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Full text of "Zeitschrift für bildende Kunst"

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1 


ZEITSCHRIFT 

FÜR 

BILDENDE  KUNST 


Heraus  creeeben 
von 

PROF.  DR.  CARL  VON  LÜTZOW 

Bibliothekar  der  K,  K.  Akademie  der  Künste  zu  Wien. 

MIT  DEM  BEIBLATT  KUNSTCHRONIK 


NEUE  FOLGE 


Sechster  Jahrgang 


LEIPZIG 

Verlag  von  E.  A.  Seemann 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2018  with  funding  from 
Getty  Research  Institute 


I 


https://archive.org/details/zeitschriftfurbi30unse 


Inhalt  des  sechsten  Jahrgangs. 


Allgemeines. 

Das  Problem'  der  Form  in  der  bildenden  Kunst.  Von 
Dr.  Fr.  Carstanjen  .  .  .  • . 

Architektur.  • 

Spanische  Miscellen.  Von  C.  Justi :  II.  Der  Königliche 
Palast  der  Habsburger  in  Madrid  ....... 

(Nr.  I  s.  N.  F.,  Jahrg.  V,  S.  34.) 

Thomar  und  Batalha.  Von  J.  Bernjab . 

Das  Achilleion  der  Kaiserin  Elisabeth  auf  Korfu.  Von 

G.  v.  Lützow . 

Über  das  Restauriren  von  Baudenkmalen.  Von  M. 

Schmid-  Aachen . . 

Das  Münster  in  Bern  .  .  .- . 

Ein  Denkmäler-Archiv . 

Alte  und  neue  Baukunst  in  Großbritannien  Von  A. 

Rosenberg . 281, 

Die  Tempel  zu  Pästum.  Von  Dr.  G.  Warnecke  .  .  . 

Plastik. 

Zwei  Werke  Michael  Pachers.  Von  R.  Stiassny  .  . 

Karyatiden.  Von  P.  Wolters . 

Die  neuen  Dresdener  Monumentalbrunnen.  Von  H.  A. 

Lier . . 

Bode’s  Denkmäler  der  Toskanischen  Skulptur.  Von 

W.  v.  Seidlitz . 

Arthur  Volkmann.  Von  Dr.  Eckstein . 

Die  Sammlung  Barracco.  Von  E.  Reisch . 

Sphinx.  Von  Dr.  J.  Rberg . 

Die  Sockelbildung  statuarischer  Werke.  Von  W.  P. 

Tuckermann .  269, 

Eine  Rekonstruktion  Joh.  Seb.  Bach’s . 

Malerei. 

Gottfried  Keller  als  Maler.  Von  II.  E.  v.  Berlepsch. 

1,  45,  77, 

Alte  Kunstwerke  in  den  Sammlungen  der  Vereinigten 
Staaten.  Von  W.  Bode . 13, 


Seite 


52 


29 

98 

119 

174 

179 

263 

309 

321 


26 

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169 

201 

217 

292 

276 


107 


Seite 

Franz  Stuck.  Von  C.  v.  Lützow . 20 

Peter  Paul  Rubens.  Von  A.  Rosenberg.  III.  IV.  61,  142 
(Nr.  I  u.  II  s.  N.  F.,  Jahrg.  V,  S.  129,  225.) 

Burne-Jones . 92 

Von  russischer  Kunst.  Von  J.  Norden  ....  123,  153 

Wieland  und  andere  unentdeckte  Gemälde  von  Anton 

Graff.  Von  P.  Weizsäcker . 128 

Lombardische  Miniaturen  und  Randleisten . 131 

Das  Badezimmer  des  Kardinals  Bibbiena.  Von  Prof. 

K.  E.  Hasse . 137 

Ein  Bildnis  der  Isabella  von  Österreich  von  Mabuse. 

Von  G.  Justi . 161,  198 

Daniel  Chodowiecki  als  Maler.  Von  W.  v.  Öttingen  .  185 
Beiträge  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Maltechnik. 

Van  Eyck’s  Tempera.  Von  E.  Berger  .  .  .  208,  240 

•Arnos  Cassioli.  Von  Isabella  M.  Anderton . 236 

Die  Gemälde -Galerie  Doetsch  in  London.  Von  O.  v. 

Schleinitz . 244 

Marie  von  Ebner-Eschenbacb.  Porträt  von  J.  Schmid. 

Von  Al.  Necker . 249 

Der  malerische  Stil.  Von  J.  Strzygowski . 305 

Graphische  Künste. 

Max  Klinger’s  Brahms-Phantasie.  Von  AI.  Lchrs  .  .  113 
Zur  Geschichte  der  modernen  Radirung.  Von  II.  A. 

Lier .  227,  252 

Vierteljahrshefte  des  Vereins  bildender  Künstler  Dres¬ 


dens.  Von  H.  A.  Lier . 334 

Bücherschau. 

Ein  neuer  Schwabenspiegel.  ( A .  Wintterlin:  Württem- 
bergische  Künstler  in  Lebensbildern).  Von  O.  Eisen¬ 
mann  . 212 

Die  hellenistischen  Reliefbilder,  herausgegeben  von  Prof. 

Dr.  Th.  Schreiber.  Von  R.  Engelmann . 302 

Zu  Lermolieffs  Gedächtnis.  Von  C.  v.  Lützow  .  .  .  330 


70 


NB.  Die  kleinen  Mitteilungen  sind  in  das  Register  der 
„Kunstchronik“  aufgenommen. 


Illustrationen  und  Kunstbeilagen. 

(Die  mit  f  be'zeiehneten  sind  Einzelblätter.  Die  Abbildungen  der  auf  mehrere  Hefte  verteilten  Aufsätze  folgen  hintereinander). 


Landschaft.  Bleistiftzeichnung  von  G.  Keller  auf  der 

Stadtbibliothek  zu  Zürich . . 

Bleistiftzeichnung  von  G.  Keller . 

Landschaft  von  G.  Keller;  im  Besitze  von  J.  Baeebtold 

in  Zürich . 

Bleistiftzeichnung  von  G.  Keller . 

Am  Wolfbach.  Aquarellbild  von  G.  Keller;  im  Besitze 

von  Frau  Professor  Frisch  in  Wien . 

fFelsige  üferlandschaft;  Ölbild  von  G.  Keller;  im  Be¬ 
sitze  des  Herrn  W elti  in  München . zu  S. 

Bleistiftskizze  von  G.  Keller . 

Mittelalterliche  Stadt.  Bruchstück  eines  Entwurfs  von 
G.  Keller;  kopirt  von  H.  E.  v.  Berlepsch  .  .  .  . 
Blick  vom  Zürichberge.  Aquarell  von  Gottfried  Keller 

Skizze  von  G.  Keller . 

Schweizer  Kanoniere.  Skizze  von  G.  Keller  .... 

Studie  von  G.  Keller . 

Babeli  Marti.  Skizze  von  G.  Keller . 

Skizze  von  G.  Keller . 

Lorenzo  de’  Medici.  Thonbüste  aus  dem  Atelier  des 

Verrocchio.  Im  Privatbesitz  zu  Boston . 

(Aus  dem  Werke  von  P.  Müller- Wald e :  Leonardo  da 
Vinci.  München.  Verlag  von  G.  Hirth.) 

1  Porträt.  Von  .1/.  v.  Heemslcerk . 

'  (Unterredung.  Gemälde  von  Pieter  de  Hooch.  Aus  der 

Sammlung  Havemeyer  in  New  York . 

*  Aus  der  Gazette  des  Beaux-Arts.  1872.  Bd.  1.  1869.  Bd.  1.) 
Porträt  eines  jungen  Mannes  von  Rembrandt  vom  Jahre 
1643.  Sammlung  Havemeyer  in  New  York  .... 
Porträt  einer  jungen  Frau  von  Rembrandt  vom  Jahre 
1643.  Sammlung  Havemeyer  in  New  York  .... 
Porträt  einer  alten  Frau  von  Rembrandt  vom  Jahre 
1640.  Sammlung  Havemeyer  in  New  York  .... 
Verkündigung.  Gobelin;  italienisch  XV.  Jahrh.  (Ferrara). 
Aus  der  Sammlung  Spitzer.  Im  Besitze  des  Herrn 

M.  A.  Iiyeson  in  Chicago . 

‘Studie  zur  Verfolgung.  Von  Fr.  Stuck . 

‘♦Studie  zur  Innocentia.  Von  Fr.  Stuck . 

‘Der  Wächter  des  Paradieses.  Gemälde  von  Fr.  Stuck 

♦♦Der  Athlet.  Statuette  von  Fr.  Stuck . 

I  ranz  Stuek.  Gemälde  von  F.  v.  Lenbach.  Helio¬ 
gravüre  von  Dr.  E.  Albert  &  Co.  in  München  zu  S. 
“  '  Franz  Stack.  München.  Verlag  von 

Dr.  E.  Albert  &  Co.) 

Dezember'.  Von  Fr.  Stuck.  (Aus  den  fliegenden  Blättern). 
Buchhändler- Wappen  von  Fr.  Stuck.  (Aus  dem  Werke: 
Allegorien  und  Embleme.  Verlag  von  Gerlach  & 

Schenk  in  Wien) . 

St.  Michael.  Schnitzfigur  im  Schlosse  Matzen  in  Tirol 
T Elefanten  in  ihrem  Element.  Ölgemälde  von  IV. 

Kuhnert ;  radirt  von  Fr.  Krottewüx  ...  zu  S. 
Der  Königliche  Palast  zu  Madrid  um  die  Mitte  des 
X\l.  Jahrhundert-.  Nach  einer  Zeichnung  von  A nt. 

ran  den  MVyngaerdc . 

B  he  Palast  zu  Madrid  im  XVII.  Jahrhundert. 
Nach  einem  anonymen  Stich . 


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Seite 

Die  Karyatidenhalle  am  Erechtheion  zu  Athen  .  .  . 

Karyatiden.  Marmorreliefs  im  Berliner  Museum  .  .  . 

Vom  Thor  des  Heroons  zu  Gjölbaschi . 

Tanzende  Karyatide.  Marmorstatue  im  Berliner  Museum 
fZigeunerknabe.  Malerradirung  von  E.  Klotz  zu  S. 
fDie  Taufe  Christi.  Zeichnung  von  P.  P.  Rubens  (?) 

im  Louvre  zu  Paris . zu  S. 

Der  heilige  Gregor  und  andere  Heiligen.  Altarbild  von 
P.  P.  Rubens  im  Museum  zu  Grenoble.  Holzschnitt 

von  R.  Berthold . 

Madonnenbild  mit  Engeln.  Zeichnung  von  P.  P.  Rubens 

im  Museum  zu  Grenoble . 

Der  Hahn  und  die  Perle.  Gemälde  von  P.  P.  Rubens 

im  Suermondt-Museum  in  Aachen . 

Romulus  und  Remus.  Gemälde  von  P.  P.  Rubens  in 

der  Galerie  des  Kapitols  in  Rom . 

Die  Krönung  des  Tugendhelden.  Gemälde  von  P.  P. 

Rubens  in  der  Dresdener  Galerie . 

Der  trunkene  Herkules.  Gemälde  von  P.  P.  Rubens  in 

der  Dresdener  Galerie . . 

Der  heilige  Franciskus  im  Gebet.  Gemälde  von  P.  P. 

Rubens  in  Palazzo  Pitti  in  Florenz . 

*Aus  EichendorfFs  Taugenichts;  illustrirt  von  H.  Looschen  87  , 
*AusChamissos  Peter  Schlemihl;  illustrirt  von  H.  Looschen  88 ! 

*Aus  Heines  Harzreise;  illustrirt  von  L.  Stein  ...  88  ' 

*Aus  Hauff’s  Phantasien;  illustrirt  von  Adelb.  Niemeyer  88  t 

(*  Aus  den  Modernen  Elzevirausgaben.  Verlag  von  Her¬ 
mann  Seemann  in  Leipzig.) 

•(■Die  heilige  Nacht.  Originalradirung  von  K.  Jahncke 

zu  S.  88 

Stürmische  Wogen.  Monumentalbrunnen  in  Dresden 

von  R.  Diez.  Holzschnitt  von  Kaesebercj  &  Oertel  89  V 
Stilles  Wasser.  Monumentalbrunnen  in  Dresden  von 

R.  Diez.  Holzschnitt  von  Brend’amour . 91/ 

Christus  und  die  Frauen  am  Grabe.  Gemälde  von 

Burne-Jones . 93 

Die  goldene  Treppe.  Gemälde  von  Burne-Jones  .  .  95  ; 

Faun  und  Nymphe.  Gemälde  von  Burne-Jones  ...  96  / 

Grundriss  des  Klosters  Batalha . 100  / 

(■Kloster  zu  Batalha.  Gesamtansicht.  Lichtdruck  von 

A.  Frisch  in  Berlin . zu  S.  101  * 

Fontaine  im  Kloster  Batalha . 102' 

Fenster  im  Kloster  Batalha . 105  f 

fLandschaftsstudie.  Originalradirung  von  P.  Halm  zu  S.  142  ^ 
fAphrodite.  Heliogravüre  nach  Max  Klinger’s  Radirung 

zu  S.  113  ^ 


Handzeichnung  von  Max  Klinger . 113  V 

Azaleenzweig.  Handzeichnung  von  Max  Klinger  .  .  118  i 

Die  frühere  Villa  Braila  in  Gasturi . .  119  v 

Ansicht  des  Achilleion  von  der  Einfahrtsseite  ....  120  I 
Ansicht  des  Achilleion  von  der  Gartenseite  ....  121  / 

Aussicht  von  der  Gartenterrasse  des  Achilleion  .  .  .  122  / 


Der  verwundete  Achill.  Marmorstatue  von  E.  Herter  127  f 
Fürst  Roman  von  Galizien.  Ölgemälde  von  N.-B.  Newreiv  123  c 
Menschikoff  im  Exil.  Ölgemälde  von  P.-A.  Surikoff  125  v 


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60  '\fi 

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149  7 


INHALTSVERZEICHNIS. 


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Seite 

Ein  Rendezvous  unter  Freunden.  Gemälde  von  TU. 

Makowski . 153  v 

Der  Garten  der  Großmutter.  Gemälde  von  TU.  D.  Polenow  156  r 
Martin  Wieland.  Ölgemälde  von  Anton  Oraff.  (Im 
Besitze  des  Herrn  Sahrer  von  Sahr  auf  Dahlen  in 

Sachsen) . 129 

*Der  heilige  Gregor.  Miniatur  aus  dem  Andachtsbuche 

der  Bona  Sforza  im  Britischen  Museum . 131  ( 

*  Randleiste  aus  dem  Andachtsbuche  der  Bona  Sforza 

im  Britischen  Museum . 132  j 

♦Randleiste  aus  der  Sforziade  des  Giovanni  Simonetta 

(1490).  Britisches  Museum . 133  ' 

(*  Aus  dem  Werke  von  GL  F.  Warner,  Miniatures  and  borders 
from  tlie  book  of  hours  of  Bona  Sforza.  London  1894.) 

f Originalradirung  von  H.  Ulbrich . zu  S.  136 

fAm  Wasser.  Originalradirung  von  C.  Th.  Meyer-Basel 

zu  S.  137  v 

Wanddekoration  aus  dem  Badezimmer  des  Kardinals 
Bibbiena  im  Vatikan  zu  Rom  ......  137,  140,  152  v 

^Christus  von  Engeln  betrauert,  Relief  von  Donatello 

im  South-Kensington-Museum . 15S  t 

♦Martyrium  des  heil.  Sebastian.  Relief  von  Donatello  159  / 

(*  Aus  dem  Werke:  Denkmäler  der  Renaissance-Skulptur 
Toskanas  in  historischer  Anordnung.  Unter  Leitung  von 
Wilhelm  Bode,  herausgegeben  von  Fr.  Bruckmann. 
München.  Verlagsanstalt  f.  Kunst  und  Wissenschaft.) 

tBeim  Quacksalber.  Heliogravüre  nach  einem  Gemälde 

von  Werner  Schuch . zu  S.  160  ^ 

flsabella  von  Österreich.  Gemälde  von  J.  Mabuse. 

Heliogravüre . .  .  zu  S.  161  v 

Bildnis  der  Isabella;  gestochen  von  Jacob  Bink  .  .  .  162 
Bildnis  der  Isabella  aus  der  ehemaligen  Ambraser 

Sammlung . 163  < 

Die  dänischen  Königskinder.  Gemälde  Mabuses  in 

Hamptoncourt . 165  1 

Christiern  II.  von  Dänemark.  Gemälde  in  der  König¬ 
lichen  Galerie  in  Kopenhagen.  Holzschnitt  von  Kaese¬ 
berg  &  Oertel . 167 

Philipp  der  Schöne  von  Burgund,  Gemälde  von  J. 
Mabuse.  (Nach  einer  Photographie  von  A.  Braun  & 

Co.  in  Dörnach) . 199  ( 

Arthur  Volkmann.  Nach  einer  Photographie.  Holz¬ 
schnitt  von  Kaeseberg  o&  Oertel . 169 ; 

Amazone  ihr  Pferd  tränkend.  Marmorrelief  von  A. 

Volkmann-,  Holzschnitt  von  Kaeseberg  &  Oertel  .  .  170-, 
Grabdenkmal  für  Hans  von  Marees  von  A.  Volkmann  171  . 

Erster  Entwurf  für  das  Denkmal  Richard  von  Volkmanns 


in  Halle;  von  A.  Volkmann  .  ...  •  ...  .  172  , 
Bemalte  Marmorbüste  von  A.  Volkmann;  Holzschnitt 

von  R.  Berthold . 173  ^ 

Trierer  Liebfrauenkirche.  Fassade . 175 , 

Grundriss  der  Umgebung  der  Liebfrauenkirche  in  Trier  176 
Entwurf  für  die  Umgestaltung  des  Zugangs  zur  Lieb¬ 
frauenkirche  in  Trier . 177,. 

Westansicht  des  Münsters  zu  Bern  in  seiner  früheren 

Gestalt  vor  1890  .  180 

Das  jüngste  Gericht.  Relief  von  E.  Kiing  über  dem 

Portal  des  Münsters  zu  Bern . .  .  181 

Turmspitze  des  Münsters  zu  Bern . 182 

Grundriss  des  Münsters  zu  Bern . 183 

flm  Atelier;  Gemälde  von  J.  J.  Aranda ;  Radirung  von 
Er.  Krostewitz . zu  S.  189 


fln  stiller  Andacht.  Originalradirung  von  O.  Schultz 

zu  S.  216 


Seite 


Daniel  Chodowiecki.  Selbstporträt.  Miniatur.  Holzschnitt 

von  Kaeseberg  &  Oertel . 185  , 

Gesellschaft  im  Tiergarten  zu  Berlin.  Gemälde  von 
Daniel  Chodoiviecki  im  Leipziger  Museum.  Holz¬ 
schnitt  von  C.  Köhnlein . 188 

Eine  Wochenstube.  Gemälde  von  Daniel  Chodowiecki  192 

Kinderbild.  Gemälde  von  Daniel  Chodoiviecki  .  .  .  193 

Email  camay eu.  Von  Daniel  Chodowiecki.  Holzschnitt 

von  Kaeseberg  &  Oertel . 197 

♦Kalbträger . 202 

♦Attisches  Votiv-Relief . .  .  203 

♦Bärtiger  Kopf . . 204 

♦Cäsar .  205  Y 

(*  Aus  dem  Werke:  La  Collection  Barracco  publiüe  p.  Fr. 
Bruckmann.  München  1892—1894.) 

**G.  F.  E.  Wächter . 212 

**K.  J.  B.  Neher . 213  , 

**Ch.  G.  Schick . 213 

(**  Aus  dem  Werke  von  A.  Wintterlin,  Wiirttembergisclie 
Künstler  in  Lebensbildern.  Stuttgart  1895.) 

Das  Bismarckdenkmal  in  Leipzig . 215 


fDorflandschaft.  Gemälde  von  Wouter  Knijff  im  städti¬ 
schen  Museum  in  Leipzig,  rad.  von  E.  Liebsch  zu  S.  216 
fDer  Trinker.  Originalradirung  von  W.  Leibi  .  zu  S.  233  , 

♦Der  Sphinx  bei  den  Pyramiden  von  Gizeh  ....  217 
(*  Aus  dem  Werke  von  Ebers-Junghändel:  Ägypten.  Ver¬ 
lag  des  Cosmos  in  Berlin.) 

Sphinx  von  Tanis,  im  Museum  von  Gizeh . 218 

Widdersphinx . 219 

Königssphinx . 219 

Schreitender  Sphinx  auf  Feinden.  (Nach  Perrot  und 

Chipiez) . 218 

Weiblicher  Typus  einer  Sphinx.  (Nach  Perrot  u.  Chipiez)  218 
Assyrische  Sphinx,  eine  Säulenbasis  tragend.  (Nach 

Perrot  und  Chipiez) . 220 

Ägyptischer  König  mit  Sphinx  kämpfend.  (Nach  Perrot 

und  Chipiez) . 220 

Mykenische  Sphinxe  gelagert.  Elfenbeinkamm  aus 

Spata.  (Nach  Perrot  und  Chipiez) . 221 

Ägyptisirende  Sphinxe  auf  einer  Silberschale  von  Cypern 

(Nach  Perrot  und  Chipiez) . 221 

Teller  von  Rhodos.  (Nach  Salzmann,  Necropole  de 

Camiros)  . 222 

Detail  der  Francois- Vase.  (Nach  Ohnefalsch -Richter, 

Kypros . 222 

Terrakottarelief  von  Tenos.  (Nach  Stackeiberg)  .  .  .  223  v 
Sphinx  und  Oedipus.  (Nach  Overbeck)  .  .  .  i.  .  .  223 
Von  einer  attischen  Grabvase.  (Nach  Stackeiberg).  .  223 
Sphinx  von  einem  lykischen  Sarkophag.  (Nach  Hamdy 
Bey  und  Th.  Reinach,  Necropole  royale  ä  Sidon)  .  .  224 

Sphinxvase.  (Nach  Compte  rendu  de  la  comm.  archeol. 

1870/71  .  225 

Sphinxe.  (Nach  Ohnefalsch -Richter,  Kypros)  ....  226 
Lesende  Dame.  Nach  einer  Original -Radirung  von  P.  Hellen  229 
Ansicht  aus  Rouen.  Nach  einer  Originalradirung  von 

A.  Brunet-Debaines . 232 

Nach  einer  Original-Radirung  von  Seymour  Heiden  .  .  252 

Empire.  Nach  einer  Originalradirung  von  Larsson  .  254 

Nach  einer  Originalradirung  von  A.  L.  Zorn  ....  255 
Nach  einer  Originalradirung  von  Seymour  Heulen  .  .  257 

Nach  einer  Originalradirung  von  H.  Herkomer.  .  .  .  258 
fParting  Ways.  Nach  einer  Originalradirung  von  H. 
Herkomer.  Photogravure  von  O.  Felsing  in  Berlin 

zu  S.  260 


VI 


INHALTSVERZEICHNIS. 


fDer  Balkon;  Originalradirung  von  J.  M.  Whistler, 
Lichtdruck  von  C.  G.  Roecler  in  Leipzig  .  .  .  zu  S. 

Ein  Raucher.  Nach  einer  Originalradirung  von  Pagliano 

Nach  einer  Originalradirung  von  R.  Haglund . 

Der  Himmelsbote.  Gemälde  von  Arnos  Cassioli .  .  . 

Die  Schlacht  von  Legnano.  Gemälde  von  A.  Cassioli 
Der  Erstgeborene.  Gemälde  von  A.  Cassioli  .  .  .  . 

Francesca  von  Rimini.  Gemälde  von  A.  Cassioli  .  . 

Porträt  von  Jan  Schoreel . 

Fräulein  von  St.  Croix.  Gemälde  von  A.  van  Dyck 

Porträt  von  Frans  Hals . 

Frau,  ihr  Gewand  anziehend.  Gemälde  von  Tizian  . 
Der  spanische  Musikant.  Gemälde  von  J.  v.  Velsen  . 
fMarie  von  Ebner-Eschenbach.  Gemälde  von  J.  Schmid. 
Heliogravüre  von  J.  Blechinger  in  Wien  .  .  .zu  S. 

Eine  Messbildaufnahme . 

Tempel  der  Athena  Nike  in  Athen . 

Römisches  Denkmal  in  Igel  bei  Trier  . . 

Krypta  der  Schlosskirche  in  Quedlinburg  .  .  .  .  . 

Inneres  der  Kirche  zu  Schwarzrheindorf . 

Denkmal  Friedrich  des  Großen  in  Berlin  von  Rauch  . 
Denkmal  des  großen  Kurfürsten  von  Schlüter .... 
Sockelbildung  statuarischer  Werke  .  273,  274,  293, 

Statuette  der  Parthenos . 

Reiterstandbild  des  Marcus  Aurelius  in  Rom.  (Kapitol) 
Reiterstandbild  des  Colleoni  von  Verrocchio  (Venedig) 

Gruppe  im  Parke  von  Caserta  bei  Neapel . 

Seffners  Büste  von  Joh.  Seb.  Bach  nach  Wegnahme 

der  linken  Gesichtshälfte . 

Johann  Sebastian  Bach.  Ölbild  in  der  Thomasschule 

zu  Leipzig . 

vJob.  Seb.  Bach.  Auf  dem  ausgegrabenen  Schädel, 
modellirt  von  C.  Scffner,  Lichtdruck  von  Sinsel  &  Co. 

zu  S. 

GL  idelandschaft.  Originalradirung  von  W.Conz  zu  S. 
Die  Galiläa  an  der  Kathedrale  zu  Durham.  Erbaut 

um  1175 . 

Kathedrale  von  Licbfield.  Westseite.  Um  1280  .  .  . 
Kreii/.gang  der  Kathedrale  von  Gloucester.  Erbaut 

1350—1410  . 

i  /  College  -  Kapelle  in  Cambridge.  Erbaut  von 

1440  1530  . 

Halle  des  Middle-Tempel  in  London.  Erbaut  1572.  . 
Vorhalle  der  Marienkirche  in  Oxford.  Erbaut  1637 

Holzhaus  in  Chester.  Erbaut  1652  .  . . 

Badcliffe’ache  Bibliothek  in  Oxford.  1737 — 1749  .  . 
Doppelhaus  in  London.  Erbaut  von  Thomas  E.  Coleutt 

Grundriss  dazu . 

Beau  ftfanor  in  Looghborough.  Erbaut  von  Jos.  Naßh 


Seite 

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313 
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Seite 

House  Aldersleigh. —  New-Walk  (Leicester).  Erbaut  von 


Stoclcdale  Harrison . 316 

Theater  und  Restaurant  Tivoli  in  London.  Erbaut  von 

Walther  Emden . 317*^ 

Haus  am  Cadogan  Square  in  London.  Erbaut  von 

Ernest  George  und  Peto  .  .  . . 31(j 

fln  der  Lehre.  Gemälde  von  L.  v.  Flescli- Brünningen ; 

radirt  von  F.  Krosteivitz . zu  S.  304 

Engel  aus  der  Taufe  Christi.  Von  Leonardo.  Florenz  305' 
Engel  aus  der  Madonna  in  der  Grotte.  Von  Leonardo. 

London .  307 l' 

Antenkapitell  von  der  Basilika . 32V 

Innenansicht  der  Cella  des  Poseidontempels  ....  322 P 

Die  Cella  des  Poseidontempels,  von  der  südlichen  Halle 

des  Säulenumgangs  gesehen . .  323/ 

Grundriss  des  Poseidontempels .  323/'’ 

Die  Antenhohlkehle  am  Poseidontempel  'in  größerem 

Maßstabe .  324* 

Ägyptisches  Hohlkehlengesims  mit  aufrechtstehenden 
Schilfblättern  und  der  geflügelten  Sonnenscheibe.  (Nach  / 

Hauser) . . .  325  * 

Ägyptisches  Kapitell  in  Form  des  geöffneten  Lotoskelches  325  ^ 
Ägyptisches  Palmenkapitell.  (Nach  Hauser)  ....  325 

Terrakotta  von  einem  Schatzhause  in  Olympia.  (Nach 

Bötticher,  Olympia)  .  . .  326" 

Sima  vom  Schatzhause  der  Geloer  in  Olympia  .  .  .  326' 

Kapitell  aus  Mykenae.  (Nach  Durm) . 326 

Drei  Kapitelle  von  Votivsäulen  auf  der  Akropolis  von 
Athen.  (Nach  Bötticher.  Die  Akropolis  von  Athen)  327 

Kapitell  vom  Demetertempel  mit  der  Skotie  .  .  .  .  328 

Kapitell  vom  Poseidontempel . 328 

Kapitell  vom  nördlichen  Tempel  der  Akropolis  von 

Selinunt.  (Nach  Hauser) . 328 

Frieseinteilung  am  Demetertempel . 329 

Büste  Giovanni  Morellis  von  Lod.  Pogliaghi  ....  330 

*Madonna  von  Correggio.  Florenz,  Uffizien  ....  331 

*Frauenbildnis  von  Bartolamio  de  Venezia.  Mailand, 

Herzog  G.  Malzi .  332 

^Männliches  Bildnis  von  Antonello  da  Messina.  Mai¬ 
land,  Fürst  Trivulzio . .  332 

*Madonna  in  Terrakotta  von  A.  Verrocchio.  Florenz, 

Museum  von  S.  Maria  Nuova . 333 


(*  Aus  (lern  Werke:  Ivan  Lermolieff,  Kunstkritische 
Studien  über  italienische  Malerei.  3  Bände.  Leipzig, 
Verlag  von  F.  A.  Brockhaus.  1890—1893.) 

fSommermittag.  Originalradirung  von  F.  Hollenberg 

zu  S.  336 

yStudie.  Kreidezeichnung  von  Emilie  Mediz  ■  Pelikan. 
Lichtdruck  von  C.  G.  Roeder  in  Leipzig  .  .  .  zu  S.  336 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 

VON  H.  E.  v.  BERLEPSCH. 


N  den  Besprechungen  des 
Romanes  „Der  grüne  Hein¬ 
rich“1)  von  Gottfried  Keller 
findet  sich  nirgends  der  Hin¬ 
weis  darauf,  in  wie  tiefer 
Weise  dort  das  Schicksal  ein  es 
Künstlers,  sein  Emporstreben 
und  sein  Niedergang  erfasst 
ist.  Und  das  bildet  doch  in  dem  Buche  eigentlich 
den  Kern.  Von  vielen  ist  es  bloß  als  eine  glück¬ 
liche  Beigabe  angesehen  worden.  Diese  Seite  zu  be¬ 
tonen,  ist  gewiss  der  Mühe  wert  und  gehört  mit  zu 
dem  Nachfolgenden,  in  dem  versucht  wurde,  den 
Künstler  Keller  aus  allem  übrigen  herauszuschälen. 

Er  hat  sich  über  seine  Jugendzeit,  speziell  über 
die  Maler-Periode  in  dem  Aufsatze  „Autobiographi¬ 
sches“  2)  flüchtig  geäußert: 

„In  sehr  früher  Zeit,  schon  mit  dem  fünfzehnten  Jahre, 
wendete  ich  mich  der  Kunst  zu;  soviel  ich  beurteilen  kann, 


1)  Die  im  Folgenden  angeführten  Stellen  aus  diesem 
Buche  und  der  Seitenhinweis  beziehen  sich  auf  die  zweite 
Bearbeitung  des  Romanes,  1889  erschienen  in  den  gesam¬ 
melten  Werken  G.  Keller’s,  Verlag  von  W.  Hertz,  Berlin. 

2)  Veröffentlicht  in  der  „Gegenwart“  Bd.  X,  Nr.  51  und 
Bd.  XI,  Nr.  1  (1876  u.  1877). 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  1. 


weil  es  dem  halben  Kinde  als  das  Buntere  und  Lustigere 
erschien,  abgesehen  davon,  dass  es  sich  um  eine  beruflich 
bestimmte  Thätigkeit  handelte.  Denn  ein  „Kunstmaler“  zu 
werden,  war,  wenn  auch  schlecht  empfohlen,  doch  immer¬ 
hin  bürgerlich  zulässig.  Der  Zufall,  dass  nur  angebliche 
Landschafter  am  Orte  zugänglich  für  mich  waren,  entschied 
für  die  Landschaftsmalerei,  bei  welcher  ich  denn  auch  bis 
ungefähr  ins  dreiundzwanzigste  Jahr  verblieb,  ohne  jenes 
Selbstkönnen  und  Leichtlernen  in  den  Anfängen  und  dazu 
noch  stets  übel  beraten.  Vor  ein  paar  Jahrzehnten  durfte 
man  noch  nicht  eine  glänzende  Kleckserei  für  eine  Land¬ 
schaft  oder  überhaupt  für  ein  Bild  ausgeben.  Dasselbe 
musste  mit  Verständnis  gezeichnet  und  technisch  wohl  vor¬ 
bereitet  und  fertig  gemacht  sein.  Auf  der  anderen  Seite 
gerieten  just  um  jene  Zeit  die  gelehrten  Landschaften, 
welche  ohne  Farbe  mehr  einen  litterarischen  Gedanken  als 
ein  gutes  Stück  Natur  darstellten,  welcher  Richtung  ich 
mich  eben  wegen  des  Nichtkönnens  mit  Energie  zuwendete, 
auller  Kurs,  und  es  war  nicht  mehr  möglich,  mit  derglei¬ 
chen  zu  Anerkennung  oder  gar  zu  einer  akademischen  Pro¬ 
fessur  zu  gelangen.“ 

Die  malerisch-künstlerische  Thätigkeit  Keller’s, 
über  die  Jakob  Bächtolds  Biographie  zum  ersten 
Male  Authentisches  durch  Briefe  brachte,  wird  des 
weiteren  durch  eine  hübsche  Zahl  von  Arbeiten 
seiner  Hand  illustrirt.  Sie  befinden  sich  zum  Teil 
in  dem  auf  der  Stadtbibliothek  zu  Zürich  befindlichen 
Nachlasse,  zum  Teil  sind  sie  im  Besitze  von  Freun¬ 
den  des  Dichters.  Auch  ein  auf  dem  Auer  Tan- 


1 


9 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


delmarkt  zu  München  gefundenes  Ölbild,  das  sich 
zur  Zeit  im  Besitze  des  Herrn  Weit!  in  Winterthur 
befindet,  hat  sich  erhalten. 

Die  hier  wiedergegebenen  Zeichnungen  sind 
zum  Teil  manuell  nach  den  Originalen  kopirt, 
da  diese  durch  Alter,  Papierfarbe,  Risse  und 
andere  Umstände  der  mechanischen  Reproduktion 
Schwierigkeiten  boten  oder,  wie  bei  den  der  Stadt¬ 
bibliothek  in  Zürich  gehörigen,  nicht  erhältlich 
waren.  Leider  war  es  gerade  durch  den  letzteren  Um¬ 
stand  unmöglich  gemacht,  einige  der  hervorragend¬ 
sten  und  bezeichnendsten  Blätter  wiederzugeben. 
Einiges  ist  durch  den  Verfasser  dieser  Zeilen  kopirt 
worden.  Die  unnötigen  oder  zufälligen  Beigaben, 
die  sich  gerade  bei  diesen  Blättern  vorfanden,  wurden 
weggelassen  und  nur  auf  das,  was  der  Künstler  eigent¬ 
lich  wollte,  das  Hauptaugenmerk  gerichtet.  Sie 
sind  hierdurch  nicht  unverständlicher,  eher  klarer 
geworden,  z.  B.  der  Riss  der  mittelalterlichen  Stadt. 
Wo  es  sich  jedoch  um  den  künstlerischen  Strich 
handelt,  wurde  Sorge  getragen,  dem  Originale  so 
nahe  wie  möglich  zu  kommen. 

Es  kann  sich  hier  nicht  darum  handeln,  über 
Dinge  zu  sprechen,  die  von  kunstgeschichtlicher 
Bedeutung  sind;  vielmehr  soll  die  Rede  sein  von 
den  künstlerischen  Jugendbestrebungen  eines  Mannes» 
dessen  Bethätigung  im  späteren  Leben  auf  einem 
anderen  Gebiete  als  dem  der  Malerei  lag,  der  aber 
dennoch,  selbst  als  sein  Schriftstellername  lange 
schon  zu  den  besten  zählte,  sich  mit  Aufgaben 
malerischer  Art,  freilich  ohne  die  Öffentlichkeit  dar¬ 
über  aufzuklären,  beschäftigt  und  darin  den  Be¬ 
weis  einer  ausgegorenen  Anschauung  niedergelegt 
bat.  Er  kann  in  dieser  Beziehung  das  gleiche  Inter¬ 
esse  beanspruchen  wie  die  Goncourts,  wie  Victor 
Hugo  oder  Theophile  Gautier,  die,  obschon  in  erster 
Linie  Schriftsteller,  doch  überall  auch  die  Anschau¬ 
ung  des  bildenden  Künstlers  walten  ließen. 

* 

*  * 

I.  Die  Jugendzeit . 

Im  Roman  vom  grünen  Heinrich  wird  der 
Vater  des  Helden  „Heinrich  Lee“  als  ein  geschickter 
Steinmetz  geschildert,  der  nach  langer  Wanderschaft 
in  der  Heimat  sich  sesshaft  machte  und  unter  anderm 
eine  Kiste  verwahrte,  die  mit  Modellen,  Zeichnungen 
und  Büchern  angefüllt  war.  In  Wirklichkeit  war 
der  Vater  Kellers  ein  Drechslermeister,  „ein  unge¬ 
wöhnlich  geschickter  Mann  seines  Handwerks“.  Von 
seiner  Kunstfertigkeit  zeugen  noch  vorhandene  Ar¬ 


beiten:  sein  sog.  Meisterstück,  ein  Schachspiel,  ein 
zierliches  Nadelbüchschen,  die  als  Aufsatzfiguren 
für  die  Stockuhr  der  Familie  gedrechselten  kennt¬ 
lichen  Büsten  Goethe’s,  Schillers  und  jenes  im  No¬ 
vember  1S18  gestorbenen  Landvogtes  Salomon  Lan¬ 
dolt,  dessen  Gestalt  der  Sohn  später  so  fein  heraus¬ 
gearbeitet  hat“1)-  Mit  33  Jahren  starb  er;  der 
Sohn  zählte  fünf.  Die  Erziehung  lag  fortan  ledig¬ 
lich  in  den  Händen  der  Mutter,  der  von  ihren  sechs 
Kindern  nur  der  eine  Knabe  Gottfried  und  ein  Mäd¬ 
chen,  Regula,  erhalten  blieben.  Die  erste  Jugend 
verfloss,  ohne  dass  äußerliche  Ereignisse  stark  in 
das  Leben  des  Knaben  eingegriffen  hätten,  es  sei 
denn  die  Gewaltthat  des  Schulmeisters,  der  den 
Knaben  um  einer  wunderlichen  Ideenverbindung 
willen,  die  er  harmlos  aussprach,  heftig  züchtigte 
und  zu  züchtigen  fortfuhr,  als  der  Zögling  nicht 
weinte,  sondern  mehr  erschrocken  war.  In  seiner 
Angst  betete  der  Knabe  bei  dem  neuen  Überfall,  der 
ihm  wie  ein  böser  Traum  vorkam:  „sondern  erlöse 
uns  von  dem  Bösen!“  worauf  der  Schulmeister  zwar 
abließ,  aber  der  Mutter  „versichern  wollte,  dass  der 
Schüler  schon  durch  irgend  ein  böses  Element  ver¬ 
dorben  sein  müsste.“2) 

Zeitig  schon  wirkt  auf  des  Knaben  Einbildungs¬ 
kraft  das  wandernde  Sonnenlicht.  Köstlich  ist  im 
Roman  die  Beschreibung  des  kleinen  Höfchens  beim 
elterlichen  Hause  und  die  Empfindung,  die  der 
Sonnenuntergang  wachruft,  gegeben:  „Gegen  Sonnen¬ 
untergang  jedoch  stieg  meine  Aufmerksamkeit  an 
den  Häusern  in  die  Höhe  und  immer  höher,  je  mehr 
sich  die  Welt  von  Dächern,  die  ich  von  unseren 
Fenster  aus  übersah,  rötete  und  vom  schönsten 
Farbenglanz  übersät  wurde.  Hinter  diesen  Dächern 
war  für  einmal  meine  Welt  zu  Ende;  denn  den 
duftigen  Kranz  von  Schneegebirgen,  welcher  hinter 
den  letzten  Dachfirsten  sichtbar  ist,  hielt  ich,  da  ich 
ihn  nicht  mit  der  festen  Erde  verbunden  sah,  lange 
Zeit  für  eins  mit  den  Wolken.“  Frau  Margret  und 
„Vater  Jakoblein“  (derTrödler  Jakob  Hotz  und  dessen 
Frau)  tragen  ebenso  wie  der  Kreis  ihrer  Haus¬ 
genossen  nicht  wenig  dazu  bei,  den  Kopf  des  Kindes 
mit  allerlei  seltsamen  Vorstellungen  zu  füllen.  — 

1)  Bächtold,  Keller’s  Leben  I,  1. 

2)  Der  grüne  Heinrich  I,  35:  Der  Knabe  hatte  schon  öfter 
das  Wort  Pumpernickel  gehört,  für  das  er  sich  keine  leib¬ 
liche  Vorstellung  machen  konnte.  Als  er  in  der  Schule  einst 
das  große  P  benennen  sollte,  das  ihm  einen  wunderlichen 
Eindruck  machte,  eben  wie  jenes  unerklärte  Wort,  sprach 
er  plötzlich  mit  Entschiedenheit:  Das  ist  der  Pumpernickel ! 
Für  einen  solchen  phantastischen  und  kindlichen  Einfall 
als  durchtriebener  Schelm  geprügelt  zu  werden,  war  hart. 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


3 


Ob  das  noch  beute  existirende,  handwerklich  außer¬ 
ordentlich  flott  und  farbig  gemalte  Portrait  des 
„Meretlein“  seiner  künstlerischen  Qualitäten  wegen 
einen  großen  Eindruck  auf  den  Jungen  ausgeübt 
habe,  mag  dahin  gestellt  bleiben.  Wahrscheinlich 
war  es  mehr  die  Zusammenstellung  des  frischen 
Kinderporträts  und  des  Totenschädels,  die  allerlei 
Ideen  sonderlicher  Art  wachrief.  Seine  phantastischen 
Einfälle  charakterisiren  sich  vorzüglich  in  der  lügen¬ 
haften  Erzählung  von  dem  Spaziergang  im  „Bruder 
Hölzli“ ,  die  ein  paar  ganz  unschuldige  Knaben  der 
schulbehördlichen  Strafe  aussetzt  *).  In  einer  Theo¬ 
sophie,  die  sich  unter  den  Büchern  von  Frau  Mar¬ 
gret  herumtrieb,  findet  er  dann  die  Anregung  zu  Ex¬ 
perimenten,  die  ihm  selbst  bloß  zum  kleinsten  Teile 
verständlich  sind.  Er  knetet  aus  Wachs  verschiedene 
embryonenhafte  Gestalten:  „In  langen,  schmalen  Köl¬ 
nischwasserflaschen,  denen  er  die  Hälse  abschlug, 
baumelten  ebenso  lange  schmächtige  Gesellen  an 
ihrem  Faden;  in  kurzen  dicken  Salbengläsern  hausten 
knollenartige  Gewächse.“  Sie  bekommen  alle  ihre 
Namen:  Sclmurper,  Fork,  Vogelmann,  Schmerbauch, 
Nabelhans  u.  s.  w.  Keller  hat  das  Vergnügen  an 
dergleichen  Phantasiegebilden  auch  später  nicht 
verloren,  wie  die  Randzeichnungen,  die  er  als  Staats¬ 
schreiber  in  die  Protokollbücher  machte,  darthun. 
Die  Spukgeschichte,  die  er  dann  mit  diesen  selbst 
gemachten  Kreaturen  in  der  dämmerigen  Dachkammer 
aufführt,  und  das  Ende  derselben  durch  den  Angriff 
der  scheugemachten  Katze  geben  ein  vortreffliches 
Bild  von  dem  seltsamen  Gedaukenwuste,  der  sich  in 
dem  jugendlichen  Kopf  angesammelt  hatte2).  Der¬ 
gleichen  Geschichten  fallen  phantasielosen  Kindern 
nicht  ein.  Dann  kommt  die  Zeit  des  Theaterspielens. 
Vor  allem  aber  ist  es  der  Dekorations-Maler  einer 
Schauspielertruppe,  der  ihn  mächtig  durch  seine 
Arbeit  anregt.  „Es  dämmerte  die  erste  Einsicht  in 
das  Wesen  der  Malerei.“  Dann  folgen  Schuljahre 
und  eine  Reihe  von  Dingen,  die  weniger  den  künf¬ 
tigen  Künstler  als  den  heranwachsenden  Menschen 
angehen  und  endlich  die  an  sich  gar  nicht  so 
schlimme  Geschichte,  die  Kellers  Entlassung  aus 
der  Schule  nach  sich  zog.  Der  nun  beginnende 
Lebensabschnitt  trägt  ^ 
im  Grünen  Heinrich  ^  ^ 
den  Titel:  „Flucht 


1)  Der  grüne  Hein¬ 
rich  I,  84. 

2)  Der  grüne  Hein¬ 
rich  I,  103. 


zur  Mutter  Natur.“  Der  Hang  zur  Künstlerlaufbahn 
bekommt  bestimmte  Form: 

„Meine  häusliche  Beschäftigung  hatte  in  letzter  Zeit 
beinahe  ausschließlich  im  Zeichnen  und  Malen  bestanden 
und  auch  in  dieser  Hinsicht  befand  ich  mich  in  einem  son¬ 
derbaren  Verhältnis  zur  Schule.  Dort  galt  ich  für  nichts 
weniger  als  für  einen  talentvollen  Zeichner.  Monatelang 
klebte  der  gleiche  Bogen  auf  meinem  Reißbrette;  ich  quälte 
mich  verdrossen  ab,  einen  kolossalen  Kopf  oder  ein  Orna¬ 
ment  mit  dem  mageren  Bleistift  zu  kopiren.  Dutzende  von 
Linien  wurden  ausgelöscht,  bis  die  richtige  stehen  blieb, 
das  Papier  wurde  beschmutzt  und  durchgerieben  und  ver¬ 
kündete  einen  faulen  und  verdrießlichen  Zeichner.  Sobald 
ich  aber  nach  Hause  kam,  warf  ich  diese  Schulkunst  bei¬ 
seite  und  machte  mich  mit  eifrigem  Pleiße  hinter  meine 
Hauskunst.  Nach  einem  ersten  Versuche,  eine  gemalte  Land¬ 
schaft  zu  kopiren,  hatte  ich  fortgefahren,  dergleichen  Ge¬ 
bilde  in  Wasserfarben  hervorzubringen;  da  ich  nun  aber 
weiter  keine  Vorbilder  besaß,  musste  ich  sie  auf  eigene  Faust 
ins  Leben  rufen  und  that  dieses  mit  anhaltendem  Fleiße. 
Der  gemalte  Ofen  unserer  Stube  enthielt  eine  Menge  kleiner 
Landschaftsmotive,  eine  Burg,  eine  Brücke,  einige  Säuleu 
an  einem  See  und  solches  mehr;  ein  altes  Stammbuch  der 
Mutter,  sowie  eine  kleine  Bibliothek  verjährter  Damen¬ 
kalender  aus  ihrer  Jugend  bargen  einen  Schatz  sentimentaler 
Landschaftsbilder,  dem  lyrischen  Texte  entsprechend,  mit 
Tempeln,  Altären  und  Schwänen  auf  Teichen,  mit  Liebes¬ 
paaren  in  Kähnen  sitzend  und  dunklen  Hainen,  deren  Bäume 
mir  unvergleichlich  gestochen  schienen.  Aus  alle  diesem 
zusammen  bildete  sich  eine  höchst  unschuldige  und  sozu¬ 
sagen  elementare  Poesie,  welche  meinem  eifrigen  Machen 
zu  Grunde  lag  und  mich  während  desselben  beglückte.  Ich 
erfand  eigene  Landschaften,  worin  ich  alle  poetischen  Motive 
reichlich  zusammenhäufte,  und  ging  von  diesen  auf  solche 
über,  in  denen  ein  einzelnes  vorherrschte,  zu  welchem  ich 
immer  den  gleichen  Wanderer  in  Beziehung  brachte,  mit 
welchem  ich  halb  bewusst  mein  eigenes  Wesen  ausdrückte. 
Denn  nach  dem  immerwährenden  Misslingen  meines  Zusam¬ 
mentreffens  mit  der  übrigen  Welt  hatte  eine  ungebührliche 
Selbstbeschauung  und  Eigenliebe  angefangen,  mich  zu  be¬ 
schleichen;  ich  fühlte  eiu  weichliches  Mitleid  mit  mir  selbst 
und  liebte  es,  meine  Person  symbolisch  in  die  interessanten 
Scenen  zu  versetzen,  welche  ich  erfand.  Diese  Figur,  in 
einem  grünen,  romantisch  geschnittenen  Kleide,  eine  Reise¬ 
tasche  auf  dem  Rücken,  starrte  in  Abendröten  und  Regen¬ 
bogen1),  ging  auf  Kirchhöfen  oder  im  Walde,  oder  wandelte 


Bleistiftzeichnung  von  G.  Keller. 


1)  Nr.  56  der  Sammlung  der  Züricher  Stadtbibliothek 
erinnert  an  diese  Zeit ,  obschon  es  sicher  einer  späteren 
entstammt.  Es  ist  eine  flachhügelige  Landschaft  mit  Feldern. 
Vom  unteren  Rande  her  zieht  sich  ein  Weg  hin,  auf  dem 
eine  einzelne  männliche  Figur  dahinschreitet,  allerlei  Mal¬ 
gerät  auf  dem  Rücken  tragend.  Am  Himmel  bauen  sich 
mächtige  Wolkenmassen  auf,  zwischen  denen  die  Sonne 

durchzubrechen  scheint. 
Dem  Blatte  ist  eine  ge¬ 
wisse  Auffassung  nicht 
abzusprechen,  nur  über¬ 
stieg  die  Aufgabe  das 
Können  des  Autors.  Es 
liegt  eine  gewisse  lin¬ 
kische  Zaghaftigkeit  in 
der  Anwendung  des  Farb- 


1* 


4 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


auch  wohl  in  glückseligen  Gälten  voll  Blumen  und  bunter 
Vögel.  Das  Machwerk  an  der  beträchtlichen  Sammlung 

materials;  man  sieht,  dass  der  Gedanke,  der  zum  Ausdruck 
kommen  sollte,  größer  war  als  die  zu  Gebote  stehenden 


solcher  Bilder,  welche  sich  bereits  angehäuft  hatte,  blieb 
immer  auf  dem  nämlichen  Standpunkte  gänzlicher  Erfali- 
rungs-  und  ünterrichtslosigkeit;  nur  eine  gewisse  Keckheit 
und  Fertigkeit  im  Aufträgen  der  grellen  Farben,  welche  ich 
durch  die  unablässige  Übung  erwarb,  verbunden  mit  der 


Lan'1  i  i  aft  von  Hem, er.  Jm  Besitze  von  Jacob  Bächtold  in  Zürich. 


■  igens  hat  Keller  später  die  Aquarelltechnik  wenig 
igt,  spricht  er  doch  in  der  Widmung  des  im  Be- 
1  rau  Dr.  Rodenberg  in  Berlin  befindlichen  Blattes 
„blöden  Aquarelle“.  Er  hat  sich  eben  nicht  so 
die  technische  Seite  der  Malerei  hinausgearbeitet, 


kühnen  Absicht  meiner  Unternehmungen  überhaupt,  unter¬ 
schied  mein  Treiben  einigermaßen  von  sonstigen  knaben- 

dass  ihm  diese  nur  noch  Ausdrucksmittel,  aber  nicht  mehr 
Problem  war. 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


5 


haften  Spielen  mit  Bleistift  und  Farbe  und  mochte  meinen 
vorläufigen  Ausspruch,  dass  ich  ein  Maler  werden  wolle, 
veranlassen.  Doch  wurde  jetzt  nicht  näher  darauf  einge¬ 
gangen,  sondern  bestimmt,  dass  ich  einige  Zeit  in  dem  länd¬ 
lichen  Pfarrhause  bei  dem  Bruder  der  Mutter  zubringen 
sollte,  um  über  die  nächsten  Monate  meines  Ungemaches 
auf  gute  Weise  hinwegzukommen,  indessen  eine  taugliche 
Zukunft  für  mich  ermittelt  würde.1) 

Im  Sommer  1834  hält  sich  Gottfried  bei  einem 
Oheim,  dem  praktischen  Arzt  J.  H.  Sclieuchzer  zu 
Glattfelden,  dem  Heimatsdorf  der  Eltern  Kellers,  auf. 
Dort  lebte  er  „in  einem  grünen  Wiesenthale,  das 
von  den  Krümmungen  eines  leuchtenden  kleinen 
Flusses  durchzogen  und  von  belaubten  Bergen  um¬ 
geben  war.“  Die  Landschaft  hat  daselbst  in  der 
That  außerordentlich  viel  Schönes  und  Anregendes.  In 
nächster  Nähe  fließt  der  grüne  Rhein  zwischen  Berg¬ 
lehnen  dahin,  an  denen  alte  Städtchen  und  Burgen 
stehen.  Dort  im  Hause  des  Oheims  erfolgte  die 
Entdeckung  einer  Rumpelkammer  und  ihrer  Schätze, 
unter  denen  sich  auch  eine  Mappe  mit  Zeichnungen 
eines  Sonderlings  von  Maler  befand: 

„Wir  durchblätterten  die  vergilbten  Papiere;  es  waren 
ein  Dutzend  Baumstudien  in  Kr-eide  und  Rotstift,  nicht  sehr 
körperlich  und  sicher  gezeichnet,  doch  von  einem  eifrigen 
dilettantischen  Streben  zeugend,  nebst  einigen  verblassten 
Farbenskizzen  und  einer  großen  in  Öl  gemalten  Eiche.  .  .  . 
Ich  betrachtete  die  Blätter  stumm  und  aufmerksam,  und  bat 
mir  die  Mappe  zur  freien  Verfügung  aus.  Sie  enthielt  über¬ 
dies  noch  eine  Anzahl  radirter  Landschaften,  einige  Water- 
loo’s,  einige  idyllische  Haine  von  Gessner  mit  sehr  hübschen 
Bäumen,  deren  Poesie  mich  frappirte  und  sogleich  einnahm, 
bis  ich  eine  Radirung  von  Reinhardt  entdeckte,  gelb  und 
beschmutzt,  knapp  am  Rande  beschnitten,  deren  Kraft, 
Schwung  und  Gesundheit  mächtig  zu  mir  sprach  und  aus 
dem  verzettelten  Stückchen  Papier  gewaltig  herausleuchtete.2) 

Zu  der  Mappe  und  ihren  Herrlichkeiten,  die  in 
dem  jugendlichen  Herzen  ein  freudiges  Gefühl  — 
so  etwas  von  jenem  „anch’  io  sono  pittore“  —  wach 
werden  lässt,  kommt  in  dem  prächtigen  Kapitel 
„Berufsahnungen“  der  Bericht  von  der  Auffindung 
des  Gessner’schen  Briefes  „über  die  Landschafts¬ 
malerei“,  weiter  die  Lektüre  der  „Theorie  der  schönen 
Künste“.  Das  alles  umnebelt  des  Jünglings  Kopf 
so,,  dass  er  den  Titel  „Maler“  als  etwas  Selbstver¬ 
ständliches,  Berechtigtes  hinnimmt.  Er  schwimmt  in 
einem  bodenlosen  Meer  von  unbestimmtem  Genie, 
Glückseligkeitsdusel,  und  kann  den  Moment  nicht 
erwarten,  wo  er  sich,  mit  Siegesgewissheit  im  Herzen, 
nur  hinzusetzen  braucht,  um  im  Fluge  zu  erwischen, 
was  ihm  einstweilen  in  ziemlich  unbestimmten  Um¬ 
rissen  vorschwebt.  Dass  es  etwas  Schönes,  Großes, 


1)  Der  grüne  Heinrich  I,  173. 

2)  Ebenda  S.  192. 


Famoses  sein  würde,  steht  außer  allem  Zweifel.  Wer 
hätte  nicht  ähnliches  empfunden,  der  einer  schein¬ 
bar  rosigen  Zukunft  entgegen  ging,  in  der  sich  die 
spanischen  Schlösser,  eines  höher  als  das  andere 
hintereinander  auf  bauten!  Das  kann  nur  schreiben, 
wer’s  mitgemacht  hat,  erfinden  lassen  sich  der¬ 
gleichen  Geschichten  nicht. 

Der  verhaltenen  Thatkraft  endlich  die  Zügel 
schiessen  zu  lassen,  findet  sich  nach  Tisch  Gelegenheit. 
Hinaus  rennt  der  Kunstjiinger,  dem  Walde  zu.  Alles 
am  Wege  liegende  däucht  ihm  für  den  großen  Mo¬ 
ment  zu  geringfügig.  Natürlich!  Große  Ideen  können 
nur  an  einem  großen  Thema  in  gehöriger  Weise 
losgelassen  werden.  Das  große  Thema  findet  sich 
nun  in  Gestalt  einer  Buche: 

....  „die  Sonnenstrahlen  spielten  durch  das  Laub  auf 
dem  Stamme,  beleuchteten  die  markigen  Züge  und  ließen  sie 
wieder  verschwinden ,  bald  lächelte  ein  grauer  Silberfleck, 
bald  eine  saftige  Moosstelle  aus  dem  Helldunkel,  bald 
schwankte  ein  aus  den  Wurzeln  sprossendes  Zweiglein  im 
Lichte,  ein  Reflex  ließ  auf  der  dunkelsten  Schattenseite  eine 
neue  mit  Flechten  bezogene  Linie  entdecken,  bis  alles  wie¬ 
der  verschwand  und  neuen  Erscheinungen  Raum  gab,  wäh¬ 
rend  der  Baum  in  seiner  Größe  immer  gleich  ruhig  dastand 
und  in  seinem  Innern  ein  geisterhaftes  Flüstern  vernehmen 
ließ.“  (Grüner  Heinrich  I,  201.) 

Herrlich,  das  zu  empfinden  und  die  Herrlich¬ 
keit  auch  künstlerisch  wieder  zu  geben!  Aber  da 
hapert’s  nun  freilich:  — 

„Hastig  und  blindlings  zeichnete  ich  weiter,  mich  selbst 
betrügend,  baute  Lage  auf  Lage,  mich  ängstlich  nur  an  die 
Partie  haltend,  welche  ich  gerade  zeichnete,  und  gänzlich 
unfähig,  sie  in  ein  Verhältnis  zum  Ganzen  zu  bringen,  ab¬ 
gesehen  von  der  Formlosigkeit  der  einzelnen  Striche.  Die 
Gestalt  auf  meinem  Papiere  wuchs  ins  Ungeheuerliche,  be¬ 
sonders  in  die  Breite  und  als  ich  an  die  Krone  kam,  fand 
ich  keinen  Raum  mehr  für  sie  und  musste  sie  breit  gezogen 
und  niedrig,  wie  die  Stirne  eines  Lumpen,  auf  den  unförm¬ 
lichen  Klumpen  zwingen,  dass  der  Rand  des  Bogens  dicht 
am  letzten  Blatte  stand,  während  der  Fuß  unten  im  Leeren 
baumelte.  Wie  ich  aufsah  und  endlich  das  Ganze  überflog, 
grinste  ein  lächerliches  Zerrbild  mich  an,  wie  ein  Zwerg 
aus  einem  Hohlspiegel;  die  lebendige  Buche  aber  strahlte 
noch  einen  Augenblick  in  noch  größerer  Majestät  als  vorher, 
wie  um  meine  Ohnmacht  zu  verspotten ;  dann  trat  die 
Abendsonne  hinter  den  Berg  und  mit  ihr  verschwand  der 
Baum  im  Schatten  seiner  Brüder.  Ich  sah  nichts  mehr  als 
eine  grüne  Wirrnis  und  das  Spottbild  auf  meinen  Knieen. 
Ich  zerriss  dasselbe,  und  so  hochmütig  und  anspruchsvoll 
ich  in  den  Wald  gekommen,  so  kleinlaut  und  gedemütigt 
war  ich  nun.  Ich  fühlte  mich  abgewiesen  und  hinaus¬ 
geworfen  aus  dem  Tempel  meiner  jugendlichen  Hoffnungen ; 
der  tröstende  Inhalt  des  Lebens,  den  ich  gefunden  zu  haben 
wähnte,  entschwand  meinem  inneren  Blicke  und  ich  kam 
mir  nun  vor,  wie  ein  wirklicher  Taugenichts,  mit  welchem 
wenig  anzufangen  sei.  Ich  brach  verzagt  und  weinerlich 
auf,  mit  gebrochenem  Mute  nach  einem  anderen  Gegen¬ 
stände  suchend,  welcher  sich  barmherziger  gegen  mich  er¬ 
wiese.  Allein  die  Natur,  mehr  und  mehr  sich  verdunkelnd 


6 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


und  verschmelzend,  ließ  mir  kein  Almosen  ab;  in  meiner 
Bedrängnis  that  sich  mir  das  Wort  kund  „aller  Anfang  ist 
schwer“,  und  damit  die  Einsicht,  dass  ich  ja  erst  jetzt  an¬ 
fange  und  diese  Mühsal  eben  den  Unterschied  von  dem  frü¬ 
heren  Spiel  werke  begründe.  Aber  die  Einsicht  stimmte  mich 
nur  trauriger,  da  mir  Mühseligkeit  und  saurer  Fleiß  bisher 
unbekannte  Dinge  gewesen  waren.“  (Grüner  Heinrich  I,  201.) 

Ein  Anderer  als  der,  der  wirklich  zum  Künstler 
den  ersten  gewaltigen  Anlauf  genommen  und  alsbald 
die  eigene  Ohnmacht  empfunden  hat  (das  ist  der 
Unterschied  vom  Dilettanten,  der  nie  moralischen 
Katzenjammer  über  seine  Werke  bekommt),  kann 
solch  eine  Schilderung  überhaupt  gar  nicht  schreiben, 
weil  sie  zu  sehr  vom  individuellen  Empfinden  ab¬ 
hängig  ist.  Wie  Keller  sie  giebt,  ist  sie  unver¬ 
gleichlich  zutreffend.  Und  nun  nachher  die  junge 
Esche,  die  aufs  Papier  zu  bringen  leichter  scheint, 
die  abermalige  Enttäuschung  und  endliche  Erlösung: 

„Das  Bäumchen  hatte  einen  schwanken  Stamm  von  nur 
zwei  Zoll  Dicke  und  trug  oben  eine  zierliche  Laubkrone, 
deren  regelmäßig  gereihte  Blätter  zu  zählen  waren  und  sich, 
sowie  der  Stamm,  einfach,  deutlich  und  anmutig  auf  das 
klare  Gold  dos  Abendhimmels  zeichneten.  Weil  das  Licht 
hinter  der  Pflanze  war,  sah  man  nur  den  scharfen  Umriss 
des  Schattenbildes;  es  schien  wie  absichtlich  zur  Übung 
eines  Schülers  hingestellt. 

Ich  setzte  mich  noch  einmal  hin  und  wollte  flugs  das 
kindliche  Stämmchen  mit  zwei  parallelen  Linien  auf  mein 
Papier  stehlen;  aber  noch  einmal  wurde  ich  gehöhnt,  indem 
der  einfache,  grünende  Stab  im  selben  Augenblicke,  wo  ich 
ihn  zu  zeichnen  und  genauer  anzusehen  begann,  eine  un¬ 
endliche  Feinheit  der  Bewegung  annahm.  Die  beiden  auf- 
-trebenden  Linien  schmiegten  sich  in  allen  kaum  merk¬ 
lichen  Biegungen  so  streng  aneinander,  sie  verjüngten  sich 
nach  oben  so  fein  und  die  jungen  Aste  gingen  endlich  in 
-o  gemessenen  Winkeln  daraus  hervor,  dass  um  kein  Haar 
abgi-wichen  werden  durfte,  wenn  das  Bäumchen  seine  schöne 
Uestalt  behalten  sollte.1)  Doch  nahm  ich  mich  zusammen 
und  klammerte  mich  ängstlich  und  aufmerksam  an  jede 
Bewegung  meines  Vorbildes,  woraus  endlich  nicht  eine 
sichere  und  elegante  Skizze,  sondern  ein  zaghaftes,  aber 
ziemlich  treues  Gebilde  hervorging.  Ich  fügte,  einmal  im 
Zur'1' ,  mit  Andacht  die  nächsten  Gräser  und  Würzelchen 
de  Bodens  hinzu  und  sah  nun  auf  meinem  Blatte  eines 
jener  frommen  na/.areni  sehen  Stengelbäumchen,  welche  auf 
den  Bildern  der  alten  Kirchenmaler  und  ihrer  heutigen 
K.  O  men  den  Horizont  so  anmutig  und  naiv  durchschneiden. 
Ich  war  zufrieden  mit  meiner  bescheidenen  Arbeit  und  be- 
tr.c  htete  sie  noch  lange  abwechselnd  mit  der  schlanken 
E -'die,  die  -ich  im  leisen  Abendhauche  wiegte  und  mir  wie 
ein  freundlicher  Himmelsbote  erschien.  Als  ob  ich  wunder 
was  verrichtet  hätte,  zog  ich  hochvergnügt  dem  Dorfe  zu, 
wo  meine  Verwandten  begierig  waren,  die  Früchte  meiner 
mit  -o  viel  Anspruch  unternommenen  Waldfahrt  zu  sehen. 
Nachdem  ich  aber  mein  Bäumlein  mit  seinen  höchstens  vier 

1  Die-“  Erkenntnis  vom  Werte  der  individuellen  Er¬ 
scheinung  muss  urn  so  mehr  frappiren,  als  sie  durchaus 
nicht  im  Zuge  der  gleichzeitigen  deutschen  Landschafts- 
mah  rei  lag.  Wie  diese  sich  zur  französischen  jener  Tage 
verhielt,  siehe  später. 


Dutzend  Blättern  hervorgezogen,  löste  sich  die  Erwartung 
in  ein  allgemeines  Lächeln  auf,  welches  bei  den  Unbefan¬ 
gensten  zum  Gelächter  wurde;  nur  dem  Oheim  gefiel  es, 
dass  man  doch  gleich  ein  junges  Eschchen  erkannte,  und 
er  munterte  mich  auf,  unverdrossen  fortzufahren  und  die 
Waldbäume  recht  zu  studiren,  wozu  er  mir  als  Forstmann 
behilflich  sein  wolle.“ 

Die  Stimmung  des  werdenden  Malers  ist  un¬ 
übertrefflich  geschildert.  Ich  glaube  fast,  dass  es 
eines  Malers  bedurfte,  um  das  schreiben  zu  können! 
Und  dann  die  Sucht,  auch  äußerlich  originell  zu  er¬ 
scheinen  in  dem  Kapitel  „Sonntags-Idylle“!  Mir 
fiel  unwillkürlich  dabei  ein  Akademie-Genosse  der 
eigenen  Erinnerung  ein,  der  allen  Ernstes  eines 
Tages  den  Lehrer  unserer  Naturklasse  —  es  war 
der  verstorbene  Ferdinand  Barth  —  frug,  ob  dieser 
nichts  gegen  das  Tragen  eines  altdeutschen  Wamses 
und  Baretts  einzuwenden  habe  —  worauf  Barth 
lächelnd  erwiderte:  „Von  mir  aus  malen’s  Ihnen  a 

Gsicht  aufn . und  laufens  nacket  rum.“  — 

Und  noch  einer  fiel  mir  ein,  der  schnitt  sich  den 
Rand  des  Hutes  möglichst  kurz  ab  und  steckte  eine 
irdene  Pfeife,  ein  paar  Federn  und  einen  Wach¬ 
holderzweig  darauf,  rauchte  auch  kurze  Gypspfeifen, 
trotzdem  es  ihm  schlecht  bekam,  alles  zu  Ehren  von 
Brouwer  oder  Adrian  van  Ostade!  Solcher  Gesellen 
laufen  viele  herum  und  wenn  man  ein  Buch  über 
die  unfreiwilligen  Hanswurste  schreiben  wollte,  so 
lieferte  die  sogenannte  Künstlerwelt  dazu  nicht  das 
kleinste  Kontingent.  —  Doch  zurück  zn  Keller,  zum 
grünen  Heinrich,  dem  im  Gespräch  mit  dem  Schul¬ 
meister  über  Malerei  der  Kamm  wieder  gewaltig  an¬ 
schwillt.  Es  ist  köstlich,  wie  er  den  Mann  über  das 
Wesen  der  Landschaftsmalerei  unterrichtet.  In  den 
Worten  liegt  ein  ganzes  Programm,  ein  Protest 
gegen  jene  Malerei,  die  es  mehr  mit  dem  Gegen¬ 
ständlichen  als  mit  dem  künstlerischen  Wesen  der 
Sache  zu  thun  hat.  Obschon  das  Gesagte  einer 
späteren  Lehensperiode  Kellers  angehört  (seit  1851), 
stimmt  es  doch  überein  mit  dem,  was  aus  seiner 
Malerperiode  erhalten  ist.  Es  finden  sich  unter 
diesem  Material  nirgends  Abbildungen  berühmter 
Stätten,  deren  Name  dem  Beschauer  oft  mehr  sagen 
muss  als  das  sie  darstellende  Bild: 

„Sie  (die  Landschaftsmalerei)  besteht  nicht  darin,  dass 
man  merkwürdige  und  berühmte  Orte  aufsucht  und  nach¬ 
macht,  sondern  darin,  dass  man  die  stille  Herrlichkeit  und 
Schönheit  der  Natur  betrachtet  und  abzubilden  sucht,  manch¬ 
mal  eine  ganze  Aussicht,  wie  diesen  See  mit  den  Wäldern 
und  Bergen,  manchmal  einen  einzigen  Baum,  ja  nur  ein 
Stücklein  Wasser  und  Himmel.“2) 


1)  Grüner  Heinrich  S.  203. 

2)  Grüner  Heinrich  I,  S.  214. 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER, 


7 


Und  dann  verfällt  er  dem  unbefangenen  Lehrer 
gegenüber  in  einen  beinah  renommistischen  Ton. 

- „Ja  gewiss!  Ich  hoffe  noch,  Euch  diesen  See  nait 

seinem  dunklen  Ufer,  mit  dieser  Abendsonne  so  zu  malen, 
dass  Ihr  mit  Vergnügen  diesen  Nachmittag  darin  erkennen 
sollt  und  selbst  sagen  müsst,  es  sei  weiter  hierzu  nichts 
nötig,  um  bedeutend  zu  sein,  d.  h.  wenn  ich  ein  Maler  wer¬ 
den  kann  und  etwas  Rechtes  lerne!“ 

Freilich,  diesem  Vorhaben  standen  Bedenken 
und  Vorurteile  lästig  entgegen.  Die  Schweiz  ist 
nicht  reich  an  Werken  der  bildenden  Kunst,  Zürich 
auch  in  neuerer  Zeit  keine  Stadt  geworden,  in 
der  die  bildende  Kunst  eine  eigentliche 
Heimstätte  hat  finden  können.  Ludwig 
Vogel,  Ulrich,  Rudolf  Koller  sind  verein¬ 
zelt  dastehende  Erscheinungen.  Arnold 
Böcklin  ist  nach  kurzer  Sesshaftigkeit  von 
Zürich  wieder  weggegangen.  Der  ganze 
Zug  des  Lebens  ist  auf  wesentlich  andere 
Dinge  als  auf  künstlerische  gerichtet,  die 
Zahl  der  wirklichen  Kunstfreunde  ver¬ 
schwindend  klein.  Die  Anschauung,  dass 
geregeltes  Einkommen  erst  den  wahren 
Mann  bezeichne,  macht  sich  in  hervor¬ 
tretender  Weise  geltend.  „Die  Bedeuten¬ 
den  unter  unseren  Schweizer  Künstlern, 
klagt  Keller  !),  leben  meistens  in  einer  Art 
freiwilliger  Verbannung;  entweder  entsagen 
sie  der  Heimat  und  verbringen  das  Leben 
dort,  wo  Sitten  und  Reichtümer  der  Gesell¬ 
schaft,  sowie  Einrichtungen  und  Bedürfnisse 
des  Staates  die  Träger  der  Kunst  zu  Brot 
und  Ehren  gelangen  lassen,  oder  sie  ent¬ 
sagen,  gewöhnlich  in  zuversichtlichen  Ju¬ 
gendjahren,  diesen  Vorteilen  und  bleiben 
in  der  Heimat,  wo  ein  warmes  Vaterhaus, 
ein  ererbter  oder  erworbener  Sitz  in  schöner 
Lage,  Freunde,  Mitbürger  und  Lebensge¬ 
wohnheit  sie  festhalten.  Gelingt  es  auch 
dem  einen  und  anderen,  seine  Werke  und  seinen 
Namen  in  weiteren  Kreisen  zur  Geltung  zu  brin¬ 
gen  und  sich  zu  entwickeln,  vermisst  er  auch 
weniger  den  großen  Markt  und  die  materielle  För¬ 
derung,  so  ist  es  doch  bei  den  besten  dieser  Heim- 
sitzer  nicht  leicht  auszurechnen,  wieviel  sie  durch  die 
künstlerische  Einsamkeit,  den  Mangel  einer  zahl¬ 
reichen,  ebenbürtigen  Kunstgenossenschaft  ent¬ 
behren.  Alle  Liebhaber,  Dilettanten,  Schreibekri¬ 
tiker  regen  weder  an,  noch  ist  etwas  von  ihnen  zu 
lernen;  man  kennt  uns  ja  insgesamt  daran,  dass 


wir  vor  allem  Neuentstehenden  uns  entweder  mit 
alten  Gemeinplätzen  behelfen  oder  uns  erst  besinnen 
und  suchen  müssen,  was  wir  etwa  sagen  können, 
um  nur  etwas  zu  sagen.  Der  wirkliche  Kunst¬ 
genosse  dagegen  weiss  auf  den  ersten  Blick,  was  er 
sieht,  und  beim  Austausche  der  Urteile  und  Er¬ 
fahrungen  verständigt  man  sich  mit  wenig  Worten“. 

Was  Zürich,  die  elegante  Stadt  von  nahezu 
hunderttausend  Einwohnern  und  ihr  Verhältnis  zu 
den  bildenden  Künsten  betrifft,  so  braucht  wohl  nur 
das  eine  Faktum  erwähnt  zu  werden,  dass  sich  da¬ 
selbst  bis  zur  Stunde  kein  richtiger  Raum, 
geschweige  denn  ein  Gebäude,  findet,  wo 
Bilder  unter  annehmbaren  Bedingungen 
ausgestellt  werden  können;  das  sogenannte 
„Künstler- Gütli“  kann  kaum  in  Betracht  ge¬ 
zogen  werden. 

In  Kellers  Jugendjahren  nun  war  in 
künstlerischer  Beziehung,  wenn  auch  hin 
und  wieder  Kunstausstellungen  in  Zürich 
stattfanden,  nicht  viel  Anregung  aus  dem 
am  Platze  selbst  Gebotenen  zu  holen. 
Natürlich  macht  gleichwohl  der  erste  Ein¬ 
druck  solcher  Art  die  stärkste  Wirkung 
auf  seine  Seele.  Der  erste  Moment  war 
ihm  ganz  traumhaft;  erst  weiß  er  gar  nicht, 
wohin  er  sich  wenden  soll,  und  endlich 
steht  er  festgebannt  vor  einem  Werke  und 
kommt  nicht  mehr  weg.  Besonders  einige 
große  Landschaften  prägen  sich  mächtig 
ein  (wahrscheinlich  Bilder  von  Diday  und 
Calame),  zu  denen  er  immer  wieder  zurück¬ 
kehrt. 

Die  Sache  stimmt  ihn  nachdenklich. 
Er  beklagt  es  zu  Hause  laut,  dass  er  aufs 
Malen  verzichten  müsse.  Wie  zu  dieser  Ab¬ 
sicht  die  Aussichten  standen,  geht  aus  einem 
Briefe  seiner  Mutter  hervor,  die  im  August 
1834  nach  Glattfeld en  schrieb: 

„Bei  Junker  Meiss  bin  ich  freilich  gewesen,  aber 
wie  er  mir  früher  gesagt,  die  Malerei  sei  nichts. 
Kupferstechen  wäre  ja  besser.  Er  wies  mich  an 
einen  sehr  ordentlichen,  geschickten  Mann  .  .  .  . 
Allein,  wie  man  sagt,  soll  diese  Kunst  sehr  kost¬ 
spielig  sein,  und  sich  bis  auf  1000  Gulden  belaufen, 
bis  einer  als  geschickter  Künstler  agieren  kann, 
weil  nicht  bloß  die  Lehr-  sondern  auch  die  Fremde¬ 
zeit  muss  bezahlt  werden,  und  wenn’s  so  wäre,  so 
weisst  du  wohl,  dass  unsere  Finanzen  nicht  hin¬ 
reichend  sind.  —  —  Willst  du  auf  deiner  Malerei 
bleiben,  so  findet  sich  in  ganz  Zürich  ein  einziger  — 


Bleistiftzeichnung 
von  G.  Keller. 


Ij  Nachgelassene  Schriften  S.  227. 


s 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER, 


wo  man  sagen  kann  —  geschickter  Maler  und  dies 
ist  der  Wezel,  welcher  aber  keinen  Lehrjungen  an¬ 
nimmt,  Die  andern  sind  Koloristen.“ 

Noch  im  selben  Herbste  1834  findet  sich  end¬ 
lich  ein  Lehrer,  im  Roman  Habersaat,  im  wirklichen 
Leben  Peter  Steiger  genannt.  Der  war  freilich  alles 
andere  eher,  als  der  Mann,  der  einem  jungen  An¬ 
fänger  die  rechten  Wege  weisen  konnte.  Er  war 
Maler,  Kupferstecher,  Lithograph  und  Drucker  in 
einer  Person;  dazu  machte  er  sonst  noch,  was  ihm 
unter  die  Finger  kam:  Taufscheine  mit  Taufstein 


genossen,  was  ihrem  Wesen  völlig  zuwiderlief.  Frei¬ 
lich  besaßen  sie  im  rechten  Moment  die  nötige  Kraft, 
um  dasselbe  abzuschütteln  und  mit  aller  Energie  ihre 
eigenen  Wege  einzuschlagen.  Bei  Keller  war  das 
nicht  der  Fall;  die  künstlerische  Potenz  in  ihm 
hatte  nichts  Gewaltsames  und  die  nötige  Kraft  zur 
Selbstbefreiung  fehlte  ihm  auf  diesem  Gebiete.  Da¬ 
für  äußerte  sie  sich  um  so  stärker  auf  anderen. 

Er  selbst  sagt,  dass  sich  durch  das  viele  Nach- 
ahmen  fremder  Vorbilder  keineswegs  ein  Plattwerden 
der  eigenen  Anschauung  fühlbar  gemacht,  dass  es 


Am  Wolfbach.  Aquarellbild  von  G.  Keller.  Im  Besitze  von 
Frau  Professor  Frisch  in  Wien. 


"iid  lifiviittcrslcuten,  Grabschriften  mit  Trauerweiden 
und  weinenden  Genien  u.  s.  w.  Dieser  „Meister“  han¬ 
delte  mit  kolorirten  Schweizer  Ansichten  und  ließ 
den  Schüler  ohne  Auswahl  dies  und  jenes  kopiren. 
Er  that,  was  noch  heute  den  Zeichenunterricht  der 
meisten  Schulen  zum  durchaus  unnützen  Dinge 
macht,  und  den  Lehrern  zumeist  recht  bequem  ist. 

Man  ist  nun  leicht  geneigt,  das  spätere  Fehl¬ 
schlagen  ihr  Künstlerlaufbahn  Kellers  diesem  Un¬ 
ding  von  Unterricht  der  Hauptsache  nach  zuzu¬ 
schreiben.  Allerdings  tragen  solche  Umstände  mit 
Schuld  daran,  indessen  nicht  die  alleinige,  denn  die  be¬ 
deutendsten  Künstler  haben  zuweilen  als  Unterricht 


vielmehr  den  „Grund  edlerer  Anschauung“  gebildet 
habe,  dem  übrigen  Treiben  ein  wohlthätiges  Gegen¬ 
gewicht  gewesen  sei. 

„Auf  der  anderen  Seite  aber  heftete  sich  an  die  Errun¬ 
genschaft  sogleich  wieder  ein  Nachteil,  indem  sich  die  alte 
voreilige  Erfindungslust  regte  und  ich,  durch  die  einfache 
Größe  der  klassischen  Gegenstände  verführt,  zu  Hause  an¬ 
fing,  selber  dergleichen  Landschaftsbilder  zu  entwerfen.“ 
Das  ist  sehr  natürlich.  Bei  sehr  vielen  Künst¬ 
lern  heisst  noch  heute  „Komponiren“  das,  was  des 
Wortes  eigentliche  Bedeutung  ist:  „Zusammen¬ 
setzen“  —  nicht  etwa  „Erfinden“.  —  Habersaat 
unterstützt  dies  Treiben  mit  allerlei  Schlagworten 
und  spricht  von  Kartons,  von  Ölbildern,  Studienreise 


Besitze  des  Herrn  Welti  in  München. 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


9 


nach  Rom  u.  s.  w.,  kurz,  das  verkehrteste  Zeug  wird 
zur  Gewohnheit.  Und  wieder  erwacht  der  Trieb, 
das  Gewonnene  vor  der  Natur  zu  verwerten: 

„Ich  selbst  ging  nicht  mehr  mit  der  unverschämten, 
aber  gut  gemeinten  Zutraulichkeit  des  letzten  Sommers  vor 
die  runden,  körperlichen  und  sonnenbeleuchteten  Gegen¬ 
stände  der  Natur,  sondern  mit  einer  weit  gefährlicheren 
und  selbstgefälligen  Bornirtheit.  Denn  was  mir  nicht  klar 
war  oder  zu  schwierig  erschien,  das  warf  ich,  mich  selbst 
betrügend,  durcheinander  und  verhüllte  es  mit  meiner  un¬ 
seligen  Pinselgewandtheit,  da  ich,  anstatt  bescheiden  mit 
dem  Stifte  anzufangen,  sogleich  mit  den  angewöhnten  Tusch¬ 
schalen,  Wasserglas  und  Pinsel  hinausging  und  bestrebt 
war,  ganze  Blätter  in  allen  vier  Ecken  bildartig  auszufüllen.“ 

Das  ist  ganz  außerordentlich  bezeichnend.  Manch 
ein  Künstler,  der  diese  Zeilen  mit  dem  richtigen 
Verständnisse  liest,  wird  darin  die  Charakteristik 
einer  großen,  großen  Quote  jener  „Ungefähr-Maler“, 
vielleicht  auch  ein  trefflich  gezeichnetes  Selbst¬ 
porträt  finden.  Das  Bekenntnis  ist  zu  trefflich,  als 
dass  es  nicht  ganz  gegeben  sein  sollte.  Keller  fährt 
fort:  „Ich  ergriff  entweder  ganze  Aussichten  mit 
See  und  Gebirgen,  oder  ging  im  Walde  den  Berg¬ 
bächen  nach,  wo  ich  eine  Menge  kleiner  und  hübscher 
Wasserfälle  fand,  welche  sich  ansehnlich  zwischen 
vier  Striche  einrahmen  ließen.  Das  lebendige  und 
zarte  Spiel  des  Wassers  im  Fallen,  Schäumen  und 
eiligen  Weiterfließen,  seine  Durchsichtigkeit  und 
tausendfältige  Widerspiegelung  ergötze  mich,  aber 
ich  bannte  es  in  die  plumpen  Formen  meiner  Vir¬ 
tuosität,  dass  Leben  und  Glanz  verloren  gingen, 
während  meine  Mittel  nicht  hinreichten,  das  beweg¬ 
liche  Wesen  wiederzugeben.  Leichter  hätte  ich  die 
mannigfaltigen  Steine  und  Felstrümmer  der  Bäche, 
in  reicher  Unordnung  übereinander  geworfen,  be¬ 
herrschen  können,  wenn  nicht  mein  künstlerisches 
Gewissen  verdunkelt  gewesen  wäre.  Wohl  regte  sich 
dieses  oft  mahnend,  wenn  ich  perspektivische  Fein¬ 
heiten  und  Verkürzungen  der  Steine,  trotzdem  dass 
ich  sie  sah  und  fühlte  (!),  überging  und  verpudelte, 
statt  den  bedeutenden  Formen  nach  zu  gehen,  mit 
der  Selbstentschuldigung,  dass  es  auf  diese  oder  jene 
Fläche  nicht  ankomme  und  die  zufällige  Natur  ja 
auch  so  aussehen  konnte,  wie  ich  sie  darstellte; 
allein  die  ganze  Weise  meines  Arbeitens  liess  solche 
Gewissensbisse  nicht  zur  Geltung  kommen,  und  der 
Meister,  wenn  ich  ihm  meine  Machwerke  vorzeigte, 
war  nicht  darauf  eingerichtet,  der  fehlenden  Natur¬ 
wahrheit  nachzuspüren,  die  sich  gerade  in  den  ver¬ 
nachlässigten  Zügen  hätte  zeigen  sollen;  sondern  er 
beurteilte  die  Sachen  immer  von  seiner  Stubenkunst 
aus.“ 

Wahrer  ist  über  solche  Dinge  nie  geschrieben 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  1. 


worden.  Wollte  man  sich  die  Mühe  nehmen  und 
all  das,  was  der  grüne  Heinrich  an  Wahrheiten  in 
Bezug  auf  künstlerisches  Werden  enthält,  zusammen¬ 
stellen,  so  bekäme  man  ein  Resume,  das  jeden  dok¬ 
trinären  Standpunkt  in  den  Schatten  stellen  müsste 
und  vielleicht  manchem,  der  an  maßgebender  Stelle 
sitzt,  die  Augen  darüber  Öffnete,  was  künstlerische 
Erziehung  heißen  will.  Die  einschlägigen  Stellen 
enthalten  Dinge,  die  wie  Worte  aus  dem  Evangelium 
klingen  und  Zeile  für  Zeile,  Wort  für  Wort  studiert, 
nicht  bloss  gelesen  zu  werden  verdienen.  Dass  all- 
mählige  Verbohren  in  allerlei  tolles  Zeug  ist  da  so 
charakterisirt,  dass  jeder  Pädagoge,  heiße  er  Vater, 
Lehrer  oder  Unterrichtsminister,  nur  Erwägungen 
bester  Art  daraus  ziehen  könnte.  Es  muss  ja  Tau¬ 
senden  wie  Selbsterlebtes  klingen ,  was  Keller  am 
Schlüsse  dieses  Abschnittes1)  sagt:  „Doch  bemerkte 
er  (Habersaat)  nicht  viel  hierüber,  sondern  liess  mich 
meine  Wege  gehen,  da  ihm  einerseits  das  frische 
Gemüt  mangelte,  um  den  Ränken  meines  Treibens 
nachzuspüren  und  mich  darüber  zu  ertappen,  und 
andererseits  die  Überlegenheit  des  eigenen  Wissens. 
Diese  beiden  Vermögen  bilden  ja  das  Geheimnis 
aller  Erziehung:  unverwischte,  lebendige  Jugendlich¬ 
keit,  welche  allein  die  Jugend  kennt  und  durch¬ 
dringt,  und  die  sichere  Überlegenheit  der  Person  in 
allen  Fällen.  Eines  kann  oft  das  andere  zur  Not¬ 
durft  ersetzen ;  wo  aber  beide  fehlen ,  da  ist  die 
Jugend  eine  verschlossene  Muschel  in  der  Hand  des 
Lehrers,  die  er  nur  durch  Zertrümmerung  öffnen 
kann.  Beide  Eigenschaften  gehen  aber  nur  aus 
einem  und  demselben  letzten  Grunde  hervor:  aus 
unbedingter  Ehrlichkeit,  Reinheit  und  Unbefangen¬ 
heit  des  Bewusstseins.“ 

Wie  stellt  sich  zu  dieser  Anschauung  jene  Art 
von  Gunstbezeigungen,  die  als  Kernpunkt  die  Ver¬ 
leihung  einer  lehramtlichen  Sinecure  in  sich  scliliessen ! 
Man  begegnet  ihnen  auf  Schritt  und  Tritt. 

Endlich  wird  dem  Jüngling  die  Sache  zu  wider¬ 
wärtig.  Er  schlägt  das  Anerbieten  Habersaats,  für 
Bezahlung  bei  ihm  zu  arbeiten,  aus  und  beginnt  auf 
eigene  Faust  in  der  Dachkammer  zu  arbeiten.  Sie 
wird  durch  Herbeischleppung  allen  möglichen  Krames 
zum  „Atelier“  gestempelt,  eine  ausgezeichnete  Satire 
auf  jene  Maler  Werkstätten,  die  oft  mehr  ihrer  Kurio¬ 
sitäten  als  des  darin  Geschaffenen  halber  ein  Inter¬ 
esse  bieten.  Sie  existiren  noch  heute  zu  hunderten, 
bei  Künstlern  und  Nichtkünstlern. 

Das  Jahr  1837  brachte  die  Bekanntschaft  eines 


1)  Ebene!.  280. 


2 


10 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


anderen  Künstlers,  Rudolf  Meyer  von  Regensdorf, 
im  grünen  Heinrich  „der  Römer“  genannt. 

Inwieweit  dieser  in  früheren  Jahren  als  Künstler 
Bedeutsames  geschaffen,  ist  unbekannt.  Was  vor¬ 
handen,  sind  „nette“  Landschäftchen,  oder  wie  man 
sich  in  Zürich  ausdrücken  würde,  „artige“  Malereien, 
weiter  einzelne  Blumenstudien,  Schnecken,  Blind¬ 
schleichen  und  dergleichen,  an  denen  die  Geduld  be¬ 
wundernswerter  ist  denn  die  Kunst.  Meyer  riet 
unserem  Keller  an,  ernsthaft  nach  der  Natur  zu 
zeichnen,  wie  er  es  selbst  übte.  Er  war  darin  eine 
wesentlich  andere  Erscheinung  als  der  Allerwelts¬ 
künstler  Habersaat.  In  der  That  weist  u.  a.  eines 
der  Blätter  der  Züricher  Stadtbibliothek  ein  Motiv 
„An  der  Sihl“  auf,  dem  man  ohne  weiteres  ansieht, 
dass  es  ein  Versuch  nach  der  Natur  und  keine  jener 
Erfindungen  „vor  der  Natur“  sei,  wie  Keller  sie  in 
der  Habersaat’schen  Zeit  in  Hülle  und  Fülle  schuf. 
Ehrlich  gewollte,  wenn  auch  ängstlich  ausgeführte 
Arbeiten  nach  der  Natur  fallen  ja  immer  und 
in  erkennbarer  Weise  auf  gegenüber  von  Kopien 
oder  Phautasiestücken.  Oft  liegt  in  der  scheinbaren 
Ungeschicklichkeit  weit  mehr,  weil  sie  ehrlich  ist,  als 
in  der  Routine  des  Kopisten  oder  in  der  mit  einem 
glänzenden  Mäntelchen  versehenen  Unkenntnis  der 
Formen,  die  an  mehr  als  einem  der  modernen  Ga- 
leriebilder  das  auffälligste  Moment  bildet.  —  An  Keller’- 
sclien  Copien  nach  Meyer’schen  Originalen  ist  ver¬ 
seil  iedenes  vorhanden,  doch  ist  es  bedeutungslos. 

Dagegen  giebt  ein  vom  August  1837  datirtes 
Blatt  „Am  Wolfbach“,  im  Besitze  von  Frau  Prof. 
M.  F  risch  in  Wien,  eine  gute  Idee  davon,  dass  Keller 
anfing,  vollständig  die  richtigen  Wege  einzuschlagen. 
Wohl  spricht  er  von  Steinen  und  kleinen  Wasser¬ 
fallen,  die  er  unter  Habersaat  nach  der  Natur  ge¬ 
malt,  wobei  er  eine  „freche“  Technik  in  Anwendung 
brachte.  Frech  ist  nun  das  Wolfbachbild  gar  nicht, 
vielmehr  sieht  man  bei  Fels,  Moos,  Wasser  und 
Bäumen  die  Mühe,  die  darauf  verwendet  wurde,  sehr 
deutlich.  Bei  den  Bäumen  ist  dem  Künstler  der 
Atem  ein  wenig  ausgegangen,  —  das  giebt  Keller  in 
einem  Briefe  an  die  jetzige  Besitzerin  selbst  zu. 
Ind«  -,s  liegt  in  der  ganzen  Geschichte  Auffassung, 
Sinn  für  malerische  Wirkung.  Es  ist  ein  heimeliger 
Wald  winkel  ohne  große  dekorative  Versatzstücke, 
ein  einfach  liebreich  behandelt  Fleckchen  grüner 
Natur,  ohne  Charlatanerie  wiedergegeben,  ein  Argu¬ 
ment  für  den  intimen  Sinn  der  Natur  gegenüber, 
ferne  von  jeder  gewollt  bombastischen  Wirkung. 
Von  dem ,  was  man  sonst  an  einem  Bilde  bezüg¬ 
lich  Ton  u.  s.  w.  verlangt,  ist  nicht  viel  zu  sagen. 


Das  wussten  damals  weit  berühmtere  Landschafter 
nicht,  außer  den  jenen  im  Walde  zu  Fontainebleau 
und  ihren  Genossen.  Aber  wer  hätte  in  Zürich  et¬ 
was  davon  wissen  sollen,  wo  man  gewiss  Pauken 
und  Trompeten  spielen  ließ,  wenn  etwa  eins  oder 
das  andere  der  Bilder,  die  der  Pariser  Künstler¬ 
witz  schon  damals  als  „Calamites“  (von  Calame)  be- 
zeichnete,  auf  den  Ausstellungen  zu  sehen  war.  —  Das 
Blatt  ist  in  einfacher  Aquarelltechnik  ohne  Zuhilfe¬ 
nahme  von  Deckfarben  ausgeführt,  die  Lichter  im 
Wasser  mit  dem  Messer  herausgekratzt. 

Eine  in  der  Sammlung  zu  Zürich  befindliche 
Baumstudie  (Weide)  ferner  zeigt  deutlich,  dass  es 
Keller  nicht  am  nötigen  Fleiße  zur  Arbeit  gebrach, 
andererseits  ihm  aber  niemand,  auch  Meyer  nicht, 
nur  annähernd  einen  Begriff  davon  beigebracht  hat, 
dass  ein  Baum  in  seiner  malerischen  Erscheinung 
etwas  anderes  ist  als  eine  Unmasse  einzelner  Blätter, 
die,  wenn  auch  mit  Mühe  und  Sorgfalt  auf  dem 
Papier  nebeneinander  gesetzt,  noch  lange  nicht  das 
Wesentliche  des  Gesamtwesens  geben.  Es  ist  eben 
„Baumschlag“  in  des  Wortes  schulmeisterlichster 
Bedeutung.  Wo  es  sich  um  allgemein  umrissene 
Züge  einer  landschaftlichen  Erscheinung  handelt,  ist 
Keller  viel  freier.  Das  zeigt  die  in  Federmanier  wie- 
dergeff ebene  Dorfansicht,  welche  das  Wesen  freier 
Auffassung,  frischen  Arbeitens,  das  nicht  vom  Materiale 
abhängt,  in  sich  trägt.  Das  gleiche  kann  gesagt 
werden  von  einer  Bleistiftskizze,  datirt  1834,  welche 
das  Haus  des  Oheims  in  Glattfelden  giebt.  Wo  aber 
Wirklichkeit  und  Komposition  miteinander  in  Ver¬ 
bindung  treten,  wie  bei  dem  Blatt  (Kat.-Nr.  20  der 
Züricher  Stadtbibliothek)  „Katz  und  Wasserturm“, 
da  tritt  die  Unbehilflichkeit  am  stärksten  zu  Tage 
in  der  linkisch  behandelten  Raumeinfassung,  die  der 
Autor  seiner  nach  der  Natur  gezeichneten  Skizze 
geben  zu  müssen  glaubte,  um  eine  bildmäßige  Wir¬ 
kung  zu  erzielen.  —  In  einem  der  Tagebücher  findet 
sich  auch  ein  „sauberes“  Aquarell  eingelegt,  das 
einen  beschneiten  Kirchhof  zeigt.  Rechts  in  der 
Ecke  steht  ein  schwarzes  Holzkreuz  mit  dürrem 
Kranze,  den  Hintergrund  bildet  die  Kirche,  umgeben 
von  blattlosen  Bäumen ,  weiter  rückwärts  schließen 
Berge  das  Ganze  ab.  Im  Tagebuch  steht  dabei  die 
kurze  Eintragung:  „Heute  starb  sie.“  14.  Mai  1838. 
Es  handelt  sich  dabei  um  seine  Jugendliebe,  Anna, 
die  in  Richterswyl  begraben  liegt.  Das  Blatt  hat 
in  seiner  ganzen  Art  etwas  sorgsam  Dilettantenhaftes. 
Es  ist,  wie  man  zu  sagen  pflegt  „verquält“  und  mag 
tiefem  Schmerzgefühl  entsprungen  sein,  das  in  der 
detaillirten  Art,  womit  dies  Gedenkblatt  ausgeführt 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


11 


ist,  seinen  intimsten  Ausdruck,  man  möchte  sagen 
eine  Art  von  Schmerz  -Genugthuung  suchte.  Vom 
29.  Mai  des  gleichen  Jahres  datirt  das  Gedicht  „Das 
Grab  am  Zürichsee“,  das  den  Dichter  Keller  in  einem 
ganz  anderen  Lichte  zeigt,  als  er  sich  iu  dem  vor¬ 
handenen  einschlägigen  Materiale  als  Maler  darstellt. 

An  Vordergrundstudien  ist  aus  dieser  Zeit  eben¬ 
falls  verschiedenes  erhalten.  Auch  diesen  Blättern 
haftet  die  ängstliche  Mache  in  jeder  Beziehung  an. 
Keller  war  nicht  genügend  in  das  Wesen  der  Form 
eingedrungen,  um  daraus  z.  B.  die  einfachsten  Schlüsse 
über  Beleuchtung  ziehen  zu  können.  Letztere  ist 
ja  einzig  und  allein  das,  was  jegliche  Darstellung 
plastisch  zu  machen  vermag.  Je  einfacher  die  dabei 
aufgewendeten  Mittel  —  welcher  Art  sie  seien,  ist 
ganz  gleichgültig  — ,  desto  sicherer  die  Erreichung 
des  Zieles.  Es  giebt  für  die  Art,  wie  Keller  sich 
mühevoll  einer  solchen  Aufgabe  erledigte,  im  alle- 
mannischen  Dialekt  seiner  Heimat  einen  vorzüglichen 
Ausdruck.  Man  nennt  das  nicht  „Malen“,  sondern 
„Mälelen“.  Er  wollte  eben  absolut  der  farbigen  Er¬ 
scheinung  nahe  treten,  ohne  in  erster  Linie  ihre 
Wesenheit  erfasst  zu  haben.  Wenn  man  ein  gutes 
Porträt  malen  will,  dann  muss  im  Bilde  der  Schädel 
fühlbar  sein,  die  feste,  kantige  Form,  welche  die 
Totalerscheinung  charakterisirt.  Und  wer  Blumen 
und  Blätter  malen  will,  wird,  befasst  er  sich  mit  der 
einzelnen,  individuellen  Erscheinung,  dieses  Erfor¬ 
dernis  auch  da  nicht  außer  Acht  lassen  können, 
sonst  kommt  ein  schlotteriges  Etwas  heraus,  was 
weder  Hand  noch  Fuß  hat,  dem  mit  einem  Worte 
die  Charakteristik  fehlt. 

Wo  Keller  ein  Thema  bildmäßig  anfasste,  ver¬ 
ließ  er  sich  immer  und  immer  wieder  auf  die  aus¬ 
wendig  gelernte  Schreibweise,  d.  h.  auf  das  Rezept, 
wie  der  Landschafter  dies  oder  jenes  zu  machen  habe. 
Die  Selbständigkeit  der  Anschauung  geht  ihm  dabei 
ganz  und  gar  ab.  Das  beweist  das  sehr  durch¬ 
geführte  Tuschblatt  der  Züricher  Stadtbibliothek 
(Kat.-Nr.  21),  darstellend  eine  Brücke  über  die  Glatt 
bei  Bulach  hei  der  sog.  Mangoldsburg,  ein  an  sich 
gewiss  außerordentlich  dankbares  Motiv  (doppelter 
Brückenbogen  mit  mächtigen  Weidenbäumen),  bez. 
1840;  es  beweisen  es  ferner  die  der  Münchener  Zeit 
zuzuzählenden  Ölbilder.  Von  diesen  später.  Ein 
noch  der  Unterrichtszeit  bei  Meyer  beizuzählendes 
Ölbild  (Meyer  erwähnt  es  in  einem  an  Keller  ge¬ 
richteten  Briefe),  das  Wetterhorn  im  Berner  Ober¬ 
land  darstellend,  ist  vorhanden,  doch  bietet  es  kei¬ 
nerlei  Interesse  und  ist  obendrein  stellenweise  bis 
zur  Unkenntlichkeit  nachgedunkelt.  Es  ist  jeden¬ 


falls  dem  größten  Teile  nach  unter  des  Lehrers  Lei¬ 
tung,  vielleicht  sogar  nach  einem  fremden  Vorbild 
gemalt,  denn  dass  Keller  um  diese  Zeit  eine  Reise 
ins  Berner  Oberland  gemacht  habe,  ist  nirgends  er¬ 
wähnt.  Dazu  waren  schon  in  erster  Linie  seine 
Mittel  zu  beschränkt. 

Wie  der  damals  kaum  18jährige  Keller  die  Na¬ 
tur  auffasste,  ist  in  einem  der  Briefe  an  Johann 
Müller  in  Frauenfeld,  datirt  vom  29.  Juni  1837,  deut¬ 
lich  ausgesprochen: 

„Ich  fordere  keinen  scharfen  umfassenden  Geist,  keine 
berechnende,  weitausschauende,  entschlossene  Kraft  von  einer 
großen  Seele;  es  sind  schöne  Gaben,  aber  sie  kann  ohne 
dieselben  bestehen.  Hingegen  fordere  ich  vom  wahren  Men¬ 
schen  jene  hohe,  große  majestätische  Einfalt,  mit  der  er 
den  Schöpfer  und  seine  Schöpfung,  sich  selbst  erforscht,  an¬ 
betet,  liebt.  Ich  fordere  von  ihm  das  Talent,  sich  in  jedem 
Bach,  an  der  kleinsten  Quelle  wie  am  gestirnten  Himmel 
unterhalten  zu  können,  nicht  gerade  um  des  Baches,  der 
Quelle  und  des  Himmels,  sondern  um  des  Gefühls  der  Un¬ 
endlichkeit  und  der  Größe  willen,  das  sich  daran  knüpft. 
Ich  fordere  von  ihm  die  Gabe,  aus  jeder  Wolke  einen 
Traum  ziehen  und  der  sinkenden  Sonne,  wenn  sie  ihr  Feuer 
über  den  See  wirft,  einen  Heldengedanken  entlocken  zu 
können;  aber  der  kleinliche,  spekulirende,  kratzende,  spot¬ 
tende,  scliikanirende,  schmutzige  Zeitgeist  sei  ferne  von  ihm, 
der  keinen  Menschen  in  Ruhe  lassen  und  keines  Menschen 
Würde  erkennen  kann;  und  ferne  sei  von  ihm  die  Nase¬ 
weisheit  und  die  Frechheit  des  Jahrhunderts!  Er  sei  edel 
und  einfach,  aber  einfach  mit  Geschmack,  aus  Achtung  seiner 
selbst  und  nicht  um  anderen  zu  gefallen!  Den,  der  seinen 
Körper  mit  Absicht  in  einen  schmutzigen  Kittel  steckt,  ver¬ 
lache  ich;  denn  wenn  der  das  Gefühl  der  Schönheit  für 
sich  selbst  nicht  hat,  so  hat  er's  auch  nicht  für  die  Natur, 
und  wenn  er  es  für  die  Natur  nicht  hat,  so  hat  er  einen 
Riss  in  seinem  Herzen,  der  ihn  zum  kleinen  Menschen  macht, 
ja  sogar  unter  das  Tier  setzt,  und  wenn  er  sonst  noch  so 
gescheit  wäre.  Aber  verstehe  mich  wohl,  lieber  Müller,  ich 
mache  einen  großen  Unterschied  zwischen  dem,  der  die 
Natur  nur  um  ihrer  Formen  und  dem,  der  sie  um  ihrer  in¬ 
neren  Harmonie  willen  anbetet,  und  wahrhaftig  der  un¬ 
schuldige  Schwärmer  ist  mir  lieber,  der  die  Sonne  um  ihrer 
selbst  willen  bewundert,  als  der  größte  Dichter,  der  nur 
ihre  Wirkung  besingt,  oder  der  feurigste  Maler,  der  nur 
ihren  Effekt  vergöttert.“  (Bäehtold,  Keller’s  Leben  I,  64.) 

Übrigens  muss  dem  angehenden  Künstler  die 
Erreichung  seines  Zieles  als  Maler  gelegentlich  als 
etwas  erschienen  sein,  wozu  er  keiner  langen  Kletter¬ 
anstrengung  bedürfe,  denn  unterm  19.  Juli  1837 
schreibt  er  ins  Tagebuch:  „Heute  ist  mein  acht¬ 
zehnter  Geburtstag.  Von  heute  an  über  zwei  Jahre 
gelob  ich  mir,  einigen  Ruf  zu  gewinnen;  wo  nicht, 
so  werf  ich  die  Kunst  zum  Teufel  und  lerne  das 
Schusterhandwerk.“  Den  nächsten  Geburtstag  folgt 
der  Widerruf:  „Den  19.  Juli  1838.  Heute  ist  mein 
neunzehnter  Geburtstag  und  ich  sehe  ein,  dass  es  dum¬ 
mes  Zeug  war,  was  ich  vor  einem  Jahre  schrieb." 

Bemerkenswert  ist,  dass  die  Aufzeichnungen, 

2* 


12 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


die  Keller  auf  Spaziergängen  sammelte,  in  den 
Büchern,  die  eigentlich  Skizzenbücher  werden  soll¬ 
ten,  mehr  in  schriftlicher  Form  vorhanden  sind  als 
in  gezeichneter.  Der  Dichter  schiebt  den  Maler  un¬ 
willkürlich  bei  Seite.1)  Ihm  selber  wird  das  freilich 
nicht  deutlich.  So  scharf  seine  Beobachtung  der 
Personen  und  Verhältnisse  war,  so  mühelos  und  leicht 
er  Personen  zu  charakterisiren  wusste  (wie  seine 
Schilderung  der  Malerklassen  beweist2),  so  lebhaft 
und  natürlich  seine  gemalten  Gedichte  waren:  er 
hängt  doch  mit  einem  Feuereifer,  der  an  Goethe’s 
verwandte  Bestrebungen  erinnert,  an  dem  Ziele  fest, 
malerische  Kunstwerke  zu  gestalten.  Denn  nun, 
nachdem  die  Natur  vielfach  anscheinend  studirt  war, 
sollte  es  ans  Komponiren  gehen: 

„Das  gewichtige  Wort  Komponiren  summte 
mir  mit  prahlerischem  Klang  in  den  Ohren  und  ich 
ließ,  als  ich  nun  förmliche  Skizzen  entwarf,  die  zur 
Ausführung  bestimmt  waren,  meinem  Hange  die 
Zügel  schießen.  Der  Lehrer  ließ  nun  den  Schüler 
gewähren  und  dieser  brachte  etwas  zu  stände,  das 
ihm  nicht  genügen  wollte,  ohne  dass  er  wusste, 
weshalb.  Darauf  zeigte  denn  Römer,  dass  die  „tech¬ 
nischen  Mittel  und  die  Katur Wahrheiten  im’Einzelnen 
der  anspruchsvollen  und  gesuchten  Komposition 
wegen  keine  Wirkung  tliun,  zu  keiner  Gesamtwahr¬ 
heit  werden  könnten  und  um  meine  hervorstechende 
Zeichnung  hingen,  wie  bunte  Flitter  um  ein  Gerippe, 
so  dass  sogar  im  Einzelnen  keine  frische  Wahrheit 

1)  Siehe  Bächtold,  Keller’s  Leben  I,  S.  77. 

2)  Ebene!.  S.  75. 


möglich  sei  .  .  .  weil  vor  der  überwiegenden  Er¬ 
findung,  vor  dem  anmaßenden  Spiritualismus  (wie 
er  sich  ausdrückte)  die  Naturfrische  sich  so  zu  sagen 
aus  der  Pinselspitze  in  den  Pinselstiel  spröde  zurück¬ 
ziehe.“ 

Für  Keller  war  das  Verhältnis  zu  Meyer 
nicht  von  Bestand:  der  Lehrer  wurde  irrsinnig  und 
verließ  Zürich.  Hier  spielt  auch  die  hübsche  Ge¬ 
schichte  mit  dem  Briefe  von  Keller’s  Mutter  an 
Meyer,  die  Bächtold  im  ersten  Bande  der  Biographie, 
S.  57,  wiedergiebt. 

Keller  sah  sich  wieder  allein.  Er  las  und  schrieb 
nun  weit  mehr,  als  er  zeichnete  und  malte.  Die 
Zwiespältigkeit  seines  Wesens  fiel  ihm  endlich,  an 
seinem  20.  Geburtstage,  schwer  aufs  Herz,  und  ein 
langer  bekümmerter  Brief  an  Johann  Müller  in 
München  giebt  davon  Zeugnis.1)  Dass  in  Zürich 
seines  Bleibens  nicht  mehr  war,  wenn  er  als  Maler 
vorwärts  kommen  sollte,  war  ihm  deutlich.  Er  sah 
die  Notwendigkeit  ein,  den  warmen  Haussitz  zu  ver¬ 
lassen  und  freiwillig  „die  Verbannung“  aufzusuchen. 
Der  Ruf  Münchens  als  Kunststadt  und  Asyl  der  wer¬ 
denden  Maler  lockte  immer  mächtiger.  Ein  Teil  des 
väterlichen  Erbes,  das  in  Wertpapieren  bestand, 
wurde  zu  Geld  gemacht  und  eilig,  ohne  Reisepass, 
den  er  nachschicken  lassen  wollte,  verließ  er  die 
Vaterstadt,  fünfzig  Gulden  in  der  Tasche.  Mit  wel¬ 
chen  Hoffnungen!  Die  Enttäuschungen,  die  er  hinter 
sich  hatte,  waren  gering  gegen  jene,  die  seiner  harrten. 
_  (Fortsetzung  folgt.) 

1)  Keller’s  Leben  I,  84. 


Bleistiftskizze  von  G.  Keller. 


ALTE  KUNSTWERKE 

IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 

VON  W.  BODE. 


ON  den  Schätzen  älterer  Kunst 
in  den  Vereinigten  Staaten 
vor  meiner  Abreise  nach  ver¬ 
einzelten  Berichten  und  ge¬ 
legentlichen  Zeitungsnach¬ 
richten  mir  auch  nur  einen 
annähernden  Begriff  zu  bil¬ 
den,  war  mir  nicht  möglich. 
Wenn  auf  den  Auktionen  in  London  oder  Paris  ein 
Bild  von  einem  Unbekannten  auf  einen  fabelhaften 
Preis  getrieben  wurde,  so  hieß  es  in  der  Regel,  dass  ein 
neu  aufgetauchter  amerikanischer  Sammler  der  Käufer 
sei;  und  in  ähnlicher  Weise  werden  unsinnige  For¬ 
derungen  namentlich  im  italienischen  Kunsthandel 
damit  motivirt,  dass  amerikanische  Liebhaber  schon 
den  Preis  geboten  hätten,  dass  man  aber  „aus  Patrio¬ 
tismus“  das  Werk  nicht  nach  drüben  gehen  lassen 
wolle.  Die  Berichte  ernster  Kunstfreunde  über  ihre 
Eindrücke  in  den  Sammlungen  Nordamerika^  klan¬ 
gen  dagegen  wesentlich  anders:  in  den  Privatsamm¬ 
lungen  sollten  die  alten  Meister  überhaupt  nur  ganz 
ausnahmsweise  vertreten  sein  und  in  den  wenigen 
öffentlichen  Sammlungen  ließe  die  Masse  des  Mittel¬ 
guts  und  des  Schlechten  die  vereinzelten  guten 
Kunstwerke  kaum  zur  Geltung  kommen. 

Durch  die  Anschauung  habe  ich  auch  nach 
dieser  Richtung  ein  sehr  abweichendes  Bild  von  den 
Kunstverhältnissen  in  den  Vereinigten  Staaten  ge¬ 
wonnen.  Freilich  muss  ich  dabei  von  vornherein 
zugeben,  dass  die  Entwickelung  gerade  hier  eine  so 
junge  und  zugleich  eine  so  rasche  ist,  dass  das  Bild 
von  dem  Kunstbesitz  in  den  Vereinigten  Staaten 
vor  zehn  Jahren  ein  vollständig  anderes  gewesen 
sein  muss  und  voraussichtlich  in  zehn  Jahren  bereits 
wieder  ein  erheblich  anderes  Aussehen  zeigen  wird. 


Nach  dem  Eindruck  meiner  Wanderung  durch 
eine  Reihe  von  Sammlungen,  die  mir  sämtlich  in 
der  zuvorkommendsten  Weise  zugänglich  gemacht 
wurden,  sind  die  Amerikaner  insofern  den  Sammlern 
des  alten  Kontinents  noch  ungefährlich,  als  bisher 
niemand,  auch  nicht  für  die  öffentlichen  Museen, 
systematisch  Werke  der  alten  Kunst  sammelt.  Dies 
ist  aber  nur  ein  schlechter  Trost,  denn  es  kann 
sich  und  wird  sich  dies  von  heute  auf  morgen  än¬ 
dern;  auch  sind  die  Liebhaber  von  drüben,  wenn  sie 
gelegentlich  einmal,  sei  es  auf  einer  Continental  tour, 
in  guter  Laune  und  im  Vollgefühl  raschen  Erwerbes 
oder  durch  die  Zuführung  von  alten  Kunstwerken 
seitens  Pariser  oder  Londoner  Kunsthändler  zu  An¬ 
käufen  sich  verführen  lassen,  rasch  im  Entschluss 
und  meist,  nach  unseren  Begriffen,  fast  gleichgültig 
gegen  den  geforderten  Preis.  Sie  zeigen  aber  dabei 
in  neuester  Zeit  auch  meist  noch  eine  andere,  für 
uns  kontinentale  Konkurrenten  sehr  gefährliche  Ei¬ 
genschaft:  einen  außerordentlich  guten  Geschmack. 
Nicht  nach  berühmten  Namen  oder  kunsthistorischen 
Kuriositäten,  sondern  nach  künstlerisch  ausgezeich¬ 
neten  Werken,  namentlich  nach  solchen  von  hervor¬ 
ragendem  malerischen  Reiz  steht  der  Sinn  der  ameri¬ 
kanischen  Sammler.  Sie  sind  daher  auch  meist  sehr 
vielseitig:  wer  Kunstwerke  sammelt,  pflegt  neben 
modernen  Bildern  japanische  Bronze-,  Thon-  und 
Lackarbeiten,  chinesisches  Porzellan,  chinesische  und 
japanische  Bilder,  antike  Gläser  und  Thonbildwerke, 
alte  holländische  und  vlämische,  gelegentlich  auch 
altitalienische  und  deutsche  Bilder  und  Skulpturen 
zu  besitzen. 

Für  die  farbige  Wirkung  der  Innenräume  in 
den  modernen  Häusern  der  kunstsinnigen  Ameri¬ 
kaner  sind  diese  ihre  verschiedenartigen  Samm- 


14 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


lungen  von  wesentlicher  Bedeutung;  doch  sind  sie 
nicht  in  der  Weise  dekorativ  verwendet,  wie  wir  es 
namentlich  in  den  Einrichtungen  der  französischen 
Sammler  sehen.  Man  ist  in  Amerika  nicht,  wie  in 
Paris,  bemüht,  durch  die  Kunstwerke  und  ihre  An¬ 
ordnung  die  harmonische  und  stilvolle  Wirkung  der 
Räume  noch  zu  steigern,  sondern  dieselben  sind 
sammlungsartig  als  Gruppen  in  Schränken  und  an 
den  Wänden  aufgestellt,  nicht  selten  sogar  in  be¬ 
sonderen  Räumen.  Oberlichträume  für  die  Gemälde 
haben  die  meisten  namhaften  Bildersammler,  auch 
noch  in  den  modernsten  Häusern. 

Der  Besitz  an  alten  Kunstwerken  ist  bisher  fast 
ganz  auf  die  Städte  im  Nordosten  der  Vereinigten 
Staaten  beschränkt;  einiges  wenige  findet  sich  in 
San  Francisco  (namentlich  von  chinesischer  und  japa¬ 
nischer  Kunst),  während  im  Süden  Sammlungen  meines 
Wissens  ganz  fehlen.  Wie  der  alte  Kontinent,  so 
besitzt  auch  Amerika  öffentliche  Sammlungen  neben 
Privatsammlungen;  aber  jene,  die  Museen,  sind  nicht 
Staats-  oder  städtische  Institute,  wie  bei  uns,  sondern 
es  sind  Stiftungen,  die  aus  Geschenken  einer  oder 
mehrerer  Privatpersonen  hervorgegangen  sind,  und 
daher  in  ihrem  Charakter  wie  in  ihrer  Verwaltung 
mit  den  Privatsammlungen  noch  nahe  Verwandt¬ 
schaft  haben.  Die  Direktoren  der  Museen  sind  ein¬ 
fache  Kustoden  im  buchstäblichen  Sinne;  sie  haben 
für  die  Aufstellung  und  Instandhaltung  der  Kunst¬ 
werke,  für  die  Ordnung  im  Hause,  für  die  Inventa- 
risirung  und  zuweilen  auch  für  die  Anfertigung  des 
Katalogs  zu  sorgen;  die  Anschaffung  der  Kunst¬ 
werke,  die  Beitreibung  der  Gelder,  die  Frage  der 
Bauten  u.  s.  f.  liegt  aber  ausschließlich  in  der  Hand 
der  Trustees  und  vor  allem  ihres  Vorsitzenden,  der 
in  der  Regel  der  eigentliche  Schöpfer  des  Museums 
ist  und  aus  dessen  Mitteln  und  nach  dessen  Willen 
die  Vermehrung  desselben  in  erster  Reihe  erfolgt, 
in  welchem  großen  Stil  und  wie  energisch  die  Ziele 
der  öffentlichen  Kunstsammlungen  durch  diese  fast 
unumschränkte,  rein  persönliche  Leitung  verfolgt 
werden,  dafür  sei  hier  ein  besonders  nahe  liegendes 
Beispiel  genannt.  Zu  dein  Museumsgebäude  in  Chi¬ 
cago,  einem  soliden  Prachtbau  aus  Granit  und  Mar¬ 
mor  in  vornehmem  klassischen  Stil,  wurden  die  Mittel 
(fast  drei  Millionen  Mark)  durch  Kunstfreunde  der 
Stadt  vor  ein  paar  .Jahren  zusammen  gebracht,  im 
Oktober  1892  wurde  der  Grund  dazu  gelegt,  und 
trotz  des  langen,  grimmig  kalten  Winters  wurde 
am  1.  Mai  1893  das  Gebäude  eröffnet. 


Für  die  Kunstsammlungen  in  Amerika,  die 
öffentlichen  wie  die  privaten,  gilt  im  allgemeinen 
der  Grundsatz,  dass,  je  jünger  sie  sind,  um  desto 
höher  der  Wert  ihrer  Kunstwerke  ist.  Die  Anfänge 
der  Sammlungen  in  dem  eben  eröffneten  Art  Insti¬ 
tute  zu  Chicago  sind  künstlerisch  schon  bedeutender 
als  die  umfangreichen  Sammlungen  des  mehrere 
Jahrzehnte  alten  Museums  in  Boston  (von  der  chine¬ 
sisch-japanischen  Abteilung  abgesehen)  oder  gar  als 
die  noch  ältere  Galerie  der  Historical  Society  zu 
New  York,  die  ganz  zufällig  aus  dem  Nachlass  von 
ein  paar  Sammlern  entstanden  ist  und  in  ganz  un¬ 
genügenden  dunklen  Räumen  einen  traurigen  Platz 
gefunden  hat. 

Diese  umfangreiche  Bildersammlung  der  Histo¬ 
rical  Society  in  New  York  ist  durch  Siftungen  entstan¬ 
den,  die  von  Mr.  Reid,  Thomas  J.  Bryan  und  Louis 
Dürr  zwischen  den  Jahren  1858  bis  1882  gemacht 
wurden.  Nach  dem  Katalog  zusammen  838  Gemälde 
zumeist  von  alten  Meistern  ,  in  denen  ziemlich  alle 
Schulen  vertreten  sind,  jedoch  mit  starkem  Vorwie- 
gen  der  holländischen  Meister  des  17.  Jahrhunderts. 
An  großen  Namen  fehlt  es  nicht:  von  Cimabue  und 
Giotto  bis  auf  Gainsborough  und  Greuze  sind  so 
ziemlich  alle  großen  Meister  im  Katalog  vertreten; 
unter  den  Bildern  wird  man  leider  kaum  Einen 
darunter  entdecken.  Doch  bleiben  bei  kritischer 
Sichtung  noch  so  viel  interessante  Bilder  von  zwei¬ 
ten  Meistern,  dass  es  wahrlich  lohnen  würde,  die¬ 
selben  aus  der  Masse  der  wertlosen  Bilder  auszu¬ 
scheiden  und  für  sich  in  einem  einzelnen  guten 
Raume  aufzustellen. 

Ich  nenne  die  Bilder,  welche  mir  bei  kurzem 
Besuch  in  der  Dunkelkammer,  die  sich  hier  Galerie 
nennt,  als  bemerkenswert  auffielen.  Unter  den  Ita¬ 
lienern  eine  Kreuzigung  von  Bramantino  unter  Man- 
tegna’s  Namen,  dem  sich  der  Meister  hier  eng  an¬ 
schließt  (Nr.  220),  eine  sehr  gute  Madonna  aus 
Leonardo 's  Schule,  Zenale  genannt  (Nr.  508),  ein 
kleiner  Hieronymus  von  L.  Mazzolino  aus  dessen 
Todesjahre  1528,  ein  großer  Franc.  Zuccaro  aus  dem 
Jahre  1007  (Nr.  213),  ein  weibliches  Bildnis  von 
Allori  (Nr.  226),  mehrere  interessante  Florentiner 
„deschi  da  parto“  und  einige  andere  mittelgute  Tre- 
cento-  und  Quattrocentobilder.  Von  Altniederländern: 
ein  kleines  Triptychon  vom  Meister  der  Himmel¬ 
fahrt  (Nr.  309,  Q.  Massys  genannt),  eine  Flucht  nach 
Ägypten  von  Patinir  (Nr.  376),  eine  gute  alte  Kopie 
des  berühmten  kleinen  Mabuse  in  Palermo  (Nr.  307), 
eine  kleine  Madonna  von  Mostaert  (Nr.  298);  vor 
allem  unter  J.  v.  Eyck’s  Namen  (Nr.  291)  eine  sehr 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


15 


interessante  Kreuzigung,  die  auf  die  Hand  eines 
Kölner  Nachfolgers  des  Merode-Meisters  zu  weisen 
scheint;  von  großer  Leuchtkraft  der  emailartigen 
Farben,  die  Landschaft  matter,  in  der  Art  des  Mem- 
linck.  Der  zur  Seite  knieende  Stifter  ist  durch  In¬ 
schrift  als  „Fr(ater)  Aurelius  de  Emael“  bezeichnet. 


gar  nicht  zu  trauen.  Nur  ein  Waldrand  von  M.  Hob - 
bema  (Nr.  515),  dessen  genauere  Prüfung  an  seinem 
Platze  freilich  unmöglich  war,  machte  mir  einen 
sehr  guten  Eindruck.  Echt  sind  sodann  eine  stille 
See  von  W  van  de  Velde  (Nr.  360),  ein  paar  Bilder 
von  A.  v.  Ostade  (Nr.  738,  320  und  321),  ein  kleines 


Unter  den  vlämischen  Meistern  sind  nennens-  Interieur  von  W.  Kalf  (Nr.  712)  und  ein  größeres 


wert:  von  Rubens 
ein  echtes  großes 
Bildnis  eines  Rit¬ 
ters  des  Goldenen 
Vließes  (Nr.  336), 
etwas  nüchtern  in 
der  Behandlung 
und  Färbung,  so¬ 
wie  mehrere  uner¬ 
hebliche  Schul-  und 
Atelierbilder.  Von 
D.  Teniers  eine  frü¬ 
he  gute  Hexenscene 
(Nr.  351)  und  ein 
Bauerntanz  (Nr. 
352);  von  A.  Brou- 
wer  das  interessante 
halblebensgroße 
Brustbild  eines  jun¬ 
gen  Burschen,  der 
eine  Münze  prüft, 
vor  dunklem 
Abendhimmel  (Nr. 
275);  ein  Gegen¬ 
stück  dieses  Bildes, 
das  der  Katalog 
aufführt,  ein  Alter 
im  Schlapphut  (Nr. 
274),  ist  vielmehr 
ein  mäßiges  Werk 
des  Craesbeeck.  Wie¬ 
derholungen  beider 
Bilder,  von  der 
Hand  des  Oraesbeech, 


Lorenzo  de’  Medici.  Thonbüste  aus  dem  Atelier  des  Verroccfaio. 


Stillleben  von  dem 
selben  Meister  (Nr. 
27),  ein  Waldbild 
vom  Haarlemer  Jan 
Vermeer  unter  Ruis- 
dael’s  Namen  (Nr. 
343),  ein  kleiner 
Winter  von  Wou- 
werman  (Nr.  517) 
und  eine  ganze 
Reihe  Gemälde  klei¬ 
nerer  Meister  wie 
B.  Cuyp  (Nr.  790 
und  736),  B.  Cor- 
nelisz  (Nr.  685,  bez. 
Stillleben  163. .),  E. 
van  der  Poel  (Nr.  370 
und  538,  letzteres 
besonders  gut),  D. 
Hals  (Nr.  325),  Och- 
tervelt  (Nr.  319),  N. 
van  Gelder  (Nr.  604 
und  605,  bez.  1674), 
J.  Donck  (Nr.  748, 
die  „Gemüsehänd¬ 
lerin“,  bez.  1630), 
L.  Bramer  (Nr.  775 
und  273),  C.  Saft¬ 
leven  (Nr.  723  und 
726) ,  B.  Molenaer 
(Nr.  322),  Uytewael 
(Nr.  379),  Moeyaert 
(?  Nr.  552),  Nieu- 
landt  (?  großes  Still- 


ich  kürzlich  Im  Privatbesitz  in  Boston.  (Aus  dem  Werke  von  P.  Müller- Walde :  Leonardo  da  Vinci.  IaKpii  Nr  jfll'l  A 

München.  Yeriag  von  (j  Hirtb.)  leuen,  im.  iui;,  m.. 


im  Kunsthandel  zu 
Paris.  Ein  Interieur  bei  Kerzenlicht  von  D.  Ryckaert 
(Nr.  774),  Mars  und  Venus  von  Rottenhamer  (Nr.  744), 
ein  paar  Bilder  von  G.  van  Herp  (Nr.  679  —  681), 
verschiedene  gute  Landschaften  von  G.  Huysmans 
(Nr.  301),  J.  Fouquieres  (Nr.  292)  und  von  L.  van 
Valckenburgh  (Nr.  381  und  382),  sowie  einige  Still¬ 
leben  von  Snyders  (Nr.  348)  und  Fyt  (Nr.  112). 

Unter  den  Holländern  ist  den  großen  Namen 


Palamedes{  Nr.  599), 
C.  Netscher  (Porträts,  Nr.  317  und  519),  Jan  Victors 
(Nr.  107),  D.  Hagelstein  (Nr.  700,  bez.  1630),  A.  de 
Lorme  (Nr.  735),  D.  Verlanghen  (Nr.  737),  Q.  Breke- 
lenkam  (Nr.  729),  G.  van  Battem  (Nr.  721),  O.  Marseus 
(Nr.  707),  M.  Withoos  (Nr.  595),  S.  Kick  (?  Nr.  734, 
Wäscherin,  Sorgh  benannt). 

Die  „Großmut  des  Scipio“  ist  eines  der  besten 
Bilder,  die  ich  von  Eeckhout  kenne  (Nr.  290);  der 


16 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


Katalog  enthält  noch  ein  zweites  Bild  unter  seinem 
Namen,  das  mir  nicht  aufgefallen  ist,  „Historisches 
Motiv,  bezeichnet  Is-  Isaacken  Invent1-'  G.  v.  Eckhout 
pingsit  A.  D.  1670“.  Ein  tüchtiges  Bild  des  Künstlers 
ist  auch  M.  v.  Musscher’s  „Familie  in  der  Landschaft“ 
(Nr.  501). 

Unter  den  spanischen  Bildern  ist  eines  von  her¬ 
vorragend  malerischen  Vorzügen:  die  zweite  Frau 
Philipp’s  IV.,  doch  wohl  eher  eine  Wiederholung 
des  Del  Maxo  als  von  Velazquez  selbst  (Nr.  385). 
Unter  den  französischen  Bildern  sind  mehrere  recht 
gute;  so  die  Porträts  von 
Chardin  (Nr.  529),  Largil- 
licre  (Nr.  419),  Rigaud 
(Nr.  420)  und  Ph.  de  Cham¬ 
pagne  (Nr.  276),  ein  Mäd¬ 
chenkopf  von  Greuze  (Nr. 

440),  eine  große  Thalland¬ 
schaft  von  C.  Dugliet  (Nr. 

405). 

Wenn  diese  Bilder 
einmal  aus  ihrem  Dunkel 
und  Schmutz  herausgeholt 
werden  (Intriguen  in  der 
Stadtverwaltung  haben  bis¬ 
her  einen  Neubau  ver¬ 
hindert),  so  werden  sich 
gewiss  noch  eine  Reihe 
anderer  Gemälde  als  be¬ 
achtenswert  heraussteilen. 

Die  Gründung  des  Me¬ 
tropolitan  Museum  of  Art 
inmitten  des  großen  Stadt¬ 
parks  von  New  York,  unter 
der  Leitung  seines  groß- 
sinnigen  Protektors  TJmry 
G.  Marfjuand, ,  hat  weiteren 
Stiftungen  an  die  Histori- 
cal  Society  vorläufig  ein  Ziel  gesetzt;  mit  Recht  werden 
alle  Kräfte  daran  gesetzt,  in  diesem  neuen  Institut  einen 
der  riesigen  Weltstadt  würdigen  Mittelpunkt  für  die 
Kunstinteressen  zu  schaffen.  Hierbei  beteiligt  sich 
neben  den  Kunstfreunden  New  Yorks  auch  die  Stadt¬ 
verwaltung  mit  einem  jährlichen  Beitrag  von  etwa 
80 — 100000  Dollars.  Der  Bau  des  Museums  ist  außen 
schwerfällig  und  stillos,  innen  zwar  geräumig  und 
hell,  aber  unübersichtlich  und  wenig  stimmungsvoll, 
namentlich  weil  man  den  Versuch  machte,  den  Cha¬ 
rakter  der  Hauptsammlung,  für  welche  der  Bau  er¬ 
richtet  wurde,  der  cyprischen  Sammlung  Cesnola’s, 
auch  im  Äußern  und  in  der  Dekoration  zum  Ausdruck 


zu  bringen.  Diese  in  ihrer  Art  sehr  bedeutende 
Sammlung  hat  doch  nur  einen  bedingten  historischen 
und  einen  mäßigen  künstlerischen  Wert  und  giebt 
durch  die  große  Zahl  der  einförmigen  und  befangenen 
Skulpturen  dem  ganzen  Museum  einen  wenig  erfreu¬ 
lichen  Charakter.  Der  Eindruck  wird  auch  durch  den 
Anbau  für  die  Gipssammlung  nicht  verbessert,  ob¬ 
gleich  dieselbe  vorzüglich  angelegt  und  den  meisten 
europäischen  Sammlungen  überlegen  ist.  Die  chine¬ 
sisch-japanische  Abteilung  ist  übersichtlich,  aber  für 
Amerika  unbedeutend;  wesentlich  bedeutender  ist 

die  1891  von  Edward  C. 
Moore  hinterlassene  Samm¬ 
lung  von  altpersischen  und 
hispano-moresken  Fayen¬ 
cen,  von  persischen  und 
arabischen  Metallarbeiten 
und  Gläsern,  Spitzen,  ja¬ 
panischem  Steingut  und 
griechischen  und  römischen 
Gläsern.  Von  letzteren 
sind  noch  mehrere  große 
Schränke ,  aus  anderen 
Schenkungen  stammend, 
in  der  cyprischen  Abtei¬ 
lung  aufgestellt;  im  gan¬ 
zen  wohl  mehr  als  tau¬ 
send  meist  sehr  zierliche 
und  farbenprächtige,  in 
allen  Farben  des  Regen¬ 
bogens  schillernde  Gläser. 
Wie  hier,  wenn  auch  nicht 
in  gleicher  Fülle,  finden 
sich  in  fast  allen  öffent¬ 
lichen  Sammlungen  und 
bei  den  Privaten  solche 
antike  Gläser  in  einer 
Zahl  und  Güte  und  von  so 
vorzüglicher  Erhaltung,  wie  sie  der  alte  Kontinent 
«rar  nicht  aufweist.  Dies  erklärt  sich  teils  aus  dem 
ausgesprochenen  Farbensinn  der  Amerikaner,  teils 
aus  ihrer  Vorliebe  für  die  antike  Kunst  überhaupt. 
Wetm  die  antiken  Thongefäße,  die  kleinen  Terra¬ 
kotten  (leider  auch  jene  modernen  oder  halbmoder¬ 
nen  sog.  kleinasiatischen  Gruppen,  welche  der  at¬ 
tische  Antiquitätenmarkt  liefert),  die  antiken  Mar¬ 
morbildwerke  in  Italien  und  Griechenland,  auch  in 
der  Mittelware,  seit  wenigen  Jahren  eine  wesent¬ 
liche  Preissteigerung  erfahren  haben,  zum  Teil  auf 
das  Doppelte  und  weit  darüber  hinaus,  so  liegt  der 
Hauptgrund  gerade  in  der  Nachfrage  von  amerika- 


Porträt  von  M.  van  Heemskerk. 


ALTE  KUNSTWERKE  ]N  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIG  1  EN  STAATEN. 


17 


nischer  Seite.  Die  Gemäldesammlung  des  Metropolitan 
Museums  enthält  drei  Oberlichtsäle  mit  alten  Bildern. 
Der  größte  derselben  ist  ausschließlich  mit  den  von 
Mr.  Marquand  geschenkten  Bildern  angefüllt;  eine 
Sammlung  von  nur  50  Gemälden,  aber  zum  großen 
Teil  so  gewählte  Werke,  dass  sie  jeder  Galerie 
des  Kontinents  zur  Zierde  gereichen  würden.  Unter 
den  ältesten  Bildern  ein 
merkwürdiges  Altfloren¬ 
tiner  Bild:  „Ein  Porti- 
nari  mit  seiner  Frau“ 
unter  Masaccio’s  Na¬ 
men,  wohl  ein  Werk 
des  Cosimo  Rosselli  (von 
Lord  Methuen  erwor¬ 
ben).  V on  Jan  van  Eyck 
die  „Madonna  in  der 
Kirche“  (aus  der  Galerie 
Beresford  Hope),  in  der 
Ausführung  wohl  nicht 
eigenhändig;  die  unter 
dem  gleichen  Namen 
ausgestellte  Kreuzab¬ 
nahme  ist  ein  besonders 
feines,  leuchtendes  Werk 
des  Petrus  Cristus.  Eine 
Madonna  unter  Leonar- 
do’s  Namen  ist  ein  dem 
Boltraffio  am  nächsten 
stehendes  sehr  gutes 
Bild  der  Schule  Leonar- 
do’s.  Unter  den  spani¬ 
schen  Bildern  (neben  ein 
paar  Atelierbildnissen) 
ein  Selbstbildnis  des 
Velazqnez,  dem  Bilde  im 
Kapitol  ganz  nahe,  aus 
der  Galerie  des  Mar¬ 
quis  of  Lansdowne  er¬ 
worben. 

Von  den  drei  dem  P. 

P.  Rubens  zugeschriebe¬ 
nen  Gemälden  ist  die  Susanna  eine  Schulkopie  des 
Münchener  Bildes,  „Pyramus  und  Thisbe“  ein  Werk 
des  Thulden  und  das  männliche  Porirät  ein  charakteri 
stisches,  ganz  frühes  Werk  des  A.  van  Dyck,  überein¬ 
stimmend  mit  ein  paar  aus  dem  Jahre  1618  datirten 
Bildnissen  beim  Fürsten  Liechtenstein.  Wie  dieses 
Bild,  so  stammt  das  große  stattliche  Bildnis  des  James 
Stuart  mit  einem  Hund  zur  Seite,  ein  spätes  Werk 
des  van  Dyck,  aus  der  Galerie  des  Lord  Methuen 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  1. 


in  Corsham  House.  Ein  sehr  anziehendes  Frauen¬ 
bild  unter  der  Bezeichnung  van  Dyck  ist  meines 
Erachtens  ein  ganz  charakteristisches,  treffliches  Werk 
des  Cornelis  de  Vos.  Unter  verschiedenen  Bildern 
von  D.  Teniers  sind  die  zwei  Kopieen  nach  Bassano 
am  anziehendsten  (aus  Bienheim  stammend). 

Auf  Rembrandt  sind  vier  Gemälde  getauft.  Die 


„Mühle“  und  die  „Anbetung  der  Hirten“  sind  das 
eine  eine  englische  Nachahmung,  das  andere  eine 
Kopie  des  Bildes  in  der  National  Gallery.  Dagegen 
sind  zwei  Männerbildnisse  echt  und  bedeutend;  das 
eine  (aus  der  Sammlung  von  Sir  William  Knighton 
stammend)  gehört  zu  den  spätesten  datirten  Werken 
des  Künstlers  (1665);  das  andere,  von  Marquis  of 
Lansdowne  erworben,  ist  wohl  noch  in  den  fünfziger 
Jahren  gemalt.  Bedeutender  noch  als  Rembrandt 

3 


Unterredung.  Gemälde  von  Pjeter  de  Hooch.  Aus  der  Sammlung  des  Herrn  Havemeyer  in  New-York. 


18 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


ist  Frans  Hals  vertreten.  Neben  einem  flüchtigen 
derben  Genrebild  (Der  Raucher  und  sein  Liebchen) 
zwei  treffliche  Porträts  der  letzten  Zeit:  die  Halb¬ 
figur  eines  Mannes  und  das  Porträt  einer  älteren 
Dame  in  reichem  farbigen  Kostüm,  zur  Seite  der  Aus¬ 
blick  auf  eine  Stadt;  eines  der  intimsten  und  male¬ 
risch  vollendetsten  Werke  des  Künstlers.  Ein  Doppel¬ 
porträt  unter  Hals’  Namen  gehört  vielmehr  einem 
vlämiscben  Nachfolger  des  A.  van  Dyck.  Ein  anderes 
bedeutendes  Doppelbildnis,  ein  junger  Mann  mit 
seiner  Frau,  ist  ein  ungewöhnlich  gutes  Werk  von 
Remhrandt’s  Schüler  S.  van  Hoogstraaten.  Von  G.Metsu 
der  „Musikunterricht“,  ein  etwas  liebloses,  noch  an 
Duck  erinnerndes  Werk  (aus  der  Sammlung  Perkius); 
von  Jan  Vermeer  von  Delft  ein  „Junges  Mädchen  am 
Fenster“,  ein  tadellos  erhaltenes  Meisterwerk  dieses 
seltenen  Künstlers  (von  Lord  Powerscourt  erworben). 
Gute  Bilder  außerdem  von  A.  Cuyp,  Jac.  van  Ruisdael, 
G.  Terborch,  Sorgh  und  von  einigen  englischen  Mei¬ 
stern  des  vorigen  Jahrhunderts. 

Die  beiden  kleineren  Säle  mit  früheren  Erwer¬ 
bungen  —  meist  gleichfalls  Geschenke  —  enthalten 
ältere  Bilder  von  sehr  verschiedenem  Wert;  darunter 
jedoch  eine  Anzahl  guter  und  interessanter  Werke. 
Vor  allem  ein  großes  Hauptwerk  von  Sir  Joslma 
Reynolds,  unter  dem  Namen  „The  Hon.  Henry  Fane 
and  his  Guardians“  bekannt.  Daneben  hängen  ein 
paar  vortreffliche  größere  Guardi ,  Ansichten  aus 
Venedig,  sowie  zwei  flotte  Skizzen  von  G.  B.  Tiepolo. 
Ein  großer  Rubens,  „Die  Rückkehr  der  heil.  Familie 
aus  Ägypten“ ,  ist  ein  ganz  ruinirtes  nüchternes 
Atelierbild.  Von  Jacob  Jordaens  mehrere  unerfreu¬ 
liche  Bilder;  von  A.  ran  Dyck  ein  in  Italien,  ganz 
unter  venezianischem  Einfluss,  gemaltes  religiöses 
Motiv:  die  heil.  Martha,  von  Gott  die  Abwendung 
der  Pest  von  der  Stadt  Tarascon  erflehend.  Von 
vlämischen  Meistern  sonst  ein  paar  gute  D.  Teniers, 
ein  sehr  anmutiges  Kinderporträt  von  C.  de  Vos  und 
verschiedene  Gemälde  von  Jan  Brueghel  d.  j.,  Jan  Fyt, 
Vcrendacl,  Jhiysmans  u.  a.  Unter  den  Bildern  der 
holländischen  Schule  ist  wohl  das  interessanteste 
eine  ganz  flüchtige,  aber  sehr  geistreich  hingestrichene 
Studie  der  „Hille  Bobbe“  von  Frans  Hals.  Besonders 
gut  sind  ein  paar  Männerporträts  von  A.  de  Vries 
f  1  ♦',43  im  Haag  gemalt),  B.  rau,  der  Hehl,  (1(541,  ganz 
im  Anschluss  an  Claes  Elias)  und  A.  de  Gelder;  andere 
Bildnisse  von  V.  L.  ran  der  Vinne  und  Karel  de  Moor ; 
unter  je  zwei  Landschaften  von  Salomon  van  Ruys- 
darl  und  Jan  ran  Goyen  ein  paar  vorzügliche  aus  der 
späteren  Zeit  dieser  Künstler,  Landschaften  von  A. 
>.  Neer,  /'.  van  Asch;  Stillleben  und  Blumenstücke 


von  W.  Kalf  (gutes  kleines  Interieur),  J.  D.  de  Heem 
ganz  in  der  Art  von  P.  Claesz),  A.  van  Beyeren,  M.  van 
Oosterwyck,  R.  Ruysch,  verschiedene  geringere  J.  Steen, 
A.  van  Ostade  u.  s.  f.  Unter  den  älteren  Bildern  sind 
ein  Porträt  des  M.  van  Heemskerk  von  seinem  Vater 
(1532)  und  ein  Strigel  unter  Cranach’s  Namen  be¬ 
achtenswert. 

Das  Metropolitan  Museum  besitzt  unter  seinen 
mannigfaltigen  Sammlungen  auch  eine  solche  von 
alten  Zeichnungen,  zu  deren  Durchsicht  mir  leider 
die  Zeit  fehlte. 

Das  Museum  of  Fine  Arts  in  Boston,  in  seinen 
Anfängen  noch  etwa  um  ein  Jahrzehnt  älter  als  das 
New  Yorker  Metropolitan  Museum,  leidet  noch  in 
höherem  Grade  als  dieses  an  dem  Bestreben,  sich 
möglichst  eng  an  europäische  Vorbilder  anzulehnen 
und  von  der  ganzen  älteren  Kunstentwickelung  in 
Europa  ein  Bild  vorzuführen.  Um  in  kurzer  Zeit 
recht  viel  zusammenzubringen  (was  bei  der  großen 
Entfernung  vom  Antiquitätenmarkt  doppelt  schwer 
war),  hat  man  sich  mit  Mittelgut  begnügt.  Dadurch 
erhält  aber  der  Amerikaner  von  der  alten  Kunst  nur 
eine  ungenügende  und  ungünstige  Anschauung  und 
der  Förderung  seiner  eigenen  Kunst  können  solche 
Vorbilder  eher  schädlich  als  nützlich  sein.  In  der 
umfangreichen  Sammlung  europäischer  Stoffe,  Fay¬ 
encen,  Emails,  Silberarbeiten  und  anderer  Zweige  des 
Kunstgewerbes  sind  nur  wenige  Stücke,  die  Beach¬ 
tung  verdienen.  Dagegen  hat  die  große,  gut  gewählte 
und  gut  aufgestellte  Sammlung  von  Gipsabgüssen 
mit  Recht  das  Vorbild  für  alle  anderen  ähnlichen 
Sammlungen  in  Amerika  abgegeben.  Auch  nach  einer 
anderen  Richtung  kann  sich  das  Bostoner  Museum 
rühmen,  allen  anderen  Museen,  auch  auf  dem  alten 
Kontinent  weit  überlegen  zu  sein:  in  den  Arbeiten  japa¬ 
nischer  Kunst.  Die  Sammlung  japanischer  Töpfer¬ 
arbeiten,  die  von  Mr.  Morse  erworben  und  aufgestellt 
ist  und  jetzt  von  ihm  katalogisirt  wird,  ist  die  her¬ 
vorragendste  Sammlung  ihrer  Art;  und  dasselbe  gilt 
von  der  Fenallosa- Sammlung  der  Kakemono,  der 
sich  die  des  Dr.  Bigelow  nicht  unwürdig  anschließt. 

Die  Gemäldesammlung,  wie  regelmäßig  in  Ame¬ 
rika  in  Oberlichtsälen  aufgestellt,  besteht  vorwiegend 
aus  Leihgaben.  Ein  Saal  nimmt  die  gewählte  Samm¬ 
lung  des  jüngst  verstorbenen  Frederick  L.  Arnes  mit 
Meisterwerken  der  Schule  von  Barbizon  ein;  nament¬ 
lich  Gemälde  von  Daubigny,  Corot,  Th.  Rousseau 
und  Troyon.  Unter  den  Werken  alter  Meister,  die 
mehrere  Säle  füllen,  ist  wenig  Gutes,  nichts  Hervor¬ 
ragendes.  Von  Altitalienern  einige  gute  Trecentisten, 
namentlich  eine  Geburt  Christi  von  Duccio  (Nr.  3, 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


19 


Schule  Giotto’s  gen.);  Bilder  von  Palmezzano  (als 
Cima),  Bassano,  Tintoretto,  Pacchiarotto  (als  Timoteo), 
Palma  Giovane  (als  P.  Vecchio);  dazwischen  ein  paar 
gute  Franzosen  des  vorigen  Jahrhunderts,  nament¬ 
lich  zwei  große  Boucher,  in  ihrer  prachtvollen  Ori¬ 
ginaleinrahmung,  und  zwei  Stillleben  von  Chardin. 
Unter  den  Niederländern  sind  ein  paar  recht  gute 
von  Sidney  Bartlett  geschenkte  Bilder:  ein  „Schlacht¬ 
haus“  von  D.  Teniers,  „Der  Wucherer“  von  G.  J\[etsu 
(datirt  1654),  ein  sehr  poetisches  früheres  Bild  von 
Jacob  van  Ruisdael;  außerdem,  meist  leihweise  aus¬ 
gestellt,  gute  Bilder  von  Huysum,  F.  Snyders  (als 
W.  Kalf),  J.  van  Ruisdael,  W.  van  de  Velde ,  P.  Boel,  Jac. 
van  Ruisdael  II.  (als  Hobbema),  Sal.  van  Ruysdael ,  Jan 
Weenix;  unter  Holbein’s  Namen  das  Bruchstück  eines 
tüchtigen  Bildes  von  einem  Niederländer  in  der  Art 
des  Q.  Massys,  den  Stifter  mit  seinem  Schutzheiligen 
darstellend  (Nr.  231). 

Im  Vergleich  mit  den  Museen  von  New  York 
und  Boston  zeigt  das  vor  wenigen  Monaten,  nach 
Schluss  der  darin  abgehaltenen  Ausstellungskongresse, 
eröffnete  Art  Institute  in  Chicago  den  raschen  Fort¬ 
schritt  des  Kunstgeschmacks  in  den  Vereinigten 
Staaten.  Nicht  nur  im  Bau,  in  den  Innenräumen 
und  in  der  Aufstellung,  vor  allem  auch  in  der  Wahl 
der  Kunstwerke.  Dies  gilt  vor  allem  für  die  Gemälde, 
die  allein  schon  während  der  Ausstellung  zugäng¬ 
lich  waren:  die  alten  im  Museum  selbst,  die  moder¬ 
nen  in  der  Ausstellung.  Erstere,  die  Werke  der 
alten  Meister,  beschränken  sich  bisher  auf  eine  Aus¬ 
wahl  meist  niederländischer  Bilder,  welche  der  künst¬ 
lerisch  fein  gebildete  Präsident  des  Museums,  Charles 
L.  Hutchinson,  aus  dem  Demidoff  sehen  Nachlass  er¬ 
warb.  Es  sind  dies:  von  Rembrandl  das  große  an¬ 
mutige  Bild  eines  Amsterdamer  Waisenmädchens 
(1645),  von  F.  Hals  das  breit  und  geistreich  be¬ 
handelte  Bildnis  eines  32  Jahre  alten  Malers  (1644), 
angeblich  das  Porträt  seines  Sohnes  Härmen,  von 
D.  Teniers  die  „Wachtstube“,  von  A.  van  Ostade  der 
„Geburtstag“  (1675),  von  G.  Terborch  das  „Konzert“, 
von  Jan  Steen  das  Familienkonzert“,  von  Hobbema 
die  „Wassermühle“,  von  Jacob  van  Ruisdael  das  „Schloss 
am  Wasser“,  von  A.  van  de  Velde  eine  größere  italie¬ 
nische  Landschaft  mit  Vieh,  von  W.  van  de  Velde  eine 


„Stille  See“,  von  A.  van  Dyck  das  Bildnis  der  jungen 
Prinzessin  Helena  Eleonora  de  Sievere,  ausnahms¬ 
los  gute  und  selbst  ausgezeichnete  Bilder  dieser 
Künstler  von  guter  oder  tadelloser  Erhaltung.  Das 
Bildnis  des  Marquis  Spinola  ist  dagegen  nur  eine 
Schul  Wiederholung  nach  Rubens’  Original  beim  Gra¬ 
fen  Nostitz  in  Prag.  Von  Interesse  ist  noch  der 
lebensvolle  Kopf  eines  alten  Mannes,  der  in  der  Ga¬ 
lerie  Sciarra  zu  Rom  unter  Dürer’ s  Namen  ging  und 
seither  als  ein  Werk  des  H.  Holbein  galt,  aber  viel¬ 
mehr  die  Arbeit  eines  niederländischen  Künstlers 
vom  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  ist. 

ln  demselben  Raum  mit  diesen  Bildern  sind  eine 
Anzahl  anderer  alter  Gemälde  aus  Privatbesitz  aus¬ 
gestellt,  die  aber  meist  über  kurz  oder  lang  als  Ge¬ 
schenke  an  das  Museum  überwiesen  werden.  Dar¬ 
unter  sind  besonders  bemerkenswert  die  von  Herrn 
P.  C.  Hanford  geliehenen  Bilder:  eine  große  Kon¬ 
zeption  von  Murillo ,  ein  früheres  Werk  dieses  Mei¬ 
sters,  ein  Bild  König  Philipps  IV.  von  Velazquez, 
eine  große  waldige  Landschaft  von  Jacob  van  Ruis¬ 
dael,  und  ein  interessantes  späteres  Bildnis  von  Rem- 
brandt ,  bekannt  unter  dem  Namen  „Der  Rechnungs¬ 
führer“.  Vorübergehend  ist  auch  eines  der  umfang¬ 
reichsten,  farbig  sehr  wirkungsvolles  Gemälde  aus 
Rembrandt’s  letzter  Zeit,  „Saul  und  David“,  hier  aus¬ 
gestellt. 

Die  moderne  Abteilung  der  Galerie  hat  aus 
dem  Legat  von  Mr.  Henry  Field  einen  Grundstein 
erhalten,  so  gut  wie  die  alte  Abteilung  in  dem  De¬ 
midoff  sehen  Ankauf:  die  kleine  Sammlung  besteht 
fast  nur  aus  besten  Werken  der  ersten  französischen 
Maler  aus  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren. 

Die  öffentlichen  Museen  in  Philadelphia,  Wash¬ 
ington  und  Baltimore  enthalten  an  älteren  Kunst¬ 
werken  nur  ganz  Weniges,  darunter  an  alten  Ge¬ 
mälden  kaum  etwas  Nennenswertes.  Über  die  Museen 
anderer  Städte,  in  St.  Louis,  Cincinnati,  Detroit 
u.  s.  f.  kann  ich  kein  Urteil  abgeben,  da  ich  sie 
nicht  besucht  habe;  der  Anfang  zu  Galerieen  alter 
Gemälde  ist  aber  auch  hier  schon  gemacht  und  es 
bedarf  nur  des  Anstoßes  eines  einzelnen  reichen 
Sammlers,  um  auch  in  solchen  Städten  in  wenigen 
Jahren  namhafte  Galerieen  ins  Leben  zu  rufen. 


r@=- 


3* 


Studie  zur  Verfolgung  Von  Fr.  Stuck.  (Aus  dem  Werke:  Franz  Stuck.  München,  Verlag  von  Dr.  E.  Albert.) 


FRANZ  STUCK1). 

MIT  ABBILDUNGEN. 


S  wäre  banal,  von  Franz  Stuck 
als  von  dem  Bahnbrecher 
der  modernen  Münchener  zu 
sprechen;  er  ist  ihr  Posaunen¬ 
bläser,  ihr  Plakatzeichner, 
ihr  Groteskakrobat  und  zu¬ 
gleich  einer  ihrer  wunder¬ 
barsten  Poeten ,  alles  in 
Einer  Person!  Keine  Kleinigkeit  fürwahr,  einer  sol¬ 
chen  Kraftnatur  gerecht  zu  werden,  um  so  mehr 
als  ihre  Entwickelung  —  normale  Verhältnisse  vor- 
ausgesetzf  noch  lange  nicht  abgeschlossen  erscheint. 

Ein  enthusiastischer,  aber  deshalb  nicht  un¬ 
kritischer  Freund  des  Künstlers  hat  den  Versuch 
trotzdem  gemacht,  uns  ein  Charakterbild  des  gott¬ 
begnadeten  Mannes  zu  entwerfen,  ein  Bild  in  Wor¬ 
ten,  das  von  über  hundert  wirklichen  Bildern  be¬ 
gleitet  wird,  die  für  die  Wahrheit  des  Gesagten 
zeugen.  Ohne  allen  Zweifel  —  so  darf  man  auf 
Grund  dieser  Schilderung  mit  Bierbaum  behaupten 
ist  es  eine  kühn  und  selbständig  schaffende  künst¬ 
lerische  Persönlichkeit,  welche  in  dem  gährenden 
Übergangsstadium  der  heutigen  Zeit  ein  tiefgehen¬ 
des  Interesse  beanspruchen  darf. 

1)  I  ber  hundert  Reproduktionen  nach  Gemälden  und 
plastischen  Werken,  Hand  Zeichnungen  und  Studien.  Text 
von  Otto  Julius  Birrhaum.  München,  Verlag  von  Dr.  E. 
Albert  &  Co.  1893.  4°. 


Vor  allem  ein  Zeichner  allerersten  Ranges.  Franz 
Stuck  —  als  Sohn  eines  Müllers  zu  Tettenweis  in 
Niederbayern  am  23.  Februar  1863  geboren  —  war 
früh  darauf  angewiesen,  sich  sein  Brot  durch  Illus¬ 
trationen  zu  verdienen.  Die  Realschule,  die  Kunst¬ 
gewerbeschule  lieferten  ihm  dazu  die  ersten  Bildungs- 
elemente.  Die  Akademie  hat  er  des  Erwerbes  wegen 

o 

meist  geschwänzt,  „so  dass  ihm  ihre  Schablone 
nicht  allzu  viel  anhaben  konnte.“  Bald  half  ihm 
die  Not  auf  die  eigenen  Füße. 

Er  begann  mit  Humoresken  für  die  „Fliegenden 
Blätter“,  anfangs  den  Oberländer’schen  verwandt, 
jedoch  keineswegs  nachgebildet,  schließlich  von  einer 
ganz  eigenen  „zeichnerischen  Komik  von  höchst 
fideler  Verwegenheit“.  Ein  derber  Realismus  tanzt 
darin  den  Reigen  mit  einer  tollen  Phantastik.  Oft 
geht  die  letztere  bis  an  die  Grenze  des  Outrirten, 
Schnörkelhaft- Bizarren,  aber  nie  verleugnet  sich 
dabei  die  Schlagkraft  des  Witzes,  der  unfehlbare 
Sinn  für  das  Wahre  und  Typische;  nicht  selten  weht 
auch  ein  Hauch  Schwind’sclier  Poesie,  wie  in  dem 
beigedruckten  Monatsbild  „Dezember“,  in  die  sonst 
urmoderne  Gestaltenwelt  Stuck’s  herüber. 

Ernsten  Anlass,  sieb  mit  der  Kunst  der  Ver¬ 
gangenheit,  und  zwar  einer  weit  früheren,  zu  be¬ 
fassen,  bot  dem  Zeichner  die  Aufforderung  der 
Wiener  Verlagsfirma  Gerlach  &  Schenk,  an  den  von 
ihr  herausgegebenen  Prachtwerken  „AlJegorieen  und 
Embleme“  und  „Karten  und  Vignetten“  mitzuarbei- 


FRANZ  STUCK. 


21. 


ten.  Die  Fülle  der  herrlichen  Beiträge,  die  der 
Künstler  zu  diesen  Motivensammlungen  geliefert  hat, 
offenbarte  zuerst  den  ganzen  staunenswerten  Reich¬ 
tum  seiner  Erfindungskraft.  Auf  die  Befruchtung 
derselben  hat  unverkennbar  das  eindringende  Stu¬ 
dium  der  alten  deutschen  Meister,  vornehmlich 
Dürer’s  und  Hans  Baldung’s,  mächtigen  Einfluss 
geübt:  der  breite  Federstrich  der  Zeichnung,  die 
gedrängte  und  doch  klar  gegliederte  Komposition, 


hunderts.  Aber  durch  das  Lernen  von  den  Alten  geriet 
Stuck  durchaus  nicht  unter  deren  Botmäßigkeit.  Im 
Gegenteil!  Seine  Kraft  entwickelte  sich  nun  erst 
recht  zur  vollen  Eigenart;  am  reichsten  in  den 
„Karten  und  Vignetten“.  Da  kommen  zu  den  Dürer- 
schen  Anklängen  „Züge  von  einer  koketten  Zier¬ 
lichkeit  ganz  gallischen  Charakters,  schließlich  mo¬ 
dernste  Raffinements,  elegante  Keckheiten  in  allerlei 
zeichnerischen  Verblüffungen  und  Kunststücken“, 


Dezember.  Von  Fr.  Stuck.  (Aus  den  fliegenden  Blättern  ) 


der  gedankenhafte  und  dabei  durchaus  plastische 
Geist  der  Erfindung  erinnern  an  die  Weise  des  er- 
steren,  die  malerische  Behandlung,  der  grünliche 
Ton  mit  schwarzen  Schatten  und  aufgesetzten  Lich¬ 
tern  oft  an  die  Helldunkelschnitte  des  letzteren.  Das 
Buchhändlerwappen  z.  B.,  mit  dem  Pegasus  als  Helm¬ 
zier,  dem  Merkurstab,  der  Eule  und  dem  Krebs  als 
Schildzeichen,  verrät  Zug  um  Zug  diesen  Zusammen¬ 
hang  mit  den  Vorbildern  des  sechzehnten  Jahr- 


dies  alles  je  nach  den  Vorwürfen  verschieden  in  der 
Erfindung  und  im  Vortrag,  und  doch  stets  mit  der 
„Note  des  Persönlichen“,  echt  Künstlerischen.  Un¬ 
erschöpflich  ist  Stucks  Laune  vor  allem  in  der  Ge¬ 
staltung  der  schelmenhaften  Amoretten,  die  auf 
diesen  für  alle  Wechselfälle  des  menschlichen  Lebens 
erfundenen  „Karten  und  Vignetten“  ihr  drolliges 
und  sinniges  Spiel  treiben,  als  neckische  Schmetter¬ 
lingsbübchen,  Hochzeitsgenien,  Taufengel  und  Kobolde 


wappen  von  Fit  Stuck.  (Aus  dem  Werke:  Allegorien  und  Embleme.  Verlag  von  Gerlack  &  Schenk  in  Wien.) 


FRANZ  STÜCK. 


23 


jeglicher  Art.  Nicht  minder  glücklich  als  in  seinen 
Liebesgenien  ist  der  Künstler  in  der  Gestaltung  der 
Tanzgeister  und  der  Champagnergeisterchen,  kurz  in 
jeder  humorvollen  Verkörperung  irdischer  Daseinslust. 
Einer  dieser  ausgelassenen  Schlingel  (auf  einer  Karte 
zum  Künstlerfest)  hat  sich  „mit  lautsingendem  Munde 
auf  der  Freitreppe  zu  einem  großen  Festsaale  nieder¬ 
gelassen  und  lockt  auf  einer  Guitarre,  die  er  aus 
einer  Palette  improvisirte,  Töne  einer  verwegenen 
Fidelität  hervor  “  Auf  einer  der  besonders  gelunge¬ 
nen  Karten,  die  vom 
Sekt  handeln ,  lässt 
Stuck  „den  freigelas- 
senen  aufsprühenden 
Champagnergeist  zu 
einer  vielstengeligen 
Pflanze  werden,  deren 
Blätter  und  Blüten 
eine  ganze  Schar  tau¬ 
melnder  Putten  em¬ 
portreiben“.  In  man¬ 
che  dieser  Erfindun¬ 
gen  sind  Barockmo¬ 
tive  von  reizender 
Keckheit  verflochten, 
doch  stets  mit  jener 
lebendigen  Anmut,  die 
dem  Hergebrachten 
originales  Gepräge 
verleiht.  „Selbst,  wo 
Stuck  stilisirt,  haucht 
er  Leben  in  das  rein 
Formelle,  auch  seine 
Ornamente  haben  et¬ 
was  Gewachsenes,  wie 
in  windfreiem  Blü¬ 
hen  Gewordenes.“  Da¬ 
zu  kommen  endlich 
auch  Blätter  von  ganz 
realistischem  Charakter,  welche  in  ihrer  Härte  und 
Derbheit  zu  den  phantastischen  im  entschiedensten 
Gegensätze  stehen.  In  diese  Gruppe  gehören  z.  B. 
einige  der  Holzschnitte  in  den  „Zwölf  Monaten“  (G. 
Weise's  Verlag  in  Stuttgart).  Während  Stuck  in 
seinen  Allegorieen  und  Emblemen  als  naher  Stilver¬ 
wandter  von  Rud.  Seitz  erscheint,  erinnert  er  in  den 
realistischen  Zeichnungen,  z.  B.  in  dem  kernigen 
Blatte  mit  dem  pflügenden  Bauer,  an  die  charakter¬ 
volle  Schneidigkeit  eines  W.  Diez. 

Wie  der  Zeichner,  so  der  Maler!  Auch  in  Stuck’s 
Malerei  baut  sich  die  phantastische  Welt,  über  die 


r- *  Wr  *  " 

V 


W': 


Studie  zur  Innoceutia.  Von  Fr  Stuck 
(Aus  dem  Werke:  Franz  Stuck.  München,  Verlag  von  Dr.  E.  Albert  &  Co.) 


sein  Genius  gebietet,  auf  dem  festen  Grunde  der 
Natur  und  des  Lebens  auf.  Gleich  sein  erster  male¬ 
rischer  Erfolg,  auf  der  Münchener  Ausstellung  von 
1889,  zeigte  dies  klar,  alle  weiteren  seit  1890  haben 
es  bestätigt.  Da  liegt  nun  der  Punkt,  an  dem  das 
Verhältnis  unseres  Künstlers  zu  seinen  Vorläufern 
zur  Auseinandersetzung  zu  bringen  ist.  Bierbaum 
sagt  gleich  am  Anfang  seiner  Darstellung  mit  Recht: 
neben  Thoma  und  Max  Klinger  war  es  vornehmlich 
Arnold  Böcklin,  welcher  Stuck  die  Wege  zum  Ver¬ 
ständnis  der  Zeitge¬ 
nossen  brach  und  eb- 
*  nete.  Aber  es  besteht 
zwischen  Stuck  und 
Böcklin,  bei  aller  Ver¬ 
wandtschaft,  doch 
auch  ein  tiefer,  wohl 
zu  beachtenderünter- 
schied.  Stuck  —  be¬ 
merkt  unser  Autor 
—  erhält  den  Anstoß 
„mehr  vom  sinnlichen 
Sehen“,  Böcklin 
schafft  „mehr  aus  in¬ 
nerem  Bewegen“. 
„Darum  ist  das  Land¬ 
schaftliche  bei  Stuck 
wirklichkeitsechter, 
deutscher,  geschauter, 
intimer,  wenn  auch 
Streiflichter  des  Phan¬ 
tastischen  über  ihm 
liegen.  Seine  Land¬ 
schaften  sind  nicht  so 
aus  dem  Traume,  wie 
meist  bei  Böcklin.  Da¬ 
gegen  spukt  etwas 
Symbolismus  hinein, 
das  Abtönen  der  Far¬ 
benharmonie  auf  einen  gewissen  Grundton,  auf  ein 
Leitmotiv  (häufig  grün-violett);  aber  die  Farben  sind 
doch  immer  aus  dem  freien  Lichte  heraus,  von  der 
Natur  heimgetragen  in  schnellen  Augenblicksnoti¬ 
zen.“  Und  wie  Böcklin  „aus  dem  Kopfe“,  Stuck  da¬ 
gegen  mehr  vor  der  Natur  malt,  so  sind  die  beiden 
auch  in  der  Art  ihrer  malerischen  Behandlung  scharf 
unterschieden.  „Technisch  ist  Stuck  ganz  Naturalist, 
Naturalist  im  vorgeschrittensten  Sinne,  Impressio¬ 
nist.  Daher  trägt  seine  Vortragsweise  das  Gepräge 
kühnster  Unmittelbarkeit.  Das  Glatte  der  alten  Ma¬ 
lerei,  das  auch  Böcklin  noch  vielfach  anhaftet,  das 


Der  Wächter  des  Paradieses.  Gemälde  vou  Fit.  Stucic 


i'v.  I  eribach  pinx. 


H  eli  o  gravure  v.  Dr  E.Afbert  u_  C? 


Franz  Stuck. 


Verlag  v  E.A. Seemann  in  Leipzig. 


Drucke  L  Anderer  in  Berlin. 


FRANZ  STÜCK. 


25 


alles  Licht  in  die  Tiefen  der  Lasuren  verlegt,  ist 
Stuck  völlig  fremd.  Er  lieht  die  stark  aufgelegten 
Farben,  das  Glitzernde,  Hervorbrechende,  oder  aber 
das  verwobene  Ineinanderwirken  der  keck  neben¬ 
einandergesetzten  Farbeneindrücke,  er  scheut  selbst 
vor  derbsten  Spacbtelungen  nicht  zurück.  Unstreitig 
bat  er  damit  den  künstlerischen  Reiz  seiner  Bilder 
außerordentlich  erhöbt.  Seine  Phantasieen  gewinnen 
an  lebendiger  Glaublicbkeit,  seine  reinen  Natur¬ 
stücke  werden  dadurch  reich  an  Poesie  des  Wahr¬ 
haftigen.“ 

Die  vornehmste  Gabe,  welche  Stuck  mit  Böck- 
lin  gemein  hat,  ist  die  Fähigkeit  des  phantasie vollen 
Weiterbildens  innerhalb  der  natürlichen  Welt.  Er 
ahmt,  wie  jener,  nicht  die  Faune,  Kentauren,  Satyrn 
der  Alten  einfach  nach,  sondern  er  schafft  sie  neu, 
versteht  sie  dem  Naturgegebenen  organisch  anzu¬ 
gliedern.  Seine  Phantasie  ist  nicht  so  wild-grotesk 
wie  die  Böcklin’s.  „Er  geht  nicht  hinaus  über  die 
Bildung  von  Bock-,  Fisch-,  Pferde-,  Löwen-  und 
Hirschmenschen.  Aber  in  der  Variation  innerhalb 
dieses  Gebietes  künstlerischer  Bastardbildungen  ist 
er  reich  an  feinsten  Nüancen.“ 

Es  ist  ein  besonderes  Verdienst  des  Bierbaum- 
schen  Werkes,  uns  die  ganze  Reihe  der  aus  Natur 
und  Fabelwelt  geschöpften  Werke  des  Münchener 
Meisters  in  Bildern  vorgeführt  und  geistvoll  erläu¬ 
tert  zu  haben.  Eine  gleich  gründliche  Würdigung 
seiner  Laufbahn  und  seines  Wirkens  ist  wohl  selten 
einem  eben  erst  dreißigjährigen,  im  frischesten 
Schaffen  stehenden  Künstler  zu  teil  geworden.  Den 
Anfang  machen  die  sensationellen  Bilder  von  1889 
und  1890:  „Der  Wächter  des  Paradieses“,  die  „Inno- 
centia“  und  „Die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese“ ; 
dann  kommen  jene  phantastischen  Gesellen  aus  der 
animalischen  Welt,  die  wilden,  verliebten  Tiermen¬ 
schen,  wie  der  „Liebestolle  Kentaur“,  mit  dem  ganzen 
Gelichter  der  „fleisch-  und  haarblonden  Waldweib¬ 
lein“;  wir  beobachten  in  der  „Neckerei“  ihr  harm¬ 
loses  Spiel,  in  der  „Verfolgung“  und  in  den  „Ri¬ 
valen“  ihre  ungezügelte  Leidenschaft  und  Natur¬ 
gewalt;  dann  thut  sich  in  der  „Waldwiese“,  im 
„Waldinneren“  die  ganze  träumerische  Poesie  von 
Stuck’s  landschaftlicher  Stimmungsmalerei  vor  uns 
auf;  sie  bevölkert  sich  in  „Es  war  einmal“,  in  der 


„Vision  des  heiligen  Hubertus“,  in  der  „Wilden 
Jagd“  mit  den  uns  wohlvertrauten  Gestalten  des 
Märchens,  der  Legende,  der  Sage;  dazu  kommen 
einige  starke  Accente  groß  gedachter  und  zu  pul- 
sirendem  Lehen  erwachter  antiker  Kunst,  wie  der  Kopf 
der  „Pallas  Athene“,  die  „Medusa“,  die  fürchterliche 
Dreiheit  der  „Erinyen“,  „Orpheus  und  die  Tiere“, 
„Der  Sieger“,  die  wundersame  „Sphinx“,  das  glut¬ 
erfüllte  Stimmungsbild  „Ovid“;  endlich  die  Schöpfun¬ 
gen  der  jüngsten  Zeit  „Kreuzigung“  und  „Pieta“ 
—  der  „Krieg“  von  1894  konnte  in  dem  vor  Jahres¬ 
frist  entstandenen  Werke  natürlich  noch  keinen  Platz 
finden  —  und  eine  Auswahl  der  plastischen  Werke 
Stuck’s,  darunter  der  „Athlet“,  nebst  einigen  seiner 
Radirungen. 

Den  tiefsten  Ernst,  die  größte  Wucht  unter 
den  Gemälden  besitzen  die  letzten,  der  christlichen 
Geschichte  gewidmeten  Darstellungen.  Die  „Pieta“ 
ist  ein  Bild,  „auf  große  Wirkungen  vor  einer  tau¬ 
sendköpfigen  Menge  angelegt“,  streng  in  den  Linien, 
dunkel  in  der  Farbe,  von  symphonischer  Einfachheit 
und  Größe.  Auf  der  „Kreuzigung“  hat  der  Künstler 
unter  den  Zuschauern  links  am  Rande  des  Bildes 
seinen  eigenen  Profilkopf  angebracht  und  damit 
seine  Darstellung  der  großen  Tragödie  als  die  Vision 
eines  nordischen  „Barbaren“  gekennzeichnet.  Nichts 
ist  hergebracht  in  diesem  Bilde,  nichts  gemahnt  an 
die  süßliche,  schönfarbige  Kirchenmalerei  der  deut¬ 
schen  Romantiker  oder  Historiker.  Die  erhabene 
Liebe  und  Hingebung  des  Einen,  Übermenschlichen, 
Göttlichen  und  die  brutalen  Masseninstinkte  sind  in 
ihrer  vollen  Stärke  einander  gegenübergestellt.  „Der 
Charakter  des  Dunkeltönigen,  Wuchtigen,  Drohen¬ 
den“  beherrscht  das  Ganze. 

Derselbe  Zug  in’s  Derbe  und  Wuchtige  lebt 
auch  iu  Stuck’s  plastischen  Gestalten.  Die  kräftige 
Mannesschönheit,  wie  sein  „Athlet“  sie  verkörpert, 
ist  das  Ideal,  das  ihn  erfüllt.  In  diesem  Athleten, 
der  mit  gestählter  Muskelkraft  einen  von  beiden 
Händen  gestützten  Globus  in  der  Schwebe  hält, 
haben  wir  das  Symbol  von  Stuck’s  Künstlernatur 
selber  vor  uns.  Gewaltiges  ist  noch  von  ihm  zu  er¬ 
hoffen,  wenn  die  Kraft  anhält  in  gleicher  Gesund¬ 
heit  und  bei  gleichem  Glück!  G.  v.  L. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  1. 


4 


ZWEI  WERKE  MICHAEL  PACHER’S. 

MIT  ABBILDUNG. 


Wr 


IE  Landschaftliche  Gemäldegalerie  in  Graz, 
deren  Übersiedelung  in  den  Neubau  des 
Joanneums  für  das  kommende  Jahr  bevor¬ 
steht  und  die  augenblicklich  interimistisch  im  Palais 
Attems  untergebracht  ist,  besitzt 
unter  dem  Namen  Grünewald’s 
zwei  kleinere,  wohl  von  einer  Al¬ 
tarstaffel  stammende  Tafelbilder 
von  ca.  1480—1490,  welche  die 
Enthauptung  eines  hl.  Bischofes 
(Thomas  Becket  von  Canterbury?) 
am  Altäre  und  dessen  Begäng¬ 
nis  darstellen;  die  Rückseiten 
zeigen  in  geringerer  Ausführung 
die  Zeichen  der  Evangelisten 
Lukas  und  Markus  auf  damascir- 
tem  Goldgrund  (42  x  42  cm;  Kas¬ 
tanienholz).  Die  vorzüglichen 
Feinmalereien  des  Martyriums  und 
der  Leichenfeier  weisen  in  Auf¬ 
fassung  und  Behandlung  mit  den 
Gemälden  auf  den  Vorderseiten 
der  Jnnenflügel  und  den  Pre¬ 
dellenbildern  des  Hochaltars  von 
St.  Wolfgang  eine  so  entschie¬ 
dene  Übereinstimmung  auf,  dass 
die  Urheberschaft  Michael  Pa¬ 
chers  ,  des  großen  Meisters  von 
Bruneck,  kaum  einen  Zweifel 
duldet.  Die  Stileigentümlichkeiten 
jener  Hauptwerke  der  oberdeut¬ 
schen  Tafelmalerei  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  finden  sich,  auf  dem 
kleinen  Raum  zu  noch  stärkerer 
Wirkung  vereinigt,  sämtlich  wie¬ 
der:  die  dramatische  Komposi¬ 
tionsweise,  die  plastische  Hell- 
dunkelmodellirung,  die  treffliche 
Perspektivik  und  der  aparte  Far¬ 
bengeschmack.  Ein  äußeres  Mo¬ 


st.  Michael. 

Schnitzfigur  in  Schloss  Matzen  in  Tirol 


ment  scheint  die  Richtigkeit  der  Zuschreibung  zu 
bestätigen.  Auf  der  Begräbnisscene  nämlich  öffnet 
sich  ein  Ausblick  auf  die  heute  noch  wenig  ver¬ 
änderte  Hauptstraße  Brunecks  mit  einem  der  vier 
alten  Thortürme  des  oberpuster- 
thalischen  Landstädtchens,  dem 
Kloster-  oder  Ursulinerinnenthore 
im  Hintergründe.  —  Zwei  wei¬ 
tere,  ursprünglich  wohl  zu  dem¬ 
selben  Altäre  gehörige  Bilder 
von  ungefähr  gleichen  Maßen 
(40  x  41.5  cm),  welche  die  „Ge¬ 
burt“  und  die  „Beschneidung“ 
zum  Gegenstände  haben,  können 
nur  als  tüchtige  Arbeiten  aus 
der  Werkstatt  Pacher’s  gelten. 

Nicht  von  dem  Künstler 
selbst,  wohl  aber  von  dem  bis¬ 
her  beweislos  mit  ihm  identifi- 
zirten  Bildschnitzer  des  Wolf¬ 
ganger  Altares  rührt  eine  aus¬ 
gezeichnete,  gleichfalls  bisher  un¬ 
bekannt  gebliebene  Holzstatue 
des  hl.  Michael  in  der  Kapelle 
des  Schlosses  Matzen  bei  Brix- 
legg  im  Unterinnthale  her  (Eigen¬ 
tum  des  Baron  Schnorr  v.  Carols- 
feld).  Eine  missverstandene  Res¬ 
tauration  —  die  aus  Lindenholz 
gearbeitete,  183  cm  hohe  Figur 
schwang  ursprünglich  ein  Schwert 
mit  der  Rechten  und  trug  eine 
Stola  —  hat  den  Erzengel  in 
den  Drachentöter  St.  Georg  zu 
verwandeln  gesucht.  Dieser  „Ver- 
newerung“  ungeachtet  lässt  die 
für  einen  hohen  Standort  be¬ 
stimmte,  polychrom  gefasste  Frei- 
fiffur,  die  in  ihrer  reizvollen  Durch- 
bildung  die  Hand  des  Skulptors 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


27 


der  ganz  ähnlich  behandelten  Michaelstatuen  am 
Altäre  der  Pfarrkirche  zu  Gries  bei  Bozen  und  im 
Aufsatze  des  Wolfgangaltares  nicht  verkennen.  (Siehe 
die  Abbildung.) 

Sowohl  auf  dieses  —  in  Bruneck  selbst  er¬ 
worbene  —  Schnitzwerk  als  auch  auf  die  Grazer  Ge¬ 


mälde,  deren  Bekanntschaft  ich  Direktor  Schwach 
verdanke,  wird  der  Text  einer  in  Vorbereitung  be¬ 
findlichen  Publikation  des  Hochaltars  von  St  Wolf¬ 
gang  Gelegenheit  bieten,  eingehender  zurückzu¬ 
kommen. 

Wien,  Juli  1894.  BOB.  STIASSNY. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


BUCHERSCHAU. 

Federigo  di  Montefeltro,  Duca  di  Urbino.  Cronaca 
di  Giovanni  Santi.  Nach  dem  Cod.  Yat.  Ottob.  1305  zum 
erstenmal  herausgegeben  von  Dr.  Heinrich  Iloltzinger, 
Prof.  a.  d.  Kgl.  Techn.  Hochschule  zu  Hannover  Stutt¬ 
gart,  W  Kohlhammer.  1893.  IY  u.  230  S.  4°. 

Die  seit  Gaye  und  Passavant  von  den  Kunsthistorikern 
wiederholt  in  ihrer  vielseitigen  Bedeutung  eingehend  ge¬ 
würdigte  Reimchronik  von  Raffael’s  Yater,  Giovanni  Santi, 
wird  uns  in  dieser  Ausgabe  zum  erstenmal  vollständig 
vorgeführt.  Zu  Grunde  liegt  der  Codex  Ottobonianus  1305 
der  Yatikanischen  Bibliothek,  eine  Handschrift,  die  offenbar 
von  dem  Dichter  selbst  einem  „zum  Erfassen  des  Sinnes 
wenig  geeigneten  Schreiber“  in  die  Feder  diktirt  und  dann 
„mit  schon  zitternder“  Hand  ausgebessert  worden  ist.  Da 
die  Korrekturen  gegen  Ende  des  Gedichts  aufhören ,  darf 
man  annehmen,  dass  Giov.  Santi  noch  vor  Beendigung 
dieser  Durchsicht  verstorben  ist  (1.  August  1494).  Über  den 
Beginn  der  Arbeit  lässt  sich  nur  soviel  sagen,  dass  derselbe 
später  als  1482  fallen  muss,  da  der  in  diesem  Jahre  (10.  Sept.) 
gestorbene  Herzog  Feden’go,  der  Held  des  Gedichtes,  in  der 
einleitenden  Yision  als  bereits  aus  dem  Leben  geschieden 
erscheint. 

Was  den  Inhalt  des  Werkes  anbelangt,  so  möge  hier 
nur  im  allgemeinen  in  Erinnerung  gebracht  werden,  dass 
dasselbe  mit  der  Verherrlichung  des  edlen  Herzogs  von  Ur¬ 
bino,  dieses  Musterbildes  eines  humanistisch  gebildeten 
Fürsten  der  Renaissance,  zugleich  ein  lebendiges  Bild  des 
bewegten  Lebens  jener  Zeit  bietet,  von  deren  oft  düsterem, 
blutbeflecktem  Hintergründe  die  Feldherrngestalt  Federigo’s 
leuchtend  sich  abhebt.  Aber,  was  Giovanni  schildert,  sind 
vorzugsweise  Ereignisse,  von  denen  er  zwar  Ohren-,  doch 
nicht  Augenzeuge  war.  Allerdings  besaß  er  einen  Gewährs¬ 
mann,  wie  ihn  sich  kein  Chronist  besser  wünschen  konnte. 
Es  war  dies  „des  Herzogs  Sekretär,  Pier  Antonio  Paltroni, 
Federigo’s  ständiger  Begleiter  und  Zeitgenosse,  der  seines 
Herrn  Leben  und  Thaten  in  einer  (wie  es  scheint,  verloren 
gegangenen)  lateinisch  abgefassten  Biographie  geschildert 
und  zudem  unserem  Dichter,  wie  dieser  bezeugt,  manch 
w-ertvolle  Nachricht  hatte  zukommen  lassen“.  Dazu  kam 
selbstverständlich  Giovanni’s  Autopsie  bei  den  friedlichen 
Unternehmungen  des  Herzogs  in  Urbino  selbst,  z.  B.  bei 
dem  Bau  und  der  Ausschmückung  des  von  Federigo  ge¬ 
gründeten  Palastes  und  anderen  ähnlichen  Dingen. 

Der  Herausgeber  hat  den  wortgetreuen  Abdruck  des 
Codex,  von  einigen  Bemerkungen  philologischer  Art  abge¬ 
sehen,  mit  einer  Inhaltsübersicht  und  kurzen  Erläuterungen 
ausgestattet,  welche  hier  nur  in  kunstgeschichtlicher  Hinsicht 
näher  in  Betracht  gezogen  werden  sollen.  Über  die  eben 


erwähnte  Banfbätigkeit  Federigo’s  handelt  das  59.  Kapitel 
des  Gedichtes.  Die  gewaltigen  Substruktionen  des  Palastes 
von  Urbino  werden  besonders  erwähnt,  die  bekanntlich  noch 
heute  zum  Teil  wohlerhaltene  innere  Ausschmückung  der 
Räume  wird  nur  im  allgemeinen  angedeutet.  Liuciano  da 
Laurana,  der  Chefarchitekt,  erhält  sein  verdientes  Lob.  Dann 
folgt  ein  Hinweis  auf  die  Bauthätigkeit  Federigo’s  außerhalb 
Urbino’s,  auf  seine  verschiedenen  Kirchengründungen,  und 
hieran  reiht  sich  die  vielcitirte  Schilderung  der  von  dem 
Herzog  angelegten  Bibliothek,  ihrer  Ausschmückung,  ihrer 
kostbaren  Handschriften  Holtzinger  notirt  zu  allem  diesen 
die  neueste  Litteratur.  Das  60.  Kapitel,  das  auch  der  häus¬ 
lichen  Studien  des  Herzogs  und  seines  leutseligen  Verkehrs 
mit  den  Bauleuten  in  begeisterten  Worten  gedenkt,  enthält 
dann  die  Erwähnung  des  herrlich  gelegenen  Palastes  in 
Gubbio,  dessen  Hofbau  und  teilweises  Innere  in  jener  Zeit 
entstanden.  —  Aber  der  wichtigste  Abschnitt  für  den  Kunst¬ 
historiker  ist  bekanntlich  die  im  96.  Kapitel  folgende,  be¬ 
reits  von  Passavant  auszugsweise  mitgeteilte  „Disputa  de  la 
pictura“,  in  welcher  uns  Giovanni  einen  Überblick  über  die 
italienische  Malerei  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  giebt  und 
auch  einiger  großer  Flandrer  jener  Epoche,  sowie  des  Königs 
Rene  von  Anjou,  kurz  gedenkt.  Der  Herausgeber  begleitet 
diese  Darstellung  mit  biographischen  und  kritischen  Notizen. 

Die  „Disputa  de  la  pictura“  und  die  oben  erwähnte 
einleitende  Vision  gehören  zu  denjenigen  Teilen  des  Gedichts, 
welche  als  Giovanni’s  schriftstellerisches  Eigentum  zu  be¬ 
trachten  sind.  Sie  bieten  uns  wertvolle  Anhaltspunkte  zu 
seiner  geistigen  Charakteristik.  Und  sie  sind  zugleich  un¬ 
schätzbare  Zeugnisse  für  die  geistige  Atmosphäre,  in  der 
der  junge  Raffael,  Giovanni  Santi’s  Sohn,  aufgewachsen  ist. 
Schon  dieser  Umstand  allein  giebt  dem  gereimten  Chronik¬ 
werke  des  braven  Alten  seinen  unsterblichen  Wert  und 
verpflichtet  uns  zu  lebhaftem  Dank  gegenüber  dessen  treff¬ 
lichem  Herausgeber  und  dem  opferwilligen  Stuttgarter  Ver¬ 
leger.  C.  v.  L. 

Der  Maler  Christoff  Amberger  von  Augsburg.  In¬ 
auguraldissertation  von  E.  Hausier.  Königsberg  1S94.  142 S. 

Das  ist  eine  wirklich  gute  Schrift!  Schon  die  Wahl 
Amherger’s  war  ein  glücklicher  Griff',  da  man  sich  nur  wun¬ 
dern  muß,  das  dieser  vorzügliche  und  dem  modernen  Ge- 
schmacke  sehr  entgegenkommende  Künstler  noch  keine 
Monographie  gefunden  hatte  Der  Verfasser  hat  die  vorhan¬ 
dene  Litteratur  und  die  Kunstwerke  selbst  sorgfältig  studirt 
und  ist  auch  im  Citiren  seiner  Quellen  sehr  gewissenhaft. 
Amberger’s  Herkunft  ist  noch  immer  unsicher,  wenn  wir 
nicht  der  gewiss  beachtenswerten  Angabe  des  Frankfurter 
Kunst  Verlegers  Vincenz  Steinmeyer  (Anf.  des  17.  Jahrhun- 

4* 


28 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


derts)  glauben  wollen ,  der  ihn  zu  Nürnberg  geboren  wer¬ 
den  läßt.  Jedenfalls  aber  kam  Amberger  bald  aus  der 
Pegnizstadt  fort;  denn  soweit  sich  seine  Kunst  genau  ver¬ 
folgen  läßt,  —  ganz  frühe  Arbeiten  sind  noch  nicht,  etwas 
spätere  nicht  mit  Sicherheit  nachgewiesen  —  hängt  er  mit 
der  Augsburger  Kunstweise  zusammen.  Doppelmayr  glaubte, 
er  habe  bei  Holbein  Vater  gelernt.  Doch  hat  zweifellos 
Hans  Burgkmair,  der  dem  talentvollen  Jüngling  als  fortge¬ 
schrittener  Künstler  viel  näher  stehen  musste,  einen  Haupt¬ 
anteil  an  Amberger’s  Ausbildung.  Besonders  viel  aber  ver¬ 
dankt  er  den  Venezianern,  in  erster  Linie  Tizian;  Haasler 
glaubt,  dass  der  Künstler  in  den  ersten  Jahren  des  3.  De- 
cenniums  sich  zu  Venedig  aufgehalten  habe.  Jedenfalls  ver¬ 
rät  das  Bildnis  des  Anton  Welser  von  1527  bereits  vene¬ 
zianischen  Einfluß.  Doch  dürfte  eine  zweite  Reise  in  späteren 
Jahren  meines  Erachtens  nicht  auszuschließen  sein.  Am 
15.  Mai  1530  erhielt  Amberger  die  Malergerechtigkeit  zu  Augs¬ 
burg,  wo  er  jedoch  schon  früher  ansässig  gewesen  sein  muss; 
er  hatte  sie  von  seiner  Frau,  welche  die  Witwe  eines  Zunft¬ 
genossen  gewesen  war.  Zwischen  dem  1.  November  1561  und 
dem  19.  Oktober  1562  ist  er  gestorben.  Von  der  künstleri¬ 
schen  Thätigkeit  Amberger’s  entrollt  uns  Haasler  ein  sorg¬ 
fältig  und  richtig  gezeichnetes  Bild.  Auf  S.  25  spricht  der 
Verfasser  von  dem  „mittleren  Breu“,  den  es  aber  nicht 
gibt,  und  auf  S.  20  und  21  von  den  Orgelflügeln  der  St. 
Annakirche,  die  nach  meiner  Ansicht  sämtlich  von  Breu 
senior  sind.  Vgl.  darüber  Stiassny,  Zeitschrift  für  christliche 
Kunst  1894,  S.  102  ft'.,  dessen  Zuschreibung  auf  meinen  Mit¬ 
teilungen  beruht.  Die  Freskenreste  Burgkmair’s  im  Fugger¬ 
hofe  schreibt  nicht,  wie  der  Verfasser  sagt,  „eine  alte  Tra¬ 
dition“  dem  Altdorfer  zu,  sondern  dies  beruht  bloß  auf 
Waagen’s  Hypothese,  die  vermutlich  von  Eigner  übernommen 
war.  ln  der  Chronik  für  vervielf.  Kunst,  1891,  S.  56,  habe 
ich  darüber  gesprochen.  Der  Verfasser  hält  offenbar  Alfred 
Schmid  und  Heinrich  Alfred  Schmid  für  zwei  Personen, 
während  die  Namen  bloß  eine  bezeichnen.  WILH.  SCHMIDT. 

Les  chefs  -  doeuvre.  Peinture ,  sculpture,  architecture. 

Publies  sous  la  direction  de  M.  Henry  Jouin.  Paris, 

Librairie  Renouard  &  Maison  Ad.  Braun  et  Cie.  Fol. 

*  Dieses  in  monatlichen  Heften  erscheinende  Sammel¬ 
werk,  die  neueste  Publikation  der  Firma  Braun  in  Dornacb, 
verfolgt  den  Zweck ,  die  klassischen  Meisterwerke  der  Ma¬ 
lerei,  Skulptur  und  Architektur  alter  und  neuerer  Zeit  in 
Heliogravüren  zu  vereinigen,  begleitet  von  Texten,  die  alles 
zur  Erläuterung  der  Kunstwerke  Nötige  darbieten.  Den 
Inhalt  der  beiden  ersten,  uns  vorliegenden  Hefte  bilden  der 
Parthenon,  dieGioconda  von  Leonardo,  die  Syndici  von  Rem- 
hran/lt  und  der  Frühling  des  Botticelli.  Die  dazu  gehörigen 
Texte  rühren  von  A.  de  Calonne,  II.  Jouin,  Bayer  Marx 
und  Marcel  Raymond  her.  Die  Ausführung  der  Tafeln  lässt 
an  Schärfe  und  malerischer  Feinheit  nichts  zu  wünschen 
übrig.  Die  Texte  zeugen  durchweg  von  Geschmack  und 
Kennerschaft.  Außer  der  gewöhnlichen  Ausgabe,  zu  50  Frank 
per  Jahr,  erscheint  auch  eine  Luxusausgabe  des  Werkes  auf 
japanischem  Papier,  zu  dem  doppelten  Abonnementspreise. 


Elefanten  in  ihrem  Element.  Nach  dem  Gemälde  von 
W.  Kuhnert,  radirt  von  F.  Kr ostewitz.  Auf  der  vorjährigen 
Berliner  Kunstausstellung  erschien  der  Maler  Wilhelm  Kuh¬ 
nert,  der  sich  bis  dahin  nur  durch  große  Darstellungen  von 
Löwen,  Tigern  und  anderen  größeren  Raubtieren  bekannt 
gemacht  hatte,  mit  einer  Reihe  von  elf  Ölgemälden,  deren 
Motive  teils  Ägypten,  teils  den  deutschen  Kolonieen  Ost- 
afriba’s  entlehnt  waren.  In  allen  waren  die  Menschen  und 
die  Tiere,  die  die  Landschaften  belebten,  wie  die  Land¬ 
schaften  selbst  mit  ihren  mannigfaltigen  Stimmungen  und 
Beleuchtungen  mit  einer  gleichen  zeichnerischen  und  kolo¬ 
ristischen  Meisterschaft  durchgebildet,  die  nur  durch  gründ¬ 
liche  Ortsstudien  gewonnen  sein  konnten.  In  der  That  lagen 
in  diesen  Bildern  die  ausgereiften  Früchte  eines  mehrmonat¬ 
lichen  Aufenthalts  in  Kairo  und  Oberägypten  und  einer  Reise 
vor,  die  Kuhnert  vom  September  1891  bis  Februar  1892  von 
Tanga  nach  dem  Kilimandscharo  und  wieder  zurück  gemacht 
hat.  Wohl  waren  schon  andere  deutsche  Maler  soweit  vor¬ 
gedrungen,  aber  nur  im  Gefolge  von  Afrikaforschern,  hinter 
deren  Zwecken  die  der  Künstler  zurücktreten  mussten,  wäh¬ 
rend  Kuhnert  selbst  eine  eigene  Expedition  ausgerüstet  hatte 
und  in  der  ganzen  Reisezeit  nur  seinen  Studien  lebte,  die 
sich  ebensosehr  auf  die  Landschaft  und  die  Vegetation  wie 
auf  Menschen  und  Tiere  erstreckten.  Diesen  Studien  ver¬ 
danken  seine  Bilder  nicht  bloß  ihre  gleichmäßige  Durch¬ 
bildung,  sondern  auch  das  Gepräge  der  Wahrhaftigkeit,  das 
selbst  auf  den  überzeugend  wirkt,  dem  die  tropische  und 
subtropische  Natur  unbekannt  ist.  Man  hat  an  der  ostafri¬ 
kanischen  Natur  immer  den  Mangel  an  Großartigkeit,  die 
Stimmungs-  und  Poesielosigkeit  getadelt.  In  den  Land¬ 
schaften  Kuhnerts  machen  sich  diese  Mängel  nur  wenig  oder 
gar  nicht  bemerkbar.  Eine  „Mondnacht“  ist  sogar  von 
einem  fast  romantischen  Zauber  erfüllt,  und  selbst  über 
unserer  Sumpflandschaft  mit  den  lustig  in  ihrem  Element 
herumstampfenden  Dickhäutern  spannt  sich  ein  Himmel, 
schwebt  eine  Atmosphäre,  die  dem  Künstler  Gelegenheit 
gegeben  haben,  die  feinsten  koloristischen  Reize  zu  entfalten. 
Als  Tier-  und  Landschaftsmaler  ist  Kuhnert  eigentlich  Auto¬ 
didakt.  Am  28.  Sept.  1865  in  Oppeln  in  Schlesien  geboren, 
bildete  er  sich  auf  der  Berliner  Akademie,  zuletzt  unter 
der  Leitung  von  Paul  Thumann  und  Ernst  Hildebrand,  zum 
Bildnismaler  aus,  und  es  fehlte  ihm  auch  nicht  an  Erfolgen 
auf  diesem  Gebiete.  Aber  sie  waren  doch  nicht  stark  genug, 
um  sein  künstlerisches  Wollen  ganz  auszufüllen.  Der  Um¬ 
stand,  dass  sich  sein  Atelier  in  der  Nähe  des  zoologischen 
Gartens  befand,  führte  ihn  erst  seinem  wirklichen  Berufe 
zu.  Wie  alle  Berliner  Tiermaler,  machte  er  hier  an  dem 
beispiellos  reichen  Material  seine  ersten  Studien,  und  seine 
Löwen-  und  Tigerbilder  fanden  Beifall,  wenn  sie  auch,  be¬ 
sonders  im  landschaftlichen  Teil,  an  einer  gewissen  Stumpf¬ 
heit  und  Trockenheit  des  Tons  litten.  Diese  begreiflichen 
Schwächen  hat  er  nunmehr  überwunden,  nachdem  es  ihm 
vergönnt  gewesen,  die  Heimat  seiner  vierfüßigen  Modelle 
aus  den  Tropen  mit  eigenen  Augen  zu  schauen  und  ihre 
Eigentümlichkeiten  auf  zahlreichen  Studienblättern  festzu¬ 
halten.  R- 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


•1 

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SPANISCHE  MISCELLEN. 

VON  CARL  JUS  TI. 

II. 

Der  Königliche  Palast  der  Habsburger  zu  Madrid. 


MSTEHENDE  Darstellung 
führt  das  alte,  im  Jahre  1734 
durch  Feuer  zerstörte  Kö¬ 
nigschloss  zu  Madrid  in 
einem  Zustand  und  Zeit¬ 
raum  vor  Augen,  der  bisher 
durch  keine  Abbildungen 
vertreten  war.  Alle  die 
vorhandenen  Stiche  dieses  seit  dem  XVI.  Jahrhundert 
umgestalteten  Gebäudes  gehen  den  vollendeten  oder 
nahezu  vollendeten  Neubau,  genauer  den  nach  da¬ 
maligem  Geschmack  schönsten  und  allein  sehens¬ 
werten  Teil:  die  Haupt-  und  Südfront,  wie  sie 
erst  im  XVII.  Jahrhundert,  unter  dem  dritten  und 
vierten  Philipp  im  Stil  der  italienischen  Hochrenais¬ 
sance  zur  Ausführung  gekommen  ist.  Nur  in  Pro- 
specten  der  Stadt  Madrid,  wo  der  Palast  in  der  Süd¬ 
westachse  erscheint,  sieht  man  ausser  jener  Fassade 
auch  noch  die  dem  Thalabhang  zugewandte,  in  ihrem 
altertümlichen  Zustand  verbliebene  Westseite. 

Die  Zeichnung  ist  geeignet,  über  die  Geschichte 
dieses  künstlerisch  wie  geschichtlich  merkwürdigen 
Palastes  neues  Licht  zu  verbreiten.  Seine  Entstehung, 
seine  mittelalterlichen  Wandlungen  sind  in  ein  wahr¬ 
scheinlich  hoffnungloses  Dunkel  gehüllt;  festen  Boden 
gewinnt  man  erst,  seit  ihn  Kaiser  Karl  V.,  angelockt 
durch  das  (damalige)  Klima  Madrids,  zeitgemäß  zu  er¬ 
neuern  beschloss.  Diesen  Umbau,  den  er  im  Jahre  1537 
begann  und  bei  seiner  Abreise  nach  Deutschland  (1543) 
dem  Prinzen  Philipp  als  Gobernador  des  Reiches 
überließ,  sieht  man  hier  im  Werke,  ja  zu  einem  vor¬ 
läufigen  Abschluss  gebracht. 

Das  Blatt  trägt  kein  Datum,  es  scheint  aber  in 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  2. 


das  siebente  Jahrzehnt  des  Jahrhunderts  oder  wenig 
später  verlegt  werden  zu  müssen.  So  sah  das  Schloss 
aus  in  dem  Augenblick,  wo  Philipp  II.  die  für  Spa¬ 
niens  Zukunft  so  folgereiche  Begründung  einer 
ständigen  Residenz  und  Hauptstadt  und  deren  Ver¬ 
legung  nach  Madrid  beschloss  und  vollzog. 

Der  Zeitpunkt  dieser  Verlegung  lässt  sich  mit 
ziemlicher  Genauigkeit  bestimmen,  —  man  müsste 
denn  die  allerhöchste  Beförderung  der  Stadt 
Madrid  auch  amtlich  schwarz  auf  weiss  zu  sehen 
verlangen.  Die  Depeschen  des  Venezianers  Paul 
Thiepolo J)  geben  ein  Bild,  wie  die  Übersiedelung 
des  Hofes  damals  Hals  über  Kopf  ins  Werk  ge¬ 
setzt  wurde.  Die  Übelstände  Toledo’s  waren  in  den 
letzten  Jahren  unerträglich  geworden,  besonders 
während  der  herrschenden  Dürre  des  Winters  auf 
1561,  wo  die  Pferde  zu  Skeletten  abmagerten. 
Dass  der  Hof  an  einen  menschlicheren  Platz  verziehen 
müsse,  das  war  ein  unerschöpfliches  Unterhaltung¬ 
thema  der  leidenden  Personen.  Der  König  hatte  sich 
wie  immer  in  Schweigen  gehüllt.  Thiepolo  hatte 
eben  einen  ganz  verzweifelten  Brief  nach  Venedig 
geschrieben  und  um  Sendung  des  Nachfolgers  ge¬ 
beten  (4.  Mai)1  2).  Da  überraschte  eines  Morgens  die 
Herren  des  Hofes  eine  königliche  Ankündigung,  sich 
zum  sofortigen  Aufbruch  nach  Madrid  zu  rüsten 


1)  Dispacci  degli  Ambasciatori  Veneti  in  Spagna.  Arch. 
di  Stato,  Frari. 

2)  Non  so  che  altro  partito  prendere,  che  supplicar  la 
Ser.  tä  vra.  che  voglia  compassionare  alli  danni  mei  in  quel 
modo  che  le  dittarä  la  molta  sua  benignitä,  et  mandarmi 
quanto  prima  sia  possibile  il  successore,  che  sopra  tutte  le 
cose  e  da  me  desiderato. 


5 


Der  Königliche  Palast  in  Madrid  um  die  Mitte  des  XVI.  Jahrhunderts.  Nach  einer  Zeichnung  von  Ant.  van  den  Wynoaerdi 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


31 


(8.  Mai) J).  Gleichzeitig  erfolgte  die  Sendung  der 
Fouriere.  Vom  7.  Mai  ist  das  bekannte,  von  Llaguno 
mitgeteilte  Schreiben  an  den  seit  mehreren  Jahren 
allein  mit  der  Bauführung  betrauten  Luis  de  Vega 
(t  1562),  für  Instandsetzung  der  Wohnungen  inner¬ 
halb  eines  Monats  zu  sorgen. 

•  ... 

In  demselben  Monat  Mai  war  Seine  Majestät 

selbst  nach  längerer  Zeit  wieder  in  Madrid  erschienen, 
um  die  Quartiere  in  Palast  und  Stadt  zu  verteilen. 
Die  Not  des  armen  Hofes  war  damit  aber  keines¬ 
wegs  zu  Ende;  man  kam  zunächst  aus  dem  Regen 
in  die  Traufe.  „Da  ist  kein  Haus,  wo  Fenster,  Treppen, 
Ställe  und  alles  sonst  Nötige  in  Ordnung  wäre; 
alles  muss  neu  gemacht  werden  .  .  .  Denn  die  Leute, 
die  da  wohnen,  wo  der  Hof  hinzugehen  pflegt,  geben 
sich  nicht  die  Mühe,  nur  einen  Nagel  einzuschlagen. 
Sie  lassen  alles  verfallen,  damit  die  Hofherren  es 
selbst  in  Stand  setzen  oder  neu  machen“. 

Am  12.  Mai  schreibt  Thiepolo  bereits  aus  der 
neuen  Residenz.  Vor  drei  Tagen  ist  er  eingetroffen 
(den  9.);  ein  großer  Theil  des  Hofes  ist  gleich¬ 
falls  schon  am  Platz,  obwohl  die  Quartiere  noch  nicht 
wohnlich  gemacht  sind.  — 

Die  kolorirte  Zeichnung  befindet  sich  in  einem 
auf  der  Wiener  Hofbibliothek  bewahrten  Bande  spa¬ 
nischer  Städteansichten,  mit  dem  Einbandtitel  „Win- 
garde,  villes)d’Espagne  1563—1570“.  Dieser  Name 
findet  sich  auch  auf  einigen  Blättern,  auf  andern  der 
Hoefnagels.  Unser  Blatt  ist  ohne  Namen.  Antonie  van 
den  Wyngaerde,  in  Spanien  Antonio  (bei  Dävila  irrig 
Jorge)  de  las  Vinas  genannt,  war  im  Jahre  1561  mit 
seiner  Familie  nach  Spanien  gekommen  und  in  des 
Königs  Dienst  getreten.  Noch  zur  Zeit  Philipps  IV. 
sah  man  im  großen  Fest-  und  Komödiensaal  viele 
seiner  Prospekte  (mapas)  von  spanischen,  italienischen 
und  flandrischen  Städten,  die  ohne  Zweifel  sein  Gro߬ 
vater  hier  hatte  aufhängen  lassen.  Wyngaerde  galt 
in  diesem  Fach  als  hervorragend  (tuvo  primor  en 
esto,  sagt  Dävila).  Inventare  und  Reisende  führen  diese 
Städtebilder  einzeln  auf.1 2) 


1)  Hä  deliberato  il  Ser.  mo  Re,  che  la  Corte  vädi  ä  Madrid, 
dove  giä  sono  andati  i  forieri  ä  far  li  alloggiamenti,  cosa 
che  generalmente  hä  poco  piaccinto  ec. 

2)  Die  Abbildung  ist  nach  einer  Abzeichnung  schon  mit¬ 
geteilt  worden  von  M.  Büdinger  in  den  Sitzungsberichten 
der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften,  Band  128.  1893. 
Der  Verfasser,  der  in  seinem  Buch  über  Don  Carlos  (1891)  dem 
zuverlässigen  Gachard  geglaubt  hatte,  dass  es  von  dem  nach 
Madoz  geographischen  Lexikon  (1848)  „unschönen“  Bau  „weder 
eine  Abbildung,  noch  eine  genaue  Beschreibung  gebe“,  hat 
in  diesen  „Mitteilungen“  die  ihm  seitdem  bekannt  gewor¬ 
denen  Abbildungen  und  Beschreibungen  kritisch  zu  ordnen 


Der  Standpunkt  unserer  Schloßansicht  liegt  un¬ 
gefähr  in  der  Südostdiagonale;  wir  übersehen  also 
die  ganze  Süd-  und  Ostseite,  von  dem  (vollendeten) 
südwestlichen  Eckturm  (torre  dorada )  an  bis  zum 
nordöstlichen  (noch  im  Bau  begriffenen),  der  an  die 
Gärten  stößt. 

Wenden  wir  uns  zuerst  der  Südseite  oder  Haupt- 
und  Eingangsfront  zu,  so  tritt  uns  hier  ein  unregel¬ 
mäßiger  Komplex  von  Bauteilen  entgegen,  ohne  Ein¬ 
heit,  wie  es  scheint,  des  Plans,  des  Stils  und  der 
Zeit.  Diese  Südfront  hat  (abgesehen  von  dem  Eck¬ 
turm)  gar  keine  Ähnlichkeit  mit  der  bisher  allein 
bekannten,  ganz  regelrechten,  fast  ganz  flachen  Fas¬ 
sade  des  habsburgischen  Alcazar.  Drei  stark  vor¬ 
springende  Türme  oder  turmartigen  Bauten,  un¬ 
gleiche  Zwischenwandflächen;  der  Eckturm  ohne 
Gegenstück.  Dagegen  bildet  die  südöstliche  Eck¬ 
partie  mit  der  Ostwand  ein  regelmäßiges  Ganzes. 

In  der  Mitte  dieser  Fassade  sondert  sich  deut¬ 
lich  der  Thorbau  ab,  eine  Portalfront,  flankirt  von 
zwei  massigen  viereckigen  Thortürmen,  wie  eine  in 
die  Palastwand  eingeschobene  Thorburg.  Das  Glocken¬ 
häuschen  dahinter  gehört  zu  der  Palastkapelle;  in 
den  spätesten  Abbildungen  (z.  B.  von  1707)  ragt 
hier  eine  Kuppel  hervor.  Da  die  Renaissance  solche 
hervortretende  Teile  vermeidet,  so  wird  diese  Thor¬ 
anlage  sicher  ein  Vermächtnis  des  Mittelalters  sein. 
Die  Türme  enthielten,  nach  den  wenigen  breiten 
Fenstern,  im  Hauptgeschoss  einen  großen  Saal.  Uber 
dem  Untergeschoss  laufen  Altane  her  in  der  ganzen 
Länge  der  Vorderwand.  Aber  die  Mittel-  und  Eingang¬ 
wand  wurde  unverkennbar  im  Renaissancestil  des 
vierten  und  fünften  Jahrzehntes  des  XVI.  Jahrhunderts 
überarbeitet.  Das  Verhältnis  ist  also  ähnlich  wie 
bei  dem  Castel  nuovo  zu  Neapel,  wo  das  lombardische 
Prachtportal  Alfons’  I.  zwischen  zwei  hier  freilich 
runde  Thürme  eingesetzt  ist.  Wir  brauchen  übrigens 
nur  nach  der  Madrid  nächsten  castilischen  Stadt, 
Alcalä  de  Henares  zu  gehen,  um  in  dem  Prachtbau 
des  Collegs  von  Santildefonso,  begonnen  1539  *)  von 
Rodrigo  Gil  de  Hontaüon,  unter  Mitwirkung  des 
Covarrübias,  einen  ganz  ähnlichen,  dreistöckigen 
Eingangsbau  zu  finden.  Dieselben  flankir  enden  Säulen¬ 
paare  in  den  zwei  ersten,  dieselben  drei  Balkon¬ 
fenster  in  der  Hauptetage  und  das  kaiserliche  Wappen 


versucht;  indess,  wie  mich  dünkt,  die  richtige  Deutung, 
besonders  der  Wyngaerde’schen  Zeichnung  nicht  immer 
getroffen.  Auch  scheint  er,  in  der  Absicht,  auf  jene  voreilige 
Behauptung  am  Schluss  entschuldigend  zurückzukommen, 
sich  etwas  zu  skeptisch  ausgedrückt  zu  haben. 

1)  Auf  der  Fassade  steht  die  Jahreszahl  1543. 

5* 


32 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


in  der  dritten.  Von  der  Bogengalerie  der  Attika 
ist  liier  nur  ein  Ansatz.  Nun  aber  ist  bekannt,  dass 
Carl  V.  im  Jahre  1537  die  Baumeister  Alonso  de 
Cavarrübias  und  Luis  de  Vega  gleichzeitig  und  an¬ 
fangs  alternirend  mit  dem  Umbau  der  Alcazars  von 
Toledo  und  Madrid  betraut  hatte;  eine  lateinische 
Inschrift  im  Innern  des  letztem  enthält  den  Namen 
Carl  V.  und  die  Jahrzahl  1539. 

Ganz  neu  für  alle,  die  sich  bisher  für  das  alte 
Schloss  interessirten,  ist  der  Anblick  des  Ostflügels. 
Er  lag  der  jetzigen  Plaza  de  Oriente  und  der  Stadt  Zu¬ 
ge  wau  dt,  und  gehörte  zu  der  Wohnung  der  Königin  und 
des  Prinzen,  el  cuarto  de  la  Reina.  Seine  Außenwand 
wurde  schon  am  Ende  der  XVI.  Jahrhundert  großen¬ 
teils  zugebaut.  Hier  ließ  nämlich  Philipp  II.  um 
einen  , Küchenhof‘  ( patio  de  las  cocinas)  große  Beam¬ 
ten-  und  Wirtschaftgebäude,  fast  von  dem  Umfang 
des  Residenzschlosses,  anlegen.  Sie  füllten  den  Raum 
zwischen  dem  Alcazar  und  dem  Schatzhause  ( Casa  de 
Tesoro)  aus.  Cuelbis  schreibt  1599:  „Rechts  hat  der 
König  ein  anderes  großes  Gebäude  angefangen  für 
die  Hof  beamten“.  Diesen  völlig  verschwundenen  Bau 
sieht  man  auf  dem  in  Antwerpen  1654  erschienenen 
Stadtplan  von  Pedro  Texeira.  Hier  kann  man  von 
der  Disposition  des  Schlosses  und  seiner  Umgebung, 
den  Gärten  und  Parks,  bis  auf  den  langen,  über  die 
benachbarten  Gassen  nach  dem  Kloster  der  Encar- 
nacion  führenden  Corridor  eine  deutliche  Vorstellung 
gewinnen. 

Jener  Ostflügel  präsentirte  sich  hiernach  im 
X V J .  Jahrhundert  als  ein  imposanter,  regelmäßiger 
Palast  in  dem  ernsten  weiträumigen  Geschmack  des 
spätem  XV.  und  beginnenden  XVI.  Jahrhunderts. 
Will  man  einen  bekannten  Typus  nennen,  so  wäre 
es  der  venezianische  Palast  in  Rom.  Dieselben  breiten 
Verhältnisse,  über  den  Rundbogenfenstern  im  Erd¬ 
geschoss  diebreiten  Balkonfenster  des  piso  pr ineipal, 
dessen  Wandflächen  sonst  jeder  Gliederung  und  Aus¬ 
schmückung  bar  sind.  Solche  lange  Palastfassaden, 
die  sich  wesentlich  als  Saalbauten  aussprechen,  mit 
reichdekorirten  Fenstern  in  weiten  Zwischenräumen 
kommen  an  vielen  monumentalen  Palast-,  Collegien- 
und  Hospitalbauten  jener  Zeit  vor.  Bekannt  sind 
der  noch  halbgotische  Palast  der  Medina  Celi  zu 
Cogolludo,  die  Hospitäler  Ferdinands  und  Isabella’s 
in  Granada  und  Santiago,  das  des  Cohos  zu  Ubeda, 
das  Colleg  des  Cardinal  Mendoza  zu  Valladolid. 

Es  ist  nicht  sicher,  dass  dieser  Flügel  im 
X\  I.  Jahrhundert  von  Grund  neu  aufgeführt  worden 
sei.  Nur  die  Fensterverkleidungen  und  die  Attica  mit 
ihrer  Pilasterstellung  zwischen  kleinen  Rundbogen¬ 


fenstern  und  die  um  das  Dach  geführte  Balustrade 
muss  damals  im  plateresken  Stil  erneuert  worden  sein: 
sie  findet  sich  fast  gerade  so  an  der  Fassade  des  Col- 
legs  von  Santildefonso.  Der  noch  im  Bau  begriffene 
Nordostturm  mit  dem  Kranen  weist  darauf  hin, 
dass  man  auch  diesen  in  die  begonnene  Umge¬ 
staltung  hineinziehen  wollte. 

In  demselben  plateresken  Stil  waren,  aus  der  z.  B. 
bei  Mesonero  Romanos  mitgeteilten  Ansicht  zu 
schließen,  die  inneren  Palasthöfe  von  dem  Kaiser  er¬ 
neuert  worden.  Die  Angabe  Llaguno’s,  dass  dieser  be¬ 
schlossen  habe,  an  Stelle  der  früheren  plaza  de 
armas  einen  Hof  [den  späteren  patio  segundo\ ,  Por¬ 
tiken  und  Gänge  auf  Säulen,  die  Treppe,  verschie¬ 
dene  Prachtgemächer  und  zwei  Thürme  zu  errichten, 
bezieht  sich  auf  den  von  ihm  geplanten,  aber  zum 
Teil  erst  viel  später  vollendeten  Gesamtumbau. 

Die  Umgebung  des  Palastes,  und  die  plaza  de 
palacio  hat  noch  ein  ziemlich  wüstes  Aussehen.  Es 
hatte  dem  Könige  viele  Mühe  und  Kosten  verursacht, 
die  Freilegung  des  Schlosses  zu  bewerkstelligen.  Um 
den  Eckturm  herum  und  nur  von  ihm  aus  zugäng¬ 
lich  ist  ein  Teil  des  offenen  Platzes  durch  eine  Mauer 
abgetrennt  worden.  Hinter  ihr  lag  ein  Prunkgarten, 
später  Jardin  de  los  Emperadores  genannt,  nach  zwölf 
Cäsarenbüsten,  einem  Geschenk  des  Cardinais  von 
Montepulciano  aus  dem  Jahre  1561. 

Statt  dieses  verworrenen  und  bunten  Complexes 
von  Baukörpern  und  Wandflächen  in  Wyngaerde’s 
Zeichnung  steht  in  den  Stichen  des  XVII.  und  XVIII. 
Jahrhunderts  eine  regelmäßige,  modern  italienische 
Palastfassade  1).  Wann  und  durch  wen  hat  sich  diese 
Wandlung  vollzogen?  Hier  lassen  uns  die  Urkunden 
und  die  Schriftsteller  im  Stich. 

Aber  unsere  Abbildung  scheint  ein  festes  Datum 
zu  bieten.  Der  große  vierstöckige  Turm  mit  seinen  lan¬ 
gen,  etwas  zusammengedrängten  Fenstern  und  Fen¬ 
sterverdachungen  ist  in  einem  andern  Stil  als  die  bis¬ 
herigen  Verbesserungen  und  Zusätze.  Er  macht  den 
Eindruck  eines  begonnenen  Neubaues  nach  veränder¬ 
tem  Grundplan  und  Geschmack.  Der  platereske 
Stil  ist  aufgegeben,  ein  nüchternes  Cinquecento 
an  seine  Stelle  getreten.  Dieser  Turm  nun  ist  das 
einzige  Stück,  das  sich  auf  den  späteren  An¬ 
sichten  wiederfindet.  Es  ist  die  berühmte  Torre  dorada, 
der  Bibliothekturm,  ein  Lieblingsaufenthalt  Phi¬ 
lipps  II.,  wahrscheinlich  weil  er  Stadt  wie  Park  und 


1)  Diese  giebt  auch  der  Pariser  Stich  von  Aveline  wieder, 
und  es  ist  mir  unverständlich,  wie  man  darin  den  Zustand 
vor  1561  hat  finden  können. 


Der  Königliche  Palast  zu  Madrid  im  XVII.  Jahrhundert.  Nach  dem  Stich. 


34 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


Ebene  bis  zum  Guadarramagebirge  und  dem  Escorial 
beherrschte.  Hier  hatte  er  sich  eine  Privatwohnung 
nach  seinem  Geschmack  eingerichtet.  Dass  dies 
schon  in  den  60  er  Jahren  geschehen  war,  ergiebt 
sich  auch  aus  den  Dialogen  Carducho’s.  Sie  ent¬ 
halten  eine  Angabe  der  dortigen  Wandmalereien 
des  Gaspar  Becerra,  der  bereits  1570  gestorben  ist. 
Er  nennt  den  Hauptsaal  einen  königlichen  Raum, 
einzig  in  Plan  und  Ausführung  ( pieza  de  singulär 
traza  y  adorno). 

Die  Frage  ist  nun,  hat  Philipp  mit  seinem  Bau¬ 
meister  Vega  schon  gleichzeitig  mit  diesem  Turm 
auch  die  ganze  übrige  Südfront  geplant  und  ent¬ 
worfen?  Die  Übereinstimmung  in  Stil  und  Verhält¬ 
nissen  scheint  dafür  zu  sprechen.  Wenn  er  in  dem 
Schreiben  an  Vega  vom  Mai  1561  voraussetzt,  das 
dieser  im  Stande  sein  werde,  in  Monatsfrist  die  Palast¬ 
wohnungen  in  Stand  zu  setzen,  so  kann  sich  dies 
nur  auf  einen  vorläufigen  Abschluss  beziehen,  dessen 
Umrisse  in  den  bei  seinem  letzten  Aufenthalt  in 
Madrid  erteilten  Verfügungen  angegeben  worden 
waren.  Bei  dem  großen  Wert,  den  die  Architekten 
der  Zeit  und  der  Monarch  selbst  auf  strenge  Regel¬ 
mäßigkeit  legten,  ist  es  schwer  denkbar,  dass  er  die 
Eingangsfront  seines  Königsschlosses  mit  solcher 
Flickarbeit  hätte  belassen  wollen. 

Die  Sache  liegt  indess  nicht  so  einfach.  Was 
man  später  hier  ausgeführt  sieht,  war  nämlich  nicht 
bloss  eine  dekorative  Arbeit,  eine  Bekleidung  der 
Südfront  mit  modernen  Formen.  Es  hatte  sich  das 
Bedürfnis  herausgestellt,  diesen  Flügel  durch  einen 
parallelen,  dessen  Tiefe  verdoppelnden  Anbau  zu 
erweitern.  Dieser  Anbau  sollte  eine  Reihe  der  vor¬ 
nehmsten  und  prachtvollsten  Räume  des  Schlosses 
enthalten. 

Wenn  man  den  einzigen  erhaltenen  Plan  des 
Alcazar,  genauer  des  Hauptgeschosses  seiner  west¬ 
lichen  Hälfte,1)  betrachtet,  so  bemerkt  man,  dass  der 
Südflügel  sich  vor  allen  andern  durch  eine  doppelte 
Flucht  von  Sälen  auszeichnet.  Beide  Reihen  aber 
sind  geschieden  durch  eine  Zwischenmauer  von  auf¬ 
fallender  Stärke.  Sie  übertrifft  an  Dicke  die  Um- 
fassungs-  und  Außenmauern  dieses  und  aller  übrigen 
Flügel.  Die  Vermutung,  dass  diese  die  alte  Außen¬ 
mauer  war,  wird  bestärkt  durch  die  Existenz  eines 
Rundturmes,  an  den  sie  stößt,  und  der  früher  die 
hierher  fällende  Südwestecke  des  Palastes  befestigte. 
Die  zweite  Reihe  von  Gemächern  war  also  dem  Plan 
des  ersten  Baumeisters  fremd,  sie  ist  erst  später  hier 

1)  Mitgeteilt  in  meinem  Velazquez  I,  184. 


zugesetzt,  der  Südmauer  vorgelegt  worden.  Und  das 
wird  durch  zahlreiche  geschichtliche  Notizen  be¬ 
stätigt. 

Die  innere  Hälfte  des  Südflügels  enthält  Ge¬ 
mächer  und  Säle,  die  in  den  Berichten  des  XVI.  Jahr¬ 
hunderts  bis  in  das  zweite  Jahrzehnt  des  XVII.  eine 
Rolle  spielen:  den  großen  Saal  für  die  öffentlichen 
Feste  und  Staatsaktionen  (Sala  de  las  Comedias,  6  de 
las  fiestas  püblicas),  das  Schlafzimmer  Ihrer  Majestäten, 
den  Furiensaal,  wo  die  vier  Tartarusfiguren  Tizians 
aufgehängt  waren.  Noch  im  Jahre  1615  sind  die 
Heiratskapitulationen  zwischen  Ludwig  XIII.  und  der 
Infantin  Dona  Anna  in  dem  alten  Komödiensaal 
abgeschlossen  worden. 

Die  äußere  Hälfte  enthält  dagegen  lauter  Räume, 
die  erst  im  XVII.  Jahrhundert  genannt  werden,  die 
Galerie  der  Königin,  auch  Galerie  der  Bildnisse  und 
Südgalerie  genannt,  den  Spiegelsaal  über  Thor  und 
Vorhalle,  und  den  achteckigen  Saal  (la  pieza  ochavada ). 
Cuelbis  in  seinem  Bericht  von  1599,  selbst  Gil  Gon¬ 
zalez  Davila  in  seiner  Beschreibung  des  Alcazar  vom 
Jahre  1623  gedenken  ihrer  noch  mit  keinem  Wort. 
In  den  Inventaren  der  Gemälde  kommen  sie  zuerst 
vor  unter  Philipp  IV.  (1636).  Die  große  Südgalerie 
scheint  zuerst  fertig  geworden  zu  sein ,  unter  Phi¬ 
lipp  II-I.  Im  Inventar  von  1636  werden  hier  ver¬ 
zeichnet:  sechs  Bildnisse  dieses  Herrschersund  seiner 
Familie  von  Villandrando;  Ansichten  der  Schlösser 
von  Fabrizio  Castello  (die  der  König  1611  bestellte); 
die  Bildnisse  Alberts  und  Isabella’s  von  Rubens;  ferner 
Philipp  H.  im  Alter  und  die  Königin  Anna.  Alles 
Bilder  die  auf  die  Zeit  Philipps  III.  hinweisen.  Später 
hat  Philipp  IV.  den  Saal  für  seinen  Schatz  veneziani¬ 
scher  Gemälde  bestimmt. 

Der  Spiegelsaal,  in  dem  er  bei  den  feierlichsten 
Anlässen  die  fremden  Gesandten  empfing,  heisst  noch 
1637  die  pieza  nueva  sobre  cl  zaguan  y  puerta  princi- 
pal  de  palacio  (das  neue  Gemach  über  der  Flur  und 
dem  Hauptthor  des  Palastes).  Und  Carducho  sagt, 
dass  er  kürzlich  errichtet  sei:  cl  salon  grande,  que 
se  hizo  de  nuevo ,  que  tiene  balcones  ä  la  plaza 
(S.  350)  (der  große  Saal,  der  neu  angelegt  wurde, 
der  Balkons  auf  den  Platz  hat). 

Noch  später  ist  der  achteckige  Saal,  die  Tribuna 
des  Palastes,  unter  Velazquez  Leitung  eingerichtet 
worden. 

Dies  sind  die  Gemächer,  deren  Fenster  mit  den 
vergoldeten  eisernen  Balkons  in  den  Prospekten 
des  XVII.  und  XVIII.  Jahrhunderts  zu  sehen  sind, 
die  Räume  wo  sich  der  monarchische  Pomp  und 
zum  Teil  auch  die  Kunstliebe  der  letzten  Habsbur- 


SPANISCHE  MISCELLEN. 


35 


ger  und  des  ersten  Bourbonen  entfalteten.  Dass  Phi¬ 
lipp  II.  bei  der  Verlegung  der  Residenz  nach  Madrid 
sich  ganz  besonders  mit  der  Frage  der  Hauptge¬ 
mächer  dieser  Südfront  beschäftigte,  geht  aus  dem 
Briefe  an  Vega  hervor,  in  dem  er  deren  Risse  ( traxas ) 
einfordert;  dass  er  ihre  Ausführung  seinem  Nach¬ 
folger  überlassen  musste,  hatte  aber  gute  Gründe. 

Das  Schicksal  wollte,  dass  gerade  im  Anfang 
dieser  sechziger  Jahre,  als  der  stärkste  Antrieb  zur 
Förderung  des  Umbaues  ein  getreten  war,  alle  Ge¬ 
danken  und  Finanzmittel  des  Königs  abgelenkt  wur¬ 
den  durch  die  Schöpfung  des  Escorial.  In  der  De¬ 
pesche  Thiepolo’s  vom  27.  April  1562  geschieht  seiner 
bereits  Erwähnung.  Die  Vermutung  ist  sogar  nicht 
zu  kühn,  dass  dieses  Unternehmen  den  entscheiden¬ 
den  Anstoß  zur  Übersiedlung  des  Hofes  nach  Madrid 
gegeben  habe.  So  ist  es  gekommen,  dass  der  Riesen¬ 
bau  des  Palast-Klosters  bereits  1584  fertig  aufge¬ 
mauert  dastand,  während  der  1537  begonnene  Um¬ 
bau  des  Alcazar  am  Mansanares  erst  im  letzten  Drittel 
des  folgenden  Jahrhunderts  seinen  Abschluss  gefun¬ 
den  hat. 

Wahrscheinlich  war  es  eben  nach  diesem  Jahre 
1584,  als  der  König  wieder  Atem  schöpfen  konnte, 
dass  man  die  Erweiterung  der  Südfront  plante  und 
begann.  Denn  dem  blöden  und  indolenten  Sohne 
möchte  man  einen  so  kühnen  Gedanken  nicht  Zu¬ 
trauen.  Dass  es  in  der  That  nicht  früher  geschehen 
ist,  das  scheint  aus  folgendem  merkwürdigen  Um¬ 
stand  hervorzugehen. 

In  der  Wyngaerde’schen  Zeichnung  nämlich  tritt 
der  große  südwestliche  Turm  —  sein  jüngstes  Werk  — 
noch  in  seiner  ganzen  Tiefe  vor  die  Fluchtlinie  der' 
Fassade,  also  dass  seine  Ostwand  mit  ihren  sämt¬ 
lichen  Fenstern,  je  vier  in  den  drei  unteren  Etagen, 
frei  sichtbar  ist.  In  den  Ansichten  des  XVII.  Jahrhun¬ 
derts  ist  diese  Ostwand  durch  den  hinzugekommenen 
Anbau  des  Südflügels  zum  größten  Teil,  mindestens 
in  Dreiviertel  der  Turmtiefe,  verdeckt;  nur  ein  schma¬ 
ler  Saum,  mit  je  einem  Fenster,  ragt  noch  heraus. 
Es  ist  undenkbar  dass  man  sich  die  Mühe  genommen 
habe,  diese  kostbaren  Fenster  mit  ihren  Gewänden 
und  Verdachungen  ausführen  zu  lassen,  *in  der  Aus¬ 
sicht,  sie  in  wenigen  Jahren  zumauern  zu  müssen. 
Die  Wyngaerde’sche  Ansicht  des  Turmes  beweist 
also  zweifellos,  dass  man  die  Erweiterung  des  Süd¬ 
flügels  und  die  Cinquecentofassade  in  den  Bauplan, 
der  im  Jahre  der  Verlegung  der  Hauptstadt  in  Aus¬ 
führung  begriffen  war,  noch  nicht  aufgenommen,  ja 
noch  gar  nicht  ins  Aiige  gefasst  hatte. 

Es  fehlt  aber  auch  in  den  spätem  Prospekten  des 


XVII.  Jahrhunderts  nicht  an  Spuren,  wie  man  bei 
der  Umwandlung  der  alten  unregelmäßigen  Südfront 
in  die  moderne,  regelrechte  zu  Werke  gegangen  ist. 
Jene  breiten  Thortürme  nämlich  scheinen  nicht  ab¬ 
gebrochen,  sondern  in  die  neuen  Räume  verbaut 
worden  zu  sein.  Der  rätselhafte  Aufsatz,  der  zur 
Rechten  der  neuen  Eingangsfront  über  das  Palast¬ 
dach  wie  ein  Aussichtsturm  emporragt  und  die 
Symmetrie  der  Fassade  stört,  ist  wohl  nichts  anderes 
als  ein  Überbleibsel  des  alten,  die  platereske  Thor¬ 
front  Karls  V.  flankirenden,  östlichen  Thorturms. 
Nach  dem  Grundriss  des  piso  principal  lag  unter 
diesem  Aufsatz  der  Tocador  (das  Ankleidezimmer) 
der  Königin,  dieser  wird  einst  der  große  Saal  des 
Turmes  gewesen  sein.  Auf  der  anderen  Seite,  links 
vom  Portal,  lag  der  achteckige  Saal;  auch  dieser 
quadratische  und  gewölbte  Raum  entspricht  ganz 
einem  Turmgemach,  er  wird  der  Hauptsaal  des 
westlichen  Thorturmes  gewesen  sein.  Die  diesen 
Türmen  angehörigen  Mauerflächen  des  Erdgeschos¬ 
ses  sind  fensterlos,  augenscheinlich,  weil  man  die 
hier  verbauten  massiven  Turmmauern  durch  Fenster¬ 
anlagen  nicht  schwächen  mochte. 

In  den  spätesten  Ansichten  ist  jener  Dachaufsatz 
verschwunden,  dagegen  der  rohe  südöstliche  Eckturm 
neuerdings  ganz  in  Übereinstimmung  mit  der  südwest¬ 
lichen  Torre  dorada  ausgebaut  worden.  Er  hieß  nun 
der  Turm  der  Königin;  die  Regentin  Witwe  Marianne 
hatte  sich  in  ihm  ein  Denkmal  gesetzt.  Den  Zu¬ 
stand  des  Schlosses  in  seiner  Vollendung  ver¬ 
gegenwärtigt  dessen  größte  und  schönste  Ansicht,  die 
im  Jahre  1704  von  dem  Architekten  Philipp  Pallotta 
gezeichnet  und  von  N.  Guerard  in  Kupfer  gestochen 
wurde  (59x43  cm.).  Auf  dem  Palastplatz  ist  der 
Auszug  Philipp  V.  zur  Campagne  von  Portugal  in 
Callots  Manier  dargestellt.  — 

Wer  die  Erzählung  liest  von  jenem  nächtlichen 
fackelbeleuchteten  Gang  Don  Philipps  am  18.  Januar 
1568  durch  das  alte  Schloss,  mit  dem  Gefolge  seiner 
Vertrauten,  von  seinen  Wohngemächern  nach  dem 
Schlafzimmer  des  Don  Carlos,  und  von  dem  „Turm“, 
in  dem  dieser  dann  sechs  Monate  gefangen  sass, 
verzweiflungvoll  sein  Ende  beschleunigend,  wird 
sich  gern  eine  bestimmte  räumliche  Vorstellung  von 
diesem  unheimlichen  Vorgang  machen  wollen.  Und 
dies  ist  selbst  heute  nicht  ganz  unmöglich.  Die  Woh¬ 
nung  des  Prinzen  lag  im  östlichen  „Hof  der  Königin“ 
(patio  principal )  und  zwar  in  dem  unter  dem  piso 
principal  gelegenen  cuarto  bajo,  an  der  Nordseite. 

Der  König,  der  die  von  Carducho  so  anschau¬ 
lich  beschriebenen  Räume  im  oberen  Teil  des  West- 


36 


KARYATIDEN. 


flligels  bewohnte,  musste  danach  folgenden  Weg  zu 
dem  Schlafgemach  des  Sohnes  nehmen.  Zuerst  begab 
er  sich  nach  dem  schmalen,  an  der  Außenmauer  hin¬ 
führenden  Gang  ( paso ),  der  von  der  Thür  hinter  der 
Audienda  nach  der  nordwestlichen  Ecke  des  Palastes 
zu  dem  „Turm  des  Hermaphroditen“  führte;  von 
da  durch  die  große  Nordgalerie  ( galeria  del  cierzo ) 
ostwärts.  Diese  reichte  von  dem  Ratzimmer  ( pieza 
de  consultas )  bis  zu  dem  Durchgang  ( pasctdizo )  und 


der  Stiege  nach  den  untern  Wohnzimmern  ( Escalera 
de  las  bovedas  al  cuarto  bajo).  Der  Turm  in  den  der 
Prinz  eingesperrt  wurde,  ist  nicht  der  „viereckige 
Turm  mit  Dach“,  der  vielmehr  zu  einem  nördlichen 
Anbau  des  Palastes  gehört,  sondern  der  kleine 
Turm  mit  halbrunder  Ausladung  nach  Westen,  der 
die  Nordgalerie  nach  dieser  Seite  hin  abschließt,  der 
,Turm  des  Hermaphroditen'. 


KARYATIDEN. 

VON  PAUL  WOLTERS. 
MIT  ABBILDUNGEN. 


LS  Winckelmann  im  Jahre 
1760  seine  „Anmerkungen 
über  die  Baukunst  der  Alten“ 
entwarf,  schrieb  er:  „Carya- 
tiden,  auch  Atlantes  und 
Telamonen  genannt,  welche 
an  statt  der  Säulen  dieneten, 
sieht  man  an  einem  Tempel 
auf  einer  Münze  und  in  Athen  tragen  weibliche  Fi¬ 
guren  die  Decke  eines  offenen  Ganges  an  dem  so¬ 
genannten  Tempel  des  Erechtheus.  Es  hat  dieselben 
von  allen  Reisenden  niemand  mit  demjenigen  Ver¬ 
ständnis  betrachtet,  dass  wir  hätten  belehret  werden 
können,  von  was  vor  Zeit  dieselben  sind:  Pausanias 
meldet  nichts  von  denselben.“  Für  uns  ist  heute 
zunächst  nicht  so  auffällig,  dass  Winckelmann  in 
ungenauem  Sprachgebrauch  den  Ausdrücken  Karya¬ 
tiden  und  Telamonen  die  gleiche  Bedeutung  zu- 
schreibt,  als  dass  er  nur  eine  so  oberflächliche  Kennt¬ 
nis  von  den  Karyatiden  am  Ereehtheion  hat,  welche 
jetzt  jedem  als  klassisches  Beispiel  für  die  Verwen¬ 
dung  der  menschlichen  Gestalt  in  der  Architektur 
gegenwärtig  sind.  Allerdings  batten  wenige  Jahre, 
ehe  Winckelmann  jene  Sätze  schrieb,  Stuart  und 
Revett  die  Aufnahmen  schon  gemacht,  welche  der 
Welt  die  Bauten  Athens  wieder  schenkten  und  mit 
einem  Schlage  Griechenland  in  den  Vordergrund  des 
archäologischen  Interesses  rückten;  aber  er  wusste 
nur  von  dem  bevorstehenden  Erscheinen  des  Werkes, 
das  er  „mit  großem  Verlangen“  erwartete.  „Denn,“ 
wie  er  sagt,  „es  wird  weitläuftiger  und  ausführlicher 
werden,  als  die  Arbeit  des  Herrn  le  Roy  ist,  weil 


jene  so  viel  Jahre,  als  dieser  Monate  in  Griechen¬ 
land  gewesen  sind.“  Aus  dem  durch  diese  Bemer¬ 
kung  gekennzeichneten  flüchtigen,  aber  anspruchs¬ 
vollen  Werke  le  Roy ’s,  den  zuerst  1758  veröffent¬ 
lichten  „Ruines  des  plus  beaux  monuments  de  la 
Grece“,  war  allerdings  keine  anschauliche  Vorstellung 
von  dem  Stil  der  Karyatiden  am  Ereehtheion  zu  ge¬ 
winnen,  noch  viel  weniger  natürlich  aus  den  ganz 
ungenauen  Erwähnungen  früherer  Reisenden.  Erst 
im  Jahre  1787,  also  lange  nach  dem  Tode  Winckel- 
mann’s,  ja  nach  dem  Tode  des  Verfassers,  Stuart’s, 
wurde  der  zweite  Band  der  „Antiquities  of  Athens“ 
vollendet,  und  damit  zum  erstenmal  eine  genauere 
Kenntnis  von  den  Bauten  der  athenischen  Akropolis 
ermöglicht;  das  zweite  Kapitel  ist  dem  Ereehtheion 
gewidmet.  Aber  es  dauerte  noch  einige  Zeit,  bis 
dieser  Bau  den  Platz  in  der  öffentlichen  Wert¬ 
schätzung  einnahm,  den  er  jetzt  behauptet;  jetzt  ge¬ 
hört  das  Ereehtheion  zu  den  am  meisten  bewunder¬ 
ten  Resten  des  Altertums,  und  vor  allem  ist  es  die 
Halle  der  Karyatiden,  deren  Lob  in  Poesie  und 
Prosa  von  Berufenen  und  Unberufenen  gesungen 
wird.  Aber  neben  dem  Wohlgefallen  an  der  schönen 
Form  weckt  dieser  kleine  Bau  eine  Frage,  die  gerade 
im  Anschluss  an  ihn  mehrfach  erörtert  worden  ist. 
Was  stellen  diese  tragenden  Mädchengestalten  vor, 
in  diesem  besonderen  Falle,  wie  überhaupt?  Wie 
haben  wir  sie  zu  deuten  und  .wie  zu  benennen? 

Wenn  wir  uns  auf  das  Ereehtheion  beschrän¬ 
ken,  so  können  wir  scheinbar  diese  letztere  Frage 
mit  Sicherheit  lösen.  In  der  großen,  auf  diesen 
Tempel  bezüglichen  Bauinschrift  werden  die  an 


KARYATIDEN. 


37 


Stelle  von  Säulen  verwendeten  weiblichen  Figuren 
einfach  als  xoqcu,  Mädchen,  bezeichnet.  Aber  damit 
haben  wir  wenig  gewonnen.  Das  Wort  besagt  nur, 
was  jeder  selbst  sieht,  es  ist  ebenso  unbestimmt,  wie 
zu  unserem  Leidwesen  die  Beschreibung  des  Frieses 
in  derselben  Inschrift,  in  welcher  auch  nur  Bezeich¬ 
nungen,  wie  „der  Jüngling  neben  dem  Panzer“,  „der 
Wagen,  der  Jüngling  und  die  beiden  Pferde“,  „die 
Frau  mit  dem  Kind“,  aber  kein  deutender  Name, 


Atlantes  und  Telamones  genannt“  eingereiht.  Dass 
eine  Zusammenfassung  der  weiblichen  und  männ¬ 
lichen  architektonischen  Figuren  unter  das  eine  Wort 
Karyatiden  nicht  eigentlich  gerechtfertigt  sei,  deu¬ 
tete  ich  schon  an.  Winckelmann  hat  an  dem  laxen 
Sprachgebrauch  festgehalten,  weil  er  in  dem  Rest 
einer  männlichen  Stützfigur,  also  eines  Atlas  oder 
Telamon,  eine  der  Karyatiden  wiederzuerkennen 
glaubte,  welche  das  Pantheon  in  Rom  geziert  hat- 


Fig.  1.  Die  Karyatidenlialle  am  Ereehtheion  zu  Athen 


keine  wirkliche  Benennung  vorkommt.  Für  den 
praktischen  Zweck  dieser  Abrechnungen  genügte 
eine  solche  Bezeichnung,  aber  ebenso  wenig  wie  wir 
daraus  schließen  werden,  dass  die  Figuren  des  Frieses 
keine  bestimmte,  individuelle  Bedeutung  gehabt  hät¬ 
ten,  dürfen  wir  annehmen,  die  als  architektonische 
Stütze  verwendete  weibliche  Gestalt  hätte  damals 
den  feststehenden  Namen  x6qt]  geführt.  Dafür  scheint 
der  Ausdruck  denn  doch  etwas  zu  unbestimmt. 

Winckelmann  hat  die  Mädchenfiguren  vom  Erech- 
theion  ohne  Bedenken  unter  die  „Caryatiden,  auch 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  2. 


ten.  Gegen  diese  Vermutung  wandte  sich  schon 
Lessing  in  einem  kleinen  Artikel,  der  aus  seinem 
Nachlass  veröffentlicht  worden  ist1),  und  wies  darauf 
hin,  dass  nach  antikem  Sprachgebrauch  nur  die  weib¬ 
lichen  architektonischen  Figuren  Karyatiden  heißen 
können.  Das  ergiebt  sich  eigentlich  schon  ohne 
weiteres  aus  dem  Geschlechte  des  Wortes  EaQvärtg 
und  brauchte  kaum  weiter  erwiesen  zu  werden. 


1)  Sämtliche  Schriften,  herausgegeben  von  Maltzahn  XI, 
S.  274. 


6 


38 


KARYATIDEN. 


Lessing  hatte  sich  seinerseits  auf  die  von  Vitruv 
vorgetragene  Erzählung  vom  Ursprung  der  Karya¬ 
tiden  berufen,  die  wir  uns  nun  auch  vorfuhren 
müssen.  Er  erzählt  im  Anfänge  seines  Werkes  von 
der  Architektur,  zum  Beweis,  dass  der  Baumeister 
nicht  ohne  historische  Kenntnis  sein  dürfe,  dieses: 
„Wenn  zum  Beispiel  einer  marmorne  langbekleidete 
Frauenfiguren,  sogenannte  Karyatiden,  bei  einem 
Bau  anbringt  und  darüber  ein  Gebälk,  muss  er 
davon  folgendermaßen  Rechenschaft  geben.  Die 
peloponnesische  Stadt  Karyä  hatte  mit  den  Persern 
gegen  Griechenland  gemeinsame  Sache  gemacht. 
Nach  ihrem  glänzenden  Siege  erklärten  nun  die 
Griechen  gemeinsam  den  Karyaten  den  Krieg.  Die 
Stadt  ward  erobert,  die  Männer  getötet,  die  Weiber 
zu  Sklavinnen  gemacht,  und  dabei  gestattete  man 
ihnen  nicht,  ihre  matronale  Tracht  abzulegen,  damit 
die  Schmach  der  Sklaverei  für  sie  um  so  drücken¬ 
der  sei,  und  gleichzeitige  Architekten  brachten  bei 
öffentlichen  Gebäuden  die  Statuen  solcher  karya- 
tischen  Matronen  als  lasttragende  Stützen  an,  um 
die  Bestrafung  der  Karyaten  bei  der  Nachwelt  in 
Erinnerung  zu  halten.  Ebenso  haben  die  Spartaner 
zum  Andenken  an  den  Sieg  ihres  Königs  Pausanias 
über  die  Perser  aus  der  Siegesbeute  eine  Halle  er¬ 
richtet  und  darin  Statuen  von  Gefangenen  in  Bar¬ 
barentracht  als  Stützen  des  Daches  angebracht,  und 
infolgedessen  sind  dann  auch  solche  Perserfmuren 
als  architektonische  Stützen  beliebt  geworden.“ 

Man  kann  diesem  Bericht  des  Vitruv  knappe 
Folgerichtigkeit  nicht  eben  nachrühmen.  Er  will 
den  Ursprung  der  Karyatiden  erklären  und  erzählt 
zugleich  den  der  architektonischen  Perserfiguren. 
Offenbar  hat  er  die  beiden  Geschichten  so  zusammen 
gefunden  und  zusammen  belassen. 

Stuart  nahm  bei  seiner  ersten  würdigen  Ver¬ 
öffentlichung  des  Erechtheions  ohne  weiteres  an, 
Vitruv  habe  sich  auf  diesen  Bau  bezogen  und  sah 
also  in  den  stützenden  Mädchenfiguren  Darstellun¬ 
gen  der  karyatischen  Weiber.  Schon  E.  Q.  Visconti 
wies  dagegen  auf  die  Bauinschrift  und  deren  Aus¬ 
druck  xoqcu  hin  und  meinte,  es  seien  offenbar  nicht 
Gefangene  dargestellt,  sondern  attische  Mädchen, 
welche  auf  dem  Haupte  Opfergerät  trügen.  Er  be¬ 
merkte  auch  richtig,  dass  überhaupt  im  Altertum 
die  Verwendung  gefangener  Frauen  in  der  Archi¬ 
tektur  ganz  ungewöhnlich  ist;  ausführlicher  und  be¬ 
stimmter  handelte  dann  Böttiger  in  seiner  Amalthea 
„über  die  sogenannten  Karyatiden  am  Pandroseum 
und  über  den  Missbrauch  dieser  Benennung“.  Er 
betonte  mit  Recht,  dass  Vitruv  s  Nachricht,  wie  u.  a. 


schon  Lessing  ausgesprochen,  höchst  unglaublich 
sei  und  dass  vor  allem  die  Mädchengestalten  am 
Erechtheion  in  keinem  Falle  für  schmachvoll  er¬ 
niedrigte  Gefangene  angesehen  werden  dürften.  Es 
seien  vielmehr  Kanephoren,  wie  sie  im  panathenä- 
ischen  Festzuge  am  Fries  des  Parthenon  erscheinen. 
Merkwürdigerweise  hatte  diesen  in  der  Hauptsache 
einleuchtenden  Gedanken  schon  der  unkritische  le  Roy 
ausgesprochen.1)  Er  meinte,  die  Kapitelle,  welche 
auf  dem  Haupt  der  Mädchen  erscheinen,  seien  Körbe 
und  diese  selbst  also  Korbträgerinnen,  Kanephoren, 
wie  sie  auch  im  Kult  der  Athena  ihre  Verwendung 
fanden.  Diese  letztere  Spezialisirung  ist  sicherlich 
falsch,  obwohl  sie  bis  in  die  jüngste  Zeit  Zustim¬ 
mung  gefunden  hat.  Der  halbrunde  Gegenstand  auf 
dem  Kopf  der  Mädchen  hat  gar  nichts  mit  dem 
xavovv,  dem  Opferkorb,  zu  thun,  dessen  breite,  flache 
meist  nur  mit  einem  niedrigen  Rand  umgebene  Form 
uns  aus  zahlreichen  Darstellungen  zur  Genüge  be¬ 
kannt  ist.  Hier  haben  wir  offenbar  nur  eine  beson¬ 
dere  Art  von  Kapitell  vor  uns  —  man  könnte  sagen 
ein  ionisches  Kapitell  ohne  Voluten  —  und  wir  wer¬ 
den  uns  deshalb  auch  nicht  entschließen,  diese  Mäd¬ 
chen  speziell  für  Kanephoren  zu  erklären.  Im  Kult 
der  Athena  war  Gelegenheit  zu  manchem  Dienst, 
für  die  vornehmen  Mädchen  Athens,  das  zeigt  uns 
eindringlicher  als  jede  antiquarische  Untersuchung 
der  Ostfries  des  Parthenons,  auf  welchem  diese  Jung¬ 
frauen  im  Festzuge  erscheinen  mit  allen  Arten  von 
Gerät,  wie  es  der  Kult  der  Göttin  heischte.  Und 
dieser  Dienst  war  eine  Ehre,  auf  die  man  stolz  sein 
durfte,  von  der  ausgeschlossen  zu  sein  als  bittere 
Kränkung  empfunden  wurde.  Solche  Jungfrauen 
im  Dienst  der  Göttin  sind  es  auch,  die  am  Erech¬ 
theion  dasN  Dach  der  Vorhalle  tragen,  leicht  und 
frei  und  sicher.  Es  ist  kein  drückender,  beschwer¬ 
licher  Dienst,  dem  sie  sich  hingeben,  nicht  im 
Zwange  knechtischer  Dienstbarkeit  dulden  sie,  wie 
Vitruv  fabelt,  sondern  in  stolzem  und  selbstgewoll¬ 
tem  Dienst  weihen  sie  sich  dem  Kulte  der  heimi¬ 
schen  Göttin  und  schmücken  ihr  Haus. 

