene künstlerische Selb¬
ständigkeit und Originalbegabung, wie sein Freund
,1/(7./ Kling er , dessen Stellung in der Geschichte der
neueren Radirung, ebenso wie früher diejenige Stauffers,
erst kürzlich an dieser Stelle so eingehend gewür¬
digt worden ist, dass wir es uns ersparen können,
die Bedeutung beider Männer hier noch einmal dar¬
zulegen. Der Dritte in diesem Bunde hochbedeuten¬
der Originalradirer, auf die Deutschland mit Stolz
hinweisen darf, ist Ernst Moriz Geyger (geh. 1861),
von dem wir nach den bis jetzt von ihm abgelegten
Proben noch Großes erhoffen dürfen, zumal er ebenso
Hervorragendes in seinen selbstersonnenen Schöp¬
fungen, wie in seinen reproducirenden Arbeiten lei¬
stet, unter denen sein erst jüngst vollendetes Blatt
nach dem Frühlingshilde Botticelli’ s obenan steht.
, Weit bekannter und hei der großen Masse der
Kunstfreunde im hohen Masse beliebt ist Bernhard
Mannfeld aus Meißen. Seine Spezialität, die er mit
großer Geschicklichkeit, aber wenigstens in letzter
Zeit auch mit einer gewissen kunstgewerblichen Be¬
triebsamkeit pflegt, ist die A^ereinigung von Land¬
schaft und Architektur. In den Blättern aus der
Umgebung seiner Vaterstadt Meißen, z. B. in dem
bekannten Blatt, in der wir die Albrechtsburg in
Schnee erblicken, hat er recht Erfreuliches geboten,
in anderen aber hat er leider seiner Vorliebe für
grob dekorative Wirkungen und für barocke Um¬
rahmung zu sehr nachgegeben und dadurch sein
Ansehen beiden feinsinnigeren Kennern einigermaßen
herabgedrückt.
An der Spitze der reproducirenden deutschen
Radirer steht William Unger in Wien, ein Künstler,
der wegen seiner bahnbrechenden Verdienste in der
Geschichte der deutschen Ätzkunst immer einen
Ehrenplatz behaupten wird
Unger, geboren 1837 in Hannover, ging als
Schüler des Disputastechers Josef Keller und des
Kartonstechers Julius Thaeler vom Kupferstich aus,
ließ sich aber durch das Studium der Radirungen
liembrandt’s und 0 stade s bestimmen, es auf gut Glück
mit der Ätzkunst zu versuchen, wobei er von E. A. See-
mann , dem Verleger dieser Zeitschrift, kräftig unter¬
stützt wurde. Ihr erster 1866 erschienener Band
brachte auch die ersten Radirungen Unger’s, die nach
einer Photographie hergestellte Ansicht des Steffen’
sehen Hauses in Danzig, ferner Tartini’s Traum nach
einem Bilde von James Marschall und den „Moses“
nach Plockhorst. Hierauf folgte eine Anzahl gleich¬
falls für die „Zeitschrift“ radirter Blätter nach
Originalen der Braunschweiger (1867 und 1868)
und Kasseler Galerie (1869 bis 1870). Unger ging
bei diesen Arbeiten nicht darauf aus, mit der Pho¬
tographie in Bezug auf Genauigkeit in der Wieder¬
gabe zu wetteifern; vielmehr begnügte er sich mit
einer „sinngetreuen, nicht wortgetreuen Übersetzung“,
in deren Herstellung er sich allmählich eine große
Meisterschaft aneignete. Seine besten Leistungen
sind ohne Zweifel die beiden Folgen von Radirungen
ZUR, GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
235
nach Bildern von Frans Hals und Rembrandt, sowie
sein großes in den Jahren 187G — 1885 erschienenes
Belvederewerk. Sie machten ihrem Urheber auch
im Ausland einen Namen, da er z. B. in seiner
Interpretation der „Nachtwache“ ein Werk schuf,
das sich sehr wohl neben den Radirungen desselben
Bildes von Flameng , Waltner und Whistler sehen
lassen kann. Nebenbei pflegte Unger schon von
Anfang an auch nach Gemälden moderner Meister
zu arbeiten, unter denen ihm die eigentlichen Kolo¬
risten, wie Makart, am meisteu zusagten. Seit 1872
in Wien ansässig und seit 1881 Lehrer an der Wie¬
ner Kunstgewerbeschule, hat Unger eine Menge
Schüler herangebildet, unter denen Alplions , Strack
und Krostewitz hervorzuheben sind.
Uuger’s Verdienst ist es auch, dass gerade in
Wien die Radirung sich sicherer und fester ein-
biirgern konnte, als in irgend einer andern deutschen
Kunststadt. Von ihm angezogen, kam Wilhelm
Woernle (geh. 1849) nach längerer, wechselreicher
Wanderschaft nach Wien, avo er von der Wiener
Gesellschaft für vervielfältigende Kunst für das
Rester Galerie werk beschäftigt wurde, um hierauf
selbständig nach modernen Meistern zu arbeiten.
Wien hat endlich auch den vortrefflichen Wilhelm
Hecht angezogen, der gegenwärtig als Leiter der
xylographischen Anstalt der dortigen Staatsdruckerei
thätig ist und die Illustrationen für das groß an¬
gelegte Werk über die österreich-ungarische Mo¬
narchie überwacht, der aber früher, als er noch in
München weilte, eine ganze Reihe vortrefflicher
Radirungen nach Bildern Schwindts und Böclclins
in der Galerie des Grafen Schack lieferte und in
seinen Reproduktionen nach Lenbach' sehen Bild¬
nissen ein ungewöhnliches Können an den Tag legte.
Eine ähnlich führende Stellung, wie Unger in
Wien, nimmt Johann Leonhard Raab in München ein.
Raab gehört zu den V eteranen der deutschen Kupfer¬
stecherei, aber mit seiner Berufung an die Münchener
Kunstakademie im Jahre 1869 ging er zur Radirung
über und lieferte nahezu fünfzig Blätter nach
Bildern der alten Pinakothek, die, wenn sie auch
nicht genial erscheinen, doch wegen ihrer Treue
und Sorgfalt hohe Anerkennung verdienen. Raabs
tüchtigster Schüler ist seine eigene Tochter Doris
Raab. Sie ist sowohl im Kupferstich als auch in der
Radirung ganz in die Fußtapfen ihres Vaters ge¬
treten und hat sich mit einer großen Radirung nach
einem weiblichen Bildnis Rembrandt' s in der Liech¬
tenstein-Galerie in Wien im Jahre 1892 eine zweite
Medaille auf der Münchener Jahresausstellung er-
Avorben und damit den Beweis geliefert, dass sie den
Wettbewerb mit ihren männlichen Kollegen nicht
zu scheuen braucht. Von den übrigen zahlreichen
Schülern Raabs, zu denen außer dem bereits als
Originalradirer gekennzeichneten Peter Halm auch
Hohapfl , Robert Raudner, Faist, Deininger und Lopienski
gehören, haben sich Wilhelm Krauskopf (geboren zu
Zerbst im Jahre 1847) und Ludwig Kahn (geboren
zu Nürnberg im Jahre 1859) am meisten bekannt
gemacht. Beide sind den Lesern der Zeitschrift als
fleißige Mitarbeiter bekannt, beide haben ihr Bestes
in der Wiedergabe von Bildern niederländischer
Maler geleistet, aber während Krauskopf seinen Ar¬
beiten gelegentlich durch allzu große Flüchtigkeit
schadet und sich überhaupt mit ziemlicher Freiheit
seinen Originalen gegenüber bewegt, erscheint Kühn
Avenigstens in seinen früheren Blättern zwar immer
als gewissenhaft, aber gleichzeitig auch ein Avenig
ängstlich, ein Fehler, den er jedoch in neuester Zeit
mehr oder minder abgelegt hat.
Obwohl in Berlin schon seit längeren Jahren
Stecher wie Hans Meyer, Louis Jacobg und Gustav
Eilers wirken, so kann von einer eigentlichen Ber¬
liner Radirerschule nicht die Rede sein. Es zeigt sich
auch hier wieder, dass Berlin nicht der Boden ist,
um geschlossene Künstlergruppen aufkommen zu
lassen, wie das immer Avieder in München der Fall
ist. Selbst Männer von hervorragender Bedeutung
und großem Lehrtalent vermögen dort nicht schul¬
bildend zu wirken und von einer einheitlichen Phy¬
siognomie der Berliner Kunst kann man bis heute
nicht reden, eine Thatsache, die man je nachdem
als einen Vorzug oder als einen Mangel ansehen
mag. Für die reproducirende Radirung hat die Her¬
ausgabe des großen Galeriewerkes wenigstens einen
äußeren Mittelpunkt geschaffen. Einer der tüchtig¬
sten Mitarbeiter an diesem Unternehmen ist Albert
Krüger aus Stettin (geh. 1858) ein Schüler Jacobg s,
und als solcher mehr für den Grabstichel als für die
Radirnadel eingenommen, die er in seinen letzten
Arbeiten nur noch bei Nebendingen angewendet hat.
Hervorragend erscheint aber in allen seinen Blättern
die Gewissenhaftigkeit seines Verfahrens, die seine
Reproduktionen namentlich für wissenschaftliche
ZAvecke höchst schätzenswert macht.
In dieser Hinsicht Avird Krüger gegenwärtig nur
übertroffen durch den aus Dresden stammenden, aber
seit einigen Jahren in Berlin wirkenden Karl Köpping
(geh. 1848), den bedeutendsten Techniker, den die
Radirkunst heute aufzuweisen hat. Köpping ist von
Hause aus Chemiker. Daraus erklärt sich seine Vor-
31
236
AMOS CASSIOLI.
liebe für die eigentliche Ätzwirkung und die Raffinirt-
lieit seiner durchaus auf Ton und Kolorit ausgehen¬
den Vortragsweise, die teilweise auch aus dem Um¬
stand, dass er als Künstler mit dem Studium der
Malerei begann, verständlich wird. Sein eigentlicher
Lehrer in der Radirung war Waltner in Paris.
Waltners Einfluss wird am deutlichsten in Köpping’s
Radirungen nach zwei weiblichen Bildnissen Rem-
brandt’s und nach Tizians Franz I. im Louvre. Selb¬
ständiger tritt er uns in seinen Reproduktionen nach
Munkäcsy aus den Jahren 1880 und 1881 entgegen.
Den Höhepunkt seiner bisherigen Entwicklung aber
erreichte er in seinen großen Radirungen nach Rem-
brandt’s Vorstehern der Tuchmacherzunft in Amster¬
dam, nach Rembrandfs Kopf eines Greises mit langem
Bart in der Dresdener Galerie und nach Frans Hals’
großem Schützenbild in Harlem. Köpping hat nament¬
lich in diesen Arbeiten nach Rembrandt ein wahr¬
haft kongeniales Verständnis für das Wesen des
großen Holländers bewiesen und eine solche Mannig¬
faltigkeit in der Anwendung aller Mittel der Radirung
an den Tag gelegt, dass man diese beiden Blätter
nicht mehr als Kopien, sondern als selbständige
Nachschöpfungen ansehen darf. Indessen ist es
fraglich, ob es Köpping gelingen wird, seine geniale
Art auch auf seine Schüler zu übertragen, die ihm
als Vorsteher des Meisterateliers für Kupferstecher¬
kunst an der Berliner Akademie in großer Zahl Zu¬
strömen werden. Jedenfalls ist sein Einfluss auf die
jüngere Generation der Radirer schon heute sehr
bedeutend, doch darf nicht verkannt werden, dass
seine allen Regeln spottende Arbeitsweise nur von
einem ähnlich bedeutend veranlagten Geist ungestraft
nachgeahmt werden kann, während sie für jeden
mittelmäßig begabten Künstler gefahrbringend sein
dürfte. (Schluss folgt.)
AMOS CASSIOLI.
MIT ABBILDUNGEN.
IE moderne italienische Kunst
hatte im Jahre 1891 den Ver¬
lust einer Reihe von nam¬
haften Künstlern zu beklagen.
Sie verlor im Frühling den
Bildhauer Vela und den Maler
Ciseri, im Herbst den Maler
Riccolo Barabino und im Win¬
ter Arnos Cassioli.
Cassioli war ein genauer Zeitgenosse Barabino’s,
seine Geburt und sein Tod fielen in dasselbe Jahr wie
die des Genuesischen Künstlers: 1832 und 1891. Die
Lebensläufe beider Männer waren jedocb weit verschie¬
den. Barabino, der jung seinen Beruf fand, hatte den
Vorteil eines ununterbrochenen Studiums in der Aka¬
demie zu Genua und den künstlerischen Vorschub, der ihm
durch die Schülerschaft bei Durazzo wurde; so fand er
keinen äußeren Zwang der seine Entwickelung gehin¬
dert hätte, und als er starb, stand er auf dem
Gipfel seines Könnens und seiner Kraft; Cassioli, der
zum Priester erzogen war und Zimmermannsarbeit ver¬
richten musste, gelangte verhältnismäßig spät in die
Akademie von Siena, war von Anfang an durch Armut
und Kränklichkeit gehindert, und starb, von schmerz¬
voller Krankheit verzehrt, als ein gebeugter, verbrauchter
Mann.
Der Gegenstand, den er für sein letztes Bild wählte,
zielt, kann man sagen, auf eine hoffnungsvolle Voraus¬
sicht des Endes. Der Himmelsbote, der im 2. Gesang von
Dante’s Fegefeuer beschrieben ist, kommt übers Meer,
das zwischen Erde und Fegefeuer ausgebreitet liegt,
mit einer menschlichen Seele an der Hand. Das Wasser
ist vom frischen Morgenwind gekräuselt und zeigt an
der linken Seite des Bildes einen dunklen Purpurton;
der Himmel, mit großen Massen von weißen Wolken
bedeckt, verliert sich rasch, fast zu rasch, in dem tiefen
Blaugrün zur Rechten. Der Engel bewegt sich dem
Beschauer entgegen mit erhobenem Haupte, die Augen
geradeaus gerichtet, und das Haar leicht zurückgeblasen
von der Schnelligkeit der Bewegung. Man denkt an die
Beschreibung, die Dante zum Teil in den Mund des
Virgil legt:
„Sieh, wie er nach dem Himmel sie gerichtet,
Die Luft mit ewigem Gefieder schlagend,
Das nicht wie sterblich Haar den Stoff' verändert.“
Als mehr und mehr der göttliche Beschwingte
Dann auf uns zukam, zeigt’ er stets sich heller,
Dass in der Näh’ ihn nicht ertrug das Auge.
Drum schlug ich’s nieder. Jener kam ans Ufer
In einem Nachen also schnell und leicht,
Dass er im Wasser keine Spur zurückließ.
Purgatorio II, 34 ff.)
AMOS CASSIOLI.
237
Die Worte des Dichters sind fein interpretirt, die
großen weißen Schwingen des Engels , der frische
Morgen, der Himmel und Meer färbt, die ruhige, ernste
Seligkeit im Gesicht, das dem Beschauer voll zugewandt
ist, das kleine Boot, die weiße Seele, die der Bote mit
der linken Hand stützt, machen ein sehr poetisches
Ganze, voll hoffnungsreichen Friedens aus. Die Skizze,
denn es ist nur eine solche, wurde von Cassioli’s Sohn
für die Guerrazzi- Capelle auf dem Friedhof von Li¬
vorno getreu kopirt. Das Gemälde macht umsomehr
Eindruck auf den Freund von Cassioli’s Kunst, als es
durchaus verschieden im Gegenstand und in der Be¬
handlung von des Malers gewohnter Arbeit ist. Seine
Darstellungen waren im allgemeinen entweder histo¬
rischer Art oder historische Genrebilder mit einer Fülle
von Figuren, oder Interieurs, klassische oder mittel¬
alterliche, mit zwei oder drei Figuren. Cassioli's Kolo¬
rit ist oft düster, immer
harmonisch, manchmal reich,
doch ohne völlig glänzend
zu sein, aber das, was am
meisten in seinen Gemälden
auffällt, ist seine auserle¬
sene und harmonische Art
der Zeichnung. Die Floren¬
tiner geben ihm das so oft
in Verbindung mit Andrea
del Sarto gebrauchte Bei¬
wort des vollkommenen
Zeichners.
Das erste von Cas¬
sioli’s großen Bildern, das,
welches seinen Ruhm be¬
gründete, mag von Besu¬
chern von Florenz in der
Galerie moderner Gemälde
in der Via Ricasoli besichtigt werden. Es wurde 1859 ge¬
malt, als unmittelbar nach der Vertreibung des Großherzogs
Bettino Ricasoli’s revolutionäre Regierung einen Preis
für das beste Bild der Schlacht bei Legnano aussetzte.
Der Gegenstand war zu günstiger Zeit gewählt; der
wackere Kampf der italienischen Liga um ihre Standarte,
die Niederlage Barbarossa’s mochte wohl besonders zur
Darstellung reizen, als die Wogen des Enthusiasmus
hoch gingen für die Befreiung von der österreichischen
Herrschaft und für die Einigung Italiens.
Dieser Wettstreit gab Cassioli, damals 27 Jahre
alt, Gelegenheit, seine künstlerische Laufbahn mit
kühnem Mute zu eröffnen. Bis dahin schienen ihm die
Schicksalsgötter günstig gestimmt zu sein. Als Sohn
des Besitzers eines Cafe’s in der kleinen Stadt As-
ciano, welche zwischen Kalkhügeln einige Meilen von
Siena entfernt liegt , war Arnos Cassioli früh bei
einem Onkel untergebracht, der ein Priester war und
wünschte, dass der Neffe in seine Fußtapfen treten
und ihm auf das Seminar in Arezzo folgen sollte.
Dort erhielt er seinen ersten Zeichenunterricht, aber er
musste seine Aufmerksamkeit zumeist der Musik zu¬
wenden, die er unter seinem Onkel, einem bekannten
Organisten, studirte. Die „schreckliche Scheinheiligkeit“,
der er unter den Priestern begegnete und die erwachte
Begeisterung für seine Zeichenstunden wirkten zu¬
sammen, um ihn gegen den Eintritt in den geistlichen
Stand zu stimmen. Bei seines Vaters Tode kehrte er
demgemäß nach seinem Geburtsorte zurück und nahm
Wohnung bei seiner Mutter, da er sich ganz der Kunst
zu widmen gedachte. Aber die Mittel der Familie
waren gering, Bilder brachten kein Brot ein, wenigstens
unmittelbar nicht, und der junge Arnos musste sich
fügen und einen Lebensunterhalt suchen. Er gab sich zu
einem Böttcher in die Lehre, aber die harte Arbeit war
eine schwere Prüfung für ihn, und nur dem Dazwischen¬
treten einiger Freunde war
es zu danken, dass er nicht
zusammenbrach. Sie schick¬
ten ihn zur Erholung zu
den Mönchen von Mont-
Oliveto, wo er einige Mo¬
nate verblieb und die ruhige
Harmonie und die religiöse
Stimmung von Sodoma’s
Fresken genießen durfte.
Alsdann kehrte er nach
Siena zurück, wo eine ge¬
meinsame Unterstützung
der Freunde es ihm ermög¬
lichte, in die Akademie ein¬
zutreten und sich ganz der
Kunst zu weihen. Diese
Subscription brachte ihm
ein monatliches Stipendium
von ungefähr 16 Franken ein. Damit musste sich der
begeisterte Kunstjünger erhalten und er hatte, wie er
selbst es ausdrückte, Brot und Radischen zu Mittag
und Brot ohne Radischen als Abendessen.
Im Jahre 1853, als er 21 Jahre alt geworden war,
sollte Cassioli Militärdienste unter den österreichischen
Fahnen thun ; aber sein Lehrer Mussini in Siena em¬
pfahl ihn so warm bei dem Großherzog, dass dieser
ihm nicht nur den Dienst erließ, sondern ihm auch noch
die Mittel gewährte, die nächsten sechs Jahre in Rom
znzubringen. Hier kam Cassioli mit manchem bekannten
Künstler in Verbindung, unter andern mit Stefano Ussi,
einem der poetischsten der lebenden Maler Italiens.
Das Ergebnis seiner Studien wurde offenbar, als er
1859 sein erstes großes Bild, die Schlacht bei Legnano,
vollendete.
Diese große Leinwand stellt den letzten siegreichen
Kampf der lombardischen Liga dar. Der Schlachten¬
wagen mit der Standarte, um den der Kampf am hef-
Der Himmelsbote. Gemälde vou A. Cassioli.
Die Schlacht von Legnano. Gemälde von A. Cassioli.
Der Erstgeborene. Gemälde von A. Cassioli.
AMOS CASSIOLT.
239
tigsten tobt, nimmt den Hintergrund des Bildes ein;
der Staub des Schlachtgewühls umgiebt ihn wie Weih¬
rauch und hüllt die Kämpfer zur Hälfte ein. Das Bild
hat, wie man beim ersten Anblick sieht, große Vorzüge.
Es offenbart eine feinsinnige Einbildungskraft und die
vollendete Zeichenkunst, durch welche der Künstler be¬
rühmt geworden ist; aber es hat auch seine Fehler,
und wie sollte das Werk eines jungen Mannes von 27
Jahren solche nicht haben? Der erste ist ein Mangel
in der Gruppirung und im Gleichgewicht der Teile. Die
Aufmerksamkeit des Beschauers wird nicht sogleich
durch den Schlachtenwagen gefesselt, auch nicht durch
den unberittenen Barbarossa, der unbemerkt in einer
Ecke angebracht ist. Dies ist vielleicht ein Zugeständ¬
nis an die historische Wahrheit. Viel mehr fällt zu¬
nächst das heftige Vordringen eines lombardischen
Fahnenträgers mit wildrollenden Augen auf, der auf
einem schönen schwarzen
Streitrosse die rote Kreuz¬
fahne in der erhobenen
Linken, alles vor sich nie¬
derwirft. Ferner ist das
ganze Bild allzu sauber
ausgeführt. Die Strahlen
der Sonne zeigen augen¬
scheinlich den Abend an ;
und der Umstand, dass der
Kaiser und seine Leibgarde
dicht bei dem feindlichen
Streitwagen sich befinden,
bezeichnet den Höhepunkt
eines heißen Tageskampfes.
Aber des Kaisers Rüstung
und Sammtwams sind so
fleckenlos, als hätten sie
soeben nicht das Zelt, son¬
dern die Werkstätte verlassen; die Pferde, glatt und
glänzend, mit gewellter Mähne und Schwanzhaar scheinen
eben aus dem Stalle gekommen zu sein ; Blut ist nur wenig
geflossen, der Schlachtenqualm ist zu einem feinen Nebel
idealisirt. Cassioli war offenbar in Bezug auf das
Colorit noch unter dem Einflüsse seines früheren Leh¬
rers Mussini und dem der alten toskanischen Schule
Benvenuti’s befangen.
Im Jahre 1863 entstand ein zweites großes Gemälde,
welches den ersten Preis in einem nationalen Wettbewerb
errang. Der Vorwurf sollte historisch sein und Cassioli
wählte eine Episode des Besuches Galeazzo Sforza’s, Her¬
zogs von Mailand, bei Lorenzo de’ Medici. Dies Gemälde,
von dem sich eine kleine Wiederholung in der Gallerie
Pisani in Florenz befindet, zeigt Cassioli in rechtem
Lichte. Das Colorit ist reich und gediegen, die Grup¬
pirung harmonisch, der Ausdruck auf Lorenzo’s Gesicht,
der seine Goldschätze und die berühmten Gemmen und
Cameen ausbreitet, und der der Haltung des Galeazzo
Sforza, der in nachlässiger Stellung aufmerksam zuhört,
sind sehr charakteristisch. In den Frauengesichtern
dieses Bildes erscheint schon der von dem Meister stetig
gebrauchte Typus, schöne Cinquecentogestalten mit aus¬
drucksvollem Antlitz, wie hier besonders die weibliche
Figur rechts hinter dem Stuhl des Herzogs von Mailand.
Cassioli’s nächstes großes Bild, 1873 entstanden, ist
nicht nur als Gemälde interessant, sondern auch dadurch,
dass es den Marktplatz von Siena zeigt, wie er zu
Dante’s Zeiten war. Es stellt den Einfall des Provenzano
Salvani dar, der seinen Rang als Sieneser Patrizier und
Führer der Ghibellinenpartei in Toskana aufgiebt, um
wie ein gewöhnlicher Bettler auf öffentlichem Platze
Almosen zu heischen als Lösegeld für seinen von Karl
v. Anjou gefangen gehaltenen Freund. Das Bild be¬
findet sich jetzt in Municipio in Siena, wo Cassioli auch
noch den Gedächtnissaal für Viktor Emanuel mit Fresken
geschmückt hat.
Cassioli’s Bilder einzeln
zu nennen, kann nicht unter¬
nommen werden; er war
sehr fruchtbar als Maler
und seine Produkte sind
allenthalben in der Welt
verstreut. Ihre vortreffliche
Zeichnung, harmonische
Färbung und die gewählten
Scenen machten den Künst¬
ler fast in der ganzen Welt
beliebt. Ein kleines Bild
unter dem Namen Leonar-
do’s Atelier brachte ihm
auf Reisen mehrere Preise
ein, so in Philadelphia und
in Santiago. Der Karton
zu dieser Leinwand ist noch
unter den Zeichnungen und Skizzen befindlich, die Cas¬
sioli’s Sohn in dem Atelier hinter dem englischen Fried¬
hof in Florenz aufbewahrt. Fr ist insofern anziehend,
als er die verschiedenen Wandlungen der Komposition
zeigt, die das Werk vor seiner endlichen Gestalt durch¬
gemacht hat. Die Stellung des weiblichen Modells wurde
mehrere Male geändert und die sehr schöne Gestalt
schließlich mit einer Draperie versehen, nicht zum Vorteil
des Bildes. Nennenswert sind von Cassioli’s Bildern noch:
„Bocaccio, Geschichten erzählend“, das er mehrere Male
ausführte, und „Maria Stuart und Rizzio“. Zu den
besten von Cassioli’s späteren Bildern zählt „Francesca
von Rimini“, das mit dem letztgenannten zusammen in
der Galerie Pisani zu sehen ist. Der Künstler hat den
Moment dargestellt, den Francesca selbst erzählt, als sie
und ihr Geliebter an Dante vorüberziehen, von dem nimmer
ruhenden Winde getrieben, der im zweiten Kreise der
Hölle herrscht:
Francesca von Rimini. Gemälde von A. Cassioli.
240
BEITRÄGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
„Wir lasen eines Tages zum Ergötzen
Von Lanzelot, wie ihn die Lieb’ umstrickte:
Wir waren einsam und ohn’ alles Arg.
Wohl mehr als einmal wirkte jenes Lesen,
Dass wir anblickten uns und uns entfärbten;
Doch eine Stelle wars, die uns bezwang.
Als wir von dem ersehnten Lächeln lasen,
Erweckt vom Kusse solcher Liebenden,
Da küsste Er, der nie von mir sich trennt,
Am ganzen Leibe bebend, mir den Mund.
Verführer war das Buch und der’s geschrieben, —
An jenem Tage lasen wir nicht weiter.“
(Inferno V, 127 ff.)
La bocca mi baciö tutto Demante, das ist der ge¬
wählte Moment. Wir finden nicht die leidenschaftliche
Francesca der Hölle vor uns, doch die Sehnsucht des tief¬
sten Gefühls hat sie überwältigt und ist in jeder Linie
ihres Körpers ausgedrückt, wie sie dem feurigen Paolo
gestattet, ihre ganze Seele mit der brennenden Leiden¬
schaft seines Kusses zu trinken. Nichts kann feiner
sein, als die beiden Gestalten des Bildes, und nichts
zieht die Aufmerksamkeit von ihnen ab. Das zarte
Blau von Francesca’s Mieder, das dunkle Rot der Matte,
auf der ihre Füsse ruhen, drängen sich nicht vor und
tragen nur zur Vollendung des harmonischen Gesamt¬
eindrucks bei.
Eines der besten Gemälde, das unter Cassioli’s Pinsel
entstanden, war für einen Londoner Händler gemalt, Mr.
Joy, der es für „das beste Bild, das er je aus Italien
empfing,“ erklärte. Es stellte den Quixote dar, wie er
in Gegenwart des Herzogs und der Herzogin von einer Schar
hübscher munterer Dirnen rasirt wird, indes der wackere
Sancho von weitem zusieht.
Wir können bei Betrachtung von Cassioli’s Künstler¬
schaft seine Genrebilder nicht übergehen. Seine Art und
Farbengebung waren im allgemeinen vielleicht nicht so
geeignet dafür. Wenigstens scheint es einem Augeso,
das an die glänzenden Licht-, Luft- und Farbeneffekte
Alma Tadema’s gewöhnt ist. Dennoch sind diese Bilder
stets gefällig durch ihre Anmut der Figuren und die
charakteristische Zeichnung besonders der Kinder. Wir
geben auch davon eine Probe. Ein anderes Bild, das
sich jetzt in der Galerie Hautraann befindet, stellt eine
römische Dame dar, die mit einem Kaninchen auf ihrem
Schoße spielt, und es mit einigen Kirschen neckt, die sie
über den Kopf des Tieres hält. Zwei Kinder sehen
lachend zu. Die Bewegung der Figur, mit dem erhobenen
und ausgestreckten Arme, ist höchst graziös und das
Ganze ist, wie immer bei C'assioli, fein und ein¬
schmeichelnd im Ton, steht aber doch nicht so hoch, dass
man es zu den besten Leistungen des Künstlers zählen
könnte.
Cassioli’s Tod wurde iu der Kunstwelt von Florenz
sehr empfunden; er war als Mensch beliebt, geehrt als
Künstler und wurde als der letzte würdige Vertreter
der historischen Malerschule Toskanas betrachtet, die nun
nahe am Erlöschen ist. Ein Sohn setzt seinen Namen
und sein Werk fort; er ist zugleich Maler und Bild¬
hauer, gehört aber einer modernen Richtung an, wie
dies bei der jungen Generation nur begreiflich und
natürlich ist. IS AB EL LA M. ANDERTON.
BEITRÄGE
ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
Van Eyek’s Tempera.
VON ERNSI BERGER , MALER.
(Schluss.)
OREN wir nun Vasari's Erzählung von van
Eyck und seinen Bericht über dessen be-
rühmte „Erfindung“:.... „Unter solchen
Umständen (d. h. den fruchtlosen Versuchen in
Italien und anderwärts) trug es sich zu, dass Jo¬
hannes von Bruges, kunsterfahren in Flandern,
wo er wegen seiner großen Geschicklichkeit sehr
geschätzt war, Versuche mit verschiedenen Arten
von Farben machte und, da er sich auf Alchemie
verstand, verschiedene Oie für die Bereitung von
Firnissen und anderen Dingen präparirte, Versuche,
wie sie erfindungsreiche Männer wie er gewöhnlich
machen.“ (Vasari veränderte „ stillando continuova-
mente olii per far vernici“ der I. Ausg. in „a far di
molti olii“ etc., weil, wie Eastlake (loc. cit. I, p. 204
Anmerkung) glaubt, das Destilliren von Oien zu
Vasari’s Zeiten wohl bekannt war, aber ganz ent¬
gegengesetzt zu van Eycks Art gewesen, eine An¬
schauung, die ohne weiteres geteilt werden kann.)
Lassen wir zunächst noch Vasari das Wort:
„Bei Gelegenheit eines mühevoll ausgeführten Bildes
auf Holz, welches er mit besonderer Sorgfalt vollen¬
dete und zum Trocknen des Firnisses, wie es bei
Tafelbildern üblich war (come si costuma alle tavole),
in die Sonne stellte, sprangen die Fugen entzwei,
sei es durch die zu große Hitze oder weil das Brett
BEITRÄGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
241
nicht gut zusammengefügt oder das Holz nicht ge¬
nügend gelagert war.“
„Als Giovanni den Schaden sah, welchen die
Sonnenhitze an seinem Bilde verursacht hatte, be¬
schloss er, zu irgend einem Mittel Zuflucht zu neh¬
men, um dieselbe Ursache ein zweites Mal bei sei¬
nem Werke zu vermeiden; und da er nicht weniger
unzufrieden war mit dem Firnissen als mit dem
Prozess des Temperamalens, begann er über eine
Art der Präparation des Firnisses nachzudenken,
welcher im Schatten trocknen sollte, um das in die
Sonne Stellen der Bilder zu vermeiden. Nachdem
er nun viele Dinge versucht hatte, sowohl allein
als auch miteinander gemengt (e pure, e mescolate
insieme), fand er schließlich, dass Leinöl und Nussöl
unter allen, welche er daraufhin geprüft hatte, viel
trocknender waren als die übrigen. Diese also,
mit anderen seiner Mischungen (misture) zusammen¬
gekocht, gaben ihm den Firnis, nach welchem er,
wie auch alle anderen Maler der Welt, lange ge¬
fahndet hatten. Nachdem er noch Erfahrung mit
vielen anderen Dingen gemacht, sah er, dass das
Mischen der Farben mit diesen Sorten von Ölen
(queste sorti di olii) ihnen ein sehr starkes Binde¬
mittel (una tempera molto forte) gab, welches ge¬
trocknet nicht nur Wasser nicht zu fürchten hatte,
sondern die Farben so sehr festigte, und dass es
ihnen von selbst Glanz verlieh, ohne gefirnisst zu
sein. Und was ihm noch wunderbarer schien, war,
dass sich hier (die Farbenschichten) unendlich besser
verbinden ließen als bei Tempera.“ (E che secca
non solo non temeva l'aqua altrimenti, e accendeva
il colore tanto forte, che gli dava lustro da per se
senza vernice. Et quello che piu gli parve mlrabile fu
che si univa meglio che la tempera infinitamente.)
Dass in dieser Erzählung zwei Dinge als van
Eyck’s Erfindung genannt sind, nämlich der Firnis,
„den alle Welt suchte“, und das Ölbindemittel aus
Leinöl oder Nussöl, wurde mehrfach dahin gedeutet,
dass Vasari sich nicht richtig auszudrücken verstand.
Aus der ersten Stelle geht aber deutlich hervor,
dass die Notwendigkeit des Fh'nissens in der Sonne
der Hauptübelstand gewesen ist, und wir müssen
darin die von Theophilus beschriebene Technik und
den Prozess des Malens mit „Gummitempera“ wieder¬
erkennen, wie er vorhin geschildert ist, nämlich das
auch dreimal zu wiederholende Malen mit dieser
Tempera und das Firnissen jeder einzelnen gemalten
Schichte in der Sonne. Ein Firnis, welcher also
stark genug wäre, um die eingeschlagene Tempera
„herauszuholen“, ohne die wasserlösliche Schichte
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 9.
zu alteriren, würde demnach dafür geeignet sein.
Essenzfirnisse, die diese Eigenschaft haben, zur Zeit
des Vasari auch bekannt waren, sind jedoch aus¬
geschlossen, weil Vasari das Wort stillando in der
zweiten Ausgabe absichtlich weglässt und speciell
hervorgehoben wird, dass der Firnis aus Ölen ge¬
kocht (bolliti), also nicht destillirt wurde. Unter den
„altre sue misture“, welche mit gekocht wurden,
kann man wahrscheinlich die damals bekannten und
verwendeten Mittel zum Reinigen und Trocknender-
machen der Öle verstehen (Kalk und Knochenasche,
Steinalaun, Galizenstein etc.; vergl. Hei’aclius; Sti’aß-
burg. Ms.). Dass es sich hier aber um die Oltempera, die
Emulsion handelt, ergibt, sich aus dem folgenden:
Er versuchte, heißt es, alles, sowohl pur als auch
miteinander gemischt, also die damals allgemeinen
Ei- und Gummitemperas auch zusammen vermischt
mit den Ölen und Firnissen, da musste er ja „ein
Manu, der sich auf Alchemie so sehr verstand“,
„ein so findiger Kopf“ darauf kommen, dass sich
Gummi oder Eigelb mit fetten C>len emulgirt! Da
musste er ja die Entdeckung eines solchen Öles,
das im Schatten trocknet, machen, und dass das
Mischen von Farben mit solchen Arten von Ölen
(queste sorti di olii), nämlich den emulgirten, ihnen
eine sehr starke Tempera, d. h. ein wassermischbares
Bindemittel gab, und dass diese Tempera, getrocknet,
Wasser nicht zu scheuen hatte, erkannte er nach
den ersten Versuchen des Übermalens sogleich!
Wenn an dieser Stelle Ölfarbe nach unserem heu¬
tigen Begriff gemeint wäre, hätte die ganze Bemer¬
kung doch gar keinen Sinn, denn auf trockene Öl¬
farbe wirkt Wasser ohnehin nicht. Es kann also nur ein
wassermischbares Bindemittel, eine Tempera gemeint
sein. Man vergleiche damit das Emulsionsrezept
des Marciana Ms: la quäl colla non teme aqua ne
cossa che sia und wird finden, dass hier ebenso diese
Eigenschaft besonders hervorgehoben ist, obwohl es
ein wassermischbares Bindemittel ist und weil alle
anderen Temperaarten, wenn sie auch ganz trocken
sind, doch vom Wasser aufgelöst werden. Darin
bestand eben für van Eyck der große Wert dieser
Tempera, und seine Überraschung und Freude war
deshalb so groß, weil er diese besondere Eigentümlich¬
keit nicht cmvartet hatte, nach seinen bitteren Erfah¬
rungen mit früheren Bindemitteln auch nicht er¬
warten konnte! Das Übermalen mit derselben Tem¬
pera, wie es üblich war, konnte ohne weiteres
geschehen, weil „die Farbe an sich schon fest
genug war und schon Glanz hatte“, ohne gefirnisst
zu sein, wobei sich überdies die Verbindung der
32
242
BEITRÄGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
einzelnen Farblagen noch besser als zuvor, infinita-
mente meglio, ja unendlich besser erzielen ließ,
sogar bevor die erste Farbschicht vollkommen trocken
war! Dieser kleine aber sehr wichtige Umstand ist
aus Van Mander’s Erzählung zu ersehen, welche
sich zum größten Teil an Vasari anschließt und der
zum Schluss noch hinzufügt, „dass sich hier die
Farbe besser also mit dem Öle ließ vertreiben und
verarbeiten als mit der Ei- oder Leimtempera, und
nicht so getrocknet zu sein bedurfte “ (en niet en hoefde
so ghetrocken te zijn gedaen). Das ist ja der ganze
Jammer unserer modernen Öltechnik, dass wir gar
nie genug lang unsere Malerei trocknen lassen und
fortwährend Nachdunkeln und Rissigwerden befürch¬
ten müssen, wenn auf das Halbnasse gemalt wird.
Van Mander sagt von der van Eyck’schen Technik
gerade das Gegenteil! Die Bilder der altflandrischen
und Kölner Schule sind aber trotz ihres fast 500jährigen
Alters viel besser erhalten, als die modernen in eben
so viel Jahrzehnten oft sind. Schon aus diesem
Grunde müssten wir zur Einsicht gelangen, dass die
Meister des XV. und XVI. Jahrhunderts nach einem
ganz anderen System gearbeitet haben, als wir bis¬
her angenommen haben.
Die „flandrische Methode“ bestand eben darin,
dass die Farben mit „solchen Ölen“, d. h. ihrer
durch Mischung mit anderen Dingen, wie Ei oder
Gummi, hergestellten Emulsion angerieben wurden,
dass die Malerei, wenn dieselbe eingeschlagen war, mit
einem beliebigen Firnis überstrichen werden konnte
und, bevor die Farbe oder der Firnisüberzug voll¬
kommen trocken war, schon wieder mit derselben
Tempera übermalt werden durfte; die Zahl der Über¬
malungen war auch nicht begrenzt wie früher. Darin
steckt also der Kernpunkt der ganzen Technik, das
ist das Neue, die bellissima invenzione, die Disciplina
di Fiandra! Darin liegen die großen Verbesserungen,
die als das Verdienst der van Eycks auzusehen sind
und lange hindurch von der Malerwelt als Geheim¬
nis betrachtet wurden: deshalb sind die geschrie¬
benen und gedruckten Nachrichten darüber so un¬
sicher und verschleiert, weil man ein Geheimnis,
nach „welchem alle Maler der ganzen Welt gesucht“,
nicht veröffentlichen wollte! ln dem uns erhaltenen
Mareiana Ms, dem das bereits erwähnte Firnisrezept,
aus Emulsion bestehend, entnommen ist, wird aber
doch diese Malart mitgeteilt; dieser Beweis erhält
um so größere Kraft, weil das Ms in der Stadt ent¬
standen ist, in welcher Antonei lo da Messina bis
zu seinem Tode gelebt hat. Unter den Anweisungen,
welche Merrifield (Treatises, II, p. 608 — 640) dai'aus
publizirte, findet sich nämlich eine für die Ölmalerei
merkwürdige Variation: Wie man mit verschiedenen
Farben in Öl ,,a putrido“ arbeitet (Rp. 301 — 9. Colori
diversi per dipingere e lavori a olio a putrido). A
putrido heißt wörtlich, in Fäulnis oder Zersetzung
geraten und am Schlüsse des Rezeptes wird an¬
gegeben, dass dies durch Eigelb zu geschehen habe!
Es heißt dort: „Die Tempera dieser Farben (näm¬
lich der Ölfarben) „a putrido“ verfertigt, besteht aus
Wasser mit Eigelb, etwas weniger als die Hälfte
der Farbe selbst.“ (La tempera di questi colori fatti
a putrido: a acqua e el tuorlo del vuovo un poco
manco che la meta del colore.) Rp. Nr. 328 zeigt,
dass man auch auf Glas „a putrido“ malen kann
(Se vuoi dipigniere in sul vetro a putrido). Wir
hätten demnach unter a putrido die venezianische
Bezeichnung für die Emulsionstempera (das Ms
wird um 1500 verfasst sein, vergl. Merrifield) zu
verstehen.
Da solche Emulsionen leicht in Fäulnis über¬
gehen, wurde schon damals gewiss irgend eine stark
riechende Substanz verwendet. Vasari spricht davon,
dass, „obschon die von Holland nach anderen Städten
versandten Bilder, wenn sie noch neu waren, den
starken Geruch (odore acuto) hatten, welchen die
Mischung (immixtura) der Farben mit den Ölen ihnen
gab, so dass es möglich schien, die Ingredienzen zu
erkennen“, man doch die Entdeckung lange Jahre
nicht kannte. Nach Lomazzo (Idea del Tempio
della Pittura, 1590) könnte dazu Spiköl verwendet
worden sein, welches sehr geeignet dazu ist. (Kon-
servirungsmittel waren in der Miniaturmalerei stets im
Gebrauch; Rosenwasser, Realgar, Kamfer für Ei¬
klar, Essig für Eigelb wird in frühen Mss bereits
erwähnt.) Was die „altre cose“ betrifft, welche Lo¬
mazzo (loc. cit. Kap. 21, p. 71) als Beigabe zum
Nussöl und Spiköl für Ölmalerei erwähnt, so ist es
schwer, daraus klug zu werden; wenn aber einmal
das System der emulgirten Öle in den Bereich der
Betrachtung aufgenommen ist, so sind die Varia¬
tionen so zahlreich und die Zubereitung eine so ver¬
schiedene, dass jeder einzelne Maler sie für seine
speciellen Zwecke und nach eigener Erfahrung an¬
fertigen konnte.
Aus der Fortsetzung von Vasari’s Erzählung geht
deutlich hervor, dass es sich nicht um die Mischung
von Ölen zum Farbpigment handelte, sondern um eine
bestimmte neue Art, mit Ölfarben zu malen. Waagen
(Über Hubert und Jan v. Eyck, Breslau 1822) macht
schon auf diese Stellen aufmerksam, dass Antonello,
nachdem er van Eyck’s Gemälde in Neapel gesehen,
243
BEITRÄGE ZUR ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MALTECHNIK.
sich nach Flandern aufmachte, um diese Art in Öl
zu vialen (la maniera di quel lavorar) kennen zu
lernen; in Flandern angelangt, bemühte er sich sehr
darum, bis Johann v. Eyck darein willigte, seine
Methode der Malerei zu sehen (l’ordine del suo colo-
rito) und er verließ Flandern nicht eher, bis er voll¬
kommen darin erfahren war (fino che ebbe appreso
eccelemente quel colorire). Nach Venedig zurück¬
gekehrt, arbeitete er verschiedene Bilder in 01 nach
der von Flandern gebrachten Art (nella maniera a
olio, che egli di Fiandra aveva portato), und auch
andere Schriftsteller sprechen stets von etwas ganz
Neuem, so Leon Battista Alberti, welcher von novum
inventum, also einer neuen Erfindung berichtet,
die die alte Manier, auf Mauer mit Ölfarben zu
malen, verdrängte, ebenso Filarete, welcher jedoch
nichts darüber verlauten lässt, worin die Neuerung
bestanden hätte. Massimo Stanzione erzählt, dass
Antonello in Brügge gelernt hätte, auf welche Weise
man gut in Öl malen könne (come bene si dipin-
geva ad olio), während man in Italien wie in Flandern
früher Ölfarben bereitet hatte, aber nicht verstanden
hätte, geschickt damit zu arbeiten, da diese Mal¬
weise „ für denjenigen, welcher die Behandlungsweise
nicht kenne, ebenso große Schwierigkeit habe, als die
Freskomalerei für einen, der nicht damit umzugehen
wisse.“
In der That haben die Versuche gezeigt, dass
sich während der Arbeit eine Veränderung des Tones
bemerkbar macht, insbesondere wenn auf den noch
leuchten Firnisüberzug übermalt wird; aber die Töne
werden l*ier tiefer und vereinigen sich mit dem Unter¬
grund, wenn man nicht absichtlich hellere Lichter
aufträgt. Sollte diese Eigentümlichkeit nicht direkt
Bezug haben mit der obigen Stelle des Stanzioni?
Was und wie Vasari von van Eyck’s Neuerung
berichtet, hat sich bei kritischer Beleuchtung als ge¬
nügend deutlich ergeben, um darin die „Mischung
der Öle mit der Tempera“ als Öltempera oder
Emulsion zu erkennen; er spricht von der „irnmix-
tura“ und dem „scharfen Geruch“ des Konservirungs-
mittels, er weiß davon, dass das Mischen der Farben
mit „solchen Ölen, d. h. ihrer Tempera“ (questi olii,
che e la tempera loro, Introduzione C. XXII) ein Binde¬
mittel abgiebt, welches nach dem Trocknen Wasser
nicht zu fürchten hat. Die Bezugnahme auf Bal-
dovinetti’s Versuche, welche zweifellos Emulsion von
Ölfirnis mit Eitempera gewesen und das im Marciana
Ms mehrfach erwähnte Rezept der „a putrido“
Malerei, können die obigen Annahmen nur bestätigen.
Alle diese quellenschriftlichen Notizen erhalten aber
durch die vielfachen ausgeführten Proben zehnfache
Beweiskraft! Nicht nur Malereien im Charakter der
flämischen Meister des XV. Jahrh., sondern ebenso
gut ließen sich mit dieser Methode .Kopien nach
Dürer, Holbein und ihrer Zeit ausführen.
Die Knappheit des mir in diesen Blättern zu¬
gewiesenen Raumes gestattet mir leider nicht, des
näheren darauf einzugehen, wie sich aus dem von
van Mander in seiner Einleitung (Den Grondt der
Edel vry Schilder- const C. 12) gebotenen Details
über damals und vorher übliche Maltechnik eine
Menge neuer Schlüsse ziehen lassen und wie sich
die Ölmalerei im Laufe der Zeit folgerichtig und
naturgemäß aus der Emulsiontechnik weiter ent¬
wickeln musste, sowohl in Italien von Antonello bis
Tizian als auch im Norden von van Eyck bis Ru¬
bens und Rembrandt. Nur auf Dürer sei noch hin¬
gewiesen, aus dessen wenigen in den Briefen an
Heller liinterlassenen Stellen ersichtlich ist, dass er
sich eines Bindemittels von dem Charakter des oben
beschriebenen bedient haben muss. Van Mander setzt
ihn direkt neben Johann v. Eyck, Limas (von Leyden)
und Breughel als Muster technischer Vollkommen¬
heit (Cap. 12, Vers 19, loc. cit), die es liebten, auf
das reine, dick geweißte Brett direkt zu malen, im
Gegensätze zu den Späteren, welche sich mit „Doot-
vervve“ Untermalung oder rötlicher Imprimitur (het
primuersel was carnatiachtich) behalfen. Dürer
schreibt in den bekannten Briefen an Jacob Heller
über die Altarausführung (1508) (Ed. Dr. Lange
undFuhse, 1893, Nr. 48): „die Flügel seind auswendig
von Steinfarben ausgemalt, aber noch mit gefürneisst,
und innen seind sie ganz untermalt, dass man darauf
anfang auszumalen, und das Corpus (Mittelstück)
hab ich mit gar großem Fleiß mit langer Zeit, auch
ist es mit zwei gar guten Farben unterstrichen, daß
ich daran anfange zu untermalen. Das hab ich in
Willen, so ich Eurer Meinung verstehen wird, etlicli
4 oder 5 und 6 mal zu untermalen, von Beinigkeit
und Beständigkeit wegen etc.“ Ein Jahr darauf
schreibt Dürer (1509), nachdem die Bilder fertig ge¬
worden: „ich hab sie mit großem Fleiß gemalt, als
Ihr sehen werdt. Ist auch mit den besten Farben
gemacht, als ich sie hab mögen bekommen, sie ist
mit guter Ultramarin, uhter-über- und ausgemalt,
etwa 5 oder 0 mal. Und da sie schon ausgemacht
war, hab ich sie darnach noch zwiefach übermalt, ■
auf dass sie lange währe“ etc. Wenn auch die „zwei
gar guten Farben“ als weiße Grundirung betrachtet
werden könnten, so bleiben doch immer noch die
fünf- oder sechsmalige „Unter-Uber- und Ausmalung“.
32*
244
DIE GEMÄLDEGALERIE DOETSCH IN LONDON.
auf welche noch zweimal gemalt wurde, also doch
mindestens 8 Farbschichten von Ölfarbe bei Dürer!
Dabei noch alle diese Klarheit an seinen Werken
und denen seiner Zeitgenossen! Es ist wohl nicht
anzunehmen, dass er nicht nur den Heller’schen Altar,
dessen Mittelstück leider verbrannte, so ausgeführt
hat, er wird auch andere große Arbeiten, wie das
Dreifaltigkeitsbild der Wiener Sammlung mit der¬
selben Sorgsamkeit auch so,, unter- über- undausgemalt“
haben. Technisch ist es ganz und gar unmöglich,
dass auf diesem oder ähnlichen anderen Bildern acht
Schichten von Ölfarbe in unserem heutigen Sinne
sich befinden, und nur die Annahme, dass er ein mit
Wasser bis aufs äußerste Maß verdünnbares Binde¬
mittel, die Öltempera zum Beispiel, benutzt hat, lässt
es denkbar erscheinen, dass 8 Farbschichten ohne
Gefahr für das Nachdunkeln aufgetragen werden
können. Mit einem solchen Bindemittel lassen sich
die feinsten Details, die einzelnen Härchen des Bartes,
auf das noch Nasse oder wie immer auftragen, und
da es nicht nötig war, auf das völlige Trocknen zu
warten, konnte ungehindert weiter und fertig gemalt
werden. Nur so können wir uns die große Produk¬
tivität aller jener Meister vorstellen, deren Werke
„wie aus einem Gusse“ gearbeitet scheinen! Den
van Eyck’s muss aber das Verdienst zugesprochen
werden, die Neuerung und technische Umwälzung,
die in der Emulgirung der Öle für Malzwecke be¬
steht, in die Malerei eingeführt zu haben. Nicht
das Mischen der Farben mit Ölen oder deren bessere
Reinigung u. drgl., sondern dass sie aus dem fetten,
zähen Firnisbindemittel, dem vernice liquida oder
anderen Ölen, ein wassermischbares, bis zu jedem
gewünschten Grade verdünnbares Malmittel zu be¬
reiten lehrten, ist ihr von der damaligen Künstler¬
welt unbestritten anerkanntes Verdienst!
Nur durch die Einführung von destillirten Ölen
(Terpentin), sowie weingeistiger Firnisse in die
Malerei und mit dem allgemeinen Gebrauch der Lein¬
wand als Untergrund durch die Fapresto-Maler mit
dem Ende des nächsten Jahrhunderts erlitt die Van
Eyck’sche Technik naturgemäß einschneidende Ver¬
änderungen, welche, wie es scheint, diesmal von
Italien ausgingen und als die Grundlage für unsere
heutige Öltechnik zu betrachten sein werden.
DIE GEMÄLDEGALERIE DOETSCH IN LONDON.
MIT ABBILDUNGEN.
Folge des Todes des Herrn Heinrich Doetsch
gelangt dessen Unterlassene, höchst eigenartige
Jemäldesammlung am 22. Juni d. J. hei Christie
in London zum öffentlichen Verkauf. Die beiden kunst¬
verständigen Testamen tsexekutoren , Herr Karl Doetsch
und Herr Dr. Gustav Ludwig, haben die Anfertigung
iles Katalogs der dortigen ersten Autorität auf diesem
speciellen Gebiete, Herrn Dr. Jean Paul Richter,
übertragen. Letzterer hat mehrere Monate dazu ver¬
wandt, jedes einzelne Gemälde der 440 Nummern des
Katalogs der eingehendsten und sorgfältigsten Prüfung
zu unterziehen, um ein Resultat zu gewinnen, welches
sich auf rein kunstwissenschaftliche Kritik und ver¬
gleichende Studien begründet. Durch seine große
Kenntnis aller bedeutenden Galerien wurde Dr. Richter
bei dem gedachten schwierigen Unternehmen auf das
wirksamste unterstützt, so dass die Aufgabe als eine
vollkommen gelöste zu betrachten ist. Der Verfasser des
vorliegenden Katalogs sagt daher mit Recht: „Es bedarf
wohl kaum einer Versicherung, dass neue Benennungen
den Wert der Sammlung als solcher durchaus nicht her-
absetzen, am allerwenigsten in den Augen der Kenner
und derjenigen Sammler, denen es darum zu thun ist,
Gemälde zu besitzen, die ihre Namen nicht bloß einem
Zufall oder Einfall verdanken“.
Die Sammlung Doetsch ist in den letzten 20 Jahren
entstanden und besonders hervorragend durch Werke
der italienischen und niederländischen Blütezeit; aber
auch vortreffliche deutsche und spanische Kunstwerke
fehlen nicht. Einen der eigentümlichsten Grundzüge
der Kollektion bildet das Vorhandensein einer großen
Anzahl von Porträts, welche zugleich mit ihrem Kunst¬
wert ein hohes geschichtliches und archäologisches In¬
teresse besitzen. Hierzu kommt, dass sämtliche Bilder
so außerordentlich gut erhalten sind, wie dies kaum
von irgend einer anderen Galerie behauptet werden
kann, und dass die äußere Ausstattung derselben, wenn
möglich, noch auf einer höheren Stufe steht. Die Ge¬
mälde tragen nämlich zum größten Teil als äußeren
Schmuck die kostbarsten alten Rahmen der Venezianer
und der Florentiner Renaissance. So befinden sich
mehrere Bilder in prachtvollen alten Holzrahmen nach
den Originalentwürfen von Sansovino, welche für sich
allein als Schnitzwerk einen Wert von 5000 — 40000
DIE GEMÄLDEGALERIE DOETSCH IN LONDON.
245
Mark repräsentiren. Wir gelangen hiermit zu der Frage
über den Nachweis des Erwerbs der Kunstschätze und
damit gleichzeitig zu der Erörterung des Stammbaums
der einzelnen Bilder.
Dr. Richter beantwortet die an dieser Stelle mit
Berechtigung aufgeworfene Frage dahin: „Von einer
Anzahl Bilder kann nachgewiesen werden, dass sie aus
den besten und berühmtesten Sammlungen stammen:
aus der Galerie Orleans und aus der Kollektion König
Karls I. von England. Herrn Doetsch war es bei der
Erwerbung von Bildern nicht bloß darum zu thun, dass
sie in Bezug auf Erhaltung und Authenticität seinen
Ansprüchen völlig genügten, sondern er legte auch ein
Porträt von Jan Schoreel.
besonderes Gewicht auf die Bürgschaften, welche Pro¬
venienz und Stammbaum zu bieten pflegen. Er erwarb
Bilder aus der Sammlung des Marquis of Exeter, des
Marquis of Donegal, des Marquis of Hastings, des Her¬
zogs von Roxburglie, aus der Sammlung des Erzbischofs
von Canterbury, die in der Kunstwelt den Namen
„Markham-Kollektion“ führte, endlich aus der Pinacoteca
Lochis und durch Vermittlung des Dr. G. Frizzoni in
Mailand“. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Mehr¬
zahl der Bilder aus den Landhäusern der hohen eng¬
lischen Aristokratie stammen und dieser Umstand mag
es auch erklären, dass verhältnismäßig wenig über den
Gegenstand in die Öffentlichkeit gelangte, und dass
namentlich Waagen nur spärlich über die gedachten
Meisterwerke berichtete. Andererseits bemerkt Dr. Rich¬
ter: „Seltene und hervorragende Werke der Doetsch -
Galerie haben längst, auch in kunstkritischen Publika¬
tionen, gerechte Würdigung erfahren, so in B. Berenson’s
„Venetian Paiuters“, im offiziellen „Katalog des Rijks¬
museum in Amsterdam“ von A. Bredius, in Oh. Yriarte’s
„Autour des Borgia“, in Dr. Bode’s Aufsätzen im „Jahr¬
buch der Königl. Preußischen Kunstsammlungen“ und
anderwärts. Endlich kann noch hinzugefügt werden,
dass Herr Doetsch aus der Sammlung Manfrin Gemälde
erstand, und dass ihm bei seinen Ankäufen der bekannte
Restaurator der englischen National-Gallery, Mr. Pinti,
beratend zur Seite stand.