Aber  wie  konnte  nur  die  Erzählung  des  Vitruv 
entstehen?  Auch  wenn  er  nicht  speziell  an  die 
Mädchen  vom  Erechtheion  gedacht  hat,  was  ja 
durchaus  möglich  ist,  so  bezieht  sich  seine  Erzäh¬ 
lung  deutlich  genug  auf  die  zahlreichen  architekto¬ 
nisch  verwendeten  weiblichen  Figuren,  die  wir  mit 
ihm  Karyatiden  nennen,  und  in  denen  wir  fast  aus- 


1)  I,  S.  12  der  zweiten  Ausgabe  von  1770. 


KARYATIDEN. 


39 


nahmslos  keinerlei  Spur  von  der  angeblich  erdul¬ 
deten  Sklaverei  entdecken  können. 

Die  älteste  uns  erhaltene  Spur  des  Namens  der 
architektonisch  verwendeten  Karyatiden  stammt  aus 
der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  v.  Chr. 
Lynkeus,  der  Bruder  des  Historikers  Duris,  hat  das 
Scherzwort  eines  bekannten  Parasiten  Eukrates  auf- 


Fig.  2.  Karyatide.  Marmorrelief  im  Berliner  Museum. 


bewahrt  *),  mit  welchem  dieser  einmal  über  die  Bau¬ 
fälligkeit  des  Gemaches  spottete,  in  dem  man  das 
Gelage  abhielt.  Er  meinte,  hier  müsse  man  ja 
speisen,  indem  man  die  Decke  mit  der  linken  Hand 
unterstütze,  wie  die  Karyatiden.  Dieser  nicht  über¬ 
mäßig  geistreiche  Scherz  sichert  für  seine  Zeit  bereits 
den  technischen  Ausdruck  Karyatide.  Wie  allerdings 

1)  Athenaeus  VI,  S.  241  d. 


die  Karyatiden  ansgesehen  haben,  an  welche  Eu¬ 
krates  dachte,  können  wir  nicht  sagen,  außer  dass 
sie  mit  einer  erhobenen  Hand  das  Gebälk  zu  stützen 
schienen.  Vitruv  versteht  unter  Karyatiden  lang¬ 
bekleidete,  reich  geschmückte  weibliche  Gestalten. 
Aber  seine  Erzählung  ist  unhistorisch:  das  hat  schon 
Lessing  gezeigt  und  andere  sind  ihm  in  der  Ansicht 


Fig.  3.  Karyatide.  Marmorrelief  im  Berliner  Museum. 


gefolgt.  Es  ist  in  der  That  eine  ganz  ungereimte 
Vorstellung,  dass  der  kleine  peloponnesische  Flecken 
Karyä,  der  gar  keine  politische  Selbständigkeit  besaß, 
sondern  den  Spartanern  unterthan  war,  irgend  eine 
Vereinigung  mit  dem  Landesfeind  hätte  anstreben 
können.  Offenbar  ist  es  die  Parallele  mit  den  Dar¬ 
stellungen  der  persischen  Gefangenen  in  der  Halle 
zu  Sparta  (deren  Erklärung  Vitruv  derselben  Quelle 
entnimmt  und  in  so  unlogischer  Weise  anknüpft), 

6* 


40 


KARYATIDEN. 


welche  diese  höchst  unhistorische  Beziehung  auf  die 
Perserkriege  herbeigeführt  hat.  Die  Entstehung  so¬ 
wohl  der  männlichen  als  auch  der  weiblichen  architek¬ 
tonischen  Stützfiguren,  der  Perser  wie  der  Karyatiden, 
auf  den  griechischen  Freiheitskampf  zurückzuführen 
war  ja  eine  recht  effektvolle  Erfindung.  Aber  von 
deren  Wahrheit  kann  keine  Rede  sein  und  auch  das 
vielfach  angezogene  Relief  in  Neapel1),  welches  zwi¬ 
schen  zwei  stehenden  Karyatiden  eine  anscheinend 
trauernd  am  Boden  sitzende  weibliche  Gestalt  zeigt, 
ist  kein  Beweis  dafür,  ja  nicht  einmal  ein  Beleg  für 
die  Herrschaft  dieser  Überlieferung  im  Altertum. 
Denn  die  Inschrift  Tf/  'Elläöi  r 6  tqojicuov  sCräd-?] 
y.atavixtjOtvzcov  zcöv  Ka.Qva.Tajv  besteht  zwar  aus 
griechischen  Lauten  und  Worten,  ist  aber  kein  Grie¬ 
chisch  und  offenbar  eine  höchst  ungeschickte  Fäl¬ 
schung,  der  man  nicht  so  viel  Aufmerksamkeit  hätte 
schenken  sollen. 

L.  Preller,  der  vor  gerade  fünfzig  Jahren  diese 
Frage  erörtert  hat2)?  ist  auf  den  Ausweg  verfallen, 
nur  die  Beziehung  auf  die  Perser  aufzugeben  und 
den  Kern  der  Vitruv’schen  Erzählung  für  echte  Über¬ 
lieferung  zu  erklären.  Er  wies  darauf  hin,  dass 
Karyä  ursprünglich  zum  tegeatischen  Gebiet  gehört 
habe  und  erst  nach  harten  Kämpfen  von  Sparta  an- 
nektirt  worden  sei.  In  dem  Kriege,  der  nicht  lange 
nach  den  Perserkriegen  zwischen  Sparta  und  den 
Tegeaten  und  Arkadern  entbrannte,  sei  vermutlich 
Karyä  von  Sparta  abgefallen  und  seine  zur  Strafe 
dafür  erfolgte  Zerstörung  habe  den  von  Yitruv  nicht 
ganz  richtig  datirten  Anlass  zur  Erschaffung  der 
architektonischen  Karyatiden  gegeben.  Aber  diese 
ganze  Annahme  ist  willkürlich.  Nirgends  ist  uns 
von  einem  Abfall  der  Karyaten  in  dieser  Zeit  be¬ 
richtet  und  noch  viel  weniger  von  einer  Vernichtung 
ihrer  Stadt.  Und  noch  mehr!  Nach  der  Schlacht 
bei  Leuktra,  371,  als  die  Messenier,  die  Arkader 
unter  Thebens  Schutz  sich  gegen  die  Spartaner  er¬ 
hoben,  fiel,  wie  uns  Xenophon  berichtet,  auch  Karyä 
von  ihnen  ab.  Nur  wenige  Jahre  darauf  wurde  es 
von  Archidamos  dafür  grausam  bestraft,  durch  nächt¬ 
lichen  Überfall  eingenommen  und  geplündert,  und 
Xenophon  sagt  ausdrücklich,  dass  der  König  alle 
Gefangenen  töten  ließ.  Das  ist  ein  genügender  Be¬ 
weis  dafür,  dass  eine  solche  Vernichtung,  wie  sie 
Vitruv  erzählt  und  Preller  annimmt,  vor  diesem 
Jahre  368  nicht  stattgefunden  hat.  Und  auf  diese 
einzige  und  wirklich  bezeugte  Zerstörung  von  Karyä, 

1)  Museo  Borbonico  X,  Taf.  59. 

2)  Gesammelte  Aufsätze,  S.  136. 


die  des  Jahres  368,  deren  missdeutete  Kunde  noch 
in  Vitruv’s  Erzählung  leben  mag,  dürfen  wir  schlie߬ 
lich  auch  jene  Erklärung  des  römischen  Architekten 
auch  nicht  beziehen:  das  verbietet  die  vorher  durch 
den  Witz  des  Eukrates  belegte  Thatsache,  dass  im 
vierten  Jahrhundert  der  technische  Ausdruck  Kary¬ 
atide  schon  bekannt  und  verbreitet  war,  also  nicht 
erst  damals  entstehen  konnte,  abgesehen  davon,  dass 
die  Bestrafung  ven  Karyä  in  jenen  Zeiten  kaum  die 
Veranlassung  zu  einem  monumentalen  Erinnerungs¬ 
bau  hätte  geben  können. 

So  werden  wir  uns  wohl  oder  übel  entschließen 
müssen,  Vitruv’s  ganze  Erzählung  vom  Ursprung 
der  Karyatiden  für  eine  unbegründete  Fabelei  zu 
erklären  und,  indem  wir  von  ihr  völlig  abseh en 
versuchen,  auf  eigenem  Wege  der  Wahrheit  so  nahe 
zu  kommen,  wie  dies  die  Lückenhaftigkeit  unserer 
Überlieferung  zulässt. 

Wir  müssen  ausgehen  von  dem  Namen  KaQväriq. 
Er  bezeichnet  ursprünglich  selbstverständlich  die 
Einwohnerin  von  Karyä,  dann  auch  die  in  Karyä 
verehrte  Artemis  und  vor  allem  die  Mädchen,  welche 
in  ihrem  Kult  zu  ihren  Ehren  die  berühmten  Tänze 
aufführten.  Für  uns  kann  offenbar  nur  diese  dritte 
Bedeutung  in  Frage  kommen,  aber  welcher  Weg 
führt  von  diesem  Begriff  zu  dem  der  architekto¬ 
nischen  Figur? 

Rayet1)  hat  versucht,  einen  solchen  zu  finden. 
Wir  wissen  durch  Pausanias,  dass  die  jährlich  statt¬ 
findenden  Tänze  von  den  spartanischen  Mädchen 
ausgeführt  wurden,  nicht  von  den  Einwohnern  von 
Karyä,  wie  von  vornherein  anzunehmen  wäre.  Offen¬ 
bar  hatte  nach  der  Annexion  Sparta  diesen  wich¬ 
tigen  Kult  in  seine  Obhut  genommen.  Darnach 
werden  wir  uns  denken  dürfen,  dass  jährlich  zur 
bestimmten  Zeit  sich  die  Festteilnehmer  von  Sparta 
nach  Karyä  begaben,  voraussichtlich  in  geordnetem 
Zuge.  Rayet  malt  einen  solchen  mit  vielem  Geschick 
aus;  er  denkt  sich  an  der  Spitze  des  Zuges  die  Ma¬ 
gistrate,  die  Priester,  die  Opfertiere  mit  ihren  Be¬ 
gleitern  sowie  die  Mädchen,  die,  dem  Dienste  der 
Artemis  geweiht,  heute  die  für  den  Kult  notwendigen 
Geräte  zu  tragen  haben,  morgen  zu  Ehren  der  Göt¬ 
tin  tanzen  werden.  So  zog  die  Prozession  den  stei¬ 
nigen  und  steilen  Weg  dahin,  einen  ganzen  langen 
Tag,  erst  am  Abend  nahm  sie  der  Ort  Karyä  auf 
und  am  anderen  Morgen  fand  das  Opfer  statt  nebst 
dem  Festtanz.  Es  muss  ein  prächtiger  Anblick  ge¬ 
wesen  sein,  diese  jungen  Mädchen  im  festlichen  Putz, 


1)  Monuments  grecs  I,  zu  Taf.  40. 


KARYATIDEN. 


41 


auf  dem  Haupt  die  heiligen  Geräte,  wie  sie  sich 
langsam  weiter  bewegten  mit  dem  gemessenen  Schritt, 
welchen  ein  langer  Marsch  erfordert,  und  mit  der 
Würde,  welchen  die  Erfüllung  einer  religiösen  Pflicht 
verleiht.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  die  Künstler  von 
diesem  Anblick  getroffen  wurden  und  daß  die  Archi¬ 
tekten  sich  von  der  majestätischen  Haltung  dieser 
Kanephoren  inspiriren  ließen,  wenn  sie  Frauenge- 


Voraussetzung  Rayet’s.  Möglich,  dass  eine  solche 
Prozession  stattfand,  überliefert  ist  es  nicht,  und 
noch  viel  weniger  ist  überliefert,  dass  die  Mädchen, 
welche  beim  Feste  tanzen  sollten,  den  ganzen  langen 
Weg  von  Sparta  bis  Karyä  das  Opfergerät  getragen 
hätten.  Auf  dem  Parthenonfries  sehen  wir  derartiges, 
aber  der  panathenäische  Zug  legte  auch  keinen 
ganzen  Tagesmarsch  zurück,  und  das  nötige  Kult- 


Fig  4.  Vom  Thor  des  Heroons  zu  Gjölbaschi. 


stalten  als  Stützen  verwenden  wollten,  und  daß  ihnen 
dafür,  ganz  wie  von  selbst,  der  Name  „Karyatiden“ 
auf  die  Lippen  kam. 

Diese  Erklärung  Rayet’s  ist  so  reizvoll  und 
scheinbar  so  einfach,  dass  man  sich  nur  ungern  ent¬ 
schließt,  sie  zu  verwerfen.  Und  doch  ist  sie  unhalt¬ 
bar.  Der  ganze  feierliche  Zug  mit  seinen  an  den 
Parthenonfries  gemahnenden  Scenen  ist  nur  eine 


gerät  wird  wohl  im  Heiligtum  zu  Karyä  vorhanden 
gewesen  sein.  Wäre  aber  auch  Rayet’s  Vorstellung 
von  dieser  Prozession  wirklich  richtig,  so  bliebe  doch 
die  Herleitung  der  architektonischen  Karyatiden  von 
ihr  unmöglich.  Die  Mädchen,  welche  von  Sparta 
nach  Karyä  wallfahrteten  und  Opfergerät  trugen, 
verdienten  nicht  den  Namen  Karyatiden:  der  kam 
ihnen  nur  zu,  wenn  und  insofern  sie  der  Artemis 


42 


KARYATIDEN. 


Tänze  aufführten.  Jene  Trägerinnen  des  heiligen 
Gerätes,  die  Rayet  sich  offenbar  ganz  wie  die  Mäd¬ 
chen  vom  Erechtheion  und  Parthenon  denkt,  würden 
niemals  anders  als  mit  den  feststehenden  Namen 
der  Kanephoren,  Hydriaphoren  oder  ähnlich,  je  nach 
der  Art  des  getragenen  Gerätes  bezeichnet  worden 
sein.  Dagegen  müssen  die  Karyatiden  schon  in 
ihrer  Erscheinung  etwas  Charakteristisches  gehabt 
haben ,  das  sie  von  gewöhnlichen  Mädchen  unter¬ 
schied.  Das  dürfen  wir  aus  einigen  Nachrichten 
schließen.  Ktesias  hatte  erzählt,  dass  er  vom  Spar¬ 
taner  Klearchos,  dem  Führer  der  Zehntausend,  als 
Geschenk  und  als  Beweis  ihrer  Freundschaft  einen 
Ring  erhalten  hatte,  auf  dessen  Stein  tanzende  Ka¬ 
ryatiden  dargestellt  waren.  Die  Charakteristik  der 
Tänzerinnen  erlaubte  also  offenbar  ohne  weiteres, 
sie  als  Karyatiden  zu  erkennen.  Dasselbe  geht  daraus 
hervor,  dass  man  bestimmte  Ohrgehänge  als  Karya¬ 
tiden  bezeichnete ');  offenbar  zeigten  sie  je  eine  dieser 
Tänzerinnen  als  Anhängsel,  wie  ähnlich  ja  schwebende 
Eroten  oder  Niken  so  häufig  sind.  Auf  diesen  letz¬ 
teren  Fall  müssen  wir  besonders  einiges  Gewicht 
legen,  weil  er  beweist,  daß  die  Karyatiden  auch  schon 
in  der  Vereinzelung  kennbar  waren,  nicht  nur  in 
der  Gruppirung  zu  mehreren.  Es  spricht  dies  näm¬ 
lich  unter  anderem  gegen  den  Erklärungsversuch, 
den  Böttiger  vorgetragen  hat.  Er  wollte  ganz  mit 
Recht  den  Namen  der  architektonischen  Karyatiden 
irgendwie  mit  den  Tänzerinnen  in  Verbindung  setzen, 
aber  um  dies  zu  können,  wagte  er  die  Vermutung 
„cs  habe  die  Hauptstellung  der  Tänzerinnen  im  Em- 
porhalten  eines  großen  Gefäßes,  Korbes  oder  Kala- 
tluis  mit  Opfergaben  oder  Blumen  bestanden,  welche 
die  drei  schlankesten  oder  erwähltesten  Jungfrauen, 
zu  einer  malerischen  Gruppe  vereinigt,  mit  den  Hän¬ 
den  hoch  über  den  Kopf,  der  Geberde  der  Anbetung, 
emporhielten,  während  die  anderen  Jungfrauen  im 
geschlossenen  Kreise  sich  rechts  und  links  anfassend, 
tanzend  den  Ringelreigen  um  sie  schlossen“.  Und 
da  also  die  Karyatiden  sowohl  wie  die  Kanephoren 
etwas  zu  tragen  hatten,  sei  eine  Verwechselung  bei¬ 
der  Begriffe  eingetreten  und  der  eigentlich  unange¬ 
messene  N  ame  Karyatide  für  die  als  architektonische 
Stütze  üblich  gewordene  Kanephore  eingedrungen. 
Eine  recht  umständliche  und  unglaubliche  Vermutung, 
die  eingehend  zu  widerlegen  kaum  lohnt.  Denn  jene 
\  erwechselung  zweier  so  verschiedener  Begriffe 
müsste  nach  dem  oben  Bemerkten  schon  sehr  früh, 

1  Die  Belege  bei  Plutarch,  Artaxerxes  18  und  Pol¬ 
lux  V,  97. 


vor  dem  vierten  Jahrhundert  eingetreten  sein,  was 
ganz  unwahrscheinlich  ist,  und  jene  elegante  aber 
recht  wenig  altertümliche  Gruppe  von  drei  Karya¬ 
tiden  mit  einem  gemeinsam  gehaltenen  Korb  existirt 
nur  in  der  Phantasie  Böttiger’s. 

Aber  mit  vollem  Recht  hatte  er  den  Begriff  der 
architektonischen  Karyatide  aus  dem  der  tanzenden 
Mädchen  von  Karyä  herl eiten  wollen.  Diese  allein 
werden  ursprünglich  mit  dem  Namen  Karyatiden  be¬ 
zeichnet,  und  der  übertragene  Ausdruck  der  Architek¬ 
tur  muss  von  dem  eigentlichen  und  ursprünglichen  her- 
kommen.  Dieses  so  selbstverständliche  Prinzip  würde 
fraglos  längst  allgemein  anerkannt  sein,  wenn  es  nicht 
schier  unglaublich  wäre,  dass  gerade  tanzende  Ge¬ 
stalten  eine  architektonische  Verwendung  gefunden 
haben  sollten,  und  dieser  Anstoß  musste  um  so  größer 
sein,  je  ausgelassener  und  wilder  man  sich  den 
karyatischen  Tanz  dachte. 

In  Wahrheit  ist  aber  von  einer  ungezügelten 
Ausgelassenheit  dieses  Tanzes  gar  nichts  überliefert; 
was  man  davon  gesagt  hat,  beruht  auf  unbegründeten 
Schlüssen  moderner  Forscher.  So  soll  z.  B.  Plinius 
durch  seine  Zusammenstellung  der  Karyatiden  mit 
Mänaden  und  Thyiaden  die  Wildheit  des  Tanzes  be¬ 
weisen.  Er  zählt  an  der  betreffenden  Stelle  Werke 
des  Praxiteles  in  Rom  auf,  darunter  auch  eine 
Gruppe  tanzender  Karyatiden,  die  er  zugleich  mit 
den  Mänaden  nennt,  aber  er  führt  dort  überhaupt 
ohne  engeren  sachlichen  Zusammenhang  auf:  Flora, 
Triptolemus,  Ceres,  Bonus  Eventus  und  Bona  For¬ 
tuna,  Mänaden,  Thyiaden,  Karyatiden,  Silene,  Apollo 
und  Neptun,  sie  alle  nennt  er  in  einem  Athem. 
Daraus  dürfen  wir  also  nichts  schließen. 

Über  die  Art  des  karyatischen  Tanzes  schweigt 
die  literarische  Überlieferung.  Nur  eine  Nachricht, 
daß  er  von  den  Dioskuren  gelehrt  sein  sollte  *),  ge¬ 
stattet  den  Schluß,  dass  er  dem  Waffentanz,  der 
Pyrriche,  einigermaßen  verwandt  war,  die  bei  den 
Spartanern  ebenfalls  Erfindung  der  Dioskuren  hieß. 
Das  weist,  wenn  wir  die  zuverlässigen  bildlichen 
Darstellungen  dieses  Tanzes  befragen  —  denn  später 
entartete  der  ernste  Tanz  zum  lasciven  Ballet  —  auf 
einen  streng  gegliederten,  gehaltenen  Tanz  hin.  Und 
es  scheint  möglich,  mittelst  der  bildlichen  Über¬ 
lieferung  noch  etwas  weiter  zu  kommen.  Wir  be¬ 
sitzen  eine  große  Zahl  von  Darstellungen  verschie¬ 
dener  Art,  vor  allem  in  Reliefs,  dann  auch  in  Terra¬ 
kotten,  auf  Thongefäßen,  Schmuckgegenständen, 
Münzen,  welche  uns  tanzende  Mädchen  in  einer  eigen- 

1)  Lukian,  Vom  Tanze  10. 


KARYATIDEN. 


43 


tümlichen  Tracht  zeigen.  Auf  dem  Kopf  tragen 
sie  einen  großen,  im  Ganzen  korbförmigen  Putz, 
ihre  Kleidung  besteht  nur  aus  einem  kurzen,  bis  zu 
den  Knieen  reichenden  Chiton.  Heutigen  Tages  pflegt 
man  sie  Kalatkiskostänzerinnen  zu  nennen.  So  hat 
sie  vor  etwa  dreißig  Jahren  Stephani  benannt,  weil 
sie  eben  einen  Kalathiskos ,  einen  Korb,  auf  dem 
Kopfe  trügen  und  uns  Kalathiskos  als  Name  eines 
Tanzes  überliefert  sei.  Allerdings  kennen  wir  gar 
nichts  von  diesem  Tanz  als  sei¬ 
nen  Namen,  und  daraus  allein 
lässt  sich  recht  schwerlich  ein 
sicherer  Schluss  ziehen,  wie 
man  sich  leicht  überzeugt,  wenn 
man  die  massenhaft  überliefer¬ 
ten  Namen  für  antike  Tänze 
durchmustert.  Sodann  wechselt 
die  Form  des  Kopfputzes  doch 
vielfach  und  warnt  uns,  diese 
so  weit  verbreitete  Tracht  aus¬ 
nahmslos  auf  einen  bestimmten 
Tanz  und  einen  bestimmten  Ort 
zu  beziehen.  Mitunter  ist  der 
Kopfputz  sehr  breit  und  wie  ein 
flacher  Korb  gestaltet;  solche 
Tänzerinnen  scheinen  dem  dio¬ 
nysischen  Thiasos  anzugehören. 

Mitunter  hat  der  Kopfputz  eine 
steilere  Form,  die  wirklich  dem 
Kalathos  genannten  Wollkorb 
ähnelt,  aber  die  sorgfältigsten 
Kunstwerke,  unter  denen  die  Fig. 

1  und  2  wiedergegebenen  neu¬ 
erworbenen  Reliefs  des  Berliner 
Museums  die  erste  Stelle  ein¬ 
nehmen,  zeigen  uns  keinen  Korb, 
sondern  einen  Kranz  aus  spitzen, 
hochaufgerichteten,  sich  meist 
überkreuzenden  Blättern.  Es  ist 
ein  Kranz  aus  Palmblättern,  wie 
er  auch  bei  den  Gymnopädien 
in  Sparta  verwendet  wurde  und 
dort  der  thyreatische  hieß.  Schon  von  E.  Q.  Visconti  ist 
die  Meinung  ausgesprochen  worden,  dass  wir  in  diesen 
kurzbekleideten  Tänzerinnen  eben  die  karyatischen 
erkennen  dürfen.  Seine  Deutung  ist  etwas  zu  eng 


1)  Vgl.  die  Aufzählung  im  Petersburger  Compte-rendu 
1865,  S.  60ff;  Notizie  degli  scavi  1884,  Taf.  7.  'EtprjusQlc, 
uyyaioXoyixr/  1889,  S.  100.  Hauser,  die  neu-attischen  Re¬ 
liefs,  S.  96  ff. 


gefasst,  da  ja  eine  ähnliche  Tracht,  wie  bemerkt, 
auch  bei  den  Tänzen  anderer  Kulte  Vorkommen 
konnte,  aber  was  man  sonst  gegen  die  Deutung  vor¬ 
gebracht  hat,  ist  nicht  sehr  schwerwiegend.  Vor 
allem  wird  die  daneben  aufgestellte  Erklärung  auf 
tanzende  Hierodulen  heute  nicht  mehr  viele  Anhänger 
finden.  Dagegen  scheint  die  kurze  Tracht,  gegen 
welche  als  eine  lakonische  Unsitte  Clemens  Alexan- 
drinus  eifert,  und  der  Putz,  der  ebenso  bei  den  Ar¬ 
temisköpfen  kretischer  Münzen 
vorkommt,  durchaus  zu  der  Ver¬ 
mutung  zu  passen,  dass  dies  die 
Erscheinung  der  Karyatiden  war. 

Schon  Stephani  fand  eine 
besondere  Charakteristik  dieser 
Tänzerinnen  in  ihren  eigentüm¬ 
lichen  Bewegungen,  in  den  klei¬ 
nen  ,  zierlichen  auf  den  Fu߬ 
spitzen  ausgeführten  Schritten, 
während  jedes  weitere  Aus¬ 
schreiten  von  diesem  Tanz  völlig 
ausgeschlossen  ist.  Außerdem 
pflegen  die  Tänzerinnen,  wenn 
sie  nicht  beide  Hände  vor  der 
Brust  halten,  eine  oder  beide 
Hände  zu  erheben,  was  uns  an 
das  früher  angeführte  Witzwort 
über  die  Karyatiden  erinnern 
darf.  Alles  dies  und  der  fast 
stets  an  den  Boden  geheftete 
Blick  geben  uns  das  Bild  eines 
zwar  ekstatischen,  aber  durch¬ 
aus  in  gehaltenen  Bewegungen, 
in  abgewogenen  Posen  sich  ent¬ 
wickelnden  Tanzes.  Und  solche 
Gestalten  von  gehaltener  rhyth¬ 
mischer  Bewegung,  in  symme¬ 
trischer  Entsprechung,  wie  dies 
wohl  vom  Tanze  selbst  erfor¬ 
dert  wurde,  müssen  als  archi¬ 
tektonische  Stützen  verwendet 
worden  sein,  und  diese  Verwen¬ 
dung  muss  solchen  Eindruck  gemacht  haben,  dass 
der  Name  der  Karyatiden  auf  alle  weiblichen  archi¬ 
tektonischen  Figuren  überging,  auch  auf  solche, 
welche  in  Wahrheit  keine  karyatischen  Tänzerinnen 
waren. 

EineSpur  von  der  Verwendung  dieser  tanzenden 
Gestalten  in  der  Architektur  ist  uns  noch  erhalten. 
An  dem  großen  Grabmal  von  Gjölbaschi  in  Lykien 
sind  wie  als  Stützen  des  Thürsturzes  rechts  und  links 


Fig.  5.  Tanzende  Karyatide. 
Marmorstatue  im  Berliner  Museum. 


44 


KARYATIDEN. 


tanzende  Jünglinge  angebracht,  die  in  ihrer  Tracht 
ganz  den  karyatischen  Tänzerinnen  gleichen  (s.Fig.  3). 
Benndorf1)  hat  darauf  hingewiesen,  dass  der  Tanz, 
welchen  diese  Jünglinge  ausführen,  eine  im  Totenkult 
übliche  Cärimonie  war.  Damit  ist  erklärt,  dass  man 
überhaupt  solche  Tänzer  an  einem  Grabmal  dar¬ 
stellte,  aber  nicht,  weshalb  diese  Tänzer  in  so  un- 
verhältnismäßiger  Größe  und  eben  an  dieser  archi¬ 
tektonisch  bedeutsamen  Stelle  angebracht  wurden; 
das  erklärt  sich  eben  nur  aus  der  Gewohnheit,  der¬ 
artige  tanzende  kurzgewandete  Figuren  als  architek¬ 
tonische  Stützen  zu  verwenden.  Je  nach  dem  zu 
verzierenden  Bau  musste  man  die  Figuren  mit  in¬ 
haltlichem  Bezüge  wählen.  Für  das  Grabmal  in 
Gjölbaschi  boten  sich  ungesucht  die  Tänzer  dar,  die 
im  Totenkult  ihre  Rolle  spielen,  am  Erechtheion 
finden  wir  die  attischen  Mädchen,  die  im  Dienste  der 
Gottheit  stehen,  in  Eleusis  haben  sich  Reste  von 
kolossalen  architektonischen  Figuren  gefunden,  Mäd¬ 
chen,  welche  die  mystische  Truhe  auf  dem  Haupte 
tragen  2)  also  ein  deutlicher  Bezug  auf  den  Kult  des 
Ortes,  wo  der  betreffenden  Bau  stand.  Und  so  wer¬ 
den  wir  auch  einmal  die  sonst  erhaltenen  zahlreichen 
architektonischen  Stützfiguren  auf  die  Bezüge  hin 
prüfen  müssen,  welche  sie  etwa  zu  dem  Kult  der 
Heiligtümer  oder  zu  der  Bestimmung  der  Gebäude 
gehabt  haben,  zu  deren  Schmuck  sie  dienten.  Die 
karyatischen  Tänzerinnen,  welche  in  architektonischer 
Verwendung  solchen  Ruhm  erwarben,  dass  sie  der 
ganzen  Gattung  dieser  Figuren  den  Namen  gaben, 
würden  wir  uns  am  liebsten  an  einem  Bau  des  Hei¬ 
ligtums  in  Karyä  denken.  Nicht  allerdings  am  Tem¬ 
pel,  denn  es  gab  dort  keinen;  das  Bild  der  Göttin 
stand  im  Freien,  ebenso  wie  das  uralte  Bild  des 
Apollon  in  Amyklä.  Dies  letztere  war  wenigstens 
mit  einem  prunkvollen,  reich  mit  plastischem  Schmuck 
verzierten  Throne  umgeben,  dem  gefeierten  Werke 
des  alten  Meisters  Bathykles;  daran  waren  schon 
menschliche  Figuren  als  Stützen  verwendet,  wie  über¬ 
haupt  diese  Benutzung  der  menschlichen  Gestalt  sich 
am  frühesten  und  reichsten  an  Geräten  jeder  Art 

1)  Das  Ileroon  von  Gjölbaschi -Trysa,  Tafel  5,  S.  71. 

2)  Vgl.  A.  Michaelis,  Ancient  marbles  in  Great-Britain 
S.  242. 


und  Größe  entwickelt  und  fortgepflanzt  zu  haben 
scheint.  Dürften  wir  uns  bei  der  Artemis  von  Karyä 
irgend  einen  analogen  Schmuck  des  Heiligtums 
denken,  so  wäre  bei  einen  solchen  die  erste  ein¬ 
drucksvollste  und  beziehungs vollste  Verwendung 
der  Tänzerinnen  in  architektonischem  Zusammen¬ 
hänge  wohl  möglich.  Aber  hierüber  können  wir 
Sicheres  nicht  behaupten. 

Nur  eines  ist  noch  zu  bemerken.  Wenn  wir 
mit  Recht  unsere  Vorstellung  von  den  karyatischen 
Tänzerinnen  aus  jenen  reizvollen  und  zierlichen  Dar¬ 
stellungen  der  kurzbekleideten  Tänzerinnen  herleite¬ 
ten,  so  dürfen  wir  aus  derselben  Quelle  auch  unsere 
Anschauung  von  einigen  nicht  erhaltenen  Kunst¬ 
werken  des  Altertums  beleben.  Die  Karyatiden  des 
Praxiteles,  die  ich  schon  erwähnte,  waren  offenbar 
eine  Gruppe  solcher  kurzgekleideter  Tänzerinnen, 
von  deren  Anmut  und  reizvoller  Bewegung  uns  die 
Reliefs  wohl  eine  Ahnung  geben  können,  wenn  auch 
ein  engerer  Zusammenhang  mit  dem  Werke  des 
Praxiteles  nicht  behauptet  werden  kann.  Schon  ein 
älterer  Künstler  hatte  denselben  Vorwurf  behandelt, 
Kallimachos.  Denn  nach  allem  Gesagten  ist  es  mir 
nicht  zweifelhaft,  dass  seine  tanzenden  Lakonerinnen, 
welche  als  ein  subtiles,  aber  zu  studirtes  Werk  ge¬ 
nannt  werden,  eben  tanzende  Karyatiden  darstellten  '). 

Erhalten  ist  uns  eine  solche  Statue  in  einem  stark 
ergänzten  Torso  in  Berlin  (Nr.  229,  s.  Fig.  4),  der  aus 
Rom  stammt.  Er  ist  leider  von  so  geringem  künst¬ 
lerischen  Werte,  dass  der  Versuch,  die  geschichtliche 
Stellung  seines  Originales  genauer  zu  bestimmen, 
verwegen  wäre,  nur  darf  man  wohl  behaupten,  dass 
es  einfacher,  schlichter  und  lebloser  war  als  das  in 
den  Reliefs  wiedergegebene.  Eine  Statue,  die  diesen 
entspräche,  würde  etwa  der  Münchener  Artemis  (Nr.93) 
gleichen;  aber  mehr  wage  ich  vorläufig  nicht  zu  be¬ 
haupten.  Hoffen  wir,  dass  der  unerschöpfliche  Boden 
Griechenlands  uns  einst  die  Monumente  schenkt, 
welche  eine  bestimmtere  Antwort  auf  diese  Fragen 
zu  geben  gestatten;  sie  sicher  beantwortet  zu  sehen, 
würde  einen  gleichen  Fortschritt  für  die  Geschichte 
der  Architektur  wie  der  Skulptur  bedeuten. 

1)  Plinius  34,  92;  vgl.  E.  Petersen  in  den  Arch.-epi- 
graphischen  Mitteilungen  aus  Österreich  V,  S.  59;  E.  Reisch, 
Weihgeschenke,  S.  10. 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 

VON  H.  E.  v.  BERLEPSCH. 

(Fortsetzung.) 


OTTFRIED  Keller  verließ 
Zürich  am  26.  April  1840, 
um  sein  Heil  in  München 
zu  versuchen.  Der  erste  Ein¬ 
druck,  den  die  aufblühende 
Stadt,  das  rege  Künstler¬ 
leben  auf  ihn  machten,  muss 
etwas  Verwirrendes  gehabt 
haben,  dieweil  das  tagtägliche  Leben  und  manche  neuen 
Eindrücke  den  aus  der  damals  äußerst  oder  wenig¬ 
stens  äußerlich  sittenstrengen  Stadt  an  der  Limmat 
an  die  Isar  Versetzten  zu  den  später  entstandenen 
drastischen  Worten  veranlassten: 

Ein  liederliches,  sittenloses  Nest, 

Voll  Fanatismus,  Grobheit,  Kälbertreiber, 

Voll  Heil’ genbilder,  Knödel,  Radiweiber. 

Landsleute  waren  sein  nächster  Umgang.  In  ein 
bestimmtes  Schul  Verhältnis  ist  er,  obschon  er  die 
Briefe  seiner  Mutter  als  „an  den  Eleven  der  Königl. 
Akademie“  zu  bestellen  bat,  nie  getreten.  Ob  sein 
Heil  darin  allein  bestanden  hätte,  mag  hier  nicht 
erörtert  werden.  Die  originellsten  Künstler  sind  zu¬ 
meist  den  Schulen  aus  dem  Wege  gegangen;  aber 
Keller  ist,  trotzdem  er  sichtliche  Arbeits- Resultate 
zu  Tage  förderte,  nicht  zum  fördernden  Arbeiten 
gekommen,  das  einzig  und  allein  im  strengen  Stu¬ 
dium  der  Natur  seine  Wurzeln  hat.  Missgeschick 
allein  ist  es  nicht  gewesen,  was  ihn  aus  dem  Sattel 
hob.  Hätte  er  Arbeiten  gesehen,  die  ihn  wirklich 
packten,  so  lag  schon  darin  eine  mächtige  Anregung. 
Ob  er  solche  empfunden  hat  heim  Anschauen  der 
Rottmann’schen  oder  anderer  Arbeiten?  Vergesse 
man  nicht,  dass  das  München  jener  Tage  seinen  Ruf 
hauptsächlich  dem  Umstande  dankte,  dass  im  übrigen 
Deutschland  für  Kunst  rein  gar  nichts  geschah. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  2. 


Inwieweit  alle  Münchener  Arbeiten  damals  wahr¬ 
haft  künstlerisch  waren,  mag  jeder  nach  eigenem 
Gefühl  ermessen. 

Neben  den  aus  dieser  Periode  noch  vorhandenen 
Arbeiten  Kellers,  die,  sowohl  was  Ausführung  als 
auch  Format  angeht,  von  größerer  Bedeutung  sind 
als  die  Überbleibsel  früherer  Zeit,  ist  es  wieder  der 
Grüne  Heinrich  sowie  Bächtold’s  Buch,  die  den  ge¬ 
nauesten  Aufschluss  über  den  Lebensgang  unseres 
Künstlers  geben. 

Es  wurde  bereits  gesagt,  dass  er  schon  während 
der  Lehrzeit  bei  Meyer  (Römer)  ein  Ölbild,  das 
Wetterhorn  vorstellend,  „verbrochen“  habe.  Haupt¬ 
sächlich  hatte  er  bisher  die  damals  übliche  Aqua¬ 
relltechnik  kultivirt,  welche  weit  entfernt  davon, 
die  zu  Gebote  stehenden  Mittel  frei  auszunutzen, 
noch  ziemlich  deutlich  ihre  bescheidene  Herkunft 
verriet:  die  ursprünglich  mit  Sepia  oder  Tusche 
angelegte,  zeichnerisch  auf  diese  Weise  durchge¬ 
führte  und  dann  mit  einigen  wenigen  farbigen  La¬ 
suren  (Tinten)  vollendete  Arbeit.  Man  hatte  ein 
Himmelblau,  ein  Baumgrün,  eine  Mischung  von 
Karmin  und  Ultramarin  für  die  Ferne,  feststehende 
Schatten  und  Lichttöne.  Dass  ein  Schatten  oder  auch 
das  Licht  durch  das  Zusammenspielen  verschiedener 
Farben  erst  Leben  bekomme,  war  eine  unbekannte 
Geschichte.  Die  Technik  zwängte  die  Erscheinung 
der  Natur  in  ihre  Regeln,  statt  dass  das  Verfahren  der 
Erscheinung  angepasst  und  diese  immer  von  neuem 
als  ein  Problem  betrachtet  wurde.  Nicht  viel  anders 
stand  es  mit  der  Technik  des  Ölmalens.  V om  „Lustre“ 
der  Farbe  war  in  Deutschland  wenigen  etwas  be¬ 
kannt,  galt  sie  doch  den  großen  Meistern  der  Zeit  über¬ 
haupt  nicht  viel  mehr  denn  als  eine  Beigabe,  der  man 
sich  nur  gerade  soweit  bediente,  um  der  Modellirung 

7 


46 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


des  Gemalten  eine  gewisse  Abwechselung  zu  ver¬ 
leihen.  Man  verschmähte  die  Einfachheit  der  far¬ 
bigen  Erscheinung,  wie  sie  bei  mittelalterlichen 
Fresken  oft  so  äußerst  anmutig  auftritt,  modellirte 
aber  auch  nicht  mit  Farbe,  sondern  mit  Lokaltönen, 
zu  denen  ein  Schatten  —  und  ein  Lichtton  gemischt 
wurde.  Dieses  Verfahren  hat  vor  zwanzig  Jahren 
z.  B.  Anschütz  in  seiner  Malklasse  an  der  Münchener 
Akademie  noch  gelehrt.  Die  eigentlich  farbige 
Wirkung  der  Natur  musste  förmlich  neu  entdeckt 
werden.  Die  darauf  beruhende  Anschauung  hat  sich 
bei  uns  überhaupt  erst  seit  kurzer  Zeit  Bahn  ge¬ 
brochen,  freilich  unter  dem  nicht  enden  wollenden 
Widerspruche  Mancher,  die  über  Kunst  das  große 
Wort  führen,  ohne  mit  dem  intimen  Wesen  der 
Erscheinung,  wie  sie  sich  dem  künstlerisch  ge¬ 
bildeten  Auge  bietet,  auch  nur  irgendwie  Bekannt¬ 
schaft  gemacht  zu  haben.  Die  Theorie  steht  eben 
auch  in  diesem  wie  in  gar  manch  anderem  Falle 
der  Praxis  oft  verneinend  gegenüber,  trotzdem  sie 
unproduktiv  ist;  das  war  für  die  deutsche  Kunst  in 
unzählbar  vielen  Fällen  der  Hemmschuh,  und  ist  es 
manchmal  heute  noch. 

Im  Grünen  Heinrich,  Cap.  XI,  die  Maler,  heißt  es: 

„ - —  Denn  weder  meine  Vorbereitung  noch  meine 

Lebenskunde  waren  geeignet  gewesen,  mein  Thun  und  Lassen 
rasch  in  eine  feste  Form  zu  bringen. 

In  diesem  Obergangsschatten  herumsuchend,  sehe  ich 
mich  eines  Nachmittags  bei  guter  Zeit  die  Palette  reinigen 
und  die  Pinsel  auswaschen,  mit  denen  ich  den  Kampf  mit 

einem  auf  Hörensagen  begonnenen  Ölmalen  führte.  — - 

Ohne  alle  Empfehlungen  angekommen  und  auch  ohne  Mittel, 
mich  in  die  Werkstatt  eines  in  der  Wolle  des  Gelingens 
sitzenden  Meisters  einzudingen,  war  ich  darauf  angewiesen, 
in  den  Vorhöfen  des  Tempels  zu  stehen  und  da  oder  dort 
durch  die  Vorhänge  zu  gucken,  was  immer  seine  Schwierig¬ 
keit  hatte.  Denn  von  den  Scholaren,  wie  sie  im  Durch¬ 
schnitte  sind,  war  nichts  zu  lernen1)  und  sobald  die  jungen 

1  Das  stimmt  mit  der  Wirklichkeit  nicht  ganz  überein, 
«h-nn  gerade  in  den  Malschulen  wird  durch  Anregung  seitens 
der  Genossen  oft  viel  mehr  wachgerufen  als  durch  die  Kor¬ 
rektur  des  Lehrers,  der  in  den  meisten  Fällen  seine  An¬ 
schauung  an  den  Mann  bringt,  wogegen  sich  bei  Werden¬ 
den  das  Drängen  einer  eigenartigen  Anschauungsweise  mit 
viel  mehr  Kraft  den  Mitstrebenden  fühlbar  macht  und  sie 
aneifert.  Was  die  „Kunstgeheimnisse“  angeht,  so  hätten 
ie ,  da  es  sich  hier  wohl  in  erster  Linie  um  technische 
Kniffe  und  Fertigkeiten  handelt,  dem  Anfänger  wenig  ge¬ 
nützt,  da  ihm  die  Erfahrung,  wieso  man  dies  und  das  so 
und  nicht  anders  macht,  noch  völlig  abging.  Übrigens  ist 
fahrangstbatsache,  dass  jeder,  der  vorwärts  will,  am 
mei-ten  durch  das  gefördert  wird,  was  er  selbst  erringt. 
Den  Schlusspassus  über  Kümmel,  Salz  und  Ambrosia  wird 
jeder,  der  Einblick  in  diese  Welt  hat,  nicht  für  eine  bittere 
Bemerkung,  sondern  für  durchaus  zutreffend  erklären.  Es 
mag  nur  ein  Beispiel  unter  vielen  dafür  aufgeführt  werden 
Einer  der  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren  beliebtesten 


Leute  durch  den  Verkauf  eines  Werkleins  als  angehende 
Meister  sich  betrachten  lernten,  wurden  sie  in  der  Mitteilung 
ihrer  Kunstgeheimnisse  zugeknöpft  und  einsilbig.  Schon  war 
ich  einmal  zurückgeschreckt  worden,  als  ich  mich  auf  aus¬ 
drückliche  Einladung  hin  bei  einem  derartigen  schüchtern 
zum  Besuche  meldete  und  er  mich  an  der  Thüre  mit  der 
hochmütigen  Entschuldigung  abwies,  er  halte  soeben  Kon¬ 
ferenz  mit  seinem  Litteraten,  um  „den  Mann“  für  die  Be¬ 
sprechung  eines  neuen  Bildes  zu  instruiren.  Auch  in  der 
Idealwelt  der  Kunst  sind  Kümmel  und  Salz  reichlicher  als 
Ambrosia,  und  wenn  die  Leute  wüssten,  wie  klein  und  or¬ 
dinär  es  in  den  Köpfen  mancher  Maler,  Dichter  und  Musi¬ 
kanten  aussieht,  so  würden  sie  einige  dem  Völklein  nur 
schädliche  Vorurteile  aufgeben.“ 

Keller  besucht  seinen  „neuen  Freund“  Erikson, 
der  nicht  zu  der  stark  vertretenen  Sorte  der  oben 
Gekennzeichneten  zählt,  sondern  ein  anständiger 
Mensch  ist.  Ob  er  einen  norwegischen  Freund  hatte, 
ist  unbekannt.  Knud  Baade  lebte  erst  seit  1842  in 
München.  Soviel  Bächtold  sagt,  waren  Schweizer, 
darunter  solche  von  vorgeschrittenerer  künstlerischer 
Bildung,  außer  diesen  aber  hauptsächlich  Studenten 
gleicher  Nationalität  der  Kreis,  in  dem  Keller  ver¬ 
kehrte  und  seine  Schnurren  zum  besten  gab. 

Erikson  nun,  oder  wie  er  immer  sonst  heißen 
mochte,  kennt  Keller’s  Arbeiten  offenbar  schon,  und 
giebt  diesem  in  scherzhaften  Worten  ein  Urteil  ab,  das 
durch  die  vorhandenen  Arbeiten  des  Nachlasses  durch¬ 
aus  bestätigt  wird: 

„Sehen  Sie,  wie  ich  mich  plagen  muss,“  rief  er,  mir 
unbefangen  die  Hand  schüttelnd,  „seien  Sie  froh,  dass  Sie 
ein  gelehrter  Komponist  und  Kopfmaler  sind,  der  nichts  zu 
können  braucht,  während  so  ein  armer  Teufel  von  Handels¬ 
maler  nicht  weiß,  wo  er  die  Tausende  von  bargültigen  Halb- 
tönchen,  Druckerchen  und  Lichtchen  auftreiben  soll,  um 
seine  kabinettsfähigen  vierzig  Quadratzoll  nicht  allzu  schwin¬ 
delhaft  zu  überstreichen.“ 

Und  später,  als  es  sich  um  den  Besuch  bei  Lys 
handelt: 

„Mich  lässt  er  schon  hinein,  weil  ich  kein  Maler  bin! 
Sie  vielleicht  auch,  weil  Sie  noch  nichts  können  und  es 
noch  unentschieden  ist,  ob  Sie  überhaupt  ein  Maler  werden!“ 

Und  nach  einer  Pause,  während  deren  ihm  Keller 
das  Handwerkszeug  in  Ordnung  bringen  hilft: 

„ - Aber  die  Pinsel  sind  rein,  Gott  segne  Sie! 

Von  diesem  Punkte  aus  kann  man  Sie  unbescholten  nennen! 
Sie  haben  eine  ordentliche  Mutter,  oder  ist  sie  tot?“ 

Die  beiden  verfügen  sich  dann  zu  dem  myste¬ 
riösen  Niederländer  Lys.  Außerordentlich  zutreffend 


Münchener  Maler,  der  sich  mit  seinen  Bildern  massenhaft 
Geld  verdiente,  ließ  z.  B.  die  Baumgruppen,  die  er  nach 
der  Natur  gemalt  hatte,  nachher  durch  Absagen  von  Haupt¬ 
ästen,  war  es  ihm  möglich,  durch  Fällen  der  schönsten 
Exemplare  so  zurichten,  dass  nach  ihm  kein  anderer  Kollege 
mehr  dem  nämlichen  Sujet  sich  nahen  sollte.  Der  Mann 
sprach  aber  stets  in  sonorem  Tone  von  den  „idealen“  Seiten 
des  Künstlerlebens  und  war  auch  Professor, 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


47 


ist,  was  da  an  Bemerkungen  fällt  über  die  „leiden¬ 
schaftliche  Beschränktheit“  der  Kollegen,  weiter  über 
das  Rezensententum,  den  „verdrießlichen  Handel,“ 
die  gelehrte  Erklärung  künstlerischen  Schaffens  und 
das  Schwanken  des  Genies.  Dann  machen  sie  sich 
auf  den  Weg,  kommen  an  Keller’s  Wohnung  vor¬ 
über,  was  Erikson  veranlasst  zu  sagen: 

„Halt,  wir  wollen  bei  diesem  auch  noch  schnell  nach- 
sehen,  was  er  schafft.  Die  untergehende  Sonne,  die  ihm 
gerade  in  sein  unpraktisches  Fenster  schaut,  wird  ihm  zu 
Hilfe  kommen,  dass  wir  wenigstens  etwas  Farbe  vor  Augen 
haben!“ 

Mögen  diese  Worte  in  Wirklichkeit  einmal  ge¬ 
fallen  sein  oder  legte  sie  Keller  später  in  richtiger 
Selbsterkenntnis  einer  erfundenen  Figur  in  den  Mund, 
auch  sie  zielen  auf  die  schwache  Seite  seines  Ar- 
beitens  ab.  —  Zunächst  zeigt  er  seinen  Besuchern 
die  zwei  großen  Kartons  ( —  es  war  ja  die  Zeit  der 
Kartons  und  —  der  schlechten  Maler),  deren  einer 
eine  altgermanische  Auerochsenjagd,  der  andere  einen 
„Eichwald  mit  Steinmälern,  Heldengräbern  und  Opfer¬ 
altären“  aufwies. 

„Ich  hatte  die  beiden  Sachen  mit  großer  Schilffeder 
auf  die  mächtigen  Papierflächen  gezeichnet  und  markig 
schraffirt,  auch  breite  Schattenmassen  mit  gi’auer  Wasser¬ 
farbe  angelegt1),  darauf  die  Kartons  mit  Leim wasser  über¬ 
zogen  und  auf  diesem  Grund  sodann  mit  Ölfarbe  lustig 
herumgewirtschaftet  in  der  Weise,  dass  in  den  heildunkeln 
durchsichtigen  Teilen  überall  die  Schilffederzeichnung  durch¬ 
blickte.  Nicht  eine  einzige  Naturstudie  hatte  ich  dazu  be¬ 
nutzt,  sondern  in  meinem  ungezügelten  Schaffensdrang  den 
ersten  und  letzten  Strich  frei  erfunden,  und  da  diese  Arbeit 
ebenso  leicht  als  fröhlich  vor  sich  ging,  so  sahen  die  zwei 
farbigen  Kartons  nach  etwas  aus,  ohne  dass  viel  davon  zu 
sagen  war;  denn  ob  ich  auch  im  stände  gewesen  wäre,  solche 
Bilder  auszuführen,  konnte  man  zunächst  nicht  wissen.“ 

Die  „acht  Zoll  großen  Figuren“  hatte  ihm  ein 
Landsmann,  der  heute  noch  in  St.  Gallen  lebende 
Eviil  Rittmeyer,  damals  in  Kaulbach’s  Atelier  thätig, 
hinein  komponirt. 

„Hinter  diesen  Fahnen,  von  welchen  die  eine  kulissen¬ 
artig  halb  hinter  der  anderen  verborgen  stand,  ragte  an  der 
Wand  eine  dritte  über  sie  hinaus,  in  gleicher  Weise  ange¬ 
legt,  aber  noch  ohne  Farben.  Eine  von  gewaltigen,  breiten 
Linden  umgebene  kleine  Stadt  baute  sich  zwischen  den 
Stämmen  und  aus  den  Wipfeln  heraus  an  einer  Berglehne 
hinan,  dicht  gedrängt,  mit  zahlreichen  Türmen,  Giebel¬ 
häusern,  Wimpergen,  Zinnen  und  Erkern.  Man  sah  in  die 
engen,  krummen  und  mit  Treppen  verbundenen  Gassen 
hinein,  auf  kleine  Plätze,  wo  Brunnen  standen,  und  durch 
die  Glockenstuben  des  Münsters  hindurch,  hinter  welchen 
die  hellen  Sommerwolken  zogen,  wie  auch  hinter  den 
offenen  Trinklauben,  die  sich  in  die  Luft  hinaus  profllirten 
und  Gesellschaften  kleiner  Männlein  meiner  eigenen  Arbeit 


1)  „Angetuscht“  wäre  der  richtige  Terminus  technicus 
für  die  farblose  Unterlage,  die  bloß  auf  „hell  und  dunkel“ 
abzielt. 


beherbergten.  Ich  hatte  die  merkwürdige  Stadt  mit  Hilfe 
eines  architektonischen  Sammelwerkes  zusammengebaut  und 
die  Formen  der  romanischen  und  gotischen  Baustile  in 
bunter  Gruppirung  und  Übertreibung  so  gehäuft,  wie  es 
kaum  jemals  vorkam,  und  dabei  die  Entstehungsweise  chro¬ 
nologisch  angedeutet,  indem  die  Burg  und  die  unteren  Teile 
der  Kirche  das  höchste  Alter  in  der  Bauart  zeigten.  Der 
hochgerückte  Horizont  zog  sich  noch  über  die  Linden  weg 
und  schloss  ein  weites  Gelände  ab,  das  Meierhöfe,  Mühlen, 
Gehölze  und  in  einem  düstern  Schattenwinkel  das  Hoch¬ 
gericht  umzirkte.  Vorn  sollte  aus  dem  offenen  Thore  eine 
mittelalterliche  Hochzeit  über  die  Fallbrücke  kommen  und 
sich  mit  einem  einziehenden  Fähnlein  bewaffneter  Stadt¬ 
knechte  kreuzen.  Dies  Figurengewimmel  fügte  ich  mit  er¬ 
klärenden  Worten  hinzu,  da  einstweilen  bloß  der  Platz  dazu 
offen  war.“  (Grüner  Heinrich  III,  Seite  15G.) 

Der  Holländer  hält  dann  auch  nicht  mit  seinem 
Urteil  zurück,  das  kaustisch  genug  lautet: 

„Vortrefflich!“  sagte  Lys,  „eine  gedachte  Staffage;  das 
ist  das  Leichteste  und  Duftigste,  was  es  giebt!  Übrigens 
glüht  Ihre  Stadt  in  der  verfluchten  Himbeerbrühe  dieses 
Abendrotes  wie  das  brennende  Troja!  Doch  fällt  mir  ein: 
Sie  müssen  alles  aufgetürmte  Mauerwerk  aus  rotem  Sand¬ 
stein  bestehen  lassen,  das  wird  den  kolossalen  Bäumen 
gegenüber  und  in  Verbindung  mit  den  weißglänzenden 
Wolken  einen  eigentümlichen  Effekt  machen!“  (Grüner 
Heinrich  III,  Seite  157.) 

Das  Blatt  ist  erhalten,  seine  Haupt- Partie  in 
Abbildung  S.  48  beigefügt,  Keller  hat  sich  beim  Ent¬ 
werfen  offenbar  gar  keine  Rechenschaft  darüber  ge¬ 
geben,  wie  ein  solches  Thema  mit  den  tausend  Ein- 
zelnheiten  bildmäßig  zu  verarbeiten  wäre.  Er  häufte 
Motiv  an  Motiv,  jedem  mit  gleicher  Liebe  zugethan, 
und  sicher  hätte  es  ihn  ganz  außerordentlich  gereut, 
wäre  es  der  malerischen  Wirkung  zu  liebe  an  ein 
Beiseitelassen  dieser  Dinge  gegangen.  Soweit  es  sich 
um  den  Zusammenhang  der  architektonischen  Motive 
handelt,  ist  das  Räumliche  klar  durchdacht  und  ein¬ 
heitlich.  Es  mögen  ihm  dabei  jene  reizvollen  Archi¬ 
tekturen  vorgeschwebt  haben,  wie  sie  sich  auf 
manchem  Dürer’schen  Stiche  finden.  Merian’s  Kos- 
mographie  und  vielleicht  auch  die  große  Stadt-Aus¬ 
sicht  Zürich’s,  geschnitten  von  Josen  Murer  (1576), 
haben  wohl  mitgewirkt  bei  der  Entstehung  dieser 
Arbeit,  die  in  vielen  einzelnen  Dingen  reizvoll  ge¬ 
nannt  werden  muss  und  sich  allenfalls  für  einen  Holz¬ 
schnitt  vorzüglich  geeignet  hätte.  Wo  nun  aber  die 
Größenverhältnisse  von  nah  und  fern  in  Betracht 
kommen,  hat  der  Autor  entschieden  Schiffbruch  ge¬ 
litten;  denn  die  mächtigen  Linden  z.  B.,  die  rechts 
das  Bild  einrahmen  und  durch  ihr  bewegtes  Ast- 
und  Laubwerk  einen  wirksamen  Gegensatz  zur  Archi¬ 
tektur  bilden  sollen,  stehen  in  gar  keinem  Verhält¬ 
nisse  zu  den  rückwärtigen  Partien;  dagegen  er¬ 
heben  sich  dann  wieder  im  Vordergründe  Schierlings- 

7* 


Mittelalterliche  Stadt. 

Bruchstück  des  Entwurfes  von  G.  Keller,  kop.  von  H.  E.  v.  Berlepsch. 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


49 


Stauden,  die  den  genannten  Bäumen  gegenüber  sieb 
ausnebmen  wie  gewaltige  Pflanzengebilde  aus  vorsünd- 
flutlicher  Zeit.  Das  an  sieb  reizend  erfundene  Haus 
im  Vordergründe,  an  dessen  einer  Seite  ein  Gärtchen 
mit  Malven  und  Sonnenblumen  steht,  ist  für  sich 
genommen,  ganz  tretflich  gedacht.  Der  Durchblick 
durch  das  Thor,  das  am  Rande  des  Ziehbrunnens 
stehende  Kind,  das  verfallene  Flechtwerk  der  Palli- 


tes  gemacht,  freilich  nicht  so,  dass  man  den  Wald 
vor  lauter  Bäumen  nicht  sieht,  wie  auf  dem  Keller’ 
sehen  Karton. 

Keller  weist  nun  den  Kollegeu  noch  einige  weitere 
Dinge,  die  er  ebenfalls  „aus  der  Tiefe  des  Gemütes“, 
keineswegs  aber  unter  Zuhilfenahme  der  Natur  auf 
einen  Karton  gezaubert  hat.  Die  figürliche  Kompo¬ 
sition  spricht  hier  das  Hauptwort.  Es  ist  Moses, 


Blick  vom  Zürichberge.  Aquarell  von  Gottfried  Keller. 


saden  außerhalb,  —  alles  klappt  famos  als  abge¬ 
schlossene  Erscheinung  für  sich,  steht  aber,  ein  Bild 
im  Bilde,  durchaus  nicht  im  Einklänge  zum  Ganzen, 
schon  durch  seine  Größenverhältnisse  nicht.  Dadurch 
wirkt  es  naiv  und  steht  entschieden  im  Gegensätze 
zu  der  gedanklichen  Arbeitsweise,  durch  welche  sich 
die  Arbeiten  der  Klassizisten  in  erster  Linie  kenn¬ 
zeichnen.  Schwind  und  Richter  haben  oft  Verwand- 


der  die  Gesetzestafeln  schafft,  und  hinter  ihm,  auf 
einem  Granitblock  stehend,  das  „prästabilirte“  Jesus¬ 
kind.  Wo  es  dabei  fehlte,  erkannte  er  später  absolut 
richtig  selbst,  denn  er  lässt  Lys  sagen: 

,,Da  haben  wir  es  also!  Sie  wollen  sich  nicht  auf  die 
Natur,  sondern  allein  auf  den  Geist  verlassen,  weil  der  Geist 
Wunder  thut  und  nicht  arbeitet.  Der  Spiritualismus  ist  die¬ 
jenige  Arbeitsscheu,  welche  aus  Mangel  an  Einsicht  und 
Gleichgewicht  der  Erfahrung  hervorgeht  und  den  Fleiß  des 


50 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


wirklichen  Lebens  durch  Wunderthätigkeit  ersetzen,  aus 
Steinen  Brot  machen  will,  anstatt  zu  ackern,  zu  säen,  das 
Wachstum  der  Ähren  abzuwarten,  zu  schneiden,  zu  dreschen, 
mahlen  und  backen.  Das  Herausspinnen  einer  fingirten, 
künstlichen,  allegorischen  Welt  aus  der  Erfindungskraft,  mit 
Umgehung  der  guten  Natur,  ist  eben  nichts  anderes,  als 
jene  Arbeitsscheu;  und  wenn  Romantiker  und  Allegoristen 
aller  Art  den  ganzen  Tag  schreiben,  dichten,  malen  und 
operiren,  so  ist  dies  alles  nur  Trägheit  gegenüber  derjenigen 
Thätigkeit,  welche  nichts  anderes  ist,  als  das  notwendige 
und  gesetzliche  Wachstum  der  Dinge.  Alles  Schaffen  aus 
dem  Notwendigen  heraus  ist  Leben  und  Mühe,  die  sich  selbst 
verzehren,  wie  im  Blühen  das  Vergehen  schon  herannaht; 
dies  Erblühen  ist  die  wahre  Arbeit  und  der  wahre  Fleiß; 
sogar  eine  simple  Rose  muss  vom  Morgen  bis  zum  Abend 
tapfer  dabei  sein  mit  ihrem  ganzen  Korpus  und  hat  zum 
Lohne  das  Welken.  Dafür  ist  sie  aber  eine  wahrhaftige 
Rose  gewesen!“ 

- „Die  geognostisclie  Landschaft,  die  Sie  dar¬ 
stellen  wollen,  haben  Sie  nie  gesehen  und  werden  Sie,  ich 
will  wetten,  auch  niemals  sehen.  Dahinein  setzen  Sie  zwei 
Figuren ,  mit  denen  Sie  teils  die  Schöpfungsgeschichte  und 
den  Schöpfer  feiern,  teils  aber  ironisiren;  das  ist  ein  gutes 
Epigramm,  aber  keine  Malerei;  und  endlich  könnten  Sie, 
wie  man  wohl  sieht,  die  Figuren,  wenigstens  jetzt,  gar  nicht 
selbst  ausführen,  ihnen  folglich  nicht  diejenige  Bedeutung 
geben,  die  Sie  sich  geistreich  denken;  folglich  stehen  Sie 
mit  dem  ganzen  Handel  in  der  Luft;  es  ist  ein  Spiel  und 
keine  Arbeit!“  (Grüner  Heinrich,  Bd.  III,  S.  159.) 

Das  ist  klare  Selbstkritik,  reife  Einsicht,  frei¬ 
lich  späteren  Jahren  entsprungen.  Übrigens  ist  wohl 
anzunehmen,  dass  Keller  auch  zu  Zeiten  der  Ent¬ 
stehung  der  Kartons  durch  bloßen  Einspruch  nicht 
zur  Umkehr  zu  bringen  gewesen  wäre.  Dafür  war 
er  ein  viel  zu  eigensinnig  harter  Kopf  andern,  aber 
schwankend,  wie  es  gar  oft  der  Fall,  sich  selbst 
gegenüber. 

Wie  ihn  bei  der  besprochenen  Arbeit  der  Zug 
zum  Romantischen  erfasst  hatte,  so  äußert  sich  in 
anderen  der  Einfluss  der  klassischen  Richtung  Rott¬ 
manns.  Zwar  versuchte  Keller  weder  italienische 
noch  griechische  Motive  zu  erfinden,  indes  trägt 
'eine  „Ossianische  Landschaft“,  deren  Vegetation  des 
Nordens  Natur  kündet,  deutlich  das  Bestreben,  gro߬ 
zügig  sich  auszudrücken,  durch  wenig  gebrochene 
Linien  und  einfach  angeordnete  Massen  eine  im- 
ponirende  Wirkung  zu  erzielen.  Keller  war  hier 
von  klassizistischen  Einflüssen  stark  inspirirt.  Über 
flachen  Felsrücken,  zwischen  denen  in  der  Ferne  die 
See  zu  sehen  ist,  schwebt  dichtballiges  Gewölk. 
Massige  Kiefern  bestände,  deren  flache  Kronen  zu  den 
ruhigen  Linien  des  Terrains  durchaus  passend  sich 
verhalten,  bedecken  das  Gelände,  aus  dem  im  Mittel¬ 
gründe  rechts  gigantische  Felsmassen  in  die  sturm¬ 
bewegte  Luft  emporragen.  Davor  zieht  sich  ab- 
tallendes  Terrain  hin.  Gegen  den  Beschauer  zu 
steigt  es  an,  wieder  mit  dichtem  Kiefernwald  be¬ 


deckt.  Vorn  schließen  rechts  und  links  —  Versatz¬ 
stücke  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  —  ein 
paar  große  Felsbrocken  das  Bild  ab,  dem  Größe 
der  Anschauung  durchaus  nicht  abzusprechen  ist. 
Es  mag  gerade  deshalb  eine  Bemerkung  hier  Platz 
finden ,  die  sich  in  Gegensatz  zu  einer  ziemlich 
verbreiteten  Anschauung  stellt.  Kellers  malerische 
Bestrebungen  werden  nämlich  noch  heute,  selbst 
von  vielen  seiner  Verehrer,  geradezu  für  „dilettanten- 
hafte“  Schöpfungen  gehalten.  Solche  mögen  sich 
gesagt  sein  lassen,  dass  dergleichen  Arbeiten  —  ihre 
Mängel  alle  mit  eingerechnet  —  nicht  im  Kopfe 
eines  Dilettanten  wachsen.  Von  Unbeholfenheit 
zeugt  manches,  aber  es  liegt  im  Ganzen  jener  Guss, 
der  künstlerisches  Denken  und  Empfinden  als  erste 
Bedingung  voraussetzt.  Das  will  freilich  gesehen 
sein,  will  man  über  dergleichen  sein  Verdict  abgeben. 
So  zaghaft  manches  gehalten  ist,  wo  die  Forderung 
bestimmt  ausgesprochener  Detailform  an  den  Künst¬ 
ler  herantrat,  so  breit  ist  dagegen  die  Anschauung, 
die  sich  im  Ganzen  kund  giebt1).  Keller  glaubte 

1)  Der  Verfasser  vorliegender  Zeilen  brachte  eines  Abends 
verschiedene  größere  Reproduktionen  nach  Keller’schen  Ori¬ 
ginalen  mit  in  einen  Münchener  Künstlerkreis.  Auf  Gottfr. 
Keller  riet  beim  Anschauen  kein  Mensch.  Desto  größer 
war  das  Erstaunen,  da  dieser  als  Autor  genannt  wurde. 
Ernst  Zimmermann,  der  bekannte  treffliche  Künstler,  erbat 
sich  die  Sachen  zu  genauer  Besichtigung  und  sandte  sie 
dann  mit  folgenden  Zeilen  zurück:  „Anbei  schicke  ich  Dir 
die  Keller’schen  Sachen  mit  Dank  zurück.  Ich  war  beim 
genauen  Durchgeben  derselben  nicht  wenig  überrascht.  Wie 
wohl  die  meisten  Leute,  war  auch  ich  der  Meinung,  Keller 
habe  es  als  Maler  zu  nichts  „Rechtem“  gebracht,  und  jetzt 
sagen  mir  diese  Blätter,  dass  er  nicht  nur  wirklich  ein 
Maler,  sondern  ein  ganz  hervorragender  war.  Wenn  die 
anderen  um  ihn  herum  das  nicht  gemerkt  haben,  tant  pis 

pour  eux. - Kurzum,  es  sind  künstlerisch  hochstehende 

Arbeiten.  Wie  ist  es  nur  möglich,  dass  man  nicht  einmal 
davon  munkeln  hörte,  was  das  für  ein  Mordskerl  gewesen 
ist!  Waren  denn  die  Sachen  bisher  versteckt  und  bekam 
sie  niemand  zu  sehen?  Das  allein  erklärt  mir  es  u.  s.  w.“ 
Ähnlich  äußerte  sich  Adolf  Stcibli,  der  tüchtigsten  Münche¬ 
ner  Künstler  einer.  Hans  Thoma  schreibt  u.  a.  über  die 
Blätter  Keller’s :  „Keller  steckte  bei  manchem  offenbar  in 
einer  gewissen  herkömmlichen  Handwerksmäßigkeit  und  war 
eine  viel  zu  komplizirte  Natur,  um  sich  leicht  davon  frei  zu 
machen.  Das,  was  er  äußerlich  sah  in  seiner  Zeit,  konnte 
ihn  nicht  befriedigen,  und  ich  glaube,  dass  er  so  das  Inter¬ 
esse  an  der  Malerei  verlor.  Dass  er  aber  aus  dieser  Ver¬ 
lorenheit  heraus  ein  Bild  machte,  wie  das  runde  (siehe  Abb. 
S.  49)  „Blick  vom  Zürichberge“,  das  ein  wahres  Ideal  von  Land¬ 
schaft  ist,  zeigt,  wes  Geistes  Kind  er  war  und  dass  er  seine 
Persönlichkeit  nicht  verloren  hätte,  wär’  er  bei  der  Malerei 
geblieben.  Er  hat  es  eben  nach  dieser  Seite  nicht  bis  zum 
Sprengen  der  Decke  gebracht,  die  für  jeden  vorhanden  ist, 
der  nach  verschiedenen  Seiten  starke  Beanlagungen  hat. 
Was  die  verbohrte  Handwerksmäßigkeit  aber  betrifft,  die 
Keller’s  Jugendzeit  umlagerte,  so  ist  sie  gewiss  nicht  ärger 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


51 


sich  vielleicht  völlig  Herr  der  Sache,  die  freilich 
in  diesem  Falle  sichtlich  mehr  auf  Nachempfindung, 
denn  auf  Selbstgesehenem  beruhte.  Es  ist  eine  der 
Rottmannschen  Landschaften  aus  Griechenland  oder 
Italien,  schlicht  und  groß  ins  Deutsche  übersetzt. 
Rottmann  war  eben  in  jenen  Tagen  der  Mann,  des 
Wort  und  Werk  die  Situation  beherrschte.  Dass 
Keller  von  diesem  Fahrwasser  mit  fortgerissen  wurde, 
ist  nicht  zu  verwundern.  Er  war  noch  zu  weit 
entfernt  von  selbständiger  Anschauungs-  ebenso 
wie  Ausdrucksweise.  Wieviele  Künstlerseelen  (und 
zwar  von  denen,  die  sich  zu  den  „Selbständigen“ 
zählen)  hat  nicht  Makart,  Boecklin,  Uhde,  kurz 
jeder  im  Gefolge  gehabt,  dessen  Art  für  seine  Zeit 
von  Bedeutung  wurde!  Mit  diesem  Faktum  muss 
noch  weit  mehr  unserem  Kunstadepten  gegenüber 
gerechnet  werden,  denn  mit  dem  Pinsel  umgehen 
können ,  heißt  noch  lange  nicht  auch  ein  selb¬ 
ständiger  Mensch  sein.  Das  lehrt  jede  neue  Aus¬ 
stellung  ganz  eindringlich. 

Die  Bistrezeichnung  der  oben  besprochenen 
Komposition  steht  entschieden  hoch  über  der  zwei 


gewesen  als  die  jetzige  Modethorheit ,  die  alles  Dagewesene 
überwunden  zu  haben  meint.  Sie  ist  gewiss  nicht  unerfreu¬ 
licher  als  Hunderte  von  modernen  Bildern,  welche  die  jetzigen 
Ausstellungen  beherrschen  und  durch  ihr  unbescheidenes 
Wesen  um  nichts  erfreulicher  wirken.  Man  lacht  wohl  über 
den  ehrlich  spießbürgerlichen  „Baumschlag“  und  sieht  gar 
oft  nicht,  mit  welch  einfältigen  Mätzchen  die  moderne  Hand¬ 
werksmäßigkeit  arbeitet.  Wenn  man  behauptet,  landschaft¬ 
liche  Kompositionen  stünden  mit  dem  Wesen  der  Landschafts¬ 
malerei  im  Widerspruch,  wenn  man  behauptet,  der  Einfluss 
der  Antike  auf  die  Malerei  sei  „stets“  ein  großes  Unglück 
gewesen,  dann  wird  man  freilich  auch  nicht  zum  inneren 
Kern  der  KelleFschen  Arbeiten  gelangen.“  — - Der  Ein¬ 

fluss  der  Antike  auf  die  Malerei  „stets“  ein  großes  Unglück! 
Das  ist  ein  kapitaler  Ausspruch!  Wie  wenn  jemals  das  Hohe 
und  Vortrefflichste  der  Kunst  derselben  Schaden  bringen 
könnte,  wenn  man  es  nur  recht  versteht.  Gewiss  dürfen 
wir  dann  auch  den  Homer  nicht  mehr  lesen,  den  Borghesi- 
schen  Fechter  nimmer  anschauen,  auch  die  griechischen 
Löwen  vor  dem  Arsenal  zu  Venedig  nimmer,  auch  das  nicht 
und  jenes  nicht  —  denn  die  Antike  droht  uns  mit  Unglück! 
Ach,  was  ist  doch  unsere  Kunst  für  ein  zartes  Pflänzlein 
geworden.  — - Das  Keller’sche  Rundbild  ist  eine  Mi¬ 

schung  von  Vedute  und  Komposition,  aber  wie  anregend  ist  es 
und  welche  Perspektive  eröffnet  es  einer  vernünftigen  Land¬ 
schaftsmalerei.  Veduten  werden  gewöhnlich  halt  dann  öde, 
wenn  ein  öder  Maler  sie  öde  malt.  Das  hindert  aber  nicht, 
dass  eine  landschaftliche  Komposition  sich  dennoch  mit  dem 
Wesen  der  Landschaftsmalerei  decken  kann.  Ist  es  denn 
notwendig,  dass  alles  über  einen  Leisten  geschlagen,  über 
einen  Kamm  gekämmt  werde?  Wäre  Keller  bei  der  Malerei 
geblieben,  so  hätte  er  sich  wahrscheinlich  durch  nichts  ein¬ 
engen  lassen.  Das  thut  überhaupt  kein  Künstler;  die  Maler 
aber,  die  es  thun,  geben  damit  nur  einen  Beweis  ihrer 
Schwäche, 


Jahre  später  (1843)  entstandenen  Ölskizze,  die  das 
nämliche  Snjet  behandelt.  Die  Farbe  ist,  wie  bei 
manch  anderem  Versuche,  trocken,  bleiern,  hart. 
Das  Wollen  steht  höher  als  das  Können.  Wo  er 
sich  aber  auf  das,  was  er  eigentlich  gelernt,  ver¬ 
lassen  hat,  da  traten  Resultate  zu  Tage,  die,  wenn 
auch  unseren  heutigen  Anschauungen  über  Tonwerte 
u.  s.  w.  keineswegs  entsprechend,  doch  als“ abgerun¬ 
dete  Leistungen  bezeichnet  werden  müssen.  Ihre 
Gesamtwirkung  ruft  einen  angenehmen  Eindruck 
wach,  trotzdem  sie  etwas  Altväterisches  an  sich  tragen. 
Vollständig  trifft  dies  bei  dem  in  Heft  1  wiedergegebe¬ 
nen  Ölbilde  zu,  das  ein  günstiger  Zufall  einem  in 
München  lebenden  Schweizer  Künstler,  Herrn  Welti 
von  Winterthur,  auf  der  Auer  Herbst-Dult  1893 
(Jahrmarkt  in  der  Vorstadt  Au  bei  München)  in 
die  Hände  spielte. 

Es  ist  eine  komponirte  Landschaft;  das  zeigt 
der  erste  Blick,  sonst  hätte  der  Autor  nicht  ver¬ 
gessen  zu  sehen,  dass  Objekte,  die  am  Rande  ruhiger 
Gewässer  stehen,  sich  in  denselben  spiegeln.  Weiße, 
ballige,  hell  von  der  Sonne  beleuchtete  Wolken 
ziehen  am  sommerlich  blauen  Himmel  dahin.  Gleich¬ 
mäßiges  Licht  ruht  auf  den  Baumkronen,  deren 
Ausläufer  gegen  die  Luft  mit  Liebe  und  Sorgfalt 
gezeichnet  sind.  Die  Partie  jenseits  der  Wassers 
macht  beinahe  den  Eindruck,  als  lägen  dabei  Natur¬ 
studien  zu  Grunde,  denn  der  eine  größere  Baum 
ist  deutlich  als  Eiche  gekennzeichnet.  Der  Baum 
rechts  dagegen,  des  Schatten  die  ganze  vordere 
Uferpartie  bedekt,  sieht  aus,  als  wäre  er  einem  alten 
Kupferstich  entnommen.  Von  der  Dunkelheit,  mit 
der  sich  solche,  gegen  die  Luft  stehende  Laubpar¬ 
tien  unter  den  gegebenen  Beleuchtungsverhältnissen 
abheben,  müsste  Keller  gewusst  haben,  selbst  wenn 
ihm  weiter  nichts  als  die  Beobachtung  zur  Seite  ge¬ 
standen  wäre,  denn  wer  komponiren  will,  bedarf 
einer  weit  geschärfteren  Beobachtungsgabe  als  der, 
der  seine  Motive  vor  der  Natur  verarbeitet,  mithin 
immer  den  genauen  Gradmesser  für  die  richtige  Ab¬ 
gewogenheit  seiner  Arbeit  vor  sich  hat.  Die  gegen 
den  Äther  ausiaufenden  Aste  und  Zweige  sollten 
das  durchscheinende  Licht  wiedergeben  und  sind 
aus  diesem  Grunde  allzu  zimperlich  geworden. 
Keller  verfiel  hier  wieder  in  die  alte  Anschauung, 
dass  viele  Blätter  zusammen  einen  Baum  abgeben. 
Sie  thun  es  freilich,  aber  das  Auge  des  Malers  sieht 
die  Masse,  nicht  die  einzelnen  Individuen. 

Das  Stoffliche  der  Erscheinung  und  seine  je 
nach  den  Lichtverhältnissen  verschiedene  Art,  sich 
dem  Auge  zu  zeigen,  war  den  Münchener  Zeitge- 


52 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


nossen  Keller’s  noch  eine  unbekannte  Welt.  „Le 
beau,  c’est  le  vrai“  —  das  blieb  gar  lange  in 
Deutschland  untibersetzt.  Die  Landschafter  malten 
damals  eben  zu  Hause,  ohne  sonderlich  feinen  Ge¬ 
schmack.  das  darf  man  ruhig  sagen;  auch  gaben 
sie  sich  zumeist  mit  einem  vierwöchentlichen  Land¬ 
aufenthalt,  der  neben  malerischen  Studien  auch  der 
Freude  des  Kegeins,  Schwimmens  u.  s.  w.  gewidmet 
war,  zufrieden.  Wie  sollte  da  die  Frucht  reifen, 
die  nur  unter  dem  direkten  Einflüsse  von  Sonnen¬ 
schein  und  Gewittersturm  gedeihen  kann,  kurz  unter 
dem  fortwährenden  Kontakt  mit  der  Natur!  Das 
als  Anforderung  beiseite  gelassen,  kann  man  dem 
Keller’schen  Bilde  die  Anerkennung  nicht  versagen, 
dass  es  als  Leistung  der  Zeit  nicht  geringer  als 
manch  anderes  erscheint,  das  seinen  Weg  sogar  in 
Galerien  gefunden  hat.  Dass  Kunst,  die  es  mit 
der  Natur  zu  thun  hat,  und  Theater  (d.  h.  Theatra¬ 
lisches)  zweierlei  Dinge  seien,  die  nicht  verquickt 
werden  können,  wussten  selbst  die  berühmten  Leute 
in  München  nicht;  giebt  doch  der  Hohepriester  auf 
Kaulbachs  „Zerstörung  von  Jerusalem“  die  köst- 


lichst  karrikirte  Theater- Selbstmordszene  zum  besten, 
die  nur  je  dargestellt  worden  ist.  Und  dann  gar 
erst  die  verzerrten  Helden  der  Schnorr’schen  Nibe¬ 
lungenverarbeitung,  die  noch  heute  dem  in  München 
weilenden  Fremdling  gezeigt  werden,  ob  als  Kurio¬ 
sität  oder  als  sonst  etwas  —  das  ist  unbestimmt.  — 
Keller  hat  es  später  begriffen,  was  ihm  abging, 
denn  seinen  Roman-  und  Novellen-  Figuren  hat 
er  keinerlei  Mäntelchen  umgehängt,  um  Blößen  zu 
decken,  vielmehr  zeigen  sie  sich  alle  als  wahrhaftige 
atmende  Menschen  von  Fleisch  und  Blut.  Es  ist 
eine  kleine,  aber  charakteristische  Erscheinung  ge¬ 
rade  an  diesem  Bilde,  dass  Keller  das  Ufer  felsig, 
den  Grund  des  Wassers  steinig  gemacht  hat,  aus 
diesem  steinigen  Grunde  aber  sorglos  Schilf-  und 
Wasserrosen  wachsen  lässt,  die  bekanntermaßen 
weichen  Untergrund  verlangen.  Reizend  in  den 
Raum  komponirt  und  gut  in  der  Bewegung  ist  das 
Figürchen  des  Fischers.  Ob  es  Keller’s  eigene,  ob 
es  die  Arbeit  eines  Freundes  ist,  kann  nicht  be¬ 
stimmt  werden.  Das  Figürchen  fällt  durch  nichts 
aus  dem  Rahmen  des  Ganzen  heraus. 

(Fortsetzung  folgt.) 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


N  einer  Zeit,  in  der  nichts  so 
sehr  darniederliegt  und  einer 
Reform  bedarf,  wie  die 
Ästhetik,  in  der  auch  das 
Kunstverständnis  des  Publi¬ 
kums  durchaus  nicht  der 
Menge  wirklich  hervorragen¬ 
der  Kunsterzeugnisse  ent¬ 
spricht  und  man  auf  wissenschaftlicher  Seite  noch 
immer  glaubt,  mit  einzig  historischer  und  abstrakt 
philosophischer  Schulung  den  Problemen  der  Kunst 
beizukommen,  in  einer  solchen  Zeit  ist  es  von 
höchster  Bedeutung,  wenn  einmal  ein  Mann  zu  Wort 
gelangt,  der  dazu  veranlagt  ist,  künstlerische  Intui¬ 
tion  und  theoretische  Reflexion  in  sich  zu  vereinen 
und  zu  bewältigen.  Eine  Erscheinung  wie  „Das 
Problem  der  Form  in  der  bildenden  Kunst“  ')  muss 
um  so  mehr  ins  Gewicht  fallen,  da  ein  Adolf  Hildc- 
bratul  es  ist,  von  dem  sie  ausgeht,  ein  Künstler, 

1)  Straßburg  1893,  J.  N.  Ed.  Heitz  'Heitz  &  Mündel). 


der  als  Plastiker  Bedeutendes  leistet  und  daneben 
auch  nachdenkt  über  die  Gesetze  seines  Schaffens, 
um  in  Wort  und  Schrift  wiederzugeben,  was  sonst 
bloß  dunkler  Instinkt  des  Künstlers  zu  sein  pflegt. 
Wenn  auch  der  Psychologe  von  Fach  nicht  überall 
mit  der  Hildebrand’ sehen  Auffassung  mancher  hier 
berührter  Probleme  übereinstimmt,  so  ist  das  eben 
bedingt  durch  den  verschiedenen  Standpunkt,  lässt 
aber  den  Inhalt  der  Hildebrand’schen  Arbeit  unver¬ 
ändert.  Und  ich  stehe  nicht  an,  über  den  Inhalt 
zu  referiren,  ohne  von  dieser  Seite  aus  Kritik  an 
ihm  zu  üben,  denn  derselbe  ist  höchst  anregend 
und  verdient  die  Beachtung  auch  weiterer  Kreise. 

Hildebrand  geht  aus  von  der  Unterscheidung 
zwischen  einer  rein  schauenden  Augenthätigkeit, 
stattfindend  in  Aufnahme  jedes  Fern-  oder  Flächen¬ 
bildes,  bei  welchem  das  Auge  alles  dreidimensionale 
als  Flächenmerkmale  empfängt  —  also  dem  reinen 
Gesichtseindruck  —  und  einem  Sehen  als  Bewegungs¬ 
akt,  wenn  das  Auge  dem  Objekt  so  nahe  gebracht 
wird,  dass  es  zu  Bewegungen  genötigt  ist,  um  nach- 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


53 


einander  alle  Punkte  des  Objekts  in  den  Punkt  des 
schärfsten  Sehens  rücken  zu  lassen.  Hier  haben 
wir  es  dann  nicht  mehr  mit  reinen  Gesichtsvorstel- 
lungen,  sondern  mit  Bewegungen  und  Bewegungs- 
Vorstellungen  zu  thun.  Letztere  bilden  das  Material 
des  abstrakten  Formsehens;  jede  plastische  Form 
eignen  wir  uns  durch  eine  Bewegungsvorstellung 
an.  Das,  was  jeder  z.  B.  von  der  Kugel  festhält, 
ist  die  Kreislinie.  Dazu  gesellt  sich  alsdann  die  Be¬ 
wegungsvorstellung,  mit  der  er  diese  Kreislinie  nach 
allen  Seiten  hin  wiederholt.  Resultat:  Wir  sehen 
alles  nur  zweidimensional. 

In  einem  jeden  Fern-  oder  Flächenbild  sind  nun 
aber  bestimmte  Merkmale  enthalten,  die,  obwohl  vom 
Auge  nur  zweidimensional  aufgenommen,  dennoch 
eine  Tiefenbewegung  anregen  und  für  die  dritte 
Dimension  arbeiten.  Somit  können  Tiefenvorstell¬ 
ungen  sich  aus  reinen  Flächeneindrücken  ent¬ 
wickeln.  —  Umgekehrt  schafft  sich  dagegen  das 
Sehen  als  Bewegungsakt  immer  wieder  Flächenein¬ 
drücke  durch  Zurückführung  der  dritten  Dimension 
in  die  Fläche.  Wir  trachten  immer  danach,  uns 
Profilansichten  der  Dinge  zu  verschaffen.  Aus  beiden 
Fällen  ergiebt  sich ,  dass  wir  allein  im  Flächenbild 
ein  einheitliches  Bild  für  den  dreidimensionalen 
Komplex  haben,  die  einzige  Einheitsauffassung  der 
Form,  im  Sinne  des  Wahrnehmungs-  wie  Vor¬ 
stellungsaktes.  Sehen  wir  z.  B.  in  der  Ferne  ein 
Haus,  so  ergänzen  wir  seine  dritte  Dimension  aus 
der  Erinnerung.  Der  Teil  seiner  Seitenwandung, 
welchen  wir  in  der  That  wahrnehmen  in  Projektion 
auf  die  vordere  Fläche,  wird  doch  sofort  die  Tiefen¬ 
vorstellung  anregen,  weil  wir  seine  Tiefe  aus  der 
Erfahrung  wissen.  Das  Kind  z.  B.  weiß  nichts  von 
der  dritten  Dimension,  so  lange  es  den  Raum  noch 
nicht  durchmisst. 

Da  nun  der  Gesichtseindruck  für  die  Tiefenvor¬ 
stellung  mit  von  den  wechselnden  mitwirkenden  Um¬ 
ständen  (unserem  zufälligen  Standpunkt,  der  Beleuch¬ 
tung  etc.)  abhängt  und  deshalb  wechselt,  und  wir 
andererseits  uns  die  Form  eines  Gegenstandes  nur 
als  Bewegungsvorstellung  aneignen,  so  ist  unsere 
Tiefenvorstellung  keine  klare,  feste,  zweifellose.  Eben¬ 
darum  ist  auch  unser  Gesichtseindruck  ein  schwan¬ 
kender.  Jeder  vermag  die  Kugel  sich  als  Form  vor¬ 
zustellen,  wie  dieselbe  sich  aber  als  Gesichtseindruck 
rund  ausspricht,  das  weiß  nicht  ein  jeder,  wie  sofort 
erhellt  bei  der  Aufforderung,  einen  gegebenen  Kreis 
als  Kugel  zu  schattiren.  Es  steht  also  der  Formvor¬ 
stellungsbesitz  des  Menschen  in  einem  sehr  unklaren 
Zusammenhang  mit  den  Gesichtsvorstellungen.  Wir 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  2. 


haben  nur  ein  ungefähres  Gesichtsbild  und  füllen  es 
je  nach  dem  plastischen  Bedürfnis  mit  Bewegungs¬ 
vorstellungen  aus. 

Die  einzige  Kontrolle  für  diese  Beziehung  un¬ 
serer  Gesichts-  und  Bewegungsvorstellung  liegt  in 
der  Darstellung;  denn  dort  werden  beide  Vorstellun¬ 
gen  sichtbar.  Bei  der  Darstellung  gilt  es  zunächst, 
das  einheitliche  Flächenbild  zu  geben  in  Zurück¬ 
gewinnung  des  reinen  Gesichtseindruckes  durch  Eman¬ 
zipation  von  der  durch  die  Erfahrung  gewonnenen 
räumlichen  Vorstellung.  Die  sichtbare  Wiedergabe 
desselben  muss  nur  die  Bedingung  erfüllen,  dass  sie 
wieder  voll  und  ganz  eine  räumliche  Vorstellung  er¬ 
zeuge.  Um  ein  einfaches  Beispiel  anzuführen:  es 
gilt  eine  Emanzipation  vom  Wissen,  dass  der  Würfel 
sechs  Quadrate  zu  Begrenzungsflächen  hat,  durch 
die  Darstellung  des  reinen  Gesichtseindruckes  von 
etwa  einem  Quadrat  und  zwei  anliegenden  Parallelo¬ 
grammen.  Wir  müssen  also  wieder  zweidimensional 
sehen  lernen  wie  das  Kind.  Aber  dennoch  muss 
dann  an  der  sichtbaren  Darstellung  die  Probe  stim¬ 
men,  dass  wir  unmittelbar  auf  den  aus  ihr  em¬ 
pfangenen  Eindruck  wie  auf  etwas  Körperliches 
reagiren.  —  Die  Sache  erscheint  ungemein  ein¬ 
fach,  aber  gerade  das  Einfache  erweist  sich  so 
oft  als  das  am  schwersten  zu  Hebende.  Es  ist  ja 
historisch  zu  verfolgen,  wie  viel  ungezählte  Jahr¬ 
hunderte  verrannen,  bis  dem  Menschen  diese  Eman¬ 
zipation  vom  Wissen  bei  der  Darstellung  gelang. 
„Alle  sonstigen  geistigen  Disciplinen  —  sagt  Hilde¬ 
brand  —  lassen  in  diesem  Punkte  den  Menschen 
ganz  naiv,  in  einem  gänzlich  unbewussten  Verkehr 
mit  der  Natur,  und  in  einem  gänzlich  unklaren  Vor¬ 
stellungsbesitz,  —  die  bildende  Kunst  allein  stellt 
die  Thätigkeit  dar,  in  der  sich  das  Bewusstsein  nach 
dieser  Richtung  hin  entwickelt  und  welche  die  Kluft 
zwischen  der  Formvorstellung  und  den  Gesichtsein¬ 
drücken  aufzuheben  und  beide  zu  einer  Einheit  zu 
gestalten  sucht.  Andererseits  beruht  der  eigentliche 
Genuss  am  Kunstwerk  und  dessen  unwillkürliche 
Wohlthat  im  Empfangen  dieser  Einheit.“ 

Von  diesem  Standpunkte  aus  unterscheidet  sich 
nun  die  darstellende  Thätigkeit  des  Bildhauers  und 
Malers  folgendermaßen.  Das  geistige  Material  des 
Bildhauers  sind  seine  Bewegungsvorstellungen.  Aber 
wenn  wir  nun  fortfahren  und  sagen  wollten:  er 
hat  dieselben  durch  die  Form  plastisch  zu  gestal¬ 
ten,  so  gleiten  wir  gerade  über  die  Kernfrage 
sachte  hinweg,  das  eigentliche  Darstellungsproblem 
ist  uns  wieder  entschlüpft.  Hildebrand  aber  nor- 
mirt:  der  Bildhauer  hat  diese  seine  Bewegungs- 

8 


54 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


Vorstellungen  zu  einem  —  Gesichtseindruck  zu  rea- 
lisiren.  Hiermit  meint  er,  dem  Bildhauer  muss  für 
seine  Figur  ein  zweidimensionales,  ebenes  Bild  vor¬ 
schweben,  eine  Umrisszeichnung,  welche  schon  alle 
darzustellenden  Momente  der  Position  enthält.  (Wir 
kommen  darauf  im  III.  Teil  zurück.)  Die  „  Ansicht“ 
der  dargestellten  Figur,  also  das  subjektive  Flächen¬ 
bild  muss  die  volle  Ausdrueksstärke  für  die  Form  be¬ 
sitzen.  —  Das  geistige  Material  des  Malers  sind  seine 
Gesichtsvorstellungen.  Er  hat  sie  in  einem  Flächen¬ 
bild  zu  realisiren  und  zwar  derart,  dass  wir  die 
volle  räumliche  Formvorstellung  empfangen.  Dies 
zu  leisten  ist  er  nur  dadurch  im  stände,  dass  er 
alle  Gesichtseindrücke  auf  ihre  plastische  Anregungs¬ 
kraft  hin  prüft  und  zu  diesem  Zwecke  verwendet 
und  gestaltet. 

Dieses  In-Beziehung- Setzen  der  Bewegungs-  und 
Gesichtsvorstellungen  bedeutet  also  ein  Suchen  nach 
einem  bestimmten  Verhältnis  beider.  Wenn  Hilde¬ 
brand  jedoch  glaubt,  es  müsse  ein  gesetzmäßiges 
sein,  so  ist  er  in  einer  Täuschung  begriffen  und 
beginnt  einseitig  zu  werden.  Auch  hier  giebt  es 
keine  allgemeingültige  Norm.  Natürlich  braucht 
dieses  Verhältnis  nicht  jedesmal  durch  die  Wirk¬ 
lichkeit  der  Außenwelt  erfüllt  zu  sein.  Da  es  aber 
jedesmal  vom  Kunstwerk  gefordert  werden  muss, 
so  ergiebt  sich  in  bestimmten  Fällen  eine  Abweich¬ 
ung  von  der  Wirklichkeit  unter  diesem  Gesichts¬ 
punkte.  Der  Künstler  hat  also  unbedingt  der  jewei¬ 
ligen  Naturerscheinung  —  zuerst  gedanklich,  dann 
realisirt  —  eine  solche  Bilderscheinung  gegenüber¬ 
zustellen,  bei  welcher  durch  das  Zurückführen  auf  ein 
jeweilig  bestimmtes  Verhältnis  zwischen  Gesichts-  und 
Bewegungsvorstellung  die  Naturerscheinung  verar¬ 
beitet  und  geklärt  ist.  Es  ist  möglich,  dass  Natur  und 
Bilderscheinung,  so  wie  sie  zu  erstreben  ist,  zusam¬ 
menfallen  —  nur  ein  ausgebildetes  Taktgefühl  des 
Künstlers  wird  diese  Momente  erkennen  —  in  den 
meisten  Fällen  sind  jedoch  die  beiden  Erscheinun¬ 
gen  differirend. 

Hildebrand  unterscheidet  zwischen  einer  „Da¬ 
seinsform“  unabhängig  vom  Wechsel  der  „Erschei¬ 
nung“  (z.  B.  der  dreidimensionale  Würfel)  und  einer 
„Wirkungsform“  als  Produkt  des  Gegenstandes  auf 
der  einen  Seite,  der  Beleuchtung,  der  Umgebung 
und  des  wechselnden  Standpunktes  auf  der  anderen 
(z.  B.  das  Bild  des  Würfels  als  Quadrat  mit  zwei 
anliegenden  Parallelogrammen.)  Die  Wirkungsform 
setzt  sich  wiederum  zusammen  aus  den  relativ  zu 
nehmenden  Einzelfaktoren,  den  Wirkungsaccenten. 
Während  wir  uns  eine  Form  vorzustellen  versuchen, 


schaffen  wir  unwillkürlich  an  einem  Gesichtsbilde, 
welches  sich  zusammensetzt  aus  den  Wirkungsaccen¬ 
ten.  Sind  diese  noch  so  dürftig,  —  z.  B.  wenn  Kinder 
ein  Gesicht  als  Kreis,  mit  zwei  Punkten  als  Augen, 
einem  senkrechten  Strich  als  Nase  und  einem  wag¬ 
rechten  als  Mund  zeichnen  —  so  genügen  sie  doch 
zur  Formvorstellung,  sie  sind  gleich  der  Grund¬ 
wirkung,  die  bei  jedem  gemalten  oder  gemeißelten 
Menschengesicht  vorherrschen  muss.  Die  messbare 
Naturform  existirt  also  für  das  Auge  nur  in  Form 
von  Wirkungen,  wodurch  alle  thatsächlichen  Maße 
in  Verhältniswerte  umgesetzt  werden  —  und  diese 
Verhältnis  werte  sind  es,  welche  der  Künstler  wieder- 
giebt,  mit  welchen  er  arbeitet,  nicht  die  messbare 
Daseinsform,  die  allein  für  die  wissenschaftliche  Be¬ 
trachtung  von  Bedeutung  ist. 

Die  Kunst  besteht  darin,  die  beim  Schauen  und 
Beobachten  festgehaltenen,  individuellen  Eindrucks¬ 
werte  wieder  einzukleiden  in  wahrnehmbare  und  auch 
für  andere  wiederum  sichtbare  Formen.  Sie  schafft 
dadurch  einen  Eindruck,  welcher  beim  Beschauer 
ohne  Rest  im  Vorstellungs werte  aufgeht,  während 
der  Natureindruck  noch  kein  aus  diesem  Gesichts¬ 
punkt  gereinigtes  Vorstellungsbild  ist  —  oder  doch 
nicht  notwendig  zu  sein  braucht.  Der  Künstler,  je 
nach  seiner  individuellen  Begabung,  bereichert  also 
unser  Verhältnis  zur  Natur,  lehrt  uns  erst  die  Natur 
sehen,  und  zwar  dadurch,  dass  er  die  „Daseinsform“ 
seines  Sujets  in  solche  Situationen  bringt,  die  ihr 
neue  Wirkungsaccente  verleihen.  Aber  das  Eigen¬ 
tümliche  daran  ist,  dass  diese  neuen  Wirkungsaccente 
immer  normale  sein  müssen.  Je  normaler  und  typi¬ 
scher  sie  in  einem  Kunstwerk  fallen,  desto  objek¬ 
tivere  Bedeutung  besitzt  es. 

Und  da  nun  dieser  Wirkungswert  nicht  ein 
an  und  für  sich  greifbar  vorhandener  ist,  sondern 
erst  entsteht  durch  das  Produkt  aus  Gegenstand  in 
unsere  Auffassungskraft,  so  ist  ersichtlich,  dass  die 
künstlerische  Darstellung  nicht  ein  mechanisches 
positiv-ähnliches  Wahrnehmungskonterfei  der  zu¬ 
fälligen  Erscheinung  bedeuten  kann,  sondern  eine 
Darstellung  dieser  von  der  Vorstellung  schon  ver¬ 
arbeiteten  und  als  räumliche  Wirkungswerte  ge¬ 
prägten  Formenwelt. 

„Die  sogenannte  positivistische  Auffassung,  — 
sagt  Hildebrand  —  welche  die  Wahrheit  in  der 
Wahrnehmung  des  Gegenstandes  selber  sucht,  nicht 
in  der  Vorstellung,  die  sich  von  ihm  in  uns  bildet, 
sieht  das  künstlerische  Problem  nur  in  der  genauen 
Wiedergabe  des  direkt  Wahrgenommenen.  Allen 
Vorstellungseinfluss  hält  sie  für  eine  Fälschung  der 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


55 


sog.  Naturwahrheit  und  sie  bemüht  sich,  die  Dar¬ 
stellung  zu  einem  möglichst  genau  imitirenden  Auf¬ 
nahmsapparat  zu  steigern,  sich  rein  mechanisch  re- 
ceptiv  zu  verhalten.“  —  Wenn  uns  nicht  der  Vor¬ 
wurf  der  Einseitigkeit  treffen  soll,  muss  jedoch  auch 
der  positivistischen  Auffassung  ihr  Recht  werden, 
denn  —  obwohl  nur  ein  dienendes  Glied  —  hat 
sie  doch  nicht  nur  Daseinsberechtigung,  sondern 
ist  durch  die  Vorbedingungen  der  künstlerischen 
Darstellung  selbst  mitbedingt.  Unsere  Vorstellungs¬ 
fähigkeit  erscheint  stets  als  ein  retardirendes  Mo¬ 
ment  der  sich  weiter  entwickelnden  Wahrnehmung 
gegenüber,  und  so  ist  die  Kunst,  als  vornehmlich 
auf  der  Vorstellungskraft  basirend,  der  Möglich¬ 
keit  ausgesetzt,  sich  zu  sehr  auf  diese  allein  zu  be¬ 
schränken,  ohne  das  Wahrnehmungsbild  zum  Ver¬ 
gleich  heranzuziehen  und  sich  an  ihm  zu  korri- 
giren.  Die  Spaltung  in  zwei  einander  korrigirende 
Richtungen  ist  also  unvermeidlich.  Der  Höhepunkt 
wird  erreicht  durch  eine  gegenseitige  Klärung, 
Verfolgung  aber  nur  einer  der  beiden  Richtungen 
kann  zu  nichts  anderem  als  Einseitigkeit  führen. 
Der  Positivismus  ist  daher  zwar  nicht  als  Zweck, 
aber  als  Mittel  zum  Zweck,  und  die  positivistische 
Darstellung  nicht  als  Endziel  der  Kunst,  aber  als 
dirigirende  Vorbereitung  aufzufassen. 

II. 

Der  einzelne  Gegenstand  ist  nicht  nur  für  sich 
allein  ein  modellirter  Körper,  er  dient  auch  wieder 
zur  Modellirung  des  gesamten  ihn  umgebenden 
Raumes.  Die  Einzelgegenstände  arbeiten  durch  ihre 
Anwendung  und  Stellung  an  der  Darstellung  des 
Gesamtraumes  und  verstärken  je  nach  ihrer  Ver¬ 
wertung  die  Raumanregung  des  Ganzen.  Anderer¬ 
seits  aber  kommen  durch  diese  Verwendung  wieder¬ 
um  die  Einzelgegenstände  stärker  zum  Ausdruck, 
weil  sie  eben  im  Ganzen  eine  bestimmte  räumliche 
Funktion  haben,  eine  bestimmte  räumliche  Rolle 
spielen.  „In  dieser  Doppelrolle,  —  so  führt  Hilde¬ 
brand  trefflich  aus,  —  welche  in  einer  Raumwirkung 
fürs  Ganze  und  fürs  Einzelne  besteht,  erkennen  wir 
aber  die  künstlerische  Verknüpfung  des  Ganzen 
und  Einzelnen,  —  die  Gelenke  der  Erscheinung  als 
eines  künstlerischen  Organismus.  Wir  erkennen  auf 
diese  Weise  die  Möglichkeit  eines  Zusammenhanges 
und  einer  Einheit  in  einem  Bilde,  die  mit  dem  Zu¬ 
sammenhänge  der  Natur  als  organischer  Einheit 
oder  als  Einheit  eines  Vorganges  nichts  zu  thun 
hat.  Es  ist  dieser  Zusammenhang  das  spezielle 


Eigentum  der  bildenden  Kunst,  und  es  liegt  deshalb 
meist  außerhalb  des  Verständnisses  des  Laien.“ 

In  der  Landschaft  bietet  der  originelle  Zusam¬ 
menhang  sehr  wenig  Notwendiges,  das  ganze  Arran¬ 
gement  hängt  von  der  Willkür  des  Künstlers  ab, 
dennoch  wird  dem  Beschauer  alles  zu  einer  Einheit, 
sofern  nur  alles  in  der  Bildfläche  Erscheinende  seine 
Aufgabe  als  Modellirung  des  Raumes  erfüllt.  Aber 
auch  beim  Figurenbilde,  haben  die  Einzelfiguren 
die  Aufgabe,  an  der  Raumentwicklung  für  das  Auge 
mitzuarbeiten.  Daraus  ist  denn  wiederum  die  For¬ 
derung  einer  künstlerischen  Notwendigkeit  im  Gegen¬ 
satz  zur  Wirklichkeit  erklärlich;  man  erkennt,  dass 
die  Figuren  eine  viel  allgemeinere  Aufgabe  im  Bilde 
lösen,  als  nur  die,  einen  Vorgang  zu  erzählen. 

Wichtig  für  die  so  wenig  reichhaltige  ästhe¬ 
tische  Terminologie  ist  zugleich,  dass  Hildebrand  das 
jeweilige  Produkt  von  Erscheinungsgegensätzen,  wel¬ 
ches  geeignet  ist,  eine  räumliche  Vorstellung  in  uns 
zu  erzeugen:  Raumwert  nennt.  Solche  Erscheinungs¬ 
gegensätze  können  gegeben  sein  durch  Linien,  durch 
Hell  und  Dunkel  und  durch  Farben. 

Die  Raum  werte  werden  bestimmt  durch  den 
Gegenstand  seiner  allgemeinen  Beschaffenheit  nach, 
wie  durch  seine  Lokalfarbe,  die  Beleuchtungsquelle 
als  Lichtrichtung  und  Qualität,  und  den  Standpunkt, 
den  der  Beschauer  zum  Gegenstände  einnimmt.  Sie 
dienen  wieder  zur  Offenbarung  einer  inneren  Einheit, 
die  nur  der  Gesichtssinn  erfasst,  indem  sie  von  ge¬ 
trennten  Lageverhältnissen  eine  gleichzeitige  Aus¬ 
sage  machen,  wodurch  eine  räumliche  Orientirung 
möglich,  ein  Erfassen  der  räumlichen  Entfernungen. 
Wir  staunen  manchmal  über  die  plastische  Kraft 
eines  Bildes,  über  das  sog.  „Losgehen“  voneinander, 
eine  Erscheinung,  die  hauptsächlich  zurückzuführen 
ist  auf  ein  vollkommenes  Erfassen  der  Raumwerte 
seitens  des  Malers:  in  ihnen  liegt  die  eigentlich  ge¬ 
staltende  und  einigende  Fähigkeit. 

Man  versuche  einmal  ein  Bild  zu  malen  mit 
einem  grünen  Hügel  im  Hintergrund  und  einer 
Eiche  im  Mittelgrund,  die  in  Wirklichkeit  einige 
hundert  Meter  vor  dem  Hügel  steht.  Dann  wird 
man  erkennen,  was  es  für  eine  Bewandtnis  damit 
hat,  die  beiden  Grün  so  gegeneinander  abzustimmen, 
dass  sie  für  den  Beschauer  einen  „Raumwert“  bilden, 
d.  h.  dass  die  Eiche  wirklich  von  dem  Hintergründe 
„losgeht“ ,  dass  sie  vor  diesem  zu  stehen  scheint. 
Linien,  hell  und  dunkel,  sowie  Farben  bewirken  je¬ 
doch  erst  dadurch  einen  Raumwert,  werden  erst  da¬ 
durch  wirksam  für  die  Formvorstellung,  dass  sie 
sich  mit  gegenständlichen  Vorstellungen  associiren. 


56 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


Die  perspektivisch  verkürzte  Linie  allein  würde  uns 
kein  Zurückgelien  verdeutlichen;  Hell  und  Dunkel 
mödelliren  erst  dann,  und  die  Farbengegensätze 
wirken  erst  dann  raumgestaltend,  wenn  uns  eine 
gegenständliche  Vorstellung  dabei  vorschwebt. 

Die  Erweckung  der  gegenständlichen  Vorstel¬ 
lung  geschieht  aber  dadurch,  dass  wir  bestimmte 
Flächenteile  als  ein  Zusammengehöriges  absondern 
von  der  übrigen  Flächenerscheinung,  dass  wir  unter¬ 
scheiden  zwischen  einem  Näheren  und  Ferneren.  Dies 
wird  als  Tiefenvorstellung  um  so  besser  geschehen 
können,  je  einheitlicher  und  kenntlicher  in  der  bild¬ 
lichen  Darstellung  das  Nähere  mit  dem  Ferneren 
einen  Raumwert  bildete.  Die  Gestalt  vor  einem 
Hintergründe  ist  nicht  nur  selbst  plastisch  modellirt, 
sie  modellirt  auch  am  Raumganzen.  Indem  sie  in 
ein  bestimmtes  Wirkungs Verhältnis  zum  Hintergrund 
gesetzt  ist  und  mit  ihm  einen  Raumwert  bildet, 
treibt  sie  ihn  zurück  und  es  entsteht  eine  allgemeine 
Tiefenbewegung. 

Da  es  für  die  Gegenstandsvorstellung  von  Wich¬ 
tigkeit  ist,  wie  die  Merkmale  der  dritten  Dimension 
in  der  Fläche  zum  Ausdruck  gelangen  und  was  als 
Flächenproportion  gegeben  ist,  so  wird  es  von  Ein¬ 
fluss  sein,  in  welcher  Ansicht  wir  einen  Gegenstand 
darstellen  und  in  welcher  Stellung  und  Bewegung, 
wenn  es  sich  um  ein  lebendes  Wesen  handelt.  Denn 
viele  Stellungen  und  Ansichten  wären  uns  in  der 
Darstellung  völlig  unverständlich,  sofern  gerade  die 
charakteristischen  Merkmale  verdeckt  und  unsicht¬ 
bar  sind. 

Die  Flächenbilder  der  einzelnen  Gegenstände 
aber  müssen  wiederum  möglichst  einheitlich  zum 
Flächenbild  des  ganzen  darzustellenden  Raumes  ver¬ 
einigt  werden.  Das  kann  dadurch  geschehen,  dass  sie 
gruppenweise  in  möglichst  gemeinschaftliche  Distanz¬ 
pläne  geordnet  werden,  dass  sie  zur  Überschneidung 
gebracht  werden.  Die  wichtige  Kraft  der  Über¬ 
schneidung  ist  dabei  die,  dass  Figuren  verschiedener 
Distanzschichten  zu  einer  einheitlichen  Flächenwir¬ 
kung  verbunden  werden  können,  indem  sie  durch  die 
Überschneidung  sich  seitlich  kontinuirlich  fortsetzen, 
als  Flächeninasse  fortschreiten.  —  Ein  weiteres  Mittel 
zur  Einigung  von  Flächenbildern  liegt  im  Lichtgange. 
Flächenbilder,  die  in  verschiedener  Distanz  liegen, 
können  als  einheitliche  Lichtmassen  zusammenge¬ 
halten  werden  und  dadurch  den  dunkleren  gegen¬ 
über  als  Ganzes  wirken.  Außer  den  rein  zeichneri¬ 
schen  Mitteln  dienen  nun  aber  auch  noch  die  far¬ 
bigen  Kontraste  als  verbindende  und  trennende,  vor- 
und  zurücktreibende  Kräfte.  Die  Farbe  steht  aber 


in  einem  dienenden  Verhältnis  zur  räumlichen  Vor¬ 
stellung,  nur  in  sofern  kann  beim  Bilde  von  einer 
inneren  Einheit  der  Farbe  die  Rede  sein,  als  sie  teil¬ 
nimmt  an  der  großen  Arbeit,  ein  Raumganzes  zu 
bilden.  Nicht  um  den  Reiz  der  Farbe  an  sich,  wie 
beim  Teppiche,  sondern  um  ihr  Erscheinungsverhält¬ 
nis  als  Distanzträger  handelt  es  sich  in  erster  Linie. 

„Wenn  wir  bedenken,  welch  unendlich  anderes 
Ding  ein  Bild  ist,  als  das  Dargestellte  in  natura,  so 
bliebe  seine  Kraft,  im  Menschen  die  Illusion  zu  er¬ 
wecken  ,  ein  Rätsel ,  wenn  nicht  ebenso  wie  die 
Natur  auch  das  Bild  zuerst  einen  Prozess  in  uns 
erzeugen  müsste,  um  die  Vorstellung  des  Raumes 
zu  erwecken.  Indem  Natur  und  Bild  diesen  Anreiz 
üben,  gelangen  sie  zu  einem  gleichen  Resultat  für 
die  Vorstellung.  Die  Parallele  zwischen  Natur  und 
Kunstwerk  wäre  also  nicht  in  der  Gleichheit  ihrer 
faktischen  Erscheinung  zu  suchen,  sondern  darin, 
dass  ihnen  beiden  zur  Erweckung  der  Raumvorstel¬ 
lung  die  gleiche  Fähigkeit  innewohnt.  Nicht  um 
die  Täuschung  handelt  es  sich,  dass  man  das  Bild 
für  ein  Stück  Wirklichkeit  halte,  wie  beim  Panorama, 
sondern  um  die  Stärke  des  Anregungsgehaltes,  wel¬ 
cher  im  Bilde  vereinigt  ist.“ 

Ungemein  wohlthuend  aber  muss  es  jeden  Fein¬ 
fühlenden  berühren ,  wenn  Hildebrand  gegen  das 
Panorama  mit  kräftigen  Worten  zu  Felde  zieht. 
Die  Mittel  seien  brutale,  weil  die  Gesamterscheinung 
entstände  durch  eine  Vermischung  rein  malerischer, 
als  Flächenmittel,  und  wirklicher  räumlicher  Perspek¬ 
tive  und  plastischer  Darstellung.  Das  rufe  ein  Un¬ 
behagen,  eine  Art  Schwindel  hervor,  anstatt  des 
Behagens  eines  klaren  Raumeindruckes.  Das  alte 
Panorama,  als  bloß  fortlaufendes  Bild,  sei  ein  un¬ 
schuldiges  Vergnügen  ohne  Hehl,  für  Kinder,  das 
heutige  raffinirte  aber  unterstütze  die  Roheit  der 
Sinne  durch  eine  perverse  Sensation  und  ein  gefälsch¬ 
tes  Realitätsgefühl  ganz  in  derselben  Weise,  wie  es 
durch  die  Wachsfiguren  geschieht. 

Neben  den  Raumwert  stellt  Hildebrand  nun  als 
zweiten  wichtigen  Begriff  den  Funktionswert  der 
Form.  Die  bewegte  Natur  erzeugt  bestimmte  Ände¬ 
rungen,  die  wir  als  charakteristische  Merkmale  eines 
bestimmten  Vorganges  festhalten.  Mit  ihrer  Wahr¬ 
nehmung  stellt  sich  die  Vorstellung  des  Vorganges 
ein,  wir  empfinden  ihn  mit,  indem  wir  ihn  sozusagen 
innerlich  mit  agiren  und  diese  innere  Aktion  der 
äußeren  Erscheinung  als  Ursache  unterlegen.  So 
wird  also  die  Form  zum  Ausdruck  eines  bestimmten 
Vorganges,  sie  wird  Funktionsausdruck.  Die  lang¬ 
fingerige,  sehnige  Hand  verkörpert  die  Tendenz  des 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST 


57 


Greifens,  stark  entwickelte  Kinnladen  machen  den 
Eindruck  von  Kraft  und  Energie,  der  Wulst  der 
Stirnmuskeln  den  des  Zornes  oder  der  Anstren¬ 
gung  etc. 

„Da  nun  die  Natur  durchaus  nicht  immer  die 
lebendige  Mimik  hat,  die  wir  brauchen,  um  zur 
Mitempfindung  angeregt  zu  werden ,  und  unsere 
Vorstellung  diese  Mimik  aus  dem  gesamten  ange¬ 
sammelten  Erfahrungsmaterial  im  Verein  mit  dem 
direkten  Körpergefühl  gewinnt,  ähnlich  wie  es  der 
Schauspieler  thut,  so  wird  auch  der  Künstler  sich 
nicht  an  die  jeweilige  thatsächliche  Naturerschei¬ 
nung  binden,  an  ihr  kleben,  sondern  selbständig  die 
Sprache  nach  seiner  subjektiven  Kraft  entwickeln 
und  bei  seiner  Darstellung  die  allgemeine  Forderung 
der  Natur  auch  dem  Einzelfall  gegenüber  geltend 
machen.“  (S.  86.) 

Manche  der  überkommenen  Formen  verlieren 
mit  der  Zeit  das  Prägnante  ihres  Ausdrucks  oder  es 
verbindet  sich  mit  ihnen  eine  veränderte  Vorstellung. 
In  diesem  Wechsel  liegt  teilweise  der  Grund  der 
eigentümlichen  Erscheinung  des  sogenannten  „Suchens 
nach  Wahrheit“  in  der  Kunst.  Dasselbe  ist,  nicht 
zum  geringsten  Teil,  nichts  anderes  als  ein  Suchen 
nach  dem  zeitgemäßen  Funktionswert.  Es  wäre  in¬ 
teressant  gewesen,  wenn  Hildebrand  sich  auch  über 
diesen  Punkt  ausgelassen  hätte. 

Von  einer  wirklichen  Gestaltung  der  Erschei¬ 
nung  als  Funktionswert  kann  aber  nur  dann  die 
Rede  sein,  wenn  die  Erscheinung  zugleich  als  Raum¬ 
wert  gestaltet  wird,  wenn  also  die  Einheit  der  Funk¬ 
tionswerte  als  Einheit  von  Raumwerten  gefasst  wird. 
„Es  ist  dies  für  die  bildende  Kunst  von  großer  Trag¬ 
weite.  Denn  es  kann  die  Lebensempfindung  im  Sinne 
des  Funktionsausdrucks  den  Künstler  zu  einer  Dar¬ 
stellung  führen,  die  als  Ausdrucksgeste  genommen 
durchaus  wahr  empfunden  ist,  die  aber  als  einheit¬ 
licher  Raumeindruck  noch  gar  keine  Gestaltung  er¬ 
halten  hat.  Er  stellt  sich  dabei  selber  als  agirend 
vor  und  frägt  sich,  würde  ich  mich  so  oder  so  in 
dem  Fall  bewegen.  Er  frägt  sich  aber  nicht,  wie 
wirkt  nun  diese  so  gewonnene  Bewegung  auf  den 
Beschauer.  Er  stellt  sich  die  Bewegung  also  nicht 
als  gesehen  vor,  sondern  nur  als  gethan,  also  nur 
als  Ausdruck,  nicht  als  Eindruck.“  (S.  94.) 

Daher  kommt  es,  dass  eine  Masse  Ausdrucks¬ 
gesten  überhaupt  unbrauchbar,  weil  als  Eindruck 
unkenntlich  sind.  „Die  Roheit  des  sogenannten 
Realismus  liegt  darin,  dass  diese  künstlerisch  not¬ 
wendige  Metamorphose  nicht  stattgefunden  hat,  und 
nur  an  die  Wahrheit  der  Ausdrucksgeste  gedacht  wird.“ 


Die  Form,  welche  uns  eine  Bewegung  zur  Vorstellung 
bringt,  braucht  gar  nicht  der  Wirklichkeit  zu  ent¬ 
sprechen,  wenn  sie  nur  Funktionsausdruck  ist.  Es  wird 
also  überhaupt  nicht  die  Wahrnehmung  dargestellt, 
sondern  die  Vorstellung.  Diese  „hält  das  Bild  des 
Hundebeins  in  der  Ruhe  fest  und  bringt  es  nur  in  die 
Lage,  die  wir  beim  Laufen  wahrnehmen,  schafft  sich 
ein  klares  Bild,  das  sowohl  überall  den  Hund,  als 
auch  sein  Laufen  festhält.  Unsere  Wahrnehmungen 
der  Bewegung  werden  also  erst  in  Beziehung  zu 
dem  Bilde  gebracht,  welches  unsere  Vorstellung  von 
dem  Gegenstände  festhält,  und  wir  bilden  uns  dann 
wiederum  eine  Vorstellung  der  Ruhe  vom  Körper  in 
Bewegung.  Dies  ist  aber  etwas  ganz  anderes  als 
das  Bild  eines  oder  mehrerer  zusammengesetzter 
Momente,  wie  es  uns  der  photographische  Apparat 
von  der  Bewegung  zeigt,  —  das  momentane  Wahr¬ 
nehmungsbild.“  (S.  91  ff.) 

Die  Verdienste  der  Momentphotographie  um  die 
bildende  Kunst  liegen  jedoch  in  dem  schon  erwähn¬ 
ten  Korrigiren,  zunächst  unserer  Wahrnehmung.  Die 
Wahrnehmung  mancher  Bewegung  ist  durch  sie  eine 
andere  geworden.  Wie  immer,  so  sehen  wir  auch 
in  diesem  Fall  neue  Momente  aus  einer  Bewegung 
heraus,  scheinbar  analysirend,  weil  wir  durch  die 
Anschauung  der  Aufnahmen  und  die  Beschäftigung 
mit  denselben  in  den  Stand  gesetzt  sind,  Momente 
in  die  Bewegung  hineinzusehen,  an  die  wir  früher 
gar  nicht  denken  konnten,  weil  sie  eben  nicht  sicht¬ 
bar  waren.  (Ich  habe  das  an  mir  selbst  konstatiren 
können  in  Bezug  auf  Pferdebewegung  und  Vogel¬ 
flug.)  So  ist  hierdurch  denn  auch  die  Vorstellung, 
z.  B.  eines  laufenden  Hundes,  eines  springenden 
Pferdes  eine  andere  geworden,  welcher  sehr  häufig 
frühere  Darstellungen  nicht  mehr  gerecht  zu  werden 
vermögen.  —  Übrigens  wird  bei  jeder  intermittiren- 
den  Bewegung  der  künstlerische  Darstellungspunkt 
immer  zusammenfallen  mit  dem  intermittirenden 
Ruhepunkt,  in  welchem  für  unsere  Vorstellung  die 
Resultante  aller  Bewegungsmomente  gegeben  er¬ 
scheint. 

Wenngleich  dann  auch  Hildebrand,  S.  89,  sagt: 
„Es  ist  jedoch  wohl  zu  bemerken,  dass  die  starke 
Gestaltung  der  Phantasieübertragung  bei  verschiede¬ 
nen  Menschen  und  in  verschiedenen  Zeiten  verschieden 
ausgebildet  sein  kann,“  so  erhellt  doch  aus  dem 
Ganzen  nicht  zur  Genüge,  dass  der  Funktionswert 
der  Form  keine  konstante  Größe  ist.  Er  wechselt 
mit  der  Zeit,  und  es  wäre  interessant,  dies  einmal 
durch  die  Kunstgeschichte  zu  verfolgen. 


58 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


in. 

Wir  haben  somit  an  der  Hand  des  Hildebrand- 
scben  Werkes  gezeigt,  wie  der  Künstler  bei  seiner 
Aufgabe  dazu  gelangt,  die  Raum-  und  Formvor¬ 
stellung,  welche  wir  allein  durch  die  Erfahrung  ge¬ 
winnen,  so  für  seine  Darstellung  nutzbar  zu  machen, 
dass  er  einen  Flächeneindruck  schafft  mit  starker 
Anregung  zu  einer  Tiefenvorstellung. 

Das  ist  aber  nichts  anderes,  als  die  in  der  grie¬ 
chischen  Kunst  herrschende  Reliefauffassung.  Die¬ 
selbe  „markirt  das  Verhältnis  der  Flächenbewegung 
zur  Tiefenbewegung,  oder  das  der  zwei  Dimensionen 
zur  dritten.  Sie  setzt  uns  in  ein  sicheres  Verhält¬ 
nis  als  Schauende  zur  Natur.  Die  allgemeinen  Ge¬ 
setze  unseres  Verhältnisses  zum  sichtbaren  Raum 
werden  durch  sie  erst  in  der  Kunst  festgehalten,  und 
durch  sie  wird  die  Natur  erst  für  unsere  Gesichts¬ 
vorstellung  geschaffen.“  Durch  sie  ist  der  Künstler 
gezwungen,  jeden  Einzelwert  als  Verhältniswert  zu 
dem  allgemeinen  Tiefenwert  darzustellen.  Und  die 
geheimnisvolle  Wohlthat,  die  wir  vom  Kunstwerk 
empfangen,  beruht  immer  nur  und  allein  auf  der 
konsequenten  Durchführung  dieser  Reliefauffassung 
unserer  kubischen  Eindrücke.  Erst  diese  giebt  ein 
kenntliches  Bild  des  Gegenstandes  in  der  Fläche 
und  ein  einheitliches  Tiefenmaß  für  die  Volumen¬ 
empfindung. 

Bei  allen  Abstufungen  vom  Flachrelief  bis  zum 
Hoch-,  d.  h.  eigentlich  Tiefrelief,  handelt  es  sich  in 
erster  Linie  darum,  dass  die  einheitliche  Wirkung 
der  Fläche  zum  starken  Ausdruck  kommt.  Mit  an¬ 
deren  Worten,  es  müssen  so  viele  Höhepunkte  der 
Darstellung  in  einer  Fläche  liegen,  dass  sie  den  Ein¬ 
druck  der  Fläche  hervorrufen.  Es  ist  also  überhaupt 
nicht  die  Grundfläche  des  Reliefs  die  Hauptfläche, 
sondern  die  vordere  Fläche,  in  der  sich  die  Höhen 
der  Figuren  treffen.  Tritt  einzelnes  aus  dieser  Haupt¬ 
fläche  heraus,  so  erscheint  es  vor  der  eigentlichen 
Distanzschicht  unseres  Sehfeldes  und  ist  von  der 
allgemeinen  Tiefenbewegung  ausgeschlossen;  es 
streckt  sich,  von  dem  Gesamteindruck  losgelöst,  uns 
entgegen  und  wird  nicht  mehr  von  vorn  nach 
hinten  gelesen,  ist  also  durchaus  unkünstlerisch  in 
der  Wirkung.  Ein  Fehler,  der  heutzutage  gang  und 
gäbe  ist. 

Interessant  ist,  wie  Hildebrand  dann  die  Relief¬ 
auffassung  auf  die  runde  Darstellung  der  Figur  über¬ 
trägt.  Er  fordert,  dass  die  dargestellte  Figur  für 
verschiedene  Ansichten  die  Reliefauffassung  erfülle, 
sich  als  Relief  ausdrücke,  d.  h.,  dass  die  verschie¬ 
denen  Ansichten  der  Figur  stets  ein  deutliches  Sil¬ 


houettebild  für  die  Grundzüge  der  Position  abgeben. 
Der  Bildhauer  soll  also  den  ganzen  materiellen 
Formbestand  nur  in  Hinsicht  auf  diese  Forderung 
verwenden.  So  lange  eine  plastische  Figur  sich  in 
erster  Linie  als  ein  Kubisches  geltend  macht,  ist  sie 
noch  im  Anfangsstadium  ihrer  Gestaltung,  erst  wenn 
sie  als  ein  Flaches  wirkt,  obschon  sie  kubisch  ist, 
gewinnt  sie  eine  künstlerische  Form,  d.  h.  eine  Be¬ 
deutung  für  die  Gesichtsvorstellung. 

Wenn  es  das  natürliche  Erfordernis  für  einen 
Standpunkt  ist,  ein  klares  Flächenbild  des  Darge¬ 
stellten  zu  erhalten,  so  ist  es  umgekehrt  die  natür¬ 
liche  Folge  solcher  Gestaltung  einer  runden  Figur, 
dass  sie  den  Beschauer  zwingt,  seinen  Standpunkt 
den  Flächen  gegenüber  zu  wählen.  Damit  bestimmt 
die  Anordnung  der  Figur  den  Standpunkt,  aus  dem 
sie  gesehen  sein  will.  —  es  liegt  natürlich  in  der 
Komposition  der  Figur,  wie  viele  Ansichten  sie  hat. 
Ob  bloß  zwei,  —  wie  es  Figuren  haben,  welche 
analog  einer  reinen  Relieferfindung  sich  ausbreiten, 
ob  drei  oder  vier  etc.  Es  handelt  sich  dabei  stets 
nur  um  das  Maß  der  Energie,  mit  der  die  Figur 
bestimmte  Standpunkte  anweist,  nicht  um  eine  not¬ 
wendige  Anzahl.  Immer  aber  wird  sich  eine  Ansicht 
als  diejenige  geltend  machen,  welche  analog  dem 
Bilde  oder  Relief  die  ganze  plastische  Natur  der 
Figur  als  einheitlichen  Flächeneindruck  darstellt  und 
zusammenfasst.  Sie  bedeutet  die  eigentliche  Gesichts¬ 
vorstellung,  welche  der  plastischen  Darstellung  zu 
Grunde  liegt,  die  anderen  Ansichten  sind  ihr  unter¬ 
geordnet  als  notwendige  Konsequenz  der  Haupt¬ 
ansicht.  In  der  Anordnung  der  runden  Figur  zu 
solcher  Bilderscheinung  sieht  Hildebrand  das  Pro¬ 
blem  des  plastischen  Aufbaues  des  Ganzen. 

Es  kommt  also  alles  auf  das  Silhouettebild  der 
Hauptansicht  an;  was  in  diesem  nicht  vertreten  ist, 
geht  für  die  Gesichtsvorstellung  verloren,  dasselbe 
hat  alle  charakteristischen  Merkmale  für  die  Figur,  für 
ihre  Stellung  und  Bewegung  zu  enthalten.  Und  zwar 
kann,  wo  die  Plastik  auf  größere  Entfernung  zu 
wirken  hat,  besonders  in  Bronze,  die  Gliederung  eine 
freiere,  losere  sein,  bei  Skulpturen  für  Innenräume 
kann  sie  kompakter  gestalten,  bei  größerer  Feinheit 
und  Ausarbeitung  der  inneren  Form. 

Natürlich  ist  es  von  Einfluss  auf  den  Arbeits¬ 
gang,  ob  das  Material  der  Vorstellungsweise  des 
Künstlers  günstig  ist  oder  ihr  widerstrebt.  Stellt 
dasselbe  Bedingungen,  welche  den  Bedingungen  der 
Vorstellungsentwickelung  entsprechen,  so  wirkt  der 
Darstellungsprozess  an  sich  heilsam  und  fördernd 
auf  die  Einheit  des  Vorgestellten  und  weist  natur- 


DAS  PROBLEM  DER  FORM  IN  DER  BILDENDEN  KUNST. 


59 


gemäß  immer  auf  die  elementaren  künstlerischen 
Probleme  bin.  Einen  solchen  Darstellungsprozess 
bietet  das  freie  Herausbauen  aus  dem  Stein.  Und 
nun  kommt  der  Praktiker  in  Hildebrand  zum  Wort, 
indem  wir  zugleich  einen  interessanten  Einblick  ge¬ 
winnen,  wie  unser  Autor  von  der  Praxis  aus  alle 
seine  theoretischen  Ansichten  gewann. 

Wenn  der  Bildhauer  vor  dem  unbehauenen 
Steinblock  steht,  um  seine  Arbeit  zu  beginnen,  so 
kann  er  nicht  von  vornherein  feststellen,  wie  und 
wo  für  jede  Ansicht  die  Figur  im  Stein  zu  stehen 
kommt,  und  ein  vorläufiges  Zurechthauen  der  rohen 
Gesamtform  ist  daher  nicht  möglich.  Er  ist  daher 
gezwungen,  von  einer  einzigen  Ansicht  auszugehen 
und  die  anderen  als  ihre  notwendigen  Konsequenzen 
entstehen  zu  lassen,  d.  h.  aber,  er  legt  seiner  ku¬ 
bischen  oder  Bewegungsvorstellung  eine  Gesichts¬ 
oder  Bildvorstellung  zu  Grunde.  Das  Bild  zeichnet 
er  nun  auf  die  Hauptfläche  des  Steins  und  zwar  so 
gedacht,  dass  mehrere  Hauptpunkte  gleich  in  die 
erste,  vorderste  Steinschicht  fallen,  wie  z.  B.:  der 
Kopf,  eine  Hand,  ein  Knie  etc.,  je  nach  der  Stellung. 
„Indem  ich  dies  Bild  in  den  Stein  eingrabe  und  so¬ 
wohl  von  der  Steinfläche  das  außerhalb  der  Kon¬ 
turen  Liegende  entferne,  als  auch  im  Innern  die 
Form  abstufe,  fange  ich  zugleich  an,  hei  den  Formen 
auf  das  reale  Tiefenmaß,  welches  der  runden  Figur 
zukommt,  zu  achten.“  So  taucht  allmählich  die  Figur 
aus  der  Masse  des  Steins  empor  in  der  Weise,  wie 
dies  schon  Michel  Angelo  beschrieben:  Man  müsse 
sich  das  Bild  wie  im  Wasser  liegend  denken,  welches 
man  allmählich  immer  mehr  ablässt,  so  dass  die 
Figur  immer  mehr  und  mehr  an  die  Oberfläche  tritt, 
bis  sie  ganz  frei  liegt. 

Diesem  Vorgang  wird  das  Modelliren  in  Thon 
gegenübergestellt.  Da  man  hierbei  vom  Gerüst  aus¬ 
geht,  das  allmählich  mit  Thon  umkleidet  wird,  so 
ist  von  vornherein  kein  Raumkörper  vorhanden,  — 
er  wird  erst  allmählich  erzeugt  und  auch  nur  inso¬ 
weit,  als  die  Figur  ihn  selber  einnimmt.  Der  Mo¬ 
delleur  ist  also  nicht  gezwungen,  von  einer  Vor¬ 
stellung  des  Gesamtraumes,  den  seine  Figur  einnimmt, 
auszugehen,  und  es  kann  ihm  daher  passiren,  dass 
die  einzelnen  Teile  derselben  nicht  in  jener  stillen 
Zusammengehörigkeit  zu  einander  stehen,  welche  eben 
die  künstlerische  Form  und  Raumvorstellung  aus¬ 
macht,  weil  sie  die  Figur  in  eine  für  das  Auge  zweck¬ 
mäßige,  d.  h.  übersichtliche,  leicht  erkennbare  Form 
gebracht  hat.  Beim  Steinarbeiten  stellt  der  Stein 


selbst  immer  die  Raumvorstellung  real  hin,  —  der 
Steinkubus  zwingt  zur  Raumeinheit.  „Man  sieht  aus 
dem  so  beschriebenen  Verlauf  der  Steinarbeit,  dass 
der  Bildhauer  dabei  von  einer  Bildvorstellung  aus¬ 
gehen  muss  und  deren  Formvorstellung  in  wirkliche 
Bewegungsvorstellung  umsetzt.  Beim  Modelliren  hin¬ 
gegen  werden  in  erster  Linie  die  Bewegungsvor¬ 
stellungen  einmal  zur  Darstellung  gebracht,  dann 
erst  zeigt  sich,  wie  sie  wirken  als  Gesichtseindruck. 
Der  Gesichtseindruck  spielt  dann  nur  den  Kritiker, 
er  macht  seinen  Einfluss  nicht  schon  in  der  Vor¬ 
stellung  geltend.“ 

Hildebrand  führt  als  denjenigen,  der  neben  den 
Griechen  am  rücksichtslosesten  und  konsequentesten 
seine  künstlerische  Vorstellungsart  mit  seinem  Dar¬ 
stellungsprozess  in  direkter  Beziehung  entwickelt 
hat,  Michel  Angelo  an.  Diesem  Ideal  und  den  ent¬ 
wickelten  Kunstgesetzen  steht  nun  die  Jetztzeit  mit 
ihren  plastischen  Werken  aufs  bedenklichste  gegen¬ 
über.  Es  ist  wie  ein  Notschrei,  wenn  der  Künstler 
klagt,  welch  unsägliche  Armut,  welch  ewiges 
Einerlei  die  heutigen  Monumente  zeigen,  die  ganze 
Masse  von  Plastik,  „die  sich  abmüht,  irgend  etwas 
Neues  zu  geben  und  sich  in  dem  Bann  der  isolirten 
Rundplastik  unglücklich  krümmt  und  windet,  weil 
ihr  jeder  Anschluss  an  Architektur,  an  irgend  eine 
Situation  verboten  ist,  wie  in  Einzelhaft,  —  die  reine 
Sträflingsarbeit!“  Die  subjektive  Willkür,  das  sog. 
Geistreichthun,  die  persönliche  Kaprice,  die  sich 
überall  breit  macht,  sind  immer  nur  ein  Zeichen, 
dass  das  künstlerische  Schaffen  seinen  natürlichen 
gesunden  Inhalt  verloren  hat.  „Alle  individuelle 
Naturauffassung,  wodurch  der  Kunst  ein  neuer  Natur¬ 
inhalt  zugeführt  wird,  hat  nur  dann  einen  künst¬ 
lerischen  Wert,  wenn  dieser  als  Ausdruck  eines  Ge¬ 
setzmäßigen  erfasst,  eine  neue  Variation  des  Grund¬ 
themas  darstellt.“ 

Alles  in  allem:  ich  halte  die  Untersuchungen 
in  „Das  Problem  der  Form  etc.“  trotz  einer  manch¬ 
mal  zu  Tage  tretenden  Einseitigkeit  für  das  Bedeu¬ 
tendste,  was  seit  langer  Zeit  betreffs  der  bildenden 
Kunst  gedacht  und  geschrieben  worden  ist.  Ich  sehe 
in  Hildebrand  nicht  nur  den  Plastiker,  sondern  auch 
—  eine  Lehrkraft,  der  es  gewiss  mit  der  Zeit  nicht 
an  noch  größerer  Durchsichtigkeit  der  Darstellung 
fehlen  wird.  Es  es  sei  der  Wunsch  ausgesprochen, 
dass  er  bald  mehr  von  sich  hören  lasse! 

München. 


DR.  FR.  CARSTANJEN. 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


Goeler  von  Ravensburg,  Grundriss  der  Kunstgeschichte. 

Ein  Hilfsbuch  für  Studirende.  Berlin,  Carl  Duncker.  1894. 

Das  in  erfreulicher  Weise  zunehmende  Interesse  wei¬ 
terer  Kreise  an  der  Kunst  und  ihrer  Geschichte  hat  in  den 
letzten  Jahren  das  Erscheinen  mehrerer  Hilfsbücher  zur  Ein¬ 
führung  in  die  Kunstgeschichte  sowohl  für  Lehrende  als  auch 
für  Lernende  hervorgerufen.  Anton  Springer’s  Textbuch  zu  See¬ 
manns  kunsthistorischen  Bilderbogen  war  die  vorzüglichste 
Arbeit  derart,  ein  Werk  reifer  Einsicht  in  den  Entwicklungs¬ 
gang  der  künstlerischen  Dinge.  Indessen  wendeten  sich 
Springer’s  Grundzüge  mit  mehr  Erfolg  an  vorbereitete  Leser, 
denn  an  solche,  „die  das  Studium  der  Kunstgeschichte  zwar 
nicht  fachmäßig,  aber  doch  mit  einer  gewissen  wissenschaft¬ 
lichen  Gründlichkeit  erst  betreiben“  wollen.  Für  den  Ge¬ 
brauch  der  Kunstschüler  und  Studenten  setzten  sie  zu  viel 
voraus,  das  der  Erklärung  bedarf.  Goeler’s  von  Ravensburg 
Grundriss,  auf  Veranlassung  der  kgl.  preußischen  Unterrichts¬ 
verwaltung  bearbeitet  nach  dem  Diktat,  das  der  Verfasser 
seinen  Zuhörern  an  der  Berliner  Kunstschule  zu  geben 
pflegte,  sucht  den  Bedürfnissen  der  Studirenden  gerechter  zu 
werden,  indem  er  in  geschickter  Systematisirung  des  unge¬ 
heuren  Stoffes  und  in  möglichst  prägnanter  Darstellung  eine 
sehr  ausgiebige  Summe  positiven  kunstgeschichtlichen  Wis¬ 
sens  darbietet.  Goeler’s  Darstellung  behandelt  in  streng  di¬ 
daktisch  disponirencler  Weise  die  allgemeine  Kunstgeschichte 
bis  zum  Ausgang  des  vorigen  Jahrhunderts,  analysirt  ein¬ 
gehend  die  verschiedenen  Architektursysteme  und  Stile,  be¬ 
spricht  nach  bestimmten  Rubriken  die  einzelnen  Schulen 
und  ihre  hauptsächlichen  Meister.  Das  kulturgeschichtliche 
Moment,  das  Springer  so  nachdrücklich  betonte,  wird  auf 
knappe  Charakterisirungen  der  Hauptepochen  beschränkt, 
dafür  tritt  die  ästhetische  Etikettirung  von  Künstlern  und 
Kunstwerken  mehr  in  den  Vordergrund,  als  uns  billig  scheint. 
Die  vielen,  gern  Superlativ  gebrauchten  Epitheta,  welche  die 
unausbleibliche  Trockenheit  systematischer  Aufzählungen 
von  Künstlern  und  Kunstwerken  unterbrechen,  scheinen  uns 
denn  doch  eher  geeignet,  einem  leidigen  Asthetisiren  Vor¬ 
schub  zu  leisten1,  als  das  historische  Urteil  zu  wecken  und 
zu  festigen.  Diese  subjektiv  gefärbte  und  daher  oft  zum 
Widerspruch  reizende  Bewertung  der  Kunstwerke  ist  unseres 
Erachtens  in  einem  Lehrbuch,  das  vor  allem  Thatsachen, 
nicht  fertige  Ui’teile  Vorbringen  soll,  wenig  am  Platz;  sie  ist 
der  Hauptfehler  dieser  fleißigen  Arbeit,  die  im  übrigen  gewiss 
gute  Dienste  leisten  wird.  Denn,  was  sie  vor  anderen  ähn¬ 
lichen  Erscheinungen  auszeichnet,  ist  die  große  Übersicht¬ 
lichkeit  der  Darstellung  und  der  Reichtum  an  wohlgeord¬ 
netem  Material.  Die  Ergebnisse  der  neueren  kunstgeschicht¬ 
lichen  Forschung  sind  überall  mit  gesundem  Urteil  verwertet, 
'-o  dass  das  Buch  auch  als  verlässliches  Nachschlagewerk 
vielen  willkommen  sein  wird.  Um  den  Preis  des  478  Seiten 
starken  Bandes  nicht  zu  erhöhen,  ist  von  Illustrationen  ab¬ 
gesehen  worden ;  nur  ein  paar  Grundrisse  sind  beigegeben. 


Mit  Zuhilfenahme  der  bekannten  kunstgeschichtlichen  Bilder¬ 
werke  aus  dem  Seemannschen  Verlag,  auf  die  der  Verfasser 
hinweist,  und  des  klassischen  Bilderschatzes  wird  daher 
Goelers  neuer  Grundriss  am  vorteilhaftesten  benutzt  werden 
können. 

Zigeunerknabe.  Malerradirung  von  E.  Klotz..  Der  diesem 
Hefte  beigegebene  radirte  Studienkopf  ist  nicht  nur  wegen 
seiner  markigen,  charakteristischen  Darstellung,  sondern  auch 
in  technischer  Beziehung  interessant.  Die  einzelnen  farbigen 
Töne  der  Darstellung  sind  von  der  Hand  des  Druckers  auf 
eine  Platte  aufgetragen  und  so  mit  einem  Drucke  erzielt. 
Es  entspricht  dies  einer  alten  Technik,  von  der  in  dieser  Zeit¬ 
schrift  öfter,  das  letzte  Mal  in  der  Kunstchronik  N.  F.  V., 
Spalte  265  die  Rede  war.  Der  Urheber  des  Blattes  ist  1863  in 
Neureudnitz-Leipzig  geboren,  wo  er  noch  lebt;  er  empfing 
die  ersten  künstlerischen  Anregungen  durch  Beschauen  der 
Bilder  Ludwig  Richter’s  und  Moritz  von  Schwind’s,  besonders 
durch  deren  Holzschnitte,  welche  ihn  auch,  bevor  er  auch 
nur  halbwegs  richtig  sehen  und  zeichnen  geleimt,  zu  Kom- 
positionsvei'suchen  (in  stoff  licher  Beziehung  diesen  Meistern 
verwandter  Themata:  Märchen  und  Sage)  anspornten.  Dies 
geschah,  als  er  sich  noch  in  der  Vorbereitungsklasse  der 
Akademie  zu  Leipzig  befand.  Mehr  und  mehr  zog  ihn 
dann  Defregger’s  originale  und  edle  Künstlerindividualität 
an,  und  es  ward,  als  endlich  Ernst  gemacht  werden  sollte, 
auch  dieser  Meister,  auf  Grund  eingesandter  Komposi¬ 
tionsversuche  und  einiger  Versuche  nach  der  Natur,  um 
seinen  Rat  bezüglich  der  Kardinalfrage:  „Wird  es  zum 
Künstler  ausreichen?“  ersucht.  Sehr  ermunternd  fiel  des 
Meistei’s  Antwort  aus,  und  so  folgte  denn  auch  ein  Studien¬ 
aufenthalt  in  München  und  nach  diesem  längeres  autodidak¬ 
tisches  Studium;  hiernach  ließ  Frithjof  Smith  in  Weimar  dem 
Künstler  seine  vorzüglichen  Weisungen  zu  teil  werden. 

Berlin.  Vom  19.— 29.  d.  Mts.  gelangt  bei  J.  M.  Hebeide 
(H.  Lempertz’  Söhne)  aus  Köln  der  gesamte  Kunstnachlass 
der  Ehrenstiftsdame  Emilie  von  Waldenburg  in  Potsdam  im 
Auktionslokale,  Französische  Straße  24  I,  zur  Versteigerung. 
Dei’selbe  umfasst  einerseits  Gemälde,  Aquarelle,  Handzeich¬ 
nungen  Kupferstiche  u.  s.  w  (354  Nummern),  andererseits 
Kunstsachen,  Mobilien,  Einrichtungsgegenstände,  Porzellane, 
Ai-beiten  in  Glas,  Elfenbein,  Silber  und  Bronze,  Juwelen, 
Nippsachen,  Dosen,  Necessaires,  Flacons,  Fächer,  Miniaturen, 
Bücher,  Autographen  etc.  (1511  Nummern).  Die  Kataloge 
sind  soeben  ei'schienen  und  sind  zum  Preise  von  5  M.  für 
den  Gemäldekatalog  und  von  3  M.  für  den  Kunstkatalog  von 
oben  genannter  Firma  zu  beziehen. 

BERICHTIGUNG. 

Im  Oktoberhefte  ist  in  dem  Artikel  „Zwei  Werke  von 
Mich.  Pacher“  S.  26,  Sp.  2,  2.  Zeile  von  unten  das  sinnstöi’ende 
„die“  samt  dem  Komma  davor  zu  sti’eichen. 


- 


Herausgeber:  Carl  von  TAitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Druck  v:  F.  AJrockhaua  ,Leip*ij§ 


Vrrlng  v.  RA.aeemram, Leipzig. 


MalerradirungS  vE.  Klotz. 


Die  Taufe  Christi. 

Zeichnung  von  1’.  1’.  Ri’ijkns  (?)  im  Louvre  -/.u  Paris 


PETER  PAUL  RUBENS. 

VON  ADOLF  ROSENBERG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


III.  Rubens  in  Italien  1600 — 100S  *). 
(Fortsetzung.) 


BWOHL  Rubens  während 
seiner  Reise  nach  Spanien 
hauptsächlich  darüber  zu 
wachen  hatte,  dass  die  ihm 
anvertraute  Karosse ,  die 
Pferde,  Kanonen,  Bilder, 
Kunstgegenstände  und  Kost¬ 
barkeiten,  die  der  Herzog 
von  Mantua  als  Geschenke  für  den  König  von  Spa¬ 
nien,  seinen  ersten  Minister,  den  Herzog  von  Lerma, 
und  andere  einflussreiche  Würdenträger  bestimmt 
hatte,  wohlbehalten  ankämen,  ist  seine  Kunst  nicht 
dabei  zu  kurz  gekommen.  Schon  dass  die  Wahl 
seines  Herrn  gerade  auf  ihn  gefallen  war,  spricht 
dafür,  dass  der  Herzog  von  Mantua  besonderen  Wert 
darauf  legte,  dass  die  Bilder  den  von  ihm  damit 
Beschenkten  durch  einen  gewandten  Interpreten  in 
das  richtige  Licht  gerückt  würden.  Einen  großen 
Wert  stellten  die  Bilder  ohnehin  nicht  dar;  denn 
es  handelte  sich  zumeist  um  Kopieen  von  Werken 
italienischer  Meister  (Raffael  wird  ausdrücklich  ge¬ 
nannt),  die  damals  für  den  spanischen  Hof  noch 
unerreichbar  waren.  Dann  hatte  Rubens  auch  von 
seinem  schönheitsdurstigen  Herrn  den  Auftrag  er¬ 
halten,  einige  der  Perlen  unter  den  Frauen,  die  den 
Hof  Philipp’s  III.  zierten,  für  seine  Galerie  von 
Schönheiten  jeglicher  Art  zu  porträtiren.  Wie  not¬ 
wendig  es  war,  dass  gerade  ein  Maler  und  zwar 
ein  von  Jugendkraft  und  Entschlossenheit  erfüllter 
mit  dieser  Sendung  beauftragt  worden  war,  sollte 
sich  bald  herausstellen.  Auf  der  Landreise  nach 
Valladolid,  wo  der  königliche  Hof  damals  residirte, 
hatte  Rubens  und  sein  Transport  während  dreier 

1)  S.  Zeitschr.  für  bild.  Kunst.  N.  F.  V.  H.  6  u.  7. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  N.  F.  VI.  H.  3. 


Wochen  so  viel  durch  Stürme  und  Regengüsse  zu 
leiden,  dass  ein  Teil  der  Bilder  völlig  verdorben 
ankam.  Der  Mantuanische  Geschäftsträger  in  Valla¬ 
dolid  riet  ihm,  sich  bei  der  Wiederherstellung  der 
Bilder  von  den  dortigen  spanischen  Malern  helfen 
zu  lassen.  Aber  Rubens  besaß  schon  damals,  im 
Vollgefühl  seiner  ersten  Erfolge,  so  viel  Selbstgefühl, 
dass  er  in  einem  vom  24.  Mai  1603  datirten  Briefe 
an  seinen  zuverlässigsten  Gönner  und  Beschützer 
am  herzoglichen  Hofe  in  Mantua,  an  den  Sekretär 
des  Herzogs,  Cbieppio,  schrieb,  dass  er  sich  in  An¬ 
betracht  des  Umfangs  der  Zerstörungen  an  den  Bil¬ 
dern  gerne  helfen  lassen  würde,  dass  er  aber  im 
übrigen  die  „unglaubliche  Unzulänglichkeit  und 
Trägheit  dieser  Maler“  kenne,  „deren  Manier  übri¬ 
gens  ,  was  sehr  wichtig  ist  —  Gott  bewahre  mich, 
ihr  in  irgend  etwas  ähnlich  zu  werden  —  ganz  und 
gar  von  der  meinigen  verschieden  ist.“  J) 

Wenn  Rubens  hier  den  Mund  etwas  zu  voll  nimmt, 
wie  es  seit  Menschengedenken  alle  jungen  Künstler 
zu  thun  pflegen,  so  hat  diese  harmlose  Großtliuerei 
doch  den  Wert,  dass  wir  aus  ihr  ersehen,  dass  sich  in 
der  Bildersendung  auch  Kopieen  oder  vielleicht  sogar 
Originale  von  Rubens  selbst  befunden  haben.  Um 
so  eher  konnte  er  sich  aus  der  Verlegenheit  ziehen. 
Zudem  kam  ihm  ein  Zufall  zu  Hilfe,  da  sich  die 
Rückkehr  des  Hofes  nach  Valladolid  um  fast  zwei 
Monate  verzögerte.  Rubens  hatte  nicht  nur  Zeit 
genug,  das  Verdorbene  wieder  aufzufrischen  und  zu 
erneuern,  sondern  auch  zwei  fast  sieben  Fuß  hohe 
und  zwei  Fuß  breite  Bilder  zum  Ersatz  für  völlig 
ruinirte  hinzuzumalen,  die  ganzen  Figuren  Heraklit’s 

1)  Ruelens,  Corresponclance  etc.  I,  p.  145.  —  Rosenberg, 
Rubensbriefe,  S.  20. 


9 


62 


PETER  PAUL  RUBENS. 


und  Demokrit’s,  des  weinenden  und  des  lachenden 
Philosophen ,  die  damals  wie  heute  die  Gedanken¬ 
welt  der  sich  gern  mit  schwerer  Weisheit  brüsten¬ 
den  Hofgesellschaft  und  ihres  Anhangs  von  schar¬ 
wenzelnden  Schöngeistern  und  sich  wissenschaftlich 
gebärdenden  Charlatans  beherrschten.  Rubens  scheint 
diese  Gesellschaft  und  ihr  Kunstverständnis  ganz 
richtig  taxirt  zu  haben,  indem  er  ihr  mit  derben,  aber 
flüchtigen  Pinselstrichen  ohne  Aufwand  von  gefäl¬ 
ligem  Kolorit  zwei  vierschrötige  Gesellen  hinstellte, 
die  mehr  durch  ihre  robuste  Erscheinung  als  durch 
ihr  geistiges  Wesen  und  die  Eigentümlichkeit  einer 
tieferen  Charakteristik  imponirten.  Es  scheint  sogar, 
dass  diese  beiden  Bilder,  die  bei  ihrer  Überreichung 
den  vollen  Beifall  des  Herzogs  von  Lerma  fanden, 
ihren  Schöpfer  zu  einer  Fortsetzung  der  Reihe  an¬ 
gespornt  haben.  Denn  im  Museum  zu  Madrid, 
wohin  die  beiden  philosophischen  Antipoden  ge¬ 
kommen  sind,  vermutlich  aus  königlichem  Besitz, 
nachdem  die  Güter  des  Herzogs  von  Lerma  konfiszirt 
worden  waren,  befindet  sich  noch  ein  dritter  Held 
altgriechischer  Weisheit,  Archimedes,  auch  eine  ganze 
Figur  von  fast  derselben  Größe  wie  Heraklit  und 
Demokrit. 

Auch  zu  selbständiger  schöpferischer  Thätigkeit 
wurde  Rubens,  nachdem  endlich  im  Juli  1603  die 
Geschenke  an  den  König  und  den  Hof  überreicht 
worden  waren,  durch  den  Herzog  von  Lerma  an¬ 
geregt,  der  ihm,  wie  es  sich  für  einen  großen  Herrn 
schickt,  der  einen  Maler  mit  der  Sonne  seiner  Gunst 
erwärmen  will,  die  Ausführung  eines  Reiterbildnisses 
seiner  Person  auftrug.  Das  war  damals  eine  große 
Sache,  und  Rubens  ist  gewiss  auch  mit  Begeisterung 
an  diesen  Auftrag  herangegangen.  Um  so  mehr  ist 
es  zu  beklagen,  dass  gerade  dieses  für  die  Jugend¬ 
entwickelung  des  Meisters  ungemein  wichtige  Bild 
nicht  aufzufinden  ist. ')  Nach  den  kurzen  Bemer¬ 
kungen  derer,  die  es  gesehen  haben,  als  es  gemalt 
wurde,  muss  Rubens  nicht  bloß  den  Auftraggeber, 
sondern  auch  die  schärfer  urteilenden  Vertrauten  des 
Herzogs  von  Mantua  in  hohem  Grade  befriedigt 
haben.  Man  möchte  ihrem  Urteile  misstrauen,  wenn 
man  daneben  ein  anderes,  ebenfalls  für  den  Herzog 
von  Lerma  ausgeführtes  Werk  des  jungen  Künstlers, 
eine  ganze  Bilderreihe,  Christus  und  die  zwölf  Apostel, 
in  Betracht  zieht.  Mit  Ausnahme  des  Christus,  der 
verloren  gegangen  zu  sein  scheint,  sind  die  Bilder 
in  das  Museum  zu  Madrid  gekommen.  Es  sind  Halb¬ 
figuren,  und  jeder  der  zwölf  ist  durch  das  für  ihn 

1)  Näheres  darüber  bei  Rooses,  L’oeuvre  etc.  IV,  p.  203. 


typische  Attribut  gekennzeichnet.  Obwohl  Rubens 
zu  ihrer  Ausführung  mehr  Zeit  hatte,  als  zu  den 
oben  erwähnten  beiden  Lückenbüßern,  sind  sie  keines¬ 
wegs  gleichmäßig  durchgeführt.  Nur  wenige  machen 
ihrem  Schöpfer  Ehre;  die  meisten  aber  leiden  an 
den  schweren,  undurchsichtigen  Schatten,  die  für 
Rubens’  Frühzeit  charakteristisch  sind.  Diese  Bilder¬ 
reihe  war  für  die  katholische  Welt  ein  dankbarer 
Artikel,  und  Rubens  versäumte  nicht,  seine  Zeich¬ 
nungen  dazu  —  es  scheinen  die  dreizehn  in  der 
Albertina  zu  Wien  befindlichen  zu  sein  —  mit  in 
die  Heimat  zu  nehmen.  Danach  ließ  er  später  von 
seinen  Schülern  mit  wenigen  Veränderungen  eine 
zweite  Reihe  malen,  die  er  im  Jahre  1618  dem  Sir 
Dudley  Carleton  zum  Kauf  anbot,  und  um  dieselbe 
Zeit  ließ  er  sie  von  Nicolaus  Ryckemans  stechen, 
dessen  Blätter  wiederum  mehrfach  von  anderen 
Stechern  kopirt  wurden.  Der  Engländer  lehnte  den 
Kauf  ab,  weil  er  nur  Originale  von  Rubens  haben 
wollte.  Es  scheint,  dass  diese  Schülerwiederholung 
mit  den  dreizehn  Bildern  im  Kasino  Rospigliosi  in 
Rom  identisch  ist.  Sie  haben  durch  die  von  Rubens 
in  dem  Briefe  an  Carleton  angekündigte  Retouche 
so  außerordentlich  gewonnen,  dass  ihnen  der  „Cice¬ 
rone“  das  Loh  spenden  kann,  „dass  sie  alle  gleich¬ 
zeitigen  Leistungen  der  Italiener  überragen,  wenn 
auch  hie  und  da  noch  der  Einfluss  des  einen  oder 
anderen  durchblickt“,  und  zwar  ist  es  besonders  die 
Größe  der  Charakteristik  und  die  „meisterliche  Fär¬ 
bung“,  die  sie  den  Madrider  Originalen  überlegen 
machen. 

Die  Frage  liegt  nahe,  ob  und  inwieweit  Rubens’ 
erste  Bekanntschaft  mit  der  spanischen  Kunst  einen 
Einfluss  auf  die  nächsten  Jahre  seiner  Entwickelung 
geübt  habe.  Da  diese  Frage  aber  unbedingt  ver¬ 
neint  werden  muss,  ist  es  auch  müßig,  einen  Blick 
auf  den  damaligen  Stand  der  spanischen  Malerei, 
im  besonderen  auf  die  Valladolids,  wo  sich  Rubens 
am  längsten  aufhielt,  zu  werfen.  Überdies  geht  aus 
jener  oben  citirten  Briefstelle  hervor,  dass  die  Leis¬ 
tungen  seiner  spanischen  Kollegen  dem  jungen 
Vlamen  nicht  sonderlich  imponirten.  Drängte  es 
ihn,  dessen  Kopf  von  großen  Plänen  und  Ent¬ 
würfen  angefüllt  war,  doch  so  gewaltig  nach  Italien, 
nach  Mantua  zurück,  dass  er  sogar  einen  Antrag 
des  Herzogs,  auf  der  Heimreise  einen  Abstecher  nach 
Frankreich  zu  machen  und  dort  neue  Beiträge  für 
des  Herzogs  Schönheitsgalerie  zu  sammeln,  höflich 
ab  wies  und  seinen  Serenissimus  bat,  ihn  doch  mit 
Aufträgen  zu  bedenken,  die  seiner  ganzen  künst¬ 
lerischen  Richtung  mehr  entsprächen.  Das  tliat  denn 


PETER  PAUL  RUBENS. 


63 


der  Herzog  auch,  und  dass  Rubens’  Abweisung  keine 
Missstimmung  bei  seinem  Gebieter  hervorgerufen 
bat,  beweisen  zwei  Auszüge  aus  nicht  mehr  erhal¬ 
tenen  Rechnungsbüchern,  nach  denen  die  herzogliche 
Kasse  angewiesen  wird,  dem  „Signor  Pietro  Paolo 
Rubens,  pittore  fiamengo“,  fortan  jährlich  400  Du¬ 
katen  in  Quartalsraten  und  zwar  vom  24.  Mai  1603 
an  gerechnet  auszuzahlen.1) 

Bei  der  lakonischen  Fassung  dieser  Bruchstücke 
ist  nicht  mit  Sicherheit  festzustellen ,  oh  diese  400 
Dukaten  das  Jahrgehalt  des  herzoglichen  Hofmalers 
ausmachen  oder  ob  sie  nur  bis  auf  weiteres  für  eine 
besonders  ,  umfangreiche  Arbeit  angewiesen  waren. 
Eine  solche  nahm  Rubens,  der  wahrscheinlich  erst 
im  Februar  1604  nach  Mantua  zurückgekehrt  war2), 
nämlich  gerade  um  diese  Zeit  in  Angriff.  Es  war 
die  erste  größere  Aufgabe,  mit  der  ihn  sein  Herzog 
betraute,  und  man  kann  sich  denken,  mit  welcher 
Begeisterung  Rubens  ans  Werk  ging,  um  so 
mehr ,  als  er  mit  der  Ausführung  eines  gottge¬ 
fälligen  Werkes  auch  den  warmen  Dank  verbinden 
konnte,  den  er  dem  Herzoge  und  seiner  Familie 
schuldete.  Vincenzo  Gonzaga’s  Mutter,  die  Herzogin 
Eleonore,  hatte  sich  ihre  letzte  Ruhestätte  in  der 
Jesuitenkirche  zu  Mantua  ausgesucht,  und  um  sie 
und  den  allmächtigen  Orden  der  Väter  von  der  Ge¬ 
sellschaft  Jesu  zugleich  zu  ehren,  hatte  ihr  Sohn 
die  Stiftung  eines  Altarbildes  im  großen  Stile,  eines 
Triptychons,  beschlossen,  dessen  Grundthema  die 
Anbetung  der  heiligen  Dreieinigkeit,  der  Schutz¬ 
patronin  der  Kirche,  durch  die  Familie  Gonzaga 
bilden  sollte.  Wie  dieses  Werk,  das  größte  und  ge¬ 
nialste,  das  Rubens  in  Italien  geschaffen,  an  seinem 
Bestimmungsorte  ausgesehen  hat,  müssen  wir  uns 
aus  der  Handschrift  eines  Jesuitenpaters,  Namens 
Garzoni,  rekonstruiren,  der  das  Altarwerk  noch  in 
seinem  alten  Glanze  kennen  gelernt  und  Zeuge  ge¬ 
wesen  ist,  wie  die  kunstverständigen  Fremden,  die 
nach  Mantua  kamen,  das  Bild  zu  sehen  verlangten 
und  bei  seinem  Anblick  „wahrhaft  bestürzt  vor  Er¬ 
staunen“  wurden.  Nach  der  Schilderung  Garzoni’s 
stellte  das  Mittelbild  die  Anbetung  der  heiligen  Drei¬ 
einigkeit  durch  Vincenzo  Gonzaga  und  seine  Ge¬ 
mahlin,  seine  Eltern  und  seine  sämtlichen  Kinder 
dar.  Auch  waren  in  der  Umgebung  ein  herzoglicher 
Leibgardist,  dem  Rubens  seine  eigenen  Züge  gegeben 
hatte,  und  ein  hochbeiniger  Windhund  zu  sehen. 


1)  S.  Ruelens,  Correspondance  de  Rubens  J,  p.  242. 

2)  Die  für  dieses  Datum  sprechenden  Gründe  hat  Rue¬ 
lens  (Correspondance  de  Rubens  I,  p.  240)  zusammengestellt. 


Das  Bild  auf  der  Evangelienseite  des  Altars  stellte 
die  Taufe  Christi,  das  auf  der  Epistelseite  die  Trans¬ 
figuration  Christi  dar.  Keinem  Werke  des  Meisters 
ist  so  Übles  widerfahren  wie  diesem.  Als  die  Fran¬ 
zosen  1797  Mantua  einnahmen,  verwandelten  sie  nach 
ihrer  Gewohnheit  die  Jesuitenkirche  in  ein  Fourage- 
magazin,  und  was  nicht  sofort  an  Kunstwerken  ge¬ 
raubt  wurde,  ging  durch  die  Ausdünstungen  des 
aufgestapelten  Heues  zu  Grunde  oder  wurde  von 
roher  Hand  zerstört.  Ein  französischer  Kommissar 
machte  sich  an  das  Mittelbild  und  ließ  es  in  mehrere 
Stücke  zerschneiden,  um  es  leichter  fortzubringen. 
Aber  sein  Raub  wurde  ihm  durch  den  Einspruch 
der  mantuanischen  Akademie  entrissen.  Man  erhielt 
jedoch  nur  zwei  Stücke  wieder,  den  oberen  und  den 
unteren  Teil,  die  getrennt  in  dem  großen  Saale  der 
Bibliothek  zu  Mantua  aufgehängt  worden  sind.  Die 
Dreieinigkeit  mit  den  sie  umgebenden  Engeln  Hat 
zwar  ebenso  gelitten,  wie  die  Bildnisse  der  Andäch¬ 
tigen;  aber  es  scheint,  dass  sie  von  vornherein  mit 
Absicht  etwas  flüchtig  und  nebensächlich  behandelt 
worden  war,  damit  die  Bildnisse  der  auf  der  Erde 
gebietenden  Herren  zu  desto  besserer  Geltung  kä¬ 
men.  Eben  dieser  Teil  ist  nicht  mehr  vollständig;. 
Man  vermisst  nicht  nur  die  Söhne  und  Töchter  des 
Herzogs,  sondern  auch,  was  schmerzlicher  ist,  die 
Figuren  des  Gardisten  und  des  Windhundes.  Als 
der  Maler  Pelizza  beauftragt  wurde,  die  Stücke  wie¬ 
der  einigermaßen  in  stand  zu  bringen,  hat  er  die 
fehlenden  Partieen  durch  Draperieen  ersetzt.  Trotz 
dieser  Unbilden  ist  aber,  wenn  man  von  der  noch 
etwas  kalten  bräunlichen  Färbung  absieht,  die  Bild¬ 
nisgruppe  durch  die  Energie  der  Charakteristik  und 
den  Ausdruck  tiefer  Andacht  in  den  Köpfen  der 
beiden  knieenden  Paare  von  großartiger  Wirkung.1) 
Rooses  trägt  kein  Bedenken,  dieses  Bild  nächst 
dem  heiligen  Gregorius,  auf  den  wir  bald  zu  sprechen 
kommen,  für  das  schönste  unter  den  in  Italien  ent¬ 
standenen  Werken  des  Meisters  zu  erklären.  Von 
irgend  einer  Einwirkung  der  spanischen  Reise  ist 
keine  Spur  zu  erkennen;  wohl  aber  macht  sich  so¬ 
wohl  in  der  Dreifaltigkeit,  besonders  in  den  stark 
bewegten  Gestalten  der  großen  Engel,  die  eine  aus¬ 
gespannte  Draperie  halten,  vor  der  Gott  Vater,  der 
Heiland  und  die  Taube  des  heiligen  Geistes  gleich¬ 
sam  wie  eine  himmlische  Vision  erscheinen,  als  auch 
in  den  vier  gar  majestätisch  anzuschauenden  Bild- 

1)  Die  Leser  der  „Zeitschrift“  haben  die  Komposition 
beider  Teile  des  Bildes  durch  zwei  im  Jahrgang  1887  (zu 
S.  347)  veröffentlichte  Radirungen  von  F.  Böttcher  kennen 
gelernt. 

9* 


64 


PETER  PAUL  RUBENS. 


nisfiguren  der  Einfluss  Tintoretto’s  geltend,  mit  dem 
Rubens  an  berauschender  Prachtentfaltung  zu  wett¬ 
eifern  suchte. 

Dieser  Wetteifer  mit  den  Heroen  der  italieni¬ 
schen  Kunst  beschränkt  sich  aber  keineswegs  auf 
Äußerlichkeiten  des  Kolorits,  der  Charakteristik  und 
der  Inscenirung.  Rubens  nahm  sein  Gut,  wo  er  es 
fand,  ohne  sich  im  mindesten  um  den  uns  modernen 
Menschen  völlig  in  Fleisch  und  Blut  übergegange¬ 
nen  Rechtsbegriff  des  geistigen  Eigentums  zu  küm¬ 
mern.  Wohl  wurde  auch  damals  schon  von  eifer¬ 
süchtigen  Malern  auf  die  Plagiatoren  mit  Fingern 
gewiesen,  aber  meist  nur  dann,  wenn  sie  in  ihrer 
Abschrift  —  natürlich  nach  der  Anschauung  der 
damaligen  Zeit  —  hinter  den  Vorbildern  zurück¬ 
geblieben  waren.  Traute  sich  doch  jeder  von  den 
jugendlichen  Stürmern,  die  nach  Italien  gekommen 
waren,  um  mit  gierigen  Zügen  eine  Welt  von  neuer 
Kunst  einzuschlürfen,  in  seinem  naiven  Selbstbewusst¬ 
sein  die  Fähigkeit  und  die  Kraft  zu,  eine  von  Raf¬ 
fael,  Michelangelo  oder  Tizian  entlehnte  Figur  oder 
Figuren  Verbindung,  ein  Motiv  ,  der  Komposition  oder 
gar  eine  ganze  Komposition  völlig  neu  zu  gestalten 
und  obendrein  noch  viel  besser  zu  machen,  als  es  die 
solcher  Art  Ausgeraubten  vermocht  hatten.  Eine 
der  wenigen  unanfechtbaren  Lehren  der  Kunst¬ 
geschichte  ist  eben  die,  dass  jede  neue  Künstlergene¬ 
ration  die  zuletzt  voraufgegangene  mit  unendlicher 
Verachtung  bestraft  und  ibr  bei  jeder  Gelegenheit 
zu  zeigen  gesucht  hat,  wie  es  besser  zu  machen  wäre. 
Der  junge  Rubens  wird  in  seinem  ohnehin  starken 
Selbstgefühl,  das  sich  schon  sehr  deutlich  in  dem 
Briefe  aus  Valladolid  zu  erkennen  giebt,  worin  er 
so  abfällig  über  die  spanischen  Maler  urteilt,  keine 
Ausnahme  gemacht  Italien,  und  darum  trug  er  auch 
kein  Bedenken,  alles,  was  er  den  Klassikern  abge¬ 
sehen  und  nachgezeichnet  hatte,  je  nach  Bedarf  zu 
verwenden.1)  Das  hat  er  auch  in  den  beiden  figu¬ 
renreichen  Bildern  gethan,  die  in  der  Jesuiten¬ 
kirche  zu  Mantua  zu  beiden  Seiten  der  Anbetung 
der  heiligen  Dreifaltigkeit  aufgestellt  waren.  Obwohl 
sie  nicht  wie  diese  zerschnitten  wurden,  hat  ihnen 
das  Schicksal  noch  übler  mitgespielt.  Sie  wurden 
beide  1707  von  den  französischen  Kunsträubern  ent¬ 
führt.  Aber  nur  das  eine  scheint  wirklich  an  die 
Regierung  abgeliefert  worden  zu  sein,  die  Transfigu¬ 
ration  Christi,  die  sich  schon  1801  im  Museum  zu 

1  Ein«'  große  Anzahl  solcher  Entlehnungen  führt  Edgar 
JJars  in  einer  Abhandlung  ,,Le  sejour  de  Rubens  et  de  van 
J)yck  en  Habe“  (im  XXVIII.  Bande  der  Memoires  der  Aka¬ 
demie  der  Wissenschaften  in  Brüssel),  S.  25  ff.  an. 


Nancy  befand,  das  sie  noch  heute  besitzt.  Dort  ist 
sie  bis  vor  nicht  langer  Zeit  unter  dem  Namen  des 
Deodat  Delmonte  gegangen,  der  Rubens  auf  seiner 
Reise  nach  Italien  begleitet  haben  soll,  obwohl  sie 
schon  in  den  Notizen,  die  den  aus  Italien  entführten 
Kunstwerken  beigegeben  waren,  als  ein  Werk  von 
Rubens,  das  aus  Mantua  stammte,  bezeichnet  worden 
war.1)  In  dem  Fouragemagazin  hatte  es  so  schwer 
gelitten,  dass  am  unteren  Rande  ein  15  cm  breiter 
Streifen  der  Leinwand,  der  in  Fetzen  zerrissen  war, 
ersetzt  werden  musste,  und  auch  im  übrigen  ist  es 
so  stark  restaurirt,  dass  man  nur  im  allgemeinen 
den  ursprünglichen,  auf  eine  dunkle  Skala  gestimm¬ 
ten  Gesamtton  erkennen  kann.  Nach  der  genauen 
Untersuchung  des  Bildes,  die  Charles  Cournault,  der 
Berichterstatter  der  „Chronique  des  Arts“,  angestellt 
hat,  treten  aus  dem  Dunkel  grüne,  rote  und  blaue 
Lokalfarben  hervor,  die  er  als  „durchaus  venezia¬ 
nisch“  in  Anspruch  nimmt.  Das  entspräche  ganz 
der  Reihenfolge  der  Eindrücke,  die  Rubens  bis  1604 
verarbeitet  hatte.  Der  erste  Eindruck,  das  jubili- 
rende  Farbenkonzert  der  Venezianer,  ist  der  stärkste 
geblieben,  und  dann  kam  über  ihn  die  gewaltige 
Macht  des  aus  dem  Vollen  seine  Gottmenschen  her¬ 
ausholenden  Michelangelo  und  die  kluge  Überlegung 
des  RafFael’s  römischer  Zeit.  Aus  diesen  drei  Weis¬ 
heiten  ist  die  „Transfiguration“  zusammengesetzt: 
von  Raffael  hat  Rubens  einige  Figuren  entnommen, 
die  besonders  schön  und  kühn  bewegt  sind,  von 
Michelangelo  den  großen  Zug  in  der  Charakteristik 
und  Gewandung  der  Apostel  und  von  Veronese  und 
Tintoretto  das  feurige  Kolorit,  das  er  jedoch  durch 
einen  Zusatz  von  Caravaggio  auf  einen  für  ein  An¬ 
dachtsbild  passenden  Ernst  herabzustimmen  suchte. 

Noch  stärker  sind  die  Anleihen,  die  Rubens  bei 
dem  zweiten  Seitenbilde,  der  Taufe  Christi,  gemacht 
hat.  Auch  dieses  Bild  wurde  1797  aus  der  Kirche 
entführt;  aber  es  scheint  nicht  in  die  Hände  der 
mit  der  Verteilung  der  geraubten  Kunstschätze  be¬ 
trauten  Behörden  in  Frankreich  gekommen  zu  sein. 
Erst  um  1840  taucht  es  im  Besitze  des  Genter  Kunst¬ 
sammlers  Schamp  d’Aveschoot  auf,  und  nachdem  es 
von  diesem  verkauft  worden,  wechselte  es  noch  meli- 
reremal  den  Besitzer,  bis  es  1876  als  Vermächtnis 
eines  Herrn  Joseph  de  Born  an  das  Museum  zu  Ant¬ 
werpen  kam.  Es  ist  das  einzige,  sicher  bezeugte 
Jugend  werk  des  Meisters,  das  die  Stadt,  die  auf  sei- 

1)  Näheres  in  der  Chronique  des  Arts  1882,  Nr.  38  und 
39.  Der  erste,  der  dieses  Bild  Rubens  zurückgegeben  hat, 
war  Alexander  Pinchart  in  einem  Artikel  des  Bulletin  des 
commissions  royales  d’art  etc.  vom  Jahre  18G8. 


Der  heilige  Gregor  und  andere  Heiligen.  Altarbild  von  P.  P.  Rubens  im  Museum  zu  Grenoble, 


66 


PETER  PAUL  RUBENS. 


nen  Namen  so  stolz  ist,  besitzt.  Der  Zustand  des 
Bildes  ist  fast  noch  trauriger,  als  der  der  beiden 
anderen.  Eine  Zeitlaug  sträubte  man  sich  sogar, 
an  seine  Echtheit  und  an  seine  Identität  mit  dem  ver¬ 
schollenen  Bilde  aus  Mantua  zu  glauben,  weil  unter 
der  schwarzbraunen  Sauce,  in  die  das  Gemälde  er¬ 
tränkt  ist,  niemand  eine  Spur  von  Rubens’  Hand 
zu  erkennen  vermochte,  ln  der  That  wird  auch 
infolge  der  starken  Übermalungen  und  einer  im 
Jahre  1840  unternommenen  Rentoilirung  nicht  viel 
mehr  von  Rubens  auf  der  Leinwand  vorhanden  sein. 
Wir  werden  aber,  was  die  Komposition  betrifft,  ei¬ 
nigermaßen  durch  ein  kostbares  Dokument  entschä¬ 
digt,  das  der  Louvre  in  einer  Zeichnung  besitzt.1) 
Da  sie  sich,  wenn  ihr  Ursprung  auch  nicht  über 
jeden  Zweifel  erhaben  ist,  für  eine  Reproduktion 
besser  eignet,  als  das  Gemälde,  führen  wir  sie  un¬ 
seren  Lesern  vor  Augen  (siehe  die  Abbildung). 
Sie  ist  zugleich  das  am  meisten  charakteristische 
Beispiel  für  die  Abhängigkeit  von  den  italienischen 
Großmeistern  des  16.  Jahrhunderts,  in  der  sich  Ru¬ 
bens  um  diese  Zeit  befand.  Man  hatte  sie  von  jeher 
für  eine  eigenhändige  Arbeit  von  Rubens  gehalten, 
bis  die  neuere  Kritik  darin  eine  Vorlage  für  einen 
nicht  ausgeführten  Kupferstich  erkennen  wollte,  wo¬ 
bei  die  Kritik  noch  zwischen  dem  Kupferstecher 
Vorsterman  und  dem  jungen  van  Dyck  schwankte, 
der  nicht  bloß  diese,  sondern  auch  andere  im  Louvre 
vorhandene  Zeichnungen,  die  von  Vorsterman  und 
anderen  gestochen  worden  sind,  nach  Gemälden  von 
Rubens  ausgeführt  haben  soll.  Da  wir  aus  der  in 
.Betracht  kommenden  Zeit  (etwa  1618 — 1620)  weder 
von  Vorsterman  noch  von  van  Dyck  beglaubigte 
Zeichnungen  besitzen,  musste  sich  jene  Kritik  haupt¬ 
sächlich  auf  den  Umstand  stützen,  dass  die  Zeich¬ 
nung  durch  horizontale  und  vertikale  Linien  in  Qua¬ 
drate  eingeteilt  worden  ist,  die  angeblich  die  Über¬ 
tragung  der  Zeichnung  auf  die  Kupferplatte  er¬ 
leichtern  sollten.  Nun  handelt  es  sich  aber  hier  um 
die  vermeintliche  Vorlage  zu  einem  nicht  ausgeführ¬ 
ten  Kupferstich,  während  gerade  die  Zeichnungen 
im  Louvre,  nach  denen  Lucas  Vorsterman  und  andere 
gestochen  haben ,  nicht  quadrirt  sind.  In  späterer 
Zeit  wurden  von  Rubens  und  van  Dyck  den  Kupfer¬ 
stechern  sogar  in  Ol  gemalte  Grisaillen  geliefert,  weil 
man  ihnen  genug  künstlerisches  Empfinden  zutraute, 
um  die  Vorlagen  auch  ohne  die  Eselsbrücke  der 
Quadrirung  auf  die  Platten  zu  bringen.  Ganz  anders 
liegt  die  Sache,  wenn  man  bei  der  alten  Annahme 

1)  Nr.  048  des  Katalogs  von  F.  Reiset. 


bleibt,  dass  die  Zeichnung  von  Rubens  selbst  in  Ita¬ 
lien  ausgeführt  worden  ist  und  dass  er  sie  in  Qua¬ 
drate  einteilte,  um  sich  oder  Gehilfen,  deren  er  bei 
seiner  Massenproduktion  vielleicht  schon  damals  be¬ 
durfte,  die  Übertragung  auf  die  Leinwand  zu  er¬ 
leichtern.  Wenn  Rubens  als  reifer  Mann  diese  Zeich¬ 
nung  nach  einem  Jugendbilde  hätte  vervielfältigen 
lassen,  hätte  er,  der  sonst  so  kritisch  gegen  seine 
Jugendbilder  gestimmt  war,  sicherlich  den  Figuren 
den  starken  Accent  seines  Selbstbewusstseins,  seiner 
ganz  anders  gewordenen  Gestaltungskraft  mitge¬ 
geben.  In  der  Zeichnung,  die  vor  uns  liegt,  sieht 
man  aber  nur  den  sammelnden  Anfänger,  der  aus 
seinen  Studien  nach  Raffael,  Michelangelo,  Leonardo 
und  anderen  etwas  zusammengebracht  hat,  wovon  er 
gewiss  selber  glaubte,  dass  er  alle  Tugenden  jener 
Meister  auf  einer  Leinwand  eingefangen  hätte.  Die 
Männer,  die  auf  der  rechten  Seite  des  Bildes  be¬ 
flissen  sind,  sich  ihrer  Kleider  zu  entledigen,  er¬ 
innern  auf  den  ersten  Blick  an  Michelangelo’s  be¬ 
rühmten  Karton  zur  Darstellung  der  Schlacht  bei 
Cascina1),  an  die  sogenannten  „badenden  Soldaten“, 
nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  sich  diese,  die  von 
den  Pisanischen  Gegnern  plötzlich  beim  Baden  im 
Arno  überfallen  werden,  in  aller  Hast  ankleiden, 
während  sich  Rubens’  Täuflinge  mit  gleichem,  durch 
die  Beredsamkeit  des  Predigers  entflammten  Eifer 
auskleiden.  Einer  der  Hastigsten,  der  Äußerste  im 
Vordergründe  rechts,  zeigt  dabei  eine  Wut  in  dem 
Ausdruck  des  verkniffenen  Gesichts,  dass  man  an 
die  bekannten,  zu  Rubens’  Zeit  noch  mehr  als  heute 
verbreiteten  Charakterköpfe  Leonardo  da  Vinci’s  er¬ 
innert  wird.  Die  Taufe  Christi  auf  der  linken  Hälfte 
des  Bildes  steht  ersichtlich  unter  dem  Einfluss  eines 
denselben  Gegenstand  darstellenden  Bibelbildes  Raf- 
fael’s  in  den  Loggien  des  Vatikans.  So  ist  die 
Zeichnung  ganz  und  gar  aus  Studienblättern  zusam¬ 
mengesetzt,  und  wenn  sie  einige  Abweichungen  von 
dem  ausgeführten  Bilde  zeigt,  unter  denen  die  be¬ 
deutendste  die  ist,  dass  der  sich  an  den  Baum  leh¬ 
nen  Je  junge  Mann  auf  dem  Bilde  fehlt,  so  trägt 
gerade  dieser  Jüngling  ein  so  spezifisch  italienisches 
Gepräge,  —  man  denkt  auch  hier  an  Raffael  —  dass 
gerade  um  seinetwillen  eine  Entstehung  der  Zeich¬ 
nung  in  späterer  Zeit  abzuweisen  ist.  Dass  Rubens 
während  der  Ausführung  seiner  Gemälde  von  seinen 

1)  Rooses,  L’oeuvre  de  P.  P.  Rubens  II,  pag.  4,  spricht 
von  Michelangelo’s  Schlacht  bei  Anghiari.  Dass  der  Karton 
Michelangelo’s  eine  Episode  aus  der  Schlacht  hei  Cascina 
darstellt,  hat  Thausing  in  dieser  Zeitschrift  (1878,  S.  107  ff.) 
nachgewiesen. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


67 


Entwürfen  nnd  Zeichnungen  abwich,  ist  eine  so  häu¬ 
fige  Erscheinung,  dass  die  Kritik  aus  dem  Fehlen 
dieser  und  jener  Figur  keine  entscheidenden  Schlüsse 
zu  ziehen  berechtigt  ist. 

Noch  ein  anderer  Umstand  spricht  dafür,  dass 
die  Zeichnung  in  Italien  entstanden  ist.  Sie  stimmt 
nämlich  in  der  Technik  wie  in  dem  angewandten 
Material  (schwarze  Kreide)  fast  genau  mit  einer 
zweiten  überein,  deren  Echtheit  ebensowenig  an¬ 
fechtbar  ist,  wie  der  Ort  und  die  Zeit  ihrer  Ent¬ 
stehung.  Damit  kommen  wir  auf  das  dritte  der 
großen  Altarwerke,  die  Rubens  in  Italien  ausge¬ 
führt  hat.  Nachdem  er  noch  bis  Ende  1605  in 
Mantua  geweilt  hatte,  zog  es  ihn  wieder  nach  Rom, 
wo  er  inmitten  des  beständigen  Zusammenflusses  von 
stammverwandten  Künstlern  aus  dem  Norden  einen 
viel  anregenderen  Verkehr  hatte,  als  in  dem  kleinen 
Mantua,  wo  ihn  später  auch  die  Anwesenheit  seines 
Bruders  fesselte,  und  wo  er  bald  auch  einen  großen 
Auftrag  erhielt,  der  ihn  fast  zwei  Jahre  lang  be¬ 
schäftigte,  allerdings  mit  Unterbrechungen,  die 
durch  Reisen  im  Aufträge  seines  Herrn  bedingt 
waren.  Diese  Reisen  und  das  sonstige  Schaffen 
des  Meisters  wollen  wir  im  nächsten  Abschnitt 
unserer  Schilderung  zusammenfassen,  da  bei  dem 
beständigen  Hin  und  Her  zwischen  Rom,  Mantua 
und  anderen  italienischen  Städten  und  bei  der  Schwie¬ 
rigkeit,  die  große  Zahl  der  von  Rubens  in  Italien 
gemalten  Bilder  auf  bestimmte  Jahre  zu  vertei¬ 
len,  eine  streng  chronologische  Darstellung  unmög¬ 
lich  ist. 

Das  Altarbild  war  bei  ihm  von  der  Geistlichkeit 
einer  Kirche  bestellt  worden,  die  von  1575 — 1599 
auf  dem  Boden  eines  abgebrochenen,  unter  dem 
Namen  Santa  Maria  in  Vallicella  bekannten  Gottes¬ 
hauses  erbaut  worden  war  und  darum  im  Volks¬ 
munde  den  Namen  „Chiesa  nuova“  erhalten  hatte. 
In  der  alten  Kirche  wurde  ein  Gnadenbild  der 
Madonna  verehrt,  das,  wie  viele  seinesgleichen, 
auf  den  heiligen  Lukas,  den  ersten  der  Madonnen¬ 
maler,  zurückgeführt  wurde.  Dieses  alte  Bild  sollte 
oben  in  die  Komposition  des  für  den  Hochaltar  be¬ 
stimmten  Bildes  eingelassen  werden,  und  unten  soll¬ 
ten  die  Schutzheiligen  der  Kirche,  in  erster  Linie 
der  kanonisirte  Papst  Gregor  und  dann  einige  Mär¬ 
tyrer  und  Märtyrerinnen,  deren  Gebeine  in  der  Kirche 
auf  bewahrt  wurden,  in  Verehrung  des  wunderthäti- 
gen  Bildes  erscheinen.  Mit  großem  Eifer  warf 
sich  Rubens  auf  diese  Aufgabe;  er  machte  flei¬ 
ßige  Studien  und  Kompositionsversuche,  und  als  das 
Bild  endlich  ganz  unter  römischem  Himmel  voll¬ 


endet  war,  da  der  Herzog  von  Mantua  seinem  Hof¬ 
maler  mit  der  Langmut  eines  wirklich  großherzigen 
Mannes  den  Urlaub  immer  wieder  verlängerte,  stellte 
es  sich  heraus,  dass  das  in  Ol  auf  Leinwand  gemalte 
Bild  für  seinen  Bestimmungsort,  den  Hochaltar  der 
Chiesa  nuova,  ganz  und  gar  nicht  passte,  weil  die 
Beleuchtung  so  schlecht  und  die  Reflexe  so  stark 
waren,  dass  der  aufgewendete  Fleiß  nicht  zur  Geltung 
kam.  Der  Konflikt  zwischen  dem  künstlerischen 
Bewusstsein  des  Malers  und  dem  billigen  Verlangen 
seiner  Auftraggeber  wurde  am  Ende  so  gelöst,  dass 
Rubens  sich  im  Anfang  des  Jahres  1608  dazu  ent¬ 
schloss,  die  Komposition  auf  drei  Bilder  zu  ver¬ 
teilen.  Das  alte  Gnadenbild  kam  auf  den  Hochaltar. 
Dafür  hatte  Rubens  nur  eine  Art  Einfassung  zu 
malen,  die  er  so  gestaltete,  dass  das  von  einem  gol¬ 
denen  Rahmen  umschlossene  Madonnenbild  schein¬ 
bar  von  dreizehn  Engeln  getragen  wurde,  und  unter¬ 
halb  des  Bildes  gruppirte  er  noch  zwei  Halbkreise 
von  größeren  und  kleineren  Engeln,  die  zu  der  Ma¬ 
donna  emporblicken.  Eine  Federzeichnung,  vermut¬ 
lich  der  erste  Entwurf  zu  dieser  Komposition,  be¬ 
findet  sich  in  der  Albertina  zu  Wien,  und  eine  sehr 
fleißig  durchgeführte  Kreidezeichnung  zu  der  oberen 
Hälfte  (s.  die  Abbildung  auf  S.  68)  besitzt  das  Mu¬ 
seum  zu  Grenoble.  Die  auf  der  ersten  Fassung  des 
Bildes  unterhalb  der  Madonna  stehenden  sechs  Hei¬ 
ligen  verwies  Rubens  auf  zwei  besondere  Bilder,  die 
rechts  und  links  vom  Hochaltar,  im  Chor  aufgestellt 
wurden :  auf  das  Bild  zur  Linken  den  Papst  Gregor 
und  die  beiden  römischen,  als  Märtyrer  gestorbenen 
Soldaten  St.  Maurus  und  St.  Papianus,  auf  das  Bild 
zur  Rechten  die  heilige  Domitilla  nnd  die  Heiligen 
Nereus  und  Achilleus.  Obwohl  diese  drei  auf  Schie¬ 
fer  gemalten  Bilder  eine  von  der  ersten  Fassung 
völlig  abweichende  Komposition  zeigen,  —  nur  die 
Gestalt  des  heiligen  Gregor  ist  im  großen  und  ganzen 
unverändert  geblieben  —  konnte  Rubens  schon  am 
28.  Oktober  1608  seinem  Herzoge  anzeigen,  dass  die 
Bilder  vollendet  seien,  und  er  scheint  sich  auf  die 
schnelle  Arbeit  noch  etwas  zu  gute  gethan  zu  haben, 
da  er  beiläufig  bemerkt,  dass  diese  drei  Bilder,  wenn 
er  sich  nicht  täusche,  das  am  wenigsten  schlecht 
Gelungene  von  seiner  Hand  seien.  Freilich  waren 
sie  noch  nicht  enthüllt,  weil  die  marmornen  Ein¬ 
fassungen  noch  nicht  fertig  waren,  und  da  Rubens 
durch  die  Nachricht  von  der  schweren  Erkrankung 
seiner  Mutter  zu  schleuniger  Abreise  gedrängt  wurde, 
hat  er  sie  niemals  in  ihrer  Gesamtwirkung  zu  Ge¬ 
sicht  bekommen. 

Seine  Zeitgenossen,  wenigstens  die,  welche  dieFeder 


68 


PETER  PAUL  RUBENS. 


führten,  scheinen  von  den  Bildern  nicht  so  erbaut 
gewesen  zu  sein,  wie  Rubens  selbst.  Baglione  sagt 
von  dem  ersten  Gemälde,  dass  die  Putten,  die  das 
Bild  der  Madonna  bekränzen,  „sehr  schön“  seien, 
und  dass  das  Ganze  ein  „sehr  gutes  Bild“  (assai 
buon  quadro)  sei,  eine  nichtssagende  Phrase,  die  er 
auch  bei  den  drei  später  aufgestellten  Bildern  an- 


und  in  der  Art  des  Paul  Veronese  ausgeführt  seien, 
und  Sandrart  scheint  das  Mittelbild,  die  Madonna 
mit  den  Engeln,  ganz  und  gar  übersehen  oder  doch 
nicht  für  ein  Werk  von  Rubens  gehalten  zu  haben, 
da  er  nur  von  zwei  neben  dem  Hochaltar  in  der 
Chiesa  nuova  aufgestellten  Bildern  spricht:  „Das 
eine  mit  stehenden  Heiligen,  das  andere  aber  mit 


Madonnenbild  mit  Engeln.  Zeichnung  von  P.  P.  Rubens  im  Museum  zu  Grenoble. 


wendet.1)  Bellori  sagt,  dass  sie  nach  dem  Vorbilde 

lj  Nachdem  Baglione  in  den  Vite  de'  Pittori  etc.  (Nea¬ 
peler  Ausgabe  von  1733,  p.  246)  die  erste  Gestalt  des  Bildes 
flüchtig  beschrieben,  widmet  er  dem  Mittelbilde  der  zweiten 
Fassung  des  Altarwerkes  folgende  Worte:  „Onde-poi  sopra 
l’altare  maggiore  vi  figurö  una  Madonna  col  tigliulo  in 
braccio,  la  quäle  si  leva,  quando  corrono  le  feste  principale, 
.«ccioche  si  velo  l’altro  immagine  antica  miracolosa  della 


den  Heiliginnen  erfüllt,  alles  in  Lebensgröße.“  Noch 
weniger  konnte  sich  die  moderne  Kritik  mit  diesen 

B.  Vergine,  che  qui  vi  si  conserva;  e  sonvi  intorno  diversi 
puttini  e  da  basso  alcuni  Angeli  in  ginocchione,  che  adorano 
il  SS.  Sacramento  e  riverescono  la  B.  Vergine.“  Daraus  geht 
also  hervor,  dass  das  alte  Gnadenbild  nur  an  hohen  Fest¬ 
tagen  gezeigt  wurde,  sonst  aber  durch  ein  anderes,  vermut¬ 
lich  auch  von  Rubens  gemaltes  Madonnenbild  verdeckt  war. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


69 


Bildern,  denen  man  die  Hast  ihrer  Ausführung  in 
jedem  Pinselstriche  anmerkt,  befreunden.  Rooses 
sagt  von  dem  Bilde  des  Hochaltars,  dass  man  „kaum 
Rubens’  Hand  darin  zu  erkennen  vermöge“,  und  von 
den  beiden  Seitenbildern,  dass  das  Kolorit  wohl  an 
die  Venezianer  erinnerte,  dass  sie  aber  nicht  die 
Nachahmung  eines  bestimmten  Meisters  verrieten 
und  im  übrigen  keine  besonders  stark  ausgespro¬ 
chene  Originalität  besäßen.  Ungünstiger  noch  ist 
das  Urteil  des  „Cicerone“:  „Der  Einfluss,  den  die 
Antike  in  Rom  auf  den  Künstler  ausübte,  bekundet 
sich  hier  in  wenig  glücklicher  Weise  in  den  kolos¬ 
salen  Gestalten  der  Heiligen.“ 

Ein  wirkliches,  durch  und  durch  erfreuliches 
Meisterwerk  hat  Rubens  dagegen  in  dem  ersten,  für 
den  Hochaltar  der  Chiesa  nuova  bestimmten  Bilde 
geschaffen.  Freilich  ist  es  zweifelhaft,  ob  es  in  der 
Gestalt,  in  der  wir  es  heute  vor  uns  sehen,  als  ein 
Erzeugnis  seiner  letzten  italienischen  Jahre  anzu¬ 
sehen  ist.  Nachdem  sich  Rubens  entschlossen  hatte, 
das  vollendete  Werk  zurückzuziehen  und  dafür  drei 
neue  zu  malen,  bot  er  ersteres  seinem  Herzoge  zum 
Kaufe  an.  Er  wandte  dabei  seine  ganze  Beredsam¬ 
keit  auf  und  suchte  mit  seinem  ihm  angeborenen 
kaufmännischen  Sinn,  der  sich  im  Laufe  der  Jahre 
zu  immer  größerem  Raffinement  entwickelte,  dem 
Herzoge  das  Angebot  möglichst  verlockend  zu 
machen.  Er  schrieb  ihm  von  der  Pracht  des  Gegen¬ 
standes,  von  der  Herrlichkeit  und  Mannigfaltigkeit 
der  Figuren  junger  Männer  und  Frauen  und  von 
dem  Prunk  ihrer  Gewänder.  „Und  obwohl  alle  Hei¬ 
lige  sind,  haben  sie  doch  kein  besonderes  Abzeichen 
oder  Attribut,  so  dass  sie  auch  für  andere  Heilige 
von  ähnlicher  Art  gelten  könnten.  Im  ganzen  bin 
ich  sicher,  dass  Eure  Hoheiten,  wenn  Sie  das  Bild 
gesehen  haben  werden,  davon  ebenso  vollkommen 
befriedigt  sein  werden,  wie  die  unendliche  Zahl  von 
Personen,  die  es  in  Rom  gesehen  haben.“  Trotzdem, 
dass  Rubens  den  Preis  noch  seinem  Herzog  anheim¬ 
stellte,  hat  sich  dieser  nicht  zu  dem  Ankauf  des 
Bildes  verstanden,  weil  seine  Neigung  als  Privat¬ 
sammler  ihren  Schwerpunkt  auf  einem  anderen  Ge¬ 
biete  fand.  Rubens  musste  das  Bild,  als  ihn  die 
Nachricht  von  der  tödtlichen  Erkrankung  seiner 
Mutter  aus  Rom  so  schnell  abrief,  dass  er  den  letz¬ 
ten  Brief  an  den  Herzog  „im  Begriff,  zu  Pferde  zu 
steigen“  schreiben  musste,  mit  nach  Hause  nehmen. 
Als  er  dann  die  Verpflichtung  fühlte,  das  Andenken 
seiner  Mutter  durch  ein  künstlerisches  Mal  von  seiner 
Hand  zu  ehren,  fiel  seine  Wahl  auf  das  aus  Italien 
heimgebrachte  Bild,  und  er  stiftete  es  für  den  Altar 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  P.  VI.  H.  3. 


des  heiligen  Sakraments  in  der  Abtei  St.  Michael 
in  Antwerpen,  in  dessen  Nähe  seine  Mutter  bei¬ 
gesetzt  worden  war.  Auch  der  Hochaltar  in  der 
Chiesa  nuova  war,  wie  aus  der  Beschreibung  Bag- 
lione’s  hervorzugehen  scheint,  dem  heiligen  Sakra¬ 
ment  geweiht.  Zur  Zeit,  wo  Rubens  dieses  Bild 
stiftete,  war  er  bereits  in  jenem  Umwandlungsprozess 
begriffen,  der  ihn  von  dem  schweren,  bräunlichen 
Schatten  der  späteren  Italiener  zu  einer  farbigeren 
Auffassung  und  zu  einer  freigebigeren  Lichtspendung 
auf  Grund  eines  warmen,  goldigen  Tones  führte. 
Es  ist  darum  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  warme 
Beleuchtung,  durch  die  vornehmlich  die  beiden  Pracht¬ 
gestalten  des  Papstes  Gregor  und  der  heiligen  Domi- 
tilla  von  dem  dunklen  Hintergründe  losgelöst  und 
plastisch  hervorgehoben  werden,  und  die  kraftvolle 
Einheitlichkeit  des  Gesamttones  auf  Übermalungen 
und  Retouchen  zurückzuführen  sind,  die  Rubens  un¬ 
mittelbar  vor  der  1610  erfolgten  Aufstellung  des 
Gemäldes  vorgenommen  hat.  Immerhin  darf  es  uns, 
wenigstens  was  die  Komposition ,  die  Majestät  der 
beiden  Hauptfiguren  Gregor  und  Domitilla  und  das 
Rubens’sclie  Lieblingsmotiv,  die  eine  Guirlande  um 
das  Madonnenbild  schlingenden  Engel,  anbetrifft, 
nicht  nur  als  Rubens’  Hauptwerk  aus  seiner  italie¬ 
nischen  Zeit,  sondern  überhaupt  als  eines  seiner  an¬ 
ziehendsten  und  liebenswürdigsten  Werke  gelten. 
Leider  ist  es  nicht  der  Stätte  erhalten  geblieben, 
für  die  es  kindliche  Pietät  geweiht  hatte.  Im  Jahre 
1794  wurde  es  von  den  Franzosen  nach  Paris  ent¬ 
führt  und  durch  kaiserliches  Dekret  vom  15.  Februar 
1811  dem  Museum  zu  Grenoble  überwiesen,  dessen 
schönste  Zier  es  heute  bildet.  „Es  ist  der  empfind¬ 
lichste  Verlust“,  sagt  Rooses  in  seinem  Rubenswerk, 
„den  Antwerpen  an  Gemälden  von  Rubens  infolge 
des  Einfalls  der  Franzosen  erlitten  hat.  Man  darf 
erstaunt  sein,  dass  die  Verwaltung  des  Louvre  nicht 
eifersüchtiger  darauf  bestanden  hat,  dieses  Meister¬ 
werk  dem  Museum  der  Hauptstadt  zu  erhalten. 
Dieser  Laune  verdanken  wir  den  Verlust  des  Ge¬ 
mäldes,  welches  mit  den  anderen  Werken  des  Mei¬ 
sters  zu  uns  zurückgekehrt  sein  würde,  wenn  es  in 
Paris  geblieben  wäre.“  So  hat  es  mit  einer  nicht 
geringen  Anzahl  von  Kunstgegenständen,  die  aus 
Italien  und  Deutschland  geraubt  worden  sind,  das 
Los  geteilt,  in  einem  französischen  Provinzialmuseum 
vergessen  zu  werden.  Durch  welchen  Zufall  der 
Entwurf  zu  der  oberen  Hälfte  des  später  ausgeführ¬ 
ten  Mittelbildes  ebenfalls  in  das  Museum  zu  Grenoble 
gekommen  ist,  kann  nicht  mehr  ermittelt  werden. 

Unser  Holzschnitt  (s.  die  Abbildung  S.  65)  über- 

10 


70 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


liebt  uns  einer  weiteren  Beschreibung  der  Kompo¬ 
sition,  die  auch  in  ihrer  schlichten  Wiedergabe  die 
Hoheit  der  Auffassung,  die  das  ganze  Bild  durch¬ 
dringt,  widerspiegelt  und  etwas  von  der  Pracht 
des  Kolorits  ahnen  lässt.1)  In  den  beiden  Haupt¬ 
figuren  ist  Rubens  freilich  auch  hier  noch  von  den 
Venezianern,  in  der  Figur  des  heiligen  Maurus  im 
Vordergründe  links  sogar  von  Correggio  abhängig.2) 


1)  Da  eine  im  Besitze  des  Verf.  befindliche  Original¬ 
photographie  für  eine  Reproduktion  zu  undeutlich  ist,  haben 
wir  den  Holzschnitt  nach  einer  Lithographie  von  Lemercier 
anfertigen  lassen,  die,  wie  sich  aus  dem  Vergleich  mit  der 
Photographie  erkennen  lässt,  das  Gemälde  mit  außerordent¬ 
licher  Treue  wiedergiebt. 

2)  Rooses  (L’oeuvre  II,  p.  274)  macht  darauf  aufmerk  - 


Aber  in  den  köstlichen  Engelsbübchen,  die  in  kind¬ 
lichem  Spiel  die  Guirlande  um  das  Madonnenbild 
schlingen,  ist  er  schon  ganz  er  selbst.  Welch  mäch¬ 
tiger  Aufschwung  von  den  Engelsfiguren  auf  dem 
Jugendbilde  der  Verkündigung  in  der  Wiener  Galerie 
(s.  o.  S.  133)  zu  dieser  schon  echt  Rubens’schen  For¬ 
mensprache,  die  aber  erst  etwa  zehn  Jahre  später 
in  dem  berühmten  Engelkranze  der  Münchener  Pina¬ 
kothek  ihren  edelsten  Wohllaut  fand. 


sam ,  dass  der  heil.  Maurus  dem  heil.  Georg  auf  dem  be¬ 
kannten  Bilde  Correggio’s  in  der  Dresdener  Galerie  nach¬ 
gebildet  worden  ist.  Eine  von  Rubens  ausgeführte  Zeich¬ 
nung  nach  diesem  Bilde,  das  sich  bis  1649  in  der  Kirche 
San  Pietro  Martire  in  Modena  befand,  besitzt  die  Albertina 
zu  Wien. 


ALTE  KUNSTWERKE 

IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 

VON  W.  BODE. 

(Schluss.) 


IE  Privatsammlungen  in  den 
Vereinigten  Staaten  sind  den 
öffentlichen  Sammlungen  fast 
nach  allen  Richtungen  — 
von  Nachbildungen  abge¬ 
sehen  —  entschieden  über¬ 
legen;  sind  doch  die  letz¬ 
teren  auch  fast  ausschließlich 
aus  der  Opferwilligkeit  der  Privatleute  und  insbeson¬ 
dere  der  Privatsammler  entstanden.  Fast  alle  diese 
Sammlungen  datiren  erst  aus  jüngster  Zeit;  dass  eine 
bedeutende  Sammlung  in  zweiter  Hand  sich  noch  er¬ 
hält,  ist  beinahe  die  Ausnahme,  da  es  löbliche  Regel 
ist,  dass  dieselbe  beim  Tode  des  Sammlers  an  die 
öffentlichen  Museen  überwiesen  wird  oder  anderenfalls 
zur  Versteigerung  kommt.  Im  allgemeinen  gilt  von 
diesen  Sammlungen,  wie  von  den  öffentlichen,  dass 
sie,  je  jünger,  um  so  gewählter  sind.  Eine  glän¬ 
zende  Ausnahme  machen  die  Sammlungen  eines 
Mannes ,  der  schon  seit  fast  vierzig  Jahren  ganz 
unabhängig,  nur  nach  seinem  Geschmack  und  aus¬ 
schließlich  zur  Befriedigung  seines  Kunstgenusses 
gesammelt  hat,  wo  Zeit  und  Ort  ihm  die  Gelegen¬ 
heit  boten,  Mr.  Quincy  A.  Shaw  in  Boston.  Ob¬ 
gleich  Mr.  Shaw  nach  amerikanischen  Verhält¬ 
nissen  nur  mäßige  Summen  auf  seine  Kunstwerke 
verwendet  hat,  obgleich  er  nie  nach  großen  Namen 


gekauft  hat,  verdient  seine  Sammlung  als  Ganzes 
meines  Erachtens  doch  die  bedeutendste  Privatsamm¬ 
lung  in  den  Vereinigten  Staaten  genannt  zu  werden. 
Seine  japanischen  Kunstwerke:  die  Lackarbeiten, 
Stichblätter,  Messergriffe,  Fayencen,  Kakemono,  Netz- 
kis,  sowie  die  altitalienischen  Skulpturen,  seine  Gemäl¬ 
de  von  alten  Meistern  wie  die  französischen  Bilder  der 
Schule  von  Barbizon  sind  fast  ausnahmslos  mit  dem 
reinsten,  völlig  geläuterten  Kunstgeschmack  gewählt. 
Ich  habe  erst  hier  in  dem  bescheidenen  Hause  in 
Jamaica  Plans  in  der  herrlichen  landschaftlichen 
Umgebung  einen  vollen  Begriff  davon  bekommen, 
was  das  „paysage  intime“  in  Frankreich  zu  leisten  im 
stände  war:  von  Corot,  Rousseau,  Troyon  sind  von 
jedem  eine  Anzahl  ihrer  Meisterwerke  vorhanden;  von 
Daubigny  nur  ein  Bild,  aber  wohl  das  schönste,  das 
er  gemalt  hat;  von  J.  Fr.  Millet  besitzt  Mr.  Shaw 
eine  solche  Fülle  von  Ölgemälden,  Pastellen  und 
durchgeführten  Zeichnungen  (nahezu  100),  wie  sie 
sämtliche  Museen  und  Privatsammlungen  Frankreichs 
zusammen  kaum  noch  aufzuweisen  haben.  Diese 
zeigen  den  Künstler  in  solcher  Mannigfaltigkeit  und 
auf  einer  Höhe  seiner  Kunst,  dass  mir  erst  hier  die 
souveräne  Überlegenheit  dieses  Meisters  über  alle 
anderen  Maler  der  neueren  Zeit  zu  vollem  Bewusst¬ 
sein  gekommen  ist. 

Die  alten  Gemälde  und  einige  wenige  italienische 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


71. 


Skulpturen  des  Quattrocento  hat  Mr.  Shaw  bei  ein¬ 
zelnen  kurzen  Besuchen  in  Europa  erworben;  neben 
seinem  scharfen  Blick  hat  ihn  dabei  ein  seltenes 
Glück  begleitet.  Von  Altitalienern  ist  ein  anspre¬ 
chendes  Porträt  eines  Mantuaner  Prinzen  bemerkens¬ 
wert,  das  Werk  eines  Ferraresen  in  der  Art  des 
Cossa;  daneben  besonders  gute  Madonnenbilder  von 
Mainardi,  Fr.  Francia  (mit  der  Inschrift:  Jacobus 
Gambarus  per  Francionem  aurifabrum  hoc  opus  fieri 
curavit.  1495.),  Cima,  eine  Anbetung  des  Kindes  von 
Raffaellino,  größere  Werke  von  Tintoretto,  Paolo  Vero¬ 
nese  und  Francesco  Vecellio.  Eine  Kopie  der  büßen¬ 
den  Magdalena  Correggio’s ,  auf  Kupfer,  in  der  Malerei 
noch  aus  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts, 
ist  dem  Exemplar  in  Dresden  gewachsen.  Das  Bild¬ 
nis  eines  deutschen  Fürsten  von  B.  Strigel  ist  durch 
seine  schöne  Färbung  ausgezeichnet.  Eine  Studie 
von  Claude ,  auf  Papier  in  01  gemalt,  ist  in  der 
Wahrheit  der  Beobachtung,  in  der  Zartheit  der 
Linien,  in  der  Delikatesse  des  Tons,  in  der  Feinheit 
der  Durchführung  fast  allen  seinen  fertigen  Gemäl¬ 
den  überlegen.  Und  doch  ist  es  nur  eine  Vedute 
vor  den  Thoren  Roms.  Ein  Mädchenkopf  von  Grenze 
erscheint  hier  etwas  fremdartig  zwischen  den  ernsten 
Werken  der  großen  Kunst;  das  Bildchen  hat  aber 
einen  Affektionswert  für  den  Besitzer  durch  die 
Übereinstimmung  des  anmutigen  Köpfchens  mit 
den  Zügen  eines  verstorbenen  Kindes.  LTnter  den 
niederländischen  Bildern  erschienen  mir  besonders 
beachtenswert:  eine  Skizze  der  Danae  von  Rubens, 
zwei  kleine  Studienköpfe  von  Rembrandt,  um  1645 
entstanden  (der  eine  merkwürdigerweise  fast  ge¬ 
nau  derselbe,  der  sich  auch  im  Louvre,  in  Kassel 
und  in  Bridgewater  Gallery  findet),  ein  Paulus 
Potter  (ein  Apfelschimmel  in  Landschaft),  kleine  Bilder 
von  A.  v.  Ostade ,  G.  Dou,  Ochterfeld ,  J.  van  Ruisdael, 
A.  van  de  Velde ,  vor  allem  ein  trefflicher  lebensgroßer 
Studienkopf  einer  alten  Frau  von  Frans  Hals,  eines 
der  ausgezeichnetsten  Werke  des  Künstlers. 

Mr.  Quincy  Shaw  hat  in  Italien  einige  Bildwerke 
zu  erwerben  gewusst,  um  deren  Besitz  ihn  jedes 
Museum  beneiden  wird:  ein  Marmorrelief  der  Ma¬ 
donna  von  Bellano,  ein  spätes  und  wohl  das  anmutigste 
Werk  dieses  Künstlers;  von  Verrocchio  ein  großes 
Marmorrelief  der  Madonna  mit  einem  Engel  zur 
Seite,  sowie  eine  unbemalte  Thonbüste  des  jungen 
Lorenzo  Magnifico;  von  Luca  della  Robbia  eine  Ma¬ 
donna  in  einer  farbig  dekorirten  Nische  mit  der  alten 
Vergoldung,  eine  holdselige  Komposition,  wie  sie 
selbst  Luca  nur  wenige  geschaffen  hat,  fast  genau 
übereinstimmend  mit  einem  andern  Relief,  das  aus 


der  Sammlung  Gavet  in  Paris  kürzlich  gleichfalls 
nach  Amerika  gekommen  ist. 

Von  hervorragenden  älteren  Gemälden  sind  mir  in 
Boston  außerdem  nur  ein  paar  Bildnisse  von  Mann  und 
Frau  von  Rembrandt  bekannt  geworden,  die  der  ver¬ 
storbene  Fred.  Arnes  aus  der  Sammlung  der  Princesse 
de  Sagan  erworben  hat,  ein  paar  vorzügliche  Werke 
der  früheren  Zeit,  von  tadelloser  Erhaltung  (Nr.  34). 

In  New  York  sind  die  Sammlungen  alter  Kunst 
weit  zahlreicher  als  in  Boston.  Soweit  sie  von  Be¬ 
deutung,  sind  sie  sämtlich  jungen  Datums.  Weit¬ 
aus  die  wichtigste,  obgleich  sehr  beschränkt  in 
der  Zahl,  ist  die  Bildersammlung  des  Herrn  Ilave- 
meyer,  die  in  seinem  interessanten,  von  Louis  Tiffany 
eingerichteten  Hause  aufgestellt  ist.  Einer  der  Haupt¬ 
räume  ist,  von  ein  paar  ganz  kleinen  Bildern  abge¬ 
sehen,  ganz  mit  Bildnissen  von  Rembrandt’ s  Hand 
geschmückt.  Acht  lebensgroße  Porträts,  meist  Knie¬ 
stücke,  das  ist  ein  Wandschmuck,  wie  ihn  kein  Palast 
auf  dem  alten  Kontinent,  wie  ihn  selbst  nur  wenige 
öffentliche  Galerieen  aufweisen  können.  Alle  diese 
Bilder  sind  in  dem  kurzen  Zeitraum  von  etwa  drei 
Jahren  erworben.  Zuerst  der  berühmte  sogenannte 
„Doreur“,  schon  in  der  Vente  Morny  mit  155000 
Franken  bezahlt,  ein  Wunderwerk  in  der  email¬ 
artigen  Leuchtkraft  und  Durchbildung,  in  dem 
klaren,  blonden  Ton  des  Fleisches  (Nr.  40).  Bald 
darauf  hat  Herr  Havemeyer  ein  paar  stattliche  Bilder 
aus  der  Familie  Beresteyn,  Bildnisse  von  Mann  und 
Frau,  erworben;  Werke  aus  der  ersten  Zeit  nach 
seinerÜbersiedelung  nach  Amsterdam  (1632)  und  daher 
besonders  stark  unter  dem  Einflüsse  der  älteren  Amster¬ 
damer  Bildnismaler,  des  Nicolaus  Elias  und  Thomas 
de  Keyser.  Aus  demselben  Jahre  stammt  noch  ein 
ähnliches  männliches  Bildnis  der  Sammlung,  welches 
vor  etwa  zehn  Jahren  mit  der  Sammlung  Boesch  in 
Wien  unter  dem  Namen  „Le  Tresorier“  versteigert 
wurde.  Eine  spätere  Erwerbung  in  Paris  ist  das  außer¬ 
ordentlich  liebevoll  durchgeführte  Bildnis  der  alten 
Frau  vom  Jahre  1640,  das  in  Paris  rasch  hinterein¬ 
ander  seine  Besitzer  gewechselt  hat  (Narisclikin,  Beur- 
nonville,  R.  Kann),  und  von  dem  eine  vorzügliche 
Kopie  in  der  Sammlung  von  Lord  Yarborough  zu 
London  sich  befindet.  Die  letzte  und  bedeutendste 
Erwerbung  waren  die  drei  Hauptbilder  Rembrandt’s 
aus  der  Galerie  der  Princesse  de  Sagan,  der  sog. 
Tulp  vom  Jahre  1641,  und  die  großen  Bildnisse 
eines  jungen,  reich  gekleideten  Mannes  mit  seiner 
schönen  Gattin,  vom  Jahre  1643;  beide  zu  den  an¬ 
mutigsten  Bildnissen  gehörend,  die  Rembrandt  ge¬ 
malt  hat,  dem  gleichzeitig  entstandenen  Ehepaar  in 

10* 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


Grosvenor  Gallery  ganz  verwandt  und  ebenbürtig. 
Zur  Seite  dieser  Prachtwerke  hängt  das  herrliche 
Bild  des  Pieter  de  Hooch,  das  Interieur  der  Sammlung 
Secretan  (früher  Delessert),  das  W.  Bürger  als  Haupt¬ 
werk  des  J.  Vermeer  in  Anspruch  nahm.  Neben 
diesen  Bildern  füllen  noch  ein  paar  kostbare  kleine 
Bildnisse  von  F.  Hals  (1626,  von  der  Vente  Secre- 


Poilrät  l  ines  jungen  Mannes  von  Rembrandt  vom  Jahre  1643. 
Sammlung  Havemeyer  in  New  York. 


tan),  ein  farbenprächtiger  W.  Kalf  und  ein  nicht 
ganz  ebenbürtiges  kleines  Familienbild  unter  der  irr¬ 
tümlichen  Bezeichnung  P.  Codde  die  Lücken  an  den 
W  änden  aus.  In  den  oberen  Räumen  sind  nur  noch 
einige  alte  Bilder:  ein  Fluss  von  /.  van  Cappelle ,  ein 
Abend  von  A.  van  der  Neer,  eine  Fernsicht  von  A.  Cuyp 
( Vente  Secretan)  und  eine  Köchin  von  G.  Metsu. 
Auch  in  diesem  mit  größter  malerischer  Pracht  aus¬ 
gestatteten  Hanse  fehlen  ebensowenig  die  Meister¬ 


werke  der  französischen  Schule  (darunter  ein  ganzes 
Zimmer  mit  Aquarellen  von  Barye)  wie  die  gewähl¬ 
testen  Stücke  japanischen  Thongutes,  chinesischen 
Porzellans,  japanische  und  chinesische  Bronzen  und 
römische  und  griechische  Gläser. 

In  den  übrigen  Sammlungen  New-York’s  sind 
die  alten  Bilder  noch  sparsamer  zwischen  modernen 

Bildern,  vorwiegend  aus 
der  Schule  von  Barbizon, 
zerstreut  und  als  Wand¬ 
schmuck  der  Zimmer  ne¬ 
ben  chinesischen  und  ja¬ 
panischen  Kunstwerken 
und  Werken  der  antiken 
Kleinkunst  verwendet. 
Mr.  Jessup,  der  liberale 
Gönner  des  Naturhisto¬ 
rischen  Museums,  besitzt 
von  Rembrandt  die  Bild¬ 
nisse  eines  jungen  Ehe¬ 
paares,  frühere  Werke  aus 
dem  Jahre  1633  oder 
1634,  die  mir  von  Europa 
her  nicht  bekannt  oder 
wenigstens  nicht  erinner¬ 
lich  waren.  Außerdem 
ein  gutes  frühes  Bild  von 
Jacob  van  Ruisdael  (unter 
Hobbema’s  Namen)  und 
einfarbiges  großes  Haupt¬ 
werk  seines  Onkels  Salo- 
mon.  Ein  vereinzeltes  Bild 
von  Rembrandt,  das  große 
Brustbild  seines  Vaters 
aus  der  Sammlung  Beres- 
ford  Hope  (vom  Jahre 
1630  oder  1631)  besitzt 
Mr.  Beers.  Bei  Robert 
Hoe  befindet  sich  außer 
einem  feinen  P.  Codde, 
einer  Komposition  mit 
zwei  Figuren,  einer  ein¬ 
zelnen  Figur  von  G.  Metsu  und  einer  Anbetung 
der  Könige  aus  der  Werkstatt  von  B.  van  Orley  ein 
interessantes  Bild  von  Rembrandt:  ein  Kind  von  etwa 
vierzehn  Jahren,  das  dem  Beschauer  eine  Medaille  zeigt, 
etwa  1637  entstanden.  Der  Maler  Chase  besitzt  neben 
den  ausgezeichneten  Kopieen,  die  er  selbst  nach  einigen 
Hauptwerken  von  F.  Hals  und  Velazquez  angefertigt 
hat,  ein  sehr  reizvolles  Kinderporträt  in  ganzer  Figur 
von  Santvoort,  ein  sehr  gutes  kleines  Männerbildnis  des 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


73 


Clouei- artigen  Meisters,  der  im  Belvedere  zu  Wien 
als  Amberger  galt,  sowie  namentlich  ein  breit  und 
frisch  in  der  Farbe  behandeltes  kleines  Familienbild 
von  Thomas  de  Keyser.  Ein  Selbstbildnis  Rembrandt’s 
aus  dem  Jahre  1635  oder  1636,  nicht  vorteilhaft  auf¬ 
gefasst,  aber  keck  und  malerisch  in  der  Behandlung, 
besitzt  Mr.  Ingles  (aus  Hamilton  Palace  stammend). 
Derselbe  ist  auch  der 


glückliche  Besitzer  eines 
ganz  hervorragenden  P. 
de  Hooch,  „Die  Wäsche¬ 
rinnen  am  Brunnen“,  ein 
Bild  von  einer  Tiefe  und 
Kraft  der  Farbe,  dass  es 
noch  an  die  beste  Zeit 
des  N.  Maes  erinnert;  da¬ 
neben  einige  gute  Por¬ 
träts  von  F.  Bol,  Th.  de 
Keyser  etc. 

Im  Besitz  von  Mr. 

Stewart  Smith  fand  ich 
ein  frühes  eigentümliches 
Werk  Rembrandt1  s  wieder, 
das  ich  aus  Lord  Palmer- 
ston’s  Besitz  kannte:  das 
Brustbild  Johannes’  des 
Täufers  vom  Jahre  1632. 

Derselbe  Sammler  hat  ein 
größeres  Genrebild  von 
Frans  Hals,  zwei  singen¬ 
de  Knaben,  ein  paar  nette 
Landschaften  von  D.  Te- 
niers  (1646),  und  ein 
Genrebild  desselben  Meis¬ 
ters,  eine  Landschaft  von 
Jan  van  Goyen  aus  dem 
Jahre  1638,  zwei  kleine 
Ansichten  aus  Venedig 
von  Guar  di ,  neben  eini¬ 
gen  guten  Bildern  von 
Troyon,  Daubigny  u.  a. 
französischen  Malern.  Be¬ 
sonders  gewählt  sind  die  Meister  der  Schule  von 
Barbizon  im  Hause  von  Mr.  Garland  (namentlich 
Troyon  und  Breton),  das  mit  vorzüglichen  franzö¬ 
sischen  Möbeln  des  vorigen  Jahrhunderts  ausgestattet 
ist  und  die  reichste  und  gewählteste  Sammlung  von 
chinesischem  Porzellan  enthält,  die  ich  je  neben  der 
meines  Freundes  George  Salting  in  London  gesehen 
habe.  Vorzüglich  sind  auch  die  Stücke  in  Jade, 
chinesischem  und  antikem  Glas,  die  derselbe  Herr 


besitzt.  Ein  ungewöhnlich  großes  und  ausgezeichnetes 
Jugendbild  Rembrandt’s,  das  lebensgroße  Kniestück 
eines  Orientalen  (vom  Jahre  1632),  das  sich  früher 
im  Orwell-Park  in  England  befand,  besitzt  jetzt  ein 
van  der  Bilt’scher  Schwiegersohn,  Mr.  H.M’Twombley. 
Der  „Admiral“  Rembrandt'’  s  aus  der  Sammlung  Crabbe 
in  Brüssel  (v.  J.  1658)  ist  noch  im  Besitz  der  Erben 


des  Kunsthändlers  Schauß,  der  das  Bild  in  der  Ver¬ 
steigerung  erwarb.  Ein  anderes,  etwas  früher  nach 
Amerika  gebrachtes  Bild  Rembrandt’ s,  das  unter  dem 
Namen  „l’homme  ä  l’armure“  bekannte  Bildnis  aus 
der  Sammlung  Demidoff  (um  1635)  ist  neuerdings 
in  den  Besitz  eines  Mr.  Sutton  übergegangen,  der  es 
einer  von  ihm  in  einer  Stadt  des  Innern  begründeten 
öffentlichen  Sammlung  zu  schenken  beabsichtigt. 
Eine  größere  Sammlung,  namentlich  von  Kleinmeistern 


Porträt  einer  jungen  Frau  von  Rembrandt  vom  Jahre  1643. 
Sammlung  Havemeyer  in  New  York. 


74  ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


der  niederländischen  Schulen,  die  ich  leider  nicht 
mehr  sehen  konnte,  hat  Mr.  C.  Lambert  zusammen¬ 
gebracht;  darin  befinden  sich  u.  a.  die  bekannten  Fünf 
Sinne  von  D.  Teniers  aus  der  Sammlung  Secretan.  — 
Chicago  besitzt  bis  jetzt  nur  Eine  größere  Samm¬ 
lung  alter  Gemälde,  die  von  Mr.  Charles  T.  Yerkes; 
und  diese  Sammlung  wird  die  „Weiße  Stadt“  auch 


in  nächster  Zeit  verlieren,  da  Mr.  Yerkes  im  Begriff 
ist,  in  sein  neues  Heim  am  Stadtpark  in  New  York 
überzusiedeln.  Doch  soll  die  Sammlung,  wie  ich  höre, 
auf  die  Dauer  der  Heimatsstadt  des  Besitzers  ge¬ 
sichert  sein.  In  dieser  Galerie  begegnen  uns  aller¬ 
dings,  was  in  anderen  der  neueren  Bildersamm¬ 
lungen  in  den  Vereinigten  Staaten  selten  der  Fall 
ist,  neben  echten  und  ausgezeichneten  Werken  ge¬ 
ringwertige  Bilder  oder  selbst  Fälschungen  unter 


großen  Namen.  Doch  sind  dies  verhältnismäßig  nur 
wenige  Bilder,  die  der  Besitzer  gewiss  über  kurz 
oder  laug  ausscheiden  und  durch  hervorragende  Ori¬ 
ginale  ersetzen  wird.  Immerhin  ist  die  Sammlung  auch 
jetzt  schon  eine  sehr  bemerkenswerte.  Die  Bilder  ge¬ 
hören,  bis  auf  ein  vortreffliches  großes  Bild  von  F. 
Boucher  und  ein  paar  reizende  kleine  Bildnisse  unter 

Clouet’s  Namen,  der  hol¬ 
ländischen  Schule  an. 
Von  Rembrandt  besitzt 
die  Sammlung  vier  echte 
Werke:  eine  kleine  Auf¬ 
erweckung  des  Lazarus, 
der  bekannten  Radirung 
ähnlich  (um  1629),  der 
Offizier  mit  dem  Gewehr 
vom  Jahre  1632,  das  far¬ 
bige  Brustbild  eines  „Rab¬ 
biners“  (um  1635,  aus 
Leigh  Court  stammend), 
endlich  das  sehr  eigen¬ 
tümliche,  malerische  Bild 
von  Philemon  und  Baucis 
aus  dem  Jahre  1655.  Die 
Bilder  von  Frans  Hals 
sind  mindestens  von  glei¬ 
cher  Bedeutung:  das  gro¬ 
ße  Kniestück  einer  sitzen¬ 
den  alten  Frau,  mit  einem 
Buch  in  der  Hand,  aus 
dem  Jahre  1635,  höchst 
lebensvoll  und  dabei  fast 
sorgfältig  in  der  Durch¬ 
führung;  sowie  zwei  hell¬ 
blonde  Kinderköpfe  von 
sehr  reizvoller  Farben¬ 
wirkung  und  geistreicher 
Behandlung,  erst  kürzlich 
aus  einer  Privatsammlung 
in  Mecklenburg  erworben. 
Von  G.  Terborcli  das  „Glas 
Limonade“  von  der  Vente 
Beurnouville;  von  G.  Metsu  ein  junges  Mädchen  im 
Boudoir;  von  Jan  Steen  drei  Gemälde,  darunter  zwei 
ersten  Ranges;  ein  paar  Bilder  von  A.  van  Ostade, 
worunter  eines  seiner  bedeutendsten  Werke  (aus  der 
Vente  Demidoff) ;  zwei  Bilder  von  G.  Don ,  zwei  von 
Pieter  de  IJooch ,  jedoch  aus  seiner  späteren  Zeit, 
Bilder  von  Jan  Both,  Jan  van  der  Heyde  u.  s.  f. 

In  verschiedenen  Häusern  der  Kunstfreunde  und 
Mäcene  Chicago’s  sind  zwar  nicht  eigentliche  Samm- 


Portriit  einer  alten  Frau  von  Remtirandt  vom  Jahre  1G40. 
Sammlung  Havemeyer  in  New  York. 


\  erkiindigung.  Gobelin;  italienisch,  XV.  Jalirli.  (Ferrara).  Aus  der  Sammlung  Spitzer.  Im  Besitze  des  Herrn  M. 


76 


ALTE  KUNSTWERKE  IN  DEN  SAMMLUNGEN  DER  VEREINIGTEN  STAATEN. 


langen,  so  doch  eine  kleinere  Zahl  von  guten  Bildern 
alter  Meister  vorhanden,  die  sich  wohl  bald  zu  Ga- 
lerieen  erweitern  werden.  So  besitzt  Mr.  W.  Ellsworth 
in  seinem  sehr  originell  eingerichteten  Hause  neben 
vielen  hervorragenden  Bildern  der  neuesten  amerika¬ 
nischen  Schule,  guten  antiken  Gläsern,  Vasen,  Terra¬ 
kotten  und  chinesischem  Porzellan,  das  unter  dem  Na¬ 
men  Tulp  bekannte,  tüchtige  frühe  Männerbildnis  Rem- 
brandt’s  aus  der  Sammlung  Sagan  (1632).  Mr.  Charles 
L.  Hutscliinsons  behagliches  Heim  ist  geschmückt  mit 
dem  durch  Jaccjuemart’s  Radirung  berühmten  kleinen 
Brustbild  des  Junkers  Heythuysen  von  Frans  Hals , 
mit  ein  paar  kleinen,  dem  Rembrandt  nahe  kommenden 
Bildnissen  von  N.  Maes  (aus  der  Sammlung  Roth  an), 
einem  vorzüglichen  späteren  Bildnisse  von  J.  G.  Cuyp , 

1 1649),  ein  paar  Bildnissen  von  D.  Teniers,  C.  Netscher 
u.  a.  m.  Mr.  Charles  I).  Hamill  besitzt  u.  a.  eine 
geistreiche,  monochrom  behandelte  Landschaft  von 
Jan  van  Goyen  (datirt  1646);  Mr.  Allison  V.  Armour 
ein  größeres  treffliches  Bild  von  Goyen  aus  dem¬ 
selben  Jahre,  einen  Waldesrand  mit  Vieh  von 
Jacob  van  Ruisdael  d.  j.,  und  ein  Bildnis  von  F.  Bol, 
das  sich  in  der  Sammlung  Gsell  in  Wien  unter 
Rembrandt’s  Namen  befand,  Mr.  Martin  A.  Ryerson 
hat  sich  aus  der  Sammlung  der  Fürstin  Demidoff 
ein  paar  vorzügliche  Bilder  ausgewählt:  „Am  Pear“ 
von  Jan  van  Cappelle  (datirt  1651),  und  das  Concert 
von  Jacob  Ochtcrvelt;  außerdem  besitzt  er  die  inter¬ 
essanten  Predellenbildchen,  die  in  der  Versteigerung 
Dudley  unter  Perugino’s  Namen  gingen,  den  Studien¬ 
kopf  des  Alessandro  de’  Medici  von  Bronzino  (zu 
dem  Bilde  im  Besitz  des  Fürsten  Liechtenstein),  einen 
guten  A.  van  Oslade  und  nebenher  eine  ganz  gewählte 
Sammlung  kunstgewerblicher  Gegenstände,  die  jüngst 
in  der  Versteigerung  Spitzer  erworben  wurde:  darunter 
den  herrlichen  ferraresischen  Gobelin  der  Verkün¬ 
digung,  eine  Anzahl  vorzüglicher,  meist  ornamental 
dekorirter  Majoliken,  deutsche  Krüge,  griechische 
Vasen,  Gläser  u.  s.  f. 

Ein  Ausflug  nach  Montreal,  den  ich  der  Gast¬ 
freundschaft  von  Mr.  van  Ilorne  verdanke,  hat  mich 
auch  in  Canada  mit  einer  Anzahl  vorzüglicher  alter 
Bilder  bekannt  gemacht.  Mr.  George  A.  Drummond 
besitzt  vor  allem  ein  sehr  groß  gehaltenes  Männer¬ 
bildnis  von  Frans  Hals,  aus  dem  Jahre  1643;  außer¬ 


dem  Bilder  von  Jan  Both ,  J.  van  Goyen  (1643),  Goya, 
van  Os  u.  s.  f.  Mr.  R.  B.  Angus  besitzt  ein  hervor¬ 
ragendes  Brustbild  einer  anmutigen  jungen  Frau,  ein 
ganz  malerisch  behandeltes  Werk  der  letzten  Zeit  Rem¬ 
brandt’s,  die  Studie  zu  dem  köstlichen  großen  Frauen¬ 
bildnis  im  Besitz  von  Mr.  R.  Kann  in  Paris;  so¬ 
dann  von  Frans  Hals  das  bekannte  kleine  Fami¬ 
lienporträt  der  Sammlung  Secretan,  einen  breit  und 
geistreich  behandelten  kleinen  Studienkopf  eines 
jungen  Mädchens  von  Gerard  Dou,  eine  Reihe  guter 
Porträts  von  Sir  J.  Reynolds,  Gainsborough ,  Romney 
u.  a.  Bei  Sir  Donald  Smith  befinden  sich  unter  vielen 
geringen  Bildern  ein  paar  gute  Guardi ,  Bilder  von 
Netscher,  Goyen  u.  s.  f.  Auch  Mr.  van  Home  besitzt 
neben  einer  trefflichen  Sammlung  japanischer  Thon¬ 
waren  und  französischer  Gemälde  ein  paar  alte  Bilder : 
ein  Porträt  von  F.  Bol,  Bilder  von  P.  Claesz,  D.  van 
Toi,  vor  allem  die  Skizze  eines  Gekreuzigten  unter 
Vclazquez’  Namen,  ein  Werk  von  außerordentlicher 
malerischer  Wirkung. 

Was  ich  hieran  hervorragenden  älteren  Gemälden 
in  amerikanischen  Sammlungen  namhaft  gemacht 
habe,  ist  zum  weitaus  größten  Teil  im  Ausgange 
der  achtziger  Jahre  für  Amerika  angekauft  worden. 
In  den  letzten  Jahren  ist  weniges  hinzugekommen, 
infolge  der  Geldkrisis,  die  schwer  auf  dem  Lande 
lastet  und  die  auch  noch  für  die  nächsten  Jahre  die 
amerikanischen  Liebhaber  vom  Kaufmarkt  fern  halten 
wird.  Diese  werden  aber,  sobald  die  Krisis  vorüber  ist, 
ihr  Gewicht  (und  sie  sind  sehr  viel  „schwerer“  als  die 
meisten  kontinentalen  Sammler!)  bei  allen  namhaften 
Versteigerungen  und  im  großen  Kunsthandel  mehr 
und  mehr  fühlbar  machen  und  vor  allem  fast  allen 
öffentlichen  Galerieen  die  Erwerbung  ganz  hervor¬ 
ragender  Werke  durch  die  Steigerung  der  Preise  ab¬ 
schneiden.  Werden  doch  jetzt  schon  in  Amerika 
und  für  Amerika  die  guten  alten  Gemälde  um  fünf¬ 
zig  bis  hundert  Prozent  höher  bezahlt,  als  bei  uns  in 
Europa.  Amerika  wird  in  wenigen  Jahrzehnten  ein 
Land  sein,  das  man  auch  wegen  seiner  Sammlungen 
von  alten  Kunstwerken  besuchen  muss,  wie  es  heute 
schon  für  unsere  moderne  Kunst  und  das  Kunsthand¬ 
werk  im  hohen  Maße  anregend  und  belebend  wirken 
kann  und  hoffentlich  wirken  wird. 


I 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


VON  II.  E.  v.  BERLEPSCH. 


(Schluss.) 


Skizze 

von  ff.  Keller. 


X  J 

j  ELLER  ist  liier  nur  dem  eigenen  Zuge 
/  k  bezüglich  der  Art  des  Sujets  gefolgt. 

I  Ü  Er  hat  weder  etwas  Großzügig -Klas¬ 
sisches  noch  romantische  Empfindun¬ 
gen  hinein  zu  verweben  getrachtet.  Wo 
er  sich  so  äußerte,  war  die  Äußerung 
sicher  dem  eigenen  Wesen  am  verwandtesten,  denn, 
vergleicht  man  den  späteren  Dichter  damit,  so  wird 
man  gerade  durch  diesen  darauf  hingewiesen,  wie 
scheinbar  gleichgültige,  am  Wege  liegende  Stoffe 
durch  die  künstlerische  Arbeit  zum  wertvollen  Kleinod 
werden.  Um  das  zu  erreichen,  ist  nicht  im  ent¬ 
ferntesten  das  äußerlich  Große,  Imponirende  nötig. 
Man  denke  nur  an  die  Leute  von  Seldwyla!  — 
Anders  verhält  sich  dies  bei  weiteren  Blättern  der 
Münchener  Zeit. 

Da  ist  z.  B.  No.  25  des  Katalogs  der  Stadtbib¬ 
liothek  in  Zürich,  Tuschzeichnung,  eine  öde,  steinige 
Gegend,  in  der  ein  absterbender  Eichbaum  die  ein¬ 
zige  vegetative  Erscheinung  bildet.  Dem  Beschauer 
den  Rücken  kehrend,  zieht  ein  Reitersmann  den 
stillen  Weg  entlang,  gefolgt  von  seinem  Hunde. 
Die  Stimmung  ist  natürlich  düster,  sonst  wär’s  nicht 
romantisch.  Das  nämliche  Thema  behandelt  eine 
Ölskizze.  Es  muss  wohl  eine  sehr  frühe  Arbeit 
sein,  denn  die  Art,  wie  mit  dem  Material  umge¬ 
gangen  ist,  bezeugt  absolute  Unerfahrenheit.  Eben¬ 
so  verhält  es  sich  mit  No.  51  derselben  Sammlung, 
wo  ein  Hünengrab  darzustellen  versucht  ist.  Es  sollte 
Zwielichtstimmung  werden.  Uber  dem  noch  vom 
letzten  Schimmer  des  Tages  erhellten  Terrain  ist 
der  Vollmond  aufgegangen.  Es  entsteht  mithin 
eine  doppelte  Lichtwirkung.  Zaghaft  in  der  Wahl 
der  Gegenstände  war  Keller  also  entschieden  nicht, 
sonst  hätte  er  sich  solchen  Farbenproblemen  kaum 
zu  nahen  gewagt.  Freilich  ist  er  auch  über  den 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  3. 


heroischen  Versuch  nicht  hinaus  gekommen.  Eine 
Baumlandschaft  mit  Kirchturm  in  Abendbeleuch¬ 
tung,  No.  50  desselben  Katalogs,  steht  genau  auf 
dem  nämlichen  Standpunkte.  No.  49,  Waldlich¬ 
tung,  Ölskizze,  der  gleichen  Sammlung  angehörend, 
ist  sicher  nicht  Keller  zuzuschreiben.  Das  ver¬ 
rät  die  ganze  Anlage,  die  nur  von  einer  gewand¬ 
ten  Hand  herrühren  kann  und  eine  Sicherheit 
verrät,  die  Keller  nicht  eigen  war.  Ob  No.  54 
unter  bestimmtem  Einflüsse  oder  vielleicht  nach 
einer  fremden  Studie  entstanden  ist,  ob  das  Blatt  über¬ 
haupt  Keller  zuzuschreiben  sei,  mag  dahingestellt 
bleiben.  Es  zeigt  eine  Baumlandschaft,  in  der  die 
rückwärts  gelegenen  Partien  von  der  Sonne  hell 
belichtet  sind,  während  ein  näher  stehender  einzelner 
Baum  ganz  im  Schatten  steht,  wodurch  eine  ziem¬ 
lich  gute  räumliche  Wirkung  erzielt  ist.  Ein  mit 
No.  52  bezeichnetes  unvollendetes  Aquarell  ist,  das 
verrät  Sujet  und  routinirte  Behandlungsweise,  ent¬ 
weder  Kopie  oder  rührt  von  fremder  Hand  her. 
Es  zeigt  eine  weite,  abendliche  Landschaft  mit  See 
und  waldigen  Bergen  und  ist  ganz  in  der  süßlich 
violetten  Stimmung  gehalten,  ohne  welche  in  jener 
Zeit  kein  solches  Thema  behandelt  wurde.  Man 
möchte  bezüglich  des  Sujets  beinahe  auf  Italien 
raten.  No.  48  giebt  ein  Waldinneres,  offenbar  auch 
komponirt.  Das  geht  aus  den  Baumformen,  sowie 
aus  dem  ganzen  Arrangement  hervor.  Uber  die 
Grenze  der  Skizze  reicht  das  Blatt  nicht  hinaus. 
Auf  der  Rückseite  desselben,  beinahe  ganz  ver¬ 
wischt,  findet  sich  eine  Figurengruppe,  Artilleristen 
am  Geschütz  (S.80).  Die  Uniform  entspricht  der  schwei¬ 
zerischen  jener  Zeit,  das  angezapfte  Fässchen  neben 
der  „Piece“  braucht  nicht  gerade  schweizerisch  zu 
sein,  ist  es  aber  sicher.  Ob  Keller  diese  Gruppe 
entworfen  hat?  Bei  aller  Einfachheit  ist  das  Ding 

11 


78 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


doch  sehr  lebendig.  Oder  sollte  es  von  einem  jener 
Schweizer  Freunde,  etwa  Emil  Rittmeyer  herrühren, 
der  später  trefflich  lithographirte  Blätter  „Erinne¬ 
rungen  an  den  Sonderbundsfeldzug“  herausgab?1) 
Dass  Keller  viele  figürliche  Versuche  gemacht  hat, 
dafür  zeugen  seine  Skizzenbücher,  wie  auch  die  Pro¬ 
tokolle,  die  er  als  Staatsschreiber  geführt.  Die 
kleine  Skizze  „Babeli  Marti“  ist  gut,  die  phantasti¬ 
schen  Randzeichnungen  aus  späteren  Lebensjahren 
oft  ebenso  drollig  wie  geschickt  gemacht.  Man  sehe 
nur  die  beiden  gegeneinander  losmarschirenden  Hohl¬ 
köpfe  mit  den  dünnen  Beinchen  und  der  wichtigen 
Pose,  das  seifenblasende  Wesen,  das  in  einen 
Schlangenschwanz  endigt  u.  s.  w.  Einmal  bekennt 
er  sich  sogar  dazu,  ein  Porträt,  das  allerdings  „et¬ 
was  byzantinisch“  ausfiel,  gemacht  zu  haben.  Es 
war  das  seiner  Jugendliebe,  der  Anna.  Die  beiden 
Köpfe,  offenbar  Münchener  Typen,  die  sich  in  einem 
seiner  Skizzenbücher  vorfinden,  sind  äußerst  ge¬ 
schickt  hingeworfen.  Von  mehreren  ebendaselbst 
sich  vorfindenden  Zeichnungen  dieser  Art  behauptet 
der  noch  heute  in  Zürich  lebende  Münchener  Zeit¬ 
genosse  Keller’s,  Herr  Hegi,  sie  rührten  nicht  von 
Keller  her,  und  seien  offenbar  von  fremder  Hand  in 
das  Skizzenbuch  gezeichnet  worden.  Dies  nebenbei. 

Ein  im  Besitze  von  Prof.  Bächtold  befindliches 
Ölbild  (siehe  Abh.  S.  4)  wird  von  diesem  gleichwie 
ein  anderes,  im  Besitze  von  Herrn  von  Tschudi  zu 
St.  Gallen  vorhandenes,  der  Entstehung  nach  in  die 
Münchener  Zeit  gesetzt.  Ferner  ist  eine  große  Hand¬ 
zeichnung,  ein  mit  wenigen  Farben  angetuschtes  Blatt 
der  Züricher  Stadtbibliothek  (No.  47  d.  Kat.),  als  in 
München  zwischen  1840  und  43  entstanden  be¬ 
zeichnet.  Dass  das  Bächtoldsche  Bild  in  München 
entstanden  sei,  ist  leicht  anzunehmen.  Es  trägt 
durch  die  Felsenszenerie  einen  gewissen  heroischen 
Charakter,  und  der  große  Baum  im  Vordergrund 
erinnert  lebhaft  an  die  Buchen-Studie  von  Glatt- 
felden,  denn  der  Künstler  wollte  da  höher  hinaus, 
als  sein  Rahmen  es  gestattete,  in  jeder  Hin- 

1)  Nach  Niederschrift  der  obigen  Zeilen  traf  ich  Emil 
liittmeyer  in  St.  Gallen  persönlich.  Er  erinnert  sich  sehr 
wohl  an  seine  .Mithülfe  bei  Keller’schen  Arbeiten,  will  aber 
weder  das  Fischer -Figürchen  auf  dem  Welti’schen  Bilde 
(siehe  die  Tafel)  noch  die  oben  genannten  Kanoniere  ge¬ 
macht  haben.  Keller  hat  zuweilen  mit  ein  paar  Strichen 
-ehr  charakteristische  Figuren  gezeichnet,  Schwierigkeiten 
seien  ihm  nur  erwachsen,  wo  es  sich  um  ein  genaues  Ein¬ 
gehen  auf  die  Form  gehandelt  habe.  Demnach  kann  also 
wohl  angenommen  werden,  die  Skizze  rühre  von  K.  her. 

2j  So  nennt  sich  eine  noch  heute  lebende  Jugendgenossin 
Keller’s,  der  das  Schicksal  die  Größe  normaler  Menschen 
versagt  hat.  Sie  pflegte  den  todkranken  Dichter  lange  Zeit. 


sicht.  Dass  dabei  Bilder  holländischer  Meister,  wie 
sie  die  bereits  bestehende  alte  Pinakothek  bot,  zu 
Rate  gezogen  sind,  liegt  außer  allem  Zweifel.  Recht 
bezeichnend  ist  der  quer  sich  vor  den  Stamm  legende 
Ast  des  vorderen  großen  Baumes.  Er  sollte  eigent¬ 
lich  vorragen,  indessen  ist  der  Scurzo  nicht  geglückt, 
und  so  wurde  die  Richtung  eben  verändert.  Auch 
hier  hat’s  am  nötigen  Fleiße  keineswegs  gefehlt. 
Das  Bild  ist  so  durchgeführt,  wie  es  selbst  der  klein¬ 
städtische  Kunstfreund  nur  wünschen  kann.  Im 
Ton  ist  es  gut  zusammen  gehalten.  Es  wirkt  grauer, 
nobler  als  das  Welti’sche.  —  Ob  das  zweitgenannte, 
das  Tschudi’sche  Bild,  in  München  entstanden  ist, 
mag  stark  in  Zweifel  zu  ziehen  sein,  obschon  sich 
auf  der  Rückseite  der  Leinwand  die  Jahreszahl  1842 
vorfindet.  Bekanntermaßen  sind  die  Rückseiten  von 
Bildern  nicht  das  Maßgebende,  bei  Datirungen 
ebenso  wenig  wie  bei  Namen.  Es  stellt  eine  ganz 
bestimmte  Aussicht  vom  Zürichberg  gegen  Höngg 
und  das  Limmatthal  hin  gesehen  dar,  giebt  eine 
ganz  bestimmte  Häusersilhouette  im  Mittelgründe, 
kurz  ist,  wenn  man  so  will,  ein  landschaftliches 
Porträt.  Im  Vordergründe  stehen  ein  paar  mächtige 
Kiefern  als  Haupterscheinung  des  Bildes.  Sie  ragen 
als  dunkle  Masse  in  den  von  abendlichem  Licht¬ 
scheine  übergossenen  übrigen  Teil  der  Landschaft, 
die  im  Mittelgründe  das  leichtabfallende  Gelände  des 
Zürichberges  in  der  Nähe  des  sog.  Susenberges  zeigt. 
W eiterhin  sieht  man  die  Höhenzüge,  die  das  Limmat¬ 
thal  bei  Schlieren  und  Dietikon  einfassen,  und  fern¬ 
hin  sogar  den  Zug  der  Lägeren.  Oh  Keller  das  in 
München  nach  einer  sehr  genauen,  früher  schon  an¬ 
gefertigten  Naturstudie  gemalt  hat? 

Eine  solche  musste  zu  Grunde  liegen,  wenn  man 
nicht  annehmen  will,  der  größere  Teil  des  Bildes  sei 
überhaupt  vor  der  Natur  entstanden,  denn  dergleichen 
Dinge,  die  ein  ziemlich  reiches  System  von  Linien- 
Überschneidungen  zeigen ,  machen  sich  nicht  ohne 
weiteres  aus  dem  Gedächtnis.  Gesetzt  aber,  es  sei 
dies  bei  Keller  der  Fall,  gewesen,  das  Resultat  viel¬ 
fältiger  Beobachtung  habe  es  ihm  ermöglicht,  auch 
ohne  einen  Blick  auf  das  Original  richtig  alles 
wiederzugeben,  so  müsste  er  auch  bei  anderen  Auf¬ 
gaben,  die  er  sich  gestellt,  ähnliches  gezeigt,  nicht 
manches,  was  sich  ihm  förmlich  aufdringen  musste, 
ausser  acht  gelassen  haben.  Dass  es  auch  hier 
nicht  ganz  ohne  eine  Beigabe  der  Phantasie  abging, 
zeigt  der  Wassertümpel  im  Vordergründe.  Der¬ 
gleichen  giebt  es  auf  den  Höhen  des  Zürichberges 
weit  und  breit  nicht,  aber  ein  Wässerlein  gehörte 
nun  in  Gottes  Namen  einmal  dazu.  Das  Ganze  aber 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER, 


79 


hat  als  Bilderscheinung  etwas  ganz  ausserordentlich 
Anmutiges  und  fein  Elegisches. 

Groß  aufgefasst  in  des  Wortes  bester  Bedeu¬ 
tung  ist  endlich  das  Blatt  (No.  47  d.  Kat.  d.  Z. 
Stadtbibliothek)  „Blick  auf  Richters  wyl“.  Keine 
kleinliche  Privatliebhaberei  tritt  hier  störend  in  den 
Weg.  Dabei  ist  das  Dargestellte  durchaus  charak¬ 
teristisch  für  die  landschaftliche  Erscheinung  der 
Gegend.  Das  coupirte  Vorterrain,  links  von  Büschen 
und  Bäumen  begrenzt,  welche  vom  Licht  gestreift 
werden,  senkt  sich  gegen  die  Seefläche.  Da  liegt, 
förmlich  begraben  unter  den  rundlichen  Wipfeln 
unzähliger  Obstbäume,  das  Dorf,  dessen  Kirchturm 
über  die  Baumkronen  emporragt.  Rückwärts  sieht 
man  die  Insel  Ufenau,  die  Höhenzüge  der  Schin- 
dellegi,  weiterhin  die  Glarneralpen.  Es  ist  gerade¬ 
zu  frappirend ,  mit  welch  künstlerischer  Freiheit 
das  Thema  behandelt,  mit  wie  wenig  Mitteln  all 
das  erreicht  ist,  was  zu  einer  vollkommenen  Bild¬ 
wirkung  nötig  war.  Die  Zeichnung  ist  auf  grobes, 
graues  Papier  gemacht,  die  vorderen  Partieen  sind 
leicht  angetuscht,  die  fernen  Berge  in  einem  licht¬ 
bläulichen  Tone  gehalten.  Keine  Spur  von  Ängst¬ 
lichkeit  giebt  sich  kund,  alles  ist  breit  hingesetzt 
und  mit  einer  geradezu  staunenswerten  Anschauung 
behandelt,  kurzum  es  zählt  mit  zum  Besten,  was 
Keller  gemacht  hat,  und  unterscheidet  sich  in  jeder 
Beziehung  von  seinen  landschaftlichen  Komposi¬ 
tionen,  die  mehr  oder  weniger  alle  ein  gewisses  un¬ 
sicheres  Tasten  verraten.  Dass  das  Blatt  in  Mün¬ 
chen  entstanden  sei,  ist  sehr  zu  bezweifeln,  denn  es 
verrät  keinerlei  fremden  Einfluss  und  ist  deshalb 
gut  geworden,  sicherlich  weit  besser  als  die  auf  den 
ersten  Blick  imponirende  „Ossianische  Landschaft“, 
in  welcher  Keller  mehr  den  Einfluss  anderer  zum 
besten  giebt,  als  das,  was  in  ihm  selbst  steckte. 
Letzteres  aber  liegt  in  dem  Blatte  „  Blick  auf  Ricliters- 
wyl“.  Da  hat  er  alles  falsche  Pathos  von  sich  ge¬ 
worfen  und  gab  mit  Stift  und  Pinsel  ein  Stück 
„Züribiet“  ebenso  herzerfreuend  wieder,  wie  er  im 
„Fähnlein  der  sieben  Aufrechten“  einige  urchig- 
zürcherische  Mannstypen  in  unübertrefflicher  Weise 
gezeichnet  hat.  Man  wird  also  nicht  fehl  gehen, 
dieses  Blatt  einer  Zeit  zuzuschreiben,  wo  Keller  zu 
sich  selbst  zurückgekehrt  und  frei  von  jenen  Ein¬ 
flüssen  war,  die  ihn  während  der  Münchener  Zeit 
in  Befangenheit  hielten. 

Das  unbestimmte  Sich-Gehen-Lassen  in  Mün¬ 
chen  war  natürlich  eher  alles  andere  als  fördernd. 
Anfangs  seines  Aufenthaltes  in  der  Isar-Stadt,  am 
21.  Mai  1840,  schreibt  er  an  seine  Mutter:  „Ich 


gehe  mit  dem  Maler  Scheuchzer,  welcher  sich  viele 
Mühe  mit  mir  giebt,  etwa  für  vier  Wochen  aufs 
Land“.  Scheuchzer,  Keller’s  Landsmann,  war  ein 
bei  Hofe  angesehener  Künstler,  der  u.  a.  Bilder 
für  Hohenschwangau  malte,  „das  malerische  Bayern'1 
herausgab.  Der  Verkehr  Keller’s  mit  ihm  ist  jedoch 
nicht  von  langer  Dauer  gewesen.  Die  projektirte 
Studienreise,  die  vielleicht  dazu  angethan  gewesen 
wäre,  unseren  Mann  auf  bestimmte  Bahnen  zu  lenken, 
wurde,  teilweise  wenigstens,  zu  Wasser.  Schlechtes 
Wetter  veranlasste  die  Beiden  nach  kurzer  Abwesen¬ 
heit  zur  Heimkehr,  —  eine  Maxime  freilich,  die  sich 
für  einen  Landschafter  schlecht  empfiehlt.  Indessen 
stand  Keller  mit  Geldmitteln  von  Anfang  nur  knapp 
ausgerüstet  da.  In  der  nächsten  Nähe  Münchens 
landschaftlich  zu  studiren,  fiel  keinem  Landschafter 
jener  Tage  ein.  Die  Schönheiten  der  Hochebene  zu 
entdecken,  blieb  Späteren  Vorbehalten.  Damals  hieß 
die  Losung  „Ins  Gebirge“.  Dahin  aber  war  es  bei 
dem  Mangel  guter  Verkehrsmittel  immer  schon  eine 
ganz  respektable  Reise.  —  Unterm  14.  Juli  1840 
meldet  er,  was  das  Leben  in  München  koste.  „Ich 
sehe  schon  ein ,  dass  ich  auf  den  Spätherbst  selbst 
auskommen  muss  (mit  dem  gesandten  Gelde),  und 
deswegen  habe  ich  mich  auch  in  den  Kunstverein 
aufnehmen  lassen,  welches  für  einen  Fremden  und 
zudem  für  einen  Anfänger  der  einzige  Weg  ist,  seine 
Bilder  zu  verkaufen.  So  geschickte  Männer  es  hier 
hat,  und  so  sehr  ich  mich  anstrengen  muss,  nur 
einen  Schatten  von  dem  zu  leisten,  was  jene,  so 
werden  doch  häufig  noch  ziemlich  schlechtere  Sachen 
angekauft1),  als  ich  mir  zu  machen  getraue“. 

Krankheit  überfiel  Keller  nun  noch  obendrein. 
Das  für  alle  Fremden  in  München  gefährliche 
„Schleimfieber“  (Typhus)  warf  ihn  darnieder.  Er 
schreibt  darüber  (19.  Okt.  40): 

„Ich  lag  vier  ganze  Wochen  im  Bett  und  bekam  nichts 
als  Fleischbrühe  und  Wasser  zu  saufen,  so  dass  Dein  Traum 
ziemlich  erfüllt  war;  denn  ich  war  so  abgemagert  und 
schwach,  als  ich  wieder  ausgehen  konnte,  dass  ich  vor  mir 
selbst  erschrak,  als  ich  in  den  Spiegel  schaute.  Doch  werde 
ich  in  Zukunft  nichts  mehr  von  dergleichen  Sachen  schrei¬ 
ben,  es  mag  mir  gehen,  wie  es  will,  da  man  zu  allem 
Elend  noch  glaubt,  ich  lüge. 

Was  das  viele  Geldbrauchen  betrifft,  so  weiß  ich  am 
besten,  für  was  ich  es  ausgebe;  auf  jeden  Fall  nicht  für’s 
Lumpen.  Auch  gehe  ich  nicht  mit  Lumpen,  sondern  einzig 
und  allein  mit  Hegi  von  Zürich,  welcher  mein  bester  Freund 
hier  ist,  und  wir  sitzen  meistens  ganz  allein  bei  einander. 

Du  wirst  Dich  wahrscheinlich  wundern,  dass  die  letzten 


1)  Offenbar  gehört  der  Ankauf  solcher  Arbeiten  zu  den 
festen  Traditionen  des  Münchener  Kunstvereins,  bei  dem 
weitaus  das  meiste  Geld  für  geringe  oder  mittelmäßige  Ware 
noch  heute  ausgegeben  wird. 


80 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


vier  Louisd’or  bereits  wieder  gebraucht  sind,  wenn  Du  nicht 
bedenkst,  dass  ich  dem  Doktor  16  Gulden,  dem  Apotheker 
8  Gulden,  der  Magd,  welche  alle  Nächte  bei  mir  gewacht 
und  mich  sonst  gut  verpflegt  hat,  einen  Thaler,  und  oben¬ 
drein  den  Mietzins  bezahlen  musste.  Dazu  musste  ich,  als 
ich  wieder  essen  und  ausgehen  durfte,  feinere  und  kräftigere 
Speisen  nehmen  und  eine  Zeit  lang  Rheinwein  trinken,  um 
wieder  zu  Kräften  zu  kommen.  Auch  schaffte  ich  mir  ein 
Flanellleibchen ,  Unterhosen  und  Überschuhe  an ,  weil  das 
Wetter  hier  immer  nass  und  kalt  ist,  und  ich  mich  vorzüg¬ 
lich  auf  den  Winter  warm  halten  muss.  Du  wirst  mir  viel- 


den  ganzen  Tag  essen,  so  ausgehungert  bin  ich  durch  die 
Krankheit  worden“.  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  137.) 

Wieder  genesen,  leben  in  ihm  auch  alle  Hoff¬ 
nungen  auf  eine  gute  Zukunft  neuerdings  auf:  „Ich 
könnte,  wenn  ich  wollte,  jetzt  schon  mein  Brot 
kümmerlich  verdienen  mit  Koloriren  und  anderen 
Stinkereien;  aber  ich  habe  es  mir  einmal  in  den 
Kopf  gesetzt,  mit  etwas  Rechtem  anzufangen,  und  ich 
hoffe,  ich  werde  mich  hier  als  Künstler  und  nicht 


leicht  indessen  auch  wieder  nicht  glauben,  dass  der  Doktor 
an  meinem  Aufkommen  gezweifelt  hat.  Du  wirst  aus  allem 
also  einsehen.  dass  ich  das  übrige  Geld  noch  brauche,  weil 
ich  wenigstens  zwei  Monat  Zeit  haben  muss,  um  etwas  zu 
machen,  das  ich  verkaufen  kann.  Nachher  tragt  keine  Sorge 
mehr  für  mich! 

Was  Deine  Meinung  im  vorletzten  Briefe  betrifft,  dass 
ich  nämlich  wieder  nach  Haus  kommen  sollte,  so  traust 
Du  mir  da  nicht  viel  Charakter  zu.  Die  Leuten  würden  ein 
schönes  Gelächter  haben.  Ich  habe  einmal  meine  Bahn 
angetreten  und  werde  sie  auch  vollenden,  und  müsste  ich 
Katzen  fressen  in  München.  Fischer  ist  schon  über  zwei 
Wochen  hier.  Wir  müssen  nächstens  Holz  kaufen,  denn 
es  ist  abscheulich  kalt;  und  was  mich  betrifft,  so  muss  ich 


als  Kolorist  durchbringen  können.  Ich  kann  nach¬ 
her  noch  machen,  was  ich  will;  auf  jeden  Fall  gehe 
ich  nicht  heim“.  Manchmal  rührt  sich  dennoch 
leise  ein  sehnsüchtig  heimatlich  Gefühl,  zumal  im 
Magen,  der  sich  mit  der  groben  Münchener  Kost 
(sie  ist  auch  heute  noch  so)  nicht  abfinden  kann: 

,.Tch  habe  immer  Sehnsucht  nach  den  Fleischtöpfen 
Ägyptens,  d.  h.  nach  einem  guten  Stücke  Speck  mit  gedörr¬ 
ten  „Stückli“,  oder  nach  einer  „Böllenwäbe“,  oder  zuletzt 
nur  nach  einer  guten  gesottenen  Kartoffel;  denn  von  allen 
diesen  nähr-  und  schmackhaften  Speisen  kriege  ich  hier 
nichts  zu  sehen.  Da  ist  nichts  zu  haben  als  magere  Gans-, 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


81 


Enten-  oder  Hasenbrätlein,  schlechte  Koteletten  und  der¬ 
gleichen  mehr,  und  die  Kartoffeln  kann  man  nicht  anders 
essen,  als  gebraten  oder  sonst  gekocht.“  —  —  (Bächtold, 
Bd.  I,  S.  148.) 

Die  Hoffnung,  verkäufliche  Bilder  in  Bälde  malen 
zu  können,  ist  bei  ihm  wie  bei  jedem  anfangenden 
Kunstjünger  außerordentlich  groß.  Das  Verlangen 
nach  bescheidenen  materiellen  Mitteln,  „um  nicht  ge¬ 
zwungen  zu  sein,  die  Stücke  um  jeden  Preis  weg¬ 
werfen  zu  müssen“,  ebenfalls. ')  Daher  denn  das  be¬ 
kannte  „Vergesst  mir  die  dreißig  Dukaten  doch 
nicht“  auch  hier,  allerdings  in  bescheideneren  Di¬ 
mensionen  stets  wiederkehrt,  und  zwar  immer  unter 
Anführung  alles  dessen,  wofür  man  nun  eben  einmal 
Geld  braucht.  Indessen  werden  allmählich  seine 
sanguinischen  Hoffnungen  doch  etwas  herabgestimmt, 
denn  unterm  13.  August  41  schreibt  er: 

„Nun  komme  ich  zum  zweiten  Abschnitt,  welcher  von 
mir  handeln  soll,  und  wozu  Du  wahrscheinlich  den  Mund 
ein  wenig  verziehen  wirst.  Du  fragst  mich,  wie  es  mir  er¬ 
gehe?  Würde  ich  persönlich  vor  Dir  stehen,  so  würde  ich 
die  Achseln  zucken  und  ein  weinerliches  Gesicht  schneiden; 
so  aber  kann  ich  Dir  nur  melden,  dass  es  nicht  so  geht, 
wie  ich  es  geglaubt  habe,  und  dass  ich  mich  darin  getäuscht 
habe,  dass  ich  glaubte,  ich  könne  schon  genug,  um  mich 
durchzubringen,  d.  h.  als  Künstler.  Nun  aber  muss  ich  zu 
meiner  Demütigung  erfahren ,  dass  mir  noch  gar  manches 
abgeht,  und  dass  ich  durchaus  noch  kein  rechter  Künstler 
bin.  Ich  weiß  freilich  alle  Hauptsachen  und  habe  auch 
Ideen  und  Auffassungskraft,  habe  hier  vieles  gelernt;  aber 
es  fehlt  mir  immer  noch  an  Übung  und  derjenigen  Voll¬ 
kommenheit,  die  notwendig  ist,  um  ein  gutes  Bild,  das  von 
Kennern  gekauft  wird,  zu  malen. 

Ich  habe  schon  früher  geschrieben,  dass  hier  jeder,  der 
etwas  Tüchtiges  leistet,  sein  gutes  Auskommen  findet.  Nun 
haben  meine  Sachen  von  den  älteren  Künstlern  und  Ken¬ 
nern  wohl  Beifall;  allein  sie  sind  noch  nicht  vollendet 
genug.  Denn  die  großen  Herren  wollen  nicht  nur  Bilder 
haben,  die  viel  Talent  verraten,  sondern  auch  wohlstudirte 
Bilder.  Zu  diesem  fehlt  mir  jetzt  eben  noch  sozusagen  die 
letzte  Feile,  oder  die  letzte  Übung.  Ich  sollte  noch  eine 
Zeitlang  ungestört  die  Fehler  zu  entdecken  und  zu  ver¬ 
bessern  suchen,  ohne  von  außen  gestört  zu  werden. 

Wie  ich  jetzt  bin,  so  muss  ich  mir  halt  eben  immer  so 
knapp  durchhelfen.  Manchmal  habe  ich  etwas,  manchmal 
nichts.  Die  Kleider  sind  auch  wieder  kapores,  und  ich  muss 
mir  wieder  Rock  und  Hosen  machen  lassen ;  denn  so  schäbig 
an  der  Sonne  herumzusteigen,  ist  mir  einmal  nicht  möglich. 
Und  dann  vollends  die  Aussichten!  Auf  diese  Art  muss  ich 
immer  am  gleichen  Fleck  kleben  und  sehe  nicht  ein,  wie 
ich  mich  ohne  ein  besonderes  Glück  höher  schwingen  kann. 
Auch  ist  mir  diese  Lage  ganz  unerträglich.  Denn  immer 

1)  Zufällig  liegen  mir  verschiedene  Briefe  anderer  Künst¬ 
ler  aus  deren  Jugendzeit  vor,  und  zwar  von  Leuten,  die 
sich  nie  gesehen  und  gekannt  haben.  In  allen  kehrt  so 
ziemlich  das  nämliche  wieder:  „Bald  werde  ich  Bilder  ver¬ 
kaufen  und  gehörig  Geld  einnehmen,  aber  —  jetzt  muss 
ich  mich  rühren  können,  denn  .  .  .  Goldrahmen,  Farben, 
Leinwand,  das  kostet  Geld  und  man  darf  doch  bei  den  Erst¬ 
lingswerken  nicht  gleich  mit  Schleuderpreisen  beginnen!“ 


nur  mit  wenigem  hausen  müssen,  jeden  Kreuzer  zusammen¬ 
stecken  ,  damit  man  am  Ende  des  Monats  den  Zins  geben 
kann,  ist  mir  durchaus  nicht  gegeben.  Es  sollte  zwar  nicht 
sein,  ich  weiß  es  wohl;  aber  es  ist  mir  einmal  pur  unmög¬ 
lich,  so  ängstlich  leben  zu  müssen.  Wenn  ich  etwas  Be¬ 
stimmtes  und  Ordentliches  zu  verbrauchen  habe,  so  kann 
ich  mich  recht  gut  einteilen,  aber  unter  solchen  Lumpen¬ 
umständen  kommt  man  zu  nichts.  Wenn  ich  mir  nur  Zeit 
lassen  könnte,  etwas  recht  gründlich  durchzuarbeiten,  so 
könnte  ich  mich  schon  bald  herausschwingen;  aber  eben 
das  ist  das  Pech,  dass  ich  alles  nur  flüchtig  und  schnell 
machen  muss,  um  wieder  Geld  zu  bekommen.  Jetzt  ist 
schon  der  zweite  Sommer,  wo  ich  keinen  Strich  nach  der 
Natur  machen  kann,  und  das  gereicht  mir  zum  größten 
Nachteil.  Ich  könnte  wohl  vielleicht  koloriren  oder  so  etwas 
treiben;  allein  das  werde  ich  nie  und  nimmermehr  tbun; 
lieber  der  Kunst  ganz  entsagen;  denn  nichts  hasse  ich  so 
sehr  wie  das“.  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  149.) 

Es  folgt  dann  der  Vorschlag  an  die  Mutter,  sie 
möge  auf  ihr  bisher  schuldenfreies  Haus  fünfhundert 
Gulden  aufnehmen,  natürlich  unter  der  Zusicherung 
seitens  Gottfried’s,  dass  es  ihm  binnen  Jahr  und  Tag 
leicht  sein  würde,  alles  bei  Heller  und  Pfennig  zu¬ 
zück  zu  bezahlen,  „denn  ich  kenne  hier  Künstler  von 
fünfundzwanzig  Jahren,  die  sich  jährlich  schon  ein 
Schönes  ersparen  und  doch  bequem  leben“.  —  — 

,, —  —  Drittens  wirst  Du  sagen,  dass  ich  jetzt  schon 
lange  genug  gelernt  hätte,  um  etwas  zu  verdienen,  und 
dass  ein  solcher  Schritt  sehr  leichtsinnig  sein  würde  und 
der  Ökonomie  einer  guten  Familie  ganz  zuwider.  Nun 
weißt  Du,  dass  ich  die  Zeit  in  Zürich  sehr  schlecht  an¬ 
wenden  konnte,  indem  es  mir  an  aller  Aufmunterung  und 
Bekanntschaft  mit  besseren  Künstlern  fehlte.  Mein  erster 
Lehrer  konnte  selbst  nichts,  und  der  zweite  prellte  mich. 
Dazwischen  tappte  ich  wieder  einige  Jahre  im  Dunkeln 
herum.  Sodann  muss  ich  Dir  noch  sagen,  dass  man  gewöhn¬ 
lich  meinen  Beruf  und  Stand  viel  zu  oberflächlich  beurteilt 
und  glaubt,  er  lasse  sich  so  zunftmäßig  in  einigen  Jahren 
erlernen.  Es  giebt  hier  viele  Künstler,  die  schon  älter  sind 
als  ich  und  doch  nicht  selbständig  sind,  obgleich  sie  alles 
Talent  haben.  Das  letzte,  nämlich  das  Leichtsinnige  eines 
solchen  Schrittes  betreffend,  glaube  ich,  dass  man  sich  heut¬ 
zutage  nur  noch  durch  Opfer  und  Anstrengungen  eine  be¬ 
queme  Existenz  verschaffen  kann,  und  dass  es  hierüber 
freilich  sehr  verschiedene  Meinungen  geben  dürfte. 

Ich  kann  ferner  hoffen,  dass  ich  unterdessen  auch  dies 
Jahr  noch  Verschiedenes  verdienen  kann,  was  alles  eine 
desto  sicherere  Grundlage  bilden  wird“.  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  153.) 

„In  vier  bis  fünf  Woeben“  hoffte  er  eine  „große 
Komposition“,  die  bereits  angefangen  ist,  nebst  einer 
zweiten,  die  erst  noch  entstehen  muss,  gen  Zürich 
zu  schicken.  Ludwig  Vogel,  der  in  Zürich  wohnte, 
sollte  dann  den  Ausschlag  geben  durch  sein  Urteil, 
das  ja  nach  Gottfried’s  Meinung  nur  günstig  aus- 
fallen  konnte.  Vogel  war  nun  um  ein  Stück  älter 
als  Keller  und  äußerst  vorsichtig,  absolut  keine  jener 
unglückseligen  Enthusiastennaturen,  die  hinter  jedem 
Pinselstrich  das  Genie  erkennen,  zum  Künstlertum 
anfeuern  und  damit  gar  oft  Schlimmeres  anrichten, 


82 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


als  durch  direktes  Abraten  vom  künstlerischen  Be¬ 
rufe.  Die  Mutter  Iveller’s  konsultirte  ihn,  ehe  noch  die 
Proben  des  Sohnes  eingetroffen  waren.  Stirnrunzeln, 
manches  Wenn  und  Aber  war  die  Antwort,  der  sich 
die  Bitte  anschloss:  „Dann  schreiben  Sie  nur  Ihrem 
Sohne  (Gottfr.  Keller),  er  soll  nicht  an  mich  schreiben, 
denn  das  Schreiben  ist  mir  schrecklich  verhasst.  Ich 
lasse  mich  nie  in  gar  keine  Korrespondenz  ein“. 

„So  freundschaftlich  und  geschwätzig  er  mir  vorgekom¬ 
men“,  fährt  die  Mutter  in  ihrem  Schreiben  an  G.  Keller  fort, 
„so  schien  es  mir  doch,  als  wollte 
er  sich  gerne  ablehnen“.  —  —  — 

—  „Noch  etwas  sagte  er  mir,  ob 
Du  inzwischen  nichts  verdienen 
könntest,  z.  B.  etwa  koloriren. 

Nein,  sagte  ich,  diese  Arbeit  sei 
Dir  verhasst  ....  Dass  Ihr  Sohn 
nicht  gern  kolorirt,  dünkt  mich 
kurios.  Es  soll  sich  keiner  schä¬ 
men  ,  zu  arbeiten ,  sei  es ,  was  es 
wolle.  Ich  kenne  einige  große 
Künstler,  welche  keine  Mittel  von 
Hause  hatten,  welche  solche  Ar¬ 
beit  thaten,  nur  um  sich  momen¬ 
tan  Geld  zu  verdienen.  Einer  ging 
sogar  auf  der  Akademie  in  eine 
nahe  gelegene  Fabrik  und  malte 
auf  Tahakdosen,  Theebretter  u. 
s.  w.  Ich  ging  endlich  fort  und 
zwar  mit  schwerem  Herzen.  —  — 

Du  hast  nun  in  kurzer  Zeit 
vieles  erfahren,  hast  auch  einen 
Vorgeschmack  von Notund Mangel; 
allein  es  könnte  mit  der  Zeit  noch 
schlimmer  kommen.  Nicht,  dass 
ich  Dich  von  Deiner  Kunst  abhal¬ 
ten  will ,  aber  meine  mütterliche 
Meinung  darf  und  muss  ich  Dir 
doch  sagen  ...  Was  hast  Du  doch 
von  einem  Leben ,  wenn  Du  mit 
Not  und  vielen  Schwierigkeiten 
Dich  durch  die  weite  Welt  schlep¬ 
pen  musst,  um  höchstens  Dir  nach 
dem  Tode  ein  bischen  Lob  und 
Ruhm  zu  erwerben!  Während 
Du  in  Deiner  Heimat  ein  beque¬ 
mes  Leben  und  Deiner  Mutter 
Freude  und  Erleichterung  machen 
könntest.  Herr  Vogel  sagte  als  ein  erfahrener  Kenner  und 
Künstler,  dass  er  niemals  im  stände  wäre,  seine  Familie  von 
seiner  Kunst  zu  ernähren;  obgleich  man  überall  sagt,  dass 
die  Leute  sehr  einfach  und  häuslich  leben.  Bedenke  daher 
Deine  Zukunft!  Gott  lenke  Dein  Schicksal  zu  Deinem  und 
meinem  Glücke!“  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  157.) 

Natürlich  lehnt  sich  der  Kunstjünger  gegen  die 
erhobenen  Ein  wände  auf;  er  antwortet  in  einer  Art 
von  Entrüstung,  die  ihrer  Sache  nicht  so  ganz  sicher 
ist,  denn  sie  bedarf  der  Berufung  auf  das  Urteil 
anderer!  Er  schreibt  unterm  9.  Sept.  1841  .... 

—  „Dass  Herr  Vogel  ungern  in  die  Sache  einging 
und  sie  sogar  ablehnte,  mag  daher  kommen,  dass  Du  zu 


ihm  gegangen  bist,  bevor  er  etwas  von  mir  gesehen  hat. 
Er  urteilte  halt  nur  nach  Steiger  etc.  und  vermutet  wahr¬ 
scheinlich  in  mir  einen  gewöhnlichen  Koloristen lehrj  ungen, 
welche  derselbe  sonst  zu  halten  pflegt.  Dass  er  sich  meiner 
nicht  erinnerte,  ist  merkwürdig,  indem  er  mich  doch  durch 
Kaspar  Rordorf  in  seinem  letzten  Briefe  grüßen  ließ. 

Die  Gründe  und  Ansichten  Herrn  Vogel’s,  das  schwere 
Auskommen,  die  nötigen  Talente  etc.  betreffend,  sind  mir 
eben  so  oft  schon  von  Anfang  an  von  allen  Leuten  vor¬ 
geleiert  worden  und  werden  jedem  jungen  Künstler  gesagt, 
dass  es  eigentlich  gar  keine  Künstler  mehr  gäbe,  wenn 
jeder  darauf  horchen  wollte.  Es  ist  nur  die  Frage,  welche 
auch  Du  mir  stellst,  und  welche 
ich  eben  deswegen  jetzt  frisch 
wieder  reiflich  überdenke,  ob  ich 
wirklich  zum  Maler  geschaffen  sei 
und  die  nötigen  Talente  habe, 
oder  nicht.  Hier  muss  ich  nun 
bemerken ,  dass  mir  von  allen 
Leuten,  Kennern  und  Nichtkennern, 
weder  in  Zürich  noch  hier  gesagt 
worden  ist,  ich  tauge  nichts  da¬ 
zu“.  —  —  — - „Wenn  man 

in  Zürich  nun  sagt,  ich  werde 
nichts,  so  kann  ich  wiederum  die 
Stimme  meiner  jetzigen  Umgebung, 
die  eben  nicht  aus  Mistfinken  be¬ 
steht,  auch  nicht  verachten,  und 
welche  mich  nur  aufmuntert. 

Wenn  ich  nun  meinen  Eifer 
und  die  einzige  Neigung  zur  Land¬ 
schaftsmalerei  dazu  rechne,  welche 
ich  immer  gehegt,  und  dass  ich 
mir  gar  keinen  Beruf  denken  kann, 
bei  dem  ich  mich  besser  befinden 
würde,  so  denke  ich,  die  Frage 
ist  nicht  schwer  zu  entscheiden. 
Dass  Herr  Vogel  sagt,  er  könnte 
mit  seinem  Verdienst  seine  Familie 
nicht  ernähren,  benimmt  mir  eben 
das  Zutrauen  an  seine  anderen  Aus¬ 
sagen;  denn  wenn  er  wollte,  so 
könnte  er  sechs  Familien,  wie  seine, 
ernähren.  Dass  er  sich  nicht  nach 
anderen  Leuten  zu  richten  braucht 
und  seine  Gemälde  selbst  zu  be¬ 
halten  vermag,  ist  kein  Grund  zu 
seinen  Ansichten. 

Dem  sei  nun,  wie  es  will, 
ich  werde  in  den  nächsten  Wo¬ 
chen  zwei  entworfene  und  leicht  gemalte  Landschaften 
heimschicken  und  dem  Ausspruche  unterwerfen.  Herrn 
Vogel  werde  ich  natürlich  seinem  Wunsche  gemäß  nicht 
schreiben;  wenn  Du  meinst,  er  werde  einige  Augenblicke 
zum  Ansehen  der  Bilder  verwenden,  so  kannst  Du  ihn  ja 
dazu  noch  bitten.  Hingegen  werde  ich  einen  Brief  an  Herrn 
Ulrich  mitschicken  und  ihn  bitten,  die  Sachen  anzusehen. 

Indessen  würde  ich  mich,  selbst  in  dem  Falle,  dass 
man  mir  Talent  nicht  abspräche,  nicht  besinnen ,  etwas  an¬ 
deres  zu  ergreifen,  wenn  sich  Gelegenheit  zu  einer  schick¬ 
lichen  Stelle  finden  würde.  Dass  ich  kein  eigentliches  Hand¬ 
werk  mehr  erlernen  könnte,  oder  etwa  in  einer  Handlung 
als  Postbub  einstehen  würde,  wirst  Du  sehr  begreifen;  und 
es  möchte  daher  schwer  sein,  irgend  einen  ordentlichen 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


83 


Platz  zu  kriegen,  wo  ich  nicht  zu  lange  umsonst  schaffen 
müsste.  Hätte  ich  Vermögen  oder  Unterstützung,  so  würde 
ich  vielleicht  nicht  ungern  die  Rechte  studiren ;  aber  so  wird 
es  am  besten  sein,  ich  bleibe  bei  meinem  Leisten,  und  werde 
in  diesem  Entschluss  durch  das  Beispiel  von  tausend  anderen 
bestärkt,  die  nur  durch  Not  und  Erfahrung  aller  Art  auf 
einen  grünenZweig  gekommen  sind.“  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  159.) 

(19.  Septbr.  1841.)  —  —  „Ich  kenne  hier  zu  Dutzenden 
junge  Künstler  von  drei-,  vier-  bis  fünfundzwanzig  Jahren, 
welche  alle  im  Anfang  die  gleiche  Geschichte  und  Not  hat¬ 
ten,  wie  ich,  und  die  nun  sehr  gut  stehen.  Wir  wollen  es 
also  einstweilen  getrost  darauf  ankommen  lassen;  denn 
wenn  mir  etwas  anderes  bestimmt  wäre,  so  wären  gewiss 
meine  Gedanken  etwa  schon  darauf  gefallen,  und  ich  habe 
bis  jetzt  keine  Ursache,  an  der  Vorsehung  zu  zweifeln.“ 
(Bächtold,  Bd.  I,  S.  161).  —  —  Und  ebendas.:  —  —  „Herr 
Vogel  mag  wohl  sechs  Jahr  lang  in  einem  abgeschabten 
Rock  umhergegangen  sein.  Es  war  wahrscheinlich  unter 
den  damaligen  Künstlern  so  Mode.  Hier  geht  es  einmal 
nicht;  denn  München  ist  noch  ziemlich  kleinstädtisch,  wo 
man  auf  dergleichen  Sachen  so  gut  sieht,  wie  in  Zürich.“ 

Die  „zwei  Bilder,  welches  in  Ol  gemalte  Skizzen 
sind“,  stehen  zum  Versand  bereit.  Keller  erhofft 
nur  Gutes  davon,  denn  er  schreibt  unterm  19.  Sept. 
1841  weiter: 

„Das  Resultat  oder  die  Meinung  Herrn  Vogel’s  oder 
Ulrich’s  in  Zürich  weiß  ich  schon;  denn  sie  werden  eben 
nicht  viel  anderes  sagen  können,  als  die  Künstler  in  Mün¬ 
chen:  es  gefalle  ihnen  u.  s.  f.  Dass  sie  Dir  raten  würden 
zu  dem  bestimmten  Entschlüsse,  nachdem  sie  die  Sache  ge¬ 
sehen,  ist  ziemlich  gewiss.“ - „Künftigen  Sommer 

ist  wieder  Ausstellung  in  Zürich,  und  da  werde  ich,  weil 
dann  die  Fracht  mich  nichts  kostet,  mehrere  Sachen  hin¬ 
schicken,  die  mich  mit  Ehren  vor  denen  herausbeißen  sollen, 
welche  glauben,  es  werde  nichts  aus  mir.“ 

Aber  er  muss  vorher  hinaus,  nach  der  Natur 
arbeiten  und  dazu  braucht  man  Geld: 

„Noch  ein  anderer  Grund  lässt  mich  wünschen,  bald 
Geld  zu  haben.  Ich  habe  nämlic h Gelegenheit,  mit  ein 
paar  sehr  geschickten  älteren  Künstlern  ins  Gebirge  zu 
reisen,  um  dort  Studien  zu  machen,  was  mir  von  großem 
Nutzen  nicht  nur  im  Lernen,  sondern  auch  im  Verdienen 
sein  würde.  Allein  die  4  Louisd’or,  welche  Du  mir  so  gut 
warst,  zu  schicken,  reichen  nicht  für  den  ganzen  Herbst  hin, 
und  wenn  ich  warten  muss,  bis  die  Sachen  in  Zürich  an¬ 
kommen  und  gesehen  und  beurteilt  worden  sind,  so  wird 
es  zu  spät  dazu.  Sei  also  so  gut  und  schreibe  mir  vorher 
noch,  ob  ich  sie  verpacken  soll,  oder  ob  Du  mir  auf  Treu 
und  Glauben  das  Geld  aufnehmen  willst.  Sollte  dies  letz¬ 
tere  der  Fall  sein,  so  müsstest  Du  aber  sogleich  ohne  Auf¬ 
schub  die  Sache  besorgen;  denn  es  ist  besser  für  Dich  und 
mich,  wenn  es  vorüber  und  man  der  Sorgen  ledig  ist.“ 

Daran  knüpft  sich  eine  Bemerkung,  seine  reli¬ 
giösen  Gefühle  betreffend: 

„Ich  gehe  öfter  in  die  Kirche,  aber  nicht  in  unsere, 
sondern  in  katholische,  griechische  und  in  die  Judensyna¬ 
goge,  wo  ich,  während  sie  ihre  Künste  treiben,  auf  meine 
Art  andächtig  bin.  Ich  habe  immerwährend  das  Bedürfnis, 
mit  Gott  in  vertrauensvoller  Verbindung  zu  bleiben;  aber 
dessen  ungeachtet  ist  es  mir  unmöglich,  die  nüchternen  und 
kalten  Predigten  unserer  reformirten  Pfaffen  zu  hören  und 
ihre  alten,  tausendmal  aufgewärmten  Gemeinsprüche,  die 


doch  so  selten  in  unsere  gegenwärtige  Lage  passen,  zu 
Wiederkäuen.“ 

Die  Sache  mit  dem  Geldaufnelimen  seitens  der 
Mutter  ging  nicht  so  schnell,  wie  Keller  sich  einbildete, 
denn  er  dankt  für  die  erste  Rate  unterm  20.  Dezember. 
Nun  war  freilich  die  Gelegenheit  zum  Studienmalen 
nach  der  Natur  abermals  wieder  für  ein  Jahr  ver¬ 
passt.  Die  Studien  im  Lechthale  bei  Augsburg,  von 
denen  er  in  einem  früheren  Briefe  schreibt,  waren 
weniger  künstlerischer  als  bacchischer  Art:  es  war, 
wie  Bächtold  berichtet,  eine  äußerst  fidele  Suite,  die 
in  Gesellschaft  von  Kameraden  ausgeführt  wurde. 

Das  von  der  Mutter  gesandte  Geld  reicht  kaum 
aus,  die  schwebenden  Schulden,  um  welche  sich  be¬ 
reits  die  hohe  Polizei  bekümmert  hatte,  zu  zahlen. 
Keller  wäscht  sich  rein  von  dem  Vorwurfe,  ein  Ver¬ 
schwender  zu  sein,  und  schreibt  (20.  XII.  41): 

„Ich  bin  nun  über  anderthalb  Jahr  hier  und  hatte  bis¬ 
her  300  Gulden  von  Haus  empfangen,  während  die  Häus¬ 
lichsten  400  Gulden  jährlich  brauchen.  Man  kann  mir 
vorwerfen,  ich  hätte  schon  lange  etwas  anderes  ergreifen 
sollen;  aber  eben  darin  liegt  der  Has  im  Pfeffer,  dass  man 
ausharren  und  nicht  bei  anfänglichem  Missgeschick  den 
Zweck  auf  eine  feige  Weise  aufgeben  soll.  —  Ich  hätte 
koloriren  können,  aber  deswegen  bin  ich  nicht  in  München, 
das  könnte  ich  zu  Hause  thun;  ich  muss  die  Zeit,  die  ich 
in  dieser  lehrreichen  Umgebung  zubringen  kann,  köstlicher 
und  nützlicher  anwenden,  als  zum  Koloriren,  und  die  Jahre 
würden  mich  nachher  mehr  reuen ,  als  wenn  ich  gar  nichts 

gethan  hätte.“ - —  „Ich  weiß  am  besten,  was  meine 

Schuld  ist  und  was  nicht,  und  werde,  so  Gott  will,  noch 
alle  die  naseweisen  alten  Lebensprediger,  die  trotz  ihren 
klugen  alten  Tagen  noch  nie  allein  ins  Leben  hinaus¬ 
geworfen  waren,  und  trotz  ihren  Erfahrungen,  mit  denen 
sie  sich  brüsten,  noch  nicht  das  eigentliche  Unglück  er¬ 
fahren  haben,  zu  beschämen  wissen.  Die  300  Gulden  werde 
ich,  wenn  mir  Gott  Gesundheit  und  Leben  schenkt,  noch 
vor  sechs  Jahren  abzahlen.  Schreibe  mir,  wenn  die  Zinsen 
jährlich  verfallen  sind.“  —  —  —  „Um  Dir  zu  beweisen, 
dass  ich  meine  Schulden  allenfalls  nicht  durch  Floribus 
und  Wohlleben  erworben  habe,  schreibe  ich  noch,  was  ich 
sonst  nie  gesagt  hätte,  dass  ich  bei  alledem  dennoch  oft 
mehrere  Tage  nichts  genossen  habe,  als  Brot  und  ein  Glas 
Bier;  was  mir  aber  im  geringsten  nichts  macht.  Ich  kann 
mich  an  alles  gewöhnen,  und  es  soll  mir’s  kein  Mensch  an- 
sehen.  Ich  schreibe  dies  nur,  um  allen  Vorwurf  von  Lieder¬ 
lichkeit  abzuwehren.“ 

Von  dem  „Grillenfang“,  der  im  Grünen  Heinrich 
so  köstlich  beschrieben,  von  der  monumentalen 
Kritzelei  auf  dem  acht  Schuh  langen  Carton,  von 
dem  zufällig  durch  den  Borghesischen  Fechter  ver- 
veranlassten  Studium  der  Anatomie,  das  ihn  allmählich 
auf  ganz  neue  Gebiete  hinüberbringt  und  den  Zu¬ 
stand  vollkommenster  Zerfahrenheit  immer  weiter  ent¬ 
wickelt,  ist  in  den  Briefen  nicht  die  Rede.  Gleich¬ 
wohl  ist  anzunehmen,  dass  auch  hier  der  Grüne 
Heinrich  wie  in  vielen  andern  Dingen,  welche  durch 
die  Veröffentlichung  der  Briefe  und  Tagebücher 


84 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


nicht  als  erfundene  Roman-Situationen,  sondern  wahre 
Erlebnisse  sich  darstellen,  getreulich  ein  Stück  Setbst- 
biographie  giebt.  Sein  Umgang  mit  Studenten  mag 
ihn  wohl  —  das  kommt  ja  auch  heut  noch  vor  — 
zuweilen  in  die  Hörsäle  geführt  haben.  Er  kam  vom 
Hundertsten  aufs  Tausendste.  Schnorr’s  Nibelungen¬ 
bilder  führten  ihn  auf  Rechtsaltertümer,  Sagen  u.s.w., 
er  wurde,  wie  er  sich  selbst 
ausdrückt,  „eine  Art  von  Halb¬ 
student.“  Immerhin  machte 
er  sich  Gedanken  über  das 
materielle  Auskommen  und 
findet,  dass  leichtsinniges 
Schuldenmachen  eine  sehr 
verwerfliche  Geschichte  sei. 

„Diese  großen  Worte,  mit 
denen  ich  mir  den  Rat  eines 
weisen  Vaters  ersetzte,  regten 
mein  Gewissen  doch  so  kräftig 
an,  dass  ich  Anstalt  traf,  die 
Thore  des  Erwerbers  aufzuthun. 
Ohne  längeres  Säumen  machte  ich  mich  an  den  Entwurf 
eines  Landschaftsbildes  von  bescheidenem  Umfange,  dessen 
Verkauf  nicht  von  vornherein  unwahrscheinlich  war. 

Zu  Grunde  lag  ein  ansehnliches  Studienblatt  aus  der 
Heimat,  welches  einen  gerodeten  Bergwald  darstellte.  Von 
diesem  zog  sich  ein  stehengebliebener  Saum  von  Eichbäumen 
einen  höheren  Grat  entlang  und  stieg  auf  demselben  ins 
Thal  herunter  an  einen  schäumenden  Waldbach,  wie  ein 
Zug  schreitender  Riesen,  die  sich  unten  sammeln  und  Rat 
halten.  Als  ich  mit  dem  Entwürfe  fertig  war,  fühlte  ich 
•las  Bedürfnis,  die  Ansicht  eines  Kunstgenossen  einzuholen, 
um  nichts  zu  unterlassen,  was  ein  Gelingen  herbeiführen 
konnte.  Denn  der  Ernst  der  Sache  wurde  mir  mit  jedem 
Striche  fühlbarer.“  (Grüner  Heinrich,  Bd.  IV,  S.  35.) 

Hier  deckt  sich  Dichtung  und  Wahrheit  wieder 


Skizze  von  Q.  Keller. 


wenig  an  und  jeder  leuchtete  mit  ungebrochener  Kraft;  also 
waren  auch  seine  Bilder  überall  gern  gesehen,  und  er  kam 
mit  solchem  Fleiße  der  Nachfrage  entgegen,  dass  er  schon 
begann,  Mangel  an  Gegenständen  zu  empfinden  und  mehr 
Gemälde  lieferte,  als  er  Ideen  dazu  im  Vorrat  besaß.  Er 
wiederholte  sich  öfter  und  war  sogar  um  einzelne  Wolken 
—  oder  Erdformen  verlegen,  da  er  alle  schon  ein  oder 
mehrere  Male  irgendwie  gebraucht  hatte,  obschon  er  noch 
nicht  vierzig  Jahre  alt  war.  Denn  er  besaß  eine  stattliche 
Frau  und  eine  Schar  Kinder,  die  ernährt  sein  wollten,  und 
da  er  bei  dieser  Bemühung  einmal  im  glücklichen  Schüsse 
war,  so  gedachte  er  gleich  auch  wohlhabend  zu  werden. 
Wenn  man  für  die  alten  Tage  sorgen  will,  pflegte  er  zu 
sagen,  so  muss  man  das  in  den  jungen  Tagen  thun.  Auch 
sei  es  ihm  unmöglich,  die  einzelnen  seiner  Kinder  in  der 
Armut  zu  denken;  darum  müsse  er  sie  alle  dagegen  schützen 
und  zugleich  hiedurch  bewirken,  dass  sie  einstmals  für  ihre 
Kinder  ebenso  gesinnt  seien;  so  nähmen  die  Dinge  auf  lange 
ihren  guten  Verlauf,  einzig  infolge  eines  entschlossen  ange¬ 
wandten  Grundsatzes.“  (Grüner  Heinrich,  Bd.  IV,  S.  35.) 

Dieser  Mann  nun,  der  „mehr  Gemälde  lieferte, 
als  er  Ideen  dazu  im  Vorräte  besaß“,  war  der  später 
hochangesehene  Landschafter  Julius  Lange  aus  Darm¬ 
stadt.  Aus  Gründen  der  Phantasie-  und  Motivlosig¬ 
keit  stibitzt  er  dem  weniger  Gewandten,  unserm  Keller, 
sein  Motiv  ab,  indem  er  es  in  seiner  Gegenwart  auf 
ein  Stück  Papier  zeichnet,  scheinbar  in  der  wohl¬ 
wollenden  Absicht,  dem  Unerfahrenen  zu  zeigen, 
worauf  es  ankomme.  Das  Unglück  will  es,  dass  die 
Bilder  Beider  gleichzeitig  zur  Ausstellung  kommen, 
wobei  natürlich  Keller  den  kürzeren  zieht  und: 

,, A.ls  ich  im  Weggehen  einen  Augenblick  vor  meinem 
verlassenen  Bilde  weilte,  überzeugte  ich  mich,  dass  es  statt 
besser  zu  werden,  durch  den  Ratschlag  des  Meisters  förmlich 
verarmt  war,  zum  Beweis,  dass  auch  in  diesen  Dingen  der 
Fink  nichts  von  der  Drossel  lernt.“  (Grüner  Heinrich, 
Bd.  IV,  S.  39.) 


in  jeder  Beziehung.  Im  Grünen  Heinrich  ist  die 
vortreffliche  Charakteristik  eines  jener  „beliebten“ 
Maler  gegeben,  die  trotz  ihrer  sichtlichen  Oberfläch¬ 
lichkeit  Lieblinge  des  großen  Publikums  sind  und 
es  dadurch  natürlich  zu 
Wohlhabenheit  und,  wie 
viele  Fälle  es  lehren,  so¬ 
gar  zu  offizieller  Aner¬ 
kennung,  zu  Titeln  und 
Orden  bringen.  Der  ge¬ 
schilderte  Mann  ist  ein 
vorzüglich  gezeichneter 
Typus,  der  überall,  wo 
Kunst  getrieben  wird,  seine 
Vertreter  hat,  damals  wie 
heute. 

„Der  Mann  besaß  eine 
sichere  und  wirksameTechnik; 
er  brachte  sozusagen  keinen 
Pinselstrich  zu  viel  oder  zu 


Die  Aussicht,  ein  ehrlich  entstandenes  Arbeits¬ 
produkt  in  die  Welt  zu  bringen,  um  dadurch  den 
ersten  Schritt  zur  gewollten  Selbständigkeit  wirklich 
zu  thun,  schlägt  also  fehl  durch  das  wenig  an¬ 
ständige  Benehmen  eines 
geschickteren  Kollegen. 
Von  dem  Unglücke  aber, 
das  dem  Bilde  selbst  durch 
unvorsichtige  Behandlung 
seitens  des  Autors  passirte, 
ist  in  einem  Briefe  an 
seine  Mutter  die  Rede : 
(21.  März  42). 

,, —  —  Letzten  Februar 
hatte  ich  einen  Unfall.  Der 
Kunstverein  hier  kauft  all¬ 
jährlich  eine  Menge  Bilder  an, 
welche  dann  verlost  werden. 
Die  Verlosung  war  am  16. 
Februar.  Der  Verein  hatte 
noch  eine  Summe  Geldes  übrig, 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


85 


welche  noch  verwendet  werden  musste;  aber  es  waren  nicht 
genug  Gemälde  zum  Verkaufe  da.  Man  lud  daher  mehrere 
Künstler  ein,  etwas  einzusenden,  und  ich  wurde  auch  ge¬ 
fragt,  ob  ich  vielleicht  etwas  Fertiges  hätte,  das  ich  zu  ver¬ 
kaufen  wünschte.  AVenn  ich  ein  kleineres  Bild  zu  60  80 
Gulden  hätte,  so  wolle  man  es  nehmen.  Ich  lief  vergnügt 
nach  Hause  und  sah  nach,  fand  eine  Landschaft,  die  ich 
vor  mehren  Monaten  schon  gemalt  hatte  und  zeigte  sie  vor. 
Man  fragte  mich  um  den  Preis;  ich  sagte  6  Louisd’or. 
Wurde  angenommen.  Nur  sollte  ich  noch  eine  kleine  Ab¬ 
änderung  machen.  Ich  pechirte  wieder  heim,  pinselte  noch 
schnell  daran  herum,  und  weil  die  Verlosung  schon  in  zwei 
Tagen  vor  sich  ging,  so  stellte  ich  das  Bild  an  den  Ofen, 
damit  es  schnell  trockne,  und  verfügte  mich  darauf  in  die 
Kneipe,  um  ein  Glas  Bier  auf  den  glücklichen  Handel  zu 
trinken.  Ich  sah  das  Bild  nicht  mehr  an  bis  an  den  fol¬ 
genden  Morgen,  und  als  ich  es  da  vom  Ofen  wegnehmen 
wollte,  siehe  —  da  war  meine  arme  Landschaft  von  oben 
bis  unten  angebrannt!  Fahret  hin,  ihr  teuren  60  Gulden! 

Ihr  könnt  Euch  denken,  wie  ich  geflucht  habe;  denn 
ich  hatte  nichts  anderes  fertig,  das  ich  statt  des  verbrann¬ 
ten  hätte  verkaufen  können.“  *)  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  173.) 
Schon  früher  hatte  Keller  geschrieben: 

„Ich  kann  nun  bei  dem  eifrigen  Kunstleben,  welches  in 
Deutschland  herrscht,  meine  Arbeiten  so  gut  verkaufen  als 
ein  anderer,  wenn  ich  fleißig  bin  und  mich  anstrenge.  Ich 
werde  deswegen  den  ganzen  Sommer  über  ins  Gebirge  gehen, 
um  nach  der  Natur  zu  zeichnen  (was  ich  nun  zwei  Jahre 
nicht  gethan  habe  und  mein  größter  Schade  war),  damit  ich 
im  Herbst  und  über  den  Winter  Stoff  zu  Bildern  habe. 
Wenn  ich  das  Bild  in  Zürich  oder  anderswo  verkaufe,  so 
kann  ich  den  ganzen  Sommer  über  wie  ein  König  leben, 
und  im  Herbst  weiß  ich  ganz  sicher  wieder  eine  Landschaft 
in  München  zu  verkaufen.“  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  173.) 

Er  fühlte  also  den  Mangel  eingehender  Natur¬ 
studien  sehr  gut.  Indessen  entschließt  er  sich,  vor¬ 
her  noch  etwas  für  die  Züricher  Ausstellung  d.  J. 
1842  zu  machen,  das  denn  auch  richtig  abgeht. 

1)  J.  C.  Werdmüller,  ein  Münchener  Zeitgenosse  Keller’s, 
erzählte  mir  diesen  Vorfall,  lang  ehe  die  Keller’ sehen  Briefe 
veröffentlicht  wurden.  Er  hatte  den  Schaden  selbst  mit  an¬ 
gesehen.  Von  ihm  rührt  eine  kleine  komische  Radirung 
her,  welche  sich  in  der  Sammlung  der  Züricher  Stadtbiblio¬ 
thek  findet.  Da  sieht  man  G.  Keller,  angethau  mit  großem  Rad¬ 
mantel  und  gewaltiger  Schirmmütze,  das  spanische  Rohr  — 
dess  Abhandenkommen  Keller  in  große  Trauer  versetzte  —  in 
der  Hand.  Darüber  ein  Wappen  mit  einem  Bierfässchen  und 
auf  einem  Spruchband  die  Worte:  „Hier  steht  Herr  G.  Keller.“ 
Eine  Bleistiftzeichnung  von  J.  S.  Hegi,  datirt:  7.  Okt.  1840, 
in  der  gleichen  Sammlung  befindlich  und  offenbar  sehr  ähn¬ 
lich,  stellt  Keller  dar,  wie  er  auf  dem  Sopha  eingeschlafen  ist, 
die  Mütze  auf  dem  Kopf,  unter  dem  die  eine  Hand  liegt, 
während  die  andere  in  der  Tasche  steckt.  Ein  anderes 
Portrait,  am  gleichen  Orte  aufbewahrt,  ist  von  verwandter 
Auffassung.  Endlich  ist  irgend  einer  Heldenthat  des  Grünen 
Heinrich  ein  Denkmal  gesetzt  in  einem  ebenfalls  der  Bibi, 
zu  Zürich  gehörenden  Blatte,  gezeichnet  von  Werdmüller. 
Keller,  auf  dem  Kopfe  die  große  Schirmmütze,  in  aufgestülp¬ 
ten  Hemdärmeln,  hat  den  „Pfifenjoggel“  auf  den  Rücken  ge¬ 
legt.  Ein  Mädel  in  alter  Münchener  Tracht  reicht  dem 
Sieger  einen  Kranz,  rechts  ein  lachender  Bierkrug,  im  Hin¬ 
tergründe  die  Frauentürme. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  3. 


Abermals  verfolgt  ihn  das  Pech.  Das  Bild  litt  nicht 
gerade  Schaden  auf  der  Reise,  doch  war  es,  wie  sich 
die  Mutter  ausdrückt,  „ganz  voll  Dreck  und  Mist“, 
wurde  nicht  ausgestellt,  wohl  aber  im  Kataloge  auf¬ 
geführt.  Statt  dass  nun  jemand  dem  Abwesenden 
an  die  Hand  gegangen  wäre *)  und  den  geringen 
Schaden  in  Ordnung  gebracht  hätte,  wurde  das  Bild 
beiseite  gestellt  und  erst  nach  allen  nur  denkbaren 
Schritten,  welche  Keller’s  Mutter  dafür  that,  hervor¬ 
geholt,  in  Ordnung  gebracht  und  ausgestellt.  Alle 
Bemühungen,  es  für  die  Verlosung  empfehlend  in 
Erinnerung  zu  halten,  nützten  nichts.  „Man  kaufe 
nur  ausgezeichnete  Bilder“  war  die  stereotype  Ant¬ 
wort.  Dagegen  ist  erfreulich,  was  Ludwig  Vogel 
der  Mutter  sagt  und  was  sie  ihrem  Sohne  mitteilt 
(8.  Juli  1842): 

„Obgleich  Dein  Bild  hier  leider  nicht  in  die  Auswahl 
gekommen,  so  muss  ich  Dir  doch  noch  einmal  darüber 
schreiben.  Das  eine  wird  Dich  ermutigen,  das  andere  wird 
Dich  ärgern.  Die  Ausstellung  wurde  also  für  acht  Tage 
verlängert  bis  Mittwoch  den  22.  Juli.  Ich  fasste  noch  den 
Mut  und  ging  Montag  d.  20.  zu  Herrn  Vogel  im  „Berg“, 
hauptsächlich,  ein  richtiges  Urteil  über  Dein  Bild  zu  ver¬ 
nehmen.  Er  war  sehr  freundschaftlich  und  sagte:  „Mit 
Freuden  kann  ich  Ihnen  sagen,  dass  mir  das  Ganze  sehr 
gut  gefallen  bis  auf  die  Luft.  Das  Gewölk  ist  viel  zu 
schwer  und  zu  dick.  Es  sollte  viel  leichter  und  reiner  sein. 
Bemerken  Sie  ihm  dieses,  wenn  Sie  schreiben!  Sonst  ver¬ 
rät  das  Bild  sehr  viel  Fassungskraft  und  Erfindungsgeist. 
Ich  kann  Ihnen  sagen,  dass  ich  dieses  nicht  von  ihm  er¬ 
wartet  habe.  Ich  habe  mich  beim  Anschauen  des  Bildes 
sehr  verwundert  u.  s.  w.  Ich  hoffe,  dass  er  später  schöne 
Sachen  liefern  könne“.  (Bächtold,  Bd.  I,  S.  180). 

Der  gleiche  Brief  beleuchtet  so  recht  bezeichnend 
die  Zustände,  unter  denen  die  Ankäufe  zu  stände 
gebracht  wurden.  Der  patzigste  unter  allen  „Kunst¬ 
freunden“,  an  welchen  sich  die  besorgte  Mutter 

1)  Die  Ausstellung  war  nicht  so  groß  an  Umfang,  dass 
dies  nicht  hätte  geschehen  können.  Sie  zählte  249  Nummern. 
In  die  Verlosung  kamen  39.  —  Es  ist  rührend,  was  die 
Mutter  darüber  schreibt:  —  —  —  „Es  wurde  mit  großen 
Augen  von  uns  Nichtkennern  bewundert.  Ich  stand  lange 
mit  Nachdenken  dabei  und  berechnete  eben  die  Kosten  der 
Rahmen  und  die  Zeit  der  Arbeit.  Und  dann  wieder  die  Be¬ 
sorgnis,  wenn  es  hier  nicht  verkauft  wird!  Freude  und 
Kummer  wechselten  stets  meine  Gedanken.“ 

Bezeichnend  aber  ist,  was  folgt:  „Ich  ging  wieder  zu 
Frau  Dekan,  weil  sie  auch  etwa  Einfluss  hat.  Sie  sagte, 
dass  sie  Donnerstag  den  ganzen  Nachmittag  dort  gewesen. 
Das  Bild  habe  ihr  ziemlich  gefallen!“  —  —  — -  —  Es  muss 
einem  dabei  doch  unwillkührlich  einfallen,  was  der  schwei¬ 
zerische  Bundesrat  i.  J.  1894  bezüglich  des  in  Bern  statt¬ 
findenden  „Salons“  bestimmte.  Bisheriger  Gepflogenheit  zu¬ 
wider  sollen  nämlich  in  Zukunft  Bilder,  welche  von  Mit¬ 
gliedern  der  Ankaufskommission  gemalt  sind,  nicht  mehr 
zum  Ankäufe  zugelassen  werden!  —  Die  Bestimmung  ist 
nicht  grundlos  erfolgt. 


12 


S6 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


wendet,  ist  ein ,, Kunst-“  und  Flach-Maler  (Anstreicher) 
Huber,  der  natürlich  auch  das  breitmäuligste  Urteil 
abgieht. 

Das  Bild  wurde  nicht  verkauft.  Von  der  Not, 
die  inzwischen  über  ihren  Gottfried  hereingebrochen 
war,  hatte  die  Mutter  keine  Ahnung.  Er  schreibt 
zwar  unterm  24.  October  1842: 

„Ich  habe  meine  Not  einigen  älteren  Herrn  geklagt, 
■welche  mir  den  Rat  gaben,  einige  Monate  nach  Hause  zu 
gehen,  dort  fleißig  zu  arbeiten,  weil  mich  das  Leben  nicht 
so  hart  ankommt,  wie  hier,  und  nachher  wiederzukom¬ 
men.  Ich  fand  diesen  Rat  ziemlich  gut,  besonders,  da  ich 
ein  wenig  Heimweh  verspüre  und  eigentlich  fast  keine  an¬ 
dere  Wahl  ist,  wenn  ich  nicht  ärger  in  die  Tinte  kommen 

will. - Dass  ich  also  heimkomme  für  ein 

paar  Monate,  ist  ziemlich  nötig,  und  Du  wirst  mir  Deine 
Thore  gewiss  nicht  verschließen;  ich  werde  mein  Möglichstes 
thun,  dass  Dir  meine  Anwesenheit  nicht  zu  beschwerlich 
fällt.  Es  handelt  sich  hauptsächlich  um  das  Reisegeld.  Ich 
erwarte  zwar  alle  Tage  mein  Bild  aus  Basel  zurück,  wel¬ 
ches  ich  auf  jeden  Fall  für  40  oder  50  Gulden  einem  Händler 
verkaufen  kann,  um  Reisegeld  zu  bekommen;  aber  da  es 
auf  dem  Hinweg  so  unsicher  ankam,  so  könnte  es  sich  jetzt 
leicht  auch  verzögern  ’).  Ich  muss  aber  bis  in  zehn  Tagen 
mein  Logis  räumen  und  möchte  nicht  gerne  noch  ein  neues 
mieten  vorher.  Wenn  es  Dir  also  möglich  ist,  so  bitte  ich 
Dich,  mir  30  Gulden  zu  schicken,  damit  ich  dadurch  nicht 
aufgehalten  bin  und  sogleich  fort  kann.  Kommt  mein  Bild 
noch  vorher,  so  bringe  ich  das  Geld  dafür  wieder  heim,  und 
kommt’s  nachher,  so  wird  ein  Freund  von  mir  es  besorgen 
und  überschicken.  Nur  muss  ich  Dich  bitten,  mir  sogleich 
es  zu  schicken,  oder  im  Nichtfalle  mir  zu  schreiben.  Über 
alles  weitere  hoffe  ich  mündlich  Dich  zu  besprechen  und 
zu  beruhigen,  da  Du  alle  Ursache  hast,  über  diese  neue  un¬ 
verhoffte  Lage  der  Dinge  besorgt  zu  sein  und  zu  glauben, 
es  werde  am  Ende  halt  immer  so  gehen.  Aber  ich  kann 
Dir  nur  versichern,  dass  es  zwei  Dritteln  von  den  Künstlern 
so  gegangen  ist,  und  ich  mache  halt  die  Erfahrungen  die 
ein  jeder  gemacht  hat.  Besser  ist’s,  man  hat  in  der  Jugend 
zu  kämpfen  als  im  Alter.  Freilich  quält’s  mich  genug,  dass 
Du  am  meisten  dabei  zu  leiden  hast.  Wäre  ich  früher  nach 
München  gekommen,  so  wäre  ich  früher  aus  dem  Pech;  denn 
ich  sehe  immer  mehr  ein,  dass  meine  Zeit  und  Lehrjahre  zu 
Hause  rein  verloren  waren“.  (Bächtold,  Bd.  1,  S.  185). 

1)  Keller  macht  in  einem  späteren  Briefe  an  seine 
Mutter,  geschrieben  zu  Frauen  fei  d,  seinem  gepressten  Herzen 
über  diese  Zustände  Luft:  „Mein  Bild  habe  ich  den  letzten 
Tag  vor  meiner  Abreise  noch  erhalten,  aber  in  welchem  Zu¬ 
stande!  Der  Rahmen  war  ganz  ruinirt.  Es  war  lurnpen- 
mäßig  eingepackt.  Es  nimmt  mich  nur  Wunder,  dass  sich 
die  hochmütigen  und  vornehmen  Herrn  Kunstgönner  in  der 
Schweiz  nicht  schämen,  einen  jungen  Kerl  und  armen  Teufel 
so  um  seine  Sachen  zu  bringen“!!  Ob’s  ihm  heute  anders 
erginge?  Einem  jungen,  in  München  lebenden  Schweizer 
Künstler  wurde  vor  einigen  Jahren  bei  der  Kunst- Ausstellung 
in  Bern  ein  Loch  in  sein  Bild  gestoßen.  Auf  seine  Be- 
-ch werde  hin  wurde  ihm  der  Bescheid:  „Man  könne  ja  ein 
Stück  von  dem  Bilde  abnehmen  oder  es  oval  zuschneiden, 
dann  bliebe  es  immer  noch  eine  ganz  hübsche  Ausstellungs¬ 
nummer“.  Der  das  schrieb,  war  aber  nicht  etwa  oben  ge¬ 
nannter  Herr  Huber,  „Kunst-“  und  Flachmaler,  ein  „Seld- 
wyler“  aber  war  er  sicherlich. 


Der  nächste  Brief  ist  datirt:  Frauenfeld,  den 
22.  November  1842.  Keller  batte  also  den  Rückzug 
von  München  angetreten  und  damit  zugleich  —  er 
ahnte  es  vielleicht  selbst  noch  nicht  —  den  Rück¬ 
zug  vom  bisherigen  Streben.  Die  Ursachen,  die  ihn 
dazu  zwangen,  hat  er  im  Grünen  Heinrich  niederge¬ 
legt.  Er  war  manchmal  geradezu  am  Verhungern. 
In  dem  Kapitel  des  Romanes  „Das  Flötenwunder“ 
ist  ohne  Umschweif  die  ganze  Künstler-Misere  er¬ 
zählt.  Keller  nahm  nochmals  einen  Anlauf,  dem 
Schicksale  zu  trotzen,  und  malte  ein  paar  kleinere 
Sachen,  die  er,  ein  öffentliches  Ausstellen  umgehend, 
beim  Kunsthändler  anzubringen  hoffte.  Bescheiden 
tritt  er  in  die  Räume  des  Mannes  ein,  „welcher  auch 
ganz  neue  Bilder  kaufte,  wenn  sie  vor  seiner  Kenner¬ 
schaft  Gnade  fänden,  oder  seine  Gewinnlust  sonst 
durch  irgend  einen  geheimnisvollen  Vorzug  reizten.“ 
Die  Charakterisirung  des  Händlers  und  der  Lieb¬ 
haberkonferenz,  „durch  die  solche  Biedermänner  ihrem 
Hazardspiel  einen  wissenschaftlichen  Anstrich  zu 
geben  pflegen“,  ist  vorzüglich.  Es  wäre  heute  nicht 
um  ein  Haar  anders. 

Getäuschte  Hoffnung!  Er  darf  seine  zwei  Bild¬ 
chen  nicht  einmal  vorzeigen.  Ein  Händler  niedereren 
Ranges  ist  die  nächste  Station.  „Die  Sachen  sind 
nicht  übel,  aber  sie  sind  nach  alten  Kupferstichen 
gemacht“,  lautet  der  Bescheid.  Keller  beteuert,  dass 
Naturstudien  zu  Grunde  lägen. 

„In  diesem  Falle  kann  ich  die  Bilder  erst  recht 
nicht  brauchen.  Man  wählt  nach  der  Natur  keine 
Motive,  die  wie  aus  alten  Kupferstichen  aussehen. 
Man  muss  mit  der  Zeit  leben  und  vorwärts  schreiten.“ 

„Da  hatte  ich  die  ganze  Stilfrage  in  einer  Nuss!“ 
Weiter,  weiter!  Ein  israelitischer  Schneider,  der  auch 
mit  Bildern  handelt,  „zeigt  sich  gleich  bereit,  die 
Sachen  anzunehmen,  betrachtet  sie  mit  lüsterner 
Neugierde,  ließ  sich  alles  wie,  was  und  wo  erklären 
und  fragte  zuletzt,  ob  ich  die  Dinger  wirklich  selbst 
gemacht  habe  und  ob  sie  gut  gemalt  seien?  Das  war 
gar  nicht  so  naiv,  wie  es  aussah;  denn  er  blickte 
mich  in  der  Zeit  genau  an,  um  aus  meinen  Mienen 
den  Grad  meines  berechtigten  oder  eitlen  Selbstver¬ 
trauens  zu  lesen,  wie  er  einen  andern,  der  ihm  einen 
goldenen  Ring  antrug,  zunächst  frug,  ob  derselbe 
auch  echt  sei.“  Der  Antrag  lautet  auf  Übernahme 
in  Kommission.  Lauter  fehlgeschlagene  Hoffnungen! 
Dazu  der  Zwiespalt  im  eigenen  Wesen: 

„Während  Wahl  und  Pflicht  mich  an  das  körperliche 
Schaffen  banden,  gewöhnte  sich  der  Geist  an  das  Leben  in 
seiner  eigenen  Bewegung;  das  langsame,  kaum  mehr  von 
Hoffnung  beseelte  Hervorbringen  eines  einzigen  Gedankens 
durch  die  Hände  schien  voll  unnützer  Mühsal  zu  sein,  wenn 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


87 


in  der  gleichen  Zeit  tausend  Vorstellungen  auf  den  Flügeln 
des  unsichtbaren  Wortes  vorüberzogen.  Diese  verkehrte 
Empfindung  beschlich  mich  um  so  unbewachter,  als  meine 
Teilnahme  an  wissenschaftlichen  Dingen  sich  auf  Hören  und 
Lesen,  auf  bloßes  Empfangen  und  Genießen  beschränkte 
und  ich  die  Arbeit  wissenschaftlichen  Hervorbringens  nicht 
aus  Erfahrung  kannte.  So  drehte  ich  mich  gleich  einem 
Schatten  umher,  der  durch  zwei  verschiedene  Lichtquellen 
doppelte  Umrisse  und  einen  verfließenden  Kern  erhält.“  — 
(Grüner  Heinrich,  Bd.  IV,  Seite  56). 

Das  Einbinden  eines  Manuskriptes  kostet  den 
Restbestand  der  mageren  Barschaft  und  zum  ersten 
Male  hungert  er,  und  zwar  gleich  mehrere  Tage  hin¬ 
tereinander.  Als  erstes,  was  zur  Linderung  der 
schlimmsten  Not  versilbert  wird,  kommt  die  Flöte 
dran.  Mit  bellendem  Ma^en  muss  er  dem  Trödler 

o 

auch  noch  was  Vorspielen  und  wählt  hierzu  die  Arie 
aus  dem  Freischütz:  „Und  ob  die  Wolke  sie  ver¬ 
hülle  —  die  Sonne  bleibt  am  Himmelszelt.“  —  — 
Der  Flöte  folgt  der  „bescheidene  Bücherschatz“,  dann 
Studien  und  Zeichnungen,  erst  einzeln,  dann  partien¬ 
weise.  Schließlich  werden  die  großen  Kartons  in 
kleinere  Stücke  zerschnitten,  um  quantitativ  nach 


mehr  auszusehen,  und  als  diese  Quelle  des  Lebens¬ 
unterhaltes  endlich  auch  versiegt,  lässt  er  sich  von 
seinem  alten  Trödelmännchen  anstellen,  um  Fahnen¬ 
stangen  anzustreichen.  Bald  geht  die  Arbeit  gut  von 
statten.  Der  schon  einmal  genaunte  Werdmüller 
sagte,  dass  auch  dies  keineswegs  in’s  Gebiet  der 
Dichtung  gehöre,  sondern  dass  man  in  der  letzten 
Zeit  Keller  selten  gesehen  und  er  selbst  auch  nie 
gesagt  habe,  wo  er  tagsüber  weile.  Farbenspuren 
an  den  Händen  und  Kleidern  hätten  aber  verraten, 
dass  er  „anstreiche.“ 

Keller  hat  später  einmal,  auf  die  anfänglichen 
Misserfolge  seiner  lyrischen  Gedichte  anspielend, 
gesagt:  „Wenn  man  mit  einer  Sache  nicht  durch¬ 
dringt,  so  liegt  die  Schuld  nicht  an  den  andern, 
sondern  am  Urheber  selbst,  der  entweder  voreilig 
und  leichtsinnig  verfahren  ist  oder  schlecht  beraten 
war.“  Vielleicht  ist  dies  auch  auf  den  Maler  Gott¬ 
fried  Keller  anwendbar.  Er  kehrte  der  Kunststadt 
den  Rücken  und  zog  im  Herbst  1843  wieder  heim, 
gen  Zürich. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Moderne  Elzevir- 
ausgaben  bringt  eine 
neue,  junge  Verlags¬ 
firma  ,  Hermann  See- 
mann  in  Leipzig,  in 
den  Handel.  Es  sind 
kleine  Sedezbändchen 
nach  dem  Muster  fran¬ 
zösischer  und  engli¬ 
scher  Luxusausgaben, 
durch  zierliche  Holz¬ 
schnitte  illustrirt  und 
mit  gutem  Geschmack 
ausgestattet.  Seither 
erschienen  folgende 
Bändchen :  Chamisso, 
Peter  Schlemihl,  Shakespeare,  Romeo  und  Julia,  Heine, 
Harzreise,  Eichendorff,  Aus  dem  Leben  eines  Taugenichts, 
klassische  Balladen  von  Goethe  und  Schiller,  Lessing’s  Minna 
von  Bamhelm.  Jedes  Bändchen  kostet  geheftet  2  M. ;  in 
weichem,  sehr  ansprechendem  Ganzlederband  3  M.  Sechs 
Bändchen  in  elegantem  Lederkästchen  sind  für  20  M.  er¬ 
hältlich  und  bilden  eine  treffliche  Weihnachtsgabe. 

Auf  Wunsch  der  Vorstände  des  Britischen  Museums  sollen 
auf  dem  sog.  Parliament  Hill  in  der  Nähe  von  London  Aus¬ 
grabungen  vorgenommen  werden.  Es  handelt  sich  um  die  Lös¬ 
ung  der  Frage,  ob  unter  dem  dortigen  Tumulus  die  Königin  Boa- 
dicea  begraben  ist,  wie  der  Volksmund  behauptet.  Sie  ver¬ 
suchte  England  vom  Joche  der  Römer  zu  befreien,  nahm 
Verulamium  im  Gebiete  der  Catavellauner  ein,  und  drang 
bis  Londinum  vor,  nachdem  sie  in  einer  großen  Schlacht 


angeblich  90000  Römer  hatte  töten  lassen.  Von  Suetonius 
Paulinus  besiegt,  vergiftete  sie  sich  im  Jahre  63  n.  Chr.  — 
Fachmänner  sind  der  Ansicht,  dass  die  Königin  mit  ihrer 
Goldkette ,  die  von  Tacitus  ausführlich  beschrieben  wird,  be¬ 
graben  wurde,  so  dass  die  Identität  etwaiger  Vorgefundener 
Gebeine  leicht  festgestellt  werden  könnte.  — : — 

Im  „Bolletino  archeologico“  zeigt  Professor  Orazio  Ma- 
rucchi  den  Fund  eines  fragmentarischen  antik-römischen 
Kalenders  auf  dem  Esquilinus  an.  Dieses  Calendarium 
wurde  bei  den  Erdarbeiten,  welche  gegenwärtig  zur  Ver¬ 
längerung  der  Via  dei  Serpenti  ausgeführt  werden,  auf  einem 
Grundstücke  vor  dem  Kolosseum  ausgegraben.  Marucchi 
verlegt  die  Zeit  der  Anfertigung  des  Kalenders  in  die  ersten 
Regierungsjahre  des  Tiberius,  weil  die  göttlichen  Ehren  dar¬ 
auf  Erwähnung  finden,  welche  dem  Andenken  des  Augustus 
im  Jahre  767  der  Stadt  erwiesen  wurden.  Marucchi  schließt 
daraus  für  die  Entstehungszeit  des  Calendariums  auf  die 
Jahre  768  oder  769.  R.  Bk. 

Der  Akademie  der  Inschriften  in  Paris  teilte  Homolle, 
der  Direktor  der  französischen  Schule  in  Athen,  mit,  dass 
der  zweite  mit  antiken  Musiknoten  versehene  Hymnus,  der 
im  Schatzhause  der  Athener  zu  Delphi  ausgegraben  wurde, 
sich  von  dem  im  letzten  Jahre  entdeckten  Apollon- Hymnus,  der 
so  großes  Aufsehen  erregte,  dadurch  unterscheidet,  dass  er 
nicht  nur  mit  Gesangs-,  sondern  auch  mit  Instrumentalnoten 
versehen  ist.  —  Da  die  Griechen  für  die  Instrumente  ein 
anderes,  altertümlicheres  Notenalphabet  brauchten,  als  für 
die  Stimmen,  ist  ein  Irrtum  unmöglich.  Diese  großartige 
archäologische  Entdeckung  wird  endlich  in  die  Frage  Licht 
bringen,  inwiefern  die  Griechen  Harmonie  anwendeten.  — : — 


Aus  Eichendorff’s  Taugenichts. 
(Hans  Looschen.) 


8S 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Zu  unserem  Bilde.  Die 
diesem  Hefte  beigegebene 
Originalradirung  von  K. 
Jahncke  „Die  heilige  Nacht“ 
gehört  zu  den  Radirungen, 
die  bei  der  Konkurrenz  im 
Oktober  1892  von  den  Preis¬ 
richtern  für  würdig  erachtet 
wurde,  angekauft  zu  werden. 
Über  seine  Entwickelung 
teilt  uns  der  Künstler  fol¬ 
gendes  mit:  „Ich  bin  in 
Güstrow  in  Mecklenburg- 
Schwerin  als  Sohn  eines 
Realschullehrers  am  20. 
April  1860  geboren,  verlor 
meine  Eltern  frühe,  und  da 
von  meinen  Verwandten 
für  nötig  befunden  wurde, 
dass  ich  bald  auf  eigene 
Füße  gestellt  werde,  so 
wurde  ich  in  die  Lehre  zu 
einem  Maler  und  Lackirer 
gethan;  absolvirte  dort  eine  vierjährige  Lehrzeit  und  ging 
als  Malergehilfe  nach  Berlin.  Nachdem  ich  majorenn 
geworden,  benutzte  ich  ein  kleines  Erbteil  zum  Besuch  der 
dortigen  Kunstakademie,  doch  stand  ich  bald  ohne  Mittel 
und  musste  mir  meinen  Unterhalt  durch  kunstgewerbliche 
Arbeiten  zu  erringen  suchen,  um  somit  die  Akademie  weiter 
besuchen  zu  können.  Mir  gefiel  jedoch  die  Berliner  Mal¬ 
weise  nicht,  und  so  trachtete  ich  immer,  nach  München  zu 
kommen,  was  ich  im  Jahre  1886  auch  ausführen  konnte. 
Ich  trat  hier  in  die  Malschule  des  Herrn  Prof.  v.  Linden- 


schrnit  und  später  in 
das  Atelier  für  Radi¬ 
rung  des  Herrn  Pro¬ 
fessor  J.  L.  Raab  und 
wurde  vom  Professoren¬ 
kollegium  auch  mit  einer 
Medaille  für  meine  Ar¬ 
beiten  ausgezeichnet.  Im 
Jahre  1889  machte  ich 
mich  selbständig  und 
habe  seit  dieser  Zeit  alle 
Jahre  im  Glaspalast, 

Wien,  Berlin,  Chicago 
etc.  ausgestellt.  Meine 
ersten  Arbeiten  waren 
Porträts  in  Ölfarbe  und 
kann  ich  wohl  sagen, 
dass  dieselben  nicht  un¬ 
beachtet  blieben.  In¬ 
zwischen  hatte  ich 
eine  große  Radirung 
nach  dem  Bilde  0. 

Gebler’s  (Reineckes  En¬ 
de,  neue  Pinakothek)  gemacht,  und  bei  einer  von  dem 
hiesigen  Kunstverein  ausgeschriebenen  Konkurrenz  wurde 
mir  auf  oben  erwähnte  Radirung  hin  der  Auftrag  zu  teil, 
nach  dem  bekannten  Gemälde  des  Herrn  Prof.  W.  v.  Diez 
(Das  Verhör)  eine  große  Platte  zu  radiren,  was  ich  auch 
zur  Zufriedenheit  des  Vorstandes  des  Kunstvereins  that.  Von 
meinen  Originalradirungen  wurde  meine  „Heilige  Nacht“ 
derzeit  von  Ihnen  angekauft  und  wird  somit  wohl  am  mei¬ 
sten  bekannt  werden“. 


Aus  Cbamisso’s  Peter  SeMemilil. 
(Hans  Looschen.) 


Aus  Heine’s  Harzreise.  (Ludw.  Stein  ) 


Aus  Hauffs  Phantasien.  (Adelb.  Niemeyer.) 


Herausgeber:  Carl  von  TAitxoiv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


DIE  HEILIGE  NACHT. 


DtucI  v.  L.An^erer ,  Berlin. 


Stürmische  Wogen.  Monumentalbrunnen  in  Dresden  von  R.  Diez. 


DIE  NEUEN  DRESDNER  MONUMENTALBRUNNEN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ENN  man  die  Summen  ver¬ 
gleicht,  welche  die  einzel¬ 
nen  deutschen  Staaten  für 
öffentliche  Kunstzwecke 
jährlich  auf  wenden,  wird 
man  finden,  dass  auf  diesem 
Gebiete  der  sächsische  Staat 
in  erster  Reihe  zu  nennen 
ist.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Haupt-  und 
Residenzstadt  Dresden,  die  durch  eine  Reihe  nicht 
unbeträchtlicher  Stiftungen  in  der  Lage  ist,  von  Zeit 
zu  Zeit  größere  Aufträge  für  ihre  Verschönerung 
durch  die  Kunst  zu  erteilen.  Es  ist  gar  keine  Frage, 
die  Staatsregierung  ebensowohl  wie  die  Stadtver¬ 
waltung  sind  in  Dresden  eifrig  bemüht,  die  monu¬ 
mentale  Kunst  zu  fördern.  Wie  weit  dieses  Be¬ 
streben  von  Erfolg  gekrönt  ist  oder  nicht,  darüber 
gehen  allerdings  die  Meinungen  der  Kunstverstän- 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  4. 


digen  oft  sehr  auseinander,  und  thatsächlich  erfährt 
so  manche  Schöpfung,  die  der  Dresdener  Lokal- 
patriotismus  in  den  Himmel  erhebt,  außerhalb  eine 
ziemlich  kühle  Beurteilung.  Um  so  erfreulicher  er¬ 
scheint  daher  der  Umstand,  dass  die  neueste  Be¬ 
reicherung  an  Kunstwerken,  die  Dresden  durch  die 
Errichtung  der  beiden  Monumentalbrunnen  auf  dem 
Albertplatz  erfahren  hat,  einstimmig  als  eine  überaus 
dankenswerte  Gabe  der  Güntz-Stiftung  an  die  Stadt 
bezeichnet  worden  ist.  Die  beiden  Brunnen  bilden 
eine  entschiedene  Anziehungskraft  für  die  Neustadt, 
die  sich  bisher  eines  künstlerischen  Schmuckes  von 
ähnlichem  Werte  nicht  zu  erfreuen  hatte,  und  wenn 
wir  auch  die  von  Dresdener  Kritikern  wiederholt 
ausgesprochene  Versicherung,  dass  keine  deutsche 
Stadt  so  herrliche  Brunnen  wie  diese  besitze,  nicht 
zu  unterschreiben  vermögen,  weil  wir  uns  sofort  an 
die  schönen  Renaissancebrunnen  süddeutscher  Städte, 


13 


90 


DIE  NEUEN  DRESDNER  MONUMENTALBRUNNEN. 


z.  B.  an  die  Brunnen  in  Wien,  München,  Augsburg 
und  Nürnberg  erinnern  und  billig  genug  denken,  um 
auch  dem  Leipziger  Mendebrunnen  und  dem  neuen 
Berliner  Schlossbrunnen  ihr  Recht  widerfahren  zu 
lassen,  so  stimmen  wir  doch  allen  denen  bereitwilligst 
zn,  welche  die  beiden  Dresdener  Brunnen  als  höchst 
bedeutende  Leistungen  anerkennen. 

Ihr  Schöpfer  ist  der  Bildhauer  Robert  Diez,  der 
sich  schon  durch  seinen  im  Jahre  1888  vollendeten 
Gänsedieb  auf  dem  Brunnen  am  Ferdinandsplatz  in 
der  Altstadt  einen  geachteten  Namen  errungen  und 
als  Nachfolger  HäJmels  bereits  erfreuliche  Proben 
seiner  Wirksamkeit  als  Lehrer  an  der  Dresdener 
Akademie  abgelegt  hat.  Fast  zwei  Jahrzehnte  lang 
hat  sich  Diez  mit  dem  Gedanken  an  diese  Brunnen 
beschäftigt,  da  bereits  im  Jahre  1875  bei  der  An¬ 
lage  der  beiden  großen  Wasserbecken  der  Plan  auf¬ 
tauchte,  sie  mit  plastischem  Schmuck  zu  versehen. 
Bei  dem  vom  Rat  im  Jahre  1879  ausgeschriebenen 
Wettbewerb  wurde  der  Diez’sche  Entwurf  neben 
zwei  anderen  durch  Verleihung  eines  Preises  aus¬ 
gezeichnet.  Doch  vergingen  noch  eine  Reihe  von 
Jahren,  bis  eine  endgültige  Entscheidung  getroffen 
wurde.  Erst  zu  Weihnachten  1883  erhielt  Diez  vom 
Rat  den  Auftrag,  den  figürlichen  Schmuck  der  beiden 
Brunnen  nach  seinen  inzwischen  umgearbeiteten 
Entwürfen  für  den  Erzguss  zu  modelliren.  Der 
Guss  erfolgte  in  der  Erzgießerei  von  Albert  Bierling 
in  Dresden,  aus  der  in  neuerer  Zeit  eine  Reihe 
technisch  wohlgelungener  Werke  hervorgegangen 
sind.  Die  beiden  großen,  aus  geschliffenem  Granit 
hergestellten  Wasserbecken,  aus  denen  die  Diez’schen 
Gruppen  hervorragen,  sind  das  Werk  des  Architekten 
Weidner ,  während  der  Schmuck  der  bronzenen 
Schalen  über  den  Figuren  von  dem  Bildhauer 
Clemens  Grundig  herrührt. 

Beide  Brunnen  gehören  auf  das  engste  zusam¬ 
men  und  bilden  trotz  der  Gegensätze,  die  in  ihnen 
verkörpert  erscheinen ,  eine  in  sich  geschlossene 
künstlerische  Einheit.  In  der  einen  Gruppe  hat 
Diez  versucht,  die  „stürmischen  Wogen“,  in  der 
anderen  das  „stille  Wasser“  darzustellen.  Er  that 
dies  in  der  Weise,  dass  er  in  dem  ersten  Falle  männ¬ 
liche  Kraft  und  wild  bewegte  Leidenschaft,  in  dem 
zweiten  weibliche  Anmut  und  Schönheit  und  idyl¬ 
lischen  Frieden  zu  Trägern  seines  Gedankens  erhob. 
Zu  diesem  Zwecke  griff  er  in  die  uns  von  den  Alten 
überlieferte  Welt  der  Wassergötter  und  Wasser¬ 
menschen,  aber  er  vermied  die  große  Gefahr,  uns 
frostige  Allegorien  und  Gestalten  nach  bekannten 
Mustern  zu  geben,  und  hat  sich  gerade  dadurch  als 


ein  selbständiger,  mit  reicher  Phantasie  begabter 
Künstler  erwiesen. 

Im  einzelnen  seine  Gestalten  und  Gruppen  auf 
ihre  spezielle  Bedeutung  untersuchen  zu  wollen, 
halten  wir  für  verfehlt.  Man  kann  sich  leicht  eine 
Erklärung  ausdenken  und  ein  sinniges  Märchen  da¬ 
zu  erfinden;  wenn  man  aber  im  Angesicht  der 
Brunnen  die  Probe  machen  will,  kommt  man  bald 
in  die  Brüche  und  muss  sich  gestehen,  dass  auch 
eine  andere  Auffassung  möglich  sei.  Darin  liegt 
vielleicht  ein  Mangel  der  Diez;schen  Schöpfungen, 
ein  Mangel  wenigstens  für  den,  der  auch  bei  dem 
Betrachten  eines  Kunstwerkes  nicht  über  die  süße 
Gewohnheit  des  Schulmeistern s  hinauskommt.  Wer 
aber  ein  großes  Kunstwerk  als  Ganzes  zu  erfassen 
weiß  und  der  Phantasie  des  Künstlers  möglichst 
unbeschränkte  Rechte  zugesteht,  wird  nicht  mäkeln 
wollen,  wenn  ihm  der  Zusammenhang  der  Gruppen 
im  einzelnen  nicht  unmittelbar  klar  ist,  ebenso  wenig 
wie  er  geneigt  sein  wird,  Böeklins  Bilder  oder 
Klingers  Radirungen  deshalb  zu  verwerfen,  weil  ihm 
nicht  jede  in  ihren  Schöpfungen  hervortretende  Be¬ 
ziehung  sofort  verständlich  wird. 

Am  deutlichsten,  das  ist  für  uns  unzweifelhaft, 
hat  der  Künstler  seine  Absichten  in  den  „stürmischen 
Wogen“  auszudrücken  gewusst,  die  uns  in  jeder 
Hinsicht  als  die  bedeutendere  Leistung  erscheinen. 
Wie  gewaltig  ist  die  männliche  Figur,  die  auf  dem 
aus  dem  Gewühl  sich  mit  äußerster  Kraftanspan¬ 
nung  emporarbeitenden  Meerross  mit  den  Krallen¬ 
füßen  dem  Beschauer  entgegenstürmt.  Der  Künst¬ 
ler  mag  sich  dabei  wohl  die  Personifikation  des 
Sturmes  gedacht  haben,  der  die  Wogen  und  Wellen 
zum  tosenden  Kampf  aufruft.  Aber  auch  alle 
übrigen  Gestalten  dieser  Gruppe  zeigen  sich  in 
leidenschaftlichster  Bewegung  begriffen.  Der  Aufruhr 
des  Elementes  ist,  wenn  wir  den  Künstler  recht 
verstehen,  nichts  anderes,  als  die  Wirkung,  die  der 
Hass  und  die  Feindschaft  seiner  Bewohner  unter¬ 
einander  erzeugt.  Wenn  aber  der  Kampf  ausgetobt 
hat  und  die  bösen  Geister  sich  zeitweilig  zur  Ruhe 
gezwungen  haben,  dann  senkt  sich  Frieden  und  Se¬ 
ligkeit  über  die  Wasser  und  die  lieblichen  Bewohner 
der  Tiefe,  die  der  Dichter  sich  nur  in  Gestalt  schöner 
Meermädchen  und  Meerfrauen  denken  kann,  steigen 
empor  und  verlocken  die  Menschen  durch  ihren  Ge¬ 
sang  und  ihre  Schönheit,  in  ihr  Reich  unterzutauchen. 
Diese  Gedanken  werden  durch  die  weiblichen  Fi¬ 
guren,  die  das  „stille  Wasser“  verkörpern  sollen, 
ausgedrückt.  Aber,  merkwürdig  genug,  so  wahr¬ 
haft  genial  Diez  in  der  Darstellung  der  Kraft  und 


DIE  NEUEN  DRESDNER  MONUMENTALBRUNNEN. 


91 


Leidenschaft  erscheint,  so  wenig  sicher  fühlt  er  sich 
in  der  Schilderung  weiblicher  Anmut  und  Schönheit. 
Die  ganze  Gruppe,  die,  wie  die  der  „stürmischen 
Wogen“,  in  vier  Einzelgruppen  zerlegt  werden  kann, 
ist  ohne  Zweifel  ungemein  schön  komponirt.  Aber 
dass  sie  komponirt  erscheint  und  nicht  so,  wie  die 
der  Wogen,  unmittelbar  wirkt  wie  das  Leben,  darin 
liegt  ihr  relativer  Mangel.  Dazu  kommt  noch  der 
weitere  Fehler,  dass  die  eine  oder  die  andere  dieser 
weiblichen  Gestalten  den  Eindruck  akademischer 


lieh  zum  Ausdruck,  ohne  dass  von  einer  Übertreibung, 
wie  sie  die  Barockkunst  in  solchen  Fällen  häufig 
zeigt,  die  Rede  sein  könnte.  Der  Künstler  muss  die 
sorgfältigsten  Naturstudien  gemacht  haben,  um  so, 
bis  aufs  Kleinste  herab,  seine  Aufgabe  bewältigen 
zu  können.  Nur  in  einem  Falle  können  wir  uns 
mit  seiner  Ausführung  nicht  einverstanden  erklären; 
oder  hätten  wir  Unrecht,  wenn  wir  behaupten,  dass 
solche  Hüften,  wie  sie  der  oben  erwähnte  Reiter  zeigt, 
nicht  mehr  männlich,  sondern  entschieden  weiblich 


Stilles  Wasser.  Monumentalbrimnen  in  Dresden  von  B.  Diez. 


Korrektheit  und  Leere  macht,  was  z.  B.  bei  der 
sitzenden  Figur,  die  einen  Blumenstengel  betrachtet, 
und  bei  der  singenden  Gestalt,  die  das  Saitenspiel 
rührt,  der  Fall  ist. 

In  technischer  Hinsicht  verdienen  die  Diez’scben 
Figuren  die  höchste  Anerkennung.  Diez  erweist 
sich  hier  als  ein  Meister,  der  auch  die  schwierigsten 
Aufgaben  zu  bewältigen  versteht.  Namentlich  ist 
die  Durchbildung  der  männlichen  Körper,  bei  denen 
die  heikelsten  Verkürzungen  Vorkommen,  geradezu 
staunenswert.  Die  wilde  Energie,  die  ihre  Seele  er¬ 
füllt,  kommt  in  der  Anspannung  der  Muskeln  deut¬ 


sind?  Doch  genug  mit  solchen  Ausstellungen.  Der 
Größe  der  Diez’sclien  Leistung  können  sie  nichts 
anhaben.  Die  beiden  Brunnen  *)  sind  Kunstwerke, 
auf  die  Dresden  stolz  sein  kann,  weil  sie  sich  dem 
Besten  würdig  anreihen,  was  die  deutsche  Kunst  in 
unserer  Zeit  aufzuweisen  hat.  -V-  A-  LIEB. 


1)  Die  Nachbildungen,  die  wir  bringen,  sind  nach  Pho¬ 
tographien  von  E.  Sonntag  in  Dresden  hergestellt,  der  zwölf 
Aufnahmen  von  den  Brunnen  gemacht  hat.  Sie  sind  in  jeder 
Hinsicht  vorzüglich  ausgefallen  und  verdienen  die  Beachtung 
der  Kunstfreunde  in  hohem  Maße. 


13 


BURNE-JONES. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


0  WEIT  auch  die  Ansichten 
über  den  Wert  der  Werke 
von  Burne-Jones  auseinander 
gehen  mögen,  so  viel  steht 
fest,  dass  er  augenblicklich 
einer  der  beliebtesten  engli¬ 
schen  Maler  ist  und  dass  für 
seine  Bilder  sich  ein  unausge¬ 
setzt  wachsendes  Interesse  bekundet.  Burne-Jones 
ist  der  Repräsentant  eines  besonderen  Stils  und  ein 
Originalmeister  ersten  Ranges.  Er  sieht  das  Leben 
durch  das  Medium  seines  eigenen  poetischen  Tem¬ 
peraments,  und  hat,  um  Anerkennung  zu  finden,  einen 
langen  dornenvollen  Weg  zurücklegen  müssen,  bis 
er  schließlich  siegreich  zum  Ziele  gelangte.  Der 
Geist  der  Wissenschaft  ist  in  jeden  Zweig  der  bil¬ 
denden  Kunst  eingezogen  und  Burne-Jones  hatte 
deshalb  besonders  zu  kämpfen,  da  er  hiervon  in  der 
Malerei  nichts  hören  will.  Schönheit  und  Darstel¬ 
lung  des  inneren  Seelenlebens,  leidenschaftlicher  En¬ 
thusiasmus  für  die  Vergangenheit  bilden  das  Fun¬ 
dament  seines  Schaffens.  Der  verstorbene  Herzog 
von  Marlborough,  der  ein  sehr  bedeutender  Kenner 
und  Sammler  war,  hat  in  seiner  letzten,  kürzlich 
veröffentlichten  Schrift  über  Kunst  Burne-Jones 
als  den  ,.  Wagner“  in  der  Malerei  bezeichnet. 
Der  Meister  führt  uns  in  das  Traumgebiet  seiner 
Empfindung,  aus  der  wir  eine  alte  Romanze  zu 
vernehmen  glauben,  die  uns  mit  magischem  Zau¬ 
ber  berührt.  Worin  liegt  sein  Genius?  Was  hat  sich 
vereinigt,  um  den  besonderen  Stil  seiner  künstle¬ 
rischen  Kraft  hervorzurufen,  und  welche  Tendenzen 
sehen  wir  in  seinen  Werken  gekennzeichnet? 

Sein  Genius  entspringt  zunächst  einer  tief  poe¬ 
tisch  angelegten  Natur.  Er  sieht  Schönheit  in  zar¬ 
ter  Frauengestalt,  in  dem  Reiz  der  Jugend,  in  der 
Natur,  in  der  Legende,  in  dem  Reich  der  Feen,  in 


klassischer  Erzählung  und  in  heidnischer  Mytholo¬ 
gie.  Über  das  ganze  Reich  der  Mystik  und  Ro¬ 
mantik  sind  seine  Sujets  verteilt;  Homer,  Virgil 
und  die  Minnesänger  ziehen  ihn  gleichmäßig  an. 
Das  Reich  der  Vergangenheit,  durch  seine  Ein¬ 
bildungskraft  und  wunderbare  Kunst  berührt,  bil¬ 
det  für  ihn  eine  unerschöpfliche  Fundgrube  des 
Schaffens.  Wir  besitzen  keinen  modernen  Maler  in 
der  ganzen  Welt,  der  so  unberührt  ist  von  dem 
Zeitgeist,  von  dem  Fortschritte  der  Wissenschaften 
oder  den  Ereignissen  des  Augenblicks.  Seine  Er¬ 
findung  ist  reich  und  durchdringend,  aber  niemals 
willkürlich,  ein  Umstand,  aus  dem  der  Ernst  seiner 
Arbeit  sich  ergiebt.  Ob  er  in  letzter  Instanz  auch 
in  kommenden  Zeiten  populär  bleiben  wird,  ist  frag¬ 
lich,  da  er  sich  niemals  an  Lokales  oder  Nationales 
anlehnt. 

Das  Heitere,  das  Spielende  liegt  ihm  fern,  diese 
Seite  des  menschlichen  Lebens,  ebenso  wie  die  Hu¬ 
moreske,  das  Grotteske  und  Melancholische  hat  kei¬ 
nen  Platz  bei  ihm.  Er  liebt  die  gesamte  Natur,  aber 
seine  Natur  ist  unberührt  von  menschlicher  Hand, 
er  malt  niemals  einen  Garten,  einen  Park  oder  einen 
gepflügten  Acker.  Die  Landschaft  in  dem  „Spiegel 
der  Venus“  ist  ein  unbewohntes  Thal  zwischen  Hü¬ 
geln,  schön,  aber  einsam.  Die  Rose  im  „Dornrös¬ 
chen“  ist  nicht  die  Gartenrose,  sondern  die  mit 
außerordentlicher  Naturtreue  wiedergegebene  wilde 
Rose.  Der  Engel  in  den  „Sechs  Tagen  der  Schö¬ 
pfung“  steht  an  keiner  Erdenküste,  aber  niemals  hat 
man  so  schöne  Muscheln  in  Farbe  und  Ton  gesehen, 
ln  jedem  seiner  Werke  ist  irgend  ein  tiefer  Ge¬ 
danke.  Burne-Jones  ruft  uns  zu:  alle  Kunst  ist  sym¬ 
bolisch  ! 

Wenn  man  Burne-Jones  mit  einem  deutschen 
Maler  vergleichen  wollte,  so  könnte  dies  nur  mit 
Böcklin  geschehen,  obschon  ersterer  an  Genialität 


Christus  und  die  Frauen  am  Grabe.  Gemälde  von  Burne-  Jones. 


94 


BURNE-JONES. 


dem  deutschen  Meister  nachstellt,  dafür  aber  des 
dämonischen  Zuges  in  seinen  Werken  entbehrt.  Man 
kann  alle  Künstler  in  zwei  Klassen  scheiden:  die, 
welche  wie  Raffael,  Correggio  und  Tizian  in  einer 
beständigen  Metamorphose  begriffen  sind,  ewig  stre¬ 
ben,  und  jene,  welche  wie  Paolo  Veronese  und  wie 
viele  der  Holländer  fertig  auf  die  Welt  kommen  und 
sich  dann  immer  gleich  bleiben.  Beide  Künstler  ge¬ 
hören  zu  der  ersteren  Klasse,  sind  echte  Dichter 
in  Farben  und  stellen  sich  bei  jedem  Bilde  ein 
neues  Problem;  trotzdem  erkennt  man  ihre  male¬ 
rische  Handschrift  leicht  heraus.  Beiden  gemein  ist 
die  große  Stimmungsmacht,  über  welche  sie  in  ihren 
Ideallandschaften,  unter  Ruinen  und  bei  Meernixen, 
verfügen,  obschon  bei  Burne- Jones  der  Ausdruck 
seiner  Stimmung  Glaube  und  Offenbarung  ist,  wäh¬ 
rend  Böcklin  die  Kunst  wohl  mehr  als  Mittel  zur 
Lösung  realistischer  Probleme  und  als  ein  Reich 
der  Fabel  behandelt.  Aus  den  Werken  beider  glau¬ 
ben  wir  die  Worte  zu  vernehmen:  „Meine  Gedanken 
sind  nicht  Eure  Gedanken“;  wie  seltsam  sie  auch  oft 
auf  uns  wirken,  sie  prägen  sich  dem  Gedächtnis  un¬ 
auslöschlich  ein. 

Der  Einfluss  Botticelli’s,  des  Meisters,  dem  Burne- 
Jones  so  gern  folgt,  ist  fast  in  all  seinen  Werken 
vorherrschend.  Die  ersten  Bilder,  namentlich  die 
Aquarelle,  sind  unter  Anlehnung  an  Rosetti  ent¬ 
standen.  Bezeichnend  genug  sagt  man  von  ihm:  er 
sei  der  einzige  lebende  englische  Maler,  der  mit  den 
großen  alten  Meistern  gleichzeitig  genannt  werden 
dürfe,  und  dessen  Bilder  man  getrost  morgen  in  den 
früh-italienischen  Saal  der  „Nationalgalerie“  hängen 
könne,  ohne  die  Harmonie  zu  stören.  Man  denke  sich 
die  Maler  der  englischen  Kinderstube  und  des  Sports 
in  Gesellschaft  mit  Crivelli,  Mantegna  und  Botticelli: 
das  Resultat  würde  unaussprechlich  sein. 

Die  Studien  zu  seinen  Bildern  bereitet  Burne- 
Jones,  der  ein  sehr  guter  Zeichner  ist,  mit  der  größten 
Sorgfalt  vor.  Manche  mögen  seinen  Stil  nicht  an¬ 
erkennen,  aber  das  ist  Geschmackssache;  so  lange  er 
korrekt  und  harmonisch  bleibt,  sowie  den  Buchsta¬ 
ben  des  Gesetzes  nicht  verletzt,  muss  er  immerhin 
als  führende  Kraft  gelten.  Es  vergeht  kein  Tag, 
an  dem  der  Meister  nicht  eine  Bleistiftzeichnung  an¬ 
fertigte,  wobei  ihm  sein  großes  Forraengedächtnis 
gute  Dienste  leistet. 

Sehr  viel  zu  der  Bewunderung  seiner  Bilder 
trägt  die  unvergleichliche  Schönheit  der  Farbe  bei,  in 
der  er  wahrhaft  königlich  gebietet,  und  die  als  har¬ 
monisch,  reich  und  voll  bezeichnet  werden  muss. 
Es  ist  nicht  das  Kolorit  der  alten  Venetianer, 


sondern  das  Glühen  der  früh-florentinischen  Schule. 
Warme  Töne  in  zarten,  abgetönten  Schattirungen 
lassen  das  Auge  mit  Wohlgefallen  verweilen.  Er  malt 
niemals  einen  kalten  englischen  Himmel,  dagegen 
benutzt  er  in  den  Schattirungen  und  im  Haar  häu¬ 
tig  Gold,  um  den  Eindruck  des  Reichen  und  Kost¬ 
baren  hervorzurufen.  Burne-Jones  ist  ein  äußerst  ge¬ 
wissenhafter  Maler.  Seine  Bilder  hängen  oft  Jahre 
im  Atelier;  denn  er  malt  niemals  direkt  zu  einer 
Ausstellung  oder  für  einen  vorgeschriebenen  Zweck. 
Als  bester  Beweis  seiner  vollendeten  Technik  mag 
ein  Vergleich  mit  anderen  Bildern  aus  früherer 
Zeitperiode  —  vor  etwa  30  Jahren  —  dienen,  die 
wohl  oft,  wegen  ihrer  Verflüchtigung,  keine  Aussicht 
haben,  auf  die  Nachwelt  zu  kommen.  Die  seinen 
zeigen  sich  nicht  nur  vollständig  erhalten,  sondern 
haben  sogar  an  leuchtender  Kraft  zugenommen,  ln 
all  seinen  Bildern  finden  wir  die  durchsättigten  Tin¬ 
ten  des  Südens,  und  fühlen  wir  uns  jedenfalls  jen¬ 
seits  der  Alpen  oder  in  einem  Feenlande. 

Wie  erwähnt,  hängen  die  Bilder  des  Künstlers 
oft  lange  Zeit  in  seinem  Atelier,  da  er  unaufhörlich 
über  den  Gegenstand  sinnt,  und  nur  falls  es  ihn 
hinzieht,  beginnt  er  von  neuem  an  den  alten  Bil¬ 
dern  zu  arbeiten;  er  lebt  nur  in  diesen,  denn  seine 
Kunst  ist  sein  Leben,  und  es  decken  sich  beide  ohne 
Rest.  —  Seine  Frauentypen  scheiden  sich  in  zwei 
Klassen:  religiöse  und  weltliche.  Wie  bei  vielen  alten 
Meistern,  so  finden  wir  auch  in  seinen  religiösen  Ge¬ 
stalten  stets  denselben  Typus.  Ein  Künstler,  der 
sein  Ideal  gefunden,  hält  es  fest  und  sieht  es  über¬ 
all,  im  Strom,  in  der  Quelle,  in  der  ganzen  Natur. 
Er  ist  auch  deshalb  kein  Porträtmaler  im  eigentlichen 
Sinne,  denn  es  entsteht  für  denjenigen,  welcher  das¬ 
selbe  Ideal  nicht  anerkannt  —  und  es  sind  ihrer 
viele  —  eine  gewisse  Monotonie.  Um  gerecht  zu 
sein,  muss  aber  hervorgehoben  werden,  dass  trotz 
dieser  Idealisirung  seines  wiederkehrenden  Frauen¬ 
typus  jede  Szene  ihre  eigene  Individualität  besitzt. 
So  hat  „die  Auferstehung“  ihren  mystischen  Reiz, 
„das  Fest  des  Peleus“  erinnert  in  der  Außendeko¬ 
ration  an  Veronese,  aber  aus  der  Seele  der  Göttin 
spricht  das  Wort  Dante’s:  „Es  giebt  keinen  größeren 
Schmerz  als  an  verlorenes  Glück  zu  denken“. 
Diese  Art  der  Melancholie  mag  als  das  Gewand 
angesehen  werden,  das  Burne-Jones  als  passendsten 
Ausdruck  für  seine  poetischen  Gedanken  erkennt. 
Da  wo  viel  Licht,  ist  auch  viel  Schatten,  und 
will  man  daher  von  den  Fehlern  Burne-Jones’  spre¬ 
chen,  so  muss  man  außer  der  bereits  hervorgehobe¬ 
nen  Monotonie  der  Auffassung  in  seinen  weiblichen 


BURNE -JONES. 


95 


Charakteren  eine  gewisse  wiederkehren¬ 
de  Weichheit  in  den  männlichen  Ty¬ 
pen  tadeln,  ohne  daß  letztere  jedoch 
übertrieben  oder  ungesund  wären.  — 
Wenn  der  Meister  Joseph  und  Maria 
darstellt,  sei  es  nun  in  Bethlehem  oder 
auf  dem  Wege  nach  Ägypten,  so  be¬ 
hält  das  Bild  stets  seine  mystische 
Schönheit  und  das  Verehrungswürdige 
in  der  Manier  des  Giotto  oder  des  Fra 
Angelico  da  Fiesoie.  Nach  der  Tra¬ 
dition  der  alten  Schule  und  mancher 
ihrer  Meister  haben  seine  Engel  oft 
Flammen  an  der  Stirn.  Keinen  größe¬ 
ren  Gegensatz  unter  modernen  Malern 
kann  man  sich  in  dieser  Beziehung 
denken,  als  den  von  Burne- Jones  und 
dem  Engländer  Dudley  Hardy.  Letz¬ 
terer  hatte  vor  einiger  Zeit  im  „Verein 
Berliner  Künstler“  eine  „Flucht  nach 
Ägypten“  ausgestellt,  von  der  ein  Ber¬ 
liner  Kritiker  sehr  treffend  sagte:  „Diese 
Madonna  würde  gänzlich  incognito 
reisen,  wenn  nicht  ihr  Nimbus  vorhan¬ 
den  wäre.  Kann  diese  von  echt  eng¬ 
lischem  Nebelqualm  eingehüllte  Gegend 
noch  zum  Orient  gerechnet  werden? 
Maria  und  Joseph  sind  beide  in  wasser¬ 
dichte  graue  Regenmäntel  vermummte 
Gestalten“. 

Burne- Jones  ist  Mitglied  der  könig¬ 
lichen  Akademie  der  Künste.  Bei  seiner 
Einführung  1871  als  Professor  an  der 
Universitäts-Kunstschule  hielt  er  eine 
kurze  Ansprache,  die  in  dem  Satze 
gipfelte:  „Es  gilt  eine  Welt  zu  schaffen, 
nicht  aber  das  Gesehene  einfach  zu 
imitiren“.  Es  giebt  denn  wohl  auch 
kaum  jemand,  der  eine  selbständigere 
Form  des  Ausdrucks  besitzt  als  Burne- 
Jones. 

Die  von  ihm  herrührenden  Aqua¬ 
relle  und  Ölgemälde  beginnen  mit  dem 
Jahre  1860.  Die  Erstlingswerke  sind 
in  der  Technik  schwächer,  wie  z.  B. 
„Merlin“  und  zeigen  den  Einfluss  des 
Millais.  Zu  dieser  Klasse  von  Bildern 
gehört  ferner  „Clara  und  Sidonia  von 
Borck“,  die  Heroinen  in  Meinhold’s 
Roman:  „Die  Hexe“.  Hier  findet  man 
schon  die  außerordentlich  mühsame  und 


Die  goldene  Treppe.  Gemälde  von  Burne -Jones. 


Faun  und  Nymphe.  Gemälde  von  Burne-  Jones. 


BURNE-JONES. 


97 


gewissenhafte  Durchführung  des  Details  als  eine  von 
des  Meisters  charakteristischen  Eigenschaften.  Eine 
ungemein  schwierige  Aufgabe  hat  Burne-Jones  in  dem 
Aquarell:  „Der  vergebende  Ritter“  gelöst.  Letzterer, 
obwohl  imstande,  den  in  seine  Hand  gegebenen 
Feind  zu  töten,  vergiebt  ihm,  und  als  er  dann  vor 
einem  Cruzifix  betet,  neigt  sich  Christus  mit  seinem 
Oberkörper  zu  ihm  herab,  umarmt  und  küsst  ihn, 
während  der  untere  Teil  des  Körpers  am  Kreuz  be¬ 
festigt  bleibt.  —  Die  Steigerung  der  Leistungsfähig¬ 
keit  des  Meisters  nimmt  unausgesetzt  zu.  Eine  seiner 
besten  Conceptionen  ist:  „Das  Glücksrad“.  Die  Göttin 
stellt  in  Kraft  und  Würde,  aber  mit  fast  gleich¬ 
gültigem  Ausdruck,  die  unabänderliche  Tragik  des 
Schicksals  und  den  Wechsel  des  Glücks  dar.  Ein 
Sklave  ist  oben  auf  dem  Rade  angelangt,  mit  dem 
Fuß  auf  die  Krone  des  unter  ihm  befindlichen  Königs 
tretend;  aber  auch  seine  Zeit  kommt  bei  dem  Drehen 
des  Rades,  an  dessen  unterster  Stelle  augenblicklich 
ein  mit  dem  Lorbeer  geschmückter  Dichter  oder 
Künstler  vergeblich  ringt.  Ferner  sind  hervorzuhe¬ 
bende  Bilder:  „Temperantia“ ,  „Die  Delphische  Si¬ 
bylle“;  das  Porträt  der  Tochter  des  Malers,  „Die  Ver¬ 
kündigung“  in  früh-italienischer  Manier,  „Laus  V eneris“, 
„Der  Spiegel  der  Venus“  und  „Chant  d’Amour“,  ein 
Pastorale  von  wunderbarer  Farbenharmonie,  im  Tone 
an  Giorgione  erinnernd.  Dieses  Bild  kam  1886  bei 
Christie  zur  Auktion  und  wurde  mit  3500  £  bezahlt. 
Da  die  Werke  von  Burne-Jones  fast  alle  in  festen 
Händen  sind,  so  ist  es  die  größte  Seltenheit,  dass 
eins  derselben  in  den  Handel  kommt,  und  der  Preis 
beträgt  in  solchen  Fällen  durchschnittlich  3000  £. 

Zur  Ausstellung  der  königlichen  Akademie  in 
Burlington  -  House  hat  der  Künstler  im  Verlauf 
seiner  ganzen  Thätigkeit  überhaupt  nur  ein  Bild 
gesandt:  „Die  Tiefen  des  Meeres“.  Das  Gesicht  der 
Nixe  mit  dem  Fischschwanz  leuchtet  triumphirend, 
während  sie  ihr  lebloses  Opfer  in  den  Armen  hält 
und  im  Begriff  ist,  den  Jüngling  in  dem  Palast  auf 
dem  Meeresgründe  zu  betten.  Das  verführerische 
Lächeln  der  Seejungfrau  und  die  durchsichtige  Tiefe 
des  Meeres  sind  bewundernswert  gemalt.  Eines  der 
anmutigsten  und  ansprechendsten  Bilder  ist:  ,,Die 


goldene  Treppe“  mit  einer  Menge  hübscher  Mädchen 
von  harmonischen  Farbentönen.  Die  Treppe  selbst 
hat  Elfenbein-Marmorfarbe.  —  Seit  1870  ist  ein  aber¬ 
maliger  bedeutender  Fortschritt  in  den  Werken  des 
Meisters  bemerkbar,  so  unter  anderen  in  „Der  Wein 
der  Circe“  „Pygmalion“  „Orpheus  und  Eurydice“, 
„Die  Romanze  der  Rose“,  „Die  Schöpfung“,  „Flamma 
Vestalis“,  in  der  Profilstudie  eines  vorzüglich  model- 
lirten  jungen  Mädchens,  „Liebe  unter  Ruinen“,  „Dies 
Domini“  und  „die  Legende  der  heiligen  Dorothea“. 

In  dem  1887  gemalten  Bilde  „Der  Garten  des 
Pan“,  ist  der  Ausdruck  des  der  Musik  lauschenden 
Mädchens  ein  höchst  fesselnder.  Wenn  es  dem 
Dichter  leicht  wird,  aufeinander  folgende  seelische 
Affekte  zu  schildern  und  zu  erklären,  so  ist  anderer¬ 
seits  der  bildende  Künstler  in  solchen  Fällen  in 
eine  bedeutend  schwierigere  Lage  versetzt.  Er  kann 
nur  einen  einzigen,  einheitlich  angelegten  Gesamt¬ 
vorgang  ausdrücken,  und  die  Zeitfolge  nicht  zur 
Anschauung  bringen.  In  dem  erwähnten  Bilde 
ist  die  ungeahnte  Freude  des  Mädchens  über  die 
Musik,  die  Leidenschaft  für  den  Jüngling  und  ihre 
Trauer  darüber,  sich  an  der  Schwelle  der  Erkenntnis 
zu  befinden,  geradezu  genial  wieder  gegeben. 

Burne-Jones  hat  gelegentlich  auch  Bücher  und 
Manuskripte  illuminirt;  diese  in  Aquarellfarben  aus¬ 
geführten  Miniaturen,  ohne  einen  bestimmt  ausge¬ 
sprochenen  Charakter,  bekunden  modernen  Geist  zum 
Teil,  aber  zum  Teil  auch  Anklänge  an  die  alten  Mis¬ 
salien  der  byzantinischen,  romanischen  und  gotischen 
Miniaturschulen. —  Schließlich  ist  noch  zu  bemerken, 
dass  der  Meister  schon  zu  Lebzeiten  in  Malcolm  Bell 
einen  ebenso  geistreichen  wie  gründlichen  Biographen 
gefunden  hat.  Außer  dem  Porträt  von  Burne-Jones 
von  Watt,  befinden  sich  etwa  100  seiner  Werke  als 
Illustrationen  in  dem  Buche.  Der  Titel  des  Pracht¬ 
werkes  lautet:  „Edward  Burne-Jones,  a  Record  and 
Review  by  Malcolm  Bell“,  herausgegeben  in  London 
von  George  Bell  und  Söhnen.  Dieses  litterarische 
Werk  bildet  ein  bleibendes  Denkmal  für  eine  der 
merkwürdigsten  Erscheinungen  in  der  Kunst  unserer 
Zeit.  SCHL. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst  N.  P.  VI.  H.  4 


14 


THOMAR  UND  BATALHA. 


VON  JOSEF  DE  RN  JA  C- 


S  sind  jetzt  drei  Jahre  her, 
dass  wir  die  vortreffliche  Ar¬ 
beit  Albrecht  Haupt’s  über 
die  „Portugiesische  Renais¬ 
sance'4  in  diesen  Blättern 
einer  eingehenden  Bespre¬ 
chung  unterzogen.  ’)  Im 
Nachfolgenden  knüpfen  wir 
an  die  kürzlich  erschienene  reicli  ausgestattete  Pub¬ 
likation  Vicomte  de  Condeixa’s  über  Batalha  etliche 
eigene  Beobachtungen,  Randbemerkungen  und  Schluss¬ 
folgerungen.  2) 

1  „Die  Renaissance  in  Portugal.“  Zeitsclir.  f.  b.  Kunst. 
N.  F.  II,  S.  38  ff. 

2,  Visgonde  de  Condeixa:  0  Mosteiro  da  Batalha  em 
Portugal.  Monographia  ornada  da  vinte  e  seis  gravuras  helio- 
graphicas.  Lisboa,  Manuel  Gomes;  Paris,  Firmin-Didot  &  Cie. 
1S93.  gr.  Fol.  Mit  französischer  Übersetzung.  Den  26  guten 
Abbildungen  hätte  die  Zugabe  einiger  Ansichten  von  Tho- 
mar  entschieden  keinen  Eintrag  gethan  und  eine  Reproduktion 
des  inneren  Portales  der  Capellas  imperfeitas,  besser  als  die 
S.  111 — 145,  sicherlich  nicht  geschadet.  Was  den  Text  be¬ 
trifft,  ho  ist  es  auch  für  jemanden,  der  die  einschlägige  Lifte- 
ratur  schon  kennt,  keine  Sünde  an  dem  weltmännischen 
Verfasser,  zu  wünschen,  dass  durch  Fußnoten  auch  andere 
in  den  Stand  gesetzt  worden  wären,  dessen  Angaben  Schritt 
für  Schritt  einer  Kontrole  zu  unterziehen.  Die  alte  Arbeit 
Murphy  -  hat  auf  die  Kapiteleinteilung  Condeixa’s  zweifels¬ 
ohne  Einfluss  geübt.  Er  entnimmt  derselben  nicht  nur  den 
Crundri-u,  sondern  auch  die  Tafel  mit  der  Restauration  des 
durch  das  Erdbeben  zerstörten  Tunnhelmes  am  Mausoleum 
des  Erbauers,  er  unterlässt  es  nicht,  wie  Murphy,  der  Be- 
-prechung  des  eigentlichen  Thcma’s  auch  seinerseits  „Noticias 
aeerca  do  estylo  gothieo“  vorauszuschicken.  Manches  von 
dem,  was  er  über  den  bei  der  Konception  der  mittelalterlichen 
Bauten  mitspielenden  Mysticismus  in  diesem  Abschnitte  vor¬ 
bringt,  könnte  in  irgend  einem  landläufigen  „Abriss  der  Ge¬ 
schichte  der  Baustile“  seinen  Platz  finden,  ohne  dessen  Kurs¬ 
wert  wesentlich  zu  gefährden.  Die  Stellen,  in  denen  er  selbst 
nach  dem  in  Batalha’a  Grundriss  verborgenen  Mysticismus 
auf  die  Suche  geht,  sind,  wie  sich  oben  zeigen  wird,  die 
schwächsten  seines  Werkes. 


Die  Geschichte  der  Portugiesen  beginnt  mit  der 
Zueignung  der  Grafschaften  Portugal  (Portus  Calli) 
und  Lissabon  (Ulysippo)  an  Alphonso’s  YI.  von  Ca- 
stilien  Tochtermann,  Heinrich  von  Burgund  im  Jahre 
1072,  also  nur  um  nicht  ganz  drei  Dezennien  früher 
als  der  erste  Kreuzzug  (1099).  Sein  Wachstum  von 
dem  Augenblicke  an ,  da  Heinrich’s  Sohn  Alphonso 
den  Grafen-  mit  dem  Königstitel  vertauscht,  ist  selbst 
das  Ergebnis  von  Kreuzfahrten,  bei  welchen,  wie  bei 
jenen  in  Palästina,  die  Tempelherren  in  erster  Linie 
stehen.  Wir  finden  sie  im  Lande  sesshaft  noch  vor 
ihrer  Anerkennung  durch  das  Concilium  von  Troyes 
(1128);  ihr  Waffenruhm  erreicht  seinen  Gipfelpunkt, 
als  von  den  Riesenheeren  der  Sultane  von  Marokko 
das  eine  im  Angesichte  von  Santarem  in  Stücke  ge¬ 
hauen  wird(1 184),  das  andere  an  den  heldenmütig  ver¬ 
teidigten  Mauern  ihrer  Residenz  Thomar  zersplittert 
(1190).  Es  ist  demnach  ganz  natürlich,  dass  aus  der 
„epocpie  la  plus  glorieuse  des  Templiers“  ')  in  Portugal 
daselbst  noch  Baudenkmale  sich  finden,  aufgeführt 
von  jenen  fahrenden  Werkleuten,  die  von  den  franzö¬ 
sischen  Bauhütten  weg  und  mit  den  Rittern  nach  dem 
Gelobten  Lande  gezogen  sind,  nach  der  Aufführung 
von  Bauten,  die  in  Palästina  und  Syrien,  Cypern  und 
Rhodus  heute  noch  das  berechtigte  Erstaunen  von 
Reisenden  erregen,  hinterher  die  Eindrücke  des  Orients 
an  den  Dombauten  ihrer  Heimat,  wie  z.  B.  die  für 
Syrien  charakteristische  Tierwelt  im  plastischen 
Schmucke  der  Kathedrale  von  Sens,  künstlerisch  ver¬ 
wertet,  oder  im  Orient  selbst  Bauhütten  gegründet 
und  in  denselben  die  nationale  Bauweise  den  Ver¬ 
hältnissen  ihres  Aufenthaltsortes  entsprechend  cha¬ 
rakteristisch  durchgebildet  haben.  Es  mag  ja  ge¬ 
schehen  sein,  dass  diese  zugewanderten  fränkischen 
Gesellen  und  Meister,  welche  die  ersten  Kirchen  der 


1)  Raczynski,  Les  Arts  enPortugal.  Paris,  1846.  8°.  S.409. 


THOMAR  UND  BATALHA. 


99 


Kreuzfahrer  noch  im  Rundbogenstile  erbauten,  aus 
purer  Würdigung  der  technischen  Vorzüge  des  Spitz¬ 
bogens  in  der  Folge  für  letzteren  eine  bis  zur  aus¬ 
schließlichen  Anwendung  sich  steigernde  Vorliebe 
bekundeten.  Die  Frage  ist,  wo  treffen  wir  den  Spitz¬ 
bogen  zuerst  und  ob  man  angesichts  der  Tlmtsache, 
dass  Richard  Löwenherz  als  Gefangener  des  Comnenen 
Isaak  II.  die  (1190)  erbaute  spitzbogige  Kirche  von 
Machaira  in  Cypern  besucht  hat,  dass  die  romanisch 
begonnene  Notre-Dame  von  Paris  nach  der  Rück¬ 
kehr  Philipp  August’ s  im  gotischen  Stile  fortgesetzt 
ward,  nicht  etwa  vermuten  darf,  dass  auch  „der 
Wunsch  der  Mächtigen“  auf  sie  nicht  ganz  ohne 
Einfluss  gewesen. 

Für  die  Mächtigen  besaß  vielleicht  die  Form 
des  Spitzbogens,  von  der  sie  wussten,  dass  sie  bei 
den  Kirchenbauten  des  Orients  schon  längere  Zeit 
in  Gebrauch,  einen  heiligen  Beigeschmack;  über¬ 
dies  besaßen  auf  sie  gerade  die  Templer  den  mäch¬ 
tigsten  Einfluss.  Auffällig  sind  an  den  Templer¬ 
bauten  die  Rundtürme,  von  denen  beispielsweise 
vier  bekanntlich  die  Hauptmasse  des  berühmten 
„Temple“  in  Paris  umgaben,  nach  denen  u.  a.  die 
berühmte  Commende  „Kolossi“  auf  Cypern  den 
Namen  führt.  Dass  gerade  alle  diese  Kale’s  (arab. 
Türme)  den  christlichen  Centralbauten  (Kirkos 
==  circus,  Kirche,  Church?)  nachgebildet  und  aus¬ 
nahmslos  die  militärisch  dürftigen  und  kahlen  Ora¬ 
torien  des  in  Bezug  auf  Andachtsübungen  zum 
knappsten  Haushalt  mit  der  Zeit  angewiesenen  Ritter¬ 
ordens  gewesen,  möchten  wir  nicht,  wie  Condeixa, 
behaupten.  Gewiss  ist,  dass  die  Templer  keinem 
Monumente  eine  so  schwärmerische  Verehrung  wid¬ 
meten,  keines  in  ihren  eigenen  Kirchen  so  häufig 
kopirten,  als  das  „Templum  Domini“,  das  sie  mit 
der  gläubigen  Menge  wohl  gelegentlich  für  eine 
gelungene  Reproduktion  des  alten  Judentempels 
betrachteten,  hinter  dessen  architektonischen  For¬ 
men  sie,  wie  Condeixa  hinter  denen  von  Batalha, 
einen  „geheimen  Sinn“  vermuteten,  und  von  dem  sie 
den  Namen  führten.  ’) 

Da  die  „Dankesmoschee“  des  Islam1 2)  (Sakliar 
=  Dank),  Kubbet-es-Sachra,  unter  dem  Chalifen 
Omar  von  einem  christlichen  Architekten  im  sie¬ 
benten  Jahrhundert  erbaut,  den  Spitzbogen  zeigt, 
so  darf  uns  der  Gebrauch  desselben  bei  anderen 

1)  Ygl.  Vogüe,  Les  Eglises  de  la  Terre  sainte.  Paris, 
18G0.  4°.  S.  281:  „La  foule  frappee  des  ses  formes  toutes 
nouvelles,  eblouie  par  la  magnificence  de  son  ornamentation 
erat  voir  le  Temple  des  Juifs“. 

2)  Übrigens  übersetzt  auch  Vogüe  „Dom  des  Felsens“. 


Moscheen,  Ihn  Tulun  z.  B.,  nicht  Wunder  neh¬ 
men.  Derselbe  war,  wie  eine  vor  beiläufig  einem 
Vierteljahrhundert  in  den  Ruinen  des  cyprischen  Sa¬ 
lamis  durch  d'Orcet  und  Duthoit  gefundene,  auf  die 
spitzbogige  Wasserleitung  Justiniana  bezügliche  In¬ 
schrift  beweist,  im  byzantinischen  Reiche  für  Profan- 
bauten  schon  unter  Justinian  im  Gebrauch.  Wie  die 
Gotteshäuser  der  „Tempel“  in  London,  Paris  und 
in  Deutschland,  wie  jene  von  Segovia,  von  Mout- 
morillon,  von  Laon  und  von  Metz  !),  so  ist  auch  die 
alte  Kaie  von  Thomar,  erbaut  gleichzeitig  mit  dem 
ältesten  Teil  der  Feste  auf  und  mit  den  Trümmern 
der  antiken  Stadt  Nabancia,  in  architektonischer  Be¬ 
ziehung  als  eine  echte  „Tochterkirche“  von  Kubbet- 
es-Sachra  zu  betrachten.  Sie  dürfte,  ihrer  Ent¬ 
stehungszeit  1160  nach,  zwar  nicht  der  früheste,  wie 
Condeixa  behauptet,  wohl  aber  mit  dem  zwanzig 
Jahre  älteren  Chor  von  St.  Denis  (1140)  und  mit 
der  gleichzeitig  mit  letzterem  eingeweihten  Cap¬ 
pella  Palatina  von  Palermo,  mit  dem  Beginn  der 
Gotik  und  mit  der  Vollendung  des  Siculo-Romanis- 
mus,  eines  der  frühesten  spitzbogigen  Baudenkmale 
in  ganz  Europa  sein. 

Das  Konzil  von  Vienne  (1312)  unterdrückte  den 
Templerorden.  Die  Bulle  des  Papstes  Johannes  XXIII. 
stellte  auf  königlichen  Wunsch  denselben  als  „Ritter¬ 
orden  unseres  Herrn  Jesu  Christi“  (A  Ordern  deNosso 
Senhor  Jesus-Christo)  für  Portugal  wieder  her.  Die 
meisten  Templer,  ihr  Meister  von  Portugal  nicht 
ausgenommen,  traten  in  den  neuen  Orden  über,  der 
durch  die  über  alle  Erwartung  großartige  und  kühne 
Lösung  der  Aufgabe,  die  ihm  durch  seine  Ansied¬ 
lung  in  Castro  Marim  am  äußersten  Südrande  von 
Algarve,  Afrika  gegenüber,  in  der  Bekämpfung  des 
Islam  zugewiesen  worden  war,  zu  welthistorischer 
Bedeutung  sich  emporgerungen  hat.  Das  Banner, 
das  als  das  erste  europäische  bei  der  Erstürmung 
von  Ceuta  (1415)  unter  dem  Großmeister  Lopo  de 
Sousa  auf  afrikanischem  Boden  flatterte,  die  Flagge, 
unter  welcher  der  Großmeister  Heinrich  „der  See¬ 
fahrer“,  Herzog  von  Vizeü  seine  Flotillen  auf  un¬ 
bekannte  Meere  sandte,  zierte  das  „durchbrochene 
Kreuz“,  jenes  uns  bereits  von  dem  charakteristi¬ 
schesten  Denkmal  des  „Zeitalters  der  Entdeckungen“, 
dem  Torre  Sao  Vicente  von  Belem  her  bekannte  Em¬ 
blem2),  von  Wappenkundigen  auf  eine  Stelle  im  Pro¬ 
pheten  Jeremias  bezogen  (LII,  21),  im  ersten  Kreuz- 

1)  Ebendas,  nach  der  später  zu  citirenden  Arbeit  von 
Lenoir. 

2)  S.  darüber  Haupt  und  unseren  eingangs  citirten 
Aufsatz. 


14* 


Grundriss  des  Klosters  Bat&lha. 


Gesammtansicht. 


THOMAR  UND  BATALHA. 


101 


zuge  von  Raymond  von  St.  Gilles,  Grafen  von  Tou¬ 
louse  und  von  der  Provence  an  seiner  Heldenbrust 
getragen,  von  dessen  überstarrköpfigen  Descendenten 
in  den  Albigenserkriegen  bei  den  „wahrhaft  From¬ 
men“  als  „ghibellinisch“  ein  wenig  in  Verruf  gebracht, 
aber  vielleicht  gerade  deswegen  vom  König  Dionys 
zur  Insignie  des  neuen  Jesus -Christus -Ordens,  der 
dem  Papste  nicht,  wie  die  guelfischen  Templer,  mehr 
gehorchen  sollte  als  dem  König,  auserkoren.  Seit  der 
Maurenschlacht  am  Flusse  Salado  (zwischen  Sevilla 
und  Granada,  1340),  die  ein  Ruhmesblatt  in  der 
Geschichte  der  neuen  Templer,  erlebte  die  Hoch¬ 
burg  der  alten  Templer,  Thomar,  zur  Residenz  des 
Christus- Ordens  und  zum  Sitze  von  dessen  drittem 
Würdenträger,  dem  Großprior  erhoben,  eine  neue 
Periode  der  architektonischen  Entwickelung.  Auch 
Emmanuel  der  Große,  der  auch  als  König  auf  die 
Würde  eines  Großmeisters  des  Jesus-Christus-Ordens 
nicht  verzichten  mochte,  hat  daselbst  viel  gebaut. 
In  dem  sogen.  Mausoleum  Emmanuels  zu  Batallia 
haben  wir  eine  Nachahmung  der  alten  Kaie  von 
Thomar,  deren  Muster  Kubbet-es-Sachra  zu  er¬ 
blicken;  als  König  Emmanuel  die  Kirche  von  Tho¬ 
mar  neu  erbaute,  gab  ihm  jene  von  Batallia  dafür 
das  Vorbild  ab.* 1) 

Mit  reichen  Lorbeeren  bedeckte  der  Orden  sich 
in  der  Schlacht  von  Aljubarrota,  in  welcher  das 
Kriegsglück  binnen  einer  halben  Stunde  zwischen 
den  beiden  Kronprätendenten,  Johann,  dem  Meister 
des  Ordens  von  Avis  und  Johann  König  von  Casti- 
lien  zu  Gunsten  des  Ersteren  entschied.  An  diesen 
für  die  ganze  weitere  Entwickelung  von  Portugal 
hochwichtigen  14.  August  von  1385  erinnert  heute 
noch  das  „Mosteiro  de  Nossa  Senhora  da  Victoria“, 
bekannter  unter  dem  Namen  „Convento  da  Batalha“ 
(Schlacht).  Es  war  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts, 
dass,  aufmerksam  gemacht  durch  Zeichnungen,  welche 
zwei  englische  Offiziere  ihm  übermittelt  hatten,  der 
gelehrte  Irländer  James  Cavannah  Murphy  zur  Er¬ 
forschung  dieses  in  Bezug  auf  kunsthistorisches  In¬ 
teresse  den  großen  Kathedralen  Frankreichs,  Eng¬ 
lands  und  Deutschlands  durchaus  nicht  nachstehen¬ 
den  Baudenkmals2)  eine  eigene  Fahrt  nach  Portugal 


1)  „En  effefc,  le  plan  de  cette  rotonde,  qui  est  bien  plus 
celui  d’une  mosquee  que  d’une  eglise  reproduit  exactement 
celui  de  la  rotonde  de  Gualdim  Paes.“  (S.  157).  „Le  roi  Dom 
Manuel  repeta  exactement  le  plan  de  l’eglise  de  Batalha  en 
reconstruisant  celle  de  Thomar“  (S.  139). 

2)  „Mais  on  peut  dire  que  (ä  l’exception  d’une  vingtaine 
des  plus  helles  cathedrales  de  France,  d’Angleterre,  d’Alle- 
magne,  de  Belgique,  d'  Italic  et  d’Espagne  .  .  .  Batalha  peut 


unternahm.  Das  Resultat  derselben  waren  eine  Reise¬ 
beschreibung  *)  und  jene  bekannte,  „mit  Kupfern“ 
ausgestattete  Monographie,  die  zwar  für  jene  Zeit 
eine  außerordentlich  verdienstvolle  Leistung  und  sehr 
gewissenhaft  gearbeitet,  aber  zumal  in  Bezug  auf 
Ansichten  über  die  Gotik  überhaupt  gegenwärtig 
gründlich  veraltet  und  namentlich  in  den  Tafeln 
nichts  weniger  als  zuverlässig  ist. 2)  Wie  alle  in  den 
kunsthistorischen  und  in  den  Reisewerken  über  Ba¬ 
talha  verbreiteten  Ansichten,  so  geht  auch  die  zu¬ 
letzt  mit  Albrecht  Haupt  vou  uns  geteilte  An¬ 
sicht,  dass  englische,  mit  Philippa  von  Lancaster, 
Gemahlin  Johann’s  I.,  ins  Land  gekommene  Arbeiter 
die  Erbauer  von  Batalha  gewesen  seien3),  in  letzter 
Linie  auf  Murphy  zurück.  An  dem  Mausoleum  des 
Gründers  und  seiner  Gemahlin  (la  capella  do  Fun- 
dador)  ist  ein  oder  der  andere  Anklang  an  englische 
Gotik  tliatsächlich  vorhanden,  die  Thätigkeit  eng¬ 
lischer  Künstler  also  immerhin  möglich.  Eine  etwas 
lebhafte  Phantasie  wird  am  Grabmal  des  Königs¬ 
paares  selbst  des  Englischen  noch  etwas  mehr,  z.  B. 
die  (rote)  Rose  von  Lancaster,  zu  entdecken  un¬ 
schwer  im  stände  sein.  Am  Ende  haben  an  dem 
Votivbau  König  Johanns  I.  auch  Normannen  mit- 
gethan.  Bei  einigem  guten  Willen  entdeckt  man  an 
demselben  auch  normännische  Anklänge.  Gesamt¬ 
eindruck:  Das  Bauwerk  zeigt  in  der  Periode  der 
späten  Gotik  frühgotische  Formen.  „Es  ist  ein  Werk 
reinen  und  edlen  gotischen  Stils,  das  in  dieser  Be¬ 
ziehung  alle  anderen  Bauten  der  Halbinsel  und  selbst 
manche  gleichzeitigen  Monumente  der  nördlichen 
Länder  übertrifft  und  die  späte  Zeit  seiner  Ent¬ 
stehung  nur  durch  die  abstrakte  Regelmäßigkeit  im 
Gegensatz  gegen  die  Frische  der  Frühgotik  verrät.“4) 
Im  17.  Jahrhundert  wollte  „ein  mönchischer  Geschicht¬ 
schreiber“,  Frey  Luis  de  Sousa,  von  etlichen  Archi¬ 
tekten  und  Steinmetzen  wissen,  vom  Könige  „aus  den 
entferntesten  Ländern“  zum  Baue  herbeigerufen. 5) 
Sind  etwa  England  und  die  Normandie  auch  „ent¬ 
fernteste“  Länder,  oder  bloß  „entfernte“  Länder? 


etre  considere  comme  un  des  restes  les  plus  interessants  et 
meme  les  plus  seduisants  de  la  pure  architecture  gothique“. 
Raczynski,  a.  a.  0.,  S.  460. 

1)  Trawels  in  Portugal.  London,  1795.  4°. 

2)  Plans,  elevations,  seotions  and  views  of  tlie  Church 
of  Batalha.  With  the  History  and  Description  by  Fr.  Luis  de 
Sousa,  with  remarks  to  which  is  prefixed  an  introductory 
discourse  on  the  principles  of  Gothic  architecture.  Illustr. 
with  27  plates.  London.  Fol. 

3)  S.  unseren  eingangs  citirten  Aufsatz. 

4)  Schnaase,  VIII,  S.  609. 

5)  Ebendas.  S.  610,  Note  1. 


102 


THOMAR  UND  BATALHA. 


Auf  was  für  Länder,  wenn  nicht  auf  die  beiden  letzt¬ 
genannten,  deuten  gewisse  Eigentümlichkeiten  am 
Äußeren  des  Gebäudes,  Avofern  an  der  bisher  als 
„unbewiesen“  ignorirten  Nachricht  Luis  de  Sousa's 
doch  etwas  dran  ist? 

Eine  charakteristische  Besonderheit  der  Kirche 


schließen.“  *)  Und  worin  sich  das  Bauwerk  ATon  den 
meisten  gotischen  Monumenten  noch  unterscheidet, 
ist,  dass  in  seiner  Verzierung  das  tierische  Element, 
bis  etwa  auf  die  Wasserspeier,  keine  Stelle  gefunden 
hat.  Terrassendächer,  nur  denkbar  in  einem  Lande, 
dem  Schneefälle  unbekannt  sind,  eine  nur  Vegeta- 


von  Hat al ha  wenigstens  ist  längst  konstatirt,  bisher 
aber  nicht  genügend  betrachtet  Avorden.  Mit  ihr  zu¬ 
sammengehalten,  gewinnt  auch  eine  andere  eine  bis¬ 
her  noch  nicht  vermutete  Bedeutung.  „Das  Außere 
unterscheidet  sich  von  nordischen  Bauten  dadurch, 
dass  alle  Teile  statt  des  Daches  mit  Steinplatten  be¬ 
legt  sind  und  daher  mit  horizontalen  Linien  ab- 


bilisches  reproducirende  Ornamentation,  die  in  der 
Scheu,  die  Muselmänner  zu  verletzen,  in  der  Not¬ 
wendigkeit,  den  Gesinnungen  von  Christen  ikono- 
klastischer  Sekten  Rechnung  zu  tragen,  ihren  Ur¬ 
sprung  hat:  das  sind  die  hervorstechenden  Merk- 

1)  Ebendas. 


Fontaine  im  Kloster  Batallia. 


THOMAR  UND  BATALHA. 


103 


male  der  großen  Kirchen  auf  der  Insel  Cypern,  wie 
San  Giacomo  in  Famagusta,  Saneta  Sophia  in  Ni¬ 
cosia,  der  Cisterzienserabtei  Lapais  u.  a.  Die  Ent¬ 
stehungszeit  dieser  Kirchen  ist  das  13.  und  14.  Jahr¬ 
hundert1);  sie  bilden  den  Gipfelpunkt  der  Entwicke¬ 
lung  der  franco -orientalischen  Gotik,  die  durch 
französische  Werkmeister,  welche  mit  den  Kreuz¬ 
fahrern  nach  Palästina  gekommen  sind,  begründet, 
in  ihrem  Typus  ähnlich  der  niederländischen,  zwar 
auf  einer  frühen  Stufe  der  Entwickelung  stehen 
bleiben,  dabei  aber  in  gewissen  Details  den  Bedin¬ 
gungen  des  Landes  entsprechende  Veränderungen 
erfahren  musste.  „Das  Maßwerk  der  Fenster  ist 
durchaus  englischen  Stils,  indem  es  durchweg  aus 
einem  Netzwerk  koncentrisclier  Bögen  mit  eingelegten 
Pässen  besteht.“2 3)  Im  Jahre  1191  wurde  Cypern 
von  Richard  Löwenherz  erobert.  Ist  es  nicht  denk¬ 
bar,  dass  die  Übereinstimmung  des  Maßwerkes  von 
Batalha  mit  jenem  einzelner  englischer  Monumente 
in  der  Gemeinsamkeit  des  Vorbildes  ihren  Ur¬ 
sprung  hat?2) 

Von  Richard  Löwenherz  ging  die  Insel  durch 
Schenkung  über  an  Guido  Lusignan.  Der  franco- 
orientalische  Stil  fand,  wie  alle  flüchtigen  Trümmer 
der  durch  die  Kreuzfahrer  in  Palästina  gepflanzten 
christlichen  Civilisation,  in  Cypern  eine  neue  Heim¬ 
stätte.  Seine  Blüte  daselbst  bleibt  für  immer  mit 
dem  Namen  der  Lusignan  verknüpft.  Die  Übertra¬ 
gung  einer  architektonischen  Form  von  Cypern  nach 
Portugal  ist,  wenn  man  die  politische  Lage  in  Be¬ 
tracht  zieht,  wohl  erklärlich.  Wenn  der  Sohn  König 
Johann’s  in  die  Lage  kam,  zum  König  von  Cypern 
erwählt  zu  werden  und  die  Krone  abzulehnen,  so 
müssen  zwischen  beiden  Ländern  sehr  enge  Bezie¬ 
hungen  bestanden  haben.  Von  Künstlern,  die  am 
Bau  von  Batalha  beschäftigt  gewesen  sind,  werden 
uns  genannt:  Affonso  Domingues  (1388—  1402),  ein 
gebürtiger  Portugiese,  vermutlich  nicht  nur  mit 
der  Obsorge  über  den  administrativen  und  finanziel¬ 
len  Teil  des  ganzen  Unternehmens  betraut,  auf 
den  wohl  die  Fundamentirung  und  der  Ausbau 
eines  Teiles  der  Kirche  und  des  Mausoleums  zu¬ 
rückgeht;  der  später  in  „Hacket“  verdrehte  und  an¬ 
gesichts  der  vorerwähnten  englischen  „Anklänge“ 
hinterher  natürlich  zu  einem  Engländer  oder  Irländer 


1)  Vgl.  darüber  Vogüe,  a.  a.  0.,  S.  378.  Daselbst,  so 
wie  bei  Condeixa,  auch  die  sonstige  Litteratur  über  Cypern. 

2)  Schnaase,  a.  a.  0. 

3)  Wir  meinen  das  Maßwerk  in  den  Bogen,  nicht  in 
den  Füllungen  der  Kirchenfenster.  Eine  Abbildung  des  Kreuz¬ 
ganges  von  Lapais  bei  Cassas,  Voyage  en  Syrie,  Taf.  CIV. 


gestempelte  Huguet  (1402  — - 1438) ,  mutmaßlich  ein 
unbekannt  wo  zur  Welt  gekommener  Abkömmling 
fahrenden  französischen  Künstlervolkes,  wohl  in  Cy¬ 
pern  geschult  und  in  Venedig  weiter  ausgebildet, 
dem  die  Vollendung  der  Grabkapelle  des  Stifters  und 
der  Kirche,  sowie  der  Bau  des  Kapitelsaales,  der 
Sakristei,  des  „Königs-Kreuzganges“  (Claustro  real) 
endlich  der  Beginn  der  „capellas  imperfeitas“  zuzu¬ 
schreiben  ist;  Martin  Vasques,  beschäftigt  uuter 
König  Duarte  (bis  1448),  auf  den  der  Beginn,  dessen 
Neffe  Fernao  dEvora,  auf  den  unter  Alf'onso  V.  die 
Vollendung  des  nach  diesem  Könige  benannten  Kreuz¬ 
ganges  zurückzuführen;  die  beiden  Matheus  Fernandes, 
Vater  und  Sohn  (bis  1515  und  bis  1525),  die  Meister 
der  „Emmanueliana“  am  Gebäude,  der  wunderbaren 
Fensterfüllungen  des  Königs -Kreuzganges,  des  oft 
abgebildeten  Prachtportales  am  sogen.  Mausoleum 
Emmanuel  des  Großen;  Antonio  de  Castilho  (seit  1528), 
der,  und  zwar  bereits  im  Renaissancestil,  den  Kreuz¬ 
gang  Johannes  III.,  und  Antonio  Gomes,  der  unter 
demselben  Könige  das  Dormitorium,  das  Kranken¬ 
haus,  die  Bibliothek  und  die  sonstigen  profanen 
Klostergebäude,  beziehungsweise  klösterlichen  Pro- 
fangebäude  erbaute.  Alle  diese  Meister,  deren  namen¬ 
losen  Nachfolge™  eine  Thätigkeit  zugefallen,  die  sich 
zu  der  ihrigen  verhält,  wie  die  der  heutigen  „Dom¬ 
baumeister“  und  „Schlossverwalter“  zu  jener  der  alten 
Bauhüttenchefs  und  fürstlichen  „surintendants  des 
bätiments“,  hatten,  wie  die  Verschiedenheit  ihrer 
Formensprache  beweist,  in  Beziehung  auf  Dekoration 
thatsächlich  ein  bedeutendes,  in  Rücksicht  auf  die 
Konzeption  und  den  Entwurf  des  Ganzen  aber,  be¬ 
hauptet  Condeixa,  nur  ein  bescheidenes  Maß  von 
Freiheit  und  dies  um  einer  Persönlichkeit  willen,  der 
zwischen  dem  Lande  der  Lusignan  und  Portugal  in 
Rücksicht  auf  künstlerische  Formen  die  eigentliche 
Vermittlerrolle  zugefallen  war. 

Der  Plan  der  Anlage  von  Batalha  rührt  nach 
Condeixa  vom  König  Johann  selbst  her,  der,  wie  alle 
Ordensritter  seiner  Zeit,  schon  des  Festungsbaues 
wegen,  auch  etwelche  architektonische  Kenntnisse 
besitzen  musste.  Nun  gab  es  im  Johanniterorden  zu 
Malta  bekanntlich  auch  eine  portugiesische  „Zunge“. 
Ein  Ritter  dieser  „Zunge“  dürfte  Gelegenheit  gehabt 
haben,  Cypern  zu  bereisen  und  in  der  Folge  betreffs 
der  Konstruktion  und  der  Grundzüge  der  Dekoration 
des  Königs  Mitarbeiter  gewesen  sein.  Nach  unserer 
Ansicht  geht  zu  weit,  wer,  geleitet  von  seiner  aristo¬ 
kratischen  Empfindung,  der  Ansicht  huldigt,  der  Zu¬ 
tritt  beim  Hofe  von  Portugal  sei  der  archaischen 
Gotik  von  Cypern  nur  in  dem  Falle,  wenn  es  ihr 


104 


THOMAR  UND  BATALHA. 


glückte,  sich  in  einem  mehr  oder  minder  hochge¬ 
borenen  Individuum  zu  personifiziren ,  möglich  ge¬ 
wesen.  Uns  will  es  absolut  nicht  einleuchten,  warum 
nicht  vielleicht  auch  z.  B.  der  ,,franco-orientalische“ 
Plebejer,  dem  Condeixa  selbst  die  T-förmige  Ge¬ 
staltung  des  Lang-  und  Querhauses  vindiziren  möchte1), 
derjenige  Meister  gewesen  sein  könnte,  dessen  Ideen 
des  Königs  Majestät  in  Bezug  auf  alle  Teile  des 
Baues  als  die  allerhöchsteigenen  gelten  zu  lassen 
die  Gewogenheit  und  Gnade  gehabt.  Das  Klos¬ 
ter  von  Batalha  war  für  die  Mönche  des  heiligen 
Dominikus  bestimmt.  Dieselben  mussten  bei  irgend 
welchem  maßgebenden  Einfluss  auf  den  Bau ,  zur 
Gestaltung  des  letzteren  durchaus  nicht,  wie  Con¬ 
deixa  meint,  einen  Brunelleschi,  die  Jacobelli  und 
Pietro  da  Venezia,  sowie  andere  berühmte  Zeit¬ 
genossen  des  königlichen  Stifters  herbeizitiren.  Die 
Kirche  von  Batalha  zeigt  den  Typus  der  Domini¬ 
kanerkirchen  von  Venedig  und  der  Terra  ferma.  In 
Übereinstimmung  mit  San  Giovanni  e  Paolo,  der 
wichtigsten  dei*selben,  ist  an  ihr.  der  Schluss  der 
fünf  Chornischen  „nicht  durch  einen  Winkel,  son¬ 
dern  in  gewohnter  Weise  durch  eine  volle  Polygon¬ 
seite  bewirkt.“2)  Der  Bau,  beziehungsweise  die  Voll¬ 
endung  der  Grabkirche  der  venetianischen  Dogen 
füllt  in  die  .Jahre  1395  —  1430,  i.  e.  in  dieselbe  Zeit, 
wie  die  des  Gotteshauses  von  Nossa  Senhora  da 
Victoria.  Wir  haben  oben  gesehen,  wer  in  dieser 
Periode  die  Arbeiten  an  letzterem  leitete.  Es  ist 
derselbe  Mann,  bei  dessen  Säulen  im  Kapitelsaale 
Condeixa  nicht  nur  einen  byzantinischen,  sondern 
auch  einen  venetianischen  Einfluss  vermutet  und  bei 
dem  uns  eine  Weiterbildung  in  Venedig  angesichts 
der  bekannten  engen  Beziehungen  dieser  Stadt  mit 
Cypern  nicht  zu  wundern  braucht.  Huguet  wird  ver¬ 
mutlich  mehr  Anteil  gehabt  haben  an  der  Umwand¬ 
lung  der  königlichen  Bauidee  in  einen  ausführbaren 
Baugedauken,  als  der  für  seine  Zeit  vielgereiste  Con- 

1  „Une  nouvelle  preuve  de  l'intervention  d’un  archi- 
tec.te  franco-oriental:  ce  sont  los  proportions  de  la  croix  latine 
dont  le  chevet  ewt  tellement  reduit,  qu’il  se  borne  ä  une 
simple  abfiide  contenant  tout  juste  la  „capella  mör“  de  sorte 
que  la  croix  se  trouve  reduite  ä  la  forme  d’  un  T.  .  .  .  le 
chevet  reduit  ä  l’abside  est  une  des  particularite’s  du  style 
franco-oriental“  (S.  119).  Ob  die  Absidenreihe  auch  an  den 
cypriscben  Kirchen  vorkommt,  ist  aus  dieser  Stelle  nicht  er- 
-ichtüch  und  sind  wir  in  diesem  Augenblicke  nicht  in  der 
Lage,  zu  konstatiren. 

2)  Schminse  VII,  129.  Condeixa  selbst  ist  eine  Verwandt¬ 
schaft  mit  dem  venetianischen  Stil  aufgefallen:  „dans  lequel 
on  eut  constater  certains  eignes  de  parente  avec  cependant 
plus  de  lourdeur.“  (S.  113). 


cleixa’sche  Maltheserritter.  Letzterer  steht,  wie  es 
uns  bedünken  will,  so  ziemlich  in  der  Luft. 

Befremdend  wirkt  an  der  Anlage  von  Batalha 
die  Form  des  Schlüssels,  in  welcher  die  dem  Kultus 
gewidmeten  Gebäude  an  einander  geordnet  sind. 
Dieselbe  ist  nicht  abzuleugnen  und  soll  aus  den 
Buchstaben  0  und  L  (°)  sich  zusammensetzen. 
OL  Cie,  zwei  Worte  von  angeblich  hebräischer  Pro¬ 
venienz  und  „Superabit  omne“  bedeutend,  sollen  auch 
auf  einem  Originalentwurf  der  Kirche  von  Batalha 
zu  lesen  sein.  Als  Torsos  ragen  über  den  „Capellas 
imperfeitas“  der  Rotunde  König  Emmanuels,  die,  wie 
schon  gesagt,  der  Kaie  von  Thornar  nachgebildet  ist, 
sechs  gewaltige  Pfeiler  in  die  Höhe,  die  aussehen, 
als  bestünden  sie  aus  Masten,  die  der  Sturm  entzwei¬ 
gebrochen  und  die  man  mit  Tauen  in  Bündel  zu¬ 
sammengebunden  hat.  Die  Restauration,  welche 
Murphy  von  diesem  Gebäude  versucht  (s.  Taf.  14)  sieht 
sich  heute  etwas  komisch  an.  Die  Pfeiler  dürften 
wahrscheinlich  bestimmt  gewesen  sein,  eine  Kuppel 
zu  tragen,  welche  ca.  80  m,  also  ungefähr  20  m  mehr 
als  das  von  Murphy  konstruirte  Gebäude  Scheitel¬ 
höhe  gehabt  und  die  ganze  Kirche,  die  abweichend 
von  den  abendländischen  und  selbst  cyprischen  Kirchen 
(s.  Vogüe)  keine  Türme  an  der  Fassade,  sondern  nur 
einen  kleinen  Glockenturm  über  der  Sakristei  besitzt, 
effektvoll  dominirt  hätte.  Es  müssen  nicht  gerade, 
wie  Condeixa  meint,  die  „islamitischen  Reminis- 
cenzen“,  welche  sie  erweckte,  die  Nichtvollendung 
der  Rotunde  Emmanuels  verschuldet  haben.  Der 
Bau  derselben  ward  unter  König  Johann  111.  in  einer 
Periode  eingestellt,  da  auch  so  manch’  ein  anderer 
im  Mittelalter  begonnene  Bau  ins  Stocken  geriet. 
Wer  aber  nach  solchen  Reminiscenzen  sucht,  wird 
sie  finden  und  bei  gefälliger  Einsichtnahme  in  einige 
neuere  Werke  über  Indien  auch  auf  die  Prototypen 
nicht  bloß  der  Füllungen  in  den  Kirchenfenstern, 
welche  unserer  Überzeugung  nach  ihre  weiße  Farbe, 
wie  die  des  Königs-Kreuzganges  in  die  Zeit  Emmanuels 
versetzt,  sondern  auch  der  gewissen  „sieben  Ketten¬ 
gewinde“  am  inneren  Portale  der  Emmanuelrotunde, 
bei  der  Deutung  dieser  Kettengewinde  aber  sicher 
nicht  auf  „die  Bande,  in  welche  der  Islam  ge¬ 
schlagen  worden  ist“,  verfallen. ') 

Wenn  Condeixa  schließlich,  weil  der  „Rost“ 
des  Escorial  eine  mystische  Bedeutung  besitzt,  auch 
für  den  „Schlüssel“  von  Batalha  sich  nach  einer 
solchen  umsieht  und  in  denselben  Portugal  —  die 


1)  Man  vgl.  die  Tafeln  bei  Cole,  The  Architecture  of 
ancient  Delhi.  Fol. 


THOMAR  UND  BATALHA. 


105 


Grabkapelle  des  Stifters  —  getrennt  durch  den  gläu¬ 
bigen  Occident  —  die  Kirche  —  von  dem  ungläu¬ 
bigen  Orient  —  dem  sogenannten  Mausoleum  Em¬ 
manuels  hineingeheimnisst,  so  ist  dergleichen,  auf¬ 
richtiggesagt,  für  uns  zu  hoch,  und  war  es  vermutlich 
auch  für  die  Zeit,  in  der  das  Kloster  von  Nossa  Sen- 


holung  des  Kirchenbaues  von  Batalha  in  Thomar 
dem  Jesus- Christus -Orden  vindizirt.  Der  Jesus- 
Christus -Orden  wird  ihn  wohl  auch  nicht  erfunden, 
sondern,  wie  seine  Vorfahren,  die  Templer,  ein  Ge¬ 
bäude  des  hl.  Landes  sich  zum  Muster  genommen 
haben.  Es  wird  mutmaßlich  dasselbe  sein,  welches 


Fenster  im  Kloster  Batalha. 


hora  da  Victoria  erstanden  ist.  Im  Übrigen  aber 
stimmen  wir  mit  Herrn  Vicomte  de  Condeixa  voll¬ 
ständig  überein,  wenn  er  der  Ansicht  huldigt,  dass  der 
Plan  von  Batalha,  speziell  der  der  Kirchengebäude, 
nicht  das  geistige  Eigentum  des  Königs  ist,  von  dem 
er  herrührt.  Nur  genügt  es  uns  nicht,  wenn  er  ihn 
mit  Berufung  auf  die  schon  oben  angeführte  Wieder¬ 
zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  i. 


auch  der  Abteikirche  von  Charroux  zu  Grunde  liegt. l) 
Somit  wäre  denn  auch  für  den  Schlüssel  von  Ba¬ 
talha  ein  Schlüssel  gefunden.  Derselbe  erweist  sich 


1)  S,  den  Grundriss  bei  Lenoir,  Influence  de  l’Architecture 
byzantine  dans  toute  la  chretiente.  Annales  archeologiques, 
XII,  S.  182—183. 


15 


106 


THOMAR  UND  BATALHA. 


als  eine  höchst  geistreiche  Weiterbildung  des  Motivs 
der  hl.  Grabeskirche  von  Jerusalem.  *) 

Dies  alles  vorausgesetzt,  dass  die  Sache  sich  so 
verhält,  wie  Condeixa  behauptet,  dass  die  Rotunde 
von  Batalha  schon  von  vorneherein  als  das  Haupt¬ 
gebäude  der  ganzen  Anlage  in  Aussicht  genommeu 
und  im  Entwürfe  König  Johann’s  schon  enthalten  war, 
dass  König  Duarte  ihren  Bau  schon  begonnen  und 
König  Emmanuel  denselben  nur  fortgeführt  hat. 
Die  Kirche  von  Batalha  hat,  was  ihren  Typus  be¬ 
trifft,  in  Portugal  weder  Vorgänger  noch  Nachfolger, 
bemerkt  Condeixa.  In  älteren  kunsthistorischen  Wer¬ 
ken  wird  das  System  der  flach  gehaltenen  Dachlinien, 
der  fehlenden  Giebel,  der  als  ein  wesentliches  Ele¬ 
ment  in  die  Formen  der  Fassade  aufgenommenen  Strebe¬ 
bögen  vor  allem  den  spanischen  Kirchen  als  ein  cha¬ 
rakteristisches  Merkmal  vindizirt. 2)  Wir  möchten 
nicht  behaupten,  dass  unter  diesen  Kirchen  noch 
eine  zweite  durch  die  „fehlende  Dachschräge“,  durch 
ihre  „langen  Horizontalen“  (Schnaase  a.  a.  0.  VII,  607) 
und  wohl  auch  durch  ihre  Verzierung  jener  von  Ba¬ 
talha  in  so  bedeutendem  Grade  ähnlich  sieht,  als  die 
Kathedrale  von  Sevilla,  begonnen  1403,  also  um  die¬ 
selbe  Zeit,  da  Huguet  die  Leitung  des  Baues  von 
Nossa  Senhora  da  Victoria  übernahm.  Sollte  auf  die 
Entwickelung  der  spanischen  Gotik  außer  der  französi¬ 
schen  nicht  noch  eine  zweite  Strömung,  jene  vom  Süd¬ 
westen  her  von  maßgebendem  Einfluss  gewesen  sein? 
Sie  wäre  die  Vorgängerin  von  jener  anderen,  welche, 
wie  Haupt  uns  nachgewiesen,  von  Portugal  aus  die 
Formensprache  von  Bauten  wie  das  Collegio  San 
Gregorio  zu  Valladolid  und  das  Palacio  ducal  del 
I n f'ant ado  zu  Guadalajarra  bestimmt  hat.3) 

Damit  gelangen  wir  am  Schlüsse  unserer  Ar¬ 
beit  zu  jener  wunderbaren  Ornamentik,  gemischt  aus 

1)  8.  den  Grund-  u  Aufriss  derselben  bei  Vogiie,  a.  a.  0. 
8.  174  ff.,  Taf.  VIII  u.  IX. 

2)  Homberg,  .J.  A.  u.  Faber,  Conversations-Lexikon  für 
bildende  Kunst,  Leipzig  1840.  II,  8  82  ff. 

3)  S.  darüber  unseren  eingangs  citirten  Aufsatz. 


gotischen  und  Renaissance- Elementen,  in  welcher  die 
portugiesische  Steinmetzkunst,  der  arabischen  ge¬ 
lehrige  Schülerin,  wie  in  Belem,  so  auch  hier,  ihr 
Höchstes  geleistet  hat.  In  der  Rotunde  dieses  Kö¬ 
nigs,  wie  in  den  Fensterfüllungen  im  Königs-Kreuz¬ 
gang1),  da  sind  es  vor  allem  zwei  Motive,  welche 
bald  als  winziger  Zierrat  au  irgend  einer  untergeord¬ 
neten  Stelle,  bald  als  Mittelpunkt  der  gesamten 
Ornamentkomposition  die  Aufmerksamkeit  des  Be¬ 
schauers  fesseln  müssen.  Die  Insignien  des  Jesus- 
Christus  -  Ordens  und  die  Astrolabiumchiffre  Em¬ 
manuel  des  Großen  sind  am  Siegesdenkmal  im 
Felde  von  Aljubarrota  vorzüglich  am  Platze.  Ohne 
Lopo  da  Sousa’s  und  seiner  Christusritter  Anschluss 
hätte  der  Großmeister  des  Ordens  von  Avis  niemals 
die  Entscheidungsschlacht  geschlagen,  an  welche  Ba¬ 
talha  erinnert;  ohne  als  König  -  Großmeister  des 
Jesus-Christus-Ordens  weltumfassende  Pläne  zu  ver¬ 
folgen,  Emmanuel  der  Große  die  Votivkirche  seines 
Ahnherrn  niemals  so  prunkvoll  verziert.  Die  weite¬ 
ren  Geschicke  von  Batalha  und  Thomar  und  somit 
die  des  Jesus-Christus-Ordens  zu  skizziren,  ist  nicht 
mehr  unsere  Aufgabe.  Derselbe  war  längst  mön¬ 
chischer  Regel  unterworfen  und  schließlich  zu  einem 
simplen  „Verdienstkreuz“  herunter  „reformirt“  wor¬ 
den,  d.  h.  abgestorben,  als  Philipp  II.  und  Philipp  IV. 
ihm  in  der  berühmten  Wasserleitung  und  in  dem 
„Kreuzgang  der  beiden  Philippe“  zu  Thomar  sein 
prächtiges  Mausoleum  errichteten. 

„Die  Geschichte  der  Tempelritter  ist  die  Geschichte 
der  Kreuzzüge“2).  Was  ist  die  der  Christusritter? 
Wie  verhalten  sich  die  Entdeckungsreisen  dieser  zu 
den  Heerfahrten  jener?  Sollte  ein  Historiker  an  die 
Beantwortung  dieser  Fragen  schreiten,  so  wird  ihm 
der  von  Condeixa  erwiesene  Zusammenhang  zwischen 
den  Rotunden  von  Thomar,  Batalha  und  Kubbet-es- 
Sachra,  zwischen  den  Kirchen  von  Cypern,  Batalha 
und  Thomar,  dabei  vortrefflich  zu  statten  kommen. 

1)  Über  das  Material  ebendort. 

'  2)  8.  Vogüe,  S.  28(J. 


.'<>y -r" 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 

VON  H.  E.  v.  BERLEPSCH. 


(Schluss.) 


Der  malende  Dichter. 

IT  der  Rückkehr  zur  Mutter, 
mit  dem  Scheiden  aus  einer 
Umgebung,  die  ihm  zum 
mindesten  das  Wort  „Kunst“ 
fortwährend  zu  hören  gab, 
trat  ein  allmähliches  Zögern 
im  malerischen  Schaffen  Kel- 
ler’s  ein.  Ganz  an  den  Nagel 
gehängt  hat  Keller  es  nie.  Seine  Augen  blieben 
die  des  stets  beobachtenden  Künstlers,  auch  wenn 
er  das  Malen  nicht  mehr  als  den  Hauptlebenszweck 
betrachtete.  Das  beweisen  seine  Anschauungen  über 
künstlerische  Dinge,  die  er  in  verschiedenen  Arbeiten 
niedergelegt  hat  (davon  später  noch  ein  Wort);  es 
beweist  sich  aber  am  besten  durch  seine  Schreib¬ 
weise,  die  ungleich  farbiger  ist  als  jene  manches 
berühmten  Zeitgenossen. 

„Ein  Mann  ohne  Tagebuch  (er  habe  es  nun  in 
den  Kopf  oder  auf  Papier  geschrieben)  ist,  was  ein 
Weib  ohne  Spiegel.“  Der  Trieb  zu  schriftlicher 
Äußerung  ist  damit  vollständig  gekennzeichnet.  Das 
Tagebuch  wird  in  der  ersten  Zeit  die  hauptsäch¬ 
lichste  Stätte,  wo  Reflexionen  aller  Art  niedergelegt 
werden.  Hin  und  wieder  findet  auch  die  Beschäf¬ 
tigung  des  Malers  darin  Berücksichtigung.  Von  Ge¬ 
dichten,  selbstverfassten  und  gelesenen,  von  Erzäh¬ 
lungen  ist  des  öfteren  die  Rede,  kritische  Gedanken 
über  diesen  und  jenen  Dichter  füllen  ganze  Seiten, 
dazu  kommt  auch  gelegentlich  die  Bemerkung 
„Nach  der  Natur  gezeichnet“  und  daran  reihen  sich 
Vorsätze: 

„Ich  habe  eine  große  alte  Föhre  angefangen 
mit  Bleistift.  Ich  werde  trachten,  mir  eine  hübsche 
genaue  Zeichnung  anzugewöhnen,  denn  abgesehen 
davon ,  dass  die  Studienblätter  an  sich  selbst  einen 
inneren  Wert  dadurch  bekommen  und  mir  noch 


lange  nachher  zur  Freude  gereichen,  so  nützen  sie 
mir  auch  bei  der  Anwendung  mehr  als  die  rohen 
Farbenkleckse,  die  ich  früher  machte.  Auch  will 
es  mich  bedünken,  dass  es  auch  einem  Landschafts¬ 
maler  gar  nichts  schadet,  wenn  er  mit  Bleistift  oder 
Feder  in  einem  gewissen  Stile  gewandt  umzugehen 
weiß;  wenn  schon  viele  es  verachten  und  höchstens 
plumpe  Sclnnieralien  mit  rußiger  Kreide  und  Weiß 
zu  machen  wissen.  Überdies  kommt  das  gute  Zeich¬ 
nen  mit  der  Feder  einem  sehr  zu  statten  in  dem 
Falle,  wo  man  etwa  auf  den  Gedanken  kommt,  etwas 
zu  radiren.“ 

Ein  andermal  findet  sich  neben  der  kurzen  Notiz 
„Nach  der  Natur  gezeichnet“  ein  längerer  Bericht 
über  das  Studium  des  Lebens  in  einem  Ameisen¬ 
haufen,  der  offenbar  diesmal  einer  eingehenderen 
Betrachtung  als  das  zu  zeichnende  Motiv  gewürdigt 
wurde.  Dann  kommen,  wie  schon  früher,  allerlei 
Aufzeichnungen  über  „Landschaftliche  Kompositio¬ 
nen“  vor,  nachdem  mit  1)  2)  3)  4)  verschiedene  The¬ 
mata  zu  Gedichten  skizzirt  sind.  Da  findet  sich  denn 
als  Nr.  5  „Mittelalterliches  Bild“  der  Gedanke  zu 
dem  Entwürfe  ausgeführt,  der  bereits  besprochen 
wmrde  und  im  Grünen  Heinrich  in  die  Münchener 
Zeit  verlegt  ist,  die  „mittelalterliche  Stadt“.  Das 
Vorhandensein  der  Zeichnung  beweist,  dass  Keller 
es  beim  Niederschreiben  der  Gedanken  nicht  bewendet 
sein  ließ,  sondern  offenbar  mitunter  viel  Zeit  auf 
diese  Seite  seiner  Thätigkeit  verwandte,  denn  die 
Herstellung  des  Kartons  beanspruchte  sicherlich  nicht 
Tage,  sondern  Wochen.  Indes  gewinnt  doch  der 
Schriftsteller  mehr  und  mehr  die  Oberhand.  In  dem 
bereits  einmal  citirten  Aufsatze  „Autobiographisches“ 
ist  das  deutlich  und  klar  aus  gesprochen: 

„Ohne  (in  München)  etwas  geworden  zu  sein, 
musste  ich  nach  drei  Jahren  zurückkehren  und  ge¬ 
dachte  mich  in  der  Heimat  neu  zu  kräftigen  und 

15* 


108 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER 


durch  kühne  Erfindungen  emporzubringen.  Die  Kar¬ 
tons  zu  ein  paar  poetischen  Landschaften  waren  so 
umfangreich,  dass  ick  dieselben  in  meinem  alten 
Malkämmerchen  nicht  aufstellen  konnte,  sondern 
genötigt  war,  außer  dem  Hause  einen  eigenen  Raum 
dafür  zu  mieten.  Es  war  gerade  Winter  und  jener 
Raum  so  unheizbar,  mein  inneres  Feuer  für  die 
spröde  Kunst  auch  so  gering,  dass  ich  mich  meistens 
an  den  Ofen  zurückzog  und  in  trüber  Stimmung 
über  meine  fremdartige  Lage,  hinter  jenen  Karton¬ 
wänden  versteckt,  die  Zeit  wieder  mit  Lesen  und 
Schreiben  zuzubringen  begann.  —  Allerlei  erlebte 
Kot  und  die  Sorge,  welche  ich  der  Mutter  bereitete, 
ohne  dass  ein  gutes  Ziel  in  Aussicht  stand,  beschäf¬ 
tigten  meine  Gedanken  und  mein  Gewissen,  bis  sich 

o 

die  Grübelei  in  den  Vorsatz  verwandelte,  einen  trau¬ 
rigen  kleinen  Roman  zu  schreiben  über  den  tragi¬ 
schen  Abbruch  einer  jungen  Künstlerlaufbahn,  an 
welcher  Mutter  und  Sohn  zu  Grunde  gingen.  Dies 
war  meines  Wissens  der  erste  schriftstellerische  Vor¬ 
satz,  den  ich  mit  Bewusstsein  gefasst  habe,  und  ich 
war  etwa  20  Jahre  alt.  Es  schwebte  mir  das  Bild 
eines  elegisch-lyrischen  Buches  vor  mit  heiteren  Epi¬ 
soden  und  einem  cypressendunkeln  Schlüsse,  wo 
alles  begraben  wurde.  Die  Mutter  kochte  unterdessen 
unverdrossen  an  ihrem  Herde  die  Suppe,  damit  ich 
essen  konnte,  wenn  ich  aus  meiner  seltsamen  Werk¬ 
statt  nach  Hause  kam.“ 

Im  Herbst  1848  verließ  Keller  seine  Vaterstadt 
zum  zweitenmal,  freilich  nicht,  um  abermals  sein 
Glück  als  Künstler  zu  versuchen,  sondern  als  „Stu¬ 
dent  der  Philosophie“.  Die  nächsten  beiden  Jahre 
verbrachte  er  in  Heidelberg.  Dieser  Zeit,  die  ihn 
eigentlich  fernab  von  künstlerischer  Thätigkeit  auf 
die  Wege  anderer  Studien  führte,  entstammen  zwei 
im  Jahre  1849  entstandene  Aquarelle,  die  sich  heute 
im  Besitze  von  Frau  Anna  Kapp  in  Zürich  befinden. 
Der  Maler  verlangte  also  trotz  aller  Erfordernisse 
anderweitiger  Studien  noch  immer  von  Zeit  zu  Zeit 
seine  Rechte.  Keller  führte  offenbar  seine  Malre- 
quisiten  mit. 

Das  eine  der  beiden  Blätter  ist  wohl  eine  Zü¬ 
richer  See-Reminiscenz:  im  Vordergründe  ein  Bauern¬ 
gärtchen  mit  Sonnenblumen,  rückwärts  unter  Bäumen 
liegende  Bauernhäuser,  weiterhin  Kornfelder,  ein 
Stück  See,  ferne  Berge,  alles  mit  großer  Sorgfalt 
gezeichnet.  Das  andere  Blatt  zeigt  einen  Wasser- 
tiimpel  mit  Schilf  und  Boot,  über  dem  herbstlich 
gefärbte  Baumkronen  aufragen.  Zwischendurch  sieht 
man  einen  Zaun  mit  Thor,  umrankt  von  Kürbis¬ 
stauden,  dahinter  einen  blühenden  Rosenbusch.  In 


der  Ferne  ein  Seespiegel,  Bäume,  Berglinien.  — 
Dass  dies  nicht  die  einzigen  malerischen  Resultate 
jener  Zeit  waren,  scheint  aus  einem  Briefe  von  Chris¬ 
tian  Köster  (Bächtold,  Bd.  I,  336)  hervorzugehen,  wo 
dieser  an  Keller  schreibt  (Dezember  1848):  „Ihre 
Skizzen  haben  mir  sehr  wohl  gefallen.  Sie  stehen 
hier  der  Natur  einsam  und  allein  gegenüber,  ohne 
sich  in  fremden  Manieren  oder  in  nordischen  For¬ 
meln  zu  bewegen,  und  das  thut  gemütlich  so  wohl; 
obgleich  der  Wunsch  rege  wird,  durch  mehr  Verein¬ 
fachung  und  Gelenkigkeit  des  Traktaments  einen 
Punkt  zu  erreichen,  wo  sich  die  kunstfreie  Thätig¬ 
keit  mit  den  Schranken  der  Naturtreue  umschlungen 
hält,  durch  Gewinnung  eines  Stils,  —  freilich  leichter 
gesagt  als  gethan.“  —  Vielfach  verkehrte  Keller  auch 
mit  dem  zu  jener  Zeit  in  Heidelberg  lebenden  Rott¬ 
mann-Schüler  Bernhard  Fries. 

Er  schreibt  über  diesen  an  seinen  alten  Mün¬ 
chener  Freund  Hegi:  „ —  —  —  er  war  lange  in 
Italien  und  hat  auch  aus  der  Schweiz  ganz  gran¬ 
diose  Zeichnungen  mitgebracht.  Er  wird  nächstens 
zwei  kolossale  Bilder  malen  zu  Goethe’s  Lied : 
„Kennst  du  das  Land,  wo  die  Zitronen  blühen“,  ein 
italienisches  und  ein  schweizerisches  Gebirgsbild,  zu 
welch  letzterem  er  das  Motiv  vom  Monte  Rosa  her¬ 
nimmt.  Ich  werde  ihm  helfen  untermalen  und  han- 
tiren  dabei,  zu  Nutz  und  Vergnügen,  an  müßigen 
Nachmittagen.“ 

Fries  muss  mithin  etwas  von  Keller  gehalten 
haben,  denn  den  ersten  besten  Dilettanten  lässt  man 
nicht  mithelfen  bei  einer  Anlage,  die  unter  Um¬ 
ständen  für  die  Weiterführung  der  Arbeit  sehr  ins 
Gewicht  fällt. 

Das  Berühren  künstlerischer  Arbeit  kommt  sonst 
in  den  Briefen  der  Heidelberger  Zeit  nur  äußerst 
selten  vor.  Desto  mehr  ist  die  Rede  von  philoso¬ 
phischen  und  litterarischen  Studien,  von  eigenen 
Arbeiten  (der  Grüne  Heinrich  war  im  Entstehen  be¬ 
griffen),  von  der  badischen  Revolution. 

Im  April  1850  siedelte  Keller  nach  Berlin  über, 
seine  Studien  weiter  fortzusetzen. 

Missgeschick,  was  er  als  Maler  nicht  überwand, 
es  vermochte  den  Dichter  nicht  aus  dem  Sattel  zu 
heben.  Der  Hunger  hat  auch  da  an  seine  Thüre 
geklopft,  aber  Keller  ging  siegreich  aus  der  harten 
Probe  hervor. 

In  einem  Briefe  an  Freiligrath  bezeichnet  er 
das  Theater  als  seine  „Hauptunterrichtsanstalt“  und 
sagt  dem  Adressaten:  „Aus  dem  Titel  „Kunstmaler“ 
ersehe  ich,  dass  Du  das  Gedächtnis  für  verworfene 
Hallunkereien  noch  nicht  verloren  hast.“  Einem 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER 


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Schreiben  an  Hettner  ist  zu  entnehmen,  wie  ihn  die 
Umgebung  Berlins  und  die  Berliner  anmuten.  Er 
sagt  da  u.  a. :  „Dass  es  Ihnen  am  Meere  gut  ging 
und  gut  gefiel,  freut  mich;  ich  bin  nur  neugierig, 
ob  ich  auch  noch  den  Tag  erlebe,  wo  ich  wieder 
in  eine  vernünftige  Gegend  komme  und  entweder 
Meer  oder  Gebirg  sehe.  Die  märkische  Landschaft 
hat  zwar  etwas  recht  Elegisches,  aber  im  ganzen 
ist  sie  doch  schwächend  für  den  Geist;  und  dann 
kann  man  nicht  einmal  hinkommen,  da  man  jedes¬ 
mal  einen  schrecklichen  Anlauf  nehmen  muss,  um 
in  den  Sand  hinein  zu  waten.  Ich  bin  fest  über¬ 
zeugt,  dass  es  an  der  Landschaft  liegt,  dass  die  Leute 
hier  unproduktiv  werden.  Ich  sagte  es  schon  hun¬ 
dertmal  zu  hiesigen  Poeten,  die  sich  domizilirt  haben, 
und  sie  stimmten  alle  ein  und  schimpfen  womög¬ 
lich  noch  mehr  als  ich;  aber  keiner  weicht  vom 
Fleck  ...  Wie  sehr  werde  ich  mich  sputen,  wenn  ich 
einmal  kann!  Denn  ich  fühle  wohl,  dass  ich  hier 
auch  eintrocknen  würde  Ein  Hauptgrund  zu  der 
Impotenz  ist  auch  die  verfluchte  Hohlheit  und  Cha¬ 
rakterlosigkeit  der  hiesigen  Menschen,  die  gar  keinen 
ordentlichen  fruchtbaren  Gefühlswechsel  und  -Aus¬ 
druck  möglich  macht.  —  —  Ein  vorübergehender 
Aufenthalt  hier  hingegen  ist  jedenfalls  auch  für  künst¬ 
lerische  und  andere  Seiltänzernaturen  gut. - “ 

Die  Zahl  der  Briefe,  welche  aus  der  Berliner 
Zeit  stammen  und  im  zweiten  Bande  der  Bächtold- 
schen  Biographie  mitgeteilt  sind,  ist  nicht  klein. 
Beinahe  befremdend  wirkt  es,  dass  über  Dinge  der 
bildenden  Kunst  so  gut  wie  gar  nicht  die  Rede  ist, 
während  über  Theater  und  Litteratur  ausführlich  ge¬ 
sprochen,  gelegentlich  auch  scharf  losgezogen  wird. 
Freilich  boten  ja  die  künstlerischen  Zustände  jener 
Zeit  in  Berlin  wenig  Erquickliches;  indessen  lebte 
immerhin  ein  Menzel  daselbst,  dessen  lange  missver¬ 
standene  Art  in  immer  mächtigerer  Weise  sich  ent¬ 
faltete.  Einmal  hatte  Keller,  wie  es  scheint,  ver¬ 
sprochen,  einen  Bericht  über  die  akademische  Kunst¬ 
ausstellung  an  Hermann  Hettner  zu  schicken,  doch  —  — : 

„Den  versprochenen  Aufsatz  über  die  Ber¬ 
liner  Ausstellung  habe  ich  nicht  geschrieben.  Die 
Ausstellung  ist  ein  solcher  Ausdruck  einer  inneren 
geistigen  Armut  und  Bettelhaftigkeit  der  jetzigen 
Staffeleikunst,  dass  nichts  zu  sagen  war,  als  etwa 
über  diese  Armut  selbst.  Und  dazu  fühlte  ich  mich 
nicht  aufgelegt,  da  ich  mich  nun  lieber  der  positiven 
Beschäftigung  zuwende.  Freilich  ist  auch  nicht  viel 
gesandt  worden  von  außen  her.  Aus  Frankreich  und 
England  gar  nichts,  von  München  und  Wien  zwei 
oder  drei  Bilder  und  selbst  aus  Düsseldorf  wenig. 


Die  glänzendste  Repräsentation  genoss  die  vornehme 
Porträtmalerei  in  gut  gemalten  Bildnissen  von  Für¬ 
sten,  Adeligen,  Diplomaten  und  eleganten  Damen. 
Selbst  die  guten  Landschaften  übersteigen  nicht  ein 
halbes  Dutzend;  gute  Genrebilder  bringen  es  nicht 
einmal  so  hoch,  und  doch  zählt  die  Ausstellung 
1300  Nummern  etc.“ 

Keller  hat  auch  in  Berlin  in  stillen  Stunden 
gelegentlich  wieder  zum  Pinsel  gegriffen,  trotzdem 
er  nichts  darüber  berichtet.  Ein  im  Besitze  von 
Frau  Justine  Rodenberg  zu  Berlin  befindliches  Aqua¬ 
rell,  datirt  „Berlin  1853“,  giebt  ein  Motiv  aus  der 
Gegend  von  Treptow  wieder:  Kiefern,  Wassertümpel, 
Regenstimmung.  Gelegentlich  der  Schenkung  des 
Blattes  an  die  jetzige  Eigentümerin  schrieb  Keller 
rückwärts  folgende  Worte: 

Dies  trübe  Bildchen  ist  vor  dreiundzwanzig  Jahren 
Im  einstigen  Berlin  mir  durch  den  Kopf  gefahren; 

Mit  Wasser  wurd’  es  dort  auf  dem  Papier  fixiret, 

Von  Frau  Justinen  nun  dahin  zurückgeführet, 

Wo  es  entstand.  Vom  regnerischen  Zürichsee 
Bis  hin  zur  altberühmt-  und  wasserreichen  Spree. 

Auf  Wellen  fahret  so,  ein  Niederschlag  der  Welle, 

Des  Lebens  Abbild  hin,  die  blöde  Aquarelle. 

Im  Dezember  1855  kehrte  Keller  endlich  wieder 
in  die  Heimat  zurück,  freilich  nicht,  um  den  gelegent¬ 
lich  einmal  in  Aussicht  gestellten  Posten  eines  Pro¬ 
fessors  für  Litteratur-  und  Kunstgeschichte  an  der 
neuerrichteten  polytechnischen  Schule  in  Zürich  zu 
übernehmen,  sondern  um  sich  ganz  und  gar  mit 
seinen  litterarisehen  Arbeiten  zu  beschäftigen.  An 
Chr.  Schad,  den  Herausgeber  des  „Deutschen  Musen¬ 
almanach“,  schreibt  Keller  als  Postskriptum:  „Die 
Benennung  „Maler“  bitte  ich  künftig  weglassen  zu 
wollen,  da  sie  mir  längst  nicht  mehr  zukommt.“ 
Und  dennoch  steckte  ihm  der  Maler  in  den  Knochen. 
Man  lese  in  den  nachgelassenen  Schriften  den  Auf¬ 
satz  „Am  Mythenstein“  (1860):  „Ich  fuhr  mit  dem 
Frühboot  von  Luzern  weg  in  die  klassische  Gebirgs- 
welt  hinein ,  welche  in  grauem  Morgenschatten  vor 
uns  stand,  geheimnisvoll  gleich  einem  Theatervorhang 
den  goldenen  Morgen  verhüllend,  der  im  Osten  hinter 
ihr  heraufstieg.  Da  ich  nichts  als  Fest '),  Teil  und 
Schiller  im  Kopfe  trug,  so  war  es  mir  wirklich  wie 
in  einem  Theater  zu  Mute,  so  erwartungsvoll,  aber 
auch  so  absichtlich.  Ich  gedachte  der  Teildekora¬ 
tionen,  die  ich  da  und  dort  gesehen,  und  harrte  fast 
ängstlich  kritisch  auf  das  erste  Erglühen  eines  Berg¬ 
hauptes.  Da,  plötzlich  und  unversehens,  indem  ich 

1)  Es  handelt  sich  um  das  Fest  am  21.  Oktober  18G0 
gelegentlich  der  Enthüllung  einer  Gedenktafel  für  Schiller 
am  Mythenstein  im  Vierwaldstätter  See. 


110 


GOTTFRIED  KELLER  ALS  MALER. 


mich  rückwärts  wandte,  war  die  Klippenkrone  des 
Pilatus  rosig  beglänzt  und  durch  Linien  des  ersten 
Herbstschnees  fein  gezeichnet.  Es  war  ein  gar  statt¬ 
liches  Versatzstück;  ich  wandte  kein  Auge  davon, 
vergass  die  mitgebrachte  Theaterkultur  und  verfiel 
der  malerischen.  Ich  erwog  die  technischen  Mittel, 
welche  für  diesen  Effekt  aufzubieten  waren,  die 
Lmtermalung  und  die  Lasuren,  trug  das  Pastose  auf, 
überzog  es  mit  dem  Transparenten,  und  indem  ich 
so  mit  dem  Pinsel  um  die  Formen  herum  model- 
lirte,  merkte  ich,  dass  es  mit  meiner  Zeichnung  nicht 
gut  beschlagen  war.  Ich  zog  also  in  Gedanken  den 
Stift  hervor  und  ging  den  zerklüfteten  Riesengebilden 
auf  den  Grund,  vom  Schlaglicht  des  Morgens  geleitet.“ 
„So  zeichnete,  wischte,  tuschte,  kratzte  und 
malte  ich  mit  den  Augen,  indem  das  Schiff  weiter 
fuhr,  wie  in  saurem  Tagelohn,  und  es  war  fast  nöt- 
lich  anzusehen,  wie  ich  mich  befliss,  keine  der  vor¬ 
überziehenden  Erscheinungen  mir  entweichen  zu 
lassen.  Ganz  niedrig  und  nah  am  Schiff  saß  noch 
eine  zurückgebliebene  Nebelflocke  auf  einem  Felsen, 
schief  aufwärts  um  ein  Tännchen  gewickelt.  So¬ 
gleich  überlegte  ich,  auf  welche  Weise  sie  am  duf¬ 
tigsten  anzubringen  wäre,  trug  etwas  Weiß  mit 
Rebenschwarz  auf  und  handhabte  eben  den  Ver- 
treiber,  als  ein  Lufthauch  die  Flocke  losmachte  und 
wie  einen  verlorenen  Frauenschleier  an  der  Berg¬ 
wand  entlang  w,ehte.  Das  Geisterhafte  des  Anblicks 
schob  mir  nun  die  Dichterei  in  das  Malen  hinein 
und  stracks  war  ich  dahinter  her,  ein  Bergmärchen 
auszuspinnen,  als  ich  endlich  dieser  modernen  Be¬ 
fangenheit  und  Machsucht  inne  ward.“ 

Und  wenn  man  nun  im  gleichen  Aufsatze  weiter, 
und  die  Entwickelung  der  Idee  von  groß  angelegten 
Schauspielen  liest  —  —  — : 

„Wären  die  Farbenreihen  der  Gewänder  nach 
bestimmten  Gesetzen  berechnet,  so  gäbe  es  Augen- 
blieke,  wo  Ton,  Liebt  und  Bewegung,  als  Begleiter 
des  erregtesten  Wortes,  eine  Macht  über  das  Gemüt 
übten,  die  alle  Blasirtheit  überwinden  und  die  ver¬ 
lorene  Naivetät  zurückführen  würde,  welche  für  das 
notwendige  Pathos  und  zu  der  Mühe  des  Lernens 
und  llbens  unentbehrlich  wäre;  denn  ohne  innere 
und  äußere  Achtung  gedeiht  nichts  Klassisches“  — 
wem  muss  da  nicht  von  selbst  die  Überzeugung 
kommen,  dass  der  das  dachte  und  sprach,  selbst  ein 
Künstler  von  Gottes  Gnaden  sein  müsse!  Ein  Künst¬ 
ler,  ja,  er  brauchte  deswegen  nicht  just  ein  Maler 
zu  sein,  denn  nicht  jeden  Maler  kann  man  auch  als 
Künstler  bezeichnen,  lange  nicht  jeden,  sogar  nur 
recht  wenige!“ 


Dass  Keller’s  Malerlaufbahn  unterbrochen  wor¬ 
den  ist,  hat  ihn  nicht  gehindert,  dennoch  ein  großer 
Künstler  zu  werden,  Darin  liegt  der  Beweis,  dass, 
was  künstlerische  Rasse  hat,  nicht  von  der  hand¬ 
werklichen  Äußerlichkeit,  vom  Ausdrucksmittel,  ab¬ 
hängt. 

Keller,  der  Maler,  der  Poet,  ist  bekanntermaßen 
mit  seinem  42.  Jahre  in  den  Staatsdienst  getreten 
als  Staatsschreiber. 

Vom  Staatsschreiber  Keller  rührt  die  kreisrunde 
Landschaft  her,  deren  Original  im  Besitze  von  f  Prof. 
Ad.  Exner  in  Wien  war.  Wo  im  Laufe  der  Jahre 
und  unter  dem  Einflüsse  vielartig  sich  ändernder, 
in  den  wenigsten  Fällen  günstiger  Verhältnisse  eine 
solche  Abklärung  sich  vollziehen  konnte,  da  muss 
die  Kraft  von  unverfälschter  Art  sein.  Wenn  das 
auch  manche,  viele  nicht  eingesehen  haben,  so  ändert 
es  doch  an  dem  Faktum  nichts,  dass  in  Keller  eine 
ganz  stark  entwickelte  malerische  Potenz  wohnte. 
Dass  sie  sich  selbst  nach  dem  Verlassen  der  eigent- 
liehen  Malerlaufbahn  immer  wieder  regte,  ist  nur 
ein  Beweis  für  ihre  Echtheit.  Kraftlosen  Naturen 
entfällt  in  solchen  Umständen  leicht  und  ohne 
Schmerzen  das,  wovon  sie  sich  trennen  müssen.  Bei 
Keller  pochte  immer  und  immer  wieder  der  Maler 
an,  wenn  er  auch  für  die  Welt  längst  begraben  war 
oder  in  den  Augen  jener,  die  eben  so  in  den  Tag 
hineinschwatzen,  ohne  zu  wissen,  was  sie  sagen,  als 
ein  Dilettant  dastand.  —  Das  kreisrunde  Bild  ist, 
wie  Prof.  Bächtold  sagt,  vom  Jahre  1878,  mithin 
von  Keller  etwa  im  beginnenden  sechzigsten  Lebens¬ 
jahre  gemalt  und  unter  allem,  was  bis  zur  Stunde 
an  malerischen  Arbeiten  seiner  Hand  bekannt  ist, 
unzweifelhaft  das  Beste,  eine  Arbeit,  die,  um  em¬ 
pfunden  und  auf  ihren  künstlerischen  Wert  richtig 
geprüft  zu  werden,  keines  gelehrten  Verständnisses 
bedarf. 

Noch  zwei  kleinere  Aquarelle,  die  indessen,  was 
die  Auffassung  des  Gegenstandes  betrifft,  nicht  auf 
gleicher  Höhe  mit  dem  vorgenannten  stehen,  be¬ 
finden  sich  im  Besitze  von  Frau  Prof.  Frisch,  geb. 
Exner,  in  Wien.  Das  eine  giebt  nach  links  sich 
senkendes,  baumbestandenes  Bergterrain  mit  Aus¬ 
blick  auf  waldige  Halden,  das  andere  eine  mehr 
ebene  Landschaft  mit  zierlichen  Baumgruppen,  hinter 
denen  sich  eine  weite  Wasserfläche  dehnt,  jenseits 
deren  mächtige,  stotzige  Bergwände  aufsteigen.  Beide 
Blätter  sind  mit  der  Jahreszahl  1873  versehen  und 
wurden  vom  Staatsschreiber  Keller  gelegentlich  eines 
Ferienaufenthaltes  am  Mondsee  im  Salzkammergut 
gemalt  und  der  jetzigen  Besitzerin  dedizirt. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


111 


Es  ist  absichtlich  hier  davon  abgesehen  worden, 
eine  förmliche  Liste,  etwa  das  aufzustellen,  was  die 
Franzosen  beim  Künstler  als  „l’ceuvre  de  sa  vie“ 
bezeichnen.  Will  man  vom  Lebenswerke  Keller’s 
sprechen,  so  liegt  es  auf  einem  anderen  Gebiete  als 
dem  der  bildenden  Kunst.  Ob  nicht  aber  diese  und 
seine  Begabung  dafür  ihn  erst  recht  befähigten,  als 
Schriftsteller  manches  zu  sagen  und  zu  sehen,  was 
andere,  mit  minder  geschärften  Augen  zu  sehen, 
folglich  auch  zu  sagen  nicht  im  stände  sind,  selbst 
solche,  die  in  Sachen  der  Kunst  immer  ein  bis  zum 
Rande  gefülltes  Tintenfass  in  Bereitschaft  haben! 

Wie  er  über  neuere  Kunst  dachte,  hat  er  an 
vielen  Orten  gesagt.  Wie  gerecht  er  den  verschie¬ 
densten  Anschauungen  gegenüber  zu  sein  vermochte, 
zeigt  der  in  seinen  nachgelassenen  Schriften  ver¬ 
öffentlichte  Aufsatz:  „Ein  bescheidenes  Kunstreis- 


chen“,  in  dem  über  einige  wenige  Maler  weit  mehr 
Gescheites  und  Zutreffendes  gesagt  ist,  als  in  manch 
spalten-  und  bogenlangen  Ausstellungsberichten  derer, 
die  das  „Richten“  als  etwas  Bedeutsameres  anschauen 
als  das  „Fühlen“,  das  man  allerdings  nicht  lernen 
kann.  —  Wie  wäre  es  sonst  möglicli  gewesen,  dass 
enge  Freundschaft  Gottfried  Keller  bis  ans  Ende 
seiner  Tage  mit  Arnold  Böcklin  verband,  der,  das 
ist  keine  allgemein  bekannte  Thatsaclie,  eine  herr¬ 
liche  Keller-Medaille  modellirt  hat,  freilich  eine  frei 
empfundene,  hochkünstlerische,  die  wahrscheinlich 
aus  diesem  Grunde  an  offizieller  Stelle  jene  Wür¬ 
digung  nicht  fand,  die  ihr  von  künstlerisch  Empfin¬ 
denden  dargebracht  worden  wäre,  zumal  für  den 
Zweck,  dem  sie  dienen  sollte:  eine  Erinnerung  an 
Gottfried  Keller’s  siebzigsten  Geburtstag  zu  sein, 
ein  künstlerisches  Andenken  an  einen  großen  Künstler. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


BÜCHERSCHAU. 

Anleitung  zur  Ölmalerei  von  H.  S.  Templeton.  Autori- 
sirte  Übersetzung  aus  dem  Englischen  von  0.  Strassner. 
Stuttgart,  Paul  Neff.  1S93. 

Es  ist  ein  unbestreitbares  Verdienst  des  Übersetzers  und 
Verlegers,  die  vorliegende  Schrift  dem  deutschen  kunst¬ 
pflegenden  Publikum,  dem  das  englische  Original  aus  irgend 
einem  Grunde  nicht  zugänglich  ist,  zum  Studium  geboten 
zu  haben.  Der  beste  Prüfstein,  der  zuverlässig  die  Brauch¬ 
barkeit  jedes  Buches  zeigt,  ist  die  Zahl  der  Auflagen,  die 
ihm  seine  eigene  Güte  und  die  ihm  dadurch  zugewandte 
Gunst  des  Interessentenkreises  verschafft.  Das  englische 
Original  hat  bis  heute  47  Auflagen  erlebt.  Strassner,  der 
sehr  fachmännisch-gewandte  Übersetzungen  liefert,  macht 
uns  auch  noch  auf  einige  andere  Werke  begierig,  die  er  für 
die  nächste  Zeit  verspricht  und  die,  wie  das  hier  angezeigte, 
aus  dem  in  dieser  Richtung  bekannten  Verlage  von  G.  Rowney 
u.  Comp,  stammen.  Unser  kleines  Werk  ist  für  sich  ein 
Ganzes,  findet  aber  noch  eine  vorzügliche  Erweiterung  in 
der  „Anleitung  zur  Landschaftsmalerei  in  Öl“  von  Glint  und 
in  der  „Abhandlung  über  Porträtmalerei  nach  dem  Leben 
sowohl  als  auch  nach  Photographieen  und  auf  Photograpbieen“ 
von  Haynes.  Es  steht  über  jedem  Zweifel,  dass  gerade  solche 
in  engen  Grenzen  gehaltene  Darstellungen  den  beabsichtig¬ 
ten  Zweck,  eine  Anleitung  zu  bieten,  viel  besser  erreichen 
als  umfangreiche  Publikationen  dieser  Art,  die  nur  zu  häufig 
—  selbst  immer  nur  sehr  gute  Arbeiten  vorausgesetzt  —  be¬ 
sonders  den  Anfänger  verwirren  und  durch  ein  Zuviel  dort 
zum  Experimentiren  verleiten,  wo  eine  einzige  apodiktisch 
hingestellte  Anweisung  für  immer  ein  festes  Fundament 
bildet.  —  Von  diesem  Standpunkte  aus  sei  das  instruktive 
Büchlein  bestens  empfohlen.  RUD.  BOCK. 


Kurze  Anleitung  zur  Tempera-  und  Pastelltech¬ 
nik  etc.  von  Fr.  Jcienniche.  Stuttgart.  Paul  Nett'.  1893. 

Diese  Arbeit  des  durch  seine  verwandte  Themen  be¬ 
handelnden  Bücher  wohlbekannten  Autors  führt  besonders 
das  Kapitel  über  Pastelltechnik,  Gobelins-  und  Fächermalerei 
und  die  Kolorirung  von  Photographieen  aus  und  ist  speziell 
Adepten  des  Kunstgewerbes  im  Hinblick  auf  seine  einfache, 
leicht  verständliche  Vortragsweise  bestens  zu  empfehlen. 

R.  BK. 

Anleitung  zur  Modellirkunst.  Mit  41  Illustrationen 
Von  H.  Bouffier.  Leipzig,  Moritz  Ruhl.  58  S.  Gr.  8°. 

Die  Broschüre  ist  mit  Rücksicht  auf  den  Liebhaber  ge¬ 
schrieben;  sie  will,  was  ja  sehr  löblich  ist,  den  Sinn  für 
Plastik  in  weiteren  Kreisen  wieder  beleben  oder  besser  aus 
dem  tiefen  Schlaf  erwecken,  in  den  er  leider  bei  uns  ver¬ 
fallen  ist.  Dass  sich  der  Autor  dabei  besonders  an  die 
Damenwelt  wendet,  scheint  uns  nicht  der  glücklichste  Weg 
für  ein  Prosperiren  seiner  Absicht  zu  sein;  wohl  aber  stim¬ 
men  wir  ihm  in  der  Meinung  bei,  dass  von  unseren  Kunst¬ 
schulen,  namentlich  denen  niederen  Ranges,  mehr  für  die 
Popularisirung  der  Plastik  geschehen  sollte,  und  zwar  am 
besten,  wie  uns  dünkt,  durch  öffentliche  Kurse,  ähnlich  den 
allgemeinen  Zeichenschulen.  Besonders  beherzigenswert  ist 
der  an  dieser  Stelle  von  uns  wiederholt  ausgesprochene 
Wunsch,  der  Polychromie  in  der  Plastik  wieder  zu  ihrem 
uralten  Rechte  zu  verhelfen,  das  ihr  nur  der  akademische  Zopf 
geraubt  hat.  —  Das  klar  und  fasslich  geschriebene  kleine 
Buch,  das  manchem  Liebhaber  und  vielleicht  auch  manchem 
echten  Talente  eine  gute  Stütze  sein  wird ,  bespricht  außer 
den  Materialien  zum  Modelliren  die  verschiedenen  Rich¬ 
tungen  dieser  Kunst  in  recht  übersichtlicher  Weise,  das  Mo¬ 
delliren  selbst,  das  Formen  nach  dem  Modelle  und  der 
Natur  (auch  von  Totenmasken),  die  Retouche  und  das  Verviel- 


112 


KLEINE  MITTEILUNGEN 


faltigen.  Besonders  das  Kapitel  über  das  Abformen  ist  für 
den  Kunstfreund  zur  praktischen  Anwendung  sehr  brauch¬ 
bar.  Den  letzten  Abschnitt  widmet  der  Verfasser  der 
Gummiknetmasse,  die  heute  auch  in  der  Hand  des  Malers 
für  Rahmenmodellirung  nach  eigenem  Geschmack  zu  so 
häufiger  Anwendung  kommt,  umsomehr  als  die  Polychro- 
mirung  derselben  mit  allen  Arten  von  Farben,  Wasser-, 
Gouache,  Öl-  und  Bronzefarben  etc.,  leicht  zu  bewerkstelligen 
ist.  —  Das  Büchlein  ist  für  grundlegende  Winke  in  Erman¬ 
gelung  eines  leitenden  Lehrers  und  Praktikers  jedenfalls  sehr 
empfehlenswert.  RUD.  BOCK. 

*  Siebzehn  Bembrandt’s  der  üasseler  Galerie ,  das  sind 
nahezu  sämtliche  Bilder,  welche  die  Sammlung  von  dem 
großen  holländischen  Meister  besitzt,  bilden  den  Gegen¬ 
stand  einer  höchst  beachtenswerten  Publikation,  welche 
die  Photographische  Gesellschaft  in  Berlin  soeben  heraus¬ 
gegeben  hat.  Und  zwar  in  Photogravüren  auf  japanischem 
Papier,  welche  an  Schärfe  der  Wiedergabe  und  Feinheit  des 
Tons  den  vorzüglichsten  Leistungen  der  modernen  Technik 
sich  anreihen.  Als  besonders  gelungene  Reproduktionen  be¬ 
zeichnen  wir  das  Bildnis  des  Alten  mit  Halskette  und  Kreuz, 
die  Saskia,  die  Heilige  Familie,  den  Bruyningh  und  den 
Segen  Jakob’s.  Die  Wirkung  einiger  Blätter  hätte  durch 
Retouchen  mit  der  Nadel  erhöht  werden  können,  was  je¬ 
doch  —  wie  es  scheint  —  grundsätzlich  vermieden  wor¬ 
den  ist. 

*  „Die  Bedeutung  der  Amateur  -  Photographie“  betitelt 
sich  eine  neue  Schrift  von  Direktor  Dr.  A.  Lichtwark  in 
Hamburg,  in  der  dieser  geistvolle,  für  die  Verbreitung  des 
Kunstsinnes  auf  praktischem  Wege  rührig  thätige  Autor  für 
die  Amateur-Photographie  energisch  eintritt.  Den  Ausgangs¬ 
punkt  für  seine  beachtenswerten  Darlegungen  bildete  die 
Hamburger  Amateur-Photographie- Ausstellung  v.  J.  1893,  und 
die  Leistungen  der  besten  auf  derselben  vertretenen  Amateur- 
Photographen,- vor  allem  die  der  HH.  B.  Eichemeyer  jun.  in 
New-York  und  Bar.  A.  Bothschild  in  Wien  sind  in  vorzüg¬ 
lichen  Wiener  Heliogravüren  von  Bleehinger  dem  bei  W. 
Knapp  in  Halle  erschienenen  Buche  beigegeben.  Wir  em¬ 
pfehlen  dasselbe  der  allgemeinsten  Beachtung. 

\Y  innerst  ad.t!  Lebensbilder  aus  der  Gegenwart,  geschil¬ 
dert  von  Wiener  Schriftstellern.  Gezeichnet  von  Myrbach, 
Za.<ln  ,  Engelhaft ,  Mangold  und  lieg.  Wien  und  Prag,  F. 
Tempsky;  Leipzig,  G.  Freytag.  1893—1894.  Lieferung  10 — 12. 

In  diesem  von  uns  schon  früher  besprochenen  Werke 
brillirt  in  den  vorliegenden  Lieferungen  wieder  Myrbach  als 
Meister  der  tonigen  Federzeichnung,  besonders  in  seinen 
Bildern  des  Parterres  der  Oper,  des  Orchesters  und  der  Phil¬ 
harmoniker.  Weniger  bedeutend  ist  sein  Hofball  mit  be¬ 
kannten,  zum  Teil  abgetretenen,  zum  Teil  gestorbenen  Größen: 
Tautle,  Gautsch,  Schmerling  etc.,  derselbe  Ball,  bei  dem  der 
Zug  ins  Große  selbstverständlich  und  notwendig  ist;  unver¬ 
gleichlich  besser  wusste  der  Künstler  das  Charakteristische, 
den  Qualm  und  Lärm  des  Fiakerballs  festzuhalten;  auf 


kleinem  Raum  zeichnet  er  da  gegen  hundert  Köpfe  und 
Halbfiguren  voll  Leben,  einen  wahrer  als  den  andern,  alle 
zusammen  das  echte  Ballgedränge  dieser  Qualität  bildend, 
alles  in  der  echten  Ballluft,  der  man  ansieht,  dass  sie  keine 
Luft  ist,  sondern  zum  Schneiden  dick.  Sehr  verliert  neben 
Myrbach,  Mangold,  Engelhart  und  Hey  der  flotte  Chik- 
Zeichner  des  „Figaro“  Zasche,  der  schablonenhaft  arbeitet. 
Engelhart  schuf  dagegen  in  seinem  „kunstsinnigen  Ehepaar 
im  Rubenssaale  im  neuen  Museum“  ein  Genrebild  von 
solchen  Vorzügen  der  Charakteristik  und  schärfsten  Beo¬ 
bachtung,  so  voll  Humors,  dass  kein  Kunstfreund 'versäumen 
sollte.,  damit  Bekanntschaft  zu  machen:  die  alte  Wiener 
Schule  lebt  darin  neu  verjüngt  auf.  Der  einzige  Wunsch, 
den  wir  so  oft  bei  Engelhart  äußern  mussten,  ist:  mehr  Ge¬ 
duld  für  seine  Arbeiten,  sowie  er  sie  auf  den  letzten 
Pastellen  der  Internationalen  Ausstellung  zeigte,  —  wenn 
man  auch  sieht,  dass  er  sich  Gewalt  anthun  muss,  um  ruhig 
zu  bleiben  und  nicht  schleuderisch  zu  werden.  Vortreffliche 
neue  Kräfte  lernen  wir  in  Mangold  und  Hey  schätzen,  nament¬ 
lich  bewahrheiten  des  letzteren  Tuschirungen  aus  den 
Kirchen  Wiens  den  oben  bei  Engelhart  ausgesprochenen 
Satz  —  infolge  ihrer  Solidität  in  noch  höherem  Grade  als 
bei  diesem  —  von  der  Benaissance  der  Altwiener  Genre¬ 
kunst.  Seine  „Andacht  vor  dem  Gnadenbild  Maria  Pötsch 
in  der  Stephanskirche“,  seine  „Einsegnung“  oder  sei  ne,, Fasten¬ 
predigt“  in  der  Caroluskirche  des  älteren  Fischer  von  Er¬ 
lach,  das  sind  —  selbst  ohne  Farbe  —  Bilder  von  bleiben¬ 
dem  Werte.  Zum  Schluss  eine  textliche  —  vielleicht  Druck¬ 
fehler-Berichtigung:  Das  „heilige  Grab“  der  Karwoche  wird 
in  Wien  nirgends  „Heiligenkreuz“  genannt.  R.  Bk. 


*  Peter  Halm’ s  Name  ist  allen  Freunden  der  Radirkunst 
wohlbekannt;  die  feinsinnige  Studie,  die  wir  dem  gegen¬ 
wärtigen  Hefte  beigeben,  entstand  aus  Anlass  der  Radirungs¬ 
konkurrenz,  die  der  Verleger  der  Zeitschrift  vor  zwei  Jahren 
ausschrieb.  Das  Blatt  war  nicht  rechtzeitig  fertig  geworden, 
wurde  jedoch  nachträglich  erworben.  Der  Vorwurf,  den 
der  Künstler  sich  wählte,  ist  nicht  gerade  bildmäßig  im 
gewöhnlichen  Sinne,  sondern  eine  Naturstudie,  ein  künst¬ 
lerisches  Augenblicksbild,  das  um  eines  momentanen  Reizes 
willen  vom  Künstlerauge  erfasst  und  von  der  nachfühlen¬ 
den  Hand  wiedergegeben  wurde.  Es  sind  auch  keine  star¬ 
ken  Kontraste  und  besonderen  malerischen  Reize  darin  zu 
suchen,  aber  die  Leichtigkeit,  Freiheit,  Reinheit  der  Tech¬ 
nik,  die  Gefälligkeit  der  Darstellung  machen  auch  dies 
Blatt  zu  einem  schätzenswerten  und  verraten  von  Halm’s 
künstlerischem  Charakter  dem  Kenner  eben  so  viel  wie 
andere  mühevoller  und  ausführlicher  durchgearbeitete  Ra¬ 
dirungen.  Ja,  uns  will  bediinken,  dass  gerade  von  solchen 
geistreichen  Improvisationen  der  angehende  Radirer  die 
besten  Fingerzeige  hat,  mit  deren  Hilfe  es  sich  schon  eher 
weiter  fühlen  lässt,  wenn  man  nach  rechten  Mitteln  des 
Ausdrucks  noch  sucht. 


Herausgeber:  Carl  von  Lülzow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Handzeichnung  von  Max  Klinger. 


MAX  KLINGER’S  „BRAHMS- PHANTASIE“. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


E WUNDERT  viel  und  viel  gescholten!“ 
Auf  wen  möchte  das  Goetlie’sclie  Wort 
besser  passen  als  auf  Max  Klinger,  den  stil¬ 
len  bescheidenen  Künstler,  der  —  unbeirrt  von  der 
Parteien  Gunst  und  Hass  —  seinen  einsamen  Pfad 
bergan  verfolgt  bat  und  nun,  in  der  Vollkraft  des 
Schaffens,  jenem  heiteren  Himmel  nahe  ist,  von 
dem  herab  die  ewigen  Sterne  der  Kunst  in  ruhiger 
Klarheit  uns  armen  Sterblichen  leuchten! 

Bewundert  viel  und  viel  gescholten,  hat  er  es 
gewagt,  in  der  langen  Reihe  seiner  radirten  Folgen 
den  wechselnden  Empfindungen  Ausdruck  zu  ver¬ 
leihen,  die  ein  Menschenherz  in  Freud  und  Leid 
durchzittern,  und  wenn  er  auch  in  mancher  Brust 
ein  frohes  Echo  geweckt  hat  und  keiner  tiefer  veran¬ 
lagten  Natur  gleichgültig  geblieben  ist,  so  zählt  er 
doch  nach  wie  vor  zu  den  einsamen  Menschen,  die 
der  tausendköpfigen  Menge  rätselhaft,  ja  unverständ¬ 
lich  bleiben,  weil  sie  nicht,  dem  Philister  gleich, 
auf  dem  allgemeinen  Fahrweg  der  Gedanken  dahin¬ 
ziehen. 

Nur  einen  ihm  ebenbürtigen  Genossen  hat  er 
auf  seinem  Lebenswege  getroffen:  Arnold  Böcklin, 
und  nur  der  Genius  dieses  größten  deutschen  Künst¬ 
lers  hat  es  vermocht,  ihn  zeitweilig  derart  in  seinen 
Bannkreis  zu  ziehen,  dass  er  eine  kleine  Zahl  Böck- 
lin’scher  Gemälde  mit  den  Mitteln  graphischer  Kunst 
wiederzugeben  oder  umzudichten  unternahm.  Aber 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  5. 


dennoch  ist  er  in  allem,  was  er  sonst  geschaffen, 
sich  selbst  treu  geblieben,  und  keines  seiner  Ge¬ 
mälde,  keine  seiner  Radirungen  oder  plastischen 
Arbeiten  verrät  im  mindesten  Anklänge  an  Böek- 
lin's  künstlerische  Eigenart.  Was  er  mit  dem  ihm 
in  inniger  Freundschaft  verbundenen  Baseler  Meister 
indes  redlich  geteilt  hat,  das  ist  der  bittere  Spott 
und  die  boshafte  Schmähsucht  des  Unverstandes,  wie 
sie  sich  fast  bei  jedem  neuen  Werke  Klinger’s  glei¬ 
cherweise  im  Publikum  und  in  der  Kritik  breit 
machten. 

„Es  ist  ein  furchtbares  Schicksal,  in  Deutsch¬ 
land  ein  großer  Künstler  zu  sein“,  sagt  Lichtwark 
in  einer  seiner  lesens-  und  beherzigenswerten  Schrif¬ 
ten  : „  Anerkennung  und  Zustimmung  aus  dem  Pu¬ 
blikum  pflegen  auf  einem  Missverständnis  zu  be¬ 
ruhen.  Das  Lob  hat  keine  Freude,  aber  der  Tadel 
aus  dem  Munde  des  Unverstandes  trifft  mit  doppel¬ 
ter  Härte.“  Er  ist  Max  Klinger  so  wenig  erspart 
geblieben,  wie  Arnold  Böcklin.  Aber  die  Zeiten 
haben  sich  geändert,  und  der  Ruhm  Böcklin’s  steht 
heute  so  fest  begründet,  dass  es  kein  Gebildeter  oder 
doch  keiner,  der  dafür  gelten  will,  mehr  wagt,  bei 
diesem  Namen  zu  spotten.  Er  hat  sich  Anerken¬ 
nung  erzwungen  und  gilt  sogar  der  kalt  reflektiren- 
den  Vernunft  des  Berliners,  dessen  Empfindungs- 


1)  Wege  und  Ziele  des  Dilettantismus.  München  1894. 

16 


MAX  KLINGER'S  BRAHMS-PHANTASIE. 


i  14 

weise  er  naturgemäß  am  fremdesten  bleiben  sollte, 
für  unverletzlich.  Klingel*  ist  an  Jahren  der  Jüngere 
und  daher  noch  nicht  so  nahe  dem  Gipfel  unbestrit¬ 
tenen  Ruhmes.  Noch  hemmen  breite  Nebelschichten 
den  erwärmenden  Sonnenstrahlen  seines  Talentes 
den  Weg.  Aber  schon  lichtet  sich  das  Gewölk,  und 
auch  für  ihn  wird  der  Tag  kommen,  wo  das  deutsche 
Volk  mit  Stolz  zu  ihm  aufblickt  als  zu  einem  sei¬ 
ner  edelsten  Söhne,  und  die  kritischen  Spötter,  die 
sich  einst  so  erhaben  über  ihn  dünkten,  der  eigenen 
Lächerlichkeit  anheimfallen. 


Der  neue  Cyklus  von  Radirungen  des  Künstlers, 
der  uns  hier  beschäftigen  soll,  trägt  den  Namen: 
„Brahms- Phantasie“.  Es  sind  sechs  Lieder,  die 
Klingel*  teils  durch  größere  oder  kleinere  Radirungen, 
teils  durch  lithographirte  schmale  Leisten  neben  den 
Noten  illustrirt  hat.  „Illustrirt“  ist  eigentlich  nicht 
der  richtige  Ausdruck,  denn  der  Künstler  verschmäht 
es,  den  Wortlaut  der  Lieder  in  landläufiger  Weise 
zu  Bildern  umzugestalten.  Seine  Radirungen  sind 
vielmehr  Transskriptionen  der  Bralims’schen  Melo- 
dieen,  und  wie  die  Musik,  als  die  in  ihrer  Erschei¬ 
nung  flüchtigste  und  geschmeidigste  unter  allen 
Schwesterkünsten,  dem  Empfinden  des  Einzelnen  den 
weitesten  Spielraum  gewährt,  ihn  nicht  zwingt  das 
vom  Künstler  Gewollte  nur  von  einem,  von  seinem 
Gesichtspunkte  aus  zu  betrachten  und  zu  genießen, 
so  lässt  auch  Klingel*  denen,  die  sich  in  seine 
Schöpfungen  vertiefen  wollen,  die  volle  Freiheit  des 
Denkens  und  Empfindens,  des  Deutens  und  Erklärens. 

Wie  ein  Präludium  berührt  das  erste,  an  die 
Spitze  der  Lieder  gestellte  Blatt:  „Accorde“.  Auf 
erhöhtem  Platz  über  der  bewegten  Meeresflut  sitzt 
der  Künstler  am  Flügel  und  entlockt  seinem  Instru¬ 
ment  den  Grundton,  der  aus  dem  Rauschen  der 
Wog(  •n  zu  ihm  ernporklingt.  Die  Nixen  des  Meeres 
schlagen  ihn  an  auf  der  riesigen,  mit  einer  singen¬ 
den  Maske  geschmückten  Harfe,  die  ein  bärtiger 
Wassergeist  hält.  Die  Gleichheit  des  Accordes  Sym¬ 
bol  isirt  eine  neben  dem  Künstler  sitzende  Frauen- 
gestalt,  die  mit  der  einen  Hand  auf  den  Naturlaut 
der  singenden  Harfe,  mit  der  anderen  auf  das  Noten¬ 
heft  zeigt.  Und  über  die  Wellen  steuert  pfeilschnell 
ein  einsames  Schifflein  dahin,  —  „flieget  den  hellen 
Inseln  entgegen“,  den  seligen  Gestaden  der  Phantasie, 
wo  sich  aus  dem  Schatten  dunkler  Cypressen  der 
Schönheit  Tempel  erheben,  überragt  von  den  schnee¬ 
bedeckten  Häuptern  des  Gebirges,  die  sich,  von  dich¬ 


ten  Wolkenschleiern  umsponnen,  weit  in  der  Ferne 
verlieren. 

Das  Lied  „Alte  Liebe“  von  Candidus  eröffnet 
den  Reigen: 

„Es  kehlt  die  dunkle  Schwalbe 
Aus  fernem  Land  zurück, 

Die  frommen  Störche  kehren 
Und  bringen  neues  Glück. 

An  diesem  Frühlingsmorgen, 

So  trüb  verhängt  und  warm, 

Ist  mir,  als  fand  ich  wieder 
Den  alten  Liebesharm.“ 

An  diese  Worte  knüpft  Klinger  an:  Der  Künst¬ 
ler  liegt,  lässig  hingestreckt,  auf  dem  Balkon  seines 
Hauses,  von  dem  sich  ein  herrlicher  Blick  über  die 
Dächer  und  Kuppeln  der  Siebenhügelstadt  öffnet. 
Rechts  sieht  man  auf  den  verlassenen  Flügel  im 
Zimmer,  vor  dessen  Thür  melancholisch  der  geflü¬ 
gelte  Liebesgott  sitzt.  Er  zeigt  mit  der  Spitze  seines 
Pfeiles  auf  ein  Häuflein  verstreuter  Briefe,  von  denen 
immer  mehr  noch  einem  geöffneten  Kästchen  ent- 
cpiellen.  Gedankenvoll  den  Kopf  in  die  Hand  stüt¬ 
zend,  schaut  der  Einsame  auf  die  papiernen  Zeugen 
entschwundenen  Glückes,  und  unten  rollt  das  Rad 
der  Zeit  unaufhaltsam  hinab  über  den  blumigeu 
Rasen,  der  alle  Erinnerungen  der  Lebenden  deckt. 
Aber  vor  dem  geistigen  Auge  des  stillen  Träumers 
erhebt  sich  das  morsche  Gemäuer  eines  zerfallenden 
Turmes,  den  die  dunkeln  Schwalben  umkreisen, 
während  drunten  im  abendlichen  Schatten  der  Kas¬ 
tanien  ein  glückliches  Paar  wandelt,  berauscht  vom 
kurzen  Frühlingstraum  der  alten  Liebe. 

Schwermütig  ertönt  das  böhmische  Volkslied: 
„Hinter  jenen  dichten  Wäldern  weilst  Du  meine 
Süßgeliebte“.  Klinger  hat  die  Musik  mit  den  rei¬ 
zendsten  Randleisten  umrahmt,  die  man  erdenken 
kann.  In  den  schmalen,  kaum  zollbreiten  Raum 
bannt  er  die  ganze  Poesie  des  dichten  Waldes,  dessen 
dunkles  Laub  sich  im  klaren,  stillen  See  wider¬ 
spiegelt  samt  den  flimmernden  Sternen,  die  vom 
dunkeln  Abendhimmel  herniederstrahlen.  Eine  größere 
Radirung  zeigt  uns  „die  ferne  süße  Maid“,  an  einen 
Baumstamm  gelehnt,  zwischen  den  Wasserlilien  des 
Seeufers,  und  auf  einem  zweiten  kleineren  Bilde  ruht 
der  Liebende  im  hohen  Gras  vom  hellen  Schein  des 
Mondlichts  übergossen,  während  sich  vom  Himmel 
herab  die  Geisterhand  der  „Süßgeliebten“  auf  sein 
sehnendes  Herz  legt. 

Dem  mit  zwei  reizvollen  Randleisten  geschmück¬ 
ten  Paul  Heyse’schen  Liede  „Am  Sonntag  Morgen“ 
folgen  die  Dichtungen  „Waldeinsamkeit“  von  Almers 
und  „Kein  Haus  —  keine  Heimat“  von  Friedrich 


MAX  KLINGER’S  BRAHMS -PHANTASIE. 


115 


Halm.  Nur  die  erstere  der  beiden  bat  Klinger  il- 
lustrirt,  und  zwar  schließt  sich  seine  Radirung  dies¬ 
mal  ausnahmsweise  eng  den  Anfangsworten  des 
Textes  an: 

„Ich  ruhe  still  im  hohen  grünen  Gras 
Und  sende  lange  meinen  Blick  nach  oben. 

Von  Grillen  rings  umschwirrt  ohn’  Unterlass, 

Von  Himmelsbläue  wundersam  umwoben“. 

In  der  ersten  Randleiste  kauert  ein  winziger 
Mensch  zu  Füßen  des  großen  Pan,  der  im  Ähren¬ 
kranz,  eine  schwere  Blüten-  und  Fruchtguirlande 
auf  den  Schultern,  als  Verkörperung  der  geheimnis¬ 
voll  waltenden  Naturkräfte  auf  der  Erdkugel  steht, 
während  über  seinem  Scheitel  der  Sonnenball,  die 
Quelle  des  Lichts  und  des  Lebens,  strahlt.  In  der 
zweiten  Leiste  schweben  zwei  Liebende,  die  Hände 
ineinander  geschlungen,  die  Gesichter  zum  Kuss  sich 
neigend,  empor  durch  den  dunkeln  Äther: 

„Die  schönen  weißen  Wolken  zieh’n  dahin 
Durchs  tiefe  Blau  wie  schöne,  stille  Träume; 

Mir  ist,  als  ob  ich  längst  gestorben  bin 
Und  ziehe  selig  mit  durch  ew’ge  Räume.“ 

Die  fünf  kleinen  Lieder  sind  verklungen,  und 
ihre  schwermütigen  Weisen  haben  gewissermaßen 
nur  die  Stimmung  vorbereitet,  die  in  dem  sechsten, 
in  Hölderlin’s  grandiosem  „Schicksalsliede“  zu  immer 
mächtigeren  Tönen  anschwillt  und  ausklingt.  Der 
Künstler  hat  hier  alle  Kraft  gesammelt,  um  den  Kern 
der  Dichtung  in  einen  Cyklus  von  acht  großen  Ra¬ 
dirungen  zusammenzufassen,  die  er  dem  Schicksal 
der  den  Otymp  stürmenden  Giganten  und  der  Pro¬ 
metheussage  widmet.  Ein  zweites  Präludium  knüpft 
an  das  Titelblatt  des  Werkes  an  und  zeigt  uns  wie¬ 
der  den  einsamen  Künstler  am  Meer,  dessen  rau¬ 
schenden  Wellengesang  er  mit  immer  volleren  Ac- 
corden  begleitet.  Begeistert  wendet  er  den  Blick 
empor  zu  der  singenden  Meeresharfe,  die  neben  ihm 
auf  der  Brüstung  steht,  und  dahinter  erscheint  ihm 
in  unverhüllter  Schönheit  mit  ausgebreiteten  Armen 
ein  herrliches  Weib.  Gewand  und  Maske  hat  sie 
von  sich  geworfen:  es  ist  die  Muse  selbst,  die  ihn 
zuerst  den  Urlaut  aller  Melodie  gelehrt.  —  Und  über 
den  Wassern  jagen  die  Wolken  dahin  und  verdich¬ 
ten  sich  zu  himmelstürmenden  Giganten  und  Ken¬ 
tauren,  Felsblöcke  schleudernd  und  Pfeile  entsendend, 
zahllos,  gewaltig  und  unaufhaltsam  in  wildem,  ver¬ 
geblichem  Trotz  gegen  die  Himmlischen. 

Hätte  Klinger  nichts  geschaffen  als  diese  eine 
von  höchster  dramatischer  Kraft  erfüllte,  herrliche 
Komposition,  sie  würde  genügen,  seinem  Namen 
die  Unsterblichkeit  zu  sichern.  Mächtiger,  leiden¬ 


schaftlicher  als  diese  bildgewordene  Verkörperung 
der  Musik  lässt  sich  nichts  erdenken,  und  es  ver¬ 
dient  ausgesprochen  zu  werden,  dass  noch  kein 
Künstler  die  wilde  Großartigkeit  des  Meeres  ohne 
Zuhilfenahme  der  Farbe  mit  gleicher  Wahrheit  wie- 
derzugeben  gewusst  hat.  Glaubt  man  doch  die  dun- 
kein,  schaumdurchzogenen  Wellen  mit  ihren  weißen 
Kämmen  durch  das  Geländer  der  Brüstung  und  die 
Saiten  der  Harfe  hindurch  auf-  und  niederfluten  zu 
sehen!  Immer  neue  Wogen  rollen  heran  und  ent¬ 
locken  der  singenden  Harfe  die  mächtigen  Töne  des 
Schicksalsliedes  —  „wie  die  Finger  der  Künstlerin 
heiligen  Saiten“. 

Klinger  hat  den  großen  Radirungen  kurze  Be¬ 
zeichnungen  gegeben,  die,  meist  in  ein  einziges  Wort 
zusammengefasst,  seine  Abneigung  gegen  jede  „Er¬ 
klärung“  in  charakteristischer  Weise  darthun.  Den 
in  der  „Evocation“  schon  als  Luftgebilde  angedeu¬ 
teten  Gedanken  an  den  Gigantenkampf  spinnt  er 
im  zweiten  Blatt  „Titanen“  weiter.  Von  hohen  Ber¬ 
gesgipfeln  aus  setzen  die  riesigen  Erdensöhne  den 
Kampf  gegen  die  Götter  fort.  Bis  zum  Himmel 
empor  ragen  ihre  mächtigen  Leiber,  von  ziehenden 
Nebelstreifen  umwallt.  Aber  hoch  über  den  Wolken 
thronen  in  sicherer  Ruhe  die  Unsterblichen,  Apoll 
und  Diana  entsenden  ihre  nimmer  fehlenden,  tod¬ 
bringenden  Pfeile,  und  ob  sich  die  kühnen  Angreifer 
auch  hinter  breiten  Felsplatten  zu  bergen  suchen, 
einer  nach  dem  anderen  sinkt  getroffen  hinab.  — 
Auf  dem  dritten  Blatt:  „Nacht“  decken  die  Körper 
der  toten  Giganten  weithin  die  entvölkerte  Erde. 
Nur  Möven  flattern  ängstlich  über  die  finstere  Mee¬ 
resflut,  und  oben,  wo  sich  der  Himmel  vom  Licht 
eines  neuen  Tages  erhellt,  sitzt  die  Sage  und  erzählt 
dem  jugendlichen  Prometheus  vom  Schicksal  der 
Titanen,  die  es  gewagt,  den  Unsterblichen  zu  trotzen. 
Mitgefühl  mit  den  Leiden  der  Besiegten  und  feste 
Entschlossenheit,  die  Niederlage  der  Väter  zu  rächen, 
spiegeln  sich  in  Blick  und  Haltung  des  jungen  Hel¬ 
den.  —  Zum  Manne  gereift,  sehen  wir  ihn  auf  dem 
vierten  Blatt:  „Raub  des  Lichtes“,  wie  er  in  kühnem 
Fluge,  die  Fackel  in  der  hocherhobenen  Hand,  zur 
Erde  schwebt  und  den  in  dichte  Finsternis  gebann¬ 
ten  armen  Sterblichen,  die  ihn  jauchzend  umringen, 
das  himmlische  Feuer  herniederbringt. 

Die  Freude  der  Griechen  schildert  das  fünfte  Blatt: 
„Fest“,  eine  der  köstlichsten  Kompositionen  des  gan¬ 
zen  Werkes.  Vor  dichten  Lorbeerbäumen,  durch  deren 
Stämme  man  weit  auf  das  Meer  hinausblickt,  erhebt  sich 
der  Altar  mit  dem  heiligen  Feuer.  Um  ihn  und  den 
auf  erhöhtem  Platz  die  Menge  überragenden  Prome- 

16* 


116 


MAX  KLINGER’S  BRAHMS -PHANTASIE. 


theus,  dessen  Haupt  ein  Lorbeerkranz  ziert,  schlingt 
sich  der  jubelnde  Reigen  glücklicher  Menschenkinder. 
Mit  wahrhaft  bezaubernder  Grazie  ist  hier  das 
Rhythmische  und  Gesetzmäßige  des  Tanzes  verkör¬ 
pert,  die  von  der  weiblichen  Anmut  gebändigte  männ¬ 
liche  Kraft.  Wie  ernst  und  feierlich  windet  sich 
die  Kette  der  Mädchen  unter  den  erhobenen  Armen 
der  Jünglinge  hindurch,  um  sich  hinter  dem  Altar 
in  den  heiteren  Wirbel  des  paarweisen  Tanzes  auf¬ 
zulösen!  Glaubt  man  nicht  eine  Illustration  zu 
Schiller’s  bekannten  Versen  vor  sich  zu  sehen? 

„Siehe,  wie  schwebenden  Schritts  im  Wellenschwung  sich  die 

Paare 

Drehen!  Den  Boden  berührt  kaum  der  geflügelte  Fuß.“ 

„Wie,  vom  Zephyr  gewiegt,  der  leichte  Rauch  in  die  Luft  fließt, 
Wie  sich  leise  der  Kahn  schaukelt  auf  silberner  Flut, 

Hüpft  der  gelehrige  Fuß  auf  des  Taktes  melodischer  Woge; 
Säuselndes  Saitengetön  hebt  den  ätherischen  Leib. 

Jetzt,  als  wollt’ es  mit  Macht  durchreißen  die  Kette  des  Tanzes, 
Schwingt  sich  ein  mutiges  Paar  dort  in  den  dichtesten  Reihn. 
Schnell  vor  ihm  her  entsteht  ihm  die  Bahn,  die  hinter  ihm 

schwindet, 

Wie  durch  magische  Hand  öffnet  und  schließt  sich  der  Weg.“ — 

Aber  die  Rache  der  Götter  schläft  nicht.  Auf 
dem  sechsten  Blatt:  „ Entführung  des  Prometheus“ 
wird  der  Frevler  eiligen  Fluges  von  Merkur  und  dem 
Adler  des  Zeus  durch  die  Luft  getragen,  um,  an  den 
Felsen  geschmiedet,  ewige  Strafe  zu  dulden.  Wie 
überzeugend  schildert  der  Künstler  hier  die  rasende 
Schnelligkeit,  mit  der  die  beiden  Götterboten  den 
Befehl  ihres  Gebieters  vollziehen!  Hoch  über  der 
weiten  Meeresflut  tragen  sie  ihr  Opfer  dahin,  dem 
der  entblätternde  Kranz  vom  Haupt  sinkt,  und 
schwarze  Gewitterwolken  verhüllen  die  Sonne,  legen 
sich  um  die  schneebedeckten  Gipfel  des  Gebirges, 
finstere  Schatten  werfend  über  die  Wogen  des 
Meeres. 

Angstvoll  beugt  sich  das  gedemütigte  Men¬ 
schengeschlecht  im  Staube  vor  der  Allmacht  des 
grollenden  Zeus  und  opfert  anbetend  dem  unbesieg¬ 
baren  Herrn  der  Welt,  der  in  einsamer  Größe  über 
den  Wolken  thront.  Seine  Füße  ruhen  auf  dem  der 
Meerflut  entragenden  Felsen,  an  den  der  gefesselte 
Prometheus  geschmiedet  ist,  und  weithin  bedecken 
die  Körper  toter  Titanen  den  sonnigen  Strand. 

Hier  setzt  das  „Schicksalslied“  ein.  Kein  Ge¬ 
ringerer  als  der  greise  Homer  stimmt  es  an.  Be¬ 
gleitet  von  seinem  treuen  Hunde  steht  er  am  Meeres¬ 
gestade.  die  Leier  auf  ein  riesiges,  dem  Sande  ent- 
ragendes  Haupt  gelehnt,  indes  die  Wellen  der  be¬ 
siegten  Giganten  Leiber  ans  Ufer  spülen.  Zeus  und 
Juno  schweben  auf  hohem  Wolkensitze  über  den 


Wassern,  und  in  den  Randleisten  ruhen  in  heiteren 
Himmelshöhen  lässig  hingestreckt  die  Unsterblichen: 

„Ihr  wandelt  droben  im  Licht 
Auf  weichem  Boden,  selige  Genien ! 

Glänzende  Götterlüfte 
Rühren  Euch  leicht 
Wie  die  Finger  der  Künstlerin 
Heilige  Saiten!“  — 

Dunkles  Gewölk  bedeckt  die  von  einem  grellen 
Blitz  beleuchteten  aufspritzenden  Wogen,  aus  deren 
Mitte  sich  die  schaumgeborene  Göttin  der  Schönheit 
erhebt.  Ihr  blondes  Haar  flattert  mit  dem  wehen¬ 
den  Gewände  empor  in  den  lichten  Äther,  in  flim¬ 
mernde  sonnige  Lüfte  reckt  sie  die  weißen  Arme 
und  richtet  begeistert  den  Blick  nach  oben: 

„Und  die  seligen  Augen 
Blicken  in  stiller 
Ewiger  Klarheit.“ 

Doch  zu  Füßen  der  Göttin  treiben  auf  den 
Wellen  des  irdischen  Lebens  die  ohnmächtig  mit  den 
Fluten  ringenden  Menschen,  den  sterbenden  Blick 
emporgekehrt  zu  den  unerreichbaren  Höhen  des  Jen¬ 
seits.  Ungehört  verhallt  ihr  letzter  Seufzer,  ihr  ver¬ 
zweifelnder  Aufschrei : 

„Es  schwinden,  es  fallen 
Die  leidenden  Menschen 
Blindlings  von  einer 
Stunde  zur  andern, 

Wie  Wasser  von  Klippe 
Zu  Klippe  geworfen, 

Jahrlang  in’s  Ungewisse  hinab.“ 

Klinger,  der  den  Tod  in  all  seinen  Gestalten 
geschildert,  ihn  als  die  Geißel  der  Menschheit  und 
als  ihren  Erlöser  darzustellen  verstanden  hat,  weilt 
auch  hier  lieber  und  länger  bei  ihm,  als  bei  den 
seligen  Göttern  des  Olymp.  In  den  sechs  Rand 
leisten,  welche  dem  herrlichen  Venusbilde  folgen¬ 
zeigt  er  uns  die  leidenden  Menschen  von  Polypen¬ 
armen  zur  Tiefe  gezogen  oder  über  steile  Felsen, 
an  denen  sie  vergeblich  Halt  suchen,  herabgleitend, 
den  gläubig  Sterbenden,  der  noch  das  Kreuz  in  der 
festgeschlossenen  Hand  hält,  indes  ihn  der  Tod  in 
öder  Landschaft  als  urweltlich  wildes  Tier  mit  seinen 
Krallen  gepackt  hat,  endlich  den  Sturz  der  Lawinen, 
die  den  Menschen  mit  Haus  und  Hof  zerschmettern, 
ob  er  in  ohnmächtigem  Zorn  emporblickend  die 
Faust  ballt  oder  wie  das  arme  Weib  am  Wege  angst¬ 
voll  betend  niederkniet.  —  Auf  der  vorletzten  der 
kleineren  Radirungen  erscheint  er  noch  einmal  als 
schwarzer  Ritter  auf  abgetriebenem  Ross  und  winkt 
mit  der  eisernen  Hand  dem  blühenden  Mädchen,  das 
auf  blumenübersäeter  Wiese  im  Grase  sitzend  den 


MAX  KLINGER’S  BRAHMS-PHANTASIE. 


117 


Blick  nicht  auf  den  Tod,  sondern  aufs  sonnige 
Leben  richtet.  Und  das  Schlussbild  zeigt  eine 
düstere  Landschaft,  über  der  auf  hellen  Wolken  ein 
strahlendes  Maß  erscheint,  das  ewige  Gleichmaß  der 
Dinge,  von  dem  die  Hand  des  Schicksals  das  Lot 
abreißt  und  jede  Norm  aufhebt.  Unten  raucht  als 
Sinnbild  des  Friedens  der  Schornstein  einer  einsamen 
Hütte,  und  der  Bauer  schreitet  gebückt  hinter  dem 
Pflug  daher,  aber  aus  den  Ackerfurchen,  die  er  ge¬ 
zogen,  schießt  von  neuem  die  Saat  des  Todes  em¬ 
por.  Säbel  und  Bajonette  wachsen  wie  dichte  Halme 
aus  dem  Boden,  und  auf  den  kurzen  Frieden  folgt 
der  männermordende  Krieg. 

Hier  endet  das  Schicksalslied,  doch  damit 
ihm  der  versöhnende  Schluss  nicht  fehle,  lässt 
Klinger  als  letztes  Blatt  die  „Befreiung  des  Prome¬ 
theus“  folgen.  Vornübergebeugt  und  das  Antlitz 
in  den  Händen  bergend,  sitzt  der  Dulder  auf  hohem 
Felsen.  Neben  ihm  steht  in  männlicher  Jugendkraft 
sein  Befreier  Herakles,  auf  den  Bogen  gestützt,  mit 
dem  er  den  Adler  erlegte,  das  Haupt  in  stummer 
Teilnahme  gesenkt.  Aber  drunten  brandet  das  ewige 
Meer,  und  aus  den  schäumenden  Wogen  klingt  der 
Jubel  der  Okeaniden  empor  zu  dem  befreiten  Hel¬ 
den.  — 


Wenn  ich  in  Vorstehendem  der  Versuchung 
nicht  habe  widerstehen  können,  die  Phantasien 
Klingers  zu  deuten  und  seinen  Schöpfungen  meine 
eigenen  Gedanken  unterzulegen,  so  möchte  ich  mich 
von  vornherein  dagegen  verwahren,  dass  ich  mir 
einbildete,  überall,  ja  auch  nur  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  erraten  zu  haben,  was  der  Künstler  gewollt 
und  gemeint.  Ganz  und  gar  nicht,  denn  solch  Be¬ 
ginnen  wird  immer  Sache  des  subjektiven  Empfin¬ 
dens  sein,  und  Phantasiekunst  wird  stets  —  auch 
wo  sie  nicht  wie  hier  neben  Dichtung  und  Melodie 
geschwisterlich  einherschreitet  —  musikalisch  auf 
uns  wirken  und  wirken  müssen.  Das  eben  ist  ihr 
schönstes  Vorrecht  und  ihr  stärkster,  mächtigster 
Reiz,  dass  sie  dem  einen  dies,  dem  anderen  jenes 
ins  Ohr  flüstert,  dass  alle  ihr  gerne  zuhören  und 
jeder  glaubt,  ihr  hohes  Geheimnis  ganz  zu  verstehen. 
—  So  lange  aber  die  Augen  ungezählter  Tausende 
noch  nicht  gelernt  haben,  ein  Werk  der  bildenden 
Kunst  mit  gleicher  Verständnisinnigkeit  auf  sich 
wirken  zu  lassen,  wie  das  Ohr  des  musikalisch  Ge¬ 
bildeten  ein  Werk  der  Tonkunst,  so  lange  wird  es 
der  Vermittler  und  der  Zeichendeuter  bedürfen,  um 
die  Kunst  eines  Böcklin  —  eines  Klinger  zum  Ge¬ 
meingut  der  Nation  zu  machen. 


Die  Brahms-Phantasie  hat  Klinger  fünf  Jahre 
hindurch  neben  seiner  Thätigkeit  als  Maler  und 
Bildhauer  beschäftigt.  Unter  den  zahlreichen  Probe¬ 
drucken,  wie  sie  besonders  das  Dresdener  Kabinet 
in  großer  Menge  bewahrt,  datiren  einige  vom  Juni 
1890.  Um  diese  Zeit,  also  während  seines  römischen 
Aufenthalts,  entstanden  die  Evocation  und  der  Raub 
des  Feuers.  Noch  in  demselben  Jahre  radirte  er 
die  Accorde,  den  Turm1)  und  den  Homer,  1891  den 
träumenden  Mann  mit  den  Liebesbriefen,  die  drei 
kleineren  Illustrationen  zum  Schicksalslied  und  die 
Befreiung  des  Prometheus,  1892  Gigantenkampf  und 
Opfer.  Die  übrigen  Blätter  entstanden  während  der 
beiden  folgenden  Jahre  in  Leipzig  und  Berlin 2). 
Zwei  Platten  verwarf  der  Künstler  beim  Abschluss 
des  Werkes  und  ersetzte  sie  durch  neue,  von  denen 
mir  die  Eingangskomposition  zu  dem  böhmischen 
Volkslied  „Hinter  jenen  dichten  Wäldern“,  wie  ich 
gestehen  muss,  nicht  die  glücklichere  erscheint. 

Mehr  als  in  seinen  früheren  Werken  hat  sich 
Klinger  in  der  Brahms-Phantasie  neben  der  Radi¬ 
rung  der  kalten  Nadel  und  besonders  des  Grab¬ 
stichels  3)  als  Ausdrucksmittel  bedient,  und  von  seiner 
unübertroffenen  Meisterschaft  in  der  Anwendung 
der  Aquatinta  den  ausgiebigsten  Gebrauch  gemacht4). 
Auf  dem  „Opfer“  ist  sogar  der  Schatten  im  Vorder¬ 
grund  durch  Vernis  mou  wiedergegeben.  Große 
Flächen  in  einzelnen  Radirungen  sind  mit  dem 
Schaber  übergangen,  und  der  Künstler  erzielt  damit 
in  manchen  Fällen,  besonders  bei  der  „Evocation“, 
eine  noch  ungewohnte,  aber  außerordentlich  male¬ 
rische  Wirkung.  Dass  er  bei  zwei  Randleisten  zum 
Schicksalslied  sogar  dem  farbigen  Druck  das  Wort 
verleiht,  möchte  ich  allerdings  nicht  billigen.  Klinger 
hat  uns  so  oft  bewiesen,  welche  erstaunliche  Farbig¬ 
keit  er  in  Schwarz  und  Weiß  zu  erzielen  vermag,  dass 
es  der  wirklichen  Farben  hier  nicht  bedurft  hätte. 
Aber  abgesehen  von  dieser  kleinen  Ausstellung  ist  die 
Brahms-Phantasie  auch  rein  technisch  von  epoche¬ 
machender  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  gra¬ 
phischen  Künste,  und  wie  Dürer  in  der  Anwendung 
der  kalten  Nadel  und  der  Eisenätzung  wird  Klinger 
stets  als  Bahnbrecher  auf  dem  noch  einer  großen 


1)  Der  Turm  und  die  erste  Randleiste  zum  Schicksals 
lied  (die  Frau  unter  der  Palme),  ursprünglich  Radirungen, 
sind  im  Werke  selbst  durch  Steindrucke  ersetzt. 

2)  Ich  verdanke  diese  Angaben  der  Güte  des  Herrn  Dr 
H.  W.  Singer,  der  einen  ausführlichen  Katalog  der  Radi¬ 
rungen,  Stiche  und  Lithographieen  Klinger’s  vorbereitet. 

3)  Accorde,  Evocation,  Fest,  Homer,  Venus. 

4)  Accorde,  Evocation,  Entführung  des  Prometheus. 


118 


MAX  KLINGER’S  BRAHMS -PHANTASIE. 


Vervollkommnung  fähigen  Gebiete  der  kombinirten 
Sticbradirung  genannt  werden  müssen. 

Die  bolie  Bedeutung,  welche  die  radirten  Folgen 
Max  Klingers:  „Eva  und  die  Zukunft“,  „Dramen“, 
„eine  Liebe“,  „ein  Leben“,  „vom  Tode“  für  die  Kunst- 
und  Kulturgeschichte  unseres  Jahrhunderts  besitzen, 
entspricht  vollkommen  derjenigen,  welche  Dürers 
großen  Holzschnitt-Folgen:  der  Apokalypse,  der  Pas¬ 
sion  und  dem  Marien-Leben  ihre  ewige  Gültigkeit 
für  die  Würdigung  des  Erwachens  der  Geister  zu 
Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  verliehen  hat. 
Diese  Thatsache  wird  freilich  heute  noch  nicht  all¬ 
gemein  anerkannt,  am  allerwenigsten  von  denen,  die 
sich  ausschließlich  mit  der  alten  Kunst  beschäftigen 
und  so  gern  das  Dogma  von  der  den  Epigonen 


unerreichbaren  Größe  der  Väter  predigen.  Aber 
künftige  Geschlechter  werden  die  künstlerischen  Be- 
Strebungen  unserer  Zeit  mit  unbefangenerem  Auge 
betrachten  und  in  Max  Klinger  den  neuen  Prome¬ 
theus  erkennen,  der  in  Zeiten  dichter  Finsternis  den 
Menschen  das  heilige  Feuer  vom  Himmel  brachte. 
Dann  wird  auch  dem  bescheidenen  Dulder  ein  neuer 
Herakles  erstehen,  der  den  Adler  der  Missachtung 
und  Verkennung  erlegt  und  den  Geistestitanen  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  dauernd  befreit.  —  Bis 
das  geschieht,  möchten  wir  den  Blinden  und  Kurz¬ 
sichtigen  unserer  Tage  zurufen,  was  ein  anderer 
Maximilian  Klinger,  der  Dichter  von  „Sturm  und 
Drang“,  einst  von  Goethe  sagte:  —  „Den  könnt  Ihr 
nun  wieder  alle  nicht  fassen  und  begreifen!“  — 

MAX  LEERS. 


Azaleenzweig.  Handzeichnung  von  Max  Kltnger. 


Die  frühere  Villa  Braila  in  Gasturi. 


DAS  ACH1LLEION 

DER  KAISERIN  ELISABETH  AUF  KORFU. 


MIT  ABBILDUNGEN. 


INE  Stunde  südlich  von  der 
Hauptstadt  Korfu,  an  der 
steilen,  gegen  Albanien  zu¬ 
gekehrten  Ostküste  der  alten 
Phäakeninsel ,  liegt  hoch 
zwischen  Olivenpflanzungen 
und  Platanengruppen  das 
malerische  Dorf  Gasturi  mit 
seinen  hell  schimmernden  Landhäusern  und  Oran¬ 
gengärten.  Die  meisten  der  schlichten,  flachgedeck¬ 
ten  Wohngebäude  ziehen  sich  gegen  die  Thalschlucht 
hinab.  Nur  für  einen  größeren  Landsitz,  den  zur 
Zeit  der  englischen  Herrschaft  der  Lord  Oberkom¬ 
missär  von  Korfu  im  Sommer  zu  bewohnen  pflegte, 
die  ehemalige  Villa  Braila,  hatte  sich  ihr  Erbauer 
ein  außerhalb  des  Ortes  gelegenes  Bergplateau  aus- 
erseben,  das  nach  allen  Seiten  hin,  besonders  nach 
Norden  und  nach  Osten,  herrliche  Fernsichten  dar¬ 
bietet.  Diese  alte,  von  Ölbäumen  und  Cypressen 
wild  umwachsene  Villa  Braila  auf  der  Höhe  von 
Gasturi,  von  der  unsere  obige  Illustration  dem  Leser 
ein  Bild  giebt,  bezeichnet  die  Stelle,  wo  gegen¬ 
wärtig  das  Achilleion  der  Kaiserin  Elisabeth  von 
Österreich  steht, 


Der  verstorbene  Baron  Alexander  von  Wars¬ 
berg  war  es,  welcher  die  Aufmerksamkeit  der  Kai- 
serin  zuerst  auf  die  Schönheit  der  Lage  von  Gas¬ 
turi  hinlenkte.  Im  Jahre  1889  —  Warsberg  beklei¬ 
dete  damals  das  Amt  eines  k.  und  k.  Generalkonsuls 
auf  Korfu  —  brachte  die  hohe  Frau  zwei  Monate 
stiller  Zurückgezogenheit  in  der  Villa  Braila  zu; 
und  im  Gefühle  der  Dankbarkeit  für  die  dort  ihr 
zu  teil  gewordene  Kräftigung  von  Körper  und 
Seele  mag  es  geschehen  sein,  dass  die  Herrscherin 
den  Plan  fasste,  an  der  von  der  Natur  gesegneten 
Stätte  sich  ein  dauerndes  Heim  zu  gründen. 