Fräulein von St. Croix. Gemälde von A. van Dyck.
Wie im Eingänge bemerkt wurde, verdient die vor¬
treffliche Vertretung der italienischen Schule, und unter
dieser wiederum die venezianische in der aufzulösenden
Sammlung, besonders hervorgehoben zu werden. Aus
der Galerie Karls I. befinden sich hier drei Bilder von
Tizian: „die Herzogin von Mantua“, „der Mann mit
dem Globus“ und die Frau, die das Gewand überwirft.
Außerdem ist ein entzückendes Bild von demselben
Meister vorhanden, welches in der Wiedergabe einer
Landschaft besteht, in welcher Mönche vor der Madonna
knieen, und ferner eine ungemein anmutende Kompo¬
sition von Giovanni Cariani. Die Helden der Schlacht
von Lepanto: Dogen, Admirale und Krieger, von der
Meisterhand Tintoretto’s, würden allein einen eigenen Saal
246
DIE GEMÄLDEGALERIE DOETSCH IN LONDON.
Porträt von Frans Hals.
füllen. Von Paolo Veronese besitzt die Galerie das Bild
seiner Tochter, aus der Orleans-Sammlung herrührend.
Moroni ist gut vertreten und ebenso Palma Vecchio
durch ein Porträt. Nicht minder vorzügliche Werke
sind vorhanden von Paris Bordone und Bassano, dazu
das unvergleichliche Meisterwerk von Lorenzo Lotto,
eine thronende Madonna. Dies Gemälde wurde schon
früher von Berenson ausführlich beschrieben und der
Blütezeit des Meisters, d. h. seiner Bergamo-Periode zu¬
gewiesen.
Die Schulen von Ferrara, Modena, Parma und Bo¬
logna, Guido Beni, Dosso Dossi (mit einem Porträt der
Lncretia) sind ebenso reichhaltig wie schön in der Samm¬
lung vertreten.
Im Gegensatz zu der Gepflogenheit der holländischen
Maler ist bekanntlich auf Gemälden von der Hand ita¬
lienischer Meister deren eigenhändige Signatur nur selten
nachzuweisen. Wir finden hier einige solche Bezeich¬
nungen, welche ein besonderes kunstgeschichtliches In¬
teresse in Anspruch nehmen dürften, wie die Bezeich¬
nung des sehr seltenen Pistojeser Meisters Scalabrinus
auf einem großen Madonnenbild. Auf einem andern
Tafelbild der Madonna mit Heiligen findet sich die In¬
schrift: HIERONYMVS DE SANTA CRVCE. P. MDXX,
aus der sich ergiebt, dass das Bild zu den .Tugendwerken
dieses Meisters gehört. Die Manier, in welcher dasselbe
gemalt ist, unterscheidet sich durchaus von der von
ihm in späteren Jahren adoptirten, wieder Vergleich
mit einem zweiten echten Madonnenbild des Meisters in
derselben Sammlung, welches durch Vermittlung des
Dr. G. Frizzoni erworben wurde, ganz klar zu erkennen
giebt. Jenes frühere Madonnenbild würde ohne seine
unanfechtbar echte Bezeichnung vielleicht schwerlich
durch Dr. Richter als Werk des Girolamo zu bestim¬
men gewesen sein. Zur Erläuterung der praktischen
Bedeutung solcher Feststellungen möge beiläufig erwähnt
sein, dass in die National-Gallery in London unlängst ein
Bild aufgenommen worden ist, welches in demselben eigen¬
artigen Stile gemalt ist, und daher sofort als ein echtes
Frühwerk des Girolamo da Santa Croce auf Grund des
Vergleiches mit dem Gemälde der Doetsch-Sammlung er¬
kannt werden musste. Da aber jenes Bild mit der In¬
schrift FRACESCO MAZZVOLA versehen ist, so hat es
bisher für glaubhaft gegolten, dass dieser seltene Maler
aus Parma der Urheber des erworbenen Bildes sei, wäh¬
rend doch schon eine genauere Untersuchung der Inschrift
nach ihrem Charakter, deren Anspruch auf Echtheit als
hinfällig erscheinen lässt. Die beglaubigten Madonnen¬
bilder des Fr. Mazzuola haben ein ganz anderes Aus¬
sehen. Ein echtes, wenn auch nicht bezeichntes Bild
des Letztgenannten findet sich ebenfalls in der Samm¬
lung Doetsch.
In der Florentiner Schule ist Bronzino mit den Por¬
träts der Medicäer hervorzuheben; Andrea del Sarto’s
Schulbilder, ein h. Sebastian von seiner Hand, sind
äußerst bemerkenswert. Zu den Hauptwerken der Flo¬
rentiner Schule in der Galerie Doetsch gehört ein großes
Frau, ihr Gewand anziehend. Gemälde von Tizian.
DIE GEMÄLDEGALERIE DOETSCH IN LONDON,
247
und prachtvolles Altarbild des Pontormo, das aus der
Kirche San Michele Bisdomini in Florenz stammt und
als dort befindlich auch von Vasari ausführlich beschrie¬
ben wird. Zwar rindet man in den Kommentaren zu
den Künstlerbiographien des Aretiners die Bemerkung:
das Bild befinde sich noch immer in jener Kirche, aber
es unterliegt keinem Zweifel, dass dies auf einem Irr¬
tum beruht. Im Anfang unseres Jahrhunderts entfernte
man das Bild aus der Kirche, um es angeblich zu rei¬
nigen, und es wird behauptet, es hätte sich herausge¬
stellt, dass Pontormo sein Bild auf Papier gemalt habe.
Ein solcher Fall wäre in der gesamten Kunstgeschichte
geradezu unerhört! Allerdings findet man jetzt auf dem
dunklen Altar, da wo das Original früher aufgestellt war,
ein durchaus ähnliches auf Papier gemaltes Bild, welches
auf Holz befestigt ist und in großen Buchstaben die
auf Authenticität Anspruch erheben dürfe, welches nicht
Castor und Pollux und auch die Schwaneneier enthält.
Die Galerie Doetsch weist ein bisher in der Kunstge¬
schichte unbekanntes Bild auf, welches diese Bedingungen
erfüllt, und genau mit dem berühmten alten Stich des
italienischen Monogrammisten „C. A“ übereinstimmt.
Eine Reihe von Fürstengestalten aus dem Hause
Habsburg repräsentiren die spanische Schule in dem
vorliegenden Katalog.
Dr. Richter nennt in der vlämischen Schule außer
einer Anzahl religiöser Maler mehrere vorzügliche Werke
der späteren Landschafter, so namentlich ein ausge¬
zeichnetes mit dem Monogramm des Coninxloo versehenes
Bild, welches sicherlich als sein schönstes Meisterwerk
gelten kann. Demnächst sind zu erwähnen zwei Gemälde
eines bisher unbekannten Meisters der Schule von Fran-
Der spanische Musikant. Gemälde von J. v. Velsen.
Signatur „D. N.“ trägt. Ein nicht minder interessantes
Madonnenbild des Bachiacca, mit landschaftlichem Hinter¬
gründe nebst der Scenerie des verlornen Sohnes nach
Dürer, erinnert an Vasari’s Ausspruch über die italie¬
nischen Maler, welche seiner Zeit eifrig die Stiche von
Dürer und Lucas v. Leyden studirt hätten.
Zur Lombardischen Schule übergehend, lenkt Dr.
Richter die Aufmerksamkeit auf ein sehr anziehendes
Bild des Giampietrino , „Leda mit dem Schwan“ dar¬
stellend, dessen Komposition Morelli dem Sodoma zu¬
schrieb. Eins der besten und anziehendsten Bilder der
gesamten Galerie gehört gleichfalls an diese Stelle, und
dasselbe hat zum Sujet den Jesusknaben und den Jo¬
hannes, die sich umarmen.
Herr Professor Woermann sagt im „Repertorium der
Kunstwissenschaft“ gelegentlich einer Abhandlung über
die Leda des Michelangelo, dass . kein Exemplar der Leda
kenthal, des H. Berglmiez. In dem letzten Hefte dieser
Zeitschrift veröffentlichte Herr Professor Justi ein herr¬
liches Porträt Philipps des Schönen von Burgund, das
bisher für ein Bildnis des Bastards Ph. von Burgund an¬
gesehen wurde; es wird daher für viele Kunstliebhaber
von Interesse sein zu hören, dass die Galerie Doetsch das
Bild eines andern Bastards, des Jehan von Burgund,
späteren Herzogs von Nevers besitzt, ebenso Pracht¬
werke von Mabuse. Schoreel ist durch ein ausgespro¬
chenes Galeriebild repräsentirt, welches Bredius als
solches bestimmte, und ausserdem waren hier mehrere
Meisterwerke von A. Mor zu katalogisiren.
Alle bedeutenden Schulen der Niederländer des 17.
Jahrhunderts sind vorzüglich in der Kollektion Doetsch
repräsentirt. Rembrandt unter anderem mit einem Porträt,
welches in der „Gazette des Beaux-Arts“ veröffentlicht
wurde, aus der Galerie Fesch stammend. Dazu kommen
248
KLEINE MITTEILUNGEN.
zwei herrliche Hobbema-Landschaften. In der Schule
von Harlem fällt sehr günstig ein Frans Hals auf,
ein männliches, ungemein lebensvolles Porträt, sowie
Werke von Dnyster, Peter und Philipp Wouwerman,
Ostade, Potter, van de Velde und Hackert, end¬
lich auch ein Gemälde des • sehr seltenen Meisters
Olis. Das betreffende Bild ist bezeichnet. Thatsäch-
lich aktuelles Interesse für die deutsche Kunst dürfte
ein Selbstporträt von Austin Terwesten besitzen. Dieser
Meister, auch „Snip“ genannt, war der Gründer der Ber¬
liner Akademie im Jahre 1696. Bekanntlich schickt
sich dieses Kunstinstitut an, im nächsten Jahre sein
200jähriges Stiftungsfest zu feiern. Das genannte
Porträt stimmt mit einem Stiche in Houbrakens „Grote
Schouburg“ überein. Ein Unikum, betitelt „Musikalische
Unterhaltung“, trug die gefälschte Unterschrift des Pala-
medes. Es stellte sich nun bei der Reinigung des Ge¬
mäldes eine bisher unbekannte Signatur heraus, wonach
es dem Scharfsinn des Dr. Richter gelang, dieselbe
als von J. v. Velsen festzustellen. Nicht zu übersehen
sind die Nummern des Katalogs, bei denen es sich um
die von Herrn Dr. Bode beschriebenen frühesten Mo¬
lenaars handelt, ferner um zwei von Bredius bestimmte
Werke des Elias, sowie um den sehr seltenen Meister
Peter Nason, und um das dritte der Kunstgeschichte
bekannt gewordene Bild des van Rossum. - — Van Dyck,
(den die Engländer Sir Anthony van Dyck nennen, um
den Antwerpener Meister als den Ihrigen in Anspruch
zu nehmen), glänzt durch das Porträt der Gräfin von
Oxford.
Als nicht zahlreich vertreten muss die französische
Schule bezeichnet werden; indessen Janet(Clouet) und zwei
wunderbare Blaremberghe ersetzen durch Vorzüglichkeit
den Mangel der Quantität. — Dasselbe gilt für die deutsche
Schule. Von Cranach’s Meisterhand sehen wir in der
Galerie das bisher für verschollen gegoltene Bildnis der
„Krellerin“ wieder, welches mit einer langen Begleit¬
inschrift versehen ist. Ferner wird registrirt: ein früher
dem Könige von Neapel gehöriges Exemplar von A.
Dürer’s Triumphzug des Kaisers Maximilian in Rom.
Das zeitgenössische Panorama der ewigen Stadt gewährt
dem Bilde ein ungewöhnliches historisches und archäolo¬
gisches Interesse. Endlich dürfen nicht unerwähnt bleiben
ein von Dr. Richter als solches erkanntes Bild des Jan
Vermeyen, die Schlacht von Pavia wiedergebend, und
zwei Porträts des alten Kölner Meisters Bartholomäos
v. Bruyn. — Die Sammlung Doetsch wird binnen kurzem
in alle Richtungen der Windrose zerstreut sein, aber
sowohl die jetzigen als auch die späteren Erwerber
werden stets genötigt sein, auf die kritische Arbeit
zurückzugreifen, durch die Dr. J. P. Richter in gewissem
Sinne nicht nur ihr Andenken erhält, sondern gleich¬
zeitig der Sammlung ein maßgebendes litterarisches und
kunsthistorisches Denkmal gesetzt hat.
v. SCHLEINITZ.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Elsässer Bilderbogen, herausgegeben von Joseph Sattler
und Carl Spindler. Verlag von F. X. Le Roux & Co. in
Strassburg i. E. Jährlich 4 Lieferungen in groß Folio-
Format, enthaltend je 6 Blätter in Lichtdruck zum Abonne¬
mentspreise von M. 12 für den aus 24 Blättern bestehen¬
den Jahrgang.
Der u. a. durch seinen Toten-Tanz in den weitesten
Kreisen bekannt gewordene Maler Joseph Sattler hat sich,
im Verein mit seinem Freunde Carl Spindler und anderen
hervorragenden Künstlern, die Aufgabe gestellt, in den „El-
.-iissischen Bilderbogen“ Land und Leute des Eisass, seine
Beschichte, Sagen und Legenden, Kirchen und Klöster,
Schlösser und Burgen, hervorragende und berühmte Per¬
sönlichkeiten aller Zeiten, die elsässischen Trachten, Sitten
und Volksgebräuche etc. etc. in Bild und Wort künstlerisch
wiederzugeben. Der erste aus 24 Lichtdruckblättern be¬
stehende Jahrgang, M. 12. — in elegantem Umschlag mit
Goldpressung M. 15.— liegt komplet vor.
Der Balkon von J. Whistler. Unter den englischen
Radirem die gegenwärtig am meisten geschätzt werden, steht
Whistler wohl unbestritten oben an. Das Blatt, welches
wir in vortrefflicher Faksimilewiedergabe von C. G. Röder
in Leipzig diesem Hefte mitgeben, kommt insofern etwas
verfrüht, als es eine Illustration zu dem zweiten Teil des
Aufsatzes von Dr. Lier bildet, der erst im nächsten Hefte
beendet wird. Eine Radirung die für das vorliegende
Heft bestimmt war, hat nicht rechtzeitig geliefert werden
können, weshalb wir als Ersatz dieses Blatt vorausgeben,
das den berühmten Meister der Radirung trefflich charak-
terisirt. James Abbott Mac Neil Whistler ist amerikanischer
Herkunft, er wurde 1834 in Lowell (Massachusetts) geboren.
1855 ging er nach England, später nach Paris, wo er zwei
Jahre lang Gleyre’s Schüler war. Er lebt seit längerer
Zeit in London. Abdrücke seiner Radirungen werden mit
hohen Preisen bezahlt. Die vorliegende, eine der seltensten,
kostet in gutem Abdruck über 300 Mark.
Berichtigung. Die Abbildung auf S. 199 d. Jahrgangs
hat eine unrichtige Unterschrift erhalten, insofern als der
Aufsatz des Herrn Geheimrats Justi nachweist, dass daselbst
Philipp der Schöne , und nicht Philipp, Bastard von Burgund,
wie das Bild im Ryksmuseum zu Amsterdam bezeichnet wird,
dargestellt ist.
Herausgeber: Carl von iAitxow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
J. M. Whistler rad.
Lichtdruck von C. G. Roder, Leipzig.
DER BALKON
£jjrise/i - csh'esyvfi 'cuJxr
iir Bil (lende Kunst
Bruck v F.A.Brockhaus, Leipzig,
MARIE VON EBNER- ESCHENBACH.
PORTRÄT VON JULIUS SCHMID.
IN gutes Porträt der Dichterin
Marie Ebner-Eschenbach zu
schaffen, ist nicht bloß eine
der anziehendsten, sondern
auch eine der schwierigsten
Aufgaben, die sich ein Maler
stellen kann. Anziehend ist
die Aufgabe darum, weil in
der ganzen deutschen Litteraturgeschiclite keine zweite
Frau es zu so hoher und vollkommener Kunst und
zu so allgemeiner Anerkennung, ja wahrer Liebe sowohl
bei den Kennern als auch beim Publikum gebracht
hat, wie Frau von Ebner. Wohl erreicht die Zahl
der Auflagen ihrer Bücher nicht die Höhe der Auf¬
lagen Marlitt’scher Werke; aber eine Lektüre für
Nähmamsells sind die Ebner’sclien Novellen freilich
nicht. Es knüpft sich auch keine Pikanterie, kein
Rennstallparfüm, kein Weihrauchduft, keine Mode-
tendenz, keine Bohemeluft an ihre Dichtungen. Marie
Ebner wirkt nur durch die Schönheit und Kraft
ihrer Phantasie, die Klarheit ihrer Bildung, die Er¬
habenheit ihrer sittlichen Gesinnung und durch die
hier wirklich aristokratische Anmut und Heiterkeit,
hinter denen sie ihren Ernst verbirgt. Daher konnte
man mit vollem Rechte sagen: Marie Ebner ist nach
dem Hingange Kellers der erste deutsche Schrift¬
steller unsrer Zeit. Sie allein hält nicht etwa bloß,
wie so viele geistreiche Dichter und Kritiker unsrer
Zeit, das Wissen, sondern auch die Praxis der rechten
Kunst aufrecht; sie ist Realist und Idealist zu gleicher
Zeit; sie ist gesund im Herzen und stark im Geiste;
sie ist der wahre Dichter der Zeit, keine Modegröße.
Wegen dieser ihrer litterarischen Bedeutung ist
ein Porträt Marie Ebner ’s zu malen, eine höchst
dankbare Aufgabe. Aber auch ebenso schwierig muss
jedem die Aufgabe erscheinen, der die Dichterin per¬
sönlich kennt. Es dürfte nicht viele andere Dichter
gegeben haben, deren persönliche Erscheinung in so
vollkommenem Einklänge mit dem geistigen Bilde
steht, das ihre Werke in uns erzeugt.
Zu einer vollkommenen Harmonie zwischen
äußerer, körperlicher Erscheinung und seelischer
Eigenart bringen es ja die Dichter sehr selten. Zum
Teil hängt das auch gar nicht vom Willen des Menschen
ab. Wenn Jean Paul Romane voll ätherischer Zart¬
heit und sentimentaler Überschwänglichkeit schrieb,
so konnte er doch wahrhaftig nichts dafür, dass er
wohlgenährt, dick und breit in seiner Leiblichkeit er¬
schien. Bei anderen Dichtern wirken Erziehung und
Herkunft oft jener Harmonie entgegen. Keller, dessen
Zartgefühl und Seelenadel in den Werken alle ent¬
zückte, machte persönlich in jungen Jahren einen
echt bärenhaften Eindruck: er war schwerfällig, un-
beholfeu, ja sogar ungezogen, in älteren Jahren
stachelig, reizbar, konnte auch recht grobianiscli
werden. Anzengruber konnte nicht weniger un¬
liebenswürdig sein. Da hat nun der Porträtmaler,
der vor solch einem berühmten Manne mit dem
vollen Wissen dessen sitzt, was er leistete und was
er bedeutet, keinen leichten Stand, wenn er ein Bild
schaffen will, worin das Publikum „seinen“ Jean
Paul, „seinen“ Gottfried Keller, „seinen“ Anzen¬
gruber wiederfinden und doch auch die Wahrheit
sehen soll. Indes bieten männliche Dichterköpfe
immer reichlich Züge, die ihren intellektuellen und
dichterischen Charakter bedeutsam ausdrücken. Viel
schwieriger aber ist es, ein weibliches Porträt zu
malen, das der Bedeutung der dargestellten Persön¬
lichkeit gerecht werden soll. Frauenbilder sind wir
doch weitaus mehr vom Standpunkte der Schönheit als
der geistigen Bedeutung zu betrachten gewöhnt. Das
geht so weit, dass wir auf die Bilder hässlicher
Dichterinnen mit Vergnügen verzichten, um uns die
Illusion nicht stören zu lassen. Wer kennt das
Zeitschrift für bildende Kunst N. F. VI. H. 10.
33
250
MAßTE YON EBNER-ESCHENBACH.
Bild der Droste? Wer interessirt sich für das Bild
der Ida Hahn-Halm, der Bewald, der Marlitt? Sie
sind uns, mit allem Respekt vor den Leistungen der
genannten Damen, sehr gleichgültig. Das Frauen¬
bildnis vom Standpunkte der charakteristisch in-
dividualisirenden Kunst ist darum noch gar nicht
recht gepflegt worden. Es fängt wohl erst jetzt an,
den Malern als eine bedeutsame Aufgabe zu er¬
scheinen; das ist natürlich, denn die Frauen treten
erst seit wenigen Jahrzehnten mit Nachdruck in der
künstlerischen oder socialpolitischen Öffentlichkeit
hervor; sie selbst wollen nicht mehr bloß vom Stand¬
punkte der ästhetischen Betrachtung angesehen werden.
Nun erst entsteht die Möglichkeit und das Bedürfnis,
auch Frauenporträts im historischen Stile zu schaffen.
Mit einem Porträt der Dichterin Marie Ebner
hat es nun darum seine besondere Bewandtnis, weil
die edle Frau in ihrer zarten körperlichen Er¬
scheinung, in ihrem persönlichen Verkehre so voll¬
kommen dem Bilde entspricht, das ihre Schriften in
uns von ihr erzeugen. Man hat die Wahrhaftigkeit,
die Ehrlichkeit dieser Dichterin öfters betont. Ich
selbst habe in meiner Studie über Marie von Ebner -
Eschenbach (Deutsche Rundschau, 1890, September¬
heft) auf den durchgehenden Bekenntnischarakter
ihrer Dichtungen hingewiesen: sie bilden das auf¬
geschlagene Buch ihres Herzens, mögen es nun die
Aphorismen, Parabeln oder Novellen sein. Von
jeder Seite, von jeder Zeile ihrer Schriften führt der
Weg gleichsam schnurgerade zur Seele dieser Dich¬
terin. Sie ist eine so einheitliche, harmonische,
wahrhafte und natürliche Natur, dass man wie von
einem Zauber umfangen wird, wenn man sich ein¬
mal in ihren Kreis begeben hat. Sie ist in jeder
Äußerung, in jeder Bewegung immer sie selbst, und
man kommt vor Freude an der Schönheit dieser
vollkommenen Durchbildung und Harmonie eines
Menschen wesens oft gar nicht dazu, rein nüchtern
und sachlich mit ihr zu sprechen: man möchte ihr
nur immpr zuhören, sie reden lassen. Diesen merk¬
würdigen Eindruck macht die edle Dichterin auf
alle, die sie kennen lernen dürfen.
Und nun soll der Maler kommen und mir dieses
gelassen heitere, unendlich gütige, teilnahmsvolle,
anspruchslose, weise, so sehr bescheidene, charakter¬
volle Frauen wesen malen! Er soll das Kunstwerk,
das diese Dichterin aus sich selbst geschaffen und
in der eigenen Persönlichkeit darstellt, mit Ver¬
ständnis erfassen und uns durch sein Gemälde
wenigstens ahnen lassen, wen wir vor uns haben.
Ohne Zweifel war sich Julius Schmid, dessen
Porträt der Frau von Ebner-Eschenbach im Jahre
1894 mit der goldenen Medaille im Wiener Künstler¬
hause ausgezeichnet wurde, seiner Aufgabe voll be¬
wusst. Er trat als Kenner ihrer Werke und nach¬
dem er häufig die Dichterin zu sehen und zu sprechen
Gelegenheit hatte, an seine Arbeit heran. Und man
muss sagen, dass er das anziehendste Bild der Frau von
Ebner geschaffen hat, das wir derzeit besitzen. Die
Baronin ist öfters gemalt worden. Am bekanntesten
ist jenes Porträt von ihr, das im Aufträge der Stadt
Wien 1890 zu ihrem 60. Geburtstage für das städtische
Museum gemalt wurde und dessen Heliogravüre den
ersten Band ihrer gesammelten Werke schmückt.
Vergleicht man diese zwei Porträts, so sieht man
sofort, dass Schmid bedeutender nicht bloß als Colorist
und Zeichner, sondern auch in der Auffassung des
Originals ist. Dort ein strenges, etwas steifes Antlitz
einer alten Dame, die Gräfin ist; hier das seelen¬
volle Gesicht der Dichterin, worin jede Falte,
jeder Muskel sprechen wollen und die tägliche Um¬
gebung ihres Arbeitszimmers dazu. Die Dichterin sitzt
am Schreibtisch, die rechte Hand auf die Tischplatte
gestützt, die linke ruht lässig, ein Papier haltend,
im Schoß. Die Baronin sieht uns an, als wenn sie
uns zuhören würde. Das volle Licht des Tages
fällt auf sie, denn der Maler saß im Fenster ihres
Zimmers, in einer tiefen Nische, wie sie nur noch
in den alten Wiener Häusern zu finden ist. Der
Kopf ist ohne jenen „krönenden“ Aufputz, den die
anderen Porträtisten nicht entbehren wollten; die
leichtgewellten silbergrauen Haare sind schlicht ge¬
scheitelt, nichts soll an diesem durchgeistigten Antlitz
mit der steilen, im Bilde wohl etwas allzusteilen,
der Wirklichkeit nicht ganz entsprechenden hohen
Stirne wirken als es selbst. Ein schwaches Rot
belebt die Wangen, die Farbe der Haut ist frisch,
wärmer als es sonst bei Silberhaaren zu sein pflegt.
Die guten Augen sehen uns ruhig, aufmerksam,
aber nicht scharf forschend an, denn die Dichterin
hat leider geschwächte Augen und wird wohl
schon früh kurzsichtig gewesen sein. Der sehr feine
Mund mit der beredten Unterlippe mutet an, als
wollte er bald lächeln. Das Grübchen in der Wange
verrät die leichte Neigung zum Lachen in diesem
Gesicht der Humoristin. Mit außerordentlicher Sorg¬
falt hat Schmid die schmalen, edlen, langgestreckten
Hände der Dichterin gemalt: sie haben nicht weniger
Seele als der Kopf. Das Kleid der Dichterin ist
aus schwarzer Seide, ihrem Lieblingsstoff; um nicht
allzu düster zu wirken, nahm sie eine reiche weiße
Spitzenkrause um den Hals, die auf der Brust noch
MARIE VON EBNER-ESCHENBACH.
251
lang herabfällt. Und diese vornehme Gestalt sitzt
in einem holzgeschnitzten, mit gepresstem Leder ge¬
deckten Lehnsessel, den Schreibtisch decken Papiere,
Schreibutensilien, zwei Leuchter mit Kerzen u.dergl.m.
Im Hintergrund erkennen wir trotz des Dunkels das
Wahrzeichen der Frau von Ebner: die kostbare
Uhrensammlung, die sie sich im Laufe der Jahre er¬
warb, und auf die ihre Novelle „Lotti, die Uhr¬
macherin“ hinweist. Daneben rechts ein Barometer;
links hängen Familienbilder.
„Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbst¬
bewusstseins“, sagt Marie Ebner einmal in ihren
Aphorismen. Man möchte glauben, der Maler hätte
sie in solcher Gelassenheit darstellen wollen, denn
das ist die vorherrschende Stimmung, die uns aus
diesem Porträt anspricht. —
Und nun noch einige Mitteilungen über den
Maler dieses Bildes, das uns so gut gefällt. Julius
Schmid erfreut sich als Historien- und Porträtmaler
eines wohlbegründeten Ansehens in der Wiener
Künstlerschaft und wurde schon mehrfach ausge¬
zeichnet.
Geboren am 3. Februar 1854 zu Wien, war
Schmid ursprünglich für den Kaufmannsstand bestimmt
und kam erst mit 18 Jahren gegen den Willen der
Eltern auf die Akademie. Er absolvirte dieselbe unter
Eisenmenger und erhielt 1878 den Rompreis. Unter
den Jugendwerken, noch der Schule angehörig, ist
ein „Hagen mit den Donaunixen“ zu nennen. Frucht
seines zweijährigen Aufenthalts in Italien war ein
Sittenbild aus der römischen Verfallzeit in kleinen
Dimensionen. Bei der Konkurrenz für die Aus¬
schmückung des Gemeinderatssitzungssaales im Wiener
Rathause errang Schmid einen dritten Preis für zwei
friesartige Kompositionen, welche die Zeit Rudolfs
des Stifters und Maria Theresia’s darstellten. Doch
gelangten diese Entwürfe nicht zur Ausführung.
Einige Jahre später (1880 — 89) hatte Schmid Ge¬
legenheit, eine größere Anzahl monumentaler Kom¬
positionen auszuführen, als er die Wiener Schotten¬
kirche mit 15 Deckenbildern - — 5 großen und 10
kleineren in Mineralmalerei — schmückte. Neue
Eindrücke gewann Schmid auf der Pariser Welt¬
ausstellung 1889. Als ihre Frucht erschien das Ge¬
mälde: eine schwebende Frauengestalt als Allegorie
des Morgens; später entstand das größere, figureu-
reiche Bild: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“,
das den Reichelpreis erhielt (1891). Ein Jahr darauf
wurde der Künstler in München durch die Verleihung
der kleinen goldenen Medaille ausgezeichnet. Eine
neuerliche Konkurrenz für das Prager Rudolfinum
gab ihm Gelegenheit zu ausgedehnten Kompositionen:
„Das Kunstleben in Böhmen in seiner Entwickelung“
darstellend; sie wurden mit dem zweiten Preise ge¬
krönt. Als letztes dekoratives Werk erscheint sein
Vorhang im Raimundtheater: im Mittelfelde eine
Vision Raimunds (Gestalten aus dem „Verschwender“),
flankirt von den als Statuen gedachten Figuren der
Schönheit und Wahrheit; am Fuße längs des ganzen
Vorhangs ein Lebensfries. Neben diesen größeren
Werken entstanden mehrere Porträts: der Frau des
Bildhauers Benk, der Baronin Ebner, des Grafen
und der Gräfin Schaumburg, der Frau des Künstlers,
des Bürgermeisters Prix. In der letzten Frühjahrs¬
ausstellung (1895) des Wiener Künstlerhauses hatte
Schmid eine schöne Caritas in Lebensgröße und ein
ungemein anmutiges Bildchen seiner Frau mit dem
Kind in den Armen: eine weiße Gestalt mitten im
grünen farbigen Garten. Ein Kaiserbildnis für das
Ministerpräsidium und eine Allegorie des Frühlings
(Erwachen der Natur) reifen gegenwärtig in seinem
Atelier der Vollendung entgegen.
MORITZ N ECKER.
33*
Nach einer Originalvadirung von Seymour Haden.
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
VON H. A. LIEB.
MIT ABBILDUNGEN.
(Schluss.)
IV.
ENN man die Leistungen Belgiens und Hol-
'föwXfc. lan(is auf dem Gebiete der Radirung mit-
einander vergleicht, so neigt sich die Wag-
schale sehr zu Gunsten Hollands, das, dank der
mächtigen von Remhrandt ausgegangenen Tradition,
Belgien in diesem Punkte auch in neuerer Zeit weit
überflügelt hat. Die Belgier, die sich an der Ent¬
wicklung der modernen Kunst namentlich durch
die Pflege der Historienmalerei beteiligt haben, be¬
sitzen eine entschiedene Vorliebe für den Stich und
bleiben insofern ihrer Überlieferung getreu, als ja
auch zu Rubens Zeit eine blühende Kupferstecher-
schule unter den Vlämen sich entwickelt hatte.
Kupferstich und Radirung treten aber in der Ge¬
schichte vielfach als zwei feindliche Brüder auf, und
so erklärt sich die geringe Beteiligung der Belgier
an dem Fortschritt der Radirung aus ihrer Vorliebe
für den Kupferstich.
Unter den älteren belgischen Radirern unseres
Jahrhunderts hat nur Engine Verboeckhoven (1798 —
1881 , der bekannte Tiermaler, Anspruch auf Be¬
achtung, weil seine Arbeiten auch auf diesem Ge¬
biete ein liebevolles Naturstudium und die geübte
Hand des gewandten Zeichners verraten. Spä¬
ter hat Joseph Finnig (1815—1891), dem wir den
„Peintre-graveur hollandais et beige aux XIXe siede“
verdanken, durch seine radirten Ansichten Antwer¬
pens bahnbrechend gewirkt und eine Anzahl be¬
deutender Künstler Antwerpens für die Radirung
zu interessiren verstanden. Zu ihnen gehörte unter
anderen Henri Leys (1815—1869) der berühmte
Historienmaler, der sich zu verschiedenen Zeiten mit
der Radirung beschäftigt hat. Als sein bestes Blatt,
das überhaupt eins der besten der modernen belgi¬
schen Radirung ist, wird das „Interieur flamand“
vom Jahre 1840 angeführt. Sein ganzes Werk aber
beläuft sich auf nicht mehr als auf ein Dutzend
Blätter. Weit umfangreicher wurde dasjenige des
Landschaftsmalers Henri de Braekeleer (1840 — -1888),
doch blieb seine Wirksamkeit ebenso wenig beachtet,
wie diejenige Jan Stobbaerts, obwohl sich beide
Männer in ihren Werken den alten holländischen
Meistern nicht unebenbürtig erwiesen.
Dasselbe gilt von Felicien Roj)s , von dessen eigen¬
tümlicher Stellung in der Geschichte der modernen
Radirung schon die Rede war. Die unter seinem
Präsidium und unter dem Protektorate der Gräfin von
Flandern im Jahre 1875 ins Leben gerufene „Societe
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
253
internationale d’aquafortistes“, die zwei Folgen von
Radirungen herausgab, konnte sich nicht halten.
Rops legte die Leitung nieder und siedelte nach
Paris über. Bessere Erfolge hatte die im Jahre 1881
in Antwerpen gegründete „Societe d’aquafortistes“,
die durch die 1887 in Brüssel entstandene „Societe
d’aquafortistes beiges“ abgelöst wurde. Diese Gesell¬
schaft wird vom Staate unterstützt und vertritt die
Bestrebungen der modernsten belgischen Malerei,
die von einer gewissen Sucht nach auffallenden,
impressionistischen Wirkungen nicht freizuspre¬
chen ist.
Auch in Holland rührt der Aufschwung der
Radirung aus ziemlich neuer Zeit her. Er knüpft
sich an die Stiftung des niederländischen Radirklubs
im Jahre 1885. Die Stifter dieses Klubs waren:
Jan Veth, Dr. Rinderen, T holen, Witkamp, Witzen ,
Pli. Zilken und die Malerinnen Therese Schwartze und
Wally Moes. Später schlossen sich an : J. E. Kursen ,
Van der Valk, Isaac Israels, W. de Zwart, A. L. Koster,
M. van Marel, N. Bastert, Jac. van Looy , Floris Verster ,
M. Bauer und die Damen Etha Fies und Suze Ro¬
bertson. Bis jetzt hat der Verein sechs Albumhefte
mit je zwölf Blättern erscheinen lassen.
Unabhängig von dieser Gruppe holländischer
Radirer hat sich der meist in Belgien oder Frank¬
reich lebende und vor kurzem von Brüssel nach
Wiesbaden übergesiedelte Th. C. II. Storni vans
Gravesande aus Breda (geb. 1841) entwickelt. Er
ist es gewesen, der die moderne holländische Ra¬
dirung zuerst geschaffen und ihr die Achtung des
Auslandes, namentlich Englands und Amerika’s er¬
rungen hat. Sein Gebiet ist die Schilderung der
See und der Landschaft seiner Heimat, wobei er
sich einer merkwürdigen Sparsamkeit in der An¬
wendung der Darstellungsmittel befleißigt.
Aber obwohl sich sein Werk bereits auf über
250 Nummern beläuft, ist er in seinem Vaterlande,
wo er nur selten ausgestellt hat, so gut wie unbe¬
kannt. Um so größeren Ansehens erfreut sich dort
Philipp Zilcken , der im Haag geboren ist und dort
seinen ständigen Aufenthalt hat. Ein geachteter
Maler, ist er gegenwärtig zugleich der am meisten
geschätzte holländische Radirer. Wir besitzen gegen
200 Blatt von seiner Hand, in denen er alle erdenk¬
lichen Gegenstände behandelt hat, da er alles, was
ihn interessirt, in den Bereich seiner Darstellung zu
ziehen liebt: Landschaften, Tierstücke, Architekturen,
Interieurs, Akte und Bildnisse, ln seinen Land¬
schaftsradirungen begegnen wir nicht nur Motiven
aus den verschiedensten Teilen der Niederlande, son¬
dern auch aus dem Orient, z. B. aus Algier, das er
auf einer Studienreise besucht hat. Ebenso viel¬
seitig wie in der Wahl seiner Vorwürfe zeigt er
sich in der Verwendung der seiner Kunst eigentüm¬
lichen technischen Mittel. Mit Vorliebe arbeitet er
mit der kalten Nadel auf Zink, geht aber den Zu¬
fälligkeiten der Atzung am liebsten aus dem Wege.
Wünscht er kräftigere Wirkungen zu erzielen, so
bedient er sich wohl auch der Aquatinta, die in der
Regel einen zweiten Zustand der Platte ergiebt. Zilcken
pflegt nur wenige Abzüge zu machen und sodann
die Platten zu zerstören. Auf diese Weise erlangen
seine Arbeiten eine künstliche Seltenheit, und es
dürfte nur wenig Sammler geben, die sich rühmen
können, sein Werk auch nur annähernd vollständig
zu besitzen. Übrigens hat Zilcken nicht nur Origi¬
nalradirungen, sondern auch eine stattliche Anzahl
Reproduktionen nach Werken anderer Künstler ge¬
schaffen. Da er noch in den besten Jahren steht
— er wurde 1857 geboren — dürfen wir noch zahl¬
reiche Arbeiten von seiner Hand erwarten.
Neben Zilcken soll unter den modernen hollän¬
dischen Radirern Ant. Mauve, der vor einigen Jahren
starb, nicht vergessen werden. Mauve ist auch in
Deutschland als ein vorzüglicher Landschafts- und
Tiermaler bekannt geworden. Seine Gemälde zeich¬
nen sich durch seltene Naturtreue, großen Fleiß und
sorgfältige Zeichnung aus. Dieselben Vorzüge be¬
sitzen seine Radirungen, die er nur nebenbei an¬
fertigte, und von denen wir nur 18 Blatt kennen.
Auch der berühmte holländische Genremaler
Josef Israels hat gelegentlich zur Radirnadel gegriffen
und in Radirungen wie in seinen Bildern das Volk der
Fischer und Schiffer und das Leben und Treiben der
Armen geschildert und zwar mit einer Meisterschaft
und technischen Kühnheit, die seiner Bedeutung als
Maler vollkommen entspricht. Da auch seine Ra¬
dirungen äußerst selten und schwer zugänglich sind,
wollen wir nur auf die Blätter in der von Cadart
herausgegebenen „Illustration Nouvelle“ hin weisen
und unter ihnen die Radirungen: „Braertje en
zurje“ (Brüderchen und Schwesterchen) „De twee
slaapsters “ (die beiden Schläferinnen, eine Frau auf
einem Stuhl mit einer Katze) und „Het binnen-
huis“ anführen.
Wer sich genauer mit der Geschichte der mo¬
dernen holländischen Radirung vertraut machen will,
muss das Album der im Haag im Jahre 1891 er¬
richteten Gesellschaft „Pulchri studio“ einsehen. Er
findet dort eine Fülle der schönsten und seltensten
Blätter, die von holländischen Malern herrühren, die
254
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
nicht berufsmässig, sondern z u ihrem eigenen Ver¬
gnügen gelegentlich Versuche mit der Radirung an¬
gestellt haben. Dazu gehören unter anderen Arbeiten
von Jacob Matthijs, J. van den Scmde Bakhuijsen,
J). A. C. Arzt , Louis Apol, F. J. Duchatel und J.
Vrolijk , also von Künstlern, die durch ihre Land¬
schaften jedem Besucher unserer letzten größeren
Bilderausstellungen in München und Berlin als aus¬
gezeichnete Vertre¬
ter ihres Faches be¬
kannt sind.
Unter den jüng¬
sten holländischen
Künstlern hat sich
A. J. Bauer einen
Namen gemacht.
Er war erst neun¬
undzwanzig Jahre
alt, als er eine
Reise in die Türkei
unternahm. Dort
fing er an, sich für
das religiöse Leben
der Mohamedaner
zu interessiren und
Skizzen in den ver¬
schiedenen Mosche¬
en, namentlich in
der Sophienkirche
zu Konstantinopel,
zu machen. Nach
Holland heimge¬
kehrt und im Haag
ansässig geworden,
unternahm er es,
seine Reiseeindrü¬
cke in Iiadirungen
wiederzugeben, bei
denen es ihm nicht
auf eine genaue
Durchführung, son¬
dern nur auf die
Andeutung des Ein¬
drucks ankam. Daher sind seine überaus geschickt
angelegten Blätter im höchsten Maße impressionis¬
tisch, und auch seine größte Radirung aus dieser
orientalischen Folge, „der Zug Aladins zum Sultan“
betitelt, verleugnet diese flüchtige Haltung nicht, die
auf viele Beschauer befremdend, wenn nicht sogar
abstoßend wirkt.
Das gerade Gegenteil von Bauer s gewollter Unbe¬
stimmtheit, die den Charakter des Visionären tragen
soll, ist der Ernst und die Strenge, die uns in den
Arbeiten W. Witsens in Amsterdam enta-egfentritt.
Unter seinen Radirungen stehen die Blätter: „Tra¬
falgar Square“ und „Waterloo bridge“, die Früchte
einer Reise nach London im Jahre 1890, obenan.
Eine merkwürdige Erscheinung ist der als Maler
wie als Radirer gleich hervorragende Jan Berthold
Jonking. Zu Lat
trop in Oberyssel
im Jahre 1819 ge¬
boren und in Cöte
Sainte- Andre an der
Isere im Jahre 1891
gestorben, gehört
er, obwohl bis vor
kurzem in Deutsch¬
land ganz unbe¬
kannt, zu den bes¬
ten modernen Land¬
schaftsmalern, und
wird in Frankreich
gleich hoch wie Co¬
rot , Diaz oder Dan-
big ny geschätzt. Es
war ein Schüler
Isabey’s und steht
unter den Vorkäm¬
pfern des Impres¬
sionismus obenan.
Als Radirer schil¬
derte er gern den
feinenDuftder win¬
terlichen Schnee¬
landschaft seiner
holländischen Hei¬
mat. Ein anderes
seiner Blätter giebt
einen Sonnenunter¬
gang in Antwerpen,
noch ein anderes
die Morgendäm¬
merung in einer
Pariser Straße wieder. Von seinem Werk besitzt
das Kgl. Kupferstichkahinett in Dresden, wo über¬
haupt die moderne Radirung eine sorgsame Pflege
findet, acht Nummern, die, obwohl sie die Jahres¬
zahlen 1861 — 1865, 1875 u. s. w. tragen, also ver¬
hältnismäßig früh entstanden sind, aussehen, wie Ar¬
beiten der neuesten Zeit. Sie sind als Geschenk
des oben genannten Storni van’s Gravesande in das
Empire. Nach einer Originalradirung von Larsson.
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
255
Kabinett gekommen und besitzen einen entschiedenen
kunsthistorischen Wert. ')
y.
Wie der Aufschwung der Malerei in den skan¬
dinavischen Ländern überhaupt erst den neueren
Zeiten angehört, so hat auch die Pflege der Radirung
als selbständiger Kunstzweig dort nur eine ganz
kurze Geschichte. Sie beginnt, genau genommen,
erst im Jahre 1S74, wo Unger aus Wien auf Ein¬
ladung L. Dietrich-
son’s, des Herausge¬
bers der „Tidskrift för
bildande Konst“ nach
Stockholm kam, um
für diese Zeitschrift
Bilder des schwedi¬
schen Nationalmuse¬
ums zu radiren. Unger
war von seinem Schü¬
ler Leopold Loewen-
stam , einen später
nach London überge¬
siedelten Holländer,
und dem Wiener Jo¬
hann Klans begleitet.
Diese Künstler gaben
einer Anzahl ihrer
schwedischen Kolle¬
gen den ersten Un¬
terricht in der bisher
so gut wie unbekann¬
ten Radirkunst und
batten die Freude, für
ihre Bestrebungen re¬
ges Interesse und leb¬
hafte Teilnahme zu
finden.
Seitdem fehlt es
in Schweden nicht
mehr an Originalradirern, die auch außerhalb der
Grenzen ihres Vaterlandes Beachtung verdienen. Zu
den tüchtigsten Vertretern der Radirung in Stock¬
holm gehört der im Jahre 1844 geborene Robert
1) Wir benutzen die Gelegenheit, um nachzutragen, dass
das Dresdener Kabinett gegen dreissig Radirungen und Kalt¬
nadelarbeiten Storm’s sowie eine kleine Zahl seiner Litho¬
graphien besitzt, welch’ letztere die Erstlingswerke des
Künstlers auf diesem Gebiete sind und Motive bei Dord-
recht und Rotterdam oder am Rhein bei Köln und Bonn
behandeln.
Haglund. Wie seine kleine, von uns reproduzirte
Original- Radirung beweist, ist er ein Meister der
Stimmungslandschaft, deren Motive er meist der
wasserreichen Umgebung Stockholms entnimmt. Er
hat zu diesem Zweck die Werke der alten Holländer,
von denen er einzelne nach Bildern des schwedischen
National-Museums reproduzirte, fleißig studirt, gleich¬
zeitig aber auch mehrere gelungene Versuche im
Porträtfache angestellt. Als weitere Probe für die
Leistungsfähigkeit der schwedischen Radirer mag
die reizvolle Kostüm¬
studie: „Empire“ von
dem bekannten Maler
Carl Larsson (geb.
1853) dienen, die
ebenso flott gemacht
wie charakteristisch
für das Zeitalter ist,
das sie veranschau¬
lichen soll. In Axel
Hermann Hägg , ge¬
boren 1835 in Eng¬
land, besitzt Schwe¬
den einen Radirer, der
mit seinen meist dem
Fache der Architektur
angehörenden großen
Blättern als ein Rivale
unseres deutschen
Mannfeld angesehen
werden muss. Bei der
Wahl seiner Vor¬
würfe, die eine unge¬
wöhnliche Mannig¬
faltigkeit aufweisen,
verrät er eine merk¬
würdige Neigung für
BeleuchtungsefFekte,
indem er sich be¬
strebt zeigt, die eigen¬
tümlichen Lichtverhältnisse der von ihm dargestellten
Innenräume oder den Stimmungsgehalt der die Ge¬
bäude umgebenden Naturscenerien in charakteris¬
tischer Auffassung in der Radirung festzuhalten.
Hägg ist sozusagen in der ganzen Welt herumge¬
kommen und hat sich als Architekturradirer einen
europäischen Ruf erworben.
Für viele schwedische Künstler hat Paris als
Kunststadt einen ganz besonderen Reiz. Wir treffen
daher in Paris nicht nur eine Menge schwedischer
Maler, sondern auch eine Anzahl Radirer, die fast
256
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
ausnahmslos der allerneuesten Pariser Strömung an¬
gehören und an Kühnheit, um nicht zu sagen, Keck¬
heit, ihre französischen Kollegen oft noch übertreffen.
Der begabteste dieser Gruppe ist Anders Leonhard
Zorn (geb. 1860). Die Besucher der Münchener Jahres¬
ausstellung 1891 erinnern sich gewiss noch jener
Freilichtstudie des Künstlers, auf der er uns eine
Mutter, die ihr ängstlich im Wasser tappendes Kind
ins Bad bringt, vorführte. Das kleine, im hellsten
Sonnenschein gemalte Bild erregte damals den Un¬
willen aller Anhänger der alten Schule. Wir fürch¬
ten, dass diese Leute nicht weniger ungünstig über
Zorns Radirungen urteilen möchten, wenn sie ihnen
bekannt wären. Denn Zorn scheint allerdings in
ihnen aufs Geratewohl mit großen Nadelrissen zu
kritzeln. In Wahrheit versteht er jedoch bei aller Frei¬
heit seiner Strichführung vorzüglich zu modelliren
und in dem Beschauer diejenige Stimmung, auf die
er ausgeht, mit Energie zu erzeugen. Bisher hat
Zorn namentlich Porträts radirt und die hier bel-
gegebene Nachbildung einer Originalradirung von
seiner Hand scheint uns eine vortreffliche Probe
seiner künstlerischen Eigenart zu sein.
In Norwegen geht die Geschichte der Radirung
bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts
zurück, wo Maler wie Johann Christian Dahl und
später Adolph Tidemand und Siegivald Dahl gelegent¬
lich einige unerhebliche Versuche in dieser Kunst
anstellten. In neuerer Zeit hat Unger’s Beispiel auch
dort wertvolle Anregungen geboten; doch fehlt es
bis heute an Norwegischen Künstlern, deren Arbei¬
ten Anspruch auf Beachtung in weiteren Kreisen
hätten.
Dasselbe gilt von den dänischen Radirern. Sie
sind zwar weit zahlreicher als die norwegischen, haben
aber niemals außerhalb ihrer engeren Heimat von
sich reden gemacht, selbst der so fruchtbare Land¬
schaftsmaler Wilhelm Kyhn nicht und ebensowenig
Carl Heinrich Bloch , als dessen beste Arbeiten die
erst ein Jahr vor seinem Tode im Jahre 1889 vollen¬
deten beiden kleinen Blätter: „Die Grablegung Christi“
und „Christus in Gethsemane“ angeführt werden.
VI.
In Russland hat sich die Radirung trotz ver¬
schiedener verheißungsvoller Anläufe nur schwer
Eingang zu verschaffen gewusst. Im Winter von
1870 auf 1871 wurde in St. Petersburg unter der
Leitung des Staatsrates A. J. Ssomov ein „Verein von
Aquafortisten“ ins Leben gerufen. Er gab zwei Map¬
pen: „Erste Versuche der russischen Aquafortisten“
(1871) und „Album der russischen Aquafortisten“
heraus, musste sich aber zum Teil aus politischen
Gründen schon im Jahre 1873 wieder auflösen. In¬
dessen sind die von ihm ausgegangenen Anregungen
nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen, sondern sie
haben dazu gedient, dass sich in Russland in
neuerer Zeit eine ungeahnte Menge von Künst¬
lern der Beschäftigung mit diesem Kunstzweige zu¬
wandte. Als die bedeutendsten Vertreter der heu¬
tigen russischen Radirkunst kommen vor allen vier
Künstler in Betracht, denen es gelungen ist, auch
im Westen die Aufmerksamkeit der Kunstfreunde
auf sich zu ziehen: N. S. Mossolow, L. J. Dmitrijew-
Kawkasski, V. Al. Bobrow und J. J. Schischkin.
Mossolow, geboren 1847 in Moskau und in Dres¬
den durch Friedrich und G. Planer , später in Paris
durch Flameng ausgebildet, ist schon seit geraumer
Zeit als einer der besten Rembrandt-R&direr bekannt.
Da er aber als pecuniär unabhängiger Mann nicht
genötigt ist, geschäftliche Zwecke zu verfolgen, sind
seine Arbeiten ziemlich selten und nur in wenigen
Exemplaren abgedruckt. Von seinen Originalarbei¬
ten sind nur zwölf Blätter bekannt, zu denen ein
interessantes RembrandC Porträt gehört. Seine repro-
duzirenden Arbeiten findet man hauptsächlich in drei
Hauptwerken vereinigt. Es sind dies folgende: „Les
Rembrandts de l’Ermitage Imperiale de St. Peters-
bourg“ (1872), „Les chefs d’oeuvre de TErmitage
Imperial de St. Petersbourg“ (1872) und „Eaux-fortes
d’apres Rembrandt“ (1876). Mossolow erhielt dafür
in Paris (1877) und in Wien (1878) die goldene Me¬
daille, doch beschränkt sich sein aus mehr als 200
Nummern bestehendes Werk keineswegs auf diese
großen Veröffentlichungen. Er hat außerdem noch
nach modernen Künstlern radirt, sowohl nach rus¬
sischen, als auch nach nichtrussischen.
L. J. Dmitrijew-Kawkasski, der aus dem Kauka¬
sus stammt und heute als Akademiker in St. Peters¬
burg lebt, ist gleichfalls durch seine Beteiligungen
an den großen Ausstellungen im Westen bekannt
geworden. Er hat bereits über 70 Radirungen ge¬
schaffen, unter denen sich eine ganze Anzahl Origi¬
nalarbeiten befinden. Am liebsten wählt er Motive
aus dem Kaukasus, wo ihn namentlich der malerische
Typus der Bewohner interessirt, wie überhaupt die
menschliche Gestalt und das Porträt sein eigentliches
Arbeitsfeld bildet.
Auch V. A. Bobrow pflegt das Porträtfach und
gefällt namentlich in seinen Studienblättern nach
nackten Frauen, die er mit pikanten Reizen auszu¬
statten versteht. Als Leiter der „Expedition zur An-
PART IN G WAYS
(Nach, der Ongmatradirurig Tonllerkomer.]
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
257
Nach einer Originalradirung von Seymour Haden.
fertigung von Staatspapieren“ ist seine Zeit sehr in
Anspruch genommen, doch findet er immer noch
Muße genug, um als Zeichner, Radirer und nament¬
lich als Aquarellist eine fruchtbare künstlerische
Thätigkeit zu entwickeln.
Der fruchtbarste, vielleicht auch der bedeutendste
russische Landschaftsradirer ist Schisehkin. Er ist
im Westen nur wenig bekannt, obwohl sein Werk
schon auf über hundert Nummern angewachsen ist,
unter denen sich dreißig Lithographien befinden.
Seine Specialität ist der Baumschlag, in dessen cha¬
rakteristischer Wiedergabe er überhaupt nur wenig
ebenbürtige Rivalen haben dürfte. Als Maler hat
er keine hervorragenden Leistungen aufzuweisen;
wer aber seine Radirungen kennt, weiß, dass er,
wenn er auch nur in Schwarz und Weiss arbeitet,
die kräftigsten koloristischen Wirkungen hervor¬
zubringen versteht.
Eigentliche Schüler hat der bescheidene und
zurückgezogen lebende Schisclikin nicht gebildet,
während die Zahl der Schüler, die sich um Dmitrijew-
Kawkasslci schaart, ziemlich groß ist. Trotzdem ist
die Lage der Radirer in Russland keine rosige. Sie
haben noch immer mit der von den Verlegern unter¬
stützten Vorliebe des Publikums für französische
Arbeiten zu kämpfen und leiden schwer unter der
Konkurrenz des Buntdrucks und der mittelmäßigen
Ware, mit der die Redaktionen der illustrirten
Zeitungen dem Geschmack ihrer Leser entgegen¬
zukommen suchen. Immerhin sorgt eine Anzahl
reicher Sammler dafür, dass die Jünger der Radir-
kunst Beschäftigung finden, während der Staat be¬
müht ist, die bereits erwähnte „Expedition zur
Anfertigung der Staatspapiere“ zu einem Kunstinstitut
zu erweitern und zu diesem Behufe den in Wien
gebildeten Stecher Gustav Frank nach St. Petersburg
berufen hat.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 10.
VII.
In Amerika konnte die Radirung erst von dem
Augenblick an zu einiger Bedeutung gelangen, als
die dort einheimischen Künstler aufhörten, vorzugs¬
weise ihre Ausbildung in Deutschland und Italien
zu suchen, und sich statt dessen nach Frankreich
wandten, wo der dort herrschende Individualismus
in der Kunst auch sie zur Geltendmachung ihrer
künstlerischen Persönlichkeit führte. Die Anregung
zum Radiren erhielten die Amerikaner durch den
französischen Kunsthändler Cadart von der Pariser
Firma Cadart & Louquet, der im Jahre 1806 nach
Amerika kam und dort nicht nur eine große Ladung
von Radirungen, Platten, Atzgründen und Nadeln
in verhältnismäßig kurzer Zeit absetzte, sondern
auch einzelnen Künstlern Unterricht im Radiren er¬
teilte. Doch darf der von Cadart ausgegangene Ein¬
fluss nicht überschätzt werden. Wichtiger war der
Eindruck, den die Arbeiten des aus Amerika stammen¬
den James Mc. Neill Whistler hinterließen, und das
Beispiel des Engländers Ilenry Farrer , der seit dem
Jahre 1868 energisch für die Radirung thätig war.