Zwei  Jahre  genügten,  um  den  Plan  zu  verwirk¬ 
lichen.  Italienische,  österreichische  und  deutsche 
Künstlerhände  wurden  aufgeboten,  um  den  schlich¬ 
ten  Edelsitz  in  eine  Villa  von  fürstlichem  Reichtum 
umzuwandeln,  sie  mit  herrlichen  Anlagen  zu  um¬ 
geben  und  ihr  Inneres  mit  sinnreich  erfundener 
Pracht  so  glänzend  auszuschmücken,  dass  die  Er¬ 
innerungen  an  den  von  Homer  geschilderten  Palast 
des  Phäakenkönigs  Alkinoos  in  der  Seele  dessen 
wach  gerufen  werden,  der  heute  die  Räume  durch¬ 
wandert.  Im  September  1891  besuchte  die  Kai¬ 
serin  zum  erstenmal  das  damals  eben  vollendete 


120 


DAS  ACH  ILLE  ION  DER  KAISERIN  ELISABETH  AUF  KORFU. 


Feenschloss  und  seit  jener  Zeit  hat  sie  bereits  zu 
wiederholten  Malen  hier  den  Frühlings-  oder  Herbst¬ 
aufenthalt  genommen,  und  erst  kürzlich  ihrer  Schöp¬ 
fung  wieder  neue  künstlerische  Zierden  zugeführt. 

Der  Platz  bot  Raum  zu  einer  weiten  Area, 
genügend  für  das  große  Wohngebäude,  einen  Vor¬ 
hof  mit  Wirtschaftslokalitäten  und  für  die  lang  aus¬ 
gedehnte  Gartenterrasse.  Wir  treten  zunächst  auf 
die  letztere  hinaus,  ehe  wir  die  Villa  selbst  näher 
ins  Auge  fassen.  Der  Ausblick  von  der  Terrasse 
(s.  die  Abbildg.),  ungefähr  derselbe,  wie  man  ihn 
einst  vom  Gartensaal  der  alten  Villa  genoss,  ist  einer 


kahlen,  schroffen  Bergzüge  von  Albanien.  Vornehm¬ 
lich  Abends,  wenn  ihr  nacktes  Felsgestein  in  röt¬ 
lichem  Glanze  strahlt,  gewährt  ihr  Anblick,  zusam¬ 
men  mit  dem  des  tiefblauen  Meeres  und  der  dunk¬ 
len  Vegetation  des  Vordergrundes,  das  alles  vom 
Lichte  der  südlichen  Sonne  durchglüht,  ein  Bild 
von  unvergleichlicher  Pracht. 

Wir  wenden  nun  den  Blick  dem  Garten  selber 
zu,  in  dem  wir  stehen.  Inmitten  des  nördlichen 
Vorsprungs  der  Terrasse,  dessen  Rand  von  einer 
Balustrade  eingefasst  ist,  steht  vor  einer  halbkreis¬ 
förmigen  Exedra  die  kolossale  Marmorstatue  des 


Ansicht  <les  Achilleion  von  der  Einfalirtseite. 


der  wundervollsten  der  Welt.  Über  die  tief  in  das 
Inselland  einschneidende  Bucht  hinschauend,  sieht 
man  in  der  Ferne  die  Häuser  der  Stadt  Korfu  mit 
der  doppelten  Kuppe  ihres  Festungsvorgebirges 
und  darüber,  in  blauem  Dufte  verschwimraend,  den 
breiten  Grat  des  Pantokrator.  Rechts  im  Meere, 
vor  der  tief  eingreifenden  Bucht,  lässt  der  Blick 
von  der  Villa  Braila  aus  fs.  oben)  noch  die  kleine 
„Mausinsel“  erkennen.  Sie  gilt  in  der  Sage  als  das 
versteinerte  Schiff  der  Phäaken,  auf  dem  Odysseus 
nach  Ithaka  heimgekehrt  sein  soll.  Dahinter,  am 
Strandvorsprunge,  liegt  der  schöne  Aussichtspunkt 
„il  canone“,  —  nach  einer  venetianischen  Batterie 
so  benannt  —  ein  beliebtes  Ausflugsziel  der  Kor- 
fioten.  Den  Abschluss  des  Hintergrundes  bilden  die 


verwundeten  Achill  (s.  die  Abbildung  S.  127),  nach 
welcher  die  Villa  ihren  Namen  führt.  Sie  ist  das 
Werk  des  Berliner  Bildhauers,  Prof.  Ernst  Herter.1) 
Ein  Standpunkt  von  gleich  klassischer  Schönheit, 
wie  der  des  verwundeten  Achill  auf  der  Höhe  der 
sagenumwobenen  Insel  des  Alkinoos,  ist  wohl  nicht 
leicht  einer  bildnerischen  Schöpfung  von  deutscher 
Meisterhand  zu  teil  geworden.  —  Eine  Kopie  des 
ruhenden  Hermes  im  Museum  zu  Neapel  und  die 
zwei  bronzenen  Ringkämpfer  derselben  Sammlung 
schmücken  den  oberen,  südlichen  Teil  der  Terrasse. 


1)  Von  demselben  Künstler  rührt  auch  die  Marmorstatue 
des  Hermes  her,  welcher  im  Garten  der  kaiserlichen  Villa 
bei  Lainz  unweit  von  Wien  aufgestellt  ist. 


DAS  ACHILLEION  DER  KAISERIN  ELISABETH  AUF  KORFU. 


121 


—  Riesige  Agaven  und  Kakteen  zieren  die  regel¬ 
mäßig  angelegten  Beete  des  Gartens,  welcher  gegen 
die  Villa  hin  ansteigt  und  auf  seinem  oberen  Absatz 
einen  Springbrunnen  mit  wasserwerfendem  Delphin, 
dem  Sinnbilde  des  Korfiotisclien  Kaiserschlosses, 
trägt.  Mächtige  Cypressen,  Magnolien  und  Ölbäume 
umstehen  das  Rund  der  Fontaine.  —  Beide  Lang¬ 
seiten  der  Terrasse  sind  von  Laubengängen  eingefasst. 

Gegen  Osten  fällt  das  bewaldete  Terrain  steil 
gegen  das  Meer  ab.  Eine  Marmortreppe  führt  von 


Decke  umhüllt,  und  in  der  herabhängenden  Hand 
hält  er  ein  Blatt,  worauf  die  Worte  zu  lesen  sind: 

„Was  will  die  einsame  Thräne? 

Sie  trübt  mir  ja  den  Blick.“ 

Wir  kehren  zur  Gartenterrasse  zurück  und  be¬ 
treten  von  hier  aus  das  Innere  der  Villa  durch  die 
reichgeschmückten  Hallengänge,  durch  welche  sich 
der  Bau  gegen  die  Terrasse  öffnet.  Wie  unser  Bild 
zeigt,  sind  Statuen  vor  den  Säulen  der  Halle  aufge¬ 
stellt,  und  die  Schäfte  der  Säulen,  die  Wände  und 


Ansicht  des  Achilleion  von  der  Gartenseite. 


dem  eigens  für  die  Villa  hergestellten  Landungs¬ 
plätze  durch  den  Wald  empor.  Am  oberen  Ende 
dieser  Treppe  erhebt  sich  das  Rundtempelchen,  in 
dem  das  von  dem  dänischen  Bildhauer  Hasselriis 
modellirte  Sitzbild  Heinrich  Heine’s  in  weißem  Mar¬ 
mor  aufgestellt  ist:  das  einzige  bisher  dem  Dichter 
errichtete  Denkmal!  Hell  schimmernde  Säulen  tra¬ 
gen  das  Kuppeldach  des  Tempelchens,  auf  dessen 
Höhe  eine  vergoldete  Nike,  den  Lorbeerkranz  er¬ 
hebend,  steht.  Die  Gestalt  des  Dichters  ist  müde 
in  den  Stuhl  zurückgelehnt,  die  Kniee  sind  mit  einer 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  4. 


die  Decken  des  Hallenganges  tragen  farbenhelle 
pompejanische  Malerei.  Denselben  Stil  zeigt  die 
ganze  innere  Ausstattung  des  Gebäudes:  im  Vesti¬ 
bül  wie  in  den  Empfangsräumen,  in  den  Wohn¬ 
zimmern  und  den  Badelokalitäten.  Nicht  nur  zier¬ 
liches  Ornament,  sondern  auch  große  figürliche  Kom¬ 
positionen  aus  der  antiken  Sage  und  Geschichte, 
dazu  landschaftliche  Veduten  und  plastische  Ver¬ 
zierungen  mannigfacher  Art  schmücken  das  Innere 
in  allen  seinen  Räumen.  Wie  sich  das  Außere  von 
der  Eingangsseite  darstellt,  zeigt  unsere  Ansicht. 

17 


122  DAS  ACH1LLEI0N  DER  KAISERIN  ELISABETH  AUF  KORFU. 


Ausblick  von  der  Gartenterrasse  des  Achilleion. 


industrie:  das  gusseiserne  Thor  von  der  Firma 
P.  Ph.  Waagner  ( Gustav  Ritter  v.  Leon).  Es  trägt 
in  griechischen  Lettern  die  Überschrift:  Achilleion. 
Die  achtundzwanzig  Salons  und  Zimmer  der  Villa  zei¬ 
gen  Parketböden  von  höchstem  Reichtum  und  wunder- 

o 

barer  Ausführung  aus  der  Fabrik  der  Gehr.  Engel 
in  Döbling.  Sie  sind,  wie  der  Wandschmuck  und 
die  Möbel,  in  griechischem  Stil  gehalten.  Im 
Einklang  damit  stehen  selbstverständlich  auch  die 
Tapeziererarbeiten  von  Kowy  und  Jwinger  in  Wien, 
das  aus  der  Berndorfer  Fabrik  von  Arthur  Krupp 
stammende  Metallgerät,  das  von  J.  Schreiber  und 
Neffen  in  Wien  gelieferte  kostbare  Glasservice,  die 
in  pompejanischer  Weise  bemalten  Porzellangeräte 
von  Knoll  in  Karlsbad,  endlich  das  von  J.  Tretten- 
hann  in  Wien  gelieferte  Leinenzeug.  Alle  diese  Ein¬ 
richtungsstücke  tragen  das  Wappen  des  Achilleion, 
den  Delphin  mit  der  Kaiserkrone.  Die  Monarchin 
hat  jedes  Stück  selbst  geprüft  und  über  die  Anord¬ 
nung  des  Ganzen  verfügt.  In  der  Wahl  der  Stoff¬ 
muster  waltete  ihr  persönlicher  Geschmack. 

Es  braucht  kaum  besonders  hervorgehoben  zu 
werden,  dass  auch  die  moderne  Beleuchtungstechnik 
dazu  berufen  wurde,  hier  ihre  Wunder  zu  entfalten. 
Ein  weißes  Häuschen  mit  rotem  Ziegeldach,  welches 
rechts  vom  Molo  am  Strande  steht,  birgt  die  Ma¬ 
schinen  für  das  elektrische  Licht,  dessen  Zauber¬ 
wellen,  wenn  die  Kaiserin  in  ihrem  Besitze  weilt, 
bei  eintretender  Dunkelheit  aus  zahllosen  Ampeln 
und  andern  Leuchtkörpern  die  Bäume  des  Innern 
und  die  Hallen-  und  Laubengänge  der  Terrasse 
durchfluten.  CARL  v.  LÜTZOW. 


Es  ist  ein  zweistöckiger  Bau  mit  säulen getragener 
und  mit  Bildwerken  bekrönter  Vorhalle  und  Balkons, 
im  Stil  jener  schlichten,  edlen  Renaissance,  wie  wir 
ihn  besonders  in  modernen  Bauten  Süditaliens  heute 
vielfach  angewendet  finden. 

Von  dorther  stammt  denn  auch  der  Architekt 
der  Villa,  Raffaele  Carito,  der  in  Neapel  eine  An¬ 
zahl  schöner  Bauten  ähnlichen  Charakters  ausgeführt 
hat.  Aus  Neapel  kamen  ferner  zahlreiche,  nach 
Zeichnungen  des  Professors  Caponetti  im  dortigen 
Albergo  dei  poveri  ausgeführte  Möbel,  sowie  die 
Urheber  der  figürlichen  und  ornamentalen  Malereien 
des  Inneren,  Cav.  Paliotti,  Postiglione  und  Scanni. 
Das  große  Gemälde  im  Treppenhause,  Achill  mit  der 
Leiche  des  Hektor  die  Mauern  Troja’s  umfahrend,  ist 
ein  Werk  des  Wiener  Professors  Franz  Matsch.  Die 
Statuen  vor  der  Gartenhalle  und  die  bildnerischen 
Zierden  im  Inneren  wurden  teils  in  Rom,  teils  in 
Florenz  und  Neapel  beschafft.  Es  sind  darunter 
mehrere  Werke  aus  früherem  Borghesischen  Besitz, 
eine  Tänzerin  von  Canova,  eine  auf  den  Flügeln 
eines  Schwans  hingestreckte  Peri  u.  a.  An  der 
Rückwand  der  Gartenhalle  stehen  Hermenbüsten  von 
antiken  Rednern  und  Philosophen. 

Mit  der  Leitung  der  Arbeiten  und  der  Voll¬ 
endung  der  Dekoration  des  Gebäudes  war  der  k. 
und  k.  Linienschiffslieutenant  v.  Bukovics  betraut. 
Ihm  wurde  der  Auftrag,  dafür  zu  sorgen,  dass  bei 
der  Ausstattung  des  „Achilleion“  auch  der  öster¬ 
reichischen  Industrie  der  ihr  gebührende  Anteil  zu¬ 
falle.  Gleich  beim  Eintritte  in  den  Schlosshof  stoßen 
wir  auf  ein  treffliches  Werk  der  Wiener  Eisen¬ 


Fürst  Roman  von  Galizien.  Ölgemälde  von  N.-B.  Newrew. 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


AR  wenig  noch  weiß  man 
draußen  von  russischer  Kunst. 
Man  glaubt  wohl  vielfach, 
es  gäbe  gar  keine  noch, 
man  kennt  höchstens  einige 
einzelne  Künstler.  DieFacli- 
litteratur  hat  natürlich  schon 
längst  auch  dem  Kunstleben 
im  fernen  Osten  ihre  Aufmerksamkeit  zugewandt, 
aber  in  das  große  Publikum  dringt  davon  immerhin 
nur  wenig;  und  auch  Einzelschritten  über  russische 
Kunstzustände  und  russische  Künstler,  die  im  Laufe 
der  letzten  20 — 30  Jahre  in  deutscher,  französischer, 
englischer  Sprache  erschienen  sind,  können  auf¬ 
klärend  doch  nur  in  kleineren  Kreisen  wirken,  in 
Kreisen,  die  der  europäischen  Kunst  überhaupt  ein 
größeres  Interesse  entgegenhringen ,  wo  nur  daher 
solche  Bücher  und  Schriften  gekauft  werden. 


Als  ich  1891  die  internationale  Kunstausstellung 
in  der  deutschen  Reichshauptstadt  besuchte,  konnte 
ich  mich  davon  überzeugen,  welch  ein  Interesse  ge¬ 
rade  die  russische  Abteilung  erregte:  ein  Interesse, 
das  hier  sich  mit  Neugier,  dort  mit  unverkennbarem 
Staunen  verband.  Und  die  Kritik  —  nun,  die  Kritik 
sprach  sich  anerkennender  aus,  als  es  je  die  ein¬ 
heimische  gethan  hatte,  wenigstens  was  die  hier 
ausgestellten  Bilder  betraf.  Denn  waren  auch  in  der 
That  einige  der  namhaftesten  Maler  vertreten,  so 
waren  sie  es  doch  lange  nicht  aufs  beste,  und  zudem 
fehlten  viele,  die  für  die  Kunst  Russlands  bezeich¬ 
nend  sind.  Aus  allem  war  aber  zu  entnehmen,  dass 
man  mit  dieser  Kunst  noch  sehr  wenig  bekannt  war. 
Dasselbe  erlebten  wir  auch  wieder  in  Chicago. 
Man  ist  eben  in  erster  Linie  überrascht,  verwundert. 
Wo  man  eine  Wüste  wähnte,  da  zeigen  sich  auf 
einmal  eine  ganze  Menge  ungeahnter  Oasenschön- 

17* 


124 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


heiten  und  wo  andere  nur  chinesischen  Kuriositäten 
begegnen  zu  können  glaubten,  da  sehen  sie  sich 
plötzlich  europäischem  Empfinden  und  Können  gegen¬ 
über. 

Fragen  wir  nach  den  Gründen  dieser  Erschei¬ 
nung,  so  muss  vor  allem  zur  Entschuldigung  solcher 
Unkenntnis  und  solcher  falscher  Vorstellungen  darauf 
hingewiesen  werden,  dass  eben  das  Material  fehlt, 
nach  dem  der  Westeuropäer  sich  ein  Urteil  bilden 
könnte.  Er  sieht  zu  wenig  von  dem,  was  russische 
Künstler  schaffen.  Diese  beteiligen  sich  nur  gar  spär¬ 
lich  an  internationalen  Ausstellungen,  und  sehen  wir 
von  dem  Dutzend  Malern  und  Bildhauern  ab,  die  in 
Paris  eine  kleine  russische  Künstlerkolonie  bilden 
und  von  dem  halben  Dutzend,  das  in  Rom  lebt,  so 
dringt  von  ihnen  eigentlich  nichts  in  die  Welt 
außerhalb  des  Vaterlandes  hinaus.  Aiwasowslä ,  der 
phantastische,  färbenschwärmende  Marinemaler,  Was¬ 
sili  Wereschtschagin ,  der  berühmte  Antikriegs-  und 
Indienmaler,  Antokolslci ,  der  geniale  Bildhauer,  Hein¬ 
rich  Siemiradski ,  der  blendende  Kolorist  und  Historien¬ 
maler,  Konstantin  Makowski,  der  „russische  Makart“, 
in  jüngster  Zeit  noch  etwa  Ilja  Repin,  Russlands  be¬ 
deutendster  und  nationalster  Genremaler  —  ja,  ich 
glaube,  andre  Namen  sind  den  meisten  kaum  ge¬ 
läufig,  wenn  von  russischer  Kunst  die  Rede  ist,  und 
bis  auf  den  letztgenannten,  haben  ihre  Träger  zu¬ 
meist  selbst  dafür  gesorgt,  dass  sie  in  Europa  be¬ 
kannt  wurden. 

Außer  durch  Ausstellungen  lässt  sich  das  doch 
wohl  nur  durch  Reproduktionen  erreichen.  Und  gerade 
auf  diesem  Gebiete  ist’s  in  Russland  noch  gar  schlimm 
bestellt,  lllustrirte  Ausstellungskataloge,  die  regel¬ 
mäßig  erscheinen,  Reproduktionen  in  illustrirten  Zeit¬ 
schriften  —  es  ist  noch  nicht  gar  lange  her,  dass  wir 
denen  häufiger  begegnen;  noch  seltener  aber  sind  Al¬ 
bum'.,  Sammelwerke  u.  dgl.  Woran  das  liegt,  das  darzu¬ 
legen  würde  mich  zu  weit  fuhren.  Genug,  es  ist  so. 
Und  das  erklärt  auch  die  Unbekanntschaft  mit  russi¬ 
schen  Kunstwerken  im  Auslande  sicher  in  erster 
Linie.  Was  helfen  denn  die  schönsten  und  kenntnis¬ 
reichsten  Aufsätze  in  Kunstzeitschriften  und  die 
besten  Monographieen,  —  die  große  Masse  will  vor 
allem  Bilder  und  Bildwerke  sehen,  nicht  ihre  Beschrei¬ 
bungen,  und  mögen  sie  noch  so  lebendig  und  poe¬ 
tisch  sein,  lesen,  wenn  anders  sie  sich  ein  Urteil 
über  die  Kunst  eines  Landes  bilden  soll. 

*  * 

* 

Und  wenn  auch,  wie  gesagt,  in  der  letzten  Zeit 
die  Vervielfältigung  eine  bessere,  regere  Entfaltung 


zeigt,  —  es  bleibt  doch  fast  alles  im  Lande.  Mit 
großer  Genugthuung  muss  daher  jedes  Unternehmen 
dieser  Art  begrüßt  werden,  das  russische  Kunst  im 
Auslande  zu  popularisiren  bestrebt  ist.  Einem  solchen 
auch  gelten  diese  Zeilen  vor  allem. 

Aber  ehe  wir  uns  etwas  näher  mit  ihm  befassen, 
vorerst  noch  einige  Worte  über  die  augenblickliche 
Sachlage. 

Die  ist  derart  aber,  dass,  wer  nicht  selbst  nach 
Russland  kommt,  keine  blasse  Ahnung  von  dem  Kunst¬ 
schaffen  dort  gewinnen  kann.  Und  um  das  gründ¬ 
lich  kennen  zu  lernen,  muss  er  zudem  nach  Moskau 
gehen.  Nur  in  dem  Herzen  des  Zarenreichs  findet 
er  das  Wesen  dieser  Kunst  heraus,  nur  hier  kann 
er  sie  in  ihrer  Entwicklung  während  der  letzten  fünf¬ 
zig  Jahre  eingehend  studiren.  Petersburg  besitzt  ja 
noch  immer  nicht  eine  richtige  Nationalgalerie.  Dürf¬ 
tig  und  einseitig  nur  ist  die  russische  Kunst  in  den 
Galerien  der  k.  Akademie  der  Künste,  ja  selbst  in 
der  Eremitage  vertreten  und  auch  die  meisten  Pri¬ 
vatgalerien  weisen  fast  ausschließlich  Meister  des 
Westens  auf,  aus  der  Zeit  des  Cinquecento  bis  auf 
unsere  Tage.  Die  Schätze  der  Eremitage,  die  in 
Bezug  auf  spanische  Meister  und  Franzosen  nur  der 
Madrider  Galerie  und  dem  Louvre  nachstehen,  für 
vlamändische  Künstler  kaum  von  einer  anderen 
Galerie  übertroffen  werden,  während  für  die  hol¬ 
ländische  Schule  die  Sammlung  der  Eremitage  be¬ 
kanntlich  als  die  erste  dasteht,  die  ferner  das  unver¬ 
gleichliche  Museum  von  Kertsch  aufzuweisen  haben 
und  in  jüngster  Zeit  durch  die  Überführung  des  histo¬ 
rischen  und  archäologischen  Museums  von  Zarskoje 
Szelo  und  noch  andere  kostbare  Kollektionen  be¬ 
reichert  worden  sind,  —  sie  enthalten  nicht  mehr  als 
etwa  70 — 75  russische  Bilder  und  von  ihnen  reicht 
das  allermeiste  nicht  über  die  Mitte  unseres  Jahr¬ 
hunderts  hinaus.  Und  was  die  Galerien  der  Akademie 
betrifft,  so  finden  wir  dort  wohl  einige  hundert 
Kunstwerke  von  den  Zeiten  Peters  des  Großen  bis 
in  die  Gegenwart  hinein,  aber  es  sind  ausschließlich 
Arbeiten  von  Professoren  und  Schülern  dieser  An¬ 
stalt,  Programm-  und  Prüfungsarbeiten  u.  s.  w. 

Moskau  aber  besitzt  nun  —  neben  einigen  echt 
russischen  Privatgalerieen  —  seit  dem  Herbst  1893 
eine  echte  rechte  Nationalgalerie,  d.  h.  besitzt  sie 
seitdem  als  eine  städtische.  Denn  sie  war  früher 
schon  vorhanden,  aber  auch  nur  als  eine  private. 
Es  ist  das  die  ehemals  Tretjakow'sche  und  ihre  Er¬ 
öffnung  erfolgte  im  August  vorvorigen  Jahres.  Zur 
Erinnerung  an  dieses  für  das  Kunstleben  Russlands 
denkwürdige  Ereignis  ward  kürzlich  im  Mai  v.  J.  in 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


125 


Moskau  auch  der  erste  russische  Künstlerkongress 
veranstaltet.  Denkwürdig  aber  ist  dieses  Ereignis 
vor  allem  deswegen,  weil  die  Galerie  nicht  etwa 
durch  Kauf  in  die  Hände  der  Stadt  übergegangen 
ist,  sondern  als  Geschenk  seitens  des  Gründers,  oder 
richtiger  der  Gründer.  Eine  wahrhaft  fürstliche 
Spende,  denn  die  Sammlung  zählt  weit  über  tausend 
Nummern  und  hat  einen  Wert  von  anderthalb  bis 
zwei  Millionen  Rubel.  Die  Brüder  Kommerzienrat 


wie  der  Zufall  es  fügte,  sondern  ganz  systematisch. 
Der  ältere  der  Brüder,  Ssergei,  wandte  sein  Interesse 
hauptsächlich  dem  Auslande  zu,  und  seine  Samm¬ 
lung  spiegelt  vornehmlich  das  moderne  Kunstschaf¬ 
fen  Frankreichs,  Hollands,  Deutschlands  u.  s.  w.  wieder. 
Paul  sammelte  russische  Bilder,  Zeichnungen,  Stiche. 
Und  gerade  auf  ihn  bezieht  sich,  was  ich  soeben 
von  System  und  Plan  sagte.  Er  wollte  eine  natio¬ 
nale  Galerie  anlegen,  die  ein  möglichst  vollständiges 


Menschikoff  im  Exil.  Ölgemälde  von  P.-A.  Surikoff. 


Paul  und  Wirklicher  Staatsrat  Ssergei  Michailowitsch 
Tretjakow,  —  der  letztere  war  mehrere  Jahre  Stadt¬ 
haupt  von  Moskau  —  Sprösslinge  einer  reichen  und 
angesehenen  moskauischen  Kaufmanns-  und  Fabri¬ 
kantenfamilie,  waren  von  Jugend  an  große  Kunst¬ 
freunde,  und  ihre  Mittel  gestatteten  es  ihnen,  dieser 
Liebhaberei  gründlich  zu  fröhnen.  Sie  waren  nicht 
nur  in  den  Ateliers  und  Galerien  gut  zu  Hause, 
sie  unterstützten  nicht  nur  jüngere  und  ältere  Künst¬ 
ler,  sondern  sie  kauften  auch  viel,  nicht  planlos  und 


Bild  von  dem  Kunstschaffen  in  Russland  namentlich 
während  des  letzten  halben  Jahrhunderts  lieferte, 
obschon  er  immerhin  beträchtlich  weiter  zurückffriff, 
sogar  bis  in  die  Zeit  Katharinas  II.  Und  so  be¬ 
gann  er  zu  sammeln  und  natürlich,  je  mehr  er  sich 
der  Neuzeit  näherte,  mit  immer  größerem  Erfolge, 
insbesondere  was  die  letzten  dreißig  Jahre  betrifft. 

Wie  ich  in  meinem  Aufsatz  über  Ilja  Repin, 
der  im  Februar  1892  in  dieser  Zeitschrift  veröffent¬ 
licht  wurde,  ausführlicher  dargethan  habe,  vollzog 


126 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


sich  in  der  Mitte  der  sechziger  Jahre  im  Kunstleben 
Russlands  ein  großer  Umschwung,  der,  die  freiheit¬ 
lichere  Richtung  im  gesamten  geistigen  und  sozialen 
Lehen  des  Reiches  widerspiegelnd,  u.  a.  auch  zur 
Lostrennung  einer  großen  Gruppe  jüngerer,  und  zwar 
der  besten  Künstler  von  der  Akademie  der  Künste 
führte,  die  sich  dann  später  zu  dem  damals  so  lebens¬ 
frischen  und  aufstrebenden  Vereine  der  „Wander¬ 
aussteller“  zusammenthat,  welche  die  Devise  „Wahr¬ 
heitssinn  und  Volkstümlichkeit“  auf  ihr  Banner 
setzten  und  treu  daran  festgehalten  haben  bis  auf 
den  heutigen  Tag,  wo  der  Verein  als  geschlossene 
Opposition  seine  Daseinsberechtigung  eigentlich  schon 
verloren  hat.  Denn  die  Grundsätze  der  „Wander¬ 
aussteller“  haben  sich  allmählich  überall  Bahn  ge¬ 
brochen  und,  wie  nachher  gezeigt  werden  soll,  vor 
allem  in  der  k.  Akademie  der  Künste  selbst,  die 
im  Augenblick  einer  radikalen  Umgestaltung  unter¬ 
zogen  wird  und  in  der  jetzt  gerade  jene  Protestler 
von  ehemals  die  leitende  Rolle  spielen. 

Nun,  unter  dem  belebenden  Einflüsse  des  frei¬ 
heitlicheren  Umschwungs  der  sechziger  Jahre,  er¬ 
wachte  auch  in  weiteren  Kreisen  der  Gesellschaft 
wärmeres  Interesse  und  tieferes  Verständnis  für 
heimische  Kunst. 

Und  eben  in  dieser  Zeit  begannen  auch  die 
Tretjakow  als  Sammler  hervoi'zutreten.  Was  erst 
Liebhaberei  und  Vergnügen  war,  das  wurde  für  Paul 
Michailowitsch  mit  der  Zeit  eine  Pflicht  und  eine 
Lebensaufgabe,  die  ihm  schließlich  mitunter  gar 
lästig  gefallen  sein  mag.  Er  ward  so  recht  ein 
Märtyrer  seiner  Lust,  der  hagere,  gebückt  gehende, 
blonde  Mann  mit  dem  schütteren  Vollbart,  der  keine 
hervorragendere  russische  Ausstellung,  keine  bedeu¬ 
tendere  Kunstauktion  unbesucht  ließ,  der  überall 
seine  Agenten  hatte  und  mit  allen  Künstlern  Füh¬ 
lung  unterhielt  und  vornehmlich  der  Abgott  der 
Wanderaussteller  war.  Ein  Märtyrer  seiner  Lust,  — 
denn  er  ließ  es  sich  viel  Mühe  und  Verdruss  kosten, 
um  sich  dieses  oder  jenes  bestimmte  Bild,  als  ein 
besonders  typisches  und  charakteristisches,  zu  ver¬ 
schaffen;  er  kaufte  aus  demselben  Grunde  Bilder 
und  Kunstwerke,  die  ihm  persönlich  gar  nicht  zu¬ 
sagten.  nur  um  der  Vollständigkeit  willen,  damit  der 
und  der  Name,  die  und  die  Richtung  gut  vertreten 
wären.  Und  er  that  das  um  so  gewissenhafter,  seit¬ 
dem  er  den  Beschluss  gefasst  hatte,  seine  stets  wach¬ 
sende  Sammlung  nach  seinem  Tode  der  Stadt  Mos¬ 
kau  zu  vermachen.  Für  ihn  exist.irten  nicht  die 
Spaltungen  und  das  Kliquenwesen,  die  beide  die  rus¬ 
sische  Künstlerwelt  so  traurig  auszeichnen  —  übri¬ 


gens  nur  sie  allein?  —  er  kannte  bloß  eins:  russische 
Kunst  im  allgemeinen.  So  ist  es  denn  gekommen, 
dass  seine  Sammlung  alle  in  den  letzten  dreißig 
Jahren  in  Petersburg,  in  Moskau  und  in  Kiew  ent¬ 
standenen  Galerien,  wie  die  seines  Bruders,  die  Bot- 
kin’sche,  die  Kokorew’sche,  die  Ssoldatenkow’sche, 
die  Tereschtschenko’sche,  die  Goljaschkin’sche,  in 
jüngster  Zeit  die  Kusnezow’sche  u.  a.  an  Planmäßig¬ 
keit  und  Vollständigkeit  weit  übertrifft. 

Beide  Brüder  besaßen  zusammen  ein  Haus.  Auf 
gemeinschaftliche  Kosten  hatten  sie  es  zu  einem 
Kunstmuseum  ausgestaltet,  das  jetzt  in  bescheidener, 
anspruchsloser  Hülle  einen  dem  inneren  Wesen  nach 
unschätzbaren  Kern  birgt.  Auf  gemeinschaftliche 
Kosten  schafften  sie  auch  manche  Perlen  der  Samm¬ 
lung  an,  so  z.  B.  die  berühmte  Kollektion  der  Bilder 
und  Studien  W.  Wereschtschagin’s  (über  230  Num¬ 
mern).  In  dem  Testament,  das  der  im  Jahre  1893 
verstorbene  S.  M.  Tretjakow  hinterließ,  fand  sich 
unter  anderen  Geschenken  für  die  Stadt  auch  das 
seines  Teiles  des  Hauses  mit  einem  Teile  der  Samm¬ 
lung  ausländischer  Meisterwerke,  sowie  eines  Kapitals 
von  125000  Rubel,  von  dessen  Zinsen  immer  neue 
und  zwar  nunmehr  russische  Bilder  und  Skulpturen 
angeschafft  werden  sollen.  Und  da  entschloss  sich 
denn  Paul  Tretjakow,  auch  seinen  Teil  des  Hauses 
und  seine  ganze  große  Sammlung  schon  bei  Leb¬ 
zeiten  der  Stadt  zu  übergeben.  Der  Stifter  hat  sich 
nur  ausbedungen,  bis  zu  seinem  Tode  mit  seiner 
Frau  die  bisherige  Wohnung  im  Hause  beizubehal¬ 
ten,  wofür  er  aber  auch  alle  Unterhaltungskosten 
tragen  wird.  Das  Haus  darf  nie  seine  Bestimmung 
wechseln;  lebenslänglich  ist  Paul  Tretjakow  Kurator 
des  Museums,  und  nach  seinem  Tode  sein  Neffe 
N.  S.  Tretjakow;  die  Galerie  hat  vier  Tage  in  der 
Woche  jedermann  unentgeltlich  offen  zu  stehen, 
darunter  an  allen  Sonn-  und  Feiertagen,  damit  eben 
auch  gerade  der  Mann  aus  dem  Volke,  der  Arbeiter, 
sie  besichtigen  kann.  Als  Kurator  hat  der  Spender 
das  Recht,  den  Bestand  der  Sammlung  im  einzelnen 
zu  verändern,  ohne  dass  ihr  Gesamtwert  vermindert 
wird,  was  also  mit  anderen  Worten  heißt,  dass  er 
auch  noch  für  ihre  Vervollkommnung  Sorge  tra¬ 
gen  will. 

Unter  so  glänzenden  Bedingungen  fiel  der  Stadt 
Moskau  das  Geschenk  zu,  und  sie  besitzt  jetzt  in 
ihm  die  größte  national-russische  Galerie,  die  sie  in 
dankbarer  Erinnerung  an  die  Spender  „Städtische 
Kunstgalerie  der  Brüder  Paul  und  Ssergei  Michai¬ 
lowitsch  Tretjakow“  genannt  hat.  Und  wie  reich¬ 
haltig  ist  sie!  Sie  weist  1276  russische  Ölgemälde, 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


127 


Skizzen'  und  Studien  auf,  wovon  etwa  nur  200  in 
die  Zeit  vor  1850  fallen,  sowie  471  Zeichnungen, 
Aquarelle,  Radirungen.  Die  Skulptur  ist  nur  mit 
9  Nummern  vertreten,  aber  unter  ihnen  befindet 
sich  ein  solches  Meisterwerk  wie  Antokolski’s  Mar¬ 
morstatue  „Zar  Iwan  der  Schreckliche“.  Zu  diesen 
1756  Werken  einheimischer  Künstler  kommen  83 
Bilder  und  Zeichnungen,  sowie  5  Skulptur- Arbei¬ 
ten  von  Ausländern,  unter  denen  wir  beispielsweise 
von  Deutschen  den  Namen  Knaus,  Vautier,  Petten- 
kofen,  A.  und  0.  Achenbach,  Ducker,  Meyerheira, 
Ad.  Menzel  begegnen. 

Es  wäre  nun  sehr  verlockend,  einen  flüchtigen 
Rundgang  durch  die  in  zwei  Stockwerken  liegenden, 
sehr  einfach  ausgestatteten  22  Säle  und  Zimmer  zu 
unternehmen,  aber  es  würde  uns  heute  zu  weit 
führen  und  es  sei  mir  daher  ein  anderes  Mal  gestattet, 
den  Leser  mit  dieser  kostbaren  Sammlung  bekannt 
zu  machen.  Nur  so  viel:  es  fehlt  kein  einziger 
irgendwie  hervorragender  Name  in  der  möglichst 
systematisch  geordneten  Sammlung;  die  bedeuten¬ 
deren,  ohne  Ansehen  von  Schule  oder  Richtung,  sind, 
wofern  es  möglich  war,  nicht  ein  paarmal,  sondern 
Dutzende  von  Malen,  ja  mitunter  gar  mit  hundert 
und  mehr  Nummern  vertreten.  Meister  wie  P.  A. 
Fedotow,  den  Gogol  unter  den  Malern  (1816  bis 


1852),  A.  A.  Iwanow,  den  Maler  des  „Johannes 
der  Täufer“  (1806  bis  1858),  den  Genremaler  W.  G. 
Perow  (1833  bis  1882),  den  genialen  Landschafter 
F.  A.  Wassiljew  (1850  bis  1873),  den  Bildnismaler 
N.  N.  Kramskoi  (1837  bis  1887),  den  Historienmaler 
V.  G.  Schwarz  (1838  bis  1869),  W.  W.  Weresch- 
tschagin,  W.  E.  Makowski,  J.  J.  Schischkin,  Ilja 
Repin  und  viele  andere  noch  kann  man  überhaupt 
gar  nicht  kennen  lernen,  wenn  man  nicht  das  alles 
gesehen  hat,  was  hier  von  ihnen  vorhanden  ist. 

Leider  fehlt  es  noch  an  einem  Catalogue  rai- 
sonne  der  einzigartigen  Sammlung,  und  erst  recht 
an  Ausgaben,  die  ihre  Perlen  reproduzirten,  und 
wäre  es  auch  nur  in  annehmbaren  Photographieen. 
Es  wäre  sicher  eine  schöne  Art,  das  Andenken  der 
fürstlich  freigebigen  Spender  zu  ehren,  wenn  man 
lieferungsweise  ein  Albuin  von  150  —  200  photogra¬ 
phischen  Blättern  herausgeben  wollte,  das  die  besten 
Werke  dieser  Galerie  in  verständnisvoller  und  um¬ 
sichtiger  Auswahl  reproduzirte  und  so  dieselben  in 
weiten  Kreisen  bekannt  machte.  Ein  Plan,  der  mir 
entschieden  lebensfähig  erscheint,  jetzt,  wo  das  In¬ 
teresse  für  heimische  Kunst  in  immer  größeren  Schich¬ 
ten  der  russischen  Gesellschaft  Boden  findet. 

(Schluss  folgt.) 


Der  verwundete  Achill.  Marmorstatue  von  E.  Herter.  (Siehe  S.  120.) 


WIELAND  UND  ANDERE  NEUENTDECKTE  GEMÄLDE 

VON  ANTON  GRAFF. 

VON  PAUL  WEIZSÄCKER. 


^  se*ner  verdienstlichen  Lebensbeschreibung 
'1®®  Anton  Graff’s  unterscheidet  Richard  Muther 
bei  der  Aufzählung  seiner  Werke:  erhal¬ 
tene  Porträts,  solche,  die  nur  in  Kupferstichen 
vorhanden  sind,  und  verschollene,  d.  h.  solche, 
von  denen  nur  noch  litterarische  Kunde  vorhan¬ 
den  ist,  endlich  Kopieen,  Radirungen,  Silberstift¬ 
bildchen  und  Zeichnungen.  Durch  meine  Studien 
über  die  Bildnisse  Wielands  wurde  ich  veranlasst, 
mir  die  Kreidezeichnung  Graff’s,  die  Muther  S.  112, 
Nr.  9  erwähnt,  näher  anzusehen,  und  erkannte  in 
ihr  sofort  eine  Wiederholung  jenes  nur  in  dem 
schlechten  Stich  von  Bause  1797  und  dessen  Nach¬ 
ahmungen  erhaltenen  Wielandporträts  (Muther,  Nr. 
233),  das  Graff  auf  die  Ausstellung  der  Dresdener 
Kunstakademie  am  5.  März  1796  lieferte,  und  zu 
dem  Wieland  während  seines  Dresdener  Aufenthalts 
in  der  ersten  Hälfte  des  August  1794  dem  Maler 
gesessen  war.  ’)  Da  Wieland  dem  Maler  nur  vier 
\  ormittage  widmen  konnte,  so  ist  auzunehmen,  dass 
in  dieser  Zeit  das  Bild  nicht  fertig  gemalt  wurde, 
und  dass  daher  Graff  vor  Wieland’s  Abreise  noch 
jene  Zeichnung,  die  nur  den  Kopf  des  Dichters 
zeigt,  zur  Stütze  für  sein  Gedächtnis  entwarf.  Dass 
in  der  Zeichnung  Wieland  nach  rechts,  in  dem  Stich 
nach  links  gewendet  ist,  rührt  davon  her,  dass  Bause 
seine  Vorlage,  wie  immer,  direkt  auf  die  Platte 
brachte,  so  dass  auf  allen  seinen  Bildern  die  Dar- 
gestellten  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  des 
Originals  schauen.  Bot  schon  die  Zeichnung  Graffs 
einen  erfreulichen  Ersatz  für  das  verschollene  Ge¬ 
mälde  gegenüber  der  abscheulichen  Fratze,  die  Bause 
daraus  gemacht  hatte  und  über  die  sich  Wieland 
in  komischer,  aber  gerechter  Entrüstung  in  einem 
Briefe  an  Göschen  aussprach,  so  kann  man  dieses 
Machwerk  vollends  nicht  mehr  ohne  Abscheu  an- 
sehen  und  darf  man  es  nicht  mehr  als  ein  gültiges 

1)  Die  Bildnisse  Wieland’s,  S.  23  ff. 


Bild  Wieland’s  betrachten,  seitdem  zur  Freude  aller 
Verehrer  des  Dichters  und  des  Malers  und  zur 
wahren  Ehrenrettung  des  letzteren  das  Original¬ 
gemälde  wieder  aufgetaucht  ist.  Der  Besitzer  des¬ 
selben,  Herr  Sahrer  von  Sahr  auf  Dahlen,  königlich 
sächsischer  Kammerherr,  hat  mir,  sobald  er  erfuhr, 
dass  der  Verbleib  des  Originals  unbekannt  sei,  nicht 
nur  Nachricht  von  seinem  Besitz  gegeben,  sondern 
auch  zugleich  zwei  Photographieen  davon  beigelegt, 
ja  er  hat  auch  in  zuvorkommendster  Weise  das  Bild 
zu  einer  neuen  Vervielfältigung  zur  Verfügung  ge¬ 
stellt.  Eine  solche  erscheint  um  so  notwendiger, 
als  der  Dargestellte  eine  der  berühmtesten  Persön¬ 
lichkeiten  des  vorigen  Jahrhunderts,  einer  der  ersten 
Dichter  Deutschlands,  und  der  Künstler  einer  der 
trefflichsten  Porträtmaler  aller  Zeiten  ist,  und  als 
eben  aus  diesem  Grunde  gerade  dieses  Bild  Wie¬ 
lands  leider  in  der  unverzeihlichsten  Entstellung 
und  Verfratzung  durch  Bause  und  zum  Nachteil  des 
Dichters  wie  des  Malers  die  weiteste  Verbreitung 
gefunden  hat.  Wer  die  neue  vorzügliche  Wieder¬ 
gabe  dieses  freundlichen  und  geistvollen  Kopfes  mit 
Bause’s  Leistung  vergleicht,  wird  zugeben  müssen, 
dass  eine  neue  Abbildung  des  vortrefflichen  Werks, 
das  sich  den  besten  Graffs  würdig  anreiht,  wirklich 
nicht  überflüssig  war,  und  es  trifft  sich  schön,  dass 
diese  genau  hundert  Jahre  nach  der  Entstehung  des 
Originals  das  Licht  der  Welt  erblickt  zur  Sühne 
eines  ein  Jahrhundert  alten  Unrechts  gegen  den 
Dichter  und  den  Maler. 

Doch  ich  bin  noch  den  Nachweis  schuldig,  dass 
das  glücklich  entdeckte  Ölgemälde  auch  wirklich 
das  Graff’sche  Original  ist.  Nun,  eine  Ölkopie  mit 
Benutzung  des  Bause’schen  Stichs  ist  es  nicht,  das 
lehrt  der  Augenschein.  Höchstens  könnte  es  eine 
Kopie  des  Originals  sein,  die  entweder,  wie  das 
auch  sonst  geschah,  von  Graff  selbst  oder  von  einem 
anderen  nach  Graff’s  Original  vor  dessen  Verschwin¬ 
den  im  Privatbesitz  gemalt  wurde.  Selbst  wenn 


WIELAND  UND  ANDERE  NEUENTDECKTE  GEMÄLDE  VON  ANTON  GRAFF. 


129 


das  letztere  der  Fall  sein  sollte,  so  wäre  es  kein 
Unglück,  denn  das  Bild  zeigt  alle  Vorzüge  der  Por¬ 
trätkunst  GrafF s  und  der  Kopist  hätte  dann  sein 
Original  vollkommen  erreicht.  Es  ist  aber  kaum 
ein  Zweifel  möglich,  dass  wir  wirklich  das  Original 
GrafFs  vor  uns  haben.  Das  Bild  wurde  einst  für 


von  dem  Oheim  des  jetzigen  Besitzers  von  der  Ar- 
nold’schen  Kunsthandlung  in  Dresden  erworben 
wurde.  Leider  vermag  der  jetzige  Inhaber  dieser  Firma 
über  die  Vorgeschichte  des  Bildes  keine  Auskunft 
zu  geben,  da  er  die  betreffenden  Bücher  und  Korre¬ 
spondenzen  seines  Vorgängers  nicht  mit  übernom- 


Martin  Wieland.  Ölgemälde  von  Anton  Graff.  (Im  Besitze  des  Herrn  Sahrer  von  Sahr  auf  Dahlen  in  Sachsen.) 


den  Buchhändler  Goschen  gemalt.  Alle  meine  Nach¬ 
forschungen  bei  den  Nachkommen  Göschen’s,  die 
mir  alle  die  bereitwilligste  Auskunft  gaben,  waren 
erfolglos.  Es  blieb  also  nur  die  Annahme  übrig} 
dass  das  Bild  entweder  vernichtet  oder  veräußert 
worden  sei.  Nun  fehlen  alle  Spuren  desselben  bis 
zum  Jahre  1864,  wo  das  hier  wiedergegebene  Bild 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  P.  VI.  H.  5. 


men  hat.  Trotz  dieser  Lücke  in  der  Überlieferung 
werden  wir  kein  Bedenken  tragen  dürfen,  in  dem 
Bilde  einen  echten  Graff  zu  erkennen,  zumal  da  der 
Käufer  desselben  ein  großer  Sammler  und  Kenner 
war  und  auf  seinen  Neffen,  den  jetzigen  Besitzer, 
noch  weitere  zehn  Graff’sche  Porträts  vererbte,  die  ich 
nachstehend  nach  seiner  gütigen  Mitteilung  aufzähle: 

IS 


130 


WIELAND  UND  ANDERE  NEUENTDECKTE  GEMÄLDE  VON  ANTON  GRAFF. 


1)  Friedrich  August  der  Gerechte  (Muther  106, 
aber  in  anderer  Uniform),  66  x  50  cm. 

2)  Maria  Amalia  Augusta  (Muther  108,  aber  in 
rotem  Kleide),  71  x  55  cm. 

3)  Prinz  Heinrich  von  Preußen,  viereckiges  Brust¬ 
bild  ohne  Hände,  im  Kürass,  77  x  61  cm. 
Ohne  Zweifel  das  „nur  in  Stichen  erhaltene“ 
Porträt:  Muther  203,  gemalt  in  Rheinsberg 
1777,  gest.  v.  Bause  1779.  „Der  Prinz,  nach 
links  (also  auf  dem  Original  nach  rechts)  ge¬ 
wendet,  trägt  frisirtes  Haar,  von  dem  eine 
Locke  auf  die  linke  (Orig,  rechte)  Schulter 
herabfällt,  einen  Harnisch  mit  darüber  liegen¬ 
dem  Ordensband  und  über  der  rechten  (Orig, 
linken)  Schulter  einen  Hermelinmantel.“ 
Muther,  Beschreibung  nach  dem  Stich. 

4)  Thomas,  Freiherr  von  Fritsch  (Muther  26, 
aber  in  rotem  Rock),  78  X  63  cm. 

5)  Gräfin  Hoym,  geb.  Gräfin  Beichlingen,  ovales 
Brustbild  ohne  Hände,  66  x  51  cm. 

6)  Wieland.  Farbe  des  Rockes  rotbraun,  68,5 
x  54,5  cm. 

7)  Tiedge,  mit  Wieland  gleichzeitig  von  Arnold 
gekauft,  Brustbild  mit  Händen,  68  x  54  cm 
(also  der  Größe  nach  ein  Gegenstück). 

8)  Elisabeth  Chudleigh  Duchess  of  Kingston, 
Brustbild  ohne  Hände,  59  X  48  cm. 

9)  Männliches  Bildnis,  im  Pelz  über  Uniform, 
wahrscheinlich  Christoph  Friedrich  von  Schön¬ 
feld,  geb.  1744,  gest.  1771.  Brustbild  mit 
Hand.  84  X  68  cm. 

10)  Gräfin  Johanna  Erdmuth  von  Bünau,  geb. 
von  Schönfeld,  Korrespondentin  Gellei't’s, 
Brustbild  mit  Händen,  83  X  62  cm. 

11)  Graf  Johann  Hilmar  Adolf  von  Schönfeld, 
kursächs.  Gesandter  am  kaiserlichen  Hofe  zu 
Wien.  Brustbild  mit  Händen,  83  x  62  cm 
(Seitenstück  zu  10). 

Endlich  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  von  den 
beiden  „verschollenen“  Porträts  des  Ministers  Grafen 
von  Einsiedel  (Muther  271  und  273)  eines  sich  im 
Besitz  des  Grafen  Detlev  Einsiedel,  Majors  im  Garde- 
kürassierregiment  zu  Berlin,  befindet,  wie  mir  eben¬ 
falls  Herr  Sahrer  von  Sahr,  ein  naher  Verwandter 
des  Besitzers,  freundlichst  mitgeteilt  hat. 

Von  dem  Bilde  Wieland’s  schreibt  der  Besitzer 
noch  insbesondere,  dass  es  in  der  Farbenwirkung 
ganz  reizend  sei.  Diese  vermag  das  Abbild  leider 
nicht  wiederzugeben,  aber  der  warme  Dank,  den  wir 
Herrn  Sahrer  von  Sahr  für  seine  Mitteilungen  und  sein 


Entgegenkommen  schulden,  soll  darum  nicht  unaus¬ 
gesprochen  bleiben.  Ein  Wort  der  Charakteristik 
dieses  Porträts  scheint  notwendig,  wenn  wir  uns  er¬ 
innern,  wie  absprechend  sich  Wieland  immer,  na¬ 
mentlich  aber  1802  dem  Bildhauer  Schadow  und 
später  1808  dem  Maler  Kügelgen  gegenüber,  über 
seine  früheren  Bildnisse  geäußert  hat,  Namentlich 
gegenüber  seinen  überschwenglichen  Lobpreisungen 
des  Bildes  von  Kügelgen  scheint  es  unerlässlich, 
das  Verdienst  des  Graff’schen  Gemäldes  besonders 
hervorzuheben.  Denn  wenn  auch  Kügelgen  selber 
behauptete,  dass  in  allen  gemalten  und  gestochenen 
Bildnissen,  unter  denen  Wieland’s  Name  stehe,  zwar 
mehr  oder  weniger  eine  Art  von  Ähnlichkeit  sei, 
dass  aber  allen  gerade  nur  das  Einzige  fehle,  was 
nicht  fehlen  dürfe,  wenn  ein  Bild  das  Wieland’s 
werden  sollte,  und  wenn  er  sich  vermaß,  aus  Wie¬ 
land’s  Seele  und  seiner  alten  pockennarbigen  Fratze, 
der  Ähnlichkeit  unbeschadet,  ein  harmonisches  Ganzes 
zu  machen  '),  so  geht  daraus  hervor,  dass  er  so 
wenig  wie  Wieland,  von  dem  wir  dies  nach  dem  er¬ 
wähnten  Briefe  von  Göschen  als  sicher  annehmen  dür¬ 
fen,  das  Originalgemälde  Gralf’s  gesehen  hat,  sondern 
lediglich  nach  dem  Stich  von  Bause  urteilte.  Wenn 
wir  heute  beide  Bilder,  das  von  Graff  und  das  von 
Kügelgen,  miteinander  vergleichen,  so  kann  die  Ent¬ 
scheidung  nur  zu  Gunsten  von  Graff  ausfallen;  denn 
trotz  aller  Versicherungen  über  die  „unübertreffliche 
Ähnlichkeit“  und  unvergleichliche  Schönheit  des 
Bildes  von  Kügelgen  wird  sich  jeder  Beschauer 
sagen  müssen,  dass  in  dem  Bilde  von  Graff  unend¬ 
lich  mehr  Wahrheit  liegt,  dass  Kügelgen  zwar  einen 
wenig  schönen,  aber  geistreichen  alten  Mann  recht 
schön  gemalt,  Graff  aber  ein  viel  lebenswahreres 
Bild  des  klugen,  witzigen,  geistvollen  Dichters  ge¬ 
schaffen  hat,  und  dass  die  Liebenswürdigkeit  des 
alten  Herrn,  die  beide  zum  Ausdruck  bringen  woll¬ 
ten,  bei  Kügelgen  zur  Süßlichkeit  geworden  ist, 
während  Graff,  ohne  zu  verschönern  und  zu  schmei¬ 
cheln,  den  ganzen  Charakter  des  Mannes  in  seiner 
vollen  Eigenart  erfasst  hat.  Dort  haben  wir  ein 
trotz  vieler  Sitzungen  doch  nur  vom  Maler  erdich¬ 
tetes  Phantasiebild,  hier  trotz  der  wenigen  Sitzungen 
doch  ein  echtes  Charakterbild. 

Ein  früheres  Bildnis  Wieland’s  von  Graff,  das 
nur  aus  der  Erwähnung  in  Meusel’s  Künstlerlexikon 
II  (Lemgo  1789,  Muther  274)  bekannt  ist,  harrt  noch 
der  Entdeckung. 

1)  Ludw.  Wieland,  Auswahl  denkwürdiger  Briefe  von 
C.  M.  Wieland,  2,  lG3ff. 


LOMBARDISCHE  MINIATUREN  UND  RANDLEISTEN'). 

MIT  ABBILDUNGEN. 


1)  Miniatures  and 
borders  from  the  book 
of  hours  of  Bona  Sforza, 
Duchess  of  Milan,  in  the 
British  Museum.  With 
introduction  by  George 
F.  Warner,  A.  A.  Assis¬ 
tant  Keeper  of  Manus- 
crits  London,  published 
by  the  Trustees.  1894.  4. 


in 

füi 


IE  Kunst  der  Renaissance  hat  uns  kein  voll¬ 
endeteres  Werk  der  Miniaturmalerei  hinter¬ 
lassen,  als  das  Andachtsbuch  der  Bona 
Sforza,  Herzogin  von  Mailand,  welches  1871  durch 
J.  C.  Robinson  von  Madrid  nach  England  gebracht 
ward,  dort  zunächst  in  den  Besitz  des  Herrn  John 
Malcolm  von  Poltalloch  und  1893  durch  Geschenk 
desselben  in  das  Eigentum  des  Britischen  Museums 
überging.  Herr  G.  F. 

Warner,  Direktorial  - 
assistent  an  der  Hand¬ 
schriftensammlung 
dieses  Museums ,  hat 
soeben  eine  vorzüg¬ 
liche  phototypische 
Ausgabe  l)  des  kost¬ 
baren  Bandes  veran¬ 
staltet  und  dadurch 
eine  der  Perlen  lom¬ 
bardischer  Kunst  vom 
Ende  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  demStu- 
dium  weiterer  Kreise 
zugänglich  gemacht. 

Wir  teilen  den  Le¬ 
sern  zwei  Proben  der 
schönsten  Miniaturen 
des  Buches  mit  und 
fügen  zur  kunstge- 


vorausgeschickt  werden 


Der  heilige  Gregor. 

Miniatur  aus  dem  Andachtsbuche  der  Bona  Sforza  im  Britischen  Museum. 


Schichthöhen  Würdigung  derselben  ein  drittes  größe¬ 
res  Blatt,  eine  reichverzierte  Randleiste  aus  der  Sfor- 
ziade  in  der  Grenville- Bibliothek  des  Britischen 
Museums,  bei,  welche  in  Figuren  und  Ornamentik 
denselben  Stil  zeigt,  wie  die  Miniaturen  des  An¬ 
dachtsbuches. 

Letztere  stammen  übrigens  —  das  möge  hier 
nicht  sämtlich  von  der 
Hand  italienischer 
Meister  her.  Ein  Teil 
ist  flandrischen  Ur¬ 
sprungs  und  wahr¬ 
scheinlich  einige  De¬ 
zennien  später  hinzu¬ 
gefügt,  nachdem  das 
Manuskript  in  den 
Besitz  Kaiser  Karl’s  V. 
übergegangen  war, 
mit  welchem  es  nach 
Madrid  kam.  Wir 
lassen  diese  sechzehn 
flandrischen  Miniatu¬ 
ren  hier  außer  Acht, 
so  viel  des  Interessan¬ 
ten  und  Schönen  sie 
auch  darbieten.  Die 
achtundvierzig  Blät¬ 
ter  italienischen  Ur¬ 
sprungs  zerfallen  in 
zwei  Klassen:  die  eine 
derselben,  neun  Blät¬ 
ter  umfassend,  ist  ent¬ 
schieden  von  geringe¬ 
rer  Hand  und  wurde 
daher  in  der  War- 
ner’schen  Ausgabe 
nicht  reproduzirt;  die 
andere,  die  übrigen 


18* 


132 


LOMBARDISCHE  MINIATUREN  UND  RANDLEISTEN. 


neununddreißig  Miniaturen  in  sich  schließend,  bil¬ 
det  den  künstlerisch  wertvollsten  Teil  des  Ganzen; 
die  Blätter  dieser  Klasse  stammen  offenbar,  wenn 
nicht  aus  einer  Hand,  so  doch  wenigstens  aus 
derselben  Schule.  Sie  stehen  in  Komposition,  Zeich¬ 
nung,  Proportionen,  Ausdruck,  in  flüssiger  Behand¬ 
lung  des  Faltenwurfes  und  des  Haares  auf  sehr 
respektabler  Höhe  und  sind  im  Kolorit  von  außer¬ 
ordentlicher  Frische  und  Leuchtkraft.  In  diese  Kate¬ 
gorie  gehören  zunächst  die  neun  Scenen  aus  der 
Passion ,  von  denen 
das  Buch  fünf  repro- 
duzirt.  Darunter  das 
Abendmahl,  eine  der 
schönsten  Darstellun¬ 
gen  der  Handschrift 
überhaupt.  —  Dann 
die  Einzelbilder  der 
Heiligen,  von  denen 
wir  das  in  Zeichnung 
und  malerischer  Aus¬ 
führung  exquisiteste 
Blatt,  den  heil.  Gre¬ 
gor,  in  Zinkotypie 
diesem  Aufsatze  bei¬ 
fügen.  Während  Gold 
im  allgemeinen  spar¬ 
sam  an  gewendet  ist,' 
findet  es  sich  hier  in 
reicher  Fülle:  am  Vor¬ 
hang  hinter  dem  Kop¬ 
fe  des  Heiligen,  am 
Pult,  an  der  Stufe,  in 
der  Unterschrift.  Auch 
die  Farben  sind  auf 
diesem  Blatt  von  be¬ 
sonderer  Brillanz.  Ei¬ 
nen  hohen  Reiz  in 
den  Blättern  der  Hei¬ 
ligenfolgebesitzen  die 
Architekturen;  sie  sind  von  staunenswerter  Wahr¬ 
heit  und  Feinheit  in  der  Durchbildung,  wie  auf 
dem  Blatte  mit  dem  heil.  Gregor  auch  die  Zeich¬ 
nung  der  Wand  mit  ihren  Gestellen,  Utensilien, 
Büchern  u.  dgl.  uns  zeigen  kann.  —  Endlich  kom¬ 
men  dazu  die  große  Zahl  höchst  anmutiger,  in 
Gold  und  Farben  prangender  Zierleisten,  von  denen 
wir  gleichfalls  ein  Beispiel  hier  anfügen.  Der  orna¬ 
mentale  Teil  dieser  köstlichen  Randornamente  weist 
den  bekannten  Apparat  von  Formen  und  Motiven 
auf,  mit  dem  die  Frührenaissance  Italiens  zu  schal¬ 


ten  pflegt:  Vasen,  Trophäen,  Kandelaber,  Blumen, 
Blätterwerk,  Bandverschlingungen,  Greife,  Sphinxe, 
Putten  aller  Art,  ferner  antike  Gemmen,  Perlen, 
Edelsteine  in  der  täuschendsten  realistischen  Aus¬ 
führung.  Am  unteren  und  bisweilen  auch  am  oberen 
Rande  sind  kleine  Miniaturbilder  von  Engeln  und 
ähnlichen  idealen  Gestalten  eingesetzt,  die  zu  den 
reizendsten  Bestandteilen  des  Ganzen  zählen.  Diese 
Bilder  und  die  dazu  gehörigen  Embleme  stehen  in 
manchen  Fällen  zu  dem  Text  des  Andachtsbuches 

in  deutlicher  Bezie¬ 
hung.  Von  großem 
Interesse  unter  den 
Miniaturbildchen  sind 
z.  B.  die  Engel  mit 
Musikinstrumenten, 
von  denen  Warner 
sechs  Beispiele  mit¬ 
teilt.  Sie  stehen  im 
Stil  dem  von  uns 
vorgeführten  schönen 
Blatt  sehr  nahe.  Nicht 
minder  interessant 
sind  die  zahlreichen, 
mit  frappantem  Rea¬ 
lismus  behandelten 
Tiere,  namentlich  Vö¬ 
gel,  z.  B.  die  beiden 
in  das  Randornament 
eines  dieser  Blätter 
eingefügten  Pfauen, 
die  der  Miniator  in 
der  vollen  Farben¬ 
pracht  ihres  Gefieders 
wiedergegeben  hat. 

Es  ist  leider  bis¬ 
her  nicht  möglich  ge¬ 
wesen  ,  die  Künstler 
zu  bestimmen,  von 
denen  die  Miniaturen 
und  Bordüren  dieses  prächtigen  Andachtsbuches  her¬ 
rühren.  Hoffentlich  trägt  die  Warner’sche  Publika¬ 
tion  dazu  bei,  durch  Vergleichung  auf  den  richtigen 
Weg  zu  kommen.  Das  Britische  Museum,  das  an 
Miniaturen  aus  der  zunächst  in  Betracht  kommen¬ 
den  Mailänder  Schule  nicht  so  reich  ist  wie  an  floren- 
tinischen,  besitzt  gleichwohl  einige  gleichzeitige 
Werke  verwandten  Stils,  welche  für  die  Lösung  der 
Frage  von  Belang  sind.  Warner  unterzieht  sie 
einer  sorgfältigen  Analyse  und  kommt  auf  Grund 
derselben  zu  beachtenswerten  Resultaten. 


Ifcrto.’.i  tmr:tr.iTtnr 

in  tn.muegfidnp.ir 
tre  tmlpttt  cnitlifcr 
ttapjetabtf  iTcoLiii 
bunfoths  qm  uinir 
tu  co:q ttu  obfiractiil 
eff  ce  fcqtierttm  rnu}. 
lens  mifctt.1 
mir  nn  *rbcn 
diarnobtß: 
jillmmncr  iitiltä  firn? 


Randleiste  aus  dem  Andachtsbuche  der  Bona  Sforza 
im  Britischen  Museum. 


.IBRO  PRJMO  DELLA  HISTORIA  DELLE  CQSE  FACTE  DALLO 

NVICTlSSIMO  DVCA  FRANCESCO  SFORZA  SCRIPTA  IN  LA 
INO  DA  GIOVANNI  SIMON ETTA  ETTRADOCTA  IN  LIN 
iVA  FIQRENTIN A  DA  CHRi&TöPHQRQ  LANDINO  FIORP.N 


1  EM  FI  LHELA  kt+GUM  A  '(5IÜVÄMN  A  SH 


WM  J^^^Mkondafigiiuola  dl  Carlo  Re  regnaua:perche  era  iuc 
SP  TSHBce^uune^  reSno  Neapohtanoa  Lautlao  Rc  fuo  fra  j 

JgIjMp*0  'JBWB|tello:dcuaIc  pam  dt  iura  fan;a  figiiuoli:Alphonfo  ' 
Br  daragonacon  gründe  armara  mouendo  bi  Gua 

Hlogna  ucnne  m  Sicilia  :  Ifeladi  i'uo  Irnpeno  La  cui 
I_  ,  Jj|£S|uenutJ  excito  g!i  huormrn  acl  Neapohrano  rcgno  a 

yB^JERjBAXRL^lgua in  fauorudt  a  diuerli  configlnde  non  con  piccoli 
tnouimenn  di  quel  regnoJmpero  cheGiouana  Regina  per  moirt  «  uam 
(uoi  tmpudichi  amori  era  caduta  in  föma  in&rniajbc  defperandoft  che  1er 
femina  potefli  adempiere  lofTicio  del  Re&  admimftrare  ramo  rcgno;fece> 
ja  ie  maruo  Iacopo  di  Nerbona  Conte  diMarciatelquaLe  paar  nobihta  di  (kni 
Igue.-öi  belleza  di  corpo;nemfenoper  uirtu  era  tra  Pnnctpi  di  Francta  excett 
lente  .Maaccorgendofi  in  breue  che quello  defideraua  pm  eifere  Re:  eher 
[marifo:&queIla  non  molto fhmauatmofTo  da  femimleleuita!oriftuto:<if 
jpriuo  dogmadmimflratice .  Queüo  fucacionechel  fuoregnb:elqüaleper 
|fuä natura e pronoaile diflenfxoni  &  difcordie^rragepdouifi  e nö honeßi 
[coftumi  della  Regina :  ruorno  nelle  ant  tche  fadhom-di  partialitarifccönun 
jcio  ogni  giorno piu a  fl ucfhureÄ  aacillare.Eranoalcuni  acuait  nööifpia 
j  ceua  Fa  fignoria  della  döna:perche  benche  il  nome  fuffi  in  leidoro  menredr 
'menocomidaaono.AJtri  defiderauanocheLodouico  terno  Ducadanjuo:; 
figlmolo  di  Lodouico  e! quäle  era  nomato  RediPuglia:Ötdi  uiolantenatat 
!  della  Realeftirpe  daragoniaTufli  adoptato  aafla  Regina.  Coftui  pocoauitr 
jpeconforti  di  Marnno  tertio  fomo  Pontefice:d'  di  Sforza  Attendolo  excel 
[tennfTimo  Duca  in  miluaredifciphna :  &  padre  di  Francefco  fforza  de  cui’ 
(egrefii  fadi  habbiamoa fenuere era uenuto a Im diCampagna:Etcögtuiv 
itofi  Sforza;haueamoflo guerra alla Regina .  Maquegli  che  repugnauano; 
la  Lodouicho:metteuano  ogni  induftria  :  che  Alphonio  fufTi  adoprato  in  fi 

fltuoio  ddla  Rema:  accio chem Napoli fufli  tal  Re:che  con  le  Tue  forze  di 
t  mare  de  di  terra  potefli  refiftere  alla  pofla  dg  Franciofi .  Adunque  in  cofi 
jtiehemetecontenoone  debaronnddpiu  huommide!  regno:Alphonfo  chia 
mato  dallaReina  m  herede  d'compagnodel  regno.-diuenenö  foloilluftre: 
tna  anchora  horribile :  Et  el  nome  Catelano  elquale  mfino  a  quegh  rempi 
nö  era  molto  noto  Öi  celebre  fe  non  a  popoh  marmmuma  muifo  dt.  odiofo: 
commcto  a  crefcere :  di  farfi  chiaro .  Ma  di  da  Lodouico  di  da  Sforza  tanto 
ogni  giorno  ptu  eronoopprefluel  Re  di  la  Regmauhediffididofi  nelle  pro 
pne  forze;  conduxono  Braccio  Perugtno :  el  quäle  era  ei  fecondo  Capitano 
iimilma 


in  Italia  in  quegli  tepi  cö  molte  honoreuoh  cöditioru:&mayime 


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Randleiste  aus  der  Sforziade  des  Giovanni  Simonetta  (1490).  Britisches  Museum. 


134 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Eines  der  zum  Vergleich  herbeizuziehenden 
Werke  ist  die  gedruckte  Sforziade,  die  Lebensbeschrei¬ 
bung  des  Francesco  Sforza -Visconti,  vierten  Herzogs 
von  Mailand,  von  Giovanni  Simonetta,  welche  in 
lateinischer  Übersetzung  von  Christ.  Landino  1490 
in  Mailand  erschienen  ist.  Wir  geben  die  von  War¬ 
ner  in  verkleinertem  Maßstabe  mitgeteilte  kolorirte 
Randleiste  dieses  Buches  in  gleicher  Größe,  wie  sie 
bei  dem  englischen  Autor  erscheint,  in  nebenstehen¬ 
der  Abbildung  wieder.  Das  an  und  für  sich  höchst 
merkwürdige  Blatt  bietet  nicht  nur  in  der  Kompo¬ 
sition  und  Zeichnung,  sondern  auch  in  der  Wahl 
und  Zusammenstellung  der  Farben  mit  den  Bordüren 
des  Andachtsbuchs  der  Bona  Sforza  die  schlagend¬ 
sten  Analogieen  dar.  Seine  vornehmsten  Zierden  bilden 
die  beiden  mit  größter  Sorgfalt  ausgeführten  Minia¬ 
turporträts,  links  des  Herzogs  Francesco  Sforza, 
rechts  seines  Sohnes  Lodovico  il  Moro.  Auf  den  Bei¬ 
namen  des  letzteren  spielt  der  Mohrenkopf  in  der 
Mitte  der  oberen  Randleiste  an.  Unten  prangt  das 
von  Amoretten  umspielte  Wappen  des  Lodovico  mit 
den  Lilien  von  Frankreich  im  Mittelschild.  —  Die 
übrigen  fünf  unserem  Autor  zur  Vergleichung  die¬ 
nenden  Werke,  zwei  Manuskripte,  zwei  Drucke  und 
ein  Pergamentblatt  des  Britischen  Museums  mit  den 
Miniaturporträts  des  Lodovico  und  der  Beatrice  d’Este 
(v.  J.  1494),  haben  wohl  den  gleichen  Werkstatt¬ 


charakter,  jedoch  ohne  dass  darin  für  die  Bestim¬ 
mung  einer  ausgesprochenen  künstlerischen  Persön¬ 
lichkeit  genügende  Anhaltspunkte  geboten  würden. 

Von  Antonio  da  Monza ,  Girolamo  da  Milano, 
Liberale  da  Verona  und  Giovanni  Pietro  Birago,  deren 
Namen  bei  der  Untersuchung  der  Künstlerfrage  ge¬ 
nannt  wurden,  kann  —  wie  Warner  nach  weist  — 
ernstlich  nicht  die  Rede  sein.  Dagegen  verdient 
allgemeine  Beachtung  die  dem  Herausgeber  kürzlich 
auf  persönlichem  Wege  zugegangene  Notiz  von  Dr. 
Müller -Walde,  dem  bekannten  Lionardo- Forscher, 
dass  die  Mehrzahl  der  Miniaturen  des  Andachts¬ 
buches  der  Bona  Sforza  mit  einer  Donatus -Hand¬ 
schrift  in  der  Bibliothek  Trivulzi  zu  Mailand  die 
auffallendste  Ähnlichkeit  zeigen,  und  dass  die  Minia¬ 
turen  dieses  Codex  Trivulzianus  von  keinem  Gerin¬ 
geren  als  von  Ambro gio  de  Predis,  dem  durch  Ler- 
molieff  wieder  zu  Ehren  gebrachten  Maler  der  Bianca 
Maria  Sforza,  herrühren.  Danach  würde  also  dem¬ 
selben  Künstler,  welcher  das  Bildnis  der  Bianca 
Maria  in  der  Ambrosiana  malte,  die  leitende  Stellung 
bei  der  Ausschmückung  des  Andachtsbuches  ihrer 
Mutter  Bona  zuzuschreiben  sein.  Dass  Ambrogio 
de  Predis  als  der  Urheber  des  Miniaturschmucks 
der  Trivulzi-Handschrift  zu  betrachten  sei,  hat  auch 
Lermolieff  bereits  ausgesprochen.  G.  v.  L. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


*  „Italien  in  sechzig  Tagen“  von  Dr.  Th.  GseU-Fels, 
das  bekannte  praktische  Reisebuch  des  Bibliographischen 
Instituts  (Leipzig  und  Wien)  liegt  seit  kurzem  in  fünfter 
Auflage  vor.  Sie  bildet  einen  ziemlich  starken  Band, 
ist  jedoch  in  zwei  leicht  auseinander  zu  trennende  Ab¬ 
teilungen  gegliedert,  deren  jede  bequem  in  der  Tasche  zu 
tragen  ist.  Wenn  man  etwas  an  den  gediegenen  Reise¬ 
werken  des  trefflichen  Gsell-Fels  aussetzen  wollte,  so  war 
dies  ihre  Oberfülle  an  gelehrtem  Stoff.  Dieser  ist  in  der 
gedrängten  Anordnung  des  vorliegenden  Führers  glücklich 
abgeholfen  ,  und  er  wird  dem  Reisenden  jeglicher  Gattung 
ausgezeichnete  Dienste  leisten. 

Düsseldorf  im  Januar.  Das  erste  Glied  eines  Cyklus 
von  Wandgemälden,  welche  für  den  Rathaussaal  in  Danzig 
bestimmt  sind:  „Der  Hochmeister  Ludolf  König  legt  den 
ersten  Stein  zur  Stadtmauer  der  Rechtsstadt  Danzig  im  Früh¬ 
jahr  1343“  hat  in  der  Kunsthalle  Aufstellung  gefunden.  Eine 
sehr  gute  Probe  dessen,  was  das  immer  beliebter  werdende 
Casein  auszudrücken  vermag,  kann  es  wohl  als  das  fertigste 
und  reifste  Bild  Professor  Ernst  Roeber’s  gelten.  Das 
Casein  gewinnt  mit  jedem  Versuch  neue  Freunde  und  em¬ 
pfiehlt  sich  jedenfalls,  seiner  außergewöhnlichen  Leuchtkraft 


wegen,  für  Wandmalerei  im  großen  Stil.  Man  muss  ein 
solches  Bild  an  Ort  und  Stelle  denken.  Selbstverständlich 
fällt  es,  inmitten  von  fein  gestimmten  und  auf  „Ton“  gear¬ 
beiteten  Landschaften,  die  auf  das  „Intime“  zielen,  aus 
seiner  Umgebung  heraus,  aber  die  reinen,  leuchtenden  Far¬ 
ben  bilden  einen  hellklingenden,  etwas  harten,  in  sich  ab¬ 
geschlossenen  Accord.  Die  Komposition  ist  sicher  und  klar, 
die  Zeichnung  kräftig,  und  nur  im  Himmel  erinnert  der  blaue 
Äther,  einige  Grade  zu  tief  gehalten,  etwas  an  Waschblau. 
Vortrefflich  ist  der  niedere  Baumwuchs  behandelt,  der  den 
Charakter  der  Landschaft  mit  den  Dünenketten  dahinter 
scharf  hervorhebt.  Unter  den  Gestalten  der  Bauern  erkennt 
man  einige  typische  Köpfe  aus  Professor  Janssen’s  „Schlacht 
bei  Worringen“  wieder,  beliebte  Akademiemodelle,  welche 
auf  diesem  Wege  zu  historischer  Bedeutung  gelangen!  — 
Der  historische  Vorgang,  auf  den  an  dieser  Stelle  nicht  näher 
eingegangen  werden  kann,  stellt  den  Augenblick  dar,  wo 
vor  dem  versammelten  Orden  der  Deutschritter,  den  Ver¬ 
tretern  der  Kirche  und  dem  Gemeindevorsteher  der  Grund¬ 
steineingesegnet  wird.  Die  sich  lang  hinzieh  enden  Dünen  bilden 
einen  stimmungsvollen  Hintergrund  zu  der  feierlichen  Hand¬ 
lung,  und  über  die  Dächer  der  Hütten  und  die  Dünen  hin- 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


135 


weg  begrenzt  das  blaue  Ostseebecken  den  Horizont.  Gerade 
der  landschaftliche  Teil  ist  dem  Künstler  gut  geraten  und 
vergebens  sucht  man  nach  einer  Stelle  ,  die  „herausfällt“ : 
eine  Thatsache,  die  für  eine  so  umfangreiche  Arbeit  voll  ins 
Gewicht  fällt.  Der  nordische  Charakter  mit  seiner  zähen 
Energie  spricht  aus  dem  landschaftlichen  wie  figürlichen 
Teil  des  Bildes  und  das  Ganze  ist  aus  einem  Guss  erfasst 
und  durchgeführt.  —  Bei  Eduard  Schulte  stellte  Hans  von 
Volkmann  eine  vielseitige  Kollektion  feiner  Landschaften 
aus,  Ölbilder,  Zeichnungen,  Aquarelle,  Studien,  Humoristi¬ 
sches.  Die  größeren  Ölstudien,  worin  eine  warme  Naturauf¬ 
fassung,  mit  intimer  Durchführung  verbunden,  jedesmal 
eine  Bildwirkung  erzeugt,  haben  den  meisten  künstlerischen 
Wert.  Die  Farbentöne,  teils  in  sonnig  warmen,  teils  in  kühl¬ 
grauen  Motiven,  sind  außerordentlich  fein  empfunden.  In 
der  zeichnerischen  Sicherheit  und  soliden  Grundlage  der 
„Mache“  offenbart  sich  der  gute  Einfluss  der  Karlsruher, 
insbesondere  Schönlebers.  Interessant  war  mir  die  erste  kleine 
Vorstudie  „Haferfeld“  zu  dem  von  der  Pinakothek  ange¬ 
kauften  Bilde.  Einfacher  und  treuer  kann  man  der  Natur 
nicht  gegenüberstehen.  —  Die  Aquarelle  sind  humoristischen 
Inhalts,  kleine  kecke  Zeichnungen  („Das  Volk  Israel  in  der 
Wüste“,  „Angelsachse  und  Pelikan“),  die  in  ihrer  Vermensch¬ 
lichung  der  Tiere  manchmal  an  die  Kaulbach’schen  Illustra¬ 
tionen  zum  Reineke  Fuchs  erinnern.  —  Zwei  große  Marinen 
sind  durch  ihre  Gegensätze  von  Interesse.  Das  eine  „Die 
letzten  Drei“  von  Carl  Leipold  wirkt  durch  seine  Stimmung 
groß  und  tief.  Die  letzten  Sonnenstreifen  am  Horizont  sind 
fein  eingesetzt  in  die  tiefe  eintönige  Luftstimmung.  Leider 
ist  das  Wasser  ohne  jede  Feuchtigkeit  und  auch  das  Boot, 
mit  den  drei  letzten  Opfern  des  Schiffbruches,  fährt  so  un¬ 
beweglich,  so  „ungeschaukelt“  auf  diesen  grünen  Wellen¬ 
bergen,  dass  es  den  Eindruck  eines  Patentfahrzeugs  gegen 
die  Seekrankheit  macht.  Carl  Salzmann’  s  „Am  Cap  Verde“ 
ist  dagegen  viel  seemännischer  aufgefasst,  und  in  der  Be¬ 
handlung  der  tiefblauen  schweren  Wellen  des  Ozeans  zeigt 
sich  eigene  Anschauung  und  Gefühl  für  Bewegung.  Auch 
die  Segel  sind  richtig  gegen  die  Luft  eingesetzt,  aber  alles 
ist  Farbe,  schwere  Farbe,  die,  wären  nicht  die  Glanzlichter 
recht  geschickt  und  lebendig  aufgetragen,  jedes  Reizes  ent¬ 
behren  würde.  —  Da  zieht  ein  hochmodernes,  vorzüglich 
gemaltes  Bild  aus  der  neueren  Münchener  Schule:  „Die 
letzten  Stunden“  von  Georg  Jauß  durch  sein  koloristisches 
Feingefühl  weitaus  am  meisten  an.  Hier  ist  ein  Lichtpro¬ 
blem,  die  Lampe,  welche  am  Bett  der  stellenden  Frau  steht, 
und  deren  letzter,  flackernder  Schein  mit  dem  Morgensonnen¬ 
strahl  kämpft,  der  durch  das  Fenster  hereinbricht,  mit  stu- 
pendem  Können  gelöst.  W.  SCHÖLERMANN. 

*  Der  „  Verein  bildender  Künstler  Münchens “  (Sezession) 
wird  seine  dritte  internationale  Kunstausstellung  in  seinem 
eigenen  Ausstellungsgebäude  an  der  Prinzregentenstraße  in 
der  Zeit  vom  1.  Juni  bis  Ende  Oktober  dv  Js.  abhalten. 
Circulare  und  Formulare  mit  den  genauen  Ausstellungs¬ 
bestimmungen  werden  im  Monat  April  zur  Versendung 
kommen. 

□  Aus  den  Wiener  Ateliers.  Prof.  E.  von  Lichtenfels 
arbeitet  gegenwärtig  an  einigen  Landschaften,  deren  tech¬ 
nische  Ausführung  in  mehreren  Punkten  von  den  früheren 
Verfahrungsarten  des  genannten  Künstlers  abweicht.  Lich¬ 
tenfels  hat  diese  neuen  Bilder,  welche  Motive  aus  der  Gegend 
von  Spital  a.  P.  und  Dürrenstein  a.  d.  D.  behandeln,  in 
englischer  Tusche  mit  dem  Haarpinsel  auf  weißem  Grunde 
vorgezeichnet  und  dann  mit  dem  Borstenpinsel  leicht  unter¬ 
tuscht.  Das  nun  folgende  Fertigmalen  in  Ölfarbe  lässt  die 
Schatten  sehr  durchsichtig  erscheinen,  soweit  man  nach  den 


fast  vollendeten  Stellen  schließen  kann,  die  auf  einem  großen 
Breitbilde  mit  einer  Gebirgslandschaft  zu  sehen  sind.  — 
Der  Maler  Berthold  von  Lippay,  bekannt  durch  einige  Bild¬ 
nisse  hervorragender  Persönlichkeiten,  hat  seit  einigen 
Monaten  in  Wien  ein  ständiges  Atelier.  Daselbst  findet 
man  auf  den  Staffeleien  mehrere  Porträts,  die  nahezu  fertig 
sind.  Fast  vollendet  ist  das  lebensvoll  aufgefasste  Antlitz 
des  jungen  Königs  von  Serbien,  der  vom  Maler  in  lebens¬ 
großem  Kniestück  dargestellt  wird.  Das  lebensgroße  Bildnis 
eines  ungarischen  Magnaten  ist  erst  untermalt,  ebenso  das 
reizende  Köpfchen  einer  schönen  jungen  Dame.  Nahezu 
beendet  ist  die  Arbeit  an  dem  Brustbilde  des  Direktors 
Swetlin,  der  lebensgroß  und  von  vorn  gesehen  gemalt  ist. 
Lippay  benutzt  seit  einiger  Zeit  Petroleumfarben. 

Im  preußischen  Unterrichtsetat  1895/96  sind  folgende 
für  das  Kunstleben  besonders  interessante  Titel  eingestellt: 
der  Fonds  zur  Vermehrung  der  Sammlungen  der  Museen  in 
Berlin  wird  um  60  000  Mark  erhöht,  desgleichen  ein  Betrag 
von  7000  Mark  ausgeworfen  für  die  weitere  Reinigung  von 
Bildwerken ,  insbesondere  der  bei  Pergamon  gemachten 
Funde.  —  Zur  Sicherung  und  ordnungsmäßigen  Aufstellung 
der  Sammlungen  von  Handzeichnungen  und  Kunstdrucken 
der  National-Galerie  in  Berlin  insgesamt  10  000  Mark.  Für 
die  photographische  Aufnahme  von  Werken,  der  monumen¬ 
talen  Malerei  und  Plastik,  sowie  zu  ihrer  Vervielfältigung 
und  Verbreitung  19  500  Mark.  Die  aus  Mitteln  des 
staatlichen  Kunstfonds  ausgeführten  und  fernerhin  auszu¬ 
führenden  Werke  monumentaler  Malerei  und  Plastik  be¬ 
dürfen  geeigneter  Veröffentlichung  und  Verbreitung,  um 
dem  Urteile  der  Künstler  und  Kunstfreunde  zugänglich  ge¬ 
macht  und  dem  Genüsse  und  Studium  im  weiteren  Umfange 
dargeboten  zu  werden.  Zu  diesem  Zwecke  wird  beabsichtigt, 
die  aus  Staatsmitteln  oder  mit  Staatsunterstützung  herge¬ 
stellten  Malereien  etc.,  welche  ihrer  Natur  nach  an  den  Ort 
ihrer  Entstehung  gebunden  sind,  auf  photographischem  und 
sonstigem  mechanischen  Wege  zur  veröffentlichen.  —  Für 
die  Wiederherstellung  des  Schlosses  in  Marienburg  sind 
weitere  50  000  Mark  ausgeworfen. 

%*  Über  das  bekannte  pompejanische  Mosaikbild  der 
Alexanderschlacht ,  das  sich  im  Museo  nazionale  in  Neapel 
befindet,  hat  Prof.  Adler  in  Berlin  im  dortigen  Architekten¬ 
verein  einen  Vortrag  gehalten,  in  welchem  er  neue  Hypo¬ 
thesen  über  die  Herkunft  des  Bildes  aufgestellt  hat.  Nach¬ 
dem  er  alle  bekannten  Nachrichten  über  ein  angeblich  von 
der  Malerin  Helena,  einer  Zeitgenossin  Alexanders  des  Großen, 
ausgeführtes  Gemälde  der  Alexanderschlacht,  das  von  Ves- 
pasian  aus  Alexandrien  nach  Rom  gebracht  worden  ist,  re- 
kapitulirt  hatte,  warf  er  die  Frage  auf,  wer  denn  ein  Inter¬ 
esse  daran  gehabt  hätte,  in  Alexandrien  ein  so  großes  Ge¬ 
mälde  der  Schlacht  bei  Issos  ausführen  zu  lassen.  Er  ver¬ 
mutet,  dass  es  Ptolemäus  gewesen  ist,  der  sich  in  der 
Schlacht  bei  Issos  besonders  auszeichnete  und  dem  nach 
Alexanders  Tode  die  Herrschaft  über  Ägypten  zufiel.  Hier, 
in  der  rasch  entstandenen  Stadt  Alexandria,  die  einen  bei¬ 
spiellosen  Aufschwung  nahm,  entwickelte  sich  auch  die  Tech¬ 
nik  der  Herstellung  künstlerischer  Mosaiken  zuerst.  Es  liegt 
also  die  Vermutung  nahe,  dass  auch  hier  das  Mosaik  der 
Alexanderschlacht  entstanden  ist,  als  unvergängliche  Kopie 
des  kostbaren  Originals.  Nur  ein  Fürst  konnte  sich  auch  den 
Luxus  einer  solchen  Kopie  gönnen,  die  nur  von  Künstlern 
hergestellt  werden  konnte  und  enorme  Kosten  verursacht 
haben  muss.  Das  Bild  ist  2,47  m  hoch,  5,50  m  lang,  hat 
also  13,81  qm.  Es  ist  nur  in  natürlichen,  farbigen  Marmor¬ 
stiften  von  außerordentlicher  Kleinheit  ausgeführt,  so  dass 
14 — 15  Stück  auf  1  qcm  gehen.  Die  Figuren  haben  %  der 


136 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


natürlichen  Größe,  und  es  ist  anzunehmen,  dass  das  Tafel¬ 
bild,  das,  wie  im  Altertum  üblich,  jedenfalls  auf  Holz  ge¬ 
malt  gewesen  ist,  dieselbe  Größe  hatte.  Wie  kann  nun  das 
Bildwerk  nach  der  Casa  del  Fauno  in  Pompeji  gekommen 
sein?  Diese  Villa  ist  eine  der  größten  und  ältesten.  Sie  ist 
in  Tuff  mit  vorzüglichem  Stuck  ausgeführt,  d.  h.  einem 
Material,  wie  es  sich  nur  noch  an  sieben  kleinen  Gebäuden 
findet,  die  nachweislich  zu  den  ältesten  gehören.  Sie  stammt 
wahrscheinlich  aus  der  Zeit  200  v.  Chr.  In  diesem  prächtig 
ausgestatteten  Gebäude,  das  nur  einem  reichen  Manne  ge¬ 
hört  haben  kann,  finden  sich  keine  der  sonst  üblichen  Wand¬ 
gemälde,  sondern  nur  Mosaiken,  und  zwar  deren  zwölf,  aus 
deren  ganzer  Anordnung  hervorzugehen  scheint,  dass  der 
Besitzer,  der  diese  Mosaiken  auf  kaufte,  ihnen  zu  Liebe  die 
ganze  Anlage  des  Hauses  vorgenommen  hat.  Wichtig  ist, 
dass  mehrere  der  Mosaiken  direkt  auf  Ägypten  hinweisen. 
So  findet  sich  eine  Katze,  die  mit  einem  Rebhuhn  spielt. 
Die  Katze  war  aber  nur  in  Ägypten  heimisch  und  bekannt. 
Horaz  kennt  noch  keine  Katze,  sondern  nur  das  Wiesel  als 
das  mäusefangende  Haustier.  Ein  anderes  Mosaik  stellt 
Enten  dar,  welche  Lotosblumen  und  Papyrus  fressen.  Auf 
einem  dritten  ist  eine  Scene  aus  dem  Dionysos- Kult  dar¬ 
gestellt,  der  besonders  in  Alexandrien  getrieben  wurde.  Ein 
anderes  Mosaik  giebt  eine  ganze  Kollektion  der  ägyptischen 
Fauna,  Nilpferd.  Krokodil,  Ichneumon  u.  s.  w.,  kurz  überall 
findet  sich  der  Hinweis,  dass  diese  Bildwerke  in  Ägypten 
selbst  entstanden  sind.  Die  Frage  ist  nun  weiter,  wo  haben 
sich  die  Mosaiken  früher  befunden,  und  dabei  ist  Prof.  Adler 
zu  dem  Schlüsse  gekommen,  dass  sie  eins  der  großen  Pracht¬ 
schiffe  geschmückt  haben,  von  denen  wir  wissen,  dass  man 
in  ihre  Fußböden  kostbare  Mosaikbilder  einlegte.  Mit  dem 
Verfall  der  Ptolemäerherrschaft  ließ  man  wohl  auch  diese 
unbrauchbaren  Kolosse,  von  deren  einem  uns  Abmessungen 
überliefert  sind,  die  mit  denen  des  bekannten  „Great 
Eastern“  übereinstimmen,  verkommen.  So  war  es  dem  reichen 
Pompejaner,  der  sich  offenbar  im  Winter  im  Süden  auf¬ 
hielt,  denn  sein  Haus  hat  keine  Winterräume,  keine  Heizung, 
wohl  möglich,  sie  aufzukaufen  und,  da  sie  leicht  aus  den 
Schiffsböden  herausgenommen  werden  konnten,  sein  neu  zu 
erbauendes  Haus  damit  zu  schmücken.  Es  sind  dies  zwar 
nur  Voraussetzungen,  die  aber  aus  den  Darstellungen  der 
Mosaiken,  dem  ganzen  Befunde,  dem  mehrfachen  Hinweis 
auf  nur  in  Ägypten  bekannte  Glastechniken  u.  s.  w.  einen 
Grad  von  Wahrscheinlichkeit  für  sich  haben. 

%*  Technischer  Unterricht  in  Wiederherstellung  von  Ge¬ 
mälden.  Seit  geraumer  Zeit  werden  an  Gemälden  neueren 
Ursprungs  bedenkliche  Beobachtungen  gemacht,  welche  die 
preußische  Kunstverwaltung  nötigen,  eingreifende  Mittel  an¬ 
zuwenden,  um  die  Haltbarkeit  der  Kunsterzeugnisse  zu  sichern. 
Unter  den  verschiedenen  Ursachen,  welche  den  häufig  her¬ 
vortretenden  Verfall  moderner  Gemälde  erklären,  ist  die 
mangelhafte  Kenntnis  der  Natur  und  Beschaffenheit  des  Mal¬ 
materials  eine  der  erkennbarsten.  Nachdem  auf  mannigfal¬ 
tige  Weise  für  die  Verbreitung  technisch -handwerklicher 
Unterweisung  durch  Schrift  und  Wort  Vorsorge  getroffen 
worden,  handelt  es  sich  darum,  den  jungen  Künstlern  durch 
praktische  Anleitung  in  Lehranstalten  die  Mittel  zur  zweck¬ 
mäßigen  Handhabung  der  Materialien  zu  verschaffen.  Zu 


diesem  Zweck  soll  bei  der  akademischen  Hochschule  für 
die  bildenden  Künste  in  Berlin  probeweise  der  Unterricht 
über  Eigenschaften,  Präparation  und  Behandlung  der  für 
die  Kunstmalerei  dienenden  Farben  u.  s.  w.  eingeführt  wer¬ 
den.  Die  Kosten  der  ersten  Einrichtung,  einschließlich  des 
Honorars  für  die  Vorträge  und  chemischen  Versuche,  sind 
auf  5800  M.  im  Staatshaushalt  veranschlagt. 

In  der  „ Revue  Bleue “  ergeht  sich  Paul  Flat  anlässlich 
der  Eröffnung  eines  neuen  Louvre- Saales ,  der  die  Gemälde 
der  deutschen  Schule  übersichtlich  vereinigt,  in  den  äußer¬ 
sten  Lobeserhebungen  über  diese  Thatsache.  Nachdem  er  zu¬ 
erst  die  Administration  des  Louvre  zu  diesen  wertvollen  Verän¬ 
derungen  beglückwünscht,  kommt  er  auf  die  Bilder  selbst  zu 
sprechen  und  preist  begeistert  die  Schönheit  der  deutschen 
Kunst.  „Man  kann  dort  —  im  neuen  Louvre-Saale  nämlich  — 
wo  der  nötige  Raum  zwischen  den  Gemälden  gelassen  ist, 
so  dass  sie  besser  zur  Geltung  gelangen,  in  logischer  Folge 
die  soliden  und  kräftigen  Holbein'1  sehen  Porträts  betrachten, 
die  früher  in  der  langen  Galerie  am  Flussufer  vereinzelt 
umhergestreut  waren,  man  kann  die  Bilder  von  Cranach 
und  die  leider  so  spärlichen  von  Dürer  bewundern,  vor 
allem  aber  jene  großartige  und  wahrhaft  einzige  Kreuzab¬ 
nahme  der  Kölner  Sclutle,  die  das  schönste  und  bedeutendste 
unter  allen  Werken  ist,  die  wir  aus  der  deutschen  Schule 
besitzen,  ja,  die  so  schön  ist,  dass  ich  meinerseits,  wenn 
ich  meine  Erinnerungen  befrage ,  nicht  wüsste,  welchem 
anderen  Werke  sie  zu  vergleichen  wäre.  Erst  in  diesem 
Raume  nimmt  sie  den  Platz  ein,  der  ihrer  würdig  ist,  erst 
durch  die  neue  Anordnung  und  durch  die  sie  umgebenden 
Gemälde  gelangt  man  zu  einer  vollen  Schätzung  ihres 
Wertes.“  — : — 


Hugo  Ulbrich,  der  Urheber  der  Originalradirung,  die 
diesem  Hefte  beigegeben  ist,  ist  einer  jener  Künstler,  die 
sich  ihre  Laufbahn  erst  erkämpfen  mussten.  Er  wurde  am 
10.  November  1867  in  Diesdorf  bei  Nimptsch  in  Schlesien 
geboren,  und  nachdem  er  das  Realgymnasium  in  Reichen¬ 
bach  in  Schlesien  besucht  hatte,  musste  er  zunächst  einen 
weniger  unsicheren  Beruf  wählen  als  den  des  Malers.  Er 
wurde  Buchhändler,  benutzte  aber  seine  freie  Zeit,  um 
zu  zeichnen.  Der  Zufall  führte  ihn  mit  dem  Verleger 
dieser  Zeitschrift  zusammen ,  der  zuerst  die  Zeichnungen 
aus  Duderstadt  (in  Jahrg.  III  d.  N.  F.  d.  Bl.),  später  die  aus 
Brieg  (Jahrg.  V  d.  N.  F.)  bestellte.  Eine  Zeit  lang  war  der 
junge  Künstler  alsdann  als  Ätzer  und  Retoucheur  bei  der 
Firma  Riffarth  &  Co.  in  Berlin  thätig,  und  da  lag  es  nahe, 
dass  er  sich  auch  in  der  Technik  der  Radirung  versuchte. 
Die  erste  Platte  dieser  Art,  1892  entstanden,  erwarb  der 
Verein  für  Originalradirung:  Am  Kgl.  Schlosse  in  Berlin. 
Im  Jahre  1894  wurde  Ulbrich  Meisterschüler  K.  Köpping’s. 
Er  ist  jetzt  Mitarbeiter  bei  der  Herausgabe  der  Kunstdenk¬ 
mäler  Schlesiens.  Eine  größere  Radirung:  „Altes  Schloss  im 
Sturme“  wird  binnen  kurzem  vollendet  sein.  Die  Zeichnun¬ 
gen  und  Radirungen,  die  von  dem  Künstler  bis  jetzt  vor* 
liegen,  beweisen  seine  ausgesprochene  Begabung  für  die 
malerische  Darstellung  der  Architektur  und  der  Landschaft; 
er  bedarf  nur  der  Förderung,  um  sein  Talent  zur  Entfal¬ 
tung  bringen  zu  können. 


- 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


ORIGINALRADIRUNG  von H. ULBRICH 


Verlag  vEA, Seemann,  Leipzig 


Bruck  vEA.Brodsh.ans,  Leipzig. 


Wanddekoration  aus  dem  Badezimmer  des  Kardinals  Bibbiena  im  Vatikan  zu  Rom. 


DAS  BADEZIMMER  DES  KARDINALS  BIBBIENA. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


APHAEL  batte  mit  Beihilfe  des  Giulio  Ro¬ 
mano  für  den  Kardinal  Bibbiena  den  Ent¬ 
wurf  für  die  Ausschmückung  eines  Bade¬ 
zimmers  gemacht  und  Zeichnungen  dazu  geliefert. 
Als  dann  das  ganze  Werk  von  seinen  Schülern 
in  Fresko  ausgeführt  war,  hat  es,  wie  es  scheint, 
allgemeinen  Beifall  gefunden.  In  der  Villa  Palatina 
wurden  durch  Giulio  Romano  einige  der  Hauptbilder 
in  vergrößertem  Maßstabe  wiederholt.  Marc  Anton 
Raimondi,  Marco  da  Ravenna  und  Agostino  Vene¬ 
ziano  vervielfältigten  die  Zeichnungen  durch  den 
Kupferstich.  Aber  bald  nach  dem  Tode  des  Kardi¬ 
nals  und  des  Papstes  Leo  X.  suchte  man  diesen 
allerdings  ungeistlichen  Bilderschmuck  in  Vergessen¬ 
heit  zu  bringen.  Das  Gemach  wurde  verschlossen 
und  unzugänglich  gemacht;  es  war  nicht  mehr  die 
Rede  davon.  Dazu  wirkte  der  Umstand  mit,  dass 
die  wechselnde  Gunst  der  Zeit  sich  vorherrschend 
der  Bolognesischen  Schule  und  den  Epigonen  der 
ersten  Meister  des  Cinquecento  zuwandte.  Das  ver¬ 
steckte  Raphaelische  Kunstwerk  blieb  verschollen; 
niemand  erwähnte  es  mehr  während  der  folgenden 
zwei  Jahrhunderte.  Zuerst  um  das  Jahr  1780  er¬ 
scheinen,  wie  es  in  dem  Verzeichnis  der  „Raphael 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  6. 


Collection“  des  Prinzen  Albert  (S.  276)  heißt,  Um¬ 
rissstiche  eines  Anonymen:  „Veduta  del  Ritiro  di 
Giulio  Secondo“.  Passavant  deutet  (Bd.  II,  S.  278; 
französ.  Ausgabe  I,  1,  p.  228)  auf  dieses  Werk  hin; 
ich  habe  es  leider  nicht  zu  Gesicht  bekommen  J). 

Vorher  hatten  weder  Bellori 1  2)  noch  Volckmann 3), 
um  nur  zwei  der  sorgfältigsten  Berichterstatter  über 
die  Kunstschätze  des  Vatikans  aus  dem  18.  Jahr¬ 
hundert  zu  nennen,  etwas  von  dem  Badezimmer  zu 
berichten  gewusst. 

Erst  in  der  für  die  Papstherrschaft  so  verliäng- 


1)  Soeben  erhalte  ich  durch  die  Vermittelung  von  Prof. 
Ehlers  in  Göttingen  die  folgende  gütige  Mitteilung  des  Hrn. 
Hofrat  Ruland  in  Weimar:  „Es  ist  ein  Einzelblatt,  das 
nicht  ganz  zwei  Wände  des  Zimmers  im  Umrissstich  dar¬ 
stellt,  daher  ohne  jeden  Text.  Ich  habe  das  einzige  mir  be¬ 
kannte  Ex.  vor  mehr,  als  20  J.  bei  einem  Trödler  in  Rom 
aufgelesen  und  in  der  Windsor-Sammlung  niedergelegt.“  — 
Ruland  fügt  hinzu:  „Im  J.  1804  war  ich  in  dem  Zimmer, 
ohne  die  Fresken  zu  sehen,  denn  man  hatte  die  Wände  ver¬ 
schalt  und  übertapezirt.  Es  war  das  Vorzimmer  zu  dem 
von  Monsignore  Talbot  bewohnten  Appartement.“ 

2)  Bellori,  Descrizione  delle  Imagini  dipinti  da  Raffaele 
nel  palazzo  Vaticano  etc.  Roma  1751. 

3)  P.  Volckmann,  Historisch  -  kritische  Nachrichten  über 
Italien, . . .  insbesondere  über  die  Werke  der  Kunst.  Bd.  11. 1770. 


19 


138 


DAS  BADEZIMMER  DES  KARDINALS  BIBBIENA. 


nisvollen  Zeit  am  Ende  des  vorigen  und  im  Anfang 
des  jetzigen  Jahrhunderts,  als  die  Franzosen  im  Va¬ 
tikanischen  Palaste  so  gut  wie  die  Herren  waren, 
wurde  das  schlafende  Dornröschen  geweckt.  Passa- 
vant  berichtet,  dass  M.  A.  Maestri  Zeichnungen  von 
den  Malereien  des  Badezimmers  machen  konnte, 
von  denen  die  Reihe  der  sechs  Amorinen  von  Coc- 
queret  gestochen  und  kolorirt  im  J.  1802  in  Paris 
erschienen  sind.  Von  diesem  Werk  besitze  ich  die 
sechs  einzelnen  Blätter.  Auf  ihnen  ist  der  Zeichner 
Maestri  nicht  genannt,  auch  keine  Jahreszahl  ange¬ 
geben;  aber  aus  der  Unterschrift:  „deposes  ä  la 
Bibliotheque  nationale“  geht  hervor,  dass  sie  vor  1805 
herausgegeben  sind.  Nur  die  Bezeichnung:  Amor 
nobile,  poetico  etc.  auf  jedem  Blatt  deutet  auf  die 
italienische  Herkuuft.  In  meiner  Raphael-Sammlung 
befinden  sich  Zeichnungen  von  fünf  der  Amorinen, 
mit  der  Feder  konturirt  und  mit  Sepia  schraffirt  und 
lavirt ').  —  Sie  sind  von  der  gleichen  Größe  wie  die 
Wandgemälde  und  zeichnen  sich  vor  den  glatten  und 
eleganten  Blättern  von  Cocqueret  durch  kecke  Ur¬ 
sprünglichkeit  der  Zeichnung  und  schärfere  Charak- 
terisirung  aus.  —  Außer  dem  kolorirten  Werke  führt 
Passavant  noch  ein  zweites  an,  das  nur  in  Konturen 
gestochen  sei  und  nebst  der  Widmung  an  Kardinal 
Leon.  Antonelli  auch  die  Angabe  der  Örtlichkeit 
enthalte.  Diese  Ausgabe  ist  mir  leider  unbekannt 
geblieben. 

Die  um  die  angegebene  Zeit  erschienenen  kon- 
turirten  Abbildungen  bei  Landon  und  Piroli  sind 
offenbar  nach  obigen  Werken  und  nach  den  Kupfer¬ 
stichen  der  Raimondischen  Schule  kopirt,  ebenso 
einige  Einzelbilder  von  Ruschewey,  Campanella  u.  a. 

Nachdem  der  Papst  aus  der  Napoleonischen 
Verbannung  zurückgekehrt  und  aufs  neue  Herr  im 
Vatikan  geworden  war,  ist  das  Zimmer  wieder  un¬ 
zugänglich  gemacht  worden.  Keine  zuverlässige 
Nachricht  darüber  gelangte  in  die  Öffentlichkeit. 

Alle  die  zahlreichen, seitdem  erschienenen  Werke 
schweigen  entweder,  wie  z.  B.  der  „Cicerone“  des 
trefflichen  J.  Burckhardt,  oder  sie  wiederholen  mit 
verschiedenen  Varianten  und  unerheblichen  Zusätzen 
das,  was  Passavant  sagt.  E.  Müntz  in  seinem  mit 
wahrem  Bienenfleiß  zusamrnengetragenen  Literatur¬ 
verzeichnis  über  Raphael  (Les  historiens  et  critiques 
de  Raphael,  Paris  1S83,  p.  83)  hat  über  das  Bade¬ 
zimmer  nur  zwei  unerhebliche  Notizen  zu  geben.  — 
Es  scheint,  dass  es  nur  selten  jemandem  gelungen 

1  Wahrscheinlich  die  nämlichen  Zeichnungen,  die  in 
der  Raphael  Collection  des  Prinzen  Albert  als  im  Besitz  eines 
Herrn  llcubel  in  Berlin  angeführt  sind. 


ist,  Zutritt  zu  demselben  zu  erhalten.  L.  Grüner  ist 
wirklich  hineingelangt.  Er  giebt  in  seinem  schönen 
chromolithographischen  Werke  (Specimens  of  orna¬ 
mental  Art  etc.  London  1850),  nach  Aquarellen  von 
Consoni  und  Bartoccini,  eine  vollkommen  treue  far¬ 
bige  Abbildung  der  Hinterwand  und  der  einen 
Hälfte  der  linken  Seitenwand  des  Gemaches,  welche 
wir  hierbei  in  Zinko  teilweise  reproduziren. 

Mancherlei  Erzählungen  1 )  gehen  über  die  Ver¬ 
änderungen,  die  das  Badezimmer  erfahren  habe,  um. 
Es  sei  in  eine  Kapelle  verwandelt  worden,  indem 
man  die  Wandgemälde  durch  Vertäfelung  ganz 
zugedeckt  und  an  Stelle  der  Badeeinrichtung 
einen  Altar  errichtet  habe.  Crowe  und  Cavalcaselle 
(Raphael,  Deutsche  Übersetzung  v.  Aldenhoven,  B.  II, 
S.  266)  versetzen  diese  Umwandlung  in  die  erste 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.  Andere  behaupten,  das 
Zimmer  sei  als  Küche  oder  Speisekammer  benutzt 
worden.  Passavant  sagt  einfach,  die  Wohnung  des 
Kardinals  sei  der  päpstlichen  Dienerschaft  über¬ 
lassen  worden,  und  ich  kann  aus  guter  Quelle  die 
Nachricht  hinzufügen,  die  Wäscherin  des  vatikani¬ 
schen  Haushaltes  habe  in  der  zweiten  Hälfte  der 
60er  Jahre  einen  Teil  der  ehemaligen  Kardinals¬ 
wohnung  innegehabt. 

Was  in  der  neuesten  Zeit  aus  dem  Badezimmer 
geworden  ist,  darüber  liegen  sichere  Nachrichten 
nicht  vor.  Senneville  berichtet  (Gazette  des  beaux 
arts,  1874,  T.  IX,  p.  476)  von  einem  vergeblichen  Ver¬ 
such  des  Hrn.  Gruyer,  den  Raum  zu  betreten.  Trotz 
der  nachdrücklichsten  Empfehlungen  wurde  er  mit 
den  Worten  abgewiesen,  es  sei  alles  zerstört.  Dieses 
„tutto  rovinato“  hatten  auch  wir  schon  zu  hören 
bekommen.  Minghetti  in  seinem  Werke  über  Raphael 
(Deutsche  Übers,  v.  S.  Münz  1887,  S.  189)  sagt:  „Seit 
langer  Zeit  ist  der  Eintritt  verboten,  man  zweifelt 
sogar  an  dem  Vorhandensein  dieser  Gemälde.“ 

Die  eigentliche  literarische  Wiedergeburt  des 
schönen  Kunstwerkes  verdanken  wir  einzig  Passa¬ 
vant,  der  in  seinem  grundlegenden  Werke  über 
Raphael  (Deutsch  1839;  in  französ.  Übers.  1860)  aus¬ 
führlich  das  Badezimmer  und  alle  damit  im  Zu¬ 
sammenhang  stehenden  Verhältnisse  behandelt. 

Einem  Zusammentreffen  günstiger  Umstände 
hatte  ich  es  im  Jahre  1869  zu  verdanken,  dass  ich 
Zutritt  zu  dem  verschlossenen  Zimmer  erhielt  und 
meiner  Anschauung  die  ganze  Örtlichkeit  und  deren 
malerische  Ausschmückung  fest  einprägen  konnte.  — 

1)  Eine  erheiternde  Fabulirung  liefert  E.  Pelletan  über 
das  Bad  Julius  TI.,  wie  er  es  nennt,  in  dem  ., Cabinet  de 
l’Amateur“.  T.  111,  p.  442.  1844. 


DAS  BADEZIMMER  DES  KARDINALS  BIBBIENA. 


139 


Als  ich  dann,  von  der  Romfahrt  heimgekehrt,  meinen 
langjährigen  getreuen  Führer  in  Sachen  Rapliael’s, 
Passavant  (franz.  Ausg.  I,  1,  p.  235:  II,  p.  228) 
wiederum  zu  Rate  zog,  fand  ich  zu  meinem  Er¬ 
staunen,  dass  seine  Beschreibung  der  Lage  des  Ge¬ 
maches  und  der  Verteilung  der  Malereien  teils  un¬ 
klar,  teils  sogar  unrichtig  ist.  Damals  vielfach 
anderweit  beschäftigt,  ließ  ich  die  Sache  ruhen  und 
hoffte,  es  werde  mit  der  Zeit  eine  Aufklärung  an 
den  Tag  kommen.  Aber  als  auch  in  dem  Werke 
von  Crowe  und  Cavalcaselle  über  Raphael  (deutsche 
Übersetzung  von  Aldenhoven,  1885)  nichts  zu  finden 
war1)  und  auch  späterhin  Weiteres  nicht  bekannt 
wurde,  nahm  ich  den  Gegenstand  wieder  vor.  Aus¬ 
gerüstet  mit  fast  sämtlichem  Material,  hielt  ich  es 
für  eine  Art  Pflicht,  mit  meiner  dem  Augenschein 
entnommenen  Darstellung  hervorzutreten.  Ich  lasse 
diese  hier  folgen. 

Auf  einer  Nehentreppe  links  vom  Cortile  di 
S.  Damaso  steigt  man  bis  zum  dritten  Stock  hinauf 
und  betritt  dann  einen  schmalen  Gang,  der,  recht¬ 
winkelig  von  der  Loggienfassade  des  Palastes,  auf 
dessen  südwestlicher  Seite  hinläuft.  Ungefähr  in 
der  Mitte  dieses  nach  einem  Seitenhofe  schauenden 
Ganges  befindet  sich  der  Eingang  zu  der  ehemali¬ 
gen  Wohnung  des  Kardinals  Bibbiena.  Deren  erster 
Raum  ist  ein  mäßig  großer  Vorplatz  mit  mehreren 
Thüren,  von  denen  die  rechterseits  zu  dem  Bade¬ 
zimmer  führt.  Dieses  ist  ein  ziemlich  kleines  Ge¬ 
mach  mit  zwei  kürzeren  und  zwei  längeren  Seiten. 
Auf  der  einen  kürzeren  (südlichen)  Seite  befindet 
sich  das  breite  Fenster,  das  sich  nach  dem  erwähn¬ 
ten  Gange  hin  öffnet.  Da  auf  diese  Weise  das  Licht 
nicht  unmittelbar  von  außen  kommt,  ist  die  Beleuch¬ 
tung  des  Gemaches  ziemlich  ungünstig.  Man  hat 
demnach  auch  aus  dem  Fenster  selbst  keinen  Aus¬ 
blick  in  den  Hof,  geschweige  denn  auf  die  Kuppel 
von  St.  Peter,  wie  Passavant  angiebt.  —  Die  Lang¬ 
seite  rechts  wird  von  der  Thür  in  der  Ecke  und 
von  einer  groß  ausgebauten  Nische  für  die  Bade¬ 
einrichtung  in  Anspruch  genommen.  Auf  den  beiden 
anderen  Seiten  sind  die  hauptsächlichsten  Malereien 
angebracht.  Die  flachgewölbte  Decke  zeigt  die 
reichste  Verzierung,  inmitten  welcher  vier  größere 
und  mehrere  kleine  Malereien  harmonisch  verteilt 
sind2).  —  Was  nun  die  Wandmalereien  betrifft,  so 

1)  Bemerkenswert  ist  ihre  Mitteilung,  dass  die  Wand¬ 
gemälde  der  ehemaligen  Villa  Palatina  nach  Petersburg  in 
die  Eremitage  gekommen  sind. 

2)  Diese  Dekoration  ist  ganz  ähnlich  derjenigen  der 
Gewölbe  der  Villa  Madama  auf  Monte  Mario. 


sind  sie  auf  drei  großen  Feldern  ausgeführt,  von 
denen  das  eine,  etwas  breitere,  die  Rückwand,  dem 
Fenster  gegenüber,  einnimmt.  Die  beiden  anderen, 
etwas  schmaleren  Felder  bedecken  die  linke,  der 
Badeeinrichtung  gegenüberliegende  Seitenwand.  Zwi¬ 
schen  diesen  letzteren  beiden  Feldern  ist  eine  kleine 
Nische  angebracht,  in  der  eine  Venusstatue  aufge¬ 
stellt  werden  sollte;  da  diese  aber  dazu  viel  zu  groß 
war,  blieb  sie  weg. 

Jedes  der  drei  Wandfelder  ist  durch  symme¬ 
trisch  verteilte  Malereien  geschmückt.  Oben  wölbt 
sich  über  jedem  ein  breiter  Bogen,  der  sich  auf  ein 
quer  durchlaufendes  Gesims  stützt.  Auf  den  beiden 
Feldern  der  Seiten  wand  sieht  man  in  der  Mitte  eine 
Art  Blindfenster,  das  nur  leicht  ornamentirt  ist  und 
mit  einem  Rundbogen  das  eben  erwähnte  gemalte 
Gesims  durchbricht.  Auf  jeder  Seite  dieses  läng¬ 
lichen  Mittelraumes  ist  in  mittlerer  Höhe  eines  der 
Hauptbilder  angebracht,  weiter  unten  je  ein  kleineres 
Bild  mit  einem  Amorin,  unterhalb  der  Blindfenster 
in  Grau  gemalte  Grotesken.  Das  Feld  der  Rück¬ 
wand  unterscheidet  sich  von  den  beiden  anderen 
nur  dadurch,  dass  es  etwas  breiter  ist  und  statt 
eines  Blindfensters  eine  breite  Blindthüre  in  der 
Mitte  zeigt. ')  Hierdurch  wird  ein  passendes  Gegen¬ 
über  zu  dem  wirklichen  Fenster  des  Gemaches  her¬ 
gestellt.  Die  drei  Wandfelder  sind  untereinander 
und  mit  der  Decke  durch  anmutige  Ornamentirung 
verbunden. 

Drei  der  erwähnten  größeren  Bilder  sind  nach 
Zeichnungen  Raphael’s  gemalt.  Sie  beziehen  sich  auf 
die  Geschichte  der  Venus  und  die  Macht  des  Amor. 
Sie  zeigen:  Venus  aus  dem  Meere  geboren,  Venus 
und  Amor  auf  den  Meereswellen,  Venus,  die  dem 
Amor  ihre  Wunde  zeigt.  Die  Kupferstiche  des 
Marc  Anton  und  seiner  Schüler  geben  einen  Begriff 
von  der  Schönheit  der  Darstellungen.  Die  drei 
letzten  Bilder  von  der  Hand  des  Giulio  Romano 
sind:  Venus  und  Adonis,  Pan  und  Syrinx  und  Vul- 
can  und  Minerva. 

Die  unterhalb  dieser  größeren  befindlichen  sechs 
kleineren  Bilder  stellen,  wahrscheinlich  auch  nach 
Zeichnungen  des  Raphael,  Amorine  dar,  jeder  ver¬ 
schieden  von  den  anderen.  Die  reizenden  kleinen 
Figuren  stehen  auf  Siegeswagen  und  allerlei  phan¬ 
tastischen  Fahrzeugen  mit  Gespannen  von  Tieren 
und  Drachen,  jeder  in  Ausdruck,  Haltung  und  Thätig- 
keit  treffend  charakterisirt. 

1)  Diese  zwei  blinden  Fenster  und  die  Thüre  sind  wahr¬ 
scheinlich  die  drei  Nischen ,  welche  Passavant  als  zwischen 
den  Bildern  befindlich  angiebt. 

1<J* 


Wanddi'koration  aus  dem  Badezimmer  des  Kardinals  Bilibiena  im  Vatikan  zu  Korn. 


DAS  BADEZIMMER  DES  KARDINALS  BIBB1ENA. 


141 


Leider  haben  diese  Malereien  mehr  oder  weniger 
o-elitten,  einzelne  bis  fast  zur  Unkenntlichkeit,  die 
nach  Raphael  gemalten  noch  am  wenigsten.  Indessen 
der  so  ungemein  harmonische  Gesamteindruck  ist 
nicht  aufgehoben  und  bietet  dem  Auge  noch  genug 
des  durch  Vergoldung  gehobenen  Formen-  und 
Farbenreizes. 

Vergleicht  man  nun  die  soeben  gegebene  Dar¬ 
stellung  mit  der  Beschreibung  von  Passavant,  so 
stößt  man  auf  abweichende  Angaben,  die  sich  kaum 
genügend  erklären  lassen.  So  z.  B.  in  Bezug  auf 
die  Lage  des  Badezimmers  heißt  es  (französ.  Ausg. 
T.  I,  p.  235):  „le  Cardinal  habitait  au  troisieme  etage 
du  Vatican  —  quelques  chambres  .  .  .  dont  la  sortie 
donne  sur  les  loges  superieures.“  Das  erstere  ist  un¬ 
bestimmt  ausgedrückt,  das  letztere  unrichtig.  In  der 
deutschen  Ausgabe  wird  dem  Gemach  mit  Recht 
nur  ein  Fenster  zugewiesen,  in  der  französischen 
Ausgabe  wird  aber  einmal  gesagt  (T.  I,  p.  237): 
„ä  la  partie  superieure  des  murs  pres  des  fe7ietres  et 
de  trois  niches‘£  ...  Was  die  drei  Nischen  anlangt, 
so  kann  man  nur  vermuten,  was  gemeint  ist  (s.  o.). 
Die  Art,  wie  Passavant  die  Verteilung  der  Wand¬ 
bilder  über  die  Räume  des  Zimmers  beschreibt, 
leidet  nicht  minder  an  Unklarheit.  In  der  französ. 
Ausg.  liest  man  (T.  II,  p.  229):  „cette  chambre  — 
contient  sept  tableaux  principaux  .  .  .  dont  deux 
sur  chaque  face  de  mur,  ä  l’exception  du  mur  oü  se 
trouve  la  porte  avec  une  seule  peinture.“  Passavant 
nimmt  offenbar  an,  dass  die  Hinterwand,  die  linke 
Seitenwand  und  die  Fensterseite  je  eines  der  großen 
Mittelfelder  mit  je  zweien  der  Hauptbilder  und  zwei 
Amoren  erhalten  hätten.  Wenn  demnach  die  linke 
Seitenwand  von  einem  einzigen  Malfelde  bedeckt 
wäre,  wo  bliebe  dann  die  Maiunornische  für  die 
Venusstatue,  die  ja  dem  Bade  gegenüberstehen  sollte? 
In  Wirklichkeit  befinden  sich  auf  dieser  Wand  zwei 
der  drei  großen  Gemäldefelder  und  zwischen  diesen 
die  kleine  Marmornische.  Die  Fensterwand  hat  die 
ihnen  zugeschriebenen  Malereien  überhaupt  nicht. 
Würde  sich  auch  wohl  ein  Maler  entschließen,  mit 
dem  Fensterlicht  vor  den  Augen  in  die  engen  dun¬ 
keln  Winkel  hineinzumalen?  —  Von  dem  als  neben 
der  Thür  befindlichen  siebenten  Hauptbilde  habe 
ich  ebenfalls  nichts  gesehen;  es  wäre  dort  auch 
kaum  der  Platz  dafür.  In  dem  beschreibenden  Ver¬ 
zeichnis  der  Hauptbilder  (T.  II,  p.  229  u.  ff.)  wer¬ 
den  wiederum  sieben  gezählt,  während  ich  immer 
nur  sechs  auffinden  konnte.  Allerdings  sagt  Passavant 
von  dem  siebenten  Bilde  an  der  Thür,  es  habe  sehr 
gelitten  und  der  dazu  gehörige  Amor  sei  vorlängst 


ganz  zerstört  worden.  Man  erfährt  aber  nicht, 
welche  von  den  von  ihm  beschriebenen  Darstellun¬ 
gen  sich  auf  diesem  unfindbaren  siebenten  Bilde 
befunden  habe,  wahrscheinlich  aber  war  es  die  Venus, 
die  sich  den  Dorn  aus  dem  Fuße  zieht.  Von  diesem 
Bilde  erzählt  er  selbst  (I,  2,  p.  251),  es  sei  ur¬ 
sprünglich  angebracht  gewesen,  aber  nachher  heraus¬ 
genommen  worden.  Gleichwohl  zählte  er  es  in  dem 
mehrerwähnten  Verzeichnis  wiederum  auf  und  musste 
nun  für  diese  Nr.  7  einen  Platz  suchen.  —  An  die 
Stelle  des  weggenommenen  Bildes  scheint  die  noch 
vorhandene,  sehr  unscheinbar  gewordene  Darstellung 
von  Venus  und  Adonis  ')  gekommen  zu  sein.  Die 
Venus  mit  dem  Rosendorn  wurde  für  die  Villa  Pala¬ 
tina  im  Großen  kopirt,  ein  Ölgemälde  nach  dieser 
Kopie  befindet  sich  in  der  Mannheimer  Galerie  und 
ist  von  Audouin  vortrefflich  in  Kupfer  gestochen 
worden.  Nach  der  ursprünglichen  Zeichnung  des 
Raphael  hat  Marco  da  Ravenna  einen  besonders 
schönen  Kupferstich  geliefert.  —  In  der  Reihenfolge 
der  Venusbilder  im  Badezimmer  wäre  diese  Dar¬ 
stellung  der  Venus  nur  eine  unwesentliche  Episode 
gewesen,  während  die  Vereinigung  der  Göttin  mit 
ihrem  Geliebten  einen  passenderen  Abschluss  der 
ganzen  Folge  bildet.  —  Ebensowenig  wie  das  er¬ 
wähnte  Bild  von  dem  Inhalte  der  darzustellenden 
Gegenstände  gefordert  erscheint,  ebensowenig  würde 
es  in  seiner  Vereinzelung  neben  der  Thüre  zu  dem 
Systeme  der  ganzen  Dekoration  passen.  Eine  solche 
unsymmetrische  Sieben  könnte  nur  störend  wirken. 

Nach  den  gegebenen  Erörterungen  fasse  ich  als 
Ergebnis  nochmals  zusammen:  die  rechte  längere 
Seite  des  Badezimmers  enthält  die  Thüre  und  die 
Badeeinrichtung,  die  gegenüberliegende  Wand  hat 
in  der  Mitte  die  kleine  Nische  für  die  Venus,  dieser 
zu  Seiten  je  ein  bemaltes  Feld,  von  denen  ein  jedes 
ein  gemaltes  Blindfenster,  zwei  Hauptbilder  und 
ebenso  viele  Amoren  zeigt,  —  die  etwas  schmalere 
Hinterwand  trägt  das  dritte  Malfeld  mit  zwei  Haupt¬ 
bildern,  zwei  Amorinen  und  in  der  Mitte  eine  breite 
gemalte  Blindthüre,  letztere  als  passendes  Gegenüber 
zu  dem  wirklichen  Fenster  der  Vorderwand,  —  dar¬ 
über  wölbt  sich  die  reich  geschmückte  Decke  des 
Zimmers. 

So  stellt  sich  das  Ganze  dar  als  ein  bis  in  alle 
Einzelheiten  wohlbedacht  entworfenes  und  reizend 
ausgeführtes  Meisterwerk  der  dekorativen  Kunst. 

Hannover,  im  Dezember  1894. 

_  Prof  IC.  E.  HASSE. 

1)  In  Kupferstich  von  Marc  Anton  und  Agostino  Vene¬ 
ziano  unter  der  Bezeichnung  Angelika  und  Medor. 


PETER  PAUL  RUBENS. 

VON  ADOLF  ROSENBERG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


IV.  Rubens  in  Italien,  1600 — 1608. 


E NN  man  den  V ersuch  macht, 
die  in  unserer  Darstellung 
noch  nicht  erwähnten,  zahl¬ 
reichen  Werke  des  jungen 
Meisters,  die  nach  dem  über¬ 
einstimmenden  Urteile  der 
neueren  Forscher  in  Italien 
ausgeführt  worden  sind1), 
nach  der  Zeit  ihrer  Entstehung  zu  ordnen  oder  doch 
wenigstens  örtlich  zu  fixiren,  so  geben  uns  die  Reisen, 
die  Rubens  im  eigenen  Interesse  nach  Rom  und  im 
Gefolge  seines  Herzogs  nach  anderen  Städten  Italiens 
gemacht  hat,  einige,  wenn  auch  unsichere,  Anhalts¬ 
punkte.  In  Rom  war  er,  wie  wir  schon  erwähnt 
haben,  während  seiner  Dienstzeit  beim  Herzog  von 
Mantua  dreimal,  jedesmal  zu  längerem  Aufenthalt, 
dessen  Abkürzung  ihm  immer  sehr  schwer  wurde 
und  den  er  auch  unter  allerhand  Vorwänden  zu  ver¬ 
längern  wusste.  Fesselten  ihn  doch  hier  nicht  bloß 
die  Werke  der  toten  Meister,  die  für  den  Inbegriff 
der  künstlerischen  Vollendung  galten,  sondern  auch 
der  Verkehr  mit  den  Lebenden,  die  damals  gerade 
aus  der  nordischen  Heimat,  aus  den  Niederlanden 
und  Deutschland  nach  Rom  strömten  und  sich  dort 
zu  Brüderschaften  zusammenthaten  Einer  lernte  vom 
andern,  einer  gab  dem  andern  wohl  auch  seine  Ge¬ 
heimnisse  kund,  wie  Rubens  selbst  später  von  dem 
Frankfurter  Maler  Adam  Elsheimerberichtet,  der  dem 
jungen  ^  lamen  die  Komposition  eines  guten  Ätz- 
grundes  für  Radirungen  .'ingab.2)  Von  Elsheimer 

1 )  Rooses,  LVpuvre  de  P.  P.  Rubens  V,  p.  423 — 424  hat 
i  in  Verzeichnis  von  74  Gemälden  und  Skizzen  und  14  Zeich¬ 
nungen  aufgestellt,  deren  italienischer  Ursprung  hinreichend 
beglaubigt  ist. 

2)  Kosenberg,  Ruhenshriefe,  S.  (53. 


nahm  Rubens  auch  gewisse  Lichtwirkungen,  gewisse 
landschaftliche  Stimmungen  in  seine  Kunst  auf,  die 
gelegentlich  einmal,  als  er  schon  mehrere  Jahre 
wieder  in  Antwerpen  schuf  und  ein  Größerer  ge¬ 
worden  war,  so  sehr  in  ihm  mächtig  wurden,  dass  er 
auch  ein  paar  Bilder  in  der  Art  Elsheimers  malte,  viel¬ 
leicht  nach  Erinnerungen  aus  der  römischen  Zeit. 
Wie  tief  diese  in  ihm  nachwirkten,  zeigt  sich  am  deut¬ 
lichsten  in  den  Landschaften,  die  er  im  letzten  Jahr¬ 
zehnt  seines  Lebens,  als  er  einen  Teil  des  Jahres  auf 
seinem  Landgut  Steen  zubrachte,  gemalt  hat.  Die 
Motive  sind  wohl  der  Heimat  entnommen;  aber  die 
figürliche  Staffage,  die  Bauern  und  die  Bäuerinnen, 
die  Knechte  und  Dirnen,  zeigen  die  Pracht  römischer 
Glieder  in  frei  angeordneten  Gewändern.  In  diesen 
Fahrten  und  Gängen  zum  Markt,  diesen  Heimkehren 
von  der  Feldarbeit  und  Ernte,  diesen  Kirmessen  steckt 
etwas  von  der  bacchantischen  Lust  der  römischen 
Winzer  und  der  Campagnolen,  und  dass  Rubens  genug 
solcher  Studien  während  der  schönen  Jahre  in  Rom 
gemacht  hat,  beweisen  außer  einigen  Zeichnungen  und 
Skizzen,  von  denen  wir  nur  die  Tuschzeichnung  mit 
den  Ruinen  des  Mons  Palatinus  in  der  Albertina  zu 
Wien  (s.  S.  234  des  vor.  Jahrgangs)  und  den  Tanz 
römischer  Bauern  in  der  Sammlung  der  Wiener  Kunst¬ 
akademie  ')  citiren,  einige  direkte  Zeugnisse.  Der  be¬ 
rühmte  Bauerntanz  im  Museum  zu  Madrid,  zu  welchem 
das  Wiener  Bild  eine  Vorstudie  mit  nur  leicht  ange¬ 
deuteter  landschaftlicherUmgebung  ist,  wird  sowohl  in 
dem  Verzeichnis  von  Rubens’  Nachlass  als  auch  in  den 
Verhandlungen  mit  dem  Bevollmächtigten  des  Königs 
von  Spanien,  der  das  Bild  aus  dem  Nachlasse  kaufte, 
ein  „Tanz  italienischer  Bauern“  genannt.  Auf  dem 

Ij  Nr.  (J45  des  Katalogs  von  C.  v.  Lützow 


PETER  PAUL  RUBENS. 


143 


von  Schelten  Boiswert  ausgeführten  Stiche  nach  jener 
Zeichnung  der  Albertina  (s.  S.  233  des  vor.  Jahrgangs) 
liest  man:  „Pet.  Paul  Rubens  pinxit  Romae“,  und 
von  einer  zweiten,  ebenfalls  von  Schelte  a  Boiswert  ge¬ 
stochenen  Landschaft,  die  sich  im  vorigen  Jahrhundert 
in  der  Sammlung  des  Herzogs  von  Richelieu  befand 
und  vermutlich  mit  einer  bei  Sir  Adrian  Hope  in 
London  befindlichen  Landschaft  mit  dem  Schilfbruch 
des  Äneas  identisch  ist,  bezeugt  Roger  de  Piles,  der, 
wie  wir  wissen,  aus  den  Aufzeichnungen  der  nächsten 
Verwandten  des  Meisters  schöpfte,  dass  sie  „die  An¬ 
sicht  eines  Fanals  (Leuchtturms)  auf  einem  Berge 
bei  Porto  Venere“  darstelle.  Auch  die  im  Louvre 
vorhandene  Landschaft  mit  dem  Regenbogen  hält 
Rooses  für  ein  Werk  aus  Rubens’  italienischer  Zeit, 
worin  sich  der  Einfluss  der  Landschaften  von  Annibale 
Carracci  kundgebe. 

Sicherer  als  dieses  Bild  ist  aber  ein  anderes  be¬ 
glaubigt,  das  unter  Rubens’  italienischen  Arbeiten 
eine  vereinzelte  Stellung  einnimmt  und  zugleich  an  ein 
interessantes  biographisches  Detail  anknüpft:  der 
Hahn  und  die  Perle  im  Suermondt-Museum  in  Aachen 
dessen  Gründer  es  1882  auf  der  Versteigerung  der 
Kraetzerschen  Sammlung  in  Mainz  erworben  hat 
(s.  die  Abbildung  S.  144).  Obwohl  die  Geschichte 
dieses  merkwürdigen  Bildes  nicht  weiter  zurück¬ 
verfolgt  werden  kann,  ist  doch  jeder  Zweifel  an  seiner 
Echtheit,  dank  dem  von  Mariette  aufgespürten  Zeug¬ 
nis  seines  ersten  Besitzers,  ausgeschlossen.  Es  ist 
der  aus  Bamberg  gebürtige  Arzt  Johannes  Faber, 
der  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  in 
Rom  als  Heilkünstler  in  Lehre  und  That  wirkte.  In 
seinem  1651  in  Rom  erschienenen  Sammelwerke  „Re- 
rum  medicarum  Novae  Hispaniae  thesaurus“  erzählt 
er,  dass  er  einst  den  in  Rom  schwer  an  Pleuritis 
(Brustfellentzündung)  darnieder  liegenden  Peter  Paul 
Rubens  mit  Gottes  Hülfe  wieder  hergestellt  hätte, 
wofür  ihm  dieser  zum  Dank  sein  Porträt  gemalt  und 
außerdem  noch  das  Bild  eines  Hahnes  mit  der  scherz¬ 
haften  Widmung  geschenkt  hätte:  Pro  salute.  V.  C. 
Joanni  Fabro  M.  D.  Aesculapio  meo  olim  damnatus. 
L.  M.  votum  solvo.  Ob  Rubens  im  Gefühl  seiner 
wiedergewonnenenGesundheit  sich  mit  seinem  Äskulap 
einen  Spaß  gemacht  und  ihn  unter  dem  Bilde  des 
Hahnes,  der  nach  der  Fabel  eine  Perle  aus  dem  Miste 
herauskratzt,  dargestellt  oder  ob  er  seinem  Lebens¬ 
retter  nur  ein  gerade  vorhandenes  Bild  aus  Erkennt¬ 
lichkeit  dargebracht  hat,  dürfte  schwer  zu  entscheiden 
sein.  Dafür  hat  Ruelens  aus  einer  Fülle  von  Kor¬ 
respondenzen  festgestellt,  dass  Rubens  wirklich  im  Juli 
1606  so  schwer  krank  gewesen  ist,  dass  sogar  sein 


Bruder  Philipp,  der  vermutlich  schon  Ende  1605 
das  Ziel  seiner  unstillbaren  Sehnsucht  Wiedersehen 
durfte  und  mit  Peter  Paul  in  gemeinsamem  Haus¬ 
halt  lebte,  an  des  Malers  Stelle  die  Bittbriefe  um 
Gehaltszahlungen  nach  Mantua  schrieb,  wo  damals 
die  Finanzlage  besonders  schwierig  war. 

Nach  den  Berechnungen,  die  Ruelens1)  angestellt 
hat,  scheinen  die  Brüder,  die  zugleich  durch  gemein¬ 
same  wissenschaftliche  Interessen  verbunden  waren, 
Ende  November  1605  in  Rom  eingetroffen  zu  sein. 
Dass  sie,  wenigstens  im  Sommer  1606,  zusainmen- 
wolinten,  wird  durch  einen  Notariatsakt  bezeugt, 
worin  die  Herren  Peter  Paul  und  Philipp  Rubens, 
wohnhaft  in  der  Strada  della  Croce  bei  der  Piazza 
di  Spagna,  am  4.  August  1606  ihrer  Mutter  eine 
General- Vollmacht  über  das  gesamte  Vermögen  er¬ 
teilen.2)  Der  tägliche  Verkehr  mit  seinem  Bruder 
Philipp,  der  noch  dazu  bestimmten  antiquarischen 
Studien  oblag,  führte  auch  Peter  Paul  wieder  mit 
neuem  Eifer  der  alten  Kunst  zu.  Die  Beschäftigung 
damit  muss  beide  Brüder  so  stark  in  Anspruch  ge¬ 
nommen  haben,  dass  der  oben  erwähnte  Arzt  in 
seinen  Aufzeichnungen  zuerst  von  dem  „Liebhaber 
und  Kenner  von  Altertümern  in  Marmor  und  Erz“ 
und  in  zweiter  Linie  von  dem  weit  und  breit  be¬ 
rühmten  Maler  spricht.  Er  und  sein  Bruder  Philipp, 
,.der  sich  durch  Herausgabe  von  Büchern  bekannt  ge¬ 
macht,  seien  einst  Schüler  von  Justus  Lipsius  ge¬ 
wesen  und  würdig,  als  dessen  Nachfolger  seinen 
Lehrstuhl  einzunehmen“.  Um  diese  Zeit  arbeitete 
Philipp  Rubens  gerade  an  seinem  großen  Werke 
„Electorum  libri  II“,  einer  Sammlung  von  antiqua¬ 
rischen  und  philologischen  Abhandlungen.  Denn  die 
Druckerlaubnis  dieses  im  Jahre  1608  in  Antwerpen 
erschienenen  Buches  trägt  das  Datum  des  15.  No¬ 
vember  1607.  Philipp  bezeugt  in  diesem  Werk  selbst, 
dass  sein  Bruder  Peter  Paul  ihm  dabei  nicht  bloß 
„mit  seiner  kunstreichen  Hand“,  sondern  auch  „nicht 
wenig  mit  seinem  scharfen  und  sicheren  Urteil“  bei¬ 
gestanden  habe.  Von  den  sechs  in  Antwerpen  aus¬ 
geführten  Stichen,  die  das  Buch  begleiten,  ist  nur 
einer  nach  einer  Vorlage  gearbeitet  worden,  die  nicht 
das  Gepräge  von  Rubens’  Hand  zeigt.  Um  so  deut¬ 
licher  zeigen  es  die  übrigen  fünf,  die  zudem  noch 
antike  Statuen  und  Reliefs  darstellen,  die  sich  damals 
in  Rom  befanden.  Die  interessantesten  davon  sind 

1)  Correspondance  de  Rubens  1,  p.  305  ft’. 

2)  Aus  dem  Archivio  urbano  in  Rom  veröffentlicht  von 
A.  Bertolotti,  Artisti  belgi  ed  olandesi  a  Roma  nei  secoli 
XVI  e  XVII.  Florenz  1880.  S.  138—140. 


144 


PETER  PAUL  RUBENS. 


der  Titus  im  Vatikan,  eine  sitzende  Minerva  und  die 
berühmte  Flora  Farnese,  die  sich  jetzt  im  Museum 
zu  Neapel  befindet.  Es  ist  selbstverständlich,  dass 
wir  keine  Nachbildungen  vor  uns  haben,  die  den 
modernen  Forderungen  nach  archäologischer  Treue 
entsprechen.  Wie  es  Rubens  von  Giulio  Romano 
und  seinen  Schü¬ 
lern  gelernt  hatte, 
wie  es  seine  italie¬ 
nischen  Zeitgenos¬ 
sen  ,  insbesondere 
die  Carracci  und 
ihre  Schule  thaten, 
sah  Rubens  die 
Denkmäler  altrö¬ 
mischer  Architek¬ 
tur  und  Plastik  mit 
den  Augen  des  Ma¬ 
lers  an.  Vielleicht 
ohne  es  selbst  zu 
wissen  oder  auch 
nur  zu  empfinden, 
zwang  er  sie  ge¬ 
wissermaßen  unter 
seine  Individualität. 

Es  ist  nicht  ange¬ 
bracht,  hier  von 
einer  spezifisch  vlä- 
mischen  Derbheit 
gegenüber  der  An¬ 
tike  zu  sprechen. 

Dieser  derbe,  ge¬ 
wissermaßen  ver¬ 
gröbernde  Zug  bei 
der  Wiedergabe  an¬ 
tiker  Denkmäler 
durch  Zeichner  und 
Kupferstecher  geht 
vielmehr  durch  das 
ganze  17.  Jahrhun¬ 
dert  hindurch  und 
noch  bis  tief  ins  1 8. 

Jahrhundert  hin¬ 
ein,  bis  die  Wiederbelebung  der  Studien  klassischer 
Kunst  durch  Winckelmann  allmählich  auch  Zeichnern 
und  Malern  die  Augen  öffnete. 

Noch  f  reier  und  unabhängiger  trat  Rubens  schon 

1)  Kino  Nachbildung  der  Flora  und  des  Titus  bei  Rosen¬ 
berg,  Der  Kupferstich  in  der  Schule  und  unter  dem  Einfluss 
des  Rubens,  S.  4  und  5. 


in  jener  Zeit  werdender  Meisterschaft  der  Antike 
gegenüber,  wenn  er  ein  altes  Bildwerk  in  eines  seiner 
Gemälde  hinübernahm.  Unter  den  anderthalb  Dutzend 
in  Italien  entstandenen  Bildern,  die  Gegenstände  aus 
der  antiken  Mythologie  und  Geschichte  behandeln, 
ist  das  interessanteste  Beispiel  dafür  der  sterbende 

Seneca  in  der  Mün¬ 
chener  Pinakothek. 
Es  ist  selbstver¬ 
ständlich,  dass  der 
Schüler  vonLipsius 
auch  ein  Verehrer 
des  römischen  Phi¬ 
losophen  war,  des¬ 
sen  angeblicher 
Büste  wir  schon 
auf  dem  in  Italien 
entstandenen  Bilde 
„  Justus  Lipsius  und 
seine  Schüler“  be¬ 
gegnet  sind.  Es 
scheint  sogar,  dass 
diese  Büste  mit 
einer  antiken  Mar¬ 
morbüste  identisch 
ist,  die  sich  in 
Rubens’  eigener 
Sammlung  befand 
und  die  er  dem¬ 
nach  selbst  in  Ita¬ 
lien  erworben  ha¬ 
ben  muss.  *)  So  er¬ 
regte  auch  eine 
merkwürdige  an¬ 
tike  Statue,  die  sich 
damals  in  der  Villa 
des  Kardinals  Borg¬ 
hese  befand,  das 
ganz  besondere  In¬ 
teresse  des  jungen 
Künstlers,  weil  sie 
nach  der  Meinung 
derer,  die  sie  nach 
der  Gewohnheit  der  damaligen  Zeit  ergänzt  hatten,  einen 
im  Bade  durch  Öffnung  der  Adern  sterbenden  Seneca 

] )  Das  wird  ausdrücklich  von  Balthasar  Moretus  in  der 
Vorrede  zu  Lipsius’  Senecaausgabe  bezeugt,  für  die  Rubens 
die  Büste  zu  einem  vom  Verstorbenen  gestochenen  Bildnis 
des  sterbenden  Seneca  benutzt  hat.  Die  Büste  stellt  übrigens 
nicht  Seneca,  sondern  anscheinend  einen  Dichter  der  helle¬ 
nistischen  Zeit  dar. 


Der  Hahn  und  die  Perle. 

Gemälde  von  P.  P.  Rühens  im  Suermoudt-Museum  in  Aachen. 


PETER  PAUL  RUBENS. 


145 


darstellte.  Um  zu  dieser  Fiktion  zu  gelangen,  hatte 
man  den  nach  vorwärts  gebeugten,  aus  schwarzem 
Marmor  gebildeten  Körper  mit  den  Füßen  in  ein 
Marmorbecken  gestellt,  das  für  diesen  Zweck  an¬ 
gefertigt  worden  war.  Mit  den  übrigen  Antiken  der 
Villa  Borghese  ist  das  Bildwerk  später  in  das  Louvre 


sich  daraus  erklären,  dass  er  auf  seinen  Fang  auf¬ 
passt.  Obwohl  Rubens  sonst  in  antiquarischen 
Dingen  ein  scharfsinniger  Interpret  war,  lag  es  ihm 
wie  allen  seinen  gleichen  Studien  obliegenden  Zeit¬ 
genossen  durchaus  fern,  in  die  hergebrachte  Be¬ 
nennung  eines  antiken,  also  schon  durch  seine  Her- 


Romulus  und  Remus.  Gemälde  von  P.  r.  Rubens  in  der  Galerie  des  Kapitols  in  Rom. 


gekommen,  und  dort  hat  die  nachprüfende  Forschung 
aus  der  Tragödie  des  römischen  Philosophen  eine 
einfache  Idylle,  ein  Genrebild  im  alexandrinischen 
oder  pompejanischen  Stil  gemacht.  Der  schwarze 
Mann  ist  in  Wirklichkeit  ein  afrikanischer  Fischer, 
dessen  vorgebeugte  Haltung,  dessen  gebogene  Kniee 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  6. 


kunft  geheiligten  Kunstwerks  Misstrauen  zu  setzen. 
Was  hat  er  nun  daraus  für  seine  Kunst  gemacht? 
Nur  die  Statue  hat  er  benutzt.  Aber  auch  sie  hat 
er  in  farbiges  Leben  umgesetzt.  Die  Füße  des  Greises 
stehen  nicht  in  einer  Marmorwanne,  sondern  in  einem 
Becken  von  leuchtendem  Kupfer,  in  welches  das  aus 

20 


146 


PETER  PAUL  RUBENS. 


den  geöffneten  Adern  des  linken  Arms  strömende 
Blut  fließt.  Ein  bärtiger  Sklave  zu  seiner  Linken 
bat  eben  die  traurige  Pflicht  vollzogen.  Zwei  ge¬ 
wappnete  Krieger  zu  seiner  Reckten  sind  die  Zeugen, 
die  über  die  Ausführung  des  Todesurteils  zu  wachen 
haben.  Sie  scheinen  mit  Ernst  und  Andacht  den  letz¬ 
ten  Worten  des  Sterbenden  zu  lauschen,  der  sein  edles 
Haupt  wie  verklärt  gen  Himmel  hebt.  Mit  schwärme¬ 
rischer  Begeisterung  folgt  ihnen  aber  ein  junger  Schüler 
mit  einem  wahren  Johanniskopf,  der  zur  Seite  des 
verehrten  Lehrers  am  Boden  hockt  und  seine  letzten 
Reden  mit  fliegendem  Griffel  in  ein  Buch  einträgt. 
Es  giebt  kaum  ein  zweites  Beispiel  im  ganzen  Werke 
des  Meisters,  in  dem  wir  die  Freiheit  und  die  Genia¬ 
lität,  womit  sich  Rubens  Schöpfungen  der  Antike 
zu  eigen  machte,  so  genau  kontroliren  können  wie 
an  diesem.  Wie  es  die  großen  Künstler  unserer 
Zeit  zu  tliun  pflegen,  benutzte  er  ein  antikes  Denk¬ 
mal  nur  als  ein  Dokument,  als  ein  urkundliches  Hilfs¬ 
mittel,  das  er  mit  der  schöpferischen  Kraft  des  echten 
Künstlers  in  sein  Idiom  übertrug. 

Rooses  weist  die  Entstehung  des  Bildes  in  das 
Jahr  1606,  was  gerade  mit  der  Zeit  übereinstimmen 
würde,  wo  Rubens  und  sein  Bruder  Philipp  ganz 
von  den  Studien  antiker  Kunst  und  Wissenschaft 
erfüllt  waren.  Zu  dieser  Zeit  stimmt  auch  der  malerische 
Stil,  der  dunkle  Ton  des  Hintergrundes  und  die 
Charakteristik  der  Nebenfiguren,  die  durchaus  das 
Gepräge  der  Carracci  trägt.  Schwieriger  ist  es  um 
die  Datirung  der  übrigen  mythologischen  Bilder  be- 
st eilt,  die  Rooses  in  seinem  Katalog  in  die  italienische 
Zeit  verweist.  Wenn  wir  nur  die  noch  in  Italien 
vorhandenen  ins  Auge  fassen,  ergeben  sich  hin¬ 
sichtlich  ihrer  Datirung  zwischen  Rooses  und  Bode 
(Cicerone),  die  wir  als  die  ersten  Autoritäten  in  der 
Kritik  Rubens’scher  Bilder  zitiren  dürfen,  ganz  be¬ 
trächtliche  Differenzen.  Zwei  große  Bilder  im  Palazzo 
Adorno  in  Genua,  die  Herkules  und  Deianir'a  dar- 
stellen,  schreibt  Bode  z.  B.  der  letzten  Zeit  des 
Künstlers  zu,  während  Rooses  sie  in  die  Zeit  von 
1600 — 1608  verweist.  Die  Auffindung  des  Romulus 
und  Rem us  in  der  Galerie  des  Kapitols  in  Rom 
('s.  die  Abbildung  S.  145)  zählt  Rooses  ebenfalls  zu 
den  italienischen  Jugendwerken,  *)  wogegen  Bode  sie 
etwa  um  Gilt)  ansetzt.  Da  diese  und  andere  Bilder, 
die  hier  in  Frage  kommen,  zum  Teil  durch  Restau¬ 
ration  entstellt  sind ,  da  sich  überdies  nichts  über 
ihre  Herkunft  ermitteln  lässt,  wird  man  gut  tliun, 

1)  Eine  skizzenhaft  behandelte,  anscheinend  spätere 
Wiederholung  des  Bildes  befindet  sich  in  der  Galerie  Fried¬ 
richs  des  Großen  in  Sanssouci. 


den  unsicheren  Boden  der  Mutmaßungen  zu  ver¬ 
lassen  und  wieder  nach  sicheren  Anhaltspunkten  Um¬ 
schau  zu  halten.  Nur  der  Vollständigkeit  halber  sei 
noch  erwähnt,  dass  die  prächtigen,  von  Humor 
strotzenden  Halbfiguren  zweier  Satyrn,  von  denen  der 
eine,  dem  Beschauer  zugekehrte  in  stiller  Wonne 
des  Vorgenusses  eine  volle  Traube  an  seine  Brust 
drückt,  während  der  andere  im  Hintergründe  behag¬ 
lich  seine  Schale  Wein  schlürft  (in  der  Münchener 
Pinakothek),  der  Herkules  am  Scheidewege  (zwischen 
Minerva  und  Venus)  in  den  Uffizien  zu  Florenz,  der 
trunkene  Silen,  der  von  einem  Faun,  einer  Faunin 
und  einer  Negerin  heimgeleitet  wird,  in  derselben 
Sammlung  und  die  aus  der  Sammlung  des  Lord 
Lyttelton  in  den  Besitz  des  Kunsthändlers  Sedlmeyer 
in  Paris  übergegangene,  unter  dem  Namen  „Tigris 
und  Abundantia“  oder  „die  Vermählung  des  Wassers 
mit  der  Erde“  bekannte  Allegorie  mit  mehr  oder 
weniger  Sicherheit  der  italienischen  Zeit  des  Meisters 
zugeschrieben  werden.  Wenn  diese  Datirungen,  die 
zumeist  durch  den  dunklen,  fast  schwärzlichen  Grund¬ 
ton,  durch  den  bräunlichen,  für  Rubens’  italienische 
Werke  besonders  charakteristischen  Fleischton  und 
den  festen,  fast  zähen  Farbenauftrag  unterstützt 
werden,  richtig  sind,  würde  Rubens  schon  damals 
die  ersten  Keime  zu  zwei  Reihen  von  Kompositionen 
gelegt  haben,  auf  die  er  während  seines  ganzen 
Lebens  wieder  zurückkam:  zu  den  Bacchanalen,  deren 
Mittelpunkt  der  Dickwanst  Silen  bildet,  und  zu  den 
allegorischen  Darstellungen  von  Fluss-  und  Land¬ 
gottheiten  in  Verbindung  mit  exotischen  Tieren 
und  den  Symbolen  der  Fruchtbarkeit.1) 

Dass  Rubens  sich  in  Italien  wirklich  schou  mit 
solchen  und  ähnlichen  halb  mythologischen,  halb 
allegorischen  Darstellungen  beschäftigt  hat  und  dass 
es  ihm  nicht  an  Kraft  gebrach,  an  Stärke  des  dra¬ 
matischen  Ausdrucks  und  an  Reichtum  des  Kolorits 
mit  den  ersten  seiner  italienischen  Zeitgenossen  zu 
wetteifern,  wird  uns  durch  die  beiden,  fast  gleich¬ 
großen  Gemälde  „die  Krönung  des  Tugendhelden“ 
und  „der  trunkene  Herkules“  in  der  Dresdener  Galerie 
bezeugt,  die  vor  allen  anderen  größeren  Sammlungen 
Rubens’scher  Bilder  den  Vorzug  hat,  dass  man  in  ihr 
den  ganzen  Rubens,  von  der  ersten  bis  zur  letzten 
Phase  seiner  Meisterschaft,  studiren  kann  und  zum 

1)  Eine  Versammlung  von  Nymphen  und  Satyrn  in  arka¬ 
dischem  Gefilde,  die  sich  im  Besitze  des  Herrn  J.  L.  Menke 
in  Antwerpen  befindet,  weist  Rooses  ebenfalls  in  die  italienische 
Zeit.  Das  Bild  ist  in  der  „Zeitschrift  für  bildende  Kunst“ 
von  1888  zuerst  durch  eine  Radirung  von  W.  Linnig  (bei 
S.  246)  reproduciit  worden, 


PETER  PAUL  RUBENS. 


147 


Teil  auch  in  Hauptwerken  kennen  und  genießen 
lernt.  Die  beiden  Bilder  (s.  die  Abbild.  S.  148  u.  149) 
sind  bis  zu  ihrer  1743  erfolgten  Überführung  nach 
Dresden  nicht  aus  Mantua  herausgekommen.  Rubens 
hat  sie  dort  im  Aufträge  seines  Herzogs  gemalt,  wie 
es  scheint,  in  der  ersten  mantuanischen  Zeit,  als  er 
noch  mit  den  ersten  Eindrücken  kämpfte.  Die  Bilder 
sind  sehr  dunkel  im  Ton,  vielleicht  auch  nach¬ 
gedunkelt,  und  die  Komposition  ist  steif  und  un¬ 
beholfen,  was  aber  in  dem  Bilde  des  trunkenen 
Herkules  nicht  so  auffallend  ist  wie  in  dem  des  von 
der  Victoria  bekränzten  Helden.  Vielleicht  hat  Rubens 
zuerst  in  schuldiger  Ehrfurcht  vor  dem  neuen  Herrn 
das  Ceremonienbild  geschaffen,  dessen  symbolische 
Bedeutung  keineswegs  der  Wirklichkeit  entsprach, 
und  als  er  dann  das  Gegenstück  malte,  ließ  er  seiner 
Phantasie  freien  Lauf,  indem  er  nach  der  burlesken 
Umdeutung,  die  die  antike  Herkulessage  durch  allerlei 
Parodisten  erfahren  hat,  den  trunkenen  Riesen  mit  dem 
losen  Volk  von  Satyrn  und  Bacchantinnen  umgab. 

Bei  der  Fülle  von  Urkunden,  die  wir  über 
Rubens’  Aufenthalt  und  Thätigkeit  in  Mantua  und 
Rom  besitzen,  ist  es  schwer  zu  erklären,  dass  sich 
in  den  mantuanischen  Archiven  nicht  die  geringste 
Spur  von  einem  Dokumente  über  andere  Reisen  in 
Italien  gefunden  hat.  Und  doch  hat  er  längere 
Zeit  in  Genua  geweilt.  Sein  Aufenthalt  in  Genua 
muss  sogar  seinen  Zeitgenossen  in  dauernder  Er¬ 
innerung  geblieben  sein;  denn  Bellori,  Rubens’ 
Zweitältester  Biograph,  schreibt,  dass  er  sich  nächst 
Rom  in  keinem  anderen  Orte  Italiens  so  lange  auf¬ 
gehalten  habe  wie  in  Genua.  Das  scheint  jedoch  nur 
eine  willkürliche  Voraussetzung  Bellori’s  zu  sein,  die 
sich  auf  die  große  Zahl  der  Gemälde  von  Rubens 
stützt,  die  in  Genua  vorhanden  waren  und  zum  Teil 
noch  dort  geblieben  sind.  Zumeist  wird  aber  eine  um¬ 
fangreiche  Sammlung  von  Zeichnungen  nach  genue¬ 
sischen  Palästen,  die  Rubens  im  Jahre  1622  veröffent¬ 
licht  hat,  die  Sage  von  seinem  längeren  Aufenthalt 
in  Genua  unterstützt  haben.  Von  diesem  Werke 
scheint  nun  die  erste,  von  Rubens  selbst  veranstaltete 
Ausgabe,  die  nur  den  einfachen  Titel  „Palazzi  di 
Genova“  ohne  Angabe  des  Druckers  und  ohne  Jahres¬ 
zahl  trägt,  in  weiteren  Kreisen  über  die  Niederlande 
hinaus  nicht  bekannt  geworden  zu  sein,  sondern  erst 
die  zweite  von  1652,  die  den  Titel  trägt:  Palazzi 
Moderni  di  Genova  raccolti  e  designati  da  Pietro 
Paolo  Rubens. !)  In  der  von  Rubens  der  ersten  Aus- 


1)  Bellori  zitirt  zwar  die  Ausgabe  von  1622,  glaubt 
aber  doch,  dass  Rubens  die  Zeichnungen  selbst  angefertigt 


gäbe  vorausgeschickten  Vorrede,  die  auch  in  der 
zweiten  nicht  fehlt,  sagt  der  Meister  aber  selbst, 
dass  er  „die  Pläne,  Aufrisse  und  Ansichten  mit  ihren 
Längs-  und  Querschnitten  (con  li  loro  tagli  in  croce) 
gesammelt“,  nicht  selbst  gezeichnet  habe,  und  dazu 
hätte  er  auch  keine  Zeit  gehabt,  weil  sein  Aufent¬ 
halt  in  Genua  sich  höchstens  auf  acht  Wochen  er¬ 
streckt  haben  kann. 

Rubens  hatte  zur  Ausführung  seines  großen 
Altarwerkes  für  die  Kirche  Sa.  Maria  Vallicella  in 
Rom  von  seinem  Herzoge  einen  längeren  Urlaub  er¬ 
halten.  Da  er  zur  Vollendung  der  Bilder  nicht  aus¬ 
reichte,  bewilligte  ihm  der  Herzog  auf  sein  Ansuchen 
am  15.  Dezember  1606  in  gnädigen  Worten  einen 
neuen  Urlaub  mit  der  Weisung,,  er  möchte  sich 
nächste  Ostern  in  Mantua  einstellen.  Auch  diesen 
Termin  hielt  Rubens  nicht  ein.  Erst  Anfang  Juni, 
als  ein  neuer,  in  sehr  entschiedener  Form  abgefasster 
Befehl  des  Herzogs  zur  Rückkehr  nach  Mantua  ein¬ 
traf,  musste  sich  Rubens  zur  Abreise  entschließen. 
Der  Herzog  war  nämlich  vom  Rheumatismus  geplagt, 
und  da  er  schon  einmal  die  Bäder  von  Spa  mit  Erfolg 
gegen  sein  Leiden  gebraucht,  hatte  er  sich  zu  einer 
abermaligen  Kur  in  dem  heilkräftigen  belgischen 
Bade  entschlossen.  Was  war  natürlicher,  als  dass 
ihn  sein  vlämischer  Hofmaler  begleiten  sollte,  dem 
es  am  Ende  auch  nicht  unlieb  war,  die  Seinigen 
wiederzusehen,  zumal  da  seine  Mutter  schon  seit 
Monaten  ihr  Ende  nahen  fühlte?  Als  Rubens  aber  in 
Mantua  eintraf,  hatte  der  Herzog  seinen  Entschluss 
wieder  geändert.  Er  zog  es  vor,  die  heiße  Jahres¬ 
zeit  in  San  Pier  d’Arena  bei  Genua  zuzubringen, 
das  damals  der  beliebteste  Landaufenthalt  des  genue¬ 
sischen  Adels  war,  wovon  noch  heute  zahlreiche 
Villen  und  kleine  Paläste  zeugen.  Nachdem  er  an 
seinen  Freund  Giovanni  Antonio  Spinola  die  Bitte 
gerichtet,  ihm  sein  dort  gelegenes  Landhaus  über¬ 
lassen  zu  wollen,  schlug  ihm  der  Sohn  Spinola’s  den 
geräumigeren  Palazzo  Grimaldi  vor,  der  besser  seinen 
Bedürfnissen  entsprechen  würde,  und  am  4.  oder 
5.  Juli  1607  traf  der  Herzog  dort  ein.  Die  vor¬ 
handenen  Briefe  und  sonstigen  Urkunden  bieten  nicht 
den  geringsten  Anhalt  dafür,  dass  Rubens  den  Herzog 
begleitet  habe.  Aber  es  fehlt  nicht  an  inneren 


habe,  indem  er  schreibt:  „Attese  egli  quivi  (in  Genua)  all’ 
Architettura  e  si  esercitö  in  disegnare  i  palazzi  di  Genova 
con  alcune  Chiese.“  Das  Werk  enthält  in  seinem  ersten, 
72  Tafeln  umfassenden  Bande  die  Pläne  und  Fassaden  von 
zwölf  Palästen,  in  seinem  später  erschienenen  zweiten  Bande 
auf  67  Tafeln  die  Pläne  u.  s.  w.  von  neunzehn  Palästen  und 
vier  Kirchen. 


20 


14S 


PETER  PAUL  RUBENS. 


Gründen,  die  diese  Annahme  wahrscheinlich  machen. 
Ruelens,  der  diese  Gründe  zusammengestellt  hat, 
bemerkt  mit  Recht,  dass  es  einem  einfachen  Maler, 
der  sich  nicht  im  Gefolge  eines  Fürsten  befand, 
schwerlich  möglich  gewesen  wäre,  den  Zutritt  zu  all 
den  Palästen  zu  erlangen,  deren  Außen-  und  Innen¬ 
ansichten  Rubens  in  seinem  Werke  über  die  genue¬ 


in  dem  Werke  wiedergegeben,  und  als  letztes  Be¬ 
weisstück  kommt  noch  ein  Brief  des  Paolo  Agostino 
Spinola  an  Rubens’  Beschützer  Cbieppio  hinzu,  worin 
sich  jener  beklagt,  dass  er  so  lange  von  Rubens 
keine  Nachrichten  erhalten  habe.  Er  möchte  so 
gern  wissen ,  wann  Rubens  die  bei  ihm  bestellten 
Bildnisse  —  sein  eigenes  und  das  seiner  Gemahlin  — 


Die  Krönung  des  Tugendhelden.  Gemälde  von  P.  P.  Rubens  in  der  Dresdener  Galerie. 


sischen  Paläste  veröffentlicht  hat.  Unter  diesen 
Palästen  befinden  sich  auch  drei,  die  der  Familie 
Grimaldi  gehörten,  und  darunter  auch  der  des 
Giovanni  Battista  Grimaldi,  worin  der  Herzog  ge¬ 
wohnt  hat.  Ferner  ist  das  Werk  einem  Mitgliede 
dei  Familie,  dem  »Signor  Carlo  Grimaldi,  gewidmet. 
Die  Paläste  der  Pallavicini  und  der  Spinola,  die  der 
Herzog  von  Mantua  später  bewohnte,  sind  ebenfalls 


ausführen  würde.  Dieser  Brief  bereitet  leider  inso¬ 
fern  einige  Schwierigkeiten,  als  er  neben  dem  Monats¬ 
datum,  dem  24.  September,  deutlich  die  Jahreszahl 
1606  trägt.  Das  würde  mit  allen  übrigen  Daten  und 
mit  allen  damit  in  Einklang  stehenden  Wahrschein¬ 
lichkeitsberechnungen  nicht  stimmen.  Um  die  Mitte 
des  Septembers  1607  war  der  Herzog  wieder  in 
Mantua.  Es  liegt  also  näher,  einen  Schreibfehler 


PETER  PAUL  RUBENS. 


149 


Spinola’s  anzunehmen,  als  einen  früheren  Aufenthalt 
des  Künstlers  in  Genua  zu  vermuten,  der  keine 
andere  Stütze  als  diesen  Brief  haben  würde. 

Schwieriger  ist  die  Frage,  welche  von  Rubens’ 
Werken,  die  sich  in  Genua  befinden,  noch  während 
seines  Aufenthaltes  in  Italien  infolge  von  dort 
erhaltenen  Aufträgen  entstanden  sind,  und  welche 


ein  Bild,  das  erst  um  1620  vollendet  wurde  und  um 
dieselbe  Zeit  nach  Genua  gekommen  ist.  Hier  muss 
wieder  die  Stilkritik  helfen,  die  zunächst  das  Bild 
des  Hochaltars  in  derselben  Kirche,  die  Beschneidung 
Christi,  mit  vielen  Gründen  in  die  italienische  Zeit 
weist.  Ein  hervorragendes  Werk  ist  es  freilich  nicht. 
Rooses  nennt  es  sogar  für  des  Meisters  durchaus  un- 


Der  trunkene  Herkules.  Gemälde  von  P.  P.  Rubens  in  der  Dresdener  Galerie. 


er  später  für  genuesische  Familien  gemalt  hat,  mit 
denen  er  damals  Beziehungen  angekuüpft  hatte,  die 
sich  noch  lange  Jahre  erhielten.  An  Urkunden  fehlt 
es  durchaus,  und  die  Angaben  Bellori’s,  die  ältesten, 
die  vorhanden  sind,  sind  durchaus  unzuverlässige. 
Er  lässt  einfach  alle  Bilder,  die  er  in  Genua  gesellen 
hat,  auch  in  Genua  gemalt  sein,  darunter  auch  die 
„Wunder  des  heiligen  Ignatius“  in  San  Ambrogio, 


würdig  und  erklärt,  angesichts  der  vorhandenen 
Zeugnisse,  sein  gegenwärtiges  Aussehen  daraus,  dass 
es  durch  die  Zeit  und  ungeschickte  Restauration 
stark  gelitten  hätte.  Bode  (im  Cicerone)  hat  das 
Bild  offenbar  häufiger  und  schärfer  betrachtet.  Es 
ist  nach  seiner  Anschauung,  die  uns  die  richtige  zu 
sein  scheint,  eines  jener  italienischen  Jugendwerke, 
in  denen  sich  mehrere  Einflüsse  kreuzen,  ohne  zu 


PETER  PAUL  RUBENS. 


150 

einem  erfreulichen  Einklang  zu  gelangen,  hier  neben 
dem  Studium  nach  den  Typen  der  Carracci  in  den 
kolossalen  Gestalten  zugleich  ein  sehr  starker  Ein¬ 
fluss  von  Correggio,  dessen  „Nacht“  Rubens  offenbar 
bei  der  Komposition  seines  Bildes  vorschwebte.“ 
Bode  ist  auch  geneigt,  das  Bild  etwa  um  1605  an¬ 
zusetzen.  Denn  1607  war  Rubens  schon  erheblich 
weiter  in  der  Bewältigung  fremder  Einflüsse  vor¬ 
geschritten.  Es  ist  darum  wahrscheinlich,  das  Rubens, 
als  ihm  der  Marchese  Nicolaus  Pallavicini  den  Auf¬ 
trag  zu  zwei  Bildern  für  die  Kirche  San  Ambrogio 
gab,  zunächst  ein  in  seiner  Werkstatt  vorhandenes 
Bild,  das  der  Beschneidung,  ablieferte  und  ihn  wegen 
des  zweiten  auf  spätere  Zeit  vertröstete.  In  Rubens’ 
Werk  hat  die  „Beschneidung“  in  San  Ambrogio  also 
nur  den  Wert  eines  Zeugnisses,  dass  der  Künstler 
auch  dem  Studium  Correggio’s  nicht  fremd  geblieben 
ist.  Freilich  waren  um  die  Zeit,  wo  Rubens  studierte, 
die  Versuche  der  Maler,  künstlicher  Beleuchtung 
starke  Wirkungen  abzugewinnen,  weit  über  Correggio 
hinaus  gediehen,  und  Rubens  interessirte  sich,  wenig¬ 
stens  in  der  letzten  Zeit  seines  italienischen  Aufent¬ 
haltes.  bei  weitem  mehr  für  die  robuste,  gewaltsame 
Art,  in  der  Caravaggio  das  poetische' Helldunkel 
Correggio’s  weiter  ausgebildet  und  schon  fast  bis 
zur  Roheit  übertrieben  hatte.  Wir  besitzen  dafür 
ein  interessantes  Zeugnis  in  einer  Reihe  von  Briefen 
des  mantuanischen  Agenteu  in  Rom,  Giovanni  Magno, 
an  den  herzoglichen  Sekretär  Annibale  Chieppio  in 
Mantua.  Sie  drehen  sich  sämtlich  um  ein  Bild  des 
Caravaggio,  das  auf  Rubens’  Vorschlag  und  warme 
Fürsprache  für  den  Herzog  von  Mantua  angekauft 
worden  war.  Seltsamerweise  wird  in  den  Briefen 
der  Gegenstand  des  Bildes  nicht  erwähnt.  Wie 
A.  Hasebet,  der  die  Briefe  zuerst  vei'öffentlicht  hat,  ’) 
aber  aus  den  Inventuren  der  mantuanischen  Galerie 
nachgewiesen  Hat,  handelte  es  sich  um  den  Tod  der 
.Jungfrau  Maria,  der  sich  jetzt  im  Louvre  befindet. 
Das  Bild  war,  wie  aus  den  Briefen  hervorgeht, 
ursprünglich  für  eine  Kirche  bestimmt,  von  dieser 
aber  zurückgewiesen  worden,  und  das  bezeugt  auch 
Baglione,  der  noch  nähere  Details  giebt.  Es  war 
die  Kirche  Sta.  Maria  della  Scala,  deren  Geistlich¬ 
keit  das  ihr  dargebotene  Bild  zurückgewiesen  hatte, 
weil  sie  an  der  unpassenden  Darstellung  Anstoß 
nahm.  Die  Madonna  liegt  nämlich  mit  geschwollenem 
Leibe  und  entblößten  Beinen  auf  ihrem  Bette.  Rubens, 
der  nur  auf  die  künstlerischen  Qualitäten  des  Bildes 

1  In  der  Gazette  des  Beaux-Arts  XXII,  p.  316  ff.  Die 
Originale  bei  Ruelens,  Correspondance  etc.  I.  p.  362 — 369. 


sali,  die  übrigens  auch  von  anderen  Malern  in  Rom 
hochgeschätzt  wurden,  fand  an  der  Darstellung 
nichts  Arges,  wie  er  denn  selbst  damals  und  später 
vor  solchen  und  noch  stärkeren  naturalistischen 
Wagnissen  nicht  zurückschreckte. 

Wie  jener  Brief  des  Paolo  Agostino  Spinola, 
sind  auch  zwei  noch  erhaltene  Bildnisse  von  Frauen 
aus  den  Familien  Grimaldi  und  Spinola  wegen  ihrer 
Datirung  mit  Rubens’  Aufenthalt  in  Genua  im  Som¬ 
mer  1607  unvereinbar.  Es  sind  zwei  gleichartig 
komponirte,  als  Pendants  behandelte  Stücke,  von 
denen  das  eine  die  Marchesa  Maria  Grimaldi,  das 
andere  die  Marchesa  Brigitta  Spinola,  die  Braut  des 
Dogen  Doria,  beide  in  weißen  Seidenkleidern  mit 
reichem  Schmuck  angethan,  darstellt.  Sie  befinden 
sich  in  der  Sammlung  des  Mr.  Bankes  in  Kingston 
Lacy,  wohin  sie  aus  dem  Palazzo  Grimaldi  in  Genua 
gekommen  sind.  Waagen,  der  immer  noch  unüber¬ 
troffene  Inventarisator  der  Kunstschätze  Englands, 
ist  der  einzige,  der  unseres  Wissens  bis  jetzt  ein 
sachverständiges  Urteil  über  die  Bilder  abgegeben 
hat.1)  Obwohl  sie  aber  von  jeher  für  Pendants  ge¬ 
halten  worden  sind,  sind  sie  nicht  in  gleicher  Art  ge¬ 
malt,  und  es  trägt  auch  nur  das  Bildnis  der  Brigitta 
Spinola  die  Inschrift:  Petr.  Paulus  Rubens  pinxitl606. 
„Der  Kopf,  sagt  Waagen,  ist  zart  aufgefasst,  die  Aus¬ 
führung  ist  noch  nicht  von  der  Freiheit  und  Breite 
seiner  späteren  Bilder,  sondern  noch  verschmolzen 
im  Stile  seines  Meisters  Otto  Venius.  Die  Gesamt¬ 
haltung  des  Bildes  ist  auch  dunkel  und  kontrastirt 
seltsam  gegen  die  späteren  lichtreichen  und  leuchtenden 
Werke.“  Von  dem  anderen,  undatirten  Bilde,  das 
ebenso  angeordnet  ist,  nur  dass  noch  ein  hässlicher 
Zwerg  hinzugefügt  worden  ist,  der  einen  roten  Vor¬ 
hang  zwischen  Säulen  hinwegzieht,  um  einen  Sonnen¬ 
strahl  einzulassen,  sagt  Waagen:  „Der  Kopf  ist 
hier  noch  zarter,  der  Effekt  des  Ganzen  unvergleich¬ 
lich  klarer  und  leuchtender  und  deutet  mehr  direkt 
auf  seine  spätere  Periode.  Der  Vorhang  allein  er¬ 
innert  noch  in  Farbe  und  Behandlung  an  Otto  Venius.“ 
Hier  liegt  also  ein  Widerspruch  vor,  der  bis  jetzt 
ebensowenig  zu  lösen  ist  wie  die  rätselhafte  Jahres¬ 
zahl  1606.  Da  Rubens,  soweit  sich  aus  den  uns  zu 
Gebote  stehenden  Quellen  erkennen  lässt,  das  ganze 
Jahr  1606  in  Rom  gewesen  ist,  ist  die  Vermutung 
gestattet,  dass  die  Familien  Grimaldi  und  Spinola 


1)  Treasures  of  Art  in  Great-Britain,  Bd.  IV.  (Supplement) 
S.  375.  Über  die  Herkunft  der  Bilder  sagt  Waagen  aus¬ 
drücklich:  „ Botk  were  purchased  by  tbe  late  Mr.  Bankes  in 
Genoa  from  the  Grimaldi  Palace  “ 


Der  heilige  Franziskus  im  Gebet.  Gemälde  von  I*.  P.  Hubens  im  Palazzo  Pitti  in  Florenz 


152 


PETER  PAUL  RUBENS. 


in  diesem  Jahre  einen  Besuch  in  Rom  gemacht  haben. 
Bei  der  alten  Freundschaft  zwischen  dem  Herzoge 
von  Mantua  und  der  Familie  Spinola  ist  es  wohl 
möglich,  dass  jener  den  vornehmen  Genuesern  seinen 
Hofmaler  empfohlen  haben  kann.  Ebenso  berechtigt 
ist  aber  auch  die  Annahme,  dass  Rubens,  vielleicht 
zur  Erholung  von  seiner  Krankheit,  von  Rom  eine 
Reise  nach  Genua  gemacht  und  dort  unmittelbar 
die  Beziehungen  angeknüpft  habe,  die  ihm  diese 
und  später  noch  andere  Aufträge  verschafften. 

Man  sieht  daraus,  dass  noch  mancher  Punkt  in 
Rubens’  italienischen  Lehr-  und  Wanderjahren  bisher 
unaufgeklärt  ist  und  wohl  auch  unaufgeklärt  bleiben 
wird,  da  die  Gelehrten  der  belgischen  Rubens¬ 
kommission  alle  Archive,  die  etwa  in  Betracht 
kommen  konnten,  selbst  durchforscht  haben  oder  von 
hilfsbereiten  Italienern  haben  durchforschen  lassen. 
Die  Aufklärung  von  Rubens’  künstlerischem  Entwick¬ 
lungsgang  würde  übrigens  durch  die  Feststellung 
der  Daten  nicht  weiter  gefördert  werden.  Sie  haben 
nur  ein  biographisches  Interesse ;  denn  die  Zahl  der 
sicher  datirten  Werke  ist  im  Verein  mit  einigen  Ur¬ 
kunden  groß  genug,  dass  danach  festgestellt  werden 
kann,  welche  Entwicklungsphasen  Rubens  in  acht  Jah¬ 
ren  schnell  durchmessen  hat,  wie  er  von  den  großen 
Venezianern,  von  Tizian,  Veronese  und  Tintoretto, 
schnell  über  Giulio  Romano  und  Michelangelo  hin¬ 
wegeilte,  um  desto  fester  an  der  Antike  und  an  den 
neuen  Göttern  der  Malerei,  an  den  Carracci  und  an 
Caravaggio  festzuhalten,  die  seinem  jugendlichen 
Ungestüm  mehr  entsprachen,  als  die  klassischen 
Römer  und  Venezianer,  welche  die  römische  Künstler¬ 
jugend  damals  ebenso  zu  dem  alten  Eisen  warf,  wie 
es  heute  etwa  die  Jungdeutschen  mit  Cornelius, 


Kaulbach ,  Piloty  und  Makart  thun.  Außer  den 
bereits  erwähnten  Bildern  von  Rubens  giebt  es  noch 
einige  andere  in  italienischen  Galerieen,  die  so  deut¬ 
lich  die  unmittelbare  Einwirkung  der  Carracci  zeigen, 
dass  sie  nur  in  Italien  entstanden  sein  können,  wie 
z.  B.  der  hl.  Franciscus  im  Gebet  in  Palazzo  Pitti 
in  Florenz  (s.  die  Abbildung  S.  151).  Rubens  hatte 
aber  soviel  von  Studien  und  Erinnerungen  ein¬ 
geheimst,  dass  sich  die  ersten  Eindrücke,  die  sich 
bei  dem  vielseitigen  Interessen  dienenden  Künstler 
überstürzten,  allmählich  abklärten,  und  dass  manches, 
das  er  anfangs  als  gering  geachtet  hatte,  in  seiner 
späteren  Entwicklung  wieder  stärker  in  den  Vorder¬ 
grund  trat  und  auf  seine  Stilbildung  bestimmend 
einwirkte. 

Als  ihn  die  Kunde  von  der  schweren  Erkrankung 
seiner  Mutter  so  schnell  nach  Hause  rief,  dass  er 
seinen  letzten  Brief  an  den  Geheimsekretär  des  Her¬ 
zogs  von  Mantua  am  28.  Oktober  1608  „im  Begriff, 
zu  Pferde  zu  steigen“  schrieb,  hatte  er  die  feste  Ab¬ 
sicht,  wieder  nach  Italien,  in  den  mantuanischen 
Herrendienst,  zurückzukehren.  Er  hat  Italien  nicht 
wiedergesehen,  wie  weit  ihn  auch  in  späteren  Jahren 
seine  Reisen  geführt  haben.  Er  hat  aber  doch  noch 
einmal  den  unmittelbaren  Einfluss  der  italienischen 
Kunst  erfahren,  als  er  1628  in  diplomatischer  Sen¬ 
dung  nach  Spanien  ging.  In  Madrid,  in  der  Kunst¬ 
sammlung  des  Königs  Philipp  IV.,  ist  ihm,  dem 
gereiften  Manne,  erst  das  volle  Verständnis  der  Kunst 
Tizians  aufgegangen,  und  aus  dem,  was  er  damals 
sah,  genoss  und  kopirte,  entspross  ihm  selbst  eine 
neue  Entwicklung  seiner  Kunst,  die  dem  farbenfrohen 
Auge  der  Gegenwart  als  die  feinste  und  vollendetste 
Offenbarung  seines  reichen  Geistes  erscheint. 


Aus  dem  Badezimmer  des  Kardinals  liibbieua 
im  Vatikan  zu  Iiom. 


Ein  Rendezvous  unter  Freunden.  Gemälde  von  W.  Makowski. 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 

(Schluss.) 


NZ  WISCHEN  sei  dem  Leser  ein  anderes  Unter¬ 
nehmen  empfohlen,  das  ähnliche  Zwecke  ver¬ 
folgt  und  auch  bereits  seine  Geschichte  hat. 

Vor  zehn  bis  zwölf  Jahren  nämlich  fasste  die 
Firma  Caneau  &  Cie.  in  Moskau  den  glücklichen 
Gedanken,  ein  Album  russischer  Bilder  herauszu¬ 
geben,  und  sie  wählte  hierzu  als  Vervielfältigungs¬ 
methode  die  im  Auslande  schon  längst  gerade  für 
derartige  Albums  und  Mappen  angewandte  Helio¬ 
gravüre.  Dieserhalb  wandte  sie  sich  an  die  be¬ 
rühmte  Kunstanstalt  von  Angerer  in  Wien,  die  denn 
auch  die  Herstellung  von  52,8  cm  langen  und  39,6  cm 
breiten  Platten  übernahm.  In  solchen  trefflichen, 
alle  Vorzüge  der  Originale  wiedergebenden  Helio¬ 
gravüren  sollten  nun  Gemälde  der  Moskauer  Gale- 
rieen  reproduzirt  werden,  und  zwar  hatte  man  vor¬ 
nehmlich  Bilder  der  besten  lebenden  und  jüngst 
verstorbenen  Historien-,  Genre-  und  Porträtmaler 
Russlands  ins  Auge  gefasst.  Wir  begegneten  im 
Prospekte  Namen,  wie  Bronnikow,  Huhn,  V.  Jakobi, 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  6. 


N.  Kramskoi,  K.  und  W.  Makowski,  W.  Perow, 
Shurawlew,  H.  Siemieradski,  Al.  und  P.  Sswedomski, 
W.  W.  Weresclitschagin  u.  a.  Die  Subskriptionen 
waren  sehr  günstig:  jede  monatlich  erscheinende 
Lieferung  sollte  je  zwei  Kunstblätter  und  einen  er¬ 
läuternden  Text  von  Professor  A.  N.  Schwarz  in 
russischer  und  französischer  Sprache  enthalten.  Zwölf 
Lieferungen  sollten  zusammen  je  eine  Serie  bilden. 
Der  Preis  der  Lieferung  war,  wenn  man  auf  eine 
ganze  Serie  Unterzeichnete,  sehr  niedrig  bemessen, 
nämlich  auf  1  Rbl.  80  Kop.,  was  für  die  ganze 
Serie  21  Rbl.  80  Kop.  ausmachte,  während  im  Einzel- 
verkauf  jedes  Heft  2  Rbl.  50  Kop.  kosten  sollte. 

Das  Unternehmen  wurde  von  der  Kritik,  wenn 
sie  sich  auch  nicht  immer  ganz  mit  der  Wahl  der 
Bilder  einverstanden  erklären  konnte,  freundlich 
begrüßt  und  unterstützt.  Aber  es  vermochte  sich 
die  Gunst  des  Publikums  nicht  zu  erwerben.  Immer 
langsamer  erschienen  die  Hefte,  und  als  die  erste 
Serie  mühsam  zum  Abschluss  gebracht  worden, 

21 


154 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


schlief  die  Sache  ganz  ein  ....  Jahre  sind  in¬ 
zwischen  hingegangen  und  selbst  in  Kunstkreisen 
vergaß  man  des  Caneau’schen  Unternehmens  allmäh- 
lieh  .  .  .  Nun  taucht  es  auf  einmal  wieder  auf:  in 
Gestalt  eines  geschlossenen  Albums  unter  dem  Titel 
„Album  von  Heliogravüren  nach  Bildern  russischer 
Künstler“.  Als  Herausgeber  zeichnet  die  Firma 
Großmann  dt ’■  Knobel  in  Moskau,  die  von  Caneau 
&  Cie.  allem  Anscheine  nach  die  Platten  und  den 
Rest  der  fertigen  Blätter  käuflich  erstanden  hat, 
den  Schwarz’schen  Text,  der  übrigens  recht  lücken¬ 
haft,  vielfach  veraltet  und  daher  jetzt  oft  unrichtig 
ist,  Umdrucken  ließ,  getrennte  Ausgaben  in  russischer 
und  französischer  Sprache  herstellte  und  hübsche 
Albummappen  bestellte,  in  denen  nun  die  24  Bilder 
der  ersten  und  auch  letzten  Serie  des  einstigen 
Caneau’schen  Unternehmens  aufs  neue  auf  dem 
Kunstmarkte  erscheinen. 

Möge  ihnen  das  Geschick  jetzt  freundlicher  sein, 
als  damals!  Denn  davon  hängt  es  natürlich  ab,  ob 
der  neue  Verlag  im  stände  sein  wird,  die  Sache  fort¬ 
zusetzen.  Es  wäre  äußerst  schade,  wenn  es  wiederum 
nur  bei  dieser  einen  Albumausgabe  sein  Bewenden 
hätte,  nicht  bloß,  weil  sie  technisch  sehr  Gutes 
bietet,  —  die  meisten  Heliogravüren  sind  ganz  vor¬ 
trefflich  —  sondern  auch  hauptsächlich  darum,  weil 
dann  erst  bei  einer  Fortsetzung  das  kunstliebende 
Publikum  des  Westens  wirklich  allmählich  und  zwar 
auf  würdige  Weise  mit  russischer  Kunst  bekannt 
gemacht  werden  könnte. 

Denn  —  und  das  ist  der  einzige  Vorwurf,  der 
gegen  das  jetzige  Album  und  die  einstige  erste 
Caneau’sche  Serie  erhoben  werden  kann  —  die  Zu¬ 
sammenstellung  der  Bilder  trägt  den  Charakter  des 
Zufälligen,  sowohl,  was  die  Auswahl  der  Künstler 
betrifft,  unter  denen,  selbst  in  einem  einzigen  Album, 
nie  und  nimmer  solche  Maler,  wie  z.  B.  die  Histo¬ 
rien-  und  Genremaler  Ilja  Repin  und  W.  Perow, 
der  Landschafter  J.  Schischkin,  der  Marinemaler 
R.  Ssudkowski  fehlen  dürften,  wenn  anders  ein  sol¬ 
ches  Album  wirklich  Anspruch  darauf  macht,  die 
russische  nationale  Kunst  zu  illustriren  —  als  auch 
hinsichtlich  der  Wahl  der  einzelnen  Bilder  der  in 
der  Ausgabe  vertretenen  Künstler,  die  hier  durch¬ 
aus  nicht  in  ihren  charakteristischen  Seiten  erfasst 
erscheinen,  wenigstens  in  den  allermeisten  Fällen. 

Die  planmäßige  Anlage  der  Tretjakow’schen 
Galerie  —  sie  gerade  müsste  einem  solchen  Unter¬ 
nehmen  als  Vorbild  dienen  und  sie  besitzt  ja,  wie 
erst  gezeigt  wurde,  aus  allen  einzelnen  Phasen  der 
Entwickelungsgeschichte  russischer  Nationalkunst 


während  der  letzten  fünfzig  Jahre  Bilder  und  Stu¬ 
dien  von  allen  namhafteren  Künstlern,  und  zwar 
immer  solche,  die  sie  am  besten  und  tiefsten  kenn¬ 
zeichnen  in  ihrer  ganzen  Eigenart. 

Solche  Bilder  z.  B.,  wie  W.  P.  Wereschtschagin’s 
„Besuch  im  Gefängnis“  (eine  Scene  aus  dem  ita¬ 
lienischen  Volksleben),  wie  A.  Rizzoni’s  „Archäo¬ 
logen“  und  „Scene  in  der  Synagoge“,  —  inwiefern 
sind  sie  russische  Bilder?  Jenes  Bild  von  Werescht- 
schagin,  der  ja  nicht  mit  seinem  Namensvetter, 
dem  in  ganz  Europa  und  Amerika  bekannten  Anti¬ 
kriegsmaler  und  beredten  Schilderer  von  Land  und 
Leuten  in  Mittelasien  und  Indien  verwechselt  werden 
darf  —  es  ist  so  steif  ledern  typisch  „akademisch“, 
wie  heute  wohl  kaum  noch  irgendwo  gemalt  wird, 
auch  in  Russland  nicht.  Und  Rizzoni,  dessen  Wiege 
wohl  in  Riga  stand  und  der  in  der  k.  Akademie 
der  Künste  seine  Ausbildung  erhielt,  sie  aber  dann 
in  Paris  und  Rom  vollendete  und  seit  Jahrzehnten 
schon  ganz  im  Auslande  lebt,  —  mit  welchem  Recht 
kann  man  diesen  Maler  mit  seinen  nichtrussischeu 
Typen  und  Scenen,  die  er  in  einer  stark  an  die 
Meissonier’sche  Schule  sich  anlehnenden  Vortrags¬ 
weise  behandelt,  überhaupt  noch  als  einen  russischen 
betrachten? 

Auch  Heinrich  Siemieradski,  neuerdings  Titular¬ 
professor  der  k.  Akademie  der  Künste,  der  eben¬ 
falls  seit  vielen  Jahren  im  Auslande  —  in  Rom  —  lebt, 
gehört  seiner  ganzen  Richtung  und  Empfindungs¬ 
weise  nach  durchaus  dem  Westen  an.  Das  Gleiche 
gilt  auch  wenigstens  von  den  in  dieser  Sammlung 
vorhandenen  Bildern  von  V.  Jakobi  („Terroristen  und 
Gemäßigte“),  K.Huhn  („Scene  aus  der  Bartholomäus¬ 
nacht“),  eigentlich  auch  W.  Polenow  („Cäsarenzeit¬ 
vertreib“).  Das  sind  lauter  schöne  Arbeiten,  inter¬ 
essant  im  Vorwurf,  charakteristisch  in  der  Behand¬ 
lung,  anmutend  in  der  Technik,  —  aber  sie  tragen 
in  nichts  den  Stempel  des  Russischen,  sind  in 
keiner  Hinsicht  als  charakteristisch  für  die  nationale 
Kunst  zu  betrachten.  Genau  so  hätte  dieselben  Mo¬ 
tive  auch  ein  Pariser,  ein  Münchener,  ein  Düssel¬ 
dorfer  Maler  auffassen  und  ausführen  können. 

Es  ist  gewiss  sehr  bezeichnend,  dass  alle  diese 
Bilder  nicht  aus  den  ehemaligen  Tretjakow’schen 
Sammlungen  stammen,  sondern  aus  anderen  Mos¬ 
kauer  Galerien,  wie  der  von  K.  Ssoldatmkow  (der 
überhaupt  sieben  von  den  24  reproduzirten  Bildern 
sein  nennt),  von  S.  Goljaschkin  (aus  welcher  Samm¬ 
lung  zwei  Bilder  vorhanden  sind),  von  S.  Matwejew 
(Polenow’s  „  Cäsarenzeitvertreib “ ). 

Auf  die  Galerie  von  P.  M.  Treljakow  entfällt 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


155 


so  ziemlich  der  ganze  Rest  der  Bilder,  wenngleich 
sie  nicht  im  Besitz  der  hier  reproduzirten  indischen 
Bilder  von  W.  Wereschtschagin  ist,  wohl  aber  in 
dem  vieler  Studien  und  Entwürfe  zu  ihnen. 

Über  Wassili  Wereschtschagin  noch  ein  Wort 
sagen  zu  wollen,  wäre  ganz  überflüssig.  Gerade  mit 
ihm  hat  sich  die  westeuropäische  Kunstliteratur 
mehr  als  sonst  mit  irgend  einem  der  russischen 
Maler  beschäftigt,  und  von  keinem  sind  so  viele 
Werke  in  allen  möglichen  Verfahrungsarten  ver¬ 
vielfältigt  worden,  als  gerade  von  seinen. 

Aber  über  einige  andere  der  in  diesem  Album 
vertretenen  Künstler  seien  einige  Bemerkungen  ge¬ 
stattet.  Doch  zuvor  eine  Übersicht  über  die  24 
Bilder  des  Albums  überhaupt: 

Es  sind  vertreten  Wassili  Wereschtschagin  vier¬ 
mal  („Der  künftige  Kaiser  von  Indien“,  „Nieder¬ 
werfung  des  Aufstandes  in  Indien“ ,  „Königsgrab  in 
Jerusalem“  und  „Indische  Grabkapelle“);  je  zweimal: 
W.  D.  Polenow  („Großmutters  Garten“  und  „Cä¬ 
sarenzeitvertreib“),  W.  E.  Makowski  („Unter  Freun¬ 
den“  und  „Vierhändig“),  A.  Rizzoni  (die  beiden  erst¬ 
erwähnten  Bilder);  je  einmal:  N.  Newrew  („Prinz 
Roman  von  Galizien“),  W.  Ssurilcow  („Menschikow 
in  der  Verbannung“),  II.  Siemieradski  („Schwerter¬ 
tanz“),  Gr.  Mjassojedow  („Gebet  um  Regen“),  J.  Krams- 
lcoi  („Untröstlicher  Kummer“),  Konstantin  Makowski 
(„Alexeje  witsch“),  A.  Ssivedomski  („Straße  in  Pom¬ 
peji“),  V.  Jakobi  („Terroristen  und  Gemäßigte“), 
J.  Prjannischnikow  („Im  Gostinny  Dwor  zu  Moskau“), 
A.  Korsuchin  („In  der  Klosterherberge“),  G.  Bronni- 
kow  („Auf  der  Schädelstätte“),  K.  Huhn  („Scene  aus 
der  Bartholomäusnacht“),  W.  P.  Wereschtschagin  („Be¬ 
such  im  Gefängnis“),  P.  Sswedomslci  („Medusa“). 

Einige  von  diesen  Künstlern,  wie  der  1887  ver¬ 
storbene  Genremaler  und  Porträtist  Iwan  Kramskoi, 
wie  der  im  Dezember  1893  ebenfalls  verstorbene 
Ilarion  Prjannischnikow ,  wie  Wladimir  Makowski,  wie 
Grigorji  Mjassojedow ,  Wassili  Ssurilcow,  Wassili  Po- 
lenow  gehörten  und  gehören  zu  den  hervorragend¬ 
sten  „Wanderausstellern“  und  zeigen  alle  charakteris¬ 
tischen  Züge  eminent  nationalrussischer  Künstler. 

Was  diese  vor  allem  auszeichnet,  das  ist  die 
Wahl  vaterländischer  Stoffe  und  Typen  historischen 
oder  alltäglichen  Charakters,  landschaftlicher  Motive 
nur  des  Vaterlandes,  die  sie  realistisch  auffassen 
und  behandeln;  eine  Neigung  zum  Spintisiren  und 
Grübeln,  eine  Vorliebe  für  das  Traurige,  Düstere, 
mitunter  geradezu  Hässliche  oder  aber  andererseits 
für  das  Tendenziöse,  entsprechend  den  geistigen 
Strömungen  der  sechziger  und  siebziger  Jahre;  end¬ 


lich  eine  Technik,  die  hier  und  da  in  genialer  Hudelei 
und  Sudelei  ausartet,  oder  gar  einfach,  roh  und  un¬ 
fertig  erscheint,  während  sie  bei  anderen  zielbewusste 
Sicherheit  und  künstlerische  Breite  zeigt  . .  . 

Es  ist  merkwürdig,  wie  wenig  Humor  in  der 
russischen  Malerei  anzutreffen  ist;  die  Künstler,  die 
ihn  bieten,  können  an  den  Fingern  hergezählt  werden, 
und  auch  im  vorliegenden  Album  vertritt  ihn  eigent¬ 
lich  nur  Wladimir  Makowski  mit  seinen  prächtigen 
beiden  Bildern  aus  dem  russischen  Alltagsleben.  Das 
sind  Scenen  und  Typen,  wie  wir  ihnen  hier  überall 
begegnen  können,  und  das  sind  Vorgänge,  die  keinerlei 
Kommentars  bedürfen.  Allgemein  Menschliches  in 
russischer  Gewandung  —  jeder  versteht’s.  Das  wun¬ 
derbar  lebenswahr  erfasste  alte  Paar  am  Klavier  auf 
dem  einen  Bilde  oder  der  gemütliche  Freundeskreis, 
in  den  wir  auf  dem  anderen  geführt  werden,  —  ist 
es  nicht  voll  und  ganz  aus  dem  Leben  gegriffen? 

Eben  diese  feine  Beobachtungskraft  und  die 
starke  Fähigkeit,  das  Erschaute  und  Erfasste  charak¬ 
teristisch  zu  gestalten  —  das  ist’s  vor  allem,  was 
diese  nationalen  und  realistischen  Künstler  aus¬ 
zeichnet:  Wladimir  Makowski  so  gut,  wie  von  den 
hier  vorhandenen  Prjannischnikow  und  Korsuchin, 
die  Maler  russischen  Familienlebens  in  den  Kreisen 
meist  der  kleinen  Leute.  Konstantin  Makowski,  der 
beliebte  Damenbildnismaler  und  Pseudohistorien¬ 
maler,  ist  anderen  Geistes.  Er  legt  den  Hauptnach¬ 
druck  auf  die  Eleganz  in  Farben  und  Formen.  Sein 
Kolorit  ist  blendend,  seine  Stoff-  und  Accessorien- 
malerei  virtuos.  Er  bietet  meistens  alles,  nur  keine 
Seele.  Seine  historischen  Gemälde,  wie  „Der  Tod 
Iwan’s  des  Schrecklichen“  oder  „Des  Zarewitsch  Alexei 
Michaile witsch  Brautwahl“,  seine  Genrebilder,  wie 
die  bekannte  „Bojarenhochzeit“  und  die  „Brauttoi¬ 
lette“,  —  es  sind  fast  immer  nur  schöne,  theatra¬ 
lisch  wirkende  Kostümbilder;  der  Geist  der  Zeit  weht 
nicht  aus  ihnen,  und  es  sind  moderne  Leute  der 
guten  und  besten  Gesellschaft  in  schönem,  stilgerech¬ 
tem  Maskenstaat,  geschmackvoll  gruppirt,  wie  zu 
einem  lebenden  Bilde  in  einem  Kaiserschloss  oder 
im  Salon  der  großen  Welt.  Und  doch  vermag  auch 
er  mitunter  sehr  schön  zu  cliarakterisiren.  Gerade 
das  Bild,  welches  das  Album  von  ihm  bringt,  beweist 
das.  „Alexejewitsch“  ist  ein  alter  Hausdiener,  ein 
Typus,  wie  man  ihn  in  manchen  russischen  Familien 
noch  heute  antrifft,  eine  Erinnerung  noch  an  die 
Tage  der  Leibeigenschaft  und  eine  ihrer  leichteren 
Seiten  verkörpernd.  In  Moskau,  auf  den  Gütern 
sind  solche  Dienertypen  häufiger  anzutreffen.  Man 
braucht  das  alte  prächtige  Faktotum  bloß  anzusehen, 

21* 


156 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


um  sich  klar  zu  machen,  dass  in  diesen  glücklichen 
Häusern  keine  „Domestikenfrage“  bekannt  ist  .  .  . 
Auch  Konstantin  Makowski  gehörte  früher  zu  den 
./Wanderausstellern“,  trat  aber  später  aus  dem  Ver¬ 
eine  aus  ....  Ganz  anderen  Geistes  ist  Wassili  Ssu- 
rikow.  Wohl  besitzt  er  mächtige  Schilderungskunst, 
und  tief  ist  er  in  den  Geist  und  die  Empfindungsweise 
seines  Volks  eingedrungen,  aber  der  Schönheitssinn 


stecken,  was  für  ihn  denn  auch  zu  einem  solchen 
wurde.  Aber  er  war  einer  der  geistvollsten,  treffend 
charakterisirenden  und  dabei  durch  ein  ebenso  wah¬ 
res,  wie  immer  künstlerisch  schönes  Kolorit  fesseln¬ 
der  Bildnismaler,  dem  das  Frauenporträt  sich  ebenso 
gut  gab,  wie  das  Männerporträt,  und  zwar  dieses 
in  allen  Schichten  der  Bevölkerung.  Daher  machen 
auch  die  Figuren  auf  seinen  Genrebildern  stets  den 


Oer  Garten  der  Großmutter.  Von  W.  D.  Polenow. 


geht,  ihm  zumeist  ab  und  wir  begegnen  bei  ihm 
vif]  Rohem  und  Hässlichem,  so  auch  in  dem  Bilde, 
das  uns  hier  Menschikow  mit  seinen  Töchtern  in 
der  Verbannung  zeigt  .  .  . 

hran  Kramskoi  und  Wassili  Polenow,  von  denen 
der  letztere  auch  ein  trefflicher,  empfindungsvoller 
Landschafter  ist,  gehören  mehr  der  spintisirenden 
Richtung  an.  Kramskoi  hat  sich  sein  ganzes  Leben 
hindurch  mit  der  Christusidee  herumgequält  und 
blieb  dabei  immer  nur  im  Begriff’  des  Martyriums 


Eindruck  des  lebensvollsten  Porträts.  So  auf  dem 
im  Album  vorhandenen  Bilde  einer  trostlosen  Mutter, 
der  ein  süßer  Liebling  soeben  gestorben  .  .  .  Der 
andere  von  den  beiden  zuletzt  genannten  Künstlern 
ist  ein  glänzender  Kolorist  in  erster  Linie;  das  hat 
er  mit  Heinrich  Siemieradski  und  Konstantin  Ma¬ 
kowski  gemeinsam;  er  ist  meistens  ein  sehr  guter 
Zeichner,  oft  auch,  was  die  Komposition  betrifft, 
ein  guter  Erfinder,  und  er  besitzt  viel  Gemüt  und 
Anempfindungsvermögen;  seine  Bilder  zeigen  in  der 


VON  RUSSISCHER  KUNST. 


157 


Regel  packende  „Stimmung“.  Aber  er  legt  gerade 
da,  wo  er  religiöse  und  biblische  Stoffe  behandelt, 
mitunter  ein  allzu  großes  Gewicht  auf  den  Wirk¬ 
lichkeitssinn,  und  gerade  bei  dem  großen  Werke 
seines  Lebens,  dem  vom  Kaiser  Alexander  III.  an¬ 
gekauften  Galeriegemälde  „Christus  und  die  Ehe¬ 
brecherin“  zeigt  es  sich,  dass  er  den  Realismus  im 
Äußeren  nicht  mit  idealem  Gehalt  zu  verschmelzen 
vermochte.  Er  hatte  die  weitgehendsten  Vorstudien 
gemacht;  er  studirte  Strauß  und  Renan,  er  durch¬ 
forschte  die  Beschreibungen  der  ältesten  Christus¬ 
bilder,  machte  sich  mit  Schriften  auch  nichtbib¬ 
lischer  Zeitgenossen  Christi,  die  sich  mit  des  „Men¬ 
schen  Sohn“  beschäftigt  hatten,  bekannt  u.  s.  w.;  er 
bereiste  dann  die  Stätten,  wo  der  Messias  gelebt, 
gelitten  und  gestorben,  und  brachte  von  dort  viele 
Mappen  mit  den  schönsten  Studien  mit;  er  trieb  ein¬ 
gehende  archäologische  Studien  in  Bezug  auf  Kos¬ 
tüme,  Sitten,  Gewohnheiten  der  alten  Juden  u.  s.  w. 
u.  s.  w.  Und  doch  —  trotz  der  packenden  Expression 
der  einzelnen  Figuren,  trotz  der  schön-realistischen 
Behandlung  des  Stofflichen  in  den  Gewändern  und 
in  der  Architektur  und  in  der  Pflanzenwelt,  trotz 
der  naturwahren  südlichen  Atmosphäre,  die  uns  von 
der  Leinwand  entgegenweht,  trotz  der  überall  rich¬ 
tigen  Zeichnung,  des  schönen,  warmen,  kräftigen,  ja 
blendenden  Kolorits,  trotz  aller  virtuosen  Technik 
bleibt  es  doch  ein  „gemeines“  Bild  im  Sinne  Schillers, 
wenn  er  seinen  Wallenstein  sprechen  lässt:  „Denn  vom 
Gemeinen  ist  der  Mensch  gemacht,  und  die  Gewohn¬ 
heit  nennt  er  seine  Amme“  ...  Er  ist  übrigens 
ein  ungemein  vielseitiger  Maler,  in  allen  Sätteln 
gerecht.  Auch  in  der  Tretjakow’schen  Galerie  ist  viel 
von  ihm  vorhanden,  vom  großen  Historienbilde  an 
bis  zum  stimmungsvollen  kleinen  Landschaftsmotiv. 
Und  auch  die  beiden  Bilder,  die  das  Album  bietet, 
sind  ja  ganz  verschiedener  Art.  Der  persönliche 
Geschmack  entscheide,  welchem  der  Vorzug  zu  geben. 
Wer  jedoch  die  Originale  kennt,  dürfte  kaum 
schwanken:  die  Stimmung  in  „Großmutters  Garten“ 
ist  von  in  jeder  Beziehung  so  packender  Wirkung, 
dass  man  sich  von  diesem  Bilde  besonders  angezogen 
fühlen  muss  .  .  . 

Ich  nannte  erst  noch  Gr.  Mjassojedow.  Auch 
er  ist  sehr  vielseitig;  im  Genre,  dem  historischen 
und  dem  des  Alltagslebens  gleich  gut  zu  Hause,  wie 
in  der  Landschaft,  dabei  durch  und  durch  national; 
mir  ist  von  ihm  kein  Bild  bekannt,  das  nicht  auch 
seinem  Motive  nach  in  allem  zu  des  Künstlers  Vater¬ 
land  in  engster  Beziehung  stände.  Mit  Vorliebe 
geht  er  den  Spuren  des  Volkslebens,  zumal  des 


Bauernlebens,  nach  und  weiß  es  gut  zu  erfassen  in 
Freud  und  Leid,  in  Dur  und  Moll,  in  Licht  und 
Dunkel,  aber  das  Leid,  Moll  und  Dunkel  überwiegen. 
Auch  berührt  sein  Kolorit  meist  nicht  angenehm; 
es  ist  oft  grell,  hart,  bunt.  Übrigens  gehört  das 
hier  reproduzirte  Bild,  das  uns  eine  häufig  anzu¬ 
treffende  Seite  aus  der  Leidensgeschichte  der  russi¬ 
schen  Ackerbauer  so  beredt  schildert,  in  dieser  Be¬ 
ziehung  gerade  zu  den  besseren,  wie  es  auch  sonst 
eines  seiner  allerbesten  ist,  wo  die  ganze  Komposi¬ 
tion  und  die  Charakteristik  der  einzelnen  Figuren 
in  gleicher  Weise  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen  .  .  . 

Gr.  Mjassojedow  und  der  vor  einigen  Jahren 
schon  verstorbene  J.  Kramskoi  standen  einst  an  der 
Spitze  der  ersterwähnten  der  Akademie  feindlichen 
Emanzipationsbewegung.  Und  im  letzten  Winter 
wurde  er,  gleich  Ilja  Repin,  Wl.  Makowski,  W.  Po- 
lenow,  W.  Ssurikow,  J.  Prjannischnikow,  J.  Schisch- 
kin  und  anderen  „Wanderausstellern“  zum  Mitgliede 
derselben  Akademie  erwählt,  in  deren  Zahl  übrigens 
auch  P.  M.  Tretjakow  aufgenommen  wurde. 

Denn  diese  nunmehr  reformirte  Akademie  ist  ja 
nicht  mehr  dieselbe.  Sie  ist  vielmehr  umgewandelt 
in  eine  wirklich  die  Blüte  nationaler  Kunst  repräsen- 
tirende  Körperschaft  nach  dem  Vorbilde  des  Pariser 
„Institut“  mit  einer  beschränkten  Anzahl  von  Mit¬ 
gliedern  (sechzig),  von  denen  ein  bestimmter  Prozent¬ 
satz  statutenmäßig  aus  Nichtkünstlern  bestehen  muss, 
wie  ein  anderer  von  Künstlern,  die  in  der  Provinz 
ihren  Sitz  haben,  gebildet  wird;  und  sie  ist  anderer¬ 
seits  zu  einer  wirklichen  Hochschule  der  freien 
Künste  mit  zwölf  Meisterateliers  umgestaltet  worden, 
von  denen  die  Hauptateliers  für  Malerei  abermals 
„Wanderausstellern“  anvertraut  wurden. 

Fürwahr  —  eine  glänzende  Genugthuung,  die 
dieser  Künstlergruppe  nach  fünfundzwanzig  Jahren  ge¬ 
worden;  eine  Genugthuung,  die  gleichzeitig  beweist, 
welch’  ein  reges  Leben  jetzt  auf  dem  Gebiete  der  Kunst¬ 
pflege  in  Russland  herrscht,  ein  Leben,  das  schöne 
Früchte  für  die  Zukunft  in  Aussicht  stellt  ....  Aber 
ich  habe  mich  weit  von  dem  eigentlichen  Gegen¬ 
stände  dieses  Aufsatzes  entfernt,  zu  weit  schon,  als 
dass  ich  auch  heute  noch  länger  bei  der  so  tief 
einschneidenden  Reform  der  k.  Akademie  der  Künste 
verweilen  könnte. 

Ein  gesegneter  Winter,  dieser  von  1893/94,  der 
Russland  eine  reiche  Nationalgalerie  und  eine  neue 
Oentralstätte  für  nationale  Kunstpflege  beschert  hat. 

Möge  unter  diesen  Auspicien  auch  das  Unter¬ 
nehmen  von  Großmann  &  Knöbel  viel  Glück  haben! 

St.  Petersburg.  J.  NORDEN. 


«wy*»"  y",  I  ,  I 


Christus  von  Engelu  betrauert.  Relief  von  Donatello  im  South  -Kensington-  Museum. 

(Aus  dem  Werke  von  W.  Bode,  Denkmäler  der  Renaissance-Skulptur  Toskana’s.  München,  Verlagsanstalt.) 


BODE’S  DENKMÄLER  DER  TOSKANISCHEN  SKULPTUR. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


IE  weit  und  groß  angelegte 
Thätigkeit  der  Verlagsan¬ 
stalt  für  Kunst  und  Wissen¬ 
schaft  (Fried.  Bruckmann) 
in  München  gereicht  eben¬ 
so  dieser  Firma  wie  dem 
deutschen  Volke  zur  höch¬ 
sten  Ehre.  Die  Kühnheit, 
womit  hier  Unternehmungen  wie  das  Werk  über  die 
Henaissance-ArchitekturToskana’s,  die  Denkmäler  der 
antiken  Plastik  und  nun  die  Denkmäler  der  tos¬ 
kanischen  Skulptur ')  in  Angriff  genommen  sind, 

1 )  Denkmäler  der  Renaissance-Skulptur  Toskana’s  in  histo¬ 
rischer  Anordnung.  Unter  Leitung  von  Wilhelm  Bode 
herausgegeben  von  Friedrich  Bruckmann.  München,  Ver¬ 
lagsanstalt  für  Kunst  und  Wissenschaft,  vormals  Fr.  Bruck¬ 
mann.  Groll-Folio.  (Bis  Ende  1894  22  Lieferungen  erschienen.) 


kann  nur  aus  der  Zuversicht  erklärt  werden,  dass 
solche  Veröffentlichungen,  wenn  sie  unter  Beihilfe 
der  besten  Kräfte  und  mit  allen  Mitteln  der  Repro¬ 
duktionstechnik  ausgeführt  werden,  also  eine  ab¬ 
schließende  und  erschöpfende  Gestaltung  in  sichere 
Aussicht  stellen,  ganz  ohne  Rücksicht  auf  die  Höhe 
der  Kosten  ihren  Absatz  finden  müssen.  Das  deutsche 
Volk  aber  hat  sich  dadurch  geehrt,  dass  es  durch 
die  That  bewiesen  hat,  die  Rechnung  sei  richtig: 
die  Verwalter  der  geistigen  Schätze  der  Nation,  die 
Leiter  der  Bibliotheken  und  Museen,  haben  nicht 
gezaudert,  die  Anschaffung  dieser  kostbaren  aber  un¬ 
entbehrlichen  Werke,  wenn  auch  zumeist  gewiss 
unter  Überwindung  beträchtlicher  Schwierigkeiten, 
ins  Werk  zu  setzen.  Hätte  kein  Unternehmer,  wie 
Bruckmann,  den  Mut  zu  solchen  Veröffentlichungen 
gefunden,  so  hätten  wir  noch  lange  darauf  warten 


BODE’S  DENKMÄLER  DER  TOSKANISCHEN  SKULPTUR 


159 


können;  denn  gelehrte  Körperschaften,  die  etwa 
dafür  die  Mittel  besäßen,  pflegen  Bilderwerken  gegen¬ 
über,  wenn  solche  nicht  gerade  eng  abgegrenzte  Ge¬ 
biete  umfassen,  sich  ziemlich  ablehnend  zu  verhalten; 
auch  ist  ihr  Apparat  zu  schwerfällig,  um  eine  rasche 
Fortführung  der  Arbeit  zu  ermöglichen. 

In  dem  oben  genannten  Werke  bietet  Bode,  der 
beste  Kenner  der  italienischen  Plastik ,  weil  zum 
guten' Teil  ihr  Entdecker  und  der  erste  gründliche 
Erforscher  ihrer  Geschichte,  ein  Corpus  der  ganzen 
Renaissance-Skulptur  Toskana’s,  von  Ghiberti  an  bis 
auf  Michelangelo.  Nicht 
nur  alle  teils  noch  am 
Ort  ihrer  Entstehung 
befindlichen,  teils  über 
die  Hauptsammlungen 
Europas  verteilten  Er¬ 
zeugnisse  dieser  gro¬ 
ßen  Kunstepoche,  die  nur 
in  der  Blütezeit  Grie¬ 
chenlands  ihresgleichen 
findet,  werden  hier  in 
Abbildungen,  die  ihre 
volle  Würdigung  ermög¬ 
lichen,  vorgeführt,  son¬ 
dern  eine  Menge  dieser 
Stücke  findet  hier  erst 
ihre  richtige  Einord¬ 
nung.  Neben  dem  italie¬ 
nischen  Besitz,  der  ja 
freilich  meist  schon  auf¬ 
genommen  und  in  bil¬ 
ligen  Reproduktionen  zu 
haben  ist,  hier  aber  in 
neuen  großen  und  ge¬ 
nauen  Aufnahmen  ge- 

o 

boten  wird,  soll  auch 
alles,  was  das  Ausland, 
selbst  Amerika,  an  ir¬ 
gend  nennenswerten  toskanischen  Skulpturen  be¬ 
sitzt,  vorgeführt  werden.  Ist  doch  selbst  der 
reiche  Bestand  des  South -Kensington- Museums  in 
London  sowie  der  des  Louvre  in  Paris  bisher  fast 
ganz  unpublizirt  geblieben.  Dazu  kommt  die 
Fülle  der  Werke,  die  das  Berliner  Museum  birgt, 
dessen  Renaissance  -  Abteilung  eigentlich  erst  in 
den  letzten  zwanzig  Jahren  entstanden  ist.  Ein 
solches  Monumentalwerk,  als  mitten  aus  der  noch 
lebendigen,  vorwärts  schreitenden  Forschung  er¬ 
wachsen,  wird  nicht  überall  bis  ins  Einzelne  fest¬ 
stehende  Ergebnisse  bieten  können:  aber  der  ver¬ 


Martyrium  des  heil.  Sebastian.  Relief  von  Donatei.lo 


tieften  Kenntnis  dieser  wichtigen  Kunstzeit  arbeitet 
es  in  einer  auf  keinem  andern  Wege  zu  erzielenden 
Weise  vor.  Die  Aussicht,  mit  der  Zeit  einige  kleine 
Änderungen  in  der  Bestimmung  einzelner  Werke 
vornehmen  zu  müssen,  ist  weit  weniger  bedenklich, 
als  wenn  mit  der  ganzen  Veröffentlichung  noch  ein 
Jahrzehnt  oder  länger  hätte  gewartet  werden  sollen. 

Denn  die  Werke  der  italienischen  Frührenaissance, 
als  deren  Abschluss  und  höchste  Blüte  Michelangelo 
anzusehen  ist,  haben  für  uns  neben  ihrer  histo¬ 
rischen  noch  eine  weit  höher  zu  veranschlagende  prak¬ 
tische  Bedeutung.  Wie 
sie  die  ersten  vollen¬ 
deten  Zeugnisse  des  von 
dem  Druck  der  Über¬ 
lieferung  befreiten  mo¬ 
dernen  Empfindens  sind, 
also  dem  Worte  Renais¬ 
sance  entsprechend  viel¬ 
mehr  die  Geburt  eines 
Neuen,  als  die  Belebung 
eines  Alten  darstellen, 
so  reden  sie  zu  uns,  die 
wir  abermals  eine  Be¬ 
freiung  aus  den  Banden 
einer  uns  fremd  und 
daher  äußerlich  gewor¬ 
denen  Kultur  mit  er¬ 
leben,  eine  Sprache,  die 
verständlich,  wohlthu- 
end  und  anspornend  an 
unser  Ohr  klingt.  Die 
große  Überlegenheit  der 
griechischen  Plastik 
wird  niemand  leugnen 
wollen.  Aber  wir  können 
diese  Kunstwelt  nur  von 
ferne,  wie  ein  verlornes 
Paradies  anstaunen;  auf 
diesem  Wege  ist  für  uns  kein  Weiterkommen;  weiter 
aber  müssen  wir,  auf  der  uns  von  der  Natur  gewiese¬ 
nen  Bahn.  Die  führt  nicht  zu  den  Höhen  olympischer 
Schönheit;  dafür  aber  ermöglicht  sie  ein  um  so 
tieferes  Eindringen  in  die  unerschöpfliche  Ver¬ 
schiedenheit  der  menschlichen  Charaktere,  in  das  ge¬ 
heime  Walten  der  menschlichen  Seele,  die  sich  ihren 
Körper  baut,  und  in  die  Regungen  des  Geistes,  die 
einen  äußerlich  greifbaren  Ausdruck  gewinnen.  So 
wandelt  sich  für  den  modernen  Bildhauer  das  Ideal 
immer  mehr  aus  einem  allgemeinen  und  umwandel¬ 
baren  in  ein  individualisirtes  und  momentan  erregtes, 


160 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


aus  einem  streng  architektonischen  in  ein  malerisch  be¬ 
wegtes.  Diese  Entwickelung  macht  sich  in  der  toska¬ 
nischen  Plastik  schon  sehr  früh  bemerklich.  Einer  der 
Hauptmeister  des  Trecento,  Giovanni  Pisano,  hat  das 
Streben  nach  packendem  Ausdruck  des  Lebens  so 
weit  ausgebildet,  dass  er  in  dieser  Hinsicht  noch  jetzt 
unüberboten  dasteht.  Der  Meister,  der  an  der  Pforte 
der  Quattrocento  steht  und  mit  dem  das  Bode’sche 
Werk  beginnt,  Loren zo  Gkiberti,  führte  andrerseits 
den  Grundsatz  der  malerischen  Anordnung  innerhalb 
des  als  endlos  gedachten  Raumes  bis  an  die  Grenze 
des  Möglichen  durch,  wenn  er  dabei  auch,  seinem 
wohl  abgewognen  Naturell  gemäß,  die  plastische 
Ruhe  zu  wahren  wusste.  Michelangelo  endlich,  der 
den  Kunstcharakter  des  Cinquecento  bestimmt,  er¬ 
füllt  seine  Gestalten,  ohne  sie  besonders  stark  zu 
individualisiren  oder  sie  in  außergewöhnlich  heftige 
Bewegung  zu  versetzen,  mit  einem  solchen  Maße 
verhaltenen  innern  Lebens,  dass  sie  als  unheimliche 
Rätselgebilde  sich  tief  dem  Geiste  des  Beschauers 
einprägen  und  ihn  in  ihren  Bann  schlagen. 

Mitten  inne  zwischen  Ghiberti  und  Michel¬ 
angelo  steht  Donatello  als  der  vollkommenste  Ver¬ 
treter  der  Quattrocento-Kunst  nach  den  verschieden¬ 
sten  ihrer  Richtungen  hin  und  daher  als  der  voll- 
giltigste  Vermittler  zwischen  der  Gotik  und  der 
Hochrenaissance.  Ihm  ist  denn  auch  der  größte 
Teil  der  bisher  erschienenen  Lieferungen  gewidmet, 
dabei  aber  seine  an  Wandlungen  überreiche  Ent¬ 
wickelung  erst  Dis  in  die  Mitte  seiner  Künstlerlauf¬ 
bahn  verfolgt.  Hier  ziehen  die  Statuen,  womit  er 
die  Fassade  des  Florentiner  Doms,  dessen  Campanile 
sowie  das  Außere  von  Or- San -Michele  schmückte, 
die  reichen  Grabmäler,  die  er  gemeinsam  mit 
Michelozzo  fertigte,  die  muntern  Kinderreigen,  die 


er  für  die  Kanzel  von  Prato  und  die  Orgelbalustrade 
des  Florentiner  Doms  ersann,  neben  einer  Menge 
kleinerer  Werke  mehr  dekorativer  Art  an  unserm 
Auge  vorüber.  Sie  zeigen  uns,  wie  mächtig  die 
Lebens-  und  Schaffenskraft  in  ihm  pulsirte,  dieser 
kühne,  zugreifende  Geist,  der  das  plötzliche  Auf¬ 
blühen  der  Kunst  im  Beginn  des  fünfzehnten  Jahr¬ 
hunderts  erst  ermöglichte.  Ein  leises  Nachwirken 
der  Gotik  lässt  sich  höchstens  noch  in  dem  leichten 
Schwung  seiner  Gestalten  verspüren.  Zartheit  und 
milder  Liebreiz  sind  nicht  seine  Sache;  derartiges 
findet  sich  weder  in  seinen  frühen  noch  in  seinen 
späten  Werken.  Im  Gegenteil:  je  älter  er  wurde, 
um  so  selbstherrlicher  bildete  er  zu  einer  Zeit,  die 
die  sanften  Regungen  des  Gemüts  zu  bevorzugen 
begann,  das  Wild-Energische,  Brutale  und  Packende 
in  sich  aus  und  bereitete  so  die  Geister  auf  das  Er¬ 
scheinen  seines  gewaltigen  Nachfolgers  vor.  — :  An¬ 
genehm  berührt  es,  dass  die  Abbildungen  gleich  in 
chronologischer  Anordnung  herausgegeben  werden. 

Der  Bode’sche  Text  verfolgt  diese  Entwickelung 
in  einer  knappen,  die  großen  Züge  klar  hervor¬ 
hebenden  Darstellung.  Die  erste  Textlieferung  hatte 
neben  Ghiberti  dessen  ältere  Zeitgenossen  Niccolö 
d’Arezzo,  Ciuffagni  und  Nanni  di  Banco  behandelt, 
weiterhin  Brunelleschi  und  endlich  jenen  eigentüm¬ 
lichen,  erst  von  Bode  entdeckten,  noch  halb  gotischen 
Meister,  dessen  Name  sich  bisher  nicht  hat  heraus¬ 
finden  lassen",  der  aber  nach  einem  Hauptwerk  in 
Sta.  Anastasia  zu  Verona  jetzt  als  der  Meister  der 
Pellegrini-Kapelle  bezeichnet  zu  werden  pflegt.  Mit 
der  zweiten  Lieferung  beginnt  die  Schilderung  der 
Entwickelung  Donatello’s.  Für  unsere  Text-Illu¬ 
strationen  sind  durchweg  Werke  dieses  Hauptmeisters 
der  toskanischen  Plastik  gewählt  worden. 

W.  v.  SEIDLITZ. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


..Am  Wasser“,  Original  radirung  von  C.  Tb.  Mcycr-Bascl. 
Wir  bieten  unseren  Lesern  mit  diesem  Blatte  die  letzte  der 
in  dem  Wettbewerbe  vom  Oktober  1892  ausgezeichneten 
Rad  im ngen ,  die  von  den  Preisrichtern  zum  Ankauf  em¬ 
pfohlen  war.  Ober  den  Entwickelungsgang  des  Künstlers 
haben  wir  in  Band  V,  S.  48  d.  BL  berichtet. 

..Ibnii  Oaac/rsalber“,  Heliogravüre  nach  einem  Gemälde 
von  Werner  Schuch.  Das  Bild  stammt  aus  der  frühesten 
Zeit  des  Künstlers,  der  sich  in  der  letzten  Zeit  durch  seine 
Rciterporträts  und  seine  Bilder  aus  dem  30jährigen  Kriege 
einen  Namen  gemacht  hat,  und  befindet  sich  seit  dem  Jahre 
1874  im  Provinzialmuseum  zu  Hannover.  Geboren  wurde 
Werner  Schuch  am  2.  Oktober  1843  zu  Hildesheim  und  er¬ 


langte  seine  Ausbildung  als  Architekt  von  1860 — 1864  auf 
dem  Polytechnikum  zu  Hannover.  Nach  vollendeten  Studien 
war  er  als  praktischer  Architekt  zuerst  unter  Hase  und  als¬ 
dann  als  Privatarchitekt  thätig  und  wurde  1870  als  Professor 
der  Baukunst  an  der  technischen  Hochschule  zu  Hannover 
angestellt.  Erst  1872  versuchte  er  sich  ohne  Lehrer  in  der 
Ölmalerei,  wobei  ihm  ein  hervorragendes  zeichnerisches 
Talent  zu  Hilfe  kam.  Kopien  in  der  Dresdener  Galerie, 
Skizzen  in  Tirol  und  Oberitalien  bereiteten  sein  malerisches 
Können  vor,  bis  er  1877  in  Düsseldorf  sich  weiter  bildete. 
Seit  einer  Reihe  von  Jahren  lebt  der  Künstler  in  Berlin, 
wo  er  in  der  Ruhmeshalle  des  Zeughauses  die  Schlacht  von 
Leipzig  malte. 


Herausgeber:  Carl  van  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Bi! IM'  QUACKSALBER 


J  Mabuse  pinx. 


ISABELLE  VOLT  OESTERREICH. 


mann 


ivzif, 


Druck  v  F  A.Brockhaus ,  Leipzig. 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  VON  ÖSTERREICH 

VON  MABUSE. 

VON  CARL  JUS TI. 


SABELLA  von  Österreich, 
oder  wie  sie  selbst  bei  ihrer 
Trauung  Unterzeichnete,  Eli¬ 
sabeth  d’Autriche  et  de  Bour- 
goigne,  war  die  Tochter  Phi¬ 
lipps  des  Schönen  und  der 
Johanna  von  Kastilien,  also 
eine  Schwester  Kaiser  Karls  V. 
Geboren  am  18.  Juli  1501  zu  Brüssel,  vermählte  sie 
sich  im  Jahre  1514  mit  Christiern  II.,  König  von 
Dänemark,  und  starb  am  19.  Januar  1526  zu  Gent, 
mehr  als  dreißig  Jahre  vor  den  Geschwistern.  Von 
ihren  drei  Schwestern  blieb  eine  kinderlos,  und  nur 
eine  brachte  ihr  Geschlecht  auf  einen  Enkel;  aber 
Isabellens  der  frühverstorbenen  Nachkommenschaft 
blüht  noch  heute  auf  hohem  Kaiserthron. 

Die  burgundischen  Prinzessinnen  verloren  als 
kleine  Kinder  den  Vater,  die  letzte  schon  vor 
der  Geburt,  und  wurden  zu  derselben  Zeit  für 
immer  geschieden  von  der  unseligen,  unheilbarer 
Melancholie  verfallenen  Mutter.  Aber  sie  hatten  das 
Glück,  eine  zweite,  bessere  Mutter  zu  finden  in  ihrer 
Tante  Margarete,  der  einzigen  Tochter  Maximilians 
und  Mariens  von  Burgund,  die  nach  dem  Tode  Phi- 
liberts  von  Savoyen  mit  dem  Lebensglück  abschlie¬ 
ßend,  ein  Vierteljahrhundert  lang  die  schwierige  Re¬ 
gentschaft  der  Niederlande  führte  und  die  künftige 
Größe  ihres  Neffen  Karl  vorbereitete.  Die  Prinzes¬ 
sinnen  haben  der  Erzieherin  Ehre  gemacht,  auf 
königlichen  Thronen,  in  Dulden  und  Handeln.  Die¬ 
selbe  Politik,  die  Margarete  schon  als  Kind  zum 
wunderlichen  Spielball  ehrgeiziger  Projekte  ausersah, 
hat  ihre  Nichten  über  Reiche  gesetzt,  deren  Umkreis 
einen  Augenblick  von  der  Mündung  des  Tajo  bis 
zu  den  Karpathen  und  Finnmarken  reichte,  freilich 
ihr  Los  auch  zum  Teil  mit  dem  Fall  dieser  Reiche 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  7. 


verschlungen.  Denn  mit  dunkeln  Fäden  hatten  die 
Parzen  ihre  Goldreife  umsponnen. 

Die  älteste,  Eleonore,  geboren  den  15.  November 
1498,  wurde  als  zwanzigjährige  mit  dem  dreißig 
Jahre  älteren,  bereits  hinfälligen  Emanuel  von  Por¬ 
tugal  verbunden.  Nach  drei  Jahren  Witwe,  versprach 
sie  der  kaiserliche  Bruder  dem  Connetable  von 
Bourbon,  der  vor  Roms  Thoren  fiel.  Dann  hat  er  sie 
im  Vertrag  von  Madrid  Franz  1.  aufgenötigt,  der 
aus  seiner  Abneigung  und  Untreue  kein  Hehl  machte. 
Nach  seinem  Tode  war  ihr  nur  der  Wunsch  übrig, 
mit  ihrem  einzigen  Kinde  Marie  von  Portugal  ver¬ 
eint  zu  leben.  Bloß  ein  Besuch  von  zwanzig  Tagen 
ward  ihr  vergönnt,  die  Trennung,  die  eine  für 
immer  war,  hat  sie  nur  fünfzehn  Tage  überlebt. 
Sie  starb  am  25.  Februar  1558  in  Talavera,  in  dem¬ 
selben  Jahre  folgte  ihr  Karl  V.  und  ihre  zweite 
Schwester  Maria. 

Maria,  geboren  den  13.  September  1505,  waren 
nur  fünf  glückliche  Jahre  an  der  Seite  des  jungen 
Königs  Ludwig  von  Ungarn  beschieden  gewesen, 
der  1526  in  der  mörderischen  Türkenschlacht  bei 
Mohacz  Heer  und  Leben  verlor.  Sie  wurde  die  Nach¬ 
folgerin  ihrer  Tante  in  der  (achtundzwanzigjährigen) 
Regentschaft  der  Niederlande. 

Katharina,  das  letzte  Kind  Philipps  des  Schönen, 
geboren,  drei  Monate  nach  dessen  Tode,  zu  Torde- 
sillas,  dem  langjährigen  Witwensitz  der  bereits  um- 
nachteten  Mutter,  wurde  dem  Thron  von  Portugal  be¬ 
stimmt.  Sie  war  die  schönste  der  vier  Schwestern, 
und  nach  dem  Bildnis  A.  Mors  von  majestätischer  Er¬ 
scheinung.  Sie  hat  alle  Geschwister  und  alle  ihre  acht 
Kinder  überlebt,  führte  nach  dem  Tode  Johanns  III. 
noch  fünf  Jahre  die  Regentschaft  und  starb  am 
12.  Februar  des  für  Portugiesen  schrecklichsten  Jahres 
ihrer  Geschichte,  1578,  in  dem  sechs  Monate  später 

22 


L62 


EIN  BILDNIS  DER  IS  Aß  ELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


ihr  einziger  Enkel,  D.  Sebastian,  mit  der  Blüte  des 
Adels,  auf  dem  Schlachtfeld  von  Alcacer-Kibir  dem 
maurischen  Schwert  erlag.  Zwei  Jahre  später  fiel  das 
Reich  dem  spanischen  Philipp  anheim.  — 

Noch  mehr  waren  die  Schicksale  der  zweiten 
Prinzessin,  Isabella,  gemacht,  ihr  innige  Sympathie 
bei  Zeitgenossen  und  Nachwelt  zu  erwerben.  Zum 
Leid  der  Fürstin  und  Gattin  kam  hier  noch  der 
religiöse  Zwiespalt.  Sie  allein  von  diesen  wider¬ 
standsfähigen  Naturen  ist  denn  auch  früh  zusammen¬ 
gebrochen. 

Nachdem  die  Für¬ 
sorge  des  Großvaters  sie 
schon  im  achten  Jahre 
mit  Karl  von  Egmont, 

Herzog  von  Geldern,  be¬ 
droht  („zu  unserer  Un¬ 
ehre  und  der  unseres 
Sohnes  des  Erzherzogs“ 
schrieb  damals  Marga¬ 
rete)  und  dann  mit  Henri 
d’Albret,  dem  Sohne  der 
Erbin  von  Navarra,  Ca- 
tharine  de  Foix,  wurde 
sie  im  vierzehnten  Jahre 
an  den  dänischen  Be¬ 
werber,  den  vierundzwan- 
zigjährigen  ChristiernlL, 

König  von  Skandinavien 
vergeben,  dessen  Gro߬ 
mutter,  wie  Maximilian 
entschuldigend  bemerkte, 
eine  Schwester  Kaiser 
Friedrichs  III.  gewesen 
war.  Außerdem  kam  man 
damit  den  Wünschen  der 
niederländischen  Han¬ 
delswelt  nach  guten  Be¬ 
ziehungen  zum  skandi¬ 
navischen  Norden  ent¬ 
gegen.  Christiern  war  seit  Jahren  verstrickt  in  die 
Reize  einer  Holländerin  bürgerlicher  Herkunft, 
deren  kluge  und  thatkräftige  Mutter  in  Haus 
und  Staat  das  Regiment  führte,  ja  als  gute  Pa¬ 
triotin  zu  der  Bewerbung  um  eine  niederländische 
Prinzessin  geraten  haben  soll.  Die  an  den  Kaiser 
im  Jahre  1511  abgeordnete  Gesandtschaft  sollte  um 
Eleonoren  anhalten,  unterwegs,  bei  Kurfürst  Friedrich 
von  Sachsen  unterrichtet,  dass  diese  bereits  vergeben 
sei,  wurde  Isabella  an  ihre  Stelle  gesetzt.  Der  König 
hat  sich  auch  nach  der  Verbindung  mit  des  Kaisers 


Schwester  von  jener  Düveke  nicht  getrennt  (sie 
starb  1517).  Ja  die  junge  Königin  musste  froh 
sein,  sich  mit  deren  Mutter  Siegbret  auf  niederdeutsch 
unterhalten  zu  können,  und  hat  in  delikaten  Situa¬ 
tionen  ihren  Beistand  nicht  verschmäht.  Ihre  Stellung 
war  keine  leichte  an  der  Seite  des  Wüterichs,  der 
einmal,  infolge  eines  tadelnden  Briefes  seines  Schwa¬ 
gers,  den  Orden  ihres  Hauses,  das  goldene  Vließ  von 
der  Brust  riss  und  mit  Füßen  trat.  Er  hat  sich 
durch  seinen  Kampf  gegen  die  privilegirten  Klassen 
im  Interesse  des  Bauern-  und  Bürgerstandes,  und 

durch  seine  Neigung  zum 
Protestantismus  mildern¬ 
de  Umstände  bei  den 
Geschichtschreibern  ver¬ 
dient;  aber  das  Blutbad 
von  Stockholm  (8.  No¬ 
vember  1520)  erinnert  un¬ 
heimlich  an  die  Methoden 
Caesar  Borgia’s.  Als  nach 
dem  Abfall  Schwedens 
auch  der  jütische  Adel 
sich  erhob,  trieb  ihn  eine 
Anwandlung  von  Klein¬ 
mut  —  oder  die  Nemesis, 
ohne  zwingende  Gründe, 
sein  Reich  zu  verlassen 
(1523),  um  im  Auslande 
Hülfe  zu  suchen.  Er  ahnte 
nicht,  dass  er  seine  Haupt¬ 
stadt  erst  nach  neun  Jah¬ 
ren  Wiedersehen  sollte, 
aber  dann,  um  sein  Le¬ 
ben  nach  grausiger,  sie- 
benundzwanzigjähriger 
Gefangenschaft  in  einer 
Zelle  des  Schlosses  von 
Sonderburs:  zu  beschlie¬ 


EU  Z  AB  ET  DANORVM  REGINA 
ET,  CE*  ARXjHIDVXIS,  AV5,  ET  BVR, . 

Bildnis  der  Isabella.  Gestoehen^von  Jacob  Bink. 


ßen.  Die  Königin  be¬ 
gleitete  ihn  damals  nach 
den  Niederlanden  mit  ihren  drei  Kindern.  Die  Stände 
waren  ihr  zugethan,  vielleicht  hätte  sie  durch  Los¬ 
sagung  von  Christiern  ihrem  Sohne  den  Thron  retten 
können.  Sie  war,  sagt  Holberg,  die  vortrefflichste 
Königin,  die  Dänemark  besessen  hat.  Sie  aber  „wollte 
lieber  leiden,  was  sie  könne,  als  fern  von  ihm  haben, 
was  sie  wolle“.  Sie  wurde  das  Opfer  ihrer  Gattentreue. 

Christiern  hatte  seine  Hoffnung  gesetzt  auf  die 
großen  Verwandten,  den  kaiserlichen  Schwager  und 
die  Statthalterin,  den  Schwager  Joachim  von  Bran¬ 
denburg  und  den  Oheim  Friedrich  von  Sachsen.  Er 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


163 


erfüllte  die  europäischen  Höfe  mit  seinen  Vorstel¬ 
lungen  und  Klagen;  aber  seine  Unternehmungen 
scheiterten  an  Geldmangel  und  den  widerstreiten¬ 
den  Interessen  derer,  die  sich  für  seine  Wiederher¬ 
stellung  interessirten.  Das  einzige,  was  er  erreichte, 
war  ein  Asyl  in  Brabant.  Margarete  bildete  dem 
flüchtigen  Paare  einen  Hofstaat  mit  dem  Städtchen 
Lier  als  Wohnsitz.  Dort  wird  noch  heute  het  liof 
van  Denmarken  gezeigt,  den  er  sieben  Jahre  be¬ 
wohnt  hat. 

Isabella  hat  diese  Mühen  und  dieses  Elend  drei 
Jahre  lang  treulich  mit  ihm  geteilt.  Sie  hat  persön¬ 
lich  vor  dem  versammel¬ 
ten  Reichstag  zu  Regens¬ 
burg  die  Sache  ihres 
Sohnes  Hans  verfochten, 
nicht  ohne  Rührung  hör¬ 
ten  die  Räte  sie  an;  ohne 
sie,  schrieb  der  sächsi¬ 
sche  Gesandte,  um  Chris- 
tierns  willen,  hätte  nie¬ 
mand  ein  Pferd  satteln 
mögen. 

Ihr  schwerstes  Her¬ 
zeleid  war  die  Entfrem¬ 
dung  von  ihren  nächsten 
Verwandten,  seit  sie  dem 
Dänen  auch  in  der  Re¬ 
ligion  gefolgt  war.  Ihr 
Bruder  Ferdinand,  so  wur¬ 
de  ihr  erzählt,  hatte  ge¬ 
sagt,  er  wolle  sie  lieber 
ertränkt  sehen,  als  dass 
sie  mit  Luther  verhandele. 

Am  Gründonnerstag  1524 
hat  sie  auf  der  Burg  zu 
Nürnberg  aus  Osianders 
Händen  die  Kommunion 
unter  beiderlei  Gestalt  empfangen.  Aber  sterbend 
musste  sie  froh  sein,  dass  die  Tante  Margarete  an 
den  Kindern  ihre  Stelle  vertreten  wollte,  deren  vor¬ 
nehmste  Sorge  war,  sie  im  alten  Glauben  erziehen 
zu  lassen. 

Aus  diesen  drei  Jahren  des  Exils  besitzen  wir 
ein  vorzügliches  Bildnis  Isabellens,  das  der  Anlass 
dieses  Artikels  ist. 

Bisher  waren  nur  minderwertige  und  nicht  ge¬ 
naue  Bildnisse  von  ihr  bekannt.  Von  dem  Kupfer¬ 
stecher  Jakob  Bink  giebt  es  ein  seltenes  Blättchen 
(von  1525),  als  Pendant  zu  dem  Christierns;  im  Profil, 
also  wohl  nach  einer  Medaille  gemacht.  Vergleicht 


man  aber  sein  großes  und  schön  gestochenes  Por¬ 
trät  des  Königs,  das  vielleicht  auf  ein  Gemälde  Bern¬ 
hard  von  Orley’s  zurückgeht,  mit  der  Tafel  von 
1515  in  Kopenhagen,  einem  Original,  so  ergiebt 
sich  doch,  dass  Bink,  als  Stecher  ohne  eigenen  Cha¬ 
rakter,  Form  wie  Physiognomie  verfehlt  hat.  Aus 
dem  länglichen  Haupt,  das  in  Zügen  und  Ausdruck 
von  Härte  und  Entschlossenheit  spricht,  Wildheit 
und  Grausamkeit  ahnen  lässt,  hat  er  einen  ziem¬ 
lich  phlegmatischen  Breitkopf  gemacht.  Eine  zu¬ 
verlässige,  wenn  auch  unbestimmte  Vorstellung  von 
den  Zügen  der  Königin  giebt  dagegen  die  kleine 

Kopie  in  der  Ambraser 
Sammlung  Erzherzog 
Ferdinands  ').  Sie  hatte 
danach  nicht  das  läng¬ 
liche  Gesicht  ihrer  Brü¬ 
der  sowie  der  ältesten  und 
jüngsten  Schwester. 

Die  Ungunst  des  Ge¬ 
schicks  hat  Isabella  auch 
im  Grabe  nicht  verschont. 
Der  verwitwete  Monarch 
wollte  ihr  in  der  Abtei¬ 
kirche  St.  Peter  zu  Gent 
ein  Denkmal  setzen,  hatte 
aber  nur  lässige  Hände 
gefunden.  Ein  Brief  in 
vlämischer  Sprache  vom 
20.  August  1528  aus  Lier 
an  den  Abt  von  St.  Peter 
kündigt  sein  demnäch- 
stiges  Eintreffen  in  Gent 
an,  wo  er  die  Arbeit  in 
Gang  bringen  will.  Er 
ersucht  den  Abt,  den  mit 
dem  Denkmal  betrauten 
Meister,  der  nach  See¬ 
land  gegangen  sei,  in  den  nächsten  Wochen  nach 
Gent  zu  rufen,  dieser  solle  den  Scilcler  Jennyn  de  Ma- 
buse  mitbringen,  vielleicht  aus  Middelburg.  Der  Bild¬ 
hauer  war  Jan  de  Heere,  nach  dem  Zeugnis  des 
ihm  befreundeten  Geschichtsschreibers  Martin  van 
Vaernewyck,  der  das  Denkmal  (im  hohen  Chor)  in 
seiner  belgischen  Geschichte  (1574)  noch  erwähnt1  2). 
Es  war  eine  marmorne  Tumba  mit  der  Statue  der 


1)  Jahrbuch  der  Kunstsarmnl.  d.  Allerh.  Kaiserhauses. 
XIV.  T.  X.  155. 

2)  Martin  van  Vaernewyck,  Die  Historie  van  Belgis. 
Ghendt  1574.  F.  CXIX,  4.  Dess.  Warachtighe  Ghesciedenisse 
.  .  .  van  den  K.  Carolus  V.  15(14. 


Bildnis  der  Isabella  aus  der  ehemaligen  Ambraser  Sammlung. 


22* 


164 


EIN  BILDNIS  DER  ISA  BELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


Königin;  an  der  Wand  darüber  eine  Bronzetafel  mit 
drei  lateinischen  Gedichten  des  Cornelis  Schepper 
und  dem  Wappen,  von  Engeln  gehalten  1).  Im  Jahre 
1532  war  die  Leiche  ihres  Sohnes  mit  der  ihrigen 
vereinigt  worden.  Wenige  Jahre  später,  in  den  Re¬ 
ligionskriegen,  wurde  die  Kirche  verwüstet  und  die 
Turnba  zerstört  (1579).  Ihre  Reste  wurden  (1600) 
aus  den  Ruinen  weggenommen  und  1652  in  die  neue 
Kirche  versetzt.  Im  Jahre  1810  wurde  die  Gruft 
erbrochen  und  geplündert,  Epitaph  und  Wappen  ge¬ 
raubt.  Im  Jahre  1814,  nachdem  S.  Peter  Pfarrkirche 
geworden  war,  ließ  der  Geistliche  Emilien  Malingie 
das  Grab  wieder  hersteilen;  1883  ist  der  Staub  Isa¬ 
bellens  in  die  königliche  Gruft  zu  Kopenhagen  über¬ 
geführt  worden. 

Was  sollte  aber  Mabuse  bei  jener  Zusammen¬ 
kunft  in  Gent?  Von  einem  gemalten  Bildnis  auf 
dem  Epitaph  wird  nichts  berichtet.  Aber  er  kann 
an  der  Beratung  des  Planes  teilgenommen  haben. 
Er  war  groß  im  Architekturzeichnen,  das  sieht  man 
auf  mehr  als  einem  Gemälde.  Seinem  alten  Gönner, 
dem  Bischof  von  Utrecht,  hat  er  selbst,  mit  dem  ge¬ 
lehrten  Gerhard  Geldenhauer  von  Nimwegen  ein  Epi¬ 
taph  in  der  Kirche  zu  Wyck  gesetzt,  auf  dem  sein 
Name  au  erster  Stelle  steht.2)  Wahrscheinlicher  ist, 
dass  er  Jan  de  Heere  bei  der  Modellirung  des  Kopfes 
des  auf  der  Tumba  ruhenden  Marmorbildes  helfen 
sollte,  da  er  die  Königin  früher  porträtirt  hatte. 
Dass  er  mit  den  Dänen  seit  lange  Verbindungen 
hatte,  ist  sicher.  .Jedermann  kennt  das  Dreikinder¬ 
bild  in  Schloss  Iiamptoncourt,  das  nicht  (wie  Vertue 
aufgebracht)  die  Kinder  Heinrich  VII.  darstellt,  son¬ 
dern  nach  George  Scharfs  überzeugendem  Nachweis  3) 
die  dänischen  Königskinder,  nämlich  Hans,  geboren 
den  22.  Februar  1519,  Dorothea,  geboren  1520,  ver¬ 
mählt  1534  mit  dem  Pfalzgraf  Friedrich  bei  Rhein, 
und  Christine,  geboren  den  5.  Dezember  1521,  ver¬ 
mählt  den  5.  Dezember  1550  mit  Francesco  Sforza, 
Herzog  von  Mailand,  und  dann  mit  Herzog  Franz  1. 
von  Lothringen.  Das  Zeugnis  des  Katalogs  Hein¬ 
richs  VIII.  von  1542  ist  schlagend4),  und  für  die  aller¬ 

1)  Mitgeteilt  von  J.  F.  Willems  im  Belgischen  Museum 
1,  Gent  1838,  nach  einer  alten  Zeichnung  und  dem  Holz- 
ohnitt  hei  Vaernewyck.  Ebenda  der  Brief  Christierns. 

2)  Mitgeteilt  von  Gerhard  von  Nimwegen,  dem  Almose¬ 
nier,  Lektor  und  Sekretär  Philipps,  der  später  zum  Prote- 
-tanti-inu-  »bortrat,  und  Professor  an  der  Universität  Marburg 
wurde,  in:  Vita  Philipp]  a  Burgundia.  Marpurgi  1542. 

3)  Archreologia,  Vol.  XXXIX.  London  1800. 

4)  A  table  with  the  poitraits  of  the  tbree  children  of 
the  Kynge  of  Denmark,  with  a  curtain  of  white  ad  yellow 
-arcenette  paned  together.  Der  Katalog  der  Tudorausstel- 


dings  auffallende  Thatsache,  dass  in  England  nicht 
weniger  als  vier  alte  Kopien,  im  Ausland  keine, 
Vorkommen,  giebt  es  eine  genügende  Erklärung. 
Das  Bild  war  sehr  früh  nach  England  gekommen. 
Niemand  konnte  es  ohne  Interesse  und  Rührung  be¬ 
trachten.  Diese  Kinder  hatten  in  demselben  Alter 
ihre  Mutter  verloren;  der  vielversprechende  Knabe, 
der  Thronerbe,  ward  in  der  Fremde  vierzehn  Jahre 
alt  dahingerafft;  er  starb  am  10.  August  1532  zu 
Regensburg,  zwei  Wochen  nach  des  Vaters  verräteri¬ 
scher  Gefangensetzung.  Das  jüngste  Mädchen  aber  war 
eine  gefeierte  Schönheit  geworden,  an  der  sogar  der 
Kelch,  den  Thron  Heinrichs  VIII.  zu  teilen,  vorüberge¬ 
gangen  ist.  Aber  auch  als  namenloses  Kinderbild 
würde  diese  Tafel  beachtens  wert  sein.  Die  überaus 
treue,  an  Nüchternheit  streifende  Naivetät  in  der 
Auffassung  dieser  charaktervollen,  zur  Zeit  keines¬ 
wegs  hübschen  Kinderköpfe,  die  wohl  jeder  andere 
verschönernd  geglättet  hätte,  übt  noch  heute  einen 
seltenen  Reiz,  neben  dem  sogar  die  berühmten  Königs¬ 
kinder  van  Dycks  verlieren  würden.  Es  fehlt  nicht  an 
englischen  Zeugnissen  aus  der  Zeit  des  Bildes  von 
dem  Eindruck,  den  diese  Kinder  machten,  z.  B.  in 
Wingfield’s  Schreiben  an  Wolsey. 4) 

Die  Urheberschaft  Mabuse’s,  schon  Karl  van 
Mander  bekannt,  ist  so  augenfällig,  dass  man  sogar 
im  17.  Jahrhundert,  bei  Aufstellung  des  Katalogs 
der  königlichen  Bilder  unter  dem  Commonwealth  (1651) 
auf  diesen  Namen  gekommen  ist,  den  man  damals 
an  die  Stelle  des  Klassennamens  Jennet  setzte. 
Es  wurden  £  10  dafür  gezahlt  Man  erkennt 
Mabuse  an  dem  festen  scharfen  Kontur  und  an 
den  durch  Reflexe  erhellten  Schatten  der  grauen 
Carnation,  die  so  völlig  des  Fleischtons  entbehrt, 
dass  man  wohl  ein  Unterbleiben  der  beabsichtigten 
Lasuren  annehmen  muss.  Die  Gleichheit  der  Manier 
wird  besonders  einleuchtend,  wenn  man  den  Mädchen¬ 
kopf  rechts  mit  dem  des  Kindes  in  der  Carondolet- 
Madonna  des  Louvre  zusammenhält. 