Indessen wurde der erste amerikanische Radirclub,
der „New York Etcliing Club“, erst im Jahre 1877
gegründet. Ihm folgte im Jahre 1880 in Phila¬
delphia die „Society of Etchers“ und noch in dem¬
selben Jahre der „Boston Etcliing Club“, und im
Jahre 1882 der „Etcliing Club of Cincinnati“ und
der „ Scratch ers’ Club of Brooklyn“. Dazu kam
noch außerhalb des Gebietes der Vereinigten Staaten
die „Association of Canadian Etchers“ in Toronto.
Es hatte also den Anschein, als ob in Amerika ein
besonders günstiger Boden für die Radirung vor¬
handen wäre. Doch hat mit Ausnahme des New
Yorker Clubs keine dieser Gesellschaften eine größere
Thätigkeit entwickelt, und wenn es auch in den
ersten Jahren in verschiedenen größeren Städten an
34
Nach einer Originalradiruug von H. IIerkomer.
258
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
hochinteressanten Specialaus¬
stellungen nicht fehlte , so ist
gegenwärtig die amerikanische
Radirung bereits wieder im Ab¬
sterben begriffen und die ge¬
nannten Gesellschaften haben
ihre Wirksamkeit so gut wie
eingestellt. Es ist offenbar
eine Uberfüllung und Über¬
sättigung des Publikums mit
Radirungen eingetreten, sodass
der Rückschlag in der allge¬
meinen Teilnahme nur natür¬
lich erscheint, namentlich wenn
man bedenkt, wie raschlebig
gerade die Amerikaner sind.
Diese Thatsache kann uns
jedoch nicht hindern, anzuer¬
kennen, dass die amerikanische
Radirung in der kurzen Zeit
ihrer Blüte eine Reihe köst¬
licher Früchte gezeitigt hat,
die ihren dauernden Wert be¬
haltenwerden. Da die Radirung
eine ganz moderne Erscheinung
für Amerika ist, so ist es natür¬
lich, dass die meisten dortigen
Künstler sich der landschaft¬
lichen Schilderung zugewandt
haben. Mit der menschlichen
Gestalt ausschließlich hat sich
F. S. CKurch beschäftigt, ein
Amerikaner aus dem Westen,
der nie Europa gesehen hat.
Sein Lieblingsgebiet war die
Schilderung phantastischer Er¬
scheinungen und fabelhafter
Wesen, wie sie nach den An¬
schauungen der Dichter das
Meer bevölkern und überhaupt
das Wasser bewohnen. Ghurch
schuf also Wassernymphen,
Meerweiber und Nixen mit
ihrem ganzen Gefolge, und be¬
handelt dieses sein Thema mit
einer Art überlegener Ironie,
die durchaus modern erscheint.
Ebenso selten wie die hervor¬
ragenden Radirer, die amerika¬
nisches Leben behandeln, sind
die Tiermaler, unter denen nur
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
259
Peter Moran in seinen kleineren Blättern etwas von
bleibendem Wert hervorgebracht hat, während seine
riesengroßen, für den Zimmerschmuck bestimmten Plat¬
ten zu sehr verraten, dass sie der Spekulation der
Kunsthändler auf den Ungeschmack des Publikums
ihre Entstehung verdanken. Sein Lieblingsinstrument
ist die Roulette, welche er mit einer Kühnheit hand¬
habt, die nur einem Techniker ersten Ranges gestattet
ist. Um so größer ist, wie eben bemerkt wurde, die
Zahl der amerikanischen Landschaftsradirer. Als
solche müssen R. Swain Gifford, Samuel Colman
und der manchmal ziemlich skizzenhaft verfahrende
Charles H. Miller , einst, wenn wir nicht irren, einer
der frühesten Schüler Adolf Lier’s in München, ge¬
nannt werden. Weit sorgsamer als diese drei ar¬
beitet James D. Smillie, was sich zum Teil daraus
erklärt, dass er vom Stahlstich zur Malerei und zur
Radirung kam. Er beherrscht das ganze Gebiet
des Kupferstiches im weitesten Sinne und hat sowohl
Arbeiten im Weichgrund, Aquatint und Mezzotint,
als auch solche mit der Nadel geliefert. Henry Farrer’s
Radirungen streben in erster Linie einen bildmäßigen
Eindruck an und sollen tonig wirken, was ihnen
meist gelingt, da Farrer sein specielles Gebiet, den
Sonnenuntergang und die Dämmerung, Herbst- und
Winterabende, mit großer Virtuosität beherrscht. §[§
Wie sehr es bei manchen Radirungen auf die
Art und Weise des Druckes ankommt, das ersieht
man aus den Blättern Stephan Parrish’s, der zu den
fleißigsten amerikanischen Radirern gehört, am deut¬
lichsten. Er lässt nämlich vielfach bei der Bear¬
beitung seiner Platten die Luft weg und pflegt dann
ihre Zeichnung durch geschickte Verteilung der
Druckerschwärze zu ersetzen. Charles Platt , der sich
in der Wahl der Motive nicht selten mit Parrish
berührt, liefert geätzte und mittels der trockenen
Nadel hergestellte Blätter von großer Schönheit, die
dem Drucker keine besonderen Schwierigkeiten be¬
reiten, die aber trotzdem einen entschieden farbigen
Eindruck machen und namentlich in Bezug auf die
Wiedergabe der Luft und dqr Lichteffekte gelungen
erscheinen. Joseph Pennell erinnert in der Wahl seiner
Motive an den Franzosen Meryon; denn wie jener
die engen Gassen und Winkel des alten Paris auf¬
suchte, so gewinnt Pennell den schmutzigen und
russigen Arbeitervierteln seiner Vaterstadt Phila¬
delphia die interessantesten Vorwürfe ab und be¬
handelt sie in einer durchaus originellen, von jeder
akademischen Gepflogenheit abweichenden Art.
Bei der großen technischen Geschicklichkeit
der Amerikaner haben sie auch den Versuch ge¬
macht, das schon vor mehr als zweihundert Jahren
von Benedetto Castiglione geübte „Monotyp“ wieder
anzuwenden. Unter „Monotyp“ versteht man „eine
Malerei auf einer blanken Metallplatte, die gewöhn¬
lich in Druckerschwärze mit Ballen, Lappen, Pinsel
und Pinselstielen, wohl auch mit den Fingern oder
einem anderen Instrument ausgeführt und dann ver¬
mittelst der Druckerpresse in gewöhnlicher Weise
auf Papier übertragen wird.“ Natürlich lässt sich
mit einer solchen Platte immer nur ein Druck h er¬
stellen, doch soll es Herkomer vor einigen Jahren
gelungen sein, mit Hilfe eines Assistenten Mittel
und Wege zu finden, von einem Monotyp eine für
wiederholten Abdruck brauchbare Platte herzustellen,
d. h. das Verfahrern zur Vervielfältigung geeignet
zu machen. Da sich nunmehr der Name „Monotyp“
nicht mehr anwenden lässt, hat Herkomer dafür die
Bezeichnung „Spongotyp“ in Vorschlag gebracht,
wobei er wohl an Spongia = Schwamm und an das
Wischen damit dachte. Bekanntlich hat Herkomer
auf diese Weise eine kleine Anzahl vorzüglicher
Arbeiten geliefert, unter denen sein sprechend ähn¬
liches Selbstporträt und das Brustbild eines alten
oberbayrischen Bauers obenanstehen; doch haben
unabhängig von seiner Erfindung die Amerikaner
Wm. M. Chase , Charles H Walker und Peter Moran
diese Technik in mehr oder minder ausgiebiger
Weise gepflegt.
Auch die reproduzirende Radirung ist in Amerika
keineswegs vernachlässigt worden. Indessen lässt
sich von dort kein Künstler nennen, der den besseren
europäischen Meistern, wie Unger, Köpping und Waltner,
ebenbürtig wäre. Die bekanntesten amerikanischen
Radirer dieser Art sind der schon als Originalradirer
genannte James D. Smilie und Stephan Alonxo Sehoff.
Merkwürdiger Weise hat aber der eigentliche Kunst¬
handel gerade für ihre Arbeiten wenig oder kein
Interesse gezeigt.
VIII.
Neben Frankreich ist England dasjenige Land,
in dem sich die moderne Radirung am glänzendsten
entwickelt hat. Dort hatte bereits der große Land¬
schaftsmaler J. M. W. Turner (1775 bis 1851) in der
Zeit von 1807 bis 1819 gegen siebzig Radirungen
angefertigt, zu deren Vollendung er sich noch der
Kunst des Mezzotintostechers bediente. Er wollte da¬
durch ein Seitenstück zu Claude’s „Liber Veritatis“
schaffen, und in der That ist sein „Liber Studiorum“
ein Werk geworden, das die Größe seines Urhebers
im hellsten Lichte erscheinen lässt.
Gleichzeitig mit Turner versuchten sich zwei
34*
260
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
Schotten, Sir David Willäe, der berühmte Genre¬
maler, und Andrew Geddes in der Kunst des Radirens.
Was Geddes in dieser Richtung geschaffen hat, be¬
sitzt noch heute bleibenden Wert; namentlich sind
seine mit der kalten Nadel ausgeführten Blätter, für
welche der Engländer den Ausdruck „dry-point“
anwendet, von hervorragender Schönheit. Das Gleiche
gilt von der ganzen Anzahl Radirungen, die von dem
Aquarellmaler Samuel Dalmer , einem der poetischsten
englischen Landschafter unseres Jahrhunderts, ange¬
fertigt sind.
Die Leistungen aller hier genannten Künstler
werden aber weit überboten durch das, was James
Abhot Mac Neil Whistler geschaffen hat. Im Juli
1831 in Baltimore geboren, ist Whistler nicht nur
eine der interessantesten und bedeutendsten Erschei¬
nungen unter den modernen Malern, sondern auch
einer der hervorragendsten Radirer aller Zeiten, der,
wie Frederik Wedmore sich ausdrückt, „einfach ge¬
schickteste Wildling der Radirung, den die Welt
seit Rembrandt gesehen hat“. Als Schüler von
Gleyre in Paris hat Whistler schon dort und auf
einer Reise nach Elsass-Lothringen seine ersten
Radirungen gearbeitet. Als er im Jahre 1859 nach
London kam, begann er eine Folge von Radirungen
nach Motiven an der Themse. Dabei interessirte
ihn alles, „was an der Themse vor sich geht, „below
bridge“ und an den Ufern : die Barken, Kutter, Fähren,
die Krahne, die Warenhäuser und Werkstätten, der
träge Strom, der flache Horizont mit der fernen
Ein Raucher. Nach einer Originalradirung von Pagliano.
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
261
Nach einer Originalradirnng von R. Haolund.
Krümmung des Flusses, der Thurm von Rotherhithe
Churcli u.s. w.“ Whistler erscheint in diesen Blättern
als ein vorzüglicher Zeichner, der den Hauptwert
auf die reine Linie legt und mit peinlicher Gewissen¬
haftigkeit vorgeht. In späteren Blättern aus der Zeit
von 1863, in der eine seiner schönsten Radirungen
„Amsterdam“ entstanden ist, treten eher malerische
als zeichnerische Qualitäten hervor. Das Höchste aber
bot Whistler in seinen seit dem Jahre 1879 ent¬
standenen Venezianischen Radirungen, in denen man
freilich nicht die weltbekannten schönen Punkte der
Lagunenstadt, sondern die fesselnde Schilderung
seiner persönlichen Eindrücke wiederfindet. Sie
erschienen im Jahre 1886 in beschränkter Auflage
unter dem Titel „The Twenty Six“. Aus dieser Folge
stammt auch das hier beigegebene Blatt „The Bal-
cony“, eine Studie vom Canal Grande, aus der die
Leser einen lebendigen Begriff von der Eigentüm¬
lichkeit des Künstlers empfangen, die die Eng¬
länder treffend als „suggestiveness“ bezeichnen. Im
ganzen zählt das Werk Whistler’s, der in neuester
Zeit nur noch vereinzelte Proben von seiner Kunst
im Radiren gegeben hat, ungefähr 214 Blatt. Seine
Arbeiten sind selten, zum Teil sogar vollständig ver¬
griffen und haben Preise, die für den größten Teil
unserer deutschen Sammler unerschwinglich sind.
Durch Whistler angeregt, griff auch sein Schwie¬
gervater Francis Seymour Heiden, der als Arzt in Eng¬
land einen großen Ruf genießt, im Jahre 1858 wieder
zur Nadel, nachdem er schon früher, in den Jahren
1843 und 1844, einige höchst selten gewordene, aber
wenig bedeutende Zinkplatten mit Ansichten aus
Mittelitalien geschaffen hatte. Heiden ist der Be¬
gründer der „Royal Society of Painter-Etchers“ und
steht, obwohl .er seit mehr als einem Jahrzehnt
dieser seiner Lieblingsbeschäftigung entsagt hat,
bei seinen Landsleuten in großem Ansehen. Wir
bringen als Proben seiner frei skizzirenden Weise, der
doch ein gewisser großer Zug nicht fehlt, zwei kleine
Landschaftsstudien: einen Durchblick auf eine durch
einen Park führende Straße und den Zugang zu einem
von prächtigen alten Bäumen beschatteten Schlosse.
Neben Whistler und Haden genießt Alphonse
Legros in England die meiste Anerkennung. Seiner
Geburt nach Franzose — er kam im Jahre 1837 in
Dijon zur Welt — lebt er seit dem Jahre 1863 in
London, wo er sich namentlich durch seine Bildnis¬
radirungen einen Namen gemacht hat. Sein bestes
Werk ist ein radirtes Porträt von G. F. Watts, dessen
männliche Würde und Schönheit ihn besonders anzog.
Außerdem giebt es von seiner Hand Bildnisse von
Gambetta, von Sir Frederie Leighton und vom Cardinal
Manning. Als Sittenschilderer hat sich Legros
namentlich mit dem Leben und Treiben der Priester
und Mönche beschäftigt und sich hierbei als ein
unerbittlicher Verfechter der Wahrheit erwiesen.
Seine Landschaften sind absichtlich einfach gehalten,
einfacher sogar, als sie in Wirklichkeit Vorkommen,
aber ihr künstlerischer W ert ist trotzdem nicht weg¬
zuleugnen. Auch als Lithograph hat Legros Hoch¬
bedeutendes geleistet und schließlich als Professor
au der Londoner Slade School eine Anzahl tüchtiger
Schüler herangebildet, unter denen William Strang
und Charles Holroyd als die besten anzuführen sind.
Weit populärer als diese und einige andere
Künstler, von denen noch Frank Short, der Meister des
Mezzotinto, C. J. Watson , der Architekturmaler, und
der impressionistisch arbeitende Oliver Hall zu nennen
sind, ist der bereits erwähnte Hubert Herkomer, der,
wie die beiden von uns reproduzirten Landschaften
beweisen, besonders wegen der geschickten Wahl
seiner Gegenstände gefällt, während er in technischer
Beziehung keineswegs obenan steht und überhaupt
als Maler ein weit größerer Meister ist als im Radiren.
262
ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN RADIRUNG.
Endlich ist noch J. James Tissot zu erwähnen, ein
gleichfalls in England naturalisirter Franzose aus
Nantes, dessen Bildercyclus aus der Geschichte des
verlorenen Sohnes auf der Münchener Jahresaus¬
stellung von 1891 Aufsehen erregte. Er hat den¬
selben Gegenstand auch in einer 1882 erschienenen
Folge von Radirungen behandelt und ist vor allem
durch seine fünfzehn pikanten Radirungen aus dem
Pariser Frauenlehen berühmt geworden.
Reproduzirende Radirer von Bedeutung besitzt
England gegenwärtig nicht. Was in dieser Bezieh¬
ung im Kunsthandel vorkommt, ist meistens aus dem
Ausland bezogen, und wir haben schon darauf hin¬
gewiesen, dass namentlich französische Radirer, z. B.
Waltner und Chauvel , in England viel lohnende Be¬
schäftigung finden.
IX.
In Italien, dem klassischen Lande der großen
historischen Kunst, hängt das späte Aufblühen der
Radirung mit dem späten Erwachen der modernen
Malerei zusammen. Die ersten Radirungen erschie¬
nen dort in der von dem Verleger Pomba in Turin
seit dem Jahre 1869 herausgegebenen Zeitschrift:
„L'Arte in Italia“. Die Künstler, die sich an diesem
Unternehmen, dem freilich eine nur kurze Lebens¬
dauer beschieden war, beteiligten, waren Piemontesen
und begnügten sich in der Hauptsache damit, ihre eige¬
nen Bilder oder noch häufiger diejenigen anderer
Maler zu reproduziren. Der bedeutendste unter ihnen
ist Eleuterio Pagliano, dessen hier in einer Nachbil¬
dung beigegebenes Blatt: „II Fumatore“, eine sitzende
Figur in der Tracht des vorigen Jahrhunderts, als
das Werk eines mit der Technik der Ätzkunst in
hohem Maße vertrauten Radirers erscheint, ein Ur¬
teil, das durch einen Blick auf seine „Arpista“ (Har¬
fenistin) bestätigt wird.
W eit fruchtbarer als Pagliano ist Celestino Turldti.
Er arbeitet nur nach fremden Vorlagen und hat in
seinem Blatte nach Velazquez’ Doria sein Bestes ge¬
geben. Unter Alberto Maro Gilli’ s Arbeiten, deren
erste das Datum 1863 trägt, und die er in einem
Album von etwa dreißig Radirungen vereinigt hat,
ist als eine seiner jüngsten Schöpfungen das Porträt
der Königin Margherita von Italien hervorzuheben.
Als Kniestück in etwa zwei Drittel Lebensgröße her¬
gestellt, ist es eine der umfänglichsten Radirungen,
die überhaupt je angefertigt worden sind. Gilli be¬
sitzt eine Vorliebe für phantastische Originalkompo¬
sitionen und hat deshalb das beliebte Thema der
..Versuchung des Heiligen Antonius“ in einer Origi-
nalradiruug behandelt. Obwohl nicht so packend wie
Domenico Morelix s gleichzeitiges Bild, das denselben
Gegenstand behandelt, ist dieses Blatt wegen seiner
selbständigen Auffassung nicht ohne Reiz und in
seiner Verbindung von schwarzen und kupferroten
Tönen auch technisch von fesselnder Wirkung. Gilli
wohnt gegenwärtig in Rom, avo er Leiter der „Regia
Calcografia Rornana“ ist. In Rom leben ferner eine
ganze Anzahl Radirer, z. B. der an Virtuosität mit
Fortuny wetteifernde Piccini , doch hat bis jetzt keiner
von ihnen einen über die Grenzen Italiens hinaus¬
ragenden Ruhm gewonnen. Eher ließe sich das von dem
einsamen Paolo Michetti in Francavilla a Mare be¬
haupten. Die Frische der Auffassung und die Leucht¬
kraft seiner Farben, die seine Genrebilder auf der
Internationalen Kunstausstellung in Berlin im Jahre
1891 auszeichnete, tritt uns auch in seinen wenigen
Radirungen entgegen, die er nicht berufsmäßig, son¬
dern zum Zeitvertreib anzufertigen pflegt. Außer¬
dem giebt es noch eine Menge italienischer Maler,
die sich gelegentlich in der Radirung mit Erfolg ver¬
sucht haben. Da aber keiner von ihnen eine größere
Anzahl von Arbeiten dieser Art aufzuweisen hat,
müssen wir es uns versagen, ihre Namen hier be¬
sonders anzuführen. —
Spanien besitzt in Goya eine der glänzendsten
Erscheinungen, von denen überhaupt in der Geschichte
der Radirung zu reden ist. Aber so verheißungsvoll
sein Auftreten war, so sehr blieb es auch ver¬
einzelt. Nach seinem Tode blieb die Radirung in
Spanien ganz ohne Pflege, und erst in der Zeit von
1840 bis 1845 nahm der Maler Leonardo Alenza , der
für Goya schwärmte, dessen Bestrebungen wieder auf.
Da er aber Aveder einen Verleger noch Käufer fand,
so blieben seine Arbeiten bis zum Jahre 1864 un¬
bekannt, wo sich die Redaktion der Zeitschrift „El
Arte en Espana“ entschloss, wenigstens zwei Proben
seiner Kunst zu veröffentlichen. Derselben Zeit¬
schrift, die sich bis zum Jahre 1891 hielt, verdanken
wir die Bekanntschaft der wenigen Radirungen, die
in dieser langen Zeit in Spanien entstanden sind.
Keiner ihrer Urheber ist aber über Spanien hinaus
berühmt geworden. Nur einem war das Glück günstig:
Mariano Fortuny, dessen Radirwerk, zum Teil erst
nach seinem Tode in Paris veröffentlicht, dieselbe ver¬
blüffende Geschicklichkeit verrät, wie seine weit be¬
kannteren Aquarelle und Ölbilder. Unter den gegen-
Avärtig lebenden spanischen Radirern ist der in Paris
wirkende Ricardo de los Rios der tüchtigste.
Welches wird nun, so fragen wir am Schluss
dieser Übersicht, — die ja weiter nichts bieten will als
eine allgemeine Orientirung über die hervorragendsten
EIN DENKMÄLER -ARCHIV.
263
Erscheinungen der modernen Radirung, — welches wird
das Schicksal dieses Kunstzweiges in Zukunft sein?
Wird auch die Radirung demselben Lose verfallen
wie der Kupferstich und durch die von Jahr zu Jahr
wachsende Vervollkommnung der mechanischen Ver¬
fahren gänzlich verdrängt werden? Wir wissen es
nicht, aber wir glauben vorläufig nicht an einen
solchen Ausgang. Unter allen vervielfältigenden
Künsten ist die Radirung diejenige, die der persön¬
lichen Empfindung des Künstlers den freiesten Spiel¬
raum lässt und Wirkungen ermöglicht, die durch
keine andere Technik erreicht werden können. So
lange also die Radirung von Künstlern geübt wird,
die etwas zu sagen haben und etwas zu sagen wissen,
braucht niemand um das Schicksal dieses Kunst¬
zweiges besorgt zu sein.
EIN DENKMÄLER- ARCHIV.
N einer vom Königlichen Kunstgewerbe-Museum
zu Berlin veranstalteten Sonder -Ausstellung
von Kopien mittelalterlicher Wand- und Glas¬
malereien begegneten wir einer Sammlung von technisch
vollendeten photographischen Aufnahmen alter Wand¬
malereien, die offenbar nicht zu diesem Zweck besonders
aufgenommen, sondern aus einem größeren Bestände von
Architektur-Aufnahmen ausgesucht und hier zur Unterstüt¬
zung des verdienstlichen Unternehmens ausgestellt waren.
Die beigegebenen Erläuterungen machten uns mit
einer Einrichtung bekannt, welche die allergrößte Auf¬
merksamkeit der ge¬
samten , mit Aus¬
schmückung von Ar¬
chitekturwerken im
weitesten Sinne beru¬
fenen Künstler scliaft
auf sich ziehen muss.
Es ist die im Preußi¬
schen Kultusministe¬
rium ins Werk gesetzte
Aufnahme aller wich¬
tigeren alten Bauwerke
mit ihrem gesamten
Inhalte an kleineren
Kunstwerken und Aus¬
schmückungen nach dem
Messbild- Verfahren, ge¬
wissermaßen die Fest¬
legung der Bauwerke
in ihrem heutigen Zu¬
stande , zum Nutzen
und Frommen der Nach¬
welt.
Das in diesen
wenigen Worten be-
zeichnete Unternehmen
fasst alle vorausge¬
gangenen Bestrebungen
der Wiedergabe von
Bau- und Kunstwerken
Eine Messbildaufnahme.
Autotypie von C. G. Röder in Leipzig.
der Vergangenheit, an denen zu lernen und sich weiter¬
zubilden nun doch einmal die Aufgabe der Gegenwart und
Zukunft sein und bleiben wird, in einer einfachen und zeit¬
gemäßen Weise zusammen. Man muss sich wundern,
dass der Gedanke erst jetzt zum öffentlichen Ausdruck
gelangt und dass die bereits seit einem vollen Jahrzehnt
durch das preußische Kultusministerium getroffene prak¬
tische Ansführung so langeunbeachtet bleiben konnte. J etzt
steht uns die Einrichtung in ihrer ganzen Vollkommen¬
heit vor Augen. Dass die Photographie eine vollständige
Umwälzung in der Auffassung des künstlerischen Lern¬
stoffes der vorange¬
gangenen Zeiten her¬
vorgebracht hat, wissen
wir alle. Wer wird
heute noch nach den
Nachbildungen der Ori¬
ginale in Stich und
Zeichnung, seien sie
auch von noch so ge¬
übter Hand hervorge¬
bracht, studiren und
üben wollen? Die dicken
Mappen von Photogra¬
phien oft fragwürdig¬
ster Güte bei jedem
schaffenden Künstler
beweisen uns den Um¬
schwung. Die früheren
kostbaren Kupferwerke
der Bibliotheken haben
nur noch insofern einen
Wert, als man in ihnen
Zusammenstellungen
von Werken eines be¬
sonderen Kunstzweckes
oder einer Kunstperiode
findet, die in Photo¬
graphien schwer zu
schaffen sind. Vergleiche
mit letzteren öffnen uns
264
EIN DENKMÄLER- ARCHIV.
erst die Augen, wie sehr unser gesamtes kunstge-
sclnchtliclies Urteil durch individuelle Darstellung min¬
destens beeinflusst, häufig aber auch irre geleitet ist.
Dies gilt ganz gleichmäßig von allen Werken der
Kunst, sei es Baukunst, Bildhauerei oder Malerei. Wenn
auch bei den beiden letzteren der Maßstab und die
Verhältnisse, soweit sie erforderlich sind, in der Regel
durch direktes Messen leicht festzustellen sind, so ist
abgeschrieben , höchstens durch Skizzen an Ort und
Stelle ergänzt sind. Ein drastisches Beispiel dieser Art
sind die Zeichnungen nach Hübsch und Isabelle vom
Grabmal des Theodorich in Ravenna, bekanntlich einer
Musterschöpfung aus der Wende der alten in die neuere
Kunst. Hier zeigen die beiden genannten Original-Auf¬
nahmen gleichmäßig den Abstand zwischen dem Kämpfer¬
gesims der unteren Bogennischen vom Fußboden des
Tempel der Athena Nike in Athen. Autotypie von Weinwurm & Hafner in Stuttgart.
die Sache Lei der Baukunst doch eine andere. Von der
Schwierigkeit, ein Bauwerk richtig aufzumessen und zu
zeichnen, haben die wenigsten eine Ahnung und noch
weniger von der Thatsache, dass in den meisten älteren
Darstellungen von Grund- und Aufrissen sich grobe
Felder durch ganze Reihen von Werken aus dem ein¬
fachen Grunde bis in die Gegenwart hineinziehen, weil
sich die wenigsten solcher Darstellungen auf Original-
Messungen stützen, und einfach von älteren Aufnahmen
Umganges um ca. 1 m zu klein, die anderen Maße sind
annähernd richtig. Der Fehler, d. h. die Fälschung der
Verhältnisse fällt sofort beim Vergleich der Zeichnungen
mit der schlech testen Photographie auf. So sehen wir,
dass unser älteres kunstgeschichtliches Bildmaterial nicht
nur individuell gefärbt, sondern auch in den wichtig¬
sten Grundlagen, den Maßen und Verhältnissen mit
Fehlern behaftet ist. Schon manchem mag diese That¬
sache bekannt gewesen sein; eingestanden wurde sie
EIN DENKMÄLER-ARCHIV.
265
Römisches Denkmal in Igel bei Trier. Autotypie von Weinwurm & Hafner in Stuttgart.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 10.
selten und vom Hersteller
einer Original- Aufnahme erst
recht nicht.
Jetzt besitzen wir in
dem Messbild - Verfahren
(Photogrammetrie) ein Mit¬
tel, welches nicht nur vor
falschen Auffassungen, son¬
dern auch vor Maßfehlern
bewahrt. Es besteht in einer
eigentümlichen , geometrisch
begründeten Umkehrung der
gewöhnlichen Perspektiv¬
lehre, erfordert in seiner An¬
wendung keineswegs hohe
Gelehrsamkeit und setzt
außer ein paar Grundmes¬
sungen nur photographische
Bilder voraus, die der ma¬
thematischen Grundlage der
gewöhnlichen Perspektive
entsprechen. Die käuflichen
photographischen Bilder, auch
die besten, thun dies niemals,
und darum ist die Messbild¬
kunst an eine Anstalt ge¬
bunden, die einer wissen¬
schaftlichen Leitung nicht
entbehren kann und nicht
eher ins Leben treten konnte,
bis der Staat sich ihrer an¬
nahm.
Den mathematischen
Grundgedanken, aus richtig
gezeichneten perspekti¬
vischen Ansichten, in erster
Linie von landschaftlichen
Bildern, geometrische Pläne
aufzutragen, hat schon Lam¬
bert in Straßburg (f 1772)
ausgesprochen und der Fran¬
zose Beautemps-Beauprel 835
praktisch ausgeführt.
Das photographische
Bild ist zur Erzeugung einer
richtigen Perspektive nur
sehr nützlich und bequem,
keineswegs aber notwendig.
Es rückt die Möglichkeit der
Herstellung eines perspek¬
tivischen Bildes, die sonst
immer nur wenigen Anser¬
wählten zugänglich bleibt, in
den Bereich eiues jeden, der
die geometrischen Grund-
35
EIN DENKMÄLER- ARCHIV.
2G6
lagen der Perspektive und nebenbei auch die praktische
Photographie beherrscht.
Das haben der Franzose Laussedat und der Italiener
Porro zuerst begriffen und Versuche damit gemacht, aber
beide auf dem anscheinend der Sache zunächstliegenden
Gebiete der Terrain-Aufnahme. Im Jahre 1858 kam
der damalige Bauführer Meydenbauer bei der Aufnahme
des Domes in Wetzlar ganz selbständig auf den Ge¬
danken, das mühsame und gefahrvolle Messen durch Aus¬
tragen der Maße aus dem photographischen Bilde zu er¬
setzen, und er vervollkommnete zunächst den photo¬
graphischen Apparat dahin, dass den geometrischen
Grundlagen auch für die Architektur entsprochen wurde.
Meydenbauer sah auch bald, dass trotz vieler Hoffnungen
die Photogrammetrie nur im Hochgebirge bei Terrain-
Aufnahmen von wirklichem Nutzen ist, wie auch jetzt
die Erfahrung bestätigt hat, und wandte sich ausschlie߬
lich der Kunst zu, in der Absicht, dem oben berührten
Mangel unseres kunstgeschichtlichen Studienmaterials
abzuhelfen. Eine glückliche Fügung machte den da¬
maligen Kultusminister v. Gossler auf Meydenbauer’s bis
dahin aus eigenen Mitteln geführte Arbeiten aufmerksam.
Erst zu dem Zweck, die Brauchbarkeit der Photogram¬
metrie für Denkmäler- Aufnahmen zu erproben, wurden die
Einrichtungen unter Meydenbauer’s Leitung getroffen.
Jetzt, nachdem die Probe längst bestanden und ganz
unter der Hand ein ansehnlicher Grundstock von ca.
3600 Negativen von 240 Bauwerken für ein preußisches
Denkmäler- Archiv entstanden ist, verhindert leider fort¬
gesetzt die Ungunst der Zeiten eine weitere Ausdehnung
der Anstalt. Es handelt sich jetzt, nachdem die tech¬
nischen Schwierigkeiten überwunden sind, darum, mit
möglichster Schnelligkeit unsere Baudenkmäler mit allem,
was damit zusammenhängt, gleichsam in den sicheren
Hafen zu bringen; denn „die Toten reiten schnell“, Wind
und Wetter und die mehr oder minder verständnisvollen
„Wiederherstellungsbauten“ räumen in dem alten Be¬
stände furchtbar auf. Nach hundert Jahren werden
unsere Nachkommen manchmal besorgt jedes Blättchen
umwenden, um zu erfahren, was ist denn früher da-
gewesen und wie sali es mit diesem oder jenem Bauteil
aus. Ein Denkmäler-Arcliiv, wie es bis jetzt bloß
in Berlin in der alten Schinkel’schen Bauakademie
exisfirt, ist der einzige Ausweg, der fortschreitenden
Verarmung unserer alten Baudenkmäler, die kein Gold
und kein Konserviren aufzuhalten vermag, wenigstens in
Bild und Zeichnung entgegenzuarbeiten. Beide, Bild
und Zeichnung, müssen und können getrennt werden.
Sind erst die Bilder mit den zugehörigen Grund¬
messungen dem Denkmäler-Arcliiv einverleibt, so kann
die Zeichnung mit einer die Grenze der Darstellbarkeit
erreichenden Genauigkeit jederzeit später nachgeholt
werden. Das Wort erscheint nicht übertrieben, dass ein
später vom Erdboden verschwundenes Bauwerk auf solche
Weise in seinem jetzigen Zustande wieder hergestellt
werden kann. Es stehen uns Verluste bevor, die nicht bloß
ein einzelnes Land angehen, sondern von internationaler
Bedeutung sind. Erst in diesen Tagen ist uns eindringlich
klar gemacht worden, dass, wo einmal Erdbeben sich be-
merklicli gemacht hat, Wiederholungen ziemlich sicher
in Aussicht stehen. Die meisten griechischen Terapel-
ruinen zeigen Einwirkungen von Erdbeben und dass es
mit der Pracht der Akropolis sehr bedenklich steht, hat
Professor Durm wohl deutlich genug gesagt. Noch ein
solches Zucken wie jetzt in Laibach, und die Nachwelt
kann sich an die Bilderchen halten, die jetzt im Handel
zu haben sind.
Nicht besser steht es mit der Hagia Sophia in
Konstantinopel.
Wir erinnern an die Spuren altchristlicher Malereien
in den Gruftkirchen und Katakomben, die kulturhisto¬
rischen Schildereien in den Gräbern und Tempeln Ägyptens,
zu deren Vernichtung jetzt jeder Besucher durch seine
Fackel beiträgt.
Bei diesen Werken von weltgeschichtlicher Bedeutung
ist also für die Festlegung in Bild und Maß kaum noch
ein Aufschub zulässig.
Alle technischen Vorbedingungen dieses Zweckes:
Deutlichkeit und Dauerhaftigkeit der Negative und
Kopien, ausgiebige Benutzung von künstlichem Licht in
Innenräumen, die dem Tageslicht absolut unzugänglich
sind, Sicherheit im Aufträgen der Zeichnungen und nicht
zuletzt Berücksichtigung der künstlerischen Auffassung,
erscheinen in den bisherigen Leistungen des Denkmäler-
Archivs gelöst. Speciell in Bezug auf die künstlerische
Auffassung findet sich bei jedem Gegenstände, bei dem
Wahl des Standpunktes und der Beleuchtung eine solche
überhaupt zulässt, diese auch gewahrt, und darum ist
unter der großen Zahl der Bilder eine ganze Reihe, die
neben ihrer Eigenschaft als Messbilder noch die als
Kunstblätter aufweist. Wir wollen hier nicht den alten
Streit, ob die Photographie eine Kunst sei, anrühren oder
gar entscheiden, sondern nur bestätigen, das Photo¬
graphien auch Kunstleistungen sein können. Die Ne¬
gative von 40:40 cm Seitenlänge, die das Denkmäler-
Arcliiv einer weiteren Behandlung in Vergrößerung bis
zu 1,20 m Seite unterwirft, verdienen diese Bezeichnung
mit vollem Recht. Es wäre sonst nicht erklärlich, dass
diese auf photographischem Wege entstandenen Bilder
(speziell die Domkanzel in Trier, bekannt durch ihren
reichen Figuren -Schmuck) auf der Berliner Kunstaus¬
stellung im Jahre 1892 mit der kleinen goldenen
Medaille ausgezeichnet worden sind. Der Vorzug dieser
Vergrößerungen wahrer Schaubilder liegt, neben der
Auffassung in den perspektivischen Linien und dem Licht¬
effekte, in ihrem prachtvollen samtschwarzen Ton in den
Tiefen und dem klaren Silbergrau der Schatten, während
die spätere Hineinzeichnung der Tiefen in die gewöhn¬
lichen marktgängigen Vergrößerungen dieselben jedes
Kunstwertes beraubt, wenn sie vorher ihn noch besessen
EIN DENKMÄLER -ARCHIV.
267
haben könnten. Es ist geradezu merkwürdig, was eine
Vergrößerung aus dem ursprünglichen photographischen
Bilde herausbringt. Die Photographien des Handels und
der Amateure sind sämtlich mit zu kleiner Brennweite
hergestellt. Erst bei einer Brennweite, welche der na¬
türlichen Sehweite 25 — 30 cm gleichkommt, erscheinen
die Bilder in natürlichen Verhältnissen. Die Vergröße¬
rungen bringen Erfüllung dieser Bedingung und wir
können namentlich den Künstlern, welche ihre Studien
Künstler sie seinem Skizzenbuche einzuverleiben pflegt,
alle Profile und Details zur Nachbildung verständlich.
Der langsame Fortschritt in der Aufnahme des
Materials ist in hohem Grade bedauerlich. Was sollen
3600 Aufnahmen von 240 Bauwerken in dem Zeitraum
von 10 Jahren bedeuten gegenüber dem großen, wenn
auch keineswegs unübersehbaren Rest?
Das von der Anstalt herausgegebene Verzeichnis
(durch Bestellung bei der Königlichen Meßbild Anstalt
Krypta der Schlosskirche in Quedlinburg. Autotypie von C. G. Röder in Leipzig.
mit der Camera machen, nur raten, die Kopien in Ver¬
größerungen hersteilen zu lassen; sie werden ungleich
mehr Freude an ihren Erzeugnissen haben und für ihre
Zwecke mehr herausholen können.
In den Schaubildern der Meßbild- Anstalt erscheinen
alle den Raum schmückenden Kunstgegenstände, als
Gitter, Grabmäler, Wand- und Hängeleuchter, Gestiihle,
Altäre, Malereien, in der ihnen zuteil gewordenen Auf¬
stellung und Beleuchtung in einem Maßstabe, wie der
in Berlin W., Schinkelplatz 6 direkt erhältlich) weist die
bis jetzt vorhandenen Bestände nach. Wenn statt der
240 Bauwerke mit allem ihren reichen Inhalt deren
1000 vorhanden und in den Sammelbänden, wie Akten
eines Scliriftenarchivs, zugänglich gemacht sind, werden
Architekten, Bildhauer, Maler, Kunstschmiede und Tisch¬
ler ein Material beisammen finden, das zu beschaffen
Zeit und Mitteln des Einzelnen unmöglich ist und dessen
Fehlen nur darum bis jetzt nicht bemerkt wurde, weil
35 *
268
EIN DENK MALER -ARCHIV.
erst die Meßbildkimst die technische Möglichkeit inner¬
halb vernünftiger Grenzen dazu herstellte.
Der Nutzen des Denkmäler- Archivs wird sich neben
der eigentlichen Bestimmung desselben nach folgenden
Richtungen geltend machen.
Die erste, praktisch von der höchsten Bedeutung,
hat zunächst den Anstoß zur Errichtung überhaupt ge¬
geben und besteht in dem Aufträgen von zuverlässig
richtigen Zeichnungen derjenigen Bauten, welche einer
Maßen bequemer und sicherer als das Messen an Ort
und Stelle in unzugänglichen Höhen, und die außer¬
ordentlich feinen Bilder zeigen den baulichen Zustand
ebenso wie ein guter Feldstecher am Ort selbst. Nicht
zu unterschätzen ist die leichte Verständigung zwischen
den einzelnen Organen der Verwaltung und den berufenen
Sachverständigen, meist Künstlern von Ruf, an der Hand
der photographischen Kopien.
Die zweite Aufgabe des Denkmäler- Archivs ist die
Inneres (1er Kirche /.u Schwarzrheindorf bei Bonn. Autotypie von C. Siebe & Co. in Leipzig.
Instandsetzung oder Ergänzung oder Umänderung unter¬
worfen werden sollen. Der bisherigen Unsicherheit über
den möglichen Umfang solcher Arbeiten wird dadurch
ein für alle Mal ein Ende gemacht, ja man kann sagen,
dass viele Ergänzungsbauten dadurch erst in den Bereich
der Möglichkeit gerückt worden sind. Die Verwaltung
muss vor Beginn eines solchen Baues wissen, wie weit
sieh die Arbeiten erstrecken, welcher Natur sie sein
werden und welche Mittel bereit gestellt werden müssen.
Die Meßbildzeichnungen gestatten das Abgreifen von
Sammlung des kunstgeschichtlichen Materials, soweit
dies heute noch zu beschatfen ist und wie es in einigen
Jahren nicht mehr zu beschaffen sein wird. Es ist im
höchsten Grade bedauerlich, dass nicht schneller mit den
Aufnahmen vorgegangen wird und diese Unterlassung ist
um so schwerer zu entschuldigen, als die Anforderungen
der Anstalt nur eine absehbare Zeit lang höherer Mittel
bedürfen, dann aber in einer sehr einfachen Erhaltung
auslaufen, die der Verwaltung unserer Schriftenarchive
durchaus analog ist. Ebenso wie hier können dann
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
269
Historiker ihren Untersuchungen obliegen und teststellen,
was in dem bis jetzt allein benutzten Urkundenmaterial
richtig und was falsch ist.
Die dritte Anwendung fällt den Künstlern aller
Gattungen anheim. Mancher erinnert sich, da und dort
ein Werk gesehen zu haben, von dem ein Bild oder eine
Zeichnung ihm augenblicklich von großem Wert und
Nutzen sein würde. Im Handel ist das Werk häufig
niemals reproduzirt worden, Mangel an Zeit oder sonstige
Verhältnisse haben nur eine flüchtige oder unzureichende
oder gar keine Skizze zugelassen. Im Denkmäler-Archiv
findet er den Gegenstand sicher in einer Darstellung,
die den meisten Zwecken genügt, in der Eegel sogar
Zeichnen nach Maßen gestattet. Da findet sich beispielsweise
der in reichem plastischen Schmuck gehaltene Taufstein
in einer Seitenkapelle des Domes in Freiburg i. Br.,
ebenso wie die bekannten frühmittelalterlichen Figuren
in Naumburg a. S. und im Dom zu Magdeburg, und das
Kunstgitter in der Paulinkirche in Trier. Wo irgend
ein malerisches Städtebild sich noch vorfindet, kann man
sicher sein, es im Denkmäler-Archiv anzutreffen und,
wenn die Organisation erst abgeschlossen sein wird,
gegen mäßigen Preis auch erwerben zu können.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Denkmäler-
Archiv des Preußischen Kultusministeriums in anderen
Staaten, in denen sich Reste der Kunstübung ver¬
gangener Zeiten erhalten haben, Nachahmung finden muss,
sollen diese Staaten sich nicht einer schweren Unter¬
lassungssünde schuldig machen.
Die nützlichen Einwirkungen werden sich auf allen
Gebieten einstellen, in denen Kenntnis und Verständ¬
nis für die Werke unserer Vorfahren zur Geltung
kommen. p~
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
VON TU. P. TUCKERMANN.
MIT ABBILDUNGEN.
ER die Ausstellungen der Kunst¬
vereine oder der Kunstakade¬
mien vor dem Jahre 1870
in ihrer dürftigen Ausstattung
vergleicht mit dem gefälligen
Aufbau und der reichen Deko¬
ration in der heutigen Zeit,
findet sicherlich einen Fort¬
schritt. Das Gleiche gilt auch
von der eingehenderen Würdigung der Frage, wie die
Aufstellung der Ausstellungswerke aus dem Gebiete der
Malerei und Plastik zu fördern sei. Wo Museums Ver¬
waltungen in der Lage waren, durch Neubauten oder
Umbauten ihrer Ausstellungslokalitäten dieser Frage
näher zu treten, haben sie durch mancherlei Neuerungen
anregend gewirkt. Trotzdem ist jedoch die Frage der
Aufstellung eines plastischen Kunstwerkes noch immer
zu wenig beachtet, die hierin geltend zu machenden
Prinzipien werden selbst von den ausübenden Künstlern
vielfach verletzt, namentlich soweit dieselben die harmo¬
nische Gesamtwirkung betreffen, welche durch die Auf¬
stellung des statuarischen Werkes auf seinem Sockel zu
erzielen ist. Aber nicht allein das Streben nach einem
gesteigerten Reichtum, sondern auch die streng kritische
Richtung der heutigen Zeit drängt naturgemäß dazu, auf
diesem Wege weiter zu Schreiten und unter Befreiung
von den vergänglichen oder bloß in der Tradition be¬
gründeten Anschauungen hierin planmäßig ein festes Ziel
ins Auge zu fassen.
Dies ist um so leichter zu bezeichnen, als in den
Grundgesetzen des Bildens die drei Schwesterkünste,
Architektur, Plastik und Malerei Zusammenhängen. So¬
lange die beiden letzteren im Gefolge der Architektur
auftreten und sich dem großen Bauplane unterordnen,
sind sie vor groben Verirrungen in den Mitteln, welche
durch die Aufstellung den Effekt bedingen, leichter be¬
hütet, wenngleich die Bedingung, sich in den ihnen zu¬
gewiesenen Rahmen einzuordnen, ihrer Wirkung mancher¬
lei Beschränkungen auferlegt und eine ungehemmte Ent¬
faltung ihrer Eigenart verbietet.
Schafft aber der Maler und Bildhauer, losgelöst vom
Architekten, seine Werke für einen noch unbestimmten
Verwendungsort, für einen noch unbekannten, noch zu
erwartenden Liebhaber oder Käufer, so treten für den
Effekt seiner Arbeit in der Aufstellung vielerlei Gefahren
in den Vordergrund. Wie die Verhältnisse nun einmal
thatsächlich liegen, beschäftigen solche Staffeleibilder,
oder solche frei werbenden Ausstellungs-Bildwerke den
Maler und Bildhauer zumeist, weshalb die Frage besonderes
Interesse verdient, durch welche Mittel diesen Gefahren
vorzubeugen sei.
Bei dem Bildhauer ist die Frage hauptsächlich zu
stellen nach der Formenbildung des Sockels für sein
statuarisches Werk, und dies um so mehr, selbst bis zu
270
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
einer den ganzen Umfang der bildhauerischen Thätig-
keit durchdringenden Wichtigkeit, als der Ausspruch
Vischers durchaus zutreffend ist, dass durch die dem
Bildwerke verliehene eigene Basis das organische Einzel¬
leben, welches der Bildhauer zur Darstellung bringen
will, aus dem Weltverbande herauslöst, zum Gegenstände
isolirter Betrachtung wird. Somit gilt für den Bild¬
hauer der Grundsatz, dass der Sockel eines statuarischen
Werkes einen integrirenden Teil seiner Komposition
bildet.
Die ganze Natur seiner Arbeits-Eigenart rächt daher
einen Fehler nach dieser Richtung weitaus schwerer, da
eine Veränderung an den zur Verwendung kommenden
teuren und edlen Mate¬
rialien nicht so leicht ist,
jedenfalls schwerer als
bei einem Maler einen
Fehler in der Wahl des
Bilderrahmens. In den
Abhandlungen über die
Plastik oder in den die
Geschichte der Bildhaue¬
rei behandelnden Werken
ist der Aufstellung von
Standbildern auf ihren
Sockeln nirgends eine
eingehende Behandlung
zu teil geworden. Es
scheint den Autoren ge¬
wissermaßen selbstver¬
ständlich zu sein, dass
ein Standbild größeren
oder kleineren Umfanges
auf einen entsprechenden
Untersatz, Sockel, Unter¬
bau, Piedestal oder Basis
gesetzt werde, für deren
Formen herkömmliche
Muster vorhanden wären,
entnommen den land¬
läufig bekannten architektonischen Profilen. Überdies
schienen diese Formen schon zum Beginn der italienischen
Renaissancezeit typisch festgesetzt zu sein, da man den
großen Schatz gefundener statuarischer Werke des Alter¬
tums gegen Beschädigung sicherte und zur besseren
Würdigung ihrer Schönheit auf Sockelstücke aufstellte.
Wiederum boten sich hierfür reichlich vorhandene antike
Fundstücke dar, sockelartige Architekturblöcke, Grab¬
steine, Altäre, Pfeiler, Kandelaberbasen etc., durch deren
passende Umgestaltung immerhin Verhältnisse geschaffen
wurden, welche die Freude und Befriedigung aller Be¬
sucher jener großen Sammlungen in Rom, Neapel, Florenz
etc., hervorriefen und zu einer Nachfolge in diesen Kom¬
positionen von Sockel und Bildwerk reichlich Veran¬
lassung geboten haben.
Doch darf man nicht außer Augen lassen, dass diese
ersten Museumsaufstellungen immerhin nur einen Not¬
behelf darstellten, dass dagegen, wenn, wie vorhin gesagt
ward, der Sockel einen integrirenden Teil der Bildwerks¬
komposition ausmacht, auch ein Zusammenfassen aller
die Verbindung dieser beiden Teile bedingenden Verhält¬
nisse erforderlich ist, somit ästhetische Gesetze zu be¬
folgen sind, deren Untersuchung im Nachstehenden erfolgt,
nicht sowohl um den Künstler zu Kunstgedanken pro¬
duktiv anzuregen, als vielmehr um die gebührende Wich¬
tigkeit dieses Teils der Gesamtkoraposition hervorzuheben.
Auch von der Seite des geschätzten Ästhetikers Carricre
sind hierüber kritische Aussprüche zerstreut vorhanden,
welche nachstehend an¬
geführt werden sollen.
„Die Statue — sagt
Carriere — wird als eine
Welt für sich aus der
gewöhnlichen Umgebung
entrückt und auf eine
eigene Basis gestellt.
Mag dieses Piedestal nun
mit Reliefs geschmückt
sein, welche die Tliaten
und die Eigenschaften
des in der Gestalt aus¬
gedrückten Wesens und
Charakters historisch
oder symbolisch enthal¬
ten, immer muss der
Eindruck der Statue der
herrschende bleiben, weil
sonst die Einheit ver¬
loren geht, oder die
Hauptsache selbst um des
Beiwerks willen da zu
sein schiene. Die Basis
des olympischen Zeus
erstattete der Höhe wie¬
der, was diese durch das
Sitzen des Gottes verlor. Er hätte aufstehen und von
der Basis wie von einer hohen Stufe hinabsteigen
können, sie stand im Verhältnis zu seiner Größe! Die
nicht schon durch den Tempel abgeschiedene, sondern
auf dem Markt im Freien aufgestellte Statue ver¬
langt eine Basis, die sie über das Treiben der Welt
erhebt. Aber am großen Friedrichsdenkmal (Fig. 1) in
Berlin überwiegen die mehrfachen Absätze der verjüngt
aufsteigenden architektonischen Massen mit ihren vielen
Bildwerken die Reiterstatue des Königs selbst, oder lassen
sie doch nicht zu der erwarteten und ihr gebührenden
Wirksamkeit kommen, während an Schlüter’s Monument
des Großen Kurfürsten (Fig. 2) richtigere Verhältnisse
walten als an der sonst so reichen und vortrefflichen
Meisterarbeit Rauch’s. Wir haben in der Neuzeit viele
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE. 271
Einzelstatuen bedeutender Männer erhalten, sie stehen
an passenden und unpassenden Stellen und gar oft eignet
sich die Gestalt des Mannes wenig für die Plastik. Ich
möchte einmal empfehlen, dass man solche Denkmale wo¬
möglich mit der Architektur in Zusammenhang bringe.
Wie die Plastiker in Nischen der Glyptothek, die Feld¬
herren in ihrer Halle zu München stehen , so könnten
Schiller, Lessing, Goethe mit dem Theater, Feldherren
und Staatsmänner mit dem Arsenal und Parlaments¬
gebäude verbunden sein.
Man stelle das Monument
in die Nähe des Lebens
und seines Verkehrs,
einen Schillerbrunnen
auf den Markt, eine
Uhlandsrnhe am Neckar,
eine Goethe-Halle auf an¬
mutige Höhe.“
So sind bereits in
diesen aphoristischen Be¬
merkungen im großen
Ganzen die Hauptge¬
sichtspunkte angedeutet,
welche bei der Unter¬
suchung über das Ver¬
hältnis des Sockels zum
statuarischen Werk be¬
sonders ins Gewicht fal¬
len. Zuerst ist allerdings
die Bedeutung des Aus¬
stellungsplatzes hervor¬
zuheben, dessen mehr
oder weniger günstige
Wahl zum besseren oder
misslungenen Effekt des
Bildwerkes viel beitra¬
gen wird. Abgesehen von
den später behandelten
optischen Beziehungen,
ist namentlich das land¬
schaftliche Bild und die
Monument - Umgebung
vom größten Einfluss auf
den populären, drastisch
wirkenden Effekt und die Veranschaulichung der durch das
Bildwerk auszudrückenden Kunstidee. Beispielsweise wird
bei der Aufstellung der Arndt -Statue auf dem „alten
Zoll“ am Rheinufer zu Bonn durch diese landschaftliche
Umgebung die patriotische Bedeutung der Statue be¬
sonders hervorgehoben. Indessen ist der Aufstellungsort
zumeist etwas durch andere Verhältnisse Bedingtes,
welches nicht in die Machtsphäre des Künstlers gehört,
auf welches er in glücklichen Fällen Einfluss haben, mit
dem er sich jedoch meistenteils als mit gegebenen Größen
abzufinden haben wird. Hier tritt dann in voller Wichtig¬
keit die Befähigung des Künstlers hervor, unter Ver¬
wendung des passenden Sockels seine Arbeit in die ge¬
gebene Situation hineinzubauen und letztere mit seinem
statuarischen Werke so harmonisch zu verschmelzen,
dass eine passendere Vereinigung der einzelnen Faktoren
garniclit denkbar erscheint.
Bei dieser Bedeutsamkeit einer örtlichen zutreffen¬
den Komposition des Statuensockels mögen einige ästhe¬
tische Gesetze aufgestellt werden, welche jedoch nicht
den Zweck haben sollen,
einer Kunst, welche
gegen jeglichen theore¬
tischen, der freien Erfin¬
dung abholden Zwang
sich mit Recht miss¬
trauisch verhält, wie der
Bildhauerkunst, specielle
Bedingungen vorzu¬
schreiben, welche viel
mehr nur im allgemeinen
zu beachten sein werden.
Aus dem gleichen Grunde
sollen für die nachfolgen¬
den drei Gesetze nicht
theoretische Beweise,
sondern Beispielsbelege
geboten werden.
Als ein erstes Ge¬
setz über die Bildung
des Sockels für ein sta¬
tuarisches Werk ist zu
erfordern, dass das Bild¬
werk auf seinem Auf¬
stellungsort von der Um¬
gebung durch die Wahl
eines in seinen Formen
und in seinem Material
kontrastirenden, mit der
Gesamtidee jedoch zu¬
sammenhängenden Un¬
terbaues abgesondert
werde. Dazu gehört
einerseits eine besonders
wahrnehmbare Isolirung
desselben in horizontaler Richtung durch die Entfaltung
eines Stereobats, eines Unterbaues mit stufenartigen
Plinthen, oder mittels einer Terrassirung oder mit einer
gärtnerischen oder landschaftsbildnerischen Umgebung,
oder durch den Abschluss mit einem Gitter, um eine Pro-
fanirung zu verhindern, oder durch anderweitige architek¬
tonische Maßnahmen. Ferner gehört dazu die besondere
Erhebung in vertikaler Richtung, die weihevolle Gipfelung
des statuarischen Werkes innerhalb der abgesonderten
und umrahmenden Umgebung durch einen je nach dem
beabsichtigten Effekt oder nach dem Charakter des Bild-
272
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
Werkes höheren oder niedrigeren Aufstellung^ - Pfeiler,
was ebenso gleichmäßig- für eine Aufstellung im Freien,
wie auch in Innenräumen gilt! In diesem Gebiet wirkt
namentlich der Maßstab und die Silhouette; es umfasst
die praktischen Erwägungen der Aufstellung für be¬
quemes Sehen und günstige Entfaltung; es umfasst eine
Fülle praktischer Erfahrungen über den günstigsten
Effekt nach Beleuchtung und Materialwirkung, zu welchem
die Bildung des Hintergrundes für Freiaufstellungen hin¬
zutritt, und für Bildwerke, welche in Innenräumen auf-
gestellt werden, die umrahmende Architektur.