Christiern  hatte  bald  nach  seiner  Ankunft  in  den 
Niederlanden  mit  Isabella  eine  Reise  nach  England 
unternommen,  um  Heinrich  VIII.  und  Jakob  V.  von 
Schottland  für  seine  Pläne  zu  gewinnen.  Er  landete 
am  15.  Juni  1523  in  Dover  und  wohnte  zweiundzwan¬ 
zig  Tage  im  Palast  des  Bischofs  von  Bath  in  London. 

lung  ist  unkritisch  genug  zu  der  alten  Benennung  zurück¬ 
gekehrt. 

1)  Sir  Robert  Wingfield  schreibt  den  14.  März  1525  aus 
Mecheln,  wo  er  sie  bei  Margarete  sah,  an  Wolsey:  Which 
be  right  goodly  and  fair  children,  specially  the  daughters. 
Calendar  of  State  Papers.  Henry  VIII.  Vol.  IV.  P.  I.  2025. 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


165 


Die  Annahme  indes,  dass  das  Bild  damals  von  Ma- 
buse  in  England  gemalt  sei,  ist  nicht  haltbar,  da 
die  Kinder,  als  die  Eltern  am  5.  Juni  in  Calais 
unter  Segel  gingen,  zurückgeblieben  waren,  „es  gab 
beim  Abschied  viel  Wehmut  und  Thränen“. 

Die  Aufnahme  muss  also  in  den  Niederlanden, 
zwischen  1523  und  1526  gemacht  sein,  wahrschein¬ 
lich  im  Auftrag  ihrer  Großtante  Margarete,  vor  dem 
Tod  der  Mutter.  Die  Anwesenheit  der  Kinder  dort 


des  berühmten  Malers,  gewiss  eine  bloße  Gefällig¬ 
keit,  setzt  wohl  interessantere  Aufträge  voraus. 

Margarete  fasste  nach  der  Mutter  Tode  den  Ent¬ 
schluss,  die  Kinder  an  sich  zu  nehmen.  Als  sie 
hörte,  dass  Christiern  in  seine  armselige  Residenz 
zurückgekehrt  war  und  damit  umgehe,  die  Kinder 
zum  Herzog  Erich  von  Braunschweig  zu  bringen, 
ist  sie  sofort  nach  Lier  gefahren  und  hat  ihm  eine 
Übereinkunft  abgerungen,  wie  sie  sagt,  pour  par 


Die  dänischen  Königskinder.  Gemälde  Malsuse’s  in  Hamptoncourt. 


konnte  ja  damals  nur  für  vorübergehend  gelten.  In 
der  hübschen  Anordnung  glaubt  man  die  weibliche 
Hand  zu  erkennen.  Die  Verhältnisse  des  Hofs  in 
Lier  waren  so,  dass  man  nicht  viel  an  Aufträge  bei 
anspruchsvollen  Malern  denken  konnte.  Die  Königin 
hat  gelegentlich  den  Kindern  Kleider  aus  des  Vaters 
Röcken  selbst  geschneidert,  und  die  Schmucksachen 
nicht  nur,  auch  das  Spielzeug  der  Kinder  wanderte 
ins  Pfandhaus.  Dagegen  war  Mabuse  nachweislich 
1524  zwei  Wochen  in  Mecheln,  um  Gemälde  für  die 
Regentin  zu  restauriren.  Eine  solche  Beschäftigung 


voye  amiable  reeouvrer  les  enfants  en  mes  mains 

(6.  März  1528).  Sie  schreibt  an  ihren  kaiserlichen 
Neffen:  „Ihr  müsst  ihnen  nun  Vater  und  Mutter 
sein  und  sie  zu  Euren  eigenen  Kindern  machen.“ 
Sie  wählte  Agrippa  von  Nettesheim  zu  ihrem  Er¬ 
zieher.  Vielleicht  hat  sie  dem  Vater  damals  das 
Bild  als  Trost  überlassen.  Es  wäre  dann  bei  dessen 
unglücklicher  Expedition  nach  Dänemark  (1531)  in 
Lier  zurückgeblieben  und  etwa  von  dem  englischen 
Gesandten  erworben  worden.  Denkbar  ist  indes' auch, 
dass  Christiern  es  schon  früher  an  Heinrich  VJJ1. 


1G6 


EIN  BILDNIS  DER  ISA  BELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


gesandt  hätte,  um  für  seine  Sache,  die  ja  auch  die 
des  Sohnes  war,  Stimmung  zu  machen. 

Das  Mailänder  Gemälde. 

Der  Verfasser  sah  das  hier  in  Heliogravüre  !)  ver¬ 
öffentlichte  Gemälde  zuerst  am  9.  März  1885,  in 
Gesellschaft  des  verewigten  Senators  Morelli,  der 
ihm  das  in  der  Casa  Cereda  entdeckte  Bildchen 
des  bisher  in  Italien  unbekannten  Leonardesken 
Malers  Francisco  Napolitano  zeigen  wollte.  Die 
in  jener  Umgebung  so  fremd  dreinschauende  Dame 
kam  hei  dieser  Betrachtung  etwas  zerstreuend  da¬ 
zwischen.  Physiognomie,  Tracht,  Auffassung,  Stil 
der  Zeichnung,  Malweise,  der  grüne  Grund,  alles  er¬ 
weckte  Erinnerungen  an  manche  in  der  Ferne  zer¬ 
streute,  interessante,  rätselhafte  Bildnisse. 

Alle  diese  Bildnisse  hießen  damals  Clouet,  aber 
dieser  Name  bedeutete  ja  wenig  mehr  als  eine 
Standesperson  vom  Hofe  der  Valois.  In  Paris  habe 
ich  die  Dame  gelegentlich  gesucht,  auch  die  Pho¬ 
tographie  dortigen  Kennern  gezeigt.  Alle  meinten, 
dass  sie  keine  Französin  sein  könne,  kein  Clouet,  sie 
nannten  wohl  den  angeblichen,  von  Guicciardini  nach 
Paris  gebrachten  Josse  van  Cleve. 

Die  Tafel  wurde  im  ,, Cicerone“  seit  1885  dem 
Meister  des  Marientods  zugeschrieben.  Indes  die  kalte 
pastose  verschmolzene  Malweise,  bei  scharfen  Kon¬ 
turen,  passte  zu  diesem  ebensowenig,  wie  die  gleich¬ 
gültige  fast  impassible  Ruhe  des  Gesichts.  Dass  der 
Typus  deutsch,  österreichisch  sei,  wurde  in  Paris 
ebenfalls  vermutet.  Der  neueste  „Cicerone“  hat  sie 
auch  bereits,  in  richtiger  Bemerkung  des  Familien- 
charakters,  Margareta  von  Österreich  getauft.  Allein 
die  Tochter  Maximilians  hat  nach  dem  ganz  sicheren, 
wenn  auch  nicht  Original -Bildnis,  das  wohl  auf 
Orley  zurückgeht,  in  Antwerpen  und  Ilamptoncourt, 
eine  entschieden  längliche  Gesichtsform,  näher  bei¬ 
sammen  stellende  Augen  und  vortretenden  Unter¬ 
kiefer.  Da  sie  nach  dem  Tode  Philiberts  von  Sa¬ 
voyen  stets  den  Witwenschleier  trug,  müsste  dies 
decolletirte  Bildnis  vor  1504  fallen.  Das  Lebensalter 
würde  wohl  passen,  aber  nicht  das  Kostüm. 

Dies  Zwielicht  wurde  Tag,  vor  jener  Gruppe  der 
dänischen  Königskinder,  im  Schlosse  Wolsey’s.  Die 
Ähnlichkeit  war  frappant,  besonders  die  des  jüngsten 
Töehterchens  (die Unterlippe!),  aber  auch  des  Knaben 
(die  Nase!).  In  der  kleinen  Christine  ist  die  Über¬ 
einstimmung  sogar  im  Zufälligen  beabsichtigt  worden; 
Haltung  und  Bewegung  der  Hände,  das  Häubchen, 

1)  Nach  derPbotographie  von  Pagliano  eRicordiin Mailand. 


der  Wurf  des  Hermelinpelzes  über  Schulter  und  Arm, 
ist  dem  Bildnis  der  Mutter  möglichst  nahe  gerückt. 
In  der  Beschreibung  eines  im  Guardajoyas  Philipps  II. 
befindlichen  Porträts  der  Isabella  kommt  auch  die 
schwarze  Haube  vor.  p 

Die  Provenienz  des  Mailänder  Bildes  ist  nicht 
bekannt.  Aber  da  die  kleine  Christine  später  Her¬ 
zogin  von  Mailand  geworden  ist,  so  kann  sie  es 
wohl  gar  gewesen  sein,  die  das  Bildnis  der  Mutter 
mit  über  die  Alpen  genommen  hat. 

Dasselbe  Kinderbild  führte  auch  auf  den  Meister. 
Der  Name  Mabuse,  in  dem  „Cicerone“  von  1893  be¬ 
reits  an  die  Stelle  des  Meisters  des  Marientods  gesetzt, 
wird,  einmal  ausgesprochen,  allgemeine  Zustimmung 
finden.  Die  Übereinstimmung  in  der  Malweise  kann 
nicht  schlagender  sein. 

Als  Hausgenosse  und  Freund  des  Bastards 
Philipp  von  Burgund  hatte  er  schon  im  Jahre  1514 
Gelegenheit  gehabt,  die  damals  noch  blutjunge 
Königin  kennen  zu  lernen,  als  sie  nach  der  in  Brüs¬ 
sel  vollzogenen  Trauung  durch  Vollmacht,  von  dem 
Admiral  Hollands  mit  glänzendem  Gefolge,  darunter 
dessen  Bruder  Baudouin  von  Lille,  nach  der  nor¬ 
dischen  Hauptstadt  geleitet  wurde.  Schiffskapitän 
war  derselbe  berühmte  Seefahrer  Jan  Cornelisz  Hubert, 
der  auch  ihren  Vater  Philipp  den  Schönen  1506 
nach  Spanien  gefahren  hatte,  und  bald  darauf  den 
neuen  König  von  Kastilien  Karl  desselben  Wegs 
führte.  Sehr  wahrscheinlich  hat  der  Admiral  auch 
seinen  Leibmaler  mitgenommen.  Die  Jahreszahl  auf 
dem  Bildnis  Christierns  II.  in  der  Galerie  zu  Kopen¬ 
hagen,  1515  (in  dem  der  König  nicht  aus  Dänemark 
herausgekommen  ist),  würde  dies  beweisen,  wenn 
jenes  Bildnis  wirklich  von  Mabuse  wäre.  Die 
äußerst  zarte,  wie  polirte  Malerei,  mit  der  sich 
doch  die  Linien  despotischer  Härte  und  ungebän- 
digter  Wildheit  so  trefflich  vertragen,  passt  auf 
ihn.  Die  Königin  hat  er  natürlich  erst  nach 
der  Rückkehr  in  ihre  Heimat  gemalt.  Das  irrende 
Paar  brachte  1523  die  erste  Woche  nach  einer 
stürmischen  Seefahrt  zu  Veere  auf  der  Insel  Wal¬ 
ch  eren  zu,  unter  dem  Dach  eines  andern  Bastards 
von  Burgund,  Adolphs  Herren  von  Beveren,  des 
Enkels  des  berühmten  Anton,  und  jetzt  Nachfolgers 
des  zum  Bischof  von  Utrecht  erwählten  Philipp  in 
der  Admirals  würde.  Wir  finden  ihn  später  in  der 
Nähe  Christierns,  und  auch  als  Gönner  Mabuse’s,  den 
er  nach  Middelburg  lud. 

1)  Im  Inventar  Philipp  II.  Un  retrato  de  la  Reina  de 
Dinamarca,  vestida  de  negro  con  gorra  negra  y  un  pafiicuelo 
en  las  manos  y  sarta  al  cuello.  y2  vara  hoch,  '/3  v.  3  dedos  breit. 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


167 


Mabuse  erscheint  hier  als  Mitbewerber  Bernhard 
von  Orley’s,  des  Malers  Margareta’s.  Denn  Orley 
hatte  schon  1515  sämtliche  sechs  Kinder  Philipp’s 
des  Schönen  gemalt,  welche  Bilder  später  Christi ern 
geschenkt  wurden;  ferner  1516  die  beiden  ältesten, 
Eleonore  und  Karl,  und  dann  Christiern  mit  Isabella 
als  Braut  in  einem  Diptychon.  ')  Kleine  Bildnisse  der 
burgundischen  Prinzessinnen  in  diesem  Alter  sind 
in  Hamptoncourt  Lucas  Cornelis  genannt;  Nr.  564 
gilt  als  Bildnis  Isabellens.  Auch  Philipp  IV.  hatte 
in  seinem  Schlosse  zu  Madrid  (1636)  eine  längliche 
Tafel,  mit  den  Bildnissen  der  Königinnen  Isabella ! 
von  Dänemark,  [Eleonore 
oder  Katharina]  von  Portu¬ 
gal  und  [Katharina]  von  Eng¬ 
land. 

Das  Bildnis  der  Königin 
Eleonore. 

In  der  South  Galerie 
zu  Hamptoncourt  sieht  man 
eine  Anzahl  merkwürdiger, 
zum  Teil  noch  unaufge¬ 
klärter  Bildnisse  aus  dem 
Kreise,  in  dem  wir  uns  hier 
bewegen.  Das  bekannte  ist 
das  der  ältesten  Schwester 
Isabellens,  Eleonore,  mit  dem 
spanisch  überschriebenen 
Brief  in  der  Hand,  als  Köni¬ 
gin  von  Frankreich,  also 
zwischen  1530  und  47  gemalt. 

Die  Tafel  erzählt  von 
ihrem  Los.  Das  muss  man 
im  Auge  haben,  um  sie  rich¬ 
tig  zu  beurteilen.  Als  drei- 
undzwanzigjährige  Witwe 
eines  Greises,  sah  sie  sich 
damals  an  der  Seite  des  für  Frauen  bestrickenden 
Königs,  der  aber  die  Verbindung  mit  ihr  offen  ver¬ 
wünschte,  und  bei  ihrem  Einzug  in  Paris  in  offenem 
Jenster  mit  der  Herzogin  von  Etampes  sich  zeigte.1 2) 
Wo  ist  das  heitere  Kind  geblieben  mit  den  rosigen 
Wangen  und  roten  Lippen,  deren  Augen,  die  stets  zu 
lachen  schienen,  einst  zärtlich  dem  blonden  Pfalz¬ 
graf  Friedrich  II.  folgten.3)  Es  ist  etwas  in  dem 


Cliristiern  II.  von  Dänemark. 

Gemälde  in  der  Königlichen  Galerie  in  Kopenhagen. 


1)  A.  Wauters,  Bernard  von  Orley.  Paris,  p.  12. 

2)  II  en  medissoit  fort  l’alliance,  ainsi  que  j’ay  ouy  dire. 
Brantöme  ed.  Lalanne  IX,  621. 

3)  Huberti  Thomae  Leodii  Annalium  Frederici  II.  Palat. 
Elect.  L.  X1Y.  p.  50  ff. 


noch  jugendlichen  Gesicht  von  der  „melancholischen 
Blässe“  und  Starrheit,  die  oft  schwere  Erfahrungen 
zurücklassen. 

Dass  es  eine  Königin  von  Frankreich  ist,  war  ge¬ 
wiss  der  Grund,  die  Namen  Leonardo  und  Clouet  auf 
sie  zu  übertragen,  der  auch  bis  heute  an  ihr  haftet. 
Mrs.  Jameson  freilich  fand  hier  eine  ungezwungene 
Natur,  ein  Leben,  eine  königliche  Grazie,  eine  Kraft 
und  Harmonie  der  Farbe,  eine  roundness  of  effect,  die 
das  Beste  was  sie  von  ,Jeannet‘  sonst  gesehen,  weit 
überrage.  ’)  Dies  Lob  scheint  etwas  stark  gefärbt; 
aber  es  dürfte  doch  schwer  halten,  in  der  Masse 
der  mit  mehr  oder  weniger 
Recht  den  Clouets  zu  ge¬ 
schriebenen  Bildnisse  ein  ein¬ 
ziges  nachzuweisen,  das  die¬ 
selbe  Hand  verriete.  Denn 
das  schöne  und  sprechende 
der  Schwester  Franz'  I.,  Mar¬ 
gareta  von  Valois,  im  Muse¬ 
um  von  Liverpool,  zeigt  ge¬ 
nauer  besehen,  eine  ganz 
abweichende  Malführung. 
Sollte  man  nun  einen  so 
ausgezeichneten  Porträtirer 
am  französischen  Hof,  wo 
kein  Überfluss  an  guten  Ma¬ 
lern  war,  so  wenig  in  An¬ 
spruch  genommen  haben? 
In  dem  von  Lord  Gower  her¬ 
ausgegebenen  Clouet- Album, 
früher  in  Castle  Howard,  jetzt 
beim  Duc  d’Aumale,  begeg¬ 
nen  wir  drei  Bildern  Eleo¬ 
norens,  einmal  als  Witwe, 
zweimal  als  Königin  in  ver¬ 
schiedenem  Alter.  Beide  sind 
von  dem  vorigen  abweichend. 
Hätte  dieses  sich  dort  befunden,  der  Zeichner  würde  es 
gewiss  nicht  übersehen  haben.2)  Wie  sollte  ferner  ein 
französischer  Hofmaler  seiner  Königin  einen  Brief  mit 
spanischer  Adresse  in  die  Hand  gegeben  haben,  — 
die  auf  den  alten  Repliken  standhaft  wiederkehrt! 
Bekannt  sind  wohl  italienische  Sympathien  Franz’  I. 
und  seines  Hofes,  aber  Spanien  hat  er  hauptsächlich 
von  dem  Turmfenster  des  Alcazar  in  Madrid  herab 
kennen  gelernt.  Und  hier  ist  gar  aus  dem  Porträt 

1)  Jameson,  A  handbook  to  the [public  Galleries  etc. 
Vol  I,  292.  London  1842. 

2)  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  den  Nachweis  zu  führen, 
dass  diese  Skizzen  nicht  alle  nach  dem  Leben  gemacht  sind. 


/ 


16S 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  YON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


seiner  Frau  ein  Dokument  ihrer  Correspondenz  mit 
Spaniern  gemacht.  Selbst  ihr  Bruder  Karl  V.  schrieb 
an  sie  französisch:  A  Madame  ma  meilleur  Soenr. 
Das  Bildnis  kann  also  wohl  nur  im  Auftrag  und  für 
Mitglieder  des  spanisch  -  habsburgischen  Hauses  ge¬ 
macht  sein;  in  Spanien  befindet  sich  auch  noch  eine 
kleine  Wiederholung. 

Das  Exemplar  in  Hamptoncourt  hat  gelitten 
und  erscheint  im  Gesicht  etwas  stumpf.  Besser  er¬ 
halten  war  die  kleine  Wiederholung  in  der  Samm¬ 
lung  Minutoli,  die  der  Verfasser  1S84  im  Berliner 
Museum  sah.  Sie  ist  als  Heliogravüre  in  dieser 
Zeitschrift  veröffentlicht  worden.2)  Man  hat  damals 
mit  richtigem  Blick  den  niederländischen  Charakter 
erkannt;  nannte  auch  den  Namen  Goßart,  entschied 
sich  aber  für  Bernhard  von  Orley.  Die  Ähnlich¬ 
keit  mit  der  Figur  in  dem  dritten  Fenster  von  Ste- 
Gudule  zu  Brüssel,  dem  einzigen,  das  Orley  ausge¬ 
führt  hat,  liegt  jedoch  mehr  im  Kostüm.  Der  Maler, 
der  jenes  englische  Porträt  gemacht,  kann  ihr 
schwerlich  diese  lange,  schmale,  oben  scharf  ge¬ 
krümmte  Nase  verliehen  haben.  Orley  hatte  sie  seit 
jener  Aufnahme  als  junges  Mädchen  nicht  wieder 
gesehen.  Er  mag  die  Absicht  gehabt  haben,  der 
pomphaften  Figur  am  Betpult  reifere,  entschiedenere 
Züge  zu  geben.  Die  Entscheidung  zwischen  ihm  und 
Mabuse  ist  an  sich  nicht  leicht.  Seine  Malweise  nähert 
sich  in  den  zwanziger  Jahren  der  seines  Neben¬ 
buhlers,  besonders  in  dem  hellgrauen  Ton  der  Frauen¬ 
gesichter.  Indess  ist  in  dem  Bildnis  ein  stilvoller 
Zug  in  Linien  und  Pose,  den  man  bei  dem  hierin 
sehr  unbefangenen  Orley  nicht  gewohnt  ist.  Da 
wirft  nun  das  Mailänder  Bildnis  ein  Gewicht  in  die 
Wagschale  zu  Gunsten  Mabuse’s,  der  sie  übrigens 
ebenfalls  schon  im  Jahre  1516  für  den  Bruder  ge¬ 
malt  hatte.3)  Sähe  man  beide  nebeneinander,  man 

1  Im  Besitz  des  General  Romualdo  Nogues,  ausgestellt 
auf  <1<t  Kxposicion  bistorico - europea  zu  Madrid,  1892,  als 
.1.  Clouet.  Eine  andere  Copie,  bei  Bernal,  kam  1855  für 
£  225  an  den  Herzog  von  Aumale. 

2)  Jahrgang  1886,  S.  322.  Der  Bericht  von  II.  Thode. 

3)  I’inchart,  Archives  etc.  T.  I,  p.  180. 


würde  wohl  kaum  an  der  Selbigkeit  der  Hand 
zweifeln. 

Einige  Verlegenheit  bereitet  nur  das  Wann  und 
Wo  des  Porträts.  Eleonore  ist  nach  dem  Tode 
Emanuels  nicht  nach  den  Niederlanden  zurückge¬ 
kehrt,  sie  verliess  Spanien  erst  als  Braut  Franz’  I; 
am  5.  März  1531  fand  ihre  Krönung  in  St.  Denis 
statt.  Der  Krieg  zwischen  Gemahl  und  Bruder 
schloss  zunächst  einen  Besuch  in  ihrem  Geburtslande 
aus.  Indes  ist  die  bedenkliche  Annahme  einer  Pa¬ 
riser  Reise  Mabuse’s  nicht  nöthig. 

Nach  Margarethens  Tode  (30.  November  1530) 
hatte  ihre  Nichte  Maria  von  Ungarn  die  Regent¬ 
schaft  übernommen;  sie  hegte  die  lebhafteste  Sehn¬ 
sucht,  nach  dreizehn  langen  schicksalreichen  Jahren 
die  Schwester,  die  ihr  kränkelnd  und  unglücklich 
geschildert  wurde,  wiederzusehen.  Seit  1531  wurde 
über  eine  Zusammenkunft  in  der  Picardie  oder 
Champagne  verhandelt.  Am  27.  November  des 
folgenden  Jahres  schreibt  sie  an  den  Kaiser:  es  sei 
eines  ihrer  größten  Verlangen  auf  dieser  Welt, 
Eleonoren  wiederzusehen.  Obwohl  der  Besuch  ein 
rein,  freund-verwandtschaftlicher  sein  sollte,  ohne 
politische  Hintergedanken,  wollten  Franz  ■  I.  und 
Karl  V.  nichts  davon  wissen.  Erst  am  16.  August 
1535  kam  er  zustande,  in  Cambrai;  er  währte  bis 
zum  24.  Mit  der  Königin  kamen  ihre  Stieftöchter 
und  die  Schwiegertochter  Franz’  I.,  Madame  von 
Vendöme,  die  Cardinäle  von  Bourbon  und  Tournon, 
Philipp  de  Chabot,  Admiral  von  Frankreich,  John 
Stuart,  Herzog  von  Albany  und  die  Gemahlin  Hein¬ 
richs  von  Nassau,  Dona  Mencia  de  Mendoza.  Da 
nichts  dafür  sprach,  dass  dieser  Besuch  sich  wieder¬ 
holen  könne,  so  mag  die  Statthalterin  die  Gelegen¬ 
heit  benutzt  haben,  sich  ein  Bildnis  der  geliebten 
Schwester  zu  verschaffen.  In  ihrem  Nachlass  fanden 
sich  mehrere,  freilich  aus  ihren  Witwenjahren;  eines 
von  Antonis  Mor,  und  eine  Halbfigur  in  Marmor 
von  Jakob  du  Broeucq,  die  jetzt  im  Prado-Museum 
zu  Madrid  aufgestellt  ist.  Auch  Leone  Leoni  hat  sie 
ihre  Bronzebüste  aufgetragen,  die  nebst  anderen  der 
Sippe  einst  das  Schloss  Binz  schmückte. 

(Schluss  folgt.) 


ARTHUR  VOLKMANN. 


MIT  ABBILDUNGEN. 


Arthur  Yolkmann. 


Als  Hans  von  Marees  am 
5.  Juni  1S87  in  Rom  gestor¬ 
ben  war  und  auf  dem  stillen 
protestantischen  Friedhof  an 
der  Pyramide  des  Cestius 
seine  letzte  Ruhestätte  ge¬ 
funden  hatte,  da  erhielt  den 
Auftrag,  das  Grabdenkmal 
des  Verstorbenen  zu  fertigen,  einer  seiner  Lieblings¬ 
schüler,  der  Bildhauer  Arthur  Volkmann.  Denn 
Marees  hatte  in  Rom  trotz  seiner  Zurückgezogenheit 
einen  Kreis  dankbarer  und  lernbegieriger  Schüler 
um  sich  versammelt,  denen  er  in  seiner  feinen  und 
liebenswürdigen  Weise  Gelegenheit  gab,  in  den  Ent¬ 
wicklungsgang  eines  wahren  Künstlers  einen  Einblick 
zu  thun.  Durch  sein  Beispiel,  durch  seine  Art  zu 
arbeiten  und  durch  kurze  belehrende  Bemerkungen 
übte  Marees  auf  seine  getreuen  Jünger  den  nach¬ 
haltigsten  Einfluss  aus.  Ein  treffliches  Bild  dieser 
Lehrmethode,  die  vielleicht  niemals  akademisch  war, 
hat  Karl  von  Pidoll  in  seiner  Schrift:  „Aus  der 
Werkstatt  eines  Künstlers“  gegeben  und  die  Vor¬ 
schriften  Marees’  in  die  Worte:  „Sehen  lernen  ist 
alles!“  zusammengefasst.  Und  wo  kann  ein  Künstler 
dieses  „Sehen“  besser  erlernen  als  unter  den  Kunst¬ 
schätzen  Roms  und  in  dessen  herrlichen  Umgebungen? 
Darin  liegt  das  alte  Geheimnis  jener  Sehnsucht  der 
bildenden  Künstler  nach  der  ewigen  Stadt,  und  es 
bedarf  nicht  erst  des  Zaubertrankes  aus  der  Fontana 
di  Trevi,  um  jenem  unwiderstehlichen  Zuge,  dorthin 
zurückzukehren,  Folge  zu  leisten.  Am  besten  ist  es 
ja  wohl,  seinen  Wohnsitz  für  immer  in  Rom  auf¬ 
zuschlagen  und  hier  zu  arbeiten,  bis  dass  der  Todes- 
eugel  die  Fackel  zur  Erde  kehrt. 

Unter  den  deutschen  Künstlern,  die  in  neuerer 
Zeit  in  Rom  ihren  dauernden  Aufenthalt  gefunden 
haben,  nimmt  Arthur  Volkmann  eine  hervorragende 
Stellung  ein.  Seit  dem  Dezember  1876  wohnt  er  in 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  7. 


Rom  und  hat  seit  dieser  Zeit  fleißig  gearbeitet,  sodass 
er  durch  seine  Werke  in  immer  weiteren  Kreisen  be¬ 
kannt  geworden  ist.  Volkmann  wurde  1851  in  Leipzig 
geboren,  wo  sein  Vater  ein  angesehener  und  viel¬ 
beschäftigter  Rechtsanwalt  war.  Dieser  sah  es  nicht 
ungern,  dass  der  Knabe  eitrigst  zeichnete  und  da¬ 
neben  allerlei  Figuren  in  Wachs  und  Thon  zu  mo- 
delliren  suchte.  Auch  als  Thomasschüler  übte  er 
jene  Fertigkeiten,  ohne  dabei  die  humanistischen 
Studien  zu  vernachlässigen.  Die  Werke  griechischer 
und  römischer  Litteratur,  welche  er  als  reiferer 
Gymnasiast  kennen  lernte,  machten  durch  ihre  Schön¬ 
heit  auf  ihn  einen  so  tiefen  Eindruck,  dass  man  den¬ 
selben  ohne  Mühe  in  Volkmanns  späteren  Arbeiten 
empfindet.  1870  verließ  er  als  Primaner  die  Thomas¬ 
schule,  da  er  sich  entschlossen  hatte,  Bildhauer  zu  wer¬ 
den.  Zuerst  besuchte  er  die  Leipziger  Kunstakademie, 
blieb  aber  hier  nur  drei  Monate,  dann  ging  er  uacli 
Dresden  und  wurde  Julius  Hähnel’s  Schüler.  Aber 
auch  hier  fand  er  nicht  die  rechte  innere  Befrie¬ 
digung,  und  so  kam  er  1873  nach  Berlin,  wo  er  von 
Albert  Wolff  als  Schüler  angenommen  wurde.  Durch 
rastlosen  Fleiß,  der  durch  natürliche  Anlagen  unter¬ 
stützt  wurde,  errang  Volkmann  1875  bei  der  aka¬ 
demischen  Konkurrenz  in  Dresden  den  ersten  Preis 
und  das  damit  verbundene  Reisestipendium,  um  in 
Italien  seine  Studien  fortzusetzen.  Er  hatte  das 
Gipsmodell  einer  lebensgroßen  Figur,  welche  einen 
Germanen  auf  der  Eberjagd  darstellt,  angefertigt. 
Diese  Arbeit  kaufte  das  Leipziger  Museum  an.  Es 
ist  eine  jugendlich  frische,  elastisch  bewegte  Gestalt, 
deren  Formen  lebensvoll  durchgebildet  sind.  So  kam 
Volkmann  Ende  des  Jahres  1876  nach  Rom  und  hat 
es  seit  dieser  Zeit  nur  mit  kurzen  Unterbrechungen 
verlassen.  Hier  begann  für  ihn  die  eigentliche  Aus¬ 
bildung  als  Künstler;  denn  alles,  was  er  vor  seiner 
Ankunft  in  Rom  geschaffen  hat,  schätzt  er  selbst 
sehr  gering.  Bei  seiner  weiteren  Entwicklung  als 

23 


170 


ARTHUR  VOLKMANN. 


Bildhauer  war  ihm  der  rege,  freundschaftliche  Ver¬ 
kehr  mit  Hans  von  Marees  von  größtem  Vorteil. 
Oftmals  saß  er  in  dessen  Atelier,  sah  ihm  beim 
Malen  zu,  mischte  ihm  die  Farben  und  lauschte  den 
kurzen  und  für  ihn  doch  so  wichtigen  Bemerkungen. 
Da  erweiterte  er  seinen  Blick  und  bemühte  sich 
„sehen“  zu  lernen. 

Das  erste  Werk  in  Rom  zeigt  den  Weg,  den 
der  junge  Künstler  einschlagen  will.  Er  fertigt  eine 
männliche  Hermen- 
sänle  in  Marmor, 
ohne  dabei  eine  der 
zahlreichen  antiken 
Hermen  in  den 
römischen  Samm¬ 
lungen  als  Vorbild 
zu  benutzen,  ja  je 
weniger  er  die  Alten 
irgendwie  nachzu¬ 
ahmen  suchte,  um 
so  näher  kam  er 
ihnen.  Der  kunst¬ 
sinnige  Freund  Ma¬ 
rees’,  Dr.  Fiedler  in 
München,  erwarb 
diese  erste  römische 
Arbeit.  Zu  gleicher 
Zeit  mit  der  Herme 
fertigte  er  eine 
kleine  Bronzefigur: 

Der  Bogenschütze, 
welche  sein  Vetter, 
der  berühmte  Chir¬ 
urg  Richard  von 
Volkmann  in  Halle, 
in  seinen  Besitz 
brachte.  Eine  Wie¬ 
derholung  dieser 
Figur  befindet  sich 
im  Albertinum  zu 
Dresden.  Richard  von  Volkmann  erwarb  auch  die 
nächsten  Arbeiten,  eine  weibliche  Hermensäule  in 
Marmor  und  einen  Hermes  in  Bronze.  Durch  diese 
Arbeiten  wurde  Volkmann  bekannter  und  erhielt 
verschiedene  Aufträge,  Porträtbüsten  anzufertigen. 
Bei  der  Büste  des  berühmten  Leipziger  Kanzel¬ 
redners  Ahlfeld  hat  er  wohl  zum  erstenmal  ver¬ 
sucht.  den  Marmor  leicht  zu  tönen.  Entschiedener 
hat  er  dann  diese  Abtönung  des  Marmors  durch¬ 
geführt  bei  der  Idealbüste  einer  Römerin,  die  für 
die  National-Galerie  in  Berlin  angekauft  wurde.  Da 


Volkmann  glaubte,  durch  das  Beizen  des  Marmors 
der  Natur  näher  zu  kommen,  und  da  es  ihm  klar 
war,  dass  auch  die  Alten  ihre  Statuen  bemalt  hatten, 
so  studierte  er  jetzt  eifrig  die  polychrome  Technik. 
Erbemühte  sich  dieselbe  bei  seinen  späteren  Marmor¬ 
arbeiten  an  zu  wenden  und  hat  ihr  durch  sein  Vor¬ 
gehen  die  berechtigte  Geltung  und  Anerkennung  ver¬ 
schafft.  Aber  nicht  nur  Figuren  und  Büsten  be¬ 
malte  er,  sondern  auch  Reliefs.  Volkmann  bevorzugt 

das  flache  Relief 
und  malt  den  Hin¬ 
tergrund  meistens 
in  einem  hellen 
Blau,  von  dem  sich 
die  Figuren,  gleich¬ 
falls  zart  bemalt, 
scharf  abheben.  So 
die  als  Fragmente 
behandelten  Re¬ 
liefs:  Jüngling  ne¬ 
ben  seinem  Pferd, 
dann  ein  weiblicher 
Kopf  mit  einem 
Olivenzweig,  weiter 
ein  männlicherKopf 
mit  einem  Lorbeer¬ 
kranz.  Zwei  weib¬ 
liche  Hermensäu¬ 
len,  die  in  der  Al- 
bers’schen  Villa  in 
Steglitz  bei  Berlin 
aufgestellt  wurden, 
hat  Professor  Prell 
bemalt.  Ebender¬ 
selbe  Künstler  be¬ 
malte  auch  das  in 
Dresden  befind¬ 
liche  Relief:  Eva. 
Kleinere  Arbeiten 
V  olkmanns  können 
hier  unerwähnt  bleiben.  Hervorzuheben  ist  jedoch 
ein  Bacchus,  eine  lebensgroße  Jünglingsgestalt  in 
Marmor,  in  der  linken  Hand  eine  Schale  haltend, 
in  der  rechten  eine  Weintraube.  Auch  bei  dieser 
Figur  ist  die  Polychromie  angewandt,  allerdings  nur 
in  sehr  zarter  Weise.  Dieses  Werk,  im  Breslauer 
Museum  befindlich,  gilt  mit  Recht  als  eine  der  be¬ 
deutendsten  Arbeiten  unseres  Künstlers.  Durch  den 
Bacchus  wurde  Volkmann  auch  mit  dem  Bildhauer 
Adolf  Hildebrand  näher  bekannt  und  später  eng  be¬ 
freundet.  Hildebrand  war  nach  Marees’  Tode  nach 


Arna/.one,  ihr  Pferd  tränkend;  Marmorrelief  von  A.  Volkmann. 


ARTHUR  VOLKMANN. 


171 


Rom  gekommen,  um  in  Gemeinschaft  mit  Dr.  Fiedler 
dessen  Nachlass  zu  ordnen.  Beide  veranlassten  Volk¬ 
mann,  das  Grabdenkmal  Marees’  zu  fertigen.  Dieses 
ist  in  der  Art  einer  attischen  Grabstele  gedacht  und 
mit  einem  Relief  geschmückt,  welches  uns  den  Ver¬ 
storbenen  in  antiker  Tracht  zeigt;  er  wird  von  dem 
Genius  des  Todes,  der 
durch  einen  nackten, 
jugendfrischen  Knaben 
dargestellt  ist,  einer 
jugendlichen  weib¬ 
lichen  Gestalt  zuge¬ 
führt,  die  ihm  die 
Rechte  reicht,  mit  der 
linken  Hand  ihm  aber 
einen  Lorbeerkranz  auf 
das  Haupt  zu  setzen 
im  Begriff  ist.  Die  bei¬ 
den  Hauptfiguren  sind 
im  Profil  dargestellt, 
der  Knabe  wendet  dem 
Beschauer  sein  Ange¬ 
sicht  voll  zu.  Als  In¬ 
schrift  lesen  wir  nur: 

Hans  von  Marees  1837 
bis  1887.  Über  dem 
Relief  ist  ein  Kreuz, 
das  der  Künstler  aber 
durch  das  Familien¬ 
wappen  Marees’  zu  er¬ 
setzen  beabsichtigt. 

Hier  mögen  noch  einige 
von  Volkmann  gefer¬ 
tigte  Grabdenkmäler 
erwähnt  werden :  zu¬ 
nächst  das  seiner  El¬ 
tern  auf  dem  Leipziger 
Friedhof,  ein  Rundbild 
mit  den  Porträtköpfen 
der  Verstorbenen;  dann 
das  des  berühmten 
Theologen,  des  Geh. 

Kirchenrates  Hase  und 
seiner  Gemahlin  auf 
dem  Friedhof  zu  Jena.  Auch  hier  hat  Volkmann  das 
Rundbild  gewählt,  und  zwar  hat  er  ein  römisches  Grab¬ 
relief  als  Vorbild  genommen,  das  sich  in  der  vatikani¬ 
schen  Antikensammlung  befindet  und  früher  wohl  als 
Cato  und  Porcia  bezeichnet  wurde.  (Sala  deibusti,  Nr. 
388.)  Eine  Wiederholung  dieses  antiken  Reliefs  von  der 
Meisterhand  Rauch’s  schmückt  das  Grab  Niebuhr’s 


in  Bonn.  Endlich  noch  ein  Reliefporträt  des  jung 
verstorbenen  Töchterchens  des  bekannten  Kunst¬ 
historikers  W.  von  Seidlitz,  der  in  der  Zeitschrift: 
„Die  Kunst  für  Alle“,  6.  Jahrgang,  Seite  161  —  163 
in  liebevoller  Weise  des  Künstlers  Thätigkeit  ge¬ 
schildert  hat.  Dieser  Artikel  ist  bei  der  vorliegenden 

Arbeitmit benutzt  wor¬ 
den;  das  dankend  zu 
erwähnen,  soll  nicht 
vergessen  werden. 

Alle  erwähnten 
Reliefs  sind  in  Mar¬ 
morgearbeitet,  daVolk- 
mann  dieses  Material 
besonders  begünstigt. 
Dass  er  auch  in  Bronze 
arbeitet,  ist  schon  ge¬ 
sagt  worden;  andere 
Bronzefiguren  von  ihm 
sind:  „Marianna“,  eine 
weibliche  Büste,  versil¬ 
bert,  im  Besitz  des  Prof. 
Prell  in  Dresden,  dann 
ein  Psyche,  weiter  Ga¬ 
nymed,  eine  kleine 
Figur  im  Besitz  des 
Dr.  Fiedler  in  München, 
eine  Reiterfigur,  eine 
jugendliche  Mädchen¬ 
gestalt  mit  Spiegel  im 
Besitze  des  Hrn.  Ciclio- 
riusin  Leipzig.  In  Volk¬ 
manns  Atelier  sind  auch 
noch  mehrere  Ent¬ 
würfe  für  Bronzearbei¬ 
ten,  ein  prächtiger  alter 
Silen  auf  dem  Esel 
reitend,  dann  Telema- 
chos  von  zwei  Hunden 
begleitet. 

Kurz  nach  dem 
Tode  des  Geh.  Rates 
Richard  von  Volkmann 
in  Halle  beschlossen  die 
Freunde  und  Verehrer  des  im  kräftigen  Mannesalter 
verstorbenen  Gelehrten,  der  Nachwelt  sein  Bild  in  Mar¬ 
mor  zu  überliefern  und  beauftragten  unseren  Künstler 
mit  der  Ausführung  dieser  Aufgabe.  Allerdings  war 
Arthur  Volkmann  besonders  geeignet,  diesem  Mann 
ein  würdiges  Denkmal  zu  schaffen,  da  er,  durch  Ver¬ 
wandtschaft  mit  ihm  verknüpft,  in  engem  Verkehr 

23* 


Grabdenkmal  für  Hans  von  Maries  von  A.  Voi.kmann. 


172 


ARTHUR  VOLKMANN. 


mit  ihm  gestanden  hatte.  Die  beiden  Vettern  waren 
geistig  verwandte  Naturen,  und  trotz  des  Altersunter¬ 
schiedes  herrschte  zwischen  ihnen  ein  edler  Freund¬ 
schaftsbund.  Richard  von  Volkmann  war  ja  nicht 
nur  der  geschickte  Chirurg  und  der  berühmte  Ge¬ 
lehrte,  sondern  auch  der  feinsinnige  Dichter  und 
der  gemütvolle  Märchenerzähler.  So  ist  es  leicht 
erklärlich,  dass  der  dichtende  und  bildende  Künstler 
sich  zu  einander  hingezogen  fühlten.  Richard  von 
Volkmann  weilte  bei  seinem  wiederholten  Aufent¬ 
halt  in  Rom  gern  in  sei¬ 
nes  Vetters  Atelier  und 
verfolgte  dessen  künst¬ 
lerische  Entwicklung  mit 
inniger  Teilnahme.  Schon 
früher  hatte  Arthur  Volk¬ 
mann  den  Kopf  seines 
Vetters  modellirt,  und 
diese  Vorarbeit  war  ihm 
bei  der  jetzigen  Aufgabe 
von  großem  Nutzen.  Ende 
1890  war  der  Entwurf  zu 
diesem  Denkmal  vollen¬ 
det  und  wurde  nun  dem 
Hallischen  Denkmal- 
comite  zur  Beurteilung 
übersandt.  Leider  fand 
dieser  erste  Entwurf  nicht 
den  Beifall  der  Hallischen 
Kunstverständigen.  Volk¬ 
mann  hat  den  Entwurf  an 
eine  Wand  seines  Ateliers 
in  Rom  in  großen  Um¬ 
rissen  mit  Kohle  hinge¬ 
zeichnet;  so  sah  ihn  der 
Schreiber  dieser  Zeilen. 

Auf  einer  schlichten  atti¬ 
schen  Hermensäule  er¬ 
hebt  sich  der  Porträtkopf 
Richard  von  Volkmanns,  vor  der  Säule  sitzt  ein 
Knabe  mit  einem  Buche,  auf  dem  man  den  Namen 
Leander  liest,  zur  Linken  der  Herme  steht  die  lebens¬ 
große  Gestalt  des  Asklepios,  zur  Rechten  die  der 
Mnemosyne.  Volkmanns  Kopf  tritt  dem  Beschauer 
packend  entgegen,  man  fühlt  unwillkürlich,  dass 
man  dem  Bilde  eines  bedeutenden  Mannes  gegen¬ 
übersteht!  Die  antiken  Nebenfiguren,  kleiner  als  die 
Herme,  verherrlichen  in  einfacher  Weise  Volkmanns 
Thätigkeit  als  Arzt  und  Dichter.  Dieser  Entwurf 
also  wurde  von  der  Mehrheit  des  Comites  zurück¬ 
gewiesen.  Der  Künstler  wurde  aufgefordert,  einen 


neuen  Plan  anzufertigen  und  sich  dabei  mehr  an 
den  herkömmlichen  Denkmalstil  zu  halten.  Volk¬ 
mann  empfand  dieses  Urteil  sehr  schmerzlich,  da  er 
sich  mit  vollem  Rechte  sagen  konnte,  nicht  nur  etwas 
Eigentümliches,  sondern  auch  etwas  Schönes  ge¬ 
schaffen  zu  haben.  Aber  auch  in  dem  neuen  Ent¬ 
würfe  suchte  er  seiner  Aufgabe  gerecht  zu  werden. 
Ob  es  ihm  so  wie  bei  dem  ersten  Entwurf  geglückt 
ist,  ist  eine  andere  Frage.  Richard  von  Volkmann 
ist  sitzend  dargestellt,  überlebensgroß;  in  der  rechten 

Hand,  welche  sich  leicht 
auf  die  Lehne  des  Sessels 
stützt,  hält  er  eine  halb¬ 
geöffnete  Schriftrolle,  die 
Linke  ruht  auf  dem  vor¬ 
gestreckten  Bein.  Von 
der  Schulter  fällt  ein 
schwerer  Mantel  herab, 
der  den  Unterkörper  ver¬ 
deckt  und  nur  den  linken 
Fuß  zum  Teil  frei  lässt. 
Der  unbedeckte  Kopf  ist 
von  großer  Wirkung,  er 
ist  vom  ersten  Entwurf 
wohl  nur  mit  einer  klei¬ 
nen  Änderung  beibehal¬ 
ten.  An  der  Vorderseite 
des  Postamentes  ist  ein 
Marmorrelief:  rechts  As¬ 
klepios,  links  die  Muse 
der  Dichtkunst  den  Pega¬ 
sus  am  Zügel  haltend,  vor 
dem  Flügelross  sitzt  auf 
einem  Felsblock  Pallas 
Athene,  die  Schirmgöttin 
der  Kunst  und  Wissen¬ 
schaft.  So  hat  der  Künst¬ 
ler  die  früher  freistehend 
gedachten  Figuren  in  ein 
flaches  Relief  bringen  müssen !  Und  doch  ist  auch  dieses 
Relief  ein  schönes  Zeugnis  von  Volkmanns  einfacher 
und  schlichter  Kunst,  ln  seinem  Atelier  ist  das  Modell 
zu  diesem  Relief  in  sehr  zarter  Weise  polychrom 
behandelt  und  erzielt  dadurch  eine  große  Wirkung. 
Warum  ist  in  Halle  die  Polychrom ie  nicht  ange¬ 
wandt,  da  das  Relief  sich  doch  nicht  an  der  Wetter¬ 
seite  befindet,  die  Farben  sich  also  leicht  erhalten 
lassen?  Hat  der  Künstler  den  Hallischen  Kunst¬ 
verständigen  eine  solche  Neuerung  nicht  vorzuschlagen 
gewagt?  Erst  1894  bei  der  großen  Jubiläumsfeier 
der  Universität  Halle  wurde  das  Denkmal,  welches 


Erster  Entwurf  für  das  Denkmal  Richard  von  Volkmanns  in  Halle; 
von  A.  Volkmann. 


ARTHUR  VOLKMANN. 


173 


vor  der  chirurgischen  Klinik  aufgestellt  ist,  feierlich 
enthüllt.  Der  Schöpfer  desselben  war  bei  dieser  Feier 
nicht  zugegen.  —  Beim  Beschauen  des  Denkmals 
empfindet  man  lebhaftes  Bedauern  darüber,  dass  an 
dem  bestimmten  Platze  nicht  der  erste  Entwurf  auf¬ 
gestellt  ist,  da  er  sich  für  diese  Stelle  viel  besser 
eignen  würde.  Hätte  H.  Heydemann  damals  noch 
gelebt,  so  würde  das  Urteil  des  Haifischen  Comite’s 
wohl  ein  anderes  geworden  sein! 

Die  polychrome  Technik  verwendet  Volkmann 
bei  all  seinen  neueren  Arbeiten,  so  in  dem  wohl  jetzt 
erst  vollendeten  flachen  Marmorrelief  „Die  Löwen¬ 
jagd“.  Vier  Reiter  bekämpfen 
einen  anspringenden  Löwen. 

Hier  sind  die  Pferde  sehr  gut 
gelungen.  Dann  in  dem  Ent¬ 
wurf  zu  einem  Monumental¬ 
brunnen:  eine  Amazone  ihr 
Pferd  tränkend  als  Hochrelief 
über  der  Brunnenöffnung  ge¬ 
dacht.  Dieser  Entwurf  wird 
jetzt  in  Marmor  ausgeführt  und 
soll  im  Garten  des  Generals 
von  Hübel  in  Dresden  aufge¬ 
stellt  werden.  Weiter  in  dem 
flachen  Relief,  welches  einen 
Opferzug  darstellt,  auch  noch 
unvollendet. 

Für  Statuen  hat  Volkmann 
jetzt  eine  völlig  naturgetreue 
Bemalung  gewählt.  Auf  den 
Ausstellungen  in  München  und 
Dresden  1894  war  von  ihm 
eine  dreiviertel  lebensgroße 
Marmorstatue  eines  Mannes 
ausgestellt,  welche  die  Bezeich¬ 
nung:  „Am  Ziele“  führt.  Der 
Sieger  im  Wettlauf  bei  einem 
hellenischen  Festspiel  hat  das 
Ziel  erreicht;  von  der  Anstrengung  ausruhend,  stützt 
er  sich  mit  der  rechten  Hand  auf  einen  Baumstamm, 
die  finke  ist  auf  die  noch  heftig  arbeitende  Brust 
gelegt,  er  ist  unbekleidet.  Der  Körper  ist  leicht  ge¬ 
beizt,  das  Haar  bemalt.  Ohne  alles  Haschen  nach 
Erfolg,  einfach  und  schlicht  steht  dieses  Werk  da 
und  erinnert  unwillkürlich  an  die  Meisterwerke  hel¬ 
lenischer  Kunst.  In  der  Galerie  Borghese  ist  eine 
jugendliche  weibliche  Statue,  archaisch,  Original  aus 
dem  Peloponnes,  welche  unserem  Künstler  wohl  un¬ 
bewusst  bei  mancher  Arbeit  vorgeschwebt  hat.  In 
dem  Katalog  der  Collezione  Edelweiß  ist  diese  Statue 


auf  Seite  44  unter  Nr.  216  in  der  Camera  7a  an¬ 
geführt.  —  Andere  Werke  sind  erst  im  Modell  voll¬ 
endet  und  harren  noch  ihrer  Ausführung  in  Marmor; 
so  eine  weibliche  Kniefigur;  dann  die  lebensgroße  sit¬ 
zende  Darstellung  Nestors.  Der  „alte  Zecher“  führt  die 
goldene  Schale  zum  Munde,  in  seinen  Mienen  sehen 
wir  den  Ausdruck  heiterer  Ironie,  der  Frucht  langer 
Erfahrung  und  wahrer  Lebensweisheit,  von  der  er 
seinen  Zuhörern  freigebig  mitzuteilen  scheint.  Diese 
Statue,  mit  einem  Mantel  um  die  Hüften  bekleidet, 
ist  vollständig  bemalt  und  gewinnt  dadurch  un- 
gemein  an  Lebendigkeit  und  Natürlichkeit.  Das 
Gegenstück  zum  Nestor  bildet 
eine  gleichfalls  sitzende  Gestalt 
im  besten  Mannesalter,  auch 
erzählend  dargestellt,  unbe¬ 
kleidet.  Auch  sie  soll  poly¬ 
chrom  behandelt  werden.  Bei 
der  Bezeichnung  dieser  Statue 
schwankt  der  Künstler  noch, 
ob  er  den  Namen  des  listigen 
Helden  von  Itliaka,  den  des 
Odysseus’,  wählen  soll,  oder  ob 
er  sie  einfach:  A&HNAI02 
nennen  soll,  da  die  Haupteigen¬ 
schaft  des  Odysseus’,  in  dem 
Gesichtsausdruck  jener  Statue 
weniger  hervortritt. 

Volkmann  vermeidet  fast 
ängstlich  alles,  was  irgendwie 
den  Anschein  des  Gemachten 
und  nach  Effekt  Haschenden 
geben  könnte.  In  seinen  Wer¬ 
ken  tritt  der  eigene  Charakter 
des  Künstlers  zu  Tage.  Ruhig 
und  bescheiden  lebt  er  in  seiner 
einsamen  Wohnung,  bedient  von 
dem  alten  braven  Tommaso,  der 
einst,  als  er  sich  noch  des  vollen 
Gebrauches  des  Augenlichtes  erfreute,  selbst  Bildhauer 
war.  Freundlich  und  liebenswürdig  empfängt  Volk¬ 
mann  die  ihn  aufsuchenden  Landsleute,  unterstützt  sie 
mit  Rat  und  Tliat  und  widmet  sich  ihnen  gern  während 
der  Abendstunden;  denn  am  Tage  arbeitet  er  von  früh 
an,  sich  nur  kurze  Pausen  der  Erholung  gönnend.  Der 
Fleiß,  jene  Haupteigenschaft  des  wahren  Talentes, 
fehlt  ihm  nicht.  Und  so  hoffen  wir,  dass  noch  man¬ 
ches  Meisterwerk  aus  seiner  Werkstatt  hervorgehen 
werde,  wenn  der  Künstler  es  auch  verschmäht,  nach 
der  Gunst  der  Menge  zu  streben  und  sich  selbst  in 
Mode  zu  bringen!  ECKSTEIN -ZITTAU. 


ÜBER  DAS  RESTAURIREN  VON  BAUDENKMALEN. 

VON  MAX  SCH  MID- AACHEN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ESTAURATOR  und  Bilder¬ 
verderbei'  waren  für  Lermo- 
lieif-  Morelli  identische  Be¬ 
griffe.  In  der  Tliat  büßt 
jedes  Kunstwerk,  das  einer 
Restaurirung  unterworfen 
wird,  einen  ganz  erheblichen 
Teil  seines  Reizes  für  den 
Genießenden,  seines  Wertes  für  den  Forschenden  ein. 

Dennoch,  sobald  ein  Kunstwerk  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  durch  die  zerstörenden  Einflüsse 
der  Zeit,  der  Witterung,  der  Luft  und  des  Lichtes 
mitgenommen  ist,  wird  ein  solcher  Angriff  auf  seine 
erste  jungfräuliche  Erscheinung  unvermeidlich.  Frü¬ 
here  Jahrhunderte  operirten  dabei  mit  voller  Un¬ 
befangenheit.  Sie  wollten  das  Kunstwerk  nicht 
wissenschaftlicher  Forschung  erhalten,  sondern  dem 
Auge  des  Beschauers  in  verschönter  und  verjüngter 
Form  darbieten,  und  zwar  verschönert  nach  dem 
jeweiligen  Gaschmacke  der  Zeit.  So  wurde  die  Lao- 
koongruppe  aus  einer  Antike  zu  einem  Renaissance¬ 
werke  umgeschaffen,  so  wurde  Verrocchio’s  Taufe 
Christi  in  der  Florentiner  Akademie  durch  Über¬ 
malung  mit  Ölfarben  gründlich  modernisirt,  aller¬ 
dings  nicht  durch  Lionardo’s  Hand,  wie  manche 
annehmen. 

Schädlich  waren  solche  Eingriffe  für  Skulpturen 
und  Gemälde,  wenigstens  wenn  man  sich  auf  den 
Standpunkt  des  modernen  Forschers  stellt.  Anders 
liegen  die  Dinge  bei  Architekturen.  Geschahen 
die  Ergänzungen,  Einbauten  und  Einfügungen, 
von  Monumenten  mit  Geschmack,  mit  Rücksicht 
auf  Raumverhältnisse  und  Ton  wirkung  des  Vorhan¬ 
denen,  so  trugen  sie  meist  zur  Belebung,  Bereiche¬ 
rung  und  malerischen  Verschönerung  der  Kirchen 
bei.  Es  wird  in  Italien  keinen  Unbefangenen  ge¬ 


stört  haben,  dass  manche  der  älteren  Kirchen  wahre 
Museen  der  Kunst  verschiedener  Jahrhunderte  ge¬ 
worden,  dass  gotische  Bauten  Oberitaliens  mit  Re¬ 
naissancefresken  ausgemalt,  mit  barocken  Neben¬ 
kapellen  und  Denkmalen  geschmückt  sind,  dass  jeder 
Raum  im  Laufe  der  Jahrhunderte  ausgenutzt  wurde. 

In  diese  stattlich  gefüllten,  malerisch  schönen, 
überall  eigenartigen  und  reizvollen  Bauten  hat  nun 
schon  vielerorten,  besonders  in  Deutschland,  die 
rauhe  Hand  des  „Restaurators“  unerbittlich  einge- 
griffen,  und  zwar  mit  einer  Rücksichtslosigkeit,  die 
in  Plastik  und  Malerei  nicht  mehr  gestattet  wird. 
Wo  in  Galerieen  heute  verständige  Direktoren  und 
gebildete  und  erfahrene  Restauratoren  Zusammen¬ 
wirken,  wird  das  Original,  so  weit  irgend  möglich, 
geschont.  In  der  Skulptur  sind  wir  sogar  bereits 
soweit  gekommen,  ohne  „Ergänzung“  und  „Ver¬ 
besserung“  die  Fundstücke  aufzustellen,  sie  nur  von 
allem  Ungehörigen  zu  befreien,  wie  das  in  glänzen¬ 
der  Weise  bei  den  Resten  des  pergamenischen 
Altarbaues  gelang.  Selbst  den  Edelrost  der  Jahr¬ 
hunderte  bewahren  heute  die  Marmorfiguren  und 
spätere  Generationen  werden  uns  für  diese  Sorgfalt 
Dank  wissen. 

Anders  liegen  die  Dinge  bei  den  architekto¬ 
nischen  Restaurationsarbeiten.  Die  Mehrzahl  der  äl¬ 
teren  Bauten  ist  heute  noch  im  Gebrauch,  und 
auch  wo  dies  nicht  der  Fall,  verlangt  die  Sicherung 
des  Baues  oft  tiefgehende  Eingriffe  in  den  Organis¬ 
mus  des  Gebäudes,  das  moderne  Bedürfnis  oft  aus¬ 
gedehnte  An-  und  Umbauten. 

Soweit  derartige  Arbeiten  mit  möglichster  Scho¬ 
nung  des  Vorhandenen  geschehen,  sind  sie  eben  un¬ 
vermeidlich,  lassen  auch  zumeist  den  Grundcharakter 
des  Baues  unangetastet. 

Verheerend  aber  hat  in  den  alten  Bauten  der 


ÜBER  DAS  RESTAURIREN  VON  BAUDENKMALEN 


175 


„strenge  historische  Geschmack“  gewirkt,  der  ganz 
besonders  an  kirchlichen  Bauten  sein  Vernichtungs¬ 
werk  begann. 

Es  ist,  als  ob  der  Militarismus  auch  in  der 
Kunst  zur  Herrschaft  gekommen  wäre.  Da  muss 
alles  ordentlich  ausgerichtet  in  Reih  und  Glied 


gemüht,  den  Reiz  der  Ruinen  zu  besingen,  die 
altersgrauen  Mauern,  in  deren  Ritzen  und  Spalten 
Moos  und  Strauchwerk  nistet.  Wie  lange  währt’s, 
dann  melden  uns  nur  noch  die  Lieder  davon.  Die 
jammervollsten  Türme  und  unbenutztesten  Mauern 
werden  heute  säuberlich  „bloßgelegt“,  ergänzt,  regel- 


Fig.  l.  Trierer  Liebfrauenkirche.  Fassade. 


stehen.  Jeder  Messingknopf  muss  glänzen,  als  ob 
er  über  die  Knopfgabel  gezogen  wäre.  Und  vor 
allem  muss  alles  hübsch  weiß,  oder  doch  wenig¬ 
stens  frisch  und  bunt  angestrichen  sein,  muss  glän¬ 
zen,  wie  die  Monturen  bei  der  Parade. 

Jahrzehnte  hindurch  haben  sich  die  Dichter  ab¬ 


recht  ausgemauert  und  stehen  nun  als  formlose 
Würfel  oder  Cylinder  mit  einem  monotonen  Schiefer¬ 
dach  kahl  und  reizlos  auf  ihrem  Platze. 

Alles  Unheil,  was  die  Bilderstürmer  der  Refor¬ 
mation  und  Revolution  angerichtet,  verschwindet 
dagegen.  Grabdenkmale  und  Altäre  wurden  damals 


176 


UBER  DAS  RESTAURIREN  VON  BAUDENKMALEN. 


aus  Kirchen  und  Kapellen  entfernt.  Aber  sie  wan¬ 
delten  nur  zum  Teil  in  die  Museen,  zum  Teil  kehr¬ 
ten  sie  nach  kurzem  Exil  wieder  an  ihre  ehemalige 
Stätte  zurück.  Waren  sie  in  die  Wände  eingemauert, 
so  begnügte  man  sich  wohl  auch,  sie  durch  einen 
Bretterverschlag  zu  verstecken,  und  so  hat  beispiels¬ 
weise  der  Dom  zu  Trier  noch  die  Mehrzahl  seiner 
alten  Altäre,  Kanzeln  und  Grabmale  gerettet. 

Viel  gründlicher  gingen  die  mit  „Stilgefühl“ 
begabten  Restauratoren  vor.  Nicht  nur  Kanzeln 
und  Altäre  werden  abgerissen,  stilwidrige  Türme 
und  Kapellen  beseitigt,  nein,  weithin  im  Umkreise 
wird  alles  niedergelegt,  was  irgendwie  erreichbar  ist. 

Ungezählte  Millionen  hat  es  dem  deutschen 
Volke  gekostet,  und  kostet  es  ihm  heute  noch, 
dieses,  .Ereilegun  gs- 
fieber“ ,  Millionen, 
die  absolut  unpro¬ 
duktiv  verschleu¬ 
dert  wurden.  Ja, 
man  hat  diese  Mil¬ 
lionen  vergeudet, 
lediglich  zu  dem 
Zwecke,  um  schöne 
und  malerische  Stä¬ 
dtebilder  zu  zer¬ 
stören  und  damit 
den  Reiz  der  an¬ 
geblich  verschöner¬ 
ten  Bauwerke  zu 
vernichten. 

W enn  die  Häu¬ 
ser  der  Berliner 
Schlossfreiheit  nie¬ 
dergelegt  wurden, 
so  fiel  eine  Reihe  hässlicher  Buden,  und  dafür  trat 
das  machtvolle  Portal  Eosanders  zum  erstenmal 
sichtbar  hervor.  Seine  volle  Größe  aber  wird  es 
erst  dann  offenbaren,  wenn  an  Stelle  jener  nieder¬ 
gelegten  hässlichen  Gebäude  dekorativ  wirksame, 
kleinere  Bauten  oder  Anlagen  errichtet  sind,  sei  es, 
dass  die  projektirte  Denkmalshalle  zur  Ausführung 
kommt,  oder  dass  andere  Zierbauten  dort  aufgeführt 
werden,  die  unter  Freilassung  des  Blickes  auf  das 
Portal  die  kahlen  Fassadenteile  zu  beiden  Seiten  des¬ 
selben  verstecken  und  für  die  gewaltigen  Dimen¬ 
sionen  des  Baues  einen  Maßstab  ergeben. 

Anders  stand  die  Sache  bei  der  Freilegung  des 
Kölner  Domes.  Die  gotischen  Riesenkathedralen  er¬ 
hoben  sich  im  Mittelalter  gerade  in  denjenigen 
Städten  am  gewaltigsten,  die  reich  und  blühend 


innerhalb  der  Ringmauer  eine  zahlreiche  Bürger¬ 
schaft  zusammendrängten.  Je  enger  der  Häuser¬ 
gürtel  sich  um  sie  schloss,  um  so  leichter,  freier 
und  höher  suchte  der  Architekt  sie  über  dieselben 
hinauszuheben.  Durch  schmale  Gassen  hindurch 
gewann  man  den  Ausblick  auf  reichgeschmückte 
Fassadenteile,  auf  Riesentürme,  die  alles  überragend 
emporstiegen.  Der  Schwerpunkt  der  Entwickelung, 
ganz  besonders  bei  deutschen  Bauten,  lag  in  der 
Ausgestaltung  des  Inneren.  Im  Äußeren  wurde  sorg¬ 
los  das  konstruktive  Gerüst  gezeigt.  Unregelmäßig¬ 
keiten,  Unsymmetrie  wurden  nicht  als  Übel  em¬ 
pfunden.  Waren  am  Kölner  Dom  die  Streben  der 
einen  Chorseite  reicher  entwickelt  als  die  der  an¬ 
deren,  so  störte  das  nicht.  Klebten  doch  meist  un¬ 
mittelbar  am  Chor 
Grabdenkmale, 
Hütten  und  Häus¬ 
lein,  malerisch  zwi¬ 
schen  Kapellen  ein¬ 
genistet,  und  nur 
selten  lag  der  Chor 
so  frei,  dass  man 
in  schnellem  Um¬ 
gänge  beide  Seiten 
miteinander  ver¬ 
gleichen  konnte. 
Hatten  unsere 
V orfahren  kein 
Kunstverständnis  ? 
Fehlten  ihnen  Ge¬ 
schmack  und  Sinn 
für  Schönheit?  Oder 
warum  sonst  dul¬ 
deten  sie  diese  Ge¬ 
staltung  der  Dinge?  Nun,  die  Kostbarkeit  des  Raumes 
in  der  engumschlossenen  Stadt  hat  wohl  vielfach  der¬ 
artige  Anbauten  verursacht.  Aber  als  Schönheitsfehler 
wird  man  sie  offenbar  nicht  empfunden  haben,  und 
o-anz  mit  Recht  hat  man  daher  bei  der  Wiederher- 

o 

Stellung  des  Aachener  Rathauses  dafür  gesorgt,  dass 
zur  Seite  einige  ältere  Fachwerksbauten,  hübsch 
wiederhergestellt,  sich  an  den  riesigen  Körper  des 
Gebäudes  anschmiegen.  Weshalb  solche  Anbauten 
notwendig  sind,  hat  Camillo  Sitte  in  seinem  bahn¬ 
brechenden  Büchlein  „Der  Städtebau“  auseinander- 
o-esetzt,  und  es  braucht  hier  nicht  wiederholt  zu 
werden 

Demnach  würden  diese  Anbauten  nur  da  zu 
entfernen  sein,  wo  sie  besonders  schöne  und  reiz¬ 
volle  Teile  des  Gebäudes  verbergen.  Sodann  wäre 


ÜBER  DAS  RESTAURIREN  VON  BAUDENKMALEN. 


177 


Sorge  zu  tragen,  dass  auch  die  umgebenden  Straßen 
soweit  erhalten  bleiben,  dass  einmal  ein  malerischer 
Abschluss  des  Platzes  nach  den  verschiedenen  Seiten 
hin  gewahrt  bleibt,  dass  zum  zweiten  aus  den 
Straßen  malerische  Ausblicke  sich  ergeben,  und 
zum  dritten  überall  der  richtige  Maßstab  für  das 
Gebäude  sich  aus  der  Umgebung  gewinnen  lässt. 

Dagegen  ist  nirgends  gründlicher  gesündigt  als 
am  Kölner  Dom,  und  die  architektonischen  Mängel 
dieses  nackt  und  kahl  auf  einen  Präsentirteller  von 


zeitigen  Einspruch  abzuwenden  ist,  da  bis  zur  Auf¬ 
bringung  der  dazu  nötigen  Mittel  immerhin  noch 
einige  Jahre  hoffentlich  vergehen  werden.  Es  sei 
deshalb  gestattet,  es  hier  etwas  eingehender  zu  er¬ 
örtern. 

Zur  Zeit  wird  der  volle  Überblick  über  diese 
„Fassade“  dadurch  gehindert,  dass  nur  durch  eine 
schmale  Gasse  die  Küsterwohnung  (vgl.  Fig.  2  e), 
von  ihr  getrennt  ist.  Zum  Glück.  Denn  diese 
sogen.  Fassade  war  wohl  niemals  als  ein  Effekt- 


Fig.  3.  Entwurf  für  die  Umgestaltung  des  Zuganges  zur  Liebfrauenkirche  in  Trier. 


gewaltiger  Ausdehnung  gesetzten  Baues  treten  heute 
um  so  greller  hervor.  Einen  wirklichen  Eindruck 
hat  man  heute  nur  noch  von  dem  naheliegenden 
kleinen  Wallrafplatz  aus,  von  wo  die  vorliegenden 
Häuser  einen  Maßstab  geben. 

Aber  die  blinde  Begeisterung  für  „Freilegung“ 
geht  soweit,  dass  man  gar  nicht  mehr  danach  fragt, 
ob  eine  Fassade  auch  der  Freilegung  überhaupt 
wert  sei.  Bezeichnend  ist  dafür  das  Projekt,  die 
Fassade  der  Liebfranenkirche  zu  Trier  freizulegen, 
ein  Unglück,  das  von  dem  reizenden  Denkmal  frü¬ 
hester  deutscher  Gotik  vielleicht  noch  durch  recht¬ 


stück  gedacht  (vgl.  Fig.  1).  Über  dem  bekannten 
Portal  erhebt  sich  in  zwei  Stockwerken  die  Ober¬ 
mauer,  von  einfachen,  in  ihren  Achsen  nicht  ein¬ 
mal  genau  übereinander  gestellten  Fenstern  durch¬ 
brochen.  Den  etwas  stumpfen  Giebel  schmückt 
eine  kolossale  Kreuzigungsgruppe,  die  unverhält¬ 
nismäßig  auf  dem  Ganzen  lastet.  Diese  Fassade 
wirkt  nur  erträglich,  so  lange  man  sie  von  der 
Seite  her,  also  verkürzt  sieht,  wobei  der  dar¬ 
über  hervortretende  Turm  des  Baues  ausgleichend 
mitwirkt.  Eine  Niederlegung  der  Küsterwohnung 
würde  also  der  Fassade  schaden. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  7. 


24 


17S 


ÜBER  DAS  RESTAURIREN  VON  BAUDENKMALEN. 


Schaden  würde  aber  dabei  auch  der  unmittelbar 
angrenzende  Dom  leiden.  Dem  von  der  Stadt  her  über 
deu  Domfreibof  (c)  herankommenden  erschien  der  Dom 
(a)  als  den  Platz  beherrschendes  Bauwerk,  nur  sekun- 
dirt  vom  Turmbau  der  Liebfrauenkirche,  während  deren 
Unterbau,  der  wenig  glücklich  mit  dem  Dom  selbst 
sich  verbindet ,  hinter  einer  hohen  Mauer  (d)  ver¬ 
schwand.  Nach  der  projektirten  Freilegung  hätte 
er  diese  Herrschaft  mit  der  Liebfrauenkirche  zu 
teilen,  ohne  dass  damit  ein  wirksames  Architektur¬ 
bild  gewonnen  wäre. 

Würde  man  dagegen  die  Küsterwohnung  (e)  res- 
tauriren,  ausbauen,  und  ein  kleines  Stück  der  daneben 
befindlichen  Mauer  abtragen  (bei  h),  so  würde  den 
vom  Dome  Heranschreitenden  ein  anziehendes  Archi¬ 
tekturbild  (Skizze  3)  überraschen.  Zur  Linken  die 
sich  verschiebenden  Bauformen  des  Domes  und  der 
Kirche,  zur  Rechten  die  Küster wohnung,  hinter  der 
andere  kleinere  Bauten  auftauchen,  und  im  Hinter¬ 
gründe  als  malerisch  wirkungsvoller  Abschluss  die 
tiefen  Töne  der  Kesselstadt’schen  Palastfassade.  So 
wäre  eine  die  Wirkung  des  Platzes  und  der  Straße, 
und  damit  die  Wirkung  der  Kirchen  erhöhende  An¬ 
lage  mit  geringen  Unkosten  zu  schaffen,  ohne  den 
Neubau  einer  Küsterwohnung  an  entlegener  Stelle 
nötig  zu  machen. 

Wie  die  Freilegungsmanie  den  künstlerischen 
Eindruck  des  Außenbaues,  so  vernichtet  der  „Puris¬ 
mus“  den  malerischen  Effekt  der  Interieurs.  Wie 
lange  wird  noch  der  Grundsatz  gültig  bleiben,  dass 
Renaissance,  Barock  und  Rokoko  gnadenlos  weichen 
müssen,  dass  romanische  Kirchen  nur  romanische, 
gotische  nur  gotische  Skulpturen  dulden? 

Die  Prachtaltäre,  die  unsere  biederen  Vorfahren 
in  ihrem  frommen  Sinne  stifteten,  die  sie  Gott  und 
ihrer  Kirche  zu  Ehren  errichteten,  vor  denen,  wie 
sie  hofften,  noch  späte  Generationen  in  Andacht 
knieen  sollten,  sie  liegen  vor  den  Kirchthürnn  hin- 
gestreckt,  nicht  zerstört  von  den  Feinden  der  Kunst 
oder  der  Kirche,  sondern  von  den  Stileiferern.  Die 
Stilgerechtigkeit  ist  eine  Flamme,  die  die  Wissen¬ 
schaft  angefacht,  und  die  nun  zum  Schadenfeuer 
geworden.  Es  ist  Sache  der  Gelehrten,  wie  auch 
der  Kirche,  hier  durch  Aufklärung  Wandel  zu 
schaffen  und  den  Übereifer  zu  dämpfen. 

Ist  eine  Kirche  solchergestalt  freigelegt  und 
purifizirt,  dann  pflegt  man,  falls  es  die  Mittel  ge¬ 
statten,  die  dritte  Sünde  an  ihr  zu  begehen,  man 
.malt  sie  aus*.  Natürlich  „stilgemäß“,  vor  allem 
.stilgemäß“.  Die  Schönheit,  der  Geschmack  kommen 
dabei  wenig  in  Frage.  Man  durchwandere  heute  die 


Bauten  des  Mittelalters,  am  Harz  wie  im  Rheinland, 
in  Nord-  und  Süddeutschland,  überall  mit  wenigen 
Ausnahmen,  begegnen  uns  Beispiele  jener  grell  be¬ 
malten  Wände,  jener  goldglänzenden  Ornamente  auf 
knallrotem  Grund,  jener  grünen  Bänder  auf  ultra¬ 
marinblauen  Säulen.  Ich  will  hier  nicht  untersuchen, 
ob  die  primitive  Farbenskala  der  frühmittelalterlichen 
Kunst  so  barbarische  Effekte  bedingte,  ob  sie  wirk¬ 
lich  dem  Stil  der  guten  Werke  jener  Zeit  entsprechen. 
Aus  den  seltenen  erhaltenen  Resten  und  aus  den 
Buchmalereien  scheint  mir  hervorzugehen,  dass  man 
jene  kräftigen  vollen  Farben  häufig  durch  zweck¬ 
mäßige  Verteilung,  durch  Trennungsfarben  und  durch 
verständig  angewandte  Vergoldung  wohl  zusammen¬ 
zustimmen  wusste,  während  manche  neuerdings  re- 
staurirte  Kirchen  papageienhaft  bunt  uns  entgegen¬ 
schreien. 

Aber  gesetzt  auch,  die  alten  Künstler  hätten  so 
geschmacklos  gemalt,  wer  wollte  uns  zwingen,  das 
zu  wiederholen  ?  Erziehung  zum  Kunstempfinden, 
zum  guten  Geschmacke  verlangen  wir  heute  von  der 
Schule,  vom  Zeichenunterricht.  Aber  was  soll  es 
helfen,  wenn  das  Auge  des  Kindes  schon  frühzeitig 
durch  die  Kirche  verbildet  wird  und  heute  grelle, 
bunte  und  schreiende  Töne  an  so  bedeutsamer  Stelle 
auf  sich  wirken  lassen  muss,  die  sich  ohnehin  durch 
unausgesetzt  wiederholte  Betrachtung  außerordent¬ 
lich  stark  einprägen  müssen. 

Zunächst  scheint  mir  eine  durchgehende  Be¬ 
malung  überhaupt  nur  da  angebracht,  wo  der  Stein 
selbst  nicht  hinreichend  schön  wirkt.  In  St.  Nicolai 
zu  Berlin  hat  man  den  Backstein  unverputzt  zur 
Wirkung  gebracht  und  mit  gutem  Erfolge.  Die 
Liebfrauenkirche  zu  Trier  ist  in  einem  wundervollen, 
gelbgrünen  Sandstein  errichtet,  auf  dem  die  farbigen 
Lichter  der  Glasfenster  heute  noch  ein  reizendes 
Spiel  treiben.  Aber  —  wie  bald  wird  diese  Schön¬ 
heit  unter  der  Hand  des  Tünchers  verschwinden, 
und  kaffeebrauner  Grund  mit  gelben  und  grünen 
Lilien,  wie  an  so  vielen  Orten,  auch  hier  sich  aus¬ 
breiten.  Schon  sollen  Projekte  sich  vorbereiten. 
Wird  ausgemalt,  dann  sollte  man  unserem  Empfin¬ 
den  die  Konzession  machen,  dass  allzu  Buntes  und 
allzu  Hartes  vermieden  wird. 

Wo  also  der  Stein  im  Tone  genügend  wirkt,  sollte 
man  auf  die  Bemalung  ganz  verzichten,  den  Steinton 
allein  wirken  lassen  und  dafürzur  Belebung  der  Flächen 
die  Fugen  betonen,  sonst  aber  die  Bemalung  auf  die 
Kapitelle,  auf  die  Gewölbekappen  etc.  beschränken. 
Jedenfalls  hauptsächlich  auf  die  Flächen,  die  aus 
irgend  welchen  technischen  Gründen  verputzt  wer- 


DAS  MÜNSTER  IN  BERN. 


179 


den  müssen,  sowie  auf  die  wichtigsten  konstruk¬ 
tiven  Formen. 

Längst  hat  man  in  Frankreich  die  Bahn  der 
vorsichtigen  und  maßvollen  Wiederherstellung  be¬ 
treten.  Auch  hier  wurden  einst  Decken,  Wände 
und  Pfeiler  bunt  bemalt,  wie  aus  früherer  Zeit  die 
Kathedrale  von  St.  Quentin  beweist.  Dagegen  ver¬ 
fährt  man  neuerdings  mit  größter  Schonung,  ver¬ 
zichtet  vielfach  ganz  auf  Bemalung  oder  hält  diese 
in  zarten,  gebrochenen  Tönen,  wofür  ein  ausgezeich¬ 
netes  Beispiel  die  allerdings  neu  errichtete  Kirche 
St.  Epore  zu  Nancy  ergiebt.  In  Laon  werden  mit 
der  gotischen  Kathedrale  die  Renaissancekapellen 
ebenso  sorgfältig  wiederhergestellt,  Barockkanzeln 
und  Rokokochorschranken  sorgfältig  konservirt. 
Hoffen  wir,  dass  auch  in  Deutschland  die  Dinge  sich 
bessern  und  das  Wüten  gegen  unsere  eigenen 
Kunstwerke  sich  legt! 


Das  ideale  Ziel  wäre,  jene  ehrwürdigen  Bauten 
in  dem  ganzen  malerischen  Reize,  mit  der  Patina 
der  Jahrhunderte,  in  der  alten  malerischen  Um¬ 
gebung  zu  erhalten,  nur  da  auszubessern,  wo  Ge¬ 
fahr  droht,  nur  da  niederzureißen,  wo  wirklich 
schöne  Teile  verborgen  werden.  Mit  all’  ihren  Un¬ 
regelmäßigkeiten  und  ihrer  Unsymmetrie,  mit  all’ 
den  Zufälligkeiten  der  Form  und  Farbe  möchte  man 
sie  erhalten  sehen,  diese  ehrwürdigen  Zeugen  der 
Pietät  vergangener  Geschlechter.  Wie  wunderlich, 
dass  heute,  da  man  bei  uns  noch  so  manche  un- 
restaurirte  Kirche  ihrer  malerischen  Reize  entkleidet, 
in  Süddeutschland  kirchliche  Neubauten  aufgeführt 
wrerden,  die  diese  Reize  künstlich  nachahmen.  Sollte 
das  nicht  stutzig  machen  und  den  puristischen  Eifer 
unserer  Pastores  und  Kirchenbaumeister  abzukühlen 
vermögen?  Hoffen  wir,  dass  sich  die  Erkenntnis 
allmählich  Bahn  bricht! 


DAS  MÜNSTER  IN  BERN1). 

MIT  ABBILDUNGEN. 


EIT  Dr.  Stantz  (1865)  seine 
Beschreibung  des  Berner 
St.  Vincenzenmünsters  her¬ 
ausgab,  die  durch  Wilhelm 
Lübke  im  ersten  Jahr  gange 
dieser  Zeitschrift  bei  den 
Lesern  eingeführt  wurde, 
welche  Veränderungen  sind 
da  mit  dem  ehrwürdigen  Bau,  der  Schöpfung  des 
Mathäus  Ensinger,  vor  sich  gegangen !  Zu  jener  Zeit 
stand  die  westliche  Hauptfassade  des  Münsters  noch 
mit  ihrem  Turmstumpf  und  den  undurchbrochenen 
Fenstern  als  eine  breite,  ungefüge  Masse  da;  nur 
vereinzelte  Stimmen  waren  laut  geworden,  welche 
nach  dem  Ausbau  des  Jahrhunderte  lang  unvollendet 
gebliebenen  Werkes  riefen;  aber  die  rechte  Begeiste¬ 
rung  dafür  fehlte,  und  so  fehlten  auch  die  Mittel 
und  die  zur  Ausführung  berufenen  Kräfte. 


1)  Festschrift  zur  Vollendung  der  St.  Vincenzenkirche  von 
Dr.  B.  Haendcke  und  Aug.  Müller.  Bern,  Schmid,  Francke 
&  Co.,  1894.  VIII  u.  179  S.  gr.  4«. 


Das  alles  ist  inzwischen  auf  rühmenswerte  Weise 
völlig  anders  geworden!  1878  entstand  in  Bern  ein 
Münsterbauverein,  der  sich  1887  neu  und  fester 
konstituirte;  durch  Sammlungen  und  Lotterieen  wur¬ 
den  die  für  den  Ausbau  erforderlichen  Summen 
(über  400  000  Frank)  herbeigeschafft,  und  1888  in 
dem  bewährten  Meister  des  Ulmer  Münsterturmes, 
Prof.  A.  v.  Beyer,  der  richtige  Mann  für  die  Lei¬ 
tung  des  großen  Unternehmens  gewonnen.  Er  hat 
im  Laufe  der  letzten  fünf  Jahre  den  Turm  des 
St.  Vincenzenmünsters  ausgebaut;  am  25.  November 
1893  fand  die  feierliche  Versetzung  des  Schluss¬ 
steines  am  Helm  des  Turmes  statt.  Eine  Ehren¬ 
schuld  Berns  an  seine  ruhmreiche  Vergangenheit 
ist  damit  getilgt,  dem  ernsten  großartigen  Bilde  der 
schweizerischen  Bundeshauptstadt  ward  ein  neuer 
Charakterzug  eingefügt. 

Das  Ereignis  ist  nicht  vorübergegangen,  ohne 
auch  durch  ein  litterarisches  Denkmal  dem  Gedächt¬ 
nisse  der  Nachwelt  bewahrt  zu  werden.  Der  durch 
seine  fleißigen  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Schwei¬ 
zer  Kunstgeschichte  wohlbekannte  Dr.  B.  Haendcke 

24* 


180 


DAS  MÜNSTER  IN  BERN. 


verband  sieb  mit  dem  bauleitenden  Architekten 
des  Berner  Münstei-s,  Aug.  Müller ,  zur  Heraus¬ 
gabe  eines  reich  ausgestatteten  Werkes,  in  dem 
die  Geschichte  des  Münsterbaues  von  den  Anfängen 


Arbeit  von  Stantz  erfuhr  dadurch  in  zahlreichen 
Einzelheiten  ihre  erwünschte  Vervollständigung;  die 
letzte  Periode  des  Münsterbaues  wurde  in  genaue¬ 
ster  fachgemäßer  Darstellung  hinzugefügt;  dazu 


Westansicht  des  Münsters  zu  Bern  in  seiner  früheren  Gestalt  vor  1890. 


bis  zur  Gegenwart  urkundlich  dargestellt  und  zu¬ 
gleich  eine  genaue  Beschreibung  und  kritische  Wür¬ 
digung  des  Gebäudes  wie  seiner  gesamten  künst¬ 
lerischen  Ausstattung  und  Einrichtung  geboten  wer¬ 
den  sollte.  Die  für  ihre  Zeit  sehr  verdienstliche 


kamen  endlich  eine  große  Anzahl  vortrefflicher 
Illustrationen  in  entsprechend  gewählter  Technik: 
mit  einem  Wort,  es  entstand  eine  Publikation,  welche 
des  monumentalen  Gegenstandes  und  des  festlichen 
Anlasses  in  Inhalt  und  Form  durchaus  würdig  ist. 


Das  jüngste  Gericht.  Relief  von  E.  Küng  über  dem  Portal  des  Münsters  zu  Bern. 


DAS  MÜNSTER  IN  BERN. 


Turmspitze  de»  Munster»  zu  Bern 


Wir  heben  einige  der  wichtigeren  Momente  aus  der 
Darstellung  hervor,  um  darzuthun,  dass  das  Werk 
nicht  etwa  nur  den  lokalen  Fachkreisen,  sondern 
auch  für  das  größere  kunstfreundliche  Publikum, 
für  den  Kunsthistoriker  wie  für  den  Architekten, 
ein  mannigfaches  Interesse  darbietet. 

Dem  jetzigen  spätgotischen  Bau  des  Vincenzen- 
münsters  gingen  an  derselben  Stelle  zwei  ältere 
Gotteshäuser  voran:  eine  kleine,  bei  der  Gründung 
der  Stadt  (1191)  angelegte  Kapelle  und  die  aus 
dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  stammende  „Leut¬ 
kirche“.  Auf  die  Fundamente  derselben  stieß  man 
1872,  hei  damals  wegen  Anlage  der  Luftheizung 
vorgenommenen  Ausgrabungen.  Zu  dem  jetzigen 
Münster,  der  Schöpfung  des  Mathäus  Ensinger  von 
Ulm,  wurde  nach  dessen  1420  erfolgter  Berufung 
aus  Straßburg  am  11.  März  1421  in  feierlicher  Weise 
der  Grundstein  gelegt.  Die  am  Hauptportal  aus¬ 
gemeißelte  Schriftrolle  zeigt  dieses  auch  von  dem 
Chronisten  Justinger  überlieferte  Datum. 

Das  Münster  ist  eine  dreischiffige  Anlage  (s. 
den  Grundriss)  von  jener  schlichten  Gestaltung  in 
Plan  und  Aufbau,  wie  sie  namentlich  bei  den  deut¬ 
schen  Pfarrkirchen  der  Spätgotik  üblich  war.  Ein 
Querschiff  ist  nicht  vorhanden;  der  Chor  ist  nur 
einschiffig;  an  der  einen  Seite  legt  sich  an  ihn  die 
Sakristei  an;  die  niedrigen  Seitenschiffe  des  Lang¬ 
hauses  sind  durch  den  Anbau  von  je  fünf  Kapellen 
erweitert.  Die  Durchbildung  der  Pfeiler  im  Inneren 
wie  am  Strebesystem  des  Äußeren  ist  von  großer 
Einfachheit.  Nur  die  reiche  Netzgewölbebildung 
und  ein  üppiger  plastischer  Schmuck,  vornehmlich 
am  Hauptportal,  verleihen  dem  Werke  höheren 
Glanz.  Die  Bekrönung  sollte,  wie  in  Esslingen  und 
Ulm,  der  imposante  Turmbau  bilden,  zu  dessen 
Vollendung  aber,  wie  in  Ulm,  so  auch  in  Bern  der 
alten  Zeit  die  Mittel  fehlten. 

Mathäus  Ensinger  hat  sicher  für  den  Berner 
Turm  einen  Bauriss  gezeichnet.  Aber  derselbe  ist 
ebenso  wenig  auf  unsere  Tage  gekommen,  wie  meh¬ 
rere  andere  alte  „Visirungen“,  von  denen  die  Ur¬ 
kunden  sprechen.  Prof.  v.  Beyer  war  daher  auf  die 
ihm  durch  die  vorhandenen  Bauteile  dargebotenen 
Anhaltspunkte  und  auf  seine  genaue  Kenntnis  der 
übrigen  Werke  des  Meisters  angewiesen,  als  er  über 
seinen  Berner  Turm  die  Entscheidung  traf.  Er  kon- 
struirte  ein  Achteck  von  mäßiger  Höhe  und  ließ 
aus  diesem  einen  schlanken  durchbrochenen  Helm 
emporsteigen,  dadurch  ungefähr  die  gleiche  Wirkung 
erzielend,  wie  sie  in  den  Türmen  von  Esslingen 
und  Ulm  erreicht  ist  (s.  den  Aufriss).  Alle  Details 


DAS  MÜNSTER  IN  BERN. 


183 


wurden  in  ruhigen,  dem  Geiste  des  Ganzen  sich 
harmonisch  einfügenden  Formen  gehalten,  welche 
an  passender  Stelle  den  Eigentümlichkeiten  der  Spät¬ 
gotik  Rechnung  tragen. 

Dem  berühmten  plastischen  Schmucke  des  Haupt¬ 
portals  widmet  die  Festschrift  eine  sehr  eingehende 
stilkritische  Untersuchung.  Das  Ergebnis  derselben 
ist,  dass  die  figurenreiche  Komposition  des  Jüngsten 
Gerichts,  bekanntlich  das  Werk  des  westfälischen 
Meisters  Erhard  Küng  (um  1469),  den  nächsten  Zu¬ 
sammenhang  mit  der  Schule  von  Dijon  zeigt.  Auch 


der  alten  Glasgemälde  ist  das  von  einem  Mitgliede 
der  Familie  Zigerli  von  Ringoldingen  gestiftete 
„Dreikönigsfenster“,  nach  der  figurenreichen  Dar¬ 
stellung  des  Zuges  und  der  Anbetung  der  Heil.  Drei 
Könige  so  benannt.  Es  wird  in  die  Zeit  von  1460 
bis  1470  gesetzt  und  ist  zweifellos  das  Werk  eines 
hochbegabten  und  feingebildeten  Meisters,  der  mit 
den  schönen  Wild’schen  Fenstern  im  Chor  des  Ulmer 
Münsters  (von  1480)  in  Vergleich  treten  kann.  Mehr 
durch  seinen  merkwürdigen  Gegenstand  und  durch 
eine  gewisse  „grobe  Realistik“  der  Darstellung  ist 


Grundriss  des  Münsters  zu  Bern. 


die  Dekoration  der  sogen.  Schultheißenpforte  be¬ 
kundet  dieselbe  Beeinflussung  durch  die  Werke  des 
Claux  Sinter  und  seiner  Genossen  und  wird  daher 
von  Haendcke  gleichfalls  dem  Küng  zugeschrieben. 

Über  den  Lettner,  das  prächtige  Chorgestühl, 
den  Priesterdreisitz  und  die  sonstigen  Werke  der 
dekorativen  Plastik,  welche  den  Bau  zieren,  müssen 
wir  hinweggehen,  und  widmen  nur  noch  dem  kost¬ 
baren  Schmuck  der  gemalten  Chorfenster  einige 
Worte.  Die  Fenster  sind  zum  Teil  durch  moderne 
Arbeiten  ergänzt.  Das  künstlerisch  hervorragendste 


das  etwas  jüngere  Fenster  mit  der  „Hostienmühle“ 
interessant.  Wir  sehen  da  das  Dogma  der  Trans- 
substantiation  unter  dem  seltsamen  Bilde  einer  srro- 
ßen  Mühle  vorgeführt,  in  welcher  das  Wort  Gottes 
für  den  Genuss  der  Gläubigen  zu  Hostien  umge¬ 
staltet  wird. 

Den  Schluss  der  gehaltvollen  Arbeit  bildet  ein 
Verzeichnis  der  an  dem  Berner  Münster  vorkom¬ 
menden  alten  Steinmetzzeichen.  Sie  reichen  von 
1421  bis  ca.  1600.  Mehrere  von  ihnen  finden  sich 
in  Ulm  und  Straßburg  wieder.  c.  v.  L. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Heinrich  von  Wörndle,  Lucas  Ritter  von  Führich' s  aus¬ 
gewählte  Schriften,  im  Einvernehmen  mit  der  Familie 
herausgegeben  und  mit  einer  einleitenden  Biographie  ver¬ 
sehen.  Mit  dem  Bildnisse  Lucas  Ritter  von  Führich’s. 
Stuttgart,  Jos.  Roth’sche  Verlagsbuchhandlung,  1894.  8°, 
XXXVII  und  87  S. 

Anregender  Lesestoff  für  jenen  Kreis  von  Kunstfreunden, 
die  an  Alt -Wien  und  seinen  Kunstverhältnissen  sowie  an 
der  modernen  kirchlichen  Kunst  lebhaften  Anteil  nehmen. 
Von  einem  gewissen  allgemeinen  Interesse  ist  der  Aufsatz 
„Erinnerungen  aus  einer  Künstlerwohnung“,  der  von  Joseph 
v.  Führich,  dem  berühmten  Maler,  handelt.  Führich  hat 
viele  Jahre  lang  im  Hause  Nr.  187  auf  dem  Salzgries  in 
Wien  gewohnt  und  dort  den  Schauplatz  seiner  künstlerischen 
'l'hätigkeit  aufgeschlagen.  Ein  Atelier  im  eigentlichen  Sinne 
hat  er  sich  niemals  eingerichtet.  Dem  gemütvollen,  weich¬ 
herzigen  Künstler  war  es  ein  Bedürfnis,  im  Kreise  der 
Familie  zu  schaffen,  und  sein  einfacher  Sinn  verschmähte 
allen  äußeren  Glanz,  wie  denn  Führich  auch  nur  höchst 
selten  nach  dem  lebenden  Modell  malte.  Der  erwähnte  Auf¬ 
satz  teiltu.  a.  auch  vieleErlebnisse Führich’s  aus  demJahrel84S 
mit.  Die  übrigen  Essays  handeln  von  dem  „Verhältnis  der 
kirchlichen  Baukunst  zu  den  bildenden  Künsten  in  der  Gegen¬ 
wart“,  vom  „Weihnachtsmann“  von  Ludwig  Richter,  von  Carl 
Madjera  und  vom  Krönungsdome  zu  Rheims.  Sie  sind  sämt¬ 
lich  vorher  schon  in  Zeitschriften  und  Zeitungen  gedruckt 
gewesen.  Den  Schluss  bilden  einige  Gedichte.  Vorangestellt 
ist  den  Aufsätzen  ein  kurzes  Vorwort  von  Joh.  M.  Stöber 
und  eine  Biographie  des  Künstlersohnes  Lucas  von  Führich. 
Der  Sohn  hatte  eine  reiche  Phantasie  vom  Vater  geerbt, 
und  die  meisten  werden  aus  seinem  Lebensgange  den  Ein¬ 
druck  gewinnen,  dass  Lucas  eine  Künstlernatur  war,  die  in 
der  Beamtenlaufbahn  verkümmert  ist.  Fr. 

Im  Atelier.  Nach  dem  Gemälde  von  J.  J.  Aranda 
radirt  von  Fritz  Krostewitx  .  Der  jetzt  in  Madrid  ansässige 
spanische  Maler  Jose  Jimenez  Aranda  gehört  zu  der  zahl¬ 
reichen  Gruppe  seiner  malenden  Landsleute,  die  den  Bahnen 
des  glänzenden  Gestirns  Fortuny  gefolgt  sind.  Aber  er  hat 
sich  nicht  wie  viele  andere  dieser  Gruppe  in  kokette  Kostüm¬ 
malerei  verloren,  die  sich  mit  einer  Wiedergabe  der  flim¬ 
mernden  Oberfläche  des  Wechselnden  und  des  Bleibenden  in 


der  Natur  begnügt.  Seit  etwa  zehn  Jahren  beteiligt  er  sich 
stets  an  den  großen  Ausstellungen  in  München  und  Berlin, 
und  fast  immer  haben  wir  bemerkt,  dass  seinen  pikant  ge¬ 
malten,  von  starker  Lebensfülle  durchströmten  Bildern  ein 
geistreicher  Gedanke  zu  Grunde  liegt.  So  auch  dem  von 
Krostewitz  mit  feinem  Verständnis  für  die  malerische  Technik 
radirten  Bilde,  das  einen  Maler  aus  dem  Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  in  seiner  Werkstatt  darstellt.  Es  ist  die  Fortuny- 
sche  Technik,  die  in  ihrem  Kontrast  zur  liebevollen,  am  Stoffe 
haftenden  Detailmalerei  und  scharfer,  fast  unruhiger  Spitz¬ 
pinselei  das  Tote,  das  Gegenständliche  vom  Lebendigen  zu 
scheiden  weiß.  Das  Bild ,  das  uns  in  gewissen  Teilen  an 
ähnliche  Bilder  unseres  eigenen  Rokokomalers  Chodowiecki 
erinnert,  ist  zwar  an  und  für  sich  als  meisterliches  Interieur 
verständlich  und  wirksam;  aber  es  hat  noch  ein  Gegenstück. 
Dem  Maler  des  18.  Jahrhunderts,  der  die  Motive  zu  seinen 
Bildern  aus  einem  Folianten,  vielleicht  aus  der  Bibel  oder 
einer  alten  Chronika  heraussucht,  hat  der  Künstler  in  einem 
zweiten  Bilde  die  Maler  aus  dem  Ende  des  19.  Jahrhunderts 
gegenüber  gestellt.  Am  Eingänge  eines  Thaies  sitzen  mehrere 
Maler  auf  Feldstühlen  vor  ihrer  Staffelei  und  malen,  frei 
vom  künstlichen  Atelierlicht,  frischweg  nach  der  Natur.  Zu 
welcher  Partei  sich  Aranda  selbst  zählt,  ist  aus  den  Bildern 
nicht  zu  ersehen.  Er  hat  sie  beide  mit  jener  Liebe  und 
Sorgfalt  durchgeführt,  die  den  echten  Künstler  von  dem 
wandelbaren  Parteigänger  der  Kunstpolitik  unterscheiden. 

A.  R. 

Berlin.  Die  Kunsthandlung  von  Amsler  &  Ruthardt 
versteigert  am  23.  u.  24.  d.  Mts.  eine  Sammlung  höchst  reiz¬ 
voller  Originalhandzeichnungen  von  Daniel  Chodowiecki, 
seines  Bruders  Gottfried  und  seiner  Kinder  Wilhelm  und 
Susanne,  sowie  von  J.  W.  Meil  und  T.  Bolt,  aus  dem  Nach¬ 
lasse  des  Herrn  J.  C.  D.  Hebich  zu  Hamburg.  Daran  schließt 
sich  eine  wertvolle  Sammlung  von  Entwürfen  zu  Glasfenstern 
in  Originalhandzeichnungen  alter  Schweizer  Glasmaler  des 
XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts.  Die  beiden  Kataloge,  von 
denen  der  letztere  reich  illustrirt  ist,  sind  soeben  erschienen 
und  werden  von  der  genannten  Firma  auf  Verlangen  zu¬ 
gesandt.  — 

*  Berichtigung.  In  dem  vierten  Artikel  über  P.  P.  Rubens 
im  Märzheft  der  Zeitschrift  ist  S.  144  Sp.  2  Note  1  Z.  3  von 
oben  statt  „vom  Verstorbenen  gestochenen  Bildnis“  —  „von 
Vorstcrman  gestochenen  Bildnis  zu  lesen.“ 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


IM  ATELIER. 

.Seemann,  Leipzig.  Druck  vB.A.  Br  odäraus,  Leipzig. 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 

VON  WOLF  GANG  VON  OETTINGEN. 


NTER  den  deutschen  Klein¬ 
meistern  der  Radir kirnst  ragt 
im  achtzehnten  Jahrhundert 
Daniel  Nicolaus  Chodowiecki 
ohne  Zweifel  an  erster  Stelle 
hervor.  Er  muss  als  der 
Neubegründer  der  technisch 
verfeinerten  und  geistreich 
durchgeführten  Buchillustration  in  Deutschland  gel¬ 
ten,  denn  seit  den  herrlichen  Holzschnitt-Ausstat¬ 
tungen  der  Renaissance  waren  bis  zu  seinem  Auftreten 
würdige  Abbildungen  nur  selten  den 
Erzeugnissen  des  deutschen  Buchhan¬ 
dels  zu  teil  geworden.  Er  legte  auch 
in  Hunderten  von  frei  erfundenen  Blät¬ 
tern  und  Blättchen  einen  ganzen  Schatz 
gesundester  Naturbeobachtung  und  Men¬ 
schenkenntnis  nieder  und  erweckte  da¬ 
durch  vielfach  hei  dem  Publikum  und 
bei  den  Künstlern  den  seit  langem 
schlummernden  Sinn  für  die  Wahrheit 
in  der  Kunst.  Kein  Wunder,  dass  sein 
Wirken  alsbald  eine  ansehnliche  Schule 
von  Illustratoren  ins  Leben  rief,  ohne  dass 
er  sich  persönlich  mit  der  Erziehung  von  Radirern  oder 
Kupferstechern  abgegeben  hätte.  —  Mit  unendlichem 
Fleiße  und  liebevollster  Vertiefung  sind  die  meisten 
seiner  Platten  ausgearbeitet;  wer  sie  betrachtet,  ge¬ 
langt  gewiss  zu  dem  Eindruck,  hier  habe  doch  ein¬ 
mal  ein  Mann  den  ihm  von  der  Natur  zugedachten 
Beruf  mit  festem  Griffe  gewählt  und  mit  Begeisterung 
ausgeübt.  Auch  die  offenbare  Vorzüglichkeit  seiner 
anmutigen  Schöpfungen  gegenüber  den  entsprechen¬ 
den  seiner  Zeitgenossen,  sowie  die  allgemeine  An¬ 
erkennung  ,  die  er  jahrzehntelang  nicht  nur  in 
Deutschland,  sondern  in  fast  ganz  Europa  genoss, 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  8. 


müssten  ihm  —  sollte  man  meinen  —  ein  Gefühl 
gerechtfertigter  Befriedigung  und  hohen  Stolzes  auf 
die  neue  Art  der  Menschendarstellung  eingeflößt 
haben,  die  er  als  Vorläufer  der  modernen  Realisten 
dem  Vaterlande  gab. 

Indessen  war  beides  nur  in  beschränktem  Sinne 
der  Fall:  Chodowiecki  ist  fast  nur  durch  einen  Zu¬ 
fall  zur  Radirkunst  gelangt  und  empfand  auch  nicht 
im  ganzen  Umfange  das  Glück,  mit  dem  ein  gütiges 
Schicksal  ihn  begünstigt  hatte  —  er  war  mit  seiner 
Thätigkeit  nicht  immer  recht  zufrieden.  Zwar  äußerte 
er  sich  bei  Gelegenheit  nicht  ohne 
Selbstbewusstsein  über  seinen  Wert, 
und  wusste  auch,  bei  aller  Bescheiden¬ 
heit,  den  Verlegern  gegenüber  seinen 
Ruhm  auf  praktische  Weise  geltend  zu 
machen;  aber  aus  allerlei  vertraulichen 
Bekenntnissen  vernehmen  wir  doch  zu 
unserer  Verwunderung  seine  Klage,  das 
unablässige  Illustriren  von  Kalendern 
und  Taschenbüchern  mit  ihren  Erzäh¬ 
lungen,  Gedichten  und  Modeberichten, 
von  vielbändigen  Romanen,  von  Dramen 
und  anderen  Schriften  der  verschieden¬ 
sten  Gattungen  lasse  ihn  leider  nicht  zu  der  Ausübung 
der  echten  und  wahren  Kunst  gelangen.  Das  heißt  also : 
die  Wiedergabe  von  Vorgängen  und  Zuständen  aller 
Art  aus  dem  Leben  aller  Stände  und  die  Bearbeitung 
des  geselligen  Treibens  seiner  Zeit  —  denn  um  der¬ 
gleichen  Gegenstände  handelt  es  sich  im  wesentlichen 
bei  seinen  Illustrationen  —  genügten  ihm  im  Grunde 
nicht;  gerade  die  Stilgattung,  in  der  er  für  uns  am 
liebenswürdigsten  und,  vom  französischen  Einflüsse 
abgesehen,  am  originellsten  dasteht,  nämlich  das 
Genre,  erscheint  ihm  selber  unzulänglich.  Und  was 
ist  ihm  dagegen  das  Wertvolle?  Er  sehnt  sich  nach 

25 


Daniel  Chodowiecki. 
Selbstporträt.  Miniature. 


186 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


der  Darstellung  großer  und  edler  Gefühle  und 
Leidenschaften,  der  passions  nobles  —  die  man  zu 
jener  Zeit  nicht  anders  als  in  dem  uns  unerträglichen 
klassicistischen  Stile  zu  behandeln  wusste  und  in  den 
er  selbst  verfällt-,  so  oft  er  aus  dem  Kreise  der  genre¬ 
haften  Stoffe  heraustritt.  Wirklich  schätzt  er  denn 
auch  unter  seinen  Werken  die  Darstellungen  antiker, 
mythologischer  und  religiöser  Motive ,  die  nach 
unserem  Geschmacke  ihm  meist  gänzlich  verunglückt 
sind,  eigentlich  am  höchsten.  Aber  noch  mehr! 
Er  bedauert  nicht  nur,  dass  die  Verleger  ihn  durch 
ihre  beharrliche  Vorliebe  für  seine  kleinen,  modernen 
Genrefiguren  verhindern,  der  ärgste  Feind  seines 
Künstlertums  zu  werden,  sondern  er  ist  sogar  der 
Meinung,  er  habe  seinen  Beruf  überhaupt  verfehlt 
-  die  Malerei,  nicht  die  Radirung,  sei  das  richtige 
Gebiet  für  seine  Begabung  gewesen.  Er  habe  immer 
als  Maler  schaffen  wollen,  äußert  er  einmal,  das 
Publikum  jedoch  habe  ihn  zum  Kupferstecher  (oder 
vielmehr  Radirer)  gemacht.  Indem  es  nämlich  seine 
Malereien  ablehnte  und  Radirungen  von  ihm  ver¬ 
langte. 

..Wir  wissen  kaum,  was  wir  sind“,  sagt  die 
keineswegs  unkluge  Ophelia;  und  das  Ende  ihres 
Satzes  ahändernd  können  wir  hinzufügen:  „aber  nicht, 
was  wir  hätten  werden  sollen.“  Wie  oft  irrten  sich 
schon  bedeutende  und  unbedeutende  Männer  —  und 
zwar  jene  noch  öfter  als  diese  —  über  das  Ver¬ 
hältnis  ihres  Wirkens  zu  ihrem  Wesen!  Bei  Chodo- 
wiecki  ist  dieser  Irrtum  jedoch  besonders  auffallend. 
Denn  wir  bemerken,  dass  er  die  Schwächen  seiner 
Kollegen  von  der  „großen“  Malerei  mit  scharfem 
Auge  und  scharfer  Zunge  ganz  in  unserm  Sinne  auf- 
fasste  und  formulirte,  während  ihm  offenbar  entging, 
dass  seine  eigenen  Arbeiten  im  „idealen“  Stile  sich 
von  jenen  andern  Werken  des  Manierismus  nur  noch 
zu  ihrem  Nachteile  unterscheiden.  Wie  erklärt  sich 
dieser  Widerspruch  ?  Was  hat  Chodowiecki  als  Maler 
erreichen  wollen?  Bei  dem  Interesse,  das  die  Be¬ 
deutung  des  Meisters  mit  Recht  für  sich  in  An- 
sprucli  nimmt,  darf  diese  Frage  gewiss  aufgeworfen 
und  ihre  Lösung  versucht  werden. 

Man  lernt  ja  einen  Menschen  am  besten  kennen 
und  am  gerechtesten  beurteilen,  indem  man  nach 
seinem  Entwickelungsgange  forscht.  Das  Verstehen 
vermittelt  dann  das  Verzeihen  oder,  bei  minder  hoch¬ 
fahrenden  Analytikern,  die  Anerkennung  und  die  Be¬ 
wunderung.  Chodowiecki’s  Erlebnisse  auf  seiner  künst¬ 
lerischen  Wallfahrt  werden  manchem  das  Geständnis 
abnötigen,  dass  in  ihm  ein  Genius  von  ausgesprochenen 
Talenten  mit  irregeleiteter  Energie  um  den  Ruhm 


eines  Malers  kämpfte,  bis  die  hemmenden  Verhält¬ 
nisse  ihn  zu  ehrenvoller  Resignation  und  in  sein 
natürliches  Geleise  zwangen. 

Chodowiecki  ist  einunddreißig  Jahre  alt  geworden, 
ehe  er  eine  Radirnadel  anrührte.  Dagegen  wurde 
er  schon  als  Kind,  obgleich  er  von  Anfang  an  für 
die  Handelslaufbahn  bestimmt  war,  seiner  Neigung 
entsprechend  zum  Malen  angehalten.  Gerade  das 
aber  gereichte  ihm  schon  zum  größten  Verderb  und 
Nachteile.  Ein  dilettantischer  Arater  und  eine  nicht 
minder  dilettantische  Base,  die  beide  in  Miniaturen 
das  Herkömmliche  leisteten,  ließen  ihn  hei  Gelegen¬ 
heit  die  „Principia“  zeichnen,  schlechte  Kupferstiche 
durchpausen  und  schraffiren,  sowie  mit  Wasserfarben 
malen.  Der  ganze  Kreis  urteilsloser  Verwandten  be¬ 
wunderte  seine  halb  naiven,  halb  routinirten  Mach¬ 
werke  höchlichst,  und  man  verschaffte  ihm  sogar 
mit  der  Zeit  eine  kleine  Einnahme  aus  dem  Verkaufe 
seiner  Miniaturen,  indem  sie  mit  denen  seiner  Tante 
an  das  Quincailleriegeschäft  eines  Onkels  in  Berlin 
abgesetzt  wurden.  Als  man  ihn  dann  1743,  nach 
dem  frühen  Tode  des  Vaters,  als  siebzehnjährigen 
Lehrling  und  Kommis  in  jenem  Geschäfte  unter¬ 
brachte,  wurde  diese  Art  von  Malerei  eifrig  fort- 
geführt.  Seine  konventionellen  Fürstenbildnisse,  seine 
Schäfer-  und  Komödiautenscenen,  Blumenstücke  und 
Ornamente  nach  französischen  Mustern  dienten  zur 
Verzierung  von  billigen  Schnmckwaren ,  Ringen, 
Bracelets,  Berloques,  Dosen  und  Stockknöpfen,  in 
welche  sie  eingefügt  wurden,  und  er  entwickelte 
bald  eine  solche  Geschicklichkeit  in  ihrer  Verfertigung, 
dass  der  betriebsame  Oheim  ihn  zu  Gunsten  dieser 
einträglichen  Fabrikation  dem  eigentlichen  Zwecke 
seines  Aufenthaltes  in  Berlin,  der  Erlernung  des 
Handels,  immer  mehr  entzog.  Es  liegt  nun  auf  der 
Hand,  dass  eine  derartige  Thätigkeit  sein  Talent  in 
die  schlimmste  Lage  brachte.  Einen  geordneten 
Zeichenunterricht  hatte  er  kaum  genossen,  von  einer 
wirklichen  Ausbildung  in  der  Malerei  war  nie  die 
Rede  gewesen;  übel  gewählte  Vorbilder,  nämlich 
manierirte  französische  und  niederländische  Kupfer, 
verdarben  ihm  den  Geschmack;  die  spielende  Leich¬ 
tigkeit  der  Produktion,  die  er  durch  mancherlei 
Handgriffe  erreichte,  gewöhnte  ihn  an  flüchtiges 
Schaffen,  und  der  Beifall  seines  Brotherrn,  sowie  die 
Zustimmung  des  willig  kaufenden  Publikums  ließen 
ein  strengeres  Urteil  nicht  in  ihm  aufkommen.  Er 
und  sein  Bruder  Gottfried,  der  schon  etwas  früher 
als  er  von  Danzig  nach  Berlin  ausgewandert  war, 
wetteiferten  förmlich  darin ,  wer  es  dem  andern  in 
der  frivolen  Eleganz  der  Arbeit  zuvorthäte.  Noch 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


187 


bedenklicher  aber  wurde  die  Lage,  als  eine  herr¬ 
schende  Mode  den  Onkel  veranlasste ,  statt  der 
Miniaturen  billige  Emaillen  für  seine  Quincaillerien 
zu  verwenden.  Jetzt  sollten  die  Neffen  die  Her¬ 
stellung  des  neuen  Artikels  im  großen  vornehmen 
und  ein  Goldschmied,  Namens  Schröder,  sollte  sie  in 
die  Technik  einführen.  Bald  stellte  sich  jedoch 
heraus,  dass  der  Lehrer  ein  Ignorant  war,  der  mehr 
verdarb,  als  er  zu  stände  brachte,  und  dessen  Ge¬ 
schmack  selbst  dem  gänzlich  unwissenden  Fabrik¬ 
besitzer  verdächtig  schien.  So  hatte  Daniel  denn 
wiederum  Untaugliches  gelernt  und  von  neuem  viele 
Zeit  verloren,  die  besser  zu  seiner  gründlicheren  Aus¬ 
bildung  im  Zeichnen  verwendet  worden  wäre  —  ein 
Bedürfnis,  das  er,  im  Gegensätze  zu  seinem  minder 
begabten  Bruder,  allmählich  zu  empfinden  begann. 
Ein  Überdruss  an  den  geistlosen  Kopien,  die  er  zu 
Dutzenden  nach  gleichgiltigen  Vorlagen  oder  nach 
eigenen  Originalen  zu  liefern  hatte,  stieg  in  ihm  auf, 
und  mit  dem  Ansprüche,  Künstlerisches  und  Erhabenes 
zu  schaffen,  wie  die  großen  Männer,  von  denen  er 
bisweilen  las,  entwickelte  sich  in  ihm  der  Trieb,  sich 
die  Malerei  von  Grund  aus  auf  solide  Weise  an¬ 
zueignen.  Welchen  Weg  aber  sollte  der  vielbe¬ 
schäftigte,  unfreie  Handelslehrling  zu  diesem  Ziele 
einschlagen  ? 

Das  Schicksal  ließ  ihm  einen  Fingerzeig  dafür 
durch  seinen  zweiten  Lehrer  im  Emailliren  erteilen. 
Der  Augsburger  Haid,  den  Herr  Ayrer,  der  Oheim, 
sich  aus  Polen  verschrieb,  war  ein  verkommenes 
Genie.  Er  leistete  in  seinem  Unterricht  zwar  Besseres 
als  Schröder,  aber  zu  wirklich  guten  Erfolgen  brachte 
auch  er  es  nicht.  Sein  eigentliches  Verdienst  um 
Chodowiecki  bestand  schließlich  darin,  dass  er  dem 
begierig  aufhorchenden  Jüngling  einen  Begriff  von 
dem  Wesen  der  Malerei  und  von  den  Kenntnissen 
und  Fähigkeiten  gab,  die  ein  guter  Künstler  er¬ 
werben  müsse.  Er  erzählte  ihm  von  den  Akademien, 
die  er  ehedem  (freilich  ohne  viel  Gewinn)  besucht 
hatte,  und  er  gab  ihm  zum  Nachzeichnen  Aktfiguren, 
die  noch  aus  seinen  eigenen  Lehrjahren  stammten. 
So  nährte  er  die  Aufregung  und  den  Ehrgeiz  seines 
Schülers  und  förderte,  vielleicht  ohne  es  selbst  zu 
ahnen,  dessen  Entschluss,  mit  der  gewohnten  Routine 
zu  brechen ,  sobald  es  möglich  sein  würde.  Wann 
dieser  Fall  eintreten  könnte,  war  allerdings  zunächst 
nicht  abzusehen.  Es  fehlte  in  Berlin  an  einer  leicht 
zugänglichen  Bildungsstätte  für  unbemittelte,  auf¬ 
strebende  Künstler;  denn  die  von  König  Friedrich 
dem  Ersten  in  großem  Stile  eingerichtete  Kunst¬ 
akademie  war  unter  seinem  Nachfolger  arg  vernach¬ 


lässigt  und  vollends  nach  ihrem  Brande  im  Jahre  1743 
von  Friedrich  dem  Großen  geradezu  vergessen  worden; 
sie  führte  ein  armseliges  Scheinleben  und  durfte 
kaum  für  etwas  anderes  als  für  eine  mittelmäßige 
Zeichenschule  gelten.  Außer  ihr  gab  es  nur  noch 
die  privaten  Ateliers  der  wenigen  in  Berlin  lebenden 
Künstler,  die  aber  den  in  ihnen  lernenden  Kunst¬ 
jünger  auf  lange  Jahre  ganz  mit  Beschlag  belegten 
und  außerdem  wohl  in  den  meisten  Fällen  sich  nur 
gegen  ein  mehr  oder  weniger  beträchtliches  Lelii'- 
geld  Öffneten.  Chodowiecki  konnte  weder  an  jenen 
ersten  noch  an  diesen  zweiten  Erziehungscursus 
denken;  er  sah  sich  vielmehr  darauf  beschränkt,  gute 
Kunstwerke  mit  Aufmerksamkeit  zu  studiren  und  nach¬ 
zubilden,  so  oft  sich  ihm  in  den  Kirchen,  in  den 
königlichen  Schlössern  und  Gärten  oder  in  Privat¬ 
sammlungen  eine  knappe  Gelegenheit  dazu  bot,  oder 
wenn  es  ihm  gelang,  sich  Kupferstiche  nach  den 
damals  berühmtesten  modernen  Meistern,  etwa  nach 
Watteau  und  Boucher,  zu  verschaffen.  Vor  allem 
aber:  der  Zwang,  unter  dem  er  dahinlebte,  ließ 
ihn  im  Stillen  und  selbständig  auf  weitere  Aus¬ 
kunftmittel  sinnen  und  sich  allmählich  einen  eige¬ 
nen  Plan  erfinden,  nach  dem  er  sich  von  dem  ver¬ 
hassten  Geschäfte  befreien  und  zugleich  zur  Aus¬ 
übung  der  Tafelmalerei  Vordringen  würde.  Je  leb¬ 
hafter  er  sein  Talent  empfand,  desto  unverdrossener 
arbeitete  er  daran,  ihm,  oft  unter  harten  Entbehrungen 
und  Kämpfen,  zu  einer  offenen  Bahn  zu  verhelfen. 

Dies  geschah  allerdings  zunächst  in  der  Weise, 
dass  er  einen  guten  Teil  seiner  Nächte  auf  Lektüre 
von  Büchern  verwandte,  von  denen  er  Aufklärung 
und  Belehrung  über  die  Kunst  oder  überhaupt  die 
Anregung  zu  einem  unverzagten  Vorwärtsstreben 
erhoffte.  Er  fühlte  sich  eben  als  ein  Kind  der  Zeit, 
die  das  litterai'ische  Wort  ganz  besonders  hoch¬ 
schätzte,  die  ein  „tintenklecksendes  Säculum“  war 
und  dem  Plutarch  zum  Trotz  ihre  großen  Männer 
durch  Theorie  und  durch  moralische  Einwirkung  zu 
erzeugen  gedachte.  Ob  ihm  nun  die  ästhetischen 
und  technischen  Schriften  über  die  Malerei,  jene  uns 
so  unverständlichen  Traktate  von  der  Schönheit  und 
dem  Schönen,  über  Handgriffe  und  Rezepte,  viel  ge¬ 
nützt  haben  oder  nicht,  ob  ihm  wirklich  aus  den 
Lebensbeschreibungen  berühmter  Künstler  die  er¬ 
sehnte  Erleuchtung  und  Erhebung  zuströmte,  lassen 
wir  hier  ununtersucht;  jedenfalls  fand  der  Strebsame 
in  diesen  heimlich  und  mit  Begeisterung  betriebenen 
Studien  ein  ihm  erquickliches  Gegengewicht  gegen 
die  öde,  fast  mechanische  Mal- Arbeit  seiner  Tage. 
Indessen  vernachlässigte  er  diese  deshalb  keineswegs ; 

25* 


188 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


vielmehr  gelang  es  ihm  durch  erhöhte  Sorgfalt  so¬ 
wie  durch  häufiges  Studiren  nach  Vorlagen,  nach 
Gips  und  auch  nach  der  Natur,  sich  in  Zeichnung, 


steinen  bereicherte  Dosen  zu  taugen  begannen.  Diese 
wurden  natürlich  weit  höher  bezahlt  als  die  früheren 
und  zugleich  stieg  Chodowiecki  durch  sie  in  der 


Gc^i-llHchaft  im  Tiergarten  zu  Berlin.  Gemälde  von  Daniel  Chodowiecki  im  Leipziger  Museum. 


Farbe  und  Erfindung  allmählich  zu  verbessern.  Er 
erreichte  damit,  dass  seine  Plmaillen  und  Miniaturen 
nicht  mehr  zu  untergeordneten  Waren  verwendet 
wurden,  sondern  für  kostbare,  goldene  und  mit  Edel- 


Achtung  seines  Oheims,  der  ihm  deshalb  auch  mehr 
Freiheit  und  Selbständigkeit  ließ. 

So  verging  Jahr  auf  Jahr  in  dem  eintönigen 
Wechsel  zwischen  der  immerhin  noch  konventionellen 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


189 


Geschäftsmalerei  zum  Broterwerbe  und  der  stillen 
Vorbereitung  auf  glücklichere  Zeiten.  Nur  wenige 
künstlerische  Zeugnisse  illustriren  uns  Chodowiecki’s 
Thätigkeit  in  dieser  Periode.  Es  sind  einzelne  Zeich¬ 
nungen,  die  sich  von  ihm  erhalten  haben,  und 
außerdem  ein  überaus  reizvolles  Album  von  42  Blätt¬ 
chen  in  Federzeichnung,  verbunden  mit  schwarz¬ 
brauner  Tuschmalerei  (im  Besitze  der  Großherzogin 
von  Sachsen).  Erkennen  wir  aus  einer  jener  Zeich¬ 
nungen,  die  eine  Predigt  vor  polnischen  Wallfahrern 
(1750)  vorstellt,  den  noch  kindlich  befangenen  und 
unbeholfenen  Realisten,  der  aber  doch  schon  selb¬ 
ständig  zu  beobachten  beginnt,  so  tritt  uns  in  dem 
fast  gleichzeitigen  Album  (1752)  ein  vollkommen  routi- 
nirter  Französling  entgegen.  Wir  können  uns  also 
an  diesen  beiden  Beispielen  über  das  künstlerische 
Doppelleben  des  jungen  Daniel  ganz  ausreichend 
orientiren.  Die  Zeichnung  ist  einer  der  zum  Stu¬ 
dium  unternommenen  Privatversuche  ;  das  Album  aber 
—  es  handelt  sich  um  Abbildungen  zu  der  humo¬ 
ristischen  Novelle  „Blaize  Gaulard  ou  le  Neveux  de 
la  tante  Bobe“,  von  denen  Chodowiecki  1776  zwölf 
Blätter  für  den  Berliner  Kalender  mit  geringen 
Veränderungen  radirte  (E.  140)  —  schlägt  nach 
Format  und  Technik  ganz  in  die  gewohnte  Miniatur¬ 
malerei  und  steht  deswegen  unter  dem  Banne  fran¬ 
zösischer  Muster.  Mit  diesen  teilt  es  manche 
Schwächen :  die  schwankenden  Proportionen,  die  un¬ 
korrekte  Zeichnung,  die  oft  manierirten  Motive ;  aber 
es  überrascht  auch  durch  eine  scharfe,  lebendige 
Auffassung,  durch  frische  Charakteristik  und  durch 
Anmut  und  Grazie,  während  die  Behandlung  der 
Komposition  und  der  Lichtführung  mit  einer  ebenso 
erstaunlichen,  leichtfertigen  Sicherheit  gehandhabt 
ist.  Es  muss  dem  Meister  dieser  zierlichen  Blätter 
entschieden  als  ein  Verdienst  angerechnet  werden, 
dass  er  sich  mit  einer  so  hervorragenden  Geschick¬ 
lichkeit,  die  ihm  im  damaligen  Berliner  Kunsthand¬ 
werke  das  beste  Fortkommen  gewährleistete,  nicht 
begnügte ,  sondern  minder  banausisch  gesonnen 
einem  ihm  selbst  eigentlich  noch  verhüllten  Ziele 
zustrebte. 

Von  Miniaturen  und  Emaillen  scheint  sich  aus 
dieser  Periode  Chodowiecki’s  nichts  bis  auf  uns  ge¬ 
rettet  zu  haben;  wenigstens  lassen  sieb  die  später 
zu  erwähnenden  Stücke  nicht  ohne  Willkür  so  weit 
hinaufdatiren.  Und  doch  muss  seine  Produktion 
eine  sehr  reichliche  gewesen  sein;  denn  im  Jahre 
1754  fand  sich,  dass  das  Geschäft  des  Oheims  den 
Brüdern  schon  eine  gewisse  Summe  schuldig  war, 
während  sie  anfangs  als  ziemlich  unbemittelte  Lehr¬ 


linge  sich  in  ihm  die  ersten  Fertigkeiten  angeeignet 
hatten  und  also  ihrerseits  dem  Geschäfte  gegenüber 
in  einer  Schuld  standen.  Jetzt  trafen  sie  mit  dem 
Oheim  im  Abkommen,  das  ihnen  volle  Selbständig¬ 
keit  gewährte.  Sie  sollten  auf  eigne  Hand  arbeiten 
und  Herr  Ayrer  verkaufte  ihre  Lieferungen ,  von 
deren  Erlös  er  ihnen  zwei  Drittel  auszahlte.  Das 
Verhältnis  der  Brüder  zu  einander  aber  gestaltete 
sich  allmählich  so,  dass  der  energische  und  streb¬ 
same  Daniel  den  weniger  begabten  Gottfried  in  jeder 
Beziehung  weitaus  überflügelte,  ihm  jedoch  stets 
hilfreich  zur  Seite  blieb.  Ein  solches  Zusammen¬ 
halten  wurde  auch  dadurch  begünstigt,  dass  beide 
Chodowiecki’s  sich  am  18.  Juli  1755  mit  Damen  aus 
der  französischen  Kolonie  verheirateten  und  längere 
Zeit  ein  Haus  gemeinsam  bewohnten. 

Unser  Meister  stand  also  1755,  fast  dreißig¬ 
jährig,  als  ein  geschätzter  Emailleur  und  Miniaturist 
vor  dem  Berliner  Publikum,  ohne  doch  jemals  einen 
anderen  Unterricht  in  diesen  Künsten  genossen  zu 
haben  als  seinen  eigenen,  gänzlich  unberatenen  und 
zeitweilig  denjenigen  unberufener  Lehrer.  Zum  Glück 
hörte  er  nicht  auf,  diesen  Mangel  zu  empfinden;  und 
während  er,  wie  früher,  mit  der  Verfertigung  seiner 
Kunstwaren  für  den  Broterwerb  fleißig  fortfuhr, 
ging  er  jetzt  mit  verdoppeltem  Eifer  an  die  Ver¬ 
wirklichung  seiner  kühneren  Pläne.  Er  konnte  nun¬ 
mehr  ernsthafter  an  den  zweiten  Teil  jenes  Pro¬ 
grammes  denken,  das  er  sich  für  seine  Bildung  auf¬ 
gestellt  hatte;  und  dieser  Teil  enthielt  als  Grundzug 
die  Idee,  die  seiner  ganzen  spätem  Kunstübung  ihren 
Stempel  aufprägen  sollte.  Während  alle  Theoretiker 
und  Praktiker  rings  um  ihn  her  die  Bewunderung 
der  Natur  zwar  stets  im  Munde  führten,  in  ihren 
weiteren  Darlegungen  und  in  ihren  Werken  aber 
immer  wieder  auf  ihre  Stilisirung  im  Sinne  der 
Antike  und  gewisser,  als  Muster  anzuerkennender 
Meister  gerieten,  beschloss  Chodowiecki,  die  Natur, 
die  er  schwärmerisch  liebte,  aufzugreifen  wie  er  sie 
fand,  und  die  Welt  so  wiederzugeben  wie  er  sie  sah. 

Er  verhehlte  sich  nicht,  dass  ihm  dazu  noch 
fast  alles  Können  abging.  Hatte  er  doch  bis  jetzt 
niemals  einen  Akt  gezeichnet  oder  überhaupt  einen 
nackten  Körper  unter  dem  Gesichtspunkte  seiner 
künstlerischen  Schönheit  betrachtet!  Hier  also  musste 
er  einsetzen;  und  wirklich  fügte  es  sich,  dass  gerade 
im  rechten  Augenblicke  der  Maler  Bernhard  Rode 
einen  Aktcursus  in  seinem  Hause  eröffnete,  da  eine 
Gelegenheit  dazu  den  jungen  Malern  an  der  Kunst¬ 
akademie  seit  langem  nicht  geboten  wurde.  Mit 
dem  für  ihn  so  charakteristischen  emsigen  Fleiße 


190 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


beteiligte  sich  Chodowiecki  an  diesen  unumgänglich 
notwendigen  und  heilsamen  Übungen,  die  er  einige 
Jahre  hindurch,  und  schließlich  mit  Rode  allein 
fortsetzte,  da  die  übrigen  Künstler  der  Sache  bald 
überdrüssig  wurden  und  von  ihr  absprangen,  indem 
sie  sie  für  entbehrlich  erklärten. 

Eine  solche  Meinung  ließ  Chodowiecki  in  sich 
nun  keineswegs  aufkommen.  Im  Gegenteil!  Als  die 
Kunstakademie  später  wieder  ihren  Aktsaal  benutzte, 
verfehlte  er  bis  in  sein  Alter  nicht,  wenn  er  es 
irgend  ermöglichen  konnte,  sich  an  einem  oder  zwei 
Abenden  der  Woche  in  ihm  zu  üben.  Aber  er  hat 
es  dennoch  niemals  zu  einer  vollkommenen  Be¬ 
herrschung  der  menschlichen  Körperformen  und  ihrer 
Bewegungen  gebracht:  sobald  seine  Figuren  das 
Miniaturformat  überschreiten,  verfallen  sie  leicht  in 
das  Schematische  und  Konventionelle.  Die  Ursache 
dieser  Schwäche  ist  offenbar  darin  zu  suchen,  dass 
er  mit  dem  Formenstudium  erst  verhältnismäßig  spät 
begann,  und  ferner  darin,  dass  er  es  auch  nicht  sorg¬ 
fältig  genug  betrieb.  Er  wollte  wahrscheinlich  zu- 
nächst  nur  die  Behendigkeit  von  Auge  und  Hand 
ausbilden ,  wenn  er  sich  hauptsächlich  auf  das 
Schnellzeichnen  legte.  Während  die  Kollegen  einen 
Akt  in  zwei  Abenden  zu  stände  brachten,  war  er  stolz 
darauf,  ihrer  zwei  an  einem  Abende  (in  einer  Höhe  von 
etwa  öOCentimeteru)  hinzusetzen.  Darüber  musste  er 
natürlich  das  eingehende  Erkennen  der  Formen  ver¬ 
nachlässigen  ;  und  wenngleich  seine  uns  erhaltenen 
Aktfiguren  recht  sauber  und  fein  gezeichnet  sind,  so 
fehlt  ihnen  dabei  fast  immer  der  geistreiche,  leben¬ 
dige  Zug,  der  sich  stets  einstellt,  wenn  ein  Meister 
herrliche  Naturformen  mit  einem  der  Natur  gleichsam 
kongenialen  Vermögen  nachschafft. 

Indessen  handelte  es  sich  bei  alledem  nur  um 
Modelle,  denen  unter  künstlicher  Beleuchtung  eine 
künstliche,  gewählte  Stellung  gegeben  war.  An 
ihnen  fand  ja  der  Zeichner  die  Naturbildung,  die  er 
suchte;  aber  sie  zeigte  sich  ihm  bloß  von  einer  ihrer 
Seiten,  bloß  in  der  unbewegten  Form.  Das  genügte 
unserni  Chodowiecki  nicht.  Sein  stets  beobachtendes 
Auge  hatte  ihm  längst  die  Mannigfaltigkeit  und 
Schönheit  der  zahllosen  malerischen  Motive  er¬ 
schlossen,  die  der  sich  selbst  überlassene  Mensch, 
im  Freien  oder  in  Räumen  wandelnd  und  handelnd, 
dem  Auffassenden  darbietet.  Und  hatte  er  schon 
früher  bei  Gelegenheit  nach  der  Natur  oder  aus  der 
Erinnerung  skizzirt,  so  warf  er  sich  jetzt  ganz 
speziell  auf  diese  Übungen.  Er  machte  förmlich 
Jagd  auf  die  Menschen  seiner  Umgebung.  Womög¬ 
lich  ohne  dass  sie  es  ahnten  —  aus  Furcht,  sie 


möchten  interessante  Mienen  und  Posen  affektiren, 
sobald  sie  sich  aufs  Korn  genommen  fühlten  — 
fixirte  er  mit  flüchtigen  Bleistiftstrichen  und  be¬ 
zeichnenden  Druckern  ihre  Stellungen,  ihren  Ge¬ 
sichtsausdruck,  ihre  Gruppirungen  auf  die  Blätter 
seiner  Notizbücher.  In  den  Gesellschaften  zeichnete  er, 
hinter  irgend  einem  breiten  Rücken  oder  hinter  der 
Lehne  eines  Sessels  verschanzt,  die  spielenden,  rnusi- 
cirenden,  konversirenden  Damen  und  Herren;  gelang 
es  ihm,  so  guckte  er  durch  das  Schlüsselloch  so¬ 
gar  in  ein  Schlafzimmer.  Von  seinem  Fenster  aus 
bemächtigte  er  sich  der  ihm  interessanten  Figuren 
auf  der  Straße,  und  bei  seinen  Spaziergängen,  selbst 
während  seiner  häufigen  Ritte,  griff  er  landschaft¬ 
liche  Motive,  die  ihn  reizten,  oder  sonst  allerlei 
Details  zum  Studium  oder  zu  weiterer  Verwendung 
auf.  Dabei  beachtete  er  nicht  bloß  die  charakte¬ 
ristischen  Eigentümlichkeiten  der  Ei'scheinungen  in 
Bewegungen,  Formen  und  Typen,  sondern  er  ver¬ 
wandte  auch  viel  Aufmerksamkeit  auf  die  Licht¬ 
führung  und  die  Beleuchtungseffekte.  Rembrandt 
und  Correggio  wurden  damals  hauptsächlich  wegen 
ihrer  Meisterschaft  in  diesen  Dingen  bewundert  und 
von  Malern  wie  Radirern  darin  nachgeahmt;  neben 
den  ihrigen  standen  die  Künste  eines  Gottfried 
Schalcken  in  hohem  Ansehen.  Chodowiecki,  der  bei 
allen  seinen  Studien  die  Ölmalerei  im  Auge  hatte, 
aber  solche  Fertigkeiten  auch  bei  den  Emaillen  und 
Miniaturen  anwenden  konnte,  beschäftigte  sich  also 
ebenfalls  eingehend  mit  dem  Helldunkel.  Unter 
seinen  unzähligen  Skizzen  aus  den  fünfziger  Jahren 
befinden  sich  sehr  viele,  die  in  der  Weise  seiner 
Radirung  (E.  22:)  „Der  große  L’hombretisch“  eine 
Anzahl  von  Personen  um  eine  Kerze  versammelt 
darstellen.  Die  herrlichsten  Licht-  und  Schatten¬ 
massen,  sagt  er  einmal,  ergeben  sich  bei  solchen 
Gruppen  und  gewähren  die  beste  Anleitung  zu  ihrer 
Anordnung  im  größeren  Maßstahe.  Guter,  be¬ 
scheidener  M.mn!  Wie  Cennino  Ceunini  ein  Ge¬ 
birge  nach  den  Motiven  des  gebrochenen  Steines 
entwirft,  den  er  sich  als  Modell  in  der  Werkstatt 
hält,  so  gedenkt  er  die  herrlichen  Gruppen,  die 
großartigen  Wolkengebilde  und  die  erhabenen  Hallen 
der  Gemälde,  von  denen  er  träumt,  gemäß  den 
Wirkungen  des  Öllämpchens  oder  des  Talglichtes 
zu  beleuchten,  bei  deren  Schein  seine  Frau  mit  den 
Demoisellen  Quantin  oder  Lecoq  ihre  Karten  legte 
oder  Handarbeiten  machte. 

Trotz  dieser  Naivetät,  die  uns  statt  eines  künf¬ 
tigen  Historienmalers  den  geborenen  Genrezeichner 
zeigt,  müssen  wir  allen  solchen  Bestrebungen  Chodo- 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


191 


wiecki’s  eine  für  ihn  schwerwiegende  Bedeutung  bei¬ 
messen.  Es  fand  sich  außer  ihm  kein  einziger  in 
Berlin,  ja  vielleicht  in  Deutschland,  der  mit  gleicher 
Frische  und  Entschlossenheit  sich  einem  so  aus¬ 
gesprochenen  Realismus  hingab;  und  handelte  es 
sich  hier  zunächst  auch  nur  um  Studien,  um  vor¬ 
bereitende  Skizzen,  die  stets  um  ein  gutes  Teil  un¬ 
mittelbarer  empfunden  sind  als  ihre  späteren  Aus¬ 
führungen  im  Gemälde,  so  überrascht  doch  an  ihnen 
die  für  jene  Zeit  überaus  glücklich  zurückgedrängte 
Manier.  Wir  erkennen  mit  teilnehmender  Freude, 
dass  unseres  Meisters  gesunde  Natur  thatsäclilich 
den  besten  Weg  gewählt  hatte,  um  aus  der  fran¬ 
zösischen  Routine,  so  weit  es  ging,  herauszukommen. 

Natürlich  probirte  Chodowiecki,  gleichsam  sich 
selber  vorgreifend,  auch  schon  früh  die  Ölmalerei. 
Palette  und  Farben  lagen  ihm  längst  bereit,  und  er 
wird  wohl  ab  und  zu  mit  ihnen  seine  Versuche  an¬ 
gestellt  haben;  aber  das  eigentliche  Malen  kam,  wie 
er  selbst  berichtet,  ganz  plötzlich  über  ihn.  „An 
einem  trüben  Abend“,  lesen  wir  in  seiner  fragmen¬ 
tarischen,  bisher  noch  ungedruckten  Autobiographie, 
„überfiel  mich  wie  ein  Fieber  der  Trieb,  in  Ölfarben 
zu  malen,  ich  ....  setzte  meine  Palette  auf  und 
malte  denselben  Abend  noch  eines  alten  Mannes 
Kopf;  wie  groß  Avar  meine  Freude,  da  ich  sah,  ich 
würde  die  Abende  können  in  Ölfarben  malen;  bei 
Tage  war  es  anderer  Geschäfte  halber  nicht  möglich. 
Darauf  ging  ich  weiter;  ich  legte  ein  Stück  Leinwand 
gerade  horizontal  auf  den  Tisch  vor  mich,  setzte 
eine  Lampe  vor  mich  hin,  fing  die  Strahlen  des 
Lichtes  durch  ein  konvexes  Glas  auf  und  führte  sie 
auf  meine  LeinAvand,  wohin  ich  sie  brauchte.  Das 
beleuchtete  mir  sehr  die  Arbeit  und  ich  malte,  so 
lange  mir  der  Schlaf  Frieden  ließ  ....  Eines 
Abends  als  ich  zu  Herrn  Rode  in  die  Akademie  (d.  li. 
zu  dem  Aktzeichnen)  kam,  sah  ich  das  Modell  noch 
angekleidet  neben  einem  eisernen  Ofen  sitzen,  es  war 
wenig  andres  Licht  im  Zimmer  als  das  Feuer  im 
Ofen;  das  machte  einen  herrlichen  Rembrandt’schen 
Effekt.  Ich  zeichnete  es  sogleich  (mit  Rötel),  und 
da  ich  nach  beendeter  Akademie  nach  Hause  kam, 
setzte  ich  nach  dem  Abendessen  noch  die  Palette 
auf  und  malte  denselben  Abend  bis  drei  Uhr  in  die 
Nacht  das  Bild  fertig.  Als  der  Sommer  kam  (etwa 
1755  oder  1756),  setzte  ich  alle  Woche  einen  Tag 
zur  Ölmalerei  an,  konnte  auf  diese  Art  nur  wenig 
vor  mich  bringen.“ 

Diese  letzte  Angabe  wird  auch  der  grimmigste 
Skeptiker  nicht  bezweifeln  wollen.  Das  Wenige  aber, 
das  er  vor  sich  brachte,  hat  für  den  ein  Interesse,  der 


über  den  damaligen  Zustand  der  Ölmalerei  in  Berlin 
unterrichtet  ist.  Antoine  Pesne,  der  unverfälschte 
Franzose,  war  das  Hauptgestirn  des  dortigen  Him¬ 
mels,  wobei  er  im  ganzen  wenig  aus  seiner  reser- 
virten  Stellung  als  Hofmaler  heraustrat.  Ihn  hatte 
Chodowiecki  zu  besuchen  gewagt  und  war  auch  nicht 
unfreundlich  von  ihm  empfangen  worden;  indessen 
hatte  die  Zusammenkunft  keine  weiteren  Folgen,  und 
Pesne  starb  zu  früh  (1757),  als  dass  er  durch  den 
allmählich  anwachsenden  Ruhm  des  jüngeren  Ge¬ 
nossen  wieder  auf  ihn  aufmerksam  geworden  wäre. 
Lesueur,  der  Direktor  der  Akademie,  schien  kaum 
mehr  als  eine  behäbige  Null;  er  leistete  so  gut  wie 
gar  nichts,  und  so  war  auch  wenig  von  ihm  zu  lernen. 
Die  übrigen  nahmhafteren  Berliner  Meister  aber: 
Bernhard  Rode,  Johann  Martin  Falbe,  Johann  Gott¬ 
lieb  Glume,  die  beiden  Meil,  Frisch,  Reclarn  —  sie 
alle  hielten  sich  schlecht  und  recht  im  französisch¬ 
italienischen  Fahrwasser.  Ihre  Bildnisse  zwar  sind 
ziemlich  nüchtern  und  trocken;  in  ihren  allegorisch¬ 
mythologischen  Fresken  jedoch,  etAva  an  den  Plafonds 
des  Neuen  Palais,  in  ihren  Altarbildern,  Historien  und 
dekorativen  Vignetten  herrscht  durchaus  der  idealis¬ 
tische  Stil  der  Pariser  Akademie.  Aber  schreitet  er 
in  Frankreich,  als  prangender  Herold  eines  unerhört 
anspruchsvollen  Jahrhunderts,  wie  auf  dem  Kothurne 
einher,  so  lief  er  W'ie  auf  Stelzen  über  den  märki¬ 
schen  Sand,  der  zu  jener  Zeit  die  erhabene  Phrase 
noch  kaum  selbst  hervorgebracht  hatte,  und  seine 
Kranichtritte  nötigten  schon  damals  nicht  allen 
Beschauern  Bewunderung  ab.  Auch  Chodowiecki, 
obgleich  er  mit  den  genannten  Meistern  freundschaft¬ 
lich  verkehrte,  vermochte  es  nicht  über  sich,  irgend 
einem  von  ihnen  nachzuahmen.  Vielmehr  verharrte 
er,  als  er  jene  Versuche  in  der  Ölmalerei  fortsetzte, 
zunächst  durchaus  in  der  ihm  eigentümlichen  Sphäre 
und  brachte  sich  dadurch,  wahrscheinlich  übrigens 
viel  eher  unbewusst  als  bewusst,  in  einen  gewissen 
Gegensatz  zu  den  Kollegen.  Mit  einer  Technik,  die 
der  primitiven  Art  seiner  Übungen  entsprach,  malte 
er  nämlich  eine  Scene,  wie  er  sie  in  seinem  Skizzen¬ 
buche  gefunden  haben  mochte,  und  dachte  offenbar 
nicht  daran,  sich  eine  Komposition  mit  „schönen“ 
Stellungen  und  Gefühlen  abzuquälen.  Wir  reden 
von  einem  Bildchen  (Privatbesitz  in  Charlottenburg), 
das  offenbar  kein  anderes  ist,  als  das  erste,  das 
Chodowiecki  nach  jenem  männlichen  Kopfe  ausführte. 
Es  stellt,  dem  Berichte  des  Künstlers  entsprechend, 
eine  Brautwerbung  dar.  „Nun  mahlte  ich  einen  Alten, 
der  bei  einer  Alten  um  ihre  Tochter  anhält“,  heißt 
es  in  der  schon  einmal  citirten  Autobiographie. 


192 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


Das  Bild  aber  zeigt  auf  einförmigem  Grunde,  der  ein 
Gemach  andeuten  soll,  eine  stattliche  alte  Dame  im 
Kostüm  des  achtzehnten  Jahrhunderts  und  ihr  zur 
Seite  ein  anmutiges  Mädchen;  beide  empfangen  mit 
freudigem  Erstaunen  den  Besuch  eines  Fremden  in 
gesetzten  Jahren,  der  in  Begleitung  eines  zierlichen 


wohl  weil  es  das  früheste  unter  seinen  Versuchen 
war,  so  sehr,  dass  er  es  noch  in  seinem  hohen  Alter 
rentoiliren  ließ.  Und  doch  ist  es  durchaus  dilettan¬ 
tisch  und  unscheinbar.  Wie  das  Lokal  nur  aus  den 
Requisiten,  nämlich  Tisch  und  Stuhl,  erraten  wird, 
so  ist  auch  die  Komposition  flüchtig  und  locker 


Kine  Wochenstube.  Gemälde  von  Daniel  Chodowiecki. 


Jünglings  und  eines  mit  Gepäck  beladenen  Bedienten 
das  Zimmer  betritt.  Auch  der  Hausherr,  in  Schlaf¬ 
rock,  Zipfelmütze  und  Pantoffeln,  begrüßt  die  An¬ 
kömmlinge;  die  Tochter  aber  deutet  durch  eine  dis¬ 
krete  Gebärde  an,  der  junge  Mann  sei  ein  Erwarteter 
und  Erwünschter.  Chodowiecki  liebte  dieses  Bild, 


Die  Farben,  an  sich  reizlos,  sind  in  landläufiger  Har¬ 
monie  und  fast  ohne  Schatten  verteilt;  überhaupt 
sind  die  zeichnerisch  entworfenen  Gruppen  eigent¬ 
lich  nur  gefärbt  und  konventionell  beleuchtet.  An 
dem  feinen  Humor,  der  das  Ganze  belebt,  ohne  irgendwo 
an  Karikatur  zu  streifen,  und  an  manchen  Einzel- 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


193 


Leiten,  wie  z.  B.  den  sprechenden  Händen,  erkennt 
man  vollends  den  Maler  als  einen  Künstler,  der  wohl 
längst  seiner  Gegenstände  und  ihrer  Wiedergabe  im 
allgemeinen,  aber  noch  lange  nicht  ihrer  Verwertung 
innerhalb  eines  koloristisch  zu  empfindenden  Werkes 
Herr  war. 

Also  das  Aktzeichnen,  das  Skizziren  nach  der 
Natur  und  die  Versuche  mit  Ölfarben  sollten,  neben 
dem  Studium  von  Lehrbüchern,  Kupferstichen  und 
Gemälden,  unsern  Emailleur  und  Miniaturisten  über 
seinen  bisherigen  Stand  hinaus  fördern.  Wir  müssen 
jedoch  im  Auge  behal¬ 
ten,  dass  er  alle  diese 
Dinge  nur  nebenher 
treiben  konnte,  sie  nur 
mühsam  dem  täglichen 
Geschäfte  abstahl. 

Denn  immer  schwung¬ 
voller  wurde  der  Han¬ 
del  mit  seinen  Fabri¬ 
katen,  die  bereits  den 
Durchschnitt  ihrer 
französischen  Vorbil¬ 
der  erreichten  oder 
übertrafen.  Mit  Ver¬ 
wunderung  entnehmen 
wir  den  Rechnungen  in 
einem  Notizbuche  des 
Meisters,  wie  zahlreich 
die  kleinen  Porträts  und 
Plaquetten  waren,  die 
er  monatlich  ablieferte; 
denn  nur  dem  ange¬ 
strengtesten  Fleiße  und 
einer  unfehlbaren 
Handfertigkeit  sindsol- 
clie  Mengen  immerhin 
wertvoller  Erzeugnisse 
zuzutrauen.  Da  erhal¬ 
ten  die  Hofjuweliere  Jordan  und  Reclam  gleich  in 
mehreren  Exemplaren  die  Köpfe  oder  Brustbilder  des 
Königs  oder  des  Prinzen  Heinrich  oder  der  Prinzessin 
Ulrike;  da  werden  für  einige  hundert  Thaler  emaillirte 
Dosenteile  notirt ,  und  allerhand  Privatbestellungen 
kommen  noch  dazu.  Besonders  während  des  Sieben¬ 
jährigen  Krieges  blühte  das  Geschäft,  und  zwar  speziell 
die  Bildnismalerei  in  Miniatur.  Berlin  beherbergte 
in  jener  Zeit  eine  große  Gesellschaft  reicher  Adligen, 
die  sich  aus  den  bedrohten  Landesteilen  und  von 
ihren  Gütern  nach  der  Residenz  gezogen  hatten,  wo 
sie  in  leidlich  vergnügtem  Treiben  den  Frieden  er- 
Zeitsclnift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  8. 


warteten;  ihr  geschäftiger  Müßiggang  kam  den 
Künsten  einigermaßen  zu  gute  und  brachte  besonders 
den  Porträtisten  erwünschte  Einnahmen.  Damals  ließ 
Chodowiecki,  der  aus  Furcht  vor  krittelnder  Kritik 
bisher  nur  seine  Angehörigen,  seine  nächsten  Freunde, 
sich  selbst  und  jene  wehrlosen  Fürstenköpfe  gemalt 
hatte,  sich  überreden,  als  Porträtist  in  die  Dienste 
eines  größeren  Publikums  zu  treten.  Der  erste  Ver¬ 
such  darin,  das  Miniaturbildnis  eines  Herrn  v.  Burgs- 
dorff,  fand  Beifall  durch  seine  gesunde  Farbe  und 
die  natürliche  Auffassung.  Bald  mehrten  sich  die 

Kunden,  und  Chodo¬ 
wiecki  befriedigte  sie 
mit  immer  wachsendem 
Vergnügen,  weil  er 
einsah,  dass  das  Por¬ 
trätmalen  für  jeden 
nicht  ganz  konventio¬ 
nellen  Künstler  ein  fort¬ 
währendes  Studium 
nach  der  Natur  ist. 
Auch  bot  sich  ihm  hier 
eine  Gelegenheit,  durch 
die  Darstellung  rich¬ 
tiger  Posen  und  kor¬ 
rekter  Bewegung  zu 
beweisen,  wie  nützlich 
selbst  dem  Miniaturis¬ 
ten  das  Beobachten  der 
Menschen  in  ihrem 
Wesen  sei. 

Aus  dieser  Periode, 
also  etwa  aus  den  Jah¬ 
ren  1755 — 65,  stammen 
die  übrigen  nicht  sehr 
zahlreichen  Werke  der 
Kleinmalerei,  die  mit 
Sicherheit  Chodowiecki 
zuzuschreiben  sind. 
Manches  echte,  bezeiclmete  Stück  mag  ja  in  entlegeneren 
Sammlungen  und  im  Privatbesitze  sich  noch  verborgen 
halten,  manches  unbezeichnete,  aber  doch  auch  echte 
unter  falschem  Namen  oder  namenlos  gezeigt  werden; 
indessen  ist  das  meiste  ohne  Zweifel  zu  Grunde  ge¬ 
gangen,  weil  es  an  das  Schicksal  der  im  allge¬ 
meinen  ja  sehr  vergänglichen  Schmucksachen  gebun¬ 
den  war.  Was  sich  gerettet  hat,  verdanken  wir 
hauptsächlich  der  Sorgfalt  der  älteren  Sammler  und 
außerdem  der  Pietät  der  Nachkommen  unseres  Künst¬ 
lers,  die  den  ererbten  und  öfters  durch  eben  diese 
Erbfolge  auch  beglaubigten  Besitz  gewissenhaft  ge- 

26 


Kinderbild.  Gemälde  von  Daniel  Chodowiecki. 


194 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER, 


schützt  haben.  Wie  altmodisch,  wie  intim  muten 
uns  nun  die  zierlichen  Emaillen  an!  Bald  zeigen  sie 
auf  zart  rosa  Grund  Amorettentänze  um  den  Altar 
der  Freundschaft  oder  der  Liebe,  in  grauem  Camayeu 
ausgeführt.  Bald  sehen  wir,  im  kleinsten  Format, 
aber  in  blühenden  Farben,  eine  Toilette  der  Venus 
oder  eine  Schmiede  Cupido’s  —  „Sapristi,  que  c’est 
rococo!“,  möchten  wir  auf  Französisch  ausrufen,  weil 
uns  im  Deutschen  der  genau  entsprechende  Ausdruck 
für  diese  bei  aller  Affektation  so  liebenswürdig  wunder¬ 
liche  Welt  offenbar  noch  mangelt.  Und  wirklich  ist 
die  Arbeit  auch  ganz  französisch;  der  pointillirte 
Grund,  die  roten  Umrisse  und  Modellirungen  des 
Fleisches,  die  kecken  Touclien  —  alles  ist  den  vor¬ 
geschrittenen  Nachbarn  entlehnt  und  legt  Zeugnis 
dafür  ab,  wie  erfolgreich  die  französischen  Refugies 
bestrebt  gewesen  waren,  die  Künste  ihrer  alten  Heimat 
der  neuen  als  Gastgeschenk  zu  überliefern.  Ja  selbst 
die  Kompositionen  sind  oft  Kopien  französischer  Vor¬ 
lagen  noch  in  den  Jahren,  in  denen  Chodowiecki 
sonst  schon  als  selbständiger  Schöpfer  auftritt;  so 
findet  sich  auf  der  Innenseite  des  Deckels  einer  be- 
zeiclmeten  Dose  die  im  Gegensinne  dargestellte  Nach¬ 
bildung  von  Lemoyne’s  „Herkules  bei  der  Omphale“ 
aus  dem  Louvre;  und  eine  Folge  von  sechs  Email- 
plaquetten  (1757),  die  vermutlich  bestimmt  waren,  in 
eine  Kassette  eingesetzt  zu  werden,  erweist  sich  als 
eine  uneingestandene  Anleihe  aus  des  Sebastien  le 
Giere  radirter  „Passion“  mit  ihrem  ganzen  gewalti¬ 
gen  theatralischen  Apparat  und  Pathos  im  Miniatur¬ 
format.  Bei  aller  Sauberkeit  und  Farbenpracht  tritt 
dieses  letzte  Werk,  dessen  innere  Hohlheit  der 
schlichten  Empfindung  Chodowiecki’s  widersprach, 
entschieden  hinter  seinen  anspruchsloseren  Schäfer- 
scenen,  Gesellschaftsspielen  und  sonstigen  leichten 
Erfindungen  in  der  Wirkung  zurück.  Mögen  auch 
sie  weder  deutschnational  noch  überhaupt  ganz 
originell  sein,  so  enthalten  sie  doch  stets  etwas  von 
dem  anmutigen,  feinen  Humor  und  der  Grazie  ihres 
Schöpfers,  der  diese  ihm  angeborenen  Eigenschaften 
im  Verkehr  mit  der  französischen  Formen  weit  ent¬ 
wickelt  hatte.  Dagegen  verspüren  wir  wieder  in 
einem  Emailporträt  Friedrichs  des  Großen  (1758)  den 
sorgfältigen  Arbeiter,  dessen  Aufmerksamkeit  sich  so 
sehr  auf  das  rein  Technische  konzentrirt,  dass  seine 
Persönlichkeit  dem  Gegenstände  nichts  zu  gute 
kommen  lässt  und  seine  Hand  sich  außerdem  gründ¬ 
lich  verzeichnet. 

Dass  von  den  Miniaturen  Chodowiecki’s  kaum 
etwas  anderes  zu  berichten  ist  als  von  seinen  Emaillen, 
liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Das  Email  hatte  sich 


ja  längst  seiner  uralten,  strengen  und  charaktervollen 
Eigentümlichkeiten  entäußert  und,  bis  auf  die  Tech¬ 
nik,  sich  der  Miniaturmalerei  in  Gouachefarben  an¬ 
geschlossen;  so  kam  es,  dass  beide  Künste  zur  Ver¬ 
zierung  der  nämlichen  Geräte  oder  Schmucksachen 
verwendet  wurden  und  dieselben  Stoffe  in  denselben 
Formaten  behandelten.  Nur  war  die  Miniaturarbeit 
die  bei  weitem  billigere  von  beiden  und  verdrängte 
deshalb  allmählich  die  ehemals  so  vornehme  Neben¬ 
buhlerin,  an  der  sich  das  Publikum,  nach  ihrer  zeit¬ 
weiligen,  breiten  Beliebtheit,  übrigens  auch  satt  zu 
sehen  begann.  Andererseits  unterliegen  die  Minia¬ 
turen  wider  viel  eher  als  die  Emaillen  dem  Verderben, 
und  überdies  gefährdet  sie  der  Umstand,  dass  ge¬ 
wöhnlich  eben  sie  dazu  verurteilt  sind,  die  Züge  von 
Privatpersonen  darzustellen,  die  der  vergesslichen 
Nachwelt  bald  gleichgültig  und  des  Aufbewahrens 
unwert  erscheinen.  Zum  Glücke  haben  sich  jedoch 
unter  Chodowiecki’s  Miniaturen  gerade  einige  Bild¬ 
nisse  erhalten,  und  diese  erklären  uns,  warum  er  mit 
seinem  Porträtiren  so  rasch  in  die  Mode  kam.  Es 
sind  drei  kleine  Medaillons,  die  ihn  selbst  (1759), 
sein  ältestes  Töchterlein  (1762)  und  seinen  Bruder 
Gottfried  (?)  zeigen,  sowie  ein  viereckiges  Brustbild 
seiner  Frau,  das  er  auf  Elfenbein  gemalt  und  mit 
einem  Kartenblatt  unterlegt  hat.  In  ihnen  ist  von 
französischem  Einflüsse  nichts  zu  bemerken;  wir 
haben  hier  durchaus  den  relativ  unverfälschten  Ein¬ 
druck  und  die  treue  Wiedergabe  eines  ruhig  und 
scharf  Beobachtenden,  der  für  sein  Werk  nach  Wahr¬ 
heit  strebt.  Schon  dies  fällt  ja  in  jener  Zeit  als  ein 
besonderer  Vorzug  auf;  aber  als  ein  zweiter  gesellt 
sich  zu  ihm  die  feine,  sichere  Technik,  die  gegen¬ 
über  der  herkömmlichen  Roheit  und  Nachlässigkeit 
der  meisten  deutschen  Miniaturisten  derselben  Periode 
alle  Anerkennung  verdient. 

Wie  steht  es  nun  aber  um  den  Fortgang  von 
Chodowiecki’s  Ölmalerei?  Was  ließ  er  jener  „Braut¬ 
werbung“  folgen?  Da  wir  hörten,  dass  er,  etwa  wie 
ein  komischer  Schauspieler  sich  im  Stillen  tragischer 
Rollen  für  fähig  hält,  auf  die  Malerei  in  einem 
größeren  Stile  hinauswollte,  so  liegt  die  Vermutung 
nahe,  er  habe  nunmehr  Mittel  gesucht,  um  nach 
Italien  zu  gelangen,  oder  sei  mindestens  mit  seinen 
Skizzen  und  Entwürfen  in  die  Schule  des  Le  Brun 
oder  de  Troy  oder  Silvestre  gegangen.  Weit  gefehlt! 
Nach  Italien  zu  reisen,  fiel  ihm  erst  ein,  als  es  für 
ihn  viel  zu  spät  war;  er  hat  niemals  das  Land 
Domenichino’s,  Guido  Reni’s,  der  Caracci  und  der 
Antike  erblickt.  Aber  er  bedauerte  das  auch  nicht, 
denn  er  bemerkte,  dass  viele  umsonst  die  Pilger- 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER. 


195 


Schaft  dahin  unternahmen  und  nur  Verwirrung  oder 
Verbildung  von  dort  zurückbrachten.  Was  aber  die 
historisch-heroischen  Entwürfe  betrifft,  so  scheint  er 
allerdings  mit  ihnen  einen  Versuch  angestellt  zu 
haben.  Auf  die  „Brautwerbung“  folgt  nämlich  „die 
Geschichte  des  Eliezer,  der  von  Laban  geführt  dem 
Betlmel  den  Antrag  machte,  seine  Rebekka  dem 
Isaak  zu  geben“.  (1.  Mose  24.)  Leider  ist  dieses 
Bild  verloren;  ’)  es  würde  uns  darüber  belehrt  haben, 
ob  Chodowiecki  in  jener  Periode  irgendwelche  Selb¬ 
ständigkeit  in  der  Auffassung  eines  der  Gegenwart 
fern  liegenden  Stoffes  besessen  hat.  Vermutlich  ist 
dies  nicht  der  Fall  gewesen  und  der  Künstler  mochte 
sich  wohl  selbst  das  Geständnis  einer  vorläufigen 
Unfähigkeit  dazu  ablegen,  denn  er  ist  so  bald  nicht 
wieder  an  ein  zu  stilisirend  es  Problem  heran  getreten. 
Abelmehr  griff  er  von  neuem  auf  seine  Skizzenbücher 
zurück  und  übersetzte  die  angenehmen  Gruppen,  die 
das  Leben  seiner  täglichen  Umgebung  ihm  zeigte, 
aus  der  Bleistiftstudie  iu  säuberlich  ausgeführte 
kleine  Ölbilder. 

Auf  diese  Weise  entstand  im  Laufe  der  nächsten 
Jahre  —  nachweislich  seit  1757  —  eine  Reihe  von 
Gesellschaftstücken,  die  unter  sich  eine  höchst  charakte¬ 
ristische  Gruppe  bilden.  Sie  versetzen  uns  gewöhn¬ 
lich  in  die  Wohnstube  des  Künstlers,  in  der  die 
Personen  seines  Verwandten-  und  Freundeskreises 
auf  mancherlei  Art  angebracht  und  verteilt  sind. 
Oft  handelt  es  sich  um  Damenvisiten;  da  sitzen  sie 
denn  in  zwanglosen  Zusammenstellungen  umher  und 
unterhalten  einander  durch  Konversation,  durch  ge¬ 
meinsame  Lektüre  oder  durch  ein  wenig  Gesang  zur 
Guitarre.  Gelegentlich  wird  auch  ein  Kartenspiel 
gemacht,  und  zwischen  den  Damen  befindet  sich 
dann  wohl  dieser  oder  jener  Hausfreund,  dessen 
Scherze  die  Gesellschaft  zu  einer  anständigen  Heiter¬ 
keit  animiren.  Mit  Vorliebe  bringt  unser  Künstler, 
ein  musterhafter  Ehemann,  seine  Gattin  im  Bilde  an; 
hat  er  sie  bei  seinem  heimlichen  Skizxiren  nur  zu 
oft  auf  einem  Schläfchen  im  Lehnstuhl  ertappt, 
so  lässt  er  die  tüchtige  Hausfrau  doch  auch  nähend 
und  stickend  ihren  Fleiß  beweisen.  Und  als  sich 
gar  endlich  der  längst  erhoffte  Kindersegen  (seit  1760) 
einstellte,  verwandelte  man  die  Wohnstube  in  eine 
Wochenstube  und  machte  sie  zum  Schauplatze  der 
zartesten  Familiensorgen  und  Freuden:  natürlich  fand 

1)  Eine  Tradition  will  wissen,  die  oben  beschriebene 
„Brautwerbung“  sei  nichts  andres  als  die  aus  der  Bibel 
travestirte  Scene  Elieser’s;  doch  widerspricht  dem  sowohl  der 
Wortlaut  in  der  Autobiographie  Chodowiecki’ s  als  auch  der 
bei  allem  Humor  fromme  und  strenge  Sinn  des  Künstlers. 


sie  da  erst  recht  ihre  Verherrlichung  im  Gemälde 
samt  allen  ihren  Insassen,  von  der  glücklichen 
Mutter  und  dem  Säuglinge  an  bis  zu  den  greisen 
Schwiegereltern  Barez,  und  den  besorgten  Schwäge¬ 
rinnen,  und  den  Cousinen  Rollet,  in  deren  Hause  man 
wohnte.  —  Offenbar  sind  die  erwähnten  Bilder  zum 
Teil  im  Winter  gemalt,  worauf  die  Pelzboa’s  und  die 
Muffe  mancher  Damen,  sowie  die  mehrmals  vor¬ 
kommende  Kerzenbeleuchtung  bei  den  Unterhaltungen 
hindeuten;  im  Sommer  aber  treffen  wir  die  Gesell¬ 
schaften  auch  im  Freien.  Da  ergehen  sich  die  uns 
wohlbekannten,  porträtähnlich  dargestellten  Personen 
auf  einem  Rasenplatz  des  Berliner  Tiergartens  bei 
einer  Partie  Federball,  oder  sie  übertragen  ihre 
Konversationen  aus  dem  Salon  in  die  breiten  Alleen 
und  in  den  Schatten  eines  Baumes  oder  Gebüsches  des 
Parkes;  man  lagert  sich  am  Ufer  eines  stillen  Wassers 
oder  lehnt  an  dem  Postamente  einer  Statue  und 
lauscht  auf  die  Klänge  der  Flöte  und  eines  kleinen 
französischen  Couplets,  wenn  man  nicht  vorzieht,  sich 
den  Freuden  des  ländlichen  Frühstücks  zu  überlassen. 

Das  Bedeutsame  an  allen  diesen  Bildern  ist  nun, 
dass  sie  zwar  im  allgemeinen  an  französisches  Genre 
erinnern,  im  einzelnen  aber  weder  von  Watteau, 
noch  von  Grenze  oder  deren  Schulen  beeinflusst 
sind.  Davor  schützt  sie  ihr  anspruchsloser  Realis¬ 
mus.  Sie  wollen  weder,  wie  Grenze,  die  Reize  des 
naiven  Seelenlebens,  noch,  wie  Watteau,  die  Freu¬ 
den  einer  fingirten  Gesellschafts  Sphäre  darstellen. 
Sie  sind  eben  nichts  andres,  als  die  treuen  Illustra¬ 
tionen  aus  dem  Leben  der  Familien  Chodowiecki, 
Barez,  Quantin,  Laine  u.  s.  w.,  die  vom  Künstler  zu 
seiner  Übung  gemalt,  aber  zugleich  meistens  mit 
großer  Liebe  durchgeführt  wurden  und  übrigens 
weder  für  den  Handel  bestimmt  waren,  noch  jemals 
in  den  Handel  kamen.  Gerade  das  verleiht  ihnen 
jedoch  ihre  eigentümliche  Bedeutung.  Wir  sehen 
an  ihnen,  dass  die  Vorurteile  des  Künstlers  für  eine 
monumentale  Malerei  doch  nicht  stark  genug 
waren,  um  sein  Naturell  zu  überwältigen.  Da  er 
sich  selbst  überlassen  blieb,  indem  sein  selbständiges 
Wesen  ihm  bei  der  Begründung  eines  freieren 
Künstlertumes  vom  Anschluss  an  andere  abriet,  so 
wählte  er  für  seine  fortgesetzten  Übungen  im  Öl¬ 
malen  unbedenklich,  zunächst  die  Stoffe,  die  ihm 
am  nächsten  lagen,  d.  h.  solche,  bei  deren  Behand¬ 
lung  seine  Gewöhnung  an  das  Genrehafte  und  seine 
durchdringende  Beobachtung  sich  begegneten.  Diese 
Arbeiten  schienen  ihm  im  ganzen  zu  gelingen,  und 
so  blieb  er  einstweilen  bei  ihnen  stehen,  ohne  im 
übrigen  einen  höheren  Wert  auf  sie  zu  legen.  Auch 

26* 


196 


DANIEL  CHODO WIECKI  ALS  MALER. 


wir  werden  sie  ähnlich  beurteilen.  Sie  sind  nicht 
alle  gleichmäßig  ausgeführt;  die  reifsten  unter  ihnen 
erfreuen  durch  eine  zarte,  sanfte  Färbung,  durch 
graziöse,  lebendige  Motive  und  durch  jene  Sorgfalt, 
die  mit  allen  ihren  Mitteln  haushält,  um  jedes  an 
seinem  Orte  bescheiden,  aber  auskömmlich  wirken 
zu  lassen.  Was  jedoch  der  Künstler  selbst  viel¬ 
leicht  nicht  klar  erkannte,  fügen  wir  hinzu:  in  diesen 
Bildern  offenbart  sich  vor  allem  das  Talent  eines 
Zeichners  und  eines  Erzählers.  Wie  bei  der  „Braut¬ 
werbung“  der  Stoff,  mit  seiner  geistreichen  Be¬ 
handlung,  die  malerischen  Probleme  des  Gemäldes 
durchaus  in  den  Hintergrund  drängte,  so  sagen  wir 
auch  bei  den  andern  Kompositionen,  dass  sie  ebenso 
gut  hätten  unkolorirt  bleiben  können,  da  ihre  Far¬ 
ben  weder  die  Zeichnung  noch  die  Erfindung  merk¬ 
lich  heben.  Wirklich  ist  denn  auch  das  größte  von 
ihnen,  die  „Federball-Partie“  (c.  1760),  in  grauem 
Camayeu  gehalten.  Ein  echter  Maler  war  Chodo- 
wiecki  also  nicht;  aber  je  besser  sein  Talent  für  die 
gezeichnete  Wiedergabe  der  glücklich  erfassten  Welt 
taugte,  desto  schmerzlicher  empfand  er,  dass  es  ihm 
versagt  zu  bleiben  schien,  die  Malerei  nach  seiner 
Erkenntnis  zu  beeinflussen.  Wir  glauben  mit  der 
Annahme  nicht  zu  irren,  er  habe  gehofft,  bei  fort¬ 
gesetztem  Studium  auf  eine  Art  von  realistischer 
„großer“  Malerei  zu  geraten. 

Da  zwangen  ihn  denn  freilich  die  äußeren  Ver¬ 
hältnisse  immer  wieder  an  die  einträglichen  Arbeiten 
des  Tages.  Wir  hörten,  dass  er  während  des  Sieben¬ 
jährigen  Krieges  viele  Miniaturporträts  zu  malen 
hatte.  Das  setzte  sich  fort;  und  wenn  er  auch  in 
den  Jahren  1757  und  58  für  jene  Ölbilder  und  seine 
ersten  Versuche  im  Radiren  einige  Zeit  fand,  weil 
manche  Kunden  ihn  wegen  seiner  hohen  Preise  auf- 
gaben,  so  war  er  doch  in  der  ersten  Hälfte  der 
sechziger  Jahre  wieder  sehr  in  Mode.  Er  durfte 
vornehme  Personen,  sogar  Prinzen,  die  ihm  Sitzungen 
gewährten,  porträtiren;  die  Prinzessin  Sophie  Wil¬ 
helmine  malte  er,  als  sie  sich  verlobte,  in  Öl,  und 
selbst  an  die  Kaiserin  Katharina  —  an  diese  frei¬ 
lich  nicht  persönlich  —  scheint  er  sich  gewagt  zu 
haben.  Nebenher  gingen  immer  noch  die  gewöhn¬ 
lichen  Miniaturbildnisse  und  die  allerdings  sehr  ein¬ 
geschränkte  Emaillemalerei.  Und  dazu  kam,  seit  dem 
Jahre  1769,  sein  Radiren  als  die  eigentliche  Lebens¬ 
aufgabe,  die  ihn  bald  fast  ganz  in  Anspruch  nahm. 

Diesen  plötzlichen  Aufschwung  im  Radiren  ver¬ 
dankte  er  merkwürdigerweise  seiner  Ölmalerei  und 
zwar  ziemlich  unverdientermaßen.  Er  hatte,  wahr¬ 
scheinlich  zum  eingehenderen  Studium  der  fran¬ 


zösischen  Genretechnik,  die  gestochene  Komposition 
Carmontelle’s  „la  malheureuse  Familie  Calas“  (1765) 
in  Öl  kopirt;  da  fiel  ihm  1767  ein,  ein  Gegenstück 
dazu  zu  schaffen  und  in  Öl  zu  malen.  So  entstand 
das  bekannteste  seiner  Gemälde:  „Les  Adieux  de 
Jean  Calas  ä  sa  Familie“  (Berlin,  Königl.  Museum). 
Es  misst  30:41  Centimeter  und  drängt  auf  diesem 
kleinen  Raume  eine  große  Menge  von  Motiven  zu¬ 
sammen.  Wir  sehen  den  ehrwürdigen  Greis  Calas, 
das  unschuldige  Opfer  der  fanatisirten  Justiz  in 
Toulouse,  auf  der  dürftigen  Bettstatt  seines  Gefäng¬ 
nisses;  während  der  Schließer  ihm  zum  Gange  nach 
dem  Richtplatz  die  Ketten  abnimmt,  umgeben  der 
Sohn  und  die  beiden  Töchter  zum  letztenmal  den 
Vater,  der  sie  tröstet.  Im  Hintergründe  rechts  be¬ 
mühen  sich  der  Hausfreund  Lavaysse  und  die  treue 
Magd  Jeanne  Viguiere  um  die  ohnmächtige  Mutter, 
links  aber  treten  durch  die  von  Schildwachen  be¬ 
setzte  Thür  zwei  Mönche  ein,  um  der  Kirche  wo¬ 
möglich  noch  eine  verzagende  Seele  zu  gewinnen. 
Der  gefasste,  verklärte  Ausdruck  Calas’  sagt  uns 
jedoch,  dass  ihr  \rorhaben  ein  aussichtsloses  ist.  — 
Hier  hatte  nun  Chodowiecki  einen  tragischen  Stoff, 
hier  fanden  sich  tiefe  und  zugleich  edle  Seelen¬ 
bewegungen  und  überdies  waren  die  Personen  der 
ergreifenden  Scene  Menschen  aus  des  Künstlers 
eigener  Sphäre,  aus  dem  bürgerlichen  Mittelstände 
der  Gegenwart,  —  wie  löste  er  die  so  glücklich  sich 
darbietende  Aufgabe?  Er  hatte  mit  dem  Bilde  in 
Berlin  einen  großen  Erfolg,  denselben  Erfolg,  den 
Grenze  mit  seinen  Rührstücken  des  Dorfes  weit  über 
Frankreich  hinaus  genoss;  aber  wiederum  lag  die 
Bedeutung  des  Werkes  in  der  sympathischen  Auf¬ 
fassung  des  Gegenstandes,  während  die  allzu  merk¬ 
lich  studirte  Komposition  nur  zu  sehr  eben  an 
Greuze  erinnert,  und  die  Technik,  besonders  die 
Farbe,  eine  sehr  schwerfällige  und  reizlose  ist.  Für 
uns  also  bezeugt  das  Gemälde  wiederum  die  Be¬ 
schränkung  von  Chodowiecki’s  Kunstvermögen;  das 
damalige  Publikum,  das  ihn  nicht  kritisch  als  Maler 
beurteilte,  sondern  freudig  in  ihm  einen  warm  und 
rein  empfindenden  Mann  begrüßte,  veranlasste  ihn 
dagegen,  seine  Arbeit  zu  radiren.  Diese  Platte,  so 
misslungen  sie  in  technischer  Beziehung  ist,  be¬ 
gründete  seinen  Ruhm  als  Radirer;  und  als  er  ein 
Jahr  später  (1769)  die  reizenden  Blättchen  zu  Minna 
von  Barnhelm  (E.  51 — 52)  für  den  Berliner  Genea¬ 
logischen  Kalender  von  1770  geschaffen  hatte,  da 
wurde  er  von  den  Verlegern  aller  Litteraturgat- 
tungen  um  Illustrationen  im  Miniaturformat  geradezu 
bestürmt. 


DANIEL  CHODOWIECKI  ALS  MALER 


197 


Seit  diesem  Jahre  tritt  daher  seine  Email-  und 
Miniaturmalerei  entschieden  zurück;  die  erstere  über¬ 
ließ  er  gewöhnlich  seinem  Bruder  Gottfried,  die 
zweite  betrieb  er  nur  zeitweilig,  z.  B.  1773,  wäh¬ 
rend  seines  Aufenthaltes  in  Danzig,  wieder  lebhafter, 
weil  er  dort  viele  Gelegenheiten  fand,  den  polnischen 
Adel  gegen  gutes  Honorar  zu  porträtiren.  Aus 
Chodowiecki,  dem  Maler  und  Kupferstecher,  als  wel¬ 
cher  er  1764  den  Titel  eines  Mitgliedes  der  Berliner 
Kunstakademie  erhalten  hatte,  wurde  immer  aus¬ 
schließlicher  ein  peintre-graveur.  „Das  Publikum 
machte  ihn  dazu“,  wie  wir  ihn  ja  klagen  hörten. 
Und  wirklich  gelang  es  ihm  seitdem  nicht,  seine 
Pläne  für  die  Ölmalerei  weiter  zu  verfolgen.  Auf 
jene  originellen  Anfänge  in  einem  sozusagen  rea¬ 
listischen  Genre  kam  er  nur  noch  einmal,  1772,  in 
einem  Bilde  „Le  Parc“  zurück,  das  die  Komposition 
seiner  Radirung  E.  83  „Premiere  Promenade  de 
Berlin“  (d.  h.  die  Zelte  im  Tiergarten) 
mit  einigen  Veränderungen  wieder¬ 
holt.  Daneben  aber  malte  er,  gleich¬ 
sam  sein  Streben  nach  Selbständig¬ 
keit  aufgebend,  mehrere  Gesellschaft¬ 
stücke  in  Watteau’s  oder  besser 
Lancret’s  Geschmack  (Berlin,  Kgl. 

Museum)  und  einzelne  ländliche 
Genrestücke,  eine  Dorfschule,  eine 
Scene  am  Brunnen  und  Ähnliches, 
etwa  im  Sinne  Chardins  oder  Co- 
chin’s,  aber  ohne  seine  Technik  zu 
verfeinern.  Auch  mehrere  Porträts, 
besonders  aus  seiner  Familie,  hat  er 
noch  in  Öl  ausgeführt,  auf  welche 
hier  näher  einzugehen  der  Raum  verbietet. 

Um  das  Jahr  1775,  also  mit  ungefähr  50  Jah¬ 
ren,  stand  unser  Meister  auf  der  Höhe  seines  Wir¬ 
kens.  Seine  Radirungen,  mit  Sorgfalt  vorbereitet 
und  mit  einer  erstaunlichen  Technik  ausgeführt, 
ließen  alle  seine  guten  Eigenschaften  zur  Geltung 
kommen.  Sie  sprühten  von  Leben  und  reizvoller 
Grazie;  sie  redeten  zum  Beschauer  mit  der  Sprache 
des  wahren  Gefühls  und  des  milden  Humors,  — 
vorausgesetzt  immer,  dass  ihr  Format  ein  kleines 
und  ihr  Gegenstand  kein  „historischer“  war;  in  diesen 
Fällen  versagten  dem  Künstler  sowohl  die  Formen¬ 
kenntnis  als  auch  das  Vermögen,  ansprechend  zu  cha- 
rakterisiren,  und  wir  finden  dann  nur  einzelne,  über¬ 
raschend  feine  Motive  in  den  übrigens  öden  Blättern. 


Aber  wie  merkwürdig!  Diese  handgreiflichen  Schwä¬ 
chen  bemerkte  der  sonst  so  scharfsichtige  Realist 
ebensowenig,  wie  er  sich  seines  unzulänglichen  Far¬ 
bensinnes  bewusst  wurde.  Wir  hörten  schon,  dass 
er  seine  in  unseren  Augen  verunglückten  Kompo¬ 
sitionen  allegorischen  oder  historischen  und  bibli¬ 
schen  Inhaltes,  wie  die  Illustrationen  zu  Lavaters 
Jesus  Messias  oder  die  Entwürfe  zu  den  Statuen 
und  Reliefs  für  den  französischen  Dom  in  Berlin 
(die  wirklich  nach  seinen  Zeichnungen  ausgeführt 
sind),  hoch  schätzte;  und  diesem  Mangel  an  Selbst¬ 
kritik  entspricht,  dass  er  nach  Aufgabe  der  Ölmalerei 
doch  die  Vorliebe  für  Färbung  seiner  größeren 
Werke  nicht  auch  aufgab,  sondern  zu  der  Zeichnung 
ä  trois  und  ä  quatre  crayons,  sowie  zum  Pastell  über¬ 
ging  und  auch  in  diesen  meist  fragwürdigen  Leis¬ 
tungen  seine  Befriedigung  fand. 

Wir  müssen  aus  solchen  Beobachtungen  den 
Schluss  ziehen,  dass  Chodowiecki,  von 
der  Natur  zu  einem  Meister  der  rea¬ 
listischen  Zeichnung  bestimmt,  aber 
durch  eine  verfehlte  Erziehung  in  das 
malende  Kunsthandwerk  geleitet,  zu¬ 
nächst  noch  Kritik  genug  besaß,  um 
die  Schwächen  der  damals  geltenden 
„großen“  Malerei  zu  erkennen  und, 
weil  er  begreiflicherweise  nach  ihr 
strebte,  sie  auf  bessere  Art  betreiben 
zu  wollen.  Mit  glücklichem  Ansätze 
gelangte  er  zu  dem  Anfänge  einer 
ihm  konvenirenden  genrehaften  Öl¬ 
malerei,  die  er  sich  als  Grundlage 
einer  vornehmeren  historischen  Ma¬ 
lerei  dachte,  und  deren  Stil  von  dem  Manierismus 
der  übrigen  abweichen  sollte.  Indessen  wurde  sein 
Studiengang  dadurch  unterbrochen,  dass  das  Pub¬ 
likum,  in  diesem  Falle  einsichtiger  als  der  Künst¬ 
ler  selbst,  die  Radirungen  des  Meisters  verlangte, 
seine  Ölbilder  aber  nur  kühl  aufnahm.  So  ent¬ 
fremdete  sich  Chodowiecki  allmählich  seinen  Jugend- 
plänen  und  geriet  unvermerkt  in  die  Gefolgschaft 
der  von  ihm  sonst  getadelten  Richtung,  sobald  er 
sein  eigentliches  Gebiet  verließ.  Die  Malerei  hat 
also  in  seinem  Leben  eine  verhängnisvolle  Rolle 
gespielt,  —  zum  Glück  war  sie  jedoch  nicht  im¬ 
stande,  das  Wirken  des  immer  wieder  zum  Rich¬ 
tigeren  einlenkenden  Mannes  auf  die  Dauer  zu  unter¬ 
binden. 


Email  camayeu. 

Von  Daniel  Chodowiecki. 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  VON  ÖSTERREICH 

VON  MABUSE. 

VON  CARL  JUS  TI. 

(Schluss.) 

Der  Bastard  Philipp  von  Burgund  (1465 — 1524). 


M  vorigen  ist  der  Name  des 
Bastards  von  Burgund  ge¬ 
nannt  worden,  des  Sohnes 
Herzog  Philipp  des  Guten, 
der  viele  Jahre  Admiral  von 
Holland  gewesen  war,  bis 

er  auf  das  Drängen  und 
im  Interesse  Carls  Y.  das 

Bistum  Utrecht  übernahm.  Philipp  von  Burgund 

war  kein  gewöhnlicher  Mensch.  Er  hat  sich  die 
Zuneigung  eines  Julius  II.  gewonnen,  der  sein 

Urteil  in  Kriegs-  und  Staatssachen  bemerkte  und 
ihu  z.  B.  auf  seine  intimen  Jagden  bei  Ostia  mit¬ 
nahm.1)  Er  hatte  sich  auch  in  Malerei  und  Gold¬ 
schmiedkunst  versucht  und  verstand  die  Proportions¬ 
und  Formenlehre  der  klassischen  Architektur,  deren 
Reste  er  von  Mabuse  aufnehmen  ließ.  Der  Pabst 
schenkte  ihm  die  Büsten  des  Julius  Cäsar  und  Hadrian, 
das  einzige  was  er  annehmen  wollte.  Unterhaltung 
mit  Gelehrten  (zu  seinen  Korrespondenten  gehörte 
Erasmus  >,  Vorlesen  aus  Geschichtwerken  war  ihm  täg¬ 
liches  Bedürfnis.  Er  baute  die  Burgen  seiner  Diöcese, 
und  schuf  sich  ein  Tibur  in  Sujtburg,  später  als  Bischof 
zog  er  Duersteden  vor,  wo  er  mit  Malern,  Bildhauern 
und  Steinmetzen  wie  einer  ihres  gleichen  verkehrte. 
Enter  den  Kunstwerken,  mit  denen  er  sich  umgab, 
werden  auch  Terracotten  genannt,  darunter  ist  sein 
eigenes  Bildnis.  Besonders  war  er  ein  Liebhaber 
schöner  Brunnen.  Während  er  die  Trunksucht  seiner 
Standesgenossen  verachtete,  und  seit  jener  Reise 
nach  Rom  als  Gesandter  Maximilians  und  des  Prinzen 
Carl  über  das  Leben  der  „Cortigiani“  mit  dem  Eifer 

1)  Vom  4.  bis  12.  E'ebruar  1509.  Come  el  papa  e  pur 
a  Hostia  a  piaceri,  con  do  oratori  di  Borgogna,  per  clarli 
piacer  di  caze  ed  altro,  el  andato  poi  5  Cardinali  ec.  Marin 
Sanuto,  I  Diari  VII.,  748.  Roma,  8.  Febr.  vgl.  p.  716.  719.  740. 


eines  Reformators  sich  auszulassen  pflegte,  behielt 
er  stets  eine  eingestandene  Schwachheit  für  die 
Töchter  Eva’s.  Als  junger  Mann  soll  er  von  ver¬ 
führerischer  Gestalt  gewesen  sein,  „von  rosigem  Ant¬ 
litz  und  zierlichem  Bau,  mehr  Parthenius  als  Philippus 
zu  nennen.“  Besonders  fielen  seine  dunklen  Haare 
und  schwarzen  feurigen  Augen  auf,1)  die  ihn  damals 
den  Nachstellungen  edler  Damen  aussetzten  und  in 
lebensgefährliche  Abenteuer  verwickelten,  zum  Kum¬ 
mer  seines  älteren  Bruders,  des  Bischofs  David. 

Jan  Goßart  war  gleichsam  seine  Schöpfung; 
jener  Reise  verdankte  er  den  alten,  heute  etwas 
verblaßten  Ruhm  des  ersten  Niederländers,  der  aus 
Welschland  die  Kunst  der  Historien  und  Poesien 
mit  nackten  Figuren  herüberbrachte;  so  sagt  Guic- 
ciardini.  Da  müßte  man  auf  ein  Bildnis  dieses  Gönners 
und  Freundes,  dem  er  ohne  Zweifel  sein  bestes  ge¬ 
widmet  haben  wird,  gespannt  sein. 

Zwei  treffliche  Gemälde,  nach  früherer  Verken¬ 
nung,  aber  unter  sehr  großen  Namen,  neuerdings 
als  seine  Arbeit  bezeichnet,  gelten  als  Bildnisse 
Philipps,  obwohl,  da  sie  unvereinbar  voneinander 
ab  weichen,  nur  eines  das  richtige  sein  kann.  Das 
im  Berliner  Museum  (586  A)  früher  Holbein  geheißen, 
zeigt  auf  der  Dolchscheide  die  burgundische  Devise 
Avtre  qtie  vous  [ n’aime ].  Der  Mann  hat  in  der  That 
die  schwarzen  Augen,  aber  das  ist  auch  der  einzige 
Zug,  der  zu  der  Schilderung  des  Gerhard  von  Nim¬ 
wegen  stimmt.  Der  Oberkörper  ist  so  kurz,  dass 
man  ihn  für  verwachsen  halten  müßte,  auch  die  in 
wildledernen  Handschuhen  steckenden  Hände  scheinen 
nicht  normal.  Philipp  hatte  ferner  schon  am  23. 


I)  Eo  tempore,  juvenili  supraque  modum  amabili  forma 
erat,  oculis  nigritantibus ,  et  nescio  quid  Cupidineum  ejacu- 
lantibus.  Gerardus  Noviomagus  a.  a.  0, 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


199 


Philipp,  Bastard  von  Burgund.  Gemälde  von  J.  Mabuse. 
(Nach  einer  Photographie  von  A.  Braun  &  Co.  in  Dörnach.) 


Das  Kostüm  weist  auf  viel  spätere  Zeit  hin,  aber 
nach  1516  dürften'  die  bischöflichen  Insignien  nicht 
fehlen. 

Noch  ältere  Ansprüche  hat  das  früher  Lucas 
von  Leiden  genannte  Bildnis  im  Ryksmuseum  zu 
Amsterdam,  und  hier  trägt  er  das  goldene  Vließ  an 


geh  Warze  Philipp  zu  hellblauen  Augen  und  blonden 
Haaren  ? 

Der  Eindruck,  dass  hier  einer  vom  Hause  Bur¬ 
gund  vor  uns  stehe,  war  aber  doch  wohl  keine 
Täuschung.  Und  die  reichen  goldenen  Locken,  die 
grossen  blauen  Augen,  das  von  Jugend-  und  Lebens- 


Januar  1501  von  Maximilian  das  goldene  Vließ 
empfangen,  das  in  einem  mit  so  manchem  bedeutsamen 
und  kostbaren  Schmuck  überladenen  Bildnis  nicht 
fehlen  könnte.  Der  Mann  scheint  etwa  ein  dreißiger, 
dann  müßte  er  um  1495  gemalt  sein,  also  acht  Jahre 
vor  der  Aufnahme  Mabuses  in  die  Antwerpener  Gilde. 


schwarzem  Band  über  dem  hellroten  Rock,  dessen 
Schlitze  mit  Goldstoff  gefüttert  sind.  Der  weiss 
damastene  Mantel  mit  braunem  Pelzkragen  fällt  über 
die  Achseln,  und  lässt  den  Hals  ganz  frei.  Nach 
dem  jugendlichen  Aussehen  mußte  er  noch  früher 
als  1495  aufgenommen  sein.  Aber  wie  kommt  der 


200 


EIN  BILDNIS  DER  ISABELLA  VON  ÖSTERREICH  VON  MABUSE. 


lust  durch  glühte  Gesicht  führen  auf  Philipp  den 
Schönen,  den  Vater  Isabellens,  den  Bruder  Mar¬ 
garetens  und  Jagdgenossen  ihres  Gemahls,  Philiberts 
von  Savoyen. 

Die  bekannten  Bildnisse  Philipps  des  Schönen 
sind  im  besten  Fall  nur  mittelmäßge  Kopien,  zum 
Teil  aber  blosse  Phantasieerzeugnisse. ')  Man  sieht 
Lang-  und  Breitköpfe,  flache  und  kühn  ausladende 
Profile,  blöde  und  feurige  Augen.  So  war  man  bis¬ 
her  in  Verlegenheit,  wie  man  sich  die  Schönheit  des 
auch  von  den  Spaniern  El  hermoso  genannten  Sohnes 
Maximilians  und  der  Maria  von  Burgund  eigentlich 
vorstellen  sollte. 

Charakteristisch  sind  in  dem  Amsterdamer  Kopf 
die  Augen  mit  weiter  Lidspalte  und  steiler  Wölbung. 
Diese  Augen  finden  sich  u.  a.  wieder  in  dem  Stich 
P.  de  Jode’s  nach  J.  Mostart.  Die  Guachemalerei  im 
Statutenbuch  des  Ordens  vom  goldenen  Vließ  die, 
wenn  man  aus  den  übrigen  Bildnissen  einen  Schluss 
ziehen  darf,  nach  guter  Vorlage  gemacht  ist,1 2)  hat 
dieselbe  lange,  gerade,  wenig  vortretende  Nase,  und 
die  helle  Gesichtsfarbe.  Nur  ist  er  da  noch  ein 
magerer,  blöder  Jüngling.  So  auch  auf  dem  Flügel¬ 
bild  des  Brüsseler  Museums.3)  Die  blonden  Locken 
sind  etwas  kürzer  als  sie  sonst  Vorkommen. 

Philipp  war  nach  der  Schilderung  des  vene¬ 
zianischen  Gesandten  eine  wohlgebildete,  frische, 
kraftvolle  Erscheinung,  gewandt  in  den  Schranken, 
eifrig  und  wachsam  im  Felde,  jeder  Strapaze  ge¬ 
wachsen.  Dabei  glänzend,  freigebig,  auch  zuver¬ 
lässig,  aber  leichtgläubig.  Bei  einein  so  guten  Kopf, 
der  die  dornigsten  Materien  leicht  bewältigte,  befrem¬ 
dete  ein  zögerndes  Antworten,  eine  Unentschlossen¬ 
heit  die  die  Entscheidungen  deu  Bäten  überliess. 
Selbst  diesen  Zug  glaubt  man  in  den  Linien  des 
Gesichts  zu  lesen.4) 

Philipp  dürfte  hier  in  der  Mitte  der  zwanzig, 
also  kurz  vor  seiner  Abreise  nach  Spanien  zur  Be¬ 
sitzergreifung  der  Krone  Kastiliens  gemalt  sein.  Hier 
war  es,  wo  er  am  25.  September  zu  Burgos  einem 
hitzigen  Fiber  erlag,  „wie  eine  Frühlingsblume  da¬ 
hinwelkte,“  sagt  Petrus  Martyr. 

Wir  hätten  also  hier  zum  erstenmale  ein  authen¬ 
tisches  Bildnis  dieses  Fürsten  von  der  Hand  eines 

1)  Zu  den  letzteren  gehört  z.  B.  das  Bildnis  in  der 
Dresdener  Galerie,  wo  das  Pendant,  Da.  Juana,  indes  ähnlich 
ist.  N.  09,  70  Neapolit.  Schule. 

2)  Jahrbuch  der  Kunstsammlungen  des  A.  H.  Kaiser¬ 
hauses  V.  Tafel  XXI.  Wien  1887. 

3)  N.  100.  Aus  der  Kirche  von  Zirikzee. 

4)  Vinc.  Quirini,  Itelazione  di  Borgogna  1506,  in  Alberi’s 
Sammlung. 


hervorragenden  Künstlers,  und  einen  Beweis,  wie 
früh  Mabuse  dem  regierenden  Hause  nahegetreten 
ist.  Von  seinen  Beziehungen  zum  Hof  spricht  auch 
das  Porträt  eines  kaiserlichen  Sekretärs  in  dem  Brüs¬ 
seler  Museum  (124  A),  der  sich  an  seinem  Arbeits¬ 
tisch,  umgeben  von  treuen  Abbildern  der  durch  ihn 
ausgefertigten  Verordnungen  Maximilians  und  Carl  V. 
abkonterfeien  liess.  Schwerlich  ist  es  (wie  Fetis  ver¬ 
mutet)  der  Sekretär  Philipp  Hanneton,  der  Stifter 
des  dortigen  Triptychons  von  der  Hand  Orley’s. 

Wenn  einmal  Jemand  der  in  Niederländischen 
Meistern  und  in  der  Geschichte  dieser  Zeit  zu  Hause 
ist,  die  große  Tour  durch  die  europäischen,  besonders 
englischen  Galerien  macht,  so  werden  sich  vielleicht 
noch  mehr  Beiträge  von  Mabuse’s  Hand  ergeben 
zur  flandrischen  Ikonographie  wie  zur  Rekonstruction 
seiner  Künstlerlaufbahn.  Den  Mittelpunkt  würde  bilden 
das  Treiben  auf  den  Schlössern  Philipps  von  Burgund, 
zu  Suytburg  und  Duersteden,  und  die  Gesandtschafts¬ 
reise  an  den  römischen  Hof  und  über  Venedig,  wo 
sich  Jacopo  de’  Barbari  anschloss.  Die  reichen 
Brunnen  im  Hintergrund  seines  Paradiesbildes  und 
des  heil.  Lucas  sprechen  von  seines  Herrn  Lieb¬ 
haberei  für  „Fontänen,  Aquäducte  und  Thermen.“  Die 
nackten  Heidengötter  waren  ebenfalls  für  die  Andacht 
des  Schloßherrn  bestimmt,  wie  das  Inventar  von 
Duersteden  bezeugt. 4) 

Aber  man  wird  den  Hennegauer  vielleicht  noch 
weiter  zurückverfolgen  können,  in  Anfänge,  die 
freilich  vor  der  Hand  nebelhaft  erscheinen.  Mander 
hatte  gehört  von  trefflichen  Bildnissen  die  er  in 
London  gemalt  habe. 2)  Aber  wann  hat  diese  eng¬ 
lische  Reise  stattgefunden? 

In  der  Tudorausstellung  des  Jahres  1890  sah 
man  zwei  Bildnisse' Heinrich  VII.,  darunter  ein  lebens¬ 
großes  Brustbild  mit  der  Bezeichnung  Johan  de  Mau¬ 
beuge ,  ferner  das  des  Dechanten  von  S.  Paul,  John 
Colet  und  die  große  Tafel  der  Trauungsfeier  des 
Königs  mit  Elisabeth  von  lrork  in  Westminster 
(18.  Januar  1486)  mit  dem  Bischof  von  Imola  zur 
Rechten,  die  H.  Walpole  in  seinen  Anecdotes  be¬ 
schrieben  hatte. 

Der  Verfasser  glaubt  noch  in  einem  anderen  eng¬ 
lischen  Ceremonienbild,  das  in  allen  Büchern  bei 
Gelegenheit  Jan  van  Eycks  mitläuft,  ein  sehr  frühes 


1)  Een  groot  tafreel  van  een  naict  vrouken  mit  een  pyl 
in  de  liant,  ende  Cupido  overdect  mit  een  gordynken  blauw 
ende  geluw  taftaf.  (Im  Scblafgemach).  Noch  twee  tafreelen 
mit  naecten  luyden.  Inventar  von  Duersteden  u.  a.  O.  215.  221. 

2)  Yerscheyden  conterfeytselen  zyn  van  hem  ook  seer 

wel  ghedaen  te  Bonden.  Van  Mander  F.  14Gd. 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 


201 


Werk  Mabuse’s  zu  erkennen.  Es  ist  die  Weihe 
des  Thomas  Becket  zum  Erzbischof  von  Canterbury, 
in  Chatsworth,  dem  Landsitz  des  Herzogs  von  Devon- 
shire.  Dies  vielfach  übermalte  und  mit  gefälschter 
Signatur  versehene  Bild  erinnert  nämlich  auffallend 
an  sein  frühestes  beglaubigtes  Werk,  die  Epiphanie 
aus  der  Abtei  Grammont,  jetzt  in  Castle  Howard. 
Dieselbe  strenge  Symmetrie  der  kerzengerade  da¬ 
stehenden  Feierversammlung,  mit  dem  senkrechten 
Faltenwurf,  derselbe  bräunliche,  sehr  verschmolzene 
Ton  der  hartgezeichneten  Köpfe.  Die  Figur  zur 


Rechten  ist  ein  unzweifelhaftes  Porträt  Heinrichs  VII. 
Das  von  Hymans  angeführte,  ganz  übermalte  Bild 
des  großen  Rates  unter  Karl  dem  Kühnen  (1474) 
im  Museum  zu  Mecheln,  könnte  in  denselben  Kreis 
großer  zerimonieller  Handlungen  gehören,  die  hier¬ 
nach  die  früheste  Spezialität  Mabuse’s  gewesen  wäre. 
Dies  würde  für  seine  Art  gewiss  bezeichnend  sein 
und  konnte  für  die  Ausbildung  seines  malerischen 
Charakters  nicht  ohne  Folgen  bleiben.  Eben  jenes 
prunkhafte  Dreikönigbild  scheint  auf  solche  Vorstu¬ 
dien  hinzuweisen. 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 

VON  EMIL  REISCH. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


N  den  anspruchslosen  Räumen 
eines  bescheidenen  Hauses 
am  römischen  Corso  hat  seit 
Kurzem  eine  kleine  aber  aus¬ 
erlesene  Anzahl  antiker  Mar¬ 
morbildwerke  Platz  gefun¬ 
den,  die  der  kunstsinnige 
italienische  Senator  Don 
Giovanni  Barracco  binnen  zweier  Jahrzehnte  um  sich 
zu  vereinigen  gewusst  hat.  Von  den  zahlreichen 
alten  und  neuen  Privatsammlungen  Roms  unter¬ 
scheidet  sich  diese  Sammlung  sehr  wesentlich  durch 
ihr  eigenartiges  Gepräge.  Hier  haben  nicht  Zufall 
und  Laune  Gevatter  gestanden  und  einen  weitherzigen 
Enthusiasmus  veranlasst,  zusammenzutragen,  was  am 
Wege  sich  lockend  darbot,  —  hier  hat  von  Anfang 
an  ein  wissenschaftlicher  Geist  dem  Sammeleifer 
strenge  Zügel  angelegt  und  ihm  das  bestimmte  Ziel 
gesetzt,  den  Entwickelungsgang  der  antiken  Plastik 
in  einer  geschlossenen  Reihe  charakteristischer  Bild¬ 
werke  vor  Augen  zu  stellen.  Und  glücklicherweise 
hat  derjenige,  der  diesem  Ziel  mit  ebensoviel  Aus¬ 
dauer  als  Erfolg  nachgestrebt  hat,  durch  seinen  lehr¬ 
haften  Zweck  sich  nicht  dazu  verleiten  lassen,  wert¬ 
lose  Kopieen  nach  anderweitig  besser  überlieferten 
Originalen  anzuhäufen,  sondern  er  hat  als  ein  wahrer 
Kunstschätzer  mit  feinem  Takt  auf  den  individuellen 
Wert  der  einzelnen  Stücke  das  Hauptgewicht  gelegt 
und  die  intimen  Reize  selbständiger  künstlerischer 
Arbeit  zu  würdigen  gewusst.  So  trägt  die  Samm- 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  8. 


lung  mehr  als  irgend  eine  andere  den  persönlichen 
Stempel  ihres  Besitzers  und  gewährt  in  dem 
Hundert  Bildwerke,  das  sie  umschließt,  ebensoviel 
Genuss  wie  Belehrung.  Was  bisher  in  der  Ver¬ 
borgenheit  privater  Räume  nur  einer  kleinen  Schar 
kunstbeflissener  Romfahrer  zugänglich  gewesen  war, 
hat  Barracco  nunmehr  durch  eine  prächtige  Publi¬ 
kation  in  das  Licht  allgemeiner  Betrachtung  ge¬ 
rückt.  Der  Kunstverlag  von  Friedrich  Bruckmann 
in  München  hat  die  photographische  Reproduktion 
der  Skulpturen  unternommen  und  sein  bestes  tech¬ 
nisches  und  künstlerisches  Können  in  den  Dienst 
dieser  Aufgabe  gestellt.  Heute  liegt  das  Werk,  das 
120  fast  durchwegs  wohlgelungene  Tafeln  enthält, 
bereits  abgeschlossen  vor. ') 

Ban'acco  hat  dem  erläuternden  Texte,  der  die 
Tafeln  begleitet,  eine  wohlabgewogene  kunstge- 
schichtliche  Studie  als  Einleitung  vorausgeschickt 
und  darin  Gelegenheit  genommen,  die  Anschau¬ 
ungen  darzulegen,  die  ihn  bei  der  Anlage  seiner 
Sammlung  geleitet  haben.  Voll  warmer  Empfindung 
für  die  reizvolle  Naivetät  und  konventionelle  Be¬ 
fangenheit  des  Archaismus,  sucht  er  die  treibenden 
Kräfte  im  Werdegang  der  antiken  Plastik  aufzu¬ 
decken  und  die  Bedingungen  künstlerischer  Dar- 

1)  La  Collection  Barracco,  publiee  par  Frederic  Bruck¬ 
mann  d’apres  la  Classification  et  avec  le  texte  de  Giovanni 
Barracco  et  Wolfgang  Helbig.  München,  Verlagsanstalt  für 
Kunst  und  Wissenschaft.  Zwölf  Lieferungen  zu  je  10  Tafeln. 
1892-1894.  Fol. 


27 


202 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 


Stellung  bis  auf  ihre  letzten  psychologischen  Grund¬ 
lagen  bloßzulegen.  Natürlich  muss  dabei  auch  auf 
die  Werke  der  ägyptischen  und  orientalischen 
Kunst  zurückgegriffen  werden,  die  in  einer  Reihe 
konventioneller  Züge  auf  die  älteste  griechische 
Plastik  Einfluss  geübt  hat.  Das  hat  den  Anlass 
gegeben,  auch  ägyptische,  assyrische  und  kyprische 
Kunsterzeugnisse  in  die  Sammlung  aufzunehmen,  die 
auf  solche  Art  zu  einem  wirklichen  Museum  ver¬ 
gleichender  Plastik  werden  sollte.  Und  wenn  das 
Hauptgewicht  auf  die  Veranschaulichung  der  Kunst¬ 
entwickelung  auf  griechischem  Boden,  ihrer  Anfänge 
und  ihres  Aufsteigens 
fallen  musste,  so  durften 
doch  auch  ihre  späteren 
Weiterbildungen  und  ört¬ 
lichen  Brechungen  in  an¬ 
deren  Ländern  nicht  aus¬ 
geschlossen  bleiben.  In 
welcher  Weise  die  von 
diesen  Gesichtspunkten 
aus  erwählten  Bildwerke 
auch  wirklich  die  einzel¬ 
nen  Phasen  in  der  wech- 
selvollen  Geschichte  der 
antiken  Plastik  zu  ver¬ 
anschaulichen  geeignet 
sind,  das  wird  in  den 
Erläuterungen,  die  zu  den 
einzelnen  Stücken  ge¬ 
geben  werden,  des  ge¬ 
naueren  dargelegt. 

Barracco  selbst  hat 
nur  den  Text  zu  den 
ägyptischen,  assyrischen 
und  kyprischen  Skulptu¬ 
ren  verfasst  und  sich  da¬ 
bei  als  ein  selbständiger 
Kenner  dieser  von  Kunstliebhabern  wie  Kunstgelehr¬ 
ten  so  selten  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtung  ge¬ 
zogenen  Kunstgebiete  erwiesen. 

Die  Erklärung  der  griechischen  und  italienischen 
K  unst  werke  hat  Helbig  übernommen,  der  als  Barracco’s 
langjähriger  Freund  und  fachmännischer  Berater  be¬ 
sonders  berufen  schien,  als  erster  diese  Bildwerke 
der  wissenschaftlichen  Verwertung  zuzuführen.  Wie 
es  durch  das  Programm  des  Unternehmens  gegeben 
war,  hat  er  sich  darauf  beschränkt,  den  einzelnen 
Stücken  in  großen  Zügen  ihre  kunstgeschichtliche 
Stellung  neben  verwandten  Werken  zuzuweisen. 
Auch  dort,  wo  die  Versuchung  nahelag,  die  Fäden 


der  Kombination  weiterzuspinnen,  hat  er  sich  einer 
heute  bereits  ungewöhnlich  gewordenen  Zurück¬ 
haltung  und  Vorsicht  befleißigt,  wohl  geleitet  von 
der  berechtigten  Erwägung,  dass  in  dem  Rahmen 
einer  monumentalen  Publikation  für  blendende  Ein¬ 
tagsvermutungen  kein  Raum  sei.  Da  in  der  An¬ 
ordnung  der  Tafeln  die  kunstgeschichtliche  Abfolge 
strenge  durchgeführt  worden  ist,  so  ist  es  uns  leicht 
gemacht,  an  der  Hand  des  Bruckmannschen  Werkes 
den  Gewinn  zu  überschauen ,  der  aus  dem  neuer¬ 
schlossenen  Skulpturenbestand  der  Kunstgeschichte 
erwächst.  Ich  will  versuchen,  in  Kürze  davon  ein 

Bild  zu  geben,  ohne  an 
dieser  Stelle  die  Bedeu¬ 
tung  der  Sammlung  er¬ 
schöpfen  zu  können. 

Unter  den  ägypti¬ 
schen  Stücken  ist  neben 
dem  Relief  des  Nefer  aus 
dem  alten  Reich  (T.  1) 
wohl  das  interessanteste 
die  Sphinx  der  Königin 
.Hatshepu  (T.  7),  die  Bar¬ 
racco  als  Portrait  der 
Regentin  Ramaka  Knumt- 
amon,  der  Tochter  Thut- 
mes’  I.,  nachzuweisen 
versucht.  Die  assyri¬ 
sche  Kunst  ist  durch 
das  Relief  eines  geflügel¬ 
ten  Genius  aus  der  Zeit 
Assur-nazir-habals  (882 
bis  857)  wie  durch  einige 
gegenständlich  interes- 
sante  Alabasterreliefs  von 
Kuyundyik  aus  dem  7. 
Jahrh.  in  bemerkenswer¬ 
ter  Weise  vertreten.  Die 
kyprischen  Skulpturen  (T.  18 — 22)  überragen  nicht 
beträchtlich  die  Durchschnittsware,  mit  der  in  den 
letzten  Jahren  der  Kunstmarkt  überschwemmt  worden 
ist;  aber  für  den  Zweck  den  sie  erfüllen  sollen,  sind 
sie  glücklich  ausgewählt,  indem  sie  die  wechselnden 
Beziehungen  der  kyprischen  Kunst  zur  ägyptischen 
und  griechischen  gut  veranschaulichen. 

Von  den  griechischen  Bildwerken  aus  dem  6.  und 
5.  Jahrh.  v.  Chr.  sind  einige  der  hervorragendsten 
Stücke  schon  in  den  letzten  Jahren  durch  Abgüsse 
oder  Abbildungen  bekannt  geworden,  so  das  Relief 
eines  Reiters  (T.  23)  vom  Sockel  einer  attischen 
Grabstele,  die  noch  der  Pisistrateischen  Zeit  zuge- 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 


203 


wiesen  werden  muss  (Conze,  Die  attischen  Grab¬ 
reliefs  T.  IX,  1),  dann  der  den  Ägineten  verwandte 
Jünglingskopf  T.  29  (Friederichs- Wolters,  Berliner 
Gipsabgüsse  88),  der  schöne  Apollonkopf  von  Esquilin 
T.  34  (Friederichs- Wolters  280),  die  Replik  der  Büste 
des  Myronischen  Marsyas  T.  37  (Friederichs- Wolters 
455),  endlich  die  neuerdings  vielbesprochene  Statue 
eines  sich  bekränzenden  Epheben  T.  38  (Kekule, 
Bronzestatue  des  Idolino,  T.  IV). 

Diesen  reiht  sich  nunmehr  eine  ganze  Anzahl 
gleichwertiger  Stücke,  die  erst  jetzt  bekannt  werden, 
an.  Dem  strengen  Archaismus  ist  ihrem  Vorhilde 
nach  die  Statue  eines  Kalbträgers  T.  31  zuzurechnen; 


leider  ist  sie  eine  ziemlich  grobe  und  willkürlich  ver¬ 
änderte  Kopie  (Ahb.  1).  Im  Typus  stimmt  sie  genau 
mit  einem  litterarisch  bezeugten  Werke  des  Kalamis 
überein;  aber  die  naheliegende  Annahme,  dass  eben 
dieses  Werk  der  Barraccoschen  Statue  zum  Vorbilde 
gedient  habe,  wird  man  ablehnen  müssen.  Denn  der 
hier  verwendete  Typus  eines  „Kalbträgers“  ist  schwer¬ 
lich  erst  von  Kalamis  erfunden  worden,  der  Stil  aber, 
den  die  Kopie  nach  Abzug  willkürlicher  Zuthaten 
für  das  Original  erraten  lässt,  ist  durchaus  verschieden 
von  der  Kunstweise,  die  wir  auf  Grund  unserer 
Nachrichten  für  Kalamis  voraussetzen  müssen. 

Die  bereits  so  zahlreiche  Gruppe  der  archaischen 


Gewandstatuen  wird  um  eine  weitere  Variante  durch 
die  weibliche  Figur  T.  27  bereichert,  die  sich  von 
der  Mehrheit  der  bekannten  Akropolisfiguren  durch 
die  bescheidenere  Einfachheit  in  Anlage  und  Durch¬ 
führung  unterscheidet.  Helbig  erklärt  die  Statue  mit 
Bestimmtheit  für  ein  griechisches  Original  aus  der 
Zeit  um  500;  ich  wage  daher  nicht,  mich  allein 
durch  den  Eindruck  der  Abbildung  zum  Widerspruch 
bestimmen  zu  lassen;  danach  würde  ich  in  dem  Werke 
allerdings  mehr  den  harten  und  seelenlosen  Vortrag 
eines  gewandten  Kopisten  als  die  empfindsame  Hand 
eines  schöpferischen  Künstlers  zu  erkennen  glauben. 
In  noch  höherem  Grade  scheint  mir  die  archaische 


Mädchenfigur  T.  28,  die  in  ihrer  etwas  bäuerischen 
Art  einen  scharfen  Gegensatz  zu  den  Gestalten  der 
ionisch-attischen  Kunst  bildet,  den  Charakter  einer 
archaischen  Original arbeit  vermissen  zu  lassen;  auch 
möchte  ich  glauben,  dass  die  merkwürdige  Anord¬ 
nung  ihres  Gewandes,  insbesondere  des  Apoptygma’s 
(Gewand Überschlages)  nicht,  wie  Helbig  annimmt, 
durch  eine  sonst  nicht  nachweisbare  Trachtsitte, 
sondern  nur  durch  ein  Missverständnis  des  Kopisten 
zu  erklären  sei. 

Dagegen  ist  wohl  ein  originales  Werk  der 
Athenekopf  T.  30,  der  dem  äginetischen  Kunstkreis 
zuzuzählen  ist.  Ein. zweiter  Athenekopf  (T.  24)  lehnt 

27* 


2.  Attisches  Votivrelief. 


204 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 


sich  an  Vorbilder  der  ionisch-attischen  Kunst  aus 
der  Wende  des  6.  und  5.  Jahrh.,  einen  dritten  (T.  25), 
den  Helbig  als  Vorläufer  des  Parthenostypus  zu  be¬ 
trachten  geneigt  ist,  möchte  ich  trotz  mancher  alter¬ 
tümlicher  Züge  erst  in  späterer  Zeit  entstanden 
denken. 

Der  Jünglingskopf  T.  36  ist  in  seiner  stillen  Schön¬ 
heit  und  fast  mädchenhaften  Anmut  ein  bemerkens¬ 
wertes  Stück  aus  der  Zeit  des  Übergangs  vom 
Archaismus  zur  Reife.  Schon  einer  weiter  fort¬ 
geschrittenen  Entwickelung  gehört  der  ausdrucks¬ 
volle  Knabenkopf  T.  46  an,  der  dem  Florentiner 
Idolino  nahe  verwandt  ist. 

Der  Kopf  des  Polykle- 
tischen  Doryphoros  tritt 
uns  T.  43  in  einer  mit 
künstlerischem  Schwünge 
durch  geführten ,  freien 
Nachbildung  entgegen 
deren  vorteilhafte  Wir¬ 
kung  zum  guten  Teile 
darauf  beruht,  dass  sie 
den  Bronzestil  des  Origi¬ 
nals  fast  völlig  abgestreift 
hat.  Eine  jüngere  Ab¬ 
wandlung  des  Dorypho- 
rostypus ,  die  bisher  nur 
durch  eine  stark  ergänzte 
Statuette  in  der  Galleria 
dei  candelabri  bekannt 
war,  stellt  uns  jetzt  die 
gut  erhaltene  Jünglings- 
figur  T.  45  in  allen  wesent- 
liehen  Zügen  vor  Augen. 

Unter  den  Skulptu¬ 
ren,  die  sich  an  Werke 
des  Phidiasschen  Kreises 
anlehnen,  sind  wiederum 
zwei  Atheneköpfe  zu  nennen;  der  eine  T.  40  steht  der 
Parthenos  nahe,  der  andere  T.  48  giebt  den  Typus 
der  Pallas  von  Velletri  in  abschwächender  Moderni¬ 
sirung  wieder,  ln  diese  Gruppe  stellt  sich  auch  der 
mit  einem  Stern  über  der  Stirne  geschmückte  Frauen¬ 
kopf  T.  85  (T.  52  bis),  in  dem  man  geneigt  sein 
könnte,  eine  Nyx  oder  Selene  zu  erkennen,  ln  dem 
lebendig  ausgeführten  Frauenkopf  T.  83  (48  bis) 
liegt  die  freie  Wiedergabe  eines  gewöhnlich  als 
„Sappho“  bezeichneten,  von  Helbig  auf  Aphrodite 
gedeuteten  Typus  vor,  der  durch  eine  Reihe  sehr 
ungleichartiger,  aber  meist  minderwertiger  Repliken 
bekannt  ist. 


Ein  Kabinettstück  von  anspruchsloser  Liebens¬ 
würdigkeit  ist  das  attische  Votivrelief  T.  50,  aus 
der  Zeit  um  100  v.  Chr.  (Abb.  2).  Der  Götter¬ 
gruppe  Apollon  Artemis  Leto  nahen,  von  einem 
bärtigen  Mann  geleitet,  vier  ganz  in  ihre  Mäntel  ge¬ 
hüllte  Knaben;  ihre  Namen  sind  an  der  unteren 
Reliefleiste  angeschrieben,  während  am  oberen  Rand 
die  Weihinschrift  steht:  Ilv&aiOtal  ave&soav  xro 
AjtoXHcopi.  Pythaisten  heißen  sonst  die  „Orakel¬ 
suchenden“;  hier,  wo  offenbar  die  vier  Knaben,  die 
der  Priester  seinem  Gotte  vorführt,  mit  diesem 
Namen  bezeichnet  sind,  wird  man  das  Wort  viel¬ 
leicht  in  anderem  Sinne 
verstehen  müssen,  als  Be¬ 
zeichnung  derjenigen,  die 
an  einer  Feier  oder  einer 
Kulthandlung  im  Dien¬ 
ste  des  Apollon  Pythios- 
Pythaieus  teilgenoramen 
haben.  Übrigens  stimmt 
das  Relief  in  so  vielen 
Beziehungen  mit  einigen 
W  eihreliefs  aus  Ikaria 
(American  journal  of  ar- 
chaeology  V  472,  T.  XI) 
überein,  dass  man  das 
Pythion  von  Ikaria  als 
seinen  ursprünglichen 
Aufstellungsort  vermuten 
darf. 

Eine  gute  attische 
Durchschnittsarbeit  ist 
das  Grabrelief  des  Posei- 
dippos  T.  51  mit  dem  üb¬ 
lichen  Typus  der  „Hand¬ 
reichung“.  Als  Schmuck 
eines  Grabmals  diente 
wohl  auch  das  Relief  T.  49, 
das  einen  von  der  Jagd  heimkehrenden  Reiter  mit  seinem 
Diener  zeigt;  wir  kennen  diese  attische  Genrescene 
schon  durch  ein  Grabrelief  aus  Tanagra  (Friederichs- 
Wolters,  Berliner  Gipsabgüsse  1076),  wo  sie  im 
Sinne  böotischer  Kultvorstellungen  noch  durch  die 
Figur  eines  jungen  Mädchens  erweitert  ist,  das 
spendend  dem  Reiter  entgegentritt.  Ein  anderes 
Reiterrelief  der  Sammlung  (T.  52)  stimmt  in  auf¬ 
fälliger  Weise  mit  einem  seit  langem  bekannten  Stück 
in  Sevilla  (Annali  dell  instituto  arch.  1862  T.  F.) 
überein;  rechtshin  sprengt  ein  Jüngling,  (an  dessen 
Chlamys  man  übrigens  die  über  der  Schulter  zu¬ 
sammengeschobenen  Falten  nicht  als  Kapuze  miss- 


3.  Bärtiger  Kopf. 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 


205 


deuten  darf),  links  ist  an  dem  fragmentirten  Relief¬ 
rand  noch  das  Ohr  vom  Pferde  eines  zweiten  Reiters 
sichtbar,  der  nach  dem  Vorbild  jenes  Reliefs  in 
Sevilla  sich  mit  Sicherheit  ergänzen  lässt.  Schwerer 
als  bei  dieser  Kopistenarbeit  ertragen  wir  die  Ver¬ 
stümmelung  bei  dem  attischen  Relief  T.  84  (T.  51  bis). 
Erhalten  ist  noch  die  Figur  eines  Jünglings,  der  vor 
einem  Tempel  auf  einem  Tierfell  sitzt  und  mit  der 
Rechten  eine  Keule  aufstützt,  links  der  Vorderteil 
eines  zusammenbrechenden  Stieres,  daneben  noch  ein 
aufrechtstehender  Jüngling,  dessen  Bewegung  aus 
den  erhaltenen  Resten  nicht  mehr  mit  völliger  Sicher¬ 
heit  ermitteltwerdenkann, 
aber  an  die  Haltung  des 
„Anadumenos“  erinnert. 

Helbig  möchte  die  Dar¬ 
stellung  auf  Peirithoos 
und  Theseus  mit  dem 
marathonischen  Stiere 
deuten.  Da  die  Bändi¬ 
gung  der  Opferstiere  bei 
einer  Anzahl  großer  F este 
ein  vielgerühmtes  Kraft¬ 
spiel  der  Epheben  war, 
so  würde  die  Darstellung 
einer  mythischen  Stier¬ 
bezwingung  recht '  wohl 
für  ein  gelegentlich  eines 
solchen  Festes  darge- 
brachtes  Votivrelief  ge¬ 
eignet  sein. 

Diese  Reliefs  haben 
uns  bereits  in  den  Bann¬ 
kreis  der  sog.  zweiten 
attischen  Blütezeit  hin¬ 
übergeleitet,  für  deren 
Kenntnis  wir  der  Barrac- 
co’schen  Sammlung  in 
einer  Anzahl  von  Köpfen  noch  andere  wertvolle 
Bereicherung  verdanken. 

Die  idealisirenden  Kunstrichtungen  dieser  Zeit 
treten  uns  in  zwei  interessanten  Athletenköpfen  T.  55 
und  56  entgegen;  der  eine  (T.  55)  ist  den  jetzt  Skopas 
zugewiesenen  Köpfen  verwandt,  der  andere  (T.  56) 
scheint  mir  Praxitelischen  Werken  fast  näher  zu 
stehen,  als  den  von  Helbig  verglichenen  Lysippischen. 
In  eine  jüngere  Epoche  führt  der  schwungvolle 
Jünglingskopf  T.  58,  für  den  Helbig,  wie  ich  glaube 
mit  Recht ,  auch  nach  dem  Widerspruche  Koepps 
(Über  das  Bildnis  Alexanders- des  Großen  1892,  S.  24) 
an  der  Benennung  Alexander  festhält.  Der  Kopf  ist 


allerdings  kein  Porträt  in  unserem  Sinne,  sondern 
vielmehr  eine  auf  der  Basis  einzelner  individueller 
Züge  aufgebaute  Idealbildung.  Aber  die  zu  Grunde 
gelegten  charakteristischen  Züge  scheinen  mir  mit 
den  beglaubigten  Alexanderköpfen  gut  vereinbar, 
und  es  kann  nicht  befremden,  dass  das  Bild  eines 
Königs,  der  im  Culte  Göttern  gleichgesetzt  wurde, 
auch  von  der  Kunst  den  Göttertypen  angeähnlicht 
wurde.  Dass  der  Barracco’sche  Kopf  eine  andere 
Auffassung  Alexanders  verrät ,  als  die  auf  Lysipp 
zurückgehende  Herme  des  Louvre,  ist  richtig;  Helbig 
möchte  ihn  daher  auf  die  von  Leocliares  gefertigte 

Statue  im  Philippeion  zu 
Olympia  zurückführen. 
Es  ist  wohl  möglich,  dass 
diese  Schöpfung  für  den 
hier  vorliegenden  Ideal¬ 
typus  vorbildlich  oder 
doch  bestimmend  gewe¬ 
sen  ist,  aber  für  die  An¬ 
nahme  einer  unmittelba¬ 
ren  Abhängigkeit  scheint 
es  mir  an  genügenden 
Gründen  zu  fehlen. 

Von  jenen  attischen 
Grabdenkmälern  mit  fast 
lebensgroßen  Figuren,  die 
zu  dem  herrlichsten  Erbe 
des  4.  Jahrh.  gehören, 
sind  einige  prächtige 
Köpfe  in  die  Sammlung 
Barracco  gelangt.  Der 
vornehmschöne  Mannes¬ 
kopf  T.  86  (T.  53  bis)  • 
erscheint  noch  als  eine 
jüngere  Fortbildung  der 
ebenmäßig  stilisirten  Ty¬ 
pen  des  Parthenonfrieses. 
Dagegen  ist  der  ausdrucksvolle  Frauenkopf  T.  54  in 
seiner  leisen,  schwärmerischen  Wehmut  und  seinen 
bewegten  Formen  durchaus  unter  dem  Einfluss  der 
neuen  pathetischen  Richtung  entstanden.  Völlig  ver¬ 
schiedene  künstlerische  Absichten  verrät  der  Kopf 
eines  älteren  Mannes  T.  62  (Abb.  3),  der  nach 
Helbigs  Angaben  ebenfalls  von  einem  sepulcralen 
Hochrelief  herrührt;  er  muss  dann  zu  jener  kleinen 
jüngeren  Gruppe  von  Grabdenkmälern  gehören,  auf 
denen  die  kraftvolle  Porträtkunst  des  4.  Jahrh.  zu 
nachdrücklicher  Geltung  kommt.  Frei  von  der 
Schablone  überkommener  Typik  ist  der  Kopf  durch¬ 
aus  individuell  gestaltet;  ein  überaus  strenger  Aus- 


4.  Caesar. 


206 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 


druck  schmerzlichen,  ja  unwilligen  Entsagens  liegt 
über  den  gramdurchfurchten  Zügen;  in  der  Auf¬ 
fassung  und  Modellirung  der  Formen  kündigt  sich 
schon  jener  energische  Realismus  an,  der  uns  in 
weiterer  Steigerung  in  den  bekannten  hellenistischen 
„Charakterköpfen“  entgegentritt.  Neben  diesem  be¬ 
deutenden  Original  kann  der  bärtige  Kopf  T.  87 
(T.  55  bis)  nur  den  Rang  einer  tüchtigen,  aber  etwas 
harten  Kopie  beanspruchen.  Das  scharf  erfasste  und 
charakteristisch  wiedergegebene  Porträt  war  schon 
durch  eine  andere  Replik,  in  der  Sammlung  Jacobsen 
(Brunn  u.  Arndt,  Griechische  und  römische  Porträts 
n.  33  f.)  bekannt.  Die  von  Helbig  zögernd  vorge¬ 
schlagene  Deutung  auf  Sophokles  vermag  mich  nicht 
zu  überzeugen. 

Unter  den  nicht  zahlreichen  Tierskulpturen,  die 
das  Altertum  uns  überliefert  hat,  darf  die  Statue 
einer  liegenden  Hündin  T.  58  einen  hervorragenden 
Platz  beanspruchen.  Die  Hündin,  die  sich  ein  wenig 
auf  den  Vorderpfoten  aus  ihrer  Ruhelage  gehoben 
hat,  wendet  lebhaft  den  Kopf  zurück  und  beleckt 
eine  Wunde  an  ihrem  rechten  Oberschenkel;  der 
Moment  der  Bewegung  ist  scharf  beobachtet,  alle 
Einzelformen  mit  genauer  Kenntnis  der  Natur 
wiedergegeben.  Das  Bild  eines  Windspiels  im 
Museum  von  Vienne  (Gazette  archeologique  VI  1880 
T.  10)  zeigt  ein  ähnliches  Motiv  und  ist  vielleicht 
unter  dem  Einflüsse  des  gleichen  Originals  ent¬ 
standen,  scheint  aber  von  ungleich  geringerer  Kraft 
und  Lebendigkeit.  Wir  wissen  durch  Plinius  (34,38), 
dass  im  kapitolinischen  .lupitertempel  in  der  Cella 
der  .Juno  bis  zum  Brande  des  Jahres  69  n.  Chr.  das 
Bronzebild  eines  „seine  Wunde  leckenden  Hundes“ 
ioder  einer  Hündin)  stand;  das  Werk  galt  seiner 
täuschenden  Lebenswahrheit  wegen  als  ein  Wunder 
der  Kunst  und  ward  so  hoch  geschätzt,  dass  die 
Wächter  des  Tempels  mit  ihrer  Person  (capite)  für 
seine  Unversehrtheit  haftbar  waren.  Helbigs  Ver¬ 
mutung,  dass  jene  kapitolinische  Bronze  das  Vorbild 
der  Barracco’schen  Marmorfigur  sei,  darf  als  äußerst 
wahrscheinlich  gelten.  Leider  nennt  Plinius  den 
Künstler  der  Bronze  nicht;  uns  drängt  sich  natürlich 
zunächst  der  Name  des  Lysippos  auf,  der  als  Ilunde- 
darsteller  berühmt  war  und  in  seinen  .Jagdgruppen, 
/..  B.  bei  der  „Löwenjagd  Alexanders“  gewiss  auch 
Bilder  verwundeter  Hunde  geschaffen  hat.  Aber 
man  wird  auch  die  Möglichkeit  offen  halten  müssen, 
dass  jenes  Kunstwerk  nicht  von  Lysipp  selbst,  sondern 
von  einem  seiner  Nachfolger,  der  in  seinem  Realis¬ 
mus  noch  über  Lysippos  hinausging,  lierrühre. 

Der  frühhellenistischen  Zeit  gehört  die  trefflich 


erhaltene  Poseidonstatue  T.  61  an,  eine  kraftvoll 
gesteigerte  Umbildung  eines  älteren  Typus,  die  einen 
nicht  unbedeutenden  Künstler  verrät.  Der  Epikur¬ 
kopf  T.  63  nimmt  durch  seine  wirkungsvolle  Arbeit 
und  die  nachdrückliche  Betonung  der  charakteris¬ 
tischen  Züge  eine  hervorragende  Stelle  unter  den 
Porträts  des  Philosophen  ein.  In  die  letzte  Periode 
des  Hellenismus  weist  uns  der  Kentaurenkopf  T.  66, 
der  mit  den  Köpfen  der  von  Eroten  gepeinigten 
Kentauren  (Friederichs  -  Wolters,  Berliner  Gips¬ 
güsse  1421;  Berliner  Skulpturenkatalog  205)  zu¬ 
sammengeht  und  die  an  diesen  beobachtete  Ähnlich¬ 
keit  mit  dem  Laokoonkopfe  in  seinen  schmerzlich 
verzerrten  Zügen  besonders  augenfällig  werden  lässt. 

Einer  durch  Stil  und  Material  scharf  charak- 
terisirten  Gruppe  griechisch-ägyptischer  Skulpturen 
aus  den  letzten  Jahrzehnten  vor  unserer  Zeitrechnung 
gehört  der  im  Nildelta  gefundene  Cäsarkopf  T.  75 
(Abb.  4)  an,  der  von  einer  ägyptischen  Pfeilerstatue 
aus  sog.  schwarzem  Granit  (Diorit)  herrührt.  Wie 
in  den  verwandten,  ebenfalls  durchwegs  aus  harten 
Steinarten  gefertigten  Bildwerken,  zeigt  sich  auch  in 
diesem  Barracco’schen  Kopf  spätgriechische  Kunst¬ 
weise  in  merkwürdiger  Art  von  konventionellen 
Eigentümlichkeiten  der  ägyptischen  Kunst  beein¬ 
flusst.  Der  bewundernswerte  Reichtum  des  Aus¬ 
drucks,  mit  dem  Stirn,  Auge  und  Mund  gebildet  sind, 
der  treffsichere  Naturalismus  und  die  energische 
Charakteristik  erinnern  durchaus  an  die  griechischen 
Porträts  der  späthellenistischen  Zeit,  aber  daneben 
sind  in  den  Formen  der  Stirne  und  des  Unter¬ 
gesichtes  einzelne  Anklänge  an  die  typischen  Phy- 
siognomieen  ägyptischer  Bildwerke  unverkennbar; 
ebenso  weist  die  Virtuosität,  mit  der  das  wider¬ 
strebende  Material  gehandhabt  ist,  auf  die  im  Nil¬ 
thal  heimische  Kunstüberlieferung.  Helbig  hat  in 
dem  Kopfe  Cäsar  erkannt.  Wir  kennen  allerdings 
kein  Porträt,  in  dem  Cäsar,  wie  hier,  bärtig  dar¬ 
gestellt  wäre.  Aber  die  Ähnlichkeit  der  Gesichts¬ 
züge  mit  den  Cäsardarstellungen  auf  Münzen  ist  in 
der  That  sehr  groß,  wenigstens  ebenso  groß  wie  bei 
manchen  andern  auf  Cäsar  gedeuteten  Köpfen,  deren 
ikonographische  Einordnung  allerdings  noch  mancher¬ 
lei  Schwierigkeiten  unterliegt.  Dazu  kommt  noch, 
dass  am  Barracco’schen  Kopf  das  Stirnband  mit  einem 
Stern  gesclimückt  ist,  der  als  das  (anderweitig  be¬ 
kannte)  Attribut  des  Divus  Julius  sich  am  besten 
zu  erklären  scheint.  Dann  wird  man  sich  mit  der 
auffälligen  Thatsache,  dass  Cäsar  hier  bärtig  dar¬ 
gestellt  ist,  irgendwie  auseinandersetzen  müssen. 
Helbig  erinnert  daran,  dass  Cäsar  im  Jahre  54  v.  Chr. 


DIE  SAMMLUNG  BARRACCO. 


207 


nach  dem  Tode  seines  Unterfeldherrn  Q.  Titu- 
rius  Sabinus  zum  Zeichen  der  Trauer  den  Bart 
wachsen  ließ,  und  er  möchte  darauf  hin  annehmen, 
dass  Cäsar,  als  er  im  Jahre  48  nach  Ägypten  kam, 
das  gleiche  auch  zu  Ehren  des  toten  Pompeius  ge- 
than  habe  und  solcher  Weise  den  Ägyptern  mit 
einem  „ Trauerbarte“  bekannt  wurde  und  bekannt 
blieb.  Man  sieht,  die  Erklärung  ist  nicht  voraus¬ 
setzungslos.  Aber  ich  weiß  eine  bessere  nicht 
zu  geben. 

Auch  die  Spiegelungen  und  Wandlungen  der 
griechischen  Kunst  auf  italischem  Boden  lassen  sich 
in  der  Barracco’schen  Sammlung  an  lehrreichen 
Proben  studiren.  Die  unter  archaisch-ionischen  Ein¬ 
flüssen  erwachsene  altetruskische  Kunst  ist  durch 
einen  Grabstein  von  Chiusi  T.  76  vertreten,  dessen 
Reliefdarstellungen  der  Deutung  einige  Schwierigkeiten 
bieten.  Eine  andere  Gattung  italischer  Grabdenk¬ 
mäler  stellt  eine  Graburne  aus  Palestrina  T.  79  vor 
Augen;  sie  hat  die  Gestalt  eines  säulengeschmückten 
Tempels  und  erscheint  so  als  ein  Nachhall  einer  vor¬ 
nehmen  griechischen  Sarkophagform,  für  die  der 
Pleureusen-Sarkophag  von  Saida  das  schönste  Bei¬ 
spiel  ist. 

Ein  Erzeugnis  tüchtiger  italischer  Handwerks¬ 
arbeit  des  4.  oder  3-  Jahrh.  ist  der  weibliche  Kopf 
T.  76  vom  Schlusstein  eines  Grabbaues  in  Volsinii- 
Orvieto.  Bedeutender  ist  ein  Frauenkopf  aus  Bolsena 
(Volsinii  novi)  T.  78,  der  in  seiner  flotten  gro߬ 
zügigen  Durchführung  und  seinem  hochgesteigerten 
Pathos  durchaus  griechischen  Geist  atmet;  da  er  aus 
einheimischen  Trachyt,  also  sicher  an  Ort  und  Stelle 
verfertigt  ist,  wird  er  kaum  vor  dem  2.  Jahrh.  v.  Chr. 
entstanden  sein,  für  welche  Zeit  sich  übrigens  auch 
durch  andere  Funde  die  Vorliebe  der  Italiker  für 
die  pathetische  Richtung  nachweisen  lässt.  Den 
römischen  Porträts  der  Augusteischen  Zeit  reiht  sich 
als  eine  feine,  aber  etwas  allzuglatte  Arbeit  die 
Büste  eines  jungen  Römers  T.  73  an.  Eine  Frauen¬ 
büste  aus  Palmyra  (T.  80)  schließt  als  Zeugnis  einer 
merkwürdigen  Kreuzung,  welche  im  fernen  Osten 
die  Ausläufer  römisch-griechische  und  orientalische 
Kunst  miteinander  ein  gegangen  sind,  das  Bild  der  Ent¬ 
wickelungsgeschichte  der  antiken  Plastik. 

Bei  diesem  Fluge  durch  die  Jahrhunderte 
griechischer  Kunst,  zu  dem  die  Sammlung  Barracco 
uns  veranlasst  hat,  haben  wir  noch  manch  bemerkens¬ 
wertes  Stück  beiseite  lassen  müssen,  so  den  archa¬ 
ischen  Jünglingskopf  T.  82  (T.  31  bis),  die  niedliche 
Hydrophore  T.  42,  die  leider  arg  verstümmelte  Kopie 
des  Perikieskopfes  T.  39,  die  Doppelherme  der  Dios- 


kuren  T.  35,  die  gute  Replik  vom  Kopfe  des  „aus¬ 
ruhenden  Apollon“  T.  59,  die  groteske  Besfigur 
T.  68,  den  anmutigen  Mädchenkopf  T.  69,  die  na¬ 
turalistische  —  leider  kopflose  —  Statue  eines 
Philosophen  aus  hellenistischer  Zeit  T.  64  u.  a.  m. 
Aber  das  Angeführte  mag  genügen,  um  zu  zeigen, 
dass  dieser  römischen  Privatsammlung  auch  heute, 
wo  der  griechische  Boden  die  athenischen  Museen 
mit  unerschöpflichen  Reichtümern  beschenkt,  eine 
hervorragende  Bedeutung  zukommt.  Der  Kunst¬ 
freund  wird  hier  vielleicht  mehr  Werke  finden,  an 
denen  er  Freude  empfindet,  als  in  manchen  großen 
Museen,  wo  das  Gute  durch  die  seit  Alters  aufge¬ 
stapelte  Menge  des  Unerfreulichen  erdrückt  wird, 
und  in  dem  Arbeitsmaterial  des  Archäologen  wird 
die  Bruckmann’sche  „Collection  Barracco“  fortan 
einen  wichtigen  Platz  einnehmen.  Sie  würde  viel¬ 
leicht  die  gebührende  Würdigung  rascher  finden, 
wenn  sich  in  der  neuen  Publikation  mit  einem  hand¬ 
licheren  Format  ein  geringerer  Preis  verbände. 
Allerdings  ist  der  Preis  von  2  Mark  für  eine  photo- 
typiscbe  Tafel,  die  den  strengsten  Anforderungen 
entspricht,  verhältnismäßig  nicht  hoch;  aber  die 
Größe  der  Opfer,  die  unsere  Kunstfreunde  in  ihrem 
wissenschaftlichen  Sammeleifer  bringen,  lässt  uns  un¬ 
bescheiden  genug  werden,  ihnen  auch  noch  als  ein 
letztes  Opfer  zuzumuten,  sie  möchten  die  Kosten 
ihrer  Prachtwerke  in  so  hohem  Ausmaß  über¬ 
nehmen,  dass  deren  Preis  ein  unverhältnismäßig 
billiger  werde. 

Gerne  möchte  ich  auch  noch  an  dem  Formate 
der  Publikation  mäkeln;  das  heute  übliche  Gro߬ 
folio,  das  nicht  sowohl  durch  die  Maßverhältnisse 
der  Photographieen  als  durch  die  Größe  der  unter¬ 
gelegten  Kartonblätter  bedingt  ist,  trägt  selten  etwas 
zur  Schönheit,  häufig  Beträchtliches  zur  Verteuerung, 
immer  sehr  viel  zur  Unbequemlichkeit  bei;  es  er¬ 
schwert  die  Benutzung  und  verleidet  den  Genuss. 
Aber  wir  können  es  dem  Sammler  nicht  verwehren, 
dass  er  seinen  liebsten  Besitz  in  jenem  Gewand  in 
die  Welt  gehen  lasse,  der  ihm  dafür  am  passendsten 
scheint.  Das  Werk  ist  der  Königin  von  Italien  zur 
Feier  ihrer  silbernen  Hochzeit  gewidmet,  und  für 
solchen  Anlass  mochte  dem  ritterlichen  Besitzer 
die  vornehmste  Ausstattung  nur  eben  genügend 
scheinen. 

Barracco  sagt  am  Schlüsse  seiner  Vorrede:  „Je 
l’aime,  cette  collection  de  vieux  marbres,  ä  cause  des 
joies  exquises,  qu’elle  me  procure  et  je  m’y  attache 
d’autant  plus  tous  les  jours,  que  j’ai  l’intention  bien 
arretee  de  la  leguer  tout  entiere  ä  mon  pays.“ 


208 


BEITRAGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


Man  hat  Ursache,  nicht  nnr  in  Italien  diesen 
großherzigen  Entschluss  freudig  zu  begrüßen.  Aber 
wenn  man  sonst  bei  Privatsammlungen  nur  allzu¬ 
häufig  im  sachlichen  Interesse  den  Zeitpunkt  nicht 
gerne  verzögert  sieht,  an  dem  sie  in  öffentliche 
Hände  übergehen  sollen,  so  ist  es  bei  dieser  Samm¬ 
lung,  die  so  trefflich  betreut  wird  und  noch  immer 


im  Wachstum  begriffen  ist,  nicht  nur  ein  Ausfluss 
persönlicher  Anteilnahme,  sondern  wissenschaftlicher 
Selbstsucht,  wenn  wir  dem  Wunsche  Ausdruck  geben, 
dass  es  dem  Besitzer  vergönnt  sein  möge,  sich 
seines  Schatzes  als  sorgsamer  Hüter  und  eifriger 
Mehrer  noch  recht  lange  zu  erfreuen. 

EMIL  REISCH. 


BEITRÄGE 

ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 

Van  Eyck’s  Tempera. 

YON  ERNS1  BERGER ,  MALER. 


ASARI’S  Erzählung  von  der 
Erfindung  der  Ölmalerei 
durch  die  Brüder  van  Eyck 
wurde  zweieinhalb  Jahrhun¬ 
derte  lang  von  der  Kunst- 
weit,  als  richtig  hingenom¬ 
men.  Nach  dieser  Erzählung, 
welche  gleichlautend  von 
allen  späteren  Autoren  wiederholt  wird,  hätten 
Hubert  und  Jan  van  Eyck  ihre  Zeitgenossen  mit 
einer  neuen  Art,  der  Ölmalerei,  in  welcher  ihre  be¬ 
rühmten  Werke  gemalt  waren,  in  Erstaunen  und 
Begeisterung  versetzt;  seit  ihrer  Erfindung  sollte  sich 
der  Umschwung  in  der  Technik  des  Bildermalens 
datiren  und  alle  Verdienste  um  die  Fortschritte  der 
Ölmalerei  als  solche  wurden  unbestritten  den  beiden 
van  Eycks  zugeschrieben. 

Seit  mehr  als  hundert  Jahren  bemüht  sich  nun¬ 
mehr  die  Kunstgeschichte,  dieses  Verdienst  den 
Brüdern  van  Eyck  wieder  abzusprechen,  wobei  es 
an  herben  Vorwürfen  gegen  Vasari  und  seine  Ab¬ 
schreiber  nicht  fehlen  konnte.  Vasari,  der  selbst 
der  Malerzunft  angehörte,  hätte  sich  doch  besser 
instruiren  sollen,  bevor  er  der  Mitwelt  ein  Märchen 
zum  besten  gab;  er  hätte  doch  wissen  müssen,  dass 
lange  vor  van  Eyck  mit  Ölfarben  in  Italien  selbst, 
in  Griechenland,  Deutschland  und  England  gemalt 
wurde,  ja  er  hätte  sich  etwas  eingehender  mit  älteren 
Büchern  über  Malerei,  wie  z.  B.  dem  des  Cennini, 
beschäftigen  sollen,  bevor  er  die  „Erfindung  der  Öl¬ 
malerei“  erfand.  Was  ist  nicht  alles  schon  behaup¬ 
tet  und  bestritten  worden,  seit  Lessing  in  der  Ab¬ 
handlung  „Uber  das  Alter  der  Ölmalerei“  (1774) 


I. 

diese  Frage  aufs  Tapet  brachte!  Welche  Reihe  von 
hervorragenden  Forschern  hat  sich  seither  nicht  be¬ 
müht,  entweder  teilweise  oder  ganz  dem  Vasari  Un¬ 
recht  zu  geben,  nachdem  immer  neue  Beweise  gegen 
ihn  Vorlagen! 

Aus  der  Handschrift  des  Mönches  Theopliilus, 
von  Lessing  dem  XL  Jahrhundert  zugeschrieben, 
war  bereits  der  Gebrauch  der  Ölfarbe  zur  Malerei 
ersichtlich;  Raspe  (A  critical  essay  on  oil  painting, 
London  1781)  entdeckte  die  Handschrift  des  Ilera- 
clius  in  der  Bibliothek  zu  Cambridge,  in  deren  III.  Teil, 
welcher  nicht  jünger  als  das  XIII.  Jalirh.  sein  konnte, 
Öle  zum  Anreiben  von  Farben  erwähnt  sind;  nachdem 
noch  die  Handschrift  des  Cennino  Cennini  (ed.  Tam- 
broni,  Rom  1821)  in  der  vaticanischen  Bibliothek 
aufgefunden,  die  Hermeneia  des  byzantinischen  Mön¬ 
ches  Dionysius  vom  Berge  Athos  bekannt  geworden 
waren,  wurde  es  Allen  klar,  dass  die  ganze  Geschichte 
von  der  Erfindung  der  Ölmalerei  durch  van  Eyck 
ein  Märchen  sei,  welches  der  „Kunstschwätzer  von 
Arezzo“  der  Nachwelt  aufgebunden  habe. 

In  den  hier  folgenden  Erörterungen  soll  nun¬ 
mehr  der  Versuch  gemacht  werden,  das  den  Brü¬ 
dern  van  Eyck  gebührende  und  so  sehr  bestrittene 
Verdienst  auf  Grundlage  der  geschichtlichen  und 
naturgemäßen  Entwicklung  der  Maltechnik  in  Ver¬ 
bindung  mit  vorgenommenen  Proben  wieder  zu  er¬ 
obern  und  dabei  die  Richtigkeit  von  Vasari’s  Er¬ 
zählung,  trotz  alledem,  was  gegen  dieselbe  vorgebracht 
wurde,  zu  beweisen.  Es  wird  sich  dabei  der  gewiss 
bemerkenswerte  Umstand  ergeben,  dass  im  Texte 
des  Vasari  die  von  van  Eyck  erfundene  «neue  Art 
von  Ölmalerei“  vollkommen  treffend  geschildert  ist! 


BEITRÄGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


209 


Um  zu  diesem  Resultate  zu  gelangen,  war  eine 
lange  Reihe  von  systematisch  angestellten  Versuchen 
nötig,  welche  nach  den  oft  sehr  unklaren  Anweisungen 
der  alten  Kunstschriften  ins  Werk  gesetzt  wurden. 
Es  hat  sich  dabei  konstatiren  lassen,  dass  alle  mittel¬ 
alterlichen  Malverfahren  Beziehungen  zum  byzan¬ 
tinischen  aufweisen,  welche  daher  kommen  können, 
dass  byzantinische  Künstler  nach  dem  Bildersturm 
nach  allen  Richtungen  sich  verbreiteten  und  an  den 
Höfen  der  Carolinger  ebenso  wie  in  vielen  Städten 
Italiens  Aufnahme  gefunden  hatten.  Ihre  auf  glanz¬ 
volle  Äußerlichkeit  angelegte  Technik  verpflanzten 
sie  auch  nach  Italien  und  so  erkennen  wir  an  den 
ältesten  Bildern  des  Giunta,  Cimabue  bis  auf  Giotto 
alle  byzantinischen  Malweisen  wieder.  Die  reiche 
Ausschmückung  der  Tafel  mit  Glanzvergoldung  und 
erhöhten  oder  gepunzten  Heiligenscheinen,  die  Ver¬ 
wendung  von  Eibindemitteln  zur  Malerei  und  die 
Bereitung  von  Ölfirnissen  zum  Überzug  der  Gemälde 
linden  sich  auch  im  Trattato  des  Cennini  ausführ¬ 
lich  beschrieben.  Im  Vergleich  mit  der  Hermeneia 
fehlt  aber  hier  vollständig  die  Malerei  mit  „Glanz¬ 
farbe“  (§  37  des  Handbuches),  welche  eine  Mischung 
von  Wachs,  Lauge  und  Leim  war  und  durch  Glätten 
glänzend  wurde;  die  pictura  aureola  des  Lucca  Ms 
ist  bis  auf  ein  Minimum  verschwunden  und  wird 
nur  zur  Verzierung  von  Einfassungen  (Kap.  97  und 
98  des  Cennini)  verwendet.  Die  Beizenvergoldung 
für  Wandmalerei  und  Stein  (Kap.  91),  wie  man  Re¬ 
liefs  und  Heiligenscheine  auf  der  Mauer  macht 
(Kap.  126),  die  Knoblauchbeize  (Kap.  153),  die  An¬ 
gaben  über  Miniaturmalerei  mit  Eierklar  und  Assiso¬ 
verwendung  (Kap.  157)  finden  sich  auch  in  der  Her¬ 
meneia.  Die  Malerei  mit  Ölfarben,  „Naturale“,  welche, 
wie  die  Bezeichnung  andeutet,  zum  Malen  des  nack¬ 
ten  Fleisches  verwendet  wurde,  findet  sich  in  dem 
Kap.  89  ff.  bei  Cennini  wieder. 