Das zweite Gesetz erfordert, dass der Sockel nicht
allein durch den gesamten Aufbaugedanken mit den
sämtlichen, die beabsichtigte Kunstidee ausdrückenden
bildnerischen Mitteln harmonisch zusammenwirkend ge¬
bildet, sondern auch durch eigenen bildnerischen Schmuck
ausgezeichnet, zur Allgemeinerklärung des Hauptkunst¬
werkes herangezogen werde. Dies erfolgt in der einfach¬
sten Durchführung durch die an dem Sockel anzubringende
Widmung und inschriftliche Erklärung, im weiteren
durch bildnerische Ausschmückung mit teils allgemein
gehaltenen ornamentalen Dekorationen, mit allegorischen
Attributen, mit einer nähere Verhältnisse bezeichnenden
Seenerie, mit figürlichen Reliefdarstellungen und end¬
lich in einem reicher gegliederten Aufbau mit freistehen¬
den Figuren, welche hauptsächlich die Schaffens-Sphäre
des in dem Denkmal Gefeierten bezeichnen sollen. In
diesem Gebiet der Sockelkomposition, in welchem das
Geschick des Künstlers sich am meisten frei bethätigt,
werden am wenigsten streng formulirte Gesetze aufzu¬
stellen sein. Nichtsdestoweniger ist es gerade dieses
Feld, in welchem durch Verstöße in dem passenden
Verhältnis zwischen Sockel und statuarischem Werk
die Harmonie am häufigsten gestört wird. Daher er¬
fordert ein drittes Gesetz zur Erzielung der Harmonie
in der Gesamtkomposition in Verbindung mit dem Auf¬
stellungsplatz und seiner Umgebung die untergeordnete
Behandlung des Sockels , wenngleich unter Erfüllung
aller praktischen Programmforderungen und unter voller
Entfaltung aller künstlerischen Ausdrucksmittel, wie sie
für das Verhältnis des Sockels zum statuarischen Werke
schon in den ersten beiden Gesetzen genannt waren.
Somit wird hier der Maßstab die Proportionalität, die
Farben- und die Reliefwirkung eine bedeutungsvolle
Rolle spielen.
Im Sinne dieses dritten Gesetzes spricht sich auch
Barriere aus. Derselbe sagt : „Da alle Kunst durch sinn¬
liche Mittel wirkt und der Eindruck der äußeren Er¬
scheinung dem Begriff des Wesens im denkenden Geist
entsprechen soll, so ist es nicht zu tadeln, sondern zu
loben, dass im Friedrichsdenkmal zu Berlin der Helden¬
könig selbst die Krieger und Staatsmänner auf dem
Sockel ebenso dem Maße nach sichtbar überragt, als er
in der Geschichte der ruhmreich vor ihnen hervortretende
und ihnen zum Teil erst die Ehre verleihende Genius
ist, der seiner Zeit seinen Namen gegeben hat. Unsere
Phantasie wird nicht so sehr zur selbstschaffenden
Thätigkeit angeregt, wenn ihr Gegenstände in gewöhn¬
licher Ausdehnung entgegentreten , das überraschend
Mächtige aber ruft sie wach! Das Kolossale wird aller¬
dings ungeheuerlich, wenn ein Skulpturwerk dergestalt
sich an Größe einem Architekturwerk nähert, dass der
Beschauer keinen Standpunkt mehr findet, die Formen
desselben zu erfassen, weil er sie in der Nähe nicht als
Ganzes erschaut und in der Ferne ihm das Einzelne
zerfließt.“
Diese letzten Äußerungen führen zurück zu einem
näheren Eingehen auf die im ersten Gesetze gebührend
hervorgehobenen optischen Erfordernisse. Wenngleich
scheinbar innerhalb dieser auf mathematischen Erwägun¬
gen aufgebauten Verhältnisse zu allererst die Ange¬
messenheit fester Gesetze, Regeln, Tabellen etc. sich
geltend machen könnte, so ist doch auch hierüber von
vorn herein zu urteilen, dass solche Betrachtungen, wenn
sie nicht schaden sollen durch eine Einschnürung der
Kompositionsfreiheit des Künstlers, mir allgemein aufge¬
stellt werden dürfen, niemals aber in einer Formel¬
aufstellung ein allgemein gültiges Recept ergehen werden.
Das wichtigste hierüber geschriebene Werk „Der
optische Maßstab“ von Mertens leidet leider auch an diesem
Fehler, -wenngleich die allgemeinen darin aufgestellten
Beobachtungen ebenso treffend wie schätzenswert sind.
Mertens sagt z. B.: „Der Sockel hat die Bedeutung, dass
die Figur durch ihre Erhebung nicht allein gegen Be¬
schädigung im Straßenverkehr geschützt wird, sondern
vor allem, dass dadurch die Figur in dem Augenauf-
schlagewinkel liegt, welcher unserem Auge beim ästhe¬
tischen Genüsse soviel bequemer ist als der Augen-
niederschlagewinkel. — Auch spricht für diese Höhen¬
lage, dass der Beschauer selbst bei dem größten
Straßenverkehr die Figur nicht aus dem Blicke zu ver¬
lieren braucht.“ Ferner an anderer Stelle: „Für ein
plastisches Kunstwerk ist die Augendistanz nach der
Höhe des Objektes zu wählen. Man hat bei solchen
Objekten diejenige Augendistanz, welche der doppelten
Höhe des Monumentes, also einem Augenaufschlagewinkel
von 27° entspricht, als die normale anzusehen! In
dieser Distanz lässt sich das Objekt noch sehr gut über¬
sehen, es erfüllt unser Blickfeld, und lässt uns die Kunst¬
schöpfung als gesonderte, individuelle kleine Welt ge¬
nießen, ohne Einmischung jeder Umgebung. Bei einer
Augendistanz, welche der einfachen Höhe solcher Kunst¬
objekte, also einem Augenaufschlagewinkel von 45° ent¬
spricht, ergeht sich das Auge im Genuss des Details.
Ist der Winkel geringer als 27°, nähert er sich 18°
bis 20°, oder wird er noch niedriger, so tritt das Kunst¬
objekt mit der Umgebung zu einem Gesamtbilde zu¬
sammen. Solchem Winkel entspricht etwa das Distanz¬
verhältnis von 1 : 3.“
Wenn man bis hierher dem gedachten Autor gern
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
273
folgen wird, so zeigt sich dagegen hei dem von ihm
weiter durchgeführten Beispiel, die Höhe des Sockels
zu bestimmen, das Verfehlte, hierzu sich ausschließlich
einer mathematischen Kalkulation bedienen zu wollen.
In Figur 3 ist nämlich bei einer gegebenen Statuenhöhe
von 2,50 m, bei einer Augenhöhe von 1,60 m, bei einer
Augendistanz = 12 m die Formel aufgestellt y -f- 1,6 =
x + 2,50, wenn x die gesuchte Sockelhöhe und y die
Höhe des Bildwerks über der Gesichtslinie bezeichnet.
Ferner ergiebt sich aus dem Visurdreieck, nach den Eigen¬
schaften des rechtwinkeligen Dreiecks, 122 = y2 -j-(2 y) 2
12
daher y = , oder y= 5,367 m. Setzt man diesen
y 5
Wert in die erstere Gleichung ein, so ergiebt
sich x = 4,467 in. Somit wäre, da die Figur zu 2,50 m
angenommen war, der Sockel fast auf das Doppelte
der Statuenhöhe bestimmt! Das Unzutreffende dieser
Festsetzung, wenn es sich um ein allgemein gültiges
wird man im Innern der Gebäude, wenn diese Räume
nicht sehr hoch sind und nicht ein hellstes, von oben
einfüllendes Licht haben, den Statuen und ähnlichen
Werken weniger hohe Sockel geben.“ Aber auch hierin
ist ein Irrtum zu berichtigen, wenn gemeint ist, dass
durch die Aufstellung auf niedrigeren Sockeln die Be¬
leuchtung sich verbessern werde, während dieselbe doch
bekanntlich mit der größeren Entfernung von der Licht¬
quelle abnimmt. Für die Beleuchtung der Statuen ist
vielmehr Oberlicht überhaupt ungünstig und möglichst
zu vermeiden, wenn das Licht nicht in einer solchen
Fülle eintritt, dass es der Beleuchtung im Freien einiger¬
maßen gleichkommt! Da jedoch eine Oberlich töffnung
selten größer ist als V4, höchstens lj2 des zu beleuch¬
tenden Saalbodens, so kommt eine intensive Lichtwirkung
in unsern nördlichen Breiten niemals zu stände. Somit
ist diejenige Beleuchtung für statuarische Werke in
Ausstellungslokalitäten am günstigsten, welche der
Gesetz handeln sollte, wird sofort jedem in die Augen
fallen, da das ästhetische Gefühl ein solches Verhältnis
nur für Einzelfälle und zwar ganz ausschließlich für die
Aufstellung vonEhrenstatuen gelten lassen wird, namentlich
wenn diese im Freien errichtet werden sollen. Das hat
wohl Mertens selbst gefühlt, indem er weiter ausführt,
dass es eine gute Gewohnheit sei, bei gewöhnlichen
Bildsäulen die Figurenhöhe und Sockelhöhe nicht sehr
verschieden zu machen, etwa im Verhältnis 1,1 oder 1,3
zu 1. Also ist jene vorherige Berechnung mit ihren
Resultaten über Bord geworfen und auf gute Gewohn¬
heiten verwiesen, deren Güte jedoch in der nachfolgenden
Betrachtung, namentlich wo es sich um Bildwerke des
privaten Interesses handelt, sehr bezweifelt werden muss.
Außerdem giebt Mertens selbst für die Fälle, wo
Statuen in Innenräumen aufzustellen sind, Ausnahmen
von seinen obigen Regeln zu. Derselbe sagt nämlich:
„Abweichend von der Aufstellung der Statuen im Freien,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. io.
Atelierbeleuchtung gleichkommt, das ist ein reichliches
Seitenlicht mit einem derartig erhöhten Lichteinfall, dass
noch die Kopfaufsicht entfernterer Statuen Beleuchtung
erhält. Beispielweise würde dieser Effekt gut erreicht
werden, wenn, wie Figur 4 a zeigt, eine Statue von 2 ro
Höhe auf einem 0,8 m hohen Sockel steht und sich in
einem mäßig hohen Saale 4 m weit von den Fenstern
befindet, welche ihrerseits mindestens 4 m hoch sind,
vorausgesetzt, dass freies Nordlicht einfällt. Es ist
nämlich bei den vorher angegebenen Zahlen der Licht¬
einfallwinkel über dem Scheitel der Statue noch 27°
groß, so dass sich sogar eine für das Auge des Be¬
schauers besonders wohlthuende Beschränkung des Licht¬
einfalls vom Fußboden bis zur Augenhöhe durchführen
lässt, ohne der Statuenbeleuchtung zu schaden. Immerhin
ist jedoch auch gegenüber diesem Beispiel die Beschränkung
hervorzuheben, dass durchaus nicht allein optische Gesetze
die absolute Höhe des Statuensockels, oder das relative
36
274
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
Verhältnis desselben zum Bildwerk bestimmen, sondern
auch ästhetische. Abgesehen von dem großen Anteil,
welchen hierin der mehr oder weniger dem Beschaner
vorzutragende Gesichtsausdruck und das Mienenspiel
für sich in Anspruch nehmen wird, um den Sockel tiefer
oder höher zu gestalten, abgesehen ferner von den ver¬
schiedenartigen Erwägungen, welche die örtlichen Ver¬
hältnisse eines gegebenen Ausstellungsplatzes hervor-
rufen, sind ästhetische Bedingungen, welche mit der
gesamten Kunstidee der Komposition Zusammenhängen
hierfür sogar hauptsächlich maßgebend.
Auch ohne zum Beweis die ganze Fülle der in
kuustgeschichtlichen Werken vereinigten Beispiele anzu¬
führen, werden doch einige in ihrer charakteristischen
Wirkung unbestritten anerkannte Kategorien statuarischer
Werke, namentlich der hellenischen Antike, die Grenzen
angeben, in welchen der Hoch- und der Niedrigsockel
zur Verwendung kommen soll. Es ist hierbei durchaus
korrekt, auf die ästhetischen Empfindungen der antiken
Welt zurückzugehen, denn einerseits ist unsere eigene
Bildung auf derselben aufgebaut, dann aber hat sich
seit den Zeiten der Antike nicht sowohl der Begriff,
wie in der Plastik Form¬
gedanken auszudrücken sei¬
en, geändert, als vielmehr
allein die Art der Kunstauf¬
träge, da nur die Personen
der Besteller und die Plätze
der Aufstellung andere ge¬
worden sind, endlich aber
steht die antike Kunst in
ihrer Treffsicherheit, den
Kunstgedanken die entspre¬
chende Ausdrucksform zu
geben, auch heute noch unerreicht da.
Schon eine flüchtige Durchmusterung der bekannteren
Antikensarnmlungen lässt erkennen, dass ebensowohl in
Griechenland wie im Römischen Reich die Aufstellung
der Bildwerke auf ihren Sockeln wesentlich nach dem
Programm unterschieden ist. Zwei Kategorien trennen
sich in den älteren Zeiten hauptsächlich, ob nämlich das
plastische Bildwerk ein Gegenstand der Adoration, der
durch den Kultusdienst erforderten Verehrung, oder
ob es nur ein Gegenstand der Widmung an die Gott¬
heit. der Weihe, ist. Auch in späterer griechischer und
römischer Zeit, in welcher das bürgerliche Leben zum
Schmucke der nichtkirchlichen öffentlichen Gebäude, oder
des Privathauses das plastische Kunstwerk reichlich
heranzieht, treten zwei ähnliche Gruppen auf, in welchen
das öffentliche Ehrendenkmal in seiner Komposition den
Adorationsbildwerken entspricht, und die dem Privat¬
interesse dienende Porträtbüste oder Porträtstatue der
Ahnengalerie, den vorhergenannten Weihebildwerken.
Zu dieser Kategorie der Bildwerke des privaten Inter¬
esses gehören dann ferner die Genrebilder, das Tier¬
stück, sowie die unzähligen Schöpfungen der Kleinkunst.
Diese beiden Gruppen scheiden sich wiederkehrend in
der Sockelbildung, einerseits durch die Forderung des
Hoch- und anderseits des Niedrigsockels. Ein erschöpfen¬
der archäologischer Beweis für die obige Klassifizirung
wird in dem beschränkten Raum dieser Abhandlung nicht
erwartet werden, anderseits ist auch archäologisch der
Streit noch unausgetragen, was eigentlich der Kultus¬
dienst des Tempels an Bildwerken erfordert habe,
aber in den folgenden Beispielen aus Vasenbildem und
nach bekannten Kunstwerken wird der Charakter des
betreffenden Bildwerkes einem Zweifel nicht unterworfen
sein. Figur 5 zeigt nach einem Vasenbilde den Hahn
der Athena Ergane, als ein Attribut der Athena Polias,
zur Verehrung vor der Osthalle ihres Tempels auf der
Burg von Athen auf einem hohen Säulensockel, welcher
in den Formen des dorischen Stiles ausgebildet ist, auf-
gestellt! Ferner zeigt Figur 6 die Hermensäule der
Athena Promachos, ähnlich derjenigen, welche als Erz¬
gussbild größten Maßstabes gleichfalls auf der Burg
Athen zwischen Parthenon und Propyläen stand, als das
berühmte, fernhin leuchtende Wahrzeichen der Burg.
Wiederum ist dieses Adorationsbild, welches in seiner
Hermenform sich den Holzmaquetten verwandt zeigt,
deren alleinige Verwendung als Agalma der Tempelzelle
nach den Angaben von C. Bötticher wohl anzunehmen
ist, auf einer hohen Pfeilerbasis aufgestellt! Zu der
gleichen Kategorie der Verehrungsbildwerke gehören
Figur 7 und Figur 8, so dass man allgemein annehmen
kann, dass der hohe säulenartige Sockel mit dieser Gattung
von Bildwerken gedanklich stets verbunden ist, weil es
sich darum handelt, die schützende oder verderbende
Gottheit über den Kreis der Hiilfesuchenden oder Strafe¬
fürchtenden erhöht darzustellen, den Olympiern nahe und
über dem Irdischen erhaben, wie ja auch das Apotropaion
in dem Burgwappen am Löwenthor zu Mykenae auf
einen solchen hohen Säulenstamm gestellt erscheint,
welcher dann noch seinen besonderen horizontal ausge¬
breiteten Unterbau erhielt.
In Figur 8 ist dagegen ein Beispiel der zweiten
©
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
275
in ihrer Sockelbehandlung den Verehrungsbildwerken
entgegengesetzten Kategorie von statuarischen Werken
der Antike gegeben, nämlich der Weihebildwerke, welche
einen niedrigen Sockel erhielten. Ob sich diese Behaup¬
tung mit voller Strenge durchführen lässt, ob nicht
archäologisch Ausnahmen nachgewiesen werden können,
möge dahingestellt bleiben, sicherlich hat sich in späterer
Zeit auch in den hellenischen Kultus¬
anschauungen der Begriff des Adora-
tions- und des Weihebildes in seiner
strengen Scheidung vielfach abge¬
schwächt und mit einander verbunden,
wie es ja noch immer einen Gegenstand
der verschiedenartigen Ansichten bildet,
ob die Goldelfenbeinbilder des Phidias
zu der einen oder anderen Kategorie ge¬
hören. Dagegen ist das ästhetische Be¬
wusstsein hierin unfehlbar, streng lo¬
gisch vorgegangen Das Programm der
Weihebilder erfordert die Aufstellung
im heiligen Tempelbezirk, um Kunde
zu geben von der dankbaren Gesinnung
des Weihenden für besondere Gnaden¬
beweise, die er von der Gottheit em¬
pfangen, ferner von den besonderen
persönlichen Beziehungen, welche zwi¬
schen beiden herrschen und von der
daraus entspringenden besonderen Ver¬
ehrung. Während bei den ausschlie߬
lich durch hieratische Beziehungen be¬
stimmten Verehrungsbildwerken mehr die symbolische
Bezeichnung des figürlichen Gedankens erfordert wird,
eine Kunstschöpfung jedenfalls in zweiter Linie erst
verlangt wird, tritt bei dem Weihebildwerk die Schön¬
heit der Darstellung als erste Forderung auf, der Gott¬
heit das Würdigste darzubringen! Eine solche Gesinnung
soll auch vor der Gemeinde deutlich zur Anschauung
gebracht, das Weihebild also zum nahen Ansclmuen
bestimmt werden. Zwar ist dieses Programm noch weit
entfernt von den ausschließlich zum Kunstgenuss, zum
Anschauen, zur Augenfreude bestimmten modernen Atelier-
und Ausstellungsbildwerken, immerhin haben die gleichen
praktischen Beziehungen die für diese ganze Kategorie
geltende allgemeine Kegel befestigt, dass der Sockel,
das Bathron, nur in der Form einer niedrigen Stufenbank,
höchstens in Altartischhöhe ausgebildet
werde, dessen Höhen- Verhältnis zum
Bildwerk ein Drittel bis ein Fünftel
beträgt, dessen absoluter Maßstab sich
jedoch immer nach der bequemen Augen¬
höhe richtet!
Als Beispiel diene Figur 9, die
bekannte verkleinerte Kopie des aus
der Beschreibung bei Pausanias genau
bezeichneten Goldelfenbeinbildes der
Athena Parthenos des Phidias, auf deren
rechter, wenig vorgestreckter Hand die
Nike stand, während in dem linken Arm
der Speer gehalten war. Der für die
figürliche Ausschmückung bedeutsamen
Verwendung des niedrigen Bathrons,
welches ganz ähnlich auch bei einer in
Pergamon gefundenen Athena Parthenos
wiederkehrt (Original in Berlin), wird
später Erwähnung geschehen. Hier möge
nur hervorgehoben werden, dass nicht
etwa die Ivolossalität der Figur Veran¬
lassung war, den Sockel so niedrig zu
bilden, da Treppen und erhöhte Galerien Gelegenheit boten,
das Bildwerk näher zu betrachten. Vielmehr gehörte dies
zum typischen Charakter der Weihebilder, von denen
viele neben einander stehend die heiligen Tempelbezirke,
beispielsweise auf der Burg zu Athen und in der Altis
zu Olympia füllten. Auch der Hermes des Praxiteles
stand auf einem, den oben angegebenen Proportionen
sich einigermaßen anschließenden Sockel.
(Fortsetzung folgt.)
9. Statuette der Parthenos.
3G
EINE REKONSTRUKTION JOH. SEB. BACH’S.
■« v.
NLÄNGST hat man in Leipzig- bei Gelegenheit
des Abbruchs der Johanniskirche die Gebeine
Johann Sebastian Bach’s, des Leipziger Thomas¬
kantors und Vaters unserer modernen Musik, ausgegraben.
Es ist wenigstens sehr wahrscheinlich, dass sie es sind,
und den Schlussstein zu dem Wahrscheinlichkeitsbeweise,
den ein Anatom und ein Archivar einleiteten , lieferte
ein Bildhauer, indem
er über der aufge-
fundenen Schädelbil¬
dung ein lebensvolles
Bildnis des Tonmeis¬
ters modellirte. Es
ist darüber ein Be¬
richt erschienen, den
der Anatom, Profes¬
sor Dr. His im Auf¬
träge einer Kommis¬
sion erstattet hat. ')
Wir entnehmen ihm
die nachfolgenden
Thatsachen, die
merkwürdig genug
mitzuteilen sind.
Pastor G. Tran-
zschel , der Vorsit¬
zende des Kirchen¬
vorstandes, hatte bei
Gelegenheit des er¬
wähnten Abbruchs
der .Tohanniskirche
den Entschluss ge- Sefther’s Büste von Joh. Seb. Bach nai
fasst , noch einmal
d«n Versuch zu machen, die Gebeine des genialen
Musikers aufzufinden. Die Anhaltspunkte waren ziem¬
lich dürftig; sie beschränkten sich im Wesentlichen auf
mündliche. Tradition, die besagte, dass Bach sechs Schritte
1) Joh. Seb. Bach. Forschungen über dessen Grabstätte,
Gebeine und Antlitz. Von Prof. Wilhelm His. Mit einem
Situationsplan und 9 Tafeln in Kupferätzung. Fol. Leipzig.
F. C. W. Vogel.
geradeaus von der Thür der Südseite der Kirche be¬
erdigt sei. Hiermit allein hätte sich schwerlich ein
Kesultat erzielen lassen, denn der Kirchhof ist ein
einziges großes Gräberfeld und ohne sonstige Anhalts¬
punkte wäre das Unternehmen fast ganz aussichtslos
gewesen. Aber es kamen einige archivalische Ermitte¬
lungen hinzu, welche Dr. Wustmann in einem Aufsatze der
Grenzboten (1894,
Nr. 42) lieferte. Es
waren folgende An¬
gaben: Bach ist in
einem eichenen Sarge
begraben worden,
sein Grab wmr ein
sogenanntes flaches,
und hat nie einen
Grabstein gehabt.
Am 19. Oktober
wurde der Spaten in
Thätigkeit gesetzt
und am 22. stieß
man auf eichene Sarg¬
reste. Während diese
durchsucht wurden,
zeigte sich dicht da¬
bei ein etwas höher
liegender eichener
Sarg, der die Ge¬
beine eines älteren
Mannes enthielt, wäh-
• rend der erste die
Wegnahme der linken Gesichtshälfte eines jungen Weibes
umfasst hatte. Der
ausgegrabene männliche Schädel und die dazu gehörigen
Knochen wurden zusammengestellt und einer sorgfältigen
Untersuchung unterzogen, deren Verlauf Prof. His in der
erwähnten Schrift geschildert hat. Die wichtigsten An¬
haltspunkte zur Ermittelung der Identität bot natürlich
der Schädel. Er erwies sich als der eines älteren Mannes
und zeigte niedrige Augenhöhlen, einen etwas vorge¬
schobenen Unterkiefer und einen Einschnitt an der
Nasenwurzel. Mit den in Leipzig zugänglichen Bildnissen
EINE REKONSTRUKTION JOH. SEB. BACH’S.
277
J. S. Bacli’s, eines Ölbildes in der Thomasschule, das seit
Bacli’s Zeiten sich dort befindet, und eines zweiten Öl¬
bildes im Besitze des Herrn Dr. M. Abraham, sowie
einiger Stiche wurde nun eine Vergleichung vorge¬
nommen.
Die Prüfung machte die Identität des Schädels mit
dem Bach’s wahrscheinlich. Die Bilder lassen ebenfalls
auf niedrige Augenhöhlen schließen, sie zeigen enge Lid-
Schritt näher zu kommen. Wenn sich über den Gips¬
abguss des Schädels eine porträtähnliche Büste von
Bach formen ließ, „so war wenigstens die Möglichkeit
nachgewiesen, dass der Schädel der von Bach sein
konnte.“
Der Bildhauer C. Seifner zeigte sich bereit, die
gewünschte Rekonstruktion vorzunehmen; in welcher
Weise dies geschah, lehrt die beigebene Zeichnung. Er
Johann Sebastian Bach. Ölbild in der Thomasschule zu Leipzig.
spalten, eine unter einem kräftigen Stirnwulst hervor¬
tretende, stark hervorstehende Nase und ein Vorragen
des Unterkiefers und des Kinns.
„Das war nun ein recht interessantes Vergleichs¬
ergebnis, aber zur Begründung weitergehender Schlüsse
war es nicht zu gebrauchen.“ Nur die Mitwirkung
eines erfahrenen Künstlers, so meinte der untersuchende
Anatom, bot Aussicht, der Lösung der Frage um einen
schuf in der That mit Hilfe des Bildermaterials eine
Büste von charakteristischem Ausdrucke.
Infolge des Berichtes der gewonnenen Ergebnisse an
den Rat der Stadt, den Herr Professor His erstattete,
wurde nun eine Kommission eingesetzt, deren Aufgabe es
war, eine genaue Prüfung der Einzelheiten, die hier zu¬
sammenwirkten, vorzunehmen. Eine wichtige Rolle spielt
dabei neben der Tiefe des Grabes, der Prüfung des Sarges,
278
KLEINE MITTEILUNGEN.
seiner Länge, der Knochen, des Schädels und der zur
Vergleichung herangezogenen Bilder, noch das Verhältnis
der Weichteile des Gesichts zu dem Schädel. Durch
Feststellungen der Normen für dieses Verhältnis an den
verschiedenen Stellen des Kopfes gewinnt man erst die
richtigen ,. Gesichtspunkte“, von denen aus ein zuverlässiges
Urteil möglich ist. (Auf Grund dieser Verhältnisse
basirte z. B. Hermann Welcker seine Untersuchung
über die Raffaelporträts im 23. Bande dieser Zeitschrift.)
Durch vorgenommene Messungen der Weichteile des
Gesichts an einer Gruppe von Männern im Alter von
50 — 72 Jahren lieferte Professor His das Ergebnis, dass
die Dickenwerte der Weichteile für jedes besondere Ge¬
biet nur innerhalb enger Grenzen schwanken. Mit Hilfe
dieser Resultate konnte über dem Schädel ein System
von festen Punkten gegeben werden, über oder unter die
nur eine gewisse Schwankung erlaubt war.
Auch mit dieser straffer gespannten Fassung der
künstlerischen Aufgabe vermochte der Bildhauer C. Seffner
sich trefflich abzufinden. Er stellte eine neue Büste her,
die nicht nur das Gerüst von dem ausgegrabenen Schädel
entlehnte und die charakteristischen Eigenschaften der
maßgebenden Bildnisse Bach’s in sich vereinigte, sondern
auch in Bezug auf die Dicke der Weichteile sich inner¬
halb der von Prof. His angegebenen Grenzmaßen hielt.
Nachdem alle diese Forderungen erfüllt waren, trug die
Kommission kein Bedenken, es als sehr wahrscheinlich
anzusehen, dass der aufgefundene Schädel derjenige
Bach’s sei.
Zum Überflüsse ist der höchst dankenswerten Schrift
noch die Tabelle beigegeben, die, von Prof. His aufgestellt,
als Richtschnur für den Künstler diente. Die Schwankung
der Dicke beträgt z. B. bei dem oberen Stirnrande
1,5 mm (zwischen 3,5 und 5 mm), am Kinnwulst 5 mm
(zwischen 10 und 15 mm), in der Mitte des Kaumuskels
(größte Schwankung, 7 mm) zwischen 15 und 22 nun.
Eine Abbildung des Ölbildes der Thomasschule
fügen wir, durch freundliche Erlaubnis des Verlegers
begünstigt, bei, und ein Lichtdruck der Seffnerschen
Büste als greifbares künstlerisches Ergebnis der Unter¬
suchung überhebt uns der näheren Beschreibung dieser
trefflichen Leistung. SN.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Litteratur- und kunstkritisclie Studien. Beiträge
zur Ästhetik der Dichtkunst und Malerei von Dr. Laurenz
Müllner, o. ö. Professor an der lt. k, Universität Wien.
Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller. 1895. 8.
Der vorliegende Band enthält in der ersten Hälfte
Studien über Hamerling (Aspasia), Sacher - Masoch, Graf
Schack, Vischer, Englische Litteratur (Shakespeare u. Byron),
Annette von Droste-Hülshoffund andere Dichter; im anderen
Teile Studien über Raffaels Sposalizio, h. Cäcilia, Sixtina,
über Tizian, Palma Vecchio, Guido Reni, Bordone, Rubens,
Van Dyck, über Murillo’s „Immaculata Conceptio“ im Louvre,
Genelli, Peter v. Cornelius’ Jüngstes Gericht u. a. Die letz¬
teren Aufsätze über Maler sind gelegentlich des neuen Er¬
scheinens von Kupferstichen nach den berühmten Original-
gemälden entstanden und schließen daher alle mit einer
Kritik und öfter auch Biographie der Kupferstecher und ihrer
Blätter. Den Untertitel des Buches „Beiträge zur Ästhetik
der Dichtkunst und Malerei“ können wir nicht als ganz zu¬
treffend bezeichnen; er ist sogar geeignet, über den Charakter
dieser kritischen Studien etwas irrezuführen. Wenn wir
unter „Ästhetik“ Kunstphilosophie im eigentlichen Sinne ver¬
stehen, zum Unterschiede von Kunstgeschichte, so wird man
in Müllners Studien keine Bereicherung der Kunstphilosophie
finden. Es liegt auch gar nicht im Geiste der Methode
Müllners, die Philosophie der Künste zu bereichern. Er
geht vielmehr darauf aus, die Individualität jedes einzelnen
Künstlers, den eigentümlichen Gehalt jedes einzelnen Kunst¬
werkes zu erfassen und darzustellen. Das ist eher Sache des
Historikers als des Philosophen, jedenfalls aber hat die
Philosophie der Kunst von dieser Methode — deren Wert
ich damit nicht im geringsten herabsetzen will — keine
direkte und eigentliche Förderung zu erwarten. Müllner steht
als Philosoph und Ästhetiker auf dem Boden der katholischen
Kirche; er ist, was der Titel seines Buches nicht angiebt,
Professor an der katholisch - theologischen Fakultät der
Wiener Universität. Dadurch allein wird es schon unwahr¬
scheinlich, dass er die moderne Ästhetik, die sich mit Nach¬
druck von jeder Umarmung durch irgend eine Metaphysik
zu befreien strebt, um eine empirische Wissenschaft zu
werden, nicht gerade bereichern kann. Seinen Standpunkt
kennzeichnet Müllner durch folgende Worte, die er gelegent¬
lich einer Besprechung der Goethe-Biographie von Alexander
Baumgartner ausspricht: „Es ist für den gläubigen Christen
nicht weiter fraglich, dass ihm der menschgewordene gött¬
liche Logos, das ewige Urbild aller Schönheit, und die
einzige Offenbarung desselben der einzige Kanon wie der
Wahrheit so der Schönheit zu sein hat.“ Das Eigentümliche
und unseres Erachtens Auszeichnende an Müllner ist nun,
dass er nicht jene Folgerungen aus diesem obersten Grund¬
sätze zieht, wie so viele katholische Ästhetiker: er ist weder
Präraffaelit in der Malerei noch ein apriorischer Feind mo¬
derner Dichtkunst, sondern hat sich die Empfänglichkeit
für alles Schöne in beiden Künsten bewahrt, auch wenn die
Dichter und Maler nicht Katholiken waren oder sich ge¬
radezu als Ungläubige oder Protestanten bewährten. Er ist
ein offener und ausgesprochener Gegner jener kirchlichen
Kunstgeschichte, welche den religiösen Hass in die Wissen¬
schaft hineinträgt. Mit seinem Individualismus, der auf eine
„centrale“ Auffassung jeder schöpferischen Persönlichkeit
dringt, der jeden Menschen aus ihm selbst begreifen und
nach seinem eigenen Ma.ße beurteilen will, stellt sich Müllner
ungeachtet seines katholischen Glaubens auf den Boden der
KLEINE MITTEILUNGEN.
279
modernen Wissenschaft. Von diesem Gesichtspunkte aus
betrachtet, gewinnen seine „Studien“ einen eigenen Wert.
Nur freilich folgt daraus nicht, dass man alle seine Urteile
oder Darstellungen als unbedingt richtig auch vom Stand¬
punkte individualistischer Kritik unterschreiben möchte. Der
Individualismus, diese Fähigkeit, sich vollkommen in die
fremde Seele zu versetzen und sie von hier aus zu begreifen,
macht die Virtuosen der Nachempfindung auch öfter zu
nachsichtig. Über der Freude an der Darstellung, oft auch
nur am Begreifen der Intentionen eines großen Künstlers,
kann zuweilen auch die Kritik zu kurz kommen; die An¬
schmiegsamkeit eines Kritikers darf unseres Erachtens nicht
so weit gehen, dass sie zur völligen Identifizirung mit dem
jedesmal betrachteten Originalgenie führt. Müllner hütet
sich wohl vor diesem Mangel vieler, zumal kunsthistorischer
Kritiker; er wird Guido Reni nicht gleich groß mit Raffael
schätzen; es fällt ihm nicht ein, Peter von Cornelius als
großen Koloristen zu feiern; aber er geht doch öfters in
seiner Begeisterung zu weit, zumal auf litterarischem Ge¬
biete, z. B. im Falle Hamerling und Schack, und infolge
dessen leidet auch die Kraft und Klarheit manches Dichter¬
porträts, das Müllner entwirft. In den Studien über bildende
Kunst legt er das Schwergewicht auf die richtige Auslegung
und Ausdeutung der Werke, zumal jener Maler, die aus dem
kirchlichen Gedankenkreise heraus ihre Gemälde schufen.
Müllner vereinigt mit seinen reichen kunsthistorischen Kennt¬
nissen infolge seines Standes und Amtes umfassende Kennt¬
nisse der theologischen und philosophischen Litteratur. Diese
müssen ihm dazu dienen, z. B. eine neue Erklärung der
„Schule von Athen“ zu versuchen. „Das Litterarisch-Stoff-
liche der Schule von Athen kann Raffael schon durch die
italienischen Dichter näher gebracht worden sein. So spricht
schon Dante (Inf. IV, 105 — 108) von den sieben freien
Künsten unter dem Bilde eines stolzen, von hohen Mauern
siebenfach umkreisten Schlosses und macht zugleich eine
beträchtliche Anzahl antiker Philosophen und Gelehrten
namhaft (a. a. 0. v. 133 — 144). Fast zur Vollständigkeit der
Gestalten, der »Schule von Athen« lassen sich die von Dante
erwähnten Namen ergänzen aus Petrarca’s Trionfo della
fama (cap. III), den Raffael, der in seinen Sonetten dieser
Lieblingsform Petrarca’s nacheiferte, sicher kannte.“ Außer¬
dem habe natürlich auch ein fachmännischer Beirat bei der
Komposition mitgewirkt; doch meint Müllner, dass der Ur¬
heber des geistigen Inhalts der „Schule“ nicht Bembo und
Sadolet, sondern Marsilius Ficinus gewesen sei. Das
Nähere möge der Leser, der sich dafür interessirt, im Buche
selbst nachlesen. Eigene Auffassungen und Deutungen liefert
Müllner auch von Raffaels Sposalizio und Sixtina. Das
letztere Gemälde deutet er als eine symbolische Darstellung
der triumphirenden Kirche. Gelegentlich der Besprechung
des Gemäldes „Himmlische und irdische Liebe“ von Tizian
polemisirt Müllner gegen Burckhardt’s und Thausing’s Deu¬
tungen, wonach es „Liebe und Sprödigkeit“ oder „Ver¬
suchung des Liebesteufels“ darstellen sollte. Müllner schließt:
„Tizian hat über das ganze Gemälde einen Stimmungszauber
von solcher Macht ausgegossen, dass dem Gemüte des Be¬
schauers alsbald die himmlische und irdische Seite der
Menschennatur bewusst wird. Himmelssehnsucht und Erden¬
lust treten in Gestalten auseinander; die Bundesgenossen im
Streite des Guten und Bösen, das Durcheinanderwogen der
Triebe und Antriebe, die bange Stimmung der Menschen¬
brust vor der Entscheidung des Kampfes hat der Künstler¬
in Beleuchtung, Staffage und symbolischen Details verkörpert,
deren Zusammenwirken nur mit der Stimmungskraft von
Byrons „Traum“ oder einzelnen Scenen des »Faust« ver¬
glichen. werden kann; denn wenn einem Bilde Tizian’s eine
wahrhaft dichterische Wirkung eignet, so ist es bei dieser
merkwürdigen Konception der Fall.“ Diese Beispiele mögen
genügen, um die Individualität unseres katholischen Indivi¬
dualisten erkennen zu lassen. Seine Beschreibungen der
Gemälde sind sehr eindringlich und erheben sich häufig zü
anschaulicher Kraft. Am wärmsten schreibt Müllner über
Murillo, den frommen Spanier , und über Dürers „Aller¬
heiligenbild.“ Müllners Katholizismus hat auch einen starken
Einschlag gut deutschen Nationalgefühls,
Dr. Friedrich v. Hausegger: Das Jenseits des Künstlers.
Wien, Carl Konegen 1893. 8°, XII und 311 Seiten.
Das vorliegende Buch behandelt das Wesen des künst¬
lerischen Schaffens. Da es auf Künste verschiedener Art
eingeht, gehört es der allgemeinen Ästhetik an, doch finden
darin Malerei und Plastik zweifellos eine bevorzugte Be¬
handlung. Hausegger weist hauptsächlich auf gewisse, aller¬
dings entfernte Analogieen hin, die sich zwischen der Pro¬
duktivität des Künstlers und der von Träumenden und
Geisteskranken beobachten lassen, wobei freilich der Nicht¬
künstler des Gegensatzes halber allzusehr als Philister bin-
gestellt wird, als ob er tagtäglich dieselbe Tretmühle treten
würde. Der Gegensatz von Verstandesthätigkeit und Phan¬
tasie wird eingehend erörtert. Gehörige Betonung findet aücli
die Ansicht, dass Malerei und Plastik ihren Hauptzweck
nicht mit der Naturnachahmung allein erreichen. Hausegger
ist ein Gegner des Realismus und Naturalismus, für deren
einseitige Vertreter das Buch denn auch nicht geschrieben
ist. Jeder Kunstfreund aber von weiterem Blick und von
einer gewissen Vertrautheit mit ästhetischen Fragen wird
aus Hausegger’s Buch Anregungen mannigfacher Art schöpfen.
Dies gilt auch von solchen , die vielleicht in wesentlichen
Punkten anderer Meinung sind als der Autor. Wo gäbe es
denn aber ein Buch psychologischen Inhalts, das nicht in
zahlreichen Abschnitten zu Meinungsverschiedenheiten An¬
lass gäbe! Mitteilungen über Schlaf, Traum, Wahnsinn:
welcher Denkende hätte sich über solche Zustände nicht
eine bestimmte Ansicht gebildet! Die Physiologie wird sich
mit dem Schlaf am leichtesten in der Weise auseinander¬
setzen , dass sie ihn als eine Ermüdung des Gehirnes und
besonders gewisser Centren auffasst, die in die Bahnen
zwischen den Sinnesorganen und den Projektionsfeldern der¬
selben in der grauen Gehix-nrinde eingeschaltet sind. Dabei
weiß man, dass die graue Gehirnrinde als Ilauptvermittlei-in
des Bewusstseins angesehen werden muss, sowie man sich
dabei vorstellt, dass die Sinneseindrücke durch eine täglich
wiedei’kehrende Aufhebung des freien Verkehrs zwischen
Auge, Ohr, Nase u. s. w. und dem Organ des Bewusstseins
im Schlafe nicht oder nur unvollkommen wahrgenommen
werden. Da nun aber trotz der Ermüdung das Gehirn nicht
tot ist und da es kaum jemals in allen Teilen gleichmäßig
ermüdet sein dürfte, wird es auch im Schlafe eine gewisse
untergeordnete Thätigkeit beibehalten, die uns als Traum
zum Bewusstsein kommt. Ei-klärt man den Schlaf als Er¬
müdung, was doch am allernächsten liegt, so fällt eine Ana¬
logie der Träume mit dem künstlerischen Schaffen weniger
auf. Die Ähnlichkeit scheint nur in der Ausschaltung der
Sinneseindrücke und in der relativ lebhafteren Thätigkeit
jener Gehirnteile zu liegen, die nicht unmittelbar der Auf¬
merksamkeit und dem Bewusstsein dienen. Sie liegt ferner
in der Verarbeitung und Verbindung von Erinnerungsbil¬
dern, also in dem, was man gewöhnlich Phantasie nennt.
Die betreffenden Teile des Gehirnes müssen bei der künst-
2S0
KLEINE MITTEILUNGEN.
lerischen Thätigkeit aber doch gesund sein. Giebt es
dort partielle Lähmungen, Krämpfe, verstreute entzündliche
Herde oder dergleichen Erkrankungen, die eine normale
Verbindung stören, so ist damit zweifellos auch das künst¬
lerische Schaffen gestört. Hier werden wir mit Recht
von Verrücktheit, Geisteskrankheit, Wahnsinn sprechen,
deren unendliche Erscheinungsformen sich doch wohl nur
gelegentlich mit dem künstlerischen Denken berühren. Der
Künstler kann einerseits ohne die beständige Überwachung
durch den eigenen gesunden Verstand nicht auskommen,
andererseits können die Schöpfungen des Nichtkünstlers
nicht ohne Thätigkeit der Phantasie Zustandekommen, so¬
bald sie sich nur vom rein Vegetativen und Gewohnheits¬
mäßigen entfernen. Und noch eines: der Künstler kann sich
sogar den gewohnheitsmäßigen Griffen und Verrichtungen
des Handwerks nicht entziehen, wenn er nicht dem Dilet¬
tantismus die Hand reichen will. Wer berufsmäßig schafft,
unterliegt gewissen Gewohnheiten. So giebt es denn mehr
der verbindenden Fäden zwischen dem Schatten des gewöhn¬
lichen wachen geistesgesunden Menschen und dem des
Künstlers, als mancher wohl beim Betrachten großer Kunst¬
werke denkt. Eine bevorzugte Ausbildung (Veranlagung)
und Übung bestimmter Leitungen und Centren im Gehirn
und Nervensystem des Künstlers, eine Bevorzugung von Or¬
ganen, die aber beim Nichtkünstler zweifellos ebenfalls vor¬
handen sind, dies dürfte wohl der wesentliche Unterschied
zwischen dem vorwiegend produktiven Künstler und dem
nichtsch affenden gewöhnlichen Menschen sein. Erkranken
die erwähnten Leitungen und Centren, so wird der eine wie
der andere psychisch gestört erscheinen. Br. TH. v. FR.
Bernhard Berenson, The Venetian painters of the renais-
sance, with an index to their works. G. P. Putnam’s sons
New York, London, 1894. 8°. XII u. 141 p.
Vor mehr als zehn Jahren wurde der Versuch gemacht,
die eigentümliche Art, in der die venezianischen Maler in
den Versammlungsälen der Brüderschaften , vor allem
aber in den öffentlichen Gebäuden , geschichtliche Gegen¬
stände behandelten, aus der Festfreude dieser Stadt, aus ihrer
Lust an sinnfälligem Gepränge zu erklären. Das war in einer
Fachzeitschrift geschehen, mit historischen Belegen für Fach¬
genossen geschrieben (Repertorium 1883). Diesen Gedanken
nun nahm Mr. Bernhard Berenson, ein vorzüglicher Kenner
der venezianischen Schule, wieder auf und führte ihn in
dieser von anderer Seite in der Kunstchronik bereits er¬
wähnten Schrift, die sich an das große kunstliebende englische
Publikum wendet, glänzend durch. Charakteristiken der
bedeutenden Meister sind eingestreut, und ein Verzeichnis
der Werke der vorzüglichsten venezianischen Maler, bis in
das 18. Jahrhundert herabgeführt, bildet den Schluss.
Die Sprache ist blühend und so recht geschickt, den Be¬
trachter der Bilder in Begeisterung zu versetzen und ihn
doch dabei über das Wesentliche an einem Künstler aufzu¬
klären. Man höre eine Stelle über Tintoretto: „Es war seine
große Meisterschaft im Helldunkel, die Tintoretto befähigte,
die ganze Poesie seiner Seele in seine Bilder zu legen, vor
denen uns doch nie der Gedanke kommt, dass er uns das¬
selbe durch Worte hätte besser sagen können. Denn die
Poesie, die z. B. viele seiner Werke in der Schule des
heiligen Rochus erfüllt, lebt von Farbe und Licht. Was
anders als das Licht wandelt die öden Stätten, in denen
Magdalena oder Maria von Ägypten sitzen, in Traumgefilde,
wie sie die Dichter in den seligsten Augenblicken der Be¬
geisterung sehen? Was anders als Färbe und Licht brachte
die erhabene Magie jenes schaurigen Abendrotes hervor,
in dem Christus, weißgewandet, vor dem Richter steht?
Was wieder als Licht und Farbe und der Stern enzug der
Cherubim taucht den „Realismus“ der Verkündigung in
eine Musik, die bis in unser Innerstes dringt?“ Man benei¬
det den Autor um ein Publikum, von dem er voraussetzen
darf, dass es sich bei den einzelnen Bildern, die er übersicht¬
lich nach Künstlern zusammengestellt, solcher allgemeinen
Schilderungen erinnert. Bei dieser Aufzählung sind nur bei
den großen und älteren Meistern vollständige Listen gegeben,
während bei den späteren Künstlern nur wichtige und leicht
zugängliche Werke berücksichtigt sind. Das ist der Punkt,
wo man wünschen würde, dass der Autor sein Werk bei späte¬
ren Auflagen vervollständige, weil dadurch dem belehrenden
Zwecke des Buches Abbruch geschieht, indem in den einzel¬
nen Fällen der Reisende nicht weiß, ob Berenson das Bild,
das er in einer Galerie unter dem Namen eines venezianischen
Malers vorfindet, nicht für echt hielt, oder ob er es nur als
nicht besonders hervorragend weggelassen. Aber auch so wie
es ist, ist das Buch eine glückliche Bereicherung der Littera-
tur über venezianische Kunst. FRANZ WICKHOFF.
Die Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien
veranstaltet unter Förderung des k. k. österreichischen Mi¬
nisteriums für Kultus und Unterricht während der Zeit vom
1. Oktober bis Ende November 1895 in den Räumen des
Künstlerhauses eine internationale Ausstellung von neueren
Werken der graphischen Künste. Die Ausstellung soll in
zwei Abteilungen zerfallen. Die erste Abteilung umfasst
Original-Arbeiten auf dem Gebiete aller graphischen Künste,
also der Radirung, des Stiches, des Holzschnittes und der
Lithographie. Die zweite Abteilung soll ein Bild der künst¬
lerischen und technischen Entwicklung des Holzschnittes in
den letzten Jahren geben, wobei als oberste Zeitgrenze das
Jahr 1886, das Datum der letzten größeren Ausstellung der
Gesellschaft, angenommen wird. Die Anmeldungen sind bis
1. Juli, die Kunstwerke selbst bis längstens 1.' August an die
Gesellschaft für vervielfältigende Kunst (VI., Luftbadgasse 17)
einzusenden. Nach dem für die Ausstellungen der Gesellschaft
bestehenden Statute werden goldene Medaillen (höchstens
drei), Anerkennungs-Diplome und Bronzemedaillen verliehen.
* Unter dem Titel „U Art en France“ erscheint bei
C. N. Greig & Co. in Paris und Leipzig eine von Charles
Yriarte redigirte und mit Text begleitete Publikation, welche
den Zweck verfolgt, das Pariser Ausstellungsleben in seinen
jährlichen Haupterscheinungen zu repräsentiren. Es sind
Autotypieen in Folio von musterhafter Ausführung, in ver¬
schiedenfarbigem Druck, mit kurzen Erläuterungen, welche
mit den Porträts der betreffenden Künstler illustrirt sind.
Die erste Lieferung bringt nur Gemälde aus dem Salon des
Marsfeldes, einen Teil des schönen Triptychons „Ave Maria“
von Duhufc, ein reizvolles weibliches Bildnis von Gcrvex u.a.
Das Werk soll übrigens nicht nur die beiden Salons, son¬
dern auch die sonstigen Ausstellungen berücksichtigen, die
Aquarellisten, Pastellisten, Orientalisten, die „Independants“,
die „Fernmes artistes“, den Klub „Valnay“ u. s. w. Der
Jahrgang umfasst zwölf Lieferungen und hundert Tafeln.
Wer sich über die Kunstbewegung in Paris, besonders in der
dortigen Malerwelt, einen bequemen Überblick in geschmack¬
voller Fassung verschaffen will, dem kann diese neueste
Publikation des gegenwärtigen „Inspecteur general des Beaux-
arts“ in Frankreich bestens empfohlen werden:
Herausgeber: Carl von Lützow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Johann Sebastian Bach.
Auf dem ausgegrabenen Schädel modellirt von Carl Seffner.
Abb. l. Die Galiläa an der Kathedrale zu Durhain. Erbaut um 1175.
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
VON ADOLF ROSENBERG.
MIT ABBILDUNGEN.
ASS viele Deutsche über die Kunstschätze
und Naturschönheiten Italiens besser unter¬
richtet sind als über die aller übrigen
Länder, Deutschland mit einbegriffen, ist eine be¬
kannte Thatsaclie, die zum Teil auf die während
der Völkerwanderung erwachte und seitdem nie
wieder ganz eingeschlummerte Sehnsucht der frie¬
renden Germanen nach dem sonnigen Süden, zum
größeren Teile aber, was wenigstens das Jahrhun¬
dert seit Goethe’s italienischer Reise betrifft, auf
die unheimlich fruchtbare, auf Italien gerichtete
Thätigkeit unserer Schriftsteller zurückzuführen ist.
Die Kunstschriftsteller im Besonderen haben, obwohl
eigentlich kein Autor, der über Italien schreibt,
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 11.
I.
die Kunst umgehen kann, ihr reichliches Teil dazu
beigetragen. Der Enthusiasmus für alle Erzeugnisse
des italienischen Kunstgeistes hat die meisten von
ihnen sogar nicht gehindert, auch den Werken der
italienischen Gotliik, die doch immer nur eine künst¬
lich gehegte Zierpflanze auf dem Boden Italiens
gewesen ist, jene unbedingte Hochachtung darzu¬
bringen, die vor den Schöpfungen der Antike, der
Renaissance und der Barockzeit sicherer begründet
ist. Zur Entschuldigung des Enthusiasmus darf man
aber anführen, dass sie keinen Maßstab des Vergleichs
hatten. Selbst unter dem finsteren Druck der letzten
Papst- und Bourbonenkönige waren die Kunstschätze
und Baudenkmäler Roms und Neapels zugänglicher
37
282
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
als es noch heute die Baronialschlösser und Herren¬
sitze Alt -Englands sind, die sich eigentlich nur
einem mit tausend Empfehlungen ausgerüsteten
deutschen Kunstforscher, — und auch diesem nicht
einmal vollständig, — nämlich dem wackeren G. F.
Waagen erschlossen haben.
Diese Abgeschlossenheit hat es bedingt, dass
wir uns lange Zeit über die Entwicklung der Bau¬
kunst in England und Schottland nur sehr unklare
und unbestimmte, zumeist auf unzuverlässigen Ab¬
bildungen beruhende Vorstellungen machen konnten,
obwohl gerade die mittelalterliche Architektur Eng¬
lands der unsrigen geistig viel näher verwandt ist
als die Italiens. Wohl sind die großen Städte Eng¬
lands, außer London besonders die sogenannten
Kathedralstädte Canterbury, York, Exeter, Ely,
Lichfield, Durham u. s. w., gelegentlich von deutschen
Kunstforschern besucht worden; aber sie haben, so
viel mir bekannt ist, niemals ihre Beobachtungen
zu gründlichen Untersuchungen ausgedehnt, ver¬
mutlich weil sie glaubten, dass ihnen nach den um¬
fangreichen Sammelwerken von Britton, Bloxam,
Cotman, Fielding, Nash, Turner und Parker u. a.
nichts mehr zu thun übrig bleiben würde. Wohl
haben diese Publikationen, die zumeist in den zwan¬
ziger, dreißiger und vierziger Jahren entstanden sind,
noch heute ihren Wert wegen der eingehenden, auf
Urkundenforschungen und Überlieferungen gestützten
Darstellungen der Baugeschichte der einzelnen Denk¬
mäler. Was sie in dieser Hinsicht gesammelt haben,
muss so lange als Kanon gelten, bis sich Einer der
gewaltigen Mühe unterzieht, das ungeheure Material
noch einmal nachzuprüfen. Die Abbildungen jener
Publikationen, magere Stahlstiche und dürftige Litho¬
graphien, sind jedoch für unsere Augen unerträglich.
Abgesehen von ihrer Fehlerhaftigkeit im Einzelnen
haben sie durch ihre Trockenheit und Nüchternheit,
durch ihre falsche Schematisirung geradezu zu einer
irrigen Auffassung und Einteilung der Geschichte
(b-r englischen Baukunst geführt. Selbst ein so scharf
blickender, universell geschulter Mann wie Liibke
hat sich durch diese völlig ungenügenden Quellen,
die er wohl nur durch geringe eigene Anschauung
korrigiren konnte, zu einer ungünstigen Beurteilung
der englischen Gotik verleiten lassen, die erst jetzt
berichtigt werden kann, wo uns das immer noch
beste Anschauungsmittel unserer Zeit, die Photo¬
graphie, die nötigen Hilfsmittel bietet.
Auf sie werden wir uns, trotz ihrer bekannten
Fehlbarkeit, so lange verlassen müssen, bis die ihr
überlegene, aber auf ihr fußende Messbildkunst über
ihre Anfänge hinaus zu einem weniger kostspieligen
und umständlichen Verfahren gediehen ist. Bis
dahin wird der Photograph der treueste Begleiter und
Versorger des Kunsthistorikers bleiben, der sammeln,
vergleichen und jederzeit nach dem vorhandenen Mate¬
rial die gewonnenen Eindrücke kontroliren und be¬
festigen will. Dem Apparat eines Photographen,
freilich eines durch Jahrzehnte lange Praxis künstle¬
risch gebildeten und künstlerisch sehenden, verdanken
wir es auch, dass uns jetzt das Material zu einer un¬
befangenen und gerechteren Beurteilung der Bau¬
denkmäler Großbritanniens geliefert worden ist, als
sie bisher möglich gewesen war. Der Berliner
Verlagsbuchhändler Ernst Wasmuth hat vor einigen
Jahren den Photographen, der nur für ihn und nach
seinen Absichten arbeitet, nach England und Schott¬
land geschickt, und dort ist es ihm, zum Teil nach
Anweisungen des Architekten C. Ulide gelungen,
nicht nur von allbekannten Bauwerken neue und
ungemein charakteristische Aufnahmen zu gewinnen,
sondern auch in das sonst nur wenig oder gar nicht
zugängliche Innere englischer und schottischer Edel¬
sitze einzudringen, deren reizvolle künstlerische Ge¬
staltung nach Außen und Innen bisher in Deutsch¬
land nur durch die Berichte der Wenigen bekannt
geworden war, die durch einen Zufall oder durch
gesellschaftliche Beziehungen Zutritt erlangt hatten.
Wie schwer dieser Zutritt bei der stolzen Abge¬
schlossenheit der englischen Aristokratie selbst einem
Mann wie Waagen geworden ist, ist aus dessen
„Treasures of art etc.“ bekannt. Welche Genug-
thuung würde der wackere Pfadfinder gehabt haben,
wenn er noch erlebt hätte, wie die entarteten Erben
der von feinsinnigen Vätern erworbenen Kunstschätze
jetzt ihr Dasein von dem Verkauf alter Bilder —
sozusagen von einer Auktion zur andern — fristen
müssen !
Glücklicherweise sind die Baudenkmäler nicht
transportfähig und darum auch nicht verkäuflich.
Wenn man die 175 vortrefflich ausgeführten, zum
Teil sogar wie individuelle, malerische Aufnahmen
wirkenden Lichtdrucktafeln des Wasmuth’schen Wer¬
kes ') durchmustert, hat man sogar die Empfindung,
als wären alle diese Denkmäler autoclithon, sozu¬
sagen aus dem Erdboden heraus gewachsen und mit
diesem und ihrer architektonischen, landschaftlichen
und vegetabilischen Umgebung so innig verwachsen,
1) Baudenkmäler in Großbritannien. Herausgegeben von
Constantin Uhde, Geh. Hofrat, Architekt und Professor an
der herzoglichen technischen Hochschule in Braunschweig.
Zwei Bände. Berlin, Ernst Wasmuth. Fol.