Besehen  wir  uns  die  eigentliche  Technik  des 
Malens  dieser  Periode  (Frührenaissance)  genauer,  so 
ist  es  die  Malerei  a  tempera  mit  Eigelb  und  der 
vielbesprochenen  Feigenmilch,  welche  allgemein  in 
Gebrauch  gekommen  war  und  einer  besonderen 
Charakteristik  bedarf,  um  den  Unterschied  zwischen 
der  italienischen  und  der  nordischen  Malart  des 
Theophilus  kennen  zu  lernen.  Die  Bereitung  des 
Grundes  aus  feinem  Gips  (gesso  sottile),  die  Auf¬ 
zeichnung  und  Einritzung  der  Konturen  und  der 
für  Vergoldung  unentbehrliche  Bolusüberzug,  das 
Malen  aus  dem  dunkeln  Mittelton  (§  51  und  §  16 
der  Herrn.)  erhält  sich  bei  Cennini  und  die  Model- 
lirung  wird  stets  mit  hellerer  Deckfarbe,  die  Tiefen 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  8. 


und  „Züge“  der  Falten  durch  Strichelung  erzielt. 
Versuche  mit  der  oben  genannten  Feigen rnilchtem- 
pera,  um  diesen  Namen  beizubehalten,  haben  ge¬ 
zeigt,  dass  sich  ein  solches  Malen  „aus  dem  Dun¬ 
keln“  mit  großer  Leichtigkeit  ausführen  ließ.  Was 
den  Zusatz  der  Feigenmilch  betrifft,  so  kann  mit 
aller  Bestimmtheit  versichert  werden,  dass  derselbe 
nicht  Bindemittel,  sondern  Lösungs-  und  Konser- 
virungsmittel  für  das  Ei  gewesen  sein  muss;  über¬ 
dies  ist  nicht  von  dem  Saft  der  Feigen,  sondern 
nur  von  den  abgeschnittenen  jungen  Trieben  die 
Rede  (Cennini  Kap.  72)  und  nie  allein,  sondern  stets 
in  Verbindung  mit  dem  ganzen  Ei,  wobei  sich  das 
Eiklar  durch  das  Umrühren  mit  den  Feigensprossen 
sehr  schnell  löst,  während  sonst  das  Schlagen  des 
Schaumes  und  das  Abtropfen  längere  Zeit  erfordert. 

Mit  diesem  Bindemittel  sind  die  Farben  anzu¬ 
reiben  und  genügt  es  zu  wissen,  dass  man  öfters 
übereinander  malen  kann,  aber  die  unteren  Farb- 
schichten  durch  die  Feuchtigkeit  der  darüber  ge¬ 
setzten  Lagen  sich  leicht  erweichen  lassen,  bekannt¬ 
lich  ein  Hauptübelstand  aller  Temperabindemittel 
und  viel  unangenehmer  als  das  sog.  „Einschlagen“. 
Die  Feigenmilchtempera  hat  jedoch  das  Gute,  dass 
die  Farbtöne  sich  durch  nachheriges  Firnissen  nur 
sehr  wenig  verändern.  Ist  aber  die  Firnissschichte 
darübergegeben,  was  stets  mit  großer  Umsicht  und 
nach  gründlichem  Trocknen  geschah  (Kap.  155),  so 
konnte  man  mit  dem  wassermischbaren  Bindemittel 
nicht  mehr  weiter  malen  und  waren  deshalb  die 
letzten  feurigen  Lasuren  stets  der  Ölfarbe  Vorbe¬ 
halten  (Kap.  144). 

Cennini  berichtet  (Kap.  89)  von  der  Malerei  mit 
Ölfarben  auf  der  Tafel  oder  Mauer  „wie  dies  vorzüg¬ 
lich  die  Deutschen  im  Gebrauch“  haben;  es  mag 
deshalb  auch  in  Erwägung  gezogen  werden,  ob  sich 
die  Technik  der  Malerei  im  Norden,  in  Frankreich, 
den  Niederlanden  oder  Deutschland  von  einer  an¬ 
deren  Seite  aus  entwickelt  haben  könnte  als  in 
Italien,  da  naturgemäß  die  Feigenmilchtempera  des 
Klimas  wegen  das  Jahr  hindurch  nicht  zu  beschaffen 
war.  Es  kann  hier  nicht  näher  darauf  eingegangen 
werden ,  in  welchen  Beziehungen  die  Tafelmalerei 
zur  Miniaturmalerei  zu  Beginn  des  XIII.  bis  zum 
XIV.  Jahrh.  stand;  so  viel  ist  aber  gewiss,  dass  vom 
technischen  Standpunkt  vollkommene  Übereinstim¬ 
mung  herrschte.  Der  deutsche  Mönch  Theopliilus 
aus  Westfalen  empfiehlt  ebenso  wie  Heraclius, 
dessen  III.  Buch  französischen  Ursprunges  zu  sein 
scheint,  die  Überspannung  der  Holztafel  mit  Perga¬ 
ment  oder  Leder  (Kap.  17)  und  in  Ermangelung  des- 

28 


210 


BEITRÄGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


selben  Leinenstoff  mit  Gips  zu  überziehen  (Kap.  19). 
Es  ergibt  sich  daraus  folgerichtig,  dass  auf  diesen 
mit  Pergament  bespannten  Holztafeln,  mit  den¬ 
selben  Bindemitteln  gemalt  wurde,  welche  für  die 
Miniaturmalerei  jener  Zeit  in  Gebrauch  gewesen  sind. 
Theophilus  beschreibt  genau,  wie  neben  der  schon 
genannten  Ölmalerei,  dem  „Naturale“  des  byzant.  Dio¬ 
nysius,  noch  als  Beschleunigung  der  Arbeit  die 
Gummitempera  zu  handhaben  ist.  „Alle  mit  01  oder 
Gummi  angeriebenen  Farben  darfst  Du  dreimal  auf 
Holz  setzen“  und  ist  die  Malerei  trocken,  so  hat  das 
Überstreichen  mit  dem  Firniss  (Vernition)  in  der 
Sonne  ebenfalls  dreimal  zu  geschehen  (Kap.  28). 
Versuche  haben  ergeben,  dass  sich  derartig  mit 
wassermischbarer  Gummitempera  übermalen  lässt, 
sobald  die  Firnissschichte  sich  in  den  Grund  einge¬ 
sogen  hatte.  Da  einige  Farben,  insbesondere  das 
unentbehrliche  Bleiweiß  mit  Eierklar  anzureiben 
vorgeschrieben  ist,  so  ergibt  sich  die  Gleichheit  mit 
der  Miniaturtempera,  nur  dass  diese  keinen  Firniss- 
überzug  bekam,  was  in  Büchern  überflüssig  und  un¬ 
ausführbar  wäre.  Die  Technik  des  XIII. — XIV.  Jahr¬ 
hunderts  ist  demnach  nichts  anderes  als  gefirnisste 
Miniaturmalerei;  sie  gestattete  durch  das  öftere  Über¬ 
malen  eine  große  Durchführbarkeit  der  Details,  und 
durch  das  mehrfache  Firnissen  des  Gemalten  hatte 
der  Maler  die  Möglichkeit,  die  Wirkung  zu  ver¬ 
gleichen.  Dass  auf  die  Reinigung  der  Oie  zur  Firniss¬ 
bereitung  und  zur  Malerei  selbst  bereits  Sorge  ge¬ 
tragen  wurde,  ist  aus  Heraclius  und  dem  Stra߬ 
burger  Ms.  zu  ersehen.  Bedenken  wir,  dass  die 
italienische  Tempera  erst  nach  der  Vollendung  des 
Bildes  gefirnisst  werden  durfte,  so  werden  die  Vor¬ 
züge  der  nordischen  Art  sofort  verständlich  sein. 
Die  Maler  der  altkölnischen,  westfälischen  und 
vor-van  Eyek’scheu  Schule  in  den  Niederlanden  konn¬ 
ten  dreimal  mit  Tempera  auf  gefirnisste  Unterlage 
malen  und  batten  stets  den  Eindruck  der  fertigen 
Wirkung  während  der  Arbeit;  die  Fbermalung  mit 
der  Gummitempera  trocknet  überdies  sehr  schnell. 
Gegenüber  diesen  Vorzügen  sind  die  Nachteile: 
I .  die  Notwendigkeit  des  Trocknenlassens  in  der  Sonne 
oder  am  Herdfeuer,  sobald  eine  Farbschichte  gemalt 
und  mit  Olfimiss  tiberstrichen  ist,  und  2.  der  geringe 
Widerstand  gegen  Feuchtigkeit,  bevor  die  Firniss¬ 
lage  aufgetragen  war.  Immerhin  war  das  Verfahren 
umständlich  genug,  da  im  Norden  die  Temperatur¬ 
verhältnisse  unverlässlich  sind  und  oft  tagelang  auf 
Sonnenschein  gewartet  werden  muss  (wie  es  auch 
mir  bei  den  Versuchen  erging!),  oder  im  anderen 
Falle  bei  „gelindem  Herdfeuer“  auf  der  halbfeuchten 


Oberfläche  Staub  und  Ruß  sich  ablagern  kann,  was 
für  fein  ausgeführte  Bilder  nicht  zu  wünschen  ist, 
abgesehen  von  der  Gefahr  des  Werfens  und  Rissig¬ 
werdens  der  Holztafel. 

Wie  von  selbst  drängt  sich  hier  die  Beobach¬ 
tung  auf,  dass  dieselben  Übelstände  es  gerade  sind, 
welche  nach  Vasari’s  Erzählung  den  van  Eyck’s 
Veranlassung  gaben,  ihre  vielbesprochene  Erfindung 
zu  machen.  Und  welche  Mittel  sollten  sie  dazu 
ersonnen  haben?  Die  Farben  mit  Leinöl  oder  Nussöl 
zu  mischen,  war  ja  längst  bekannt,  ebenso  verschie¬ 
dene  Arten  Oie  zu  reinigen  und  schneller  trocknend 
zu  machen;  ja  selbst  die  Ölfirnisse,  vernice  liquida 
und  vernition  kannten  sie  und  mischten  Farben  damit 
zur  pictura  translucida  und  Lasuren ;  Ölbeizen  (mor- 
dants)  für  Vergoldung  waren  im  Norden  allgemein 
in  Verwendung.  Was  war  es  demnach,  das  die 
Eycks  eigentlich  in  Beziehung  der  Ölfarben  hätten 
erfinden  können?  Worin  bestand  ihr  „Geheimnis“? 
Dass  die  Meinungen  darüber  sehr  auseinandergehen, 
ist  bekannt;  ich  verweise  hierbei  auf  den  Exkurs 
über  die  Ölmalerei  von  Ilg  (Anhang  zur  Heraclius- 
Ausgabe),  worin  dieselben  ausführlich  erwähnt  sind. 
Nur  auf  die  Ansicht  von  Eastlake,  welche  „die 
Frage  endgiltig  lösen  sollte“,  sei  hier  näher  einge¬ 
gangen.  Diese  Ansicht  besteht  darin,  dass  van  Eyck  in 
der  Anwendung  des  Zinkvitriols,  als  Trockenmittel,  die 
Schwierigkeiten  der  Ölmalerei  überwand.  Abgesehen 
davon,  dass  dieses  Trockenmittel  schon  in  Schriften 
des  XIV.  Jahrhunderts  (Straßburger  Ms)  mit„Galicen- 
stein“  bezeichnet  vorkommt,  ist  es  auch  im  Marciana 
Ms  erwähnt  und  dem  Leinöl  beigefügt,  um  dessen 
Trockenkraft  zu  erhöhen,  aber  als  Vergolderbeize 
für  Glas,  wie  hinzugefügt  werden  muss.  (Marciana 
Ms  Nr.  339,  Merrifield  II  p.  621.)  Was  für  Deko¬ 
ration  von  Glasschüsseln  nötig  und  passend  ist,  sollte 
für  die  vollkommenste  Malerei  der  van  Eyck  geeig¬ 
net  sein?  Ein  so  starkes  Trockenöl  mit  Bernstein¬ 
firniss  angemacht,  wäre  ihr  Bindemittel  gewesen,  um 
die  minutiösesten  Details  „infinitamente  bene“  aus¬ 
zuführen?  Ein  Beizmittel,  das  im  Pinsel  fest  wird! 
Bei  aller  Bewunderung  für  die  Arbeit  und  Mübe, 
welche  sich  Eastlake  gegeben,  das  würde  er  uns 
Malern  nie  verständlich  machen  können ,  dass  die 
van  Eycks,  Memling,  R.  van  der  Weyden,  Dürer  oder 
Holbein  mit  einem  solchen  Mittel  gemalt  hätten! 

II. 

Indem  ich  daran  gehe,  die  Resultate  meiner 
eigenen  Beobachtungen  und  Versuche  bekannt  zu 
machen,  wäre  zunächst  zu  untersuchen,  ob  die 


BEITRÄGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


211 


Quellenschriften  nicht  doch  genügende  Anhaltspunkte 
und  Andeutungen  über  die  „neue  Methode“  geben, 
die  geeignet  sind,  zur  Lösung  der  schwierigen  Frage 
beizutragen  und  entweder  noch  gar  nicht  oder  nicht 
mit  allen  wissenschaftlichen  Mitteln  ins  Auge  gefasst 
wurden.  Im  Punkte  der  Technik  möge  noch  eine  allge¬ 
meine  Bemerkung  gestattet  sein:  Durch  den  nur  auf  die 
moderne  Ültechnik  Rücksicht  nehmenden  Studiengang 
unserer  Kunstakademien  sind  wir  Maler  (ich  spreche 
aus  Erfahrung!)  völlig  im  Dunkeln  über  andere  Mal¬ 
arten  und  mancher  Tüncherlehrling  würde  uns  darin 
beschämen  können.  Frescomalen  ist  eine  vergessene 
Sache  und  was  Tempera  heißt,  wissen  wir  nur  vom 
Hörensagen.  Die  Kunstgeschichte  lehrt,  dass  dazu 
Ei,  Gummi,  Honig,  Feigenmilch  u.  dgl.  genommen 
wurde.  Es  ist  deshalb  den  meisten  Kollegen  und 
auch  Kunsthistorikern  völlig  unbekannt,  dass  es 
eine  Tempera  gibt ,  die  durch  innige  Mischung 
eines  fetten  Öles  mit  einer  gummiartigen,  zähen, 
wasserlöslichen  Substanz  (Gummi  oder  Eigelb)  als 
Emulsion  bereitet  werden  kann.  Eine  solche  in¬ 
nige  Vermischung  eines  Fettes  mit  einem  anderen 
Körper  bewirkt  vor  allem  eine  ungeheuer  feine  Ver¬ 
teilung  der  Ölteilchen  und  die  Folge  davon  ist,  dass 
solche  Öle  mit  Wasser  mischbar  sind,  sie  werden 
dadurch  zur  Tempera,  zur  Öltempera.  Auf  zwei 
Arten  lässt  sich  dies  leicht  erreichen:  erstens,  wenn 
die  Öle  aufs  innigste  mit  Eigelb  vermischt  werden, 
die  Ei -Öltempera,  oder  wenn  dazu  pulverisirte 
Gummiarten  verwendet  werden,  die  Gummi-Öltempera. 
Im  Verfolge  meiner  Arbeit,  war  ich  nun  auch  bestrebt, 
den  ersten  Spuren  dieser  Temperaart  in  den  Quellen 
nachzuforschen.  Thatsächlich  fand  sich  das  gesuchte 
Rezept  in  dem  älteren  Teil  des  Marciana  Ms  (Eastlake  I. 
p.  225),  welches  lautet:  „Toy  torli  de  ove  e  vernice 
liquida  egualemente  et  incorpora  molto  ben  insieme 
e  de  questa  tale  cola  darai  per  copertura  come  el 
penelo  la  quäl  colla  non  teme  aqua  ne  cossa  che 
sia.“  (Nimm  Eigelb  und  „vernice  liquida“  i.  e.  ge¬ 
kochtes  Leinöl,  dem  noch  ein  Harz  beigegeben  war, 
in  gleicher  Menge  und  vermische  diese  sehr  gut 
miteinander  und  von  diesem  Bindemittel  gib  den 
Überzug  mit  dem  Pinsel;  dasselbe  schützt  vor  Was¬ 
ser  und  was  es  auch  sei.)  Dass  sich  dieses  Rezept 
der  Emulsionstempera  in  einem  venetianischen  Ms 
fand,  in  der  Stadt,  in  welcher  Antonello  da  Messina 
nach  seinem  Aufenthalt  in  Flandern  gelebt,  führte 
direkt  dazu,  die  Erzählung  des  Vasari  über  die  Eyck- 
sche  Erfindung  genauer  daraufhin  zu  vergleichen. 

Vasari  (Leben  des  Antonello  da  Messina,  I.  Ed. 
1550,  p.  379 ff)  spricht  von  Verbesserungsversuchen, 


die  Baldovinetti ,  Pesello  und  andere  machten,  und 
dabei  „eine  andere  Art  von  Ölen  mit  Temperamitteln 
vermischt“  verwendeten.  Im  Leben  des  Baldovinetti 
begegnet  uns  dasselbe  Emulsionstemperarezept,  von 
dem  Vasari  sagt,  es  hätte  den  erwarteten  Erfolgen 
nicht  vollkommen  entsprochen.  Vasarierzählt:  Baldo¬ 
vinetti  bereitete  seine  Farben  mit  Eigelb  in  Mischung 
mit  Vernice  liquida  (rosso  d’uovo  mescolato  con 
vernice  liquida);  er  gedachte  durch  diese  Tempera 
die  Malerei  (auf  der  Mauer)  gegen  Feuchtigkeit  zu 
schützen,  aber  sie  war  so  stark,  dass  an  Stellen,  wo 
sie  zu  sehr  angehäuft  war,  die  Malerei  absprang. 
Vasari  bringt  hier  zwar  negative  Resultate,  wir  er¬ 
sehen  jedoch  deutlich,  nach  welcher  Richtung  hin 
sich  die  Versuche  bewegt  haben  müssen,  dass  es 
also  die  verschiedenen  Arten  von  Öltempera  waren, 
welche  bei  den  damaligen  Malern  „Gegenstand  zahl¬ 
reicher  Versuche  und  Diskussionen“  bildete. 

Vergleicht  man  die  bezügliche  Notiz  der  ersten 
Ausgabe  (1550)  des  Vasari  mit  der  zweiten  (1568), 
so  ergibt  sich  der  auffallende  Umstand,  dass  „ altra 
sorte  di  olii  mescolati  nella  tempera“  verändert  ist 
in  „altre  sorte  di  colori  mescolati  nelle  tempere“. 
Nach  Eastlake  (I,  203  Anmerkung,  ebenso  Lamp- 
sonius)  hätte  Vasari  mit  dieser  Änderung  die  Ab¬ 
sicht  gehabt,  dem  Joh.  van  Eyck  die  actuelle  Er¬ 
findung  der  Ölmalerei  zuzuschreiben.  Das  Mischen 
der  Farben  mit  Ölen  war  aber  doch  eine  längst  bekannte 
Sache,  ebenso  wie  das  Mischen  der  Farben  mit  ver¬ 
schiedenen  Temperabindemitteln  (colori  mescolati 
nelle  tempere).  Er  musste  doch  einen  bestimmten 
Grund  gehabt  haben  und  es  scheint  mir  der  folgende 
zu  sein:  Die  Satzperiode  „ne  con  vernice  liquida, 
ne  con  altra  sorte  di  olii  mescolati  nella  tempera“ 
der  ersten  Ausgabe  schließt  durch  das  erste  „weder“ 
auch  das  folgende  „noch“  von  den  verbesserten  Mal¬ 
arten,  die  in  Betracht  kommen  konnten,  aus.  Da 
aber  gerade  in  dieser  Art  (der  Emulsion)  eine  Neue¬ 
rung  zu  erkennen  ist,  wie  aus  den  weiteren  Er¬ 
örterungen  über  die  van  Eyck’sche  Erfindung  ge¬ 
folgert  werden  muss,  so  mochte  Vasari  in  der  II. 
Ausgabe  diese  Veränderung  vorgenommen  haben. 
Dazu  kommt  noch  die  Bezeichnung  „altra  sorte  di 
olii  mescolati  nella  tempera,  eine  andere  Art  (sin¬ 
gulär!),  die  Öle  mit  der  Tempera  (singulär!)  zu 
mischen,  als  welche  damals  allgemein  Eigelb  (Cen- 
nini  Kap.  72)  verwendet  wurde.  Diese  Mischung 
war  damals  neu,  wie  die  Versuche  des  Baldovi¬ 
netti  zeigen,  und  ist  nichts  anderes  darunter  zu  ver¬ 
stehen,  als  die  Öltempera,  die  Emulsion! 

(Schluss  folgt.) 


28* 


EIN  NEUER  SCHWABENSPIEGEL.1) 

MIT  ABBILDUNGEN. 


Obwohl  die 
Schulabhängigkeit 
unter  Dichtern,  we¬ 
nigstens  unter  sol¬ 
chen,  die  diesen 
Namen  verdienen, 
nur  eine  sehr  lo¬ 
ckere  sein  kann,  ja 
streng  genommen 
völlig  ausgeschlos¬ 
sen  ist,  spricht  man 
doch  allgemein  von 
einer  „  schwäbi¬ 
schen  Dichterschu¬ 
le“.  Niemand  aber 
spricht,  das  15.  und 
1 6.  J  ahrhundert  aus¬ 
ser  betracht  gelassen,  von  einer  schwäbischen  Künst¬ 
lerschule,  ja  die  allgemeine  deutsche  Kunstgeschichte 
pflegt  sogar  von  den  in  Württemberg  geborenen  oder 
thätig  gewesenen  Künstlern  mit  Ausnahme  etwa  von 
Dannecker,  Wächter  und  Schick  wenig  oder  gar  keine 
Notiz  zu  nehmen.  Wenn  auch  Wintterlin  die  statt¬ 
liche  Reihe  von  vierzig  Lebensbildern  dortiger 
Künstler  zu  einem  vollschwellenden  Kranze  heimat¬ 
licher  Ehre  zusammenfasst,  ohne  dabei  die  Zahl  der 
wirklich  vorhanden  gewesenen  zu  erschöpfen,  so  liegt 
ihm  gleichwohl  fern,  einen  engen  und  strengen 
inneren  Zusammenhang  unter  ihnen  nachweisen  zu 
wollen.  Dennoch  wird  man  vielleicht  auch  in  diesen 
Charakterköpfen  bildender  Künstler  einen  gewissen 
schwäbischen  Grundzug  aufzufinden  vermögen.  Jeden¬ 
falls  mutet  ihre  Zusammenstellung  den  in  Württem¬ 
berg  einigermaßen  Heimischen  nicht  kühl  und  er¬ 
zwungen,  sondern  sehr  sympathisch  an  und  darf  das 

1 ,  II  iirtfembergische  Künstler  in  Lebensbildern  von 
Angnst  Wintterlin.  Deutsche  Verlags-Anstalt.  Stuttgart, 
Leipzig,  Berlin,  Wien.  1895.  8°. 


treffliche  Buch  gewiss  auch  außerhalb  seines  engeren 
Vaterlandes  auf  reiche  Teilnahme  rechnen. 

Der  Verfasser  hat  mit  der  Akribie  eines  alt- 
württembergischen  Gelehrten  gearbeitet,  eine  Menge 
falscher  biographischer  Daten,  die  sich  „wie  eine 
ew’ge  Krankheit“  von  Buch  zu  Buch  fortgeerbt 
hatten,  auf  Grund  authentischer  Quellen  richtig  ge- 
gestellt  und  dadurch  ein  für  allemal  eine  zuverlässige 
Grundlage  für  die  Lebensgeschichte  dieser  Künstler 
geschaffen.  Jedoch  nicht  ein  Skelett,  sondern  ein  Bild 
von  Fleisch  und  Blut.  Er  giebt  nicht  nur  Namen 
und  Daten,  sondern  weiß  die  feinsten  Fäden  der 
Fntwickelung,  die  Genesis  jeder  Künstlernatur  und 
ihrer  Werke  zu  einem  lebensvollen  Ganzen  zu  ver¬ 
knüpfen.  Dem  Kunstgelehrten  wird  es  dabei  zur  Be¬ 
friedigunggereichen,  dass  Wintterlin  gerade  die  besten 
württembergischen  Künstler  mit  dem  allgemeinen 
Maßstabe  der  deutschen  Kunstforschung  und  nicht 
mit  dem  eines  übertriebenen  Lokalpatriotismus  ge¬ 
messen  hat.  Als  Grundlage  für  sein  Werk  dienten  ihm 
die  Beiträge,  die  er  seit  vielen  Jahren  für  die  „All¬ 
gemeine  deutsche  Biographie“  geliefert  hatte;  doch 
sind  dieselben  in  der  neuen  Gestalt  gründlich  durch¬ 
gesehen  und  erweitert.  Er  fügte  ihnen  eine  Reihe 
in  weiteren  Kreisen  bis  jetzt  unbekannter  Vorträge, 
Festreden,  Nekrologe  und  auch  völlig  Neues,  bisher 
Ungedrucktes  hinzu  u.  a.  die  schönen  Betrachtungen 
über  Dannecker ,  Wächter,  Thouret. 

Bei  Erwähnung  einer  bezeichnenden  Äußerung 
Herzog  Karls  in  einem  der  Lebensbilder,  die  zum 
Neuen  gehören,  giebt  er  eine  Anregung,  die  auf  das 
Buch  selbst  anzuwenden  für  den  Referenten  ver¬ 
lockend  war.  ln  einer  Anmerkung  zur  Biographie 
Eberhard  Wächters  sagt  er  nämlich:  „Wie  groß 
oder  vielmehr  wie  klein  der  Prozentsatz  der  Beamten¬ 
kinder  unter  den  deutschen  Künstlern  überhaupt  ist, 
wäre  einer  statistischen  Zusammenstellung  und  psy¬ 
chologischen  Untersuchung  wert.“  Sehen  wir  da- 


EIN  NEUER  SCHWABENSPIEGEL. 


213 


raufhin  die  hier  in 
Betracht  kommen¬ 
den  40  Lebensläufe 
württembergischer 
Künstler  durch,  so 
finden  wir,  dass  da¬ 
von  nur  etwa  6  von 
Beamten  abstamm¬ 
ten.  Neun  bis  zehn 
dagegen  waren  Söh¬ 
ne  von  Handwer¬ 
kern,  4  von  Stall¬ 
knechten,  Lakaien, 
Haiducken  u.  s.  w., 
2  von  Kaufleuten, 
einer  ein  Sohn  eines 
Pfarrers,  Offiziers,  Arztes  oder  Musikers.  Der  höch¬ 
ste  Prozentsatz  aber,  12 — 14,  führt  zu  Familien  von 
Künstlern  selbst  zurück,  so  dass  daraus  zu  ersehen  ist, 
was  ja  auch  sonst  beobachtet  wird,  dass  die  Anlage 
zur  bildenden  Kunst  von  allen  Anlagen  am  häufig¬ 
sten  sich  vom  Vater  auf  den  Sohn  vererbt.  Das 
Gleiche  gilt,  wie  bekannt,  für  die  Musiker.  Ähnlich 
wird  sich  ja  wohl  der  Prozentsatz  der  Abstammung 
für  die  Künstler  in  ganz  Deutschland  herausstellen. 
Die  Berufswahl  der  württembergischen  Künstler  an¬ 
langend  finden  wir  unter  ihnen  7  Architekten,  7  Bild¬ 
hauer,  21  Maler  und  5  Kupferstecher,  ein  Verhältnis, 
das  annähernd  für  die  Statistik  der  Künstler  im 
allgemeinen  gleichfalls  zutreffend  sein  dürfte. 

Interessant  ist  auch  die  Beobachtung  über  das 
Lebensalter,  welches  diese  Vierzig  erreicht  haben. 
Zwei  sind  über  90  Jahre  alt  geworden,  7  über  70, 
11  aber  über  80  Jahre,  was  ein  außerordentlich 
günstiges  Prognostikon  für  das  Alter  der  Künstler 
zuließe,  wenn  daraus  ein  allgemeiner  Schluss  ge¬ 
zogen  werden  dürfte.  Denn  die  Hälfte  aller  Künst¬ 
ler  würde  alsdann  durchschnittlich  über  siebenzig 
Jahre  alt. 

Die  Höhe  des  erreichten  Alters  in  den  hier 
für  Württemberg  geltenden  Fällen  steht  indes 
leider  nicht  immer  im  Verhältnis  zur  Bedeutung: 
ihres  Talentes.  Zwar  ist  der  große  Dannecker  83 
Jahre,  der  treffliche  Wächter  sogar  90  Jahre  alt  ge¬ 
worden  ,  dagegen  hat  Schick ,  der  zu  so  schönen 
Hoffnungen  berechtigte,  nur  36  und  der  in  seiner 
Wiedergabe  der  Sixtinischen  Madonna  unerreichte 
Friedrich,  Müller  gar  nur  34  Jahre  erreicht.  Gang- 
loff  aber,  dem  Uhland  seine  schönen  Sonette  aufs  Grab 
legte,  erreichte  nur  ein  Jünglingsalter  von  24  Som¬ 
mern.  So  ist  der  Genius  den  einen  ein  Ernährer, 


den  andern  ein  Verzehrer  ihrer  Kräfte  gewesen. 
Von  näheren  Beziehungen  der  bildenden  Künstler 
zu  den  Dichtern  des  Schwabenlandes  ist  schon  eine 
erwähnt,  eben  die  Freundschaft  Gangloffs  zu  Uhland. 
In  den  beiden  Eingangsversen  zum  2.  Sonett  sagt 
der  Poet  vom  Maler: 

„Nach  Hohem,  Würd’gem  nur  hast  du  gerungen, 

Das  Kleinliche  verschmähend  wie  das  Wilde.“ 

Es  sei  erlaubt,  diese  beiden  Zeilen  unter  Er¬ 
weiterung  des  „hast  du“  in  „habt  ihr“  zur  Charak¬ 
teristik  der  hier  besprochenen  württembergischen 
Künstler  überhaupt  zu  gebrauchen.  Zur  Genüge 
bekannt  ist  ferner  die  nahe  Verbindung  der  beiden 
Mitschüler  auf  der  Karlsschule,  Schiller  und  Dan¬ 
necker,  und  die  daraus  entsprungene  herrliche  Schiller¬ 
büste.  Weniger  verbreitet  dagegen  dürfte  sein,  wie 
viel  die  auch  noch  nach  unseren  heutigen  Begriffen 
hervorragende  Bildnismalerin  Ludovike  Simanowiz 
ihrer  Bekanntschaft  mit  Schiller  und  dessen  Schwester 
Christophine  verdankte.  Sie  hat  Bildnisse  des  Dichters, 
seiner  Frau,  seiner  Eltern  und  Geschwister  geschaffen, 
die  nicht  nur  den  Dargestellten  ,  sondern  auch  der 
Darstellerin  zur  größten  Ehre  gereichen.  Auch  zu 
dem  unglücklichen  Dichter  Schubert,  der  ihr  Ge¬ 
dichte  widmete,  kam  die  Malerin,  in  nähere  Be¬ 
ziehung.  Hervorzuheben  ist  ferner  die  gleichfalls 
aus  der  Karlsschule  stammende  Kameradschaft 
Schillers  und  Scheffauers,  den  jener  später  in  einem 
seiner  Briefe  einen  „sehr  geschickten  Bildhauer“ 
nennt.  Mit  des  Verfassers  eigenen  Worten  gedenken 
wir  noch  der  Bedeutung,  den  die  glückliche  Be¬ 
rührung  des  württembergichen  Architekten  Thouret 
mit  Goethe  für  ersteren  gehabt.  Wintterlin  sagt  im 
Eingang  zum  Lebensabriss  desselben: 

„Goethe’s  Vertrauen  und  Anerkennung  haben 
einem  Künstler,  dessen  Wirkungskreis  sonst  nicht 
über  sein  engeres  V ater- 
land  hinausreichte,  zu 
einem  bleibenden  Na¬ 
men  in  Deutschland  ver¬ 
holten,  dem  Baumeis¬ 
ter  Nikolaus  Friedrich 
Thouret.“ 

Mit  Ausnahme  des 
berühmten  Heinrich 
Schickhardt,  dessen  Thä- 
tigkeit  noch  in  die  zweite 
Hälfte  des  16.  und  in 
das  erste  Drittel  des  17 
J  ahrhunderts  fällt,  bietet 
uns  der  Verfasser  nur 


K.  J.  B.  Neher. 


214 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Lebensbilder  von  Künstlern  des  18.  und  19.  Jahrhun¬ 
derts.  Die  wichtigsten  darunter  sind  die  Maler  Gui- 
bal,  Heisch,  die  schon  erwähnte  Ludovike  Simanowitz, 
Wächter,  Seele,  Schick,  Gottlob  Friedrich  Steinkopf,  den, 
wie  der  V erfasser  mit  Recht  bemerkt,  die  neuere  Kunst¬ 
geschichte  unbilliger  Weise  tot  schweigt,  Gangloff, 
Gegenbaur,  Näher  und  der  zu  früh  verstorbene  Ernst 
Reiniger.  Unter  den  Bildhauern  ragen  hauptsächlich 
die  oben  genannten  Dannecker  und  Scheffauer  hervor, 
denen  noch  Wagner,  Hofer  und  Rau  beizufügen  sind. 
An  ersten  Baumeistern  müssen  außer  Schickhardt 
und  Thouret  die  jüngeren  Etzel  und  Leins,  an  Kupfer¬ 
stechern  die  Müller,  Vater  und  Sohn,  genannt 
werden. 

Leider  verbietet  uns  die  gebotene  Rücksicht 


auf  den  Raum,  näher  auf  diese  schönen  Biographien 
einzugehen  und  können  wir  den  Lesern  nur  noch 
bestens  empfehlen,  sie  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen. 
Der  Grundzug  derselben  ist  warme  Hingebung  an  die 
Aufgabe,  gründliche  Kenntnis  und  Erforschung  der¬ 
selben,  ein  feiner  Sinn  für  die  Kunst  und  eine  vor¬ 
nehme  Sprache.  Die  18  kleinen  und  4  großen  Bild¬ 
nisse,  meist  —  wie  die  hier  beigefügten  Proben 
zeigen  —  recht  lebendig  und  hübsch,  sind  als 
Illustrationen  zu  den  Lebensbildern  in  Worten  sehr 
dankenswert. 

Kurz,  dieser  „Schwabenspiegel14  württember- 
gischer  Künstler  mit  seinem  angenehm  kräftigen, 
heimatlichen  Erdgerucli  ist  eine  höchst  erfreuliche 
und  dankenswerte  Gabe.  0.  EISENMANN. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


C.  Hasse,  Kunststudien ,  V.  Heft.  8.  Roger  van  Brügge, 
9.  Gemälde  Memling’s,  10.  Das  Werk  von  A.  J.  Wauters 
„Hans  Memling“.  Breslau,  Ed.  Trewendt,  1894.  8°,  78  S. 

Die  Frage  nach  den  Namen  Rogier  von  Brügge,  Rogier 
van  der  Weyden,  Rogier  von  Brüssel  (mit  all  ihren  Vari¬ 
anten)  gilt  seit  fast  einem  halben  Jahrhundert  für  eine  ge¬ 
löste.  Man  hat  die  ältesten  Angaben  über  diese  Namen  so 
ausgelegt,  dass  sie  sich  zumeist  auf  einen  und  denselben 
berühmten  Maler  beziehen ,  nämlich  auf  Rogier  van  der 
Weyden.  Dass  es  daneben  einen  unberühmten  Rogier  da 
und  dort  gegeben  haben  mag,  bleibt  dabei  zugestanden. 
Zweifellos  hat  es  sein  Gutes,  derlei  Fragen  von  Zeit  zu  Zeit 
kritisch  zu  überprüfen,  etwa  in  den  kunsthistorischen  Semi¬ 
naren  oder  bei  privaten  Studien  über  altniederländische 
Malerei.  Insofern  ist  Hasse’s  Studie  Nr.  8  die  erste  des  vor¬ 
liegenden  Heftes,  in  ihren  Absichten  und  in  ihrer  Anlage 
als  ein  erfreuliches  Unternehmen  zu  bezeichnen.  Was  aber 
die  Durchführung  der  Arbeit  betrifft,  so  können  wir  uns  der 
Überzeugung  nicht  erwehren,  dass  Hasse  nach  einer  neuer¬ 
lichen  kritischen  Durchsicht  der  ganzen  Frage  zu  anderen 
Ergebnissen  kommen  wird,  als  er  sie  bisher  ausgesprochen 
hat.  Er  bestreitet  die  Zuverlässigkeit  des  Wahrscheinlich- 
keits.“chlusses,  den  der  ältere  Wauters  in  den  40er  Jahren 
gezogen  hat,  und  der  dahin  geht,  der  berühmte  Rogier  von 
Brügge  und  der  von  Brüssel  seien  miteinander  und  mit 
R.  v.  d.  Weyden  identisch.  Zu  diesem  Wahrscheinlichkeits- 
schlusse  zwingen  denn  auch  die  sicheren  Prämissen  nicht 
nur  so,  wie  sie  Wauters  und  später  andere  vorbrachten, 
sondern  auch  so,  wie  sie  Hasse  selbst  zunächst  aufzählt. 
Nur  fügt  Hasse  zu  den  sicheren  Grundlagen  auch  noch  allerlei 
schiefe  Voraussetzungen,  die  dann  das  Urteil  ablenken.  Offen¬ 
bar  hat  Hasse,  gereizt  durch  einen  unsanften  Angriff  auf 
eine  seiner  früheren  Studien,  die  Gedankenfäden  nicht  mit 
der  nötigen  Kühlheit  und  Ruhe  verbunden,  um  zu  brauch¬ 
baren  Folgerungen  zu  gelangen.  Dies  kommt  auch  zum 
Ausdruck  in  seiner  Zusammenstellung  der  Werke  seiner  bei¬ 


den  Rogier.  Beim  Rogier  von  Brügge  beginnt  er  z.  B.  so¬ 
fort  mit  einem  circulus  vitiosus,  der  durch  eine  missver¬ 
standene  Angabe  des  Engerth’schen  Kataloges  der  Wiener 
Galerie  veranlasst  wird.  Engerth  nimmt  nämlich  an,  die 
kleine  Madonna  des  Rogier  in  Wien  (Nr.  1385)  sei  unbedingt 
identisch  mit  dem  Bilde,  das  der  Anonimo  Morelliano  (d.  i. 
Marc- Anton  Michiel)  1530  im  Hause  des  Gabriel  Vendramin 
in  Venedig  gesehen  hat.  Deshalb  giebt  Engerth  ohne  wei¬ 
teres  (nebenbei  bemerkt  sehr  unvorsichtigerweise)  als  Prove¬ 
nienz  an:  „Aus  dem  Hause  Vendramin  in  Venedig“.  Hasse 
schließt  nun  so:  nach  Engerth’s  Angabe  stammt  das  Bild 
aus  dem  Hause  Vendramin,  ergo  ist  es  identisch  mit  dem 
Bilde  des  Ruggiero  da  Bruges,  das  der  Anonimo  Morelliano 
1530  bei  Vendramin  in  Venedig  gesehen  hat.  Er  kommt 
also  glücklich  dort  wieder  an,  von  wo  Engerth  ausgegangen 
war.  Dass  man  die  Identifizirung  des  Wiener  Bildchens 
mit  dem,  das  der  Anonymus  des  Morelli  erwähnt,  mit  nichten 
als  ausgemacht  annehmen  könne,  hat  schon  vor  Jahren 
Scheibler  ausgesprochen  (im  Repert.  f.  Kunstw.  X,  S.  2910.). 
—  Das  Auf  bauen  von  angeblich  beweisenden  Schlüssen  auf 
schwachen  oder  falschen  Voraussetzungen  kehrt  auch  in  den 
übrigen  Studien  des  vorliegenden  Heftes  wieder,  die  sich 
um  Memling  als  Mittelpunkt  bewegen.  Hasse  ist  vielseitig 
geschult  und  wird  zweifellos  bei  ruhiger  Überlegung  einen 
passenden  Weg  finden,  der  ihn  aus  dem  Gewirr  von  Trug¬ 
schlüssen,  in  das  er  sich  verwickelt  hat,  wieder  herausleitet. 

TH.  v.  FR. 


Eine  neue  Zeitschrift  ,, Biographische  Blätter Viertel¬ 
jahresschrift  für  lebensgeschichtliche  Kunst  und  Forschung, 
erscheint  im  Verlage  vonErnst  Hofmanndb  Co.  in  BerlinSW.48. 
Ständige  Mitarbeiter  sind  u.  a.  die  Proff.  Dr.  Michael  Bernays, 
E.  von  Bezold,  A.  Brandt,  A.  Fournier ,  Luaw.  Geiger,  S.  Gün¬ 
ther,  Eug.  Guylia,  Ottokar  Lorenz,  Karl  von  I/utxow,  Jakob 
Minor,  Er.  Ratzel,  Erich  Schmidt  und  Ant.  E.  Schönbach; 


Das  Bismarckdenkmal  in  Leipzig. 


216 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Herausgeber  ist  Dr.  Anton  Bettelheim.  Die  wohlwollende 
Aufnahme,  welche  die  von  letzterem  herausgegebene,  in  dem¬ 
selben  Verlage  erscheinende  Sammlung  von  Biographieen 
„Geisteshelden  (Führende  Geister)“  in  Fachkreisen  und  im 
großen  Lesepublikum  gefunden,  hat  den  Gedanken  nahe¬ 
gelegt,  den  gleichen  Zielen  in  einer  besonderen  Zeitschrift 
nachzustreben,  die  durchweg  von  namhaften  Kennern  und 
Freunden  der  biographischen  Kunst  1.  selbständige  Abhand¬ 
lungen  zur  Theorie  und  Entwickelungsgeschichte  der  Bio¬ 
graphie  und  Selbstbiographie;  Charakteristiken  und  Kritiken 
der  Meister  biographischer  Kunst  und  Forschung,  2.  abge¬ 
schlossene  biographische  und  selbstbiographische  Aufsätze 
und  Studien,  3.  Selbstbekenntnisse  aus  ungedruckten  oder 
schwer  zugänglichen  Quellen  in  der  Art  der  kulturgeschicht¬ 
lichen  Zeugnisse  in  Gustav  Freytag’s  „Bildern  aus  der  deut¬ 
schen  Vergangenheit“,  4.  biographische  Miscellen,  Nekrologe, 
Anzeigen  aller  wichtigeren  in  und  außer  Europa  erscheinen¬ 
den  Biographieen,  Selbstbiographieen  und  Denkwürdigkeiten, 
sowie  der  meisten  in  Zeitschriften  zerstreuten  biographischen 
Essays  bringen  soll.  Ein  solches  Vorhaben  setzt  zu  seiner 
gedeihlichen  Entfaltung  die  ständige  Mitwirkung  unserer 
ersten  Gelehrten,  dauernde  Förderung  durch  Liebhaber  und 
Sammler  und  freundliche  Mithilfe  aller  Berufenen  voraus, 
welche  für  Hinweise  auf  nicht  immer  leicht  erreichbare 
Tagesblätter,  für  gefällige  Einsendung  von  biographischen 
Nachrichten ,  Drucken  u.  dergl.  an  die  Adresse  des  Heraus¬ 
gebers  Dr.  Anton  Bettelheim  in  Wien  XIX,  Hasenauerstr.  21, 
zum  voraus  geziemenden  Dankes  versichert  sein  mögen. 


*  Die  Radirung  „Tn  stiller  Andacht11  von  Oskar  Schul 
welche  diesem  Hefte  beiliegt,  ist  dem  letzten  Jahrgange  (1894) 
der  Publikationen  des  Radirvereins  in  Weimar  entnommen, 
über  dessen  löbliches  Bestreben  wir  den  Lesern  wiederholt 
berichtet  haben.  Gleich  den  früheren,  sind  auch  die  jüngst 
erschienenen  Blätter  der  Weimarer  Künstler  vorwiegend  land¬ 
schaftlichen  Charakters,  wie  das  ja  in  der  Natur  der  Sache 
begründet  ist.  Und  zwar  haben  vor  allen  Max  Asperrjer , 
E.  Wcichbcrger  und  Fritz  Braendel  zu  dem  vorliegenden 
Hefte  mehrere  Radirungen  von  jener  Schlichtheit  der  Motive 
und  der  Behandlung  beigesteuert ,  welche  die  lyrischen 
Fähigkeiten  der  Radirkunst  am  wirkungsvollsten  zur  Geltung 
bringt.  Blätter  figürlichen  Inhalts  enthält  die  Lieferung  — 
von  zwei  trefflichen  Tierstücken  Alb.  Brendel’s  abgesehen  — 
nur  wenige,  und  unter  diesen  geben  wir  dem  vorliegenden 
Stimmungsbildchen  von  Oskar  Schuh,  unbedingt  den  Preis. 
Der  Ausdruck  ruhiger  Hingebung,  vollen,  sonnigen  Gottes¬ 
friedens  ist  liier  mit  so  anspruchsloser,  echter  Kunst  vor¬ 
getragen,  dass  jedes  Wort  der  Erläuterung  überflüssig  wäre. 
Derselbe  Künstler  ist  in  dem  Heft  auch  durch  eine  em¬ 
pfindungsvolle  „Heilige  Elisabeth“  von  edler  Stilistik  ver¬ 
treten,  die  vielleicht  als  Holzschnitt  nach  Ludwig  Richter’s 
Art  eine  noch  befriedigendere  Wirkung  machen  würde.  — 
Im  ganzen  sei  damit  die  reichhaltige  Veröffentlichung  des 
Weimarer  Künstlervereins  dem  Publikum  wiederholt  bestens 
empfohlen. 

Woutcr  Knijff,  Holländischer  Kanal.  Das  von  der  Hand 
eines  jungen  Leipziger  Künstlers  radirte  Bild  von  Wouter 
Knijff,  d fi s  dem  gegenwärtigen  Hefte  der  Zeitschrift  beiliegt, 
stammt  von  einem  seltenen  holländischen  Meister,  über  dessen 
Lebensgang  nur  einige  dürftige  Notizen  vorhanden  sind. 


Der  Maler  ist  aus  Wezel  gebürtig  und  zwar  liegt  sein  Ge¬ 
burtsjahr  vor  1620.  Er  lebte  seit  1640  in  Hartem,  wo  dies 
auf  Leinwand  gemalte  Stück  im  Jahre  1644  entstanden  ist. 

Es  ist  mit  der  Jahreszahl  und  den  Anfangsbuchstaben  be¬ 
zeichnet;  ein  Faksimile  der  Bezeichnung  fipdet  sich  in  dem 
Katalog  des  Leipziger  Museums,  in  dessen  Galerie  das  Bild 
sich  befindet.  Die  Maße  des  Originals  sind  94  cm  und  1  m 
5  cm.  Knijff  starb  nach  1679  und  war  um  1653  Mitglied  der 
Malergilde  in  Middelburg.  Ein  anderes  Bild  von  ihm  findet 
sich  im  Museum  zu  Gent;  es  stellt  eine  Stadt  an  einem  Flusse 
dar  und  ist  mit  einem  verschlungenen  W.  K.  bezeichnet.  Das  . 
Leipziger  Bild  zeichnet  sich  durch  einen  feinen  grünlichen 
Ton  aus. 

*  Das  Leipziger  Bismarckdenkmal.  Unter  den  Ehrungen 
Bismarcks,  die  am  1.  April  dieses  Jahres  allenthalben  in 
Deutschland  offenbar  wurden,  ist  das  auf  dem  Leipziger 
Augustusplatze  binnen  drei  Wochen  errichtete  ca.  9  Meter 
hohe  Denkmal  wohl  die  monumentalste  und  kühnste.  Die 
Idee  zu  dieser  bildnerischen  Improvisation  entsprang  dem 
Kopfe  eines  Architekten ,  des  Baurats  Eelbo ,  der  sie  zuerst 
dem  Bismarck  -  Komitee  mitteilte,  und  als  dieses  von  der 
Lösung  der  schwierigen  Aufgabe  abstand,  einem  fröh¬ 
lichen  Künstler-  und  Schriftstellerkreise,  der  den  Namen 
Stalaktiten  führt,  zur  Ausführung  empfahl.  Unter  den 
Stalaktiten,  zu  denen  außer  Eelbo  auch  Max  Klinger,  Georg 
Bötticher,  Prof.  Schreiber  u.  a.  zählen,  fand  dieser  Gedanke 
auch  fruchtbaren  Boden  und  am  ersten  Abend  schon  waren 
800  Mark  gezeichnet,  um  die  treffliche  Manifestation  der 
Verehrung  für  den  großen  Kanzler  zu  sichern.  Der  Träger 
des  Unternehmens  und  die  eigentliche  Seele  desselben  war 
Baurat  Eelbo,  der  im  Verein  mit  zwei  Leipziger  Bildhauern, 
Adolf  Lehnert  und  Joseph  Magr,  an  die  Verwirklichung  der  Idee 
ging.  Er  entwarf  eine  Skizze,  die  mit  einigen  Änderungen 
von  den  beiden  beteiligten  Bildhauern  in  plastische  Formen 
umgesetzt  wurde,  zunächst  als  Hilfsmodell  in  kleinem  Maße. 
Magr  übernahm  die  Ausführung  des  Sockels  mit  der  heran¬ 
springenden  Figur,  Lehnert  die  des  Fürsten  mit  seinem  ge¬ 
treuen  Tiras.  Der  Sockel  wurde  gleich  an  Ort  und  Stelle 
unter  nicht  geringen  Schwierigkeiten  punktirt  und  ausgeführt. 
Die  Figur  Bismarcks  ist  im  Atelier  in  drei  Teilen  hergestellt, 
die  nach  einander  auf  den  Sockel  aufgesetzt  wurden.  Ein 
Eisengerüst  wurde  mit  Drahtgeflecht  und  Leinwand  über¬ 
zogen  und  auf  dieses  das  plastische  Material,  Gips,  auf¬ 
getragen.  Nach  Vollendung  wurde  das  Ganze  von  kundiger 
Hand  bronzirt  und  mit  dem  Glockenschlage  12  Uhr  Nachts 
bei  Beginn  des  ersten  April  feierlich  enthüllt  und  durch 
vier  Bogenlampen  und  Fackeln  beleuchtet.  Am  andern 
Morgen  sah  mancher  mit  Staunen,  welch  ein  kräftiger 
Huldigungsgruß  auf  dem  sonst  ziemlich  unergiebigen  Kunst¬ 
boden  Leipzigs  hervorgetrieben  worden  war.  Das  Werk  ist, 
von  einigen  Kleinigkeiten  abgesehen,  die  auf  Rechnung  der 
raschen  Ausführung  zu  setzen  sind,  eine  wohlgelungene 
Improvisation  und  nimmt  sich  in  dem  prächtigen  architek¬ 
tonischen  Rahmen,  den  die  Theater-Fassade  dazu  abgiebt, 
vortrefflich  aus.  Der  Gedanke,  das  Werk  in  dauernder  Form 
festzuhalten,  lag  nahe,  und  eine  vorläufige  Umfrage  ergab 
denn  auch  genug  klingende  Zustimmung,  sodass  die  Aus¬ 
führung  in  Bronze  wahrscheinlich  in  einiger  Zeit  zur  That- 
sache  werden  wird.  Man  könnte  der  Stadt  Leipzig  zu  diesem 
trefflich  koncipirten  Schmuck  nur  Glück  wünschen;  er 
würde  dem  vielgelobten  Augustusplatz  zur  besonderen  Zierde 
gereichen. 


Herausgeber:  Carl  von  Lützow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. . 


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schwor  zugänglichen  Queller»  in  der  Art  der  knlturgeschicht- 
’icl.en  Zeugnisse  in  Gustav  Fr eytag’s  „Bildern  au-  der  deut- 

•  hon  Vergangenheit“,  4.  biographische.  Miseellen,  Nekrologe, 
Anzeigen  Hei  wichtigeren  in  und  außer  Europa  erscheinen- 
d  •  Biogvaphieen,  Selbsfcbiographieen  und  Pc-nk  Würdigkeiten, 

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Sa  r.jnb’v  u»ri  frcnndlicho  M  •hilfe  aller  Berufenen  voraus, 
w  i-lela  l'ii:  Hinreise  auf  nicht  mm  er  leicht  erreichbare 
’! hgesbllii  r.  für  gefällige  Einsendung  vor.  biographischen 
Nachivibti.-Ti ,  Druckt:!!  u.  dergl.  au  die  Adresse  des  Heraus¬ 
gebers  1  >i .  Ant<m  Jkttdheim  in  Wien  XIX,  Hasenaacn-tr.  IM, 
..um  voraus  geziemenden  Dankes,  versichert  sein  möge n. 


D’O  llad-rung  Hilh-r  \trl’ir-'it"  v.i;  '  •>'•••  •  . 

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berichtet  haben.  1  u  f.  .,.«  :  ihn.:  t 

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haftlichen  Charakter.;  « :  E  ja  it<  i •-!  van  der  Sache 
begründet  ist.  lir-i  /  v.  j-.ihen  »r  alle»  .</  tx  Ar/u-rffer. 
k  M'rinhbt  ryer  und  kr;!  .  Jiraemlet  au  dem  voi  liegenden 
’i  u>  rnetuvi  -•  Innig -  i  von  jener  Schlicht.,  it  dm  Motive 
und  der  Behandlung  beigesteuert ,  welche  die  lyrischen 
Fähigk  •  dien  der  li.i.dirkunst  am  wirkungsvollsten  zur  Geltung 
bringt.  Blätter  figürlichen  Inhalts  enthält  die  Lieferung  — 

■  n  zwei  trefflichen  Tiers!  ückr-u  All>.  Brcndel’ s  abgesehen  — 
nr  wenige,  ui  l  unter  diesen  geben  wir  -lern  vorliegenden 
■  hei-  .<  -  i  ts7-«.e  uni  -dingt  dt  .  Pres. 

Der  muck  mhigei  Hingebung,  vollen,  sonnigen  Gottes- 
‘  .  -irn*  irl  liier  mit  so  anspruchsloser,  echter  Kmi»!  vor- 
•  eigen  l:u  i-des  Wort  der  Erläuterung  überflüssig  wäre, 
die  Kd.  .  ■:  in  dem  Heft  auch  durch  eine  ein* 

.  sn'.ini  .\oi!’  !■...■  Elisabeth“  von  edler  Stilistik  ver- 
*  •  t«  .  In  .  elle.i  i  d  Holzschnitt  nach  Ludwig  Richter  s 

.  i  m,.  ■  .  •••  ■  ’ivlerc  Wirkung  machen  würde. 

Li  g.i.n/.m.  d .in i : *  .  r  dchhaltige  Veröffentlichung  des 
Weimarer  Kiin:-i  lerver’  ,  •  ir  ''ublikmn  wiederholt  besten-, 

empfohlen. 

\Y.’»trr  Knijff. ,  Hol! .m  :r.»  ?  Kanal.  Das  von  der  Hand 
in»’-  jungen  L-unzigei  K»1  •  •'  •  •  vlnte  Bild  von  W  out  er 
i, -.  -  d * ' iti  gi’gi  nw.’fi.,'  .!  ! i*  diu  f/..’  ’-i'hnft  beiliogt, 

sKunoit  voit  einem  seiri'oen  1  »Hbf  i  .  h»»n  Meister,  über  dessen 
Leb.  nsgang  nur  einige  dürftig«  Nol.zen  vorhanden  sind. 


■ 

burtsj-t'i"  ;■  :X)  E-  lebte  seit  1640  in  Harlein,  wo  dies 
auf  L»  ißwand  gemalte  Stück  im  Jahre  1644  entstanden  ist. 
Es  ist  mit  d  .lahv-  .-  ah!  und  den  Anfangsbuchstaben  be¬ 
zeichnet;  ein  .  .  du  Bezeichnung  fisplet  sich  iu  dem 

Katalog  des  j.ci, Museums,  in  dessen  Galerie  das  Biid 
sich  befind  G.  Di  ■  i-r  -K-s  Originals  sind  94  cm  und  1  m 
5  cm.  Knijff  -K:<  <•  : 679  und  war  um  1653  Mitglied  der 

nden  Bild  von  ihm  findet 
sich  im  Museum  /m  i-  11t  eine  »Stadt  an  einem  Flusse 

K.  bezeichnet.  Das 

Leipziger  Bild  w.u  einen  feinen  grünlichen 

Tou  •  aus. 

..; Dar  Li  -  ji  ■  ut.er  den  Ehrungen 

Bismarcks,  die  am  1. -April  iieses  Jahres  allenthalben  in 
Deuts«  ':  .’i’bar  -  r.  -t  -das  auf  de  n  Leipziger 

binnen  ■  •  ■ 

hohe  L  ‘ r!>: .  «vnhi  die  r.r  -idste  und  kühnste.  Die 

Idee  zu  «>•'•  ":,:i  » •-  .i t. .  •:  entsprang  dem 

h  der  sie  zuerst 

it*i:;  !  i  •  1;  i  •  .  ..  dt-  als  dieses  von  der 

l.i'>u.::g  d  .I-,  m<  g:  !  abstand,  einem  fröh¬ 
lichen  Kü  'Ger-  ui’.’  Sei  . reis-  der  den  Naumn 

Stalaktiten  führt,  zur  ‘vusfübmng  empfahl.  Unter  den 
Stalaktiten,  zu  denen  außer  Eelbo  auch  Max  Klingel“,  Georg 
BörUchei,  Prof..S’-hreibcr  u.  a.  z.änlcn,  fand  dieser  Gedanke 
>  ;c.l  *  ucht.i  iren  Boden  und  am  ersten  Abend  schon  waren 
’  ’’  ■.  '«■ictü’et .  um  die  treffliche  Manifestation  der 

•  .  •»  F  .u  -  cl  -ru.  Der  Träger 

•i  .■  i  •••;  ii-  Si  elc  desselben  war 

■  -  pziger  Bildhauern, 

•  k-ichung  der  Idee 
•  .  .  ..  Änderungen 

-  .-che  Formen 
•  kleinem  Maße, 
mit  der  heran - 

i  .  ,i  ,  :  Fi  :  ten  mit  seinem  ge- 

tii’ucn  Ti  ras.  !>•■.  r.  '  vurir  gleich  an  Ort  und  Stelle 
uh  bt  Tragen  Schwierigkeiten  punldirt  und  aasgeführt, 
i  de  Figur  Bismarcks  ist  im  Atelier  in  drei  Teilen  hergestellt, 
di  m.  h  einan  'er  auf  den  Sock«:  aufgesetzt  wurden.  Ein 
Ei-i’-ngi  .”iist  v,  urdc  mit  DraktgcT-ehi  und  Leinwand  über¬ 
zogen  und.  auf  dieses  das  pia  t;  ’  Material,  Gips,  auf- 
■ 

Hund  br  -uzirt  und  :rd  -mr  •  .m-schlage  12  Uhr  Nachts 
bei  Beginn  des  na,  Apr-i  •'  •  ’  ■  -  L  enthüllt  und  durch 
vier  Bogenlaui ]'!'!•  und  .eieuchtet.  Am  andern 

,il i  sah  mancher  Ftaunen,  welch  ein  kräftiger 

1  ■■  >  c ngsgruf  au f  st.  ziemlich  unergiebigen  Kunst- 

!•  i .eipzigi-  bervorgi  •  1  -n  worden  war.  Das  Werk  ist, 
m  if-mipk  . il -ge  den,  die  auf  Rechnu  »g  der 
r  I,  .\u-iuhrung  ■."!  setzen  sind,  eine  wohlgcUingene 
i : u p -  -’.'i  t.on  i’  -  l  i.  -...it  sich  in  dem  prächtigen  architek- 
nis«-1  Uahiui  n.  ’K-ii  die  Theater-Fassade,  dazu  abgiebt, 
(-  Gedanke,  das  Werk  in  dauernder  Form 
IV .  ’  -  .»ii  la.»  .’.  und  eine  vorläufige  Umfrage  erga'-’ 

i;  :  •  ’:  .  . ) d •  ’  '/.!■•  -  i  nung,  sodass  die  Aus- 

v*  •  ••  ui  e.uigcr  Zeit  zur  1  l’a' 

.  ,  -  id*  ..  i  I.  V  i.i :  K-i.  -  der  Stadt  Leipzig  zu  diesem 

i  !-”.}»  ii-*)»  1  .  «  k  -ir  Glück  wünschen;  er 

s» . .  i'ieti;  '  .bte.  l  A’uui.'i  nsplatz  zur  besonderen  Zierde 

gereichen. 

i.’i  i7  Seemann  in  Leipzig. 


, .  ]  li *i.:  h<  -U’  ■  , 1 1:  '« \)t  tll  ch . 

L'.’-uk  von  \  rjui-'  i’r  ■  ir;  Leipzig 


I)  ORFLAND  S  CHAF  T. 

'erlag  vE.A.Seemann  in  Leipzig.  Original  im  Städtischen  Museum  zu  Leipzig.  Druck  V-F.AiBrockhaus  mleipzi 


1.  Der  Sphinx  bei  Jen  Pyramiden  von  Gizeh.  (Aus  dem  Werke  von  Ebers-Junghändel :  Ägypten.  Verlag  des  Cosmos  in  Berlin  ) 


SPHINX. 

VON  DR.  JOHANNES  ILBERO. 


LS  Sinnbild  alles  Rätselhaften  und  Ge¬ 
heimnisvollen  gilt  unserer  bildenden 
Kunst  die  wohlbekannte  Gestalt  der 
Sphinx.  Wer  der  Bedeutung  und  den 
zahlreichen  Wandlungen  dieses  un¬ 
heimlich-reizvollen  Typus  nachforscht, 
wird  erstaunt  sein,  wie  häufig  er  ihm  in  der  an¬ 
tiken  Welt  entgegentritt,  am  Tigris  wie  am  Nil, 
auf  den  Hochebenen  und  an  den  Felswänden  Klein¬ 
asiens  wie  in  der  gesamten  griechischen  Kultur¬ 
welt  bis  hinauf  nach  Südrussland,  in  den  Gräbern 
Etruriens  wie  in  den  Prachtpalästen  der  römischen 
Kaiser.  Wo  auch  die  Männer  vom  Spaten  ihre 
Triumphe  erkämpft  haben,  da  schufen  sie  die  Mög¬ 
lichkeit,  einen  tieferen  Einblick  in  die  Geschichte 
der  Sphinxgestalt  zu  thun  und  belehrten  uns  da¬ 
durch  über  Zusammenhänge  und  Kulturströmungen 
von  höchstem  Alter. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  9. 


Schier  unermesslich  wie  die  räumliche  Ver¬ 
breitung  der  Sphinxdarstellungen  ist  auch  ihre 
Mannigfaltigkeit.  Zahllose  Sphinxkolosse  bedeckt 
und  bedroht  der  Wüstensand  Ägyptens:  welcher 
Gegensatz  allein  äußerlicher  Art  zu  den  überaus 
feinen  Gemmen  und  Siegelcylindern  mit  dem  Bilde 
unseres  Fabelwesens,  wie  sie  die  Ebenen  Mesopota¬ 
miens  geliefert  haben  oder  die  vom  phönizischen 
Kunstgewerbe  eroberten  Küstenstrecken  des  Mittel¬ 
meeres!  An  Thronsesseln  und  Altären,  als  Schmuck 
für  Gewänder,  Rüstungen,  Gürtel  und  Diademe,  auf 
Grabmälern  und  Thongefäßen  aller  Art,  auf  Münzen 
der  verschiedensten  Gegenden,  an  Marmortischen 
und  Candelabern,  immer  und  immer  wieder  taucht 
das  phantastische  Wesen  auf.  ln  Stein  gemeißelt 
und  gravirt,  in  Bronze,  Silber  und  Gold  getrieben 
oder  geprägt,  aus  Thon  gebildet  oder  darauf  gemalt 
und  gepresst,  —  es  giebt  kein  Material  und  keine 

29 


218 


SPHINX. 


2.  Sphinx  von  Tanis,  im  Museum  zu  Gizeh. 


Technik,  die  für  Darstellungen  der  Sphinx  nicht 
angewendet  worden  wären.  Bald  lagert  sie  regungs¬ 
los  ausgestreckt,  bald  stützt  sie  sich  halbaufgerich- 


5.  Schreitender  Sphinx  auf  Feinden.  (Nach  Perrot  &  Chipiez.) 


tet  auf  diu  Vordertatzen,  bald  hebt  sie  drohend  eine 
Pranke,  bald  fallt  sie  raubtiermäßig  ihresgleichen 
an  oder  tritt  einen  Feind  unter  die  Füße;  gravitä¬ 


tisch  schreitet  sie  im  Zuge,  vereint  mit 
verwandten  Fabeltieren  und  erscheint 
endlich,  auf  dem  Felsen  sitzend,  gegen¬ 
über  ihrem  Meister  Ödipus.  Beachtet 
man  ferner  die  Unterschiede,  die  sich 
aus  dem  Mangel  oder  Vorhandensein 
der  Flügel,  sowie  aus  deren  Form  er¬ 
geben,  lässt  man  auch  die  Verschieden¬ 
heit  des  Geschlechts  nicht  unberück¬ 
sichtigt,  so  zeigen  sich  zahlreiche 
Unterarten  und  Fortbildungen  des 
Grundtypus,  die  zu  dem  Versuche 
reizen  könnten,  eine  Naturgeschichte 
der  Sphinx  zu  schreiben  und  auf  dieses 
mythologische  Untier  einmal  die  Dar¬ 
winsche  Descendenztheorie  anzuwenden. 

Halten  wir  also  Umschau  nach  der 
„Entstehung  der  Arten“.  Bei  dem 
Namen  Sphinx  treten  sogleich  zwei  Bilder  vor  un¬ 
sere  Seele:  .wir  sehen  das  buntgeflügelte,  scharf¬ 
krallige  Ungeheuer  auf  dem  böotischen  Sphinxberge, 
raubgierig  thebanische  Jünglinge  zerfleischend,  sieges¬ 
gewiss  dunkle  Rätselworte  murmelnd  —  oder  unsere 
Phantasie  schweift  ins  ferne  Nilthal  und  lässt  aus 
dem  steinernen  Munde  regungslos  gelagerter  Kolosse 
die  Worte  des  Dichters  vernehmen: 

„Wir  von  Ägypten  her  sind  längst  gewohnt, 

Dass  unsereins  in  tausend  Jahre  thront. 

Und  respektirt  nur  unsre  Lage, 

So  regeln  wir  die  Mond-  und  Sonnentage. 

Sitzen  vor  den  Pyramiden, 

Zu  der  Völker  Hochgericht; 

Überschwemmung,  Krieg  und  Frieden  — 

Und  verziehen  kein  Gesicht.“ 

Wie  nahe  berühren  sich  in  uns  diese  beiden 
Reminiscenzen  vom  Nil  und  von  Griechenland,  und 
doch  liegen  zwischen  ihnen  viele  Jahrhunderte  weit- 
geschichtlicher  Umwälzungen!  Durch  weite  Länder¬ 
und  Meeresstrecken  musste  das  Fabeltier  wandern, 
durch  Völker  verschiedenster  Abstammung,  Kultur¬ 
stufe  und  Religion,  bis  es  vom  Sande  der  libyschen 
Wüste  an  den  Kopaissee  gelangte,  bis  es  fernerhin 
auf  dem  Helme  der  Athena  Parthenos,  am  Throne 
des  olympischen  Zeus,  auf  dem  Siegelring  des  Kai¬ 
sers  Augustus  Posto  fassen  konnte! 

Begleiten  wir  es  auf  dieser  Weltreise  und  halten 
wir  dabei  Umschau,  welche  Wandlungen  es  auf  ihr 
in  der  bildenden  Kunst  erfahren  hat. 

Jm  Anfang  war  die  That!  — tönt  uns  aus  dem 
Munde  der  Sphinx  entgegen.  Und  welche  Riesen- 
that!  Keine  schriftliche  Kunde  belehrt  uns  darüber, 
wann  das  großartigste  Monument  entstanden  ist,  zu 


SPHINX. 


219 


3.  Widdersphinx. 


dem  jemals  in  der  Kunstentwicklung  der  Spliinx- 
typus  die  Inspiration  gab.  Es  ist  die  mächtigste 
Skulptur  der  Welt,  der  riesige  Sphinx  von  Gizeli. 
Ich  sage  „der  Sphinx“,  denn  Sphinxe  weiblichen 
Geschlechts,  wie  sie  der  modernen  Anschauung  ge¬ 
läufig  sind,  gehören  auf  ägyptischem  Boden  zu  den 
Ausnahmen. 

Aus  dem  Dunkel  der  grauesten  Vergangenheit 
reicht  die  Geschichte  des  in  der  Wüste  aufragenden 
Wunderwerkes  bis  auf  unsere  Tage  herab.  Die  über 
seiner  Entstehung  lagernde  Dunkelheit  ist  noch 
immer  nicht  völlig  gelichtet.  Es  ist  aus  dem  leben¬ 
digen  Felsen  herausgehauen;  an  einigen  Stellen  nur, 
wie  in  der  Mitte  des  Körpers  und  bei  den  Tatzen, 
wo  das  gewachsene  Gestein  nicht  ausreichte,  hat 
man  mit  gemauerten  Quadersteinen  nachgeholfen. 
Der  Löwenleib  wurde  nur  in  annähernder  Form, 
mit  größter  Sorgfalt  und  Genauigkeit  dagegen  das 
Haupt  ausgeführt.  Der  ganze  Koloss  war  ursprüng¬ 
lich  mit  sorgsam  geglättetem  Kalkstein  bedeckt; 
das  vielbewunderte  Antlitz  rötlich  gefärbt,  die  Augen 
schwarz.  Am  Kinn  saß  ein  streng  geometrisch  ge¬ 
formter  Bart,  der  vor  einiger  Zeit  aus  dem  Sande 
gegraben  wurde  und  jetzt  im  Britischen  Museum 
bewundert  werden  kann.  Der  obere  Teil  des  Kopf¬ 
schmuckes  mit  der  Uräusschlange  ist  ebenfalls  ab¬ 
gebrochen,  die  Nase  gänzlich  zerstört  (Abb.  1). 

Man  erblickte  einstmals  im  großen  Sphinx  am 
Fuße  der  Pyramiden  eine  Verkörperung  des  Sonnen¬ 
gottes  Harmachis  und  weihte  ihm  Tempel  und  Kul¬ 
tus.  Nachgeschaffen  wurde  diesem  bedeutsamen 
Riesenmodell  eine  ungeheure  Anzahl  von  Sphinxen, 
die  in  Verbindung  mit  allerlei  heiligen  Monumental¬ 
bauten  aufgerichtet  waren.  Sie  bildeten  Zugangs¬ 
straßen  und  Prozessionswege  vor  den  Tempeln  oder 
Totenwohnungen,  die  den  Eindruck  höchst  impo¬ 
santer,  ernster  Alleen  gemacht  haben  müssen.  Sphinx 
an  Sphinx  zu  beiden  Seiten  in  unabsehbarer  Reihe! 
Die  ausgedehntesten  Anlagen  dieser  Art  entstanden 
in  der  Glanzzeit  des  Pharaonenlandes,  als  der  weite 


Komplex  der  Reichsheiligtümer  von  Theben  aus¬ 
gebaut  wurde.1) 

Hervorragende  Sphinxstatuen  aus  älterer  Zeit 
hat  Mariette  zu  Tanis  (San  el  Hager)  im  östlichen 
Delta  ausgegraben  (Abb.  2).  Diese  eigenartigen  Monu¬ 
mente  sind  aus  schwarzem  Granit  gemeißelt  und  zeigen 
einen  fremdartigen  Typus,  der  von  dem  sonst  auf 
ägyptischen  Denkmälern  auftretenden  durchaus  ver¬ 
schieden  ist.  Die  Augen  sind  klein,  die  Nase  stark 
und  fiacli,  der  Mund  breit,  das  Kinn  vorspringend; 
das  hartknochige,  breite  Gesicht,  von  dichter  Mähne 
umrahmt,  hat  einen  rohen,  geistlosen,  man  möchte 
sagen  landsknechtmäßigen  Ausdruck.  Vier  von 
ihnen  sind  an  dem  Fundorte  belassen  worden;  die 
Gesichtszüge  der  jetzigen  Bewohner  der  Gegend 
sollen,  wie  z.  B.  Ebers  findet,  eine  frappante  Ähn¬ 
lichkeit  mit  ihnen  zeigen.  Die  schönsten  Exemplare 
Hat  man  ins  Museum  nach  Gizeli  gebracht,  eins 
steht  im  Louvre.  Wem  die  merkwürdigen  Züge 
dieser  düsteren  Ungeheuer  angehört  haben  mögen, 
ist  oft  diskutirt  worden.  Früher  glaubte  man  darin 
Herrseberporträts  aus  der  Hyksoszeit  zu  besitzen, 
doch  ist  jetzt  wohl  kein  Zweifel,  dass  die  sogenann¬ 
ten  Hyksos-Sphinxe  schon  der  12.  Dynastie  ange¬ 
hören  und  Ameuemha  III.  sowie  etliche  seiner  Nach¬ 
folger  darstellen.2) 

Die,  wie  geschildert,  in  der  Mehrzahl  auftreten¬ 
den  Monumente  zeigen  in  einigen  Fällen  Widderköpfe 
(Abb.  3)  und  erweisen  sich  dadurch  als  heilige  Tiere 
des  Amon,  des  Schutzgottes  des  thebanischen  Gaues, 
der  in  Widdergestalt  im  Tempel  lebte.  Eine  Abart 
des  Typus  schuf  man  auch  durch  Vereinigung  von 
Löwenleib  und  Sperberkopf,  wobei  die  Darstellung 

1)  Das  Süd-  und  Nordviertel  von  Theben  (heute  Kar¬ 
nak  und  Luqsor)  waren  durch  eine  breite  Sphinxstraße  von 
2  km  Länge  verbunden,  zu  deren  Einfassung  gegen  1000 
Sphinxe  erforderlich  gewesen  sind;  und  weit  länger  noch 
war  die  zum  Nil  hinabführende  Avenue,  die  sich  jenseits 
des  Stromes  bis  zu  den  Königsgräbern  am  westlichen  Ge- 
birgsrande  fortsetzte. 

2)  S.  zuletzt  Steindorff  in  der  Festschrift  zum  Deutsch. 
Historikertag  in  Leipzig  1894,  S.  Ü. 


4.  Königssphinx. 

29* 


220 


SPHINX. 


des  Re  Harmachis 
mit  dem  Sperber¬ 
kopf  maßgebend 
gewesen  ist.  In 
den  meisten  Fällen 
jedoch  ist  der  Lö¬ 
wenleib  mit  dem 
Haupte  dessen  ver¬ 
einigt,  der  das 
Denkmal  bat  er¬ 
richten  lassen.  Ge¬ 
wöhnlich  war  das 
ein  König,  und  so 
trat  dem  Ägypter 
beim  Gange  zum 
Tempel  das  Ange¬ 
sicht  seines  Pharao 
in  hundertfältiger 
Wiederholung  entgegen.  Von  der  12.  Dynastie  an 
bis  hinab  zu  den  Ptolemäern  existirt  eine  große 
Zahl  dieser  Kölligssphinxe  mit  mehr  oder  minder 
ausgesprochenen  Porträtzügen  ( Abb.  4).  Es  sind  Mono¬ 
lithen,  meist  aus  Granit,  doch  finden  sich  auch 
Bronzen,  Basreliefs,  Fresken  u.  s.  w.  Das  Königs¬ 
haupt  ist  gewöhnlich  mit  grosser  Sorgsamkeit  aus- 
geführt,  der  Löwenleib  pflegt  in  konventioneller 
Weise  wiedergegeben  zu  werden  (wie  auch  beim 
großen  Sphinx),  bei  weitem  nicht  mit  der  Natur- 
wahrheit,die  von  der  ägyptischen  Kunstsonst  in  Löwen¬ 
darstellungen  erreicht  worden  ist.  War  das  Monu¬ 
ment  von  einer  Königin  gestiftet,  so  erhielt  es  ganz 
folgerichtig  weibliches  Geschlecht,  sonst  (in  der 
echtägyptischen  Kunst  wenigstens)  niemals.  Aus 
diesen  Beobachtungen  darf  man  den  berechtigten 
Schluss  ziehen,  dass  auch  der  große  Sphinx,  unbe¬ 
schadet  seiner  göttlichen  Bedeutung,  die  Gesichts- 
ziige  eines  Herrschers  aufweist  und  dass  wir  in  ihm 
eine  der  ältesten  Porträtbüsten  des  Erdballs  besitzen. 

Der  Sphinx  trägt  in  der  Regel  das  Klaft  (Ka- 
lant  ika)  genannte  königliche  Kopftuch,  das  auf  den 
Schultern  in  zwei  gefältelten  Streifen  aufliegt  und 
hinten  zu  einem  runden  Stutz  zusamniengedreht 
ist,  der  wie  ein  kurzer  Zopf  auf  dem  Nacken  hängt. 
(  her  der  Stirn  richtet  sich  die  Uräusschlange  auf, 
das  Symbol  der  königlichen  Würde.  Zuweilen  er¬ 
scheint  er  mit  der  Doppelkrone,  dem  Pschent,  ge¬ 
schmückt,  auch  hat  man  Darstellungen,  auf  denen 
über  dem  Kopftuch  sich  die  Sonnenscheibe  oder  das 
aus  Hörnern,  Sonnenscheibe,  Schlangen  und  Federn 
wunderlich  zusammengesetzte  Götterdiadem  erhebt. 
Oft  ist  das  Antlitz  mit  dem  zur  Königstracht  ge¬ 


hörenden  langen  Kinnbarte  versehen,  oder  ein  brei¬ 
ter  Halskragen  senkt  sich  zur  Brust  hinab.  Den 
Rücken  des  Tieres  bedeckt  manchmal  eine  mehr 
oder  weniger  reich  verzierte  Schabracke.  Auf  der 
Brust  ist  meistens  der  Thronname  eingemeißelt,  wo¬ 
bei  allerdings  zu  beachten  ist,  dass  die  Herrscher 
gar  nicht  selten  Sphinxe  von  Vorgängern  durch  An¬ 
bringung  ihres  eigenen  Namens  für  sich  usurpirten. 
Auch  wurde  zwischen  den  Vorderbeinen  mitunter 
die  aufrecht  stehende  Statuette  des  Pharao  in  Relief 
dargestellt. 

Die  majestätische  Ruhe  der  gelagerten  Kolosse 
führte  dahin,  dass  man  den  in  Sphinxgestalt  mit 
Königsantlitz  gebildeten  Sonnengott  häufig  als  Wäch¬ 
ter  auffasste.  Wie  die  geflügelte  Sonnenscheibe  über 
den  Tempelpforten  den  Bösen  abschrecken  sollte,  so 
hüteten  auch  die  Sonnensphinxe  das  Heiligtum.  Ihre 
Aufstellung  in  Gräbern  geht  auf  ähnliche  Anschauung 
zurück.  Die  Kraft,  Unheil  zu  beschwören  und 
Gegenzauber  auszuüben,  ist  seitdem  unserem  Wunder¬ 
tiere  niemals  wieder  verloren  gegangen.  Infolge 
seiner  vielfachen  Verwendung  für  die  Tempelwege, 
Eingänge  und  Höfe  neigte  es  sogar  dazu,  rein  sym¬ 
bolisch  zu  werden  und  zum  bloßen  Ornament  herab¬ 
zusinken.  Das  Persönliche  in  seinen  Gesichtszügen 
verschwindet  dabei  allmählich ,  auch  die  streng  ge¬ 
bundene  Stellung  wird  oft  aufgegeben.  Der  Sphinx 
erhebt  sich,  schreitet,  er  wird  mit  Menschenhänden, 
endlich  mit  Flügeln  ausgestattet. 

Den  König  als  Bewältiger  der  Feinde  darzu¬ 
stellen  ,  war  ein  sehr  beliebter  und  mannigfach 
variirter  Gegenstand  der  ägyptischen  Kunst.  So  er¬ 
scheint  denn  auch  der  Pharaosphinx  erbarmungslos 
die  Gegner  mit  den  Klauen  niedertretend  (Abb.  5),  be¬ 
sonders  als  dekoratives  Beiwerk  auf  Wandgemälden. 
Der  Typus  mit  Menschenhänden  wurde  gern  ver¬ 
wendet,  wenn  der  Sphinx  irgend  einen  Gegenstand, 
wie  einen  Altar,  tragen  sollte.  Doch  haben  die 
Hände  auch  spitzige,  einwärts  gekrümmte  Nägel 
reißender  Tiere,  wie  die  vier  schon  von  Winckelmann 


8.  Assyrischer  König  mit  Sphinx  kämpfend.  (Nach  Perrot  &  Chipiez.) 


7.  Assyrische  Sphinx,  eine  Säulenbasis 
tragend.  (Nach  Perrot  &  Chipiez.) 


SPHINX. 


221 


9.  Mykenische  Sphinxe,  gelagert.  Elfenbeinkamm  aus  Spata.  (Nach  Perrot  &  Chipiez.) 


beschriebenen  Exemplare  an  der  Spitze  eines  rö¬ 
mischen  Obelisken. ')  Auch  weibliche  Sphinxe,  meis¬ 
tens  Darstellungen  von  Königinnen,  wie  wir  sahen, 
bildete  man  oft  mit  menschlichen  Armen  (Abb.  6). 

Flügelsphinxe  sind  in  Ägypten  keine  einhei¬ 
mische  Neubildung;  sie  verdanken  ihren  Ursprung 
der  Phantasie  asiatischer  Völker.  Begeben  wir  uns 
im  Geiste  aus  dem  Nilthale  nach  den  weiten  Ebenen 
Mesopotamiens  mit  seinen  uralten  Königspalästen 
und  Weltstädten!  Im  Traume  des  Propheten  Daniel 
gilt  der  Löwe  mit  Adlerflügeln  als  Sinnbild  des  chal- 
däischen  Reiches;  eine  sehr  begreifliche  Allegorie; 
denn  die  babylonische  und  assyrische  Kunst  ist  es, 
in  der  wir  die  dämonischen  Flügelwesen  so  recht 
heimisch  finden.  Es  sind  adlerköpfige  Gottheiten  mit 
zwei  oder  vier  Flügeln,  die  vor  dem  heiligen  Palm¬ 
baum  stehen;  es  sind  geflügelte  Löwen  und  Stiere 
mit  Menschenhäuptern,  als  thorhütende  Genien  ge¬ 
dacht.  Als  der  ägyptische  Sphinx,  nach  dem  Norden 
vordringend,  in  Syrien  eingewandert  und  in  den 
Bereich  mesopotamischer  Kunstübung  getreten  war, 
versah  man  auch  ihn  nach  dem  V orbilde  jener  Phantasie¬ 
schöpfungen  mit  Flügeln,  um  ihn  dadurch  als  höheres 
Wesen  zu  kennzeichnen;  dort  auch  ist  es  gewesen, 
wo  man  ihm  aus  unaufgeklärtem  Grunde  den  weib¬ 
lichen  Typus  verlieh,  der  seitdem  der  Gestalt  bis 
auf  den  heutigen  Tag  eigentümlich  geblieben  ist. 
Syrien  also,  wo  sich  so  oft  die  Kulturströmungen  ge¬ 
kreuzt  haben,  war  auch  in 
diesem  Falle  das  maßgebende 
Centrum.  Von  hier  aus  ver¬ 
breitet  sich  nach  vollzogener 
Metamorphose  der  weibliche, 
geflügelte  Sphinxtypus  nach 
allen  Himmelsrichtungen.  Er 
kehrt  zurück  in  sein  Heimats¬ 
land,  besonders  in  das  von 

1)  Gesch.  der  Kunst  d.  Altert. 

8.  41,  44  (Ausg.  von  Jul.  Lessing). 


zahlreichen  semitischen  Elementen  bevölkerte  Nil¬ 
delta  und  zeigt  dort  nunmehr  in  Attributen  und 
Gesichtsschnitt  deutlich  den  östlichen  Einfluss.  Er 
begeguet  uns,  freilich  erst  nach  Jahrhunderten, 
neben  den  einheimischen  Flügelgestalten  Mesopota¬ 
miens  zu  Nimrud  im  Palaste  Assarhaddons  mit  hörner¬ 
umgebener  Tiara  in  tektonischer  Verwendung  (Abb.  7). 
Auch  der  aufrecht  stehende  Typus  mit  erhobener 
Vorderpfote  kommt  daselbst  in  Kampfscenen  vor, 
so  als  Gewanddekoration  des  Assurbanipal  und  sonst 
(Abb.  8).  Das  Fabeltier  scheint  hier  besiegt  zu  werden, 
wie  zahlreiche  dämonische  Gestalten  jener  Kunst¬ 
welt,  eine  Auffassung,  die  den  Sphinxdarstellungen 
anderer  Völker  des  Ostens  fernliegt. 

Schicksalsvoll  vor  allem  jedoch  war  der  Zug  nach 
dem  Westen.  Er  erfolgte  zu  Lande  und  zur  See.  Auf 
dem  über  die  „Völkerbrücke“  Kleinasien  führenden 
Landwege  eine  vermittelnde  Rolle  gespielt  zu  haben,  ist 
das  Verdienst  des  zwischen  Euphrat  und  Taurusgebirge 
ansässigen,  noch  vielfach  rätselhaften  Volkes  der 
Hethiter,  dessen  Kunstentwickelung  erst  in  neuester 
Zeit  aus  dem  tiefsten  Dunkel  hervorzutreten  beginnt. 
Das  nordsyrische  Hethiterreich  blühte  innerhalb  we¬ 
niger  Jahrhunderte  rasch  empor  und  verschwand 
ebenso  rasch  wieder  aus  der  Weltgeschichte;  aber 
dennoch  war  die  Verbindung  von  babylonischer  und 
ägyptischer  Kunstweise,  die  sich  in  ihm  vollzogen 
hatte,  für  einen  großen  Teil  des  Orients  von  blei¬ 
bender  Bedeutung.  Im  Hethi¬ 
terlande  ist  der  Greifentypus 
geschaffen  worden,  der  später 
auf  verschiedenen  Wegen  nach 
Griechenland  gelangte;1)  zu¬ 
erst  auf  hethitischen  Denk¬ 
mälern  erscheinen  Greif  und 
Sphinx  verbunden  als  Wäch¬ 
terpaar,  eine  Gegenüberstel- 


1)  S.  Furtwängler  in  Roschers 
Mythol.  Lexikon  unter  „Gryps“. 


10.  Agyptisirende  Sphinxe  auf  einer  Silberschale 
von  Cypern.  (Nach  Perrot  &  Chipiez.) 


222 


SPHINX. 


der 


griechischen 


Kunst  so  unffemein 


lung,  die  i 

häufig  ist.  Künftigen  Entdeckungen  bleibt  es  Vor¬ 
behalten,  über  die  hethitische  Kunst  als  Mittelglied 
zwischen  Osten  und  Westen  mehr  Licht  zu  ver¬ 
breiten.  Wenn  erst  der  Boden  Nordsyriens  und 
Kleinasiens  so  gründlich  durchforscht  ist,  wie  der 
von  Troja  und  My- 
kenä,  dann  wird 
man  wohl  auch  die 
beiden  mächtigen, 
flügellosen,  mit 
eigentümlichem 
Haarschmuck  ver¬ 
sehenen  Sphinxe 
richtig  beurteilen 
können,  die  am 
Burgthore  des  al¬ 
ten  Königsitzes 
Pteria  (Üjük)  in 
Kappadozien  ste¬ 
hen.  Aufgerichtet 
hüten  sie  den 
Mauerring, als  ver¬ 
lorene  Posten  eines 
versunkenen ,  na¬ 
menlosen  Herr¬ 
schergeschlechtes, 
von  dem  vorläufig 
nicht  einmal  zu 
ergründen  ist,  ob 
es  damals  blühte, 
als  Ramses  gegen 
die  Hethiter,  die 
„Clieta“,  zu  Felde 
zog,  oder  ob  es 
viel  später,  nach 
dem  Zusammen¬ 
bruche  der  Hethi¬ 
termacht,  seine  im- 
ponirenden  Bau- 
tenaufgeführt  hat. 

Ilethitischer 
Einfluss  berührte 
weiterhin  die  My- 
kenische  Welt.  Dort  hatten  bereits  phönizische 
Händler  auf  dem  Seewege,  über  Cypern,  Kreta,  Rho¬ 
dos  nach  Westen  steuernd,  dem  Kunstgewerbe  Sy¬ 
riens  und  Ägyptens  Eingang  verschafft.  Mit  ihnen 
landete  die  Sphinx  zum  ersten  Male  an  der  grie¬ 
chischen  Küste.  Schliemanns  Funde  beweisen,  dass 
die  goldreichen  und  prachtliebendeu  Geschlechter, 


gel  fehlen. 


11.  Teller  von  Klioilus.  (Nach  Salzraaun,  N6cropole  cle  Camiros.) 


12.  Detail  der  Francois- Vase.  (Nach  Ohnefalsch -Richter,  Kypros.) 


die  das  Löwenthor  von  Mykenä  durchschritten,  die 
Sphinxgestalt  sehr  gern  als  Ornament  für  allerlei 
Schmucksachen  und  Gebrauchsgegenstände  verwendet 
haben.  Sie  ist  geflügelt,  das  Antlitz  zeigt  ausgeprägt 
volle,  weibliche  Züge,  obwohl  die  Brüste  in  der  Re- 
An  den  Flügelansätzen  finden  sich  oft, 
ähnlich  wie  beim 
syrisch -ägyp¬ 
tischen  undmyke- 
nischen  Typus  des 
Greifen ,  charak¬ 
teristische,  locken¬ 
artige  Ornamente, 
die  sich  bis  zur 
Brust  fortsetzen. 
Regelmäßig  trägt 
die  Sphinx  des  my- 
kenischen  Kunst¬ 
gebietes  ein  nied¬ 
riges  Mützchen 
mit  langflattern¬ 
der,  zopfartiger 
Quaste,  die  mit¬ 
unter  aus  einem 
Pflanzenornamen¬ 
te  herauswächst, 
und  in  der  wir 
ohne  Zweifel  eine 
W  eiterbildung  des 
oben  erwähnten 
ägyptischen  Kopf¬ 
schmuckes  zu  er¬ 
kennen  haben.  Die 
Sphinxe  jener 
Epoche  schreiten 
hochbeinig  auf 
eine  in  der  Mitte 
befindliche  Säule 
zu,  mit  weit  aus¬ 
gebreiteten  Flü¬ 
geln  lagern  sie  ein¬ 
ander  gegenüber 
(Abb.  9)  auf  den 
Vorderfüßen  ste¬ 


hend  sind  sie  in  syrischer  Weise  zu  den  Seiten  eines 
Palmbaums  gruppirt  und  zeigen  einen  stachlichen 
Unterleib  u.  s.  w.  Spätere  Thongefäße  einiger  grie¬ 
chischer  Inseln  lassen  erkennen,  dass  sich  daselbst 
ein  gewisser  Zusammenhang  mit  der  mykenischen 
Darstellungsweise  ziemlich  lange  erhalten  hat. 

Im  allgemeinen  ist  allerdings  in  Griechenland 


SPHINX. 


223 


dieser  Zusammenhang  unterbrochen  worden.  Man 
hat  die  mykenische  Kunst  mit  einem  bunten  Bühnen¬ 
vorhang  verglichen,  nach  dessen  Aufgehen  die  echt¬ 
griechische  mit  ihren  scharfen  und  bestimmten  For- 
men  sich  zu  entwickeln  beginnt.  ’)  Obschon  sich 
aber  nach  den  großen  Wanderungen,  die  das  „grie¬ 
chische  Mittelalter“  einleiteten,  die  Kunstübung  auf 
ganz  veränderter  Grundlage  heranbildete,  der  zu¬ 
kunftsreichsten  Keime  voll,  so  hat  sie  dennoch  dem 
erneuten  Eindringen  orientalischer  Einflüsse,  wenig¬ 
stens  in  ihrer  archaischen  Vorbereitungszeit,  einen 
Widerstand  nicht  entgegengesetzt.  Des  Ostens  Über¬ 
legenheit  war  damals  auf  künstlerischem  Gebiete 
weltbezwingend.  Vom  persischen  Golf  bis  zum  tyr¬ 
rhenischen  Meere  vermögen  wir  seit  dem  Anfänge 
des  ersten  Jahrtausends  v.  Chr.  denselben  ornamen¬ 
talen  Stil  zu  verfolgen  Er  ist  gekennzeichnet 
durch  regelmässige  Gruppirung  von  Tieren  und  phan¬ 
tastischen  Flügelwesen,  die  einander  gegenüberstehen 
(oft  zu  beiden  Seiten  eines  Baumes  oder  einer 
Blume)  und  häufig  streifenförmig  als  Fries  angeordnet 
sind.  In  allen  Zweigen  des  Kunstgewerbes  wurde 
diese  Dekorationsweise  zur  Anwendung  gebracht;  die 
Griechen  mögen  sie  besonders  an  orientalischen 
Metallarbeiten  kennen  gelernt  haben,  auch  an  ge¬ 
wirkten  und  gestickten  Stoffen  und  Teppichen,  einem 
Artikel,  in  dem  ja  der  Orient  heute  noch  groß  da¬ 
steht.  Mit  diesem  Stile  wanderte  unsere  Sphinx 
zum  zweiten  Male  in  Hellas  ein,  um  von  nun  ab 
das  ganze  Altertum  hindurch  hier  heimisch  zu 
bleiben. 

Wie  der  ewig  jugendliche  Genius  Griechen¬ 
lands,  bestimmt  die  Welt  zu  entzücken  und  zu  beherr¬ 
schen,  fremde  Elemente  aufnimmt,  um  sie  in  über¬ 
raschender  Weise  neu  aufleben  zu  lassen,  das  lehrt 
auch  ein  Blick  auf  seine  Beziehungen  zum  Sphinx¬ 
ungeheuer. 

Es  entspricht  durchaus  den  Bevölkerungsver¬ 
hältnissen  der  merkwürdigen  Insel  Cypern,  wenn  sich  in 
ihren  Kunstdenkmälern  neben  ägyptischen  und  assyri¬ 
schen  Einwirkungen  schon  frühe  ein  Hauch  helleni¬ 
schen  Geistes  verspüren  lässt.  Die  kostbaren  Silber¬ 
schalen  der  blühenden  Metallindustrie  von  Cypern,  die 
bis  nach  Italien  ausgeführt  wurden,  zeigen  uns  denn 
auch  Sphinxtypen  von  verschiedener  Herkunft  und 
Combination  in  bunter  Mischung  nebeneinander 
(Abb.  10).  Aber  die  orientalische  Art  tritt  allmählich 
in  den  Hintergrund;  eine  fortschreitende  Hellenisirun0, 

1)  H.  Dümmler,  Verhandl.  der  Wiener  Philologenver- 
sarnml.  von  1893,  S.  123. 


13.  Terrakottarelief  von  Tenos.  (Nach  Stackeiberg.) 


224 


SPHINX. 


des  Typus  lässt  sich  erkennen.  Auf  der  berühmten, 
jetzt  im  Metropolitan-Museum  zu  New  York  befind¬ 
lichen  Silberschale  von  Kurion  sind  u.  a.  zwei  Flügel¬ 
sphinxe  dargestellt,  die  zu  beiden  Seiten  des  durch 
ein  Pflanzenornament  angedeuteten  heiligen  Baumes 
aufgerichtet  mit  erhobenen  Köpfen  den  Blütenduft  ein¬ 
saugen  (Abb.  18).  Neben  diesem  auf  Assyrien  zurück¬ 
weisenden  Baumkultus  findet  sich  unvermittelt  in  dem 
inneren  Streifen  der  Schale  ein  ungeflügeltes  ägypti- 
sirendes  Sphinxbild  mit  Namensschildern.  Im  gan¬ 
zen  zeigt  jedoch  das  hervorragende  Kunstwerk  deut¬ 
lich  die  überhandnehmende  Wirkung  griechischen 
Schönheitsgefühles  auf  orientalische  Typen.  Es  ließe 
sich  der  gleiche  Vor¬ 
gang  vielfach  nachwei- 
sen,  z.  B.  an  cyprischen 
Grabreliefs,  worauf  die 
Sphiuxe  wappeuartig  an¬ 
geordnet  und  mit  mäch¬ 
tigen  Flügeln  ausgestat¬ 
tet  den  heiligen  Baum 
umgeben,  ein  Kultus¬ 
objekt,  das  später,  als 
seine  Bedeutung  längst 
verloren  gegangen  war, 
einfach  als  Palmette  er¬ 
scheint.  Am  deutlichsten 
wird  die  Umbildung  des 
Typus  bei  einer  Durch¬ 
musterung  der  griechi¬ 
schen  Thongefäße  fast 
aller  Gattungen.  Man 
wird  dies  bestätigt  fin¬ 
den,  wenn  man  die  alter¬ 
tümlichen  Darstellun¬ 
gen  von  Rhodus  (Abb. 

11),  die  mitunter  sogar 
noch  in  ägyptischer 

Weise  bärtigen  Sphinxe  von  Korinth  oder  die  älteren 
schwarzfigurigen  Vasen  aus  Attika  mit  den  genial 
hingeworfenen,  zu  klassischer  Schönheit  erhobenen 
Exemplaren  der  Blütezeit  Athens  vergleicht.  Als 
Beispiel  des  Übergangs  soll  nur  die  von  Francois 
gefundene  attische  Vase  aus  der  älteren  Zeit  genannt 
werden,  auf  der  ein  Nachklingen  der  ursprünglich 
allein  herrschenden  orientalischen  Dekorationsweise 
zu  erkennen  ist.  Unter  ihren  figurenreichen  Dar¬ 
stellungen  aus  der  Sagengeschichte  zieht  sich  ein  Strei¬ 
fen  kämpfender  Tiere  hin,  an  der  Vorder-  und  Rückseite 
durch  ein  Pflanzenornament  unterbrochen,  um  welches 
vorn  zwei  Sphinxe,  hinten  zwei  Greife  gruppirt  sind, 


16.  Sphinx  von  einem  lykischen  Sarkophag. 

(Nach  Ilamdy  Bey  u.  Th.  Reinach,  Nfecropole  royale  ä  Sidon 


sodass  das  Figurenband  „wie  durch  die  Schlösser 
eines  Gürtels  zusammengehalten  wird“  (Abb.  12).1) 

Bevor  noch  in  den  Zeiten  des  Phidias  und  Pra¬ 
xiteles  das  Sphinxideal  der  Griechen  geschaffen 
wurde,  hatte  der  Typus  eine  erweiterte  Bedeutung 
gewonnen  durch  seine  Verknüpfung  mit  der  helle¬ 
nischen  Sagenwelt.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf 
diesen  Vorgang  näher  einzugehen,  aber  notwendig  ist  es, 
ihn  zu  erwähnen.  Einen  Mythus  bringt  die  Sphinx 

bei  ihrer  Einwanderung  nach  Griechenland  nicht 

mit  sich.  Sie  ist  als  willkommene  dekorative  Aus¬ 
schmückung  in  ähnlicher  Weise  wie  Gorgone  und 
Greif  ohne  weiteres  aus  dem  Orient  übernommen 

worden.  Wenn  nun 
einem  geistig  regsamen 
Volke  Gestalten  aus 
einem  fremden  Kunst¬ 
kreise  nahegebracht  wer¬ 
den,  sucht  es  sich  mit 
ihnen  auf  seine  Weise 
abzufinden  und  sieht 
darin  wohlbekannte  Er¬ 
scheinungen  verkörpert. 
So  kam  es,  dass  sich 
auch  in  der  griechischen 
Sphinx  fremdartige  Ele¬ 
mente  vermischten:  der 
Osten  schuf  die  Gestalt, 
die  Sage  Hellas.  Es  ist 
ein  vielverbreiteter  Mär¬ 
chenstoff  von  einer  spuk¬ 
haften  Unlioldin,  ihrer 
Rätselwette  und  Besie¬ 
gung.  Die  Furchtbare 
haust  auf  einem  steilen, 
kahlen  Felsen.  Wie  alle 
Landplagen  gilt  sie  als 
W erkzeug  einer  höheren 
Macht;  unsägliches  Unheil  bringt  sie  dem  ganzen 
Volke.  Im  Fluge  naht  sie  sich  den  jugendlichen 
Opfern,  packt  sie  mit  den  Klauen  und  entführt 
sie  durch  die  Luft,  um  sie  zu  erwürgen,  wie  ihr 
griechischer  Name  besagt.  Erst  nach  Homers  Zeiten 
ist  die  Sphinx  mit  der  Sage  von  Ödipus  ver¬ 
knüpft  worden;  der  Held  verdankt  seinen  Ruf  als 
Rätselkundiger  einer  volkstümlichen  Ausdeutung  sei¬ 
nes  Namens.2)  Man  ersieht  daraus  die  Unhaltbarkeit 


1)  11.  Brunn,  Griechische  Kunstgeschichte,  S.  168. 

2)  Das  Volk  erblickte  in  dem  ritterlichen  Oidi-pus  oder 
Oidi-podes  den  Mann,  der  über  den  Fuß  Bescheid  weiß  und 
schrieb  ihm  daher  die  Lösung  des  bekannten  Rätsels  vom 


SPHINX. 


225 


der  gangbaren  Anschauung,  derzufolge  bereits  die 
altägyptische  Sphinx  als  Rätselwesen  aufgefasst  zu 
werden  pflegt. 

Wir  haben  somit  in  andeutenden  Strichen  den 
Hintergrund  skizzirt,  von  dem  sich  die  griechi¬ 
schen  Sphinxdarstellungen  der  Blütezeit  abheben. 
Diese  schließen  sich  teils  an  die  Ödipussage  un¬ 
mittelbar  an,  teils  sind  sie  von  ihr  nur  indirekt  be¬ 
einflusst  und  führen  die  alte  Tradition  des  Orients 
weiter.  Auf  die  Darstellungen  der  Jünglinge  rau¬ 
benden  oder  mit  Ödipus  gruppirten  Sphinx  soll  hier 
nicht  näher  eingegangen 
werden;  es  sind  meis¬ 
tens  rotfigurige  Vasen¬ 
bilder  oder  spätere  Gem¬ 
men,  die  uns  die  Sage 
illustriren.  Wichtiger 
noch  ist  die  zweite  Grup¬ 
pe  und  zwar,  abgesehen 
von  ihrer  weit  größeren 
Verbreitung,  aus  dem 
Grunde,  weil  sie  uns  die 
Symbolik  klar  erkennen 
lässt,  die  der  Grieche 
und  seine  Nachahmer 
mit  der  Sphinxgestalt 
verbunden  haben. 

Bereits  die  Ägypter 
hatten  ihren  Sphinxko¬ 
lossen,  wie  oben  hervor¬ 
gehoben  ist,  mitunter 
die  Bedeutung  von  Gra¬ 
beswächtern  verliehen. 

Diese  sepulcrale  Ver¬ 
wendung  tritt  auf  ver¬ 
schiedenen  Kulturgebie¬ 
ten  noch  ausgeprägter 
und  häufiger  her  vor.  Be¬ 
sonders  ist  die  griechi¬ 
sche  Phantasie,  die  den  überlieferten  Typus  mit 
reichem  Inhalt  mannigfacher  Art  erfüllte,  nach 
dieser  Richtung  hin  thätig  gewesen.  Sie  knüpft 
dabei  teils  an  die  Auffassung  des  Fabelwesens  als 
regungslos  gelagerten  Wächter,  teils  an  diejenige  als 
dahinraffendes  Ungetüm  an,  dessen  wilder  Gewalt- 
thätigkeit  nichts  Lebendes  widerstehen  kann.  Für 
beide  Typen  lagen,  wie  wir  gesehen  haben,  orien¬ 
talische  Vorbilder  vor.  Ein  verderbenbringendes 


vier-,  zwei-  und  dreifüßigen  Geschöpfe  zu.  So  rankt  sich  um 
„redende  Namen“  die  Sagenwelt  immer  üppiger  und  dichter. 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  9. 


Ungeheuer  als  Sinnbild  des  Unheils  und  der  Ver¬ 
nichtung  zu  gebrauchen,  lag  nahe.  Greif  und  Gor- 
gone,  Sirenen  und  Harpyien  begegnen  uns  in  dieser 
Bedeutung  ähnlich  wie  die  Sphinx.  Sie  erscheint 
demgemäß  schon  seit  älterer  Zeit  auf  Grabmälern, 
besonders  auf  lykischem  Boden.  Anfangs  wurde  sie 
selbständig  als  Grabesschmuck  verwendet,  wie  sonst 
bekanntlich  der  Löwe,  und  lagert  oft  auf  einer  Säule. 
Attische  Maler  zeichnen  sie  gern  auf  Grabvasen; 
mit  gewaltigen  Schwingen  begabt,  lauert  sie  dann 
wohl  vor  der  Grabsäule  und  erhebt  drohend  eine 

Vordertatze.  Als  man 
im  vierten  Jahrhundert 
beginnt,  den  Verstor¬ 
benen  selbst  mit  seinen 
Lieben  auf  den  Grab¬ 
reliefs  abzubilden,  sinkt 
die  Sphinx  zur  Dekora¬ 
tion  herab  und  erscheint 
z.  B.  als  Krönung  jener 
rührenden  Familien- 
scenen  oder  als  Eckfigur 
des  Monumentes,  zu¬ 
weilen  mit  Doppelkör¬ 
per  nach  zwei  Seiten. 
Zu  den  schönsten  Grab¬ 
sphinxen  gehören  ohne 
Zweifel  die  Reliefs  des 
neuerdings  in  Phönizien 
entdeckten  „lykischen* 
Sarkophages ;  mit  Recht 
hat  man  sie  christlichen 
Engelsgestalten  zur  Seite 
gestellt.  An  dieser  Stelle 
sei  auch  ein  herrliches 
Gefäß  in  Form  einer 
Sphinx  eingereiht ,  ob¬ 
wohl  wir  seine  sepulcrale 
Bedeutung  nicht  ver¬ 
bürgen  möchten.  Es  wurde  im  Grabe  einer  vornehmen 
Griechin  in  Südrussland  gefunden  und  atmet  den  Zau¬ 
ber  der  Praxitelischen  Zeit.  Von  der  Vasenform  sind 
nur  Hals  und  Henkel  entlehnt,  die  unmittelbar  hinter 
dem  Kopfe  hervorragen.  Der  erste  Herausgeber  sagt 
darüber:  „Niemand,  der  dieses  Kunstwerk  von  wahr¬ 
haft  ergreifender  Lieblichkeit  zu  sehen  Gelegenheit 
gehabt  hat,  wird  leugnen,  dass  keine  der  übrigen 
uns  erhaltenen  griechischen  und  römischen  Darstel¬ 
lungen  der  Sphinx  in  Hinsicht  ihres  künstlerischen 
Werts  auch  nur  von  fern  mit  dieser  verglichen  wer¬ 
den  kann  und  dass  namentlich  der  sehnsüchtig  ver- 

30 


Sphinxvase. 

(Nach  Compte  rendu  de  la  Commission  archeol.  1870/1.) 


226 


SPHINX. 


führerische  Charakter  der  furchtbaren  Jungfrau, 
welcher  die  Alten  veranlasste,  sie  mit  den  Hetären 
zu  vergleichen,  hier  einen  umso  bezaubernderen  Aus¬ 
druck  gefunden  hat,  je  strenger  zugleich  die  Gren¬ 
zen  edelster  Schönheit  innegehalten  sind.“  ‘) 

Seit  sehr  alter  Zeit  stand  auch  die  Küste  Etru¬ 
riens  in  lebhafter  Verbindung  mit  den  Handelsvölkern 
des  Ostens,  zuerst  mit  den  Phöniziern,  wie  u.  a.  ver¬ 
einzelte  ägyptische  Sphinxdarstellungen  aus  den 
Gräbern  bezeugen,  sodann  mit  griechischen  See¬ 
städten.  Insbesondere  ist  der  korinthische  Sphinx¬ 
typus  von  der  etruskischen  Kunst  dauernd  festge¬ 
halten  worden.  Gruppen  wilder  und  phantastischer 
Tiere  erblickt  man  an  den  Wänden  mehr  als  einer 
etruskischen  Totenwohnung;  durch  groteske  Ge¬ 
stalten  besonders  merkwürdig  sind  die  Fresken  des 
einzigen  noch  erhaltenen  Grabes  von  Veji,  die  neben 
Panther,  Hunden  und  Löwe  eine  hochbeinige  Sphinx 
zeigen.  Ungemein  häufig  sind  sodann  Sphinxe  an 
den  römischen  Gräberstraßen  und  in  den  Colurn- 
barien,  auf  Sarkophagen,  Grabsteinen,  Aschenurnen 
und  Grablampen.  Ihre  Vordertatzen  liegen  nicht 
selten  auf  einem  Widderkopf,  einem  Rade,  auf  Stier¬ 
kopf  oder  Totenschädel,  ihre  Formen  werden  gern 
üppiger  gebildet  als  ehedem  in  Griechenland. 

Schreckhaften  Typen  legte  man  oft  die  Kraft 
bei,  Böses  abzuwehren.  Auch  diese  Eigenschaft 
wurde  der  Sphinx  beigemessen.  Über  erschlagene 
Feinde  dahinschreitend,  trägt  sie  schon  die  Arm¬ 
lehnen  ägyptischer  Königssessel.  In  Griechenland 
wurden  vor  allem  die  Throne  der  Götter  mit  solchem 
Schmucke  versehen.  Jünglinge  raubend,  stützten 
diese  Schutzdämonen  die  Armlehnen  am  Throne  des 
Zeus  in  Olympia;  sie  sind  mitunter  an  der  Rück¬ 
lehne,  neben  oder  unter  dem  Throne,  auch  an  der 
Fußbank  angebracht  und  dienen  oft  statt  der  Füße. 
Apollon,  Asklepios,  Aphrodite  bedienen  sich  so  ver¬ 
zierter  Sessel.  Mit  einer  Sphinx  schmückte  Pliidias 
den  Helm  seiner  aus  Gold  und  Elfenbein  gefertigten 
Athena  im  Parthenon.  Gewöhnlich  wird  gesagt,  der 
Künstler  habe  dadurch  die  Unergründlichkeit  der 

1)  L.  Stephani,  Compte  rendu  1870 — 71,  S.  10. 


göttlichen  Weisheit  andeuten  wollen;  doch  nötigen 
die  gleichzeitigen  Analogien  dazu,  auch  hier  ein 
Sinnbild  der  Abwehr,  ein  Apotropaeum,  zu  erkennen. 
Diesem  berühmten  Originale  nachgebildet  ist  der 
Athenahelm  auf  zahlreichen  griechischen  Goldarbeiten 
und  Münzen.  Hellenische  Fürsten,  römische  Cäsaren 
stattete  man  mit  demselben  Emblem  aus.  Von 
Athena  übertrug  man  es  aber  besonders  auf  die 
Idealgestalt  der  Roma,  deren  sphinxgeschmückter 
Helm  durch  ein  Fundstück  des  Hildesheimer  Silber¬ 
schatzes  wohl  am  bekanntesten  geworden  ist. 

Die  mannigfaltigsten  Erzeugnisse  der  Kunst¬ 
industrie  und  Kleinkunst  könnten  angeführt  werden, 
bei  denen  diese  zuletzt  geschilderte  Geltung  des 
Typus  unverkennbar  ist.  Allmählich  aber  schwindet 
sein  innerer  Gehalt;  er  wird  ein  geläufiges  Element 
der  künstlerischen  Formensprache,  nur  um  seines 
bizarren  Äußeren  willen  gewählt,  wie  andere  Fabel¬ 
gestalten.  Als  ungelöstes  Rätsel  dient  die  Sphinx 
späteren  Geschlechtern  immer  wieder  aufs  neue  als 
geduldiges  Objekt  abenteuerlich  allegorischer  Deu¬ 
tungsversuche. 

Auch  über  dieses  fremde  Gebilde  aus  dem  Osten 
hat  der  hellenische  Genius  seinen  berückenden  Zau¬ 
ber  ausgegossen.  Ich  will  zum  Schluss  nur  zwei 
Denkmäler  erwähnen,  die  durch  ihren  Gegensatz 
seine  verklärende  Kraft  erkennen  lassen. 

Vor  einiger  Zeit  wurde  zu  Athen  ein  Grabrelief 
mit  Inschrift  gefunden,  das  einem  dort  verstorbenen 
phönizischen  Seefahrer  von  einem  befreundeten  Lands¬ 
manne  gesetzt  worden  ist.  Darauf  ist  ein  gespenster- 
hafter,  furchtbarer  „Grimmlöwe“  dargestellt,  der  die 
Seele  des  Sterbenden  zu  zerreißen  droht.  Man  ver¬ 
gleiche  damit  die  griechischen  Sphinxe  auf  einem 
der  jüngst  entdeckten  Sarkophage  von  Sidon!  Voll 
milden  Ernstes  und  reiner  Schönheit  blicken  uns 
diese  Köpfe  aus  den  spitzbogigen  Giebelhälften  ent¬ 
gegen.  Die  unerbittlich  grausame  Löwenjungfrau 
ist  zum  sanften,  man  möchte  sagen  menschlich  mit¬ 
fühlenden  Todesengel  geworden,  und  es  drängen 
sich  uns  die  Worte  auf  die  Lippen,  die  Lessing  über 
seine  Abhandlung  setzte:  „Wie  die  Alten  den  Tod 
gebildet“ :  Nullique  ca  tristis  imago. 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. ') 

VON  H.  A.  LIEß. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


I. 


AN  kann  die  durch  zahlreiche 
Beispiele  leicht  zu  erhärtende 
Behauptung  aufstellen,  dass 
in  Zeiten,  in  denen  Linien¬ 
schönheit  in  der  Malerei  vor¬ 
herrscht  und  bei  den  Bildern 
der  Hauptnachdruck  auf  den 
Gedankeninhalt  gelegt  wird, 
der  Kupferstich  mit  besonderer  Vorliebe  und  gutem 
Gelingen  gepflegt  wird,  während  in  denjenigen 
Perioden,  in  denen  in  erster  Linie  nicht  die  Form, 

1)  Für  diejenigen  unserer  Leser,  die  sich  mit  der  Ge¬ 
schichte  der  modernen  Radirung  genauer  befassen  und,  so¬ 
weit  dies  aus  Büchern  möglich  ist,  mit  ihrer  Technik  vertraut 
machen  wollen,  führen  wir  aus  der  reichen  Literatur  folgende 
Werke  und  Aufsätze  an,  die  uns  besonders  beachtenswert  zu 
sein  scheinen:  Kupferstich  und  Photographie  (Lützow’s  Zeit¬ 
schrift  für  bildende  Kunst  1866,  S.  287  —  294).  Vgl.  dazu 
die  Schlussabschnitte  von  G.  von  Lützow’s  Geschichte  des 
deutschen  Kupferstichs  und  Holzschnittes.  Berlin  1891.  gr.  8°. 
S.  295—306.  —  Jul.  Tliaeter ,  Über  Reproduktion  in  der  bil¬ 
denden  Kunst.  (Augsburg.  Allgem.  Ztg.  1867,  Nr.  201.  202. 
Wiederabgedruckt  in  Jul.  Thaeter:  Das  Lebensbild  eines 
deutschen  Kupferstechers  .  .  .  von  Anna  Thaeter.  Frankf. 
a.  M.  1887.  8°.  S.  174 — 185).  —  L.  Jacoby  (über  den  Kupfer¬ 
stich)  und  W.  Unger  (über  die  Radirung)  im  „Illustrirten 
Katalog  der  ersten  internationalen  Spezial-Ausstellung  der 
graphischen  Künste  in  Wien“.  Wien  1883.  4U.  —  A.  Springer , 
Die  Aufgaben  der  graphischen  Künste,  bei  Ludw.  Nieper, 
Die  Kgl.  Kunstakademie  und  Gewerbeschule  in  Leipzig. 
Festschrift.  Leipzig  1890.  Fol.  S.  3—12.  —  L.  von  Donop, 
Ausstellung  der  Radirungen  von  Bernhard  Mannfeld.  Ber¬ 
lin  1890.  8°.  —  Max  Klinger,  Malerei  und  Zeichnung.  Ber¬ 
lin  1890.  8°.  —  J.  E.  Wessely,  Geschichte  der  graphischen 
Künste.  Leipzig  1891.  gr.  8°.  —  U.  Herkomer,  Etching 
and  Mezzotint-Engraving.  Lectures  delivered  at  Oxford. 
London  1892.  4°.  —  Friedr.  Lippmann,  Der  Kupferstich. 
Berlin  1893.  8°.  Das  Hauptwerk  für  die  Geschichte  der 
modernen  Radirung,  an  das  sich  die  folgenden  Zeilen  eng 
anschließen,  ist:  Richard  Graul,  Die  Radirung  der  Gegen¬ 
wart  in  Europa  und  Nordamerika.  Wien  1892.  Fol.  (Die 
vervielfältigende  Kunst  der  Gegenwart.  Herausgeg.  von  der 
Gesellsch.  f.  vervielfältigende  Kunst.  III.) 


sondern  die  Farbe  im  Vordergründe  der  künstlerischen 
Bestrebungen  steht  und  realistische  Tendenzen  vor¬ 
herrschen,  vornehmlich  die  Radirung  zur  Blüte  ge¬ 
langt.  Daraus  erklärt  sich  die  glänzende  Entwick¬ 
lung  der  Radirung  in  den  Niederlanden  während  des 
17.  Jahrhunderts,  die  mit  der  rein  malerischen  Rich¬ 
tung  Rembrandts  und  seiner  Nachfolger  Hand  in 
Hand  geht,  und  ihr  gewaltiger  Aufschwung  in 
unserem  Jahrhundert,  ebenso  wie  der  gleichzeitige 
Rückgang  des  Kupferstiches,  der,  von  vereinzelten 
Ausnahmen  abgesehen,  nur  noch  mühsam  sein  Da¬ 
sein  zu  fristen  vermag. 

Es  ist  bezeichnend,  dass  die  ersten  Spuren  der 
Neubelebung  der  Radirung  bei  demjenigen  Volke 
zu  finden  sind,  dem  wir  überhaupt  die  Erneuerung 
der  Malerei  in  unserem  Jahrhundert  zu  danken  haben, 
bei  den  Franzosen,  und  dass  diejenige  Gruppe  fran¬ 
zösischer  Künstler,  in  deren  Wirken  wir  die  ersten 
fruchtbringenden  Keime  jener  Entwicklung  bemerken, 
auch  zuerst  die  Pflege  der  Radirung  mit  Glück  in 
die  Hand  genommen  hat,  d.  h.  die  Schule  von 
Fontainebleau.  Das  kleine  Barbizon ,  jenes  stille, 
zwischen  den  Bäumen  des  Waldes  versteckte  Dörf¬ 
chen,  dessen  nächste  Umgebung  die  Geburtsstätte 
der  größten  künstlerischen  Thaten  in  unserem  Jahr¬ 
hundert  geworden  ist,  hat  auch  die  Motive  für  die 
ersten  französischen  Malerradirer  abgegeben.  Dort 
oder  vielmehr  in  nächster  Nähe  von  Barbizon,  in  der 
Stadt  Fontainebleau  selbst,  wurde  im  Jahre  1805 
Eugene  Blery  geboren,  den  wir  als  Vorläufer  der 
ganzen  Richtung  anzusehen  haben.  Seine  Vorbilder 
waren  die  großen  holländischen  Landschaftsmaler 
Hobbema  und  Ruisdael.  Aber  wenn  er  auch  ihre 
Grundsätze  in  der  Malerei  auf  die  Radirung  zu  über¬ 
tragen  suchte,  so  vermochte  er  sich  doch  noch  nicht 
von  dem  Einfluss  Poussin'>s  und  seiner  übertriebenen 
Genauigkeit  freizumachen.  Darum  erklärt  sich  die 

30* 


228 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


ans  Kleinliche  streifende  Sorgfalt  seiner  zierlich  aus¬ 
gearbeiteten  Platten,  in  denen  jedes  Gräschen,  jede 
Birke  und  Eiche  mit  so  zu  sagen  biographischer 
Treue  wiedergegeben  ist.  Trotzdem  gebührt  Blery,  der 
seiner  Manier  bis  ins  Alter  treu  geblieben  ist,  der 
Ruhm,  seine  Zeitgenossen  auf  die  Schönheit  jener 
Studienplätze  aufmerksam  gemacht  zu  haben,  auf 
jenen  „Bois  sacre,  eher  aux  Muses",  wie  ihn  Puvis 
de  Chavannes  einmal  genannt  hat. 

Der  erste  bedeutende  Nachfolger  und  Rivale, 
den  Blery  fand,  war  Charles  Jacque  (geh.  1813),  ein 
Künstler,  der  als  Maler  wie  als  Radirer  und  Holz¬ 
schneider  gleich  Großes  geleistet  hat.  Weit  freier 
und  selbständiger  als  Blery,  gelegentlich  sogar 
zu  impressionistischen  Übertreibungen  hinneigend, 
war  er  der  erste,  der  es  wagte,  den  französischen 
Landmann,  so  wie  er  zu  jener  Zeit  wirklich  war, 
in  das  Bild  aufzunehmen.  Er  ging  in  diesem 
Bestreben  Hand  in  Hand  mit  Millet ,  mit  dessen  Ver¬ 
fahren  das  seinige  große  Ähnlichkeit  zeigt,  und  ge¬ 
wöhnte  dadurch  das  französische  Publikum  daran, 
Natur  und  Landleben  nicht  mehr  mit  jener  kon¬ 
ventionellen  Süßlichkeit  zu  behandeln,  die  seit  Wat¬ 
teau1?,  und  seiner  Nachfolger  schäferlicher  Auffassung 
in  der  ganzen  Welt  verbreitet  war. 

Auf  den  Schultern  Jacque’s  steht  Charles  Dau- 
higny  (1817 — 1878),  der  nicht  nur  ein  großer  Land¬ 
schaftsmaler,  sondern,  was  in  Deutschland  nur  wenige 
wissen,  auch  ein  hervorragender  Malerradirer  war 
und  seine  Platten  mit  derselben  erstaunenswerten 
K ühnheit  und  Geschicklichkeit  zu  behandeln  verstand, 
die  wir  auch  an  seinen  Ölgemälden  bewundern. 

Dagegen  blieb  Jean  Francois  Millet  (1814 — 1874), 
der  gewaltigste  Stilist  und  der  charaktervollste  Künst¬ 
ler,  den  Frankreich  in  unserem  Jahrhundert  hervor- 
gebracht  hat,  in  seinen  Radirungen,  von  denen  un¬ 
gefähr  zehn  bekannt  geworden  sind,  hinter  den 
Leistungen  seiner  Genossen  zurück.  Es  fehlte  ihm 
auch  auf  diesem  Gebiete  die  genauere  Kenntnis  des 
Handwerksmäßigen,  worin  ihm  andere  weit  weniger 
bedeutende  Künstler  vielfach  überlegen  waren;  aber 
so  unbeholfen  auch  seine  Blätter  ausgefallen  sind, 
seine  große  Persönlichkeit,  der  Ernst  und  die  Tiefe 
seiner  Weltanschauung,  leuchtet  uns  auch  aus  ihnen 
eindrucksvoll  entgegen.  Ihr  Gegenstand  ist,  wie 
schon  die  Unterschriften:  „Cardeuse  de  lain“,  „La 
tricoteuse“,  „L'homme  ä  la  brouette“,  verraten,  der¬ 
selbe,  den  Millet  in  seinen  Ölbildern  behandelt,  das 
Leben  des  französischen  Bauern,  den  er  nicht  als 
Individuum,  sondern  als  Typus  des  an  die  Scholle 
gefesselten  Landarbeiters  aufgefasst  hat. 


Auch  Camille  Corot  (1796 — -1875),  der  ewig 
junge  Alte,  der  in  der  Natur  nur  die  Ruhe  und  den 
Frieden  sah  und  den  Abglanz  seiner  immer  heiter 
gestimmten  Seele  in  dem  leuchtenden  Duft  der  Wälder 
und  Seen  am  Morgen  oder  Abend  wiederzuspiegeln 
liebte,  griff  gelegentlich  zur  Radirnadel.  Mit  Hilfe 
Bracquemönd’ s,  der  ihm  die  Platten  geätzt  haben  soll, 
schuf  er  eine  Anzahl  Blätter,  Träumereien  von  Isle 
de  France,  in  denen,  wie  auf  seinen  Ölgemälden, 
Himmel,  Erde  und  Wasser  in  warme  Nebel  getaucht 
erscheinen. 

Die  Schule  von  Barbizon  ist  für  sämtliche 
französische  Malerradirer,  die  sich  mit  der  Land¬ 
schaft  beschäftigen,  maßgebend  geworden,  und  nur 
einer,  freilich  eins  der  größten  und  ursprünglichsten 
französischen  Talente  aus  neuerer  Zeit,  ist  wie  als 
Maler  so  auch  als  Radirer  seine  eigenen  Wege  ge¬ 
gangen:  Jules  Bastien-Lepage  (1812  —  1879).  Bas- 
tien-Lepage  entnahm  seine  Motive  seiner  engeren 
Heimat,  der  Landschaft  an  der  Meuse,  wo  er  zu 
Hause  war.  Dieser  Gegend  gehören  auch  seine 
Bauern  an,  die  er  schlicht  und  derb,  wie  sie  sind, 
mit  naturalistischer  Treue  ebenso  wie  in  seinen  Bil¬ 
dern  auch  in  seinen  wenigen  Radirungen  vorführte, 
ohne  übrigens  auf  diese  Arbeiten  besonderen  Wert 
zu  legen. 

Fast  um  dieselbe  Zeit,  in  der  in  Frankreich  die 
Landschaftsradiruug  aufkam,  tauchte  auch  eine  An¬ 
zahl  von  Künstlern  auf,  die  sich  das  Leben  und 
Treiben  in  den  engen,  winklichen  Straßen  und  Gassen 
des  alten  Paris  zum  Vorwurf  erkoren,  und  ganz  im 
Sinne  der  Victor  Hugo’schen  Romantik  für  das 
mittelalterliche  Paris  schwärmten.  Das  Haupt  dieser 
Gruppe  war  Charles  Meryon  (1821 — 1868),  ein  früherer 
Marineoffizier,  der  von  Blery  die  erste  Anleitung  er¬ 
hielt  und  seitdem  die  Radirkunst  geschäftsmäßig 
betrieb.  Seine  Blätter  haben  für  Paris,  das  bald 
nachher  durch  Haußmann  gründlich  umgestaltet 
wurde,  den  Wert  einer  interessanten  Bilderchronik 
und  fesseln  den  Kenner  durch  die  bizarren  Einfälle 
ihres  Autors,  der,  nervös  überreizt  und  phantastisch 
veranlagt,  seine  Architekturen  mit  allerhand  Alle- 
gorien  und  gespensterhaften  Scenen  zu  bevölkern 
liebte,  in  technischer  Hinsicht  aber  nur  Unvoll¬ 
kommenes  zu  stände  gebracht  hat. 

Sein  Nachfolger  und  Verehrer  Felix  Bracquemönd 
hat  Meryon  weit  überflügelt.  Bracquemönd,  der  sich 
zunächst  in  der  Faience-Malerei  versucht  hatte,  fing 
damit  an,  nach  japanischen  Vorbildern  Enten  und  andere 
Vögel  zu  radiren,  wobei  er  weniger  durch  sorgfältige 
Zeichnung  als  durch  die  Frische  und  Weichheit 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG.  229 

seiner  Nadelführung  Aufsehen  erregte.  Dann  ver-  wandte  sich  der  reproduzirenden  Kunst  zu,  in  der 
legte  er  sich  auf  das  Porträt,  hatte  aber  dabei  wenig  er,  wie  wir  noch  sehen  werden,  sich  zu  einem 
Glück,  da  seine  Bilder  zu  wenig  ähnlich  ausfielen,  Künstler  ersten  Ranges  aufschwang. 


Lesende  Dame.  Originalradirung  von  P.  Helleu. 

während  ihre  technische  Durchführung  zum  Teil  Auch  Jules  Jacquemart,  der  im  Alter  von  vierzig 

meisterhaft  war.  Da  also  der  Erfolg  ausblieb,  gab  Jahren  starb,  musste  seine  Neigung,  als  Original¬ 
er  mehr  und  mehr  die  Originalradirung  auf  und  radirer  thätig  zu  sein,  der  harten  Notwendigkeit, 


230 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


durch  Herstellung  von  Kopien  für  seinen  Lebens¬ 
unterhalt  zu  sorgen,  in  der  Hauptsache  opfern.  Seine 
besten  Werke,  z.  B.  die  „Fleurs  de  la  vie“  und  die 
„Gemrues  et  joyaux  de  la  couronne“,  gehören  dem 
Gebiete  des  Stilllebens  und  der  Blumenmalerei  an; 
aber  obwohl  sie  also  ihrem  Gegenstände  nach  nicht 
bedeutend  erscheinen,  nehmen  sie  doch  wegen  ihrer 
unübertrefflichen  Naturtreue  und  wegen  ihrer  tech¬ 
nischen  Vollendung,  bei  der  die  Atzung  in  allen 
ihren  Kombinationen  mit  dem  Kupferstich  und  dem 
Aquatinta-Verfahren  zur  Anwendung  gekommen  ist, 
einen  hohen  Rang  ein. 

Merkwürdiger  Weise  ist  in  Frankreich  die  Zahl 
der  Maler,  die  ihre  eigenen  Werke  durch  den 
Kupferstich  und  die  Radirung  wiederzugeben  ver¬ 
stehen,  nicht  groß,  obwohl  seit  kurzer  Zeit  in  Paris 
die  Radirung  von  den  jüngeren  Künstlern  fast  sports¬ 
mäßig  betrieben  wird.  Bedeutend  ist  auf  diesem 
Gebiete  nur  Meissonier  gewesen,  dessen  Radirungen 
dieselbe  photographische  Treue  und  Feinheit  wie 
seine  Ölgemälde  besitzen.  Meissonier  hat  nur  weniges 
radirt,  aber  stets  in  jenen  glücklichen  Momenten, 
von  denen  Jules  Dupre  einmal  gesagt  hat:  „Die 
Maler  malen  Bilder  zu  jeder  Stunde,  ob  sie  nun 
glücklich  oder  unglücklich  ist,  Radirungen  aber 
bringen  sie  nur  in  ihren  glücklichen  Stunden  zu 
Wege“.  Meissonier’s  bestes  Blatt  ist  der  „Fumeur 
assis,“  „eine  vortreffliche  Arbeit,  voll  pulsirenden 
Lebens  und  bei  ihren  kleinen  Dimensionen  von  köst¬ 
licher  Feinheit.“ 

Unter  den  französischen  Malerradirern  der 
Gegenwart,  die  mehr  oder  weniger  sämtlich  unter 
dem  Zeichen  des  Naturalismus  stehen,  genießt  neben 
Auguste  Lunron,  der  ähnlich  wie  Zola  das  Leben  des 
Arbeiters  darzustellen  liebt,  vor  allem  Felicien  Rops, 
ein  Ungar  von  Geburt  und  naturalisirter  Belgier, 
bei  den  Feinschmeckern  einen  besonders  großen  Ruf. 
Allerdings  ist  die  Freude  an  den  Arbeiten  Rops’, 
den  Muther  in  seiner  Geschichte  der  Malerei  neben 
Klinger  für  den  größten  Radirer  unserer  Zeit  erklärt, 
nicht  jedermanns  Sache.  Denn  die  Welt,  die  seine 
Nadel  verherrlicht,  ist  die  des  Lasters  und  der 
faunischen  Lüsternheit,  in  der  Dirnen,  Kellnerinnen 
und  geile  Weiber,  welche  die  Männer  zu  entnerven 
suchen,  die  erste  Rolle  spielen,  und  vorstädtische 
Straßenscenen  den  Schauplatz  der  Handlung  bilden. 
Seine  Blätter  entziehen  sich  daher  der  öffentlichen 
Besprechung  und  pflegen  in  unseren  Kupferstich¬ 
kabinetten  nicht  ausgestellt  zu  werden;  gleichwohl 
hat  sich  ein  Liebhaber  gefunden,  der  das  Werk 
des  Künstlers  mit  der  größten  wissenschaftlichen 


Genauigkeit  aufgezeichnet  hat,  ein  Beweis,  dass 
stoffliche  Bedenken  heutzutage  die  Kenner  nicht 
mehr  abschrecken. 

Die  neueste  Phase  wird  durch  die  Namen 
P.  Helleu  und  A.  Lunois  bezeichnet.  Helleu,  von 
dessen  Kunst  wir  eine  Probe  in  Nachbildung  bringen, 
liebt  es,  modern  gekleidete  Damen  in  nachlässiger 
Haltung  sitzend  oder  liegend  darzustellen.  Es  ist 
etwas  Nervöses  in  seiner  Kunst,  dem  die  flüchtige, 
aber  sichere  und  elegante  Zeichnung  seiner  Nadel 
entspricht.  Weit  derber  erscheinen  die  wenigen  bis¬ 
her  bekannt  gewordenen  Arbeiten  von  Lunois,  an 
deren  Herstellung  die  Kunst  des  Druckers  einen 
hervorragenden  Anteil  hat.  Lunois  strebt  entschieden 
farbige  Wirkungen  an  und  hat  sich  auch  in  der 
Anfertigung  kolorirter  Lithographien  versucht,  bei 
denen  er  jedoch  noch  nicht  über  das  Stadium  des 
Experimentes  hinausgekommen  zu  sein  scheint. 

II. 

Kaum  minder  großartig  als  die  Entwicklung 
der  Originalradirung  in  Frankreich  ist  diejenige,  die 
dort  die  Radirung  als  reproduzirende  Kunst  ge¬ 
nommen  hat. 

Während  noch  bis  in  die  Mitte  unseres  Jahr¬ 
hunderts  in  Frankreich  wie  überall  einzig  und  allein 
der  Kupferstich  in  Betracht  kam,  wenn  es  sich  um 
die  Wiedergabe  hervorragender  Werke  alter  Meister 
handelte,  hat  sich  dort  die  Radirung  auch  auf  dem 
Gebiete  der  Reproduktion  seit  etwa  dreißig  Jahren 
zu  einer  gefährlichen  Rivalin  des  Kupferstiches  empor¬ 
gezwungen,  und  obwohl  Frankreich  in  Gaillard  einen 
Kupferstecher  ersten  Ranges  aufzuweisen  hat,  so 
scheint  doch  die  jüngere  Kunstweise  vor  der  älteren 
den  Sieg  davon  zu  tragen.  Dieser  Umschwung  zu 
Gunsten  der  Radirung  hängt  mit  einer  veränderten 
Richtung  in  dem  Kunstgeschmack  des  Publikums 
zusammen.  Er  knüpft  sich  in  erster  Linie  an  den 
Namen  Rembrandt’s.  Sobald  die  Neigung  der  Lieb¬ 
haber  sich  den  Werken  des  großen  Niederländers 
zuwandte,  fing  man  auch  an  zu  erkennen,  dass  die 
Radirung  in  weit  höherem  Grade  als  der  Kupfer¬ 
stich  befähigt  ist,  die  Reize  seines  Pinsels  nachzu¬ 
ahmen.  Die  Kupferstecher  selbst,  Leopold  Flameng 
an  ihrer  Spitze,  wandten  sich  der  Radirung  zu  und 
lieferten  bald  Platten,  die  sowohl  durch  ihren  Um¬ 
fang  als  auch  durch  die  Sicherheit  und  Treue  in  der 
Wiedergabe  Aufsehen  erregten  und  zahlreiche  Ab¬ 
nehmer  fanden.  Flameng,  der  sich  zunächst  mit 
einer  Kopie  von  Rembrandt’s  Hundertguldenblatt 
versucht  hatte,  debutirte  mit  Radirungen  nach  den 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


231 


„Syndici“  und  der  „Nachtwache“  und  ging  dann  zu 
moderneren  Bildern  über,  indem  er  sowohl  den  „Blue 
boy“  als  auch  die  Miss  Graham  von  Oainsborough 
bearbeitete,  vor  allem  aber  auch  Gemälde  moderner 
Franzosen,  z.  B.  Meissonier’s  „Cavaliers  ä  la  porte 
d’une  auberge“  mit  bestem  Gelingen  auf  diese  Weise 
vervielfältigte.  Seine  Bestrebungen  wurden  durch 
Leon  Gaucherel,  den  Direktor  der  Zeitschrift  „l’Art“, 
den  man  den  „Vater  der  Ätzkunst“  genannt  hat, 
wesentlich  gefördert.  Gaucherel  war  selbst  ein  frucht¬ 
barer  Radirer,  aber  zu  eilig  und  vielgeschäftig,  um 
in  seinen  eigenen  Arbeiten  einen  höheren  Grad  der 
Vollendung  zu  erreichen.  Um  so  größer  erscheinen 
seine  Verdienste,  die  er  sich  durch  die  Protektion, 
die  er  den  Radirern  in  seiner  Zeitschrift  erwies,  er¬ 
worben  hat.  Er  war  ein  guter  Wegweiser  und  Pfad¬ 
finder  für  andere,  wirkte  aber  mehr  durch  die  von 
ihm  ausgehenden  Anregungen  als  durch  sein  eigenes 
Beispiel.  Eine  ähnliche  Rolle  spielte  Edmond  He- 
douin ,  doch  stehen  seine  eigenen  Radirversuche  auf 
einer  höheren  Stufe  als  diejenigeu  Gaucherel’s.  Da¬ 
gegen  brachte  es  Bracquemond,  von  dessen  Original¬ 
radirungen  schon  die  Rede  war,  durch  Fleiß  und 
Ausdauer  zu  einer  führenden  Stellung  in  seiner 
Kunst,  obwohl  er  sie  ohne  Anleitung  von  fremder 
Seite,  wie  man  sagt,  nur  mit  Hilfe  des  Werkes  von 
Roret  über  die  Ätzkunst  erlernen  mußte.  Bracque¬ 
mond  verstand  es  zuerst,  was  heute  mehr  oder  weniger 
von  jedem  reproduzirenden  Radirer  verlangt  wird, 
sich  der  Eigenart  seiner  Originale  anzubequemen;  er 
ist  weich  und  geschmeidig  wie  sein  Vorbild,  ernst 
und  streng,  wo  diese  Eigenschaften  im  Original  auf- 
treten.  Er  weiß  also  jedem  gerecht  zu  werden,  ob 
er  nun  nach  Meissonier  oder  Mittet  arbeitet  oder 
als  Dolmetscher  der  phantastischen  Kompositionen 
Gustave  Moreau’s  auftritt.  In  technischer  Beziehung 
weiss  er  sich  alle  Hilfsmittel  seiner  Kunst  zu  nutze 
zu  machen.  Er  kombinirt  die  Anwendung  des  Stichels 
mit  der  der  Nadel  und  erreicht  so  die  größten 
Wirkungen,  die  sein  Ansehen  in  Frankreich  und 
seinen  Einfluss  auf  die  jüngere  Generation  der  fran¬ 
zösischen  Radirer  erklären. 

Ein  noch  weit  anschmiegsameres  Talent  als 
Bracquemond  besitzt  der  gleichfalls  bereits  genannte 
Biles  Jacquemart,  der  thatsächlich  jeweilig  in  dem 
Meister  aufzugehen  scheint,  dessen  Werk  er  gerade 
wiederzugehen  gedenkt.  Schon  seine  erste  Sammlung 
von  Radirungen,  die  er  im  Jahre  1872  unter  dem  Titel 
„Metropolitan  museum  of  art“  veröffentlichte,  und 
welche  die  Reproduktionen  der  Hauptwerke  aus  dem 
New-Yorker  Museum  enthält,  bot  dafür  einen  voll¬ 


gültigen  Beweis;  denn  Jacquemart  hatte  es  schon  hier 
verstanden,  mit  gleichem  Geschick  z.  B.  die  Art 
Cranacli’s  wie  diejenige  des  Frans  Hals  zu  treffen. 
Am  meisten  fühlte  er  sich  aber  zu  den  Bildern  der 
Niederländer  hingezogen,  weil  er  erkannt  hatte,  dass 
ihre  ganze  Vortragsweise  sich  wie  keine  andere 
malerische  Technik  für  die  Nadel  des  Radirers  eignet. 
So  schuf  er  eine  lange  Reihe  von  Blättern  nach 
Ostade,  Cuyp ,  van  de  Gappelle,  Fyt,  Simon  de  Vos  und 
van  Goyen  und  langte  schließlich  bei  dem  einzigen 
Künstler  der  Gegenwart  an,  der  den  Vergleich  mit 
den  Niederländern  aushält,  bei  Meissonier ,  dessen  Bild 
„Le  liseur“  er  mit  unnachahmlicher  Grazie  und  mit 
unübertroffener  Vollendung  radirte. 

Jacquemart’s  bedeutendster  Nachfolger  ist  Char¬ 
les  Waltner.  Er  nimmt  unter  den  reproduzirenden 
Radirern  Frankreichs  gegenwärtig  die  erste  Stelle 
ein.  Vielfach  von  englischen  Kunsthändlern  be¬ 
schäftigt,  hat  er  namentlich  eine  Anzahl  Porträts  des 
in  England  mit  Recht  so  bewunderten  Millais  ver¬ 
vielfältigt,  sich  dann  aber  auch  mit  Velazquez  und 
mit  besonderer  Vorliebe  mit  Pembrandt  beschäftigt, 
dessen  „Nachtwache“  er  unter  anderen  in  muster- 
giltiger  Weise  interpretirte.  Unter  seinen  Blättern 
nach  modernen  französischen  Meistern  verdienen  vor 
allem  zwei  hervorgehoben  zu  werden,  weil  aus  ihnen 
zu  ersehen  ist,  mit  welcher  Leichtigkeit  sich  Waltner 
der  Richtung  seiner  Vorbilder  anzupassen  versteht 
das  Blalt  „l’Amour  et  Psyche“  nach  Paul  Baudry  und 
der  „Angelus“  nach  Mittet’ s  bekanntem  Hauptwerk. 

Es  ist  nicht  möglich,  hier  alle  die  Radirer,  die 
heute  in  Frankreich  thätig  sind,  auch  nur  mit  Namen 
anzuführen,  geschweige  denn  ihre  Eigenart  eingehen¬ 
der  zu  charakterisiren.  Ihre  Leistungen  stehen  durch¬ 
gängig  auf  einem  ziemlich  hohen  Niveau,  da  das 
technische  Verfahren  in  Frankreich  von  Jahr  zu 
Jahr  mehr  vervollkommnet  worden  ist.  Dazu  hat 
neben  Bracquemond  namentlich  noch  Eugene  Gau¬ 
jean  viel  beigetragen,  indem  er  die  farbige  Tönung 
des  18.  Jahrhunderts  nachzuahmen  versuchte.  Einen 
guten  Einblick  in  die  Leistungen  dieser  jüngsten 
französischen  Radirer  gewinnt  man,  wenn  man  die 
letzten  Jahrgänge  der  „Gazette  des  Beaux-Arts“ 
durchblättert.  Man  findet  dort  nicht  nur  Arbeiten 
von  Gaujean,  sondern  auch  solche  von  Paul  Berat , 
der  sich  als  Radirer  an  das  Vorbild  des  berühmten 
Kupferstechers  Gaillard  hielt  und  gerade  für  das 
genannte  Blatt  seine  besten  Arbeiten  geliefert  hat, 
und  von  Milius,  dem  wir  eine  vorzügliche  Radirung 
nach  dem  bekannten  Bilde  Dagnan-Bouveret’s  „Bene¬ 
diction  des  epoux“  verdanken. 


232 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


Natürlich  hat  es  nicht  an  Radirern  gefehlt  und 
fehlt  auch  heutzutage  nicht  an  solchen,  welche 
sich  auf  die  Wiedergabe  von  Landschaften  großer 
Meister  verlegen.  Unter  ihnen  muss  Theophile  Cliau- 
vcl  an  erster  Stelle  genannt  werden,  weil  er  sich 
für  seine  besonderen  Zwecke  eines  eigenen  Verfah¬ 
rens  bediente,  das  er  mit  vielem  Glück  bei  seinen 
Blättern  nach  Dau- 
bigny,  Rousseau, 

Dupre,  Diaz  und 
Corot  anwandte. 

Die  virtuosen  Licht- 
effekte  Corot's  z.  B., 
an  deren  Bewälti¬ 
gung  jeder  frühere 
Radirer  verzweifelt 
wäre,  hat  er  mit 
seiuer  Methode  so 
treffend  wiederzu¬ 
geben  verstanden, 
dass  man  auch  aus 
seinen  Reproduk¬ 
tionen  einen  voll¬ 
ständigen  Begriff 
von  der  Schönheit 
der  Originale  em¬ 
pfängt.  Auch  Alfred 
Brunei  -  Dehaines, 
ein  Schüler  Jacque- 
mart’s ,  der  sich 
meistens  in  Eng¬ 
land  auf  hält,  ist  ein 
Radirer,  der  sich 
in  seiner  Spezialität, 
der  Bearbeitung 
englischer  Land¬ 
schaften,  z.  B.  Con¬ 
stable’ s  und  Turner 's, 
wie  in  allen  seinen 
bisherigen  Arbei¬ 
ten,  von  denen  wir 
hier  eine  Probe  aus 
seiner  frühesten 
Zeit,  die  „Rue  de  l’Epicerie  ä  Rouen“,  veröffentlichen, 
als  ein  trefflicher  Künstler  bewährt  und  sich  zu  einem 
der  besten  französischen  Landschaftsrad irer  der  Gegen¬ 
wart  entwickelt  hat.  Allerdings  hat  er  und  seine 
Collegen  gegenwärtig  einen  schweren  Stand,  da  die 
von  der  Firma  Goupil  fast  ausschließlich  gepflegte 
Heliogravüre,  die  sich  so  vorzüglich  für  die  Wieder¬ 
gabe  von  Landschaften  eignet,  ihnen  eine  starke 


Konkurrenz  bereitet.  Sie  sind  auf  Aufträge  aus 
England  oder  Amerika  angewiesen,  wo  man  noch 
immer  die  Radirung  dem  photographischen  Ver¬ 
fahren  vorzieht;  doch  ist  es  wohl  nur  eine  Frage 
der  Zeit,  d.  h.  wenigstens  für  das  Gebiet  der  re- 
produzirten  Landschaft,  dass  die  Heliogravüre  den 
Sieg  über  die  Radirung  davontragen  wird. 

III. 

Weit  weniger 
glänzend  als  die 
Entwickelung  der 
modernen  Radirung 
in  Frankreich  er¬ 
scheint  ihre  Ge¬ 
schichte  in  Deutsch¬ 
land.  Wir  haben 
bei  uns  erst  in 
neuester  Zeit  Leis¬ 
tungen  aufzuwei¬ 
sen,  die  sich  neben 
denen  der  Franzo¬ 
sen  sehen  lassen 
können,  dürfen  uns 
aber  freuen,  eine 
Anzahl  Kräfte  zu 
besitzen,  die  durch 
ihre  Eigenartigkeit 
und  die  Größe  ihrer 
Absichten  für  die 
Zukunft  zu  den 
schönsten  Hoffnun¬ 
gen  berechtigen. 

An  dem  langen 
Darniederliegen  der 
Radirung  in 
Deutschland  trägt 
die  erst  unlängst  ge¬ 
brochene  V  orherr- 
schaft  der  classi- 
zistischen  Kunst 
vornehmlich  die 
Schuld.  Die  Werke 
eines  Cornelius  und  seiner  Schule  boten  wohl  den  Kup¬ 
ferstechern  Gelegenheit,  ihre  Kunst  zu  bethätigen;  aber, 
da  ihnen  alle  feineren  malerischen  Reize  abgingen, 
konnte  unmöglich  durch  sie  ein  Antrieb  sich  ergeben, 
mit  den  Mitteln  der  Radirung  an  ihre  Vervielfältigung 
heranzutreten.  Erst  seitdem  auch  bei  uns  die  male¬ 
rischen  Bestrebungen  in  den  Vordergrund  traten, 
fand  ein  Wandel  in  den  Anschauungen  zu  Gunsten 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


233 


der  Radirung  statt.  Aber  sie  musste  sich  mühsam 
genug  ihren  Weg  suchen.  In  unseren  Akademien 
und  von  den  unter  ihrem  Einfluss  stehenden  Kunst¬ 
vereinen  wurde  nur  der  Kupferstich  gepflegt,  der 
wenigstens  für  kurze  Zeit  von  der  Lithographie  in 
den  Hintergrund  gedrängt  wurde,  bis  der  Holzschnitt 
und  die  Photographie  zur  Blüte  gelangten  und  nun 
erst  recht  die  Bedrängnis  der  Kupferstecher  ver¬ 
mehrten.  Heutzutage  ist  der  Streit  längst  ent¬ 
schieden.  Die  wenigen  Kupferstecher,  die  es  heute 
noch  in  Deutschland  gibt,  fristen  ein  trauriges  Da¬ 
sein  und  werden  sich  kaum  wieder  zu  der  einstigen 
Bedeutung  aufschwingen  können,  während  die  lange 
verkannte  und  unbeachtet  gebliebene  Radirung  von 
Jahr  zu  Jahr  an  Ansehen  gewinnt  und  sowohl  da, 
wo  sie  selbstschöpferisch  auftritt,  als  auch  da,  wo 
sie  reproduktiv  verfährt,  sich  allmählich,  wenn  auch 
nur  bei  einem  kleinen  Teil  des  Publikums,  Geltung 
zu  verschaffen  gewusst  hat. 

Die  kleine  Anzahl  Radirer  aus  dem  Anfang  un¬ 
seres  Jahrhunderts,  von  denen  die  Kunstgeschichte 
zu  berichten  weiß,  sind  Originalradirer  gewesen. 
Als  Techniker  können  diese  Kleinmeister  keinen 
Anspruch  auf  Beachtung  machen ,  aber  der  echt 
deutsche  Gehalt  ihrer  Schöpfungen,  meist  nur  Stu¬ 
dien  und  Skizzen,  gibt  ihnen  doch  einen  entschiede¬ 
nen  künstlerischen  Wert,  den  ihre  gleichzeitigen 
Gemälde  nur  selten  besitzen.  Man  wird  deshalb 
Männer,  wie  Johann  Adam  Klein  und  Johann  Chri¬ 
stian  Erhard,  aus  deren  Radirungen  wir  einen  Über¬ 
blick  über  das  alltägliche  Treiben  auf  dem  Markte  und 
der  Heerstraße,  wie  es  sich  zu  ihrer  Zeit  in  Deutsch¬ 
land  entwickelt  hatte,  empfangen,  nicht  ferner  über 
die  Achseln  ansehen  und  ihre  Namen  in  den  Kom¬ 
pendien  der  Kunstgeschichte,  wie  bisher,  unerwähnt 
lassen  können.  Vor  allem  wird  man  auf  Klein  achten 
müssen,  der  als  Tierzeichner  ganz  Vorzügliches  ge¬ 
leistet  hat,  und  neben  ihm  werden  eine  ganze  Reihe 
älterer  Münchener  Künstler,  z.  B.  W.  v.  Kobell,  oder 
die  beiden  Wiener  Jakob  und  Friedrich  Gauermann 
wieder  in  ihre  Stellung  einzusetzen  sein,  die  sie 
unter  dem  Übermaß  der  Bewunderung,  das  Cornelius 
und  den  Seinen  gezollt  wurde,  eingebüßt  haben. 

Besser  als  den  Realisten  ist  es  den  Romantikern 
ergangen,  die  allerdings  duruh  Moriz  von  Schwind 
und  Ludwig  Richter  die  deutsche  Kunst  in  ihrer  Art 
nahe  an  den  Gipfel  der  Vollendung  geführt  haben. 
Noch  heute  wird  Schwind’ s  im  Jahre  1844  veröffent¬ 
lichter  „Almanach  von  Radirungen“,  den  Feuchters¬ 
ieben  mit  erklärenden  Versen  versah,  von  den  Ken¬ 
nern  geschätzt,  und  jeder  Anhänger  Ludwig  Richter’ 's 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  9. 


—  und  welcher  deutsche  Kunstfreund  zählte  sich 
nicht  zu  seinen  Bewunderern?  —  weiß,  dass  seine 
Blätter:  „Rübezahl“,  „Genoveva“  und  die  „Christ¬ 
nacht“  gleichwertig  mit  seinen  besten  Holzschnit¬ 
ten  sind. 

In  technischer  Beziehung  hat  aber  weder  Schwind 
noch  Richter  die  Radirung  gefördert  und  ebenso  we¬ 
nig  der  phantasievolle  Eugen  Neureuther,  während 
Kaspar  Scheuren,  J.  W.  Schirmer  und  Adolf  Schrödter 
in  dieser  Hinsicht  entschiedener  auf  malerische  Wir¬ 
kungen  ausgingen,  und  sich  Menzel  in  den  wenigen 
Proben,  die  wir  von  ihm  besitzen,  auch  auf  diesem 
Gebiete  als  selbständiger  Künstler  bewährte.  Trotz¬ 
dem  ging  es  mit  der  Radirung  sehr  langsam  bei 
uns  vorwärts. 

Wenn  wir  von  vorübergehenden  Versuchen  in 
Berlin  und  München  absehen,  so  erscheint  der  im 
Jahre  1876  in  Weimar  gegründete  Radirverein  als 
das  erste  umfassende  Unternehmen,  in  Deutschland 
der  Radirung  einen  festen  Boden  zu  bereiten.  Er 
fand  zunächst  in  Düsseldorf  Nachahmung,  wo  sich 
im  Jahre  1879  ein  Radirklub  bildete,  und  seit  1886 
auch  in  Berlin,  während  in  München  erst  seit  dem 
Jahre  1891  ein  Verein  für  Originalradirungen  be¬ 
steht.  Bei  dieser  spärlichen  Betheiligung  der  deut¬ 
schen  Künstler  war  es  von  Wichtigkeit,  dass  der 
Verleger  dieser  Zeitschrift  schon  bei  ihrer  Begrün¬ 
dung  im  Jahre  1866  die  Pflege  der  Radirung  ins 
Auge  fasste,  und  dass  die  in  Wien  bestehende  Ge¬ 
sellschaft  für  vervielfältigende  Kunst  seit  dem  Jahre 
1870  dieselbe  Aufgabe  mit  in  ihr  Programm  aufnahm. 

Überblickt  man  heute  die  Summe  alles  dessen, 
was  im  einzelnen  in  Deutschland  geleistet  worden 
ist,  so  zeigt  es  sich,  dass  viele  als  Maler  hervorragende 
Künstler  nebenbei  die  Radirnadel  geführt  haben, 
z.  B.  Andreas  Achenbach,  Max  Zimmermann,  Schönleber 
u.  a.  m. ;  aber  es  ist  charakteristisch,  dass  selbst  die 
Kenner  unserer  neueren  Kunstgeschichte  von  diesen 
Versuchen  meistens  nichts  wissen.  Da  es  nicht  Auf¬ 
gabe  dieser  Übersicht  sein  kann,  eine  compendienartige 
Aufzählung  zu  geben,  müssen  wir  uns  begnügen, 
unter  den  deutschen  Malerradirern,  die  nur  nebenbei 
die  Ätzkunst  betrieben  haben,  auf  denjenigen  hinzu¬ 
weisen,  der  sich  auf  diesem  Gebiete  als  ein  Meister 
von  seltener  Kraft  bewährt  hat,  auf  Wilhelm  Leibi. 

Wie  als  Maler,  so  imponirt  Leibi  auch  als  Ra¬ 
direr  zunächst  durch  die  erstaunliche  Solidität  und 
Feinheit  seiner  Technik.  Ihr  dankt  er  vor  allem 
seine  großen  Erfolge,  wobei  nicht  geleugnet  wer¬ 
den  soll,  dass  er  sich  auch  innerhalb  des  beschränkten 
Rahmens  seines  Stoffgebietes  als  ein  Meister  psycho- 

31 


234 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


logischer  Charakteristik  erwiesen  hat.  Auch  in  sei¬ 
nen  Radirungen,  von  denen  nur  wenige  bekannt  ge¬ 
worden  sind,  begegnen  wir  jenem  unendlichen  Fleiß, 
der  niemals  ermüdet,  und  zugleich  bei  der  minutiöse¬ 
sten  Verwendung  der  kürzesten  und  feinsten  Strichel¬ 
chen  niemals  kleinlich  wird.  Wir  veröffentlichen 
hier  eines  seiner  gelungensten  Blätter,  den  1874  ent¬ 
standenen  Trinker,  das  alle  Vorzüge  seines  Ver¬ 
fahrens  und  seine  Vorliebe  für  scharfe  Kontrast¬ 
wirkungen  vortrefflich  erkennen  lässt. 

Außer  Leibi  hat  unter  den  Münchenern  nament¬ 
lich  Peter  Hahn  (geh.  1854)  bahnbrechend  für  die 
Pflege  der  Radirung  in  der  bayerischen  Hauptstadt 
gewirkt.  Er  gehört  zu  den  Begründern  des  bereits 
erwähnten  Münchener  Radirvereins  und  hat  einer 
Menge  von  Malern  die  Anfangsgründe  seiner  Kunst 
beigebracht.  Hauptsächlich  als  reproducirender  Ra- 
direr  thätig,  hat  er  sich  doch  auch  in  der  Original¬ 
radirung  versucht,  indem  er  landschaftliche  Motive 
von  meist  einfachem  Charakter  zu  stimmungsvollen 
Naturstudien  zu  verarbeiten  wusste,  die,  wie  die 
Leser  der  Zeitschrift  wissen,  vor  allem  wegen  ihrer 
treuen  Beobachtung  der  Wirklichkeit  und  ihrer  geist¬ 
reichen  Durcharbeitung  gefallen. 

Unter  denjüngeren  Münchenern  erscheint  nament¬ 
lich  der  gleichfalls  als  Mitarbeiter  der  „Zeitschrift“ 
bekannt  gewordene  Carl  Theodor  Meyer- Basel  von 
Halm  beeinflusst;  er  bat  als  Originalradirer  nach 
Motiven  vom  Bodensee,  den  er  sich  überhaupt  als 
Studienplatz  ausersehen  hat,  weit  Besseres  geleistet 
als  in  denjenigen  Blättern,  in  denen  er  nach  Bildern 
neuerer  Meister  gearbeitet  hat,  und  wir  möchten 
glauben,  dass  ihm  noch  eine  schöne  Zukunft  bevor¬ 
steht,  sobald  er  sich  entschließt,  von  einer  gewissen 
Flüchtigkeit,  die  allen  uns  von  ihm  bekannt  gewor¬ 
denen  Arbeiten  eigen  ist,  abzusehen,  und  sich  mehr 
als  bisher  in  den  von  ihm  gewählten  Vorwurf  hin¬ 
ein  zu  vertiefen. 

Durch  Halm  wurde  auch  Karl  Stauff'er- Bern 
(f  1891)  in  die  Anfangsgründe  der  Ätzkunst  ein- 
geführt,  in  der  er  vermutlich  das  Größte  geleistet 
hätte,  wenn  ihm  ein  längeres  Leben  beschieden 
gewesen  wäre.  Stauffer  besaß  echtes  Künstlerblut 
und  eine  ebenso  ausgesprochene  künstlerische  Selb¬ 
ständigkeit  und  Originalbegabung,  wie  sein  Freund 
,1/(7./  Kling  er ,  dessen  Stellung  in  der  Geschichte  der 
neueren  Radirung,  ebenso  wie  früher  diejenige  Stauffers, 
erst  kürzlich  an  dieser  Stelle  so  eingehend  gewür¬ 
digt  worden  ist,  dass  wir  es  uns  ersparen  können, 
die  Bedeutung  beider  Männer  hier  noch  einmal  dar¬ 
zulegen.  Der  Dritte  in  diesem  Bunde  hochbedeuten¬ 


der  Originalradirer,  auf  die  Deutschland  mit  Stolz 
hinweisen  darf,  ist  Ernst  Moriz  Geyger  (geh.  1861), 
von  dem  wir  nach  den  bis  jetzt  von  ihm  abgelegten 
Proben  noch  Großes  erhoffen  dürfen,  zumal  er  ebenso 
Hervorragendes  in  seinen  selbstersonnenen  Schöp¬ 
fungen,  wie  in  seinen  reproducirenden  Arbeiten  lei¬ 
stet,  unter  denen  sein  erst  jüngst  vollendetes  Blatt 
nach  dem  Frühlingshilde  Botticelli’ s  obenan  steht. 

,  Weit  bekannter  und  hei  der  großen  Masse  der 
Kunstfreunde  im  hohen  Masse  beliebt  ist  Bernhard 
Mannfeld  aus  Meißen.  Seine  Spezialität,  die  er  mit 
großer  Geschicklichkeit,  aber  wenigstens  in  letzter 
Zeit  auch  mit  einer  gewissen  kunstgewerblichen  Be¬ 
triebsamkeit  pflegt,  ist  die  A^ereinigung  von  Land¬ 
schaft  und  Architektur.  In  den  Blättern  aus  der 
Umgebung  seiner  Vaterstadt  Meißen,  z.  B.  in  dem 
bekannten  Blatt,  in  der  wir  die  Albrechtsburg  in 
Schnee  erblicken,  hat  er  recht  Erfreuliches  geboten, 
in  anderen  aber  hat  er  leider  seiner  Vorliebe  für 
grob  dekorative  Wirkungen  und  für  barocke  Um¬ 
rahmung  zu  sehr  nachgegeben  und  dadurch  sein 
Ansehen  beiden  feinsinnigeren  Kennern  einigermaßen 
herabgedrückt. 

An  der  Spitze  der  reproducirenden  deutschen 
Radirer  steht  William  Unger  in  Wien,  ein  Künstler, 
der  wegen  seiner  bahnbrechenden  Verdienste  in  der 
Geschichte  der  deutschen  Ätzkunst  immer  einen 
Ehrenplatz  behaupten  wird 

Unger,  geboren  1837  in  Hannover,  ging  als 
Schüler  des  Disputastechers  Josef  Keller  und  des 
Kartonstechers  Julius  Thaeler  vom  Kupferstich  aus, 
ließ  sich  aber  durch  das  Studium  der  Radirungen 
liembrandt’s  und  0 stade  s  bestimmen,  es  auf  gut  Glück 
mit  der  Ätzkunst  zu  versuchen,  wobei  er  von  E.  A.  See- 
mann ,  dem  Verleger  dieser  Zeitschrift,  kräftig  unter¬ 
stützt  wurde.  Ihr  erster  1866  erschienener  Band 
brachte  auch  die  ersten  Radirungen  Unger’s,  die  nach 
einer  Photographie  hergestellte  Ansicht  des  Steffen’ 
sehen  Hauses  in  Danzig,  ferner  Tartini’s  Traum  nach 
einem  Bilde  von  James  Marschall  und  den  „Moses“ 
nach  Plockhorst.  Hierauf  folgte  eine  Anzahl  gleich¬ 
falls  für  die  „Zeitschrift“  radirter  Blätter  nach 
Originalen  der  Braunschweiger  (1867  und  1868) 
und  Kasseler  Galerie  (1869  bis  1870).  Unger  ging 
bei  diesen  Arbeiten  nicht  darauf  aus,  mit  der  Pho¬ 
tographie  in  Bezug  auf  Genauigkeit  in  der  Wieder¬ 
gabe  zu  wetteifern;  vielmehr  begnügte  er  sich  mit 
einer  „sinngetreuen,  nicht  wortgetreuen  Übersetzung“, 
in  deren  Herstellung  er  sich  allmählich  eine  große 
Meisterschaft  aneignete.  Seine  besten  Leistungen 
sind  ohne  Zweifel  die  beiden  Folgen  von  Radirungen 


ZUR,  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


235 


nach  Bildern  von  Frans  Hals  und  Rembrandt,  sowie 
sein  großes  in  den  Jahren  187G — 1885  erschienenes 
Belvederewerk.  Sie  machten  ihrem  Urheber  auch 
im  Ausland  einen  Namen,  da  er  z.  B.  in  seiner 
Interpretation  der  „Nachtwache“  ein  Werk  schuf, 
das  sich  sehr  wohl  neben  den  Radirungen  desselben 
Bildes  von  Flameng ,  Waltner  und  Whistler  sehen 
lassen  kann.  Nebenbei  pflegte  Unger  schon  von 
Anfang  an  auch  nach  Gemälden  moderner  Meister 
zu  arbeiten,  unter  denen  ihm  die  eigentlichen  Kolo¬ 
risten,  wie  Makart,  am  meisteu  zusagten.  Seit  1872 
in  Wien  ansässig  und  seit  1881  Lehrer  an  der  Wie¬ 
ner  Kunstgewerbeschule,  hat  Unger  eine  Menge 
Schüler  herangebildet,  unter  denen  Alplions ,  Strack 
und  Krostewitz  hervorzuheben  sind. 

Uuger’s  Verdienst  ist  es  auch,  dass  gerade  in 
Wien  die  Radirung  sich  sicherer  und  fester  ein- 
biirgern  konnte,  als  in  irgend  einer  andern  deutschen 
Kunststadt.  Von  ihm  angezogen,  kam  Wilhelm 
Woernle  (geh.  1849)  nach  längerer,  wechselreicher 
Wanderschaft  nach  Wien,  avo  er  von  der  Wiener 
Gesellschaft  für  vervielfältigende  Kunst  für  das 
Rester  Galerie  werk  beschäftigt  wurde,  um  hierauf 
selbständig  nach  modernen  Meistern  zu  arbeiten. 
Wien  hat  endlich  auch  den  vortrefflichen  Wilhelm 
Hecht  angezogen,  der  gegenwärtig  als  Leiter  der 
xylographischen  Anstalt  der  dortigen  Staatsdruckerei 
thätig  ist  und  die  Illustrationen  für  das  groß  an¬ 
gelegte  Werk  über  die  österreich-ungarische  Mo¬ 
narchie  überwacht,  der  aber  früher,  als  er  noch  in 
München  weilte,  eine  ganze  Reihe  vortrefflicher 
Radirungen  nach  Bildern  Schwindts  und  Böclclins 
in  der  Galerie  des  Grafen  Schack  lieferte  und  in 
seinen  Reproduktionen  nach  Lenbach' sehen  Bild¬ 
nissen  ein  ungewöhnliches  Können  an  den  Tag  legte. 

Eine  ähnlich  führende  Stellung,  wie  Unger  in 
Wien,  nimmt  Johann  Leonhard  Raab  in  München  ein. 
Raab  gehört  zu  den  V  eteranen  der  deutschen  Kupfer¬ 
stecherei,  aber  mit  seiner  Berufung  an  die  Münchener 
Kunstakademie  im  Jahre  1869  ging  er  zur  Radirung 
über  und  lieferte  nahezu  fünfzig  Blätter  nach 
Bildern  der  alten  Pinakothek,  die,  wenn  sie  auch 
nicht  genial  erscheinen,  doch  wegen  ihrer  Treue 
und  Sorgfalt  hohe  Anerkennung  verdienen.  Raabs 
tüchtigster  Schüler  ist  seine  eigene  Tochter  Doris 
Raab.  Sie  ist  sowohl  im  Kupferstich  als  auch  in  der 
Radirung  ganz  in  die  Fußtapfen  ihres  Vaters  ge¬ 
treten  und  hat  sich  mit  einer  großen  Radirung  nach 
einem  weiblichen  Bildnis  Rembrandt'  s  in  der  Liech¬ 
tenstein-Galerie  in  Wien  im  Jahre  1892  eine  zweite 
Medaille  auf  der  Münchener  Jahresausstellung  er- 


Avorben  und  damit  den  Beweis  geliefert,  dass  sie  den 
Wettbewerb  mit  ihren  männlichen  Kollegen  nicht 
zu  scheuen  braucht.  Von  den  übrigen  zahlreichen 
Schülern  Raabs,  zu  denen  außer  dem  bereits  als 
Originalradirer  gekennzeichneten  Peter  Halm  auch 
Hohapfl ,  Robert  Raudner,  Faist,  Deininger  und  Lopienski 
gehören,  haben  sich  Wilhelm  Krauskopf  (geboren  zu 
Zerbst  im  Jahre  1847)  und  Ludwig  Kahn  (geboren 
zu  Nürnberg  im  Jahre  1859)  am  meisten  bekannt 
gemacht.  Beide  sind  den  Lesern  der  Zeitschrift  als 
fleißige  Mitarbeiter  bekannt,  beide  haben  ihr  Bestes 
in  der  Wiedergabe  von  Bildern  niederländischer 
Maler  geleistet,  aber  während  Krauskopf  seinen  Ar¬ 
beiten  gelegentlich  durch  allzu  große  Flüchtigkeit 
schadet  und  sich  überhaupt  mit  ziemlicher  Freiheit 
seinen  Originalen  gegenüber  bewegt,  erscheint  Kühn 
Avenigstens  in  seinen  früheren  Blättern  zwar  immer 
als  gewissenhaft,  aber  gleichzeitig  auch  ein  Avenig 
ängstlich,  ein  Fehler,  den  er  jedoch  in  neuester  Zeit 
mehr  oder  minder  abgelegt  hat. 

Obwohl  in  Berlin  schon  seit  längeren  Jahren 
Stecher  wie  Hans  Meyer,  Louis  Jacobg  und  Gustav 
Eilers  wirken,  so  kann  von  einer  eigentlichen  Ber¬ 
liner  Radirerschule  nicht  die  Rede  sein.  Es  zeigt  sich 
auch  hier  wieder,  dass  Berlin  nicht  der  Boden  ist, 
um  geschlossene  Künstlergruppen  aufkommen  zu 
lassen,  wie  das  immer  Avieder  in  München  der  Fall 
ist.  Selbst  Männer  von  hervorragender  Bedeutung 
und  großem  Lehrtalent  vermögen  dort  nicht  schul¬ 
bildend  zu  wirken  und  von  einer  einheitlichen  Phy¬ 
siognomie  der  Berliner  Kunst  kann  man  bis  heute 
nicht  reden,  eine  Thatsache,  die  man  je  nachdem 
als  einen  Vorzug  oder  als  einen  Mangel  ansehen 
mag.  Für  die  reproducirende  Radirung  hat  die  Her¬ 
ausgabe  des  großen  Galeriewerkes  wenigstens  einen 
äußeren  Mittelpunkt  geschaffen.  Einer  der  tüchtig¬ 
sten  Mitarbeiter  an  diesem  Unternehmen  ist  Albert 
Krüger  aus  Stettin  (geh.  1858)  ein  Schüler  Jacobg s, 
und  als  solcher  mehr  für  den  Grabstichel  als  für  die 
Radirnadel  eingenommen,  die  er  in  seinen  letzten 
Arbeiten  nur  noch  bei  Nebendingen  angewendet  hat. 
Hervorragend  erscheint  aber  in  allen  seinen  Blättern 
die  Gewissenhaftigkeit  seines  Verfahrens,  die  seine 
Reproduktionen  namentlich  für  wissenschaftliche 
ZAvecke  höchst  schätzenswert  macht. 

In  dieser  Hinsicht  Avird  Krüger  gegenwärtig  nur 
übertroffen  durch  den  aus  Dresden  stammenden,  aber 
seit  einigen  Jahren  in  Berlin  wirkenden  Karl  Köpping 
(geh.  1848),  den  bedeutendsten  Techniker,  den  die 
Radirkunst  heute  aufzuweisen  hat.  Köpping  ist  von 
Hause  aus  Chemiker.  Daraus  erklärt  sich  seine  Vor- 


31 


236 


AMOS  CASSIOLI. 


liebe  für  die  eigentliche  Ätzwirkung  und  die  Raffinirt- 
lieit  seiner  durchaus  auf  Ton  und  Kolorit  ausgehen¬ 
den  Vortragsweise,  die  teilweise  auch  aus  dem  Um¬ 
stand,  dass  er  als  Künstler  mit  dem  Studium  der 
Malerei  begann,  verständlich  wird.  Sein  eigentlicher 
Lehrer  in  der  Radirung  war  Waltner  in  Paris. 
Waltners  Einfluss  wird  am  deutlichsten  in  Köpping’s 
Radirungen  nach  zwei  weiblichen  Bildnissen  Rem- 
brandt’s  und  nach  Tizians  Franz  I.  im  Louvre.  Selb¬ 
ständiger  tritt  er  uns  in  seinen  Reproduktionen  nach 
Munkäcsy  aus  den  Jahren  1880  und  1881  entgegen. 
Den  Höhepunkt  seiner  bisherigen  Entwicklung  aber 
erreichte  er  in  seinen  großen  Radirungen  nach  Rem- 
brandt’s  Vorstehern  der  Tuchmacherzunft  in  Amster¬ 
dam,  nach  Rembrandfs  Kopf  eines  Greises  mit  langem 
Bart  in  der  Dresdener  Galerie  und  nach  Frans  Hals’ 
großem  Schützenbild  in  Harlem.  Köpping  hat  nament¬ 
lich  in  diesen  Arbeiten  nach  Rembrandt  ein  wahr¬ 


haft  kongeniales  Verständnis  für  das  Wesen  des 
großen  Holländers  bewiesen  und  eine  solche  Mannig¬ 
faltigkeit  in  der  Anwendung  aller  Mittel  der  Radirung 
an  den  Tag  gelegt,  dass  man  diese  beiden  Blätter 
nicht  mehr  als  Kopien,  sondern  als  selbständige 
Nachschöpfungen  ansehen  darf.  Indessen  ist  es 
fraglich,  ob  es  Köpping  gelingen  wird,  seine  geniale 
Art  auch  auf  seine  Schüler  zu  übertragen,  die  ihm 
als  Vorsteher  des  Meisterateliers  für  Kupferstecher¬ 
kunst  an  der  Berliner  Akademie  in  großer  Zahl  Zu¬ 
strömen  werden.  Jedenfalls  ist  sein  Einfluss  auf  die 
jüngere  Generation  der  Radirer  schon  heute  sehr 
bedeutend,  doch  darf  nicht  verkannt  werden,  dass 
seine  allen  Regeln  spottende  Arbeitsweise  nur  von 
einem  ähnlich  bedeutend  veranlagten  Geist  ungestraft 
nachgeahmt  werden  kann,  während  sie  für  jeden 
mittelmäßig  begabten  Künstler  gefahrbringend  sein 
dürfte.  (Schluss  folgt.) 


AMOS  CASSIOLI. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


IE  moderne  italienische  Kunst 
hatte  im  Jahre  1891  den  Ver¬ 
lust  einer  Reihe  von  nam¬ 
haften  Künstlern  zu  beklagen. 
Sie  verlor  im  Frühling  den 
Bildhauer  Vela  und  den  Maler 
Ciseri,  im  Herbst  den  Maler 
Riccolo  Barabino  und  im  Win¬ 
ter  Arnos  Cassioli. 

Cassioli  war  ein  genauer  Zeitgenosse  Barabino’s, 
seine  Geburt  und  sein  Tod  fielen  in  dasselbe  Jahr  wie 
die  des  Genuesischen  Künstlers:  1832  und  1891.  Die 
Lebensläufe  beider  Männer  waren  jedocb  weit  verschie¬ 
den.  Barabino,  der  jung  seinen  Beruf  fand,  hatte  den 
Vorteil  eines  ununterbrochenen  Studiums  in  der  Aka¬ 
demie  zu  Genua  und  den  künstlerischen  Vorschub,  der  ihm 
durch  die  Schülerschaft  bei  Durazzo  wurde;  so  fand  er 
keinen  äußeren  Zwang  der  seine  Entwickelung  gehin¬ 
dert  hätte,  und  als  er  starb,  stand  er  auf  dem 
Gipfel  seines  Könnens  und  seiner  Kraft;  Cassioli,  der 
zum  Priester  erzogen  war  und  Zimmermannsarbeit  ver¬ 
richten  musste,  gelangte  verhältnismäßig  spät  in  die 
Akademie  von  Siena,  war  von  Anfang  an  durch  Armut 
und  Kränklichkeit  gehindert,  und  starb,  von  schmerz¬ 
voller  Krankheit  verzehrt,  als  ein  gebeugter,  verbrauchter 
Mann. 


Der  Gegenstand,  den  er  für  sein  letztes  Bild  wählte, 
zielt,  kann  man  sagen,  auf  eine  hoffnungsvolle  Voraus¬ 
sicht  des  Endes.  Der  Himmelsbote,  der  im  2.  Gesang  von 
Dante’s  Fegefeuer  beschrieben  ist,  kommt  übers  Meer, 
das  zwischen  Erde  und  Fegefeuer  ausgebreitet  liegt, 
mit  einer  menschlichen  Seele  an  der  Hand.  Das  Wasser 
ist  vom  frischen  Morgenwind  gekräuselt  und  zeigt  an 
der  linken  Seite  des  Bildes  einen  dunklen  Purpurton; 
der  Himmel,  mit  großen  Massen  von  weißen  Wolken 
bedeckt,  verliert  sich  rasch,  fast  zu  rasch,  in  dem  tiefen 
Blaugrün  zur  Rechten.  Der  Engel  bewegt  sich  dem 
Beschauer  entgegen  mit  erhobenem  Haupte,  die  Augen 
geradeaus  gerichtet,  und  das  Haar  leicht  zurückgeblasen 
von  der  Schnelligkeit  der  Bewegung.  Man  denkt  an  die 
Beschreibung,  die  Dante  zum  Teil  in  den  Mund  des 
Virgil  legt: 

„Sieh,  wie  er  nach  dem  Himmel  sie  gerichtet, 

Die  Luft  mit  ewigem  Gefieder  schlagend, 

Das  nicht  wie  sterblich  Haar  den  Stoff'  verändert.“ 

Als  mehr  und  mehr  der  göttliche  Beschwingte 
Dann  auf  uns  zukam,  zeigt’  er  stets  sich  heller, 

Dass  in  der  Näh’  ihn  nicht  ertrug  das  Auge. 

Drum  schlug  ich’s  nieder.  Jener  kam  ans  Ufer 
In  einem  Nachen  also  schnell  und  leicht, 

Dass  er  im  Wasser  keine  Spur  zurückließ. 

Purgatorio  II,  34  ff.) 


AMOS  CASSIOLI. 


237 


Die  Worte  des  Dichters  sind  fein  interpretirt,  die 
großen  weißen  Schwingen  des  Engels ,  der  frische 
Morgen,  der  Himmel  und  Meer  färbt,  die  ruhige,  ernste 
Seligkeit  im  Gesicht,  das  dem  Beschauer  voll  zugewandt 
ist,  das  kleine  Boot,  die  weiße  Seele,  die  der  Bote  mit 
der  linken  Hand  stützt,  machen  ein  sehr  poetisches 
Ganze,  voll  hoffnungsreichen  Friedens  aus.  Die  Skizze, 
denn  es  ist  nur  eine  solche,  wurde  von  Cassioli’s  Sohn 
für  die  Guerrazzi- Capelle  auf  dem  Friedhof  von  Li¬ 
vorno  getreu  kopirt.  Das  Gemälde  macht  umsomehr 
Eindruck  auf  den  Freund  von  Cassioli’s  Kunst,  als  es 
durchaus  verschieden  im  Gegenstand  und  in  der  Be¬ 
handlung  von  des  Malers  gewohnter  Arbeit  ist.  Seine 
Darstellungen  waren  im  allgemeinen  entweder  histo¬ 
rischer  Art  oder  historische  Genrebilder  mit  einer  Fülle 
von  Figuren,  oder  Interieurs,  klassische  oder  mittel¬ 
alterliche,  mit  zwei  oder  drei  Figuren.  Cassioli's  Kolo¬ 
rit  ist  oft  düster,  immer 
harmonisch, manchmal  reich, 
doch  ohne  völlig  glänzend 
zu  sein,  aber  das,  was  am 
meisten  in  seinen  Gemälden 
auffällt,  ist  seine  auserle¬ 
sene  und  harmonische  Art 
der  Zeichnung.  Die  Floren¬ 
tiner  geben  ihm  das  so  oft 
in  Verbindung  mit  Andrea 
del  Sarto  gebrauchte  Bei¬ 
wort  des  vollkommenen 
Zeichners. 

Das  erste  von  Cas¬ 
sioli’s  großen  Bildern,  das, 
welches  seinen  Ruhm  be¬ 
gründete,  mag  von  Besu¬ 
chern  von  Florenz  in  der 
Galerie  moderner  Gemälde 
in  der  Via  Ricasoli  besichtigt  werden.  Es  wurde  1859  ge¬ 
malt,  als  unmittelbar  nach  der  Vertreibung  des  Großherzogs 
Bettino  Ricasoli’s  revolutionäre  Regierung  einen  Preis 
für  das  beste  Bild  der  Schlacht  bei  Legnano  aussetzte. 
Der  Gegenstand  war  zu  günstiger  Zeit  gewählt;  der 
wackere  Kampf  der  italienischen  Liga  um  ihre  Standarte, 
die  Niederlage  Barbarossa’s  mochte  wohl  besonders  zur 
Darstellung  reizen,  als  die  Wogen  des  Enthusiasmus 
hoch  gingen  für  die  Befreiung  von  der  österreichischen 
Herrschaft  und  für  die  Einigung  Italiens. 

Dieser  Wettstreit  gab  Cassioli,  damals  27  Jahre 
alt,  Gelegenheit,  seine  künstlerische  Laufbahn  mit 
kühnem  Mute  zu  eröffnen.  Bis  dahin  schienen  ihm  die 
Schicksalsgötter  günstig  gestimmt  zu  sein.  Als  Sohn 
des  Besitzers  eines  Cafe’s  in  der  kleinen  Stadt  As- 
ciano,  welche  zwischen  Kalkhügeln  einige  Meilen  von 
Siena  entfernt  liegt ,  war  Arnos  Cassioli  früh  bei 
einem  Onkel  untergebracht,  der  ein  Priester  war  und 
wünschte,  dass  der  Neffe  in  seine  Fußtapfen  treten 


und  ihm  auf  das  Seminar  in  Arezzo  folgen  sollte. 
Dort  erhielt  er  seinen  ersten  Zeichenunterricht,  aber  er 
musste  seine  Aufmerksamkeit  zumeist  der  Musik  zu¬ 
wenden,  die  er  unter  seinem  Onkel,  einem  bekannten 
Organisten,  studirte.  Die  „schreckliche  Scheinheiligkeit“, 
der  er  unter  den  Priestern  begegnete  und  die  erwachte 
Begeisterung  für  seine  Zeichenstunden  wirkten  zu¬ 
sammen,  um  ihn  gegen  den  Eintritt  in  den  geistlichen 
Stand  zu  stimmen.  Bei  seines  Vaters  Tode  kehrte  er 
demgemäß  nach  seinem  Geburtsorte  zurück  und  nahm 
Wohnung  bei  seiner  Mutter,  da  er  sich  ganz  der  Kunst 
zu  widmen  gedachte.  Aber  die  Mittel  der  Familie 
waren  gering,  Bilder  brachten  kein  Brot  ein,  wenigstens 
unmittelbar  nicht,  und  der  junge  Arnos  musste  sich 
fügen  und  einen  Lebensunterhalt  suchen.  Er  gab  sich  zu 
einem  Böttcher  in  die  Lehre,  aber  die  harte  Arbeit  war 
eine  schwere  Prüfung  für  ihn,  und  nur  dem  Dazwischen¬ 
treten  einiger  Freunde  war 
es  zu  danken,  dass  er  nicht 
zusammenbrach.  Sie  schick¬ 
ten  ihn  zur  Erholung  zu 
den  Mönchen  von  Mont- 
Oliveto,  wo  er  einige  Mo¬ 
nate  verblieb  und  die  ruhige 
Harmonie  und  die  religiöse 
Stimmung  von  Sodoma’s 
Fresken  genießen  durfte. 
Alsdann  kehrte  er  nach 
Siena  zurück,  wo  eine  ge¬ 
meinsame  Unterstützung 
der  Freunde  es  ihm  ermög¬ 
lichte,  in  die  Akademie  ein¬ 
zutreten  und  sich  ganz  der 
Kunst  zu  weihen.  Diese 
Subscription  brachte  ihm 
ein  monatliches  Stipendium 
von  ungefähr  16  Franken  ein.  Damit  musste  sich  der 
begeisterte  Kunstjünger  erhalten  und  er  hatte,  wie  er 
selbst  es  ausdrückte,  Brot  und  Radischen  zu  Mittag 
und  Brot  ohne  Radischen  als  Abendessen. 

Im  Jahre  1853,  als  er  21  Jahre  alt  geworden  war, 
sollte  Cassioli  Militärdienste  unter  den  österreichischen 
Fahnen  thun ;  aber  sein  Lehrer  Mussini  in  Siena  em¬ 
pfahl  ihn  so  warm  bei  dem  Großherzog,  dass  dieser 
ihm  nicht  nur  den  Dienst  erließ,  sondern  ihm  auch  noch 
die  Mittel  gewährte,  die  nächsten  sechs  Jahre  in  Rom 
znzubringen.  Hier  kam  Cassioli  mit  manchem  bekannten 
Künstler  in  Verbindung,  unter  andern  mit  Stefano  Ussi, 
einem  der  poetischsten  der  lebenden  Maler  Italiens. 
Das  Ergebnis  seiner  Studien  wurde  offenbar,  als  er 
1859  sein  erstes  großes  Bild,  die  Schlacht  bei  Legnano, 
vollendete. 

Diese  große  Leinwand  stellt  den  letzten  siegreichen 
Kampf  der  lombardischen  Liga  dar.  Der  Schlachten¬ 
wagen  mit  der  Standarte,  um  den  der  Kampf  am  hef- 


Der  Himmelsbote.  Gemälde  vou  A.  Cassioli. 


Die  Schlacht  von  Legnano.  Gemälde  von  A.  Cassioli. 


Der  Erstgeborene.  Gemälde  von  A.  Cassioli. 


AMOS  CASSIOLT. 


239 


tigsten  tobt,  nimmt  den  Hintergrund  des  Bildes  ein; 
der  Staub  des  Schlachtgewühls  umgiebt  ihn  wie  Weih¬ 
rauch  und  hüllt  die  Kämpfer  zur  Hälfte  ein.  Das  Bild 
hat,  wie  man  beim  ersten  Anblick  sieht,  große  Vorzüge. 
Es  offenbart  eine  feinsinnige  Einbildungskraft  und  die 
vollendete  Zeichenkunst,  durch  welche  der  Künstler  be¬ 
rühmt  geworden  ist;  aber  es  hat  auch  seine  Fehler, 
und  wie  sollte  das  Werk  eines  jungen  Mannes  von  27 
Jahren  solche  nicht  haben?  Der  erste  ist  ein  Mangel 
in  der  Gruppirung  und  im  Gleichgewicht  der  Teile.  Die 
Aufmerksamkeit  des  Beschauers  wird  nicht  sogleich 
durch  den  Schlachtenwagen  gefesselt,  auch  nicht  durch 
den  unberittenen  Barbarossa,  der  unbemerkt  in  einer 
Ecke  angebracht  ist.  Dies  ist  vielleicht  ein  Zugeständ¬ 
nis  an  die  historische  Wahrheit.  Viel  mehr  fällt  zu¬ 
nächst  das  heftige  Vordringen  eines  lombardischen 
Fahnenträgers  mit  wildrollenden  Augen  auf,  der  auf 
einem  schönen  schwarzen 
Streitrosse  die  rote  Kreuz¬ 
fahne  in  der  erhobenen 
Linken,  alles  vor  sich  nie¬ 
derwirft.  Ferner  ist  das 
ganze  Bild  allzu  sauber 
ausgeführt.  Die  Strahlen 
der  Sonne  zeigen  augen¬ 
scheinlich  den  Abend  an ; 
und  der  Umstand,  dass  der 
Kaiser  und  seine  Leibgarde 
dicht  bei  dem  feindlichen 
Streitwagen  sich  befinden, 
bezeichnet  den  Höhepunkt 
eines  heißen  Tageskampfes. 

Aber  des  Kaisers  Rüstung 
und  Sammtwams  sind  so 
fleckenlos,  als  hätten  sie 
soeben  nicht  das  Zelt,  son¬ 
dern  die  Werkstätte  verlassen;  die  Pferde,  glatt  und 
glänzend,  mit  gewellter  Mähne  und  Schwanzhaar  scheinen 
eben  aus  dem  Stalle  gekommen  zu  sein ;  Blut  ist  nur  wenig 
geflossen,  der  Schlachtenqualm  ist  zu  einem  feinen  Nebel 
idealisirt.  Cassioli  war  offenbar  in  Bezug  auf  das 
Colorit  noch  unter  dem  Einflüsse  seines  früheren  Leh¬ 
rers  Mussini  und  dem  der  alten  toskanischen  Schule 
Benvenuti’s  befangen. 

Im  Jahre  1863  entstand  ein  zweites  großes  Gemälde, 
welches  den  ersten  Preis  in  einem  nationalen  Wettbewerb 
errang.  Der  Vorwurf  sollte  historisch  sein  und  Cassioli 
wählte  eine  Episode  des  Besuches  Galeazzo  Sforza’s,  Her¬ 
zogs  von  Mailand,  bei  Lorenzo  de’  Medici.  Dies  Gemälde, 
von  dem  sich  eine  kleine  Wiederholung  in  der  Gallerie 
Pisani  in  Florenz  befindet,  zeigt  Cassioli  in  rechtem 
Lichte.  Das  Colorit  ist  reich  und  gediegen,  die  Grup¬ 
pirung  harmonisch,  der  Ausdruck  auf  Lorenzo’s  Gesicht, 
der  seine  Goldschätze  und  die  berühmten  Gemmen  und 
Cameen  ausbreitet,  und  der  der  Haltung  des  Galeazzo 


Sforza,  der  in  nachlässiger  Stellung  aufmerksam  zuhört, 
sind  sehr  charakteristisch.  In  den  Frauengesichtern 
dieses  Bildes  erscheint  schon  der  von  dem  Meister  stetig 
gebrauchte  Typus,  schöne  Cinquecentogestalten  mit  aus¬ 
drucksvollem  Antlitz,  wie  hier  besonders  die  weibliche 
Figur  rechts  hinter  dem  Stuhl  des  Herzogs  von  Mailand. 

Cassioli’s  nächstes  großes  Bild,  1873  entstanden,  ist 
nicht  nur  als  Gemälde  interessant,  sondern  auch  dadurch, 
dass  es  den  Marktplatz  von  Siena  zeigt,  wie  er  zu 
Dante’s  Zeiten  war.  Es  stellt  den  Einfall  des  Provenzano 
Salvani  dar,  der  seinen  Rang  als  Sieneser  Patrizier  und 
Führer  der  Ghibellinenpartei  in  Toskana  aufgiebt,  um 
wie  ein  gewöhnlicher  Bettler  auf  öffentlichem  Platze 
Almosen  zu  heischen  als  Lösegeld  für  seinen  von  Karl 
v.  Anjou  gefangen  gehaltenen  Freund.  Das  Bild  be¬ 
findet  sich  jetzt  in  Municipio  in  Siena,  wo  Cassioli  auch 
noch  den  Gedächtnissaal  für  Viktor  Emanuel  mit  Fresken 

geschmückt  hat. 

Cassioli’s  Bilder  einzeln 
zu  nennen,  kann  nicht  unter¬ 
nommen  werden;  er  war 
sehr  fruchtbar  als  Maler 
und  seine  Produkte  sind 
allenthalben  in  der  Welt 
verstreut.  Ihre  vortreffliche 
Zeichnung,  harmonische 
Färbung  und  die  gewählten 
Scenen  machten  den  Künst¬ 
ler  fast  in  der  ganzen  Welt 
beliebt.  Ein  kleines  Bild 
unter  dem  Namen  Leonar- 
do’s  Atelier  brachte  ihm 
auf  Reisen  mehrere  Preise 
ein,  so  in  Philadelphia  und 
in  Santiago.  Der  Karton 
zu  dieser  Leinwand  ist  noch 
unter  den  Zeichnungen  und  Skizzen  befindlich,  die  Cas¬ 
sioli’s  Sohn  in  dem  Atelier  hinter  dem  englischen  Fried¬ 
hof  in  Florenz  aufbewahrt.  Fr  ist  insofern  anziehend, 
als  er  die  verschiedenen  Wandlungen  der  Komposition 
zeigt,  die  das  Werk  vor  seiner  endlichen  Gestalt  durch¬ 
gemacht  hat.  Die  Stellung  des  weiblichen  Modells  wurde 
mehrere  Male  geändert  und  die  sehr  schöne  Gestalt 
schließlich  mit  einer  Draperie  versehen,  nicht  zum  Vorteil 
des  Bildes.  Nennenswert  sind  von  Cassioli’s  Bildern  noch: 
„Bocaccio,  Geschichten  erzählend“,  das  er  mehrere  Male 
ausführte,  und  „Maria  Stuart  und  Rizzio“.  Zu  den 
besten  von  Cassioli’s  späteren  Bildern  zählt  „Francesca 
von  Rimini“,  das  mit  dem  letztgenannten  zusammen  in 
der  Galerie  Pisani  zu  sehen  ist.  Der  Künstler  hat  den 
Moment  dargestellt,  den  Francesca  selbst  erzählt,  als  sie 
und  ihr  Geliebter  an  Dante  vorüberziehen,  von  dem  nimmer 
ruhenden  Winde  getrieben,  der  im  zweiten  Kreise  der 
Hölle  herrscht: 


Francesca  von  Rimini.  Gemälde  von  A.  Cassioli. 


240 


BEITRÄGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


„Wir  lasen  eines  Tages  zum  Ergötzen 

Von  Lanzelot,  wie  ihn  die  Lieb’  umstrickte: 

Wir  waren  einsam  und  ohn’  alles  Arg. 

Wohl  mehr  als  einmal  wirkte  jenes  Lesen, 

Dass  wir  anblickten  uns  und  uns  entfärbten; 

Doch  eine  Stelle  wars,  die  uns  bezwang. 

Als  wir  von  dem  ersehnten  Lächeln  lasen, 

Erweckt  vom  Kusse  solcher  Liebenden, 

Da  küsste  Er,  der  nie  von  mir  sich  trennt, 

Am  ganzen  Leibe  bebend,  mir  den  Mund. 

Verführer  war  das  Buch  und  der’s  geschrieben,  — 
An  jenem  Tage  lasen  wir  nicht  weiter.“ 

(Inferno  V,  127  ff.) 

La  bocca  mi  baciö  tutto  Demante,  das  ist  der  ge¬ 
wählte  Moment.  Wir  finden  nicht  die  leidenschaftliche 
Francesca  der  Hölle  vor  uns,  doch  die  Sehnsucht  des  tief¬ 
sten  Gefühls  hat  sie  überwältigt  und  ist  in  jeder  Linie 
ihres  Körpers  ausgedrückt,  wie  sie  dem  feurigen  Paolo 
gestattet,  ihre  ganze  Seele  mit  der  brennenden  Leiden¬ 
schaft  seines  Kusses  zu  trinken.  Nichts  kann  feiner 
sein,  als  die  beiden  Gestalten  des  Bildes,  und  nichts 
zieht  die  Aufmerksamkeit  von  ihnen  ab.  Das  zarte 
Blau  von  Francesca’s  Mieder,  das  dunkle  Rot  der  Matte, 
auf  der  ihre  Füsse  ruhen,  drängen  sich  nicht  vor  und 
tragen  nur  zur  Vollendung  des  harmonischen  Gesamt¬ 
eindrucks  bei. 

Eines  der  besten  Gemälde,  das  unter  Cassioli’s  Pinsel 
entstanden,  war  für  einen  Londoner  Händler  gemalt,  Mr. 
Joy,  der  es  für  „das  beste  Bild,  das  er  je  aus  Italien 
empfing,“  erklärte.  Es  stellte  den  Quixote  dar,  wie  er 
in  Gegenwart  des  Herzogs  und  der  Herzogin  von  einer  Schar 


hübscher  munterer  Dirnen  rasirt  wird,  indes  der  wackere 
Sancho  von  weitem  zusieht. 

Wir  können  bei  Betrachtung  von  Cassioli’s  Künstler¬ 
schaft  seine  Genrebilder  nicht  übergehen.  Seine  Art  und 
Farbengebung  waren  im  allgemeinen  vielleicht  nicht  so 
geeignet  dafür.  Wenigstens  scheint  es  einem  Augeso, 
das  an  die  glänzenden  Licht-,  Luft-  und  Farbeneffekte 
Alma  Tadema’s  gewöhnt  ist.  Dennoch  sind  diese  Bilder 
stets  gefällig  durch  ihre  Anmut  der  Figuren  und  die 
charakteristische  Zeichnung  besonders  der  Kinder.  Wir 
geben  auch  davon  eine  Probe.  Ein  anderes  Bild,  das 
sich  jetzt  in  der  Galerie  Hautraann  befindet,  stellt  eine 
römische  Dame  dar,  die  mit  einem  Kaninchen  auf  ihrem 
Schoße  spielt,  und  es  mit  einigen  Kirschen  neckt,  die  sie 
über  den  Kopf  des  Tieres  hält.  Zwei  Kinder  sehen 
lachend  zu.  Die  Bewegung  der  Figur,  mit  dem  erhobenen 
und  ausgestreckten  Arme,  ist  höchst  graziös  und  das 
Ganze  ist,  wie  immer  bei  C'assioli,  fein  und  ein¬ 
schmeichelnd  im  Ton,  steht  aber  doch  nicht  so  hoch,  dass 
man  es  zu  den  besten  Leistungen  des  Künstlers  zählen 
könnte. 

Cassioli’s  Tod  wurde  iu  der  Kunstwelt  von  Florenz 
sehr  empfunden;  er  war  als  Mensch  beliebt,  geehrt  als 
Künstler  und  wurde  als  der  letzte  würdige  Vertreter 
der  historischen  Malerschule  Toskanas  betrachtet,  die  nun 
nahe  am  Erlöschen  ist.  Ein  Sohn  setzt  seinen  Namen 
und  sein  Werk  fort;  er  ist  zugleich  Maler  und  Bild¬ 
hauer,  gehört  aber  einer  modernen  Richtung  an,  wie 
dies  bei  der  jungen  Generation  nur  begreiflich  und 
natürlich  ist.  IS  AB  EL  LA  M.  ANDERTON. 


BEITRÄGE 

ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


Van  Eyek’s  Tempera. 

VON  ERNSI  BERGER ,  MALER. 


(Schluss.) 


OREN  wir  nun  Vasari's  Erzählung  von  van 
Eyck  und  seinen  Bericht  über  dessen  be- 
rühmte  „Erfindung“:....  „Unter  solchen 
Umständen  (d.  h.  den  fruchtlosen  Versuchen  in 
Italien  und  anderwärts)  trug  es  sich  zu,  dass  Jo¬ 
hannes  von  Bruges,  kunsterfahren  in  Flandern, 
wo  er  wegen  seiner  großen  Geschicklichkeit  sehr 
geschätzt  war,  Versuche  mit  verschiedenen  Arten 
von  Farben  machte  und,  da  er  sich  auf  Alchemie 
verstand,  verschiedene  Oie  für  die  Bereitung  von 
Firnissen  und  anderen  Dingen  präparirte,  Versuche, 
wie  sie  erfindungsreiche  Männer  wie  er  gewöhnlich 
machen.“  (Vasari  veränderte  „ stillando  continuova- 


mente  olii  per  far  vernici“  der  I.  Ausg.  in  „a  far  di 
molti  olii“  etc.,  weil,  wie  Eastlake  (loc.  cit.  I,  p.  204 
Anmerkung)  glaubt,  das  Destilliren  von  Oien  zu 
Vasari’s  Zeiten  wohl  bekannt  war,  aber  ganz  ent¬ 
gegengesetzt  zu  van  Eycks  Art  gewesen,  eine  An¬ 
schauung,  die  ohne  weiteres  geteilt  werden  kann.) 

Lassen  wir  zunächst  noch  Vasari  das  Wort: 
„Bei  Gelegenheit  eines  mühevoll  ausgeführten  Bildes 
auf  Holz,  welches  er  mit  besonderer  Sorgfalt  vollen¬ 
dete  und  zum  Trocknen  des  Firnisses,  wie  es  bei 
Tafelbildern  üblich  war  (come  si  costuma  alle  tavole), 
in  die  Sonne  stellte,  sprangen  die  Fugen  entzwei, 
sei  es  durch  die  zu  große  Hitze  oder  weil  das  Brett 


BEITRÄGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


241 


nicht  gut  zusammengefügt  oder  das  Holz  nicht  ge¬ 
nügend  gelagert  war.“ 

„Als  Giovanni  den  Schaden  sah,  welchen  die 
Sonnenhitze  an  seinem  Bilde  verursacht  hatte,  be¬ 
schloss  er,  zu  irgend  einem  Mittel  Zuflucht  zu  neh¬ 
men,  um  dieselbe  Ursache  ein  zweites  Mal  bei  sei¬ 
nem  Werke  zu  vermeiden;  und  da  er  nicht  weniger 
unzufrieden  war  mit  dem  Firnissen  als  mit  dem 
Prozess  des  Temperamalens,  begann  er  über  eine 
Art  der  Präparation  des  Firnisses  nachzudenken, 
welcher  im  Schatten  trocknen  sollte,  um  das  in  die 
Sonne  Stellen  der  Bilder  zu  vermeiden.  Nachdem 
er  nun  viele  Dinge  versucht  hatte,  sowohl  allein 
als  auch  miteinander  gemengt  (e  pure,  e  mescolate 
insieme),  fand  er  schließlich,  dass  Leinöl  und  Nussöl 
unter  allen,  welche  er  daraufhin  geprüft  hatte,  viel 
trocknender  waren  als  die  übrigen.  Diese  also, 
mit  anderen  seiner  Mischungen  (misture)  zusammen¬ 
gekocht,  gaben  ihm  den  Firnis,  nach  welchem  er, 
wie  auch  alle  anderen  Maler  der  Welt,  lange  ge¬ 
fahndet  hatten.  Nachdem  er  noch  Erfahrung  mit 
vielen  anderen  Dingen  gemacht,  sah  er,  dass  das 
Mischen  der  Farben  mit  diesen  Sorten  von  Ölen 
(queste  sorti  di  olii)  ihnen  ein  sehr  starkes  Binde¬ 
mittel  (una  tempera  molto  forte)  gab,  welches  ge¬ 
trocknet  nicht  nur  Wasser  nicht  zu  fürchten  hatte, 
sondern  die  Farben  so  sehr  festigte,  und  dass  es 
ihnen  von  selbst  Glanz  verlieh,  ohne  gefirnisst  zu 
sein.  Und  was  ihm  noch  wunderbarer  schien,  war, 
dass  sich  hier  (die  Farbenschichten)  unendlich  besser 
verbinden  ließen  als  bei  Tempera.“  (E  che  secca 
non  solo  non  temeva  l'aqua  altrimenti,  e  accendeva 
il  colore  tanto  forte,  che  gli  dava  lustro  da  per  se 
senza  vernice.  Et  quello  che  piu  gli  parve  mlrabile  fu 
che  si  univa  meglio  che  la  tempera  infinitamente.) 

Dass  in  dieser  Erzählung  zwei  Dinge  als  van 
Eyck’s  Erfindung  genannt  sind,  nämlich  der  Firnis, 
„den  alle  Welt  suchte“,  und  das  Ölbindemittel  aus 
Leinöl  oder  Nussöl,  wurde  mehrfach  dahin  gedeutet, 
dass  Vasari  sich  nicht  richtig  auszudrücken  verstand. 
Aus  der  ersten  Stelle  geht  aber  deutlich  hervor, 
dass  die  Notwendigkeit  des  Fh'nissens  in  der  Sonne 
der  Hauptübelstand  gewesen  ist,  und  wir  müssen 
darin  die  von  Theophilus  beschriebene  Technik  und 
den  Prozess  des  Malens  mit  „Gummitempera“  wieder¬ 
erkennen,  wie  er  vorhin  geschildert  ist,  nämlich  das 
auch  dreimal  zu  wiederholende  Malen  mit  dieser 
Tempera  und  das  Firnissen  jeder  einzelnen  gemalten 
Schichte  in  der  Sonne.  Ein  Firnis,  welcher  also 
stark  genug  wäre,  um  die  eingeschlagene  Tempera 
„herauszuholen“,  ohne  die  wasserlösliche  Schichte 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  9. 


zu  alteriren,  würde  demnach  dafür  geeignet  sein. 
Essenzfirnisse,  die  diese  Eigenschaft  haben,  zur  Zeit 
des  Vasari  auch  bekannt  waren,  sind  jedoch  aus¬ 
geschlossen,  weil  Vasari  das  Wort  stillando  in  der 
zweiten  Ausgabe  absichtlich  weglässt  und  speciell 
hervorgehoben  wird,  dass  der  Firnis  aus  Ölen  ge¬ 
kocht  (bolliti),  also  nicht  destillirt  wurde.  Unter  den 
„altre  sue  misture“,  welche  mit  gekocht  wurden, 
kann  man  wahrscheinlich  die  damals  bekannten  und 
verwendeten  Mittel  zum  Reinigen  und  Trocknender- 
machen  der  Öle  verstehen  (Kalk  und  Knochenasche, 
Steinalaun,  Galizenstein  etc.;  vergl.  Hei’aclius;  Sti’aß- 
burg.  Ms.).  Dass  es  sich  hier  aber  um  die  Oltempera,  die 
Emulsion  handelt,  ergibt,  sich  aus  dem  folgenden: 
Er  versuchte,  heißt  es,  alles,  sowohl  pur  als  auch 
miteinander  gemischt,  also  die  damals  allgemeinen 
Ei-  und  Gummitemperas  auch  zusammen  vermischt 
mit  den  Ölen  und  Firnissen,  da  musste  er  ja  „ein 
Manu,  der  sich  auf  Alchemie  so  sehr  verstand“, 
„ein  so  findiger  Kopf“  darauf  kommen,  dass  sich 
Gummi  oder  Eigelb  mit  fetten  C>len  emulgirt!  Da 
musste  er  ja  die  Entdeckung  eines  solchen  Öles, 
das  im  Schatten  trocknet,  machen,  und  dass  das 
Mischen  von  Farben  mit  solchen  Arten  von  Ölen 
(queste  sorti  di  olii),  nämlich  den  emulgirten,  ihnen 
eine  sehr  starke  Tempera,  d.  h.  ein  wassermischbares 
Bindemittel  gab,  und  dass  diese  Tempera,  getrocknet, 
Wasser  nicht  zu  scheuen  hatte,  erkannte  er  nach 
den  ersten  Versuchen  des  Übermalens  sogleich! 
Wenn  an  dieser  Stelle  Ölfarbe  nach  unserem  heu¬ 
tigen  Begriff  gemeint  wäre,  hätte  die  ganze  Bemer¬ 
kung  doch  gar  keinen  Sinn,  denn  auf  trockene  Öl¬ 
farbe  wirkt  Wasser  ohnehin  nicht.  Es  kann  also  nur  ein 
wassermischbares  Bindemittel,  eine  Tempera  gemeint 
sein.  Man  vergleiche  damit  das  Emulsionsrezept 
des  Marciana  Ms:  la  quäl  colla  non  teme  aqua  ne 
cossa  che  sia  und  wird  finden,  dass  hier  ebenso  diese 
Eigenschaft  besonders  hervorgehoben  ist,  obwohl  es 
ein  wassermischbares  Bindemittel  ist  und  weil  alle 
anderen  Temperaarten,  wenn  sie  auch  ganz  trocken 
sind,  doch  vom  Wasser  aufgelöst  werden.  Darin 
bestand  eben  für  van  Eyck  der  große  Wert  dieser 
Tempera,  und  seine  Überraschung  und  Freude  war 
deshalb  so  groß,  weil  er  diese  besondere  Eigentümlich¬ 
keit  nicht  cmvartet  hatte,  nach  seinen  bitteren  Erfah¬ 
rungen  mit  früheren  Bindemitteln  auch  nicht  er¬ 
warten  konnte!  Das  Übermalen  mit  derselben  Tem¬ 
pera,  wie  es  üblich  war,  konnte  ohne  weiteres 
geschehen,  weil  „die  Farbe  an  sich  schon  fest 
genug  war  und  schon  Glanz  hatte“,  ohne  gefirnisst 
zu  sein,  wobei  sich  überdies  die  Verbindung  der 

32 


242 


BEITRÄGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


einzelnen  Farblagen  noch  besser  als  zuvor,  infinita- 
mente  meglio,  ja  unendlich  besser  erzielen  ließ, 
sogar  bevor  die  erste  Farbschicht  vollkommen  trocken 
war!  Dieser  kleine  aber  sehr  wichtige  Umstand  ist 
aus  Van  Mander’s  Erzählung  zu  ersehen,  welche 
sich  zum  größten  Teil  an  Vasari  anschließt  und  der 
zum  Schluss  noch  hinzufügt,  „dass  sich  hier  die 
Farbe  besser  also  mit  dem  Öle  ließ  vertreiben  und 
verarbeiten  als  mit  der  Ei-  oder  Leimtempera,  und 
nicht  so  getrocknet  zu  sein  bedurfte “  (en  niet  en  hoefde 
so  ghetrocken  te  zijn  gedaen).  Das  ist  ja  der  ganze 
Jammer  unserer  modernen  Öltechnik,  dass  wir  gar 
nie  genug  lang  unsere  Malerei  trocknen  lassen  und 
fortwährend  Nachdunkeln  und  Rissigwerden  befürch¬ 
ten  müssen,  wenn  auf  das  Halbnasse  gemalt  wird. 
Van  Mander  sagt  von  der  van  Eyck’schen  Technik 
gerade  das  Gegenteil!  Die  Bilder  der  altflandrischen 
und  Kölner  Schule  sind  aber  trotz  ihres  fast  500jährigen 
Alters  viel  besser  erhalten,  als  die  modernen  in  eben 
so  viel  Jahrzehnten  oft  sind.  Schon  aus  diesem 
Grunde  müssten  wir  zur  Einsicht  gelangen,  dass  die 
Meister  des  XV.  und  XVI.  Jahrhunderts  nach  einem 
ganz  anderen  System  gearbeitet  haben,  als  wir  bis¬ 
her  angenommen  haben. 

Die  „flandrische  Methode“  bestand  eben  darin, 
dass  die  Farben  mit  „solchen  Ölen“,  d.  h.  ihrer 
durch  Mischung  mit  anderen  Dingen,  wie  Ei  oder 
Gummi,  hergestellten  Emulsion  angerieben  wurden, 
dass  die  Malerei,  wenn  dieselbe  eingeschlagen  war,  mit 
einem  beliebigen  Firnis  überstrichen  werden  konnte 
und,  bevor  die  Farbe  oder  der  Firnisüberzug  voll¬ 
kommen  trocken  war,  schon  wieder  mit  derselben 
Tempera  übermalt  werden  durfte;  die  Zahl  der  Über¬ 
malungen  war  auch  nicht  begrenzt  wie  früher.  Darin 
steckt  also  der  Kernpunkt  der  ganzen  Technik,  das 
ist  das  Neue,  die  bellissima  invenzione,  die  Disciplina 
di  Fiandra!  Darin  liegen  die  großen  Verbesserungen, 
die  als  das  Verdienst  der  van  Eycks  auzusehen  sind 
und  lange  hindurch  von  der  Malerwelt  als  Geheim¬ 
nis  betrachtet  wurden:  deshalb  sind  die  geschrie¬ 
benen  und  gedruckten  Nachrichten  darüber  so  un¬ 
sicher  und  verschleiert,  weil  man  ein  Geheimnis, 
nach  „welchem  alle  Maler  der  ganzen  Welt  gesucht“, 
nicht  veröffentlichen  wollte!  ln  dem  uns  erhaltenen 
Mareiana  Ms,  dem  das  bereits  erwähnte  Firnisrezept, 
aus  Emulsion  bestehend,  entnommen  ist,  wird  aber 
doch  diese  Malart  mitgeteilt;  dieser  Beweis  erhält 
um  so  größere  Kraft,  weil  das  Ms  in  der  Stadt  ent¬ 
standen  ist,  in  welcher  Antonei  lo  da  Messina  bis 
zu  seinem  Tode  gelebt  hat.  Unter  den  Anweisungen, 
welche  Merrifield  (Treatises,  II,  p.  608 — 640)  dai'aus 


publizirte,  findet  sich  nämlich  eine  für  die  Ölmalerei 
merkwürdige  Variation:  Wie  man  mit  verschiedenen 
Farben  in  Öl  ,,a  putrido“  arbeitet  (Rp.  301 — 9.  Colori 
diversi  per  dipingere  e  lavori  a  olio  a  putrido).  A 
putrido  heißt  wörtlich,  in  Fäulnis  oder  Zersetzung 
geraten  und  am  Schlüsse  des  Rezeptes  wird  an¬ 
gegeben,  dass  dies  durch  Eigelb  zu  geschehen  habe! 
Es  heißt  dort:  „Die  Tempera  dieser  Farben  (näm¬ 
lich  der  Ölfarben)  „a  putrido“  verfertigt,  besteht  aus 
Wasser  mit  Eigelb,  etwas  weniger  als  die  Hälfte 
der  Farbe  selbst.“  (La  tempera  di  questi  colori  fatti 
a  putrido:  a  acqua  e  el  tuorlo  del  vuovo  un  poco 
manco  che  la  meta  del  colore.)  Rp.  Nr.  328  zeigt, 
dass  man  auch  auf  Glas  „a  putrido“  malen  kann 
(Se  vuoi  dipigniere  in  sul  vetro  a  putrido).  Wir 
hätten  demnach  unter  a  putrido  die  venezianische 
Bezeichnung  für  die  Emulsionstempera  (das  Ms 
wird  um  1500  verfasst  sein,  vergl.  Merrifield)  zu 
verstehen. 

Da  solche  Emulsionen  leicht  in  Fäulnis  über¬ 
gehen,  wurde  schon  damals  gewiss  irgend  eine  stark 
riechende  Substanz  verwendet.  Vasari  spricht  davon, 
dass,  „obschon  die  von  Holland  nach  anderen  Städten 
versandten  Bilder,  wenn  sie  noch  neu  waren,  den 
starken  Geruch  (odore  acuto)  hatten,  welchen  die 
Mischung  (immixtura)  der  Farben  mit  den  Ölen  ihnen 
gab,  so  dass  es  möglich  schien,  die  Ingredienzen  zu 
erkennen“,  man  doch  die  Entdeckung  lange  Jahre 
nicht  kannte.  Nach  Lomazzo  (Idea  del  Tempio 
della  Pittura,  1590)  könnte  dazu  Spiköl  verwendet 
worden  sein,  welches  sehr  geeignet  dazu  ist.  (Kon- 
servirungsmittel  waren  in  der  Miniaturmalerei  stets  im 
Gebrauch;  Rosenwasser,  Realgar,  Kamfer  für  Ei¬ 
klar,  Essig  für  Eigelb  wird  in  frühen  Mss  bereits 
erwähnt.)  Was  die  „altre  cose“  betrifft,  welche  Lo¬ 
mazzo  (loc.  cit.  Kap.  21,  p.  71)  als  Beigabe  zum 
Nussöl  und  Spiköl  für  Ölmalerei  erwähnt,  so  ist  es 
schwer,  daraus  klug  zu  werden;  wenn  aber  einmal 
das  System  der  emulgirten  Öle  in  den  Bereich  der 
Betrachtung  aufgenommen  ist,  so  sind  die  Varia¬ 
tionen  so  zahlreich  und  die  Zubereitung  eine  so  ver¬ 
schiedene,  dass  jeder  einzelne  Maler  sie  für  seine 
speciellen  Zwecke  und  nach  eigener  Erfahrung  an¬ 
fertigen  konnte. 

Aus  der  Fortsetzung  von  Vasari’s  Erzählung  geht 
deutlich  hervor,  dass  es  sich  nicht  um  die  Mischung 
von  Ölen  zum  Farbpigment  handelte,  sondern  um  eine 
bestimmte  neue  Art,  mit  Ölfarben  zu  malen.  Waagen 
(Über  Hubert  und  Jan  v.  Eyck,  Breslau  1822)  macht 
schon  auf  diese  Stellen  aufmerksam,  dass  Antonello, 
nachdem  er  van  Eyck’s  Gemälde  in  Neapel  gesehen, 


243 


BEITRÄGE  ZUR  ENTWICKLUNGSGESCHICHTE  DER  MALTECHNIK. 


sich  nach  Flandern  aufmachte,  um  diese  Art  in  Öl 
zu  vialen  (la  maniera  di  quel  lavorar)  kennen  zu 
lernen;  in  Flandern  angelangt,  bemühte  er  sich  sehr 
darum,  bis  Johann  v.  Eyck  darein  willigte,  seine 
Methode  der  Malerei  zu  sehen  (l’ordine  del  suo  colo- 
rito)  und  er  verließ  Flandern  nicht  eher,  bis  er  voll¬ 
kommen  darin  erfahren  war  (fino  che  ebbe  appreso 
eccelemente  quel  colorire).  Nach  Venedig  zurück¬ 
gekehrt,  arbeitete  er  verschiedene  Bilder  in  01  nach 
der  von  Flandern  gebrachten  Art  (nella  maniera  a 
olio,  che  egli  di  Fiandra  aveva  portato),  und  auch 
andere  Schriftsteller  sprechen  stets  von  etwas  ganz 
Neuem,  so  Leon  Battista  Alberti,  welcher  von  novum 
inventum,  also  einer  neuen  Erfindung  berichtet, 
die  die  alte  Manier,  auf  Mauer  mit  Ölfarben  zu 
malen,  verdrängte,  ebenso  Filarete,  welcher  jedoch 
nichts  darüber  verlauten  lässt,  worin  die  Neuerung 
bestanden  hätte.  Massimo  Stanzione  erzählt,  dass 
Antonello  in  Brügge  gelernt  hätte,  auf  welche  Weise 
man  gut  in  Öl  malen  könne  (come  bene  si  dipin- 
geva  ad  olio),  während  man  in  Italien  wie  in  Flandern 
früher  Ölfarben  bereitet  hatte,  aber  nicht  verstanden 
hätte,  geschickt  damit  zu  arbeiten,  da  diese  Mal¬ 
weise  „ für  denjenigen,  welcher  die  Behandlungsweise 
nicht  kenne,  ebenso  große  Schwierigkeit  habe,  als  die 
Freskomalerei  für  einen,  der  nicht  damit  umzugehen 
wisse.“ 

In  der  That  haben  die  Versuche  gezeigt,  dass 
sich  während  der  Arbeit  eine  Veränderung  des  Tones 
bemerkbar  macht,  insbesondere  wenn  auf  den  noch 
leuchten  Firnisüberzug  übermalt  wird;  aber  die  Töne 
werden  l*ier  tiefer  und  vereinigen  sich  mit  dem  Unter¬ 
grund,  wenn  man  nicht  absichtlich  hellere  Lichter 
aufträgt.  Sollte  diese  Eigentümlichkeit  nicht  direkt 
Bezug  haben  mit  der  obigen  Stelle  des  Stanzioni? 

Was  und  wie  Vasari  von  van  Eyck’s  Neuerung 
berichtet,  hat  sich  bei  kritischer  Beleuchtung  als  ge¬ 
nügend  deutlich  ergeben,  um  darin  die  „Mischung 
der  Öle  mit  der  Tempera“  als  Öltempera  oder 
Emulsion  zu  erkennen;  er  spricht  von  der  „irnmix- 
tura“  und  dem  „scharfen  Geruch“  des  Konservirungs- 
mittels,  er  weiß  davon,  dass  das  Mischen  der  Farben 
mit  „solchen  Ölen,  d.  h.  ihrer  Tempera“  (questi  olii, 
che  e  la  tempera  loro,  Introduzione  C.  XXII)  ein  Binde¬ 
mittel  abgiebt,  welches  nach  dem  Trocknen  Wasser 
nicht  zu  fürchten  hat.  Die  Bezugnahme  auf  Bal- 
dovinetti’s  Versuche,  welche  zweifellos  Emulsion  von 
Ölfirnis  mit  Eitempera  gewesen  und  das  im  Marciana 
Ms  mehrfach  erwähnte  Rezept  der  „a  putrido“ 
Malerei,  können  die  obigen  Annahmen  nur  bestätigen. 
Alle  diese  quellenschriftlichen  Notizen  erhalten  aber 


durch  die  vielfachen  ausgeführten  Proben  zehnfache 
Beweiskraft!  Nicht  nur  Malereien  im  Charakter  der 
flämischen  Meister  des  XV.  Jahrh.,  sondern  ebenso 
gut  ließen  sich  mit  dieser  Methode  .Kopien  nach 
Dürer,  Holbein  und  ihrer  Zeit  ausführen. 

Die  Knappheit  des  mir  in  diesen  Blättern  zu¬ 
gewiesenen  Raumes  gestattet  mir  leider  nicht,  des 
näheren  darauf  einzugehen,  wie  sich  aus  dem  von 
van  Mander  in  seiner  Einleitung  (Den  Grondt  der 
Edel  vry  Schilder- const  C.  12)  gebotenen  Details 
über  damals  und  vorher  übliche  Maltechnik  eine 
Menge  neuer  Schlüsse  ziehen  lassen  und  wie  sich 
die  Ölmalerei  im  Laufe  der  Zeit  folgerichtig  und 
naturgemäß  aus  der  Emulsiontechnik  weiter  ent¬ 
wickeln  musste,  sowohl  in  Italien  von  Antonello  bis 
Tizian  als  auch  im  Norden  von  van  Eyck  bis  Ru¬ 
bens  und  Rembrandt.  Nur  auf  Dürer  sei  noch  hin¬ 
gewiesen,  aus  dessen  wenigen  in  den  Briefen  an 
Heller  liinterlassenen  Stellen  ersichtlich  ist,  dass  er 
sich  eines  Bindemittels  von  dem  Charakter  des  oben 
beschriebenen  bedient  haben  muss.  Van  Mander  setzt 
ihn  direkt  neben  Johann  v.  Eyck,  Limas  (von  Leyden) 
und  Breughel  als  Muster  technischer  Vollkommen¬ 
heit  (Cap.  12,  Vers  19,  loc.  cit),  die  es  liebten,  auf 
das  reine,  dick  geweißte  Brett  direkt  zu  malen,  im 
Gegensätze  zu  den  Späteren,  welche  sich  mit  „Doot- 
vervve“  Untermalung  oder  rötlicher  Imprimitur  (het 
primuersel  was  carnatiachtich)  behalfen.  Dürer 
schreibt  in  den  bekannten  Briefen  an  Jacob  Heller 
über  die  Altarausführung  (1508)  (Ed.  Dr.  Lange 
undFuhse,  1893,  Nr.  48):  „die  Flügel  seind  auswendig 
von  Steinfarben  ausgemalt,  aber  noch  mit  gefürneisst, 
und  innen  seind  sie  ganz  untermalt,  dass  man  darauf 
anfang  auszumalen,  und  das  Corpus  (Mittelstück) 
hab  ich  mit  gar  großem  Fleiß  mit  langer  Zeit,  auch 
ist  es  mit  zwei  gar  guten  Farben  unterstrichen,  daß 
ich  daran  anfange  zu  untermalen.  Das  hab  ich  in 
Willen,  so  ich  Eurer  Meinung  verstehen  wird,  etlicli 
4  oder  5  und  6  mal  zu  untermalen,  von  Beinigkeit 
und  Beständigkeit  wegen  etc.“  Ein  Jahr  darauf 
schreibt  Dürer  (1509),  nachdem  die  Bilder  fertig  ge¬ 
worden:  „ich  hab  sie  mit  großem  Fleiß  gemalt,  als 
Ihr  sehen  werdt.  Ist  auch  mit  den  besten  Farben 
gemacht,  als  ich  sie  hab  mögen  bekommen,  sie  ist 
mit  guter  Ultramarin,  uhter-über-  und  ausgemalt, 
etwa  5  oder  0  mal.  Und  da  sie  schon  ausgemacht 
war,  hab  ich  sie  darnach  noch  zwiefach  übermalt,  ■ 
auf  dass  sie  lange  währe“  etc.  Wenn  auch  die  „zwei 
gar  guten  Farben“  als  weiße  Grundirung  betrachtet 
werden  könnten,  so  bleiben  doch  immer  noch  die 
fünf-  oder  sechsmalige  „Unter-Uber-  und  Ausmalung“. 

32* 


244 


DIE  GEMÄLDEGALERIE  DOETSCH  IN  LONDON. 


auf  welche  noch  zweimal  gemalt  wurde,  also  doch 
mindestens  8  Farbschichten  von  Ölfarbe  bei  Dürer! 
Dabei  noch  alle  diese  Klarheit  an  seinen  Werken 
und  denen  seiner  Zeitgenossen!  Es  ist  wohl  nicht 
anzunehmen,  dass  er  nicht  nur  den  Heller’schen  Altar, 
dessen  Mittelstück  leider  verbrannte,  so  ausgeführt 
hat,  er  wird  auch  andere  große  Arbeiten,  wie  das 
Dreifaltigkeitsbild  der  Wiener  Sammlung  mit  der¬ 
selben  Sorgsamkeit  auch  so,, unter- über- undausgemalt“ 
haben.  Technisch  ist  es  ganz  und  gar  unmöglich, 
dass  auf  diesem  oder  ähnlichen  anderen  Bildern  acht 
Schichten  von  Ölfarbe  in  unserem  heutigen  Sinne 
sich  befinden,  und  nur  die  Annahme,  dass  er  ein  mit 
Wasser  bis  aufs  äußerste  Maß  verdünnbares  Binde¬ 
mittel,  die  Öltempera  zum  Beispiel,  benutzt  hat,  lässt 
es  denkbar  erscheinen,  dass  8  Farbschichten  ohne 
Gefahr  für  das  Nachdunkeln  aufgetragen  werden 
können.  Mit  einem  solchen  Bindemittel  lassen  sich 
die  feinsten  Details,  die  einzelnen  Härchen  des  Bartes, 
auf  das  noch  Nasse  oder  wie  immer  auftragen,  und 
da  es  nicht  nötig  war,  auf  das  völlige  Trocknen  zu 
warten,  konnte  ungehindert  weiter  und  fertig  gemalt 
werden.  Nur  so  können  wir  uns  die  große  Produk¬ 


tivität  aller  jener  Meister  vorstellen,  deren  Werke 
„wie  aus  einem  Gusse“  gearbeitet  scheinen!  Den 
van  Eyck’s  muss  aber  das  Verdienst  zugesprochen 
werden,  die  Neuerung  und  technische  Umwälzung, 
die  in  der  Emulgirung  der  Öle  für  Malzwecke  be¬ 
steht,  in  die  Malerei  eingeführt  zu  haben.  Nicht 
das  Mischen  der  Farben  mit  Ölen  oder  deren  bessere 
Reinigung  u.  drgl.,  sondern  dass  sie  aus  dem  fetten, 
zähen  Firnisbindemittel,  dem  vernice  liquida  oder 
anderen  Ölen,  ein  wassermischbares,  bis  zu  jedem 
gewünschten  Grade  verdünnbares  Malmittel  zu  be¬ 
reiten  lehrten,  ist  ihr  von  der  damaligen  Künstler¬ 
welt  unbestritten  anerkanntes  Verdienst! 

Nur  durch  die  Einführung  von  destillirten  Ölen 
(Terpentin),  sowie  weingeistiger  Firnisse  in  die 
Malerei  und  mit  dem  allgemeinen  Gebrauch  der  Lein¬ 
wand  als  Untergrund  durch  die  Fapresto-Maler  mit 
dem  Ende  des  nächsten  Jahrhunderts  erlitt  die  Van 
Eyck’sche  Technik  naturgemäß  einschneidende  Ver¬ 
änderungen,  welche,  wie  es  scheint,  diesmal  von 
Italien  ausgingen  und  als  die  Grundlage  für  unsere 
heutige  Öltechnik  zu  betrachten  sein  werden. 


DIE  GEMÄLDEGALERIE  DOETSCH  IN  LONDON. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


Folge  des  Todes  des  Herrn  Heinrich  Doetsch 
gelangt  dessen  Unterlassene,  höchst  eigenartige 
Jemäldesammlung  am  22.  Juni  d.  J.  hei  Christie 
in  London  zum  öffentlichen  Verkauf.  Die  beiden  kunst¬ 
verständigen  Testamen tsexekutoren ,  Herr  Karl  Doetsch 
und  Herr  Dr.  Gustav  Ludwig,  haben  die  Anfertigung 
iles  Katalogs  der  dortigen  ersten  Autorität  auf  diesem 
speciellen  Gebiete,  Herrn  Dr.  Jean  Paul  Richter, 
übertragen.  Letzterer  hat  mehrere  Monate  dazu  ver¬ 
wandt,  jedes  einzelne  Gemälde  der  440  Nummern  des 
Katalogs  der  eingehendsten  und  sorgfältigsten  Prüfung 
zu  unterziehen,  um  ein  Resultat  zu  gewinnen,  welches 
sich  auf  rein  kunstwissenschaftliche  Kritik  und  ver¬ 
gleichende  Studien  begründet.  Durch  seine  große 
Kenntnis  aller  bedeutenden  Galerien  wurde  Dr.  Richter 
bei  dem  gedachten  schwierigen  Unternehmen  auf  das 
wirksamste  unterstützt,  so  dass  die  Aufgabe  als  eine 
vollkommen  gelöste  zu  betrachten  ist.  Der  Verfasser  des 
vorliegenden  Katalogs  sagt  daher  mit  Recht:  „Es  bedarf 
wohl  kaum  einer  Versicherung,  dass  neue  Benennungen 
den  Wert  der  Sammlung  als  solcher  durchaus  nicht  her- 
absetzen,  am  allerwenigsten  in  den  Augen  der  Kenner 


und  derjenigen  Sammler,  denen  es  darum  zu  thun  ist, 
Gemälde  zu  besitzen,  die  ihre  Namen  nicht  bloß  einem 
Zufall  oder  Einfall  verdanken“. 

Die  Sammlung  Doetsch  ist  in  den  letzten  20  Jahren 
entstanden  und  besonders  hervorragend  durch  Werke 
der  italienischen  und  niederländischen  Blütezeit;  aber 
auch  vortreffliche  deutsche  und  spanische  Kunstwerke 
fehlen  nicht.  Einen  der  eigentümlichsten  Grundzüge 
der  Kollektion  bildet  das  Vorhandensein  einer  großen 
Anzahl  von  Porträts,  welche  zugleich  mit  ihrem  Kunst¬ 
wert  ein  hohes  geschichtliches  und  archäologisches  In¬ 
teresse  besitzen.  Hierzu  kommt,  dass  sämtliche  Bilder 
so  außerordentlich  gut  erhalten  sind,  wie  dies  kaum 
von  irgend  einer  anderen  Galerie  behauptet  werden 
kann,  und  dass  die  äußere  Ausstattung  derselben,  wenn 
möglich,  noch  auf  einer  höheren  Stufe  steht.  Die  Ge¬ 
mälde  tragen  nämlich  zum  größten  Teil  als  äußeren 
Schmuck  die  kostbarsten  alten  Rahmen  der  Venezianer 
und  der  Florentiner  Renaissance.  So  befinden  sich 
mehrere  Bilder  in  prachtvollen  alten  Holzrahmen  nach 
den  Originalentwürfen  von  Sansovino,  welche  für  sich 
allein  als  Schnitzwerk  einen  Wert  von  5000 — 40000 


DIE  GEMÄLDEGALERIE  DOETSCH  IN  LONDON. 


245 


Mark  repräsentiren.  Wir  gelangen  hiermit  zu  der  Frage 
über  den  Nachweis  des  Erwerbs  der  Kunstschätze  und 
damit  gleichzeitig  zu  der  Erörterung  des  Stammbaums 
der  einzelnen  Bilder. 

Dr.  Richter  beantwortet  die  an  dieser  Stelle  mit 
Berechtigung  aufgeworfene  Frage  dahin:  „Von  einer 
Anzahl  Bilder  kann  nachgewiesen  werden,  dass  sie  aus 
den  besten  und  berühmtesten  Sammlungen  stammen: 
aus  der  Galerie  Orleans  und  aus  der  Kollektion  König 
Karls  I.  von  England.  Herrn  Doetsch  war  es  bei  der 
Erwerbung  von  Bildern  nicht  bloß  darum  zu  thun,  dass 
sie  in  Bezug  auf  Erhaltung  und  Authenticität  seinen 
Ansprüchen  völlig  genügten,  sondern  er  legte  auch  ein 


Porträt  von  Jan  Schoreel. 


besonderes  Gewicht  auf  die  Bürgschaften,  welche  Pro¬ 
venienz  und  Stammbaum  zu  bieten  pflegen.  Er  erwarb 
Bilder  aus  der  Sammlung  des  Marquis  of  Exeter,  des 
Marquis  of  Donegal,  des  Marquis  of  Hastings,  des  Her¬ 
zogs  von  Roxburglie,  aus  der  Sammlung  des  Erzbischofs 
von  Canterbury,  die  in  der  Kunstwelt  den  Namen 
„Markham-Kollektion“  führte,  endlich  aus  der  Pinacoteca 
Lochis  und  durch  Vermittlung  des  Dr.  G.  Frizzoni  in 
Mailand“.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  die  Mehr¬ 
zahl  der  Bilder  aus  den  Landhäusern  der  hohen  eng¬ 
lischen  Aristokratie  stammen  und  dieser  Umstand  mag 
es  auch  erklären,  dass  verhältnismäßig  wenig  über  den 
Gegenstand  in  die  Öffentlichkeit  gelangte,  und  dass 
namentlich  Waagen  nur  spärlich  über  die  gedachten 


Meisterwerke  berichtete.  Andererseits  bemerkt  Dr.  Rich¬ 
ter:  „Seltene  und  hervorragende  Werke  der  Doetsch  - 
Galerie  haben  längst,  auch  in  kunstkritischen  Publika¬ 
tionen,  gerechte  Würdigung  erfahren,  so  in  B.  Berenson’s 
„Venetian  Paiuters“,  im  offiziellen  „Katalog  des  Rijks¬ 
museum  in  Amsterdam“  von  A.  Bredius,  in  Oh.  Yriarte’s 
„Autour  des  Borgia“,  in  Dr.  Bode’s  Aufsätzen  im  „Jahr¬ 
buch  der  Königl.  Preußischen  Kunstsammlungen“  und 
anderwärts.  Endlich  kann  noch  hinzugefügt  werden, 
dass  Herr  Doetsch  aus  der  Sammlung  Manfrin  Gemälde 
erstand,  und  dass  ihm  bei  seinen  Ankäufen  der  bekannte 
Restaurator  der  englischen  National-Gallery,  Mr.  Pinti, 
beratend  zur  Seite  stand. 


Fräulein  von  St.  Croix.  Gemälde  von  A.  van  Dyck. 


Wie  im  Eingänge  bemerkt  wurde,  verdient  die  vor¬ 
treffliche  Vertretung  der  italienischen  Schule,  und  unter 
dieser  wiederum  die  venezianische  in  der  aufzulösenden 
Sammlung,  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Aus 
der  Galerie  Karls  I.  befinden  sich  hier  drei  Bilder  von 
Tizian:  „die  Herzogin  von  Mantua“,  „der  Mann  mit 
dem  Globus“  und  die  Frau,  die  das  Gewand  überwirft. 
Außerdem  ist  ein  entzückendes  Bild  von  demselben 
Meister  vorhanden,  welches  in  der  Wiedergabe  einer 
Landschaft  besteht,  in  welcher  Mönche  vor  der  Madonna 
knieen,  und  ferner  eine  ungemein  anmutende  Kompo¬ 
sition  von  Giovanni  Cariani.  Die  Helden  der  Schlacht 
von  Lepanto:  Dogen,  Admirale  und  Krieger,  von  der 
Meisterhand  Tintoretto’s,  würden  allein  einen  eigenen  Saal 


246 


DIE  GEMÄLDEGALERIE  DOETSCH  IN  LONDON. 


Porträt  von  Frans  Hals. 

füllen.  Von  Paolo  Veronese  besitzt  die  Galerie  das  Bild 
seiner  Tochter,  aus  der  Orleans-Sammlung  herrührend. 
Moroni  ist  gut  vertreten  und  ebenso  Palma  Vecchio 
durch  ein  Porträt.  Nicht  minder  vorzügliche  Werke 
sind  vorhanden  von  Paris  Bordone  und  Bassano,  dazu 
das  unvergleichliche  Meisterwerk  von  Lorenzo  Lotto, 
eine  thronende  Madonna.  Dies  Gemälde  wurde  schon 
früher  von  Berenson  ausführlich  beschrieben  und  der 
Blütezeit  des  Meisters,  d.  h.  seiner  Bergamo-Periode  zu¬ 
gewiesen. 

Die  Schulen  von  Ferrara,  Modena,  Parma  und  Bo¬ 
logna,  Guido  Beni,  Dosso  Dossi  (mit  einem  Porträt  der 
Lncretia)  sind  ebenso  reichhaltig  wie  schön  in  der  Samm¬ 
lung  vertreten. 

Im  Gegensatz  zu  der  Gepflogenheit  der  holländischen 
Maler  ist  bekanntlich  auf  Gemälden  von  der  Hand  ita¬ 
lienischer  Meister  deren  eigenhändige  Signatur  nur  selten 
nachzuweisen.  Wir  finden  hier  einige  solche  Bezeich¬ 
nungen,  welche  ein  besonderes  kunstgeschichtliches  In¬ 
teresse  in  Anspruch  nehmen  dürften,  wie  die  Bezeich¬ 
nung  des  sehr  seltenen  Pistojeser  Meisters  Scalabrinus 
auf  einem  großen  Madonnenbild.  Auf  einem  andern 
Tafelbild  der  Madonna  mit  Heiligen  findet  sich  die  In¬ 
schrift:  HIERONYMVS  DE  SANTA  CRVCE.  P.  MDXX, 
aus  der  sich  ergiebt,  dass  das  Bild  zu  den  .Tugendwerken 
dieses  Meisters  gehört.  Die  Manier,  in  welcher  dasselbe 
gemalt  ist,  unterscheidet  sich  durchaus  von  der  von 
ihm  in  späteren  Jahren  adoptirten,  wieder  Vergleich 
mit  einem  zweiten  echten  Madonnenbild  des  Meisters  in 
derselben  Sammlung,  welches  durch  Vermittlung  des 


Dr.  G.  Frizzoni  erworben  wurde,  ganz  klar  zu  erkennen 
giebt.  Jenes  frühere  Madonnenbild  würde  ohne  seine 
unanfechtbar  echte  Bezeichnung  vielleicht  schwerlich 
durch  Dr.  Richter  als  Werk  des  Girolamo  zu  bestim¬ 
men  gewesen  sein.  Zur  Erläuterung  der  praktischen 
Bedeutung  solcher  Feststellungen  möge  beiläufig  erwähnt 
sein,  dass  in  die  National-Gallery  in  London  unlängst  ein 
Bild  aufgenommen  worden  ist,  welches  in  demselben  eigen¬ 
artigen  Stile  gemalt  ist,  und  daher  sofort  als  ein  echtes 
Frühwerk  des  Girolamo  da  Santa  Croce  auf  Grund  des 
Vergleiches  mit  dem  Gemälde  der  Doetsch-Sammlung  er¬ 
kannt  werden  musste.  Da  aber  jenes  Bild  mit  der  In¬ 
schrift  FRACESCO  MAZZVOLA  versehen  ist,  so  hat  es 
bisher  für  glaubhaft  gegolten,  dass  dieser  seltene  Maler 
aus  Parma  der  Urheber  des  erworbenen  Bildes  sei,  wäh¬ 
rend  doch  schon  eine  genauere  Untersuchung  der  Inschrift 
nach  ihrem  Charakter,  deren  Anspruch  auf  Echtheit  als 
hinfällig  erscheinen  lässt.  Die  beglaubigten  Madonnen¬ 
bilder  des  Fr.  Mazzuola  haben  ein  ganz  anderes  Aus¬ 
sehen.  Ein  echtes,  wenn  auch  nicht  bezeichntes  Bild 
des  Letztgenannten  findet  sich  ebenfalls  in  der  Samm¬ 
lung  Doetsch. 

In  der  Florentiner  Schule  ist  Bronzino  mit  den  Por¬ 
träts  der  Medicäer  hervorzuheben;  Andrea  del  Sarto’s 
Schulbilder,  ein  h.  Sebastian  von  seiner  Hand,  sind 
äußerst  bemerkenswert.  Zu  den  Hauptwerken  der  Flo¬ 
rentiner  Schule  in  der  Galerie  Doetsch  gehört  ein  großes 


Frau,  ihr  Gewand  anziehend.  Gemälde  von  Tizian. 


DIE  GEMÄLDEGALERIE  DOETSCH  IN  LONDON, 


247 


und  prachtvolles  Altarbild  des  Pontormo,  das  aus  der 
Kirche  San  Michele  Bisdomini  in  Florenz  stammt  und 
als  dort  befindlich  auch  von  Vasari  ausführlich  beschrie¬ 
ben  wird.  Zwar  rindet  man  in  den  Kommentaren  zu 
den  Künstlerbiographien  des  Aretiners  die  Bemerkung: 
das  Bild  befinde  sich  noch  immer  in  jener  Kirche,  aber 
es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  dies  auf  einem  Irr¬ 
tum  beruht.  Im  Anfang  unseres  Jahrhunderts  entfernte 
man  das  Bild  aus  der  Kirche,  um  es  angeblich  zu  rei¬ 
nigen,  und  es  wird  behauptet,  es  hätte  sich  herausge¬ 
stellt,  dass  Pontormo  sein  Bild  auf  Papier  gemalt  habe. 
Ein  solcher  Fall  wäre  in  der  gesamten  Kunstgeschichte 
geradezu  unerhört!  Allerdings  findet  man  jetzt  auf  dem 
dunklen  Altar,  da  wo  das  Original  früher  aufgestellt  war, 
ein  durchaus  ähnliches  auf  Papier  gemaltes  Bild,  welches 
auf  Holz  befestigt  ist  und  in  großen  Buchstaben  die 


auf  Authenticität  Anspruch  erheben  dürfe,  welches  nicht 
Castor  und  Pollux  und  auch  die  Schwaneneier  enthält. 
Die  Galerie  Doetsch  weist  ein  bisher  in  der  Kunstge¬ 
schichte  unbekanntes  Bild  auf,  welches  diese  Bedingungen 
erfüllt,  und  genau  mit  dem  berühmten  alten  Stich  des 
italienischen  Monogrammisten  „C.  A“  übereinstimmt. 

Eine  Reihe  von  Fürstengestalten  aus  dem  Hause 
Habsburg  repräsentiren  die  spanische  Schule  in  dem 
vorliegenden  Katalog. 

Dr.  Richter  nennt  in  der  vlämischen  Schule  außer 
einer  Anzahl  religiöser  Maler  mehrere  vorzügliche  Werke 
der  späteren  Landschafter,  so  namentlich  ein  ausge¬ 
zeichnetes  mit  dem  Monogramm  des  Coninxloo  versehenes 
Bild,  welches  sicherlich  als  sein  schönstes  Meisterwerk 
gelten  kann.  Demnächst  sind  zu  erwähnen  zwei  Gemälde 
eines  bisher  unbekannten  Meisters  der  Schule  von  Fran- 


Der  spanische  Musikant.  Gemälde  von  J.  v.  Velsen. 


Signatur  „D.  N.“  trägt.  Ein  nicht  minder  interessantes 
Madonnenbild  des  Bachiacca,  mit  landschaftlichem  Hinter¬ 
gründe  nebst  der  Scenerie  des  verlornen  Sohnes  nach 
Dürer,  erinnert  an  Vasari’s  Ausspruch  über  die  italie¬ 
nischen  Maler,  welche  seiner  Zeit  eifrig  die  Stiche  von 
Dürer  und  Lucas  v.  Leyden  studirt  hätten. 

Zur  Lombardischen  Schule  übergehend,  lenkt  Dr. 
Richter  die  Aufmerksamkeit  auf  ein  sehr  anziehendes 
Bild  des  Giampietrino ,  „Leda  mit  dem  Schwan“  dar¬ 
stellend,  dessen  Komposition  Morelli  dem  Sodoma  zu¬ 
schrieb.  Eins  der  besten  und  anziehendsten  Bilder  der 
gesamten  Galerie  gehört  gleichfalls  an  diese  Stelle,  und 
dasselbe  hat  zum  Sujet  den  Jesusknaben  und  den  Jo¬ 
hannes,  die  sich  umarmen. 

Herr  Professor  Woermann  sagt  im  „Repertorium  der 
Kunstwissenschaft“  gelegentlich  einer  Abhandlung  über 
die  Leda  des  Michelangelo,  dass  . kein  Exemplar  der  Leda 


kenthal,  des  H.  Berglmiez.  In  dem  letzten  Hefte  dieser 
Zeitschrift  veröffentlichte  Herr  Professor  Justi  ein  herr¬ 
liches  Porträt  Philipps  des  Schönen  von  Burgund,  das 
bisher  für  ein  Bildnis  des  Bastards  Ph.  von  Burgund  an¬ 
gesehen  wurde;  es  wird  daher  für  viele  Kunstliebhaber 
von  Interesse  sein  zu  hören,  dass  die  Galerie  Doetsch  das 
Bild  eines  andern  Bastards,  des  Jehan  von  Burgund, 
späteren  Herzogs  von  Nevers  besitzt,  ebenso  Pracht¬ 
werke  von  Mabuse.  Schoreel  ist  durch  ein  ausgespro¬ 
chenes  Galeriebild  repräsentirt,  welches  Bredius  als 
solches  bestimmte,  und  ausserdem  waren  hier  mehrere 
Meisterwerke  von  A.  Mor  zu  katalogisiren. 

Alle  bedeutenden  Schulen  der  Niederländer  des  17. 
Jahrhunderts  sind  vorzüglich  in  der  Kollektion  Doetsch 
repräsentirt.  Rembrandt  unter  anderem  mit  einem  Porträt, 
welches  in  der  „Gazette  des  Beaux-Arts“  veröffentlicht 
wurde,  aus  der  Galerie  Fesch  stammend.  Dazu  kommen 


248 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


zwei  herrliche  Hobbema-Landschaften.  In  der  Schule 
von  Harlem  fällt  sehr  günstig  ein  Frans  Hals  auf, 
ein  männliches,  ungemein  lebensvolles  Porträt,  sowie 
Werke  von  Dnyster,  Peter  und  Philipp  Wouwerman, 
Ostade,  Potter,  van  de  Velde  und  Hackert,  end¬ 
lich  auch  ein  Gemälde  des  •  sehr  seltenen  Meisters 
Olis.  Das  betreffende  Bild  ist  bezeichnet.  Thatsäch- 
lich  aktuelles  Interesse  für  die  deutsche  Kunst  dürfte 
ein  Selbstporträt  von  Austin  Terwesten  besitzen.  Dieser 
Meister,  auch  „Snip“  genannt,  war  der  Gründer  der  Ber¬ 
liner  Akademie  im  Jahre  1696.  Bekanntlich  schickt 
sich  dieses  Kunstinstitut  an,  im  nächsten  Jahre  sein 
200jähriges  Stiftungsfest  zu  feiern.  Das  genannte 
Porträt  stimmt  mit  einem  Stiche  in  Houbrakens  „Grote 
Schouburg“  überein.  Ein  Unikum,  betitelt  „Musikalische 
Unterhaltung“,  trug  die  gefälschte  Unterschrift  des  Pala- 
medes.  Es  stellte  sich  nun  bei  der  Reinigung  des  Ge¬ 
mäldes  eine  bisher  unbekannte  Signatur  heraus,  wonach 
es  dem  Scharfsinn  des  Dr.  Richter  gelang,  dieselbe 
als  von  J.  v.  Velsen  festzustellen.  Nicht  zu  übersehen 
sind  die  Nummern  des  Katalogs,  bei  denen  es  sich  um 
die  von  Herrn  Dr.  Bode  beschriebenen  frühesten  Mo¬ 
lenaars  handelt,  ferner  um  zwei  von  Bredius  bestimmte 
Werke  des  Elias,  sowie  um  den  sehr  seltenen  Meister 
Peter  Nason,  und  um  das  dritte  der  Kunstgeschichte 
bekannt  gewordene  Bild  des  van  Rossum.  - —  Van  Dyck, 
(den  die  Engländer  Sir  Anthony  van  Dyck  nennen,  um 


den  Antwerpener  Meister  als  den  Ihrigen  in  Anspruch 
zu  nehmen),  glänzt  durch  das  Porträt  der  Gräfin  von 
Oxford. 