Abb. 2. Kathedrale von Lichfield. Westseite. Um 1280.
37*
2S4
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
dass das Werk der Menschenhand von dem Erzeugnis
der mitwirkenden und bei Verfall des Menschen¬
werks poetisch verklärenden Natur nicht mehr ge¬
trennt werden kann. Nur wenn man dieses Zusammen¬
spiel von Kunst und Natur im Auge behält, lernt
man die Entwicklung der englischen Architektur
verstehen. Wohl hat es uns bisher nicht au so¬
genannten malerischen Aufnahmen gefehlt, die uns
im Gegensatz zu den alten, trockenen Stahlstichen
ein völlig anderes Bild von der englischen Baukunst
des Mittelalters geboten haben. Aber wir misstrauten
diesen mit überschwänglicher Fülle ausgestatteten
Ansichten, die meist nach Zeichnungen in Holz¬
schnitt ausgeführt waren. Jetzt liefert uns eine
reiche Photographiensammlung, die sich jedoch leider
nicht bis auf die poesievollsten Schöpfungen der eng¬
lischen Gotik, die ganz oder zum Teil erhaltenen oder
völlig in Ruinen liegenden Abteikirchen erstreckt,
den untrüglichen Beweis, dass die romantisch¬
malerischen Ansichten der Kathedralen, Abteikirchen
und Schlösser keineswegs übertrieben haben.
Mau hat die englische Architektur bisher nur
als eine trockene, dem Landes- und Volksbedürfnis
angepasste Nachahmerin fremder Stilarten angesehen.
Freilich insofern mit einem Schein des Rechts, als
die Kunst nach England wirklich importirt worden
und jede neue Phase ihrer Entwicklung auf Ein¬
flüsse von auswärts zurückzuführen ist. Aber wo
giebt es ein Kulturland, das nicht zu einem älteren
in gleichem Abhängigkeitsverhältnis stände? Selbst
die große Nährmutter der abendländischen Kunst,
Italien, hat die Kräfte, die sie später dem Norden mit¬
geteilt hat, aus den Boden Griechenlands gesogen,
und dieses wieder aus dem Orient. Den Lesern dieser
Blätter bieten wir mit solchen Erinnerungen nur eine
alle Weisheit; aber sie müssen iu diesem Zusammen¬
hänge wieder aufgefrischt werden, weil die englische
Architektur auch einmal das Recht fordert, auf ihre
eigenartige Physiognomie geprüft zu werden, nach¬
dem man in der neueren englischen Malerei und
Kunstindustrie die Selbständigkeit längst anerkannt
und nach, zum Teil auch über Verdienst gewürdigt hat.
Dass Großbritannien hinsichtlich der Kunst auf
fremde Hilfe angewiesen war, erklärt sich aus der
Geschichte des Landes. Die Römer, die ersten Träger
der Kultur und der in ihrem Gefolge schreitenden
Kunst, haben in keinem der von ihnen unterjochten
Länder so wenige prunkvolle Bauwerke aufgeführt
wie in Britannien, desto mehr Befestigungswerke,
Grenzwälle, Mauern und Forts, weil sie sich gegen
das Eindringen barbarischer Stämme von Norden her
schützen mussten. Ein korinthischer Tempel in
Chester, der an die Maison carree in Nimes erinnert,
die Überreste eiues Amphitheaters in Cirenchester,
die Ruinen der Bauwerke an den heißen Quellen
in Bath, dessen Name noch jetzt an die römischen
Thermen erinnert, und eine große Zahl von Spuren
römischer, zum Teil prächtig mit Mosaikfußböden
ausgestatteter Villen — das ist alles, was von der
kurzen Römerherrschaft übrig geblieben ist. Wie
schnell die Römerbauten nach dem Abzug der Er¬
oberer verfallen sein müssen, beweist der Umstand,
dass sie nicht den geringsten Einfluss auf die ein¬
heimische Bevölkerung geübt haben. Aus den zwei
Jahrhunderten, die zwischen dem Abzüge der Römer
und der Einführung des Christentums liegen, stammt
gerade die Mehrzahl jener fälschlich „prähistorisch“
genannten Denkmäler aus unbehauenen oder nur
roh bearbeiteten Felsblöcken, deren Haupttypus der
berühmte Steinring (Stonehenge) nördlich von Salis¬
bury ist. Es sind wahrscheinlich Grabdenkmäler zur
Erinnerung an gefallene Helden oder vielleicht auch
die Wahrzeichen gemeinsamer Begräbnisstätten ge¬
wesen.
Aus der Zeit der angelsächsischen Herrschaft
sind auch keine Kunstbauten erhalten, vielleicht weil
es keine gegeben hat. Die Angelsachsen scheinen
nichts mitgebracht zu haben, als die ihnen eigen¬
tümliche Holzbaukunst, und gerade von den zahl¬
reichen angelsächsischen Holzkirchen ist nur eine
in Greensted in der Grafschaft Essex übrig geblieben,
die fast gar keine Kunstformen aufzuweisen hat.
Wie diese Holzkirchen ausgesehen haben mögen,
können wir noch nach den norwegischen Holzkirchen
ermessen, deren Urtypus wohl auf die ersten Boten
des Christentums in Norwegen, die angelsächsischen
Mönche, zurückzuführen ist. Wenn es galt, Stein¬
bauten aufzurichten, nahmen die Angelsachsen aus
den Überresten römischer Bauwerke wohl das Mate¬
rial, namentlich die Backsteine. Die Kunstformen
waren ihnen aber gleichgültig, wie sich noch aus
einzelnen erhaltenen Dorfkirchen erkennen lässt.
Der Frühling der Kunst, d. h. in dieser Zeit
immer nur der Baukunst, kam den britischen Landen
erst durch die normannische Eroberung, durch jenes
eigentümliche, in der Weltgeschichte einzig da¬
stehende Volk, das überall da, wo es zuvor mit
Schwert und Feuer alles von Grund aus zerstört hatte,
eine neue, blühende Kultur erstehen ließ und dabei
noch für den Ausdruck seines Charakters oder vielmehr
seines Temperaments einen eigenen Kunststil erfand.
In Nordfrankreich zeigt er sich in seinen Anfängen,
Abb. 3. Kreuzgang der Kathedrale von Gloucester. Erbaut 1350 — 1410.
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
286
in Sizilien in seiner üppigsten Blüte mit roman¬
tischem Anstrich, und in England hat er sich eine
Herrschaft errichtet, deren Wirkung bis in die
Gegenwart nachhallt. Es scheint, dass er hier erst
den richtigen Boden gefunden hat. Nirgends sind
so viele normannische Bauwerke erhalten geblieben:
ganze, freilich nur bescheidene Kirchen, An- und
Vorbauten, die, von alten Kathedralen stammend,
jetzt den gotischen zur höchsten Zierde gereichen,
ganze Mittel- und Querschilfe, die von den gotischen
Baumeistern in ihre neuen Pläne aufgenommen
worden sind, weil, wie Uhde in seinem leider etwas
knapp bemessenen Texte treffend bemerkt, „die Ab¬
messungen der Kirchen des normannischen Stils gegen¬
über denen der ersten christlichen Dorfkirchen so
gewaltig waren, dass diese Bauten selbst heute noch
den Bedürfnissen genügen und auch auf uns durch
ihre vornehmen, einfachen Formen einen großartigen
Eindruck machen.“ Schon bei der Entwicklung des
normannischen Stils machen wir die eigentümliche
Beobachtung, dass er sich nicht lange in seiner
strengen und ernsten Formensprache erhielt, obwohl
er doch in England der alleinige Kunstgebieter war.
Die Konstruktion der Halle wird immer kühner, höher
und lichter, die Ornamentik wird immer leichter,
mannigfaltiger und gefälliger, ohne von ihrem geo¬
metrischen Grundsatz abzuweichen. Ist diese all¬
mähliche Stilwandlung aus der Verschmelzung der
Eroberer mit den Angelsachsen oder aus dem Gefühl
der Eroberer, dass sie nunmehr aus den kriege¬
rischen Verteidigern frohe, genießende Besitzer ge¬
worden sind, zu erklären? Oder hat nur die Unter¬
nehmungslust und die Wandelbarkeit der Bauleute
und Steinmetzen die Neuerungen herbeigeführt?
Das sind Fragen, die sich bei unserem heutigen
Wissen nicht beantworten lassen. Die Baudenkmäler
zeigen uns nur die Thatsache der Wandlungen, nicht
ihre Ursache. Zu welcher Kühnheit sich aber von
der Mitte des 12. Jahrhunderts ab der anfangs ge¬
drungene, hauptsächlich die Horizontale betonende
normannische Baustil schließlich entwickelte, zeigt
besonders das Innere der Kathedralen von Durham
und Peterborough und die der ersteren vorgebaute,
frühere Eingangshalle, die sogenannte „Galilaea“
(s. Abbildung 1). Die letztere und das Innere von
Peterborough stammen etwa aus derselben Zeit, aus
dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts und zeigen
in den Hauptformen wie in den Details der schon
beinahe elegant gewordenen Ornamentik eine so enge
Stilverwandtschaft, dass man sie demselben Meister
oder doch derselben Bauhütte zuschreiben möchte.
Auch die sogenannte „Galilaea“ ist eine specifisch
englische Erscheinung, die sonst in keiner andern
Baukunst der Welt vorkommt. Der rätselhafte Name
und der eigentliche Zweck dieser Annexbauten ist bis
heute noch nicht aufgeklärt worden. Sind es Bau¬
werke für die Zwecke der Leichenbestattung, eine
Art von Purgatorien vor dem Allerheiligsten gewesen
oder haben sie, wenigstens in den oberen Stock¬
werken, etwa wie unsere Sakristeien zur Vorbereitung
für Beichtkinder gedient?
Da mit dem Hereinbrechen des gotischen Stils
aus Frankreich die neue Kunst vornehmlich an dem
Äußeren der großen normannischen Kathedralen ge¬
übt wurde, weil das geräumige Innere mit seinen
mächtigen Hallen vorerst noch den Bedürfnissen ge¬
nügte, haben sich nur geringe Spuren erhalten, die
einen zudem noch unsicheren Schluss auf die ur¬
sprüngliche äußere Gestalt dieser Bauwerke erlauben.
Von selbständigen Bauwerken sind nur einige kleine
Kirchen übrig geblieben, von denen die in Jfley in
Oxfordshire die an äußerem Zierrat reichste und
auch insofern interessanteste ist, als sie uns eine
Vorstellung von der Anlage der normannischen
Türme in England gewährt, die bei den großen
Kathedralen zum Teil eingestürzt und durch andere
ersetzt, zum Teil stark oder völlig umgestaltet
worden sind. ') Auch das berühmte Treppenhaus an
der Kathedrale zu Canterbury, das früher als Ein¬
gang zu der Klosterherberge diente, gehört zu den
wenigen, noch vollständig und rein erhaltenen Bau¬
werken aus normannischer Zeit.
An die Kathedrale von Canterbury knüpft sich,
wie bekannt, der Beginn der gotischen Bauweise
in England. Es ist geradezu rätselhaft, wie dieser
neue Stil zu einer Zeit, wo die normannische Bau¬
art zur höchsten Kraft- und Glanzentfaltung gediehen
war, feste Wurzeln fassen und sich mit solcher
Schnelligkeit verbreiten konnte, wie es geschehen
ist. Hängt diese Wandlung vielleicht mit der der
politischen Verhältnisse Englands zusammen, mit
dem Übergang der Königsherrschaft an das Haus
Anjou-Plantagenet (1154)? Denn obwohl die Über¬
lieferung den Franzosen Wilhelm von Sens, der
1 174 den Wiederaufbau der Kathedrale von Canter¬
bury begann, als den ersten Apostel der neuen
Baulehre bezeichnet, kommen, wie Uhde hervorhebt,
Spitzbögen, also das Charakteristikum des danach
1) Dazu gehören auch die aus der letzten Zeit der nor¬
mannischen Bauperiode stammenden Türme auf den Kreuz¬
armen der Kathedrale von Exeter, deren oberer Abschluss
völlig modernisirt worden ist.
Abb. 4. Iiing’s College-Kapelle in Cambridge. Erbaut von 1440— 1530.
288
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
benannten Lancetstils, vereinzelt schon früher vor.
Es ist also naheliegend, dass mit dem Übergänge des
englischen Throns an die Plantagenets französische
Baumeister und Werkleute mehr und mehr ins Land
gekommen sind und allmählich den Sieg über die
normannische Bauweise davon getragen haben. Dass
aus ihrer Zahl gerade Wilhelm von Sens namentlich
hervorgehoben wird, erklärt sich leicht und natür¬
lich aus dem Umstande, dass der Chor der Kathe¬
drale von Canterbury das erste Bauwerk ist, das
ganz und gar in dem neuen Stile ausgeführt worden
ist. Streng genommen ist es freilich auch kein
selbständiges Bauwerk, und so war noch ein Menschen¬
alter hindurch nach der Vollendung des Chors von
Canterbury alles, was die Zeichen des gotischen
Stils an sich trägt, Stück- und Flickwerk.
Das erste selbständige Werk, das von Grund
aus in den Formen der Gotik aufgeführt worden
ist, war die Kathedrale von Salisbury, deren Bau
um 1220 begonnen wurde. Uhde rühmt in seinem
Texte besonders den „reich gegliederten Grundriss“,
der „im schönsten Einklang mit dem Aufbau und
dem Innern“ stehe. Er hat dabei nur übersehen,
dass gerade die Kathedrale von Salisbury am meisten
durch James Wyatt (1748 — 1813) verunstaltet wor¬
den ist, der seine Restaurationswut außerdem noch
an den Kathedralen von Durham, Hereford, Lincoln
und vielleicht noch an anderen ausgelassen hat. Die
englischen Lokalforscher halten mit den Ausdrücken
stärkster Entrüstung über die Barbarei Wyatts nicht
zurück. So schreibt z. B. King in seinem Führer
durch die englischen Kathedralen über die Thät.ig-
keit Wyatts in und an der Kathedrale von Salisbury:
„Er fegte Wandbekleidungen, Kapellen und Portale
hinweg, er entweihte und zerstörte die Gräber von
Kriegern und Prälaten, überschmierte alte Wand¬
gemälde, ließ ganze Wagenladungen mit bemalten
Glasscheiben in den Stadtgraben werfen und machte
den gleichzeitig mit der Kathedrale entstandenen
Glockenturm, welcher sich an der Nordseite des
Kirchhofs erhob, dem Erdboden gleich.“ Diese
Thatsaehen wird der Kunstforscher zu berücksichtigen
haben, der sich einmal gründlich mit dem Studium
der englischen Architektur beschäftigen will, wozu
die Publikation Ulide’s vielleicht die Anregung geben
wird. Die Bemerkung King’s deutet auch auf
Wandmalereien hin, von denen unseres Wissens bis
jetzt noch keine Spuren entdeckt worden sind. Auch
Uhde weiß nichts davon, da er nur von den „pracht¬
vollen farbigen Glasmalereien“ spricht, deren sich
trotz der Zerstörungssucht des 18. Jahrhunderts viele
erhalten haben. Hier kann also schon der Forscher
einsetzen und uns vielleicht die Lücke in unserer
Kenntnis englischer Kunstentwicklung ausfüllen, die
sich bis jetzt allein auf die Werke der Baukunst
und Plastik stützt.
Ancli über die Entwicklung der englischen
Plastik, namentlich über ihre Anfänge, sind wir
noch im Unklaren. Wie war es möglich, dass schon
hundert Jahre nach Einführung des gotischen Stils
in England eine so prachtvolle, mit einem unüber¬
sehbaren Reichtum von Figuren geschmückte Fassade,
wie die Westfront der Kathedrale von Lichfield (s.
Abbildung 2) ausgeführt werden konnte? In welcher
Schule sind die dazu nötigen künstlerischen Kräfte
ausgebildet worden? Und hier hat die dekorative
Plastik des gotischen Stils in England noch lange
nicht ihr Höchstes geleistet. Das glänzende Schau¬
stück der Kathedrale von Lichfield, die sonst durch
ihr Trifolium von wohl erhaltenen Spitztürmen unter
ihren Schwestern einzig dasteht, wird noch durch
die „Bilderwände“ an den Kathedralen von Lincoln
und Exeter übertroffen. Bei diesem ungeheueren
Aufwand an bildnerischen Zierraten, die im Inneren
der Kathedralen noch massenhafter und prunkvoller
auftreten, möchte man doch — bis auf weiteres —
die Behauptung aufstellen, dass die Malerei in der
englischen Kunst des Mittelalters die letzte Rolle ge-
spielt hat. Der Bedarf an malerischer Wirkung war
eigentlich durch die Architektur und die mit ihr so
eng wie nirgends verbundene Plastik vollkommen
gedeckt, zumal wenn sie noch die Mitwirkung der
Glasmalerei hinzuziehen konnte. Betrachtet man
z. B. das Innere des Kreuzganges der Kathedrale
von Gloucester (s. Abbildung 3) und der King’s
College- Kapelle in Cambridge (s. Abbildung 4), so
wird man schwerlich Wandflächen entdecken, auf
denen sich die monumentale oder dekorative Malerei
wie in unseren romanischen und gotischen Kirchen
entfalten und zu charaktervoller Erscheinung erheben
konnte.
Der Kreuzgang von Gloucester ist ein Markstein
in der Entwicklung der englischen Gotik. Während
der um fünfzig Jahre ältere Kreuzgang an der
Kathedrale von Salisbury nur ein einfaches Kreuz¬
gewölbe mit freilich reich profilirten Rippen der
völlig leeren, vielleicht aber ursprünglich bemalten
Kappen zeigt, treten in dem Kreuzgang von Glou¬
cester, soweit wir aus dem uns bekannten Denkmäler¬
vorrat ermitteln können, zum erstenmale die für
die englische Gotik charakteristischen , wiederum
nirgendwo anders vorkommenden Fächergewölbe auf
Abb. 5. Halle des Middle -Temple in London. Erbaut 1572.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. n.
38
290
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
und zwar sogleich in solchem Reichtum, mit einer
solchen ihres Zieles bewussten Sicherheit und Kühn¬
heit der Konstruktion, dass hier nicht ein erster
Versuch vorliegen kann , sondern bereits ein Höhe¬
punkt einer Reihe von Entwicklungen. Die Vorstufen
fehlen uns, vielleicht weil sie durch unverständige
Restauration beseitigt worden sind. Wir stehen hier
bereits einer in sich abgeschlossenen Erscheinung
gegenüber, die kaum noch zu größerer Mannigfaltig¬
keit und Kühnheit gesteigert werden kann. Aus
welcher vorwärts drängenden Regung des Kunst¬
triebes oder aus welchem Zweckmäßigkeitsbedürfnis
mag nun aber das fast gewaltsame Hineindringen der
dekorativen Plastik in das strenge Gefüge der Kon¬
struktion erwachsen sein? Ist die mittelalterliche
Malerei in England wirklich so weit hinter den
Schwesterkünsten zurückgeblieben, dass die pla¬
stische Dekoration an ihre Stelle treten musste?
Bei dem Mangel an Überresten ist uns eine Ent¬
scheidung dieser Frage so lange versagt, bis der
Zufall etwa noch unter der Tünche versteckte
Malereien an das Licht bringen wird. Eine be¬
kannte Thatsache scheint aber doch dafür zu sprechen,
dass die englische Malerei im Mittelalter neben der
Architektur und der mit ihr verbundenen und ihr
dienenden Plastik eine untergeordnete Rolle gespielt
haben muss. Denn nur aus dieser niedrigen Stellung
der englischen Malerei erklärt es sich, dass ein un¬
bekannter deutscher Maler, der von Basel nach
London wanderte, verhältnismäßig schnell in der
britischen Hauptstadt festen Fuß fassen und sogar
bis zum Range eines Hofmalers kommen konnte,
dass Niederländer und Deutsche nach Holbein - —
wir erinnern nur an van Dyck, Vorsterman, Peter
Lely, Wenzel ILollar — noch größere Erfolge er¬
zielten und dass ihre Nachahmer noch bis tief in das
18. Jahrhundert hinein das Feld beherrschten, bis
endlich die Anfänge einer wirklich englischen d. h.
aus dem Volkscharakter erwachsenen Malerei durch
Hogarth , Reynolds, Gainsborough u. a. begründet
wurden.
Nachdem nun einmal die dekorative Plastik an
die Stelle der monumentalen oder dekorativen Malerei
getreten war, wuchs ihr mit den Erfolgen die Kraft.
Was bei einem niedrigen Kreuzgang möglich war,
musste auch bei hohen Kirchenschiffen möglich
werden. So stieg allmählich diese Fächerdekoration
immer höher hinauf bis zu den Scheitelpunkten der
höchsten Gewölbe. In der Kapelle des King’s College in
Cambridge hat das Fächergewölbe im Gegensatz zu der
frischen Ursprünglichkeit und naiven Wildheit des
Gloucester-Kreuzgangs bereits eine etwas nüchterne
Regelmäßigkeit, ein gesetztes berechnetes Wesen an¬
genommen. Zwischen beiden Bauwerken liegt freilich
ein volles Jahrhundert. Der Kreuzgang von Gloucester
kam um 1410 zum Abschluss, während die Kapelle in
Cambridge erst um 1530, unter Heinrich VIII. vollendet
wurde. Zwischen diesen beiden Bauwerken liegt die
Kapelle Heinrich’s VII. an der Westminsterabtei in
London, die in der Zeit von 1502 — 1520 entstanden
ist. In ihr hat dieser eigentümliche Stil phantastischer
Innendekoration die üppigsten Blüten getrieben. Die
Stilpedanten , die zu ihrer Bequemlichkeit an dem
alten Einteilungsprinzip festhalten wollen und oft
genug auch festhalten müssen, um wenigstens für
Lehre und Unterweisung durch Schrift und Wort
ein System aufzustellen, haben gerade an diesen
letzten Trieben englischer Gotik schweres Ärgernis
genommen. Dem modernen Kunstforscher, der viel
gesehen und mit Hilfe des reichen photographischen
Materials unserer Tage zu vergleichen gelernt hat,
und ebenso auch dem scharfblickenden Kunstfreunde
wird es dagegen offenbar werden, dass der so¬
genannte „Tudorstil“ die höchste und reifste Ent¬
wicklung der englischen Gotik ist, dass sie sich
erst darin nach den unbeholfenen und nüchternen
Produkten des sogenannten „Early English“ zu
nationaler Selbständigkeit erhoben hat; und darum
hat auch der Tudorstil in England noch geherrscht, als
andere Länder bereits der Renaissance alle Thüren
geöffnet hatten. Sie haben sich alle von der Re¬
naissance unterjochen lassen. Nur in England haben
die nationalen Elemente immer das Übergewicht ge¬
habt und sich der Renaissance nur soweit anbequemt,
als die Nationalität der Briten, vor allem aber die
Gewohnheiten ihres Daseins nicht durch den neu¬
italienischen Stil beeinträchtigt wurden.
(Schluss folgt.)
Abb. G. Vorhalle der Marienkirche in Oxford. Erbaut 1637.
38
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
YON W. P. TTJCKERMANN.
MIT ABBILDUNGEN.
IE schon vorher angedeutet ist,
teilen sich in der antiken Kul¬
tur in ähnlicher Weise wie bei
den Kategorien der Verehrungs¬
und Weihebildwerke auch die
Sockelbildungen für öffentliche
Ehrendenkmäler und für Werke
eines privaten Kunstinteresses,
zn welchen Porträtstatuen und
die Bilder der öffentlich bekannt zu machenden Preis¬
kämpfer gehören, sowie das große Gebiet der Genre¬
bildnerei.
Was die Ehrendenkmäler betrifft, so erscheint die
Auffindung der Nike des Paiouios im Heiligen Tempel¬
bezirk zu Olympia mit dem ihr zugehörigen Sockel,
abgesehen von ihrer sonstigen Kunstbedeutung, schon
wegen dieser so selten vorkoramenden Vollständigkeit
bedeutsam! Figur 10 zeigt den dreiseitigen Pfeiler¬
sockel in den Proportionen einer dorischen Säule mit
einer Höhe von etwa 5 1 ■> oberen Durchmessern, während
der untere Plinthos sich um die Hälfte der Kapitälplatte
mit einem mächtigen Ablaufgliede erweitert. Das Ver¬
hältnis der Figur zum Sockel beträgt ein Drittel, in
absoluten Maßen beträgt die Dreiecksseite des obersten
Plinthos 1,10 m, die des untersten Plinthos 1,45 m, die
des untersten Sockelgliedes 1,95 m, die ganze Höhe des
Standbildsockels 0,10 m und die Höhe der Figur ohne
Flügel 2,10 m. Die ästhetische Wirkung dieser Auf¬
stellung ist anerkanntermaßen überraschend großartig;
von einer Höhe, in mehr als dreifacher Menschengröße
herabschwebend, gewinnt die Statue etwas Überirdisches.
Zu dem Schwung ihres wolkenartig aufgebauschten Ge¬
wandes kontrastirt sehr glücklich der schlanke drei¬
kantige Unterbau, so dass die Kühnheit zu dem Eindruck
des Erhabenen hinzutritt. Es mag archäologisch darüber
zu streiten sein, ob die Nike des Paionios mehr ein
Weihebild oder ein Ehrendenkmal gewesen sei; die Auf¬
stellung jedoch auf erhöhtem Sockel dürfte nach allem,
was die Antike aufweist, ästhetisch daran keinen Zweifel
(Fortsetzung und Schluss.)
lassen, dass der Künstler den Effekt des Ehrendenkmales
für den errungenen Sieg liervorbriugen wollte.
Auch die römischen Ehrensäulen bewegen sich in
dem gleichen Kreise eines Formenausdruckes von kühn
imponireuder Silhouette, ja sie sind anerkanntermaßen
typische Lösungen für diese Kunstaufgaben geworden!
Figur 11 zeigt die Trajanssäule zu Rom. Diese und
die Marcaurelssäule ergeben die Aufstellung des Trium¬
phators auf einem Säulensockel, wie bei den Adorations-
bildwerken. Die vielfach geäußerte Ansicht, dass die
Säulenform sich vielmehr aus der Gewohnheit entwickelt
habe, die Bilder des Siegers und seiner Kriegsthaten auf
hohen Masten und Bannern während des Triumphauf¬
zuges umherzutragen, erscheint nur durch die eigenartige
bandförmige Umwicklung des Säulenstammes mit den
Reliefdarstellungen gestützt, für die Figurenaufstellung
waren jedoch ältere, mit dem Volksbewusstsein für Heroi-
sirungsbildwerke fest verknüpfte Kunstanschauungen
vorhanden, umsomehr, da Rom bekanntlich in seiner
künstlerischen Bildung von Griechenland abhängig gewesen
ist! Rechnet man bei der Trajanssäule zu der Größe
der Statue die Höhe des obersten Bildwerksockels hinzu,
so ergiebt sich die Ähnlichkeit dieser Aufstellung mit
der vorangeführten Nike ganz deutlich, denn das am
Trajan gefundene Verhältnis ergiebt für den Säulen¬
sockel zur Statue die Proportion von 4:1. Hiernach
kann man wohl allgemein annehmen, dass ein hoher,
schlanker Pfeiler- oder Säulensockel eines statuarischen
'Werkes darauf hin deutet, dass es sich um die Anlage
eines Ehrendenkmals handele, oder um eine Hero'isirungs-
darstellung, wie ja allgemein die obeliskenartige Sil¬
houette mit dem Eindruck eines Hinweises auf die höheren
Sphären, auf die Gottheit verbunden ist.
Man wird daher nicht fehlgehen, wenn man im An¬
schluss an diese typische Charakterisirung der Ehren¬
denkmale auch die Reiterstatue des Agrippa, welche
auf dem noch vorhandenen, in Figur 12 dargestellten
Sockelunterbau vor den Propyläen der Burg Athen stand,
wegen der schlanken Silhouette desselben in die gleiche
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
293
Kategorie hineinrechnet, sodass es weniger auf die deut¬
liche Sichtbarmachung der Porträtähnlichkeit, als auf
die Charakteristik der Hero'isirimg ankam. Somit wurde,
was für die moderne Behandlung der Reiterstatuen von
Wichtigkeit ist, jegliche realistische Bezeichnung der
Situation vermieden und das ästhetische Gefühl mit der
an sich unnatürlichen Aufstellung eines Reiters auf be¬
schränktem Sockel in steiler Höhe versöhnt, wogegen
die realistische Durchführung der Reiterstatuen, welche
die heutige Zeit fordert, bei ähnlicher Aufstellung, wie
beispielsweise bei derjenigen des Königs Friedrich Wil¬
helm IV. auf der Treppe der National-Galerie zu Berlin,
eine solche Situation bedenklich erscheinen lässt. Bei
dem erstgenannten Falle war die Ehrenstellung der
Statue die Hauptsache, welche die Erhebung auf hohen
Sockelunterbau notwendig machte, bei dem letzteren
für dieses Friedrichsdenkmal, welche aus der Publikation
der Schinkersehen Bauwerke ersichtlich sind, den Ruhm
zollen müssen, dass sie in diesen Grundgedanken der
Sockelbildung stets das Richtige trafen. Aus denselben
Erwägungen wird auch geurteilt werden können, dass,
wenn es sich um eine Restauration des Sockels der Nike
Samothrake handelt, welche auf einem Schiffsschnabel
stand, unrichtig ist, dieselbe auf einen niedrigen, lang¬
gestreckten Schiffsteil als Unterbau zu stellen, wie dies
im Berliner Museum zu sehen ist, denn ein solches un¬
zweifelhaft als Ehrendenkmal komponirtes Werk konnte
nur auf einem Hochsockel aufgestellt werden, gewisser¬
maßen auf einer Columna rostrata, sodass bei der so
unvergleichlichen Charakterisirungskunst der Hellenen
durch leicht angedeutete Attribute — man denke nur
an die Adler -Fußplatte der Nike des Paionios — der
Falle jedoch ist die realistische Behandlung des Porträts
und der Umgebung Schuld, dass beim Beschauer sich
Nebengedanken über diese zu nah bestimmte Situation
aufdrängen und den ästhetischen Genuss des an sich
schönen Werkes beeinträchtigen.
Aus den gleichen Erwägungen begründet sich auch
das zum Anfang mitgeteilte abfällige Urteil bei M. Carriere
über den Sockel der Reiterstatue Friedrich des Großen
in Berlin. Die Komposition bewegt sich nämlich hierbei
in einer unentschiedenen Halbheit zwischen einem Hoch-
und einem Niedrig- Sockel, sie nimmt den Anlauf, eine
Hero'isirungssilhouette aufzubauen und wird doch wieder
durch praktische Bedenken der Porträtdarstellung zu
dem niedrigen Bathron der Statuen aus dem Bereiche
des persönlichen und privaten Interesses zurückgedrängt.
Dagegen wird man den bekannten Kompositionen Schinkels
Schiffsschnabel vermutlich nur in untergeordneter Weise
behandelt war.
Für die statuarischen Werke des privaten Interesses,
die dritte vorgenannte Kategorie, ist, wiederum ähnlich
den Weihebildwerken, in der Antike der niedrige Sockel
zur Aufstellung verwandt worden. Es ist ein großes
Gebiet von Fundstücken, welches hierher gehört, und
doch ist wenig nur in seiner Vollständigkeit mit dem
zugehörigen Sockel vorhanden. Man würde glauben, dass
Pompeji reichliche Ausbeute liefern müsste, wie auch
Overbeck in seinem Werk über Pompeji sich äußert: „Von
dem überschwänglichen Reichtum der Alten an plastischen
Kunstwerken ist es uns an Plastik armen Modernen
kaum möglich, uns eine selbst nur annähernde Vor¬
stellung zu machen, mögen wir auch von so und so
vielen Hunderten, oder selbst Tausenden von Gruppen
294
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
und Statuen lesen, die sich an einem Orte befinden, die
eine Stadt, ein Tempelbezirk, wie die Altis Olympia’s,
umfasste. Auf einem anderen Wege jedoch können wir
leicht zu einer Anschauung des plastischen Reichtums
der Alten gelangen, indem wir uns nämlich die Orte
vergegenwärtigen, welche sie mit Statuen zierten, in¬
dem wir die Veranlassungen, plastische Kunstwerke
aufzustellen, erwägen. Erinnern wir uns der Tempel
mit den Haupt- und Nebenbildern des Kultus, in der
Zelle und ihren Kapellen, mit den Weihebildern reli¬
giösen, historischen und individuellen Gegenstandes, im
Pronaos, in den Intercolumnien des Umganges, in Peri-
bolos und Posticum, denken wir an die Märkte und
Hallen mit ihren Ehrenstatuen berühmter oder ver¬
dienter Bürger, an die Theater mit ihren Dichterstatuen,
die Orte der Festkämpfe mit den Ehrenstatuen der
Sieger in langen Reihen, aus verschiedenen Jahrhun¬
derten, an die Hallen in den Wohnungen mit heiligen
und profanen Bildhauerwerken, an die Gymnasien, an
die Straßen, an die Brunnen, die Gräber, so haben wir
freilich noch lange nicht alle Orte genannt, welche
im Statuenschmuck, um nur von diesem zu reden,
prangten.“
Mit der Plünderung Korinths beginnt die Wande¬
rung der hellenischen Kunstwerke nach Rom, wo na¬
mentlich in der Kaiserzeit die neue Programmbestimmung
zur Aufstellung dieser plastischen Werke auftritt, Kunst¬
sammlungen anzulegen, bei denen es sich, mochten sie
die Gärten oder die Säle schmücken, stets um den in¬
timsten Kunstgenuss, um das Schauen aus der Nähe
handelt, wie unter den modernen Verhältnissen. Somit
bildet sich über Rom die Verallgemeinerung des Be¬
dürfnisses für profane Kunstwerke, deren Programm zu
den heutigen Anforderungen hinüberleitet. Alle diese
Werke des privaten Interesses, mögen sie zu den Cha¬
rakterbildern, zum Genre, zum Tierstück, oder zum
Porträt, in Statuen-, Hermen- oder Büstenform gehören,
verlangen den niedrig gehaltenen Sockel, ein Bathron,
welches auf etwa !/3 der Höhe des Bildwerkes, nach dem
absoluten Maßstab jedoch meistens nicht über 80 cm,
über Tischhöhe, bemessen ist.
Ein interessantes Beispiel bietet hierfür aus den
Ruinen von Pompeji die Statue der Eumachia, welche
in dem gleichnamigen, 1821 ausgegrabenen und am Forum
gelegenen großen Gebäude steht. Aus dem Hofe gelangt
man daselbst vor die große Nische im Hintergründe des
Sä ulenganges, in welcher die Statue der Pietas stand.
Hinter ihr. im Hintergrund des ganzen Baues stand die
Statue der Stifterin des Baues, die Eumachia (Fig. 13).
Bei dieser Porträtstatue hat der Sockel zum Bildnis
das Verhältnis 1: 2 J/2 , wobei die Augenhöhe des Be¬
schauers etwa auf die Kniegegend fällt, bei einer Ab-
soluthöhe des Sockels von rot. 70 cm. Noch lehrreicher ist
die Abbildung der Statue eines Faustkämpfers auf einem
Fußbodenmosaik in Herculanum (Fig. 14), bei welchem
der Sockel nur */4 der Figurenhöhe misst, wobei augen¬
scheinlich durch die niedrige Aufstellung die Kraft der
Arme, der Brust und Lenden gegenüber den weniger
interessanten Teilen der Unterschenkel bis zum Knie
dem Beschauer überwältigend vorgeführt werden sollte.
Auch die im Altertum sehr beliebte Lösung der Porträt¬
statue in Hermenform ist in Pompeji reichlich vertreten.
Gewöhnlich besteht dieselbe, wie Figur 15 zeigt, aus
einer Büste, welche auf einem viereckigen, nach unten
verjüngten Pfeiler in den Verhältnissen des zu der Büste
passenden Körpers aufgestellt ist. Diese Form war im
ganzen Altertum um so mehr beliebt, als durch die
nebensächliche Behandlung des Unterbaues das Interesse
allein dem Kopfe zu gute kommt, welcher überdies ent¬
weder ganz in die Augenhöhe des Beschauers gerückt
ist, oder doch nur ein wenig darüber. Aber auch mit
einem angeführteren Sockel sind eigenartige Hermen-
biisten in Pompeji vorhanden, welche ästhetisch durch¬
aus befriedigend wirken. So zeigt Figur 16 eine Herme
aus dem Venustempel mit Darstellung des Körpers bis
zur Hüfte, mit vollem Gewand und sogar mit voller
Aktion der Arme. Wenn aber, wie es gleichfalls in
Pompeji vorkommt, die Herme genreartig in lebendige
Beziehung zu umgebenden Figuren gesetzt wird, erhält
die Herme, wie zum Beispiel in Figur 17 nach einem
Wandgemälde in Pompeji, ein eigenes niedriges Bathron.
Nicht immer verbindet sich die Porträtbüste mit einem
Hermenpfeiler, als dem zugehörigen Sockel, die Büste
soll auch in der Innenarchitektur des Hauses eingefügt
werden und erhält dann als Bruststück die Form des
verjüngten Hermenkörpers (Fig. 17), ähnlich unsern
heutigen Brustbildern.
Unendlich groß ist ferner aus dem Gebiet antiker
statuarischer Fundstücke die Zahl der Zierfigiirchen
(Nippes). Da von diesen kleinen Bildwerken der Plastik
in Thon, Erz und verschiedenen anderen Stoffen bei
einer festen Verbindung des Bildes mit dem ganzen
Sockel viel Vollständiges erhalten ist, so wird auch
hieraus, wenngleich die Programmbestimmung für die¬
selben besondere Bedingungen, namentlich die der leichten
Beweglichkeit verlangt, die Frage der Sockelbildung
statuarischer Werke ihre Beleuchtung erhalten. Figur 19
zeigt eine Reihe dieser Formen, wie dieselben auch heute
noch üblich sind, niedrige Bänkchen von kubischer, cy-
lindrischer oder kegelförmiger, verjüngter Gestalt. Wenn¬
gleich nach den vorangegangenen Betrachtungen über
die in der Antike vorkommenden Sockelbildungen wieder-
holentlich beklagt werden musste, dass verhältnismäßig
so wenig vollständige Aufstellungen erhalten seien, ver¬
mutlich weil die großen Sockelstücke in späteren Zeiten
der Verwüstung zuerst zu einer anderweitigenVerwendung
gelangten, so konnte doch der ganze Kreis der ver¬
schiedenen plastischen Bildungen mit Beispielen belegt
werden, um von dieser unvergleichlichen Schule auch der
modernen Kunstthätigkeit einen vollständigen Lehrmittel-
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
295
apparat darzubieten. Erst das 16. Jahrhundert unserer
Zeitrechnung sah sodann wieder die erste große Samm¬
lung antiker Statuen für die namentlich unter Papst
Julius II. gesammelten Ausgrabungen, das jetzige Museo
Pio Clementino im Vatikan, in welchem die reichliche
Fülle der gleichfalls gefundenen und ausgegrabenen
marmornen Altarsockel, Kandelaberbasen, Säulen stücke,
Grabdenkmäler und Sarkophage Veranlassung bot, die¬
selben als Untersätze der statuarischen Werke zu ver¬
wenden. Trotz des Notbehelfs ist hierin mit vorzüg¬
lichem Kunstgeschmack verfahren und trotz der Überfülle
von Ausstellungsgegenständen ein ästhetisch befriedigen¬
der Eindruck der Ausstellungsräume gewahrt worden,
sehr zum Unterschied von den neueren Sammlungen an¬
tiker Torsos in Frankreich, England und Deutschland,
wo häufig, beispielsweise im Berliner Museum, neben
der Überladung der gedrückten, niedrigen Räume, die
Aufstellungen an dem Fehler zu hoher Sockel leiden.
Allerdings waren bei jener ersten Einrichtung der va¬
tikanischen Sammlung die größten Künstler der italie¬
nischen Renaissancezeit thätig. So ward 1588 Michel
Angelo vom Papst Paul III. auch beauftragt, die bronzene
Reiterstatue des Marc Aurel auf einem neuen Sockel
aufzurichten, was dieser große Künstler in einer für
alle Zeit mustergültigen Weise gelöst hat, wie in Fig. 20
angedeutet ist. Michel Angelo hat hierbei den Kapitols¬
platz, in dessen Mitte er den Marc Aurel aufstellte, mit
der engeren und weiteren Umgebung zu einem harmonischen
Gesamtbilde vereinigt, so kunstvoll, dass der Blick
des Beschauers sowohl für die Nähe, wie auch für die
Ferne den richtigen Standpunkt findet. Wer sich nahe
aufstellt, findet sein Auge in der Höhe der Sockelinschrift
und der Widmung, kann jedoch das Detail in einer voll¬
kommenen Weise genießen. Wer dagegen einen weiteren
Standpunkt zur Aufnahme des Totaleffektes wünscht,
findet diesen auf dem den Platz umrahmenden erhöhten
Stufenbau der Säulenhallen, einerseits des Konservatoren-
Palastes, anderseits des Kapitolinischen Museums. Der
so überaus einfach komponirte Sockel, welcher in erster
Linie den praktischen Aufstellungszwecken und der deut¬
lichen Markirung der Widmungsinschrift dient, erfüllt
aber auch alle ästhetischen Bedingungen und ist so voll¬
kommen in allen Abmessungen und Verhältnissen für
den Aufstellungsplatz und seine Umgebung hineinkom-
ponirt, dass die Figur wie in einer edelen Schale als
Weihebild dargeboten erscheint und die Betrachtung
mit stufenweis gesteigertem Interesse sich im höchsten
Genuss auf den Mittelpunkt der Anlage, die Reiterfigur,
lenkt. Durch die schlichte Einfachheit des Sockels,
welcher ohne Attribute, ohne begleitende Nebenfiguren,
gleichsam an eine geschäftsmäßige Museumsaufstellung
heranstreift, ist jedoch für den Gesamteffekt der Statue
die Gefahr vermieden, dass der Beschauer Bedenken hege,
ob nicht das schreitende Pferd auf diesem engen Sockel
unsicher stehe, ob nicht die erforderliche statuarische
Ruhe gestört sei. In der That ist diese Aufstellung
tadellos und übertrifft selbst die im Eingang dieser Ab¬
handlung gerühmte Aufstellung des Großen Kurfürsten
von Schlüter. Gewiss hatte dieser nicht nur für seine
Reiterfigur, sondern auch für die Sockellösung den Marc
Aurel zum Vorbild genommen, aber die Schwierigkeiten
der Aufstellung auf der engbeschränkten Brücke konnten
kaum gelöst werden, da ein Ort fortwährenden Drängens
und Schiebens des eiligen Publikums keinen weihevollen
Genuss aufkommen lassen wird. Das große Geheimnis
der so hoch befriedigenden Inscenirung des Marc Aurel
durch Michel Angelo besteht auch nicht darin, dass der¬
selbe etwa durch das gewählte Verhältnis des Sockels
zum Reiterbild = 1:2 sich an die Vorbilder der Antike
bei Weihebildaufstellungen eng angelelmt habe, sondern
darin, dass seine allgemeine künstlerische Vollkommen¬
heit ihn befähigte, die Architektur und Plastik in einem
malerisch und bedeutungsvoll wirkenden Gesamtbilde
zu vereinen, wozu bei der Aufstellung auf dem Römischen
Kapitolsplatz noch hinzukommt, dass dieser, dem geräusch¬
vollen Wagenverkehr entzogen, an sich eine weihevolle
Stimmung hervorruft, ferner, dass in der gewählten
Höhe der Aufstellung eine musterhafte Beobachtung aller
Anforderungen der Optik erreicht ist, während die noble
Einfachheit der Formen des Sockels sich mit der Würde
des Ortes und der allgemein dem römischen Volke po¬
pulär verständlichen Bedeutung der Marc-Aurel- Statue,
als einer hervorragenden Hinterlassenschaft der alten
römischen Kunst und der alten römischen Herrlichkeit,
aufs glücklichste verbindet.
Dass solche günstigen Effekte auch bei einer dia¬
metral verschiedenartigen Aufstellung, bei einem Hoch¬
sockel, erreicht werden können, wird Figur 21 das Reiter¬
standbild des Condottiere Bartolommeo Colleoni in Venedig
erweisen. In der That wird ein gleiches Lob aus ähn¬
licher Begründung diesem 1485 von Andrea Verrocchio
in der Form einer hochgestellten Heroisirungsstatue kom-
ponirten Werke gezollt werden können. Der gesäulte
und in reicher Architektur durchgeführte Pfeilersockel
hat hier sogar das doppelte Höhenverhältnis gegen die
Reiterstatue. Wiederum aber baut sich das in seiner
Silhouette ebenso einfach wie zielbewusst komponirte
Bildwerk auf dem malerisch gelegenen Platz von San
Giovanni e Paolo mit den ihn umgebenden berühmten
Bauwerken so harmonisch und gleichsam natürlich zu¬
sammengehörend auf, dass eine andere glücklichere Lö¬
sung gar nicht denkbar erscheint. Für den höheren
Standpunkt der Statue ist hier wiederum in entsprechen¬
der Behandlung das Detail zutreffend angepasst und ist
in der Gesamthaltung des Reiters, namentlich in seinem
energischen Sitz im Sattel, in seiner gewaltigen Zügel¬
führung, in seiner Herrschaft über die fast übertriebene
Kraft des Pferdes ein besonderes Moment der Wirkung,
selbst für einen entfernter stehenden Beobachter gefunden
worden. Trotz seiner Höhe, welche fast turmartig
296
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
wirkt, denkt gewiss kein Betrachter bei diesem Reiter¬
in] d an eine gefahrvolle Situation des Pferdes , sondern
nur daran, dass hier ein von allem realistischem Bei¬
werk freigehaltenes Ehrenbild komponirt sei, welches
hoch über den Markt- und Straßenverkehr emporgehoben
werden musste. Allerdings ist es, wie vorher Michel
Angelo, kein Geringerer als Verrocchio, der Lehrmeister
eines Lionardo da Vinci, welchem dieser glückliche Wurf
gelang, wiederum entsprungen der hohen Allgemein¬
bildung des Meisters, welche bekanntlich der italienischen
Renaissancezeit, namentlich der Frührenaissance durch¬
weg nachzurühmen ist. Der Bildhauer ist hier zugleich
Architekt und fühlt seine Komposition auch als Land¬
schaftsmaler, er stimmt aus seiner klar bewussten Künstler¬
individualität die Komposition für Ort und Umgebung
passend ab und giebt dem Gesamteindruck schon durch
bare und reiche Lebendigkeit in der Schilderung. Sie
setzt ein genaues Naturstudium voraus, sie verleiht den
Köpfen und Gestalten ein porträtartiges Gepräge, sie
geht auf besonderen Ausdruck, verständliche und richtige
Bewegungen los und sammelt gern die Einzelzüge zu
einem geschlossenen Charakter.“ Dagegen ist besonders
in der äußeren Erscheinung, namentlich in der ge¬
wählten Silhouette der plastischen Werke mit ihren
Sockelbildungen die Renaissance verhältnismäßig wenig
verschieden von der Antike, es sind dieselben Haupt¬
formen, das niedrige Bathron und die hohe Stele, welche
in verschiedenen Umformungen, doch im Grundgedanken
bei beiden gleichmäßig, wiederkehren, aber der die antike
Plastik bis in die spätere Kaiserzeit bedrückende hie¬
ratische und sociale Zwang ist in der Renaissance einer
vollen Freiheit des Individuums gewichen. Allerdings
große Züge und charaktervolle Behandlung in der Auf¬
stellung die beabsichtigte Wirkung. So verstärkt zum
Beispiel den Effekt des schroffen, energischen, rücksichts¬
losen. kühnen Wesens eines Condottiere, wie Colleoni
war, die unvermittelte schroffe Höhenbewegung desSockel-
anfbaues, dessen kühn aufstrebende Tendenz von der
den Pfeiler allein schmückenden Säulenstellung vorzüg-
lich unterstützt wird.
Groß ist der Unterschied in der Auffassung dieser
Renaissancemeister hinsichtlich der Aufstellung ihrer
statuarischen Werke von den antiken Plastikern, wie
sich auch Anton Springer äußert: „Nicht die Anlehnung
an die Antike ist das Neue, was durch die Renaissance in
die Plastik hineingebracht wird. Die Antike wird vor¬
wiegend ira dekorativen Beiwerk, zuweilen in Gew.and-
motiven nachgeahrat. Epochemachend wirkt die unmittel¬
wird ein völlig zutreffendes Urteil über die Entfaltung
der antiken Plastik und ihre bis zur realistischen Wir¬
kung hinneigende Aufstellung der Gruppenwerke erst
durch die volle Erforschung der Pergamenischen Kunst¬
periode gewonnen werden, scheinen doch bereits die
Attalos- Gruppen auf der Burg Athen mit ihrer eigen¬
artigen Aufstellung eine Schöpfung ungehinderten, in¬
dividuellen, realistischen Kunstgefühls zu sein und somit
vielleicht eine Beschränkung des obigen Urteils zu er¬
fordern. Auf niedrigem Bathron vor der inneren Burg¬
mauer waren hier durch Nebeneinanderstellung der
einzelnen, in ihren Plinthen getrennt gearbeiteten
Figuren, wie man wohl nach den in Pergamon auf¬
gefundenen Werken urteilen darf, große Effekte einer
freien lebendigen Gruppirung erreicht, welchen die
moderne Zeit nur weniges an die Seite stellen kann.
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
297
Allerdings erinnert an diese Kompositionsweise ein be¬
rühmtes Werk der Renaissancezeit, das Grabdenkmal
des Kaisers Maximilian I. in der Hofkirche zu Innsbruck,
welches nur leider die einheitliche Hand eines durch¬
führenden Meisters vermissen lässt, denn dasselbe ist
1583 vollendet, teils von Abel in Köln, teils von Colins
aus Mecheln, teils von Peter Yischer und anderen fertig
gestellt. Den Mittelpunkt dieses großartigen Gruppen¬
werkes bildet ein kolossaler, etagenförmig sich auf¬
bauender Marmorsarkophag, auf welchem hoch oben der
Kaiser Maximilian knieend dargestellt ist. Zu beiden
Seiten des Sarkophages, durch die Kirchengänge getrennt,
befinden sich die Reihen der Leidtragenden, als Fackel¬
träger gedacht. Es sind
28 auf niederen getrenn¬
ten Sockeln über einem
durchgehenden Bankett
in zwei Reihen neben¬
einander aufgestellte
Bronzefiguren, über Le¬
bensgröße , welche den
Beschauer ebensowohl
durch ihre vorzügliche
Ausführung, wie bei¬
spielsweise Figur 22 der
sogenannte König Ar¬
thur von England, wie
auch anderseits durch
die Eigenartigkeit ihrer
Aufstellung fesseln , in
langgestreckter Reihen¬
entfaltung zu dem Mittel¬
punkte der Komposition
aufs würdigste vorberei¬
tend. Wenn nun zwar
die Aufstellung dieses
Werkes in dem halber¬
leuchteten Kirchenschiff
die volle Übersicht der
Gesamtkomposition hin¬
dert, so ist doch soviel
des Einzelgenusses geboten, dass man von den gesteigerten
Anforderungen, welche von einem frei aufgestellten Monu¬
ment erwartet werden, gern absieht. Besonders fesselt
bekanntlich die Großartigkeit der den Sockel des Sarkophag¬
aufbaues bekleidenden Marmorreliefs, Scenen aus dem
Leben des Kaisers darstellend, so dass nach diesem
Reichtum des Kunstgenusses die Einbildungskraft für
den in einem mystischen Halbdunkel sich verlierenden
Gipfel des Monuments kaum noch eine weitere Steige1
rung erwartet. Somit ist in der Kunst der Aufstellung
unter einer wohlgelungenen Benutzung der eigentüm¬
lichen Beleuchtungseffekte des Kirchenraums nicht allein
das Bedeutsame und vollendet Schöne zur vollen Geltung
gebracht, sondern auch die Schwäche der Komposition
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 11.
gemildert, da in der That die den höchsten Teil des
Sarkophages beherrschende Figur des Kaisers nicht auf
der gleichen Höhe der künstlerischen Ausführung ver¬
bleibt. Unter dem Gesamteindruck des Erhabenen ist
trotz des erstaunlichen Reichtums die harmonische Be¬
friedigung des ganzen Werkes gewahrt.
Innerhalb dieser bisher behandelten Kategorie von
Gruppenwerken der Plastik, welche sich über den Rahmen
des geschlossenen Einzelbildes hinausheben, ist aus den
Kunstleistungen der Renaissancezeit noch eine weitere
und hochbedeutsame Gattung von Skulpturwerken zu
erwähnen, in welchen die vollendete Formen Virtuosität
der Barock- Bildhauer, vornehmlich Italiens die höchsten
Triumphe feiert , bei
denen zugleich die Bil¬
dung des Sockels eine
ganz eigenartige Lösung
findet. Es sind die in
der Gartenkunst der Ba¬
rock-Renaissance reich¬
lich ausgeführten statua¬
rischen Werke, welche,
nachdem in stufenweiser
Entwickelung Architek¬
tur, Plastik und Malerei
einzeln im Programm
der Gartenkunst Auf¬
nahme gefunden hatten,
schließlich von der Mitte
des 17. bis zur Mitte
des 18. Jahrhunderts un¬
ter der Herrschaft der
Rokoko - Renaissance do-
minirend das Gartenbild
bestimmen , wie durch
den Verfasser in dem
von ihm bearbeiteten
Werk „Die Gartenkunst
der italienischen Renais¬
sance, Berlin bei Parey
1884“ näher ausgeführt
worden ist. In der Überschwänglichkeit dieser Zeit tritt
der statuarische Gruppenaufbau mit einer besonderen Be¬
handlung der Sockelanlage vor der Gartenlandschaft in den
Vordergrund, meist in Verbindung mit WTerken der Wasser¬
kunst, oft in einer unbefriedigenden Manierirtheit, aber
jedesmal in einer so großartigen, selbst im verschwen¬
derischen Reichtum einheitlichen Durchführung, dass den
Werken dieser Epoche zum mindesten die Erhebung über
das Kleinliche nachgerühmt werden muss. Um dies zu
erreichen, hat allerdings, wie bekannt, Versailles, die
Geburtsstätte dieser künstlerischen Ausschweifung, den
König Ludwig den XIV. arm gemacht, und dasselbe gilt
auch von allen seinen Nachbetern, den weltlichen und
geistlichen Fürsten, den Grafen und Baronen, welche
39
Fig. 20. Reiterstandbild des Marcus Aurelius in Rom. (Kapitol.)
29S
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
jeglicher auf seinen Hufen seine eigene Versailles-Park¬
anlage , sein Marly und sein Trianon besitzen wollten,
welche aber alle ihren finanziellen Ruin dabei gefunden
haben.
Immerhin bildet aber diese Zeit die goldene
Schaffens-Periode der Bildhauer, denen Männer wie Ber-
nini und Borromini in Brunnenwerken und im Gruppen¬
aufbau die Pfade wiesen, um schließlich frei wie ein
Historienmaler lebendige Theaterscenen aus Stein, selbst
aus Marmor, in unbeschränktem Figurenreichtum in die
freie Natur hinein zu zau¬
bern. Dazu bieten die
Metamorphosen des Ovid,
Liebesscenen, Jagdbilder,
Schäferspiele die belieb¬
testen Motive. Eine be¬
sonders reiche Ausbeute
derartiger Schöpfungen,
welche an Kunstgeschmack
der Ausführung, und Kom¬
position alle übrigen ähn¬
lichen Werke übertroffen,
bietet der Park von Caserta
bei Neapel, für die könig¬
liche Familie am Ausgang
der Rokoko -Periode 1752
von Vanvitelli angelegt.
Das Hauptmotiv dieser
Gartenschöpfung bildet
gleichfalls eine in riesen¬
haftem Maßstabe durchge¬
führte Wasserkunst, welche
zwei Miglien weit aus dem
Gebirge herangeführt, in
drei großen Oaskadenstür-
zen mit Grotten werk und da¬
zwischen gestellten Figu¬
rentableaus, mit architek¬
tonisch verzierten Kanal¬
wänden und Einfassungen
mit malerischen Brücken
und gärtnerischen Coulis-
senwänden, immer aber un¬
ter dem Vorwalten der bild-
hanorischen Arbeiten, bis zum Schloss geführt ist, mit
einem unvergleichlichen Prospekt auf diese, wie eine ge¬
waltige Naturkraft heranbrausende Wassermasse. Fi¬
gur 23 stellt einen Teil des im ersten Caskadenabsturz
auf Klippen und zwischen Farren, gleichsam in natür¬
lich zerklüftetem Felsenufer aufgestellten Marmortableaus
dar, welches die belauschten Nymphen behandelt. Hier
hört jegliche Sockelbildung in der gewöhnlichen stereo¬
metrischen Form, wie sie bisher verwandt war, auf und
auf dem natürlichen, mehr oder weniger zerklüfteten
Felsen entfalten sich stehend, sitzend, liegend die Tier¬
lind Menschengruppen, als wären sie mitten im Leben
durch irgend ein Zauberwort bis zur Erlösung ver¬
steinert worden. Diana und die Nymphen, Amor und
die Genien, Tritonen, allerlei Getier, namentlich Hunde
und Eber, auf Klippen gelagert und über den Sprudel
springend, bilden das agirende Personal dieser Scenerie.
Gewiss würde eine solche Verletzung der die statuarische
Ruhe des plastischen Kunstwerkes erfordernden ästhe¬
tischen Gesetze dem Geschmack beleidigen, wenn nicht in
den meisten Fällen bei der Vereinigung der Plastik mit
der Gartenkunst, wie bei¬
spielsweise auch in Caserta,
die Natur in diesem Kon¬
kurrenzstreit mit dem Mach¬
werk von Menschenhand
dennoch den Sieg errungen
hätte.
Gewisslich wird in der
vorstehenden Abhandlung
aus dem großen Gebiete der
Kunst des Plastikers manche
eigenartige Lösung des
Sockels in der großen Zeit¬
folge von der Antike bis
zur heutigen Zeit uner¬
wähnt übergangen sein, da
im Vorstehenden nur in
großen Sprüngen eine all¬
gemeine Übersicht der lei¬
tenden Gedanken, wie das
Verhältnis des Sockels zum
statuarischen Bildwerk ge¬
staltet sei, geboten werden
sollte. Namentlich ist die
große Verschiedenheit des
Effektes, welche in der
Wahl der Materialien des
Sockels hervorgebracht
werden kann, noch nicht
erwähnt, da die Güte des
Materials, die Härte, die
Politurfähigkeit, die Farbe
desselben, die Empfänglich¬
keit für Reliefbearbeitung
von großem Einfluss ist, ebenso wie die Verwendung ge¬
mischter Materialien, welche den Farbeneffekt steigern:
alier immerhin wird ein Nutzen derartiger Rückblicke
darin zu suchen sein, daß die Gegenwart mit ihrem fort¬
schreitenden Streben sich um so sicherer auf den Schultern
der Vergangenheit aufbauen kann. Aus der Kenntnis
und Beherrschung des Vorangegangenen wird der Künstler
seine eigene Individualität feststellen und zur Geltung
bringen. Diese Vorbildung fordert die heutige Zeit.
Möchte in diesem Streben die zeitgenössischen Künstler
eine ähnliche Gefühls- mul Geschmacksbildung aus dem
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
299
Bereich der sämtlichen bildenden Künste leiten, wie dies
von den besten Zeiten der italienischen Renaissance vor¬
her gezeigt ist. Allerdings bieten die modernen Auf¬
gaben größere Schwierigkeiten durch manche die Auf¬
stellung des statuarischen Werkes traditionell begleitenden
Anforderungen des Publikums. Ein wünschenswerter
Reichtum an erklärenden Sockelfiguren drückt natur¬
gemäß das Hauptbild immer höher hinauf, schwer ist es,
dann das Detail der Porträtähnlichkeit zum Erkennen
zu bringen und die harmonische Einheit nicht zu ver¬
lieren, wogegen die realistische Richtung der Zeit den
größten Wert auf die höchste Durchführung der Porträt¬
treue gelegt haben will. Selten kommen neue Kunst¬
gedanken, welche in jenen vorangeführten Kategorien
nicht mitenthalten wären, zu
Tage, immer bilden solche
scheinbaren Neuheiten höch¬
stens eine Vervielfältigung in
der Anwendung der bekannten
Motive und einen höheren
Reichtum der Ausführung, meist
verbunden mit der Steigerung
realistischer Effekte, worin je¬
doch die römische Antike im¬
merhin noch um viele Stei¬
gerungsstufen der heutigen Zeit
voraus ist und als Vorbild gel¬
ten kann.
Neuerdings haben be¬
kanntlich die Formen der Ro¬
koko-Dekoration wieder eine
gewisse Modeliebhaberei in Ar¬
chitektur, Malerei und Klein¬
künsten errungen. Selbstver¬
ständlich schreitet auch die
Bildhauerei mit der gleichen
Berechtigung wie die vorge¬
nannten Künste auf demselben
Pfade. Aber wird auch der
Reichtum der heutigen Mäcenaten das halten, was die
Vergangenheit auf die Dauer nicht leisten konnte? Das
sind Fragen, welche die Zukunft erst lösen wird, wonach
aber voraussichtlich eine zu lange Herrschaft der Ro¬
koko-Plastik nicht in Aussicht zu stehen scheint. Übrigens
ist immerhin hervorzuheben, dass der innerste Nerv der
modernen Weltauffassung romantischen Charakters ist,
welcher aber in seinem formalen Bildungsdrange sich
immer am günstigsten an die Schule der Antike halten
wird, an den Weg einer weisen Maßhaltung, der be¬
kanntlich den Hellenen auszeichnete und ihn zu Werken
ewiger Schönheit geführt hat.
Von höchstem Interesse hierin ist es einerseits, auf
die Ökonomie in der Entfaltung der größten statuarischen
Denkmale des alten Griechenlands hinzuweisen, bei den
Goldelfenbeinbildern des Pliidias , welche die Athena
Parthenos auf der Akropolis zu Athen und den Zeus in
Olympia darstellen, andererseits den Gedankenreichtum
hervorzuheben, welcher fast in Überfülle zur Erklärung
der Hauptfigur durch die im Sockel verwandten Relief¬
darstellungen ausgedrückt ist. An der Athena schmückten
den goldenen Helm vorn eine Sphinx und Greifen zu beiden
Seiten. Die Brust umgab der Panzer mit dem Gorgoneion,
welches den Medusenkopf zeigte. Auf der inneren Seite
des Schildes war der Kampf der Giganten gegen die
Götter dargestellt, auf der Außenseite die Amazonen¬
schlacht, in welcher Pliidias sein und des Perikies
Porträtbild anbrachte. Am Rand der Sandalen der
Athena sah man noch den Kampf der Lapithen und
Kentauren, endlich an dem niedrigen Bathron die Ge¬
burt der Pandora im Beisein
der Götter. Somit war der
Sockel der Statue auch inhalt¬
lich untrennbar verbunden, zur
Durchführung des Gedankens
von der Vervollkommnung des
Menschen im Kampfe mit seinen
Anlagen und Leidenschaften
bis zum Sieg in göttlicher
Klarheit.
Auch die sitzende Statue
des siegverleihenden Zeus in
Olympia lässt eine Abtrennung
des für sie eigentümlich kom-
ponirten Sockels nicht zu, ohne
den Zusammenhang der den
Gedanken vom Kampf zum
Sieg behandelnden Attribute
und Reliefdarstellungen zu zer¬
stören. Der Olympier trug
einen Kranz von Ölzweigen
auf dem Haupte, in der Lin¬
ken den Adlerscepter, auf der
Rechten die geflügelte Nike
haltend. Den weitfaltigen Man¬
tel schmückten eingelegte Figuren, besonders aber befan¬
den sich die erklärenden Bildwerke am Thron und seinem
Sockel. Der Thronsitz hatte außer den 4 Füßen noch
4 Zwischensäulchen zur Stütze. Dort befanden sich
24 Nikefigürchen als Tänzerinnen dargestellt. An den
Querriegeln der Thronfüße sah man ferner in Einzel¬
figuren die 8 Kampfesarten, sowie den Kampf des
Herkules und des Theseus gegen die Amazonen. Zwi¬
schen den Thronfüßen waren auch Schranken angebracht,
an deren Seitenflächen Scenen aus der Heroen-Sage Platz
gefunden hatten, sowie die Strafe der Niobe'iden. An
der Rücklehne des Thrones sah man die Horen und
Chariten, am Fußschemel den Götterkreis. Wenn nach
unserem modernen Geschmacke allerdings, trotz des hohen
Namens eines Phidias, eine derartige Fülle von Dar¬
stellungen zu sehr gehäuft und daher im Effekt verfehlt
39*
Fig. 23. Gruppe im Parke von Caserta bei Neapel.
300
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
erscheinen würde, so muss immer wieder hervorgehoben
werden, dass es dem Hellenen besonders darauf ankam,
die Gottheit durch den reichsten Schmuck zu ehren und
daher in einer, alle künstlerischen Fragen beseitigenden
schroffen Konsequenz, im Verfolg des aus hieratischen
Rücksichten aufgestellten Programms, die der Gottheit
darzubringenden Lobeshymnen in reichster Vollständigkeit
durch Bildwerke zum Ausdruck zu bringen, wozu der
Sockel den mehr oder minder ausreichenden Platz dar¬
bot. AVenn auch die moderne Zeit in diesen, den Kunst¬
genuss zum Teil beschränkenden Lösungen der Antike
nicht folgen darf, so wird doch immerhin das schon
vorher aufgestellte allgemeine Gesetz gütig bleiben, dass
der Sockel durch Bildschmuck verschiedenster Art in
poetisch anregender und populär verständlicher Weise
die Erklärung des statuarischen Werkes aufzunehmen
habe. Wo dieses durch inschriftliche Bezeichnung und
Widmung erfolgen soll , wird man in der Römischen
Kunst gern sein Vorbild suchen, da dieselbe einen un¬
übertroffenen Kunstgeschraack ' in der Klarheit und
Deutlichkeit der Buchstaben, sowie in ihrer Verteilung
auf der Fläche besaß; wo ferner flaches oder stärkeres
Relief den Sockel zieren soll, wird man mit Vorteil die
Meisterschöpfungen der italienschen Renaissance studiren,
wo endlich Freistellung der Figuren des Sockels ver¬
langt wird, bietet sich von der Barock -Renaissance
an, bis auf den heutigen Tag manch lehrreiches Beispiel
zur Vergleichung und Beurteilung dar. Diese letztere
in neuerer Zeit fast schematisch erforderte Kompositions¬
weise führt den Nachteil mit sich, dass die freien Figuren,
namentlich wenn sie nicht mit dem Sockel aus dem
gleichen Material gebildet sind, aus dem Rahmen des
Gesamteffektes hinausdrängen, für sich betrachtet werden
wollen und das Interesse von der Hauptfigur ablenken.
Da ihnen der dem Relief noch eigentümliche Architektur-
Rahmen fehlt, so sind sie mit der übrigen Masse des
Sockels nicht verbunden, fallen gewissermaßen aus dem¬
selben heraus und verhindern den harmonischen Effekt,
wie beispielsweise an dem Sockel der Reiterfigur des
Königs Friedrich Wilhelm III. in Berlin vor dem
Museum, während die Tiergarten -Statue dieses Königs,
in der Form der Ehrendenkmale, gerade durch eine
besonders gelungene und befriedigende Lösung des Sockels
erfreut.
Auch an diesem Werke erkennt man wiederum das
Zutreffende der vorhergestellten Forderung, dass der
Bildhauer für den gegebenen Aufstellungsplatz die
Silhouette, die ganze Haltung der Figur, die Stärke des
Reliefs, die Farbengebung und die Wahl der Materials
besonders zu bestimmen habe, dass also die in manchen
Programmbestimmungen moderner bildhauerischer Kon¬
kurrenzausschreibungen freigestellte Wahl verschiedener
Aufstellungsplätze den Künstler irreführen muss, wenn
er sich nicht die große Mehrarbeit aufbürden will, für
.jeden Platz eine besondere Lösung zu komponiren. Der
Bildhauer soll vielmehr für die bestimmte Umgebung
passend . sein Werk so hineinstellen, wie auch der
Architekt arbeitet, welcher von einer besonderen stilisti¬
schen Lieblingsform, welche für alle Fälle passen sollte,
abzusehen hat, vielmehr jeder Stilform für sich die Be¬
rechtigung zuerkennt, je nach Ort und Gelegenheit
passend verwandt zu werden und hierin je nach seiner
künstlerischen Allgemeinbildung das Richtige finden
wird. Leider kann diese Forderung bei den für Innen¬
räume bestimmten plastischen Werken, insoweit sie
nicht besonders in Auftrag gegeben sind, sondern vom
Bildhauer als Vorratsarbeiten gebildet werden, welche
noch um einen Käufer werben, nicht erreicht werden.
Aber trägt nicht einen großen Teil der Schuld, dass von
diesen Werken im Besitz des Käufers vieles an seinem
Effekt Einbuße erleidet und durch eine falsche Auf¬
stellung geschädigt wird, die mangelnde Fürsorge des
ausführenden Künstlers, um hierin seine Absichten in
bestimmter Weise festzulegen? Hielte derselbe die ihm
allein richtig erscheinende Gruppirung und Umrahmung
seiner Arbeit von vornherein fest im Auge, würde er
für einen solchen bestimmten Effekt alle seine Kunst in
dem Werke, welches selbst individuell wirken soll, ver¬
einigen, so würde ein großer Fortschritt zu verzeichnen
sein, wie auch der Kritiker einen gerechteren Stand¬
punkt der Beurteilung finden und der Käufer für die
plangemäße Aufstellung einen wünschenswerten Anhalt
finden würde. In modernen Wohngebäuden wiederholt
sich bekanntlich auch der konventionelle Aufstellungs¬
platz für plastische Kunstwerke. Man liebt es, dieselben
vor den Fenstern eines Salons, namentlich vor einem
Erkerfenster aufzustellen, um daselbst einerseits ein
möglichst helles Licht zu empfangen, und andererseits,
um dieselben auch von der Straße her sichtbar zu machen.
Aber diese Aufstellung im grellen Fensterlicht ist ein
Verderb für das dem Missbrauch geopferte Werk, die
mit dem grellen Licht verbundenen grellen Schatten zer¬
stören das Modell, woher bekanntlich in Museen eine
solche Aufstellung niemals, nur im Notfall, verwandt wird.
Hiermit soll allerdings nicht behauptet sein, dass
die Museumsaufstellung, wie sie im allgemeinen sich
überall wiederholt, für plastische Werke besonders
mustergültig und empfehlenswert sei. Im Gegenteil,
selbst wenn im übrigen die Fragen der Beleuchtung,
der Sockelhöhe, der Umrahmung, des Hintergrundes, des
zugewiesenen Standpunktes etc. befriedigend gelöst sein
mögen, so bleibt immerhin der Museumsaufstellung der
unschöne, die Individualität des Kunstwerkes schädigende
Charakter der Magazinirung anhaften; ausgenommen,
wenn man, wüe beispielsweise im vatikanischen Museum
zu Rom für den Apollo von Belvedere, besonders kom-
ponirte Aufstellungsräume beschaffen kann.
Alle Anforderungen, welche für die Aufstellung in
Innenräumen das ästhetische Gefühl zu stellen hat, wird
jedoch der Künstler zu einer leichteren Erfüllung bringen,
DIE SOCKELBILDUNG STATUARISCHER WERKE.
301
wenn es ihm gelingt, schon sein Aasstellungswerk in dem
weiträumigen Saal, oder in dem kleineren Salon in einer
solchen Umgehung, mit einem solchen Hintergrund, mit
Farbengebung und Beleuchtung so aufzubauen, wie dies
alles ihm von vornherein bei der Komposition seines
Bildes vorgeschwebt hatte. Alsdann würden auch unsere
Ausstellungsräume einen schöneren und anziehenderen
Anblick in ihrer plastischen Abteilung gewähren.
Die Vorbedingung hierzu liegt allein in der größeren
Würdigung, welche seitens der Künstler der im Vorher¬
gehenden behandelten Frage über die Sockelbildung statua¬
rischer Werke entgegen gebracht wird, sowie in der
erweiterten Fürsorge, mit welcher die Aussteller den
Verbleib ihrer Arbeiten nicht mehr dem Zufall überlassen,
sondern ihnen auch später zu einer befriedigenden künst¬
lerischen Aufstellung verhelfen.
Es wird gewiss nicht erwartet werden, dass diese
Abhandlung mit einer Zusammenstellung bestimmter An¬
gaben schließe, in welcher Richtung sich die Lösung der
Sockelbildungen bei den großen Aufgaben statuarischer
Kunst bewegen solle, zu welchen die moderne Zeit durch
die Großthaten Deutschlands von den 70er Jahren ab ge¬
führt wird. Wiederholen tlich ist ja im Verlauf dieser
Besprechung hervorgehoben worden, dass die Aufstellung
specieller Gesetze, gleichsam eine Rezeptirkunde für
bestimmte Fälle der Verwendung, als ein Ruin für die
Freiheit der individuellen Künstlerentfaltung angesehen
werden müsste. Dennoch werden, wie vorhin über die
Förderung der kleineren Bildwerke nur eine persönliche
Ansicht aufzustellen versucht wurde, auch für die Lösung
der großen monumentalen Werke der Plastik, soweit
sie von dem Wunsche erfüllt sein sollen, sich dem all¬
gemeinen Kulturfortschritt anzuschließen, oder gar dem¬
selben die Ziele zu zeigen, persönliche Meinungsäußerungen
statthaft sein, deren Wert auch deshalb schon nur be¬
schränkt bleiben wird, da in der bildenden Kunst nur
das geschaffene Werk, nicht das Reden darüber das
eigentlich Wichtige ist. Zuerst ist gewiss eine haupt¬
sächliche Gefahr für das Gelingen der modernen plasti¬
schen Schöpfungen hervorzuheben, welche in den Kom¬
missionsentscheidungen beim ausgeschriebenen Konkur¬
renzverfahren wurzelt. Naturgemäß wird nur in seltenen
Fällen eine Einheit der Stimmen für die Wahl des
relativ besten Entwurfes vorhanden sein, in den meisten
Fällen kommen Majoritätsentscheidungen oder Kompro¬
misse zu stände, deren Entscheidung alsdann zweifelhaft
ist. Aber das Schlimmste ist für die weitere Förderung
der Ausführung, dass eine Kommission eine Vielköpfig-
keit ohne Herz, ohne Begeisterung, ohne Wagnis darstellt,
gewöhnlich büreaukratisch zusammengesetzt ist, bemüht,
sich gegenüber einem höheren Auftraggeber verwaltungs¬
mäßig formal zu decken. Aber der Künstler und sein
Werk bedürfen eines Mäcenaten, eines Schützers, För¬
derers, dessen Bedeutung weniger in der Zuführung der
reichlichen Mittel, als vielmehr in der Bethätigung des
regsten persönlichen Interesses beruht. Darum ist auch
das bekannte Dichterwort an dieser Stelle zutreffend:
„Schließ’ dich an eines Meisters Sinn; selbst mit ihm zu
irren, ist Gewinn“. Was ferner die Komposition selbst
betrifft, so streiten zwei gegnerische Richtungen, wie
schon im Vorangegangenen bemerkt, gegeneinander, ein¬
mal das Verlangen nach höchster realistischer Porträt¬
treue und dann der Wunsch nach dem reichsten figür¬
lichen Sockelschmuck. Diese Bedingungen äußern sich
bei der Bildung des Sockels zum statuarischen Werk
einerseits als das Streben nach einer möglichst großen
Sichtbarmachung des Porträts durch Niedrigstellen des
Sockels, anderseits als der Wunsch, den Sockel möglichst
zu erhöhen, um eine größere Fläche für den erklärenden
Schmuck auszunutzen. Im allgemeinen hat der Künstler
namentlich mit dieser letzteren, vom Publikum wahr¬
scheinlich nur gewohnheitsmäßig gestellten Forderung
am meiste11 zu kämpfen. In diesem Streit kann der
Künstler unter Berufung auf seine eigene Künstlerindi¬
vidualität nur eine Lösung nach der Art des Gordischen
Knotens vornehmen, wobei ihn bei kleineren statuarischen
Ehrendenkmälern die typisch ausgebildeten und befrie¬
digenden Formen mit einem verhältnismäßigen Hoch¬
sockel vor größeren Irrtiimern und Fehlgriffen bewahren
werden, wobei die größeren Monumentalwerke jedoch
eine besondere Entschließung erfordern, welche immerhin
auch ihrerseits durch historisch sanktionirte Vorgänge
vorbereitet ist. Das vorher angeführte Beispiel aus dem
Gebiet der Gruppenbildwerke scheint hierin vorbildlich
zu sein, das Denkmal des Kaisers Maximilian in Inns¬
bruck, obgleich seine speciellen Mängel bereits erwähnt
sind, obgleich ferner selbstverständlich eine genaue An¬
lehnung an die Komposition, namentlich bei einer Frei¬
aufstellung, Misserfolge hervorbringen würde. Auch scheint
das Lutherdenkmal in Worms diesen Weg beschnitten
zu haben, wenngleich der Gesamteffekt durch die zu große'
Weitschichtigkeit der Kompositionsglieder verloren ge¬
gangen ist. Wenn aber auf gemeinsamem Stereobat die
Erklärungsbildwerke in einer Reihenentfaltung um die
hauptsächliche und dominirende Statue herum künstlerisch
gruppirt werden, so können unter voller Währung der
Harmonie die vorhergestellten Anforderungen erfüllt
werden, durch Gruppirungen, für welche namentlich die
vorher genannten Schöpfungen der Barockzeit mancherlei
vorbildliche Anregungen gewähren.
DIE HELLENISTISCHEN RELIEFBILDER. ’)
VON R. ENGELMANN.
AS groß angelegte Werk über die hellenistischen
Reliefbilder von Prof. Dr. Th. Schreiber ist
mit der vor Jahresfrist erschienenen Lieferung
zum Abschluss gelangt. Wenn man erwägt, wie viele
Schwierigkeiten bei dem Sammeln des weitverstreuten
Materials , das in dem vorliegenden Werke vereint ist,
zu überwinden waren, wie schwer die Beschaffung brauch¬
barer Abbildungen und die Herstellung der Tafeln ge¬
worden sein muss, kann man die Zeit, die seit dem
Erscheinen der ersten Lieferung (1889) bis zur elften
(Schluss-)Lieferung verstrichen ist, nicht übermäßig lang
finden, im Gegenteil, man muss anerkennen, dass Ver¬
fasser und Verleger mit allem Eifer das Werk gefördert
und keine Mühe gespart haben, um möglichst gute Ab¬
bildungen zu liefern.
Um den Wert der Originale auch in den Abbil¬
dungen möglichst getreu hervortreten zu lassen, ist für
die Reproduktion ein Verfahren gewählt worden, das
..außer der Gleichmäßigkeit des Druckes unbedingte
Treue der Wiedergabe auch in den geringsten Einzel¬
heiten gewährleistet. Als Hauptsache galt die richtige,
meist durch Reflexlicht erzeugte Beleuchtung der Origi¬
nale während der photographischen Aufnahme. Die
letztere ist fast durchgängig unter der Aufsicht und
Anleitung des Herausgebers ausgeführt worden und da¬
bei in schwierigeren Fällen ein besonderes Verfahren,
die Flecken und andere die Wirkung störende Schäden
an den Originalen selbst zu unterdrücken, in Anwendung
gekommen.“
Diese Sorgsamkeit, mit der bei den photographischen
Aufnahmen der einzelnen Reliefs vorgegangen ist, hat
eine ziemlich gleichmäßige Behandlung zur Folge gehabt;
wenn dennoch die eine oder andere Tafel nicht ganz
1) Dir hellenistischen Relief inhler, mit Unterstützung dos
Königlich Sächsischen Ministeriums 'des Kultus und Öffent¬
lichen Unterrichts und der Philologisch-Historischen Klasse
der Königlich Sächsischen flesellschaft der Wissenschaften
herausgegeben und erläutert von Theod. Schreiber , ao. Pro¬
fessor der Archäologie an der Universität und Direktor des
Städtischen Museums zu Leipzig. Leipzig, Verlag von W.
Engelmann. 1889 — 1894. gr. Fol.
gleich gelungen ist, so kann dies weiter nicht Wunder
nehmen. Als eine recht beachtenswerte Neuerung, die
Nachahmung verdient, ist die Einrichtung hervorzuheben,
dass auf den vor die Tafeln geklebten Schutzblättern
in graphischer Darstellung die durch Restauration und
Überarbeitung an den Originalen entstandenen Ver¬
änderungen, gelegentlich auch neue Ergänzungsversuche
angegeben sind; man erkennt so mit einem Blick, ohne
dass lange Worte nötig wären, durch die verschiedene
Behandlung, was wirklich antik, was durch Über¬
arbeitung verändert und was modern zugesetzt ist.
Nachdem nun die Mehrzahl der von dem Herrn
Verfasser der hellenistischen Zeit zugerechneten Reliefs
in meist vorzüglichen Aufnahmen vorliegt (einige Nach¬
träge, deren Notwendigkeit sich jetzt schon heraus¬
gestellt hat, werden in dem Textband, der hoffentlich
nicht allzu lange auf sich warten lassen wird, gebracht
werden), wird es dem Betrachter ermöglicht, über
die ganze Klasse der „hellenistischen Relief bilder“ ein
Urteil zu fällen, so weit dies sich vor dem Erscheinen
des Textbandes, der noch mancherlei Erklärungen und
Beweise bringen wird, überhaupt thun lässt. Immerhin
hat man an dem Werke, das den Tafeln um ein Jahr
voraus ging (Die Wiener Brunnenreliefs im Palazzo
Grimani, eine Studie über das hellenistische Reliefbild
mit Untersuchungen über die bildende Kunst in Alexan¬
drien von Th. Schreiber, mit drei Heliogravüren und
zwanzig Abbildungen im Text. Leipzig, Verlag von
E. A. Seemann, 1888) schon jetzt einen Anhalt, an dem
man sich über die Frage unterrichten kann.
Nach Th. Schreiber hat die hellenistische Kunst,
wie sie besonders in Alexandria sich entwickelt hat,
in Anlehnung an die im Orient schon längst geübte
Technik die Wände der Paläste und Villen mit Beiseite-
lassung der Malerei in der Inkrustationstechnik aus-
geschmiickt. Der Grund zur Anwendung dieser Technik
war dadurch gegeben, dass die Baumeister bei der
Schnelligkeit, mit der die Städte sich auf das Macht¬
gebot Alexanders erhoben, auf die Aufführung des längere
Zeit erforderlichen Quaderbaus verzichteten und die Mauern
aus Backsteinen errichten ließen; um diese eilig auf¬
geführten Mauern zu verbergen und dem Luxus, der aus
DIE HELLENISTISCHEN RELIEFBILDER.
303
dem Orient sich nach dem Westen verbreitete, ent¬
sprechend auszuschmücken, bediente man sich der in den
Putz eingedrückten kostbaren Marmorarten, verschiedener
Glasflüsse, ja selbst Edelsteine scheinen in dieser Weise
mit zum Schmuck verwendet zu sein, sodass die Meeres¬
wogen, die den Platz der ehemaligen Palastbauten der
Ptolemäer bespülen, noch heute große Massen derartiger
zur Inkrustation ehemals dienender Stücke ans Land
werfen. Im Rahmen dieser kostbaren Ausschmückung
war für das Wandgemälde kein Platz mehr, dafür trat das
Marmorrelief ein, das als Kabinettbild in der Mitte der
Wand angebracht einen der übrigen Ausstattung ent¬
sprechenden Eindruck machte. Es ist nur schade, dass
von diesen auf Alexandria zurückgeführten Reliefs in
Alexandria selbst so gut wie nichts gefunden ist, sondern
dass die Mehrzahl der hellenistischen Reliefs aus Rom
stammt. Natürlich ist dies kein Beweis gegen die ur¬
sprüngliche Verwendung; denn ebenso wie Statuen können
auch Reliefs in großer Zahl aus Alexandria nach Rom und Um¬
gegend entführt worden sein; aber es ist doch ein großer
Unterschied, ob eine frei stehende Statue weggenommen wird,
oder ob ein Relief von der Wand fort aus der Dekoration,
deren Mittelpunkt es bildet, herausgenommen wird, um
in Rom wieder ähnlich verwandt zu werden. Dazu sind
im allgemeinen die Dekorationen nicht wertvoll genug.
Allerdings glaubt der Herr Verfasser, solche An¬
sichten dadurch stützen zu können, dass er auf die
Mosaiken hinweist, die seiner Meinung nach in Alexan¬
dria als Wandschmuck dienten, später aber nach Pompeji
geführt und dort thöricliterweise auf den Fußboden
niedergelegt wurden. So vor allem die Alexanderschlacht
aus Pompeji und die anderen wertvollen Mosaiken der¬
selben Casa del Fauno. Aber, mag man auch immer
zwischen den Mosaiken dieses Hauses und Ägypten ge¬
wisse Beziehungen annehmen (darauf führt allerdings
der Umstand, dass sehr viele Mosaiken durchaus ägyp¬
tische Darstellungen enthalten , aber die Hindeutungen
auf Ägypten sind überall sehr beliebt), daran ist ohne
genügende Beweise doch nicht zu denken, dass die in
Pompeji als Bedeckung und Schmuck des Fußbodens
verwandten Mosaike ursprünglich als Wanddekoration
gedient haben. Bis jetzt muss der mit den Nachrichten
des Plinius und andern antiken Mitteilungen durchaus
in Einklang stehende Satz seine Geltung behalten,
dass das Mosaik erst verhältnismäßig spät vom Fußboden
auf die Wände und in die Gewölbe übertragen ist und
zwar erst dann, als das einfache Glasmosaik von dem
F ußboden durch kostbare Marmorarten verdrängt wurde.
Dies geschah zuerst, nach Plinius (hist. nat. 36, 189
lithostrota coeptavere jam sub Sulla, parvulis certe
. crustis, extat hodieque quod in Fortunae delubro Praeneste
fecit) unter Sulla; damals musste also die Kunst dem
Material weichen, an Stelle der mit Ornamenten und
Figuren geschmückten Mosaike wurden kostbare aus der
ganzen Welt zusain mengesuchte Platten von bunten
Marmorarten und andere Steine zur Ausschmückung des
Bodens verwendet, eine Art der Dekoration, deren erstes
Muster in Praeneste (Palestrina) im Tempel der Fortuna
noch späterhin aufgezeigt wurde; aber die Steine waren
noch klein, zum Zeichen, dass man auch damals, beim
Beginn des Luxus, noch Maß zu halten suchte, oder
wegen Beschränktheit der Mittel zum Maßhalten genötigt
war, während man sich später nicht scheute, die kost¬
barsten Marmorplatten in großen Stücken auf den Fu߬
boden zu legen.
Während also das eigentliche Mosaik nur auf dem
Fußboden, zum Ersatz der Teppiche, die man in der
warmen Jahreszeit entbehren konnte, entstanden ist und
deshalb ursprünglich durchweg sich der Entwickelung
des Fußbodenteppichs anschließt, den es zu vertreten
bestimmt war, ist frühzeitig auch, besonders in Grotten,
Fontänen und ähnlichen Einrichtungen, dadurch, dass
man Bimstein, Muscheln u. dergl. in den Stuck drückte,
eine andere Art, die eigentliche Rocaille gepflegt worden,
die später, als das eigentliche Mosaik vom Boden auf
die Wände getrieben wurde, sich mit diesem begegnete
und ihm den Namen gab. Denn, dass das Mosaik seinen
Namen von dem /xovonov oder musaeum, den Grotten,
welche den Musen geheiligt waren, erhalten hat, scheint
mir sicher. So wird von Plinius (37, 14) ein musaeum
ex margaritis erwähnt, in cujus fastigio horologium, das
nach hist. nat. 36, 154 (non praetermittenda est et
pumicum natura: appellantur quidem ita erosa saxa in
aedificiis quae musaea vocant dependentia ad imaginem
specus arte reddendam) nichts anderes gewesen sein kann
als eine kleine künstliche Grotte, bei der neben Bim-
steinen auch Perlen zur Ausschmückung verwandt waren.
Wenngleich demnach das Mosaik den Namen, mit dem
es noch heute benannt wird, auch von der in den Ge¬
wölben und an den Wänden geübten Kunst hergenommen
hat, dass es seinen Ursprung durchaus nur auf dem Boden
genommen hat, kann meiner Meinung nach nicht fraglich sein.
Ich kann nach neuer Prüfung der Thatsachen nur bei der
Ansicht beharren, die ich im Rhein. Museum, N. F. 29
S. 561 ff. ausgesprochen habe. Dasselbe gilt von den
Mosaikreliefs, die Herr Schreiber zu neuem Leben zu-
rückrufen möchte, nachdem mein Verdammungsurteil
längst allgemein angenommen ist. Dass das von ihm
gegen mich angeführte Glasrelief der Sammlung Borgia
nicht hierher gehört, habe ich im Rhein. Museum, N. F. 29,
S. 567 und 576 ausführlich gezeigt.
Wenn aber auch in einzelnen Punkten gegen die
Ausführungen des Herrn Prof. Schreiber, sowie sie in den
„Wiener Brunnenreliefs“ mir entgegentreten, Einspruch
erhoben werden kann, so werden dadurch seine Aus¬
führungen über die hellenistischen Reliefs im allgemeinen
nicht berührt. Es lässt sich wohl denken, dass er mit
seiner Behauptung durchaus recht hat, dass die von
ihm zusammengestellten Reliefs als Mittelbilder zur Aus¬
schmückung der Wände gebraucht worden sind, nur ist
304
KLEINE MITTEILUNGEN.
dies, glaube ich, bis jetzt noch nicht völlig bewiesen
worden. Dagegen scheint mir das Eine schon jetzt ganz
sicher gestellt, dass die betreffenden Denkmäler wirk¬
lich der hellenistischen Zeit angehören, nicht etwa erst
römischen Künstlern ihre Entstehung verdanken, oder
gar, wie man ja auch mehrfach behauptet hat, erst in
der Zeit der Renaissance entstanden sind. Ich habe
selbst, weil mir ein angeblich in Cherchell (Nordafrika)
gefundenes, zu dieser Klasse gehöriges Relief mit einem
schon längst von Gori, Inscr. ant. I, Taf. 18, 1 ver¬
öffentlichten auch der Bruchlinie nach identisch zu sein
schien, in der Arch. Zeit. 1873, S. 134 den Gedanken an
Fälschung ausgesprochen, den ich jetzt, wo beide Reliefs
im Louvre sich befinden (Hell. Reliefbiid. T. 49 u. 50)
natürlich als unbegründet fallen lassen muss.
Leider ist die Zahl der wirklich schönen und bis
ins Kleinste sauber durchgeführten Reliefs auf den Tafeln
nicht groß; vielfach sind nur dürftige Bruchstücke er¬
halten, die natürlich bei einer solchen, alles Quellen¬
material zusammenstellenden Arbeit nicht übergangen
werden dürfen. Das Beste, was man dem Herrn Ver¬
fasser wünschen kann, wäre, dass noch recht viele wohl¬
erhaltene Exemplare der von ihm an das Licht ge¬
zogenen Gattung zum Vorschein kämen, und möglichst
in Alexandria selbst, dann würde jeder Zweifel, so weit
solche noch heute existiren, sofort beseitigt sein.
KLEINE MITTEILUNGEN.
Walter Conz, der Urheber, der diesem Hefte beigegebenen
Malerradirung, wurde geboren am 27. Juli 1872 als Sohn des
Malers und Zeichenlehrers Prof. G. Conz in Stuttgart. Mit
18 Jahren begann er seine künstlerischen Studien an der
dortigen Kunstschule und setzte sie dann von Sept. 1892 an
der Kunstakademie in Karlsruhe fort unter Leitung der
Professoren Grethe, Schurth, Bockeimann, Ritter und Schön¬
leber. Als Prof. Krauskopf 1893 an die Spitze der Radir¬
schule in Karlsruhe trat, widmete sich W. Conz mit Eifer
und großem Geschick dieser Kunst, ohne übrigens seine
malerischen Studien hintanzusetzen und erwarb sich ein Jahr
darauf mit einem nach Schönleber radirten Blatt „Kohlen¬
dampfer“ allgemeine Anerkennung. Das vorliegende Blatt
ist eine Fracht der Studien, welche der junge Künstler im
verflossenen Sommer in Holland gemacht hat. Ein Ölbild
von ihm, gleichfalls eine holländische Landschaft, hat kürz¬
lich der Kunstverein in Karlsruhe angekauft.
* In der lehre. Gemälde von L. v. Flcsch-Brünningen,
radirt von F. Krostewitz. Die Zeit, wo man ein von weib¬
licher Hand stammendes Gemälde schon von weitem an der
Ängstlichkeit und Unbeholfenheit der Ihnselführung, an der
Leblosigkeit der Zeichnung und der Schüchternheit des
Kolorits erkannte, ist längst vorüber. Auch unsere malenden
Damen haben eingesehen, dass sie nicht vorwärts kommen,
wenn sie stets unter sich bleiben, immer von ihres Gleichen
lernen wollen. Erst unter männlicher Zucht entfalten sich
ihre Kräfte, sodass sie mit den Ehren einen Wettkampf mit
den Männern bestehen können, die lange genug die Allein¬
herrschaft auf dem Gebiete der Kunst geübt haben. Ein
Produkt männlicher Erziehung ist auch die Malerei des an¬
mutigen, vor etwa zwei Jahren entstandenen Bildes, das
F. Krostewitz in Berlin für uns radirt hat. Im Jahre 1859
in Brünn geboren, hat Luma von Flesch-Brünningen ihre
ersten Studien bei dem bekannten Schilderer venezianischen
und orientalischen Lebens Alois Schöner in Wien gemacht.
Dann ging sie zu ihrer weiteren Ausbildung nach München,
wo sie in dem gegenwärtig an der Kunstschule in Weimar
wirkenden Fritbjof Smith einen Lehrer fand , der ihre
malerische Technik erheblich förderte. Studienreisen durch
Italien, Frankreich und Nordafrika boten ihr neben reichen
Anregungen auch die Motive zu einigen Bildern, meist
Innenräumen mit Figuren, in denen sie die Wirkungen des
einfallenden Lichtes mit großer koloristischer Gewandtheit
zur Anschauung zu bringen wußte. Zu ihnen gehören außer
unserem Bilde die Gemälde „Im Waisenhause“, „Das Vesper-
brod“ und „Die Brokatstickerinnen“. Sie hat sich auch ge¬
legentlich in Bildern religiösen Inhalts versucht, von denen
eines, die Madonna „unter dem Kreuz“, auf der gegen¬
wärtigen Berliner Kunstausstellung zu sehen ist. Wie hier
die Schilderung ergreifenden Mutterschmerzes unmittelbar
zum Herzen des Beschauers spricht, so fesselt auf unserem
Bilde die humorvolle Charakteristik der drei Näherinnen,
die den ersten Versuchen des ungemein ernst und wichtig
hantirenden Lehrlings zuschauen. Krostewitz hat es ver¬
standen, mit großem Geschick die feineren Lichtwirkungen
des Originals auf seine Platte zu übertragen. A. R.
* Die „Gazette des Beaux-Arts“ in Paris hat einen sox-g-
fältig gearbeiteten Index über den Inhalt der Jahrgänge
1881 — 92 herausgegeben, welcher auch denjenigen Kunst¬
freunden und Kunstgelehrten, die das französische Kunst¬
journal selbst nicht besitzen, wegen der Fülle der darin
enthaltenen Aufsätze zur Geschichte der alten wie der
modernen Kunst, gute Dienste leisten wird. . Dem Index über
die angegebenen Jahre geht ein systematisches Register über
den Gesamtinhalt der „Gazette“ seit ihrer Gründung (1859)
von der Hand des Herrn Paulin Teste voraus, der dem
Publikum nicht minder willkommen sein dürfte.
* Das bekannte spanische Denkmälerwerk „ Monumcntos
arquiteclonicos de Espaha“ entbehrte bisher eines übersicht¬
lichen Registers, das bei der nicht sehr bequemen Einteilung
der Publikation um so schmerzlicher vermisst wurde. Herr
Ed. de la Rada y Mmdez ist mit seinen „Indices generales
alfabeticos“ (Madrid 1895, 8°), diesem Bedürfnis in dankens¬
werter Weise nachgekommen und zwar aus verschiedenen
Gesichtspunkten, welche die Orientirung in den Tafelbänden
mit ihren zahlreichen Monographieen sowohl, was die Autoren
derselben, als auch was die Monumente selbst betrifft, wesent¬
lich erleichtern.
Herausgeber: Carl ran Lützow in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
LEHR1
DER MALERISCHE STIL.')
VON JOSEF STRZYGOWSKI.
MIT ABBILDUNGEN.
Engel aus (1er Taufe Christi.
Von Leonardo. — Florenz.
Man nennt ge¬
wöhnlich Michel¬
angelo den Schöp¬
fer des Barockstils.
Thatsächlicli ist er
auf dem Gebiete der
Architektur und
Plastik der Bahn¬
brecher desselben
gewesen. Was er als
Maler geleistet hat, ist im Geiste der steinbilden¬
den Künste gedacht. Hier tritt als der eigentliche
Bahnbrecher Leonardo auf. Er ist der Schöpfer des
sog. malerischen Stiles auf dem Gebiete der Malerei
selbst. Was er als Architekt und Bildhauer ge¬
leistet hat, steht leider nicht in greifbarer Gestalt
vor uns. Es könnte ihm damit wol gegangen sein,
wie dem Maler Michelangelo, der den Bildhauer
nicht verleugnen konnte.
Das Wesen des malerischen Stiles ist von
H. Wölfflin charakterisirt worden.1 2) Er wählte als
berühmtestes Beispiel RafFael’s Übergang vom alten
zum neuen Stil in den Stanzen. Raffael aber that
diesen Schritt vollständig unter dem Einflüsse der
Eindrücke, die er von Leonardo’s Kunst empfangen
1) Die obige Skizze war ursprünglich als Schluss eines
kleinen Buches über Leonardo gedacht. Dadurch dass öfter
stillschweigend Bezug auf die Resultate der vorhergehenden
Untersuchungen genommen wird , erscheint die Behandlung
stellenweise ungleichmäßig. Der geneigte Leser wird den
grundlegenden Teil der Abhandlung im Jahrbuch der kgl.
preuß. Kunstsammlungen, einen anderen im Goethe- Jahrbuch
finden.
2) Renaissance und Barock, S. 15 ff.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 12.
hatte. Von diesem wird man daher ausgehen müssen,
wenn es sich um eine Darstellung der Entstehung
und Verbreitung des malerischen Stiles in der Malerei
selbst handeln sollte. Abendmahl, Madonna in der
Grotte, Anbetung der Könige und der leider ver¬
lorne Karton zur Anghiarischlacht : das ist wahr¬
scheinlich die Stufenleiter, auf der Leonardo zur
Höhe empordrang. Versuchen wir ihm dabei zu
folgen!
Im Abendmahl hatte er die Aufgabe, eine an sich
unmalerisch in einer Reihe sitzende Gesellschaft
darzustellen. Wollte er Christus im Centrum und
die Apostel gleichmäßig verteilt an dessen Seiten
behalten — und so forderten es das Herkommen und
vielleicht auch die Besteller — so konnte er keine
hinreichend lebhafte Bewegung des Gruppenbaues
erzielen. Er legte daher Nachdruck auf eine außer¬
halb der Reihe wirksame Lichtkomposition: der grell
beleuchtete Tisch, die Fenster und Thüren des Hinter¬
grundes, der dazwischen im Helldunkel liegende
Saalraum, das sind die Dinge, welche der Blick zu¬
erst trifft; dann erst treten die Figuren hervor. Der
Beschauer allerdings giebt sich über dieses Nachein¬
ander keine Rechenschaft, er empfindet nur; dass
die Figuren außerordentlich lebendig gegeben sind.
Und in der That ist die oft gerühmte dramatische
Belebung das zweite Moment, mit dem Leonardo
hier rechnet. Wie er aber in dem Spiel des Lichtes
noch nicht über feste Raumgrenzen hinausgeht, so
gelingt es ihm auch noch nicht, jeden von den
zwölf Jüngern in gleich überzeugender Art an der
dramatischen Handlung teilnehmen zu lassen.
Eine wunderbare Abklärung ist in der Madonna
40
3()6
DER MALERISCHE STIL.
in cler Grotte eingetreten. Hier sind Licht und Schatten
ebenso tief geworden, wie die Seelenstimmung, welche
die Figurengruppe durchdringt. Das ist die Six¬
tinische Madonna Leonardo’s, der Ausfluss einer
geradezu göttlichen Intuition. Ich kann mich diesem
Bilde gegenüber nicht des Eindruckes erwehren,
dass Leonardo darin etwas wie Musik malte, etwas
wie eine gemütdurchströmte Symphonie, in der die
Figuren das Leitmotiv geben, Licht und Schatten
aber wie ein harmonischer Akkord mitklingen.
Leonardo war Musiker. Man gestatte, dass ich
die ja längst bekannten Belege dafür hier nochmals
kurz zusammenstelle. Yasari führt schon unter den
Beschäftigungen seiner Jugend neben der Mathe¬
matik die Musik an. Er hätte sich bald entschlossen,
die Lyra spielen zu lernen und habe, dazu von der
Natur mit hohem Geist und einer Fülle von Anmut
ausgestattet, göttlich nach freier Erfindung ge¬
sungen. *) Und später giebt derselbe Yasari als
Grund der Berufung nach Mailand an, der Herzog
habe großes Vergnügen am Spiel der Lyra gehabt
und Leonardo sei mit hohen Ehren nach Mailand
geführt worden, um diese Kunst zu üben; er habe
jenes Instrument mitgebracht, welches er mit eigener
Hand zum großen Teil in Silber und zwar in Form
eines Pferdekopfes gebaut hatte. Es sei dies eine
bizarre und ueue Art gewesen, darauf berechnet, den
Klang zu verstärken und wollautender zu machen.
Leonardo habe damit alle Musiker iibertroffen, die
damals in Mailand zum Spiele zusammengekommen
waren.1 2) Dass Leonardo über den Bau der Instru¬
mente nachgesonnen hat, belegen Skizzen, die er
von solchen entworfen hat, so ist im Codex Atlan-
ticus (S. 215 r.J eine Art Zither und ein Clavicembalo
abgebildet.3) Auch Luca Pacioli, der 1496—99 mit
Leonardo in Mailand zusammengetroffen war und
dann in Florenz mit ihm gewohnt batte, nennt ihn
in seinem Tractat über die Architektur degnissimo
pictore, prospectivo architecto musico. 4) Dazu käme
dann noch ein anonymerZeuge des 16. Jahrhundert,
welcher meldet, Lorenzo magnifico habe den 30jäh-
rigen Leonardo (1482) an Lodovico Sforza nach Mai¬
land gesandt, damit er diesem eine Leier über¬
bringe. Leonardo sei als Musiker einzig in seiner
Art gewesen.5)
Leider ist auch diese Seite von Leonardo’s Wirk¬
1) Ed Milanesi IV, S. 18/
2) Ebenda IV, S. 28.
■j) Vgl. Brun im Repertorium f. Kunstw. XV, S. 280.
4) Cap. VI, ed. Winterberg, S. 144.
5) Milanesi im Archivio storico XVI, S. 219 ff.
samkeit bisher nicht zum Gegenstand eingehender
Studien gemacht worden. Doch schließt vor Allem
die Angabe Pacioli’s jeden Zweifel aus. Und wenn
auch gar keine Nachrichten über Leonardo als Musiker
auf uns gekommen wären, so müsste man, glaube
ich, angesichts der Madonna in der Grotte eine
Ahnung davon bekommen. Insbesondere aber scheint
Leonardo’s Lieblingsgestalt, der Schutzengel dieser
Madonna, der Engel ferner in Yerrocchio’s Taufe
und der junge Magier links in der Anbetung der
Könige ausschließlich durch eine Empfindung ein¬
gegeben, die aus dem Wesen der Musik strömt.
Die Haltung des Oberkörpers, die lauschende Nei¬
gung des Kopfes, der unbestimmt aus dem Innern
quellende Blick, dazu die selbstlos-passive Hingabe
der ganzen Erscheinung, das sind die sprechenden
Merkmale musikalischer Stimmung.
Ich möchte daher glauben, dass wir der Musik
einen wesentlichen Anteil an der Ausbildung von
Leonardo’s malerischem Stil zuschreiben sollten, in¬
sofern nämlich, als er, der als Musiker gewohnt war,
auch die zartesten Regungen des Gemütes künst¬
lerisch zum Ausdruck zu bringen, die gleiche An¬
forderung auch der Malerei gegenüber zu stellen
begann. Alle Hilfsmittel der Technik sollten dazu
herhalten, „alles was schattenverursachender Körper
und was primitiver und sich ableitender Schatten, was
Beleuchtung, d. h. Finsternis, Licht, Farbe, was
Körper, Figur, Lage, was Entfernung und Nähe,
was Bewegung und Ruhe ist“ — kurz Alles, was
zum Handwerksmäßigen, nach Leonardo „zur Wissen¬
schaft“ der Malerei gehört. In erste Linie aber
tritt sehr bald die Durchbildung einer die Linear¬
komposition durchsetzenden Verteilung von Licht und
Schatten, die Entdeckung des Helldunkels und seiner
außerordentlichen Ausdrucksfähigkeit. Eine Ahnung
davon steckt schon in dem Frauenporträt der Liechten¬
steingalerie. Mit Beibehaltung der Komposition des
Busches schafft Leonardo später die Grotte, die er
für die Herstellung des Halbdunkels in ähnlicher
Weise verwertet, wie den langen, tiefen Saal im
Abendmahl. Nach meinem Empfinden ist das zau¬
berische Dämmerlicht, welches die Grotte durch¬
rieselt, dem weichen Akkord vergleichbar, welcher
der melodischen Stimme folgt, die durch die in hellen
Streiflichtern modellirten Figuren vertreten wird.
Soweit kam Leonardo in Mailand. Die Madonna
in der Grotte liegt ebensoweit außerhalb der Floren¬
tiner Kunstsphäre, wie Raffael’s Sixtina oder Cima-
bue’s Madonna in der Unterkirche von Assisi.
Nach Florenz zurückgekehrt, sucht sich der
DER MALERISCHE STIL.
307
Meister mit den noch bestehenden altflorentinischen
Kunstprinzipien auseinanderzusetzen. Die Anbetung
der Könige ist der lehrreichste Beleg dafür. Die
einfache Größe des künstlerischen Vortrages, die
Abendmahl und Grottenmadonna auszeichnet, ist
verlassen, bunte Mannigfaltigkeit, wie sie die Kunst
der Botticelli und Ghirlandajo, d. h. wohl den Floren¬
tiner Geschmack des ausgehenden Quattrocento’s
cliarakterisirt, umgiebt die Hauptgruppe. Leonardo
ist hier wieder ganz und ausschließlich im Fahr¬
wasser der Malerei. Die reich gegliederte Kom¬
position zeigt in ihrer Wohlabgewogenheit mehr
ruhig fachmännische
Überlegung, als ideales
Gestalten. Dabei hältLeo-
nardo an seiner bedeu¬
tendsten Mailänder Er¬
rungenschaft der Bele¬
bung des Eindruckes mit
Hilfe einer Durchsetzung
der linearen durch eine
Lichtkomposition fest.
Das Gleiche kann von der
Mona Lisa gelten. Trotz
des einfachen Dreieck¬
umrisses macht das Bild
keine massige Wirkung,
weil die äußere Zusam¬
menfassung durch kreu¬
zende Linien von innen
heraus wieder aufgeho¬
ben ist und breite Licht¬
massen, die auch in die
Landschaft überspringen,
den geschlossenen Ein¬
druck der Körpermasse Engel aus der Madonna in der
malerisch auf'lösen. Dazu
gesellt sich, wie in der Anbetung, die Schiefstellung
der Hauptaxe und im Besonderen die verschiedene
Wendung der einzelnen Körperteile. Es ist übrigens
von Wert, was Vasari berichtet, dass Leonardo, um
dem Kopfe der schönen Frau den gewünschten Aus¬
druck zu geben, immer jemanden zugegen sein ließ,
der sang, spielte und Scherz trieb. So musste denn
auch hier wieder die Musik eingreifen.
Den Höhepunkt der ThätigkeitLeonardo’s in der
Heimat bildete jedenfalls sein Karton zur Anghiari-
schlacht, dessen Hauptgruppe, den Kampf um die
Standarte, wir aus Vasari’s Beschreibung und mehreren
Handzeichnungen kennen. Wir bewundern daran
das über alle Maßen genial geordnete Gleichgewicht
der im wilden Kampfe durcheinander geworfenen
Menschen und Pferde. Das Ganze hat einen dem
Dreieck sich nähernden halbkreisförmigen Umriss,
dessen Centrum die gekreuzten Vorderbeine zweier
sich aufbäumenden Pferde bilden. Der Knäuel wil¬
desten Kampfgewühles löst sich bei näherem Zu¬
sehen wunderbar organisch, so dass nicht ein Glied
anders sein könnte, ohne die notwendige Harmonie
zu stören.
Die Gruppe eignet sich vorzüglich für die Mitte
einer größeren Komposition, von der wir uns mit Hilfe
einzelner Skizzen von Leonardo’s Hand wenigstens
eine Ahnung machen kön¬
nen. !) Es handelte sich
ganz allgemein um ein
furchtbares Schlachtge¬
tümmel, in dem die Pferde
ebenso blutgierig auf ein¬
ander losstürzten wie die
Menschen, also um jenen
äußersten Grad tobender
Raserei, wo nur noch die
Bestie das Wort hat.
Raffael’s Konstantins¬
schlacht giebt einen
schwachen Begriff davon.
Auf diesem Hintergründe
spielt der Kampf um die
Standarte. Mensch und
Tier sind besinnungslos
der Wut des Kampfes
hingegeben, heiseres Ge¬
brüll, Blut, Staub, Hauen,
Stoßen und Zerren in wil¬
dem Getümmel durch-
Grotte von Leonardo. — London. einander. Der Künstler
schwelgt geradezu im Er¬
finden kühner Bewegungen und Verkürzungen. „In
Historien aber mache Verkürzungen aller Art, wie es
dir vorkommt, sonderlich in Schlachten, denn hier sind
unendliche Körperverdrehungen und Biegungen der
Teilhaber an solcher Zwietracht oder besser gesagt,
höchst bestialischer Raserei ganz notwendig am
Platz.“ Das die eigenen Worte Leonardo’s.1 2) Oder:
„Eine Figur im Zorn lässest du Einen bei den Haaren
festhalten, ihm das Haupt zur Erde drehend und
1) Zusammengestellt von J. P. Richter, The litt, works
of L. d. V. I, pl. LII ff. ; Einiges auch bei Pulszky Kärolj7,
Czatakepek a XYI — ik szäzadbol.
2) Das Buch d. Malerei ed. Ludwig I, S. 214, § 177,
III, S. 134, Nr. 243.
40
308
DER MALERISCHE STIL.
ihm ein Knie in die Rippen setzend. Mit dem rechten
Arm lassest du ihn den Dolch hoch heben“ u. s. f.1)
Ist das nicht geradezu die Deutung für die mittlere
Gruppe am Boden unter den Füßen der Pferde?
Zu alledem denke man sich die Mischung von Dampf,
Luft, Rauch und Staub, wie sie Leonardo als Atmo¬
sphäre für ein Schlachtengemälde vorschreibt2) und
man wird zugeben müssen, dass dieser Künstler an
realistischer Gestaltungskraft nicht überboten worden
sein dürfte. Wie harmlos ist dagegen Tizian in
seiner Cadoreschlacht! Nur Rubens hat erfolgreich
mit Leonardo wetteifern können — und sein Rivale
bei Ausführung dieser Arbeit, Michelangelo.
So sehr die Wege der beiden Künstler sonst
auseinander gingen, in dem Wettstreite, der im Jahre
1503 Gelegenheit zur Entfaltung des von ihnen ge¬
fundenen neuen Stiles gab, zeigten sie sich eben¬
bürtig. Auch Michelangelo’s Aufgabe war eine
Schlachtscene. Solch dramatisch-wildbewegtes Leben
verstanden beide meisterhaft zu geben. Im übrigen
aber waren sie grelle Gegensätze. Michelangelo,
durch und durch Kraftmensch, verkörperte in gigan¬
tischer Formenfülle übermenschliche Anstrengungen
des Geistes und Körpers. Leonardo, bei aller ge¬
nialen Geistesschärfe voll seelischer Wärme und
Weichheit, suchte den Ausdruck für die zarteste
Gemütstiefe und den edelsten Seelenschmelz. Dieser
schroffe Gegensatz der Meister ist symptomatisch
für ihre Zeit. Im 15. Jahrh. gab es nur ein Ziel
und einen Weg: Erreichung des Ideals, welches Natur
und Antike boten, durch eifriges, gewissenhaftes
Studium beider. Der Künstler verhielt sich voll¬
kommen objektiv, er dachte nicht daran, Natur oder
Antike überbieten zu wollen. Leonardo und Michel¬
angelo vollziehen den Umschwung, der sich allmählich
allgemein verbreitet, den Übergang nämlich zu
subjektiver Anschauung der Dinge. Jetzt erst war
es möglich, dass zwei große Künstler so verschiedene
Wege wandeln konnten.
Und wie haben nun die Zeitgenossen zwischen
Leonardo und Michelangelo gewählt? In Oberitalien
findet Leonardo in Mailand einen Anhang geistloser
Nachahmer, während in Venedig durch ihn die Ent¬
faltung der keuschen Jugendblüte der Kunst in
Giorgione gezeitigt wird. In Mittelitalien aber siegt
Michelangelo. Die Kunst in Rom und Florenz artet
ein halbes Jahrhundert in einen krassen Manieris¬
mus in der Art des Altmeisters aus. Konnte man
1) Ebenda I, S. 378, § 381, III, S. 198, Nr. 400.