Als  nicht  zahlreich  vertreten  muss  die  französische 
Schule  bezeichnet  werden;  indessen  Janet(Clouet)  und  zwei 
wunderbare  Blaremberghe  ersetzen  durch  Vorzüglichkeit 
den  Mangel  der  Quantität. —  Dasselbe  gilt  für  die  deutsche 
Schule.  Von  Cranach’s  Meisterhand  sehen  wir  in  der 
Galerie  das  bisher  für  verschollen  gegoltene  Bildnis  der 
„Krellerin“  wieder,  welches  mit  einer  langen  Begleit¬ 
inschrift  versehen  ist.  Ferner  wird  registrirt:  ein  früher 
dem  Könige  von  Neapel  gehöriges  Exemplar  von  A. 
Dürer’s  Triumphzug  des  Kaisers  Maximilian  in  Rom. 
Das  zeitgenössische  Panorama  der  ewigen  Stadt  gewährt 
dem  Bilde  ein  ungewöhnliches  historisches  und  archäolo¬ 
gisches  Interesse.  Endlich  dürfen  nicht  unerwähnt  bleiben 
ein  von  Dr.  Richter  als  solches  erkanntes  Bild  des  Jan 
Vermeyen,  die  Schlacht  von  Pavia  wiedergebend,  und 
zwei  Porträts  des  alten  Kölner  Meisters  Bartholomäos 
v.  Bruyn.  —  Die  Sammlung  Doetsch  wird  binnen  kurzem 
in  alle  Richtungen  der  Windrose  zerstreut  sein,  aber 
sowohl  die  jetzigen  als  auch  die  späteren  Erwerber 
werden  stets  genötigt  sein,  auf  die  kritische  Arbeit 
zurückzugreifen,  durch  die  Dr.  J.  P.  Richter  in  gewissem 
Sinne  nicht  nur  ihr  Andenken  erhält,  sondern  gleich¬ 
zeitig  der  Sammlung  ein  maßgebendes  litterarisches  und 
kunsthistorisches  Denkmal  gesetzt  hat. 

v.  SCHLEINITZ. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Elsässer  Bilderbogen,  herausgegeben  von  Joseph  Sattler 
und  Carl  Spindler.  Verlag  von  F.  X.  Le  Roux  &  Co.  in 
Strassburg  i.  E.  Jährlich  4  Lieferungen  in  groß  Folio- 
Format,  enthaltend  je  6  Blätter  in  Lichtdruck  zum  Abonne¬ 
mentspreise  von  M.  12  für  den  aus  24  Blättern  bestehen¬ 
den  Jahrgang. 

Der  u.  a.  durch  seinen  Toten-Tanz  in  den  weitesten 
Kreisen  bekannt  gewordene  Maler  Joseph  Sattler  hat  sich, 
im  Verein  mit  seinem  Freunde  Carl  Spindler  und  anderen 
hervorragenden  Künstlern,  die  Aufgabe  gestellt,  in  den  „El- 
.-iissischen  Bilderbogen“  Land  und  Leute  des  Eisass,  seine 
Beschichte,  Sagen  und  Legenden,  Kirchen  und  Klöster, 
Schlösser  und  Burgen,  hervorragende  und  berühmte  Per¬ 
sönlichkeiten  aller  Zeiten,  die  elsässischen  Trachten,  Sitten 
und  Volksgebräuche  etc.  etc.  in  Bild  und  Wort  künstlerisch 
wiederzugeben.  Der  erste  aus  24  Lichtdruckblättern  be¬ 
stehende  Jahrgang,  M.  12. —  in  elegantem  Umschlag  mit 
Goldpressung  M.  15.—  liegt  komplet  vor. 

Der  Balkon  von  J.  Whistler.  Unter  den  englischen 
Radirem  die  gegenwärtig  am  meisten  geschätzt  werden,  steht 


Whistler  wohl  unbestritten  oben  an.  Das  Blatt,  welches 
wir  in  vortrefflicher  Faksimilewiedergabe  von  C.  G.  Röder 
in  Leipzig  diesem  Hefte  mitgeben,  kommt  insofern  etwas 
verfrüht,  als  es  eine  Illustration  zu  dem  zweiten  Teil  des 
Aufsatzes  von  Dr.  Lier  bildet,  der  erst  im  nächsten  Hefte 
beendet  wird.  Eine  Radirung  die  für  das  vorliegende 
Heft  bestimmt  war,  hat  nicht  rechtzeitig  geliefert  werden 
können,  weshalb  wir  als  Ersatz  dieses  Blatt  vorausgeben, 
das  den  berühmten  Meister  der  Radirung  trefflich  charak- 
terisirt.  James  Abbott  Mac  Neil  Whistler  ist  amerikanischer 
Herkunft,  er  wurde  1834  in  Lowell  (Massachusetts)  geboren. 
1855  ging  er  nach  England,  später  nach  Paris,  wo  er  zwei 
Jahre  lang  Gleyre’s  Schüler  war.  Er  lebt  seit  längerer 
Zeit  in  London.  Abdrücke  seiner  Radirungen  werden  mit 
hohen  Preisen  bezahlt.  Die  vorliegende,  eine  der  seltensten, 
kostet  in  gutem  Abdruck  über  300  Mark. 

Berichtigung.  Die  Abbildung  auf  S.  199  d.  Jahrgangs 
hat  eine  unrichtige  Unterschrift  erhalten,  insofern  als  der 
Aufsatz  des  Herrn  Geheimrats  Justi  nachweist,  dass  daselbst 
Philipp  der  Schöne ,  und  nicht  Philipp,  Bastard  von  Burgund, 
wie  das  Bild  im  Ryksmuseum  zu  Amsterdam  bezeichnet  wird, 
dargestellt  ist. 


Herausgeber:  Carl  von  iAitxow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


J.  M.  Whistler  rad. 


Lichtdruck  von  C.  G.  Roder,  Leipzig. 


DER  BALKON 


£jjrise/i  -  csh'esyvfi 'cuJxr 


iir  Bil  (lende  Kunst 


Bruck  v  F.A.Brockhaus,  Leipzig, 


MARIE  VON  EBNER- ESCHENBACH. 

PORTRÄT  VON  JULIUS  SCHMID. 


IN  gutes  Porträt  der  Dichterin 
Marie  Ebner-Eschenbach  zu 
schaffen,  ist  nicht  bloß  eine 
der  anziehendsten,  sondern 
auch  eine  der  schwierigsten 
Aufgaben,  die  sich  ein  Maler 
stellen  kann.  Anziehend  ist 
die  Aufgabe  darum,  weil  in 
der  ganzen  deutschen  Litteraturgeschiclite  keine  zweite 
Frau  es  zu  so  hoher  und  vollkommener  Kunst  und 
zu  so  allgemeiner  Anerkennung,  ja  wahrer  Liebe  sowohl 
bei  den  Kennern  als  auch  beim  Publikum  gebracht 
hat,  wie  Frau  von  Ebner.  Wohl  erreicht  die  Zahl 
der  Auflagen  ihrer  Bücher  nicht  die  Höhe  der  Auf¬ 
lagen  Marlitt’scher  Werke;  aber  eine  Lektüre  für 
Nähmamsells  sind  die  Ebner’sclien  Novellen  freilich 
nicht.  Es  knüpft  sich  auch  keine  Pikanterie,  kein 
Rennstallparfüm,  kein  Weihrauchduft,  keine  Mode- 
tendenz,  keine  Bohemeluft  an  ihre  Dichtungen.  Marie 
Ebner  wirkt  nur  durch  die  Schönheit  und  Kraft 
ihrer  Phantasie,  die  Klarheit  ihrer  Bildung,  die  Er¬ 
habenheit  ihrer  sittlichen  Gesinnung  und  durch  die 
hier  wirklich  aristokratische  Anmut  und  Heiterkeit, 
hinter  denen  sie  ihren  Ernst  verbirgt.  Daher  konnte 
man  mit  vollem  Rechte  sagen:  Marie  Ebner  ist  nach 
dem  Hingange  Kellers  der  erste  deutsche  Schrift¬ 
steller  unsrer  Zeit.  Sie  allein  hält  nicht  etwa  bloß, 
wie  so  viele  geistreiche  Dichter  und  Kritiker  unsrer 
Zeit,  das  Wissen,  sondern  auch  die  Praxis  der  rechten 
Kunst  aufrecht;  sie  ist  Realist  und  Idealist  zu  gleicher 
Zeit;  sie  ist  gesund  im  Herzen  und  stark  im  Geiste; 
sie  ist  der  wahre  Dichter  der  Zeit,  keine  Modegröße. 

Wegen  dieser  ihrer  litterarischen  Bedeutung  ist 
ein  Porträt  Marie  Ebner ’s  zu  malen,  eine  höchst 
dankbare  Aufgabe.  Aber  auch  ebenso  schwierig  muss 
jedem  die  Aufgabe  erscheinen,  der  die  Dichterin  per¬ 
sönlich  kennt.  Es  dürfte  nicht  viele  andere  Dichter 


gegeben  haben,  deren  persönliche  Erscheinung  in  so 
vollkommenem  Einklänge  mit  dem  geistigen  Bilde 
steht,  das  ihre  Werke  in  uns  erzeugt. 

Zu  einer  vollkommenen  Harmonie  zwischen 
äußerer,  körperlicher  Erscheinung  und  seelischer 
Eigenart  bringen  es  ja  die  Dichter  sehr  selten.  Zum 
Teil  hängt  das  auch  gar  nicht  vom  Willen  des  Menschen 
ab.  Wenn  Jean  Paul  Romane  voll  ätherischer  Zart¬ 
heit  und  sentimentaler  Überschwänglichkeit  schrieb, 
so  konnte  er  doch  wahrhaftig  nichts  dafür,  dass  er 
wohlgenährt,  dick  und  breit  in  seiner  Leiblichkeit  er¬ 
schien.  Bei  anderen  Dichtern  wirken  Erziehung  und 
Herkunft  oft  jener  Harmonie  entgegen.  Keller,  dessen 
Zartgefühl  und  Seelenadel  in  den  Werken  alle  ent¬ 
zückte,  machte  persönlich  in  jungen  Jahren  einen 
echt  bärenhaften  Eindruck:  er  war  schwerfällig,  un- 
beholfeu,  ja  sogar  ungezogen,  in  älteren  Jahren 
stachelig,  reizbar,  konnte  auch  recht  grobianiscli 
werden.  Anzengruber  konnte  nicht  weniger  un¬ 
liebenswürdig  sein.  Da  hat  nun  der  Porträtmaler, 
der  vor  solch  einem  berühmten  Manne  mit  dem 
vollen  Wissen  dessen  sitzt,  was  er  leistete  und  was 
er  bedeutet,  keinen  leichten  Stand,  wenn  er  ein  Bild 
schaffen  will,  worin  das  Publikum  „seinen“  Jean 
Paul,  „seinen“  Gottfried  Keller,  „seinen“  Anzen¬ 
gruber  wiederfinden  und  doch  auch  die  Wahrheit 
sehen  soll.  Indes  bieten  männliche  Dichterköpfe 
immer  reichlich  Züge,  die  ihren  intellektuellen  und 
dichterischen  Charakter  bedeutsam  ausdrücken.  Viel 
schwieriger  aber  ist  es,  ein  weibliches  Porträt  zu 
malen,  das  der  Bedeutung  der  dargestellten  Persön¬ 
lichkeit  gerecht  werden  soll.  Frauenbilder  sind  wir 
doch  weitaus  mehr  vom  Standpunkte  der  Schönheit  als 
der  geistigen  Bedeutung  zu  betrachten  gewöhnt.  Das 
geht  so  weit,  dass  wir  auf  die  Bilder  hässlicher 
Dichterinnen  mit  Vergnügen  verzichten,  um  uns  die 
Illusion  nicht  stören  zu  lassen.  Wer  kennt  das 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst  N.  F.  VI.  H.  10. 


33 


250 


MAßTE  YON  EBNER-ESCHENBACH. 


Bild  der  Droste?  Wer  interessirt  sich  für  das  Bild 
der  Ida  Hahn-Halm,  der  Bewald,  der  Marlitt?  Sie 
sind  uns,  mit  allem  Respekt  vor  den  Leistungen  der 
genannten  Damen,  sehr  gleichgültig.  Das  Frauen¬ 
bildnis  vom  Standpunkte  der  charakteristisch  in- 
dividualisirenden  Kunst  ist  darum  noch  gar  nicht 
recht  gepflegt  worden.  Es  fängt  wohl  erst  jetzt  an, 
den  Malern  als  eine  bedeutsame  Aufgabe  zu  er¬ 
scheinen;  das  ist  natürlich,  denn  die  Frauen  treten 
erst  seit  wenigen  Jahrzehnten  mit  Nachdruck  in  der 
künstlerischen  oder  socialpolitischen  Öffentlichkeit 
hervor;  sie  selbst  wollen  nicht  mehr  bloß  vom  Stand¬ 
punkte  der  ästhetischen  Betrachtung  angesehen  werden. 
Nun  erst  entsteht  die  Möglichkeit  und  das  Bedürfnis, 
auch  Frauenporträts  im  historischen  Stile  zu  schaffen. 

Mit  einem  Porträt  der  Dichterin  Marie  Ebner 
hat  es  nun  darum  seine  besondere  Bewandtnis,  weil 
die  edle  Frau  in  ihrer  zarten  körperlichen  Er¬ 
scheinung,  in  ihrem  persönlichen  Verkehre  so  voll¬ 
kommen  dem  Bilde  entspricht,  das  ihre  Schriften  in 
uns  von  ihr  erzeugen.  Man  hat  die  Wahrhaftigkeit, 
die  Ehrlichkeit  dieser  Dichterin  öfters  betont.  Ich 
selbst  habe  in  meiner  Studie  über  Marie  von  Ebner - 
Eschenbach  (Deutsche  Rundschau,  1890,  September¬ 
heft)  auf  den  durchgehenden  Bekenntnischarakter 
ihrer  Dichtungen  hingewiesen:  sie  bilden  das  auf¬ 
geschlagene  Buch  ihres  Herzens,  mögen  es  nun  die 
Aphorismen,  Parabeln  oder  Novellen  sein.  Von 
jeder  Seite,  von  jeder  Zeile  ihrer  Schriften  führt  der 
Weg  gleichsam  schnurgerade  zur  Seele  dieser  Dich¬ 
terin.  Sie  ist  eine  so  einheitliche,  harmonische, 
wahrhafte  und  natürliche  Natur,  dass  man  wie  von 
einem  Zauber  umfangen  wird,  wenn  man  sich  ein¬ 
mal  in  ihren  Kreis  begeben  hat.  Sie  ist  in  jeder 
Äußerung,  in  jeder  Bewegung  immer  sie  selbst,  und 
man  kommt  vor  Freude  an  der  Schönheit  dieser 
vollkommenen  Durchbildung  und  Harmonie  eines 
Menschen wesens  oft  gar  nicht  dazu,  rein  nüchtern 
und  sachlich  mit  ihr  zu  sprechen:  man  möchte  ihr 
nur  immpr  zuhören,  sie  reden  lassen.  Diesen  merk¬ 
würdigen  Eindruck  macht  die  edle  Dichterin  auf 
alle,  die  sie  kennen  lernen  dürfen. 

Und  nun  soll  der  Maler  kommen  und  mir  dieses 
gelassen  heitere,  unendlich  gütige,  teilnahmsvolle, 
anspruchslose,  weise,  so  sehr  bescheidene,  charakter¬ 
volle  Frauen  wesen  malen!  Er  soll  das  Kunstwerk, 
das  diese  Dichterin  aus  sich  selbst  geschaffen  und 
in  der  eigenen  Persönlichkeit  darstellt,  mit  Ver¬ 
ständnis  erfassen  und  uns  durch  sein  Gemälde 
wenigstens  ahnen  lassen,  wen  wir  vor  uns  haben. 

Ohne  Zweifel  war  sich  Julius  Schmid,  dessen 


Porträt  der  Frau  von  Ebner-Eschenbach  im  Jahre 
1894  mit  der  goldenen  Medaille  im  Wiener  Künstler¬ 
hause  ausgezeichnet  wurde,  seiner  Aufgabe  voll  be¬ 
wusst.  Er  trat  als  Kenner  ihrer  Werke  und  nach¬ 
dem  er  häufig  die  Dichterin  zu  sehen  und  zu  sprechen 
Gelegenheit  hatte,  an  seine  Arbeit  heran.  Und  man 
muss  sagen,  dass  er  das  anziehendste  Bild  der  Frau  von 
Ebner  geschaffen  hat,  das  wir  derzeit  besitzen.  Die 
Baronin  ist  öfters  gemalt  worden.  Am  bekanntesten 
ist  jenes  Porträt  von  ihr,  das  im  Aufträge  der  Stadt 
Wien  1890  zu  ihrem  60.  Geburtstage  für  das  städtische 
Museum  gemalt  wurde  und  dessen  Heliogravüre  den 
ersten  Band  ihrer  gesammelten  Werke  schmückt. 
Vergleicht  man  diese  zwei  Porträts,  so  sieht  man 
sofort,  dass  Schmid  bedeutender  nicht  bloß  als  Colorist 
und  Zeichner,  sondern  auch  in  der  Auffassung  des 
Originals  ist.  Dort  ein  strenges,  etwas  steifes  Antlitz 
einer  alten  Dame,  die  Gräfin  ist;  hier  das  seelen¬ 
volle  Gesicht  der  Dichterin,  worin  jede  Falte, 
jeder  Muskel  sprechen  wollen  und  die  tägliche  Um¬ 
gebung  ihres  Arbeitszimmers  dazu.  Die  Dichterin  sitzt 
am  Schreibtisch,  die  rechte  Hand  auf  die  Tischplatte 
gestützt,  die  linke  ruht  lässig,  ein  Papier  haltend, 
im  Schoß.  Die  Baronin  sieht  uns  an,  als  wenn  sie 
uns  zuhören  würde.  Das  volle  Licht  des  Tages 
fällt  auf  sie,  denn  der  Maler  saß  im  Fenster  ihres 
Zimmers,  in  einer  tiefen  Nische,  wie  sie  nur  noch 
in  den  alten  Wiener  Häusern  zu  finden  ist.  Der 
Kopf  ist  ohne  jenen  „krönenden“  Aufputz,  den  die 
anderen  Porträtisten  nicht  entbehren  wollten;  die 
leichtgewellten  silbergrauen  Haare  sind  schlicht  ge¬ 
scheitelt,  nichts  soll  an  diesem  durchgeistigten  Antlitz 
mit  der  steilen,  im  Bilde  wohl  etwas  allzusteilen, 
der  Wirklichkeit  nicht  ganz  entsprechenden  hohen 
Stirne  wirken  als  es  selbst.  Ein  schwaches  Rot 
belebt  die  Wangen,  die  Farbe  der  Haut  ist  frisch, 
wärmer  als  es  sonst  bei  Silberhaaren  zu  sein  pflegt. 
Die  guten  Augen  sehen  uns  ruhig,  aufmerksam, 
aber  nicht  scharf  forschend  an,  denn  die  Dichterin 
hat  leider  geschwächte  Augen  und  wird  wohl 
schon  früh  kurzsichtig  gewesen  sein.  Der  sehr  feine 
Mund  mit  der  beredten  Unterlippe  mutet  an,  als 
wollte  er  bald  lächeln.  Das  Grübchen  in  der  Wange 
verrät  die  leichte  Neigung  zum  Lachen  in  diesem 
Gesicht  der  Humoristin.  Mit  außerordentlicher  Sorg¬ 
falt  hat  Schmid  die  schmalen,  edlen,  langgestreckten 
Hände  der  Dichterin  gemalt:  sie  haben  nicht  weniger 
Seele  als  der  Kopf.  Das  Kleid  der  Dichterin  ist 
aus  schwarzer  Seide,  ihrem  Lieblingsstoff;  um  nicht 
allzu  düster  zu  wirken,  nahm  sie  eine  reiche  weiße 
Spitzenkrause  um  den  Hals,  die  auf  der  Brust  noch 


MARIE  VON  EBNER-ESCHENBACH. 


251 


lang  herabfällt.  Und  diese  vornehme  Gestalt  sitzt 
in  einem  holzgeschnitzten,  mit  gepresstem  Leder  ge¬ 
deckten  Lehnsessel,  den  Schreibtisch  decken  Papiere, 
Schreibutensilien,  zwei  Leuchter  mit  Kerzen  u.dergl.m. 
Im  Hintergrund  erkennen  wir  trotz  des  Dunkels  das 
Wahrzeichen  der  Frau  von  Ebner:  die  kostbare 
Uhrensammlung,  die  sie  sich  im  Laufe  der  Jahre  er¬ 
warb,  und  auf  die  ihre  Novelle  „Lotti,  die  Uhr¬ 
macherin“  hinweist.  Daneben  rechts  ein  Barometer; 
links  hängen  Familienbilder. 

„Gelassenheit  ist  eine  anmutige  Form  des  Selbst¬ 
bewusstseins“,  sagt  Marie  Ebner  einmal  in  ihren 
Aphorismen.  Man  möchte  glauben,  der  Maler  hätte 
sie  in  solcher  Gelassenheit  darstellen  wollen,  denn 
das  ist  die  vorherrschende  Stimmung,  die  uns  aus 
diesem  Porträt  anspricht.  — 

Und  nun  noch  einige  Mitteilungen  über  den 
Maler  dieses  Bildes,  das  uns  so  gut  gefällt.  Julius 
Schmid  erfreut  sich  als  Historien-  und  Porträtmaler 
eines  wohlbegründeten  Ansehens  in  der  Wiener 
Künstlerschaft  und  wurde  schon  mehrfach  ausge¬ 
zeichnet. 

Geboren  am  3.  Februar  1854  zu  Wien,  war 
Schmid  ursprünglich  für  den  Kaufmannsstand  bestimmt 
und  kam  erst  mit  18  Jahren  gegen  den  Willen  der 
Eltern  auf  die  Akademie.  Er  absolvirte  dieselbe  unter 
Eisenmenger  und  erhielt  1878  den  Rompreis.  Unter 
den  Jugendwerken,  noch  der  Schule  angehörig,  ist 
ein  „Hagen  mit  den  Donaunixen“  zu  nennen.  Frucht 
seines  zweijährigen  Aufenthalts  in  Italien  war  ein 
Sittenbild  aus  der  römischen  Verfallzeit  in  kleinen 
Dimensionen.  Bei  der  Konkurrenz  für  die  Aus¬ 
schmückung  des  Gemeinderatssitzungssaales  im  Wiener 
Rathause  errang  Schmid  einen  dritten  Preis  für  zwei 
friesartige  Kompositionen,  welche  die  Zeit  Rudolfs 
des  Stifters  und  Maria  Theresia’s  darstellten.  Doch 


gelangten  diese  Entwürfe  nicht  zur  Ausführung. 
Einige  Jahre  später  (1880 — 89)  hatte  Schmid  Ge¬ 
legenheit,  eine  größere  Anzahl  monumentaler  Kom¬ 
positionen  auszuführen,  als  er  die  Wiener  Schotten¬ 
kirche  mit  15  Deckenbildern  - —  5  großen  und  10 
kleineren  in  Mineralmalerei  —  schmückte.  Neue 
Eindrücke  gewann  Schmid  auf  der  Pariser  Welt¬ 
ausstellung  1889.  Als  ihre  Frucht  erschien  das  Ge¬ 
mälde:  eine  schwebende  Frauengestalt  als  Allegorie 
des  Morgens;  später  entstand  das  größere,  figureu- 
reiche  Bild:  „Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen“, 
das  den  Reichelpreis  erhielt  (1891).  Ein  Jahr  darauf 
wurde  der  Künstler  in  München  durch  die  Verleihung 
der  kleinen  goldenen  Medaille  ausgezeichnet.  Eine 
neuerliche  Konkurrenz  für  das  Prager  Rudolfinum 
gab  ihm  Gelegenheit  zu  ausgedehnten  Kompositionen: 
„Das  Kunstleben  in  Böhmen  in  seiner  Entwickelung“ 
darstellend;  sie  wurden  mit  dem  zweiten  Preise  ge¬ 
krönt.  Als  letztes  dekoratives  Werk  erscheint  sein 
Vorhang  im  Raimundtheater:  im  Mittelfelde  eine 
Vision  Raimunds  (Gestalten  aus  dem  „Verschwender“), 
flankirt  von  den  als  Statuen  gedachten  Figuren  der 
Schönheit  und  Wahrheit;  am  Fuße  längs  des  ganzen 
Vorhangs  ein  Lebensfries.  Neben  diesen  größeren 
Werken  entstanden  mehrere  Porträts:  der  Frau  des 
Bildhauers  Benk,  der  Baronin  Ebner,  des  Grafen 
und  der  Gräfin  Schaumburg,  der  Frau  des  Künstlers, 
des  Bürgermeisters  Prix.  In  der  letzten  Frühjahrs¬ 
ausstellung  (1895)  des  Wiener  Künstlerhauses  hatte 
Schmid  eine  schöne  Caritas  in  Lebensgröße  und  ein 
ungemein  anmutiges  Bildchen  seiner  Frau  mit  dem 
Kind  in  den  Armen:  eine  weiße  Gestalt  mitten  im 
grünen  farbigen  Garten.  Ein  Kaiserbildnis  für  das 
Ministerpräsidium  und  eine  Allegorie  des  Frühlings 
(Erwachen  der  Natur)  reifen  gegenwärtig  in  seinem 
Atelier  der  Vollendung  entgegen. 

MORITZ  N ECKER. 


33* 


Nach  einer  Originalvadirung  von  Seymour  Haden. 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 

VON  H.  A.  LIEB. 

MIT  ABBILDUNGEN. 

(Schluss.) 

IV. 


ENN  man  die  Leistungen  Belgiens  und  Hol- 
'föwXfc.  lan(is  auf  dem  Gebiete  der  Radirung  mit- 
einander  vergleicht,  so  neigt  sich  die  Wag- 
schale  sehr  zu  Gunsten  Hollands,  das,  dank  der 
mächtigen  von  Remhrandt  ausgegangenen  Tradition, 
Belgien  in  diesem  Punkte  auch  in  neuerer  Zeit  weit 
überflügelt  hat.  Die  Belgier,  die  sich  an  der  Ent¬ 
wicklung  der  modernen  Kunst  namentlich  durch 
die  Pflege  der  Historienmalerei  beteiligt  haben,  be¬ 
sitzen  eine  entschiedene  Vorliebe  für  den  Stich  und 
bleiben  insofern  ihrer  Überlieferung  getreu,  als  ja 
auch  zu  Rubens  Zeit  eine  blühende  Kupferstecher- 
schule  unter  den  Vlämen  sich  entwickelt  hatte. 
Kupferstich  und  Radirung  treten  aber  in  der  Ge¬ 
schichte  vielfach  als  zwei  feindliche  Brüder  auf,  und 
so  erklärt  sich  die  geringe  Beteiligung  der  Belgier 
an  dem  Fortschritt  der  Radirung  aus  ihrer  Vorliebe 
für  den  Kupferstich. 

Unter  den  älteren  belgischen  Radirern  unseres 
Jahrhunderts  hat  nur  Engine  Verboeckhoven  (1798 — 
1881  ,  der  bekannte  Tiermaler,  Anspruch  auf  Be¬ 
achtung,  weil  seine  Arbeiten  auch  auf  diesem  Ge¬ 
biete  ein  liebevolles  Naturstudium  und  die  geübte 
Hand  des  gewandten  Zeichners  verraten.  Spä¬ 


ter  hat  Joseph  Finnig  (1815—1891),  dem  wir  den 
„Peintre-graveur  hollandais  et  beige  aux  XIXe  siede“ 
verdanken,  durch  seine  radirten  Ansichten  Antwer¬ 
pens  bahnbrechend  gewirkt  und  eine  Anzahl  be¬ 
deutender  Künstler  Antwerpens  für  die  Radirung 
zu  interessiren  verstanden.  Zu  ihnen  gehörte  unter 
anderen  Henri  Leys  (1815—1869)  der  berühmte 
Historienmaler,  der  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  mit 
der  Radirung  beschäftigt  hat.  Als  sein  bestes  Blatt, 
das  überhaupt  eins  der  besten  der  modernen  belgi¬ 
schen  Radirung  ist,  wird  das  „Interieur  flamand“ 
vom  Jahre  1840  angeführt.  Sein  ganzes  Werk  aber 
beläuft  sich  auf  nicht  mehr  als  auf  ein  Dutzend 
Blätter.  Weit  umfangreicher  wurde  dasjenige  des 
Landschaftsmalers  Henri  de  Braekeleer  (1840 — -1888), 
doch  blieb  seine  Wirksamkeit  ebenso  wenig  beachtet, 
wie  diejenige  Jan  Stobbaerts,  obwohl  sich  beide 
Männer  in  ihren  Werken  den  alten  holländischen 
Meistern  nicht  unebenbürtig  erwiesen. 

Dasselbe  gilt  von  Felicien  Roj)s ,  von  dessen  eigen¬ 
tümlicher  Stellung  in  der  Geschichte  der  modernen 
Radirung  schon  die  Rede  war.  Die  unter  seinem 
Präsidium  und  unter  dem  Protektorate  der  Gräfin  von 
Flandern  im  Jahre  1875  ins  Leben  gerufene  „Societe 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


253 


internationale  d’aquafortistes“,  die  zwei  Folgen  von 
Radirungen  herausgab,  konnte  sich  nicht  halten. 
Rops  legte  die  Leitung  nieder  und  siedelte  nach 
Paris  über.  Bessere  Erfolge  hatte  die  im  Jahre  1881 
in  Antwerpen  gegründete  „Societe  d’aquafortistes“, 
die  durch  die  1887  in  Brüssel  entstandene  „Societe 
d’aquafortistes  beiges“  abgelöst  wurde.  Diese  Gesell¬ 
schaft  wird  vom  Staate  unterstützt  und  vertritt  die 
Bestrebungen  der  modernsten  belgischen  Malerei, 
die  von  einer  gewissen  Sucht  nach  auffallenden, 
impressionistischen  Wirkungen  nicht  freizuspre¬ 
chen  ist. 

Auch  in  Holland  rührt  der  Aufschwung  der 
Radirung  aus  ziemlich  neuer  Zeit  her.  Er  knüpft 
sich  an  die  Stiftung  des  niederländischen  Radirklubs 
im  Jahre  1885.  Die  Stifter  dieses  Klubs  waren: 
Jan  Veth,  Dr.  Rinderen,  T holen,  Witkamp,  Witzen , 
Pli.  Zilken  und  die  Malerinnen  Therese  Schwartze  und 
Wally  Moes.  Später  schlossen  sich  an :  J.  E.  Kursen , 
Van  der  Valk,  Isaac  Israels,  W.  de  Zwart,  A.  L.  Koster, 
M.  van  Marel,  N.  Bastert,  Jac.  van  Looy ,  Floris  Verster , 
M.  Bauer  und  die  Damen  Etha  Fies  und  Suze  Ro¬ 
bertson.  Bis  jetzt  hat  der  Verein  sechs  Albumhefte 
mit  je  zwölf  Blättern  erscheinen  lassen. 

Unabhängig  von  dieser  Gruppe  holländischer 
Radirer  hat  sich  der  meist  in  Belgien  oder  Frank¬ 
reich  lebende  und  vor  kurzem  von  Brüssel  nach 
Wiesbaden  übergesiedelte  Th.  C.  II.  Storni  vans 
Gravesande  aus  Breda  (geb.  1841)  entwickelt.  Er 
ist  es  gewesen,  der  die  moderne  holländische  Ra¬ 
dirung  zuerst  geschaffen  und  ihr  die  Achtung  des 
Auslandes,  namentlich  Englands  und  Amerika’s  er¬ 
rungen  hat.  Sein  Gebiet  ist  die  Schilderung  der 
See  und  der  Landschaft  seiner  Heimat,  wobei  er 
sich  einer  merkwürdigen  Sparsamkeit  in  der  An¬ 
wendung  der  Darstellungsmittel  befleißigt. 

Aber  obwohl  sich  sein  Werk  bereits  auf  über 
250  Nummern  beläuft,  ist  er  in  seinem  Vaterlande, 
wo  er  nur  selten  ausgestellt  hat,  so  gut  wie  unbe¬ 
kannt.  Um  so  größeren  Ansehens  erfreut  sich  dort 
Philipp  Zilcken ,  der  im  Haag  geboren  ist  und  dort 
seinen  ständigen  Aufenthalt  hat.  Ein  geachteter 
Maler,  ist  er  gegenwärtig  zugleich  der  am  meisten 
geschätzte  holländische  Radirer.  Wir  besitzen  gegen 
200  Blatt  von  seiner  Hand,  in  denen  er  alle  erdenk¬ 
lichen  Gegenstände  behandelt  hat,  da  er  alles,  was 
ihn  interessirt,  in  den  Bereich  seiner  Darstellung  zu 
ziehen  liebt:  Landschaften,  Tierstücke,  Architekturen, 
Interieurs,  Akte  und  Bildnisse,  ln  seinen  Land¬ 
schaftsradirungen  begegnen  wir  nicht  nur  Motiven 
aus  den  verschiedensten  Teilen  der  Niederlande,  son¬ 


dern  auch  aus  dem  Orient,  z.  B.  aus  Algier,  das  er 
auf  einer  Studienreise  besucht  hat.  Ebenso  viel¬ 
seitig  wie  in  der  Wahl  seiner  Vorwürfe  zeigt  er 
sich  in  der  Verwendung  der  seiner  Kunst  eigentüm¬ 
lichen  technischen  Mittel.  Mit  Vorliebe  arbeitet  er 
mit  der  kalten  Nadel  auf  Zink,  geht  aber  den  Zu¬ 
fälligkeiten  der  Atzung  am  liebsten  aus  dem  Wege. 
Wünscht  er  kräftigere  Wirkungen  zu  erzielen,  so 
bedient  er  sich  wohl  auch  der  Aquatinta,  die  in  der 
Regel  einen  zweiten  Zustand  der  Platte  ergiebt.  Zilcken 
pflegt  nur  wenige  Abzüge  zu  machen  und  sodann 
die  Platten  zu  zerstören.  Auf  diese  Weise  erlangen 
seine  Arbeiten  eine  künstliche  Seltenheit,  und  es 
dürfte  nur  wenig  Sammler  geben,  die  sich  rühmen 
können,  sein  Werk  auch  nur  annähernd  vollständig 
zu  besitzen.  Übrigens  hat  Zilcken  nicht  nur  Origi¬ 
nalradirungen,  sondern  auch  eine  stattliche  Anzahl 
Reproduktionen  nach  Werken  anderer  Künstler  ge¬ 
schaffen.  Da  er  noch  in  den  besten  Jahren  steht 
—  er  wurde  1857  geboren  —  dürfen  wir  noch  zahl¬ 
reiche  Arbeiten  von  seiner  Hand  erwarten. 

Neben  Zilcken  soll  unter  den  modernen  hollän¬ 
dischen  Radirern  Ant.  Mauve,  der  vor  einigen  Jahren 
starb,  nicht  vergessen  werden.  Mauve  ist  auch  in 
Deutschland  als  ein  vorzüglicher  Landschafts-  und 
Tiermaler  bekannt  geworden.  Seine  Gemälde  zeich¬ 
nen  sich  durch  seltene  Naturtreue,  großen  Fleiß  und 
sorgfältige  Zeichnung  aus.  Dieselben  Vorzüge  be¬ 
sitzen  seine  Radirungen,  die  er  nur  nebenbei  an¬ 
fertigte,  und  von  denen  wir  nur  18  Blatt  kennen. 

Auch  der  berühmte  holländische  Genremaler 
Josef  Israels  hat  gelegentlich  zur  Radirnadel  gegriffen 
und  in  Radirungen  wie  in  seinen  Bildern  das  Volk  der 
Fischer  und  Schiffer  und  das  Leben  und  Treiben  der 
Armen  geschildert  und  zwar  mit  einer  Meisterschaft 
und  technischen  Kühnheit,  die  seiner  Bedeutung  als 
Maler  vollkommen  entspricht.  Da  auch  seine  Ra¬ 
dirungen  äußerst  selten  und  schwer  zugänglich  sind, 
wollen  wir  nur  auf  die  Blätter  in  der  von  Cadart 
herausgegebenen  „Illustration  Nouvelle“  hin  weisen 
und  unter  ihnen  die  Radirungen:  „Braertje  en 
zurje“  (Brüderchen  und  Schwesterchen)  „De  twee 
slaapsters “  (die  beiden  Schläferinnen,  eine  Frau  auf 
einem  Stuhl  mit  einer  Katze)  und  „Het  binnen- 
huis“  anführen. 

Wer  sich  genauer  mit  der  Geschichte  der  mo¬ 
dernen  holländischen  Radirung  vertraut  machen  will, 
muss  das  Album  der  im  Haag  im  Jahre  1891  er¬ 
richteten  Gesellschaft  „Pulchri  studio“  einsehen.  Er 
findet  dort  eine  Fülle  der  schönsten  und  seltensten 
Blätter,  die  von  holländischen  Malern  herrühren,  die 


254 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


nicht  berufsmässig,  sondern  z u  ihrem  eigenen  Ver¬ 
gnügen  gelegentlich  Versuche  mit  der  Radirung  an¬ 
gestellt  haben.  Dazu  gehören  unter  anderen  Arbeiten 
von  Jacob  Matthijs,  J.  van  den  Scmde  Bakhuijsen, 
J).  A.  C.  Arzt ,  Louis  Apol,  F.  J.  Duchatel  und  J. 
Vrolijk ,  also  von  Künstlern,  die  durch  ihre  Land¬ 
schaften  jedem  Besucher  unserer  letzten  größeren 
Bilderausstellungen  in  München  und  Berlin  als  aus¬ 
gezeichnete  Vertre¬ 
ter  ihres  Faches  be¬ 
kannt  sind. 

Unter  den  jüng¬ 
sten  holländischen 
Künstlern  hat  sich 
A.  J.  Bauer  einen 
Namen  gemacht. 

Er  war  erst  neun¬ 
undzwanzig  Jahre 
alt,  als  er  eine 
Reise  in  die  Türkei 
unternahm.  Dort 
fing  er  an,  sich  für 
das  religiöse  Leben 
der  Mohamedaner 
zu  interessiren  und 
Skizzen  in  den  ver¬ 
schiedenen  Mosche¬ 
en,  namentlich  in 
der  Sophienkirche 
zu  Konstantinopel, 
zu  machen.  Nach 
Holland  heimge¬ 
kehrt  und  im  Haag 
ansässig  geworden, 
unternahm  er  es, 
seine  Reiseeindrü¬ 
cke  in  Iiadirungen 
wiederzugeben,  bei 
denen  es  ihm  nicht 
auf  eine  genaue 
Durchführung,  son¬ 
dern  nur  auf  die 
Andeutung  des  Ein¬ 
drucks  ankam.  Daher  sind  seine  überaus  geschickt 
angelegten  Blätter  im  höchsten  Maße  impressionis¬ 
tisch,  und  auch  seine  größte  Radirung  aus  dieser 
orientalischen  Folge,  „der  Zug  Aladins  zum  Sultan“ 
betitelt,  verleugnet  diese  flüchtige  Haltung  nicht,  die 
auf  viele  Beschauer  befremdend,  wenn  nicht  sogar 
abstoßend  wirkt. 

Das  gerade  Gegenteil  von  Bauer  s  gewollter  Unbe¬ 


stimmtheit,  die  den  Charakter  des  Visionären  tragen 
soll,  ist  der  Ernst  und  die  Strenge,  die  uns  in  den 
Arbeiten  W.  Witsens  in  Amsterdam  enta-egfentritt. 
Unter  seinen  Radirungen  stehen  die  Blätter:  „Tra¬ 
falgar  Square“  und  „Waterloo  bridge“,  die  Früchte 
einer  Reise  nach  London  im  Jahre  1890,  obenan. 

Eine  merkwürdige  Erscheinung  ist  der  als  Maler 
wie  als  Radirer  gleich  hervorragende  Jan  Berthold 

Jonking.  Zu  Lat 
trop  in  Oberyssel 
im  Jahre  1819  ge¬ 
boren  und  in  Cöte 
Sainte- Andre  an  der 
Isere  im  Jahre  1891 
gestorben,  gehört 
er,  obwohl  bis  vor 
kurzem  in  Deutsch¬ 
land  ganz  unbe¬ 
kannt,  zu  den  bes¬ 
ten  modernen  Land¬ 
schaftsmalern,  und 
wird  in  Frankreich 
gleich  hoch  wie  Co¬ 
rot ,  Diaz  oder  Dan- 
big  ny  geschätzt.  Es 
war  ein  Schüler 
Isabey’s  und  steht 
unter  den  Vorkäm¬ 
pfern  des  Impres¬ 
sionismus  obenan. 
Als  Radirer  schil¬ 
derte  er  gern  den 
feinenDuftder  win¬ 
terlichen  Schnee¬ 
landschaft  seiner 
holländischen  Hei¬ 
mat.  Ein  anderes 
seiner  Blätter  giebt 
einen  Sonnenunter¬ 
gang  in  Antwerpen, 
noch  ein  anderes 
die  Morgendäm¬ 
merung  in  einer 
Pariser  Straße  wieder.  Von  seinem  Werk  besitzt 
das  Kgl.  Kupferstichkahinett  in  Dresden,  wo  über¬ 
haupt  die  moderne  Radirung  eine  sorgsame  Pflege 
findet,  acht  Nummern,  die,  obwohl  sie  die  Jahres¬ 
zahlen  1861  —  1865,  1875  u.  s.  w.  tragen,  also  ver¬ 
hältnismäßig  früh  entstanden  sind,  aussehen,  wie  Ar¬ 
beiten  der  neuesten  Zeit.  Sie  sind  als  Geschenk 
des  oben  genannten  Storni  van’s  Gravesande  in  das 


Empire.  Nach  einer  Originalradirung  von  Larsson. 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


255 


Kabinett  gekommen  und  besitzen  einen  entschiedenen 
kunsthistorischen  Wert. ') 

y. 

Wie  der  Aufschwung  der  Malerei  in  den  skan¬ 
dinavischen  Ländern  überhaupt  erst  den  neueren 
Zeiten  angehört,  so  hat  auch  die  Pflege  der  Radirung 
als  selbständiger  Kunstzweig  dort  nur  eine  ganz 
kurze  Geschichte.  Sie  beginnt,  genau  genommen, 
erst  im  Jahre  1S74,  wo  Unger  aus  Wien  auf  Ein¬ 
ladung  L.  Dietrich- 
son’s,  des  Herausge¬ 
bers  der  „Tidskrift  för 
bildande  Konst“  nach 
Stockholm  kam,  um 
für  diese  Zeitschrift 
Bilder  des  schwedi¬ 
schen  Nationalmuse¬ 
ums  zu  radiren.  Unger 
war  von  seinem  Schü¬ 
ler  Leopold  Loewen- 
stam ,  einen  später 
nach  London  überge¬ 
siedelten  Holländer, 
und  dem  Wiener  Jo¬ 
hann  Klans  begleitet. 

Diese  Künstler  gaben 
einer  Anzahl  ihrer 
schwedischen  Kolle¬ 
gen  den  ersten  Un¬ 
terricht  in  der  bisher 
so  gut  wie  unbekann¬ 
ten  Radirkunst  und 
batten  die  Freude,  für 
ihre  Bestrebungen  re¬ 
ges  Interesse  und  leb¬ 
hafte  Teilnahme  zu 
finden. 

Seitdem  fehlt  es 
in  Schweden  nicht 
mehr  an  Originalradirern,  die  auch  außerhalb  der 
Grenzen  ihres  Vaterlandes  Beachtung  verdienen.  Zu 
den  tüchtigsten  Vertretern  der  Radirung  in  Stock¬ 
holm  gehört  der  im  Jahre  1844  geborene  Robert 


1)  Wir  benutzen  die  Gelegenheit,  um  nachzutragen,  dass 
das  Dresdener  Kabinett  gegen  dreissig  Radirungen  und  Kalt¬ 
nadelarbeiten  Storm’s  sowie  eine  kleine  Zahl  seiner  Litho¬ 
graphien  besitzt,  welch’  letztere  die  Erstlingswerke  des 
Künstlers  auf  diesem  Gebiete  sind  und  Motive  bei  Dord- 
recht  und  Rotterdam  oder  am  Rhein  bei  Köln  und  Bonn 
behandeln. 


Haglund.  Wie  seine  kleine,  von  uns  reproduzirte 
Original- Radirung  beweist,  ist  er  ein  Meister  der 
Stimmungslandschaft,  deren  Motive  er  meist  der 
wasserreichen  Umgebung  Stockholms  entnimmt.  Er 
hat  zu  diesem  Zweck  die  Werke  der  alten  Holländer, 
von  denen  er  einzelne  nach  Bildern  des  schwedischen 
National-Museums  reproduzirte,  fleißig  studirt,  gleich¬ 
zeitig  aber  auch  mehrere  gelungene  Versuche  im 
Porträtfache  angestellt.  Als  weitere  Probe  für  die 
Leistungsfähigkeit  der  schwedischen  Radirer  mag 

die  reizvolle  Kostüm¬ 
studie:  „Empire“  von 
dem  bekannten  Maler 
Carl  Larsson  (geb. 
1853)  dienen,  die 
ebenso  flott  gemacht 
wie  charakteristisch 
für  das  Zeitalter  ist, 
das  sie  veranschau¬ 
lichen  soll.  In  Axel 
Hermann  Hägg ,  ge¬ 
boren  1835  in  Eng¬ 
land,  besitzt  Schwe¬ 
den  einen  Radirer,  der 
mit  seinen  meist  dem 
Fache  der  Architektur 
angehörenden  großen 
Blättern  als  ein  Rivale 
unseres  deutschen 
Mannfeld  angesehen 
werden  muss.  Bei  der 
Wahl  seiner  Vor¬ 
würfe,  die  eine  unge¬ 
wöhnliche  Mannig¬ 
faltigkeit  aufweisen, 
verrät  er  eine  merk¬ 
würdige  Neigung  für 
BeleuchtungsefFekte, 
indem  er  sich  be¬ 
strebt  zeigt,  die  eigen¬ 
tümlichen  Lichtverhältnisse  der  von  ihm  dargestellten 
Innenräume  oder  den  Stimmungsgehalt  der  die  Ge¬ 
bäude  umgebenden  Naturscenerien  in  charakteris¬ 
tischer  Auffassung  in  der  Radirung  festzuhalten. 
Hägg  ist  sozusagen  in  der  ganzen  Welt  herumge¬ 
kommen  und  hat  sich  als  Architekturradirer  einen 
europäischen  Ruf  erworben. 

Für  viele  schwedische  Künstler  hat  Paris  als 
Kunststadt  einen  ganz  besonderen  Reiz.  Wir  treffen 
daher  in  Paris  nicht  nur  eine  Menge  schwedischer 
Maler,  sondern  auch  eine  Anzahl  Radirer,  die  fast 


256 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


ausnahmslos  der  allerneuesten  Pariser  Strömung  an¬ 
gehören  und  an  Kühnheit,  um  nicht  zu  sagen,  Keck¬ 
heit,  ihre  französischen  Kollegen  oft  noch  übertreffen. 
Der  begabteste  dieser  Gruppe  ist  Anders  Leonhard 
Zorn  (geb.  1860).  Die  Besucher  der  Münchener  Jahres¬ 
ausstellung  1891  erinnern  sich  gewiss  noch  jener 
Freilichtstudie  des  Künstlers,  auf  der  er  uns  eine 
Mutter,  die  ihr  ängstlich  im  Wasser  tappendes  Kind 
ins  Bad  bringt,  vorführte.  Das  kleine,  im  hellsten 
Sonnenschein  gemalte  Bild  erregte  damals  den  Un¬ 
willen  aller  Anhänger  der  alten  Schule.  Wir  fürch¬ 
ten,  dass  diese  Leute  nicht  weniger  ungünstig  über 
Zorns  Radirungen  urteilen  möchten,  wenn  sie  ihnen 
bekannt  wären.  Denn  Zorn  scheint  allerdings  in 
ihnen  aufs  Geratewohl  mit  großen  Nadelrissen  zu 
kritzeln.  In  Wahrheit  versteht  er  jedoch  bei  aller  Frei¬ 
heit  seiner  Strichführung  vorzüglich  zu  modelliren 
und  in  dem  Beschauer  diejenige  Stimmung,  auf  die 
er  ausgeht,  mit  Energie  zu  erzeugen.  Bisher  hat 
Zorn  namentlich  Porträts  radirt  und  die  hier  bel- 
gegebene  Nachbildung  einer  Originalradirung  von 
seiner  Hand  scheint  uns  eine  vortreffliche  Probe 
seiner  künstlerischen  Eigenart  zu  sein. 

In  Norwegen  geht  die  Geschichte  der  Radirung 
bis  in  die  ersten  Jahrzehnte  unseres  Jahrhunderts 
zurück,  wo  Maler  wie  Johann  Christian  Dahl  und 
später  Adolph  Tidemand  und  Siegivald  Dahl  gelegent¬ 
lich  einige  unerhebliche  Versuche  in  dieser  Kunst 
anstellten.  In  neuerer  Zeit  hat  Unger’s  Beispiel  auch 
dort  wertvolle  Anregungen  geboten;  doch  fehlt  es 
bis  heute  an  Norwegischen  Künstlern,  deren  Arbei¬ 
ten  Anspruch  auf  Beachtung  in  weiteren  Kreisen 
hätten. 

Dasselbe  gilt  von  den  dänischen  Radirern.  Sie 
sind  zwar  weit  zahlreicher  als  die  norwegischen,  haben 
aber  niemals  außerhalb  ihrer  engeren  Heimat  von 
sich  reden  gemacht,  selbst  der  so  fruchtbare  Land¬ 
schaftsmaler  Wilhelm  Kyhn  nicht  und  ebensowenig 
Carl  Heinrich  Bloch ,  als  dessen  beste  Arbeiten  die 
erst  ein  Jahr  vor  seinem  Tode  im  Jahre  1889  vollen¬ 
deten  beiden  kleinen  Blätter:  „Die  Grablegung  Christi“ 
und  „Christus  in  Gethsemane“  angeführt  werden. 

VI. 

In  Russland  hat  sich  die  Radirung  trotz  ver¬ 
schiedener  verheißungsvoller  Anläufe  nur  schwer 
Eingang  zu  verschaffen  gewusst.  Im  Winter  von 
1870  auf  1871  wurde  in  St.  Petersburg  unter  der 
Leitung  des  Staatsrates  A.  J.  Ssomov  ein  „Verein  von 
Aquafortisten“  ins  Leben  gerufen.  Er  gab  zwei  Map¬ 
pen:  „Erste  Versuche  der  russischen  Aquafortisten“ 


(1871)  und  „Album  der  russischen  Aquafortisten“ 
heraus,  musste  sich  aber  zum  Teil  aus  politischen 
Gründen  schon  im  Jahre  1873  wieder  auflösen.  In¬ 
dessen  sind  die  von  ihm  ausgegangenen  Anregungen 
nicht  auf  unfruchtbaren  Boden  gefallen,  sondern  sie 
haben  dazu  gedient,  dass  sich  in  Russland  in 
neuerer  Zeit  eine  ungeahnte  Menge  von  Künst¬ 
lern  der  Beschäftigung  mit  diesem  Kunstzweige  zu¬ 
wandte.  Als  die  bedeutendsten  Vertreter  der  heu¬ 
tigen  russischen  Radirkunst  kommen  vor  allen  vier 
Künstler  in  Betracht,  denen  es  gelungen  ist,  auch 
im  Westen  die  Aufmerksamkeit  der  Kunstfreunde 
auf  sich  zu  ziehen:  N.  S.  Mossolow,  L.  J.  Dmitrijew- 
Kawkasski,  V.  Al.  Bobrow  und  J.  J.  Schischkin. 

Mossolow,  geboren  1847  in  Moskau  und  in  Dres¬ 
den  durch  Friedrich  und  G.  Planer ,  später  in  Paris 
durch  Flameng  ausgebildet,  ist  schon  seit  geraumer 
Zeit  als  einer  der  besten  Rembrandt-R&direr  bekannt. 
Da  er  aber  als  pecuniär  unabhängiger  Mann  nicht 
genötigt  ist,  geschäftliche  Zwecke  zu  verfolgen,  sind 
seine  Arbeiten  ziemlich  selten  und  nur  in  wenigen 
Exemplaren  abgedruckt.  Von  seinen  Originalarbei¬ 
ten  sind  nur  zwölf  Blätter  bekannt,  zu  denen  ein 
interessantes  RembrandC Porträt  gehört.  Seine  repro- 
duzirenden  Arbeiten  findet  man  hauptsächlich  in  drei 
Hauptwerken  vereinigt.  Es  sind  dies  folgende:  „Les 
Rembrandts  de  l’Ermitage  Imperiale  de  St.  Peters- 
bourg“  (1872),  „Les  chefs  d’oeuvre  de  TErmitage 
Imperial  de  St.  Petersbourg“  (1872)  und  „Eaux-fortes 
d’apres  Rembrandt“  (1876).  Mossolow  erhielt  dafür 
in  Paris  (1877)  und  in  Wien  (1878)  die  goldene  Me¬ 
daille,  doch  beschränkt  sich  sein  aus  mehr  als  200 
Nummern  bestehendes  Werk  keineswegs  auf  diese 
großen  Veröffentlichungen.  Er  hat  außerdem  noch 
nach  modernen  Künstlern  radirt,  sowohl  nach  rus¬ 
sischen,  als  auch  nach  nichtrussischen. 

L.  J.  Dmitrijew-Kawkasski,  der  aus  dem  Kauka¬ 
sus  stammt  und  heute  als  Akademiker  in  St.  Peters¬ 
burg  lebt,  ist  gleichfalls  durch  seine  Beteiligungen 
an  den  großen  Ausstellungen  im  Westen  bekannt 
geworden.  Er  hat  bereits  über  70  Radirungen  ge¬ 
schaffen,  unter  denen  sich  eine  ganze  Anzahl  Origi¬ 
nalarbeiten  befinden.  Am  liebsten  wählt  er  Motive 
aus  dem  Kaukasus,  wo  ihn  namentlich  der  malerische 
Typus  der  Bewohner  interessirt,  wie  überhaupt  die 
menschliche  Gestalt  und  das  Porträt  sein  eigentliches 
Arbeitsfeld  bildet. 

Auch  V.  A.  Bobrow  pflegt  das  Porträtfach  und 
gefällt  namentlich  in  seinen  Studienblättern  nach 
nackten  Frauen,  die  er  mit  pikanten  Reizen  auszu¬ 
statten  versteht.  Als  Leiter  der  „Expedition  zur  An- 


PART  IN  G  WAYS 

(Nach,  der  Ongmatradirurig Tonllerkomer.] 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


257 


Nach  einer  Originalradirung  von  Seymour  Haden. 


fertigung  von  Staatspapieren“  ist  seine  Zeit  sehr  in 
Anspruch  genommen,  doch  findet  er  immer  noch 
Muße  genug,  um  als  Zeichner,  Radirer  und  nament¬ 
lich  als  Aquarellist  eine  fruchtbare  künstlerische 
Thätigkeit  zu  entwickeln. 

Der  fruchtbarste,  vielleicht  auch  der  bedeutendste 
russische  Landschaftsradirer  ist  Schisehkin.  Er  ist 
im  Westen  nur  wenig  bekannt,  obwohl  sein  Werk 
schon  auf  über  hundert  Nummern  angewachsen  ist, 
unter  denen  sich  dreißig  Lithographien  befinden. 
Seine  Specialität  ist  der  Baumschlag,  in  dessen  cha¬ 
rakteristischer  Wiedergabe  er  überhaupt  nur  wenig 
ebenbürtige  Rivalen  haben  dürfte.  Als  Maler  hat 
er  keine  hervorragenden  Leistungen  aufzuweisen; 
wer  aber  seine  Radirungen  kennt,  weiß,  dass  er, 
wenn  er  auch  nur  in  Schwarz  und  Weiss  arbeitet, 
die  kräftigsten  koloristischen  Wirkungen  hervor¬ 
zubringen  versteht. 

Eigentliche  Schüler  hat  der  bescheidene  und 
zurückgezogen  lebende  Schisclikin  nicht  gebildet, 
während  die  Zahl  der  Schüler,  die  sich  um  Dmitrijew- 
Kawkasslci  schaart,  ziemlich  groß  ist.  Trotzdem  ist 
die  Lage  der  Radirer  in  Russland  keine  rosige.  Sie 
haben  noch  immer  mit  der  von  den  Verlegern  unter¬ 
stützten  Vorliebe  des  Publikums  für  französische 
Arbeiten  zu  kämpfen  und  leiden  schwer  unter  der 
Konkurrenz  des  Buntdrucks  und  der  mittelmäßigen 
Ware,  mit  der  die  Redaktionen  der  illustrirten 
Zeitungen  dem  Geschmack  ihrer  Leser  entgegen¬ 
zukommen  suchen.  Immerhin  sorgt  eine  Anzahl 
reicher  Sammler  dafür,  dass  die  Jünger  der  Radir- 
kunst  Beschäftigung  finden,  während  der  Staat  be¬ 
müht  ist,  die  bereits  erwähnte  „Expedition  zur 
Anfertigung  der  Staatspapiere“  zu  einem  Kunstinstitut 
zu  erweitern  und  zu  diesem  Behufe  den  in  Wien 
gebildeten  Stecher  Gustav  Frank  nach  St.  Petersburg 
berufen  hat. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  10. 


VII. 

In  Amerika  konnte  die  Radirung  erst  von  dem 
Augenblick  an  zu  einiger  Bedeutung  gelangen,  als 
die  dort  einheimischen  Künstler  aufhörten,  vorzugs¬ 
weise  ihre  Ausbildung  in  Deutschland  und  Italien 
zu  suchen,  und  sich  statt  dessen  nach  Frankreich 
wandten,  wo  der  dort  herrschende  Individualismus 
in  der  Kunst  auch  sie  zur  Geltendmachung  ihrer 
künstlerischen  Persönlichkeit  führte.  Die  Anregung 
zum  Radiren  erhielten  die  Amerikaner  durch  den 
französischen  Kunsthändler  Cadart  von  der  Pariser 
Firma  Cadart  &  Louquet,  der  im  Jahre  1806  nach 
Amerika  kam  und  dort  nicht  nur  eine  große  Ladung 
von  Radirungen,  Platten,  Atzgründen  und  Nadeln 
in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  absetzte,  sondern 
auch  einzelnen  Künstlern  Unterricht  im  Radiren  er¬ 
teilte.  Doch  darf  der  von  Cadart  ausgegangene  Ein¬ 
fluss  nicht  überschätzt  werden.  Wichtiger  war  der 
Eindruck,  den  die  Arbeiten  des  aus  Amerika  stammen¬ 
den  James  Mc.  Neill  Whistler  hinterließen,  und  das 
Beispiel  des  Engländers  Ilenry  Farrer ,  der  seit  dem 
Jahre  1868  energisch  für  die  Radirung  thätig  war. 
Indessen  wurde  der  erste  amerikanische  Radirclub, 
der  „New  York  Etcliing  Club“,  erst  im  Jahre  1877 
gegründet.  Ihm  folgte  im  Jahre  1880  in  Phila¬ 
delphia  die  „Society  of  Etchers“  und  noch  in  dem¬ 
selben  Jahre  der  „Boston  Etcliing  Club“,  und  im 
Jahre  1882  der  „Etcliing  Club  of  Cincinnati“  und 
der  „ Scratch ers’  Club  of  Brooklyn“.  Dazu  kam 
noch  außerhalb  des  Gebietes  der  Vereinigten  Staaten 
die  „Association  of  Canadian  Etchers“  in  Toronto. 
Es  hatte  also  den  Anschein,  als  ob  in  Amerika  ein 
besonders  günstiger  Boden  für  die  Radirung  vor¬ 
handen  wäre.  Doch  hat  mit  Ausnahme  des  New 
Yorker  Clubs  keine  dieser  Gesellschaften  eine  größere 
Thätigkeit  entwickelt,  und  wenn  es  auch  in  den 
ersten  Jahren  in  verschiedenen  größeren  Städten  an 

34 


Nach  einer  Originalradiruug  von  H.  IIerkomer. 


258 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


hochinteressanten  Specialaus¬ 
stellungen  nicht  fehlte ,  so  ist 
gegenwärtig  die  amerikanische 
Radirung  bereits  wieder  im  Ab¬ 
sterben  begriffen  und  die  ge¬ 
nannten  Gesellschaften  haben 
ihre  Wirksamkeit  so  gut  wie 
eingestellt.  Es  ist  offenbar 
eine  Uberfüllung  und  Über¬ 
sättigung  des  Publikums  mit 
Radirungen  eingetreten,  sodass 
der  Rückschlag  in  der  allge¬ 
meinen  Teilnahme  nur  natür¬ 
lich  erscheint,  namentlich  wenn 
man  bedenkt,  wie  raschlebig 
gerade  die  Amerikaner  sind. 

Diese  Thatsache  kann  uns 
jedoch  nicht  hindern,  anzuer¬ 
kennen,  dass  die  amerikanische 
Radirung  in  der  kurzen  Zeit 
ihrer  Blüte  eine  Reihe  köst¬ 
licher  Früchte  gezeitigt  hat, 
die  ihren  dauernden  Wert  be¬ 
haltenwerden.  Da  die  Radirung 
eine  ganz  moderne  Erscheinung 
für  Amerika  ist,  so  ist  es  natür¬ 
lich,  dass  die  meisten  dortigen 
Künstler  sich  der  landschaft¬ 
lichen  Schilderung  zugewandt 
haben.  Mit  der  menschlichen 
Gestalt  ausschließlich  hat  sich 
F.  S.  CKurch  beschäftigt,  ein 
Amerikaner  aus  dem  Westen, 
der  nie  Europa  gesehen  hat. 
Sein  Lieblingsgebiet  war  die 
Schilderung  phantastischer  Er¬ 
scheinungen  und  fabelhafter 
Wesen,  wie  sie  nach  den  An¬ 
schauungen  der  Dichter  das 
Meer  bevölkern  und  überhaupt 
das  Wasser  bewohnen.  Ghurch 
schuf  also  Wassernymphen, 
Meerweiber  und  Nixen  mit 
ihrem  ganzen  Gefolge,  und  be¬ 
handelt  dieses  sein  Thema  mit 
einer  Art  überlegener  Ironie, 
die  durchaus  modern  erscheint. 
Ebenso  selten  wie  die  hervor¬ 
ragenden  Radirer,  die  amerika¬ 
nisches  Leben  behandeln,  sind 
die  Tiermaler,  unter  denen  nur 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


259 


Peter  Moran  in  seinen  kleineren  Blättern  etwas  von 
bleibendem  Wert  hervorgebracht  hat,  während  seine 
riesengroßen,  für  den  Zimmerschmuck  bestimmten  Plat¬ 
ten  zu  sehr  verraten,  dass  sie  der  Spekulation  der 
Kunsthändler  auf  den  Ungeschmack  des  Publikums 
ihre  Entstehung  verdanken.  Sein  Lieblingsinstrument 
ist  die  Roulette,  welche  er  mit  einer  Kühnheit  hand¬ 
habt,  die  nur  einem  Techniker  ersten  Ranges  gestattet 
ist.  Um  so  größer  ist,  wie  eben  bemerkt  wurde,  die 
Zahl  der  amerikanischen  Landschaftsradirer.  Als 
solche  müssen  R.  Swain  Gifford,  Samuel  Colman 
und  der  manchmal  ziemlich  skizzenhaft  verfahrende 
Charles  H.  Miller ,  einst,  wenn  wir  nicht  irren,  einer 
der  frühesten  Schüler  Adolf  Lier’s  in  München,  ge¬ 
nannt  werden.  Weit  sorgsamer  als  diese  drei  ar¬ 
beitet  James  D.  Smillie,  was  sich  zum  Teil  daraus 
erklärt,  dass  er  vom  Stahlstich  zur  Malerei  und  zur 
Radirung  kam.  Er  beherrscht  das  ganze  Gebiet 
des  Kupferstiches  im  weitesten  Sinne  und  hat  sowohl 
Arbeiten  im  Weichgrund,  Aquatint  und  Mezzotint, 
als  auch  solche  mit  der  Nadel  geliefert.  Henry  Farrer’s 
Radirungen  streben  in  erster  Linie  einen  bildmäßigen 
Eindruck  an  und  sollen  tonig  wirken,  was  ihnen 
meist  gelingt,  da  Farrer  sein  specielles  Gebiet,  den 
Sonnenuntergang  und  die  Dämmerung,  Herbst-  und 
Winterabende,  mit  großer  Virtuosität  beherrscht.  §[§ 

Wie  sehr  es  bei  manchen  Radirungen  auf  die 
Art  und  Weise  des  Druckes  ankommt,  das  ersieht 
man  aus  den  Blättern  Stephan  Parrish’s,  der  zu  den 
fleißigsten  amerikanischen  Radirern  gehört,  am  deut¬ 
lichsten.  Er  lässt  nämlich  vielfach  bei  der  Bear¬ 
beitung  seiner  Platten  die  Luft  weg  und  pflegt  dann 
ihre  Zeichnung  durch  geschickte  Verteilung  der 
Druckerschwärze  zu  ersetzen.  Charles  Platt ,  der  sich 
in  der  Wahl  der  Motive  nicht  selten  mit  Parrish 
berührt,  liefert  geätzte  und  mittels  der  trockenen 
Nadel  hergestellte  Blätter  von  großer  Schönheit,  die 
dem  Drucker  keine  besonderen  Schwierigkeiten  be¬ 
reiten,  die  aber  trotzdem  einen  entschieden  farbigen 
Eindruck  machen  und  namentlich  in  Bezug  auf  die 
Wiedergabe  der  Luft  und  dqr  Lichteffekte  gelungen 
erscheinen.  Joseph  Pennell  erinnert  in  der  Wahl  seiner 
Motive  an  den  Franzosen  Meryon;  denn  wie  jener 
die  engen  Gassen  und  Winkel  des  alten  Paris  auf¬ 
suchte,  so  gewinnt  Pennell  den  schmutzigen  und 
russigen  Arbeitervierteln  seiner  Vaterstadt  Phila¬ 
delphia  die  interessantesten  Vorwürfe  ab  und  be¬ 
handelt  sie  in  einer  durchaus  originellen,  von  jeder 
akademischen  Gepflogenheit  abweichenden  Art. 

Bei  der  großen  technischen  Geschicklichkeit 
der  Amerikaner  haben  sie  auch  den  Versuch  ge¬ 


macht,  das  schon  vor  mehr  als  zweihundert  Jahren 
von  Benedetto  Castiglione  geübte  „Monotyp“  wieder 
anzuwenden.  Unter  „Monotyp“  versteht  man  „eine 
Malerei  auf  einer  blanken  Metallplatte,  die  gewöhn¬ 
lich  in  Druckerschwärze  mit  Ballen,  Lappen,  Pinsel 
und  Pinselstielen,  wohl  auch  mit  den  Fingern  oder 
einem  anderen  Instrument  ausgeführt  und  dann  ver¬ 
mittelst  der  Druckerpresse  in  gewöhnlicher  Weise 
auf  Papier  übertragen  wird.“  Natürlich  lässt  sich 
mit  einer  solchen  Platte  immer  nur  ein  Druck  h er¬ 
stellen,  doch  soll  es  Herkomer  vor  einigen  Jahren 
gelungen  sein,  mit  Hilfe  eines  Assistenten  Mittel 
und  Wege  zu  finden,  von  einem  Monotyp  eine  für 
wiederholten  Abdruck  brauchbare  Platte  herzustellen, 
d.  h.  das  Verfahrern  zur  Vervielfältigung  geeignet 
zu  machen.  Da  sich  nunmehr  der  Name  „Monotyp“ 
nicht  mehr  anwenden  lässt,  hat  Herkomer  dafür  die 
Bezeichnung  „Spongotyp“  in  Vorschlag  gebracht, 
wobei  er  wohl  an  Spongia  =  Schwamm  und  an  das 
Wischen  damit  dachte.  Bekanntlich  hat  Herkomer 
auf  diese  Weise  eine  kleine  Anzahl  vorzüglicher 
Arbeiten  geliefert,  unter  denen  sein  sprechend  ähn¬ 
liches  Selbstporträt  und  das  Brustbild  eines  alten 
oberbayrischen  Bauers  obenanstehen;  doch  haben 
unabhängig  von  seiner  Erfindung  die  Amerikaner 
Wm.  M.  Chase ,  Charles  H  Walker  und  Peter  Moran 
diese  Technik  in  mehr  oder  minder  ausgiebiger 
Weise  gepflegt. 

Auch  die  reproduzirende  Radirung  ist  in  Amerika 
keineswegs  vernachlässigt  worden.  Indessen  lässt 
sich  von  dort  kein  Künstler  nennen,  der  den  besseren 
europäischen  Meistern,  wie  Unger,  Köpping  und  Waltner, 
ebenbürtig  wäre.  Die  bekanntesten  amerikanischen 
Radirer  dieser  Art  sind  der  schon  als  Originalradirer 
genannte  James  D.  Smilie  und  Stephan  Alonxo  Sehoff. 
Merkwürdiger  Weise  hat  aber  der  eigentliche  Kunst¬ 
handel  gerade  für  ihre  Arbeiten  wenig  oder  kein 
Interesse  gezeigt. 

VIII. 

Neben  Frankreich  ist  England  dasjenige  Land, 
in  dem  sich  die  moderne  Radirung  am  glänzendsten 
entwickelt  hat.  Dort  hatte  bereits  der  große  Land¬ 
schaftsmaler  J.  M.  W.  Turner  (1775  bis  1851)  in  der 
Zeit  von  1807  bis  1819  gegen  siebzig  Radirungen 
angefertigt,  zu  deren  Vollendung  er  sich  noch  der 
Kunst  des  Mezzotintostechers  bediente.  Er  wollte  da¬ 
durch  ein  Seitenstück  zu  Claude’s  „Liber  Veritatis“ 
schaffen,  und  in  der  That  ist  sein  „Liber  Studiorum“ 
ein  Werk  geworden,  das  die  Größe  seines  Urhebers 
im  hellsten  Lichte  erscheinen  lässt. 

Gleichzeitig  mit  Turner  versuchten  sich  zwei 

34* 


260 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


Schotten,  Sir  David  Willäe,  der  berühmte  Genre¬ 
maler,  und  Andrew  Geddes  in  der  Kunst  des  Radirens. 
Was  Geddes  in  dieser  Richtung  geschaffen  hat,  be¬ 
sitzt  noch  heute  bleibenden  Wert;  namentlich  sind 
seine  mit  der  kalten  Nadel  ausgeführten  Blätter,  für 
welche  der  Engländer  den  Ausdruck  „dry-point“ 
anwendet,  von  hervorragender  Schönheit.  Das  Gleiche 


gilt  von  der  ganzen  Anzahl  Radirungen,  die  von  dem 
Aquarellmaler  Samuel  Dalmer ,  einem  der  poetischsten 
englischen  Landschafter  unseres  Jahrhunderts,  ange¬ 
fertigt  sind. 

Die  Leistungen  aller  hier  genannten  Künstler 
werden  aber  weit  überboten  durch  das,  was  James 
Abhot  Mac  Neil  Whistler  geschaffen  hat.  Im  Juli 
1831  in  Baltimore  geboren,  ist  Whistler  nicht  nur 


eine  der  interessantesten  und  bedeutendsten  Erschei¬ 
nungen  unter  den  modernen  Malern,  sondern  auch 
einer  der  hervorragendsten  Radirer  aller  Zeiten,  der, 
wie  Frederik  Wedmore  sich  ausdrückt,  „einfach  ge¬ 
schickteste  Wildling  der  Radirung,  den  die  Welt 
seit  Rembrandt  gesehen  hat“.  Als  Schüler  von 
Gleyre  in  Paris  hat  Whistler  schon  dort  und  auf 


einer  Reise  nach  Elsass-Lothringen  seine  ersten 
Radirungen  gearbeitet.  Als  er  im  Jahre  1859  nach 
London  kam,  begann  er  eine  Folge  von  Radirungen 
nach  Motiven  an  der  Themse.  Dabei  interessirte 
ihn  alles,  „was  an  der  Themse  vor  sich  geht,  „below 
bridge“  und  an  den  Ufern :  die  Barken,  Kutter,  Fähren, 
die  Krahne,  die  Warenhäuser  und  Werkstätten,  der 
träge  Strom,  der  flache  Horizont  mit  der  fernen 


Ein  Raucher.  Nach  einer  Originalradirung  von  Pagliano. 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


261 


Nach  einer  Originalradirnng  von  R.  Haolund. 


Krümmung  des  Flusses,  der  Thurm  von  Rotherhithe 
Churcli  u.s.  w.“  Whistler  erscheint  in  diesen  Blättern 
als  ein  vorzüglicher  Zeichner,  der  den  Hauptwert 
auf  die  reine  Linie  legt  und  mit  peinlicher  Gewissen¬ 
haftigkeit  vorgeht.  In  späteren  Blättern  aus  der  Zeit 
von  1863,  in  der  eine  seiner  schönsten  Radirungen 
„Amsterdam“  entstanden  ist,  treten  eher  malerische 
als  zeichnerische  Qualitäten  hervor.  Das  Höchste  aber 
bot  Whistler  in  seinen  seit  dem  Jahre  1879  ent¬ 
standenen  Venezianischen  Radirungen,  in  denen  man 
freilich  nicht  die  weltbekannten  schönen  Punkte  der 
Lagunenstadt,  sondern  die  fesselnde  Schilderung 
seiner  persönlichen  Eindrücke  wiederfindet.  Sie 
erschienen  im  Jahre  1886  in  beschränkter  Auflage 
unter  dem  Titel  „The  Twenty  Six“.  Aus  dieser  Folge 
stammt  auch  das  hier  beigegebene  Blatt  „The  Bal- 
cony“,  eine  Studie  vom  Canal  Grande,  aus  der  die 
Leser  einen  lebendigen  Begriff  von  der  Eigentüm¬ 
lichkeit  des  Künstlers  empfangen,  die  die  Eng¬ 
länder  treffend  als  „suggestiveness“  bezeichnen.  Im 
ganzen  zählt  das  Werk  Whistler’s,  der  in  neuester 
Zeit  nur  noch  vereinzelte  Proben  von  seiner  Kunst 
im  Radiren  gegeben  hat,  ungefähr  214  Blatt.  Seine 
Arbeiten  sind  selten,  zum  Teil  sogar  vollständig  ver¬ 
griffen  und  haben  Preise,  die  für  den  größten  Teil 
unserer  deutschen  Sammler  unerschwinglich  sind. 

Durch  Whistler  angeregt,  griff  auch  sein  Schwie¬ 
gervater  Francis  Seymour  Heiden,  der  als  Arzt  in  Eng¬ 
land  einen  großen  Ruf  genießt,  im  Jahre  1858  wieder 
zur  Nadel,  nachdem  er  schon  früher,  in  den  Jahren 
1843  und  1844,  einige  höchst  selten  gewordene,  aber 
wenig  bedeutende  Zinkplatten  mit  Ansichten  aus 
Mittelitalien  geschaffen  hatte.  Heiden  ist  der  Be¬ 
gründer  der  „Royal  Society  of  Painter-Etchers“  und 
steht,  obwohl  .er  seit  mehr  als  einem  Jahrzehnt 
dieser  seiner  Lieblingsbeschäftigung  entsagt  hat, 
bei  seinen  Landsleuten  in  großem  Ansehen.  Wir 


bringen  als  Proben  seiner  frei  skizzirenden  Weise,  der 
doch  ein  gewisser  großer  Zug  nicht  fehlt,  zwei  kleine 
Landschaftsstudien:  einen  Durchblick  auf  eine  durch 
einen  Park  führende  Straße  und  den  Zugang  zu  einem 
von  prächtigen  alten  Bäumen  beschatteten  Schlosse. 

Neben  Whistler  und  Haden  genießt  Alphonse 
Legros  in  England  die  meiste  Anerkennung.  Seiner 
Geburt  nach  Franzose  —  er  kam  im  Jahre  1837  in 
Dijon  zur  Welt  —  lebt  er  seit  dem  Jahre  1863  in 
London,  wo  er  sich  namentlich  durch  seine  Bildnis¬ 
radirungen  einen  Namen  gemacht  hat.  Sein  bestes 
Werk  ist  ein  radirtes  Porträt  von  G.  F.  Watts,  dessen 
männliche  Würde  und  Schönheit  ihn  besonders  anzog. 
Außerdem  giebt  es  von  seiner  Hand  Bildnisse  von 
Gambetta,  von  Sir  Frederie  Leighton  und  vom  Cardinal 
Manning.  Als  Sittenschilderer  hat  sich  Legros 
namentlich  mit  dem  Leben  und  Treiben  der  Priester 
und  Mönche  beschäftigt  und  sich  hierbei  als  ein 
unerbittlicher  Verfechter  der  Wahrheit  erwiesen. 
Seine  Landschaften  sind  absichtlich  einfach  gehalten, 
einfacher  sogar,  als  sie  in  Wirklichkeit  Vorkommen, 
aber  ihr  künstlerischer  W  ert  ist  trotzdem  nicht  weg¬ 
zuleugnen.  Auch  als  Lithograph  hat  Legros  Hoch¬ 
bedeutendes  geleistet  und  schließlich  als  Professor 
au  der  Londoner  Slade  School  eine  Anzahl  tüchtiger 
Schüler  herangebildet,  unter  denen  William  Strang 
und  Charles  Holroyd  als  die  besten  anzuführen  sind. 

Weit  populärer  als  diese  und  einige  andere 
Künstler,  von  denen  noch  Frank  Short,  der  Meister  des 
Mezzotinto,  C.  J.  Watson ,  der  Architekturmaler,  und 
der  impressionistisch  arbeitende  Oliver  Hall  zu  nennen 
sind,  ist  der  bereits  erwähnte  Hubert  Herkomer,  der, 
wie  die  beiden  von  uns  reproduzirten  Landschaften 
beweisen,  besonders  wegen  der  geschickten  Wahl 
seiner  Gegenstände  gefällt,  während  er  in  technischer 
Beziehung  keineswegs  obenan  steht  und  überhaupt 
als  Maler  ein  weit  größerer  Meister  ist  als  im  Radiren. 


262 


ZUR  GESCHICHTE  DER  MODERNEN  RADIRUNG. 


Endlich  ist  noch  J.  James  Tissot  zu  erwähnen,  ein 
gleichfalls  in  England  naturalisirter  Franzose  aus 
Nantes,  dessen  Bildercyclus  aus  der  Geschichte  des 
verlorenen  Sohnes  auf  der  Münchener  Jahresaus¬ 
stellung  von  1891  Aufsehen  erregte.  Er  hat  den¬ 
selben  Gegenstand  auch  in  einer  1882  erschienenen 
Folge  von  Radirungen  behandelt  und  ist  vor  allem 
durch  seine  fünfzehn  pikanten  Radirungen  aus  dem 
Pariser  Frauenlehen  berühmt  geworden. 

Reproduzirende  Radirer  von  Bedeutung  besitzt 
England  gegenwärtig  nicht.  Was  in  dieser  Bezieh¬ 
ung  im  Kunsthandel  vorkommt,  ist  meistens  aus  dem 
Ausland  bezogen,  und  wir  haben  schon  darauf  hin¬ 
gewiesen,  dass  namentlich  französische  Radirer,  z.  B. 
Waltner  und  Chauvel ,  in  England  viel  lohnende  Be¬ 
schäftigung  finden. 

IX. 

In  Italien,  dem  klassischen  Lande  der  großen 
historischen  Kunst,  hängt  das  späte  Aufblühen  der 
Radirung  mit  dem  späten  Erwachen  der  modernen 
Malerei  zusammen.  Die  ersten  Radirungen  erschie¬ 
nen  dort  in  der  von  dem  Verleger  Pomba  in  Turin 
seit  dem  Jahre  1869  herausgegebenen  Zeitschrift: 
„L'Arte  in  Italia“.  Die  Künstler,  die  sich  an  diesem 
Unternehmen,  dem  freilich  eine  nur  kurze  Lebens¬ 
dauer  beschieden  war,  beteiligten,  waren  Piemontesen 
und  begnügten  sich  in  der  Hauptsache  damit,  ihre  eige¬ 
nen  Bilder  oder  noch  häufiger  diejenigen  anderer 
Maler  zu  reproduziren.  Der  bedeutendste  unter  ihnen 
ist  Eleuterio  Pagliano,  dessen  hier  in  einer  Nachbil¬ 
dung  beigegebenes  Blatt:  „II  Fumatore“,  eine  sitzende 
Figur  in  der  Tracht  des  vorigen  Jahrhunderts,  als 
das  Werk  eines  mit  der  Technik  der  Ätzkunst  in 
hohem  Maße  vertrauten  Radirers  erscheint,  ein  Ur¬ 
teil,  das  durch  einen  Blick  auf  seine  „Arpista“  (Har¬ 
fenistin)  bestätigt  wird. 

W eit  fruchtbarer  als  Pagliano  ist  Celestino  Turldti. 
Er  arbeitet  nur  nach  fremden  Vorlagen  und  hat  in 
seinem  Blatte  nach  Velazquez’  Doria  sein  Bestes  ge¬ 
geben.  Unter  Alberto  Maro  Gilli’ s  Arbeiten,  deren 
erste  das  Datum  1863  trägt,  und  die  er  in  einem 
Album  von  etwa  dreißig  Radirungen  vereinigt  hat, 
ist  als  eine  seiner  jüngsten  Schöpfungen  das  Porträt 
der  Königin  Margherita  von  Italien  hervorzuheben. 
Als  Kniestück  in  etwa  zwei  Drittel  Lebensgröße  her¬ 
gestellt,  ist  es  eine  der  umfänglichsten  Radirungen, 
die  überhaupt  je  angefertigt  worden  sind.  Gilli  be¬ 
sitzt  eine  Vorliebe  für  phantastische  Originalkompo¬ 
sitionen  und  hat  deshalb  das  beliebte  Thema  der 
..Versuchung  des  Heiligen  Antonius“  in  einer  Origi- 
nalradiruug  behandelt.  Obwohl  nicht  so  packend  wie 


Domenico  Morelix s  gleichzeitiges  Bild,  das  denselben 
Gegenstand  behandelt,  ist  dieses  Blatt  wegen  seiner 
selbständigen  Auffassung  nicht  ohne  Reiz  und  in 
seiner  Verbindung  von  schwarzen  und  kupferroten 
Tönen  auch  technisch  von  fesselnder  Wirkung.  Gilli 
wohnt  gegenwärtig  in  Rom,  avo  er  Leiter  der  „Regia 
Calcografia  Rornana“  ist.  In  Rom  leben  ferner  eine 
ganze  Anzahl  Radirer,  z.  B.  der  an  Virtuosität  mit 
Fortuny  wetteifernde  Piccini ,  doch  hat  bis  jetzt  keiner 
von  ihnen  einen  über  die  Grenzen  Italiens  hinaus¬ 
ragenden  Ruhm  gewonnen.  Eher  ließe  sich  das  von  dem 
einsamen  Paolo  Michetti  in  Francavilla  a  Mare  be¬ 
haupten.  Die  Frische  der  Auffassung  und  die  Leucht¬ 
kraft  seiner  Farben,  die  seine  Genrebilder  auf  der 
Internationalen  Kunstausstellung  in  Berlin  im  Jahre 
1891  auszeichnete,  tritt  uns  auch  in  seinen  wenigen 
Radirungen  entgegen,  die  er  nicht  berufsmäßig,  son¬ 
dern  zum  Zeitvertreib  anzufertigen  pflegt.  Außer¬ 
dem  giebt  es  noch  eine  Menge  italienischer  Maler, 
die  sich  gelegentlich  in  der  Radirung  mit  Erfolg  ver¬ 
sucht  haben.  Da  aber  keiner  von  ihnen  eine  größere 
Anzahl  von  Arbeiten  dieser  Art  aufzuweisen  hat, 
müssen  wir  es  uns  versagen,  ihre  Namen  hier  be¬ 
sonders  anzuführen.  — 

Spanien  besitzt  in  Goya  eine  der  glänzendsten 
Erscheinungen,  von  denen  überhaupt  in  der  Geschichte 
der  Radirung  zu  reden  ist.  Aber  so  verheißungsvoll 
sein  Auftreten  war,  so  sehr  blieb  es  auch  ver¬ 
einzelt.  Nach  seinem  Tode  blieb  die  Radirung  in 
Spanien  ganz  ohne  Pflege,  und  erst  in  der  Zeit  von 
1840  bis  1845  nahm  der  Maler  Leonardo  Alenza ,  der 
für  Goya  schwärmte,  dessen  Bestrebungen  wieder  auf. 
Da  er  aber  Aveder  einen  Verleger  noch  Käufer  fand, 
so  blieben  seine  Arbeiten  bis  zum  Jahre  1864  un¬ 
bekannt,  wo  sich  die  Redaktion  der  Zeitschrift  „El 
Arte  en  Espana“  entschloss,  wenigstens  zwei  Proben 
seiner  Kunst  zu  veröffentlichen.  Derselben  Zeit¬ 
schrift,  die  sich  bis  zum  Jahre  1891  hielt,  verdanken 
wir  die  Bekanntschaft  der  wenigen  Radirungen,  die 
in  dieser  langen  Zeit  in  Spanien  entstanden  sind. 
Keiner  ihrer  Urheber  ist  aber  über  Spanien  hinaus 
berühmt  geworden.  Nur  einem  war  das  Glück  günstig: 
Mariano  Fortuny,  dessen  Radirwerk,  zum  Teil  erst 
nach  seinem  Tode  in  Paris  veröffentlicht,  dieselbe  ver¬ 
blüffende  Geschicklichkeit  verrät,  wie  seine  weit  be¬ 
kannteren  Aquarelle  und  Ölbilder.  Unter  den  gegen- 
Avärtig  lebenden  spanischen  Radirern  ist  der  in  Paris 
wirkende  Ricardo  de  los  Rios  der  tüchtigste. 

Welches  wird  nun,  so  fragen  wir  am  Schluss 
dieser  Übersicht,  —  die  ja  weiter  nichts  bieten  will  als 
eine  allgemeine  Orientirung  über  die  hervorragendsten 


EIN  DENKMÄLER -ARCHIV. 


263 


Erscheinungen  der  modernen  Radirung,  —  welches  wird 
das  Schicksal  dieses  Kunstzweiges  in  Zukunft  sein? 
Wird  auch  die  Radirung  demselben  Lose  verfallen 
wie  der  Kupferstich  und  durch  die  von  Jahr  zu  Jahr 
wachsende  Vervollkommnung  der  mechanischen  Ver¬ 
fahren  gänzlich  verdrängt  werden?  Wir  wissen  es 
nicht,  aber  wir  glauben  vorläufig  nicht  an  einen 
solchen  Ausgang.  Unter  allen  vervielfältigenden 


Künsten  ist  die  Radirung  diejenige,  die  der  persön¬ 
lichen  Empfindung  des  Künstlers  den  freiesten  Spiel¬ 
raum  lässt  und  Wirkungen  ermöglicht,  die  durch 
keine  andere  Technik  erreicht  werden  können.  So 
lange  also  die  Radirung  von  Künstlern  geübt  wird, 
die  etwas  zu  sagen  haben  und  etwas  zu  sagen  wissen, 
braucht  niemand  um  das  Schicksal  dieses  Kunst¬ 
zweiges  besorgt  zu  sein. 


EIN  DENKMÄLER- ARCHIV. 


N  einer  vom  Königlichen  Kunstgewerbe-Museum 
zu  Berlin  veranstalteten  Sonder -Ausstellung 
von  Kopien  mittelalterlicher  Wand-  und  Glas¬ 
malereien  begegneten  wir  einer  Sammlung  von  technisch 
vollendeten  photographischen  Aufnahmen  alter  Wand¬ 
malereien,  die  offenbar  nicht  zu  diesem  Zweck  besonders 
aufgenommen,  sondern  aus  einem  größeren  Bestände  von 
Architektur-Aufnahmen  ausgesucht  und  hier  zur  Unterstüt¬ 
zung  des  verdienstlichen  Unternehmens  ausgestellt  waren. 

Die  beigegebenen  Erläuterungen  machten  uns  mit 
einer  Einrichtung  bekannt,  welche  die  allergrößte  Auf¬ 
merksamkeit  der  ge¬ 
samten  ,  mit  Aus¬ 
schmückung  von  Ar¬ 
chitekturwerken  im 
weitesten  Sinne  beru¬ 
fenen  Künstler  scliaft 
auf  sich  ziehen  muss. 

Es  ist  die  im  Preußi¬ 
schen  Kultusministe¬ 
rium  ins  Werk  gesetzte 
Aufnahme  aller  wich¬ 
tigeren  alten  Bauwerke 
mit  ihrem  gesamten 
Inhalte  an  kleineren 
Kunstwerken  und  Aus¬ 
schmückungen  nach  dem 
Messbild- Verfahren,  ge¬ 
wissermaßen  die  Fest¬ 
legung  der  Bauwerke 
in  ihrem  heutigen  Zu¬ 
stande  ,  zum  Nutzen 
und  Frommen  der  Nach¬ 
welt. 

Das  in  diesen 
wenigen  Worten  be- 
zeichnete  Unternehmen 
fasst  alle  vorausge¬ 
gangenen  Bestrebungen 
der  Wiedergabe  von 
Bau-  und  Kunstwerken 


Eine  Messbildaufnahme. 
Autotypie  von  C.  G.  Röder  in  Leipzig. 


der  Vergangenheit,  an  denen  zu  lernen  und  sich  weiter¬ 
zubilden  nun  doch  einmal  die  Aufgabe  der  Gegenwart  und 
Zukunft  sein  und  bleiben  wird,  in  einer  einfachen  und  zeit¬ 
gemäßen  Weise  zusammen.  Man  muss  sich  wundern, 
dass  der  Gedanke  erst  jetzt  zum  öffentlichen  Ausdruck 
gelangt  und  dass  die  bereits  seit  einem  vollen  Jahrzehnt 
durch  das  preußische  Kultusministerium  getroffene  prak¬ 
tische  Ansführung  so  langeunbeachtet  bleiben  konnte.  J etzt 
steht  uns  die  Einrichtung  in  ihrer  ganzen  Vollkommen¬ 
heit  vor  Augen.  Dass  die  Photographie  eine  vollständige 
Umwälzung  in  der  Auffassung  des  künstlerischen  Lern¬ 
stoffes  der  vorange¬ 
gangenen  Zeiten  her¬ 
vorgebracht  hat,  wissen 
wir  alle.  Wer  wird 
heute  noch  nach  den 
Nachbildungen  der  Ori¬ 
ginale  in  Stich  und 
Zeichnung,  seien  sie 
auch  von  noch  so  ge¬ 
übter  Hand  hervorge¬ 
bracht,  studiren  und 
üben  wollen?  Die  dicken 
Mappen  von  Photogra¬ 
phien  oft  fragwürdig¬ 
ster  Güte  bei  jedem 
schaffenden  Künstler 
beweisen  uns  den  Um¬ 
schwung.  Die  früheren 
kostbaren  Kupferwerke 
der  Bibliotheken  haben 
nur  noch  insofern  einen 
Wert,  als  man  in  ihnen 
Zusammenstellungen 
von  Werken  eines  be¬ 
sonderen  Kunstzweckes 
oder  einer  Kunstperiode 
findet,  die  in  Photo¬ 
graphien  schwer  zu 
schaffen  sind.  Vergleiche 
mit  letzteren  öffnen  uns 


264 


EIN  DENKMÄLER- ARCHIV. 


erst  die  Augen,  wie  sehr  unser  gesamtes  kunstge- 
sclnchtliclies  Urteil  durch  individuelle  Darstellung  min¬ 
destens  beeinflusst,  häufig  aber  auch  irre  geleitet  ist. 
Dies  gilt  ganz  gleichmäßig  von  allen  Werken  der 
Kunst,  sei  es  Baukunst,  Bildhauerei  oder  Malerei.  Wenn 
auch  bei  den  beiden  letzteren  der  Maßstab  und  die 
Verhältnisse,  soweit  sie  erforderlich  sind,  in  der  Regel 
durch  direktes  Messen  leicht  festzustellen  sind,  so  ist 


abgeschrieben ,  höchstens  durch  Skizzen  an  Ort  und 
Stelle  ergänzt  sind.  Ein  drastisches  Beispiel  dieser  Art 
sind  die  Zeichnungen  nach  Hübsch  und  Isabelle  vom 
Grabmal  des  Theodorich  in  Ravenna,  bekanntlich  einer 
Musterschöpfung  aus  der  Wende  der  alten  in  die  neuere 
Kunst.  Hier  zeigen  die  beiden  genannten  Original-Auf¬ 
nahmen  gleichmäßig  den  Abstand  zwischen  dem  Kämpfer¬ 
gesims  der  unteren  Bogennischen  vom  Fußboden  des 


Tempel  der  Athena  Nike  in  Athen.  Autotypie  von  Weinwurm  &  Hafner  in  Stuttgart. 


die  Sache  Lei  der  Baukunst  doch  eine  andere.  Von  der 
Schwierigkeit,  ein  Bauwerk  richtig  aufzumessen  und  zu 
zeichnen,  haben  die  wenigsten  eine  Ahnung  und  noch 
weniger  von  der  Thatsache,  dass  in  den  meisten  älteren 
Darstellungen  von  Grund-  und  Aufrissen  sich  grobe 
Felder  durch  ganze  Reihen  von  Werken  aus  dem  ein¬ 
fachen  Grunde  bis  in  die  Gegenwart  hineinziehen,  weil 
sich  die  wenigsten  solcher  Darstellungen  auf  Original- 
Messungen  stützen,  und  einfach  von  älteren  Aufnahmen 


Umganges  um  ca.  1  m  zu  klein,  die  anderen  Maße  sind 
annähernd  richtig.  Der  Fehler,  d.  h.  die  Fälschung  der 
Verhältnisse  fällt  sofort  beim  Vergleich  der  Zeichnungen 
mit  der  schlech testen  Photographie  auf.  So  sehen  wir, 
dass  unser  älteres  kunstgeschichtliches  Bildmaterial  nicht 
nur  individuell  gefärbt,  sondern  auch  in  den  wichtig¬ 
sten  Grundlagen,  den  Maßen  und  Verhältnissen  mit 
Fehlern  behaftet  ist.  Schon  manchem  mag  diese  That¬ 
sache  bekannt  gewesen  sein;  eingestanden  wurde  sie 


EIN  DENKMÄLER-ARCHIV. 


265 


Römisches  Denkmal  in  Igel  bei  Trier.  Autotypie  von  Weinwurm  &  Hafner  in  Stuttgart. 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  10. 


selten  und  vom  Hersteller 
einer  Original- Aufnahme  erst 
recht  nicht. 

Jetzt  besitzen  wir  in 
dem  Messbild  -  Verfahren 
(Photogrammetrie)  ein  Mit¬ 
tel,  welches  nicht  nur  vor 
falschen  Auffassungen,  son¬ 
dern  auch  vor  Maßfehlern 
bewahrt.  Es  besteht  in  einer 
eigentümlichen ,  geometrisch 
begründeten  Umkehrung  der 
gewöhnlichen  Perspektiv¬ 
lehre,  erfordert  in  seiner  An¬ 
wendung  keineswegs  hohe 
Gelehrsamkeit  und  setzt 
außer  ein  paar  Grundmes¬ 
sungen  nur  photographische 
Bilder  voraus,  die  der  ma¬ 
thematischen  Grundlage  der 
gewöhnlichen  Perspektive 
entsprechen.  Die  käuflichen 
photographischen  Bilder,  auch 
die  besten,  thun  dies  niemals, 
und  darum  ist  die  Messbild¬ 
kunst  an  eine  Anstalt  ge¬ 
bunden,  die  einer  wissen¬ 
schaftlichen  Leitung  nicht 
entbehren  kann  und  nicht 
eher  ins  Leben  treten  konnte, 
bis  der  Staat  sich  ihrer  an¬ 
nahm. 

Den  mathematischen 
Grundgedanken,  aus  richtig 
gezeichneten  perspekti¬ 
vischen  Ansichten,  in  erster 
Linie  von  landschaftlichen 
Bildern,  geometrische  Pläne 
aufzutragen,  hat  schon  Lam¬ 
bert  in  Straßburg  (f  1772) 
ausgesprochen  und  der  Fran¬ 
zose  Beautemps-Beauprel  835 
praktisch  ausgeführt. 

Das  photographische 
Bild  ist  zur  Erzeugung  einer 
richtigen  Perspektive  nur 
sehr  nützlich  und  bequem, 
keineswegs  aber  notwendig. 
Es  rückt  die  Möglichkeit  der 
Herstellung  eines  perspek¬ 
tivischen  Bildes,  die  sonst 
immer  nur  wenigen  Anser¬ 
wählten  zugänglich  bleibt,  in 
den  Bereich  eiues  jeden,  der 
die  geometrischen  Grund- 

35 


EIN  DENKMÄLER- ARCHIV. 


2G6 

lagen  der  Perspektive  und  nebenbei  auch  die  praktische 
Photographie  beherrscht. 

Das  haben  der  Franzose  Laussedat  und  der  Italiener 
Porro  zuerst  begriffen  und  Versuche  damit  gemacht,  aber 
beide  auf  dem  anscheinend  der  Sache  zunächstliegenden 
Gebiete  der  Terrain-Aufnahme.  Im  Jahre  1858  kam 
der  damalige  Bauführer  Meydenbauer  bei  der  Aufnahme 
des  Domes  in  Wetzlar  ganz  selbständig  auf  den  Ge¬ 
danken,  das  mühsame  und  gefahrvolle  Messen  durch  Aus¬ 
tragen  der  Maße  aus  dem  photographischen  Bilde  zu  er¬ 
setzen,  und  er  vervollkommnete  zunächst  den  photo¬ 
graphischen  Apparat  dahin,  dass  den  geometrischen 
Grundlagen  auch  für  die  Architektur  entsprochen  wurde. 
Meydenbauer  sah  auch  bald,  dass  trotz  vieler  Hoffnungen 
die  Photogrammetrie  nur  im  Hochgebirge  bei  Terrain- 
Aufnahmen  von  wirklichem  Nutzen  ist,  wie  auch  jetzt 
die  Erfahrung  bestätigt  hat,  und  wandte  sich  ausschlie߬ 
lich  der  Kunst  zu,  in  der  Absicht,  dem  oben  berührten 
Mangel  unseres  kunstgeschichtlichen  Studienmaterials 
abzuhelfen.  Eine  glückliche  Fügung  machte  den  da¬ 
maligen  Kultusminister  v.  Gossler  auf  Meydenbauer’s  bis 
dahin  aus  eigenen  Mitteln  geführte  Arbeiten  aufmerksam. 
Erst  zu  dem  Zweck,  die  Brauchbarkeit  der  Photogram¬ 
metrie  für  Denkmäler- Aufnahmen  zu  erproben,  wurden  die 
Einrichtungen  unter  Meydenbauer’s  Leitung  getroffen. 
Jetzt,  nachdem  die  Probe  längst  bestanden  und  ganz 
unter  der  Hand  ein  ansehnlicher  Grundstock  von  ca. 
3600  Negativen  von  240  Bauwerken  für  ein  preußisches 
Denkmäler- Archiv  entstanden  ist,  verhindert  leider  fort¬ 
gesetzt  die  Ungunst  der  Zeiten  eine  weitere  Ausdehnung 
der  Anstalt.  Es  handelt  sich  jetzt,  nachdem  die  tech¬ 
nischen  Schwierigkeiten  überwunden  sind,  darum,  mit 
möglichster  Schnelligkeit  unsere  Baudenkmäler  mit  allem, 
was  damit  zusammenhängt,  gleichsam  in  den  sicheren 
Hafen  zu  bringen;  denn  „die  Toten  reiten  schnell“,  Wind 
und  Wetter  und  die  mehr  oder  minder  verständnisvollen 
„Wiederherstellungsbauten“  räumen  in  dem  alten  Be¬ 
stände  furchtbar  auf.  Nach  hundert  Jahren  werden 
unsere  Nachkommen  manchmal  besorgt  jedes  Blättchen 
umwenden,  um  zu  erfahren,  was  ist  denn  früher  da- 
gewesen  und  wie  sali  es  mit  diesem  oder  jenem  Bauteil 
aus.  Ein  Denkmäler-Arcliiv,  wie  es  bis  jetzt  bloß 
in  Berlin  in  der  alten  Schinkel’schen  Bauakademie 
exisfirt,  ist  der  einzige  Ausweg,  der  fortschreitenden 
Verarmung  unserer  alten  Baudenkmäler,  die  kein  Gold 
und  kein  Konserviren  aufzuhalten  vermag,  wenigstens  in 
Bild  und  Zeichnung  entgegenzuarbeiten.  Beide,  Bild 
und  Zeichnung,  müssen  und  können  getrennt  werden. 

Sind  erst  die  Bilder  mit  den  zugehörigen  Grund¬ 
messungen  dem  Denkmäler-Arcliiv  einverleibt,  so  kann 
die  Zeichnung  mit  einer  die  Grenze  der  Darstellbarkeit 
erreichenden  Genauigkeit  jederzeit  später  nachgeholt 
werden.  Das  Wort  erscheint  nicht  übertrieben,  dass  ein 
später  vom  Erdboden  verschwundenes  Bauwerk  auf  solche 
Weise  in  seinem  jetzigen  Zustande  wieder  hergestellt 


werden  kann.  Es  stehen  uns  Verluste  bevor,  die  nicht  bloß 
ein  einzelnes  Land  angehen,  sondern  von  internationaler 
Bedeutung  sind.  Erst  in  diesen  Tagen  ist  uns  eindringlich 
klar  gemacht  worden,  dass,  wo  einmal  Erdbeben  sich  be- 
merklicli  gemacht  hat,  Wiederholungen  ziemlich  sicher 
in  Aussicht  stehen.  Die  meisten  griechischen  Terapel- 
ruinen  zeigen  Einwirkungen  von  Erdbeben  und  dass  es 
mit  der  Pracht  der  Akropolis  sehr  bedenklich  steht,  hat 
Professor  Durm  wohl  deutlich  genug  gesagt.  Noch  ein 
solches  Zucken  wie  jetzt  in  Laibach,  und  die  Nachwelt 
kann  sich  an  die  Bilderchen  halten,  die  jetzt  im  Handel 
zu  haben  sind. 

Nicht  besser  steht  es  mit  der  Hagia  Sophia  in 
Konstantinopel. 

Wir  erinnern  an  die  Spuren  altchristlicher  Malereien 
in  den  Gruftkirchen  und  Katakomben,  die  kulturhisto¬ 
rischen  Schildereien  in  den  Gräbern  und  Tempeln  Ägyptens, 
zu  deren  Vernichtung  jetzt  jeder  Besucher  durch  seine 
Fackel  beiträgt. 

Bei  diesen  Werken  von  weltgeschichtlicher  Bedeutung 
ist  also  für  die  Festlegung  in  Bild  und  Maß  kaum  noch 
ein  Aufschub  zulässig. 

Alle  technischen  Vorbedingungen  dieses  Zweckes: 
Deutlichkeit  und  Dauerhaftigkeit  der  Negative  und 
Kopien,  ausgiebige  Benutzung  von  künstlichem  Licht  in 
Innenräumen,  die  dem  Tageslicht  absolut  unzugänglich 
sind,  Sicherheit  im  Aufträgen  der  Zeichnungen  und  nicht 
zuletzt  Berücksichtigung  der  künstlerischen  Auffassung, 
erscheinen  in  den  bisherigen  Leistungen  des  Denkmäler- 
Archivs  gelöst.  Speciell  in  Bezug  auf  die  künstlerische 
Auffassung  findet  sich  bei  jedem  Gegenstände,  bei  dem 
Wahl  des  Standpunktes  und  der  Beleuchtung  eine  solche 
überhaupt  zulässt,  diese  auch  gewahrt,  und  darum  ist 
unter  der  großen  Zahl  der  Bilder  eine  ganze  Reihe,  die 
neben  ihrer  Eigenschaft  als  Messbilder  noch  die  als 
Kunstblätter  aufweist.  Wir  wollen  hier  nicht  den  alten 
Streit,  ob  die  Photographie  eine  Kunst  sei,  anrühren  oder 
gar  entscheiden,  sondern  nur  bestätigen,  das  Photo¬ 
graphien  auch  Kunstleistungen  sein  können.  Die  Ne¬ 
gative  von  40:40  cm  Seitenlänge,  die  das  Denkmäler- 
Arcliiv  einer  weiteren  Behandlung  in  Vergrößerung  bis 
zu  1,20  m  Seite  unterwirft,  verdienen  diese  Bezeichnung 
mit  vollem  Recht.  Es  wäre  sonst  nicht  erklärlich,  dass 
diese  auf  photographischem  Wege  entstandenen  Bilder 
(speziell  die  Domkanzel  in  Trier,  bekannt  durch  ihren 
reichen  Figuren -Schmuck)  auf  der  Berliner  Kunstaus¬ 
stellung  im  Jahre  1892  mit  der  kleinen  goldenen 
Medaille  ausgezeichnet  worden  sind.  Der  Vorzug  dieser 
Vergrößerungen  wahrer  Schaubilder  liegt,  neben  der 
Auffassung  in  den  perspektivischen  Linien  und  dem  Licht¬ 
effekte,  in  ihrem  prachtvollen  samtschwarzen  Ton  in  den 
Tiefen  und  dem  klaren  Silbergrau  der  Schatten,  während 
die  spätere  Hineinzeichnung  der  Tiefen  in  die  gewöhn¬ 
lichen  marktgängigen  Vergrößerungen  dieselben  jedes 
Kunstwertes  beraubt,  wenn  sie  vorher  ihn  noch  besessen 


EIN  DENKMÄLER -ARCHIV. 


267 


haben  könnten.  Es  ist  geradezu  merkwürdig,  was  eine 
Vergrößerung  aus  dem  ursprünglichen  photographischen 
Bilde  herausbringt.  Die  Photographien  des  Handels  und 
der  Amateure  sind  sämtlich  mit  zu  kleiner  Brennweite 
hergestellt.  Erst  bei  einer  Brennweite,  welche  der  na¬ 
türlichen  Sehweite  25 — 30  cm  gleichkommt,  erscheinen 
die  Bilder  in  natürlichen  Verhältnissen.  Die  Vergröße¬ 
rungen  bringen  Erfüllung  dieser  Bedingung  und  wir 
können  namentlich  den  Künstlern,  welche  ihre  Studien 


Künstler  sie  seinem  Skizzenbuche  einzuverleiben  pflegt, 
alle  Profile  und  Details  zur  Nachbildung  verständlich. 

Der  langsame  Fortschritt  in  der  Aufnahme  des 
Materials  ist  in  hohem  Grade  bedauerlich.  Was  sollen 
3600  Aufnahmen  von  240  Bauwerken  in  dem  Zeitraum 
von  10  Jahren  bedeuten  gegenüber  dem  großen,  wenn 
auch  keineswegs  unübersehbaren  Rest? 

Das  von  der  Anstalt  herausgegebene  Verzeichnis 
(durch  Bestellung  bei  der  Königlichen  Meßbild  Anstalt 


Krypta  der  Schlosskirche  in  Quedlinburg.  Autotypie  von  C.  G.  Röder  in  Leipzig. 


mit  der  Camera  machen,  nur  raten,  die  Kopien  in  Ver¬ 
größerungen  hersteilen  zu  lassen;  sie  werden  ungleich 
mehr  Freude  an  ihren  Erzeugnissen  haben  und  für  ihre 
Zwecke  mehr  herausholen  können. 

In  den  Schaubildern  der  Meßbild- Anstalt  erscheinen 
alle  den  Raum  schmückenden  Kunstgegenstände,  als 
Gitter,  Grabmäler,  Wand-  und  Hängeleuchter,  Gestiihle, 
Altäre,  Malereien,  in  der  ihnen  zuteil  gewordenen  Auf¬ 
stellung  und  Beleuchtung  in  einem  Maßstabe,  wie  der 


in  Berlin  W.,  Schinkelplatz  6  direkt  erhältlich)  weist  die 
bis  jetzt  vorhandenen  Bestände  nach.  Wenn  statt  der 
240  Bauwerke  mit  allem  ihren  reichen  Inhalt  deren 
1000  vorhanden  und  in  den  Sammelbänden,  wie  Akten 
eines  Scliriftenarchivs,  zugänglich  gemacht  sind,  werden 
Architekten,  Bildhauer,  Maler,  Kunstschmiede  und  Tisch¬ 
ler  ein  Material  beisammen  finden,  das  zu  beschaffen 
Zeit  und  Mitteln  des  Einzelnen  unmöglich  ist  und  dessen 
Fehlen  nur  darum  bis  jetzt  nicht  bemerkt  wurde,  weil 

35  * 


268 


EIN  DENK  MALER -ARCHIV. 


erst  die  Meßbildkimst  die  technische  Möglichkeit  inner¬ 
halb  vernünftiger  Grenzen  dazu  herstellte. 

Der  Nutzen  des  Denkmäler- Archivs  wird  sich  neben 
der  eigentlichen  Bestimmung  desselben  nach  folgenden 
Richtungen  geltend  machen. 

Die  erste,  praktisch  von  der  höchsten  Bedeutung, 
hat  zunächst  den  Anstoß  zur  Errichtung  überhaupt  ge¬ 
geben  und  besteht  in  dem  Aufträgen  von  zuverlässig 
richtigen  Zeichnungen  derjenigen  Bauten,  welche  einer 


Maßen  bequemer  und  sicherer  als  das  Messen  an  Ort 
und  Stelle  in  unzugänglichen  Höhen,  und  die  außer¬ 
ordentlich  feinen  Bilder  zeigen  den  baulichen  Zustand 
ebenso  wie  ein  guter  Feldstecher  am  Ort  selbst.  Nicht 
zu  unterschätzen  ist  die  leichte  Verständigung  zwischen 
den  einzelnen  Organen  der  Verwaltung  und  den  berufenen 
Sachverständigen,  meist  Künstlern  von  Ruf,  an  der  Hand 
der  photographischen  Kopien. 

Die  zweite  Aufgabe  des  Denkmäler- Archivs  ist  die 


Inneres  (1er  Kirche  /.u  Schwarzrheindorf  bei  Bonn.  Autotypie  von  C.  Siebe  &  Co.  in  Leipzig. 


Instandsetzung  oder  Ergänzung  oder  Umänderung  unter¬ 
worfen  werden  sollen.  Der  bisherigen  Unsicherheit  über 
den  möglichen  Umfang  solcher  Arbeiten  wird  dadurch 
ein  für  alle  Mal  ein  Ende  gemacht,  ja  man  kann  sagen, 
dass  viele  Ergänzungsbauten  dadurch  erst  in  den  Bereich 
der  Möglichkeit  gerückt  worden  sind.  Die  Verwaltung 
muss  vor  Beginn  eines  solchen  Baues  wissen,  wie  weit 
sieh  die  Arbeiten  erstrecken,  welcher  Natur  sie  sein 
werden  und  welche  Mittel  bereit  gestellt  werden  müssen. 
Die  Meßbildzeichnungen  gestatten  das  Abgreifen  von 


Sammlung  des  kunstgeschichtlichen  Materials,  soweit 
dies  heute  noch  zu  beschatfen  ist  und  wie  es  in  einigen 
Jahren  nicht  mehr  zu  beschaffen  sein  wird.  Es  ist  im 
höchsten  Grade  bedauerlich,  dass  nicht  schneller  mit  den 
Aufnahmen  vorgegangen  wird  und  diese  Unterlassung  ist 
um  so  schwerer  zu  entschuldigen,  als  die  Anforderungen 
der  Anstalt  nur  eine  absehbare  Zeit  lang  höherer  Mittel 
bedürfen,  dann  aber  in  einer  sehr  einfachen  Erhaltung 
auslaufen,  die  der  Verwaltung  unserer  Schriftenarchive 
durchaus  analog  ist.  Ebenso  wie  hier  können  dann 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


269 


Historiker  ihren  Untersuchungen  obliegen  und  teststellen, 
was  in  dem  bis  jetzt  allein  benutzten  Urkundenmaterial 
richtig  und  was  falsch  ist. 

Die  dritte  Anwendung  fällt  den  Künstlern  aller 
Gattungen  anheim.  Mancher  erinnert  sich,  da  und  dort 
ein  Werk  gesehen  zu  haben,  von  dem  ein  Bild  oder  eine 
Zeichnung  ihm  augenblicklich  von  großem  Wert  und 
Nutzen  sein  würde.  Im  Handel  ist  das  Werk  häufig 
niemals  reproduzirt  worden,  Mangel  an  Zeit  oder  sonstige 
Verhältnisse  haben  nur  eine  flüchtige  oder  unzureichende 
oder  gar  keine  Skizze  zugelassen.  Im  Denkmäler-Archiv 
findet  er  den  Gegenstand  sicher  in  einer  Darstellung, 
die  den  meisten  Zwecken  genügt,  in  der  Eegel  sogar 
Zeichnen  nach  Maßen  gestattet.  Da  findet  sich  beispielsweise 
der  in  reichem  plastischen  Schmuck  gehaltene  Taufstein 
in  einer  Seitenkapelle  des  Domes  in  Freiburg  i.  Br., 
ebenso  wie  die  bekannten  frühmittelalterlichen  Figuren 


in  Naumburg  a.  S.  und  im  Dom  zu  Magdeburg,  und  das 
Kunstgitter  in  der  Paulinkirche  in  Trier.  Wo  irgend 
ein  malerisches  Städtebild  sich  noch  vorfindet,  kann  man 
sicher  sein,  es  im  Denkmäler-Archiv  anzutreffen  und, 
wenn  die  Organisation  erst  abgeschlossen  sein  wird, 
gegen  mäßigen  Preis  auch  erwerben  zu  können. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  das  Denkmäler- 
Archiv  des  Preußischen  Kultusministeriums  in  anderen 
Staaten,  in  denen  sich  Reste  der  Kunstübung  ver¬ 
gangener  Zeiten  erhalten  haben,  Nachahmung  finden  muss, 
sollen  diese  Staaten  sich  nicht  einer  schweren  Unter¬ 
lassungssünde  schuldig  machen. 

Die  nützlichen  Einwirkungen  werden  sich  auf  allen 
Gebieten  einstellen,  in  denen  Kenntnis  und  Verständ¬ 
nis  für  die  Werke  unserer  Vorfahren  zur  Geltung 
kommen.  p~ 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 

VON  TU.  P.  TUCKERMANN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ER  die  Ausstellungen  der  Kunst¬ 
vereine  oder  der  Kunstakade¬ 
mien  vor  dem  Jahre  1870 
in  ihrer  dürftigen  Ausstattung 
vergleicht  mit  dem  gefälligen 
Aufbau  und  der  reichen  Deko¬ 
ration  in  der  heutigen  Zeit, 
findet  sicherlich  einen  Fort¬ 
schritt.  Das  Gleiche  gilt  auch 
von  der  eingehenderen  Würdigung  der  Frage,  wie  die 
Aufstellung  der  Ausstellungswerke  aus  dem  Gebiete  der 
Malerei  und  Plastik  zu  fördern  sei.  Wo  Museums  Ver¬ 
waltungen  in  der  Lage  waren,  durch  Neubauten  oder 
Umbauten  ihrer  Ausstellungslokalitäten  dieser  Frage 
näher  zu  treten,  haben  sie  durch  mancherlei  Neuerungen 
anregend  gewirkt.  Trotzdem  ist  jedoch  die  Frage  der 
Aufstellung  eines  plastischen  Kunstwerkes  noch  immer 
zu  wenig  beachtet,  die  hierin  geltend  zu  machenden 
Prinzipien  werden  selbst  von  den  ausübenden  Künstlern 
vielfach  verletzt,  namentlich  soweit  dieselben  die  harmo¬ 
nische  Gesamtwirkung  betreffen,  welche  durch  die  Auf¬ 
stellung  des  statuarischen  Werkes  auf  seinem  Sockel  zu 
erzielen  ist.  Aber  nicht  allein  das  Streben  nach  einem 
gesteigerten  Reichtum,  sondern  auch  die  streng  kritische 
Richtung  der  heutigen  Zeit  drängt  naturgemäß  dazu,  auf 
diesem  Wege  weiter  zu  Schreiten  und  unter  Befreiung 
von  den  vergänglichen  oder  bloß  in  der  Tradition  be¬ 


gründeten  Anschauungen  hierin  planmäßig  ein  festes  Ziel 
ins  Auge  zu  fassen. 

Dies  ist  um  so  leichter  zu  bezeichnen,  als  in  den 
Grundgesetzen  des  Bildens  die  drei  Schwesterkünste, 
Architektur,  Plastik  und  Malerei  Zusammenhängen.  So¬ 
lange  die  beiden  letzteren  im  Gefolge  der  Architektur 
auftreten  und  sich  dem  großen  Bauplane  unterordnen, 
sind  sie  vor  groben  Verirrungen  in  den  Mitteln,  welche 
durch  die  Aufstellung  den  Effekt  bedingen,  leichter  be¬ 
hütet,  wenngleich  die  Bedingung,  sich  in  den  ihnen  zu¬ 
gewiesenen  Rahmen  einzuordnen,  ihrer  Wirkung  mancher¬ 
lei  Beschränkungen  auferlegt  und  eine  ungehemmte  Ent¬ 
faltung  ihrer  Eigenart  verbietet. 

Schafft  aber  der  Maler  und  Bildhauer,  losgelöst  vom 
Architekten,  seine  Werke  für  einen  noch  unbestimmten 
Verwendungsort,  für  einen  noch  unbekannten,  noch  zu 
erwartenden  Liebhaber  oder  Käufer,  so  treten  für  den 
Effekt  seiner  Arbeit  in  der  Aufstellung  vielerlei  Gefahren 
in  den  Vordergrund.  Wie  die  Verhältnisse  nun  einmal 
thatsächlich  liegen,  beschäftigen  solche  Staffeleibilder, 
oder  solche  frei  werbenden  Ausstellungs-Bildwerke  den 
Maler  und  Bildhauer  zumeist,  weshalb  die  Frage  besonderes 
Interesse  verdient,  durch  welche  Mittel  diesen  Gefahren 
vorzubeugen  sei. 

Bei  dem  Bildhauer  ist  die  Frage  hauptsächlich  zu 
stellen  nach  der  Formenbildung  des  Sockels  für  sein 
statuarisches  Werk,  und  dies  um  so  mehr,  selbst  bis  zu 


270 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


einer  den  ganzen  Umfang  der  bildhauerischen  Thätig- 
keit  durchdringenden  Wichtigkeit,  als  der  Ausspruch 
Vischers  durchaus  zutreffend  ist,  dass  durch  die  dem 
Bildwerke  verliehene  eigene  Basis  das  organische  Einzel¬ 
leben,  welches  der  Bildhauer  zur  Darstellung  bringen 
will,  aus  dem  Weltverbande  herauslöst,  zum  Gegenstände 
isolirter  Betrachtung  wird.  Somit  gilt  für  den  Bild¬ 
hauer  der  Grundsatz,  dass  der  Sockel  eines  statuarischen 
Werkes  einen  integrirenden  Teil  seiner  Komposition 
bildet. 

Die  ganze  Natur  seiner  Arbeits-Eigenart  rächt  daher 
einen  Fehler  nach  dieser  Richtung  weitaus  schwerer,  da 
eine  Veränderung  an  den  zur  Verwendung  kommenden 
teuren  und  edlen  Mate¬ 
rialien  nicht  so  leicht  ist, 
jedenfalls  schwerer  als 
bei  einem  Maler  einen 
Fehler  in  der  Wahl  des 
Bilderrahmens.  In  den 
Abhandlungen  über  die 
Plastik  oder  in  den  die 
Geschichte  der  Bildhaue¬ 
rei  behandelnden  Werken 
ist  der  Aufstellung  von 
Standbildern  auf  ihren 
Sockeln  nirgends  eine 
eingehende  Behandlung 
zu  teil  geworden.  Es 
scheint  den  Autoren  ge¬ 
wissermaßen  selbstver¬ 
ständlich  zu  sein,  dass 
ein  Standbild  größeren 
oder  kleineren  Umfanges 
auf  einen  entsprechenden 
Untersatz,  Sockel,  Unter¬ 
bau,  Piedestal  oder  Basis 
gesetzt  werde,  für  deren 
Formen  herkömmliche 
Muster  vorhanden  wären, 
entnommen  den  land¬ 
läufig  bekannten  architektonischen  Profilen.  Überdies 
schienen  diese  Formen  schon  zum  Beginn  der  italienischen 
Renaissancezeit  typisch  festgesetzt  zu  sein,  da  man  den 
großen  Schatz  gefundener  statuarischer  Werke  des  Alter¬ 
tums  gegen  Beschädigung  sicherte  und  zur  besseren 
Würdigung  ihrer  Schönheit  auf  Sockelstücke  aufstellte. 
Wiederum  boten  sich  hierfür  reichlich  vorhandene  antike 
Fundstücke  dar,  sockelartige  Architekturblöcke,  Grab¬ 
steine,  Altäre,  Pfeiler,  Kandelaberbasen  etc.,  durch  deren 
passende  Umgestaltung  immerhin  Verhältnisse  geschaffen 
wurden,  welche  die  Freude  und  Befriedigung  aller  Be¬ 
sucher  jener  großen  Sammlungen  in  Rom,  Neapel,  Florenz 
etc.,  hervorriefen  und  zu  einer  Nachfolge  in  diesen  Kom¬ 
positionen  von  Sockel  und  Bildwerk  reichlich  Veran¬ 
lassung  geboten  haben. 


Doch  darf  man  nicht  außer  Augen  lassen,  dass  diese 
ersten  Museumsaufstellungen  immerhin  nur  einen  Not¬ 
behelf  darstellten,  dass  dagegen,  wenn,  wie  vorhin  gesagt 
ward,  der  Sockel  einen  integrirenden  Teil  der  Bildwerks¬ 
komposition  ausmacht,  auch  ein  Zusammenfassen  aller 
die  Verbindung  dieser  beiden  Teile  bedingenden  Verhält¬ 
nisse  erforderlich  ist,  somit  ästhetische  Gesetze  zu  be¬ 
folgen  sind,  deren  Untersuchung  im  Nachstehenden  erfolgt, 
nicht  sowohl  um  den  Künstler  zu  Kunstgedanken  pro¬ 
duktiv  anzuregen,  als  vielmehr  um  die  gebührende  Wich¬ 
tigkeit  dieses  Teils  der  Gesamtkoraposition  hervorzuheben. 
Auch  von  der  Seite  des  geschätzten  Ästhetikers  Carricre 
sind  hierüber  kritische  Aussprüche  zerstreut  vorhanden, 

welche  nachstehend  an¬ 
geführt  werden  sollen. 
„Die  Statue  —  sagt 
Carriere  —  wird  als  eine 
Welt  für  sich  aus  der 
gewöhnlichen  Umgebung 
entrückt  und  auf  eine 
eigene  Basis  gestellt. 
Mag  dieses  Piedestal  nun 
mit  Reliefs  geschmückt 
sein,  welche  die  Tliaten 
und  die  Eigenschaften 
des  in  der  Gestalt  aus¬ 
gedrückten  Wesens  und 
Charakters  historisch 
oder  symbolisch  enthal¬ 
ten,  immer  muss  der 
Eindruck  der  Statue  der 
herrschende  bleiben,  weil 
sonst  die  Einheit  ver¬ 
loren  geht,  oder  die 
Hauptsache  selbst  um  des 
Beiwerks  willen  da  zu 
sein  schiene.  Die  Basis 
des  olympischen  Zeus 
erstattete  der  Höhe  wie¬ 
der,  was  diese  durch  das 
Sitzen  des  Gottes  verlor.  Er  hätte  aufstehen  und  von 
der  Basis  wie  von  einer  hohen  Stufe  hinabsteigen 
können,  sie  stand  im  Verhältnis  zu  seiner  Größe!  Die 
nicht  schon  durch  den  Tempel  abgeschiedene,  sondern 
auf  dem  Markt  im  Freien  aufgestellte  Statue  ver¬ 
langt  eine  Basis,  die  sie  über  das  Treiben  der  Welt 
erhebt.  Aber  am  großen  Friedrichsdenkmal  (Fig.  1)  in 
Berlin  überwiegen  die  mehrfachen  Absätze  der  verjüngt 
aufsteigenden  architektonischen  Massen  mit  ihren  vielen 
Bildwerken  die  Reiterstatue  des  Königs  selbst,  oder  lassen 
sie  doch  nicht  zu  der  erwarteten  und  ihr  gebührenden 
Wirksamkeit  kommen,  während  an  Schlüter’s  Monument 
des  Großen  Kurfürsten  (Fig.  2)  richtigere  Verhältnisse 
walten  als  an  der  sonst  so  reichen  und  vortrefflichen 
Meisterarbeit  Rauch’s.  Wir  haben  in  der  Neuzeit  viele 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE.  271 


Einzelstatuen  bedeutender  Männer  erhalten,  sie  stehen 
an  passenden  und  unpassenden  Stellen  und  gar  oft  eignet 
sich  die  Gestalt  des  Mannes  wenig  für  die  Plastik.  Ich 
möchte  einmal  empfehlen,  dass  man  solche  Denkmale  wo¬ 
möglich  mit  der  Architektur  in  Zusammenhang  bringe. 
Wie  die  Plastiker  in  Nischen  der  Glyptothek,  die  Feld¬ 
herren  in  ihrer  Halle  zu  München  stehen ,  so  könnten 
Schiller,  Lessing,  Goethe  mit  dem  Theater,  Feldherren 
und  Staatsmänner  mit  dem  Arsenal  und  Parlaments¬ 
gebäude  verbunden  sein. 

Man  stelle  das  Monument 
in  die  Nähe  des  Lebens 
und  seines  Verkehrs, 
einen  Schillerbrunnen 
auf  den  Markt,  eine 
Uhlandsrnhe  am  Neckar, 
eine  Goethe-Halle  auf  an¬ 
mutige  Höhe.“ 

So  sind  bereits  in 
diesen  aphoristischen  Be¬ 
merkungen  im  großen 
Ganzen  die  Hauptge¬ 
sichtspunkte  angedeutet, 
welche  bei  der  Unter¬ 
suchung  über  das  Ver¬ 
hältnis  des  Sockels  zum 
statuarischen  Werk  be¬ 
sonders  ins  Gewicht  fal¬ 
len.  Zuerst  ist  allerdings 
die  Bedeutung  des  Aus¬ 
stellungsplatzes  hervor¬ 
zuheben,  dessen  mehr 
oder  weniger  günstige 
Wahl  zum  besseren  oder 
misslungenen  Effekt  des 
Bildwerkes  viel  beitra¬ 
gen  wird.  Abgesehen  von 
den  später  behandelten 
optischen  Beziehungen, 
ist  namentlich  das  land¬ 
schaftliche  Bild  und  die 
Monument  -  Umgebung 
vom  größten  Einfluss  auf 
den  populären,  drastisch 
wirkenden  Effekt  und  die  Veranschaulichung  der  durch  das 
Bildwerk  auszudrückenden  Kunstidee.  Beispielsweise  wird 
bei  der  Aufstellung  der  Arndt -Statue  auf  dem  „alten 
Zoll“  am  Rheinufer  zu  Bonn  durch  diese  landschaftliche 
Umgebung  die  patriotische  Bedeutung  der  Statue  be¬ 
sonders  hervorgehoben.  Indessen  ist  der  Aufstellungsort 
zumeist  etwas  durch  andere  Verhältnisse  Bedingtes, 
welches  nicht  in  die  Machtsphäre  des  Künstlers  gehört, 
auf  welches  er  in  glücklichen  Fällen  Einfluss  haben,  mit 
dem  er  sich  jedoch  meistenteils  als  mit  gegebenen  Größen 
abzufinden  haben  wird.  Hier  tritt  dann  in  voller  Wichtig¬ 


keit  die  Befähigung  des  Künstlers  hervor,  unter  Ver¬ 
wendung  des  passenden  Sockels  seine  Arbeit  in  die  ge¬ 
gebene  Situation  hineinzubauen  und  letztere  mit  seinem 
statuarischen  Werke  so  harmonisch  zu  verschmelzen, 
dass  eine  passendere  Vereinigung  der  einzelnen  Faktoren 
garniclit  denkbar  erscheint. 

Bei  dieser  Bedeutsamkeit  einer  örtlichen  zutreffen¬ 
den  Komposition  des  Statuensockels  mögen  einige  ästhe¬ 
tische  Gesetze  aufgestellt  werden,  welche  jedoch  nicht 

den  Zweck  haben  sollen, 
einer  Kunst,  welche 
gegen  jeglichen  theore¬ 
tischen,  der  freien  Erfin¬ 
dung  abholden  Zwang 
sich  mit  Recht  miss¬ 
trauisch  verhält,  wie  der 
Bildhauerkunst,  specielle 
Bedingungen  vorzu¬ 
schreiben,  welche  viel 
mehr  nur  im  allgemeinen 
zu  beachten  sein  werden. 
Aus  dem  gleichen  Grunde 
sollen  für  die  nachfolgen¬ 
den  drei  Gesetze  nicht 
theoretische  Beweise, 
sondern  Beispielsbelege 
geboten  werden. 

Als  ein  erstes  Ge¬ 
setz  über  die  Bildung 
des  Sockels  für  ein  sta¬ 
tuarisches  Werk  ist  zu 
erfordern,  dass  das  Bild¬ 
werk  auf  seinem  Auf¬ 
stellungsort  von  der  Um¬ 
gebung  durch  die  Wahl 
eines  in  seinen  Formen 
und  in  seinem  Material 
kontrastirenden,  mit  der 
Gesamtidee  jedoch  zu¬ 
sammenhängenden  Un¬ 
terbaues  abgesondert 
werde.  Dazu  gehört 
einerseits  eine  besonders 
wahrnehmbare  Isolirung 
desselben  in  horizontaler  Richtung  durch  die  Entfaltung 
eines  Stereobats,  eines  Unterbaues  mit  stufenartigen 
Plinthen,  oder  mittels  einer  Terrassirung  oder  mit  einer 
gärtnerischen  oder  landschaftsbildnerischen  Umgebung, 
oder  durch  den  Abschluss  mit  einem  Gitter,  um  eine  Pro- 
fanirung  zu  verhindern,  oder  durch  anderweitige  architek¬ 
tonische  Maßnahmen.  Ferner  gehört  dazu  die  besondere 
Erhebung  in  vertikaler  Richtung,  die  weihevolle  Gipfelung 
des  statuarischen  Werkes  innerhalb  der  abgesonderten 
und  umrahmenden  Umgebung  durch  einen  je  nach  dem 
beabsichtigten  Effekt  oder  nach  dem  Charakter  des  Bild- 


272 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


Werkes  höheren  oder  niedrigeren  Aufstellung^  -  Pfeiler, 
was  ebenso  gleichmäßig-  für  eine  Aufstellung  im  Freien, 
wie  auch  in  Innenräumen  gilt!  In  diesem  Gebiet  wirkt 
namentlich  der  Maßstab  und  die  Silhouette;  es  umfasst 
die  praktischen  Erwägungen  der  Aufstellung  für  be¬ 
quemes  Sehen  und  günstige  Entfaltung;  es  umfasst  eine 
Fülle  praktischer  Erfahrungen  über  den  günstigsten 
Effekt  nach  Beleuchtung  und  Materialwirkung,  zu  welchem 
die  Bildung  des  Hintergrundes  für  Freiaufstellungen  hin¬ 
zutritt,  und  für  Bildwerke,  welche  in  Innenräumen  auf- 
gestellt  werden,  die  umrahmende  Architektur. 

Das  zweite  Gesetz  erfordert,  dass  der  Sockel  nicht 
allein  durch  den  gesamten  Aufbaugedanken  mit  den 
sämtlichen,  die  beabsichtigte  Kunstidee  ausdrückenden 
bildnerischen  Mitteln  harmonisch  zusammenwirkend  ge¬ 
bildet,  sondern  auch  durch  eigenen  bildnerischen  Schmuck 
ausgezeichnet,  zur  Allgemeinerklärung  des  Hauptkunst¬ 
werkes  herangezogen  werde.  Dies  erfolgt  in  der  einfach¬ 
sten  Durchführung  durch  die  an  dem  Sockel  anzubringende 
Widmung  und  inschriftliche  Erklärung,  im  weiteren 
durch  bildnerische  Ausschmückung  mit  teils  allgemein 
gehaltenen  ornamentalen  Dekorationen,  mit  allegorischen 
Attributen,  mit  einer  nähere  Verhältnisse  bezeichnenden 
Seenerie,  mit  figürlichen  Reliefdarstellungen  und  end¬ 
lich  in  einem  reicher  gegliederten  Aufbau  mit  freistehen¬ 
den  Figuren,  welche  hauptsächlich  die  Schaffens-Sphäre 
des  in  dem  Denkmal  Gefeierten  bezeichnen  sollen.  In 
diesem  Gebiet  der  Sockelkomposition,  in  welchem  das 
Geschick  des  Künstlers  sich  am  meisten  frei  bethätigt, 
werden  am  wenigsten  streng  formulirte  Gesetze  aufzu¬ 
stellen  sein.  Nichtsdestoweniger  ist  es  gerade  dieses 
Feld,  in  welchem  durch  Verstöße  in  dem  passenden 
Verhältnis  zwischen  Sockel  und  statuarischem  Werk 
die  Harmonie  am  häufigsten  gestört  wird.  Daher  er¬ 
fordert  ein  drittes  Gesetz  zur  Erzielung  der  Harmonie 
in  der  Gesamtkomposition  in  Verbindung  mit  dem  Auf¬ 
stellungsplatz  und  seiner  Umgebung  die  untergeordnete 
Behandlung  des  Sockels ,  wenngleich  unter  Erfüllung 
aller  praktischen  Programmforderungen  und  unter  voller 
Entfaltung  aller  künstlerischen  Ausdrucksmittel,  wie  sie 
für  das  Verhältnis  des  Sockels  zum  statuarischen  Werke 
schon  in  den  ersten  beiden  Gesetzen  genannt  waren. 
Somit  wird  hier  der  Maßstab  die  Proportionalität,  die 
Farben-  und  die  Reliefwirkung  eine  bedeutungsvolle 
Rolle  spielen. 

Im  Sinne  dieses  dritten  Gesetzes  spricht  sich  auch 
Barriere  aus.  Derselbe  sagt :  „Da  alle  Kunst  durch  sinn¬ 
liche  Mittel  wirkt  und  der  Eindruck  der  äußeren  Er¬ 
scheinung  dem  Begriff  des  Wesens  im  denkenden  Geist 
entsprechen  soll,  so  ist  es  nicht  zu  tadeln,  sondern  zu 
loben,  dass  im  Friedrichsdenkmal  zu  Berlin  der  Helden¬ 
könig  selbst  die  Krieger  und  Staatsmänner  auf  dem 
Sockel  ebenso  dem  Maße  nach  sichtbar  überragt,  als  er 
in  der  Geschichte  der  ruhmreich  vor  ihnen  hervortretende 
und  ihnen  zum  Teil  erst  die  Ehre  verleihende  Genius 


ist,  der  seiner  Zeit  seinen  Namen  gegeben  hat.  Unsere 
Phantasie  wird  nicht  so  sehr  zur  selbstschaffenden 
Thätigkeit  angeregt,  wenn  ihr  Gegenstände  in  gewöhn¬ 
licher  Ausdehnung  entgegentreten ,  das  überraschend 
Mächtige  aber  ruft  sie  wach!  Das  Kolossale  wird  aller¬ 
dings  ungeheuerlich,  wenn  ein  Skulpturwerk  dergestalt 
sich  an  Größe  einem  Architekturwerk  nähert,  dass  der 
Beschauer  keinen  Standpunkt  mehr  findet,  die  Formen 
desselben  zu  erfassen,  weil  er  sie  in  der  Nähe  nicht  als 
Ganzes  erschaut  und  in  der  Ferne  ihm  das  Einzelne 
zerfließt.“ 

Diese  letzten  Äußerungen  führen  zurück  zu  einem 
näheren  Eingehen  auf  die  im  ersten  Gesetze  gebührend 
hervorgehobenen  optischen  Erfordernisse.  Wenngleich 
scheinbar  innerhalb  dieser  auf  mathematischen  Erwägun¬ 
gen  aufgebauten  Verhältnisse  zu  allererst  die  Ange¬ 
messenheit  fester  Gesetze,  Regeln,  Tabellen  etc.  sich 
geltend  machen  könnte,  so  ist  doch  auch  hierüber  von 
vorn  herein  zu  urteilen,  dass  solche  Betrachtungen,  wenn 
sie  nicht  schaden  sollen  durch  eine  Einschnürung  der 
Kompositionsfreiheit  des  Künstlers,  mir  allgemein  aufge¬ 
stellt  werden  dürfen,  niemals  aber  in  einer  Formel¬ 
aufstellung  ein  allgemein  gültiges  Recept  ergehen  werden. 

Das  wichtigste  hierüber  geschriebene  Werk  „Der 
optische  Maßstab“  von  Mertens  leidet  leider  auch  an  diesem 
Fehler,  -wenngleich  die  allgemeinen  darin  aufgestellten 
Beobachtungen  ebenso  treffend  wie  schätzenswert  sind. 
Mertens  sagt  z.  B.:  „Der  Sockel  hat  die  Bedeutung,  dass 
die  Figur  durch  ihre  Erhebung  nicht  allein  gegen  Be¬ 
schädigung  im  Straßenverkehr  geschützt  wird,  sondern 
vor  allem,  dass  dadurch  die  Figur  in  dem  Augenauf- 
schlagewinkel  liegt,  welcher  unserem  Auge  beim  ästhe¬ 
tischen  Genüsse  soviel  bequemer  ist  als  der  Augen- 
niederschlagewinkel.  —  Auch  spricht  für  diese  Höhen¬ 
lage,  dass  der  Beschauer  selbst  bei  dem  größten 
Straßenverkehr  die  Figur  nicht  aus  dem  Blicke  zu  ver¬ 
lieren  braucht.“  Ferner  an  anderer  Stelle:  „Für  ein 
plastisches  Kunstwerk  ist  die  Augendistanz  nach  der 
Höhe  des  Objektes  zu  wählen.  Man  hat  bei  solchen 
Objekten  diejenige  Augendistanz,  welche  der  doppelten 
Höhe  des  Monumentes,  also  einem  Augenaufschlagewinkel 
von  27°  entspricht,  als  die  normale  anzusehen!  In 
dieser  Distanz  lässt  sich  das  Objekt  noch  sehr  gut  über¬ 
sehen,  es  erfüllt  unser  Blickfeld,  und  lässt  uns  die  Kunst¬ 
schöpfung  als  gesonderte,  individuelle  kleine  Welt  ge¬ 
nießen,  ohne  Einmischung  jeder  Umgebung.  Bei  einer 
Augendistanz,  welche  der  einfachen  Höhe  solcher  Kunst¬ 
objekte,  also  einem  Augenaufschlagewinkel  von  45°  ent¬ 
spricht,  ergeht  sich  das  Auge  im  Genuss  des  Details. 
Ist  der  Winkel  geringer  als  27°,  nähert  er  sich  18° 
bis  20°,  oder  wird  er  noch  niedriger,  so  tritt  das  Kunst¬ 
objekt  mit  der  Umgebung  zu  einem  Gesamtbilde  zu¬ 
sammen.  Solchem  Winkel  entspricht  etwa  das  Distanz¬ 
verhältnis  von  1  :  3.“ 

Wenn  man  bis  hierher  dem  gedachten  Autor  gern 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


273 


folgen  wird,  so  zeigt  sich  dagegen  hei  dem  von  ihm 
weiter  durchgeführten  Beispiel,  die  Höhe  des  Sockels 
zu  bestimmen,  das  Verfehlte,  hierzu  sich  ausschließlich 
einer  mathematischen  Kalkulation  bedienen  zu  wollen. 
In  Figur  3  ist  nämlich  bei  einer  gegebenen  Statuenhöhe 
von  2,50  m,  bei  einer  Augenhöhe  von  1,60  m,  bei  einer 
Augendistanz  =  12  m  die  Formel  aufgestellt  y  -f-  1,6  = 
x  +  2,50,  wenn  x  die  gesuchte  Sockelhöhe  und  y  die 
Höhe  des  Bildwerks  über  der  Gesichtslinie  bezeichnet. 
Ferner  ergiebt  sich  aus  dem  Visurdreieck,  nach  den  Eigen¬ 
schaften  des  rechtwinkeligen  Dreiecks,  122  =  y2  -j-(2  y) 2 
12 

daher  y  =  ,  oder  y=  5,367  m.  Setzt  man  diesen 

y 5 

Wert  in  die  erstere  Gleichung  ein,  so  ergiebt 
sich  x  =  4,467  in.  Somit  wäre,  da  die  Figur  zu  2,50  m 
angenommen  war,  der  Sockel  fast  auf  das  Doppelte 
der  Statuenhöhe  bestimmt!  Das  Unzutreffende  dieser 
Festsetzung,  wenn  es  sich  um  ein  allgemein  gültiges 


wird  man  im  Innern  der  Gebäude,  wenn  diese  Räume 
nicht  sehr  hoch  sind  und  nicht  ein  hellstes,  von  oben 
einfüllendes  Licht  haben,  den  Statuen  und  ähnlichen 
Werken  weniger  hohe  Sockel  geben.“  Aber  auch  hierin 
ist  ein  Irrtum  zu  berichtigen,  wenn  gemeint  ist,  dass 
durch  die  Aufstellung  auf  niedrigeren  Sockeln  die  Be¬ 
leuchtung  sich  verbessern  werde,  während  dieselbe  doch 
bekanntlich  mit  der  größeren  Entfernung  von  der  Licht¬ 
quelle  abnimmt.  Für  die  Beleuchtung  der  Statuen  ist 
vielmehr  Oberlicht  überhaupt  ungünstig  und  möglichst 
zu  vermeiden,  wenn  das  Licht  nicht  in  einer  solchen 
Fülle  eintritt,  dass  es  der  Beleuchtung  im  Freien  einiger¬ 
maßen  gleichkommt!  Da  jedoch  eine  Oberlich töffnung 
selten  größer  ist  als  V4,  höchstens  lj2  des  zu  beleuch¬ 
tenden  Saalbodens,  so  kommt  eine  intensive  Lichtwirkung 
in  unsern  nördlichen  Breiten  niemals  zu  stände.  Somit 
ist  diejenige  Beleuchtung  für  statuarische  Werke  in 
Ausstellungslokalitäten  am  günstigsten,  welche  der 


Gesetz  handeln  sollte,  wird  sofort  jedem  in  die  Augen 
fallen,  da  das  ästhetische  Gefühl  ein  solches  Verhältnis 
nur  für  Einzelfälle  und  zwar  ganz  ausschließlich  für  die 
Aufstellung  vonEhrenstatuen  gelten  lassen  wird,  namentlich 
wenn  diese  im  Freien  errichtet  werden  sollen.  Das  hat 
wohl  Mertens  selbst  gefühlt,  indem  er  weiter  ausführt, 
dass  es  eine  gute  Gewohnheit  sei,  bei  gewöhnlichen 
Bildsäulen  die  Figurenhöhe  und  Sockelhöhe  nicht  sehr 
verschieden  zu  machen,  etwa  im  Verhältnis  1,1  oder  1,3 
zu  1.  Also  ist  jene  vorherige  Berechnung  mit  ihren 
Resultaten  über  Bord  geworfen  und  auf  gute  Gewohn¬ 
heiten  verwiesen,  deren  Güte  jedoch  in  der  nachfolgenden 
Betrachtung,  namentlich  wo  es  sich  um  Bildwerke  des 
privaten  Interesses  handelt,  sehr  bezweifelt  werden  muss. 
Außerdem  giebt  Mertens  selbst  für  die  Fälle,  wo 
Statuen  in  Innenräumen  aufzustellen  sind,  Ausnahmen 
von  seinen  obigen  Regeln  zu.  Derselbe  sagt  nämlich: 
„Abweichend  von  der  Aufstellung  der  Statuen  im  Freien, 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  io. 


Atelierbeleuchtung  gleichkommt,  das  ist  ein  reichliches 
Seitenlicht  mit  einem  derartig  erhöhten  Lichteinfall,  dass 
noch  die  Kopfaufsicht  entfernterer  Statuen  Beleuchtung 
erhält.  Beispielweise  würde  dieser  Effekt  gut  erreicht 
werden,  wenn,  wie  Figur  4  a  zeigt,  eine  Statue  von  2  ro 
Höhe  auf  einem  0,8  m  hohen  Sockel  steht  und  sich  in 
einem  mäßig  hohen  Saale  4  m  weit  von  den  Fenstern 
befindet,  welche  ihrerseits  mindestens  4  m  hoch  sind, 
vorausgesetzt,  dass  freies  Nordlicht  einfällt.  Es  ist 
nämlich  bei  den  vorher  angegebenen  Zahlen  der  Licht¬ 
einfallwinkel  über  dem  Scheitel  der  Statue  noch  27° 
groß,  so  dass  sich  sogar  eine  für  das  Auge  des  Be¬ 
schauers  besonders  wohlthuende  Beschränkung  des  Licht¬ 
einfalls  vom  Fußboden  bis  zur  Augenhöhe  durchführen 
lässt,  ohne  der  Statuenbeleuchtung  zu  schaden.  Immerhin 
ist  jedoch  auch  gegenüber  diesem  Beispiel  die  Beschränkung 
hervorzuheben,  dass  durchaus  nicht  allein  optische  Gesetze 
die  absolute  Höhe  des  Statuensockels,  oder  das  relative 

36 


274 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


Verhältnis  desselben  zum  Bildwerk  bestimmen,  sondern 
auch  ästhetische.  Abgesehen  von  dem  großen  Anteil, 
welchen  hierin  der  mehr  oder  weniger  dem  Beschaner 
vorzutragende  Gesichtsausdruck  und  das  Mienenspiel 
für  sich  in  Anspruch  nehmen  wird,  um  den  Sockel  tiefer 
oder  höher  zu  gestalten,  abgesehen  ferner  von  den  ver¬ 
schiedenartigen  Erwägungen,  welche  die  örtlichen  Ver¬ 
hältnisse  eines  gegebenen  Ausstellungsplatzes  hervor- 
rufen,  sind  ästhetische  Bedingungen,  welche  mit  der 
gesamten  Kunstidee  der  Komposition  Zusammenhängen 
hierfür  sogar  hauptsächlich  maßgebend. 

Auch  ohne  zum  Beweis  die  ganze  Fülle  der  in 
kuustgeschichtlichen  Werken  vereinigten  Beispiele  anzu¬ 
führen,  werden  doch  einige  in  ihrer  charakteristischen 
Wirkung  unbestritten  anerkannte  Kategorien  statuarischer 
Werke,  namentlich  der  hellenischen  Antike,  die  Grenzen 
angeben,  in  welchen  der  Hoch-  und  der  Niedrigsockel 
zur  Verwendung  kommen  soll.  Es  ist  hierbei  durchaus 
korrekt,  auf  die  ästhetischen  Empfindungen  der  antiken 
Welt  zurückzugehen,  denn  einerseits  ist  unsere  eigene 
Bildung  auf  derselben  aufgebaut,  dann  aber  hat  sich 
seit  den  Zeiten  der  Antike  nicht  sowohl  der  Begriff, 

wie  in  der  Plastik  Form¬ 
gedanken  auszudrücken  sei¬ 
en,  geändert,  als  vielmehr 
allein  die  Art  der  Kunstauf¬ 
träge,  da  nur  die  Personen 
der  Besteller  und  die  Plätze 
der  Aufstellung  andere  ge¬ 
worden  sind,  endlich  aber 
steht  die  antike  Kunst  in 
ihrer  Treffsicherheit,  den 
Kunstgedanken  die  entspre¬ 
chende  Ausdrucksform  zu 
geben,  auch  heute  noch  unerreicht  da. 

Schon  eine  flüchtige  Durchmusterung  der  bekannteren 
Antikensarnmlungen  lässt  erkennen,  dass  ebensowohl  in 
Griechenland  wie  im  Römischen  Reich  die  Aufstellung 
der  Bildwerke  auf  ihren  Sockeln  wesentlich  nach  dem 
Programm  unterschieden  ist.  Zwei  Kategorien  trennen 
sich  in  den  älteren  Zeiten  hauptsächlich,  ob  nämlich  das 
plastische  Bildwerk  ein  Gegenstand  der  Adoration,  der 
durch  den  Kultusdienst  erforderten  Verehrung,  oder 
ob  es  nur  ein  Gegenstand  der  Widmung  an  die  Gott¬ 
heit.  der  Weihe,  ist.  Auch  in  späterer  griechischer  und 
römischer  Zeit,  in  welcher  das  bürgerliche  Leben  zum 
Schmucke  der  nichtkirchlichen  öffentlichen  Gebäude,  oder 
des  Privathauses  das  plastische  Kunstwerk  reichlich 
heranzieht,  treten  zwei  ähnliche  Gruppen  auf,  in  welchen 
das  öffentliche  Ehrendenkmal  in  seiner  Komposition  den 
Adorationsbildwerken  entspricht,  und  die  dem  Privat¬ 
interesse  dienende  Porträtbüste  oder  Porträtstatue  der 
Ahnengalerie,  den  vorhergenannten  Weihebildwerken. 
Zu  dieser  Kategorie  der  Bildwerke  des  privaten  Inter¬ 
esses  gehören  dann  ferner  die  Genrebilder,  das  Tier¬ 


stück,  sowie  die  unzähligen  Schöpfungen  der  Kleinkunst. 
Diese  beiden  Gruppen  scheiden  sich  wiederkehrend  in 
der  Sockelbildung,  einerseits  durch  die  Forderung  des 
Hoch-  und  anderseits  des  Niedrigsockels.  Ein  erschöpfen¬ 
der  archäologischer  Beweis  für  die  obige  Klassifizirung 
wird  in  dem  beschränkten  Raum  dieser  Abhandlung  nicht 
erwartet  werden,  anderseits  ist  auch  archäologisch  der 
Streit  noch  unausgetragen,  was  eigentlich  der  Kultus¬ 
dienst  des  Tempels  an  Bildwerken  erfordert  habe, 
aber  in  den  folgenden  Beispielen  aus  Vasenbildem  und 
nach  bekannten  Kunstwerken  wird  der  Charakter  des 
betreffenden  Bildwerkes  einem  Zweifel  nicht  unterworfen 
sein.  Figur  5  zeigt  nach  einem  Vasenbilde  den  Hahn 
der  Athena  Ergane,  als  ein  Attribut  der  Athena  Polias, 
zur  Verehrung  vor  der  Osthalle  ihres  Tempels  auf  der 
Burg  von  Athen  auf  einem  hohen  Säulensockel,  welcher 
in  den  Formen  des  dorischen  Stiles  ausgebildet  ist,  auf- 
gestellt!  Ferner  zeigt  Figur  6  die  Hermensäule  der 
Athena  Promachos,  ähnlich  derjenigen,  welche  als  Erz¬ 


gussbild  größten  Maßstabes  gleichfalls  auf  der  Burg 
Athen  zwischen  Parthenon  und  Propyläen  stand,  als  das 
berühmte,  fernhin  leuchtende  Wahrzeichen  der  Burg. 
Wiederum  ist  dieses  Adorationsbild,  welches  in  seiner 
Hermenform  sich  den  Holzmaquetten  verwandt  zeigt, 
deren  alleinige  Verwendung  als  Agalma  der  Tempelzelle 
nach  den  Angaben  von  C.  Bötticher  wohl  anzunehmen 
ist,  auf  einer  hohen  Pfeilerbasis  aufgestellt!  Zu  der 
gleichen  Kategorie  der  Verehrungsbildwerke  gehören 
Figur  7  und  Figur  8,  so  dass  man  allgemein  annehmen 
kann,  dass  der  hohe  säulenartige  Sockel  mit  dieser  Gattung 
von  Bildwerken  gedanklich  stets  verbunden  ist,  weil  es 
sich  darum  handelt,  die  schützende  oder  verderbende 
Gottheit  über  den  Kreis  der  Hiilfesuchenden  oder  Strafe¬ 
fürchtenden  erhöht  darzustellen,  den  Olympiern  nahe  und 
über  dem  Irdischen  erhaben,  wie  ja  auch  das  Apotropaion 
in  dem  Burgwappen  am  Löwenthor  zu  Mykenae  auf 
einen  solchen  hohen  Säulenstamm  gestellt  erscheint, 
welcher  dann  noch  seinen  besonderen  horizontal  ausge¬ 
breiteten  Unterbau  erhielt. 

In  Figur  8  ist  dagegen  ein  Beispiel  der  zweiten 


© 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


275 


in  ihrer  Sockelbehandlung  den  Verehrungsbildwerken 
entgegengesetzten  Kategorie  von  statuarischen  Werken 
der  Antike  gegeben,  nämlich  der  Weihebildwerke,  welche 
einen  niedrigen  Sockel  erhielten.  Ob  sich  diese  Behaup¬ 
tung  mit  voller  Strenge  durchführen  lässt,  ob  nicht 
archäologisch  Ausnahmen  nachgewiesen  werden  können, 
möge  dahingestellt  bleiben,  sicherlich  hat  sich  in  späterer 
Zeit  auch  in  den  hellenischen  Kultus¬ 
anschauungen  der  Begriff  des  Adora- 
tions-  und  des  Weihebildes  in  seiner 
strengen  Scheidung  vielfach  abge¬ 
schwächt  und  mit  einander  verbunden, 
wie  es  ja  noch  immer  einen  Gegenstand 
der  verschiedenartigen  Ansichten  bildet, 
ob  die  Goldelfenbeinbilder  des  Phidias 
zu  der  einen  oder  anderen  Kategorie  ge¬ 
hören.  Dagegen  ist  das  ästhetische  Be¬ 
wusstsein  hierin  unfehlbar,  streng  lo¬ 
gisch  vorgegangen  Das  Programm  der 
Weihebilder  erfordert  die  Aufstellung 
im  heiligen  Tempelbezirk,  um  Kunde 
zu  geben  von  der  dankbaren  Gesinnung 
des  Weihenden  für  besondere  Gnaden¬ 
beweise,  die  er  von  der  Gottheit  em¬ 
pfangen,  ferner  von  den  besonderen 
persönlichen  Beziehungen,  welche  zwi¬ 
schen  beiden  herrschen  und  von  der 
daraus  entspringenden  besonderen  Ver¬ 
ehrung.  Während  bei  den  ausschlie߬ 
lich  durch  hieratische  Beziehungen  be¬ 
stimmten  Verehrungsbildwerken  mehr  die  symbolische 
Bezeichnung  des  figürlichen  Gedankens  erfordert  wird, 
eine  Kunstschöpfung  jedenfalls  in  zweiter  Linie  erst 
verlangt  wird,  tritt  bei  dem  Weihebildwerk  die  Schön¬ 
heit  der  Darstellung  als  erste  Forderung  auf,  der  Gott¬ 
heit  das  Würdigste  darzubringen!  Eine  solche  Gesinnung 
soll  auch  vor  der  Gemeinde  deutlich  zur  Anschauung 
gebracht,  das  Weihebild  also  zum  nahen  Ansclmuen 


bestimmt  werden.  Zwar  ist  dieses  Programm  noch  weit 
entfernt  von  den  ausschließlich  zum  Kunstgenuss,  zum 
Anschauen,  zur  Augenfreude  bestimmten  modernen  Atelier- 
und  Ausstellungsbildwerken,  immerhin  haben  die  gleichen 
praktischen  Beziehungen  die  für  diese  ganze  Kategorie 
geltende  allgemeine  Kegel  befestigt,  dass  der  Sockel, 
das  Bathron,  nur  in  der  Form  einer  niedrigen  Stufenbank, 
höchstens  in  Altartischhöhe  ausgebildet 
werde,  dessen  Höhen- Verhältnis  zum 
Bildwerk  ein  Drittel  bis  ein  Fünftel 
beträgt,  dessen  absoluter  Maßstab  sich 
jedoch  immer  nach  der  bequemen  Augen¬ 
höhe  richtet! 

Als  Beispiel  diene  Figur  9,  die 
bekannte  verkleinerte  Kopie  des  aus 
der  Beschreibung  bei  Pausanias  genau 
bezeichneten  Goldelfenbeinbildes  der 
Athena  Parthenos  des  Phidias,  auf  deren 
rechter,  wenig  vorgestreckter  Hand  die 
Nike  stand,  während  in  dem  linken  Arm 
der  Speer  gehalten  war.  Der  für  die 
figürliche  Ausschmückung  bedeutsamen 
Verwendung  des  niedrigen  Bathrons, 
welches  ganz  ähnlich  auch  bei  einer  in 
Pergamon  gefundenen  Athena  Parthenos 
wiederkehrt  (Original  in  Berlin),  wird 
später  Erwähnung  geschehen.  Hier  möge 
nur  hervorgehoben  werden,  dass  nicht 
etwa  die  Ivolossalität  der  Figur  Veran¬ 
lassung  war,  den  Sockel  so  niedrig  zu 
bilden,  da  Treppen  und  erhöhte  Galerien  Gelegenheit  boten, 
das  Bildwerk  näher  zu  betrachten.  Vielmehr  gehörte  dies 
zum  typischen  Charakter  der  Weihebilder,  von  denen 
viele  neben  einander  stehend  die  heiligen  Tempelbezirke, 
beispielsweise  auf  der  Burg  zu  Athen  und  in  der  Altis 
zu  Olympia  füllten.  Auch  der  Hermes  des  Praxiteles 
stand  auf  einem,  den  oben  angegebenen  Proportionen 
sich  einigermaßen  anschließenden  Sockel. 

(Fortsetzung  folgt.) 


9.  Statuette  der  Parthenos. 


3G 


EINE  REKONSTRUKTION  JOH.  SEB.  BACH’S. 


■«  v. 


NLÄNGST  hat  man  in  Leipzig-  bei  Gelegenheit 
des  Abbruchs  der  Johanniskirche  die  Gebeine 
Johann  Sebastian  Bach’s,  des  Leipziger  Thomas¬ 
kantors  und  Vaters  unserer  modernen  Musik,  ausgegraben. 
Es  ist  wenigstens  sehr  wahrscheinlich,  dass  sie  es  sind, 
und  den  Schlussstein  zu  dem  Wahrscheinlichkeitsbeweise, 
den  ein  Anatom  und  ein  Archivar  einleiteten ,  lieferte 
ein  Bildhauer,  indem 
er  über  der  aufge- 
fundenen  Schädelbil¬ 
dung  ein  lebensvolles 
Bildnis  des  Tonmeis¬ 
ters  modellirte.  Es 
ist  darüber  ein  Be¬ 
richt  erschienen,  den 
der  Anatom,  Profes¬ 
sor  Dr.  His  im  Auf¬ 
träge  einer  Kommis¬ 
sion  erstattet  hat. ') 

Wir  entnehmen  ihm 
die  nachfolgenden 
Thatsachen,  die 
merkwürdig  genug 
mitzuteilen  sind. 

Pastor  G.  Tran- 
zschel ,  der  Vorsit¬ 
zende  des  Kirchen¬ 
vorstandes,  hatte  bei 
Gelegenheit  des  er¬ 
wähnten  Abbruchs 
der  .Tohanniskirche 
den  Entschluss  ge-  Sefther’s  Büste  von  Joh.  Seb.  Bach  nai 
fasst ,  noch  einmal 

d«n  Versuch  zu  machen,  die  Gebeine  des  genialen 
Musikers  aufzufinden.  Die  Anhaltspunkte  waren  ziem¬ 
lich  dürftig;  sie  beschränkten  sich  im  Wesentlichen  auf 
mündliche.  Tradition,  die  besagte,  dass  Bach  sechs  Schritte 


1)  Joh.  Seb.  Bach.  Forschungen  über  dessen  Grabstätte, 
Gebeine  und  Antlitz.  Von  Prof.  Wilhelm  His.  Mit  einem 
Situationsplan  und  9  Tafeln  in  Kupferätzung.  Fol.  Leipzig. 
F.  C.  W.  Vogel. 


geradeaus  von  der  Thür  der  Südseite  der  Kirche  be¬ 
erdigt  sei.  Hiermit  allein  hätte  sich  schwerlich  ein 
Kesultat  erzielen  lassen,  denn  der  Kirchhof  ist  ein 
einziges  großes  Gräberfeld  und  ohne  sonstige  Anhalts¬ 
punkte  wäre  das  Unternehmen  fast  ganz  aussichtslos 
gewesen.  Aber  es  kamen  einige  archivalische  Ermitte¬ 
lungen  hinzu,  welche  Dr.  Wustmann  in  einem  Aufsatze  der 

Grenzboten  (1894, 
Nr.  42)  lieferte.  Es 
waren  folgende  An¬ 
gaben:  Bach  ist  in 
einem  eichenen  Sarge 
begraben  worden, 
sein  Grab  wmr  ein 
sogenanntes  flaches, 
und  hat  nie  einen 
Grabstein  gehabt. 

Am  19.  Oktober 
wurde  der  Spaten  in 
Thätigkeit  gesetzt 
und  am  22.  stieß 
man  auf  eichene  Sarg¬ 
reste.  Während  diese 
durchsucht  wurden, 
zeigte  sich  dicht  da¬ 
bei  ein  etwas  höher 
liegender  eichener 
Sarg,  der  die  Ge¬ 
beine  eines  älteren 
Mannes  enthielt,  wäh- 
•  rend  der  erste  die 
Wegnahme  der  linken  Gesichtshälfte  eines  jungen  Weibes 

umfasst  hatte.  Der 
ausgegrabene  männliche  Schädel  und  die  dazu  gehörigen 
Knochen  wurden  zusammengestellt  und  einer  sorgfältigen 
Untersuchung  unterzogen,  deren  Verlauf  Prof.  His  in  der 
erwähnten  Schrift  geschildert  hat.  Die  wichtigsten  An¬ 
haltspunkte  zur  Ermittelung  der  Identität  bot  natürlich 
der  Schädel.  Er  erwies  sich  als  der  eines  älteren  Mannes 
und  zeigte  niedrige  Augenhöhlen,  einen  etwas  vorge¬ 
schobenen  Unterkiefer  und  einen  Einschnitt  an  der 
Nasenwurzel.  Mit  den  in  Leipzig  zugänglichen  Bildnissen 


EINE  REKONSTRUKTION  JOH.  SEB.  BACH’S. 


277 


J.  S.  Bacli’s,  eines  Ölbildes  in  der  Thomasschule,  das  seit 
Bacli’s  Zeiten  sich  dort  befindet,  und  eines  zweiten  Öl¬ 
bildes  im  Besitze  des  Herrn  Dr.  M.  Abraham,  sowie 
einiger  Stiche  wurde  nun  eine  Vergleichung  vorge¬ 
nommen. 

Die  Prüfung  machte  die  Identität  des  Schädels  mit 
dem  Bach’s  wahrscheinlich.  Die  Bilder  lassen  ebenfalls 
auf  niedrige  Augenhöhlen  schließen,  sie  zeigen  enge  Lid- 


Schritt  näher  zu  kommen.  Wenn  sich  über  den  Gips¬ 
abguss  des  Schädels  eine  porträtähnliche  Büste  von 
Bach  formen  ließ,  „so  war  wenigstens  die  Möglichkeit 
nachgewiesen,  dass  der  Schädel  der  von  Bach  sein 
konnte.“ 

Der  Bildhauer  C.  Seifner  zeigte  sich  bereit,  die 
gewünschte  Rekonstruktion  vorzunehmen;  in  welcher 
Weise  dies  geschah,  lehrt  die  beigebene  Zeichnung.  Er 


Johann  Sebastian  Bach.  Ölbild  in  der  Thomasschule  zu  Leipzig. 


spalten,  eine  unter  einem  kräftigen  Stirnwulst  hervor¬ 
tretende,  stark  hervorstehende  Nase  und  ein  Vorragen 
des  Unterkiefers  und  des  Kinns. 

„Das  war  nun  ein  recht  interessantes  Vergleichs¬ 
ergebnis,  aber  zur  Begründung  weitergehender  Schlüsse 
war  es  nicht  zu  gebrauchen.“  Nur  die  Mitwirkung 
eines  erfahrenen  Künstlers,  so  meinte  der  untersuchende 
Anatom,  bot  Aussicht,  der  Lösung  der  Frage  um  einen 


schuf  in  der  That  mit  Hilfe  des  Bildermaterials  eine 
Büste  von  charakteristischem  Ausdrucke. 

Infolge  des  Berichtes  der  gewonnenen  Ergebnisse  an 
den  Rat  der  Stadt,  den  Herr  Professor  His  erstattete, 
wurde  nun  eine  Kommission  eingesetzt,  deren  Aufgabe  es 
war,  eine  genaue  Prüfung  der  Einzelheiten,  die  hier  zu¬ 
sammenwirkten,  vorzunehmen.  Eine  wichtige  Rolle  spielt 
dabei  neben  der  Tiefe  des  Grabes,  der  Prüfung  des  Sarges, 


278 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


seiner  Länge,  der  Knochen,  des  Schädels  und  der  zur 
Vergleichung  herangezogenen  Bilder,  noch  das  Verhältnis 
der  Weichteile  des  Gesichts  zu  dem  Schädel.  Durch 
Feststellungen  der  Normen  für  dieses  Verhältnis  an  den 
verschiedenen  Stellen  des  Kopfes  gewinnt  man  erst  die 
richtigen ,.  Gesichtspunkte“,  von  denen  aus  ein  zuverlässiges 
Urteil  möglich  ist.  (Auf  Grund  dieser  Verhältnisse 
basirte  z.  B.  Hermann  Welcker  seine  Untersuchung 
über  die  Raffaelporträts  im  23.  Bande  dieser  Zeitschrift.) 

Durch  vorgenommene  Messungen  der  Weichteile  des 
Gesichts  an  einer  Gruppe  von  Männern  im  Alter  von 
50 — 72  Jahren  lieferte  Professor  His  das  Ergebnis,  dass 
die  Dickenwerte  der  Weichteile  für  jedes  besondere  Ge¬ 
biet  nur  innerhalb  enger  Grenzen  schwanken.  Mit  Hilfe 
dieser  Resultate  konnte  über  dem  Schädel  ein  System 
von  festen  Punkten  gegeben  werden,  über  oder  unter  die 
nur  eine  gewisse  Schwankung  erlaubt  war. 

Auch  mit  dieser  straffer  gespannten  Fassung  der 
künstlerischen  Aufgabe  vermochte  der  Bildhauer  C.  Seffner 
sich  trefflich  abzufinden.  Er  stellte  eine  neue  Büste  her, 
die  nicht  nur  das  Gerüst  von  dem  ausgegrabenen  Schädel 


entlehnte  und  die  charakteristischen  Eigenschaften  der 
maßgebenden  Bildnisse  Bach’s  in  sich  vereinigte,  sondern 
auch  in  Bezug  auf  die  Dicke  der  Weichteile  sich  inner¬ 
halb  der  von  Prof.  His  angegebenen  Grenzmaßen  hielt. 
Nachdem  alle  diese  Forderungen  erfüllt  waren,  trug  die 
Kommission  kein  Bedenken,  es  als  sehr  wahrscheinlich 
anzusehen,  dass  der  aufgefundene  Schädel  derjenige 
Bach’s  sei. 

Zum  Überflüsse  ist  der  höchst  dankenswerten  Schrift 
noch  die  Tabelle  beigegeben,  die,  von  Prof.  His  aufgestellt, 
als  Richtschnur  für  den  Künstler  diente.  Die  Schwankung 
der  Dicke  beträgt  z.  B.  bei  dem  oberen  Stirnrande 
1,5  mm  (zwischen  3,5  und  5  mm),  am  Kinnwulst  5  mm 
(zwischen  10  und  15  mm),  in  der  Mitte  des  Kaumuskels 
(größte  Schwankung,  7  mm)  zwischen  15  und  22  nun. 

Eine  Abbildung  des  Ölbildes  der  Thomasschule 
fügen  wir,  durch  freundliche  Erlaubnis  des  Verlegers 
begünstigt,  bei,  und  ein  Lichtdruck  der  Seffnerschen 
Büste  als  greifbares  künstlerisches  Ergebnis  der  Unter¬ 
suchung  überhebt  uns  der  näheren  Beschreibung  dieser 
trefflichen  Leistung.  SN. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Litteratur-  und  kunstkritisclie  Studien.  Beiträge 
zur  Ästhetik  der  Dichtkunst  und  Malerei  von  Dr.  Laurenz 
Müllner,  o.  ö.  Professor  an  der  lt.  k,  Universität  Wien. 
Wien  und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüller.  1895.  8. 

Der  vorliegende  Band  enthält  in  der  ersten  Hälfte 
Studien  über  Hamerling  (Aspasia),  Sacher  -  Masoch,  Graf 
Schack,  Vischer,  Englische  Litteratur  (Shakespeare  u.  Byron), 
Annette  von  Droste-Hülshoffund  andere  Dichter;  im  anderen 
Teile  Studien  über  Raffaels  Sposalizio,  h.  Cäcilia,  Sixtina, 
über  Tizian,  Palma  Vecchio,  Guido  Reni,  Bordone,  Rubens, 
Van  Dyck,  über  Murillo’s  „Immaculata  Conceptio“  im  Louvre, 
Genelli,  Peter  v.  Cornelius’  Jüngstes  Gericht  u.  a.  Die  letz¬ 
teren  Aufsätze  über  Maler  sind  gelegentlich  des  neuen  Er¬ 
scheinens  von  Kupferstichen  nach  den  berühmten  Original- 
gemälden  entstanden  und  schließen  daher  alle  mit  einer 
Kritik  und  öfter  auch  Biographie  der  Kupferstecher  und  ihrer 
Blätter.  Den  Untertitel  des  Buches  „Beiträge  zur  Ästhetik 
der  Dichtkunst  und  Malerei“  können  wir  nicht  als  ganz  zu¬ 
treffend  bezeichnen;  er  ist  sogar  geeignet,  über  den  Charakter 
dieser  kritischen  Studien  etwas  irrezuführen.  Wenn  wir 
unter  „Ästhetik“  Kunstphilosophie  im  eigentlichen  Sinne  ver¬ 
stehen,  zum  Unterschiede  von  Kunstgeschichte,  so  wird  man 
in  Müllners  Studien  keine  Bereicherung  der  Kunstphilosophie 
finden.  Es  liegt  auch  gar  nicht  im  Geiste  der  Methode 
Müllners,  die  Philosophie  der  Künste  zu  bereichern.  Er 
geht  vielmehr  darauf  aus,  die  Individualität  jedes  einzelnen 
Künstlers,  den  eigentümlichen  Gehalt  jedes  einzelnen  Kunst¬ 
werkes  zu  erfassen  und  darzustellen.  Das  ist  eher  Sache  des 
Historikers  als  des  Philosophen,  jedenfalls  aber  hat  die 
Philosophie  der  Kunst  von  dieser  Methode  —  deren  Wert 
ich  damit  nicht  im  geringsten  herabsetzen  will  —  keine 


direkte  und  eigentliche  Förderung  zu  erwarten.  Müllner  steht 
als  Philosoph  und  Ästhetiker  auf  dem  Boden  der  katholischen 
Kirche;  er  ist,  was  der  Titel  seines  Buches  nicht  angiebt, 
Professor  an  der  katholisch  -  theologischen  Fakultät  der 
Wiener  Universität.  Dadurch  allein  wird  es  schon  unwahr¬ 
scheinlich,  dass  er  die  moderne  Ästhetik,  die  sich  mit  Nach¬ 
druck  von  jeder  Umarmung  durch  irgend  eine  Metaphysik 
zu  befreien  strebt,  um  eine  empirische  Wissenschaft  zu 
werden,  nicht  gerade  bereichern  kann.  Seinen  Standpunkt 
kennzeichnet  Müllner  durch  folgende  Worte,  die  er  gelegent¬ 
lich  einer  Besprechung  der  Goethe-Biographie  von  Alexander 
Baumgartner  ausspricht:  „Es  ist  für  den  gläubigen  Christen 
nicht  weiter  fraglich,  dass  ihm  der  menschgewordene  gött¬ 
liche  Logos,  das  ewige  Urbild  aller  Schönheit,  und  die 
einzige  Offenbarung  desselben  der  einzige  Kanon  wie  der 
Wahrheit  so  der  Schönheit  zu  sein  hat.“  Das  Eigentümliche 
und  unseres  Erachtens  Auszeichnende  an  Müllner  ist  nun, 
dass  er  nicht  jene  Folgerungen  aus  diesem  obersten  Grund¬ 
sätze  zieht,  wie  so  viele  katholische  Ästhetiker:  er  ist  weder 
Präraffaelit  in  der  Malerei  noch  ein  apriorischer  Feind  mo¬ 
derner  Dichtkunst,  sondern  hat  sich  die  Empfänglichkeit 
für  alles  Schöne  in  beiden  Künsten  bewahrt,  auch  wenn  die 
Dichter  und  Maler  nicht  Katholiken  waren  oder  sich  ge¬ 
radezu  als  Ungläubige  oder  Protestanten  bewährten.  Er  ist 
ein  offener  und  ausgesprochener  Gegner  jener  kirchlichen 
Kunstgeschichte,  welche  den  religiösen  Hass  in  die  Wissen¬ 
schaft  hineinträgt.  Mit  seinem  Individualismus,  der  auf  eine 
„centrale“  Auffassung  jeder  schöpferischen  Persönlichkeit 
dringt,  der  jeden  Menschen  aus  ihm  selbst  begreifen  und 
nach  seinem  eigenen  Ma.ße  beurteilen  will,  stellt  sich  Müllner 
ungeachtet  seines  katholischen  Glaubens  auf  den  Boden  der 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


279 


modernen  Wissenschaft.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
betrachtet,  gewinnen  seine  „Studien“  einen  eigenen  Wert. 
Nur  freilich  folgt  daraus  nicht,  dass  man  alle  seine  Urteile 
oder  Darstellungen  als  unbedingt  richtig  auch  vom  Stand¬ 
punkte  individualistischer  Kritik  unterschreiben  möchte.  Der 
Individualismus,  diese  Fähigkeit,  sich  vollkommen  in  die 
fremde  Seele  zu  versetzen  und  sie  von  hier  aus  zu  begreifen, 
macht  die  Virtuosen  der  Nachempfindung  auch  öfter  zu 
nachsichtig.  Über  der  Freude  an  der  Darstellung,  oft  auch 
nur  am  Begreifen  der  Intentionen  eines  großen  Künstlers, 
kann  zuweilen  auch  die  Kritik  zu  kurz  kommen;  die  An¬ 
schmiegsamkeit  eines  Kritikers  darf  unseres  Erachtens  nicht 
so  weit  gehen,  dass  sie  zur  völligen  Identifizirung  mit  dem 
jedesmal  betrachteten  Originalgenie  führt.  Müllner  hütet 
sich  wohl  vor  diesem  Mangel  vieler,  zumal  kunsthistorischer 
Kritiker;  er  wird  Guido  Reni  nicht  gleich  groß  mit  Raffael 
schätzen;  es  fällt  ihm  nicht  ein,  Peter  von  Cornelius  als 
großen  Koloristen  zu  feiern;  aber  er  geht  doch  öfters  in 
seiner  Begeisterung  zu  weit,  zumal  auf  litterarischem  Ge¬ 
biete,  z.  B.  im  Falle  Hamerling  und  Schack,  und  infolge 
dessen  leidet  auch  die  Kraft  und  Klarheit  manches  Dichter¬ 
porträts,  das  Müllner  entwirft.  In  den  Studien  über  bildende 
Kunst  legt  er  das  Schwergewicht  auf  die  richtige  Auslegung 
und  Ausdeutung  der  Werke,  zumal  jener  Maler,  die  aus  dem 
kirchlichen  Gedankenkreise  heraus  ihre  Gemälde  schufen. 
Müllner  vereinigt  mit  seinen  reichen  kunsthistorischen  Kennt¬ 
nissen  infolge  seines  Standes  und  Amtes  umfassende  Kennt¬ 
nisse  der  theologischen  und  philosophischen  Litteratur.  Diese 
müssen  ihm  dazu  dienen,  z.  B.  eine  neue  Erklärung  der 
„Schule  von  Athen“  zu  versuchen.  „Das  Litterarisch-Stoff- 
liche  der  Schule  von  Athen  kann  Raffael  schon  durch  die 
italienischen  Dichter  näher  gebracht  worden  sein.  So  spricht 
schon  Dante  (Inf.  IV,  105 — 108)  von  den  sieben  freien 
Künsten  unter  dem  Bilde  eines  stolzen,  von  hohen  Mauern 
siebenfach  umkreisten  Schlosses  und  macht  zugleich  eine 
beträchtliche  Anzahl  antiker  Philosophen  und  Gelehrten 
namhaft  (a.  a.  0.  v.  133 — 144).  Fast  zur  Vollständigkeit  der 
Gestalten,  der  »Schule  von  Athen«  lassen  sich  die  von  Dante 
erwähnten  Namen  ergänzen  aus  Petrarca’s  Trionfo  della 
fama  (cap.  III),  den  Raffael,  der  in  seinen  Sonetten  dieser 
Lieblingsform  Petrarca’s  nacheiferte,  sicher  kannte.“  Außer¬ 
dem  habe  natürlich  auch  ein  fachmännischer  Beirat  bei  der 
Komposition  mitgewirkt;  doch  meint  Müllner,  dass  der  Ur¬ 
heber  des  geistigen  Inhalts  der  „Schule“  nicht  Bembo  und 
Sadolet,  sondern  Marsilius  Ficinus  gewesen  sei.  Das 
Nähere  möge  der  Leser,  der  sich  dafür  interessirt,  im  Buche 
selbst  nachlesen.  Eigene  Auffassungen  und  Deutungen  liefert 
Müllner  auch  von  Raffaels  Sposalizio  und  Sixtina.  Das 
letztere  Gemälde  deutet  er  als  eine  symbolische  Darstellung 
der  triumphirenden  Kirche.  Gelegentlich  der  Besprechung 
des  Gemäldes  „Himmlische  und  irdische  Liebe“  von  Tizian 
polemisirt  Müllner  gegen  Burckhardt’s  und  Thausing’s  Deu¬ 
tungen,  wonach  es  „Liebe  und  Sprödigkeit“  oder  „Ver¬ 
suchung  des  Liebesteufels“  darstellen  sollte.  Müllner  schließt: 
„Tizian  hat  über  das  ganze  Gemälde  einen  Stimmungszauber 
von  solcher  Macht  ausgegossen,  dass  dem  Gemüte  des  Be¬ 
schauers  alsbald  die  himmlische  und  irdische  Seite  der 
Menschennatur  bewusst  wird.  Himmelssehnsucht  und  Erden¬ 
lust  treten  in  Gestalten  auseinander;  die  Bundesgenossen  im 
Streite  des  Guten  und  Bösen,  das  Durcheinanderwogen  der 
Triebe  und  Antriebe,  die  bange  Stimmung  der  Menschen¬ 
brust  vor  der  Entscheidung  des  Kampfes  hat  der  Künstler¬ 
in  Beleuchtung,  Staffage  und  symbolischen  Details  verkörpert, 
deren  Zusammenwirken  nur  mit  der  Stimmungskraft  von 
Byrons  „Traum“  oder  einzelnen  Scenen  des  »Faust«  ver¬ 


glichen.  werden  kann;  denn  wenn  einem  Bilde  Tizian’s  eine 
wahrhaft  dichterische  Wirkung  eignet,  so  ist  es  bei  dieser 
merkwürdigen  Konception  der  Fall.“  Diese  Beispiele  mögen 
genügen,  um  die  Individualität  unseres  katholischen  Indivi¬ 
dualisten  erkennen  zu  lassen.  Seine  Beschreibungen  der 
Gemälde  sind  sehr  eindringlich  und  erheben  sich  häufig  zü 
anschaulicher  Kraft.  Am  wärmsten  schreibt  Müllner  über 
Murillo,  den  frommen  Spanier ,  und  über  Dürers  „Aller¬ 
heiligenbild.“  Müllners  Katholizismus  hat  auch  einen  starken 
Einschlag  gut  deutschen  Nationalgefühls, 


Dr.  Friedrich  v.  Hausegger:  Das  Jenseits  des  Künstlers. 

Wien,  Carl  Konegen  1893.  8°,  XII  und  311  Seiten. 

Das  vorliegende  Buch  behandelt  das  Wesen  des  künst¬ 
lerischen  Schaffens.  Da  es  auf  Künste  verschiedener  Art 
eingeht,  gehört  es  der  allgemeinen  Ästhetik  an,  doch  finden 
darin  Malerei  und  Plastik  zweifellos  eine  bevorzugte  Be¬ 
handlung.  Hausegger  weist  hauptsächlich  auf  gewisse,  aller¬ 
dings  entfernte  Analogieen  hin,  die  sich  zwischen  der  Pro¬ 
duktivität  des  Künstlers  und  der  von  Träumenden  und 
Geisteskranken  beobachten  lassen,  wobei  freilich  der  Nicht¬ 
künstler  des  Gegensatzes  halber  allzusehr  als  Philister  bin- 
gestellt  wird,  als  ob  er  tagtäglich  dieselbe  Tretmühle  treten 
würde.  Der  Gegensatz  von  Verstandesthätigkeit  und  Phan¬ 
tasie  wird  eingehend  erörtert.  Gehörige  Betonung  findet  aücli 
die  Ansicht,  dass  Malerei  und  Plastik  ihren  Hauptzweck 
nicht  mit  der  Naturnachahmung  allein  erreichen.  Hausegger 
ist  ein  Gegner  des  Realismus  und  Naturalismus,  für  deren 
einseitige  Vertreter  das  Buch  denn  auch  nicht  geschrieben 
ist.  Jeder  Kunstfreund  aber  von  weiterem  Blick  und  von 
einer  gewissen  Vertrautheit  mit  ästhetischen  Fragen  wird 
aus  Hausegger’s  Buch  Anregungen  mannigfacher  Art  schöpfen. 
Dies  gilt  auch  von  solchen ,  die  vielleicht  in  wesentlichen 
Punkten  anderer  Meinung  sind  als  der  Autor.  Wo  gäbe  es 
denn  aber  ein  Buch  psychologischen  Inhalts,  das  nicht  in 
zahlreichen  Abschnitten  zu  Meinungsverschiedenheiten  An¬ 
lass  gäbe!  Mitteilungen  über  Schlaf,  Traum,  Wahnsinn: 
welcher  Denkende  hätte  sich  über  solche  Zustände  nicht 
eine  bestimmte  Ansicht  gebildet!  Die  Physiologie  wird  sich 
mit  dem  Schlaf  am  leichtesten  in  der  Weise  auseinander¬ 
setzen  ,  dass  sie  ihn  als  eine  Ermüdung  des  Gehirnes  und 
besonders  gewisser  Centren  auffasst,  die  in  die  Bahnen 
zwischen  den  Sinnesorganen  und  den  Projektionsfeldern  der¬ 
selben  in  der  grauen  Gehix-nrinde  eingeschaltet  sind.  Dabei 
weiß  man,  dass  die  graue  Gehirnrinde  als  Ilauptvermittlei-in 
des  Bewusstseins  angesehen  werden  muss,  sowie  man  sich 
dabei  vorstellt,  dass  die  Sinneseindrücke  durch  eine  täglich 
wiedei’kehrende  Aufhebung  des  freien  Verkehrs  zwischen 
Auge,  Ohr,  Nase  u.  s.  w.  und  dem  Organ  des  Bewusstseins 
im  Schlafe  nicht  oder  nur  unvollkommen  wahrgenommen 
werden.  Da  nun  aber  trotz  der  Ermüdung  das  Gehirn  nicht 
tot  ist  und  da  es  kaum  jemals  in  allen  Teilen  gleichmäßig 
ermüdet  sein  dürfte,  wird  es  auch  im  Schlafe  eine  gewisse 
untergeordnete  Thätigkeit  beibehalten,  die  uns  als  Traum 
zum  Bewusstsein  kommt.  Ei-klärt  man  den  Schlaf  als  Er¬ 
müdung,  was  doch  am  allernächsten  liegt,  so  fällt  eine  Ana¬ 
logie  der  Träume  mit  dem  künstlerischen  Schaffen  weniger 
auf.  Die  Ähnlichkeit  scheint  nur  in  der  Ausschaltung  der 
Sinneseindrücke  und  in  der  relativ  lebhafteren  Thätigkeit 
jener  Gehirnteile  zu  liegen,  die  nicht  unmittelbar  der  Auf¬ 
merksamkeit  und  dem  Bewusstsein  dienen.  Sie  liegt  ferner 
in  der  Verarbeitung  und  Verbindung  von  Erinnerungsbil¬ 
dern,  also  in  dem,  was  man  gewöhnlich  Phantasie  nennt. 
Die  betreffenden  Teile  des  Gehirnes  müssen  bei  der  künst- 


2S0 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


lerischen  Thätigkeit  aber  doch  gesund  sein.  Giebt  es 
dort  partielle  Lähmungen,  Krämpfe,  verstreute  entzündliche 
Herde  oder  dergleichen  Erkrankungen,  die  eine  normale 
Verbindung  stören,  so  ist  damit  zweifellos  auch  das  künst¬ 
lerische  Schaffen  gestört.  Hier  werden  wir  mit  Recht 
von  Verrücktheit,  Geisteskrankheit,  Wahnsinn  sprechen, 
deren  unendliche  Erscheinungsformen  sich  doch  wohl  nur 
gelegentlich  mit  dem  künstlerischen  Denken  berühren.  Der 
Künstler  kann  einerseits  ohne  die  beständige  Überwachung 
durch  den  eigenen  gesunden  Verstand  nicht  auskommen, 
andererseits  können  die  Schöpfungen  des  Nichtkünstlers 
nicht  ohne  Thätigkeit  der  Phantasie  Zustandekommen,  so¬ 
bald  sie  sich  nur  vom  rein  Vegetativen  und  Gewohnheits¬ 
mäßigen  entfernen.  Und  noch  eines:  der  Künstler  kann  sich 
sogar  den  gewohnheitsmäßigen  Griffen  und  Verrichtungen 
des  Handwerks  nicht  entziehen,  wenn  er  nicht  dem  Dilet¬ 
tantismus  die  Hand  reichen  will.  Wer  berufsmäßig  schafft, 
unterliegt  gewissen  Gewohnheiten.  So  giebt  es  denn  mehr 
der  verbindenden  Fäden  zwischen  dem  Schatten  des  gewöhn¬ 
lichen  wachen  geistesgesunden  Menschen  und  dem  des 
Künstlers,  als  mancher  wohl  beim  Betrachten  großer  Kunst¬ 
werke  denkt.  Eine  bevorzugte  Ausbildung  (Veranlagung) 
und  Übung  bestimmter  Leitungen  und  Centren  im  Gehirn 
und  Nervensystem  des  Künstlers,  eine  Bevorzugung  von  Or¬ 
ganen,  die  aber  beim  Nichtkünstler  zweifellos  ebenfalls  vor¬ 
handen  sind,  dies  dürfte  wohl  der  wesentliche  Unterschied 
zwischen  dem  vorwiegend  produktiven  Künstler  und  dem 
nichtsch affenden  gewöhnlichen  Menschen  sein.  Erkranken 
die  erwähnten  Leitungen  und  Centren,  so  wird  der  eine  wie 
der  andere  psychisch  gestört  erscheinen.  Br.  TH.  v.  FR. 

Bernhard  Berenson,  The  Venetian  painters  of  the  renais- 
sance,  with  an  index  to  their  works.  G.  P.  Putnam’s  sons 
New  York,  London,  1894.  8°.  XII  u.  141  p. 

Vor  mehr  als  zehn  Jahren  wurde  der  Versuch  gemacht, 
die  eigentümliche  Art,  in  der  die  venezianischen  Maler  in 
den  Versammlungsälen  der  Brüderschaften ,  vor  allem 
aber  in  den  öffentlichen  Gebäuden ,  geschichtliche  Gegen¬ 
stände  behandelten,  aus  der  Festfreude  dieser  Stadt,  aus  ihrer 
Lust  an  sinnfälligem  Gepränge  zu  erklären.  Das  war  in  einer 
Fachzeitschrift  geschehen,  mit  historischen  Belegen  für  Fach¬ 
genossen  geschrieben  (Repertorium  1883).  Diesen  Gedanken 
nun  nahm  Mr.  Bernhard  Berenson,  ein  vorzüglicher  Kenner 
der  venezianischen  Schule,  wieder  auf  und  führte  ihn  in 
dieser  von  anderer  Seite  in  der  Kunstchronik  bereits  er¬ 
wähnten  Schrift,  die  sich  an  das  große  kunstliebende  englische 
Publikum  wendet,  glänzend  durch.  Charakteristiken  der 
bedeutenden  Meister  sind  eingestreut,  und  ein  Verzeichnis 
der  Werke  der  vorzüglichsten  venezianischen  Maler,  bis  in 
das  18.  Jahrhundert  herabgeführt,  bildet  den  Schluss. 

Die  Sprache  ist  blühend  und  so  recht  geschickt,  den  Be¬ 
trachter  der  Bilder  in  Begeisterung  zu  versetzen  und  ihn 
doch  dabei  über  das  Wesentliche  an  einem  Künstler  aufzu¬ 
klären.  Man  höre  eine  Stelle  über  Tintoretto:  „Es  war  seine 
große  Meisterschaft  im  Helldunkel,  die  Tintoretto  befähigte, 
die  ganze  Poesie  seiner  Seele  in  seine  Bilder  zu  legen,  vor 
denen  uns  doch  nie  der  Gedanke  kommt,  dass  er  uns  das¬ 
selbe  durch  Worte  hätte  besser  sagen  können.  Denn  die 
Poesie,  die  z.  B.  viele  seiner  Werke  in  der  Schule  des 
heiligen  Rochus  erfüllt,  lebt  von  Farbe  und  Licht.  Was 
anders  als  das  Licht  wandelt  die  öden  Stätten,  in  denen 
Magdalena  oder  Maria  von  Ägypten  sitzen,  in  Traumgefilde, 


wie  sie  die  Dichter  in  den  seligsten  Augenblicken  der  Be¬ 
geisterung  sehen?  Was  anders  als  Färbe  und  Licht  brachte 
die  erhabene  Magie  jenes  schaurigen  Abendrotes  hervor, 
in  dem  Christus,  weißgewandet,  vor  dem  Richter  steht? 
Was  wieder  als  Licht  und  Farbe  und  der  Stern enzug  der 
Cherubim  taucht  den  „Realismus“  der  Verkündigung  in 
eine  Musik,  die  bis  in  unser  Innerstes  dringt?“  Man  benei¬ 
det  den  Autor  um  ein  Publikum,  von  dem  er  voraussetzen 
darf,  dass  es  sich  bei  den  einzelnen  Bildern,  die  er  übersicht¬ 
lich  nach  Künstlern  zusammengestellt,  solcher  allgemeinen 
Schilderungen  erinnert.  Bei  dieser  Aufzählung  sind  nur  bei 
den  großen  und  älteren  Meistern  vollständige  Listen  gegeben, 
während  bei  den  späteren  Künstlern  nur  wichtige  und  leicht 
zugängliche  Werke  berücksichtigt  sind.  Das  ist  der  Punkt, 
wo  man  wünschen  würde,  dass  der  Autor  sein  Werk  bei  späte¬ 
ren  Auflagen  vervollständige,  weil  dadurch  dem  belehrenden 
Zwecke  des  Buches  Abbruch  geschieht,  indem  in  den  einzel¬ 
nen  Fällen  der  Reisende  nicht  weiß,  ob  Berenson  das  Bild, 
das  er  in  einer  Galerie  unter  dem  Namen  eines  venezianischen 
Malers  vorfindet,  nicht  für  echt  hielt,  oder  ob  er  es  nur  als 
nicht  besonders  hervorragend  weggelassen.  Aber  auch  so  wie 
es  ist,  ist  das  Buch  eine  glückliche  Bereicherung  der  Littera- 
tur  über  venezianische  Kunst.  FRANZ  WICKHOFF. 

Die  Gesellschaft  für  vervielfältigende  Kunst  in  Wien 
veranstaltet  unter  Förderung  des  k.  k.  österreichischen  Mi¬ 
nisteriums  für  Kultus  und  Unterricht  während  der  Zeit  vom 
1.  Oktober  bis  Ende  November  1895  in  den  Räumen  des 
Künstlerhauses  eine  internationale  Ausstellung  von  neueren 
Werken  der  graphischen  Künste.  Die  Ausstellung  soll  in 
zwei  Abteilungen  zerfallen.  Die  erste  Abteilung  umfasst 
Original-Arbeiten  auf  dem  Gebiete  aller  graphischen  Künste, 
also  der  Radirung,  des  Stiches,  des  Holzschnittes  und  der 
Lithographie.  Die  zweite  Abteilung  soll  ein  Bild  der  künst¬ 
lerischen  und  technischen  Entwicklung  des  Holzschnittes  in 
den  letzten  Jahren  geben,  wobei  als  oberste  Zeitgrenze  das 
Jahr  1886,  das  Datum  der  letzten  größeren  Ausstellung  der 
Gesellschaft,  angenommen  wird.  Die  Anmeldungen  sind  bis 
1.  Juli,  die  Kunstwerke  selbst  bis  längstens  1.' August  an  die 
Gesellschaft  für  vervielfältigende  Kunst  (VI.,  Luftbadgasse  17) 
einzusenden.  Nach  dem  für  die  Ausstellungen  der  Gesellschaft 
bestehenden  Statute  werden  goldene  Medaillen  (höchstens 
drei),  Anerkennungs-Diplome  und  Bronzemedaillen  verliehen. 

*  Unter  dem  Titel  „U Art  en  France“  erscheint  bei 
C.  N.  Greig  &  Co.  in  Paris  und  Leipzig  eine  von  Charles 
Yriarte  redigirte  und  mit  Text  begleitete  Publikation,  welche 
den  Zweck  verfolgt,  das  Pariser  Ausstellungsleben  in  seinen 
jährlichen  Haupterscheinungen  zu  repräsentiren.  Es  sind 
Autotypieen  in  Folio  von  musterhafter  Ausführung,  in  ver¬ 
schiedenfarbigem  Druck,  mit  kurzen  Erläuterungen,  welche 
mit  den  Porträts  der  betreffenden  Künstler  illustrirt  sind. 
Die  erste  Lieferung  bringt  nur  Gemälde  aus  dem  Salon  des 
Marsfeldes,  einen  Teil  des  schönen  Triptychons  „Ave  Maria“ 
von  Duhufc,  ein  reizvolles  weibliches  Bildnis  von  Gcrvex  u.a. 
Das  Werk  soll  übrigens  nicht  nur  die  beiden  Salons,  son¬ 
dern  auch  die  sonstigen  Ausstellungen  berücksichtigen,  die 
Aquarellisten,  Pastellisten,  Orientalisten,  die  „Independants“, 
die  „Fernmes  artistes“,  den  Klub  „Valnay“  u.  s.  w.  Der 
Jahrgang  umfasst  zwölf  Lieferungen  und  hundert  Tafeln. 
Wer  sich  über  die  Kunstbewegung  in  Paris,  besonders  in  der 
dortigen  Malerwelt,  einen  bequemen  Überblick  in  geschmack¬ 
voller  Fassung  verschaffen  will,  dem  kann  diese  neueste 
Publikation  des  gegenwärtigen  „Inspecteur  general  des  Beaux- 
arts“  in  Frankreich  bestens  empfohlen  werden: 


Herausgeber:  Carl  von  Lützow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Johann  Sebastian  Bach. 

Auf  dem  ausgegrabenen  Schädel  modellirt  von  Carl  Seffner. 


Abb.  l.  Die  Galiläa  an  der  Kathedrale  zu  Durhain.  Erbaut  um  1175. 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 

VON  ADOLF  ROSENBERG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ASS  viele  Deutsche  über  die  Kunstschätze 
und  Naturschönheiten  Italiens  besser  unter¬ 
richtet  sind  als  über  die  aller  übrigen 
Länder,  Deutschland  mit  einbegriffen,  ist  eine  be¬ 
kannte  Thatsaclie,  die  zum  Teil  auf  die  während 
der  Völkerwanderung  erwachte  und  seitdem  nie 
wieder  ganz  eingeschlummerte  Sehnsucht  der  frie¬ 
renden  Germanen  nach  dem  sonnigen  Süden,  zum 
größeren  Teile  aber,  was  wenigstens  das  Jahrhun¬ 
dert  seit  Goethe’s  italienischer  Reise  betrifft,  auf 
die  unheimlich  fruchtbare,  auf  Italien  gerichtete 
Thätigkeit  unserer  Schriftsteller  zurückzuführen  ist. 
Die  Kunstschriftsteller  im  Besonderen  haben,  obwohl 
eigentlich  kein  Autor,  der  über  Italien  schreibt, 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  11. 


I. 

die  Kunst  umgehen  kann,  ihr  reichliches  Teil  dazu 
beigetragen.  Der  Enthusiasmus  für  alle  Erzeugnisse 
des  italienischen  Kunstgeistes  hat  die  meisten  von 
ihnen  sogar  nicht  gehindert,  auch  den  Werken  der 
italienischen  Gotliik,  die  doch  immer  nur  eine  künst¬ 
lich  gehegte  Zierpflanze  auf  dem  Boden  Italiens 
gewesen  ist,  jene  unbedingte  Hochachtung  darzu¬ 
bringen,  die  vor  den  Schöpfungen  der  Antike,  der 
Renaissance  und  der  Barockzeit  sicherer  begründet 
ist.  Zur  Entschuldigung  des  Enthusiasmus  darf  man 
aber  anführen,  dass  sie  keinen  Maßstab  des  Vergleichs 
hatten.  Selbst  unter  dem  finsteren  Druck  der  letzten 
Papst-  und  Bourbonenkönige  waren  die  Kunstschätze 
und  Baudenkmäler  Roms  und  Neapels  zugänglicher 

37 


282 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


als  es  noch  heute  die  Baronialschlösser  und  Herren¬ 
sitze  Alt -Englands  sind,  die  sich  eigentlich  nur 
einem  mit  tausend  Empfehlungen  ausgerüsteten 
deutschen  Kunstforscher,  —  und  auch  diesem  nicht 
einmal  vollständig,  —  nämlich  dem  wackeren  G.  F. 
Waagen  erschlossen  haben. 

Diese  Abgeschlossenheit  hat  es  bedingt,  dass 
wir  uns  lange  Zeit  über  die  Entwicklung  der  Bau¬ 
kunst  in  England  und  Schottland  nur  sehr  unklare 
und  unbestimmte,  zumeist  auf  unzuverlässigen  Ab¬ 
bildungen  beruhende  Vorstellungen  machen  konnten, 
obwohl  gerade  die  mittelalterliche  Architektur  Eng¬ 
lands  der  unsrigen  geistig  viel  näher  verwandt  ist 
als  die  Italiens.  Wohl  sind  die  großen  Städte  Eng¬ 
lands,  außer  London  besonders  die  sogenannten 
Kathedralstädte  Canterbury,  York,  Exeter,  Ely, 
Lichfield,  Durham  u.  s.  w.,  gelegentlich  von  deutschen 
Kunstforschern  besucht  worden;  aber  sie  haben,  so 
viel  mir  bekannt  ist,  niemals  ihre  Beobachtungen 
zu  gründlichen  Untersuchungen  ausgedehnt,  ver¬ 
mutlich  weil  sie  glaubten,  dass  ihnen  nach  den  um¬ 
fangreichen  Sammelwerken  von  Britton,  Bloxam, 
Cotman,  Fielding,  Nash,  Turner  und  Parker  u.  a. 
nichts  mehr  zu  thun  übrig  bleiben  würde.  Wohl 
haben  diese  Publikationen,  die  zumeist  in  den  zwan¬ 
ziger,  dreißiger  und  vierziger  Jahren  entstanden  sind, 
noch  heute  ihren  Wert  wegen  der  eingehenden,  auf 
Urkundenforschungen  und  Überlieferungen  gestützten 
Darstellungen  der  Baugeschichte  der  einzelnen  Denk¬ 
mäler.  Was  sie  in  dieser  Hinsicht  gesammelt  haben, 
muss  so  lange  als  Kanon  gelten,  bis  sich  Einer  der 
gewaltigen  Mühe  unterzieht,  das  ungeheure  Material 
noch  einmal  nachzuprüfen.  Die  Abbildungen  jener 
Publikationen,  magere  Stahlstiche  und  dürftige  Litho¬ 
graphien,  sind  jedoch  für  unsere  Augen  unerträglich. 
Abgesehen  von  ihrer  Fehlerhaftigkeit  im  Einzelnen 
haben  sie  durch  ihre  Trockenheit  und  Nüchternheit, 
durch  ihre  falsche  Schematisirung  geradezu  zu  einer 
irrigen  Auffassung  und  Einteilung  der  Geschichte 
(b-r  englischen  Baukunst  geführt.  Selbst  ein  so  scharf 
blickender,  universell  geschulter  Mann  wie  Liibke 
hat  sich  durch  diese  völlig  ungenügenden  Quellen, 
die  er  wohl  nur  durch  geringe  eigene  Anschauung 
korrigiren  konnte,  zu  einer  ungünstigen  Beurteilung 
der  englischen  Gotik  verleiten  lassen,  die  erst  jetzt 
berichtigt  werden  kann,  wo  uns  das  immer  noch 
beste  Anschauungsmittel  unserer  Zeit,  die  Photo¬ 
graphie,  die  nötigen  Hilfsmittel  bietet. 

Auf  sie  werden  wir  uns,  trotz  ihrer  bekannten 
Fehlbarkeit,  so  lange  verlassen  müssen,  bis  die  ihr 
überlegene,  aber  auf  ihr  fußende  Messbildkunst  über 


ihre  Anfänge  hinaus  zu  einem  weniger  kostspieligen 
und  umständlichen  Verfahren  gediehen  ist.  Bis 
dahin  wird  der  Photograph  der  treueste  Begleiter  und 
Versorger  des  Kunsthistorikers  bleiben,  der  sammeln, 
vergleichen  und  jederzeit  nach  dem  vorhandenen  Mate¬ 
rial  die  gewonnenen  Eindrücke  kontroliren  und  be¬ 
festigen  will.  Dem  Apparat  eines  Photographen, 
freilich  eines  durch  Jahrzehnte  lange  Praxis  künstle¬ 
risch  gebildeten  und  künstlerisch  sehenden,  verdanken 
wir  es  auch,  dass  uns  jetzt  das  Material  zu  einer  un¬ 
befangenen  und  gerechteren  Beurteilung  der  Bau¬ 
denkmäler  Großbritanniens  geliefert  worden  ist,  als 
sie  bisher  möglich  gewesen  war.  Der  Berliner 
Verlagsbuchhändler  Ernst  Wasmuth  hat  vor  einigen 
Jahren  den  Photographen,  der  nur  für  ihn  und  nach 
seinen  Absichten  arbeitet,  nach  England  und  Schott¬ 
land  geschickt,  und  dort  ist  es  ihm,  zum  Teil  nach 
Anweisungen  des  Architekten  C.  Ulide  gelungen, 
nicht  nur  von  allbekannten  Bauwerken  neue  und 
ungemein  charakteristische  Aufnahmen  zu  gewinnen, 
sondern  auch  in  das  sonst  nur  wenig  oder  gar  nicht 
zugängliche  Innere  englischer  und  schottischer  Edel¬ 
sitze  einzudringen,  deren  reizvolle  künstlerische  Ge¬ 
staltung  nach  Außen  und  Innen  bisher  in  Deutsch¬ 
land  nur  durch  die  Berichte  der  Wenigen  bekannt 
geworden  war,  die  durch  einen  Zufall  oder  durch 
gesellschaftliche  Beziehungen  Zutritt  erlangt  hatten. 
Wie  schwer  dieser  Zutritt  bei  der  stolzen  Abge¬ 
schlossenheit  der  englischen  Aristokratie  selbst  einem 
Mann  wie  Waagen  geworden  ist,  ist  aus  dessen 
„Treasures  of  art  etc.“  bekannt.  Welche  Genug- 
thuung  würde  der  wackere  Pfadfinder  gehabt  haben, 
wenn  er  noch  erlebt  hätte,  wie  die  entarteten  Erben 
der  von  feinsinnigen  Vätern  erworbenen  Kunstschätze 
jetzt  ihr  Dasein  von  dem  Verkauf  alter  Bilder  — 
sozusagen  von  einer  Auktion  zur  andern  —  fristen 
müssen ! 

Glücklicherweise  sind  die  Baudenkmäler  nicht 
transportfähig  und  darum  auch  nicht  verkäuflich. 
Wenn  man  die  175  vortrefflich  ausgeführten,  zum 
Teil  sogar  wie  individuelle,  malerische  Aufnahmen 
wirkenden  Lichtdrucktafeln  des  Wasmuth’schen  Wer¬ 
kes  ')  durchmustert,  hat  man  sogar  die  Empfindung, 
als  wären  alle  diese  Denkmäler  autoclithon,  sozu¬ 
sagen  aus  dem  Erdboden  heraus  gewachsen  und  mit 
diesem  und  ihrer  architektonischen,  landschaftlichen 
und  vegetabilischen  Umgebung  so  innig  verwachsen, 

1)  Baudenkmäler  in  Großbritannien.  Herausgegeben  von 
Constantin  Uhde,  Geh.  Hofrat,  Architekt  und  Professor  an 
der  herzoglichen  technischen  Hochschule  in  Braunschweig. 
Zwei  Bände.  Berlin,  Ernst  Wasmuth.  Fol. 


Abb.  2.  Kathedrale  von  Lichfield.  Westseite.  Um  1280. 


37* 


2S4 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


dass  das  Werk  der  Menschenhand  von  dem  Erzeugnis 
der  mitwirkenden  und  bei  Verfall  des  Menschen¬ 
werks  poetisch  verklärenden  Natur  nicht  mehr  ge¬ 
trennt  werden  kann.  Nur  wenn  man  dieses  Zusammen¬ 
spiel  von  Kunst  und  Natur  im  Auge  behält,  lernt 
man  die  Entwicklung  der  englischen  Architektur 
verstehen.  Wohl  hat  es  uns  bisher  nicht  au  so¬ 
genannten  malerischen  Aufnahmen  gefehlt,  die  uns 
im  Gegensatz  zu  den  alten,  trockenen  Stahlstichen 
ein  völlig  anderes  Bild  von  der  englischen  Baukunst 
des  Mittelalters  geboten  haben.  Aber  wir  misstrauten 
diesen  mit  überschwänglicher  Fülle  ausgestatteten 
Ansichten,  die  meist  nach  Zeichnungen  in  Holz¬ 
schnitt  ausgeführt  waren.  Jetzt  liefert  uns  eine 
reiche  Photographiensammlung,  die  sich  jedoch  leider 
nicht  bis  auf  die  poesievollsten  Schöpfungen  der  eng¬ 
lischen  Gotik,  die  ganz  oder  zum  Teil  erhaltenen  oder 
völlig  in  Ruinen  liegenden  Abteikirchen  erstreckt, 
den  untrüglichen  Beweis,  dass  die  romantisch¬ 
malerischen  Ansichten  der  Kathedralen,  Abteikirchen 
und  Schlösser  keineswegs  übertrieben  haben. 

Mau  hat  die  englische  Architektur  bisher  nur 
als  eine  trockene,  dem  Landes-  und  Volksbedürfnis 
angepasste  Nachahmerin  fremder  Stilarten  angesehen. 
Freilich  insofern  mit  einem  Schein  des  Rechts,  als 
die  Kunst  nach  England  wirklich  importirt  worden 
und  jede  neue  Phase  ihrer  Entwicklung  auf  Ein¬ 
flüsse  von  auswärts  zurückzuführen  ist.  Aber  wo 
giebt  es  ein  Kulturland,  das  nicht  zu  einem  älteren 
in  gleichem  Abhängigkeitsverhältnis  stände?  Selbst 
die  große  Nährmutter  der  abendländischen  Kunst, 
Italien,  hat  die  Kräfte,  die  sie  später  dem  Norden  mit¬ 
geteilt  hat,  aus  den  Boden  Griechenlands  gesogen, 
und  dieses  wieder  aus  dem  Orient.  Den  Lesern  dieser 
Blätter  bieten  wir  mit  solchen  Erinnerungen  nur  eine 
alle  Weisheit;  aber  sie  müssen  iu  diesem  Zusammen¬ 
hänge  wieder  aufgefrischt  werden,  weil  die  englische 
Architektur  auch  einmal  das  Recht  fordert,  auf  ihre 
eigenartige  Physiognomie  geprüft  zu  werden,  nach¬ 
dem  man  in  der  neueren  englischen  Malerei  und 
Kunstindustrie  die  Selbständigkeit  längst  anerkannt 
und  nach,  zum  Teil  auch  über  Verdienst  gewürdigt  hat. 

Dass  Großbritannien  hinsichtlich  der  Kunst  auf 
fremde  Hilfe  angewiesen  war,  erklärt  sich  aus  der 
Geschichte  des  Landes.  Die  Römer,  die  ersten  Träger 
der  Kultur  und  der  in  ihrem  Gefolge  schreitenden 
Kunst,  haben  in  keinem  der  von  ihnen  unterjochten 
Länder  so  wenige  prunkvolle  Bauwerke  aufgeführt 
wie  in  Britannien,  desto  mehr  Befestigungswerke, 
Grenzwälle,  Mauern  und  Forts,  weil  sie  sich  gegen 
das  Eindringen  barbarischer  Stämme  von  Norden  her 


schützen  mussten.  Ein  korinthischer  Tempel  in 
Chester,  der  an  die  Maison  carree  in  Nimes  erinnert, 
die  Überreste  eiues  Amphitheaters  in  Cirenchester, 
die  Ruinen  der  Bauwerke  an  den  heißen  Quellen 
in  Bath,  dessen  Name  noch  jetzt  an  die  römischen 
Thermen  erinnert,  und  eine  große  Zahl  von  Spuren 
römischer,  zum  Teil  prächtig  mit  Mosaikfußböden 
ausgestatteter  Villen  —  das  ist  alles,  was  von  der 
kurzen  Römerherrschaft  übrig  geblieben  ist.  Wie 
schnell  die  Römerbauten  nach  dem  Abzug  der  Er¬ 
oberer  verfallen  sein  müssen,  beweist  der  Umstand, 
dass  sie  nicht  den  geringsten  Einfluss  auf  die  ein¬ 
heimische  Bevölkerung  geübt  haben.  Aus  den  zwei 
Jahrhunderten,  die  zwischen  dem  Abzüge  der  Römer 
und  der  Einführung  des  Christentums  liegen,  stammt 
gerade  die  Mehrzahl  jener  fälschlich  „prähistorisch“ 
genannten  Denkmäler  aus  unbehauenen  oder  nur 
roh  bearbeiteten  Felsblöcken,  deren  Haupttypus  der 
berühmte  Steinring  (Stonehenge)  nördlich  von  Salis¬ 
bury  ist.  Es  sind  wahrscheinlich  Grabdenkmäler  zur 
Erinnerung  an  gefallene  Helden  oder  vielleicht  auch 
die  Wahrzeichen  gemeinsamer  Begräbnisstätten  ge¬ 
wesen. 

Aus  der  Zeit  der  angelsächsischen  Herrschaft 
sind  auch  keine  Kunstbauten  erhalten,  vielleicht  weil 
es  keine  gegeben  hat.  Die  Angelsachsen  scheinen 
nichts  mitgebracht  zu  haben,  als  die  ihnen  eigen¬ 
tümliche  Holzbaukunst,  und  gerade  von  den  zahl¬ 
reichen  angelsächsischen  Holzkirchen  ist  nur  eine 
in  Greensted  in  der  Grafschaft  Essex  übrig  geblieben, 
die  fast  gar  keine  Kunstformen  aufzuweisen  hat. 
Wie  diese  Holzkirchen  ausgesehen  haben  mögen, 
können  wir  noch  nach  den  norwegischen  Holzkirchen 
ermessen,  deren  Urtypus  wohl  auf  die  ersten  Boten 
des  Christentums  in  Norwegen,  die  angelsächsischen 
Mönche,  zurückzuführen  ist.  Wenn  es  galt,  Stein¬ 
bauten  aufzurichten,  nahmen  die  Angelsachsen  aus 
den  Überresten  römischer  Bauwerke  wohl  das  Mate¬ 
rial,  namentlich  die  Backsteine.  Die  Kunstformen 
waren  ihnen  aber  gleichgültig,  wie  sich  noch  aus 
einzelnen  erhaltenen  Dorfkirchen  erkennen  lässt. 

Der  Frühling  der  Kunst,  d.  h.  in  dieser  Zeit 
immer  nur  der  Baukunst,  kam  den  britischen  Landen 
erst  durch  die  normannische  Eroberung,  durch  jenes 
eigentümliche,  in  der  Weltgeschichte  einzig  da¬ 
stehende  Volk,  das  überall  da,  wo  es  zuvor  mit 
Schwert  und  Feuer  alles  von  Grund  aus  zerstört  hatte, 
eine  neue,  blühende  Kultur  erstehen  ließ  und  dabei 
noch  für  den  Ausdruck  seines  Charakters  oder  vielmehr 
seines  Temperaments  einen  eigenen  Kunststil  erfand. 
In  Nordfrankreich  zeigt  er  sich  in  seinen  Anfängen, 


Abb.  3.  Kreuzgang  der  Kathedrale  von  Gloucester.  Erbaut  1350 — 1410. 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


286 

in  Sizilien  in  seiner  üppigsten  Blüte  mit  roman¬ 
tischem  Anstrich,  und  in  England  hat  er  sich  eine 
Herrschaft  errichtet,  deren  Wirkung  bis  in  die 
Gegenwart  nachhallt.  Es  scheint,  dass  er  hier  erst 
den  richtigen  Boden  gefunden  hat.  Nirgends  sind 
so  viele  normannische  Bauwerke  erhalten  geblieben: 
ganze,  freilich  nur  bescheidene  Kirchen,  An-  und 
Vorbauten,  die,  von  alten  Kathedralen  stammend, 
jetzt  den  gotischen  zur  höchsten  Zierde  gereichen, 
ganze  Mittel-  und  Querschilfe,  die  von  den  gotischen 
Baumeistern  in  ihre  neuen  Pläne  aufgenommen 
worden  sind,  weil,  wie  Uhde  in  seinem  leider  etwas 
knapp  bemessenen  Texte  treffend  bemerkt,  „die  Ab¬ 
messungen  der  Kirchen  des  normannischen  Stils  gegen¬ 
über  denen  der  ersten  christlichen  Dorfkirchen  so 
gewaltig  waren,  dass  diese  Bauten  selbst  heute  noch 
den  Bedürfnissen  genügen  und  auch  auf  uns  durch 
ihre  vornehmen,  einfachen  Formen  einen  großartigen 
Eindruck  machen.“  Schon  bei  der  Entwicklung  des 
normannischen  Stils  machen  wir  die  eigentümliche 
Beobachtung,  dass  er  sich  nicht  lange  in  seiner 
strengen  und  ernsten  Formensprache  erhielt,  obwohl 
er  doch  in  England  der  alleinige  Kunstgebieter  war. 
Die  Konstruktion  der  Halle  wird  immer  kühner,  höher 
und  lichter,  die  Ornamentik  wird  immer  leichter, 
mannigfaltiger  und  gefälliger,  ohne  von  ihrem  geo¬ 
metrischen  Grundsatz  abzuweichen.  Ist  diese  all¬ 
mähliche  Stilwandlung  aus  der  Verschmelzung  der 
Eroberer  mit  den  Angelsachsen  oder  aus  dem  Gefühl 
der  Eroberer,  dass  sie  nunmehr  aus  den  kriege¬ 
rischen  Verteidigern  frohe,  genießende  Besitzer  ge¬ 
worden  sind,  zu  erklären?  Oder  hat  nur  die  Unter¬ 
nehmungslust  und  die  Wandelbarkeit  der  Bauleute 
und  Steinmetzen  die  Neuerungen  herbeigeführt? 
Das  sind  Fragen,  die  sich  bei  unserem  heutigen 
Wissen  nicht  beantworten  lassen.  Die  Baudenkmäler 
zeigen  uns  nur  die  Thatsache  der  Wandlungen,  nicht 
ihre  Ursache.  Zu  welcher  Kühnheit  sich  aber  von 
der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  ab  der  anfangs  ge¬ 
drungene,  hauptsächlich  die  Horizontale  betonende 
normannische  Baustil  schließlich  entwickelte,  zeigt 
besonders  das  Innere  der  Kathedralen  von  Durham 
und  Peterborough  und  die  der  ersteren  vorgebaute, 
frühere  Eingangshalle,  die  sogenannte  „Galilaea“ 
(s.  Abbildung  1).  Die  letztere  und  das  Innere  von 
Peterborough  stammen  etwa  aus  derselben  Zeit,  aus 
dem  letzten  Viertel  des  12.  Jahrhunderts  und  zeigen 
in  den  Hauptformen  wie  in  den  Details  der  schon 
beinahe  elegant  gewordenen  Ornamentik  eine  so  enge 
Stilverwandtschaft,  dass  man  sie  demselben  Meister 
oder  doch  derselben  Bauhütte  zuschreiben  möchte. 


Auch  die  sogenannte  „Galilaea“  ist  eine  specifisch 
englische  Erscheinung,  die  sonst  in  keiner  andern 
Baukunst  der  Welt  vorkommt.  Der  rätselhafte  Name 
und  der  eigentliche  Zweck  dieser  Annexbauten  ist  bis 
heute  noch  nicht  aufgeklärt  worden.  Sind  es  Bau¬ 
werke  für  die  Zwecke  der  Leichenbestattung,  eine 
Art  von  Purgatorien  vor  dem  Allerheiligsten  gewesen 
oder  haben  sie,  wenigstens  in  den  oberen  Stock¬ 
werken,  etwa  wie  unsere  Sakristeien  zur  Vorbereitung 
für  Beichtkinder  gedient? 

Da  mit  dem  Hereinbrechen  des  gotischen  Stils 
aus  Frankreich  die  neue  Kunst  vornehmlich  an  dem 
Äußeren  der  großen  normannischen  Kathedralen  ge¬ 
übt  wurde,  weil  das  geräumige  Innere  mit  seinen 
mächtigen  Hallen  vorerst  noch  den  Bedürfnissen  ge¬ 
nügte,  haben  sich  nur  geringe  Spuren  erhalten,  die 
einen  zudem  noch  unsicheren  Schluss  auf  die  ur¬ 
sprüngliche  äußere  Gestalt  dieser  Bauwerke  erlauben. 
Von  selbständigen  Bauwerken  sind  nur  einige  kleine 
Kirchen  übrig  geblieben,  von  denen  die  in  Jfley  in 
Oxfordshire  die  an  äußerem  Zierrat  reichste  und 
auch  insofern  interessanteste  ist,  als  sie  uns  eine 
Vorstellung  von  der  Anlage  der  normannischen 
Türme  in  England  gewährt,  die  bei  den  großen 
Kathedralen  zum  Teil  eingestürzt  und  durch  andere 
ersetzt,  zum  Teil  stark  oder  völlig  umgestaltet 
worden  sind.  ')  Auch  das  berühmte  Treppenhaus  an 
der  Kathedrale  zu  Canterbury,  das  früher  als  Ein¬ 
gang  zu  der  Klosterherberge  diente,  gehört  zu  den 
wenigen,  noch  vollständig  und  rein  erhaltenen  Bau¬ 
werken  aus  normannischer  Zeit. 

An  die  Kathedrale  von  Canterbury  knüpft  sich, 
wie  bekannt,  der  Beginn  der  gotischen  Bauweise 
in  England.  Es  ist  geradezu  rätselhaft,  wie  dieser 
neue  Stil  zu  einer  Zeit,  wo  die  normannische  Bau¬ 
art  zur  höchsten  Kraft-  und  Glanzentfaltung  gediehen 
war,  feste  Wurzeln  fassen  und  sich  mit  solcher 
Schnelligkeit  verbreiten  konnte,  wie  es  geschehen 
ist.  Hängt  diese  Wandlung  vielleicht  mit  der  der 
politischen  Verhältnisse  Englands  zusammen,  mit 
dem  Übergang  der  Königsherrschaft  an  das  Haus 
Anjou-Plantagenet  (1154)?  Denn  obwohl  die  Über¬ 
lieferung  den  Franzosen  Wilhelm  von  Sens,  der 
1 174  den  Wiederaufbau  der  Kathedrale  von  Canter¬ 
bury  begann,  als  den  ersten  Apostel  der  neuen 
Baulehre  bezeichnet,  kommen,  wie  Uhde  hervorhebt, 
Spitzbögen,  also  das  Charakteristikum  des  danach 

1)  Dazu  gehören  auch  die  aus  der  letzten  Zeit  der  nor¬ 
mannischen  Bauperiode  stammenden  Türme  auf  den  Kreuz¬ 
armen  der  Kathedrale  von  Exeter,  deren  oberer  Abschluss 
völlig  modernisirt  worden  ist. 


Abb.  4.  Iiing’s  College-Kapelle  in  Cambridge.  Erbaut  von  1440—  1530. 


288 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


benannten  Lancetstils,  vereinzelt  schon  früher  vor. 
Es  ist  also  naheliegend,  dass  mit  dem  Übergänge  des 
englischen  Throns  an  die  Plantagenets  französische 
Baumeister  und  Werkleute  mehr  und  mehr  ins  Land 
gekommen  sind  und  allmählich  den  Sieg  über  die 
normannische  Bauweise  davon  getragen  haben.  Dass 
aus  ihrer  Zahl  gerade  Wilhelm  von  Sens  namentlich 
hervorgehoben  wird,  erklärt  sich  leicht  und  natür¬ 
lich  aus  dem  Umstande,  dass  der  Chor  der  Kathe¬ 
drale  von  Canterbury  das  erste  Bauwerk  ist,  das 
ganz  und  gar  in  dem  neuen  Stile  ausgeführt  worden 
ist.  Streng  genommen  ist  es  freilich  auch  kein 
selbständiges  Bauwerk,  und  so  war  noch  ein  Menschen¬ 
alter  hindurch  nach  der  Vollendung  des  Chors  von 
Canterbury  alles,  was  die  Zeichen  des  gotischen 
Stils  an  sich  trägt,  Stück-  und  Flickwerk. 

Das  erste  selbständige  Werk,  das  von  Grund 
aus  in  den  Formen  der  Gotik  aufgeführt  worden 
ist,  war  die  Kathedrale  von  Salisbury,  deren  Bau 
um  1220  begonnen  wurde.  Uhde  rühmt  in  seinem 
Texte  besonders  den  „reich  gegliederten  Grundriss“, 
der  „im  schönsten  Einklang  mit  dem  Aufbau  und 
dem  Innern“  stehe.  Er  hat  dabei  nur  übersehen, 
dass  gerade  die  Kathedrale  von  Salisbury  am  meisten 
durch  James  Wyatt  (1748 — 1813)  verunstaltet  wor¬ 
den  ist,  der  seine  Restaurationswut  außerdem  noch 
an  den  Kathedralen  von  Durham,  Hereford,  Lincoln 
und  vielleicht  noch  an  anderen  ausgelassen  hat.  Die 
englischen  Lokalforscher  halten  mit  den  Ausdrücken 
stärkster  Entrüstung  über  die  Barbarei  Wyatts  nicht 
zurück.  So  schreibt  z.  B.  King  in  seinem  Führer 
durch  die  englischen  Kathedralen  über  die  Thät.ig- 
keit  Wyatts  in  und  an  der  Kathedrale  von  Salisbury: 
„Er  fegte  Wandbekleidungen,  Kapellen  und  Portale 
hinweg,  er  entweihte  und  zerstörte  die  Gräber  von 
Kriegern  und  Prälaten,  überschmierte  alte  Wand¬ 
gemälde,  ließ  ganze  Wagenladungen  mit  bemalten 
Glasscheiben  in  den  Stadtgraben  werfen  und  machte 
den  gleichzeitig  mit  der  Kathedrale  entstandenen 
Glockenturm,  welcher  sich  an  der  Nordseite  des 
Kirchhofs  erhob,  dem  Erdboden  gleich.“  Diese 
Thatsaehen  wird  der  Kunstforscher  zu  berücksichtigen 
haben,  der  sich  einmal  gründlich  mit  dem  Studium 
der  englischen  Architektur  beschäftigen  will,  wozu 
die  Publikation  Ulide’s  vielleicht  die  Anregung  geben 
wird.  Die  Bemerkung  King’s  deutet  auch  auf 
Wandmalereien  hin,  von  denen  unseres  Wissens  bis 
jetzt  noch  keine  Spuren  entdeckt  worden  sind.  Auch 
Uhde  weiß  nichts  davon,  da  er  nur  von  den  „pracht¬ 
vollen  farbigen  Glasmalereien“  spricht,  deren  sich 
trotz  der  Zerstörungssucht  des  18.  Jahrhunderts  viele 


erhalten  haben.  Hier  kann  also  schon  der  Forscher 
einsetzen  und  uns  vielleicht  die  Lücke  in  unserer 
Kenntnis  englischer  Kunstentwicklung  ausfüllen,  die 
sich  bis  jetzt  allein  auf  die  Werke  der  Baukunst 
und  Plastik  stützt. 

Ancli  über  die  Entwicklung  der  englischen 
Plastik,  namentlich  über  ihre  Anfänge,  sind  wir 
noch  im  Unklaren.  Wie  war  es  möglich,  dass  schon 
hundert  Jahre  nach  Einführung  des  gotischen  Stils 
in  England  eine  so  prachtvolle,  mit  einem  unüber¬ 
sehbaren  Reichtum  von  Figuren  geschmückte  Fassade, 
wie  die  Westfront  der  Kathedrale  von  Lichfield  (s. 
Abbildung  2)  ausgeführt  werden  konnte?  In  welcher 
Schule  sind  die  dazu  nötigen  künstlerischen  Kräfte 
ausgebildet  worden?  Und  hier  hat  die  dekorative 
Plastik  des  gotischen  Stils  in  England  noch  lange 
nicht  ihr  Höchstes  geleistet.  Das  glänzende  Schau¬ 
stück  der  Kathedrale  von  Lichfield,  die  sonst  durch 
ihr  Trifolium  von  wohl  erhaltenen  Spitztürmen  unter 
ihren  Schwestern  einzig  dasteht,  wird  noch  durch 
die  „Bilderwände“  an  den  Kathedralen  von  Lincoln 
und  Exeter  übertroffen.  Bei  diesem  ungeheueren 
Aufwand  an  bildnerischen  Zierraten,  die  im  Inneren 
der  Kathedralen  noch  massenhafter  und  prunkvoller 
auftreten,  möchte  man  doch  —  bis  auf  weiteres  — 
die  Behauptung  aufstellen,  dass  die  Malerei  in  der 
englischen  Kunst  des  Mittelalters  die  letzte  Rolle  ge- 
spielt  hat.  Der  Bedarf  an  malerischer  Wirkung  war 
eigentlich  durch  die  Architektur  und  die  mit  ihr  so 
eng  wie  nirgends  verbundene  Plastik  vollkommen 
gedeckt,  zumal  wenn  sie  noch  die  Mitwirkung  der 
Glasmalerei  hinzuziehen  konnte.  Betrachtet  man 
z.  B.  das  Innere  des  Kreuzganges  der  Kathedrale 
von  Gloucester  (s.  Abbildung  3)  und  der  King’s 
College- Kapelle  in  Cambridge  (s.  Abbildung  4),  so 
wird  man  schwerlich  Wandflächen  entdecken,  auf 
denen  sich  die  monumentale  oder  dekorative  Malerei 
wie  in  unseren  romanischen  und  gotischen  Kirchen 
entfalten  und  zu  charaktervoller  Erscheinung  erheben 
konnte. 

Der  Kreuzgang  von  Gloucester  ist  ein  Markstein 
in  der  Entwicklung  der  englischen  Gotik.  Während 
der  um  fünfzig  Jahre  ältere  Kreuzgang  an  der 
Kathedrale  von  Salisbury  nur  ein  einfaches  Kreuz¬ 
gewölbe  mit  freilich  reich  profilirten  Rippen  der 
völlig  leeren,  vielleicht  aber  ursprünglich  bemalten 
Kappen  zeigt,  treten  in  dem  Kreuzgang  von  Glou¬ 
cester,  soweit  wir  aus  dem  uns  bekannten  Denkmäler¬ 
vorrat  ermitteln  können,  zum  erstenmale  die  für 
die  englische  Gotik  charakteristischen ,  wiederum 
nirgendwo  anders  vorkommenden  Fächergewölbe  auf 


Abb.  5.  Halle  des  Middle -Temple  in  London.  Erbaut  1572. 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  n. 


38 


290 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


und  zwar  sogleich  in  solchem  Reichtum,  mit  einer 
solchen  ihres  Zieles  bewussten  Sicherheit  und  Kühn¬ 
heit  der  Konstruktion,  dass  hier  nicht  ein  erster 
Versuch  vorliegen  kann ,  sondern  bereits  ein  Höhe¬ 
punkt  einer  Reihe  von  Entwicklungen.  Die  Vorstufen 
fehlen  uns,  vielleicht  weil  sie  durch  unverständige 
Restauration  beseitigt  worden  sind.  Wir  stehen  hier 
bereits  einer  in  sich  abgeschlossenen  Erscheinung 
gegenüber,  die  kaum  noch  zu  größerer  Mannigfaltig¬ 
keit  und  Kühnheit  gesteigert  werden  kann.  Aus 
welcher  vorwärts  drängenden  Regung  des  Kunst¬ 
triebes  oder  aus  welchem  Zweckmäßigkeitsbedürfnis 
mag  nun  aber  das  fast  gewaltsame  Hineindringen  der 
dekorativen  Plastik  in  das  strenge  Gefüge  der  Kon¬ 
struktion  erwachsen  sein?  Ist  die  mittelalterliche 
Malerei  in  England  wirklich  so  weit  hinter  den 
Schwesterkünsten  zurückgeblieben,  dass  die  pla¬ 
stische  Dekoration  an  ihre  Stelle  treten  musste? 
Bei  dem  Mangel  an  Überresten  ist  uns  eine  Ent¬ 
scheidung  dieser  Frage  so  lange  versagt,  bis  der 
Zufall  etwa  noch  unter  der  Tünche  versteckte 
Malereien  an  das  Licht  bringen  wird.  Eine  be¬ 
kannte  Thatsache  scheint  aber  doch  dafür  zu  sprechen, 
dass  die  englische  Malerei  im  Mittelalter  neben  der 
Architektur  und  der  mit  ihr  verbundenen  und  ihr 
dienenden  Plastik  eine  untergeordnete  Rolle  gespielt 
haben  muss.  Denn  nur  aus  dieser  niedrigen  Stellung 
der  englischen  Malerei  erklärt  es  sich,  dass  ein  un¬ 
bekannter  deutscher  Maler,  der  von  Basel  nach 
London  wanderte,  verhältnismäßig  schnell  in  der 
britischen  Hauptstadt  festen  Fuß  fassen  und  sogar 
bis  zum  Range  eines  Hofmalers  kommen  konnte, 
dass  Niederländer  und  Deutsche  nach  Holbein  - — 
wir  erinnern  nur  an  van  Dyck,  Vorsterman,  Peter 
Lely,  Wenzel  ILollar  —  noch  größere  Erfolge  er¬ 
zielten  und  dass  ihre  Nachahmer  noch  bis  tief  in  das 
18.  Jahrhundert  hinein  das  Feld  beherrschten,  bis 
endlich  die  Anfänge  einer  wirklich  englischen  d.  h. 
aus  dem  Volkscharakter  erwachsenen  Malerei  durch 
Hogarth ,  Reynolds,  Gainsborough  u.  a.  begründet 
wurden. 

Nachdem  nun  einmal  die  dekorative  Plastik  an 
die  Stelle  der  monumentalen  oder  dekorativen  Malerei 
getreten  war,  wuchs  ihr  mit  den  Erfolgen  die  Kraft. 


Was  bei  einem  niedrigen  Kreuzgang  möglich  war, 
musste  auch  bei  hohen  Kirchenschiffen  möglich 
werden.  So  stieg  allmählich  diese  Fächerdekoration 
immer  höher  hinauf  bis  zu  den  Scheitelpunkten  der 
höchsten  Gewölbe.  In  der  Kapelle  des  King’s  College  in 
Cambridge  hat  das  Fächergewölbe  im  Gegensatz  zu  der 
frischen  Ursprünglichkeit  und  naiven  Wildheit  des 
Gloucester-Kreuzgangs  bereits  eine  etwas  nüchterne 
Regelmäßigkeit,  ein  gesetztes  berechnetes  Wesen  an¬ 
genommen.  Zwischen  beiden  Bauwerken  liegt  freilich 
ein  volles  Jahrhundert.  Der  Kreuzgang  von  Gloucester 
kam  um  1410  zum  Abschluss,  während  die  Kapelle  in 
Cambridge  erst  um  1530,  unter  Heinrich  VIII.  vollendet 
wurde.  Zwischen  diesen  beiden  Bauwerken  liegt  die 
Kapelle  Heinrich’s  VII.  an  der  Westminsterabtei  in 
London,  die  in  der  Zeit  von  1502 — 1520  entstanden 
ist.  In  ihr  hat  dieser  eigentümliche  Stil  phantastischer 
Innendekoration  die  üppigsten  Blüten  getrieben.  Die 
Stilpedanten ,  die  zu  ihrer  Bequemlichkeit  an  dem 
alten  Einteilungsprinzip  festhalten  wollen  und  oft 
genug  auch  festhalten  müssen,  um  wenigstens  für 
Lehre  und  Unterweisung  durch  Schrift  und  Wort 
ein  System  aufzustellen,  haben  gerade  an  diesen 
letzten  Trieben  englischer  Gotik  schweres  Ärgernis 
genommen.  Dem  modernen  Kunstforscher,  der  viel 
gesehen  und  mit  Hilfe  des  reichen  photographischen 
Materials  unserer  Tage  zu  vergleichen  gelernt  hat, 
und  ebenso  auch  dem  scharfblickenden  Kunstfreunde 
wird  es  dagegen  offenbar  werden,  dass  der  so¬ 
genannte  „Tudorstil“  die  höchste  und  reifste  Ent¬ 
wicklung  der  englischen  Gotik  ist,  dass  sie  sich 
erst  darin  nach  den  unbeholfenen  und  nüchternen 
Produkten  des  sogenannten  „Early  English“  zu 
nationaler  Selbständigkeit  erhoben  hat;  und  darum 
hat  auch  der  Tudorstil  in  England  noch  geherrscht,  als 
andere  Länder  bereits  der  Renaissance  alle  Thüren 
geöffnet  hatten.  Sie  haben  sich  alle  von  der  Re¬ 
naissance  unterjochen  lassen.  Nur  in  England  haben 
die  nationalen  Elemente  immer  das  Übergewicht  ge¬ 
habt  und  sich  der  Renaissance  nur  soweit  anbequemt, 
als  die  Nationalität  der  Briten,  vor  allem  aber  die 
Gewohnheiten  ihres  Daseins  nicht  durch  den  neu¬ 
italienischen  Stil  beeinträchtigt  wurden. 

(Schluss  folgt.) 


Abb.  G.  Vorhalle  der  Marienkirche  in  Oxford.  Erbaut  1637. 


38 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 

YON  W.  P.  TTJCKERMANN. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


IE  schon  vorher  angedeutet  ist, 
teilen  sich  in  der  antiken  Kul¬ 
tur  in  ähnlicher  Weise  wie  bei 
den  Kategorien  der  Verehrungs¬ 
und  Weihebildwerke  auch  die 
Sockelbildungen  für  öffentliche 
Ehrendenkmäler  und  für  Werke 
eines  privaten  Kunstinteresses, 
zn  welchen  Porträtstatuen  und 
die  Bilder  der  öffentlich  bekannt  zu  machenden  Preis¬ 
kämpfer  gehören,  sowie  das  große  Gebiet  der  Genre¬ 
bildnerei. 

Was  die  Ehrendenkmäler  betrifft,  so  erscheint  die 
Auffindung  der  Nike  des  Paiouios  im  Heiligen  Tempel¬ 
bezirk  zu  Olympia  mit  dem  ihr  zugehörigen  Sockel, 
abgesehen  von  ihrer  sonstigen  Kunstbedeutung,  schon 
wegen  dieser  so  selten  vorkoramenden  Vollständigkeit 
bedeutsam!  Figur  10  zeigt  den  dreiseitigen  Pfeiler¬ 
sockel  in  den  Proportionen  einer  dorischen  Säule  mit 
einer  Höhe  von  etwa  5 1  ■>  oberen  Durchmessern,  während 
der  untere  Plinthos  sich  um  die  Hälfte  der  Kapitälplatte 
mit  einem  mächtigen  Ablaufgliede  erweitert.  Das  Ver¬ 
hältnis  der  Figur  zum  Sockel  beträgt  ein  Drittel,  in 
absoluten  Maßen  beträgt  die  Dreiecksseite  des  obersten 
Plinthos  1,10  m,  die  des  untersten  Plinthos  1,45  m,  die 
des  untersten  Sockelgliedes  1,95  m,  die  ganze  Höhe  des 
Standbildsockels  0,10  m  und  die  Höhe  der  Figur  ohne 
Flügel  2,10  m.  Die  ästhetische  Wirkung  dieser  Auf¬ 
stellung  ist  anerkanntermaßen  überraschend  großartig; 
von  einer  Höhe,  in  mehr  als  dreifacher  Menschengröße 
herabschwebend,  gewinnt  die  Statue  etwas  Überirdisches. 
Zu  dem  Schwung  ihres  wolkenartig  aufgebauschten  Ge¬ 
wandes  kontrastirt  sehr  glücklich  der  schlanke  drei¬ 
kantige  Unterbau,  so  dass  die  Kühnheit  zu  dem  Eindruck 
des  Erhabenen  hinzutritt.  Es  mag  archäologisch  darüber 
zu  streiten  sein,  ob  die  Nike  des  Paionios  mehr  ein 
Weihebild  oder  ein  Ehrendenkmal  gewesen  sei;  die  Auf¬ 
stellung  jedoch  auf  erhöhtem  Sockel  dürfte  nach  allem, 
was  die  Antike  aufweist,  ästhetisch  daran  keinen  Zweifel 


(Fortsetzung  und  Schluss.) 

lassen,  dass  der  Künstler  den  Effekt  des  Ehrendenkmales 
für  den  errungenen  Sieg  liervorbriugen  wollte. 

Auch  die  römischen  Ehrensäulen  bewegen  sich  in 
dem  gleichen  Kreise  eines  Formenausdruckes  von  kühn 
imponireuder  Silhouette,  ja  sie  sind  anerkanntermaßen 
typische  Lösungen  für  diese  Kunstaufgaben  geworden! 
Figur  11  zeigt  die  Trajanssäule  zu  Rom.  Diese  und 
die  Marcaurelssäule  ergeben  die  Aufstellung  des  Trium¬ 
phators  auf  einem  Säulensockel,  wie  bei  den  Adorations- 
bildwerken.  Die  vielfach  geäußerte  Ansicht,  dass  die 
Säulenform  sich  vielmehr  aus  der  Gewohnheit  entwickelt 
habe,  die  Bilder  des  Siegers  und  seiner  Kriegsthaten  auf 
hohen  Masten  und  Bannern  während  des  Triumphauf¬ 
zuges  umherzutragen,  erscheint  nur  durch  die  eigenartige 
bandförmige  Umwicklung  des  Säulenstammes  mit  den 
Reliefdarstellungen  gestützt,  für  die  Figurenaufstellung 
waren  jedoch  ältere,  mit  dem  Volksbewusstsein  für  Heroi- 
sirungsbildwerke  fest  verknüpfte  Kunstanschauungen 
vorhanden,  umsomehr,  da  Rom  bekanntlich  in  seiner 
künstlerischen  Bildung  von  Griechenland  abhängig  gewesen 
ist!  Rechnet  man  bei  der  Trajanssäule  zu  der  Größe 
der  Statue  die  Höhe  des  obersten  Bildwerksockels  hinzu, 
so  ergiebt  sich  die  Ähnlichkeit  dieser  Aufstellung  mit 
der  vorangeführten  Nike  ganz  deutlich,  denn  das  am 
Trajan  gefundene  Verhältnis  ergiebt  für  den  Säulen¬ 
sockel  zur  Statue  die  Proportion  von  4:1.  Hiernach 
kann  man  wohl  allgemein  annehmen,  dass  ein  hoher, 
schlanker  Pfeiler-  oder  Säulensockel  eines  statuarischen 
'Werkes  darauf  hin  deutet,  dass  es  sich  um  die  Anlage 
eines  Ehrendenkmals  handele,  oder  um  eine  Hero'isirungs- 
darstellung,  wie  ja  allgemein  die  obeliskenartige  Sil¬ 
houette  mit  dem  Eindruck  eines  Hinweises  auf  die  höheren 
Sphären,  auf  die  Gottheit  verbunden  ist. 

Man  wird  daher  nicht  fehlgehen,  wenn  man  im  An¬ 
schluss  an  diese  typische  Charakterisirung  der  Ehren¬ 
denkmale  auch  die  Reiterstatue  des  Agrippa,  welche 
auf  dem  noch  vorhandenen,  in  Figur  12  dargestellten 
Sockelunterbau  vor  den  Propyläen  der  Burg  Athen  stand, 
wegen  der  schlanken  Silhouette  desselben  in  die  gleiche 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


293 


Kategorie  hineinrechnet,  sodass  es  weniger  auf  die  deut¬ 
liche  Sichtbarmachung  der  Porträtähnlichkeit,  als  auf 
die  Charakteristik  der  Hero'isirimg  ankam.  Somit  wurde, 
was  für  die  moderne  Behandlung  der  Reiterstatuen  von 
Wichtigkeit  ist,  jegliche  realistische  Bezeichnung  der 
Situation  vermieden  und  das  ästhetische  Gefühl  mit  der 
an  sich  unnatürlichen  Aufstellung  eines  Reiters  auf  be¬ 
schränktem  Sockel  in  steiler  Höhe  versöhnt,  wogegen 
die  realistische  Durchführung  der  Reiterstatuen,  welche 
die  heutige  Zeit  fordert,  bei  ähnlicher  Aufstellung,  wie 
beispielsweise  bei  derjenigen  des  Königs  Friedrich  Wil¬ 
helm  IV.  auf  der  Treppe  der  National-Galerie  zu  Berlin, 
eine  solche  Situation  bedenklich  erscheinen  lässt.  Bei 
dem  erstgenannten  Falle  war  die  Ehrenstellung  der 
Statue  die  Hauptsache,  welche  die  Erhebung  auf  hohen 
Sockelunterbau  notwendig  machte,  bei  dem  letzteren 


für  dieses  Friedrichsdenkmal,  welche  aus  der  Publikation 
der  Schinkersehen  Bauwerke  ersichtlich  sind,  den  Ruhm 
zollen  müssen,  dass  sie  in  diesen  Grundgedanken  der 
Sockelbildung  stets  das  Richtige  trafen.  Aus  denselben 
Erwägungen  wird  auch  geurteilt  werden  können,  dass, 
wenn  es  sich  um  eine  Restauration  des  Sockels  der  Nike 
Samothrake  handelt,  welche  auf  einem  Schiffsschnabel 
stand,  unrichtig  ist,  dieselbe  auf  einen  niedrigen,  lang¬ 
gestreckten  Schiffsteil  als  Unterbau  zu  stellen,  wie  dies 
im  Berliner  Museum  zu  sehen  ist,  denn  ein  solches  un¬ 
zweifelhaft  als  Ehrendenkmal  komponirtes  Werk  konnte 
nur  auf  einem  Hochsockel  aufgestellt  werden,  gewisser¬ 
maßen  auf  einer  Columna  rostrata,  sodass  bei  der  so 
unvergleichlichen  Charakterisirungskunst  der  Hellenen 
durch  leicht  angedeutete  Attribute  —  man  denke  nur 
an  die  Adler -Fußplatte  der  Nike  des  Paionios  —  der 


Falle  jedoch  ist  die  realistische  Behandlung  des  Porträts 
und  der  Umgebung  Schuld,  dass  beim  Beschauer  sich 
Nebengedanken  über  diese  zu  nah  bestimmte  Situation 
aufdrängen  und  den  ästhetischen  Genuss  des  an  sich 
schönen  Werkes  beeinträchtigen. 

Aus  den  gleichen  Erwägungen  begründet  sich  auch 
das  zum  Anfang  mitgeteilte  abfällige  Urteil  bei  M.  Carriere 
über  den  Sockel  der  Reiterstatue  Friedrich  des  Großen 
in  Berlin.  Die  Komposition  bewegt  sich  nämlich  hierbei 
in  einer  unentschiedenen  Halbheit  zwischen  einem  Hoch- 
und  einem  Niedrig- Sockel,  sie  nimmt  den  Anlauf,  eine 
Hero'isirungssilhouette  aufzubauen  und  wird  doch  wieder 
durch  praktische  Bedenken  der  Porträtdarstellung  zu 
dem  niedrigen  Bathron  der  Statuen  aus  dem  Bereiche 
des  persönlichen  und  privaten  Interesses  zurückgedrängt. 
Dagegen  wird  man  den  bekannten  Kompositionen  Schinkels 


Schiffsschnabel  vermutlich  nur  in  untergeordneter  Weise 
behandelt  war. 

Für  die  statuarischen  Werke  des  privaten  Interesses, 
die  dritte  vorgenannte  Kategorie,  ist,  wiederum  ähnlich 
den  Weihebildwerken,  in  der  Antike  der  niedrige  Sockel 
zur  Aufstellung  verwandt  worden.  Es  ist  ein  großes 
Gebiet  von  Fundstücken,  welches  hierher  gehört,  und 
doch  ist  wenig  nur  in  seiner  Vollständigkeit  mit  dem 
zugehörigen  Sockel  vorhanden.  Man  würde  glauben,  dass 
Pompeji  reichliche  Ausbeute  liefern  müsste,  wie  auch 
Overbeck  in  seinem  Werk  über  Pompeji  sich  äußert:  „Von 
dem  überschwänglichen  Reichtum  der  Alten  an  plastischen 
Kunstwerken  ist  es  uns  an  Plastik  armen  Modernen 
kaum  möglich,  uns  eine  selbst  nur  annähernde  Vor¬ 
stellung  zu  machen,  mögen  wir  auch  von  so  und  so 
vielen  Hunderten,  oder  selbst  Tausenden  von  Gruppen 


294 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


und  Statuen  lesen,  die  sich  an  einem  Orte  befinden,  die 
eine  Stadt,  ein  Tempelbezirk,  wie  die  Altis  Olympia’s, 
umfasste.  Auf  einem  anderen  Wege  jedoch  können  wir 
leicht  zu  einer  Anschauung  des  plastischen  Reichtums 
der  Alten  gelangen,  indem  wir  uns  nämlich  die  Orte 
vergegenwärtigen,  welche  sie  mit  Statuen  zierten,  in¬ 
dem  wir  die  Veranlassungen,  plastische  Kunstwerke 
aufzustellen,  erwägen.  Erinnern  wir  uns  der  Tempel 
mit  den  Haupt-  und  Nebenbildern  des  Kultus,  in  der 
Zelle  und  ihren  Kapellen,  mit  den  Weihebildern  reli¬ 
giösen,  historischen  und  individuellen  Gegenstandes,  im 
Pronaos,  in  den  Intercolumnien  des  Umganges,  in  Peri- 
bolos  und  Posticum,  denken  wir  an  die  Märkte  und 
Hallen  mit  ihren  Ehrenstatuen  berühmter  oder  ver¬ 
dienter  Bürger,  an  die  Theater  mit  ihren  Dichterstatuen, 
die  Orte  der  Festkämpfe  mit  den  Ehrenstatuen  der 
Sieger  in  langen  Reihen,  aus  verschiedenen  Jahrhun¬ 
derten,  an  die  Hallen  in  den  Wohnungen  mit  heiligen 
und  profanen  Bildhauerwerken,  an  die  Gymnasien,  an 
die  Straßen,  an  die  Brunnen,  die  Gräber,  so  haben  wir 
freilich  noch  lange  nicht  alle  Orte  genannt,  welche 
im  Statuenschmuck,  um  nur  von  diesem  zu  reden, 
prangten.“ 

Mit  der  Plünderung  Korinths  beginnt  die  Wande¬ 
rung  der  hellenischen  Kunstwerke  nach  Rom,  wo  na¬ 
mentlich  in  der  Kaiserzeit  die  neue  Programmbestimmung 
zur  Aufstellung  dieser  plastischen  Werke  auftritt,  Kunst¬ 
sammlungen  anzulegen,  bei  denen  es  sich,  mochten  sie 
die  Gärten  oder  die  Säle  schmücken,  stets  um  den  in¬ 
timsten  Kunstgenuss,  um  das  Schauen  aus  der  Nähe 
handelt,  wie  unter  den  modernen  Verhältnissen.  Somit 
bildet  sich  über  Rom  die  Verallgemeinerung  des  Be¬ 
dürfnisses  für  profane  Kunstwerke,  deren  Programm  zu 
den  heutigen  Anforderungen  hinüberleitet.  Alle  diese 
Werke  des  privaten  Interesses,  mögen  sie  zu  den  Cha¬ 
rakterbildern,  zum  Genre,  zum  Tierstück,  oder  zum 
Porträt,  in  Statuen-,  Hermen-  oder  Büstenform  gehören, 
verlangen  den  niedrig  gehaltenen  Sockel,  ein  Bathron, 
welches  auf  etwa  !/3  der  Höhe  des  Bildwerkes,  nach  dem 
absoluten  Maßstab  jedoch  meistens  nicht  über  80  cm, 
über  Tischhöhe,  bemessen  ist. 

Ein  interessantes  Beispiel  bietet  hierfür  aus  den 
Ruinen  von  Pompeji  die  Statue  der  Eumachia,  welche 
in  dem  gleichnamigen,  1821  ausgegrabenen  und  am  Forum 
gelegenen  großen  Gebäude  steht.  Aus  dem  Hofe  gelangt 
man  daselbst  vor  die  große  Nische  im  Hintergründe  des 
Sä  ulenganges,  in  welcher  die  Statue  der  Pietas  stand. 
Hinter  ihr.  im  Hintergrund  des  ganzen  Baues  stand  die 
Statue  der  Stifterin  des  Baues,  die  Eumachia  (Fig.  13). 
Bei  dieser  Porträtstatue  hat  der  Sockel  zum  Bildnis 
das  Verhältnis  1:  2  J/2 ,  wobei  die  Augenhöhe  des  Be¬ 
schauers  etwa  auf  die  Kniegegend  fällt,  bei  einer  Ab- 
soluthöhe  des  Sockels  von  rot.  70  cm.  Noch  lehrreicher  ist 
die  Abbildung  der  Statue  eines  Faustkämpfers  auf  einem 
Fußbodenmosaik  in  Herculanum  (Fig.  14),  bei  welchem 


der  Sockel  nur  */4  der  Figurenhöhe  misst,  wobei  augen¬ 
scheinlich  durch  die  niedrige  Aufstellung  die  Kraft  der 
Arme,  der  Brust  und  Lenden  gegenüber  den  weniger 
interessanten  Teilen  der  Unterschenkel  bis  zum  Knie 
dem  Beschauer  überwältigend  vorgeführt  werden  sollte. 
Auch  die  im  Altertum  sehr  beliebte  Lösung  der  Porträt¬ 
statue  in  Hermenform  ist  in  Pompeji  reichlich  vertreten. 
Gewöhnlich  besteht  dieselbe,  wie  Figur  15  zeigt,  aus 
einer  Büste,  welche  auf  einem  viereckigen,  nach  unten 
verjüngten  Pfeiler  in  den  Verhältnissen  des  zu  der  Büste 
passenden  Körpers  aufgestellt  ist.  Diese  Form  war  im 
ganzen  Altertum  um  so  mehr  beliebt,  als  durch  die 
nebensächliche  Behandlung  des  Unterbaues  das  Interesse 
allein  dem  Kopfe  zu  gute  kommt,  welcher  überdies  ent¬ 
weder  ganz  in  die  Augenhöhe  des  Beschauers  gerückt 
ist,  oder  doch  nur  ein  wenig  darüber.  Aber  auch  mit 
einem  angeführteren  Sockel  sind  eigenartige  Hermen- 
biisten  in  Pompeji  vorhanden,  welche  ästhetisch  durch¬ 
aus  befriedigend  wirken.  So  zeigt  Figur  16  eine  Herme 
aus  dem  Venustempel  mit  Darstellung  des  Körpers  bis 
zur  Hüfte,  mit  vollem  Gewand  und  sogar  mit  voller 
Aktion  der  Arme.  Wenn  aber,  wie  es  gleichfalls  in 
Pompeji  vorkommt,  die  Herme  genreartig  in  lebendige 
Beziehung  zu  umgebenden  Figuren  gesetzt  wird,  erhält 
die  Herme,  wie  zum  Beispiel  in  Figur  17  nach  einem 
Wandgemälde  in  Pompeji,  ein  eigenes  niedriges  Bathron. 
Nicht  immer  verbindet  sich  die  Porträtbüste  mit  einem 
Hermenpfeiler,  als  dem  zugehörigen  Sockel,  die  Büste 
soll  auch  in  der  Innenarchitektur  des  Hauses  eingefügt 
werden  und  erhält  dann  als  Bruststück  die  Form  des 
verjüngten  Hermenkörpers  (Fig.  17),  ähnlich  unsern 
heutigen  Brustbildern. 

Unendlich  groß  ist  ferner  aus  dem  Gebiet  antiker 
statuarischer  Fundstücke  die  Zahl  der  Zierfigiirchen 
(Nippes).  Da  von  diesen  kleinen  Bildwerken  der  Plastik 
in  Thon,  Erz  und  verschiedenen  anderen  Stoffen  bei 
einer  festen  Verbindung  des  Bildes  mit  dem  ganzen 
Sockel  viel  Vollständiges  erhalten  ist,  so  wird  auch 
hieraus,  wenngleich  die  Programmbestimmung  für  die¬ 
selben  besondere  Bedingungen,  namentlich  die  der  leichten 
Beweglichkeit  verlangt,  die  Frage  der  Sockelbildung 
statuarischer  Werke  ihre  Beleuchtung  erhalten.  Figur  19 
zeigt  eine  Reihe  dieser  Formen,  wie  dieselben  auch  heute 
noch  üblich  sind,  niedrige  Bänkchen  von  kubischer,  cy- 
lindrischer  oder  kegelförmiger,  verjüngter  Gestalt.  Wenn¬ 
gleich  nach  den  vorangegangenen  Betrachtungen  über 
die  in  der  Antike  vorkommenden  Sockelbildungen  wieder- 
holentlich  beklagt  werden  musste,  dass  verhältnismäßig 
so  wenig  vollständige  Aufstellungen  erhalten  seien,  ver¬ 
mutlich  weil  die  großen  Sockelstücke  in  späteren  Zeiten 
der  Verwüstung  zuerst  zu  einer  anderweitigenVerwendung 
gelangten,  so  konnte  doch  der  ganze  Kreis  der  ver¬ 
schiedenen  plastischen  Bildungen  mit  Beispielen  belegt 
werden,  um  von  dieser  unvergleichlichen  Schule  auch  der 
modernen  Kunstthätigkeit  einen  vollständigen  Lehrmittel- 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


295 


apparat  darzubieten.  Erst  das  16.  Jahrhundert  unserer 
Zeitrechnung  sah  sodann  wieder  die  erste  große  Samm¬ 
lung  antiker  Statuen  für  die  namentlich  unter  Papst 
Julius  II.  gesammelten  Ausgrabungen,  das  jetzige  Museo 
Pio  Clementino  im  Vatikan,  in  welchem  die  reichliche 
Fülle  der  gleichfalls  gefundenen  und  ausgegrabenen 
marmornen  Altarsockel,  Kandelaberbasen,  Säulen  stücke, 
Grabdenkmäler  und  Sarkophage  Veranlassung  bot,  die¬ 
selben  als  Untersätze  der  statuarischen  Werke  zu  ver¬ 
wenden.  Trotz  des  Notbehelfs  ist  hierin  mit  vorzüg¬ 
lichem  Kunstgeschmack  verfahren  und  trotz  der  Überfülle 
von  Ausstellungsgegenständen  ein  ästhetisch  befriedigen¬ 
der  Eindruck  der  Ausstellungsräume  gewahrt  worden, 
sehr  zum  Unterschied  von  den  neueren  Sammlungen  an¬ 
tiker  Torsos  in  Frankreich,  England  und  Deutschland, 
wo  häufig,  beispielsweise  im  Berliner  Museum,  neben 
der  Überladung  der  gedrückten,  niedrigen  Räume,  die 
Aufstellungen  an  dem  Fehler  zu  hoher  Sockel  leiden. 
Allerdings  waren  bei  jener  ersten  Einrichtung  der  va¬ 
tikanischen  Sammlung  die  größten  Künstler  der  italie¬ 
nischen  Renaissancezeit  thätig.  So  ward  1588  Michel 
Angelo  vom  Papst  Paul  III.  auch  beauftragt,  die  bronzene 
Reiterstatue  des  Marc  Aurel  auf  einem  neuen  Sockel 
aufzurichten,  was  dieser  große  Künstler  in  einer  für 
alle  Zeit  mustergültigen  Weise  gelöst  hat,  wie  in  Fig.  20 
angedeutet  ist.  Michel  Angelo  hat  hierbei  den  Kapitols¬ 
platz,  in  dessen  Mitte  er  den  Marc  Aurel  aufstellte,  mit 
der  engeren  und  weiteren  Umgebung  zu  einem  harmonischen 
Gesamtbilde  vereinigt,  so  kunstvoll,  dass  der  Blick 
des  Beschauers  sowohl  für  die  Nähe,  wie  auch  für  die 
Ferne  den  richtigen  Standpunkt  findet.  Wer  sich  nahe 
aufstellt,  findet  sein  Auge  in  der  Höhe  der  Sockelinschrift 
und  der  Widmung,  kann  jedoch  das  Detail  in  einer  voll¬ 
kommenen  Weise  genießen.  Wer  dagegen  einen  weiteren 
Standpunkt  zur  Aufnahme  des  Totaleffektes  wünscht, 
findet  diesen  auf  dem  den  Platz  umrahmenden  erhöhten 
Stufenbau  der  Säulenhallen,  einerseits  des  Konservatoren- 
Palastes,  anderseits  des  Kapitolinischen  Museums.  Der 
so  überaus  einfach  komponirte  Sockel,  welcher  in  erster 
Linie  den  praktischen  Aufstellungszwecken  und  der  deut¬ 
lichen  Markirung  der  Widmungsinschrift  dient,  erfüllt 
aber  auch  alle  ästhetischen  Bedingungen  und  ist  so  voll¬ 
kommen  in  allen  Abmessungen  und  Verhältnissen  für 
den  Aufstellungsplatz  und  seine  Umgebung  hineinkom- 
ponirt,  dass  die  Figur  wie  in  einer  edelen  Schale  als 
Weihebild  dargeboten  erscheint  und  die  Betrachtung 
mit  stufenweis  gesteigertem  Interesse  sich  im  höchsten 
Genuss  auf  den  Mittelpunkt  der  Anlage,  die  Reiterfigur, 
lenkt.  Durch  die  schlichte  Einfachheit  des  Sockels, 
welcher  ohne  Attribute,  ohne  begleitende  Nebenfiguren, 
gleichsam  an  eine  geschäftsmäßige  Museumsaufstellung 
heranstreift,  ist  jedoch  für  den  Gesamteffekt  der  Statue 
die  Gefahr  vermieden,  dass  der  Beschauer  Bedenken  hege, 
ob  nicht  das  schreitende  Pferd  auf  diesem  engen  Sockel 
unsicher  stehe,  ob  nicht  die  erforderliche  statuarische 


Ruhe  gestört  sei.  In  der  That  ist  diese  Aufstellung 
tadellos  und  übertrifft  selbst  die  im  Eingang  dieser  Ab¬ 
handlung  gerühmte  Aufstellung  des  Großen  Kurfürsten 
von  Schlüter.  Gewiss  hatte  dieser  nicht  nur  für  seine 
Reiterfigur,  sondern  auch  für  die  Sockellösung  den  Marc 
Aurel  zum  Vorbild  genommen,  aber  die  Schwierigkeiten 
der  Aufstellung  auf  der  engbeschränkten  Brücke  konnten 
kaum  gelöst  werden,  da  ein  Ort  fortwährenden  Drängens 
und  Schiebens  des  eiligen  Publikums  keinen  weihevollen 
Genuss  aufkommen  lassen  wird.  Das  große  Geheimnis 
der  so  hoch  befriedigenden  Inscenirung  des  Marc  Aurel 
durch  Michel  Angelo  besteht  auch  nicht  darin,  dass  der¬ 
selbe  etwa  durch  das  gewählte  Verhältnis  des  Sockels 
zum  Reiterbild  =  1:2  sich  an  die  Vorbilder  der  Antike 
bei  Weihebildaufstellungen  eng  angelelmt  habe,  sondern 
darin,  dass  seine  allgemeine  künstlerische  Vollkommen¬ 
heit  ihn  befähigte,  die  Architektur  und  Plastik  in  einem 
malerisch  und  bedeutungsvoll  wirkenden  Gesamtbilde 
zu  vereinen,  wozu  bei  der  Aufstellung  auf  dem  Römischen 
Kapitolsplatz  noch  hinzukommt,  dass  dieser,  dem  geräusch¬ 
vollen  Wagenverkehr  entzogen,  an  sich  eine  weihevolle 
Stimmung  hervorruft,  ferner,  dass  in  der  gewählten 
Höhe  der  Aufstellung  eine  musterhafte  Beobachtung  aller 
Anforderungen  der  Optik  erreicht  ist,  während  die  noble 
Einfachheit  der  Formen  des  Sockels  sich  mit  der  Würde 
des  Ortes  und  der  allgemein  dem  römischen  Volke  po¬ 
pulär  verständlichen  Bedeutung  der  Marc-Aurel- Statue, 
als  einer  hervorragenden  Hinterlassenschaft  der  alten 
römischen  Kunst  und  der  alten  römischen  Herrlichkeit, 
aufs  glücklichste  verbindet. 

Dass  solche  günstigen  Effekte  auch  bei  einer  dia¬ 
metral  verschiedenartigen  Aufstellung,  bei  einem  Hoch¬ 
sockel,  erreicht  werden  können,  wird  Figur  21  das  Reiter¬ 
standbild  des  Condottiere  Bartolommeo  Colleoni  in  Venedig 
erweisen.  In  der  That  wird  ein  gleiches  Lob  aus  ähn¬ 
licher  Begründung  diesem  1485  von  Andrea  Verrocchio 
in  der  Form  einer  hochgestellten  Heroisirungsstatue  kom- 
ponirten  Werke  gezollt  werden  können.  Der  gesäulte 
und  in  reicher  Architektur  durchgeführte  Pfeilersockel 
hat  hier  sogar  das  doppelte  Höhenverhältnis  gegen  die 
Reiterstatue.  Wiederum  aber  baut  sich  das  in  seiner 
Silhouette  ebenso  einfach  wie  zielbewusst  komponirte 
Bildwerk  auf  dem  malerisch  gelegenen  Platz  von  San 
Giovanni  e  Paolo  mit  den  ihn  umgebenden  berühmten 
Bauwerken  so  harmonisch  und  gleichsam  natürlich  zu¬ 
sammengehörend  auf,  dass  eine  andere  glücklichere  Lö¬ 
sung  gar  nicht  denkbar  erscheint.  Für  den  höheren 
Standpunkt  der  Statue  ist  hier  wiederum  in  entsprechen¬ 
der  Behandlung  das  Detail  zutreffend  angepasst  und  ist 
in  der  Gesamthaltung  des  Reiters,  namentlich  in  seinem 
energischen  Sitz  im  Sattel,  in  seiner  gewaltigen  Zügel¬ 
führung,  in  seiner  Herrschaft  über  die  fast  übertriebene 
Kraft  des  Pferdes  ein  besonderes  Moment  der  Wirkung, 
selbst  für  einen  entfernter  stehenden  Beobachter  gefunden 
worden.  Trotz  seiner  Höhe,  welche  fast  turmartig 


296 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


wirkt,  denkt  gewiss  kein  Betrachter  bei  diesem  Reiter¬ 
in]  d  an  eine  gefahrvolle  Situation  des  Pferdes ,  sondern 
nur  daran,  dass  hier  ein  von  allem  realistischem  Bei¬ 
werk  freigehaltenes  Ehrenbild  komponirt  sei,  welches 
hoch  über  den  Markt-  und  Straßenverkehr  emporgehoben 
werden  musste.  Allerdings  ist  es,  wie  vorher  Michel 
Angelo,  kein  Geringerer  als  Verrocchio,  der  Lehrmeister 
eines  Lionardo  da  Vinci,  welchem  dieser  glückliche  Wurf 
gelang,  wiederum  entsprungen  der  hohen  Allgemein¬ 
bildung  des  Meisters,  welche  bekanntlich  der  italienischen 
Renaissancezeit,  namentlich  der  Frührenaissance  durch¬ 
weg  nachzurühmen  ist.  Der  Bildhauer  ist  hier  zugleich 
Architekt  und  fühlt  seine  Komposition  auch  als  Land¬ 
schaftsmaler,  er  stimmt  aus  seiner  klar  bewussten  Künstler¬ 
individualität  die  Komposition  für  Ort  und  Umgebung 
passend  ab  und  giebt  dem  Gesamteindruck  schon  durch 


bare  und  reiche  Lebendigkeit  in  der  Schilderung.  Sie 
setzt  ein  genaues  Naturstudium  voraus,  sie  verleiht  den 
Köpfen  und  Gestalten  ein  porträtartiges  Gepräge,  sie 
geht  auf  besonderen  Ausdruck,  verständliche  und  richtige 
Bewegungen  los  und  sammelt  gern  die  Einzelzüge  zu 
einem  geschlossenen  Charakter.“  Dagegen  ist  besonders 
in  der  äußeren  Erscheinung,  namentlich  in  der  ge¬ 
wählten  Silhouette  der  plastischen  Werke  mit  ihren 
Sockelbildungen  die  Renaissance  verhältnismäßig  wenig 
verschieden  von  der  Antike,  es  sind  dieselben  Haupt¬ 
formen,  das  niedrige  Bathron  und  die  hohe  Stele,  welche 
in  verschiedenen  Umformungen,  doch  im  Grundgedanken 
bei  beiden  gleichmäßig,  wiederkehren,  aber  der  die  antike 
Plastik  bis  in  die  spätere  Kaiserzeit  bedrückende  hie¬ 
ratische  und  sociale  Zwang  ist  in  der  Renaissance  einer 
vollen  Freiheit  des  Individuums  gewichen.  Allerdings 


große  Züge  und  charaktervolle  Behandlung  in  der  Auf¬ 
stellung  die  beabsichtigte  Wirkung.  So  verstärkt  zum 
Beispiel  den  Effekt  des  schroffen,  energischen,  rücksichts¬ 
losen.  kühnen  Wesens  eines  Condottiere,  wie  Colleoni 
war,  die  unvermittelte  schroffe  Höhenbewegung  desSockel- 
anfbaues,  dessen  kühn  aufstrebende  Tendenz  von  der 
den  Pfeiler  allein  schmückenden  Säulenstellung  vorzüg- 
lich  unterstützt  wird. 

Groß  ist  der  Unterschied  in  der  Auffassung  dieser 
Renaissancemeister  hinsichtlich  der  Aufstellung  ihrer 
statuarischen  Werke  von  den  antiken  Plastikern,  wie 
sich  auch  Anton  Springer  äußert:  „Nicht  die  Anlehnung 
an  die  Antike  ist  das  Neue,  was  durch  die  Renaissance  in 
die  Plastik  hineingebracht  wird.  Die  Antike  wird  vor¬ 
wiegend  ira  dekorativen  Beiwerk,  zuweilen  in  Gew.and- 
motiven  nachgeahrat.  Epochemachend  wirkt  die  unmittel¬ 


wird  ein  völlig  zutreffendes  Urteil  über  die  Entfaltung 
der  antiken  Plastik  und  ihre  bis  zur  realistischen  Wir¬ 
kung  hinneigende  Aufstellung  der  Gruppenwerke  erst 
durch  die  volle  Erforschung  der  Pergamenischen  Kunst¬ 
periode  gewonnen  werden,  scheinen  doch  bereits  die 
Attalos- Gruppen  auf  der  Burg  Athen  mit  ihrer  eigen¬ 
artigen  Aufstellung  eine  Schöpfung  ungehinderten,  in¬ 
dividuellen,  realistischen  Kunstgefühls  zu  sein  und  somit 
vielleicht  eine  Beschränkung  des  obigen  Urteils  zu  er¬ 
fordern.  Auf  niedrigem  Bathron  vor  der  inneren  Burg¬ 
mauer  waren  hier  durch  Nebeneinanderstellung  der 
einzelnen,  in  ihren  Plinthen  getrennt  gearbeiteten 
Figuren,  wie  man  wohl  nach  den  in  Pergamon  auf¬ 
gefundenen  Werken  urteilen  darf,  große  Effekte  einer 
freien  lebendigen  Gruppirung  erreicht,  welchen  die 
moderne  Zeit  nur  weniges  an  die  Seite  stellen  kann. 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


297 


Allerdings  erinnert  an  diese  Kompositionsweise  ein  be¬ 
rühmtes  Werk  der  Renaissancezeit,  das  Grabdenkmal 
des  Kaisers  Maximilian  I.  in  der  Hofkirche  zu  Innsbruck, 
welches  nur  leider  die  einheitliche  Hand  eines  durch¬ 
führenden  Meisters  vermissen  lässt,  denn  dasselbe  ist 
1583  vollendet,  teils  von  Abel  in  Köln,  teils  von  Colins 
aus  Mecheln,  teils  von  Peter  Yischer  und  anderen  fertig 
gestellt.  Den  Mittelpunkt  dieses  großartigen  Gruppen¬ 
werkes  bildet  ein  kolossaler,  etagenförmig  sich  auf¬ 
bauender  Marmorsarkophag,  auf  welchem  hoch  oben  der 
Kaiser  Maximilian  knieend  dargestellt  ist.  Zu  beiden 
Seiten  des  Sarkophages,  durch  die  Kirchengänge  getrennt, 
befinden  sich  die  Reihen  der  Leidtragenden,  als  Fackel¬ 
träger  gedacht.  Es  sind 
28  auf  niederen  getrenn¬ 
ten  Sockeln  über  einem 
durchgehenden  Bankett 
in  zwei  Reihen  neben¬ 
einander  aufgestellte 
Bronzefiguren,  über  Le¬ 
bensgröße  ,  welche  den 
Beschauer  ebensowohl 
durch  ihre  vorzügliche 
Ausführung,  wie  bei¬ 
spielsweise  Figur  22  der 
sogenannte  König  Ar¬ 
thur  von  England,  wie 
auch  anderseits  durch 
die  Eigenartigkeit  ihrer 
Aufstellung  fesseln ,  in 
langgestreckter  Reihen¬ 
entfaltung  zu  dem  Mittel¬ 
punkte  der  Komposition 
aufs  würdigste  vorberei¬ 
tend.  Wenn  nun  zwar 
die  Aufstellung  dieses 
Werkes  in  dem  halber¬ 
leuchteten  Kirchenschiff 
die  volle  Übersicht  der 
Gesamtkomposition  hin¬ 
dert,  so  ist  doch  soviel 
des  Einzelgenusses  geboten,  dass  man  von  den  gesteigerten 
Anforderungen,  welche  von  einem  frei  aufgestellten  Monu¬ 
ment  erwartet  werden,  gern  absieht.  Besonders  fesselt 
bekanntlich  die  Großartigkeit  der  den  Sockel  des  Sarkophag¬ 
aufbaues  bekleidenden  Marmorreliefs,  Scenen  aus  dem 
Leben  des  Kaisers  darstellend,  so  dass  nach  diesem 
Reichtum  des  Kunstgenusses  die  Einbildungskraft  für 
den  in  einem  mystischen  Halbdunkel  sich  verlierenden 
Gipfel  des  Monuments  kaum  noch  eine  weitere  Steige1 
rung  erwartet.  Somit  ist  in  der  Kunst  der  Aufstellung 
unter  einer  wohlgelungenen  Benutzung  der  eigentüm¬ 
lichen  Beleuchtungseffekte  des  Kirchenraums  nicht  allein 
das  Bedeutsame  und  vollendet  Schöne  zur  vollen  Geltung 
gebracht,  sondern  auch  die  Schwäche  der  Komposition 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  11. 


gemildert,  da  in  der  That  die  den  höchsten  Teil  des 
Sarkophages  beherrschende  Figur  des  Kaisers  nicht  auf 
der  gleichen  Höhe  der  künstlerischen  Ausführung  ver¬ 
bleibt.  Unter  dem  Gesamteindruck  des  Erhabenen  ist 
trotz  des  erstaunlichen  Reichtums  die  harmonische  Be¬ 
friedigung  des  ganzen  Werkes  gewahrt. 

Innerhalb  dieser  bisher  behandelten  Kategorie  von 
Gruppenwerken  der  Plastik,  welche  sich  über  den  Rahmen 
des  geschlossenen  Einzelbildes  hinausheben,  ist  aus  den 
Kunstleistungen  der  Renaissancezeit  noch  eine  weitere 
und  hochbedeutsame  Gattung  von  Skulpturwerken  zu 
erwähnen,  in  welchen  die  vollendete  Formen  Virtuosität 
der  Barock- Bildhauer,  vornehmlich  Italiens  die  höchsten 

Triumphe  feiert ,  bei 
denen  zugleich  die  Bil¬ 
dung  des  Sockels  eine 
ganz  eigenartige  Lösung 
findet.  Es  sind  die  in 
der  Gartenkunst  der  Ba¬ 
rock-Renaissance  reich¬ 
lich  ausgeführten  statua¬ 
rischen  Werke,  welche, 
nachdem  in  stufenweiser 
Entwickelung  Architek¬ 
tur,  Plastik  und  Malerei 
einzeln  im  Programm 
der  Gartenkunst  Auf¬ 
nahme  gefunden  hatten, 
schließlich  von  der  Mitte 
des  17.  bis  zur  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  un¬ 
ter  der  Herrschaft  der 
Rokoko  -  Renaissance  do- 
minirend  das  Gartenbild 
bestimmen ,  wie  durch 
den  Verfasser  in  dem 
von  ihm  bearbeiteten 
Werk  „Die  Gartenkunst 
der  italienischen  Renais¬ 
sance,  Berlin  bei  Parey 
1884“  näher  ausgeführt 
worden  ist.  In  der  Überschwänglichkeit  dieser  Zeit  tritt 
der  statuarische  Gruppenaufbau  mit  einer  besonderen  Be¬ 
handlung  der  Sockelanlage  vor  der  Gartenlandschaft  in  den 
Vordergrund,  meist  in  Verbindung  mit  WTerken  der  Wasser¬ 
kunst,  oft  in  einer  unbefriedigenden  Manierirtheit,  aber 
jedesmal  in  einer  so  großartigen,  selbst  im  verschwen¬ 
derischen  Reichtum  einheitlichen  Durchführung,  dass  den 
Werken  dieser  Epoche  zum  mindesten  die  Erhebung  über 
das  Kleinliche  nachgerühmt  werden  muss.  Um  dies  zu 
erreichen,  hat  allerdings,  wie  bekannt,  Versailles,  die 
Geburtsstätte  dieser  künstlerischen  Ausschweifung,  den 
König  Ludwig  den  XIV.  arm  gemacht,  und  dasselbe  gilt 
auch  von  allen  seinen  Nachbetern,  den  weltlichen  und 
geistlichen  Fürsten,  den  Grafen  und  Baronen,  welche 

39 


Fig.  20.  Reiterstandbild  des  Marcus  Aurelius  in  Rom.  (Kapitol.) 


29S 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


jeglicher  auf  seinen  Hufen  seine  eigene  Versailles-Park¬ 
anlage  ,  sein  Marly  und  sein  Trianon  besitzen  wollten, 
welche  aber  alle  ihren  finanziellen  Ruin  dabei  gefunden 
haben. 

Immerhin  bildet  aber  diese  Zeit  die  goldene 
Schaffens-Periode  der  Bildhauer,  denen  Männer  wie  Ber- 
nini  und  Borromini  in  Brunnenwerken  und  im  Gruppen¬ 
aufbau  die  Pfade  wiesen,  um  schließlich  frei  wie  ein 
Historienmaler  lebendige  Theaterscenen  aus  Stein,  selbst 
aus  Marmor,  in  unbeschränktem  Figurenreichtum  in  die 
freie  Natur  hinein  zu  zau¬ 
bern.  Dazu  bieten  die 
Metamorphosen  des  Ovid, 

Liebesscenen,  Jagdbilder, 

Schäferspiele  die  belieb¬ 
testen  Motive.  Eine  be¬ 
sonders  reiche  Ausbeute 
derartiger  Schöpfungen, 
welche  an  Kunstgeschmack 
der  Ausführung,  und  Kom¬ 
position  alle  übrigen  ähn¬ 
lichen  Werke  übertroffen, 
bietet  der  Park  von  Caserta 
bei  Neapel,  für  die  könig¬ 
liche  Familie  am  Ausgang 
der  Rokoko -Periode  1752 
von  Vanvitelli  angelegt. 

Das  Hauptmotiv  dieser 
Gartenschöpfung  bildet 
gleichfalls  eine  in  riesen¬ 
haftem  Maßstabe  durchge¬ 
führte  Wasserkunst,  welche 
zwei  Miglien  weit  aus  dem 
Gebirge  herangeführt,  in 
drei  großen  Oaskadenstür- 
zen  mit  Grotten  werk  und  da¬ 
zwischen  gestellten  Figu¬ 
rentableaus,  mit  architek¬ 
tonisch  verzierten  Kanal¬ 
wänden  und  Einfassungen 
mit  malerischen  Brücken 
und  gärtnerischen  Coulis- 
senwänden,  immer  aber  un¬ 
ter  dem  Vorwalten  der  bild- 
hanorischen  Arbeiten,  bis  zum  Schloss  geführt  ist,  mit 
einem  unvergleichlichen  Prospekt  auf  diese,  wie  eine  ge¬ 
waltige  Naturkraft  heranbrausende  Wassermasse.  Fi¬ 
gur  23  stellt  einen  Teil  des  im  ersten  Caskadenabsturz 
auf  Klippen  und  zwischen  Farren,  gleichsam  in  natür¬ 
lich  zerklüftetem  Felsenufer  aufgestellten  Marmortableaus 
dar,  welches  die  belauschten  Nymphen  behandelt.  Hier 
hört  jegliche  Sockelbildung  in  der  gewöhnlichen  stereo¬ 
metrischen  Form,  wie  sie  bisher  verwandt  war,  auf  und 
auf  dem  natürlichen,  mehr  oder  weniger  zerklüfteten 
Felsen  entfalten  sich  stehend,  sitzend,  liegend  die  Tier¬ 


lind  Menschengruppen,  als  wären  sie  mitten  im  Leben 
durch  irgend  ein  Zauberwort  bis  zur  Erlösung  ver¬ 
steinert  worden.  Diana  und  die  Nymphen,  Amor  und 
die  Genien,  Tritonen,  allerlei  Getier,  namentlich  Hunde 
und  Eber,  auf  Klippen  gelagert  und  über  den  Sprudel 
springend,  bilden  das  agirende  Personal  dieser  Scenerie. 
Gewiss  würde  eine  solche  Verletzung  der  die  statuarische 
Ruhe  des  plastischen  Kunstwerkes  erfordernden  ästhe¬ 
tischen  Gesetze  dem  Geschmack  beleidigen,  wenn  nicht  in 
den  meisten  Fällen  bei  der  Vereinigung  der  Plastik  mit 

der  Gartenkunst,  wie  bei¬ 
spielsweise  auch  in  Caserta, 
die  Natur  in  diesem  Kon¬ 
kurrenzstreit  mit  dem  Mach¬ 
werk  von  Menschenhand 
dennoch  den  Sieg  errungen 
hätte. 

Gewisslich  wird  in  der 
vorstehenden  Abhandlung 
aus  dem  großen  Gebiete  der 
Kunst  des  Plastikers  manche 
eigenartige  Lösung  des 
Sockels  in  der  großen  Zeit¬ 
folge  von  der  Antike  bis 
zur  heutigen  Zeit  uner¬ 
wähnt  übergangen  sein,  da 
im  Vorstehenden  nur  in 
großen  Sprüngen  eine  all¬ 
gemeine  Übersicht  der  lei¬ 
tenden  Gedanken,  wie  das 
Verhältnis  des  Sockels  zum 
statuarischen  Bildwerk  ge¬ 
staltet  sei,  geboten  werden 
sollte.  Namentlich  ist  die 
große  Verschiedenheit  des 
Effektes,  welche  in  der 
Wahl  der  Materialien  des 
Sockels  hervorgebracht 
werden  kann,  noch  nicht 
erwähnt,  da  die  Güte  des 
Materials,  die  Härte,  die 
Politurfähigkeit,  die  Farbe 
desselben,  die  Empfänglich¬ 
keit  für  Reliefbearbeitung 
von  großem  Einfluss  ist,  ebenso  wie  die  Verwendung  ge¬ 
mischter  Materialien,  welche  den  Farbeneffekt  steigern: 
alier  immerhin  wird  ein  Nutzen  derartiger  Rückblicke 
darin  zu  suchen  sein,  daß  die  Gegenwart  mit  ihrem  fort¬ 
schreitenden  Streben  sich  um  so  sicherer  auf  den  Schultern 
der  Vergangenheit  aufbauen  kann.  Aus  der  Kenntnis 
und  Beherrschung  des  Vorangegangenen  wird  der  Künstler 
seine  eigene  Individualität  feststellen  und  zur  Geltung 
bringen.  Diese  Vorbildung  fordert  die  heutige  Zeit. 
Möchte  in  diesem  Streben  die  zeitgenössischen  Künstler 
eine  ähnliche  Gefühls-  mul  Geschmacksbildung  aus  dem 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


299 


Bereich  der  sämtlichen  bildenden  Künste  leiten,  wie  dies 
von  den  besten  Zeiten  der  italienischen  Renaissance  vor¬ 
her  gezeigt  ist.  Allerdings  bieten  die  modernen  Auf¬ 
gaben  größere  Schwierigkeiten  durch  manche  die  Auf¬ 
stellung  des  statuarischen  Werkes  traditionell  begleitenden 
Anforderungen  des  Publikums.  Ein  wünschenswerter 
Reichtum  an  erklärenden  Sockelfiguren  drückt  natur¬ 
gemäß  das  Hauptbild  immer  höher  hinauf,  schwer  ist  es, 
dann  das  Detail  der  Porträtähnlichkeit  zum  Erkennen 
zu  bringen  und  die  harmonische  Einheit  nicht  zu  ver¬ 
lieren,  wogegen  die  realistische  Richtung  der  Zeit  den 
größten  Wert  auf  die  höchste  Durchführung  der  Porträt¬ 
treue  gelegt  haben  will.  Selten  kommen  neue  Kunst¬ 
gedanken,  welche  in  jenen  vorangeführten  Kategorien 
nicht  mitenthalten  wären,  zu 
Tage,  immer  bilden  solche 
scheinbaren  Neuheiten  höch¬ 
stens  eine  Vervielfältigung  in 
der  Anwendung  der  bekannten 
Motive  und  einen  höheren 
Reichtum  der  Ausführung,  meist 
verbunden  mit  der  Steigerung 
realistischer  Effekte,  worin  je¬ 
doch  die  römische  Antike  im¬ 
merhin  noch  um  viele  Stei¬ 
gerungsstufen  der  heutigen  Zeit 
voraus  ist  und  als  Vorbild  gel¬ 
ten  kann. 

Neuerdings  haben  be¬ 
kanntlich  die  Formen  der  Ro¬ 
koko-Dekoration  wieder  eine 
gewisse  Modeliebhaberei  in  Ar¬ 
chitektur,  Malerei  und  Klein¬ 
künsten  errungen.  Selbstver¬ 
ständlich  schreitet  auch  die 
Bildhauerei  mit  der  gleichen 
Berechtigung  wie  die  vorge¬ 
nannten  Künste  auf  demselben 
Pfade.  Aber  wird  auch  der 
Reichtum  der  heutigen  Mäcenaten  das  halten,  was  die 
Vergangenheit  auf  die  Dauer  nicht  leisten  konnte?  Das 
sind  Fragen,  welche  die  Zukunft  erst  lösen  wird,  wonach 
aber  voraussichtlich  eine  zu  lange  Herrschaft  der  Ro¬ 
koko-Plastik  nicht  in  Aussicht  zu  stehen  scheint.  Übrigens 
ist  immerhin  hervorzuheben,  dass  der  innerste  Nerv  der 
modernen  Weltauffassung  romantischen  Charakters  ist, 
welcher  aber  in  seinem  formalen  Bildungsdrange  sich 
immer  am  günstigsten  an  die  Schule  der  Antike  halten 
wird,  an  den  Weg  einer  weisen  Maßhaltung,  der  be¬ 
kanntlich  den  Hellenen  auszeichnete  und  ihn  zu  Werken 
ewiger  Schönheit  geführt  hat. 

Von  höchstem  Interesse  hierin  ist  es  einerseits,  auf 
die  Ökonomie  in  der  Entfaltung  der  größten  statuarischen 
Denkmale  des  alten  Griechenlands  hinzuweisen,  bei  den 
Goldelfenbeinbildern  des  Pliidias ,  welche  die  Athena 


Parthenos  auf  der  Akropolis  zu  Athen  und  den  Zeus  in 
Olympia  darstellen,  andererseits  den  Gedankenreichtum 
hervorzuheben,  welcher  fast  in  Überfülle  zur  Erklärung 
der  Hauptfigur  durch  die  im  Sockel  verwandten  Relief¬ 
darstellungen  ausgedrückt  ist.  An  der  Athena  schmückten 
den  goldenen  Helm  vorn  eine  Sphinx  und  Greifen  zu  beiden 
Seiten.  Die  Brust  umgab  der  Panzer  mit  dem  Gorgoneion, 
welches  den  Medusenkopf  zeigte.  Auf  der  inneren  Seite 
des  Schildes  war  der  Kampf  der  Giganten  gegen  die 
Götter  dargestellt,  auf  der  Außenseite  die  Amazonen¬ 
schlacht,  in  welcher  Pliidias  sein  und  des  Perikies 
Porträtbild  anbrachte.  Am  Rand  der  Sandalen  der 
Athena  sah  man  noch  den  Kampf  der  Lapithen  und 
Kentauren,  endlich  an  dem  niedrigen  Bathron  die  Ge¬ 
burt  der  Pandora  im  Beisein 
der  Götter.  Somit  war  der 
Sockel  der  Statue  auch  inhalt¬ 
lich  untrennbar  verbunden,  zur 
Durchführung  des  Gedankens 
von  der  Vervollkommnung  des 
Menschen  im  Kampfe  mit  seinen 
Anlagen  und  Leidenschaften 
bis  zum  Sieg  in  göttlicher 
Klarheit. 

Auch  die  sitzende  Statue 
des  siegverleihenden  Zeus  in 
Olympia  lässt  eine  Abtrennung 
des  für  sie  eigentümlich  kom- 
ponirten  Sockels  nicht  zu,  ohne 
den  Zusammenhang  der  den 
Gedanken  vom  Kampf  zum 
Sieg  behandelnden  Attribute 
und  Reliefdarstellungen  zu  zer¬ 
stören.  Der  Olympier  trug 
einen  Kranz  von  Ölzweigen 
auf  dem  Haupte,  in  der  Lin¬ 
ken  den  Adlerscepter,  auf  der 
Rechten  die  geflügelte  Nike 
haltend.  Den  weitfaltigen  Man¬ 
tel  schmückten  eingelegte  Figuren,  besonders  aber  befan¬ 
den  sich  die  erklärenden  Bildwerke  am  Thron  und  seinem 
Sockel.  Der  Thronsitz  hatte  außer  den  4  Füßen  noch 
4  Zwischensäulchen  zur  Stütze.  Dort  befanden  sich 
24  Nikefigürchen  als  Tänzerinnen  dargestellt.  An  den 
Querriegeln  der  Thronfüße  sah  man  ferner  in  Einzel¬ 
figuren  die  8  Kampfesarten,  sowie  den  Kampf  des 
Herkules  und  des  Theseus  gegen  die  Amazonen.  Zwi¬ 
schen  den  Thronfüßen  waren  auch  Schranken  angebracht, 
an  deren  Seitenflächen  Scenen  aus  der  Heroen-Sage  Platz 
gefunden  hatten,  sowie  die  Strafe  der  Niobe'iden.  An 
der  Rücklehne  des  Thrones  sah  man  die  Horen  und 
Chariten,  am  Fußschemel  den  Götterkreis.  Wenn  nach 
unserem  modernen  Geschmacke  allerdings,  trotz  des  hohen 
Namens  eines  Phidias,  eine  derartige  Fülle  von  Dar¬ 
stellungen  zu  sehr  gehäuft  und  daher  im  Effekt  verfehlt 

39* 


Fig.  23.  Gruppe  im  Parke  von  Caserta  bei  Neapel. 


300 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


erscheinen  würde,  so  muss  immer  wieder  hervorgehoben 
werden,  dass  es  dem  Hellenen  besonders  darauf  ankam, 
die  Gottheit  durch  den  reichsten  Schmuck  zu  ehren  und 
daher  in  einer,  alle  künstlerischen  Fragen  beseitigenden 
schroffen  Konsequenz,  im  Verfolg  des  aus  hieratischen 
Rücksichten  aufgestellten  Programms,  die  der  Gottheit 
darzubringenden  Lobeshymnen  in  reichster  Vollständigkeit 
durch  Bildwerke  zum  Ausdruck  zu  bringen,  wozu  der 
Sockel  den  mehr  oder  minder  ausreichenden  Platz  dar¬ 
bot.  AVenn  auch  die  moderne  Zeit  in  diesen,  den  Kunst¬ 
genuss  zum  Teil  beschränkenden  Lösungen  der  Antike 
nicht  folgen  darf,  so  wird  doch  immerhin  das  schon 
vorher  aufgestellte  allgemeine  Gesetz  gütig  bleiben,  dass 
der  Sockel  durch  Bildschmuck  verschiedenster  Art  in 
poetisch  anregender  und  populär  verständlicher  Weise 
die  Erklärung  des  statuarischen  Werkes  aufzunehmen 
habe.  Wo  dieses  durch  inschriftliche  Bezeichnung  und 
Widmung  erfolgen  soll ,  wird  man  in  der  Römischen 
Kunst  gern  sein  Vorbild  suchen,  da  dieselbe  einen  un¬ 
übertroffenen  Kunstgeschraack  '  in  der  Klarheit  und 
Deutlichkeit  der  Buchstaben,  sowie  in  ihrer  Verteilung 
auf  der  Fläche  besaß;  wo  ferner  flaches  oder  stärkeres 
Relief  den  Sockel  zieren  soll,  wird  man  mit  Vorteil  die 
Meisterschöpfungen  der  italienschen Renaissance  studiren, 
wo  endlich  Freistellung  der  Figuren  des  Sockels  ver¬ 
langt  wird,  bietet  sich  von  der  Barock -Renaissance 
an,  bis  auf  den  heutigen  Tag  manch  lehrreiches  Beispiel 
zur  Vergleichung  und  Beurteilung  dar.  Diese  letztere 
in  neuerer  Zeit  fast  schematisch  erforderte  Kompositions¬ 
weise  führt  den  Nachteil  mit  sich,  dass  die  freien  Figuren, 
namentlich  wenn  sie  nicht  mit  dem  Sockel  aus  dem 
gleichen  Material  gebildet  sind,  aus  dem  Rahmen  des 
Gesamteffektes  hinausdrängen,  für  sich  betrachtet  werden 
wollen  und  das  Interesse  von  der  Hauptfigur  ablenken. 
Da  ihnen  der  dem  Relief  noch  eigentümliche  Architektur- 
Rahmen  fehlt,  so  sind  sie  mit  der  übrigen  Masse  des 
Sockels  nicht  verbunden,  fallen  gewissermaßen  aus  dem¬ 
selben  heraus  und  verhindern  den  harmonischen  Effekt, 
wie  beispielsweise  an  dem  Sockel  der  Reiterfigur  des 
Königs  Friedrich  Wilhelm  III.  in  Berlin  vor  dem 
Museum,  während  die  Tiergarten -Statue  dieses  Königs, 
in  der  Form  der  Ehrendenkmale,  gerade  durch  eine 
besonders  gelungene  und  befriedigende  Lösung  des  Sockels 
erfreut. 

Auch  an  diesem  Werke  erkennt  man  wiederum  das 
Zutreffende  der  vorhergestellten  Forderung,  dass  der 
Bildhauer  für  den  gegebenen  Aufstellungsplatz  die 
Silhouette,  die  ganze  Haltung  der  Figur,  die  Stärke  des 
Reliefs,  die  Farbengebung  und  die  Wahl  der  Materials 
besonders  zu  bestimmen  habe,  dass  also  die  in  manchen 
Programmbestimmungen  moderner  bildhauerischer  Kon¬ 
kurrenzausschreibungen  freigestellte  Wahl  verschiedener 
Aufstellungsplätze  den  Künstler  irreführen  muss,  wenn 
er  sich  nicht  die  große  Mehrarbeit  aufbürden  will,  für 
.jeden  Platz  eine  besondere  Lösung  zu  komponiren.  Der 


Bildhauer  soll  vielmehr  für  die  bestimmte  Umgebung 
passend  .  sein  Werk  so  hineinstellen,  wie  auch  der 
Architekt  arbeitet,  welcher  von  einer  besonderen  stilisti¬ 
schen  Lieblingsform,  welche  für  alle  Fälle  passen  sollte, 
abzusehen  hat,  vielmehr  jeder  Stilform  für  sich  die  Be¬ 
rechtigung  zuerkennt,  je  nach  Ort  und  Gelegenheit 
passend  verwandt  zu  werden  und  hierin  je  nach  seiner 
künstlerischen  Allgemeinbildung  das  Richtige  finden 
wird.  Leider  kann  diese  Forderung  bei  den  für  Innen¬ 
räume  bestimmten  plastischen  Werken,  insoweit  sie 
nicht  besonders  in  Auftrag  gegeben  sind,  sondern  vom 
Bildhauer  als  Vorratsarbeiten  gebildet  werden,  welche 
noch  um  einen  Käufer  werben,  nicht  erreicht  werden. 
Aber  trägt  nicht  einen  großen  Teil  der  Schuld,  dass  von 
diesen  Werken  im  Besitz  des  Käufers  vieles  an  seinem 
Effekt  Einbuße  erleidet  und  durch  eine  falsche  Auf¬ 
stellung  geschädigt  wird,  die  mangelnde  Fürsorge  des 
ausführenden  Künstlers,  um  hierin  seine  Absichten  in 
bestimmter  Weise  festzulegen?  Hielte  derselbe  die  ihm 
allein  richtig  erscheinende  Gruppirung  und  Umrahmung 
seiner  Arbeit  von  vornherein  fest  im  Auge,  würde  er 
für  einen  solchen  bestimmten  Effekt  alle  seine  Kunst  in 
dem  Werke,  welches  selbst  individuell  wirken  soll,  ver¬ 
einigen,  so  würde  ein  großer  Fortschritt  zu  verzeichnen 
sein,  wie  auch  der  Kritiker  einen  gerechteren  Stand¬ 
punkt  der  Beurteilung  finden  und  der  Käufer  für  die 
plangemäße  Aufstellung  einen  wünschenswerten  Anhalt 
finden  würde.  In  modernen  Wohngebäuden  wiederholt 
sich  bekanntlich  auch  der  konventionelle  Aufstellungs¬ 
platz  für  plastische  Kunstwerke.  Man  liebt  es,  dieselben 
vor  den  Fenstern  eines  Salons,  namentlich  vor  einem 
Erkerfenster  aufzustellen,  um  daselbst  einerseits  ein 
möglichst  helles  Licht  zu  empfangen,  und  andererseits, 
um  dieselben  auch  von  der  Straße  her  sichtbar  zu  machen. 
Aber  diese  Aufstellung  im  grellen  Fensterlicht  ist  ein 
Verderb  für  das  dem  Missbrauch  geopferte  Werk,  die 
mit  dem  grellen  Licht  verbundenen  grellen  Schatten  zer¬ 
stören  das  Modell,  woher  bekanntlich  in  Museen  eine 
solche  Aufstellung  niemals,  nur  im  Notfall,  verwandt  wird. 

Hiermit  soll  allerdings  nicht  behauptet  sein,  dass 
die  Museumsaufstellung,  wie  sie  im  allgemeinen  sich 
überall  wiederholt,  für  plastische  Werke  besonders 
mustergültig  und  empfehlenswert  sei.  Im  Gegenteil, 
selbst  wenn  im  übrigen  die  Fragen  der  Beleuchtung, 
der  Sockelhöhe,  der  Umrahmung,  des  Hintergrundes,  des 
zugewiesenen  Standpunktes  etc.  befriedigend  gelöst  sein 
mögen,  so  bleibt  immerhin  der  Museumsaufstellung  der 
unschöne,  die  Individualität  des  Kunstwerkes  schädigende 
Charakter  der  Magazinirung  anhaften;  ausgenommen, 
wenn  man,  wüe  beispielsweise  im  vatikanischen  Museum 
zu  Rom  für  den  Apollo  von  Belvedere,  besonders  kom- 
ponirte  Aufstellungsräume  beschaffen  kann. 

Alle  Anforderungen,  welche  für  die  Aufstellung  in 
Innenräumen  das  ästhetische  Gefühl  zu  stellen  hat,  wird 
jedoch  der  Künstler  zu  einer  leichteren  Erfüllung  bringen, 


DIE  SOCKELBILDUNG  STATUARISCHER  WERKE. 


301 


wenn  es  ihm  gelingt,  schon  sein  Aasstellungswerk  in  dem 
weiträumigen  Saal,  oder  in  dem  kleineren  Salon  in  einer 
solchen  Umgehung,  mit  einem  solchen  Hintergrund,  mit 
Farbengebung  und  Beleuchtung  so  aufzubauen,  wie  dies 
alles  ihm  von  vornherein  bei  der  Komposition  seines 
Bildes  vorgeschwebt  hatte.  Alsdann  würden  auch  unsere 
Ausstellungsräume  einen  schöneren  und  anziehenderen 
Anblick  in  ihrer  plastischen  Abteilung  gewähren. 

Die  Vorbedingung  hierzu  liegt  allein  in  der  größeren 
Würdigung,  welche  seitens  der  Künstler  der  im  Vorher¬ 
gehenden  behandelten  Frage  über  die  Sockelbildung  statua¬ 
rischer  Werke  entgegen  gebracht  wird,  sowie  in  der 
erweiterten  Fürsorge,  mit  welcher  die  Aussteller  den 
Verbleib  ihrer  Arbeiten  nicht  mehr  dem  Zufall  überlassen, 
sondern  ihnen  auch  später  zu  einer  befriedigenden  künst¬ 
lerischen  Aufstellung  verhelfen. 

Es  wird  gewiss  nicht  erwartet  werden,  dass  diese 
Abhandlung  mit  einer  Zusammenstellung  bestimmter  An¬ 
gaben  schließe,  in  welcher  Richtung  sich  die  Lösung  der 
Sockelbildungen  bei  den  großen  Aufgaben  statuarischer 
Kunst  bewegen  solle,  zu  welchen  die  moderne  Zeit  durch 
die  Großthaten  Deutschlands  von  den  70er  Jahren  ab  ge¬ 
führt  wird.  Wiederholen tlich  ist  ja  im  Verlauf  dieser 
Besprechung  hervorgehoben  worden,  dass  die  Aufstellung 
specieller  Gesetze,  gleichsam  eine  Rezeptirkunde  für 
bestimmte  Fälle  der  Verwendung,  als  ein  Ruin  für  die 
Freiheit  der  individuellen  Künstlerentfaltung  angesehen 
werden  müsste.  Dennoch  werden,  wie  vorhin  über  die 
Förderung  der  kleineren  Bildwerke  nur  eine  persönliche 
Ansicht  aufzustellen  versucht  wurde,  auch  für  die  Lösung 
der  großen  monumentalen  Werke  der  Plastik,  soweit 
sie  von  dem  Wunsche  erfüllt  sein  sollen,  sich  dem  all¬ 
gemeinen  Kulturfortschritt  anzuschließen,  oder  gar  dem¬ 
selben  die  Ziele  zu  zeigen,  persönliche  Meinungsäußerungen 
statthaft  sein,  deren  Wert  auch  deshalb  schon  nur  be¬ 
schränkt  bleiben  wird,  da  in  der  bildenden  Kunst  nur 
das  geschaffene  Werk,  nicht  das  Reden  darüber  das 
eigentlich  Wichtige  ist.  Zuerst  ist  gewiss  eine  haupt¬ 
sächliche  Gefahr  für  das  Gelingen  der  modernen  plasti¬ 
schen  Schöpfungen  hervorzuheben,  welche  in  den  Kom¬ 
missionsentscheidungen  beim  ausgeschriebenen  Konkur¬ 
renzverfahren  wurzelt.  Naturgemäß  wird  nur  in  seltenen 
Fällen  eine  Einheit  der  Stimmen  für  die  Wahl  des 
relativ  besten  Entwurfes  vorhanden  sein,  in  den  meisten 
Fällen  kommen  Majoritätsentscheidungen  oder  Kompro¬ 
misse  zu  stände,  deren  Entscheidung  alsdann  zweifelhaft 
ist.  Aber  das  Schlimmste  ist  für  die  weitere  Förderung 
der  Ausführung,  dass  eine  Kommission  eine  Vielköpfig- 
keit  ohne  Herz,  ohne  Begeisterung,  ohne  Wagnis  darstellt, 
gewöhnlich  büreaukratisch  zusammengesetzt  ist,  bemüht, 


sich  gegenüber  einem  höheren  Auftraggeber  verwaltungs¬ 
mäßig  formal  zu  decken.  Aber  der  Künstler  und  sein 
Werk  bedürfen  eines  Mäcenaten,  eines  Schützers,  För¬ 
derers,  dessen  Bedeutung  weniger  in  der  Zuführung  der 
reichlichen  Mittel,  als  vielmehr  in  der  Bethätigung  des 
regsten  persönlichen  Interesses  beruht.  Darum  ist  auch 
das  bekannte  Dichterwort  an  dieser  Stelle  zutreffend: 
„Schließ’  dich  an  eines  Meisters  Sinn;  selbst  mit  ihm  zu 
irren,  ist  Gewinn“.  Was  ferner  die  Komposition  selbst 
betrifft,  so  streiten  zwei  gegnerische  Richtungen,  wie 
schon  im  Vorangegangenen  bemerkt,  gegeneinander,  ein¬ 
mal  das  Verlangen  nach  höchster  realistischer  Porträt¬ 
treue  und  dann  der  Wunsch  nach  dem  reichsten  figür¬ 
lichen  Sockelschmuck.  Diese  Bedingungen  äußern  sich 
bei  der  Bildung  des  Sockels  zum  statuarischen  Werk 
einerseits  als  das  Streben  nach  einer  möglichst  großen 
Sichtbarmachung  des  Porträts  durch  Niedrigstellen  des 
Sockels,  anderseits  als  der  Wunsch,  den  Sockel  möglichst 
zu  erhöhen,  um  eine  größere  Fläche  für  den  erklärenden 
Schmuck  auszunutzen.  Im  allgemeinen  hat  der  Künstler 
namentlich  mit  dieser  letzteren,  vom  Publikum  wahr¬ 
scheinlich  nur  gewohnheitsmäßig  gestellten  Forderung 
am  meiste11  zu  kämpfen.  In  diesem  Streit  kann  der 
Künstler  unter  Berufung  auf  seine  eigene  Künstlerindi¬ 
vidualität  nur  eine  Lösung  nach  der  Art  des  Gordischen 
Knotens  vornehmen,  wobei  ihn  bei  kleineren  statuarischen 
Ehrendenkmälern  die  typisch  ausgebildeten  und  befrie¬ 
digenden  Formen  mit  einem  verhältnismäßigen  Hoch¬ 
sockel  vor  größeren  Irrtiimern  und  Fehlgriffen  bewahren 
werden,  wobei  die  größeren  Monumentalwerke  jedoch 
eine  besondere  Entschließung  erfordern,  welche  immerhin 
auch  ihrerseits  durch  historisch  sanktionirte  Vorgänge 
vorbereitet  ist.  Das  vorher  angeführte  Beispiel  aus  dem 
Gebiet  der  Gruppenbildwerke  scheint  hierin  vorbildlich 
zu  sein,  das  Denkmal  des  Kaisers  Maximilian  in  Inns¬ 
bruck,  obgleich  seine  speciellen  Mängel  bereits  erwähnt 
sind,  obgleich  ferner  selbstverständlich  eine  genaue  An¬ 
lehnung  an  die  Komposition,  namentlich  bei  einer  Frei¬ 
aufstellung,  Misserfolge  hervorbringen  würde.  Auch  scheint 
das  Lutherdenkmal  in  Worms  diesen  Weg  beschnitten 
zu  haben,  wenngleich  der  Gesamteffekt  durch  die  zu  große' 
Weitschichtigkeit  der  Kompositionsglieder  verloren  ge¬ 
gangen  ist.  Wenn  aber  auf  gemeinsamem  Stereobat  die 
Erklärungsbildwerke  in  einer  Reihenentfaltung  um  die 
hauptsächliche  und  dominirende  Statue  herum  künstlerisch 
gruppirt  werden,  so  können  unter  voller  Währung  der 
Harmonie  die  vorhergestellten  Anforderungen  erfüllt 
werden,  durch  Gruppirungen,  für  welche  namentlich  die 
vorher  genannten  Schöpfungen  der  Barockzeit  mancherlei 
vorbildliche  Anregungen  gewähren. 


DIE  HELLENISTISCHEN  RELIEFBILDER. ’) 

VON  R.  ENGELMANN. 


AS  groß  angelegte  Werk  über  die  hellenistischen 
Reliefbilder  von  Prof.  Dr.  Th.  Schreiber  ist 
mit  der  vor  Jahresfrist  erschienenen  Lieferung 
zum  Abschluss  gelangt.  Wenn  man  erwägt,  wie  viele 
Schwierigkeiten  bei  dem  Sammeln  des  weitverstreuten 
Materials ,  das  in  dem  vorliegenden  Werke  vereint  ist, 
zu  überwinden  waren,  wie  schwer  die  Beschaffung  brauch¬ 
barer  Abbildungen  und  die  Herstellung  der  Tafeln  ge¬ 
worden  sein  muss,  kann  man  die  Zeit,  die  seit  dem 
Erscheinen  der  ersten  Lieferung  (1889)  bis  zur  elften 
(Schluss-)Lieferung  verstrichen  ist,  nicht  übermäßig  lang 
finden,  im  Gegenteil,  man  muss  anerkennen,  dass  Ver¬ 
fasser  und  Verleger  mit  allem  Eifer  das  Werk  gefördert 
und  keine  Mühe  gespart  haben,  um  möglichst  gute  Ab¬ 
bildungen  zu  liefern. 

Um  den  Wert  der  Originale  auch  in  den  Abbil¬ 
dungen  möglichst  getreu  hervortreten  zu  lassen,  ist  für 
die  Reproduktion  ein  Verfahren  gewählt  worden,  das 
..außer  der  Gleichmäßigkeit  des  Druckes  unbedingte 
Treue  der  Wiedergabe  auch  in  den  geringsten  Einzel¬ 
heiten  gewährleistet.  Als  Hauptsache  galt  die  richtige, 
meist  durch  Reflexlicht  erzeugte  Beleuchtung  der  Origi¬ 
nale  während  der  photographischen  Aufnahme.  Die 
letztere  ist  fast  durchgängig  unter  der  Aufsicht  und 
Anleitung  des  Herausgebers  ausgeführt  worden  und  da¬ 
bei  in  schwierigeren  Fällen  ein  besonderes  Verfahren, 
die  Flecken  und  andere  die  Wirkung  störende  Schäden 
an  den  Originalen  selbst  zu  unterdrücken,  in  Anwendung 
gekommen.“ 

Diese  Sorgsamkeit,  mit  der  bei  den  photographischen 
Aufnahmen  der  einzelnen  Reliefs  vorgegangen  ist,  hat 
eine  ziemlich  gleichmäßige  Behandlung  zur  Folge  gehabt; 
wenn  dennoch  die  eine  oder  andere  Tafel  nicht  ganz 

1)  Dir  hellenistischen  Relief inhler,  mit  Unterstützung  dos 
Königlich  Sächsischen  Ministeriums  'des  Kultus  und  Öffent¬ 
lichen  Unterrichts  und  der  Philologisch-Historischen  Klasse 
der  Königlich  Sächsischen  flesellschaft  der  Wissenschaften 
herausgegeben  und  erläutert  von  Theod.  Schreiber ,  ao.  Pro¬ 
fessor  der  Archäologie  an  der  Universität  und  Direktor  des 
Städtischen  Museums  zu  Leipzig.  Leipzig,  Verlag  von  W. 
Engelmann.  1889 — 1894.  gr.  Fol. 


gleich  gelungen  ist,  so  kann  dies  weiter  nicht  Wunder 
nehmen.  Als  eine  recht  beachtenswerte  Neuerung,  die 
Nachahmung  verdient,  ist  die  Einrichtung  hervorzuheben, 
dass  auf  den  vor  die  Tafeln  geklebten  Schutzblättern 
in  graphischer  Darstellung  die  durch  Restauration  und 
Überarbeitung  an  den  Originalen  entstandenen  Ver¬ 
änderungen,  gelegentlich  auch  neue  Ergänzungsversuche 
angegeben  sind;  man  erkennt  so  mit  einem  Blick,  ohne 
dass  lange  Worte  nötig  wären,  durch  die  verschiedene 
Behandlung,  was  wirklich  antik,  was  durch  Über¬ 
arbeitung  verändert  und  was  modern  zugesetzt  ist. 

Nachdem  nun  die  Mehrzahl  der  von  dem  Herrn 
Verfasser  der  hellenistischen  Zeit  zugerechneten  Reliefs 
in  meist  vorzüglichen  Aufnahmen  vorliegt  (einige  Nach¬ 
träge,  deren  Notwendigkeit  sich  jetzt  schon  heraus¬ 
gestellt  hat,  werden  in  dem  Textband,  der  hoffentlich 
nicht  allzu  lange  auf  sich  warten  lassen  wird,  gebracht 
werden),  wird  es  dem  Betrachter  ermöglicht,  über 
die  ganze  Klasse  der  „hellenistischen  Relief bilder“  ein 
Urteil  zu  fällen,  so  weit  dies  sich  vor  dem  Erscheinen 
des  Textbandes,  der  noch  mancherlei  Erklärungen  und 
Beweise  bringen  wird,  überhaupt  thun  lässt.  Immerhin 
hat  man  an  dem  Werke,  das  den  Tafeln  um  ein  Jahr 
voraus  ging  (Die  Wiener  Brunnenreliefs  im  Palazzo 
Grimani,  eine  Studie  über  das  hellenistische  Reliefbild 
mit  Untersuchungen  über  die  bildende  Kunst  in  Alexan¬ 
drien  von  Th.  Schreiber,  mit  drei  Heliogravüren  und 
zwanzig  Abbildungen  im  Text.  Leipzig,  Verlag  von 
E.  A.  Seemann,  1888)  schon  jetzt  einen  Anhalt,  an  dem 
man  sich  über  die  Frage  unterrichten  kann. 

Nach  Th.  Schreiber  hat  die  hellenistische  Kunst, 
wie  sie  besonders  in  Alexandria  sich  entwickelt  hat, 
in  Anlehnung  an  die  im  Orient  schon  längst  geübte 
Technik  die  Wände  der  Paläste  und  Villen  mit  Beiseite- 
lassung  der  Malerei  in  der  Inkrustationstechnik  aus- 
geschmiickt.  Der  Grund  zur  Anwendung  dieser  Technik 
war  dadurch  gegeben,  dass  die  Baumeister  bei  der 
Schnelligkeit,  mit  der  die  Städte  sich  auf  das  Macht¬ 
gebot  Alexanders  erhoben,  auf  die  Aufführung  des  längere 
Zeit  erforderlichen  Quaderbaus  verzichteten  und  die  Mauern 
aus  Backsteinen  errichten  ließen;  um  diese  eilig  auf¬ 
geführten  Mauern  zu  verbergen  und  dem  Luxus,  der  aus 


DIE  HELLENISTISCHEN  RELIEFBILDER. 


303 


dem  Orient  sich  nach  dem  Westen  verbreitete,  ent¬ 
sprechend  auszuschmücken,  bediente  man  sich  der  in  den 
Putz  eingedrückten  kostbaren  Marmorarten,  verschiedener 
Glasflüsse,  ja  selbst  Edelsteine  scheinen  in  dieser  Weise 
mit  zum  Schmuck  verwendet  zu  sein,  sodass  die  Meeres¬ 
wogen,  die  den  Platz  der  ehemaligen  Palastbauten  der 
Ptolemäer  bespülen,  noch  heute  große  Massen  derartiger 
zur  Inkrustation  ehemals  dienender  Stücke  ans  Land 
werfen.  Im  Rahmen  dieser  kostbaren  Ausschmückung 
war  für  das  Wandgemälde  kein  Platz  mehr,  dafür  trat  das 
Marmorrelief  ein,  das  als  Kabinettbild  in  der  Mitte  der 
Wand  angebracht  einen  der  übrigen  Ausstattung  ent¬ 
sprechenden  Eindruck  machte.  Es  ist  nur  schade,  dass 
von  diesen  auf  Alexandria  zurückgeführten  Reliefs  in 
Alexandria  selbst  so  gut  wie  nichts  gefunden  ist,  sondern 
dass  die  Mehrzahl  der  hellenistischen  Reliefs  aus  Rom 
stammt.  Natürlich  ist  dies  kein  Beweis  gegen  die  ur¬ 
sprüngliche  Verwendung;  denn  ebenso  wie  Statuen  können 
auch  Reliefs  in  großer  Zahl  aus  Alexandria  nach  Rom  und  Um¬ 
gegend  entführt  worden  sein;  aber  es  ist  doch  ein  großer 
Unterschied,  ob  eine  frei  stehende  Statue  weggenommen  wird, 
oder  ob  ein  Relief  von  der  Wand  fort  aus  der  Dekoration, 
deren  Mittelpunkt  es  bildet,  herausgenommen  wird,  um 
in  Rom  wieder  ähnlich  verwandt  zu  werden.  Dazu  sind 
im  allgemeinen  die  Dekorationen  nicht  wertvoll  genug. 

Allerdings  glaubt  der  Herr  Verfasser,  solche  An¬ 
sichten  dadurch  stützen  zu  können,  dass  er  auf  die 
Mosaiken  hinweist,  die  seiner  Meinung  nach  in  Alexan¬ 
dria  als  Wandschmuck  dienten,  später  aber  nach  Pompeji 
geführt  und  dort  thöricliterweise  auf  den  Fußboden 
niedergelegt  wurden.  So  vor  allem  die  Alexanderschlacht 
aus  Pompeji  und  die  anderen  wertvollen  Mosaiken  der¬ 
selben  Casa  del  Fauno.  Aber,  mag  man  auch  immer 
zwischen  den  Mosaiken  dieses  Hauses  und  Ägypten  ge¬ 
wisse  Beziehungen  annehmen  (darauf  führt  allerdings 
der  Umstand,  dass  sehr  viele  Mosaiken  durchaus  ägyp¬ 
tische  Darstellungen  enthalten ,  aber  die  Hindeutungen 
auf  Ägypten  sind  überall  sehr  beliebt),  daran  ist  ohne 
genügende  Beweise  doch  nicht  zu  denken,  dass  die  in 
Pompeji  als  Bedeckung  und  Schmuck  des  Fußbodens 
verwandten  Mosaike  ursprünglich  als  Wanddekoration 
gedient  haben.  Bis  jetzt  muss  der  mit  den  Nachrichten 
des  Plinius  und  andern  antiken  Mitteilungen  durchaus 
in  Einklang  stehende  Satz  seine  Geltung  behalten, 
dass  das  Mosaik  erst  verhältnismäßig  spät  vom  Fußboden 
auf  die  Wände  und  in  die  Gewölbe  übertragen  ist  und 
zwar  erst  dann,  als  das  einfache  Glasmosaik  von  dem 
F ußboden  durch  kostbare  Marmorarten  verdrängt  wurde. 
Dies  geschah  zuerst,  nach  Plinius  (hist.  nat.  36,  189 
lithostrota  coeptavere  jam  sub  Sulla,  parvulis  certe 
.  crustis,  extat  hodieque  quod  in  Fortunae  delubro  Praeneste 
fecit)  unter  Sulla;  damals  musste  also  die  Kunst  dem 
Material  weichen,  an  Stelle  der  mit  Ornamenten  und 
Figuren  geschmückten  Mosaike  wurden  kostbare  aus  der 
ganzen  Welt  zusain mengesuchte  Platten  von  bunten 


Marmorarten  und  andere  Steine  zur  Ausschmückung  des 
Bodens  verwendet,  eine  Art  der  Dekoration,  deren  erstes 
Muster  in  Praeneste  (Palestrina)  im  Tempel  der  Fortuna 
noch  späterhin  aufgezeigt  wurde;  aber  die  Steine  waren 
noch  klein,  zum  Zeichen,  dass  man  auch  damals,  beim 
Beginn  des  Luxus,  noch  Maß  zu  halten  suchte,  oder 
wegen  Beschränktheit  der  Mittel  zum  Maßhalten  genötigt 
war,  während  man  sich  später  nicht  scheute,  die  kost¬ 
barsten  Marmorplatten  in  großen  Stücken  auf  den  Fu߬ 
boden  zu  legen. 

Während  also  das  eigentliche  Mosaik  nur  auf  dem 
Fußboden,  zum  Ersatz  der  Teppiche,  die  man  in  der 
warmen  Jahreszeit  entbehren  konnte,  entstanden  ist  und 
deshalb  ursprünglich  durchweg  sich  der  Entwickelung 
des  Fußbodenteppichs  anschließt,  den  es  zu  vertreten 
bestimmt  war,  ist  frühzeitig  auch,  besonders  in  Grotten, 
Fontänen  und  ähnlichen  Einrichtungen,  dadurch,  dass 
man  Bimstein,  Muscheln  u.  dergl.  in  den  Stuck  drückte, 
eine  andere  Art,  die  eigentliche  Rocaille  gepflegt  worden, 
die  später,  als  das  eigentliche  Mosaik  vom  Boden  auf 
die  Wände  getrieben  wurde,  sich  mit  diesem  begegnete 
und  ihm  den  Namen  gab.  Denn,  dass  das  Mosaik  seinen 
Namen  von  dem  /xovonov  oder  musaeum,  den  Grotten, 
welche  den  Musen  geheiligt  waren,  erhalten  hat,  scheint 
mir  sicher.  So  wird  von  Plinius  (37,  14)  ein  musaeum 
ex  margaritis  erwähnt,  in  cujus  fastigio  horologium,  das 
nach  hist.  nat.  36,  154  (non  praetermittenda  est  et 
pumicum  natura:  appellantur  quidem  ita  erosa  saxa  in 
aedificiis  quae  musaea  vocant  dependentia  ad  imaginem 
specus  arte  reddendam)  nichts  anderes  gewesen  sein  kann 
als  eine  kleine  künstliche  Grotte,  bei  der  neben  Bim- 
steinen  auch  Perlen  zur  Ausschmückung  verwandt  waren. 
Wenngleich  demnach  das  Mosaik  den  Namen,  mit  dem 
es  noch  heute  benannt  wird,  auch  von  der  in  den  Ge¬ 
wölben  und  an  den  Wänden  geübten  Kunst  hergenommen 
hat,  dass  es  seinen  Ursprung  durchaus  nur  auf  dem  Boden 
genommen  hat,  kann  meiner  Meinung  nach  nicht  fraglich  sein. 
Ich  kann  nach  neuer  Prüfung  der  Thatsachen  nur  bei  der 
Ansicht  beharren,  die  ich  im  Rhein.  Museum,  N.  F.  29 
S.  561  ff.  ausgesprochen  habe.  Dasselbe  gilt  von  den 
Mosaikreliefs,  die  Herr  Schreiber  zu  neuem  Leben  zu- 
rückrufen  möchte,  nachdem  mein  Verdammungsurteil 
längst  allgemein  angenommen  ist.  Dass  das  von  ihm 
gegen  mich  angeführte  Glasrelief  der  Sammlung  Borgia 
nicht  hierher  gehört,  habe  ich  im  Rhein.  Museum,  N.  F.  29, 
S.  567  und  576  ausführlich  gezeigt. 

Wenn  aber  auch  in  einzelnen  Punkten  gegen  die 
Ausführungen  des  Herrn  Prof.  Schreiber,  sowie  sie  in  den 
„Wiener  Brunnenreliefs“  mir  entgegentreten,  Einspruch 
erhoben  werden  kann,  so  werden  dadurch  seine  Aus¬ 
führungen  über  die  hellenistischen  Reliefs  im  allgemeinen 
nicht  berührt.  Es  lässt  sich  wohl  denken,  dass  er  mit 
seiner  Behauptung  durchaus  recht  hat,  dass  die  von 
ihm  zusammengestellten  Reliefs  als  Mittelbilder  zur  Aus¬ 
schmückung  der  Wände  gebraucht  worden  sind,  nur  ist 


304 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


dies,  glaube  ich,  bis  jetzt  noch  nicht  völlig  bewiesen 
worden.  Dagegen  scheint  mir  das  Eine  schon  jetzt  ganz 
sicher  gestellt,  dass  die  betreffenden  Denkmäler  wirk¬ 
lich  der  hellenistischen  Zeit  angehören,  nicht  etwa  erst 
römischen  Künstlern  ihre  Entstehung  verdanken,  oder 
gar,  wie  man  ja  auch  mehrfach  behauptet  hat,  erst  in 
der  Zeit  der  Renaissance  entstanden  sind.  Ich  habe 
selbst,  weil  mir  ein  angeblich  in  Cherchell  (Nordafrika) 
gefundenes,  zu  dieser  Klasse  gehöriges  Relief  mit  einem 
schon  längst  von  Gori,  Inscr.  ant.  I,  Taf.  18,  1  ver¬ 
öffentlichten  auch  der  Bruchlinie  nach  identisch  zu  sein 
schien,  in  der  Arch.  Zeit.  1873,  S.  134  den  Gedanken  an 
Fälschung  ausgesprochen,  den  ich  jetzt,  wo  beide  Reliefs 


im  Louvre  sich  befinden  (Hell.  Reliefbiid.  T.  49  u.  50) 
natürlich  als  unbegründet  fallen  lassen  muss. 

Leider  ist  die  Zahl  der  wirklich  schönen  und  bis 
ins  Kleinste  sauber  durchgeführten  Reliefs  auf  den  Tafeln 
nicht  groß;  vielfach  sind  nur  dürftige  Bruchstücke  er¬ 
halten,  die  natürlich  bei  einer  solchen,  alles  Quellen¬ 
material  zusammenstellenden  Arbeit  nicht  übergangen 
werden  dürfen.  Das  Beste,  was  man  dem  Herrn  Ver¬ 
fasser  wünschen  kann,  wäre,  dass  noch  recht  viele  wohl¬ 
erhaltene  Exemplare  der  von  ihm  an  das  Licht  ge¬ 
zogenen  Gattung  zum  Vorschein  kämen,  und  möglichst 
in  Alexandria  selbst,  dann  würde  jeder  Zweifel,  so  weit 
solche  noch  heute  existiren,  sofort  beseitigt  sein. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


Walter  Conz,  der  Urheber,  der  diesem  Hefte  beigegebenen 
Malerradirung,  wurde  geboren  am  27.  Juli  1872  als  Sohn  des 
Malers  und  Zeichenlehrers  Prof.  G.  Conz  in  Stuttgart.  Mit 
18  Jahren  begann  er  seine  künstlerischen  Studien  an  der 
dortigen  Kunstschule  und  setzte  sie  dann  von  Sept.  1892  an 
der  Kunstakademie  in  Karlsruhe  fort  unter  Leitung  der 
Professoren  Grethe,  Schurth,  Bockeimann,  Ritter  und  Schön¬ 
leber.  Als  Prof.  Krauskopf  1893  an  die  Spitze  der  Radir¬ 
schule  in  Karlsruhe  trat,  widmete  sich  W.  Conz  mit  Eifer 
und  großem  Geschick  dieser  Kunst,  ohne  übrigens  seine 
malerischen  Studien  hintanzusetzen  und  erwarb  sich  ein  Jahr 
darauf  mit  einem  nach  Schönleber  radirten  Blatt  „Kohlen¬ 
dampfer“  allgemeine  Anerkennung.  Das  vorliegende  Blatt 
ist  eine  Fracht  der  Studien,  welche  der  junge  Künstler  im 
verflossenen  Sommer  in  Holland  gemacht  hat.  Ein  Ölbild 
von  ihm,  gleichfalls  eine  holländische  Landschaft,  hat  kürz¬ 
lich  der  Kunstverein  in  Karlsruhe  angekauft. 

*  In  der  lehre.  Gemälde  von  L.  v.  Flcsch-Brünningen, 
radirt  von  F.  Krostewitz.  Die  Zeit,  wo  man  ein  von  weib¬ 
licher  Hand  stammendes  Gemälde  schon  von  weitem  an  der 
Ängstlichkeit  und  Unbeholfenheit  der  Ihnselführung,  an  der 
Leblosigkeit  der  Zeichnung  und  der  Schüchternheit  des 
Kolorits  erkannte,  ist  längst  vorüber.  Auch  unsere  malenden 
Damen  haben  eingesehen,  dass  sie  nicht  vorwärts  kommen, 
wenn  sie  stets  unter  sich  bleiben,  immer  von  ihres  Gleichen 
lernen  wollen.  Erst  unter  männlicher  Zucht  entfalten  sich 
ihre  Kräfte,  sodass  sie  mit  den  Ehren  einen  Wettkampf  mit 
den  Männern  bestehen  können,  die  lange  genug  die  Allein¬ 
herrschaft  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  geübt  haben.  Ein 
Produkt  männlicher  Erziehung  ist  auch  die  Malerei  des  an¬ 
mutigen,  vor  etwa  zwei  Jahren  entstandenen  Bildes,  das 
F.  Krostewitz  in  Berlin  für  uns  radirt  hat.  Im  Jahre  1859 
in  Brünn  geboren,  hat  Luma  von  Flesch-Brünningen  ihre 
ersten  Studien  bei  dem  bekannten  Schilderer  venezianischen 
und  orientalischen  Lebens  Alois  Schöner  in  Wien  gemacht. 
Dann  ging  sie  zu  ihrer  weiteren  Ausbildung  nach  München, 
wo  sie  in  dem  gegenwärtig  an  der  Kunstschule  in  Weimar 
wirkenden  Fritbjof  Smith  einen  Lehrer  fand ,  der  ihre 
malerische  Technik  erheblich  förderte.  Studienreisen  durch 


Italien,  Frankreich  und  Nordafrika  boten  ihr  neben  reichen 
Anregungen  auch  die  Motive  zu  einigen  Bildern,  meist 
Innenräumen  mit  Figuren,  in  denen  sie  die  Wirkungen  des 
einfallenden  Lichtes  mit  großer  koloristischer  Gewandtheit 
zur  Anschauung  zu  bringen  wußte.  Zu  ihnen  gehören  außer 
unserem  Bilde  die  Gemälde  „Im  Waisenhause“,  „Das  Vesper- 
brod“  und  „Die  Brokatstickerinnen“.  Sie  hat  sich  auch  ge¬ 
legentlich  in  Bildern  religiösen  Inhalts  versucht,  von  denen 
eines,  die  Madonna  „unter  dem  Kreuz“,  auf  der  gegen¬ 
wärtigen  Berliner  Kunstausstellung  zu  sehen  ist.  Wie  hier 
die  Schilderung  ergreifenden  Mutterschmerzes  unmittelbar 
zum  Herzen  des  Beschauers  spricht,  so  fesselt  auf  unserem 
Bilde  die  humorvolle  Charakteristik  der  drei  Näherinnen, 
die  den  ersten  Versuchen  des  ungemein  ernst  und  wichtig 
hantirenden  Lehrlings  zuschauen.  Krostewitz  hat  es  ver¬ 
standen,  mit  großem  Geschick  die  feineren  Lichtwirkungen 
des  Originals  auf  seine  Platte  zu  übertragen.  A.  R. 

*  Die  „Gazette  des  Beaux-Arts“  in  Paris  hat  einen  sox-g- 
fältig  gearbeiteten  Index  über  den  Inhalt  der  Jahrgänge 
1881 — 92  herausgegeben,  welcher  auch  denjenigen  Kunst¬ 
freunden  und  Kunstgelehrten,  die  das  französische  Kunst¬ 
journal  selbst  nicht  besitzen,  wegen  der  Fülle  der  darin 
enthaltenen  Aufsätze  zur  Geschichte  der  alten  wie  der 
modernen  Kunst,  gute  Dienste  leisten  wird. .  Dem  Index  über 
die  angegebenen  Jahre  geht  ein  systematisches  Register  über 
den  Gesamtinhalt  der  „Gazette“  seit  ihrer  Gründung  (1859) 
von  der  Hand  des  Herrn  Paulin  Teste  voraus,  der  dem 
Publikum  nicht  minder  willkommen  sein  dürfte. 

*  Das  bekannte  spanische  Denkmälerwerk  „ Monumcntos 
arquiteclonicos  de  Espaha“  entbehrte  bisher  eines  übersicht¬ 
lichen  Registers,  das  bei  der  nicht  sehr  bequemen  Einteilung 
der  Publikation  um  so  schmerzlicher  vermisst  wurde.  Herr 
Ed.  de  la  Rada  y  Mmdez  ist  mit  seinen  „Indices  generales 
alfabeticos“  (Madrid  1895,  8°),  diesem  Bedürfnis  in  dankens¬ 
werter  Weise  nachgekommen  und  zwar  aus  verschiedenen 
Gesichtspunkten,  welche  die  Orientirung  in  den  Tafelbänden 
mit  ihren  zahlreichen  Monographieen  sowohl,  was  die  Autoren 
derselben,  als  auch  was  die  Monumente  selbst  betrifft,  wesent¬ 
lich  erleichtern. 


Herausgeber:  Carl  ran  Lützow  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


LEHR1 


DER  MALERISCHE  STIL.') 


VON  JOSEF  STRZYGOWSKI. 
MIT  ABBILDUNGEN. 


Engel  aus  (1er  Taufe  Christi. 
Von  Leonardo.  —  Florenz. 


Man  nennt  ge¬ 
wöhnlich  Michel¬ 
angelo  den  Schöp¬ 
fer  des  Barockstils. 
Thatsächlicli  ist  er 
auf  dem  Gebiete  der 
Architektur  und 
Plastik  der  Bahn¬ 
brecher  desselben 
gewesen.  Was  er  als 
Maler  geleistet  hat,  ist  im  Geiste  der  steinbilden¬ 
den  Künste  gedacht.  Hier  tritt  als  der  eigentliche 
Bahnbrecher  Leonardo  auf.  Er  ist  der  Schöpfer  des 
sog.  malerischen  Stiles  auf  dem  Gebiete  der  Malerei 
selbst.  Was  er  als  Architekt  und  Bildhauer  ge¬ 
leistet  hat,  steht  leider  nicht  in  greifbarer  Gestalt 
vor  uns.  Es  könnte  ihm  damit  wol  gegangen  sein, 
wie  dem  Maler  Michelangelo,  der  den  Bildhauer 
nicht  verleugnen  konnte. 

Das  Wesen  des  malerischen  Stiles  ist  von 
H.  Wölfflin  charakterisirt  worden.1 2)  Er  wählte  als 
berühmtestes  Beispiel  RafFael’s  Übergang  vom  alten 
zum  neuen  Stil  in  den  Stanzen.  Raffael  aber  that 
diesen  Schritt  vollständig  unter  dem  Einflüsse  der 
Eindrücke,  die  er  von  Leonardo’s  Kunst  empfangen 


1)  Die  obige  Skizze  war  ursprünglich  als  Schluss  eines 
kleinen  Buches  über  Leonardo  gedacht.  Dadurch  dass  öfter 
stillschweigend  Bezug  auf  die  Resultate  der  vorhergehenden 
Untersuchungen  genommen  wird ,  erscheint  die  Behandlung 
stellenweise  ungleichmäßig.  Der  geneigte  Leser  wird  den 
grundlegenden  Teil  der  Abhandlung  im  Jahrbuch  der  kgl. 
preuß.  Kunstsammlungen,  einen  anderen  im  Goethe- Jahrbuch 
finden. 

2)  Renaissance  und  Barock,  S.  15  ff. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  12. 


hatte.  Von  diesem  wird  man  daher  ausgehen  müssen, 
wenn  es  sich  um  eine  Darstellung  der  Entstehung 
und  Verbreitung  des  malerischen  Stiles  in  der  Malerei 
selbst  handeln  sollte.  Abendmahl,  Madonna  in  der 
Grotte,  Anbetung  der  Könige  und  der  leider  ver¬ 
lorne  Karton  zur  Anghiarischlacht :  das  ist  wahr¬ 
scheinlich  die  Stufenleiter,  auf  der  Leonardo  zur 
Höhe  empordrang.  Versuchen  wir  ihm  dabei  zu 
folgen! 

Im  Abendmahl  hatte  er  die  Aufgabe,  eine  an  sich 
unmalerisch  in  einer  Reihe  sitzende  Gesellschaft 
darzustellen.  Wollte  er  Christus  im  Centrum  und 
die  Apostel  gleichmäßig  verteilt  an  dessen  Seiten 
behalten  —  und  so  forderten  es  das  Herkommen  und 
vielleicht  auch  die  Besteller  —  so  konnte  er  keine 
hinreichend  lebhafte  Bewegung  des  Gruppenbaues 
erzielen.  Er  legte  daher  Nachdruck  auf  eine  außer¬ 
halb  der  Reihe  wirksame  Lichtkomposition:  der  grell 
beleuchtete  Tisch,  die  Fenster  und  Thüren  des  Hinter¬ 
grundes,  der  dazwischen  im  Helldunkel  liegende 
Saalraum,  das  sind  die  Dinge,  welche  der  Blick  zu¬ 
erst  trifft;  dann  erst  treten  die  Figuren  hervor.  Der 
Beschauer  allerdings  giebt  sich  über  dieses  Nachein¬ 
ander  keine  Rechenschaft,  er  empfindet  nur;  dass 
die  Figuren  außerordentlich  lebendig  gegeben  sind. 
Und  in  der  That  ist  die  oft  gerühmte  dramatische 
Belebung  das  zweite  Moment,  mit  dem  Leonardo 
hier  rechnet.  Wie  er  aber  in  dem  Spiel  des  Lichtes 
noch  nicht  über  feste  Raumgrenzen  hinausgeht,  so 
gelingt  es  ihm  auch  noch  nicht,  jeden  von  den 
zwölf  Jüngern  in  gleich  überzeugender  Art  an  der 
dramatischen  Handlung  teilnehmen  zu  lassen. 

Eine  wunderbare  Abklärung  ist  in  der  Madonna 

40 


3()6 


DER  MALERISCHE  STIL. 


in  cler  Grotte  eingetreten.  Hier  sind  Licht  und  Schatten 
ebenso  tief  geworden,  wie  die  Seelenstimmung,  welche 
die  Figurengruppe  durchdringt.  Das  ist  die  Six¬ 
tinische  Madonna  Leonardo’s,  der  Ausfluss  einer 
geradezu  göttlichen  Intuition.  Ich  kann  mich  diesem 
Bilde  gegenüber  nicht  des  Eindruckes  erwehren, 
dass  Leonardo  darin  etwas  wie  Musik  malte,  etwas 
wie  eine  gemütdurchströmte  Symphonie,  in  der  die 
Figuren  das  Leitmotiv  geben,  Licht  und  Schatten 
aber  wie  ein  harmonischer  Akkord  mitklingen. 

Leonardo  war  Musiker.  Man  gestatte,  dass  ich 
die  ja  längst  bekannten  Belege  dafür  hier  nochmals 
kurz  zusammenstelle.  Yasari  führt  schon  unter  den 
Beschäftigungen  seiner  Jugend  neben  der  Mathe¬ 
matik  die  Musik  an.  Er  hätte  sich  bald  entschlossen, 
die  Lyra  spielen  zu  lernen  und  habe,  dazu  von  der 
Natur  mit  hohem  Geist  und  einer  Fülle  von  Anmut 
ausgestattet,  göttlich  nach  freier  Erfindung  ge¬ 
sungen.  *)  Und  später  giebt  derselbe  Yasari  als 
Grund  der  Berufung  nach  Mailand  an,  der  Herzog 
habe  großes  Vergnügen  am  Spiel  der  Lyra  gehabt 
und  Leonardo  sei  mit  hohen  Ehren  nach  Mailand 
geführt  worden,  um  diese  Kunst  zu  üben;  er  habe 
jenes  Instrument  mitgebracht,  welches  er  mit  eigener 
Hand  zum  großen  Teil  in  Silber  und  zwar  in  Form 
eines  Pferdekopfes  gebaut  hatte.  Es  sei  dies  eine 
bizarre  und  ueue  Art  gewesen,  darauf  berechnet,  den 
Klang  zu  verstärken  und  wollautender  zu  machen. 
Leonardo  habe  damit  alle  Musiker  iibertroffen,  die 
damals  in  Mailand  zum  Spiele  zusammengekommen 
waren.1  2)  Dass  Leonardo  über  den  Bau  der  Instru¬ 
mente  nachgesonnen  hat,  belegen  Skizzen,  die  er 
von  solchen  entworfen  hat,  so  ist  im  Codex  Atlan- 
ticus  (S.  215  r.J  eine  Art  Zither  und  ein  Clavicembalo 
abgebildet.3)  Auch  Luca  Pacioli,  der  1496—99  mit 
Leonardo  in  Mailand  zusammengetroffen  war  und 
dann  in  Florenz  mit  ihm  gewohnt  batte,  nennt  ihn 
in  seinem  Tractat  über  die  Architektur  degnissimo 
pictore,  prospectivo  architecto  musico. 4)  Dazu  käme 
dann  noch  ein  anonymerZeuge  des  16.  Jahrhundert, 
welcher  meldet,  Lorenzo  magnifico  habe  den  30jäh- 
rigen  Leonardo  (1482)  an  Lodovico  Sforza  nach  Mai¬ 
land  gesandt,  damit  er  diesem  eine  Leier  über¬ 
bringe.  Leonardo  sei  als  Musiker  einzig  in  seiner 
Art  gewesen.5) 

Leider  ist  auch  diese  Seite  von  Leonardo’s  Wirk¬ 

1)  Ed  Milanesi  IV,  S.  18/ 

2)  Ebenda  IV,  S.  28. 

■j)  Vgl.  Brun  im  Repertorium  f.  Kunstw.  XV,  S.  280. 

4)  Cap.  VI,  ed.  Winterberg,  S.  144. 

5)  Milanesi  im  Archivio  storico  XVI,  S.  219  ff. 


samkeit  bisher  nicht  zum  Gegenstand  eingehender 
Studien  gemacht  worden.  Doch  schließt  vor  Allem 
die  Angabe  Pacioli’s  jeden  Zweifel  aus.  Und  wenn 
auch  gar  keine  Nachrichten  über  Leonardo  als  Musiker 
auf  uns  gekommen  wären,  so  müsste  man,  glaube 
ich,  angesichts  der  Madonna  in  der  Grotte  eine 
Ahnung  davon  bekommen.  Insbesondere  aber  scheint 
Leonardo’s  Lieblingsgestalt,  der  Schutzengel  dieser 
Madonna,  der  Engel  ferner  in  Yerrocchio’s  Taufe 
und  der  junge  Magier  links  in  der  Anbetung  der 
Könige  ausschließlich  durch  eine  Empfindung  ein¬ 
gegeben,  die  aus  dem  Wesen  der  Musik  strömt. 
Die  Haltung  des  Oberkörpers,  die  lauschende  Nei¬ 
gung  des  Kopfes,  der  unbestimmt  aus  dem  Innern 
quellende  Blick,  dazu  die  selbstlos-passive  Hingabe 
der  ganzen  Erscheinung,  das  sind  die  sprechenden 
Merkmale  musikalischer  Stimmung. 

Ich  möchte  daher  glauben,  dass  wir  der  Musik 
einen  wesentlichen  Anteil  an  der  Ausbildung  von 
Leonardo’s  malerischem  Stil  zuschreiben  sollten,  in¬ 
sofern  nämlich,  als  er,  der  als  Musiker  gewohnt  war, 
auch  die  zartesten  Regungen  des  Gemütes  künst¬ 
lerisch  zum  Ausdruck  zu  bringen,  die  gleiche  An¬ 
forderung  auch  der  Malerei  gegenüber  zu  stellen 
begann.  Alle  Hilfsmittel  der  Technik  sollten  dazu 
herhalten,  „alles  was  schattenverursachender  Körper 
und  was  primitiver  und  sich  ableitender  Schatten,  was 
Beleuchtung,  d.  h.  Finsternis,  Licht,  Farbe,  was 
Körper,  Figur,  Lage,  was  Entfernung  und  Nähe, 
was  Bewegung  und  Ruhe  ist“  —  kurz  Alles,  was 
zum  Handwerksmäßigen,  nach  Leonardo  „zur  Wissen¬ 
schaft“  der  Malerei  gehört.  In  erste  Linie  aber 
tritt  sehr  bald  die  Durchbildung  einer  die  Linear¬ 
komposition  durchsetzenden  Verteilung  von  Licht  und 
Schatten,  die  Entdeckung  des  Helldunkels  und  seiner 
außerordentlichen  Ausdrucksfähigkeit.  Eine  Ahnung 
davon  steckt  schon  in  dem  Frauenporträt  der  Liechten¬ 
steingalerie.  Mit  Beibehaltung  der  Komposition  des 
Busches  schafft  Leonardo  später  die  Grotte,  die  er 
für  die  Herstellung  des  Halbdunkels  in  ähnlicher 
Weise  verwertet,  wie  den  langen,  tiefen  Saal  im 
Abendmahl.  Nach  meinem  Empfinden  ist  das  zau¬ 
berische  Dämmerlicht,  welches  die  Grotte  durch¬ 
rieselt,  dem  weichen  Akkord  vergleichbar,  welcher 
der  melodischen  Stimme  folgt,  die  durch  die  in  hellen 
Streiflichtern  modellirten  Figuren  vertreten  wird. 

Soweit  kam  Leonardo  in  Mailand.  Die  Madonna 
in  der  Grotte  liegt  ebensoweit  außerhalb  der  Floren¬ 
tiner  Kunstsphäre,  wie  Raffael’s  Sixtina  oder  Cima- 
bue’s  Madonna  in  der  Unterkirche  von  Assisi. 

Nach  Florenz  zurückgekehrt,  sucht  sich  der 


DER  MALERISCHE  STIL. 


307 


Meister  mit  den  noch  bestehenden  altflorentinischen 
Kunstprinzipien  auseinanderzusetzen.  Die  Anbetung 
der  Könige  ist  der  lehrreichste  Beleg  dafür.  Die 
einfache  Größe  des  künstlerischen  Vortrages,  die 
Abendmahl  und  Grottenmadonna  auszeichnet,  ist 
verlassen,  bunte  Mannigfaltigkeit,  wie  sie  die  Kunst 
der  Botticelli  und  Ghirlandajo,  d.  h.  wohl  den  Floren¬ 
tiner  Geschmack  des  ausgehenden  Quattrocento’s 
cliarakterisirt,  umgiebt  die  Hauptgruppe.  Leonardo 
ist  hier  wieder  ganz  und  ausschließlich  im  Fahr¬ 
wasser  der  Malerei.  Die  reich  gegliederte  Kom¬ 
position  zeigt  in  ihrer  Wohlabgewogenheit  mehr 
ruhig  fachmännische 
Überlegung,  als  ideales 
Gestalten.  Dabei  hältLeo- 
nardo  an  seiner  bedeu¬ 
tendsten  Mailänder  Er¬ 
rungenschaft  der  Bele¬ 
bung  des  Eindruckes  mit 
Hilfe  einer  Durchsetzung 
der  linearen  durch  eine 
Lichtkomposition  fest. 

Das  Gleiche  kann  von  der 
Mona  Lisa  gelten.  Trotz 
des  einfachen  Dreieck¬ 
umrisses  macht  das  Bild 
keine  massige  Wirkung, 
weil  die  äußere  Zusam¬ 
menfassung  durch  kreu¬ 
zende  Linien  von  innen 
heraus  wieder  aufgeho¬ 
ben  ist  und  breite  Licht¬ 
massen,  die  auch  in  die 
Landschaft  überspringen, 
den  geschlossenen  Ein¬ 
druck  der  Körpermasse  Engel  aus  der  Madonna  in  der 
malerisch  auf'lösen.  Dazu 

gesellt  sich,  wie  in  der  Anbetung,  die  Schiefstellung 
der  Hauptaxe  und  im  Besonderen  die  verschiedene 
Wendung  der  einzelnen  Körperteile.  Es  ist  übrigens 
von  Wert,  was  Vasari  berichtet,  dass  Leonardo,  um 
dem  Kopfe  der  schönen  Frau  den  gewünschten  Aus¬ 
druck  zu  geben,  immer  jemanden  zugegen  sein  ließ, 
der  sang,  spielte  und  Scherz  trieb.  So  musste  denn 
auch  hier  wieder  die  Musik  eingreifen. 

Den  Höhepunkt  der  ThätigkeitLeonardo’s  in  der 
Heimat  bildete  jedenfalls  sein  Karton  zur  Anghiari- 
schlacht,  dessen  Hauptgruppe,  den  Kampf  um  die 
Standarte,  wir  aus  Vasari’s  Beschreibung  und  mehreren 
Handzeichnungen  kennen.  Wir  bewundern  daran 
das  über  alle  Maßen  genial  geordnete  Gleichgewicht 


der  im  wilden  Kampfe  durcheinander  geworfenen 
Menschen  und  Pferde.  Das  Ganze  hat  einen  dem 
Dreieck  sich  nähernden  halbkreisförmigen  Umriss, 
dessen  Centrum  die  gekreuzten  Vorderbeine  zweier 
sich  aufbäumenden  Pferde  bilden.  Der  Knäuel  wil¬ 
desten  Kampfgewühles  löst  sich  bei  näherem  Zu¬ 
sehen  wunderbar  organisch,  so  dass  nicht  ein  Glied 
anders  sein  könnte,  ohne  die  notwendige  Harmonie 
zu  stören. 

Die  Gruppe  eignet  sich  vorzüglich  für  die  Mitte 
einer  größeren  Komposition,  von  der  wir  uns  mit  Hilfe 
einzelner  Skizzen  von  Leonardo’s  Hand  wenigstens 

eine  Ahnung  machen  kön¬ 
nen.  !)  Es  handelte  sich 
ganz  allgemein  um  ein 
furchtbares  Schlachtge¬ 
tümmel,  in  dem  die  Pferde 
ebenso  blutgierig  auf  ein¬ 
ander  losstürzten  wie  die 
Menschen,  also  um  jenen 
äußersten  Grad  tobender 
Raserei,  wo  nur  noch  die 
Bestie  das  Wort  hat. 

Raffael’s  Konstantins¬ 
schlacht  giebt  einen 
schwachen  Begriff  davon. 
Auf  diesem  Hintergründe 
spielt  der  Kampf  um  die 
Standarte.  Mensch  und 
Tier  sind  besinnungslos 
der  Wut  des  Kampfes 
hingegeben,  heiseres  Ge¬ 
brüll,  Blut,  Staub,  Hauen, 
Stoßen  und  Zerren  in  wil¬ 
dem  Getümmel  durch- 
Grotte  von  Leonardo.  —  London.  einander.  Der  Künstler 

schwelgt  geradezu  im  Er¬ 
finden  kühner  Bewegungen  und  Verkürzungen.  „In 
Historien  aber  mache  Verkürzungen  aller  Art,  wie  es 
dir  vorkommt,  sonderlich  in  Schlachten,  denn  hier  sind 
unendliche  Körperverdrehungen  und  Biegungen  der 
Teilhaber  an  solcher  Zwietracht  oder  besser  gesagt, 
höchst  bestialischer  Raserei  ganz  notwendig  am 
Platz.“  Das  die  eigenen  Worte  Leonardo’s.1 2)  Oder: 
„Eine  Figur  im  Zorn  lässest  du  Einen  bei  den  Haaren 
festhalten,  ihm  das  Haupt  zur  Erde  drehend  und 


1)  Zusammengestellt  von  J.  P.  Richter,  The  litt,  works 
of  L.  d.  V.  I,  pl.  LII  ff. ;  Einiges  auch  bei  Pulszky  Kärolj7, 
Czatakepek  a  XYI — ik  szäzadbol. 

2)  Das  Buch  d.  Malerei  ed.  Ludwig  I,  S.  214,  §  177, 
III,  S.  134,  Nr.  243. 


40 


308 


DER  MALERISCHE  STIL. 


ihm  ein  Knie  in  die  Rippen  setzend.  Mit  dem  rechten 
Arm  lassest  du  ihn  den  Dolch  hoch  heben“  u.  s.  f.1) 
Ist  das  nicht  geradezu  die  Deutung  für  die  mittlere 
Gruppe  am  Boden  unter  den  Füßen  der  Pferde? 
Zu  alledem  denke  man  sich  die  Mischung  von  Dampf, 
Luft,  Rauch  und  Staub,  wie  sie  Leonardo  als  Atmo¬ 
sphäre  für  ein  Schlachtengemälde  vorschreibt2)  und 
man  wird  zugeben  müssen,  dass  dieser  Künstler  an 
realistischer  Gestaltungskraft  nicht  überboten  worden 
sein  dürfte.  Wie  harmlos  ist  dagegen  Tizian  in 
seiner  Cadoreschlacht!  Nur  Rubens  hat  erfolgreich 
mit  Leonardo  wetteifern  können  —  und  sein  Rivale 
bei  Ausführung  dieser  Arbeit,  Michelangelo. 

So  sehr  die  Wege  der  beiden  Künstler  sonst 
auseinander  gingen,  in  dem  Wettstreite,  der  im  Jahre 
1503  Gelegenheit  zur  Entfaltung  des  von  ihnen  ge¬ 
fundenen  neuen  Stiles  gab,  zeigten  sie  sich  eben¬ 
bürtig.  Auch  Michelangelo’s  Aufgabe  war  eine 
Schlachtscene.  Solch  dramatisch-wildbewegtes  Leben 
verstanden  beide  meisterhaft  zu  geben.  Im  übrigen 
aber  waren  sie  grelle  Gegensätze.  Michelangelo, 
durch  und  durch  Kraftmensch,  verkörperte  in  gigan¬ 
tischer  Formenfülle  übermenschliche  Anstrengungen 
des  Geistes  und  Körpers.  Leonardo,  bei  aller  ge¬ 
nialen  Geistesschärfe  voll  seelischer  Wärme  und 
Weichheit,  suchte  den  Ausdruck  für  die  zarteste 
Gemütstiefe  und  den  edelsten  Seelenschmelz.  Dieser 
schroffe  Gegensatz  der  Meister  ist  symptomatisch 
für  ihre  Zeit.  Im  15.  Jahrh.  gab  es  nur  ein  Ziel 
und  einen  Weg:  Erreichung  des  Ideals,  welches  Natur 
und  Antike  boten,  durch  eifriges,  gewissenhaftes 
Studium  beider.  Der  Künstler  verhielt  sich  voll¬ 
kommen  objektiv,  er  dachte  nicht  daran,  Natur  oder 
Antike  überbieten  zu  wollen.  Leonardo  und  Michel¬ 
angelo  vollziehen  den  Umschwung,  der  sich  allmählich 
allgemein  verbreitet,  den  Übergang  nämlich  zu 
subjektiver  Anschauung  der  Dinge.  Jetzt  erst  war 
es  möglich,  dass  zwei  große  Künstler  so  verschiedene 
Wege  wandeln  konnten. 

Und  wie  haben  nun  die  Zeitgenossen  zwischen 
Leonardo  und  Michelangelo  gewählt?  In  Oberitalien 
findet  Leonardo  in  Mailand  einen  Anhang  geistloser 
Nachahmer,  während  in  Venedig  durch  ihn  die  Ent¬ 
faltung  der  keuschen  Jugendblüte  der  Kunst  in 
Giorgione  gezeitigt  wird.  In  Mittelitalien  aber  siegt 
Michelangelo.  Die  Kunst  in  Rom  und  Florenz  artet 
ein  halbes  Jahrhundert  in  einen  krassen  Manieris¬ 
mus  in  der  Art  des  Altmeisters  aus.  Konnte  man 

1)  Ebenda  I,  S.  378,  §  381,  III,  S.  198,  Nr.  400. 

2)  Ebenda  I,  S.  188,  §  148,  III,  S.  142,  Nr.  262. 


schon  nicht  den  Geist  eines  Michelangelo  und  die  Seele 
Leonardo’s  nachahmen,  so  boten  immerhin  die  Formen 
des  ersteren  so  stark  Greifbares,  dass  sich  die  steuer¬ 
losen  Epigonen  daran  klammern  konnten.  Nur  ein 
großer  Künstler  und  sein  Lehrer  erkennen  die  Rich¬ 
tung  des  Leonardo  in  ihrer  ganzen  Tiefe  und  sind 
im  Stande,  ihr  zu  folgen:  Raffael  und  Fra  Barto- 
lommeo.  Allerdings  scheint  Raffael  erst  in  Rom  das 
volle  Verständnis  für  Leonardo’s  Größe  aufgegangen 
zu  sein,  wie  ihn  erst  in  den  letzten  Jahren  seines 
Lebens  Michelangelo’s  Geist  gefangen  nimmt.  Raffael 
war  eben  bei  aller  Aufnahmsfähigkeit  zu  selb¬ 
ständig,  als  dass  er  rein  äußerlich  zum  Nachahmer 
hätte  werden  können.  Erst  wenn  die  Errungen¬ 
schaften  anderer  in  seinem  eigenen  Innern  ver¬ 
arbeitet  und  gereift  waren,  dann  entströmten  die 
neuen  Formen  geläutert  dem  eigenen  Pinsel. 

In  den  Gemälden  der  Stanza  della  Segnatura 
ahmt  Raffael  im  Gruppenbau  wie  in  Einzelfiguren 
Leonardo  nach.  Noch  bedeutender  kommen  die  Prin¬ 
zipien  Leonardo’s  in  den  Gemälden  zur  Geltung, 
welche  in  die  Periode  1511—14  gehören.  Anton 
Springer ])  hat  erkannt,  dass  sich  in  dieser  Zeit 
und  zwar  am  deutlichsten  in  den  Fresken  der  zweiten 
Stanze  ein  Umschwung  in  Raffael’s  Stil  vollzieht. 
Die  ganze  Komposition  gliedert  sich  nicht  allein  nach 
größeren  Massen;  auch  an  den  einzelnen  Gruppen 
und  Gestalten  werden  nicht  so  sehr  die  Linien  als  die 
Flächen,  welche  durch  Licht  und  Schatten  ihre  Form 
gewinnen,  betont.  Dazu  gesellt  sich  größere  dra¬ 
matische  Zuspitzung  des  Momentes  der  Handlung 
—  wie  sie  Leonardo  im  Abendmahl  und  der  Anghiari- 
schlacht  gegeben  hatte  —  und  die  weitgehendste 
Anwendung  des  Helldunkels.  Das  Alles  lässt  sich 
im  Bilde  des  Heliodor,  in  der  Messe  von  Bolsena 
und  der  Befreiung  Petri  mit  überzeugender  Klarheit 
nach  weisen;  Springer  hat  Sodoma  und  Sebastiano 
del  Piombo  für  diese  Stilwandlung  verantwortlich 
machen  wollen.  In  Wahrheit  ist  es  Leonardo,  der 
jetzt  erst  bei  Raffael  voll  zur  Geltung  kommt. 

Und  auch  die  Tafelbilder  Raffael’s  aus  dieser 
Periode  sind  ohne  Leonardo  undenkbar.  Die  Madonna 
mit  dem  Fisch  in  Madrid  zeigt  in  der  Gruppe  des 
Engels  mit  dem  Tobias  den  Nachklang  von  Leo- 
uardo’s  Schutzengel  in  der  Madonna  in  der  Grotte. 
„Die  vielgepriesene  wunderbare  Innigkeit  dieser 
Gruppe,  die  selbst  Raffael  niemals  wieder  erreicht 
hat,“  geht  direkt  auf  Leonardo  zurück.  Die  beiden 
visionären  Marienbilder,  die  Madonna  di  Foligno 


1)  Raffael  und  Michelangelo  2.  A  I,  S.  279. 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


309 


und  die  Sixtinische  Madonna  sind  zum  Teil  nichts 
anderes  als  in  Raffael’s  Sprache  übersetzte  Werke 
Leonardo’s  in  der  Art  der  Berliner  Auferstehung. 
Ja,  der  hl.  Franziscus  in  der  Madonna  di  Foligno 
und  die  beiden  knieenden  Gestalten,  der  Papst  links 
und  die  hl.  Barbara  rechts  in  der  Madonna  di  S. 
Sisto,  könnten  als  direkt  von  der  Auferstehung  an¬ 
geregt  gedacht  werden.  In  der  Dresdener  Madonna 
aber  ist  es  zugleich,  wo  der  durch  die  Größe  Leo¬ 
nardo’s  beengte  Genius  Raffaels  sich  phönixgleich 
aus  den  Flammen  künstlerischer  Glut  aufschwingt 
und  in  der  Madonna  mit  dem  Kinde  das  ewige  Ideal 
dessen  schafft,  was  die  christliche  Kunst  überhaupt 
leisten  konnte.  Das  war  der  größte,  aber  auch  der 
letzte  Sieg  des  Naiven  über  das  Sentimentale.  Nun 


geht  es  bergab,  die  Rolle  der  Malerei  ist  bald  aus¬ 
gespielt,  die  Musik  wächst  empor,  Palestrina,  Bach 
und  Händel  treten  auf.  Und  Raffael,  könnte  man 
meinen,  verkörpert  diesen  Übergang  in  einem  Bilde, 
das  ganz  durchdrungen  ist  von  Leonardesker  Stim¬ 
mung  und  des  großen  Florentiners  Formen,  in  der 
hl.  Cäcilia:  sie  lässt  ihr  Instrument  sinken,  ein 
Chor  frischer  Stimmen  übernimmt  ihr  Spiel.  Wie 
die  bildende  Kunst,  so  war  auch  die  Heilige  auf 
die  Dauer  nicht  im  Stande,  mit  ihren  Mitteln  den 
gesteigerten  Anforderungen  des  Ausdruckes  Genüge 
zu  leisten.  Der  malerische  Stil,  von  Correggio  zu 
klassischer  Vollendung  ausgebildet,  war  die  letzte 
Phase  einer  großen  Entwicklung  der  bildenden 
Künste  vor  ihrer  Entartung. 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 

VON  ADOLF  ROSENBERG. 

MIT  ABBILDUNGEN. 

II. 

(Schluss.) 


ÄHREND  die  Steinarchitek¬ 
tur  der  englischen  Gotik  in 
der  Konstruktion  und  De¬ 
koration  der  Kirchengewölbe 
schnell  zu  einer  Höhe  em¬ 
porstieg,  die  bei  der  Natur 
des  Materials  nicht  mehr 
überschritten  werden  konnte, 
blieb  die  Holzarchitektur  nicht  müßig.  Sie  fand 
bei  dem  ungeheueren  Holzreichtum  des  Landes  neben 
der  Steinarchitektur  noch  genügenden  Raum  zur 
Entfaltung  ihrer  Kräfte.  Nachdem  die  ländlichen 
Holzkirchen  durch  Steinbauten  verdrängt  worden 
waren,  war  es  der  Profanbau,  vorzugsweise  das 
bürgerliche  und  bäuerliche  Wohnhaus,  an  dem  der 
Holzbau  sich  weiterbildete.  Wie  in  Deutschland,  schuf 
er  sich  eine  Art  der  Verzierungsweise,  die  nicht  etwa 
auf  auswärtige  Vorbilder,  sondern  einfach  auf  die 
Handhabung  der  Axt  und  ähnlicher  ursprünglicher 
Werkzeuge  zurückzuführen  ist.  Nur  so  erklärt  es 
sich,  dass  in  England,  wie  überall,  wo  man  Fach¬ 
werksbauten  aufgeführt  hat,  die  auf  Brett  geschnit¬ 
tenen  Flachornamente,  der  Schmuck  der  Balkenköpfe 
und  Knaggen,  eine  gewisse  Übereinstimmung  in  den 
Grundlinien  und  Verschlingungen  zeigen.  Es  ist 


eben  ein  neuer  Beweis  für  die  alte  Wahrheit,  dass 
ein  wirklich  lebendiger  Kunststil  nicht  aus  der 
blindeu  Nachahmung  oder  gar  aus  theoretischen 
Spekulationen,  sondern  aus  der  Technik,  ja  sogar 
direkt  aus  dem  Werkzeug  erwächst.  Solcher  eng¬ 
lischen  Holz-  und  Fachwerksbauten  hat  sich  noch 
eine  beträchtliche  Anzahl  erhalten,  so  besonders  in 
den  Städten  Chester,  Salisbury,  Shrewsbury,  Bath 
und  selbst  in  der  Altstadt  von  London.  Da  das 
Material  (Eichen-  und  Nussbaumholz)  sehr  wider¬ 
standsfähig  ist,  würde  ihre  Zahl  noch  größer  sein, 
wenn  sich  nicht  die  englischen  Städte,  besonders  die 
mittelgroßen  Industriestädte,  in  einem  beständigen 
Erneuerungsprozess  befänden.  Die  vorhandenen  Bei¬ 
spiele  genügen  aber,  um  uns  zu  zeigen,  dass  der 
Grundtypus  des  englischen  Holzhauses  völlig  autoch- 
thon,  namentlich,  wie  Uhde  in  seinem  Text  hervor¬ 
hebt,  völlig  unabhängig  von  den  Holzbauten  der 
Normandie  und  Hollands  sind,  die  zuerst  bei  einem 
Vergleich  in  Betracht  kommen.  Unsere  Abbildung 
(Fig.  7)  führt  ein  Beispiel  aus  Chester  vor,  das  zwar 
bereits  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrh.  (1652)  an¬ 
gehört.  Aber  es  ist  bekannt,  dass  der  Facli werks¬ 
bau  sehr  zäh  an  seinen  Grundbedingungen  und 
Überlieferungen  festgehalten  und  insbesondere  Re- 


Abb.  7.  Holzhaus  in  Chester,  erbaut  1852. 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


311 


naissance-Elemente  nur  widerwillig,  meist  nur  als 
dekorative  Zuthaten  aufgenommen  hat.  So  darf  denn 
auch  das  Haus  aus  Chester,  trotz  seiner  späten  Ent¬ 
stehungszeit,  für  den  englischen  Fachwerksbau  als 
typisch  gelten,  um  so  mehr,  als  mit  ihm  noch 
andere  Holzhäuser  in  Chester,  u.a.  auch  das  von  1615 
datirte  „  Bishop  Lloyds  House“  in  den  Grundzügen 
übereinstimmen.  Uber  dem  den  Keller  enthaltenden 
Unterbau  erhebt  sich  eine  nach  der  Straße  offene,  durch 
eine  seitlich  angeordnete  Treppe  zugängliche,  mit 
einer  Holzgalerie  versehene  Halle,  aus  der  die  Treppe 
zu  dem  einzigen  Stockwerk  emporführt,  dessen  Ab¬ 
schluss  das  Giebelgeschoss  bildet.  Ist  schon  die 
Halle,  die  wohl  als  eine  bürgerliche  Analogie  zu 
den  „Halls“  in  den  städtischen  Schlössern  und  den 
Landsitzen  des  Adels  aufzufassen  ist,  eine  charak¬ 
teristische  Eigentümlichkeit  der  auch  iu  klein¬ 
städtischer  Enge  nach  Luft  und  Licht  strebenden 
Briten,  so  zeigt  sich  diese  Eigenart  noch  stärker  in 
den  Abmessungen  der  Fenster,  die  die  Fassaden  so 
durchbrechen,  dass,  wie  Uhde  treffend  bemerkt,  die 
ausgemauerten  Wandflächen  daneben  verschwinden 
und  die  „Fassaden  nur  aus  Glas  und  Holzralimwerk 
hergestellt  zu  sein  scheinen.“  Es  giebt  auch  größere 
Landsitze  mit  zwei  und  mehr  Stockwerken,  die  in 
diesem  Fachwerksbau  ausgeführt  sind. 

Seine  Hauptkraft  entfaltete  der  englische  Holz¬ 
bau  aber  erst,  als  er  in  der  Gewölbekonstruktion  mit 
dem  Steinbau  zu  wetteifern  begann,  der  seinerseits 
in  der  Gewölbebildung  von  jenem  die  ersten  An¬ 
regungen  empfangen  zu  haben  scheint.  Uhde  ist  in 
dem  Texte  zu  den  „Baudenkmälern  in  Großbritannien“ 
sogar  der  Ansicht,  dass  in  England  „mehr  als  in 
anderen  Ländern  die  Traditionen  des  hölzernen, 
architektonisch  reich  und  oft  ganz  vollendet  durch¬ 
gebildeten  Dachstuhls  mit  seinen  freitragenden  Drei¬ 
ecksverbindungen  und  reich  getäfeltem  Dach  bezw. 
Deckenflächen  dazu  beigetragen  haben,  die  kon¬ 
struktiven  Liniensysteme  des  Holzbaues  auch  auf  die 
Steingewölbe  zu  übertragen.“  Bei  dem  Mangel  an 
genügenden  Grundlagen  wird  sich  diese  Frage  vor¬ 
läufig  noch  nicht  zur  Entscheidung  bringen  lassen. 
So  viel  ist  aber  sicher,  das  jede  dieser  Konstruktionen 
bald  ihre  eigenen  Wege  ging,  die  Steiukonstruktion, 
indem  sie,  wie  schon  im  vorigen  Artikel  erwähnt, 
in  Stern-  und  Fächergewölben  ihre  größte  Kühnheit 
und  höchste  Pracht  entfaltete,  der  Holzbau  in  der 
konsequenten  W eiterbildung  der  freitragenden  Decke, 
die  ebenfalls  zu  höchstem  Raffinement  und  glänzend¬ 
ster  Prachtentfaltung  gedieh.  Wenn  man  im  all¬ 
gemeinen  annimmt,  dass  die  allmähliche  Entwicklung 


der  freitragenden  Holzdecken  mit  der  des  Tudor- 
stils  parallel  lief,  so  ist  dieser  Annahme  gegenüber 
geltend  zu  machen,  dass  sich  ein  sichtbarer,  frei¬ 
tragender  Dachstuhl  von  reicher  Ausbildung  bereits 
in  der  Westminsterhalle  am  Parlamentsgebäude  in 
London  befindet,  deren  Bau  unter  Richard  II.  1398 
vollendet  wurde.  Obwohl  es  solcher  freitragenden 
Holzdecken  auch  in  Kirchen  giebt  —  wir  citiren  als 
ein  Beispiel  reicher,  konstruktiv  besonders  gelungener 
und  in  den  Details  sehr  zierlicher  Durchbildung  die 
Decke  in  der  Stephanskirche  zu  Norwich,  —  wurde 
diese  Art  der  Konstruktion  doch  mit  Vorliebe  für 
die  Uberdeckung  weiter  Hallen  und  Versammlungs¬ 
säle  angewendet.  Und  auch  für  diese  Zwecke  er¬ 
scheint  sie  immer  als  Begleiterin  des  Tudorstils,  der 
sich  trotz  aller  Versuche,  die  seit  1518  von  Italien 
nach  England  eingeführte  Renaissance  heimisch  zu 
machen,  bis  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
lebendig  erhielt  und  in  unserem  Jahrhunderte 
wiederum  für  die  Mehrzahl  der  englischen  Monu¬ 
mentalbauten  maßgebend  geblieben  ist.  Schon  die 
1536  erbaute  große  Halle  von  Hamptoncourt  zeigt, 
dass  der  Holzbau  sowohl  hinsichtlich  der  Kühnheit 
der  Konstruktion  als  auch  in  Bezug  auf  den  Reichtum 
der  Ornamentik  den  gleichzeitigen  Gewölbebau  in 
Stein  mit  seiner  üppigen  Dekoration  erreicht  hatte. 
Was  hier  in  den  freischwebenden,  sich  trichter-  oder 
zapfenförmig  herabsenkenden  Schlusssteinen  und 
Vermittlungsgliedern  der  Fächergewölbe  geleistet 
worden  ist,  das  erzielen  die  von  den  Strebebögen 
frei  herabhängenden,  ebenfalls  als  Abschlüsse  fun- 
girenden  Konsolen,  die  an  der  Decke  der  Halle  von 
Hamptoncourt  über  und  über  mit  reichem  Schnitz¬ 
werk  bedeckt  sind.  Noch  größer  ist  der  Reichtum 
an  solchen  hängenden  Konsolen  an  der  im  übrigen 
ganz  ähnlich  konstruirten,  1572  erbauten,  als  Speise¬ 
saal  dienenden  Halle  des  Middle-Temple  in  London 
(s.  Abbildung  5  auf  S.  289).  Ein  einfacheres  Bei¬ 
spiel  dieser  Gattung  ist  die  Decke  in  der  Halle  des 
Schlosses  Eltham  in  der  Grafschaft  Kent,  während  die 
der  Spätzeit  des  Tudorstils  (1620)  angehörende  Decke 
des  Refektoriums  von  St.  John’s  Kollege  in  Cam¬ 
bridge  wieder  auf  die  Dachstühle  der  Kirchen  des 
15.  Jahrhunderts  zurückgreift. 

Man  pflegt  die  erste  Entwicklungsperiode  der 
Renaissancebaukunst  und  Bildnerei  in  England  mit 
dem  Namen  „Elisabethstil“  zu  bezeichnen,  obwohl 
Queen  Bess  völlig  unverdient  zu  dieser  Auszeichnung 
wie  zu  so  manchem  anderen  Ruhmestitel  gekommen  ist. 
Sie  selber  hat  für  die  bildende  Kunst  so  viel  wie  nichts 
gethan.  Ihr  Name  knüpft  sich  nur  an  ein  einziges 


rmm 


AM).  8.  Kadclifi'esche  Bibliothek  in  Oxford.  1737—1749. 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


313 


Bauwerk,  an  die  Galerie  des  Schlosses  zu  Windsor.  Weise  auf.  Die  Kenntnis  dieses  Stils  hatten  sich 

Im  übrigen  ließ  sie  andere  dafür  sorgen,  die  Zeit  die  englischen  Baukünstler  teils  auf  theoretischem 

ihrer  Regierung  mit  dem  Nimbus  der  Kunst  zu  Wege,  durch  das  Studium  italienischer  und  franzö- 


Abb.  9.  Doppelhaus  in  London,  erbaut  von  Thomas  E.  Collcut. 


umgehen,  indem  sie  die  Großen  ihres  Reiches,  die 
Würdenträger  ihres  Hofes  und  die  Günstlinge  ihres 
Herzens  zum  Bau  von  städtischen  Palästen  und  länd¬ 
lichen,  von  großen  Parkan¬ 
lagen  umgebenen  Schlössern, 
bisweilen  insehr  energischer 
Weise  anzuspornen  wusste. 

An  den  auf  diese  Art  zu 
Stande  gekommenen  Bau¬ 
werken,  die  zum  Teil  den 
Stempel  der  Überhastung, 
zum  Teil  aber  den  schlim¬ 
meren  einer  großen  Einför¬ 
migkeit  an  sich  tragen,  tre¬ 
ten  zuerst  die  Formen  des 
neuen  Stils,  jedoch  nur  in 
rein  äußerlicher,  dekorativer 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  II.  12. 


sischer  Lehrbücher,  teils  durch  Reisen  nach  Italien 
verschafft.  In  wie  oberflächlicher  Weise  dies  aber 
geschehen  ist,  erfahren  wir,  wenn  wir  die  Einzeln- 
heiten  der  Unmenge  von 
städtischen  Palästen  und 
Landsitzen  durchmustern,  die 
sich  an  die  Namen  John 
Thorpe,  Bernard  Adams, 
Lawrence  Beadshaw  und  Ge- 
rard  Chrismas  knüpfen.  Diese 
Künstler  hatten  für  die  kon¬ 
struktiven  Elemente,  für  die 
Bestimmung  der  tragenden 
und  der  schmückenden  Glie¬ 
der  entweder  gar  kein  oder 
doch  nur  ein  geringes  Ver¬ 
ständnis.  Sie  glaubten  schon 
41 


314 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


ein  Höchstes  geleistet  zu  haben,  wenn  sie  nur  die 
drei  antiken  Säulenordnungen  mit  einem  entspre¬ 
chenden  Gebälk  angewendet  hatten.  Auf  eine  or¬ 
ganische  Verbindung  der  fremden  Elemente  mit  der 
heimischen  Baugewohnheit  legten  sie  nicht  den  ge¬ 
ringsten  Wert,  und  daraus  erklärt  es  sich,  dass  der 
national-englische  Stil  immer  das  Übergewicht  über 
die  fremden,  äußerlich  angeklebten  Zutliaten  be¬ 
hauptete. 

Erstaunlich  bleibt  es  immerhin,  dass  diese  eng¬ 
lischen  Schlösser  und  Landsitze  trotz  der  gewalt¬ 
samen  Verbindung  zweier  aus  verschiedenartigen 
Kunst-  und  Lebensgewohnheiten  erwachsenen  Be¬ 
tätigungen  des  Bausinns  einen  wenigstens  im 
malerischen  Sinne  einheitlichen  Gesamteindruck  ma¬ 
chen.  Wenn  man  aber  näher  zusieht,  erkennt  man, 
dass  der  Gartenkünstler  stets  mit  dem  Architekten 
zusammengearbeitet  hat,  um  die  fremde  Architektur 
gewissermaßen  mit  dem  heimischen  Boden  zu  paaren. 
In  jener  Zeit  entstand  das,  was  wir  heute  „englische 
Parkanlage“  nennen,  jene  unvergleichlich  malerische 
Verbindung  der  durch  menschliche  Hand  korrigirten 
Natur  mit  der  sich  selbst  überlassenen,  wild  wachsen¬ 
den.  Sie  verbirgt  Unregelmäßigkeiten  und  Unge¬ 
schicklichkeiten  des  Grundrisses,  Roheit,  Unverstand 
und  Nüchternheit  in  den  Details  und  giebt  selbst 
einer  bescheidenen  Erfindung  den  Anschein  eines 
genialen  Grundgedankens. 

John  Thorpe  gilt  als  Erfinder  und  Hauptver¬ 
treter  des  Elisabethstils,  weil  von  seinen  Vorgängern, 
namentlich  von  Robert  Adams,  keine  Bauten  übrig 
geblieben  sind,  die  diesem  Intendanten  der  könig¬ 
lichen  Bauten  mit  Sicherheit  zugeschrieben  werden 
könnten.  Aus  den  von  Thorpe  erbauten  Schlössern, 
die  fast  allein  für  den  Elisabethstil  in  Betracht 
kommen,  hat  Uhde  folgende  Definition  dieses  Stils 
gewonnen:  „Charakteristisch  für  die  Paläste  und 
Landsitze  war  zunächst  der  Grundriss,  welcher  meist 
die  Form  des  |— |  oder  I — I  hatte  ....  Das  prächtige 
Treppenhaus,  die  sehr  langen  und  breiten  Galerien 
und  die  geräumige  Eingangshalle  nahmen  sehr  häufig 
den  größten  Teil  desselben  ein.  Im  Äußeren  sind 
bemerkenswert  die  vielen  luftigen  Erkerfenster  (bay 
Windows)  mit  gotisirender  Maßwerksteilung,  die  mit 
Säulen,  Figuren,  Wappen  und  Sinnsprüchen  ver¬ 
zierten,  oft  überladenen  Portiken,  die  durchbrochenen 
Balustraden  und  reich  verschnörkelten  Giebel,  hinter 
denen  sich  die  Dächer  meist  verstecken,  sowie  die 
vielen  Schornsteinköpfe,  die  im  Verein  mit  Eck-  und 
Glockentürmen  eine  wilde,  aber  reiche  Silhouette 
geben.“ 


Aus  diesen  allgemeinen  Andeutungen,  die  sich 
schwerlich  erweitern  oder  genauer  präcisiren  lassen 
dürften,  ersieht  man,  dass  der  Elisabethstil  kein  Stil 
im  eigentlichen  Sinne  ist,  dass  der  Name  vielmehr 
nur  ein  Notbehelf  ist,  um  eine  Gruppe  von  Bau¬ 
werken,  die  in  enger  Verwandtschaft  mit  einander 
stehen,  zur  bequemeren,  geschichtlichen  und  ästhe¬ 
tischen  Betrachtung  in  einer  Rubrik  unterzubringen. 
Uhde  hat  in  seiner  Charakteristik  den  Zusammen¬ 
hang  der  Bauten  des  „Elisabethstils“  mit  denen  des 
„Tudorstils“  vielleicht  nicht  stark  genug  betont.  Sonst 
würde  er  sich  vielleicht  dafür  ausgesprochen  haben, 
dass  die  Fiction  eines  besonderen  „Elisabethstils“ 
angesichts  der  Denkmäler  völlig  unhaltbar  ist.  Das 
Wort  verdankt  seine  Entstehung  überhaupt  nur  dem 
maßlosen  Kultus,  den  die  Engländer  einer  Herrscherin 
dargebracht  haben,  auf  die  sie  so  lange  alle  Tu¬ 
genden  und  Vorzüge  zusammenhäuften,  bis  endlich 
einmal  das  Licht  der  Geschichte  den  Weihrauch¬ 
dunst  aufhellte.  In  Wirklichkeit  ist  der  sogenannte 
„Elisabethstil“  nur  eine  logische  Weiterentwicklung 
des  Tudorstils,  der  unter  dem  Einfluss  freierer  Lebens¬ 
gewohnheiten  und  einer  größeren  Behaglichkeit  und 
Üppigkeit  des  Daseins  aus  dem  auf  Schutz  und 
Trutz  gerichteten  Bausystem  wehrhafter  Schlösser 
zu  der  Gastlichkeit  offener  Landsitze  überging  und 
sie,  zur  Genugthuung  der  Edelleute,  die  die  Mode 
humanistischer  Bildung  und  klassischer  Kunststudien 
mitmachten,  mit  den  gefälligen  Zieraten  der  mo¬ 
disch  -  italienischen  Bau-  und  Bildnerkunst  aus¬ 
stattete. 

Wie  sehr  der  Elisabethstil  an  der  Gotik  hing 
und  mit  ihr  verwachsen  blieb,  zeigen  am  deutlichsten 
die  Teilungen  der  Fenster  durch  steinernes  Stab- 
und  Maßwerk.  Wir  haben  schon  bei  der  Betrachtung 
der  bürgerlichen  Holzhäuser  gesehen,  welch’  eine 
große  Rolle  die  Fenster  im  englischen  Wobnhause 
spielen,  ganz  im  Gegensätze  zu  den  Fenstern  der 
italienischen  Renaissancepaläste ,  die  in  den  Erd¬ 
geschossen  ganz  oder  halb  vermauert,  in  den  oberen 
Geschossen  meist  vergittert  sind.  Dieser  Drang,  mit 
der  Außenwelt,  mit  der  umgebenden  Landschaft  zu 
jeder  Jahreszeit  in  beständigem  Zusammenhang  zu 
bleiben,  steigerte  sich  allmählich  zu  einem  solchen 
Luxus  von  Öffnungen,  dass  die  Mauerflächen  neben 
den  Fenstern  fast  verschwanden.  Man  empfand  dieses 
Missverhältnis  schon  damals.  Denn  über  ein  in  den 
Jahren  1567 — 1599,  also  während  der  höchsten  Blüte 
des  Elisbethstils,  erbautes  Schloss  der  Gräfin  Eli¬ 
sabeth  von  Shrewsbury  kam  der  Spottvers  „Hard- 
wick  Hall,  more  glass  than  wall“  in  Umlauf.  Trotz- 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


315 


dem  ist  an  dieser  Sitte,  wie  wir  später  sehen  werden, 
bis  auf  den  heutigen  Tag  überall  da  festgehalten 
worden,  wo  man  im  Elisabethstil  baut. 

Wie  der  Tudorstil  wurzelte  auch  sein  Nachfolger, 
der  Elisabethstil,  so  fest  im  englischen  Boden,  dass 
er  auch  dann  noch  nicht  völlig  verdrängt  werden 
konnte,  als  die  eigentliche  Renaissance,  d.  h.  die 
studirte  Nachahmung  italienischer  und  später  fran¬ 
zösischer  Muster  in  England  eindrang  und  bald  zur 
Alleinherrschaft  gelangte.  Es  geschah  durch  Inigo 
Jones  zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts,  zu  einer  Zeit 
also,  wo  die  italienische,  speciell  die  römische  Spät¬ 


renaissance  bereits  in  jene  neue  Phase  ihrer  Ent¬ 
wicklung  getreten  war,  die  wir  heute  als  Barockstil 
bezeichnen.  Inigo  Jones,  der  Erbauer  des  Whitehall- 
Palastes,  gehörte  freilich  einer  strengeren  Richtung 
an.  Der  Engländer  fand  sich  mehr  durch  die  strenge, 
wohldurchdachte  Regelmäßigkeit  eines  Palladio  als 
durch  die  Willkür,  den  malerischen  Überschwang 
der  römischen  Barockkünstler  angezogen.  Andere 
seiner  in  England  als  Architekten  und  Bildhauer 
thätigen  Zeitgenossen  dachten  anders.  Ein  unschein¬ 
bares,  aber  sehr  merkwürdiges  Beispiel  dafür  ist  die 
Vorhalle  der  Marienkirche  zu  Oxford  (s.  Abbildung  6 
auf  S.  291),  die  1673  erbaut  worden  ist.  Als  ihr 
Erbauer  wird  ein  Dr.  Owen  genannt ,  was  nicht 


weiter  auffällig  ist,  da  auch  die  Existenz  anderer 
Architekten  bezeugt  ist,  die  sich  mehr  aus  Lieb¬ 
haberei  oder  um  die  Früchte  ihrer  Studien  praktisch 
zu  verwerten,  als  aus  innerem  Beruf  in  der  Baukunst 
versuchten.  Ein  großes  Kunststück  war  es  auch 
gerade  nicht,  ein  Ding  wie  diese  Kirchen  Vorhalle 
zu  komponiren.  Das  Portal,  dessen  Giebelbekrönung 
durch  ein  Tabernakel  mit  der  Statue  der  Madonna 
in  der  Nische  durchbrochen  wird,  ist  eine  Nach¬ 
ahmung  der  zahlreichen  römischen  Kirchenportale 
ähnlicher  Art  aus  dem  Ende  des  16.  und  dem  An¬ 
fang  des  17.  Jahrhunderts.  Auch  hat  Dr.  Owen  offenbar 


einen  geschickten,  in  der  Ausdrucksweise  des  römischen 
Barockstils  geschulten  Bildhauer  zur  Hand  gehabt, 
vielleicht,  wie  gewisse  stilistische  Eigentümlichkeiten 
andeuten,  einen  der  Niederländer,  die  nach  einer  in 
Italien  verbrachten  Lehrzeit  in  England  Arbeit  suchten 
und  fanden.  Das  Merkwürdige  an  diesem  Bauwerk 
ist  nur  der  Rest  nationaler  Bauweise,  der  sich  so¬ 
wohl  in  dem  Flachbogen  über  dem  Eingang,  einem 
richtigen  Tudorbogen,  als  auch  in  der  durchaus 
gotischen,  den  Scheitel  des  Bogens  durchbrechenden 
Konsole  zu  erkennen  giebt,  die  die  Statue  der  Ma¬ 
donna  trägt. 

Noch  enger  in  den  Grenzen  der  Nachahmung 
bewegte  sich  die  englische  Baukunst,  als  Christopher 

41* 


Abb.  li.  Beau  Manor  in  Lougliborougb,  erbaut  von  Joseph  Nash. 


Abb.  12.  IJouse  Aldersleigh  —  New  Walk  (Leicester),  erbaut  von  Stockdale  Hap.pison. 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


317 


IFren  (1632  —  1723)  um  1666  seine  umfassende  Bau- 
thätigkeit  in  London  begann  und  durch  kluge  Be¬ 
rechnung  mit  seiner  Kuppel  der  St.  Paulskirche  sein 
Vorbild,  die  der  Peterskirche  in  Rom,  übertraf.  So 


gedanken  eingab.  Wie  ihre  Ahnen  aus  der  nor¬ 
mannischen  Zeit,  waren  sie  jedoch  stets  erfindungsreich 
genug,  um  den  fremden  Gedanken  einen  persönlichen 
Accent  mitzugeben,  wenn  dabei  auch  oft  genug 


blieb  es  lange  Zeit.  Bald  ahmten  die  englischen 
Architekten  den  Italienern,  bald  den  Franzosen  nach, 
je  nach  der  Laune  ihrer  Auftraggeber  oder  nach 
ihrer  eigenen  Neigung.  Fast  immer  war  es  aber 
ein  vorhandenes  Bauwerk,  das  ihnen  den  ersten  Grund¬ 


etwas  Bizarres  herauskam.  So  macht  z.  B.  der  Rund¬ 
bau,  den  unsere  Abbildung  8  wiedergiebt,  den  Ein¬ 
druck  einer  großartigen  Monumentalität,  dem  man 
fast  bei  allen  englischen  Bauten  des  17.  und  18. 
Jahrhunderts  für  öffentliche  Zwecke  begegnet.  Unsere 


318 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


Bewunderung  wird  noch  erhöht,  wenn  man  gewahr 
wird,  dass  der  Erbauer,  der  Schotte  James  Gibbs,  den 
anmutigsten  aller  Rundtempel  der  Renaissance,  das 
„Tempietto“  des  Bramante  im  Klosterhof  von  San 
Pietro  in  Montorio  in  Rom,  auf  einen  Rustika- 
Unterbau  gestellt,  die  Zwischenräume  zwischen  den 
Säulen  der  unteren  Halle  durch  Mauern  geschlossen 
und  aus  dem  zierlichen  „Tempelchen“  durch  Steigerung 
aller  Verhältnisse  einen  Monumentalbau  geschaffen 
hat.  Und  wozu  dieser  Aufwand?  Zur  Aufnahme 
der  Radcliffe’schen  Bibliothek  in  Oxford!  Es  dürfte 
schwer  werden,  eine  unzweckmäßigere  Bauform  für 
eine  öffentliche  Büchersammlung  zu  ersinnen. 

Der  Klassicismus  hat  trotz  der  Wirksamkeit  von 
Stuart  und  Revett  nicht  besonders  hervorragende 
Bauwerke  erzeugt,  sondern  sich  mit  mehr  oder 
weniger  geschickter,  meist  aber  zweckwidrigen  Nach¬ 
ahmungen  griechischer  Vorbilder  begnügt.  Er  war 
also  kein  Hindernis,  als  sich  in  den  zwanziger  und 
dreißiger  Jahren  auch  über  England  ein  Hauch  von 
Romantik  niederließ  und,  zunächst  durch  schrift¬ 
stellerische  Propaganda,  die  gotische  Baukunst  wie¬ 
der  zu  Ehren  kam.  Außer  den  schon  im  ersten 
Artikel  genannten  Schriftstellern,  die  große  Sammel¬ 
werke  auf  Grund  historischer  und  antiquarischer 
Forschungen  herausgaben,  war  es  besonders  der 
Architekt  A.  W.  Pugin,  der  durch  eine  umfangreiche, 
für  Architekten  berechnete  Publikation  („Examples 
of  Gothic  architecture  selected  from  ancient  edifices 
in  England“)  um  die  Mitte  der  dreißiger  Jahre  und 
zugleich  als  Praktiker  durch  Bauausführungen  für 
die  Wiederbelebung  des  gotischen  Stils  in  England 
eintrat.  Ihm  und  den  Bemühungen  Gleichgesinnter 
gelang  es  auch,  zunächst  den  gotischen  Stil  für  den 
Monumentalbau  populär  zu  machen.  Das  erste 
Hauptwerk  in  dieser  Richtung  ist  der  gewaltige 
Gebäudekomplex  der  1840  begonnenen,  aber  erst  ein 
Yierteljahrhundert  später  vollendeten  Parlaments- 
bäuser  von  Charles  Barry.  Hier  war  allerdings  der 
gotische  Stil,  insbesondere  der  Tudorstil,  schon  von 
vornherein  geboten,  weil  die  Parlamentshäuser  sich 
eng  an  die  schon  beiläufig  erwähnte,  aus  dem  Ende 
des  14.  Jahrhunderts  stammende  Weslminsterhall 
anzuschließen  hatten.  Der  gewaltige  Bau  hat  in  der 
gleichzeitigen  Litteratur  eine  meist  abfällige  Kritik 
erfahren.  Man  fand  die  dem  Fluß  zugekehrte 
Fassade  langweilig  und  einförmig,  die  westliche  zu 
reich  und  schwülstig.  Beute,  wo  sich  das  Bauwerk  in 
die  Physiognomie  der  Themsestadt  so  zu  sagen  einge¬ 
wachsen  hat,  urteilt  man  anders.  So,  wie  man  da¬ 
mals  den  gotischen  Baustil  verstand,  hat  Charles; 


Barry  Großes  geleistet,  freilich  in  der  Beschränkung, 
die  ihm  die  Grenzen  seiner  Begabung  auferlegte. 
Er  war  der  erste,  der  es  wagte,  den  Stil  der  eng¬ 
lischen  Kathedralen  auf  ein  völlig  entgegengesetzten 
Zwecken  dienendes  Bauwerk  zu  übertragen,  und  er 
hat  dafür,  dass  es  ihm  nicht  auf  den  ersten  Wurf  ge¬ 
lungen  ist,  ein  überaus  schwieriges  Problem  zu  lösen, 
durch  die  herbe  Kritik  der  Mit-  und  Nachwelt  büßen 
müssen.  Nichtsdestoweniger  hat  er  in  der  Kon¬ 
struktion  der  drei  Türme  ein  Zeugnis  eindringlicher 
Studien  der  alten  Kathedraltürme  abgelegt  und  da¬ 
mit  zugleich  drei  Dominanten  geschaffen,  die  heute 
niemand  mehr  im  Stadthilde  Londons  missen  möchte. 
Genialer  als  Barry  und  Street,  der  Erbauer  des 
Justizpalastes,  war  Gilbert  Scott,  der  Schöpfer  des 
„Albert-Memorial“  im  Hydepark  zu  London  und 
zahlreicher  gotischer  Kirchen  in  anderen  Städten 
Englands.  Er  ist  auch  bei  uns  in  Deutschland  durch 
den  Bau  der  Nikolaikirche  in  Hamburg  und  durch 
einen  höchst  geistvollen  Entwurf  zum  ersten  Wett¬ 
bewerb  um  das  Reichstagsgebäude  für  Berlin  be¬ 
kannt  geworden.  Dass  letzterer  in  Berlin  nur  mit 
kühler  Hochachtung  vor  dem  berühmten  Namen 
angesehen  wurde,  ist  bei  den  damaligen  Verhält¬ 
nissen,  wo  eben  erst  die  Renaissance  ihren  Sieges¬ 
lauf  begonnen  hatte ,  selbstverständlich.  Heute 
denkt  man,  wie  die  zahlreichen  Kirchenbauten  be¬ 
weisen  ,  anders  über  die  Wiederbelebung  mittel¬ 
alterlicher  Bauformen,  an  denen  jedenfalls  das  eine 
Gute  zu  rühmen  ist,  dass  sie  bei  höchster  Entfal¬ 
tung  ihrer  konstruktiven  Mittel  das  Gesamtbild  einer 
Millionenstadt  ganz  anders  zu  beherrschen  wissen 
als  das  traurige,  mit  Gold  gesprenkelte  Flachkuppel¬ 
glasdach  unseres  jetzigen  Reichstagsgebäudes. 

Die  Nachfolger  Barry ’s,  Streets  und  Scotts  haben 
es  mit  der  Zeit  auch  gelernt,  den  gotischen  Stil  den 
Bedürfnissen  von  großen  Centralbehörden,  von  Museen, 
Kollegiengebäuden ,  Hospitälern ,  W olilthätigkeits- 
anstalten,  Schulen  u.  dgl.  m.  anzupassen.  Die  Mo¬ 
numentalbauten  von  A.  Waterhouse,  das  Rathaus 
und  der  Assisenhof  in  Manchester  und  das  natur¬ 
historische  Museum  in  South-Kensington  in  London, 
das  in  der  musterhaften  Zeichnung  des  Architekten 
auch  in  Deutschland  durch  die  Ausstellungen  in 
München  und  Berlin  bekannt  geworden  ist,  und  vor 
allen  das  in  frei  behandeltem  Tudorstil  1887 — 1891 
von  den  Londoner  Architekten  Aston  Webb  und 
E.  Ingress  Bell  erbaute  Gerichtsgebäude  in  Birming¬ 
ham  sind  glänzende  Beweise  für  das  große  Geschick, 
womit  die  englischen  Architekten  die  klassischen 
Überlieferungen  ihrer  heimischen  Baukunst  in  leben- 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


319 


tung  bereits  in  dem  von  Thomas  E.  Collcut  erbauten 
„Imperial  Institute“  in  London  eine  durch  Monumen¬ 
talität  der  Anlage  wie  durch  interessante  Detailbil¬ 
dung  gleich  hervorragende  Schöpfung  aufzuweisen  hat. 


digem  Zusammenhang  mit  den  vielseitigen  Interessen 
der  Gegenwart  zu  erhalten  und  die  überlieferten 
Stilformen  auch  triebkräftig  und  fruchtbar  zu  machen 
wissen.  Erst  in  neuester  Zeit  hat  sich,  im  Einklang 


Abb.  14.  Haus  am  Cadogan  Square  in  London,  erbaut  von  Ernest  George  und  Peto. 


mit  einer  gewissen  Richtung  der  englischen  Malerei, 
auch  eine  Strömung  geltend  gemacht,  die  sich  der 
italienischen  Frührenaissance  nähert.  Es  ist  jedoch 
fraglich,  ob  das  fremde  Gewächs  im  englischen 
Boden  Wurzeln  fassen  wird,  wenngleich  diese  Rich- 


Im  Privatbau  ist  jedenfalls,  so  weit  er  sich  über¬ 
sehen  lässt,  der  Anschluss  an  die  heimische  Über¬ 
lieferung  überwiegend,  und  auch  der  ebengenannte 
Collcut  folgt  in  seinen  Privatbauten  häufiger  dem 
Elisabethstil  als  den  Stilarten  der  italienischen  Re- 


320 


ALTE  UND  NEUE  BAUKUNST  IN  GROSSBRITANNIEN. 


naissance.  Ein  Beispiel  dafür  ist  das  Doppelhaus 
in  London  (s.  Abbildung  9),  von  dem  wir  auch 
den  Grundriss  (s.  Abbildung  10)  wiedergeben,  weil 
er  gewissermaßen  typisch  für  die  Einrichtung  des 
modernen  englischen  Wohnhauses  ist,  mag  es  nun 
von  einer  oder  von  mehreren  Familien  bewohnt 
sein. !)  Denn  auch  bei  Mietshäusern  ist  das  Be¬ 
streben  der  englischen  Architekten  darauf  gerichtet, 
jeder  Partei  einen  in  sich  zusammenhängenden  und 
nach  außen  möglichst  abgeschlossenen  Komplex  von 
Räumen  zu  bieten,  der  wenigstens  die  Illusion 
eines  eigenen  Heims  gewährt.  Die  Halle,  der  vor¬ 
nehmste  Empfangs-  und  Repräsentationsraum  des 
englischen  Hauses,  darf  selbst  bei  solchen  Miets¬ 
häusern  nicht  fehlen.  Noch  enger  an  den  Elisabeth¬ 
stil  schließt  sich  das  von  Joseph  Nash  erbaute  Beau 
Manor  in  Loughborough  an  (s.  Abbildung  11),  das 
beinahe  wie  die  Kopie  eines  der  kleinen  Landsitze 
aus  dem  Ende  des  16.  und  dem  Anfang  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  aussieht.  Eine  weit  freiere  Behandlung 
des  Elisabethstils,  zum  Teil  in  starker  Versetzung 
mit  Elementen  des  Barockstils  und  des  französischen 
Klassicismus,  zeigen  die  Bauten  von  Stockdale  Harrison 
(s.  Abbildung  12),  Walther  Emden  (s.  Abbildung  13) 
und  besonders  von  Ernst  George  und  Peto  (s.  Ab¬ 
bildung  14),  die  mit  Norman  Shaw  und  dem  schon 
genannten  Webb  zu  den  geistvollsten  der  jüngeren 
Architekten  Englands  gehören.  Bei  Emdens  Tivoli¬ 
theater  in  London  erinnern  eigentlich  nur  das 
Stabwerk  der  Fenster  und  die  erkerartigen  Bay- Win¬ 
dows  an  den  Elisabethstil,  während  im  übrigen  die 
Formen  jenes  massigen  Barockstils  vorwiegen,  den 
die  Eugländer  jezt  „Queen  Anne“  nennen,  obwohl 
die  Regierungszeit  der  Königin  Anna  viel  zu  kurz 
war,  als  dass  sich  in  diesem  Zeitraum  ein  eigener 
Stil  hätte  herausbilden  können. 

1)  Wir  entnehmen  diese  und  die  folgenden  Abbildungen 
mit  Genehmigung  des  Herrn  Verlegers  dem  Werke:  Neubauten 
in  Großbritannien.  Herausgegeben  von  F.  Joffe  (Berlin 
1802  ff.,  Ernst  Wasmuth).  In  den  bis  jetzt  erschienenen 
2  Lieferungen  (50  Blatt)  ist  mit  wenigen  Ausnahmen  vor¬ 
zugsweise  der  Privatbau,  wie  er  sich  während  des  letzten 
Jahrzehnts  entwickelt  hat,  berücksichtigt  worden. 


Bei  der  ungeheuren  Fülle  des  Materials  müssen 
wir  uns  auf  die  Vorführung  dieser  Beispiele  be¬ 
schränken.  Sie  reichen  auch  im  Verein  mit  unserer 
flüchtigen  Skizze  aus,  um  den  engen  Zusammenhang 
der  modernen  Architektur  Englands  mit  der  des  Mittel¬ 
alters  und  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  zu  veran¬ 
schaulichen,  der  trotz  italienischer,  französischer  und 
klassicistischer  Einbrüche  niemals  ganz  zerstört  wor¬ 
den  ist.  Die  englischen  Privatbauten  haben  aber 
auch  für  uns  insofern  ein  besonderes  Interesse,  als 
sie  einen  Einfluss  auf  unsere  Architektur  geübt 
haben,  der  noch  im  Wachsen  begriffen  ist.  In 
Berlin  war  es  besonders  Robert  Dohme,  der  durch 
Wort  und  That  für  die  Einführung  des  englischen 
Wohnhaus-  und  Villenstils  gewirkt  hat.  Seiner 
Studie  über  das  englische  Haus  ließ  er  die  Über¬ 
setzung  seiner  Gedanken  in  die  That  folgen,  indem 
er  sich  am  nordwestlichen  Rande  des  Tiergartens  an 
der  Händelstraße  durch  den  in  englischer  Bauweise 
wohlbewanderten  Hofbaurat  Ihne  ein  Landhaus  er¬ 
richten  ließ,  das  unter  Verzicht  auf  augenfälligen 
äußeren  Schmuck  doch  den  ganzen  Komfort,  die 
Großräumigkeit  und  die  Lichtfülle  des  englischen 
Hauses  enthält.  Diese  Lichtfülle,  die  man  selbst  in 
den  besseren  Berliner  Mietshäusern,  in  den  soge¬ 
nannten  herrschaftlichen,  wegen  des  maßlosen  Luxus 
an  Loggien,  Erkern,  Vorbauten  u.  dgl.  m.  nur  selten 
findet,  sollte  allein  schon  unsere  Architekten  zur 
Nachahmung  reizen.  Ihre  Eigenart  brauchen  sie 
darum  nicht  zu  verleugnen,  und  dass  sich  beides 
mit  einander  vereinigen  lässt,  beweist  eine  ganze 
Anzahl  von  Villen  und  Mietshäusern,  die  in  den 
beiden  letzten  Jahren  in  unmittelbarer  Nachbarschaft 
des  Dohme’sclien  Hauses  entstanden  sind.  Wir  unter¬ 
schätzen  keineswegs  die  ungeheuren  Fortschritte,  die 
in  Berlin  und  in  allen  übrigen  größeren  Städten 
Deutschlands  in  Bezug  auf  die  künstlerische  und 
bautechnische  Ausstattung  der  Mietswohnungen  ge¬ 
macht  worden  sind.  Trotzdem  können  wir  von  den 
Engländern  und  den  Amerikanern  immer  noch  sehr 
viel  lernen.  Das  wird  man  bekennen  dürfen,  ohne 
sich  dem  Verdachte  blinder  Fremdlandsanbeterei  aus¬ 
zusetzen. 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTUM. 

VON  GEORG  WARNECKE. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


ER  zum  erstenmal,  den  bunten 
Reichtum  der  italienischen 
Kunst  im  Rücken,  von  Salerno 
nach  Süden  strebend  die 
Tempel  von  Pästum  erblickt 
„mitten  im  Heidegefild  und 
zunächst  an  des  Meers  Ein¬ 
öde,“  dessen  dumpfe  Bran¬ 
dung  allein  die  schweigende  Einsamkeit  durchdringt; 
wer  nun  vor  ihnen  steht,  diesen  ersten  Verkündigern 
hellenischen  Geistes  für  den  nordischen  Wanderer: 
für  den  verschwindet  zunächst  das  wissenschaftliche 
Interesse  vor  der  Sehnsucht,  nur  anzuschauen  und 
zu  genießen,  ja  anzubeten  wie  auf  heiligem  Boden. 
Auch  mir  erging  es  so.  Und  doch  fand  ich  mich 
nach  kurzer  Zeit  zu  meiner  eigenen  Überraschung 
mit  Bleistift  und  Buch  vor  einer  der  kolossalen 
Anten  der  Basilika.  Obgleich  ich  das  eigentüm¬ 
liche  schwere  Kapitell  längst  aus  Bildern  kannte, 
hatte  die  fremdartige  Form  in  ihrer  Wirklichkeit 
mich  dergestalt  erregt,  dass  ich  mich  von  meiner 
Verwunderung  nicht  besser  zu  befreien  wusste,  als 
indem  ich  die  Form  zeichnete.  Hatte  sich  mein  Auge 
auf  diese  Weise  für  Unterschiede 
in  den  Linien  wie  für  Abweichun¬ 
gen  von  dem  Gewohnten  geschärft? 

Genug,  ich  wurde  auch  bei  den 
anderen  Tempeln  nach  und  nach 
zum  Archäologen,  verglich,  maß, 
wenn  auch  nur  mit  den  Augen, 
und  zeichnete,  bis  der  einzige  Tag 
meines  Aufenthalts  in  Pästum  zur 
Neige  ging.  Was  ich  so  in  Italien 
gesammelt,  hat  mir  zu  Hause  in 
Verbindung  mit  einem  genaueren 
Studium  der  Publikationen  über 
Pästum  den  Stoff  zu  den  folgen¬ 
den  Ausführungen  gegeben. 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  12. 


Die  Form  der  Hohlkehle,  die  der  Bildung  der 
Antenkapitelle  an  der  Basilika  (Fig.  1)  zu  Grunde 
liegt,  findet  sich  auch  am  Poseidontempel  und  zwar 
nicht  allein  als  Abschluss  des  Frieses,  sowie  als  Be¬ 
krönung  der  inneren  Architrave  und  Gesimse,  worauf 
schon  Krell  *)  an  der  Hand  der  älteren  Forschungen 
hingewiesen  hat,  sondern  ebenfalls  am  Kapitell,  also 
als  stützendes  Glied.  Ich  vermag  dieselbe  freilich 
nur  an  einer  Stelle,  aber  hier  als  unzweifelhaft  nach¬ 
zuweisen.  Bekanntlich  wird  die  Cella  des  Poseidon¬ 
tempels  (Fig.  2 — 4)  gegen  die  Vorhalle  durch  eine 
Doppelwand  abgeschlossen ,  innerhalb  deren  die 
Treppen  zur  oberen  Galerie  hinaufführten.  Zur  Rechten 
des  im  Osten,  an  der  dem  Meer  entgegengesetzten 
Seite,  gelegenen  Eingangs  ist  von  dieser  Anlage  alles 
bis  auf  die  untersten  Quadern  verschwunden.  Zur 
Linken  dagegen  zeigt  sich  uns  noch  die  untere  Öff¬ 
nung  der  Treppe  zwischen  den  beiden  den  Eingang 
begrenzenden  Enden  der  Doppelwand.  Auch  hier 
ist  die  vordere  Hälfte  des  Wandstücks  in  halber 
Höhe  weggebrochen;  aber  die  hintere  reicht  in  der 
Gestaltung  der  Ante  bis  zur  vollen  Höhe  hinauf  und 
stützt  noch  heute  den  Epistylbalken  der  inneren 
Säulenreihe.  Die  Seite  der  Ante 
nun,  die  mit  der  Längsachse  des 
tiefen  Cellaeingangs  parallel  läuft, 
ist  mit  einem  Kapitell  in  Form 
der  Hohlkehle  bekrönt  (Fig.  5); 
von  dem  Abakus  sind  nur  kaum 
erkennbare  Spuren  übrig  geblieben. 
Die  beiden  Pilaster,  welche  die 
Stelle  bezeichnen,  wo  der  Epistyl 
im  Innern  der  Cella  auf  die  nach 
Westen  schließende  Wand  aufsetzt, 
stehen  auch  noch,  während  die 


1)  Geschichte  des  Dorischen  Stils, 
1870,  S.  73. 


Antenkapitell  von  der  Basilika. 


42 


322 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTUM. 


Wand  selbst  gefallen  ist;  ich  vermag  indes  die  Form  der 
Kapitelle  an  diesen  Wandpfeilern  nicht  mit  Genauig¬ 
keit  anzugeben.  Auf  die  Frage,  was  andere  Augen¬ 
zeugen  an  der  fraglichen  Stelle  gesehen  haben,  bleiben 
die  alten  Zeichner,  wie  Delagardette  l),  die  Antwort 
schuldig,  abgesehen  vielleicht  von  Gailhabaud 2),  der 
auf  der  berühmten  Innenansicht  des  Tempels,  nach 
der  alle  späteren  Blätter  gezeichnet  und  gestochen 
sind,  die  betreffende  Ante  mit  einem  Kapitell  aus¬ 
stattet,  das  aber  ebenso  wenig  die  Linie  der  Hohl¬ 
kehle  zeigt  wie  es  überhaupt  erkennen  lässt,  was  sich 
der  Herausgeber  unter  dieser  Form  vorgestellt  hat. 

Die  überra¬ 
schende  Tliatsache, 
dass  sich  an  einem 
und  demselben 
Tempel  zwei  ver¬ 
schiedene  Formen 
des  Antenkapitells 
vorfinden,  zuerst  die 
allgemein  übliche 
des  dorischen  Ky- 
mation,  das  jedem 
Beschauer  beson¬ 
ders  an  den  Anten 
der  Vorhalle  in  die 
Augen  springt,  so¬ 
dann  die  ganz 
fremdartige  Form 
der  Hohlkehle,  er¬ 
regten  bei  mir  von 
vornherein  Zweifel, 
wenn  auch  nicht 
an  der  Richtigkeit 
meiner  Beobach¬ 
tung,  so  doch  an 
der  ursprünglichen 
Echtheit  dieser 
Form.  Es  ist  bekannt,  dass  der  stark  poröse  Sinterkalk¬ 
stein  der  Pästaner  Tempel  einst  einen  Stucküberzug  be¬ 
sessen  hat.  Könnte  nun  nicht  der  obere  überfallende 
Rand  des  Kyrna’s  an  dieser  Stelle  in  Stuck  auf  die  in 
Form  einer  Hohlkehle  gestaltete  Fläche  des  Steins  auf¬ 
gearbeitet  gewesen  sein,  um  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
durch  Abwitterung  ganz  zu  verschwinden?  Die  Mög¬ 
lichkeit  ist  vorhanden;  dieselbe  würde  zur  Wahr¬ 
scheinlichkeit  erhoben  werden,  falls  man  nachwiese, 
dass  die  noch  vorhandenen  überfallenden  Teile  an 

1 1  Les  ruinös  de  Paestum  ou  Posidonia.  Paris  1799. 

2)  Lps  monuments  anciens  et  modernes  avec  l’histoire 
de  l’architecture.  Paris  1839 — 1850-  PI.  4,  Fig.  3. 


den  Antenkapitellen  der  Vorhalle  ebenfalls  aus  Stuck 
bestehen.  Gegen  diese  Annahme  spricht  vor  der 
Hand  die  Thatsache,  dass  an  diesen  Kymatien  un¬ 
mittelbar  neben  abgebrochenen  und  verwitterten 
Stellen  vollständige  Reste  von  außerordentlicher 
Schärfe  des  Profils,  die  durch  eine  zweitausendjährige 
Geschichte  zu  bewahren,  nur  dem  Steine  möglich  er¬ 
scheint,  sich  vorfinden.  Nur  eine  Untersuchung,  die 
mit  reicheren  mechanischen  Hilfsmitteln,  als  sie  mir 
zu  Gebote  standen,  geführt  werden  müsste,  könnte 
in  dieser  Frage  entscheiden.  Bis  dahin  bleibe  ich 
bei  meinem  Glauben.  Was  mir  denselben  aber  zur 

Gewissheit  macht, 
ist  das  Vorhanden¬ 
sein  der  Antenhohl¬ 
kehle  an  der  Basi¬ 
lika.  Die  beiden 
Tempel,  die  trotz 
ihrer  räumlichen 
N  ähe  mannigfach 
verschieden  auf  ge¬ 
trennte  Richtungen 
hinsichtlich  ihres 
Ursprungs  zu  wei¬ 
sen  scheinen,  haben 
nun  ein  gemein¬ 
sames  Detail,  das 
vielleicht  zu  Fragen 
nach  dem  zeitlichen 
Verhältnis  der  bei¬ 
den  Gebäude  und 
weiteren  Schluss¬ 
folgerungen  führen 
wird.  V ersuchen  wir 
zunächst  das  Wesen 
dieses  merkwürdi¬ 
gen  Antenkapitells 
zu  erklären. 

Die  Ansicht  Krells  (a.  a.  0.  S.  58),  der  schein¬ 
bar  kein  Augenzeuge,  auf  eine  ungenaue  und  un¬ 
deutliche  Zeichnung  Delagardette’s  gestützt,  in  der 
Antenhohlkehle  der  Basilika  eine  primitive  Art  des 
korinthischen  Kapitells  erblickt,  ist  schon  durch  die 
richtige  Zeichnung  DurnTs  ')  widerlegt.  Was  Krell 
als  an  den  Ecken  aufgerollte  Voluten  ansieht,  ist 
nichts  weiter  als  zwei  Rundstäbe,  die  am  oberen 
Rand  der  seitlichen  Hohlkehlen  unmittelbar  unter 
dem  Abakus  sitzen  und  mit  der  Cellawand  parallel 

1)  Die  Baukunst  der  Griechen.  2.  Auflage.  Darmstadt 
1892.  S.  100. 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTÜM. 


323 


laufend  die  schließende  Funktion  der  Ante  anzu¬ 
deuten  scheinen  (Fig.  1).  Nach  Delagardette’s  Zeich¬ 
nung  müsste  man  eigentlich  auf  die  Form  eines 
ionischen  Pilasterkapitells  schließen,  da  die  vordere 
und  hintere  Fläche, 
anstatt  ebenfalls  zur 
Hohlkehle  ausge¬ 
schweift  zu  sein, 
senkrecht  gerichtet 
ist.  Wie  sehr  im 
allgemeinen  den 
älteren  Zeichnern 
zu  misstrauen  ist, 
zeigt  ein  anderer 
Irrtum  Delagardet¬ 
te’s,  dass  sich  näm¬ 
lich  in  der  Basi¬ 
lika  an  Stelle  der 
Cellawände  Säulen¬ 
reihen  mit  quadra¬ 
tischen  Eckpfeilern 
befunden  hätten, 
obgleich  in  seiner 
eigenen  Ansicht 
(PI.  XII,  Fig.  E)  die 
noch  heute  vorhan¬ 
denen  Ansätze  der 
Wand  in  zwei  Qua¬ 
dern  gerade  hinter 
der  Hohlkehle  zu 
sehen  sind.  Bei  der 
Antenhohlkehle 
des  Poseidontem¬ 
pels  ist  von  einem 
Rundstab  nichts  zu 
erkennen;  wahr¬ 
scheinlich  ist  nie  einer 
dagewesen,  weil  es 
sich  hier  nicht  um  die 
Beziehung  des  Pfeilers 
auf  die  Säulenreihe  als 
ihres  Abschlusses  han¬ 
delt,  sondern  nur  um 
die  seitliche  Bekrö¬ 
nung  einer  Stütze. 

Ich  wiederhole 
nach  Zurückweisung 
der  Ansicht  Delagardette-Krell’s  die  Frage  nach  dem 
Wesen  unseres  fremdartigen  Antenkapitells.  Dieselbe 
hat  mich  an  der  Hand  einer  Reihe  von  neuerdings 
aufgefundenen  architektonischen  Gliedern  und  von 


Produkten  des  Kunstgewerbes  den,  wo  es  sich  um 
den  Ursprung  griechischer  Formen  handelt,  heute 
allgemein  betretenen  Weg  nach  Ägypten  geführt, 
den  ich  nun  von  seinem  Endpunkte  abwärts  zurück¬ 
verfolgen  werde. 
Die  Hohlkehle  er¬ 
scheint  in  Ägypten 
nicht  allein  als  be¬ 
krönendes  Glied  an 
den  allbekannten 
Gesimsen  (Fig.  6), 
sondern  auch  als 
Säulen-  und  Pfeiler¬ 
kapitell.  Neben  der 
gewöhnlichen 
Form  des  geöff¬ 
neten  Lotoskelches 
mit  seiner  doppelt¬ 
geschwungenen 
Profillinie  (Fig.  7) 
sind  eine  Anzahl 
von  Kapitellen  mit 
einfach  geschweif¬ 
ter  Linie  vorhan¬ 
den,  die  sich  durch 
die  aufgemalten 
oder  auch  plasti¬ 
schen  V  erzierungen 
von  Palmenblättern 
als  eine  Nachah¬ 
mung  der  Palmen¬ 
krone  darthun  (Fi¬ 
gur  8).  Diese  cha¬ 
rakteristische  De¬ 
koration  lässt  kei¬ 
nen  Zweifel  darüber 
aufkommen,  dass  wir 
das  Princip  eines  von 
vornherein  mit  seit¬ 
licher  Biegung  aus 
dem  Stengel  heraus¬ 
gewachsenen,  infolge 
seiner  eigenen  Last 
überhängenden  Blat¬ 
tes  zur  Erklärung  der 
Hohlkehle  anzuneh¬ 
men  haben.  Ganz 
dasselbe  Princip  liegt  der  Hohlkehle  des  ägyp¬ 
tischen  Gesimses  zu  Grunde;  hier  zeigt  sich,  wenn 
auch  in  einer  von  Naturwirklichkeit  weit  entfernten 
Weise,  die  Dekoration  mit  aufrechtstehenden  (hier 

42  * 


Fig.  3.  Die  Cella  des  Poseidontempels,  von  der  südlichen  Halle  des  Säulen¬ 
ganges  gesehen. 

(NB.:  Der  Pfeil  weist  auf  die  Antenliohlkehle,  deren  nordöstliche  Kante 
von  hier  aus  in  scharfem  Profil  gesehen  wird. 


Fig.  4.  Grundriss  des  Poseidontempels. 

(NB.:  Der  Pfeil  weist  auf  die  Stelle,  wo  sich  die  Antenhohlkehle  findet.) 


324 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTUM. 


senkrecht  herausgewachsenen), nach  derSpitze  zu  über¬ 
geneigten  Schilfblättern.  Ob  diese  Formen  wirklich  ur¬ 
sprünglich  als  Resultate  einer  naiven  Betrachtung  und 
Verwertung  der  vegetabilischen  Natur  sich  ergeben 
haben  oder  ob  die  Dekoration  nur  eine  sekundäre 
sei,  d.  h.  ob  das  pflanzliche  Ornament  erst  nach¬ 
träglich  durch  Reflexion  der  auf  dem  Wege  des 
reinen  mathematischen  Denkens,  ganz  unabhängig 
von  Naturvorbildern  entstandenen  Form  angepasst 
sei,  ist  eine  müßige,  weil  zunächst  nicht  entscheid¬ 
bare  Frage.  Das  Palmenkapitell  scheint  auf  un¬ 
mittelbare  Naturnachahmung  hinzudeuten;  jedenfalls 
ist  die  Thatsache  sicher,  dass  die  Hohlkehle  mit  der 
hier  vorliegenden  Dekoration  für  die  künstlerische 
Phantasie  etwas  Lebendiges  gewesen  ist. 

Auf  griechischem  Boden  sind  es  zunächst  die 
bei  den  Ausgrabungen  in  Olympia  ge¬ 
fundenen  Terrakottasimen,  die  mit 
ihrer  Form  und  ihrer  Bemalung  mit 
aufrech tstehenden  Blättern  an  das 
ägyptische  Hohlkehlengesims  anknüp¬ 
fen.  In  Bötticlier’s  Olympia  sind  zwei 
dieser  Funde  abgebildet,  auf  Taf.  IV 
unten  eine  unbenannte  Terrakotta 
(Fig.  9)  mit  scharf  ausgebogener  Hohl¬ 
kehle  und  nach  der  Spitze  sich  ver¬ 
breiternden  Blättern,  sodann  auf  Taf. 

V  die  Sima  vom  Geloer  Schatzhause 
(Fig.  10),  deren  Bemalung  bereits,  wie 
nicht  zu  leugnen  ist,  eine  Trübung 
der  ursprünglichen  Vorstellung  des 
reinen  Pflanzengebildes  und  einen 
•  Zug  willkürlich  spielender  Ornamen¬ 
tik  verrät,  indem  namentlich  an  der  Sima  der 
Giebelseite  in  den  Zwischenräumen  zwischen  den 
keulenförmig  verdickten  Blättern  auch  nach  unten 
gerichtete  Elemente  sich  vor  finden.  Ungleich  sinn¬ 
voller  der  Form  sich  anpassend  erscheint  die  de¬ 
korative  Absicht  an  einem  altertümlichen  Kapitell 
aus  Mykene  (Fig.  11),  das  mit  seinen  länglichen 
skulpirten  Blättern  für  eine  Urform  des  korinthischen 
Kapitells  gelten  kann,  besonders  aber  bei  einigen 
Kapitellen  von  Votivsäulen,  die  1886  auf  der  Akro¬ 
polis  von  Athen  ausgegraben  und  nach  der  griechischen 
archäologischen  Zeitung  in  Bötticher’s  Akropolis  ab¬ 
gebildet  sind.  Fig.  12  zeigt  eine  Hohlkehle,  deren 
Profil  nach  oben  mit  leiser  Rundung  in  die  senk¬ 
rechte  Linie  des  Abakus  übergeht,  Fig.  13  das 
Profil  des  doppelt  geschwungenen  Kelches.  Beide 
Kapitelle  sind  mit  aufrechtstehenden  Blättern  bemalt 
und  zwar  ist  bei  beiden  die  Darstellung  der  Blätter 


mit  den  stark  betonten  Rändern  und  Mittelrippen 
eine  so  starre,  nur  ganz  entfernt  an  die  Natur  form 
erinnernde,  dass  der  ursprüngliche  Gedanke,  einer¬ 
seits  des  Blumenkelches,  andererseits  des  kraft  der 
eigenen  Schwere  überhängenden  Blattes  aufgegeben 
zu  sein  scheint.  Die  architektonische  Phantasie  sucht 
sich  bereits  dieser  beiden  Formen  in  gleicher  Weise 
zu  bemächtigen,  indem  sie  das  Wesentliche  der 
Dekoration  in  dem  aufrechtstehenden  Blätterkranze 
mit  übergebogenen  Spitzen  erblickt  und  diese  eigen¬ 
tümliche  Linienführung  zum  Ausdruck  des  tekto¬ 
nischen  Zusammenhanges  der  baulichen  Glieder  zu 
verwerten  strebt.  Dass  ich  mit  dieser  Ansicht,  die 
für  die  Bötticher’sche  Theorie  in  die  Schranken  tritt, 
nicht  irre  gehe,  zeigt  mir  das  Kapitell  einer  dritten 
Stele,  die  in  Bötticher’s  Akropolis  abgebildet  ist. 

Auch  hier  (Fig.  14)  haben  wir  das 
doppelt  geschwungene  Profil  des  Kel¬ 
ches  mit  aufrechtstehenden  Blättern, 
deren  Spitzen  durchaus  nicht  tiefer 
herabgedrückt  erscheinen  als  in  Fig.  13 
oder  bei  der  von  Durm  unter  Fig.  70 
rechts  unten  publicirten  Stele;  aber 
während  bei  den  letzteren  Kapitellen 
als  oberer  Abschluss  des  Kelches  und 
verbindendes  Glied  die  nichtssagende 
Form  einer  dünnen,  an  der  Unterseite 
unterhöhlten  Platte  folgt,  sehen  wir 
hier  über  dem  Kelch  ein  nach  unten 
herausgewölbtes  Stück,  das  sich  durch 
seine  Bemalung  mit  abwärtsgerich¬ 
teten  Blättern  unzweifelhaft  als  die 
Innenseite  des  überfallenden  Blätter¬ 
kranzes  cliarakterisirt.  Wir  haben  hier  die  erste 
Spur  der  sogenannten  Nase  des  dorischen  Kymas 
in  einer  freilich  plumpen,  schwerfälligen  Gestaltung, 
indem  die  beiden  Blätterreihen,  die  obere  und  die 
untere,  die  in  der  Richtung  ihrer  Profile  mehr  ein¬ 
ander  entgegengesetzt  als  parallel  zu  laufen  scheinen, 
dennoch  als  die  Innen-  und  Außenseite  ein  und  der¬ 
selben  Blattreihe  aufgefasst  werden  sollen.  Damit 
scheint  der  Übergang  von  dem  naiven  Schaffen  der 
Phantasie,  welche  die  dekorativen  Glieder  unmittelbar 
der  Natur  nachahmt,  zu  der  künstlerischen  Reflexion, 
welche  nach  möglichster  Ausdrucksfähigkeit  der 
Formen  in  Bezug  auf  den  Zusammenhang  der  ein¬ 
zelnen  Bauteile,  in  unserem  Falle  nach  dem  Aus¬ 
druck  des  Gegensatzes  von  Kraft  und  Last  ringt, 
endgültig  vollendet.  Deutlicher  noch  macht  sich 
die  niederdrückende  Last  des  Abakus  an  dem  Kapitell 
der  bei  Durm,  Fig.  70  links  unten,  abgebildeten 


Fig.  5.  Die  Antenhoblkehle  amPoseidon- 
tempel  in  größerem  Maßstabe. 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTUM. 


325 


Stele  fühlbar;  aber  die  vollkom¬ 
men  freie  Form  des  dorischen 
Antenkapitells  kommt  erst  an  den 
Propyläen  und  am  Parthenon  zur 


Erscheinung. 


er- 


Es  sollte  kaum  nötig 
scheinen,  angesichts  eines  so  selt¬ 
samen  Gliedes  wie  des  dorischen 
Kymation,  das  mehr  charakteristisch 
als  schön  ganz  allein  für  sich  zu 
sprechen  geeignet  ist,  als  Anwalt 
zur  Verteidigung  der  Bötticher’schen 
Theorie  aufzutreten,  wenn  diese  nicht, 
nachdem  sie  Jahrzehnte  lang  die 
Aesthetik  beherrscht  hat,  einem  in 
jüngster  Zeit  immer  mehr  wachsen¬ 
den  Widerspruch  von  sehr  gewich¬ 
tiger  Seite  zu  begegnen  hätte.  Ich 
bin  geneigt  zu  glauben,  dass  dieser 
W iderspruch  unter  anderen  ein  Symp¬ 
tom  eines  gewissen  Wandels  ist,  der 
sich  in  der  wissenschaftlichen  Be¬ 
trachtungsweise  des  hellenischen  Sti¬ 
les  vollzogen  hat,  insofern  als  der 
historisch  und  philologisch  geschulte 
Aesthetiker,  der  bei  dem  einstigen 
Mangel  an  genauen  Publikationen 
und  den  nur  sehr  spärlich  fließenden 
Funden  die  Kräfte  seiner  Phantasie 
zur  Füllung  der  Lücken  aufbieten 
musste  und  so  vielfach  zu  einem 
ratenden  Kombiniren  gedrängt  wurde, 
heute  dem  Architekten  vom  Fach 
hat  weichen  müssen,  der  unter  dem 
Gewicht  des  täglich  aus  der  Erde 
quellenden  Materials  sich  nüchtern 
praktischen  Sinnes  auf  die  nackten 
Thatsachen  zurückzieht  und  alles  ab¬ 
wehrt,  was  den  Anschein  einer  vor¬ 
gefassten  Theorie  und  eines  gleich¬ 
sam  apriorischen  ästhetischen  Sys¬ 
tems  an  sich  trägt.  Wenn  auch 
Durm  sich  in  seinem  grundlegenden 
Werke,  soweit  das  Kymation  in  Frage 
kommt,  einer  positiven  Beurteilung 
der  Bötticher’schen  Theorie  enthalten 
hat,  so  ist  es  doch  einer  abfälligen 
Kritik  gleichzuachten ,  dass  er  (Seite  92, 
Anmerkung  65)  Borrmann  das  Wort 
erteilt,  der  in  dem  Aufsatze  „Stelen 
für  Weihgeschenke  auf  der  Akro¬ 


Fig.  G.  Ägyptisches  Hohlkehlengesims  mit  auf¬ 
rechtstehenden  Schilfblättern  und  der  geflügelten 
Sonnenscheibe.  (Nach  Hauser,  Stillehre.) 


Fig.  7.  Ägyptisches  Kapitell  in  Form 
des  geöffneten  Lotoskelches. 


polis  zu  Athen“  J)  folgende  Aus¬ 
führung  macht:  „Die  Blattwellen, 
bei  welchen  die  untere  Blattreihe 
von  der  oberen,  auf  dem  über¬ 
fallenden  Teile  befindlichen  streng 
geschieden  ist,  machen  es  min¬ 
destens  zweifelhaft,  ob  wir  uns 
die  Entstehung  des  dorischen  Ky¬ 
mation  mit  Bötticher  nach  Art 
eines  infolge  der  Belastung  mit  den 
Spitzen  vorn  übergebeugten  Blatt¬ 
kranzes  vorzustellen  haben.“  In  Be¬ 
zug  auf  die  beiden  Stelen  hei  Böt¬ 
ticher  S.  72,  Fig.  21  (Fig.  14)  und 
bei  Durm,  Fig.  70  unten  links, 
würde  sich  dieses  Urteil  Borrmann’s 
als  irrtümlich  erweisen.  Keineswegs 
ist  die  untere  Blattreihe  von  der 
oberen,  auf  dem  überfallenden  Teile 
befindlichen  streng  geschieden.  Borr¬ 
mann  übersieht  die  Ränder  der 
Blätter,  die  wie  die  Mittelrippen  in 
schematischer  Weise  durch  breite 
Streifen  hervorgehoben  sind.  Mit 
den  Rändern  stoßen  die  beiden  Blatt¬ 
reihen  unmittelbar  zusammen  und 
tliun  sich  damit,  wenigstens  der 
Idee  nach,  als  eine  Einheit  kund. 
Soweit  es  sich  um  die  Erklärung 
des  dorischen  Kyma’s  handelt,  ist 
die  Bötticher’sche  Theorie  zweifel¬ 
los  gesichert;  man  müsste  denn  die 
Begriffe  Ursache  und  Wirkung  aus 
der  Architektonischen  Ornamentik 
verbannen  und  den  Sinn  vor  der 
Sprache  der  Formen  absichtlich  ver¬ 
schließen.  Durm  (a.  a.  0.  S.  93)  selbst 
bezeichnet  das  Kymation  als  eine 
Verbindung  von  Hohlkehle  oder 
Karnies  und  Blattüberfall  und  stellt 
sich  mit  diesem  Ausdruck  vielleicht 
unbewusst  —  so  zwingend  ist  die 
Beweiskraft  des  Ornamentes  —  auf 
den  Standpunkt  Böttichers.  Ich 
bemerke  bei  dieser  Gelegenheit,  dass 
es  wohl  an  der  Zeit  wäre,  für  die 
hellenische  Stillehre  den  Begriff  des 
Karnieses  als  eines  konvexkonkaven 


Fig.  8.  Ägyptisches  Palmenkapitell. 
(Nach  Hauser.) 


1)  Jahrbuch  des  Kaiserlich  deutschen 
Archäologischen  Instituts.  Bd.  III.  Berlin 
1880.  S.  279. 


326 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTUM. 


Fig.  9.  Terrakotta  von  einem  Schatzhause  in  Olympia. 
(Nach  Bötticher,  Olympia.) 


Fig.  10.  Sima  und  Geisonverkleidung  vom  Schatzhause  der  Geloer  in  Olympia. 


Baugliedes,  beson¬ 
ders  wo  tragende 
und  bekrönende 
Formen  in  Frage 
kommen,  als  schab¬ 
lonenhaft  und 
nichtssagend  end¬ 
gültig  fallen  zu 
lassen.  Man  sollte 
jedesmal  zwischen 
dem  doppelt  ge¬ 
schwungenen  Pro¬ 
fil  des  aufgerichte¬ 
ten  Kelches  und  der 
lesbischen  Welle 
unterscheiden.  Ich 
würde  dann  auf 
Grund  der  obigen 
Auseinander¬ 
setzung  die  bekrö¬ 
nende  Hohlkehle 
oder  besser  das  Pro¬ 
fil  des  einfach  ge¬ 
schwungenen  über¬ 
hängenden  Blattes 
dem  Kelchprofil  als 
eng  verwandt  be¬ 
zeichnen,  wohinge¬ 
gen  die  Frage  der 
Zusammengehörig¬ 
keit  der  lesbischen 
Welle  und  des 
Echinusprofils,  auf 
welche  die  gleiche 
Dekoration  der  ab¬ 
wärts  gerichteten 
Blätter  zu  deuten 
scheint,  erst  einer 
mit  reicherem  Be- 
weisrnaterial  ansgestatteten  Zukunft 
zu  beantworten  möglich  sein  wird. 

So  verlockend  es  für  mich  ist, 
den  eben  zurückgelegten  Weg  noch 
weiter  zu  dem  vielumstrittenen  Eier¬ 
stabornament  zu  verfolgen,  so  kehre 
ich  heute,  da  weitere  Ausführungen 
nach  dieser  Richtung  über  den  meiner 
Untersuchung  zu  Grunde  liegenden 
Stoff  hinausgehen  würden,  zu  der 
Hohlkehle  an  den  beiden  Tempeln 
von  Pästum  zurück  und  formulire 


Fig.  li.  Kapitell  aus  Mylcenae 
(Nach  Durm,  Baukunst  der  Griechen.) 


das  Schlussergeb¬ 
nis  der  obigen  Dar¬ 
legungen  folgen¬ 
dermaßen.  In  der 
älteren  griechi- 
schenKunst  giebt  es 
zwei  verschiedene 
Formen  des  dori¬ 
schen  Antenkapi¬ 
tells,  ein  altertüm¬ 
liches,  das  sich  un¬ 
mittelbar  an  ägyp¬ 
tische  Formen 
lehnt,  und  ein  jün¬ 
geres,  das  original¬ 
griechischen  Ur¬ 
sprungs  ist,  beide 
indes  im  Sinne  der 
architektonischen 
Phantasie  ver¬ 
wandt,  sowie  der 
Entwickelung  nach 
zusammenhängend, 
dort  die  Hohlkehle, 
hier  das  Kymation, 
jenes  mit  aufrecht¬ 
stehenden  Blättern, 
dieses  mit  einem 
doppelten  Blätter¬ 
kranze,  einem  unte¬ 
ren  von  aufwärtsge¬ 
richteten  Blättern 
und  einem  oberen 
von  übergeboge¬ 
nen,  bemalt.  An 
der  Basilika  sehen 
wir  noch  heute  die 
altertümliche  Form 
an  den  Anten  der 
Vorhalle;  dagegen  ist  dieselbe  bei 

dem  Poseidontempel  von  diesem  be¬ 
vorzugten  Platze  durch  das  rein 

griechische  Kapitell  verdrängt  und 
auf  das  Innere  des  Tempels  zurück¬ 
gewiesen.  Die  Basilika,  schließe 

ich,  die  ohne  Frage  überhaupt  nur 
das  eine  altertümliche  Kapitell  ge¬ 
kannt  hat,  ist  ein  älterer  Bau  als 
der  Neptuntempel,  und  finde  in  dem 
strafferen,  edel  energischen  Profil  der 
Hohlkehle  an  dem  letzteren  Denkmal 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTUM. 


327 


gegenüber  der  schlaffer  hängenden  Linie  an  jenem 
eine  Bestätigung  dieses  Schlusses;  beide  Bauten  aber 
sind  verwandte  Glieder  einer  und  derselben  Gruppe.  Ob 
sich  an  den  Antenhohlkehlen  von  Pästum  noch  Spuren 
der  Bemalung  mit  aufrechtstehenden  Blättern  vor¬ 
finden,  müssen  spätere  genaue  Untersuchungen  an 
Ort  und  Stelle  lehren.  Ich  weiß,  dass  ich  mit  meiner 
Schlussfolgerung  eine  einzelne 
Thatsache  zur  Allgemeingül¬ 
tigkeit  erhebe;  ichthue  das  in 
dem  Bewusstsein  eines  vor  den 
Augen  der  Kritik  unsicher 
erscheinenden  Standpunktes, 
jedoch  in  der  Hoffnung,  dass 
erneute  Durchforschungen  der 
Denkmäler,  namentlich  der  älteren  sicilischen  Tempel, 
den  bewussten  Formen  an  den  beiden  Pästaner  Ruinen 
anstatt  der  untergeordneten  Geltung  lokaler  Eigen¬ 
tümlichkeiten  den  Wert  einer  im  ganzen  älteren 
Dorismus  herrschenden 
Ordnung  verleihen  werden. 

Die  Möglichkeit,  auch 
das  dritte  Denkmal  von 
Pästum ,  den  Demetertem¬ 
pel,  mittelst  Vergleichung 
der  Antenkapitelle  in  jene 
Gruppe  einzureihen ,  ist 
durch  den  heutigen  Zu¬ 
stand  der  Ruine,  der  die 
Anten  gänzlich  fehlen,  aus¬ 
geschlossen.  Mehrnochals 
die  Basilika  hat  dieser  Bau  mit  seinen  teils  rätselhaf¬ 
ten,  teils  stark  verfallenen  Gliedern  den  Forschern  zu 
schaffen  gemacht.  Der  Grundplan  der  Cella  steht 
in  der  griechischen  Architektur  ebenso  einzig  da  wie 
der  freilich  ganz 
anders  gestaltete 
der  Basilika  und 
mahnt  an  den  tie¬ 
fen  Pronaos  etrus¬ 
kisch  -  römischer 
Tempel.  So  halten 
die  einen  (Krell,  a. 
a.  0.  S.  56)  ihn  auch  für  ein  von  der  griechischen  Um¬ 
gebung  stark  beeinflusstes  Werk  der  römischen  Zeit; 
andere  betrachten  ihn  als  hochaltertümlich  und  ur¬ 
sprünglich  griechisch.  Dass  seine  Säulen  fast  dieselbe 
starke  Verjüngung  und  Schwellung  wie  die  der  Basilika 
zeigen,  will  meiner  Meinung  nach  für  einen  Schluss 
hinsichtlich  der  Zusammengehörigkeit  nicht  viel  be¬ 
deuten.  Im  Charakter  sind  beide  Bauten  einander 


filitlililfi 


'i|||r 


Fig.  12.  Kapitell  von  einer  Votivsäule  auf  der  Akropolis 
von  Athen.  (Nach  Bötticher,  Akropolis.) 


Fig.  13. 


Fig.  14.  Kapitell  von  einer  Votivsäule  auf  der  Akropolis  in  Athen. 
(Nach  Bötticher,  Akropolis.) 


entgegengesetzt.  Während  an  den  wuchtigen,  fast 
plumpen  Gliedern  der  Basilika  vor  allem  der  Aus¬ 
druck  des  Lastens  zu  empfinden  ist,  heben  die 
schlankeren  Säulen  des  Demetertempels  ihre  hohen 
Giebel  mit  einer  Leichtigkeit,  die  wir  selbst  bei  dem 
Poseidontempel  vergeblich  suchen.  Aber  auch  dieses 
Kriterium,  nach  welchem  Demeter  später  als  Posei¬ 
don  datirt  werden  müsste,  ist 
wenig  verlässlich.  Das  einzige 
Band,  das  den  Demetertempel 
mit  der  Basilika  verbindet,  ist 
die  gemeinsame  Form  der 
Skotie  unter  dem  Echinus.  An 
einer  befriedigenden  ästheti¬ 
schen  Erklärung  dieser  Hohl¬ 
kehle  fehlt  es  bis  jetzt.  Zu  dem  Gedanken  einer  Ein¬ 
schnürung,  die  das  obere  Ende  des  Säulenschaftes 
vor  dem  Gespaltenwerden  zu  schützen  hätte,  will 
die  Dekoration  mit  dem  zierlichen  Kranz  der  aut- 

rechtstehenden  Blätter 
nicht  recht  passen.  Dass 
die  Skotie  schon  in  der 
ältesten  griechischen 
Kunst  eine  Rolle  spielt, 
zeigt  die  Säule  des  Löwen¬ 
thors  zu  Mykene.  Sonst 
fehlt  es  im  griechischen 
Mutterlande  fast  ganz  an 
Beispielen;  aber  an  mehre¬ 
ren  sicilischen  Monumen¬ 
ten,  an  griechisch-toska¬ 
nischen  Säulen,  besonders  aber  an  den  beiden 
Tempeln  von  Pästum  hat  sich  diese  altertümliche 
Form  des  dorischen  Säulenhalses  erhalten.  Dass  es 
sich  hier  um  einen  solchen  handelt,  zeigt  eine  Ver¬ 
gleichung  der  frag¬ 
lichen  Stellen  am 
Demeter-  und  am 
Poseidontempel. 
Ich  will  von  vorn¬ 
herein  bemerken, 
dass  mir  in  fast 
allen  Publikatio¬ 
nen  das  Profil  der  Skotien  zu  tief  ausgekehlt  erscheint 
namentlich  gilt  dies  für  die  Darstellungen  des  De¬ 
metertempels.  Zwischen  der  Skotie  des  letzteren 
(Fig.  15)  in  ihrer  richtig  gestellten  Ansicht  und  dem 
Säulenhals  des  Poseidontempels  (Fig.  16)  ist  kein 
so  großer  Unterschied  vorhanden,  dass  nicht  beide 
Formen  als  im  Princip  gleich,  die  eine  aus  der  an¬ 
dern  hervorgegangen,  gedacht  werden  könnten.  Am 


Kapitell  von  einer  Votivsäule  auf  der  Akropolis  in  Athen. 
(Nach  Bötticher,  Akropolis.) 


328 


DIE  TEMPEL  VON  PÄSTUM. 


Poseidontempel  ist  das  künstlerische  Ringen  nach 
Befreiung  der  Säule  von  spielender  plastischer  Aus¬ 
zier  und  der  Versuch,  den  Hals  in  eine  organische 
Verbindung  mit  dem  Schafte  zu  setzen,  zur  That- 
sache  geworden.  Wo  an  der  Demetersäule  die  Skotie 


Fig.  15.  Kapitell  vom  Demetertempel  mit  der  Skotie. 


mit  einem  Rundstab  beginnt,  wird  dort  der  Anfang 
des  Halses  durch  die  drei  Einschnitte  bezeichnet,  über 
die  hinaus  statt  des  Blätterkranzes  der  Skotie  die 
Kaneluren  des  Schaftes  sich  fortsetzen  und  zwar  mit 


einer  eigentümlichen  Bewegung  des  Profils,  das  nur 
im  Anfang  der  Linienführung  des  Schaftes  zu  folgen 
scheint,  aber  gleich  darauf  mit  einer  energischen 
Biegung  nach  außen  den  so  erweiterten  Hals  in  die 
Welle  des  Echinus 
hinüberführt.  In  die¬ 
ser  Biegung  des  obe¬ 
ren  Halsendes  ist  die 
letzte  Spur  der  Skotie 
unzweifelhaft  zu  er¬ 
kennen.  Es  ist  gar 
kein  Grund  vorhan¬ 
den,  dem  Demeter¬ 
tempel  und  ähnlichen 
mit  der  Skotie  ausge¬ 
statteten  Monumenten 
den  Säulenhals  einfach  abzusprechen  und  die  Hohlkehle 
für  den  Kapitellansatz  zu  erklären,  an  deren  Stelle  in 
der  späteren  Zeit  die  annuli  getreten  seien.  Vielmehr 
scheint  sich,  soweit  die  Denkmäler  Großgriechenlands 
in  Betracht  kommen,  aus  dem  altertümlichen  Säulen¬ 


hals,  der  in  Form  der  Skotie  mit  unterem  und  oberem 
wulstartigen  Rundstäbchen  gebildet  ist,  der  jüngere 
normale  Hals  mit  Einschnitten  nach  unten  und 
annuli  nach  oben  unmittelbar  entwickelt  zu  haben.  Am 
nördlichen  Tempel  der  Akropolis  von  Selinunt  (Fig.  17) 
würden  wir  dann  auch  eine  interessante  Übergangs¬ 
form  erkennen  können,  insofern  hier  der  durch  einen 
Einschnitt  und  vier  annuli  abgegrenzte  Hals  unter 
den  letzteren  noch  eine  kleine,  nicht  skulpirte  Hohl¬ 
kehle  zeigt,  in  der  die  über  dem  Einschnitt  liegenden 
Enden  der  Kaneluren  sich  verschneiden.  An  den 
fast  geradlinigen  Halsabschlüssen  der  Denkmäler  der 
Blütezeit,  z.  B.  des  Theseion  und  des  Parthenon  da¬ 
gegen  ist  auch  die  letzte  Spur  der  Skotie  verschwun¬ 
den,  wie  überhaupt  in  der  attischen  Epoche  des  do¬ 
rischen  Stils  die  lebensvolle  Schönheit,  die  aus  der 
charakteristischen  Bildung  der  Glieder  zu  uns  spricht, 
vor  der  Eurythmie  in  der  Komposition  des  großen 
Ganzen  zurücktritt.  Gerade  jene  lebendige  Schön¬ 
heit,  den  Pulsschlag  gleichsam  eines  schaffenden  or¬ 
ganischen  Lebens  bewundern  wir  an  den  Säulen¬ 
gängen  der  Ruinen  von  Pästum  und  zwar  in  gleichem 
Maße  am  Demetertempel  und  an  der  Basilika  wie 
am  Poseidontempel,  sodass  für  das  Gefühl  dessen, 
der  sie  gesehen  hat,  —  und  das  Gefühl  urteilt  in 
Kunstdingen  oftmals  mit  unbeirrbarer  Sicherheit  — 
kein  Zweifel  an  dem  griechischen  Ursprung  auch  der 
beiden  ersteren  Bauten  bestehen  bleibt.  Nehmen  wir 
dazu,  was  oben  über  die  gemeinsamen  Formen  einer¬ 
seits  der  Antenhohlkehle,  andererseits  der  Skotie  aus¬ 
geführt  ist,  so  dürfen  wir  die  Basilika  als  den 
ältesten  Bau  bezeichnen,  den  Demetertempel  als  einen 
jüngeren  derselben  Epoche,  worauf  der  Poseidon¬ 
tempel  als  das  Kind  einer  neueren  Zeit,  ohne  den 
Zusammenhang  mit  seinen  Voreltern  zu  verleugnen» 
den  Reigen  schließt. 

Keineswegs  wollen  wir  uns  mit  dieser  Fest¬ 
setzung  einfach  der  Schwierigkeiten  entlasten,  die 
für  eine  sichere  Datirung  des  Demetertempels  aus 
seinen  mancherlei  Abweichungen  von  der  griechi¬ 
schen  Norm  entspringen.  Wir  wollten  zunächst  nur 
hervorheben,  dass  der  Säulenbau,  das  einzige,  was 
vom  Tempel  einigermaßen  vollständig  erhalten  ist, 
den  hellenischen  Charakter  an  sich  trägt.  Was  die 
seltsame  Grundrissbildung  der  Cella,  besonders  den 
tiefen  Pronaos  betrifft,  so  lassen  sich  der  von  Krell 
aufgestellten  Ansicht  zwei  verschiedene  Erklärungen 
mit  gleicher  Berechtigung  entgegenstellen.  Ent¬ 
weder  ist  der  zwischen  600  und  500  v.  Ch.  von  grie¬ 
chischen  Baumeistern  errichtete  Tempel  gleich  wäh¬ 
rend  des  Baues  von  der  einheimisch-italischen,  d.  h. 


Fig.  17.  Kapitell  vom  nördlichen 
Tempel  der  Akropolis  von  Selinunt. 
(Nach  Hauser.) 


DIE  TEMPEL  VON  PASTUM. 


toskanischen  Weise  beeinflusst,  oder  der  ursprüng¬ 
lich  rein  hellenische  Tempel  hat  in  römischer  Zeit 
an  seiner  Cella  eine  umfassende  Restauration  erfahren. 
Im  Hinblick  auf  die  Säulen  des  Umgangs  steht  einzig 
und  allein  die  Wahl  zwischen  diesen  beiden  Ansichten 
frei;  welcher  der  Vorzug  zu  geben  sei,  lasse  ich 
dahingestellt.  Ebenso  fraglich  bleibt  vorderhand 
die  Frieseinteilung  (Fig.  18),  da  die  Ecken  des  Ge¬ 
bälks  mitsamt  den  Giebelenden  weggebrochen  sind. 
Thatsache  ist,  dass  die  Säulenweiten  am  Demeter¬ 
tempel  durchweg  gleich  sind,  dass  ferner  die  Tri- 
glyphenmitten  einerseits  und  die  Säulenmitten  und  die 
Mitten  der  Zwischenweiten  andererseits  zusammen¬ 
fallen,  abgesehen  vielleicht  von  der  Triglyphe  über 
dem  derEcke  benachbarten  Intercolumnium,  die,  wenn 
ich  meinem  Augenmaß  trauen  darf,  etwas  nach  der 
Mitte  des  Tempels  hin  verschoben  erscheint.  Es  sind 
nun  zwei  Lösungen  möglich.  Sollen  wir  an  den 


329 

Horizontalen  zu  betreten.  Ich  will  auch  nur  bestä¬ 
tigen,  worauf  Burckhardt  im  Cicerone  (5.  Aufl.  S.  4) 
schon  seit  lange  aufmerksam  gemacht  hat,  dass  an 
den  Langseiten  der  Kranzgesimse  des  Poseidontempels 
Ausbiegungen  von  mehreren  Zollen  zu  entdecken 
sind.  Nach  meiner  Beobachtung  finden  sich  die 
Ausbiegungen  nicht  nur  am  Poseidontempel,  son¬ 
dern  auch  an  der  Basilika  und  hier  ebenfalls  an  den 
Schmalseiten.  Die  Curven  erschienen  mir  in  der 
Verkürzung  gesehen,  namentlich  an  der  Südseite  des 
Poseidontempels,  in  einer  so  wunderbar  reinen  Linie, 
dass  ich,  unter  der  Gewalt  des  Augenblicks,  an  die 
Absichtlichkeit  derselben  hätte  glauben  mögen;  ich 
weiß  jedoch  wohl,  welche  Illusionen  die  verkürzte 
Ansicht  in  dieser  Beziehung  hervorzuzaubern  vermag. 
Dürrn  schreibt  die  Curven  an  den  Horizontalen  des 
Poseidontempels  leicht  erkennbaren  Arbeitsfehlern 
zu;  solange  aber  nicht  an  sämtlichen  Monumenten, 


(NB.:  Die  Metopen  mit  Kopfband  sind  hell,  die  Triglyphenfelder  dunkel  gehalten. 
Die  Stellen,  an  denen  Mauerwevk  sichtbar  wird,  sind  moderne  Restauration.) 


Ecken  halbe  Metopen  annehmen?  Das  ist  die  Be¬ 
hauptung  Delagardette’s,  der  indes,  wie  aus  seiner 
auf  Taf.  I  befindlichen  Ansicht  hervorgeht,  den  Tempel 
bereits  in  seiner  heutigen  zertrümmerten  Gestalt, 
ohne  Giebel-  und  Gebälkenden  gesehen  hat,  demnach 
eine  bloße  Rekonstruktion  ohne  sichere  Unterlagen 
bietet.  Da  diese  Einteilung  sonst  nirgends  in  der 
griechischen  Baukunst  nachweisbar  ist,  müsste  man 
sich  eher  der  zweiten,  an  sicilischen  Monumenten  vor¬ 
kommenden  Lösung  zuneigen,  nach  welcher  unter 
Beibehaltung  von  Ecktriglyphen  die  der  Ecke  nächst- 
liegende  Metope  vergrößert  gewesen  wäre.  Zum 
Schluss  sei  noch  erwähnt,  dass,  wie  schon  Durm 
gegenüber  Delagardette- Krell  festgestellt  hat,  die 
Metopen  am  Demetertempel  wohl  mit  Kopfband  ver¬ 
sehen  sind. 

Es  widerstrebt  mir  fast,  nach  all’  dem  Zweifel¬ 
haften  und  Unsicheren,  das  uns  in  Pästum  verwirrt, 
zuletzt  noch  das  gefährliche  Gebiet  der  Curvatur  der 

Zeitschrift  für  bildende  Kunst.  N.  F.  VI.  H.  12. 


die  solcherlei,  sagen  wir  zunächst  Deformitäten, 
aufweisen,  genaue  Messungen  und  Nivellements  vor¬ 
genommen  und  publicirt  sind,  wird  eine  Klärung 
dieser  Frage,  in  der  sich  die  Meinungen  heute  mit 
fast  beispielloser  Schroffheit  entgegenstehen,  gar  nicht 
zu  erwarten  sein. 

Wie  manche  Hauptpunkte  und  Einzelheiten  der 
griechischen  Architektur  liegen  für  uns  völlig  im 
Dunkel!  Fast  täglich  scheint  das  Labyrinth  einander 
widersprechender  Ansichten  sich  zu  erweitern  und 
mehr  zu  verwirren;  das  unerschöpflich  aus  dem  Boden 
quellende  Material  umdüstert  das,  was  eben  geklärt 
erschien,  mit  neuen  Zweifeln.  Und  doch  sind  die 
trümmerhaften  Reste,  die  seit  Jahrhunderten  offen  zu 
Tage  liegen  und  mehr  und  mehr  der  Zerstörung 
anheimfallen,  noch  nicht  alle  mit  erschöpfender 
Gründlichkeit  erforscht  und  in  der  Gesamtheit  wie 
in  den  Einzelformen  zur  Darstellung  gebracht.  Das 
Interesse  der  Archäologen  liegt  heute  vorzugsweise 

43 


330 


ZU  LERMOLIEFF’S  GEDÄCHTNIS. 


unter  der  Erde.  Die  Ausgrabungen  liefern  den  er¬ 
giebigsten  Stoff  für  den  Forscher:  und  von  den  Mo- 
numenten  sind  es  die  des  griechischen  Mutterlandes 
und  der  östlichen  Kolonien,  die  sich  einer  stetigen 
Aufmerksamkeit  erfreuen.  Dagegen  erscheinen  die 
Ruinen  von  Großgriechenland  als  die  Stiefkinder  der 
neueren  Wissenschaft.  Die  großen  Publikationen 
über  Unteritalien  und  Sicilien  datiren  aus  dem  Ende 
des  vorigen  und  dem  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
und  können  nach  dem  Urteil  von  Autoritäten  nicht 
als  zuverlässig  gelten.  Nicht  dem  Einzelnen  sollte 
es  überlassen  bleiben,  jene  einsamen  Stätten  forschend 
zu  durchwandern  oder  das,  was  ihm  zufällig  in  den 


Weg  tritt,  mit  seinen  unzulänglichen  Mitteln  zu  er¬ 
fassen  und  wiederzugeben.  Es  ist  die  Sache  der  Re¬ 
gierungen,  der  archäologischen  Institute,  planmäßig 
an  eine  neue  Durchforschung  dieser  Monumente  zu 
gehen  und  das,  was  noch  vorhanden  ist,  solange  die 
Zeit  es  erlaubt,  festzuhalten  und  dauernd  für  die 
Wissenschaft  nutzbar  zu  machen.  Besonders  Pästum 
ist  eine  Sphinx  voller  Rätsel,  eine  Sphinx  von  zauber¬ 
haftem  Reiz,  die  jede  Mühe  der  Enträtselung,  mag 
auch  noch  so  wenig  dabei  herauskommen,  mit  reinem 
Genuss  belohnt,  mit  jenem  Genuss,  der  der  köstliche 
Begleiter  der  Beschäftigung  mit  dem  wahrhaft 
Schönen  ist. 


ZU  LERMOLIEFF’S  GEDÄCHTNIS. 

MIT  ABBILDUNGEN. 


M  Sonntag'  den  30.  Juni  d.  J.  fand  in  der  Brera 
zu  Mailand  die  feierliche  Enthüllung  der  von 
Lodovico  Pogliaghi  modellirten  Bronzebüste 
statt,  welche  die  Freunde  und  Verehrer  des  unvergess¬ 
lichen  Giovanni  Morelli  dem  Andenken  des  edlen  Mannes 
und  geistvollen  Forschers  gestiftet  haben.  Indem  wir 
in  der  nebenstehenden  Abbildung 
des  wohlgelungenen  Denkmals 
die  Züge  des  alten  Genossen 
und  Mitkämpfers  den  Lesern  vor¬ 
führen,  glauben  wir  auch  der 
Erinnerung  an  sein  geistiges 
Wesen  und  an  die  wissenschaft¬ 
liche  Hinterlassenschaft,  für  die 
wir  ihm  Dank  schulden,  hier 
noch  einmal  Ausdruck  leihen  zu 
sollen.  Denn  allzu  rasch  ver¬ 
fliegt  oft  das  Bild  auch  der  be¬ 
deutendsten  Persönlichkeit  aus 
dem  Gedächtnisse  der  Menschen, 
und  gerade  dem  höchsten  Ruhm 
folgt  häufig  die  tiefste  Vergessen¬ 
heit,  wie  Wellenthal  dem  Wel¬ 
lenberg  im  Meere  des  Lebens. 

Giovanni  Morelli  widmete 
seine  reiche  künstlerische  Hin¬ 
terlassenschaft,  vornehmlich  den 
erlesenen  Schatz  der  von  ihm 
gesammelten  Bilder  alter  Meis¬ 
ter,  dem  Museum  seiner  Vater¬ 
stadt  Bergamo.  Eine  mit  schö¬ 
nen  phototypischen  Tafeln  aus-  Büste  Giovanni  Morelli’s  in 


gestattete  Publikation L)  gewährt  uns  einen  Überblick 
über  diese  wertvolle  Sammlung,  welche  inzwischen  in 
zwei  geräumigen  Oberlichtsälen  geschmackvoll  aufge¬ 
stellt  und  allgemein  zugänglich  gemacht  worden  ist. 

Den  vollen  Inbegriff  seines  wissenschaftlichen 
Wirkens  enthalten  die  drei  Bände  seiner  „Kunst¬ 
kritischen  Studien“,  in  welchen  er 
sowohl  den  Kern  seiner  epoche¬ 
machenden  ersten  Schrift  („Die 
Werke  italienischer  Meister  in  den 
Galerien  von  München,  Dresden 
und  Berlin“,  Leipzig,  Seemann 
1880)  als  auch  die  in  verschie¬ 
denen  Zeitschriften  veröffentlichten 
kleineren  Aufsätze  zur  Bilderkritik 
und  Künstlergeschichte  vereinigt 
und  mit  mannigfachen  Zusätzen  und 
Verbesserungen  wesentlich  berei¬ 
chert  herausgegeben  hat. 2)  An  die 
beiden  ersten  Bände  der  Samm¬ 
lung  konnte  der  Autor  selbst 


1)  Dr.  Gast.  Frizzoni,  La  Galleria 
Morelli  in  Bergamo,  descritta  ed  illus- 
trata  con  24  tavole  fototipiche.  Ber¬ 
gamo,  Fratelli  Bolis.  1892.  4°.  . 

2)  Jvan  Lermolieff ,  Kunstkritische 
Studien  über  italienische  Malerei.  I. 
Die  Galerien  Borghese  und  Doria  Pan- 
fili  in  Rom.  Mit  62  Abbildungen.  1890. 
II.  Die  Galerien  zu  München  und  Dres¬ 
den.  Mit  41  Abbildungen.  1891.  III. 

der  Brera  zu  Mailand.  Die  Galerie  zu  Berlin.  Nebst  einem 


ZU  LERMOLIEFF’S  GEDÄCHTNIS. 


331 


noch  die  letzte  Feile  anlegen.  Der  dritte  ist  auf  Grund 
des  hei  Morelli’s  Tode  -(28.  Febr.  1891)  Vorgefundenen 
Materials  von  dem  treuen  Freunde  des  Dahingeschiedenen, 
Dr.  Gust.  Frizzoni  in  Mailand,  edirt  worden.  Bei  dem 
innigen  geistigen  Verkehr,  welcher  lange  Jahre  hindurch 
zwischen  dem  Meister  und  seinem  ihm  ganz  ergebenen 
Anhänger  bestand,  können  wir  sicher  sein,  auch  in  diesem 
dritten  Bande  nichts  als  die  wissenschaftliche  Hinter¬ 
lassenschaft  Morelli’s,  und  was  ihrer  würdig  ist,  zu  finden. 

Ein  Kollege  des  Dahingeschiedenen  hat  ihn  einmal 
einen  Italiener  der  Gesinnung  und  einen  Deutschen  der 
Bildung  nach  genannt 
(Italiano  d’animo  e  Te- 
desco  di  studi).  Und 
gewiss  durchdrangen 
sich  in  seiner  Natur 
diese  beiden  Elemente 
zu  vollkommener  Har¬ 
monie.  Er  hegte  die 
tiefste  Verehrung  für 
das  gelehrte  Deutsch¬ 
land,  für  die  Heroen 
seiner  W  issenscliaft  und 
Poesie.  Wie  begeistert 
klingen  seine  „Worte 
eines  Lombarden  an  die 
Deutschen“  (in  einer 
1848  in  Frankfurt  a.  M. 
erschienenen  Broschü¬ 
re)  :  „Ich,  der  im  Namen 
meiner  Landsleute  diese 
Worte  an  Euch  richte, 
ich  habe  sechs  Jahre, 
die  schönsten  Jahre 
meiner  Jugendzeit,  in 
Euerer  Mitt.e  zuge¬ 
bracht.  Bande  der  innig¬ 
sten  Freundschaft,  Ban¬ 
de  der  gefühltesten 
Dankbarkeit  binden 
mich  an  das  herrliche 
Land,  dem  ich  die  Ver¬ 
edlung  meines  Herzens  und  meines  Geistes  schuldig  bin  und 
das  ich  mein  zweites  Vaterland  nennen  möchte,  wenn  die 
Liebe  zum  Vaterlande,  dieses  erhabenste  und  glühendste 
aller  menschlichen  Gefühle,  sich  teilen  ließe!“  Aus  dem 
feurigsten  Patriotismus  heraus  erwuchs  auch  seine  Liebe 
zu  der  alten  heimischen  Kunst.  Er  hatte  in  Deutsch¬ 
land  Naturwissenschaft  studirt,  die  exakte  Methode  der¬ 
selben  sich  angeeignet.  Was  war  natürlicher,  als  dass 
er  dieselbe  später  auch  auf  sein  Kunststudium  anwendete? 


Lehensbilde  Giovanni  Morelli’s,  herausgegeben  von  Dr.  Gust. 
Frizzoni.  Mit  Porträt  und  6G  Abbildungen.  1893.  Leipzig, 
_F.  A.  Brock  haus.  8°. 


Aber  das  Kunststudium  selbst  war  die  Frucht  seiner 
Hingebung  an  das  Vaterland.  Der  Stolz  des  Italieners 
auf  die  großen  Meister  der  klassischen  Zeit,  die  der 
Menschheit  einen  Teil  ihrer  Krongüter  geschenkt,  er¬ 
füllte  seine  Seele.  Das  Erbe  der  edlen  Meister  von  dem 
Staub  und  Schmutz  der  Jahrhunderte  zu  befreien,  die 
uns  von  ihnen  trennen,  erschien  ihm  als  eine  heilige 
Pflicht.  Daher  sein  Hass  gegen  die  gewissenlosen 
Restauratoren  und  Fälscher,  sein  Eifer  für  ein  tief¬ 
eindringendes  Studium  der  Denkmäler ,  sein  emsiges 
Forschen  und  Suchen  nach  einem  Schlüssel  für  die  Er¬ 
kenntnis  der  Wahrheit. 

Morelli  erblickte 
in  der  Kunst  das  höchste 
geistige  Produkt  der 
Volksnatur.  Nicht  die 
Schule,  sondern  der 
Stamm  ist  ihr  eigent¬ 
licher  Träger.  Aus  dem 
Stamm  erwächst  das 
Individuum.  Es  ist 
die  Blüte  des  Stam¬ 
mes.  Zunächst  also  gilt 
es ,  scharf  zu  unter¬ 
scheiden  zwischen  dem 
Lombarden  und  dem 
Venezianer,  zwischen 
dem  Toskaner  und  dem 
Umbrer,  und  innerhalb 
dieser  verschiedenen 
Gruppenbildungen  der 
Volksnatur  zu  der  Er¬ 
kenntnis  der  Natur  des 
Individuums  vorzudrin¬ 
gen.  Das  ist  der  Weg 
von  Morelli’s  Forschun¬ 
gen.  Das  Kriterium, 
das  ihn  dabei  als  Kom¬ 
pass  leitet,  ist  nicht 
geistiger ,  seelischer, 
sondern  sinnlicher  Na¬ 
tur:  es  beruht  auf  der 
Beobachtung  und  Fixirung  bestimmter  angeborener,  nicht 
angelernter  Eigenschaften.  Ein  Fra  Filippo  zeichnet 
von  Natur  eine  Hand  und  ein  Ohr  anders  als  ein 
Domenico  Ghirlandajo,  ein  Perugino  giebt  der  Gewand¬ 
falte  diese,  ein  Raffael  jene  Form:  in  diesen  unwill¬ 
kürlichen  und  bleibenden  Ausdrucksweisen  der  verschie¬ 
denen  Künstler  besitzen  wir  ein  untrügliches  Instru¬ 
ment  für  die  wissenschaftliche  Kritik.  Nicht  die  Concep- 
tion,  nicht  das  Kolorit  oder  die  Stimmung  eines  Gemäldes 
bieten  diese  sicheren  Grundlagen  unserer  Erkenntnis, 
wohl  aber  die  Zeichnung  und  die  plastische  Formen- 
gebung  bestimmter  charakteristischer  Einzelheiten 

In  wie  einschneidender  und  erfolgreicher  Weise 

43* 


Madonna  von  Correggio  ;  Florenz,  Uffizien. 


332 


ZU  LERMOLIEFF’S  GEDÄCHTNIS. 


Frauenbildnis  von  Bautolamio  de  Venezia. 

Mailand,  Herzog  Gr.  Melzi. 

Lermolieff  das  geschilderte,  von  ihm  geschaffene 
kritische  Handwerkszeug  zu  benutzen  verstand, 
das  haben  die  älteren  Leser  dieses  Blattes  zu¬ 
erst  aus  den  Studien  über  die  Galerie  Borghese 
in  Rom  ersehen  können ,  womit  unser  Autor  in 
der  „Zeitschrift  für  bildende  Kunst“  (1874—76) 
sich  als  Kritiker  einführte.  Lange  Zeit  hin¬ 
durch  war  es  seine  Absicht,  jenen  Aufsätzen 
eine  ähnliche,  wenn  auch  kürzere,  Arbeit  über 
die  Galerie  Doria  Panfili  nachfolgen  zu  lassen. 
Doch  die  zahlreichen  anderen,  zum  Teil  pole¬ 
mischen  Artikel ,  zu  denen  die  ersterwähnten 
Studien  und  dann  besonders  das  Buch  über  die 
Galerien  von  München,  Dresden  und  Berlin  den 
AnstoB  gaben,  ließen  es  nie  zu  der  Verwirklichung 
seiner  Absicht  kommen.  Erst  die  vorliegende 
Gesamtausgabe  der  „  Kunstkritischen  Studien  “ 
bringt  uns  die  Würdigung  der  Galerie  Doria- 
Panfili,  im  Anschluss  an  die  revidirte  und  mannig¬ 
fach  vervollständigte  Betrachtung  der  Galerie  Bor¬ 
ghese.  Und  in  der  Galerie  Doria  sind  es  nament¬ 
lich  die  Venezianer,  denen  Morelli  eine  sehr  ein¬ 
gehende  kritische  Durchsicht  zu  teil  werden  lässt. 
Dieselbe  ist  besonders  ergiebig  für  Antonio  Vi- 


varini,  Basaiti,  die  Bonifazio’s,  Bordone,  Por- 
denone,  Lotto,  Giorgione  und  Tizian,  wobei  zu 
beachten  ist,  dass  der  Autor  nicht  nur  die  von 
diesen  Meistern  in  der  Galerie  Doria  befindlichen 
Bilder  würdigt,  sondern  in  seiner  freien  diskur¬ 
siven  Art  auch  ihre  Repräsentation  in  andern 
römischen  und  sonstigen  Sammlungen  mit  in  Be¬ 
tracht  zieht.  Dasselbe  gilt,  und  zwar  in  noch 
weiterem  Umkreise,  von  den  den  Venezianern  zu¬ 
geschriebenen  Handzeiclmungen.  Was  übrigens 
Giorgione  betrifft,  auf  dessen  großen  Namen  man 
in  der  Doria- Galerie  mehrfach  stößt,  so  lässt 
Morelli  mit  gutem  Recht  kein  einziges  der  ihm 
dort  zugeschriebenen  Bilder  als  echt  gelten.  Da¬ 
gegen  hält  er  die  Herodias  (Braccio  II,  Nr.  40), 
die  Von  Crowe  und  Cavalcaselle  dem  derben  Por- 
denone,  von  andern  dem  Giorgione  zugeteilt  wurde, 
mit  Entschiedenheit  als  Jugendbild  von  Tizian  fest 
und  preist  diese  feine,  holdselige  Frauengestalt 
in  gebührender  Weise.  Auch  Bode  folgt  im 
„Cicerone“  (6.  Ausg.,  751,  b)  dieser  Bestimmung. 

Der  Inhalt  des  1880  erschienenen  Buches 
über  die  drei  deutschen  Galerien  ist  auf  die 
Bände  II  und  111  der  „Kunstkritischen  Studien“ 
verteilt.  Der  zweite  Band  behandelt  München 
und  Dresden  und  zeigt  des  Verfassers  Urteil  in 
tausend  interessanten  Einzelheiten  gefestigt  und 
gereift.  Dazu  kommen  mehrere  ganz  neue  Ex- 


Männliches  Bildnis  von  Antonello  da  Messina;  Mailand,  Fürst  Trivulzio. 


ZU  LERMOLIEFF’S  GEDÄCHTNIS. 


333 


kurse,  wie  der  über  Giovanni  Cariani  und  über  die 
Federzeichnungen  des  Venezianers  Domenico  Campagnola, 
„welche  allerwärts  noch  immerfort  dessen  großem  Zeit¬ 
genossen  und  Vorbilde  Tizian  zugeschrieben  werden“. 
Die  Hauptsache  bleibt  hierbei  die  sichere  Handhabung  der 
Methode,  deren  Begründung  der  Autor  in  der  Einleitung 
wie  im  Vorwort  zur  zweiten  Auflage  mit  Energie  und 
nicht  ohne  eine  gewisse  Bitter¬ 
keit  verteidigt.  Letztere  wird 
jedermann  erklärlich  linden, 
wenn  er  der  lächerlichen  Ein¬ 
wendungen  sich  erinnert,  wel¬ 
che  von  mancher  Seite  gegen 
das  Verfahren  und  gegen  die 
Resultate  von  Lermolieffs  Kri¬ 
tik  erhoben  worden  sind.  — 

Sein  ganz  besonderes  Augen¬ 
merk  hatte  der  Autor  in  den 
letzten  Jahren  auf  die  nor¬ 
dischen  Nachahmer  der  italie¬ 
nischen  Meister  gerichtet,  die 
sich  viel  häufiger,  als  man 
bisher  es  zugeben  wollte,  in 
öffentlichen  wie  in  privaten 
Sammlungen  nach  weisen  lassen. 

Vornehmlich  sind  es  vlämische 
Maler,  von  deren  Hand  die 
häufig  sehr  geschickten  und 
daher  leicht  auch  geschulte 
Betrachter  täuschenden  Nach¬ 
ahmungen  herrühren.  Das  viel¬ 
besprochene  Madonnenbild  in 
der  Münchener  Pinakothek,  das 
vor  einigen  Jahren  erworben 
und  als  Lionardo  der  Samm¬ 
lung  einverleibt  wurde,  und 
sein  etwas  größeres  Gegen¬ 
stück  in  der  Dresdener  Galerie 
werden  von  Lermolieff  (II, 

341  ff.)  in  diese  Kategorie  ver¬ 
wiesen.  Auch  an  vielen  andern 
beachtenswerten  Beispielen  er¬ 
örtert  der  Autor  seine  gewiss 
nicht  leichthin  abzuweisenden 
Beobachtungen. 

Der  III.  von  Frizzoni 
herausgegebene  (Schluss-)Band 
umfasst  die  kritischen  Bemerkungen  zur  Berliner  Galerie 
und  enthält  außerdem  die  drei  Aufsätze  über  Peru- 
gino  und  Raffael,  des  letzteren  Jugendentwicklung 
und  das  Venezianische  Skizzenbuch,  die  für  die  Kritik 
der  Umbrischen  Meister  überhaupt  und  speciell  für  die 
des  Raffael  und  seiner  Jugendgenossen  bekanntlich  von 
grundlegender  Bedeutung  sind.  Der  ganze  Band  be¬ 
schäftigt  sich,  dem  Charakter  der  Berliner  Galerie  ge¬ 


mäß,  vorwiegend  mit  den  Werken  des  Quattrocento; 
neben  den  Umbriern  nehmen  darin  die  Toskaner  und  die 
Lombarden  jener  Epoche  den  größten  Raum  ein.  Dass 
auch  hier  wieder  zahlreiche  Nachträge  und  Verbesserungen 
sich  vorlinden,  zeugt  nur  für  das  rastlose  Bemühen  des 
Autors,  der  Wahrheit  auf  den  Grund  zu  kommen.  Im 
Wesentlichen  blieben  seine  früheren  Charakteristiken  der 
Meister  bestehen.  Was  der 
Herausgeber  im  Einzelnen  als 
sein  Eigentum  hinzugefügt  hat, 
ist  durch  Klammern  oder  durch 
ein  F.  angedeutet.  —  Einer 
genauen  Durchsicht  sind  vor¬ 
nehmlich  die  Abschnitte  über 
den  jungen  Raffael  und  seine 
Genossen  unterzogen.  Die  Liste 
der  Bilder  und  Zeichnungen 
des  Timoteo  Viti,  der  bekann¬ 
termaßen  erst  durch  Lermo¬ 
lieff  wieder  zu  einer  bestimm¬ 
ten  Persönlichkeit  geworden 
ist,  erhält  eine  namhafte  Be¬ 
reicherung.  Unter  den  Floren¬ 
tinern  seien  hier  namentlich 
Botticelli  und  Verrocchio  als 
diejenigen  Meister  genannt, 
welchen  der  Autor  die  ergie¬ 
bigsten  Studien  gewidmet  hat. 
Dem  Botticelli’schen  Bildnis 
des  Giuliano  de’  Medici  in  der 
Berliner  Galerie  stellt  Morelli 
das  in  seiner  eigenen  Samm¬ 
lung  (jetzt  in  Bergamo)  be- 
ündliche  Exemplar  als  das 
besser  beglaubigte  gegenüber. 
Die  Kunst  des  Verrocchio,  und 
zwar  dessen  Thätigkeit  als 
Maler  wie  als  Bildhauer,  wird 
von  Morelli  auf  durchaus  an¬ 
deren  Grundlagen  aufgebaut, 
wie  sie  neuerdings  die  Ber¬ 
liner  Gelehrten  geschaffen  ha¬ 
ben.  Hier  findet  auch  Lionardo 
seinen  Platz,  d.  h.  der  ver¬ 
meintliche  Lionardo  des  weib¬ 
lichen  Porträts  in  der  Galerie 
Liechtenstein  und  anderer 
Werke  verwandter  Kategorie. 

Blicken  wir  zurück  auf  den  Inhalt  der  drei  geist¬ 
erfüllten  Bände,  aus  deren  sorgfältig  gewähltem  Bilder¬ 
schmuck  einige  Beispiele  hier  eingefügt  sind,  so  erhebt 
sich  vor  uns  die  Gestalt  einer  Persönlichkeit  von  ganz 
eigener,  in  unserer  Zeit  höchst  seltener  Art.  Ein  grund¬ 
gelehrter  Mann,  und  doch  kein  zünftiger  Gelehrter,  ein 
Sammler  und  Forscher  von  unermüdlichem  Fleiß,  und 


Madonna  in  Terrakotta  von  A.  Verrocchio. 
Florenz,  Museum  von  S.  Maria  Nuova. 


334 


VIERTELJAHRSHEFTE  DES  VEREINS  BILDENDER  KÜNSTLER  DRESDENS. 


dabei  ein  Mann  der  Welt  und  der  Politik,  dessen  steten 
Umgang  Fürsten  und  Staatsmänner  bildeten,  ein  begeister¬ 
ter  Patriot  von  streng  italienischer  Gesinnung,  und  dabei 
ein  großherziger  und  weitblickender  Freund  aller  gleich¬ 
strebenden  Völker,  mit  einem  Wort  eine  Menschennatur 
von  jenem  echt  humanen  Wesen,  welches  die  großen 
Männer  der  Renaissance  kennzeichnet.  Deshalb  fühlte 


sich  Morelli  auch  so  unwiderstehlich  hingezogen  zu  jenen 
göttlichen  Geistern,  die  uns  das  Abendmahl,  die  Sixtinische 
Madonna  und  den  David  geschaffen  haben.  Deshalb 
konnte  er  mehr  für  die  bessere  Kenntnis,  für  das  un¬ 
getrübte  Andenken  dieser  Größten  seines  Volkes  tlmn, 
als  irgend  ein  anderer  Forscher  unserer  Zeit. 

C.  v.  L. 


VIERTELJAHRSHEFTE 

DES  VEREINS  BILDENDER  KÜNSTLER  DRESDENS. 

MIT  ABBILDUNG. 


BWOHL  unsere  Zeit  sich  rüh¬ 
men  kann,  auf  dem  Gebiete  der 
künstlerischen  Illustration  eine 
noch  nie  zuvor  dagewesene 
Höhe  der  Vollendung  erreicht 
zu  haben,  so  kann  doch  nicht 
geleugnet  werden ,  dass  im 
Kunsthandel  oder  bei  der  Aus¬ 
wahl  für  unsere  illustrirten 
Blätter  nicht  künstlerische,  sondern  geschäftliche  Rück¬ 
sichten  in  erster  Linie  den  Ausschlag  geben.  Nicht  das 
Große,  Bedeutende,  Stilvolle  wird  bevorzugt,  sondern  das 
Gefällige,  Leichte  und  Pikante,  das  der  Menge  zusagt.  So 
kommt  es,  dass  das  Publikum,  statt  von  der  Kunst  er¬ 
zogen  und  zur  Vertiefung  in  ernste  Schöpfungen  heran¬ 
gebildet  zu  werden,  gerade  durch  die  Illustration  auf 
einem  niedrigen  Standpunkte  seines  Urteils  festgehalten 
und  sein  Auge  für  die  Aufgaben  der  wahren,  nach  Stil  und 
Größe  strebenden  Kunst  unempfänglich  gemacht  wird. 
Leider  folgen  vielfach  selbst  unsere  Kunstvereine,  die 
freilich  besser  thäten ,  wenn  sie  sich  Künstlerunter¬ 
st  iitzungsveroine  nennen  wollten,  teils  aus  Unverstand  ihrer 
Leiter,  teils  aus  falscher  Gutmütigkeit,  in  der  Auswahl 
ihrer  Prämienblätter  diesem  Zuge  nach  dem  Banalen,  und 
versäumen  so  vollständig  ihren  Beruf,  unter  ihren  Mit¬ 
gliedern  wirklichen  Kunstsinn  zu  verbreiten.  Nur  nichts 
Auffallendes  und  Ungewöhnliches,  nichts,  was  nicht  jeder 
Philister  sofort  versteht  und  schön  findet,  das  ist  hier 
die  Losung!  Vor  allem  müssen  die  einheimischen  Künst¬ 
ler  berücksichtigt  werden,  ganz  gleich,  ob  sie  in  ihrer 
Kunst  weit  hinter  der  allgemeinen  Entwicklung  zurück¬ 
geblieben  sind  und  z.  B.  Radirungen  liefern,  so  ledern, 
nüchtern  und  akademisch,  dass  man  vermuten  möchte,  dass 
weder  Whistler  noch  einer  der  großen  französischen  Meister 
der  Nadel  ihnen  jemals  zu  Gesicht  gekommen  wäre. 

Um  diesem  Schlendrian  der  Kunstvereine  und  des 
Kunsthandels  entgegen  zu  treten,  zugleich  aber  auch,  um 
jedermann  einen  Einblick  in  den  Ernst  seiner  Bestre¬ 


bungen  zu  gewähren,  hat  sich  der  Verein  bildender 
Künstler  Dresdens  (die  Dresdener  Secession)  entschlossen, 
Vierteljahrshefte  erscheinen  zu  lassen,  deren  erstes  vor 
wenigen  Wochen  ausgegeben  worden  ist. 

Ein  kurzer,  von  einer  charakteristischen  Umriss¬ 
zeichnung  des  erst  unlängst  bekannt  gewordenen  Gey-Schü- 
lers  Sascha  Schneider  umrahmter  Prospekt  giebt  die  Ver¬ 
sicherung,  dass  die  Auswahl  der  Blätter  nur  nach  künst¬ 
lerischen  Gesichtspunkten  erfolgen  wird,  während  die 
Ausstattung  den  individuellen  Anforderungen  der  Ori¬ 
ginale  entsprechen  soll.  Die  Hefte,  bei  denen  von  vorn¬ 
herein  auf  keinen  materiellen  Gewinn  gerechnet  wird, 
und  die  im  Kommissionsverlag  der  Firma  Ernst  Arnold 
(A.  Gutbier )  in  Dresden,  die  zu  Gunsten  des  Unter¬ 
nehmens  auf  jeden  Gewinnanteil  verzichtet  hat,  er¬ 
scheinen,  werden  Beiträge  aus  allen  Gebieten  der  Malerei, 
Zeichenkunst  und  Plastik  enthalten ,  •  die  geeignet  er¬ 
scheinen,  die  Kunstanschauung  weiterer  Kreise  zu  bilden, 
zu  klären  und  zu  bereichern.  Blätter,  die  nur  der 
müßigen  Unterhaltung  dienen,  bleiben  ausgeschlossen. 

Für  den  Verein  selbst  ist  das  Unternehmen  deshalb 
wichtig,  weil  es  seinen  Mitgliedern  Gelegenheit  giebt, 
sich  der  Pflege  der  Lithographie,  der  Radirung  und  des 
Holzschnittes  zu  widmen,  d.  h.  derjenigen  Reproduktions¬ 
verfahren,  in  denen  die  Originalität  der  Erfindung 
gegenüber  der  Stilverwilderung  des  heutigen  Ulustrations- 
wesens  auf  mechanischem  Wege  am  meisten  zu  ihrem 
Rechte  gelangt.  Besondere  Anerkennung  verdient  die 
Einrichtung,  dass  den  Autoren  die  Möglichkeit  gegeben 
ist ,  die  Ausführung  des  Druckes  selbst  zu  überwachen 
und  auf  diesem  Wege  ihren  Absichten  soviel  wie  möglich 
die  Durchführung  zu  ■  sichern. 

Ohne  Zweifel  enthält  dieses  Programm  nur  Gesichts¬ 
punkte,  denen  jeder  ernste  Kunstfreund  seine  Zustimmung 
geben  wird.  Es  ist  nur  die  Frage,  in  wie  weit  es  in 
der  Praxis  gelingen  wird,  die  Verheissungen  des  Pro¬ 
spektes  zu  erfüllen.  Nach  dem  ersten  Probeheft  zu 
urteilen,  dürfen  wir  in  Zukunft  auf  recht  erfreuliche 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


335 


Leistungen  hoffen.  Wie  der  von  uns  allerdings  in  be¬ 
deutender  Verkleinerung  reproduzirte  Lichtdruck  nach 
einer  Kreidezeichnung  der  Frau  Emilie  Medix-Pelikan , 
der  in  der  renommirten  Anstalt  von  J.  B.  Obernetter  in 
München  hergestellt  worden  ist,  erkennen  lässt,  haben 
wir  es  hier  mit  durchaus  originalen,  selbständigen  Ar¬ 
beiten  zu  thun.  Die  Künstlerin,  früher  in  Wien,  hat 
sich,  wie  ihr  Gatte,  in  der  kurzen  Zeit  ihres  Aufenthaltes 
in  Dresden,  einen  geachteten  Namen  in  der  Kunstwelt 
der  sächsischen  Hauptstadt  gemacht,  und  es  ist  mehr 
als  ein  Kompliment  an  das  schöne  Geschlecht,  wenn 
gerade  eine  Arbeit  von  ihrer  Hand  zur  Aufnahme  in  das 
erste  Heft  ausersehen  wurde.  Unsere  Leser  werden  uns 
beistimmen,  wenn  wir  in  dieser  Zeichnung,  die  so  an¬ 
spruchslos  und  bescheiden  auftritt  eine  gewisse  stilvolle 
Größe  erkennen  und  in  der  Art,  im  Porträt  nur  die 
wesentlichen  Züge,  diese  aber  energisch  zu  betonen,  einen 
besonderen  Reiz  finden.  Unter  den  übrigen  Blättern  des 
ersten  Heftes  wollen  wir  die  Steinzeichnungen  von  Hans 
XJnger  („Knecht  mit  Kühen“)  und  von  0.  Fischer  („Land¬ 
schaft“),  von  denen  die  erstere  bei  TU.  Hoffmann  in 
Dresden  und  die  andere  bei  C.  C.  Meinhold  &  Söhne 
ebenda  gedruckt  worden  ist,  rühmend  hervorheben,  weil 
sie  ein  glückliches  Streben  nach  Stil  verraten,  ohne  sich 
von  der  notwendigen  naturalistischen  Grundlage  zu  ent¬ 


fernen.  Dasselbe  Bestreben  zeigt  auch  G.  Müller-Breslau 
in  seinem  Entwurf  zu  einem  Glasfenster,  der  die  Auf¬ 
erstehung  des  Heilandes  aus  dem  Grabe  und  die  Flucht 
der  beiden  Kriegsknechte  darstellt.  Wir  finden  aber  die 
Ausführung  zu  steif,  die  Haltung  der  Figuren  zu 
konventionell  und  ihre  Bewegungen  zu  übertrieben.  Einen 
recht  angenehmen  Eindruck  macht  die  anmutige  Figur 
des  Frühlings  von  P.  Pöppelmann ,  eine  vortreffliche 
Aktstudie,  die  wiederum  von  Obernetter  nach  dem 
Originalmodell  vorzüglich  reproduzirt  worden  ist.  Weniger 
Geschmack  finden  wir  an  Richard  Müller' 's  Kreidezeichnung 
und  an  der  nicht  ganz  klaren  Darstellung  auf  der  Vorder¬ 
seite  des  Umschlages,  die  offenbar  so  etwas  wie  eine 
Abundantia  bedeutet.  Indessen  soll  uns  das  nicht  hindern, 
dem  groß  gedachten  Unternehmen  die  besten  Wünsche 
für  sein  Gedeihen  mit  auf  den  Weg  zu  geben,  um  es 
allen  ernsten  Kunstfreunden  zur  Beachtung  zu  empfehlen. 
Der  Preis  ist  mäßig.  Das  Jahresabonnement  beträgt 
36  Mark;  das  Einzelheft  kostet  12  Mark;  einzelne 
Blätter  sind  nicht  verkäuflich.  Alljährlich  erscheinen 
vier  Hefte  in  cirka  vierteljährlichen  Terminen.  Jedes 
Heft  im  Format  48 — 60  cm,  enthält  je  nach  dem  Werte 
der  angewandten  Druckverfahren  4 — 6  Kunstblätter: 
Lithographien,  Radirungen,  Holzschnitte,  Lichtdrucke 
oder  Heliogravüren.  h.  A.  LIER. 


KLEINE  MITTEILUNGEN. 


***  über  die  Abformung  der  Reliefdarstellungen  an  der 
Marc- Aurelssäule  in  Rom  berichtet  der  , Reichs- Anzeiger“: 
„Nachdem  auch  das  Municipio  seine  Genehmigung  zur  Aus¬ 
führung  der  Arbeiten  erteilt  hat,  ist  nunmehr  das  Gerüst 
fertig  gestellt,  ein  an  der  Säule  selbst  befestigtes,  zum  Auf- 
und  Abziehen  eingerichtetes  Hängegerüst  und  ein  daneben 
feststehender  Treppenturm,  von  dem  aus  das  Hängegerüst  in 
seinen  verschiedenen  Höhestellungen  betreten  werden  kann. 
Am  23.  April  haben  die  mit  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
der  Aufnahme  und  Herausgabe  betrauten  Herren  Professoren 
Petersen  und  v.  Domaszewski  ihre  Thätigkeit  an  der  Säule 
begonnen.  Für  die  Revision  der  architektonischen  Aufnahmen 
ist  in  entgegenkommendster  Weise  Herr  Prof.  Guglielmo 
Calderini  einzutreten  bereit.  Die  photographischen  Aufnahmen 
hat  der  durch  seine  Leistungen  dazu  besonders  geeignet  er¬ 
scheinende  römische  Photograph  Herr  Anderson  übernommen. 
Die  Abformungen  wird  der  römische  Former  Piernovelli  be¬ 
sorgen.  So  sind  von  italienischer  und  deutscher  Seite  die 
Vorbereitungen  getroffen,  um  in  gemeinsamer  Arbeit  ein 
Denkmal  genauerer  Kenntnis  als  bisher  zugänglich  zu  machen, 
das  für  beide  Nationen  ein  historisches  Interesse  bietet.“ 
Neue  Glasmalerei.  In  Berlin  waren  kürzlich  einige 
Glasgemälde  ausgestellt,  welche  nach  dem  vom  Maler.  Otto 
Dielmann  erfundenen  Verfahren  angefertigt  worden  sind. 
Diese  Erfindung  verspricht  von  weittragender  Bedeutung  für 
die  Glasmalerei  zu  werden,  da  durch  die  einfache  und 


sinnreiche  Idee  fortan  der  Glasmalerei  die  ganze  Farben¬ 
skala  zur  Verfügung  steht,  gleich  der  Öl-  oder  Pastellmalerei. 
Dies  wird  durch  drei  aufeinandergelegte  Überfangplatten  in 
den  Grundfarben  rot,  gelb  und  blau  erreicht.  Je  nachdem 
die  Farbenschichte  mehr  oder  weniger  geätzt  wird ,  entsteht 
bei  durchfallendem  Lichte  die  optische  Mischung  der  Farben. 
So  ist  dadurch  die  Herstellung  von  Glasgemälden  in  ab¬ 
solutem  farbigem  Glase  möglich,  ohne  Aufmalung,  das  Ideal 
der  Glasmalerei-Technik.  Es  sind  Farben,  welche  unver¬ 
gänglich  wie  das  Glas  selbst  sind,  weil  sie  selber  Glas  sind. 
Professor  Doepler  sagt:  „Ich  glaube  fest  und  zuversichtlich, 
dass  mit  der  Möglichkeit,  Carnation,  Draperie  und  Hinter¬ 
gründe  in  solcher  Leuchtkraft  auf  größeren  Flächen  ohne  die 
durch  die  bisher  übliche  Verbleiung  den  Konturen  an¬ 
haftenden  Mängel  zur  Ausführung  und  künstlerischen  Durch¬ 
bildung  zu  bringen,  wahrhaft  große  Resultate  mit  Sicherheit 
erwartet  werden  können  “  Direktor  Lessing  schreibt:  „Diese 
Technik  ist  eine  geniale  Verwendung  der  Auflösung  eines 
Bildes  in  seine  Grundfarben.  Die  Zusammenfügung  der 
Farben  vollzieht  sich  in  der  Transparenz  mit  voller  Sicher¬ 
heit  und  überraschender  Leuchtkraft.  Dieses  Verfahren 
kann  nicht  ohne  weiteres  an  Stelle  der  alten  Glasgemälde 
treten,  es  leistet  vielmehr  sehr  viel  stärkere  malerische  Wir¬ 
kungen  und  bedingt  Kompositonen,  welche  dieser  leuchtenden 
Farbenglut  entspreohen.  Es  werden  durch  dieses  Verfahren 
der  Glasmalerei  neue  Bahnen  geöffnet.“  Daraufhin  erfolgte 


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KLEINE  MITTEILUNGEN. 


im  Kunstgewerbemuseum  die  Ausstellung  von  Proben  der 
neuen  Technik.  —  :  — 

□  A  us  den  Wiener  Ateliers.  Zahlreiche  interessante 
Arbeiten  sind  bei  Professor  E.  Hellmer  in  Entstehung  be¬ 
griffen,  voran  die  Gruppe  für  einen  der  kolossalen  Brunnen 
an  der  Wiener  Hofburg.  Hellmer  arbeitet  an  jener  Gruppe, 
die  für  die  Nische  gegen  die  Schauflergasse  zu  bestimmt  ist, 
und  hat  das  Gipsmodell  dazu  seit  einiger  Zeit  vollendet. 
Es  ist  im  wesentlichen  eine  Allegorie  der  Macht  Österreichs, 
zu  Lande,  gegen  welche  feindliche  Mächte  vergebens  an¬ 
kämpfen.  Die  Hauptfigur,  eine  jugendliche,  kräftige,  fast 
nackte  männliche  Gestalt  steht  zu  oberst  auf  einem  Felsen. 
Von  den  drei  männlichen  Gestalten,  welche  die  bösen 
Mächte  versinnbilden,  bemüht  sich  (links)  die  eine  mit  großer 
Anstrengung  den  Gipfel  des  Felsens  zu  erklimmen.  Die 
zweite  Figur  unter  diesen  feindlichen  Stürmern  erblicken  wir 
in  jähem  Sturz.  Die  dritte  (zu  unterst)  rafft  sich  vom  Falle 
auf  und  sucht  eine  schwere  Felsplatte,  die  sie  bedrückt,  von 
sich  abzuwälzen.  Ganz  rechts  gesellt  sich  eine  große 
Schlange  zu  den  bezeichneten  Figuren,  gegen  welche  von 
rechts  her  ein  Adler  heranflattert  Alles  zusammen  eine 
fein  abgewogene,  bewegte  Komposition.  Die  Ausführung  in 
Marmor  hat  noch  nicht  begonnen,  doch  deuten  große  Blöcke 
darauf  hin,  dass  die  interessante  Gruppe  in  nächster  Zeit  in 
Angriff  genommen  wird.  Schon  punktirt  finden  wir  den 
Marmor  für  die  allegorische  Figur  der  Weisheit,  eine  kolos¬ 
sale  Gestalt ,  welche  einen  Bestandteil  des  plastischen 
Schmuckes  der  neuen  Wiener  Hofburg  bilden  soll.  Hellmer 
hat  auch  den  Entwurf  für  die  Figuren  in  einem  der  großen 
Giebel  des  genannten  Monumentalbaues  geliefert.  Die  Dar¬ 
stellung  zeigt  in  der  Mitte  die  Austria.  Beiderseits  schließen 
sich  allegorische  Figuren  an ,  welche  auf  den  Parlamen¬ 
tarismus  anspielen.  Ganz  außen  Kinderfiguren.  Von  merk¬ 
würdiger  Unmittelbarkeit  ist  eine  weitere  Arbeit  in  Hellmers 
Atelier,  deren  Gipsmodell  vollendet  und  die  auch  in  der 
endgiltigen  Ausführung  in  Marmor  schon  begonnen  ist.  Wir 
meinen  die  Figur  E.  Schindlers,  des  Landschaftsmalers,  die 
Hellmer  für  dessen  Grabdenkmal  modellirt  hat.  Schindler  ist 
behaglich  ruhend  dargestellt  und  im  Ganzen  wie  im  Ein¬ 
zelnen  äußerst  vornehm  aufgefasst.  —  Über  Hellmer’s  Goethe- 
Denkmal  für  Wien  hat  die  Chronik  erst  neulich  berichtet. 

Dürer-Fund.  —  In  der  letzten  Sitzung  des  königlich¬ 
sächsischen  Altertumsvereins  in  Dresden  unter  dem  Vorsitze 
iles  Prinzen  Georg  von  Sachsen  machte  Professor  Dr.  Corne¬ 
lius  Gurlitt  Mitteilung  von  einer  wichtigen  Entdeckung  in 
Bezug  auf  Albrecht  Dürer.  Es  ist  bekannt,  dass  Albrecht 
Dürer  in  den  Jahren  1501 — 1505  mit  dem  Kurfürsten  Friedrich 
dem  Weisen  von  Sachsen-Wittenberg  in  enger  Verbindung 
>tand.  Der  bekannte  Dresdener  Altar,  ein  Hauptwerk  aus 
Dürers  Frühzeit  und  wahrscheinlich  auch  das  Bild  im  Besitze 
des  Wiener  Erzbischofs  sind  für  Friedrich  den  Weisen  ge¬ 
malt  worden.  Auch  ließ  der  Kurfürst  auf  seine  Kosten  bei 
Albrecht  Dürer  einen  „Malerjungen“  ausbilden.  Wer  dies 


gewesen  und  ob  er  es  später  zu  einem  Namen  in  der  Kunst 
gebracht  hat,  ist  unbekannt.  Gleichzeitig  war  nach  Gurlitts 
Forschungen  „Meister  Jacob,  der  welsche  Meister“  im  Dienste 
des  Kurfürsten,  offenbar  Jacopo  de’  Barbari,  den  Dürer  als 
seinen  Meister  verehrte  und  dessen  Verhältnis  zu  ihm 
Thausing  in  der  Dürer -Biographie  endgiltig  festgestellt  hat. 
Weiter  fand  Gurlitt  im  Staatsarchive  von  Weimar  in  den 
Baurechnungen  des  Schlosses  Wittenberg  einzelne  Posten, 
welche  beweisen,  dass  Albrecht  Dürer  im  Jahre  1503  in 
diesem  Schlosse  zwei  Säle  und  in  der  Kirche  die  sogenannte 
kleine  Empore  sowie  das  Gewölbe  ausgemalt  hat.  Der  eine 
Saal  wird  in  den  Akten  als  die  „geschnitzte  Stube'1  be¬ 
zeichnet.  Weitere  Studien  in  den  Archiven  zu  Magdeburg, 
Merseburg  und  Dresden  ergaben,  dass  dieser  geschnitzte 
Saal  bis  mindestens  zum  Jahre  1611  mit  seinen  Malereien 
unversehrt  erhalten  geblieben  ist.  Später  hörte  man  nichts 
mehr  davon.  Das  Schloss  ist  im  dreißigjährigen  und  sieben¬ 
jährigen  Kriege  beschossen  worden;  nach  den  Napoleonischen 
Kriegen  wurde  es  bombensischer  eingewölbt.  Jedenfalls  sind 
die  Malereien  am  Gewölbe  der  Kirche  vernichtet,  denn  man 
weiß,  dass  die  Gewölbe  eingestürzt  sind.  Dagegen  liegt  die 
Möglichkeit  vor,  dass  die  Malereien  im  Schlosse  noch  unter 
dem  Kalkbewurfe  vorhanden  sind.  Das  Schloss  wird  jetzt 
als  Kaserne  benutzt.  Der  Großherzog  von  Sachsen,  welchem 
Gurlitt  die  Angelegenheit  vortragen  konnte,  hat  das  Inte¬ 
resse  des  Kaisers  Wilhelm  dafür  zu  erwecken  gewusst,  der 
eine  Untersuchung  angeordnet  hat.  — :  — 

Sommermittag ,  Originalradirung  von  Felix  Hollenberg. 
Die  diesem  Hefte  beigegebene  radirte  Naturstudie  rührt  von 
einem  jungen  Stuttgarter  Künstler  her.  Die  Wahrheit  der 
Naturbeobachtung  und  die  empfindungsvolle  Wiedergabe  des 
einfachen,  aber  mit  Liebe  durchgeführten  Motivs  waren  aus¬ 
schlaggebend  für  die  Erwerbung  dieser  Platte,  die  hoffent¬ 
lich  auch  den  Beifall  unserer  Leser  finden  wird.  Der  Künst¬ 
ler  wurde  1869  in  Sterkrade  (Rheinprovinz)  geboren  und 
hatte  schon  frühzeitig  Neigung  zur  Malerei.  Mit  19  Jahren 
kam  er  nach  Düsseldorf  an  die  Akademie,  verließ  dieselbe  aber 
schon  nach  einem  halben  Jahr  um  nach  Stuttgart  an  die 
Kunstschule  zu  gehen.  Er  pflegte  mit  besonderer  Vorliebe 
die  Landschaft  und  besuchte  nebenbei  vier  Semester  lang 
die  Kupferstichklasse.  Unter  Leitung  von  Prof.  Kräutle  fing 
er  an  zu  radiren  und  setzte  diese  Studien,  nachdem  sie  durch 
den  Militärdienst  ein  Jahr  unterbrochen  worden  waren, 
später  auf  eigne  Faust  fort.  Die  vorliegende  Radirung  ist 
eines  der  ersten  Versuche  des  jungen  Künstlers;  er  hatte,  wie 
er  uns  mitteilt,  erst  sieben  Platten  radirt,  als  er  dieses  Blatt 
begann. 

Berichtigung .  In  einem  Teil  der  Auflage  des  XT.  Heftes 
der  Zeitschrift  für  bildende  Kunst  sind  in  der  Notiz  über 
das  Bild  von  M.  v.  Flesch-Brünningen  zwei  sinnstörende 
Druckfehler  stehen  geblieben  und  zwar  S.  304,  erste  Spalte, 
Zeile  10  v.  u.  Malerei  statt  Malerin  und  ebendaselbst,  Zeile  5 
v.  u.  Schöner  statt  Schönn. 


Herausgeber:  Carl  von  Lütxoiv  in  Wien.  —  Für  die  Redaktion  verantwortlich:  Artur  Seemann  in  Leipzig. 

Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  N.  F.  VI. 


Lichtdruck  von  C.  G.  Roder  in  Leipzig. 


Kreidezeichnung  von  Emilie  Mediz- Pelikan. 

(Aus  dem  I.  Heft  der  Vierteljahrshefte  des  Vereins  Bildender  Künstler  Dresdens.) 


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