2) Ebenda I, S. 188, § 148, III, S. 142, Nr. 262.
schon nicht den Geist eines Michelangelo und die Seele
Leonardo’s nachahmen, so boten immerhin die Formen
des ersteren so stark Greifbares, dass sich die steuer¬
losen Epigonen daran klammern konnten. Nur ein
großer Künstler und sein Lehrer erkennen die Rich¬
tung des Leonardo in ihrer ganzen Tiefe und sind
im Stande, ihr zu folgen: Raffael und Fra Barto-
lommeo. Allerdings scheint Raffael erst in Rom das
volle Verständnis für Leonardo’s Größe aufgegangen
zu sein, wie ihn erst in den letzten Jahren seines
Lebens Michelangelo’s Geist gefangen nimmt. Raffael
war eben bei aller Aufnahmsfähigkeit zu selb¬
ständig, als dass er rein äußerlich zum Nachahmer
hätte werden können. Erst wenn die Errungen¬
schaften anderer in seinem eigenen Innern ver¬
arbeitet und gereift waren, dann entströmten die
neuen Formen geläutert dem eigenen Pinsel.
In den Gemälden der Stanza della Segnatura
ahmt Raffael im Gruppenbau wie in Einzelfiguren
Leonardo nach. Noch bedeutender kommen die Prin¬
zipien Leonardo’s in den Gemälden zur Geltung,
welche in die Periode 1511—14 gehören. Anton
Springer ]) hat erkannt, dass sich in dieser Zeit
und zwar am deutlichsten in den Fresken der zweiten
Stanze ein Umschwung in Raffael’s Stil vollzieht.
Die ganze Komposition gliedert sich nicht allein nach
größeren Massen; auch an den einzelnen Gruppen
und Gestalten werden nicht so sehr die Linien als die
Flächen, welche durch Licht und Schatten ihre Form
gewinnen, betont. Dazu gesellt sich größere dra¬
matische Zuspitzung des Momentes der Handlung
— wie sie Leonardo im Abendmahl und der Anghiari-
schlacht gegeben hatte — und die weitgehendste
Anwendung des Helldunkels. Das Alles lässt sich
im Bilde des Heliodor, in der Messe von Bolsena
und der Befreiung Petri mit überzeugender Klarheit
nach weisen; Springer hat Sodoma und Sebastiano
del Piombo für diese Stilwandlung verantwortlich
machen wollen. In Wahrheit ist es Leonardo, der
jetzt erst bei Raffael voll zur Geltung kommt.
Und auch die Tafelbilder Raffael’s aus dieser
Periode sind ohne Leonardo undenkbar. Die Madonna
mit dem Fisch in Madrid zeigt in der Gruppe des
Engels mit dem Tobias den Nachklang von Leo-
uardo’s Schutzengel in der Madonna in der Grotte.
„Die vielgepriesene wunderbare Innigkeit dieser
Gruppe, die selbst Raffael niemals wieder erreicht
hat,“ geht direkt auf Leonardo zurück. Die beiden
visionären Marienbilder, die Madonna di Foligno
1) Raffael und Michelangelo 2. A I, S. 279.
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
309
und die Sixtinische Madonna sind zum Teil nichts
anderes als in Raffael’s Sprache übersetzte Werke
Leonardo’s in der Art der Berliner Auferstehung.
Ja, der hl. Franziscus in der Madonna di Foligno
und die beiden knieenden Gestalten, der Papst links
und die hl. Barbara rechts in der Madonna di S.
Sisto, könnten als direkt von der Auferstehung an¬
geregt gedacht werden. In der Dresdener Madonna
aber ist es zugleich, wo der durch die Größe Leo¬
nardo’s beengte Genius Raffaels sich phönixgleich
aus den Flammen künstlerischer Glut aufschwingt
und in der Madonna mit dem Kinde das ewige Ideal
dessen schafft, was die christliche Kunst überhaupt
leisten konnte. Das war der größte, aber auch der
letzte Sieg des Naiven über das Sentimentale. Nun
geht es bergab, die Rolle der Malerei ist bald aus¬
gespielt, die Musik wächst empor, Palestrina, Bach
und Händel treten auf. Und Raffael, könnte man
meinen, verkörpert diesen Übergang in einem Bilde,
das ganz durchdrungen ist von Leonardesker Stim¬
mung und des großen Florentiners Formen, in der
hl. Cäcilia: sie lässt ihr Instrument sinken, ein
Chor frischer Stimmen übernimmt ihr Spiel. Wie
die bildende Kunst, so war auch die Heilige auf
die Dauer nicht im Stande, mit ihren Mitteln den
gesteigerten Anforderungen des Ausdruckes Genüge
zu leisten. Der malerische Stil, von Correggio zu
klassischer Vollendung ausgebildet, war die letzte
Phase einer großen Entwicklung der bildenden
Künste vor ihrer Entartung.
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
VON ADOLF ROSENBERG.
MIT ABBILDUNGEN.
II.
(Schluss.)
ÄHREND die Steinarchitek¬
tur der englischen Gotik in
der Konstruktion und De¬
koration der Kirchengewölbe
schnell zu einer Höhe em¬
porstieg, die bei der Natur
des Materials nicht mehr
überschritten werden konnte,
blieb die Holzarchitektur nicht müßig. Sie fand
bei dem ungeheueren Holzreichtum des Landes neben
der Steinarchitektur noch genügenden Raum zur
Entfaltung ihrer Kräfte. Nachdem die ländlichen
Holzkirchen durch Steinbauten verdrängt worden
waren, war es der Profanbau, vorzugsweise das
bürgerliche und bäuerliche Wohnhaus, an dem der
Holzbau sich weiterbildete. Wie in Deutschland, schuf
er sich eine Art der Verzierungsweise, die nicht etwa
auf auswärtige Vorbilder, sondern einfach auf die
Handhabung der Axt und ähnlicher ursprünglicher
Werkzeuge zurückzuführen ist. Nur so erklärt es
sich, dass in England, wie überall, wo man Fach¬
werksbauten aufgeführt hat, die auf Brett geschnit¬
tenen Flachornamente, der Schmuck der Balkenköpfe
und Knaggen, eine gewisse Übereinstimmung in den
Grundlinien und Verschlingungen zeigen. Es ist
eben ein neuer Beweis für die alte Wahrheit, dass
ein wirklich lebendiger Kunststil nicht aus der
blindeu Nachahmung oder gar aus theoretischen
Spekulationen, sondern aus der Technik, ja sogar
direkt aus dem Werkzeug erwächst. Solcher eng¬
lischen Holz- und Fachwerksbauten hat sich noch
eine beträchtliche Anzahl erhalten, so besonders in
den Städten Chester, Salisbury, Shrewsbury, Bath
und selbst in der Altstadt von London. Da das
Material (Eichen- und Nussbaumholz) sehr wider¬
standsfähig ist, würde ihre Zahl noch größer sein,
wenn sich nicht die englischen Städte, besonders die
mittelgroßen Industriestädte, in einem beständigen
Erneuerungsprozess befänden. Die vorhandenen Bei¬
spiele genügen aber, um uns zu zeigen, dass der
Grundtypus des englischen Holzhauses völlig autoch-
thon, namentlich, wie Uhde in seinem Text hervor¬
hebt, völlig unabhängig von den Holzbauten der
Normandie und Hollands sind, die zuerst bei einem
Vergleich in Betracht kommen. Unsere Abbildung
(Fig. 7) führt ein Beispiel aus Chester vor, das zwar
bereits der zweiten Hälfte des 17. Jahrh. (1652) an¬
gehört. Aber es ist bekannt, dass der Facli werks¬
bau sehr zäh an seinen Grundbedingungen und
Überlieferungen festgehalten und insbesondere Re-
Abb. 7. Holzhaus in Chester, erbaut 1852.
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
311
naissance-Elemente nur widerwillig, meist nur als
dekorative Zuthaten aufgenommen hat. So darf denn
auch das Haus aus Chester, trotz seiner späten Ent¬
stehungszeit, für den englischen Fachwerksbau als
typisch gelten, um so mehr, als mit ihm noch
andere Holzhäuser in Chester, u.a. auch das von 1615
datirte „ Bishop Lloyds House“ in den Grundzügen
übereinstimmen. Uber dem den Keller enthaltenden
Unterbau erhebt sich eine nach der Straße offene, durch
eine seitlich angeordnete Treppe zugängliche, mit
einer Holzgalerie versehene Halle, aus der die Treppe
zu dem einzigen Stockwerk emporführt, dessen Ab¬
schluss das Giebelgeschoss bildet. Ist schon die
Halle, die wohl als eine bürgerliche Analogie zu
den „Halls“ in den städtischen Schlössern und den
Landsitzen des Adels aufzufassen ist, eine charak¬
teristische Eigentümlichkeit der auch iu klein¬
städtischer Enge nach Luft und Licht strebenden
Briten, so zeigt sich diese Eigenart noch stärker in
den Abmessungen der Fenster, die die Fassaden so
durchbrechen, dass, wie Uhde treffend bemerkt, die
ausgemauerten Wandflächen daneben verschwinden
und die „Fassaden nur aus Glas und Holzralimwerk
hergestellt zu sein scheinen.“ Es giebt auch größere
Landsitze mit zwei und mehr Stockwerken, die in
diesem Fachwerksbau ausgeführt sind.
Seine Hauptkraft entfaltete der englische Holz¬
bau aber erst, als er in der Gewölbekonstruktion mit
dem Steinbau zu wetteifern begann, der seinerseits
in der Gewölbebildung von jenem die ersten An¬
regungen empfangen zu haben scheint. Uhde ist in
dem Texte zu den „Baudenkmälern in Großbritannien“
sogar der Ansicht, dass in England „mehr als in
anderen Ländern die Traditionen des hölzernen,
architektonisch reich und oft ganz vollendet durch¬
gebildeten Dachstuhls mit seinen freitragenden Drei¬
ecksverbindungen und reich getäfeltem Dach bezw.
Deckenflächen dazu beigetragen haben, die kon¬
struktiven Liniensysteme des Holzbaues auch auf die
Steingewölbe zu übertragen.“ Bei dem Mangel an
genügenden Grundlagen wird sich diese Frage vor¬
läufig noch nicht zur Entscheidung bringen lassen.
So viel ist aber sicher, das jede dieser Konstruktionen
bald ihre eigenen Wege ging, die Steiukonstruktion,
indem sie, wie schon im vorigen Artikel erwähnt,
in Stern- und Fächergewölben ihre größte Kühnheit
und höchste Pracht entfaltete, der Holzbau in der
konsequenten W eiterbildung der freitragenden Decke,
die ebenfalls zu höchstem Raffinement und glänzend¬
ster Prachtentfaltung gedieh. Wenn man im all¬
gemeinen annimmt, dass die allmähliche Entwicklung
der freitragenden Holzdecken mit der des Tudor-
stils parallel lief, so ist dieser Annahme gegenüber
geltend zu machen, dass sich ein sichtbarer, frei¬
tragender Dachstuhl von reicher Ausbildung bereits
in der Westminsterhalle am Parlamentsgebäude in
London befindet, deren Bau unter Richard II. 1398
vollendet wurde. Obwohl es solcher freitragenden
Holzdecken auch in Kirchen giebt — wir citiren als
ein Beispiel reicher, konstruktiv besonders gelungener
und in den Details sehr zierlicher Durchbildung die
Decke in der Stephanskirche zu Norwich, — wurde
diese Art der Konstruktion doch mit Vorliebe für
die Uberdeckung weiter Hallen und Versammlungs¬
säle angewendet. Und auch für diese Zwecke er¬
scheint sie immer als Begleiterin des Tudorstils, der
sich trotz aller Versuche, die seit 1518 von Italien
nach England eingeführte Renaissance heimisch zu
machen, bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts
lebendig erhielt und in unserem Jahrhunderte
wiederum für die Mehrzahl der englischen Monu¬
mentalbauten maßgebend geblieben ist. Schon die
1536 erbaute große Halle von Hamptoncourt zeigt,
dass der Holzbau sowohl hinsichtlich der Kühnheit
der Konstruktion als auch in Bezug auf den Reichtum
der Ornamentik den gleichzeitigen Gewölbebau in
Stein mit seiner üppigen Dekoration erreicht hatte.
Was hier in den freischwebenden, sich trichter- oder
zapfenförmig herabsenkenden Schlusssteinen und
Vermittlungsgliedern der Fächergewölbe geleistet
worden ist, das erzielen die von den Strebebögen
frei herabhängenden, ebenfalls als Abschlüsse fun-
girenden Konsolen, die an der Decke der Halle von
Hamptoncourt über und über mit reichem Schnitz¬
werk bedeckt sind. Noch größer ist der Reichtum
an solchen hängenden Konsolen an der im übrigen
ganz ähnlich konstruirten, 1572 erbauten, als Speise¬
saal dienenden Halle des Middle-Temple in London
(s. Abbildung 5 auf S. 289). Ein einfacheres Bei¬
spiel dieser Gattung ist die Decke in der Halle des
Schlosses Eltham in der Grafschaft Kent, während die
der Spätzeit des Tudorstils (1620) angehörende Decke
des Refektoriums von St. John’s Kollege in Cam¬
bridge wieder auf die Dachstühle der Kirchen des
15. Jahrhunderts zurückgreift.
Man pflegt die erste Entwicklungsperiode der
Renaissancebaukunst und Bildnerei in England mit
dem Namen „Elisabethstil“ zu bezeichnen, obwohl
Queen Bess völlig unverdient zu dieser Auszeichnung
wie zu so manchem anderen Ruhmestitel gekommen ist.
Sie selber hat für die bildende Kunst so viel wie nichts
gethan. Ihr Name knüpft sich nur an ein einziges
rmm
AM). 8. Kadclifi'esche Bibliothek in Oxford. 1737—1749.
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
313
Bauwerk, an die Galerie des Schlosses zu Windsor. Weise auf. Die Kenntnis dieses Stils hatten sich
Im übrigen ließ sie andere dafür sorgen, die Zeit die englischen Baukünstler teils auf theoretischem
ihrer Regierung mit dem Nimbus der Kunst zu Wege, durch das Studium italienischer und franzö-
Abb. 9. Doppelhaus in London, erbaut von Thomas E. Collcut.
umgehen, indem sie die Großen ihres Reiches, die
Würdenträger ihres Hofes und die Günstlinge ihres
Herzens zum Bau von städtischen Palästen und länd¬
lichen, von großen Parkan¬
lagen umgebenen Schlössern,
bisweilen insehr energischer
Weise anzuspornen wusste.
An den auf diese Art zu
Stande gekommenen Bau¬
werken, die zum Teil den
Stempel der Überhastung,
zum Teil aber den schlim¬
meren einer großen Einför¬
migkeit an sich tragen, tre¬
ten zuerst die Formen des
neuen Stils, jedoch nur in
rein äußerlicher, dekorativer
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. II. 12.
sischer Lehrbücher, teils durch Reisen nach Italien
verschafft. In wie oberflächlicher Weise dies aber
geschehen ist, erfahren wir, wenn wir die Einzeln-
heiten der Unmenge von
städtischen Palästen und
Landsitzen durchmustern, die
sich an die Namen John
Thorpe, Bernard Adams,
Lawrence Beadshaw und Ge-
rard Chrismas knüpfen. Diese
Künstler hatten für die kon¬
struktiven Elemente, für die
Bestimmung der tragenden
und der schmückenden Glie¬
der entweder gar kein oder
doch nur ein geringes Ver¬
ständnis. Sie glaubten schon
41
314
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
ein Höchstes geleistet zu haben, wenn sie nur die
drei antiken Säulenordnungen mit einem entspre¬
chenden Gebälk angewendet hatten. Auf eine or¬
ganische Verbindung der fremden Elemente mit der
heimischen Baugewohnheit legten sie nicht den ge¬
ringsten Wert, und daraus erklärt es sich, dass der
national-englische Stil immer das Übergewicht über
die fremden, äußerlich angeklebten Zutliaten be¬
hauptete.
Erstaunlich bleibt es immerhin, dass diese eng¬
lischen Schlösser und Landsitze trotz der gewalt¬
samen Verbindung zweier aus verschiedenartigen
Kunst- und Lebensgewohnheiten erwachsenen Be¬
tätigungen des Bausinns einen wenigstens im
malerischen Sinne einheitlichen Gesamteindruck ma¬
chen. Wenn man aber näher zusieht, erkennt man,
dass der Gartenkünstler stets mit dem Architekten
zusammengearbeitet hat, um die fremde Architektur
gewissermaßen mit dem heimischen Boden zu paaren.
In jener Zeit entstand das, was wir heute „englische
Parkanlage“ nennen, jene unvergleichlich malerische
Verbindung der durch menschliche Hand korrigirten
Natur mit der sich selbst überlassenen, wild wachsen¬
den. Sie verbirgt Unregelmäßigkeiten und Unge¬
schicklichkeiten des Grundrisses, Roheit, Unverstand
und Nüchternheit in den Details und giebt selbst
einer bescheidenen Erfindung den Anschein eines
genialen Grundgedankens.
John Thorpe gilt als Erfinder und Hauptver¬
treter des Elisabethstils, weil von seinen Vorgängern,
namentlich von Robert Adams, keine Bauten übrig
geblieben sind, die diesem Intendanten der könig¬
lichen Bauten mit Sicherheit zugeschrieben werden
könnten. Aus den von Thorpe erbauten Schlössern,
die fast allein für den Elisabethstil in Betracht
kommen, hat Uhde folgende Definition dieses Stils
gewonnen: „Charakteristisch für die Paläste und
Landsitze war zunächst der Grundriss, welcher meist
die Form des |— | oder I — I hatte .... Das prächtige
Treppenhaus, die sehr langen und breiten Galerien
und die geräumige Eingangshalle nahmen sehr häufig
den größten Teil desselben ein. Im Äußeren sind
bemerkenswert die vielen luftigen Erkerfenster (bay
Windows) mit gotisirender Maßwerksteilung, die mit
Säulen, Figuren, Wappen und Sinnsprüchen ver¬
zierten, oft überladenen Portiken, die durchbrochenen
Balustraden und reich verschnörkelten Giebel, hinter
denen sich die Dächer meist verstecken, sowie die
vielen Schornsteinköpfe, die im Verein mit Eck- und
Glockentürmen eine wilde, aber reiche Silhouette
geben.“
Aus diesen allgemeinen Andeutungen, die sich
schwerlich erweitern oder genauer präcisiren lassen
dürften, ersieht man, dass der Elisabethstil kein Stil
im eigentlichen Sinne ist, dass der Name vielmehr
nur ein Notbehelf ist, um eine Gruppe von Bau¬
werken, die in enger Verwandtschaft mit einander
stehen, zur bequemeren, geschichtlichen und ästhe¬
tischen Betrachtung in einer Rubrik unterzubringen.
Uhde hat in seiner Charakteristik den Zusammen¬
hang der Bauten des „Elisabethstils“ mit denen des
„Tudorstils“ vielleicht nicht stark genug betont. Sonst
würde er sich vielleicht dafür ausgesprochen haben,
dass die Fiction eines besonderen „Elisabethstils“
angesichts der Denkmäler völlig unhaltbar ist. Das
Wort verdankt seine Entstehung überhaupt nur dem
maßlosen Kultus, den die Engländer einer Herrscherin
dargebracht haben, auf die sie so lange alle Tu¬
genden und Vorzüge zusammenhäuften, bis endlich
einmal das Licht der Geschichte den Weihrauch¬
dunst aufhellte. In Wirklichkeit ist der sogenannte
„Elisabethstil“ nur eine logische Weiterentwicklung
des Tudorstils, der unter dem Einfluss freierer Lebens¬
gewohnheiten und einer größeren Behaglichkeit und
Üppigkeit des Daseins aus dem auf Schutz und
Trutz gerichteten Bausystem wehrhafter Schlösser
zu der Gastlichkeit offener Landsitze überging und
sie, zur Genugthuung der Edelleute, die die Mode
humanistischer Bildung und klassischer Kunststudien
mitmachten, mit den gefälligen Zieraten der mo¬
disch - italienischen Bau- und Bildnerkunst aus¬
stattete.
Wie sehr der Elisabethstil an der Gotik hing
und mit ihr verwachsen blieb, zeigen am deutlichsten
die Teilungen der Fenster durch steinernes Stab-
und Maßwerk. Wir haben schon bei der Betrachtung
der bürgerlichen Holzhäuser gesehen, welch’ eine
große Rolle die Fenster im englischen Wobnhause
spielen, ganz im Gegensätze zu den Fenstern der
italienischen Renaissancepaläste , die in den Erd¬
geschossen ganz oder halb vermauert, in den oberen
Geschossen meist vergittert sind. Dieser Drang, mit
der Außenwelt, mit der umgebenden Landschaft zu
jeder Jahreszeit in beständigem Zusammenhang zu
bleiben, steigerte sich allmählich zu einem solchen
Luxus von Öffnungen, dass die Mauerflächen neben
den Fenstern fast verschwanden. Man empfand dieses
Missverhältnis schon damals. Denn über ein in den
Jahren 1567 — 1599, also während der höchsten Blüte
des Elisbethstils, erbautes Schloss der Gräfin Eli¬
sabeth von Shrewsbury kam der Spottvers „Hard-
wick Hall, more glass than wall“ in Umlauf. Trotz-
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
315
dem ist an dieser Sitte, wie wir später sehen werden,
bis auf den heutigen Tag überall da festgehalten
worden, wo man im Elisabethstil baut.
Wie der Tudorstil wurzelte auch sein Nachfolger,
der Elisabethstil, so fest im englischen Boden, dass
er auch dann noch nicht völlig verdrängt werden
konnte, als die eigentliche Renaissance, d. h. die
studirte Nachahmung italienischer und später fran¬
zösischer Muster in England eindrang und bald zur
Alleinherrschaft gelangte. Es geschah durch Inigo
Jones zu Anfang des 17. Jahrhunderts, zu einer Zeit
also, wo die italienische, speciell die römische Spät¬
renaissance bereits in jene neue Phase ihrer Ent¬
wicklung getreten war, die wir heute als Barockstil
bezeichnen. Inigo Jones, der Erbauer des Whitehall-
Palastes, gehörte freilich einer strengeren Richtung
an. Der Engländer fand sich mehr durch die strenge,
wohldurchdachte Regelmäßigkeit eines Palladio als
durch die Willkür, den malerischen Überschwang
der römischen Barockkünstler angezogen. Andere
seiner in England als Architekten und Bildhauer
thätigen Zeitgenossen dachten anders. Ein unschein¬
bares, aber sehr merkwürdiges Beispiel dafür ist die
Vorhalle der Marienkirche zu Oxford (s. Abbildung 6
auf S. 291), die 1673 erbaut worden ist. Als ihr
Erbauer wird ein Dr. Owen genannt , was nicht
weiter auffällig ist, da auch die Existenz anderer
Architekten bezeugt ist, die sich mehr aus Lieb¬
haberei oder um die Früchte ihrer Studien praktisch
zu verwerten, als aus innerem Beruf in der Baukunst
versuchten. Ein großes Kunststück war es auch
gerade nicht, ein Ding wie diese Kirchen Vorhalle
zu komponiren. Das Portal, dessen Giebelbekrönung
durch ein Tabernakel mit der Statue der Madonna
in der Nische durchbrochen wird, ist eine Nach¬
ahmung der zahlreichen römischen Kirchenportale
ähnlicher Art aus dem Ende des 16. und dem An¬
fang des 17. Jahrhunderts. Auch hat Dr. Owen offenbar
einen geschickten, in der Ausdrucksweise des römischen
Barockstils geschulten Bildhauer zur Hand gehabt,
vielleicht, wie gewisse stilistische Eigentümlichkeiten
andeuten, einen der Niederländer, die nach einer in
Italien verbrachten Lehrzeit in England Arbeit suchten
und fanden. Das Merkwürdige an diesem Bauwerk
ist nur der Rest nationaler Bauweise, der sich so¬
wohl in dem Flachbogen über dem Eingang, einem
richtigen Tudorbogen, als auch in der durchaus
gotischen, den Scheitel des Bogens durchbrechenden
Konsole zu erkennen giebt, die die Statue der Ma¬
donna trägt.
Noch enger in den Grenzen der Nachahmung
bewegte sich die englische Baukunst, als Christopher
41*
Abb. li. Beau Manor in Lougliborougb, erbaut von Joseph Nash.
Abb. 12. IJouse Aldersleigh — New Walk (Leicester), erbaut von Stockdale Hap.pison.
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
317
IFren (1632 — 1723) um 1666 seine umfassende Bau-
thätigkeit in London begann und durch kluge Be¬
rechnung mit seiner Kuppel der St. Paulskirche sein
Vorbild, die der Peterskirche in Rom, übertraf. So
gedanken eingab. Wie ihre Ahnen aus der nor¬
mannischen Zeit, waren sie jedoch stets erfindungsreich
genug, um den fremden Gedanken einen persönlichen
Accent mitzugeben, wenn dabei auch oft genug
blieb es lange Zeit. Bald ahmten die englischen
Architekten den Italienern, bald den Franzosen nach,
je nach der Laune ihrer Auftraggeber oder nach
ihrer eigenen Neigung. Fast immer war es aber
ein vorhandenes Bauwerk, das ihnen den ersten Grund¬
etwas Bizarres herauskam. So macht z. B. der Rund¬
bau, den unsere Abbildung 8 wiedergiebt, den Ein¬
druck einer großartigen Monumentalität, dem man
fast bei allen englischen Bauten des 17. und 18.
Jahrhunderts für öffentliche Zwecke begegnet. Unsere
318
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
Bewunderung wird noch erhöht, wenn man gewahr
wird, dass der Erbauer, der Schotte James Gibbs, den
anmutigsten aller Rundtempel der Renaissance, das
„Tempietto“ des Bramante im Klosterhof von San
Pietro in Montorio in Rom, auf einen Rustika-
Unterbau gestellt, die Zwischenräume zwischen den
Säulen der unteren Halle durch Mauern geschlossen
und aus dem zierlichen „Tempelchen“ durch Steigerung
aller Verhältnisse einen Monumentalbau geschaffen
hat. Und wozu dieser Aufwand? Zur Aufnahme
der Radcliffe’schen Bibliothek in Oxford! Es dürfte
schwer werden, eine unzweckmäßigere Bauform für
eine öffentliche Büchersammlung zu ersinnen.
Der Klassicismus hat trotz der Wirksamkeit von
Stuart und Revett nicht besonders hervorragende
Bauwerke erzeugt, sondern sich mit mehr oder
weniger geschickter, meist aber zweckwidrigen Nach¬
ahmungen griechischer Vorbilder begnügt. Er war
also kein Hindernis, als sich in den zwanziger und
dreißiger Jahren auch über England ein Hauch von
Romantik niederließ und, zunächst durch schrift¬
stellerische Propaganda, die gotische Baukunst wie¬
der zu Ehren kam. Außer den schon im ersten
Artikel genannten Schriftstellern, die große Sammel¬
werke auf Grund historischer und antiquarischer
Forschungen herausgaben, war es besonders der
Architekt A. W. Pugin, der durch eine umfangreiche,
für Architekten berechnete Publikation („Examples
of Gothic architecture selected from ancient edifices
in England“) um die Mitte der dreißiger Jahre und
zugleich als Praktiker durch Bauausführungen für
die Wiederbelebung des gotischen Stils in England
eintrat. Ihm und den Bemühungen Gleichgesinnter
gelang es auch, zunächst den gotischen Stil für den
Monumentalbau populär zu machen. Das erste
Hauptwerk in dieser Richtung ist der gewaltige
Gebäudekomplex der 1840 begonnenen, aber erst ein
Yierteljahrhundert später vollendeten Parlaments-
bäuser von Charles Barry. Hier war allerdings der
gotische Stil, insbesondere der Tudorstil, schon von
vornherein geboten, weil die Parlamentshäuser sich
eng an die schon beiläufig erwähnte, aus dem Ende
des 14. Jahrhunderts stammende Weslminsterhall
anzuschließen hatten. Der gewaltige Bau hat in der
gleichzeitigen Litteratur eine meist abfällige Kritik
erfahren. Man fand die dem Fluß zugekehrte
Fassade langweilig und einförmig, die westliche zu
reich und schwülstig. Beute, wo sich das Bauwerk in
die Physiognomie der Themsestadt so zu sagen einge¬
wachsen hat, urteilt man anders. So, wie man da¬
mals den gotischen Baustil verstand, hat Charles;
Barry Großes geleistet, freilich in der Beschränkung,
die ihm die Grenzen seiner Begabung auferlegte.
Er war der erste, der es wagte, den Stil der eng¬
lischen Kathedralen auf ein völlig entgegengesetzten
Zwecken dienendes Bauwerk zu übertragen, und er
hat dafür, dass es ihm nicht auf den ersten Wurf ge¬
lungen ist, ein überaus schwieriges Problem zu lösen,
durch die herbe Kritik der Mit- und Nachwelt büßen
müssen. Nichtsdestoweniger hat er in der Kon¬
struktion der drei Türme ein Zeugnis eindringlicher
Studien der alten Kathedraltürme abgelegt und da¬
mit zugleich drei Dominanten geschaffen, die heute
niemand mehr im Stadthilde Londons missen möchte.
Genialer als Barry und Street, der Erbauer des
Justizpalastes, war Gilbert Scott, der Schöpfer des
„Albert-Memorial“ im Hydepark zu London und
zahlreicher gotischer Kirchen in anderen Städten
Englands. Er ist auch bei uns in Deutschland durch
den Bau der Nikolaikirche in Hamburg und durch
einen höchst geistvollen Entwurf zum ersten Wett¬
bewerb um das Reichstagsgebäude für Berlin be¬
kannt geworden. Dass letzterer in Berlin nur mit
kühler Hochachtung vor dem berühmten Namen
angesehen wurde, ist bei den damaligen Verhält¬
nissen, wo eben erst die Renaissance ihren Sieges¬
lauf begonnen hatte , selbstverständlich. Heute
denkt man, wie die zahlreichen Kirchenbauten be¬
weisen , anders über die Wiederbelebung mittel¬
alterlicher Bauformen, an denen jedenfalls das eine
Gute zu rühmen ist, dass sie bei höchster Entfal¬
tung ihrer konstruktiven Mittel das Gesamtbild einer
Millionenstadt ganz anders zu beherrschen wissen
als das traurige, mit Gold gesprenkelte Flachkuppel¬
glasdach unseres jetzigen Reichstagsgebäudes.
Die Nachfolger Barry ’s, Streets und Scotts haben
es mit der Zeit auch gelernt, den gotischen Stil den
Bedürfnissen von großen Centralbehörden, von Museen,
Kollegiengebäuden , Hospitälern , W olilthätigkeits-
anstalten, Schulen u. dgl. m. anzupassen. Die Mo¬
numentalbauten von A. Waterhouse, das Rathaus
und der Assisenhof in Manchester und das natur¬
historische Museum in South-Kensington in London,
das in der musterhaften Zeichnung des Architekten
auch in Deutschland durch die Ausstellungen in
München und Berlin bekannt geworden ist, und vor
allen das in frei behandeltem Tudorstil 1887 — 1891
von den Londoner Architekten Aston Webb und
E. Ingress Bell erbaute Gerichtsgebäude in Birming¬
ham sind glänzende Beweise für das große Geschick,
womit die englischen Architekten die klassischen
Überlieferungen ihrer heimischen Baukunst in leben-
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
319
tung bereits in dem von Thomas E. Collcut erbauten
„Imperial Institute“ in London eine durch Monumen¬
talität der Anlage wie durch interessante Detailbil¬
dung gleich hervorragende Schöpfung aufzuweisen hat.
digem Zusammenhang mit den vielseitigen Interessen
der Gegenwart zu erhalten und die überlieferten
Stilformen auch triebkräftig und fruchtbar zu machen
wissen. Erst in neuester Zeit hat sich, im Einklang
Abb. 14. Haus am Cadogan Square in London, erbaut von Ernest George und Peto.
mit einer gewissen Richtung der englischen Malerei,
auch eine Strömung geltend gemacht, die sich der
italienischen Frührenaissance nähert. Es ist jedoch
fraglich, ob das fremde Gewächs im englischen
Boden Wurzeln fassen wird, wenngleich diese Rich-
Im Privatbau ist jedenfalls, so weit er sich über¬
sehen lässt, der Anschluss an die heimische Über¬
lieferung überwiegend, und auch der ebengenannte
Collcut folgt in seinen Privatbauten häufiger dem
Elisabethstil als den Stilarten der italienischen Re-
320
ALTE UND NEUE BAUKUNST IN GROSSBRITANNIEN.
naissance. Ein Beispiel dafür ist das Doppelhaus
in London (s. Abbildung 9), von dem wir auch
den Grundriss (s. Abbildung 10) wiedergeben, weil
er gewissermaßen typisch für die Einrichtung des
modernen englischen Wohnhauses ist, mag es nun
von einer oder von mehreren Familien bewohnt
sein. !) Denn auch bei Mietshäusern ist das Be¬
streben der englischen Architekten darauf gerichtet,
jeder Partei einen in sich zusammenhängenden und
nach außen möglichst abgeschlossenen Komplex von
Räumen zu bieten, der wenigstens die Illusion
eines eigenen Heims gewährt. Die Halle, der vor¬
nehmste Empfangs- und Repräsentationsraum des
englischen Hauses, darf selbst bei solchen Miets¬
häusern nicht fehlen. Noch enger an den Elisabeth¬
stil schließt sich das von Joseph Nash erbaute Beau
Manor in Loughborough an (s. Abbildung 11), das
beinahe wie die Kopie eines der kleinen Landsitze
aus dem Ende des 16. und dem Anfang des 17. Jahr¬
hunderts aussieht. Eine weit freiere Behandlung
des Elisabethstils, zum Teil in starker Versetzung
mit Elementen des Barockstils und des französischen
Klassicismus, zeigen die Bauten von Stockdale Harrison
(s. Abbildung 12), Walther Emden (s. Abbildung 13)
und besonders von Ernst George und Peto (s. Ab¬
bildung 14), die mit Norman Shaw und dem schon
genannten Webb zu den geistvollsten der jüngeren
Architekten Englands gehören. Bei Emdens Tivoli¬
theater in London erinnern eigentlich nur das
Stabwerk der Fenster und die erkerartigen Bay- Win¬
dows an den Elisabethstil, während im übrigen die
Formen jenes massigen Barockstils vorwiegen, den
die Eugländer jezt „Queen Anne“ nennen, obwohl
die Regierungszeit der Königin Anna viel zu kurz
war, als dass sich in diesem Zeitraum ein eigener
Stil hätte herausbilden können.
1) Wir entnehmen diese und die folgenden Abbildungen
mit Genehmigung des Herrn Verlegers dem Werke: Neubauten
in Großbritannien. Herausgegeben von F. Joffe (Berlin
1802 ff., Ernst Wasmuth). In den bis jetzt erschienenen
2 Lieferungen (50 Blatt) ist mit wenigen Ausnahmen vor¬
zugsweise der Privatbau, wie er sich während des letzten
Jahrzehnts entwickelt hat, berücksichtigt worden.
Bei der ungeheuren Fülle des Materials müssen
wir uns auf die Vorführung dieser Beispiele be¬
schränken. Sie reichen auch im Verein mit unserer
flüchtigen Skizze aus, um den engen Zusammenhang
der modernen Architektur Englands mit der des Mittel¬
alters und des 16. und 17. Jahrhunderts zu veran¬
schaulichen, der trotz italienischer, französischer und
klassicistischer Einbrüche niemals ganz zerstört wor¬
den ist. Die englischen Privatbauten haben aber
auch für uns insofern ein besonderes Interesse, als
sie einen Einfluss auf unsere Architektur geübt
haben, der noch im Wachsen begriffen ist. In
Berlin war es besonders Robert Dohme, der durch
Wort und That für die Einführung des englischen
Wohnhaus- und Villenstils gewirkt hat. Seiner
Studie über das englische Haus ließ er die Über¬
setzung seiner Gedanken in die That folgen, indem
er sich am nordwestlichen Rande des Tiergartens an
der Händelstraße durch den in englischer Bauweise
wohlbewanderten Hofbaurat Ihne ein Landhaus er¬
richten ließ, das unter Verzicht auf augenfälligen
äußeren Schmuck doch den ganzen Komfort, die
Großräumigkeit und die Lichtfülle des englischen
Hauses enthält. Diese Lichtfülle, die man selbst in
den besseren Berliner Mietshäusern, in den soge¬
nannten herrschaftlichen, wegen des maßlosen Luxus
an Loggien, Erkern, Vorbauten u. dgl. m. nur selten
findet, sollte allein schon unsere Architekten zur
Nachahmung reizen. Ihre Eigenart brauchen sie
darum nicht zu verleugnen, und dass sich beides
mit einander vereinigen lässt, beweist eine ganze
Anzahl von Villen und Mietshäusern, die in den
beiden letzten Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft
des Dohme’sclien Hauses entstanden sind. Wir unter¬
schätzen keineswegs die ungeheuren Fortschritte, die
in Berlin und in allen übrigen größeren Städten
Deutschlands in Bezug auf die künstlerische und
bautechnische Ausstattung der Mietswohnungen ge¬
macht worden sind. Trotzdem können wir von den
Engländern und den Amerikanern immer noch sehr
viel lernen. Das wird man bekennen dürfen, ohne
sich dem Verdachte blinder Fremdlandsanbeterei aus¬
zusetzen.
DIE TEMPEL VON PÄSTUM.
VON GEORG WARNECKE.
MIT ABBILDUNGEN.
ER zum erstenmal, den bunten
Reichtum der italienischen
Kunst im Rücken, von Salerno
nach Süden strebend die
Tempel von Pästum erblickt
„mitten im Heidegefild und
zunächst an des Meers Ein¬
öde,“ dessen dumpfe Bran¬
dung allein die schweigende Einsamkeit durchdringt;
wer nun vor ihnen steht, diesen ersten Verkündigern
hellenischen Geistes für den nordischen Wanderer:
für den verschwindet zunächst das wissenschaftliche
Interesse vor der Sehnsucht, nur anzuschauen und
zu genießen, ja anzubeten wie auf heiligem Boden.
Auch mir erging es so. Und doch fand ich mich
nach kurzer Zeit zu meiner eigenen Überraschung
mit Bleistift und Buch vor einer der kolossalen
Anten der Basilika. Obgleich ich das eigentüm¬
liche schwere Kapitell längst aus Bildern kannte,
hatte die fremdartige Form in ihrer Wirklichkeit
mich dergestalt erregt, dass ich mich von meiner
Verwunderung nicht besser zu befreien wusste, als
indem ich die Form zeichnete. Hatte sich mein Auge
auf diese Weise für Unterschiede
in den Linien wie für Abweichun¬
gen von dem Gewohnten geschärft?
Genug, ich wurde auch bei den
anderen Tempeln nach und nach
zum Archäologen, verglich, maß,
wenn auch nur mit den Augen,
und zeichnete, bis der einzige Tag
meines Aufenthalts in Pästum zur
Neige ging. Was ich so in Italien
gesammelt, hat mir zu Hause in
Verbindung mit einem genaueren
Studium der Publikationen über
Pästum den Stoff zu den folgen¬
den Ausführungen gegeben.
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 12.
Die Form der Hohlkehle, die der Bildung der
Antenkapitelle an der Basilika (Fig. 1) zu Grunde
liegt, findet sich auch am Poseidontempel und zwar
nicht allein als Abschluss des Frieses, sowie als Be¬
krönung der inneren Architrave und Gesimse, worauf
schon Krell *) an der Hand der älteren Forschungen
hingewiesen hat, sondern ebenfalls am Kapitell, also
als stützendes Glied. Ich vermag dieselbe freilich
nur an einer Stelle, aber hier als unzweifelhaft nach¬
zuweisen. Bekanntlich wird die Cella des Poseidon¬
tempels (Fig. 2 — 4) gegen die Vorhalle durch eine
Doppelwand abgeschlossen , innerhalb deren die
Treppen zur oberen Galerie hinaufführten. Zur Rechten
des im Osten, an der dem Meer entgegengesetzten
Seite, gelegenen Eingangs ist von dieser Anlage alles
bis auf die untersten Quadern verschwunden. Zur
Linken dagegen zeigt sich uns noch die untere Öff¬
nung der Treppe zwischen den beiden den Eingang
begrenzenden Enden der Doppelwand. Auch hier
ist die vordere Hälfte des Wandstücks in halber
Höhe weggebrochen; aber die hintere reicht in der
Gestaltung der Ante bis zur vollen Höhe hinauf und
stützt noch heute den Epistylbalken der inneren
Säulenreihe. Die Seite der Ante
nun, die mit der Längsachse des
tiefen Cellaeingangs parallel läuft,
ist mit einem Kapitell in Form
der Hohlkehle bekrönt (Fig. 5);
von dem Abakus sind nur kaum
erkennbare Spuren übrig geblieben.
Die beiden Pilaster, welche die
Stelle bezeichnen, wo der Epistyl
im Innern der Cella auf die nach
Westen schließende Wand aufsetzt,
stehen auch noch, während die
1) Geschichte des Dorischen Stils,
1870, S. 73.
Antenkapitell von der Basilika.
42
322
DIE TEMPEL VON PÄSTUM.
Wand selbst gefallen ist; ich vermag indes die Form der
Kapitelle an diesen Wandpfeilern nicht mit Genauig¬
keit anzugeben. Auf die Frage, was andere Augen¬
zeugen an der fraglichen Stelle gesehen haben, bleiben
die alten Zeichner, wie Delagardette l), die Antwort
schuldig, abgesehen vielleicht von Gailhabaud 2), der
auf der berühmten Innenansicht des Tempels, nach
der alle späteren Blätter gezeichnet und gestochen
sind, die betreffende Ante mit einem Kapitell aus¬
stattet, das aber ebenso wenig die Linie der Hohl¬
kehle zeigt wie es überhaupt erkennen lässt, was sich
der Herausgeber unter dieser Form vorgestellt hat.
Die überra¬
schende Tliatsache,
dass sich an einem
und demselben
Tempel zwei ver¬
schiedene Formen
des Antenkapitells
vorfinden, zuerst die
allgemein übliche
des dorischen Ky-
mation, das jedem
Beschauer beson¬
ders an den Anten
der Vorhalle in die
Augen springt, so¬
dann die ganz
fremdartige Form
der Hohlkehle, er¬
regten bei mir von
vornherein Zweifel,
wenn auch nicht
an der Richtigkeit
meiner Beobach¬
tung, so doch an
der ursprünglichen
Echtheit dieser
Form. Es ist bekannt, dass der stark poröse Sinterkalk¬
stein der Pästaner Tempel einst einen Stucküberzug be¬
sessen hat. Könnte nun nicht der obere überfallende
Rand des Kyrna’s an dieser Stelle in Stuck auf die in
Form einer Hohlkehle gestaltete Fläche des Steins auf¬
gearbeitet gewesen sein, um im Laufe der Jahrhunderte
durch Abwitterung ganz zu verschwinden? Die Mög¬
lichkeit ist vorhanden; dieselbe würde zur Wahr¬
scheinlichkeit erhoben werden, falls man nachwiese,
dass die noch vorhandenen überfallenden Teile an
1 1 Les ruinös de Paestum ou Posidonia. Paris 1799.
2) Lps monuments anciens et modernes avec l’histoire
de l’architecture. Paris 1839 — 1850- PI. 4, Fig. 3.
den Antenkapitellen der Vorhalle ebenfalls aus Stuck
bestehen. Gegen diese Annahme spricht vor der
Hand die Thatsache, dass an diesen Kymatien un¬
mittelbar neben abgebrochenen und verwitterten
Stellen vollständige Reste von außerordentlicher
Schärfe des Profils, die durch eine zweitausendjährige
Geschichte zu bewahren, nur dem Steine möglich er¬
scheint, sich vorfinden. Nur eine Untersuchung, die
mit reicheren mechanischen Hilfsmitteln, als sie mir
zu Gebote standen, geführt werden müsste, könnte
in dieser Frage entscheiden. Bis dahin bleibe ich
bei meinem Glauben. Was mir denselben aber zur
Gewissheit macht,
ist das Vorhanden¬
sein der Antenhohl¬
kehle an der Basi¬
lika. Die beiden
Tempel, die trotz
ihrer räumlichen
N ähe mannigfach
verschieden auf ge¬
trennte Richtungen
hinsichtlich ihres
Ursprungs zu wei¬
sen scheinen, haben
nun ein gemein¬
sames Detail, das
vielleicht zu Fragen
nach dem zeitlichen
Verhältnis der bei¬
den Gebäude und
weiteren Schluss¬
folgerungen führen
wird. V ersuchen wir
zunächst das Wesen
dieses merkwürdi¬
gen Antenkapitells
zu erklären.
Die Ansicht Krells (a. a. 0. S. 58), der schein¬
bar kein Augenzeuge, auf eine ungenaue und un¬
deutliche Zeichnung Delagardette’s gestützt, in der
Antenhohlkehle der Basilika eine primitive Art des
korinthischen Kapitells erblickt, ist schon durch die
richtige Zeichnung DurnTs ') widerlegt. Was Krell
als an den Ecken aufgerollte Voluten ansieht, ist
nichts weiter als zwei Rundstäbe, die am oberen
Rand der seitlichen Hohlkehlen unmittelbar unter
dem Abakus sitzen und mit der Cellawand parallel
1) Die Baukunst der Griechen. 2. Auflage. Darmstadt
1892. S. 100.
DIE TEMPEL VON PÄSTÜM.
323
laufend die schließende Funktion der Ante anzu¬
deuten scheinen (Fig. 1). Nach Delagardette’s Zeich¬
nung müsste man eigentlich auf die Form eines
ionischen Pilasterkapitells schließen, da die vordere
und hintere Fläche,
anstatt ebenfalls zur
Hohlkehle ausge¬
schweift zu sein,
senkrecht gerichtet
ist. Wie sehr im
allgemeinen den
älteren Zeichnern
zu misstrauen ist,
zeigt ein anderer
Irrtum Delagardet¬
te’s, dass sich näm¬
lich in der Basi¬
lika an Stelle der
Cellawände Säulen¬
reihen mit quadra¬
tischen Eckpfeilern
befunden hätten,
obgleich in seiner
eigenen Ansicht
(PI. XII, Fig. E) die
noch heute vorhan¬
denen Ansätze der
Wand in zwei Qua¬
dern gerade hinter
der Hohlkehle zu
sehen sind. Bei der
Antenhohlkehle
des Poseidontem¬
pels ist von einem
Rundstab nichts zu
erkennen; wahr¬
scheinlich ist nie einer
dagewesen, weil es
sich hier nicht um die
Beziehung des Pfeilers
auf die Säulenreihe als
ihres Abschlusses han¬
delt, sondern nur um
die seitliche Bekrö¬
nung einer Stütze.
Ich wiederhole
nach Zurückweisung
der Ansicht Delagardette-Krell’s die Frage nach dem
Wesen unseres fremdartigen Antenkapitells. Dieselbe
hat mich an der Hand einer Reihe von neuerdings
aufgefundenen architektonischen Gliedern und von
Produkten des Kunstgewerbes den, wo es sich um
den Ursprung griechischer Formen handelt, heute
allgemein betretenen Weg nach Ägypten geführt,
den ich nun von seinem Endpunkte abwärts zurück¬
verfolgen werde.
Die Hohlkehle er¬
scheint in Ägypten
nicht allein als be¬
krönendes Glied an
den allbekannten
Gesimsen (Fig. 6),
sondern auch als
Säulen- und Pfeiler¬
kapitell. Neben der
gewöhnlichen
Form des geöff¬
neten Lotoskelches
mit seiner doppelt¬
geschwungenen
Profillinie (Fig. 7)
sind eine Anzahl
von Kapitellen mit
einfach geschweif¬
ter Linie vorhan¬
den, die sich durch
die aufgemalten
oder auch plasti¬
schen V erzierungen
von Palmenblättern
als eine Nachah¬
mung der Palmen¬
krone darthun (Fi¬
gur 8). Diese cha¬
rakteristische De¬
koration lässt kei¬
nen Zweifel darüber
aufkommen, dass wir
das Princip eines von
vornherein mit seit¬
licher Biegung aus
dem Stengel heraus¬
gewachsenen, infolge
seiner eigenen Last
überhängenden Blat¬
tes zur Erklärung der
Hohlkehle anzuneh¬
men haben. Ganz
dasselbe Princip liegt der Hohlkehle des ägyp¬
tischen Gesimses zu Grunde; hier zeigt sich, wenn
auch in einer von Naturwirklichkeit weit entfernten
Weise, die Dekoration mit aufrechtstehenden (hier
42 *
Fig. 3. Die Cella des Poseidontempels, von der südlichen Halle des Säulen¬
ganges gesehen.
(NB.: Der Pfeil weist auf die Antenliohlkehle, deren nordöstliche Kante
von hier aus in scharfem Profil gesehen wird.
Fig. 4. Grundriss des Poseidontempels.
(NB.: Der Pfeil weist auf die Stelle, wo sich die Antenhohlkehle findet.)
324
DIE TEMPEL VON PÄSTUM.
senkrecht herausgewachsenen), nach derSpitze zu über¬
geneigten Schilfblättern. Ob diese Formen wirklich ur¬
sprünglich als Resultate einer naiven Betrachtung und
Verwertung der vegetabilischen Natur sich ergeben
haben oder ob die Dekoration nur eine sekundäre
sei, d. h. ob das pflanzliche Ornament erst nach¬
träglich durch Reflexion der auf dem Wege des
reinen mathematischen Denkens, ganz unabhängig
von Naturvorbildern entstandenen Form angepasst
sei, ist eine müßige, weil zunächst nicht entscheid¬
bare Frage. Das Palmenkapitell scheint auf un¬
mittelbare Naturnachahmung hinzudeuten; jedenfalls
ist die Thatsache sicher, dass die Hohlkehle mit der
hier vorliegenden Dekoration für die künstlerische
Phantasie etwas Lebendiges gewesen ist.
Auf griechischem Boden sind es zunächst die
bei den Ausgrabungen in Olympia ge¬
fundenen Terrakottasimen, die mit
ihrer Form und ihrer Bemalung mit
aufrech tstehenden Blättern an das
ägyptische Hohlkehlengesims anknüp¬
fen. In Bötticlier’s Olympia sind zwei
dieser Funde abgebildet, auf Taf. IV
unten eine unbenannte Terrakotta
(Fig. 9) mit scharf ausgebogener Hohl¬
kehle und nach der Spitze sich ver¬
breiternden Blättern, sodann auf Taf.
V die Sima vom Geloer Schatzhause
(Fig. 10), deren Bemalung bereits, wie
nicht zu leugnen ist, eine Trübung
der ursprünglichen Vorstellung des
reinen Pflanzengebildes und einen
• Zug willkürlich spielender Ornamen¬
tik verrät, indem namentlich an der Sima der
Giebelseite in den Zwischenräumen zwischen den
keulenförmig verdickten Blättern auch nach unten
gerichtete Elemente sich vor finden. Ungleich sinn¬
voller der Form sich anpassend erscheint die de¬
korative Absicht an einem altertümlichen Kapitell
aus Mykene (Fig. 11), das mit seinen länglichen
skulpirten Blättern für eine Urform des korinthischen
Kapitells gelten kann, besonders aber bei einigen
Kapitellen von Votivsäulen, die 1886 auf der Akro¬
polis von Athen ausgegraben und nach der griechischen
archäologischen Zeitung in Bötticher’s Akropolis ab¬
gebildet sind. Fig. 12 zeigt eine Hohlkehle, deren
Profil nach oben mit leiser Rundung in die senk¬
rechte Linie des Abakus übergeht, Fig. 13 das
Profil des doppelt geschwungenen Kelches. Beide
Kapitelle sind mit aufrechtstehenden Blättern bemalt
und zwar ist bei beiden die Darstellung der Blätter
mit den stark betonten Rändern und Mittelrippen
eine so starre, nur ganz entfernt an die Natur form
erinnernde, dass der ursprüngliche Gedanke, einer¬
seits des Blumenkelches, andererseits des kraft der
eigenen Schwere überhängenden Blattes aufgegeben
zu sein scheint. Die architektonische Phantasie sucht
sich bereits dieser beiden Formen in gleicher Weise
zu bemächtigen, indem sie das Wesentliche der
Dekoration in dem aufrechtstehenden Blätterkranze
mit übergebogenen Spitzen erblickt und diese eigen¬
tümliche Linienführung zum Ausdruck des tekto¬
nischen Zusammenhanges der baulichen Glieder zu
verwerten strebt. Dass ich mit dieser Ansicht, die
für die Bötticher’sche Theorie in die Schranken tritt,
nicht irre gehe, zeigt mir das Kapitell einer dritten
Stele, die in Bötticher’s Akropolis abgebildet ist.
Auch hier (Fig. 14) haben wir das
doppelt geschwungene Profil des Kel¬
ches mit aufrechtstehenden Blättern,
deren Spitzen durchaus nicht tiefer
herabgedrückt erscheinen als in Fig. 13
oder bei der von Durm unter Fig. 70
rechts unten publicirten Stele; aber
während bei den letzteren Kapitellen
als oberer Abschluss des Kelches und
verbindendes Glied die nichtssagende
Form einer dünnen, an der Unterseite
unterhöhlten Platte folgt, sehen wir
hier über dem Kelch ein nach unten
herausgewölbtes Stück, das sich durch
seine Bemalung mit abwärtsgerich¬
teten Blättern unzweifelhaft als die
Innenseite des überfallenden Blätter¬
kranzes cliarakterisirt. Wir haben hier die erste
Spur der sogenannten Nase des dorischen Kymas
in einer freilich plumpen, schwerfälligen Gestaltung,
indem die beiden Blätterreihen, die obere und die
untere, die in der Richtung ihrer Profile mehr ein¬
ander entgegengesetzt als parallel zu laufen scheinen,
dennoch als die Innen- und Außenseite ein und der¬
selben Blattreihe aufgefasst werden sollen. Damit
scheint der Übergang von dem naiven Schaffen der
Phantasie, welche die dekorativen Glieder unmittelbar
der Natur nachahmt, zu der künstlerischen Reflexion,
welche nach möglichster Ausdrucksfähigkeit der
Formen in Bezug auf den Zusammenhang der ein¬
zelnen Bauteile, in unserem Falle nach dem Aus¬
druck des Gegensatzes von Kraft und Last ringt,
endgültig vollendet. Deutlicher noch macht sich
die niederdrückende Last des Abakus an dem Kapitell
der bei Durm, Fig. 70 links unten, abgebildeten
Fig. 5. Die Antenhoblkehle amPoseidon-
tempel in größerem Maßstabe.
DIE TEMPEL VON PÄSTUM.
325
Stele fühlbar; aber die vollkom¬
men freie Form des dorischen
Antenkapitells kommt erst an den
Propyläen und am Parthenon zur
Erscheinung.
er-
Es sollte kaum nötig
scheinen, angesichts eines so selt¬
samen Gliedes wie des dorischen
Kymation, das mehr charakteristisch
als schön ganz allein für sich zu
sprechen geeignet ist, als Anwalt
zur Verteidigung der Bötticher’schen
Theorie aufzutreten, wenn diese nicht,
nachdem sie Jahrzehnte lang die
Aesthetik beherrscht hat, einem in
jüngster Zeit immer mehr wachsen¬
den Widerspruch von sehr gewich¬
tiger Seite zu begegnen hätte. Ich
bin geneigt zu glauben, dass dieser
W iderspruch unter anderen ein Symp¬
tom eines gewissen Wandels ist, der
sich in der wissenschaftlichen Be¬
trachtungsweise des hellenischen Sti¬
les vollzogen hat, insofern als der
historisch und philologisch geschulte
Aesthetiker, der bei dem einstigen
Mangel an genauen Publikationen
und den nur sehr spärlich fließenden
Funden die Kräfte seiner Phantasie
zur Füllung der Lücken aufbieten
musste und so vielfach zu einem
ratenden Kombiniren gedrängt wurde,
heute dem Architekten vom Fach
hat weichen müssen, der unter dem
Gewicht des täglich aus der Erde
quellenden Materials sich nüchtern
praktischen Sinnes auf die nackten
Thatsachen zurückzieht und alles ab¬
wehrt, was den Anschein einer vor¬
gefassten Theorie und eines gleich¬
sam apriorischen ästhetischen Sys¬
tems an sich trägt. Wenn auch
Durm sich in seinem grundlegenden
Werke, soweit das Kymation in Frage
kommt, einer positiven Beurteilung
der Bötticher’schen Theorie enthalten
hat, so ist es doch einer abfälligen
Kritik gleichzuachten , dass er (Seite 92,
Anmerkung 65) Borrmann das Wort
erteilt, der in dem Aufsatze „Stelen
für Weihgeschenke auf der Akro¬
Fig. G. Ägyptisches Hohlkehlengesims mit auf¬
rechtstehenden Schilfblättern und der geflügelten
Sonnenscheibe. (Nach Hauser, Stillehre.)
Fig. 7. Ägyptisches Kapitell in Form
des geöffneten Lotoskelches.
polis zu Athen“ J) folgende Aus¬
führung macht: „Die Blattwellen,
bei welchen die untere Blattreihe
von der oberen, auf dem über¬
fallenden Teile befindlichen streng
geschieden ist, machen es min¬
destens zweifelhaft, ob wir uns
die Entstehung des dorischen Ky¬
mation mit Bötticher nach Art
eines infolge der Belastung mit den
Spitzen vorn übergebeugten Blatt¬
kranzes vorzustellen haben.“ In Be¬
zug auf die beiden Stelen hei Böt¬
ticher S. 72, Fig. 21 (Fig. 14) und
bei Durm, Fig. 70 unten links,
würde sich dieses Urteil Borrmann’s
als irrtümlich erweisen. Keineswegs
ist die untere Blattreihe von der
oberen, auf dem überfallenden Teile
befindlichen streng geschieden. Borr¬
mann übersieht die Ränder der
Blätter, die wie die Mittelrippen in
schematischer Weise durch breite
Streifen hervorgehoben sind. Mit
den Rändern stoßen die beiden Blatt¬
reihen unmittelbar zusammen und
tliun sich damit, wenigstens der
Idee nach, als eine Einheit kund.
Soweit es sich um die Erklärung
des dorischen Kyma’s handelt, ist
die Bötticher’sche Theorie zweifel¬
los gesichert; man müsste denn die
Begriffe Ursache und Wirkung aus
der Architektonischen Ornamentik
verbannen und den Sinn vor der
Sprache der Formen absichtlich ver¬
schließen. Durm (a. a. 0. S. 93) selbst
bezeichnet das Kymation als eine
Verbindung von Hohlkehle oder
Karnies und Blattüberfall und stellt
sich mit diesem Ausdruck vielleicht
unbewusst — so zwingend ist die
Beweiskraft des Ornamentes — auf
den Standpunkt Böttichers. Ich
bemerke bei dieser Gelegenheit, dass
es wohl an der Zeit wäre, für die
hellenische Stillehre den Begriff des
Karnieses als eines konvexkonkaven
Fig. 8. Ägyptisches Palmenkapitell.
(Nach Hauser.)
1) Jahrbuch des Kaiserlich deutschen
Archäologischen Instituts. Bd. III. Berlin
1880. S. 279.
326
DIE TEMPEL VON PÄSTUM.
Fig. 9. Terrakotta von einem Schatzhause in Olympia.
(Nach Bötticher, Olympia.)
Fig. 10. Sima und Geisonverkleidung vom Schatzhause der Geloer in Olympia.
Baugliedes, beson¬
ders wo tragende
und bekrönende
Formen in Frage
kommen, als schab¬
lonenhaft und
nichtssagend end¬
gültig fallen zu
lassen. Man sollte
jedesmal zwischen
dem doppelt ge¬
schwungenen Pro¬
fil des aufgerichte¬
ten Kelches und der
lesbischen Welle
unterscheiden. Ich
würde dann auf
Grund der obigen
Auseinander¬
setzung die bekrö¬
nende Hohlkehle
oder besser das Pro¬
fil des einfach ge¬
schwungenen über¬
hängenden Blattes
dem Kelchprofil als
eng verwandt be¬
zeichnen, wohinge¬
gen die Frage der
Zusammengehörig¬
keit der lesbischen
Welle und des
Echinusprofils, auf
welche die gleiche
Dekoration der ab¬
wärts gerichteten
Blätter zu deuten
scheint, erst einer
mit reicherem Be-
weisrnaterial ansgestatteten Zukunft
zu beantworten möglich sein wird.
So verlockend es für mich ist,
den eben zurückgelegten Weg noch
weiter zu dem vielumstrittenen Eier¬
stabornament zu verfolgen, so kehre
ich heute, da weitere Ausführungen
nach dieser Richtung über den meiner
Untersuchung zu Grunde liegenden
Stoff hinausgehen würden, zu der
Hohlkehle an den beiden Tempeln
von Pästum zurück und formulire
Fig. li. Kapitell aus Mylcenae
(Nach Durm, Baukunst der Griechen.)
das Schlussergeb¬
nis der obigen Dar¬
legungen folgen¬
dermaßen. In der
älteren griechi-
schenKunst giebt es
zwei verschiedene
Formen des dori¬
schen Antenkapi¬
tells, ein altertüm¬
liches, das sich un¬
mittelbar an ägyp¬
tische Formen
lehnt, und ein jün¬
geres, das original¬
griechischen Ur¬
sprungs ist, beide
indes im Sinne der
architektonischen
Phantasie ver¬
wandt, sowie der
Entwickelung nach
zusammenhängend,
dort die Hohlkehle,
hier das Kymation,
jenes mit aufrecht¬
stehenden Blättern,
dieses mit einem
doppelten Blätter¬
kranze, einem unte¬
ren von aufwärtsge¬
richteten Blättern
und einem oberen
von übergeboge¬
nen, bemalt. An
der Basilika sehen
wir noch heute die
altertümliche Form
an den Anten der
Vorhalle; dagegen ist dieselbe bei
dem Poseidontempel von diesem be¬
vorzugten Platze durch das rein
griechische Kapitell verdrängt und
auf das Innere des Tempels zurück¬
gewiesen. Die Basilika, schließe
ich, die ohne Frage überhaupt nur
das eine altertümliche Kapitell ge¬
kannt hat, ist ein älterer Bau als
der Neptuntempel, und finde in dem
strafferen, edel energischen Profil der
Hohlkehle an dem letzteren Denkmal
DIE TEMPEL VON PÄSTUM.
327
gegenüber der schlaffer hängenden Linie an jenem
eine Bestätigung dieses Schlusses; beide Bauten aber
sind verwandte Glieder einer und derselben Gruppe. Ob
sich an den Antenhohlkehlen von Pästum noch Spuren
der Bemalung mit aufrechtstehenden Blättern vor¬
finden, müssen spätere genaue Untersuchungen an
Ort und Stelle lehren. Ich weiß, dass ich mit meiner
Schlussfolgerung eine einzelne
Thatsache zur Allgemeingül¬
tigkeit erhebe; ichthue das in
dem Bewusstsein eines vor den
Augen der Kritik unsicher
erscheinenden Standpunktes,
jedoch in der Hoffnung, dass
erneute Durchforschungen der
Denkmäler, namentlich der älteren sicilischen Tempel,
den bewussten Formen an den beiden Pästaner Ruinen
anstatt der untergeordneten Geltung lokaler Eigen¬
tümlichkeiten den Wert einer im ganzen älteren
Dorismus herrschenden
Ordnung verleihen werden.
Die Möglichkeit, auch
das dritte Denkmal von
Pästum , den Demetertem¬
pel, mittelst Vergleichung
der Antenkapitelle in jene
Gruppe einzureihen , ist
durch den heutigen Zu¬
stand der Ruine, der die
Anten gänzlich fehlen, aus¬
geschlossen. Mehrnochals
die Basilika hat dieser Bau mit seinen teils rätselhaf¬
ten, teils stark verfallenen Gliedern den Forschern zu
schaffen gemacht. Der Grundplan der Cella steht
in der griechischen Architektur ebenso einzig da wie
der freilich ganz
anders gestaltete
der Basilika und
mahnt an den tie¬
fen Pronaos etrus¬
kisch - römischer
Tempel. So halten
die einen (Krell, a.
a. 0. S. 56) ihn auch für ein von der griechischen Um¬
gebung stark beeinflusstes Werk der römischen Zeit;
andere betrachten ihn als hochaltertümlich und ur¬
sprünglich griechisch. Dass seine Säulen fast dieselbe
starke Verjüngung und Schwellung wie die der Basilika
zeigen, will meiner Meinung nach für einen Schluss
hinsichtlich der Zusammengehörigkeit nicht viel be¬
deuten. Im Charakter sind beide Bauten einander
filitlililfi
'i|||r
Fig. 12. Kapitell von einer Votivsäule auf der Akropolis
von Athen. (Nach Bötticher, Akropolis.)
Fig. 13.
Fig. 14. Kapitell von einer Votivsäule auf der Akropolis in Athen.
(Nach Bötticher, Akropolis.)
entgegengesetzt. Während an den wuchtigen, fast
plumpen Gliedern der Basilika vor allem der Aus¬
druck des Lastens zu empfinden ist, heben die
schlankeren Säulen des Demetertempels ihre hohen
Giebel mit einer Leichtigkeit, die wir selbst bei dem
Poseidontempel vergeblich suchen. Aber auch dieses
Kriterium, nach welchem Demeter später als Posei¬
don datirt werden müsste, ist
wenig verlässlich. Das einzige
Band, das den Demetertempel
mit der Basilika verbindet, ist
die gemeinsame Form der
Skotie unter dem Echinus. An
einer befriedigenden ästheti¬
schen Erklärung dieser Hohl¬
kehle fehlt es bis jetzt. Zu dem Gedanken einer Ein¬
schnürung, die das obere Ende des Säulenschaftes
vor dem Gespaltenwerden zu schützen hätte, will
die Dekoration mit dem zierlichen Kranz der aut-
rechtstehenden Blätter
nicht recht passen. Dass
die Skotie schon in der
ältesten griechischen
Kunst eine Rolle spielt,
zeigt die Säule des Löwen¬
thors zu Mykene. Sonst
fehlt es im griechischen
Mutterlande fast ganz an
Beispielen; aber an mehre¬
ren sicilischen Monumen¬
ten, an griechisch-toska¬
nischen Säulen, besonders aber an den beiden
Tempeln von Pästum hat sich diese altertümliche
Form des dorischen Säulenhalses erhalten. Dass es
sich hier um einen solchen handelt, zeigt eine Ver¬
gleichung der frag¬
lichen Stellen am
Demeter- und am
Poseidontempel.
Ich will von vorn¬
herein bemerken,
dass mir in fast
allen Publikatio¬
nen das Profil der Skotien zu tief ausgekehlt erscheint
namentlich gilt dies für die Darstellungen des De¬
metertempels. Zwischen der Skotie des letzteren
(Fig. 15) in ihrer richtig gestellten Ansicht und dem
Säulenhals des Poseidontempels (Fig. 16) ist kein
so großer Unterschied vorhanden, dass nicht beide
Formen als im Princip gleich, die eine aus der an¬
dern hervorgegangen, gedacht werden könnten. Am
Kapitell von einer Votivsäule auf der Akropolis in Athen.
(Nach Bötticher, Akropolis.)
328
DIE TEMPEL VON PÄSTUM.
Poseidontempel ist das künstlerische Ringen nach
Befreiung der Säule von spielender plastischer Aus¬
zier und der Versuch, den Hals in eine organische
Verbindung mit dem Schafte zu setzen, zur That-
sache geworden. Wo an der Demetersäule die Skotie
Fig. 15. Kapitell vom Demetertempel mit der Skotie.
mit einem Rundstab beginnt, wird dort der Anfang
des Halses durch die drei Einschnitte bezeichnet, über
die hinaus statt des Blätterkranzes der Skotie die
Kaneluren des Schaftes sich fortsetzen und zwar mit
einer eigentümlichen Bewegung des Profils, das nur
im Anfang der Linienführung des Schaftes zu folgen
scheint, aber gleich darauf mit einer energischen
Biegung nach außen den so erweiterten Hals in die
Welle des Echinus
hinüberführt. In die¬
ser Biegung des obe¬
ren Halsendes ist die
letzte Spur der Skotie
unzweifelhaft zu er¬
kennen. Es ist gar
kein Grund vorhan¬
den, dem Demeter¬
tempel und ähnlichen
mit der Skotie ausge¬
statteten Monumenten
den Säulenhals einfach abzusprechen und die Hohlkehle
für den Kapitellansatz zu erklären, an deren Stelle in
der späteren Zeit die annuli getreten seien. Vielmehr
scheint sich, soweit die Denkmäler Großgriechenlands
in Betracht kommen, aus dem altertümlichen Säulen¬
hals, der in Form der Skotie mit unterem und oberem
wulstartigen Rundstäbchen gebildet ist, der jüngere
normale Hals mit Einschnitten nach unten und
annuli nach oben unmittelbar entwickelt zu haben. Am
nördlichen Tempel der Akropolis von Selinunt (Fig. 17)
würden wir dann auch eine interessante Übergangs¬
form erkennen können, insofern hier der durch einen
Einschnitt und vier annuli abgegrenzte Hals unter
den letzteren noch eine kleine, nicht skulpirte Hohl¬
kehle zeigt, in der die über dem Einschnitt liegenden
Enden der Kaneluren sich verschneiden. An den
fast geradlinigen Halsabschlüssen der Denkmäler der
Blütezeit, z. B. des Theseion und des Parthenon da¬
gegen ist auch die letzte Spur der Skotie verschwun¬
den, wie überhaupt in der attischen Epoche des do¬
rischen Stils die lebensvolle Schönheit, die aus der
charakteristischen Bildung der Glieder zu uns spricht,
vor der Eurythmie in der Komposition des großen
Ganzen zurücktritt. Gerade jene lebendige Schön¬
heit, den Pulsschlag gleichsam eines schaffenden or¬
ganischen Lebens bewundern wir an den Säulen¬
gängen der Ruinen von Pästum und zwar in gleichem
Maße am Demetertempel und an der Basilika wie
am Poseidontempel, sodass für das Gefühl dessen,
der sie gesehen hat, — und das Gefühl urteilt in
Kunstdingen oftmals mit unbeirrbarer Sicherheit —
kein Zweifel an dem griechischen Ursprung auch der
beiden ersteren Bauten bestehen bleibt. Nehmen wir
dazu, was oben über die gemeinsamen Formen einer¬
seits der Antenhohlkehle, andererseits der Skotie aus¬
geführt ist, so dürfen wir die Basilika als den
ältesten Bau bezeichnen, den Demetertempel als einen
jüngeren derselben Epoche, worauf der Poseidon¬
tempel als das Kind einer neueren Zeit, ohne den
Zusammenhang mit seinen Voreltern zu verleugnen»
den Reigen schließt.
Keineswegs wollen wir uns mit dieser Fest¬
setzung einfach der Schwierigkeiten entlasten, die
für eine sichere Datirung des Demetertempels aus
seinen mancherlei Abweichungen von der griechi¬
schen Norm entspringen. Wir wollten zunächst nur
hervorheben, dass der Säulenbau, das einzige, was
vom Tempel einigermaßen vollständig erhalten ist,
den hellenischen Charakter an sich trägt. Was die
seltsame Grundrissbildung der Cella, besonders den
tiefen Pronaos betrifft, so lassen sich der von Krell
aufgestellten Ansicht zwei verschiedene Erklärungen
mit gleicher Berechtigung entgegenstellen. Ent¬
weder ist der zwischen 600 und 500 v. Ch. von grie¬
chischen Baumeistern errichtete Tempel gleich wäh¬
rend des Baues von der einheimisch-italischen, d. h.
Fig. 17. Kapitell vom nördlichen
Tempel der Akropolis von Selinunt.
(Nach Hauser.)
DIE TEMPEL VON PASTUM.
toskanischen Weise beeinflusst, oder der ursprüng¬
lich rein hellenische Tempel hat in römischer Zeit
an seiner Cella eine umfassende Restauration erfahren.
Im Hinblick auf die Säulen des Umgangs steht einzig
und allein die Wahl zwischen diesen beiden Ansichten
frei; welcher der Vorzug zu geben sei, lasse ich
dahingestellt. Ebenso fraglich bleibt vorderhand
die Frieseinteilung (Fig. 18), da die Ecken des Ge¬
bälks mitsamt den Giebelenden weggebrochen sind.
Thatsache ist, dass die Säulenweiten am Demeter¬
tempel durchweg gleich sind, dass ferner die Tri-
glyphenmitten einerseits und die Säulenmitten und die
Mitten der Zwischenweiten andererseits zusammen¬
fallen, abgesehen vielleicht von der Triglyphe über
dem derEcke benachbarten Intercolumnium, die, wenn
ich meinem Augenmaß trauen darf, etwas nach der
Mitte des Tempels hin verschoben erscheint. Es sind
nun zwei Lösungen möglich. Sollen wir an den
329
Horizontalen zu betreten. Ich will auch nur bestä¬
tigen, worauf Burckhardt im Cicerone (5. Aufl. S. 4)
schon seit lange aufmerksam gemacht hat, dass an
den Langseiten der Kranzgesimse des Poseidontempels
Ausbiegungen von mehreren Zollen zu entdecken
sind. Nach meiner Beobachtung finden sich die
Ausbiegungen nicht nur am Poseidontempel, son¬
dern auch an der Basilika und hier ebenfalls an den
Schmalseiten. Die Curven erschienen mir in der
Verkürzung gesehen, namentlich an der Südseite des
Poseidontempels, in einer so wunderbar reinen Linie,
dass ich, unter der Gewalt des Augenblicks, an die
Absichtlichkeit derselben hätte glauben mögen; ich
weiß jedoch wohl, welche Illusionen die verkürzte
Ansicht in dieser Beziehung hervorzuzaubern vermag.
Dürrn schreibt die Curven an den Horizontalen des
Poseidontempels leicht erkennbaren Arbeitsfehlern
zu; solange aber nicht an sämtlichen Monumenten,
(NB.: Die Metopen mit Kopfband sind hell, die Triglyphenfelder dunkel gehalten.
Die Stellen, an denen Mauerwevk sichtbar wird, sind moderne Restauration.)
Ecken halbe Metopen annehmen? Das ist die Be¬
hauptung Delagardette’s, der indes, wie aus seiner
auf Taf. I befindlichen Ansicht hervorgeht, den Tempel
bereits in seiner heutigen zertrümmerten Gestalt,
ohne Giebel- und Gebälkenden gesehen hat, demnach
eine bloße Rekonstruktion ohne sichere Unterlagen
bietet. Da diese Einteilung sonst nirgends in der
griechischen Baukunst nachweisbar ist, müsste man
sich eher der zweiten, an sicilischen Monumenten vor¬
kommenden Lösung zuneigen, nach welcher unter
Beibehaltung von Ecktriglyphen die der Ecke nächst-
liegende Metope vergrößert gewesen wäre. Zum
Schluss sei noch erwähnt, dass, wie schon Durm
gegenüber Delagardette- Krell festgestellt hat, die
Metopen am Demetertempel wohl mit Kopfband ver¬
sehen sind.
Es widerstrebt mir fast, nach all’ dem Zweifel¬
haften und Unsicheren, das uns in Pästum verwirrt,
zuletzt noch das gefährliche Gebiet der Curvatur der
Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VI. H. 12.
die solcherlei, sagen wir zunächst Deformitäten,
aufweisen, genaue Messungen und Nivellements vor¬
genommen und publicirt sind, wird eine Klärung
dieser Frage, in der sich die Meinungen heute mit
fast beispielloser Schroffheit entgegenstehen, gar nicht
zu erwarten sein.
Wie manche Hauptpunkte und Einzelheiten der
griechischen Architektur liegen für uns völlig im
Dunkel! Fast täglich scheint das Labyrinth einander
widersprechender Ansichten sich zu erweitern und
mehr zu verwirren; das unerschöpflich aus dem Boden
quellende Material umdüstert das, was eben geklärt
erschien, mit neuen Zweifeln. Und doch sind die
trümmerhaften Reste, die seit Jahrhunderten offen zu
Tage liegen und mehr und mehr der Zerstörung
anheimfallen, noch nicht alle mit erschöpfender
Gründlichkeit erforscht und in der Gesamtheit wie
in den Einzelformen zur Darstellung gebracht. Das
Interesse der Archäologen liegt heute vorzugsweise
43
330
ZU LERMOLIEFF’S GEDÄCHTNIS.
unter der Erde. Die Ausgrabungen liefern den er¬
giebigsten Stoff für den Forscher: und von den Mo-
numenten sind es die des griechischen Mutterlandes
und der östlichen Kolonien, die sich einer stetigen
Aufmerksamkeit erfreuen. Dagegen erscheinen die
Ruinen von Großgriechenland als die Stiefkinder der
neueren Wissenschaft. Die großen Publikationen
über Unteritalien und Sicilien datiren aus dem Ende
des vorigen und dem Anfang dieses Jahrhunderts
und können nach dem Urteil von Autoritäten nicht
als zuverlässig gelten. Nicht dem Einzelnen sollte
es überlassen bleiben, jene einsamen Stätten forschend
zu durchwandern oder das, was ihm zufällig in den
Weg tritt, mit seinen unzulänglichen Mitteln zu er¬
fassen und wiederzugeben. Es ist die Sache der Re¬
gierungen, der archäologischen Institute, planmäßig
an eine neue Durchforschung dieser Monumente zu
gehen und das, was noch vorhanden ist, solange die
Zeit es erlaubt, festzuhalten und dauernd für die
Wissenschaft nutzbar zu machen. Besonders Pästum
ist eine Sphinx voller Rätsel, eine Sphinx von zauber¬
haftem Reiz, die jede Mühe der Enträtselung, mag
auch noch so wenig dabei herauskommen, mit reinem
Genuss belohnt, mit jenem Genuss, der der köstliche
Begleiter der Beschäftigung mit dem wahrhaft
Schönen ist.
ZU LERMOLIEFF’S GEDÄCHTNIS.
MIT ABBILDUNGEN.
M Sonntag' den 30. Juni d. J. fand in der Brera
zu Mailand die feierliche Enthüllung der von
Lodovico Pogliaghi modellirten Bronzebüste
statt, welche die Freunde und Verehrer des unvergess¬
lichen Giovanni Morelli dem Andenken des edlen Mannes
und geistvollen Forschers gestiftet haben. Indem wir
in der nebenstehenden Abbildung
des wohlgelungenen Denkmals
die Züge des alten Genossen
und Mitkämpfers den Lesern vor¬
führen, glauben wir auch der
Erinnerung an sein geistiges
Wesen und an die wissenschaft¬
liche Hinterlassenschaft, für die
wir ihm Dank schulden, hier
noch einmal Ausdruck leihen zu
sollen. Denn allzu rasch ver¬
fliegt oft das Bild auch der be¬
deutendsten Persönlichkeit aus
dem Gedächtnisse der Menschen,
und gerade dem höchsten Ruhm
folgt häufig die tiefste Vergessen¬
heit, wie Wellenthal dem Wel¬
lenberg im Meere des Lebens.
Giovanni Morelli widmete
seine reiche künstlerische Hin¬
terlassenschaft, vornehmlich den
erlesenen Schatz der von ihm
gesammelten Bilder alter Meis¬
ter, dem Museum seiner Vater¬
stadt Bergamo. Eine mit schö¬
nen phototypischen Tafeln aus- Büste Giovanni Morelli’s in
gestattete Publikation L) gewährt uns einen Überblick
über diese wertvolle Sammlung, welche inzwischen in
zwei geräumigen Oberlichtsälen geschmackvoll aufge¬
stellt und allgemein zugänglich gemacht worden ist.
Den vollen Inbegriff seines wissenschaftlichen
Wirkens enthalten die drei Bände seiner „Kunst¬
kritischen Studien“, in welchen er
sowohl den Kern seiner epoche¬
machenden ersten Schrift („Die
Werke italienischer Meister in den
Galerien von München, Dresden
und Berlin“, Leipzig, Seemann
1880) als auch die in verschie¬
denen Zeitschriften veröffentlichten
kleineren Aufsätze zur Bilderkritik
und Künstlergeschichte vereinigt
und mit mannigfachen Zusätzen und
Verbesserungen wesentlich berei¬
chert herausgegeben hat. 2) An die
beiden ersten Bände der Samm¬
lung konnte der Autor selbst
1) Dr. Gast. Frizzoni, La Galleria
Morelli in Bergamo, descritta ed illus-
trata con 24 tavole fototipiche. Ber¬
gamo, Fratelli Bolis. 1892. 4°. .
2) Jvan Lermolieff , Kunstkritische
Studien über italienische Malerei. I.
Die Galerien Borghese und Doria Pan-
fili in Rom. Mit 62 Abbildungen. 1890.
II. Die Galerien zu München und Dres¬
den. Mit 41 Abbildungen. 1891. III.
der Brera zu Mailand. Die Galerie zu Berlin. Nebst einem
ZU LERMOLIEFF’S GEDÄCHTNIS.
331
noch die letzte Feile anlegen. Der dritte ist auf Grund
des hei Morelli’s Tode -(28. Febr. 1891) Vorgefundenen
Materials von dem treuen Freunde des Dahingeschiedenen,
Dr. Gust. Frizzoni in Mailand, edirt worden. Bei dem
innigen geistigen Verkehr, welcher lange Jahre hindurch
zwischen dem Meister und seinem ihm ganz ergebenen
Anhänger bestand, können wir sicher sein, auch in diesem
dritten Bande nichts als die wissenschaftliche Hinter¬
lassenschaft Morelli’s, und was ihrer würdig ist, zu finden.
Ein Kollege des Dahingeschiedenen hat ihn einmal
einen Italiener der Gesinnung und einen Deutschen der
Bildung nach genannt
(Italiano d’animo e Te-
desco di studi). Und
gewiss durchdrangen
sich in seiner Natur
diese beiden Elemente
zu vollkommener Har¬
monie. Er hegte die
tiefste Verehrung für
das gelehrte Deutsch¬
land, für die Heroen
seiner W issenscliaft und
Poesie. Wie begeistert
klingen seine „Worte
eines Lombarden an die
Deutschen“ (in einer
1848 in Frankfurt a. M.
erschienenen Broschü¬
re) : „Ich, der im Namen
meiner Landsleute diese
Worte an Euch richte,
ich habe sechs Jahre,
die schönsten Jahre
meiner Jugendzeit, in
Euerer Mitt.e zuge¬
bracht. Bande der innig¬
sten Freundschaft, Ban¬
de der gefühltesten
Dankbarkeit binden
mich an das herrliche
Land, dem ich die Ver¬
edlung meines Herzens und meines Geistes schuldig bin und
das ich mein zweites Vaterland nennen möchte, wenn die
Liebe zum Vaterlande, dieses erhabenste und glühendste
aller menschlichen Gefühle, sich teilen ließe!“ Aus dem
feurigsten Patriotismus heraus erwuchs auch seine Liebe
zu der alten heimischen Kunst. Er hatte in Deutsch¬
land Naturwissenschaft studirt, die exakte Methode der¬
selben sich angeeignet. Was war natürlicher, als dass
er dieselbe später auch auf sein Kunststudium anwendete?
Lehensbilde Giovanni Morelli’s, herausgegeben von Dr. Gust.
Frizzoni. Mit Porträt und 6G Abbildungen. 1893. Leipzig,
_F. A. Brock haus. 8°.
Aber das Kunststudium selbst war die Frucht seiner
Hingebung an das Vaterland. Der Stolz des Italieners
auf die großen Meister der klassischen Zeit, die der
Menschheit einen Teil ihrer Krongüter geschenkt, er¬
füllte seine Seele. Das Erbe der edlen Meister von dem
Staub und Schmutz der Jahrhunderte zu befreien, die
uns von ihnen trennen, erschien ihm als eine heilige
Pflicht. Daher sein Hass gegen die gewissenlosen
Restauratoren und Fälscher, sein Eifer für ein tief¬
eindringendes Studium der Denkmäler , sein emsiges
Forschen und Suchen nach einem Schlüssel für die Er¬
kenntnis der Wahrheit.
Morelli erblickte
in der Kunst das höchste
geistige Produkt der
Volksnatur. Nicht die
Schule, sondern der
Stamm ist ihr eigent¬
licher Träger. Aus dem
Stamm erwächst das
Individuum. Es ist
die Blüte des Stam¬
mes. Zunächst also gilt
es , scharf zu unter¬
scheiden zwischen dem
Lombarden und dem
Venezianer, zwischen
dem Toskaner und dem
Umbrer, und innerhalb
dieser verschiedenen
Gruppenbildungen der
Volksnatur zu der Er¬
kenntnis der Natur des
Individuums vorzudrin¬
gen. Das ist der Weg
von Morelli’s Forschun¬
gen. Das Kriterium,
das ihn dabei als Kom¬
pass leitet, ist nicht
geistiger , seelischer,
sondern sinnlicher Na¬
tur: es beruht auf der
Beobachtung und Fixirung bestimmter angeborener, nicht
angelernter Eigenschaften. Ein Fra Filippo zeichnet
von Natur eine Hand und ein Ohr anders als ein
Domenico Ghirlandajo, ein Perugino giebt der Gewand¬
falte diese, ein Raffael jene Form: in diesen unwill¬
kürlichen und bleibenden Ausdrucksweisen der verschie¬
denen Künstler besitzen wir ein untrügliches Instru¬
ment für die wissenschaftliche Kritik. Nicht die Concep-
tion, nicht das Kolorit oder die Stimmung eines Gemäldes
bieten diese sicheren Grundlagen unserer Erkenntnis,
wohl aber die Zeichnung und die plastische Formen-
gebung bestimmter charakteristischer Einzelheiten
In wie einschneidender und erfolgreicher Weise
43*
Madonna von Correggio ; Florenz, Uffizien.
332
ZU LERMOLIEFF’S GEDÄCHTNIS.
Frauenbildnis von Bautolamio de Venezia.
Mailand, Herzog Gr. Melzi.
Lermolieff das geschilderte, von ihm geschaffene
kritische Handwerkszeug zu benutzen verstand,
das haben die älteren Leser dieses Blattes zu¬
erst aus den Studien über die Galerie Borghese
in Rom ersehen können , womit unser Autor in
der „Zeitschrift für bildende Kunst“ (1874—76)
sich als Kritiker einführte. Lange Zeit hin¬
durch war es seine Absicht, jenen Aufsätzen
eine ähnliche, wenn auch kürzere, Arbeit über
die Galerie Doria Panfili nachfolgen zu lassen.
Doch die zahlreichen anderen, zum Teil pole¬
mischen Artikel , zu denen die ersterwähnten
Studien und dann besonders das Buch über die
Galerien von München, Dresden und Berlin den
AnstoB gaben, ließen es nie zu der Verwirklichung
seiner Absicht kommen. Erst die vorliegende
Gesamtausgabe der „ Kunstkritischen Studien “
bringt uns die Würdigung der Galerie Doria-
Panfili, im Anschluss an die revidirte und mannig¬
fach vervollständigte Betrachtung der Galerie Bor¬
ghese. Und in der Galerie Doria sind es nament¬
lich die Venezianer, denen Morelli eine sehr ein¬
gehende kritische Durchsicht zu teil werden lässt.
Dieselbe ist besonders ergiebig für Antonio Vi-
varini, Basaiti, die Bonifazio’s, Bordone, Por-
denone, Lotto, Giorgione und Tizian, wobei zu
beachten ist, dass der Autor nicht nur die von
diesen Meistern in der Galerie Doria befindlichen
Bilder würdigt, sondern in seiner freien diskur¬
siven Art auch ihre Repräsentation in andern
römischen und sonstigen Sammlungen mit in Be¬
tracht zieht. Dasselbe gilt, und zwar in noch
weiterem Umkreise, von den den Venezianern zu¬
geschriebenen Handzeiclmungen. Was übrigens
Giorgione betrifft, auf dessen großen Namen man
in der Doria- Galerie mehrfach stößt, so lässt
Morelli mit gutem Recht kein einziges der ihm
dort zugeschriebenen Bilder als echt gelten. Da¬
gegen hält er die Herodias (Braccio II, Nr. 40),
die Von Crowe und Cavalcaselle dem derben Por-
denone, von andern dem Giorgione zugeteilt wurde,
mit Entschiedenheit als Jugendbild von Tizian fest
und preist diese feine, holdselige Frauengestalt
in gebührender Weise. Auch Bode folgt im
„Cicerone“ (6. Ausg., 751, b) dieser Bestimmung.
Der Inhalt des 1880 erschienenen Buches
über die drei deutschen Galerien ist auf die
Bände II und 111 der „Kunstkritischen Studien“
verteilt. Der zweite Band behandelt München
und Dresden und zeigt des Verfassers Urteil in
tausend interessanten Einzelheiten gefestigt und
gereift. Dazu kommen mehrere ganz neue Ex-
Männliches Bildnis von Antonello da Messina; Mailand, Fürst Trivulzio.
ZU LERMOLIEFF’S GEDÄCHTNIS.
333
kurse, wie der über Giovanni Cariani und über die
Federzeichnungen des Venezianers Domenico Campagnola,
„welche allerwärts noch immerfort dessen großem Zeit¬
genossen und Vorbilde Tizian zugeschrieben werden“.
Die Hauptsache bleibt hierbei die sichere Handhabung der
Methode, deren Begründung der Autor in der Einleitung
wie im Vorwort zur zweiten Auflage mit Energie und
nicht ohne eine gewisse Bitter¬
keit verteidigt. Letztere wird
jedermann erklärlich linden,
wenn er der lächerlichen Ein¬
wendungen sich erinnert, wel¬
che von mancher Seite gegen
das Verfahren und gegen die
Resultate von Lermolieffs Kri¬
tik erhoben worden sind. —
Sein ganz besonderes Augen¬
merk hatte der Autor in den
letzten Jahren auf die nor¬
dischen Nachahmer der italie¬
nischen Meister gerichtet, die
sich viel häufiger, als man
bisher es zugeben wollte, in
öffentlichen wie in privaten
Sammlungen nach weisen lassen.
Vornehmlich sind es vlämische
Maler, von deren Hand die
häufig sehr geschickten und
daher leicht auch geschulte
Betrachter täuschenden Nach¬
ahmungen herrühren. Das viel¬
besprochene Madonnenbild in
der Münchener Pinakothek, das
vor einigen Jahren erworben
und als Lionardo der Samm¬
lung einverleibt wurde, und
sein etwas größeres Gegen¬
stück in der Dresdener Galerie
werden von Lermolieff (II,
341 ff.) in diese Kategorie ver¬
wiesen. Auch an vielen andern
beachtenswerten Beispielen er¬
örtert der Autor seine gewiss
nicht leichthin abzuweisenden
Beobachtungen.
Der III. von Frizzoni
herausgegebene (Schluss-)Band
umfasst die kritischen Bemerkungen zur Berliner Galerie
und enthält außerdem die drei Aufsätze über Peru-
gino und Raffael, des letzteren Jugendentwicklung
und das Venezianische Skizzenbuch, die für die Kritik
der Umbrischen Meister überhaupt und speciell für die
des Raffael und seiner Jugendgenossen bekanntlich von
grundlegender Bedeutung sind. Der ganze Band be¬
schäftigt sich, dem Charakter der Berliner Galerie ge¬
mäß, vorwiegend mit den Werken des Quattrocento;
neben den Umbriern nehmen darin die Toskaner und die
Lombarden jener Epoche den größten Raum ein. Dass
auch hier wieder zahlreiche Nachträge und Verbesserungen
sich vorlinden, zeugt nur für das rastlose Bemühen des
Autors, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Im
Wesentlichen blieben seine früheren Charakteristiken der
Meister bestehen. Was der
Herausgeber im Einzelnen als
sein Eigentum hinzugefügt hat,
ist durch Klammern oder durch
ein F. angedeutet. — Einer
genauen Durchsicht sind vor¬
nehmlich die Abschnitte über
den jungen Raffael und seine
Genossen unterzogen. Die Liste
der Bilder und Zeichnungen
des Timoteo Viti, der bekann¬
termaßen erst durch Lermo¬
lieff wieder zu einer bestimm¬
ten Persönlichkeit geworden
ist, erhält eine namhafte Be¬
reicherung. Unter den Floren¬
tinern seien hier namentlich
Botticelli und Verrocchio als
diejenigen Meister genannt,
welchen der Autor die ergie¬
bigsten Studien gewidmet hat.
Dem Botticelli’schen Bildnis
des Giuliano de’ Medici in der
Berliner Galerie stellt Morelli
das in seiner eigenen Samm¬
lung (jetzt in Bergamo) be-
ündliche Exemplar als das
besser beglaubigte gegenüber.
Die Kunst des Verrocchio, und
zwar dessen Thätigkeit als
Maler wie als Bildhauer, wird
von Morelli auf durchaus an¬
deren Grundlagen aufgebaut,
wie sie neuerdings die Ber¬
liner Gelehrten geschaffen ha¬
ben. Hier findet auch Lionardo
seinen Platz, d. h. der ver¬
meintliche Lionardo des weib¬
lichen Porträts in der Galerie
Liechtenstein und anderer
Werke verwandter Kategorie.
Blicken wir zurück auf den Inhalt der drei geist¬
erfüllten Bände, aus deren sorgfältig gewähltem Bilder¬
schmuck einige Beispiele hier eingefügt sind, so erhebt
sich vor uns die Gestalt einer Persönlichkeit von ganz
eigener, in unserer Zeit höchst seltener Art. Ein grund¬
gelehrter Mann, und doch kein zünftiger Gelehrter, ein
Sammler und Forscher von unermüdlichem Fleiß, und
Madonna in Terrakotta von A. Verrocchio.
Florenz, Museum von S. Maria Nuova.
334
VIERTELJAHRSHEFTE DES VEREINS BILDENDER KÜNSTLER DRESDENS.
dabei ein Mann der Welt und der Politik, dessen steten
Umgang Fürsten und Staatsmänner bildeten, ein begeister¬
ter Patriot von streng italienischer Gesinnung, und dabei
ein großherziger und weitblickender Freund aller gleich¬
strebenden Völker, mit einem Wort eine Menschennatur
von jenem echt humanen Wesen, welches die großen
Männer der Renaissance kennzeichnet. Deshalb fühlte
sich Morelli auch so unwiderstehlich hingezogen zu jenen
göttlichen Geistern, die uns das Abendmahl, die Sixtinische
Madonna und den David geschaffen haben. Deshalb
konnte er mehr für die bessere Kenntnis, für das un¬
getrübte Andenken dieser Größten seines Volkes tlmn,
als irgend ein anderer Forscher unserer Zeit.
C. v. L.
VIERTELJAHRSHEFTE
DES VEREINS BILDENDER KÜNSTLER DRESDENS.
MIT ABBILDUNG.
BWOHL unsere Zeit sich rüh¬
men kann, auf dem Gebiete der
künstlerischen Illustration eine
noch nie zuvor dagewesene
Höhe der Vollendung erreicht
zu haben, so kann doch nicht
geleugnet werden , dass im
Kunsthandel oder bei der Aus¬
wahl für unsere illustrirten
Blätter nicht künstlerische, sondern geschäftliche Rück¬
sichten in erster Linie den Ausschlag geben. Nicht das
Große, Bedeutende, Stilvolle wird bevorzugt, sondern das
Gefällige, Leichte und Pikante, das der Menge zusagt. So
kommt es, dass das Publikum, statt von der Kunst er¬
zogen und zur Vertiefung in ernste Schöpfungen heran¬
gebildet zu werden, gerade durch die Illustration auf
einem niedrigen Standpunkte seines Urteils festgehalten
und sein Auge für die Aufgaben der wahren, nach Stil und
Größe strebenden Kunst unempfänglich gemacht wird.
Leider folgen vielfach selbst unsere Kunstvereine, die
freilich besser thäten , wenn sie sich Künstlerunter¬
st iitzungsveroine nennen wollten, teils aus Unverstand ihrer
Leiter, teils aus falscher Gutmütigkeit, in der Auswahl
ihrer Prämienblätter diesem Zuge nach dem Banalen, und
versäumen so vollständig ihren Beruf, unter ihren Mit¬
gliedern wirklichen Kunstsinn zu verbreiten. Nur nichts
Auffallendes und Ungewöhnliches, nichts, was nicht jeder
Philister sofort versteht und schön findet, das ist hier
die Losung! Vor allem müssen die einheimischen Künst¬
ler berücksichtigt werden, ganz gleich, ob sie in ihrer
Kunst weit hinter der allgemeinen Entwicklung zurück¬
geblieben sind und z. B. Radirungen liefern, so ledern,
nüchtern und akademisch, dass man vermuten möchte, dass
weder Whistler noch einer der großen französischen Meister
der Nadel ihnen jemals zu Gesicht gekommen wäre.
Um diesem Schlendrian der Kunstvereine und des
Kunsthandels entgegen zu treten, zugleich aber auch, um
jedermann einen Einblick in den Ernst seiner Bestre¬
bungen zu gewähren, hat sich der Verein bildender
Künstler Dresdens (die Dresdener Secession) entschlossen,
Vierteljahrshefte erscheinen zu lassen, deren erstes vor
wenigen Wochen ausgegeben worden ist.
Ein kurzer, von einer charakteristischen Umriss¬
zeichnung des erst unlängst bekannt gewordenen Gey-Schü-
lers Sascha Schneider umrahmter Prospekt giebt die Ver¬
sicherung, dass die Auswahl der Blätter nur nach künst¬
lerischen Gesichtspunkten erfolgen wird, während die
Ausstattung den individuellen Anforderungen der Ori¬
ginale entsprechen soll. Die Hefte, bei denen von vorn¬
herein auf keinen materiellen Gewinn gerechnet wird,
und die im Kommissionsverlag der Firma Ernst Arnold
(A. Gutbier ) in Dresden, die zu Gunsten des Unter¬
nehmens auf jeden Gewinnanteil verzichtet hat, er¬
scheinen, werden Beiträge aus allen Gebieten der Malerei,
Zeichenkunst und Plastik enthalten , • die geeignet er¬
scheinen, die Kunstanschauung weiterer Kreise zu bilden,
zu klären und zu bereichern. Blätter, die nur der
müßigen Unterhaltung dienen, bleiben ausgeschlossen.
Für den Verein selbst ist das Unternehmen deshalb
wichtig, weil es seinen Mitgliedern Gelegenheit giebt,
sich der Pflege der Lithographie, der Radirung und des
Holzschnittes zu widmen, d. h. derjenigen Reproduktions¬
verfahren, in denen die Originalität der Erfindung
gegenüber der Stilverwilderung des heutigen Ulustrations-
wesens auf mechanischem Wege am meisten zu ihrem
Rechte gelangt. Besondere Anerkennung verdient die
Einrichtung, dass den Autoren die Möglichkeit gegeben
ist , die Ausführung des Druckes selbst zu überwachen
und auf diesem Wege ihren Absichten soviel wie möglich
die Durchführung zu ■ sichern.
Ohne Zweifel enthält dieses Programm nur Gesichts¬
punkte, denen jeder ernste Kunstfreund seine Zustimmung
geben wird. Es ist nur die Frage, in wie weit es in
der Praxis gelingen wird, die Verheissungen des Pro¬
spektes zu erfüllen. Nach dem ersten Probeheft zu
urteilen, dürfen wir in Zukunft auf recht erfreuliche
KLEINE MITTEILUNGEN.
335
Leistungen hoffen. Wie der von uns allerdings in be¬
deutender Verkleinerung reproduzirte Lichtdruck nach
einer Kreidezeichnung der Frau Emilie Medix-Pelikan ,
der in der renommirten Anstalt von J. B. Obernetter in
München hergestellt worden ist, erkennen lässt, haben
wir es hier mit durchaus originalen, selbständigen Ar¬
beiten zu thun. Die Künstlerin, früher in Wien, hat
sich, wie ihr Gatte, in der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes
in Dresden, einen geachteten Namen in der Kunstwelt
der sächsischen Hauptstadt gemacht, und es ist mehr
als ein Kompliment an das schöne Geschlecht, wenn
gerade eine Arbeit von ihrer Hand zur Aufnahme in das
erste Heft ausersehen wurde. Unsere Leser werden uns
beistimmen, wenn wir in dieser Zeichnung, die so an¬
spruchslos und bescheiden auftritt eine gewisse stilvolle
Größe erkennen und in der Art, im Porträt nur die
wesentlichen Züge, diese aber energisch zu betonen, einen
besonderen Reiz finden. Unter den übrigen Blättern des
ersten Heftes wollen wir die Steinzeichnungen von Hans
XJnger („Knecht mit Kühen“) und von 0. Fischer („Land¬
schaft“), von denen die erstere bei TU. Hoffmann in
Dresden und die andere bei C. C. Meinhold & Söhne
ebenda gedruckt worden ist, rühmend hervorheben, weil
sie ein glückliches Streben nach Stil verraten, ohne sich
von der notwendigen naturalistischen Grundlage zu ent¬
fernen. Dasselbe Bestreben zeigt auch G. Müller-Breslau
in seinem Entwurf zu einem Glasfenster, der die Auf¬
erstehung des Heilandes aus dem Grabe und die Flucht
der beiden Kriegsknechte darstellt. Wir finden aber die
Ausführung zu steif, die Haltung der Figuren zu
konventionell und ihre Bewegungen zu übertrieben. Einen
recht angenehmen Eindruck macht die anmutige Figur
des Frühlings von P. Pöppelmann , eine vortreffliche
Aktstudie, die wiederum von Obernetter nach dem
Originalmodell vorzüglich reproduzirt worden ist. Weniger
Geschmack finden wir an Richard Müller' 's Kreidezeichnung
und an der nicht ganz klaren Darstellung auf der Vorder¬
seite des Umschlages, die offenbar so etwas wie eine
Abundantia bedeutet. Indessen soll uns das nicht hindern,
dem groß gedachten Unternehmen die besten Wünsche
für sein Gedeihen mit auf den Weg zu geben, um es
allen ernsten Kunstfreunden zur Beachtung zu empfehlen.
Der Preis ist mäßig. Das Jahresabonnement beträgt
36 Mark; das Einzelheft kostet 12 Mark; einzelne
Blätter sind nicht verkäuflich. Alljährlich erscheinen
vier Hefte in cirka vierteljährlichen Terminen. Jedes
Heft im Format 48 — 60 cm, enthält je nach dem Werte
der angewandten Druckverfahren 4 — 6 Kunstblätter:
Lithographien, Radirungen, Holzschnitte, Lichtdrucke
oder Heliogravüren. h. A. LIER.
KLEINE MITTEILUNGEN.
*** über die Abformung der Reliefdarstellungen an der
Marc- Aurelssäule in Rom berichtet der , Reichs- Anzeiger“:
„Nachdem auch das Municipio seine Genehmigung zur Aus¬
führung der Arbeiten erteilt hat, ist nunmehr das Gerüst
fertig gestellt, ein an der Säule selbst befestigtes, zum Auf-
und Abziehen eingerichtetes Hängegerüst und ein daneben
feststehender Treppenturm, von dem aus das Hängegerüst in
seinen verschiedenen Höhestellungen betreten werden kann.
Am 23. April haben die mit der wissenschaftlichen Arbeit
der Aufnahme und Herausgabe betrauten Herren Professoren
Petersen und v. Domaszewski ihre Thätigkeit an der Säule
begonnen. Für die Revision der architektonischen Aufnahmen
ist in entgegenkommendster Weise Herr Prof. Guglielmo
Calderini einzutreten bereit. Die photographischen Aufnahmen
hat der durch seine Leistungen dazu besonders geeignet er¬
scheinende römische Photograph Herr Anderson übernommen.
Die Abformungen wird der römische Former Piernovelli be¬
sorgen. So sind von italienischer und deutscher Seite die
Vorbereitungen getroffen, um in gemeinsamer Arbeit ein
Denkmal genauerer Kenntnis als bisher zugänglich zu machen,
das für beide Nationen ein historisches Interesse bietet.“
Neue Glasmalerei. In Berlin waren kürzlich einige
Glasgemälde ausgestellt, welche nach dem vom Maler. Otto
Dielmann erfundenen Verfahren angefertigt worden sind.
Diese Erfindung verspricht von weittragender Bedeutung für
die Glasmalerei zu werden, da durch die einfache und
sinnreiche Idee fortan der Glasmalerei die ganze Farben¬
skala zur Verfügung steht, gleich der Öl- oder Pastellmalerei.
Dies wird durch drei aufeinandergelegte Überfangplatten in
den Grundfarben rot, gelb und blau erreicht. Je nachdem
die Farbenschichte mehr oder weniger geätzt wird , entsteht
bei durchfallendem Lichte die optische Mischung der Farben.
So ist dadurch die Herstellung von Glasgemälden in ab¬
solutem farbigem Glase möglich, ohne Aufmalung, das Ideal
der Glasmalerei-Technik. Es sind Farben, welche unver¬
gänglich wie das Glas selbst sind, weil sie selber Glas sind.
Professor Doepler sagt: „Ich glaube fest und zuversichtlich,
dass mit der Möglichkeit, Carnation, Draperie und Hinter¬
gründe in solcher Leuchtkraft auf größeren Flächen ohne die
durch die bisher übliche Verbleiung den Konturen an¬
haftenden Mängel zur Ausführung und künstlerischen Durch¬
bildung zu bringen, wahrhaft große Resultate mit Sicherheit
erwartet werden können “ Direktor Lessing schreibt: „Diese
Technik ist eine geniale Verwendung der Auflösung eines
Bildes in seine Grundfarben. Die Zusammenfügung der
Farben vollzieht sich in der Transparenz mit voller Sicher¬
heit und überraschender Leuchtkraft. Dieses Verfahren
kann nicht ohne weiteres an Stelle der alten Glasgemälde
treten, es leistet vielmehr sehr viel stärkere malerische Wir¬
kungen und bedingt Kompositonen, welche dieser leuchtenden
Farbenglut entspreohen. Es werden durch dieses Verfahren
der Glasmalerei neue Bahnen geöffnet.“ Daraufhin erfolgte
336
KLEINE MITTEILUNGEN.
im Kunstgewerbemuseum die Ausstellung von Proben der
neuen Technik. — : —
□ A us den Wiener Ateliers. Zahlreiche interessante
Arbeiten sind bei Professor E. Hellmer in Entstehung be¬
griffen, voran die Gruppe für einen der kolossalen Brunnen
an der Wiener Hofburg. Hellmer arbeitet an jener Gruppe,
die für die Nische gegen die Schauflergasse zu bestimmt ist,
und hat das Gipsmodell dazu seit einiger Zeit vollendet.
Es ist im wesentlichen eine Allegorie der Macht Österreichs,
zu Lande, gegen welche feindliche Mächte vergebens an¬
kämpfen. Die Hauptfigur, eine jugendliche, kräftige, fast
nackte männliche Gestalt steht zu oberst auf einem Felsen.
Von den drei männlichen Gestalten, welche die bösen
Mächte versinnbilden, bemüht sich (links) die eine mit großer
Anstrengung den Gipfel des Felsens zu erklimmen. Die
zweite Figur unter diesen feindlichen Stürmern erblicken wir
in jähem Sturz. Die dritte (zu unterst) rafft sich vom Falle
auf und sucht eine schwere Felsplatte, die sie bedrückt, von
sich abzuwälzen. Ganz rechts gesellt sich eine große
Schlange zu den bezeichneten Figuren, gegen welche von
rechts her ein Adler heranflattert Alles zusammen eine
fein abgewogene, bewegte Komposition. Die Ausführung in
Marmor hat noch nicht begonnen, doch deuten große Blöcke
darauf hin, dass die interessante Gruppe in nächster Zeit in
Angriff genommen wird. Schon punktirt finden wir den
Marmor für die allegorische Figur der Weisheit, eine kolos¬
sale Gestalt , welche einen Bestandteil des plastischen
Schmuckes der neuen Wiener Hofburg bilden soll. Hellmer
hat auch den Entwurf für die Figuren in einem der großen
Giebel des genannten Monumentalbaues geliefert. Die Dar¬
stellung zeigt in der Mitte die Austria. Beiderseits schließen
sich allegorische Figuren an , welche auf den Parlamen¬
tarismus anspielen. Ganz außen Kinderfiguren. Von merk¬
würdiger Unmittelbarkeit ist eine weitere Arbeit in Hellmers
Atelier, deren Gipsmodell vollendet und die auch in der
endgiltigen Ausführung in Marmor schon begonnen ist. Wir
meinen die Figur E. Schindlers, des Landschaftsmalers, die
Hellmer für dessen Grabdenkmal modellirt hat. Schindler ist
behaglich ruhend dargestellt und im Ganzen wie im Ein¬
zelnen äußerst vornehm aufgefasst. — Über Hellmer’s Goethe-
Denkmal für Wien hat die Chronik erst neulich berichtet.
Dürer-Fund. — In der letzten Sitzung des königlich¬
sächsischen Altertumsvereins in Dresden unter dem Vorsitze
iles Prinzen Georg von Sachsen machte Professor Dr. Corne¬
lius Gurlitt Mitteilung von einer wichtigen Entdeckung in
Bezug auf Albrecht Dürer. Es ist bekannt, dass Albrecht
Dürer in den Jahren 1501 — 1505 mit dem Kurfürsten Friedrich
dem Weisen von Sachsen-Wittenberg in enger Verbindung
>tand. Der bekannte Dresdener Altar, ein Hauptwerk aus
Dürers Frühzeit und wahrscheinlich auch das Bild im Besitze
des Wiener Erzbischofs sind für Friedrich den Weisen ge¬
malt worden. Auch ließ der Kurfürst auf seine Kosten bei
Albrecht Dürer einen „Malerjungen“ ausbilden. Wer dies
gewesen und ob er es später zu einem Namen in der Kunst
gebracht hat, ist unbekannt. Gleichzeitig war nach Gurlitts
Forschungen „Meister Jacob, der welsche Meister“ im Dienste
des Kurfürsten, offenbar Jacopo de’ Barbari, den Dürer als
seinen Meister verehrte und dessen Verhältnis zu ihm
Thausing in der Dürer -Biographie endgiltig festgestellt hat.
Weiter fand Gurlitt im Staatsarchive von Weimar in den
Baurechnungen des Schlosses Wittenberg einzelne Posten,
welche beweisen, dass Albrecht Dürer im Jahre 1503 in
diesem Schlosse zwei Säle und in der Kirche die sogenannte
kleine Empore sowie das Gewölbe ausgemalt hat. Der eine
Saal wird in den Akten als die „geschnitzte Stube'1 be¬
zeichnet. Weitere Studien in den Archiven zu Magdeburg,
Merseburg und Dresden ergaben, dass dieser geschnitzte
Saal bis mindestens zum Jahre 1611 mit seinen Malereien
unversehrt erhalten geblieben ist. Später hörte man nichts
mehr davon. Das Schloss ist im dreißigjährigen und sieben¬
jährigen Kriege beschossen worden; nach den Napoleonischen
Kriegen wurde es bombensischer eingewölbt. Jedenfalls sind
die Malereien am Gewölbe der Kirche vernichtet, denn man
weiß, dass die Gewölbe eingestürzt sind. Dagegen liegt die
Möglichkeit vor, dass die Malereien im Schlosse noch unter
dem Kalkbewurfe vorhanden sind. Das Schloss wird jetzt
als Kaserne benutzt. Der Großherzog von Sachsen, welchem
Gurlitt die Angelegenheit vortragen konnte, hat das Inte¬
resse des Kaisers Wilhelm dafür zu erwecken gewusst, der
eine Untersuchung angeordnet hat. — : —
Sommermittag , Originalradirung von Felix Hollenberg.
Die diesem Hefte beigegebene radirte Naturstudie rührt von
einem jungen Stuttgarter Künstler her. Die Wahrheit der
Naturbeobachtung und die empfindungsvolle Wiedergabe des
einfachen, aber mit Liebe durchgeführten Motivs waren aus¬
schlaggebend für die Erwerbung dieser Platte, die hoffent¬
lich auch den Beifall unserer Leser finden wird. Der Künst¬
ler wurde 1869 in Sterkrade (Rheinprovinz) geboren und
hatte schon frühzeitig Neigung zur Malerei. Mit 19 Jahren
kam er nach Düsseldorf an die Akademie, verließ dieselbe aber
schon nach einem halben Jahr um nach Stuttgart an die
Kunstschule zu gehen. Er pflegte mit besonderer Vorliebe
die Landschaft und besuchte nebenbei vier Semester lang
die Kupferstichklasse. Unter Leitung von Prof. Kräutle fing
er an zu radiren und setzte diese Studien, nachdem sie durch
den Militärdienst ein Jahr unterbrochen worden waren,
später auf eigne Faust fort. Die vorliegende Radirung ist
eines der ersten Versuche des jungen Künstlers; er hatte, wie
er uns mitteilt, erst sieben Platten radirt, als er dieses Blatt
begann.
Berichtigung . In einem Teil der Auflage des XT. Heftes
der Zeitschrift für bildende Kunst sind in der Notiz über
das Bild von M. v. Flesch-Brünningen zwei sinnstörende
Druckfehler stehen geblieben und zwar S. 304, erste Spalte,
Zeile 10 v. u. Malerei statt Malerin und ebendaselbst, Zeile 5
v. u. Schöner statt Schönn.
Herausgeber: Carl von Lütxoiv in Wien. — Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.
Druck von August Pries in Leipzig.
Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. VI.
Lichtdruck von C. G. Roder in Leipzig.
Kreidezeichnung von Emilie Mediz- Pelikan.
(Aus dem I. Heft der Vierteljahrshefte des Vereins Bildender Künstler Dresdens.)
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